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Full text of "Glücksinseln und Träume : gesammelte Aufsätze aus den Grenzboten"

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—— —— 


— 





— — 


SIEHE 


























Blürksinfeln und Träume 
59 


Blürksinfeln ung Träume 


Geſammeltke 
Aufläße aus den Grenjbotken 


AIxiedrich Rakel 


Keipjig 
Fr. Wilh. Grunow 
1905 


/2-,5_53 2ur/? 





a " —M 4. CAC. 
2 f 


Dormwort 


Aus der Neihe der Beiträge Yriedrid Ratzzels zu den 
„Srenzboten“ faßt dieſer Band eine Anzahl von Bildern und 
Skizzen zufammen, die in ihrer Art und ihrem Inhalt neben 
den mehr wiſſenſchaftlichen, Tritiihen und politiicden Beiträgen 
für fi) ftehen. Die meilten davon find im Laufe der Jahre von 
ihrem Verfaſſer ſelbft veröffentlicht worden, einen Teil haben die 
„Srenzboten* erjt nad) jeinem Tode gebradit. 

gum Titel hat der Band die Überjchrift erhalten, die Natel 
feinen Sugenderinnerungen, die die erite Abteilung bilden, ge⸗ 
geben Hatte. Diefe und die Bilder aus dem Kriege mit Frank⸗ 
reich find Baujteine zu einem größern Werke, das Nabel plante. 
Es follte, halb Dichtung, Halb Wahrheit, auf feinen Erinne- 
rungen aufgebaut werden; Die einzelnen Skizzen follten „durch 
Betrachtungen über die Natur und das Leben verbunden werden, 
die den Leſer in den weiten Horizont der Welt auß dem Kleinen 
Leben des Einzelnen hinausführen jollten.“ In den Mußejtunden 
der Terienzeit des vergangnen Jahres gedachte der Heim— 
gegangne Die Arbeit, mit der er ſich die lebte Zeit feines 
Lebens mit Borliebe beichäftigt hatte, fortzufegen und zunächſt 
jeine Studienzeit zu jchildern, die die Sugenderinnerungen mit 
den Kriegsbildern verbinden follten. Aber fein allzu früher Tod 
jegte jeinem Schaffen ein Ende, und dad Wert blieb unvollendet. 
Doch wird es auch in diefen Bruchſtücken, die zu dem Schöniten 
gehören, was Ratzel geichrieben bat, dem weiten Kreije feiner 
Freunde und Verehrer ein wertvolles Vermächtnis fein, das fein 
Andenken bei allen, die ihn gelannt haben, lebendig er- 
halten wird. 

Bon den Glücksinſeln und Träumen hatte Nagel die erften 
fünf Kapitel dem Verleger noch wenig Wochen vor feinem Tode 
für die Veröffentlichung in den „Örenzboten“ übergeben; fie jollten 





VI Vorwort 


— — ——— — GG EL GL GL GG LIDL LE GL N I LI NL DL ALL LOL — 





ebenjo wie die jchon 1903 abgedrudten Bilder aus dem Lazarett 
ohne feinen Namen erſcheinen; diejen zu verichiveigen war nad) 
feinem Tode kein Anlaß mehr. Das- jechite Kapitel ijt aus zivei 
undollendeten Skizzen, die fi im Nachlaß vorgefunden haben, 
zulammengefügt worden. 

Ebenſo find die einzelnen Bilder aus dem Kriege mit Frank⸗ 
rei, außer den ſchon früher veröffentlichten Lazaretterinnerungen, 
dem Nachlaß entnommen. Das dritte, vierte, fünfte und fiebente 
lagen in abgejchlofjenen Niederichriften vor, hätten aber noch eine 
fie ganz in Einklang bringende Überarbeitung erfahren follen. 
Die beiden eriten find unvollendete Skizzen, werden aber um 
ihrer lebendigen Schilderung willen auch als ſolche willlommen 
geheißen werden. 

An die Banderbilder der drei folgenden Abteilungen ſchließen 
fi die fie vielfach ergänzenden anonym erjchienenen Briefe eines 
Zurüdgelehrten an. Nabel batte bier die Maske eines in bie 
Heimat zurüdlehrenden Deutſchamerikaners vorgenommen, weil 
er auf diefe Weife manches unbefangner ausſprechen, zugleich 
aber aud) nützliche Parallelen zwiſchen deutſchem und amerika⸗ 
niſchem Weſen und Leben ziehn Eonnte. 

Die beiden zum Schluß angefügten Einzelauffäge offenbaren 
in bejonder8 jchöner Weiſe die Tiefe des Gedantenlebend und 
der Weltanſchauung ihres Verfaſſers. 

Mögen fi viele an den Schäßen, die diefer Band birgt, 
erquiden und erbauen. 


5 


Inhalt 
Seite 
Bomwot . . nenne. V-VI 
Glüdsinfeln und Träume .. ...12113 
Grenzboten 1904, Hefte 40-48; 4546) 
1. Somnenfinftenis. . . . . .. 3 
2. Aunbenfahte 2 2 0 14 
3. Heimweh . .... 32 
4. Mit Reefenfomen, der es ſchnel verrät . ne 48 
5. Mein D ne. 68 
6. ee on en 96 
Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 15— 260 
(Örenzboten 1903, Hefte 16—19. 1905, Sehe 16) 
1. Die Gewitter hwüle . . . . ....17 
2. Beim Erfah . een. er. 180 
3. Ich hatt einen Kameraden ... 140 
4. Auf dem Marſch. .. 121680 
5. Dem Hauptmann zulieb ee... 0.174 
6. Im Lazarett . ee 1388 
7. Ein Jünbenber Blitz en 231 
Altbayriihe Wanderungen . rn 261292 
(Grenzboten 1897, Hefte 422 — 4) 
Das deutfhe Dorfwirtshbaus . . nn. 298— 838 
(&renzboten 1898, Hefte 1—3; 6) 
Südweftdeutfhe:Wanderungen . .... 339-390 
Grenzboten 1898, Hefte 19; 21; 25; 26) 
Briefe eines Zurüdgefehrten . . . ...891--477 
(Grenzboten 1899, Hefte 34: 37; 39; 50. 1900, 
Heft 41. 1901, Hefte 18; 48; 51) 
Königin der Nadt . nenn. 479-495 
(Grenzboten 1900, Heft 2) 
Die Tagesanfiht Guftav Theodor Behners . . . 497-509 
Grenzboten 1901, Heft 17) 
Verzeichnis der übrigen dbrenabolenbeirige Friedr. Rabels hl 
Verzeichnis der Bücherbefprehungen.. . 20. 9518 


—& 





Glücksinſeln und Träume 
avx⸗ 


Ratzel, Gluͤckdinſeln und Träume 





I. Die Sonnenfinfternis 


Eine bleiche, Heine Erinnerung, gleichſam 
das erfte geiftige —— *— aus 
dem dunkeln Erdboden der Kindheit. 

Jean Baul 


Der Boden, auf dem ih vom Finde zum Knaben beran- 
gewachſen bin, iſt ein dürrer und fteiniger Boden. Darum war 
es aber noch fein unfruchtbarer Boden für mid). Zwiſchen den 
alten abgerundeten Pflafterfteinen aus rotem Sandftein ſproſſen 
Grasbüſchel und an einigen Stellen fogar winzige Gänfeblümchen 
und verzwergter Löwenzahn hervor. Wenn der grüne Schimmer 
zu ſtark wird, der von ihnen über den gepflafterten Hof aus⸗ 
gebt, beginnt mit ftumpfen Küchenmeflern und roftigen Scheren- 
Klingen ein Kampf gegen dieje niedrigen, genügjamen Gewächſe, 
die graufam ausgeftochen und abgejchnitten werden. Nicht al? 
Belämpfer, fondern meift nur als finniger Beobachter beteilige 
ih mid) daran, ftaunend über die Fräftigen Wurzeln und derben 
furzen Stengel der niedergetreinen Pflanzen, und hoch erfreut 
durch die Entdedung, daß auch zwiſchen BPflafterfteinen fette 
Regenwürmer gedeihen. Was mochte noch tiefer fich regen? 
Wenn man nur graben fönntel Liegen doch alle Schätze des 
Märkhend unter der Erde, wohnen doch Zwerge und Kobolde 
in der Tiefe, wächſt doch Gold und Edelftein da drunten. 
Ich legte den Regenwurm forgjam in die Spalte, der ich ihn 
enthoben hatte, und dedte ihn wieder mit Erde zu. Uber meine 
Gedanken verweilten bei ihm und gruben nad), bis fie e8 leuchten 
fahen tief unten von einer andern Sonne und einem andern 
Monde, und was ich von Glänzen und Glibern jemals gejehen 
oder geahnt hatte, war nun an den Wänden von Höhlen in ber 
Tiefe. Da ftrahlte Gold und Silber und glühte Metall mit 
der Glut, die Abends bei finfender Sonne an der Spibe des 
Blipableiterd auf dem Hohen Haufe ung gegenüber niederfloß, 

1 * 





DE 


4 Glädsinfeln und Träume 


da gingen leuchtende Bäche und tropfte blaues Wafler, und 
überall regte e8 fi) von Weſen, neben denen mid) der geheimnis- 
volle Wurm der Pflafterfteine ganz beicheiden aber befreundet 
Deuchte. 

Dann kamen aber auch wieder fonnige Tage, wo man die 
Augen vor dem vielen Lichte verjchließen mußte, daB auf Die 
Steine und die Mauern herabriefelte; da wuchſen in meinem 
Kinderglauben die Gräfer und der Löwenzahn in ihren Spalten, 
trugen Ahren und ſchmückten ſich mit hohen Blumen, die goldne 
Käfer anlodten. Und Licht floß von oben aus den Aſt⸗ und 
Bweiggittern der Bäume und zwiſchen großen grünen Blättern 
berein, die e8 freudig durdiglübte Und e8 war das Feine 
Märchenwelt, wie die untere, fondern eine Welt, wie fie ung 
umgibt, nur fchöner, leucdhtender, weshalb auch die Pflaumen auf 
den Bäumen unbeichadet der frühen Sahreszeit wie blaue Edel- 
fteine Bingen. 

Dann ftand mir das Kleine einftödige Haus meiner Eltern 
mitten im Wiefengrün, und der friiche Duft vom Wachſen und 
Blühen z0g über die zwei niedern Sandſteinſchwellen in dag 
Haus herein. Dazu waren dieje jehr geeignet, denn die Schritte 
von Generationen hatten ihnen eine fchöne Rundung gegeben. 
Es ſaß ſich darum fo weich auf diefen Steinftufen wie auf einem 
Polfter, doch kühler zuzeiten, und ich habe in meinem Leben 
feinen Sig mehr fo gern gehabt wie diefen. Dazu trug jeben- 
falls nicht wenig der tiefdunfle Hintergrund des Hausflurs bei, 
worin dann und wann ein leuchtender grauer Streif, in dem 
Billionen Stäubehen tanzten, beim Öffnen einer Tür erfchien. 
Sehr oft ftand die Tür unjrer Küche offen, die auf diefen Gang 
münbete, und aus ihr ftahlen ſich bläuliche Schimmer von blinkendem 
Zinn und dumpfroter Glanz von Kupfertefieln heraus. Aber viel 
mehr intereifierten mid) Düfte, Die Denfelben Weg nahmen, und viel- 
verheißenbe Geräufche von dürrem Holze, das in der Flamme zer- 
krachte, von Fett, das in der Pfanne broßelte, und von rollenden, 
badenden, fchneidenden Bewegungen auf einem klappernden Brett. 
Dad war das Kuchenbrett, das ich mir am liebften mit Mehl 
beftreut und mit einem eiergelben Teig belegt dachte, aus dem 
die gefchidte Hand meiner Mutter mit der Öffnung eined Waffer- 
glaſes Küchlein von erfreulicher Rundung „ausſtach,“ die dann 
im Schmalz unter dem erwähnten bedeutungsvollen Geräuſch ge- 
baden wurden. Sehr erfreulid waren aud die Düfte langſam 
dörrenden Obſtes, die jehr warm und weich einem bejondern 











1. Die Sonnenfinfternis 5 


Aufbau entftrömten, der fi über dem Herd erhob. Und über 
allem fchwebte, gleichſam alle Fräftigend, der Geruch der Schinken 
und Würfte, die in dem breiten Rauchfang hingen. Alles das 
drang aus dem dunkeln Gang zu mir, wenn ic) auf den Stein- 
ftufen des Häusleins faß und in die lichte Welt hinausſchaute. 
Dem Büblein fam der Gedanke: Die Sarben, die Töne, die Düfte 
befuchen di) auf ihrem Weg ind Freie: fie wiſſen, daß dem 
Büblein der Beſuch der Küche verboten ift, und bringen ihm 
Kunde von dem, was da binten im Dunkeln vorgeht. Das ſaß 
aber gebuldig umb verträumte die Zeit, bis der Huf ericholl: 
Büble, efien! Da fah man das Blondköpfchen vor dem Kleinen 
Tiſche ſtehn und fein Mittaggebet fprechen, mährenddefjen es 
freundliche Blicke mit dem Zinnteller vor ihm tauſchte, als wollte 
es ſagen: Du haft mir vorhin aus der Küche zugewinkt, ich werde 
es mir nun gut von Dir fchmeden laſſen. Und es drehte ihn 
um unb Elapperte mit der Gabel auf feiner Unterfeite, biß die 
dampfende Suppe zu zwedvollerer Tätigfeit einlud. War e8 aber 
gefättigt, dann riefen ihm Sonne, Gras, Blumen und Würmer 
von der andern Seite her, und bald erſchien es wieder auf jeiner 
runden Schwelle, begrüßte fie alle und war überzeugt, daß fie ſich 
alle miteinander freuten, wieder mit ihm beiſammen zu jein. 
Da freute ſich offenbar auch noch ein großes rundes Ding 
mit, ein wejentlicher Beitandteil diefer Welt eines Kindes, von 
dem ich noch Kunde geben muß. Seitwärtd von der Tür ftand 
nämlid in demjelben Hofe auf untergelegten Steinplatten ein 
grüner Zuber, in den ſich in einer hölzernen Rinne das Regen⸗ 
wafjer vom Dad) ergoß. Für gewöhnlich Iag fein Spiegel ftill 
wie aus Metall gegofjen in dem Rahmen der hölzernen Um⸗ 
faffung; aber bei Regen ftürzt das Negenbädlein in eiligem 
Strahle von oben, reift Luftblafen mit, die dann filbern vom 
Grunde des aufgewühlten Beckens auffteigen. Taufendmal habe 
ih auf das Waſſer hingeſchaut, wenn die Regentropfen darauf 
fielen, luſtig aufjprangen und Heine Wellenkreiſe beichrieben, die 
fih einander in allen denkbaren Bufammendrängungen Ichnitten, 
ſodaß die Waflerfläche wie ein höchft kunſtvolles Werk der Silber- 
fchmiedefunft erfchien. Und noch öfter ftand ich über dad Waſſer 
geneigt, wenn feine Oberflädhe ganz ftil war, und wartete, big 
Luftbläschen in ſchlanken Wellenlinien an die Oberfläche ftiegen: 
die Ichönften Perlen, mit feiner zu vergleichen, die in der tiefften 
Mufchel auf dem Meeresgrunde berangereift it. AB ih in 
ſpätern Jahren ald Student in der Ferne allein vor meinem 


6 Glücksinſeln und Träume 


Heinen Teekeſſel ſaß und der allmählichen Erhitzung des Waſſers 
bi8 zum Sieben zufchaute, fah ich die Quftperlen ſich am Boden 
meines Teekeſſels jammeln, ihn dicht bededen, dann ineinander 
fließen und als größere aufiteigen, deren Aufeinanderfolge endlich 
Das Wafler zum Wallen brachte; und wie arm ich damals oft 
war, fo reich fühlte ich mich, da ich glänzende Perlen ohne Zahl 
entftehn und vergehn lafjen Eonnte, die in wenig Minuten den 
einförmigen Boden meines alten Keſſelchens in ein getriebnes 
Kunſtwerk verwandelten. Wie gut ift e8, früh fehen zu lernen! 

Als ich eined Tages wieder ganz verjunten in die Tiefen 
meined Waſſerfaſſes ftarrte, die ich noch immer nicht ergründet 
batte, fiel ein verirrter Lichtftrahl, der von einem fpiegelnden 
Fenſterglas zurüdgeworfen fein mochte, in das Wafler, irrte auf 
ihm herum, tauchte unter und wanderte bi8 auf ben Boden. 
Wenn es aud) mur ein Flimmern war, fo vermochte ich ihm doch 
zu folgen; der Strahl verfchwand, ich Jah ihn noch über den 
Nand des dunkeln Faſſes finken, aber in meinem Auge blieben 
wunderbar rotleuchtende Punkte, die er in ber Waffertiefe er- 
leuchtet, ſichtbar gemacht hatte, Punkte wie von Edelfteinen. Ich 
war jehr betroffen, ohne erjtaunt zu fein; denn wo filberne 
Perlen aufftiegen, konnten auch Rubinfteine liegen. Als nun 
eines Tages das Gefäß ausgeſchöpft und fein Boden trodengelegt 
wurde, da waren dieſe rotglühenden Punkte jehr Kleine Würmchen, 
die Schnellende, funtelnde Bewegungen machten, und außer ihnen 
lag nod ein zufammengerollter dünner Wurm bon wunderjchöner 
Roſafarbe auf dem Grunde, deſſen geheimnisvolle Dafein mir 
nicht weniger rätjelhaft vorkam, als der Stallknecht Guſtav, der 
Diefer Reinigung beiwohnte, erklärte, diefer Wurm komme manch⸗ 
mal in den tiefften Brunnen, aber immer nur als ein Einfiebler 
vor. Bei mir beftand ein Bweifel, dieſe wundervollen voten 
Tiere gehörten derjelben Welt an wie die blaſſen Regenwürmer, 
einer Welt der Tiefe und der Schäbe, und ich dachte darüber 
nad, wie dad Waſſer ded grünen Zubers gleichſam eine Ver⸗ 
bindung mit diefer andern Welt berftellte, neben der die Welten 
der Stube und der Küche mir kaum mehr beachtenswert er- 
ſchienen. 

Das große Haus dagegen, das mein Höfchen von zwei 
andern Seiten her einſchloß, ſah ich kaum; ſeine Fenſter waren 
faſt immer geſchloſſen, und wenn auch Menſchen darin aus und 
ein gingen, ich vergaß ſie, wenn ſie vorübergegangen waren, und 
fümmerte mich nicht um fie. Dieſe weißlichgrünen Wände mit 


1. Die Sonnenfinfternis 7 


De 772 


den Streifen des Regenwaſſers, diefe dunkelgrünen Fenfterläden, 
die mir als Feinde des Licht und als Symbole der finfenden 
Nacht und des Zubettegehns einen unangenehmen Eindrud machten, 
diefe hohen Fenfter, die zum Zeil nie geöffnet wurden und ver- 
ftaubt waren, famen mir alle fo ftumpf, fo glanzlos, fo unberedt 
vor. Wie anders der Mond, den ich mit der Beit kennen lernen 
durfte, wie er fein Licht in das Regenfaß ergoß. Wenn das 
milde Licht der Mondfichel, die dem Vollmond entgegenreift, gleich 
nach Sonnenuntergang die Welt übergoß, die, da fie an Giebeln, 
Türmen und hohen Binnen einen Schimmer von Ubendrot feit- 
hielt, noch nicht ganz bleich geworden war, durchbohrte ein 
glänzender Siiberftab die Waflerfäule des Regenfaſſes. Die leiſeſte 
Berwegung verwandelte ihn in eine Schlange, die fi) unaufhörlich 
hinab und hinauf ringelte, und bei größern Wellen wurden Licht- 
ftüde daraus, die gerade, gebogen und gewunden jid) einander 
näberten und wieder zerbracdhen, wobei Silberfunfen nad) allen 
Seiten dur die Flüſſigkeit ftoben. 

Eine zweite Welt neben der der Tiefe zog mich noch weit 
ftärler an. Das war die Welt, die über mir lag. Aus dieſer 
ftieg zunächſt jeden Morgen der vorhin genannte Stallknecht 
herab, der, nächſt den guten Eltern, der einzige Menſch war, 
dem ich anhing. Er waltete in dem Stalle, deflen graue Rüd- 
wand an der vierten Seite meines Hofes ftand. Das Stampfen 
der Pferde, das Raſſeln ihrer Ketten, daS herüberflang, verliehen 
ihm jelbft eine geheimnisvolle Würde, ald ob er darüber zu ge- 
bieten bätte, und als er mich einmal in den Stall führte, deſſen 
Zor fih in eine Nebengafje öffnete, und mir jagte, daß bie 
ihönen gelben und weißen Figuren, die mit Sand auf den 
Boden geftreut waren, fein eigne8 Werk jeien, fchien er mir 
nicht viel weniger zu vermögen als der liebe Herrgott, der das 
Gras wachſen ließ. Aus dem Zimmer ded Stalltnechts Elangen 
Abends Laute, deren ftählernen Ton id) noch heute nicht vergeſſen 
babe; er war Lehrer gewejen, ehe er unter die Dragoner ge- 
gangen war, und fein baufälliges Klavier gehörte zu den Re— 
liquien, die er aus der Schulftube in fein Reiterleben herüber- 
genommen hatte. Auf dem blaßnußbaumnen Klavier ftand eine 
fleine Erdkugel, die kunſtreich aus Pappe gefügt und mit der 
Hand gemalt war. Hat mir jemals wieder ein Menſch jo im- 
poniert wie der Stallineht Guſtav? Roſſe zähmen, eine Welt 
von herrlichen Figuren aus bloßem Sand auf den Boden eines 
Stalles zaubern, den Erdball nachbilden und deſſen Harmonien 


8 Glädsinfeln und räume 


auf Stahlfaiten erklingen laſſen: was ift vielfeitig, wenn nicht 
dieſes? Wenn ich jpäter von den Penaifjancemenfchen lad, Die 
alles Tonnten, erſchien die Figur Guſtavs vor meinen Augen. 
Hatte nicht diefer Stallfnecht außerdem die Liebe für fi, mit 
der er jeine Pferde pflegte und mit einem Kleinen Kerl, wie mir, 
wie mit jeinesgleichen plauderte? Und war er nicht eine herrliche 
Erſcheinung, ſchlank, helläugig, heiter, in weißen Lederhoſen und 
roter Fade? Er ift ſpäter fürftlidder Stallmeifter geivorben, 
und daß er als foldder, neben dem Wagen des Fürften reitend, 
mir mit den Augen, von denen ich eine Erimmerung wie an 
abwechfelnd lachende und fragende Kinderaugen habe, freunde 
ſchaftlich zuwinkte, wenn ich, die Schulbücher unter dem Arme, 
borbeiging, gehört zu den Anerlennungen im Beben, die ic) am 
lebhafteften empfunden babe. Daß über meinem ganzen Ber- 
hältnis zu Ouftan der Icharfjühliche Geruch des Pferbeftalles wie 
Weihrauchwollen fchwebte, war noch ein befondrer Genuß. Hatte 
ih Guſtav jo lieb, weil er von diefem Geruch umgeben war, 
oder liebte ich den Geruch, weil er ihn mit fich trug? 

Bon Guſtavs Zimmer ſah man an hohen Häufern hinauf, 
und ganz oben, wohl im fünften Stockwerk, wohnte nach den 
Auskünften, die mir geworden waren, dad Ehriftlindchen und ber 
Knecht Ruprecht, die nur einmal im Jahre berabftiegen, um Die 
guten Kinder zu belohnen, die böfen zu ermahnen. Ich warf 
gelegentlich einen verſtohlnen Blick hinauf und fand keine Ent⸗ 
täufchung darin, daß ich in der Wohnung, die dieſen beiden 

mythiſchen Geftalten zugeſprochen wurde, eine fchneiderähnliche 
Geftalt auf erhöhten Site mit langen Armbeivegungen näben 
oder ein andermal eine arme alte Frau die Yenfter abwiſchen ſah. 
Knecht Ruprecht mußte wohl Leute haben, die feine Puppen 
näbten, und das Chriſtkindchen mußte doch wohl eine Stief- oder 
Pflegemutter haben, die für es forgte, folange es auf der Erde 
fo viel zu tun hatte. Nichts konnte mich überrafchen, was in ber 
Höhe vorging, da ich daS Gefühl Hatte, durch Guſtav darüber 

auf dem lau zu werben. Ich wundre mid) aber 
noch heute, daß ich mid) nicht mehr um Sonne, Mond und Sterne 
kümmerte, die doch derjelben Höhenzone angehörten. ch fchlief 
wohl zu lange und zu tief, um bon den legten viel zu fehen; 
da8 Sonnenlicht aber nahm id), wie viele andre Menfchen ihr 
ganzes Leben tum, als etwas Selhitverftändliches Bin. 

Da geſchah e8 an einem Hochſommertage, daß mein Bater 
auf den Dachboden ftieg, um auß alten Fenſterrahmen Gläſer 





1. Die Sonnenfinfternis 9 


II LIT DB BRETT 








zu bredden, und mit Staunen fah ich, nachdem dieje forgjältig 
gereinigt waren, wie man fie mit Rauch berußte. — Ihr habt 
fie eben gereinigt, und nun beſchmutzt ihr fie wieder? — Warte 
nur, mein Sohn, du wirft fchon jehen, wozu das nötig ift. Und 
Guftav fagte mir: Heute ift eine totale Sonnenfinfternid. Gib 
acht, daß du nicht erfchridit. Wenn es dunkel um uns her wird, 
ſchaue du in dein Regenfaß. da wirft du die Sonne verjchwinden 
und bald wieberfehren jehen. — Gehn wir nicht zu Bett, wenn 
fie verihiwindet? — Wir dürfen aufbleiben, denn fie kommt bald 
wieder, und wenn fie wiederfommt, kommt auch gleich) wieder 
der Tag, der vorher war, und fchreibt fich mit demjelben Datum. 

Ich veritand nicht viel von dem, was da gejagt wurde. 
Es kam mir verworren vor. Den andern Tag aber jah ich mit 
eignen Augen im Spiegel meines Waſſerfaſſes das Tagesgeſtirn 
plöglich vergehn und wiedergeboren werden. 

War diejes ganz ſchwarze unheimliche Ding, dad langjam 
vorrüdend die belle Sonne auffraß, wirklich) der Mond? Dann 
war e8 jedenfall® ein ganz andrer als der freundliche lichte, Den 
ih wohl einmal an einem Winterabend die Welt in Silberflor 
hatte Hüllen jehen. Aber die Sonne jelbft, Die war eine völlig 
andre, oder vielmehr es war fo, als ob fie überhaupt nicht mehr 
wäre, denn als das jchwarze Ungeheuer fich jo weit in die glüb- 
rote Scheibe hineingefrefien hatte, daß der Reit davon Sichelform 
anzunehmen begann, wurde die Quft plötzlich kühl, es erhob ſich 
ein Wind wie am Abend, mich fröftelte. Später erzählte man, 
der Raſen babe fi) in diejen Sekunden betaut, und es feien 
dunkle Wolfen, wie bei Gewittern, mit biutroten Rändern plöglich 
gegen den Simmel heraufgewachſen. ch erinnere mich nicht, 
jemal3 wieder jo raſch Abendwerden gejehen zu baben; völlig 
ohne Dämmerung und Abendglühn war der Tag dahin, und eine 
fahle, bleierne Nacht lag auf und. In diefem Augenblid, wo 
die Sonnenfinſternis vollftändig war, ſchaute ich wie alle andern, 
die ihre gejchmwärzten Gläſer beifeite taten, in die Sonne und 
jah nichts als eine ſchwarze Scheibe, über deren Ränder Feuer⸗ 
tropfen zu quellen jchienen. Won der zuerft dunkel gewordnien 
Seite der Scheibe waren die Yeuertropfen in kurzem zu einem 
dünnen Lichtband zufammengeflofien, und ſchon glühte dieſes fo 
bel, daß man die Gläfer wieder vornahın. ch fchaute eifrig 
in mein Waſſer hinein, da umfchlangen mid) die lieben Arne 
meiner Mutter von rückwärts, und ein tränenüberftrömteß Ge⸗ 
fit drüdte ſich an das meine, und ich hörte nur die erjtidten 





DZ 


10 Slüädsinfeln und Träume 


Worte: Wie jchredlich, wie ſchrecklich. Mein Gott, laß es nicht 
weitergehn! Mich fröftelte zwar noch etwas, aber ich verftand 
nicht8 von dieſer Angft, wollte gem im Waſſer fchauen, was fid) 
weiter begab; doch meine Mutter zog mid) an fi) und herzte 
mich wie ein Wiedergefundned. Nafcher, als es gelommen war, 
muß fi) da8 Grau, das die Menichen jo erjchredte, wieder er⸗ 
heilt haben. Mein Bater trat zu und und bat meine Mutter, 
durch das Glas zu fehen, wie die Sonne ſchon zur Hälfte wieder- 
gelehrt fei, und zeigte, wie die Schatten der Bäume und der 
Menſchen wiederfehrten, wuchſen und tiefer wurden. Die Leute, 
die von höhergelegnen Punkten die Finfternid® beobachtet hatten, 
ftiegen herab, die meiſten mit ernften Mienen, und als die Sonne 
wieder faft ganz frei leuchtete, und die Wolken zurückſanken, die 
gegen fie, als fie ſchwach geworden, herauſgewachſen waren, 
ſchienen viele erleichtert aufzuatmen. — Gottlob, daß es vorbei 
ift! — Es war doch ein fchredhaftes Ding! — Gut, daß wir 
unjre liebe Herrgott3fonne wieder haben! hörte man fagen. 

Es iſt eine Warnung, hatte ih auch fagen hören, umd 
diefed Wort gab mir zu denken. Eine Warnung an wen? Und 
von wem? Sch nahm mir vor, Obacht zu geben, wie ed num 
mit der Sonne weiter gehn werde, denn ich hatte die unbeſtimmte 
Befürchtung, daß Die Warnung wohl von ihr jelbft ausgegangen 
fei, und daß die Verfinfterung vielleicht fagen jollte, fie werde 
iebt öfters verhindert fein, jo regelmäßig wie bisher des Vor⸗ 
mittag zwiſchen dem Rotdorn und dem Roßkaſtanienbaum her⸗ 
vorzulonmen, deren Blüten fie zur hellen Glut entzündete, und 
werde ded Abends nicht Hinter dem langen Dad) der Majchinen- 
fabrif verſchwinden, deſſen Blechplatten dabei jedesmal zu ſchmelzen 
und in Fluß zu geraten jchienen. Dieſe Befürhtung war glüd- 
licherweiſe nicht begründet; wohl entzündete die Sonne im 
Kommen nicht mehr die roten Blumen, aber nicht weil fie etwa 
trüber geworden wäre, indem von der Verfinfterung etwas an 
ihr haften geblieben wäre, fondern weil diefe Blumen des 
Frühlings Hingewellt waren. Diele Sonne mochte fchon viele 
zur Blüte gewedt und zum Grabe geleitet haben! Als id) einige 
Wochen danach mit meinen Eltern auf dem Schloßberg in Baden 
wohnen durfte, erbat id; mir die Erlaubnis, mit den Erwachſnen 
den Sonnenaufgang an einem Haren Morgen ſehen zu Dürfen. 
Und als ich die Feuerkugel zwiſchen langen grauen Nachtwollen, 
die noch wie Schafe Hingeftredt waren, rein und hell hervor- 
ſchweben ſah, war ich beruhigt: e8 war die alte Sonne, die ba 


1. Die Sonnenfinfternis 11 


. ö——— —⸗û— —— GL ALU TDG ——— — 


heiter emporſtieg. Nur über eins war ich erſtaunt: daß ſie 
einen Augenblick gezögert hatte, ſich von der untern Wolke los⸗ 
zumachen, und dann raſcher emporgeſchwebt war. Ich erklärte 
mir das als einen Reſt von der Furcht vor der Verfinſterung, 
der fie eben noch glücklich entgangen war. Die Morgenwollken 
fahen gefährlich genug aus, und ein fonnenlojer Regentag war 
ihr Werk. Natürlich ‚hatte ſich die Sonne bedadht, ehe fie herauf⸗ 
geſchwebt war und ſogleich wieder verfinftert werden ſollte. An 
demfelben Abend Habe ich fie als volle Kugel im blauen Dunſt 
der Rheinebene jo raſch hinabſinken jehen, daß es jchien, als 
müffe im nächſten Augenblick ein gewaltig tönendes Aufprallen 
auf dem Granit der Vogeſen erfolgen. Aber fie ging wie Luft 
in Luft in die Dunftitreifen über, e8 war ein Dahinjchmelzen, 
und nur das Blutrot, da8 dann alles überfloß, mochte an einen 
gewaltfamen Untergang erinnern. 

Als auf der Nüdfahrt vom Sonnenaufgang die Rede war, 
und ich gefragt wurde, was mir daran am beiten gefallen habe, 
meinte ich: der Augenblid, wo es Tag wird. ch erinnerte mich 
dabei an den Moment der Chriſtbeſcherung, die damals noch am 
Chrifttagmorgen ftattfand, wo zwiichen die noch fortbrennenden 
Lichtchen des Tannenbaumd auf einmal da8 volle Tageslicht 
bereinflutet, und meinte, gerade fo feten Die legten Sterne am 
Himmel geftanden, eben noch außglühend, ehe Die Sonne ganz 
oben war; dann ſeien fie ganz bejcheiden und till verlöjcht. 

Zu den Bewohnern der obern Sphäre gehörte auch der 
Schornfteinfeger, der einigemal unvermutet mit Kugel und Beſen 
aus einem Schornftein aufgetaucht, auf dem Dachfirſt Hingegangen 
und wieder verichwunden war, ein rätfelhafter, geheimnisvoller 
Schatten. Wie bei allen Figuren der obern Sphäre nahm id) 
au für ihn feine Verbindung mit der untern an, er lebte nun 
einmal dort oben, und es fielen mir feine vierfachen Treppen 
ein, die berabführen könnten. So gejellte ich ihn denn zum 
Chriftlindchen und zum Knecht Ruprecht, zu dem langarmigen 
Schneider und der alten Frau und fand es ganz natürlich, daß 
fie alle mit der Sonne, den Sternen und dem Mond das Ge- 
meinjame hatten, zu erſcheinen und zu verſchwinden und oft lange 
Zeit verjchwunden zu bleiben. Nur eine einzige von den obern 
Eriltenzen hatte ich auch unten auf der Erde gejehen; die rot- 
badige Bädermarie, die in einem Eckfenſter an der Straße hinter 
Semmeln, jo rund wie ihr Geſicht, und Brezeln zu ſitzen pflegte, 
war einmal an einem der Dachfenfter erſchienen und hatte den 





wu. 





12 Glädsinfeln und Träume 


Wolken und den Schwalben nachgefehen. Das hatte freilich meine 
Auffaffung von einem bejondern und höhern Leben in Luft⸗ und 
Lichtreichtum dort oben nicht erſchüttert. Vielmehr fchien eine 
Bemerkung Guftavs, die andre lachen machte, einen tiefern Zus 
fammenbang zwiſchen denfelben zu erfchließen; als die Meinen 
eine Abends vor dem Haufe jagen, und er wie öfter in feiner 
roten Jade vor ihnen ftand, hörte ich ihn nämlich jagen: Mit 
der Sonnenfinfterniß war es doch eigentlich gerade fo, wie wenn 
der ſchwarze Schornfteinfeger die rote Bädermarie küßt! Mir 
fam das gar nicht jcherzhaft vor. Denn da8 waren ja alles 
Weien von da oben: Sonne, Mond, Schornfteinfeger und Bäder- 
marie. Das Chriftlindchen bringt und den Baum voll Sterne, 
die wie die Morgendämmerung dem Chriſtfeſt vorleuchten, und 
das ift ein Heiner Teil von den Sternen, die am Himmel ftehn, 
und deren hellſter über Bethlehem am Himmel ftand, und die 
man dann wieder in ftillen Nächten aus dem Waſſer fpiegeln 
fieht, wo fie in der fchweigfamen Tiefe, die Nachts unermeßlich 
ift, wie Goldfplitter in einem dunfeln Kriftall leuchten. So 
mögen auch menſchliche Weſen, Die da oben hinter den rätjel- 
haften Fenftern wohnen, die zuzeiten ſonnenhaft glühn und das 
Mondlicht zurüdiprühn, jonnenhaft und mondähnlich fein. Das 
Kind ahnt auch ein Nachtleben der andern Menſchen, das in der 
Zeit fi) abipielt, mo Sterne und Mond am Himmel ftehn; 
Laute davon wie ganz bon fernher dringen bis an fein Bettchen, 
md es weiß noch nicht, was davon Wirklichkeit, was Traum ift. 
Die Erwachſnen imponieren aber dem Kinde nicht zum twentgften 
auch, weil fie nod) leben, wenn es in ben Schlaf verjunfen ift, 
und lange vor ihm wieder wachen. Das ift nım eben bie Zeit, 
wo aud die Steme und der Mond wachen, und die guten 
Geifter, das Chriftlind voraus, niederfteigen. 


2 * 
” 


Es gibt proſaiſche Menfchen, die unfer jehnfüchtiges Zurüd- 
erinnern an bie Kindheit als etwas Leere, Sohle verlachen. 
Sie wollen im beften Fall einen Traum darin fehen. Wie fehr 
irren fi die! Ich brauche nur in bie Kinder⸗ und 
märchen“ bineinzulejen, jo werde ich wieder des Gefühls inne, 
mit bem id) fie zuerft vernahm, und es beginnt auß den Fernen 
und den Tiefen Der Erinnerung ber zu leuchten und zu glänzen 
von dem ungeheuern Reichtum, ben dad Kind daran bat, daß 


1. Die Sonnenfinfternis 13 


ö—— IE 


es alles glaubt, auch das Wumderbarfte, und vor allem, daß 
fein Glaube allem Xoten Neben gibt. Wieviel größer tft alſo 
der Wirklichkeitsbereich des Kindes, wientel mehr beſitzt und be- 
herrſcht das Kind, da ihm das Wunderbare gehört, ohne daß es 
fi) darüber wundert, vielmehr fi) darin volllommen zubaufe 
fühlt. Mir kommt meine Kindheit nicht eng und nicht arm vor, 
wenn ich auch weiß, daß meine Faͤhigkeiten und meine Kenntnifje 
damals noch gering waren, denn vieles beitand damals, was mir 
die Erziehung und der Unterricht genommen haben, und alles 
war lebendig, während fi) mir heute die Welt in eine große, 
weite, tote Hälfte und eine Kleine teilt, die mit Leben begabt iſt. 
Man jtellt immer den fogenannten Bildungsgang der Menjchen 
jo dar, als ſei e8 ein unabläffiges Sichbereichern durch Kennt- 
nifle, Sichllären und Sichveredeln durch immer mehr in die Tiefe 
dringended Berjtändnis. In Wirklichkeit ift es unſre Abjegung 
von ber Herrfchaft über den ungeheuern Bereich bes Glaubens, 
von dem wir wie durch Mauern getrennt werden, der ung nicht 
bloß verichloflen, der verwüſtet, unfruchtbar gemacht wird. Ein 
ganz Kleiner Teil davon wird abgefondert, jo wie Fürſten von 
einem ungeheuern Wald einen Bipfel als Wildpark abjondern 
lafien; in dieſem jollen wir fortfahren zu glauben, in diefem 
zwingt man uns dad Wunderbare auf, das man und dort ge- 
nommen und verboten hat. Dan kann e8 aber nicht hindern, 
daß die Mauer, die man gegen da8 Paradies unſrer Kindheit 
aufgerichtet bat, Spalten und Rifje hat, durch die dad Wunder: 
bare herüberftrahlt in unſre aufgeflärte gebildete Eriftenz. 


ER 





2. Knabenjahre 


Seit der erften Kindheit, wieviel tauſend 
verjhwimmende Geftalten von Heinen Ge 
danten, Abnungen — dann balbgeborne 
Dichtungen, Träume, Ideen, Kleinode von 
Empfindungen .. 


Adalbert Stifter 


1 


Was ift die Poeſie der Jugend? Bergangendeit! ch 
vergleiche fie den blauen Bergen in der Ferne, den ungreifbaren 
Wollen des Sonnenaufgangd und Untergangs, der kriftallnen 
Tiefe des Weltmeerd, dem vergangnen Frühling, furz Dem 
Fernen und dem Geitrigen, allem, was nur aus der Ent- 
fernung herleuchtet. Man mag von Leuten jagen, fie hätten 
ih ihre Sugend bewahrt, von Greifen fogar, jte hätten fi) 
verjüngt: mit echter Jugend bat das nicht? zu tun, die kommt 
in jebem Leben nur einmal vor. Wie Knoſpen und Blühen ihre 
Zeit haben, bat Jugend ihre Zeit. Und mie die Roſe eben 
deshalb jo ſchön iſt, weil fie es nicht weiß, und fo wie Die 
Berge nicht blau find, wenn wir vor ihnen ftehn, und der 
Horizont nicht filbern, wenn unſer Schifflein ihn durchſchneidet, 
jo wird uns die Poefie der Jugend erft bewußt, wenn fie 
ſchon lange hinter uns Liegt. Ich will damit nicht jagen, Daß 
diefe Poefie nur Schein fe. Im Gegenteil, Jugend ſelbſt ift 
lebende Poeſie, lebendig im Innerſten eines werdenden Menſchen, 
aus dem fie alle Voefie, die draußen in der Welt, in der Natur, 
in den Menſchen und ihren Gefchiden lebt, an ſich zieht, ſodaß 
die Kinderfeele mehr draußen als drinnen ift und ſich mädjtig 
von ber Poefie des Außenlebens nährt. Die Kindheit des Ein- 
zelnen gleicht darin der Kindheit der Menjchheit, daß fie ganz 
in ihrer Umwelt aufgeht, mit ihr eins ift, und auch barin, daß 
fie fi dann aus diefer Naturverflechtung und Naturbejeelung 
unter taufend fchmerzlichen Kämpfen wieder Loßlöfen muß, bis 


2. Knabenjahre 1> 


der naturlofe Menſch hergeftellt ijt, den man „brauchen Tann.“ 
Wie oft ift in jenen Jahren dad Gefühl in mir wiedergefehrt 
von einer Welt, die jenfeit8 der engen meinen zu entdeden fei, 
und nad) der Hin Gedanken und ‚Empfindungen ohne Namen 
und Biel ins Unbekannte flogen? Und fie fehrten immer zurüd 
und hatten kein Land gejehen! Aber wenn id) weit, meit Hinein 
in einen. blauen Himmel ſehe, biß er zu zerfließen und immer 
tiefer berunterzufchtveben ſcheint, dann meine ich wohl auch heute 
no ein ferne® Singen und Jauchzen zu hören und wähne, 
mein Jugendland müfje dort ımten am Horizont auffteigen, wo 
die Wollen wie filberne Inſeln liegen. 

Boll Leben waren bie vier engen Wände, in denen ich auf- 
wuchs. Die Tapete ded Zimmers, wo ich ſchlief, in Form ımd 
Farbe Erzeugnis einer fümmerlichen Phantafie: braune Ränkchen 
auf gelben Grunde, denen Figuren entiproffen, die nicht Blume 
und nicht Tier waren und fich deswegen meinem Traumfinn al 
Männchen empfahlen — ih fah fie bald als Bergmänndhen aus 
der Tiefe bis zur Dede fteigen, bald als Engelden von oben 
herunterreiten —, die braunen glänzenden Rinder, die um den 
Tonofen des Wohnzimmers ihren Reigen tanzten, eine bucklige, 
farbige Porzellanfigur mit goldgerändertem Dreijpibhut, die als 
Trinkbecher dienen follte, wozu niemand fie gebrauchen mochte, 
ein eines Körbchen aus Gewürznelfen und grünen Glasperlen, 
aus dem man eben noch etwas veralteten Nelkengeruch zu ziehen 
vermochte, diefe und ähnliche Kleinigkeiten nährten meine kindliche 
Einbildungstraft. Warum blieb nicht die Natur jelbft, Die reiche, 
die Quelle einer elementaren Poeſie, wie fie es in meinen 
früheften Kinderjahren gemefen war? Wie vermochten dieſe 
Stümpereien fie zu verdrängen? Ich vermute, Daß der feimende 
Beſitzſinn hineinfpielte, denn Diefer Zand war mein und den 
Meinigen, die Werke der Natur aber gehören aller Welt. Und 
jo begann denn auch die Wiederbefreundung mit der Natur durch 
. Sammeln und Zuſammenraffen, fie zog mid) aus den vier 
Wänden, Iodte mich |päter von den Büchern ins Freie hinaus. 

Die Sammelleidenichaft, Die in der Neugier und in der 
Anhänglichkeit an einmal Beſeſſenes wurzelte und aus meiner 
Ziihichublade einen Gerümpelichrant machte, wo alte Nägel und 
Hufeifen neben Riejeljteinen und Papierftüdchen lagen, deren 
Wert nur mir allein befannt war, hat mid) durdy meine ganze 
Sugend begleitet; an ihrem Faden bin ich ſpäter zu den ernitern 
Studien gelangt. Sie nahm nacheinander die fonderbarjten Formen 








16 Glädsinjeln und Träume 


n 


an. Ihre frübeften Regungen knüpfen ſich in meiner Erinnerung 
an das Wiederabfchlagen der Buden und „Stände,“ wenn der 
Jahrmarkt zu Ende war, der im Juni ımd im November ab- 
gehalten wurde. Das Einpaden der Waren in ſchwere Kiften 
und mehr noch das Zurüdbleiben zahllojer Papierfegen und ge- 
legentlicher Refte von zerbrochnen Gegenftänden fefjelte uns alle; 
niemand heute fi, in dem Kehricht berumzuftochern; lag dod) 
darüber noch ein Abglanz des Reichtums, der in den Buben 
geleuchtet hatte. Der Menſch hängt fein Herz an ſonderbare 
Schäße. Ich Hatte ein Holzkaſtchen, nicht größer als eine Hand, 
in dem id) von ben Rinderjahren an immer das aufbewahrte, 
was mir augenblidlich das höchſfte Gut war. Es waren nad) 
einander lebende Mailäfer, der Schädel einer Maus, ein durch⸗ 
fihtiger Nheinkiejel, einige Zeilen von der Hand der Schweiter 
meines Freundes Hermann, die ich im Schlitten zu fahren pflegte, 
ein Ring mit Haaren von meiner Mutter. Und wie viel noch! 
Das ſchmuckloſe unpolierte Käftchen machte mir warm in der 
Herzgrube, wenn ich nur daran dachte. ch Habe es auf allen 
meinen frühen Wanderungen mitgetragen, und wo id) weilte, 
machte es mid) heimiſch. Es war mwahrlid die Bundeslade 
meiner jungen Sabre. 

Mächtig nährte den Beſitz- und Sammelgeift die Vorliebe, 
mit der wir „Rnöpfles“ jpielten, wobei Knöpfe in einen an eine 
Hauswand auf die Steinplatte des Bürgerjteigd gezeichneten 
Halbkreis mit dem gebognen rechten Zeigefinger geichoben wurden. 
Sie hing jedenfall® damit zujammen, daß die Biedermeierfräde, 
die blauen und braunen, mit ihren ſchönen Meffingtnöpfen außer 
Mode gelommen waren. Es gab einen Überfiuß von fchönen 
Metallfnöpfen in unfrer Kleinen Welt, und da fie fonft zu nichts 
nüße waren, veripielte man fie. Es gab Knaben, die fich, mie 
die Wilden, ganze Leibletten, ſchwere Leibgürtel und Schulter⸗ 
fetten daraus machten. edenfalld habe ich felbft damals viel 
mehr Wert auf ein Kattunſäckchen vol Meſſingknöpfe ald auf 
alle Sterne des Firmamentd gelegt. 

Das Anlegen von Höhlen oder jonftigen Verſtecken im 
Walde, die geheimnisvolle Einrichtung von Niederlagen von 
Büchern, Spielfahen ımd Nahrungsmitteln in den entlegenften 
Rinleln des Haufes, fogar das Hineinbohren und ⸗ſchnitzeln 
von „Schapkäftchen“ in die Schultiiche, worin Namen und Alter 
des Gräber8 niedergelegt und mit einem Holzpfropf abgeſchloſſen 
wurden, entiprangen alle demjelben Trieb des Geheimtuns, der 





2. Knabenjahre 17 


— 


in uns allen lebte. Und deshalb mußte auch jede Ausgrabung 
Schätze bringen. Man kam nur meiſt nicht tief genug. Deshalb 
ſahen die. Kinder unermüdlich halbe Tage zu, wie beim Graben 
eined Brunnend Kübel um Kübel voll Erde und Sand berauf- 
gemunden wurden. Nie ein Karfunkelitein! Nie ein Kleines 
Tier, das mit leuchtenden Augen auf Goldhaufen lag und 
achte! 

Eine Taged vertraute mir ein Kamerad, der von ebenfo 
großer Sammelleidenjchaft ergriffen war, daß neben einer Hinter- 
tür des Naturalienkabinett3 ein Haufen Steine vom höcdhften 
Werte liege, die herrenlod zu ſein fchienen. Die erfte freie 
Stunde framten wir in dem Gerümpel, und fein Märchenſchatz 
kann feine Finder höher beglücdt Haben. Nicht glaubend, daß 
man dieſe Abdrüde von Kohlenpflanzen, dieſe Fragmente oder 
ſchlechten Abdrüde von Clymenien, Nautilen, Spyrien und was 
ſonſt noch auf dem Haufen lag, ohne weiteres an ſich nehmen 
dürfe, holten wir ung die Erlaubnig, fie anzujehen, und waren 
außer und vor Freude, als uns gejagt wurde, wir jollten nehnen, 
was wir wollten. Wir füllten unjre Taſchen und trugen alles 
auf zweimal nad) Haufe, wo niemand über dieſe ſchwerwiegende 
Bereicherung der Büchergeitelle erfreut war. Das war der erfte 
Anfang des Sammelns mit wiſſenſchaftlichem Zweck. Der war 
zuerſt freilich nur Nebenzwed, aber da wir nun öfter dad 
Mufeum bejuchten, wo viel mehr und volllonmnere Exemplare 
aufgejtellt waren, begann dad Vergleichen und Benennen, und 
unwillfürlih wurden wir in da8 Mlaffifizieren hineingeführt, das 
die Grundlage aller weitern Fortichritte war. Es dauerte nicht 
lange, fo madten wir auf eigne Hand Entdedungderpeditionen 
in die Sandftein- und Muſchelkalkbrüche der Umgebung. Ich 
war faum dem Snabenalter entwachſen, als ich die Fauna des 
Keuperd und des Muſchelkalls mit zwei ausgezeichneten Formen 
bereicherte. Niemand, am wenigſten ich ſelbſt, ließ fi) damals 
träumen, daß damit ein Weg betreten war, der mich viel ſpäter 
weit führen follte, nachdem ich einige andre ſchon gemandert 
war. Damald bewegte fi mein Sammeln und Ordnen nod 
ganz im Spiel. Im beiten Fall galt e8 als Liebhaberei. 

Ziebhabereien, fonderbare8 Wort! Oft bin ich dir in meinem 
Leben begegnet und habe dir nicht nachgedacht. Als aus ber 
Liebhaberei wifjenichaftliche Arbeit geworden war, kam e& mir 
zum eritenmal in den Sinn, wie du eigentlich geringſchätzig lauten 
möchteft und doch fo manches Edles meinft. Wie manche Lieb- 

Rayel, Slüdsinfeln und Träume 2 


18 Glädsinfeln und Träume 


haberei ijt da8 einzige, was ein Menſch auf diefer Welt Lieb 
hat und lieb haben Tann! 

Man erzählte und Sagen und Märchen, und jogar Anderjens 
Märchen gehörten zu meiner frühen Lektüre. Die Sage ranlte 
fih aber bei und Kindern lieber in das junge Gebüſch der 
Gegenwart als um die alten Bäume der grauen Vergangenheit. 
Dort war der Gegenjat zwiſchen ihr und der Wirklichkeit größer, 
die Wirkung war ftärler, wo fie das Leben felbft zu bedrohen 
ſchien. Darum lafen wir gleichgiltig in den Märchenbüchern, 
hörten aber mit Grauen von dem kürzlich veritorbnen Bürger- 
meifter von M., der Nachts ächzend einen Grenzſtein, ben er 
zu Unrecht. verjegt hatte, wieder an feine Stelle fchleppte, und 
hörten mit halb angenehmen Schauern den Boten Bender von 
Eichelberg erzählen, der Arzneien in tiefer Nacht über den Berg 
zu den Typhuskranken in Ziefenbad trug, wie ein Schatten 
neben ihm gewandert fei, der jedesmal zufammengeichrumpft fei, 
wenn Bender an Sefum dachte. In unjrer allernädjften Nach⸗ 
barjchaft hauften Geifter, die fi) nach den zuverfihtlih vorge⸗ 
tragnen Erfahrungen der ältern Spielgenofjen jogar in die Spiele 
einmifchten. Ein beliebte Spiel war Haſchen in Verbindung 
mit Berfteden, wobei der an fiherer Stelle angelangte an Die 
Mauer jchlug und „Lupard“ rief.” Wir fpielten ed mit Vor⸗ 
liebe vor einer Gruppe von Felsgrotten, die aus der romantifchen 
Gartenkunſt ftammten und eigens für Knabenſpiele gebaut zu 
jein ſchienen. „Wenn man immer Lupard ruft, kann fein Geift 
bier fchlafen,“ jollte e8 dort einmal aus der Höhle zurüdgerufen 
haben. Es fiel niemand auf, daß diefer Ruf nicht ganz im 
Geifterftil gehalten war, vielmehr etwas alltäglich Hang. Eine 
Zeit lang unterließg man dad Spiel. Als aber ein mutvoller 
Knabe doppelt Iaut fein Lupard in die Höhle Hineingerufen 
hatte und feine Geiſterbeſchwerde erfolgte, nahmen wir e8 mit 
dem gewohnten Lärm wieder auf. Ach dachte bei mir im ftillen: 
Die Geifter find wohl wie meine Mutter, die und aud einmal 
ein „Stillel” zuruft, menn e8 des Lärmes zubiel wird, dann 
aber, wenn es nichts Hilft, lächelnd dem Treiben zufieht. Die 
Geiftergeichichten endeten übrigens nicht immer jo harmlod. Als 
ein Spiellamerad erzählt hatte, es käme vor, daß einem, ber 
zuviel in den Spiegel fchaue, eine jchredliche Frage daraus an- 
grinje, er Habe eine gefehen, die ſich mit den Fingern in Den 
Mund gefahren fei, um denfelben über das ganze Geficht hin 
auszuweiten, traute id) mid) wochenlang nicht, wenigfien® nicht 


2. Knabenjahre 19 


IIND LER ⸗— — 








—— — — 





am Abend, in den Spiegel zu ſchauen. Damals fiel mir dieſe 
Enthaltſamkeit nicht ſchwer, weil ich den Spiegel ohnehin als 
laftiges Toiletteſtück auf eine Linie mit dem Schwamm und ber 
Bürfte ſtellte. E8 war nur eine willlommne Vereinfadyung, Die 
Haare ohne Spiegel zu bürften. Der jchräge Scheitel kam dann 
freilich zickzackförmig heraus. 

Zu den geheimnisvollen Ungelegenheiten gehörten auch die 
Verſuche, der Natur ins Handwerk zu pfuſchen, die auf manchen 
Umwegen einige aus meinem Geſpielenkreis endlich bis zur 
Pharmazie und zur Chemie geführt haben. Keine Roſenzeit ging 
vorüber, ohne daß von neuem wieder Roſenblätter und Waſſer 
in lange ſchmale Flaſchen gefüllt, wie man ſie damals für Kölniſch 
Waſſer benutzte, und in die Sonne geſtellt wurden. Daß dieſe 
durch ihre ſonderbare Geſtalt auffallenden Flaſchen nun nicht 
imſtande waren, aus der Miſchung etwas viel beſſeres als den 
natürlichen Roſenduft zu deſtillieren, kam ung gar überraſchend 
vor und enttäuſchte beſonders lebhaft, wenn eigenſinniges Ver⸗ 
harren auf dem Wege dieſer „Sonnendeſtillation“ endlich nichts 
als ein höchfſt übelriechendes Produkt erreichte. Bedenkliche 
Richtungen ſchlug dieſer Probiertrieb in etwas ſpäterer Zeit ein, 
als er ſich auf Feuerwerk warf. Ich weiß nicht, wie es kam, 
daß unſre Soldaten auf dem Exerzierplatz ſo viel volle Patronen 
verloren, aber es war ganz bekannt, daß man bei den Übungen 
im Feuer nur hinter einer Plänklerkette herzugehn brauchte, um 
da und dort eine volle oder nur halbgeleerte Batrone zu finden. 
Indem wir zujfammentaten, füllten wir ganze Flaſchen mit Bulver. 
Mit Speichel befeuchtet wurden daraus Tleine Berge geformt, 
die unter Sprühen und Spraßen verbrannten. Als ich mid) 
einmal zu nahe beranmwagte und hineinblies, ſprang mir ber 
ganze Feuerteufel ind Geſicht. Es war am Tag nach meinem 
zwölften Geburtstag. Die Pulvererplofion warf mich plötzlich 
um einige. in meiner eignen Schägung zurüd, ich kam mir jünger 
und — Dünmer vor, wiewohl mich die abgefengten Augenbrauen, 
Wimpern und Stirnhaare jeltfam alt außjehen machten. 

Bu den fonderbarften Dingen gehört Die Deutliche Erinnerung 
an Träume, die ich in früher Jugend hatte Das kann wohl 
nur damit zujammenhängen, daß wir jehr oft einen beftimmten 
Traum träumen, der dann auf einmal verſchwindet. AB Er- 
innerung, Die wir oft ſchwer von den Eindrüden der Wirklich⸗ 
fett trennen, taucht er dann zu irgendeiner Zeit wieder auf. 
Ich muß zum Beifpiel jehr oft vom liegen über einem weiten 

2» 





20 Glüdsinfeln und Lräume 


——7,————' ER LAIEN LED DL LS DD D DE DD LP L LED, —— —— — — 


Waſſer geträumt Haben. Wenn ich nun über den Strom hinflog, 
fühlte ich die mächtige Anziehung des Waſſers, teil fürchtete 
ih fie, teild war es ein ſüßes Gefühl, jo Hart darüber Hinzu- 
ftreifen. Dem befannten Trid des Traumgotted, und Durch eine 
endlofe Reihe von Zimmern zu führen, bi wir im legten frei 
bon Mauern in der Luft ftehn, muß ich öfter zum Opfer ge: 
fallen fein. Und nun nach 1849, aljo in fehr früher Jugend, 
muß ich oft im Zraum ben roten preußiſchen Hufaren neben 
feinem Pferd auf dem Marktplatz haben ftehn fehen, den ich ein 
einzigemal in Wirklichleit dort erblidt Hatte. So hat wohl 
auch in fpätern Jahren jeder Menich feine Traumgeftalt, die 
ihn gleichfam begleitet, ein Schatten, der in Träumen ihm er- 
ſcheint, wenn er ihn im Leben vielleiht nur ein einzigesmal 
gejehen Hatte und im wachen Zuftand feiner faum jemals inne 
wird. Es ift fonderbar, wie von den Sternen ber Kindheit, 
wenn der Tag des Lebens heller wird, jo viele verlöfchen, und 
gerade die in der Erinnerung fortleuchten, die einft am mwenigiten 
beachtet worden waren. Gerade jo willkürlich, wie die wirklichen 
Sterne aus der Tiefe des Weltalld, leuchten und jene von Stellen 
an, die und früher fait dunkel erſchienen waren. 

Daß e8 eine Natur gibt, die fchöner iſt als eine andre, 
habe ich erft fpät eingejehen. Unſre Gegend Hatte gar nichts 
voraus, aber ihre Natur ſprach zu uns in ihrer lebendigen 
Sprade, die das Kind fo gut wie der Greis verfteht. Meine 
Bervunderung galt ganz glei) den Sternen am Himmel und 
den Blumen und Blümchen an der Erde. Der Wald, der und 
auf Drei Seiten der Stadt leicht erreichbar lag, war zwar ein 
beliebter Spielplag, wurde aber weiter nicht bewundert. Da⸗ 
gegen machten bie Getreidefelder, durch die fo jtille Schmale Sand- 
und Graspfade zogen, einen tiefen Eindrud auf mein Gemüt, 
deren Grund daß früh eingeprägte Danlesgefühl gegen den Geber 
des täglichen Brote geweien fein mag. Ich ging ſchon al 
Knabe, dem die Ahren um die Nafe ſchwankten, mit Vorliebe 
dur ihr Silbergrau, wenn fie blühten und fo eigentümlic) 
dufteten, und durch ihr Gold, deſſen bräunlicder Ton der Gipfel 
alles Reifens zu fein fchien. Und die Kornblumen, Widen und 
ftolzen Kornraden ftanden nicht wie Unkraut in dem Felde, fondern 
wie Blumen in einem Garten. Leider entftellten wir zu jener 
Zeit die Poefie der Getreidefelder hartmädig durd das Kauen 
der halbreifen Weizenlörner, die man tagelang im Munde um- 
herwarf, bis ein Fleined Klümpchen Kleber übrig war, aus dem 





2. Knabenjahre 21 





——— GG AU —— — —. — 


durch geſchicktes Kneten Luftblaschen mit Knall austraten. Dieſes 
„Knallgummikauen“ wurde auch in den Schulſtunden fortgeſetzt, 
weil und wiewohl es, mit Recht, ſchwer verpönt war. 

Der Wald reichte hart bis an meine Vaterſtadt, deren Nord⸗ 
ſeite halbkreisförmig in ihn hineingebaut iſt. In ihm ſtanden 
wundervolle alte Eichen, und weite, Dichte Föhrenſchläge, in deren 
Didiht man die Welt vergefjen konnte, wurden von fchlanken, 
rotberindeten Föhren überragt. Zu meinen älteften und reiniten 
Katureindrüden gehört ein Sonnenuntergang hinter diefen Führen, 
an deren Rinde das Licht wie glühendes rote8 Gold niederrann. 
Seltiamerweife fiel im Walde die Furcht vor Gefpenftern ganz 
dahin. Die Waldgeifter waren mir willlommen. Wie erweiterte 
fi) mir die Bruft, wenn ic dad Helldunkel und den Reid 
tum des durch Die Afte ſchimmernden Himmelsblaus mit keinem 
Menſchen teilte. Es war ein freundſchaftliches Vertrauen, das 
mich mit dem Walde zuſammenband. Bot er doch der „neſt⸗ 
machenden“ Phantaſie des Jugendalters tauſend Kammern und 
Winkel! 

Mit zwölf Jahren lernte ich ſchwimmen; mein Verhältnis 
zum Waſſer wurde dadurch ganz neu, denn wenn ich in das 
klare Naß tauchte, fühlte ich, wie mein Inneres klarer und reiner 
wurde, und mit den Augen wuſch ich die Seele, die nun freier 
in die Welt ſchaute. Sonſt Hatten wir Knaben ganze Nadh- 
mittage am Waſſer und im Waſſer verbracht, ung mit dem Schlamm 
der Flußufer überzogen, bis wir Indianern glichen, dann in den 
warmen Sand der Abhänge eingegraben und die ganze Krufte 
untertauchend wieder abgewaſchen. Jetzt fuchte ich ftille Stellen 
auf, und wenn id) gebadet hatte, wanderte ich wie ein neuer 
Menſch durch die wogenden Getreidejelder heimwärts und fchaute 
zu, wie an dem gelblichen Weſthimmel die Sonne fchneller ſank. 

Zum Glück haben Kinder noch feine hohe Meinung vom 
Wert ihres Lebens, ſonſt würde die Sorgfalt, mit der ihre Eltern 
e8 umbegen, ihrer Eitelkeit jchmeicheln. Ich bin zweimal hart 
am Ertrinfen gewejen, Doc) wurde mir gegenüber fein Fall daraus 
gemacht, und die nähern Umſtände find mir deshalb auch nicht 
belannt. Nur erinnere ich mich gehört zu haben, daß ich einmal 
ganz ftill einen Sandabhang am Rhein Hinabgeglitten und ver- 
funfen fe. Daß Kinder fo lautlos verjchwinden, ift eine große 
Gefahr. Ich bin ſelbſt Zeuge geweſen, wie eine Yrau über den 
Müpliteg ging, Hinter ihr ihr Mädchen von fünf Jahren; fie hört 
die vertrauten Kindesſchrittchen nicht mehr, fieht fih um, und 


23 Slüädsinfeln und Träume 


nur das Kopftüchlein des Kindes ſchwamm im Bad, das Find 
war ſchon tief unten und fam nicht lebend wieder. 


2 

Den größten Abſchnitt in dieſer Zeit macht nicht die Schule 
jelbit, fondern das Gefühl eines gewifjen Herabfteigend in mo⸗ 
ralifcher Beziehung als Yolge des Umgangs mit andern Rindern. 
Der gejcheite Knabe ſucht feine Freunde am liebften unter denen, 
die ihn anftaımen, weil fie unter ihm ftehn, und unfre Schwach⸗ 
beiten entdeden wir mur denen gern, denen wir gleiche oder noch 
größere zutrauen. Wir fteigen auch geiftig und moralifch lieber 
bergab, als dag wir fteile Höhen erklimmen. Es mochte im 
erften oder zweiten Schuljahre fein, als id) meine Mutter jagen 
hörte: Sa, wenn du noch mwärjt wie in deinem vierten oder 
fünften Jahre, allein jo brav wirft du dein Leben nicht mehr! 
Alſo dad Paradies ſchon hinter mir? Da mir viel an dem lag, 
was meine Mutter von mir hielt, Habe ich dieſes Wort nicht ver- 
gefien. Eine andre Anderung machte ſich erſt allmählich fühlbar. 
Die Heine Seele wurde ganz langjam inne, daß das äußere 
Leben etwas von ihr wolle, immer mehr, womöglidy fie ſelbſt 
mödte fie ganz an fich heranziehn. Sie foll nicht länger mit 
fi) allein bleiben. Die Schule Hopft am Härtejten mit Diefer 
Horderung an, doch wird diefe jahrelang hartnädig nicht ver- 
nommen. Das Knäblein verfteht diefe Sprache noch nicht. 

Nicht alles kommt zum Vorjchein, was in einem Sinder- 
gemüt an Gutem und Böſem in wunderbarer Miſchung freift. 
Die Triebe, die in ihm liegen, und die Anregungen, Die von 
außen kommen, begegnen fi wie die Ströme bes fteigenden 
Saftes in einem jungen Baume. Es gibt ftille innere Kämpfe 
und Gärungen zwiſchen Schädlichkeiten und Heilmitteln, die die 
Natur ſelbſt bereitet. In ſolchen unbewußten Vorgängen ſchwand 
unmerflich der Rinderfinn, wie die Blüten fallen. Diefe ganze 
Traumzeit verflog, als wäre jie in ein beſſeres Land zurüd- 
gelehrt, und die Gegenwart kam mir zum erftenmal ohne Blüte 
und Farbe vor. Zu derſelben Zeit habe ich vielleicht zum erſten⸗ 
mal empfunden, was Langeweile, innere Ode ift. 

Wie am treibenden Stod die Sinofpen bald da bald dort 
bervortreten, die eine von der Sonne gehegt aufbricht, Die andre 
vom Froſt getötet abfällt, fo trieb nun meine junge Seele ihre 
Knoſpen, und zwar jowohl der Sonne ald dem Schatten ent⸗ 
gegen. Nur blieben diefe lange geichloffen, fielen vielleicht bald 








2. Knabenjahre 23 


— 


ganz ab, während jene fröhlich aufblühten. Die Schule ſtand 
nun jahrelang ganzlich auf der Schattenſeite. Keine wahre Lebens⸗ 
aber lief nad) ihr Hin, da8 warme Jugendblut verbrauchte fich 
ganz in Spielen, Träumen, halb träumenden Berjuchen zu jelb- 
ftändiger Zätigleit und in der Anhänglichkeit an Elternhaus 
und Freunde. Die Wehmut der gebrocdhnen Freundſchaft und 
das unbejchreibliche Glück, wenn fie wieder bergeftellt wurde, das 
waren die Wellengipfel und WWellentäler dieſes Lebensabſchnitts. 

Ich babe aus meinem ganzen erſten Schuljahre nur bie 
eine Szene in ganz heller Erinnerung, als uns eine herrliche 
Bergkriftalldrufe gezeigt wurde. Die muß meine Liebe zu den 
Kriftallen zuerft wachgerufen haben. Leid tat e8 mir nur, daß 
fie in einem fo ftaubigen Glaskäſtchen wie eingefangen ſaß. Weil 
ich leicht lernte, ftand ich ſchon zur Elementarjchule wie jpäter 
zur Univerfität: ich ergriff, was mir gefiel, und hielt mich an 
feinen ftrengen Gang. Was ich gelernt habe, ift ſelbſt erarbeitet, 
die Schulen aller Stufen haben mid) immer nur angeregt und 
mir Wege gezeigt, Darunter auch Holzivege. 

Erft die Schulaufgaben und dann da8 Spielen! war das 
erite Geſetz, das ich zuerjt für graufam und mit der Zeit auch 
für umfinnig hielt. Denn da alle Spiel hieß, was nicht von 
der Schule vorgefchrieben war, jo fielen in fpätern Jahren auch) 
die mit Leidenſchaft betriebnen Naturſtudien und die Privat- 
leftüre unter dieſes Gebot, und ich fühlte doch ſchon damals, daß 
in ihnen Leben und Fortichritt war, während fi die Schul- 
aufgaben jo oft wüftenhaft troden, Paragraph für Paragraph 
duch die Lehrftunden hinſtreckten. Wie öde kamen mir Die 
Grammatikſtunden vor, als ih ſchon angefangen hatte, aus Leffing 
und Schiller zu lernen, was an der deutichen Spradhe gut und 
ſchön if. Die Jugend kann fo viel Wideriprechendes in ſich 
aumehmen, weil fie e8 einfach zum andern ftellt; wenn fie es 
erleben müßte, verwüchſe es mit ihr zu einem Ungeheuer. Dan 
bedenfe doch, daß wir in einem bureaufratifch-monardhiichen Klein⸗ 
ftaat aufiwuchfen, wo ſchon Lodenhaar bei jungen Männern, ein 
Filzhut oder ein roted Mantelfutter verdächtig twaren, während 
die Schule allen Bewunderung für Ariftives und fogar Brutus 
einimpfte, ſodaß wir Schüler viel eher ein Berftändniß zum Frei⸗ 
ſtaat als zur Monarchie hatten, bei der wir an Nero oder Bhilipp 
dachten! Im Grunde war es gut, daß in den damaligen deutſchen 
Berhältnifien Wirkliches und Gegenwärtiges für und gar nicht 
in Frage kamen. Niemand von uns Hatte einen lebendigen 


24 Glädsinfeln und Träume 


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wu... 


Staatömann oder Feldherrn, und id) wenigſtens Hatte auch noch 
feinen Landtagdabgeorbneten gejehen. Unſre politiichen Geſpräche 
fonnten um fo umfafjender und vielfeitiger jein, und während faft 
jeder- von uns einen Verwandten hatte, der 1849 nad Frank⸗ 
reich oder Amerila ald „Hevoluzzer“ geflohen war, oder der in 
Schleswig-Holftein oder Baden auf der andern Seite gefochten 
hatte, lebten wir in ber Geſchichte des Peloponneſiſchen Krieges 
ober ber Gracchen oder höchſtens, angeregt durch Schillers 
„Maria Stuart“ und ſpäter Macaulay, in der engliichen des ſech— 
zehnten und des fiebzehnten Jahrhunderts. Der Geſchichtsunterricht 
ging fo fchleppend, daß er nie über den Fall von Konftantinopel 
hinausfam; denn das war ein Kapitelfchluß im Lehrbuch! Dabei 
wurde das Mittelalter jo geiftloß behandelt, daß ich eine Vor⸗ 
ftellung von Konradin erft durch den zufälligen Yund einer Bio- 
graphie feines Freundes Friedrich von Baden gewann, Die ich 
verſchlang. Als ich ſchon feit Jahren jede Jahreszahl und jeden 
Namen aus der Geſchichte der alten Griechen innehatte, wirkte 
e8 wie eine bligartige Erleuchtung auf mich, als ich zum erſten⸗ 
mal auf der Univerfität Ludwig Häuſſer die griechifche und Die 
deutfche Sleinftaaterei vergleichen hörte. Wenn man fagt: Die 
Schule ift der Markt der Knaben, bier lernen fie einander und 
daB Leben fennen, jo galt das für und nur im befchräntteften 
Sinne: die Schule war nicht unfre Agora, Höchftens unſer Tauſch⸗ 
markt, da bei und fehr viel „gefuggert“ wurde; der Markt des 
Lebens lag weit ab von unſern kahlen Wänden. Nur im Ge 
wand der Dichtung griff mir damals die Geſchichte and Herz; 
in der Profa des Lehrbuchs war fie abjolut gleichgiltig. Iſt 
das erſtaunlich? War denn nicht Homer der erſte Gefchichtichreiber 
der Griehen? Und fo bringen jedem Jugendgemüt nicht die Ge⸗ 
lehrten, ſondern die Dichter die Gejchichte nahe. Für mich gab es 
viele Jahre Fein Geſchichtsbuch, das mir höher ftand als Hebels 
Bibliſche Geſchichten und die mythiſchen Partien in K. F. Beckers 
Weltgeſchichte. 

Ich will den freundlichen Leſer, der mir bis hierher gefolgt 
iſt, nicht mit Schulgeſchichten langweilen. Zur Kennzeichnung 
der Zeit gemügt vielleicht folgendes. Als ich wegen Mangels 
aller Fortichritte und ſichtlichen Erfterbend aller Teilnahme an 
dem Unterrichtsgang der Schule einer Privatichule überantwortet 
wurde, die den Ruhm hatte, auch die verkommenſten Subjelte 
durch Prüfungen zu bringen, vernahm id; von deren erftem 
Lehrer das ſchöne Wort: Da man junge Hunde und Bären ab- 


2. Knabenjahre 95 


IL 





richten kann, braudt man an jungen Menſchen nicht zu ver- 
zweifeln. Das war nicht gerade ermutigend; doch widerſprach es 
nicht den pädagogiichen Grundjäßen meines Vaters, der meine 
Einführung bei dem Direltor mit den Worten begleitete: „Der 
Bub ift gut, indeflen wenn er nicht pariert, fchlagen Sie ihn 
braun und blau.” Wiewohl nun dieſer Direltor von berüdhtigter 
Sclagfertigleit war — von den Fortichritten der Technik be= 
geiftert prügelte er nicht mit dem Rohr wie Die gemöhnlichen 
Lehrer, jondern mit einem kurzen Kautfchulfnüppel, deſſen eigen= 
händige Herftellung er uns eingehend jchilderte —, habe ich von 
ihm nicht zu leiden gehabt, jondern weiß ihm aufrichtigen Dan. 
Als Schulmann wird er wohl mittelmäßig gewejen fein, feine 
Unterrichtöftunden waren verworren, planlos; aber er hatte die 
Gewohnheit, von deren Gegenftand faft immer abzufchweifen, und 
aus feinen Erzählungen, die mit der Sache gar nichts zu tum 
Hatten und eben deöwegen uns doppelt feffelten, haben wir alle 
viel gelernt. Er war Pflanzen» und Inſektenſammler, begeijtert 
für Phyſik und Chemie; dabei unterrichtete er in alten und neuen 
Sprachen. Man kann fid) das Ragout jeines Unterrichts denken; 
aber es mundete und. Es fommt mir jet wie eine Parodie 
vor, daß wir ihm zum Geburtstag einmal ein Uräometer fchentten, 
dad in einer Kanne voll Geifenfiederlauge ſchwamm, die ber 
Sohn eines Geifenfiederd beifteuerte.e So fehr Hatte uns feine 
Darftellung der Seifenfabrifation gefallen, die er in der grie 
chiſchen Stunde an die Frage gefnüpft hatte: Womit mögen die 
bomerifhen Helden den Staub des Kampfes gründlich abge- 
waichen haben? Wie aus einem dürren Stamm an uneriwarteter 
Stelle ein grüner Schoß entipringt, fo wedten dieje Schilderungen 
und Beſprechungen, die andern als Allotria vorkamen, in mir bie 
Lernluft, und ich empfing von ihnen den Anftoß zu der Nichtung 
bes Denken? und Arbeitens, der ich mein Leben lang gefolgt bin. 
Plötzlich ftürzte ich mich mit Leidenſchaſt auf die Naturgeſchichte, 
und da ich mid) Darin von dieſem Lehrer eifrig gefördert ſah, 
tat ich ihm zuliebe auch in den andern Fächern das nötige, im 
deutihen Aufſatz ſogar mehr als dieſes. Als ich an einen 
Sonnabend Vormittag. meinen Aufſatz, Jonathan und Patroflus“ 
abgeliefert hatte und am Sonntag von meinem Vater vernahm, 
ein mit meinem Direftor befreundeter Geiftlicher habe ihn ge- 
lefen und mit großem Lob davon geiprocdhen, mag fich wohl der 
allererite Keim der Befriedigung über einen literariichen Erfolg 
in mir geregt haben. Doc machte mid diefe Anerkennung, 





26 Glüädsinfeln und Träume 


we. 








gewiß nicht eitel, denn ein ficherer Inſtinkt ließ mich fühlen, daß 
es fi) in einem ſolchen Aufjage doch nur um die Handhabung 
von Worten handle. Sa, wenn dad Thema geweſen wäre, eine 
blühende Wieje oder die Verwandlungen des Dleanderihwärmers 
zu ſchildern,. da hätten ſich Tatſachen darftellen laſſen, das wäre 
etwas gewelen! Da hätten ſich auch Gefühle ausfprechen laſſen, 
die man wirklich gehabt hatte. ch verjuchte einmal, ald ich von 
einem Aufenthalt in dem Heimatsdorfe meined Vaters zurüd- 
getehrt war, zu bejchreiben, wie ſchön es jei, aus dem Fenfter 
auf den Apfelbaum zu fteigen und aus befien Krone dad NRaufchen 
des Baches von drumten her zu hören oder feine Wellen im 
Sonnenlicht bligen zu jehen. Ich Hatte die Kühnheit, den Kleinen 
Verſuch meinem Direktor zu zeigen, der mit befonderm Qob bie 
Wendung bedadhte: die Apfel waren fo groß, daß die Augen, bie 
fie anfchauten, unwillkürlich wuchſen. 


3 


Grübeln und Spielen gingen wie blauer und roter Farben- 
Ichimmer auf einem Käferflügel beitändig ineinander über. Auch 
meine Gedanken über Neligion glichen Seifenblajen mehr al 
irgend etwas anderm. So vergänglid waren fie auch im ein- 
zelnen, bleibend war nur das Danfgefühl gegen Gott den Schöpfer 
und die ahnungsvolle Ehrfurcht vor Gott dem ewigen Richter. 
Biel tiefern Eindrud als der heimische trockne Gottesdienſt machte 
es, wenn man an einem fonnigen Sonntage „binter* die Kirche 
ging und im weiten Feld unter Lerchengefang hinſchritt, mit dem 
fi) die Glodentöne ferner Dörfer miſchten. Da fühlte man da 
Wehen eined Geiftes, von dem in unfrer falten, grauen Kirche 
tein Atem war. Der Religiondunterridht blieb volllommen un- 
fruchtbar im Dogmatiſchen, brachte und dagegen in der biblifchen 
Geſchichte Kunde von großen Typen und Vorbildern menfchlicher 
Entwidlung zum Guten und zum Böfen. Bisher hatte ich all- 
fenntägli die Grau in Grau, trüb und poefieloß gezeichneten 
Bilder aud dem Alten Teitament, die in die Galeriebrüftung 
der Kirche eingefeßt waren, ohne Gedanken und Gefühl ange- 
ſchaut; fie fprachen fo wenig verftändlich zu mir wie das Knäuf- 
geſchlinge der korinthiſchen Säulen, in Das ich vergebens Leben 
oder Sinn zu bringen ſuchte. Das änderte ſich nunmehr, und 
zwar nicht bloß äußerlich. Ich hatte Gedanken, mit denen dieſe 
Geſtalten zu beleben waren. Freilich nur eben, foweit fie Menſchen 
waren. Gerade fo erging ed mir mit ber Kirchengeſchichte. Da 


2. Knabenjahre 97 


— —— — —— — ——— TEE ILS DE 


gefiel mir, lange vor Dahn, natürlich das Heldenhafte an den 
Arianern, wie ich denn ſelbſt an Chriſtenverfolgungen und Ketzer⸗ 
verbrennungen nicht ohne ein geheimes Wohlgefallen vorüberging. 
Aber alle dieſe Religionsgeſchichten intereſſierten mich doch nur 
ſo oder kaum ſo wie Romulus und Remus. Es war zwar ſtark, 
daß ein Bruder den andern erſchlug, bloß weil er ſein Mäuerlein 
überſprang, aber man konnte ſich immerhin hineinleben. Jeder 
hatte Beiſpiele von dem unbegründeten Zorn des Jugendalters. 
Dagegen in den Wortſtreit der Ausleger der Heilsbotſchaften, 
wer lebte ſich da hinein? Die Hauptſache war doch offenbar. 
daß uns dieſe Botſchaft geſandt war, ihren Sinn mußte der am 
beſten verſtehn, der ſie uns ſendet, was die Menſchen hineinlegen, 
iſt Nebenſache. 

Für den Glauben fehlte mir alles Verſtändnis. Gerade 
weil ich glaubte, begriff ich nicht, was Glaube ſei. Man ſollte 
mit dieſem Worte die Jugend nicht quälen, ſie glaubt ja ohnehin 
mehr, als nötig iſt, und zuviel beſtimmten Glauben von ihr 
fordern, heißt ſie zum Zweifel herausfordern. Die Jugend kann 
auch nicht den abgeklärten Glauben deſſen haben, der einmal ge⸗ 
glaubt Hatte und nun aus dem Zweifel zum Wiederglauben em⸗ 
porjteigt, in dem er ſich glüdlich fühlt, einen Geber des Guten 
Dank zu willen und überhaupt einen Herrn über fi) zu willen. 
Mir blieb Glaube ein leeres Wort, deflen Sinn ich erft zu ahnen 
begann, al8 die Sache jelbit ind Wanken fam. Ich Hatte an 
Geifter geglaubt und Diefen Glauben nie abgelegt, fondern, vor 
dem Spott meiner Genoffen mich ſchaͤmend, ihn verborgen. Warum 
nicht glauben? Ich ahnte, wie wenig wir wiflen. In welchem 
meiner gelehrten Pflanzenbücher fand id) eine Auskunft darüber, 
wer die Pflanzen gefchaffen habe? Die Wirklichkeit der Geijter- 
dinge zu bezweifeln, jchien mir ohnmächtige Berneinung. Glaube 
an Gott und feine Macht, und alles andre laß dahingeſtellt! 

Durh den Umgang mit Tatholiichen und mit jüdiſchen 
Schülern gewannen wir andern gelegentlich Einblide in ein ganz 
anders beichaffnes Religiondweien, die und zwar nicht zu Zweifeln 
an unjerm eignen aufregten, aber doch mancherlei Perſpektiven 
auftaten, in Die man nicht ohne Behagen Hineinfchaute. Ich er- 
innere mid, daß es zwei Dinge waren, die mich anzogen und 
mir zu denken gaben. Das eine war die Heiligenwelt der Katho- 
liken mit ihrem märcdhenhaften Glanz von Wundern, ihren ſchweren 
Leiden und den zahlreichen Beilpielen von Heldengröße, dad andre 
der Ernſt, mit dem die Juden ihre Feiertage feierten. Daß 





28 Glüdsinfeln und Träume 


Knaben, deren weltlicher Charakter uns fo mohlbefannt war, vom 
Freitag Abend an feine Feder und fein Spiel anrührten, hatte 
doch etwas Impoſantes. Man ahnte, daß etwas Großes da⸗ 
binterftehe. Weniger eindrucksvoll waren Die ungejäuerten Brote, 
die Mabes, die fie uns in der Ofterzeit often ließen. Aber 
jedenfall war auch das etwas ganz Bejondre8. Um jene Heiligen- 
gefchichten aber beneidete ich) meine Mitſchüler, die fie glauben 
durften. Das waren troß ihrer Heiligleit und Seligkeit Menfchen, 
die ich verftand, mit ihnen konnte man leiden und felig werden. 
Der heilige Bernardin von Siena, in defien Gegenwart fein Mit- 
ſchüler eine unanftändige Rede zu ſprechen wagte, der heilige 
Rupert, der nie einen Menjchen betrübte, der heilige Robert von 
York, der ſchon als Knabe den Ernft des gereiften Mannes zeigte, 
die heilige Balbina, die, ein Wunder von Schönheit, ſich eine 
entftellende Halsgeſchwulſt anbetete, um ihre Schönheit mit mafel- 
Lofer Reinheit zu verbinden, der heilige Godrich, der als Land⸗ 
främer und Heiliger durch Irland z0g, das waren alles ganz 
verftändliche Erfcheinungen. So konnte id) mir auch ganz gut 
denken, daß Die Heilige Johanna, die mit einem Korb und mit 
einem Salbengefäß abgebildet wird, wie eine von den Botinnen 
außgejehen Habe, die man auf den Dorfftraßen gehn jah, und 
daß die heilige Wilfhilde, die Tochter des Herzogs von Bayern, 
die die niedrigften Magddienſte verrichtete und ein jchlechtes Ge⸗ 
wand trug, ald Bärbel oder Urſchel um und berummanbdelte. 
Es fehlte aber auch nicht an echt romantischen Zügen in 
biefen Legenden. Dem Sailer zerbracdh die Feder dreimal, als 
er dad Berbannungsurteil des Heiligen Bafiliuß unterjchreiben 
jollte, und im dunkeln Kerker des heiligen Quirinus erichien 
immer gerade um Mitternacht ein tröjtliches Licht. Wie anmutig 
war body die Gefchichte vom heiligen Gotthard, der, als er in 
feiner niederbagrifchen Heimat als Miniftrant fungierte, einmal 
in feinem Ghorrödlein die glühenden Kohlen herbeitrug, ohne es 
un geringften zu beichädigen. Welches erhebende Vertrauen in 
dem mutigen Athanaſius, der ſprach: Auch dieſes Wölklein wird 
bald vorübergehn! Und feine Berfolgungen gingen vorüber. Ge⸗ 
heimnisvoll lautete es in den Legenden von der heiligen Katha⸗ 
rina von Siena: fie jah künftige Ereigniffe voraus und hatte Die 
Kenniniß der Herzen. Al der graufame Domitian den Heiligen 
Johannes in einen Keffel fievenden Ols werfen ließ, freute ſich 
diefer feiner Qualen und ftieg neu erfrifcht auß ber Glut hervor; 
das Wunder geihah vor dem lateiniichen Tore, und Johannes 


2. Knabenjahre 29 


TEIL 





————— — —— LEER GL LO LLO 


heißt mit Bezug auf das Wunder „von der latiniſchen Pforte.“ 
Das alles prägte ſich mir tief ein, Zweifel kamen mir dabei gar 
nicht in den Sinn, und ich wundre mich nicht über dieſes, Mit⸗ 
glauben,” da wir Doch fo viel andres leichtgläubig hinnahmen, 
was viel weniger groß und impojant war. ch erinnere mid) 
einer Unterredbung in meinem protejtantifchen Yamilienfreiß, wo 
der 2egendenglaube getadelt wurde; zwar drang ich mit meiner 
Anficht nicht durch, daß es ſchön fei, zu glauben, daß der heilige 
Thomas von Aquin, einer der größten Weiſen aller Zeit, Un- 
befannten, die ihn angingen, aus reiner Demut ihre Lajten ge- 
tragen habe, oder daß Gregor der Große aus Beicheidenheit aus 
Nom geflohen fei, um der Bapitwürde zu entgehn, oder daß der 
beilige Zoo ein Buch zum Kopfkiſſen nahm, um immer wad)- 
bereit zu bleiben. Aber im ftillen hing id} jo gläubig wie irgend- 
ein Katholik an diefen Wundergeſchichten und dachte oft und lange 
über bie Sentenzen nad), die darin vorfamen, zum Beilpiel: Wer 
Gott für ſich Hat, verwirkt nichts. Wenn ich mir überlege, was 
mir bis zum heutigen Tage die Freude an den Legenden friſch 
erhalten bat, fo ift e8 die anziehende Miſchung von leicht glaub- 
baren und beutlichen Gejchehnifien des Ulltaglebeng mit wunder⸗ 
baren großen KRundgebungen der unbegreiflihen Mächte bes 
Himmeld. Es gibt Begebenheiten, in denen ſich die ganze Welt 
zu offenbaren fcheint. Und diefe gehören dazu. 

Bon dem, was dad Leben wirklich ausmacht, wußte ich aber 
damals fo wenig, daß ih mir im NRüdblid auf jene Zeit wie 
einer vorlam, der am Strome bingeht, in den andre unter- 
tauchen. Dagegen fühlte ich mich in Leben der Natur immer 
heimischer. Da ſchwamm ich immer weiter hinaus. Kaum ver- 
ging eine Woche, daß ich nicht eine neue Entdedung machte. Ich 
meine damit weniger den Nachweis neuer Standorte von Pflanzen 
und dergleihen, auf die man oft noch in ſpätern Jahren ftolz 
ift, als etwa den erften Blick auf die Stelle, wo ein etwas 
zafcherer Bach, auf defien Boden weiße Kiefel wie unter Glas 
lagen, in ein breitere Flüßchen mündete, deſſen jumpfige Ufer 
dicht von Pfeilkraut und Kalmus umftanden waren. Sie blieb 
mir geheimnisvoll und unbefchreiblid interefjant vom erften Er- 
bliden an und iſt e8 durch meine ganze Jugend geblieben. Der 
Bah kam aus einem Walde, der fich weit Hinzog, und der mir, 
da ich ihn damals nie betreten hatte, der Inbegriff von Übe, 
Einfamteit, Wildheit war. Als ih ihn nun zum erftenmal be- 
trat, fah ich gleich am Rande eine hohe Epipaktis, die ftolze braun 








30 Glüdsinfeln und Träume 


— ELLE — ⸗— 8ü —7s— 


rot blühende Orchidee im Schatten alter Buchen ſtehn. Warum 
auch dieſes Bild mich ſo ergriff, daß es noch heute klar in meiner 
Erinnerung ſteht, weiß ich nicht. Doch verftand ich von da an 
da8 Geheimnis der blauen Blume vom Grunde aus. Wanderte 
ich nach folchen reichen Stunden mit gefüllter Pflanzenkapſel heim- 
wärts, mit Vorliebe auf einfamen Wiefenwegen, und alles ruhte bi3 
auf die weißen Wollen, die, ununterbrochen ſich vertvandelnd, über 
mir mitzogen, fo wäre ich ganz glücklich gewejen, wenn nicht der 
Hochmut, ſich jo allein freuen, jo „ſelbſt fein“ zu können, ſich geregt, 
eitle Gedanken gewedt Hätte, die ich zurüddrängen mußte. 

Dinge, die da8 Gemüt angehn, beiprad man bei ung zus 
hauſe nicht, Gefühle Hatten in den gewöhnlichen Zeiten feine 
Worte. Es erinnerte mich an den tiefen Brunnen eines hoch⸗ 
gelegnen Dorfes über der Tauber, an dem ich an einem Glut⸗ 
tage vorbeifam; ich ging mit Leuten, die Kübel und Kannen 
trugen, den rauen Weg hinauf. Warum ſchöpft ihr nicht Waſſer 
aus dem Brunnen? Sie antworteten: Aus dem darf nur geihöpft 
werden, wenn die Not groß ift, Ihr ſeht, daB er verſchloſſen ift. 
Sch erinnere mich, daß mich fehr oft der Wunſch tief innerlich 
bewegte, meinen Eltern eiwas Liebeß zu jagen. Uber über den 
Reujahrswunfd und den Wunſch zum Geburtötage hinaus gab 
es nichts. Dieſes Bebürfnis nahm fonderbare Geftalten an. 
Bir durften unfre Eltern mit Du anreden, wir hörten aber Die 
Anrede „Sie* bei Belannten, und ich bildete mir ein, daß ich 
fie lieber gebrauchte, hätte e8 auch verfucht, wenn ich mich nicht 
geichämt hätte. Nicht als ob ich meine Eltern höher ehren wollte, 
fondern weil mir dieſe Anſprache edler vorfam. Empfindfame 
Kinder leiden gewiß oft ſchwer unter dem Mangel der Aus⸗ 
ſprache. Das Abſchiednehmen war mir bei uns nicht traurig, 
ed ging nichts von dem Turzen Lebewohlſagen und Händebrud in 
mein inneres; aber der Moment des Alleinjeind danach ergriff 
mich tief.” Es kam mir dann jedesmal der Gedanke: Wie, wenn 
nnn Vater oder Mutter in beiner Abweſenheit wegſtürbe? Es 
war doch fo gut wie fein Abfchied, den du genommen haft. 
Dft dauerte e8 Tage, bis ich über dieſe trüben Gedanken weg⸗ 
fam, indem id) fagte: Man kann fid) doch nicht bei jeder Ent- 
fernung fürß Leben verabichieden. Immerhin. hat diefe Abhärtung 
den Borzug gehabt, dag wir nie Sentimentalität für etwas Ver⸗ 
bienftliches, wohl gar Geheiligtes hielten. 

Da ich in einer engen Welt aufgewachſen war und mid) in 
ihr immer mehr auf mich ſelbſt konzentriert hatte, war ich den 





2. Knabenjahre 31 


III — — EEE — ö— — —— NDR DE BILD LE — 





Forderungen des äußern Lebens in keiner Weiſe gewachſen. 
Unter ſolchen Umſtänden wird eigner Sinn Eigenſinn, eigner 
Wille Eigenwille, und die Vorurteile ſchießen viel raſcher ins 
Kraut als die Urteile. In ſelbſtgerechter Härte verurteilte 
ich vieles, was ich nicht erfahren hatte, und begab mich aber 
dann doch mit der Ruhe der Unerfahrenheit in jede neue Lage. 
Die Unruhe kam immer erſt, wenn ich es anders fand, als ich 
gehofft hatte, und immer fand ich es anders. So brachte jede 
Veränderung eine Erſchütterung in mir hervor, denn ich war 
eigentlich geneigt, alles, was ich kannte und ſah, ſo aufzufaſſen, 
als ob es immer fo geweſen ſei und fo bleiben müfje. 

Es war ein entihiedner Mangel der Erziehung in unjern 
Heinern Bürgerfreifen, daß die Kinder nicht einen Fonds von 
Lebendregeln, ich möchte jagen, von Rezepten, wie man fich in 
beitimmten Zällen zu verhalten Habe, mitbelamen. Das ſchwach 
entwidelte gejellichaftliche Leben lief es an Übung im freien Ber- 
fehr mit Älteren, Höbergeftellten und Damen fehlen. Selbſt⸗ 
bewußte Naturen bilden fich zuleßt ihre Geſetze. Auch ich ar- 
beitete mich aus dem Gewirr von Scheu und Stolz etwas heraus, 
da8 mich am friichen Ausſchreiten hinderte, aber ich bin erit viel 
fpäter, als id „etwaß“ geworden war, ganz die nublojen ver- 
jpäteten Selbftuorwürfe wegen Blößen loßgetvorden, die ich mir 
gegeben zu haben glaubte. Es war ein großer Fehler, dab ſich 
meine Entwidlung früh aud) in gejellfchaftlichen Dingen nad): 
inmen wandte Weil id) an einem wichtigen Wendepunfte mit 
mir jelbft fertig geworben war, glaubte ich beftimmt, den rich⸗ 
tigen Weg auch im Verkehr mit andern finden zu können. Darin. 
irrte ich aber fehr. 


ar 





5. Heimweh 


Ja, ein Weh gibts, das man nicht ertrüge, 
Wenn es nicht fein eignes Maß zerbräche. 
Friedrich Hebbel 
1 

Ich liebe zwar ſehr den Quarkkuchen und habe ihn geliebt, 
folange ich denken Tann, aber es ging heute nicht vecht vorwärts 
damit. Ich Hatte mir vorgenommen, drei Stüde davon zu effen, 
nun war ich no am erften. Die Billen waren fo fonderbar 
ſchwer, ihre Süße jo aufdringlich, fait anwidernd, und fie Schienen 
im Munde zu wachſen. Ich hatte, als man den Kuchen berein- 
trug, wie immer, das herrliche Träftige Braun feiner Oberfläche, 
in dem eine verborgne Glut ift, und als man ihn anſchnitt, das 
bfühbende Gelb feiner Innenfeite bewundert, aus dem purpur- 


ſchwarze Rofinen fröhlich herauszwinkerten. Jedesmal, wenn id 
einen ſolchen Kuchen ſehe, muß ich an koſtbare Orchideen denken, 


bei denen eine ähnliche Kombination von tiefen, fatten Yarben 
um Braun und Gelb herum vorfommt. Der Vanillegeruch mag 
Dazu beitragen. Die VBanillefchote fommt ja von Orchideen. Heute 
vermochte ic) gar nit fo weit hinauszudenken. Ich hatte viel- 
mehr eine Bifion ausſchließlich in die Höhe: daß grautapezierte 
Zimmer, worin ich ftand, hatte feine Dede verloren, feine Wände 
waren ungeheuer weit nad) oben gewachfen, die blauen Wellen⸗ 
linien darauf fchlängelten fich ind Unendliche hinaus und brachen 
endlich nadt wie Drähte in der Luft ab, ich kam mir wie in 
einem Schornftein vor, der oben nicht ganz fertig ift; und richtig, 
nun fchauten auch von ganz weit oben ber die Sterne herein, 
von denen ich gelejen Hatte, daß man fie bei Tage durch einen 
Schornſtein erblide. Se höher das Zimmer wurde, deito lang⸗ 
jamer ging es mit dem Quarkkuchen. Dieje Viſion ſchnürte mein 
ganzes Sch und damit natürlich auch meine Kehle zufammen. War 


es ein Wunder, daß mir plößlich zwei heiße Tränen über Die 


3. Beimweh 33 


— ———— — — — LH DD LEE — — 











Wangen liefen, da ich fühlte, wie ich immer länger und ſchmäler 
wurde? Es legte ſich mir jetzt auch eine ſonderbare Schwere 
auf die Bruſt und den Leib, und ich dachte: So mag es einem 
naſſen Handtuche fein, das von den kraͤftigen Händen einer Waſch⸗ 
frau ausgewunden wird. Da meine Wangen jugendlich gewölbt 
waren, floſſen die Tränen mit ſtarkem Gefäll ab, ſie fanden zum 
Glück keine Höhlungen, wo ſie verweilen, und keine Bartſtoppeln, 
an denen ſie Tautropfen ſpielen konnten; es gelang mir, ſie mit 
dem Reſtchen Kuchen, das ich gerade in der Hand trug, aufzu⸗ 
halten, und dieſer letzte Biſſen, ſeltſam zu ſagen, ſchmeckte mir 
beſſer als die andern. Das hing wahrſcheinlich damit zuſammen, 
daß mir gerade eben die Erinnerung an einen Satz kam, den 
ich irgendwo in einem Heldenbuche geleſen hatte: er verbiß den 
Schmerz, ſchluckte die Tränen hinunter und nahm ſich vor, den 
Kampf mit dem Leben mutig aufzunehmen. Dem wollte id) nach⸗ 
leben, und zunädjt gelang mir der erfte Schritt: das Salz meiner 
Tränen wohlichmedend zu finden. 

Ich ſtand an einen eifernen Ofen gelehnt, der an dem warmen 
Herbittag eine wohltuende Kühle abgab und Träftig nach altem 
Rauche roch. Beides empfand ich als Stärkung meines Entſchluſſes. 
Sn der andern Ede des niedern grauen Zimmers jaßen auf dem 
Lederjofa meine Eltern, und ihnen gegenüber ein älterer Herr mit 
fhraubenförmiger Hausmüte auf den filbergrauen Löckchen, und 
eine alte Dame, in deren Geficht mir nur die drei Erhebungen 
der Badenfnochen und der Nafe auffielen, die fait in einer Linie 
lagen. Es ſchien mir eine erwünfchte Ablenkung von der uner- 
ſprießlichen Vertiefung in die Züge diefer Dame zu fein, ihr 
Geſicht als Landkarte aufzufaffen, auß der der Hohentwiel, der 
Hohenitoffel und der Hohenhöwen als drei markante Erhebungen 
herauswuchſen, während der ziemlich breite Mund mit einem 
Bahn, den man Mainau oder Reichenau nennen konnte, den 
Bodenjee vertrat. Die vier Leute waren offenbar in großer 
Verlegenheit. Die lieben faltigen Züge meiner Mutter fchim- 
merten von Tränen, mein Vater fchaute ernit, faft grimmig drein, 
noch erniter, wenn fein Blick auf mic) fiel, während meiner Mutter, 
wenn fie mich anjchaute, eine ſolche Miſchung von Heiterjeinmwollen 
und Bilflofem Schmerg im Geficht ftand, wie ich nie etwas gejehen 
hatte. Beide hatten noch ihr erftes Stüd Kuchen auf dem Teller, 
meine Mutter hatte noch nicht ihr Glas des zmeifelhaft gelblich- 
rötliden Weind angerührt, den man in jener Gegend Schieler 
nennt. Diejen beiden Menſchen war es offenbar geradeſo unbe- 

Rayel, Slüdsinieln unb Träume 8 


34 Glädsinfeln und Träume 





haglich zumute wie mir ſelbſt. Vergeblich wollte mic) der rea⸗ 
Liftiihe Gnom, der alles fehende Portier am Tor meiner Seele, 
darüber täufchen, der mid) hieß, doch die Zuſammenſetzung der 
ſchraubenförmigen Hausmütze des alten Herrn aus Feilfürmigen 
gelben und grauen QTuchfleden näher zu erwägen. ch verfuchte 
es, aber die Augen flimmerten, und der lang zurüdgehaltne Drud 
auf der Bruft machte fid) in einem lauten Seufzer Luft, dem 
neue Tränen folgten. 

Fritz, gehn Sie einmal hinüber in die Apotheke, ſchaun Sie 
fi) um, es iſt ganz interefiant, hörte ich eine Stimme aus ber 
Tiefe des Bodenfees. ch folgte der Aufforderung, Doch zögernd, 
nicht aus gnomiſchem Zweifel an der Intereſſantheit dieſer Um⸗ 
welt, ſondern weil ich deutlich fühlte, es halte mich ein Band an die 
alte Frau, die dort weinend in die Sofaecke zuſammengeſunken 
war; es mußte reißen, wenn ſich die Tür zwiſchen uns ſchloß. 
Ich hatte die Hand auf der Türklinke, da ließ das Band ſich 
nicht weiter dehnen, ich fühlte, daß es in dieſem Augenblick kein 
höheres Glück für mich gab, als meine Tränen mit denen meines 
alten Mütterchens zu miſchen, und als dürfte ich dieſes Glück 
nicht von mir ſtoßen. In einem Augenblick lag ich dort vor dem 
Sofa, das Geſicht auf ihren Knien, und aller Schmerz war weg, 
als ich dieſe lieben Hände fühlte, die fi) an Wangen und Ohren 
überzeugten, daß ich es ſei. Ich glaubte auch einen Augenblid 
die [were Hand meines Vaterd auf meinem Haupte zu fühlen, 
die ich wohl kannte; aber fie zog ſich raſch wieder zurüd. Ich 
dachte nichts als: nicht von bier weggehn, beilammen bleiben, 
ſo Iniend oder kauernd, felbft Hundeartig unter dem Sofa, nur 
bleiben. Es dauerte aber leider doch nicht lange, da ftand ich 
wieder aufredht, mein Water und meine Mutter hielten meine 
Hände in den ihren, die Schraube und die Landfarte waren 
verſchwunden, ich weinte nicht mehr, doch war es mir viel weher 
zumute, fo wie wenn man das Wort: Ich meinte, ich müßte 
vergehn, wörtlich nimmt. ch hörte Ermahnungen und veriprad,, 
was man wollte, aber in meinem Innern wunderte ich mich, 
wann ich eigentlich vergehn, verfinken jollte. 


* % 
> 


Unjer Land beiteht aus gelblichem Keuperjanditein, der ziem- 


li weich, und aus fchiefrigem Ton, der jehr weich ift; deshalb 
jteigt man beftändig rundliche Hügel hinan, die nicht ſehr hoch, 


3. Beimweh 35 


und breite Mulden Hinab, die nicht fehr tief find. In den 
Mulden gehn ftille Bäche unter Erlen über grüne, mwohldrainierte 
Wiefen, an ihnen ziehn ſich Dörfchen von mäßiger Größe hin, 
an den Hängen liegen die Felder, und oben jtehn dunkle Wälder 
mit ganz geraden Rändern. Es iſt eine weiche, liebliche Welt, 
für den Menjchen wie gemacht, dem fie feine großen Beſchwerden 
entgegenfeßt, und dieje Welt beiteht wieder aus ebenjovielen Kleinen 
Welten, als Dörfer fi um Kirchtürme gefammelt haben, jede 
von der andern fo weit entfernt, daß fich die Herren Pfarrer und 
andre, die übrige Zeit haben, bequem an jchönen Nachmittagen 
beſuchen können. Oben auf den Höhen laufen die bequemen 
Zandftraßen, unten in den Tälern die laufchigen Fußwege, Die 
diefe Heinen Welten untereinander und mit der meitern Welt 
draußen verbinden. An den Landitraßen ftehn große Obſtbaͤume 
und längs den Fußwegen an den Bächen Erlen, deren Blätter 
faſt ſchwarzgrün und glänzend find, und wo Wege über Wieſen 
führen, Heden, die Brombeere und Waldrebe dicht überſponnen 
haben. Es liegt in der Natur eines folchen Landes, daß es viele 
idylliſche Winkel Hat, und die Menjchen, die fich darin angefiedelt 
haben, haben viele Jahrhunderte lang dazu beigetragen, ſolche 
Winkel zu begen und zu vermehren. Sie willen, daß das ſchön 
ift und wohl tut, reden aber nicht davon; es muß fo fein. 

Als ic) unter dem großen Nußbaum oben auf der Höhe 
ftand, die die Landſtraße überichreitet, und den grünen Stell- 
wagen in einer Staubmwolfe hinunterrollen jah, der meine Eitern 
bon mir wegtrug, empfand ich das Menichenfreundliche dieſer 
Landſchaft nicht ſogleich, meinte vielmehr zu fühlen, daß dieſes 
Hinunterrollen befonders graufam jet. Hätte ich dem Wagen auf 
ebner Straße lange nadjfchauen können, wäre die Trennung 
feichter gewejen. Aber fo mußte er im Nu in der Mulde dort 
unten verichiwinden, man konnte es beredinen; und nun rollte er 
wohl fchon in dem Dorfe, deſſen Turmſpitze ich über den Bäumen 
noch eben auftauchen ſehe. Aber jchon meinen eriten Blid, als 
ih mic wandte, um dem Dorfe zuzujchreiten, das meine Heimat 
für Jahre fein follte, traf ein verfühnendes Bild: ein hohes Kreuz 
aus Stein, ohne den Gekreuzigten ziwar, aber mit einem Weiheſpruch 
auf dem Sockel, und auf dem Rand des Sodels ftand ein weißes 
geblumtes Töpfchen mit einem Strauß der Iilafarbnen Heinen 
Altern, wie fie in Strichen diefer Gegend im Herbfte blühn. Dieſes 
einfache Kreuz mit feinem frommen Sprudy und der beicheiden 
Ichönen Opfergabe irgendeines kindlichen Gemütd machte damals 

3* 





36 Glädsinfeln und Träume 


einen großen Eindrud auf mich, und auch heute noch fteht es in 
meiner Erinnerung als ein Sinnbild der Erhabenheit eines einfachen 
Glaubens, der nicht viel Schmud und Farbe nötig hat. Auf der 
andern Seite des Weged ging e8 eben in einen Kleinen GStein- 
bruch hinein, wo fchöne gelbe Platten lagen. Ich ſetzte mich fo, 
daß kein Vorübergehender mid) ſehen fonnte, während mir ber 
Blick in den Weften offen war, wo eben die Sonne an einem 
ganz reinen Horizont Abichied nahm. Nur mildes Gold färbte 
den Abendhimmel, e8 war fein Sonnenuntergang mit Feuerwerk. 
Und fo färbte ſich nun auch das blaue Gewölbe über mir weißlich, 
und die Wälder und Die Felder wurden langſam bläfler und dann 
ſchattenhaft und dunkler, ohne daß es doch eigentlich gebämmert 
Hätte. Es war faft mehr Sonnenaufgangd- als Sonnenunter- 
gangsftimmung, wie fie eben an jchönen GHerbftabenden manchmal 
zu ericheinen pflegt. 

Ich wüßte heute nicht zu jagen, was daran mit der Stim- 
mung in meinem Innern barmonierte. Den beißen Augen und 
Wangen mag die ftille Abendluft wohl getan haben, die allmählich 
tühler wurde, und daß die Nacht jo zögernd kam, mag als Hinaus⸗ 
dehnen dieſes Tages gefühlt worden fein, denn der morgen kom⸗ 
mende war ja der erfte in der Fremde 


2 


Der erite Abend in einem fremden Hauſe gehört für ein 
junge Gemüt zu den gebeimnisreichiten Erlebniffen. Was mag 
alles in diefem Dunkel liegen, das zuerft aus Büſchen und Baum⸗ 
tronen berüberichaut, dann ind Haus fommt, immer dichter Durch 
Gänge und Türen zieht und durd) die offnen Fenſter in breiten 
Mafien aus dem frühen Herbftabend hereinfließt? Wenn biefes 
junge Gemüt wund ift, gibt es nicht8 Lindernderes als den Schleier, 
in den ſich Abends die fremde Welt hüllt, denn er legt eine Wand 
um da8 Gemüt; die Fremde bleibt draußen, fie berührt mid) 
nicht mehr, fie läßt mich endlich, endlid allein mit mir. Wie 
fühlt das die Augen, fo weit offen in ein Dunkel zu jchauen, 
wie ſchwinden die Entfernungen, die mich von den Lieben trennen, 
wenn alles das Nächſte und Nahe hinuntergeſunken ift, das ſich 
fonft zwiſchen uns drängt! 

Heimweh! Wer dich nicht kennt, wie vermöchte der die Tiefe 
der Schmerzen zu erfafien, die du bringft? Unmöglid Tann er 
fich eine Borftellung von dir machen, jo wenig, wie fid) jemand die 








N Ne ,1uw 


3. Beimmeh 37 





Liebe „einbilden* Tann, der fie nicht erlebt hat. Heute, wo lange, 
lange mein Heimweh hinter mir liegt, unter foviel andern Lebens⸗ 
erfahrungen faft begraben, freue ich mich, auch dieſes Leiden durch⸗ 
gemacht zu haben. Wohl ift diefe Freude feine jtolze Freude, 
denn, um offen zu fein, befiegt habe ich das Heimweh nicht, e3 
verließ mich einfach eined Tages, ald es meine Seele wie ein 
Bampir ausgeſogen hatte; aber diefer Tag leuchtet wie ein ewiger 
Sonnenaufgang in mein Leben, und daß frohe Licht feiner Er- 
innerung wird mir nie verblaſſen. 

Ich bin niemald tränenreich geweſen, aber weiß der Himmel, 
wie es kam, ich hatte damals trocknen Auges beftändig das Ge⸗ 
fühl zu weinen, doch ging dieſes Weinen nad) innen, und mein 
ganzes Wejen wurde vertränt. Mein Auge blidte trüb, Die Welt lag 
fo fonderbar bläulich, jo einförmig und einfarbig vor mir, jie war 
mir jo gleichgiltig, ich fam mir wie in Waſſer gejeht vor. Wenn 
ich ſprechen jollte, legte fi) mir ein eiſerner Ring in die Kehle. 
Ich konnte jedoch handeln, und da mid) mein junger Beruf dazu 
zwang, wurde ich glüdlicherweife jeden Augenblid inne, daß ich 
noch ein Menſch von Fleiſch und Bein, fein tränendurdhjeuchtetes 
Geſpenſt fei. Ich richtete nun mein Leben jo ein, daB es von 
Morgen bis Abend in demfjelben Rahmen und denfelben Zeit- 
abſchnitten dahinfloß wie das meiner Lieben in der Heimat. So 
weit e3 möglich war, begleitete ich fie im Geift zu allen Genüſſen 
und Arbeiten des täglichen Lebens, ftand mit ihnen auf und ſetzte 
mich mit ihnen zu Tijche, weilte in ihren Zimmern und wandelte 
in ihrem Garten. Ich begann nicht, ohne fie im Geift zu fragen, 
und vollendete nicht3, ohne es ihnen in Gedanken vorzuitellen 
und mich ihres Urteil3 zu freuen. Wenn etwas von Weſten 
herüberhallte, Hang e8 mir wie ein Gruß, ich Horchte den ganzen 
Tag in ihrer Richtung hinaus und ließ Gedanken über Gedanken 
in den Abendhimmel fteigen. Dabei machte ich eine jonderbare 
Erfahrung. Sch hatte nie gewußt, wie müde die weithin hallenden 
Zöne in foldem Wellenlande Klingen. Der Weſtwind trug auß 
dem Hardtwald dann und warn einen Schuß herüber, der dem 
Reh, das er traf, ſcharf ins Ohr geflungen haben mochte; zu 
mir kam er verhallend, fat verhauchend, wobei mid) die ver- 
hallende Melodie eines alten Liedes umjummte: Vom Eichenwald 
die Stimme ſchallt, fo fern, jo fern, jo fern. Und fo flog da3 
Raſſeln der Eifenbahn, auf deren Lokomotive ſich meine Gedanken 
ſchwangen, um fie immer und immer wieder heimwärts zu lenken, 
wie eine Kette von müden Windftößen widermwillig Hoch durch die 


38 Glüdsinfeln und Träume 





al 





Zuft, und jeder Raubvogelruf Hang wie ein Klagen. Nahrung 
für mih! Das Fädlein Fremdſein und Alleinſein fand kein Ende; 
ich ſpann zu allen ruhigen Stunden daran fort, e8 war ein büjter- 
ſchönes Gefallen an dieſem planlojen Bhantafieren, das mid) jelbft 
immer tiefer einjpann und alle Menichen um mich ber Draußen 
fieß, während dieſelben Füden, Die ich mir ums Haupt zog, Die 
Bäume und die Pflanzen, die Wollen und die Sterne mit um⸗ 
ſpannen und an mich heranzogen. Diejes willkürliche Ausſondern 
des Nahen und Heranziehen bed Fernen, dieſes Bergejellichaften 
und Befreunden mit einer fernen reichen Welt war nun im Grunde 
doch nur ein beichönigendes Außftaffieren der jelbftgewollten Ein- 
famfeit. Aber es war immerhin ein Sichverbinden mit einer 
lebendigen Wirklichkeit, dad mir manchmal das Gefühl eineß un- 
erihöpflichen Reichtum gab. Ich ahmte den jungen Wordsworth 
nad, von dem ich einmal gelejen hatte, er habe in feiner träume 
riſchen Periode eine ſolche Kraft des Sichhinausverſetzens aus 
der Wirklichkeit gehabt, daß er auf Spaziergängen plößlich einen 
Baum umarmte babe, um fich zu verfiddern, daß er noch in der 
Welt ſei. Das gelbe Blatt, das mir durch die Herbſtluft zu- 
ichwebte, fagte: Siehe die reihe Welt um Dich ber, öffne beine 
Geele, fie ijt dein. 

Die Welt war in dieſer Zeit voller Wunder für mich, und 
ich hätte infofern glücklich jein Lönnen, als ic) jede halbe Stunde 
einen Schatz heben konnte. Jedes jpäte verfümmerte Gänfe- 
blümdjen am Wege, jedes verwehte Herbftblatt, das einen roten 
Fleck trug, jchien mir zu jagen: ch bin für dich da, ftaune mid 
an, pflüde mich, trage mid) in deine Schaplammer. Soldyer 
Wunderglaube ift nur für den, der ihn hegt, und wehe ihm, 
wenn er Runde davon über den engften Bereich feines Seelen- 
lebend gelangen läßt. Als einft ein Glas hellgelben Weines 
vor mir ftand, bei defien Eriftallnem Glanz mich der Gedanke 
befiel, ob das wohl diefelbe Farbe und dasſelbe Licht fei, Die 
ber liebe Gott in den Topas gelegt bat, bob ich daß Glas, um 
dieſes Feuer gleihfam mit den Augen zu jchlürfen. Uber raſch 
jegte ich e8 nieder, ald die Stimme der Schraube jcheltend über 
den Tiih Hang: Der Wein ift Dir wohl nicht gut genug, Daß 
du ihn fo zweifelnd anſchauſt? Bweifel, o Gott! Nichts war 
mir in dieſem Augenblick ferner als Zweifel; danken hatte ich 
dem lieben Gott wollen, daß er etwas jo Schönes geſchaffen bat. 
Aber ich konnte davon nicht? verlauten laſſen, mußte ſchweigen. 
Und da mir nun Das Herz in der Kehle fchlug, brachte ich 


3. Heimweh 39 


feinen Tropfen Hinunter, was mir nun erſt vecht übel gedeutet 
wurde. Und fo kam e8, daß ich zum Dank für mein Anſtaunen 
des Wunders des Schöpfers im gelben hellen Wein längere Zeit 
feinen Wein mehr zu jehen befam. Ich Hatte, wenn die andern 
ihre Släfer leerten, Beit, Darüber nachzudenken, daß fidh der Ur- 
vater Noah einer lebhaftern Anerkennung feiner Weinfrende 
erfreut hatte als ih, und da ich gerade von dem Nachteil ge- 
lefen batte, worin die Epigonen gegenüber den Borfahren zu 
fein pflegten, fühlte ich mid) al8 Epigone, fand Wort und Stellung 
ſchön und ſog daraus Troft für „entgangnen“ Genuß der Kriftall- 
belle de Weines. Wie, Dachte ih, wenn ich nun exit Der 
Schraube jagen würde, ich verzichtete gern darauf, Den Wein zu 
trinfen, wenn man mir erlaubte, mich nur an feiner Farbe zu 
erfreuen wie an einem glänzenden Kriftall? Sch glaube, fie 
hätten mich für einen Narren gehalten. 

Es war ein feltiames Doppeltleben, von dem ich zwar recht 
wohl fühlte, daß es, wie alle Doppeltjelige, nicht beftimmt war 
zu dauern, in dag ich mid) aber für den Augenblid um fo tiefer 
einzufpinnen ftrebte. Es war eine höchſt umbillige, ja eine un⸗ 
kluge Teilung meines Innern: das Befte an die Ferne, den trüben 
Reit an die Nähe. In dieſem Wlter iſt das Gefühl der Pflicht 
ſchwach entwidelt, jonft hätte dieſe fi einer ſolchen Teilung 
widerjeßen müſſen. Aber jo kam es, daß ich alles tiefe Fühlen 
und alles Mitdenfen und Miterleben mit Seelenanteil der Heimat 
borbehielt, mit allem mechanifchen Tun, aller Handwerksmäßigkeit, 
allem Auswendiggelernten meine nächte Umgebung abfpeifte. Die 
ganze Liebe ind Erinnern, jodaß für dad Tun des Tages nichts 
mehr übrig blieb: das war die kurzſichtige und jelbitzeritörende 
Lofung, die der Gegenwart gleihjfam das Blut entzog, um ed 
einem Schatten zu opfern, der dadurch doch Fein Gegenwarts⸗ 
leben gewinnen konnte. Welche Torheit, dieſes Auswandern der 
Seele, die mit Schatten in der Ferne Lebt, während fi) die Gegen- 
wart entjeelt, blutleer, entihlußarm hinſchleppt. Es ift eigentlich 
ein Spielen mit dem Beiten des Lebens. 

Das „Wer nie fein Brot mit Tränen aß“ ergreift mich, 
wenn ich es leſe oder höre, heute wie am eriten Tag und wird 
nie feine Wirkung verlieren. Doc meine ich, wenn ein Dichter 
das Elendgefühl gejungen hätte, dad und vor dem Tageslicht 
bangen, das ung den Morgen verwünfchen und die Nacht ſegnen 
madt, dad uns darım das Verlafien des Lagers wie ein Hinaus⸗ 
treten aus warmer ſchũtzender Hütte in einen ftürmenden Wald 





40 Glädsinfeln und Träume 


—Nif 


voll Widerwaärtigkeiten und Gefahren fürchten läßt, er würde aus 
der Tiefe von noch viel mehr Herzen herausgeſprochen haben und 
bon noch viel mehr verftanden worden fein. Dort hängen bie 
Kleider, fieh fie nicht an, du haft e8 aufgegeben, andern Menfchen 
zu begegnen; hier liegt die angefangne Arbeit, berühre dieſen 
Siſyphusſtein nicht, er wird zurüdrollen, wie du ihn auch be= 
wegft; die Bücher fchlage nicht auf, fie wollen dich deine Lage 
vergeſſen machen, und du fühlft Dich Doch nur ficher, jo lange fie 
dic) umgibt; vor allem aber trete nicht vor den Spiegel, der dich 
höhnend daran erinnert, daß und wie du wirklich bift, und du 
möchteft doch alles vergefien, was dich angeht, möchteft nicht 
wirklich und jedenfalls jo nicht wirklich fein. Es gibt fein Heil 
als da8 Bett, wo du dem Schidjal die Eleinfte Angriffsfläcdhe 
bieteft; e8 find Augenblide, wo du dich nicht einmal zu ftreden 
wagft; gekrümmt zu liegen, die Dede über die Augen gezogen, das 
gibt das lebte Gefühl von Sicherheit. 


3 


Eine alte Landapothele war noch nad) der Mitte des ver- 
gangnen Jahrhunderts eine der altertümlichiten und baroditen 
Einrichtungen weit und breit. Diele von den SHerrichaftsfiken, 
deren es in unfrer Landſchaft jehr viele gibt, waren im Ver⸗ 
gleich damit modern. An und für fidh ift eine Apothefe ein buntes 
Wirrwarr von Büchſen und Gläfern, Kiften und Flaſchen, und 
der hundertfältige Inhalt zahllofer Gefäße befteht bald aus uralten 
Pflanzen» oder Tierftoffen, nach denen fein vernünftiger Menſch 
mehr fragt, bald aus den modernften Präparaten, die tödliche 
Eigenſchaften Hinter dem reinlichften Vorhemd bergen. Die 
Ihwarzen Totenköpfe, die auf viele von diefen Behältern gemalt 
find, die Aufichriften Gift! und Vorficht! vermehren die Schauer, 
die in den Räumen der Apothelen walten. Rum war aber damals 
eine Zeit, in Die noch die obfoleteften Arzneimittel der Zeit Der 
Goldmadher und Wunderboftoren hineinreihten. Man zeigte mir 
in einem alten irdnen Topfe von der plumpften Geftalt braune 
Erdftüde mit anhängenden Leinwandfetzen als Mumia vera, und 
in einem lavendelgefüllten Glaſe ftedte eine weißbäudjige Eidechſe, 
troden wie Papier, Scincus marinus; aud) Hechtfiefer und Keller⸗ 
affeln waren in Glaͤſern aufgeftellt. Man zeigte mir lachend ge⸗ 
trodnete Schlammhäufchen von der Straße, die mit geſchmolznem 
Schwefel dünn überſtrichen waren, und nannte fie Sulfur cabal- 


3. Beimweh 41 
linum, Roßſchwefel; früher hatte diefen Namen eine unreine, billige 
Schwefeljorte getragen, und da es jegt nur reinen Schwefel zu 
faufen gab, fam man auf dieje billige Art der fortdauernden 
Nachfrage nach unreinem Schwefel nad). Der Schinder verkaufte 
uns das halbflüſſige grauliche Hundefett, Abfall der Hundebraten, 
die er ſich ſchmecken ließ, und wir befriedigten damit den Wunfch 
der Bauern nad) Armefünderfett, Menfchenfett, Affenfett, Katzen⸗ 
fett, Bärenfett. In ftaubigen Winkeln jtanden Windöfen und Re⸗ 
torten, in denen vielleicht einft der Stein der Weifen geglüht oder 
die Muttertinktur aller Heilfäfte zum Lebenselirier Digeriert, gekocht 
und deftilliert worden war. Täglich wurde geftoßen, gerieben, 
gehadt, gejchnitten. An einem der erſten Zage wurde Benzoe⸗ 
fäure ſublimiert: man erhigte köſtlich riechendes Benzoeharz in 
einem eifernen Topfe, dem ein Hut aus Bapier aufgeklebt war, 
in deſſen Innerm nad dem Erkalten fich ein dichter Schnee von 
feidenglänzenden Rriftallen angejeßt hatte. Manchmal wurde ein 
großer Windofen ins Freie getragen, mo dann übelriechende Safe 
entwidelt oder Stoffe hergeftellt wurden, deren Bereitung mit 
Explofionsgefahr verbunden war. Dazwiſchen durch wurden bie 
Arzneien bereitet, wie die Rezepte der Arzte verlangten, viele 
duch Kochen, in einige famen höchſt Eoftbare Stoffe, in mandje 
Gifte, bei deren Handhabung und Abwägung die größte Vorficht 
nötig war. An jonnigen Tagen wurden große „Hürden“ mit 
frifden Blättern, Blüten und Wurzeln, die trodnen follten, ins 
Freie getragen. Es war ein beftändiged Regen und Tun. Und 
da dieſes alle ganz auf das Wohlfein der Menſchen gerichtet 
war, hätte man glauben follen, e8 wäre ein höchſt ideales be- 
geifterndes Tun geweſen. D nein! Es ſchwebte vielmehr eine 
Miſchung von Geichäftsmäßigfeit und Sronte darüber. Der Apo- 
thefer hat das Gefühl, dem Arzt über die Schulter zu fehen, hat 
er fih doch in langjährigem Verkehr mit den Kranken ſelbſt eine 
gewiſſe Kenntnis von ben Übeln erworben, die mit feinen Arzneien 
geheilt werden jollen, und er iſt von der völligen Bedeutungs- 
Iofigfeit vieler Verfchreibungen vollfommen überzeugt. Kleine Übel 
furiert er ſelbſt, und hauptfächlich ift er immer bereit, an ich 
jelbft mit felbftbereiteten Mitteln zu doftern. irgendeine Mixtur 
ad libitum zuſammenzuſetzen und zu foften, wird ihm Bedürfnis, 
und er läuft Gefahr, zunehmend mehr Alkohol dazu zu verwenden. 
Man erzählt ſich mythiſche Geſchichten von Upothelern, die ihren 
eignen Alkoholvorrat bi8 zum Seifenſpiritus und noch übler 
jchmedenden geiftigen @etränfen außgeleert haben. Doch weg 





42 Glüdsinfeln und Träume 


En 


damit! Lieber will ich mid) an eine eigentümliche Art von Poeſie 
erinnern, die dieſes geichäftige Treiben mit kleinen und zum Teil 
nichtigen Dingen gleihjam an den äußerſten Rändern umwitterte, 
glikernd mit fpielendem Licht anftrahlte. Ich meine die Poeſie 
der Wichtigtuerei.. Wenn ih ein paar Jahre fpäter auf der 
Kafernenfenfterbrüftung ſaß und meinen Fafchinenmeflergurt mit 
Schmierlad polierte, daß man fi in dem Lederriemen fpiegeln 
fonnte, Hatte ich dasſelbe Gefühl von Liebe, die man in etwas 
Unbedeutendes bineinlegt, das man vor fid) erhebt, biß es bedeutend 
wird; Dann ftrebt eine lebendige Faſer aus unſerm eignen Weſen 
zu diefem Ding hinüber, und auß ihm ſenkt fi) eine ähnliche 
in unjer Herz, umd wir hängen dieſes Herz an einen Ledergurt 
oder einen Meſſingknopf oder nun gar an den Winkel zwiſchen 
Fuß und Knöchel beim Parademarſch. Welcher Tau, welcher 
Segen in dieſem Sichverbinden mit ſo kleinen Dingen, das in 
Wirklichkeit ein Sichverbünden gegen die Proſa der Alltäglichkeit 
iſt. Wenn wir grünliches Chlorgas beftillierten und alles rings⸗ 
umber ſich die Naſe zubielt, und der blauhändige Färber, unfer 
Nachbar, von jenfeit? der Hofmauer rief: Nächſtens Trepiert mein 
Schwein von euerm Geſtank! da ſchwollen unjre Herzen. Es ift 
wahr, e8 riecht fchlecht, es verurſacht Huftenreiz, aber es ijt Chlor! 
Wie das ſchon Hingt! Und wir huſteten und fühlten unjre Augen 
brennen; aber nur nicht lagen, fondern mit ernfter Würde wieber- 
holen: Ehlor! Dörflide Einſamkeit ift gerade der rechte Boden 
für das Gedeihen dieſes beſcheidnen Gewächſes. Im Winter, 
wenn tiefer Schnee den Verkehr auf das allernotwendigſte be⸗ 
ſchränkte, die weite Welt wie verſchlafen unter ihrer Decke lag, 
und wir und mit Muße dem Deſtillieren und Sublimieren im 
qualmenden Laboratorium, genannt Hexenküche, hingeben konnten, 
kam etwas von aldimiftifcher Stimmung über und. Gold oder 
den Stein der Weifen machen zu wollen, dafür waren wir ja 
zu aufgellärt; aber wenn die Deftillation irgendeined befannten 
Stoffes gelang, fahen wir in jedem Tropfen, der in bie Phiole 
fiel, „da8 Werk, das gelungen,“ und e8 wurde und weiter um 
die Bruſt. 

Wohl waren das Lichtblide, die durch weite Streden bon 
Noutinearbeit getrennt waren; man ftieg bis zur SHerftellung 
einer flüjfigen Stiefelwichſe Hinab, deren Unzweckmäßigleit dem 
fritiihen Geiſte junger Alchimiſten vollftändig Har war, und 
fabrizierte ein Tintenpulver, von dem niemand zu jagen wußte, 
warum man nicht feine Galläpfel ablochte und feinen Eifenvitriol 


3. Heimweh 43 
auflöfte, um gleich eine tüchtige ſchwarze Tinte daraus zu machen? 
Da aber das liebe Publikum diefe wie viele andre Produbkte 
unſrer Offizin bereitwillig aufnahm, fteigerten alle diefe Quack⸗ 
falbereien und Pfufchereien nur das Gefühl der Wichtigkeit und 
Unfehlbarfeit, womit wir und zwiſchen unfern taufend Büchſen 
und Flaſchen bewegten. 

Man wird erwarten, daß fid) in dieſen Verhältnifien, die 
mir foviel Neues brachten, ein ungeheuer lebhafter Briefverfehr 
mit den Meinen entwidelt hätte, aber dazu kam es merkwürdiger⸗ 
weife nicht; denn zu einem Briefwechjel gehören zwei, und wenn 
ich auch jchrieb, jo nahm ſich im Elternhauſe niemand die Zeit, 
mir mehr zu jchreiben, als in den normalen Beziehungen zwijchen 
Sohn und Eltern und Bruder und Geichwiftern natürlich) und 
notwendig ſchien. Damals jchrieben fi” nur Berliebte und 
Geſchaftsleute Häufig, und die Poftlarte war noch nicht erfunden; 
auch koſtete ein Brief auf eine Heine Entfernung ſechs und auf 
eine größere neun Kreuzer, und die Groſchen und Sechſer rollten 
nicht fo leicht und jo mafjenhaft in der Welt herum wie beut- 
zutage. Gerade begann der Lohn des erwadjinen Arbeiter bie 
Summe von dreißig Kreuzern zu überfteigen, und ich erinnere 
mich noch recht gut, wie Burſchen aus unferm Dorf vom Rhein 
zurückkehrten, wo fie Gold gewaſchen hatten; da hörte man, daß 
der Rheinſand im beiten Falle vierundziwanzig biß dreißig Kreuzer 
Gold bei angeftrengter Tagesarbeit liefere, und daß man nun 
mit leichterer Mühe jechdunddreigig durch gewöhnliche Taglöhner- 
arbeit gewinne. Sie behaupteten, die Elſaſſer Hätten das Gold⸗ 
wajchen ſchon viel früher aufgegeben, und nun drohe außerdem 
auch noch der Wettbewerb der badilchen Regierung, die in Köln 
eine Mafchine zum Goldwaichen bauen laſſe, die unglaubliche 
Mengen Sand an einem Tage verarbeiten werde. Ich glaube, 
dad war das Ende des Goldwaſchens in Deutfchland überhaupt. 
Bon der badiſchen Majchine habe ich nie etwas weitereß gehört, 
babe aber manchmal an fie gedacht, wenn ich von andern Leiftungen 
der aufgellärten Bureaufratie des „Mufterländleg“ vernahm, Die 
immer ihrer Zeit jo weit voraus war. 


4 


Es war nun Spätherbit, alle Zugvögel hatten uns verlaffen, 
nur dürre Blätter flogen am Boden vor den Rovemberwinden 
und body oben graue Wollen, deren ftürmijches Ziehen tagelang 


44 Glädsinfeln und Träume 


fein Ende nahm. Eine verfpätete Biene, ein erftarrter Käfer, 
das waren die Lebensipuren draußen. Um fo lebendiger regte 
es fich in meinem Innern. Wind und Wetter ftörten mich nicht 
in meinen wandernden Gedanken, ftauten fie nur zu größerer 
Tiefe auf. 

Wenn es regnet, „was vom Simmel bherunterfann,“ wenn 
es „mit Bütten jchüttete,” wenn der Wibbold fragte: Iſt denn 
Duatember, daß der liebe Herrgott alle feine Stodfifche wäflert?, 
wenn die Bäche rechts und linls vom Haufe anſchwollen und 
fih ſchlammig gelb färbten, wenn auf die Brüde die Bächlein 
bon der Straße Hin und über ihre niebre Mauer weg die Bäche 
in den Bad ftürzten, wenn ſich Teine Katze geichweige denn ein 
Menſch ind Freie wagte, und der böfefte Hofhund fein Haus 
nicht mehr verließ, mochte um ihn palfieren, was da wollte, kurz, 
wenn eine neue Sündflut einzubrechen drohte, da fühlten wir uns 
zwar abgejchnitten von der Welt, da wurden wir zu Inſulanern, 
die ihre wafjerumflutete Insula fortunata in dieſem Augenblick 
um Tein Königreich der Welt vertaufchen mochten. Da fing zwar 
daß Leben in und um und an zu ebben, aber durch den bünnen 
Schleier der Wirklichkeit, die nur allein noch blieb, fchimmerte 
es jebt wie von einer andern Welt, die biöher überjehen, über- 
hört worden war. Es ift jo ftill, Die Stürme haben und ver- 
lafien, die Wollen find fortgezogen, man hört die Zeit verrinmen, 
die Sterne fingend ihre Bahn ziehn. Nun kommen die Yroft- 
tage, wo ed im Straßenkot wie von Edelfteinen glikert und ftatt 
des Taues Neiflriftalle auf den Halmen liegen. Da wird e& 
wohl in einer Dezembernacht noch viel ftiller, und man wacht 
Morgens von der ungewöhnlihen Ruhe auf, in die die Welt 
tief verfunfen zu jein fcheint, wielleicht auch von der Kälte, be- 
jonder8 aber von dem jonderbaren Schein, der durch die Fenfter 
fält. Das ift ein Schneetag. Die ganze Nacht bat e8 ohne 
Aufhören heruntergefchneit, und nun reicht die Straße fat bis 
an die Yenfterbrüftungen, und die Dächer find erhöht, der Brunnen 
trägt eine weiße Mühe, und jeder Dornzweig ift um einen 
Silberftreifen verdoppelt. Nichts ift vergeflen, nicht einmal die 
dürren WWegwartftengel, fie leuchten von ihrer weißen Auflage. 
Und alle diefe weißen Laften fcheinen den &eräufchen des Tages 
bie Hand auf den Mumd zu legen. Nur Licht der Wollen und 
leuchtender Schnee, der einförmige, tiefe Himmel um eine dee 
grauer als die Erde, Grau und rau, nur Morgens und Abende 
bei tiefftehender Sonne lange bläuliche Schatten; aber über das 


3. Beimmweh 45 


ö—— ——Dꝰú— ———— — —— ——— ——— — — ⸗ — 





alles eine Einheit der Stimmung, der nur wir gegenüberſtehn, 
wir, eine kleine Welt, die ſich nie ſo ſich ſelbſt fühlt wie in 
dieſen abgeſchloſſenen Tagen, wo die „andre Welt“ wie verloren 
gegangen iſt. 

Als der Geiſtliche am zwanzigſten Sonntage nach Trinitatis 
ũber die Bekehrung des Kämmerers aus dem Morgenlande predigte, 
wo es im Text hieß: „Stehe auf und gehe gen Mittag auf die 
Straße, die von Jeruſalem gehet hinab nach Gaza, die da wüſte 
iſt; und er ſtand auf und ging hin,“ und weiter: „Er aber zog 
ſeine Straße fröhlich,“ überfiel mich eine ſolche Sehnſucht, hinaus⸗ 
zuziehn auf irgendeiner Straße, und ob ſie noch ſo wüſt wäre, 
daß ich nach der Kirche, ohne einen Menſchen zu ſprechen oder 
zu grüßen, hinauseilte und von der Bank am Föhrenwald in 
die Ebne ſchaute, bis ich ſie weit, weit hinaus nach Weſten ge⸗ 
öffnet und an ihrem äußerſten Rande befreundete Türme ragen 
ſah. Und da id nım zum Überfluß in denjelben Tagen in 
Thomas a Kempis den Spruch laß: „Halte dich wie einen Pilger 
auf Erden, den der Welt Geſchäfte nichts angehn. Bemwahre ein 
freie und zu Gott gerichtete Herz, weil du bier feine bleibende 
Stätte haft," jo fühlte ich mich nur um jo mehr berechtigt, geiftig 
zu wandern, und hoffte es mit der Zeit noch dahin zu bringen, 
meine fterblicde Hülle allein bier zu laffen und mit der Seele 
dort zu weilen, wo es fie hinzog. Die Beichäftigung mit den 
Giftſtoffen der Apothefe war ſehr geeignet zu Betrachtungen über 
die tötenden und die bloß betäubenden Mitte, Man unterhielt 
fi) gern über das auch Heute noch rätjelhafte Aqua tofana, 
deſſen furchtbare Wirkungen ähnlich der des Hundswutgiftes und 
andrer Krankheitsleime fich erit nach geraumer Beit äußern, oder 
über Die traumerzeugenden Dämpfe der Stechapfelfamen, unter 
deren Einfluß der Geift deflen, der fie einatmete, den Körper 
verläßt, um umberwandernd die feltfamften Erfahrungen zu 
fammeln. Welche intereffante Stufenleiter von diefen trägen und 
augfebenden Giften bis zu der fchlagartig wirkenden Blaufäure! 
Kein Wunder, daß Manfred-Byrons lebte Worte: Old man, ’t is 
not so difficult to die dem Sjüngling- Knaben durchaus nicht 
mehr fremd ind Ohr Hangen. Es ſchien ihm ja gar nichts fo 
Unvermittelte3 und Unvorbereiteted mehr, was man Sterben nannte. 
St Sterben denn notwendig immer Tod? Könnte nicht der 
Geiſt diefe Hülle verlaffen und wieder in fie zurüdtehren? Die 
Alten glaubten, daß er in ihrer Nähe noch längere Beit ver- 
weile, nachdem der Leichnam kalt geiworden, und fie ehrten fie, 


46 Glädsinfeln und Träume 


brachten ihr Opfer dar. Was wiflen wir denn überhaupt vom 
Tode? ES hängt doch alles, was wir davon halten, vom 
Glauben ab. Das Sterben allein ift gewiß, vom Tod, ber 
dabinterfteht, wiſſen wir nichts. Wie wenn fi) nun bie frei- 
getvordne Seele auffhmwänge und zu den Lieben Orten flöge, an 
denen ohnehin meine Gedanken weilen? Dann wäre ja der 
Tod das Schönfte, wa8 nur zu denen tft. &8 gibt Tein andres 
Mittel, zu wandern. Körperlich bin ich für vier lange Jahre 
am dieje Stelle gebunden, feelifch fteht mir die Welt offen. Ber- 
ſuche ichs nicht einmal, zu fliegen? Hier fteht in fteinernen 
Krügen Kirfchlorbeerwajfer, ein blaujäurehaltiges Präparat, deſſen 
ſcharfer Duft etwas Elegantes hat. Der Totenkopf über dem 
altmodifch geichnörfelten Aqua Laurocerasi ſchreckt mich nicht. 
Der Blaujäuregehalt des Deitillats ift nicht allzu ſtark. Vielleicht 
it die Wirkung nur Betäubung, Traum und Nüdkehr, vielleicht 
allerdings aud Sterben. Was macht mir das für einen Unter- 
ſchied? Hier tft ein altes Glas aus böhmischen Kriftall, an 
befien Klarheit ich mich ſchon lange ergöte. Wie unſchuldvoll 
darin die giftige Flüffigkeit ind Bläuliche ſchimmert! Ein langer 
Zug, und nod) einer, ich meine beim zweiten ſchon die Hände 
zittern zu fühlen, doch ftelle ich den Krug orbnungsmäßig an 
feinen Pla und fteige wie im Traum die Kellertreppe hinauf. 
erwachte aus meinem langen Schlaf, die Glieder zer- 
Ichlagen, der Kopf dumpf, aber mit unzweifelhaften Lebensgefühl. 
Iſt meine Seele geiwanbert, jo kann fie nur kurze Zeit draußen 
geweien fein, ich meine nur Minuten bier zu liegen. Draußen 
diefelbe Schneelandſchaft, die ich verlafien habe. Man fpricht 
an meinem Bette von einem nmgewöhnlich heftigen Anfall von 
Nervenfieber, von einer Reihe von Tagen, die ich befinnungslos 
gelegen bin, und freut fich offenbar über mein Wiedererwachen. 
Briefe, deren Entzifferung mir Kopfichmerz macht, liegen auf 
dem Zifche; ich fühle einftweilen nur Die Liebe, die fie ausſtrahlen. 
Der erfte Gedanke, der mir halbwegs Klar wird, ift die Erwägung, 
daß es noch Menfchen gibt, denen mein Daſein nicht gleichgiltig 
if. Sogar ber Mann mit der jchraubenförmigen Mühe ſcheint 
ehrlich) Anteil zu nehmen. Mein Blut ftürzt nicht mehr wie 
ein Rataralt dur die Adern und fchwillt bedrohlich in das 
bebende Her, zurüd, es wallt ruhig und gibt mir mit der Ruhe 
das unbejchreibliche Gefühl der Genefung, das wohl wert iſt, 
daß man um jeinetwillen eine Krankheit durchmacht. Mir freilich 
war e3 nicht vergönnt, dieſes Gefühl auszukoſten. Wie Tonnte, 


3. Beimmweh 47 


— 7 — — — 


wie durfte ichs? Habe ich nicht freventlich dieſe Krankheit herauf⸗ 
beſchworen? Ich fange an, wie ein Fremder auf meine Tat 
hinzuſehen, und ich jchäme mich derſelben vor dieſem Fremden, 
ich wüniche, daß fie verborgen bleibt. Einige Tage ſpäter, als 
ih wieder lefen fonnte, bringt man mir unter andern der damals 
üblichen Miniaturbändchen in Goldſchnitt und ſchwarzer Leinwand 
auch das Bändchen Yauft von Nikolaus Lenau mit der Jahres⸗ 
zahlt 1836. Als ich im Schlußgefang die Worte Fauſis lefe, 
Ich bin ein Traum, entflatternd deiner Haft, 


Ich bin ein Traum mit Luft und Schul und Schmerz 
Und träume mir das Mefler in das Herz! 


überfällt mich ein jo heftiges Gefühl der Reue, da ich mir ent- 
fliehen möchte, und ich meine Tränen der Scham. 








» [X 902 





4. Mit Krefienfamen, der es fchnell verrät ... 


Bei den jungen Bäumen kommt e8 vor, daß fie auf eine 
Harte Bodenſchicht ftoßen, die ihre Wurzeln nicht zu durchdringen 
vermögen, da fieht man, wie plögli ihr Wachstum ftodt; fie 
fterben nicht ab, aber fie machen auch feine Fortichritte, denn 
ed geht gegen ihre Natur, die Nahrung in der Breite zu fuchen. 
Wozu haben fie ihre ftarken Wurzeln, als daß fie damit in Die 
Tiefe gehn? Sie jollen ſich nicht bloß damit fefthalten, jondern 
auch die Nahrung und die Yeuchtigleit in tiefem Schichten er- 
reihen. So werden nun ihre Schofje jeden Frühling dünner, 
ihre Blätter bleiben Klein, ihrer Blüten find weniger, als es 
fein jollten, und die Früchte, die fi) daraus entwideln, fallen 
zum größten Teil vor der Reife ab. Man fagt: Dad Bäumchen 
hat feinen Trieb. Da plößli ändert ſich dad alles: in einem 
Srühling ſproßt es ftärker, fein Laub wird mehr und dunkler, 
feine Blütenfülle ift ımerhört und gibt die fchönften Hoffnungen 
für die Zeit der Reife. Es ijt, wie wenn eine Luft und Freude 
zu leben über da8 Bäumchen gelommen wäre. Wan jagt jebt: 
Es iſt in den Schuß gelommen. Wie kam da8? Seine eifrig 
fuchenden Wurzelfaſern haben eine Spalte in der Steinſchicht des 
Bodens gefunden, find durchgedrungen, und nun erweitern fie 
die Spalte in fröhlidem Wachsſtum und jpeifen die legten Zweige 
aus der frifchen, inhaltreichen Nahrungsquelle, die fie da unten 
erichlofjen haben. So war e8 mir nad) meinem geiwagten Blau- 
fäureerperiment gegangen: e8 war da eine harte Zwiſchenſchicht 
über meinen Lebensquellen gewefen, ich glaubte innerlihem Ver⸗ 
ſchmachten nahe gefommen zu fein, und nun plößlich hatte ſich 
in einer ſtarken Kriſis des Körperd und ber Seele die Ber- 
bindung wiedergefunden. Und ba in der Beit des heftigften 
Heimwehs die Seele in ſich zurüdgeicheucdht worden war, ftredte 
fie nım mit Wonne alle Fühler in die Welt hinaus und juchte 


4. Mit Kreffenfamen, der es fchnell verrät ... 49 


Anſchluß am Licht und Luft, Feld und Baum, Blume und Biene, 
und ber Neichtum des Leben? übergrünte wie in einer frucht- 
baren Sturmnadt den Riß meined Innern. Ich wäre aber 
wohl nicht fo raſch meiner harten, fteinernen Winterfchale ganz 
{edig geworben, wenn ich nicht gerade in dieſem Borfrühling 
Adalbert Stifter entdedt hätte Wie jeder Menic von Gemüt 
fag ih nun an den Bänden ber „Studien,“ einem burftigen 
Wandrer an Quellen gleichend, und konnte mid) nicht fatt trinfen 
an dem Haren, frifchen Tau ihrer ſchönen Worte. Ich fchlug 
zufällig im „Abdias“ auf: umgewiß fit, ob fein Schidjal ein 
feltfamere8 Ding war oder fein Herz, und meinte, nad) der 
Weile der Jugend, das Wort auf mich felbft beziehen zu müſſen. 
Ich las aber auch die herrlichen Frühlingsſchilderungen in den 
„Feldblumen,“ die fchönften, die wir in deutſcher Profa Haben, 
und lernte fehen und tiefer empfinden, wenn ich mir jenen 
Jüngling zum Mufter nahm, von deſſen Frühlingsbeobachtungen 
Stifter dort erzählt: „Heute ift weithin heiterer Himmel mit 
tiefem Blau, die Sonne ſcheint durch mein geöffnetes Fenſter; 
da8 draußen fchallende Leben Elingt Harer herein, und ich höre 
da8 Rufen fpielender Kinder; gegen Süden ftellen fich Kleine 
Woltenballen auf, die nur der Frühling jo jchön färben Tann; 
ein ferner Zaubenflug läßt aus dem Blau zuzeiten weiße 
Schwenkungen vortauchen, der Vorftadtturm wirft goldne Funken.“ 
Eine Schilderung wie dieſe wirkt auf empfängliche Seelen un- 
mittelbar bereihernd; fie regt an, in allem die Poeſie zu fuchen, 
die nie fehlt, oder fie in alles zu legen, wo fie dann überall 
Wurzeln fchlägt. Beſonders erinnere ich mic, daß mein Verhältnis 
zum Licht nun ganz anderd wurde Es ftrömte mir, wo ich 
vorher dunkle Äfte und Blätter und dazwiſchen lichte Zwiſchen⸗ 
räume gefehen hatte, burdy die ſchwarzen Gitter des Aft- und 
Zweigwerks wie glühendes Silber und rann an all den bunfeln 
Linien hin, umjäumte wie ein zarter Flaum jede Kontur, troff 
von den Knoſpen ımd drang in allen Abftufungen von Grün 
dur) die Blätter, dad Ganze ein Ineinanderweben und ⸗wogen 
bon Körper und Licht, ein Schwimmen bes Körperlichen in einer 
Lichtflut. Ich ſah aber auch mit nicht geringerer Freude dem 
Leben zu, das der raujchende Regen in der Krone der alten 
Binde medte, in die man gerade von den oberften Fenſtern unſers 
Haufes hineinſchaute, ih ftaunte über das Miſchen von Grün 
und Silber und Waflerglanz, wenn der Regen bereinpraffelte 
und Die Blätter fi Hin und her warfen, als müßten he nicht, 
Ratzel, Glücksinſeln und Träume 


50 Slädsinfeln und räume 


ob fie Die Unterjeite oder die Oberſeite vor der Flut fchüben 
follten, und konnte minutenlang dem ruhigern Erguß zufchauen, 
wo fi Tropfen um Tropfen auf den Blättern fammelten, bie 
jich wie erleichtert aufrichteten, wenn wieder ein Tropfen von ber 
Spitze abgeronnen war. Und daB gleichmäßige Raufchen eines 
fanften Regens in der Baumkrone war mir ein füßer be- 
rubigender Ton. 

Möchte doch das Schidjal jedem eriwachenden Jüngling bie 
„Studien“ in die Hände fpielen, möchte jeder ältere Freund 
den jüngern auf dieſe reinen, reichen, die Sinne für Die außer⸗ 
menjchliche Welt öffnenden, das Her; für Edles werdenden 
Schilderungen und Geſchichten BHinleiten. Wir alle haben es 
beftändig nötig, aus unfern egoiftiichen Schranken, die wir uns 
furzfichtigerweife immer wieder aufrichten, herandgeführt zu 
werden, und zwar nicht in die ähnlich beichaffnen Vorftellungs- 
Ereile und Empfindungsweilen andrer Einzelmenfchen, ſondern 
in bie weite, reihe Natur, die nicht von Leid und Quft der 
Menichen weiß und eben darum beiden fo mwohltätig ift. Noch 
vor ein paar Wochen hatte id in mein Tagebuch gefchrieben: 
Die Welt fo ſchön, und ih fo unglüdlih! Und je ſchöner fie 
wird, befto breiter klafft der Gegenſatz zwiſchen der Herrlichkeit 
außen und der Armut inmen. Mein Inneres tft wie wund, jede 
Berührung fchmerzt, ich jpüre die Berührung des Blumenduftes 
und des Sternenftrahl8 an diejer ſchwärenbedeckten Seele. — Seht 
machte ich einen überzeugten, diden Strich durch und ſchrieb 
darunter: Dieſes ichjüchtige Sichabwenden von der Natur ift aud) 
ein Abfall von Gott. Ach nehme mir vor, auß mir hinaus in 
die wunderbare Gotteswelt ftatt immer nur in mid bineinzu- 
ſehen. Und die unmittelbar folgenden Seiten desſelben Tagebuches 
zeigen mir den Fortichritt vom Sehen zum Beobachten und bie 
Anfänge des Schanend ind Innere der Dinge. Die Naht war 
mir bisher mm Schuß gegen die harten, jcharflantigen Dinge 
des lichten Tages gewejen, ich Batte fie als die Wohltäterin ges 
priefen, die unmerklich die Fäden auflöft, die wir am Tage um 
und und durch die Welt binjpinnen, die unſre Seele lodert, frei 
macht, den Traumgeiftern Raum gibt, ſich zu regen und zu 
wandern. Nun Iauteten die Ergüfje meiner innerften Gefühle 
ganz anderd: In diefem einzigen Lichtpunkt des Morgenjterns, 
der Heinen Sonne, die der großen vorfährt und vorleuchtet, des 
Dämmerungsfterns, defien Herrichaft beginnt, wenn die Dämmerung 
alle andern Sterne auslöſcht, und die Somme noch nicht empor= 


4. Mit Kreflenfamen, der es fchnell verrät... 51 


geitiegen ift, liegt mir mehr als in der ganzen übrigen Natur. 
Der Morgenftern, wie er einfam in der Vordämmerung fteht, 
ift ein Tor ind große Helle, ein Lichtmeer jcheint herauszufließen, 
das dahinter glüht. Mut und Hoffnung firahlen mid) aus jeiner 
milden Glut an, Mut, aß Stern der Nacht in den Tag hinein- 
zuleucdhten, Hoffnung, daß feine Finſternis jemals die Lichter des 
Himmels ganz verbunfeln wird. 

Der Herr Upotheler, der jeden Morgen nad) dem Frühſtück 
in Schlafrod und Pantoffeln die Munde durchs Haus machte, 
die fchraubenförmige Müße auf dem Haupt, in der Hanb ein 
alte8 Salbentöpfhen, worin er unermüdlich den Seifenfchaum 
zum bevorftehenden Gejchäft des Raſierens ſchlug, pflegte auf 
diefem Gang die geichäftlichen Befehle zu erteilen, die wir Ordre 
du jour nannten. Als an einem der erjten Tage nad) meiner 
Geneſung die Vorfrühlingsſonne eifrig befchäftigt mar, die grauen, 
alten Schneerefte auß den Schatten der Mauern und SHeden 
herauszuſchmelzen, und ein milder, hellblauer Tag beraufzuziehn 
verſprach, ein Tag für frifches, frohes Hinauswandern, trat er 
zu mir und fagte unter eifrigem Rühren des Töpfchens: Fritz. 
es wird Ihnen vielleicht gut tun, die linde Luft zu geniehen. 
Ich Ichide Heute Nachmittag den Johann mit dem Wagen an 
die Eifenbahnftation, um meine Nichte Luife aus Mannheim 
abzuholen. Sie könnten bei diefer Gelegenheit in ber dortigen 
Apotheke den Topf mit Bilfenkfrautertraft abgeben, ben der Kollege 
neulich beftellt hat, und dann meine Nichte hierherbegleiten. Sie iſt 
ein recht liebes Mädchen. Ihr Vater ift jo beichäftigt, daß er fie 
leiber nicht ſelbſt hierherbringen kann. Er wird jpäter fommen. 

Ih war natürlich gleich bereit. Was konnte es Schöneres 
geben, als in dieſe Luft Hineinzufahren? Und außerdem war 
ih, feitdem ich das Krankenbett verlaffen Hatte, bereit, zu tum, 
was man von mir forderte, denn ich fühlte eine unbeftimmte 
Pflicht der Abbitte und eine noch umfafjendere, aber nicht 
ichwächere Regung, dankbar zu fein. Beide mochten mir wohl 
au) den Mut verliehen haben, Inabenhafte Schlichternheit abzu⸗ 
tun. Sch empfing am Wagenſchlag des langjam unter das Tleine 
dunkle Stationsdad) hereinrollenden Zuges das fchlanfe Mädchen, 
das reifefrob dem engen Mbteil entichlüpfte. Bald ſaßen wir in 
dem leichten Wägelchen nebeneinander und überholten ftolz den 
alten grünen Stellwagen, der mir Gelegenheit zu Erzählungen 
gab, die meine Dame in SHeiterfeit verjegten. Wie der ältere 
Bruber dieſes Elappernden Fuhrwerks lebten Winter bei heftigem 

4 * 





593 Glädsinfeln und Träume 


Binde auf offner Landftraße bis auf die Nänder abgebrannt 
war, wobei die Bafjagiere kaum zwar nicht ihr nacktes, aber doch 
ihr in ®intermäntel gehülltes Dajein retteten, fo raſch hatte ein 
unvorſichtig weggeworfned Streichhol; die Dichte Strohlage des 
Bodens entzündet, fchilderte id mit lebhaften Yarben und ver- 
gaß nicht den Haupteffelt, wie der dicke Handelsjude Schlome, 
ein Stammgaft dieſes Yahrzeugs, noch Dider durch feinen Pelz⸗ 
mantel, dur) das enge Yenfter mit Mühe heraudgezogen worden 
war. Auch daß im Winterjchnee, wenn engfitige Schlitten an 
die Stelle des Wagens treten, die Poſt Pafjagtere verliert, Die 
lautlos in den tiefen Schnee fallen, jodaß der Boftichaffner an- 
geblich deren Abgang erſt merkt, wenn er, am Biel angelommen, 
fie vermißt, worauf er zurüdeilend die im Schnee mweiterfchlafenden 
findet, und andre Beiträge zur Mythologie des Poſtwagens trug 
ich meiner Buhörerin vor. Zweimal müflen die Fuhrwerke auf 
unirer Straße „Steigen“ binauffahren, und beide Höhen krönt 
eine Waldparzelle; ich ging, jo lange der Wagen im Schritt zu 
fahren hatte, neben ihm ber, und ed war mir ein wohltuendes 
Gefühl, die Hand auf demfelben Polſter ruhen zu lafien, in dem 
das junge Mädchen lehnte. Anemonen und Schlüfjelblumen ziehn 
dort unter den Buchen, die erft in Knoſpen ftanden, an bie 
Stroße heraus. Ich reichte die jchönften, die ich pflüden konnte, 
in den Wagen. Es ift nichts befondres, wenn ein Menſchenkind, 
und nun gar ein junges, fih an Yrühlingsblumen freut, die, fo 
unvermittelt und wumbermutet, wie fie auß der braunen Erde 
hervorſprießen, doch jo recht geſchenkt find. Wer wäre nicht 
dankbar, fie zu empfangen? Als ich aber dem Mädchen fagte: 
Ich habe Ihnen da eine Schlüfjelblume gereicht, an der jchon ein 
paar Blüten verwellt find, werfen Sie fie weg, wir finden gleich 
ſchönere! — antwortete es: Es ift mir fo fchwer, mich von dieſer 
Schlüfſſelblume zu trennen, wenn aud) einige von den chromgelben 
Blütenköpfchen ſchon bräunlic” angehaudt find. Warum fie des⸗ 
halb gleich wegwerfen? Sie bleiben doch immer ein herrliches 
Bert der Schöpfung, das ich ungern von mir tue. Wir werfen 
doch auch ein Kunftwert nicht in den Staub, wenn es alt ge- 
worden if. Und biefe Blumen find außerdem lebende Weſen, 
bie verichmachten, wenn wir unfre Hand von ihnen abziehen. 
Wir haben fie nun einmal aus ihrem Boden geriffen, ſorgen wir 
nun dafür, daß fie folange wie möglich am Leben bleiben, es ift 
doc) eigentlich eine Art Pflicht. Gleich nach der Ankunft werde 
ih fie ind Waſſer ftellen. 


4. Mit Krefienfamen, der es fchnell verrät ... 53 


Ich mag das Mädchen erftaunt angejehen haben; das Hang 
ja wie auß Stifter; jo Hatte ich überhaupt noch niemand ſprechen 
hören, nicht einmal meinen alten Lehrer der Naturgeichichte, der 
mich zuerft die Pflanzen kennen und lieben gelehrt Hatte. Ich 
fchwieg, da mir die Empfindung, die da ausgejprochen worden 
war, zu fein und zu eigentümlich vorkam, fte zu wiederholen oder 
mich nachträglich dazu zu befennen. Aber ich fühlte tief, Daß ich 
eigentlich ebenjo denfen und handeln müßte, wenn ich nicht noch 
zu tief in ſchlechten Gewohnheiten ftedte, und ich war geipannt, 
was dieſer feine Mund mir wohl noch offenbaren werde. Einjt- 
weilen ahmte er mein Schweigen nad, und ich hatte Zeit, über 
den wundervollen Effelt nachzudenken, den der Mannheimer 
Dialelt, aus foldem Munde folhe Empfindungen tragend, in 
dem Ohre eined Hörers herborbrachte, ber ihn bißher als das 
Idiom von Getreide- und Hopfenhändlern oder Rhein⸗ und Redar- 
ichiffern vernommen hatte. 

In den angebräunten niedern Räumen des Apothelerhaufes, 
wo fonft nur die Alten grämlid) und heifer redeten umd die Jungen 
verdroffen ſchwiegen, Hang Luiſens Stimme hell und heiter. Dieje 
Stimme war vielleicht in ihrer Weiſe ebenfo um einen Ton zu hell, 
wie Luiſens Auge um eine Idee zu groß und zu Har war. Wenn 
e8 fingend den dunkeln Gang berflang, bald ferner, bald näher, 
mußte ih an Töne einer Glasharmonika denken, und ed drängte 
fi mir die Frage auf: Kann in fo hohem, feinem Zone Seele 
fein? Lebt etwas darin? Ober Klingt nur Talter, heller Kriftall? 
Luiſens Auge berubigte darüber. Es war mır eines. Wer in dieſes 
Geſicht blicte, ſah zuerft den vieredigen ſchwarzen Fleck eines an 
einem jeidnen Band um ben Kopf befeftigten Stückchens Seide, 
das das rechte Auge bededte. Das Auge war bei einer Operation 
entfernt worden, Die Lider hatten ſich für immer geſchloſſen, Die 
Augenhöhle war etwas eingeſunken. Ich fand die Stelle nidht 
häßlich, aber es lag mir ein jchmerzlicher Zug um die zujammen- 
gezognen Lider, den ber fchöne heitere Schwung der Augenbrauen 
und die freie glatte Stimm wie ein trübed Wöllchen an einem 
völlig beitern Himmel ericheinen ließ. Jedenfalls ſtießen ſich 
auch viele andre nicht an dem ſchwarzen Band und led, denn 
dag übrig gebliebne Auge war von einer foldden Klarheit, daß 
es mehr als genügte, das Geficht des Mädchens zu exleuchten, 
zu beleben. Ich weiß nicht, ob es auch auf andre einen fo ſeltſam 
anziehenden Eindrud machte, jet die augenlofe Hälfte dieſes 
Geſichtes, und dann wieder die Hälfte mit dem Leben und Leuchten 





54 Glüdsinfeln und Träume 


Lad 


des Auges zu fehen. Der Wechſel von Schatten und Licht er- 
innerte an den Neumond und den Vollmond. Kehrten fie mir 
die Seite mit dem ſchwarzen Seidenviered zu, jo lag es wie ein 
leichter Schatten auf allem, was uns umgab. Jeder Somnen- 
ftraßl, jede Blume leuchtete weniger, und ich glaubte über das 
feine Geficht einen Hauch von Trübung fid) außbreiten zu jehen. 
Bandte Quife den Kopf, da ging es hell durchs Zimmer, und 
mir kam es vor, ald müßte ich im Strahl ihres Auges Sonnen 
ftäubchen tanzen jehen. Ja, dieſe ſonnige Bläue ftrahlte fiir mehr 
als ein Gefiht Licht und Frohſinn aus, das konnte man jehen, 
wenn Luiſe unter andern Menfchen war: unwilllürlich blieb der 
Blick an diefem Auge haften. Ich nehme an, daß ed etwas 
größer war, als ein Auge gewöhnlich ift, jedoch gewiß nur um 
fo viel, daß es fie eben gerabe überftrahlte; damals dachte ich 
übrigens niemals daran, fonderu fonnte mic nur in feinem Lichte, 
dankbar wie für eine fchöne Blume, für einen bellen Stern. 
Luiſens Geſichtszüge will ich nicht beichreiben; fie waren fein, 
die Gefichtsform jchmal, und über einer fchönen Stimm, die feine 
Falten zu Tennen ſchien, lag aſchblondes Haar in einer fchönen 
Bogenlinie, die ein glatter Scheitel in der Mitte teilte; das 
paßte alles fo gut zuſammen, daß man in dem Gefallen an der 
Harmonie der Ericheinung die Regelmäßigleit und die Lieblichfeit 
einzelner Züge ganz vergaß. 

In den Mienen und in dem Benehmen Luiſens war Die 
Miſchung entlegner Gaben und Neigungen, bie uns mehr- als 
alles andre zu Menſchen binzieht, an Menfchen fefjelt. Auf ihrer 
Stirn wohnte Hoheit, in ihrem Auge warme Freundlichkeit, die 
jo weit über Schönheit binausreicht, aber ihre feinen Naſenflügel 
ſprachen von Ungeduld, vielleicht manchmal von Stolz. In dem 
weichen Munde zeigte fi) ganz von fern eine fommende Weisheit, 
wie ein Feſtes, das werden will, und wenn auf ihrer Oberlippe 
dag Licht eines Lächelns aufging, Hatte es zwar noch das un⸗ 
beftimmt Heitere der Jugend, aber ich dachte: So muß Pallas 
Athene gelächelt haben, als fie noch ein Mädchen war. In ernften 
Augenbliden fiel aber ein Schatten aus dem klaren Auge Darüber, 
wie wenn in deſſen dunfelm Hintergrund ein Gedante von Weh⸗ 
mut und Trauer vorüberglitte. Sie fühlte wohl die Kühle dieſes 
Schattend, und er verichwand bald. 

Alle Menfchen, die durch eine auffallende körperliche Eigen- 
tümlichleit, einen Fehler, einen Mangel „gezeichnet“ find, neigen 
zu Nachdenklichkeit. Ein Teil ihres Weſens ift einwaͤrts gelehrt, 








—— ———— —— 


4. Mit Krefienfamen, der es fchnell verrät... 55 


——— ————— 2. FT SAL BL L BL BL NS GL ——— 


fie befinnen ſich mehr als andre auf ſich ſelbſt. Gemeine Naturen 
gehen im Egoismus oder im Hader mit dem Schidjal auf, edlern 
ift der Kampf mit dem Wunſche, anders zu fein, nicht erfpart. 
Wer diefen Wechlel von Licht und Schatten einmal erfahren Hatte, 
dem gehörte er zu dem Menjchenfind. So dachte der Photograph 
nicht, der in jener Beit der erſt werdenden Lichtbildfunft mit 
einem unvolllommnen Apparat und mangelhafter Fähigkeit von 
Dorf zu Dorf zog. Er nahm Luiſe natürlich von ber fehenden 
Seite auf, und wer das Bild fah, mochte denken: Wie nedifch 
trägt Dieje junge Dame ein ſchwarzes Bändchen chief über dem 
Ohr. Als ich das Bild ſah, das nad) der damaligen Mode wie 
ladierte3 Blech glänzte, entfuhr mir der Ausruf: Welche Lüge, 
welche Feigheit! Nur ihr ganzes Geficht ift Ahnlich. Ohne das 
andre Auge ift es gefäljcht! 

Ein ganz woltenlojer Himmel kann nicht über einem ſolchen 
Leben ftehn. Freundichaft und Liebe bringen ihm heißere Sonne, 
aber auch ſchwerere Stürme. Es neigt ſich gern zu andern, bie 
freier, Heiterer im Leben aufgewachſen find, und ranft fih an 
ihnen auf bis zum Verlufte des eignen Schwerpunfts. Uns andre 
reizt nur das Schöne, für jene bat immer auch das Gefunde, 
Normale einen Wert, den wir nicht nadhfühlen. Kurz, es gibt 
für fie mehr Anziehungspunkte außerhalb ihrer Perjönlichkeit, die 
darum leichter ſchwankt und ſich neigt. 

In Luiſens Wefen überwog nun äußerlich der Eindrud des 
Ruhens in fich jelbft, gefteigert bi8 zum Herben, Verſchloſſenen. 
Es ift etwas volllommen Blumenhaftes um die frühe volle Ent- 
wideltheit junger Mädchenfeelen; wie eine Blume kommt fie über 
Nacht, und man freut fi) ihrer ohne Warum? und Wohin? 
Der junge Mann, der nicht aus dem Werden berausfommen 
kann, der dag Gefühl Hat, nie fertig werden zu follen, fteht be- 
wundernd im Anblid einer ſolchen Menfchenblume, deren Reiz 
ihn fein Lejen und fein Lernen lehren Tonnte. Sie fteht Hoch 
über ihm, wie eine nie gejehene Alpenblume in unerreichbarer 
Felſenhöhe, er begnügt fi, fie beiwimbernd anzujehen. Aber 
warum öffnet ſich diefe Blume nicht? Kann ed Menſchen geben, 
die nur knoſpen? 

Wir jungen Leute lebten in dem engen Haufe fo nahe bei- 
jammen, wie konnte es fehlen, daß wir und näher kamen? In 
Die Ferne hinauszuſchweifen, entdedungsluftig „mit taufend Maften‘ 
ift Jugendrecht. Glücklicher Heißhunger der Jugend nach neuen 
Menfchen, neuen Dingen! Der Horizont war lange fo- enge, 


56 Hlädsinfeln und Träume 





IE 





und was er umfchloß, war längit belannt; was nun neu an ihm 
auftaucht, ift eine Entdedung, und nichts kann umintereſſant fein, 
was bie Erfahrungen eines jungen Gemütes zu bereichern ver⸗ 
ſpricht. Es war mir fchon eine Freude geweſen, Die freie Stunde 
eines ftillen Winternachmittags in der Schufterwerkftätte des 
alten Adam zu fiten, wo der Glanz der wafjergefüllten Glas⸗ 
fugeln zum Nageln und Hämmern und zu den Erzählumgen von 
Handwerk und Wanderſchaft leuchtete. Ich Hatte auch des Abends 
mit Knechten und Mägden um das Herdfeuer gejeflen und hatte 
gern dem ewig paffenden Knecht einen glühenden Span für bie 
Pfeife gereicht. Aber die Unterhaltung mit Luifen war doch 
etwas ganz andre, denn auf das, was fie fagte, fam es dabei 
gar nicht an; der Laut ihrer Stimme und der Glanz ihres Anges 
lieh allem einen höhern Wert, ihr Geipräh lam mir wie ein 
blühendes Bäumchen oder wie eine Drufe köſtlicher Kriftalle vor. 
Wenn ich von den Meinen in der Heimat ſprach, hörte fie mit 
ftummer Teilnahme zu, wenn wir aber unfre gemeinjamen Er⸗ 
innerungen an die Straßen der Stadt und die Waldivege, die 
fie umgeben, an den Markt ımd dad Theater, an bie ftadt- 
befannten Perfönlichkeiten austaufchten, da lebte fie auf, da 
leuchtete manchmal fogar ihr Auge und jtieg eine Nöte in ihre 
Wangen, die von einer freudigen Teilnahme zeugte. Es war ihr 
vielleicht von meinem Heimwehzuſtand des vergangnen Winters 
berichtet worden, und id} wagte mir einzubilden, daß fie mir mit 
dem Eingehen in dieſe Heimatsgeſpräche noch nachträglich wohl⸗ 
tun wolle Jedenfalls geizte ich nicht mit dem wärmften Ge⸗ 
fühle des Dankes. 

Dabei konnte ich nicht aufhören, die Weltkenntnis und das 
fihere Urteil Luiſens zu bewundern. Mit der richtigen Ahnung 
für das Wirkliche, die Mädchen ſchon in die Kinderichule mit- 
bringen, nahm fie aus ihrer engen Welt die Maße für Die weitere. 
Was war nicht alles willkommner Gegenstand unſrer Geſpräche! 
Bon den Geheimniſſen des Glaubens bis zu denen ber Küche 
oder des Gartens reichte die Skala. Die Nätfel des Lebens 
lagen noch fo tief in der Erde, wir warfen fie und einander zu, 
wie Knaben mit Eicheln ober Roßkaſtanien Ball jpielen, aus 
denen ein mächtiger Baum werden wird. 

An jchönen Maitagen war e8 Sitte, auf den Bafaltkegel 
des Steinberges zu fteigen, ber unjre Gegend beherricht, und fich 
einmal die Welt von oben anzuſchauen. Es war, ald wollten 
fi die Menſchen nad) dem langen Winter verfihern, daß fie 


4. Mit Kreffenfamen, der es ſchnell verrät... 57 


wieder, wie lettes Jahr, im Sonnenglanz vor ihnen liege. Und 
da dort oben ein paar Pflanzen wuchſen, die in unfrer Flora 
felten find, der Sage nad) jogar der ſchöne Frauenſchuh, ver- 
jchönte noch der Reiz des Schätzeſuchens dieſen Ausflug. Luiſe 
und ich verabredeten, den Sonnenaufgang von dort oben zu ſehen, 
und die alten Schauinslands ließen uns in dunkler Nacht hinaus⸗ 
ziehen, nachdem fie einen Tag lang bie Köpfe geſchüttelt und über 
die warme Kleidung, die für Luiſe geboten jet, lange Geipräde 
geführt Hatten. Für mich Batte es nur eine Sorge gegeben: 
welche Laterne für die erfte dunkle Stunde den Weg am belliten 
erleuchten möchte, damit Luiſe ſicher dahinfchreite. 

Ber, der einen Menfchen gern hat, wünjchte nicht, einmal mit 
ihm auf einem Berggipfel zu ftehn, eine ferne Welt zu Füßen 
und den Himmel allein ganz nahe zu Häupten? Es ift der 
Gipfel der Einfamkeit, und da wir nun bon Erhabnem rings 
umgeben find, fällt alle Niedrige von und ab. Wir brachen 
lange vor der Dämmerung auf. Dort ftand die fcharfgezeichnete 
und doc jo zarte, faſt durchſichtige Silberfihel: ihr Licht kam 
mir golden vor, umd von der Kühle der Frühmorgenluft ſpürte 
ich nichts. Wir fchritten durch die ZTauperlen des Graſes, ohne 
eine abzuftreifen, fo koſtbar kamen fie und vor, wir ſahen den 
Morgenftern noch heller und Die Mondfichel bläfjer werden, mwir 
hörten die jchlafenden Dörfer erwachen und jahen die eriten 
Urbeiter auf Feld hinausziehn. Bis wir an den Fuß des 
Steinberg3 kamen, lagen auf manchen Wieſen jchon dichte Reihen 
gemähten Graſes. Der Morgenmwind ging warm von Südoft her 
md fchob fange, ſchwere, graue Wolfen vor die Sonne. Nicht 
al3 Feuerball jtieg dieſe empor, jondern als glühender Lavaſtrom 
floß fie durch die Spalten des Gemwölls, das ſich auszubreiten 
und in Nebelwolken heraufzumogen begann, die das zeritreute 
junge Sonnenlicht golden anglühte. Auf dem runden Gipfel, wo 
die ſchwarzen Blöde des Baſalts wie eine zerbrochne Mauer liegen, 
itand der Nebel vor dem Weft- und Norbhimmel dicht, als gelte 
ed, eine neue Mauer aufzubauen, und nur hoch oben blaute es 
unbeftimmt. Mit der Ausficht war e8 nichts. Don Dften her 
Drang nur noch ein filbernes Licht durch, diefeß aber warf un⸗ 
merklich dunkler den Schatten bed Berges auf: die graue Wand 
por ung, ſodaß man jeden Blod unterſcheiden konnte, und unfre 
Seftalten dazu, feltfam in bie Höhe geredt. Es war fjonderbar, 
wie jede Bewegung in bie Höhe zu fchießen jchien. Manchmal 
umgaben goldne und bläuliche Säume die Umriffe. Als ich Hinter 


58 Glädsinfeln und Cräume 





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Luiſe trat, wollten unjre Nebelbilder fich verjchmelzen, Luiſe aber 
trat zur Seite und beeilte den Abftieg zu einer mauergefchüßten 
Stelle, wo wir und mit befreundeten Wandrern trafen, die von 
andern Seiten beraufgeftiegen waren. Dieſe bielten nicht viel 
von einem Berggipfel im Nebel und faßen ſchon um ein loderndes 
Neifigfeuer, über dem der Kaffeekeſſel hing. Wir aber waren 
in aller Stille ftolz, früher oben gewejen zu fein und mehr ge- 
ſehen zu haben, und aus Luiſens Geſprächen hörte id) mit inniger 
Freude ihren warmen Anteil an unſrer gemeinfamen Wanderung 
heraus. Welches Glück in dem gemeinjfamen Beſitz noch fo be- 
ſchränkter Erfahrungen! Waren nicht fogar die Sterne unfer, die 
wir am Morgen beivundert Hatten und am Mbend bei der ge- 
räufhoollern Heimkehr wiedererfannten? 

Ich vermied es, auf dem ganzen Wege Luiſen zu berühren, 
da ih ahnen modte, daß ein für Körpereleftrizität nicht leitender 
Zwiſchenraum für uns von Heil jei. Ich war es zufrieden, wenn 
ihr freundlicher Blid dem meinen antwortete, und wenn wir in 
unfrer Unterhaltung dem Gewöhnlichſten den Reiz perjönlichen 
Intereſſes beilegten, der allen Dingen Wärme und Leben gibt. 
Freundſchaft und Liebe übertreffen noch weit Kunft und Dichtung 
in der Gabe, alles und jedes aus der Sphäre der Gleichgiltigkeit 
erheben, befeelen, ibealifieren zu können. Sicherlich haben beide 
Dazu beigetragen, die Welt ſchöner, befreundeter zu machen, denn 
nicht alle Gefühle diefer Art gehn mit dem Augenblid ver- 
Ioren, der fie Hatte entftehn laffen. Die Schlüfjelblumen haben 
dauernd für mid) an Wert gewonnen, jeitdem id) wußte, daß 
Luiſe fie fo jehr liebte. Und das Brüdengeländer, wo wir beide 
oft ftanden und in Pauſen erniter Geipräcdhe den ftillen Bach 
unter und wegfließen ließen, fam mir wie ein Sinnbild des Glücks 
vor, das feſt fteht, während die Zeit darunter unmerklich raſch 
vorübergeht. Freunde follen einander fördern, fagte ich einmal, 
al3 wir zufammen dem Bache nachblickten. Tas können fie am 
beiten, wenn jeber die Arme frei hat. Nehmen wir an, wir 
follten diefen Bach auf einer fchmalen Planke überjchreiten, Sie 
gehn hinüber, ich halte Die Planke, damit fie nicht zittert. Leute, 
die einander lieb haben, meinen, fie müflen mit verichlungnen 
Armen zufammen himübergehn, und eins zieht dad andre hinab. 
Ein Freundespaar handelt aljo vernünftiger als ein Liebespaar. 
Sit es nicht fo in vielen andern Fällen? 

Zuife lächelte fein. Ihre Rechnung wäre richtig, wenn 
nicht dieſe Leute fich glüdlicher fühlten, wenn fie zufammen in 


4. Mit Krefienfamen, der es ſchnell verrät... 59 


— 


Waſſer gefallen ſind, als andre, die den Weg trocken zurück⸗ 
gelegt haben. 

Es mag nicht ganz ungefährlich ſein, in das Waſſer zu fallen, 
über das die Planke der Freundſchaft führt. Ich habe die Idee, 
es ſei tief. Es iſt ſo ſchön, in ſtilles tiefes Waſſer einzutauchen. 
Aber werden die beiden ſo leicht wieder ans Licht kommen? 

Das brauchen ſie vielleicht gar nicht. Es ſoll Augenblicke 
geben ſo voll Glück, daß dahinter nichts mehr iſt, was die Mühe 
zu leben lohnte. | 

Was mochte dad Mädchen denken? ch verftand e8 nicht. 
Daß dieje Freundichaft jeden Tag verichönte, jtand mir feft genug! 
Nichts auf der Welt fam mir fo fiher vor. Ein Händedrud, ein 
jtummer Vertrag, und daruntergejeßt die Unterfchrift eines jungen 
Herzens voll Glaube: was gibt es Sichereres für dieſes Herz? 

Ich ging ganz in dem Genuß des Umganged mit einem 
Menjchen auf, der beffer, jchöner und viel, viel gefcheiter war 
als ih. Im Grunde war es der Ehrgeiz, einen ſolchen Kameraden 
zu gewinnen, der mid zu ihr hintrieb, und fpäter der Stolz, 
fie zum Freunde zu Haben. Darum durfte auch neben Dieler 
Kameradſchaft noch jo manches andre in meiner Seele Raum 
haben; wäre e8 Liebe gewejen, die hätte jede andre Regung aus⸗ 
getrieben. Für fo junge Gemüter, wie das meine, liegt in früher 
Liebe die Gefahr, daß fie den Menichen allein haben will, ihn 
im wahren Sinne des Woris beherricht, deshalb ein Stehenbleiben 
der ganzen innern Entwidinng, foweit fie eben nicht Liebe ift, 
ein in die Blätter verfrühtes Schießen ohne Blüten und Frucht, 
wa3 der Gärtner Vergeilen nennt. Dem Gefährten, den man 
bewundert, es nachzutun, die Freude Darüber, daß er unjre Freuden 
teilt, vereint zu denken und zu wollen, was man vorher einfam 
und freudlos gedacht und gewollt, das iſt Die Blüte der Yreund- 
Ihaft. In einem werdenden Menjchen iſt der Trieb zur Unter- 
ordnung, er will folgen, will geführt werden, und dieſem Trieb 
nachzuleben, macht fein Glück aus. Mein Blid zu dem Mädchen 
war immer nur aufmwärt® gerichtet, und wenn jie etwas billigte, 
was ich tat, oder einen Gedanken teilte, war ich eben fo glüdlich, 
wie wenn ich etwas beſſer machen konnte, was fie rügte. Ich 
erinnere mich, daß ich einen ganzen Tag glüdlich war, ald Luiſe 
mit einer Nelfe von wunderbarer Weiße im Mund mir früh 
aus dem Garten entgegenlam. Es war eine Antwort auf bie 
Nede von geftern Abend, wo id) von den Nellen erzählt Hatte, 
die eben aufgingen, und gemeint hatte, fie jeien weißer als weiß, 


60 Glädsinfeln und Träume 





weißer ald Schnee, und man müfje in ihrem Anſchauen glücklich 
jein, ein ſolches under jehen zu Dürfen. Nellentenner wifien 
wohl, welches Weiß ich meine; es gibt nämlich weiße Nelken, 
denen durch eine ganz entjernte Beimiſchung von Purpur eine 
But ihres Weiß verliehen wird, für die ich in der Natur nur 
biendende, leuchtendweiße Sommerwolten zum Vergleich nennen 
könnte. Bon diefen Wunderblumen trugen wir nun beide, ſo⸗ 
fange fie blühten, recht volle Exemplare im Munde. Und als 
Zuife ſich eine nad) Bauernart hinters Ohr ftedte, tat ich es 
natürlich nad), ließ e jedoch auf ein vernehmliches, Narr!“, das 
brummend aus dem Munde der Schraube lam. 

So wie zwei unſichtbare Linien von unfern Augen ausgingen, 
die fih in jenen Himmelslichtern ſchweigend trafen und begrüßten, 
fo ftrahlten von unfern Herzen Linien in die ganze Welt, die 
und umgab. Es wurden ihrer immer mehr, und fie flochten fich 
immer dichter zuſammen. Wie fonnte e8 anders fein? 

So natürlid, wie Knoſpen junger Pflanzen die Erbichollen 
heben und zur Seite drängen, um in Licht und Sonnenwärme 
zu gelangen, fchlofjen wir zwei jungen Menjchenkinder uns gegen 
den Drud bes alt und alt gewordnen Hausweſens bei Schau- 
inslands zufammen, und indem wir und gegenjeitig zuftrahlten, 
wurde es Lichter und wärmer um und ber. 

Schöne Tage, wo alle Wünſche ſchweigen. Keins von und 
wollte, daß e8 ander kommen, niemand dachte daran, ob foldhe 
Sreundichaft nicht einmal die Blüte der Liebe treiben werde. 

Es kam die Zeit, wo auch in den Gärten die Erde um= 
gegraben wird, nachdem auf den Adern draußen die Sommer: 
frucdht längft eingeeggt iſt. Es ift nicht gerade eine leichte Arbeit, 
bie ſchweren Erbichollen zu durchſchneiden, umzumenden und zu 
zerkleinern, aber es ift eine hoffnungsvolle, und trog den Schweiß⸗ 
tropfen, die fie koſtet, hat fie etwas von der Vorbereitung einer 
Frühlingsfeier: das häßliche, vom Froft entfärbte und vom Schnee 
zur Erbe gebrüdte Herbftgeftrüpp wird nun entfernt, der Boden 
wird gereinigt, da8 Umgraben bringt friiche Erde an die Ober⸗ 
fläche, die braun glänzt, Hade und Rechen fäubern fie, und alles 
ift zum Säen und Pflanzen bereit. Iſt e8 nicht, als ob alle 
die Schäbe, die die Sonne aus dieſer Erde hervorloden wird, 
nur warteten, bis die Strahlen fie weden? Wenn bie Erde 
im Herbft verarmte, im Frühling wird fie wieder reich, und ich 
zerbrödelte jede Erdkrume mit bem Gefühl: Wieviel Keime mag 
fie bergen! Sept ift fie in Wahrheit die Muttererde! Glücklich, 


4. Mit Krefienfamen, der es fchnell verrät ... 61 


wer fäet und erntet! Er lebt etwas vom Leben der Natur mit, 
das fein eignes Lebensgefühl erhöht. 

Ich pflanzte vielerlei in Diefem Frühling, ein Apothelergarten 
trägt alle die Würzpflanzen, deren Pflege Karl der Große in 
einem berühmten Briefe feinen Gutsverwaltern and Herz gelegt 
bat, und dazu noch vieled andre, was die Beit Dazugefügt bat. 
Außerdem find die Apothefersleute Menjchen wie andre, die Ge⸗ 
müſe und Salate, Nettiche und Gurken, Lauch und Biwiebeln 
brauchen. Das alles iſt beetweiſe abgeteilt, und während einiges 
fortwächſt, wie es gejät wurde, ſät man andres in bejondre ges 
ſchũtzte Kaftenbeete, aus denen dann die Pflänzlinge, wenn fie 
ſtark geworben find, ins freie Land verpflanzt werben. Kreſſen 
gehören zu den Gartenpflanzen, die man am frübeften augfät; 
wenn der Winter früh gegangen ift, vertraut man die einen 
rotbraunen Körnchen fchon in den lebten Tagen des Februars 
der Erde an. Man Sät fie, um einen frühen Dfterjalat zu haben, 
und weil ihr Grün früh die braunen Beete verjchönt. 

So wie ber Malerlehrling, der zum erftenmal einen vollen 
Binfel in die Hand befommt, an die nächite beſte Wand unfehlbar 
die Linien Hedjt, die ihm gerade als ſchaffenswert vorſchweben, 
fo trieb es mid), von ber Keimkraft der Körnchen, die mir ans 
vertraut waren, den jchönften beften Gebrauch zu machen. Wie 
oft ſchon Hatte ich der unverftändigen Neigung nachgegeben, ihren 
Namen dorthin zu fchreiben, wohin die Sonnenftrahlen ihn zu 
leſen kamen. Und fo fäte ich denn, oder es fäte ein Wille in 
mir, der halb Spieltrieb war, ein ſchöngeſchwungnes 2 auf ein 
noch freied Beet. Nach zehn warmen Frühlingstagen, die ein 
fräftiger Regen unterbrach, ſah ich die winzig einen Doppel- 
blättchen der Sämlinge hervorkeimen, alle rundlich, außeinander- 
gefaltet, wie bittende Händchen, in deren Mitte dann erft Die 
zerihnittenen und krauſen Blättchen der Gartenkreſſe wie zierliche 
grüne Blüten auffnojpten. Dazwilchen kamen junge Gräfer, 
bie ſenkrecht wie ganz feine grüne Linien, ein Heer von Spiehen, 
erſchienen; manche waren auch zufammengebogen, und die Spihe 
fonnte jich nur freimachen, inbem fie die dunkle Erbe mit Schnell- 
fraft empor und beijeite ſchob. Mein eriter Gedanke war Freude 
über das gelungne Wert. Wenn das fo fortiproßte, mußte das L 
bald fihtbar fein, und ſchon jah man einige Umriſſe feiner Bogen- 
linien. Den nädjten Tag war e8 fchon faſt zu erfennen. Da 
fam mir eine Art Scham über die unzarte Entjchleierung eines 
tiefen Gefühl, verichärft durch Zweifel, wie Luife meine Freiheit 


62 Glädsinfeln und Träume 


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aufnehmen werde; und zum erſtenmal dachte ich daran, daß alle 
es ſehen würden, und was ich antworten würde, wenn ſie fragen: 
Warum? Ich trat an das Beet heran und ſah die Pflänzchen 
und Keime zerftreut ftehn und die braune Erde dazwildhen vor⸗ 
ſchauen; da war fein L zu fehen, ich jchöpfte die Hoffnung, es 
fei nicht aufgegangen. Aber wenn ich zurüdtrat, Da leuchtete der 
liebe, gefürdhtete Buchftabe mich verhängnisvoll deutlich an, und 
der folgende Tag vericheuchte jeden Zweifel. Nun mußten es 
auch die fehen, denen es im Grunde gleichgültig fein konnte, ob 
ein L ober ein &, für die aber die Frage von brennendem Intereſſe 
war: Wer bat den Buchltaben Hingefät? Und was hatte er für 
eine Abſicht dabei? 

Des Mittagd nad) der Suppe kam die Frage, die fommen 
mußte. Wer bat nur die Krefien in jo fonderbaren Schnörkeln 
gejät? Die Hälfte des Beetes ift leer. Das ift fehr undkonomiſch 
und hat doch gar feinen weitern Zwed. Alſo jprad} der Mann mit 
der Schraube und rüdte feine Mübe aufs Ohr. — Die Krefien 
habe ich gejät, antivortete ich mit einer Stimme, von der ich mir 
Ipäter vorrebete, fie fei eifig geweſen; vielleicht zitterte fie jedoch 
etwas, denn ich fühlte mein Herz fo gegen die Zifchlante pochen, 
daß ih von ihr abrüdte in ber Furcht, der Tiſch mit allem, 
was darauf war, werde ind Bulfieren und Klirren kommen. — 
Und warum haben Sie dad Beet nicht vollgefät? — Ich 
hätte nun antworten Tünnen: Weil der Samen nicht reichte, 
ichämte mich aber jeder Ausflucht. — Es kam mir fo der Ge 
danke, es jei ſchöner, auch einmal eine Figur hineinzuften. — 
Und was ſoll es denn vorftellen? — Tas weiß ich augen- 
blicklich jelbft nicht, e8 wird mir erit einfallen, wenn es weiter 
heraus ijt. 

Die fragende Miene des Inquiſitors belehrte mich, daß er 
das 2 noch nicht fo beftimmt gejehen hatte wie ih. Die praktilche 
Erwägung feiner Hausfrau: Das gibt nicht einmal eine ordent- 
liche Schüffel voll Salat! ſchloß brummend das Verhör. Aber 
im Aufftehn vom Tiſch, das ich heute beeilte, traf mich ein jo 
nedifcher Blick aus Luiſens Auge, daß ich meinte, es träte der 
allerhellfte Stern hinter Wollen vor. Sie weiß e8, was kümmern 
mich die andern; und fie zürnt nicht! 

Wir lehnten den Nachmittag an der Brüde, die über den 
Bach rechter Hand in den Garten führt; an dem leuchtenden 
Frühlingsfonnentag war e8 eine Wohltat, den Bad) entlang über 
den dunkeln Waſſerſpiegel Hinzufehen, auf den Erlen niederhingen, 


4. Mit Kreflenfamen, der es ſchnell verrät... 63 


deren Zaub noch nicht ſchwarzgrün wie im Sommer war. — Sehen 
Sie, wie emjt im bellgrünen Glanze die fchwarzen Früchtchen 
ſtehn? Das iſt gerade das Gegenteil von dem, wie ed am 
Abend hier außfieht, wenn die Sterne in dem ſchweigenden 
Wafler liegen wie eingeiprengted® Gold in einem ganz dunkeln 
Kriſtall. — Solcherlei und andres, meiſt wohl ziemlich weit 
bergeholtes, fprach ich zu dem Mädchen, das nicht viel ant⸗ 
wortete, aber nicht ungern zuzuhören jchien. Sch hatte mit der 
Zeit das Gefühl, daß dag ein Herumreden fei. Das blaue Auge 
richtete fich jehr hell auf mich, aber nicht jo völlig kriſtallhaft 
falt, wie es wohl bliden konnte; ih dachte an einen ganz hellen 
Saphir, den id auf dunkelm Sammet hatte liegen jehen. Ihre 
Lippen öffneten ſich nicht, fie wußten wohl, daß die Frage dieſes 
Auges mir nicht unverjtanden blieb; auch meine Lippen waren 
verjiegelt, aber mein Auge jagte: Ja, ich habe dad 2 gejät, und 
die Möte, die ich in den Wangen fühlte, bekräftigte eg: Sa, er 
hat wirklich Die Kedheit gehabt. So fahen wir uns an, und 
id) weiß nicht, warum id meinen Blid nicht von dem ihren 
Löfen konnte. Es war ein unbeitimmted Vertrauen, deſſen ich 
aus diefem Auge nicht genug jchöpfen konnte. Und endlich) brach 
es wie ein Quell hervor: Wie jchön iſt ed Doch, daß Sie jetzt 
da find, wo die Sonne jeden Tag heller und wärmer jcheint, 
Fräulein Luiſe. Es wurde vorher ſchon ſchön und gut von dem 
Augenblid an, wo Sie famen, und nun wird jeder Tag herr- 
liher. Für mid find Sie der einzige Menſch, an den. ich mich 
hier anſchließen Tonnte, Sie find jung — Aber nicht jo jung wie 
Sie, Fritz, warf fie lächelnd ein — und haben nicht mit dem 
Geſchäft zu tun, Sie kommen aus meiner Stadt und Tennen jogar 
die Straße, mo meine Eltern wohnen, für das alles bin ich Ihnen 
dankbar. Sch weiß wohl, daß das Dinge find, die Sie ganz 
gleichgiltig Laffen, Sie follen fich auch gar nicht darum kümmern, 
Sie haben ja befjeres zu tun. Aber wenn ichs kurz fagen foll, 
ich freue mich eben einfach, daß Sie da find, jehen Sie, es ift 
nicht anders, als wenn wir jet Morgens einen jo recht dicken 
Strauß Anemonen in daS alte dunkle Apothefenzimmer jtellen,. 
das Teuchtet wie ein Sonnenftrahl, und alle® nimmt von dem 
Licht der frohen Blumen an und wird ſelbſt hell und froh da⸗ 
von. Der Blumenjtrauß allein weiß nichts davon. So, Yräuleim. 
Zuife, ift e8 mit Ihnen. 

Luiſens Auge lachte hell, als fie ſagte: Es iſt ja recht 
jchmeidhelhaft, mit einem ganzen Strauß Yrühlingäblumen ver- 


64 Glüdsinfeln und Träume 


gliden zu werden. Mir wäre es genug, wenn Sie mich mit 
einer einzigen Blume verglichen. 

Nein, das geht nicht, fagte ich; wegen des Lichts muß es 
ein Strauß fein, denn im Vergleich mit der Freude, Die aus 
Ihrem Geficht auf die Welt ausgeht, ift eine Anemone nur 
Dämmerung. Nein, ed muß etivad Leuchtendeß fein, was man 
mit Ihrem Angeficht vergleicht. 

Zuije errötete, wollte nicht weiter darüber geredet haben, 
ob Strauß oder Blume, fondern fragte mit demfelben ſchelmiſchen 
Lächeln, das ich vorhin über ihr Geficht Hatte gleiten fehen: Iſt 
e3 wirklich ein 2, das Ste mit Krefle angejät haben? 

Sa, und Ihr L, nur Ihres, das höchſte L, das es gibt. 
Mit Krefienfamen, der es ſchnell verrät, fät ich e8 gern auf 
jedes friiche Beet. 

Nicht weiter, fiel mir Luije ind Wort, und ich verftummte, 
im ftillen halb und Halb erftaunt, mich freuend über meine eigne 
Kühnheit. Als aber nun Luiſe mit kühler, abfichtlich geſetzter, 
faſt geſchäftsmaäßiger Stimme ſagte: Es iſt nım da und wächſt. 
Was tut man damit? Zum Ausroden iſt es zu fpät! — be⸗ 
wunderte ich, wie fo oft ſchon, ihre ruhige Überlegenheit und 
wollte nicht zurüdbleiben: Befehlen Sie ed, jo rode ich es doch 
noch auß. 

Dazu ift e8 ſchon zu ſpät. Man bat den Buchftaben ein- 
mal erkannt. Die Frage ift nur: Was tun wir damit? Onkel, 
Zante, die Köchin Kathi und alle, die in den Garten kommen, 
fehen es, und bei Diejem Wetter wird es jeden Tag auffallender, 
nächſtens — und fie lädjelte höchſt liebenswürdig — wird es 
wie ein Transparent in die Welt hinausleuchten. Ach frage Sie, 
was fangen wir damit an, ehe ed uns über den Kopf wächſt? 

Ich wußte feinen Rat, meinte aber, Die Sache ſei gar nicht 
jo gefährlich, jebt, wo ich wife, daß fie es nicht mißverftehe und 
mir nicht zürne, nähme id) es gern auf mich, möchten doch Die 
andern jagen, was fie wollten. 

Fräulein Luiſe fchien nicht Damit einverftanden zu fein, das 
grünende & fo auf die leichte Schulter zu nehmen. Man wird 
fragen, warum Sie den Anfangsbuchftaben gerade meines Namens 
hingejät haben, warum nicht des Ihrigen? Ein F ift gerade 
jo leicht zu jäen wie ein 2, und gewöhnlich verewigen doch bie 
Leute am liebjten ihren eignen Namen. 

Fräulein Luiſe, Sie willen ja jet, warıım ich es getan 
babe. Ich konnte wahrlich nicht anders. 


4. Mit Krefienfamen, der es fchnell verrät... 65 


Mein Onlel wird e8 faum glauben, und Tante ficherlich 
nicht, fie werden annehmen, Sie feten in mich verliebt! — Dabei 
errötete fie jehr liebfich, wirklich anemonenhaft, und ich fand ed 
ſehr Tieb, daß fie diefe Worte fo zögernd ausſprach, gerade weil 
fie dabei noch mehr errötete.e Zum Glück war aber mein Ge- 
willen ganz rein. Verliebt? Kein Gedanke. Ich konnte ihr 
mit der offenften Miene von der Belt antworten: Bon Liebe tft 
feine Spur dabei, dafür ftehn Sie viel zu hoch über mir. Mein 
Ehrenmwort, daß ich auch nicht mit einem Gedanken daran gedacht 
habe, als ich die gefährlichen Körnlein da ausftreute. Warum foll 
man denn nur den Namen einer Geliebten mit Kreſſenſamen auf 
ein frifche8 Beet ftreuen Lönnen, und nicht Den eines Freundes, 
einer Sreundin? Muß denn überall Liebe mit dabei fein? Wäre 
ih Kreſſenſamen, ich verbäte mir, jo ohne mweitere8 und einfeitig 
immer nur mit Liebe verbunden zu werden. ch Habe einmal 
von der Liebe geleien, daß wenn fie einmal gelommen ift, fie 
wächft und wächſt, wie die Flut, überall hindringt, alles aus⸗ 
füllt. Das muß wahr fein, denn überall lieft, überall hört man 
von ihr, und die reinfte jelbftlojeite Freundſchaft muß fidh für 
Liebe beargmöhnen Laffen. ch weiche diefer Flut nicht, und 
wenn ich fo einjam vor ihr ftünde wie die Felienklippen vor 
Helgoland. | 

Ich mußte wohl bei dieſer Rede wider die Liebe etwas 
pathetifch getworden fein und Die Hand aufs Herz gelegt haben, 
denn Luiſe bat mich lachend, Leine jo bedenklichen Gebärden zu 
machen. Aber ich war glüdlich, einmal fo offen reden zu dürfen. 
War es doch nicht bloß ein Bekenntnis an das Mädchen, fondern 
die Ausſprache einer jugendlichen felbfterrungnen Anſchauung von 
Dingen, Die mir Die wichtigften erfchtenen. 

So tief wie Paris unter den Helden der Ilias ftebt mir 
die Liebe unter der Freundſchaft. Mögen die Dichter fie in 
krankhaften Verſen befingen, die Sreundichaft fteht mir in jeder 
Hinfiht höher, und das ift e8, wenn ichs denn offen jagen ſoll 
und darf, was ich für Sie empfinde, aber ich würde durchs Feuer 
für Sie gehen. 

Luiſe war nachdenklich geworden. Dann verlangen Sie das⸗ 
jelbe au von mir? Und wenn id) nun nicht dazu bereit wäre? 
Freundſchaft muß gleih an Opfern und Empfangen fein. 

Wie könnte ich an Gleichheit denken, Ihnen, Ihnen gegen- 
über! Unmöglih. Ich bin Ahnen jo verfchuldet, werde niemals 
imftande fein, daS. abzutragen, was Ihre Gegenwart mir ift, 

Raztzel, Büdsinfeln und Träume 5 


66 Glüdsinfeln und Träume 


und was Ihr Erſcheinen in dieſem Haufe mir geworben ift. 
Dulden Sie ed einfadh, dab ich Sie dankbar verehre, ganz von 
unten herauf nur, und fragen Sie nicht weiter. Wenn ich läftig 
bin, fagen Ste mir ein Wort, es genügt, und ich ziehe mich 
urüd. 

Sie übertreiben augenſcheinlich. Denn was kann mein Er- 
jcheinen für Ihre hiefige Exiſtenz bedeutet, was bewirkt haben? 
Soweit ich ſehe, ift fie noch eben fo, wie fie vorher war. Was 
follte ein Mädchen daran ändern Tönnen? Doc gut, Sie wollen 
nicht, daß ich frage. Da wir aber gute Freunde fein follen, fo 
erlauben Sie mir den Rat, zu dem ich ald Freundin berechtigt 
bin, die vier Jahre älter ift: Leben Sie nicht in Illufſionen, 
befonders nit mit Bezug auf mid; ich bin ein äußerft fehler- 
behaftetes Geichöpf. 

Ach ließ Luife nicht außreden, denn das Hang ja faft abjurd, 
und reichte ihr die Hand. Sie drüdte fie lachend und meinte, 
e3 folle damit allen Förmlichkeiten und für immer genügt fein. 
Ja, für immer, rief ich begeiftert; aber das grinende 2 er- 
ſchien mir, und ich fragte Heinlaut: Wie ift es nun mit ben 
Krefien? 

Die nehme ich auf mid), und wenn fie herangewadjjen find, 
effen wir fie als Pfand der Freundſchaft auf, recht jung und 
zart, damit das 2 bald verſchwindet, und Onkel und Tante werden 
dazu geladen. 

Und müflen noch obendrein Acetum vulgare und Oleum 
olivarım dazu geben. 


* * 
* 


Es war eine ganz hübſche Epiſode geweſen. Aber ich müßte 
lügen, wenn ic) nicht einräumte, daß mir ein Stein vom Herzen 
fiel, als das grüne 2 in Geftalt des Krefienfalats, wie er fo 
zart noch kaum gegeflen worden ift, verihwand. Ich Hatte 
mit fteigendem Mißfallen und jogar mit Reue die Kreife wuchern 
und treiben und den Budjftaben wie mit Bosheit immer deut- 
licher machen fehen, und ich jehe jebt ein, Daß der Hauptgrund 
dabon eine innere Unficherheit war, ob nicht dennoch Liebe es 
geweien fei, die im Gewande der Freundſchaft mir das Samen- 
korn dieſer Igriichen dee in die Seele geworfen hatte. Am Abend 
des verzehrten 2 lag auf meinem Tiſch ein feines Sträufchen 
aus Krefie mit einer Aurifel in der Mitte, und von diefem Grün 


4. Mit Kreflenfamen, der es ſchnell verrät... 67 


—N ts⸗ ⸗ 


und Goldbraun umhüllt trug ein ſchmaler, langer, zuſammen⸗ 
gerollter Streifen Papier folgenden Vers: 


Wenn es die Krefienfaat zu ſchnell verrät, 

Bas für ein Name dir im Herzen fteht, 

So nimm und miſche alles zum Salat 

Und ſalze ihn mit Tränen, dies mein Rat. 

20 iß bie Krefſe jung, wenn fe © vecht dort, 
Und ſprich dazu: Mein Herze, werde hart 


Ich kannte nicht die Hand, doch ertappte ich) mich, wie ich 
den Streifen küſſen wollte. Ich zerdrüdte eine Träne und fagte 
froh nichts weiter als: Freundin! 


* * 
* 


In meinem Tagebuch finde ich folgende Aufzeichnung aus 
dieſer Zeit: Nun keimt es wieder Blättern und Blüten entgegen. 
Aus dem fteinigften Erdreich treiben grünende Keime, und ſchwache 
Hälmchen jpalten mit gewaltiger Zrieblraft die Erdichollen. So 
leuten am Himmel neue Sterne auf aus dem Dunkel, man 
ahnt kaum, woher und warım? Doch freut man fi), daß bie 
Welt nicht feiert, und daß der alte Gott nicht Targ geworden 
if. Ein folder Stern warft du. Als du in unfre Nacht Hinein- 
leuchteteft, fagten wir: Das Schickſal hat nod immer Gaben frei. 


IX 902 


5. 





5. Mein Dorf 


Jam summa procul villarum culmina fumant, 
Majoresque cadunt altis de montibus umbrae. 
Bergil 


In der Geographie nennt man unſer Land ein welliges 
Land, ein welliges Hügelland. Wer dieſen Namen lieſt, ohne 
das Land geſehen zu haben, was kann er ſich dabei denken? 
Ich habe mir auf der Schulbank gar nichts dabei gedacht, oder 
wenn ich mich einmal zum Denken aufſchwang, ſo erweckte das 
Wort „wellig“ höchſtens die Borftellung, wie unterhaltend es 
fein müfje, eine wellige Wieje berabzurollen, wo man von dem 
Stoß der obern Welle aus dem Tal darunter über die zweite 
Welle wegbefördert würde, und fo immer weiter mit beichleumnigter 
Geſchwindigkeit. Jetzt, wo ich es jahrelang gejehen habe, weiß 
ih das ganz anderd. Unſer Land ift wellig, das heißt, daß 
die Häufer und Höfe bald oben und bald ımten find, wie die 
Schiffe auf wogender See. Man geht leicht einen Abhang hinab, 
ohne e8 zu merken, zehn Schritte vielleicht, und wie man ſich 
umfieht, ift der Hof verſchwunden, der eben noch Hinter uns 
ftand, vielleicht fieft man noch eben feinen neu aufgejebten 
Schornftein, das einzige Weihe zwiſchen Himmel und Wieſe, 
zwiſchen Blau und Grün und an dem braunen Haufe. Dafür 
taucht auf der andern Seite ein glänzender Kirchturmhahn auf 
oder die Kreuzung von zwei Dachſparren oder die lange Hori⸗ 
zontale eines Scheunendaches; noch viel öfter ſchwillt und quillt 
das Dunkel einer Baumkrone wie das tiefe Schattenbilb einer 
Volle hervor. Aller paar Schritte ändert fi) daS Bild, immer 
ift e8 im Wachſen oder Abnehmen, wie angejtedt vom Mond 
mit feiner Wandelbarkeit. Ein ſolches Land zerlegt die Ausfichten 
in Höbenfhichten. Bon einem Punkte über Eichelberg, wo id) 
gern lag, fah ich zuerit einen breiten, grünen Rüden, den man 
für flach gehalten hätte, wenn nicht alle Aderfurdhen und Raine 


5. Mein Dorf 69 


auf ihm in Bogen verlaufen wären, dann den blendend weißen 
Zurm don Altenloh mit einer graufchwarzen Zwiebelkuppel. 
Einſam fteht er wie ein Leuchtturm am mwogenden Deere; das 
Schiff der Kirche fieht man von Hier nit. Dahinter und dar⸗ 
über zieht ein dunkler Waldſaum, den überragen noch eben ein 
paar Baumkronen und das lange braune Dad) von einem ganz 
oben liegenden Hof. Soviel Dinge ich fehe, ſoviel Bodenjchwellen 
ziehn von mir Binaus. Und da Kirchtürme, Scheumendächer und 
die Kronen von Eichen», Ahorn= und Birnbäumen immer am 
höchften ragen, bilden fie eine Art von Ariftofratie in dieſer 
Landſchaft. Nur Raubvögel, die man manchmal über ihnen 
treifen fieht, ftreben noch höher hinaus. Und über allem ſchweben 
die Wollen, die wegen der höhern Berge, die nicht fern find, 
und wegen des feuchten und warmen Rheintals auf der andern 
Seite oft jehr ſchön find. Wir haben bejonders fchöne, leuchtend 
weiße Wolkenballen des Nachmittag und herrliche Wolkenſchichten 
über den blauen Weftbergen des Abends. Frühmorgens liegen 
im Spätiommer und Herbſt weiße Wollendeden und ⸗ſchlangen 
im Rheintal. 

Da es in unſerm Lande jehr viel einzelne Höfe und hohe 
Bäume im Felde gibt, hat jede Bodenwelle ihr beſondres. Eine 
trägt Wieſen und ſchaut hellgrün über eine andre mit golbhraunen 
Haferfeldern, und darüber hinaus wogt es walddunkel. Ein un- 
vergeßlich anheimelndes Bild tft der Hof mit feinem langen, 
hoben Dach, das ſtolz den reichen Erntefegen birgt, die Glocke 
Darauf, Die zur Arbeit und zur Haft ruft, und darüber fteigt 
die dunkle Krone eine mächtigen Ahornbaumd wie eine Abend⸗ 
fommerwolfe in den Himmel hinein. Auch dab die Bäume ver- 
einzelt oder in Heinen Gruppen auf den Höfen ftehn, gibt dem 
Sand eine Art von Sprache. Denn jeder Baum meint etwas: 
ber beichattet eine Feine Kapelle, bis zu der am Erntefeft die 
Danktprozeifion geht, dort fteht zwiſchen zwei Linden ein uraltes 
Kreuz, deſſen Grundftein in den Boden geſunken ift; jene Eiche, 
deren dunkle Blättergruppen fo phantaftiiche edige Figuren in 
den Himmel fchneiden, fteht auf der Grenze von vier Dorfge- 
marlungen, und unter dem Holzbirnbaum dort, defien Krone fo 
ſonderbar niederfiutet, ift der alte X-Bauer geftorben, den auf 
feinem nahen Felde beim Grummetladen der Schlag getroffen 
bat; man lieft die Tafel dort. So fagt jeder Baum fein Sprüd)- 
lein, und Die, bie keins willen, fragen did: Warum fteh ich gerade 
auf diejem Hügel, am Rande diefer Mulde oder an biefem 


70 Glädsinfeln und Träume 





Hohlwege? Da nun auch noch dazukommt, daß gerade wie die 
Höfe und die Bäume jo auch die Wege auf⸗ und untertauchen, 
ſodaß man nur immer Stüde davon fieht und ihren Zuſanmen⸗ 
bang fi) auß ber allgemeinen Richtung denken muß, fo ift das 
ein geiprächiges, unterhaltliches Land. Und wer über dieje Hügel- 
wellen von Dorf zu Dorf wandert, ift jozufagen nie allein und 
kommt nie aus der Gelellichaft Heraus. rüber muß es noch 
anders geweſen fein, als auf den Höhen Burgen ftanden, deren 
Reſte man aufgededt hat, fogar römiſche. Auch Galgen und 
Ding⸗ oder Richtftätten, dieſe mit niedern Steinkreuzen bezeichnet, 
gab es in angemejlenen Entfernungen. SHoffentli waren «8 
mehr als nötig; wenn nidht, war jene Welt noch jchlechter als 
unſre. Sicherlich gibt es jeßt mehr Felder und Menſchen. 
Höchſtens die fteinigen Höhen und Rüden liegen brach, das ver- 
fünden von weiten ſchon Die hohen gelbblumigen Königskerzen, 
die Keinen violetten Aftern und purpumen Difteln, die fteinigen 
Boden lieben. Wenn der Ader beitellt und wieder wenn er 
gemäht wird, was bei und durchaus mit der Senſe geichieht, 
ift die Landichaft reich belebt. Doch bleibt fie faft immer gleich 
ſtill, was Laute anbetrifft. Ein Ruf, der die Pferde ermuntert, 
ein kurzes Befehldwort ded Bauern an den Knecht, ein Raben⸗ 
fchrei ift ftunbdenlang alles, was man hört. Die Hauptarbeiten: 
Bilügen, Säen und Ernten vollziehn fid) in aller Stille; fie find 
zu ſchwer, als daß die Luft zum Reden oder Singen auffäme. 

Anders ift es im Spätjiahr, wenn fie erledigt find. Dann 
fteigen aus den Aderfurden Die blauen qualmenden Rauchjäulen 
des verbrannten Unkrauts, deſſen Geruch der Luft weithin eine 
Schärfe erteilt, und die begraften Bühel, wo man Biegen und 

fe und die Heinften magerften Kühe zur Weide treibt, um- 
wöllt der Rauch der Hirtenfeuer, die einen ſeltſamen Eindrud 
befonderd? am Wbend machen, wenn dunkle Geftalten um fie 
ſchwanken. In derjelben Zeit gehn die Kühe und die Rinder 
zur Weide auf die Wiefen, und die Landichaft bekommt einen 
niederländiihen Zug. Auf einzelnen Waldwieſen, auf Stoppel- 
federn und abgeernteten Kleeädern weiden ganze Herden von 
Kühen, ftolge Tiere, bie zu fagen ſcheinen: Unfer Herr ift ein 
reicher Bauer, verwechfle und nicht mit den Kühlein armer Leute; 
diefe fieht man gerügfam und einfam an Rainen grafen. 

An einem Waldeck fteht ein uralter Örenzitein, um ihn drei 
mächtige Buchen, gleichſam eine Vorhalle, einen Vorhof des 
Waldes bildend, in deffen Dunkel man nun eintritt. Dort lagern 




















5. Mein Dorf 71 


die Herden an den warmen Herbittagen, die Kinder, die fie hüten, 
finden dort Hafelnüfle und Bucheckern. Dann hört man dort 
zuzeiten ſeltſame Mufil. Aus dem Walde heraus klingen die 
Glocken ber Herden wegen der großen Entfernung der einzelnen 
Gruppen auf ihren Waldwiefen und wegen der dazwiſchen⸗ 
jtehenden Bäume nicht einzeln, fondern wie ein Geſang; oft 
klingen die bochgetönten zufällig zufammen, und das läutet wie 
ein heller Ruf aus Waldestiefen. 

Die Gemarkung könnte man die politiiche Grenze des Dorfes 
nennen, wenn der Horizont als feine natürliche gilt. So wie 
jedes Kind, das kaum noch feft auf den Beinen fteht, Die Felder 
und Wieſen feines Vaters kennt, Tennt jeder Knabe die Grenzen 
der Dorfgemarkung; er tritt nicht auf den Rain vor dem Stein⸗ 
wald oder auf die andre Seite der Vizinalſtraße nad) Senfen- 
heim ohne da8 Gefühl, fremden Boden zu betreten. Wenn Die 
Burſchen von Eichelberg in einem Nahbardorf eine Schlägerei 
inizeniert haben, halten fie ſich für ficherer, ſobald fie Den Grenz⸗ 
graben überichritten haben. Zwei uralte Steinfreuze, die bis 
an die Duerarme in den Boden gejunfen find, erzählen, wo 
der Waldpfad von Micheldberg her die Grenze jchneibet, bie 
Sage von einer graufen Bluttat. 

Da fi) bei ung nur die großen Bauernhöfe ungeteilt ver- 
erben, und zwar ebenjo oft auf den älteften wie auf den jüngften 
Sohn, ift dad Dorfland immer mehr zerteilt worden, und Die 
Stüde wechſeln um fo leichter ihre Beſitzer, je Heiner fie ge- 
worden find. Es gibt zwar in meiner Erinnerung fein Beifpiel, 
Daß ein wirklich reicher Bauer ganz arm geworden jet, aber 
Abbrödlungen erlebt man alle Tage. Kinder der Armiten find 
mit nichts auf die Wanderſchaft gegangen, und als fie nach einem 
Jahrzehnt oder länger zurüdgelehrt waren, haben fie mit den 
Erſparniſſen einen Uder gelauft und find bei gedeihendem Hand⸗ 
werk in den Mittelſtand der Bauern eingetreten und baben ſich 
genug Feld erheiratet, daß fie vier oder fünf Kühe halten konnten. 
Damit ift das Bild der Landſchaft immer mannigfaltiger und 
bunter geworden. Jetzt liegt kaum einmal ein Feld brach, es 
erregt Staunen, wo e8 vorlommt. Dagegen find ed der Feld- 
früdhte weniger geworden, und von diefer Seite her zog Ein- 
förmigfeit in die Gemarkungen. Der zarte Flachs mit feinen 
hellblauen Blüten ift verſchwunden, die gelben Rapsfelder find 
felten geworden, von den Getreibenrten wird ber Dinkel weniger 
angebaut als früher, nur die Quzerne und der hohe Pferdezahn- 








72 ' Glädsinfeln und Träume 


mais haben an Ausbreitung gewonnen. Im Sommer die Kar⸗ 
toffel, im Herbſt Die Zutterrübe: dieſe beiden niedrigen, anſpruchs⸗ 
lofen, unpoetifhen Gewächſe find es, die ben größten Raum 
einnehmen. Wir leben eben im Zeitalter der Nühlichkeit. 

Das ift Die Ausficht, die den Bauer freut: der Blid auf 
jein Dorf, wo feine Heimat im engften Sinne ift, deren Dach, 
deren Darüber hervorragenden dunkeln Birn- oder hellen Nuß- 
baum er erlennt. ft e8 nicht natürlih, daß man den Blid 
aufs Liebfte, da$ man bat, jedem andern vorzieht? Man wendet 
fi) auch einmal auf einer ſolchen Höhe um, wundert ſich über 
die Nebelbant im Aheintal oder die ganz fernen linksrheiniſchen 
Berge, die nad) Sturm oder in den hellen Paufen eines Regen⸗ 
tag8 blau am Abendhimmel ftehn. Aber das find nur Kurioſi⸗ 
täten. Herzensfäden jpinnen fi) da hinüber nicht, die wachſen 
nur dem Eigenften und Näcjften zu. Wan kann wohl einen 
alten Bauer, der nicht mehr gerade bie fchwerfte Arbeit tut, 
auf dem höchſten Punkte feine Ackers ftillftehn und lange, wie 
in Gedanken verſunken, ind Tal hinabſchaun fehen. Der Fremd⸗ 
ling möchte ihn wohl für einen ſchwärmeriſchen Raturbewundrer 
halten; wenn er zu ihm Hintritt, möge er nicht enttäufcht fein, 
wenn das Sinnen ded alten Mannes dem offnen Scheunentor 
in jeinem ®ehöft galt, oder wenn er wohlgefällig dem Rhythmus 
des Dreichend laufchte, daB don feiner Tenne herauftönt. 

Die Alleen von Obſtbäumen, die vom Dorf in die Felder 
hinausziehn, ſetzen die Dorfftraßen und Dorfwege fort. Ihre 
dunkeln Linien führen in die ſonnigen Felder und verdichten ſich, 
wo an Kreuzwegen die Baumreihen zuſammentreffen. Sie ſind 
erſt im achtzehnten Jahrhundert entſtanden; da aber alle Dbft- 
bäume, der Walnußbaum ausgenommen, ſchon in ihren erften 
Lebensjahren charaltervolle Phyfiognomien annehmen, fo haben 
wir jehr viel Apfel- und Birnbäume, auch Kirfchbäume, die ein 
uxaltes Anjehen haben, und deren jeder fozujagen eine Perſön⸗ 
lichkeit if. Man bat bei ihnen immer den Eindrud, als ob fie 
ro plagen müßten, ihre Laften füßer Früchte heranzupflegen 

und durch Somme und Wetter dem Herbſt entgegenzutragen; aber 
wenn fie e8 nicht gern täten, würden fie fie in ſolcher Fülle 
tragen, daß ſich die "He biegen? Diefer Eifer und dieſe Güte 
rühren uns, und wir jchließen Belanntichaften mit ihnen, und 
mandje merkwürdige Geftalt darunter bleibt ung unvergeßlich. 
Sie leben in unfrer Erinnerung, dieſe alten Bäume, wie bie 
alten Bauern, ohne die wir und md Daß Dorf nicht vorftellen önnen. 


5. Mein Dorf 73 


.. 


Und leben fie nicht in der Tat? Wenden fie fich nicht der Sonne 
zu, ſodaß fie zuleht der Straße den Rücken kehren? Halten fie 
ihr nicht ihre Früchte entgegen, daß fie ſich raſcher röten? Und 
jubeln fie nicht in die helle Frühlingsluft hinaus mit ihren 
weißen und roten Blütenfträußen? 

Die Dörfer find bei uns Hein und liegen immer an den 
Straßen und Bächen, meift dort, wo die einen zu den andern 
berabfteigen, recht verſteckt in der Tief. So liegt auch mein 
Dörfchen in einem Kefjel oder vielmehr in einer ziemlich flachen 
Mulde, und es ift jehr auffallend zu jehen, wenn man von 
Senjenheim oder von Breitbrud, den beiden Verkehrs⸗ und 
Kulturzentren, anjehnlichen Marktflecken, herkommt, wie die grau» 
braunen, moo8grünen Dächer da unten zujammengedrängt liegen, 
wie ein kleines Gebirge von Firften und Giebeln, und darüber 
dunkle Wollen, die Bäume, die vor den Häufern oder in den 
Graßgärten jtehn, und wie an ihrem erhöhten Rande aus einer 
Gruppe von größern, weißwandigen Gebäuben der blendend 
weiße Kirchturm mit feinem Kuppeldach aus alterSgrauen Schin⸗ 
deln wie eine Kerze hervortaucht. Dem frommen Vergleich einer 
Herde von Hütten, die fi um bie Kirche, ihren Hirten und 
treuen Beichüber, drängt, ſetzte der aufgellärte Dorfarzt, der 
übrigens ganz freundlich mit den beiden Geiftlichen verfehrt, die 
trivial⸗kritiſche Anficht entgegen, die Kirche bemühe fich vergebens, 
die Eichelberger aus dem Pfuhl ihrer Sündigfeit herauszuziehn; 
der Forſtgehilfe aber berichtete jchwäbelnd: Mei Bruder, der 
Herre Rentamtmann, jagt, Eichelberg fomm ihm vor, als jeie 
feine Bauernhäufer in eine Keſſeltreibe zſammekomme. Er leerte 
nach biefer Behauptung fein Glas goldgelben Biere und fegte 
da8 leere Glas in einen Sonnenfled, der auf dem Tiiche fpielte, 
daß es hell aufleuchtete; die Herren tranfen nämlich aus dicken 
gerippten Gläſern, die Bauern aus dünnen glatten. Der Effelt 
war ſchön, aber die Bemerkung des Foritgehilfen fand darum 
doch kein Echo, weil die andern fanden, daß er fid) zu viel für 
feine Jugend beraußnehme, und daß man übrigens auch Licht⸗ 
effekte weiter nicht fchäßte, nicht einmal in Biergläfern. 

Doch ich will ja noch nit von den merkwürdigen Be- 
wohnern der erhöhten, weißwandigen Häufergruppe um den Kirch⸗ 
turm, jondern von Eichelberg im allgemeinen und bejonder® als 
Dörfchen fprechen. Wenn es ſich nun darum handelt, den Über- 
blid von einer der herabfteigenden Landftraßen zu vollenden, Die 
wir genannt haben, fo ſei der geneigte Leer zunächſt darauf 





——— TIER LT CELL LAS 


74 Glüdsinfeln und Träume 


—— IL ING GL LI GL LE NL — —— —ñ— — —— ——— LIND? LG — — LE 


vorbereitet, daß er nicht vieles und nicht vielerlei ſehen wird. 
Eichelberg iſt nur ein Dörſchen, hatte zu der Zeit, von ber wir 
ſprechen, fiebenhundert Einwohner in achtundneunzig Häufern 
oder Hütten, und man mochte dad Ganze in weniger ald einer 
halben Stunde umſchritten haben. Dafür hat es, wie jebes 
normale Dorf — ftadtähnliche Dörfer wie in der Nheinpfalz 
gibt es bei und nidht —, die zwei großen Vorzüge: daß man 
es leicht als Ganzes überfieht, und daß man jeden Augenblid 
aus feinem Bann in die weite, freie Natur hinaustritt. In 
Heinen und mittlern Dörfern öffnet fi) noch jedes Haus nad 
irgendeiner Seite ind Freie, entweder ſchaut feine Vorderfront 
auf Felder und Wieſen, oder, was viel häufiger der Fall ift, 
man tritt aus dem Garten, der fi) am feine Rückſeite anſchließt, 
unmittelbar ind Unbewohnte hinaus. Auch dem Bauern, dem 
man darin wenig Empfindung zutraut, tut es wohl, ſich aus 
dem „Gedränge“ der Häufer und Nachbarn Hinauszuflüchten. 
Wenn er einen Schmerz überwinden, einen Groll auskochen laſſen 
will, macht er ganz ſachte das Fleine Pförtchen auf, daß hinten 
Hinausführt, überjchreitet die Bohle, die einen Kleinen von ber 
Mühle herkommenden Wafjergraben überbrüdt, und macht ſich 
auf feiner anftoßenden Wieſe oder ein paar hundert Schritt 
aufwärts in dem Weinberge zu jchaffen, der bei uns bäufig 
gerade gegenüber dem Hausgärtchen liegt. Oder er lehnt ſich 
auf fein Gartengitter, haut hinaus, wo feine Menſchen find, 
und fühlt, daß es nod eine Welt außerhalb feines Schmerzes 
oder feines Grolls und außerhalb des Bereich! fremder Menſchen 
gibt. Auf denfelben Pfaden treffen fi) auch gern die Burfchen 
und die Mädchen, Die fi) etwas zu jagen Haben; beſonders die 
Burſchen gehn bier gern am ftillen Abend, wenn fie noch eine 
„Traget“ Grad gemäht haben. Wenn er erzählen fünnte, ber 
feine Weg am Wafler hin! Wie mande Sorge au dem Dorf 
ift auf ihm Hinaus-, auf ihm ift aber aud) in mandyer Dämme- 
rung oder grauen Nacht Unglüd und Schande hineingetragen 
worden, die dad Tageslicht fcheuen. 

Auf einem der ubrglasförmigen, flachgerundeten Buntſand⸗ 
fteinhügel, der unmerfli feinen ihm zum Verwechjeln ähnlichen 
Genofien überragt, ift 1843 eine Eiche zur Erinnerung an die 
Schlacht bei Leipzig gepflanzt worden. Dort hinauf babe ich 
viel mehr als bundertmal einen alten Freund meiner Jugend, 
den Delan St., begleitet, dem ich es verdanke, daß ich die Liebe 
zur Wiſſenſchaft mit meinem Kinderglauben vereinigen Tonnte. 


5. Mein Dorf 75 


Man fieht von jener baumgefrönten Stelle elf Dörfer und wohl 
ebenjoviele Höfe. St. zitierte dort gern das Wort des Erasmus 
von Rotterdam in feiner Beireibung von Holland: „Dieles 
Land ift mir zum Vaterland geworden, und wollte Gott, daß 
ih ihm ſowohl zur Freude wäre, ald es mir if.“ Ich habe 
dort auch fagen hören: Dein erfter Gedanke, wenn du über dieſes 
weite Gefilde hinſchauſt, it wohl: So weit vermag ich mich zu 
regen; der zweite: Was du fiehft, hat dir Gott zur genußreichen 
Anſchauung gegeben. Alſo Freiheit und Fülle. 

Was aber die Möglichkeit betrifft, dad ganze Dorf mit einem 
Blick zu überſchauen, fo hörte ich jagen: Wer nie das Reit, in 
dem er lebt, von oben fieht, der hat auch feine rechte Vorſtellung 
von dem Ganzen, dem er angeichlofien, eingegliedert ift. Und 
auch das ift eine große Wahrheit. Ich liebte mein Torf, jo 
wie ih es vom Behrberg aus ſah, vom Schufterhäußchen auf 
der einen Seite bis zum Haus des GStraßenwärter8 auf Der 
andern. Da fah ich e& zuerſt al ein Ganzes unter mir, und 
dann erlannte ich auch gleich die drei „Dorfteile,“ in Die feine 
achtundneunzig Häujer und fiebenhunbert Einwohner zerfielen. 
Ich ſah nämlich gleich unter mir in den Kirchhof hinem und 
auf die Kirche, von der er wie ein Garten ausging, und 
diefen Kern ftanden im Halbkreis die Apotheke, das Bottorbang, 
das proteftantiiche Pfarrhaus und die Mühle; diefe vier fühlten 
offenbar eine ftarfe Bufammengehörigfeit, denn fie waren nicht 
bloß alle blendend weiß getündht, jondern jedes hatte auch zwei 
Dleander voll rofenroter Blüten in grünen Kübeln zu beiden 
Seiten der Tür. Weiter ftand dann an der Straße das Gaft- 
Haus, ein vergrößertes, aber nicht verſchönertes Bauernhaus mit 
einem langen Flügel voll Ställen und Remiſen und den Rfäum⸗ 
lichleiten für eine Heine Bierbrauerei. Vom Giebel hing das 
an eilernem Arm fi) Inarrend beivegende Wahrzeichen, das weiße 
Lamm, über die Straße. Bon da an lagen die Bauernhäufer 
bunt durcheinander, bis am andern Ende ein großer höher ge- 
legner Hof mit weithin leuchtender weißer Kapelle den Abichluß 
machte, die mit ihm ein Ganzes zu bilden fchien: der weithin 
befannte Lauterbacherhof mit dem katholiſchen Kirchlein, von dem 
ein ſchmaler Kirchhof talab zog; eine Anzahl von Kleinern Häuschen 
mit entiprechend Heinen Gärtchen lag dort verftedt unter uralten 
Linden, denen man anjah, daß fie eher zu dem Hofe und feiner 
alten Kapelle als zu den Fleinen Wohnſtätten gehörten, die num 
in ihrem Schatten lagen: Gegenüber diefem dreigfiedrigen Bogen 


76 Glädsinfeln und Träume 





bes Dorfeß zogen Wieſen und Gartengrunbftüde an dem Bade 
bin, der fi in einen Dichten Park verlor, aus dem fern ein 
hohes braune Dach und ein grauer Turm herausſchauten: das 
Haus des Herrn Barons, daß faft dag ganze Jahr mit geichloffenen 
Läden und Türen wie im Schlafe baftand 

Dem fremden, der von einer der Höhen berabftieg, bie 
Eichelberg umgeben, mochte wohl manches Städtchen feinen is 
ftolgen Anblid bieten, wie daß Dorf mit jeinen in ungleicher 
Höhe ftehenden, einander überragenden Häuſern. Zwar find 
viele graue Dächer mit roten Biegelfteinen geflidt, auch gibt es 
Strohbächer, bie filbergrau ſchimmern, aber das Profil des Dorfes 
tft wie ein kleines Gebirge mit Giebelgipfeln und Graten. Leuchtend 
treten auf neugededten Dächern die mit Biegeln Bineingelegten 
Sahreszahlen hervor. Der Ichönfte re diefer Anſicht aber 
bleiben die Bäume, die ebenfalld teils hoch herborragen, teils 
nur die Lüden zwiichen den Häufern und Häufergruppen auß- 
füllen; fie find wie die Rollen in dem Bild. Und wie alles 
in dem Dorfe lebt, jo wie Halme und Bäume leben, und wie 
es, voraußgefebt, daß du Die Sprache kennſt, aus Hütten ımb 
Häufern zu bir ſpricht, jo zeigt auch der Schatten, worin ein 
Haus fteht, durch feine Tiefe die Zeit an, Die e8 an dieſer Stelle 
fteht: eine fchöne und untrügliche Whnentafel. In ber Sonne 
ſchattenlos zu ftehn, ertragen nur die wenigen neugebauten Tage⸗ 
Iöhnerhäuschen, und auch dieje ftreben durch Anpflanzungen den 
andern nad. Denn nichts ift im Dorfe zeitlos wie die Mauern 
und Steine der Städte, in denen man wohnt, ohne zu wiflen, 
bon wann oder von wem fie find. 

Die Landftrafe, die durch dad Dorf führt — und zwar 
fo, daß der breizehnte Kilometerftein genau vor dem Pfarrhaufe 
fteht, was dem Herrn Pfarrer aus Gründen, von denen ex nicht 
gern fpricht, unangenehm tft —, ift eigentlid nur ein ganz 
äußerliches Zubehör, dad erkennt man daran, daß alle die alten 
Banernhäufer feitab von ihr ftehn ober ihr den Rücken kehren. 
Die Straße ift angelegt worden, als das Dorf ſchon Jahrhunderte 
auf feiner Stelle ftand, nicht einmal die Honoratiorenhäufer 
reihen fih an ihr auf, jondern ftehn um die Kirche; fie find 
aus einer Gruppe von Wirtichaftsgebäuden hervorgegangen, Die 
dem verichwundnen Klofter Gottreich gehört Hatten. Die wahren 
Wege des Dorfes führen zwilchen den Häujern und zum Xeil 
jogar durch Anbauten der GHäufer durch, ſchmale, berafte Pfade, 
an Heden Bin, wo uralte, zum Teil mächtige Holumberfträudhe 


5. Mein Dorf 77 


und wilde Rofenbüjche ftehn; Diefe find für ben Verkehr der 
Menichen, und es befteht ein ftillichweigenbes Übereinkommen, 
daß nicht einmal Pferde auf ihnen geführt werden. Uber jedes 
Haus hat feine Zufahrt von den Wegen ber, die ins Feld oder 
zur Straße führen, und jede von ihnen endigt mit einem Stein- 
unterbau, auf dem die jchwerften Erntewagen in die Scheune 
bineinfahren können. Der mag ein Weit der Tenne aus der 
Zeit fein, wo im freien gedroſchen wurde. 

Der Kleine gelbe Bad} fließt mit unglaublicher Geſchwindigkeit 
durch das Dorf, zu meiner Zeit war er unter allen Dingen und 
Menſchen diefer Gegend überhaupt das einzige, dem es preifierte. 
Was man ihm zu arbeiten gab, erledigte er mit erſtaunlichem 
Fleiß in der kürzeſten Zeit, und gründlich; alſo ftürzte er ſich 
oben im Dorf in eine hölzerne Rinne, ſchoß hindurch, als ob fie 
in Teiner Weiſe bemoojt wäre, und doch leuchtete fie in der Sonne 
wie Smaragd, und warf fi dann fogleih in das alteröbraune 
Mühlrad, als ob er es in Stüde reißen wollte, jprang darüber 
weg. daß die Tropfen leuchtend flogen, nachdem er es haftig in 
feinen alten roſtigen Angeln umgedreht hatte, und floß dann 
eine Strede zutraulicher zwilchen grünen Ufern hinter dem Dorfe 
bin; da bier nicht viel zu tun war, nagte er im Vorübergehn 
an einem Steinpfeiler der Pfarrmauer, den das unartige Bächlein 
jedes Jahr einmal ind Wanken brachte. Dann kam er zu ung, 
wo ihm aller Abfall des Apothelenlaboratoriums, beſonders ber 
geſchmackloſe ausdeftillierte oder ausmazerierte Inhalt rußiger 
Kupferblafen und ftaubiger „Maulaffen“ *) übergeben wurbe, den 
er aufs jchleunigfte weiter beförderte. Die Kleinheit, Geſchwindig⸗ 
teit und Unermübdlichfeit des Angelbachs veranlaßte in meinen 
Gedanken feinen Vergleich mit Menfchen. Ihm gleich war zwar 
niemand, den ich kannte, aber ber Heine quedfilberne Schullehrer 
ließ mit ähnlicher Unermübdlichkeit feine belehrende und erklärende 
Stimme aus dem im Sommer geöffneten enfter feines niebern 
Schulhauſes erihallen und begleitete feinen Unterricht mit bem 
Klopfen feines Bakulus auf den Schultifchen, der Tafel ober den 
Schülern mit einer Beharrlichkeit des Wellenſchlags. Und dann 
war der Briefträger und fein Weib, beide beftrebt, die ſchmächtige 
Korreipondenz Eichelbergd fo raſch wie möglich an die Adrefiaten 
abzuliefern, und fofort wieber an ihre KRorbflechtarbeit zu gehn, 
weshalb fie allmorgendlih da8 Dorf um⸗ und burdheilten, dem 


*) RKegelförmige Glasflafhen mit weiter Öffnung. 


18 Glädsinfeln und Tränme 


LT ⸗ — 











— — 


Bächlein von ferne vergleichbar. Was ſich ſonſt in unſerm Dorfe 
bewegte, ließ ſich Zeit, ſogar die Doktorkutſche, die bei Regen 
ausfuhr, denn der Doktor konnte das raſche Fahren nicht ver⸗ 
tragen. Die andern Wagenbeſitzer — und alle Honoratioren 
beſaßen mehr oder weniger alte Fahrwerkzenge — fuhren langſam, 
weil ihre Wagen es waren, die raſches Fahren nicht vertrugen. 
Beſonders die Pfarrerivagen zogen dahin, von dicken Gäulen 
ſchwer gezogen, als wollten fie den fefteften Ader aufpflügen. 
Und unfre Dorfftraße war allerdings bei Regenmweiter von einem 
frifhgepflügten Ader nicht eben jehr verſchieden. 

Die Stelle des Bürgerfteigd vertreten im Dorfe Heine 
Streden rajenbewachjener Streifen längs der Häuſer und Gärten, 
jelten durch uralte Bohlen verbunden; hierher rettet fich der Ver⸗ 
kehr, wenn nad) langem Regen die Wege ein Schlammftrom 
geivorden find, 

Es ift eine eigne behagliche Schönheit, die der Bauern⸗ 
häufer; fie fordert zwar nicht Bewunderung, denn es liegt in 
ihrer Natur, befcheiden zu jein, aber alles in ihr Kat einen 
direlten Bezug auf ein reges, leicht zu überfchauended Leben. 
Die wohlgehaltnen Spaliere und Reben fprechen vom Fleiß, das 
ganze Anweien vom zufammenhaltenden Einfluß nücdhterner Spar 
famleit; das Bankchen vor dem Haus erzählt von der Ruhe nad 
der Arbeit, vom Hinaufjehen zu den Sternen, die Gewürzpflanzen 
im arten, die Blumen im Fenfter, dad Holz, das an der Seite: 
hin aufgefchichtet ift, und Die Neifigwellen, die auß dem Giebel 
ihauen, die Kate auf der Schwelle und die ftattlihe Reihe 
yölgerner Milchſchüſſeln, die frifch gefchenert zum Trocknen auf 

der Bank ftehn, wollen alle nicht ſchön fein oder Schönheit er⸗ 
zeugen, oder nur fo weit ald Ordnung und Behagen jchön find; 
oder wie eine Hausfrau ſchön ift durch "starte Arme, kluge Augen,. 
fröhlichen Mund. In unfrer Gegend gibt es feine gemalten. 
Banernhäufer, denn nirgends Hatten Bier Die Bauern je ſoviel 
im Überfluß, daß fie es dafür aufgewandt hätten. Übrigen? iſt 
auch die Sitte des Bemalens der Häufer bei und in den Städten 
niemals heimiſch geworden. Au einem einzigen Hof eines Nach⸗ 
bardorfed bat man unter verichiebnen Lagen von Kalktünchen. 
einen heiligen Florian, den befannten Heiligen der Bauernhäufer, 
entdedt und herausgekratzt; es ift auch nur ein Kleines unſchein⸗ 
bares Bil. 

Ein Bauernhof ift darin ganz Natur, daß er niemals fertig 
ift, denn auf diejer Seite ift er neu, auf jener alt; bier verfällt 


5. Mein Dorf 9 


ein Teil, und dort wird vielleicht ein andrer eben erneuert. Er 
ift wie einer der Berge, die darauf niederjchauen, oder wie einer 
ber Bäume, die er beichattet, immer im Werden. Menſchen, bie 
nur das Äußere fehen, finden das haäßlich. Allerdings fehlt 
dem Bauernhof, was man die lebte Feile nennt; aber die fehlt 
notwendig allem Lebendigen, denn Leben heißt fi) verändern, 
entwideln, verfallen. Und wenn nun gerade das Verfallen nicht 
einmal immer ein einfaches Vergehn der Dinge ift, jondern ein 
Aufrechterhalten des Alten aus Anhänglichleit und lieber Ge⸗ 
wohnbeit, fo wollen wir es bon vornherein nicht mit kaltem 
Auge anichauen. In einem der Heinern Häufer unjerd Dorfes 
fteht ein dreibeiniger Stuhl, in deſſen freisrunden Ahornfit die 
Jahreszahl 1731 mit ſchönen großen Ziffern tief Hineingejchnitten 
ift, von dem fagte der Schujterbauer, dem er gehörte: Daß ift 
da8 einzige Stüd im ganzen Hofe, da vom Urahn ftammt, das 
und bie tiefften Yundamente, die beim Brande im Jahre 1801 
allein ftehn geblieben find; alles andre ift im Laufe der Jahre 
neu gebaut und umgebaut, den Stuhl haben wir bewahrt, und 
er wird hoffentlich) noch Spätern Nachlommen von dem erften 
Schufterbauern erzählen, der wirflid ein Schufter war, der auf 
diefem Stuhle fein Handwerk ausübte. Da ihm Ader und Wald 
durch Erbichaft zufielen, wurden jeine Kinder Bauern, und ihre 
Kindeskinder find eg bis heute auf demjelben Grunde geblieben. — 
Einmal ſprach ich mit dem Beſitzer des Nußlocher Hofs, ber 
der größte in unſrer Gemeinde ift, über Die alte Stube, die von 
neuen umgeben gleichjam Den Stern feines Anweſens bildete, und 
der fagte: Sie ift noch nicht das Älteſte, hier iſt ein Stein, ımd- 
dort ift ein Balken, die älter find; was alt und gut iſt, Das 
wächft eben immer wieder in das Neue hinein; es iſt wie ein 
Erfenflog, in den alte Knuppen und junge Triebe ineinander 
gewachſen find, es ift eigentlich nichts jchönes, und Doch: wenn 
man den Klotz außeinanderfägt und poliert die Fläche, da kommt 
der Ichönfte Maſer heraus, für den die Kunftichreiner ein gut 
Stüd Geld zahlen. — Vor fünfzig Jahren, als ich das Dorf: 
betrat, da kamen eben die großen Butmühlen für das Getreide 
und verbeijerte Pflüge auf, danach folgten die erften Dreich- 
mafchinen, für alle diefe wurden geichüßte Plätze geichaffen, 
indem man das Scheunendacdh auf der einen Seite big faft auf 
ben Boden fortführte, wodurch ein Ddreiediger Raum entitand,.. 
worin diefe Dinge untergebracht wurden. Später fam die viel 
tiefer einjchneidende Maßregel der Feuerverſicherung, die Mauer- 








80 Glädsinfeln und Träume 


wert ohne Holzbalten in der Nähe aller Feuerftätten verlangte. 
Möge diejer Erneuerungsprozeß nicht zu raſch vor ſich sn 
Ver alt wird, Hat viel gejehen, jagt man. Das iſts, was dem 
Alter feine Überlegenheit und Würde gibt. Was macht Diefen 
Dreibeinſtuhl des alten Schufter8 wertvoll, al3 der Gedanke, daß 
fieben Generationen ihn bejeffen, auf ihm gearbeitet haben, daß 
eine ganze Kette von Menjchen auf ihm alt geworden ift? Wäre 
er in dieſer Zeit von einer Hand in die andre gegangen, jo 
wäre er und nicht jo wert. ber während Die Geſchlechter kamen 
und gingen, blieb er erhalten, und wenn ed auch nur ein Drei- 
bein ift, er kommt mir vor wie der Baum, an dem fi) Jahr 
für Jahr eine neue Rebe jung emporrankt und wellend nieber- 
fintt. Uber ift e nicht ebenſo mit allen Geräte alten Gebrauch! ? 
Die jchönfte Farbe am Metall ift die des Alters, und fo ift 
am Holzgerät der Glanz des Gebrauchs das ebelfte. 

In alten Häufern gibt es noch grüme glänzende fen, die 
mit ebenjo vielen Augen in die Stube leuchten, als fie Radeln 
haben. Da aber das Holz immer teurer geworden it, find Die 
Heinen Leute zu Heinern Ofen übergegangen, und die Frauen 
lieben die gußeifernen „Sauföpfle,“ auf deren glühender Ded- 
platte man fiebende Kartoffeln den Dedel ihres Keſſels lüpfen 
fieht. Damit ift auch die Dfenbant geichwunden, deren Stelle 
jebt vielfach ein Lehnjtuhl einnimmt, worin ein Großvater feine 
alten Glieder wärmt. Noch einfchneidender ift die Reform, die 
ein andrer Heizapparat, der Badofen, erfahren bat. Zwar wölbt 
noch mander Badofen feinen runden Bauch über die Handmauer 
hervor, aber die meiften find „foſſil,“ ftehn außer Gebrauch. Die 
meiſten baden jept beim Bäder oder kaufen das Brot fertig. 
Schade! Wenn an Badtagen friichgebadnes Brot und die ihm 
unfehlbar folgenden Kuchen auf allen Tiichen und die Treppe 
Hinauf zum Abkühlen ftanden, durchwehte ein feiner und gejunder 
Duft da8 Haus, dem fein andrer es gleidhtut. Die Kinder, in 
deren Natur es liegt, dab fie fi) an diefem Duft ergögen, und 
dag ihnen friſchgebacknes Brot befier ſchmeckt als altes, bebelfen 
fi in ärmlicher Weife, indem fie Brotfchnitte an ben glühend 
heißen Zimmerofen leben, bis fie braungeworden abfallen. 

Auf der Innenfeite der Stubentür find mit Kreide Bahlen- 
reihen geichrieben, die Verkauftes oder Geliehenes betreffen. Bapier 
war jelten, und eine mit guter Farbe angeftricdhne Stubentür 
war geduldig wie Bapier. Nur durfte kein Enkellind mit nafjem 
Singer vieljagende Zahlen verwiſchen, noch aud) ein Wihbold von 


5. Mein Dorf 81 


EEE. ——— — — ———— ——— ———— —— ——— —————— — — 





Schuldner die ganze Tür ausheben und auf dem Kopfe weg⸗ 
tragen. 

Das Wohnhaus nebſt Holzlage und einigen kleinen Neben⸗ 
bauten, bei Handwerkern gehört die Werkſtatt dazu, wendet ſeine 
Vorderſeite zur Straße oder zum Hauptweg, die Scheune und 
der Stall find im rechten Winkel dazu geſtellt, und gewöhnlich 
ichließt der Mifthaufen, der mit jedem Sabre rechtediger und 
ordentlicher geworden tft, die dritte Seite ab. In dem dazwijchen 
liegenden Hofe ift der Ziehbrunnen, der vor oder neben jedem 
Haufe fteht, mit feiner dunkeln Holzfarbe und der Zuſammen⸗ 
jtellung aus dem pfeilerartigen Sodel und dem jcdhräg auf- 
fteigenden Biehbaum, der eine ſchöne Bogenlinie in den Himmel 
zeichnet, mit den Gefäßen, die ihn umgeben, und den Pfützen, 
in denen dieſe fich fpiegeln, die eigentümlichſte Erſcheinung. Seht 
verſchwinden bie alten Ziehbrumnen, deren Biehbaum am untern 
Ende mit Steinen beſchwert war: ein unerjchöpfliches Thema für 
die Landichafter feit Rembrandt und Waterloo. Impoſant ift 
da3 zweiflüglige Scheunentor, dad nit felten im Nundbogen 
gebaut ti. So ſchwer es ift, fo läßt es Doc Raum für die 
Hühner, die gern die Tenne aufjuchen, und für die Hauskatze, 
bie dort ihr ergiebigite8 Jagdrevier hat. Vor dem Scheunentor 
jteht ein. Streifen Gras, gerade fo lang und fo breit wie die 
Negentropfen vom Scheunendadh fallen, nicht fürzer und nicht 
enger. Das Scheunentor ftreift die Grashalme zur Erde, wenn e8 
fi öffnet und fchließt, und fie jtehn leiſe raufchend wieder auf. 

Wenn auch unjre Bauern ihre Nahrung aus dem Acker, 
dem Garten und dem Weinberg ziehn, find fie doch alle Vieh— 
züchter. Die Armfte Witwe hat eine Biege, der Eleinjte Bauer 
eine Kuh und ein Schwein, der Hofbauer hat zwölf glänzende 
Kühe im Stalle, vier Pferde, die noch praller leuchten, und drei 
oder vier Schweine. „Das Vieh ift nicht, was Menſchen find,“ 
jagt man wohl, aber doch kommt es gleich Hinter ihnen. Wenn 
man bedenkt, wie das Vieh auf den Menſchen angewiejen tft, 
beſonders im kranken Buftande, wo es fi) jo wenig belfen Tann, 
begreift man die Sorge, mit der es umgeben wird. Es ſpricht 
fi) darin fogar der ganze Charakter einer Wirtſchaft aus; ver- 
nachlaͤſſigtes Vieh gereicht ihr zur Unehre, gerade fo wie ver- 
nadhläffigte Kinder, und infofern noch mehr, als dort ein greif- 
barer oder zählbarer materieller Nachteil herausichaut. 

Da jeded Haus feinen Grasgarten hat, über deſſen Raſen 
alte und jumge Obftbäume ihren Schatten werfen und nad)- 

Nagel, Stüdsinfeln und Träume 6 


82 Glädsinfeln und Träume 


einander ihre Blüten, Früchte und Blätter außftreuen, und ba 
diefe Gärten immer viel ausgedehnter find ald die Häufer und 
die Hofreiten, Tiegen unfre Dörfer buchſtäblich in Gärten. Man 
hat aber auch andre alte Bäume ftehn laſſen, al man neuen 
Häufern und Gärten Raum ſchuf, und ehe fie abjtarben, jorgte 
man für Nachwuchs. So ift dad Dorf nicht bloß mit den Bäumen 
feiner Gärten, ſondern auch mit Eichen, Linden, Ahorn eng ver- 
fchwiftert. Das find dankbare Freunde, die Stürme abhalten, 
Schatten jpenden, den Bienen Nahrung geben. In unjern Waldern 
find die großen Ahorn und Eichenbäume längft verſchwunden, 
und darum ift audy der Holzwert diefer Hausbäume nicht gering. 
Linden wachſen immer noch in feuchten Wäldern. 

Die ältern Gärten liegen zum Teil beträchtlich tiefer als 
der Boden, auf dem Die Häufer und Scheunen ftehn. Auch bier 
wohnen die Mentchen auf ihren eignen Trümmern, die fi) beſonders 
in frühern Zeiten durch häufige Brände erhöhten. Eine künftige 
Zeit wird vielleicht einmal diefe Scherbenberge außgraben. 

Ein Grasgarten ift weder ein reiner Nubgarten, noch ein 
Bart, fondern ift beides zugleih. Die Bäume ftehn zerftreut 
über den Raſen bin, ihre Reihen haben die Tiefe eined Hains, 
und deshalb fcheinen diefe Gärten größer, al fie find. Das 
Hineinziehende und Anheimelnde teilen jie mit den Buchenhainen. 
Bon der Schönheit ihrer blütenbededten und fruchtreichen Zweige 
will ich gar nicht reden. Die Bauern kümmern fi) wenig um 
biefe Gärten, e8 find die Grauen und die Mädchen, die auf dem 
Graſe ihre Wäſche bleichen und es mähen, wenn e8 hoch genug 
gewachſen if. Wenn die Yrüchte der Bäume nicht ſehr reichlich 
find, wird wenig Wejend daraus gemacht. Wer rationelle Obft- 
kultur betreibt, bepflanzt Ader oder Wieſen mit Sruchtbäumen 
oder zieht an Mauern Spalierbäume. Die Bäume in den Gras⸗ 
gärten find deshalb oft ganz fich felbft überlaffen. So wie nun 
ber ungepflegte Wald malerifchere Bäume enthält als der geregelte 
Forft, jo ftehn auch in den Craßgärten alte Birn- und Apfel» 
bäume, deren phantaftiiche Geftalten, deren mit Moos, Ylechten 
und Miſtelſtrauch bebedte Afte gute Bilder geben. Ihr graue 
Alter ftimmt zu dem alterSbraunen Holzwerl des Hauſes dahinter. 

Yür den Stadtbewohner ift der Garten das lepte Gudfenfter, 
durch das er noch einen Blid in den Wandel der fort und fort 
Ichaffenden Natur gewinnt; für den Landmann ift er die nächſte 
Umgebung ſeines Hauſes, feiner Hütte, feine Wohnplatzes. Das 
Dorf fteht gewiffermaßen ſelbſt im Garten, und jedes Haus nimmt 


5 Mein Dorf 83 


—— —⸗ ————— —— LT NINE DE! — — —— — 





EINE LER BP 


Davon einen Raum ein, den man als den Lebensraum einer 
Bauernfamilie bezeichnen könnte. Es ift der alte „Gard,“ Der 
umfriedigte, zaunbewehrte, nächte Befit. Welches friedliche Bild, 
diefe Umfriedigung, diefer „Gard“ von heute, wo nicht bloß Raum 
für das Durchſchlüpfen von Raben und Hunden, jondern in 
manchem baufälligen Zaun ſogar für Menichen if. Man bedarf 
feiner nicht mehr ald Schub; Holunder und Rofen, die ihn um⸗ 
böfchen, verraten die friedliche Natur der Paliſade. 

Man baut’ bei und die Bäume aus jungen Fichtenftämmchen, 
die mit der Rinde dicht nebeneinander in die Erde geſetzt werben, 
fie haben etwas Naturmäßiges und ſehen jogar zierlich aus, ſo⸗ 
lange fie neu find; wenn fie alt werden, trodnet die Rinde ab, 
Löft fich los, und fie haben dann etwas Rauhes. Sind fie aber 
fo alt geworden, daß die in der Erde ftedenden Zeile morſch 
werben, jo neigen fie ſich hierhin und dorthin und werben nur 
noch durch den vielleicht auch fchon morſch werdenden Querbalken 
zufammengehalten, an deſſen Außenjeite fie befeftigt find. In den 
Eden der Zäune jtehn Holunderfträucher, und früher gab es auch 
viel Weißdorn an ihnen entlang. An defien Stelle find Heden- 
rojen getreten, ſeitdem man den Weißdorn im Verdadht hat, Un- 
geziefer anzuziehn; fie find auch ſchön, erheitern nicht bloß im 
Sommer die Umgebungen unjrer Häujer, wenn die weißen oder 
Purpurrofen mit dem goldnen Mittelring der Staubfäden blübn, 
ſondern auch im Spätherbft, wenn der Wind die Sträucher ent- 
blättert hat, two dann die glänzenden roten Hagebutten übrig 
bleiben. Die Holunderbüfche find ernfter mit Ihrem dunkelgrünen 
Laub, ihren grünlichweißen Dolden und fchwarzen Beeren. Es 
gibt einige Hedenrofen, an deren Träftigen Duft die edelfte 
Gartenroſe nicht heranreicht. 

Der angeborne Farbenfinn des Menichen offenbart fich in 
der Art, wie die hellen Farben der Geranien, Nelken, Tulpen, 
Kaiferkronen, Lilien und einiger andrer zum Schmud des Weiß, 
Grau und Braun der Wände und Mauern, Tore und Dächer, 
der Holzitöße und Düngerhaufen herangezogen werden. In dieſen 
Menfchen, die Tag für Tag in Staub und Schweiß ihr arbeit- 
reiches Leben einförmig hinbringen, lebt ein Sinn für die Poefie 
der blütenreichen Pflanzen, den kein Mühn und Sorgen erftiden 
konnte. So wie fie fi im Frühjahr an ihren blütenſchweren 
Apfel- und Birnbäumen freuen, wollen fie fi) den Sommer lang 
an den unermüdlich Tnojpenden und blühenden Kräutern und 
Sträuhern des Hausgartend umd der Fenſterbretter ergöben. Se 

6* 


84 Glädsinfeln und Träume 


EI ——— GL DL BL 


tiefer ſich das Braun der Giebelverichalung mit dem Alter ver- 
tieft, deſto fröhlicher ſoll es das fich jährlich verjüngende Leben 
der Bilanzen aufhellen. Neuerdings find zu den alten Blumen 
des Bauerngartend Schlingpflanzen gefommen, bie die Garten- 
gitter umranken oder fi) über die Orenzheden legen. Yu einem 
Haus hat die große blaue Klematis bis tief in den Herbſt ihre 
breiten Flächen gedrängter großer Blüten außgeipannt, deren 
Ausläufer phantaftifche Spigen und Ranken an die Wand zeichnen, 
alles leuchtend blau. 

Das Stadthaus hat Spiegelfenfter oder zum mindeften große 
ſpiegelnde Fenſter, die es recht jehen läßt; das Haus des Dorfes 
— feine Kleinen Fenſter, Die oft breiter als lang find, und 

deren bandgroße Scheiben oft Direlte Nachkommen der Buhen- 
ſcheiben früherer Jahrhunderte find, in ſtarken Ballenvorjprüngen 
oder unter dem Speichervorbau, der über die niedern Wohn- 
räume vorragt. Daneben bat es Fenſter oder vielmehr Gud- und 
Schlupflöcher in allen Größen und Formen, die weder Glas 
noch Laden haben, fondern jchön dunkel im braunen Holze jtehn: 
die Luftlöcher der Scheune, die Schlupflücher der Kapen, das 
Stallfenfter, aus dem der Mift auf den unmittelbar davor empor 
Ichwellenden Mifthaufen befördert wird, wovon e8 Spuren trägt. 
Zwiſchen den Ballen der Scheme dringt der Überfluß des Heues 
heraus, unter dem Dachgiebel hängen Flachsbüſchel und Büſchel 
von Samenpflanzen für das — drihiehr und daneben niſten 
Schwalben oder Rotſchwänzchen. den Öffnungen des Hauſes 
rechne ich auch noch die Tore, * offen ftehn, jo lange jemand 
im Haufe anweſend ift; Durch fie alle ſchaut man tief ind Dunkel, 
aus der Haustür glüht Abends das Herdfeuer, aus dem Scheunen- 
tor bligen die in Reihen aufgehängten Senjen. Dad Dad mit 
den Offnungen für den Rauch fei nicht vergeflen. 

Als ich zum erftenmal in da8 Dorf hinabſtieg — die Höhen 
ring8herum lagen in Stoppeln, eine ftoppelfarbige Schafherde 
war das einzige, was mit mir talwärts zog — fiel es mir auf, 
wie man auf die grauen und die roten Dächer hinabſchaute. Ich 
hatte als Stadtkind noch nie da8 Dad) eines Haufe von oben 
geiehen, num ſah ich viele, große und Feine, alte und neue, 
graue Schindeldächer und rote Ziegeldäder. Der Herbft war 
da, der Hopfen war gut verlauft, die Neben veripradhen einen 
fröhlichen Herbſt. Daß war der Grund, warum mir jo viele 
neue Biegeldächer Hellrot entgegenglänzten. Es war dad dritte 
Lahr, mit dem ber Bauer zufrieden fein konnte. Es war aud) 





ö——7,t — —8 


5. Mein Dorf 85 


—. 


die richtige Tageszeit, auf Die Dächer des Dorfes hinabzuſehen: 
Die Dämmerftunde vor dem Abendläuten. Wer von und erinnerte 
fich nicht, wenn er an den Anblid feines Heimatdorfes am Abend 
denkt, an die Efloge des Bergil: 


Et jam summa procul villarum culmina fumant, 
Majoresque cadunt altis de montibus umbrae. 


Das ift ein ewiges Gefühl, deſſen zweitauſend Jahre alte Aus⸗ 
ſprache uns wie felbfterlebt beivegt! 

Es ift ein Unterſchied, in melde Art von Himmel der 
Rauch vom Dache bineinzieht. In meinem Himmelstrapez, deſſen 
Seiten großſtädtiſche Manſardendächer einfchliegen, qualmt er 
verdroffen, ohne an einem befreundeten Horizonte offen und 
Bäume, verivandte Geitalten, in den Himmel hineinziehn zu jehen. 
Das war vor allem zur Feierabendzeit bei uns ganz anders. 
Hier ftieg der blaue Rauch in feinem Strahl, der ſich nad) oben 
kräuſelnd außbreitete, aus dem Schornftein, dort quoll er aus 
dem Küchenfenfter und unter den Dachziegeln hervor und hüllte 
das ganze Haus in feinen bläulichen Schleier. Aus einigen 
Türen leuchten die rotgelben Feuerpunkte der Herdfeuer. Droben 
wird der blaue Himmel immer weißer, und unten werden Die 
Schatten in den Tälern und Gaſſen dunkler, fie fteigen empor, 
breiten fi aus, überziehn endlich den Himmel, wo die Sterne 
zuerft nur als feine Punkte den Dämmerfchatten durchbrechen, 
während unten die Feuerpunkte ſich zujammenziehn und nur nod) 
trübe glimmen, leuchten die Lichtpunkte oben immer heller. 

Dad Dorf hat, wie fein Leben, jo feine Laute, aber e8 
liegt jehr oft eine wohltuende Stille darüber, die in der Stadt 
niemals erreiht wird. WBauernarbeit geht im allgemeinen ftill 
für fich Hin, Pflügen, Eden, Eggen, Mähen, Dreichen find feine 
Tagewerke, die viel Reden vertragen. Die Bäuerinnen find wohl 
bon Natur beredter ald die Männer, aber es fehlt ihnen gar 
oft an der zweiten und der britten, die zum Geſpräaͤch nötig 
find. Die Burſchen und die Mädchen rufen einander zu und 
fingen Sonntags Abends auf der Straße, an den Werktagen find 
fie zu müde dazu. Was Laute hat und liegt in Ruhe, ift Doppelt 
ſtill. Was gibt es ftilleres als ein Dorf, deſſen ganze Bevölkerung 
auf dem Felde draußen bei der Ernte beichäftigt ift?_ ES ver- 
gehn lautloſe Stunden bejonder8 am Vormittag. am Nachmittag 
regt fi) vielleicht ein Kind nad) der Bruft der Mutter; man 
hört dann einen leifen Geſang, der es in Schlaf wiegt. Oder 


86 Slädsinfeln und Träume 


— — — — ——————————— —— —— — — ———— ———— — — — ————r — ——— — — — —— 


es ruft eine Kuh an die Futterzeit mahnend aus dem Stalle. 
Man hört auch einmal ein Hämmern an einer Senſe oder einer 
Sichel, die in der unabläſfigen Arbeit dieſer Tage den Dienſt 
verfagt hat. Erſt Abends, wenn die hochgetürmten Wagen die 
Dorfgaffe herabichwanfen, wird es lebhaft, doch find auch dann 
die ungeftüm heifchenden Tiere lauter al8 die müden Menjchen. 
Die Nacht ift lautlos bis auf die Brunnen, Die weiterrimmen. 
Ganz vereinzelt tönt das Klirren einer Kette im Stall oder daß 
Rauchen eines Holunderbuſches, durch den ſich ein Iltis windet. 

Wir find Franken, und wie überall im Frankenland und 
bejonder8 unter den Rheinfranfen vom Schwarzwald bis zum 
Siebengebirge find fchlanfe, blonde und helläugige Leute Häufig, 
Doch gibt es auch ſchwarze, und dieſe find im allgemeinen Türzer 
und breiter und haben breitere Gefidhter. Keineswegs find fie 
die lautern und vegfamern, wie e8 drüben in der Pfalz der Fall 
ift, wo noch viel Franzoſenblut umläuft, ſondern die ftillern und 
langiamern. Im jedem Dorfe gibt e8 einige ſehr große Burfchen, 
wenn auch der Durchſchnitt von Mittelhöhe ift und auch recht 
Heine darunter find. Die Eichelberger find eben aud jo ver- 
jhieben, „wie der Hirt zum Dorf naustreibt.“ 

Alle Bauern dieſes Dorfes hatten für den, der unter ihnen 
lebte, eine natürliche Ahnlichkeit, die man nicht gerade Familien⸗ 
Ahnlichkeit nennen wird, weil die Abftammungsverhältnifie doch 
auch in diefem engen Kreiſe ſehr verichieden find, Die aber auch 
nicht rein eine Sache der Einbildung if. Ich denke mir, das 
wird überall jo fein, wo Dörfer fo einfam liegen, daß fie feinen 
großen Zuzug von Fremden und auch feinen ſtarken Abfluß in 
Städte haben, der immer zum Teil wieder zu ihnen zurüditrömt. 
Da fehen ſich Benerationen Lang immer wieder diejelben Menſchen 
und werden durch unbewußte Nachahmung einander immer ähn⸗ 
licher, beſonders in der Haltung; und außerdem tum fie alle 
Feldarbeit, welche Hantierungen fie fonft auch treiben mögen, 
verlehren mit- ihren Haustieren, fäen und ernten in Sturm und 
Sonne. Und die Sonn- und Feiertage verſammeln ſie alle in 
der Kirche und faſt alle des Abends im Wirtshauſe, wo wiederum 
faft alle wenig und zwar hauptſächlich das dünne Bier trinken. 
das golden glänzt, aber nicht viel Gehalt Hat. Die Eichelberger 
gingen alle langjam und etwas vorgebeugt, ſogar die, die kerzen⸗ 
gerade vom Militär gelommen waren; bei ben Alten artete bieje 
Haltung in vollftändige Gebeugtheit aus. Gebückt arbeitet der 
Bauer hauptfächlich mit der Sichel, und bei uns ift die Sichel 


5. Mein Dorf 87 


. 


viel gebräuchlicher ald die Senje, am Yuttertrog, beim Holzhaden, 
am Nebftod, die Bäuerin beim Melfen und bei den Kleinen 
Arbeiten im Garten und beim Wajchen. Auch das Pflügen mit 
bem ſchwierigen Gehn im aufgeworfnen, fcholligen Boden ver- 
leitet zum Gebüdtgehn hinter den raſch fortichreitenden Tieren. 
Der Pflüger ift überhaupt der Typus eines Arbeiterd, der eine 
ſchwere Arbeit aus dem Grunde herausfchafft. Auf den Wellen- 
bügeln jah ih im SHerbft die Silhouetten von Pflügern, die 
langjam in der klaren Luft in ihrer ruhigen Arbeit weiter⸗ 
fchritten, und das Bild bleibt mir tief eingegraben. 

Die Tätigfeit des Bauern ift vieljeitig, es ift nicht das 
einförmig immer gleiche Rollen eine Maſchinenrades, mie Die 
Arbeit des „Arbeiters,” für alle Kräfte des Weſens eines Menjchen 
ift Betätigung gegeben. Deswegen ift der rechte Bauer ein viel- 
feitiger Menſch und noch darüber ein ſchöpferiſcher. Als die drei 
heißen Sommer der audgehenden fünfziger Jahre eine Trocknis 
hervorbrachten, die noch lange nachwirkte, und allen höher ge⸗ 
legnen Höfen das Waſſer ausging, ftellte ein einfacher Bauer 
auf dem Schattberg zum Waflerihöpfen ein Windrad auf, Das 
er ganz aus fich ſelbſt erfonnen Hatte, und von weither kamen 
Leute, um es zu fehen. Es tft dann vielfach nachgeahmt worden. 

Die alte Tradt war ſchon vor vier Jahrzehnten in dieſer 
Gegend verſchwunden, der letzte Reſt lebte in den ſchwarzſeidnen 
Hauben mit zwei hinten hinabhängenden kurzen Bändern, Die Die 
älteften rauen trugen. Was fage ich, fie lebte? Nein, fie war 
im Sterben, denn fein Mädchen würde ſich dazu bequemt haben. 
Die Banern trugen bei der Arbeit eine kurze leinene Jade aus 
jelbftgetvonnenem Stoff, im Dorfe von dem Färber hellblau ge- 
fürbt, Den ich nie anders ald mit Indigohänden gejehen habe, 
Sonntags trugen fie blaue Röde mit langen Schößen, lange Bein- 
Heider und ſchwarze Schirmmützen. Die Mädchen und rauen 
trugen zur Arbeit baumwollne geblümte Leibchen, bei Sonne oder 
Negen Kopftücher, die bei diefen dunkel, bei jenen bumt waren. 

Wenn das eigentliche Leben das Leben am Tage, das wache 
Leben ift, jo Iebt der Bauer mehr und länger als der Stabt- 
menſch. Im Sommer vor Sonnenaufgang, im Winter meift 
lange vor Zag heraus, im Sommer mit Sonnenuntergang und 
im Winter lange danad) zu Bett: jo find feine Tage eingeteilt. 
Die hohen hellen Morgen, an denen noch die Sterne in die 
Straße ſchauen, auf der fid) fchon die Feldarbeiter hinausbewegen, 
und Die langen ftillen Abende, wo, wenn kaum Die Dämmerung 


88 Glüädsinfeln und Träume 





verglüht ift, ein verhallender Tritt eines Verſpäteten oder das 
Klirren einer Kette im Stalle Die einzigen Laute find: das find 
Tageßzeiten, die man nur im Dorfe kennt. 

Das Bauernleben ift ein Leben in der Luft umb im Licht, 
ein echte Freilichtleben. So wie der Sämann und der Mann 
hinter dem Pflug oder der Egge, wenn er fi vom Himmel ab- 
hebt, ein fertiges Bild ift, jo find es Die Kühe, find es bie 
Hühner auf dem Grün der Wiejen, die Tauben, die die Luft 
durchichneiden, fo ift das Getreide, das wie ein Heer von Lanzen 
im Morgentau funkelt oder wie ein fahlgofbnes Meer dir feine 
Wellen and Herz legt. So iſt alles hell, jcharf, Lörperli. Und 
denkt nicht der Bauer auch darum realifticher, weil jich ihm bie 
Dinge fo Icharf abheben? 

Es ift fein Bufall, daß der Bauer fo gern vom Wetter 
ſpricht, das heute ift, und zur Not von dem, das geftern war 
oder morgen fein wird, denn er lebt in der Gegenwart, und 
die Aufgabe des Tages füllt ihn aus. Er ift nicht vergeßlich, 
weil fein Gedächtnis ungeübt ift, jondern weil für ihn das 
Wenigſte Interefje hat, was wir unfrer Erinnerung einverleiben. 
Für das, was ihn angeht, hat er mehr Gedächtnis als mancher 
fahrige Stadtmenfch. Aber da er ohnehin nicht viel redet, braudht 
er auch nicht viel Scheidegeld von UnterhaltungSmaterial. Wer 
ift jo oberflächlich, zu glauben, es glühe in dieſen ftillen Herzen 
keine Leidenfchaft nah? Wer nad) der trüben Farbe des Ge- 
fteind von außen ber urteilt, wird nie eine Goldaber finden. 
Als der blühende Sohn des Frachtfuhrmanns unfer8 Dorfes 
duch einen Sturz vom Floß im Niederrhein ertrumfen war, 
begegnete ich dem Alten in feinem blauen Fuhrmannskittel. — 
Nun, wie gehts, immer landauf, landab? — Ja, fagte er, immer 
gleih. Es ift mir halt fo, wie e8 in dieſer Spätjahräzeit auf 
den Waldwegen ift: alles liegt voll dürren Blättern, man fieht 
feinen Finger breit Erde; aber ber Winter kommt, der Boden 
wird kahlgeweht, und dann fieht man erft die Riſſe. 

Die Arbeiten mit der Hand, bie Geſchicklichkeit, Übung und 
beionder8 viel Geduld verlangen, verdienen bei den Landleuten 
allein ben Ehrennamen Arbeit: 


Der befte Diben, den id) weiß, 
Iſt eine Hand voll Schwielen, 


fingt Ir. W. Weber. Sie find darin beichränktt aus Gewohnheit, 
vielleicht ift ihnen auch der Reſpelt vor jeder Handarbeit ange⸗ 


_ 5. Mein Dorf 89 


NINE LT LI 


boren. Wenn man aber bedenkt, wie mannigfaltig dieſe Arbeiten 
find, zum Beijpiel im, Vergleich mit denen des Handwerkers, 
und wie bielfeitige Überlegung fie brauchen, verfteht man 
wenigjtens etwas bon dieſer Schäßung. 

Die einzigen Handwerke, die im Dorf etwas galten, waren 
die des Wagners oder Stellmachers, des Maurerd unb des 
Bimmermannd. Schufter und Schneider waren Heine Leute, 
bier wie in den meilten Nachbardörfern Teine Altangejeflenen. 
Trotzdem nun, daß ded Schreiner Beruf war, allen Eichelbergern 
ihr letztes Kämmerlein aus ſechs Brettern und zwei Brettchen zu 
zimmern, galt der Wagner bedeutend mehr, jei es, weil feine Arbeit 
ind Große ging und Kraft verlangte, fei es, daß man ben 
Wiederheriteller zerbrochner Pflüge und zerriffener Eggen für 
notwendiger bielt als den Erbauer von Tiihen und Stühlen. 
Aber trogdem war die Heine, helle, faubre Werkſtatt, die ſich der 
blinde Tifchler Kobus an fein Häuschen angebaut Hatte, eine 
wichtige Stätte der Eichelberger. Wer eintrat, fühlte ſich ange- 
zogen und feftgehalten. Man traf oft Leute hier, die eine halbe 
Stunde verplauderten. Der Holzduft und der Leimgeruch wirkten 
wie der Mofladuft auf Kaffeefchweftern: anregend, belebend. 
Wie oft ſaß ich dort auf einem Bretterjtoß und ſah die filbernen 
oder atlasglänzenden Bänder des Holzes unter dem Hobel ſich 
aufwinden und heraußquellen und hörte den feinen Geſang bes 
Eifend, wie e8 über die feinen Faſern und die dunkeln Harz- 
Iinien hinfuhr. Wie der Blinde noch im polierten Holze die 
Maſern und Yleden fühlte und nachfuhr, das war wie eine ver- 
borgne Weisheit der Natur. 

Der Maurer hatte zwar die meifte Zeit wenig Arbeit, 
aber er jchaute jedes Haus auf die Zeitigkeit feiner Mauern an, 
fannte ungefähr jeden Stein, der in ihnen faß, und wußte ganz 
gut, welche Zundamente gut waren und welche nicht. Der 
Zimmermann war in jeiner Weiſe ebenjo gut unterrichtet über 
das Balkenwerk, die Dachftühle und die Gartenzäune, und es 
mochte die Wirkung des Aufeinanderangewiejenfeing beider Hand⸗ 
werfer jein, daß feit ®enerationen Glieder berjelben Familie die 
Mauern und die Fachwerke aller Häufer des Dorfes aufrichteten. 
Im übrigen waren fie echte Bauern, die dad Handwerk mur 
nebenher betrieben. Und mit ihnen fagten fie: Nicht zu viel 
arbeiten, mo es nicht dringend not tut, nicht zu viel reden, aber 
mandymal wie der Donner daherfahren, nicht zu viel ausgeben, 
aber auch nicht Targen. 





90 Glüdsinfeln und Träume 


Zu dem fchönften, was das Dorf Hat, gehört, daß die, die 
darin fo nahe der Natur wohnen, den Wechſel der Jahreszeiten 
ganz anderd fühlen, mitleben, fich jelbft mit dem Kommen umb 
Gehn der Blüten und der Früchte, der Sonne und des Schnee 
verändern. Das Berubigende eined Lebens, das in den feften 
Ufern der Gewohnheit und mit den beftimmten Abfchnitten des 
zu gleichen Zeiten immer gleichen Geſchehens dabingeht, Tiegt 
eben in Diefem Eingefügtfein in die Folge der Jahreszeiten, und 
die „Bauernregeln“ laſſen diejen Zuſammenhang recht deutlich 
hervortreten. Vermittelnd tritt Die Arbeit zwiſchen den Menjchen 
und feine Beit, jogar die außerordentlichen Ereignifje müſſen jich 
einordnen. 

Am Frühling und im Frühlommer wechſelt Braun mit dem 
faftigen Grün ber jungen Saaten etwas zu einförmig; da find die 
Buchenwälber fait jo grün wie das Getreide und Die Eichen noch 
um einen Ton heller, gelbliher. Wenn die weißen und rötlichen 
Obſtbaͤume nit wären und die Wieſen nidht voll Blumen 
ftünden — mandye find lila von der Maſſe ded Schaumfraut? —, 
wäre es nicht halb jo ſchön wie im Spätjommer, wo gelbe Ge⸗ 
treidefelder neben noch grünlicden ftehn und einige ſchon gejchnitten 
und mit Garben bebedt find, wo die Wieſen lichtgrün, Die Brachen 
bald Lichter, bald dunkler, der Wald faft Ichwärzlich jteht. Diele 
Ausfiht ift den Bauern die liebjte, in der andern ijt zu viel 
Ungewißheit, wie all daS reife, wie er es heimbringe. Wer ein 
paar alte Birnbäume und gejunde Glieder hat, kann zufrieden 
fein, fagten die alten Leute. Dieſes Wort jollte das Gefühl des 
urſachloſen Beſchenktſeins ausdrüden, das jeden in einem Obſt⸗ 
jahre überfommt, wenn fid) die Bäume, für bie er nicht getan 
bat, als höchftens die Erde um den Stamm gelodert, unter ber 
Lait ihrer Früchte biegen, und wenn er in wachen Nächten bie 
Birnen und Apfel ticktack ind Gras fallen hört, wo fie am nächſten 
Morgen oft dichter ald die Herbftblätter liegen. In der Tat, wer 
dafür nicht mindeftend das Gefühl der Zufriedenheit als Gegen⸗ 
gabe beut, der hat e8 überhaupt nit. Man muß aber zugeitehn, 
in guten Erntejahren und beſonders in guten Weinjahren gibt es 
fhwerlih irgendwo auf der Welt eine größere Maſſe von Zu- 
friedenheit als bei und. Was die Natur beites gibt, bat da der lebte 
Knecht in Fülle: füße Früchte. Der Menſch Tann fie nicht alle 
aufeflen, man läßt zuleht die Schweine in den Grasgarten, die 
machen reinen Tiih. Und wenn dann die legten Birnen gefallen 
find, reifen einige der glänzend grünen Blätter zu Scharlach⸗ und 


5. Mein Dorf 91 





Purpurröte und erfreuen damit noch die Augen, die dafür offen 
find. Über die Blumenbeete, die noch vor vierzehn Tagen in 
Farben ftrahlten, ift num braunes Laub gehäuft, der Bienenſtand 
ift in Stroh gehüllt, der Brunnen wirb ihm bald folgen. Üüſte 
und Zweige find kahl, wo noch ein Blatt fiht, flattert e8 im 
Winde, al8 wollte es ſich nächitens loslöſen, nur der Kohlmeife 
ſchriller Lant tönt von den Bäumen. Stare eilen gefchäftig, aber 
ftumm auf der Wieſe hin und ber, um fie von veripäteten Raupen 
zu fäubern; ebenjo ftumm, nur träger und mächtig groß wandelt 
der Nebel im Tal und ziwifchen den Bäumen ihrer Gänge. 
Drüber Hin ruft es: Fort, fort! aus ben grauen Dreieden der 
am grauen Himmel ſüdwärts wanbernden Gänfe. 

So Hart wie die Arbeit der Woche, jo ſchön tft der Sonn- 
tag mit feiner Ruhe. Nichts fchöneres als ein Sommerfonntag 
unter blauem Himmel, in deſſen Ziefe die Glocken ganz fern 
verhallen. Geftern Abend hat man biß in die Nacht hinein Heu 
hereingetan, noch hängen einzelne Strähnen Davon am Scheunentor, 
aber Hof und Einfahrt find dennoch ſauber gelehrt. Das tft 
geftern noch bei der Laterne mit todmüden Armen gejchehen, 
foviel Hält der Bauer darauf, daß es ſonntäglich bei ihm aus⸗ 
ſchaue. Jetzt bewegt fich alles mit Ruhe und Behagen, man 
weiß, man muß Kräfte jammeln für die faure Woche, die kommt. 
Die Sonntagheiligung ergibt fi da von ſelbſt, vorausgeſetzt, 
daß nicht in der Zeit der Heuernte ein drohendes Gewitter zivingt, 
die trockne Ernte auch an einem Sonntag in Sicherheit zu bringen. 
Das Getreide kommt bei uns in der Regel troden herein, aber 
der Juni ſendet in manden Jahren alltäglich fein Gewitter, 
und damn Heißt es, jede helle, heiße Stunde außnüben. Den 
„Stündlern,“ die an Wochenabenden ihre Betjtunden hielten, 
wurde bei und, nicht ohne Berechtigung, der Vorwurf gemadht, 
daß fie den von Gott gejehten und außerdem natürlichen Unter- 
ſchied zwiſchen Wochentagen und Sonntag verwilchten. 

Ein echter Bauer, aus dem der Bureaufratismus noch nicht 
den Beamten berausgefchält hat, der angeblich in jedem Deutichen 
ftedt, wollte gar nicht Bürgermeifter jein. Im Grunde hätte 
er ed auch nicht gut gelonnt, denn fein Hof und Feld gaben ihm 
alle Hände voll zu tun und boten jedem Grab von Herrichbegier 
Genüge. Beim Militär galt damald noch die Stellvertretung, 
wodurch den Bauernföhnen die Laft des Dienftes abgenommen 
war; jo konnte auch durch diefen Kanal feine Luſt einfließen, 
fi) an die Spitze der Gemeinde zu ftellen. Der ganzen Auf- 


92 Glädsinfeln und Träume 


faffung eines echten Bauern von feiner Stellung in der Welt 
entiprach es vielmehr, einen andern die Arbeit tum zu laflen und 
ihn dann zu Tritifieren oder gar mit ihm zu prozeifieren. Die 
Bürgermeifter fanden e8 in den meilten Fällen rätlich, fich zu 
biegen; denn fie waren von dem Berlehr mit den Behörden 
ber gewöhnt, Grobheiten einzuftedlen. Unbedingte Anerkennung 
fanden fie nur bei den Weibern, dem Schullehrer unb dem Ge⸗ 
meindediener, aber ſchon die Knaben, die Sünglinge werben wollten 
und ihre erfte Pfeife im Munde Hatten, befiegelten ihren Ein- 
tritt in die Mlaffe der wirtshausfähigen Burfchen, indem fie dem 
Bürgermeifter irgendeine Ungezogenheit eriviefen. Unjerm Bürger- 
meifter, der auß der Kleinen Gruppe ber Dorfhandwerker hervor⸗ 
gegangen twar, gelang es nicht, durch die Affeltation einer ftillen 
Würde, wie fie, meift etwas fabenfcheinig, wie ihre fchwarzen 
Amtdröde, die Bezirkspaſchas, vor fid) her tragen, feine Stellung 
zu verbeſſern. Er Hatte Hinter dem Webftuhl gejeflen und hatte 
fi durch Fleiß und Sparjamkeit zu einem Kleinen Bauern mit 
fünf Kühen aufgeſchwungen oder vielmehr aufgerungen. Weber 
haben, wenigftens auf bem Dorfe, eine gewifle Verwandtſchaft mit 
den Scjneidern, die von der fißenden Arbeit herlommt und fidh 
in einer farblojen Friedlichleit bekundet, die niemand imponiert. 
Schmiede haben Dynaftien gegründet oder gehärtet, Weber werfen 
ihr Schiffen im Hintergrund der Welt⸗ und Dorfgeſchichte. 
Wenn ih auf mein Dorf, dieſe Stätte voll Leben und 
Arbeit, herabſehe, vergefle ih nicht, daß fie zugleich ein ehr- 
würdiges Denkmal ift. Ihre Anfänge ragen über Die Zeit hinaus, 
in der Karl ber Große die Welt regierte. Das hölzerne Kirch⸗ 
lein, da8 als einem Priefter Werhenhari gehörend im achten 
Jahrhundert erwähnt wird, ift zwar längft verfchollen, aber man 
findet in ben Urkunden die Stiftungen zugunften derer, die Steine 
zur neuen Kirche gebracht haben. Man tennt Aufzeichnungen 
über Käufe und Verkäufe von Adern und Wiefen in unſrer 
Gemarkung. Der Dreißigjährige Krieg hat das Leben auch dieſes 
Dorfes bis zur Erde niedergebogen, aber es richtete ji) wieder 
auf, als von dreihundert Menjchen, die e8 vorher bewohnt hatten, 
nur noch vierzig übrig waren. Aus diejer Zeit der Trübſal 
ftammt das Grab der von der Veit bingerafften im Steingrund. 
Solange es Zeugnifje von unjerm Dorfe gibt, haben die Menſchen 
gelebt, geftrebt, gelitten wie heute und haben in frühern Jahr⸗ 
hunderten mit folder Inbrunſt ihres Endes und ihrer Seligkeit 
gedacht und fo viel Mefien, Kerzen und Bittgänge geftiftet, Daß 


5. Mein Dorf 98 


— — ü— —— ——— —— DE LG DL DL DH LE SL LG GG DL SL GL DL DL LS LLLLLL0L..2D GL LAY GL —. 


die Lebenden im Dienfte der Toten ftehn würden, wenn nicht 
die Jahrhunderte manches wieder in Vergefjenheit hätten kommen 
laffen. Wenn man einem Eicdhelberger die Vorftellung ausreden 
will, daß die gute alte Zeit fo viel befler als die gegenwärtige 
fei, erzählt er von der Stiftung des Yörg von Gundelfingen 
aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die jedem erwachſnen Eichel- 
berger, der an dem geftifteten „Sabrtag,“ Sonntag nad) St. Geor⸗ 
gien, zur Kirche geht, ein Maß Wein, ein Maß Bier und Brot 
vier Pfennige wert zuſprach und jeder Eichelbergerin, bie von 
Anfang bis zu Ende mitbetete, eine Elle Tuch; das follten auch 
die Vermöglichen nicht außichlagen, jondern nehmen und einem 
armen Menjchen geben. Vom Jahre 1801 an iſt Diefe Spende 
unterblieben, und die Eichelberger haben davon wenigftens den 
Vorteil, daß fie das Ende der guten alten Beit ſicher zu datieren 
wiffen. 

Es hatte für mich einen unbejchreiblichen Reiz, mic) in dieſe 
große Familie einzuleben. Denn e8 war eine Yamilie, unbeſchadet 
der Unterſchiede des Glaubens und des Standes, die die Dorf- 
bewohner ftellenweife jonderten. Diefe Unterjchiede waren feine 
Klüfte, ich möchte fie vielmehr den Sprüngen in den Töpfen der 
Bauernfrauen vergleichen, von denen da8 Sprichwort geht: Ein 
zeriprungner Topf hält noch einmal jo lange. Darin lag die Gegen- 
wirtung zur Vereinzelung und Vereinfamung, der im Dorfleben 
alle verfallen, die nicht Hinter dem Pfluge gehn. Deshalb gedeihen 
auf dem Dorfe von den Nichtbauern die am beften, die fich wenig⸗ 
ftend nebenbei mit Landwirtſchaft beichäftigen, und man merkte es 
den Geiftlichen und Lehrern, den Ärzten und Apothelern an, wie 
fie ihr bißchen Ader- und Gartenbefiß, ihre paar Kühe und Pferde 
als die Wurzel pflegten, die jte mit Diefem Boden verband. Schon 
die Monotonie des Landlebend würde den Stadtmenfchen nieber- 
drüden, der fich nicht dur) Teilnahme an der Arbeit, die alle 
bindet und verbindet, mit dem Ganzen in lebendiger Berührung 
erhielte. Wie mandje Familie in der Stadt ertrug ihr Leben nur, 
weil es noch nicht alle Wurzelverbindung mit dem Heimatsdorfe 
verloren hatte; was man den niedern Bürgeritand nennt, auch 
Heine Beamte, Lehrer erhielten ſich durd) dieje Verbindung friſch 
und hoffend. 

In einer Gemeinſchaft, deren Glieder alle mehr oder weniger 
Landwirtſchaft treiben, ift ein gegenfeitige8 Helfen und Aushelfen 
möglich wie in feiner andern, e8 ijt aber auch notwendig. Bei 
der Grummeternte fommt e8 häufig vor, daß fie nad andauernden 


94 Glädsinfeln und Eräume 


—— — — LEBE DD DELETE 1 — 








Frühherbſtregen und Stürmen in wenig Tagen eingebracht 
werden muß; da treten Die älteſten Verwandtſchaftsbeziehungen 
wieder in Kraft, der entferntejte Vetter hilft dem Bauer, der dab 
feine nicht bewältigen Tann, e8 Helfen die Nachbarn, Helfer fommen 
aus den Nachbarorten. Es ereignete fi), daß der alte Breußen- 
frig und feine noch ältere Ehehälfte zugleich Tranf waren, als 
der Kleine Weinberg, den fie hatten, geleert werden mußte; der 
einzige Sohn war Soldat. Da traten die Nachbarn zufammen 
und beforgten das Geſchaft glatt. 

Es gibt Menfchen, deren poetifches Gefühl nur im Über: 
lieferten, im SHergebracdhten blüht, und andre, die Neueß nötig 
haben; jene haben die Poefie in fi und willen es nicht, wes⸗ 
halb fie natürlich” auch nicht Davon ſprechen, dieje find immer 
hungrig danach. Man nennt jene die Ungebildeten, dieſe die 
Gebildeten. Im Innern eine Bauern, der an einem jchönen 
Samstag Abend müde von der Arbeit, aber zufrieden mit ihr, 
zwifchen feiner Wiefe und feinem Ader dem Hofe zu jchlendert, 
ift eine Poeſie, die taujend Dichter fchon auszuſprechen geſucht 
haben; jo echt, wie fie in ihm lebt, ift es feinem gelungen, fie 
zu fingen oder zu jagen. 

Auch das gehört eben zur Stille dieſes Lebens, daß die 
Leute nicht viel Aufhebend machen. Es bat jeder und hat jedes 
feinen Pflichtenfreis; in der Regel ift er nicht weit, der wird 
ausgefüllt, fo gut e8 geht, nad) jahrhundertalter Weife, und fo 
wird auch die Erfüllung der Pflicht nad) Maßen gemefien, die 
feit Jahrhunderten feitftehn. Und fo ift e8 mit den Gefühlen. 
Wenn draußen Die Schneefloden wirbelten, und man konnte auf 
der warmen Ofenbank fiten und dem Echnurren der Spinnräder 
und den alten Geſchichten zuhören, empfand man bei den Bauern 
und Nichtbauern die Poeſie, die darin liegt; aber die Bauern 
ſprachen nicht davon, es zeigte fidh in ihrem Gehaben, die Nicht- 
bauern meinten fie rühmen zu müſſen. 

Die Arbeit zog dem Leben jedes Einzelnen die Linien, Denen 
es folgte, fie grub die Furchen, in denen dieſe Bädjlein zu fließen 
batten. Wenn man fah, wie übel die Menjchen ftanden, die ſich 
dem Müßiggang ergaben, wie ſchwer die Alten ihr Leben und 
fih felbjt ertrugen, die „übergeben“ hatten, um nod) ein paar 
Jahrlein ruhig zuzubringen, lernte man die zuſammenhaltende 
Macht der Arbeit ſchätzen. Ein Geiftlicher jagte: Die Arbeit der 
Bauern wirkt mehr als meine Predigt, und wenn von ſchwierigen 
* Ehen die Rebe war, hörte man: Wenn die beiden nicht gewöhnt 


5. Mein Dorf 95 


— —— — — 


wären, zuſammen zu arbeiten und zu haufen (ſparen), wären fie 
längft augeinander gelaufen. Die moraliihen Verwidlungen find 
auf ein möglichit geringes Maß reduziert, die Ströme der Leiden- 
ſchaft fließen in den Betten des Herkommens zwiſchen hoben 
Dämmen breit dahin, Überſchwemmungen find felten, weil Damm- 
brüche faft unmöglich find. Der Bauer geht gebüdt, e8 tft aber 
do Kraft in ihm, nämlich die Kraft, die aus der Berührung 
mit der Erde entipringt. Der Bauer fieht oft trüb oder träumerifch 
in die Welt, aber es ift doch ein Geift in ihm, der in feiner 
Einfachheit ficherer durch Leben und Pflichten durchleitet als der 
zerftücte auseinandergezogne Geiſt des „Gebildeten.“ Was ein- 
fadye Arbeit, die nicht beftändig fich zerfafert und augeinanderläuft, 
zwilcden Sonnenaufgang und Untergang leijtet, lernt man nur 
auf dem Ader. Das Dorf bleibt eine Schule tüchtiger Arbeit, 
die den Tag nußt, folange er fcheint. In der Dorfgeſchichte Liegt 
der hohe Wert des Schlichten und des Ehrlichen, da dem Grunde 
der Dinge näher ift als dad Reiche und Schillernde, und Damit 
auch näher der Poeſie. Es kommt nur darauf an, dieſe Natur 
fo ſchlicht und fo ehrlich zu geben, wie fie ift. Manchmal, wenn 
id) oben unter den drei Buchen die Nibelungen oder Homer laß, 
zudte blitartig in mir ein Gefühl der Verwandtichaft dieſes ruhigen,. 
unbegehrlichen Lebens, das in jo feften Formen ficher dahinfloß, 
mit dem Epifchen auf. Ich konnte die Verwandtſchaft nicht deuten, 
ich fühlte fie nur undeutlich als ein Glück. Seht weiß ich, dieſes 
Leben war epiih! 

Zwei Dinge bleiben beftehn, wenn alles andre ſich in buntem 
Wechſel wandelt: die Erde und die Notwendigkeit für uns, von 
ihr zu leben. Darin liegt da8 Elementare des Bauernlebeng, 
daß es in diejer doppelten Notwendigkeit wurzelt, und deshalb 
ift e8 unentwurzelbar. Daher auch die Einfachheit des ländlichen 
Dafeins und Wirkens, die feine Schäferpoefie deuten und nicht 
fo ganz verzerren kann. Wer jeinen Uder baut, den nährt fein 
Ader, wo er fäet, erntet er, er fieht fein Leben vom Anfang 
bis zum Ende voraus, aber nicht in einer kahlen Linie, ſondern 
umbufcht, befonnt. Der Zweck des Lebens bleibt endlich doch 
immer, daß es fich behauptet, und das tut es am beften auf eigner 
Scholle, die das einfachite Verhältnis zwilchen dem Menſchen und. 
der Natur fchafft, in die er hineingeboren tft. 


ER 





6. Bildung 


Wo ji) dad Dad; auf den Boden ſenkte, war der Winkel 
durch eine Bretterwand abgeteilt, und ein Fenſter war eingejebt, 
das nad) Süden ging. Man hatte befonderd wertvolle Droguen 
in dem fchrägen Dachkämmerchen aufbewahren wollen, doch be⸗ 
durfte man jeiner in dem mehr als geräuntigen alten Haufe 
nicht. Niedere grüne Kaften, mit verjchnörkelten Aufſchriften, noch 
von trodnen Arzneilräutern duftend, waren Tiſch und Stuhl, wo 
ih jaß und las und träumte ine fchöne, belle Einfanteit, 
befreiend durch den Blid über Dächer und Baumfronen. Rod 
heute behaupte ih, daß die Sonne bier mit einem bejondern 
Glanz und einer eignen Frenndlichkeit fchien, und ihre Wärme 
hatte etwas Anbrütendes. So, wie fie über den heißen Ziegeln 
zitterte, lag fie wogend in dem Winkel. Biegel und Schindeln 
bildeten eigentlich keine Schranke zwiſchen der Luft draußen und 
der drinnen, hinderten nicht, daß man fi) dem Himmel näher 
fühlte. Mit fi) und einem Buche hier allein zu fein, daß ung 
weit von der Gegenwart und vielleicht fogar von der Erde weg- 
führt, war eins von den Gefühlen, die das ganze Innere durd)- 
dringen, die von dem Augenblid an, daß wir in ihren Banntreis 
treten, einen andern Menfchen aus und machen. 

Der Trieb zum Nejtmachen, zum Schaffen einer engen, ab- 
geihlofjenen Welt in irgendeinem Winkel, wo wir allein mit 
und und mit ein paar Kubikmetern Luft find, muß einer ber 
ältejten der Menichheit fein, und ich ahnte immer, daß er Ehr- 
furdht verdiene. Er ftammt noch von jenfeits der Höhlenmenſchen 
ber, die ihre Riefenbroden von Mammutfleifch oder ihre Wild- 
pferdfeulen in die binterften, dunkelſten Spalten und Klüfte 
ſchleppten. In dem abjoluten Duntel der Hinterften Höhlenkammer 
mochten vielgeplagte Tiluvialmenjchen einmal Feinde, wilde Tiere 
und andre Gefahren vergeflen, die fie von allen Seiten in die 


-6. Bildung 97 


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fhwere Schule nahmen, auß der der Menſch einer höhern 
Kulturftufe hervorgehn follte, der den Speer- und Pfeilfpigen 
Kanten und Schneiden anfchliff und die Ofen der Arte bohren 
lernte. Vieles ſpricht dafür, daß die größte Erfindung der 
Menſchheit, das Feuermachen, zuerft in einer ſolchen Höhlen|palte 
aufleuchtete. Man könnte den Gedanken fortipinnen und Täme 
zulegt in der grünen Einſamkeit der Waldwanderungen an, der 
Helmholtz die Kraft nachrühmt, große wiſſenſchaftliche Entdedungen 
zu zeugen. Auch die Knoſpe hüllt fi in dunkle Blätter, und 
in lichtlofer Tiefe beginnt das Keimen im Samentorn; die Ein- 
fehr eined werdenden Menſchen in fich felbft will dem, was er 
in fi) wachſen fühlt, Wärme und Nahrung geben. 

Die Lejeftunden waren Wonneftunden, je einfamer befto 
ihöner; auf das Buch fam es weniger an. SHinreißend wie 
Robinſon, Lederjtrumpf oder Sigismund Nüftig waren nicht 
viele; aber das machte ja gar nichts, denn ein großer Teil des 
Leſens war Sinnen und Träumen. Und etwas Neues mußte 
doch in dem langweiligiten Buch ftehn. Mindeitend macht man 
die Belanntichaft des Autors, und nach dem Satze: Wellen Buch du 
lieſeſt, deſſen Geiſt kommt über dich, mußte immer irgend etwas 
dabei herauskommen. Ich erinnere mich denn aud, daB id) auf 
dem Höhepunkt der Lejewut nie geneigt gewejen wäre, ein Bud 
langweilig zu finden, und ich focht heiße Kämpfe für die öbeften 
Schmöfer aus, in Die ich alles mögliche hineinlas. Wenn ih in 
dem Winfelfämmerden unter den Biegeln jaß, oder gar im Grünen 
mid) einfam an eine alte Eiche lagerte, die einen. lebhaften Ver⸗ 
fehr von Räfern und Schmetterlingen hatte, da fonnte das Buch 
jo volllommen unlesbar fein, wie ein Band von Sturms Snfelten 
Deutſchlands, der mur trodne Artbeichreibungen enthielt: das 
Gedrudte wirkte wie ein Zauber; ich ftellte mir die Käfer vor, 
die da forgjam beichrieben waren, und verfolgte dabei ftundenlang 
dad Krabbeln und Arbeiten der großen ſchwarzen Börde, die in 
dem Eichenmulm wühlten. Wenn von Menfchen die Rede war, 
ging ed mir nicht viel anderd. Ich betrachtete ihre Worte und 
ihr Tun neugierig, wie das Krabbeln und Summen der Käfer, 
überichlug aber regelmäßig die Dialoge und die Gefchide ber 
Liebenden, da meine kurze Freundichaft mit Luife mich genugjam 
belehrt Hatte, daß man dad Schönfte und Feinſte in dem Ver⸗ 
hältniß zweier Menfchen, die einander gern haben, nicht aufs 
Papier bannen kann. In allen andern Beziehungen ſtand ich 
aber unter dem magiſchen Banne des Gedrudten und war macht⸗ 

Rayel, Slüdsinfeln und Träume 17 


98 Glüädsinfeln und Träume 


108 gegen das erdbrüdende Herandrängen des ſchwarzen Buchſtaben⸗ 
heeres, da8 meinen Geift umzingelte. Dad damals ſchon übliche 
„Er lügt wie gebrudt” blieb mir völlig unverftändlid. Num 
meine ich einzufehen, daß aud etwas Stolz; bei diefer Unter⸗ 
werfung war, denn mein Alter war gerade dad, wo man den 
höchſten Beweis von geiltiger Reife gegeben zu haben glaubt, 
wenn man meint zu verftehn, was jeder andre gedacht bat. Und 
doch haperte e8 mit dem Verftehn oft genug. Wie ange ſchlug ich 
mid) mit dem Gedanken herum, der mir aus irgendeiner Literatur- 
geichichte angeflogen war, daß jedes Volk von Rechts wegen fein 
Nationalepo haben müfle, und es fchmerzte mich, zugeben zu 
müfjen, daß weber die Meffiade noch Voſſens „Luife“ das für 
die heutigen Deutichen fein fonnte. Ihn anzuzweifeln fam mir 
nidht in den Sinn. Mein Wiſſen reichte nicht bin, die Gegen⸗ 
gründe mit Sicherheit heraufzuzitieren. Und fo ging es in 
vielen anbern Dingen. Sch hätte joviel darum gegeben, mein 
eignes Urteil in äfthetiichen Dingen zu haben, aber es ließ ſich 
nicht erzwingen; ich hörte, wie andre ımteilten, und wenn id) 
zu wiberjprechen wagte, merkte ich wohl, daß ich mich an Kleinig⸗ 
feiten bängte oder, halb unbewußt, fremde Urteile wiederholte. 
Schwer ift e8, zu reifen! 

Auch die Anfichten, die ich in den Büchern und Zeitungen 
fand, waren mir Tatjachen, die ich mit derjelben Sicherheit er- 
greifen und in mich hinein verpflanzen zu können glaubte, wie 
die Beichreibung eines Landes oder eines geſchichtlichen Ereigniſſes. 
Wenn ich aber nad) einiger Zeit auf die entgegengeſetzte Anficht 
ftieß und doch nicht untericheiden konnte, welches die rechte fei, 
fand ich doch bald den geringern geiftigen Nahrungswert der 
Anfihten und Meinımgen heraus. Indem ic) an ein phyſilaliſches 
Ariom dachte, nannte ich die Tatſachen Körper, die undurch⸗ 
dringlich find, die Anſichten aber Schatten, die der Wirklichkeit 
entbehren. 

Zu diefer Zeit waren noch viel mehr alte Bücher am Leben 
al8 heute, und das gab auch ſogar Heinen Büchereien, wie man 
fie gelegentlich bejonders in den Häujern der Pfarrer und ber 
Arzte fand, einen Reichtum oder vielmehr eine Mannigfaltigleit, Die 
eine moderne Bücherſammlung nicht hat. Schon äußerlich zeichneten 
ih die alten Bände mit ihren braunen bunt oder mit Gold 
bedrudten Lederrũcken und ihrem roten oder Marmorjchnitt vor 
den Erzeugnifien ber zur Stümperei herabgeſunknen Buchbinderei 
des mittlern neunzehnten Jahrhunderts aus. Die Menfchen, 


6. Bildung \ 09 


—— — —“⸗ ae — — —— 


die Chronegks Kodrus oder Wielands Agathon laſen, haben 
jedenfalls, im Verhältnis zu ihren Mitteln, mehr Bücher ge⸗ 
fauft als ihre Nachlommen, und fie hatten Freude an ihren 
Bühern. Manche davon fahen doch wie Schmudjadhen aus. 
Was für Prachtausgaben hat es von Haller, Ewald von Rleift, 
befonder8 aber von Klopftod umd Wieland gegeben! Sogar die 
Nachdrucker ftatteten ihre Bücher manchmal pompös aus. Man 
lad weniger, aber man ftand auf einem vertrautern Fuß mit 
diefem wenigen, man kehrte öfter dazu zurüd, Bücher wurden 
Freunde, Lebendgefährten. Nun entdedte ein Jüngling aus der 
dritten Generation diefe alten Bücher, die vielleicht in einem 
ganz vergeflenen Winkel ftanden, und für ihn wurden fie eine 
neue Welt, in die er fi mit dem Stolz des Entdeders hinein- 
lebte. Wer hätte nicht die Erfahrumg gemadt, daß er fi im 
Beginn feiner Bildung, bei noch unreifem und ſchwankendem 
Urteil, in den Haffiichen Werfen verirrt, von dem fchön aus⸗ 
gelegten Hauptweg abkommt und in nebenjächliche Anpflanzungen 
hineingerät? Es folgt Enttäufhung und Abſtumpfung, man 
verichmäht nun überhaupt die klaſſiſchen Wege zu gehn und kehrt 
vielleicht nie mehr zu dem zurüd, was man einmal aufgegeben 
hat. So Hatte ih in der Meffiade eine Erhabenheit gefunden, 
die mir zwar allzu wortreih und mühſam, verglichen mit der 
Bibel, zu fein fchien, aber ich hielt mich neugierig an die Art, 
wie Klopftod das Größte feinen Lefern poetiich vorftellbar zu 
machen ftrebte; eigentlicy langweilig muteten fie mich aber nicht 
an, ich babe fie durchgeleſen, und einzelne Stüde nicht bloß ein- 
mal. Und ebenfo die Oben. Das, was mir damald daß un- 
beftimmte Gefühl eines Mangels, ein ftumpfes, dumpfes Gefühl 
gab, habe ich }päter erſt verftehn lernen, nämlich den Mangel 
des Friſchen, Unmittelbaren. Ich kam der Wahrheit erſt näher, 
als ich ahnte, daß gerade daß, was den frifchen Duell im Gras 
oder die hohe Blume im Wald freudenreih und ſchön madt, in 
Klopftocks Werfen nicht fei. Und ebenſo nicht in Hallers Verfen. 
Schöne Gedanken, große Gefühle, aber alle gemacht, erjonnen, 
für gebildete Leſer in einer feierlichen, Tünftlichen Sprache mit 
viel Abficht gefagt. Alſo das Gegenteil von Natur. Daher aud) 
die Empfindung, man müſſe ſolche Dinge nachahmen können. Die 
Einzigleit und die Unnachahmlichleit des aus Gottes Hand her⸗ 
borgegangnen Kriſftalls oder der einfachiten Blüte war nicht in 
diefen Dichtungen, denen man im beiten Fall den Lobiprud) 
„Schön gejagt” ſpenden Tonnte. 





7* 





100 Glüdsinfeln und Träume 


IH Habe in dieſen jungen lernfroßen Jahren bejonders 
Goethe, aber mit ihm ber ganzen äfthetifchen Überkultur gefunder 
und freier gegenüber geitanden als fpäter, wo ich mich in bie 
äfthetifchen Yäden verwidelt hatte, die das Leben der gebildetiten 
Kreiſe, vorab in einer Kunftftabt, volljtändig einfpinnen. Go 
wie ich bei „Kunftlennern“ die Erfahrung gemacht habe, daß 
das naive Empfinden des Kunſtwerks für fie von dem Augen⸗ 
blid an aufhört, wo fie fid) mit der Frage befchäftigen, wie e8 
„gemacht“ iſt, jo fällt au auf das poetilhe Empfinden die 
NRüdficht auf die Technik ald ein wahrer Meltau. Ich war dem 
Leben noch zu nahe, als daß ich die Probleme des Herzens nur 
fo als Objekte des Kunſthandwerks hätte auffafien können. Wie 
fonnte Werther einen Eindrud auf mich machen, da ich auf dem⸗ 
felben Punkt geftanden Hatte wie er? Ich hatte das Unmännliche 
in meiner eignen Stimmung mit Beihämung empfunden, da ver- 
mochte Goethes fchöne Sprache da8 Entnervende in Werthers 
Gefühlsſchwelgerei mir nicht zu verbeden. Ich las mit überzeugtem 
Beifall in Vilmars Literaturgeichichte dad Wort von dem Gift in 
herrlichem Kriftall, das Goethes Dichtung uns darbiete. Es tat 
mir damals gerade das wohl, daß nicht die Großen mit ihrer 
ganzen Wucht auf einmal an meinem Geſichtskreis aufftiegen. 
Leichtere Wölkchen, die auch dann Feine Welt verfinfterten, wenn 
fie tränenreich aufzogen, wie Höltys Gedichte, ſchwebten voran. 
Ein junges Menſchenkind, dad ganz Leben und Natur ift, kann, 
ohne in ungzeitige Schwelgerei zu verfallen, nur eine ſchwache 
Doſis Poefie vertragen. Das Hineinpumpen fremder Poefie durch 
wũtiges Leſen von Gedichten und Romanen in diefem Alter kommt 
mir jeßt jo recht als eine ftrafbare Bildungspantjcherei vor. Die 
elementare Poefie, die in und Kindern jtill pflanzengleich heran- 
gewachſen war, wurde durch Diefed Begießen mit ungejund an- 
treibenden Stoffen in falihe Richtungen gelenkt, werm nicht 
auögetrieben: an die Stelle von Blühendem Gebrudtes, Papier 
für Blumenblätter. 

Es iſt mir erft jpäter klar geworden, daß e8 gerade bie 
Weite des Wortes Bildung ift, was fo faszinierend auf alle wirkt, 
die nad) Bildimg jireben. Sch beivegte mid in einem reife, 
wo ed nicht für felbitverftänblich galt, daß alle, die darin ver- 
fehrten, gebildet waren. „ft er gebildet?“ Tonnte man oftmals 
fragen hören, und mandymal lautete die Antwort: „Sa, er ift 
ſehr beleſen“ Die Bildung wurbe hauptſächlich darin geſucht, 
dag man gewiſſe Schriften gelefen hatte, ich kounte mich aber 








6. Bildung 101 





des Verdachtes nicht erwehren, daß dabei weniger an die Be- 
wältigung des Inhalts als an die Zeit gedacht wurde, die dazu 
nötig war. Wer dieje Zeit aufwenden Tonnte, bewies damit, 
baß er bis zu einem gewiſſen Grade Herr feiner Zeit war, und 

wer fie aufwenden wollte, erfannte damit eine Art von Ber- 
un gegen die Geſellſchaft an. 

Was war e8 nun, befien Kenntnis man von diefen Gebil- 
deten verlangte? Schillers Gedichte, Hebels alemannilche Gedichte 
und Nheinländifcher Hausfreund, Nadlers Fröhlich Pfalz, Gott 
erhalts!, Blüten und Perlen oder fonft eine Anthologie waren 
Bücher, in denen die meiften gelefen hatten. Auch fand man 
auf vielen Bücherbrettern Schlofjers Weltgeihichte und Canna⸗ 
bich8 Geographie. Einzelne Bändchen der Grofchenbibliothel waren 
noch in mandyen Winkeln vorhanden. Dan lernte da Pſeudo⸗ 
Haffiker wie Krug von Nidda, aber auch echte Dichter wie Hölty, 
Bürger, Claudius lennen, von deren Gedichten mehr geläufig 
waren als heute. Dagegen gehörten Lenau, Uhland, Yreiligrath 
einer Woge an, die erft nad) diejer unjern Strand erreichte, und 
Goethe ftand allen fern, wurde als jchmwerverjtändlich von den 
einen, als fittengefährlich von den andern und als teuer von 
allen gemieden. Goethes Werke gab es auf zwei Stunden im 
Umtrei3 nur bei einem alten einjamen Dorfarzt. 

Es ging wohl von der weiblichen Seite der Eichelberger 
Geſellſchaft zuerft die unerhörte Frage aus: Sind wir denn ge 
bildet genug? Da war eine Arztesgattin, dort eine Pfarrerd- 
tochter, die behaupteten, man müfje etwas mehr für den Geift 
tun, die eine klagte, die Lehrersfrauen läſen fchon diefelben Bücher 
wie die Frauen höherer Beamten, und die andre hatte bei einer 
Fahrt im Stellmagen mit der Tochter des Wollwarenfabrilanten 
Staar in Roßloch den Eindrud gewonnen, man müfje etwas 
Beſondres tun, wenn man nicht auf das Niveau von foldyen 
Leuten ſinken wolle Daß der jübiihe Kaufmann und Auswan- 
derungsagent Stiegliß in Afpringen für feine zahlreichen Kinder 
einen Hauslehrer angeftellt hatte, der angeblih in München und 
Bari doziert hatte, verftärkte die Befürchtung, daß die Intelli⸗ 
gen; bed Bezirksamts Senjenheim überflügelt werden könnte. 
Bei den mit reichlichem Kaffee gewürzten Beipredjungen in den 
„Staat3zimmern* der Honoratioren ftellte ſich heraus, daß Die 
Männer diefer Bildungsfrage Tühler gegenüberftanden. Natür- 
lich! Sie, die Studierten, fonnten fi) doch nit von einem 
Staar oder Stieglit überholt glauben! Der Rentamtmann er- 


102 Slüdsinfeln und Träume 


zählte, daß Herr Staar noch nicht einmal orthographiſch ſprechen 
fönne; er fpreche beitändig von Streechwolle ftatt Streichwolle, 
halte jenes für feiner; und das Bildungsftreben der Familie 
Stieglig erjchien der Gejellichaft nicht mehr fo bedenklich, ald der 
Bezirksföriter erzählt hatte, ihr Hauslehrer jei eine Art von 
Naturmenſch, der auf Stroh ſchlafe und fi zur Verrichtung 
feiner Bedürfniffe in den Wald begebe. Mein PBrinzipal, der 
mit Herrn Stieglig Geichäfte machte, nahm feinen Klienten in 
Schutz und erklärte, der Haußlehrer fei ein Menſch wie andre 
auch, ſogar etwas hochmütig, und daß Herr Stieglitz ihn ange- 
jtellt habe, fei durchaus nicht aus Überhebung geichehn, fondern 
weil ihn das billiger Tomme, al vier Finder in die fernen 
ftädtiihen Schulen zu ſchicken. Wenn nun aud) mit Beifall von 
dem jchwäbiichen Rentamtmann das große Wort ausgegeben wurbe, 
dieſes Bildungsftreben fei gerade ein jo norbdeutiches Gewächs 
wie manche andern been, die beſſer im märkiſchen Sande als 
in unjerm tiefern Boden gediehen, jo fiegte Doch der Wunſch 
der Frauen und der heranwachſenden Jugend, etwas mehr von 
der Welt zu vernehmen und die berannahenden Herbſtabende, 
an denen die Männer länger im Kafino faßen, mit frifcherer 
Leſeware zu verkürzen. Man beſchloß die Begründung eines 
Leſezirkels, an dem die höhern Beamten, die Pfarrer, Arzte und 
Apotheker des Eichelberger Ländchens teilnehmen follten, von dem 
aber ſchon die Lehrer jelbftverftändlich ausgeſchloſſen waren. An 
den Herrn Baron wandte man fi) gar nicht, weil man bei 
feiner Abneigung gegen das Leſen moderner Literatur einen Korb 
vermuten fonnte, und ebenjowenig an den katholiſchen Kaplan, 
von dem man vorausfeßte, daß ihm manches Buch nicht gefallen 
werde, dad man vielleiht zu leſen wünſchte. Mein PBrinzipal 
wurde zum Gefchäftsführer gewählt, weil er, fagte man, freie 
Zeit ımd junge Leute, nämlich und, zur Verfügung hätte Im 
Hintergrunde mochte mehr noch die Hoffnung wirkſam geweſen 
fein, daß feine Verichwägerung mit einem hervorragenden Verlags» 
buchhändler ihm billiger Bezug der Bücher ermöglichen werde. 
babe noch Heute eine große Freude an der OÄffnung 
eines Bücherpakets voll Neuigkeiten, aber in jenen Jahren war 
mir ja jedes Buch viel neuer, enthielt jedes viel mehr Wichtiges, 
Werwolles, vielleicht Erſtaunliches. Das Gefühl geipannter Teils 
nahme, mit dem ich im Schweizer Robinfon die allmähliche Ent- 
leerung des geitranbeten Schiffes Ind, wobei ein Schab nad) Dem 
andern and Lit kam, durchriefelte mich wie Seligkeit, wenn ein 





6. Bildung 1083 


grauer Bad vom Buchhändler anlangte. Schon die ſaubere Nechted- 
geftalt mußte anſprechen, fie verkündete die entiprechend ge- 
formten, ſcharf umgrenzten Büchergeitalten, die verheißungsvoll 
herausquollen, wenn die Schnüre gelöft waren. Da lagen zu 
unterjt die Beitjchriften mit ihrem kaum zu überjehenden In⸗ 
Halt: die Gartenlaube, die Damals noch in jungen Jahren ftand, 
W. O. von Horns Maje, dad Buch der Welt mit feinen bunten 
Sarbentafeln und, über alle geſchätzt, die ariftofratischen Wefter- 
manns Monatshefte.e Man jah die Abende vorüberziehn, an 
denen Dieje Hefte entfaltet werden follten, und zählte die Stunden 
behagliher Spannung bei ihrer Lektüre voraus. Da wurden die 
neu erjchienenen Bände der Romane von Mühlbach, von Had- 
länder, von Mügge, von Otto Müller, Beder und jo manchen 
andern außeinandergelegt. Ich habe auß jolchen Bänden auch 
unvergeßliche Werke wie Scheffels Eflehard und Kürnbergers 
Amerilamüden hervortreten jehen. Auffallend arm war damals 
die Hiftoriiche und die Memoirenliteratur; bis in unfre Sreife 
drangen Ranke und Sybel nicht hinab, am meisten gelejen fchien 
mir Macaulays engliiche Geſchichte mit zahllofen ſchlechten Holz- 
fhnittporträtd. Für mich lag regelmäßig irgendein Lern= ober 
Studierbuch dabei, das mid) immer zuerft durch fein äußeres Ge⸗ 
wand ergößte, wie ed nun auch fein mochte, ehe ich mich an fein 
Inneres machte. Sm Grunde gefiel mir eben fat jedes Buch 
ſchon von außen, denn ed war immer eine Verbeißung, und 
eine Ausnahme davon machten nur die „roh“ verjandten, die 
man erſt heften lafjen mußte. Ich vergeile nicht den Eindrud, 
als id die Homerausgabe der Firmin⸗ Didotſchen Flaſſiker 
bibliothek mit lateiniſcher überſetzung erhielt: ein ſtarker, ſtraff 
gehefteter Band in feſtem Umſchlag von unſcheinbarer graugrüner 
Farbe, von dem ſich das vortreffliche Papier, der klare, ſaubere 
Druck in fremdartigen eleganten Griechenlettern ſchön abhoben. Das 
war ein Kunſtgenuß! Die höchſte Stufe dieſes äußerlichen Bücher⸗ 
genuſſes erſtieg ich allerdings erſt einige Jahre ſpäter, als mir 
mein nun längft verſtorbner Freund L. D. aus Köln den Heinen 
Horaz mit lateinifchen Profaerflärungen in Elzevierformat, eben- 
falls aus Firmin⸗Didots Verlag, dedizierte. Das war dag erfte 
Buch mit eingeklebten Photographien, das ich ſah. Es war in 
grünen Maroquin gebunden, mit Goldſchnitt. Kein Krondiamant 
konnte herrlicher leuchten! 

Zu dieſem Genuſſe, Bücher zu ſehen und zu fühlen, auf- 
zuichneiden und anzulejen, brachte der Leſezirkel noch den andern 


104 Glädsinfeln und Träume 


der Verteilung der Bände und Hefte an die Abonnenten. Man 
fonnte dabei die lieben Belannten nach Bildung und Geſchmack 
einteilen, Freunde begünftigen, Gleichgiltigen Heine Bosheiten 
zufügen. Es erfolgten auch Reklamationen, und die Empfind- 
lichfeit gegen vermeintlihe unpafjende Zuweiſungen war groß. 
Es mag dabei Prüderie und Unverftand im Spiele geweſen fein, 
aber ein gefünderes fittliches Empfinden berrichte in diefen Kreiſen, 
al3 man Heute in ihnen finden wird. 

Wenn fi) Reugierige auf die am Vormittag neu anlommende 
Zeitung ftürzen, und ein Kannegießer in ereignisreichen Zeiten ſo⸗ 
gar dem Poftwagen auf die Höhe vor dem Dorf entgegengeht, um 
die Nenigleiten eine halbe Stunde früher zu haben — er lieft 
fie dann im Gehen, bedächtig langſam auf der Straße her⸗ 
ſchreitend —, fo ift das nur ein Ausfluß der Uufgeregtbeit Ein- 
zelner. Im Grunde kümmert man fi) im Dorfe wenig um dag, 
was draußen in der Welt vorgeht, und wenn man ed einmal 
tut, legt man die Beitung mit dem ®efühl des Behagens aus 
der Hand, mit dem der Philifter im „Hauft“ von den Schlachten 
hinten weit in der Türkei reden hört. Es mag draußen ringsum 
ſtürmen und branden, wir jehen die Wellen nicht, hören fie nicht 
einmal. Jetzt find bald zwei Menfchenalter verfloffen, daB daß 
Dorf die Durchmärſche der Ruſſen und der Preußen ſah, die 
nad) Frankreich zogen; nur die Allerälteften wiflen, was ein Krieg 
if. Früher Hat Eichelberg fchwerere Heimfuchungen in Kriegs⸗ 
nöten erfahren. Uber gerade darin zeigt es fich, wie ein Torf 
organifch mit feinem Boden verwachſen ift, daß die Stürme es 
zwar niederdrüden, e8 aber nicht hindern, ſich zu erheben, wenn 
der Orkan vorüber ift. 

Ich kaufte mir beim Buchbinder Werner in Senjenheim 
fünf Buch gelbliches Konzeptpapier, wie e8 in ben Kanzleien 
übli war, und faltete und heftete mir in ftillen Abenditunden 
daraus vierzig Hefte zu vierundzwanzig Seiten, auch hatte id) 
fardiged Papier von fefterm Griff mitgebracht, und zwar blaues, 
violettes, grünes und rote, und davon wurden Umichläge um 
die Hefte gemacht, je zehn von gleicher Farbe. Und nun erhielt 
jede3 Heft feine Aufichrift von Theologie und Myftil an bis 
zu Acker- und Wieſenban, Dichtung, Malerei, Theater, Mufil 
waren nicht vergeffen. Indem ich nun faft alle Bücher, die mir 
erreihbar waren, Kapitel für Kapitel lad und jeden Sab bes 
merkte, der mir beſonders wiſſenswert zu fein fchien, um ihn 
dann in fein Heft einzutragen; indem ich ebenfo jede Zeitichrift 


6. Bildung 105 





— 


und jedes Tagblatt behandelte, die mir unter die Hände kamen, 
ja endlich jeden bedruckten Papierfetzen, ſammelte ich in wenig 
Monaten einen ganz gewaltigen Schatz von Wiſſen an, dem 
leider nur alle Tiefe und aller innere Zuſammenhang fehlte, 
denn ich jchrieb mir nicht nur die Stellen ab, die mir gefielen, 
fondern auch die, die mir durch ihre Dunkelheit imponierten; 
dieſe ſchrieb ich manchmal, ohne auch nur ein Wort davon ver- 
ftanden zu haben, in mein Heft, in dem Wunſche, fie jo lange 
immer wieder zu lejen, biß ich fie erfaffen würde. Daß das einmal 
geihehn müſſe, bezweifelte ich feinen Augenblid. Woher jollte 
mir eine Vorftellung von der Begrenztheit meines Verſtandes 
gefommen jein? Niemand kann jemals Autodidakt in einem 
reinern, ich möchte jagen verwegnern Sinne geweſen jein al 
ih in jener Zeit. Der Gedanke, jemand zu fragen, der es 
beſſer verftünde als ich, kam mir überhaupt niemald in den 
Sinn, war mir doch fogar in der Schule niemand gegenüber- 
getreten, dem ich ein tiefere oder reichered Wifjen zutraute, als 
ih leihtlih zu erwerben Hoffte. In der Tat, es war ein ganz 
folgerichtige3 und rückſichtsloſes Syſtem des Selbftunterrichtd, dem 
ich folgte, und e8 gab davon feine Ausnahme. In keiner jpätern 
Beit meineß Leben? verfügte ich über fo außgebreitete und mannig⸗ 
faltige Kenntniffe wie im Sommer 1861, wo id) drei Monate 
lang jeden Morgen von drei bis ſechs und Dazu noch manche 
Abenditunden über meinen Heften jaß, raſtlos eintragend und 
nadhlejend. Ich mußte ganz genau Beicheid zu geben über bie 
Geichichte der Burgruine Dürnftein in unjrer Nähe jowie über 
die Natur des Klingfteinkegeld, auf dem fie ftand, das Leben 
Zalob Böhmes war mir ebenjo vertraut wie der Feldzug der 
Tauſend unter Garibaldi in Sizilien, die Entjtehung des Krebſes 
der Obftbäume und die Auffafiung Macaulays von Friedrich dem 
Großen kannte ich ziemlich gut, wußte aber unter anderm auch, 
was Luiſe Mühlbach in verfchiednen Romanen über diefen meinen 
Lieblingshelden gejagt hatte. Ich erinnere mich, daß ich den... 
diefer Schriftftellerin an einem Sonntag Nachmittag zwischen meinen 
Apotheferhantierungen verſchlang. Zugleich beichäftigte ich mid) 
auf den Wunſch meines Prinzipald mit der Herſtellung von 
Thein aus einem halben Pfund Kongotee, das ich mit meinem 
Tafchengeld erworben Hatte; daß es mir nicht gelang, das Alka⸗ 
loid Triftallifiert zu erhalten, war der erfte Rüdjchlag, den mein 
fnabenhafter Glaube daran, daß man könne, was man ernftlich 
wolle, erlitt. 


106 Glüdsinfeln und Träume 


— 


Das waren Beutezüge, die Wertvolles und Plunder in 

bunter Miſchung heimbrachten, denn von Unterſcheidung und Aus- 
einanderhaltung des Guten und des Schlechten war noch nicht 
die Rede. Es regte ſich erſt ganz leiſe das kritiſche Vermögen. 
Doch erinnere ich mich, daß mir nach der Ernte auf den fünf 
Adern, d. i. Bänden der Eſſahs von Macaulay ſchon eine Ab- 
neigung gegen die Advolatenmanier der Urgumentierung dieſes 
Geſchichtſchreibers aufſtieg; auch wandte ich mich von den nervös⸗ 
geiftreihen Bemerkungen der Rahel zu des Angelus Silefius 
Cherubiniihem Wanderämann mit Überdruß ab, als mir der innige 
Glaube des Dichter! und die |chillernde Eitelkeit feiner Kommen- 
tatorien deutlich wurde. Das find Mbneigungen, die ih mir 
bewahrt babe, aber es waren damals Inſtinkte. Dafür nahm 
ih viele® Halb oder ganz Unfertige mit in den Kauf, und am 
meiſten blendete mid die Fülle der Tatſachen, die einzelne 
Autoren vorzubringen Hatten. Da hatten natürlid die populär- 
naturwifjenichaftlichen Schriftfteller mit ihren zufammenraffenden 
und prahlerijch erponierenden Methoden leichtes Spiel. 

Da in diefem Bemühen kein Plan war und nicht einmal 
zur Ordnung des Yufgenommenen Zeit blieb, wurde der Geilt 
zwar voller aber nicht klarer, dad Gefühl der Überladung nahın 
überband, und der Flug erlahmte. Es blieb das ſchöne Gefühl 
übrig, einmal höher gejtiegen zu fein, und Die wertvolle Lehre, 
was ein tüchtiger Unlauf vermag; aber wenn ich auf diefe Art 
von Bildungsarbeit zurüdichaue, jehe ich einen Mann voll kühnen 
Mutes auf dad weite Meer hinausrudern, deſſen Ruderſchläge 
bald erlahmen müfjen; er wird fein Ziel nicht erreichen. Wenn 
nur dad Meer ihn nicht verfchlingt! 

„Es gibt ein Lerngenie, jo wie ed ein Gejchäftögenie und 
ein Bauerngenie gibt,” jagte Herr Keitel, wenn er mich über den 
Büchern fand. „Aber jedes an feinem Platz. Du lernft mehr 
als gut ijt. Wo bleibt der Pla für das Praktiihe? Füllſt du 
dein Gehirn bis in den legten Winkel mit Dingen, die der Ver- 
gangenheit angehören oder in der Luft ftehn, und wirſt doch fein 
Gelehrter, wovon willft du eben?“ 


” «x 
% 


Nachdem ich ungefähr ein Jahr lang alles gelejen oder 
wenigitend in allem gelejen Hatte, was der Zufall mir bot, 
fing id) an, die Seichtigleit diejes Bildungsfluſſes zu ahnen, der 


6. Bildung 107 


fo breit und jcheinbar fo voll an meinem Leben hinſtrömte. 
War e8, daß mir von dem Beſten jo wenig dargeboten wurde, 
ſodaß ich mic, tatfächlich faft nur im Mittelmäßigen herumtrieb, 
war es das Gefühl, jo manchem, woran mein Lefetrieb ge= 
riet, noch nicht gewachlen zu fein, ich hörte auf, mich mit gleichem 
Eifer den „Hiltorifchen“ Romanen der Mühlbach oder einem 
Hefte einer chemiſchen Beitfchrift zuzumenden. Es begann nicht 
gerade ein kritiſches Zeitalter, ich möchte eher jagen, daß aus 
dem Nebel des allgemeinen Bildungsftrebens belle Punkte zu 
leuchten begannen, auf die ich unwilllürlich hingelenkt wurde. 
Und zwar meine ich mid) zu erinnern, daß beſonders der da⸗ 
mals vielgelejne neunbändige Roman „Der Zauberer von Nom“ 
von Gutzkow die Wendung bewirkte Dielen hatten unjre Bil- 
dungsbefliſſenen auf gemeinjame Koſten aus der Leihbibliothef einer 
benachbarten Stadt bezogen, und wer Anſpruch machte, mitzu- 
reden, der las mit. Auch ich durfte jo nebenher traben. Durch 
meine Hände gingen ja die Bücherjendungen, und id) laß die an- 
tommenden oder Die abgehenden Bände. ALS ich mid) nun am Ende 
fragte, wa8 denn eigentlich der Inhalt und Sinn der langen 
Geſchichte fei, da wirbelte es mir nur jo im Kopfe, denn da id) 
nicht herauszufinden vermochte, welche von den zahllojen Figuren 
und Zuftänden des Romans der Wirklichkeit angehörten, und welche 
der Welt des Scheins, jo Hatte ih meiner Weltkenntnis keine 
einzige Tatſache Hinzuzufügen. 

Starke Neigungen zogen mid) in zwei Richtungen von der 
literariichen Näfcherei dieſes zerftreuten Leſens ab: das Streben, 
fremde Spraden zu Tennen, und die ſtarke Wirkung der Natur, 
ſei e8 im Freien, wo fie bei jedem Gange ins Feld hinaus 
wie beraufchend auf mic, wirkte, jei e8 in den naturwiſſenſchaft⸗ 
lihen Werfen. Ich Hatte das Gymnaſium nicht ganz durch⸗ 
gemadt; die Lüden im Griechiſchen auszufüllen ſchien alfo die 
nädjte Forderung. Hier war etwas ganz Greifbared zu gewinnen, 
jedes gelernte Wort ſchien fo gut zu fein wie ein überall ge= 
Ihäßtes Gelditüd. 

Der Lehrer war ein Kleiner Mann mit lächelndem Kinder⸗ 
gejicht, der nie widerjpradh, und aus deſſen Mund ich nie das 
Wörthen „Nein“ gehört Habe. Niemand, den ich kennen gelernt 
babe, hatte einen jo engen Horizont wie Herr Klatt. Er war 
ein Lehrersſohn aus einem Nachbardorf, Hatte in der nahen Be⸗ 
zirksſtadt dad Seminar befucht und gedachte fein Leben, dag gegen 
wärtig no jung war, in Eichelberg zu beichließen. Darüber 


108 Glädsinfeln und Träume 


binauszufchauen hatte er nicht die geringfte Luft. Dabei war er 
feine Einfiedlernatur, kein Idylliker, fondern ein echter bäuer- 
licher Realiſt. Er Hatte fi) früh mit einer Gerberstochter aus 
feiner Heimat verheiratet, die ihm ein Kleines Kapital mitgebracht 
hatte, mit dem er einen Garten erwarb, worin die beiden Leute 
viel mehr Nutzpflanzen zogen, al3 fie brauchen konnten — Ver⸗ 
Taufögelegenheiten dafür gab es noch nicht, da Die andern Leute 
ſelbſt Gemüje und Obft im Überfluß oder aber fein Geld hatten, 
fie zu kaufen —, und gerade fo viel Blumen, als für einen Ge⸗ 
burtötagsitrauß für fie und ihn hinreichten. Seinen Kohl und 
feinen Salat zu verwerten, war das Problem, um das fi) der 
Lehrer unaufhörlich herumdrehte. Er gab vor, Bücher laufen 
zu wollen, wenn es ihm erjt gelungen fein würde, für die Er- 
zeugniſſe feine Gemüſegartens lohnenden Abſatz zu finden. 

Er beſaß ein „Rheinifches Konverjationdlerikon,“ das ſamt 
feinen verichnörfelt Lithographierten Xitelblättern und feinem 
braunen Löſchpapier längit verichollen ift. Und dieſes war wohl 
die Hauptquelle ſeines Wiſſens. Außerdem hatte er von ber 
eriten Fibel an ſorgſam die Bücher aufbewahrt, aus denen er 
gelernt hatte, und dieje waren zu drei Reihen herangewachſen 
und machten Klatt zu einem der bücherreichften Leute. 

Die Schule war ihm nur ein Lohndienft, und zwar ein 
unwillflommner. Die jungen Bauern, die noch bei ihm in bie 
Schule gegangen waren, hielten nicht von feinem Lehren. Der 
geiſtliche Herr Schulinfpeltor fällte das falomonifche Urteil: In 
der Schule vermag er nichts, da ift er nur ein fladerndes Licht, 
aber er weiß viel und vermehrt dadurch die Würde feines 
Standes. 

Der Bauer kennt zwei große Lehrer, die mit der Hierarchie 
des Schulweſens nichts zu tun haben, die Natur und das Her⸗ 
kommen. Wenn er die Schule verlaſſen hat, beſucht er keine 
andre Lehre mehr als ihre. Wer kanns ihm verdenken, daß 
ihm der andre Lehrer, der das Seine jelbit erit aus Büchern 
gelernt Hat, nicht imponiert? Die Honoratioren, Stolz auf ihre 
Oymnafialbilbung, die, einerlei wie tief fie geht, und wieviel 
davon „fißen geblieben” ift, für fie ein foziales Kennzeichen ift, 
ftehn der Vollsſchule, der Bauernichule teilnahmlos, wenn nicht 
jpottend oder abgeneigt gegenüber. Die Lehrer müßten weltklug 
fein, was fie in der Regel nicht find, und nicht fein können, 
wenn fie fi in einer fo ſchwierigen Geſellſchaft behaupten 
wollten. Den guten, pflichtireuen und gebuldigen bringen es bie 


6. Bildung 109 


Jahre, viele bleiben zeitlebens in einer ſonderbaren Zwiſchen⸗ 
ftellung, wo dann der Bauer, der ſolche Sorgen nicht kennt, 
weil er weiß, wo er Hingehört, fie graufam als „Halbvögel” 
bezeichnet. Ich fand immer die Anlehnung des Lehrerd an den 
Geiftlihen als die natürlichſte Löſung aller Schwierigkeiten, Die 
feine Stellung umgeben. Und tatfächlich fteht die Geltung des 
Lehrers bei feiner Gemeinde immer in einem gewiſſen Verhältnis 
zu der Stellung, die der Geiftlihe darin einnimmt. 

Ich ſprach über den Zaun Bin: Herr Klatt, Sie verftehn 
Griechiſch. 

Herr Klatt war mit dem Binden feines Endivienſalats be- 
ichäftigt, den er mit dünnen Strohjeilen umwand. Ohne feine 
Stellung, den Kopf beim Salat, aufzugeben, antwortete er: Zu 
dienen, bis Ilias. 

Haben Sie auch eine Grammatik ftudiert? 

Ja, Büttner, fprad er in den Salat, aber nur bis in Die 
Unregelmäßigen hinein, dann wurde mirs zuviel. 

Büttner habe ic) auch, Bin aber noch nicht jo weit. 

Nun, da werden Sie Ihre Wunder erleben. Die Griechen 
waren ein ganz, andre Volt als wir, daß merkt man eben an 
ihrer Sprade. Wie könnten wir in einer jo Fomplizierten 
Sprache ſprechen: Dual, Aoriſt und jo weiter. Und dann nod) 
die Unregelmäßigen! Herr Klatt erhob fi im Eifer feiner Dar- 
fegung aus dem Grünen und wand eines feiner Strohjeile 
um die Hand: Sehen Sie, fo lernt mans, und fo geht es wieder 
hinaus — dabei löſte er die Windung wieder auf und ftredte 
das Strohfeil —, und man weiß foviel wie vorher. Das muß 
man viele mal wiederholen; endlich bleibt was hängen — und 
Dabei wiederholte er die Wickelung mit dem Strohfeil rückwärts. 

Die Ilias leſen zu können ift freilich vieler Mühe wert. 

Ya, fagte Klatt und fing wieder an zu binden, da haben 
Sie Net. Uber für den innern Menſchen, id) meine den 
Chriſtenmenſchen, bleibt doch weniger, als man glaubt, davon 
übrig. Ich meine, was unfereiner brauchen kann. In Kadetten⸗ 
ſchulen mögen heranwachſende Kriegsmänner die Ilias lefen und 
Daraus lernen, fi mutig mit Yeinden berumzujchlagen. Uns 
friedlichen Menſchen kommt das Waffengellirr und der Staub 
doch ganz überflüjfig vor. Und was man fürs Leben braucht, 
haben ſchon meine Schulbuben. Den Kleinen, die fid) von den 
Großen unterkriegen laſſen, jage ih: Wehrt euch! Der Paris 
mit feiner Helena paßt eigentlich auch nicht unter anjtändige Leute. 


110 Glädsinfeln und Träume 


— · PIE 





Wie gut, daß es ſo wenig griechiſche Literatur gibt. Denken 
Sie, der Homer hätte fo viel geſchrieben wie der Goethe, den 
niemand kaufen Tann, der nicht Kapitalien hat. Den Homer kann 
man zur Not auswendig lernen, beim Goethe hat man den erften 
Band vergefien, wenn man den zehnten aufmacht, und es find 
vierzig! Shakeſpeare find aud zwölf Bände. Dagegen foll es 
Leute geben, die alle griechifchen Dichter vom Anfang bis zum 
Ende gelefen haben. In der Schloßbibliothek habe ich eine 
illuſtrierte frangöfifche Überfegung, die voll nadter Menſchen ift, 
ganz oben Hinaufgejtellt, wo fie niemand fieht. 

Herr Platt ſprach gern von der Schloßbibliothef, deren 
Bücher er aller paar Jahre zu ordnen hatte Man behauptete 
zwar, dieſes Amt fei ihm entzogen worden, weil er bie nicht 
ganz moraliihen Werke von allen andern getrennt in faft un- 
auffindbaren Eden aufgeftellt habe, ſodaß der Baron feine Lieb- 
lingsleftüre mit Mühe zuſammenſuchen mußte Andre erzählten, 
er babe die Schildfrotdofe des Baron? mit ımter die Duodez- 
bandchen geftellt und fei in den Verdacht geraten, fie eingefteckt 
zu haben. Aber Herr Klatt fuhr fort, auß feiner Kenntnis der 
Schloßbibliothek einen Bildungsanſpruch Berzuleiten, zu dem feine 
Borftudien ihn nicht berechtigten. Ach bin einmal in Abweſen⸗ 
beit de8 Baron in das plump=runde Turmzimmer getreten, 
das dieje Bücherei beherbergt. Weder der Lehrer noch ich ver- 
mochten fein roftiges Schloß zu Öffnen, man mußte den Gärtner: 
berbeirufen. 

Auf den Bücherfchräuten hatte man die verfchiebenften Büſten 
aufgeftellt, wie man fie ererbt oder von wandernden Stalienern 
gelauft hatte. Sonderbarerweile waren darunter auch ganz ge= 
wöhnliche Köpfe von Senechten und Mägden, die ein Freund bes 
Barons als Liebhaber nad) der Natur modelliert hatte. 


% * 
® 


Delan Stellmann war ein großer dider Mann mit ent- 
fpreddendem Kropf, blauer Nafe, rauchgrauer Brille, buſchigen 
Brauen und grauen Loden; er trug fi) nadjläffig; man bes 
hauptete, der Wind habe ihm einmal den ſchwarzen Etrohhut,. 
wie ihn damals bie Geiftlichen trugen, von der Krempe weg⸗ 
geführt, wo er Ioder ſaß, und er babe e8 in feinen tiefen Ge⸗ 
danken nicht bemerkt. Er lebte in den Alten und galt für ben 
fefteften Hebräer der Diözefe. Wie er in den Wlten lebte, das 


6. Bildung 111 


— ——— EL — 





zeigte mir unſre Unterredung; ich habe unter berühmten Philo⸗ 
fogen und Archäologen, mit denen mich mein Leben zujammen- 
geführt hat, feinen gefunden, der inniger vom Geift der griechifchen 
Dichter durchdrungen geweſen wäre, al3 Stellmann. Aus jedem 
jeiner Säße ſprach eine Kongentalität, die mir damals zunächſt 
den Eindrud jchlagender Wahrheit machte. Du willit dich alſo 
in die Griechen vertiefen? begann er ungefähr; bedenke, daß 
das eine Welt iſt. Entweder fommft du nicht hinein oder 
nicht mehr heraus. Was du mir von den Lateinern fagft, die 
bu gelejen Haft, daraus mache ich mir nicht viel. Das hilft dir 
auch nichts, denn die Griechen find die Schöpfer der Haffiichen. 
Literatur, und du mußt fie mit reinen Augen fchauen. Im 
Vergleich mit Homer find Pirgil und Horaz ganz moderne 
Menſchen. Die fünmen dir den Blid nicht Hären. Es bat in 
unfrer Zeit und in den nädjitvergangnen Kahrhunderten Männer 
gegeben, die den Griechen näher jtanden, fie beſſer verftanden- 
und zum Teil aud) gedolmetiht Haben als jene Römer. Du 
fennft doch Schillerd Gedichte? Wenn ich jene lateinifchen Dichter 
moderne Geifter nenne, fo verftehe wohl, daß ich nicht ſage 
„moderne Menichen.“ Denn da3 ift gerade dad Große an den- 
Griehen, daß fie jedem gefunden Menſchen verwandt find. Vom 
Bauern kannſt du lernen, daß ein Sonntagskleid fürd Leben 
genügt, aber jede Arbeitsjahr will fein Werktagdgewand.. 
Sorge dafür, daß du diefes immer in der gehörigen Feſtigkeit 
und Dauerhaftigkeit bereit haft, jo wird dein Sonntagsfleid dir 
Ihön erhalten bleiben. Wer fih aber am Werktage fonntäglid;: 
fleidet, wird den Sonntag dur werktägliches Ausſehen ent⸗ 
heiligen; er bat weder Freude an diejem noch an jenem. Die: 
Bildung, die jetzt dur Zeitungen und Volksſchriften verbreitet 
wird, ift ein abgetragne® Sonntagdgewand. 

Als ich einmal bis zu den Tragifern und an die Schwelle 
Platos vorgedrungen war, fam die Nede auch öfters auf Die 
Borahnungen des Chriftentumd in den Schriften der Alten. 
Ihre Beiten, ſagte Stellmann, waren im Grunde Ehriften, aber 
fie find ftehn geblieben. Sie waren wie Leute, die einen weiten. 
Weg vorhaben, und da fehen fie auf der Seite ein marmornes 
Bötterbild, das ift ſo verlodend jchön, fie können nicht vorbei. 
Die Juden find daran vorbeigelommen und wurden Chriften. 
Darum bat auch die Herrliche Griechenſprache nicht die Höchfte 
Würde. ‘Das Griechiiche hebt und aus der Mafje, aber Menfchen. 
werden wir erft durch das Hebräiſche. 


112 Glädsinfeln und Träume 


An einem warmen Herbftnachmittag fand ich ihn mit einem 
alten Buche, das aufgefchlagen auf feinen Knien lag, aber fein 
Blick ruhte nicht auf dem Gebrudten, fondern Ding an irgend⸗ 
einem Punkt im blauen Weſten. Er deutete mit der Hand auf 
den Platz auf der Bank, den ich einnehmen follte, und fuhr fort, 
ind Weite zu fchauen. 

Ich bin nun jo alt geivorden, fagte er nad) einer längern 
Pauſe, wie in Selbſtbeobachtung, daß ich manchmal aus einem 
Bude eine Stimme wie ein ferne® Echo vernehme; es ift aber 
meine eigne. Im leiten Liſpeln bewegter Luft im Scilf, im 
erften Donner einer Gewitternadht, der ganz ferne, wie fchlaf- 
trunfen vorüberwallt, im Schatten des Knalles einer Flinte, der 
im Forſt verhallt, liegt etiwad von meinem eignen Innern, etwas 
unbeftimmt Wedendes, Erinnernded. Es iſt mir, als Hätte ich 
einmal eine ſchwermütig ſchöne Dichtung gehört, deren zerriſſene 
Harmonie der rätjelhafte Laut aufweden will. Bet Beethoven 
gibt es Laute, die diefen vergleichbar, etwas in mir heben wollen, 
was begraben if. Doch fürchte ich, dieſer Schatz iſt unhebbar, 
wenigftend in diefem Leben. In Sphärenharmonien wohnt viel- 
leiht einft der Ton, der in dieſe Innern Melodien einflingt 
und den Bann von ihrem Leben Löft. 

Stellmann war ein Freund der Malven; er fand in ihren 
aufftrebenden Blütenftengeln, in ihren großen einfachen Blättern 
und in den tiefroten oder fattgelben Farben ihrer Blüten, die 
niemals grell find, etwas Klaſſiſches. Wenn ich zwifchen meinen 
Malven den Garten binaufgehe, fagte er, kann ich mir denken, 
ich fhritte auf einen ... zu. Gewiß haben die Griechen jolche 
Pflanzen in der Nähe ihrer Tempel oder an den Wegen gepflanzt, 
die zu Bildjäulen binführten. 


* 3 
* 


Auf der Ruine von Steinberg kam wie ein Geſicht das 
Gefühl der Vergangenheit über mich. Ich hatte von den Alten 
und dem Altertum jprechen hören und mit geiprochen, gefühlt hatte 
ih es nie. Da lag ih in den dunkeln Bajaltblöden, aus denen 
die Ringmauer der alten Burg befteht, der man römijche Funda⸗ 
mente zufchreibt, jchlürfte den Geruch des Goldlads ein, der in 
ihren Ritzen wild wädjit, und bemwunderte die prächtige Blatt⸗ 
form der fremdartigen Ariſtolochia. Ein Trauermantel, der mich 
und dieje Blumen umflog, fam mir wie ein Bote der Vorwelt 


6. Bildung 118 





vor. Ich dachte an die Witter, Die Möndje, die ANömer, und 
3 kam ein Gefühl von Weite über mich, als ob fich mein Ge- 
fihtöfreiß ind Ungemeflene außdehne, und doch wieder war mir 
die Vergangenheit jo nahe, als träten die alten Geſtalten aus 
den Niſchen und ſchauten auß den halbgebrochnen Fenfterbogen. 
Es war wie ein Burüdverjegtwerden um Sahrhunderte und ein 
Wieberzurückfehren in die Gegenwart mit neuen Erfahrungen 
von alten Menſchen und Taten. Nie werde ich den jeltiamen 
Buftand vergeflen, worin ich den Berg binabitieg; ed war mir, 
al3 jei mein befte8 Teil dort zurüdgeblieben. Es war, wie wenn 
jemand etwas Großes gelernt hat, das er nım zum erftenmal 
ganz erfaßt. ch Habe von dba an alles Geſchichtliche Tiebge- 
monnen und leichter aufgenommen. 





Rayel, Slüdsinfeln und Träume 8 


Bilder aus dem Rriege 
mit Frankreich 


avᷣ⸗ 


Büder aus dem Rriege 
mit Ixankreich 


avᷣ⸗ 





l. Die Gewitterjchwüle 


Die Schwüle vor dem weltgefchichtlichen Gewitter des Som- 
mer8 1870 ift feine Stilblüte der Geſchichtſchreiber; fie lag 
wirklich in der Luft und drüdte auf die Gemüter, die allmählich) 
des Hangens und Bangens der deutſchen Einheitöbeftrebungen, 
bie nicht zum Biele kamen, der franzöfifchen Drohungen, denen 
feine Taten folgten, und des öſterreichiſchen Rachegefühls, das 
dumpf brütete, mübe wurden. Heil dem Krieg, der fommen muß, 
und der alles in die rechte Ordnung rüttelt! rief e8 in jungen 
Gemütern, die fich des Krieges von 1866 erinnerten, wie er als 
ein die Luft reinigendes Gewitter jchredlich hereingebrochen und 
heilſam vorübergezogen war, heilfam aud für den Feind, der 
unterlegen war. 

In Deutichland war für die genannte Schwüle noch ein 
befondrer Grund, den wir damals höchftens geahnt, aber erft nad) 
Jahren erlannt haben. Die Jahre 1864 und 1866 und was folgte 
Hatten ung da8 Gefühl gegeben, auf dem Schlachtfelde die erften 
zu fein, aber auf andern Feldern wußten wir uns noch nicht in 
bemjelben Maße anerkannt, wiewohl wir zu willen glaubten, 
daß auch auf ihnen die Überlegenheit der Nachbarvölker nicht 
mehr jo groß fei, wie fie einft gewefen war. Befonder der 
Alp Frankreich drüdte bei weitem nicht mehr jo auf Deutſchland 
wie bißher, es traten dort immer mehr Symptome innerer Ber- 
ſetzung zutage, und die Negierung, deren dunkle Pläne jo viele 
Jahre drohend an unjerm Horizont geftanden hatten, war feit 
1866 immer ſchwächer geworden. In demjelben Maße, wie 
dieſer Drud wid), wuchs bei uns ein Kraftgefühl, dad feine der 
Generationen feit 1813 gelannt hatte. Rußland war mit innern 
Reformen und afiatifhen Plänen beichäftigt, Ofterreich nieber- 
geworfen, jenjeit der Alpen wuchs dem lange vereinzelten Deutjch- 
land ein neuer Freund heran. Es Fonnte nicht anders fein, als 


118 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


nn 


daß bei und mehr Sraft und Gelbitvertrauen da waren, als 
unter den gejpannten Verhältniſſen Verwendung finden Tonnten, 
es war wie ber Überſchuß negativer Elektrizität, der das Ge- 
witter berbeizieht: die Krifis lag in der Luft, man mußte nur 
no nicht, wann die Außgleihung eintreten würde; dad Wo? 
dagegen war nicht mehr zweifelhaft, es konnte nur der Rhein 
fein, deſſen ſchöne Gelände ber Bliß zerreißen und das Kriegs⸗ 
ungewitter mit Blei überjäen und mit Blut tränten würde. So 
wie es im Leben der Natur Zeiten gibt, wo Töne durch Die 
Luft ziehn, man weiß nicht woher, jo erflangen die Rheinlieder 
der Befreiungskriege plögli an allen Orten, als hätten fie fich 
felbft angeftimmt, und hallten in jeder Bruft nad, als hätten 
die rechten Saiten nur getvartet. 

Der Schwüle draußen auf dem Markt ded Lebens entiprach 
die dumpfe Stimmung unter manchem Dache. Seit den Erfolgen 
Preußens im Jahre 1866 waren bei uns viele Leute Tonfterniert, 
d. h. fie blieben einfach ftehn, ließen die Ereignifje an fi) vor⸗ 
überfließen und ſahen ihnen mit dem Gefühl nad, da es ebenſo 
unmöglid) jei, gegen diefen Strom zu ſchwimmen, als gefährlich, 
fi) ihm anzuvertrauen. Das Gerüft ihrer politifchen Anficht 
war erjdjüttert, aber fie wagten es noch nicht abzubredden. Da 
jede lang binauögezogne Unfertigfeit unzufrieden macht, grollte 
ein unbeftimmtes Unbehagen in vielen. Neben den Konfternierten 
ftanden die, die in den Strom neuer Meinungen bineinzufteigen 
wagten und fogar fröhli mit ihm ſchwammen. Sie drüdte 
nichts, höchſtens empfanden fie Ungebuld, daß ſich Deutſchland 
nicht raſcher und gründlicher auf den Einheitsftaat zu entwickelte. 
Noch viel größer ald gewöhnlich war die Zahl der Unentichtednen 
und Sleichgiltigen; ihre Zahl war größer, weil der feit jo vielen 
Jahren dauernde Gaͤrungsprozeß eine Maſſe von Unjchlüffigkeit 
aufgehäuft hatte, und ihre Unentichiedenheit war in demjelben 
Maße gewachſen, als die politiihen Verhältniſſe verwidelter, 
die Beitrebungen in Deutichland und draußen widerſpruchsvoller 
geworden waren. Sie warteten einfach, bis eine unbelannte ſtarke 
Hand eingreifen, dad Rechte bewirken werde. 

Im Haufe meiner Eltern Batte, wie in fo vielen deutſchen 
Beamtenfamilien, die Politit in der freudigen Outheißung aller 
Alte der Regierung beftanden, die auß einem faft Tindlichen Ver⸗ 
trauen zu der Weisheit und zu dem guten Willen des Yürften 
hervorging. Nach Karfreitag und Weihnacht ftand deſſen Ge⸗ 
burtstag unbedingt in der erſten Weihe der Feiertage. Man 


1. Die Gewitterſchwüle 119 


u A — 


ging zur Kirche und betete von Herzen für das Wohl des Landes- 
vater, dann aß man Kalbsbraten mit Kopfialat. Seit 1860 
warfen die deutichen Neformbeitrebungen ein neues Thema auf. 
Der Vater war großdeutih in Erinnerung an das reiche und 
Iuftige Wien, und zum Teil wohl auch, weil er fein kleines Ver⸗ 
mögen in öſterreichiſchen Papieren angelegt hatte; er überjchäßte, 
wie faft alle Süddeutichen, die guten Seiten des öfterreichiichen 
Charakters, den er als eine etwas weichere, noch gutnrütigere und 
harmloſere Varietät des füddeutichen auffaßte. Daß ein folcher 
Charakter nichts für die Politik ift, überfahd man. Man war 
viel eher geneigt, die dazwiſchenliegenden Bayern als weſentlich 
verjchieden von und Schwaben und Franken zu betrachten. „Wir 
und bie Öfterreicher trinken Wein, wir verftehn uns, die Bayern 
trinfen Bier, find plump und träg,“ urteilte man leichtherzig. 
Münden war noch nicht die geiftige und Fünftlerische Hauptftadt 
Süddeutſchlands, man reifte vom Oberrhein faft leichter und 
jedenfall® lieber nah Paris al nad) Münden. Die Urteile 
über die Bayern bezog man aber aus der Pfalz und beſonders 
in der ung nächftgelegnen Vorderpfalz war damals die Abneigung 
gegen die Altbayern noch ſehr groß. 

Wenn ich zurüdichaue, erjcheint mir das Voll Süddeutſch⸗ 
land? in jenen Tagen wie ein zwilhen Schlaf und Wachen 
ringended. Weil es gefund war, mußte es erwachen. Wie 
eine lebenskräftige Idee Leben fchafft, das zeigte in jenen Jahren 
die gewaltige Wirkung des vaterländifchen Gedankens im deutichen 
Boll. Es ging ein allgemeines Weden deffen, was in Schlummer 
verjunfen war, bindurd. Das war der wahre Sinn der Barba- 
roſſaſage, die zu dieſer Zeit gerade deshalb jo volkstümlich 
wurde, weil man in der eignen Brujt das Erwachen vaterlän- 
diſcher Wünſche und Hoffnungen erlebte. Wie wirr auch in dem 
großen Kefjel Deutichland, das damals noch Großdeutichland war, 
die Stämme ımd die Parteien durcheinander brodelten, es ftieg 
ein einziger Rauch au ihm zum Himmel, immer wärmer und 
immer dichter. 

Ich, der ih zu den Füßen Häuffers, Baumgartend und 
Treitſchkes gejeflen habe, darf wohl Beugnis für das ablegen, 
was die Hochichulen für dieſe Bewegung geweſen find. Gerade 
ihnen danken wir e8, daß e8 in ber Hauptiache eine geiftige 
Bewegung blieb. Diefe Männer und ihresgleichen haben das 
Fiasko des deutichen Parlaments von 1848/49 aufgewogen, 
indem fie denjelben idealen Faden zu beflern Zeiten hin jpannen. 


— — 20 0 





120 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


Hohes, warmblütiges Verzichten auf den gemeinen außbeutenden 
Genuß des Lebens rühmte einmal Häuffer als ben Geift ber 
deutſchen Jugend der Befreiungsfriege; und die fittliche Ordnung 
ift nie fertig, wir alle jollen Arbeiter daran fein, lernten wir 
von Baumgarten. Gleich ihnen war auch Treitichle vor allem 
eine offne männliche Natur und hatte am wenigften Brofefjoren- 
haftes. Aus feinen Reden ift mir Die Verklärung des von Schwach⸗ 
herzigen gefcholtnen Krieges eingeprägt geblieben: Troß aller 
Heinen Leiden, es ift etwad Große um den Krieg; man muß 
es nur nicht verlieren können. „Er Hat die befiere Hälfte des 
Lebenskelches getrunken, Die Hefe ift ihm erjpart geblieben,“ fagte 
er von Theodor Körner. Und wohl feiner ging damald aus 
dem Kolleg ohne Wunſch oder Gelöbnis. Wenn im Juli 1870 
bie Kriegsdrohungen der Franzoſen niemand erfchredten, fondern 
nur noch) DI in die Flammen der Begeifterung goffen, jo haben 
wir viel davon diefen männlichen Hiftorifern zu danken, die zwar 
zugaben, daß der Krieg ein graufamer Töter von Männern, aber 
doc; Iehrten, daß er zugleich ein Schöpfer neuer Männer aus 
Knaben und Weichlingen ſei. 

Wie fonnten wir jemal® glauben, unjre Wege jo allein zu 
oehn? Wir wähnten nur, allein zu fein, in Wirklichkeit ift jeber 
bon und nur ein Baum im Walde feines Volles; fo war es, 
und fo wird und muß es fein. Wir leben mit ihm, wir fterben 
mit ihm, wir ernten die Früchte feiner Siege mit und büßen 
feine Schuld mit, wenn Übermut oder Leichtfinn es zu Falle 
bringt. Heute fühlte ich, wie ein Rauſch über und hinwegging, 
und wir alle, Menſchen diejed Volkes, die ſich einzig und einjam 
hielten, raufchten mit, jo wie der Nachbar feine Blätter regte. 

- Der Sommer von 1870 war einer der trodeniten des 
Jahrhunderts geweſen. Bon Ende Mai big zu dem mächtigen 
Gewitter des 28. Julis, unter deffen Schlägen die Bortruppen 
der deutjchen Heerjäulen den Rhein paffierten, waren keine ftarfen 
Negen gefallen. In manchen Gegenden waren die vertrodneten 
Vielen kaum des Mähens wert, der Weizen ftand dünn, der in 
dem Gebirge bes ditlichen Frankreichs da und dort gebaute Roggen 
ftand kaum fußhoch, die Kartoffeln fingen erft nach den Gewittern 
im Auguſt an, fi) zu entwideln. Aber allgemein erwartete 
man einen trefflihen Wein, und da der Mai ohne jchädlichen 
Froſt verlaufen war, hingen die Obftbäume voll Früdte. Das 
war auch in Frankrei jo, wo die Maflen von Trauben und 
Obſt aller Art das Leben auf den langen Herbftmärjchen erträge 


1. Die Gemitterfchwüle 121 


Ticer gemacht Haben. Im Auguſt folgte ein fchöner Tag dem 

andern. Als am 17. Suli, e8 war ein Sonntag, die Sonne an 
einem faft wolfenlofen Abendhimmel hinabſank, ftand ich mit 
einem Freunde, der eben als Einjährigfreiwilliger diente, auf 
einem der Wiefenhügel über dem Höllental, zurüdtehrend vom 
Feldberg, wo wir die Sonne hatten aufgehn ſehen. Hinaus- 
blidend über den Ahein weg und tief in die Vogeſen hinein, die 
in einem freundlichen Veilchenblau den Wefthimmel einfäumten, 
ftiegen wir zu dem einfamen Sternenwirt3haug hinab, um unſre 
müben Glieder zur Ruhe zu beiten. Wir hatten einen ftillen 
Abend vor und. Der Urlaub meines Wandergenofien reichte 
bis zum nächſten Mittag, und mich felbft rief feine Pflicht in 
die Stadt zurüd. 

Am Gaſthaus keine harmlos freundlichen Gefichter wie fonft, 
fondern geipannte, erſchrockne. Was iſt hier geihehn? Die nächſte 
Sekunde brachte die Aufklärung: Kriegsgerühtel Drohreden in 
den franzöfiihen Kammern, mutvolle, begeifterte Artikel in den 
deutjchen Zeitungen. Und das alles jeit den zwei Tagen, Die 
wir im Gottesfrieden der Schmwarzwaldbergheiden ahnungslos 
verlebt Hatten. Der Wirt berichtete, wie die Gäſte, die ſich zu 
längerm Verweilen eingerichtet hatten, beim Eintreffen der lebten 
Zeitungen jein Haus verlafien hätten. „Wer weiß, wann die 
Rothofen vom Elfaß her einbreden? Sie find jedesmal in den 
alten Kriegdzeiten bald über den Rhein geivejen.“ Ein Blid in 
die Zeitung lehrte und zwar, daß fo nahe der Krieg nicht war, 
aber wir jahen freilich die Wollen hoch aufgetürmt am Himmel 
ftehn, und wer fieht voraus, wann der erite Blitz bervorzudt? 
Unfer Entihluß war gegeben: Raſch eine Stärkung, und dann 
den Weg zur Garnifon unter die Yüße genommen. „ES wird 
eine gute Vorbedentung fein, meinte mein Kamerad, der erfte 
Nachtmarſch dieſes Feldzugs.“ So fähritten wir denn in die 
finfende Nacht, aus der ſich endlos das weiße Band der Straße 
herausrollte, erft an erleuchteten Häufern vorbei, Hinter Deren 
Fenſtern vielleicht fhon Sorgen um Söhne ober Gatten heran- 
wuchlen, dann an fchlafenden, die Die Sicherheit gaben, daß auch 
in drohenden Beiten fein befter freund den Menfchen nicht ver= 
läßt. Unſre Neben verftummten bald, wir wanderten uhrenhaft 
regelmäßig fürbaß. Schon zitterte der Schatten des hoben 
Münfterturms in der Morgenluft, als wir den erften Halt 
bor einem Brückenwirtshaus machten, wo in langer Reihe alle 
die ungefügen, ſchweren Holzfuhrwerle hielten, die die Nacht 


122 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


durch gefahren waren. Bei einem Glas Kirſchwaſſer fiel meinem 
Genoſſen das einjt oft gefungne Herweghſche: 


Wie weht jo ſcharf der Morgenwind! 
Frau Wirtin, noch ein Glas geihwind vorm Sterben! 


ein, und hell fang er es in die Morgenluft hinaus. Es ift doch 
ſchön, das Sterben, daß feinem erjpart bleibt, in biefer Form 
fo nahe gerüdt zu jehen! 

Bor der Kaſerne, die an dem Ende der Stadt liegt, daß unferm 
Wege das nächſte ift, trennten wir und. Sch warf einen Blid 
auf das rege Treiben in dem weiten Hofe, wo eben Ausrüftungs- 
gegenftände gemuftert und abgezählt wurden. Un einer Seite 
wurden aus einer langen Reihe von Mänteln, die auf gefpannten 
Seilen hingen, Staub und Motten berausgeflopft. Die Energie, 
mit der darauf losgeſchlagen wurde, gefiel mir ausnehmend, fie 
begeifterte mich geradezu. Klopft nur zu, laßt die alten fuchfigen 
Mäntel frifch und munter werden! Der Sturm wird vieled und 
viele wegfegen auch bei und. Die wellken Blätter und die an- 
geftochnen Früchte der deutſchen Eiche wird er in alle Winde 
wehen; der Baum wird bis ind innerjte Mark erbeben vor der 
Wucht dieſes Stoßes. Es wird eine Prüfung für uns fo gut 
wie für die da drüben. | 

Sn der Stadt war heute das Gegenteil von der verichlafnen 
Stimmung, die font auf Montagvormittagen liegt. Überall be- 
tegte fih3 in raſchern Tempo. Und da nad) deutſcher Sitte 
die Begeifterung nicht troden bleiben konnte, ftredten fi) aus 
den Wirtshäufern Arme mit Bierkrügen und Weingläfern und 
tränften Unbekannte, von denen fie Gemeinſamkeit der Begeifterung 
und des Durſtes verlangten. Rufe, Gejänge überall. Dazwiſchen 
ber geichäftige Gang oder der Galopp von Drdonnanzen 
oder Offizieren. Kaum hatte ich mid) aus einem an einem 
Wirtshausfenjter hängenden Knäuel losgemadht, der fich gebärdete, 
als Habe er ſchon Siege zu feiern, als ich von rücdwärts gefaßt 
und durch zwei vorgehaltne Hände blind gemadht wurde; bie 
wohlbelannte Stimme Roller rezitierte: 

Das ein erfriichdendes Windesweben 
Kräufelnd errege das ſtockende Leben. 

Der Wille von geftern ift welt, fuhr er fort, das Licht von 
heute treibt neue Blätter zutage, laß fie im Windesweben dieſer 
Zeit wachſen. Als er meine Augen frei ließ, ſah ich in die 


1. Die Gewitterſchwüle 123 


amnn- —— 


feinen, fie ſhwammen etwas; ber alte Student Hatte „der Zeit“ 
offenbar ſchon ein gutes Maß von DI zugegoffen. 

Hier ift ja nichts als Bier und Geſang, fagte ich, laß ung 
aus den Gaffen hinaus ing Freie. Mich bedrüdt diefer Lärm. 
Was will er jagen? Die Leute betäuben ſich. 

Sei nicht kritiſch in ſolchen Tagen. Sie wifjen es nicht befler. 
Es ift eine ganze Anzahl dabei von ſolchen, Die ficher morgen ins 
Feld ziehn. Ach habe auch mitgefneipt, und morgen denfe id) mich 
in R. zu ftellen. 

Das tft gut, ich habe vor, dasjelbe zu tun. Du wirft gewiß 
zur Kavallerie gehn wollen, um deine Kunſt ald Säbelfchläger zu 
verwerten ? 

Getroffen. Und du wirft ebenjo ficher in das xte Negi- 
ment eintreten, wo deine Freunde dienen? Alſo Infanterift? 

Ehenfall3 getroffen. Übrigens gehe id) natürli dahin, 
wohin man mich ftellt. Denn weißt du, was außerdem, daß 
wir unfre verdammte Pflicht und Schuldigfeit tun, indem wir 
die Waffe in die Hand nehmen, mich ind Heer treibt? Ich 
muß! Das ift eine Wohltat. Weißt du noch, wie wir fonft 
ein Tuch in die Luft warfen, um die Richtung zu erfahren, in 
der wir gehn folten? Das Hört nun auf. Vorhin ging id) 
binter einem Zug Soldaten, die famen etwas auseinander, Da 
die Hintermänner langſamer ausfchritten, ald die Vordern voran⸗ 
gingen. Da kam da3 Kommando Aufgeichloffen! und im Nu 
war es wieder ein kompakter Haufe. Da dachte ih, wie oft 
wir auseinander liefen, der voraudeilend, der zögernd, und eine 
fräftige Kommandoſtimme erſcholl in meinem Innern: „Aufge- 
ſchloſſen! Nicht zaudern und zögern!“ Und daran will id nun 
feſthalten. 

Die Menſchen hielten es nicht in ihren Häuſern, nicht ein⸗ 
mal in den geliebten Wirtshäuſern aus, alles drängte ins Freie, 
jeder wollte hören und reden, die kleine Stadt ſelbſt ſchien für 
die große Bewegung der Herzen zu eng. Was iſt in die Menſchen 
hineingefahren? Sie reden miteinander, als ob ſie ſich kennten, 
und wenn man von dem Fremdeſten weggeht, iſt es einem, als habe 
man einen alten Bekannten geſprochen. Neues erfuhr man zwar 
nicht. Es war der Tag vor der Unterredung König Wilhelms 
in Ems. Der Blitz der Emſer Depeſche Hatte noch nicht den 
Weſthimmel erhellt. Aber es hatten die wenigen Tage ſchon 
eine Klarung inſoweit hervorgebracht, als Die Verblüfften und 
Angſtlichen zu einer Minderheit zuſammengeſchmolzen waren, und 








124 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


eine ruhige Entfchloffenheit ohne Überhebung gewann immer mehr 
Raum. Schon war jeder Zweifel gejchwunden, daß die Süb- 
deutichen an der Seite der Norddeutichen fechten würden. 

An unfern Univerfitätäfreid hatte der Sturm gehörig 
bineingemeht. Faſt die Hälfte war ſchon zu ihren Regimentern 
abgegangen, andre waren in dem all wie ich: bereit, als 
Keriegöfreiwillige in Reih und Glied zu treten, nur noch fo lange 
in der Univerfitätöftadt verweilend, als zur Abwicklung nötig 
war. Das Semeiter nahte fi) ohnehin feinem Ende zu. Die 
jüngern Profeſſoren begrüßten das Außeinanderftieben ihrer 
Hörer freudig, die Altern waren etwas verdubt. Ich kam zu 
dem alten Hiftorifer der Philoſophie, mic) zu verabichieden. Es 
ift auch Tapferkeit, in ſolchen Zeiten feine ftille Pflicht zu tum 
und taufend Stimmen, die ung ind Gewühl des Lebens rufen, nicht 
zu folgen; alfo jprad) der alte Profefior, bei dem ich noch ver- 
fpätet ein Kolleg über Plato gehört Hatte. Es Hang zwar 
fonderbar in dem allgemeinen Sturm und Drang nad) einer 
andern, neuen Art der Pflichterfüllung; aber doch hatte er Hecht 
aus feiner Anſchauung heraus. Er, der alte Held des Wortes, 
der fein andre Schlachtfeld als den Hörſaal und zur Rot noch 
das „Literariiche Zentralblatt“ kannte, hatte Recht, und es ge= 
hörte eine Art von Mut dazu, etwas zu jagen, was damals 
wie ein Mißton Hang. Uber er hatte doch nur Recht für fich und 
feinesgleichen, die von der Natur zum Kampf mit dem Wort und 
der Feder beftimmt waren. Leider haben fich viele die „ftille 
Prliht“ zum Vorwand genommen, ihrer Feigheit und Bequem⸗ 
lichleit nachzuleben. Was für einen Bodenjat von gleichaltriger 
Erbärmlidleit ließen jene Hunderttaufende Sünglinge zurüd, als 
fie im Sommer 1870 über den Rhein ‚gingen. Er blieb zuerft 
ruhig am Boden, dann aber, als die frühen großen Erfolge die 
Lage ſicher gemacht hatten, fing e8 an zu gären und zu wüblen, 
und als die jungen Helden zurüdtehrten, fanden fie in diefen 
Heuchlern der „ftillen Pflicht“ ihre Neider und Verkleinerer, und 
mand) einer, der fein Beftes fürd Vaterland getan und gewagt 
hatte, ſah fich zur Seite geichoben von einem Wettbewerber, der 
bie Kriegszeit wohl angewandt hatte, fi) in aller Stille den Boden 
zu bereiten, der eigentlich den andern gehörte. 

Andres als bei dem Philofophen vernahm ich bei dem 
alten Philologen, der mid) feinerzeit im Doltoreramen freund 
ih vor dem Auflaufen auf Sandbänlen der Unwiſſenheit be= 
hütet hatte. In diefem ſchien etwas von altrömiichen Staats⸗ 


1. Die Gewitterſchwüle 125 


gefühl zu fein; in Wirklichleit war es fein Preußentum, da3 ihn 
veranlaßte, meinen Entichluß mit Teuchtender Freude willlommen 
zu beißen. Eine Welle, die emporträgt, wie der Krieg, gibt es in 
unferm Leben nicht, fagte er. Sie find glüdlich, daß Sie ſich ihr 
anvertrauen können. Sie kann audy in den Abgrund ziehn; jedoch) 
es können und follen ja nicht alle Bäume ftehn bleiben, der 
Boden und der Heine Nachwuchs wollen auch Sonne haben. Ich 
freue mic) ganz bejonderg, daß fi) die jüngften aus unjrer Mitte 
tatbereit zeigen, die jogenannten unteifen Elemente, die noch 
nicht die Erfahrung haben, die zur völligen Stumpfheit erfordert 
wird. Wir Alten allein find zu bedauern, die im fichern Neſt 
daheim bleiben. Was einmal dageweſen ijt, Tehrt nie wieder. 
Die Welt iſt ein Strom, der ewig abwärts fließt. Machen wir 
uns bereit, abzutreten, wenn unſre Beit um ift, und hegen wir 
nicht den vergeblichen Wunſch, wiederzulommen. In folder Er- 
fenntnis Dürfen mir auch nicht wünichen, daß die Jugend ebenjo 
ſei wie mir. 

Spät am Abend trat mein Kamerad, mit dem ich am Tage 
vorher vom Feldberg herabgeftiegen war, in mein Bimmer. 

Laß und ein paar Schritte ind Freie tun. Ich bin ganz 
betäubt von Reden und Hören, und müd vom Bujammennehmen 
aller Kräfte und Sinne. Aber dad Schlimmite liegt hinter uns. 
Wir find marjchfertig, morgen früh um fünf ftehn wir am Bahn- 
hof, um acht Uhr beziehn wir dad neue Duartier in den Kaſe⸗ 
matten von R. 

Wir fliegen die Landitraße binan, die glei” neben der 
Stadt in einen Rajtanienwald führt, verließen fie in halber Höhe 
und traten in ein tiefbeichattete Rund, deſſen Mitte ein alter 
fteinerner Tiſch einnahm. Manchen Abend hatten wir an diejer 
Stelle gejeffen, wohin nur noch in vereinzelten Tönen die Lebens⸗ 
laute der Stadt drangen, die viel ferner zu ſein fchien, als 
fie in Wirklichkeit war. Hier war vielerlei bejprocdhen, manches 
Geſpräch auch bis zu feinem lebten Ende geführt, mander Ent- 
ſchluß gefaßt worden. Pläne zu wiſſenſchaftlichen Arbeiten waren 
bier erjonnen, Bücher hier ausgedacht worden. Wie weit lag das 
alles nun Hinter ung! Kein Ton aus diefer Beit drang herüber, 
die legten vierundzwanzig Stunden batten alle verwandelt. 

Wir faßen jchweigend einander gegenüber, der eine fühlte 
in und mit dem andern, Worte, die ausiprechen wollten, was 
wir empfanden, gab ed nicht, fie wären doch profan gewejen. 
Ich fühlte wieder, was mir in höchſten Momenten unſers gemein- 


126 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 





famen Lebens bewußt geworden war: die alle Heinen Unter⸗ 
ſchiede auglöfchende Seeleneinheit ftandhafter Freundſchaft. Ich 
hätte nichts angeben können, was ich für mid) dachte oder wünſchte. 
Die Überzeugung, daß er wolle, was ich wollte, und id, mas 
er, ließ überhaupt feinen Sondergebanten auflommen. 

Als wir uns erhoben, war die Straße blau vom Mond⸗ 
licht, die Bäume wiegten fich ſchwarz über dem blaumweißlichen 
Band, die Gebüfche Ichloffen es feit auf beiden Seiten ein. Die 
Stimmung war fremdartig und behaglich. 

But, daß es foldde Stellen in ber Welt gibt, diefe Hier 
wird mir vielleiht mandmal wohltun, wenn ich draußen ihrer 
gedente. 
Ich blieb ftehn, mo Lichter heraufihauten, und der dunkle 
Streifen eined Turmes in der Luft erzitterte.e Auch ih will 
dieſes Bild mit Hinaustragen. Die überrheiniiche Ratur wird 
vielleicht noch Schöneres bieten, aber wieviele Erinnerungen um⸗ 
ranfen dieſes. Laß mich noch einen Augenblick betrachten. 

Du gehft aljo mit? 

Natürlich, gleich morgen früh jahre ih nah T. und 
melde mid). 

Das ift gut. Eigentlich ift es jelbftverftändlich, daß du mit» 
gehit. Mache nur, dag wir mindeftens in dasſelbe Bataillon 
lommen. 

Sch fürdhte, ich komme zu ſpät hinaus. Denke dir, was 
es heißt, die Elemente de Soldatentumd von unten an zu 
lernen. 

In der Stadt waren die patriotilchden Töne verklungen, 
in den Gärten war es dunkel, die Mufilanten waren nad) Hauje 
gegangen, und die Sänger hatten, wenn fie es nicht ebenjo ge⸗ 
macht Hatten, ihre Töne auf Geſprächshöhe herabgeftimmt. Nur 
die langen Lolomotivpfiffe von der Eiſenbahnſeite mochten mit 
den großen Dingen zujammenhängen, die heute nicht fchlafen 


gingen. 

Es wird jeßt ftill wie alle Tage, fagte mein Freund, und 
Doch ift e8 fo ganz anders als alle Tage. Wir gehn zur Ruhe 
und fchlafen vielleicht auch ein, aber die Dinge außer uns find in 
Bewegung, und wer kann jagen, wann diefe Bewegung endet? 

Abſtralt gejprochen: gar nicht, wenn nicht etwa beide Völker, 
die die Sache zumächft angeht, fterben, was nicht zu erwarten ill. 
Was geitern und ehegeitern begann, hat ein Morgen, das niemand 
erihauen fann. Es wird in ganz kurzer Zeit eine Lawine von 


1. Die Gewitterfchwüle 127 


Ereigniffen fein, in der eine Bewegung die andre hervorruft, und 
no in Sahrhunderten wird es nachdonnern. 

Se ftiller e8 mit ſinkender Nacht geworden ijt, deſto beftimmter 
vernehme ich in mir ſelbſt Akkorde. Als ob ſich zu gewaltigen 
Tonmaſſen kleine und vereinzelte Laute vereinigten, die früher um 
und verfchwebten, num aber dem Taktſtock eines mächtigen Welten⸗ 
fapellmeifter8 folgend in herrlidhen Melodien dahinwallen. 

Sa, ich höre auch etwas raufchen, das muß Die Zeit jein 
oder das Schidjal. Zeit ift ja Schidjal, meint irgendein indijcher 
Philoſoph. Zum erftenmal höre ich diefen gewaltigen Ton. Mir 
tommt e3 vor, als hätten wir bißher in einem jtillen Nebenarm 
gelebt, durch den der angeihwollne Strom nun feinen braufenden 
Weg nimmt. 

Der Menſch trägt ahnungslos fein Schidjal mit fich, es lenkt 
ihn auf allen Wegen, es belauert ihn auch, wo er weit von dem 
beftimmten Ziele abjchweift. 


* * 
* 


In meiner Kleinen Heimatftadt war alles jo viel friedlicher,. 
da kamen die Nachrichten fo ſpät und jo langſam, durch dieſe 
Blätter ging es nur wie leife8 Rauschen; das Braufen des 
Sturmwindes hörten nur die, die es im eignen Innern fühlten, 
body oben in der Luft drüber weggehn. Ich Hatte mirs ganz 
anderd vorgeftellt. Diefe Handwerker, Krämer und Kleinbeamten 
hatten nicht viel zu fürchten, oder fie glaubten e8 in ihrem be- 
ſchränkten Optimismus. Auf den Feldern arbeiteten die Leute 
raſtlos aber ftill. Sie hielten den Krieg für näher, als er war. 
Konnten nicht morgen die Franzofen da fein? Ob die goldne 
Frucht in den Scheunen jicherer ftehe als unter Gottes Himmel, 
fragte die bange Sorge nidtt. 

In meinem Vaterhauſe berrichte diefelde Stimmung. „Sic 
nur nit aus dem Geleis werfen laflen,” war der Sprud) 
meines Baterd. Ihm mißfiel mein Entihluß, unter die Soldaten 
zu gehn; da fich aber mein Leben ſchon feit Jahren fein felb- 
ſtaͤndiges Bett gegraben hatte, mißbilligte er ihn nicht mir gegen- 
über. Du bandelft auf deine Verantwortung. Haſt du aber 
auch daran gedacht, daß du als Krüppel zurüdlehren kannſt? 
Bri nicht alle Brüden Hinter dir ab! 

Obgleich ic; etwas Unbelanntem entgegenging, und inter 
mir im tiefften Schmerz; meine Eltern ließ, erfüllte mich doch 


128 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 





eine eigentümliche Freude, wie ich fie noch nie empfunden hatte; 
ed jchien mir, als fei mein ganzes Weſen, Geift und Leib, von 
diefer Freude ergriffen und durchdrungen von dem Yugenblid 
an, two ich mich entichlofien hatte, mein ganzes Ich einzujeben. 
Bei Licht betrachtet, Hatte ich viel aufgegeben und wußte nicht, 
wie fi meine Zukunft geftalten jollte. Aber ich war einig mit 
mir feldft. Kein Bedenken trübte die Klarheit der innern Er⸗ 
kenntnis deſſen, wa8 der Augenblid gebot. 

Auf uns, die wir in einer Gedankenwelt gelebt Hatten, in 
der es feine Unterfchiede der Völker uud der Staaten gibt, wirkten 
bie Ausbrüche des überwallenden Stammesgefühld, wie alles, 
was im Grunde egoiftifh und beſchränkt ift, abſtoßend. Wir 
Hatten die menjchheitlichen Regungen als die edeliten ſchätzen gelernt, 
und diejer Völkerhaß, der fich ſchrankenlos äußerte, ſchien unire 
Ideale wie eine trübe Ylut zu umtojen. In einer der großen 
Verſammlungen, in denen die hinausziehenden Kämpfer ver- 
abichiedet wurden, hörten wir einen unjrer größten Gelehrten 
eine Rede reden, deren Säbe an einen zum Schwindel geneigten 
erinnerten, der einen ſchmalen Steg zuerjt mit Vorſicht langſam 
paffiert und mit einigen Sprüngen endigt. Cine gute Bolls- 
rede muß jo fein, daß jeder, der fie Hört, glauben muß, daß er 
fie felber Hätte halten können. Das Boll muß ſich darin 
Iprechen hören. Ich Habe in diefen Zagen viel ftanımeln und 
doch, in diefem Sinne, nie beſſer ſprechen bören. 

Auf die Kälteften und Widermilligften wirkte die große 
Einheit und Klarheit im Wollen und Streben der Maſſe. Eine 
Vollsbewegung, in der die Maſſe nichts Dummes tut, wie ihre 
Neigung ift, jondern den Winken eines genialen Staatsmannes 
mit der ganzen Inbrunſt folgt, deren die Volksſeele fähig iſt, 
imponierte nicht bloß den „Achtundvierzigern,“ die ganz andre 
Vollsbemegungen gefehen hatten. Hier war in ber Tat eine 
elementare Kraft an der Arbeit. 

Über die große Erregung des Augenblids hinaus lag das 
weit über den Geſichtskreis diejer bewegten Tage hinausziehende 
Gefühl, an großen Taten, auch an großen Gefahren teil zu 
haben, und die Aufforderung, die daraus an jeden erging, für 
beides Die beiten Kräfte bereit zu halten. 

Die patriotifchen Gejänge, die wir jo oft aus einem ums 
beftimmten Drange nad) hoben Gefühlen angeftimmt hatten, 
waren mit einem Schlage Wirklichkeit getvorden. „Der Gott, 
der Eifen wachen ließ, der wollte feine Knechte,“ das fühlten 


1. Die Gewitterſchwüle 129 


wir ja fo tief, und darum eben handelte es fich, dieſes Gefühl 
nun in die Tat umzufegen. Und wie war heute das andre 
Lied zur Tat geworden: „Das Volk fteht auf, der Sturm bricht 
108, wer legt noch die Hände jebt feig in den Schoß?“ Die 
Worte famen uns jo ſchal vor, fie welkten ab, die Frucht der 
Tat war in diefen Sturmtagen unverſehens gereif. Es wäre 
jedem trivial vorgefommen, nun nod den alten Sang zu wieder⸗ 
holen. 

Ich babe Heute früh in der Kirche das Wort vernommen: 
Mit Gott wollen wir Taten tun. Ich habe es mir tief einge- 
prägt. Es ijt gut, aus den Worten herauszukommen, fid) auf Taten 
wenigiten® vorzubereiten. Es wird zuviel des Nedend. Der Sturm, 
der die Volkstiefen aufwühlte, ift matt geworden von den vielen 
Worten und dem vielen Gedrudten, daß er aufwehte, er ſcheint in 
eine gewöhnliche Briſe abzuflauen.. Das ift gut für bie, Die 
daheim bleiben. Wir aber wollen etwad von feiner Kraft mit- 
nehmen. Darum hinaus! 


Br 


Ratzel, Blüddinjeln und Zräume 9 





2. Beim Erfat 


Am ... Juli gemeldet, ärztlid) unterſucht, troß aufge: 
ſchoſſenem Wuchſe brauchbar befunden, wegen der Größe foger 
belobt und als „ein guter dritter Flügelmann“ qualifiziert, den 
Tag darauf in ftarker und lauter Gejellichaft von Kriegsfreiwilligen 
dem Heinen Städtchen im öftlihen Baden zugedampft, wo bie 
Erfaßtruppen ausgebildet wurden. Unteroffiziere begleiteten uns. 
Wie gern gehordhte man. Viele von und gehordhten zum erften- 
mal wieder feit ihrer Knabenzeit. Wie wohltuend ift, was den 
Strom des Leben? dämmt! Wie groß war umire erfte Freude 
an der Unterordnung im Soldatenftand! Du haft jo lange frei 
in der Luft und im Licht geftanden, angeftrahlt und angeweht, 
nun haft du Neben, Vorder⸗ und Hintermänner, bift ein Glied 
in einem Ganzen und fiebft nur noch nahe. Daß der fteife 
rote Kragen des Waffenrocks troß der Elaftizität der ſtachelnden 
Roßhaarkrawatte den Hals einengt, und daß die fteifen roten. 
Armelvorftöße die Knöchel in auffallender Breite über der Hand 
hervortreten ließen, änderte nicht? daran, daß dies des Königs 
Nod war. Und ebenjowenig vermochte dad freidige Blau ab- 
geriebner Nähte und die allgemeine Grobheit des Uniformtuches 
das Gefühl herabzufegen, daß wir mit ihm einen neuen Menjchen 
mit neuen Pflichten und Aufgaben angezogen hatten, und ein 
entfprechendes Können fchien fich troß der lächerlichen Verſtöße 
der eriten Exerzierftunde wie junges Selbftvertrauen zu regen. 
Darüber, daß da8 plumpe ſchwere Safchinenmeffer, dad allein 
ſechs Pfund wog, ein ausgemacht unpraktiiche® Inftrument jei, 
beftand bei uns fein Zweifel; aber indem wir, mit ihm gegürtet, 
den erften Gang über den Bereich der Kajerne antraten, fchien 
ed, indem es mit jedem Schritt an die Waden anſchlug, fagen 
zu wollen: Du gebft nicht mehr allein, du wirft mich von nun 
an mit dir tragen bei Tag und bei Nacht, und ich werde Dich 


2. Beim Erfat 131 
wie ein treuer Freund ſchützen. „Du Schwert an meiner Linfen“ 
tönte e8 im Ohre des jungen Rekruten. 

Denfelben Tag noch war Eidegleiftung, wozu die drei Ab- 
teilungen auf dem Ererzierplag zujammentraten. Die kraftvollen 
furzen Worte des Major und die draſtiſche Militärmuftl, deren 
Ehoräle einen „herumriſſen,“ machten einen mächtigen Eindrud. 
Die Heereögliederung, gebaut auf Glauben an die Macht des 
Kriegsherrn und Gehorjan gegen die Vorgejehten, beide befräftigt 
durch einen religiöfen Eidſchwur, hat etwas, das an die katho— 
Liiche Kirche erinnert. Der Soldat gehört von jet an nur dem 
Heer. Die Treue dem Fahnenſchwur ift auf der andern Seite 
die Vorausfegung der BZuverläffigfeit de Soldaten bon oben 
bis unten. Nur fo iſt der „richtige Kerl“ möglid. Und zwar 
fchweigende, weil felbftverjtändliche Treue. Schweigen und Ge- 
horchen ift die Lofung für alle bis auf die Höchjiten, die zu 
feiten haben. Moltke durfte nicht ſchweigen, Werder auch nicht 
in jedem Fall. Mit Schweigen und Gehordhen kommt man 
jedenfall3 weiter ald mit Honneur et Patrie; dieſes Tlingt zwar 
angenehmer, ift aber in Wirklichkeit nicht viel wert, denn es ift 
fein Gebot, Teine Forderung darin. Wir empfingen die Waffen 
und die neben ihnen wichtigſten Ausrüftungsgegenftände, Zornifter 
und Batrontafhen, und fühlten und fat erdrüdt von der 
Menge neuen Beſitzes. Nur wenige kannten die Bedeutung alles 
beflen, was uns da übergeben wurde. Wer wußte etwas von 
der Raumnabel und ber Gewehrbürfte? Daran, daß wir dies 
alles viele Monate in der Welt berumtragen würden, dachte 
damals niemand. Und doc welches Gewicht trugen wir! Der 
mit jechzig Pfund beladne Infanterift gehört ſchon heute vermöge 
des leichtern Gewehrs und Faſchinenmeſſers der Vergangenheit an, 
in die fih der moderne Soldat nicht mehr hineindenten kann. 
Der Torntiter fit troß feiner Schwere doch nach dem Gewehr 
der wichtigfte Ausrüſtungsgegenſtand. Man nennt ihn verächtlich 
„Aff,“ Hat ihn aber doch recht gern. XTrägt er doch eine ganze 
Habe: den Kefiel, den eifernen Beſtand — Weiß, Kaffee und 
Salz —, die Nejervemunition. Wie oft hat man den müden 
Kopf darauf zur Ruh gelegt. Und endlich entfteht doch immer 
eine Art von zärtlihem Verhältnis zwilchen dem Träger und 
feiner Laft. 

In den hohen gewölbten Gängen des alten Gebäudes glänzten 
die Langen Reihen der Gewehre, die nad) der Nummer aufgehängt 
. waren, fodaß man fie im Dunkeln finden konnte, in den Schlaf- 
9* 


132 Bilder aus dem Kriege mit Sranfreid 


jälen ftanden die Pritſchen paarweiſe mit den jpreugefüllten 
Schlaffäden und den bei Tage gerollten Deden, und über jeder 
ftand auf rohem Brett der Tornifter und was jeder an Hab» 
feligfeiten aufzuftellen Hatte. Zu jeder Zeit des Tages waren 
Gänge und Treppen von Uniformen belebt, und aus dem großen 
Hofe, den ein altes Lanzengitter abſchloß, Hangen die Signale. 
Das Wort Kaferne hat einen übeln Klang, und doch wurde e8 
draußen im Felde mit einer gewiflen Sehnſucht ausgeiprochen, 
wenn wir uns an die fchönen Zeiten erinnerten, wo wir als 
angehende Kriegsleute unfre erften Anleitungen dort empfangen 
hatten. Den Schlagſchatten diejer Erinnerung liefert die Luft im 
Schlafſaal, defien Fenfter auch in den heißen Sulinächten nicht 
geöffnet werden durften, wenn der Unteroffizier in der Laune 
var, fid) vor Zug zu fürchten. 

Ich babe noch nicht von dem Kommandanten unfrer Erſatz⸗ 
abteilung gejprocdyen, dem Major Bofle, den ich freilic) bis zum 
Tag vor dem Abmarſch ind Feld immer nur von weiten gejehen 
hatte. In feinen Mienen lag eine hohe aber enge Gefinnung, 
aus der alles ausgeſchloſſen war, was das Leben breit und heiter 
macht: Humor, Ironie waren ihm geile Triebe. Einer, der ihn 
länger Tannte, fagte: Boffe ift auf einem fteinigen led gewachſen, 
wo es nicht viel Grünes gibt. Allerdings erinnerte feine hohe, 
Ichmale Geftalt an Pflanzen, die hauptſächlich aus Stengel be= 
jtehn. Wenn er vor die Kompagnie trat, merkte man an dem 
Blide, den er die Reihen entlang fandte, wie zumider ihm alles 
war, was irgendivie herbortrat. Er verfinfterte fi) jchon, mo 
er auf eine Naje ftieß, die nad, feiner Auffaſſung zu weit 
hervortrat: „Diejes Vogelgeficyt verdirbt nıir die Front.” Immer 
jaß irgendein Helm nicht gerade genug, oder war eine Krawatte zu 
wenig oder zu viel über dem roten Kragen fihtbar. Zwei Singer 
der rechten Hand zwiſchen dem zweiten und dem dritten Knopf 
der Uniform, die linke auf dem Säbel, den er ſich pallaichartig 
gerade ausgejucht Hatte, fo ftand der Major halbe Stunden lang 
ferzengerade dor der Front und verzog feine Miene. Die Worte 
famen ſpärlich und wie gequeticht aus feinem Munde, trafen aber 
immer irgendwie ind Schwarze, denn da er den Dienjt gründlich 
fannte, entging ihm Teine Abweichung vom Reglement, auch wenn 
fie laum merklich war. Gerade für uns, die wir geneigt waren, 
weniger bedeutendes nebenfächlich zu behandeln, war er ein vor⸗ 
züglicher Lehrer. Yreilich hatte der Offizier in ihm den Menſchen 
faft aufgezehrt. Der Baun des Offizierkorps hat in den obern 


2. Beim Erfaß 133 


Rängen manchen dürren Aſt. Es ijt ein alter Baum. Ein 
Leben lang vom Ehrgeiz leben, trodnet da8 Herz aus. Boſſe 
war aber nicht troden im Militäriichen, jondern daß Leben felbft. 
Kameraden von mir, die zu Offizieren befördert ihm dienftlich 
näher traten, bewunderten feine Arbeitäleiftung, haben aber frei- 
ih außer Dienft niemals ein Geſpräch von ihm gehört. Als 
Kommandant auf einer der wichtigften Etappenftationen im Elſaß 
hat er ſich Verdienſte erworben, die das auf ihn gemüngzte 
Schlagwort: „Auf Kriegsbauer außgegrabnes Foſſil“ beichämten. 
Er gehörte zu der nicht Heinen Zahl von Offizieren a. D., die, 
im Sriedenddienft abgewelkt, durch den Krieg erft in die Lage 
famen, ihre Züchtigfeit zu zeigen, und ein rühmliches Nachgrünen 
erlebten. Boſſe war eine von den Naturen, die das Leben ver- 
brauchen muß, ſoll nicht die Ruhe fie töten. 

Nun beißt e8, allem dem, was wir feit Jahren gelernt und 
geübt Haben, die praftiiche Spite und Schneide geben; das wird 
ſchwer halten. Kannſt du mit deinen Würmern etwas anfangen? 
Und was tue id mit meiner Afthetif? Ich fürchte, wir werben 
das ruhig in dieſelbe Kifte paden und abjchließen, in die unjer 
äußerer Zivilmenſch, unſre Bücher und unfer Papier für un- 
beitimmte Zeit verichwinden müſſen. Sa, ich jehe ein. Das 
Baterland braucht einftweilen nichts als unſre nadten Körper; 
fo wie wir vor den StabSarzt bintreten, jo will man und: Beine 
zum Marſchieren und Arme zum Schießen und Schlagen, ben 
Leib, der beide zufammenhält, und den Kopf mit richtigen Sinnen, 
mehr verlangt man nicht; aber diejeß wenige will gut geübt und 
imftand gehalten fein. Was mid) betrifft, jo würde ich mid 
mit dem Wechſel der Beſchäftigung aud) dann einverstanden er- 
flären, wenn ich etwas Dazu zu fagen hätte. Aber das finde ich 
ja gerade das Wohltätige, daß das gar nicht möglich ift. Freund, 
das Schidjal, dad uns unfer 208 jo vom blauen Himmel herab 
binwirft, ift Doch etwa Wundervolled. AU mein Wollen und 
Streben, mein ſcharfes Hinfehen auf dag Ziel, mein Denken an 
ben Wettbewerb der andern ift von mir genommen, ich fühle mich 
ungeheuer frei, wie ichs nie gemwefen bin, indem ich das Joch des 
gemeinen Kommißfoldaten auf mid) nehme. 

IH babe mid mit Schattene und Spiegelbildern begnügt, 
wie anders ijt das lebendige Weſen und Wirken. Ich wirke einft- 
weilen nicht, ich werde gewirkt, aber ih fühle, daß ich zur Maſſe 
gehöre, mit der zufammen ich ein ficheres Gewicht übe. Und 
dieſes Bewußtſein, irgendwo jeft zu ftehn und eine Spur zu 


134 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


Iaffen, auch wenn fie nur eine unter vielen ift, das macht Doch 
den eigentlichen Mann aus. Wenn ich bedenke, daß es in diefen 
Tagen Hunderttaufenden fo gebt, jo kommt mir diefe Zeit wie 
ein großes Felt der Manneöweihe vor. Hunderttaujend Einzels 
männer werden in die Mafje hineingeſchmiedet und werden als 
befiere gebärtet Hervorgehn, nachdem daS Feuer diejer Tage fie 
durchglüht haben wird. 

Jetzt kommt gerade dieje Art von Gedächtnis ind Spiel, 
die wir nicht geübt haben: Sachen, Lokalitäten wollen feftgehalten 
fein. Was nübt da das Namen⸗ und Zahlengedächtnig? Bou⸗ 
vienne jagt, Napoleon babe fein Gedächtnis für Eigennamen, 
Wörter und Daten gehabt, dagegen Tatfachen und Urtlichkeiten, 
die er einmal gejeben habe, babe er nie vergefjen. „Die er einmal 
gejeben habe,“ das ift die Hauptſache daran. Was ich gejehen 
babe, ijt mein Eigentum, was ich gelejen babe, ijt nur geliehen. 
Soweit ich mit Selbftgejehenem, d. i. Selbfterfahrnem arbeite, 
bin ich original. Wörter und Zahlen lernen, ift das Geichäft 
eined Wiederfäuers. 

Reisſske holte aus feinem Gedächmis die Erinnerung an 
Napoleond durchdringenden Blid. irgendein Jugendgenoſſe 
fchildert jein Geſicht in der Zeit der italieniichen Feldzüge, das 
ganz auf den Ausdrud der Augen reduziert gewejen fei, bie 
durchdringend und willensfräftig geblidt hätten. Napoleon jelbft 
bat jih noch auf St. Helena dankbar an Korfilas Täler und 
ſcharfgeſchnittne Berge erinnert, die feine Augen früh geihärft 
Hätten. Das Sehen im Dunkeln ift auch eine Soldatentugend. 
Der Soldat Tann nicht immer mit der Laterne wandern, er 
darf es zeitweilig nicht einmal. Weſſen Auge das Dunkel 
einer ſchwarzen Regennacht durchdringt, dem find manche ſchmerz⸗ 
lihe Stürze, Quetſchungen, Schärfungen erſpart. Er wandert 
nicht mit dem Bauche in eine Wagendeichjel und ftürzt nicht 
über einen fchlafenden Ochfen. Was im Handeln eines Menſchen 
ftraffe Zweckmaͤßigkeit ift, wirkt ebenfo als eine Schönheit wie 
jede volllommme Erfüllung eines Gefäßes durch feinen Inhalt. 
Die Haut, die der Muskulatur feit anliegt, die Rinde der Buche, 
die ohne Riſſe und Auswüchſe den Stamm umgibt, als ſei fie 
mit ifm aus einem Stahlblod gejchmiedet, das find Bilder, 
deren Eindrud id) in dem Handeln des Mannes wieberfinde, 
dad ohne Umfchweife daS Rechte erzielt, befonder8 ohne viel 
Neden, da8 deu ftarlen Stamm des Willen? zur Tat oft efeu⸗ 
artig überwuchert und erſtickt. Das Wlter bildet den Stamm 


2. Beim Erfah 135 


— —— 


immer einfacher und kräftiger aus, und jo wächſt mit den Jahren 
die Schönheit der Handlungen der Menſchen, die zu Handeln 
wiſſen. Große Stantd- und Kriegsmänner find deshalb im 
höchſten Alter oft jchöner als in der Jugend, wo fie noch nicht 
wußten, welcher Alt fi zum Stamm auswachſen werde. 

Was iſts, daß eine Truppe kriegstüchtig macht? Die Be- 
waffnung? Nein! Die Franzoſen Haben in ihren Chaſſepots 
weitertragende Gewehre als die Bünbnabel gehabt, und ihre 
Chaſſepots waren dabei leichter, und ſie haben doch nicht wider⸗ 
ftanden. 

Das Kommando, die Führung? Nein! Davon hängt wohl 
der Erfolg in großen Treffen ab, aber die Truppe muß aud) 
tüchtig bleiben, wenn fie feinen Erfolg hat, und jede Kompagnie 
muß Diejelbe Tüchtigleit zeigen, ob fie auch alle Offiziere ver- 
loren habe. 

Es ift die Disziplin. Jeder muß jedem Befehl aufs ge⸗ 
nauefte und fofort Folge leiften, er darf ſich nicht einmal be 
finnen, fo wenig wie er ſich über eine Wendung oder einen 
Griff befinnt. Einer wie der andre, und einer mit dem andern; 
wenn es fo geht, daß die Kompagnie wie ein Mann exerziert, 
dann würden aud) ihre 250 Mann wie einer jchießen, vor: 
gehn umd fiegen. Das iſt Kriegstüchtigkeit. Und darin liegt aud) 
dad Geheimnis, warum ed im Soldatenleben feine „Nebenfachen“ 
gibt. Das beftändige Puben und Yliden erhielt und tätig und 
fteigerte in jede® Mannes Auge feinen eignen Wert und den 
Wert des Soldatenjtandes. In dem bei Vorgeſetzten beliebten 
Wort „Der Dann hält was auf ſich“ Liegt ein großer päda- 
gogiſcher Grundſatz. 

In den ſeltenen Fällen, wo der Soldat Zeit und Gelegen⸗ 
beit Hatte, Uniform und Ausrüſtung aufzufriichen und einen 
Parademarſch, fei es auch in der Dorfftraße, auszuführen, fuhr 
der Geiſt des Ererzierplaßes in ihn. Nur die Trägften blieben 
dann zurüd. Wer die Erfahrung Hätte, welche Freude ber 
Mann an einem gut ausgeführten Marfch hat, würde den viel- 
veripotteten Barademarjch anders beurteilen. Mit der Marſchier⸗ 
fähigkeit hängt eng die Manövrierfähigkeit zuſammen. Und dieſe 
ift nichts weniger als eine bejonderd wichtige Anwendung der 
Kriegstüchtigleit auf die Bedürfniſſe des Schlachtenkriegs. Ahr 
liegt zugrunde der möglichft enge Zulammenhalt der Einheiten 
von der Sektion aufwärts, die ſich immer von jelbft wieder- 
berftellen, zufammenfinden müflen, wie auch der Marich, bie 


136 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


Schlacht, beſonders aber der Rüdzug, fie durcheinandergeworfen 
haben mögen. Ohne Marſchfähigkeit feine Manöver im großen 
Stil, wie z. B. die große Rechtsſchwenkung Ende Auguft. Sagt, 
was ihr wollt, die Härte kann ſchön fein und ift e8 auch fehr 
oft, die WVeichheit ijt immer haͤßlich. Die Nachgiebigkeit, die 
Empfindlichkeit, da8 Schwanfen find abjolut Häfliche Dinge. So 
wie du gern die gerade Linie des Horizonts fiehft oder auch 
die leichtiwellige, die von leichter Beweglichkeit ſpricht, fo ift der 
Wille, der gerade durchgeht, ſchön; es ſchadet nichts, wenn die 
leifen Schwankungen darin find, ohne die man fi) daß Leben 
nicht denken kann, aber unerfreulich wirken ſtarke Hebumgen und 
Senkungen hart nebeneinander. 

Eine Hauptſache war: Keine Eile, werm fie nicht befohlen 
wird. Ruhig avancieren, und wenn es dad Schidfal will, ebenfo 
rubig unter gründlidher Benutzung jeder Dedung retirieren. Dabei 
das ſcharffte Augenmert auf die Waffe haben. Keine Patrone 
jo verloren gehn, geichweige denn ein Gewehr. Gern wieber- 
bolte der Sergeant die Geſchichte, die er 1866 mit angejeben 
batte, wie ein verfolgter Dragoner, dem das Pferd erichofien 
war, Laltblütig feinen Karabiner vom Sattel ſchnallte und nad) 
Abgabe eines einzigen wohlgezielten Schuſſes auf jeine Ver⸗ 
folger fi unbeichäbigt zu den Seinen zurüdzog. Verjäumt 
feine Gelegenheit, die gut ift, dem Feinde eins auf den Pelz zu 
brennen. 

Wir fehen nicht über die nächſte Stunde, was Tommen 
wird, und unjre Erfahrung macht Halt bei den Doppelpoften 
unfer® Kantonnements. Wirklich, ganz nur Werkzeug! Was 
wäre diefe Mafchine ohne Vertrauen? Nur Vertrauen ift die 
Brüde zwifchen dem Feldheren oben und dem letzten Wachtpoſten 
unten. Eine Truppe Tann von Ratloſigkeit überfallen werden, 
daß fie nicht aus noch ein weiß, aber es ift dann immer nod) 
ein Weg zu finden. Mangel an Vertrauen ift eine Herzkrankheit, 
die den imern Organismus der Truppe fo lange ſchwächt, bis 
Berzweiflung an allem entfteht. Das Ende der Vertrauenslofig- 
feit ift der Zuſammenbruch: eine Herde, von den böfen Geiſtern 
des Ungehorfamd und der Furcht außeinandergetrieben. 

In den reifen, denen ich bisher angehört Batte, war ber 
Einzelne alles, eine Gemeinichaft gab e8 im wahren Sinne nidtt, 
der ®ert de8 Mannes lag in feinen befondem Gaben, die er 
darum auch bis zum Übermaß entwidelte. Umgekehrt fam num 
in der Kompagnie alles auf da8 Ganze an. Wer fi am beiten 


2. Beim Erſatz 137 





in die Sektion, den Zug, die Kompagnie einfügte, war ber 
brauchbarſte. Der Soldat ift fein kompliziertes Wefen, je ein- 
facher, deſto beſſer. Sein Vorgeſetzter beurteilt ihn nach wenigen 
hervortretenden Eigenfchaften, für Die eben das Ganze den Maß— 
tab abgibt: er jei gelund, unverdroſſen, gehorſam, entichloffen, 
im bejondern marſchfähig und ein guter Schüße. 

Der „theoretiſche Unterricht“ wurde unjrer Abteilung don 
einem jüngern Unteroffizier erteilt. Der Hörjaal mar eine Scheune. 
Weisheit von der unmittelbariten Verwendbarkeit wurde da ge- 
predigt. Auf einen mit erhobner Stimme vorgetragen Lehr- 
fa, wie: Die Ordnung und Die Sauberkeit jedes von den Hundert⸗ 
taufenden von NRädchen in dem großen Mechanismus find Die 
Vorausſetzung der Leiftungsfähigleit des Ganzen, folgten die An- 
wendungen auf das Gewehrputzen, den Glanz des Leberwerf3, 
die Inftandhaltung der Montur. Es wurde intereffanter, wenn 
der Vorpoftendienft zur Sprache fam und z.B. die Kennzeichen. 
der Nähe des Feindes aufgezählt wurden, zu Denen auch Die 
auffallende nächtliche Unruhe der Hunde in bejebten Dörfern 
gehörte. Verirrten Patrouillen wurde empfohlen, die Himmels⸗ 
rihtung bei dunkler Nacht in einem Walde durch Betaften der 
Bäume zu fuchen, die an der Weitfeite bemoofter zu fein pflegen. 
Kommt ein Soldat aus dem Bufanmenhang mit feinem Bug, 
jo ſchließt er ſich fofort der nächſten gejchlofjenen Abteilung an; 
vereinzelt zu bleiben ift ein großer Fehler, militärifch ganz un⸗ 
möglid. Das leuchtete und ohne weitere ein, und wer ein 
Gedächtnis für unfre Stunden hatte, erinnerte fich vielleicht an- 
geſichts der zahlloſen zerftreuten Gefangnen, die die Franzojen 
nad) jeden Treffen zurüdließen, an dieſe wichtige Lehre. 

Ich will aber nicht behaupten, daß wir im theoretifchen 
Unterridht jehr viel gelernt hätten. Der Unteroffizier, der ihn 
erteilte, war zu gutmütig. ch fehe ihn auf ber Deichiel eines 
Wagen? in der Hörfaal-Scheıme fitend, auf dem Wagen und 
um denjelben jein Auditorium zum Teil in ſehr bequemen Lagen, 
alle ohne Ausnahme todmüde von dem endlofen Exerzieren, 
Marichieren, Putzen uſw. Einige jchliefen immer einmal ein, 
andre fanden noch Beit, das Gehörte zu parodieren. Sch fand 
z. ®. folgenden Sat nicht übel: Auch Dummheit ift eine Gabe, 
die der Soldat nicht verachten darf; er muß fie nur recht an⸗ 
zuwenden wiſſen, doch nicht im Übermaß! 

Es murden kurze Aufllärungen über die Organtfation und 
die Untformierung der franzöfiichen Armee verteilt. Mündlich 


138 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


wurden wir über bie Fechtweiſe der Franzojen unterrichtet; als 
wir die uns gemadten Mitteilungen mit der Wirklichleit ver- 
gliden, merkten wir wohl, daß die Hauptſachen anders waren, 
denn von der Fernwirkung der Chafjepots wußte unfer Inſtruktor 
nicht8, er ſprach dagegen viel von dem faßenartigen, Ipringenden 
Vorgehen der Franzoſen, das dieſe jehr wenig geübt haben. Man 
merkte allen Mitteilungen ded Leutnantd die übertriebnen Bor- 
ftellungen von der franzöfiihen Taftif an, die feit 1859 in 
beutfchen Dffizierkreifen kurſierten. So weit war alſo doch das 
Studium der franzöfiihden Heereseinrichtungen in Deutſchland nicht 
vorgedrungen, daß man dieje weſentliche Stärke der Yranzofen 
richtig gefchäht hätte. Was wäre geworden, wenn die franzöjifche 
Artillerie in ihrer Art der unfern ebenjo überlegen geweſen wäre 
wie das Chaffepot der Zündnadel? 

Bon unjern Unteroffizieren lernte id) den jüngften und 
liebenstwürdigften ſchon auf der Fahrt zum Depot Tennen, auf 
der er fi) daß undergänglicde Verdienſt erwarb, uns die Ele- 
mente des Regimentspatriotismus, verkörpert im Regimentslied, 
zu lehren. In jenen Stunden, wo er unermüdlich das Lied vor⸗ 
fang, bis wir es innehatten, gab es für ihn nichts in der ganzen 
Belt über dem Regiment. Dad war und allen neu und inter- 
effant. Daß wir uns in dieſe Fleine Welt in kurzem fajt ebenfo 
eingelebt haben würden wie er, hätten wir nicht für möglich 
gehalten. Die Unteroffiziere, Die wir beinr Bataillon trafen, 
teilten wir fofort in alte und junge. Dieſe waren erft befördert 
worden, jene gehörten zum alten Eifen und blieben größtenteils 
im Depot zurüd. Unter den jüngern haben fid) einige im Felde 
ganz vorzüglich benommen. Bon andern gewann id) den Ein- 
drud, mander wäre ein beſſerer Menſch geweſen, wenn er ben 
bunten Rod nicht gehabt hätte, der ihn eitel und aus Eitelkeit 
großmanngjüchtig und überhebend, gelegentlich auch brutal machte. 
Ich babe einen von denen, die und gegenüber nie den richtigen 
Ton finden konnten, immer ins Kleinliche und Tölpiiche fielen, 
ſpäter aß Wirt im Odenwald wieder getroffen, wo er durch 
jein biedered, militärifch offnes und pünktliches Weſen den beiten 
Eindrud machte. Das Bejehlen, ſchon über eine Korporalichaft 
von zwanzig Mann, ijt eben eine Runft! Ein älterer Sergeant 
fagte einmal von einem etwas ftreberhaft auftretenden jüngern, 
der ſich auffallend raſch beflerte: Der Hauptmann fchält ſolche 
var wie eine Zwiebel, ber Unteroffizier N. wird noch Heiner 
wer 


2. Beim Erfag | 139 


Wie viele andre Paare, die ihrer Vereinigung noch ficher 
fein wollten, ehe ein ungewiſſes Kriegsgeſchick fie vielleicht aus⸗ 
einanderriß, hatte auch unfer Sergeant P. glei) am Xage der 
Mobilmahung den Pfarrer gebeten, ihn mit der Crforenen 
feineg Herzen? zu trauen. Da aber die Dinge fogar damals 
nicht jo vajch gingen wie die Wünjche der Menſchen, hatte Die 
Trauung erſt an dem Sie der Erjagtruppe geichehn können, 
und e8 war da von einem Honigmond nicht die Rede, nicht 
einmal bon einem freien Tage. Bon der Kirche in den Dienft 
war die Loſung des Neuvermählten. Die junge Gattin aber 
mochte bei allem Trennungsſchmerz froh fein, als fie durch Die 
Erlaubnis unjerd Kommandanten die Möglichkeit gewann, ſich 
mit einem Munitiondzug, der rheinwärts ging, aus dem Kriegs⸗ 
getümmel zurüdzuziehn. PB. wurde nod) lange mit Diefer Hoch⸗ 
zeitöreife genedt. Wer fi) einmal an die Waffen gewöhnt bat, 
mag aus mandherlei Gründen jagen: Schade, daß ed nicht mehr 
Kriege gibt. Ein Philifter, mer diefe Anficht überhaupt nicht 
für möglich hält oder fie als frivol in Bauſch und Bogen ver⸗ 
dammt! Darf ich nicht das Gefühl haben, daß wenn alle die ge 
wöhnlihen Werte des Lebens ringd um mid) finfen, mein un- 
verlierbarfted, mein „jelbfteftes Selbft,“ wie einmal Lenau e8 
nennt, um ebenfoviel fteigt? 


AT 002 





3. Ich hatt einen Kameraden 


Das Talent zur Freundſchaft, daß nicht in alle Herzen 
gelegt ift, feimt freilich in der Regel nur in Gleichgefinnten auf, 
die in ähnlicher Lebenslage find. Daß e8 aber fo fein müſſe, iſt 
eine von den trüben Philiftererinnerungen aus dem Niederichlag 
beichränkter Lebenserfahrung. Das find Meinungen nicht von 
den Dingen, wie fie find, jondern wie eine Anzahl von Menfchen 
behauptet, daß fie fein müßten. Wer bat nicht aus der Schul⸗ 
zeit glückliche Erfahrungen vom Gegenteil? Auch nicht einmal 
bloß zwiſchen armen und reichen, zwiſchen Dorf⸗ und Stadtlindern, 
fondern zwiſchen dummen und gefcheiten, böjen und guten Kante 
raden entwideln ſich echte Sreundichaften. Mich z0g es als Knaben 
zu den Schulfameraden aus reichen Häufern, weil id) da in eine 
andre Welt Hineinjah, die viel Schönes, Verlodendes zu haben 
ſchien, und e8 zog mid) noch ftärfer zu denen, deren Eltern arm 
waren; id) geftehe, daß der feuchtwarme Geruch einer Armlichen 
Stube, in der auf einem’ vierbeinigen Kochofen Kartoffeln fieben, 
während ein altes, freundliche Müttercjen auf erhöhten Platz 
am Heinen Fenfter näht, für mich noch viel mehr Anziehungskraft 
hatte als ein jchöner Salon voll Spielſachen. Ich habe biefen 
Duft nie vergefien, der mid) ebenfo narkotifierte wie die Luft 
eine® Treibhauſes oder eine tropifchen Urwaldes, womit jein 
Dunftreihtum verwandt ift. Noch viel mehr hat mid) fpäter der 
energifhe Kampf mit dem Leben begeiltert, den arme Mitichüler 
führten, Die fchon mit dreizehn Jahren andern Nachhilfeſtunden 
gaben, fein Tafchengeld hatten und fich ihre Bücher felbft einbanben; 
ich wollte mich ihnen mit Wärme anſchließen, fand aber nicht immer 
Gegenliebe. Wie jchön find die Yreundichaftsverhältnifie zwiſchen 
Bergfteigern und ihren Führern, Die tief wurzeln in dem gemein- 
jamen Beitehn großer Gefahren, der wechieljeitigen Hilfeleiftung, 
vielleicht in der Errettung aus Todesnot. Ahnliche Freundſchaften 


3. Ich hatt einen Kameraden 141 


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müßten zwilchen Offizieren und Soldaten entſtehn, müßten ſogar 
häufig fein, wenn nicht die militäriſche Ordnung Dazwilchenftüinde. 
Aber Leſſing bat den Wachtmeifter Paul Werner, der fi für 
feinen Major totichlagen läßt, nicht aus dem Nichts geichaffen; 
und daß diefer Major zu dem Wachtmeifter jagt: Ich erfenne 
dein Her; und deine Liebe zu mir, und daß er deſſen Freund- 
{haft zulegt neben Minnas Liebe für feinen größten Schaß erklärt, 
find feine Erfindungen. 

Majore wie Tellheim gibt es freilich nicht viele. Aber 
der lange ſchwere Ulan, den ich ſchwerverwundet von feinem 
Leutnant auf einem gerade daftehenden Karren aus dem Gefecht 
und Rugelregen an eine fichere Stelle fahren ſah, ſagte vielleicht 
eine Tages wie der rauhe Juſt: Machen Sie, was Sie wollen, 
Herr Major, ich bleibe bei Ihnen, ih muß bei Ihnen bleiben. 
Es gehört ungeheuer wenig von feiten eines Vorgeſetzten dazu, 
fi in den beſſern Elementen feiner Untergebnen — und das 
ift die Mehrzahl — anhängliche Leute zu erziehn, die ihm jeden 
Wunſch an den Augen abjehen und für ihn durchs Feuer gehn. 

Leichter bildet fih ja ein innigere Verhältnis zwifchen 
Kameraden, die in Reih und Glied nebeneinander marjdieren; 
Stand, Beſitz oder Bildung machen dabei feinen Unterjhied, denn 
in diejem Augenblide find fie demjelben Geſetz unterworfen, feflelt 
fie dieſelbe Disziplin und leitet ihr Denken und Tun dieſelbe 
Notwendigkeit der Ausdehnung aller perfünlichen Wünſche und 
Beitrebungen durch die Zugehörigkeit zu einer Maſſe von Männern 
gleihen Alters, gleihen Berufs und gleicher Pflichten. Ich möchte 
mich aber durchaus nicht darauf beichränfen, zu jagen, dag Leben 
in Reih und Glied jei der Freundſchaft günftig; es handelt ſich 
um etwas mehr. Ich babe erfahren, wie dieſes Leben die ewigen 
Grundlagen menſchlicher Gleichnatur im tiefften Grunde männlicher 
Seelen aufgräbt und Duellen erjchließt, die für gewöhnlich nur 
in engen Spalten mühſam tröpfeln oder riefeln. Not und Gefahr 
vereinigte entlegne Quelladern, und als ftarfer Strom, der großer 
Leitung fähig ift, traten fie zutage. Was alles ſich unter diejen 
Berhältniffen an Beziehungen von Menſch zu Menſch entwidelt, 
will ih gar nicht mit dem allgemeinen Namen Yreundicaft 
beden, denn es Spielt bier Achtung, Bewunderung, Nacheiferung, 
Schutz⸗ und Unlehnungsbedürfnis, kurz eine Reihe von elementaren 
Gefühlen hinein, deren gleicher Natur fich Die Menfchen in andern 
Lagen kaum jemals fo inne werden. Wann werden wir im 
bürgerlichen Leben und des Taltblütigen Mutes bewußt, der ohne 





142 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


un 


WBimperzuden dem Tode entgegengebt? Nun wohl, gerade auf 
dem Bewußtſein der Gemeinfamkeit diefer Eigenjchaft habe ich 
die fefteften Sreundichaften, die zum Opfer des Beften, was jeder 
batte, befähigten, entftehn jehen. Jede von ihnen Hat freilich der 
Tod ſehr früh gelöft, was man ja faft natürlich finden möchte, 
wenn man bedenkt, daß eben die Unkenntnis aller Todesfurdht 
ihr Ritt gewefen war. Was bedeutet aber die Beit in dem Leben 
großer Gefühle? Eine Blume, die nur eine Stunde geblüht 
bat, macht mich fo lange glüdlich, wie ihre Erinnerung in meiner 
Seele nicht verwellt, wie ihr Duft durch mein frohes Ge⸗ 
denken zieht. 


% * 
% 


Bon einer Erfapabteilung in einem fernen kleinen Städtchen 
einem Truppenteil vor Straßburg zugejandt, famen wir tief in 
der Nacht in einem Dorfe an, das feine andern Bewohner mehr 
als Soldaten und faft nicht mehr von feinen Häufern als bie 
Mauern und die Ziegeldädher Hatte: außgeleert und ausgebrannt. 
Die Ungaftlichkeit ſchaute ſogar in der Dunkeln Oftobernadht aus 
ben zerbrochnen Fenjtern, an denen die Läden herabhingen oder 
mit langen Hopfenftangen von unten zugejtemmt twaren, und den 
dunkeln Toren, vor denen ftatt der Türen, die in Straßengefechten 
eingetreten oder eingeichlagen worden waren, Bretter lehnten, in 
deren Toreingängen zerbrochne Wagen lagen, durch deren Giebel⸗ 
dächer zufällige, unregelmäßige Stüde bunlelblauer Luft mit 
Bruchftüden von Sternbildern hereinichauten. Bon Vorpoſten 
angerufen, von Patrouillen angehalten, von einem Duartierpoften 
zum andern geſchickt, fanden wir in irgendeiner entlegnen Scheune, 
deren Dad aus Sparren, Luft und wenig hängen gebliebnenr 
Ziegeln beftand, Die zweite Korporalidhaft der zweiten Kompagnie 
im tiefiten nachmitternächtlichen Schlummer. Kein Laut als ber 
regelmäßige Schritt des Duartierpoftens, und dann und wann 
da8 Ans und Abſchwellen des Schnarchens, daß der Soldat 
treffend Holzſägen nennt; durch den Eräftigen Rippenftoß eines 
ungebuldigen Nahbarjchläfer8 unterbrochen, endigt ed manchmal 
in einer im Traum berborgeftoßnen Verwünſchung, beginnt aber 
jehr bald wieder und fteigert ſich bis zu den höchiten Tönen. 
Mir klopft das Herz bei dem Gedanken, endlich mein Ziel er- 
reicht zu haben; in diefer Schläfer- und Schnarcherichar lag mein 
Freund Reiske, dem zuliebe ich es mit viel Mühe durchgeſetzt 


3. Ich hatt einen Kameraden 143 


——— — LEN EL — LET 


hatte, gerade in dieſes Regiment und auch gerade in dieſe Kom⸗ 
pagnie eingeftellt zu werden. Ob er eine Ahnung bat, ob er 
vielleicht träumt, daß ich jo nahe bin? Mein Herz Elopfte aber 
vielleicht auch nod) aus einem andern Grunde, denn mir entſank aller 
Mut bei dem Blick auf den Anhalt der Scheune; da lagen fie 
dichtgedrängt, die Mußfetiere, gleich neben der Tür ein Unter- 
offizier, der etwas Raum zwiſchen fi) und der Mannſchaft Hatte; 
diefe aber Dicht beifammen, die Köpfe gegen Die beiden Mauern, 
bie Beine in der Mitte gejchidt ineinander übergreifend, ſodaß 
fein Platzchen unbelegt blieb und bejonders fein Pfad dazwiſchen 
offen war. Was mar zu tun? Sid hineinwagen, um etwa 
ruhig bis zum Morgen auf einem Häufchen Stroh zu warten 
und zu jchlummern, dazu jchien Feine Ausſicht zu jein, wenn 
man nicht bei den erſten Schritten gleich ein paar Hände oder 
Füße zertreten wollte. Ich rufe aufs Geratewohl in den dunkeln 
Raum hinein: Sit der Musketier Reiske hier? Keine Antwort, 
als Stöhnen eines Leichtichläfers. Noch einmal: Musketier Reiske? 
Da eine Stimme: Was will da einer? eine andre Stimme: Maul 
halten! Die weckt wieder eine andre: Zeit zur Ablöfung! Auf! 
D weh, ſchon zwei Uhr? Da ruft einer Reiske; wer ift das? Sch, 
der Kriegöfreiwillige Mahler. Mahler, du? tönt e8 von ganz hinten 
her, das iſt Reiskes Stimme, ih halte mich nicht mehr, eile 
geftoßen und getreten und troß aller Eorgfalt bei jedem Tritt 
an und auf Körper und Gliedmaßen ftoßend und tretend durch 
da8 Gewirr von Armen und Beinen auf die Ede der Scheune 
zu, woher der vertraute Laut erfchollen war; doch ehe ich dahin 
fam, Hatte ein baumlanger Menſch mich beim erhobnen Bein 
gepadt, ſodaß ich, einbeinigen Stehens ungewohnt, auf den nädjiten 
fiel, der mid) mit hörbarem Fluch und Ruck weiter beförberte. 
Und fo lag ich meinem freund im Arm oder vielmehr auf dem 
Arm, denn dieſer war jchlaftrunten gerade im Begriff, fich zu 
ftreden, als id) auf ihn Halb rollte und Halb flog. Flüche und. 
Gelächter übertönten noch eine halbe Minute unfre Begrüßungs- 
worte, ein Raſcheln und Scharren durch das Zurechtrücken der 
geftörten Schläfer, die Stimme des Poſtens durch die Türöffnung: 
Ruhe, e8 iſt noch nicht eind, und dann wieder Die tiefe Ruhe 
wie vorher. 

Ich flüfterte meinem Freund und nunmehrigen Kompagnie- 
fameraden noch ein paar Botichaften zu, er teilte mir kurz die 
wichtigſten Daten aus dem derzeitigen Beftand der Kompagnie 
mit, und daß wir borausfichtlich in der Frühe um ſechs zur 


- 








144 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


Schanzarbeit antreten würden. So, jet leg Dich zwiſchen und 
hin, id) werde verjuchen, mich etwas tiefer in Die Mauer hinein- 
zudrüden, dein Nachbar links ift der gute Kamerad Haber, von dem 
du manches lernen wirft, was der Musketier heutzutage braucht. 

Diefer Nachbar ſchien ſchon gerüdt zu haben, ich fand nod) 
Raum genug, indem ich mid) auf die Schmaljeite à la Hering 
legte, und muß fofort in Schlaf verfunfen fein, hörte auch nicht, 
wie um zwei Uhr der Poften abgelöft wurde; als ich aber beim 
Zrühfonnenliht erwachte, war der Plab meine Nachbars zur 
Linken leer, und er ſchien vor feinem Weggang fein Lagerſtroh 
auf mich gelegt zu haben, denn ich fühlte mich in höchſt wohl- 
tuender Weije zugededt. 

Das war die erfte Liebe, mein Yreund Haber, die ich bon 
dir erfahren habe. Wie oft habe ich feitdem deinen Zartfinn 
erprobt. Du wirkteft nicht bloß, wie man guten rauen nach⸗ 
rühmt, von der Seite des Leibed auf den Gelft ein, indem du 
dich mit vieljeitig geſchickter Hand bald als Kleiderreiniger und 
Flijchneider, bald als Koch und Sellermeifter, bald ald Haus⸗ 
meijter, der für ein trocknes und warmes Lager jorgte, bald als 
Büchfenipanner verdient machteſt, der unmögliche Roſtflecken aus 
Gewehrläufen entfernte; du wußteft mit heiterm Sinn und mancher 
tieblihen Volksmelodie Mißflänge zu übertönen und betrübte 
Gemüter aufzurichten; umd über dem allen gabit du in ſchwierigen 
Lagen Beilpiele von Heldenmut. Dabei verlangteft du nichts 
für dich ſelbſt. Deine Leitungen erwarteten feinen Lohn und 
feine Auszeichnung, deine Liebe war ſelbſtlos. ... 

Doh ich eile ja weit dem Gang der Creignifje voraus, 
indem ich meinen lieben Kameraden Haber wie einen längit Be- 
fannten einführe, mo der Lejer mid) doch erft biß an die Schwelle 
meines Eintritt3 in Die zweite Kompagnie begleitet hat. Ich will 
es kurz maden. Den nächſten Morgen fünf Uhr Hornſignal, 
das, von den zwei Horniften durchs Dorf getragen, bald da, bald 
dort erklingt; ic) würde mid) zu jeder andern Zeit über dad 
heitere Wandern des Signal3 gefreut haben, heute ftörte e8 mid) 
in der Erwägung der neuen Lage, in der ich war. ch war 
wie ein zugeflogner Bogel in dieſer Kriegerichar, in der nur 
Reiske mich kannte, und diefer war unglüdlicherweife um bier 
Uhr auf Poſten gegangen. Vermutlich hätte er mir noch ein 
paar Berhaltungsmaßregeln gegeben, wenn ich nicht fo tief in 
meinem Stroh gejchlafen hätte, Daß er mid) vergeblich zu weden 
geſucht Hatte. Ich ftand num ratlos da. Inſtinktiv tat ich, was 


3. Ich hatt einen Kameraden 145 





alle andern taten, ging zum Brunnen, wuſch mid und kämmte 
mich, bürftete die Halme und den Staub von der Uniform und 
ftellte mich dem Unteroffizier vor, einem Heinen, lebhaften, rund- 
gefichtigen Mann, der mich gleich von vorn maß, dann „ehrt“ 
tommandierte und mich auch von Hinten mufterte. Ungewöhnliche 
Art der Borftellung! Sie find alſo der Kriegsfreiwillige, der 
der Kompagnie zugeteilt iſt? — Samohl. — Und wollen in 
meine Korporalihaft? — Jawohl. — Warım? — Weil der 
Einjährige Reiske darin dient. — Das ift fein Grund. — Ich 
war beftürzt, Freundſchaft ift hier offenbar fein Hinreichender 
Grund, e8 galt alſo raſch einen befjern zu finden. — Neiße 
ift mein Stiefhruder. — Sieht Ihnen aber verflucht unähnlich. — 
Samohl, Stiefbruber. — Sehen Sie, daß Sie Kaffee bekommen, 
Brot haben Sie wohl noch Feind gefaßt? — Noch nit. — 
Sehen Sie, daß Ihnen einer ein Stüd gibt. 

Ich machte Kehrt, um mich der fchiwierigen Aufgabe zu⸗ 
zuwenden, Unbefannte, die ich vielleicht heute Nacht bei meinem 
Eiertanz durch die Scheune auf Hände und Füße getreten hatte, 
zu veranlafjen, mir ein Stüd Brot zu ſchenken. — Halt, Kriegs⸗ 
freiwilliger! rief e8 Hinter mir. Der Unteroffizier winkte mic 
heran, faßte meine linfe Achjelllappe an: Hier fitt der Kompagnie⸗ 
knopf loder; id) ſage Shnen, wenn Sie den verlieren, iſts gefehlt. 
Sofort fejtnähen. 

Dieſes Sofort ſchnitt mir dur) Markt und Bein. Zwar 
würde ich im bürgerlichen Leben geglaubt haben, mit dieſem nur 
wenig geloderten Knopf noch einige Wochen beitehn zu können; 
aber bier, das mußte ich mir fagen, hat der Heine, faft halb⸗ 
tuglige Knopf mit der Nummer Zwei einen befondern Wert, war 
nicht jo leicht zu erjeßen wie ein gewöhnlidyer Uniform- oder 
nun gar ein Hoſenknopf, der im Notfall fogar vom Zivil fein 
fonnte. Bei jpätern Gelegenheiten hörte ich unſern Unteroffizier 
folgende Betrachtung anftellen: In jedem Regiment gibt es vierzig- 
taujend Uniformknöpfe, aber jeder Kompagnieknopf ift nur vier- 
Bundertundneunzigmal da. Alſo die größte Sorgfalt auf bie 
Kompagniefnöpfe richten. Wenn ein Kamerad gefallen ift und 
zurüdgelaffen werden muß, ift unjre erfte Pflicht, dag Gewehr 
und die Munition zu retten, dann die Kompagnieknöpfe, dann erft 
das Faſchinenmeſſer. Denkt euch doch eine Achſelklappe mit einem 
gewöhnlichen Uniforminopf! 

Wie wenig tief die Disziplin in mir erft Wurzeln gejchlagen 
hatte, das wurde mir jelbft einleuchtend, als ich troß ber Er⸗ 

Natzel, Glückzinſeln und Träume 10 


146 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


mahnung des Unteroffizierd zuerft nad) Brot und Kaffee ging, 
bei deren Zuteilung mein Stubennadhbar der vergangnen Nacht, 
der über dem Kaffeetopf waltete, mich freundlich bedachte, ſodaß 
mic zwar unfreundliche Blide empfingen, aber fein zurüchveijendes 
Wort laut wurde. Es ſchien die Meldung beim Unteroffizier 
ſchon eine Art von Anſchluß an die Korporalichaft vorauszuſetzen. 
Ich ftürzte meine Taſſe hinunter und biß Fräftig von dem Broden 
Kommißbrot ab, den ich aus Reiskes Vorrat erhalten Hatte. Nun 
der Kompagnieknopf! Nadel und Faden hat ja natürlich jeder 
Musketier. Ich habe das ebenſo natürlich nicht, bin ein ganz 
abnormer Menſch, fühlte in diefem Augenblid, daß ich tief unter 
dem legten Soldaten ſtehe. Uber was tun? Ich jehe Haber 
und. denke an Reiskes Empfehlung. Er tft jelbitverftändlich mit 
Handwerkszeug verjehen, in der Scheımenede wird der bedeut- 
jame Knopf feiter genäht. So, jagte Haber, der hält fo lange 
wie Meg, und wenn Meb fällt, dürfen alle Knöpfe reißen, fogar 
Kompagnielnöpfe. Übrigend trage ich immer zwei als Reſerve 
im Geldbeutel. 

Das Gewehr und den Brotjad quer umgehängt, das Faſchinen⸗ 
mefler umgegürtet, die Leinenhojen in den Stiefeln, Die Mütze 
ftatt des Helms, fo treten wir zur Schanzarbeit an und „faflen“ 
Schaufeln, die man ftatt des Gewehr auf der linfen Schulter 
trägt. Der Unteroffizier meldet mich dem Feldwebel, dieſer dem 
Hauptmann; zum eritenmal trifft mich der DBlid der grauen 
falten Augen, und weil id) immer Sleinigleiten jehen muß, ſo 
fallt mir auf, daß der Hauptmann an feinem blonden Schnurr- 
bart weiterlaut, der genau jo kurz wie feine Rede und über der 
Lippe gerade abgejchnitten iſt. EB ift wohltuend für den Be 
trachter, in einem Geficht, das er fo häufig fieht, eine folche feſte 
Linie zu willen, wie diejer geradlinig abgebiffene untere Schnurr- 
bartrand. Ich Habe in guten und übeln Tagen meinen Hauptmann 
vor der Kompagnie gefehen und babe mich nicht bloß im allge= 
meinen gefreut, daß er immer derjelbe war, fondern daß auch 
dieſes dasſelbe blieb. Am ftillen dankte ich ihm, wie oft, daß 
er nicht wie andre einen Bollbart wachſen ließ. Auch bier ift 
semper idem ein guter gejunder Spruch. Übrigens gefielen mir 
allezeit @efichter, denen wmwohlentwidelte Kinnbaden unb breites 
Kinn einen faft quadratifchen Umriß erteilen; ihre Badenknochen 
pflegen nicht ſtark entwidelt zu fein, ihre Augen ftehn hübſch 
wagerecht, der Mund ift meift fei. Solche Gefichter haben 
ettvad Abgeſchloſſenes, es ift weder ein Fragezeichen noch eine 


3. Ich hatt einen Kameraden 


ED BALL — — DE D LAIEN DEN DD ND GL EL DD — — wu 


147 








Aufforderung darin, fie jagen: Ich tue meine Sachen für mid), 
kümmre du Did um Die deinen. In mir fpricht es, während ich 
mid) in ftrammer Haltung anjehen lafle: Der legt keinen großen 
Wert darauf, dich in der Kompagnie zu haben, auch iſt er nicht 
eitel und verbeißt manches; aber wehe dir, wenn auß dieſen 
Augen ein unverbifiener Blig — entihuldige das Bild — did) 
träfe, du wärſt getroffen vom Kopf bis in die Ferſe. Zunächſt 
wurde ich nur indirelt angeredet: Unteroffizier, forgen Sie, daß 
der neue Mann heute nad) der Arbeit Griffe übt. — Bu Befehl, 
Herr Hauptmann. — Mari! 

Ich übte an dieſem Abend Griffe, bis eine Blutblaſe plabte, 
die ich mir beim Schanzgraben in den Ballen der rechten Hand 
gearbeitet hatte; similia similibus, wie Die Homöopathen jagen, 
meinte dazu Reiske, was die harte Schaufel verbrochen, heilt 
der milde Gewehrlolben. Außerdem war mir die linfe Schulter 
vom „chmetternden“ Gemwehrübernehmen braun und blau ge- 
worden. &8 iſt ja recht löblich, daß du die Dinge ernft nimmft; 
du brauchft aber den Schießprügel darum nicht fo furchtbar auf 
die Schulter zu werfen, dad nübt ung nichts und fchadet keinem 
Tranzofen was. Dagegen rate id) dir, beim Präjentieren den 
Bauch etwas mehr einzuziehn, daß das Gewehr bie Sehne eines 
Bogenabichnitt3 bildet, um deſſen Peripherie der ganze Mußfetier 
jozufagen herumgeſchwungen if. — Donnerwetter, Reiske, bu 
ntmmft Diefe Dinge tief. Du fcheinit jebt beine alademijchen 
Denkgewohnheiten auf die Durchleuchtung des Ererzierreglements 
zu verwenden. 

Ja, fagte Reiske, ich Habe genug darüber nachgedacht. Und 
wenn du ed hören willft, gebe ich dir einmal im gebrungenften 
Stil meine philofophifche Lehre von den Gewehrgriffen zum beften. 
Für Heute fozufagen nur die Überfchrift oder das Ertraft: Die 
Idee der Griffe ift die Aufnahme des Gewehrs in den ganzen 
törperlichen und geiftigen Menſchen des Soldaten. Dieje In⸗ 
forporation einer ftarren Waffe aus Holz und Stahl kann aber 
nicht verwirklicht werden, ohne daß in Holz; und Stahl die Liebe 
übergeht. Dad Leder des Gewehrriemend nenne ich nicht be 
ſonders, weil e8 mit dem Weſen des Gewehr! nichts zu tun 
hat, tote8 mechaniiches Anhaͤngſel! Merkſt du, wie bier die 
Forderung der Grifffertigkeit, die bein Unteroffizier erhebt, mit 
der zufammentrifft, die der Büchſenmacher ftellt, daß der Soldat 
fein Gewehr fo rein halten müfje wie feinen Körper? Mindeſtens 
fo rein! Dieſes it eine Forderung der ſoldatiſchen Tugend 

10* 


148 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


ww 


haftigfeit, da3 andre ift eine umfafjendere, die ſich auf den ganzen 
Charakter und deſſen Betätigung in der foldatiichen Lebens⸗ 
ericheinung und führung erjtredt. Zur Erfüllung der Tugend- 
forderung roſtfleckenloſer Reinheit des Gewehrlaufd Tann num 
jeder erzogen werden, jagen wir faſt jeder, denn es gibt ja 
Neinlichkeitsidioten. Dagegen zum Sichemporſchwingen der Ge⸗ 
wehrgriffe aus der mechaniſchen Übung deiner Knochen umd 
Muskeln gehört Talent. Du ftehft vor einem Manne, der diejes 
Talent bat, da fiehft du, während er Gewehr über! macht, über: 
haupt fein Gewehr, das zudt nur fo durch die Luft, und wenn 
es nun auch wie ein WVetterftrahl auf die Schulter fauft, haft 
du nicht die Vorftellung, es liege nun ein Gewicht von zwölf 
Pfund auf der Schulter, fondern du fagft: Diefer Mann bat 
nur einmal feinen rechten Arm zu einer barmonijchen Bewegung 
ausgeſchwungen, und ba es ihm ganz gleich ift, ob ber Gewehr- 
folben der Erde aufruht oder in feiner linken Hand gehalten 
wird, jo Hat das Gewehr einfach mitgeſchwungen. Und wenn 
du General wäreft (was Gott verhütel) und würbeft dasſelbe 
Talent für Gemehrgriffe vor dir präfentieren jehen, jo würdeſt 
du den Eindrud haben, der Mann bietet mir aus Deferenz fein 
Gewehr an, aber ich ſehe an der Art, wie ers hält, daß es mit 
ihm verwachlen ift, und daß nicht einmal ein General e8 ihm 
entwinden Tönnte. Dabei fommt nım eben noch der Winkel von 
89 Grad in Frage... 

Lieber Freund, ſagte ih, du bift ohne Zweifel auf dem 
beften Wege, ein ziveiter Gaufeiih, wenn auch erft in der Sphäre 
des Musketierd, zu werben, und ich beiwundre beine Gewehr⸗ 

Phitofonie —— aber für den Augenblick laſſe einmal deinen 
ho ſt herabſteigen und dieſe blutige Schwiele in meiner 
Hand —* Wie kanu ich ſie wegbringen? Ich möchte 
morgen arbeitsfähig fein, aber mit dieſer Hand werde ich mit 
dem beiten ®illen feine Schaufel ſchwingen. — O, das ift nicht 
viel, das haben wir alle gehabt. Aus diejer Blutblafe wirft bu 
die beite Schwiele des Regiments beranpflegen, wenn du Das 
Blut herausdrückſt, dann die Stelle mit Hirichtalg did einfchmierft 
und die ganze Nacht über verbunden hältſt. Und menn bie 
Schwiele fertig ift, wirft du noch ganz andre Griffe machen. 
Übrigens verfteht ſich Haber ausgezeichnet auch auf diefe Dinge. — 
Und Haber, auch hier bilfbereit, Tnetet meine Hand, bis das 
brennende Gefühl heraus iſt, falbt fie, verbindet fie, unb ich 
kann mit Ruhe dem nächſten Tag entgegenjehen. Welche Schmad), 


3. Ich hatt einen Kameraden 149 





—— —— 


wenn ich ſchon am zweiten Feldzugstage von der Arbeit hätte 
wegbleiben müſſen! Dieſe Nacht legte ich mich nicht als Gedul⸗ 
deter, ſondern als Zugehöriger ins Stroh, und ich ſchlief mit 
dem Bewußtſein ein, den erſten Tag im Feld etwas geleiſtet zu 
haben. Das leiſe Brennen in der Hand kam mir faſt wie etwas 
Wohltuendes, Ehrenvolles vor. Reisſske hatte noch weiteres von 
dem Pikanten oder mindeſtens Eleganten eines Präſentierens 
mit ganz leicht auswärts geneigtem Gewehr geſprochen. Daran 
mag es gelegen haben, daß ich träumte, ich ſtünde Poſten vor 
dem Quartier des Generals, defien bewundernden Blick auf mein 
im intel von 89 Grad präjentierted Gewehr ich mit der frechen 
Nede erwiderte: So ift dad Präfentieren nad) Reiske, Einjäh- 
rigem der zweiten Kompagnie, wollen nicht Exzellenz das Exer- 
zterreglement entiprehend ändern lafien? Merkwürbigermeife 
hatte ich aber das volle Gefühl der Vermerflichkeit diejer Nede 
fhon in dem Augenblide, wo ich fie ausſprach, ja ich fühlte 
ftarf, wie ungehörig es überhaupt fei, bei präjentiertem Gewehr 
den Mund aufzutun, und als ich in dieſem Augenblid erwachte, 
war nur noch der Schreden und gar nichts mehr von Befrie- 
Digung über den fchönen Griff in mir, und ich legte mich auf 
die andre Seite mit dem Vorſatz, auch im Traum nichts gegen 
da8 Neglement zu denken oder zu tun. 

Unglaublich rajch lebte ich mich in meine neue Umgebung 
ein. Zwiſchen Reißfe, dem alten Freund, und Haber, dem 
neuen Kameraden, ftand ih nad außen gededt; in unfrer 
Korporalihaft war mir niemand übel gefinnt, mit einigen 
Kameraden fnüpften fi) engere Beziehungen. Der Unteroffizier 
jah mir ſcharf auf die Singer, denn er teilte, und vielleicht mit 
Net, die Anfiht, die der Hauptmann als Ergebnid einer 
Gemwehrparade kurz nad) meinem Eintritt in den lapidaren Satz 
faßte: Die Freiwilligen jind Lottel, nur zu Patrouillen Tann 
man fie brauchen. Aber er fand nichts Wichtiges zu tadeln; die 
Kompagniefnöpfe ſaßen fefter als je, und die Griffe Hatte ich 
ſowohl von der praftifchen Seite ald — durch Anleitung Reisles — 
in ihrem philoſophiſchen Sinne mir zu eigen gemacht. Es dauerte 
auch nicht lange, bis ich in der Dffentlichkeit die Probe davon 
ablegte; mein Traum erfüllte fi), wenn aud eine NRangftufe 
tiefer, ich hatte den PBojten vor dem Haufe des Negimentöftabes 
und präfentierte da8 Gewehr mit allem möglichen Raffinement. 

Das Wetter änderte fi, auf drückende Hibe folgten Regen⸗ 
tage. Unſre Quartiere wanderten alle paar Tage in ein anbres 





150 Bilder aus dem Hriege mit Frankreich 


Dorf, Die Schanzarbeit wurde auögejegt, der Vorpojtendienft trat 
an feine Stelle, und dieſen Löfte eine Detachierung in ein Gebiet 
ab, wo Yranktireurd Transporte beumrubigten; und unter all 
dieſem Wechſel floß unjer Leben im einfürmigen Gang des Dienjtes 
fort, nur ſcheinbar mannigfaltig, in Wirklichkeit immer dieſelbe 
Kraft anfpannend und diefelben Fähigkeiten übend und fteigernd. 
Sch lernte ertragen, was mid) am fremdartigften berührt hatte, 
nie einfam mit meinen Gedanken zu fein. Eine große Sache 
für Menſchen, bie fih Sinnen und Denken zur Lebendaufgabe 
gemacht haben! Ber Soldat gehört auch „in finftrer Mitter- 
nacht fo einfam auf der ftillen Wacht“ nicht ganz ſich felber an. 
Er muß wachen und jpähen, und die leeren Augenblide füllt er 
mit Gedanken an den Dienft von gejtern oder von morgen an, 
an die Vorgefehten, die Kameraden, an ben Feind, und behält 
oft nicht viele Minuten, an die Lieben in der Heimat zu denken. 
Aus fich felbit, ſozuſagen hinausgewieſen, jchließt er ſich doppelt 
eng an Gleichgefinnte an, und was feinem eignen Innern viel⸗ 
leicht entgeht, daS gewinnt die Kameradfchaft und im günftigiten 
Balle die Freundichaft. 

So kam e8 denn auch bei uns, daß ich und meine zwei 
Nebenmänner ein Kleeblatt wurden, das immer fejter wie aus 
dreifachem Anſchlußbedürfnis gewachſen zufammenhielt und nod) 
andre, die ferner blieben, gelegentlich anzog. Im Grunde bildete 
aber Haber den Mittelpunft, weshalb e8 nun doch wohl an der 
Zeit fein dürfte, zu fagen, wie diefer gute Kamerad war, und 
wie er ſich gab. 

Habers „Perſonale“ würde etwa gelautet haben: Unregel- 
mäßiges Geficht, etwas aufgeworfen binausftrebende Nafe, unbe- 
deutendes Kinn, weicher, freundlicher Mund, leichtes Bärtchen 
auf der Oberlippe, und in dieſen freundlichen, aber an fich wenig 
anſprechenden Zügen ein paar braune Augen, die gerade und 
klar in die Welt fchauten, nur mie ed fchien, immer etwas 
weiter hinaus, als gerade nötig war, weshalb Leute, die Haber 
nicht kannten, ihn für einen unpraktiſchen Träumer halten mochten. 
Aber fo gut wie dieſer ſchlanke, ſchwanke Schneidergefell zuzeiten 
den Mut eined Nitterd entwidelte, verband er träumerijches 
Radpenten mit fcharfer Wahrnehmung des Wirklichen. 

Wie wenig kennt der unjre alemanniſchen Bauern, der ba 
meint, ihr innere Leben jei fo einförnig wie ihre Tagewerke 
und fo einfach wie ihre einfilbige Nede! Die Kunſt der Beur- 
teilung der Menſchen wäre leicht, wenn fie ſich auf das bes 


3. Jch hatt einen Kameraden 151 


Ihränfen könnte, was einer ſpricht; man muß aber mindeftens 
zu ahnen willen, was unter feinem Schweigen liegt. Die Augen 
deuten e8 an, und die Handlungen |prechen es oft mit über- 
rajchender Deutlichfeit aus. Vieles kommt erſt zum Vorſchein, 
wenn die Wärme einer herzlichen Liebe das Mißtrauen durch⸗ 
ſchmilzt, das die Herzen einfacher Leute umſchalt und preßt, ſodaß 
ſie ſich kaum regen können und verlernen, in Freude oder Schmerz 
höher zu ſchlagen. So war Haber eine feine Seele, deren 
Magnetrichtung auf das Gute erſt ſein Handeln zeigte. Und 
als nun einer ſein Freund wurde, den er für beſſer hielt als 
ſich ſelbſt, kam das Gute erſt heraus, und mitten in der Wild- 
heit des Krieges freuten ſich die beiden, oben zu bleiben. 

Als Soldat zeichneten ihn der Inſtinkt des Gehorchens und 
der Ordnung und ein hervorragendes Talent zum Schießen aus. 
Er war nicht bloß, was man ſo ſagt, ein guter Kompagnieſoldat, 
ſondern überhaupt ein braver Kriegsmann. Ohne eigentlich Freude 
am Krieg zu haben, war er ſehr geſchickt in allem, was der 
Krieg vom Soldaten verlangt. In Friedenszeiten hätte er ſich 
mit ebenſo großer Geſchicklichkeit in die verſchiedenſten Berufe 
bineingelebt. Nun zweifelte niemand, daß er in die nächſte Lücke 
als Unteroffizier eintreten müfle Ja manche meinten, er jei 
der geborne Unteroffizier; die kannten aber Haber nit, der 
durchaus feine Luft zum Befehlen in ſich fühlte und behauptete, 
er habe das nie gelernt, habe übrigen? auch fein Zalent dazu, 
und es werde ihm fchon bei dem Gedanken unbehaglid, in einen 
jogenannten weitern Wirkungskreis eintreten zu jollen. Das war 
nicht Biererei. Ich Habe nie eine weidyere, weiblichere, unter⸗ 
ordnungs⸗ und anfchlußbedürftigere Natur in einer männlichen 
Heldenjeele kennen gelernt, nie weniger Ehrgeiz bei einer Pflicht- 
erfüllung gefunden, die volljtändig war, ohne ftreng zu jein. 
Haber tft übrigens jpäter in meine Gefreitenftellung gerüdt und 
tat Unteroffizierdienft, als ihn ein Granatjplitter tödlich traf. 

Man jpricht oft fo wegwerfend von Bedientenfeelen, und 
doch wie ſchön kann die Seele eines Menfchen fein, der recht 
dienen will und kraft ihrer Anlage dienen muß! Unfer Ra- 
merad erniedrigte ſich nicht, indem er und die Uniforminöpfe 
annäbte, fo wenig wie einer von uns, wenn wir und beim Gewehr⸗ 
putzen halfen einen Roſtfleck im Lauf bejeitigen, was nur ange= 
ſtrengtes Neiben mit dem mergummundnen Ladeftod bewirkt, 
wobei der eine daß Gewehr Hält und der andre reibt. Wenn 
jener auch das Monopol des Feueranmachens bat, jcheut ſich 


152 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


doch feiner, Kartoffeln zu Ichälen oder den Dünftenden Reid um- 
zurühren. Das Reinigen der Gefäße, aus denen man gegeflen 
hat, nicht gern felbit zu bejorgen, Mei eine menſchliche Schwäche, 
bejonder8 wenn man einen ermüdenden Marſch hinter ſich hat. 
In der Tat, das haben wir Haber jehr oft beſorgen lafjen, doch 
wenn e3 nötig war, taten wir e8 aud) ſelbſt. Haber Hatte von 
vornherein auf ſolche Gejchäfte eine Art Vorrecht mit der Moti- 
vierung beansprucht, daß er Damit vertraut fei, und daß fie ihm 
leiter von der Hand gingen. In der Tat war er über die 
Anfangsgründe ſoldatiſcher Kochkunft Hinaus, d. h. er wuſch das 
Fleiſch, ehe er es kochte, er Bing nicht mehr an dem Aberglauben, 
daß das Salz; einkoche, weshalb es beftändig erneuert werden 
müſſe, es konnte ihm auch ſchwerlich vorkommen, daß er ein Huhn 
mit ſeinem ganzen „natürlichen“ Inhalt an den Bratſpieß ſteckte. 
Beim Kaffeeklochen genügte es ihm nicht, die Bohnen auf Die 
Tiſchplatte auszubreiten und mit einer foliden Bierflajche zu 
zerquetihen. Da die Kleinen zinnernen Kaffeemühlen, die zur 
Ausrüftung gehörten, nichts taugten, hatte er irgendwo eine echte 
Kaffeemühle „gefunden,“ die man bisher ohne Neid und Auf⸗ 
jehen von einem Quartier zum andern zu fchleppen gewußt hatte. 
Haber Hatte einmal die Anſicht ausgeſprochen, es ſchicke ſich für 
ihn, durch Arbeit ein Hein wenig von der Schuld abzutragen, 
die durch unsre Ausgabe für die Lebensbebürfniffe für ihn auf- 
laufe. Als aber einmal dieſer figlige Punkt beſprochen und 
Geld⸗ und Arbeitdleiftungen abgewogen waren, blieb er Hinfort 
unberührt, und jeder tat, gab und nahm, wie e8 die Umftände 
und das wachſende freumdicaftliche Vertrauen brachten. Wenn 
Menichen bereit find, ihr Leben füreinander zu geben, werden 
fie fi” wohl über Pfennige einigen können! 

Haber jprad) wenig von feiner Vergangenheit, da8 war ja 
auch nicht Stil bei und; nur einige Sentimentale jannen viel 
dem nad, was fie in der Heimat gelafien hatten. Der durch⸗ 
ſchnittliche Soldat lebt der Gegenwart, und auch für mid) und 
Heise war dus Feithalten der Gedanken an der einfachen Auf- 
gabe des Tages das Selbfiverftändliche, ihr Hinausſchweifen in 
Vergangenheit oder Zukunft, alten Bahnen folgend, betrachteten 
wir als eine Abirrung, einen Rüdfall in früher Gewohntes. 
Haber Hatte das arme, einfache, aber fühl geregelte Leben eines 
Frũhverwaiſten Hinter fi, Pflegeeltern und Waiſenhaus, von 
denen er pflihtmäßig dankbar ſprach, mochten ihm nicht viel 
Stoff zum Burüddenten geben. Er Hatte ein Jahr in einem 


3. Ich hatt einen Kameraden 153 


III DL 37s⸗* 


Heinen Städtchen in der Schweiz als Schneider gearbeitet und 
war dann in dad Regiment eingeftellt worden, worin er nun 
am Ende des dritten Jahres diente. Beim Überfluß an Hand- 
wertern hatte man ihn nicht in die Werfftätte geſteckt, ſondern 
feine unzweifelhaften Anlagen zum Soldaten tücdhtig ausgebildet. 
Er freute fi) ohne Stolz, daß ihm jo vieles leicht wurde, womit 
fit) andre im Dienfte plagen. Wer zum Dienen und Gehorchen 
erzogen worden ift, wie ich, fagte er, dem fällt da8 Soldaten- 


leben nicht ſchwer. Sch finde es viel leichter, in der Kompagnie 


zu geboren, als in einer Werkſtatt. Eigentlich habe ich in 
der Kompagnie eine beffere Heimat gefunden, als ich je gehabt 
babe, und nad) dem Hauptmann wird mir fein Meiſter mehr 
gefallen. 

Bei der Belagerung von Straßburg mußte das ſüdlich davon 
liegende Neudorf immer mit bejondrer Vorficht behandelt werden, 
denn die eine Hälfte davon lag noch unter den Kanonen der 
Feſtung, in deren Schub fich Hier gern franzöſiſche Patrouillen 
vorwagten; die andre Hälfte war von den Unfern zu verſchiednen 
malen befett worden, aber nie auf die Dauer, da eben da8 ganze 
Dorf, das übrigens, halb VBorftadt, zum Teil auch ſtädtiſch ge= 
baut war, nicht gehalten werden konnte. Zuletzt blieb in der 
diesſeitigen Hälfte ein Unteroffizierpoften, der gelegentlicd) beun- 
rubigt wurde, zu verichiednen malen bis hart an das Glacis 
borging, dann aber auch wieder verdrängt wurde, wenn die 
Franzoſen mit Übermacht aus der Zeitung vorbrachen. Als das 
wieder einmal gejchehn war, wurden wir an einem ſchönen Auguft- 
morgen nah Neudorf hineingeſchickt, aus deſſen äußerjten Häufern 
nah ujrer Seite zu die Franzoſen die Vorpoften mit jchlecht- 
gezielten Feuer beläjtigten. Sie durften ſich Hier nicht feſtſetzen, 
mußten mindeſtens auf die Feitungsfeite zurückgeworfen werden. 
Der Hauptmann ließ das Feuer einjtellen, daS fich zwiſchen den 
Franzoſen drinnen und unfern Leuten außen entiponnen hatte, 
und daß, dem Gerüchte nach, aus der nie fehlenden Büchſe unſers 
Sergeanten Mohr einem Franzoſen, der beim Kaffee an einem 
bon uns aus zu überjehenden Tiſche eines befannten Gajthaufes 
jaß, Kaffeetaſſe und Leben gefoftet Hatte. Auf die Nachricht, da 
fih die Franzofen eilig zurüdzögen, gingen Heine Abteilungen 
bon unjrer Seite vor. Wir wollen ihnen zeigen, was bon Neu⸗ 
borf und gehört, und ihnen womöglich ein paar Leute wegjchießen, 
damit fie nicht zu frech) werben, rief der Hauptmann dem jungen 
Leutnant zu, der ung führte. Wir umgingen den Verhau, der 


154 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


rs 


quer über die Straße dad Groß der Feldwache dedte, und for- 
mierten und in Spite, Saupttrupp und Seitendedungen. Meldet 
fi jemand für die Spitze? fragte der Leutnant. Es ift ja 
möglich, daß fie gleich angejchoflen wird. Haber und ich traten 
bor. Der Haupitrupp wartete, bi8 wir und Die Seitendedungen 
den Rand des Dorfes erreicht hatten; es fiel fein Schuß, er rüdte 
nad) und bejegte fofort einige Häufer zu beiden Seiten der 
platanenbejegten Straße. Dasjelbe taten verabredetermaßen die 
Geitendedungen. So, nun erjt das übrige Dorf abſuchen, ob 
noch was drinnen ſteckt. Die Spite wurde dur fünf Mann 
verftärft, die fich dazu meldeten. Der Leutnant führte ung, wir 
verteilten und auf beide Seiten der Straße. Gelegentlich wurde 
gehalten, gefragt, ein Blid in ein Haus geworfen, es ſchien alles 
fiber. Die Leute auf diefer Seite kannten uns jchon, waren 
wir doch öfterd im Dorf geweſen, wir fonnten ihnen glauben, 
daß die Sranzofen in die Feftung zurüdgefehrt ſeien. Wir waren 
jebt an einer Art Dorfplag angelommen, wo unfre breite Straße, 
die auf die Feftung zuführte, von einer quer durdjlaufenden Straße 
gefreuzt wurde. Hier hatte man fonjt gewöhnlich Halt gemadht, 
aber heute war der Wunſch zu lebhaft, den Yranzojen das 
Biederlommen zu verleiden, ihnen womöglich einen Dentzettel 
zu geben. Mindeiten? die Querſtraße mußte noch abgejucht 
werden. Dieje Seite bier, meinte unjer Führer, ift nicht ver- 
dächtig, fie führt auf eine Feldwache der Unfrigen zu, von der 
aus man in ihre legten Häufer Hineinfieht; die andre, die von 
uns wegzieht, ift bedenklicher, da find bie Sranzojen früher jchon 
geſeſſen. Wir fuchen fie ab; Sie, wandte er fi) zu Haber und 
mir, bleiben hier, beobachten die Straße zur Feſtung und forgen, 
daß wir nicht von dorther überrajcht oder am Ende gar abge- 
ihnitten werden. — Zu Befehl, Herr Leutnant, feine Sorge! 
ſagte Haber, und wir verteilten und nad) Art der Doppelpoiten 
auf beide Seiten der Straße, wo wir gebedt bis an die Wen⸗ 
dung fehen fonnten, die die Straße vor dem Glacis madt. Die 
andern gingen die linke Querftraße hinauf, wo ſich nichts zu 
regen jchien, während wir die unſre ſcharf im Auge behielten. 
Zängere Zeit war audy hier alles jtill. Da auf ein Bft! meines 
Kameraden ſehe ich ein auffallend raſches Huſchen an einem 
Haufe Hin, wie ein Schatten, und plößliches Verſchwinden im 
Eingang zu einem Garten. Adhtung! Das war ein Bauer! 
rief Haber leije herüber. Ich ftand ſchon fchußfertig, um den 
Schatten aufs Korn zu fallen, jobald er wieder erjchiene, aber 


3. Ich hatt einen Kameraden 155 


Haber winkte ab. Wir beide ſtanden unbeweglich und faßten 
da8 Haus ſcharf ind Auge, wo die Bewegung gemwejen war. 
Halt da! Wieder eine Bewegung, diejegmal ein Fenfterladen, 
der geichloffen wurde. Da iſts nicht jauber, flüftert Haber mir 
Hinter der vorgehaltnen Hand herüber. Jetzt bleibt alles rubig; 
wir verwenden einige Sefunden fein Auge von dem Haufe, dann 
ijt Haber in wenig weiten Sprüngen an meiner Seite. In dem 
Haufe find Franzoſen, das iſt klar. Sieh, wie es vor den andern 
vorfpringt und die Straße beherrſcht. Ich wette, wenn wir auf 
der Straße vorgehn, befommen wir euer dort aus dem Edfenfter 
des erjten Stoded, von dem aud man fait biß zur Feldwache 
hinunter jehen kann. Auch fängt gerade vor dem Haufe eine 
Reihe von bejonderd großen Bäumen an, die den Rüdzug aufs 
Glacid begünftigen. Die Hauptjadhe ift aber, den Rothojen den 
Rückzug abzufchneiden. 

Sch ſchleiche mich jebt dahin, wähle in ungefähr vierhundert 
Schritt einen guten Punkt. Geht ihr zurüd, fo ruft mich ein 
Pfiff, im andern Falle bleibe ich dort liegen, bis ic) merke, daß 
ihr auf ber Straße biß zu dem Kaufe vorgegangen ſeid. Sind 
wirklich Franzoſen drin, fo forgt, daß fie nicht auf die Straße 
heraugfommen, ich will fie in der Hintertür fallen. Du bleibit 
einjtweilen bier, bis die andern zurüd find. — Gut, hoffentlich 
friegen wir einige zum Schuß. — Haber fah fein Gewehr nad) 
und verſchwand geräufchlos in den dichten Hafelbitichen des Garten- 
zamd. Als der Leutnant mit der Patrouille herankam, ging 
ih ihnen einige Schritte entgegen, meldete unjre Beobachtung 
und den Plan Habers, der Billigung fand. Nun fcheinbar 
ſorglos und doch vorfichtig auf der Straße vor, das bedenkliche 
Haug und befonders fein Edfenfter im Auge bebaltend. Drei 
Leute blieben an der Kreuzung zurüd, wir andern hielten uns 
bei den Straßenbäumen und den Zäunen der Vorgärten, um 
möglichſt nahe bei Dedungen zu bleiben. Der Leutnant hatte 
fi) von einem der Zurüdgebliebnen das Gewehr geben laſſen 
und die Hofentafchen mit Munition gefüllt. Saft lautlos war 
man an das geſuchte Haus herangelommen, daS von mehr 
ftädtiicher Bauart war als die andern; uns fiel beſonders die 
ichmale fteinerne Treppe zu der engen Tür auf, die innerhalb 
der Mauern des Hauſes lag. Horch, ein Geräufch innen, ein 
Uugenblid Stuben, dann lautes Kommando: Zwei Mann in die 
Tür! und in demjelben Augenblick Schüſſe aus den Fenjtern oben 
and Schüfle aus der Tür, die eingedrüdt wird; einige von uns 


156 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


—— — ö— —— — 


erwiderten von den Bäumen der Straße aus die Schüſſe aus 
den Fenſtern, zwei waren den erſten beiden ins Haus gefolgt. 
Nun plötzlich zwei Schüſſe raſch hintereinander hinter dem Hauſe, 
dann Rufe der Unſrigen. Auf Befehl: Keinen Schritt weiter! 
bleiben wir an den Bäumen, der Sergeant führt zwei franzöſiſche 
Anfanteriften aus dem Haufe, deutet auf zwei oder drei Gefallne, 
die in dem dunfeln Gange liegen, und einer jeiner Begleiter 
ftößt den Laden des gefährlichen Eckfenſters auf. Die Gefangnen 
werden zur Seite geftellt, ein dritter liegt leicht verwundet im 
Haufe; die zwei Toten, deren einen der Sergeant beim Offnen 
der Tür über den Haufen geſtochen bat, bleiben liegen. Nun 
raſch zurüd, die Gefangnen und den Leichtverwundeten voraus. 
An der Kreuzung ein herrlicher Anblid: Haber mit drei Gewehren 
in der einen, einem Roſenſtrauß in der andern und zwei ent- 
waffneten Zuaven vor fi), die ung neugierig anlädheln. Die 
ganze Geichichte Hatte ein paar Minuten gedauert. Der Leutnant 
erzählte, wie er in dem Augenblid, mo er zwei Mann in den 
Türeingang geichidt habe, damit fie dort gededt ftünden, den 
Laden des Eckfenſters fich Habe halb öffnen fehen und ſogleich 
auch an Steinchen, die die Kugel aufichleuderte, den Schuß 
empfunden Habe; jeine Beinkleider waren Davon an mehreren 
Stellen durchlöchert. Der Sergeant aber drüdte in demfelben 
Augenblide die Tür ein, die von innen geöffnet werben wollte, 
Ihlug einen Gewehrlauf zurüd, ftac mit dem Bajonett den 
Träger nieder, worauf fi) der zweite ergab, und ein dritter von 
der Treppe aus Pardon rief, als ihm Habers Schüffe fagten, daß 
die Hintertür verfperrt fei. Haber hatte nicht eine halbe Minute, 
nachdem vorn die Schüffe gefallen waren, die Hintertür aufreißen 
und drei Sranzofen herausſtürzen jehen, deren einen fein erfter 
Schuß niederftredte.e Dem zweiten fandte er eine Kugel nad), 
der dritte warf auf den Zuruf jein Gewehr weg und ftellte ſich 
jelbft, worauf fi) der zweite mit einem Fleiſchſchuß in der Hand 
ummandte und jeinem Kameraden folgte. Zur Erinnerung nahm 
Haber blühende Zweige von der Rofenhede mit, in deren Schuß 
er jeine Umgehung zum glüdlicden Ende geführt hatte. Er teilte 
fie eben aus, während wir und dem andern Ende des Dorfes 
zu bewegten. Das verdädtige Pfeifen der Geichoffe, die ohne 
Schaden in der Luft plabten, kündete uns an, daß man in der 
Feſtung das Kleine Gefecht bemerkt Hatte. An der lebten Biegung 
der Straße, wo man das umitrittne Haus noch jehen Tomnte, 
wandte fih der Leutnant um, ber, kurzfichtig, als er eine Geſtalt 


3. Ich hatt einen Kameraden 157 


— —. 


über die Straße huſchen ſah, mein Gewehr nahm und abſchoß; 
wir hörten den andern Tag, daß er ein Mädchen tödlich getroffen 
hatte, das nach dem Toten oder Schwerverwundeten habe ſehen 
wollen, der in dem Hauſe zurückgeblieben war. Zur Feldwache 
zurückgekehrt, empfing uns der Hauptmann mit Blicken, in denen 
man etwas wie Anerkennung leſen konnte, und ließ ſich vom 
Leutnant genauen Bericht erſtatten. Die Gefangnen wurden 
gleich zurückgeſandt „zu den andern.“ In Neudorf blieb es 
einige Tage volllommen ruhig, bis ein nächtlidher Ausfall die 
Poſten des Regiments, daS ung abgelöjt Hatte, ganz daraus ver- 
drängte, worauf es den nächſten Morgen mit geringem Berluft 
auf unfrer Seite wiedergenommen wurde Die Beſatzung der 
Feſtung fing damals ſchon an zu erfchlaffen, und bald ließ fie 
uns ganz unbebelligt im Beſitz des Dörfchend. Habers entſchiednes 
und wohlüberlegtes Auftreten in diejer Kleinen Affäre wurde in 
der ganzen Kompagnie anerkannt, bejonderd der Leutnant hatte 
eine Vorliebe für ihn gewonnen. Wenn er auch noch mehrmals 
Gelegenheit fand, fi) auszuzeichnen und wohl fchwierigere Auf- 
gaben zu löſen, jo war doch einmal fein Auf feftgeftellt; er ge- 
hörte von da an zu den Soldaten, auf die ſich die Kompagnie 
in allen Fällen verlaffen konnte An feiner Beicheidenheit und 
feinem Gleichmut ging aber dieſe Erhöhung feines Anſehens ganz 
ſpurlos vorüber, höchſtens daß fie ihn anfpornte, noch forgjamer 
auch die Kleinen Pflichten des Soldaten zu üben. Sogar feinen 
vertrauteften Kameraden gegenüber ſprach er nicht gern von dem 
Neudorfer Straßengefecht, lenkte jogar ab, wenn die Unterhaltung 
darauf kam, und wir fanden mit der Zeit heraus, daß von dem 
legten unglüdlihen Schuß, den der Leutnant abgefeuert hatte, 
für Haber ein Schatten ausging, der in feiner Erinnerung auf 
dem fröhlihen Kampfe Ing. Das arme, unſchuldige Mädchen, 
hörte ich ihn das einzige mal jagen, wo er noch einmal jenes 
Tages gedachte, fällt ohne Schuld und ohne Waffen, und wir, 
deren Sache es ift, zu töten und getötet zu werden, gehn un⸗ 
beſchädigt aus dem Kampfe hervor. Ein ſolcher Schuß kann die 
Luft am Kriege verderben. 

Als ih im Februar 1871 als Rekonvaleszent leichten 
Garnifondienft in einer ſüddeutſchen Stadt nahe am Rhein tat, 
wurde ich in eine der Lazarettbaraden gerufen, um zur nad 
träglichen Fdentifizierung eines Unteroffizier meine? Regiments 
beizutragen, der mit einem großen Verwundetentransport bon 
Belfort angelommen war. Eine ſchwere Schäbelmunde Hatte 


158 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


ö— — —— NL EL. — —— GIG LI DL DE NL —— ⸗ — —— — — DUC LE LED 





ihn bewußtlos gemacht, und er war nicht wieder zum Bewußt⸗ 
ſein gekommen, ſolange er im Lazarett gelegen hatte; er war 
langfam hinübergejchlummert und war jchon begraben, als id) 
der Botichaft folgen konnte. Keine Papiere, fein Zornijter war 
nicht mit eingeliefert worden; doch hatte man jeine Gewehrnummer 
aufgezeichnet und Die Blechmarke, die er um den Hals getragen 
Hatte, aufbewahrt. Damals herrſchte in dieſen Lazaretten jo 
nahe beim Kriegsſchauplatz oft große Verwirrung, weniger wegen 
der Vertvundeten aus ben lebten Schladhten bei Belfort, Dijon, 
Le Mans und Paris, als weil die Krankenzahl im Januar in 
unerhörtem Mae geftiegen war; und dazu famen nun Diele 
neuen Transporte, die ſchon deshalb jehr ſtark waren, weil die 
Zruppen im raſchen Borrüden möglichſt viel Marjchunfähige ab- 
Ihoben. Die Uniform zeigte mir zu meiner Überrafchung, daß 
der Mann meiner Rompagnie angehört hatte. Haben Sie jonft 
gar nicht8 mehr von dem Toten? fragte id den Lazarettvor- 
ftand. — Alles ift Hier, fagte er mit der trodnen Geſchäfts⸗ 
mäßigfeit ſolcher Leute und deutete auf ein Heine? Gefach in 
einer Schublade; da lag ein Gewehrfchraubenichlüfiel, ein altes 
Meſſer mit Hornheft und ein ledernes Zugbeutelchen; dieſe 
beiden Dinge kamen mir ſo bekannt vor, daß ich einen Stich 
im Herzen fühlte. Und der Inhalt des Beutelchens? Faſt 
nichts; ein paar Münzen und Knöpfe; hier ein Kompagnieknopf 
mit einem Zweier. Und dann noch dieſes Herzchen aus blauem 
Glas ohne Wert. Daraus ift wohl nicht viel zu entnehmen. 
Sch mußte bla geworden fein, mein Herz war plößlich ſchwer 
geivorden, meine Hand faßte unbewußt an den Tiſch. — Sie 
haben diefen Dann gefannt? fragte mich der Yazarettverwalter. — 
Ya, allerdingd. Das war der Unteroffizier Haber von der 
zweiten Korporalichaft der zweiten Rompagnie, einer der beiten 
Soldaten des Regiments und für mich der befte Kamerad. Schade 
um Dielen Dann. Kann id den Kompagnielnopf zur Erinnerung 
mitnehmen? Und jagen Sie mir die Nummer feine Grabes, 
dad verdient einen Lorbeerkranz. 

Aus |pätern Erkundigungen machte ic) mir folgendes Bild 
von der ſchweren Verwundung meine Freundes. Als bei dem 
großen Artillerielampf des 16. Januar unjer Bataillon hart 
über der Lifaine auf einer Anhöhe als Batteriebededung lag, 
war e8 dem Granatfeuer ausgeſetzt; die meisten Geſchoſſe gingen 
in den umbejebten Wald hinter unfrer Stellung, andre frepierten 
im tiefen Schnee; immerhin fielen fie an einigen Stellen fo didht, 


3. Ich hatt einen Kameraden 159 


— — 











— — 


daß Schnee und Erde wie von einem Rieſenpflug aufgewühlt 
waren. Die Truppen änderten mehrmals ihre Stellungen, wo 
fie gerade waren, traten fie abwechſelnd lange Kreiswege im 
Schnee, um ſich zu erwärmen, und fanden dann wieder bei den 
Gewehren, die zufammengefeßt waren. Gegen Abend nahm die 
Müdigkeit überhand, und mandje legten fi) in den Schnee, wo 
fie gerade ftanden. Um fieben Uhr kam die Ablöfung und der: 
erjehnte Ruf: An die Gewehre! Da blieb Haber, der ſonſt der 
erite und der fchnellfte war, lautlos liegen. Man bob ihn auf 
und fand ihn im Blute liegen; ein verirrter Granatfplitter Hatte 
ihm dur den Helm durch den Schädel über dem linken Ohr 
eingedrüdt. Er wurde bewußtlo8 Hinter die Yront gebradit. 
Einige Tage darauf wurde der Kompagnie mitgeteilt, daß er 
mit einigen andern das Eijerne Kreuz erhalten habe, und der 
Hauptmann ſchloß daran warme Worte und Wünjche für ihn. 

Ich jelbft Habe in dem Sommer nad) dem Kriege eine 
Gelegenheit benutzt, die mich in die Nähe feined Heimatortes 
führte, diefen zu befuchen und mich nach etwaigen Verwandten 
von ihm zu erkundigen. Ich hörte mur von ganz entfernten, 
die fi nie um ihn gefümmert hätten. Dagegen jei ein Mädchen 
Dagemwejen, mit dem Haber als Waiſe erzogen worden fei, das 
habe jehr an ihm gehangen; nad) der Todesnachricht Habe fie 
ihren Dienft gelündigt und fei ohne Aufſehen weggegangen; 
foviel man wifle, habe fie in der Schweiz einen andern Dienft. 
angenommen. 


ER 











4. Auf dem Marfch 


Als wir am Abend des 6. Auguſt, e8 war gerade noch 
hell genug, einen berrenlofen franzöfifchen Rotſchimmel, der ver- 
gnügt in einem Kleefeld weidete, auß der Nähe nicht mit einer 
buntgejchedten wiehernden Kuh zu verwechieln, über den füblichen 
Zeil des Sclachtfelde8 von Spihern gegen Forbach zu zogen, 
hob der Musketier Reindel, feined Zeichens Schufter, einen im 
tiefen durchgeregneten Aderboden jterfen gebliebnen Schub auf, 
einen Heinen jchmalen Schuh, wie für einen Damenfuß, hielt ihn 
prüfend in Die Höhe und ſprach gelaffen das Wort auß: Die 
find verloren. Wenn die Franzofen alle jo beſchuht find, find 
fie von vornherein verloren; damit marſchiert man nicht einmal 
nach Koblenz, gejchweige denn nach Berlin. Für ung Rommiß- 
beftiefelte klang das tröftlidh, denn wenn auch mandjen der Schuß 
drüdte, konnte er fi) doch jagen: Diefes Schuhwerk drückt dich, 
weil es ſtark ift, und eben deswegen wird e8 die Märjche aus- 
halten, marjchiere dich nur erft einmal hinein. Sei frob, daß bu 
nit firumpfig oder barfuß über da8 Feld Hüpfit wie diefer 
Franzoſe, dem dieſer Schuh gehört Hat. Wo mag er jebt fein, 
der Träger dieſes flachen leichten Schuhs? Da die weiße Gamaſche, 
die dieſen Schuh fefthielt, wohl auch irgendwo im Straßengraben 
liegt, fo kann man fid) ihn nur als Barfüßler mit aufgelrempelten 
Rothofen vorftellen. 

Frohlocke aber nicht zu früh, deutfcher Infanteriſt, der bu 
mit dem jchweren Zündnadelgewehr, dem plumpen Safchinenmeffer, 
zwei Patrontaſchen, Zornifter mit Nejervemunition, Brotbeutel 
und Feldflaſche, beide möglichft gefüllt, und „eifernem Beftand“ 
bon Reid und Kaffee, und in der Negel noch mit einer Schaufel, 
Art oder — Kaffeemühle beladen, Märſche zu machen haben 
wirft, von denen du dir an den längften Übungsmarfchtagen in 
der Garniſon nichts Haft träumen laſſen. Alte Soldaten, Die 
1866 mit Dabei geweſen waren, fagten es jchon in der Pfalz 


4. Auf dem Marfch 161 


— — LG EL — — — * 


voraus: Mit dem Marſchieren iſts wie mit der Bauernarbeit, 
es geht in einem fort weiter und wird nie weniger. Frankreich 
iſt ein großes Land, da finds viele Märſche bis and Ziel, un- 
gerechnet die Nüdmärjche und Flankenmärſche. Mein Freund und 
Vorgeſetzter, der Unteroffizier Reiske, mit dem ich ein Semefter 
in Jena verlebt und zum Zeil auch jtudiert hatte, meinte das⸗ 
felbe, als er einmal nad) einem ftaubigen Marjch aus dem tiefen 
Gras eines lothringiſchen Objtgartend heraus, in dem wir auf 
dem Rüden lagen, wie im Traum die Worte ſprach: Der große 
Rund hatte ſchon Recht, die Geſchichte ift Bewegung. 

AH fo, du meinſt den Kuno Filcher. 

Natürlich, ich mußte jebt an dieſes bedeutende Wort denten, 
und wie ruhig er dabei auf dem Katheder jtand, als ob er allein 
diefe Bewegung nicht mitmachen werde. 

Sage mir aber, wie betont du den Satz. Sit die Gejchichte 
Bewegung, oder tft die Gejchichte Bewegung? 

Nun, beide. Weil die Gejchichte Bewegung ift, ift Die 
Geſchichte Bewegung. Deshalb eben marfchieren wir jeden Tag 
dreißig KRilometerjteine ab, und wenn das Quartier jeitwärts 
liegt, no ein paar dazu. Ob fi Kuno Filcher jemals von 
dieſer praftiichen Anwendung jeiner Behauptung eine Vorjtellung 
gemacht Hat? Wäre er doch mit dabei! 

Das ift dad Privileg der Philojophen, daß fie eine Maſſe 
von Dingen, die die andern Leute im Schweiße ihres Angefichts 
und im Staub ihrer Yüße tun, in ein paar Worte zulammen- 
fafjen, die man faft nicht verfteht. Das eine ift dann Geſchichte, 
und das andre ift Philofophie der Geſchichte und Hält fich für 
befler. 

Scheint dir nicht das erjte wichtiger ald das andre? 

Sicherlich, aber dennoch Hätte ich jo Luft, einmal dieſe 
Bewegung zu unterbrechen, einen ganzen Tag zu ruhn und nichts 
als Seifenblajen zu machen; fie jollten fo ſchön, jo jchön fein, 
und groß follten fie werden. 

Ich komme auf meine Marjcherinnerungen zurüd. Es ift 
mit dieſer Bewegung in der Geſchichte eine ernſte Sache. Es 
gibt Soldaten, die in der Schlacht ihre Kugel kriegen, und andre, 
die ſich wahrhaft zu Tode marſchieren, und jene ſind zu beneiden. 
Traurige Ausleſe, der beide zum Opfer fallen, die im übrigen 
Dienſt zu den beſten gehörten! Kaum kommt die Marſchfähigkeit 
zu ernſtlicher Erprobung, da zeigt es ſich, daß einige, die man 
zu den Kräftigſten gerechnet hatte, die Probe nicht beſtehn. Zu⸗ 

Nagel, Glückinſeln unb Träume 11 





NEE TEN — 


162 Bilder aus dem Kriege mit Sranfreid) 


nächſt befteigen fie den Kompagnielarren, was in dieſer erften 
Feldzugszeit niemand gern tut, dann hinken fie wieder mit, bleiben 
neuerdings „fußlos“ liegen, werden, wenn man nicht3 mehr mit 
ihnen anzufangen weiß, einmal in ein Lazarett geftedt oder von 
einem energifchen Arzt gar nad) Haufe gefandt; in der Regel 
find dieſe Unglüdlichen nad) ein paar Tagen ſcheinbar hergeitellt, 
und ſobald fie wieder in Reih und Glied ftehn, fängt das Übel 
von neuem an. (Einer meiner Kameraden hatte das Unglück 
jedesmal mit wunden Yüßen irgendwo Hinter der Front zu liegen, 
wenn es zum Schießen kam; er war ein braver Soldat, aber 
er geriet in den Verdacht, ein „Drüder“ zu fein, und der blieb 
an ihm Hängen. Andre find geborme Marfichfoldaten, die nie eine 
Blafe an der Sohle, feine wunde Stelle am Knöchel, kein 
Hühnerauge gehabt und fich bejonders feinen Wolf gelaufen haben. 
Wenn fid) die andern am Ziel eined Tagesmarſches ind Stroh 
legen, wandern dieſe friſch umher und erzählen jedem, der es 
hören will, das komme alle von einem friſchen Walnußblatt, 
täglich in den Helm gelegt, oder von der abjoluten Vermeidung 
jedes Fußwaſchwaſſers. Für und gewöhnliche Menſchen war es 
jedoch nie eine Kleinigkeit, dreißig Kilometer auf ſtaubiger Land⸗ 
ſtraße zwiſchen Bäumen, die keinen Schatten warfen, in Hitze 
und Staub, in einer dichten ausdünftenden Maſſe von Menichen 
zu wandern, wo zuletzt jeder jchweigt, mechanifch in die Spuren 
ſeines Vordermanns tritt und deſſen Helmbeichlag oder auf den 
Tornifter gefchnallten Blechkeſſel wie in Hypnoſe betrachtet. Man 
zählt die Schritte, die Telegraphenftangen, die Straßenbäume, und 
höchftens ein Kilometerftein oder ein Wegweiſer gewinnt einem 
oder dem andern, der noch verhältnismäßig friſch geblieben ift, 
einen Ruf oder minbeftens eine Handbewegung ab. Die Gefichter 
find dann übermäßig gerötet, das Blut kann durch den mit 
dreißig Kilogramm Gewicht beichwerten Körper nicht raſch genug 
feine ®ege machen. Das Weiße der Augen jogar ift gerötet, Die 
weiße Staubiwolle, die weithin über der Landftraße liegt, pubdert 
die glühende Stim im Kampfe mit den Ninnen des nieder- 
fließenden Schweißed. Und doch ſitzen die Helme nicht im Nacken 
und macht das Gewehr keinen größern Winkel als fünfzig Grad 
mit Kopf und Hals feines Trägerd. Aber mit dem Kommando 
„Halt!“ Tiegen dieje raftlofen Marichierer auf beiden Seiten ber 
Straße, feiner nimmt fi Zeit, den Tornifter abzufchnallen, 
könnte doch in einer Minute der Marſch fortgefegt werden, nur 
einen Halten am Gürtel macht man mit der Rechten frei, es handelt 


4. Auf dem Marſch 163 


ELLE —— — — — — — 











—ñN 





fich vor allem darum, dem Blute freiern Lauf zu laſſen und 
möglichit viel Luft in tiefen Atemzügen zu gewinnen. Ob auf 
Steinhaufen oder im Straßengraben, im Gras oder im Staub, 
fie fallen automatifch nieder. Aber inſtinktiv laſſen fie die mittlere 
Straße frei, denn fie wiflen aus Erfahrung, daß in folchen 
Situationen die vorrafjelnden Batterien wie der Blib da find. 
Nach zwei Minuten ift der regelmäßige Gang des Atmens wieder- 
gewonnen, das Blut zirkuliert frei, die beftaubte Kolonne jeht 
ihren Marſch fort. 

Der Bauernfohn marjchiert von vornherein ander? als dag 
Stadtkind, er ift beſonders ein Virtuos im leichten Wegfchreiten 
über Feld und Stein, befonders über frifchgeadertes Feld, wo am 
ſchwerſten durchzukommen if. Solche Märſche find ja jehr oft 
der Anfang einer Schlacht oder eines Gefechtd, und fie ermüden 
einen Zeil der Mannſchaft außerordentlid) und gewiß zur Un⸗ 
zeit. Die Kompagnien in eine breite Front außeinandergezogen, 
der Schüßenzug ein paar hundert Schritte zurüd, fo fieht man 
fie durch Schollen und über Löcher bin ſich vorarbeiten; immer 
ein mühſeliger Anfang. Wie viel frifcher und heiterer geht es 
auf braunem Heideboden vorwärts, wie man ihn in den Vogefen- 
höhen und wieder auf den Hügeln an der Sarthe hatte! Um 
über frifchgepflügten Ader mit Behagen Hinzufteigen, mußt du 
in der Furche hinter dem Pflug gegangen fein und mit harter 
Sohle die Erdichollen zertreten oder zur Seite gejchleudert haben; 
Spaziergänger, die nur Pflafter und Aſphalt betreten, lernen nie 
dieſe volle Rüdfichtölofigleit des „Durch“ und „drauf.“ 

Es gibt noch einen andern fachmäßigen Marjchtervirtuofen: 
das ift der Landbriefträger in Waffen, deifen Beine auf lange 
und viele Wege „eingegangen“ find; er jällt beim Gehen, wie 
ein? von den Blechmännden auf dem Sahrmarft, die mit Uhr⸗ 
wert gehn. Außerdem hat er eine eigentümliche Vertrautheit mit 
der Landitraße, ift auf du umd du mit Meilenfteinen und Weg⸗ 
zeigern und kann feinem Hund einen Steinwurf erfparen. 

Solange der Soldat nicht ftumpffinnig geworden ift, bietet 
er feine legten Kräfte auf, in jeinem Verbande zu bleiben. Ich 
möchte Jagen: in Neih und Glied zu bleiben, ift die Bedingung 
des guten Gewiſſens beim Soldaten. Er fchleppt ſich in feinem 
Bataillon mit, bis er zuſammenbricht. Das ift nicht bloß Marſch⸗ 
Disziplin, es ftedt darin da8 Hängen des Menſchen am Menſchen, 
bejonder8 an denen, die er gewöhnt tft, denen er gern folgt und 
gehorcht. Kein ſchlechteres Beichen von innerm PBerfall einer 

11* 


164 Bilder aus dem Kriege mit Sranfreid, 


ö— — — — 


Armee, als wenn viele aus Reih und Glied treten und in irgend⸗ 
einer Entfernung nachziehn. Der Soldat, der ſeine Nebenmänner, 
ſeinen Vor⸗ und Hintermann verläßt, mit denen er ſozuſagen 
verwachſen fein muß, gibt ſich felbit auf, ift fein rechter Soldat 
mehr, ift, auch rein menjchlicd genommen, ein Tor oder ein 
Subjekt, das auf Schlechtes finnt. Die Entfernung zwiichen ihm 
und der Truppe nimmt nicht bloß räumlich raſch zu; fie wächſt 
moralifh mit der Entfernumg noch fchneller, verderblich und ver- 
füßrerifch. fehnell. 

Daß auf dem Mari das Trinfen mit der Zeit eine Sache 
von enticheidender Bedeutung wird, weiß jeber Fußgänger. Der 
Durft ift eine Dual, und was tut der Soldat nicht, um fi 
ihrer zu erwehren! Damals laftete noch der medizinifhe Unfinn 
auf und, daß auf dem Marſch nicht getrunfen werden durfte, 
unter den vielen Sünden, die die höhern Militärärzte auf dem 
Gewiſſen haben, eine der leichtfinnigften, denn damals jchon mußte 
man willen, daB mäßiges Trinfen den von Hibe und Staub halb 
Erfticten nicht ſchadet. Statt deſſen fahen wir in jo manchem 
elſaſſiſchen Dorf die Kübel voll fühlen Waſſers, die die mit- 
leidigen Einwohner an die Straße ftellten, einfach augleeren. 
Der Herr Stabsarzt befahl da8 vom hohen Roſſe herab. Der 
Durft hat etwas Bohrendes, da8 Gemüt Beunruhigendes und 
zugleid) Verlockendes. Welcher Hochgenuß, ein Fühler Trunk! 
Nur die Liebe iſt noch verführeriſcher. Der Hunger dagegen iſt 
ein fozufagen rubigeres, ſchwereres Gefühl, das Iangfamer vorrüdt 
und belajtet. Daher die häufigen Disziplinarvergehen aus Durft. 
Wenn Fröſchweiler Waſſer gehabt hätte, wäre e8 befier auch für 
die Sieger gewejen; dem fchweren Efjäfferwein verdankt man 
einige dunkle Flecken in der Geichichte des Feldzugs von 1870. 
Sonft war ja der Wein eine unbeſchreibliche Wohltat, und 
natürlich ganz bejonders auf dem Marid. Schon der Anblid 
einer vollen Feldflaſche rief heitere Empfindungen wad), und noch 
wenn fie leer tvar, würzten Geſpräche von ihrem geweinen Inhalt 
die langen Marichitunden, und es wurde dad Zitat darauf an- 
gewandt: Aber ging es leuchtend nieder, leuchtet? lange nod) 
zurüd! Wllgemein war längere Zeit die Klage, daß man nicht 
ſehe, wa8 man trinfe, nicht bloß den Wein, auch die Fliegen 
und andre Bufälligleiten. Da bradte ein finnreicher Kamerad 
eine bornene Wagſchale „zuftande,“ die in einem Kramladen 
gedient haben mochte, und dieje kreiſte, verehrt und begrüßt wie 
der Becher des Königs von Thule, voll des purpurroten Saone⸗ 


4. Auf dem Marſch 165 


ww 





weind und Burgunders rveihein reihaus und wedte immer neue 
Heiterkeit, beſonders nach dem finnreichen Vergleich mit einer 
altdeutfchen Trinkichale aus dem Schädel eines Feindes, die Reiske 
irgendwo in einem „Nibelungenmujeum“ gejehen haben wollte. 
„Der liebe melancholiſche Kaffee,“ wie ihn die ſächſiſche Minna 
von Barnhelm nennt, wurde zivar feiner Wärme wegen früh- 
morgen? gern geichlürft; aber gleich danach galt er nur noch als 
„ſchwarze Brühe,“ und diefe in die Feldflaſche zu füllen, wie 
einige Aufgellärte anrieten, leuchtete nicht ein, jo lange man über 
roten Wein zu diefem Zwed verfügte. Purpur erweckt ein Gefühl 
von Reichtum, erinnerte fi) jemand irgendivo gelejen zu haben; 
nun, dieſes Gefühls wollten wir, von allem andern abgejehen, 
uns nicht ohne weitered begeben. 

Nachtmarſch, bei deinem Namen ſenkt ſichs düfter wie ſpäte 
Dämmerung um mich herab, und id) höre die Kolonne jchlurfend, 
jchweigend dahinziehn. Töne, die am Tage verwehen oder fich 
im Licht verflüchtigen, werden nun laut; man bört jeden Yehl- 
tritt, jedes Straucheln und da Klappern des Schloſſes, wenn 
dad Gewehr von der einen müden Schulter auf Die andre wandert. 
Das dumpfe Rollen der Gejchüge und Proßen und der Mari 
der Kanoniere, die ganz Hinten in der Kolonne kommen, machen 
jegt eine ganz bejondre Muſik, Säbelicheiden, Karabiner, Sattel- 
taſchen, Schmierbüchien, und was ſonſt um Pferde und Gefchübe 
baumelt, Elingt darein. Aber man hört auch aus dem taftenden 
Tritt der Hufe die Müdigkeit der Pferde. Was war das für ein 
Ton? Ein lautes Schnalzen, wie wenn ein tiefſitzender Pfropfen 
aus voller Flafche gezogen würde. Es ift ein letzter Verſuch des 
KRompagnieipaßvogels, dem Schlaf zu wehren. Wirkjamer ift 
der unmutige Ruf, dem Lachen folgt: Keinen Nachtmarſch mehr 
als Vordermann von Leible; der lange Kerl fieht heute in 
jedem Chaufjeebaum das Gefpenft eines Yranzojen, und indem 
er fi) zagend umfieht, tritt er mir die Haden ab! 

Auch der Dann mit gefunden Sinnen hat feine Viſionen, 
wenn er fo ind Dunkel bineinfchreitet und vergeblich die Augen 
erweitert, um heller zu ſehen. Gerade daß, jagt man, bewirkt, 
daB man Dinge fieht, die nicht find. Doch davon weiß ich nichts. 
Wohl aber erinnere ich mich, wie bei meinem erften enblojen 
Mari in die fternloje Nacht hinein das Dunkel immer tiefer 
ſank, und es num ausſah, als höbe fi) da8 Land zu unfern 
beiden Seiten dem Himmel entgegen, erft die Bäume, dann ber 
Ader, und wir zögen dazwiſchen hin wie in einem tiefen bunfeln 





166 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


Tal. Zuletzt aber war alle ſchwarz wie Sammet, nur felten 
Hufchte noch ein dünnes Licht über die Bajonette hin. ch fragte 
mid), war das der Widerjchein weit offner Augen, die ſich Licht 
aus dem Dunkel erſchauen wollen? 

Der durchichnittliche Friedensmenſch weiß gar nicht, was 
Schlaf für eine Macht ift, er dufelt in feinem weidyen Bett jo 
langſam hinüber und freut fi), wie „Morpheus Arme“ ihn ganz 
unmerklich umfangen. Wie follte er es willen, da die rechte 
Müdigkeit ihm kaum je Blei in die Adern gegojlen hat? Welche 
Macht der Schlaf über den Menfchen Bat, weiß nur der, dem 
Nächte ohne Schlaf vergangen find, ſei e8 auf Bolten, fei es auf 
dem Marſch; er dämmert zulegt am hellen Tage jo hin, marjchiert 
wie ein Yutomat, ohne Hare8 Bewußtſein, und fchläft eine Se= 
funde nad) dem Befehl „Ruben!“ im nächiten beiten Straßen 
graben wie ein Kohlenfad. Der Tag tft ihm nur eine etwas 
bellere Dämmerung. Hunger und Durft fogar gehn im Schlaf» 
bedürfnis volllommen unter. Der Menſch mag überhaupt nicht 
mehr reden, er lebt und geht wie im Traum. Wenn aber dann 
aus diefem Hindämmern ein wirklicher Schlaf wird, erwedit du 
nicht fo leicht den Müden, der tief, ganz tief in das Dunkel 
dieſes gliederlöfenden, traumlofen Schlummers hinabgeſunken ift, 
und wenn ihm die Beit dazu gegeben ift, wacht er nad) zwölf 
Stunden zwar auf, verfinft aber wieder tief und fchläft, ob es 
Tag oder Nacht jei, feine vierundzwanzig bis jech3unddreißig 
Stunden ab. Dann aber welche Friſche, welches Behagen! Und 
nun neues Marſchieren, neue Nachtwachen, zur Not Kämpfe, bis 
ich endlidy wieder ein Quantum Blei in den Gliedern angefammelt 
bat, das von neuem niederzieht. Die Hauptſache dabei ijt jedoch 
der Kopf. Bleibt diefer Har, fo ficht und marjchiert der gefunde 
Soldat troß der bleiernen Müdigkeit, denn da8 Blei verflüffigt 
fi) immer wieder und wird lebendiges Duedfilber, jobald es ins 
Teuer geht. Man muß in ſolchen todmüden Kolonnen marjdiert 
fein, das Ganze eine große Gemeinfchaft Schweigender, bie nur 
mit Bliden, höchſtens abgeriffenen Worten und Heinen gegen= 
feitigen Hilfeleiftungen oder Rüdfichten miteinander jprechen, und 
man muß dann mit folden Kolonnen aud ind euer gegangen 
jein, daß man weiß, was für Kräfte im Menſchen ruhen fönnen. 
Das, denke id mir, war zum Beilpiel dad Große in der Leiſtung 
der Preußen bei Belle-Alliance. 

In den Rubezeiten verliert der Schlaf von jeiner Macht; 
er wird nicht gerade abgejeßt, durchaus nicht, wird vielmehr ein 


4. Auf dem Marſch 167 





— 


guter Kamerad, der freundlich) unſer Lager teilt; aber man ſchläft, 
wenn man will, bejonders viel bei Tage, weil der Tag lang- 
weilt, und ſitzt dafür tief in die Nacht hinein am Teuer, jtößt 
Sceite hinein, daß die Yunlengarben jtieben, und erzählt ſich 
Geſchichten, aus denen ebenfalld Funken ftieben, Geſchichten, für 
deren Schauer oder Unmöglichkeit der Tag zu licht wäre. Daß 
und die Sorge nicht einichlafen ließ, ift uns durd) die Siege 
erſpart worden. Heimweh dagegen, das ift leider allenthalben ein 
ftarfes Mittel zum Wachhalten! Ach könnte davon erzählen, habe 
aber auch diefelbe Erfahrung gemacht wie andre, das dem, der 
fi) nächtelang auf feinem Lager wälzt, unfehlbar in der Kälte des 
Morgens gerade die fühle Halbe Stunde vor Sommenaufgang, den 
Schlaf bringt. Auch den forgenvoll Wacheiten wehen die friichen 
Lüfte in Schlummer, Die der aufgehenden Sonne vorauseilen. 
Der Negen erlaltet den Marfichierenden das Herz und er- 
ichlafft die Muskeln, die Laften wachen, die wir tragen, jedes 
Kleidungsftüd, dad wir anhaben, jede Brotfrume im Proviant- 
beutel wird zum Schwamm, der fid) vollfaugt. Unwillfürlich 
vergleicht man fi) mit dem Eſel der Fabel, der fich mit einer 
Ladung Schwänune im Bache niederließ und nicht mehr aufftehn 
fonnte. D wäre ich doch der Tlügere Efel, der es mit der Salz- 
fadung fo madhtel Aber ich fühle, wie ich immer ſchwerer werde, 
troßdem daß Regenbäche aus Rod und Hojen rinnen, und jede 
Naht ein Tal geworden ift, daß feinen eignen Bad) beherbergt. 
Dft Habe ich in Friedenszeiten der Poeſie des Regenwetters 
das Wort geiprocdhen, und als behaglicher Wandrer freute ic) mich 
des Nebes aus Waflerfäden, das die regnende Wolle quer über 
dad Tal vom Himmel bis zum Boden ſpannte. Auch Heute 
hüllt mic) das Neb des Regens mit taujend Fäden ein, aber 
ic fomme mir wie gefangen darin vor, und es flicht fi) für 
jedes Gewebe, das ich durchichreite, ein neues um mid) her. Durch 
die ganze lange Marichlolonne geht dieſes Gefühl des Ankämpfens 
gegen das Naſſe, dad gegen und prallt, und umſchlingt und um- 
ſchlaͤngelt, anfeuchtet und abkühlt. Mein Unteroffizier geht noch immer 
aufrecht, während faft alle den Kopf vorftreden, al3 wollten fie dem 
Regen entgehn, der nur um fo dichter in Die Lüde zwiſchen Hals 
und Binde regnet; er ijt aud) hier wieder der, der das erlöjenbe 
Wort findet: Seht fieht man erft, was für ein Vergnügen es 
fonjt war, in der freien Luft zu marſchieren; daß mir morgen 
feiner über Staub jammert, wenn der Regen aufgehört hat, und 
wir vierzig Kilometer zurücdlegen! Auch ftellt er Betrachtungen 


168 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


— 


an über den Unterſchied des Gefühls, das die Flüſſigkeit hervor⸗ 
ruft, die man vorn hinter die Binde gießt, und dem des Regen⸗ 
waſſers, das von rückwärts feinen Weg hinter die Binde findet. 
Er fand dieſesmal feinen Anklang, denn wenn man den Mund 
zum Lachen öffnen wollte, floß oder regnete eben dieſes geſchmack⸗ 
loſe Waſſer hinein. 

Dem Waſſer ſind wir überhaupt nicht Freund. Als Regen 
verdirbt es uns nicht ſofort den Humor, aber die Uniform geht 
aus der „Façon,“ und hauptſächlich ſchadet es dem Gewehr. 
Auf Regen folgt nicht bloß der Sonnenſchein, ſondern viel ſicherer 
der Putztag und die gefürchtete Gewehrviſitation. Der Kampf 
mit dem Roſt fällt dem gewehrtragenden Soldaten faſt jo ſchwer 
wie der mit dem Feind und iſt oft nicht fo erfolgreich. Des⸗ 
wegen verglid) der Unteroffizier Reiske in einer feiner Abend⸗ 
betrachtungen den Büchjenmacher, als Yührer im Kampfe mit 
dem Roſte, mit den Göttern; auch er kämpft gegen das Schichſal. 
friegt es aber nicht unter, und der Roft ift nichts als Die Zeit, 
die alles annagt und zerfrißt, am meilten den Stahl, deſſen 
grauer Glanz im Gewehrlauf der Stolz des guten Soldaten ift. 

Aus fortgefegten Betradjtungen diejed und andrer Philo- 
ſophen in Uniform ergab es ſich auch, daß der Nuben bed 
Waſſers im Kriege ift, daß der Soldat fich Hineinlegt, wenn er 
biwafiert, denn es macht die Erde weicher; wird dieſe aber zu 
weich, und jchlägt überhaupt das Gefühl der Näfle dur, dann 
ſchleppt man Steine herbei, einen für den Kopf, einen für den 
Rüden, einen für die Füße. Steine find immer hart, aber unjer 
Gefühl für ihre Härte ift nicht immer dasſelbe, und es wird 
die Behauptung gewagt, daß rundlidhe Steine, die troden find, 
fogar den Eindrud einer gewiflen Weichheit machen, die man 
vielleicht beſſer als Molligleit bezeichnen würde. Sobald man 
aber Waſſer in den Körper gelangen läßt, vulgo trinkt, wird 
dad Gefühl für die äußere Näfle verjtärkt, denn nun drüden 
die beiden Waſſermaſſen gegeneinander, was nur für Filche ift. 
Daraus z0g Reiske die Folgerung, daß ein Lager im Wafler, 
das durch Steineinlagen troden und warm gemacht tit, bei einem 
guten Trunk Wein in manchen Beziehungen einem Lager im 
Bett bei innerlichem Gebrauch von gemwöhnlichem Brunnenwafler 
borzuziehn ji. Ich muß leider zur Steuer der hiſtoriſchen 
Wahrheit hinzufügen, daß diefe Erwägungen erit längere Beit 
nad naſſen Biwals im Trodnen vor einem guten Feuer angejtellt 
worden find, ebenjo wie ih auch aus ganz trodnem Stroh einer 


4. Auf dem Marfd 169 


Iuftigen Scheune heraus folgende Hydrologifche Betradjtung an- 
ftellen hörte: Beim Naßwerden ift das Gute, daß man nicht 
näfler werden kann; wenn bu in einer Aderfurche Liegit, und 
es kommt bei plötzlichem Plabregen ein Bad) Herangeichofien, als 
wollte er Did) wegtragen, fo bleibe ruhig liegen, denn du bift num 
einmal naß, gerade jo wie ich dir rate, ruhig liegen zu bleiben, 
wenn du totgefchoflen bift, denn du bift nun einmal tot. 

Als ic) im Jahre vor dem Kriege zum erjtenmal nad) Franl- 
reich 309, war eine meiner erften Frage: Wie jehen franzöfifche 
Landitraßen aus? Wie wandert e8 fid) auf ihnen? Wem be- 
gegnet man, und zu wem gejellt man fi ald Wandrer? Sc 
ftaunte dann die breiten Heerftraßen an, die großenteild aus der 
Zeit des erften Napoleon ftammen, freute mic) der jaubern, 
tafenberänderten Fußwege, die an ihrer einen Seite aufgeworfen 
find, begegnete zwiſchen Mülhaufen und Altkirch dem erften Rad⸗ 
fahrer auf Hohem, klapperndem Inſtrument, ſchaute mich aber ver- 
gebens nad) den Wirtöhäujfern an der Straße um, in denen 
Dumad drei Musketiere ihre fabelhaften Mahle zu fi zu 
nehmen pflegten. 

Dagegen freute ich mich Herzlich, daß in hellen WWielen- 
gründen an murmelnden Bächen gerade jo fette Mühlen lagen 
wie bei uns, oft einen Büchlenihuß vom Dorf entfernt, in 
maleriſcher Vereinzelung. Das Moos leuchtete an ihren dunkeln 
Nädern gerade fo tiefgrün wie jenjeitS des Rheins, ihre Mühl⸗ 
Inappen fchienen mir ebenfo weiß zu fein, und wenn ich nahe 
genug kam, glaubte ich aus dem Rauſchen des Mühlbach die⸗ 
jelben poetifchen Stimmen zu vernehmen, die Wilhelm Müller 
jo liebenswürdig verdolmeticht Hat; deſſen Gedichte mit ben 
Müllerliedern Hatte ich nämlich vor nicht langer Zeit bei einem 
Berlauf alter Schmöler bei 5. A. Brockhaus in Leipzig billig 
eritanden. 

Sept ſehen die Ichönen franzöfiichen Landftraßen freilich 
anders aus. Jetzt liegen tote Pjerde oft wie Meilenjteine regel- 
mäßig längs den Straßen, und dazwiſchen Nefte von zufammen- 
gebrochnen Fuhrwerken. Die Wegweiſer find umgeworfen, bie 
Straßenbäume abgehadt, auf zertretnen Adern erlennt man an 
den Reihen von Erdlöchern mit Kohlenreſten den Lagerplah; es 
it ein franzöſiſcher geweſen, daß beweijen die Zeltpflöde, die man 
in der Eile im Boden hat fteden laſſen. Es ift furdjtbar ein- 
fam auf der Landitraße, wir, die hier marfdhieren, find die ein- 
zigen Menjchen weit und breit. So will e8 der Krieg: er muß 





170 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 





den Verkehr für fi) und kann Leinen neben ſich haben, nur die 
Armeen wollen jpredyen, was id) ſonſt jo reg und laut hier 
bewegt, ichweigt. Bon den Stangen bängen die zerichnittnen 
Zelegraphendrähte herab, nur der Wind fpielt zwiſchen ihnen mit 
ſchrillem Ton, im übrigen find fie ftumm geworden. Deswegen 
hängen auch bon dieſem gejprengten Eifenbahnübergang die 
Schienen verbogen in die Luft, und gelegentlich ift eine ein- 
nründende Straße abgegraben. In der Kompagnie wird von 
den lebhaftern, unterhaltungsbebürftigen Leuten geflagt, daß die 
Landitraßen fo verödet feien. Nicht einmal einem alten Schader- 
juden begegnete man, geſchweige denn einem friichen Bauern- 
mädchen! Gefangne Franktireurs in ihren blauen Bluſen, bie 
Hinter bie Front transportiert werben, wahrſcheinlich zum Tot⸗ 
ſchießen, ſind tagelang die einzigen Ziviliſten, denen man auf 
ober an der Landſtraße begegnet. Die der liegen unbeftellt 
oder find nur zur Hälfte beitellt. Man iſt erftaunt, irgendeinen 
Menihen auf dem Felde arbeiten zu jehen. Im Dorfe diejelbe 
Stille und faft diefelbe Einfamleit wie draußen. Wenn aber 
draußen etwad wie Naturruhe eingefehrt ift, die etwas Groß⸗ 
artiged, faft etwas Erhabnes bat, trägt die Stille ded Dorfes 
den Charakter der Verdrofjenheit: Die Läden und die Türen ge⸗ 
ſchloſſen, ſodaß der Befehl zum Uffnen gegeben werden muß, 
die paar Menſchen, die ſich herauswagen, mißtrauiſch oder ängit- 
id. Man merkt es, fie fühlen fi überflüffig, find auf die 
Seite geichoben, fie jchleichen herum, arbeiten können fie nichts, 
zu eſſen haben fie nicht viel, und ob fie auch nur ihr Haupt in der 
eignen Hütte niederlegen, hängt von der Menfchlichteit des Feindes 
ab. Am Morgen- oder im Abendlicht, wo die ſchweren Schatten 
diejer müden Jahreszeit jo Dunkel fielen, meinte ich manchmal, das 
Land grinje mid) wie ein Totenkopf an, in deſſen bohle Augen 
die ewige Sonne, die von all diefen Leiden nichtö weiß, ver- 
geblich hineinſcheint. Iſt daS nicht der Tod, dieſe Häufer ohne 
Fenſter, mit zerborftnen, von der Feuersbrunſt gefchwärzten 
Mauern, den eingeftürzten Torwegen, den gejällten Bäumen, für 
die feine fröhlichen Menſchen mehr da find, die fie umſchatten 
möchten? Das franzöfifche Dorfcafe mit feinen drei zerfeflenen 
Rohrſtühlen und feinem einbeinigen Tiſchchen und verichoffenen 
Billard ift von feinen Iungernden Gäſten verlaften, weber die 
einförmigen politiſchen Geſpraͤche noch die Dominoſteine, deren 
Geklapper damit eine gewifſe Ahnlichkeit hat, find zu vernehmen. 
Sogar in den Heinen Städtchen berriht am frühen Morgen 


4. Auf dem Marſch 171 


412 


Totenftille; fie find immer wenig belebt, jet machen fie fait den 
Eindrud, außgeftorben zu fein. 

Niemand mag fi zum forgenvollen Tagewerk erheben, nur 
der Soldat, hier jo recht der Herr, zieht fingend zum Tore 
hinaus. Was kümmert ihn die Beritörung in diefem Lande! 
Es find Elementargewalten wie Blitz und Sturm, die hier ge- 
hauft haben. Er zieht daran vorüber wie ein Wandrer an einem 
furchtbaren Bergſturz. Wohl ift es wahr, daß die gleichmäßige 
Fremdheit und ſcheue Wildheit jo vieler taufend Menſchen, an 
denen man gleichgiltig, wenn nicht feindlicd) vorübergeht, und fo 
vieler taufend Orte, an die fich feine andre Erinnerung knüpft 
als: hier ftand ih auf Vorpoften, oder: hier ift mein Kamerad 
gefallen, das Herz verarmt und gleichſam außbörrt. Ein jo 
ſtarkes Gefühl der Fremdheit reizt um fo ftärler zur Sehnjucht 
nad) einem Zande, wo nichts und niemand unbefreundet ift. Hüte 
dich aber, dieſe Sehnfucht zu nähren! Suche lieber ben Menſchen 
in deinem Feinde, jo du feiner habhaft werden kannſt, als daß 
du deine Gedanken zuviel in die Heimat ſchweifen läßt. Heimweh 
ift ein bittere und gefährliches Kraut. Hier ift dein und deiner 
Gedanken Plap! 

Aus dem Frieden der Naht erwacht man jeden Morgen 
neu zur Wirklichleit des Kriege. Wie gut, daß man in der 
Regel fofort viel zu viel zu tun bat, al8 daß man den Träumen 
von Heimat und Heimkehr nachhängen Fönntel Und wie gut, 
daß die Morgenfühle jo etwas Kräftigendes, Aufregendes in ſich 
bat! Der fchwarze Kaffeefud, den man glühendheiß binuntergießt, 
trägt bon innen heraus zur Ermunterung bei. Die Korporal- 
haft jammelt fi ımd eilt im Laufichritt zum Ort des Ab⸗ 
marſches. Man freut fi jeden Tag von neuem, ind Bataillon 
einzurüden, es iſt doch ein impofante® Ganze, dieje lange Front 
von taujend Mann in ſechs oder zwölf Gliedern. Eben noch voll 
Bewegung, Reden, Lachen, jebt ftill, daß man ein Blatt fallen 
hört, und in eine Linie gerichtet: Bild der Unterordnumg von 
taufend jelbjtändigen Menſchen, und eben deshalb Bild der 
Drdnung und der hohen Zweckmäßigkeit. Mit Muſik hinaus 
aus dem fremden Dorf, und nun „ohne Tritt,“ d. h. Riemen 
gelodert, Brotreit des Frühſtücks gelaut, Zigarre angezündet. 
Unfer Marſchieren ift in der erjten Stunde ein reined Wandern, 
und da wir Deutiche find, der Wanderpoeſie trog Waffenlärm 
nit bar. Wie freuen wir und der Sonne und ded Taues, 
wir ſchlürfen die friſche Morgenluft, die und freudig entgegen- 


172 Bilder aus dem Kriege mit Sranfreich 


— N 2 


weht. Was ſchadets, daß man nicht an ſchönen Punkten ver⸗ 
weilen, die Blicke genießen kann, um ſo mehr ſehen wir im 
Fluge: die Welt iſt neu, in die wir hineinmarſchieren, der Tag 
iſt jung, und wir ſind jung. Freilich führt jeder Schritt, den 
wir vorwärts tun, von der Heimat weg. Denken wir nicht 
daran, fchauen wir vorwärtd. Doch Halt, noch einen Blid zurüd, 
einen lebten auf die Forts von Metz. Wie rötlich fie von ihren 
fhöngeformten Hügeln herableuchten! Borgeftern verließen wir 
fie, und fie find ſchon fo weit, fo weit, als lägen hundert Stunden 
zwilchen und. Der Gedanke der Trennung ift in dieſem Leben 
voll Bewegung und Veränderung ungeheuer expanfiv, er rüdte 
fie fern don und weg, ald wir nur mußten, daß wir weſtwärts 
weiterziehn würden. 

Noch eine praktiiche Bemerkung zum Schluß. Der Wagen- 
troß ift das Mittelalterlichite in der ganzen modernen Krieg⸗ 
führung. Mit Pferden und undisziplinierten, unwilligen Fuhr⸗ 
leuten taufend Wagen auf grundlofen Wegen mitzuführen, 
die unter Umftänden die Bewegungen der Truppen hemmen 
und einfach ftehn gelafien werden müſſen, fteht durchaus nicht 
mit allen den finnreichen Verbeſſerungen auf andern Gebieten 
der Kriegführung zufammen. Bei Le Mans haben wir im 
Sanuar 1871 die Bagage von drei franzöfiichen Armeekorps 
abgefchnitten und als tote Maffe in und um die Stadt liegen 
jehen. Taujende von Fuhrwerken aller Art, mit und ohne Fuhr⸗ 
leute, mit toten und halbtoten Pferden, und noch mehrere un- 
beipannt, Wagen zer⸗ und ihre Ladungen erbrochen, von ben 
hungernden Pferden angenagt, die verwildert waren und Kämpfe 
miteinander aufführten. Und was hängt nun alle von dem 
richtigen Gang diefer Kolonnen ab, vor allem Verpflegung und 
Munitionderfjag und der Nüdtransport der Verwundeten und 
der Kranken. Wenn wir bedenten, welche Anforderungen an die 
Beweglichkeit der einzelnen Körper allein ſchon die Größe der 
Zruppenmafje ftellt, die ein künftiger Krieg in Aktion fegt, und 
wenn wir die Umgehungd- und die Rückmärſche erwägen, zu denen 
Die weittragenden Waffen nötigen werden, muß uns die Reform 
des Militärtransportimefend als eine ber erſten Notwendigkeiten 
der KriegSbereitfchaft erjcheinen. Die Manöver der legten Jahre 
haben meine® Erachtens an rajch zu legende Feldeiſenbahnen 
und an Selbitfahrern noch nicht das gezeigt, was bie Beweg⸗ 
lihhleit der Feldarmeen verlangt. 


* * 
% 


4. Auf dem Marſch 173 


—wꝰ⸗ 





Zurückkehrend bin ich an einem Sommermorgen von 1871 
auf anderm Wege, von den blutgedüngten, weiten ebnen Ge⸗ 
treidefeldern von Amanvillerd her ind Mofeltal Hinabgejchritten. 
Uber dem Fluß ftieg ein feiner blauer Hauch auf, von der 
geitern gepflügten Erde z0g leiß und fühl der Bodengeruch her, 
der immer an Leben, an Keimen erinnert; jemand fragte, ob er 
von der biutgedüngten Erde nicht fchärfer wehe. Die eriten 
Arbeiter wanderten auf das Feld Hinaus, und eine Kuh, die am 
Wege wieberfäute, bob langſam den Kopf und fchaute und un- 
beforgt nad. Das tägliche Leben jchien fait wieder eingerenft 
zu fein. Der Sturm war heftig geweſen, aber, am menjchlichen 
Leben gemeflen, kurz. Man mußte ſich jagen, ein tüchtiges Volt 
könnte viel leiften, jo Gott ihm lange genug das Leben und die 
Kraft ließe. 


Sr 











5. Dem Hauptmann zulieb 


Bon allen Zeiten des Tages war mir der Spätnacdhmittag 
immer am wenigften Freund. Diefe Stunden um fünf und ſechs 
herum baben feinen rechten Eharalter, fie verſchwimmen zwilchen 
dem hellen Nachmittag und dem grauen Ubend, fie haben felbit 
etwa? Hellgraues, Trübliches. Liegt vielleicht über ihnen ein 
Schatten von ganz ferner Erinnerung an die Schulzeit, mo die 
Knaben zu lange fpielen, dann zu viel Beiperbrot eſſen und 
endli müde und fatt die Grammatik nicht mehr bewältigen 
können? Sm Herbſt ift es bejonders fchlecht mit dieſer Beit 
beftellt, da ift gar fein Pla mehr für fie vor dem frühen 
Abend, der jo jäh hereinbricht, fie führt nur noch ein Dämmer- 
dafein, und leicht ftedt fie und mit dem Gefühl einer gewifien 
Bwedlofigfeit an. ch laſſe mird gefallen, wenn man mit Bier- 
uhrkaffee oder Yünfuhrtee darüber weghilft. Aber gerade von 
ſolchen Genüffen war ich heute fo weit wie nur möglich ent- 
fernt, jo weit, daß ich nicht einmal von ferne daran dadjte. Ich 
dachte überhaupt an niemand und an nichts, was den Gedanken 
eine8 Genuſſes wachrufen konnte. Meinen ganzen Berftand nahm 
die Feldwache in Anſpruch, fünf Musketiere und ich Gefreiter, 
die dort unter dem Brüdenbogen Iagerte, und der franzöfifche 
Borpoiten, der aller Vermutung nad) in Schußweite — damals, 
im Zeitalter der Bündnadel, höchſtens fünfhundert Meter — 
und gegenüber dort hinter dem Eijenbahndamme lag. Mehr als 
einen Büchſenſchuß ſah man nad) feiner Seite in dem welligen 
Gelände. Eine Heine Welt, in deren engem Umfange fogar der 
Maulwurfshaufen dort am Außerften Rande eine beachtenswerte 
Erſcheinung ift! So fern ſcheint er zu fein, daß ich mid} frage: 
Iſt dieſes Erdbraun nicht bläulich getönt wie ein ferner Berg? 
Oder ſchimmert etwas Purpurned heraus? Eng und doch für 
mich Die Welt, eine ganze Welt! Geftern habe ich einen Sfameraben, 


5. Dem Bauptmann zulieb 175 


der ſich zu weit in die Wiefe hinausgewagt Hatte, von einer 
plumpen, breiten Tabatierefugel durch den Magen geichoflen, ſich 
ichwerverwundet an diejer Stelle in Schmerzen krümmen jehen. 
Seine letzten Grüße habe ih für den Fall feines Tode in 
meinem Taſchenbuch. Ereilt mich dasſelbe Schickſal, dann könnte 
e8 zwilchen jet und einer Sekunde mit meinem Leben aus fein. 
Hat alfo nicht dieſes kleine, kahle Stüd Welt einen riefigen Wert 
für mid? Es ift alles, was ich überhaupt von der Welt haben 
fann, und es Lohnt ſich doch, ed noch einmal gründlich anzu= 
Ihauen. Es gehört fi ja auch dienftlich, fügt die Stimme des 
Feldſoldaten, der ich jeit vier Monaten bin, in mir Hinzu, daß 
man fich im Gelände orientiert. Nun wohl: hier ijt ein Brüden- 
bogen, über den die Landitraße wegführt; es fließt Hier fein 
Bad, aber die herbftlich gelben Wieſen diefer Niederung mögen 
wohl im Frühling unter Waſſer ftehn, es ſpricht auch manche 
table, ichlammige Stelle dafür. Von links jchwingt fi Die 
lache Kurve einer Eifenbahnlinie daher, Die fi) ungefähr tauſend 
Schritt vor meinem Standpunkt mit der Straße ſchneidet. Eiſen⸗ 
bahn und Landitraße liegen auf hohen Dämmen, die meinen Ge⸗ 
ſichtskreis im Dften, Weften und Norden umgrenzen. Hinter 
dem hohen Bahndamm im Norden liegt die Feine Yeitung, von 
der wir ein paar gleichgiltige Türme vorgejtern beim Hermarſch 
in der blafjen Novemberabendionne jchimmern fahen; beträchtlid) 
näher, wahrjcheinlich gerade Hinter der Straßenfreuzung muß das 
Häuschen liegen, aus dem geftern gejchojfen worden ift. Hier 
auf dem feftgetretnen Tonboden vor dem Brüdenbogen hat der 
Verwundete gelegen, bis ihn die Kranfenträger holten, dort klebt 
von feinem Blut an den Grashalmen, e& tft ſchon überreift, als 
wolle die Natur mit diefen Spuren fo raſch wie möglich auf- 
räumen. Sch muß dieſe Blutfleden öfter anjchauen, fie jind 
das Farbigfte, um nicht zu jagen das Heiterjte in meinem Um- 
frei; die feinen Eißfriftalle auf der tiefroten Unterlage machen 
in der Tat ein zierliche8 Bild. Ich denke an die roten Blüten 
der Sommeradonid, die man in meiner Heimat Blutströpfchen 
nennt, an blutrote Sonnenuntergänge, an Alpglühen, und Die 
Gedanken jchweifen weit Hinaus bi8 an da8 purpurne Meer 
Homerd. Wie arm ift die Palette der Natur, daß fie für da3 
Blut eines fterbenden Menfchen feine andre Farbe als dieſes 
glühende Rot bat. Sonnenuntergang iſt ja freilich auch ein Ver⸗ 
glühen, und fo wie die Sonne morgen wiederflommen wird, kann 
auch der Musfetier Aigner wiederlommen..... 





176 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


Die Landftraße ift mit Bappeln beießt, die, wie das in 
Frankreich üblich ift, in Jonderbare Formen gejchnitten find: von 
ımten an jedes Zweiglein abgefippt, bis nur nod eine Heine 
pinjelförmige Laubkrone übrig it, oder unter dem Heinen Qaub- 
büfchel an der Spitze eine ſchirmförmige Ausbreitung oder eine 
einfeitige Abjchälung, daß der Baum wie halbiert ausfieht. Yaft 
alle Blätter find fchon verweht. Dort hat fi) ein Brombeer- 
ſtrauch zwiſchen Brüde und Damm eingeniftet, befjen Blätter 
noch grün find; er fjcheint etwa? wie ein Humorift in Diefer 
Landichaft zu fein, Deswegen trägt er aud) Dornen, damit nicht 
magre Dorflühe feine heitere Laune mißbrauden, die ſchwarz⸗ 
glänzende jüße Beeren und im Spätherbit grüne Blätter trägt. 
Ein Blatt davon ift purpurbraun, da iſt fein Blut daran, «8 
ift eine tiefe verhaltne Glut, als glühten mich zahllofe Herbſt⸗ 
fonnenftrahlen an, die fi in den HBellwänden diefe Blattes 
gefangen haben; „es blidt mi an mit ftiller Lebensluft, die 
wärmend mir gedrungen in die Bruft,“ Elingt mir durd den 
Sinn. Lenau ahnte wohl, wie fordernd, wie tätig dieſes Leben, 
und im Grunde wie heiter es ift, troßdem daß der Tod immer 
in Reih und Glied mit aufmarſchiert. Sagt er nicht auch: 
„Drei Dinge hätt id) gern vollbracht, geitanden in der heißen 
Schlacht“ ufw.? 

Gefreiter, he, wo fehen Sie denn hinaus? Dorthin und 
dorthin müflen Sie Yront machen, hörte ich die wohlbelannte 
Stimme meines Hauptmanns hart neben mir. Er war von der 
andern Seite des Straßendamms her kommend unter dem Brücken⸗ 
bogen durdygegangen, vor dem id) auf einem Bund Stroh ſaß 
und den Himmel betrachtete. Ich war aufgefchnellt und ftand 
aufrecht und aufmerkſam vor ihm. Dort ſteht der Feind — er 
deutete nad) Dften —, von dort oben Haben mir nichtß zu 
fürdten. Nicht Neues? 

Nichts, Herr Hauptmann. Seit dem Schuß geitern Nach⸗ 
mittag bat ſich nichts gerührt. Ich bin in der Nacht um elf und 
um bier jo weit vorgegangen, wie der Herr Hauptmann befohlen 
haben, Teine Spur vom Feinde. Der Musfetier Haber ift heute 
früh noch einmal auf eigne Fauft am Damm hingefchlichen, hat 
nicht einmal eine Fußſpur gejehen. 

Sie wiflen genau, daß der Schuß geitern von der Bahn 
freuzung ber gefeuert worden ift? 

Genau, Herr Hauptmann. Der Rauch ftand noch längere 
Zeit fihtbar über dem Signal. Erlauben mir Herr Hauptmann 


5. Dem Bauptmann zulieb 177 


zu jagen, fuhr ich nad einer Halben Sekunde Paufe fort, daß 
wir alle meinen, e8 müſſe hinter dem Damm an der Kreuzung 
ein Bahnwärterhäuschen liegen, und dab eine Feldwache der 
Zranzofen darin ift. 

Mein Hauptmann fchaute mich wie fragend aus feinen kalten 
blauen Augen an, und id) fand den Mut, hinzuzufügen: Wenn 
wir die ausheben dürften, Herr Hauptmann! 

Ohne fi zu befinnen, antwortete mein Hauptmann kurz 
und troden: Verſuchen Sie, ob Sie morgen etwaß mehr zu 
melden haben als heute, aber ſeien Sie vorfichtig. 

Ich folgte ihm in reſpektvoller Entfernung, als er ſich raſch 
zum Gehn wandte Noch über die Schulter die Frage: Sie 
haben doch Fühlung rechts und links, Gefreiter? und nach der 
kurzen Antwort: Zu Befehl, Herr Hauptmann, links mit dem 
Schübenzug, rechts mit der erjten Compagnie, ftand ich am andern 
Eingang unſers Brüdenbogens, und Hinter mir ftanden die drei 
Musketiere, die gerade „daheim“ waren. Wir fchauten und zu⸗ 
frieden an, der Strenge hatte nicht zu tadeln gefunden. Freilich 
blieb ihm auch nicht viel Zeit dazu, Hatte er doch noch fünf 
Poſten abzugehn; wir wußten, daß er dieſe Arbeit gern jelbft 
beforgte, wenn bie Kompagnie in einer fo exponierten Lage war 
wie heute. Wie diefe Lage eigentlid) war, wußte natürlid) nie- 
mand von ung zu jagen. Ich habe es überhaupt erjt aus der 
Negimentögeichichte erfahren, die viele Jahre nachher erichienen 
it. Wir waren geſtern raſch gegen eine Eleine befeftigte Stadt 
borgerüdt, hatten dort die ganze Brigade vorgefunden, alles in 
Bereitichaft, die Dörfer, wo fantoniert wurde, zur Verteidigung 
hergerichtet: Barriladen an den Dorfeingängen, Schießſcharten uſw. 
Was bedeutet da8? Die Kleine Feitung fol mit Handſtreich ge= 
nommen werden, war die Meinung der Kompagnieftrategen, als 
die ſich beſonders einige Avantageure und neugebadne Bizefeld- 
webel aufipielten, die fo taten, als jähen fie in Die Geheimnifje 
des Generalftabß ſchon ganz tief hinein. An etwas geringeres 
als einen Handſtreich denken hätten auch wir andern für un⸗ 
ſoldatiſch gehalten; hatten wir doch die Franzoſen bisher nod) 
immer zurücdweicdhen fehen. Wir hatten feit erwartet, daß man 
am erften Abend nur die Dunkelheit abwarten werde, um dann 
bon allen Seiten gegen die Stabt vorzurüden, Die Tore einzu= 
ſchießen, worauf ſich dann auf dem Markt die fiegreichen Truppen 
vereinigt hätten. Statt deflen waren zahlreiche Feldwachen aus⸗ 
geitellt worden, denen eingefchärft worden war, fich nicht leicht- 

Rayel, Stlüdsinfeln und Träume 12 











178 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


—N — 


finnig gegen die Stadt vorzuwagen, wohl aber etwaige feindliche 
BVorpoften dann und warn zu beunrubigen, damit fie weder an 
unſrer Wachſamkeit nody an unſrer Kampfluft zweifelten. Der 
Zweck bed Ganzen war einfach die Verjchleierung unſrer Stellung 
in den Umgebungen der großen alten PBrovinzialhauptftadt, die 
drei Märfche Hinter ung lag, die Erkundung der Stärke bes 
Seindes auf diefer Seite und fo nebenher die Aufhebung einer 
ganzen Anzahl von Waffen und Mumitiondniederlagen in den 
Dörfern diefer franktireurberüchtigten Gegend. Das bejorgte an 
diefen zwei Tagen unſre Kavallerie aufs befte. Ich habe fpäter 
lagen hören, ein andrer als unſer Brigabelommandant hätte 
allerdings eimen Handſtreich gewagt, e& fei auch davon die Rede 
gemwejen, aber die Artillerie fei zu ſchwach dafür befumden oder 
gehalten worden. 

Einerlei, wir in unferm Iuftigen Lager hatten das Gefühl 
der größten Wichtigkeit und zweifelten feinen Augenblid daran, 
daß dieſer Abend oder dieſe Nacht irgend etwas Wichtigeß bringen 
werde. Auch jetzt noch, nachdem die erfte Nacht faft ruhig ver⸗ 
faufen war — nur ein paar Vorpoſten hatten Schüfle ge⸗ 
wechjelt — hielt dieſes Gefühl an. Es wuchs mit dem finfenden 
Abend. Die Franzofen konnten fich diefe letzten vierundzwanzig 
Stunden ja auch deshalb jo ruhig verhalten haben, weil fie im 
Schutze der Dunkelheit einen Vorſtoß maden wollten. Wir 
wollten uns jedenfall8 nicht in Sicherheit wiegen. Vorſichtig! 
war das legte Wort des Hauptmannd geweſen; e8 mußte jchon 
fehr notwendig jein, Borfiht zu üben, wenn er dazu aufforderte, 
denn für gewöhnlich war nicht das fein Lieblingäwort, er war 
immer vielmehr bereit zu jagen: Drauf, unerjchroden, Taltblütig, 
entſchieden. 

Ich hatte dem Hauptmann nachgeſchaut, bis er verſchwunden 
war; er mußte längs des Straßendamms bis in die Nähe des 
Dorfes zurückgehn, wo die Kompagnie kantonierte, um von dort 
aus den Weg zu einer andern Feldwache zu gewinnen; quer 
über die Wieſen zu gehn, dafür war e8 noch zu Hell. Vom 
Brüdenbogen ber tönten die Laute des Kartenſpiels: Kurz heraus⸗ 
geitoßne Worte, das Aufklopfen der Karten auf dem Zornifter- 
rüden, ein Lachen wie unterdrüdter Fluch, Die Pauſe des Miſchens 
und immer dieſelbe Muſik in einförmiger Wiederholung. Ich 
hatte feine Zuft, mich da Hineinzumengen, fie wollten ihr Spiel 
fertig machen, jo lange es hell war, ein Geſpräch wäre jeht kaum 
willlommen gewejen, auch id) Hatte jept fein Verlangen mehr 


5. Dem Hauptmann zulieb 179 


nn 
— — — — — zur — ⸗—— — 


danach. Die Gedanken, die das Kommen des Hauptmanns unter⸗ 
brochen hatte, wollten ſich meiteripimmen. Der Blick in meine 
„Ummelt“ rief fie gleich wieder hervor. Der Nachmittag ging zu 
Ende, der Abend fandte feine erften Schatten, ic} mufterte gründlich 
den ganzen engen Horizont und ſah feine Spur von Bewegung, 
von Veränderung. Ach dachte an einen Lehrſatz, auf den der 
trefflide Sergeant Vater im theoretifchen Unterricht bejondres 
Gewicht gelegt hatte: Daß ein Dorf vom Yeinde beſetzt jei, 
erfennt der Batrouillenführer daran, daß Hunde darin lebhafter 
find als gewöhnlid. Nun, unfre Leute wußten ich zu deden; 
nicht einmal ein Hundegebell tönte aus Les Verſoix herüber. 
Bewegung war überhaupt nur am Himmel. Dort öffneten ſich 
dann und wann zwiſchen den Wolfen blaue Yenfter, und ganz, 
unten am Horizont ſchien ein gelblicher Lichtftreif zu jagen: Die 
Möglichkeit eines Abendſonnenſtrahls foll nicht ganz in Abrede 
geitellt werben. Aber die Wolfen, die ein rauher Nordweſt 
launiſch durcheinander ſchob, beeilten fi, Die Fenſter gleid) wieder 
zuzuhängen, und was der gelbe Lichtftreif meinte, ließ mich ganz 
kalt; nicht weil er im Ton etivad Schwefliges hatte, da8 an und 
für fi) fein Vertrauen erwedte, fondern weil ich jo weit gar 
nicht denken wollte. Es war ein trüber, froftiger Tag, und damit 
genug. Der Eindrud, den er über dieſer Tahlen, fahlen Land- 
ſchaft machte, war jo einheitlich, daß man nicht? darüber hinaus- 
zudenfen hatte: man war mit grau umd braun, trüb und kahl 
ganz gefättigt, wenn auch nicht eben zufrieden. Wer nicht ganze 
Tage von früh bi fpät in einer ſolchen Landichaft aushalten, 
weſentlich auf demjelben Punkt jtehend immer denjelben Geſichts⸗ 
kreis muftern muß, Hat feine Ahnung, wie leer es in der Welt 
ausſehen kann. Er erfährt dann erit, daß es Eindrüde gibt, bie 
noch viel leerer jind als einfache Stille. Im bürgerlichen Leben 
wird er dann lyriſch angehaudjt und jehnt fi) nach der Einfam- 
feit des Waldes oder der Einfürmigfeit eines weiten Waſſer⸗ 
Ipiegeiß, die ihm voll tönen im Vergleich mit dieſer fchrillen 
de. Der Soldat überlegt, was wohl in diefer Landſchaft 
Kriegerifches paffieren Lönnte, und wa8 dann zu tun wäre. An 
Abmarſch iſt nicht zu denken, wenn er nidjt etwa noch in der Nacht 
allen, aud) dem Hauptmann, unerwartet plöglich befohlen wird. 
Zu einem Vorgehn ſcheint man ſich ebenfowenig zu entichließen. 
Wir müſſen aber mehr erfahren, der Hauptmann wünjcht e2. 
Der Leer erlaube, daß ih ihm an diejer Stelle den Haupt⸗ 
mann voritelle, der die erfte Berfon in diejer Heinen Welt der 
12* 


180 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


ID PL LIND DEE 


Feldwache vor Led Verjoiz und bis auf den Heutigen Tag eine 
ber erften Perfonen im ganzen Bereich meiner Erinnerung ift. 
Bon Liebe, Freundichaft, Verehrung und dergleichen ift zwar 
bei uns nicht die Rede. Sole Worte nimmt der Soldat bi 
zum Feldwebel aufwärts und einjchließlich gar nicht in den Mund. 
Er gehorcht; und daß er nun diejem Vorgeſetzten jo gern gehordit, 
darin liegt die Poeſie feines Verhältniſſes zu dem Vorgeſetzten. 
Was er ihm fchuldet, ift im Reglement genau beftimmt, er ift 
aber jederzeit bereit, weit mehr zu geben, freiwillig, al8 Dienſt⸗ 
mann. Der Mußfetier ift feinem Vorgeſetzten dankbar, der es 
ihm möglich macht, die tägliche, unabänderliche Gewohnheit des 
Gehorchens, die jo notwendig wie das Atmen ift, als eine Freude 
zu empfinden. So war es bei den Nibelungen, und jo iſt es 
bei den Musfetieren der zweiten Kompagnie. Was num aud) 
diefem Gefühl zugrunde liegen möge, es vergoldet fein eintöniges 
Leben. Früh, wenn im kalten Morgengrau die KRorporalichaften 
aus den Kantonnementd zufammentreten, notdürftig gefrühltüdt, 
faum fertig zugelnöpft und umgehängt haben, geht der Unter⸗ 
uffizier prüfend vor und hinter der Front von einem zum andern, 
damit alles fißt; der Hauptmann foll nichts zu tadeln haben. 
Siehe, da tritt er aus feinem Quartier, daS in der Regel nicht 
beſſer als das feiner Musketiere if. Sein Pferd neigt ihm 
freundlich den Kopf zu, es wird geftreichelt und koſend geflopft, 
fein Dadel umwedelt ihn, die ganze Kompagnie freut fich Darüber, 
fie veriteht ja, daß man ihn gern hat. Die zwei Bugführer, 
Premierleutnant und Leutnant, treten heran und melden. Ach, 
denkt jeder, der in der Front fteht, wie ganz anders find diel Der 
Hauptmann überragt fie etwas, aber darin liegt es nicht, denn 
er ift jelbft nur von Mittelgröße, und da folgen gleich am rechten 
Flügel drei Musketiere bintereinander, die größer find als er. 
Er überragt fie, doch überftraßlt er fie mehr mit feinen hellen 
blauen Augen, die jo unbelümmert, immer glei ruhig und Eühl 
in die Welt hinausfchauen. Noch niemand hat fie funfeln, aber 
auch niemand fie trüb oder gar fchläfrig geiehen. Die Gefahr 
bat gar keine Wirkung auf fie, das wiſſen wir alle. Wir empfinden 
au, daß in feiner Haltung etwas ift, wa alle andern nicht 
haben. Diefe fchlante, elaftifche Geftalt Hält fich jo abſichtslos 
und ungezivungen gerade wie eine junge Schwarzivaldtanne. 
Man kann es nicht recht außiprechen, aber man fühlt es, er iſt 
nit bloß Offizier, er ift Ritter. Ja, das ift ed, das fühlt 
fogar der gemeine Mann: fo meine ich auf Bildern Männer in 


5. Dem Hauptmann zulieb 181 





ftählernen Rüſtungen, den mächtigen, bewimpelten Turnierſpeer 
in der eifenbehandfchuhten Zauft, gelehen zu haben. Auch, wiſſen 
wir alle, daß dieſes Nitterliche nicht bloß in feinem Äußern if, 
und daß fein abliher Name feine adliche Natur nur befiegelt. 
Wir kermen ihn als den eiſern ftrengen und den eifern ge 
rechten. Ich beftätige es aus friſcheſter Erfahrung. Noch Heute 
liegen mir die vierundzwanzig Stunden Strafwache und Pa- 
teouillengänge in den Knochen, die er über mich verhängte, als 
mid) die Kompagnie von meinem Kommando zur Ordonnanz beim 
Divifionsftabe nicht abgelöft hatte, und ich ruhig einen halben 
Tag länger dort blieb, ftatt fofort die Kompagnie aufzujuchen, 
die, unbelannt wohin, auf Borpoften marjchiert war; und noch 
fühle ich es, wie mein Gerz ſich unter dem kalten Blick zufanmen- 
309, der mir ein wahrhaft vernichtender zu fein fchten. Daß 
war die zweite Begegnung; die erite war ganz anders geweſen. 
Da hatte er mir, als ich don einem Häufergefecht vor Meb mit 
durchſchoſſenen und von heraufgeichleuderten Kieſelſteinchen fieb- 
artig durchlöcherten Beinkleidern zurüdfehrte, eine halbe Flaſche 
Wein mit den Worten gereiht: Da, Freiwilliger, fliden Gie 
Ihre Hojen. 

Mein Bugführer, ein junger Leutnant, hatte fentimentaler- 
weife geglaubt, ich Hätte ihm das Leben gerettet, weil ich ihn 
hinter einen ſchützenden Alleebaum getragen hatte, als ein Prell- 
ſchuß aus einem Fenſter von oben her auf feine Helmkokarde 
ihn ohnmädtig gemacht hatte; und er fchien dem Hauptmann 
diefe Epifode in Farben ausgemalt zu haben, die ſehr günftig 
für mid) waren. Jener, ein guter Knabe mit etwas zu dicken 
Baden, hatte es auch für eine Heldentat gehalten, daß ih, als 
wir zurüdgehn mußten, mir nod) eine wunderſchöne halb ab- 
gefchoflene Teerofe vom Blumenbrett des Fenſters pflücte, Hinter 
dem möglicherweife noch Yranzojen lauern konnten! Seitdem 
hatte mich der Hauptmann viele Wochen gerade fo ignoriert wie 
vorher. Dann kam der Blid von Ei8 und die Strafe. Und 
drei Tage darauf die dritte Begegnung: die erſte Einladung, 
mit ihm und den Kompagnieoffizieren zu Abend zu efjen. Kein 
Freiwilliger Hatte fich bisher dieſer Ehre zu erfreuen gehabt, 
und id) war ganz bejonders ftolz, daß mit und der Vizefeldwebel 
zu Tifche ſaß, der bis vor einigen Wochen unfer guter Kamerad 
geivejen war, bis das Portepee eine Mluft zwiſchen uns alten 
Freunden, von der Univerfität ber befannten, riß. Es wurde 
ben ganzen Abend nur von gleichgiltigen Dingen geſprochen; aber 








182 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


ich bin niemals in jo gehobner Stimmung aus der geiftreichften 
Gefellichaft gegangen, wie ich von Diefem Holztiſch einer fran- 
zöſiſchen Bauernftube aufftand, in ber mein Hauptmann ein- 
quartiert war. Mid) erfüllten bis zur Berauſchung die wider⸗ 
iprechenditen Gefühle: meine Strafe erjchien mir noch viel ver- 
Dienter, mein Zehler noch viel umverzeihlicder als vorher; aber 
das alles war ja nun in der edelſten und zartfinnigften Weiſe 
wieder gejühnt und verziehen. So gut wurde e8 nun freilich 
nicht jedem. Er konnte Fehler lange nachtragen, der geftrenge 
Chef, und jo Hat er es zum Beiſpiel bis über den Feldzug 
hinaus dem Freiwilligen Bol nicht vergeflen können, daß er ihn 
auf einem Doppelpoften an gefährlicher Stelle mit dem Bajonett 
einen Apfel vom Baum jtechen ſah. Und ebenfowenig konnte 
er es dem langen Biegler vergefien, der Schreiberdienfte verrichtete 
und wegen ſchwacher Füße jehr oft auf dem Kompagniewagen 
faß, daß er eimmal, als er auf dem geliebten Wagen fortfuhr, 
fein Gewehr im Duartier zurüdgelafien hatte; Ziegler behauptete, 
der Mari von 25 Kilometern Hin und zurüd, um den alten 
„Scießprügel“ zu holen, fei ihm jaurer geworden als der 
Kompagniearreit, den er abzufiten Hatte In allen diefen und 
ähnlichen Fällen war die ganze Kompagnie jedesmal mit Aus⸗ 
nahme des Beitraften auf der Seite des Hauptmanns. Auch 
wenn die Strafen manchmal hart auöfielen, was war Das im 
Vergleich mit der Erinnerung an die Ealtblütige Haltung des 
Chef3 in fo vielen Fällen, ſei e8 im Vorgehn unter den feinb- 
lichen Kugeln, ſei es im Ausharren auf nächtlichem Marſch oder 
in einer endloſen Bereitfchaftsftellumg in Regen und Wind? 
Und war unjre Rompagnie nicht die einzige im Negiment, um 
deren Quartiere ſich der Chef bis ins einzelite kümmerte? Das 
war befannt, daß er ſich Leine Ruhe gönnte, bis der lebte Mann 
von den Seinen untergebracht war; und vielleicht am höchſten 
wurde es ihm von ung angerecdjnet, daß er einmal die Regiments- 
mufifer mit Träftigen Worten aus den Häufern außquartiert hatte, 
die für unfer Kantonnentent beftimmt waren. Man lieh fi 
von ihnen gern etwas vorjpielen, liebte fie aber im übrigen 
wegen ihrer Weichlichleit und Begehrlichkeit im Wohnen und 
Eſſen nicht befonderd. Das Hornfignal zum Avancieren, dag 
einer ohne Taubenneſter bläjt, ift mir lieber ald eure Tänze, 
hatte man bei dieſer &elegenheit den Hauptmann fagen hören, 
und damit hatte er wieder einmal die „öftentlihe Meinung“ der 
Kompagnie zum Ausdrud gebradit. 


5. Dem Bauptmann zulieb 183 


Doch ich jehe, daß ich mich zu tief in Perſönliches einlaffe, 
das außer mir heutzutage nur wenige intereifieren Tann; denn 
der Dann, von dem ich fpreche, ift fein berühmter Mann, den 
die Welt kennt, bat es auch nie darauf angelegt; feine Größe 
war eine Größe in dem engen Kreis jeiner Pflicht. Soviel wie 
ich hier von ihm ſpreche, habe ich aber freilich in den Stunden, 
deren Inhalt ich erzähle, an ihn und an feine Wünſche und 
Befehle gedacht, und infofern wurde ich wenigſtens meiner Auf⸗ 
gabe nicht untreu, indem ich etwas länger bei ihm verweilte. 

Es war jet düfter geworben, ich Tehrte zu meinem Brüden- 
bogen zurüd, meine Tartenjpielenden Kameraden waren ins freie 
heraußgetreten, fchritten raſch auf und ab, fchlugen die Arme 
kreuzweiſe über die Bruft und die Schultern, um ſich zu erwärmen, 
und taufchten mit kurzen Worten ihre Anfichten und Ausfichten 
über das Wetter, den ıumfichtbaren Feind, den man nicht mehr 
erwartete, und den Proviant aus, den man dringend erwartete; 
der eine kaute an einem Stüd Kommißbrot, der andre zünbdete 
in feinem Pfeifchen die ũübliche Miſchung von etwas Tabak mit 
viel Baumblättern an. Durch die Dämmerung ſah man drei 
dunkle Geftalten am Straßendamm auftauchen, troß der trüben 
Luft von weiten ſchon erfennbar al8 die Patrouille, die den 
Nachmittag ausgeſandt worden war, um Meldungen mit rechts 
und links und dem Kommando im Dorfe audzutaufhen. Sie 
bradjte feine Neuigkeiten, bei den andern Feldwachen war es den 
Zag über eben fo ftill wie bei ung geblieben, doch ließ der Haupt⸗ 
mann vermehrte Wachſamkeit, beſonders und wegen der ver⸗ 
muteten Bejegimg der Bahnkreuzung, empfehlen. Die Batrouille 
hatte auf dem Rückwege die Abendfuppe, Brot und Wein gefaßt, 
die wir ung beſtens jchmeden ließen. Die Naht war da, man 
lehnte vor die Windjeite des Iuftigen Raumes eine Holztür, Die 
aus dem nächſten Dorfhaud gebracht worden war, fehte fi) auf 
das Stroblager und hörte mit einer gewiſſen Beruhigung die 
gleihmäßigen und behutfamen Schritte des Doppelpoftens, der 
jebt die Straße bewachte und von ihr aus die Nieberungen 
zu beiden Geiten überjehen konnte, joweit die Dunkelheit es 
zuließ. Einmal ein leifer Pfiff des einen Poſtens, der mitteilen 
wollte, es komme ihm vor, als ſei vor ihm über der Bahnkreuzung 
ein heller Schein; wir Tonnten nichts Beſtimmtes ſehen, aber die 
Erijtenz einer franzöfiihen Feldwache hinter diefer Stelle wurde 
dadurch noch wahrjcheinlicher. 

* 


u 
v 








184 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


Wäre der Aufenthalt unter der Brüde bebaglicher geweſen, 
fo hätten ſich die vier jungen Männer, die jebt ihre Gewehre 
zur Sand nahmen und fi marjchfertig nebeneinander aufftellten, 
vielleicht gezögert, aufzubrecdhen; aber e8 war hier unten, abgefehen 
bon dem Tleinen Fled, wo das trübe Licht der Blendlaterne hin⸗ 
fiel, ebenfo dunkel wie draußen, ebenjo kalt und noch ein gut 
Teil zugiger. Man ſehnte ſich nach Bewegung, und im ſtillen 
war auch der Wunſch rege, ſich nicht etwa durch eine Schleich- 
patrouille überrafchen zu laffen; es ift Har, daß man fich beruhigt 
aufs Stroh legen wird, wenn man, von dem nächtlichen Gang 
zurüdgelehrt, melden kann, daß die Luft da draußen rein ift. 
Und dann wird bälder der Morgen da fein, und mit ihm viel- 
leicht die Sonne, wahrſcheinlich Ablöfung, Veränderung, und das 
Nächſte nicht zu vergeflen, der heiße Kaffee! 

Sie gehn ohne viele Worte ab, voraus der Erzähler von 
vorhin, der jetzt gar nicht mehr and Nefleltieren, jondern nur 
ans Objervieren dachte; wenn man fein Geficht hätte jehen können, 
würde man unter dem Buge von heiterer Gleihmütigfeit, den 
er nicht leicht verlieren zu können ſchien, Die geipanntefte Auf⸗ 
merkſamkeit wahrgenommen haben, die die Zähne aufeinander- 
preßte, die Augen hervortreten und die Umgebungen der Augen 
fi) erweitern ließ, um dem Blid nad) allen Seiten frete Bahn 
zu machen. Das war wohl auf jedem Geficht der vier Soldaten 
der vorherrſchende Ausdrud; jedes Auge wollte dad Dunkel durch⸗ 
dringen, worin die Einzelheiten der Landſchaft gleichſam verfunten 
waren; jeder wollte wenigſtens für den nächſten Schritt daB 
Gelände aufllären, damit der Fuß ficherer auftrat. Ihre Un- 
ftrengungen waren nicht vergebend, aus bem Schwarz, murbe 
rau, und es gliederte fi), was eben noch eine Nacht gewefen 
war, in Luft und Boden; in undeutlichen Umriſſen ftieg der 
hohe Straßendamm zur Rechten auf, und vor ihnen kündete ein 
ſchwacher Lichtſchimmer unten am Firmament, der zu ſchwanken 
oder zu fladern fdhien, die Lage der Stadt an. Man ging 
zwar immer vorfichtig vorwärts, aber nun doch ficherer und 
deshalb auch raſcher. Als etwa fünfhundert Schritt zurückgelegt 
waren, blieb der Führer ftehn und wartete, bis fich die brei um 
ihn verfammelt hatten. Dann fagte er feife: So geht e8 nun 
noch einmal ungefähr ebenjomweit fort, dann kommt von Weſten 
ber halbrechts der Eiſenbahndamm, der diefen Straßendamm 
freuzt; dort Hat unſre Aufflärung ein Ende. Ehe wir fo weit 
fommen, müſſen wir aus dem Loch heraus und fchauen, ob es 


5. Dem Bauptmann zulieb 185 





nr, 


auf der Straße oben fauber iſt. — Jawohl, heraus, herauf, fagte 
zuftimmend einer von den vieren. — Aber nicht alle, fuhr der 
junge Führer fort, indem er eindringlicher redete, als fee er 
jede der geflüfterten Worte deutlich neben das andre, damit 
niemand ein® überjehen könne: Ihr zwei pojtiert euch halbwegs 
zwifchen bier und ber Sreuzung an den Straßenbäumen, ſodaß 
ihr das Wärterhäuschen noch fehen könnt, ungefähr Hundert 
Schritt davon, ih und Haber ſuchen bis in ben Winkel zu 
fommen und dort gerade vor dem Häuschen hinaufzukriechen. 
Verhaltet euch ftill, biß bei uns ein Schuß fällt, dann pfeffert 
ein paar hinein; folgt ein Pfiff, jo fommt ihr uns fofort nach, 
bleibt es ftill, jo geht ihr raſch im Schatten bis hierher zurüd, 
bier treffen wir ung wieder. — Gut, verftanden, brummten bie 
zwei, die jebt voraußgingen, während Haber und der Führer 
ohne Worte folgten. Jene ſah man ſich nad) ein paar hundert 
Schritten, die lautlo8 ind Graue zurüdgelegt worden waren, 
halbrechts am Straßendamm Hinaufziehn, dieſe ſchlichen unhörbar 
weiter. Kein Ton als das Kniſtern der vom Meif eritarrten 
Hälmchen unter ihren Sohlen, das ihre angejpannten Nerven 
wohl vernahmen, das aber ſchon in ein paar Schritten Ent- 
fernung verweht war. Der Führer blieb wieder ſtehn und legte 
dem Mußtetier, der bart an ihn herangetreten war, die Hand 
auf das Gewehr, dad, Mündung abwärts, faft verftedt ihm im 
Arm rubte. Geladen? — Felt! — Gut, fie fchlafen, wir über- 
raſchen fie. — Nun Tangjamer weiter; ſchon gebüdt, oft, wo 
der Boden uneben wurde, mehr Eriechend als gehend. Schon 
hebt fich der Boden. — Seht langfam, behutiam! — Das Gewehr 
in der Nechten, mit der Linken die Erbe befühlend, an den Gras⸗ 
büſcheln Halt fuchend, geht e8 den hohen Damm hinauf. Es it 
gelungen, fein rollendes Steinen bat fie verraten, fie liegen 
hart nebeneinander, können eben gerade die Schienen erkennen, 
die fi) wie dunkle Schlangen, ftellenweile grau glänzend, parallel 
nebeneinander Hinziehn. Sept noch ein Ruck, und der Blid 
ſchweift über die Auffchüttung hinaus, fieht, nachdem er fi an 
die Entfernung gemöhnt hat, dunkle Vierede und Nechtede am 
Horizont: die Stadt; bleibt aber wie gefeflelt an dem kleinen 
unförmlichen Bloc, der Hinter der andern Seite des Dammes 
vorſchaut: das oft beſprochne Wärterhäuschen, bag Biel dieſer 
nächtlichen Expedition. Sie liegen beide unbemeglich, ihre Augen 
wollen fi in das formlofe Ding vor ihnen einbohren, chälent 
aber nichts aus dem braunen Dunkel ald einen Zaun, worin 








186 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


WEILE GG ILL DL DL DL LE DL. 2 DL EL DL LED ——rcnrrn —— ————— ——— — ———— — — 08 


eine höhere Stelle die Tür anzuzeigen fcheint. Doch ift das 
wichtig genug, denn dieje Stelle ift ihnen zugefehrt; dort, wo 
der Zaun erhöht ift, werden fie vermutlich den Eingang finden. 
Wird fi die Tür geräufchlos öffnen lafien? Horch, war das 
nicht eine Stimme? Oder gar zwei? Es wurde den Beobachtern 
jofort Klar, daß hinter dem Häuschen zwei Männer waren, voraus⸗ 
fihtli ein Doppelpoften; aber fie vegten ſich nicht, gingen nicht, 
wenn fie jtanden, mußte man Geräufche von ihren Füßen oder 
Gewehrkolben hören; fie jaßen oder lagen. Warum ein Doppel- 
poften auf diefer Seite, die dem Feinde abgefehrt it? — D, 
das kommt bei den Franzoſen vor. — Mit ber Schnelligfeit, 
die den Gedanken in einer erwartungsvollen Tage eigen ift, gingen 
diefe Erwägungen unjern beiden ftill Beobadhtenden durch den 
Sinn. Das Geflüfter war verftummt. Der Führer hob feinen 
Kopf höher, zog ben Körper auf den Rand des Dammes, fein 
Gefährte, er jah etwas Dunkles zur Rechten fich heranziehn, 
folgte ihm; eine leife Berührung jagte: Ich bin da, an deiner 
Ceite, nun auf Händen und Füßen über den Bahndamm, forgend, 
daß das Gewehr nicht die Schienen berührt; während der zweite 
noch riecht, erhebt ſich der erjte pfeilichnell, im Moment, mo 
feine Hand die Tür erfaßt bat, ift fie auch ſchon aufgebrüdt, 
er ftürmt gegen den Eingang des Häuschens, in Gedanken auch 
diefe Tür ſchon eindrüdend, da — ein Blitz, ein Schuß, ein 
ichwerer Fall auf der andern Seite des Dammed, ein paar 
Schüſſe von der Straße her, Klirren zerjchoffener Yenjter und 
Schritte von dem Häuschen weg — bann alles ftill, und Die 
Sterne leuchten ruhig wie vorher. Cine Piertelftunde jpäter 
wird es wieder lebendig um den Bahnübergang, eine größere 
Zahl dunkler Geitalten macht diesſeits Halt, zwei überichreiten 
ihn, jteigen dort hinab, wo man vorhin den Fall hörte, und 
ſchleppen nad) einer Minute einen anfcheinend lebloſen Körper 
herauf, tragen ihn binüber. — Tot? fragt es aus der Reihe 
der dort gebliebnen. — Es Icheint jo. — Nein, der ift warn, 
aber der neben ihm war kalt. — Woher kommt das Blut? — 
Donner, das ift viel, die ganze Schulter ift na. — Er bat in 
dem Blute des toten Franzoſen gelegen. Hier, leuchte mit deiner 
Zigarre, e8 rinnt noch etwas von oben herunter, hier am Halie, 
nein, da ift dad Lo, am Kopfe — Au, da iſts gefehlt, am 
Kopfe! — Fort! fommanbiert leiß eine Stimme, aus dem Bereich 
diefer Spelunfe, und dann gleich Notverband, id} habe ihn mit. — 
Man legt den noch immer regungslojen Körper auf zwei Gewehre, 


5. Dem Hauptmann zulieb ‚187 


— — 


zwei tragen ihn, indem ſie ihn in halb ſitzender Lage unterſtützen; 
nach hundert ober hundertfünfzig Schritten laſſen fie ihn ſachte 
niedergleiten, ein Mantel iſt raſch ausgebreitet, ein Wachskerzchen 
wandert aus einem Brotſack heraus und wird hinter ſchützend 
vorgehaltnen Händen entzündet. Der Unteroffizier entrollt zwei 
Binden zugleich, befühlt die Wunde und hat ſie mit ein paar 
Umwindungen geſchickt geſchlofſen. — Wenig Blut mehr, ſagt er, 
der arme Kerl hat ſchon zu viel verloren, aber die Wunde geht 
nicht durch, und Puls hat er noch. Vorwärts. — In dieſem 
Moment kommt Haber herangekeucht, ein Gewehr umgehängt, das 
andre wie einen Stab in der Hand. — Hurra, ruft er leiſe, dem 
©efreiten fein Gewehr! Was hätte der Hauptmann gefagt, wenn 
wir das zurüdgelafien hätten? Und bier der Lauf von dem 
Branzofengewehr, der dem Wackes aus der Hand herausgeſchoſſen 
worden fein muß. Der wird ihn erft freuen! 


25 





6. Im Lazarett 


\ 


Der Krieg ift für den Soldaten die Zeit des fchroffften 
Wechſels aller Lebensbedingungen. Er bejingt diefen Zuftand, 
ohne ihn viel zu bedenken, jelbft faft jeden Tag, wenn er in 
den Morgen hineinmarſchiert: 


Geftern noch auf ftolgen Rofien, 
Heute durch die Bruft gejchoffen, 
Morgen in das fühle Grab. 


Doch nit Tod und Leben allein verichlingen fich eng im 
bunten Reigen der Kriegßtage. Andrer Boden, andrer Himmel, 
andre Aufgaben, andre Menjchen, andre Städte und Dörfer, vor 
allem auch andre Duartiere, und nicht zuleßt: andre Städtchen, 
andre Mädchen! 

Der Soldat gewöhnt fi, diefe Unterjchiede gleichmütig hin⸗ 
zunehmen, der Wechjel der Tage muß ihm die Schule fein, in 
der er derart abgehärtet wird, daß auch der Rückzug ihn nicht 
entmutigt, der plößlich notwendig wird, wenn ein ununterbrochen 
fiegreicher Vormarſch ins Stoden gerät. Auch dafür hat er fein 
Lied, das zwar meift ohne befondern Grund angeftimmt, ficher- 
fi aber mit dem mwahrften Gefühl in Beiten der Enttäufchung, 
der Entbehrung gejungen wurde: 

Es kann ja nicht immer fo bleiben 
Hier unter dem wechſelnden Mond uſw., 


in deſſen langen Versreihen zulebt die Wechjelfälle im Schidjal 
des großen Napoleon in naiver Weife bejungen werden. Auf 
diefe fchwerfte Probe, die bed Rückzugs nach verlornem Gefecht, 
ift ja ber deutſche Soldat gerade 1870/71 nur in einzelnen 
Fällen gejtellt worden, und es gereicht ihm die Ruhe und Ord⸗ 
nung feiner Gewaltmärſche nad) Coulmiers oder von Dijon nad) 


6 Im Lazarett 189 


der Lijaine faſt noch ‚mehr zum Ruhm als manche geivonnene 
Schlacht. Aber was fait jeder Einzelne an Wechſeln des Er- 
lebens und der Stimmung durchzumachen hatte, überftieg in nicht 
wenig Faͤllen weit die Grenze deſſen, was man im gewöhnlichen 
Gang der Dinge noch für ertragbar Hält. Man trägt ed doch 
und erfennt vielleicht fpäter, daß gerade in dem Übergang von 
Wohlgefühl zu fchwerfter Sorge der Hammer des Schichkſals 
ntederjauft, der aus dem Eiſen bes erſt werbenden ben Stahl 
des vollendeten Charakter ſchmiedet. 

Selten bin ih jo friſch und froh, jo fromm und freudig 
aufgewadht ald an dem Morgen nad) meiner Berwundung. Man 
Hatte mich in ein reines Bett im Oberſtock des kleinen Schul- 
hauſes gelegt, die Wunde war feſt verbunden, jchmerzte nicht, 
und Fieber Hatte ſich noch nicht eingeftellt. Das Gefühl, jo Hart 
am Tode vorbeigegangen zu fein und nad) menſchlichem Ermeijen 
das Leben zu behalten, erfüllte mein Herz mit Dank und mit 
frohen Gedanken an meine Lieben, ich hoffte, daß fie eine Karte 
über dieſe Affäre noch vor der amtlichen Berluftlifte erhalten 
würden. Eine Zafje heißer Mil, die man mir reichte, erfüllte 
mich mit einem Wohlbehagen, wie ich e8 nie gefühlt zu haben 
glaubte. Die Mediziner jagen, daß jei Die Folge eines ſtarken Blut⸗ 
verluftes, und e8 war in der Tat etwas von wohltuender Schwäche 
darin, der der Schlaf jede Minute willlommen ift. Ich dDämmerte 
jo dahin, als der Wagen gemeldet wurde, brachte e8 troß einiger 
Benommenheit dahin, mich ohne Hilfe anzuziehn und den Weg 
die Treppe binabzufinden. 

Unten bielten auf der dunkeln Straße einige von den fran- 
zöftihen Leitermagen, die mir von Wagenpatrouillen ber in guter 
Erinnerung waren; wir Snfanteriften, die in der Regel auf 
den Seitenleitern Plab zu nehmen hatten, bieben die vorragenden 
Teile der Sprofien ab, und daran mögen Wagen, die in unfrer 
Benutzung geweſen waren, noch nad) Jahren zu erfennen geweſen 
fein. Ich Hatte mich noch nicht auf das Stroh eines von diefen 
Fuhrwerken gebettet, al3 der Hauptmann herantrat, feinen Burjchen 
mit einer riefigen Stalllaterne zur Seite, und mir mit den Worten: 
„Leben Sie wohl, Gefreiter, und pflegen Sie Ihre Wunde gut, 
daß Sie bald wieder zu und kommen können; Ste haben ſich 
geſtern jehr gut benommen!“ die Hand reichte. Der Unteroffizier 
der Dragoneresforte fommandierte: „Marſchl!“ die Wagenreihe 
fegte fi in Bewegung und fuhr rafjelnd aus dem Dorf. Es 
waren meiſt leere Wagen, die Broviant holen gingen, und einige 











190 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


ur 





— — — —— 


Wagen mit Kranken und Verwundeten. Der Stolz auf die Worte des 
Hauptmanns durchrieſelte mich wie ein ſtärklender Trunf. Ich faltete 
unwillkürlich die Hände und gelobte mir, ein guter Soldat zu 
bleiben und des Hauptmanns gute Meinung zu rechtfertigen. Im 
Hintergrunde meldete ſich freilich auch etwas wie ein unbeſtimmtes 
Bewußtſein, zu den vom Glück Begünſtigten zu gehören, und Die 
Hoffnung, künftighin ebenfo wie geftern Heil wieder aufzutauchen. 
Nach der dunkeln Dämmerung der Todesnähe weld) herrlicher 
Morgen, der mir heute aufging. Es wurde mir fo leicht, als träte 
ich eine Reife in ein ſchönes Land an. Bweifellos, fagte ich mir, 
macht diefer Tag einen Einjchnitt in deinem Soldatenleben; v3 
war zulegt manchmal einförmig geworden, es Tann ſpäter nur 
befier werden, größere Ereignifje ftehn uns bevor. ch dachte 
nicht an das Lazarett vor mir, jondern an den Dienft, wenn ich 
geheilt fein würde, an den Frühling, der da kommen würbe, an 
Siege, an Frieden. Über allem das Gefühl, „Iedig aller Pflicht* 
in die Welt hineinzufahren! Ich gab mich gerade wie ein Wandrer, 
der nichts andres will, mit weiten Sinnen der Welt Hin, bereit, 
mich jeder Einzelheit zu freuen. 

Bom Himmel, der nicht mehr ſchwarz, vielleicht dunkelgrau, 
vielleicht mehr dunkelblau war, blinkten noch vereinzelte Sterne, 
Nachzügler der Armee von Taufenden, die ſchon hinuntergefunten 
waren. Sind ed neugierig Zurüdgebliebne, die die Sonne grüßen 
wollen? Sie werden warten müſſen, denn noch ift der öftliche 
Horizont fo dunkel wie der weitliche. Vielleicht ift diefer feuchte 
Haud, der mir nun übers Geficht ftreicht, der erfte weit voraus⸗ 
eilende Bote, das lebte Auszittern des Freudenſtrudels, den weit, 
weit im Often die erften Sonnenftrahlen im Luftmeer aufrühren. 
In den Lärden am Wegrand werden nun die äußerften jchivanfen 
Zweige lebendig, raufchen wie im Traum in derfelben Luftwelle, 
die mich berührt hat. Diele klare, frifche Luft fühlte ich an 
den Haaren, mit denen fie fpielte, an der Stirn, die fie um- 
fächelte, faft fchneidend beim Einatmen in Mund und Nafe, und 
es war mir, als jpüle fie aufrüttelnd und erleichternd den Körper 
entlang. Es lag fo viel Verheißung in diefem Morgen. Was 
wird die hehre Sonne alle mit fi) beraufführen? 

Irgendwo am Horizont ift unbeobachtet ein neuer Stern 
aufgeglüht, gelbrötlicher als die andern, das kann nur ein Herd⸗ 
feuer jein, das Frühaufgeftanbne entzündet haben. Am Himmel 
ift der Hintergrund heller und find die Wolken dunkler geworden; 
am Ofthimmel ziehn fie jchon deutlich, Die Tanggeftredten, auf 


6. Im Lazarett 191 





dem Lager fidh redenden Nachtwolken. Darunter jebt ein Burpur- 
Licht, da8 durch Wolfenlüden fcheint, bald hier bald dort deutlicher 
verglübt und dort fih neu entzündet. Nun färbt es die oben 
Wolfenränder, und gleich darauf ift ein milder Widerfchein davon 
im Zenit. Aus Purpurfäden gehn Goldftreifen hervor. Wie 
mich das alles jo wei) und wohlig anmutet, vergefje ich über 
der Sonne, die nun beraufiteigt, Krieg und Dienft. 

Nicht ich fahre dem Morgen entgegen, es iſt der liebe, 
friihe Morgen, der mir jo freundlich entgegenfommt, der mir 
alle diefe fremden Dörfer vergoldet, durch die wir in raſcher 
Fahrt dahinrollen, und der in jedem unbelannten Yenfter eine 
befannte, wohltuende Glut entzündet. Nichts ift fremd, wo die 
Sonne hinleuchtet! Es ift zwar wahrjcheinlich ein vergebliches 
Bemühn, auf die Dauer diefe fahle Herbitlandichaft dem falten 
Winter zu entreißen, aber du bift redlich bemüht, mein Tieber 
Morgen, e8 auch heute wieder zu verſuchen. Du breiteft einen 
Glanz darüber, der die Kahlheit der Stoppeln und die Laub⸗ 
fofigteit der Bäume vergefien macht, und jcheinft ſelbſt einige 
Bauern und Mädchen, die ung freundlich grüßen, die Verdroſſen⸗ 
heit über dieſe Zeit vergeflen zu machen, die ſchwer auf ihnen 
loftet. Wir raffeln auf der langen Landftraße dahin, die fait 
veröbet ift; in dieſen Kriegszeiten hat eben ber Verkehr faft - 
ganz aufgehört. Wir überholen einige leere Proviantiwagen, 
dann einen Wagen mit Kranken, die fi unfrer Kette anfchließen. 
Ein Dorfarzt kommt und entgegen in einem leichten Einfpännerchen, 
das eine mächtige Sahne mit dem Genfer Kreuz trägt, hält an 
und erneuert einem von und den Verband, der in Unordnung 
geraten ift; ein ®eiftlicher mit dem Roſenkranz wandert an uns 
vorbei, der vielleicht auch Kranke in einem von den vielen zer- 
ftreut liegenden Höfen beſuchen will. Den Doppelpoften am 
Eine und am Ausgang einiger Dörfer werden Grüße und 
Scherziworte zugerufen, und an den Häufern entziffert man die 
Kreide oder Kohleinjchriften der Quartiermacher. In der Stadt 
verkleinert ſich ımjer Zug raſch, ich werde zuleßt allein nad 
einem Lazarett gefahren, das im „Luce“ eingerichtet ift. Dunkles 
Haus mit langen Reihen ftaubbebedter Fenfter, alter Bau, aus 
deffen Fundament die feuchten Stellen wie erdentfteigende Wolfen 
am ®emäuer hinaufwachſen; darauf, daß es einft ein Klofter ge- 
wejen ift, fcheint die Kleinheit des Eingangs zu deuten, eines 
faft verborgnen Tores, dur) dad man in einen dunkeln Raum 
tritt, der gleich wieder eine Tür in einen Hof hat, worin Refte 





192 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


von fäulengetragnen Hallen an den alten Umgang eines Klofier- 
hofs und ein eingefrormer Springbrunnen in der Mitte an 
einftige Gartenanlagen erinnern. Nirgends ein Menid. Nur 
daß die nad) dem Hof ſchauenden Fenſter nicht jo beftäubt find 
wie die nad der Straße, könnte ald Lebenszeichen gedeutet 
werden. 

Steif von dem langen Yahren in der Winterluft, unfichern 
Tritts infolge des Blutverlufte und des vielleicht fchon heran⸗ 
nahenden Wundfieberd wanke ich die Treppe hinauf, mich des 
Gewehrs wie eines Stabes bedienend. Noch immer alles ftill. 
Ich lehne mich auf dem erften Treppenabſatz in die DMauerede, 
da ih vor Schwindel feine Stufe mehr unterfcheide, und muß 
eine Zeit lang da geträumt haben. Denn als ich erwachte, lag 
mein Zornifter und mein Faſchinenmeſſer neben mir, die ich im 
Wagen gelafien Hatte, und mir gegenüber ftand in einem 
Eimer ein menſchliches Bein, über dem nie abgeichnitten, das 
vorhin nicht dageweſen war. ch rieb mir die Augen; Froſt 
und Fieber jchüttelten mich, doch hatte ich noch Gedanken genug, 
das nadte Bein zu bedauern, dad da in der Kälte ftand, und 
den zu beneiden, der es verloren Hatte, da er nun vorausſicht⸗ 
ih in einem warmen Bette lag. Ich Hätte mein Bein darım 
gegeben, wenn ich mich hätte zur Ruhe legen können! Mit dem 
Aufgebot der lebten Kräfte taftete ich mich an die Tür, binter 
der ſich Menfchen zu bewegen jchienen, und fiel, als ich fie 
öffnete, faft in die Stube. Ach fah etwas, daB mich an ein 
Schlachthaus erinnerte, viel Fleiih und Blut, und Menſchen, 
die mit blutenden Händen an andern Menſchen herumſchnitten. 
die bleih auf einem langen Tiſche lagen. „Hinausl“ „Zür 
zul“ ſcholl es mir entgegen, und ich wankte zurüd, mechaniſch 
wieder die Ede aufſuchend, in der ich ebenfo unwillkürlich in 
Hoditellung zuſammenſank. Ein ſcharfer Ruck an der Schulter. 
„Auf, Gefreiter! Was bodft du da herum? Was haft du hier 
zu tun?“ rief mir eine raue Stimme ind Ohr. Sch beſann 
mich, daß ich fchon längere Zeit da zujammengefunfen gelauert 
haben mußte, denn ich war jebt noch kälter als vorhin und 
Happerte hörbar mit den Zähnen. Wieder einen Ruck. „Kerl, 
ſchläfft du?“ — noch rauher ald vorhin. Set ſah ich eiuen 
Lazarettdiener vor mir ſtehn, beſann mich dunkel auf den Armel⸗ 
umſchlag des Mantels, worin mein Überweiſungsſchein in das 
Lazarett ſteckte, konnte ihn aber mit meinen blauen, blutloſen 
Fingern nicht mehr faſſen, deutete nur darauf. 





6. Im Kazarett 198 





— — SPE —7s — 





Der Lazarettdiener riß ihn heraus, warf einen Blick darauf 
und ging mit ein paar unverftändlichen Worten die Treppe hinauf. 
Lebt mußte ich alle meine Kräfte zufammennehmen, mic) nicht 
auf das Gteinpflafter zu ftreden; ich machte eine lebte An⸗ 
ftrengung und fiel die Treppe mehr hinauf, als ich ging. Dann 
erichten der Lazarettdiener wieder, riß mich mehr hinauf, al® er 
mich führte, ftieß mich in eine Tür hinein und brüdte mir 
meinen Schein in die Hand. Ach Stand wieder wie gebannt, 
da Kälte und Schwindel mir dad Gehen unmöglid) machten; 
ih fürdhtete bei jedem Schritt vorwärts lang hin auf das Ge- 
fiht zu fallen, taftete mit der Hand nad der Wand und bob 
mit der andern meinen Schein in die Höhe, um gejehen zu 
werben. Mit meinem Zähneklappern, da8 den breit verbundnen 
Kopf in rhythmiſche Bewegung verjeßte, muß ich einen lächerlichen 
Eindrud gemadt haben, Aus einem weiten Kreis von Qazarett- 
genofjen, die um einen glühenden Dfen faßen, löften ji) Ge— 
italten los, die lachend auf mic) zufamen, mir Gewehr und Helm 
abnahmen, dann aber mit Ausdrüden des Mitleids, als fie meine 
blauen, jtarren Hände anfaßten, mich an ein leere Bett führten, 
in das fie mid) halbausgekleidet hineinftedten. Die Erinnerung 
an das Bittern des Feldbetts unter meinem vom Sieber auf 
und ab geichleuderten Körper, und das Wort einer nicht freund- 
lihen Stimme: Ich habe geglaubt, es ſei ein Preuß, weil er 
gleich über und räfoniert hat! find meine legten Erinnerungen. 

Als ih nach dreitägigem Fieber wieder denlen konnte 
und mid zu erinnern begann, war id) in einem andern, größern 
und hellern Saal, wo drei lange Reihen Betten mit Verwundeten 
und Kranken ftanden. Ich richtete mich auf. ber meinem 
Kopfe hing ein ſchwarzes Täfelchen mit Gefreiter X, fünftes Re⸗ 
giment, zweite Kompagnie, Kopfihuß, ſchwer. 38%. Sch ſchaute 
mid) in dem Saale um und fah eine ganze Anzahl von Augen 
auf mid) gerichtet. Wer in Lazaretten gelegen hat, Tennt dieje 
ftillen Blide, die von Gefichtern außgehn, die tief in die Kiffen 
gedrücdt find, in denen die Begierde liegt, zu ſehen, zu erleben, 
die Leere dieſes Krankendaſeins auszufüllen; fie bitten, fie fragen, 
oft folgt ein verftändnisvolles Winken, und dann nad) einiger 
Beit wendet fi) der Kranke um und fieht nad) der andern Seite 
und atmet tief auf, wie enttäujcht von der Vergeblichleit dieſes 
Ausſchauens. 

Dieſes erftemal blieben aber alle Blicke an mir haften, 
denn ih war ja ein „Neuer,“ man batte mich biäher nur tief 

Natzel, Slüdstnfeln und Träume 13 





194 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


— 


in den Kiſſen liegen ſehen und höchſtens im Fieber ſprechen hören. 
Bon ganz Hinten her rief ſogar eine Stimme: „&uten Tag, 
Fünfer. Bift aufgewacht?“ 

Ich jah den Rufer nicht, antwortete: „Sa, faft,“ wobei ich 
bemerkte, daß meine Stimme ihren lang verloren hatte, und daß 
die aufgerichtete Lage mich ſchon müde machte. Ich ſtreckte mich 
wieder bin. Nach einiger Zeit legte fi) eine warme Hand auf 
die meine; e8 war der Stabsarzt, der mir ben Puls fühlte, die 
Zunge beichaute, die feuchte Stirn betaftete und zu dem Kranken⸗ 
wärter fagte, er möge heute Abend genau die Wärme aufzeichnen. 
Das Fieber fei im Abzug, und für morgen fei das Material zur 
Erneuerung ded Verbands zu beforgen. 

Denfelben Abend jah ich einen andern Mann vor meinem 
Bett figen, der meine Hände mit den feinen zufammenlegte. Ich 
meinte, es fei eine von den vielen Geftalten, die ich im Sieber 
gejehen Hatte, glaubte ihn aber beten zu hören, und als er ge 
gangen war, lag ein Kleine Buch auf meinem Bett, ein Neues 
Teftament. Ich Habe ed aus dem Lazarett binaußgetragen und 
in der Welt umbergetragen und habe e3 biß heute in Ehren 
gehalten. An dieſem Abend war es zu fpät, darin zu lefen, doch 
gewährte mir ſchon Das, dab ich e& in der Hand hielt, eine 
eigentümliche Befriedigung; es war mir, wie wenn aus dem 
Heinen Buch eine Hoffnung in mich übergegangen fei, die Diefe 
Stunde unmittelbar an die eriten ſchönen Stunden des Morgens 
fnüpfte, wo id) mit dem Händebrud des Hauptmanns von Le 
Berfoir weg und in den Sonnenmorgen hineingefahren war, und 
vergaß, wie mid) damals der Froſt durchichnitten und ftarr 
gemacht Hatte, und mie ſchlecht ich zuerit im Lazarett anf- 
genommen worden war. 

Ach müßte lügen, wenn ich fagen wollte, ich fei als gläubiger 
Ehrift in den Krieg gezogen, war vielmehr, mie meine ganze 
Generation, vom Zweifel gründlich angeftedt. Aber fchon beim 
eriten Feldgottesdienft Hatte ich erfahren, daß wenn vieles im 
Kriege zum Fluch wird, viele auch die Hände zum Gebet zu⸗ 
fammenzwingt. Wieviele Gebetsitimmungen in ftillen Nächten, 
an friedlichen Abenden, die laute Kämpfe beichließen! Hätte doch 
das gewöhnliche Friedenslebeu joviel davon. Man muß es er- 
fahren, wie eine andädhtige Stimmung unjer ganzes Dafein und 
unjre Mitwelt in eine reinere Sphäre weit über Blut und Rauch 
hinaushebt, und wie in großer einfacher Stille einer Sternennadt 
Kleines und Störendes verſchwindet. 


6. Im Lazarett 195 


rn. 2 





— — / — — — 


Heute ſenkte ſich dieſe Stimmung über mich wie das Abend⸗ 
rot dieſer Tage voll verzehrender innerer Hitze, freundlich klangen 
deren wilde Phantafien in die goldne Stimmung dieſes Abends 
aus. Den nächſten Morgen, nad) dem erften tiefen erquidenden _ 
Schlaf, Abnahme und Erneuerung des Verbandes, wobei ber 
Generalarzt, der zugegen war, mir die Frage vorlegte, ob ich 
das jchöne Loch in der Ohrmuſchel behalten wollte, um künftig 
eine Zigarre darin zu tragen, oder ob das Ohr an den Kopf 
angeheilt werben ſollte? Ohr für Nichtraucher märe mir lieber. 
Gut; aber den Kopfihuß, der ben Processus mastoideus glatt 
mitgenommen bat, wollen wir jehr forgfältig behandeln, bemm 
da iſt nur noch ein Fartendides Knochenblatt zwischen der Luft 
und dem Gehten. Ein Millimeter tiefer, ımd Sie lägen jebt 
wo anders. 

Wieviel Schmerz, Sehnſucht, Enttäufhung bis zur Ber- 
zweiflung, aber auch Hoffnung bis zur kühnſten Illuſion lebt 
und ſtrebt zuſammen, wühlt und bohrt in einem ſolchen Lazarett⸗ 
faal! Aber fo wie, rein körperlich und äußerlich genommen, wenig 
von dem allen fi) laut Luft macht, ſodaß eine gewiſſe gebrüdte 
Stille, in der jedes laute Wort auß Furcht, hier doppelt laut zu 
fingen, zum Flüftern wird, für gewöhnlich über dem Kranken⸗ 
faale Liegt: fo ift aud) in den Seelen dieſer vielen Kranken mehr 
Ergebung, als der vermuten möchte, ber ihre Leiden Tennt ober 
ihre Wunden fieht. Es iſt ein Bild des Lebens und eine Lehre 
fürd Leben, wie jeder Einzelne das Befte aus feiner Lage, auch 
aus diefer Lage, zu ziehn ſucht. Dan begreift nun erft, daß ber 
Menſch leben will, was ed auch Eofte, und in welche Zukunft 
hinein auch immer fein Leben gerichtet fei. Das Leben bes 
Menſchen ift eine von den Pflanzen der Flora subterranea, bie 
auch in den dunkeln Kellern und Bergwerksſchächten fo gut wie 
im goldnen Sonnenlicht gedeiht; aber aus dem Licht wie aus 
der Dunkelheit treibt und rankt es nach oben, nirgends wächſt es 
zur Wurzel zurüd; und wenn feine Blüten fo ein und un- 
Iheinbar find, daß man fie faum fieht, und feine Früchte nie 
zur Reife kommen zu wollen fcheinen: es Inofpen die Blüten und 
reifen die Früchte, und Die Hoffnung forgt, daß es nie aufhöre. 
Hier Haben fie fid) mit ihrem Schickſal außeinandergefebt, mandje 
jogar mit dem Leben abgefchloffen. Die Zeit heilt! Welcher 
Gegenſatz zu dem Stöhnen, Seufzen und ben Jammerrufen berer, 
die der Tod auf dem Schlachtfeld überrafcht oder hart geftreift 
bat. Auch das Schredlichite der Schlachtfelder und der Feld⸗ 

13* 





196 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


fazarette, die verzerrte und verfrümmte Lage, in denen der Körper 
mitten im Kampf mit der entfliehenden Seele plötzlich erftarrt 
zu fein fcheint, gibt es bier nicht. Auch wiegt in der Farbe der 
Gefichter und der Hände die gelbliche Blaßheit des blutlofen, zu 
lange der friſchen Luft entzognen Lebens über die bläulihen und 
Ihmwärzlihen Töne der Todesnähe vor. Die blauen Ringe um 
die Augen, die ſchwärzlichen Lippen, der fahlblau ftiere Blick ſind 
jelten; auch das gedunjene Bläulichrot manches dem Tode ver⸗ 
Tallnen Antlites fieht man glüdlicherweije nicht oft. Aus den 
lebendigen Augen der Kranken, die einander ftill fragend anfehen, 
itrablen, jo trüb fie manchmal bliden mögen, eine Lebenshoffnung 
und Lebensluft in die gedrüdte Luft der Säle eined Lazaretts 
au, und nur wie ein letztes Wetterleudhten bed Aufbäumens 
gegen dad Schichſal zudt es jchmerzli um manden Mund. 
Diejeß Lazarett hier, in einem großen Mittelpunkte des 
Verkehrs, beherbergt ſchwer und leicht Bermundete, Genejende 
und auch einige Aufgegebne; die einen find da, weil es ſich nicht 
lohnt, fie weiter zu befördern, die andern, um auf Weiterfendung 
in die größern Krankenhäuſer weiter rückwärts zu warten Es 
iſt ein Zufall, daß in unferm Saale feine Franzoſen find, aber 
von Deutichen find alle Stämme und alle Waffengattungen ver⸗ 
treten, unb die Altersitufen heben fi) von einem weißhaarigen 
Schleswig-holfteiniichen Marketender biß zu dem adjtzehnjährigen 
Schüler einer Unteroffizierfchule ab, der den linken Arm verloren 
hat. Es ijt eine furdhtbare Summe von Sorgen und Schmerzen, 
die hier verfammelt if. Wenige werden den äußern Frieden, 
der über dem Ganzen liegt, mit ſich, im fich tragen, wenn fie 
dieſes Haus verlafjen. Für die meiſten wird es ein jtiller Durch⸗ 
gangspunkt zwilchen zwei Stürmen gewejen fein; fie ahnen das 
wohl und dämmern diefe Pauſe jo Hin. Für die Fieberkranken 
ift e8 anderd. Die unter den ſchwerſten Formen litten, lagen 
nicht in demjelben Saal. Uber bei meinem Nachbar zur Rechten 
entwidelte fi) dad dumpfe Brüten und Schlummern in unjäg- 
liher Müdigfeit zu einem regelrechten Tuphus, deifen Fieberhige 
ihn Nachts aus dem Bett und auf die Gänge hinaustrieb, ſodaß 
wir ihn oft mit Gewalt zurüdführen und ind Bett bringen 
mußten. Zweimal fand ich ihn des Morgens neben feinem Bette 
auf dem Boden liegen oder kauern. Mein Nachbar zur Linken 
ging in faft beftändiger Bewußtlofigkeit glüdlicherweile dem Tode 
entgegen; ihm hatte ein Schuß quer durchs Geſicht beide Augen 
und das obere Stüd des Nafenbeins glatt herausgeriſſen. Ich 


6. Im Lazarett 197 


IE IB DL LI 2 IHN LE L — CS CLDB —— — L GA G HD ED 

















übte mich im Anfchauen einer der grauenhafteiten Wunden, indem 
ih mehrmal® am Tage bei feinem Verbande half. 

Daß beide Nachbarn meiner Hilfe jo nötig bedurften, übte 
einen jehr günftigen Einfluß auf mein eigne8 Befinden, denn 
nachdem die erften Fiebertaumel vorüber waren, ftand ich jo oft 
wie möglich von meinem Lager auf, um ihnen Keine Dienfte zu 
leiften, und gewöhnte mid) jehr bald daran, von früh bis fpät 
tätig zu fein. Mein rechter Nachbar mit der Schußwunde im 
Geficht war wohl aud im gefunden Zuſtand kein Adonis geweſen, 
darauf ließen feine Knollennafe und feine entſprechend aufgeworfnen 
Lippen fchließen; ich konnte mir den Kleinen, breiten Füſilier auch 
nicht als Heldengeftalt vorftellen. Wenn ich mid nun mit jedem 
Tage mehr an diefen ftummen Gaft anſchloß und mich innig freute, 
daß er meine Hand nidht mehr Loßlafjen wollte, wenn ih ihm 
Stirn oder Hände berührte, hatte ich Anlaß, darüber nachzudenken, 
dab es nicht bloß eine Aſthetik des Häßlichen, ſondern auch eine 
Ethik des Häßlichen, eine Verklärung durch die Seele gibt, die 
fi) gleihfam herausringt und ſich über abjtoßende Züge lagert. 

Eined Morgens jehr früh trug man diejen Armen hinaus, 
ber till Hinübergejchlummert war, wie er dagelegen Hatte; das 
einzige, was id) von ihm noch vernommen Hatte, war dag Ächzen 
ſeines Bettes, als er fich fterbend ausftredte. Mein Nachbar zur 
Linken war in den Zuftand unfäglicher Müdigkeit zurüdverfallen, 
in den ein fchwerer Typhus ausläuft, und brauchte jo jorgjame 
Pflege, daß er in einen bejondern Saal umquartiert wurde, wo 
barmberzige Schweitern der jchweren Aufgabe der Wartung fait 
unbeweglicher Rekonvaleszenten oblagen. Die beiden leeren Betten 
wurden von einem oftpreußifchen Jäger und einem bayriſchen 
Pionier beſetzt; der erfte war infolge eines Säbelhiebes in den Hals 
einjeitig gelähmt gewejen und war nun nach Monaten joweit ge- 
nejen, Daß er bald zu feiner Truppe zurückkehren konnte; der andre, 
ein blonder, jchwerfällig gutmütiger DOftfranfe, war durch eine 
Pulvererplofion der Hälfte jeiner Kopfſchwarte verluftig gegangen, 
wodurch ihm eine lächerliche, einfeitige Glaße, umgeben von einem 
Kranze weißer Härchen, auf feinem blondgelodten Langſchädel 
entitanden war. Der Dftpreuße war das reine Quedfilber und 
von der Manie des Theaterfpielensd in ſolchem Grade beſeſſen, 
daß er des Abends, wenn die LXichter vorichriftsmäßig gelöſcht 
waren, auß dem Bette aufitand und unter Monologen auf und 
ab wanderte, twobei er vor dem Bette von denen Halt machte, 
denen er zutraute, daß fie feine Kunſt würdigten. Wie oft habe 








198 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


ih den Ritter Baudricourt von Baucouleurd und Wallenſteins 
düftre Reden von ihm jchnarren und gröhlen hören! 

Der fränkiſche Pionier war vom erften Tag an beliebt im 
ganzen Saale, freundlich und hilfreich gegen jeden, dabei aber 
von einer jo fomilchen Verehrungsſucht befallen, daß er fogar 
für „den legten Trainjoldat“ komiſch wurde. Bon Offizieren, 
angefangen vom portepeetragenden Vizefeldwebel, ſprach er in 
einem ganz andern Ton als von der ganzen übrigen Welt, und 
zwiſchen einem Korpskommandanten und dem lieben Herrgott war 
in feinem Urteil kaum ein merklicher Unterſchied. War gar von 
Bürftlichleiten die Rede, fo legte ſich fein ganzes Geficht in tiefe 
Zalten, verlängerte fi), Die Augenlider ſanken herab, und feine 
jungen Härchen fchienen fich rings um die Slate ehrfurchtsvoll 
zu erheben. Ein badiſcher Unteroffizier, der nach ihm verwundet 
hereinkam, fühlte ſich allein, al8 Mann der Autorität, eng mit 
ihm verwandt und nahm ihn in Schuß, wenn feine Fürſten⸗ 
verehrung durch Erzählungen von angeblichen Begegnungen mit 
Hoheiten und Durchlauchten künſtlich wachgerufen und verjpottet 
werden wollte. In dem Mann ftedt jo viel Disziplin, daß man 
aus euch allen gute Soldaten damit machen Tünnte... . nein, 
verbejlerte er ih, als ihm unwillige Proteite und Ho! und 
Holla! entgegenklangen, daß man die ganze franzöfiiche Armee 
damit impfen Tönnte. 

Es war jeßt Dezember geworden, und der frühe Winter 
angebrochen, der den Soldaten beider Seiten namenloje Strapazen 
auferlegt, den deutichen Feldherren aber ficherli ganz weſent⸗ 
lichen Borteil gebradjt hat. Die Sehnſucht, hinauszukommen, wurde 
etwas gemildert durch das Behagen, mit dem man vom warmen 
Zimmer aus die Schneefloden wirbeln und die kalten Stürme 
braufen hörte. Der Aufenthalt in Diefem Siechenheim hatte zu⸗ 
zeiten jogar etwas Anheimelnded. Des Morgend, wenn der 
große ſchäumende Keſſel Liebeskakao in die halbkugligen, zwei⸗ 
ohrigen Taſſen ausgeſchenkt und die langen, knuſprigen franzöftichen 
Brote zerbrochen und ausgeteilt waren, und wenn dann alle, 
die das Bett nicht verlaſſen durften, mit Arznei verſehen oder 
verbunden waren, ſetzten wir „Mobile“ und um den eiſernen 
Dfen, ftarrten in die Glut und erzählten uns vom Negiment, von 
Haus und Heimat und bejonder8 von unfern Hoffnungen auf 
baldige Evakuation und Rückkehr, ſei e8 zu der Truppe, fei es 
nad dem Ende des Kriegs in die Heimat. Es war eine bunte 
Geſellſchaft; der trug feine Uniform, der einen Lazarettmantel, 


6. Im Lazarett 199 


der den abgeſchoſſenen Sommerrod eines jchleswig-holfteiniichen 
Marketenders, der im Lazarett geftorben war: eine gelbe Joppe 
mit einem wunderſchönen grünen fchrägen Streifen über die Brut, 
der von dem Bande der Provianttaihe des Marketenders her- 
rührte, das dieſen Zeil vor den Sonnenftrahlen geſchützt batte; 
der ging an Früden, der am Stod, ein dritter trug den Arm 
in der Schlinge, ich jelbft Hatte den Kopf noch mit Binden und 
Watte big zur Größe eines beträchtlichen Kürbiſſes umwunden. 
Mütze und Uniform hatte ih ſchon am dritten Tage wieder an- 
gelegt, nachdem die auffallend glänzenden fteifen Blutflede mit 
warmem Waſſer erweicht und etwas weggejäubert waren. 

Man hätte glauben follen, in dieſem Kreife habe der Krieg 
mit feinen Wechjelfällen das Tagesgeſpräch abgegeben. Das war 
aber nicht fo. Der Einzelne jprady von dem, was er erlebt und 
getan hatte, von feinem Nebenmanne und von feinen Kameraden, 
mit befondrer Vorliebe von feinen Offizieren; über das Bataillon 
ragte fein Gefichtöfreis meift gar nicht hinaus. In das Lazarett 
famen nur alte Zeitungen und neue Gerüchte, und da fidh Die 
Gerüchte in der Regel als unmwahr erwieſen, beſonders wenn fie 
von den Bäderjungen, Wäjcherinnen und andern Organen der 
öffentlichen Meinung der Stadt jtammten, machte man fein großes 
Weien davon. Nur die Üngftlihen Hörten immer wieder mit 
Teilnahme zu. Übrigens war es ganz gut fo. Es war zwiſchen 
der Einnahme von Metz und den großen Schladhten an der Loire 
und der Somme eine Dürftige Zeit, zwilchen zwei großen Epochen 
des Kriegs; das neue Große, das endlich mit dem Fall von Paris 
abſchloß, war erft in der Vorbereitung. Uns kam das wie 
Stodung, den Sranzofen wie Ermattung und Rüdgang vor. Bon 
dem, was in unjrer Nähe vorging, wußten wir gar nichts, als 
was Verwundete und Kranke berichteten, die ind Lazarett gebradjt 
wurden. Da hörte man immer nur von Fleinen Vorpoftengefechten, 
bon einzelnen Zügen ind Land hinein, von Bufammenftößen, bei 
denen in der Pegel nicht einmal die Kanonen mitfpradhen. So 
etwas hatten wir felbft alle genug mitgemadt. Ein Musfetier 
vom dreißigften Regiment, ſeines Beichend Bergmann aus der 
Saargegend, mit dem ich mich oft vor der Dfenglut über all- 
gemeine Dinge unterhielt — Bergleute grübeln gern, fahren gern 
in dunkle Gedankenſchachte oder -itollen ein —, fagte einmal ganz 
treffend: Sch würde alle drum geben, wenn ich einmal einen 
Bergmann träfe, mit dem ich von Kohlen und Eijenerz oder 
vielleicht gar von Neunfirchen oder Saarbrüden fprechen könnte; 











200 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


dagegen das Soldatengefhwäg iſt mir ſchon ganz zuwider. Wir 
find eben doch alle hauptſächlich friedliche Arbeitsmenfchen, der 
die8 und jener daß, die Uniform figt und nicht auf der Haut, 
fondern da8 Hemd. Ahnlich dachten wohl viele. Auch folchen, die 
nichts von Kriegsmüdigkeit Außerten, merkte man e8 an, daß ber 
rechte Soldatengeift nur in ununterbrochnem Kontakt des Einzelnen 
mit Vorgefehten und Kameraden gedeiht; er ift fein Erzeugnis 
einfamen Nachdenkens, jondern gemeinſamen Handelns und Leidens 
einer ftraff organifierten Mafje, in der jeder feinen Platz und 
feine Pflicht Tennt. PVereinzelung und Trägheit lodern ihn un⸗ 
fehlbar. Ich Habe mir ſpäter oft Gedanken darüber gemadht, wie 
weit folhe Erfahrungen auf das friedliche Leben der Völlker 
Anwendung finden können; ohne mich als Staatöweijen auffpielen 
zu wollen, wage ich die Behauptung, daß fich viele Völker unter 
deſpotiſcher Negterung, die jedem jeinen Pla und jeine Pflicht 
gegeben Hatte, glüdlich fühlten, auch wenn fie e8 aus falſchem 
Stolz auf Freiheit nicht Wort haben mollten. 


5 


2. Ars moriendi 


Wie leicht ift Doch der Tod! Was und von ihm trennt, 
find nur eingebildete Hinderniffe. Nein Gebirge, feine Mauer 
erhebt fich zwiſchen ihm und uns, es geht ganz eben in das 
große dunkle Tor hinein. Tränen können den eg ſchwerer 
machen; wir wiflen ja aber, wie bald fie trodnen, und wie groß 
die Erleichterung des Herzens ift, das ſich ausgeweint hat. Die 
Hauptſache ift, daß wir einmal mit uns ſelbſt einig geworden 
find, dem Gang der Dinge ruhig zu folgen. Je mehr wir ung 
an den Zod gewöhnen, deito Kleiner werden die Schranken der 
Emigleit. Wer den Tod nicht gefehen Hat und eben deswegen den 
Tod fürchtet, dem ift das Jenſeits mit einer ungeheuer großen 
Tür verihloffen, die über und über mit ſchweren ſchwarzen Platten 
verfchlagen ift; fein Blick prallt erſchrocken zurüd. Wer den 
Tod oft gefehen hat und vertraut mit ihm geworden tft, für den 
gibt es höchftend noch einen blühenden Hag zwilchen bier und 
dort; fein Blick ſchweift hinüber und nimmt dort noch ſchönere 
Dinge wahr als bier, und er muß ſich halten, daß es ihn nicht 
mit Macht auß dem Leben binauszieft. Es ift eine häßliche 
Sache, die Abneigung des gewöhnlichen Lebens auch fchon gegen 


6. Im Lazarett 201 


das Neden vom Tod, kurzſichtig wie alle Feigheit; denn im 
Grunde wird das Leben nur um fo jchöner, je todbereiter es 
it. WIN man vielleiht nur nicht daran erinnert fein, daß Der 
Borhang jeden Augenblid heruntergehbn könnte? Oder iſt es 
eine fchlaue Berechnung, die um feinen Preiß das Leben ent- 
wertet ſehen möchte, daS doch für den Philifter das Wertvollite 
von allem ift? 

Ich freue mich nad) dieſen vielen Jahren noch, daß mir 
Nekonvaleszenten im Krantenhauje der Barmberzigen Schweitern 
zu Nancy in der Behandlung der Todesfrage eine echte Philo- 
fophenjchule waren. Faſt alle, die da verfammelt waren, hatten 
dem Tode oft ind Auge geichaut, Hatten jo viele fterben ſehen, 
Sterbende lagen ringd um ung jeden Tag. Wie hätten wir es 
ablehnen mögen, vom Tode zu jprechen? Außerdem waren aud; 
echte Chriften unter uns, die aus religiöfen Gründen das feige 
Haften am Leben nicht Tannten, das bei mehr Menſchen, ald man 
glauben mag, Urſache und Folge des Fernbleibens von der Kirche 
ift. Dazu gehörte auch die blafje Schweiter Eulalie, deren dunkle 
Augen tiefer und größer wurden, wenn von dem lebten Augen⸗ 
blid Sterbender die Rede war; fie hätte davon erzählen Tünnen, 
Doc zog fie dor, an eine Bettkante gelehnt till zuzuhören, 
da8 einzige mal des Tages, wo die immer SHeitere ihr Wert 
unterbrad). 

Gefreiter, was Heißt denn das moribund, das die Arzte 
auf die Täfelchen fchreiben, die fie auf den Schladhtfeldern den 
Schwerverwundeten anhängen? 

Daß bedeutet zum Sterben beftinımt. Wenn ein Arzt einem 
fo ein Xäfelhen anhängt, lafjen ihn die Kranfenträger in der 
Regel liegen; der ftirbt dann bald. 

Angenehm, wenn einer daß lieft, den es betrifft. 

Das wird wohl jelten vorkommen. 

Nun, ich habe es doch erlebt, daß wir in ©ravelotte einen 
achten Jäger, einen rheiniichen, aufheben wollten, der noch Lebens⸗ 
zeichen gab; der winkte mit feiner lebten Kraft ab und fagte 
leife: Dante, moribund. 

Der iſt alfo gern geftorben. 

Sa, jo ſchien es. In diefer Lage! Als unfer Rückweg 
ung bei ihm vorbeiführte, lag er genau fo, wie wir ihn verlafien 
hatten, muß innerlich verbiutet geweien fein; er ſah nicht anders 
aus wie ein blaſſer Kranker; als wir ihm die Mugen zubrüdten, 
ſchien er zu ſchlafen. Die Wunde Hatte er im Genid. 








22 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


Eigentlich feine ſchöne Wunde. Aber damals mwirbelten die 
Kugeln nur fo herum; in den Bäumen vor der Ferme Hubert, 
unter denen wir zulegt lagen, ward manchmal nicht anders wie 
Bogelgezwitiher. Da konnte einer aud im Genick verwundet 
werden. Schuß vom Nüden in den Magen ift auch nicht gut, 
und es gibt noch Ichlimmere. 

Ganz richtig. Ich jage: je weiter herunter, deſto ſchlimmer. 
a3 fagt ihr zu einem Schuß in die Ferſe, an dem ein Dragoner, 
Landsmann von mir, geftorben ift? 

Sch Habe aber vom Yeldzug von 1866 erzählen hören, da 
ift ein Sergeant unſers Regiments an einer Berquetichung einer 
einzigen Behe geftorben. Und wie hatte er die abgelriegt? Ein 
Fahrkanonier, deſſen Handpferd ftürzte, hatte ihm beim Abſpringen 
mit folder Gewalt darauf getreten, daß die Zehe nur noch ein 
Brei war; dann ſchwarzer Brand und Tod. 

Das ift freilich Pech. 

Sollte mid) noch eine Kugel treffen, wenn ich wieder bei 
der Kompagnie bin, dann möchte ich fie gerade fo von born 
haben wie die legte: Kopf, Bruft, Oberarm, daS find Die 
Teile, mo eigentlih Wunden fißen müſſen, dann ift der Menich 
richtig gezeichnet, alle andern fommen mir wie neben hinausge⸗ 
gangen vor. 

Höre, Badiſcher, verjündige dich nicht. 

Kein Gedanke, ich meine eben auch, die Kugeln fliegen nicht 
fo zufällig in der Quft herum, jede hat ihren gewiejenen Weg, 
wie alle im Leben. 

Rum, dad find jo Ideen. 

Übrigend, fing jebt ein Dreißiger von der Saar an, was 
ihr vorhin vom Sterben gejagt habt: es ift keine befondre Kunſt, 
fo gleihmütig zu fterben, wenn man nur ein gehöriged Quantum 
Blut verloren Hat. Je weniger Blut, je weniger Lebensluſt, fie 
verraudt mit dem warmen Blut, wie es berausfließt. Indeſſen 
gibt es auch font, meine ich, noch manche, die willig jterben. 

Ja, glücklicherweiſe gibt es fie immer. Es gibt meldhe, die 
gern in den Krieg gegangen find, weil fie fich fonft ohnehin 
eine Kugel in den Kopf gejagt hätten; jo können fie ed num 
ehrlicher haben. So mandyer arme Kerl kriegt Briefe, die ihm 
die Luft verleiden, nad) Haufe zurüdzulommen, ungetreuer Schatz, 
ruinierte Eriftenz und dergleichen. 

Immerhin Ausnahmömenjchen, meinte der Theolog. Jeder 
will leben, auch verjtümmelt will er weiter leben, die Natur bat 


6. Im Lazarett 203 


— — RD —— — LE DKL LS. 0020 002000000.0.000 0 000 —— — LOL: 


e3 jo in den Menjchen gelegt. Und doch: was ift unfichrer als 
Zuft und Leben, und was kann gewifler fein als Not und Tod? 
Der Menſch jet auf das gefaßt, was ihm beitimmt ift, und vor 
allem der Soldat fei von denen, die ihr Leben nicht lieb Haben 
bis in den Tod. Er foll bereit fein, es jeden Augenblid freudig 
Hinzugeben. Das kann aus Pflichtgefühl geichehn, wie es uns 
gelehrt wird; es iſt aber fchöner, umd es gelingt ihm vielleicht 
beifer, wenn er feinem lebensfrohen Herzen zufprecdhen Tann: 


D Herz, o Herz, verzage nicht, 
Aus Naht, aus Nacht der Morgen bricht! 

Das Sterben iſt jedenfall8 an und für fich nicht ſchwierig. 
Die meiften, die bier geftorben find, find wie in einer fchönen 
Müdigkeit hinübergefchlafen. Müde zum Sterben, müde biß in 
den Tod, was man fo jagt, ift etwas ganz andres als die Er- 
fhöpfung des Aufgeregten, Sorgenvollen, dem fein Schlaf mehr 
naht; Diefe hat den leeren Blid, das Troftlofe und das Hoff- 
nungslofe in den Augen, die zwar eingefallen find, aber immer 
no leuchten. Die Augen de in den Tod bineindämmernden 
hauen oft groß und voll Ergebung aus friedvollem Geſicht, öfter 
find fie verjchleiert; ihr Blick trübt ſich langfam, fie fehen nichts 
bejtimmtes mehr, find der Welt der fichtbaren Dinge ſchon ab- 
gewandt; vielleicht fieht die Seele jchon innen mehr, oder es 
dämmert ihr innerlih zum Tag Hin, während auf die Augen 
der Schatten ſinkt. So fterben die meiften todmüde, fie wollen 
nicht8 mehr von der Welt wiſſen, lange ehe der erfte fühle Hauch 
des niederſchwebenden Todes fie berührt hat. Bei Verwundeten 
babe ich Todesangft nur entftehn jehen, wenn das Blut Leinen 
Ausweg hat; beim Ausfließen des Bluts Tehrt Ruhe und Heiter- 
feit ein. So ruhig jterbende follte man nicht mit Fragen jtören. 
Man fteht dann in dem verglaften Auge noch einen Willen, ſich 
zu erinnern, feſtzuhalten; aber dieſer Blid irrt ab, zerfließt ins 
Weite. „Laßt mich doch ruhig fterben!“ fcheint er zu jagen. 

Was baft du gedacht, Gefreiter, ald du den Bahndamm 
Hinunterrollteft? 

Davon weiß ich nichts. Meine lebte Erinnerung war der 
Zon einer großen Glocke, an die jemand in meinem Kopfe fchlug; 
das war der Riß im Trommelfel. Wenn ich nachdente, ver- 
bindet ſich dieſer Ton mit dem grellen Licht des Gewehre, das 
mir gerade ind Geficht Hineingefchoffen wurde. Uber es ift 
möglih, daß id) mir da8 nur jo hinzudenke. Dagegen ijt mir 





204 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


ganz deutlich, daß mein erfter Gedanke beim Aufwachen aus der 
Ohnmacht das Bedauern über den Schmerz meiner Mutter war. 
Merkwürdigerweije bedauerte ich gar nicht, daß ich fie nicht wieder 
jehen würde; und doch glaubte ih in diefem Augenblid mit 
einem Schritt im Jenſeits zu ftehn. 

Das ftimmt, fagte der bayriſche Unteroffizier. Bei Kiffingen 
erhielt mein unter, der den Zug führte, einen matten Granat⸗ 
iplitter, der ihm aber immerhin noch einige Rippen eindrüdte, 
und er erzählte, fein leßter Gedanke fei geweſen: Du wirft deine 
Eltern nit mehr jehen! Und von einem, ber faft ertrunfen 
wäre, babe ich gehört, er habe ſich zuleßt im Sarg liegen und 
feine Eltern davor betend knien jehen. 

Man erzählt, daß manche Menfchen ſogar ihr ganzes Leben 
in den paar Selunden haben vorüberziehn ſehen, in denen fie 
bon einem Berg ftürzten oder am Ertrinfen waren. Sie be- 
johreiben e8 wie ein ungeheuer raſches und langes Defilieren der 
verichiedenften Eindrüde, bedeutender und unbebeutender, und 
wenn fie aus der Todesnot erwachen, hat die ganze Vorftellung 
nur Selunden, höchſtens eine Minute gedauert. Einige erzählen 
au von dem Aufeinanderfolgen ganz bejtimmter, voneinander 
gefonderter Bilder einzelner Szenen aus ihrem Leben. Ein 
württembergifcher Unteroffizier war am Abend des 6. Auguft 
bei Niederbronn von einer Kugel, er wußte nicht woher, in bie 
Schulter getroffen worden; er glaubte jogar, es fei eine berirrte 
deutfche Kugel geweſen; fie ging dur. Er hätte fich verbiutet, 
wenn er nicht zufällig vor der Nacht aufgehoben worben wäre. 
Wie er nun jo dalag und nur noch das Rollen der den fliehenben 
Franzoſen nachfegenden Geſchütze, das Pferdegetrappel und ben 
Eilmarſch der Kolonnen hörte, aber nicht wie vom Boden, fondern 
als auß der Luft kommend, fühlte er ſich plößlich ganz ver- 
wandelt und wie in eine andre Welt entrüdt. Eben hatte er 
noch mit Bedauern gedadht: Das Leben geht dahin, du wirft 
gleich tot fein, da fieht er in einem lichten Raum, ber fich un- 
geheuer weit auftut, alle Menichen vor fi, die er jemals ge= 
kannt hatte, und zwar faft genau fo, wie fie in fein Leben ein- 
getreten waren oder es geitreift hatten; alle tun daß, was er 
fie einmal Hatte tun jehen, Ehepaare und Kinder ftehn neben- 
einander, der Lehrer unterrichtet, der Geiſtliche fegnet ein, und 
unfer Halbtoter fieht ſich felbft in der Kirche und in der Schule. 
Es fehlt auch nicht an befannten Landſchaften, Häufern, Tieren. 
Säfte fieht er im Wirtshaus Moft trinten. Alles ſchaut ihn 


— ——⸗— —— 





IE — *—N 


6. Im Lazarett 205 


ſo freundlich, ſo glücklich an, er hat das Gefühl, als winkten 
ſie ihn mit den freundlichen Augen zu ſich hin, und den Tod 
hat er vergeſſen, wollte nur noch gern ſein, wo es ſo hell 
und ſchön, und mo alles Vergangne und Vergängliche jo gegen⸗ 
wärtig und jo friſch war. Er beichrieb die Schärfe und Die 
Deutlichkeit dieſer unzähligen Bilder in Linien und Sarben als 
etwas ganz außerordentliche. Als er fi) aber ergriffen, ge- 
tragen und aufgemwedt fühlte, ohne ſich doch dem Schlummer ganz 
entreißen zu können, fjchmerzte es ihn, daß das Zor in bie 
Ewigkeit zuging, durch das er diefen ſchönen Blick gewonnen Hatte. 
Nur eine Erinnerung aus der Wirklichkeit habe er fpäter damit 
vergleihen mögen, nämlich den Blid in Die hellerleuchteten Weih⸗ 
nachtsſtuben mit dem brennenden Chriftbaum in feiner Kindheit. 
Es wurde an dieſem Abend noch von manchen Todesarten 
gefprochen, auch von weniger milden. Der Lazarettgehilfe, der 
ftill, vielleicht bei manchen Erzählungen zweifelnd, zugehört hatte, 
fchilderte das ächzende, heifere Gepfeife der Luft, Die durch durch⸗ 
bohrte Lungenflügel zieht, für das Leben verwüſtend wie ein 
Sturm, an deilen Stimme dieſer unheimliche Laut erinnert, und 
erzählte, wie ein Hauptmann in der Tobjucht geitorben fei, weil 
man ihm den Spiegel verweigert habe, in dem er jein blattern- 
zerfetztes Gejicht betrachten wollte. Der Theologe aber, fein frei⸗ 
williger Gehilfe, kam noch einmal auf Erlebniffe zurüd, die beweiſen, 
daß die Nähe des Todes gewaltige und plößliche Veränderungen 
in einer Seele bervorbringt, die den Tod kommen fieht. Es ift, 
jagte er, wie ein plößliches Losgeriſſenwerden von der Klippe, 
an der fie bisher gehangen Hatte, und ein Hinaufgetragenmwerden 
oder Hinabgeriffenwerden mit den Wellen und in den Wellen, 
ehe fie in die Tiefe geht. Geijtesfranfe, die feit Jahren Die 
Gegenwart nicht erkannt und das Vergangne vollftändig vergeſſen 
hatten, erwachen eineri Tag, zwei Tage vor ihrem Tode zum 
vollen Bewußtſein, bedauern Fehler, die fie im Zuftande der 
Krankheit begangen haben, beklagen die verlornen Jahre, bereiten 
fi) in voller Geiftesflarheit auf den Tod vor. Man hat foldhe 
‚Zeute jagen hören: Ich werde gejund, um mid) zum Sterben 
borzubereiten. @eiftliche haben Beichten von einer wunderbar 
Haren Erinnerung und einer tiefen Selbfterlenntniß von Sterbenden 
empfangen, die vorher nicht imftande geweſen waren, eine Gedanten- 
fette zu flechten. Die Siebernden, die tagelang, vielleicht wochen⸗ 
lang phantafiert Hatten, in vielen Fällen laut und ftörend, ja 
gewalttätig, ſah man vor ihrem letzten Augenblid zu ſich kommen 





206 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


— — — — — z 


und bei Harem Bewußtſein ruhig fterben. Wo bin ich denn 
bisher geweſen? Welche Dunkeln Wollen umdräuten mid), aus 
denen ich feinen Ausweg fand? Nun ift e8 auf einmal hell, 
und dieſes Licht ift jo mild, jo wohltuend, flüftert wohl einer von 
ihnen, und ein paar Augenblide darauf geht er friedlich aus dem 
Leben. Mit den Verwundeten ift e8 ja anders, bei ihnen, wenn 
fie draußen auf dem Felde liegen und fi) nicht regen und nicht 
rufen können, geht das Leben langjam in einen Traum über, 
dem nicht felten der lange Schlaf bald folgt. Wenn fie aber 
wieber erwachen und ihre Gedanken erzählen, wundert man ſich, 
auf was für Ideen der Menich nicht Tommt, der mit dem Blut 
fein Leben jo langjam binftrömen fühlt, und feine Glieder find 
wie gelähmt, er Tann den Strom nicht ftillen. Halb mag er es 
nicht, denn es wird immer bämmriger, traumhafter um ihn ber, 
und dieſen Zuftand will er fefthalten. So lange fein Bewußtſein 
noch Kar ift, jchließt er den Mund, atmet jo leife wie möglich, 
bemüht fich, nichts zu denfen, damit nicht der Körper an Kraft 
verliere. Es gelingt ihm vielleicht, die Gedanken von ben fernen 
Dingen abzuwenden; in der Ferne mag es wohl manches geben, 
woran er num gerade nicht denken will. Uber mm berührt 
vielleicht Blut jeine Tippen, und an defien laue Süßigfeit knüpft 
fi) fofort eine Reihe fonderbarer Gedanken. Nie ift mir auf- 
gefallen, daß das Blut jo füß if. Wie fade jchmedt der Lebens⸗ 
faft. Das ift gar Fein Lebensſaft, das Leben ift ebenjowenig 
darin, wie es in dem DI ift, ohne das die Mafchine ftille fteht. 
Das Leben fteht der Beurteilung durch unire Sinne zu body, 
und num erft durch den Geihmadsfinn. Da verliert ſich der 
Gedankenfaden. Eine rote Welle verichlingt ihn, und auf dieje 
folgt eine zweite rote Welle; ſchön fpiegelt fi) die Sonne in 
dem Purpurglanz der feuchten Wölbungen. Schade nur, daß 
der Schaum diefer Brandung an Blutſchaum erinnert. Iſt nun 
das nicht wie eine Uhr? Wie Welle die Welle treibt, treibt 
Stumde die Stunde, und fie wandeln an mir bin und hinab; 
und das ift mein Leben. 

Zwei Dinge, die dem Tode folgen, jollten nicht fein, begann 
der Lazaretigehilfe wieder, der Starrirampf und die gebrochnen 
Augen, fie jind der Schreden der Schlachtfelder. Iſt es nicht 
wie ein graufames Spiel der Natur mit dem Menjchen, daß fie 
ihn bei gewiflen Verwundungen fo Hinbannt, wie er gerade ſich 
bewegte, ald ihn die Kugel traf. Wer einen Schuß in einen 
beftimmten Zeil bed Gehirns bekommt, bleibt balbftehend oder 


6. Im Lazarett 207 
Iniend, mit erhobnem Arm, der nod) den Säbel oder da8 Gewehr 
hält: daß graufige Gegenteil des Todesichlafs, von dem ihr ſprecht. 
Und was die Augen angeht, jo fuchit du in dem frieblichiten 
Geſicht, das vielleicht freundlicher lächelt al3 jemals im Leben, 
mandmal jogar fpöttijch oder verſchmitzt zu lächeln ſcheint, ver- 
geben? das Licht und die Sprache der Augen; du findeft mur 
zwei trübe blaugraue Bälle, in denen feine Seele mehr wohnt, 
in die fein Lichtſtrahl mehr eingeht. Dieſes Stieren ind Weite, 
jo ftumpf, jo zwecklos, hat etwas unfäglich trauriges. Es ift fo 
recht das Siegel des Todes. Tu jedem Geftorbnen den Gefallen 
und drüde ihm die Mugen zu, dann erft kehrt der Schlaf ganz 
bei ihm ein, ſchloß der Theolog. 

Wir find jebt beim Ende angekommen, das ift unzweifelhaft 
dad Grab. Faft jeder Soldat findet fein Grab, wenn auch nicht 
jeder eins für fi. Soldaten paſſen nicht in ftille, tatenlofe Gräber, 
wo Leiche neben Leiche liegt, jede in ihrer befondern Grube, und 
feine etwas von der andern weiß; jo wie fie im Gefecht und 
auf dem Marſche eine Maſſe bilden, mögen fie auch in einem 
Mafjengrab ruhn, auf die Gefahr Hin, daß es am jüngften Tag, 
einige Verwechſlung mit den Knochen gibt. Das abgebrochne 
Neid, daS weggeworfne feindliche Faſchinenmeſſer oder Bajonett, 
von einem Kameraden, der mitgeichaufelt hat, darauf geftedt, find 
die pafjenden Denkmäler für ſolche Gräber. Keine Umſtände, 
fein Aufhebens! Freund und Feind, die beide ihre Pflicht erfüllt 
haben, indem fie ihr Leben ließen, mögen beieinander ruhn. 
vür die Eltern ift es fchmerzlich, nicht am Grabe ihres Sohnes. 
beten zu können, dafür werden künftige Geichlechter ben Hügel 
ragen jehen, unter dem der Staub von Helden mobert, und ein 
weitäftiger Baum wird darüber raufchen und raunen. 


5 


3. Erzählung des Mobilgardiften 


Eines Abends ſpät führte ein Lazarettdiener einen Kleinen 
Franzoſen in den Kranlenfaal, er hielt ihn an einem Zipfel bes 
Armels, wie um anzudeuten, daß der Mann ein Gefangner fel. 
Er war in der Tat mit einem Gefangnentrandport von Le Mans 
gefommen. Als ihm ein Zeichen gegeben wurde, daß er ſich auf 
das lebte Bett neben der Tür niederlegen folle, das gewöhnlich, 
wegen der Bugluft unbejeßt blieb, wankte er dahin, offenbar: 








208 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


INTEL GT GL 


ſchwer fußkrank; er mochte vom Froſt gelitten haben, und feine 
Süße waren durch Umwidlung mit Schaffell in unförmliche 
Klumpen verwandelt. Kaum nad einer Minute ftedte er unter 
der Dede; heftige Schütteln, wie e8 den vom Froſt erftarrten 
und übermübeten befällt, wenn er in Wärme und Ruhe kommt, 
warf ben Armen auf und nieder. Al man ihm warmes Getränf 
anbot, machte er ein Zeichen, daß er ruhen, nur ruhen wollte, 
und ſchien mit der Zeit einzufcdhlafen. Am andern Morgen war 
er mit unter den Erjten munter, bat um Leinwand und wuſch 
und widelte feine Süße, die eine einzige Wunde waren. Obgleich) 
ihm das Gehn ſchwer fiel, juchte er fich nühlich zu machen, trug 
Holz zum Ofen, beobachtete umfichtig das Kochen des Waflers 
und legte ſich erft zu Bett, als ihn der Lazarettdiener wieder 
am Armel dahin führte. Der Lazarettdiener, der nie Pulver 
gerochen hatte, war jehr beflilfen, dem Franzoſen zu zeigen, daß 
er Gefangner jet. 

Der Arzt Eonftatierte, Daß der Arme außer erfrornen Zehen, 
die vielleicht noch zu retten ſeien, an einer merkwürdigen Art 
von Ausfah leide, der von den Knöcheln am Schienbein hinauf- 
fraß; das Übel war nicht ganz felten, follte angeblich nervöfer 
Natur fein und wurde von einigen, die davon gehört hatten, 
als ein Rüd- und Ausichlag ausgeftandnner Angſt bezeichnet. Dem 
neuen Batienten wurde die zerlumpte und ſchmutzige Miſchung 
von Moblotuniform und Bivilkleidern, in der er angelommen war, 
mweggenommen und durch einen blaugeitreiften baummollnen 
Sazarettanzug erjegt, in den er mit Behagen Bineinjchlüpfte. 
Diefe Leute, die bei Vendome und Le Mans gelämpft hatten, 
waren oft wochenlang nicht aus den Kleidern und Schuhen ge= 
fommen; die Schuhe legten fie tatfächlih manchmal nicht ab, bis 
fie ihnen in eben von den Füßen fielen. Das geichah aber 
leider recht oft, denn das im Lager von Conlie gebildete jech- 
zehnte Korps war ja nody mehr als andre das Opfer betrüge- 
riſcher Lieferanten geworden, die es mit niedern Schuhen mit 
Bappdedeljohlen und mit dünnen Mänteln aus fogenanntem 
Shoddytuch außsftatteten, dad, wie fi) einer der Moblots aus⸗ 
drüdte, Löcher befam, wenn die Sonne darauf fchien, und fid) 
wie ein Schwamm mit Waffer füllte, wenn es regnete. Abgeſehen 
davon, Haben fi) Die angeblid) fo praktiſchen Franzoſen Har 
gemadht, daß das ſyſtematiſche Bitvalieren, das abhärtend wirten 
follte, der Reinlichleit des Körpers, der Kleider und der Waffen 
höchft unzuträglich ift? Wer die Gefangnen von Le Mans oder 


6. Im Lazarett 209 


von Pontarlier gejehen hat, weiß, daß der Schmuß, an den fie 
fi) gewöhnt hatten, eine der Urjachen ihrer Niederlagen geworden 
ivar, denn er überzog alles, jogar das Gewehr, begünitigte alle 
möglichen Krankheiten und drüdte ihre Selbftadhtung auf den 
Nullpunkt hinab. 

Unfer Heiner Yranzoje, der fih nad) dem Verluſt einer 
Zehe, die faft von ſelbſt vom Fuße fiel, rajch erbolte, durfte num 
umbergehn. Da ſah man jo recht, wie glüdlich er war, dem 
Kriege entronnen zu fein. Man brauchte nicht eben Phyſiognomiker 
zu fein, um ihm am Geficht abzulejen, daß er feine Yajer von 
Soldatennatur in fi Hatte. Ein Kopf jo rund wie eine Kegel⸗ 
fugel, glatt geichoren, ein Geſicht, daS dazu beftimmt zu fein 
fhien, unter günftigen Verhältniffen ebenjo vund zu werben, 
rundliche Lippen, weit offne Augen mit berabfintenden obern 
Augenlidern — kurz ein Kopf, den die Natur in einer heiten 
Laune aus lauter Kugel⸗ und Kreisabjchnitten zuſammengeſetzt 
zu haben ſchien. Und nichts im übrigen Bau des Körpers wider⸗ 
ſprach der Auffaſſung, daß der ganze Menſch, unter der Herr⸗ 
ſchaft eines Kugel- und Kreisſtils ind Leben gerufen, beſtimmt 
jei, auf der ebnen Bahn des von Urahnen ererbten Berufs durchs 
Dajein zu wallen. Und diefer leichten Bewegung lagen feine 
Hemmmiſſe auf feiten des Charakters im Wege; er hatte fich eine 
ungemein freundliche Manier in Fragen und Antworten, Be⸗ 
fcheidenheit und Zuvorkommenheit im Tun jeder Art angeeignet, 
die feiner natürliden Gutmütigleit wohl zu Geſicht ftand. Unire 
Leute hielten ihn deswegen zuerſt für dumm, aber feine Anjtellig- 
feit belehrte fie bald eine Beſſern. Des Morgens und des 
Abends las er in einem zerlefenen Gebetbüchlein Turze Gebete, 
und die barmherzige Schweiter empfahl ihn und als „guten, 
frommen ungen.“ 

Seine Sofdatenlaufbahn erzählte er mir in den Stunden, 
die wir zufammen vor dem Dfen des Krankenſaals jaßen, etwa 
folgendermaßen: Ihr jeid Soldaten, und in eurer Mitte bin aud) 
th Soldat, weil ihr mich als foldhen gelten laßt. In Wirklich- 
feit bin ich nichts weniger als dag, war aud) nicht Soldat, als 
man mid) in Reih und Glied ftellte. Sch wurde es eigentlich 
erft in dem Augenblid, wo wir und in La Xuilerie verteidigt 
und verſchoſſen hatten und fpäter dann von euern Leuten ges 
fangen genommen wurden. Da fühlte ich etwas von Liebe zur 
Waffe in mir, juft da, wo fie mir genommen wurde. Im Grunde 
Hin ih nur ein fimpler Landmann und wäre ed auch geblieben, 

Hagel, Blüdsinfeln unb Träume 14 





210 Bilder aus dem Kriege mit Sranfreidh 


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wenn man mich nicht geziwungen hätte, in den Krieg zu ziehn. Ich 
bin wahrhaftig nicht von jelbft gegangen. Eines Tages holte 
mich der Maire, der nicht mein Freund ift, aus meinem Schaf: 
tal — id bin nämlich mit Leidenfchaft Züchter — und jagte 
zu mir: Bring deine Sachen in Ordnung, in drei Tagen mußt 
du dich in Rennes ftellen, du kommſt zur Mobilgarde. — Ich 
war wie vom Donner gerührt. Ach ſoll Mobilgardift werben? 
Maire, du ſcherzeſt, das ift ja unmöglich, es ift lächerlich — 
Nicht im geringften. Du meißt doch, daß alle gerufen werben, 
die die Flinte tragen können? — Sa, id) habe fo etwas gehört. 
Aber ein Soldat muß Mut haben, Maire, und ich habe nicht 
eine Spur davon. Ich fage das dir umd werde ed jedem jagen, 
der es hören will: beim erften Schuß werfe id mein Gewehr 
weg und laufe, was ich kann. ch bin auß einer ganz unmili- 
tärifchen Familie, mein Vater und mein Großvater waren Hammel 
züchter, wie ich es bin; macht das nicht zum Kriegsdienſt un⸗ 
tauglid? — Mein lieber Mathieu, reden Hilft hier nichts. Wir 
wiffen genau, daß du weder dein Gewehr wegwerfen noch weg- 
laufen wirft. — Ich fchweige von den drei Tagen vor dem Ab- 
marſch. Drei Tage darauf gingen wir nad) Rennes, zehn meiner 
Nachbarn, die dasfelbe Lo getroffen hatte, nahmen denjelben 
Weg, einige von Weibern, Rindern und Verwandten begleitet; 
es war eine traurige Karawane; kein einziger ging gern. An 
der großen Straße angelommen, fagten die Männer: Es taugt 
nicht, daß wir mit Weib und Kind in Rennes einziehn, fenden 
wir fie zurüd, fie müfjen fernen ohne uns auszulommen, wer 
weiß, wer von uns zurüdfehrt? — Da wir nun allen waren, 
bob fi die Stimmung, wir teilten einander aus der Feldflaſche 
mit, und einige begannen zu rauhen, andre zu fingen. Einer 
lagte: Mir ahnt fo etwas, als ob wir bald zurüdfehrten. Uns 
fällt e8 jo ſchwer, nad) Rennes zu gehn, und das find Doch nur 
25 Kilometer, nun bedenke, die Pruffiend find hundertmal fo 
weit hergefommen und jollten nicht bie erſte Gelegenheit ergreifen, 
nad Haus zurüdzufehren? — Wir hörten das gern, glaubten 
es aber nit. Ich dachte: Franzoſen find nicht Preußen, und 
Frankreich ift nicht Deutichland; wer in Frankreich ift, bleibt 
gern darin. 

Diefen Abend durften wir ung in Nennes zerftreuen; id; 
fchlief bei einem Wirte, den ich fannte, auf dem Stroh. Am 
andern Morgen empfingen wir alte Gewehre und begannen zu 
ererzieren, empfingen auch Tornifter, die wir mit Biegeliteinen 





RATE NEE ERSTER TRUE 


6. Im Lazarett 911 


beſchwert der Übung halber trugen, Uniformen erhielten wir 
leider nicht, Die gab man uns erft viel ſpäter, als wir ſchon 
über Tourd Hinaus waren. So marjcdierte ich denn in ber 
blauen Blufe und im Strohhut, wie ich an jenem Abend vom 
Ader mweggegangen war; meine Kleider zerrifien, mein Strohhut 
war lächerlich im Regen und an den falten Tagen, die dann 
folgten. Ich dachte: Das ijt der Krieg; im Kriege darf ung fo 
etwas nicht kümmern. In allen andern Augenbliden dachte id) 
aber nicht an den Krieg, jondern an mein Haus, meine Leute, 
mein Land, meine Himmel. Hätte man mir früher eine Uniform 
angezogen, fo würde ich mir vielleicht ein militäriiches Gefühl 
angeeignet haben; jo aber wurde ich den Gedanken nicht los, daß 
daß nur eine vorübergehende Sache ſei. Deshalb lief ih auch 
nicht, als Uniformen angelommen waren, wie andre, ungeduldig 
danadı, jondern wartete ruhig, bis man mich aufforderte, endlich 
Blufe und Strohhut abzulegen. Dad kam daher, daß ich in 
meinem Innern immer noch nicht glaubte, daß es Ernſt ſei; id) 
Tor meinte, jolange id) meine Zivilfleider am Leibe hätte, fei 
id) immer noch nicht ganz dem Kriegsleben überantiwortet. Und 
bejonder8 der Strohhut erinnerte mid) jo an den Sommer, die 
Sonne ſchien durch einen Riß in der Krempe, ich trug ihn, bis 
man mi ziwang, ihn wegzuwerfen; da meinte ich den jchönen 
Sommer, der dem Kriege vorangegangen war, und alle feine 
Freuden und Hoffnungen damit weggeworfen zu haben. Und 
richtig war auch gleich darauf der Winter da. Um 12. Oltober 
fiel der erfte Reif, und nad diefem kamen die Nebel und die 
falten Regen. Da machten wir unfre Übungsmärſche, den Nebel 
in den Knochen und das Wafler in den Muskeln, e8 ging ver- 
dammt ſchlecht. Nebel und Waller innen und außen find wir 
nicht losgeworden bis der Froſt kam, und da ganze Anjou 
und Orléanais unter einem Schnee lagen, jo tief wie er bier 
feit Jahren nicht gefehen worden war. Bei diefen Märjchen 
ftellte fi heraus, wie ſchlecht unſre Schuhe waren, nach wenig 
Negentagen fielen fie in Stüde. Später haben wir Stiefel nad) 
dem Mufter der eurigen befonmen. Viele von uns fonnten ſich 
aber durchaus nicht an die Lederftiefel gewöhnen. Denkt euch 
Leute, die ihr ganzes Leben nur Holzſchuhe getragen haben, für 
foldhe find die niedern Schuhe mit Gamaſchen. Uber wochenlang 
marſchiert man damit nicht in Waſſer und Schlamm! Alle Diele 
griffen zu den Holzſchuhen, wenn die andern ihnen buchſtäblich 
bon den Füßen gefallen waren. 
14* 


212 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


Die Uniformen, die wir belamen, gefielen ung aud) nicht. 
Manche fagten: Wenn wir die roten Hofen der Infanterie hätten, 
wären wir aud) ganz andre Ferle, mit dieſen grauen find wir 
wie die Müllerfnechte. Es wurde geantwortet: Iſt dir der rote 
Streifen nicht breit genug? Die Meerjchweine (Marinejoldaten), 
die fich defier halten als die hochmütigen Lignards, find blau 
von oben bis unten. Einigen waren die Waffenröde zu eng, 
andre ſchwammen darin. Alle aber klagten Darüber, daß beim 
Mari mit dem Zornifter der Zwiſchenraum zwifchen dem fteifen 
Uniformfragen und dem Hals immer größer wurde; der Regen 
tropfte, der Schnee fiel hinein, floß ſchmelzend über den Rüden 
und Tühlte den Schweiß ab. In den grobfädigen Stoff zog das 
Waſſer wie in einen Schwamm hinein und fiderte an den Armeln 
herab und im Saum zufammen, aus denen fid) dann Heine an⸗ 
dauernde Quellen über Hände und Schenkel ergofien. Ihr glaubt 
nicht, wie an ſolchen äußern Übeln eine Armee leibet, bie das 
große Unglüd hat, nichts zu leiften. Das ſchlimmſte war aber 
doch, daß gerade ald wir befjer bekleidet und bewaffnet waren 
als je und um Schuhwert und warme Mäntel die Deutichen faft 
nicht mehr zu beneiden brauchten, es und militäriſch am ſchlechteſten 
ging; und num halfen Bekleidung und Bewaffnung wenig, die 
Unzufriedenheit zu heben, die Zaujende veranlaßte, fi ohne 
Gegenwehr gefangen nehmen zu laffen. 

Bon Gewehren empfingen wir zuerſt die großen Tabatiere- 
flinten. Da man und aber gleich mitteilte, fte ließen manchmal 
den Schuß durch die weite Nüdöffnung heraus, liebten wir fie 
nit. Später erhielten wir Remingtons, die aber nidht mehr 
lo8gingen, als wir fie vierzehn Tage im Regen umbergetragen 
Hatten. Wir waren immerhin befler daran als die armen Mobilen 
von der Ille⸗et⸗Villaine, die Bündhütchengewehre hatten, mit 
denen fie gar nicht? anzufangen twußten. Iſt e8 zu verwundern, 
wenn ein armer Kerl eine ſolche Flinte wegiwirft, wenn fie ihm 
auf dem Nüdzug zu ſchwer wird? Man läuft ſchlecht mit dem 
Gewehr auf der Schulter, am beiten wenn man die Hände frei 
bat. Bajonette empfingen viele, als fie jchon im Feuer geftanden 
Hatten. Man predigte und den Elan beim Bajonettangriff als 
die große Tugend der franzöfifchen Soldaten, und wie oft übten 
wir diefen Angriff, aber ohne Bajonettel Sch dachte auf den 
Märſchen nah, ob man nicht in einer Zeit, wo foviel er» 
funden wurde, eine Erfindung machen könne, ein gehöriges Brot- 
mefler auf die Flinte zu jteden. 


6. Im Lazarett 213 





——ît——— LEEREN ⸗ 


Trotz der traurigen Figur, die wir machten, wurden wir 
in den Städten, durch die wir marſchierten, immer von zahl- 
reichen Zufchauern mit den Aufen: Vive la r&publique! und 
Vive la guerre! empfangen. Die Damen winkten und aus den 
Fenſtern. Ach, hätte ich doch einige von ihren feinen Tüchern 
gehabt, um fie um meine wunden Füße zu binden, die in ihren 
groben Fußlappen gerade dann oft furditbar fchmerzten, wenn 
wir über das fchlechte Pflafter marfchierten. Der Hauptmann 
rief ung zu, recht ftolz aufzutreten, um den Bürgern zu zeigen, 
was für Feldioldaten wir feien. Jedoch wie foll man auftreten, 
wenn die Sohlen bluten? Ich war nicht der einzige in der 
Sektion, der tagelang nur noch auf den äußern Nändern der 
Füße gehn konnte. Das macht allerdings feinen kriegeriſchen Ein- 
drud. Wir wunderten und im Anfang, als wir ed noch nicht 
gewohnt waren, wie unfer Ericheinen joviel Begeifterung erregen 
tonnte. Später fahen wir ein, daß ihr Rufen und ihr Winken 
nicht und armen Leuten galt, jondern der Fahne, die man uns 
borantrug. Ich dachte mir: Sie rufen fo laut, um ihre Sreude 
zu verbergen, daß fie nicht mit uns ind Feld müſſen! 

Abends im Quartier hörten wir ganz andre Stimmen, als 
die und beim Einzug aus den Fenftern gerufen hatten; zum 
Beilpiel fagte eine Frau: Ihr armen Leute feid gar Teine Sol- 
daten, und eure Befehlöhaber find gar feine Offiziere, jondern 
Advokaten und Politiker. Wie feig müfjen die Franzojen jein, 
fih fo in den Krieg führen zu laffen! Das war nicht tröftlich, 
und man mußte ihr Recht geben. 

Der Krieg rüttelt auch die Neugier und den Vorwib auf, 
daß die Menichen ihre eignen Angelegenheiten vergeſſen und ſich 
mit denen leidenjchaftlich beichäftigen, die fie nichts angehn. Statt 
froh zu fein, daß fie zubaufe bleiben Tonnten, liefen und fuhren 
fie ung nad) und gafften unfre Übungen an. Das war uns 
fehr unbequem, denn wir wußten wohl, daß wir nichts konnten. 

Das Fett der Begeifterung und auch der erften Neugier 
war denn auch bald abgejchöpft, wir erregten fein Intereſſe mehr, 
und da wir ſchwach waren, ımd unſre Vorgejegten ſich rejerviert 
hielten, behandelten ung die Leute ſchlechter. Was wollt ihr? 
Der Schwache ift nicht beliebt. Das Mehr, was die Deutfchen 
ihnen abgenommen hatten, zogen fie an dem ab, was fie und 
hätten geben müffen. Beſonders die Städte behandelten die Kinder 
Frankreichs ſchlechter als den Feind. Wir ftanden hungernd und 
frierend auf den PBläben, während fih unfre Offiziere mit den 


214 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 





— — — 


Bürgern herumſtritten, und man hörte Stimmen: Wahrlich ein 
Bauernkrieg gegen dieſe aufgeblaſenen Bourgeois wäre ſchöner, 
als gegen die Deutſchen zu Felde zu ziehn! Aber auch unſre 
Bauern hoben Brot und Hafer für ihre Feinde auf. Sie 
jammerten, wenn wir etwas wollten: Was tun wir, wenn nach 
euch die Deutſchen kommen? Landsleute, laßt ung fo viel, Daß 
fie uns nicht fchlagen. Die armen Leute befamen nun Schläge 
von ihren Landsleuten. Schlagt nicht jo zu, rief einmal unfer 
Hauptmann, ald einige hungrige Mobile einen Bauern prügelten, 
e3 ift kein Preuße, bewahrt eure Schläge für den Feind. Einer 
antwortete ihm: Wenn dieje ihr Brot für den Feind aufbervahren, 
dann wird der Yeind uns mit doppelter Kraft fchlagen! 

Das ift ein entichiedner Mangel, daß man und Franzoſen 
gelehrt bat, wenig zu eſſen; wir nehmen viel weniger Nahrung 
zu uns als die Deutfchen, wir find eben deshalb weniger wider- 
ftandsfähig, wir heizen weniger ein und leiden jchon darum mehr 
von der Kälte. Die Freude ber Deutichen an ihren brodelnden 
Töpfen voll Rei oder Kartoffeln mit einem Stüd magern 
Hammel- oder Kuhfleiſches darin hat dazu beigetragen, daß fie 
andre Bequemlichkeiten nicht vermißten. Die einen tranfen den 
ganzen Tag Wein, andre, die feinen Wein hatten, jehr viel dünnen 
Kaffee: ſtark oder ſchwach, warn oder kalt; dieſe Genüſſe fteigerten 
ihr Behagen. 

Der Winter blieb kalt, das Land lag tief im Schnee, und 
wir machten unfre Märiche oft wochenlang Tag für Tag. Wie 
nrüde, wie müde wird der Menſch, der tagtäglich in demjelben 
Schnee feine ſchmutzige Spur dDahinzieht! Müde ſchon vom Hinein- 
jehen in dieſe blendende, einförmige Landichaft, müde vom müb- 
feligen Gehen, mehr Gleiten als Marfchieren, müde von dem 
immer fich wiederholenden Auseinanderreißen der Kolonnen, dem 
Zurüdbleiben, dem Schelten der Unteroffiziere, die vergeblich 
antreiben. Man jchließt die Augen, man fühlt nur nod die 
Richtung an den Nebenmännern, oder wenn der Vordermann, 
dem man auf die Ferſe tritt, zurückſchreit. Wahrlich, es war 
eine Wohltat, wenn man fi), wo e3 bergauf ging, dann und 
warın in ein Kanonenrad legte und fortichieben half; der Körper 
gewann eine Stüße, und ed gab Abmwechllung. Es war, ald ob 
wir mit jedem Marſchtage jchwerer würden. Das kam davon, 
daß wir, uns ſelbſt überlaffen, immer mehr zufammenfanfen, daß 
feine fefte Sand und hob und fortzog. Die Kompagnien, die 
noch einen tüchtigen Sergeanten hatten, hielten beſſer zuſammen. 


6. Im Lazarett 215 


Bourbali ſoll gejagt Haben: Ach habe Hunderttaufend Mann und 
feinen Soldaten; Chanzy konnte nahezu dasjelbe jagen. Es 
wurden uns Qageöbefehle verlejen, worin er uns euch deutiche 
Soldaten zum Borbild hinſtellte. Die Strapazen, die ihr er- 
trüget, müßten $ranzojen auch zu ertragen willen. Wir fagten 
unter und: Ihre diden Stiefel, ihre langen Mäntel, ihre warmen 
Uniformen, fogar die Wollkapuzen, die viele von ihnen tragen, 
die erklären viel. 

Im Lager bei Le Mans bildete damals ein alter Seemann, 
der Admiral Jaures, dad 21. Korps. Zu diejem ftießen ir. 
Sch weiß nicht, war e8 das Beilpiel von Truppen, die ſchon 
beijer geübt waren, war e8 der Eifer, der fi von oben herab 
in unjre Führer ergoß, oder vielleicht nur der trodne Boden 
diefer Gegend, den dichtes Heidekraut bedeckte, wir lebten auf, 
die Mürrifchen wurden heiterer, die Widerjpenitigen folgjamer, und 
da auch die Erinnerung an die Heimat allmählich verblaßte, wurde 
in mandem mit der Zeit ein guter Wille herangezogen, zu ges 
horchen und zur Not in den Kampf zu gehn. Unjer Kommandant 
erhielt ein Regiment, und die Yührung unſers Bataillons über- 
nahm nun ein Hauptmann, der früher Profeflor an einer Kriegs⸗ 
ſchule geweſen war. Bielleiht nannte man ihn deshalb den 
Philofophen, vielleicht auch weil er weniger als nicht3 von mili- 
täriſchen Außerlichfeiten hielt. Darin war er daß Gegenteil von 
feinem Vorgänger, der ftreng auf Ordnung im kleinſten gehalten 
Hatte. Vielleicht wollte er fich bei ung beliebt machen. Er ſprach 
oft vor der Front von dem Fluch der Eitelleit, dem der Soldat 
verfalle, der in einer Zeit, wo alled auf den Kern anlomme, 
feine Pflicht zu tun glaube, wenn nur alle blank jei. Das 
paßte nun für uns gar nicht, denn wir litten eigentlich alle an 
dem Fehler, Daß es bei ung zu wenig glänzte. Ich will Soldaten 
befehligen, die den Feind fchlagen, ob fie Hoſen anhaben, ift dann 
gleih. So machten wir denn Felddienftübungen von früh bis fpät 
und jtürmten raſch aufgeworfne Schanzen, in denen wir, wenn wir 
fiegreich oben ankamen, bis über die Knie in den Schlamm Tanken. 

Was und anbetrifft, fo Hatte der neue Kommandant die 
idealiten Vorftellungen von den Soldatenpflichten und Außerte in 
Reden vor dem Bataillon feine Freude darüber, daß er berufen 
fei, gerade und zu Helden zu erziehn, die jonft in der Dumpf- 
beit des bürgerlichen Daſeins Hingelebt hätten, ohne zu willen, 
daß in jedem Franzoſen ein Held tee. Für ſich ſelbſt ftellte 
er Dagegen feit, daß der Offizier vom Bataillonsfommandanten 





216 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


aufwärts, der fich gleich im Beginn des Angriffs an die Spike 
feiner Truppen ſtelle, die er zu leiten habe, mit feinem Leben 
die befte Karte ausſpiele, die er bis zuletzt in der Hand behalten 
jollte. Was ift nun feine Truppe ohne ihn, wenn er fällt? Ihm 
muß der Mut anerzogen fein, ſich nicht auszuſetzen. Der Tod 
auf der Breſche, der für den Soldaten der höchſte ift, ift für 
ihn viel zu billig! — Alſo, fagten wir, zieht er vor, im Bett 
zu fterben. 

Wenn wir von einer Höhe zurüdjahen, fah ein Regiment 
im Mari wie eine Kette von Schafherden aus; der Unter- 
offizier, ein Studierter, fagte: Wie eine Schlange, die fidh in 
ihre Glieder auflöft. Mir war diejer Anblid doppelt unangenehm, 
denn ich wußte, daß eine Herde Schafe ordentlicher beilammen 
bleibt. Da ſah man, daß jeder Einzelne eine andre Richtung 
und ein andre Tempo angenommen haben würde, wenn nicht 
der Trieb zu leben einen an den andern gefeflelt hätte Aber 
diefer Trieb genügt nicht für die Außerften Fälle, in denen es 
fih zeigte, daß wir fein Vertrauen zu unjern Führern hatten. 
Wir merkten bei jedem anftrengenden Marſche, daß die Maſchine 
zu neu war, die Teile ftießen einander, menn man fie in Betrieb 
feßte, ein Rad rieb fih am andern. Die Soldaten erzählten 
fi, daß Chanzy weder obere noch untere Offiziere an den Stellen 
bei den Borpoften angetroffen habe, die er ihnen zugewielen 
hätte. Je mehr ſolche Dinge umliefen, deito lodrer wurde der 
Zuſammenhalt der Herde. Mangel an Vertrauen tft eine Krank⸗ 
heit des Herzens, die lähmt und ſchwächt. AS unjer Major 
eines Tages mit einer neuen Nofette im Knopfloch, die ihm 
eben verliehen worden war, vor die Front trat, ging ein lautes 
Hohnlachen durch die Reihen. Man fragte: Wo Hat der Philoſoph 
das verdient? Es war vergeblid, daß man die Genbarmerie 
vermehrte, um am Schlachttag die Ausreißer durch eine Poften- 
fette Hinter der Front aufzuhalten. Chanzy wußte, wie die nabe 
Stadt die Sehnſucht na Zimmern, Betten, beleuchteten Straßen, 
die entfernte Hoffnung auf beiferes Efjen und Trinken, auf geflidte 
Kleider und neubejohlte Schuhe erweckte; er ſoll fogar beabfichtigt 
haben, im Falle der Schlaht die Brüde abzubrechen, um den 
Rüdzug in die Stadt unmöglich zu machen, der vielen ald daß 
willlommenfte Ende des Krieges erſchien. 

Im Sanuar kam der Feind näher; wir ſahen ihn nicht, 
aber es hieß, er fei nur noch einen Tag entfernt. Doc kamen 
wir nicht gleich mit ihm in Berührung. Wir Hörten in der 








6. Im Lazarett 217 


ed 





Ferne die Geſchütze donnern, ſahen Verwundete, die zurüd- 
transportiert wurden, und ließen todmüde und außgehungerte 
Regimenter an und vorüberziehn, die rückwärts verlegt wurden, 
weil fie entmutigt waren. So wird es und aud) eines Tags 
gehn! An einem Morgen nahmen wir eine Stellung hinter 
den breiten Höhen vor Le Mans ein. Das Wetter war jchlecht, 
die Erde weich. Das Bataillon wurde auseinandergezogen, die 
Geltionen poftierten fi Hinter Dedungen. Der Major zeigte 
und die Richtung, woher der Yeind fommen mußte, und jagte, 
von unjerm Feſthalten binge das Schidjal von Le Mand ab. 
Was kümmerte und Le Mans, dad wir biöher nicht einmal 
betreten durften? Niemand begriff, warum wir gerade bier 
kämpfen follten. Wir famen an diejem Tage nicht nahe an dem 
Feind, und doch hieß es: Wir haben die Schlacht geiwonnen. 
Welche Schlacht? Nun, diefe. Keiner war, der fich eine Schlacht 
fo gedacht hätte: Marſchieren, Stehn, Marjchieren, Liegen, einige 
Granaten, Aufipringen, wieder Marſchieren. Wo war der Elan, 
wo das Vordringen? Geduld, Schweigen war Die Tugend, die 
gefordert wurde. Das Tragen Hatte man längft vergeflen, denn 
niemand wußte etwas. 

Die Ihwarzen Schlangen, die dort in die fahle Dämmerung 
hineinziehn, immer breiter zufammenfließend, das ift der Feind? 
Das einzige, was wir von ihm gejehen haben! Wir folgen ihm 
nicht, wir bleiben ftehn, wir legen und in die naffen Furchen, 
wo gerade feine Pfüge ftand. Wenn wir gerwußt hätten, daß 
fein Rüdzug nur ein Ausholen zum Stoß mit ftärfern Kräften 
war, würden wir weniger ruhig gejchlafen Haben. Am dunkeln 
Frühmorgen wurden wir alarmiert, e8 mar noch fein Schimmer 
von Dämmerung am Himmel, feiner fah den andern. Unire 
Führer waren Stimmen ohne Gefiht und Geftalt, Kommando= 
rufe, denen man in der ſchwarzen Dunkelheit nur zögernd, un= 
fider folgt. Dan hört Schüffe auf allen Seiten, ihre Patrouillen 
Icheinen um und zu mwimmeln, wir erwarten im erften Morgen⸗ 
licht ein Heer von Helmipigen auftauchen zu jehen. Halt! ruft 
mein Nachbar, hält mi am Arm zurüd und deutet bloß auf 
ein ftangenartiged gerades Birkenſtämmchen, da8 ihm eine Ulanen= 
lanze vorgetäujcht hatte. Der Lärm legt fi), man jagt, es feien 
feindliche Patrouillen aus Verjehen in unfre Linie geraten. Das 
müfjen Waghälje fein, die fich fo verjehen! 

Eine wellige Ebene, wenig Wald, ziemlich viel Dörfer, jo 
war dad Land öftlih von und. Es ſchien uns gefährlich) zu 


218 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


—r'oOU — ———— LG 


ſein, denn es konnte Tauſende von Feinden in feinen flachen 
Mulden, Hinter den Hecken und niedrigen Mauern der ücker 
bergen; Armeen Tonnten bier verſchwinden und wieder auftauchen, 
und niemand wußte wohin? woher? Go waren wir dem im 
der größten Ungewißheit, ob wir nicht mitten ind Verderben 
bineinmarjchierten, und konnten troß bes anfeuernden Tagesbefehls 
Chanzys, der und gejtern verlefen worden war, nicht die Über- 
zeugung gewinnen, daß wir fiegen würden oder müßten. unge 
Offiziere, die audgefandt waren, den nahen Feind auszulundfchaften, 
kamen berangeiprengt, als ſei ihnen eine Armee auf den Ferien. 
Große Maffen marjchieren gegen uns, riefen fie. Was? D, das 
fonnte ich nicht genau fehen, ich glaube, e& find Feinde! Zum 
Glück waren es zu der Stunde noch weldje von den Unjern. 
Damals ſah im Schnee jeder Truppenförper ſchwarzgrau aus. 
Dieje jungen Leute risfierten nicht, den Schuß auf ſich zu ziehn, 
der ihre Zweifel zerjtreut hätte. Wir arbeiteten ung in derjelben 
Unficgerheit weiter. Nım Halt! Das bedeutete zunächſt Nieder- 
werfen, wo eben gerade einer ftand. Ich faß neben dem Sergennten 
auf dem Rande des Straßengrabens, feine Hand berührte mich, 
und als ich ihn zufällig anſah, winkte er mir zu, und ich ſah 
die Spige feined® Schnurrbarts auf ein Dorf rechts am äußerſten 
Horizont Hinweifen, über dem ganz tief eine lange weiße Wolfe 
lag. Manchmal ſah mian Kleine Wölkchen darüber auffteigen, ſich 
auflöſen und in der langen Bank verſchwinden: Dort wird ge⸗ 
ſchoſſen, e8 find Granaten, der Wind trägt den Schall von 
und weg; gib adjt, wir werden gleich einjchwenfen und Pulver 
riechen. 

Wir rüdten bald weiter vor, glücklicherweiſe nicht gerades⸗ 
wegs auf das Schlachtfeld, jondern halbrechts. Aha, jagte man, 
die Taktik der Preußen, wir werden fie überflügeln. Dieſe 
Taktik imponierte und jehr; Die, die bei Zoigny geweſen waren, 
behaupteten, es fei ein wahrer Unfinn, den Stier bei den Hömern 
faffen zu wollen. Ich Hatte auch fagen hören: Wenn man 
Truppen bat wie das fünfzehnte Korps, das die Befeitigungen 
von Orleans faſt ohne Verteidigung verlaffen hat, muß man 
froh fein, wenn man den Feind an feiner ſchwächſten Stelle um⸗ 
gehn kann. 

Wir famen jet auf eine andre Landitraße, an der wir 
und neuerdings aufftellten. Nicht Iange dauerte es, fo ſahen 
wir eine lange Wagenreibe, träge Ochſenwagen heranfonımen, 
auf denen Berwundete lagen, die hinter und abgeladen wurden, 


6. Im Lazarett >19 


— — AL LE RL LCD LS — —— ö— —— —— ——— ———— — 


damit fie im Freien verbunden würden. Später ſollten fie weiter: 
geichafft werben, doch haben wir fie in der falten Nacht dieles 
Tages noch daliegen jehen, und ohne daß Hilferufen Einzelner 
wären unjre Batterien über fie weggefahren. Der Anblick diejer 
blutigen Leute, wie fie da auf die Erde gebettet wurden, war 
nicht ermutigend. Wir marjdhierten über das Feld, die Erde 
war feucht, die Füße waren bald zu ſchweren Klumpen geivorden. 
Nun hörte man ſchon die Gewehre knattern, die hellern, fagte 
man, find unjre Nemingtons, die bum! bum! find die, die deutfch 
ſprechen. Zeitweiſe rollte das Gewehrfeuer minutenlang un⸗ 
unterbrochen fort. Wir durchſchreiten einen trocknen Graben und 
erſteigen deſſen jenſeitigen Rand, da ſehen wir ſchon auf dem 
Abhang, der ſich langſam gegen das Dorf ſenkt, Haufen von den 
Unfern inter Hecken, in Gräben fniend und liegend fchießen, 
Unteroffiziere und Offiziere ftehn hinter ihnen oder hufchen gebüdt 
bon einer Gruppe zur andern. In dieje Reihe rüdten wir ein, 
fie machte auf beiden Seiten Pla, man wies ung an, wie wir 
und verteilen jollten, und zeigte die Richtung, in der wir fchießen 
follten. Und nun ging das Schießen 108, von Bielen war feine 
Nede, wir jahen keinen Feind, fchoffen eben in den Rauch, der 
fi immer mehr verdichtete. Es war wie mit den Hunden in 
einem Dorf, wenn einer bellt, bellen alle, jo rollten die Flinten⸗ 
ſchüſſe in unſern Reihen hin und ber, wenn einer losbrannte, 
folgten die andern, und dann begann es wieder am andern Ende 
und rollte jo fort. Eine wahre Wolfe von Kugeln muß uns 
umhüllt haben, wir ſchoſſen, biß die Gewehre jo heiß waren, 
daß man fie einen Augenblid auf die Erbe legen mußte. Da 
die Gewehre der Deutſchen nicht fo weit trugen wie die unfern, 
hatten wir faft feine Verluſte. Unfre ganze Sektion blieb un- 
verwundet. Dann und wann pfiff eine Kugel durch uns bin, 
wahrſcheinlich aus einem franzöfiihen Gewehr, das einer erbeutet 
hatte. _ Wenn wir vorgerüdt wären, bätten wir etwas mehr 
von deutichen Kugeln zu fchmeden befommen, aber unjer Major 
rief immer nur: Kinder, feitbleiben! Cinzelne meinten, man 
müſſe nun doc, endlich vorwärtäfommen, doch damit hatte es 
niemand eilig. 

Während noch Kolonnen vorrüdten, befonders Artillerie, die 
überall am beiten zuſammenhielt, fiderten ſchon Flüchtlinge in 
folden Maffen dur, daß man zweifeln mußte, ob die Haupt- 
bewegung vormwärtd oder zurüd gehe. Einen Augenblid jah man 
erjtaunt zu, wie fi) das zurüdwälzte, dann hörte man aus unjern 


220 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


III TEL. (0000000 2200000100020. ———— ———— LE LG L —— — — 


Neihen Rufe: Wir haben feine Patronen mehr! Unfer Train 
ift fteden geblieben, abgefangen! Die Artillerie machte Halt. 
Pla da, um Kehrt zu machen, rief einer, da drängten wir zur 
Seite und zurüd, und e8 war fein Halten mehr, wir waren 
mitten in dem Strom der Zurüdflutenden und ſchwammen mit. 
Plötzlich rafjelte Hinter und und neben ung die Artillerie zurüd, 
und nun ſah man Leute alles Gepäck wegwerfen, jogar Geldbörſen, 
die allerdings ſeit Tagen einen Sou gefehen haben mochten. 
Es war, wie wenn die Gewehre den vor Kälte fteifen Händen 
von felbft entfielen. Sept ſah ich auch zum erftenmal Leute in 
unfern Knäueln tot Hinftürzen, denn die Öranaten der feindlichen 
Gefchübe, deren Donner ſchrecklich nahe kam, fchlugen mitten unter 
uns ein. Es rührte mich aber nicht, jebt war alle Furcht ver⸗ 
flogen; ich hielt in einer Gruppe ftand, die ein beberzter alter 
Sergeant noch Hinter einer langen Reihe von Badfteinen neben 
der Biegelei auf dem lebten Höhenrande befehligte. Woher kam 
mir der Mut, ftandzuhalten? Ich glaube, ed war, was man 
den Mut der Verzweiflung nennt. Sch Hatte jo viel gelitten 
und gedarbt in diejen lebten Wochen, daß ein Groll in mir aufs 
geftiegen war gegen den Feind, gegen meine unfähigen Vorgeſetzten, 
gegen meine feigen Kameraden, gegen ben Krieg im allgemeinen, 
und dieſes neue Gefühl drängte num alle andre zurüd und gab 
mir den Mut, mich gegen die allgemeine Flucht und gegen den 
vordringenden Yeind zu ftelen. Es half freilih nichts. Wir 
mußten und mit den legten Bataillonen, Seite an Seite mit 
päpftliden Zuaven, Linien= und Marinefoldaten, zurüdziehn, die 
früher voll Verachtung auf uns heruntergejehen hatten. Einige 
Offiziere lobten ung, daß wir nicht fo raſch wie bie andern 
Mobilen gelaufen waren. Dieſes Lob fchien mir jedoch ſchlecht 
angewandt zu fein, ſoweit e8 mid betraf; ich wußte doch am 
beiten, daß dieſes Standhalten nur eine kurze Epifode von einer 
Stunde nad Wochen war, in denen faft niemand von und allen 
jo recht feine Pflicht getan Hatte. 

Die Nacht fank auf das Feld, und mit dem Dunkel und 
der Kälte legte fi auf uns, die Befiegten, die ganze Laſt der 
Enttäufhung und der Verzweiflung. Wir wußten nicht, ob wir 
vor Froſt oder vor Furcht vor dem ungewiflen morgenden Tage 
zitterten. Bwilchen den ®eichügen, die noch zur rechten Zeit 
ausgerifjen waren, in den Aderfurdhen liegend, verloren wir das 
bißchen Mut, da8 wir mitgebradht Hatten. Er erflarrte wie 
alle. ch dachte mir: So hart wie dieſe Schollen, die nnter 


6. Im Lazarett 221 


der Sohle klingen, ift dein Herz geworden. Gibt e8 ein Unglüd, 
das noch einen Eindrud auf dieſes Herz machen könnte? Es iſt 
nur noch Gleichgiltigleit darin. Ich mochte nicht einmal mehr 
an die Heimat denken. 

Sn der Morgenfrübe, als der Januarfroft den Höhepunlt 
erreicht hatte, rüttelte mich der Sergeant auf: Wir haben jeit 
geftern fein Wort des Befehls, man fcheint uns vergeflen zu 
haben. Du follft mit zwei Mann dort recht hinüber gehn, wo 
der Rauch über dem Dorf Tiegt, und den Befehl holen. Du 
wirft dort den Stab der Brigade finden, der wir jeßt angehören. 
Hierbleiben wird nicht möglich fein, aber abziehn wollen wir 
auch nicht ohne weiteres. Wir waren gern bereit zu gehn, man 
mußte ſich bewegen, um warm zu werden. Es war duntel, Die 
legten Sterne ftanden am Himmel, dort wo wir hin follten, war 
es allein heller, dort dämmerte e8 von der Glut der Bauern 
häufer, an denen das lebte Brennbare glühte und qualmte. Es 
war ein trauriger Anblid, doch ftolperten wir über die harten 
Erdſchollen fo raſch wie mögli den Brandftellen zu, zum Teil 
von der Hoffnung getrieben, einen größern Truppenkörper der 
Unfrigen zu finden, an den wir ung anfchließen fonnten, zum 
Teil von der Wärme angezogen. Straße oder Weg fahen wir 
nicht, wir müflen von hinten ber zwifchen den Häufern ind Dorf 
hineingekommen fein. Kein Poften! Vor ein paar glühenden 
Ballen ſaß mitten auf der Straße ein in feinen Mantel gehüllter 
Mann, den Kopf verbunden, ich ſah feinen Säbel im Feuer 
funkeln, das mich blendete, das mußte ein Offizier fein. Ich 
ging auf ihn zu, meldete die Patronille, ohne zu wiflen, ob er 
mid) höre oder nicht, da ſchaute er erftaunt auf, ſprang auf beide 
Füße und rief mir franzöfifch zu: Gefangner! Er hatte nicht 
einmal jeinen Revolver gezogen, fondern gleich nad meinem 
Gewehr gegriffen, dad id) ihm im Schreck ohne weiteres ließ. 
Sn der nächſten Sekunde waren wir von Pidelhauben umringt. 
Wirklich gefangen! 

Das war das lächerliche Ende meines Kriegsdienited. Die 
nächften Tage befamen wir viele Kameraden, auch aus meiner 
Kompagnie kam ein Trupp gefangen an. Zuerſt hungerten wir, 
und eure Soldaten mit und. Wir fahen: auch der Sieg macht 
nicht fat. Da war ein gewifler Troft darin. Dann belamen 
wir jatt zu eſſen. Es regnete aber unaufhörlih, und wir 
marſchierten endlos, immer nah Oſten. Wie merfwürdig, man 
träumte num nicht mehr von der Heimat, fondern von warmen 


222 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


m 


Rafernenjtuben in deutichen Feſtungen und endloſem Nuben in 
Kaſematten nad) den langen Märfchen! Dann famen fünf Tage 
in den falten Güterwagen der Eifenbahn, bald fibend, bald liegend, 
immer vom Froft und von der Näffe gejchüttelt, da8 war demora- 
lifierender als eine verlorne Schlacht. Welches Glüd, daß ich 
in euer Lazarett kam, ehe ich vollftändig zugrunde ging! 


iz 


4. Die barmherzige Schweiter 


Sn dem Heinen Neuen Teitament, das mir der Divifions- 
pfarrer geſchenkt Hatte, las id) manchmal den erjten Korintherbrief. 
Benn ih an die Stelle kam: „Die Liebe hört nimmer auf, jo doch 
die Weißjagungen aufhören werden, die Sprachen aufhören werden, 
und das Erfenntniß aufhören wird,“ Dachte ich heute nicht lange 
über die Liebe nad), die hier gemeint ſei. Dachte vor allem nicht an 
die natürliche Liebe, die Gatten zueinander oder Eltern zu Kindern 
begen, und die, ein Stüd Leben felber, weit über den Menſchen 
hinaus durch die ganze lebendige Welt geht; ich ſah, ſeitdem id) 
in dem Rekonvaleszentenhaus verweilte, zu jeder Stunde bes 
Tags eine andre Auslegung vor mir. Bei den barmherzigen 
Schweitern, die Bier pflegen, hört die Liebe nie auf. Sie find 
Tag und Nacht zur Stelle, immer hilfbereit und immer heiter; 
für fie fcheint es feine Müdigkeit, feine Abipannung, feinen Efel 
zu geben. Ihr Verbinden der Wunden ift wie ein Gebet, von 
dem fie fich neugeftärft erheben. Wie wäre die Welt, wenn es 
auch außerhalb diejer Kloftermauern viele ſolche Frauen gäbe? 
Das ift jebt nicht möglich, aber es muß einft fo fommen. Es 
muß auc andern gelingen, wunſchlos zu werden und jenſeits 
der Stürme zu leben. Die ftille Ergebung in die Pflicht des 
Tages und des Augenblids, die diefe Frauen felig madıt, jo- 
daß wir im Anblid ihres Wirken an die Seligpreifung der 
Bergpredigt denken, liegt im Keim in jo vielem weltlichen Zun; 
e3 muß Mittel geben, dieje Eigenichaft aus ihren Schalen frei 
zu madhen. 

Mein Ramerad, der Theolog im Waffenrod, den der Kriegs⸗ 
jturm aus einem Halliſchen Hörſaal bis vor Paris vermweht 
Datte, und der als Typhusrekonvaleszent zurüdgelandt worden 
war, meinte dazu: Das ift der Sinn der Sentenz: im Heinften 
Punkt die größte Kraft, die von den meiſten, die fie nachſprechen, 


6. Im £azarett 223 


er ——— — — —— — 











rein materiell gedacht wird. Aber habe einmal gelernt, daß 
das Kleinſte, das ſich dir zur Arbeit beut, eine verborgne Tiefe 
hat, in die du den größten Willen und das beſte Geſchick hinein⸗ 
legſt, und es füllt ſich niemals an, es geht immer noch mehr 
hinein, ſo haſt du eine innere Erfahrung gewonnen, die mit der 
Sicherheit des Kompaſſes unfehlbar auf eine große beſtändige 
Lebensaufgabe zeigt. Was iſt nun tiefer als die Not des Lebens? 
Schlechthin nichts. 

Ich verftehe dich, jagte ih; du meinft eben, wegen diefer 
Tiefe kann die Liebe nit aufhören. 

Ganz recht; und ich möchte noch hinzufügen: jede Ent- 
mutigung im Kampf mit der Not des Lebens ift ein Streiten 
mit dem Gott in und, ein Abfall von dem, der uns ftark, ſtark 
zur Tat will. Sehen wir und doch in allernächſter Nähe um. 
Jedem Soldaten iſt es gelegentlich beichieden, Samariterdienjte 
zu tun, beſonders im Gefecht. Im Lazarett gäbe es noch mehr 
Arbeit. Ich habe geſehen, wie das gezwungne Nichtstun bei 
ſo vielen Lazarettinſaſſen ihr Verhältnis zum Ganzen lockerte, 
ich erkannte die Gefahr, daß dieſe Gewohnheit des zielloſen Herum⸗ 
lungerns von einem Tag in den andern auch mich erfaſſen könnte; 
da ging es mir wie eine Rettung auf, als ich dieſe breite Breſche 
ſah, wo Menſchenkräfte bauen könnten. Es zog mid in die 
Aufgabe, Hand anzulegen, buchſtäblich hinein. Der Krieg iſt für 
alle, die nicht ſiegen, beſonders für die ein großes Unglück, die 
Krankheit aufs Lager ſtreckt; mit den Monaten empfinden ſogar 
die von Sieg zu Sieg eilenden, daß er nicht ihr natürlicher 
Zuſtand iſt. Muß darin nicht die Forderung ſein, alle Quellen 
des Glücks zu öffnen, die überhaupt möglich ſind? Glück muß 
zum Streit wider das Unglück aufgerufen werden. Wer das 
einſieht, kann nimmer raſten, in dem ſpricht es: Nimm dich ſelbſt 
in Zucht, wie dieſe Frauen es tun, fteigere die Disziplin ins 
Sittlihe. Laß vor allem deine Seele nidyt bis zur Stagnation 
ruhn, ſchaffe Dir die innere Duelle der Erfriihung, die feine 
Abftumpfung, feine’völlige Ausebnung auffommen läßt. Sobald 
fih der grüne Überzug der Schleimalgen ımd Wafferlinfen über 
die Klarheit einer Quelle zieht, bift du nicht ficher, welches Ge⸗ 
würm darunter auskriecht. Darin liegt der Segen der äußern 
Tätigkeit. Solange der Körper geſund ift, follte er immer hart 
am Rande der Ermüdung gehalten werden. Der Menſch jei 
wie eine Slamme: die bewegt fich, folange fie Nahrung bat, wenn 
fie ruht, ſtirbt fie; aber folange fie lebt, ftrebt fie aufwärts. 











224 Bilder aus dem Hriege mit Sranfreidh 


AB in ben eriten Dezembertagen bei Paris und an der 
Loire zugleich blutige Schlachten geichlagen worden waren, leerte 
man in aller Eile die Feldlazarette hinter der Yront und fchidte 
rüdmwärts, was transportabel war. Es war fäft für alle, auch 
die des Lebend müde im Lazarett geworden waren, eine Er⸗ 
löſung, für manche mag auch die Entfernung vom Kriegsſchau⸗ 
plat willlommen geweſen jein, auf dem fi) damald die von 
manchen für furchtbar gehaltuen neuen franzöfiiden Armeen vor⸗ 
wälzten. Es war ein glüdliches Los, das mich hierher verichlug. 
Ich war nicht Friegsmüde, aber müde des Bluts; deſſen, und 
der Trünmer, des Schmutzes Hatte ich genug. Als ich in dieſes 
Haus eintrat, ſah ich feit Monaten zum erftenmal wieder ein 
friedlich heiteres Antlitz. Vielleicht feflelte mich am meiften 
die breitflüglige Haube, die das frifche, rötliche Geficht der 
Schweiter einfaßte, fie war jo weiß, jo weiß; jeit wann hatte ich 
nichts jo weißes gejehen? Seht mochte draußen im Felde der 
Schnee liegen, der konnte ähnlich fein, aber nur der allein, und 
auch auf diefem ftanden manchmal Blutlachen mit jonderbaren blaß 
bräunlichroten Rändern. Bei ung jah man nur fahle, bräunliche, 
gelblicde Töne; fogar das Weiße im Auge war trüb vom Blute, 
das in den mübden Gefäßen ftodte. Ich Dachte an das Weißeite, 
wa3 id) jemals gejehen hatte, an Yirnfelder im Hochgebirge, an 
blendende Sommerwolten, die im tiefen Mittagsblau ſchwimmen, 
an den weißen Frühlingskrokus, deilen Blüten noch Harer als 
Lilien find. Ich Habe dann freilich noch viel helleres, leuchten⸗ 
deres gejehen. Denn wie ein Stern, der aus Sturmwollen ber- 
sortritt, mutete mich die Menjchenliebe und Frömmigkeit an, die 
ic bier erfahren habe. In der Krankheit und in jeder Art von 
Rot fteht eine Wolfe vor dem Himmel, fagte die alte Schweiter 
Eulalia, die Lothringerin; wir Pflegerinnen kämpfen, daß fie 
fi zerftreue und Gottes Angeficht uns wieder hell anfehe. 

Wenn von den Gründen geiprochen wurbe, warum wir und 
in der Pflege der Schweitern jo wohl fühlten, wurde jedesmal 
ihre verftändige, ruhige Behandlung der Kranken gerühmt; einige 
behaupteten, fie hätten mitten im Fieber aus ihren Fingerfpigen, 
die fih an den Puls legten, etwas beruhigendes berüberfließen 
fühlen. Es ftellte fich dabei aber auch eine innere Berwandtichaft 
herans. Jeder von und Soldaten, der in ihre Nähe kam, fühlte 
etwas Verwandtes in ihrem Weſen. Nicht bloß in der Uniform 
liegt daß, die fie tragen, und auf die fie fo ftolz find wie wir auf 
‚bie unfre. Wir umd fie dienen, und zivar dienen wir beide einen 


6. Im £azarett 225 


ILL TE DE 


Barten Dienjt, zur Not geht eg ums Leben. Wir und fie fämpfen 
nieder, was wir tollen, und tum, was wir follen. Auch darin 
find fie den Soldaten ähnlich, daß fie gerade und mutig ihrer 
Pflicht nachgehn; das gewöhnliche Weltleben mit feinen Umwegen, 
die gar oft zwecklos in fich zurüdlaufende Schlangenwege find, 
mit feinem Biegen und Duden erzielt nur fchillernde Charaktere. 
Der Soldat antwortet auf jede Frage eines Vorgeſetzten kurz und 
bejtimmt, indem er ihm feit ind Auge ſchaut. Dasſelbe tft die 
Urt der Rede der Schweitern. Diefe legen vielleicht noch mehr 
al3 die Soldaten, wenn fie die Uniform anziehn, alle übrigen 
Unterjchtede ab, fie verlieren Vorzüge und Vorteile und fteigen 
Doch nicht herunter. In ihrem gehaltnen Wefen liegt ein Be- 
wußtjein ihrer Grenzen. Ihr Gang ift gelaffen und leife, und 
doch fchnell; eine geht wie die andre, fie find darauf geübt, wie 
wir auf da8 Marfchtempo. Beobachte, wenn eine gerufen wird, fie 
wendet nicht den Kopf, fondern wendet ſich mit dem ganzen 
Körper um, es fieht dienftbereiter au. Neben dem Arzt ſteht 
fie unbeweglih wie auf das Kommando Achtung! und was fie 
aud ehe, e8 zuckt feine Wimper. Sie haben alle dieſelbe Art, 
wenn fie den Kranken zu trinken geben, fie halten ihnen den 
Kopf mit der einen Hand von rückwärts und neigen mit der 
andern leicht den Trinkbecher; wie fanft lafien fie dann den 
Kranken wieder auf fein Kiffen zurüdfinten, und ehe fie weiter- 
gehn, ftreichen fie feine Dede zurecht, jorgen, daß fie ihn gut 
einhülle. Eine macht e8 wie die andre, aber bloß angelernt iſt 
das nit. Da muß jemand feine ganze Menfchlichkeit, oder wie 
lage ich doch? fein Unfterbliches Hineinlegen, Damit das taufend- 
mal Setane die Frifche der Blüte draußen in der Gottesnatur 
behält. Die Schweftern lernen durd; Übung empfinden, was ber 
Kranke braucht. Wenn ihn das Leiden ſprachlos gemacht hat, 
oder wenn die leifefte Frage ihn aufregen würde, erraten fie feine 
Wünjche, als wenn fie felbft gerade in feiner Lage wären. 

Die lothringiſche Schwefter mit dem faltigen Geficht fagte: 
Das hängt mit dem zufammen, was man in der Welt draußen 
ald Enge und Einfeitigfeit belächelt. Eng ift dieſes Reich wohl, 
wenn Sie in ihm nad) den Seiten Hingehn, aber e8 iſt un= 
ermeßlih groß nach der Höhe und nach ber Tiefe Hin, es ift 
ein Reich der tiefften Tiefe und der höchſten Höhe; oder viel- 
mebr, verbeflerte fie ſich e8 müßte fo fein; alles ift nicht genau 
jo hoch und fo tief, wie e8 fein follte. Nur nad) der Welt zu ftoßen 
wir allerjeit8 an Mauern, und das ift gut; nicht hemmt dagegen 

Natzel, Glücksinſeln und Träume 15 


226 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


den Aufihwung und das Sichverſenken. Die beftändige Übung des 
fi in die Lage unfrer Kranken verjegend öffnet die Sinne für 
fo mandyeß, was und fonft unverftändlich bliebe. Es gibt ab- 
ftoßende Menfchen, in die man fich nicht ganz hinein verſetzen 
fann, die man aber doch verftehn muß, wenn man fie recht 
pflegen will; aud fie haben Menjchen, denen fie teuer find, dieſe 
werben gerade das finden, was ich nicht finden fonnte, und in⸗ 
dem ich fie gleichjam durch die Seele ihrer Vieben betrachte, finde 
ich oft ein Berftändnis, wo id) es gar nicht erwartet hätte. Und 
ein andermal: Im Dienft der Kranken und der Elenden jpringen 
Duellen innern Glücks, von denen niemand weiß, der folchen 
Dienft niemals geleiftet hat. Die ftille Heiterfeit lommt davon, die 
wie ber Widerfchein eines verborgnen Lichts auf den Gefichtern der 
Schweftern fliegt. Die äußere Heiterkeit, die ihr bewundert, fließt 
aus derjelben Tiefe. Eure Weltweilen nennen den Humor daB 
Lächeln des Herzens, das verwundet ift. Wber die Verwundung 
ift gar nicht nötig. Welchem Soldaten müßte man erit jagen, 
daß auf Kampf und Sieg die Freude einer gehobnen Stimmung 
folgt? Wenn das Verzagen niebergerungen ift, wallt der Lebens⸗ 
mut hoch auf. Wir fämpfen gegen ums jelbit, reißen und vom 
unferm eignen Sch los, das uns nieberzieht, und dieſes Los 
fommen von ſich jelbft ftärft zu Werfen der Demut, die befeligen. 
Was im gewößnlichen Leben die Stimmung trübt: Empfind- 
lichkeit, Arger, Eitelkeit, Efel, gibt e8 da nicht. Die Aufgaben, 
die wir uns ſetzen, hören nie auf, fie ziehn das Schifflein unſers 
Lebens durch die Flut der Zeit, die Wellen rauichen jo friſch 
und hell daneben auf, fein Augenblid ift bei jolddem Wandel zu 
verlieren, jeder hat jeinen Zweck, feine Aufgabe. Das Aufſich⸗ 
befinnen führt zu nichts. So muß unfer Leben bejchaffen fein, 
daß ſich eine Forderung des Augenblidd an die andre reiht, und 
in diejer Kette Teine Lũcke bleibt, durch die du einen Blick in das 
Nätjel deines Daſeins gewönneit. Befinne dich auf bein Tag- 
werk, daS reicht aus. 

Zu dem Theologen im Waffenrod jagte eine Schweiter über 
ihren Dienft: Der Töchter natürliche Dienftitätte ift das Eltern- 
haus, fie können nur einen viel jchwerem Dienft antreten, wenn 
fie dieſe verlafien, denn in der rechten Dienftbarfeit gibt es nur 
ein Avancement zu den größern Laſten. Das iſt freilich auch 
immer ein Fortfchritt zu größerer Zufriedenheit und mehr innerer 
Klarheit. Wem ſich dad Auge der weltlichen Gewohnheit ent- 
äußert bat, beftändig zwiſchen groß und Hein zu unterfcheiben, 


6. Im Lazarett 227 
und nun immer das Große im Kleinen fieht, hat die Welt 
feinen Reiz, mehr für und. Heimweh? Welches Heimmeh meinen 
Sie? Das Heimweh, dad zurüdihaut, oder dad Heimweh nad) 
dem Frieden, der Ruhe vor und? Wir ſchauen vorwärts. Auch 
darin ift unfer inneres Auge anders gewöhnt. Vielleicht ift fein 
Vorwurf, den man und macht, berechtigter als der des geringen 
Intereſſes für amilienangelegenheiten unfrer Kranken. Gie 
unterhalten und von nichts lieber ald davon und fordern natür= 
lich unſre Teilnahme dafür; wir aber, gewohnt nach oben und 
nach unten zu fehen, verftehn nicht mehr fo recht zu unterjcheiden, 
was draußen jenfeit$ der Mauern unirer Krankenzimmer vorgeht. 
Vielleicht, ſagte fie lächelnd, verftehn wir ung eben deshalb jo gut 
mit den Soldaten, die fi) ja aud) aus ihren Familienbanden haben 
löſen müflen, um in neue Verbindungen einzutreten, die vorüber- 
gehend vielleicht faſt jo feft mie die unjern find. 


> * 
* 


Meine Erinnerungen haben mid) weit über die Räume des 
alten ZazarettS binausgeführt, wo ich die erften Erfahrungen im 
Krankenleben und =fterben fammelte; ich möchte noch von ben 
legten Tagen erzählen, die ich Darin verlebte. 

Bis Ende November hatte und die rauhe Wirklichleit des 
Kriegs in unfern Krankenſälen verfchont. Nur Botichaften und 
Gerüchte drangen zu und, fie famen von ziemlich weit her, denn 
unfre Truppen waren jeit Wochen im Vordringen; auch brachten 
die Transporte nur einzelne Verwundete, umd die Gerüchte er- 
zählten au) nur von einzelnen Gefallnen. Daß es nicht fo 
bleiben werde, war Mar. Die erften Sturmvögel waren mie 
gewöhnlich die Franzoſen jelbft, die Bewohner der Stadt, Die 
kecker wurden, fi in auffallend großer Zahl auf den Straßen 
verfammelten und einander wichtige Nachrichten zuzuflüjtern 
hatten. Wir börten davon durch die Krankenwärter, die mand)- 
mal etwas niedergefchlagen von ihren Gängen in bie Stadt 
zurüdtehrten, und durch einen Der Unterärzte, ber leider gar 
fein Held war, fondern in der Häßlichen nervöfen Feigheit der 
Gebildeten alles ſchwarz jah und Befürchtungen fogar und gegen- 
über an den Tag legte. 

An einem der früh Dunkeln Dezembernachmittage hörte man 
ein ftärfere$ Gewehrfeuer, dichter als fonft und ohne Zweifel raſch 
näher fommend. Der jüngere Arzt, ber von ung allen am mwenigften 

15* 


228 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


zu fürdhten Hatte, fam in etwas aufgeregter Stimmung in den 
Saal, befahl allen denen, die irgend trangportfähig jeien, ſich 
bereit zu machen, auf den erften Befehl mit der hartbedrängten 
Beſatzung abzumarſchieren, bezeichnete ſchon einige Leichtverwundete, 
die marjchfähig ſeien, und andre, für die Wagen zu requirieren 
wären; von der Mehrzahl, die übrig blieb, ſprach er nicht; man 
wußte zur Genüge, daß fie dem Feind in Die Hände fallen 
würde. Das tiefe Schweigen unterbrad ein Typhusrekonvales⸗ 
zent, Schlefier, angebli) Jude, mit der angebrachten Frage, 
ob die weiße Flagge mit dem roten Kreuz bereit fei, unter ber 
man ſich etivaiger Tioergriffe der ſiegreich eindringenden zu er- 
wehren habe. Der Arzt verriet feine Nervofität uns in ſolchen 
Dingen empfindlien Soldaten dadurch, daß er nicht das in ſolchen 
Hüllen übliche „Halten Sie das Maul, bis Sie gefragt werden“ 
fand, fondern etwas Unſicheres brummte. Außen fam das Ge- 
fecht offenbar näher, am offnen Fenfter hörte man Trompeten⸗ 
fignale, Trommeln, die zu einem Sturmangriff einjchlugen: Die 
brummen, es find franzöfifche, unfre Hopfen heller, fagten unfre 
Kenner; dann Salven: fiebengliedrig, bie war gut, das waren 
Unfre. Dann wiederholte Salven und zeritreute® Gewehrfeuer, 
das fich entfernte. Unterdeifen hatte ſich alles fertig gemacht, 
was nur gehn konnte, und es ftellte fi im Mittelgang bes 
Saales eine Elitetruppe auf, in der jeder Einzelne würdig geweſen 
wäre, einem Rarifaturiften ald Modell zu dienen. Verbundne 
Köpfe, ummwidelte Hälfe, Arme in Schlingen, Füße in Bellei- 
dungen jeder Art und Größe, und auf daß alles die Uniform- 
ftüde gezwängt, der Tornifter auf» und das Seitengewehr um⸗ 
geichnallt, jo ftand die mehr als falſtaffiſche Schar von neun⸗ 
zehn angeblich marjchfähigen Lazarettgenofien unſers Saales 
Gewehr bei Fuß. Einige padten noch in Tornifter und Brot- 
fad, was fie an Brotkrumen finden Tonnten. Es war fidherlich 
eine lächerliche Gejellichaft, und jo mochte es auch jebem Ein⸗ 
zelnen davon vorlommen, wenn er feinen Nebenmann anfab. 
Über der Ernft der Lage und die Disziplin wirkten auch bier 
Wunder. Dieje Sammergeftalten ftellten fi) in Reih und Glied, 
die Ylügelmänner waren glei) herausgefunden, und ein pom⸗ 
merjcher Unteroffizier, dem der Helm ganz fonderbar auf dem 
verbundnen Kopf ſchwankte, ftellte zuredht, teilte Sektionen ab, 
fommandierte „Stillgeftanden!“ und Tieß „In Reigen gejeßt, 
rechtöum!“ machen, dann Front, worauf er erklaͤrte, 

gejegt würden wir abmarfdhieren, wenn ber Befehl bazu kame. 


6. Im Lazarett 229 


jest follte fi jeder einftweilen an feinen PBlaß begeben. Das 
Gewehrfeuer Hatte fi) indeflen offenbar immer weiter von ber 
Stadt weggezogen, doch blieben unten im Hof bie Wagen be= 
ipannt, die vorhin aufgefahren waren, und jet hörte man, wie 
einzelne beorbert wurden, in der Richtung auf Zongpre Hinaus- 
zufahren, um Verwundete bereinzuholen. Noch an demfelben 
Abend wurden unjerm Saal zwei Leichtverwundete zugeteilt, ein 
Musketier und ein Sergeant, bie daß Gefecht des Nachmittags 
mitgemacht hatten und noch Beugen des Rüdzugd ber Franzoſen 
gewejen waren. Ich ſehe den Sergeanten, dem zwei Finger ber 
linfen Sand abgefchoffen waren, vor mir, wie er mit Begeifterung 
die drei fiebengliedrigen Salven ſchilderte, die feine quer über 
die Straße liegende Kompagnie in die Franzoſen abgegeben 
batte, die man auf fünfzig Schritte Hatte herankommen laſſen. 
Mit Recht war er bejonders ſtolz darauf, daß kein Schuß vor 
dem Kommando Ioßgegangen war. Das war ein Unterjchieb, 
das Hedenfeuer von den Sranzofen, daß nur fo praflelte, und 
unfre Salven, ein Unterjchied, wie wenn ihr Heingefpaltnes Kien⸗ 
holz oder einen buchnen Kloß in den Dfen legt. Ya, Salven 
kann man gar nicht genug üben, fügte er hinzu, als ob er 
fi) vornähme, gleich bei der Rückkunft in die Garniſon dieſe 
Kriegserfahrung Träftigft auszunutzen. 


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De ws men 8 


* * 
% — 


Die letzten Gefechte hatten zahlreiche Verwundete gebracht, 
und der frühe Froſt viele Kranke. Da wurde es nun Ernſt 
mit dem „Evafuieren.” Zwei Tage nach dieſem aufgeregten 
Abend hielten Leiterwagen, mit Stroh gefüllt, in denen zwanzig 
von uns ein paar Etappen weiter rüdwärts befördert wurden. 
Daß wir erft in Luneville Halt machen würden, mußten wir 
damals nicht. Es war eine kalte Fahrt, auf ber einige von uns 
die Lehre, daß man bei fünfzehn bis zwanzig Grab unter Nulf 
unbeweglid) auf dem Stroh offner Wagen liegend die Beben 
erfriert, wenn man nicht die Stiefel auszieht und bie Füße mit 
Stroh ummwidelt, mit erneuter Erkrankung bezaflten. 

Ganz andre Lehren trug ich aber in meinem Innern mit. 
Dem Lazarett, wo id) genau vier Wochen gelegen hatte, fagte ich 
mit dem Gefühl Lebewohl, reicher zu gehn, ald ich gefommen 
war. Den Srieg, den ich bis zu meiner Verwundung wie einen 
abwechilungsreichen Spaziergang mitgemacht Hatte, lernte ich bier 





230 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


von der ernfteften Seite Tennen. Früher hatte mich ſchon der 
Gedanke an eine chirurgiſche Operation aus einem Krantenzimmer 
vertreiben können, und an den Ausbruch epileptiicher Krämpfe, 
defien Zeuge ich mehrmals gewejen war, hatte ich nur mit 
Grauſen zurüdgedadt. Hier erfuhr ich nun zum erftenmal ben 
Segen ber GSelbitaufopferung, der vielen edeln Menfchen das 
Leben erft lebenswert macht. Nun übertrug fi die Kamerad⸗ 
ſchaft mit Gefunden ganz felbftverftändlid in das Gelbftgebot 
tätiger Teilnahme an den Leiden der Kranken. Ich Habe mit 
der Zeit meinen Aufenthalt und meine Tätigkeit als eine Art 
von freiwilligem Lazarettgebilfen liebgewonnen. 

Am Rückblick auf diefe Erfahrungen erkenne ich, daß ſich 
in dem alten Lazarett von D. Ereigniffe von enticheidender Be⸗ 
deutung für mein ganze Leben abgefpielt haben. Und zwar 
wurde mir klar, dab es wohl widtig für einen Mann fei, dem 
Tode nahe ind Auge geblidt und erfahren zu haben, daß ihm 
das ohne Zittern möglich jet, daß aber eine höhere Art von Mut 
dort auf die Probe geftellt werde, wo man tagtäglich mit dem 
Tod umgeht und mit dem Opfer auch der niederiten Dienfte den 
Menjchenleben, die der Tod fchon in der Hand hat, ein mildes 
Hinübergehn erfauft. Ein Menſch iſt nicht fertig, der nicht letzte 
Dienfte erwiejen, Sterbende bis an bie Schwelle der Ewigkeit 
begleitet hat. Was bu einem Sterbenden tuft, und wäre es nur, 
daß du ihm die Augen zudrückſt oder die Schweißtropjen ab- 
wiſchſt, ift ein letzter Dienſt. Bedenke, was das beißt, ein legter! 
Sterben Heißt die Grenze zweier Welten überjchreiten, der 
Sterbende fteht in der Beit und fieht in die Ewigkeit hinüber, 
du aber bleibft einftweilen noch Bier. Iſt e8 bir nun nicht, als 
fiele durch dieſe Spalte zwilchen Beit und Ewigkeit ein Strahl, 
der uns jonft nie, nie leuchtet, auf unjern Weg? Diejer Strahl 
beiligt ben Sterbenden, und er ift e8, ber deinen Dienft am 
Sterbebett verflärt. 


ER 





7. Ein zündender Blitz 


Niemand weiß, wenn ein Gewitter aufzieht, ob der Blitz, 
und wo er einfchlagen, und wen er treffen wird. In der grauen 
Volle dort Tann ein Xodespfeil für mich oder di auf dem 
Bogen liegen, und während wir wähnen, hier mitten im Leben 
zu fein, zielt jchon ein himmliſcher Schüge, und fein Finger liegt 
brudbereit an ber Sehne. Man jpricht vom Sriegägewitter und 
vom Schlachtendonner und vergleicht das fahle Aufleuchten des 
Geſchützfeuers dem fernen Blitz. Es gibt einen viel furdhtbarern 
zündenden Blitz als den, ber Gewaffnete trifft, die mehr oder 
weniger darauf vorbereitet find; er fchlägt wahllos in ein frieb- 
liches Leben hinein, daß es zerfplittert, er tötet unb zündet mitten 
unter nichtsahnenden Unfchuldigen, und wo e8 vorhin blühte und 
grünte, tft eine Stunde darauf eine ſchwarze Brandftätte, und 
aus den Trümmern bed Glüds von vorhin fteigt der Opferraud) 
zum Himmel. Solche Blite, die weit von den Schlacdhtfeldern 
und Seereszügen niederfahren, als ob fie fich verirrt Hätten, 
gehören zum Schredlidäften bes Krieges. Sie zeigen uns bie 
tobbringenden Mächte ohne Geſetz und Feſſel, umberichweifenb 
wie Marodeure oder die vor Hunger tollen Hunde Hinter einem 
Zroß, und anfallend, wen ein übles Geichid ihnen in ben 
Weg wirft. 


* * 
* 


Um 17. Januar lag eine dide Luft über dem Lande zwilchen 
Vogejen und Jura. Zu ımfern Füßen waren Schnee und Nebel, 
zu unfern Häupten Berge und Himmel nicht zu jcheiden. Die 
Luft war wie greifbar. Der Kanonendonner von Montbeliard 
rollte wie von einem Wintergewitter unheimlid) durch die Wolken, 
nicht metallen, jondern bumpf echoend; der Nebel dämpft ben 


232 Bilder ans dem Kriege mit Frankreich 


Schall. Zündeten feine Blitze, die man nicht ſah? Vielleicht 
ſchoſſen die Franzojen ohnehin ſchwächer? Eine Tags wird 
diefe8 Donnern doc aufhören. Es rührte fi) nichts vor uns. 
Wagten fie fi im Nebel nicht heran, ober hing ihre Überzahl 
ſchon wie eine Lawine über und, bereit, uns zu erdrüden? Man 
hatte in der Nacht den Lärm eines heftigen Gefechts von Norden 
ber vernommen, dann war ed immer ftiller geworden. Darüber 
war man eigentlich nicht verwundert. Froſt und Schnee find 
allem Kriegstrubel abhold. Alles ift zur tiefen Stille in dieſer 
Schlafzeit der Natur hergerichtet, und man wundert fidh, daß Die 
Armeen in dem weißen Felde ftehn. Und die Schlacht an der 
Liſaine war die rechte Winterſchlacht. Man lag und fror im 
Schnee, man lief und tanzte in ihm, um fi) zu wärmen; zum 
Überfluß beichütteten Die Wrtilleriften fogar ihre Batterien, die 
Pioniere ihre Bruftwehren mit Schnee, um die Werke weniger 
fihtbar zu machen. Am hellen Winterhimmel flimmerten die Sterne, 
als ſchüttelten fie fi vor Kälte, oder als tanzten auch fie, um 
fi zu wärmen. Nur in den Wäldern fnallten die vom Frofte 
fpringenden Bäume um die Wette mit den Geſchützen und Flinten. 
Nur den Toten, die beide Armeen täglid) auf bem Kampfplatze 
zurüdließen, wo fie als bunfle Punkte im Schnee lagen, manch⸗ 
mal von einem rotbraunen Hof umgeben, war es gleichgiltig, ob 
es fror oder nicht, ihre Glieder erftarrten höchſtens etwas früher. 
Am Nachmittag trat Regen ein, und wenn fid) die Himmels- 
borbänge nicht noch früher zugezogen hätten als gejtern, hätten 
wir vielleicht die Nebeljchleier zerreißen und die Franzoſen in der 
Richtung ded Doubs abziehn jehen. Wir wußten nichts Davon, 
daß Bourbafi heute den Rüdzug angetreten hatte. Man fühlte 
jedoch, daß eine Entiheidung gefallen war, und man begann zu 
vermuten, daß ed bie für uns günftige ſei. Erſt fragte einer 
den andern: Hörft dur auch nicht mehr die Kanonen von Norden 
ber, oder bin ich von dem dreitägigen Gebonner taub geworben? 
‘a, es donnerte noch, aber daß war viel weiter weg als geftern, 
das war in Belfort. Im Quartier jah man Abends die Mienen 
der Unfrigen heller, die der Franzofen düftrer geworben. Bei 
einigen äußerte ſich die Erleichterung dadurch, daß fie ein Liebchen 
pfiffen, das bie letzten Wochen verloren geweſen war, bei andern 
dadurch, daß fie wieder zu Hagen anfingen. Für Frohfinn und 
Trübfinn hatte die Gefahr der legten Tage den Mund verichlofien. 
Man kümmerte fi) wieder um bie Proviant⸗ und Boftfendungen, 
die am 12. von Vejoul Hatten zurüdgehn müflen und angeblich 


2. Ein zündender Blitz 233 


nun erft auf dem Ummeg über Straßburg und Nancy zu uns 
ftoßen würden. Die dumpfe Gleichgiltigleit der Tage, in denen 
man nur noch gefroren, gehungert und gefochten Hatte, löſte ſich 
auf, e8 wurde Raum für Hoffen und Wünſchen. Mein Kamerad 
Reiske, der feit lange nur nod) ben Spruch Werner aus „Minna 
von Barnhelm“ auf den Lippen gehabt Hatte: Dem Soldaten 
gehts im Winterquartier wunderli, ging jebt zu einer neuen 
Nummer über: Am Abend wird es hell, wie das franzöfiiche 
Spridwort jagt, ihr werdet jehen, wie hell die Dämmernadt 
dieſes Winterfeldzugd enden wird. Seht kommt die Zeit, von 
der der Sranzofe jagt: on reprend figure. Der Musfetier wird 
fein wollnes Kopftud) ablegen, der Kanonier wird feine Bären- 
tagen von Fauſthandſchuhen ausziehn, der Dragoner ſich der 
wollnen Nahtmüge entledigen, die er noch unter dem Helme 
trägt. Und wenn alle die Schalen und Hüllen des Winters ge- 
fallen find, werden wir drei jogenannte Ruhetage puben und 
fliden, Schneider und Scujter werden in einem anftändigen 
Quartier angejtrengt arbeiten, und es wirb eine Parade geleiftet 
werden wie nie! 

Als wir am 18. Morgend den Mari nad Weiten an- 
traten, zweifelte gar niemand, daß das Verfolgung fei. Das ftille 
Gefühl bes Siege wurde auch bald fefte Überzeugung. Man 
merkte es ſchon an der wenig ängſtlichen Marjchficherung, dag. 
wir nicht viel zu fürchten hatten. Welch froher Ausmarſchl Sieg 
und Frühling! Zuerſt riefelten noch Schneeförner herab, und 
ſchwankende Wollengeftalten begleiteten unfern Marſch talaus. 
Dur den Nebel jah man immer nur das Nächſte ganz, das 
aber ſehr deutlich; alle8 andre trat gleich in die graue Undurch⸗ 
fihtigfeit zurüd. Um fo friiher marſchierte man in die fremde 
Landſchaft. Es war ein verwirrendes Spiel, wie Bäume und 
Häufer auftauchten und unterjanten. Als aber die Sonne durch⸗ 
drang, waren die Schatten jo wunderbar blau, und e8 raufchten 
die Bäche jo voll und fo laut, ſchon Hatte bier außen der Schnee 
die Felder verlaffen und die Bäche gefchmellt. Wir haben dasſelbe 
Biel, ſchien zutraulic der Bach zu fagen, an dem wir entlang, 
ind Tal des Doubs Hinunterftiegen, machen wir den Weg zus 
jammen, und verplaudern wir die Stunden. Hier ftanden die 
Mühlen nicht jtill, wie weiter oben, auch die Fabriken feierten 
nit. Man zeigte und in Beaucourt ein großes neues Gebäude, 
wo troß dem Kriege ruhig die feine Arbeit an dem Uhrwerk 
immer- weiter gegangen war. Hier war nicht jedes Gemäuer 


234 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


blatternarbig von Schüffen. Die Borhut machte noch Gefangne, 
fie wurden aber nicht rüdwärts transportiert, ed waren großen- 
teils Halberfrorne, Verhungerte, die gleich auf die Seite gebracht, 
großenteil3 in Pflege genommen werben 

Bei Blamont famen wir auf die große Landftraße, da ſah 
e3 nun freilich anderd aus. Die, bie vor uns marſchiert waren, 
hatten offenbar ſchon etwas Ordnung gemacht, aber noch ftarrte 
es allenthalden von den wüften Spuren eines ungeorbneten 
Rückzugs: die gefallnen Pferde lagen zu Dutzenden rechts und 
lints von der breiten Straße, die von der Straße hinabgedrängten 
und umgeftürzten Wagen oder die Nefte davon, die verlafienen 
Feuer und Lagerpläße, wo Uniformftüde und Waffen zurüdgelaflen 
worden waren, die Blutflede im Schnee, wo man Leichen weg⸗ 
getragen hatte. Beredt war die Tatſache, daß die Munitionskiſten 
geſchloſſen ftanden, die großen Kiften mit Biscuits de Lyon aber 
aufgebrodyen umberlagen. Macht Plab, da kommt ein größerer 
Trupp Gefangner, die Unteroffiziere voraus. Still und gebrüdt 
gehn dieſe dahin, mit Mienen des Überdruffeß jchleppen ſich die 
Soldaten fort. Die meiſten mögen noch nicht lange Soldaten 
gewejen fein, ſonſt würden fie wohl etwas mehr Haltımg und 
Zuſammenhang zeigen. 

Der Feind hatte feine Macht mehr, unſern Marſch zu ftören, 
Heine Teile von uns näherten ſich unbehelligt jeinen Hauptmaflen, 
die freilich nad) allem, was man hörte und ſah, noch immer an 
Zahl ung weit überlegen waren. Doc wo man auf franzöftiche 
Soldaten traf, waren es Kampfunfähige ober Kampfunluftige, die 
froh waren, ihr Gewehr loszuwerden, das fie ſchon aus freien 
Stüden in die Ede geitellt haben würden. In dieſen Winters 
ftürmen war der friegerifhe Hauch von den Wangen der Gallier 
völlig gewichen, das ganze Volk war blaß und mager geworden. 
An Baume led Dames bei Bejanson kamen die gefangen werden 
wollenden uns entgegen, ihre Waffen hatten fie hübſch zufammen- 
gelegt, und fie machten kein Hehl aus ihrer Freude, mit ber 
Kriegsepifode abjchließen zu können. Dazu mochte auch das voraus 
eilende Gerücht von ben neuen Armeen, die im Anzug waren, 
beigetragen haben; es ſprach von ungeheuern Scharen Deutichen, 
die über Langres und Dijon herabiteigen jollten. 

Für uns war ed nun am widhtigften, mit Der Manteuffelichen 
Urmee, die in der Tat näher war, als mandye glaubten, in Ber: 
bindung zu bleiben. Im breiten Doubstal mußten wir und treffen. 
Während mın ein Teil ded vierzehnten Korps jo nahe an ber 


2. Ein zündender Blitz 235 


Schweizer Grenze marfchierte, ald nötig war, die Wege nad) 
Belfort und Veſoul auf dieſer Seite frei zu halten, drüdte der 
andre auf die Gegend zwilchen Doubs und Ognon, wo fich der 
Feind vielleiht an das ftarle Beſangon anzulehnen verſuchte. 
Bon der neuen beutihen Südarmee aber mußte ein Teil den 
Doubs überfchreiten, um und die Sand reichen zu können, ein 
anbrer Zeil weiter füblich die Saöne, um ben Franzoſen den 
Weg über Pontarlier nad) Süden zu verlegen und Garibaldis 
jchlecht georbnete und jchlecht geleitete Scharen, bie bei Dijon 
ftanben, auf die Seite zu werfen. 

Da wir dem linken öftlicden Flügel des Vormarſches an- 
gehörten, famen wir bald tiefer in den Sura hinein. An Süb- 
unb Oſtflanke jtiegen Weinberge empor, aber nicht weit. Hier 
war nicht, wie in ben Vogeſen, ein ganzer Berg unten Weinberg 
und oben Wald. In dem rauhen aber feuchten Klima legten fich 
Matten dazwiſchen, die, wo der ſchmelzende Schnee fie verlieh, im 
hoffnungsvolliten Grün leuchteten. Alle Soldaten freuten fidh über 
die neuen Bilder, die einen fanden den Unterſchied dieſer tiefern 
Täler, diefer räftiger vorjpringenden Berge und fchroffern Höhen 
don den Vogeſen heraus, die andern erlannten, troßdem daß der 
Schnee die Felder eben erſt verlafjen hatte, die Güte des Bodens 
und lobten die großen wohnlichen Häufer. Dan fagte fih: Wenn 
wir auf diefe Höhen fteigen Tönnten, würden wir tief in bie 
Schweiz bineinjehen, und erwog in der Stille, um wieviel bie 
Eroberung dieſes Teils von Frankreich und bem Frieden näher 
gebradit haben möge. 

Da fi) immer mehr Hügel zwilchen uns und dem Zentrum 
der Armee auftürmten, und der Querverbindungen immer weniger 
wurden, fandte die Spite auf jeden Weg, der rechts abzieigte, 
Heine Abteilungen ind Land hinein. Sie follten Verfprengte 
aufheben und Waffen konfiszieren. Nequilitionen waren zum 
Glück jet nicht mehr notwendig, wir waren reichlich mit Nahrung 
dveriehen, und das Land wurde zujehends befier. Es wurde aud) 
nit mehr fo viel Vorſicht gelibt wie früher. Zwar war nod) 
immer der Unterfchied zwiſchen ſichern und unſichern Landichaften; 
diefe durchritt man fchnell, in jenen gab man den Pferden Ruhe. 
Wenn man aus einem engen Tale, wo Wald und Bachesraufchen - 
die Verbündeten des Feindes fein konnten, in offnere® Land 
fam, atmete man auch jebt noch auf. ber mit jedem Tage 
Fi das Gefühl: Der Frühling fommt und bringt Sieg und 

rieden. 








236 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


TILL TILL 


Dad milde Wetter hielt nicht lange an. Am 20. trieben 
Schneefloden in der grauen Luft, auf den Höhen wurde e8 zu= 
ſehends weißer, und neuer Froſt jenkte fih ind Tal Um 21. 
als eine neue Schneedede über Berg und Tal gebreitet war, 
ritten wir ind Land hinein. Das war jo einfam und totenjtill, 
man hörte faum die Hufe der Pferde. Der Schnee war glüdlicdher- 
weife nicht jo tief, daß man nicht die Departementsftraße hätte 
erfennen Tönnen. Die unfehlbaren ſchmalgeſchnittnen Bappeln be- 
zeichneten fie, und manchmal ftanden Eichbäume in Reihen, die 
wie Weiden zujammengefchnitten waren. Marſchiert war bier 
feine Truppe vor uns, man ſah nur Spuren von Einzelnen. 
Man trifft Hier felten Walnußbäume an den Lanbftrafen, Obft- 
bäume gar nicht. Es jcheint aud) weniger Raben zu geben. Man 
vermißt ihren jchwerfälligen Flug und ihr unfcheues, plump- 
vertrauliches Verweilen neben der Straße. Dafür flogen fchon 
Stare, entweder jehr frühe Boten des Frühlings oder Zeugen 
eines milden Winter, der ihnen das Überwintern erlaubt hatte. 
Man ritt ohne Karte und Kompaß ruhig der Straße nad), biß 
fie fi) zu teilen jchien. Führte fie doch ziemlich gerade nad 
Weiten und in das Hügelland hinein. Sie ftieg zulebt ſtärker 
an, bis fie einen Höbenrüden in jcharfem Bogen erftiegen 
batte, und ſchien ſich nun zu teilen, das heißt fie verichmälerte 
fid zu einem Zizinalfträßchen und gab rechts und links einen 
Feldweg ab. Die Batronille wurde geteilt; zu einer beftimmten 
Stunde de Nachmittags jollten ſich die beiden Abteilungen in 
V. zujammenfinden, wo, wenn die Verhältniffe günftig waren, 
ein Relais für die Verbindung mit Qure gelegt werben jollte. 
Der Haupttrupp ritt auf dem Pizinalfträßchen weiter, wo noch 
immer ein paar Spuren von Holzſchuhträgern zu ſehen waren. 
Ich ging mit einem Manne recht? ab, um auf ſpurloſem Feldweg 
eine Häufergruppe zu erreichen, die nach der Angabe auf dem 
legten Chaufjeeitein ſechs Kilometer entfernt war. Das Gelände 
ftieg merflid) an, unb der Schnee wurde tiefer, jchon war es 
geboten, Mulden zu umreiten, in die er Hineingewweht war. Wir 
hielten auf einer Lüde in dem Waldrande, der fich dunkel und 
ſchnee⸗ oder reifbeitäubt vor ung hinzog. Es ftand dort weit 
fihtbar ein fteinernes Kruzifix. Al wir den Wald erreicht 
hatten, ftießen wir auf das erite Hindernis. 

Gefällte Tannen lagen über den Weg: unſre verfpätete 
Chriftbaumbefcherung! Wir brachen von ihren duftenden Zweigen 
ab und lauten die Nadeln, um den Durft zu vergeſſen, der ſich 








2. Ein zündender Blitz 237 


LEID DAL DL LOB GL GL DE —— DE DD DB DLR ö— — — — —— 


allmählich einſtellte. Die törichten Menſchen hatten ihre ſchönſten 
Bäume dahin geworfen. Nicht einmal ein Hindernis für eine 
Kompagnie hatten ſie damit geſchaffen. Uns machte es freilich 
einige Mühe, die Pferde um die Barrikade herumzuführen, 
Infanteriſten wären darüber weg voltigiert. Die Hauptſache war, 
daß der Weg in der angenommnen Richtung weiterführte, wir 
wünſchten dringend, bald am Ziel zu ſein, denn es begann zu 
dämmern, und das Gelände zeigte Einſchnitte, die nicht unbedenklich 
ausſahen. Wir kannten die Eigentümlichkeit des Jura damals 
noch nicht, daß die mildeſten Hügelketten von ſteilen Schluchten 
und tiefen Keſſeln durchſchnitten werden, deren Daſein keine 
Furche, kein Einſchnitt in den Umrißlinien verrät. Sie mußten 
forgfam umgangen werden. Einzelne waren jo tief verweht, daß 
die Pferbe leicht Bid über den Bauch verfinfen konnten. Die 
Zeit verging im Suchen ficherer Umwege und Übergänge. Die 
Sonne fant früh Hinter den Bergen hinab, und im Schatten 
wurde die Abenbluft fchneidend. Den Wegweiſer, der an einer 
Abzweigung an einem fchluchtenartigen Hohlweg ftand, beichatteten 
Hohe Bäume. Es half nichts, ihn zu erflettern und zu verjuchen, 
mit dem Streichhol; feine Inſchrift zu entziffern, fie war zer- 
ſchnitten bis zur Unleferlichkeit. 

Ich will nicht lang erzählen, wie wir beim Licht des Schnees 
auf unjern Spuren zurüdgingen und bei raſch hereinbrechender 
Naht und in dem Gewirr von Schluchten und Gruben, durch 
die wir und gewunben hatten, verirrten und endlid die Uns 
möglichkeit erfannten, und in irgendeiner Richtung herauszufinden. 
Auf einer freiern Stelle, wo fürzlid) Holzfäller gearbeitet haben 
mußten, fraßten wir den Schnee vom Boden, legten Holzfcheite 
unb Gezweige zu einem Windſchutz zufammen, hinter dem bald 
ein Feuer loderte. Eine tüchtige Abreibung und ein paar Hände 
vol Mais den Pferden, ein Stüd Sped und eine Brotkruſte 
den Menkchen, wozu beide begierig den Schnee ledten. Das 
mußte heute genügen. Wir nidten am teuer ein, als wir ung 
eben gejeßt hatten, und fanden kaum Zeit, zum Sternenhimmel 
aufzujchauen, der unglaublid) groß, rei und jtill herableuchtete. 
Es war eine Naht, in der wir vom weiten Meere und von 
Sternen träumten, die fic darin |piegelten oder dicht wie Schnee- 
floden fielen und uns zudedten. 

Beim erjten Morgengrauen auf und der weißen Seite des 
Firmaments entgegen. Der Morgenftern ſtand noch hoch, aber 
draußen im Dften zitterte ſchon ein erfted Ahnen von Morgen» 





238 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


Dämmerung in ben Aften. Die übrige Welt war noch ftill. Die 
Dämmerung und der Schnee leuchteten und, als wir und auf- 
machten, um den Weg zu fuchen, den wir geftern verloren hatten. 
Wir waren nicht lange gegangen, da lagen hart unter ung Die 
grauen Scinbeldäder mit den ſchwarzen Schornfteinen, al 
wollten fie zubeden, was bier noch von Leben war. 

Es war ganz; Mar, daß wir kaum emen Kilometer vom 
Dorfe in einen Waldweg abgebogen waren, der auf ben Holzplag 
führte. Hier liegt noch viel Schnee, umd weithin tft das weiße 
Feld fleckenlos, ohne eine einzige Menfchen- oder Tierjpur. Unten 
liegt der Schnee gegen die Hütten angeweht, ihre breiten Dächer 
ſchauen wie Klippen aus dem Meere, über dem es jebt heller 
zu werden beginnt. Um Waldrande beginnt in einem Fleinen 
Kalkplattenbrudy ein undeutliher Weg, der hinabführen muß. 
Wir folgen ihm; das Helle Gebell eines Hundes von weiter 
Witterung findet ung an, daß dad Dorf wohl auch Menſchen 
bergen wird. Der Weg führt ftetig hinab, wird zu einer Art 
Straße, deren Schnee unrein wird, und jo marfchieren wir langjam, 
immer die Pferde führend, in das Dorf hinein. 

Diefeg Dorf lag wie im Hohlweg, zu beiden Seiten ging 
es teil hinauf, und die Heinen Häufer, mandje and rohem Stein- 
bau, ftanden eng um das Sträßlein, die älteften von ihnen drängten 
fi) 6i3 auf den Weg vor und kümmerten fi) nicht darum, ob 
fie jchief zu ihm ſtanden. Ein einziges vagte über die andern 
hervor, es ftand auf hohen Mauern an dem Abhang der Mulde, 
in der das Dörfchen lag. Doch ſah es jo verfallen unter jeinem 
ſchweren dunkeln Dad) aus, daß man zweifeln mochte, ob es be- 
wohnt je. Ein paar Männer und Weiber fanmelten fi) um 
und, einige ſchauten neugierig drein, einige erichrafen. Mein 
Kamerad fagte leichthin: Hier jcheinen wir noch nicht geweſen zu 
fein. Es fehlten in der Tat alle Merkmale, die kantonierende 
Truppen in den Dörfern zurüdlaffen: die Inſchriften an Toren 
oder Fenfterläden, die Refte von Schutzhütten oder Wetterfchirmen 
an den Eingängen und den Yusgängen, die Scheunen, die offen- 
ftehn, weil fie außgeleert find, die von Pferden zerftampften Plätze 
unter Bäumen. Als ich nad) dem Haufe des Maire fragte, zeigte 
ed fich in der Tat, daß die Leute hier noch nicht die Übung bes 
Berfehrd mit fremden Truppen hatten. Man fchidte nad irgend 
jemand, doch ftellte es fich heraus, Daß daß der Lehrer war, ber 
für den im nädjiten Weiler wohnenden Ortsvorfteher Schreiber- 
bienfte beforgte, ein verwachſner Menſch. der nicht jo ganz 


7. Ein zündender Blitz 239 


dumm und unwiffend fein modjte, wie er ſich zu ftellen fchien. 
Seinem Wunſch, eine halbe Stunde zurüd zu dem Weiler des 
Maire zu reiten, ſetzten wir Die beftimmte Abficht entgegen, 
hier zu bleiben. Wir überjchauten beide in demjelben Gedanken 
prüfend die Hütten und die Scheunen. Wo mochten unire Pferde 
am beiten aufgehoben jein? Die Ausfichten waren nicht glänzend, 
da8 Dörfchen war offenbar ebenjo bürftig wie Hein. Die Leute, 
deren Bahl nun gewachſen war, fchauten zwar abfolut friedlich 
aus, fie wären und aber doch gern 108 geweſen und fdilderten 
das Nachbardorf in hellen Yarben. 

Auf einmal ftand die hohe, breitfchultrige Geitalt eines 
Geiftlihen wie auß der Erde gewachſen Hinter dem Haufen, ber 
fich teilte, ald er ihn gewahr wurde, als jei es ſelbſtverſtändlich. 
daß er mit und parlamentieren müfje. Ich fühlte den prüfenden, 
faft ftechenden Blick Kleiner kohlſchwarzer Augen auf und ruhn, 
grüßte, ftieg vom Pferde und ging auf ihn zu. Der ſchien nichts 
andre erwartet zu haben, fragte jogleich, woher wir kämen, und 
ob ein größerer Truppenkörper nachkommen werde. Auf meine 
nicht ganz beftimmte Antwort, die diefe Möglichkeit mit Wbficht 
nicht ausſchloß, fagte er, daß wir die erften Deutichen feien, die 
den Weg hierher gefunden Hätten. Er ging dann gleich dazu 
über, die Friedfertigkeit feiner Dorfbervohner zu loben, und hob 
fein Bemühen hervor, fie auf diefem Wege zu erhalten. Sie 
hätten bier eine Streifpartie von Clinchant gehabt, erzählte er, 
jchlecht berittne und viel zu leicht gefleidete Truppen, Leute, zum 
Erbarmen la pauvret& möme, denen wir, Die wir jelbft in Friedens⸗ 
zeiten arm find, gaben, was wir entbehren konnten. Sonft bat 
niemand den Weg hier herauf gefunden. Man hörte zwar deutlich 
heraus, daß er unfre Ankunft bedauerte und uns vielleicht im 
ftilen weit weg wünſchte, aber ein Blid auf die Dorfbewohner, 
die fi) um und gejammelt Hatten, bejtätigte, was er von ihrer 
Hriedliebe jagte.e Man konnte übrigens begreifen, wie ungern 
er jein Dörfchen no fo fpät, vielleiht an der Schwelle de 
Sriedend, von den Kriegswellen erreicht ſah. Es war Klein, 
eigentliche Bauern gab es hier offenbar nicht. Den Leuten, bie 
ung umgaben, jah man an, daß fie den ganzen Winter an der 
Hobelbant oder über der Schnipbant gearbeitet Hatten. Dieſe 
blafien, gebüdten Geftalten mit dem weichen Blick waren fein 
Material für Franktireurs. Auch der Geiftliche flößte Vertrauen 
ein, er erinnerte in feinem ruhigen Sprechen an bie bejonnenen, 
zuverläffigen Halbbeutichen, die wir aus der Gegend von Belfort: 





240 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


fannten. ch richtete an ihn die Frage, ob wir unſre Pferbe 
irgendwo einftellen Tönnten, ich ſahe Fein Wirtshaus, bezahlte 
aber gern das Futter. Am nötigften fei ein warmer Stall und 
eine Abreibung mit trodnem Wolltuch. Ob ich beides bei einem 
Pferdebeſitzer im Dorfe fände. 

Pferdebauern gibt e8 hier Feine. Doch ift in meinem Haufe 
ein geräumiger Stall, den gegenwärtig nur drei Kühe bewohnen, 
und der Bauer, ber ben Kirdhengarten pflegt, wird das andre 
bejorgen. Seine Haushälterin werbe uns hoffentlidy etwas Warmes 
‚anbieten können. 

Wir madten und auf den Weg. Die Umftehenden blieben 
auf einen mahnenden Bli bes Geiftlicden zurüd, offenbar hatte 
er fie gut in der Hand. Ein Knabe ging mit ung, zeigte den 
Stall, wo wir das Nötigjte fanden und die Pferde bejorgten. 
Hau war im Überfluß da. Das Pferd meines Kameraden ver- 
ſchmähte das Zutter, hatte ſchon den Morgen am rechten Hinter- 
bein gelahmt, e8 war ein franzöfifches Beutepferd von Langres, 
ein ſchöner Falbe, aber für ſolche Strapazen wohl etwas zu fein. 
‚Mit Mühe brachten wir die Ingredienzen eines Trankes zu⸗ 
fammen, der feine Nerven aufrütteln ſollte. Als es troden ge 
rieben war, fing e8 an, den Kopf höher zu heben, und feine 
"Augen blidten Harer. 

Während mein Kamerad bei den Pferden blieb, juchte ich 
das Haus des Geiftlichen auf. Es jah von außen bäuriih aus 
mit feinen niedrigen Fenftern, die nicht einmal in einer Reihe 
lagen und jedenfall ganz gleichgiltig und unbedeutend drein- 
ſchauten. Trat man hinein, jo war der erfte Eindrud womöglich 
noch ungünftiger, denn die fteinplattenbelegten Gänge und die 
Ichmalen fteinernen Treppen wurden von diden Mauern erbrüdt, 
und e8 fehlten jo ganz, wie in ben meilten katholiſchen Pfarr⸗ 
häufern, die erwärmenden Zengniffe menſchlicher Tätigkeit. Man 
fühlte fi wie in einem Moſter, das eben von feinen Inſaſſen 
verlafſſen worden war. Stein und Kalk, ein paar fchwere ſtumme 
Züren, unb fonft nichts. Es regte fidy fein Weſen. Wir ftiegen 
in das erfte Stodwerf hinauf, da war es fchon heller. Und 
num öffnete fi) die Tür zu dem Studierzimmer des Geiftlichen, 
„zugleih mein Kunftzimmer,“ fügte er Hinzu, da flutete mir das 
Wintermittagglicht entgegen, als flöſſe es von den weit außge- 
breiteten Goldflügeln der Kichtengel einer Verkündigung herab, die 
in der Fenfternifche ftand. Das Haus war an den Außerften Rand 
des Talabfalles gebaut, und fo fchaute feine Rückſeite hinab zu 


2. Ein zündender Blitz 241 


dem grünen Faden bes Flüßchens umb hinaus in die Höhe des 
jenfeitigen Talrandes, und gerade dieſes Zimmer empfing von 
drei Seiten volles Lit. Es war eine fonderbar großartige 
gegenſatzreiche Lage zwiſchen dem Dörſchen auf der einen und 
dem Blid in Die Welt und den Himmel auf der andern Geite. 
Mein Begleiter erklärte mir, daß das Haus in die Reſte einer 
Burg bineingebaut fei, die bier als Warte an der Stelle ge- 
ftanden hatte, wo man ben weiteiten Blid talauf und talab ge- 
winnt. Deshalb vorn Bauernhaus und Hinten eine Nitterburg 
mit alten tief Hinabfallenden Mauern. Wer weiß, ob nicht bie 
erften Fundamente keltiſche find? In diefer Gegend ift e8 mehr 
als wahrſcheinlich, wir find nicht allzumweit von Bibracte und 
bem Gau der Häduer, die fih den Römern zuleßt gebeugt haben; 
bier ftand vielleicht eine Der Burgen, in denen feltiiche Edelleute, 
Anhänger des Julius Sacrovir, noch zu des Tiberius Zeit bie 
Unabhängigfeit Galliens verteidigten. Vielleicht ragen dieje feften 
Grundmauern nod) weiter zurüd, fagte er, indem er einen Schrank 
aufichloß, in dem glänzende Bronzefpeer- und Beilklingen, ſoge⸗ 
nannte Kelte, lagen. Sole alte Reſte findet man bier nicht 
felten. Do mag nun in der Tiefe ruhig liegen, was noch un- 
berührt unten liegt; wir haben feine Mittel, danach zu graben, 
und wenn wir fie hätten, möchten wir es nicht. Meine Bauern 
und id find darin ganz derſelben Anſicht. Das Leben des 
Tages gibt und Aufgaben genug und braudt ung ganz, jebte 
er mit merklicher Abfichtlichleit Hinzu. 

Wir aßen auf dem Vorplatz, deſſen rote Badfteinfliefen ein 
dicker Teppich bededte, wie ihn die Bäuerinnen hierzulande aus 
den Nanditreifen ihre rauhen Wolltuches Flechten. Ein altes 
ftummes Weib trug auf. Köftlich fchmedte die Gemüfefuppe mit 
ihren bineingefchnittnen kräftigen Fleiſchſtücken, und Die gelben 
Apfel waren troß dem Spätwinter noch voll Duft und Friſche. 
Einen dunfeln herben Rotwein, deſſen Heimat die Gegend von 
Belansgon war, ſchenkte der Pfarrherr fleißig in mein Glas, und 
er ließ es nicht zu, daß ich ihn nad) der Sitte ded Landes mit 
Waſſer mifchte. Sch müſſe mich nach der Falten Nacht im Freien 
innerlich wieder erwärmen. Meinem Kameraden wurde das Efien 
in den Raum im Erdgefhoß geichidt, wo man und Quartier 
angewiejen hatte. Nach dem Efien kam die Haushälterin, die 
fi den Fremden wohl anfehen und Lob für ihre Kochkunſt ernten 
mochte, ein ſchlankes Weſen von unbäurifcher Geitalt und einem 
blaſſen, friedvollen Geficht, daS etwas madonnenhaftes hatte. 

Rage, Slüdsinfeln und Träume 16 








242 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


Seltfam berührte mich bie Ahnlichkeit ihrer Haltung mit dem 
Muttergottesbild, das ich vorhin in dem Zimmer des Geiſtlichen 
geſehen hatte. Dan hätte weiten mögen, das Mädchen oder die 
junge rau habe Modell dazu geftanden. 

Eine halbe Landsmännin von euch, warf der Pfarrer Bin, 
als fie ſich ſtill wieder entfernt hatte. Ihr bemerkt vielleicht, 
wie wenig Ahnlichleit fie mit den Leuten dieſer Gegend bat? 
Ste ift zwar dunkel wie eine Franzöſin und ſpricht unfer Patois 
wie eine Juraffierin, aber ihre Eltern find aus Baden einges 
wandert; ihr Bruder ift der Künftler, dem ich jchöne Werke in 
der Kirche verdanke, ein geſchickter und frommer Holzichneiber! 

Der Geiſtliche ließ mid) nach Tiſche nicht gleich aufftehn, 
er fchien os manches auf dem Herzen zu haben, wovon e8 ihn 
zu ſpr drängte. Wahrſcheinlich hatte er in diefem Dörfchen 
feinen uß von Anſprache, vielleicht hoffte er auch neues 
von mir zu hören. Zunächſt freilich ſchien er mehr Luft zu haben, 
fich jelbft al8 mich zu vernehmen. Mir aber war es nur recht, 
ihm zuzubören, denn aus feinem Munde rollte Sag auf Sag, 
wohlgebilbet, Hangvoll und frei von der Phraſe, die fonit die 
Außerungen der Franzoſen über ben Krieg entftellten. Übrigens 
wies ihn feine Rebe nicht als Juraſſier aus, wofür ich ihn ges 
halten hatte, er ftammte aus dem Herzen Frankreichs, der Touraine. 
Es war etwas Abichweifendes, nad) Bildern Suchendes in feinen 
Neben, das mir zuzeiten unklar blieb. Doch verftand ich ihn 
wohl, wenn er jagte: Was wollen wir ſchwachen Leute? Über 
uns, body oben bat fich ein Blod losgelöſt und rollt zu Tal 
Ber hält ihn? Es gibt kein Geſetz Gottes, das der Krieg nicht 
mit Füßen träte, er ift ein ſchweres Übel. Aber aus bem ge- 
tretnen Boden fpringt oft die befte Saat auf; und es gibt auch 
feine Tugend, zu deren Übung der Krieg nicht Anftoß gäbe. Sie 
tönnen von franzöfiihden Kugeln und fogar von Meuchelmördern 
erzählen, die ein Geſchäft mit der Flinte machen, aber gewiß 
auch von franzöfiidem Chriftenfinn. 

Bon jenem und von diefem, fagte ich, doch Heute lieber von 
diefem. Es iſt zum Beiſpiel noch nicht lange her, als ich in einer 
falten Nacht, e8 war am 4. Dezember, in Dijon eine alte Fran, 
die nicht zu den Reichen gehörte, mit einem Topfe warmen 
Kaffees bei den Poſten vor dem Spital herumgehn ſah, fie gab 
den balberfrormen Burfchen zu trinken: eine Heine Gabe großer 
Barmherzigkeit! Gewiß Hatte auch dieſe alte Frau die rauhe 
Hand des Krieged zu fpüren bekommen. Wer nit? Aber e& 


2. Ein zändender Blitz 243 





II 8⸗⸗— GGG 


hinderte fie nicht, Barmherzigkeit zu üben. Und als ich nad) dem 
blutigen Gefecht bei Nuits erjchöpft neben dem Herd eined armen 
Haufes niedergefunten war, fand id mich Morgend mit einem 
Srauenrod bededt, den die mitleidige Hand der Bäuerin über 
mich gebreitet hatte, während ich im Herdwinkel lag. Es war 
das einzige, was ihr geblieben war, womit fie einem kranken 
Feind eine Wohltat erzeigen konnte! 

D, unfre Frauen find mildherzig. Die franzöfiichen Eigen- 
Ichaften gedeihen überhaupt beſſer auf dem Boden ber weiblichen 
als der männlichen Natur.... Ich bin für den Frieden, fuhr 
er nad) einer Pauſe mit einem Ausdrud der Überwindung fort, 
ja für den Frieben. Sie wundern ſich wohl? 

Ich antwortete ihm, indem mein Blid unwillkürlich zu dem 
friebvollen Marienftandbild zwiſchen den Fenſtern hinüberſchweifte, 
daß der Geiftliche ja ohnehin ein Diener des Friedens fei, bem 
die Greuel des Krieges viel unnatürlicher vorlommen müßten 
als und. Sein Auge war dem meinen begegnet und blieb, 
während er ſprach, mit einem Ausdruck von Innigkeit, der nichts 
Gemwohnheitsmäßiges hatte, auf dem Bildwerfe ruhn. 

Mit Recht jagt man, der Krieg ſei die Sache der Männer; 
wir können fogar fagen, der waffenfähigen Männer. Welche große 
Mehrheit von rauen, von Kindern, von Greifen, von Kranken 
ift in jedem Volle dem Kriege abgeneigt. Viele tun, ala beftehe 
diefe Mehrheit nicht. Aber wir Geiftlichen find jo recht ihre 
Vertreter, wir kennen fie. Und als katholiſcher Geiftlicher, der 
ſtündlich da8 Bild der ſchmerzensreichen Mutter und des Kindes 
mit der Krone bed Weltherricher8 vor Augen bat, empfinde ich 
doppelt tief das Unrecht, da8 der Krieg diefer Mehrheit tut, 
deren Waffen die Tränen und das Gebet find. Laſſen wir ruhig 
die reden, die behaupten, der Krieg entfalte erjt recht die Eigen- 
ſchaften, die die Männlichkeit ausmachen. Es find nicht die beiten, 
die Gott in und gelegt hat. Dad Weib und das Kind ftehn dem 
gemeinfamen Grunde der Menfchheit näher, und eben deshalb 
müflen fie auch meinem Herzen näher fein. 

Gerade ihr Deutichen nrüßtet die chriftlichen Franzoſen ver⸗ 
ftehn, ſagte er plößlich abipringend. Ihre Führer haben Bewelfe 
von Demltigung vor Gott gegeben. Ich habe mir jagen laſſen, 
Ihr General Werber leſe am Wachtfeuer feine Bibel. Wie könnte 
auch ein folder Wann feine Verantwortung ohne Glauben an 
Gott tragen? Vielleicht ift einmal fein Auge auf Die Stelle ge- 
fallen, wo die Juden auf den Stein Eben⸗Ezer ftoßen, bei dem 

16* 


244 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


Samuel ſpricht: Bis hier hat der Herr geholfen. Vielleicht jagt 
er ſich heute: Verfuchen wir den Herrn nicht weiter. Yür Frauk⸗ 
reich ift daß ein Karfreitag, wie er in der Geſchichte der Völler 
felten fo dunkel gewejen ift, aber aud) er hat feinen Abend, und 
dann folgt Dftern und Pfingiten. Deutſchland war offenbar 
berufen, diefen Tag heraufzuführen. Uber die Vernichtung Frank⸗ 
reichs kann der Wille des Höchſten nicht fein. Vor ihm find die 
Franzoſen auch als Befiegte ein Bolt Gottes. Ich will nicht 
fagen, daß die Deutichen das nicht feien, aber was die Franzoſen 
für den chriſtlichen Glauben getan haben, muß irgendwo ihnen 
zugerechnet ftehn. Und ihr Poiten im Hauptbuch der Vorfehung 
fann nur wachſen, wenn fie geläutert aus Diefer Prüfung ber- 
vorgehn. Er faltete die Hände und ſprach mit unmerklich ge 
hobnem Ton: An meiner Schwäche vollende fi) deine Stärfe, 
und je ſchwächer ich bin, defto ftärfer bift di, o Herr. Glaube 
ich aber feft, fo ift deine Stärke auch die meine. 

Als ich in den Stall zurüdtehrte, ſchlief mein Kamerad Höchft 
behaglich unter feinem Mantel, und die Pferde fchauten mid) 
freundfih an, als wollten fie fi für den warmen Stall be- 
danken. Ich fehte mich zu ihnen. Die „ftille Lebensluſt“ gebt 
befanntlich nirgends fo intenfiv von den Tieren auf den Menjchen 
über wie in einem warmen Pferbeitall. Den Tieren war e8 
wohl, meinem Kameraden offenbar nicht minder, auch mir bebagte 
es in der bräunlicden Dämmerung des alten Holzbaues, defien 
dide Bohlenwände Teine Kälte bereinließen. Draußen wehte von 
den Bergen ber ein lalter Wind, der fich feucht anfühlte; der 
Schnee auf den Dächern und an den Häufern fchien zu fagen: 
Ich liege gut fo, es eilt mir keineswegs, wegzujchmelzen. 

Als ſich der Abend früh herabfenkte, wanderte ich durch Das 
Dörfhen und juchte den Fürzeften Weg ins Freie; der einzige 
betretne führte an neun Bildftödeln, auf denen die Leidens- 
Stationen des Herrn gemalt waren, zu einer Heinen Kapelle, von 
der man talaufwärtö in abendgrauen Wald und über breite weiße 
Flächen binfah, unter denen wohl Wieſen dem Frühling entgegen- 
barren mochten. Der Abendhimmel ftand fühl darüber, am 
Horizont topasgelb, oben weiß. Im Weiten war die Sonne am 
Verſinken. Der Gedanke, dat fo gar nichts von dem Lärm des 
Kriege, der hinter diefen Bergen noch wütete, bereindrang, 
beſchlich mich Halb heimmvehartig. Wenn man monatelang in der 
Geſellſchaft von Tauſenden marfchiert ift, gefochten und gelagert 
bat, muß man fi) an das Aleinjein erjt wieder gewöhnen. 


7. Ein zändender Blitz 245 





— 


Auf dem Rückweg begegnete ich dem Geiſtlichen. 

Sie haben ſich unſern Heinen Kalvarienberg angejehen? 
Er iſt beicheiden, aber die neuen Bilder find nicht fchlecht, 
heimiſche Arbeit. | 

Ich konnte ihm mit gutem Gewiffen jagen, daß ich fie be= 
wundert hätte und erftaunt jei, Bilder von fo fünftlerifchem Aus⸗ 
drud und fo feiner Farbe bier zu finden. 

Sie werden noch mehr finden, wenn Sie Zeit haben, ſich 
umzuſehen. Sie wiſſen noch nicht, daß Sie fidh hier in einem 
fünftlerifchen Zentrum befinden, müflen es aber kennen lernen, 
fagte er lächelnd. 

Ich wollte im Dorfe nad) dem Duartier abbiegen. 

Haben Sie nichts Beflered zu tun, jo kommen Sie zu mir, 
feßen Sie fi an den Kamin und erzählen Sie. 

Ih folgte gern und freute mid), in dem Bimmer, wo ich 
heute Mittag die Ausficht bewundert hatte, die Nöte des Abends 
burch die drei Fenfter in alle Winkel eindringen, jeglichen Gegen- 
ftand liebevoll und freigebig anglühn zu ſehen. Unb auf der 
andern Seite wartete das Kaminfeuer nur, um jeinerjeitd, wenn 
das Rot des Himmel! gewidhen wäre, Fackeln und rote Schatten 
dur das Gemach huſchen zu Laffen. 

Wir Franzoſen müſſen das Feuer jehen, fagte der Geiftliche, 
indem er ſich mir gegenüber vor den Kamin fehte, da jehen Sie, 
was für Phantaſiemenſchen wir find. 

Es war freilich eine phantaftifche Beleuchtung, aber bie 
Abenditille und die wohltuende Wärme milberten ihr Grelles. 

Der Geiftliche ließ fich von Deutichland, von andern Ländern 
im Dften erzählen, Die ich gefehen hatte, und von denen er nur 
die Namen kannte. Er jelbft fam dann ins Reden, und unver⸗ 
ſehens ſtand man wieder mitten im Sriegsgeipräh. Mich er- 
ſtaunte feine entichiedne Verurteilung des Krieges, die ich fo von 
einem Franzoſen noch nie vernommen hatte. Der Krieg an ich 
war ihm ein Greuel, und biefer doppelt. 

Ih fälle mein Urteil nicht von weiten her, fagte er mit 
einem Ausdrud der Überwindung, habe nicht bloß von weitem 
zugeſehen, bin mitten im Gewühl gemefen, bin mitgeflohen. Mit- 
geſündigt, mitgeftraft! rief er laut. Wir zogen in den Krieg 
wie in einen Kreuzzug; meine Voltigeurd, die Paris geboren 
oder wenigftend erzogen hatte, waren freilich feine Heiligen, aber 
unter den Offizieren gab es Leute, die im Gefolge Gottfrieds 
von Bouillon hätten reiten können. Dächten wir an einem Faden 


246 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 





fort, wie ihr, jo Hätte und der Kaiſer und fein Gefolge von 
unfern Kreuzzugsgedanken abbringen müfjen, aber unſre Be- 
geifterung führte gerade über die Lüden weg, in benen bie &e- 
fahren lauerten. Wir jahen Frankreich bedroht, daß unter den 
bejondern Schuß der heiligen Jungfrau geftellt war. Den Heiligen 
Bater, dem man Rom nehmen wollte, unfer Land und unfern 
Glauben: da8 alles verteidigten wir. 

Hier ift das Gebet, da8 wir hundertmal in jenen Auguft⸗ 
tagen inbrünftig gejprodhen haben. Er reichte mir aus einem 
Gebetbuch ein Kleines Blatt, das in Metz gedrudt worden war. 
Es hieß am Schluß: N’oubliez pas, 6 mon Dieu, qu’en prot&- 
geant la France, notre patrie, vous d@fendez votre Sainte 
figlise, dont elle a méritéô le titre glorieux de fille ain&e. 

Über ih bin bald überzeugt worden, daß ein Ratſchluß 
feititand, an dem jo verfpätete Gebete nichts ändern Tonnten. 
SH mußte tagtäglich erfahren, dab für unſre Nächſten, unfre 
Soldaten, dieſes jchöne Gebet zu fpät Fam. Sollte man nicht 
glauben, daß der Soldat, indem er jeinen ®illen aufgibt, über- 
haupt das Walten eines höhern Willens deutlicher erfennen und 
e3 willig anerfennen müßte? Es bat immer Soldaten demütigen 
Herzens gegeben. Wer weiß, was im Krieg die nächſte Stunde 
bringt? Frömmigkeit follte eigentlich zu den militäriſchen Haupt⸗ 
tugenden gerechnet werden. Ihr jeid in der großen Mehrzahl 
Proteſtanten, aber Sie werden mir zugeitehn, daß die Religion 
aller Soldaten etwas Katholifches Hat: das fefte Gefüge, bie 
Unterordnung ded Einzelnen, defien Wille nichts gilt, und ber 
Himmel fo nahe! Überhaupt, der Katholizismus ift die einzige 
vernünftige Religion, zu ihr werden Sie und werden die Juden 
und wird der Islam zurückſtrömen, ſo notwendig wie das Waſſer 
Ir Bäche in ſein natürliches Bett zurücktritt, aus der die 

Uberſchwemmung im Frühling fie herausſchwellen weh Ich jehe 
in allen Revolutionen ſolche Überſchwemmungen, die die Lebens⸗ 
fülle der Menſchen aus ihrem gemieinen Bett verwüſtend über 
die Nachbarfelder treibt. Das find nur Epifoden. 

Doch ich kehre zu meinen Kriegserinnerungen zurüd. Am 
18. Auguſt ftanden wir im euer bei Roncourt, das heißt wir 
lagen in den Furchen der Getreideäder und in den Gräben ber 
Wieſen und ließen bie Kugeln der Zündnabelgewehre über und 
weggehn. Wir ftießen vor und ſchwenkten zurüd, und fo mehrere⸗ 
mal, und als wir zulegt alle Kräfte zufammennahmen und ben 
Zend, der uns umfaſſen wollte, zurüdzuitoßen bofften, zer= 





2. Ein zündender Blitz 247 


ö— —— — ——— ——— — — 


ſplitterte unſer ganzes Korps. Und als wir im eiligen Rückzug 
die Furche wieder überſchritten, wo wir ſo lange im Kugelregen 
gewartet hatten, lagen in ihr Mann an Mann die Tapfern, die 
unſer Vorgehen und unſern Rückzug gedeckt hatten. Es war 
ſchon ſpät Abends, und man unterſchied nicht, waren es Lebende 
oder Leichen? Man rief, man ſprach ſie leiſe an, man rüttelte: 
kein Laut, es waren die Toten, die noch Lebenden waren zurück⸗ 
gegangen, oder man hatte fie zurückgetragen. Ich kann dieſes 
Bild nicht vergeflen, dieje Dunkeln Geftalten, die da geftredt oder 
gekrümmt, manche mit erhobnen Armen dicht nebeneinander lagen. 
Auf ihren bleichen Gefichtern fpielte daß Licht der erften Sterne. 
Adieu, Kameraden, ich werde euch nie vergefien, nicht bloß 
beten werde ich für euch, ich werde für euch Handeln, für 
euch leben 


Wir überftiegen die wandernden Barrifaden des Troffes und 
machten unfern Weg über das Schlachtfeld, deſſen Erde aufge- 
riffen und zerwühlt war, al® ob fi die Hände von Riefen im 
Todeskrampf Hineingefrallt hätten. In Gravelotte war denen, 
die beten wollten, nicht einmal bie Kirche und fogar der Heine 
Kirchhof nicht geblieben, ber fie umgibt; jene lag voll Schwer- 
vermwurndeten und Toten, und dieſer war für neue Gräber um: 
gewühlt und ſtellenweis über Leichenhaufen mit friiher Erde auf- 
gefüllt, in die kaum erlaltete Leichen gebettet wurden, bie jchon 
bereit lagen. Nur ein zerichofienes Kreuz war übrig, vor dem 
wir Inteten. Niemals hat ein Gebet, das ich zum Himmel fandte, 
eine jo große Macht gehabt. Die Verzweiflung fuhr aus, wie 
der böſe Geiſt aus dem Beſeſſenen. Diefes Elend, ſprach es in 
mir, liegt hart am Tod, aber es grenzt aud) an das Glück 
Ergib did in beide. Du bift jebt auf dem Gipfel des Elends. 
Siehft du das Lichtlein ganz fern? Das ift das Glüd, das du 
mit Glauben dir erringen und den Deinen fihern wirft. 

No an diefem Abend waren wir vom Feinde, von Ihren 
Leuten, umringt, die Leichtvermundeten entwaffnet und gefangen 
abgeführt, die andern der Obhut des einzigen Arztes, der nicht 
mit nad) Meb Hineingezogen war, unb der meinen überlaſſen. 
Es müfjen katholiſche Preußen geweſen fein, die auf dieſem Punkte 
bordrangen, ich hatte mich nicht über Feindſeligkeit zu beklagen. 
Als dieſe weitergezogen waren, und Die Belagerungstruppen ſich 
um Met zuſammenſchloſſen, famen andre, die weniger freundlich 
waren, fie wiejen uns barſch weg, und wir brachten unſre legten 
Kranken nad) Troyes. Einer nach dem andern genas, einige 








248 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


ftarben, zulebt, mitten in dem fchredlichen Winter, war ich übers 
flüffig geworden. Was nım tim? fragte ih mid. Zu den neu 
gebildeten Truppen ftoßen, die feinen Überfluß an Geiftlichen 
hatten? Dazu Hatte ich nicht den Mut. Man muß Vertrauen 
zu dieſem Amte mitbringen, Vertrauen zu fi) und zu der Sache. 
Mir aber lag Meb fo ſchwer auf der Seele, ich Zonnte nicht 
einmal den Namen nennen hören, ohne daß ich innerlidh zu⸗ 
fammenfchraf. Und ic ſah voraus, Daß es noch mehr Mebe 
geben werde in dieſen jchlecht vorbereiteten Feldzügen bes Winters 
1870/71. Meine Nerven waren zerrütte. Eine einzige Er- 
innerung, Die fi) mir am Tage aufdrängte und in der Nadht 
im Halbwachen erſchien, peinigte mich biß zum Wahnfinn. Ich 
hatte in St. Privat aus dem Schutt, der die Kirche füllte, im 
der ich für meine Mitgefangnen eine Mefje las, eine ſchwarze 
Hand aus den Brandtrünmmern ragen jehen, bededt mit weißen 
Würmern, die an ihr nagten. Die verfolgte midh.... Gott 
fichtlih mit dem Feinde, und wir, die wir und wie Gotte8 nächite 
Freunde gefühlt Hatten, nicht bloß äußerlich befiegt, fondern 
innerlich gejchlagen, der Glaube an unfre Sache und der Glaube 
an uns felbft zerichlagen. Glauben Sie mir, nicht wir, die daß 
erlebt haben, wünfchten den Krieg fortzufeßen; auf dieſe Ge⸗ 
danken konnten nur Freigeifter, Sournaliften, Advokaten kommen, 
die fern von den Schlachten ihre Reden ſchmiedeten. Wir dachten 
nur an innere Heilung und vertrauten dem Glauben und der 
Herzensreinheit, die nach ſolchen Prüfungen wachſen mußten. 
Darin lag für ımd die Revanche. 

Ein Freund teilte mir mit, daß bie Kirche dieſes Dörfchens, 
wo ih als junger Klerifer meine erften Dienfte geleitet Hatte, 
verwaiſt jei; noch niemand hatte fi) um die ärmliche Stelle tief 
im Gebirge beiworben, und ich erhielt fie jofort. Ich habe immer 
die frommen, ſtarken, genügiamen Menſchen des Jura gern ge- 
habt und war glüdlich, unter ihnen leben und wirken zu dürfen. 
Hier genad id) von dem innern Zuſammenbruch des ſchrecklichen 
Sommers. Der Krieg hat uns bis heute verſchont. Sogar die 
Armee Bourbalis ift zu beiden Seiten unjrer Berge nach Norden 
geftrömt und wieder zurüdgefloffen. Sie find der erfte deutſche 
Soldat, den ich feit Me ſehe. Noch vor zwei Monaten hätte 
ih Ihren Anblid nicht ertragen, jetzt freue ich mich, in dem 
Zeinde dem Chriften die Sand zu reichen. 

Sie wiſſen nım, wie id) den Krieg erlebt habe, und mögen 
fi denten, wie ich ihn beurteile. Ich nenne mich Sranzofe, aber 


2. Ein zändender Blitz 249: 


zuerit bin ich Chriſt, und unter den Sranzofen bin ich einer vom 
ben wenigen, fehr wenigen, bie nicht nad) Sieg, fondern nur nad}: 
Frieden verlangen, und nicht nach Frieden, um den Krieg vor- 
zubereiten, jondern nad) Frieden, um Gott zu dienen und zu 
preijen. Wir Franzoſen find viel zu meit von Gott abgelommen: 
Wir müſſen ganz andre Wege einfchlagen, ald Die wir jeit vier: 
Sahrhunderten gegangen find. Als man die lebten gotijchen Dome 
in Frankreich baute, da neigte fi die Zeit zu Ende, in ber 
Frankreich groß und glüdlich war. 

er ift glücklich al& der, dem es beichieben iſt, ganz zu 
fein, was er fein Tann und joll? Gewieinen Weg zu gehn, das 
it Glück. Sie werben jagen: Ach bin glücklich, weil mich als 
Soldaten ein einfaches Sollen durch die Wirrnis von Wollen oder 
Nichtwollen, Können oder Nichtlönnen durchführt. Nun wohl; 
ich bildete mir ein Biel, auf das ich hinſtreben mußte. Auch 
darum -vergrub ich mich in dieſes weltferne Dörfchen, weil bier: 
niemand mich fragen konnte: Warum trennft du Did) von der 
Maſſe deines Volkes, das im Kampfe fteht? Diefe armen Bauern 
und Uhrmacher des Jura ftehn gerade ſo beijeite wie ich, nur 
mit andern Gedanken. Wir fragen einander nicht, was wir. 
über ben Krieg denken, wir wünſchen aber alle, daß er vorbei⸗ 
gehe unb ende. 

Einft blühte die chriftlide Kunſt in den burgundifchen 
Landen. Wer kennt nit die Schäfe Dijons? Wenn Gie in 
Dijon waren, haben Sie Sainte Benigne gejehen, die jchönfte 
aller echt gotiihen Kirchen, und Ste müjlen das Portal von 
Notre Dame und im Innern die herrlichen Steinbilder der 
Himmelfahrt Mariä von Duboiß bewundert haben. Das liegt 
freilich jebt alle8 wie jenjeit8 eines tiefen Taled. Die Revolution 
bat bei uns das Leben der Kunſt ausgetreten, und nun fällt 
auf ung die Pflicht, das Scheintote wieder zu beleben. Denn es 
war nicht geftorben, e8 fchien nur fo. Das iſt ja eben der 
Grund, warum: wir alle, die e8 gut meinen, das Ende dieſes 
Krieged aus tiefftem Herzen wünſchen. Wir wollen an die Arbeit 
gehn. Haben Sie unfre düftere kellerähnliche Dorfkirche gejehen? 
Hat es Ahnen nicht gegraut von den fetifchartigen Marienbildern 
unjrer Kapelle? Nun wohl, jehen Sie einmal hier herein. Er 
öffnete eine Heine Tür in der Vertäfelung der Seitenwand, die 
in einen ähnlichen Raum wie dag Altarzimmer führte, der aber’ 
höher war und aus hoch angebrachten Senftern klares Licht von 
Norden empfing. Er führte mich an der Hand in die Mitte des 


250 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


Raumes und meidete fi) an meinem Erftaunen. Ich ftand in 
einem Muſeum mittelalterlicher Kunſt, in dem zugleich höchſt ge= 
Iungne Werke der neuern Bildſchnitzerei aufgeftellt waren. Zwei 
fait lebensgroße Marien mit dem Finde ftanden nebeneinander 
im beiten Lichte, die eine ſchien alt und zeigte Riſſe, die andre 
war offenbar neu und jah aus, als ob noch eben daran gearbeitet 
worden jei. Das lange blonde Haar, da8 in feinen Wellen über 
die Schultern floß, trug ſchon feinen goldnen Ton, aber die Ge⸗ 
fichter waren erft grundiert, der Maler hatte fi) das Schwierigite 
bis zuletzt vorbehalten. Nur das Stirnband, das die klare Stirn 
Mariens frei hielt, leuchtete purpurn von dem weißen Grunde. 
Der Künjtler hatte im allgemeinen bie Geftalt und die Stellung 
der beiden Figuren auf dem alten Bildwerk wiederholt, aber 
wie man fofort erfannte, mit Freiheit. Unter den Werten, Die 
an den Xänden umber ftanden, waren auch einige alt, andre 
neu, von diejen legten waren einige noch nicht bemalt, andre 
fahen ganz friſch aus. Auch ohne die Erklärung meines Führers 
würde ich eine gewifie Ahnlichkeit der Motive und fogar ber 
Stimmungen herausgefunden haben: e8 waren Bilder der ®ottes- 
mutter mit dem Kinde, mit dem Leichnam, und vielleicht das 
bebeutendfte, jedenfall das ergreifendfte war der Tod Marieng, 
in deſſen rührender Daritellung des Zuſammenbruchs eines Lebens 
und mit ihm des Glückes aller derer, die fchmerzerfüllt die 
Sterbende umgaben, ich Anllänge an Memling zu ertennen 
meinte. Es war ein Feiner Marientempel und zugleich ein Tempel, 
wo der Innigkeit des Mutter- und des Leidensgefühle Mariens 
geopfert wurde. Schade, daß alle Kirchengeräte, zum Teil zer- 
brochne, die an den Eden ftanden, etwas an bie Gerümpellammer 
eines Runfttrödlerd erinnerten. 

Der Pfarrer ließ mi) ruhig betrachten und ftaunen. Dann 
fagte er: Solche herrlide Dinge fanden fi) in der alten reis 
grafichaft einft in Menge. Was bier fteht, hat zuerft mein Vor⸗ 
gänger vom Untergang oder aus den Wucherhänden abicheulicher 
Hebräer gerettet, der Freunde Renand. Mein Vorgänger fanmelte 
nur, ich unterfange mich, da8 alle zu beleben, zu erneuern, für 
Zranfreich® neues Leben nutzbar zu machen. Dan merkte bei 
diefen letzten Worten ein Beben in feiner Stimme, wie bou 
unterdrüdter Rührung. Dann ſprach er mit Begeifterung von 
der Beitimmung aller diefer Werke, die hinauswandern follten 
in die Torffirchen eines weiten Kreiſes, und wie fie veredelnd 
wirfen würden, wie Die Kirchen erneuert werden follten, um die 


2. Ein zändender Blit 251 


— — 





heiligen Bildwerke würdig aufzunehmen, und daß dann dieſe 
Bewegung Frankreich ergreifen und ſich wie einſt die Predigten 
Bernhards von Clairvaux in die Nachbarländer ausbreiten würde. 
Frankreich muß beſſer werden, aud ihr müßt beffer werben, 
Frankreich fiegt und triumphiert, indem es diefe Bewegung führt, 
wie jo oft. So etwa fchloß er. 

Es ift eines der unbehaglidhiten Gefühle, wenn ung eine 
fremde Begeifterung fortreißen mödte, und wir find unfähig, 
ihr zu folgen. Das zieht und zerrt, aber wir können mit dem 
beften Willen nicht mit, und je heißer unjer Gefährte wird, deſto 
tühler wird e8 und ums Herz. Diefem Manne machte es gar 
feine Mühe, fi) über die Erde zu erheben; aber es jchien mir, 
als ob feine Sonnenrofje von furzem Atem feien. Denn plöglic) 
bielt er im Entrollen der weiten Perſpektiven inne, jein Blid 
blieb ind Leere gerichtet, dann ſenkte er fich ſchwankend zurüd. 
Es Hatte etwas Beängftigendes. Unmwillfürlih mußte ich biejen 
Geift mit dem Roſenkranz vergleichen, der dort an der Türkante 
über ein reizendes zinnenes Weihwaſſerkeſſelchen geichlungen hing: 
ſo reihten ſich in ihm ſchöne Gedanken, einer an den andern. Aber 
ich ſah nicht den Faden, der ſie zuſammenhielt. Und war er feſt? 

Unwillkürlich mußte ich den Kopf betrachten, der faſt etwas 
zu groß für die mittelhohe Geſtalt war, und den die kurzgehaltnen 
Haare — nur eine ganz kleine Tonſur ließen ſie erkennen — 
nicht Heiner machten, weil die Größe mehr im Geſicht als im 
Schädel Ing. Bon der Stirn, die in Derfelben Linie mit dem 
Vorderkopf zurüdflog, wanderte jedes Runzeln bis auf den hohen 
Sceitel, von dem man e8 den fteilen Hinterkopf hinabfinfen zu 
jehen meinte bis zu dem ftarfen Halsanſatz. Mund und Hand 
wetteiferten an WBeichheit und Wärme, und wie die Hand⸗ 
beiwegungen, die die Rede begleiteten, rund waren, rollten die 
Worte rundlich und voll von den Lippen. Wie eitel, mußte ich 
denken, find alle dieje ſchönen Pläne, wie luftig ift die Größe 
diefer Ideen! Fürchtet nichts für eure Ruhe, Franzoſen, von 
diefem Neformer, und hofft noch weniger; das ift fein Mann 
des Willens umd der Tat, eine befehlende Natur, nur eine 
grübelnde, ſich beipiegelnde und wohl auch genießende. 

Es dauerte nicht lange, daß die Nede auf ein Lieblings⸗ 
thema der Franzoſen, die Spionage, kam. Es lag ja bier im 
Grenzlande noch näher als anderswo. 

Der Erfolg des Krieges zeigt, Daß Ihre Führer ausgezeichnet 
anterridhtet waren. Sie willen beſſer Bejcheid in Frankreich als 


252 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


die franzöfiichen Generale. Das macht man nicht bloß mit Karten 
und Büchern. Sie müfjen ausgezeichnete Kundichafter haben. Das 
weiß man ja, fie find überall. Und Sie wiſſen das ficherlich beſſer 
als ich! 


Ich babe einen einzigen Rundichafter gejehen, das war ein 
Reiter in franzöfiichem Jagdkoſtüm, der auf blutiggefporntem 
Nenner nad Bar le Duc am 26. Auguft die erfte Nachricht von 
dem Abmarſch Mac Mahond nah) Sedan bradte, nachdem er 
mitten durch ihre Kolonnen durchgeritten war. Es war ein 
preußijcher Offizier, der wer weiß wie die wichtige Nachricht er⸗ 
halten hatte. Sie werden ihn doch wohl nicht Spion nennen? 

Zur Hälfte wohl. Die Maskerade fehlt ja nicht. Doch habe 
ih allerdingd andre Leute im Sinn. Nennen wir fie einmal 
Zurückgekehrte. Wir haben überall im Jura vor dem Kriege 
Deutſche und Schweizer gehabt, Uhrmacher und andre, katholiſche 
Deutſche aus dem Schwarzwald und proteftantifche Schweizer 
aus der Gegend von La Chaux de Fonds. Die Deutidhen, bie 
ung lieber waren, weil wir fie wegen ihrer Religion und ihres 
Charakters befjer verjtanden, find alle, faft alle gegangen. Es 
war feines Bleibens, auch nicht für die Rubigften; auch konnten 
und wollten fie nicht bleiben. Run will man da und dort einen 
wieder gejehen haben. Man verwechſelt wohl Schmuggler oder 
Wilbdiebe damit, an denen es im Jura nie gefehlt hat. Grenzs 
land und Waldland, gefährliches Land! 

Eine einzige Familie ift bier geblieben, fuhr er nad) einer 
Pauſe fort. Wer weiß, ob auch dieſe e8 vermocht hätte, wenn 
ich nicht dazu beigetragen Hätte, aus dieſem Tal einen Winkel zu 
machen, der in den Kriegsſtürmen unbemwegt, ftill wie ein Bergjee 
des Jura blieb. Und ic) habe fie fozufagen unter meinen Schuß 
genommen. Er fprad) leifer, als lafje er Erinnerungen vor feiner 
Seele vorbeiziehn. Es ſchien zuerft eine jchwere Verantwortung 
zu fein, die mich nicht wenig drückte. Zum Glück ift alles gut 
borbeigegangen. Er wandte fi) mir wieder zu. Unſre Leute, 
foweit fie Feineres arbeiten, find durch die Mechanik für bie 
Kunft verborben. Wer die Woche lang Raͤdchen gefeilt ober 
Kettchen zujammengefügt bat, hat nicht mehr Die Innigkeit, bie 
die Kunft der Kirche braucht. Wer weiß, vielleicht ift e8 auch 
Sache des Charakters. Die germanifche Seele ift vielleicht inniger 
angelegt oder Hat eine dauerhaftere Fähigkeit, ſich zu verfenfen. 
Tod genug. Der Mann lam aus feiner kleinen Malſchule im 
Schwarzwalde hierher im Glauben, man brauche hier ebenſolche 


7. Ein zändender Blitz 253 


Schildermaler wie dort. Aber unjre Uhrenfabrifanten find darauf 
gar nicht auß, jo wenig wie fie auf Kuckucksuhren oder andre 
Spielereien verfallen, an denen die Schweizer und die Deutichen 
ihre Freude haben. Der franzöfifche Bauer liebt ein hellglänzendes 
Uhrblatt aus geſchlagnem Meifingbledh. Joſeph brachte nun einige 
Uhrſchilder, die er gemalt Hatte, einem Fabrikanten in S. Hippo⸗ 
(gte, bei dem ſah ich fie. Es waren Darftellungen aus der Heiligen 
Geichichte, Tonventionell, aber mit gläubigem Herzen gemacht. ch 
fragte gar nicht nach dem Stil und der Vollendung, mid) feflelte 
fo das Gefühl, das den heiligen Geſtalten Leben und Sprache 
verlieh in einer Beit, mo fie jogar in den Seelen vieler Frommer 
nur ein Scheinleben führen, daß ich fie für ein Billiges kaufte. 
Und auch daß wagte der junge Schildermaler kaum zu fordern. 
Es ftellte fi) heraus, daß er auch ſchon in Holz gebilbhauert 
Hatte, Mein Vorgänger, der alte Pfarrer, übertrug ihm auf 
mein Bitten die Wiederherftellung der vermoderten Kreuzweg⸗ 
bilder, die am Wege zu der Kapelle Trinite ftehn. Und als diefe 
Arbeit zu aller, auch der Bauern Zufriedenheit gelang, ließ ſich 
Joſeph hier nieder und warf fi) auf die Holzichniterei. Werk⸗ 
zeug und das Holz der Arven und Ahorne ließ er fich zuerit 
aus feiner Heimat kommen, ſpäter Taufte ich ihm das nötige Holz 
bei umd im Lande, wir fanden vortrefflihe Lärchen und Ahorne 
Hier. Die Künftlerfeele lag in feinen erften Verſuchen zwar nicht 
fo, wie Sie fie in den Werken beivunderten, die Sie in meinem 
Atelier gejehen haben, aber doch fchon jo fprechend, daß meine 
Amtsbrüder feine Werte erwarben, wie fie nur zu haben waren. 
Sofeph ift fein Geldmacher; daß er feine Sachen zu jo billigem 
Preiſe abließ, Hat ihm noch mehr Abnehmer verfchafft. Das war 
vor drei Jahren. Seitdem ift er als Künſtler immer freier und 
feiner geworden, als Menſch aber blieb er derielbe. Er will 
nicht mehr jein als ein Bauer, der ftatt des Pflugs das Schnit- 
meſſer führt. Ste fehen ja, wie einfach er if. Er bat eine 
Tochter aus dem Tale geheiratet und bat feine Luft, weiterzu- 
ziehn. Als e8 lebten Sommer beim Ausbruch des Kriegslärms 
hieß: Fort mit den Deutjchen, bat fi) gegen ihn Teine Stimme 
erhoben, und troßdem daß er fich nicht dazu berbeilaffen wollte, 
ſich naturalifieren zu laffen, beſchloß die Gemeinde, ihn auf ihre 
Verantwortung ungeftört bier zu laffen. Wir find ja zum Glück 
weit von Veſoul und von Befancon, wo Die Schreier fißen, nie- 
mand bat ihn verdädtigt, niemand ihn beläftigt, und er ſpricht 
fein Wort vom Kriege. 


254 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


un. 


Nur eind habe ich für ihn befürdtet: daß das vergiitende 
Wort Spionage mit feinem Namen in Verbindung gebracht werben 
möchte. Wie leicht könnte, das geichehen! Er bat die Furcht⸗ 
Iofigfeit des Argloſen. Ich Habe ihn gewarnt, mit veriprengten 
Deutichen oder Schmweizern, Die e8 unter den Schmugglern gibt, 
zu ſprechen. Aber die Leute Tennen ihn. Man jieht da in felt- 
jame Verhältniſſe. Neulich bat ihn ein Deuticher bejucht, der in 
Döle bei einem großen Mepger dient und auf feinen Viehläufen 
landauf Iandab wandert. Denken Sie, dieſer Wann ift noch 
während des Kriegs zu dem Meifter zurücdgelehrt, bei dem er 
vorher in Dienften geftanden Hatte. Eine rührende Anhänglid;- 
feit, nicht wahr? 

Zum Glück wartete der Geiftlihe meine Antwort nicht ab. 
Hätte er nicht jo lebhaft von den Arbeiten des Bildſchnitzers ge⸗ 
ſprochen, ſo würde er irgend etwas von Überrafchung, vielleicht 
ein Erichredten auf meinem Geficht gelejen haben. Im vierzehnten 
Armeelorps erzählte man fi) Wunderdinge von einem Soldaten 
eine8 badiſchen Negiments, der in der Verkleidung eines vieh⸗ 
taufenden Mebgerd Halb Frankreich während des Krieges durch⸗ 
ftreifte und aller paar Tage mit Nachrichten ind Hauptquartier 
fam, unter denen angeblich die fo wichtige erfte über den Trans- 
port der Bourbalifcden Armeelorp8 nad Dften war. Mehr als 
einmal beargwöhnt und verhaftet, hatte er ſich immer wieder frei- 
zumachen gewußt; er jollte auch bei Belfort wieder Dienfte ge- 
leiftet haben. Ich Hatte den kühnen Kundichafter in der blauen 
Blufe mit dem großen Hund zur Seite mehr als einmal gejehen, 
würde ihn ficherlich wiebererfannt haben. Ohne mir Rechenſchaft 
geben zu Tönnen, berührte mic) der Gedanke peinlich, daß er in 
dieſem jtillen Dörfchen auftauchen könnte. War das jchon ein 
Schatten, den der von vielen nahe geglaubte Friede vorauswarf? 

Ich kannte meinen bolzjchnigenden Landsmann nicht, aber 
es regte fich ein Gefühl für ihn in meinem Innern, defjen Keim 
wohl die Befürchtung war, daf es für den fremden Mann nicht 
heilfam ſein könne, fein Geichid zu eng mit den unklaren Plänen 
des Geiftlichen zu verknüpfen. Sind Phantaften jemals zuper- 
läffig? Das Abgeriffene feiner Reden, jo viel Wahres und Geift- 
reiches fie enthalten mochten, und mehr noch die Art, wie er 
dem Kriege den Rüden gewandt hatte, gerade als daraus ber 
Krieg ded Volks geworden war, erfüllten mich mit Argwohn. 
Ih hielt ihm nicht gerade für einen Feigling und Fahnen⸗ 
flüchtigen, aber doch für einen von den Schwärmern, die es 





7. Ein zündender Blitz 255 


leicht mit großen Pflichten nehmen, wenn deren Erfüllung nicht 
in ihre Pläne paßt. 

Den andern Nachmittag kam der Befehl, und am frühen 
Morgen des 25. in Etaland der Bededung des Fuhrparks an⸗ 
zujchließen, der feinen Marich nad Döle fortjegen werde. Unfer 
Aufbruch war raſch vorbereitet. Wir wollten zuerſt die Nacht 
reiten, zogen aber ben Frühmorgen vor. Den Abend nahm ich 
mit Dant das Anerbieten des Geiftlichen an, mich zu dem Holz⸗ 
jhniger zu führen. Er wohnte ewwas abfeit8 vom Dorf an dem 
Hange, der es nach Norden überragt und ſchirmt. Außerlich 
wor das Häuschen nicht von einem gewöhnlichen franzöſiſchen 
Bauernhaus kleinern Yormats zu unterjcheiden, fein Dach war 
flacher als draußen in der Ebene, wie überall in den Gebirgs- 
börfchen de8 Sura, und feine enfter waren fchmal und 
ftedften tief in den dicken Mauern, die übrigens fauber verkalkt 
waren; auf der einen Seite zog ſich ein Gemüſegarten die leichte 
Anhöhe hinauf, vor der das Häuschen fand, auf der andern 
war ein Stall angebaut, deifen jchwärzliches Holzwerk ein reifes 
Alter verriet. AL aber mein Begleiter die obere Hälfte der 
Haustür zurüddrüdte und von innen mit fiherm Griff aufs 
Hintte, trat man nicht in den üblichen Vorraum, der zugleich 
Küche und Aufenthalt der Familie ift, fondern ging auf einem 
mit unregelmäßigen Steinplatten gepflafterten Gang geradeaus auf 
eine Ölastür, die ein Dämmerlicht in das Dunkel jandte. Offenbar 
war gerade die Stelle des Vorraums durdhgebrocdhen, wo jonft 
über dem langfam qualmenden Feuer der immer brodelnde, 
ſchwarzberußte Keſſel an ſchwarzer Kette hängt. Dadurch hatte 
dieſes Innere einen jo ganz andern Charalter als das fran- 
zöfiihe Bauernhaus jonft, es erinnerte eher an die Hütte eines 
deutihen Dorfhandwerferd. Aber nun öffnete fi, die Tür am 
Ende des Ganges, und ein heller Raum ftrömte reichliches Licht 
in das Dunfel. Man ſah eine fchräge Dede, in die zwei Ober- 
lichter eingefeßt waren, durch Die dad vom Schnee blau zurüd- 
geworfne Tageslicht eindrang. 

Da Bingen die Schnigereien in allen Stufen der Voll. 
enbung und daneben die Schablonen, nach denen die Grunblinien 
auf die Holzblöde gezeichnet werden. Es waren auch in ben 
Fenſterecken Holzſtücke von verjchiednen Formen aufgeichichtet, 
denen man die Größe und die Geitalt der Figuren, die fi aus 
ihnen entwideln follten, ſchon anfehen konnte. Ganz fertig 
ſchienen aber nur einige Tafeln zu fein, die in hohem Relief 


256 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


III DL — —⸗ 


‚Ornamente, meift Blumen und Ranken und ſchöngeſchnittne 
Blätter, trugen. Die waren im beften Lichte aufgehängt, umb 
‚gerade jet ſpann die Spätnachmittagfonne goldne und rote 
‚Süden darım. 

Joſeph ftand am Schnigtiiche, eine Chriftusfigur, die Die 
:Hänbe jegnend erhob, lag vor ihm. Er arbeitete daran mit einem 
feinen Mefjer weiter, ohne fich durch unjer Kommen viel ftören 
‚zu laſſen. Den Pfarrer begrüßte er mit der Ehrfurdt, die dem 
Seelenhirten gebührt, an meiner Uniform baftete einen Moment 
jein Blid, dann wandte er ſich mit einer gewiflen Gefliffentlichkeit 
‚wieder der Arbeit zu. Seine Haltung hatte das Freie, daß dem 
Manne eigen ift, der ſich mit feiner Arbeit eind und durch fie 
‚gehoben fühlt. Mit raſchem Schnitte nahm er ein Spänchen 
:weg und änderte dadurch den Ausdrud der werdenden Geftalt 
in wunderbarer Weile. Das war nicht bloß Übung, in dieſer 
Sicherheit des Blicks und der Hand ſprach ſich die rafche Auf: 
faſſung aus, die der ruhige, fait ſchwer auf den Dingen ruhende 
Blid feiner hellen Augen betätigte. Die Beweglichkeit ſeines 
geiftlichen Freundes hob fich auffallend von diejer tiefen Ruhe 
und Sicherheit ab, die im blauen Arbeitskittel doppelt imponierte. 
Der Mann nahm die etwas ſtark aufgetragne Batronage gleid)- 
mütig bin, ließ fi aber offenbar nicht in feiner Arbeit dadurch 
:ftören oder gar beeinfluffen. 

Die Rede ging von den Arbeiten, von denen der Holzſchnitzer 
nur Targe Kunde gab, auf die Kriegsläufte über. Der Kanonen- 
Donner aus der Gegend der Schweizer Grenze hatte ſich gegen 
Abend verftärkt. Den ganzen Tag hatten die Dorfbewohner in 
„der Furcht gelebt, daß er fich nähern werde, und ich war ver- 
ſchiedne mal darum gefragt worden. Nur der Sübwind hatte 
ihn gelegentlich näher ertönen laffen, jet war es dagegen Klar, 
daß er fi) entfernte. 

Möchten fi) doch Bourbakis Krante und Krüppel endlid) 
‚ergeben, fie haben ja nichts mehr zu gewinnen, rief der Geiftliche. 

Sie hoffen immer noch etwas Kriegsruhm zu guter Legt 
zu ernten, jagte obenhin der Bildſchnitzer. Ich würde es ihnen 
gönnen. Die Deutichen haben foviel davon, und die Franzoſen 
. gar nichts. Sind denn beide Nationen fo verfchieden? Vor dem 
Kriege waren fie e8 doch nicht, wenigſtens in unſern Schichten, 
.wo man arbeitet und froh ijt, ein kleines Biel zu erreidhen. Der 
Sriede wird doch endlich kommen, und dann werden Deutiche 
‚und Sranzofen wieder nebeneinander leben müſſen. Es wird wohl 


2. Ein zündender Blitz 257 


leichter alles wieder ind Gleis zu bringen fein, wenn die einen 
nicht zu jehr Sieger und die andern nicht zu jehr Unterworfne 
find. Du wunderft dich wohl, Landsmann, fuhr er zu mir auf 
Deutſch (mit alemannifchen Anklang) fort, daß ic) fo rede, aber 
bedenke, ich lebe hier unter Franzoſen, deren feiner mir ein Haar 
gekrümmt hat, und ich lebe mehr noch in meiner Wrbeit. 

Leider, antwortete ich, bringt der Krieg alle friedliche 
Hantieren in Unordnung. Daß wir bier herauflommen mußten, 
Hat euch ficherlich nicht gefallen. Und auch wir wären gern 
weitergezogen. 

Glaubs wohl! fagte der Bildichniker in feiner einfachen 
Weile. Doch was kannt du dafür? Es heißt gehorchen. Übrigens, 
um offen zu fein, ich habe mid) gefreut, einmal einen von den 
deutſchen Soldaten zu ſehen, wenn fie nun doch einmal in dieſer 
Gegend find. Der Herr Pfarrer weiß, daß ich fein Franzofe 
bin. Man kann nun einmal nit von feiner Wurzel weg. 
Eigentlich führen wir auch Krieg, der Herr Pfarrer und ich, 
aber nur mit den fchlechten Figuren, die auf den Altären der 
Kapellen ftehn. Wir haben doch ſchon manche befeitigt, aber es 
gibt noch viel zu viele. Mein Leben reicht nicht Hin, fie zu 
erjegen, und wenn ich jede Woche einen Herrgott fchnihte. Jetzt 
hoffen wir auf nicht mehr als auf friedliche Zeiten, fie müſſen 
fommen, und wenn die Menichen wieder ihrem Tagwerk nad)- 
gehn können, wird ich irgendein Knabe finden, den ich unter- 
richte, und dann wird e8 zufehends befier in Kirchen und Kapellen 
werden. Er wiederholte die letzten Worte franzöfiih, und der 
Geiftlihe war hocherfreut, jeine eignen Wünſche und Hoffnungen 
in zwei Sprachen verlündet zu hören. 

Die Sonne war hinabgefunten, nur ihr letzter Widerfchein 
auf den Wolfen und dem Schnee lag noch rötlich in der Luft. 
Eine einfadhe junge Frau kam herein, an deren Kleide fich ein 
Heiner Knabe hielt, und brachte die trüb fladernde Ampel. Von 
der Kirche Hang das Ave Maria⸗Glöckchen, und das laute Abend⸗ 
gebet, in franzöfticher Art fingend geſprochen, Hallte in dem 
niedern Raum. Wir ſaßen auf der Bank vor dem grünen 
Dfen, in dem SHolzrefte fröhlich Enifternd verbrannten. Der 
Mann im blauen Kamifol ftand an feinem Schniptiih und warf 
wentge Worte in dad Geſpräch. Dann und wann hob er mit 
der Nadel, die an einem Kettchen an der Ampel hing, den Docht 
heraus und glättete weiter. Er arbeitete mur noch mit Bims⸗ 
ftein, und nur an der untern Bartie des Chriftusbildes, glättend 

Rayel, Slüdsinfeln und Träume 17 


258 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 


weiter, da es zum Schnitzen nicht hell gemug war. Auch an 
diefer Arbeit erfannte man die Yeinheit feiner Hand und das 
Liebevolle in feinem Verkehr mit den Stoffen. Der Knabe hatte 
meine Militärmübe auf feinen blonden Lockenkopf geftülpt und 
ſchwang einen hölgernen Span als Schwertihen mit den Worten: 
Prussien, zum Krieg, zur Schlaht! Vorwärts! 

Glückliches Kind, fagte der Geiftliche, alles ift ihm nur ein 
Spiel. 

Dad Wort Krieg wird in diefem Haufe fonft nicht gehört, 
fagte der Bildſchnitzer. Es ift eine Art Wberglaube, daß ich 
und meine Frau es nicht gern ausiprechen, fo wie man beim 
Gewitter nicht vom Feuer ſpricht. Das Kind lernt dad von 
feinen Spiellameraben. Ber Krieg ift eine Strafe Gottes, zu 
hoch umd zu ſchwer zum Spiel. 

Da muß ich mir einen Borwurf machen, die Erinnerung 
daran in Ihr ftille Haus gebracht zu haben, meinte ich. 

Tut nichts, fagte er, indem er mir zum Abſchied bie Hand 
reichte, verichont ung nur der Krieg ſelbſt. Und dazu hat es 
ja nun allen Anfchein. Wdieu, Landsmann, komm glüdlich heim 
und grüße das badilche Ländle. 


% * 
®% 


Den nachſten Morgen erhoben wir und um vier Uhr, um 
zu füttern, die Nacht war Talt und fternenreid. Wir warfen 
und noch für eine halbe Stunde aufs Stroh und hörten mit 
Behagen dem Kauen und Mahlen der Pferde zu. Da plößlidh 
rafch hintereinander fünf oder ſechs Schüſſe, dem Klang nad) 
aus Henrygewehren, dann verworrenes Geſchrei. Näherte es fidh 
und? Unſre Karabiner waren zur Hand. Man fchien ben Auf 
„Feuer“ ganz in umfrer Nähe auszuſtoßen. Im Nu war die 
Stalllatene in einen Winkel geftellt, wo ihr Licht und nicht 
verraten konnte, dann das Tor weit geöffnet. Das Sternenlicht 
genügte nicht, Die Straßen zu erleuchten, man mußte dem Ohr 
allein vertrauen, das aber nur den Laut des Äffnens und bes 
Schließend der Yenfter ımd der Türen und von Schrüten ber- 
nahm, die nicht in unfrer Richtung zu gehn fchienen. In ben 
Senftern des Geiftlihen war Licht, ſonſt alles dunkel. Da 
wurde e8 vom obern Dorfe ber heller, als ob dort der Vollmond 
aufgehe, aber das war feine Mondnacht. Zuckende Widerſcheine 
hätten an ein Rorblicht denken laſſen, wenn nicht in demſelben 


2. Ein zündender Blitz 259 


Augenblid auffprühende Funkengarben den Brand gemeldet 
hätten. Es war dem Anjchein nad) eine Scheune in Brand 
geraten. Aber die Schüfle?r Die Möglichkeit eines Gefechts mit 
deutfchen Soldaten war bier ausgeſchloſſen. Wo follten fie und 
wo ihre Gegner herfommen? Für eine etwaige Streiftruppe ber 
Franzofen wäre doch der Überfall unſers Heinen Boftens, von 
dem die ganze Gegend wußte, dad Nächte geivejen. Wir rieten 
auf Wilbdiebe oder Schmuggler. So ſaßen wir eine Stunde 
ſchußbereit, bereit auch, im Wugenblid aufs Pferd zu fpringen 
und davonzureiten. Ich Tam endlich auf den Gedanken, im Haufe 
nachzuſehen, ob ber Geiftliche zurüdgelehrt ſei. Alles Klopfen 
war vergeblich, fein Menſch antwortete. Die Sache wurde 
rätfelhaft. Was blieb übrig, ald ohne Abſchied abzumarfchieren? 
Längered Verweilen hatte feinen Sinn, wäre auch gegen den 
Befehl geweſen, der uns ein frühes Bufammentreffen mit dem 
Fuhrpark vorfchrieb. Alfo vorwärts! Borfichtig die fteile Seiten- 
ftraße hinab zur Hauptftraße, in diefer nordwärts zum Ausgang 
des Dorfes. Es jchienen fi mehrmals Fenſter beim Schall der 
Hufe zu Öffnen, aber fein Kopf wurde fichtbar. Ein Begegnender, 
den wir anriefen, verſchwand ohne Antwort im Dunkeln. Da, 
beim Einbiegen in da8 Tal, wo unſer Weg talabwärts führen 
mußte, ftand plößlich die Zeuerjtätte oben in halber Höhe am 
Hang des Hügeld, Hinter ihr gefpenftilch, wie ein Rieſenſchatten, 
der Kirchturm. Mir fchnürte fi die Bruft zuſammen. Un- 
willtürlich hielten wir unfre Pferde an. Das war das Haug, 
wo ich geitern Abend glüdliche Menſchen verlafien hatte. Das 
Häuschen war fchon außsgebrannt, rauchende Balken hingen über 
die Brandmauer, deren angeglühte Steine grell herausichauten, 
in der dicht angebauten Scheune qualmte es noch in Holzftößen, 
die zu Kohlenmeilern verbrannt waren, und ein ftinfender 
Schwaden zog in der Morgenluft, da8 Dad) war eingeftürzt. 
Die Sterne allein ftrahlten ruhig herab. Stumm ftand um Die 
Stätte der Vernichtung eine Menge, in der ſich faum einer be 
mwegte. Gleich darauf führte unſer Weg am Tor des Kleinen 
Kirchhofs vorbei, deſſen entblätterte, jonderbar zinnenförmig ge= 
ſchnittne Weißdornhecke ih vom Einmarſch her wiedererkannte. 
Man ſah die gelben und die ſchwarzen Perlenkränze im Wider⸗ 
ſchein der roten Glut ſchimmern, und ein harter Ton von 
Spaten, die den gefrornen Boden zu zerteilen ſuchten, klang 
bon nahe her. Hart am Straßenrand waren graue Geftalten 
an der Arbeit, eine dunklere jchien fie anzumeilen. Es ift nur 
17* 


260 Bilder ans dem Kriege mit Frankreich 


ein Häufchen Knochen, hörte ich fie fagen, alles andre ijt ver⸗ 
brannt, man könnte fie in dieſem Voche unterbringen, darauf Die 
Stimme des Geiftlichen, die feit, faft geihäftsmäßig Hang: Man 
lege fie auseinander, dieſer ift Joſeph, jener der Knabe, jedes 
Häufchen in einen Sarg für fi. Indem Hatte er den Hufichlag 
unjrer Pferde gehört und tat einige Schritte auf die Hede zu. 
Was iſt Schredliches vorgegangen? Joſeph und fein Sohn find 
tot, aus Irrtum von jchweifenden Franktireurß erſchoſſen, zu⸗ 
fammen mit feinem Landsmann, dem Dlebger, in dem fie einen 
Spion ſuchten; fein Haus verbrannt mit allem, was e8 an Werfen 
und Hoffnungen barg. Maria lebt, aber ich fürdhte für ihren 
Verſtand. Mein Meb! rief er, indem er die Hände zum Himmel 
bob, mit erftidter Stimme. 


. 





Altbayriſche Wanderungen 
“> 





1 


Bon allen deutichen Flüffen ift der Sun dem Nhein am 
ähnlichften.” In feinem Steingrau ſchimmert jogar bei hohem 
Waſſerſtand das Grün aus den Wellenlämmen. Wenn fi dazu 
in jedem Wellentälhen das Blau des Himmels fpiegelt, jo gibt 
das vielfache Dämpfen und Halbımterdrüdte Leuchten von Grün 
und Blau eine herrliche Farbenmiſchung, die echt „alpin“ tft. Im 
Winter finkt der Waſſerſtand des Inn, wie aller Gletſchergebornen, 
dann Schlägt fich alle8 Grau nieder, und der Fluß wird immer 
dünner, klarer und leuchtender. Ein wunderbares Bild, wie beim 
Nachlaſſen der Regengüffe und Schneefchmelzen im Gebirge das 
Grin und Blau der Alpenſeen und ®letfcherfpalten in die oft 
ftundenbreiten, mit meißem Kies beftreuten Flußbetten der bay- 
riſchen Hochebne berabiteigt! Es erinnert daran, wie die Sonne 
aus den Dolomitzaden der Alpen das Steinerne gewiſſermaßen 
ausglüht, fodaß fie nur noch Farbe und Licht find. Dann find 
von ber Iller bis zum Inn die Bänder fichtbar, die Daß obere 
Donauland mit den Alpen verknüpfen, und bei Paſſau fchürzt 
fih ein wahrer Flußknoten. Blicken wir von der Schwelle des 
herrlich erneuten Paſſauer Domes hinab, fo jehen wir, wie fich 
der Elare, grüne Inn mit der trüben, gelblicden Donau und dem 
Dunkeln Walbwafjer der „aus dem Wald“ kommenden Ilz ver- 
bindet: die Alpen vereinigen fi) mit dem Schwarzwald und dem 
Bayriſchen Wald. 

So find ſich auch die Menfchen von den Alpenfirften bis über 
die Donau Hinaus viel ähnlicher, als der Grundimterjchied ihrer 
Lebensbebingungen erwarten läßt. Der bayriſche Stamm bleibt 
ſich merkwürdig gleich zwilchen Lech und Plattenſee und zwiſchen 
der Oberpfalz und der ſüdtiroliſchen Alpenwacht. Wenn ſich jeder 
Deutſche unter deutfchgebildeten öfterreichiichen Offizieren in Rodna, 
Agram, Zara, ober wo es fonft in dem weiten Reich der Habs⸗ 


264 Altbayrifhde Wanderungen 


burger jein möge, beimifch fühlt, wie er fih einft in Mailand 
und Ancona unter ihnen heimiſch fühlte, jo find es bayrifche 
Züge, die ihn anmuten. Oberflächlich ſcheinen Wien und Münden 
ſehr verjchieden zu fein, ja noch immer mehr außeinanderzugehn. 
Und doc, je größer München wird, defto mehr treten wienerifche 
Züge in feiner allmählich ſich außbildenden Großftadtphyfiognomie 
hervor. Die zweite Großftadt des bayrijchen Stammes im Donau 
land wird der erften einft ähnlicher fein, als die norddeutichen 
Gropftädte mit all ihrem Verkehr untereinander geworden find, 
Heinrich NoE erzählt einmal eine Bifion, die er im altbaju⸗ 
varijchen, nun längjt verweljchten Eividale vor einer Strobflafche 
tüftenländiichen eines hatte. Die Bajuvaren waren wieder aufge 
lebt und traten der eine als Yandrichter, der andre als Aufichläger, 
ein dritter als Bezirkdarzt uſw. zur Zeit des Frühſchoppens in bie 
Wirtsſtube. Sie hatten mit vereinten Kräften ein Faßchen Bod 
aus einer berühmten Münchner Brauerei kommen lafien, das fie 
nun mit heiterm Ernſt anftadhen und unter dem bebaglicden Genuß 
von Bocwürfteln, Radi und Faſtenbrezeln bei Geigen- und Bither- 
Hang und frohen Liedern ausfchlürften. So hätte es allerdings 
fein können, wenn ſich die alten Bayern in Yriaul gehalten hätten. 
Aber die heißere Sonne der Sübalpen hat dem Stamm nirgends 
gut getan. Er bat fich felbft und alle feine alten Eharalterzüge 
am beften im Gebirge und auf der Hochebene erhalten. Und noch 
mehr gilt von ihm als von andern deutſchen Stämmen, daß er 
die Stadtluft fchlecht verträgt. Der Bayer ift Bauer bis ins 
Mark, und die anmutenditen, behaglichften Züge Münchens gehören 
dem Untergrund von Länbdlichleit an, der der Hauptftabt Bayerns 
noch die Züge einer großen behaglichen Zandftadt verlieh, als fie 
fon 200000 Einwohner zählte. Der bayriſche Stamm bewohnt 
freilich ein ftädtereiches Land, weil bier der Verkehr zwilchen dem 
Süden und Norden und dem Dften und WVeften Europas durch⸗ 
fiutet. Aber Bayern ift ein Land der behaglichen Städte. Behag⸗ 
lich find vor allem die unberührteiten: Landshut und Straubing. 
Welche Schweizeritadt hat jo warme Freunde in der ganzen Welt 
wie Innsbruck und Salzburg? Daß macht nicht bloß Die Lage; 
auch die breite Anlage, der wohltuende Übergang ins Dörfliche 
und die anſpruchsloſe Art ihrer Bewohner trägt bazu bei, bie 
wie ihre Städte nicht troßig ind Land binunterfchauen, fondern 
ganz damit zufanmengehören. Salzburg? Schönheit wird auch 
von den LZandleuten verftanden und gewürdigt. Unter den Gegen⸗ 
fägen, deren Bereinigung gerade bier etwas jo Wunderichönes 


Altbayrifche Wanderungen 265 


geihaffen Hat, find einige auch dem finblichiten Verftändnis zu⸗ 
gänglih. Dazu gehört beſonders der Blick auf Die weite Ebene 
draußen und die fchönen Rokokobauten innen. Es ift ein ge⸗ 
waltiger Reichtum, der bier entfaltet ijt: Berg und Ebene, Fluß 
und Wald, der graue Fels, der aus den weichen grünen Matten 
bervorfteigt, dazu die Miſchung von monumentalem und fchlicht 
bürgerlidem Charakter. Die geſchichtlichen Erinnerungen find in 
Innsbruck nicht unbebeutend, aber fie Drängen fi) nicht auf. Und 
troß der unvergeßlichen Grabwächter Beter Viſchers in der Fran- 
ziöfaner-Hoflicche ift dag größte Monument dag am Berg Iſel dem 
Andre Hofer gefebte, dem Sandwirt, der in der ftolzen Hofburg 
bäuerlih Hof hielt und mit dem beichränkt gefunden Menſchen⸗ 
veritande des Bauern das Land Tirol verwaltete. Der Bayer, 
der über die Grenze kommt, liebt nicht die fcharfgefchnittnen, 
dunfeln Gefichter der Beamten und die mancher Bürger, auf 
denen eine merkwürdige Mifchung von Beweglichkeit und Schlaff- 
heit liegt, die eine mehr in den Mugen, Die andre mehr im Mund; 
er findet fih erit in dem derben Tiroler Bauer wieder. Mit Be- 
dauern empfindet er aber, Daß jene mit italieniſchem und ſlawiſchem 
Blute verjebten eigentlichen Öfterreicher dem bayriiden Stamm- 
verwandten den Charakter etwas „verdrudt“ Haben, und jogar 
der bayriſche Holzknecht fieht mit jo etwas wie Mitleid auf feine 
Tiroler Genoſſen hinab. 

ALS Ludivig der Erfte feine Kunftftabt München jchnf, da war 
der Stamm, auf den dieſes neue Reis gepfropft wurde, durchaus 
nicht bloß eine Refidenzftadt wie Stuttgart und noch weniger wie 
Karlsruhe oder Darmitadt. München war eine Stadt der Bauern 
und Heinen Bürger, eine Stadt voll Ehrlichkeit, Frömmigkeit und 
alter Sitte, aber von wenig Streblamfeit und Lurus. Die joge- 
nannten geiftigen Intereſſen traten in den Hintergrund. Der Volks⸗ 
Charakter des Münchners iſt das Tonzentrierte Altbayerntum, zwar 
abgeichliffen, aber nicht unfenntlich gemadht. Die beite Schilderung 
des „Münchner im fozialen Licht,“ Die 1877 Mar Haushofer 
in einem nicht in die weitere Offentlichkeit gedrungnen Aufſatze 
gab, jagt von den Münchnern um 1830: Vielleicht in feiner andern 
Stadt Deutjchlands kam das Bauernelement jo zum Durchbruch 
al? gerade in München. Menjchen, die mit feinerm Werkzeug ban- 
tieren, ſcheinen auch mehr mit Hobel und Feile bearbeitet; im alten 
Münden waren tonangebende Werkzeuge die Geißel der Getreide⸗ 
bauern und die Art des Flößers. Da ſchallts. Davon iſt nun 
viel abgebrödelt und fortgefpült. Außerlich zeigt fich dad in dem 





266 Altbayrifde Wanderungen 


Verſchwinden der Straßen mit Gebirgshäufern, die im Lehel 
(Stadtteil an der ar unterhalb der Marimiliansbrüde) noch 
vor einem Menfchenalter behaglich ihre hölzernen Galerien und 
Heinen Zenfter jehen ließen. Welche Boefie Damals noch in der 
Prozeifion, die alljährlid am Sonntag nad) Fronleichnam da 
unten durdjgog! Man fühlte fi) volllommen aufs Land verſetzt. 
Das Rauſchen der Iſar recht? und der alten Eichen des Eng- 
liſchen Gartens links paßte zu den befränzten Häufern und den 
laut betenden Scharen der feitlich gefleideten Kinder und Bruder: 
ſchaften. Innen im Münchner Bürgertum lebt nod viel von 
ber alten frommen Einfachheit und Gediegenheit früherer Zeiten. 
Unter den fteinreihen Brauern und Kaufleuten find Männer 
und rauen von echt bürgerlichem Sinn und Lebenswandel noch 
zahlreicher als in andern gleichgroßen Städten. Sie treten nur 
zu wenig hervor. Schon jeit langem ift e8 Regel, dab Nicht⸗ 
miünchner, vor allem Schwaben, Franken, Pfälzer und — Juden 
die Angelegenheiten der Stadt leiten. Das hängt mit der Zurüd- 
haltung der Altmünchner überhaupt und dann mit ihrer dem 
Liberalismus und Diplomatifieren nicht günftigen Geifteßanlage 
zufammen. Der bayriſche Stamm iſt nicht umfonft der Hort des 
Katholizismus im deutfchen Volle geblieben. Neuerungen abhold, 
dem Gemüt mehr vertrauend als dem Geift, dem Schönen mit 
tiefem Verftändnis zugewandt, hat er eine natürliche Beftimmung 
für den Katholizismus. Daher auch die abfolute Übereinftimmung 
der konſervativen Richtung mit der klerikalen in Bayern wie in 
Dfterreich, wie es bejonder8 der Antifemitismus erfahren hat. 
Wenn auch die Sozialdemokratie in München rechts und links 
(d. h. von der Iſar; links liegt München, rechts die Vorftädte 
Au, Heidhaufen, Giefing u. a.) gehörige Verwühtungen angerichtet 
bat, jo haben doch gerade Die Gemeindewahlen der legten Sabre 
wieder eine große Zahl von Urbeiterftimmen für die konſervativen 
Kandidaten ergeben. Jedenfalls ift in Münden der Gegenſatz 
zwilchen Bürgern und Urbeitern noch nicht fo jchroff wie in vielen 
andern deutichen Städten. Darin liegt ein koſtbarer, wohl zu 
hütender Reſt der alten Landitadt, für die die „Schranne” mit 
ihren fornverlaufenden Bauern wichtiger war als die Vörſe. 


2 


Doch wir find noch nicht in München. 8 ift zwiſchen dem 
Inn und der ar ein breiterer Strich, als die meiften denfen, 
bie fi Bayerns nur von ber Karte Ber erinnern. Und 


Altbayrifche Wanderungen 267 


dazu kommt jenjeits des Inns noch das Stud Bayern bis zur 
Salzach, wo fi) Burghaujen, die alte Hauptftadt bayrilcher Her- 
zöge, als ein Kleinod aus alter Zeit erhebt. Niemand verjäume 
dort in den ſtimmungsvollen Schloßhof einzutreten. Wer kennt 
Waſſerburg am Inn, die grünumflofiene Inſelſtadt mit ihren 
Türmen und Toren? Wer das ſchön gelegne Gars mit feinem 
ſchloßartigen Klojter? Wer weiß überhaupt von der Schönheit 
des Inntales bei Soyen und Mühldorf, wo fich über der kalk⸗ 
weißen Sohle jchöne Waldberge in dichter Neihe erheben und 
unter hohen Buchen zahlreiche kleine Seen ſtehn? Ron dem 
welligen, waldigen Lande, dad ar und Inn in ihrem untern 
Laufe umfaffen, mo der Femblid auf die eben noch berauf- 
dämmernden fchönen Felsgipfel des Watzmanns und des Wendel» 
fteind an die Nähe der Alpen erinnert, die übrigend auch von 
der grünen Yarbe jener gleticher- und fimentiprungnen Flüſſe 
verkündet wird, und — für den tiefern Blid — von der alten 
Moränenlaudihaft des Diluvialgletichers mit ihrem Reichtum an 
Heinen Seen und großen Mooren, weiß Deutichland wenig. Zwar 
ift ein Faden des Weltverkehrsnetzes mitten hindurch gezogen, 
die Eijenbahnlinte Münden — Simbach — Wien, die bei Mühldorf 
den Inn überjchreitet, Die Linie des Ürienterpreßzuges. Aber 
die Leute, Die auf dem ſchmalen Stahlwege dur Ober⸗ und 
Niederbayern faufen, haben in diefem Lande, das ihnen reizlos 
ericheint, weil es nichts auffallendes bietet, gerade Zeit, an bie 
Vergnügungen zu denken, die fie eben in München verlafjen 
haben, oder an die Gefchäfte, die fie in Wien machen werben. 
Die Morgenjonne, die die Watzmannſchneide anglüht, die Abend⸗ 
fonne, die die Fenſter der ſchloßartigen Bauernhöfe in Flammen 
ſetzt, läßt ihnen höchftens eine Seifenblafe durch die Landichaft 
fliegen und wedt eine Ahnung, Daß das keine ganz leeren Räume 
feier. Eine angenehme Beigabe in dem Buftande des Schlaf- 
wachens, in dem man große Eifenbahnfahrten zurücklegt; weiter 
nichts! Wen Tann ein Land intereffieren, wo es feine großen 
Städte, feine blühende Induftrie — wie duften dieſe Blüten? — 
gibt, und von dem die landläufigen Geſchichtsbücher nicht? andres 
zu fagen willen, als daß auf dem Schladhtfeld von Umpfing bei 
Mühldorf zwilchen Ludwig dem Bayer und Friedrich dem Schönen 
von Öfterreich entſchieden worden fei? 

Steige doch der Neijende, der Zeit und Sinn hat, irgendwo 
aus, nachdem er den Yun bei Mühldorf gefreuzst bat, und 
wandre ind Land hinein. Nördlich von der Bahnlinie betritt er 


268 Altbayrifhe Wanderungen 


die Landftraße, auf der ſich einft der große Berfehr zwiſchen 
Münden und Wien bewegte. Zeugen davon find die breite An- 
lage, die weit über die heutigen Bebürfniffe hinaudgeht, und in 
den größern Dörfern ein altes Poſtwirtshaus mit überzähligen 
Sremdenzimmern, die als landwirtichaftlide Vorratskammern 
dienen. Es ſteht meift an einer Straßenfreuzung, hat ein hell- 
fenftrige8 Gaftzimmer, oft mit freundlidem Erler. Wenn e8 
nicht modernifiert ift, zeigen Möbel und Bilder an, daß es feine 
fegte Erneuerung in den zwanziger oder dreißiger Jahren erfahren 
bat. Wan findet ja nicht überall Zimmer, die Schapläftlein des 
Empireftilö genannt werden könnten, wie einft im „Wilden Mann” 
zu Paſſau; aber es ijt eine Wohltat, Reſte aus einer Zeit zu 
jehen, die jenfeit3 der mit 1850 einreißenden Geſchmackloſigkeit 
liegt. Gewöhnlich find diefe alten Häufer mit ihren breiten Höfen 
und zahlreihen Stallungen jept mehr Bauernhof ald Poft; doch 
find fie gut gehalten und bieten nicht felten an Efien und 
Trinken Uusgezeichneted. Der Bayer beſucht gern das Wirtshaus, 
das fich unter dem Einfluß einer ftarken Nachfrage, aber auch einer 
unverblümten Kritif bierzulande in der Regel beſſer entwidelt 
als in fchwäbiichen oder fränkifchen Landesteilen. Fragſt du, wo 
das Träftige Bier herſtammt, deflen Farbe etwas dunkler und 
deſſen Geſchmack weniger füßlid) zu fein pflegt als in München 
oder gar in Salzburg, fo zeigt man dir ein großes weißes 
Schloß, da8 von dem Landrüden zwifchen Inn und Iſar herüber- 
ſchaut, einer milden Erhebung, die bier bewaldet, dort mit 
Schlöſſern und Klöſtern beſetzt ift. Die alten Gejchlechter von 
Maxlrain oder Neuhauß, die dort gehauft haben, mögen did) 
wenig interejfieren, aber in diefen Schlöffern ift noch manche 
fhöne alte Zäfelung, find Whnenbilder und mächtige Säulen 
fchränfe erhalten. Biel von dem alten Hausrat hat allerdings 
durch Die glänzenden Läden ber Münchner Antiquitätenhändler 
feinen Weg in „altdeutiche Zimmer“ ber weiten Welt gefunden. 
Die Architektur hat einen großen Stil: wahrſcheinlich italienifche 
Einflüffe, die ja auch in den hallenumgebnen Höfen der Bürger- 
häujer der Innſtädte zu erlennen find. in balbverwilberter 
Part von der Größe eined guten Waldſtücks führt Dich auf 
die Höhe, wo du vor dir die Alpen und Hinter dir ein Land 
mit vielen Dörfern, Weilern und Höfen fiehft. Ganz oben ift 
ein kleines Kircdhlein, auf deilen Kirchhof Klofterfrauen begraben 
find, Die zeitweilig in dem Schlofje eine Erziehungsanftalt geleitet 
hatten. Das große Gebäude weiterhin, das moderner als die 


Altbayrifhe Wanderungen 269 


andern ausſieht, ift natürlich Die Brauerei, ohne die ein Schloß 
bier nicht zu denken fit. 

Das oberbayriſche Land bat auch außerhalb des Gebirges 
einen heitern Charakter. Der wellige Boden der Hochebene ſchafft 
die mannigfaltigiten Lagen für Bauernhöfe, Kirchen, Schlöffer, 
Wald⸗ und Baumgruppen. Die geichloffenen Flächen des Waldes, 
der Wiejen, der Felder, die aud) noch im Mittelgebirge vorwalten, 
durchbricht die Parklandſchaft. Einzelne Eichen, Ulmen, Ahorne, 
Weiden und Gruppen foldher Bäume verteilen fich über daß ganze 
Land, und aus den Gruppen der Laubbäume treten auf jeder 
Bodenerhebung die Dunkeln Fichten hervor. Jeder Bauernhof bat 
feine Bäume und Baumgruppen. Nuß- und Obſtbäume treten 
dahinter ganz zurüd. Man fieht, wie das Land aus dem Walde 
herausgewachſen ift, der es einjt ganz bededte. Jeder Ader und 
jede Wiefe Hat ein paar Bäume oder ein Wäldchen übrig ge⸗ 
laflen. Da fih nun fchon von der Donau an und mehr noch 
ſüdlich von der Linie Pfaffenhofen — Landshut die Dörfer immer 
mehr in Einzelhöfe auflöfen, die fi) an die Hügel anlehnen oder 
die Hügel krönen, fo entiteht eine der individualifierteften Land⸗ 
ſchaften, die wir in Deutjchland haben. Sogar die Kirche folgt 
dieſem Zug. Gehört doch zu einem rechten Bauernhof auch eine 
Kapelle. Auch die einft zahlreichen Einfiebler haben Kirdjlein 
binterlaffen, und manches alte Kirchlein fteht mit wenig Höfen 
zujammen als Kern einer alten Kirchengemeinde, von ber ſich 
ein jüngered Dorf mit einer neuen großen Kirche abgezweigt bat. 
Rah Hunderten zählen die Kapellen und Kirchen, in denen mur 
an den Tagen der Patrone und fonftigen Feiertagen Gottesbienft 
gehalten wird, die aber dem Gebete ftändig offen ſtehn. Das 
mit Sorgfalt unterhaltne eigne Kirchlein gibt dem Bauernhofe 
eine höhere Selbftändigfeit. Das landſchaftliche Auge freut ſich 
der alterögrauen oder zierliden Gotteshäuschen, unter denen 
manche uralten der romanischen Baumeife angehören. Es find 
Heine Juwelen darunter, wo fi) ber Chor ſchön von dem 
Schifflein abhebt, während ein Seitenanbau die Kapelle einer 
frommen Stifterin vermuten läßt. Der Hof ſelbſt zeigt in feiner 
rein weißen Farbe, von der fich die grünen Yenjterläden abheben, 
weiche Sorgfalt über ihm wacht. Das zweitwichtigite Bauwerk 
aber in diejer oberbagrifchen Landſchaft iſt ficherlich dad Wirts⸗ 
Haus. Weithin fi) anfündigend durch die blauweiße Fahnen⸗ 
ftange, in fchloßartiger Ausdehnung als ein gaſtlich erweiterter 
Bauernhof ericheinend, mit Bäumen vor dem Tore, unter denen 





270 


Tifche für biertrinfende Menſchen und Yuttertröge für hafer⸗ 
frefiende Pferde ftehn, ſpricht es von dem Wohlbehagen und 
der Lebensluft, Die in diefem Lande herrſchen. Wenn ber den 
Hof oder die Gemarkung rings umziehende Wald an bie Zeit 
erinnert, wo fich die Menſchen mit Feuerbrand und primitivdem 
Beil Raum in dem bie Hochebene einförmig bebdedenden Walde 
fchufen, fo erinnern bie Geweihe und „Gwichteln,“ Die an ber 
Wand der Wirtöftube hängen, an die Wald⸗ und Jagdfreude, 
die in den Abkömmlingen der altbayriſchen Hinterwälbler lebendig 
geblieben ift. Schade, daß fie fo oft feinen andern Weg weiß, fich 
zu äußern, als daß Wildern, das nirgends in Deutichland fo ver- 
breitet ift wie bier. Es ſind oft nicht die fchlechtejten, die wilbern. 
Man hört wohl aus dem Vorleben eines befonders jchneidigen 
und intelligenten Bauern die vertraulide Mitteilung in be= 
wunderndem Ton: Das war einft der gefürdhtetfte Wilderer weit 
und breit! 

Bon den Oberbayern des Gebirges ift viel gejchrieben worden, 
Kobell und Stieler find ihre Dichter, die Bauernkomödie hat fie 
weithin populär gemacht. Bom Bauer der bayriihen Hochebene 
meinte man, die Bauerndynaftien auf den großen Höfen, die man 
von den Höhen des Wellenlandes und aus umbuſchten Winkeln 
an den Flüffen und Teichen glänzend weiß herichauen fieht, könnten 
höchftend einen Kauz wie Immermann intereffieren. Wenn fie 
des Sonntags zur Kirche gehn, die Männer im filberfnopfbefebten 
Wams, in Lederhofen und dem runden niedern jeibenhaarigen 
Hut, die Weiber im fchwarzieidnen Kopftuch, Daß den ganzen 
Nüden mit zwei breiten Flügeln bededt, nicht felten in ſchwer⸗ 
jeidnem Rod, aber immer in dunkeln Farben, von denen die 
roten Strümpfe abftechen, ziehn ftämmige Geſtalten, entichlofjene, 
harte Geſichter, doch auch manches freundliche Auge an uns vor⸗ 
über. Wenn ich Dichter wäre, das Unverhüllte bis zum Rohen 
Wahre in diefen Geftalten würde mich viel tiefer ergreifen. Jede 
ift ein Typus. Hier iſt das Mädchen, hier dad Weib, hier der 
Greis. Keiner ftrebt, etwas andres zu fein. Wir wollen uns 
in andre Alter und Standesklaſſen verjegen oder betonen das 
Sndividuelle bis zur Übertreibung. Hier dieſer gebüdt hinter 
ben andern herfchreitende Weißlopf ift fo fehr der Greis wie 
des Odyſſeus alter Vater, und der Wirt ift jo jehr Wirt wie 
der in „Hermann und Dorothea.” So wie die Höfe biefer 
Bauern immer unmittelbar ins Gras hineingeftellt find, deſſen 
Wieſen, wenn auch baumbepflanzt, ſich nad) allen Seiten weit 


Altbayrifche Wanderungen 








Altbayrifche Wanderungen 271 


ausbreiten, ehe die braunen Üder beginnen, fo heben fi auch 
bie Menfchen unmittelbar von der Natur ab. Keine allzu häufige 
Berührung mit den Nachbarn jchleift fie ab, fie entwideln frei, 
was in fie hineingelegt ift. 

Das in fie Hineingelegte ift mın allerdings von Landichaft 
zu Landſchaft jehr verſchieden. Zwiſchen dem Oberbayern und 
dem Niederbayern iſt mindeſtens ſoviel Unterſchied wie zwiſchen 
dem Unterfranken und dem Mittelfranken. Der Oberbayer iſt 
beſonders nach dem Gebirge zu der germaniſchere von beiden. 
In der Tölzer und Lenggrießer Gegend und im Mangfallgebiet 
findet man Leute, die zu den ſchönſten Vertretern germaniſcher 
Männlichkeit gehören. Nah Salzburg Bin überwiegen Kleinere, 
Dunflere Leute, von denen der Gendarm und der Forftgehilfe, 
aus Gott weiß welcher Duelle fchöpfend, ald von „verdrudten 
Welſchen“ fprechen. In Niederbayern ift dann wieder einer der 
ſchwarzhaarigſten und dunkeläugigſten Menichenichläge zubaufe, 
die e8 auf deutichem Boden gibt, bejonder8 von Regensburg 
gegen den Bayrifchen Wald und nad) Amberg und Schwandorf 
hin. Aus dieſer Gegend kommen tüchtige Soldaten; in ihr aud) 
fitt der „Sraftadel“ roher Mefjerhelden. Nah Welten und 
Norden gehn dieſe bayriichen Schattierungen allmählich in die 
Franken über. Gewöhnlich verfteht man unter Altbayern die 
Kreife Oberbayern, Niederbayern und Oberpfalz. In einzelnen 
Zeilen entiprechen aud) deren Grenzen dem alten Bayernland; 
aber dem Ganzen gegenüber ift doch die gejchichtlich wichtige und 
bis in die Gegenwart herein wirkſame Tatſache zu beherzigen, 
daß die öſtlichen Franken von den Bayern nicht ſcharf zu jondern 
find, während zwiſchen den weltlichen Franken Unterfrantend und 
den Bayern dad ganze Schwabentum liegt. Daher ein unmerf- 
licher Übergang vom Altbayern zum Mittele und Oberfranken. 
An Derbheit und Natürlichkeit kann e8 der Nürnberger mit dem 
Münchner anfnehmen; und dem Wohlleben iſt der ditliche Franke 
in Stadt und Land nicht abgeneigt, wenn er auch feine Lebens⸗ 
freude nicht jo laut und warm fundgibt wie der Nachbar im 
Süden. Er tft allerdingd regfamer, auch eigenfinniger und recht⸗ 
baberifcher. Es ift aber boch fo viel Übereinftimmendes diesſeits 
und jenſeits der Donau und Nab, daß die PVerfittung der oſt⸗ 
fränfifchen mit den altbayrijchen Gauen auffallend leicht vor ſich 
gegangen ift. Keiner von ben Kleinſtaaten, die Bayern bei der 
Auflöfung des alten deutichen Reichs in ſich aufnahm, hat eine 
fo glänzende Vergangenheit geopfert wie Nürnberg. Nürnberg 


272 Altbayrifde Wanderungen 


iſt ohne Zweifel auch heute noch ftolz auf feine Geſchichte; es 
it eine Perſönlichkeit unter den beutichen Städten, nicht bloß 
eine Anhäufung von Häujern und Menſchen. Es blickt auch nicht 
ohne Neid auf daß von der Regierung und dem Hof fo begünftigte 
Münden, das überdies durch den Fremdenzufluß mit leichterer 
Mühe Geld erwirbt als dad mehr abjeit8 gelegne Nürnberg. 
Der Nürnberger Kaufmann ſpricht deshalb fchaudernd von dem 
Leichtfinn und der Genußſucht der Münchner. Die Hauptſache 
ift aber doch, daß fi) Rürnberg unter bayriſcher Herrichaft wohl 
fühlen gelernt und einen fröhlichen Aufſchwung genommen bat, 
wie e8 ihn in den lebten zwei Jahrhunderten feiner Selbftändig- 
feit nicht erlebt hat. Die Kunftpflege der bayriſchen Könige hat 
Nürnberg ebenjo wohl getan wie München, und foweit die ältere 
franzöfifchzentralifierende Verwaltung einen zweiten Mittelpunit 
überhaupt zulafien Tonnte, ift Nürnberg mehr als jede andre 
Stadt außer Münden begünftigt worden. Im Eifenbahnneb if 
Nürnberg ohne Zweifel der zweite Knotenpunkt. Die altbayrijche 
Läßlichkeit war ganz geeignet, aus reichäftäbtiichen Zuſtünden 
ſchonend in die Stellung einer Provinzialftadt überzuleiten. Der 
konfeſſionelle Gegenſatz ift im allgemeinen Hug behandelt worden. 
Größer tft nad) allen Zeugnifien der Abſtand in den einft 
preußifchen, früher ansbachiſch⸗bayreuthiſchen Landesteilen em⸗ 
pfunden worden. Preußen hatte hier vor Torſchluß noch einige 
feiner beften Beute hergefandt, Hardenberg, Humboldt, mit denen 
die altbayrifchen Beamten nicht Tonkurrieren konnten. Diefe ftanden 
3 B. im Bergwejen weit zurüd. Die bier und da noch vor⸗ 
handnen preußiihen Sympathien haben aber nicht einmal ver» 
mocht, das Zuifenfeitipiel auf der Luiſenburg bei Wunfiebel über 
dem Waſſer zu halten. 

Doch zurüd nad Altbayern, und zwar recht in die Mitte 
Hinein. Die vom Rhein berfommenden Nibelungen fanden in 
der Bafiauer Gegend nicht eben den freunblichiten Empfang. Bon 
fräntifcher Leichtlebigkeit und öfterreichiicher Weichmütigleit find 
gerade hier die Altbayern am weiteften entfernt. Nicht bloß Die 
Bauern, auch die Bürger der in Altbayern wenig zahlreichen 
Städte befleißigen ſich nit ungern einer naturwüchfigen Unge- 
ſchlachtheit. Wer fie nicht hat, erzieht fie fih an umd gewinnt 
damit Lebensart. Grobheit, die mit Aufrichtigfeit und Mutter- 
wit verbunden ift, ziert den Mann. Ein grober Wirt zieht die 
Säfte an, ftatt fie zu verichenchen. Neben Jagdgeſchichten gehören 
Erzählungen von groben Wirten und Beamten zu den beliebteften 


Altbayrifche Wanderungen 273 


Würzen der Unterhaltung; und dazu paflen treffli die Maß- 
krüge kräftigen Biere, wozu „abgebräunte” Kalbshaxen von fabel- 
after Größe und unförmliche Portionen Kalbs⸗ und Schweins- 
braten verzehrt werden. 

Die Neigung zur Volkstracht ift unter ſolchen Verhältniſſen 
überall ba, fie wagt fich in allerlei Formen ſchüchtern vor. Aber 
fie kommt zu feinem rechten Halt mehr, wenn er ihr nicht von 
außen geboten wird. Daran hat es num gerade in Bayern nicht 
gefehlt. Im Gebirge find ſchwarzlederne Kniehoſen, Wadenſtrümpfe, 
Joppe und „a greand Hüntl” mit den Gemsbart oder der Spiel- 
hahnfeder gleichjam offiziell für alle Jäger und für viele Touriften. 
Wenn der Prinzregent mit feinem ganzen Sagdgefolge tn dieſer 
Tracht im Berchtesgabner Land, im Iſartal über Lenggrieß oder 
im Algdu jagt, gibt er ein weithin leuchtendes Beiſpiel der 
Schätzung der alten guten Tracht. In derſelben Richtung find 
die Vollötrachtenvereine wirkſam und am meiften wohl einfluß- 
reiche Getftliche, Die der jüngern Generation feinen Zweifel 
darüber laſſen, daß die Tracht der eigentliche Kirchenanzug ſei. 
Die Hauptjadhe ift aber doch immer, daß die züngelnden, weg⸗ 
fpülenden Wellen de3 modernen Lebens überhaupt nie in dieſe 
alten Höfe jo Hineingedrungen find wie in Die fränfiichen und 
oberpfälziichen Dörfer. Darum jtedt au im Bau und Haus⸗ 
rat viel Altertümliche und Schönes, wovon leider das befte an 
bie Tröbler übergegangen tft. ch habe romaniſche Säulen aus 
Untersberger Marmor im Giebel eine Bauernhaufes gefehen 
und mir von Kennern erzählen laffen, daß in alten Häufern der 
Traunfteiner Gegend uralte Balkenwerk mit herausgeſchnitzten 
gefnoteten Stridleiften erhalten ſei. Ein großer Feind des Alten 
tft in Altbayern das Feuer. Ein vom Blig getroffner oder ſonſtwie 
in Brand geratner Eindbhof tft natürlich faft rettungslos ver⸗ 
loren. Die Höhen, auf denen bie älteften Höfe liegen, find im 
Ragelflubgebiet wafjerarm. Branditiftung dürfte faum in einem 
andern Teile Deutichlands fo Häufig fein; fie ift nicht felten Die 
Rache entlafjener fchlechter Dienftboten, leider auch des gekränkten 
Bauernehrgeizes und manchmal fogar der verjchmähten Liebe. 


3 


Die fteilen, zum Teil ſchroff felfenhaft in die Donau ab» 
fallenden Hügel, von denen die weiße Walhalla berunterjchaut, 
breiten fich jenſeits Straubing zu Walbbergen aus, deren breite, 

Rayel, Slädsinfeln und Träume 


274 Altbayrifche Wanderungen 


runde Formen an den Schwarzivald erinnern. Es ift eine ber 
waldreichſten Landſchaften Mitteleuropas. Bon manddem Gipfel 
im Bayriichen Wald erblidt das Auge des Wandrers nichts als 
Wald, foweit es reicht, bie und da einen Dunkeln Seefpiegel, 
eine graue ober rötlichgraue Granitwand oder einen weißen Quarz⸗ 
fels. An einem fühlen Wpriltage, wo der Schnee noch überall 
in den Wäldern liegt und an den Waldrändern berausichaut, 
der Wald jelbft faft ſchwarz unter einer tieffängenden grauen 
Wolkendecke fteht, und die Bergwieſen fahl, kaum grün ange 
haucht find, tft die Landichaft faft melancholiſch. Es ift das 
fältejte, wa8 man ſich denken Tann. Grün find dann überhaupt 
nur die jungen Fichtenſchläge. Auch die Felſen find graulich, 
und die Häufer grau. Die were Rauchwollke, die über bem 
einen oder dem andern die Glashütte anfündigt, erheitert die 
Landihaft nicht. Nur nad) dem Ausgang zu, wo die Täler breit 
find, die Bäche zwiſchen faftigen Wiejen bingehn, und das Ader- 
feld fich höher hinaufzieht, bietet aud) der Bayriſche Wald freund- 
liche Kulturbilder, die durch die Zeugen der inbuftriellen Tätig⸗ 
feit gehoben werben, Zwieſel mit feinem hochragenden Kird;- 
turm, Gotteszell mit feinen freundlichen Häuſern muten fajt wie 
Marlifleden aus den Alpen an. Bon ben größern Orten, die 
„vor dem Wald“ liegen, kam man das nicht jagen, vor allem 
nicht von dem als Übergangsplatz nad Böhmen fo wichtigen 
Schwandorf, das in feinen alten Mauerreften eine echt Toloninle 
Gründung um einen unjchönen vieredigen Marktplatz mit lauter un⸗ 
bedeutenden Häufern und ſchmutzigen Straßen ift. Schwandorf hat 
eine gewiſſe nationale Bedeutung als legte bayrifche Stadt gegen- 
über dem Tſchechentum, wo es bei Taus fein Gebiet am weiteften 
nad) Weſten vorjchiebt. Man würde hier gern eine recht blühende 
deutfche Stadt ſehen. Auch Weiden und Yurth im Wald find 
unbedeutende Orte der Grenzzone, Zirichenreuth ift durch das 
Denkmal Schmeller8 verklärt, des großen Schöpfers des Bayriſchen 
Wörterbuchs, eined ber bebdeutendften Geifter, die der Bayriſche 
Stamm zur deutſchen Wiſſenſchaft geftellt hat. Im übrigen 
Deutſchland iſt diefer aud rein menſchlich anmutende Bayer 
nicht nad) Verdienft gewürdigt worden, foviel Gutes auch Jakob 
Grimm von ihm gejagt hat. Sein Plab ift neben den Brüdern 
Grimm, nicht Hinter ihnen. 

Die Bewohner des Bayriichen Waldes find ein genügjames, 
fleißig arbeitendes Volk, fie haben ſich etwas von der bayriſchen 
Heiterleit bewahrt, unter Berhältniffen, die viel weniger günitig 


Altbayrifche Wanderungen 275 


find als die in und an den Alpen. Die „Waldler“ laſſen 
übrigend in der auffallend großen Zahl dunfelhaariger und 
Ihwarzäugiger unterfegter Menichen die Erhaltung keltiſchen Blutes 
in diefem Winkel vermuten, der gejchichtlich zum Waldſaum bes 
alten Bojerlandes, Böhmens, gehört. Vom Böhmerwäldler find 
fie troßbem wohl zu unterjcheiden. Yür die öfterreichiichen Böhmer⸗ 
wäldler ijt nicht bloß das fernere ,‚Reich,“ bejonders Schwaben 
und der Rhein, mo früher manche als Haufierer Wohlftand er- 
warben, ein glüdlicheres Land. Das tft ja für alle Gebirgler 
jedes tiefergelegne Land mit befierm Boden und milderer Sonne. 
Er fühlt auch den bayriſchen „Waldler“ fich fchon überlegen. 
Und mit Recht. Die bayriiden Waldbewohner find in denſelben 
Gehirgsteilen wohlhabender als die Öfterreihtichen. Dort find 
nit Fürften und Grafen die Großgrundbeſitzer, jondern ber 
bayrifche Staat felbft, der wohl weiß, was er an dieſem Träftigen 
Bauernftande hat. In Ufterreich ftehn ein Fürft Schwarzen- 
berg, der in Sübböhmen über 145000 Hektar befitt, und einige 
Heinere Herren zwiſchen den großen Bauern und dem Staat. 
Bon ſolchen Herren find die Leute abhängiger als vom Staat. 
Es ift ein ſchlechter Zuftand für die Bauern und für den Staat; 
gut ift er nur für den Grundherrn und feine paar taufend Be— 
amte, Waldhüter ufw. Der öſterreichiſche Böhmertvalbbauer 
wohnt und ißt ſchlechter als der bayrifche und weiß das auch 
ſehr gut. Beiden gemein ift, hier Tann man fagen zum Glück, 
das bayrifhe Phlegma, fonft wäre der Unterſchied noch fühl- 
barer. Während ſich aber der bayriſche Waldbauer auch der 
wohltätigen Seite dieſer Nationaleigenfchaft, nämlich der läßlichen, 
humanen Verwaltung erfreut, die in dem wichtigen Forſtfach 
immer rationeller geworden ift, hat der öfterreichifche eine zum 
großen Teil tichechifche Beamtenfchaft über fi, und das empfindet 
er noch ftärfer. 

Eigentümliche Züge prägt das Hinübergreifen des bayrifchen 
Stammes an dieſer Stelle den weſtlichen Deutihhöhmen auf. 
Auch auf der böhmiſchen Seite tft der Bayer der Vertreter der 
Kraft und Derbbeit, der Genußltebe und der Frömmigkeit; aber 
er liebt nicht die geiftige Anftrengung, läßt viele an ſich vor⸗ 
beigehn, ohne aufzujehen. Da zeigt der oberjäcdhfiiche und der 
Ichlefiihe Böhme einen ganz andern Charakter. Faft alle politiich 
und wiſſenſchaftlich bedeutenden Deutjchhöhmen ftanımen aus dem 
böhmtichen Erzgebirge und Mittelgebirge, bier liegt auch heute 
die politiiche Entſcheidung über das Schidjal der Deutihhöhmen. 

18* 


276 Altbayrifche Wanderungen 


Der Weften, wo der bayriihe Stamm im Pfälzerwald und 
Böhmerwald vorherriäht, trägt wenig dazu bei. Im Böhmer⸗ 
wald und im Oberpfälzerwald mag die Armut und Wbgelegen- 
heit der dünnen, ftädtelofen Bevöllerung eine gewifle Apathie 
erzeugen. Was für Geiftesgaben aber bier in der Stille heran 
wachien, davon find Gluck und Adalbert Stifter Zeugen. Im 
Egerlande haben wir dagegen einen ber reichiten Zeile Böhmens, 
eine blühende, verlehrsreiche Stadt und einen urfräftigen Bauern 
ftand. Uber was die Egerländer für das Deutichtum leiften, das 
machen fie mit Saufen ab, jagt man im übrigen Böhmen. Wo 
& gilt, einen großartigen Kommers zu feiern, da müflen die 
Egerländer heran mit ihrer echt bayrifchen Yeitfreudigleit. Der 
Unterjchied greift bis nach Oberfranken hinüber. Sogar im König 
reich Sachſen kann man in dem germaniſchen Teil, im Vogtlande, 
die bayriſch⸗oberfraͤnkiſchen Charakterzüge noch recht gut durch⸗ 
fühlen, obwohl gegen Sachſen gerade wie im Yichtelgebirge auch 
die konfeſſionelle Grenze zwiſchen Katholilen und Proteftanten 
jehr merklich tft. 

Mit verichiednen Mitteln verfolgen die Bayern diesſeits 
und jenfeit3 der Grenze mit demfelben Eifer, derſelben liebe⸗ 
vollen Hingebung denſelben Zweck, die Pflege des Leibe. Den 
Hauptunterſchied macht dabei eigentli nur das Getränk. Der 
Bayer trinkt faft nur Bier, der Böhme und der Ofterreicher 
wechfeln mit Wein ab, wobei fi) das Unerwartete berausftellt, 
daß der Wein bier gerade jo maflenhaft genofien wirb wie dort 
da8 Bier. In den Heinen Städten Niederöfterreichd trinkt der 
Bürgerdmaun nicht felten an einem Abend feine ſechs bis adht 
„Halbe“ Wein. Dieſer öfterreichiiche Wein ift allerdings etwas 
teurer als das bayriſche Bier. Für zwanzig biß vierundzwanzig 
Pfennige ftilt der Niederbayer feinen erften Durft mit einem 
Liter frischen Bieres. Um diefen Preis gibt e8 auch in dem 
weinreichften Gegenden Ofterreichs Teinen trinfbaren Wein. Schon 
das ift ein Grund, warum ber Öfterreicher noch weniger fpart 
als der Bayer. Dann kommt aber die Sorge für daß Eſſen; 
Die wird ernſt genommen, oft leider erniter als jede andre. Frau 
Sorge fteht am Herd der deutjch-öfterreichiichen Familie, nicht 
al8 Armut, nein als Verſchwenderin von Fleiſch, Mehl und 
Schmalz, fie jorgt, daß die Schnitel, die Bäufchel, das Gebadne 
und am Spieß Gebratne, das Luftgfeldte und das Rauchgſelchte, 
dad Saure und das Eingmachte, die Knödel, die Noden, die 
Nudeln, die Strudel, die Schmarren, die Strauben, und wie 


Altbayrifhe Wanderungen 277 


alle die Fünftlichen Erzeugniffe beißen, in tadellofer Güte auf 
den Tiſch kommen. Die Gaftfreundfchaft, au in einfachen 
Familien, leidet unter dem Beitreben der Hausfrauen, ihren 
Tiſch nur mit dem Beiten zu bejegen. Es ift mir vorgefommen, 
daß ich mit dem Hausherrn allein zu Tiſche jaß, weil die Haus⸗ 
frau über dem ganzen Efjen nicht in der Küche ablommen Tonnte. 
So mag die im niedern Bürgerftand Bayerns und Üfterreichs 
einft weitverbreitete Sitte entftanden fein, daß der Mann über- 
haupt allein zu Ziiche ſaß. Dennoch ift in den beſſern Sreifen 
in rreich die Gefelligleit noch nicht fo in Schlemmerei und 
Protzerei ausgeartet wie in Deutſchland. In Bayern ißt man 
auch viel, aber nicht fo gut wie in Öfterreih. Zum Biere würden 
auch manche Feinheiten der öfterreichiichen Küche gar nicht paflen; 
dagegen find die eigentümlichiten Erzeugniffe der bayrifchen Küche, 
die Mannigfaltigleit der Würfte, der Sauerfleiihe und Zeller- 
fleifhe, der Knödel, des „Abgebräunten” beftimmt, zum Bier 
genofjen zu werden. Man braudt feinen Phyfiologen zu fragen, 
um zu begreifen, daß zu einem bitterfüßen, gehaltreichen Getränt, 
das nicht voll ausgegoren ift und nad) altem Brauch mit fieben big 
acht Grad Wärme getrunten wird, Feine feinen Speifen paflen. 
Hier wäre ja nun der Ort, von der oft gerühmten und 
verjpotteten Biergleichheit der bayriſchen Gejellichaft zu reden. 
Ich ziehe es aber vor, oft Gejagtes nicht zu wiederholen, denn 
dieje Gleichheit Liegt nicht darin, daß Fürſt und Bettler ihre 
Maß für vierundzwanzig Pfennige trinken; dem bayrifchen Bier 
find andre Seiten abzugewinnen. Iſt es nicht eine große Sache, 
daß es gelungen ift, ein der Verfälichung und Verteuerung un- 
gewöhnlich ausgeſetztes Bolldgenußmittel bei riefig wachjendem 
Bedarf rein und billig zu erhalten? Was trinkt man in Norde 
und Weftdeutichland für Bier, und wie teuer muß es das Volk 
zahlen! Ich habe das Hofbräuhaug nie betreten ohne den Wunſch, 
daß es in andern Ländern unb auf andern Gebieten nachgeahmt 
werden möchte, denn es hat ohne Frage beilfam gewirkt. Auch die 
äußere Wirkung darf nicht überfehen werben, daß das bayriſche 
Bier eins der wenigen dentichen Erzeugnifie ift, die ihren Weg 
um die Welt nur auf Grund der verbürgten Reinheit gefunden 
haben. Auch davon wäre zu reden, daß man begonnen bat, den 
Genuß des von Zahrzehnt zu Jahrzehnt ftärker, d. h. alkohol⸗ 
reicher getworbnen Bieres einzubämmen. Das hat Schwierig⸗ 
feiten, aber im Intereſſe des Vollswohlftandes und der Türper- 
lichen und fittlichen Geſundheit des Volles mußte dem Übermaß 


278 Altbayrifhe Wanderungen 


des Biertrinfens entgegengetreten werden. Wohin ſoll e8 kommen, 
wenn es Dörfer in Oberbayern gibt, wo die mäßigen Männer 
nur einige wenige find, es aber nicht an Lümmeln fehlt, bie 
täglich, folange das Gelb reicht, zehn Maß Bier trinken? 


4 


Die Türme der Münchner Yrauenlirche, deren abgeitumpfte 
Kuppen etwad an Maßkrüge mit Binndedeln erinnern, find banal 
im Vergleich mit dem Iuftigen Bau des Regensburger Domes, 
und an Höhe werben fie von dem Turm der Landshuter Martins- 
firhe (178 Meter), dem höchſten bayriihen Kirchturm, über- 
troffen. Das hindert aber nicht, daß fie viel berühmter find. 
So geht e8 aucd mit andern Dingen, für die München den Ruhm 
bat, während fie befler in Augsburg, Nürnberg oder Regensburg 
find. Münden tft die Kunftftabt, aber die ſchönſten Refte älterer 
Kunſtpflege Haben jene andern Städte Bon München ift die 
deutiche Renaiſſance ausgegangen, deren alte Muſter man in 
jenen andern ftudieren muß. Münden erzeugt zwar daS meifte, 
aber nicht immer auch das befte Bier in Bayern. Uber München 
it der Sit der Regierung, die feit einem Sahrhundert plan= 
mäßig zentralifiert und dadurch in wenig günftiger Lage eine der 
ſchönſten, jehendwerteften und einflußreichiten Hauptftäbte Mittel- 
europas geichaffen hat. Man fagt, Ludwig der Erſte habe das 
neue München gejchaffen; in Wirklichkeit Hat er auf dem Kunſt⸗ 
gebiet nur fortgeſetzt, was Die Bureaufratie unter feinem Vater 
begonnen hatte. Und fo Hat jpäterhin die Regierung beſonders 
durch eine wohlüberlegte Verlehrspolitik mächtig zum Aufſchwung 
Münchens beigetragen, während das benachbarte Augsburg gletch- 
zeitig jo benachteiligt wurde, daß es nicht bloß viele von feinen 
wohlhabendern Bewohnern, jondern auch einige feiner Induſtrien 
an München verlor. - 

Aber kommen wir auf Münchens Stellung zu Bayern zurüd. 
Nachdem erft die Regierung, dann die Runft, dann die Wiſſen⸗ 
ſchaft, endlich in den lebten Sahrzehnten die Kunftinduftrie mit 
einigen Induſtriezweigen und die Fremdeninduſtrie die fühigften 
Köpfe des Landes nad) München hingezogen hatten, tft München 
mehr als ein bayriicher Mittelpunkt geworden. Es iſt gegen⸗ 
wärtig die größte Fremdenſtadt Deutichlands, und zwar in viel 
größerm Maße, als es Frankfurt a. M. und Dresden geweſen 
find. Wllerdings hat Münden als Fremdenſtadt aud) vor feinen 


Altbayrifhe Wanderungen ‘279 


nächften Wetibewerberinnen, Wien und Berlin, Vorzüge, die ihm 
eine Art von Unbejieglichkeit verleihen. Die friſche Natur, bie 
Nähe der Alpen und Staliens, die Kunſtiſchätze und Kunſtſchulen, 
die Bibliothek, dad bebaglicdhere, einfachere und im ganzen noch 
immer billigere Leben, die Gemütlichleit der Bevölkerung find un⸗ 
verwüftliche Vorzüge. Mag auch das eine ober das andre Fach am 
Theater, in der Mufil, in den Künſtlerwerkſtätten ober auf dem 
Katheder nicht jo gut bejeht, und mögen vor allem die Samm- 
[ungen und Inſtitute weniger glänzend ausgeftattet fein, das 
macht gegenüber jo großen Borzügen gar keinen Unterjchied mehr. 
Es ift und bleibt eine finnige und mwohltuende Vereinigung von 
Genüſſen, nad) einigen Sommerwoden naturwüchſigen Lebens an 
einem friihen See oder in einem Gebirgstal durch die Bilder- 
fäle des Glaspalaſtes zu wandern oder eine Mozartiche Oper 
in dem zierlichen Rokokoſaal des Nefidenztheaters zu hören und 
in fo geichmadvoller Ausſtattung zu jehen. München ift befonders 
auch für die Nichtdeutfchen ein Wallfahrtsort erften Ranges ge- 
worden. Für die Sranzojen, die feit 1871 langſam gelernt haben, 
ihre Flüge über Baden-Baden hinaus auszndehnen, find München 
und Bayreuth die großen Anziehungspunfte, ebenjo wie fie 1890 
ein unerwartet großes Kontingent zu den Bejuchern des Über- 
ammergauer Paſſionsſpiels geftellt haben. Die englifche, Die 
nordamerilanifche und vor allem auch die italienifche Kolonie 
find ehr ſtark. Bor allem aber übt München eine mächtige An⸗ 
ziehung auf die Deutfchen aller Lande. Schweizer und Üfter- 
reicher afflimatifieren fi) bier leichter als irgendwo fonft in 
Deutſchland, wofür bejonderd die Künftlerichaft beredte Beiſpiele 
liefert; Holbein bat feine zweite Heimat in Bajel, der Basler 
Bödlin Heimat und Schule in München gefunden. Die Norb- 
deutfchen, die im Anfang über manches die Nafen rümpfen, was 
fie Hier finden, zaubern nicht, ſich der Vorteile ihres Aufenthalts 
bewußt zu werden. Die Südweftdeutichen endlich fühlen ſich bier 
erft recht zubaufe. Ich kenne Frankfurter, Stuttgarter, Karls⸗ 
ruber, bie jedes Jahr mindeftend eine Woche in München zu= 
bringen. Tief in Tirol hört man von Bauern und Säügern die 
Reize des Münchner Dftoberfeftes preijen, der größten Vereinigung 
von Sehenswürdigkeiten und originellen Bierjchenken, die man 
fehen Tann, gewürzt durch Wettrennen, Wettſchießen, Wett⸗ 
turnen u. dergl., durch Preisverteilung an Landwirte, deren 
Ausſtellung Nebenſache geworden iſt. Soviel man auch gegen 
das Überhandnehmen des Biertrinkens und Würſteleſſens beim 


980 Altbayrifche Wanderungen 


Ditoberfeft Toßgezogen ift, man lann nicht leugnen, daß das Feſt 
bollötümlicher geblieben ift ald irgendein andre ſogenanntes 
Bolksfeft im heutigen Deutihland. Es kann und nur verebelt 
werben, aber hoffentlich bleibt Dabei dem bayriihen Volle bie 
barmloje ®enußfreube, die „Die Wieſe“ zu einer gemein-bayrijchen 
Angelegenheit gemacht hat. Alle andern Fefte der Art werden heut⸗ 
zutage in Deutſchland nur vom niedern Boll genofjen, aud wo 
fih ein regierender Fürſt herabläßt, eine halbe Stunde babei 
zu fein; in Münden bat fi) dad Bürgertum noch nicht davon 
außgeichloffen. Für die Stämme Bayerns bat dieſes Vollsfeſt 
bie Bedeutung einer behaglich⸗feſtlichen Vereinigung, von der ber 
Ruhm Münchens in die entlegenften Gaue getragen wird. 

Die affimilierende Kraft des bayrifchen Stammes, die fidh 
gegen bie Deutſchen andern Stammes immer ſtark gezeigt bat, 
bewährte fih aud in weiterm Felde. Sie gehönte einjt zu den 
politiichen Kräften Oſterreichs. Leiber einſti Es ift von ein- 
fihtigen Ofterreichern oft hervorgehoben worben, daß Äſterreichs 
deutiche Benölferung nur durch Die umumnterbrocjene Aufnahme 
reichſsdeutſcher Elemente die Anforderungen erfüllen konnte, die 
die Führung des Kaiſerſtaates in Krieg und Frieden an fie 


5 i 
an deutſchen Urſprung der Begründer. Befonders die ſüddeutſchen 
Reichsſtaͤdte Haben zahlreiche Einwandrer geliefert. Es ift ganz 
begreiflih, daß man in Üfterreih felbft der Abnahme des 
Donauverfehrd nad) Wien von Ulm abwärts einen Anteil an 
dem Rückgang des Wiener Deutſchtums zuſchreibt. In der öfters 
reichifchen Armee fpürt man den Mangel der einft fo zahlreichen 
reichſsdeutſchen Offiziere noch empfindlicher; kein öfterreichiicher 
Stamm erjegt den Ritt, den fie zwifchen den Kameraben ver- 
ſchiedner Nationalität und befonders aud) zwischen den „Kapalieren“ 
und Bürgerlichen bildeten. Die Biographie Vinzenz Lachners 
gibt ein hübſches Beilpiel der Einwanderung aus Bayern nad) 
Wien auf dem Donaufloß. Altbayern ift dem Bufluß fränkiicher 
und ſchwäbiſcher Elemente jeit der Bildung des Königreichs unter 
der pfälziichen Dynaſtie weit offen, und jeit einem Menfchenalter 
nimmt der Sübftrom Norddeuticher immer zu, von dem fidh ein 
ftarfer Arm nah Münden ergießt. Während e8 nun dem Alt- 
bayern ſchon in Schwaben und Franken nicht recht gefällt, und 
gar Die Pfalz ihm ganz zuwider ift, fühlen fi) die Fremden 
faft außnahmloß in Bayern wohl Es ift eine wichtige politifche 


Altbayrifhe Wanderungen 281 


Tatſache, daß das vor allem von den Schwaben und Franken 
gilt, die Darauf angewiejen find, mit den Bayern unter einem 
Zepter zu leben. Ob ber heitre Unterfrante oder Pfälzer als 
Regierungsbireltor oder al „Schandi” (Gendarm) zu den ſchwer⸗ 
fälligen Altbayern verjeßt wird, er ift in kurzer Zeit daheim 
und vergißt im Bierland feine fonnigen Weingehänge. Bedenkt 
man die bunte Verſchiedenheit der politiichen Fetzen, aus denen 
das bayriſche Königreich durch Napoleond Gnaden zufammengeflict 
wurde, ſo iſt die Annähernng der drei Hauptſtämme überraſchend 
gelungen. München hat dazu ſein redliches Teil beigetragen. 
Welcher Franke oder Schwabe iſt nicht einmal in München ge⸗ 
weſen und hat die Überzeugung mitgenommen, daß der bayriſche 
Untertan mit einer jo glänzenden, jeder Art und Stufe von 
Genußliebe entgegenfommenden Hauptftadt wohl zufrieden fein 
Iönne? 


5 


Das Hervortreten Bayerns bedeutet für da8 ganze weftliche 
Süddeutichland eine Verichiebung der feit Jahrhunderten ge- 
worbnen Verbältniffe. Wer hätte die Erhebung des „weit hinten“ 
liegenden Münchens zur Hauptitadt Süddeutſchlands vor einem 
halben Jahrhundert für möglid) gehalten? Seitdem Augsburg 
und Ulm mit dem jcheidenden jechzehnten Jahrhundert ihre große 
Handelsftellung eingebüßt hatten, hatte fi) das Land öſtlich von 
der Alb und der Regnitz immer mehr nach Dften zu geneigt, 
dem Lauf feine großen, damals für den Verkehr ganz anders 
maßgebenden Stromes folgend, während der Weiten von der 
großen atlantifchen und wefteuropätichen Entwidlung rheinwärts 
und niederlandwärts gezogen wurde. Wien und Frankfurt wollten 
die Hauptftädte Sübddeutichlands fein, aber beide waren zu 
exzentriſch gelegen, um das fein zu können, was dann Münden 
in jo hervorragendem Maße geworden ift. München tft zunäͤchſt 
an die Stelle ſowohl Regensburgs als Augsburgs getreten und 
bat auch nicht wenig von dem übernommen, was einft Nürnberg 
gehabt Hat, nämlich Bedeutung in Kunft und Runftgewerbe. Dan 
kann Münden nicht die geiftige Hauptſtadt Süddeutſchlands 
nennen; eine folde zu enttwideln ift ja unter deutichen Berhält- 
nifjen glücklicherweiſe überhaupt nicht möglid. Da würde ſich 
vor allen Stuttgart ſchön bedanken! Aber allerdings übt München 
nit bloß durch politiiche Mittel und als Verkehrspunkt feine 
Anziehung au. In feiner Bedeutung find geiftige Elemente, die 


282 Altbayrifche Wanderungen 


man fi aus dem Gejamtleben Deutichlands nicht mehr hinaus⸗ 
denken kann. Zu dem, was dem Antlit des heutigen Deutſch⸗ 
lands geiftigen Ausdrud verleiht, trägt außer Berlin München 
das meifte bei. Welcher Gegenſatz zu ber Zeit, wo Bayern 
am geiftigen Leben Weſt- und Norddeutihlands kaum An⸗ 
teil nahm! 

Man liebt e8, das geiftige Leben und Schaffen —— 
als eine zarte Pflanze darzuſtellen, für deren Gedeihen durch 
Ludwig den Erſten und Maximilian der ganz unkultivierte Boden 
mühlam habe zubereitet werden müflen. Nichts ift unrichtiger 
als das. München ift zunächft Kunftftabt geworden, weil es die 
Hauptitabt der Fünftleriich begabten Stämme der Bayern, Franken 
und Schwaben ift, in deren fchönen, heitern Ländern die Kımft- 
übung auch in den fcheinbar dunkelſten Zeiten nie jo berumter- 
gelommen war wie in ben meiften Gebieten Norddeutſchlands. 
Welche Dorflirhen hat Hier noch dad achtzehnte Jahrhundert 
Dingeftellt! Ludwig der Erite hätte in feinen Bemühungen, eine 
deutſche Kunftftadt zu Ichaffen, feinen Erfolg gehabt, wenn er 
nicht am künſtleriſche Traditionen in jo manden Teilen bes 
Landes Hätte anfnüpfen und fchlummernde Talente hätte wach⸗ 
rufen können. So beurteilt man aud) die heutige Stellung und 
die Wirkungen der Kunftftabt München ganz falih, wenn man 
nit berüdjichtigt, wie empfänglich die Bayern für Kunſt find, 
und wieviel Künftlerifches Iandauf landab gejchaffen wird. Der 
Bauer, der weit binten im Trauntal fein Haus mit ber Geftalt 
des heiligen Georg und des heiligen Florian bemalen läßt und 
auch feine Freude daran hat, wenn ihm der Maler das Heine 
Austräglerhäusl von oben bis unten blau und weiß mit bayrifchen 
Rauten tündt, daß es „Iuftig ausfchaugt“ ; der einfame Pfarr⸗ 
berr, der die Engel der Siftina mit bingebender Liebe für ein 
noch einfameres Berglapellhen malt; der Schniker von Berchtes⸗ 
gaden oder Ammergau, der „Herrgöttle" im Dutzend fchneibet, 
dann aber in den Mußeſtunden fi in eine figurenreiche Krippe 
vertieft, die nach Jahren als echtes Kunſwerk erfteht, deſſen 
größter Gewinn für ihn allerdings die Freude am Schaffen iſt; 
der Algäuer Hirtenbub, der, zum Alademiler fortgeſchritten, eine 
tiefempfundne Kreuztragung in fein altes, graues Dorflirchlein 
ftiftet — das find alles Träger bayriſcher Kunft, die baflx 
forgen, daß die freude an Formen und Farben im Volle lebendig 
bleibt, denen es aber auch zu danken ift, wenn den Münchner 
Kunſt⸗ und Kumftgewverbeftätten immer neue Kräfte zufließen. 


Altbayrifhe Wanderungen 283 


Überall in Bayern ift die Freude an der künſtleriſchen Aus- 
fhmüdung des Daſeins ein Erbteil des Volles. Welche Brunnen 
haben fich Heinere bayrifche Städte von Lindau bi8 Traun- 
ftein in den lebten Jahren gejebt, wie ſchön find die Nathäufer 
erneuert, und was für Kirchen find z. B. allein in München 
neuerdings gebaut worden. Das find ganz andre Wirkungen, als 
wie fie die einfeitige Denkmalsmanie mit ihren langweiligen 
Wiederholungen in andern deutichen Ländern gezeitigt hat. Und 
Dazu kommen die leidht verbreitbaren Erzeugnifje der Malerichulen, 
der Glasmalerei, die Reproduktionen und vor allem bad Kunft- 
gewerbe. Die Bedeutung der bayrifden Kunft lernt man nicht 
in den gehäuften Ausstellungen des Münchner Glaspalaſtes Tennen. 
Zu ihr gehört auch das dörfliche Wirtsfchild, auf dem ein frober 
Künftler den diden Wirt vor dem Faß in impofanter Rücken⸗ 
anficht Dargeftellt hat, zu ihr gehören prächtige Scheibenbilder, 
die vom Giebel eines Forſthauſes herabichauen, Geſchenke kunſt⸗ 
liebender Weidmänner, und fogar die bis auf die Uhr und das 
Handtuch) täufchend an die Holzwand gemalte Zimmerausftattung, 
die man vor Sahren in einem primitiven Wirtshaus des Iſar⸗ 
tale8 bewundern Tonnte. 

Und das alles muß man fi in eine Natur hineindenten, 
bie der Fünftlerifchen Phantaſie fehr viel bietet. Die bayrifche 
Hochebene ijt allerdings, wie ihr Name fagt, an vielen Stellen 
eben. Wer mit der Eijenbahn von Münden nad) Augsburg 
oder nach Dachau fährt, fieht um ſich herum nur Moor, Heide, 
Wieje und Ader. Gebt man aber eine halbe Stunde ifaraufiwärts, 
fo fteht man an der Pforte eines tief eingeichnittnen Tales, deſſen 
Hänge einen der Ichönften Buchenwälder tragen, und von deſſen 
moränenbejegten Rändern fi rechts und links eine im kleinen 
Rahmen ungemein mannigfaltige grüne, waldreiche Landichaft 
ausbreitet. Es ift die ernftsliebliche Tandichaft, in die der grüne 
Würmſee und mit ihm Hunderte von Tleinern Seen eingejentt 
find. In Harlaching bei München bezeichnet eine Denttafel den 
Drt, wo Elaude Lorrain gemalt und feine Bewunderung des 
oberbayriichen Himmels mit feinem reichen Licht und feinen feinen 
Wolkengebilden ausgeſprochen Haben fol. In den Alten it das 
nicht; Die Hauptſache ift aber, daß e8 in der Natur ift. Der 
Himmel bat über der Hochebene, troß des rauhen Klimas, eine 
wunderbare Stlarheit, und wenn die Sonne fcheint, ift fie Licht- 
reicher ald unten im Tiefland. Ich Fam einmal mit einem 
Münchner Hygieniker zufammen, der behauptete, Die den Fremden 


284 Altbayrifhe Wanderungen 


anmutende Luftigfeit der Oberbayern fei vor allem dem vielen 
Licht in ihrer Atmojphäre zuzufchreiben. Sch glaube mehr an 
die Mitgift der Stammeseigenfchaften und an bie im allgemeinen 
leichteren Lebensbebingungen im dünnbenölferten Land, wiewohl 
es ſehr eigentümlich ift, Daß die Bierden der humorbollen obers 
bayrifchen Dialeltdichtung, Kobell und Stieler, Kinder Ein- 
geiwanderter waren, jener von einem pfälziichen, dieſer von einem 
—* Vater. Aber die Fliegenden Blätter ſind allerdings 
echte Münchner Kindln, und fo find es auch die heitern Volls⸗ 
ſtücke, die das Gärtnerthenter und die Schlierfeer in ganz Deutſch⸗ 
land populär gemacht haben. Bon den Letzten aus König Mari- 
miltand Dichterkreis ift Paul Heyſe im Münchner Licht alt ge⸗ 
worden und Berliner geblieben, und Hermann Lingg bayriſcher 
Schwabe, tft in feinem lieben München ernft und tief geblieben, 
wie er am Schwäbilhen Meer geboren wurde. Freuen wir und 
troßdem der hellen Sonne Dberbayernd — wenn fie fcheint. 


6 


Münchens wiſſenſchaftliche Bedeutung iſt nicht fo augen- 
fällig wie feine Stellung in den bildenden Künften, in Muftt, 
Theater und Dichtung. Uber im Beſitz der zweitgrößten und 
beften Bibliothek in Deutfchland (die Hof» und ——— 
Hat 900000 Bände, wozu die Univerfität3bibliothef, die junge, 
aber jehr gut ausgeſtattete Bibliothek der Techniſchen Hochſchule, 
das an Seltenheiten ſehr reiche Konſervatorium der Armee u. a. 
fommen), des großartigften paläontologiſch⸗geologiſchen Muſeums 
der Welt, einer ber beiten Mineralienſammlungen, eines aus⸗ 
gezeichneten Herbariums, der für Kunſtſtudien viele gute Dinge 
enthaltenden Sammlungen der Glyptothet, des Nationalmuſeums, 
des Münzlabinetts, des Ethnographiſchen Muſeums, der großen 
Archive, bietet München den wiſſenſchaftlichen Studien treffliche 
Hilfsmittel und Anregimgen. An der Univerfität und der 
nifchen Hochſchule, der Tierarzneiſchule, der Kriegsalademie lehren 
Männer, die zu den Bierden der beutfchen Wiflenfchaft gehören. 
Es gab Jahrzehnte, wo Chemie, Phyfiologie, Zoologie, Paldonto⸗ 
logie, Ingenienrwiſſenſchaften, Zweige der Mebizin und Surifterei 
in München den Mittelpunkt ihrer Lehre und Forſchung hatten. 
Diefe Dinge verichieben fi immer raid. So ift jet der Glanz 
der Münchner Wiffenfchaft bläffer als vor dreißig Jahren. Uber 


Altbayrifche Wanderungen 285 


noch immer wird in Münden fehr tüchtig gearbeitt. Man 
braucht nur an die Hiftortiche Kommiffion und an das pracht⸗ 
volle chemiſche Laboratorium zu erinnern. Und alle die Münchner 
Hochſchulen werben mit jedem Jahre beifer beſucht. Im Ver⸗ 
gleich mit den Mitteln, die Berlin zur Verfügung ftehn, bietet 
und leiftet München überrafchend viel Zugleich Hat es Den 
großen Vorteil, daß es noch nicht jo großftädtiich zerftreuend 
auf Profefioren und Studenten wirkt wie Berlin. München 
gewährt noch immer durch feine einfach-behaglichen Lebensformen 
ein genußreiches Bujfammenleben und -arbeiten, wo Berlin die 
Menſchen ifoliert, überjättigt oder abhetzt. Berlin hat in den 
fetten Jahrzehnten öfter die Erfahrung gemacht, die in Paris 
alt ift, daß hinberufne Gelehrte aufhörten zu produzieren, ſobald 
fie in der Hauptſtadt afflimatiftiert waren. Das Münchner 
Leben bringt Gelehrte, Dichter, Künftler mit allen andern Ständen 
in die engfte Verbindung. König Maximilians ZTafelrunde, Die 
Liebig und Geibel, Sybel und Kobell vereinigte, ijt nichts Fünft- 
liches geweſen, fondern fie war nur die königliche Form für eine 
in der Münchner Auffafjung von Verkehr eingeborne Abneigung 
gegen bloße Standed- und Gattungsfonderungen. Der enge Ver⸗ 
kehr der Altern und ber jüngern Künftler ijt anerlanntermaßen 
von ebenſo großem Vorteil für die Münchner Kunſt geweſen 
wie die Unterweifung in Malklaſſen und Xtelierd. Daß die be- 
hagliche Gefelligleit am Biertifch, der nirgends in der Welt fo 
berführeriiche Stätten bereitet find wie in München, viele vom 
ernften Arbeiten abzieht, ift unzweifelhaft wahr, es gilt das 
übrigen® mehr von den Jüngern der Wiſſenſchaft als der Kunft. 
In einer Geſchichte der deutfchen Kunft, die den Rahmen und den 
Hintergrund der Ereignifje berüdfichtigt, werden immer einzelne 
Münchner Bierlofale genannt werden, in denen ſich berühmte 
Öruppen junger Künftler bildeten, jo wie die franzöfifche Lite- 
raturgeichichte Parifer Kaffeehäufer Hiftorifch gemacht Bat. In 
der Corneliusſchen Beit war es der Stubenvoll, und aus dem 
Ende der fechziger Jahre wäre ber Lettenbauer zu nennen, 
wo Courbet, ftruppig, in Hemdärmeln und Bier aus Maf- 
frügen trintend, da8 Evangelium der mobernften. Richtung ver- 


Es ift eine Eigentümlichkeit des „Dunkeln“ Bayern, daß 
da8 Unterrichtsweſen im Mittelpunkt des öffentlichen Intereſſes 
ſteht. Das kommt von den Angriffen des Zentrums, das in 
jeder Tagung an dem Aultusbudget berumnörgelt und bes 


286 Altbayrifhe Wanderungen 


nn 





fonder8 mit den philofophiichen Fakultäten aller drei Landes⸗ 
univerfitäten nicht zufrieden ift. Bu einem BZurüdichrauben der 
ganzen Entwidlung bat es aber dadurch nie kommen können, 
höchſtens zu einer Verlangſamung. Und die Tatfachen zeigen, 
daß die Univerjitäten im ganzen nidyt gelitten haben. Das 
Kliquenweſen bat nie allmächtig werden können, und fein Dozent 
bat nah 1870 Bayern aus politifchen Gründen verlaffen. Zub 
war als Kultusminifter liberaler als Müller und Landmann, 
hatte von früherm herzlicherm Einverftändniß her eine perjönliche 
Schwädhe für die Altkatholiten, auch nachdem er fie als Katho⸗ 
liten Hatte fallen laſſen müflen, und war nicht ganz frei von 
politiichen Erwägungen bei Neubejegungen. Aber er bewährte 
Doch jederzeit Dabei gefunden praltiichen Sinn und ſcharfe Menfchen- 
fenntnis. Ihm ift die Offenhaltung der bayrifchen Univerfitäten 
für die Wettbewerbung des ganzen deutichen Gelehrtentums zu 
danken. Eine Rückkehr zu der Abſchließung vor Marimilian dem 
Zweiten wäre nad) dem Tode dieſes Herricherd noch möglich ge= 
wejen, heute ift fie undenkbar. Es tft freilich auch undenkbar, da 
noch einmal alle hiſtoriſchen Lehrftühle an der Münchner Univerfität 
mit Proteftanten und Altkatholiken befeßt werben wie unter Lutz. 
Auch den vorwiegend proteftantiichen Charakter des Oberſchulrats 
wird man nicht aufrecht erhalten. Gerade die Lutziſche Unter- 
richtspolitik hat in ben Tatholifchen Kreifen Bayern aufrüttelnd 
gewirkt, e8 wird mehr wifjenfchaftlidy gearbeitet, beſonders auch 
an den früher ehr ftagnierenden Lyceen ber Biſchofsftädte. Über 
den Zuwachs an jungen Gelehrten aus den Tatholifchen Kreiſen 
kann man fi im Intereſſe der Allgemeinheit nur freuen. Ratür- 
lid werben diefe dann auch ihren Anteil an der Leitung der 
Geichäfte verlangen, und es wird hoffentlich eine „Parität“ 
möglid) werden, Die in der Mitte Tiegt zwiſchen den zwei er- 
tremen Auslegungen dieſes Wortes, die in Bayern immer ein- 
ander fo bitter befämpft haben. Auf Tatholifcher Seite verlangte 
man die Bertretung nach der Kopfzahl ber Konfeifionen, auf 
protejtantifcher nad) der Befähigung. Karl Stieler bat ben 
Unterſchied in einem oberbagriihen Wahlſchnaderhüpfl wißig 
dDargejtellt, wo einer dem Hanſei jagt, ber mit den Schwarzen 
gebt: Bei enk (euch) fan do die mehrere Dumma. Hanſei ant- 
wortet offenberzig: 

Ja ja, dos glaub i felber bald, 

Die Dünmern fan mir ſcho, 

Aber die mebrern fan do (doch). 


Altbayrifhe Wanderungen 287 


— —— — 





7 


Die Politik, auf die ih von München aus gelommen bin, 
ift im Leben der bayriſchen Hauptitadt ein viel fremderes Ge⸗ 
wäh als die Kunſt. Der Bayer möchte fich eigentlich gar nicht 
um Bolitit kümmern, wenn es nad) ihm ginge Er Hat nichts 
von der Rechthaberei und dem Widerſpruchsgeiſt, die im Charakter 
des Franken liegen. Dieſer Unterjchied zwiſchen ben beiden 
Stämmen zeigt fi am deutlichiten beim Militär, wo der Alt- 
bayer troß feiner gelegentlichen Ausſchreitungen als der folgjamite 
Soldat gilt, während ſich Pfälzer und Unterfranken am ſchwerſten 
unterordnen. In den fränkiihen Gauen haben bemofratifche 
Richtungen immer mehr Anhänger gehabt als in den bayrifchen 
und. bayriſch⸗ſchwäbiſchen. Der Bayer fümmert ſich nicht gern 
um fremde Angelegenheiten, während der Franke beweglich und 
neugierig ift. Ohne viel Redens und Aufheben von der An⸗ 
hänglichfeit an fein Fürſtenhaus, die ihm felbftverftändlich ift, 
ift der Bayer der Ioyalfte Untertan von der Welt. Ihm ift 
eben wohl, wenn alle® um ihn herum jo weit in Ordnung ift, 
daß er auf feiner Scholle ungefchoren bleibt. Er iſt ſowohl zu 
bequem als zu ftolz, politischen Idealen nacdhzuftreben. Niemand 
fann fonjervativer „von Natur“ fein als der bayriſche Bauer. 
Wenn die Sozialdemokratie in Bayern in halbftädtiihen Wahl- 
freien mehrmals ſtarke Rückſchläge erfahren hat, fo hängt das 
mit diefem realpolitiichen Zuge zufammen; außerdem kommt aber 
auch) dabei die geringere Schärfe ber Standesunterfchiede in 
Betracht. Der altbayriihe Bauer und Bürger geht aufrecht 
durch die Welt und beneidet niemand, und die altbayrijche Arifto- 
fratie zeichnete fich früher dur ihre Anſpruchsloſigkeit aus. 
Man fonnte vor einen Menfchenalter noch das Bürgerliche als 
den Grundzug der altbayrifchen Gejellichaft bezeichnen, ganz ent= 
ſprechend der Tatſache, daß Bayern das eigentlichfte Bauernland 
it. Sogar die Prinzen Tleiden fi), wenn fie al® Jäger die 
Berge des Algäu oder bed Berchtesgabner Landes durchftreifen, 
in das Jagbgeivand, das aus etwas gröberm Stoff die Bauern- 
burſchen tragen; und wer bem Brinzregenten dort begegnet, glaubt 
einen alten, verwitterten Bauerdmann mit auffallend freundfichem 
und intelligenten Blick zu fehen. 

Im allgemeinen gewinnt man in Bayern immer noch mehr 
als in vielen andern Zeilen Deutichlands den Eindrud einer 
fernigen Geſundheit des Vollskörpers, die nicht fo leicht durch 


288 Altbayrifche Wanderungen 





die krankmachenden Einflüffe des Tages zu erjchüttern fein wird. 
Die Gefahr Liegt hier mehr im Innern des Körpers als in den 
äußern Einfläffen. Ein fi) ſelbſt täufchendes Geſundheitsgefühl 
möchte ich aber jenen bajuvariſchen Nationalftolz nennen, der 
von oben ber mächtig genährt wird. Die ganze Welt beneibet 
und um unfre Zuftände! Hört man jagen. Sa, Bayern kam 
“ um viele8 beneibet werden, aber das liegt faſt alle8 mehr im 
Boll und im Lande als in der jeweiligen Regierung. Es wirb 
leicht überjehen, wieviel Heilfames von außen gelommen iſt. Man 
hätte die Miberfolge von 1866 nicht jo bald und fo ganz über 
den an ber Seite Preußens 1870 erreichten Erfolgen vergeſſen 
follen. Die Armee ift unendlich viel beffer geworden. Daß fie 
aber auf die Stufe binunterfommen konnte, auf der fie fich bei 
aller Tapferfeit 1866 befand, wird für alle Zeiten den Ruhm 
felbit jo treffliher Männer wie Walter, Spruner, von der Tann 
u. v. a. trüben, die nicht fcharf genug gegen bie Verlotterung 
angefämpft hatten. Bayern bat ja immer vortreffliche Soldaten 
geliefert, und unter den Offizieren find immer bochgebilbete 
Leute zu finden geweſen. Heute verbinden manche in wohl- 
tuender Weife die beſcheidne Männlichkeit des ſüddeutſchen Ka⸗ 
valiers mit preußifcher Strammbeit, währenb wenige Jüngere 
gerabe diefe in lächerliher und beraußfordernder Weije hervor⸗ 
fehren. Ältere Offiziere lagen, daß mit vielem Guten von 
Norden ber auch abjolut Verwerfliches, wie die ſtreberiſche 
Ordensſucht, eingedrungen ſei. Ich will nicht unterjuchen, wie 
weit die Klagen über Günftlingswirtichaft hier tiefere Begrün- 
dung haben als anderwärtd. Es macht mir mehr Freude, das 
unbeeinflußte Urteil eine norbbdeutichen militäriichen Kenner 
wiederzugeben: er bezeichnete die erſte bayrifche Brigade im 
Sommer 1897 als einen der beftgeübten Truppenteile der deut⸗ 
[hen Armee. Schade, daß man aus dem fchönen Münchner Veib- 
regiment, um die preußiihe Garde nachzuahmen, ein Regiment 
mit ganz vorwiegend adlichem Offizierkorps zu machen fucht. Das 
ift ein unbayriſches und höchſt unkinges Beginnen, unter hieſigen 
Verhältniſſen und angefichtS der wachſenden piutofratiichen Ver⸗ 
bindungen biejed Adels fogar nicht unbedenklich. 

Der bayriſche Beamtenftand hat immer das Lob der Ehr⸗ 
lichkeit, der Unparteilichfeit und eines Vorgehen! nad) dem Grund⸗ 
fag „Recht und Billigkeit“ verdient. Er enthält jehr viel In⸗ 
telligenz, bie ſich aber nicht immer jehr hervortut; und das 
Verdienſt macht bis zu ben Spigen feinen Weg, wobei manchmal, 


Altbayrifche Wanderungen 289 


wie fo ziemlich überall, Verwandtihaft und Freundſchaft un- 
merklich oder auch merklich nachhelfen. Die höhern Berwaltung3- 
ftellen find hier nicht das Erbteil einer anjpruch8vollen Ariſto⸗ 
fratie geworben, wie in manden Teilen Norddeutſchlands; und 
zum Wohl bes Landes. Um Beamte von höchſter Bildung und 
im beiten Sinne bürgerlichen Auftreten, wie den verftorbnen 
Ziegler, Negierungspräfidenten von Oberbayern, oder den nod) 
rüftig arbeitenden Yinanzminifter Riedel Tann manches deutiche 
Land Bayern beneiden. 

Bayern und das Reich! Beſteht wirklich die Reichsverdroſſen⸗ 
heit, von der uns die Berliner Blätter legten Sommer (1897) 
zu unterhalten wünjchten? Ja, fie beitebt, und zwar ift ihr 
Dafeinsrecht hier genau dasjelbe wie anderswo das des „Rackers 
von Staat.“ Der Bayer liebt fein Bayern warın, weil das fein 
Mutterboden ift, des Franken Liebe ift jchon weniger warm, 
weil er dieſem Königreich erft |pät eingegliedert worden ift. Ja 
ich weiß einen oberfrämfiichen Winkel, wo die preußilhen Sym⸗ 
pathien aus andbach-bayreuthilcher Zeit noch recht Iebendig find. 
Das findet man begreiflih. Iſt es nicht natürlih, daß man 
auch an die Liebe zum Neich gewöhnt werden muß? Es wäre 
töricht, mehr zu verlangen, als die aus verftändiger Erwägung 
bervorgehende Erkenntnis von dem Wert der Zugehörigkeit zum 
Neid. Man darf kühn behaupten, daß diefe von Jahr zu Jahr 
jtärfer geworden tft und immer noch zunehmen wirb, während 
ſich allerdings die nationale Begeifterung der Jahre nad) 1870 
nicht jo fortgepflanzt Hat, wie man einft hoffen mochte. Der 
Kulturfampf, die innerpolitifchen Fehler der nationafliberalen 
Partei, die früher in Bayern faft die alleinige Trägerin dieſer 
Begeifterung war, die wirtichaftliche Entwicklung mit ihren Ent- 
täuſchungen für Bauern und Bürger, da8 Steigen der Volks⸗ 
lajten, da8 „Wapperigefeg” und jo manches andre hat ernüchternd 
gewirkt. In die Lüden der alten nationalliberalen Führer ift 
fein gleichwertiger Erſatz eingerüdt. Doc das ift eine Erichei- 
nung, die nicht auf Bayern befchränkt iſt. Biel zu viel Wert 
legt man in Norddeutihland dem Siglſchen „Vaterland” umd 
ähnlichen Organen bei, die einem Preußenhaß Ausdrud geben, 
der nur bei einigen extremen Politikern bejteht. Diefe in Bayern 
jelbft größtenteils übel berüchtigten Leute vergrößern die ftille 
Abneigung, der preußiiches Weſen in ganz Süddeutſchland be- 
gegnet, die aber viel mehr Gemüts- als Verjtandesfadhe ift. Der 
Beritand erkennt die Verdienſte an, die fich Preußen um Deutfch- 

Natzel, Glücksinſeln und Träume 19 


290 Altbayrifhe Wanderungen 


land mit Einfluß Bayern? eriworben bat, da$ Gemüt fühlt fich 
zurüdgeftoßen von jo mancher Charaktereigenichaft der Nord» 
deutfchen und befonderd der Norboftdeutichen; gerade mehr Aufer- 
liche Fehler, wie Eitelkeit, Geichwägigfeit, Prahlerei, Überhebung, 
itoßen am meiften ab. Tüchtige Preußen und dag Tüchtige an 
den Preußen haben die ernfthaften Leute in Bayern jederzeit 
anerkannt. Kann man ed aber einem Stamme von jo auöge- 
prägter Eigenart verdenfen, wenn er fich gegen die Schmälerung 
feines Rechts, nach feiner Art zu feben, mit allen Mitteln wehrt? 
Die Norddeutichen, die jetzt alljährlih fo zahlreich ind Land 
fommen, follten doch etwas um fich fchauen, damit fie begreifen 
lernen, daß feinem deutſchen Stamm die Gleichmacherei jo von 
Natur aus zuwider fein muß wie dem bayrijchen, und daß es 
viel mehr im Intereſſe Gefamtdeutichlands liegt, eine geſunde 
Eigenart zu pflegen, wo fie noch ift, als unorganiihe Auf⸗ 
pfropfungen aufzuzwingen. Das Beilpiel Badens, das feinen 
zu raſchen Anſchluß an Preußen mit einer latenten immerfort 
wachjenden Unbehaglichkeit und Unzufriedenheit in allen Schichten 
des Volkes erfauft bat, jollte zur Warnung dienen. Natürlid) 
denke ich bei diefen Bemerkungen nicht in erfter Linie an die 
paar NRefervatrechte, jondern an die allgemeine Achtung des 
Rechts auf eigned Leben unter eignen Bedingungen. 

Bon den vielbejprochnen Reſervatrechten möchte ich nur die 
Poſt erwähnen; die ift typilch für die Stellung des Volkes zu 
diefen Dingen. Die bayriſche Poſt bedient ihr Publikum billiger 
al8 die Neichöpoft und ift darauf bedacht, wie bejonderd das 
vortreffliche Landpoftweien zeigt, feine begründete Anforderung 
unbefriedigt zu lafjen. Die Poſt kann fogar ale die öffentliche 
Einrihtung Bayerns bezeichnet werden, die am wenigſten zu 
Ausstellungen Anlaß gibt. Sollten nun auch einmal ımjre Poſt⸗ 
marken ftatt der Löwen den Adler tragen, jo wäre doch unter 
allen Umſtänden der bayrifche Boftillon zu ſchützen. Der gehört 
zur Landidhaft. Die preußiiche Poſt hat den guten alten Roftillon 
ſchlecht zurechtgeftugt. Man ſehe nur dieje fteife Zivilpickelhaube 
mit der jparfamen Andeutung eines Haarbüfchleins, und die trübe 
dunfelblaue Uniform mit den grell ziegelroten Auficjlägen. Was 
für ein andrer Kerl ift da ein bayriſcher Boftillon mit feinem 
hellblauen Arad, feinen weißen Lederhofen und feinen hoben 
Stiefeln! Mit Recht verehrt die ganze Anwohnerſchaft einer 
Landſtraße ihren Poſtillon und ift ftolz auf ihn. Und aud er 
kann Stolz fein: Kaulbach und Schwind haben ihn veravigt, und 


Altbayrifche Wanderungen 291 


Karl Stieler hat ihm einen feiner feinſten Aufſätze gewidmet. 
Wenn er an Feiertagen in Blau und Silber und mit weißen 
Federbuſch am Hut auffährt, ziert er die ganze bayriſche Welt. 
Er repräfentiert den Staat beſſer als ein Didbaud) von Minijter 
in Frack und Degen. Kein Wunder, wenn er ein beiterer Gejell 
ift, zu dem wir und auch dann Hingezogen fühlen, wenn er von 
feinem Bod herunter „ſakriſch“ Flucht und wettert. Er iſt eben 
doch fchon äußerlich Fein Alltagsmenſch wie der Reichspoſtillon, 
und in ihm hat ſich noch ein Stüd. Reiſepoeſie in die Gegen- 
wart gerettet. Kurz, für den bayrifchen Reſervatspoſtillon müßte 
eigentlich jeder Deutfche von Geſchmack eintreten. 

Vergeſſe man doch nicht über dem Streit um Äußerlich- 
feiten und Außerungen, daß die ganze Kulturentwicklung Bayerns 
jeit einem Sahrhundert daB Volk immer mehr an dag übrige 
Deutichland angenähert und angeichlofjen hat. Vor Hundert Jahren 
war Bayern eine Welt für fi. Und heute? München teilt ſich 
mit Berlin in die geiftige Führung Deutichlands, der wirtjchaftliche 
Zujammenhang ift nicht mehr aufzulöjen, die Gemeinſamkeit der 
politiichen Intereſſen und Gefahren ift unter all dem Hader der 
Parteien immer mehr gewachfen, der Bund mit Ofterreidh hat 
ſogar leidenſchaftliche Großdeutiche verjöhnt. Ob Deutichland mehr 
gewonnen hat durch den Wiedereintritt ſeines Südoſtens in das 
gemeinjame Qeben, oder ob Bayern der Niederlegung der Dorn- 
töschenhede, hinter der e& ſich abgefchloffen hatte, mehr zu danken 
bat, wollen wir nicht entjcheiben. Das eine aber fteht für jeden 
feit, der Land und Volk und die Geichichte des Volkes Tennt, 
daß Bayern auf daß übrige Deutſchland angewieſen ift, und daß 
man das bier überall recht gut weiß, wo überhaupt politiiches 
Urteil zubauje if. Die Bedeutung Bayern? für Deutichland 
wird Dagegen im „Reich“ nicht jo gewürdigt, wie man wünſchen 
möchte. Bayern wird zwar wie ein Eckſtein angejehen, der Die 
Süpdoftleite des Reichs Fräftig ftüßt, für viele ift aber Altbayern 
nichts al8 ein Ballaft, der das Reichsſchiff beſchwert. Das find 
echt Heindeutfche Anjchauungen. 

Bayerns Stellung fann nur aus einer großdeutichen Auf- 
faffung verftanden werben, die feine geographiiche und Stammes- 
verbindung mit dem bayriichen Stamm außerhalb Deutfchlands 
würdigt. Es iſt der Übergang zu den alten Bayerngauen in 
den Dftalpen und der mittlern Donau und der Übergang von 
den Süddeutfchen des Weftens, mit Einjchluß der Schweizer, zu 
denen des Oſtens, endlid das Bindeglied zwilchen Deutichland 

19* 





292 Altbayrifhe Wanderungen 


und Stalien. Da alle dieſe Beziehungen über die politifchen 
Grenzen hinauswirlen und durch Wechielitröme wirtichaftlicher 
und geiftiger Art die Völler immer mächtiger auflodern, in Be 
wegung ſetzen und einander entgegenführen, jo wirb das innere 
Leben und Wachſen eines Bandes wie Bayern bon weitreichender 
Bedeutung. Für jeden, der des Glaubens lebt, daß Deutichlands 
Yaterefien und ®irkungsiphären in Europa mit dem militärifchen 
ewicht und ber teuer erfauften inbuftriellen Übertegenheit 
noch lange nicht beſchloſſen und feftgelegt find, und daß in ihrer 
Ausbreitung den beftehenden Nachbarſchaftsverhältniſſen eine vor⸗ 
bereitende Rolle zugeteilt ift, find die bayrifchen Zuftände und Ent- 
wiclungen eine wichtige gemeindeutfche Angelegenheit. 


vr 








Das deukſche Dorfwirtshaus 
X 





1 


Über daS beutiche Bauernhaus iſt ſchon viel gefchrieben 
worden. Auch über die Häufer der Bürger, über Burgen und 
Schlöſſer, Bahnhöfe, Rajernen, Spitäler und viele andre Gebäude, 
befonder auch über alte Häufer gibt es eine große Literatur. 
Wie kommt es, daß gerade über dad deutihe Wirtshaus fo 
wenig geichrieben worden ift? Iſt es doch für unſre Vollsart 
und unjer Volksleben jo bezeichnend! Das Wirtshaus gilt bei 
und mehr und iſt auch bei und mehr als bei irgendeinem 
andern Volle. Es fteht höher und übt einen größern Einfluß. 
Nirgends lernt der fremde fo viel von dem Leben und Trachten 
eined Boll im Wirtshaus kennen wie in Deutichland. Seine 
dumpfen Räume erjegen und Deutichen jogar einen großen Teil 
von dem, was die Agora den Griechen war. Bringt doch die 
Politik mit Verfammlungen und Wahlen fo in die Wirtähäufer 
ein, daß manches heutzutage mehr Disfuffiond- und Agitationg- 
mittelpuntt ift als Wirtshaus in dem guten alten Sinne. Wenn 
ich Hinzufüge, daß auch unfer gejelliges und unjer Einzelleben fehr 
ftart vom Wirtöhauß beeinflußt wird, fo fage ich das im Guten 
und ohne an einen Vorwurf zu denken. Schreibe ich doch dieſe 
Beilen auf der Holzbant neben der gaftlihen Tür eines länd⸗ 
lichen Wirtshauſes, das mich fat wie ein zweites Heim alljähr- 
lich freundlich empfängt. Bin ich doch ein Deuticher, der einen 
guten echten Trunk mit Freunden oder finnig allein als ein 
Hohes Gut ſchätzt. Wie auf manches andre im deutichen Lande, 
fo bin ih audy auf unſre guten, ehrlichen Wirtshäufer ftolz. 
Wenn fie dem Mißbrauch unterliegen, fo iſt das eine Eigenſchaft, 
bie fie mit allem Guten diefer Erbe teilen. Gerade das iſt 
Ihön am deutichen Wirtshaus, daß es für den offnen und mäßigen 
Genuß in Speife und Trank, womöglich nicht ohne Behagen an 
mwohltuenden Räumen oder an gaftliher Naturumgebung da ift. 





296 ‚Das dentfhe Dorfwirtshaus 


Nicht dem Gewöhnlichen, fondern dem Beſſern in unferm Leben 
ſoll das Wirtshaus dienen. In einem guten Wirtshauſe follen 
die Säfte vergefien, daß fie nicht zuhauſe find. Der Wirt oder 
die Wirtin an der Spitze ded Wirtstifched will den wechſelnden 
Bäften die Illuſion des Familientiſches gewähren. Dieje Sitte 
ift allerding3 in Frankreich, befonder8 auf dem Lande, weiter 
verbreitet als in Deutichland, aber fie verdient namentlich wegen 
des günjtigen Einfluſſes auf die Küche gelobt zu werden. Der 
Gefahr eines allzu offnen Wortes ſetzt ſich der Wirt babei frei- 
li aus, ebenjo wie der Gaſt der einer etwas peinlichen Lage, 
wie ich fie vor einigen Jahren einmal in Saalfeld erlebte. Dort 
ſagte ich zu dem Wirte, der gerade jo außfah wie die Gejchäfts- 
reifenden, die da herum faßen: Finden Sie es nicht eigentlich 
geihmadlos, ein Mittageffen aus fettem Rindfleiſch, Schweins⸗ 
knochen und Gänfebraten zufammenzujfeben? Antwort: Ich bin 
der Wirt. Mir iſts ganz recht, wenn Sie einen Gang über- 
fchlagen, denn andre efjen für zwei — Unfern ländlichen An⸗ 
ſchauungen entipricht e8 vielleicht mehr, daß fih die Wirtin, wo fie 
überhaupt noch ſelbſt kocht, in frijcher, weißer Schürze und mit 

rötetem Autlitz nach dem Appetit ihrer Gäfte erkundigt 
und freundlide Mienen und Worte gewiflermaßen als lebten 
Gang bietet. Dazu gehört freilich da gute Gewiſſen der „pers 
fekten“ Köchin! 

Sn der beutichen „Trinflemenate* ſchwebt uns ein Ideal 
bon gemütlicher @ejelligfeit vor, wie ed im deutſchen Mannes⸗ 
herzen lebt, und der Speiſeſaal eines engliichen Inn von gutem 
altem Schlag kommt dem feinen Behagen bed englüchen Innen⸗ 
lebens jo nahe wie möglich. Es kann und fol ja nicht anders 
fein, als daß das beite Wirtshaus noch tief unter einem guten 
„Heim“ fteht. Aber wie groß ift auf der andern Geite die 
Zahl derer, die in ihren engen, Dumpfen Räumen nie das Be 
bagen finden, das ihnen jchon eine Bierftube niebern Ranges 
bietet! Die Schöpfung von Bierpaläften, die die äußern Bilder 
unjrer Städte fo jehr beeinflußt, führt dem Leben weiter reife 
einen Strom von Behagen zu, worin manchmal auch feinere 
äfthetiiche Genüffe find. a fih die Daprifdien Bierfeller nach 
Franken und an den Oberrhein auöbreiteten — es war vor 
etwa vierzig Jahren —, da wurde das Leben der Kleinſtädter 
bereichert; fie ließen ſich nun an ſchönen Sommerabenden mit 
ihren Frauen unter dem künftigen Schatten junger Roßkaſtanien 
nieder. Glücklicherweiſe hatten die Nachahmer den Bayern auch 


Das deutſche Dorfwirtshaus 297 


den feinen landichaftliden Sinn abgegudt, mit dem dieſe ihre 
„Keller“ an herrlichen Ausfichtöpunkten anzulegen pflegen. Der 
Spießbürger wunderte fi, indem er fein Bier tranf, nicht nur 
über die merklich beſſere Verwertung des trefflichen Schweßinger 
oder SHagenauer Hopfens, die die bayriſche Schule eingeführt 
hatte, jondern auch über die Reize feiner Landichaft, die ihm 
nie jo fchön vorgelommen war. Nicht überall gibt es freilich 
eine fo jchöne Lage wie in Traunftein, wo mir von meinem 
Gaſftfreund der Kollerteller als ber Ichönfte Keller in Europa 
gerühmt wurde. Der Blid auf die Berge von Ruhpolding. ift 
allerdingd wundervoll, bejonder8 wenn er mit dem Bid auf 
einen vollen Maßkrug abwechſeln Tann. Wären nicht einige 
leichte Schatten, die diefe beliebten Bierhügel über die Städte und 
Städtdden Hinwerfen, wo die Leute um jo anſpruchsloſer wohnen, 
je näher und je billiger fie diefen gemeinfamen Erholungsplag 
haben, jo möchte man von dem „Bierkeller als Schule des Na⸗ 
turgenuſſes“ mit ungemilchtem Behagen ſprechen. Auch bin id) 
bereit, jedem Literaturmenichen, der den Naturfinn von Rouffeau 
an datiert, nicht bloß die Herrliche Lage mancher uralten Ka— 
pelle und Kirche, jondern die Ausſicht von jo manchem altbe= 
rühmten Vergwirtshaus oder von der Bank vor einem Fähr⸗ 
haus am Rhein zu nennen und ihm damit zu zeigen, daß das 
Naturgefühl nicht in dem Augenblick erfunden wurde, wo fidh 
ein Dichter hinſetzte, um eine Ausficht zu bedichten; ebenſowenig 
wie dag deutſche Gaſthaus erft würdig war, bejungen und ge- 
rühmt zu werden, als Leifing feinen Eöftlihen, von dem wadern 
Juſt jo tief veracdhteten Wirt in der Minna von Barnhelm ein- 
geführt Hatte, und Goethe fein Dorfwirtshaus von Wahlheim 
mit den zwei Linden, unter deren außgebreiteten Aften („fo ver⸗ 
traulich, jo heimlich Hab ich nicht leicht ein Pläbchen gefunden“) 
Werther feinen Kaffee trinkt. 

Die Ausflüge auf dad Land, deren Ziel ein gutes Wirts⸗ 
haus ift, gehören zum beutfchen Leben. Sie machen es genuß- 
reich, beeinfluffen es aber auch in andrer Beziehung mehr, als 
man denkt. Es ift die Nüdlehr der Stadt zu dem Lande, aus 
dem bie Stadt herausgewachſen ift. Die arme Stadt! Solange 
die beutfchen Städte noch ihren Kranz von Adern und Gärten 
hatten oder nicht jo weit hinausgerüdt Hatten wie jebt, um⸗ 
Ichloffen viele felbft fo viel Land, al fie zum Atmen und zur 
Freude am Leben braudten. In Stuttgart oder Karlsruhe, 
jo gut wie in Kleve oder Brieg, beſaß vor fünfzig Sahren der 








298 Das dentiche Dorfwirtshans 


Heine Bürger und Beamte feinen Garten vor dem Tor, wenn 
nicht fogar vor dem Haus, und die Frau des Tagelöhners be- 
baute einen Uder mit Kraut, Kartoffeln, Rettichen und Obſt, 
wovon nur ein Zeil verkauft wurde Am Sonntag Nachmittag 
auf feinem eignen Land leichte Arbeit zu tun und bann auf 
dem Bäntchen vor der bohnenumrankten Holzhütte zu felbft- 
gebautem Rettich einen Krug Moft oder Bier zu leeren, war 
eine Erholung, bei der e8 dem Holzhauer nicht einfiel, über das 
Wohlleben andrer Betrachtungen anzuftellen. Jetzt gibt e8 eine 
Menge von Wohlhabenden, die ihr Leben in einem ſchmutzigen 
Miethaus und im Anblid von ebenſolchen abftoßenden Backſtein⸗ 
höhlen verbringen, und denen Raſen und Bäume nur leihweife 
zugänglich werden, wenn fie eine ftaubige und Toftipielige Eifen- 
bahnfahrt aufs Land unternehmen. Die Stäbte find über Die 
einjt grünen Flächen hingewachſen, und die Nachlommen derer, 
bie dort gewohnt haben, juchen jetzt ihre Erholung in den balb- 
ländlichen Wirtshäuſern der Vorftädte, wo fie unter Schutt und 
Neubauten ſchon Natur zu finden glauben. Es ift eine ärm⸗ 
fichere und doch koſtſpieligere Erholung, aber gerade auf fie 
wird unſer Volk nicht verzichten. Und ift fie nicht immer noch 
gejünder ala viele andre? Wenn in Deutichland dem minder 
begüterten Dann immer noch ein größeres Maß von Lebens 
freude vergönnt ift al8 in den meiften andern Ländern Europas 
und Amerilas, jo Hat daran das Ländlide und halbländliche 
Wirtshaus feinen nicht zu unterfchäßenden Anteil. Je weiter 
die Wege, je größer die Anziehung des Waldes und der Wiejen 
mit ihren Blumen und Früchten, je jchöner die Ausblicke, defto 
mehr tritt der materielle Genuß in den Hintergrund, befto 
unfchädlicher find die Getränke, mit denen ein wohlbegrünbeter 
Durſt geitillt wird, deſto vollftändiger ift die Erholung, an der 
doch in vielen Fällen aud die Yamilie teilnimmt. 

Ein Höhepunkt wirt#häuslicher Entwicklung tft in den Reftau- 
rationen an Ausfichtöpunkten erreicht, wo ein feines Weges und 
bed Lohnes feiner Mühe frohes Publikum verkehrt. Hier ift an 
ſchönen Tagen ungeheurer Durft zu bewältigen, mährend Die 
Küche Kalt zu fein pflegt. Aber Wirt und Kellner dürfen bier 
nicht nur für die Gewährung materieller Genüſſe vorbereitet 
fein, man verlangt von ihnen Naturgefühl und Orientierung. 
ft feine Orientierungstafel vorhanden, dann wohnt ihnen fogar 
eine hohe Autorität inne, auf die man ſich allerdings nicht blind 
verlaffen darf; benn diefen Kellnertopographen fommt e8 bisweilen 


Das dentfche Dorfwirtshaus 299 





nicht darauf an, die Berge bunt am Horizont Durcheinander zu 
werfen. Nur bie Stäbte und die Kirchtürme halten fie feit, denn 
Darin werden fie fontrolliert. Will doch jeder Gajt feinen heimat- 
lichen Kirchturm wiedererfennen. Es gibt in Deutſchland Städte, 
die man ſich ohne ihre Ausflugöberge gar nicht mehr denten kann. 
Daß diefe Höhen immer mehr auch im Winter bejucht werden, 
wo die Mühe größer, aber der Ausblid heller zu fein pflegt, 
bezeugt die Vertiefung des Naturgefühle. Ausſichtstürme find 
auf manchen wohlgelegnen Bergen lange vor der Begründung 
der Gebirgävereine und Touriſtenklubs von Menfchenfreunden 
errichtet worden, die ihren Mitbürgern eine geſunde Freude zu- 
gänglicder machen wollten. Natürlih übt immer der ruinen- 
gefrönte Berg eine beſondre Anziehung aus, auch wenn es fein 
Heidelberger Schloß ift, und fo gibt ed denn in Deutfchland 
bald feine Ruine mehr, die nicht wenigftend mit einer Sommer- 
wirtihaft verbunden wäre. Die einft einfame Rudelsburg tft 
feit Jahren an Sonntagen mehr Bierwirtichaft ald Ruine, und 
auf den alten Schlöfjern von Heidelberg und Baden find Reſtau⸗ 
rationen „erjten Ranges“ eingerichtet. Matthiſſon würde bort 
heute, trog der mehrfach in alten Mauerlöchern angebrachten 
brummenden Aolsharfen, auch beim fchlechteften Wetter nicht bie 
Ruhe und Stimmung zu einer „Elegie in den Mauern eines 
alten Schloſſes“ finden; dagegen würden die hohen Preije und 
der öde Luxus feine Seele vielleicht zu einen Klagelied von der 
Länge eines abjchredend ſplendid gedrudten „Menu“ ftimmen. 
Yür den Freund der Einjamlkeit find diefe Orte entweiht. 
Und jo Hat ja auch der Naturfreund den Erguß ſonn⸗ und feft- 
täglicher Vergnũgungswallfahrer in die ftillen Wälder und Täler 
zu beflagen. Was die Menge an ziemlich oberflächlichem Natur⸗ 
genuß geivinnt, geht dem Einzelnen an tiefern Eindrüden ver- 
loren. Die Sadje will aber nicht egoiſtiſch betrachtet werden, 
fondern wir müſſen bie Steigerung des Erholungsbedürfnifies 
in Betracht ziehn, an der vor allem bie jtädtiichen Menjchen- 
anhäufungen ſchuld find. Man hat die Leute hereingezogen in 
die Städte, wo fie Mangel an Licht und Luft leiden. Die In⸗ 
duftrie, der Handel wollten es jo, und die andern fchauten dieſen 
Buftrom lange Zeit mit Vergnügen an. Wenn ed nun bie Zu⸗ 
ſammengepferchten an ihren jpärlichen Feiertagen ins Freie hinaus⸗ 
treibt, fo find die Unbequemlichkeiten, Die fie damit den ftillern 
Naturfreunden bereiten, Klein im Vergleich mit denen, die fie 
jeldft ihre jauern Wochen hindurch zu ertragen haben. Laßt 








300 Das deutfche Dorfwirtshaus 


fie dieſe Laft ſtädtiſcher Eingefchlofienheit abjchütteln ımd freut 
euch, daB fie nicht die bequemern Erbolungen in ftädtiichen 
Kneipen und Singipielhallen vorziehen! Begreift, daß das länd- 
lihe Wirtshaus bei unjerm Stand ber Bevöllerungsanhäufung 
als Hillige und unfchädliche Erholungsftätte eine Wohltat ge 
worden iſt! 

Legt einmal die Scheu vor der Berührung mit der „Mafje“ 
ab und geht an den Pfingittagen ins Freie, wo ſich euch Die 
aus allen Städten berausflutende Bevöllerung zeigt, die ſich 
frühlingsmäßig heiter, wie ſonſt nie, außftaffiert hat und fich 
alle Mühe gibt, heiter zu fein, weil fie SHeiterfeit zu finden 
hofft. Ich freue mid über die Männer mit abgearbeiteten 
Mienen, die heute einmal wirklich Felertag machen. Sie fühlen 
fih aller Pflicht Iedig. Der grüne Zweig am Hute verfinnlicht 
den feeliihen Mitbefit an Gottes freiem Walde, den fich fein 
Deutſcher abftreiten läßt. Einige deuten ihre Unternehmungsluſt 
durch eine mit „Kornjad” gefüllte Neifeflafche an, bie fie über 
ihren feierlichen Bratenrod gehängt haben. Andre bemerken am 
Eingang eine Ausſichtsturms, deſſen Beſteigung zehn Pfennige 
toftet: Nee, das Geld legen wir in Bier an und für dich Olle 
(zärtlich) in Kaffee. Ich freue mich für die würdigen Gattinnem, 
die in ihren Sonntagslleidern entweder furchtbar ſchwitzen oder 
entiprechende Angft außftehn, daß fie vom Regen durchnäßt 
werben möchten. Gar nicht zu reden von der Angft um das 
Zamilienportemonnaie, das fie in der Hand des feftlich heitern 
Gatten heute nicht ganz ficher aufgehoben glauben. Ich freue 
mid) am allermeiften über die Kleinen Mädchen, die in weißen 
Kleidern, weißen Strümpfen, hellen Schuhen und bunten Sonnen 
ſchirmchen wie Schmetterlinge umberflattern, ſich wechfeljeitig be⸗ 
grüßen und beguden. Das reine Glüd, dad durchaus feine Luft 
bat, fi) von dem ſchon grollenden Pfingitgewitter trüben zu lafſen! 
Draußen find die ländlichen Erbolungsftätten, mit Maien und 
Blumen geſchmückt, bereit, Tauſende zu tränfen und zu ſpeiſen. 
Nachmittags erihallt Muſik im Garten, und Abends folgt ber 
unvermeidlide Tanz. Wenn id; daran denke, wie in Frankfurt 
am dritten Pfingittag Hoch ımd Niedrig in den Wald zieht, um 
den „Wälbchestag” im friichen Grün zu feiern, oder in München, 
wo am Pfingftmontag alles, was von der niedern Bevölkerung 
fahren oder gehen ann, die Raldwirtichaften von Großheſſellohe 
und Pullach aufſucht, jo freue ich mich diefer Erholungen, ala 
ob ich fie ſelbſt mitmadhte. 


Das deutfche Dorfwirtshaus 301 


Es fällt mir dabei ein, wie ih an einem Frühlingsſonntag 
voll Sonnenfchein und Regenſchauern vor plötzlicher Durchnäflung 
im Torgang eined Wirtshauſes bei London Schuß ſuchte. Die 
Wirtſchaft ſchien verfchloffen. Nach mir famen aber andre Männer 
berein, die das „Sejam“ wußten, das ſolche Türen öffnet. Sie 
Hopften unb riefen Traveller, worauf, da dem Geſetz Genüge 
geleiftet war, da3 nur dem „Neifenden” am Sonntag geiſtiges Ge⸗ 
tränt erlaubt, durch die Türfpalte die gewünschte Erfriſchung, in der 
Negel ein Schnaps, herauswanderte. Ich biu fonft ein Verehrer 
der englifchen Sonntagsruhe; foweit fie den Lärm der Städte 
zur Ruhe bringt, ift fie eine körperliche, moraliſche und äſthetiſche 
Wohltat. Aber wenn fie dem Städter die Ländliche Erholung 
verichließt, übt fie einen törichten und graufamen Zwang aus. 
Sn England ift nun die Umgehung bed Verbotes, am Sonntag 
Erfriſchungen zu verkaufen, auf den finnreichiten Wegen möglich, 
die dem anglofeltiichen Erfindungsgeift ein glänzendes Beugnis 
ausftellen. Auch in einem Temperenzitante Nordamerilas, wo 
man noch nicht jo weit war, begegnete e8 mir vor einigen Jahren, 
daß ih mit einem Lolalzug, der Sonntagsruhe Hatte, bis zu 
einer einſamen Waldftation fuhr. Da hieß es nun den Sonn- 
tag zubringen. Um das trodne Biskuit und den falzigen Sped 
möglichft gut anzufeuchten, tvanderte man zur nächiten Anfiedlung, 
wo der Arzt für ſolche Fälle den erichöpften Reiſenden eine 
beliebige Menge Bier oder Wein verfchreibt, genau in der ber- 
gebrachten Nezeptform, aber zu etwas billigern Taxen. Ich 
dachte an den alten Proviſorenwit;: Recipe et misce: Stiefel- 
wid et mel rosatum. Der Sünger der Heillunde Holt die 
Arznei aus feinem fühlen Medizinalfeller und ift gern bereit, 
dem Reiſenden bei ihrer Vertilgung Gejellichaft zu leiften, natür- 
fi in einem der Straße möglichit abgemandten bunfeln Bimmer, 
das fi zum ſonntäglichen Kneiplokal zahlungsfähiger Nachbarn 
entwidelt hat. Alſo bier machen die Sonntagögejeße den Arzt 
zum Bierwirt! 

Ich ziehe die andre Verbindung des gaftwirtlicden und ärzt⸗ 
lien Berufd vor, die fich ganz von ſelbſt auß der Natur des 
Gaſthauſes als Raſt⸗ und Erholungshaus ergibt. Sie ift ebenfo 
wahr und menjchlich, wie jene amerifanifche verlogen und ver⸗ 
zerrt if. Was ift dad Haus des Wirteß für fo manchen 
Kranken, der fern von der Heimat Genefung fucht! Wieviele 
Werte der Barmherzigkeit werden jahraus jahrein von den Wirten, 
ihren Familien und Bebienfteten plötzlich Erkrankten oder, be- 





302 Das dentfche Dorfwirtshaus 


uni —— 





ſonders im Gebirge, Berunglüdten geleiftet! Auf einzelne Fälle, 
in denen übermäßige Rechnungen dafür gefchrieben werden, kommen 
zahlreiche Samariterdienfte, von denen nichts befannt wird. In 
den zahlreichen Bädern, Rurorten und Kuranftalten Deutfchlands, 
Öfterreih8 und der Schweiz zeigt ſich die hoipizartige Funktion 
des Wirtöhaujed von der beften Seite. Sie gliedert fich hier 
allerdings einer großen Reihe von Vorkehrungen zum Wohl und 
Wohlbehagen leidender und gejunder Menſchen ein. Boch erreicht 
gerade in unjern Badeorten das deutiche Wirtshaus einen feiner 
Höhepunkte. Wenn die Entwidlung eine® Baden-Baden oder 
Wiesbaden überhaupt eine bewundernswerte Leiftung der Für⸗ 
forglichleit, der Intelligenz und des Schönheitsfinnes ift, fo tragen 
die großen internationalen Hotel an ſolchen Pläßen neben den 
andern Anlagen und Bauten ebenjoviel dazu bei, wie in ben 
Heinern Bädern die beicheidnen Badegafthäufer, die zum Teil 
noch in die menjchenfreundlichen legten Jahrzehnte des achtzehnten 
Jahrhunderts zurüdreichen, die jo manche Heilquelle gefaßt und 
fo manchen Waldweg um unjre Gebirgöbäder gezogen haben, und 
in die auch die Anfänge unfrer Seebäder zurüdreichen. Damals 
find jene freundlichen weißen Badehäufer, Logierhäufer und Wandel⸗ 
bahnen gebaut worden, die gewöhnlich im Bogen die Duelle um⸗ 
geben. Ihr einfacher Stil, eine Berbürgerlihung des Schloßftils 
Ludwigs des Sechzehnten, mutet und ſehr behaglih an. Im 
Gegenjag zu andern Gaſthauszimmern find ihre Räume groß, 
nicht hoch, und haben wenige aber breite Fenſter. Das Ganze 
ft von Parkanlagen umzogen, an deren Abſchluß fi in 
einer jchattigen Rotunde, von Steinbänlen eingefaßt, ein ver- 
moofter Denkftein erhebt, auf deflen einer Seite der fürftliche 
oder gräfliche Eigentümer feinen Gäften ald milder Wirt den 
Segen der Duelle wünſcht, während die andre altmodiſch ver- 
traulich-beredfam dag wichtige Jahr und die Umftände diefer Er⸗ 
neuerung fommenden Gefchlechtern verkündet. Zauperlen in dem 
Moos des alten Steine glänzen ung wie alte Tränen menſchen⸗ 
freundlichen Mitgefühl an. Gute Zeiten waren das doch! 


2 


Das Dorfwirtöhaus gehört in erfter Linie dem Dort, in zweiter 
erft dem Verkehr, der die Dorfftraße durchzieht; der Verkehr 
macht es zum Gaſthaus. In abgelegnen, verlehrsarmen Gegenden 
hängt beshalb feine Güte, ja fein Dafein von den Anſprüchen der 


Das dentſche Dorfwirtshaus 303 


Dorfbewohner ab. Es hat bis vor wenig Jahren in manchen 
Teilen Deutichlands Dörfer gegeben, die überhaupt feine Wirts- 
häujer hatten, weil der Verkehr feine ind Leben rief, weil ſich 
die Bauern mit einem alten Baumjtamm vor dem Rathaus als 
Beratungsbant begnügten und ihren Durjt mit dem Haustrunk 
ftillten. Auf dem Yläming, dem jandigen Höhenrüden, der von 
der Gegend von Magdeburg nad) der Niederlaufit zieht, hat die 
Verwaltung im Intereſſe des machjenden Verkehrs erft neuer- 
dings in einzelnen Dörfern die Gründung von Heinen Gafthäufern 
anregen müflen. Häufig find die WirtShäufer, die Leine befondern 
Sremdenftuben haben, weshalb die befjern Gäfte in dem beften 
Bimmer der Wirtsfamilie untergebracht werden. In dem wunder⸗ 
bar jtillen Sibratsgfäll im Bregenzer Wald fchlief ich fo einmal 
in Gejellichaft der in Wachs nachgebildeten, früh verjtorbnen 
Kinder des Hauſes wie In einer Gruft oder einem Kleinen Tempel 
des Seelenkults. Aber Deutfchland ift doch faft in allen Zeilen 
von Verfehrsäderchen jo weit durchzogen, daß der Wandrer in 
allen größern Dörfern Stärkung und zur Not auch Unterkunft 
finden kann. Auf die Gaftfreundichaft der Gutshöfe, Pfarrer ufm. 
angewiefen zu fein, daß beginnt erft im polnischen und ungarifchen 
Diten. Nur als ein Reſt vergangner Zeiten bat ſich in einzelnen 
Teilen Süddeutichlands der Anſpruch der „Studenten“ auf Be- 
wirtung im fatholiichen Pfarrhaus, zur Not auch auf Unterkunft 
und Viatikum erhalten; manche geiftlihe Herren werben dadurd) 
ganz gehörig mitgenommen, und ich habe im Algäu Klagen gehört 
über die große Anzahl von reifenden Gymnafiaften und Theologie- 
ftubierenden, die allſommerlich in die Pfarrhöfe einfallen. Daß 
der beutfche und der öfterreichiiche Alpenverein an den bejuchteften 
Orten der deutfchen Alpen einzelne gute und billige Gafthäufer 
zu „Studentenherbergen“ erklärt hat, wo die wanderluftige ſtu⸗ 
dierende Jugend billige Behrung und Unterkunft findet, ift eine 
fehr löbliche Erneuerung des alten Rechts fahrender Schüler auf 
Erleichterung ihrer Reife. 

So verſchieden in unſerm Lande der Verkehr war und ift, 
fo wenig gleichen einander feine Wirkungen auf die Wirtöhäufer. 
An Süd⸗ und WVeftdeutichland mit feinem alten und weitreichenden 
Verkehr find ſchon früh aus dörfliden WirtShäufern Verkehrs⸗ 
ftätten, echte Gafthäufer geworden. Kein deutſches Gebirgsland ift 
fo reih an großen, guten Gajthäufern wie der Schwarzwald mit 
feinen Induſtrieorten und feinem alten, mächtigen Holzhandel. Hier 
fmd lange vor dem Fremdenzuzug die Gafthäufer im Sommer 


304 Das deutiche Dorfwirtshaus 


und Winter von Leuten befucht geweſen, Die einen guten Trunk unb 
entfprecjenden Billen verlangten. Daß die guten alten Wirts- 
häufer auch fogar an einfamen Straßenfreuzungen und in Heinen 
Weilern nicht fehlen, gehört zu den Eigentitmlichleiten des Schwarz- 
walds, die man bejjer begreift, wenn man mitten im Winter 
Hunderte von Holzfuhrwerten an einem einzigen Tage beim Kreuz 
oder Sternen vorfahren fieht. Übrigens bat bier auch der Wein 
feine Wirkung getan, der überall einer reinlichen und auf die 
Küche bedachten Wirtichaft günftiger ift al das Bier. Der Ge— 
Thäftsgeift, der fi) in den Schwarzwälder Werfftätten äußert, 
ging natürlich auch nicht an den Gafthäufern vorüber, unb die 
alemanniſche Reinlichkeit, die faft in jedem Bauernhauſe waltet, 
hilft auch dazu. Endlich hat auch die Nähe der Schweiz ein- 
gewirkt, dieſes Mufterlandes des modernen Gafthausweiens; bie 
neuen großen Gafthäufer im Schwarzwald und in den Vogeſen find 
in ganz Deutichland die fchweizerifchten im guten und im übeln 
Sinne. 

Bon den urſprünglich verfehräärmern mitteldeutichen Ge⸗ 
birgen ift der Harz in gafthäuslicher Beziehung dem Thüringer 
Walde gerade fo ähnlich, wie er geologifch mit ihm verwandt 
ift und landſchaftlich ſoviel Ahnliches aufzumeifen hat. Harz und 
Thüringer Wald find arme Gebirge im Gegenjab zum Schwarz 
wald, nur mit [pärlihen Dafen fruditbaren Landes, eher rauh als 
mild und ſchon außerhalb der Zone des Weines gelegen. Die 
Edellaftanien von Blankenburg, die nördlichften auf deutſchem 
Boden, find nur noch Rurtofitäten, verglichen mit den „Refchten"- 
wäldern von Eronberg oder Gernsbach. Die arme Bevö 
biefer Gebirge befuchte aus guten Gründen bie atrtöhäufer wenig, 
Reiſende gab es auch nicht viel, und fo mußte denn der Reife 
luxus, den der Vergnügungsreifende verlangt, ganz von außen 
hereingetragen und erft angepflanzt werden. In dem 
fozialen Klima der Waldgebirge ift er aber nicht fo recht gebiehen. 
Jedes Bett ſpricht von dem Kampf, den er mit den ärmlichen 
Lebensgewohnheiten der Gebirgäbewohner zu kämpfen hatte, und 
die Küche bat ebenſowenig an —— ũberlieferungen an⸗ 
knüpfen können. Es iſt nur der regſamen Intelligenz ber Ve⸗ 
wohner zuzuſchreiben, daß das Gaſthausweſen in dieſen Gebirgen in 
munterbrochnem Fortſchritt iſt; Die ſchlechten oder mittelmäßigen 
Zenſuren, die es in den aufrichtigen Reiſehandbüchern noch erhält, 
werden hoffentlich mit jedem Jahre günftiger ausfallen. Schabe, 
dab fo ziemlich überall die Preiſe immer rafcher fteigen als das 


Das deutfche Dorfwirtshaus 305 


nr 


was dafür geboten wird! Ähnlich ift e8 im Erzgebirge, beſonders 
auf der ſaächſiſchen Seite, und war es einjt im Rieſengebirge. 
Ahnlich ift es noch heute im Taunus, im Wefterwald und auf der 
Eifel. Hier Hat der Touriftenitrom ganz neue Häufer ing Leben 
gerufen, da das alteinheimijche Wirtshaus viel zu einfach war, daß 
es dem Bedürfnis eines plötzlich beginnenden Luxusverkehrs hätte 
dienen können. Die Wirtshäujer in den induftriellen Gegenden 
des Erzgebirge und der jchlefiichen Gebirge find Häufig mit 
einem auffallend großen Saalanbau verjehen, der allfonntäglich 
die vergnügungsfüchtige Jugend der Arbeiterbevölferung und ge⸗ 
legentlich ſozialdemokratiſche Verfammlungen beherbergt. 

An Bayern und in Tirol haben wir ähnliche Verhältniffe wie 
am Oberrhein. An den einjt vielbefahrnen Straßen des italieniſchen 
Handels über den Brenner und den Fern, an den Salzftraßen, 
die, die Iſar und den Inn kreuzend, vor dem Gebirge herziehn, 
an der Donauftraße ftehn die alten Gafthäufer der Fuhrleute und 
der Stellwagen. Einige haben ſich in gejchidter Art dem modernen 
Fremdenverkehr angepaßt, der die großen Räume wenigftens zur 
Sommergzeit füllt. Die beliebteften Gafthäufer am Brenner, im 
Dberinntal, im Drautal, in den alten Durchgangspunkten de Augs⸗ 
burger Verkehrs, Mittenwald und Ammergau, gehören zu den alten 
Verkehrsſtätten. Ihr durdy manches bunte Wandbild von Heiligen 
oder von Frachtfuhren mit ſechs Paar Gäulen bezeugtes Alter 
und ihre behaglichen weiten Räume haben dazu beigetragen, fie den 
modernen Bergnügungsreifendeu angenehm zu machen. Welches 
„Hotel“ Tann einen Raum bieten, der ſich an freundlicher Be- 
baglichkeit mit dem zimmerartig breiten und hellen Vorplatz ber 
Stockwerke eines ſolchen Haufes mefjen könnte, wo in Glasichränfen 
die Familienſchaͤtze alter Gläfer, Teller und Platten aufgereiht find 
und zwiſchen den Fenſtern der blumengeſchmückte Hausaltar fteht? 
Der eleganteite Konverfationsfaal ift fade und alt neben einem 
jolden anſpruchlos edeln Raum, der ſich bejonders auch dadurch 
außzeichnet, daß er durchaus nicht überflüſſig iſt, was man von 
vielen Raͤumen moderner Gaſthausbauten nicht fagen kann. Bei 
diejen muß man unwillkürlich an den eignen Geldbeutel denken, 
der törichten Luxus mitzahlen muß, während jener alte Vorraum 
und durch feine bürgerliche Gediegenheit beruhigt. 

Nicht allen den alten Poftgafthäujern war diefe glüdliche 
Auferftehung beſchieden. Wer die von Touriſten ſelten begangne 
Straße wandert, die in ziemlicher Entfernung vom Gebirge von 
München über Mühldorf am Inn und Braunau nach be und 

Napel, Städsinfeln unb Träume 














306 Das deutfche Dorfwirtshaus 


Budweis zieht, trifft in felten genannten Dörfern, zu denen auch 
das ſchlachtenberühmte Ampfing gehört, große weißgetünchte Häufer, 
deren bide8 Mauerwerk und breite erlergefhmüdte Fronten einen 
mächtigen Hof umſchließen, der rüdwärts von Pferdeftällen und 
Dflonomiegebäuben umgeben if. Wo einft Fremde aus aller 
Herren Ländern Raſt machten, erzählen fich heute der Förfter 
und der Pfarrer alte Geichichten, und den Pla der Poſtpferde 
nehmen Adergäule ein. Aus einem berühmten Umfpannplap ift 
ein Dorfwirtshaus von impofanten, faft hiftoriiden Formen ge⸗ 
worden, überſchattet im günftigen Fall von dem Adergut, das Beute 
die Hauptſache ift, wo es früher nur ein Anhängfel des Gaft- 
haufeß war. 

Sind nun in ſolchen Gegenden die Wirte von der Höhe 
wichtiger Organe des Verkehrs wieder herabgeftiegen und zu 
Bauern geworden, fo find ſie doch eine bejondre Art von Bauern. 
Überall, wo es nod einen tüchtigen Bauernftand gibt, bilben 
die Bauernwirte eine in ihrem Kreis hervorragende, einflußreiche 
Kaffe, die die Vorteile des bäuerlichen Lebens mit dem Vorzuge 
verbindet, den die tägliche Berührung mit andern Schichten der 
Bevölkerung und die Verbindung mit den Sanälen bietet, in 
denen das Geld umläuftl. Das Wirtshaus ift das größte Haus 
des Dorfes nächft dem Pfarrhaus, in feiner Einrichtung ſteckt 
ein ftattliches Kapital, manches Zimmer ſcheint ja mit feinem 
ganzen Inhalt aus der Stadt Hierher verjeßt zu fein. An 
Kenntnis der Menfchen und der Weltläufe übertrifft der Wirt 
oft den Pfarrer und den Lehrer, und gar nicht felten führt er 
mit Würde an dem Honoratiorentiich in feiner eignen Gaftftube 
den Vorſitz. Das hindert ihn freilich nicht, die leeren Krũge 
und Gläfer feiner Gäfte mit eigner Hand zu füllen. Auch die 
Wirtin und das Töchterlein feßen fi) mit ihren Stridftrümpfen 
an den gemeinjamen Tiſch, wenn nad) dem Nachtmahl ihre Ge⸗ 
fchäfte in der Küche beforgt find. Mit der am Herrentiſch ges 
mwonnenen Autorität wandert der Wirt zwifchen den Bauerntifchen 
umber, die übrigens in der Regel an den Werktagsabenden nicht 
jehr gefüllt find. Verheiratete, die etwas auf ſich Halten, und 
auf Die, was wichtiger ift, ihre Weiber etwas halten, find, außer 
an ben Sonntagen, Abends nicht im Wirtshaus zu treffen. 

Natürlich bat der gefteigerte Fremdenverkehr in allen 
Induſtrie⸗ und Touriftenlandichaften Deutfchlands auch den Wirt 
erfaßt und umgeändert, und mit ihm alle dienftbaren @eifter. 
Dabei bleibt aber doch immer ein Reſt von Natur; denn das 


Das deutfche Dorfwirtshaus 307 


RL DI IL — 


Wirtsgefchäft ift zu einem fo großen Zeil angewandte Lebenskunſt, 
daß es ohne angeborne Gabe ebenjowenig gelingt wie eine 
andre Kunſt. Es liegt nahe, zuerft an die Schaufpielfunft zu 
denken; der Wirt muß fih ja „geben“ Können. Man Tönnte 
ebenjogut an jene Kunſt des Umgangs mit Menfchen denken, 
die eine der allerwidtigften Vorausſetzungen der Erfolge re 
gierender Yürften if. Dem Fürften rechnet man es hoch an, 
wenn er die Menfchen wiedererkennt, die er einmal gejehen bat, 
und wenn er denen ein paſſendes Wort fagt, deren Amt, Beruf, 
Berdienft ihm vorher mitgeteilt worden find. Viel mehr leiftet 
der Wirt, der auf einen Blid ben in fein Haus eintretenden 
Fremden „nach Berdienft” würdigt, d. h. zunächft ihm Die richtige 
Nummer gibt und ihn dann weiter „entſprechend“ behandelt 
und — einihäßt. Laien behaupten, daß jei feine Kunft, e8 genüge 
ein Blick auf das Gepäd; auch der Anzug verrate ſchon genug. 
Das find ſehr oberflädjliche Urteile. Ich gebe zu, daß es am 
Anzug ein Stüd gibt, das jehr weittragende Schlüffe auf feinen 
Träger erlaubt. Es ift das Schuhwer!. Ein Mann von Stand 
und Geihmad kann einen alten Filz, eine bäuriſche Joppe 
tragen: fchlechtes Schuhwerk trägt er faft nie. Außerhalb Deutſch⸗ 
lands iſt dieſes Kennzeichen unbedingt ſicher. In Deutichland 
gibt es freilich eine höchſt anftändige Klafje, die noch immer 
ſchlecht „hauffiert“ ift. Das find die Gutsbeſitzer, und zwar nicht, 
weil und feitdem der Landbau fchlechte Zeiten hat, ſondern weil 
das Herummandern auf fotigen Feldwegen den Stiefel nötig macht. 
Eine Statiftif des Verbrauchs von Schuhen und Stiefeln im 
Deutichen Reiche würde ohne Frage eine Zunahme der beſchuhten 
Männer und einen Rückgang der geftiefelten nachiweilen, ent- 
ſprechend der Zunahme ſtädtiſcher Bevölkerung und ftäbtilcher 
Lebensweife. Wenn man aber Abends durch die Korridore eines 
internationalen Hotel8 geht, kann man ziemlich fiher auß der 
Babl der vor den Türen ftehenden Stiefel auf die der hier ab- 
geftiegnen deutſchen Reiſenden fchließen. 

Wenn man Gäfte zu empfangen bat, muß man liebengwürdig 
fein. Iſt der grobe Wirt dennoch nicht felten, jo fpricht ſich 
darin die Schwierigkeit feiner Aufgabe aus. Der grobe Wirt 
jpielt in der bayriſchen und ber öfterreichifchen Dialektdichtung 
eine charakteriftiiche Rolle. Bayern und Deutjchöfterreich find die 
Länder, wo der Wirt dem Bauer noch am nächſten verwandt ift. 
Über der grobe Wirt hat doch eigentlich feinen Beruf verfehlt. 
Der Geichäftsgeift kann die natürliche Liebenswürdigkeit auch nicht 

20 * 











308 Das deutſche Dorfwirtshaus 


erfepen. In der Schweiz geht man mit der Zufriedenheit des 
Handel3manned aus dem Gafthaus, der für fein Geld erhalten 
bat, was er fordert. In Frankreich, in den Vogeſen, im Schwarz- 
wald, am Rhein, in Schwaben, in Tirol gibt e& viel mehr Wirte 
und Wirtinnen, die ein natürliches Bedürfnis empfinden, e8 dem 
Gaſt behaglich zu machen. Das find Länder, wo e8 ein Bauern- 
tum gibt, das durch die Kultur veredelt, aber nicht entartet ift. 
In dem ländlichen Gafthaus haben ſich gerade hier gute 
Seiten des Bauern- und Bürgertums erhalten, jene Seiten, bie 
Goethe herausgefühlt und in „Hermann und Dorothea” für alle 
Zeiten feftgebalten hat. So kenne und ehre ich eine Wirtöfamilie, 
die ein Kleines Yürftentum von Tälern, Bergen, Seen und Flüffen 
befibt; in ihrem Haufe hütet fie einen Familienſchatz von altem 
Porzellan und Glas und wertvollen Bildern. Sie ift unzweifel- 
haft die erfte im Drt, ihre Zöchter find, wie es Dortzulande 
üblih, in einem Klofter im italienischen Tirol erzogen worben, 
dabei arbeiten fie aber alle in der Wirtihaft mit. Die eine, 
fünftlerifch begabt, hat das Speifezimmer mit japanifch=englifchen 
Srisftengeln ausgemalt und fchmüdt allmorgendlid die Tiſche 
mit den geihmadvollftien Blumenfträußen. Wenn im Serbit die 
Blumen felten werden, weiß fie Kohl⸗, Rotrüben- und Salat⸗ 
blätter zu überrafchend ſchönen Krautfträußen zu vereinigen. Alles 
ift fo gut, wie es die Leute geben Fönnen, uud die Preije find 
anftändig.‘_ Der Gaft fühlt fich in einem folden Haus gehoben, 
es geht ein ariftofratiicher Zug hindurch. Jeder tut feine Arbeit, 
niemand drängt fi) auf. Die Leute freuen fi), wenn fie gute 
Säfte Haben, und tun den andern gegenüber die Pflicht ihres 
Berufs. Ein ſolches Haus ift für den Reiſenden eine Dafe in 
der Wüfte der modernen Reiſeeinrichtungen und Neifemethoden, 
befonder8 wenn die Tüchtigkeit feiner Beſihzer dafür forgt, daß 
es auch „mit der Beit fortichreitet.” Vor einigen fam 
ih die Mofel und die Saar herab, jchlief die eine Nacht in Metz, 
die andre in Saarbrüden, die dritte in Trier. In Meb war 
ich in einem der alten franzöftichen Hotels feinen Stils, e8 wurbe 
von einem deutichen Gaftwirtdilettanten kenntnis⸗ und gejchmad- 
108 bewirtichaftet; in Saarbrüden war ich in einem neugebauten 
Haus für Geichäftsleute, dad phyfiih und moraliih nad Kalt 
roch; in Trier in einem auf reifende Engländer zugefchnitinen 
Provinzialfaus. Am vierten Abend Tief ic) wie ein mübes Schiff 
in den ftillen Hafen eine von Yrauen liebevoll verwalteten 
Heinen, warmen Gafthaufes in dem Mofelftädtchen E, ein. Das 


Das dentfche Dorfwirtshaus 309 


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Haus hat einen guten Namen, es trägt den Bädekerſchen Stern, 
jeitdem überhaupt Bädeler Hoteliterne verleiht, und es ift gut 
befucht. Auch diesmal jagen wir zu fünfzehn zum „gemeinfchaft- 
lichen Abendeſſen“ nieder und tranfen dazu fünfzehn bis dreißig 
Schoppen &.er Schloßberg, hellgelben, grünlich-topafig jchillernden. 
Tochter und Nichte warten auf, mit Grazie und Beftimmtheit. 
Die weibliche Leitung der Küche verrät fi in der Schücdhtern- 
heit der Würzung der Speilen, fonft ift alle aufs jorgfältigfte 
zubereitet. Beitungen, Reiſebücher, Echreibzeug, alles in ſchönſter 
Ordnung. Sogar der flatipielende Revierförjter und der Schiffs⸗ 
kapitän nebſt Gejellichaft finden Karten und Kreide hübſch auf 
einem Nebentifch vor dem Lederjofa zurecht gelegt. Die Mädchen 
waren unabläffig in Bewegung, die Wirtin überwadte fie vom 
Tiſch aus, wo fie nad dem Efjen die Zeitung lad. Ein Wink 
genügte. Ich ging nach dem Heinen Zimmer, da8 man mir an- 
gewiefen Hatte, und fand es leer. Man hatte mir ein beſſeres 
eingeräumt, da8 man bis zur Ankunft des letzten Auges für 
Familten bereit hält. Statt der Oldrucke ſchmücken hübſche 
Stidereien die Wände. Alles fpricht Hier von Sorgfalt und 
Bemühen. Es find eben Menichen, mit denen man es bier zu 
tun hat, nicht Rechenmafchinen. 

Bu welchen Verzerrungen des Einfachen und Natürlichen 
führt doch unfer Stadtleben, wenn es ſich die bier fo bolde und 
in jedem Sinn gute weibliche Bedienung nicht mehr anders als 
mit einem unmoralifchen Nebengeſchmack vorftellen kann! Nur 
auf einer Wanderung in der Marl Brandenburg, nicht ganz 
nahe bei Berlin, iſt e& mir vorgelommen, daß ſich in dem äußerlich 
anftändigen Bierftübchen gegenüber dem einfamen Bahnhof die 
hochgewachſene Hebe ald „Animierlellnerin“ entpuppte, die mit 
unverfchämt geſtärktem Rauſchkleid den Gaſt bebeutiam ftreifte, 
indem fie wie aus Verjehen ein zweites Glas zu dem lauen 
Flaͤſchlein Patzenhofer ftellte. Der volantbejegte Eindrud dieſer 
verwehten Großftadtpflanze drängt in meiner Erinnerung ſogar 
die an bemielben Tage gewonnenen Bilder endlofer gelber Lu⸗ 
pinenfelder und Kleiner rotbadfteinener Kotjaffenhäuschen ſowie 
des afazienumjäumten Bukower Sees zurüd. 

Mit dem Dorfwirtshaus Hat der Kellner nichts zu tun. 
Der Hausknecht ift jtreng aus der Wirtöftube gewiefen, Stall 
und Hof find jein Nevier. Urfprünglich verlehrte er mit den 
Gäſten nur, wenn er ihnen audfpannte oder fie frühmorgens 
wedte, um, mit ſchwankender Laterne voranjchreitend, die Schlaf- 














310 Das deuntſche Dorfwirtshaus 


a 


trunfnen zur Poſt zu führen. Die Zunahme bed Verkehrs hat 
auch das geändert. Jetzt kommen die Relluer wie die Schwalben 
mit der „Saifon“ und ehren im Winter in die Stadt zurüd. 
Aber e8 wäre ımbillig, den deutfchen Kellner bier zu übergehn, 
weil er nur ſporadiſch auf dem Lande auftritt. Er ift uns eine 
willkommne Erſcheinung in England und Auftralien, in Agypten 
und Kalifornien. Wir wollen ihn darum in feiner Seimat nicht 
vergefien. Ehe er jein Glück in der weiten Welt verſucht, ver= 
dient er fich die Sporen in dem Gafthauß einer Heinen deutſchen 
Stadt. Wenn ich an dem deutſchen Wirt oft manches auszuſetzen 
hatte, fo Habe ich faft immer mit ftilem Woblgefallen und nicht 
felten mit Sympathie da8 eifrige Walten junger Kellner beob- 
achtet. Das find in den bejjern Häufern Heinerer Städte Jüng- 
(inge, die eine gute Schule Hinter ji) haben und mit einer 
gewifjen Liebe ihren Schatz von Ortskunde, Spracdhlenninifien uſw. 
an den verfchwenden, der ihnen hilfsbedürftig ſcheint. Wenn des 
Abends die Säfte näher zufammenrüden, und nur der anſpruchs⸗ 
loſe „Stamm“ noch übrig ift, wandert eine franzöſiſche ober 
engliihe Grammatik hervor, die bei Tage unter Adreß⸗ und 
Kursbüchern ruht. Indem der junge Mann die geiftreichen Säbe 
Ollendorffs lernt, träumt er fi in ein Welthotel in der Aue 
de Rivoli ober ber Victoria Street oder noch weiter in die Welt 
hinaus. In Liffabon fchrieb einer meiner Freunde feinen untrüg- 
lich niederbayrifchen Namen ind Fremdenbuch. Der internationale 
Oberfellner fchaute ihn freudigfragend an: Kennen Sie den „Wilden 
Mann“ in Pafiau? — Natürlich, ſehr gut, und feinen fiebzig- 
jährigen Oberkellner kannte ich wohl, ber leider tot if. — Oh. 
der mar mein Lehrer, ich habe vier Jahre als Kellner im „Wilden 
Mann“ gelernt. Willen Sie, diefer Alte war bei den Kellnern 
Europas befannt, der bat mehr als zwanzig ausgebildet, die in 
alle Welt binausgewandert find. Er ſprach vier Sprachen, hat 
Baffau nie wieder verlaffen und war, mit all feinen Erfparnifien, 
Zufrieden, der erfte und äftefte Kellner jeiner Vaterſtadt zu fein. 
Dod kehren wir aufd Land zurüd. Das Dorfwirtähans 
gehört dem Bauern, und bäuerlich bleibt e8 darum auch in allen 
Entwidlungen, die ihm der Fremdenverkehr auferlegt. Deshalb 
unterfcheidet e8 fich ganz weientlich von der „Benfion,“ die nur 
für die Sommerfriichler hingeftellt ift; es hat feine eigne Not⸗ 
wendigfeit und ein ganz andres Leben. Das bayriiche und daB 
Schwarzwälder Wirtshaus wird nicht wie daß ſchweizeriſche 
Hotel — und eine Heine Anzahl tiroliſche — im Winter ge 


Das deutfche Dorfwirtshaus 311 


ſchloſſen und wird nicht nur drei, in hohen Lagen gar nur zwei 
Monate dem Fremdenzuzug geöffnet, es iſt den ganzen fremden⸗ 
armen Teil des Jahres auf ſeine ländliche Kundſchaft angewieſen, 
die auch im Sommer nicht ſo ſcharf von der ſtädtiſchen getrennt 
iſt, ſondern unverändert ihre Anſprüche auf Komfort und Ver⸗ 
pflegung geltend macht. Die Anſprüche der Gaſtſtube mit denen 
des „SHerrenftübel” zu vereinen gehört zu den Wufgaben, die 
nur ein guter Wirt löft. Wenn die Bauern zu fegeln anfangen, 
während neben der Kegelbahn im Wirtögarten eben das Eſſen 
für feine Gäfte aufgetragen wird, lafien fie fich leicht Ruhe ge- 
bieten; nicht jo leicht läßt fi) der Lärm einer Bauernhochzeit 
mit dem Ruhebedürfnis nervöſer Städter vereinigen. Doch jchlägt 
hier die alte Anziehung zwiſchen Buabn und Madln manchmal 
die Brüde, da e8 die „Stadtfratzen“ gar nicht unter ihrem Stande 
finden, fi im bäurifchen Ländler zu drehen, was auch Die 
Burſchen gern annehmen. Am leichteften ebnet aber ohne Zweifel 
das Bier, der Trunk, der allen zugänglich ift, die Verſchieden⸗ 
heiten aus. Ein gutes, billiges Bier, das dem Holzknecht ebenfo 
gut mundet wie dem Zouriften, gibt dem ganzen Wirtöhaus- 
leben einen im guten Sinne demokratiſchen, daher behaglichern 
Charakter. 

Wenn ich hier eine angenehme Seite der Vereinigung des 
Trinkhauſes und des Gaſthauſes unter demſelben Dache berühre, 
will ich nicht die Nachteile verbergen, die daraus ſo oft für das 
gute deutſche Gaſthaus hervorgehn. Mit dem Egoismus der Ge⸗ 
nußſucht überfchreitet die Kneipgejellichaft Raum und Zeit, in 
die eine billige Rückſicht fie bannen follte. Am obern Ende der 
Wirtstafel trinken Familien Tee, während am untern daß Wein⸗ 
oder Biergelage mit Zigarrenqualm und banalem Gerede fchon 
begonnen hat. Und zu fpäter Stunde, wo reijemüde Wandrer 
gern Ruhe hätten, lärmt dieje Gejellichaft, deren laute Unter- 
haltung fih zum Gebrüll gefteigert hat, in den Morgen hinein. 
Auch im Auslande zeichnen ſich beſonders Deutiche dur die _ 
Rückſichtsloſigkeit aus, womit fie ihren Trinkſitten frönen; es 
hebt nicht ihr Anfehen, daß fie, um ungeltört fneipen zu können, 
die „Schwemm“ dem Salon, das Rendezvous des cochers dem 
Speijejaal vorziehn. In der lieben Heimat bedroht diefe Neigung 
am meilten das beliebte Gafthaus, von dem es in den Büchern 
beißt: Einfach, bürgerlich, gut, billig. Was will man mehr? 
Aber gerade bieje Roſe hat viele Dornen. Der einfachfte und 
natürlichite Fall ift, daß mehr Leute jo denken wie ich, und daß 


312 Das dentſche Dorfwirtshans 


mich ihre Menge in meinem einfachen bürgerlichen Behagen ftört. 
Es ift aber noch der befte Fall Minder leicht ift die parafitiiche 
Dornenentwidlung der Stammgäfte zu ertragen, die guter Wein 
oder alte Gewohnheit an das obere Ende des Speiſetiſches zieht, 
wo fie ihr Kartenfpiel mit Fauftichlägen auf den Tiſch begleiten, 
überhaupt fi) mit einer Ungeniertheit benehmen, die ich nicht 
nachahmen könnte, wenn ich auch wollte. So kämpft das deutſche 
Gaſthaus den ungleihen Kampf mit dem Trinkhaus, in dem es 
vielleicht nur dann nicht unterliegt, wenn ihm Fremde ohne 
„Zrinkfitten“ zu Hilfe fommen. ch komme in ein länbliches 
Gaſthaus, das wunderfhön am Eingang eines vielbefuchten Parkes 
liegt. Er ift wie gemacht zum ruhigen Aufenthalt. Ich bin 
erftaunt, das als trefflich gerühmte Haus in Unordnung zu 
finden. Zimmerfchlüffel verlegt, Zimmer nicht gelüftet ujw.: die 
befannten Tibel. Der Wirt entfchuldigt ſich mit drei Berliner 
Banlierd, die geftern Abend gelommen und bis heute früh um 
fünf bei mehreren üppigen Bowlen fißen geblieben find. „Hoffent- 
lih haben Sie die Herren ruhig trinfen laffen und fie einem 
Kellner übergeben!“ — „Wo deuten Sie hin? Ich mußte auf- 
bleiben, denn da handelte es fi um feinfte Sorten. Nein, id) 
war der lebte.“ Und heute, es ift Sonntag, hat diefer Mann 
fein Haus voll Gäfte, die alle feine Aufmerkfamfeit Heifchen. „Wie 
tönnen Sie das?“ — „Dan muß! Das ift die ganze Kunft. 
Diefe paar Sommermonate find unjer Geichäft, da heißt es, alle 
Nerven anftrengen, im Winter ruhn wir wie die Dachſe.“ Dabei 
kann natürlid) da8 Haus nicht in Ordnung lommen. Der Mann 
wird im beften Fall ein paar Jahre früher Privatier, aber als 
Gaftwirt bleibt er ein Stümper. 





3 


Mit der in den fünfziger Jahren leiſe beginnenden, dann 
aber mit jedem Jahre rafcher anfchwellenden Beivegung der ſommer⸗ 
lichen Vergnügungsreifenden aus den Städten aufs Land, aus 
den Ebenen ind Gebirge und and Meer beginnt eine neue Ara 
bes deutſchen Wirtshauſes. Es hat ſich vervielfältigt, vergrößert, 
verfeinert, verteuert. Die Zunahme der Vollszahl drängt auch 
die Räume des Wirtshaufes zur Vergrößerung, damit hat be⸗ 
fonder8 in Mitteldeutichland das Dorfwirtshans feine bebagliche 
familienhafte Enge abgeftreift; in der Woche gähnt den Beſucher 
das faalartige Wirtszimmer an, wo des Sonntags die abgenrbeiteten 





Das deutſche Dorfwirtshaus 313 


— — GT 


Geſichter der Weber, Bergleute, Glasbläſer, Schnitzer, Flechter 
ins Glühen kommen. Wer die Wirtöhänjer jeder Stufe zählen 
wollte, die allein im Harz im lebten Menſchenalter gebaut worden 
find, würde mehrere hundert aufzuzählen haben, zu denen noch 
die alten, aber in jedem Yalle gründlich erneuerten „Lofale“ 
fommen. Wer erfennt in Harzburg mit jeinen Reihen großer 
Hoteld da8 beicheidne Städtchen von 1860 mit feinen paar alt= 
bürgerlihen Safthäujern und feinem kaum beachteten jchüchternen 
Anſpruch, ein Badeplatz zu werden? Ebenſo Haben ſich viele 
von den Sommerfriihen am Nordfuß der bayriſchen Alpen zu 
vielbejuchten Orten entwidelt. Dörfer und Marktflecken wie 
Garmiſch, Partenlichen, Starnberg, Prien u. a. haben ein 
ftäbtifche8 Gewand angezogen. Welcher Unterfchied, wo auf der 
einen Seite eines Berges ein Orten ind Wachfen gefommen 
ift, während das Schweiterftädtchen drüben vernadjläffigt wurde: 
das gafthaug- und villenreiche, moderne breite Friedrichsroda auf 
diefer und das enge, trübe Schmallalden auf jener Seite des 
Thüringer Waldes. Nicht nur Villen von allen Größen und 
Güten, neue Gafthäufer, Neftaurationen und fogar Keime von 
Kaffeehäufern find entitanden. Daneben find jene in Fremden⸗ 
pläßen unvermeidlicden Tandläden mit geſchnitzten, geftanzten, 
gellediten (oder erſt zu befledjenden) Andenken, banalen Bilder- 
poftlarten u. dergl. wie Pilze emporgeichoffen. Wenigftens im 
Dunſtkreis der Bahnhöfe und Dampfichiffländen ift der Ländliche 
Duft gänzlich) abgeftreift. 

Seder von diefen Orten hat heute mindeſtens ein Wirtg- 
haus, dag den Anſpruch erhebt, ein „Haus erften Ranges“ zu 
fein. Bor dreißig Jahren war auch ſchon eind da, das für das 
beite galt; damals war es in der Regel noch die Bolt. Einzelne 
Safthäufer waren ſchon weithin berühmt, nicht durch Neilehand- 
bücher, die damals für unſre Gebirge erjt zu entftehn begannen, 
und nicht durch Reklame, die man noch nicht Tannte, jondern 
dur die liberlieferung von Mund zu Mund. Gie zeichneten 
fi) durch beffere Zimmer und forgfältigere, nicht gerade feinere 
Küche aus, befteuerten aber den Fremdling nicht beträchtlich höher 
als die anſpruchsloſern Gafthäufer daneben, unter denen in der 
Negel eined dur die Güte des eignen Weines oder Bieres 
berühmt war. Die Abftufung lag überhaupt meniger in den 
Anſprüchen und Preiſen als in der Gewohnheit. Den altbürger- 
liden Komfort, der nicht vom XTapezierer auß der Stadt auf 
Beitellung geichaffen, fondern das Erzeugnis eines feitbegründeten 


314 Das deutfche Dorfwirtshans 


Wohlſtands war, fand man in einem befdheidnen Haufe oft noch 
beſſer als in einem anfprudißvollern. Doc lag ein ſeitdem ver⸗ 
ſchwundner Unterjchied auch darin, daß in dem größern, befuchtern 
Haus die Leute gewöhnt waren, Bäfte zu empfangen, bie in 
einem Pleinern oft als linbequemlichleit behandelt wurden. 

Abſeits von den Straßen waren aber die Wirtshäuſer nur 
für die Bauern berechnet. Das machte ſich beſonders in den 
bis dahin nur auf einigen Hauptftraßen durchzogen Alpen fühl⸗ 
bar. AB Ludwig Steub vor fünfundzwanzig Jahren in die 
bayriichen Alpen und ins tirolifche Unterinntal z0g, um neue 
Material zur zweiten Yuögabe feiner „Drei Sommer in Tirol” 
zu jammeln, war diefer Zuftand eben in der Umwandlung be= 
griffen. Steub fand damals in Schlierfee ſchon Markgräfler mit 
Selterjer und die Forellen zu einem Gulden dreißig Kreuzer; 
aber die Bequemlichleit der Betten und Bimmer und die Höf- 
lichkeit und Dienftbereitichaft Hatten wenig Fortichritte gemacht. 
Im Eingang feines Buches ruft er erftaunt und erjchroden: Der 
große Schlag iſt geichehen, das bayrifche Gebirge ift faſhionabel 
geworden! Aber ſchon in der Klaufe bei Kufftein wiederholt er 
fein oft ausgeſprochnes: Wer in Bayern gut leben will, muß 
ind Tirol gehn. Die Bayern haben feitden von den Tirolern 
gelernt, und was mehr ift: fie fangen an, das Wirtsgewerbe 
als eine Kunft aufzufafjen, die gelernt und geübt fein will. Der 
Bauernwirt tat fi) und feinen Bäften genug, wenn er bäuriich 
ſprach und handelte und bäurifche Nahrung bot. Die ftäbtiichen 
Anſprüche ließen ihn lange unberührt. Buerft hat er e8 ver- 
ftanden, ſtädtiſche Preife zu fordern. Dann ließ er fih aber 
auch zu höhern Leiftungen herbei, wobei daß weibliche Element 
das treibende geweſen zu fein fcheint, denn fie zeigten ſich zuerft 
in der Küche und am Belt. 

Es fehlt zwar noch viel im Einzelnen, aber im Ganzen ift 
doch der Stillftand überwunden und die Notwendigleit des Forts 
ſchritts anerkannt. Eine ganz neue Erſcheinung ift dabei ber 
gewaltig wachſende Einfluß der Großftäbtee Münchens Einfluß 
äußert ſich in ganz Bayern von einem Ende bis zum andern 
fo ftart, daß damit nur die Wirkung von Paris auf ganz Frank⸗ 
reich verglichen werben kann. Am früheften ift Münchner Bier 
in Wettbewerb mit den Erzeugniffen ländliher Brauereien ge 
treten, die aber in den meiften Teilen Ober und Niederbayern 
mindeftend zur leichberechtigung der ländlichen geführt bat. 
Die „Münchner Neueſten Nachrichten“ Liegen fait in jedem 


Das deutfche Dorfwirtshaus 315 


Dorfwirtöhaus aus, wenigftens in den Sommermonaten. München 
tft aber auch der Lieferant von Weinen und Speilen, Möbeln 
und Zimmerjhmud, und der wachſende Verkehr in Südbayern 
und Rordtirol hat in Münden eine große Fremdeninduftrie her⸗ 
borgerufen. Der erleichterte Eifenbahnverfehr ermöglicht den 
Wirten und Wirtinnen den Markt der nädhitgelegnen größern 
Stadt zu beſuchen. Wer würde das früher für möglich gehalten 
haben, daß feinjchmederiihen Gaſten zulieb eine Wirtin drei 
Stunden auf der Eifenbahn fährt, um perjönlich die Fafanen zu 
faufen, die am Drte nicht zu haben find? So ift Braunſchweig 
für den Harz, Görlitz für das Niefen- und das Sfergebirge Markt 
geworden, und die Forellen, die man dort ißt, find oft gerade 
fo gut Fremdlinge wie der, der durd ihre Verſpeiſung jein 
Naturgefühl noch etwas gebirgßhafter zu fteigern trachtet. Der 
Sommerverlehr vermehrt jo plögli die Nachfrage nad) Nah⸗ 
rungsmitteln, daß ohne den Schnellverfehr jo manches Gebirgs- 
dorf und noch eher mandyes Seebad von Hungersnot heimgeſucht 
werben würde. Daß das ländliche Wirtshaus ländlichen Überfluf 
bietet, fommt nur noch in den von Fremden am wenigften be- 
ſuchten Gegenden vor; oder der einfame Winterreifende erfährt 
diefen Segen, wenn ihn fein Stern zur Metzelſuppe daherführt. 
Wir Haben ſchon gejehen, wie leicht fih die Wirtöhäufer im 
Schwarzwald und an der Hardt in die neuen Verkehrsverhält⸗ 
niſſe gefunden haben, weil ihnen ſchon früher ihre glüdliche Lage 
ein koſsmopolitiſches, fordernde8 und zablendes Publikum zuge- 
führt Hatte. Merkwürdig, daß dabei die Preife noch über das 
ſchweizeriſche Niveau geitiegen find, ſodaß der Freiburger und der 
Offenburger feine Rechnung dabei findet, zu derjelben Beit eine 
Schweizerreiſe zu madjen, wo die Norddeutichen, Srankfurter und 
Engländer den Schwarzwald überſchwemmen. 

Der Prozeß ift dort viel einfacher verlaufen, mo die neue 
Entwidlung überhaupt an nichts Vorhandnes anknüpfen konnte, 
fondern auf friſchem Boden aufzubauen hatte. Im Hintergrund 
der Ulpentäler traten an die Stelle der Heulager in Alphütten 
zuerit einfache Schnuhäufer mit Pritfchenlagern, die dann bei 
zunehmendem Beſuch immer beſſer ausgeftattet und endlich zu 
wahren Gafthäufern wurden, die auß dem Befi einer Alpen- 
vereingjeltion in den eines Wirtes übergingen, der num jährlich 
Taufende ein⸗ und ausgehn fieht. So find daB Wendelftein- 
Haus, das Herzogenſtandhaus und andre in den bayrifchen Alpen 
zu viel befuchten Höhengafthäufern geworden, und bald wird es 








316 Das dentfche Dorfwirtshans 


vom Pfänder bis zum Triglav im weiten Bereich der dentſchen 
und der öfterreichiichen Alpen feinen bejuchtern Gipfel mehr geben, 
der nicht in irgendeinem Zalhintergrund oder an feinem Joch⸗ 
fattel feine „bewirtichaftete” Hütte hätte. Dazu kommen zahllofe 
Alpbütten, in denen im Sommer Wein oder Bier verzapft und 
das alturfprüngliche Heulager dur) Wolldeden höhern Anſprüchen 
angepaßt wird. Dabei treten die merfwürdigften Übergangs- 
erjcheinungen hervor. Zum Beifpiel reiht das Geld nur für 
die Bettladen, und diefe werden nun mit Heu auögefüllt, um 
in einem fünftigen Jahr, wenn das Geichäft gut geht, Ländliche 
Betten aufzunehmen. In den deutichen Mittelgebirgen zeigen 
Harz, Thüringer Wald, Sächſiſche Schweiz und Niejengebirge 
eine Menge nagelneuer Wirtöhäujer, die entweder mit großen 
Mitteln groß, proßig und teuer Hingeftellt find, oder als Unter- 
nehmungen einzelner Kleiner Leute zunächit nur beicheidnen An⸗ 
ſprüchen entgegenfommen wollen, leider aber gezwungen find, uns 
verhältnismäßig dufe reile zu machen. Auch in den Vogeſen 
hat der ſeit dem rgang an Deutichland gefteigerte Verkehr 
neue Häufer ind Leben gerufen. Altdeuticher Wirt und elfälftiche 
Wirtin geben zujammen einen guten lang, wenn nicht zufällig 
der Wirt ein fißengebliebner Juriſt ift, dems „der Wirtin Töchter- 
lein“ angetan bat. Ein folder Mann paßt nicht Hinter Die 
heilen, harten, unpolierten Wirtstiſche aus Apfel- und Birnbaum- 
holz, die im Elſaß üblich find. Sch Habe tief im Wasgenwald 
einen Oeftrandeten diefer Art getroffen, der troß ängſtlichem 
Bemühen den welichen Wirt nicht fertig brachte, nach deſſen 
Mufter er mit der Serviette unter dem Arm jervierte; feine Frau, 
die im Wirtshaus aufgewachſen war, leitete mit natürlider Sach⸗ 
kenutnis das Ganze. Ein intereffanter Fall von Vererbung! 
Bon Frankreich herüber reicht ein ganz andres Syitem der 
Wirtſchaftsführung in den von Fremden häufiger bejuchten GBaft- 
häufern als das in Deutichland übliche. Der Wirt leitet Küche 
und Keller, kocht, wenn es nötig ift, felbit, während die Frau 
die Fremden empfängt und bedient, womöglich von Töchtern oder 
weiblihen Verwandten unteritüßt. In Lothringen findet man 
manches Wirtshaus nach diefem „Plan,“ der ja auch den Erfolg 
manches nicht ganz Heinen Gaſthauſes in der Schweiz fchafit. 
Im Elſaß nimmt der Wirt nad) deuticher Art die Stellung des 
Hausherrn ein. Wäre nicht die in manchen eljäffiichen Dörfern, 
jelbft im Weinland, hervortretende größere Nüchternheit der Be⸗ 
völferung, die das Wirtshaus an Werktagen meidet, jo würde 


Das deutfche Dorfwirtshaus 317 


fih die Übereinftimmung mit den rechtörheinifchen Alemannen 
auch auf diefe Sphäre erftreden. Es ift aber feine Frage, daR 
das Elſaß in feinen Gebirgswirtshäufern gerade jo wie in andern 
Dingen hinter dem Schwarzwald zurüdgeblieben ift. Unliebjam 
veripürt der Wandrer an abgelegnen Orten den Mangel ale 
mannifcher Neinlichleit und Emfigleit. Der Eljäfjer wirft dem 
Altdeutichen, der jein heimatliches Wirtshaus lobt, Vergnügungs- 
ſucht und Wirtshaushoderei vor, während der Badenfer meint, 
da die Elfäfler Weine bei weitem nicht jo füffig jeien wie der 
Martgräfler, ſei e8 eine Kunſt, weniger lang bei einem elfäffifchen 
Shoppen fiten zu bleiben. Ein Gang durch elſäſfiſche und 
lothringiſche Städte und Städtchen läßt feinen Zweifel daran 
auflommen, daß die Altdeutichen redlich beftrebt find, auch in 
diefer Beziehung Unebenheiten auszugleichen. Mit dem deutichen 
Bier ift eine Menge badifcher und bayriſcher Brauer und Wirte 
eingewandert, und die bayriichen Keller- und Gartenwirtichaften 
haben dazu beigetragen, die eljaß = lothringifchen Städtebilder 
umzugeftalten. In andrer Weife bezeugt jo mandjes alte Haus 
in Lothringen, das in die Hand eined deutſchen Wirte oder 
Wirtsdilettanten übergegangen ift, die Anderung der Verhältniffe. 
Wenn e8 nad alter Sitte in einer ruhigen Seitenftraße und 
womöglich Hinter einem umgitterten Hofe liegt, ein Bild der 
Ruhe und Neipeltabilität, und es tönt der Lärm einer GSelt- 
Tneiperei deutſcher Dffiziere heraus, iſt der Kontraſt fehr ftark. 
So wie aus Deutichland 1870 ſchiffbrüchige Eriftenzen jedes 
Standes nad) dem Reichsland getrieben find, hat natürlich auch 
das Wirtsgewerbe dort anziehend auf ſolche gewirkt, die in Alt⸗ 
deutichland nicht mehr viel zu hoffen hatten. Es gibt Städte, 
wo alle Wirtshäufer feit 1870 die Beſitzer gewechjelt haben. 
An den Südvogejen traf ich vor einem neuen Zouriftenmwirts- 
Baus fünf fchöne junge Tannen ohne Wurzeln eingepflanzt. Der 
Wirt meinte, zwei Jahre fähen fie ganz gut aus, und dann 
könne man fie durch lebende Bäume erfegen, wenn ſich das Ge⸗ 
ſchäft erft einmal überfehen laffe, das doch zweifelhaft fei, folange 
das Touriſtenweſen von den Einheimifchen ſcheel angelehen werde. 
Wie mande Gründung auf diefem Gebiete wäre diefen murzel- 
loſen Tannen zu vergleichen, die man einmal verſuchsweiſe für 
ein paar Jahre hinſetzt! 

Wo der Yremdenandrang Jahr für Jahr jo unaufhaltfam 
wächſt, wie an der Oſtſee und der Nordfee, da wird bald jede Hütte 
zum Gafthaus, allerdings unter befchräntenden Vorausſetzungen, 





318 Das dentſche Dorfwirtshaus 


wie fie einer meiner Freunde auf H. erlebte, wo ber Wirt hart» 
nädig nur Sunggejellen in feine Yremdenzimmer, das beißt in 
die neuen Bretterverfchläge ſeines alten Speicher aufnahm, weil 
jeine Mittel noch nicht erlaubten, biß zu dem Grade von Komfort 
fortzujchreiten, den weibliche Wejen angeblich fogar in einem 
Heinen Dftfeeftranddorfe verlangen. 

Eine bejondre Klafje von neuen Wirtshäufern wollen wir 
nicht vergefien, die fi) zu den Eifenbahnen ungefähr fo verhalten 
wie die alten Poftgafthäufer zu den Poftftraßen: die Bahnhof⸗ 
gafthäufer. Dieſe Gafthäufer gegenüber dem Bahnhof find die 
eigentlihen Durchgangshäuſer. Es wäre viel befier, wenn ein 
ſolches Haus den Titel trüge „PBaflantenhaus.“ Es ift immer 
lärmend und natürli in großen verlehröreichen Städten vor 
allem zu meiden, wo jeder Nachtzug neue Gäfte bringt. Auf dem 
Zande ift e8 das GStelldichein der Eijenbahnbebienfteten, im Ge⸗ 
birge der Yührer, die bier die Touriften in Empfang nehmen. 
Es ift immer neu und trägt leider oft ſchon heute in Spuren 
frühen Berfalled die Merkmale eines übereilten Baues. Ent⸗ 
ſprechend ift Die gan; moderne, aber meift billige und fchlechte 
innere Einrichtung. 

In diefem Wandel der Zeiten hat natürlich auch daB Innere 
der Wirtöhäufer entiprechende Veränderungen erfahren. Die 
alten erneuern fi, und die neuen richten fi) von vornherein 
modilh ein. Diefe Ummandlung auf ihren verfchiednen Stufen 
zu beobachten, ift für den nachdenklichen Wandersmann ſehr an- 
ziehbend. Die alten Wirtöhäufer bieten ihm immer Begchtens⸗ 
wertes, und Die neuen find zwar minder erfreulich, aber in ihrer 
Weiſe auch lehrreih. Die alten waren auf dem Dorf vergrößerte 
und bereidherte Bauernbäufer, in der Stabt Bürgerhäufer und 
in den Marltfleden und Boftftationen ein interefiantes Mittel- 
ding. Wer Hat nicht den urfprünglichften Komfort der hölzernen 
Dfenbant mit Wonne empfunden, wenn er an einem fühlen 
Herbftabend einkehrte und der Tiſch mit einem bampfenben 
Gericht zwilchen ihn und den wärmenden Kachelofen gerüdt 
wurde? Un pafiender Stelle fand er neben fidh ben im Fuß⸗ 
boden befeftigten Stiefelzieher und den mit einer fette an bie 
Dfenbant gehängten eijernen Schuhlöffel. Wer mun gar das 
Glück Hatte, zur Winterdzeit in dem Teil der Alpen zu wandern, 
wo, ungefähr zwiſchen der Furka und dem Sulier, der grünliche 
Tonftein von Chiavenna die Dfenlacheln erſetzt, der konnte das 
Behagen kennen lernen, mit dem man auf bem niebern breit 


Das deutſche Dorfwirtshans 319 


aus Steinplatten aufgebauten Dfen feinen derben Veltliner zu 
ſchlürfen pflegt, denn in den dortigen alten Bergwirtöhäufern 
ift die Oberfläche des Ofens als erhöhter Ehrenplag mit einem 
niedrigen Tiſch und Schemel außgeitattet. Was Tann die Moder⸗ 
nifierung an die Stelle dieſes Behagens jeßen, das man elementar 
nennen möchte, und deſſen Beitandteile man eine Tages eifrig 
für die Vollsmufeen der Bulunft fuchen wird? 

Auch wenn die Mittel viel größer und der moderne Mafjen- 
geichmad viel weniger ſchlecht wären, würden diefe guten alten 
Dinge nicht zu erſetzen fein. Der Fall ift jehr lehrreich für unſer 
Kunſtgewerbe. Welche kurzfichtigen Enthufiaften, die einem modiſchen 
Stil zulieb alles umgeftalten möchten, ohne zu bebenten, daß das 
gute Alte aus einem Boden herausgewachſen ift, den fie mit 
aller Begeifterung nicht nachſchaffen können! Hier haben bie 
Generationen, wie fie aufeinander folgten, für diefelben Bedürf⸗ 
nifje mit nur langfam fi) wandelndem Gejchmad geforgt, indem 
fie nad) Maßgabe ihrer Mittel ſtückweiſe anjchafften und nad)- 
ſchafften; fie wählten das Bwedmäßige und Gediegne, denn fie 
dienten nidht der Mode. Die beiten Sachen entitanden auf 
Höhepunften des bäuerlichen Dafeins: zur Ausftattung der Braut, 
als Zaufe oder Firmgeſchenke. Der Umkreis des Bedarfs war 
nicht groß, und wenn er durchſchritten war, brachte die neue 
alte Gelegenheit, das alte neue Geichent. So ſammelten ſich die 
mejfingnen Leuchter zum Dubend, das blankgeputzt den friefiichen 
Kaminſims ſchmückt — ich war fehr erftaunt, denjelben Schmud 
in den Hütten der Filcher von Cette und Ugde zu finden —, 
und fo erhielten die geichliffnen Weinflafchen ihre zahlreiche 
Nachfolge, die man im Glasichrant einer oberrheiniſchen Wirts 
Ichaft bewundert. Der „Glasträger“ bat Jahr für Jahr eine 
neue aus der böhmijchen Waldhütte in den Odenwald getragen. 
Und ununterbrochen ging die Beichaffung neuer Leinwand am 
Spinnrad fort, dad in der langen Winterzeit faft ohne Unter- 
laß ſchnurrte. 

Heute dedt man dir auf gemeinem fichtnen Tiſch, deſſen 
Platte nicht wie die in Abgang geratnen birnen= oder apfelholznen 
gebohnt wird, deshalb verbedt werden muß, ein jchnödes Tuch, 
das einer Jutefabrik entftammt, darüber ein braunes Wachstuch, 
und ftellt darauf eine unnötige Menge von Taſſen, Untertafjen, 
Zellern, Zuderfchälden, Kannen und Kännchen aus grüngerän- 
dertem Porzellan mit dem Monogramm de Herrn Hinterhuber 
ober der Frau Obermayer. Es darf nicht an flaubigen Palmen, 


3% Das deutfcdhe Dorfwirtshaus 


fogar blechernen, auf der langen Wirtötafel fehlen, die für die 
Herrſchaften beftimmt ift. Für Blumenfträuße reicht die Zeit nicht 
mebr, audy geht die Blumenzucht in den Dorfgärten zurüd, wo die 
genügfamen, dankbaren Bauernblumen, wie Buſchnellen, Hahnen⸗ 
famm, BZinnien, Stundenblumen, Rosmarin, nicht mehr die alte 
Liebe finden. In dem Schlafzimmer ſetzt und in Staunen jeneß 
untrüglichfte Merkmal der Reform: der Eimer aus Steingut, in 
einfadhern Verbältnifien aus blauemailliertem Eijen, neben dem 
Waſchtiſch. Mit ihm ericheinen glüdlicherweile fait regelmäßig 
die umfänglidern Waſchſchüſſeln, die unzweifelhaft die befte von 
allen Neuerungen im deutſchen Wirtshauszimmer find. Wenn 
aber daneben noch jenes ſinnreichſte und ftilvollfte Möbel ber 
Biedermeierkultur erhalten tft, der auf ſchraubenförmig gewundnem 
Buße, wie eine Lotoßblume, fi) dir entgegenhebende Spuds 
napf, der feine Sägeipäne unter gedrehtem Dedel ſcheu ver- 
hüllt und fi immer an Stellen berumtreibt, wo er Gefahr 
läuft, umgeftoßen zu werden, dann ftehn zwei Zeitalter beutfcher 
Kultur vor dir. Verachte dieſen opferichalenähnlichen Spudnapf 
nicht, er fteht nicht fo allein, wie e8 den Anſchein bat. Nicht 
nur das Sofa aus den vierziger oder fünfziger Sahren mit 
möglichft viel Holz und möglichit wenig Polſter, nidht nur das 
Bildnis irgendeined Yürften oder einer Prinzeffin, Beute Ur⸗ 
greife oder längft zu den Ahnen verjanmelt, in faſt märchen⸗ 
bafter Jugendlichkeit, die fo ftraßlend auch vor fünfzig Jahren 
kaum gemwejen fein können, nicht nur der grapbitglängende Dfen, 
der ein bufeifenförmiges Rohrpaar zur Dede jtredt, 

über die raſche Vergänglichleit feiner ſchwer erzeugten Wärme: 
viel mehr gehört zu ihm, ift ihm alter8= und Eulturberwandt. 
Dft ift es der ganze Geift des Haufes, der nur ein paar neue 
Formen angenommen bat, die mechaniſch angeeignet und ange⸗ 
lernt find. 

Aus diefem Widerfpruch gehn recht unfreundbliche Eigen- 
ſchaften des modernifierten ländlichen Wirtshauſes hervor. Der 
alte Buftand, der beifeite gefegt werden joll, war das Erzeugnis 
einer langen nngeftörten Entwidlung, in der er die organiichen 
Eigenſchaften des langſamen Herangewachſenſeins erwarb. Das 
alte ländliche Wirtshaus war, ob gut oder jchlecht, aus einem 
Sub. Indem nun unlundige Hände Änderungen vornehmen, 
begegnen ung endlojfe Widerſprüche. Der neue Wirt Ichafft mit 
gewaltigem Aufwand ein moderned Eßgeſchirr an, aber feine 
Frau gehört zu der in Deutichland fchredlich raſch zunehmenden 


Das deutfche Dorfwirtshaus 991. 


Maſſe von Frauen, die nicht mehr Tochen können; deshalb ein 
ungenießbares Eſſen auf fein gemaltem Steingut. Und jo 
weiter durch geichliffne Gläſer mit fchlechtem Wein biß zum 
Schlafzimmer im modernſten Renaiſſanceſtil mit unmöglichen 


" Betten. 


Die deutiche Renaifjance hat ihre tollften Sprünge in den 
neu eingerichteten Wirtöhauszimmern gemacht, Die in den zwei 
Yetten Jahrzehnten von angeblich wertlofem ®erümpel gereinigt 
und dafür mit ftilvollen Möbeln ausgeftattet worden find. Wo 
Preiserhöhungen für ein Zimmer von achtzehn Kreuzern ſüdd. 
auf drei Mark eingetreten find, wie in jo vielen Wirtshäuſern 
der füddeutfchen Sommerfriichen und Yremdenftädte, Tonnte es 
dem Wirt nicht darauf anfommen, ob er ein paar hundert Mark 
mehr für feine neuen Sofas und Sefjel anlegte, wenn nur der 
Eindrud de Lururiöfen erreicht wurde, der die ſprungweis vor- 
genommenen Preißfteigerungen rechtfertigte. Die deutiche Renaiſ⸗ 
fance zeigt natürlich gerade hier ihre ſchwachen Seiten ganz 
unverhüllt, wo der praftifche Bwed der einfach bequemen Ein- 
richtung fo nahe und eben deshalb ganz außer dem Geſichtskreis 
des von den neuen Ideen erfüllten Kunjtfchreiner8 und Tape⸗ 
ziererd liegt. Die fünfziger und die fechziger Jahre Hatten die 
deutſche Bimmereinrihtung auf ihren niederften Stand herunter- 
gebracht, wo Bequemheit und Schönheit gleich vernadjläffigt 
worden waren, Billigfeit und Schablone ſich mit der vollendeten 
Unfähigkeit der Handwerker verbanden, das praftiich und äſthetiſch 
Unbrauchbarſte zu fchaffen, maß e8 um 1870 auf dem weiten 
Erdenrund an Haudeinrihtung gab. Und dann der plößliche 
Auffhwung zum Stiloollen! Statt jedes einzelne Möbel be⸗ 
quemer und fefter zu machen, wurden die unpraktiſchen, unfoliden 
Konftruftionen mit Schnörteln umgeben, wie fie der Stil vor- 
ſchrieb. Statt das zum Liegen und Siben gleich unbequeme 
Sofa, an deſſen geichweiften harthölzernen Nüden und Lehnen 
man fi) unfehlbar anjtieß, wenn man den kühnen Gedanken zu 
verwirklichen juchte, fi) auf ihm augzuftreden, mit einem wahren 
Diwan zu vertaufchen, wurde das hochrüdige Brunffofa eingeführt, 
auf defien Gefims zweckloſe Krüge und Vaſen verbächtig klappern, 
wenn fi der Nuhebedürftige auf ihm ummendet. Oder, um 
den „Fortſchritt“ an einem andern Heinern Beiſpiel zu zeigen: 
den guten alten Leuchter mit feitem Handgriff und tiefer Röhre, 
in die das Licht feft Hineingeftellt und burch eine bewegliche 
Hülfe nachgefchoben werden konnte, bat der filberpfattierte ver⸗ 

Rayel, Slädsinfeln und Träume 21 


322 Das dentiche Dorfwirtshaus 


drängt, der eine ſchlanke, faft windig zu nennende Form, keinen 
Griff und nur ein jeichtes Grübchen für ein dünnes Licht Hat. 
Bon Schieben fein Gedanke; daB Licht leuchtet hoch von oben 
herunter, wenn e8 neu ift, droht bei jeber Beivegung berunter- 
zufallen und fintt in fein Grübchen ein, wenn e3 niebergebraunt 
ift. Diefen Leuchter darf man auch nicht oft blankputzen, weil 
fonft das Kupfer durchſchimmert. Im glaßreichen Böhmen und 
in Schlefien gibt es folche Leuchter aus dem filberbelegten Glas 
der Weihnachtskugeln! Die haben doch wenigftens noch etwas 
Rührendes, Naives. Wenn ich aber dieje glänzenden Belege 
des Verlommend des einfachiten praktiſchen Sinne und des 
elementaren Geſchmacks ſehe, denke ich mit Sehnſucht am die 
ſchwarze Eifenflammer in der Mauer neben dem Herb, in bie 
einft der büfterflammende Kienfpan eingejchraubt wurde. Und 


viel ſchöner vor als die verjchnörfeltfte Dedtenmalerei, die rote, 
—— — lebendige Flamme poetiſcher als der langweilig⸗hellſte 


In den induftriellen Zeilen bon Deutfchland find die befiern 
unter ben neuen Gafthäufern oft wahre Gewerbeaußftellungen. 
Das bringen die gejchäftlichen Beziehungen mit fi), daß der 
Wirt Mbnehmer der neueften Erzeuguifie des Umkreiſes Ieineß 
Stadichens it. Was für Privatleute Überfiuß wäre, das kann 
feinem Haufe Nugen bringen. Ich babe in Gaſthäuſern Fleiner 
Städte der Laufitz —** Teppiche, ſchleſiſches Steingut und 
Dresdner elektriſche Lampen, dazu Seiden⸗ und Federblumen 
auf jedem Tiſch und Schrank, geſchliffne Glaſer, japaniſche Brettchen 
mit echt abendländiſchen Muſtern, vogtlaändiſche Vorhänge ge- 

. ber leider bat dieſe vera ihre Lücken, die übrigens 
lehrreih find. Die Tapeten der Wände find foft immer ge 
ſchmadlos. Schwere Farben und große Mufter, fogenannte Ohr⸗ 
feigenmufter, wiegen vor. Bon Sarmonie zwiſchen den Wänden 
und der Dede tft feine Rede. Die Hauptiadhe ift aber, daß all 
da8 bunt zufammengewürfelte nicht zufammenpaßt. In Nieder⸗ 
deutfchland, wo, wie in Belgien und Frankreich und auch in 
unferm Reichsland, in den vierziger und fünfziger Jahren bie 
Mahagonimöbel ſehr verbreitet waren, machen die einfachen, 
praltiichen, geräumigen Formen noch heute einen harmoniſchen 
Eindrud., i Kunftgeiverbe 


und Vollskunſt. Auf welche Abwege dad Streben nad) einer 











—— run u — nn 


Das deutfche Dorfwirtshaus 323 


äußerlichen Ausſchmückung der Gebrauchögegenftände ohne Rück⸗ 
fiht auf den Zweck und ohne Verbeflerung des Materials führt, 
kann man nirgends befler als gerade in den Zimmern einfacher 
Wirtshäufer beobachten. In größern Städten find einige neue 
Gafthäufer mit gediegnem Geſchmack eingerichtet worden, wie man 
ihn vor dreißig Jahren nicht kannte. In die Fleinern Städte und auf 
das Dorf ergießt fich der verlogne Schund eines „billigen Luxus,“ 
ber unglaublich teuer, weil unzwedmäßig und undauerhaft ift. 
Wie wenig von dem Aufſchwung der beutichen Kunft dem 
Bolle zugute gekommen ift, zeigt auch der Bilderſchmuck der Wirts⸗ 
häufer dieſes Volls. Hier hat der Olfarbendrud verwüftend ge- 
wirkt. Hätten wir doch noch die alten Stahlftiche oder Litho- 
graphien, die den nun längft bläulich oder grünlich bereiften 
Stümpereien in Olfarbe haben weichen müffen. Die großen Er- 
eigniffe unfrer neuern Geſchichte haben nichts daran gebeflert. Ver⸗ 
gleiche ich Die Schlacdhtenbilder von 1864, 1866, 1870/71 — wahr 
lich, e8 Hat unſern Künftlern nicht an Material gefehlt! —, die 
ihren Weg bis in die Gaftzimmer deutjcher Wirtöhäufer gefunden 
haben, jo bin ich immer wieder erftaunt, wie wenig es ift, und wie 
Ichlecht und unzwedmäßig da8 wenige genannt werden muß. Lahm 
aufgefaßt, ſchlecht gezeichnet, enblich noch ſchlecht gebrudt, das gilt 
von nahezu allen. Wie waren da die alten Bilder: Napoleon 
bei Aufterlig, Napoleon bei Wagram und dergleichen in Stahl- 
ftihen und Lithographien padend. In einem lothringifchen Gaft- 
haus fand ich den feinerzeit auch in Deutichland verbreiteten Holz- 
ſchnitt nad) Yoond 1859 preisgefröntem Bilde „Die Erſtürmung 
des Malakoff.“ Niemand kann das Bild ohne Interefje betrachten. 
Der Holzichnitt fieht wie eine Doppeljeitige Beilage zur Illustration 
aus, kann aljo nicht teuer geweien fein. Ein jo interefjanteg, 
babei echt volkstũmliches weil ganz verſtändliches Schlachtenbild 
aus unjern großen Jahren habe ich nie in einem deutſchen Gaſt⸗ 
zimmer gejehen. Was Wunder, daß ſich und ein Vorſaal oder Gaft- 
zimmer eines Wirtöhaufes tief einprägt, wo wir alte Ölgemälde 
hängen ſehen, und jeien fie auch bis zur Unfenntlichleit dunkel ge⸗ 
worden. Zum Glüd find noch nicht alle zum Trödler gewandert. 
Das deutſche Bett wird einft auch jeinen Geichichtichreiber 
finden. Ich gebe bier nur Eleine Beiträge zu einer Seite jeiner 
Geſchichte. Wenn man das Bett ald eines der bea 
Geräte des Menichen deshalb bezeichnet Hat, weil er faft bie 
Hälfte aller Stumden feines Lebend darin zubringt, fo erheiſcht 
das Wirtshausbett eine doppelt jorgfältige Betrachtung, denn es 
21* 


324 Das 'deutfche Dorfwirtshaus 


beherbergt feine Gaͤſte noch viel länger als das Häusliche oder 
Familienbett. Das Wirtshausbett ift in Deutichland vom. Bett 
bes Privathauſes vor allem darin verihieben, daß es ein Einzel⸗ 
bett iſt. Während man in Frankreich und in England in ſtadtiſchen 
und ländlichen Gafthäufern noch häufig die Doppelbetten trifft, 
die bequem von einem Paar benugt werden Fönnen, u an 
Schläferpaare, nicht bloß Ehepaare, zur Not aud) an drei Schläfer 
vermietet werden, wiegt in Deutfchland überall das Einzelbett 
vor. Es entipridht das ganz der Entwicklung des deutſchen Bettes 
überhaupt. Das alte Himmelbett iſt in vielen Teilen Deutſchlands 
—— im achtzehnten Jahrhundert in die Aumpellanımer gewandert, 
die Familie in England und in Frankreich daran feftbielt. 
Im ehelihen Schlafgemach ift es dann durch zwei aneinander- 
gerüdte Betten erjegt worden. Auch zu den Bauern bat fi 
diefe Mode verbreitet. Sie berühren Er aber auch darin mit 
der Geburtsariftofratie, Daß bei beiden an der alten Sitte bes 
geräumigen Bettes am zäheſten feitgehalten worden if. Das 
find die beiden Stände, bei denen nicht leicht Raummangel ein- 
trat, und die auch am fefteiten auf ihrem Boden ſitzen geblieben 
find. In dem ſeit dem Nebgehnien S Sahrhundert immer mehr 
verarmenden Kleinbürgertum und unfteten Beamten- und 
Dffizierdfamilien muß man Dagegen en Trug des Schalen, 
meift auch kurzen — 7 Bettes augen, da3 der Rajernen- 
pritfhe am nächften verwandt if. Dad Minimum hat es in 
Mitteldeutſchland erreicht, wo Ehningen, Tele bon Hefien, Sachſen 
und Schlefien fowohl in den Dimenfionen al in der Ausftattung 
des Bettes das Unmöglihe an Unbequemlichkeit leiften. Bann 
ſchon on eine Schütte Stroh! 

Als daB beutiche Bett von feiner üppigen Fülle verlor und 
abzumagern begaun, konnte es ſich doch nicht entichließen, auf 
feine hohen Dimenfionen ohne weiteres zu verzichten. Was es 
an Yedern verlor, gewann e8 an Holz zurüd, indem es fich num 
auf die vier Füße ftellte, auf denen es fich bis auf den heutigen 
Tag feit erhalten Hat, tropdem daß niemand zu fagen weiß, 
weichen Bert diefe Vierfüßigkeit eigentlich haben fol. Die Un- 
zäbligen, die aus hohen Betten beraußgefallen find, die vielen, 
die die Schwierigfeit erprobt haben, felbft mit Hilfe eines Bett- 
ſchemels oder Hockers die Spike des Bettturmes zu befleigen, 
die zahllofen Furchtſamen, die jede Nacht unter da8 Bett leuchten 

um den Miſſetät er zu entbedien, der ſich dort verborgen hält, 
warınm baben fie ih nicht zufammengetan und einen Bund gegen 


Das deutfche Dorfwirtshans 925 


bie hohen Bettbeine und überhaupt gegen die Vierfüßigkeit des 
ganzen Weſens gemacht? Die Furcht und die Bequemlichkeit ver- 
mögen doch fonft foviel in deutichen Landen, warım denn nicht 
bier? Ya, wenn nicht die Bequemlichkeit, fich ind Unbequeme zu 
fügen, fo verführeriich wäre! 

Erft nad) fremden Muftern bat man ganz langfam die 
Bettbeine niedriger gemacht, aber manchmal doch nur fo weit, 
daß die VBefteigung noch immer eine beträchtliche Leiftung, einen 
Aufſchwung verlangt, defien nicht jeder fähig tft. Obgleich Die 
deutſche Sprache den Müden fagen läßt: „Ich bin fo müd, 
daß ich ing Wett Hineinfallen möchte,“ jo bat der Deutiche doch 
nicht aus der eignen Erkenntnis der Untauglicjleit des hoch⸗ 
beinigen Bette heraus ein Bett geichaffen, das diefen Wunſch 
des Müben erfüllte, fondern in Nachahmung der engliichen und 
franzöfifchen Vorgänger. Aber leider in Heinlicher, ftümperbafter 
Weile, die wieder das wejentliche überjah, daß das Belt zum 
Nuhen in geftredter Lage beftimmt if. Das Bett ift mın auf 
fürzere Beine gejtellt, hat aber in feinen Weichteilen noch einen 
Neft der alten Auftürmung in der dreifachen Fiffenlage und 
dem überflüffigen, wenn nicht jchädlichen Unterbett bewahrt. Es 
ift jehr merkwürdig, wie das bejonderd im Sommer unerträgs 
liche. und ungelunde Federdedbett in ganz Weftbeutichland, der 
Schweiz, Bayern und felbft Böhmen durch die wollne oder ge- 
fteppte Decke mit. einem leichten Federkiſſen (Plumeau) ſchon jeit 
Jahrzehnten verdrängt ift, während man ihm in Thüringen, im 
Harz, in Sachſen, in der Mark und Schlefien noch in anſpruchs⸗ 
vollen Gafthäufern, fogar in großftäbtiichen begegnen kann. Die 
angenfällige Verbeflerung wird an manchen Stellen mehr ala ein 
Sabrhundert nötig haben, fi vom Rhein und von der Donau 
bis zur Oder fortzupflanzen. Den für den müden ®andrer ver- 
bängnißbollen zeitiweiligen Sieg des Seegrafes über das Roßhaar 
und die gewiß nur kurzlebige Verdrängung beider durch die heim- 
tüdiichen Sprungfedermatraßen zu ſchildern, muß id) Dem Hiſtoriker 
des bdeutichen Bettes überlaflen, der hoffentlich feine Aufgabe in 
Angriff nimmt, ehe es zu jpät ift. 


4 


Der Bergivandrer, der bei fintender Nacht noch das och 
überjchritt, fteigt auf kaum kenntlichem Pfad, über den fich ge= 
fegentlih) eine morſche WWettertanne gelegt Hat, ins Tal Binab. 





996 Das deutfche Dorfwirtshaus 


Durch das Gebüſch der Legföhren, aus dem nur einzelne ſchlanke 
Ebereſchenbaumchen und ſchwanle Gerten der Bivergweide heraus⸗ 
ragen, glänzt ihm ein rötlicher Schimmer herauf, der erft Hein 
wie ein Stern ift, dann breiter, voller leuchtet, endlich die züngelnde 
Flamme zeigt, vor der ſich unfenntliche Geftalten hin und ber 
bewegen. Es ift das SHerdfeuer einer für einige Wochen ala 
Sommerwirt3haus dienenden Alphütte. Welch tröftlicher Anblid 
empfängt nun den Müden, wenn er vor der breiten Tür des einfachen 
Blodhaufes feinen Ruckſack abhängt, um ihn neben dem Bergſtock 
auf der Bank neben der Tür abzulegen, wo Reiben hölzerner Weid⸗ 
linge (Milchſchalen) zum Trodnen ftehn. Über bem Herdfener hat 
die Stelle des gewaltigen Kefield, worin die Mil für den KAſe 
zum Gerinnen gebracht wird, eine flache eiferne Pfanne ein=- 
genommen, in der ein Schmarren „broßelt,* dem, indem er ſich zu 
bräunen beginnt, ein herrlicher Geruch entqualmt. Eine kundige 
Hand bewegt dieſes Mittelding von fteifem Brei und Backwerk mit 
einem eijernen Schäufeldden, hebt ed immer wieder vom Boden 
der Pfanne ab und zerichneidet es in Kleinere Stüde. Dem Duft 
merkt man an, wie jüß die Milch war, die bier mit dem Mehl 
gemifcht wurde, und wie rein die Butter, in der der Teig brät. 
Die Pfanne wird jeht vom Herd gehoben, einer von den Hirten, 
der den Wirt fpielt, teilt die Blechlöffel aus, und die Gejellichaft 
greift mit Wohlgefallen zu, ohne indeffen die Mäßigung zu ver- 
geſſen, die beim Efien aus gemeinfamer Schüfjel geboten ift. 
So alt wie dad gemeinfame Mahl ber im Kreife um die Speile 
gelagerten, fo alt ift auch die Duelle des Anſtandes in der Zurüd- 
haltung der Hungrigen, von denen jeber glei den halben 
Schmarren auffreflen möchte, aber geduldig wartet, bis ſein 
Nachbar „hHineingelangt“ Hat. Der moderne Table d'hote⸗Menſch, 
der feinem Nachbar den lebten Biſſen wegißt, kann von diejen 
einfachen Leuten lernen. 

Das Mahl ift beendet, man Löfcht nun den Durft aus einer 
Bütte frifchen Waſſers, das eben von einer nahen Duelle geholt 
worden ift, gießt fi) Wafjer über die Hände, die man mit wergnem 
Handtuch abtrodnet. Vielleicht wandert noch eine Flaſche Enzian 
aus dem Dunkel des Wandichräntchens dort in der Ede unter 
dem Seiligenbild hervor und würzt zujammen mit dem unbers 
meiblichen Tabak die Unterhaltung ber Hirten und ihres Gaftes, 
die fich wieder um das Herdfeuer verjammelt haben. Es plaudert 
ſich auch ohne das vortrefflich angefidhtö der Flammen, die wie 
lebend auf und nieber fteigen, fid) ausbreiten und zurüdfinten. 


Das dentfche Dorfwirtshaus 327 


Es liegt ſoviel beruhigendes, in Träume wiegendes im Anſchauen 
eineß Herdfeuers; ich würde e8 nervöſen, fchlafjuchenden Menjchen 
empfehlen. Eine harzgefüllte Lüde zeriprengt mitunter ein dürres 
Sichtenfcheit mit lautem Knall und ſchleudert wohl gar einen 
Zeuerbrand vom Herde. Der Gaft, der vermutlich das luft⸗ 
arme Schlaflämmerdhen neben dem zugleich ala Käferei, Küche 
und Gaftzimmer dienenden Raum verjchmäßt, fteigt eine Stunde 
nad) Sonnenuntergang mit wohlverficherter Baterne einen ſchmalen 
Hühnerfteig empor zum Heulager über dem Biegenftall, wo er 
fi) zwiſchen zwei Wolldecken unbeſchreiblich bebaglich bettet. 
Schön iſts dann, wenn bei der erften Dämmerung die Sterne 
ohne Funkeln vom Himmel verſchwinden, und nicht eine Wolle 
im regenverfündenden Morgenrot beraufzieht; es ift aber auch 
nicht fo ganz unſchön, wenn nad einem warmen Wbend ein 
Landregen „einhängt,“ der mit ftiller Notwendigkeit hernieder- 
riejelt. Kennſt du vielleicht, lieber Leſer, auch eine Stimmung, 
in der du dem grauen Regenſchleier dankſt, daß er fich zwiſchen 
deiner Einfamleit und der Welt zuzieht? Jedenfalls tut e8 beim 
einförmigen Ton der fallenden Tropfen gut, fi) noch etwas tiefer 
ind Heu zurüdzuziehen und das Gefühl der Geborgenheit im 
Trodnen und Warmen zu genießen. 

So ungefähr denke ich mir auch dag urſprüngliche Wirts⸗ 
haus, das ähnlich bei Holzfällern im Walde und bei Fiſchern 
am Seeftrand fein mochte. In erweiterter Form, aber im lern 
dasſelbe war das nieberjähhfiiche Bauernhaus mit dem Herd im 
Hintergrund der Tenne, über dem Ganzen der offne Dachftuhl 
wie in einer byzantiniſchen Kirche. Wenn in Weftfalen ober im 
Lüneburgiſchen ein Bauernhaus Säfte aufnahm, fo faßen fie ge⸗ 
rade fo um das Herdfeuer wie heute dort in der Alphütte; umb 
ihre Schlafftelle war dann meiftend auch über dem Scafftall 
neben dem uralten Langhaus. 

Im heutigen Wirtshaus ift der Herd ftreng vom Gaſtzimmer 
gejondert. Der Herd iſt eine Werfftätte geworben, die mit zahl- 
reichen tunftreichen Geräten auögeftattet tft, womit eine entfprechend 
mannigfaltige Menge von Speijen zubereitet wird. Eine jehr tief- 
gehende Arbeitsteilung |pricht fich darin aus. Der Halb ftäbtifche 
Charakter de3 in ganz Mittel- und Süddeutichland vorherrichenden 
fränkischen Bauernhaufes mit feiner Abſonderung mehrerer Räume 
zum Wohnen, Schlafen und Kochen, außerdem nicht jelten noch 
eined PBrunf- und Borratzimmers kam diefer Arbeitsteilung ent⸗ 
gegen. Darum finden wir mertwürdigerweije dad Wirtshaus aud) 





328 Das dentſche Dorfwirtshaus 


in ſolchen Dörfern Niederdeutſchlands nad fränkiſchem Stil an= 
gelegt, wo die Bauernhäuſer noch niederfächfiich find. In ber 
Abtrennung bejondrer Räume kommt auch das alemanniſche und 
da8 bayrifch-tirolerifche Bauernhaus der Ausicheidung von Küchen 
und Wirtſchaftsräumen entgegen. Deshalb leuchtet und hier überall 
nicht mehr der Herd vom Mittelpunlt des Hauſes ber mit Iener 
die Kultur und die Gaftlichleit fymbolifierenden Flamme. Beim 
Eintritt in das Haus haben wir in der Regel gleich links von 
der Hausflur dad Wirtözimmer, defien in der rechten Ede fidh 
mächtig erhebenber Kachelofen mit feinen bebaglichen Bänken bie 
Stelle des Herdes als Sammelplat der Haußgenofien und Säfte 
eingenommen bat, während die gegenüberliegende Kammer als 
„Herrenftübchen“ eingerichtet ift, wo dazu ein Bedürfnis iſt. Ans 
dem Hintergrund ber macht fi dur) den Duft und das Ge 
klapper der Töpfe die Küche bemerklich, und man muß froh fein, 
wenn man von der Flur aus einen Einblid in ihr Innere 
gewinnt. Mit dem Herde, dem dunkeln Raudfang, den leuch⸗ 
tenden fupfernen und zinnernen Geſchirren, und durch den bläu- 
lichen Dampf, in dem alles ericheint, ift bad oft ber einzige noch 

maleriſch gebliebne Raum im ganzen Haufe. 

Das nun die Entwidlung doch nicht notwendig gerade dieſen 
Weg nehmen mußte, lehrt die Erhaltung des großen Vorraumes 
mit dem Herde in den franzöſiſchen und den italienifcheu Wirts⸗ 
häufern nicht bloß der Dörfer, jondern aud) ländlicher Städte. So 
wie das franzöfifche und das norditalieniiche Bauernhaus diefeu 
Raum ald Eintrittsraum, Küche und Wohnraum bewahrt, fo ift er 
auch im Wirtshaus erhalten geblieben, wo fich daneben ein Heines 
Gaftzimmer befindet, da8 mehr Speile al Trinkzimmer ift. 
Es gibt aber auch größere, vortrefflihe Gafthäufer, wo die Küche 
mit Bratipieß, Roſt uf. im Hintergrund, alle glänzend und 
rein, bon der Straße aus zugänglich ift; man findet darin ſogar 
den Schreibtiſch, an den Wänden die Eifenbahnfahrpläne, kurz es 
ift eine Verbindung von Küche und Kontor und jymbolifiert Har 
die beherrichende Stellung der hier waltenden ®irtin. Daneben 
erft führt eine kleinere Tür zu den Gaft- und Wohnzimmern. 

St nun bei und auch räumlich der Herd aus der Mitte 
des Hauſes gerüdt, fo bildet für das Wirtshaus doch die Küche 
noch immer den Schwerpunkt, um den ſich alles andre reißt und 
ordnet; und das auch dort, wo nicht eine energiihe Wirtöfrau 
am Herde den Kochlöffel ald Feldherrnſtab ſchwingt. In ber 
Rähe der Küche pflegt der Eingang zum Keller zu liegen, unb 


Das deutſche Dorfwirtshaus 329 


um Speife und Trank drehen ſich ja die Wünſche und Hoffnungen 
der Gäfte des Hauſes. Für ſolche, Die länger unter dem gaſt⸗ 
lihen Dad) des WirtShaufes verweilen, ift jelbftverftändlich die 
Leiftungsfähigleit der Wirtsküche ebenjo wichtig wie die Ein- 
richtung des ganzen übrigen Haufe; aber auch dem Wandrer, 
der nur im Borübergehen vorfpricht, wird es erft recht wohl, 
wenn er fi in einen fruchtbringenden Rapport mit der Küche 
ſetzen kann. Am. Uufprafjeln des Feuers und am lang ber 
Küchengeräte merkt er, daß man ſich bort für ihn in Tätigkeit 
jet, und fein Behagen wird num erft voll. Gewiegte Speije- 
kenner verfügen ſich wohl gleich felbit in die Küche, um Wünfche 
oder Natichläge vorzubringen, z. B. die, die ſich den Schnitt 
lau) auf der Suppe oder die Bichorie im Kaffee zu ver- 
bitten wagen. Sie feßen ſich aber dabei der Gefahr einer ab- 
weifenden Behandlung nad) dem Grundſatz der Nichteinmiſchung 
und ber territorialen Unverleglichleit eine® Gebietes aus, wohin 
fi die Gynäkokratie als auf ihr eiferfüchtig gehütetes Altenteil 
zurüdgezogen bat. 

Was und wie auch das Wirtöhauß fein mag, von ber in 
der Küche waltenden Kunſt und Wiffenichaft hängt ein großer 
Teil des Rufes ded Hauſes ab. Und darum ſeien am Schluß 
diefer Wanderftudie einige Erfahrungen aus dem Gebiet der 
deutichen Kochkunſt beicheidentlich mitgeteilt. Sie beftreben ſich, 
den ſchuldigen Reſpekt vor der in Deutichland, wie nirgends 
fonft, in der Küche alleinherrichenden Weiblichkeit mit dem Frei⸗ 
mut zu verbinden, dem der deutſche Mann auch dort nicht ent- 
jagen darf, wo er von ben Werfen der holden Frauen jpricht. 
Sie ſcheuen fih auch nicht, Dinge mit Wichtigkeit zu behandeln, 
die man hergebrachterweiſe als unwichtig Hinftellt, während das 
Wohl und Wehe der Nationen auch von ihnen abhängt. Iſt es 
nicht eine Torheit, der Küche wie einer unantaftbaren Inſtitution 
gegenüberzuftehn, fi) zu ärgern und zu fchiweigen? Sch bin 
überzeugt, daß ein guter Zeil beutfcher Grämlichkeit und Empfind- 
lihleit vom ſchlechten Eſſen kommt. 

Es ift ein Grundzug des deutſchen Dorfwirtshaujes von 
ben Alpen bis zum Belt, daß die Frau die Küche und der Mann 
den Keller verwaltet, während die Ordnung der Schlafzimmer 
den weiblichen Dienftboten obliegt. Der Mann unterhält außer- 
dem die Gaͤſte. Daß es anderswo ganz anders ift, haben wir 
ſchon bei der Erwähnung lothringifcher Wirtöhäufer erwähnt. 
In Frankreich und in Stalien beforgt der Mann die Küche, die 


330 Das deutfche Dorfwirtshaus 


Frau die Gaſt⸗ und Speifezimmer. Der Keller tritt bort mehr 
zurüd. Dort taucht in ftarf befuchten Wirtshäufern überhaupt 
der Mann den ganzen Tag kaum aus feinem bunfeln 

hervor, der Saft bat es nur mit weiblichen Weſen zu tun. Be⸗ 
kennen wir es mit dem oben gewahrten Freimut: die Küche fährt 
befler dabei. Der Mann erweift fich auch bier als der Träger 
des Fortſchritts. Die beherrichende Stellung der franzöfiichen 
Kochkunſt bat der Koch gefchaffen und nicht die Köchin. Die 
Unfelbftändigleit der deutichen Küche entipricht der Unfelbftändig- 
feit der deutichen Frau neben ihrem Mann. Alle Achtung vor 
bem ehrbaren Stand der Köchinnen. Uber man gibt allgemein 
zu, daß zu den höchſten Höhen ber Kochkunſt nur Köche empor- 
geftiegen find. Man muß auch zugeben, daß kochende Männer 
nicht Rückſchritte zugelafien hätten, wie twir fie gerade in ber 
Küche des Dorfwirtshaufes beobachten muſſen, wo fie allerdings 
nur ein deutlicher bervortretendes Symptom eines allgemeinern 
Verfalls find. Der liebenswürdigen Flatterhaftigleit der weib- 
lihen Natur entjpringen unzählige Heine Verſtöße gegen bie jo 
einfaden Grundregeln der vernünftigen Speifebereitung. So 
wie man dem englilchen Kunſtgewerbe vielfach den überwiegenden 
Einfluß der Yrau in Charakterzügen der Feinheit und Bartheit 
anmerft, die aber oft ind Süßliche, ich möchte fagen ind Teehafte, 
abjchweifen, jo muß man in der deutjchen Küche einen Mangel 
an Kraft, Würze, Gejalzenheit der Herrichaft des von Natur 
ſchwachen, empfindlichen weiblichen Geſchmacks zufchreiben. Nur 
ein Mann konnte die Grundlagen der Paprikaküche Ungarns 
ſchaffen und die Eräftige Olla potrida des Kaſtilianers auf wohl- 
gewürzter Höhe erhalten. Unbillig wäre es allerdingd, zu ver⸗ 
ichweigen, daß die deutfche Küche unter dem Drud ber Bolle- 
verarmung in frühern Jahrhunderten fo manches Gute verloren 
bat, das ihr einft eigen war, und daß die weibliche Sparfamteit 
Bewundernöwerted in der Anpafjung an bürftige Lebensverhält- 
nifje gerade in der Küche geleiftet bat. 

Bei allen Laudfchaftlichen Unterfchieden ift von einem Ende 
zum andern Deutſchland daß Land der großen Suppen. Die 
feanzöfiiche Küche ſpendet Imftreiche, gewürzte Suppen in fo 
einen Mengen, daß fie kaum den Boden des Tellers bebeden. 
England brät fein Fleiſch und läßt Beef-Tea nur taffenweis für 
ſchwache Magen zu. Italien hat feine kräftigen Mineftras, Reis⸗ 
und Gemüfefuppen, in deren didflüffiger Maſſe ſoviel Fleiich- 
bröddhen, Fragmente von Leber, Herz und Stüde von unbeftimm- 


Das deutfche Dorfwirtshaus 331 


baren Vögeln fteden, zum Glück unbeftimmbar! denn fie könnten 
auch von Mäuſen oder Maulwürfen jtanımen, daß fie eine ganze 
Mahlzeit in fich vereinigen. Deutſchland allein ift aus großen 
Suppenſchüſſeln dünne Suppen, in die die Kraft des gelochten 
Fleiſches übergegangen ift, oder denen man in andrer Welle 
etwas Gehalt zu verleihen bemüht ift. Mit einer folchen Suppe 
muß das deutihe Eſſen anfangen. Undantbar wäre es, zu ver- 
tennen, daß in deutſche Suppen ſchon manche ſchöne „Ideen,“ 
gebadne und andre, hineingelegt worden find, wodurch man fie 
befähigte, ein Mittaggmahl nicht bloß in ſtofflich genußreicher, 
fondern auch in gemütlich) ergöglicher Weiſe einzuleiten. Denken 
wir uns einmal unter Vernachläſſigung aller Unterichiede des 
Raumes Alldeutichland beim Efjen. Welche mannigfaltigen Suppen 
ericheinen da! Immerhin find landſchaftliche Unterſchiede wohl 
zu erfennen. Im Süden berrichen die Teigjuppen, ſchwimmende 
Mehlſpeiſen könnte man fie nennen, vom Wasgau bis zur Salzad), 
vom Bodenjee bis zur Lahn; die hervorragendften unter dieſen 
Suppenbeftandteilen find die Nudeln (als Nouille find dieſe 
tunftvoll dünn geichnittnen Bänder und Fäden aus Teig auch 
ind Franzöfiihe übergegangen) und der geriebne Teig, aud) 
Eiergerftl genannt, die Späßle in Schwaben und am Oberrhein, 
deren Vertreter in Bayern die verfchiednen Arten von Knödeln 
find, die Flädle, die aus dünnen, in Schmalz gebadnen „Fladen“ 
bandförmig gejchnitten werden, die gebadnen Erbien aus Tropfen 
eines dünnen Zeiged, die man in heißes Fett fallen läßt. Es 
it ein endlojes Variieren über da8 Thema Mehl, Mil und 
Ki, ein Variieren mit Geſchmack und Bhantafie. In Schwaben 
erreicht dieſe Entwidlung ihren Höhepunkt. In Bayern, dem 
Lande des größten Fleiſchkonſums in Deutichland, kommt die 
kräftige Milzſuppe und jene herkömmlich am Samstag gegefjene 
Suppe mit einer großen, mit flüffiger Fleiſchmaſſe gefüllten 
Wurſt, deren Inhalt der Eſſende geichictt, wenn auch nicht immer 
appetitlih, in die Suppe ftreift. Dieje mannigfaltigen Suppen 
nehmen nach Norden immer mehr ab, nördlich von Köln, Kaffel, 
in Thüringen, Oberjachfen treten Graupen, Reis, Hülfenfrüchte, 
Kartoffeln immer mehr an ihre Stelle, und es ericheinen dazu 
ganz neue Schöpfungen und Suppenzutaten: Rofinen im Nord- 
weiten in der Bumpernidelfuppe, Kirichen, gedörrte Bwetichgen, 
Bier. Hier ift auch das Land der Kalteichale und der Fiich- 
fuppen, die in der Hamburger Walfuppe eine wahrhaft phan- 
taftiiche Ausbildung erfahren Haben. Der Kenner flawijchen 


332 Das dentfche Dorfwirtshaus 


Bollstumd wird hier manchen Spuren begegnen, die nad) Dften 
weijen. Eine Filchfuppe und Daneben ein mohnbeftreutes „Striegel* 
find mir immer als ganz fremde Ericheinungen auf deutſchen 
Wirtötifchen erichienen, und man begegnet jener auch nur im 
DOften, bier aber von Litauen biß Kroatien. Die im ganzen 
Südeuropa und in Frankreich und Belgien jo wichtigen Gemüſe⸗ 
fuppen, in die auch Rüben, Sellerie und Kartoffeln geichnitten 
werben, die Grundlage des franzöfiihen Pot-au-feu unb der 
ſpaniſchen Olla potrida, find in Süddeutſchland nicht heimiſch; 
in unjre ®irtsfüchen find fie nur in der fehr verdünnten Form 
der jogenannten S$uliennefuppen eingedrungen. Die deutiche 
Kühe Hat überhaupt viel von ber Kenntnis des Wertes ber 
Suppenträuter eingebüßt, die einft viel weiter verbreitet war. 
Das Spridwort „Er ift wie Beterfilie auf allen Suppen,“ b. 6. 
überall zu finden, verfteht man in vielen Zeilen Deutichlands 
fhon heute nicht mehr. Der vortrefflicde Lauch ift durch den 
bejonders in Bayern graffierenden Schnittlaudh übel erjegt worden. 
Daß Sauerampfer und Kerbel trefflide Suppen geben, weiß 
man im öſtlichen Deutichland überhaupt nicht, und der in Frank⸗ 
reich beliebte Löwenzahn, den man für nichts auf jeder Wieſe 
pflüden kann, wird bei und verſchmäht. In manchen Teilen 
Deutichlands ift die Gartenkunft nicht weit genug fortgeichritten, 
dem Gaftwirtstifch Die Gemüje, Salate und Würzpflanzen zu 
liefern, die notwendig find, wenn die Speijen mannigfaltig und 
Ihmadhaft werden follen. In mandem Wirtsgarten Frankreichs 
findet man ein Dutzend Salatarten, in ganz Oberbayern und 
Schwaben, im größten Teile von Mittel» und Norddeutſchland 
nur eine, und zwar die ſchlehtefre, —— weicdhhlättrige 
Kopfjalatart. Salate, die zu den Freuden bed genuhfäbigen 
Menſchen gehören, wie der römiſche, kommen überhaupt in 

diefer Zone auf feine Wirtstafel. So tft ed mit den Gemülen 
und dem Obſt. Daher ber Unfinn der Näpfe voll einge- 
machter Preißelbeeren im Hochlommer und ber bürren Biwetichgen 
vom vorigen Jahr in der Beit der Kirfchen- und der Aprikoſen⸗ 
ernte. In einem Lande, wo es Boden und Sonne genug 
gibt, friihe Gemüfe, frühes Obſt, friihe Mil, friſche 
Butter und friſches Fleiſch in Maſſe zu erzeugen, muten mid 
die Pyramiden von Konfjervenbühfen, Wargarinetöpfen und 
geräudherten Schinken und Würften, mit denen die Ladenfenfter 
prablen, als eine koloſſale Verirrung an. Es ift ja ganz fchöm, 
daß Deutſchland eine große Konjerveninduftrie für den Export 








Das deutfche Dorfwirtshaus 333 


Yat, und auch für die Verforgung der Armee und der Marine 
find Konferven nötig. Sie werden aber zum Unfinn und zur 
Zandplage, wo fie dazu verführen, die friſchen Erzeugniffe im 
Übermaß zu Tonfervieren, um fie dann teurer, ſchlechter und un⸗ 
geiunder als die friichen auf den Markt zu bringen. Sovtel, 
wie ben Gäften an Genuß und Behagen, entgeht dabei den 
Wirten und Bauern durch die Vernadhläffigung der Gartenzucht 
an Gewinn. Nicht vom Klima, wie man entichuldigend jagt, 
hängt bie Armut der Gemüſe- und Obftgärten in Bayern und 
im größten Teil von Mittel- und Norddeutſchland ab; ich Tenne 
vortrefflich gepflegte und ertragreiche Gärten in hoher Lage in 
Nordtirol und in den fübmeftdeutichen Gebirgen. Die Urſache 
dieſes Verfalls ift allerdings zufammengefebt, doch aus nahver⸗ 
wandten Eigenfchaften des Volles: der Trägheit der Arbeitenden 
und der Genügfamkeit der Genießenden. Das find aber die 
Grundurſachen aller Barbarei, die ja mit einer in andern Dingen 
fehr hohen Kultur zufammengehn kann. Iſt e8 nicht barbarijch, 
die Gaben zu vernadhläffigen, die dem Menfchen verliehen find, 
damit er fich fein Dafein immer mehr ausgeftalte? Die Kultur- 
fortſchritte liegen in der Steigerung der Leijtungen und For⸗ 
derungen. Darum find auch die Kleinften Merkmale der Aus⸗ 
ftattung des täglichen Lebens jo lehrreich. 

Da ich Hier gerade von Pflanzen gefprochen habe, die uns 
die köſtliche Erfrifchung der Salate liefern — der von Eichrodt 
befungne Schnedenfalat tft ſpezifiſch ſüdweſtdeutſch, der Ochſen⸗ 
maulfalat ift wahrjcheinlich auch urſprünglich nur in beichräntten 
fränkiſchen Gebieten befannt gewejen —, jo mögen auch einige 
Worte über DI und Eifig erlaubt fein, ohne die es keinen Salat 
gibt. DI aus Nüffen und Buchecern fpielt Heutzutage felbft in 
der Dorfküche feine Nolle mehr. Das Olivenöl herricht unbedingt 
vor. Die deutſche Nafe ift num diefem welſchen Produft gar 
wenig gewachſen. Mit rauhem und ranzigem DI Tann man 
aber aus den zarteiten Pflanzen Teinen guten Salat bereiten. 
Und der Eifig gehört heute der chemiſchen Induſtrie, Die ihn aus 
Holz waſſerklar und Icharf wie Mineraffäure herftellt; früher galt 
er al8 ein Nebenerzeugnis der Bierbrauerei und der Weinfüferei. 
Ihn durch Zuſatz von Würzkräutern zu verbeſſern, veriteht man 
faft nirgends in Deutichland mehr. Franzöſiſcher Eſſig und 
franzöfifche Eſſigkonſerven von Maille und andern werden da⸗ 
gegen maflenhaft nach Deutſchland eingeführt. Bon Pfeffer ver- 
braucht Deutichland nur die mildeiten Sorten, und wenn aud) 


334 Das dentfche Dorfwirtshaus 


feit vierzig Jahren Gulaſche und andre Paprilagerichte in Deutſch⸗ 
land in die Wirtsküche und im Süden auch in die bürgerliche 
Küche eingedrungen find, fo ift ihre Wirrzung doch nur ein blaffer 
Schatten von ber brennenden Schärfe des ſpaniſchen Pfeffers in 
Ungarn und Spanien. Auch die engliihe Küche würzt fchärfer 
und mannigfaltiger als die deutſche. Wenn diefe ihre guten 
alten „Zunten“ und „Brühen“ bewahrt hätte, jo Zönnte fie 
freifich. mit Verachtung auf Die Batterien von Saucen in Gläfern 
Hinabjehen, die den engliſchen Wirtstifch zieren. Wber ae 
ein ärmlich verneinender Geiſt hat die Erfindung gemacht, daß 
man jeder Bratenbrühe mehr „Konfiftenz“ verleihen Tann, indem 
man fie mit billiger Kartoffelftärle zu einem efelhaften braunen 

Kleifter verrührt. Und damit verderben nun unjre Wirte ihre 
beiten Braten, indem fie eine einzige Generalſauce über jegliche 
Art von Fleiſch gießen. 

Die Zeiten find vorbei, wo fi) die Dienftboten am Rhein 
ausbedangen, nidht jeden Tag Lachs eſſen zu müflen, und wo 
Wildbret in den waldreichen Gegenden Mitteldeutſchlands billiger 
war als Rindfleiſch. Deutſchland ift indeflen noch immer ein 
wildreiches Land. Seinen Fiſchreichtum hat die Induſtrie fchwer 
geichädigt, aber die Fiſchzucht Hat auch wieder manches Gerwäfler 
fruchtbarer gemacht, und die Sonlefihere liefert ihre Erzeugniffe 

} eine unbelannte Größe 


war. Auf den Tiſchen der Alpengafthäufer wechſeln 
Nordſeefiſche mit Frutti di mare des Mittelmeers ab. Aber die 
zunehmende Bevöllerung hat die Fleiſchpreiſe überall in die Höhe 
getrieben. Seit etwa zehn Jahren find ſogar im Oſten und im 
Südoften Deutſchlands, mo Breslau und München die billigften 
deutichen Großftädte waren, die Hagen über die hoben Fleiſch⸗ 
preife immer lauter geworben. Auf dem Dorfe tft Fleiſch immer 
eine Feiertagsſpeiſe geblieben, aber der Bebarf der Städte nimmt 
das gute Fleisch dem Lande und läßt ihm das fchlechte. Fleiſch iſt 
darum die ſchwachfte Seite der Küche des Dorfwirishauſes, und im 
Sommer tritt in deu überfüllten Sommerfrifchen und Seebädern 
gelegentlich einmal ein Fleiſchmangel ein, dem durch ſchleunigen 
Bezug aus der nächiten Großftabt vorgebeugt werden muß. 


dann Daß nelodhte Sleifdh ober brät eß nocheinmal _„Guppe 
und Fleiſch“ ift daS Lofungswort der bürgerlichen Küche in ganz, 
Deutihland. Für den Tiich bebeittet das fobiel wie Suppe und 


Das deutfche Dorfwirtshaus 335 


Suppenfleiſch. Früher war der Unterjchied bes Wertes der Fleiſch⸗ 
ftüde vom Rind jo gering, daß auch Die beiten Stüde gefocht wurden, 
und da ftaud das geſottne „Zellerfleiih,“ das der Bayer vom 
Holzteller ißt, Teinem Braten nach, und das „Rindfleiſch mit 
Beilage* war am Gafthaustiih der Kern des Mittagmahls. 
Daß bat ſich in den meilten Gegenden ftarf geändert, und auf 
dem Lande eſſen auch die wohlhabenden Bauern ein zähes Kuh⸗ 
oder Stierfleiich, daß dem Städter ungenießbar vorkommt. Des⸗ 
wegen nimmt auch die Zubereitung des Fleiſches in ſolchen Formen 
überhand, wo die ſchlechte Beichaffenheit des Stückes verbedt 
wird: daß Kochen des in Stüde geſchnittnen Fleiſches mit Kar⸗ 
toffeln, das gehadte Fleifch ald Kuchen, Klops ufw., vor allem 
aber die zu Zufägen aller Urt einladende Wurf. „Gebadnes“ 
war einft nur der öfterreichiichen Küche eigen, und die Backhähndl 
bleiben charakteriftiich für Wien und alles Land öftlid) von Wien, 
während fich die Schnigel als die bequemfte Bubereitung des 
ichlechteften, zu hautartiger Dünne außgezognen Kalbfleifches weit 
verbreitet haben. 

Wo ift die alte Kunft des Bratens hinverſchwunden, die 
wir auch darum als eine edle bezeichnen müſſen, weil fie dem 
einfachſten, natürliden Vorgang noch fo nahe ftand? Der 
Jager, der ein Stüd Wild erlegte, ſchnitt ein Stüd Fleiſch ab 
und briet es an einem Stab, den er fchräg in die Erde ftedte, 
ſodaß das Fleiich gerade vom euer beitrichen wurde. Er drehte 
ihn einigemal herum, und der Braten war fertig mit dem natur- 
mäßigften, beften Geichmad, dem des friſch geröfteten Fleiſches, 
um das ausgetretnes Blut und Fett eine fchöne, wohlbuftende 
Rinde bilden. Das Braten am Spieß ift eine leichte Abänderung 
diejeß Verfahrens. In England und in Frankreich Hört man das 
Geräufch des durch ein Uhrwerk gebreßten Bratipießes aus der 
Wirtsküche, Deutichland ift faft überall vom Spieß abgegangen. 
Für die meiften find die großen Bratipieße in den alten Schlöffern 
foffile Merkwürdigkeiten, und erft das Beitalter der Bubenfcheiben 
und Truhen bat auch den Spieß da und dort wieder in Die 
Kühe zurüdgeführtt. Das Braten zwiſchen zwei beiveglichen 
etfernen Roften, in England vor den Augen des Gaftes im Grill- 
Room geübt, in Frankreich und in Italien noch weit verbreitet, ift 
bei uns ebenfalld außer Gebrauch gelommen. Es ift wahr, daß 
beide Methoden nicht jo einfad find wie das beutiche Braten 
in der Bratröhre des Herde; aber ein Huhn vom Spieß oder 
ein Beefſteak vom Roſt ift auch etwas andres als ein Braten in 


836 Das deutfche Dorfwirtshaus 


der Pfanne, der immer in der trodnen heißen Dfenluft von 
feinem natürlichen Saft und Duft verliert. Gar nicht zu reden 
von jener zur Verhüllung der ſchlechten Dualität des Fleiſches 
erfundnen Verballhornung des Lendenjtüds, des „beutichen“ Beef⸗ 
ſteaks, des zerhadten, mit Zwiebeln dicht beftreuten und infizierten, 
das mit dem echten Beefſteak nichts ald den Namen gemein bat, 
oder des Noftbrateng, der ungleid dem italienifchen arrosto nie 
einen Roſt gejehen Hat, oder des bayriichen Kalbsbratens, der 
zuerft gefocht und dann leicht angebraten wird! Diele und viele 
andre würde der Biolog „Kümmerformen“ bes echten Bratens 
nennen, mit dem fie nur den Schein einer Berührung mit dem 
Teuer gemein haben. Das einzige Beefſteak hat die natürliche 
Eigenichaft des Bratend bewahrt, die Kraft und den Wohlges 
ſchmack der Fleifchfafer und des Blutes gleichfam in verdichteter 
Zorm zu bieten. Zum Zeil find diefe Entartungen aus Spar⸗ 
famfeit geboren, zum größern Teil aber aus Dummheit und Be⸗ 
quemlichleit, die fi) in der beutichen Küche mit einer merlwür⸗ 
digen Unbeftändigleit verbündet haben. Gerade die Geſchichte 
des Braten? zeigt, wie feſt die Engländer an einmal bewährten 
Gebraͤuchen halten, und auch die Franzoſen find in der Küche 
viel Tonferbativer als Die Deutſchen. So wie bei und das Ge⸗ 
werbe ımd beſonders das vielgelobte Kunſtgewerbe auf die Maſſen⸗ 
erzeugung billiger Scheinwaren, die im Kern nur Schund find, 
mit einem gewiffen Radikalismus ausgeht, fo ift in ber deutichen 
Wirtsküche die raſche und billige Mafiendarftellung der Speijen 
im Fortichreiten, wobei ſich eine Turzfichtige Weisheit in Surrogat 
und ſchön fein follenden Spielereien gefällt. Was nübt mir die 
Mufchelichale, in die man ein gemeined Hackfleiſch füllt? Oder 
die alten Krebsſchalen, in die man gekochte Semmelkrumen hinein- 
ftopft? Ich kann mich dabei nie enthalten, an die Betroleums 
lampe mit ſchlechtem Brenner und verichnörfelten „Nenaiffance“= 
Füßen zu denfen. Die liebevolle Vertiefung in die Geheimnifie 
der Kochkunſt ſchwindet immer mehr. Ich ſehe die Zeit kommen, 
wo man im bdeutjchen Wirtshaus dem nad einem Mittageflen 
verlangenden Saft eine Erbswurſtſuppe und eine Fleiſchkonſerven⸗ 
büchfe in heißem Waſſer binftellt, die er fich öffnet und aus 
dem Blech heraus Leer ißt. Der Wirt als Händler, vielleicht 
auch als Spekulant in Sonjerven und fonftigen „Danerivaren“: 
das ift das Biel, dem unfre Küche zuftrebt, oder vielmehr der 
Strudel, in den fie Hineingerifien wird. Zum Glück fcheint 
mon die Gefahr zu erfennen und fucht durch Kochichulen der 


Das deutfche Dorfwirtshaus 337 


Eulinarifchen Verrohung und Verflachung entgegenzuwirten, die 
tn der Heinbürgerlichen und Arbeiterfüche noch viel bedenklichere, 
unmittelbar das Yamilienleben bedrohende Wirkungen hat als in 
der Wirtsküche 

Genug nun von der Kühe! ES gibt Dinge, von benen 
man einmal muß abbrechen können. Mit Recht gilt es alß ein 
Zeichen ſchlechter Erziehung, viel vom Efien zu reden. Wir 
fonnten aber an ber Küche bei unfrer Wanderung durch) das 
ländliche Wirtshaus nicht vorübergehn, und wollten es nicht, denn 
fie ift der Beachtung wohl wert. Vielleicht hat unfre Plauderei, 
die nur Einzelned berühren Tonnte, fchon gezeigt, daß fid) auch 
in ber Küche der Charakter und die Geichichte eines Vollkes 
fpiegeln. Die Wiffenichaft jollte dag wohl in Betracht ziehen. 
Ich hoffe auch dafür viel von ber aufblühenden Vollskunde. 
Bar ift noch in dem neuen Werke „Deutiche Volkskunde“ von 
Elard Hugo Meyer (Straßburg, 1897), das in vielen Beziehungen 
vortrefflich ift, die Küche und die Vollsernährung fo kärglich be- 
handelt, daß man von einer auffallenden Lücke ſprechen Tann. 
Die Bedeutung der Speilen ımb Getränfe, ihrer Bereitung und 
ihres Genuſſes hat der Verfaſſer dieſes Buches offenbar zu gering 
geſchätzt. Sind fie aber nicht mindeſtens ebenjo wichtig wie Dorf- 
anlage, Hausbau, Arbeiten, Fefte, Sprüde und Sagen? Iſt es 
vielleicht weniger der Forſchung würdig, der Berwandtichaft des 
ſchleſfiſchen Hefenkloßes, diefer von Dichtern gepriejenen National- 
ſpeiſe, mit ber fchmäbiich-fräntifchen Dampfnudel nachzugehn, als 
den Beziehungen des jchlefiichen und des fränkiſchen Bauernhaufes? 
Auch die Verbreitung der Kochkunft und ihrer Werke zeigt große 
Büge, die den Zuſammenhang des Alltäglichen mit mächtigen Be- 
wegungen der Geſchichte zeigen. 

Es gibt zu denken, daß im allgemeinen in Deutichland von 
Beten nad) Dften die Kochkunſt abnimmt. In Süddeutſchland 
ft Bayern, troß manchem Guten, tief unter Schwaben, in Mittel- 
deutfchland ift Sachſen ein ausgeſprochnes Minimalgebiet, in 
Rorddeutichland bietet Weftfalen viel mehr eigentümliche gute 
Dinge als alles Land öſtlich davon. Spiegelt ſich nicht auch 
darin der Gang der beutichen Kultur aus ihren alten rheiniichen 
Sitzen nad) Dften wider, und die Veränderung und Verarmung 
als die Folge der Anpflanzung auf neuem folonialen Boden, 
defien eignes Wachsſstum niedergetreten war? Rätſelhaft bleibt 
allerdings der Tiefftand der Kochkunft in ganz Mitteldeutichland 
von Der belgifchen biß zur polnifchen Grenze, und ea ſchwer 

Nagel, Slüdstnfeln und Träume 


338 Das dentſche Dorfwirtshaus 


tft die Dürftigfeit der deutich-jchweizeriichen Küche außerhalb des 
Bannkreiſes der Fremdengafthäufer zu erflären. Oſterreich ift 
ein Gebiet für fi), deſſen Küche unter dem Einfluffe Staliens 
und Ungarns in manchen Beziehungen noch die Südweſideutſch⸗ 
lands übertrifft, und zwar find in Oſterreich Böhmen und 5 Siilefien 
noch trefflich außgeftattet, wo wir auf der deutſchen Seite: f 
einer traurigen Verarmung gegenüberitehn. 


m 





Südweſtdeutſche Wanderungen 
357 





1 


Der geniale Berfafler der „Gefchichte der Sage,“ der viel 
zu früh verſtorbne Julius Braun, pflegte fein badiſches Ländle 
das Weich der Mitte zu nennen. Er, Badenſer durch Geburt 
und auch von Humor, kannte fehr gut Die ftolze Selbftzufrieden- 
heit und da8 warme Behagen feiner zwiſchen Rhein und Schwarz- 
wald fo ſchön warm gebetteten Landsleute. Er legte aber feinem 
Scherz einen tiefern Gedanken ımter: Baden iſt im räumlichen 
Sinne wirklich ein Land der Mitte. Zwiſchen der Schweiz und 
dem Elſaß, der Pfalz und Württemberg, fid) im Nordoften bei 
Wertheim und Prozelten mit dem bayriſchen Franken, an ber 
obern Donau mit Hohenzollern» Preußen berührend und endlid 
im Süboften noch durch den Bodenſee mit Ofterreich verbunden, 
fteht e8 den allerverichiedenften und entlegenften Einflüflen offen. 
Neulid wurde Baden in einer altbayrifchen Zeitung aß das 
„Brobierlandl* von Deutichland bezeichnet, wozu die überaufge- 
Härte Bureaufratie ed gemacht haben follte. Zange vor der Bureau- 
kratie hat die Natur jelbft Baden zum Probierland! gemacht. Denn 
jo wie e8 in Badens Lage geichrieben fteht, Daß auf dem Schwarz- 
wald alpine und an den heiten ®eländen des Rheintals ſüd⸗ 
franzöfifche Pflanzen wachſen, oder daß der Wein von Durbad) 
mehr an den Elſafſer, der Bauländer an den Württemberger und 
ber feurige Gerlachſsheimer an den Frankenwein erinnert, fo fliegen 
den offnen Köpfen in diefem offnen Lande hier franzöſiſche und 
Dort ſchweizeriſche Ideen an, und in diefem Winkel berrichen 
Würzburger und in jenem Heilbronner Einflüffe vor. Wenn dies 
nun auch leider gar nicht felten zu dem Ergebnis geführt hat, 
daß der von allen Seiten befruchtete Volksgeiſt einem Ader glich, 
in deſſen Saaten von allen Himmelögegenden Samen blühenden 
Unkrauts verweht wird, jo hat e8 doch zu der Art von Bildung 
beigetragen, die, nad) dem badiſchen Ausdrud, den Mann ge= 
würfelt macht. Nicht umfonft trägt der Rhein jeine grüngrauen 
Fluten durch Die ganze Länge des Landes, wobei er an beiden 


342 Südweftdentfhe Wanderungen 


Ufern die reichſten Sammlungen alpiner Gefteine in enblojen 
Kiesbänken ablagert. Einſt wurden die abgeihliffnen Berg- 
frijtalle, die „Nheinkiefel,“ bald waſſerklar, bald gelblich und 
rötlich, als Halbedeliteine wert gehalten. Heute haben fie jehr an 
Schaͤtzung verloren. Auch das Gold des Rheines wird faum mehr 
gewaſchen, ſeitdem der Tagelohn das Doppelte und das Dreifadhe 
des durchſchnittlichen Ertrages einer mühſamen Tagesarbeit mit 
dem Waſchtrog beträgt. Mitte der fünfziger Jahre, als Handel 
und Wandel darniederlagen, lohnte es fi) noch, einen Verdienſt 
von vierundzwanzig Kreuzern zu erwaſchen. Damals prägte die 
Rarlsruber Münze noch die ſchönen hellgelben Dulaten aus Rhein⸗ 
gold, die heute nur noch der Sammler fieht, und die Ehepaare 
des badifchen Fürſtenhauſes trugen Eheringe aus Rheingold. Bald 
wird der Nhein feinen Anwohnern das Gold in andrer Form 
bringen. Man wird ihn bi8 Straßburg für größere Fahrzeuge 
ſchiffbar machen und hoffentli auf den Seitenfanal Straßburg 
Ludwigshafen verzichten. Dann wird das Land zu beiden Seiten 
des Oberrheins in noch höherm Make werden, was e8 zur Römer⸗ 
zeit war und feitdem immer mehr geworden it: eines der be= 
lebteften Straßenländer Europad. Der Rhein, die SU, Kanäle, 
Straßen, Eifenbahnen, dieje meift Doppelt auf beiden Seiten, wie 
Bergitraße und Talſtraße: jtärfer und unaufhaltiamer noch ala 
das Waſſer ftrömen die Menichen und die Waren landauf landab, 
Schweiz und Niederlande verfnüpfend und bis nad Üfterreich 
und Frankreich hinein von den zwei großen links⸗ und rechts— 
rheinischen Pläten Straßburg und Mannheim aus mächtig an= 
ziehend wirkſam. 

Wer hätte es fich träumen lafjen, daß das langweilig in den 
Rheinſand Hingewürfelte Mannheim der fünfziger Jahre, die Stadt 
ohne Altertümer und Straßennanıen, die ohne ihr Theater in 
einem dunkeln Winkel der deutſchen Geſchichte ftünde, ein Welt⸗ 
bandel3plag werden würde? Heute ift Mannheim einer der erften 
Süßwaflerhäfen Europas, für Oberdeutichland und die Schweiz 
mindeftens das, war für das Ofterreich nördlich von der Donau 
das mächtig aufblühende Auffig ift, für Getreide und Tabak noch 
viel mehr. Was Frankfurt an oberbeutihem Verkehr verloren 
bat, das ijt fait alles Mannheim zugute gelommen, und das zur 
Wettbewerbung hingeſetzte Ludwigshafen Hat Mannheims Größe 
nur noch vermehrt. Mannheim hat jeiner jungen Nachbarin Euger- 
weife die Großinduftrie überlaffen und ift nicht bloß eine ber 
reichften Aheinftäbte geworden, fondern auch eine der reinlichiten 


Süöweftdeutfche Wanderungen 343 


geblieben. Der Spuren der Kleinen engen Refidenz der Latho- 
liſchen Rurfürften von der Pfalz find immer weniger geworden. 
Noch vor vierzig Jahren gab es Straßen, deren Heine einftöcige 
Häuschen in die Breite der vom fröhlich ſproſſenden Gras grünlich 
angehauchten Straßen Hinter ihren ſchmalen Sanbfteinfteigen hinab⸗ 
zuſinken ſchienen: das verfteinerte Kleinbürger- und Kleinbeamten⸗ 
tum. In Darmſtadt, Homburg, Wiesbaden, Karlsruhe gab und 
gibt es zum Teil noch diejelben Häufer, die alle aus der Wende 
des Jahrhunderts ftammen. Auch Stuttgart Hat noch Spuren 
davon. So wie in Mannheim herrſchten fie doch nirgendswo. 
Hatte doch feine von allen diefen Städten jo fchwer gelitten und 
gefämpft. Jene gediehen unter dem Schuß ihrer Fürften zu einem 
wenn nicht großen und rühmlichen, doc auskömmlichen Leben, 
während Mannheim eigentlid) erſt mit dem Eintritt Baden in 
den Zollverein fein eigned unabhängiges Leben gewann. Ich habe 
Mannheim nie betreten, ohne daß mich wie ein junger, frifcher 
Hauch die Empfindung anmwehte: von allen blühenden Städten 
Deutſchlands dankt diefe am meiften ihre Blüte dem, was Ge⸗ 
famtdeutichland geeinigt und groß gemacht hat. Es iſt auch fein 
Zufall, daß zwei der namhafteſten badifchen Staatsmänner, Die 
am Reich haben bauen helfen, Mathy und Solly, aus Mannheimer 
Familien ftanmen. Und da jo oft dem Judentum ein Löwenanteil 
an dem gejchäftlichen Aufblühen Mannheims zugeichrieben wird, 
möchte ich Die bezeichnende Tatſache hervorheben, daß Mathy 
und Jolly franzöfiichen Uriprungs find. Diefe jugendliche Grün- 
dung bat wie eine Kolonie in überfeeifchen Landen Menfchen 
auß allen Gegenden angezogen; und ſicherlich waren es nicht die 
energielojeiten, die fich in dem fandigfumpfigen Winkel zwiſchen 
Nedar und Nhein niederliefen. Mannheim hat oft verfucht, fo 
wie wirtichaftlih auch politiich allen badiſchen Städten voran⸗ 
zujchreiten, wa8 ihm nicht immer gelungen und noch viel weniger 
befommen if. Die Zeiten, wo Heder und Struve Mannheim 
zum Brennpunkt einer oberdeutihen Bewegung in republikaniſchem 
Sinne zu machen ftrebten, find faft vergefien. Doch blieb ſeitdem 
eine Eiferfucht und ein Mißtrauen zwiſchen Karlsruhe und Mann⸗ 
beim lebendig, das ja nun auch bejeitigt zu fein fcheint, wie fo 
manches Kleine und jo manches Mihverftändnis im beutichen 
Leben. Wer aber da3 unerwartete Aufblühen Karlsruhes ver- 
folgt Hat, zweifelt nicht daran, daß es wefentlich durch bie Über- 
tragung der in Mannheim heimiſchen Tatkraft in die Ichläfrig 
und unfelbftändig gewordnen Kreiſe der Reſidenz gefördert worben 


344 Sũudweſidentſche Wanderungen 


ift. 68 ift derſelbe Prozeß, der wiſcn Mainz und Darmſtadt 
und entfernter zwiſchen Nürnberg und Münden, Leipzig unb 
Dresden geipielt hat; wie denn mit icber deutichen Reſidenz eine 
Schweiterfiadt in Wettbewerb getreten ift, wobei fi) das dort 
gebrüdte und gebucte Bürgertum, durch den Gegenſatz angeſpornt, 
freier regte. Das iſt ein ſehr heilſamer Wettbewerb, der in der 
Neubelebung bürgerlicher Tugenden ungemein glüdlich gewirft hat. 
Ich rechne hierher auch die Pflege des Theaters, deren Einfeitig- 
teilt man den Mannheimern oft verdaddt hat. Dan warf ihnen 
bor, daß fie außer vom Geſchäft nur noch vom Theater zu reden 
müßten. Welde franzöfifche oder engliſche —* hat aber aus 
eigner Kraft eine fo reipeltable Pflegeftätte der Kunſt erhalten? 
Ale Achtung and darin vor Mannheim! 

Um auf das Wirtſchaftliche zurüdzulommen, jo werden die 
in den lebten Jahren von ſchwäbiſcher Seite viel erörterten Pläne 
zur Hebung der Nedarihiffafrt — Vertiefung bis Heilbronn, 
Nebenkanal für Eßlingen — natürlich auch dem badijchen Rhein⸗ 
Nedarhafen zugute fommen müfjen. Eine Zunahme des Nedar- 
verkehrs hatte Mannheim in den letzten Jahren en ſchon 
zu verzeichnen. Sogar der Paſſagierverkehr hat auf dem untern 
—* wieder Aufnahme gefunden. Wir, die das —— 
nur durchwandern, freuen uns dieſes Aufblühens einer jungen 
Stadt nicht in dem lokalpatriotiſchen Sinne, der in Mannheim 
bon der ftark jũdiſch durchſetzten Großfaufmannichaft bis hinunter 
zum „Neckarſchleim“ — bie unterften Vollsklaſſen, vor allem 
Schiffer und Hafenarbeiter — fehr ſtark ift, jondern weil Mann⸗ 
heim und das Wiederaufblühen des gejamten deutichen Wirtſchafts⸗ 
lebens verdeutliht. Und außerdem verzeichnen wir mit BBe- 
friedigung das dabei zutage tretende einträchtige Zuſammenwirken 
der Stadt mit der Regierung, bie bei den Außgaben für die neuen 
Hafen- und Bahnanlagen in Mannheim wahr 6 bewieien bat, 
dag man in Baden nicht bloß die Kühnheit und die Veweglich⸗ 
feit hat, die zum Probieren gehört, fondern aud) die den Erfolg 
fider faſſende Weitfiht. Muß ich mich vielleiht zu den unpral- 
tiichen Ideologen rechnen lafjen, weil id) die Anfiht der Manns 

nicht teile, ihre Stadt werde „von oben herunter“ nur 
jo fräftig gefördert, weil man den Plänen zur Hebung Straßburgs 
eine große unverrüdbare Tatjache, Mannheim als die Haupthandels⸗ 
ftadt Oberdeutſchlands, entgegenjeßen wolle? Diefe herrlichen, wohl⸗ 
gelegnen Länder, Baden auf der einen, daB Eljaß auf der andern 
Seite, Tönnen zwei große Handelsftädte nähren. Schreitet Dentſch⸗ 


Südweltdeutfche Wanderungen 945 


land, wie wir alle hoffen, vorwärts, dann wird die Ausdehnung 
der Großſchiffahrt bis Straßburg nichts andre für Mannheim 
bebeuten, als was Frankfurt erlebt bat, als fich ein Zeil feines 
Handel nah Mannheim verlegte; Frankfurt hat durch Die 
Ranalifation des untern Mains reichlich wieder gewonnen, was 
e8 vorher verloren Hatte, und die Zukunft wird ihm noch viel 
mehr, nämlich fein altes Verkehrsgebiet, das Mainbeden bis 
Böhmen und zur Donau, wieder erichließen, wenn es den bay- 
rifhen Plänen auf Verbeflerung der Mainichiffahrt und der 
Main-Donauverbindungen fräftigen Vorſchub Ieiftet. Für Straß- 
burg ift man ja leicht verjucht, eine noch viel größere Perſpel⸗ 
tive zu eröffnen: den mitteleuropäifchen Zollbund im engen Verein 
mit Frankreich, wo dann Straßburg natürlich) eine großartige 
Aufgabe zufiele. Ach bin aber kein Freund von Nebel, nicht 
einmal im fchönen Rheintal, wo der Nebel nicht fo ſchmutzig braun 
und grau wie im Norden, fondern von tadellojer Weiße ift, als 
fei er von den Alpengipfeln mit dem Rhein berabgeflofien, und 
nicht einmal im Weinlande, wo der Nebel als guter Freund des 
Winzerd gilt, weil er die Traubenbeeren mweid) made, und auch 
bon den Vorbergen des Odenwalds und des Schwarzwalds herab 
jehe ich ihn nicht gern, auf denen die Sonne um fo wärmer 
liegt, je Dichter da unten das Nebelmeer wogt. Dieje Rhein⸗ 
und Nedarnebel gehn aber immer rajch vorüber, und gewöhnlich 
folgt noch an demjelben Mittag ein heller Sonnenſchein. 
Halten wir uns aljo an da8, was wir Deutlich jehen und 
greifen können, fo zweifeln wir feinen Augenblid, daß Baden 
im Elfaß ein Hinterland oder, wenn es höflicher klingt, ein 
Nebenland gewonnen hat, mit dem es einen ſich unerwartet ent- 
widelnden Verkehr pflegt. Früher war der Lokalverkehr zwifchen 
den beiden Ländern ungemein beichräntt. Nur eine ftehende 
Brüde auf der langen Rheinlinie Bafel-Dannheim! Wie wenig 
bedeutete der Verkehr über die Schiffbrüden von Rheinau und 
Selz! Es iſt doch fein Zufall, daß, jo oft ich über die Selzer 
Brüde gegangen bin, Elſäſſer Bauern badiſche Ferkel vom 
Naftatter Markt gen Hagenau trugen, weiter nichts, wobei ſich 
mir immer ber törichte Gedanke aufbrängte, wie ſchön e8 wäre, 
wenn die Eijäffer die altveutichen Menfchen ebenjo freundlich 
behandelten wie die altdeutichen Ferkel, die fie mit Bärtlichkeit 
in weichen Säden über den Rhein trugen. Sollte nicht die jahre- 
lange Erfahrung, wie gutartig dieje altdeutichen Tiere find, das 
unter blauer Bluſe jchlagende Herz diefer fränkiſch⸗alemanniſchen 


346 Südweftdeutiche Wanderungen 


Hartlöpfe auch für altdeutfche Menſchen wärmer fchlagen machen? 
Doc weg mit ſolchen Aheinnebeln! Da taucht die alte Rheinauer 
Schiffbrücke vor mir auf, wo ich 1870 Boften ftand, als Fuhre 
um Fuhre die Negiezigarren der Benfelder „Manufaltur” gen 
Lahr gefahren wurden. In jeglichem Sinn konfiszierte Ware! 
Die Rheinauer Bauern waren einig; einen folcden Verkehr hätte 
fi die alte Brüde nie träumen laffen. Der Rhein bildete eben 
bis zum Fall von Straßburg hauptſächlich eine Schranfe, die nur 
der Schmuggel gewohnheitsmäßig überfchritt. Es genügt, an die 
Tatfache zu erinnern, daß damals Hagenau und Karlsruhe, in 
der Luftlinie achtundvierzig Kilometer, alſo einen ſtarken Tages 
marſch, voneinander entfernt, durch eine Eifenbahnfahrt von einem 
vollen Tage getrennt waren. Heute ift Karlsruhe, das über Raftatt- 
Durmersheim in einer Stunde von Hagenau erreicht wird, ein 
wichtiger Markt für die Bodenerzeugnifie des untern Elſaß. 
Und wer hätte ſich träumen lafien, daß Karlsruher Bier auf 
elſäſſiſchen und füdlothringifgen Dörfern getrunfen und dazu 
ftatt des einſt alleinherrichenden Münfterläjes Käs „usn Badiſche· 
gegeſſen würde? 

Ich hoffe, daß mein altdeutſches Herz mir keinen Streich 
fpielt, wenn ich erfläre, daß ich das ganz vernünftig finde. Denn 
das Eljäffer Bier war in der franzöjiichen Zeit gerade fo „um: 
geitanden“ wie der eljälfiiche Volkscharakter. Es war fein Bier, 
fondern eine füßliche, ſchwach gehopfte Limonade, für die fran⸗ 
zöjiihen Kaffeehausbummler und die Dominojpieler an Kleinen 
Boulevarbtifchchen gebraut. Könnte ich hier doch jenen württem⸗ 
bergifhen Hauptmann von der Ulmer Artillerie ſprechen lafjen, 
deſſen Leute im beißen September 1870 beim Batteriebau in 
Königshofen einen großen Bierkeller anfchnitten, der feinen In⸗ 
halt dann in die fernften Stellungen der Belagerer ergoß, bis 
der Genuß der fchalen hellen Flüffigkeit in dem weit um Straß- 
burg lagernden Ringe durftiger Menſchen wegen ihrer abführenden 
Eigenſchaften verboten, der Reſt des Kellers zugefchüttet wurde. 
Mir ftehn die Träftigen Schwabenflühe nicht zur Verfügung, mit 
denen der breitbetreßte Hauptmann „das faumäßige Geſöff“ in die 
Tiefe zurüdverwünidhte, aus der es jubelnd and Licht gehoben 
worden war. Auch ber braune Spiegel des Bieres fpiegelt in 
feiner Weiſe treu die Weltgefchichte zurüd. BIS zum Rhein war 
in den fechziger Jahren die von Altbayern ausgegangne Bier⸗ 
verbefjerung vorgedrungen. Hier hatte fie Halt gemacht. Die 
Rechtsrheiniſchen Hatten ſich an das Träftigere Gehräu gewöhnt, 


Südweftdentfche Wanderungen 347 


das der in dieſem Fache finnige Bayer bierehrlih zum fräftigen 
Männergetränt auögeftaltet hat. Den Linksrheiniſchen mundeten 
mehr füßliche Biere, wie fie die Franzoſen liebten. Es lag nicht 
am Hopfen, den damals die Hopfengärten von Hagenau, noch 
nicht dur) amerikaniſchen Wettbeiverb gedrüdt, jo edel wie je 
lieferten, und nicht an der Gerſte, wiewohl diefe die beiten deutjchen 
Sorten nicht erreihte.e Das Ideal des Eljäffer Brauerd war 
ein Bier, das die Lederhojen des ftandhaften Trinkers auf Die 
Bank leimt. So trennte alfo der Rhein nicht bloß zwei Reiche, 
fondern zugleich zwei Gefchmadsrichtungen. Man könnte jagen, 
er floß als Grenzitrom zwiſchen Bierpropinzen. 

E8 ift aber merkwürdig, wie es dabei nicht fein Verwenden 
hat. Der Weingeſchmack tft auf beiden Seiten nicht minder ver- 
ſchieden. Seufzend muß es der Eljäffer Wirt zugeben, daß ſogar 
die lieben guten Yreunde aus der Schweiz den Marlgräfler allem 
Eijäffer Wein vorziehn, und der Altdeutjche, der ſich mitten in 
der angeheirateten Obereljäfler Weinbauerfamilie die Unbefangen- 
heit der Zunge wenigjtend im Weinfoften bewahrt hat, gibt mit 
Achjelzuden zu, daß von feinem Eljäffer Weine Hebel hätte fingen 
lönnen, wie von feinem Marfgräfler „z'Müllen uf der Poſcht! 
Trintt mer nit en guete Wi? Tufig Sappermofcht! Goht er 
nit wie Baumöl i (ein)?" Der balbgelehrte Agronom fchreibt 
die Rauheit des Eljäler Weins gewiſſen Unvolllommenheiten 
der Kellerei zu. Weg mit diejer rationaliftiichen Klügelei! Es 
find diejelben unbegreiflihen, aus irgendeiner unbelannten Tiefe 
herauf wirkenden Urjachen, die auch die Menfchen auf beiden 
Seiten des Rheins fich nicht haben gleich entwideln lafjen, wie- 
wohl ihr alemanniſch-fränkiſcher Grundftod ebenfo wenig ver- 
fchieden geweſen fein dürfte wie die Neben der römifchen Koloniſten, 
die von den Vogelenhängen nad) den Schwarziwaldbergen gebracht 
worden find. Warum dann freilich” die Hardthügel bei Neuftadt, 
Dürkheim, Edenkoben uſw. einige der feinften Weine der Welt 
erzeugen, die hart Hinter den beiten Sorten vom Rhein und 
der Mofel fommen, während gegenüber auf der badifchen Seite 
vom Rhein bis zur Tauber nur ländliche Gewächſe gedeihen, ift 
ebenſo ıwmerflärlih wie die Tatjache, daß der linksrheiniſche 
„Pälzer“ derber und beweglicher ift als der rechtsrheiniſche 
ernftere und gejeßtere Badenfer. Die körperliche Erfcheinung 
weift auf eine reinere Erhaltung des alten Franlenftammes rechts 
vom Rhein, wo zwilchen Karlsruhe und Mannheim einer der 
hochwüchfigſten Stämme des Deutfchen Reichs fibt. Die Pfalz 


348 Süöwefdeutfhhe Wanderungen 


dagegen hat, wie ſchon die Familiennamen zeigen, jehr viel fran- 
zöſiſches Blut aufgenommen, und vielleicht ift am Fuß ber Harbt 
auch mehr römiſches lebendig geblieben als im Lande zwiſchen 
Schwarzwald und Odenwald. Der badiiche Anteil der Pfalz liegt 
weniger frei, ift aud) weniger ‚Stärmen außgejeßt geweſen. 


nicht ganz vollendete Verjenlung. Im badiſchen Lande nennt 
man fie mit den unberühmten Namen Kraichgau und Bauland. 
Diefe Gaue dürften auch heute nur von wenigen Fremden durch⸗ 
wandert werden, benn weder ihre Natur noch ihre fonftigen 
Denkwürdigkeiten bieten Anziehungen für die Menge. Runftfreunde 
beſuchen in Bruchſal dad Rokokoſchmuckkaſtchen bes bifchöflichen 
Schlößchend, wobei fie einen fcheuen Blid auf das halbrunde, 
fenfterreiche Zellengefängnis werfen, das beſonders durch die 
Erinnerungen einiger Revolutionäre auß dem Sabre 1849 bes 
rühmt geworben ift. Freunde der Reformation ftatten dem ftillen 
Bretten einen Beſuch ab, um ehrfurchtsvoll dem bier gebomen 
Melanchthon ihre Neigung zu beweilen. Sie müfien aber beutlidy 
nad Melanchthon ‚fragen. Denn Bretten hat nod) eine andre 

Berühmtheit, die in weiten Sreifen viel mehr Teilnahme weckt 
als die Erinnerung an den — ich gebrauche die leiſe tabelnden 
Worte eines Apothelers der Gegend — früh aus feiner Heimat 
fortgezognen Melandithon, ber zwar ein berühmter Mann ge- 
worden jei, aber für Bretten ober fein Bezirksamt weiter nichts 
mehr getan babe. Dieſe zweite Merkwürdigkeit ift das „Brettemer 
Hundle,“ ein urmythiſches Geſchöpf, das alle Völker Europas 
Iennen. Bei einer Belagerung durch die Schweden fchidten die 
außgehungerten Bürger das gemäftete Hündchen ind feindliche 
Lager, deſſen Anführer über den fetten Anblid außer aller Faſſung 
geriet und die Belagerung aufhob. Ebenfalls in die Schwebenzeit 
führt ung der nicht ganz mythifche, fondern zum Glück vollbezeugte 
Opfertod der Pforzheimer Bürger in ber in berjelben 
geihlagnen Schlacht bei Wimpfen, ein llaſſiſches Beifpiel der 
gerade im mittlern Baden jo recht ausgeprägten Yürftentreue 
bed Volkes. 

Aus diefem Lande nad Dften führen gutgehaltne aber 
ftaubige Landftraßen den Wandrer Welle auf, Welle ab. Geht 
er im Muſchelkalk, fo ift der Staub weißgrau, gebt er im Keuper, 
fo ift er gelblichgrau und ein bißchen weniger reichlich. Sonft 
ift fein großer Unterjchied. Die Wellen find glei mild, eine 


Südweftdeutfhe Wanderungen 349 


gleiht der andern zum Verwechſeln, nur trägt die eine einen 
dunkeln Waldichopf, wo die andre von einer Eyflopenmauer von 
Kallplatten gekrönt tft, die ein fleißiger Bauer aus feinem fteinigen 
Acker berausgelefen und zufammengetragen hat. „Hinten“ im 
Gansſchmauſerland, in der Gegend von Buchen und Krautbeim, 
werben dieſe Mauern beängftigend lang und breit, dort ift eine 
der fteinreichften und Tornärmften Gegenden ded Landes. Wie 
Haſen von Yruchtbarkeit find die fetten Auen und Hänge des 
Neckartals, des Taubergrundes und des Maintals zwiſchen bieje 
höhern und rauhern Striche hineingelegt, und es ift bezeichnend, wie 
fih auch bier das geichichtliche Veben an das Waſſer angeichloffen 
dat, wie eine Pflanze, die Feuchtigkeit braucht, um zu gedeihen. 
Bon den vielen, die alljährlich Rothenburg ob der Tauber 
beiucdhen, deſſen Bebeutung als Schahläftlein der ftädtiichen Re⸗ 
aaiffancenrdhiteltur nach unfrer beicheidnen Meinung übertrieben 
wird, gehn fehr wenige ein paar Kilometer rechts oder links 
ind Land hinein. Und doc würde ſichs verlohnen, den Gegenſatz 
der Mufchellalhochebene zu dem breit eingejchnittnen Taubergrumd 
tennen zu lernen. Der Volksmund hat wieder einmal Recht, wenn 
er bier nicht von Tal, fondern von Grund ſpricht. Das Wort 
wird unter ähnlichen Umftänden von den grünen Flächen ge⸗ 
braucht, die in den Sanditein der Sächfiichen Schweiz gleichjam 
verjenkt find. Der Taubergrund liegt wie ein grüned Band zwiſchen 
den flachen Wellen bed grauen Kalle. Biel Iohnender als immer 
nur die Giebel und Mauern Rothenburgs zu bewundert, wäre 
eine Wanderung von Rothenburg über die Höhen, die Schlingen 
der Tauber abjchneidend, nad) dem faubern Mergentheim, deutich- 
ordenegeihichtlichen Namens, über das römerfundberühmte Lauda 
und Tauberbifchofsheim nach dem fchönen Wertheim. Es wäre 
eine der an gejhichtlichen Erinnerungen und Dentmälern reichiten 
Wanderungen, die man an einem Heinern deutichen Fluſſe Hin 
irgendwo unternehmen könnte. Es würbe freilich dem Wandrer 
nicht eripart bleiben, auf der Höhe über Tauberbiſchofsheim die 
zerichoffene Feldlapelle zu beiuchen, an deren Wände 1866 
Ichwerverwundete Württemberger die Grüße Sterbender an das 
fliedende Leben jchrieben. Er würbe aber dort auch verfühnende 
Worte gemeinfamer Siegeszuverficht lefen, die im Juli 1870 
württembergilche und babijche Soldaten vor dem Ausmarſch nad) 
Frankreich eingegraben haben. Tauberbifchofsheim, vor der Eifen- 
bahnzeit der Typus eines Hinterlandftäbtchens, wo ein ftillftehendes 
Kleinbũrgertum ärmlich und behaglich und im allgemeinen etwas 


850 Sũdweſtdentſche Wanderungen 
ftumpffinnig lebte, ift heute ein regjameß, fortichreitendes Städtchen 
geworden, dag nicht mehr fo tief unter dem aufgellärten, vom 
Mainverkehr berührten und von löwenſtein⸗wertheimiſcher Jürften- 
gunft beichienenen Wertheim fteht. 

Man würde Wertheim die Perle des Teaubertales nennen 
müfjen, wenn es nicht doch mehr den Main angehörte. Mögen 
fi) die Rothenburger nicht gekränkt fühlen, gegen die Ratur 
fann man nun einmal nit an. Bon allen deutichen Städten 
gleicht Wertheim am meiften Heidelberg, natürlid in verjü 
Maßftabe. Der Main Tann es hier mit dem Nedar, die be- 
waldeten Hügel am rechten Mainufer können es mit dem Heibel- 
berger Schloßberg und der Molkenkur aufnehmen; die Wertheimer 
Burg iſt eine der jhönjten unter ihresgleichen ; eiwad einziges 
wie da8 Heidelberger Schloß ift fie allerdings in feiner Weile; 
dafür ift ihr nun auch die Schmad eripart geblieben, dat ein 
Wirtshaus über fie gejeht tworden ift, wie es das Heidelberger 
Schloß und die ganze Landſchaft verunftaltet. 

Der Wandrer kann, wenn er will, feinen Fuß noch weiter 
feben und in Miltenberg den durd) Luthers Aufenthalt berühmt 
geiwordnen, bochgiebligen alten Gafthof zum Rieſen bejuchen, 
wobei er allerdings aud) an den Bauernkrieg wird denken nrüffen, 
deſſen Haffiihe und blutigfte Stätten: Roſenberg, Sagftfeld, 
Würzburg, bier herum Liegen. Nicht weit davon kann er auch 
ein Stüd portugiejiicher Geichichte mitten in diejen ftillen Winkel 
Deutſchlands Hineinfladern jehen, denn ob Brombach erhebt fich 
die Gruft der katholiſchen Löwenfteine, in der Dom Miguel be- 
ftattet iſt. Wielleicht zieht aber der Wandrer vor, von diefem 
langen Gang durchs Zaubertal im gaftlidien Wertheim auszu- 
rubn, wo ihm einer der edelften, wegen feiner geringen Menge 
wenig befannten Frankenweine, genannt Kalmut, ein braungoldnes 
Getränk von faft beängftigendem euer, winlt, während das jehr 
nahe bayriſche Kreuzwertheim ein Bier von gediegnem Rufe brant. 
Das Land umber ift geritenberühmt. 

Es wird dem Wandrer aud nicht leicht an trautem Wechſel⸗ 
geipräch fehlen, das gut zum Ausruhn ift. Das Volk ift zutraulich 
und von fränkiſch⸗leichter Auffaſſung. Als ich zum letztenmal in 
dieſem Gan weilte, war mein Tiſchgenoſſe ein badiſcher Poſtillon. 
der ſich bitter über die bayriſchen Kollegen beſchwerte, die ihn 
bänfelten, daß er nicht mehr großherzoglicher, jondern Reichs 
poftillon fei. Sein Schlußſatz lautete ungefähr: Dad will ich 
gar nicht unterfuchen, ob ein Reichspoſtillon nicht doch am End 


Südweftdeutfche Wanderungen 351 


grad foviel ift wie ein blauweißer; das fteht aber feft, daß die 
Blauweißen befjer täten, auf ihre Landitraßen zu fchauen, daß 
fie beffer unterhalten werben. Jetzt iftd eine Schand; wenn man 
auf die württembergifchen kommt, iſts jchon nicht mehr rechtes, 
aber die bayrifchen find noch weniger nu. Einſtweilen fahren 
wir in Baden noch am beiten. In Heſſen ſolls jebt ziemlich 
ordentlich fein. 

Ich lächelte in mich hinein: O du glücliches Volk der Mitte. 

Die Nedereien zwiſchen den Angehörigen verfchiedner Stämme 
und Staaten, die in der ganzen Welt vorkommen, treten natür- 
li in einem Örenzlande wie Baden ganz bejonderd hervor. Es 
tft für die Kenntnis der Volksſeele auf beiden Seiten, der ur⸗ 
teilenden und beurteilten, wertvoll zu wiſſen, welche Meinungen, 
Neigungen und Abneigungen ſich ausgebildet haben. Denn merk⸗ 
würdigerweiſe handelt es ſich dabei nicht um bie tiefen Unter- 
fchiede, fondern um die feinern und feiniten Schattierungen von 
Begabungen und Gewohnheiten. Der Bauer von ber Harbt 
(Gegend von Karlsruhe) fieht im Pfälzer, von dem ihn nur 
der Rhein trennt, einen lebhaften aber etwas geſchwätzigen und 
windigen Nachbar; er kauft im Zweifeldfalle mit mehr Vertrauen 
von einem Schwaben als von einem „Drimmesriiwwer“ (Drüben- 
berüber), wie er den Pfälzer nennt. Für den Pfälzer dagegen 
ift der badiſche Nachbar, ſoweit er oberhalb Mannheims wohnt, 
ſchon ein halber Schwabe. Auf den Schwaben aber fchauen beide 
Angehörige der nobilis gens Francorum als auf eine bejchränftere 
oder doch Langfamer dentende Abart Binab. Der „Dumme Schwob“ 
tft ſprichwörtlich; und doch kann darüber kein Zweifel berrfchen, 
daß der Schwabe mehr gefchichtliche Zeugniffe für hervorragende 
Begabung aufzumeilen Hat als der Badenfer von der Tauber 
bis zum Bodenſee. Beſonders auch auf dem politifchen Gebiete 
haben fi} die Schwaben in ihrem prädtig geichloflenen und ab⸗ 
gerundeten Württemberg jicherli viel verftändiger benommen 
als die immer zwiſchen Exrtremen ſchwankenden Babenjer. Auf 
deren Rechnung ftehn jeit der Einführung der Verfafjung viel 
mehr und größere politifche Schwabenftreihe als auf der der 
ſchwaͤbiſchen Nachbarn, folange e8 ein Württemberg gibt. Ihren 
Ruhm, politiich vorgeichrittner zu fein als alle andern Deutichen, 
haben die ſanguiniſchen Badenjer bis auf den heutigen Tag teuer 
bezahlen müflen. Das bat fie aber nicht abgehalten, auf den 
Schwaben hinabzufehen. Einen merkwürdigen Beleg der badischen 
Überlegenheit liefert die Tatſache, daß dieje großen Politifer noch 


9353 Sũudweſtdentſche Wanderungen 


nie eine größere Beitung zuftande gebradht haben. Sie leſen 
landauf landab die Frankfurter Zeitung, jo wie früber das 
Sranffurter Journal, die Straßburger Bolt, den Schwäbiſchen 
Merkur. Die Badiſche Landeszeitung, Landesbafe genannt, ift 
das größte, aber zugleich engherzigfte fanatiſch nationalliberaie 
Blatt Badens. Entiprechend find die ultramontanen Blätter ge 
ſchrieben. Die Mafie ift farblos und kraftlos. 

Eigentümlich und beſonders intereflant ift das Verhältnis 
der Drei Bweige des alemannilchen Stammes, die am Überrhein 
zufammenftoßen: badiſche Oberländer, Elſaſſer und Schweizer. Die 
Alemannen find unter allen deutichen Stämmen der einheitlichfie; 
aud) die des Algäu und des Vorarlberg find den weſtlicher 
wohnenden fehr ähnlich. Früher haben fie das auch ſelbſt anerfamnt. 
Man nehme nur das Leben Johann Peter Hebels mit feinen 
innigen Beziehungen zur Schweiz und feinem geivaltigen Ente 
eu die eijäjfide Dialeltliteratur. Hebel ift der Vertreter des 

iſchen Gemeinbewußtſeins, das ſich allerdings 
eh bald durch die politifchen Grenzen Deutjchlands, Frankreichs, 
ber Schweiz wieder trennen ließ. — find die badiſch⸗elſaſſiſchen 
Beziehungen noch bis 1870 in engen Freien jehr warm ge- 
blieben; Familienbande, die jeitdem zerriffen find, waren biß dahin 
gepflegt worden, und Straßburg war troß der Zollſchranken die 
alte Hauptftadt auch für den gegenüberliegenden Zeil von Baden. 
Der franzöfierende Elſaſſer verjpottete die Sleinftaaterei der 
benachbarten „Schwowe,” aber der Bürger und der Bauer des 
Elſaß hegten das lebhafte Gefühl der Verwandtſchaft, das fich 
erft von der Enfiöheimer Gegend an auf Grund alter geſchicht⸗ 
licher Verbindungen mehr dem fchweizeriihen Alemannentume 
— 

Für den unbefangnen Betrachter hob ſich gerade von dem 
Schweizer ſowohl der badifche wie der elfäffiiche Alemanne bu 
die übereinftimmende Eigenschaft einer  gewäen Weichheit und 
Nachgiebigkeit ab, die den Eigenfinn der Einzelnen nicht aus⸗ 
ſchließt. Ob fi) nun die feäftigern Zeute des alemannikhen 
Stammes in die Alpen gezogen haben, oder ob die Burgunder, 
deren Refte man in der Weſtſchweiz vermuten darf, ein beſonders 
zedenbafter Stamm geweſen find, weiß niemand zu jagen. Viel⸗ 
leicht genügt aber zur Erklärung der bärtern, Inodjigern Büge, 
die das Volk jenſeits des Rheins und des Bodenſees merklich 
auszeichnen, die Einwirkung ber ben Körper und bie Seele 
ftählenden Gebirgsluft und überhaupt ber Gebirgänatur. Wer 


Südweftdeutfche Wanderungen 353 


von den weichen Oberdeutichen in Bauſch und Bogen redet, 
vergikt, daß an Kriegsruhm und Staat3finn fein deutſcher Stamm 
dem ſchweizeriſch⸗ alemanniſchen voranfteht. Daran ändert gar nichts 
bie Neigung des Badenjers, feinen freundnachbarlichen Spott über 
Die militärijchen Beftrebungen der Schweizer außzugießen, die im 
ganzen achtunggebietend find, im einzelnen aber natürlich viel 
Lächerliches haben. Seitdem aber die ſchweizeriſche Miliz durch 
einfichtige und energijche Führer weſentlich nach deutſchem Grund⸗ 
gedanfen reformiert ift, fieht ber benachbarte Süddeutſche das 
Kriegsweſen der Eidgenofien wieder mit günftigerm Blid an. Er 
ertennt mit alemannifcher Billigleit an, daß der Deutſchſchweizer 
doch ein natitrliches Talent zu ſtrammem Auftreten bat, Daß 
der liederliche franzöfiihe Pumphoſenſchnitt aufgegeben worden iſt, 
bedeutet nur eine Äußerlichkeit, aber die Haltung hat entſchieden 
dadurch ſchon gewonnen. Man fieht jegt Schweizer in Uniform, 
die das „Herausdrücken“ der Waden verftehn, als Hätten fie bei 
der Garde in Berlin Parademarſch ftudiert. 

Der Badenfer hat ja auch fonft allerlei an dem Schweizer 
auszuſetzen, und umgelehrt. Und doch, wie eng hängen bie Sander 
geſchichtlich zuſammen. Man kanrı jagen, fie haben eine gemein- 
fame Geſchichte von taufend Jahren von den Römern an. Die 
Bähringer haben auf heute fchweizeriichem Boden früher eine 
rühmliche Tätigkeit entfaltet al3 auf dem, wo das badijche Fürften- 
haus ihnen entſproſſen it. Man braucht nur an die Bedeutung 
diefer Dynaftie in der Weſtſchweiz zu erinnern, die ſich in ber 
Geſchichte Bernd und Freiburg im Üchtland ausprägt. Ihre 
Stellung ift auf die Habsburger übergegangen, die fie nicht jo 
glücklich zu wahren wußten. Kann man die Gejchichte von Glarus 
Schreiben ohne die Sädingens, der alten klöſterlichen Schuhherr- 
[haft und der Stadt des heiligen Fridolin? Won dem gemeinfam 
alemanniſchen Grundftrom, der die Schweiz mit Oberdeutichland 
auch dann verwandtichaftlich verband, als fie ald Eidgenoflenfchaft 
tatſächlich und feit 1648 rechtlich von Deutjchland getrennt war, 
zeugt jeder Blid auf die Nefte der Jahrhunderte in ländlichen 
und ftädtifchen Bauwerken. Gerade wie im Sundgau, im Schwarz- 
wald und in Oberfchtwaben find die Häufer einzeln und in Gruppen 
finnig und fonnig in die Landichaft Hineingeftellt, wie es ber 
jelbftändigen Natur ihrer Erbauer gemäß ift. Dasjelbe zeigt ſich 
au in größern Anſammlungen. Man betradite ſich einmal 
Zlüelen. Und wer von Waldshut oder Sädingen nicht etwa 
nad) dem nahen Laufenburg ober Rheinfelden, fondern nach einem 

Rayel, Glückzinſeln und Träume 23 


354 Süöwefdeutfhe Wanderungen 


jo ehe innerjcjweizerifchen Städtchen wie Bofingen —— 
wird, den mutet dort die ee Arditeltur gerade fo 
deutſch an wie das behäbige Leben der Bürger. Bafel, wo unfer 
Hebel geboren ift, und wo er fi, weil er dort „daheim“ fei, 
noch in feinem Todesjahr zur Ruhe ſetzen wollte, ift Die deutichefte 
unter allen großen Städten ber Schweiz. Man muß einmal, 
etwa aus Frankreich oder von jenſeits des Gotthard kommend, 
auf der alten NRheinbrüde geftanden und die prächtige Front 
geſehen haben, die Baſel dem dort ſchon mächtigen grünen Strom 
zuwendet. Dieſe alten Häuſer mit ſteilen Dächern und Giebeln. 
Galerien und Vorbauten, Gaͤrtchen und Baumgruppen, darunter 
ſogar dunkle Fichten, geben über der feſten Ufermaner ein echt 
deutſches Stäbtebild, ohne Plan und a 35 ohne — 
J gefallen, höchſt ungleich, aber voll Rei 

dem reichen Wechſel von Licht und hatten‘ wo —* intel 
beftinmt zu fein fcheinen, das notdiſch fpärliche Licht aufzufangen: 
der ftärffte — zu den großen einheitlich gefärbten und 
deforierten Flächen des üblichen Städtebaues. 

Politiſch hat Baden niemals mehr nachhaltig auf die Schweiz 
gewirkt, wie ja überhaupt ſeit Jahrhunderten der offizielle und 
der nichtoffiziele Einfluß Frankreichs, der Einfluß der Ideen umb 
der Hingenden Münze, jeden andern zurüdgebrängt hat. Über 
diefen und fein fett 1870 bemerkbar gewordnes, im Grunde fchon 
feit dem Sonderbund beginnende Rückſchwenken wäre viel zu 
jagen. Es gehört aber nicht in den ſñdweſtdeutſchen Rahmen, 
wo es und viel mehr intereifiert, daß bie ſchweizeriſchen Alemannen 


1849 bezeugten, baren die eljäffifcden nad) 1870 zu üben 
verfucht Haben. Dazwiſchen bat fich freilich immer bie" freund- 
nahbarlihe Abſtoßung gerade wie an andern Grenzen gezeigt, 

d während in einigen Örenzgebieten republitaniihe Ideen 
Burzel faßten, trat in andern das badiſche Staategefühl über- 
rafchend ſtark hervor. 

Für biefe Abſtoßung bes Ühnlichen kenne id; in ber ganzen 
Ausdehnung der deutſch⸗ſchweizeriſchen Grenze fein fchönereß 
Beilpiel ald die liebliche rebenbebedte Inſel Reichenau, die bie 
deutiche Kaiſer⸗ und SKunftgeichichte von karolingiſchen Zeiten an 
fennt und mit hohen Ehren nennt. Die mm 1500 Einwohner 
zählende Inſel liegt im Unterfee, dem fchweizeriichen Ufer faft 
ebenfo nahe wie dem babifchen. Ihr fchweizeriicher Verlkehr tft 


Südweftdeutfhe Wanderungen 355 


immer beträchtlich gewejen. In Dampfbootverbindung fteht fie 
heut überhaupt nur mit dem fchweizerifchen Ufer. Die Reichenauer 
haben aber 1848/49, als Konftanz das Hauptquartier der be- 
fonder8 von Zürich aus geſchürten Revolution im Seekreis mar, 
ein in diefem Teile Badens faft einzig daſtehendes Beiſpiel von 
Treue gegeben. „Se finn oft gnue von Konſchtanz go prebbige 
fumme, 's bat ene awer niemand glaabe möge,“ fagte mir ein 
alter Reichenauer. Als Großherzog Leopold in fein durch Preußen 
von den Sreifchärlern gereinigte® Land zurückkehrte, verlieh er 
ben Weichenauern für alle Zeiten das Recht, fünfzig Mann 
Militär und dreißig Spielleute zu alten. Daß die Kleine Inſel 
auch im Ernft ihren Mann ftellt, beweiſt das Kriegerdenkmal in 
Mittelzell mit einer langen, in Stein gegrabnen Lifte von Mit- 
fümpfern des 1870er Krieges. An einem Kreuzweg zwiſchen 
Mittel- und Niederzell ift außerdem zur Erinnerung an zwei 
in dieſem Kriege gefallne Neichenauer ein Steinfreuz errichtet. 
Scheffel erzählte gern, wie er fi) unter den alten Schattenbäumen 
vor dem Wirtshaus von Mittelzell bei einer Flaſche goldnen 
Reichenauers in die karolingiſchen Kaiſer⸗ und Mlofterzeiten zurüd- 
gedacht habe, und wie wohl es ihm fpäter nach 1870 wurde, 
wenn er von Radolfzell berüberfuhr und in demſelben Schatten 
die neue Kaiſerzeit überdachte, die ihn fo tief ergriffen und manches 
in im, dem alten Großdeutſchen und Preußenhafler, umge⸗ 
wandelt hatte. 


2 


Soweit den Rhein Gebirge einfafien, wenden fie feinem 
Tale ihre ſchönfte Seite zu. Der Unterfchied ift nicht immer 
fo fchneidend wie im Wefterwald oder in der Eifel wo man aus 
dem mittelrheinifchen Paradies jo oft nur zu einer öden, armen, 
mit dünnen Schälwälbdern beftandnen Hochfläche emporfteigt. Aber 
auch in dem durch feinen Waldreichtum an ſich jo anziehenden 
Odenwald, der noch immer hochftämmige Eichen nährt wie zu ber 
Beit, da Siegfried am Stegfriedsbrunnen, den man bei Fürth i. O. 
zeigt, erichlagen wurde, gliedert fi) bie rheinwärts gefehrte 
Seite, die Bergftraße, als bewegtere und lieblichere Landichaft 
ab. Ihr kommt es zugute, daß durch die Einfchnitte ihres be- 
wegtern Profils höhere Waldberge ernft in die hochkultivierte 
Bandfchaft herüberfchauen. Vom Schwarzwald Löft ſich aber der 
Streifen der Vorberge wie ein Saum von Gärten los, bereichert 
in der Breifadher Gegend durch das eigentümliche Vulkangebirge 

28* 


856 SüdweRdeutfche Wanderungen 


des Kaiſerſtuhls, der ſich in langen Wellenhügeln zu flachen 
Kegeln aufbaut. Daß dunkle Geftein fteht an wenig Stellen 
aus dem üppigen Rulturkleid hervor, da3 vorwiegend aus Reben 
zujammengefeßt ift. Der badiſche Weinbau erreicht bier einen 
feiner Höhepunkte. Im Auslande kennt man die „Raiferftühler“ 
wenig, da fie nicht in großen Mengen erzeugt werben. Im 
„Ländle“ aber ſchätzt man fie nad) Verdienft. Es ift darunter 
ein natürlicher Schaummein, dem Afti verwandter ald dem Cham⸗ 
pagner. Auch an den Vogeſen, die vom Breiſacher Schloßberg 
aus gejehen faft jo nahe zu ftehn fcheinen wie der Schwarze 
wald — und beide find bier zum Verwechſeln ähnlich — zieht 
fih in diefem oberrheinifchen Winkel, der der wärmſte Deutich- 
lands tft, der bellgrüne, mannigfaltig in Weinberge, Ader und 
Wieſen gegliederte und durch blühende Städtchen, Dörfer und 
Burgen beliebte Rulturftreif noch höher hinauf. Er fchlingt fein 
bunte® Band bis fechdhundert Meter Höhe um den Fuß des 
walddunleln Gebirge. 

Diefe Kulturftufe erinnert ſchon an den Süden. Der Harz, 
der Thüringer Wald, der Bayriſche Wald find bis zum Yuß 
bewalbet. Das tft ein nordiſcher Bug, daß fi die Guſdne Aue 
zu Füßen der walddunkeln Sarzberge außbreitet und ſich jelbft in 
die Täler nur fchüchtern hineinzieht. Beſonders auf ber Vogeſen⸗ 
feite gewinnt das Rheintal ungemein an Reichtum der Land⸗ 
ſchaftsbilder, die immer auch geſchichtliche und Kulturbilder find, 
durch das Hinaufranlen der menſchlichen Werte und Siedlungen 
an den Gebirgsflanken, ebenjo wie ihnen dann am Weſtabfall 
ber mildere Charakter der lothringiſchen Hochebene zugute kommt, 
die zwar der Rauhen Alb geologiſch und geographiſch entipricht, 
aber ohne rauh zu fein. Beſonders der Landichaft von Meb iſt 
ein warmer Ton eigen, man möchte jagen etwas an den Süden 
Erimmernded. Der Mont St. Quentin von Dften geliehen, mit 
feinem Buſchwald, feinem Neft zufammengedrängter Steinhäufer, 
im übrigen waldlos, ift fchon fein deutjches Bild mehr. Es ift 
ein verftärkter Typus der Weinbergslandſchaft: auf der fanften 
untern Bodenanſchwellung Ader, Wiefen, Gärten mit den end⸗ 
loſen Hainen von Mirabellenbäumen, die 1870 umjern Soldaten 
Zabung boten, darüber dad Dorf, dann beim fteilern Anftieg 
die Weinberge, zulebt der Buſchwald. Es ift Feine Landichaft 
bon großen Formen, aber fie bat die befondre Größe, die der 
Landichaft eigen ift, die das für ein weites Gebiet Allgemein⸗ 
gültige zum Ausdruck bringt. 


Südmweftdeutfche Wanderungen 957 


Die Talöffnungen nad) der Aheinebene zu umfchließen die 
fchönften und reichſten Bilder des oberrheinifhen Landes. Da 
liegen Städte, deren Häufer fih an den Höhen hinauf» und in 
einmünbende Täler bineinziehen, und gleich darüber fteht ber 
dunkle Wald. Draußen nichts als ebene Üder und Wiejen, in 
ber Ferne der GSilberhaud) des Rheins. Bon Höhenftufen aber 
ſehen mit uns alte Burgen und erneuerte Kirchen ind Land 
hinaus. Und ihrer find jo viele, daß fie von Berg zu Berg 
einander ihre Eindrüde von der Welt da unten zuraunen könnten, 
die wohl nicht fehr fchmeichelhaft für die haſtenden Menjchen 
wären. Diefe Toren, möchte es da wohl lauten, glauben die 
Welt umzuwälzen, und da unten fließt der Rhein wie vor tauſend 
Jahren, und der Wald, der ihn umjäumt, ift jo friſch und mild 
wie je, und Rhein und Wald und wir mit ihnen, wir überleben 
Diefe atemlofen Geſchlechter. Mit dem eljäffifchen Dichter höre ich 
noch andre Geſpräche in diefer Gegend, die die Berge des 
Schwarzwald und der Vogeſen miteinander über ben Rhein 
und über den Doppelfaum der Kiesbänfe ober Uferwälder weg 
führen; ihr Gegenſtand ift die Nichtigkeit der Sonderungen, Die 
die Menichen in das von Natur zufammengehörende legen wollen. 
Der alte Rhein ftimmt raufchend mit ein. Ich überjchreite, ſolche 
Gedanken im Sinn, den Rhein nach der Schweiz hin, wo Die 
felben Burgen auf römischen Sundamenten auf Landſchaften von 
bemjelben Charakter und ähnlich geartete Menſchen hinabſchauen. 
Ein großes, durch gleichen Urfprung und gleiche Geſchichte ver⸗ 
bundnes Land, das Erbe der Staufer und der Habsburger, ſchließt 
fi) vor meinem geiftigen Ange wieder zufammen, und der Hori⸗ 
zont dehnt ſich immer weiter nad) Süden zu, biß das blaue 
Mittelmeer an provenzalifchen Geftaden auftaucht: der alte burgun- 
diſche und arelatifche Anteil des Deutichen Reichs, der natürlichite, 
die Alpen umgebende Weg Südweſtdeutſchlands zum Meer. 

Baden und Elſaß, Pfalz und Aheinhefien jamt dem untern 
Mainland erfcheinen mir in einem goldnen Lichte, wenn ich an 
die Zeit zurüddente, wo bier da8 Herz des Reichs ſchlug. Hat 
und ber von den neuern Geſchichtſchreibern Deutſchlands jo viel 
gepriefene Drang nad) Dften, dem dad Verbrängtiwerden aus 
bem Weſten folgte, wirklich Erſatz gebracht für den Verluft der 
Rhone- und Alpenwege nach Süden und der Rheinmündungs- 
ande im Nordweiten? Wirb die Zeit fommen, wo fi die Sad- 
gaflen aufichließen, in die nun feit vielen Jahrhunderten daß reiche 
rheiniſche Leben ſüdweſt⸗ und füboftwärts bineindrängt? Man 


358 Südweftdeutfhe Wanderungen 


würdigt wohl nicht genug diefen Gegenſatz zwiſchen Nord⸗ und 
Süddeutfhland, daß Rorddeutichlaud die ihm von Natur gehörige 
Meereslage und Küfte bat, während Sübdentichland nicht ein- 
mal mehr über die Alpenwege verfügt, die zum Mittelmeer 
führen. Die Imbuftrie von Mülhaufen und von Augsburg Hat 
die Zollichranlen vor der Tür, während Mittel- und Norbdeutich- 
fand das freie Meer vor ſich haben. Norbbeutichland ift ein 
natürlicher abgerundeter Körper, Süddeutichland einer, dem Lebens⸗ 
organe genommen find. 

en Degraden allen Riff Te ken ae 
Trümmern liegenden alten Schlofies von Baden, 5 
naunt, ſchweift der Bid in die Aheinebene hinaus, nad) ber 5 
zu beiden Seiten des ſchmalen Silberbandes der Dos bie dunkeln 
Berge Badens in langen Wellen abdachen. Dumpfe Töne und 
zerriffene Stüde einer Melodie der Kurmuſik ſchweben herauf 
durch die üppigen Wälder der Edellaftanien zu ben Tannen ‚un 
Fichten, die ſchon einen Derbern, mehr gebtsgßhaiten Wuchs zeig 
Sie miſchen fi) mit den feltiamen Klängen der durch die —* 
niſchen Doppelbogen des alten Schloſſes ziehenden Bergluft, die 
zum Überfluß bie Saiten einer Kolsharfe berührt. Deutlich er 
tennt man bon hier oben den eigentümlichen Aufbau des Bodens 
der berühmten Bäderftabt, der im Grunde berfelbe ift wie bei 
Heidelberg und Zreiburg: das Tor eine dem Strome zu fi 
öffnenden Seitentales. Eigentümlich ift aber bei Baben die reiche 
Gliederung der Talweitung mit der Ausmündung der Dos. Da 
ift die Gruppe von Höhen im Norden, auf denen ſich dad nene 
und das alte Schloß erheben, die wichtigite wegen bed Schutzes, 
den fie der Stadt gewährt. Dann die des Fremersbergs im Süden, 
und zwiſchen dieſen der fchön gemwölbte, jo recht zum Bau einer 
Billenftadt auffordernde breite Hügel im Dften. Zwiſchen ihm und 
den Nordhügeln lag die römiſche Aurelia, und liegt die alte Stadt; 
bie neue zieht jich zwiichen ihm und deu Sandhügeln an der 
Do8 Hin, auf beiden Seiten eine8 der herrlichſten Baumgange 
der Welt, der Lichtenthaler Allee, und ſchon fängt fie nun am, 
den Mittelhügel jelbft von allen Seiten ber zu überbauen. Bon 
dem engen, bäujererfüllten Tal der Altftadt erhebt ſich eine 
Schmale Stufe, auf der die Stiftskirche mit altbadifchen Zürften- 
gräbern fteht, darüber eine breite mit dem neuen Schloß 
und dem wundervollen Schloßgarten. Ein fonniger Dftobertag 
unter den pfeilergetragnen Rebgängen, ben uralten Linden und 
Ulmen dieſes Gartens, im Ringe der alles fo traulich umfafjenden 


Südweftdentfche Wanderungen 359 


Waldberge gehört zum ftimmungsvolliten der beutfchen Landfchaft. 
Die milde Lage Baden? erlaubt es, daß noch im Dftober bier 
eine ũberraſchende Menge von Palmen, Dracänen, Bananen ujw. 
im Freien auf nordiihem Raſen vor dem Dunkel der Tanuen 
und Eichen fteht: ein reiches Bild von einer Miſchung, bie 
nirgeuds jo wiederkehrt. Freilich, es gehört aud die Yeudhtig- 
feit dazu, in deren Menge und nachhaltigem Erguß dieje Rand⸗ 
landichaften des Odenwaldes und des Schwarzwaldes nicht zu⸗ 
fällig mit denen der Alpen wetteifern. Seidelberg, Baden und 
Salzburg, dieſe herrlichen Städtebilder, ftehn in mander Er- 
innerung nur wie Rauchbilder, d. h. höchftend der Vordergrund 
ift grün, alles andere verhüllt ein Nebelichleier eine aus feinen, 
enblofen Waflerfträhnen gewobnen Landregens. Selbft über die 
Dinge im nächſten Vordergrund ift ein blauer Hauch gebreitet, 
und in den Kromen der Bäume jchweben Iosgerifiene Wolken⸗ 
Hoden. Alles trieft und fchwillt durchfeuchtet. 

Der don Norden fommende Wandrer fieht fi in Baden⸗ 
Baden zum erftenmal von Schwarziwalbbergen umgeben. Und 
diefe Badener Berge gehören zu den jchönften des Gebirges. 
Indem fie Baden-Baden faft von allen Seiten einfchließen — vom 
neuen Schloß gejehen liegt ja die Stadt mit allen ihren Aus⸗ 
[äufern geradezu in einem Keſſel, und die gerühmte Milde des 
Badner Klimas hängt weſentlich von dieſer Lage ab — zeigen 
fie die denkbar größte Mannigfaltigkeit in der Abwandlung der 
befannten Mittelgebirgsformen und in der Höhenabftufung; den 
mehr kegeligen Geftalten im Oſten liegen die ftarf gemölbten, 
im WWeften um den Fremerdberg gegenüber und zivtichen ihnen 
ichließen die flachen Höhen Hinter Lichtenthal die Fette. or bie 
einen wie die andern legen fi) die ſchönen Anſchwellungen 
ntedrer Stufen. Es ift ein fchöner Rhythmus in dieſen Linien, 
bei aller Einfachheit des Themas eine Fülle der Abwandlungen. 
Inſofern mag hier der Wandrer das Weſen der Schönheit des 
Shwarzwaldes und zugleich auch des Schweftergebirge® im 
Weſten glei von Anfang vollftändig in fich aufgenommen 
haben. Wieviel größere Berge und tiefere Täler er auch er⸗ 
fteigen und durchwandern wird, er wird immer wieder die Wellen- 
linien des alten abgeglichnen Gebirges finden, in beren allge 
meiner Übereinftimmung eine Fülle von anziehenden Beſonder⸗ 
beiten gegeben iſt. 

Befonders aber forgen die Täler für Abwechſlung, im 
Schwarzwald noch mehr ald in den Vogeſen. Wohl find die 


360 Südwehdentfche Wanderungen 


Täler der Vogejen nicht jo tief und auch oft nicht fo ſteilwandig 
wie im füdlihen Schwarzwald. Aber daß fie fat alle aß 
Wiejentäler mit weichem Raſen, Heinem, Harem, über Felſen 
prudelndem Bach durch den dunkeln Wald beraufichauen und 
ſchon von geringer Höhe in bläulicher Tiefe zu liegen jcheinen, 
gibt ihnen gerade in der Vogeſenlandſchaft eine Bedeutung, bie 
fi) nit an den Metern der Tiefe und Breite mißt. Und daun 
baben alle dieje Täler Urjprungsgebiete, die das gerade Gegen⸗ 
teil der alpinen find. In den Vogeſen und im Schwarzwalb 
ziehen fi) die Wiefentäler ſchön fanft und grün zu den Kmmen 
hinauf, und diefe obern Teile umfchließen dann die breiteften 
Wieſen und Üder der zeritreuten Weiler, die eben deshalb fo 
oft von den Höhen in die grünen, unbewohnten Täler hinab⸗ 
fhauen. In den Alpen ift e8 umgelehrt. Da liegen die Dörfer 
unten, wo fich bier der Wald von Hang zu Hang über das Tal 
erftredt, und die Talanfänge find wüſte, ununterbrocdden von 
Zawinen und Wildbächen umgewälzte Schuttkeffel. Über dieſen 
grünen Zalanfängen ſchwebt etwas an die Ruhe des Alters er- 
innernded. Wer dad „große Tal“ zwildden Hub und Dagsburg 
durchſchreitet, vergleicht das Kleine Bächlein von heute und die 
oberflädlich überhaupt ganz waſſerlos hereinmündenden Neben- 
täler. Das Tann nicht immer fo gewefen fein. Wir wandern in 
uralten Gebirgen, bei denen nur die Pflanzendede jung ift, und 
da8 Menfchenleben und, verglichen mit der Geſchichte des Ge⸗ 
birges, felbft die Burgen aus Nömerfteinen ganz nahe am die 
Gegenwart heranrüden. 

Mit allen unfern Waldgebirgen teilen dieje beiden die Aus⸗ 
dehnung und Schönheit der Wälder. Schon Baden-Baden, Gernd- 
bad, Wildbad und die andern jährlich mehr bejuchten Fremden⸗ 
orte des nördlichen Schwarzmwaldes bieten eine endloje Variation 
von Waldwegen, und das ift gerade wie bei Eifenad) und Harz 
burg ihre den meiſten zugänglichſte und verftändlichfte, die 
meiften ergreifende Schönheit. Daß die Wege feltner in den 
Tälern als an und auf den Hängen hinführen, ift die Urſache herr⸗ 
licher von Bäumen eingerahmter Ausblicke. Belonderd in den 
nördlichen Vogeſen tritt die hervor, wo die Täler oft fo tief 
und ſchmal in den bunten Sandftein eingefchnitten worden find. 
Da jchmiegt fih der Weg in ganz eigentümlicher Weile dem 
überall heruortretenden Geſteinskern des Berges an, defien braun- 
rote Schihtenflädhen ihn wie auf natürlichen Stufen am Berge 
Hinleiten. Biegt er ein, jo ift er wohl auf beiden Seiten von 


Südweftdeutfhe Wanderungen 361 


Felsvorſprũngen umdrängt, zwiſchen denen er ſich hindurchwindet. 
Man iſt oft zweifelhaft, ob man auf natürlichen Buntſandftein⸗ 
platten wandelt oder auf einer alten römiſchen Pflafterung. Da⸗ 
mit find auch fteile Abfälle gegeben, wie der Schwarzwald fie 
feltner hat Mit diefen Feldgebilden und daraus herbor- 
wachienden Mauern und Türmen, ihren weit hinausgebauten 
Kirchen und Kapellen, ihren Dörjhen auf hohen Talrändern 
find die Vogeſen dad Land der Silhouetten. Das gilt ja ſogar 
von Straßburg mit feinem hohen Münfterturm; und wie fcharf 
zeichnet fi) Fröfchweiler auf feinem Höhenrüden ab! Am Fuße 
der Berge find die Dörfer und Städtchen oft fo eng an den Ge⸗ 
birgsrand gedrängt, daß man von dem oben hinführenden Wege 
nur ihre Kirchturmipige und die vorgefchobenften Häufer fieht. 

Wo die Sandfteinguadern fo viele natürlihe Mauern gebaut 
haben, ift die unmittelbare Bedeutung des Buntjandfteing für den 
Burgenbau ſchon der Römer und mehr noch des Mittelalterd als 
Fundament und Quaderbruch ebenjo flar wie die der phantaftifchen 
Telsgebilde auf die Vollsphantafie und — die Phantafie der 
Keltomanen. Wo ein Sandfteinfel® ein natürliches Fundament 
ins Tal hinausbaute, mußte eine Burg darauf gejeßt werden, und 
wo der Yeld eine natürliche Säule war, mußte er einen &renz- 
oder Grabmonolith bedeuten. Der alte Sagenreichtum ded Elſaß 
hängt damit ebenjo zufammen wie das wuchernde Gebeihen ber 
modernen Keltenfagen in den Vogeſen. 

Schwarzwaldlenner vermifien in den Bogejen bie male 
riſchen Gruppen alter Holzhäufer. Sie fehlen nicht ganz, es liegt 
aber nicht in der Befiedlungsweife der im Innern wenig be= 
wohnten Vogeſen, jo zahlreiche hochgelegne Dörfchen zu haben 
wie der Schwarzwald.. Die rechte Rheinſeite hat dafür nicht Die 
Menge der alten Burgen aufzumeifen, die ſich in den Vogeſen 
an manchen Stellen geradezu drängen. Die nädjite Umgebung 
von Babern und Lützelburg hat deren fieben wohl erlennbare 
und daneben nod) vereinzelte Trümmer. In Baden find aud) jo 
interefiante alte Städtchen nicht häufig, wie in dem politifch einft 
jo viel buntern und eigentümlichern Elſaß. Mit ihnen können 
fi) einige der vor den Talausgängen des jüblidden Schwarz 
waldes am Rhein Liegenden Städtchen, wie etwa Daß in ber 
Kirchengeihichte des Oberrheins und ber Schweiz berühmte 
Sädingen, die Stadt des Heiligen Fridolins, oder das einit ftarfe 
Waldshut vergleihen. Die Nüchternheit der meiften babifchen 
Amtsftädte bezeugt dagegen deutlih, daß niemand von ber 


362 Südwehdeutfche Wanderungen 


Bureaufratie, und wäre fie jo gebildet wie die badiſche, Schöpfungen 
don eigner Art verlangen darf. Und man möge nidht vergeflen, 
daß dad rechte Rheinufer von ſchwerer verwüftender not 
in bemfelben Zeitalter heimgeſucht wurbe, wo fi) das finfe 
unter Frankreichs Schub tiefer Ruhe erfreute. 

Baden bat fich jedoch in feinen alten Biſchoſs⸗ und Fürſten⸗ 
ftädten, beſonders in SKonftanz, Freiburg, Baden-Baden und 
Heidelberg, genug geichichtliche Denkmäler bewahrt, daß es jeinen 
Nachbarn im Weiten nicht zu beneiden braucht. Ja in Raſtatt 
und Karlsruhe verdankt es feinem Fürſtenhauſe Stäbte, die zu 
den eigentümlichiten Deutſchlands gehören. Naftatt trägt die 
Spuren des Markgrafen Ludwig auß der ausgeſtorbnen Baben- 
Badenihen Linie, des Siegerd von Benta, bed Gefährten des 
großen Eugen. Es iſt eine ausgeſprochne Militärftadt. Die 
Feſtung und nad) der Feſtung die Garniſon haben die —— 
derſchlungen. Einige Denkmäler erinnern an die Kriege mit 
Türken und Franzoſen, der Stil Ludwigs des Vierzehnten ift 
mit Glück nachgeahmt. Das Naftatter Schloß aber, breit, ge 
räumig, impofant wie alle Rokokobauten, ift troß feiner Nutz⸗ 
barmachung als Kaſerne des dritten badiſchen Infanterieregiments 
Nr. 111 eine traurige Ruine. Der Eindruck des Vergeblichen. 
vollkommen Überflüffigen ift bejonder8 allen Bemühungen ber 
Götter und Genien eigen, die in unzählbarer Menge die Binnen, 
Giebel und Galerien bevöllern. Der vergoldete Jupiter auf ber 
Spige der Kuppel mag noch fo gleißende Blitze fchleudern, fie 
erreichen nicht das Bajonett des Heinen badiſch⸗preußiſchen Mus- 
ketiers, der langweilig unten auf und ab fchreitet. Den edeln 
und mannigfaltigen Bemühungen der mit allen Geräten, Waffen 
und Früchten der Erde auögeftatteten fteinemen Götter ſpricht 
die einförmige Übung des Stechſchritts Hohn, die die Rekruten 
auf der Ebene der Sandwüſte hinter dem Schloß ausführen. Und 
ganz bejonderd ergebnislos kommt uns die Anftrengung der 
Genienpaare vor, die auf allen Seiten das badiſche Wappen 
zeigen. Sie vermögen höchitend die Neugierde eines zufälligen 
Beſuchers zu reizen, befien Aufmerkſamkeit im nächften Augen⸗ 
blick durch die jehr leſerliche Inſchrift: Kgl. Preußiſches Proviant⸗ 
amt abgelenkt wird. Jedoch geht ſeit der Niederlegung der 
Walle Raſtatt als Mittelpunkt der badiſchen Rheintalbahnen, der 
Murgtalbahn und der Linie nach Selz und Hagenau einer ge⸗ 
ſunden Entwicklung entgegen, die ſich ſchon in einem nicht ums 
beträchtlichen neuen Bahnhofſtadtteil ausſpricht. Die firategifchen 


Südweftdeutfche Wanderungen 363 


Erwägungen des alten Türkenbeſiegers bei der Befeitigung Raftatts 
find dur die Yurüdgewinnung von Straßburg hinfällig ge- 
worden; zugleich wird aber durch dieſe Raſtatt einer neuen Blüte 
entgegengeführt. Und das bat fich der alte Feldherr wohl nicht 
träumen laffen, wieviel Weisheit auch feine mächtige Allonge- 
perüde bededt haben mag. 

Karlsruhe wird von vielen, die e8 nicht genau kennen, als 
eine der langiweiligften Städte Deutichlands bezeichnet; feine 
Sücheranlage ift allerdings fehr regelmäßig, und da es nicht 
älter als hundertachtzig Jahre ift, kann es feine ehrwürdigen 
Denkmäler umfchliegen. Ich teile jene Anficht nicht, finde viel- 
mehr gerade in Diefer jungen Stadt erfreuliche Zeugniſſe dafür, 
daß der diefen warm- und weichherzigen Südweſtdeutſchen eigne 
Schönheitsfinn nicht bloß als ein gefchidhtliher Schatten dünn 
und grau in alten Städten, Münftern und Schlöflern umgeht. 
So herrliches er dort geichaffen hat, das Schönfte bleibt Doch, 
Daß er lebendig geblieben if. Er war nur eingeldhlafen. In 
einem Schlaf, den Not und Verkümmerung jo tief gemadht 
haben, entjtanden die Armlichen Neuftädte mit den unglaublich 
Heinen, abjolut ſchmuckloſen Häufern, die man hierzulande ein- 
ftöckig nennt; in Wirklichkeit beftehn fie nur aus einem Erd⸗ 
geſchoß. Aber als Friede und Gedeihen einzogen, da wachte 
ſogleich der alte Schönheitsfinn wieder auf. Karlsruhes Bau⸗ 
geiciäte zeigt die Stufen dieſes Auffteigens ſehr deutlich. In 
der 1740 gegei ründeten Stadt gab e8 außer dem zopfigen Schloß 
nur Kleines, Armliches; jogar die Minifterien und die Wohnungen 
der Prinzen fahen nur größern Bürgerhäufern glei. In den eriten 
beiden Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts mit der auf dieſe 
dörfliche Reſidenz zurückwirkenden Vergrößerung Badens wurden 
einfache Kirchen in antikiſierendem Stil, zwar nüchtern, aber 
durch die großen Verhältniſſe wirkungsvoll von Weinbrenner 
gebaut, der beſonders als theoretiſcher Kenner der antiken Bau⸗ 
funft geihäßt war. Das jebt durch den pompöſen Prachtbau 
des Erbgroßherzogichloffes verbrängte „Schlößle,“ damals für 
eine der Prinzejfinnen gebaut und fpäter von der Mutter des 
regierenden Großherzogs bewohnt, entſprach als einfache Wille, 
ſchmucklos, aber mit großen Räumen, auf originellen Felſenunter⸗ 
bau dem Streben nad größern Dimenfionen bei einfachſter Hal⸗ 
tung im Außern. Auch die innere Ausftattung dieſes Schlößchens 
war bis zu feinem Abbruch einfacher als die von Taufenden von 
Wohnhäufern und Villen moderner Geldproßen. In diefer Zeit 


364 Südweftdeutfdhe Wanderungen 


wohnten die Würdenträger des Hof unb des Staats und bie 
Ariftofraten, die ſich in Karlsruhe niederließen, faft alle in der 
Stefantenftraße in bürgerlich einfachen, äͤußerlich abſolut ſchmuck⸗ 
Iofen Häufern, die im Innern ein eben zureichendes Maß von 
Bequemlichkeit hatten. In vielen waren die Wohnungen, wie 
im Bauernhaus, gar nit vom Hausgang abgeichlofien. Der 
Eintretende gelangte ohne Hindernis bis an die Eingänge der 
Kühe, Wohn⸗ und Dienerzimmer, die alle in berjelben Flucht 
lügen. Das Schöne an diefen Häufern war, daß ihre tiefen, 
ſchattigen, obftreihen Gärten bis an den damals noch nicht 
„angelegten“ Hardtwald reichten. In einem ſolchen Haus, das 
Stadt und Land verband, hat Scheffel feine Knabenjahre ver- 
lebt. Ich Habe nie eine ftillere Straße gejeben als dieſe. Man 
mag da3 langweilig nennen, man kann e8 auch poetifch finden. 
Sceffel Hat als Mann gern in diefer Straße gewohnt. Biele 
Stumden des Tages Ionnte man fie durchwandern, ohne einem 
Menichen zu begegnen. Die Bepflanzung mit Bäumen, wie in 
andern deutichen Städten in den fünfziger Jahren durchgeführt, 
hatte fie weſentlich verfchönert. 

Mit dem Meifter des neuromaniſchen Stils, Hübſch, trat 
ein neuer Abfchnitt der Baugefchichte Karlsruhes ein. Die Kunft- 
halle in ihrer alten, jebt Durch Bergrößerungen weſentlich ums 
geftalteten Form, das neue Theater zeigen einen feinen Sinn 
und ein Vermögen, mit geringen Mitteln Großes zu wirken und 
die romantischen Stilformen der Gegenwart anzupafien. Wenn 
die Gefchichte der dentichen Kımft einft in einem das Kunſt⸗ 
gewerbe umfafienden Sinn gejchrieben werden wird, werben bie 
Tonrelief8 des Hoftheaterd von Reich in Hüfingen hoffentlich 
nicht vergeſſen werben. In dieje Zeit fallen die fchönen Bauten 
Eifenlohr8, die beſonders durch die virtuofe Verwendung des 
bimten Sandfteins herborragen. In den fünfziger Jahren war daB 
Wohnhaus Eifenlohrs in der Karlsftraße eine Sehenswirrdigfeit. 
Heute verſchwindet e8 neben dem pompöfen palaftähnlicdden Bau 
des Bürgers ©. gegenüber. Auch der ältere Teil der Techniichen 
Hochſchule gehört noch diefer Zeit edler Einfachheit an. Alles 
Moderne ift gejchmüdter, wobei natürlich viel mehr Gelegenheit 
zur Entfaltung gegeben war. Karlsruhe war unterdefien der Sik 
einer Architefturfchule am Polytechnikum und einer Kunftichule 
und einer der belebenden Mittelpunlte bes fübbeutichen Kunſt⸗ 
gewerbeß geworden. Uber wir ſehen nod immer mit Freude 
die Anregungen jener einfach⸗ſchönen Bauweiſe nadyvirten, bie 


Südmweftdeutfche Wanderungen 365 


beſonders auch in der Verwendung ded ungetünchten Braun: 
rot des Buntſandſteins ſchöne Vorbilder gegeben hat. Die ein- 
fachſten Bauten der badiſchen StaatSbahn, aus grau bemorfnem 
Baditein mit Fenfter- und Türeinfaſſungen aus buntem Sand⸗ 
ftein, konnten der Privatarchitektur zum Mufter dienen und find 
mit großem Glück z. B. in neuen Familienhausanlagen Freiburgs 
nachgeahmt. 

Welche Wandlung bat dieſer neuerweckte Kunſtſinn aber erſt 
in der alten Schwarzwälder Induſtrie bewirkt! Welcher Fort⸗ 
ſchritt von den karminroten Roſen auf dem weißen ſchön lackierten 
Schild der Schwarzwälderuhr von einſtmals und den kunſtvollen 
Aufbauten von geſchnitzten Wand⸗ und Regulatorengehäuſen, die 
ein Beſuch der Ausſtellungen in Triberg oder der Uhrmacher⸗ 
ſchule in Furtwangen zeigt! Nicht früher als im Anfang der 
fiebziger Jahre Hat dieſer künſtleriſche Aufſchwung begonnen, alfo 
ziemlich gleichzeitig mit dem Erwachen aus dem allgemeinen 
Verfall, der das Gewerbe jo ziemlich zwei Menjchenalter immer 
tiefer aus dem römifch-franzöfiihen Stil des erſten Kaiſerreichs 
durch den Biedermeierftil 6i8 zur äußerſten Verarmung der 
fünfziger Jahre hinab geführt Hatte. Die Pariſer Ausftellung 

atte zuerſt auf dem Gebiet der Uhreninduftrie eine jo große 
berlegenbeit in der Ausftattung der Werke aus dem franzöfiichen 
Jura über die der Schwarzwälder und Schweizer gezeigt, daß 
man ſchon damald die Reform der Zeichen- und Schnipfchulen 
ind Auge faßte. Zuerſt erſchien nun ein merkwürdiges Gemilch 
des gewohnten Gewöhnlichen mit ſchulmäßig⸗klaſſiſchen und Re⸗ 
naiſſancemotiven, daß ſich ſehr feſtgeſetzt hat, und nur langſam 
bat ſich das felbftändige Kunſtvermögen der Alemannen daraus 
wieder erhoben. Die künſtleriſche Ausſtattung blieb nicht bei den 
Uhren jtehn, fie hat fih auf alle Schwarzwälder Induſtrien 
außgebreitet, und neue Zweige der Kunſtinduſtrie haben ſich be- 
ſonders an die ſchon lange gepflegte Holzbildhauerei angefchloffen. 
Die Aufgaben werben auch bier immer ſchwieriger, aber ohne 
dieſes Aufraffen hätte der Wettkampf mit den Rachbarinduftrien 
nur mit Niederlagen auf der ganzen Linie geendet, während nun 
die Schwarzwälder Anduftrien ein zwar mühſames, aber ftellen- 
weis immer noch recht erträgliches Leben führen. Auch fie gehören 
zu dem, was im Schwarzwald den Wandrer anzieht und ihm 
Sympathie mit dem ebenfo fleigigen wie findigen Volke einflößt. 

Das Haufieren mit Schwarzwälder Holzwaren joll bis ins 

frühe Mittelalter zurüdgehn, die „Slasträger“ haben ihre zuerit 


366 Südweftdeutiche Wanderungen 


jehr einfachen Gläfer wahrſcheinlich ſchon im fechzehuten Jahr» 
hundert ins Rheintal und in die Nachbarländer getragen. Ein 
Glasträger foll aus Böhmen im Anfang des fiebzehnten Jahr⸗ 
hunderts die erfte Holzuhr in den Schwarzwald gebradht haben, 
die dann die geſchickten „Schnefler“ (Schnipfler, Schnitzer) nach⸗ 
machten, und aus der die große Schwarziwälder Uhreninduſtrie 
hervorgegangen jein foll. Uber dad war überhaupt die Art der 
Haufierer, daß fie von ihren Wanderungen alle mitbrachten, 
was die Heimat brauchte, und die Heimat erhielt dadurch manche 

Anregung zu neuen Erzeugniffen. Wie die Hanfierer organifierte 
Gejellichaften bildeten, die in ale wieberlehrenden Verſamm⸗ 
Iungen der SHeimgelehrten in Triberg, Steig und andern Orten 
ihre Abſatzgebiete verteilten, Preiſe beftimmten und fid) Geſetze 
gaben, da8 möge der Leſer in Trenkles Geſchichte der Schwarzes 
wälder Induſtrie (1874) nachſchlagen. Man muß den Hut ab⸗ 
ziehen vor dieſem Fleiß, diefer Selbftändigteit und diefem Sinn 
für billiges, gejehlihes Handeln. Es gibt Taum ein Gewerbe 


gebürgert hätten. Natürlich hat ſich keines ganz in dieſer Form 
erhalten lafien, und beionders in ber Uhrmacherei Bat die Groß⸗ 
unternehmung an der Notwendigfeit der Verfeinerung des Mecha- 
nismus und der künſileriſchen Ausftattung Bundesgenofjen er= 
halten, gegen die ſogar jene Hanbfertigleit nicht auflommt, bie 
einft die berühmten genauen Schlaguhren bis auf das lebte 
Rabchen aus Holz zu jchaffen wußte. 
Die Induſtrie hat fi) im Schwarzwalde hauptſächlich auf 
en entwickelt, die ſich in breiten Wellenhũgeln, an Die 


Schwarzwald öftlid) 

abdachen. oſtlichen Teil, in der Baar, iſt dieſe Landichaft 
— und reich an ftattlichen Dörfern. Die Breg, ber Donau- 
quellfiuß, windet fih bier langſam durch Ihr —— zwiſchen 
—— — hin. Wer in dieſem Tal aus der Alb dem Schwarz⸗ 
wald zuwandert, der mache in Donaueſchingen Halt, wenn auch 

nicht wegen der ſchön gefaßten Donauquelle. Er betrachte ſich 


und beſonders bie wundervollen Sammlungen, die ber Firft von 
Fürftenberg dort vereinigt hat und mit freiem Sinn und frei⸗ 
gebig verwalten läßt. Die Bibliothek, die Urkundenfammlung, bie 
Gemäldefammlung und das geologikkh-paläontologiihe Muſenm 


Südweftdeutfche Wanderungen 367 


ſind ebenfo viele bedeutende Sehenswürdigkeiten. Das Heine 
Städten der Baar ift durch fie ein geiftiger Mittelpunkt ge- 
worden. Lente wie Scheffel, Riezler, Baumann haben hier gelebt 
und gearbeitet. Wie gut wäre e8, wenn viele Glieder unſers 
hohen Adels dieſes Beiſpiel nachahmten; und wie viel beſſer noch, 
wenn fie nad) dem Beiſpiel eines Duc de Broglie, eine Duke 
of Argyll felbft mit Hand anlegten. Krupp bat nicht bloß ein 
interefjanted Waffenmuſeum, jondern aud) eine jchöne geologifche 
Sammlung zu zeigen, und feine Privatbibliothel ift anfehnlich. 
Der verftorbne Gruſon hatte die ſchönſten Orchideen und Kakteen, 
die in Deutichland eines Privatmanns Garten zieren. Es ließen 
fi) noch viele Namen nennen. Uber im allgemeinen ift das 
alleß gar nichts im Verhältnis zu dem, was bei uns Staat und 
Körperichaften für Wiſſenſchaft und Kunſt leiften müffen, und noch 
mehr außer Verhältnis zu den Mitteln jener Leute. Um fo er- 
freulicher ift da8 Bild, das Donaueſchingen gewährt. In dem an 
feltenen Bäumen reichen Schloßgarten erhebt ſich dad jebt eben 
vollendete neue Schloß als ein ftolzer Renaifjancebau, neben dem 
das aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ftammende 
„alte* Schloß nur ein gemütliches ländliche Herrenhaus von 
etwas größern Verhältnifien tft. Dieſes war feinerjeitS an bie 
Stelle des Hüfinger Schlofjeß getreten, das einer ganz andern, 
fefte Mauern und fichere Gänge Tiebenden Beit angehörte. Die 
neuen fürftlichen Bauten in Donaueſchingen erinnern auffallend 
an Karlsruher Vorbilder, durchaus nicht zu ihrem Nachteil; fie 
find von einheimischen Künftlern entworfen und ausgeführt. 
Die Fürften von Yürftenberg find ſtolz, die Herren ber 
Donauquelle zu fein, in die in Eräftigern Beiten die hoben Be⸗ 
fucher bineinfprangen, um ein Glas auf daß Wohl der Herrichaft 
zu leeren. Die Gelehrten wollten ihnen dieſen ſchönen Beſitz 
ftreitig machen, indem fie ſagten: Wohl entfteht die Donau bei 
Donaueſchingen durch die Bereinigung der Breg und der Brigady, 
aber deren Quellen find die Donauquellen. Hier jagt man aber: 
Der aus der Donauquelle im Donaueſchinger Schloßhof heraus- 
fließende Bach vereinigte fich früher mit der Breg und Brigach 
bei deren Zufammenfluß und hieß Donaubach. Alſo liegt hier die 
Duelle. Einerlei, die offizielle Donauquelle ift ein großes, ungemein 
Mares Waſſer in einem freißrunden Beden mit monumentalem 
Steingitter. Den Zweifler belehren monumentale Infchriften und 
Bilder. Auf der einen Seite „Bis zum Meer 2840 Kilometer,“ 
auf ber andern „Über dem Meer 678 Meter,“ darüber thronenb 


368 Südweltdeutfhe Wanderungen 


eine Duellnymphe, zu deren Füßen ein Rind die Duelle aus 
voller Vaſe ausgießt, und endlich im Kreis die Steinbilder des 
Tierkreiſes. Das Ganze, von Linden und Ahornen überjchattet, ift 
ein reizendes Stüd Natur und Kunſt, dem wir nur Die leeren, 
zweckloſen, gemeinen Zinkvaſen auf der Baluftrade wegwünichten. 

Donauefchingen liegt frei auf weiter Hochebene. Gehn wir 
dem Schwarzwalde zu, jo treten breite, fladye Höhenzüge erft 
noch weit auseinander und lafien den Blid in die Ferne ſchweifen; 
dann nähern fie fi einander und führen jachte ind Gebirge 
über, indem fie den Fluß und den Weg von beiden Seiten immer 
mebr einengen und ihre hohen Tannen näher heranſchieben. Dabei 
wird da und Dort in ber Flußrinne der Felsboden fichtbar, erft 
roter Sandftein, dann Granit, und zulegt rinnt das Waſſer an 
dunkeln Yelsblöden Hin, die fid) von dem ganz überraften Tal⸗ 
boden abheben. Das ganze Bregtal bis auf die Höhe hinauf 
ift aber immer nur von denfelben flachen Wölbungen eingerahmt, 
und aud) in der Ferne taucht fein höherer Gipfel auf, bis bei 
dem neuerdingd von Sommergäften viel befuchten Oberbrand 
plößli Dad ausgedehnte Alpenpanorama im Süden und die jüb- 
lihen Schwarzwaldgipfel im Weiten auftauchen, worauf dann 
über NReuftadt auch der höchſte Schwarzwaldberg, der Feldberg, 
erfcheint, der zwar an Höhe, kaum aber in der Form die be⸗ 
ſcheidnern Wölbungen übertrifft. Er zeigt im oberften Teil eine 
leihte Abweichung von der einfachen flachen Kurve, eine Ans 
näherung an einen Gipfel, der aber doch flach if. Und fo kommt 
man eigentlich auß dem Hochebnenhaften nicht heraus, biß man 
in das Höllental Hinabfteigt, wo der ſchmale Taleinſchnitt das 
Großartige bewirkt, das die Erhebung nicht vermochte. Bei 
dem kühnen Felfenturm des Hirfchiprungs erinnert man fi an 
ahnliche Bildungen im obern Bodetal und an fo manche andre 
Felsklippen an den Hängen dieſes oder jened Mittelgebirgstales. 
Es zeigt fi) darin das allgemeine Geſetz, daß die ſcharfen Formen 
in unjern alten Gebirgen nicht wie in den Alpen den @ipfeln 
und Kämmen, fondern den Taleinjchnitten angehören. Deswegen 
ift auch das ſchönfte am Fseldberggipfel, der mit feinem gaftlichen 
Haufe dort herüberwinkt, genau wie beim Broden, der Rundblick, 
der hier allerdings ein Ulpenpanorama umfaßt, wie man e& in 
den Alpen felbft nicht findet, und Dazu den Blid ind Rheintal 
bis in die Vogeſen Hinein. 

Die Hochebene der Baar ſenkt fi) al ein ununterbrochen 
wohl angebautes Land zum Bodenſee hinab. Im Welten tauchen 


Südweftdeutfhe Wanderungen 369 


an ihrem Rande die Tallgrauen Abfälle des Nanden und die 
altoultanifchen Kegel des Hegau hervor. Das Nordufer des 
Bodenſees aber gehört zu den ausgedehnteſten Weinlandichaften 
Deutichlandd. Won den Höhen hinter dem mauer- und türme- 
reichen Meeröburg, wo da8 Grablirchlein herabichaut, neben dem 
das rührend einfache Grabbentmal der Annette von Droſte⸗ 
Hülshoff fteht, bis über Hagenau hinaus ift der ganze fanfte 
Abhang ein einziger Weingarten; das lichte Mattgrün der Neben 
bedeckt einförmig dieſes Geftade, jo wie in Flachlaändern Wiejen 
oder Nübenfelder weite Flächen einnehmen. Steigt man auf 
engen Wegen die heißen Wände hinauf, mo der edelfte Seewein, 
der Meeröburger, außgebrütet wird, jo fieht man auf der Hoch⸗ 
ebene Hopfengärten, Obftbäume, Kleefelder, aber meilenweit fein 
Getreide. Dahinter fteht in der Ferne wieder der dunkle Rand 
des Waldes. 


3 


Vor der Sägemühle an der Landftraße, Die fi) nach dem 
grauen ummauerten Pfalzburg hinaufwindet, fiße id) am Holztiſch 
und fchaue in die duftigen, blauen Waldberge der Vogejen hinein. 
Talauf talab hallt da8 Singen der Säge und das Fallen der 
Bretter. Der Harzgeruch des friſch zerichnittnen Holzes würzt 
die feuchte Luft. Hart vor mir ftehn Die erften Tannen, und 
Tannen erfüllen den vielgeftaltigen Geſichtskreis rechts und links 
und vor mir. Der faft regelmäßig flache Regel des Schneebergs 
it bi8 oben mit Tannenmwald befleidet. Ich bin drei Stunden 
gewandert, habe wenig Föhren und zahlloje Tannen gefehen und 
babe kaum einmal ihren Schatten verlafien. Ihr Wurrzelgeflecht, 
da8 über den Boden hervortritt, bat mir den Weg herauf er- 
leichtert; man fteigt auf dem Fußpfad wie auf Holzitufen von 
einer Wurzel zur andern. Der Duft ihrer nahen Zweige weht 
mit der Abendluft talaud. Diefe Taufende und Abertaufende 
von Tannen, kräftig alle im Gewand ihrer ftraff anliegenden 
filbergrauen Rinde und mit den breiten Schirmäften, fcheinen 
wie eine Armee über die runden Berge im Weften berzumar- 
ſchieren und mit unmiberftehlider Kraft ins Rheintal hinab⸗ 
zudringen. Sin den Schluchten fchieben ſich dieſe dunkeln Heer- 
haufen zujammen, und nur an den flachen Berghängen zeigen 
fi) Lücken, Lichtungen. Dort Hinten ſchimmert e8 gelblih und 
bläulichgrüän vom Talausgange her, das ift der obere Rand des 
Rebengürtel3, ein Örenzjaum, der dem Walde zuruft: vi weiter! 

Nayel, Slüdstinfeln und Träume 


370 Südwefdentiche Wanderungen 


Aber er ift nur Grenze, folange der Menih will. Als bie 
Nömer flohen und ihre Dörfer und Pflanzungen den Alemannen 
überfießen, da dauerte es nicht lange, daß unter ben hellen Neben 
Die Vorpoften de dunkeln Waldes erichienen, fie überfchattend 
und in fi) aummehmend. Dieſer dunkle Tann ift der alte Wald, 
der Urwald des Schwarzwald und der Vogeſen, mit denen er 
feit Sahrtaufenden verwachſen ift, und die auch heute ohne ihn 
gar nicht zu denken find. Er ift vor den Menſchen dageweſen 
und würde an ihre Stelle treten, wenn fie jemald wieder die 
Zäler verließen, in die fie ſich feit der alten Sleltenzeit mühſam 
bineingerodet haben. 

Zwiſchen biejen tiefen, dunkeln Wäldern des Gebirges ımb 
dem gartenartig angebauten Yande des ebnen Rheintals zieht an 
allen tiefern Berghängen ein Saum von Laubwald entlang. So 
hoch vor allem der Kaftanien- oder Keſtenbaum anjteigt, jo weit 
it ein Bug von lichter Heiterkeit durch die Hellgrünen, groß- 
blättrigen Kronen und die vielverſprechenden Früchte des kräftigen 
Baumes eingeflodhten. Er macht nidht den Eindrud eines Fremd⸗ 
lings wie Die weiter oben dann und wann eingeiprengte Lärche 
Ebenſo wie die Hopfenbuche, deren Ührenfrüdhte im Herbſt den 
Boden bededen, eine gern gejehene Bereicherung ded an Abo, 
Ulmen und Eichen armen Schwarzwald» und Vogeſenwaldes tft, 
fo grüßt uns der Keftenbaum, der die Eigenfchaften des Wald⸗ 
und Fruchtbaums vereinigt, als ein vertrauter und dazu freigebiger 
Saft, den man an feinem mittägigen Berghang miffen möchte. 

Die Nordvogeſen tragen auf ihren roten Sandfleinguadern 
auch die Säulen herrlicher Buchenhallen. Die fchönften Buchen⸗ 
wälder Dentichlands, wie fie am Dftleeftrand umd dann wieder 
im Wellenhügelland und an den fteilen Talhängen des bayriſchen 
Imn⸗ und Iſargebiets grünen, übertreffen nicht die Buchenwälder 
der Sandfteinvogefen und der Hardt. Und dieſe Buntjandftein- 
hügel haben dazu die naturgehborne Phantaftif ihrer Yelsformen 
und die Menge des gleicdjjam aus dem Stein herauswachſenden 
Gemäuers alter Burgen, Schlöffer und Klöſter für fi. Die 
Kammwanderung von der mädjtigen Ruine Hochbarr zu ben 
durchaus nicht umbedeutenden Trümmern ber Burgen Groß⸗ umd 
Kleingeroldseck führt auf fchattigen Waldivegen in einer halben 
Stunde an drei Burgruinen vorüber. Bon diefen burggelrönten 
Hügeln fieht man Vorſprung hinter Vorjprung des buchtenreichen 
Gebirges, wie Vorgebirge ind Meer, in die Ebene hinaustreten. 
In die Buchten ſchmiegen ſich die Städtchen und Dörfer, beren 


Südweftdentfche Wanderungen 371 


—— —— ⸗— 


DObftgärten wie zerſtreute Vorpoſten des hinabſteigenden Waldes 
den Gebirgsrand der Ebne durchſchwärmen. 

Dieſes mächtige Schloß von Hochbarr über Zabern, das 
auf zwei ſeltſam geſtalteten Felſen auf konglomeratartig kieſel⸗ 
fſteinreichem Buntſandſtein gegründet iſt, wiederholt in feinen 
wulſtförmigen umlaufenden Gefimjen die Struktur des Felſens. 
Man fieht bei diefen Bauten oft kaum, wo die auß dem roten 
Fels herauswachiende Burgmaner ‚anfängt; und dieſe hängt in 
der Tat jo innig mit dem Grundfelfen zuſammen, daß bei Spren- 
gungen beide miteinander gebrochen find. Auf der Walded, Die 
weiter nördlich, zwiſchen den Hanauer Weihern, zwei ftillen, halb- 
verfumpften Waldfeen, auf einem Sandſteinkegel emporfteigt, 
nimmt dieje Verbindung phantaftiiche Dimenfionen an. Der Zu- 
gang zu dem ſchlanken, gut erhaltnen vieredigen Wartturm wird 
durch die voripringende Platte eines Felstifches gedeckt. Aus 
ihm eröffnet ein natürliches Fenſter den Blick nach Norden. 
Die meiſten Stufen find in den Fels gehauen, und zu beiden 
Seiten des obern Plateaud find zwei große keſſelförmige Ver⸗ 
tiefungen im Yelögrunde zu ſehen. Der etwas tiefere weftlidhe 
Teil der Burg zeigt überhaupt kein Mauerwerk, jondern Stufen, 
Bänke und Binnen find aus dem anftehenden Stein gejchnitten. 
Manches an diejen Sandfteingebilden erinnert an die jächfifche 
Schweiz, aber Stein, Geftalten und Kanten find härter. 

Eine feltne Erſcheinung: Seen in den Nordvogefen. Diele 
beiden Hanauer „Weiher“ liegen in einer Talweite, die mitten 
im Walde dem Aderland der Heinen Weiler Walde und Schweizer- 
landel Raum geichaffen Hat. Die Ärmlichkeit diefer Weiler zeigt, 
daß Hier nie viel zu holen war. Eher waren die Seen früher 
ausgebehnter als jebt, und das bißchen Ackererde ift eben offen- 
bar dem Umftande zu danken, daß alter Seeboden troden wurde. 
Da fie nicht unmittelbar von Bergen umgeben find, bieten bie 
Heinen Seen nur an einzelnen Uferftellen, tvo der dunkle Yöhren- 
wald ganz nahe herantritt, wirkſame Partien. Die Ränder des 
Heinern See find faft ringsum verfumpft, und auch den Glanz des 
Wafferjpiegeld des größern trübt allzuviel ſchwimmendes Gelräute. 
So teilen fie eigentlich nur die Einſamkeit mit den Suüdvogeſenſeen, 
die als echte Gebirgsjeen auß tiefen Schluchten wie dunkle Augen 
bliden. Treffend nennt der Bollamund diefe ebenfo wie Die 
flachen, am Rande jumpfigen lothringer Seen „Weiher.“ 

Kaum gleichen fi) zwei Gebirgslandfchaften auf deutſchem 
Boden fo wie die der Sanbfteinvogefen und der Hardt. Politiſch 

24* 


372 Südweltdeutihe Wanderungen 


gehören fie zu drei Ländern: Elſaß, Pfalz und Lothringen, von 
Natur find fie eind. Diefe Natur wird hoffentlich herauf aus 
ihrer Tiefe und durch alle menſchlichen Schranten hindurch einigend 
wirkten! Beim Eintritt in den lichten, hochſtämmigen Buchenwald, 
der zum Wajenftein über Niederbronn emporführt, fühlt man fich fo 
vollitändig an den Fuß des Trifels verjeht, daß man bad Gefühl für 
die Drtlichkeit verliert. Und fo ift e8 überall in den nördlichen Vo⸗ 
gejen. Natürlich reicht ein Blid von der Höhe Bin, Die Eigentümlich- 
feit des Qandes zu zeigen: die breitere Zone der Vorberge, von deren 
Rand fi vom Wafenjtein, Wafenlöpfel u. a. der neue Kirchturm 
von Fröſchweiler wie eine zum Simmel weilende Säule erhebt, das 
am ernfteften ftimmende von allen Schlachtdentmälern um Wörth. 
Man kann ich Teine deutichere Landichaft vorftellen als 
diele, deren Schauplaß die Schladht bei Wörth geweſen iſt. Das 
Bielental zwilchen Fröfchweiler und Wörth, aus dem fidh Die 
Deutihen am Nachmittag des 6. Uuguft zur legten Entſcheidung 
weitwärts emporlämpften, ift, vom Kirchhof in Fröichweiler aus 
gejehen, die reine Idylle. Won bier aus der fanfte Mbfall der 
Wieſen, drüben der Dftabhang mit obſtbaumbeſtandnen Wieſen, 
Adern und Weinbergen fteiler anſteigend, bis er in eine flache 
Wölbung übergeht, ns der als Abſchluß ein ununterbrodhner 
Zaubwalbftreifen des Herrenberges hervortritt. Grün in allen 
Tönen und Schatten. Dahinter erhebt fi) noch ganz nahe der 
Ichöne, dicht bevaldete Rüden des Hochwalds, und aus der Ferne 
[hauen Die Höhen um Bitſch, und weiter nördlid von der Pfalz 
und Weißenburg zu, faft in einem Halbkreis um daS Amphi⸗ 
theater von Wörth. Die alte Grenze zwiichen Deutichland und 
Frankreich andeutendb und zugleich das nächfte Verteidigungsobjelt 
und die Rüdzugslinie der Franzoſen verdeutlichend, geben fie dem 
Bilde einen großen Zug. Wer aus dem Walde hinter Fröſch⸗ 
weiler beraustritt, dem erjcheinen die Vogeſen nahe. Nur eine 
gute Stunde Weges ift es noch bis Niederbronn, das ſchon von 
bewaldeten Gebirgsaußläufern umfaßt wird. Den Flüchtlingen 
des 6. Auguft mochte das freundliche Reichshofen mit ſeinem 
hohen Kirchturm aus rotem Sandftein, das in dem weiten 
Wiejengrunde weſtlich von dem die Orte Reichshofen und Fröſch⸗ 
weiler trennenden Höhenzug liegt, als ein Halt⸗ und Ruheplatz 
winken. Die Flucht ging aber bekanntlich weit darüber hinaus, 
und die bayriſchen Reiter drangen noch am Abend des Schlacht⸗ 
tages bis zum Weſtrand von Niederbronn vor, das allerdings 


mehr vollgepfropft als eigentlich militäriſch beſetzt war. 


Stöweftdeutfche Wanderungen 378 





Es war ein wohlgewählte® Schlachtfeld auf dieſen fchönen 
fanftgeneigten Uderfluren und Weinbergen, die fich von den weft- 
lihen Höhen zur Sauer hHerabziehn und dad an ihrem Fuße 
liegende Wörth in flahem Bogen umfaflen, darüber das hoch⸗ 
gelegne Fröſchweiler in der beberrihenden Mitte, auf beiden 
Blanfen und im Rüden ſchützender Wald, vor ſich die Dedung 
durch die Sauer in ihrem Wiefengrund. Das ift ein Schlachtfeld, 
wo eine anjtürmende Armee, wenn fie nicht ganz feitgefügt war, 
zerſchellen mußte. Die Franzojen waren ganz ſicher, den von 
Dften und Norden beranrüdenden Feind ſchon beim Herabfteigen 
ind Tal oder doch im Tal ſelbſt volllommen überſchauen und 
beichießen zu können. Die Mitrailleufenbatterien beitrichen jogar 
einzelne Straßen von Wörth. Die Oſthänge werden nicht allein 
überragt von den Weſthängen, fie find auch viel weniger reich 
an Baumpflanzungen und haben Feine Weinberge. Baftionenartig 
vorfpringende Stützpunkte, wie fie auf der Weftjeite der Herren- 
berg und der Galgenberg bieten, kamen natürlid) auf der Oſt⸗ 
feite gar nicht in Betracht, ebenfowenig jchluchtenartige Hohlwege, 
wie der von Wörth nad Elſaßhauſen hHeraufführende, der den 
Schleſiern fo furdhtbare Opfer koftete. Von dem Nußbaum aus, 
der al8 der Standpunlt Mac Mahons gezeigt wird, liegen bie 
öftlichen Talhänge zwiſchen Görsdorff und Gunſtett wie eine janft- 
geneigte Ebene. Die Deutſchen wurden tatfächli in allen Be- 
wegungen gejehen bis zu dem Augenblid, two fie beim Heraußtreten 
aus dem Weftrand von Wörth reif fürs Ehafjepotfeuer waren. 

In der Rheinebene und body an den Vogeſen Hinauf gibt 
es im Elſaß bejonderd viele lichte Wälder hochſtämmiger Buchen 
und Eichen, wo die ziemlich dicht ftehenden Bäume ſchlank empor- 
ftreben. Sehr paflender Wald zum Feuergefeht! So ift der 
Wald Hinter Fröſchweiler, wo am Nachmittag des 6. Auguft 
Ducrot gegen die nadjftürmenden Bayern und Preußen den 
Rückzug Mac Mahons zu deden ſuchte. Wo die von Reichshofen 
fommende Straße den Wald verläßt, ift noch ganz gut ber 
rechtwinklige Einjchnitt Tenntlih, wo die Zweiundachtziger eine 
von den Ducrotiden Batterien nahmen, die den Deutichen in 
Fröſchweiler fo großen Schaden zugefügt hatten. 

Den Rhein im Oſten, der ebenfo dazu gehört, muß man 
fi) allerdings denten, denn Wörth Liegt ſchon ganz in den Vor⸗ 
bergen, und der Blid dringt nicht bis Hagenau hinter feinem 
breiten uralten Yorfte. Doch wird es von dieſer Höhe aus aud) 
dem an ftrategiiche Blide nicht Gewöhnten Har, wie die Fran⸗ 


374 Südweftdeutfhe Wanderungen 





zofen von dieſer Vorftufe der Vogeſen herab die füdlich fie um-= 
windenden Wege nad) Bitſch und Zabern beden und ben gegen 
Straßburg Vordringenden in der rechten Flanke bedrohen wollten. 
Das ftille Hagenau lag damals außer Schußweite und ſeine 
Beſetzung durch die badiſche Divifion an jenem 6. Auguſt erwies 
ſich als ganz überflüſſige Vorſicht, da die Franzoſen an nichts 
weniger dachten, als Ihre nen Idon ſchwachen Truppen durch 
eine Entſendung in den Deutſchen zu verringern. 
An jenem heißen Tage une ma Polen ausgeſtorben wähnen. 
Viele Bewohner waren nad) Straßburg geflohen, die andern 
hielten ſich in ihren Kleinen Häufern verfiel. Nur die nad 
Feangöfiiher Sitte weit offnen Kaffeehãuſer luden die Durſtigen 

And heute Liegt die Sonne in den ſtillen Straßen des 
Stäbtihens, und nicht viele Schatten jchneiben ihr grelle Licht. 
Es Hat fich nicht viel geändert im Ausſehen diefer Straßen, und 
da8 Leben, das jebt am Mittag eines Septembertagd ganz in 
Schlaf verfallen zu fein jcheint, ift im Grunde nicht viel anders 
aß das Leben vor einem Menichenalter. Nur ruht es heute 
forgloß, während es damals ängfilich dem KRanonendonner laufchte, 
der jo laut hereinrollte, als ob vor den Toren gelämpft wiürbe. 
Es träumte damals von Mord und Plünderung. Nichts Davon 
wurde wahr. Das Städtchen bat vielmehr weniger vom Srieg 
gemerkt als jo mandye Stadt Deutichlands, von franzöfiichen nicht 
zu reden. Nachdem ſich dad Schladhtengemwitter in jo großer Nähe 
entladen hatte, zog es raſch über die Vogeſen, und Hagenau 
log von nun an fern von allen Zugftraßen Eriegerifcher Gewitter. 
Nur friedlich belebt war es als Sih der Regierung bis zu deren 
Überfiehlung nad) Straßburg. Gs machte mir ſchon einen jehr 
berubigten Eindrud, als ich 1871 kurz nach dem Kriege in einem 
Hagenauer Gafthof eljäffische Männerftimmen fi) zur Probe 
idylliſcher Yrühlingsgefänge anfchiden hörte. Die Menichen waren 
ihren Schreden loßgeworden und hatten ihre im Elſaß feit lange 
berühmte Sangedfreude wiebergeiwonnen. 

Hagenau gehört zu den elfälfiihen Städten, Die unter 
deutſcher Herrihaft auffallend gewonnen haben. Es iſt vielleicht 
aud mit einer gewiſſen Vorliebe behandelt worden, Die weniger 
der alten „Barbaroflaftadt“ galt als dem Mittelpunlt einer 
rubigen, fleißigen, vorwiegend bäuerlihen Bevölterung. Hagenau 
ift ohnehin mehr, ald was man bei Bäbeler und Konjorten unter 
Zanditäbtchen verſteht. Es trägt noch Spuren Davon, daß es 
einft ein Lieblingfiß deuticher Kaiſer war. Die ſchöne Bafilike 


Südweftdeutfche Wanderungen 375 


——. 


der St. Georgskirche mit ihren ſchweren romaniſchen Säulen und 
Bogen und ihrem gotifchen Chor ift von Barbarofja gegründet 
worden. Der aus jenen Zeiten her der Stadt zueigne Hagenauer 
Forſt läßt der Stadt ſolche Einkünfte zufließen, daß fie fich den 
ſchönen Luxus prächtiger Gartenanlagen geftatten kann, um Die 
einige deutiche Städte von der zehnfachen Einwohnerzahl fie be= 
neiden könnten. Die impofante Hopfenhalle zeigt, daß Hagenau 
der Mittelpunkt einer fruchtbaren Landſchaft ift. Eine neue Er⸗ 
rungenſchaft find die ausgedehnten Kafernenbauten, die vom leicht 
erhöhten Süben auf die Stadt herabſchauen. Hoffentlich nehmen 
fie ihr nicht zuviel Licht! 

Leider bat Hagenau dur den NRüdgang der Hopfenpreije 
und durch Die Damit eingetretene Beichränfung des Hopfenbaueß in 
ben lebten Jahren an Wohlſtand eingebüßt. Seine einft lebhaften 
Beziehungen zu Nordamerika haben beſonders gelitten. Yrüber 
Batten die hiefigen Hopfenhändler Zweiggefchäfte in den Mittel 
punkten der nordamerilanischen Bierbrauerei, wo fie jede Menge 
abfeben Eonnten. „Nicht einmal vom Himmel Bing es ab, ob 
der unterelfäfler Hopfenbauer fein Haus richten (erneuern) laſſen 
wollte oder nicht; denn wenn der Sommer gut war, hatte er 
viel Hopfen, und wenn der Sommer jählecht war, teuern zu ver⸗ 
faufen. Heutzutage gilt der Hopfen jo wie jo nichts, und wenn 
Sie aufs Dorf hinausgehn, zeigt es Ahnen der Buftand ber 
Häufer, daß die Bauern nur noch Geld fürs Nötigfte, und oft 
nicht einmal das haben.“ So erzählte mir ein Bauernſohn aus 
der Zauterburger Gegend, der, ald wir auf der breiten Rhein- 
ftraße gegen Selz zu fürbaß jchritten, mit Stolz auf den Hagenauer 
Schießplatz hinwies, wo er oft als Xrtilleriit geübt habe. Er 
rühmte die freigebige Hand der Militärbehörden bei Landkäufen, 
Pferdekäufen und bei der Bemeſſung der Arbeitslöhne, die in 
diefer fchwierigen Zeit den Bauern fehr wohl tue. Schlecht war 
er auf die Juden zu fprechen, die den Hopfen ausgeführt hätten, 
folange fie den Nutzen davon hatten, aber ebenjo unbedenklich) 
in Die Hagenauer Hopfenhalle amerikanischen oder jogar ruffiichen 
Hopfen einführen würden, wenn es ihnen Nuben brädte. Man 
kann bier, meinte er ganz richtig, nicht von Heut auf morgen vom 
Hopfenbau abgehn, wir müſſen einfach weiterbauen und jehen, wie 
wir den Hopfen anbringen. Wir brauchen große Brauer, wie in 
Bayern, die gute Ware gut bezahlen, und brauchen eine ſtrenge 
Auffiht auf den Handel. Dem Manne wäre e8 am liebiten geweſen, 
wenn die Regierung den Hopfenhandel in die Hand genommen 





376 Südweftdentfche Wanderungen 


hätte, fo wie fie den Tabak für ihre Manufalturen lauft. Daß 
die eljäffer Bauern nicht unternehmend genug feien und ſich von 
den Juden zuviel bieten ließen, davon war er feft überzeugt. 
Auch mochte feine Auffaffung nicht ganz unbegründet jein, daß 
die Regierung dem jüdiſchen Zwiſchenhandel fchon ganz anders 
entgegengetreten fein würde, wenn fie eine Bauernpartei hinter 
fi hätte, die dieſen Schaden aus eriter Quelle aufdedte. 
Bisher ift Die Armee allein fo frei geweſen, fich bei den 
Remonteanläufen einfach die Mitwirkung der Juden zu verbitten. 
Die Verwaltung behauptet, keine Handhabe zu haben, gegen die 
Bewucherung vorzugehn. Tatſache ift, daß bie Bauern rechts 
und links vom Rheine ganz zufrieden find, wenn fie von ben 
Juden bevormundet werden. Sie ziehn aus eigner Entſchließung 
die Juden zu jedem Kauf und Verlauf herbei. In Dagsburg, 
dem hoch gelegen Vogejendorf bei Zabern, mit feiner auf tiſch⸗ 
ähnlichen Felsgebilde kühn erbauten Kapelle, hörte ich einige 
Tage darauf erzählen, wie die Bürger aus Leiningenjchen Zeiten 
große Holzbezugsrechte genöflen. Alljährlih am 10. November 
zieht jeder fein Holzlos, das ihm das Recht auf eine Anzahl 
wertvoller Stämme gibt. An diefem Tage wimmelt e8 dort von 
Juden au Zabern, Pfalzburg und Rummatsweiler. Warum? Weil 
die meiften Dagsburger ihr Holzrecht feit lange, oft für Reihen von 
Jahren an die Juden verlauft haben. Die Juden ftehn vor der Tür, 
für fie wird eigentlich geloft, und mancher trägt in jeiner Brief- 
tafche die Anweifungen für Holz; im Wert von Taujenden herum. 
Man würde ſich irren, wenn man glaubte, ſolche Zuftände 
müßten in weiten Kreifen eine antiſemitiſche Bewegung erzeugen. 
Dieſe ift jedenfalld in jo manchen Zeilen Altdeutichlands, mo es 
faft feine Juden gibt, ftärfer ald in Baden oder im Ella, wo 
man fo mande8 Dorf und Städtchen mit mehr als zwanzig 
Prozent Juden zählt. Der Südweſtdeutſche findet fi) mit den 
übeln Seiten des Juden durch Scherz und Epott ab. Tas ift 
der Geift der Tlaffiichen Sudenanekdoten des „Rheinländifchen 
Hausfreunds“ und der idealifierten Darjtellungen der Pfalzburger 
Juden in den Romanen von Erdmann-Ehatrian. Nachdem meine 
Dagsburger Gewährsmänner ihre lagen über die wuchernden 
Juden ausgeichüttet hatten, gab einer zum Schluß eine Geſchichte 
zum beiten von einem Rabbiner in einem eljäffiihen Stäbtchen, 
ber 1848 gezwungen wurde, eine Zobrede auf die noch unfichere, 
eben geborne Republif zu halten, weldyer Aufgabe er ſich durch 
den tieffinnigen Spruch entzog: Was fann mer viel ſage? Die 


Süöweftdeutfhe Wanderungen 877 


EDIT 1 ö—r0 jm —⸗ 


Republik iſt zu vergleichen einem Schuhmacher: heut lebt er, 
und morgen fann er fchon tot fein. Und unter dem Gelächter 
über alte und neue Judenanekdoten ging alle Bitterleit verloren, 
die fi) vorher Luft gemacht Hatte. 

Die weitgehende BZerteilung der Uder- und Wiefenfluren, 
die ſich biß zur Berftüdelung fteigert, fällt gerade hier im Hopfen 
lande auf. Man dent, die oft beklagte und nicht neue Ver⸗ 
ſchuldung der Bauern hätte ihren Gläubigern Mittel an die 
Hand gegeben, größere Komplere zufammenzulfaufen. Aber da 
wird nım auf einen Punkt hingewieſen, den ſich der Wandrer 
freilih nicht gedacht hat: Das iſt ja, jagt ung ein Hagenauer 
Kaufmann, der Vorteil, den die Bauern von den Juden haben, 
daß ein Jude nie jelbjt den Acker bemwirtichaftet; alfo läßt er 
dem Bauern fein Feld, wenn er auch den Gewinn davon ein- 
ſtreicht. So ift es auch mit den Notaren, die häufig Gläubiger 
find: fie wollen nicht daS Land. Der Bauer behält alſo den 
Boden unter feinen Füßen, iſt aber freilih dann in vielen Fällen 
nicht viel mehr al8 der Pächter feines Gläubiger. Wenn der 
Bert der landwirtſchaftlichen Erzeugnifie finkt, dann wird Die 
Kette der Verfchuldung fühlbarer, und im Bauernftand greift das 
Unbehagen jo epidemiſch um ſich, wie e8 die Politiker des Reichs⸗ 
landes gern zu ſchildern pflegen, um die Unzufriedenheit mit der 
deutſchen Herrichaft beijer zu begründen. Gern übergehn fie 
dabei den fteigenden Wohlftand der Städte, der wie überall das 
Gegenſtück des Rückganges der Landwirtichaft if. Grundſätzlich 
verſchweigen fie die tiefern Wurzeln dieſes Mipftandes in der 
geflifjentlich herangezognen Unjelbjtändigleit der Bauern, zu deren 
Hebung ganz bejonders die bei ihnen jo einflußreiche Tatholifche 
Partei bei weitem nicht fo viel getan hat wie 3. B. in Altbayern. 
Gerade dieſes fatte Raſten der Befiter über den hart arbeitenden 
und wenig gewinnenden Mafjen der Urbeitenden ift echt franzöfifch. 
Die altdeutichen Beamten haben fi) über die Würdigung dieſer 
Sadlage hinwegtäuſchen Inffen durch die wohltuende Urbanttät 
des Verkehrs der Obern mit den Untern und durch die ruhige 
Geduld, mit der der Bauer alles über fich ergehn läßt. Wenn 
der Bauernitand im untern und im obern Eljaß, und daS obere 
möchte ich beſonders betonen, der einzige im ganzen Lande iſt, 
ber ſich ehrlich in den 1870 geworden Buftand gefunden hat, 
jo Hat daran die Verwaltung weniger Verdienft, als fie haben 
fönnte. Sie laßt fich hoffentlich die Möglichkeit nicht entgehn, 
in Bufunft mehr davon zu erwerben. 


378 Südweftdeutfche Wanderungen 





Ich höre mit Behagen meinem Wandergejährten zu, wie er 
ſich als ganzer Bauer und Elſäſſer derb und frei ausſpricht, 
dabei aber ohne den Ärger und ben Groll des ftähtiichen Ait⸗ 
eljäffers, der Deutichland nur vom Hörenjagen, und von welchem 
Hörenfagen! kennt. Mein Gefährte vertritt glüdlicherweije Hundert- 
taufende, die feit 1871 in der deutichen Armee gedient haben. 
Dies find die beiten Yörderer bes Verftändnified für deutſches 
Weien. Ihnen jedenfalls ift es zunächit zu danken, wenn man 
in den Heinften und lebten Dorfwirtöhäufern das Bild Des 
Kaiſers findet, und in jedem Bauernhaus, wo es feit 1871 ge 
funde Söhne gegeben bat, eine der befannten militärtichen 
Aquarellbilder des Soldaten zu Pferd oder in voller Ausrũftung 
und in friegeriicher Stellung, ober eine der beliebten Gruppen 
photographien mit bröhnenden Unterjchriften wie „Kanonendonner 
ift unfer Gruß” u. dgl So wie die Eljäfler als Soldaten das 
Lob ihrer Vorgeſetzten haben, zählt man auch viele unter ihnen, 
die Soldaten mit Leib und Leben find. Das wird ſich noch mehr 
zeigen, werın man ihnen das Dienen im Lande erlauben wird, 
das bis jeht nur ald Ausnahme zugelaſſen iſt. Aus dem Munde 
eines Burſchen im Kreis Zabern, der in der Garde gedient 
bat, habe ich die Außerung gehört: Ich würde mid) jeden Tag 
freuen, wenn die Geitellungdorder nad) Berlin läme. Und Diele 
Anhänglichfeit an die alte Garnifon ift nichts vereinzeltes. Freilich 
tehrt der Elfäfler immer wieder gern zu feiner Heimat zurüd. 
Das ift ein tiefberechtigter Zug, den ihm niemand verübeln kann, 
der das oberrheiniiche Land kennt. 

Wenn Hohe und Niedere in ganz Deutichland der „Bug 
nad Weſten“ ergreift und das Behagen an bem Leben in 
rheiniichen Landen alljährlih Tauſende von Dft und Mittel- 
deutichen, manchmal ſogar Öfterreicher, veranlaßt, ſich dort eine 
neue Heimat zu gründen, wie follte e8 nicht den Einheimiſchen 
dahin ziehn, wo feine frühen Erinnerungen ibm das fonnige 
Klima, die ſchöne Landſchaft. daS heitere Daſein und Die ganze 
unbewußte Empfindung der Atmofphäre einer alten Kultur zurück⸗ 
rufen! In den Landen, die der deutichen Literatur die von Wig 
und Frobfinn fchäumenden Werke von Fiſchart, Grimmelähaufen, 
Abraham a Santa Clara, Hebel, Scheffel, Eichrodt, Stöber, 
Kobell, Nadler geichenkt haben, laden die Menfchen gern, laut 
und herzlich, und haben die Augen einen wärmern Ausdruck 
Man freut fi) mehr und ärgert fi) weniger als anderwärts. 
Roc mehr als der Pfälzer und der Babenjer liebt der Eljäfjer 


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Südweftdeutihe Wanderungen 379 


feinen derben Spaß, während er dem oft froftigen Wortwitz bes 
Norddeutſchen fremd gegenüberfteht. In der Rorporalichaft der 
franzöfiihen Armee war der Eljäfler der „Luftigl.” In den 
trübften Zeiten, die über Südmweftdeutfchland hingegangen find, 
ift faum in einem deutſchen Lande fo viel gelacht worden wie 
zwiſchen Schwarzwald und Vogeſen. Das heitere Lachen der 
Mädchen, die nedenden Zurufe der Burfjchen gehören zum ober- 
rheiniſchen Dorf. Fiſchart mag vielleicht in Mainz geboren 
fein — fein Geburtsort wird wohl nie mehr ficher beitimmt 
werden können —, jedenfall Hat er, ſich als Eljäffer und bes 
fonder8 al8 Straßburger fühlend, dem derben und tieffinnigen 
Volkswitz in Haffiichen Werken feine Stelle in unfrer Literatur 
erobert. Er kann darin mit feinen befjer als mit Johann Ulrich 
Megerle aus Sreenheinftätten bei Meßlirch (zwifchen der Baar 
und dem Bodenfee) verglichen werden, der ald Abraham a Santa 
Clara der Vertreter desfelben derbwißigen und fpottluftigen Volks⸗ 
geifte8 in der Predigt und der Erbauungßliteratur war. Ein 
Zeitgenoſſe hebt beſonders hervor, Megerle fei „fein geſchwätziger, 
ſondern ein tieffinniger, beredter Schwab“ geweſen. In Wirklichkeit 
ift feine Miſchung von Derbbeit, Fröhlichleit und ernftem tiefem 
Sinn echt alemanniſch und nicht ohne einen romanischen Beiſatz. 
Der Rorddeutiche macht dad, wie der Engländer in Frank⸗ 
reich, gern mit dem „Weinland“ ab. Darin liegt es aber nicht 
allein, wieviel Wein, Moft und Bier, dazu Kirſchen⸗ und 
Zwetſchgenwaſſer erfter Güte im Lande gern und verſtändnisvoll 
genofjen wird. Auch nicht darin, daß die Leute weißeres Brot, 
beſſeres Obſt und mehr Gemüſe efjen, und daß die Frauen 
Ihmadhaftere Speijen zuzubereiten wifjen als die in Mittelbeutfch- 
fand. Es liegt auch nicht in der Altern Kultur überhaupt, bie 
ich indefien für kein leere8 Wort halte. Der Kunſthiſtoriker 
Springer fagte mir einmal: Wenn ih in Straßburg ein Haus 
bauen ſah, fo merkte ich, daß die römilche Überlieferung noch in 
jedem Maurergeſellen lebt. Der Unterjchied zwilchen den Süb- 
weſtdeutſchen und den übrigen Deutſchen liegt tiefer, er geht bis 
in die Blutmiſchung zurüd. Wenn ich im Markgräflerland oder 
an den Haffiihen Stätten deutſch⸗franzöſiſcher Kämpfe an ber 
Lauter oder Sauer wandre, mutet mich die Bevölkerung eigen- 
tümli an. Dieje edeln Profile, dieſe dunkeln Haare und. Augen, 
diefe bräunliche Haut, die da unter fränfiichen Langköpfen auf- 
tauchen, verjegen mich vielleicht nad) Zirol oder ing fübliche 
Kärnten, wo ſich noch heute Germanen mit Romanen mifchen. 


380 Südweftdentfhe Wanderungen 


Kehre ich nad) Dften zurüd, jo hören dieſe romaniſchen Züge 
bei Würzburg auf, Häufig zu jein, jo wie fie mir in Bayern 
jenfeit8 des Lech allmählich verloren gehn. 

Auf diefen Anteil romaniſchen Blutes, fei e8 römiſchen oder 
franzöfiiden Urſprungs, trifft der Deutide aus Nord⸗ und Dft- 
beutichland im ganzen Süden wie auf etwas Fremdartiges. Man 
hat an der Spree gar feine Ahnung, wie wenig oberflächlich die 
ftille Abneigung gegen nordoftdeutiches Weſen in Baden und die 
laute Oppofition dagegen im Elſaß find. Es ift nicht dad Wider- 
ftreben gegen Maßregeln, ſondern gegen einen fremden Geilt. 
Die Gefebe, die man bier neu eingeführt hat, muß mandher 
Beionnene für trefflih anerkennen, mit dem Geift und ben 
Sitten, die ind Land gezogen find, febt er ſich viel weniger 
leicht auseinander. So ift au im Politiſchen der demofratifche 
Bug, den man bejonderd an den Zentrumsleuten der beiden 
oberrheinifchen Länder tadelt, durchaus nicht bloß eine Meinung, 
die Dieje irgendwo und von irgendivem aufgenommen hätten. Nein, 
es ift ein angeborner Sinn für das Hecht ded Einzelnen, der 
fi} den rauhen Forderungen des Staats widerſetzt. Deswegen 
bat fi hierzuland eine freie Gefinmung unter den allerber- 
fchiedenften Berhältniffen wiedergeboren, erhalten und bewährt. 
Tiefen Leuten liegt ein demokratiſcher Zug buchſtäblich im Blute. 
Keine Beitung und feine Partei braucht ihn zu lehren. Sie 
zeigen ihn auf dem Rathaus, nicht bloß im Ständehaus; fie bes 
währen ihn unter fi im täglichen Leben, nicht bloß vor der 
breiten Offentlichleit. Diefe Gefinnung ift in andrer Form der 
Geift der Eidgenoſſenſchaft. 

Ölaubt man, Baden fei das Land vollöfreundlicher Ein- 
richtungen, weil es einen liberalen Fürften und eine aufgellärte 
Bureaukratie habe? Das wäre fehr oberflächlich geurteil. Es 
würde immerhin noch triftiger fein, wenn einer jagte: Ihr ſeid 
politifche Optimiften, die fi) die Eden und Kanten der Wirk⸗ 
lichfeit durch angenehme Selbittäufcyungen beichönigen. Aber 
nur ein dem Volle ganz Fremder würde glauben können, alles 
mit dem politiiden Optimismus abgetan zu haben, der ja ohne 
Frage da ift. Ich halte es mit dem echt alemanniſchen Grund⸗ 
fag: Was dem einen recht ift, daS ift dem andern billig und 
frage die Leute im Lande felbit, was fie von ihrer Politik denken. 
Da erinnere ich mich einer fehr beredten, wenn aud) furzen Aus⸗ 
fage. Gerecht, wohlwollend und verſöhnlich, jo rühmt ein ſchönes 
Dentmal in den ftädtiichen Anlagen von Donaueſchingen ben 


Shöweftdeutfche Wanderungen 381 


langjährigen Präfidenten der badilchen zweiten Kammer, den Apo⸗ 
theker Kirsner, einen der einflußreichiten Politiker des badifchen 
Landes. Es iſt bezeichnend; das find eben die Eigenfchaften, 
die der Alemanne hochſchätzt. Durch fie hat Kirsner, der dabei 
entſchieden freifinnig im bürgerliden Sinne war, mehr gewirkt 
als durch die Staatsmänniſchkeit und Klarheit, die ihm ebenfalls 
die Denkmalinfchrift nahrühmt. Es dürfte in Preußen felten 
vorfommen, daß man einem Apotheker und Landtagspräfidenten 
ein ſolches Denkmal feht, und das in einer Stadt, wo man fid 
vergeblich nach Fürften- und Feldherrndenkmälern umſchaut. Wohl⸗ 
wollen und Verſöhnlichkeit wird man als große politiſche Eigen⸗ 
ſchaften nur bei einem Volle rühmen, das aus weicherm Stoffe 
gemacht iſt. Und ſo in der Tat iſt in dieſem alemanniſchen 
Volkscharakter mehr Weichheit, als die ſo leicht erregten politiſchen 
Leidenſchaften zu verraten ſcheinen. Der Volksmund kennt den 
Ausdruck „wehleidig“ für eine Abſtufung von empfindlich und 
Hat auffallend zahlreiche Bergleihe für den Empfindlichen und 
Schücternen, die 3. B. dem derben Bayern fern liegen. Schon 
vor dem lauten, rajchen Franken Nordbaden? und der Pfalz 
zieht fi) der Alemanne gern aufs Schweigen zurüd. Der jchwei- 
zeriiche Wlemanne ift von Härterm Stoff als der badiſche und 
bejonders als der eljällifche, vornehmlich in den Urkantonen und in 
Bern. Aber der behagliche Ton fogar der politifchen Neben zeigt, 
daß auch er daß weiche Gemüt dei Alemannen bat, worin jene 
Eigenfchaften wurzeln. Auf einer weijen, bejonnenen Politik der 
Übereinfünfte ruht das Gedeihen der Eidgenoffenichaft, und nicht 
Hein ift Die Zahl ſchweizeriſcher Staatsmänner, denen Dentmäler 
mit berjelben Auffchrift zu ſetzen wären wie dem trefflichen Kirsner. 
Übrigens konnte die hohe Geftalt dieſes badifchen Landtagspräfi- 
denten mit der breiten Stirn und den freundlichen braunen Augen 
darunter und dem beredten Mund, von dem die Worte wohl⸗ 
tuend wie mit leiſem Gejang flofjen, als der klaſſiſche Typus des 
alemanniſchen Stammes gelten. 

In der badifchen Gefchichte treten uns dieſe Züge bei Fürſten 
und StaatSmännern in allen Generationen entgegen. Sie haben den 
Markgrafen Karl Friedrich, der jpäter der erfte Großherzog wurbe, 
zum Liebling des Volles gemacht, dad ihn noch heute nicht ver- 
geilen Hat. Sie waren dem Großherzog Leopold eigen, den man 
den Bürgerfreund nannte. Und wer fände fie nicht in der ſym⸗ 
pathifchen Geſtalt des regierenden Großherzogs Friedrich wieder? 
Wenn auch die Badenſer, die mit ihrem Großherzog politiſch 





382 Südweftdentfhe Wanderungen 


rn... 


nicht im einzelnen übereinftimmen, mit Stolz auf ihn ſehen, fo 
ift darin das Gefühl beftinnmend, in ihm den angefehenften und 
geſchichtlich wirkungsvollften Vertreter des badiſchen Weſent in 
den Jahrhundert zu haben. Er verkörpert ſchon in feinem 
ein Außern bie milde billige Denkungsart, die der Vadenſer 
—2 Seine liebenswürdigen Formen im Verkehr mit Hoch 
und Niedrig und feine freundliche Nachgiebigleit, Die gepaart find 
mit einem ftrengen Feithalten an politiichen Grundſätzen von 
liberaler Färbung, machen ihn zum Ideal des badiichen Polititere. 
Einem bayriſchen Geſchmack mag er nicht derb, einem preußiichen 
nicht fchroff genug ericheinen; für feine Untertanen ift er gerabe 
fo recht. Und er hat fie mit aller Milde feit gehalten auf dem 
Wege zur deutichen Einheit, auf dem er entichieden mehr Folge⸗ 
richtigkeit bewieſen bat, als bie große Mehrzahl diefer Unter- 
tanen, und größere Opfer gebradjt Hat, wie irgendein Eingelner 
unter ihnen. Man ahnt nur die Kämpfe, die ihn fein Rüdtritt 
bon der Stellung des oberjten Kriegsherrn foftete, die von ben 
Yüurften feined Ranges doch bis dahin ala eine notwendige Folge 
der Landesherrichaft aufgefaßt wurde. Sadjien bat nach feiner 
Riederlage von 1866 nicht ſoviel verloren, wie Baden nad) ben 
Siegen von Straßburg und Belfort 1871 aufgegeben bat. Der 
König von Sachſen ift der Kriegsherr feiner Truppen, der Groß⸗ 
berzog von Baden fieht neben ſich einen preußiichen General das 
bierzehnte Armeekorps lommandieren, das faft ganz aus badiſchen 
Truppen beſteht. Man bat in ben fiebziger Jahren viel von 
den Schwierigkeiten erzählt, mit denen der Großherzog ‚zu — 
hatte, bis ſich die militärifche Nebenregierung in jeinen ande 
in den immerhin noch halb felbftändigen Organismus des babifchen 
Landes eingefügt hatte Die warmherzigen Babenjer ahnten 
damals nicht, dab fie mit dem Übermaß bed Dante und bes 
Preifes für die angeblid) abgewandte, in Wirklichkeit fo nicht vor⸗ 
handen geweſene Gefahr der Invaſion des Menſchenknäuels, genannt 
Bonrbakiſche Armee, dem ehrgeizigen General Werder den Kopf 
verdrehten. Werder juchte fich an jener Befehlöhaberftelle in Karls⸗ 
rube für vermeintliche Zurüdfegungen gegenüber andern Helden des 
Krieges von 1870/71 ſchadlos zu halten, wodurch in der kritiſchſten 
Beit die Stellung des Großherzogs recht ſchwierig wurbe. 

Aus ſolchen Schwierigkeiten, bie ji natürlich auf alfen 
Stufen wiederholt haben, ift in Baben doch niemals eine Danernde 
Berftimmung zwilchen Einheimifchen und „Preuhen“ entitanben. 
Und das ift beſonders lehrreich Im Hinblick auf die elſaſſiſchen 





Stiöweftdeutfhe Wanderungen 383 





BVerhältniffe, wo gleiche Urfachen zu ganz andern Wirkungen ge- 
führt Haben. Man fieht, wieviel gegenüber angeblich unansgleich- 
baren Unterſchieden des Vollscharakters der aus der Erkenntnis 
der Notwendigleit eines Zuftandes geichöpfte einfache gute Wille 
vermag. Es find in Baden feit dreißig Jahren Taufende von 
preußifchen Offizieren und Poſtbeamten, Univerfitätd- und Gym⸗ 
nafialprofefioren angeftellt worden, weitere Taufende von Nord⸗ 
deutfchen find eingewandert und haben fich z. B. in dem fchönen 
Hreiburg jo Dicht angefiedelt, daß fie viel von dem alemannilchen 
Charakter der Dreifamftadt famt der alten Billigfeit und An⸗ 
ſpruchsloſigkeit vermilcht haben. Nicht immer ift daß Auftreten 
der Fremden gegenüber den Einheimifchen geſchickt und Flug ge- 
weſen, aber dieje haben fi) dadurch nicht hindern laſſen, ſich 
den Norddentſchen gegenüber, fogar wenn fie aus dem äußerjten 
Notdoften famen, als Landsleute zu zeigen, d. h. das gemeinjame 
Deutiche in den Vordergrund zu ftellen umd Die immer doch ver- 
hältnismäßig Tleinen Stammesvericjiedenheiten zurüdtreten zu 
laflen. Das ift das Gegenteil von der elfäffifchen Methode. Hoc 
und Niedrig hat fi in Baden vor allem bereit gezeigt, das 
Gute anzuerkennen, das man der preußiihen Führung auf dem 
militäriſchen Gebiete verdantt. Sogar der Vergleich zwiſchen der 
Behandlung ber Untergebnen durch badifche und preußifche Offi⸗ 
ziere fiel für den gemeinen Mann nicht immer zugunften feiner 
Landsleute aus. Man konnte ſchon 1870 badiſche Soldaten Die 
rubigere Art des Verkehrs rühmen hören, die preußifche Offiziere 
mit ihren Soldaten pflogen; ganz richtig führten fie fie auf Die 
allgemeine Wehrpflicht zurüd. 

In weiten Kreiſen wirkten noch die Erinnerungen an das 
Sturmjahr 1849, wo das Großherzogtum wie ein Wrad auf 
den wilden Wellen einer überreizten Bollsftimmung trieb; die 
Armee und ein Teil des Beamtentums hatten damals einfach 
verfügt. Daß ſolche BZuftände gerade in einem Lande von der 
außgejebten Lage Badens nicht wiederlehren durften, darüber 
war man überall einig.‘ Die Demokraten, die die traurigen 
Erinnerungen an 1848/49 höchſt kurzſichtig als rühmliche hoch⸗ 
halten wollen, mußten zugeben, daß die preußifche Schulung min- 
deſtens zwedmäßiger fei als die badijche, wenn jie auch zum Teil 
trog 1866 über den Zweck einer Armee eigne Unfichten hatten. 
Der Herrſchaft der Liberalen und fpäter Nationalliberalen in 
Baden mag man manche Vorwürfe machen, fie hat jedenfalls 
redlih an der Annäherung zwiſchen Badenfern und Norddeutichen 





384 Südweftdentfhe Wanderungen 


EIS LIE TLIE 


gearbeitet. Nur die Kraft der nationalen Gefinnung, die fie 
mit Eifer nährten, hat jo mandje perſönliche Verſtimmung über 
Anmaßungen der norddeutichen Freunde überwinden lafien. Sogar 
die ultramontane Prefie Badens, die eine fräftige, offne Sprache 
ſehr liebt, läßt erkennen, daß Badend Lage ebenfo wie die Ge⸗ 
mütsart feiner Bewohner anders find alß die Bayernd. Der Ton 
des „Vaterland“ oder früher des „Vollöboten“ gegen Preußen 
ift hierzulande nie üblich geworden. unge Heikiporne, die ihn 
anpflanzen wollten, mußten fühlen, daß aud in der politifchen 
Polemik der fränfifch-alemannifche Geſchmack Maß und Grenzen 
liebt. Ihre Preſſe und ihre politifchen Reden ließen den Wider- 
willen gewiflermaßen nur durchſcheinen, den ihnen die preußifche 
Hegemonie erwedte. Wo fie fich einmal deutlicher äußerte, wie 
in der Frage der Bejebung des Freiburger Erzbilchofituhles oder 
gegenüber unglaublien Berufungen an die Landeshochſchulen 
oder in der Frage der Selbftändigfeit der babifchen Eifenbahnen, 
bat ihre Oppofition nicht felten ind Schwarze getroffen und ihnen 
and) bei Solchen Beifall gewonnen, die ihren Beftrebungen jonft 
lau gegenüberftanden. Dabei hielten aber die engen Beziehungen 
zum rheinifchen Katholiziemus und durch diefen zum Zentrum 
doch die Verbindungen nach allen Seiten offen, und eine Ab⸗ 
fchließung wie im Eljaß kam bier niemand in den Sim. Man 
kann jagen, in Baden haben Freund und Feind daran genrbeitet, 
da8 Land fefter in das Neid) einzufügen, zwar aus jehr ver- 
ſchiednen Gründen und mit einem jehr verichiednen Maß von 
gutem Willen, aber immer doch mit demjelben Erfolge. 

Wie anders dad Elſaß. Baden und Elſaß zeigen ja auch, 
wie ihre Lage es jelbftverftändlich macht, in der politiidhen Ent⸗ 
wicklung manche Ahnlichkeit. Bor allem gehört die Erſtarkung bes 
Katholizismus in Baden und im Elſaß zu den großen folgenreichen 
Veränderungen in Sübddeutichland. Beide find fi auch darin 
ähnlich, daß ihre proteftantiichen Minderheiten bis in die fiebziger 
Sahre einen überwiegenden Einfluß auf die Politik a 
hatten, bis fich die katholiſchen Mebrheiten auf ihre Macht be= 
ſannen und eine Herrſchaft brachen, die wie alle Partei-, Selten⸗ 
und Kliquenherrſchaft zulegt tyranniſch, kleinlich, ausſchließlich, 
kurz unerträglich geworden war. In Baden hatte der liberale 
Rückſchlag gegen das geiſtloſe reaktionäre Regiment der Stengel 
und Genoſſen, das ſich mit dem Konkordat unmöglich gemacht hatte, 
und der Schwung der nationalen Idee im Anfang ber fechziger 
Jahre eine aus Broteftanten, liberalen Katholifen und Juden 


Südwefdeutfhe Wanderungen 385 


beitehende Kammer mit einer verjchivindenden Minderheit von 
drei oder vier Ultramontanen zujtande gebradjt. Ich erinnere 
mid) noch gut der Kammerverhandlungen, in denen der ultra- 
montane Jakob Lindau aus Heidelberg, feines Zeichens Klein⸗ 
faufmann in Wolle und Baumwolle, wie ein Fels im Meere 
feiner Gegner aufragte, ein Hüne von Geitalt, ein Redner von 
Gottes Gnaden, der auch im bitterften Kampfe den pfälzifchen 
Humor nit verleugnete. Den liberalen Beamten und Profeſſoren 
ftand er als ein echter Vollsmann gegenüber, der zuzeiten auch 
etwas Demagogie nicht verichmähte. Das rechtfertigt aber nicht, daß 
man ihn in der altlatholifchen Bewegung, weil er den Kirchen⸗ 
ſchatz in fein Haus in Heidelberg gerettet hatte, um die Teilung 
zu verhindern, wie einen Dieb verurteilte. Das Gefängnis brad) 
die Geſundheit des Mannes, dem in ruhigern Zeiten auch Feinde 
die Hand gereicht Hatten. 

Im Elſaß hatte das zweite Kaijerreich den liberalifierenden 
Protejtantigmug begünftigt, der durch feine fchriftitellernden und 
wiſſenſchaftlichen Talente, Durch feine Beamten umd nicht zulekt 
durch feine Parifer Verbindungen einflußreich war — es war ber 
unterelfäffifche und beſonders der Straßburger Proteſtantismus 
Augdburgiichen Belenntniffes; die reformierte Inſel von Mül- 
bauen jtand dieſem fern. Ohnehin fuchte das zweite Kaiſerreich 
der von ihm jelbit großgezognen. Macht des Klerikalismus, als fie 
bedrohlich wurde, überall Kleine Hinderniffe entgegenzufehen. Die 
Elſäſſer Katholilen hatten ſich in den ruhigen Zeiten der fünfziger 
und der jechziger Jahre ähnlich wie die badischen darein gefunden, 
daß die Proteftanten überall an der Spike waren, jo 3. B. daß 
fie in der Verwaltung Straßburg eine Art erblichen Vorrechts auf 
die erjten Stellen beanſpruchten. Es ſchien ja die Stellung der 
Katholifen in dem katholiſchen Frankreich gefichert, wo das De- 
partement des Niederrheind mit einem Drittel proteftantifcher 
Bevölkerung (jegt 36 Prozent) überhaupt das proteftantilchfte war. 
Der Übergang des Landes an Deutichland änderte plöblich bie 
Lage. Das Elſaß gehörte jet zu einem vorwiegend proteftantifchen 
Reiche, und feine Katholiken waren in der Minderheit. Zugleich 
fehlte die jtarfe Hand des franzöfiichen Kaiſerreichs, die auf ihnen 
gelajtet hatte. Alles waren Gründe dafür, den eljäffiichen Katho- 
lizismus mobil zu machen. Vereine, Verfammlungen, Zeitungen, 
Broſchüren, Flugblätter: ein Leben wie nie zuvor. In kurzem 
waren die Berlufte der Franzoſenzeit ausgeglichen, die Abneigung im 
Volke gegen die neuen Herren und die Neigung berjelben Herren, 

Rapel, Glückainſeln und Träume 25 


386 Südweftdentfhe Wanderungen 


dem Volle im Bunde mit einer Madıt, wie die katholiſche Kirche 
fie bietet, entgegenzulommen, forderten diefe zu einem Doppelipiel 
auf, das in meifterliher Weiſe durchgeführt wurde. 

Nur politiicde Träumer mochten diesſeits oder jenſeits der 
Bogelen an ein tiefe Mitgefühl der Kurie mit dem nieder- 
geworfnen Frankreich glauben. Stalienifchen Politikern, wie fie 
im Batilan fiben, eine ſolche Sentimentalität zutrauen, ift eigentlich 
eine Beleidigung. Die Realpolitifer fagten fi), daß eine Bere 
ftärtung der deutichen Katholiken durd) eine Million unzufriedne 
Elſäſſer und Lothringer in einer Zeit nicht unwilllommen fein 
fonnte, wo fi) in dem jumgen Reiche der Kern eines weit- 
verbreiteten Widerftands gegen die Konzilsbeſchlüſſe von 1870 
zu entwideln drohte. Mit dem Proteft war den Bolitilern des 
Papfttums nicht geholfen, die klerikalen Abgeordneten des Reichs⸗ 
lands nahmen aljo die neue Lehre injoweit an, als fie ihnen 
die Möglichleit bot, an der Seite be$ Bentrumd die deutſche 
Negierung im Reichſstage zu belämpfen. Und diefelbe Regierung 
fah dann im Elfaß einen Yortichritt in dem Beginn einer, wenn 
auch feindfeligen, Teilnahme an den Geſchäften und in ber 
Aufgebung des ohnehin zweilchneibigen Proteſtes. So bat ſich 
zu derjelben Zeit, wo in Baden die nationale Hochflut eintrat, 
im Elfaß die Erſtarkung des katholiſchen Sonderbewußtſeins unter 
ben günftigften Umftänden vollzogen, und dieſes Bewußtſein hatte 
große Schritte in der politifchen Bahn gemacht, ald es in Baden 
erſt anfing, felbftändig gehn zu lernen. 

Es ist jelbftverftändlidh, daß die PBroteftanten von Straßburg 
und Mülhaufen und die nicht zu den Ultramontanen eingeſchwornen 
Katholiten auch die Tonfejfionellen Zwiſtigkeiten, die nicht fehlen 
konnten, der deutichen Verwaltung in die Schuhe jchoben und 
fie verantwortlich machten für das greifbare Wachstum des 
Herilalen Einfluffe8 in der Bevöllerung. In Kolmar habe ich 
bittere Vorwürfe gegen fie wegen der Zulaffung eines Kapuziner- 
Hofterd, der Gründimg oder Stiftung des Biſchofs NEE, in 
Siegolsheim im Kayfersberger Tal vernommen mit dem auch 
fonft zu börenden Kehrreim: Das hätten die Franzofen nicht 
erlaubt. Wenn es gilt, der deutichen Verwaltung etwas am 
Zeuge zu fliden, wiffen die Elſäſſer nicht jenfeit3 der Vogeſen⸗ 
grenze Beſcheid, fonft hätte ihnen der Stich ind Spaniſche nicht 
entgehn können, den Kirche und Schule in Frankreich unter 
der Republif angenommen haben. Übrigens hat ihn ein ſcharf⸗ 
blidender Geift, wie Zaine, ſchon vor einem Menjchenalter kommen 


Südweftdentfche Wanderungen 387 


jehen*) Das Elſaß wäre von dieſer Bewegung nicht verjchont ge⸗ 
blieben; hatte ſich doch fein Klerus am engften mit Frankreich ver- 
bunden. Schon äußerlich) genommen ift ja auch die letzte Uniform, 
die Frankreich im Reichslande zurüdgelaflen hat, die der fatholifchen 
Geiftlihen. Man kann nicht leugnen, daß fie Eindrud mad. 
Sie fpielt fi} jehr auf. Wo fonft daß befannte Paar Gendarmen 
mit den quergefebten Dreiſpitzen und dem gelben Lederwerk 
paradierte, zeigen fich heute auf jeder größern Station der lange 
bis zu den Knöcheln reichende ſchwarze Rod mit der ſchwarzſeidnen 
Schärpe, der breitfrempige Seidenfilz und die ſchwarzen, weiß- 
beränderten Bäffchen. Eine präjentable Uniform, die fich jehr zur 
Kofetterie eignet, auch zur politifchen, und vor allem den Vorzug 
aller Uniformen bat, den Korpsgeiſt zu heben. 

Wie beicheiden, bürgerlich-bäuerlich macht ſich daneben das 
Auftreten der badiſchen Klerifer, die man in Röcken von jeder 
Länge und in Hüten von jeder Form, auch im Schlapphut des 
Kunſtjüngers, einhergehn fieht. Darin fpricht fi) nicht eine 
andre Mode, fondern eine gänzlich verichiedne Stellung in ber 
Geſellſchaft aus, und diefem Unterjchied entipricht am lebten Ende 
auch die verſchiedne Art von politiicher Stellung und Geltung 
der Herifalen Parteien rechts und links vom Rhein. In Baden 
haben wir eine Oppofition wie andre aud), nur ftärfer und folge- 
ricätiger, Die „mit umd gegen“ für das Wohl des Heimatlandes 
arbeitet; im Reichsland verlörpert fie einen fremden Geift, der 
fi) dem, den Deutichland dort anpflanzen will, gänzlich un= 
verwandt fühlt. Die Bedeutung der Abneigung der obereljäffiichen 
Induftriellen oder der Straßburger Sozialdemokraten verſchwindet 
vor der der Klerikalen, die in Frankreich dad Vaterland ihrer 
firchlichen und fozialen Ideale jehen. Wer nun glauben wollte, 
daß etwa die proteſtantiſchen Geiſtlichen des Unterelſaß durch 
eine entſprechende Anlehnung an Deutſchland eine Art von Gegen⸗ 
gewicht bilden müßten, der irrte ſich. Wohl gibt es hier deutſch⸗ 
gefinnte Männer, aber es ift in dieſem Stande zugleich auch eine 
andre Art von Franzöfelei heimisch: die Bewunderung der Re 


*) Man Ile in Taines hinterlaffenen Carnets de voyage, Notes sur 
la provinoe 1863—65 (Paris, 1895) die Abſchnitte über das in der Zeit 
der größten Blüte des zweiten Kaiſertums ſchon bedrohlich gewordne An- 
wachſen des Firchlichen fies auf den höhern Unterricht. Die Minifter 
Rapoleons erkannten die Gefahr, vermochten aber nichts gegen fie, meil 
ihr Herr vom Klerus nicht loskommen konnte, mit deſſen Hilfe er Raifer 
geworben war. Übrigens enthält das geiftvolle Bud) ©. 147 und 382 
intereffante Schilverungen des damaligen Straßburg. o5* 
o 


388 Südweftdeutfhe Wanderungen 
vofution, die republilanische Gefinnung in der Art, wie fie im fran- 
zöſiſchen Proteſtantismus ja immer Boden gefunden bat. ch Habe 
fie in unterelfäffiichen Pfarrhäufern fanatifch entwidelt gefunden. 
St es bei jo vielen Gegenfäben zu vervundern, wenn in 
den Schichten, wo die Menjchen gewohnt find und die Zeit dazu 
haben, ihre Unficht zu „kultivieren“ und zur Schau zu tragen, 
Eifäffer und Deutihe wie Fluß und Nebeufluß nebeneinander 
in demjelben Bette fließen, ohne fi) zu milden? Ein angejehener 
ruhiger Mann, Wirt und Bürgermeifter in einem vielgenannten 
Städtchen des Obereljaß, von der Nüchternbeit der Lebensauffaffung, 
die dort die Leute gern von fi rühmen, fchilderte mir die 
Schwierigkeiten, die ihm als Wirt die Abneigung zwiſchen Deutichen 
und Eljäffern gemacht habe. ES ſei befier geworden im einzelnen, 
aber noch immer habe er das Gefühl, als ob fie ſich ben Rüden 
fehren möchten, wenn fie gezivungen find, an demſelben Tiſche zu 
fiten. „Que voulez vous? Die Lüt möge fi Halt nit, fie 
gfallen einander zu ſchlecht. Ya das Einandergefallen, darin 
liegt eben die Schwierigkeit. Auch Völler lieben und haſſen, und 
die Politik tert fi) gründlich, die glaubt, diefes Imponderabile 
außer Rechnung laffen zu können. Es iſt Tatjache, Eljäfler umd 
Altdeutiche fließen in den obern Schichten wie zwei Ströme 
nebeneinander, die fich nicht vermiſchen Tünnen. Die zahlreichen 
Verbindungen herüber und hinüber, die ein Bierteljahrhundert 
geihaffen hat, haben im einzelnen manches gebefjert, dieſe Haupt⸗ 
tatfache Haben fie aber gar nicht berührt. Es iſt eine beklagens⸗ 
werte Schönfärberet, werm deutiche Beamte bei allen Gelegenheiten 
die Gegenjäbe als ausgeglichen bezeichnen. Dad nüpt gar nichts. 
Eher ſchadet e8 unſerm Unjehen, wie denn in Diefem ganzen Ver⸗ 
haͤltnis der Witdeutiche fich viel zu oft in die ungünſtige Stellung 
Bringt, daß er möchte, und daß der Elſäſſer nicht will. Außerdem 
leitet er Waſſer auf des Gegners Mühle durch die große Beachtung, 
die er den Heinen und kleinlichen Gegnerjchaften, Gänfeleien und 
Schilanen ſchenkt. Wieviele Kindereien hat bie reichsländiſche Po⸗ 
lizei durch ihren Übereifer erft zu Staatsaktionen aufgebaufckt! 
Sch lege ſonſt fein großes Gewicht auf ſchweizeriſche Urteile 
über die Verhältniffe im Elſaß. denn wir find ja den Schweizern 
unbequem, feitdem wir groß geworden find, und am unbequemften 
im Elſaß, wo wir auch alteidgenöffiichen Boden einverleibt haben. 
ber ih mußte doch einem Basler Politiker Hecht geben, der mir 
angeficht8 der Erinnerungen an die Selbitändiglett Mülhaufens, 
die in dem Musse du vieux Mulhouse vereinigt find, über ben 


Südweftdentfche Wanderungen 989 


Berfall Mülbaufens, nicht der Stadt und der Gefchäfte, fondern 
der leitenden Familien Hagte. Er meinte, der Rüdgang habe aller- 
dings fchon mitten in dem größten @ebeihen unter dem britten 
Napoleon begonnen, als dad Eljaß allen andern Teilen Frank⸗ 
reichs voran die Erwerbung materieller Güter der Pflege der 
Freiheit und Selbftändigkeit vorangeftellt Habe. Aber auch Deutich- 
land babe, ohne zu wollen, dazu beigetragen, indem es fich in 
eine Politik der Heinen, nervöjen Maßregeln babe hineintreiben 
laſſen, die nur dazu gedient hätten, daß Deutiche und Eljäfler ſich 
wechfeljeitig daß Leben fauer machten, worüber fie beide größere 
Biele verfehlten, die fie zu verfolgen meinten. Aus meiner Beobad)- 
tung obereljäffiichen Lebens konnte ich Hinzufügen, daß es jeden» 
falls die Eljäffer find, die dabei am meiften verloren haben. Die 
Auswanderung bed intelligenten und tatlräftigen Nachwuchſes, 
der fich nicht entfchließen Eonnte, fich in die beftehenden Ver⸗ 
hältniffe einzuleben und fich ihre Vorteile zu fichern, hat gerade 
in den Smbuftriegebieten des Oberelfaß am meiſten dazu beigetragen, 
daß der Einfluß des einheimiichen Elements fo ziemlich in allen 
Beziehungen geſunken iſt. Scharfjehende Deutiche haben Ichon vor 
1870 eine gewifle partikulariſtiſche Verengerung des eljäffiichen 
Geſichtskreiſes beobachtet. Bei Befuchen in der Weißenburger und 
Zauterburger Gegend fur; vor dem Kriege im Sommer 1870 
gewann auch ich denſelben Eindrud, der meinen pfälziichen Freunden 
längft vertraut war, daß über dem lintereljaß eine verfchlafne 
Spießbürgeritimmung ſchwebe. Es war ein Mißverbältnis 
zwiichen dem ruhmredigen Sichbelennen zur großen Nation und 
dem fichtlichen Beſtreben, hinter den Vogeſen als Bürger des 
gläugendften Großftaat8 ein behagliches Kleinſtaatsdaſein zu führen. 
Ganz unbegründet erſchien und damals ſchon bie Überhebung, 
mit ber dieje Biedermeier auf die Heinftaatlichen deutihen Nach⸗ 
barn Hinabjchauten. Nicht bloß die Badenſer und die Pfälzer 
haben unter der Geringſchätzung ihrer ftammverwandten Nachbarn 

leiden gehabt, auch die Schweizer hatten fich über jo manche 

berhebung ihrer eljäffiichen Nachbarn zu beklagen. 

Wie wenig gut es aber den Bewohnern dieſer beiden öſtlichen 
Departements tat, daß fie ein anjcheinend gedeihliches, weil von 
den Strömen der Zeit viel weniger bewegte und bebrohtes 
Dajein führten, als die Nachbarn überm Rhein und jenjeitd des 
Aura, das wußten fie jelbft nicht. Die gewaltigen Enttäufchungen 
der jahre 1870/71 Haben fie vorübergehend aufgerüttelt. Aber 
nur die einfihtigften Eljäffer vermögen fi) zu der Erkenntnis 


390 Südmweftdentihe Wanderungen 


aufzuſchwingen, daß ihre öftlihen Nachbarn fie in vielen Be 
ziefungen überholen. Es ift eine ſeltſame Werbindung von 
philifterhafter Selbfttäufhung und franzöfifher Überhebung, bie 
fie befangen macht. Dem unparteiiſchen Beobadhter aber, der heute 
aus Baden oder aus der Pfalz oder von der Saar ins Elſaß 
fommt,. ift e8 nicht zweifelhaft, daß dort drüben eine Träftigere 
Luft die Nerven ftählt und die Augen heller madt. Ein bald 
breißigjähriges8 Schmollen bedeutet eben einen gewaltigen Verluft 
an Schwung und Tatkraft. Die männlichen Eigenfchaften gehn 
unter weibiicher Empfindlichkeit und Launeuhaftigkeit unter. An 
die Stelle der offnen Ausſprache tritt der Klatih. Man fticdhelt 
auf die Plumpheit, Geſchmackloſigkeit, Rauheit der deutichen Sitten 
und überfieht dabei das wefentlichite, daß wir als das männlichere, 
durch Selbſtzucht Träftigere, mit ernſten Aufgaben beichäftigte 
Volk dem verweichlichten, eines klaren Blickes in ſeine Zukunft 
baren Volke gegenübertreten. 

Ein gebildeter Bürger im Unterelſaß zeichnete, ohne es zu 
wiſſen, ſich und feine Landslente, indem er von den Franzoſen 
mit feiner Beobachtung fagte: „Der Franzos if darin komiſch, 
er ifch zu ängftlich. Beim Tleinfte obstacle, daß er uf jeim Wäg 
findt, rvetiriert er. Der Dütſche goht par force drüber weg. 
C’est la raison: der Edmond About us Paris verlauft fein 
Terme unterm Preis und goht Hinter die Vogeſe zrud.” Der 
feife Tadel war mir ebenjo intereflant in biefen Sägen wie 
die Sympathie des ſtark fühlenden Mannes für den ſchwachen. 
Viele Elfäfler ſchätzten eben an den Franzoſen gerade eine Art 
von Schlaffheit, die die Dinge gehn läßt, wie fie gehn, das 
gerade Gegenteil der preußiichen Schroffheit und Raſtloſigkeit. 
Es lebte fi) To leicht damit. Jetzt hoffen fie fich in einem reichs⸗ 
ländiihen Sonderbafein etwas von diefem Stillieben zu erhalten, 
und der Ruf: Das Elfaß den Elfäffern! hat bei der Maſſe keinen 
edlern Sinn. Aber die Regierenden in Straßburg werden hoffent- 
lich nad fo vielen Enttäujchungen einjehen, daß da ein ganz 
andrer PBartilularigmus wäre als der, dem mir jonft in Deutſch⸗ 
fand geneigt find, ein Daſeinsrecht zuzugeftehn, und deſſen fich 
einst auch unfre Landsleute zwiſchen Rhein und Vogeſen er⸗ 
freuen mögen. 





Briefe eines Zurückgekehrten 
ax⸗ 





1 


Ich habe gelernt, was Heimat heißt, und darin einen Schaf 
gefunden, ber mich rei macht, und in deſſen Beſitz ich nie 
wieder arm werden Tann. Ich könnte Amerika, und bejonders 
einen weftlichen Staat der Union, defien Name nicht zur Sache 
tut, faft ebenfogut mein Vaterland nennen wie Europa und 
befonder8 einen gewiſſen ſüdlichen Staat Deutichlands, wenn ich 
nämlich nach der Zahl der Jahre rechnete, die ich in beiden gelebt 
habe. Aber folange ich drüben war, babe ich mit jehnfüchtigem 
Herzen an dem Lande, an dem Dorfe, an der Hütte der Heimat 
gehangen. Den Tag über übertäubte Die Aufregung des Tämpfenden 
Lebens jeden Gedanken, ber nicht den nächſten oft brängenden 
Aufgaben gewidmet war, aber die Nacht, die alle Entfernungen 
ausloſcht, führte meine Seele in die Heimat zurüd. Wer dieſes 
Doppelgeleifige Beben nicht Tennt, Tann fich keine Vorftellung von 
der beftändigen Paarıng und Durchkreuzung der Gedanken von 
bier und von dort machen. Der Hubfon und der Rhein, bie 
White Mountaind und der Schwarzwald, das Fellengebirge unb 
Die Alpen, die Legislatur und ber Landtag, der Kongreß und 
der Reichstag, der Präfident und der Kaiſer, und jo weiter bis 
zur Scharlacheiche und Steineiche, zur Catawbatraube und zum 
Riesling, und hinunter bis zum Bier von Milwaukee und von 
München: dieſes geboppelte Denken, das ewig nebeneinanberftellt 
und sdrängt und vergleicht, muß natürlicd) auf einer Seite endlich 
ein Minus finden. Die Mehrzahl wird von der bunten Gegen⸗ 
wart befiegt, die Erinnerungen verblafjen, fie find endlich nur 
noch der faft unwirklich blauende Hintergrund für Die Szenen 
von heute und geftern. Die Minderzahl kämpft die Stärke der 
friſchen Eindrüde nieder und läßt fie gar nicht bi8 an bie Er- 
innerungen herantommen, die an gefählikter Stelle weitergrümen ; 
aber fie trägt Wunden von biefem Kampfe, die nur der Tob 


‚394 Briefe eines Surüdigefehrten 


oder die Heimkehr heilen. Sie mögen äußerlich noch fo friſch 
ericheinen, e8 find im Grunde leidende Menjchen, die mit ihren 
Erinnerungen nicht fertig werden können. Es entjiehn in ihrem 
Gehirn die feltiamft gemwundnen Gedankenwege, die alle an be= 
ftimmten Heinen Punkten enden, die die größte Ahnlichleit mit 
dem haben müflen, was man fire Seen nennt. An Dielen 
Punkten erheben fi nicht jo ausſchließlich, wie und die Bücher 
glauben machen mollen, Gräber der Liebe, Rafjenbänte mit ver- 
liebten Erinnerungen, uralte Bäume der Kindheit und dergleichen ; 
ih) habe Männer gelannt, deren Erinnerungen um eine Heine 
Weinſchenke (die man dort Beifel nennt) in Lerchenfeld und wieder 
um einen beftinmten Winkel in dem kleinen hölzernen Raum 
eined Gaftzimmerd fchwebten wie Schatten, die an einen Drt 
gebannt find, an den fie immer zurüdlehren müflen, und anbre, 
die heimmwehlrant waren an der Erinnerung an die Durlacher 
Kirchweih. Mein Beruf brachte mich einmal mit drei Pfälzer 
Dejerteuren von demfelben Regiment zufammen, die fi) mit 
leuchtenden Augen von ihren Erinnerımgen an die alte Kaferne, 
fogar an ihren Gefängnisraum, worin fie öfter geſeſſen hatten, 
unterhielten. Ich bin überzeugt, daß fie gern in ihr Kaſchoh,“ wie 
fie e8 mit heimiſchem lange nannten, zurüdgefehrt wären, wenn 
fie ſich damit die Rückkehr überhaupt hätten erlaufen können. Für 
ſolche Leute ift der größte Feittag ded Jahres die Nahahmung 
einer heimifchen Gewohnheit, jo wie die Bayern ihre „Wiesn,“ 
eine enge Erinnerung an die Mimchner XTherefienwiefe beim 
Dftoberfeft, und die Schwaben ihr annftatter Volksfeſt im 
Newyork haben. Dan muß den Bug der deutichen Vereine beim 
Deutichentag in Chicago 1893 gejehen haben, damit man dieſes 
Hängen an den Kleinen Bejonderbeiten der Tleinften Landſchaften 
und Bezirke verfteht: es kommt aus berfelben Wurzel wie das 
Geſündeſte an dem alten politifchen Partilularismus, und man 
hatte ja gerade dort die Empfindung, daß die Liebe zum Bater- 
lande leicht durch die Liebe zu deu Raterländern verdunfelt 
werben könnte. Ich zweifle, ob dem großen Vaterlande mit gleicher 
Freude das wiederlehrende Opfer tagelanger Reifen nad) einem 
zentralen Berfammlungsort gebracht würde, das gewifle alte 
Korpsftudenten hier in Amerika alljährlih auf dem Altar ihrer 
Univerfitätserinnerungen niederlegen. 

Es liegt da eine deutiche Bejonderheit vor, die zu der oft 
beiprochnen politiichen Ausstattung unſers Volles gehört. Der 
Ire, der ja fo ziemlich überall in Amerika gleich neben dem 


Briefe eines Zurückgekehrten 395 


Deutichen kommt, folgt en masse feiner grünen Yahne, die ſich 
am St. Patridstage fogar den Ehrenplab auf den Flaggenftangen 
der eriten Negierungsgebäude einzelner Staaten erobert. Die 
Sranzofen, zu wenig zahlreich, daß fie ald Menge wirken könnten, 
hängen belanntlid) mit einer leidenfchaftlichen, geradezu krank⸗ 
machenden Sehnſucht an der Heimat. Das berühmte Schweizer: 
heimweh ift nicht im Vergleich mit diefer Sehnfucht, die dem, 
den fie befällt, die Lebensluft außfaugt und den Willen wellen 
macht. Selbftmorbe aus Verzweiflung an der Fremde, die ihnen 
nicht erlauben will, in die ſchöne Heimat zurüdzufehren, find bei 
Franzoſen häufiger als bei jeder andern Nation. AB ih in 
einem Heinen Gafthaus eines verfallnen Nefte8 in den Dünen 
des Stillen Dzeand lebte — ed war eine Daje von Behagen 
inmitten von Öde und Armut —, trat der Wirt, ein Heiner 
Sranzofe, am erften Vormittag mit zwei Schnapsgläfern und 
einer Flaſche Mezcalbranntwein auf gläfernem Brett in mein 
Bimmer und bat mich, ein Gläschen mit mir trinken zu dürfen. 
Er plauderte eine Viertelitunde und zog ſich dann mit der feinen 
Höflichkeit zurüd, Die dem weichen, nur allzu weichen Gemüt des 
Franzoſen entjtammt, weshalb fie auch an feine Stufe bon 
Bildung oder gar Beſitz gebunden iſt. Die kurzen Situngen 
twiederholten fich jeden Tag. Der Mann erzählte mir aus feinem 
Leben und dem Leben feiner Gefährten; alles, was er erzählte, 
endete unglüdlih, faum einem Franzojen war es in dieſem 
Staate gelungen, fein Leben „zu machen,“ und viele hatten mit 
Selbftmord geendet. Jetzt ftand er allein im Kampf ums Brot, 
und was fir ihn mehr war, im Kampf um ein anftändiges 
Leben, mit Stalienern, deren Wettbewerb ihn Hart bebrängte. 
Ich war noch nicht vier Wochen wieder in meine Stadt zurüd- 
gelehrt, als ich die Nachricht erhielt, daß mein franzöfticher 
Gaftfreumd fich erhängt Habe. Und diefe Nachricht Tief bei mir 
an demfelben Tage ein, an dem die Wafhingtoner Zeitungen den 
Selbitmord des franzöſiſchen Botjchafterd bet der Regierung ber 
Vereinigten Staaten meldeten. 

So verzehrt von Heimatfehnfucht wie Franzofen, und fo 
leidenſchaftlich die Heimat umfaffend wie Iren habe ich Deutiche 
felten gefunden, faft nie. Der Deutſche läßt ſich felten von einer 
Empfindung ganz erfaflen, er brennt jelten lichterloh, er bat 
immer einen Vorrat von ablühlenden Peflerionen, mit denen er 
unzeitgemäße Entflammungen zu löjchen weiß. Es find darunter 
Eigenfchaften, die ich nicht Lieben und nicht loben Tann, und bie 





396 Briefe eines Surüdgelehrten 


ich übrigens jet auch nicht auseinanderfaſern möchte. Es find 
darunter auch Egenfiheften bo von der größten Bedeutung für 
Deutichland und für andre Länder. Im Dentichen lebt eine er⸗ 
ſtaunlich ſtarke Teilnahme für Dinge, Menichen, Vorgänge um 
ihn ber. Es koſtet ihn gar nich, ieben Augenblick jo objektiv 

werden, daß er mit dem, was ihn gerade feflelt, völlig ver» 
ſchmilzt. Daber feine Wanberluft, feine Forſchbegier fein Grübeln 
und fein Verbohren, jeine Einwurzelung im fremdeiten Boben. 
Darum ift er ja der geborne Kolonift, der den Auffen Sibiriem, 
den Amerilanern Amerika, den Holländern Indien uneigennühig 
erwerben hilft. Etwas hat das neue Reich daran geändert. Ich 
merle e8 an der jungen Generation der Landsleute, daß ihr 
Blut in vollern Wellen durch die Adern pulft und nicht mehr 
fo dünn wie früher, mo es viel Raum für Die ZTransfufion 
fremdefter Säfte ließ. Ich ſehe in den legten dreißig Jahren 
nicht mehr ſoviel grüne blühende Schoffe des alten Patriotismus 
abwelten, die nicht weiterleben konnten, weil fie dem Kirchturm-, 
Hütten-, Gräber-, Kneipenpatriotismus entiprungen waren, ber 
nur in einer ganz engen Atmofphäre gedeiht. Diele hat aber 
nie auf die Dauer unferm atlantifchen Sturmilima ſtandge⸗ 
halten. Es ift ein großer Fortſchritt, daß ſich der überfeeifche 
Deutiche in die Borftellung einlebt, Deutichland fei jo gut wie 
England kraft feiner Lebensinterefien überall auf der Welt, wo 
Deutiche leben. Wo ber Deutiche jeinem alten Lande die Löfung 
weltpolitifcher Aufgaben zutraut, hat feine Vereinzelung aufgehört, 
und jein Nationalgefühl ift nicht mehr ein Pflänzchen unter 
Glas, das mit Heinliher Sorge mühſam und unter Aufwand 
vielen Biers gehegt werden muß. 

Barım follten wir es nicht offen befennen, daß Die große 
Mehrzahl der Deutichen in ben Vereinigten Staaten im Grunde 
nie jo recht an ihre volle politiſche Gleichberechtigung mit ben 
Anglotelten geglaubt, fie : nicht mit bem veuer berzlicher Über⸗ 
zeugung angeftrebt hat? Sie find politiid anders angelegt, Emmen 
politifch nicht dasfelbe und mit denjelben Mitteln wollen. Sogar 
ein Karl Schurz, als Nebner bewundert und beivunbernswert, 
iſt nicht ganz der Politiker, wie er für Amerika fein müßte. 
Mau müßte ben Deutichen viel grünbficher ausgezogen haben, daß 
man ganz ſicher im Tritt mit den Amerilanern zu marjchieren ver⸗ 
mödjte. Das gelingt nur den Deutichen der dritten und ber vierten 
Generation, an denen dann leider nur noch der Name beutich tft, 
der Name Aftor, Kant, Havemeyer und jo weiter. Eb hängt 


Briefe eines Surüdigefehrten 397 


mit ganz guten Elementen des deutichen Charakters zufammen, 
daß wir feine lebhaften Bewundrer der Politik als Handwerk 
find umd demgemäß in der handwerksmäßigen Politik, wie fie 
in den parlamentariichen Staaten Weft- und Mitteleuropas be= 
trieben wird, übrigens aud) in der lebhaftern, gewalttätigern und 
pannendern Innenpolitik der Vereinigten Staaten, feine großen 
Anftrengungen maden. Diele Politik ift zu dilettantiſch, zu 
phrafenhaft, als daß dem ehrlichen Deutichen fo recht wohl in 
dem raflelnden Betrieb dieſer Mühle werden fünnte, von der man 
Mirza Schaffys Wort gebrauchen möchte: Dad Klappern der 
Räder höre ich wohl, aber ich jehe kein Mehl. Der Deutiche Hat 
Anterefje für die lokale Politit der Gemeinde, des Bezirks, des 
Heinen Staats, mo er die Verhältniffe kennt und überfchaut; Hier 
entwidelt er fogar manchmal eine amverhältnismäßig große Leiden- 
ichaft, die höherer Siegeöpreije würdig wäre. Aber den Blid fürs 
Große ded Staates glaubt er feinen StaatSmännern, feinen er- 
probten Beamten überlafjen zu können. Diefe bequeme Auffaſſung 
führt jedoch zu übeln Ausgängen. Deswegen vertritt der minder 
gebildete Irländer den gebildeten Deutfchen in den Legiölaturen 
der Vereinigten Staaten, und wenn je ein Deutjcher, wie Karl 
Schurz, mit in den Vordergrund tritt, find feine Landsleute 
unter denen, die ihn jchmähen und nicht verftehn wollen. Darum 
vertritt eben der Magyar im Peſter Neichdtag die Millionen von 
Deutichen des Banatd, Wejtungarnd und ber Zips. Aud in 
Preußen, wo zweifellos dad Staatöbemußtjein der Deutjchen eine 
höhere Stufe erftiegen Hat als je vorher im ganzen Verlauf ihrer 
Geſchichte, ift man den Polen, den Litauern gegenüber ſehr 
rüdjihtsvoll verfahren. Man ift nur mit Anforderungen der 
Kultur, nicht der Politik an fie herangetreten. Die Majuren, die 
Litauer, die proteftantifhen Polen Schlefiend Haben fich zu einem 
guten Zeil felbft germanifiert. Auf die preußiiche Germanifation 
hätten fie lange warten können. 

Laß mich zur Gegenwart zurüdlehren und entichuldige, wenn 
ih bier von Dingen geredet habe, die ich vielleicht in einigen 
Monaten anderd, wenn auch vielleicht nicht beſſer verftehn werde. 
Die Gedanken fliegen voraus wie die Seevögel, die mit ihren langen 
weißen Sichelichiwingen den Schaum ber Wellenlämme aufflattern 
madyen. Geſtern verſank bie atlantiiche Küſte Nordamerika. 
Nun no eine Woche Waller und Himmel, und eine andre 
Küfte wird auftauchen. Ihre ferne flache Linie wird uns dann 
gerade jo fremd vorkommen wie bie jo wohlbekannte amerikantjche, 





398 Briefe eines Zurückgekehrten 





die fchon im Nebel entihwindet. Was find denn dieſe Linien 
überhaupt anders als jchattenhafte Ausdrücke für den allgemeinen 
Begriff „Land“? Kein Haus, fein Baum, kein Tier, nur ein 
welliger graulidher Saum am Horizont. Es ift wie eben gebornes 
Land, das gerade hervortaucht, noch feucht, wie ed im Schoß des 
Meeres lag, von unbeftimmten Umrifien, noch nicht aus⸗ und 
Durchgebilbet. Was daraus zu und fpricht, das ift von und erft 
hineingelegt worden. Es ift nidht Amerika und nicht Europa, es 
ift Land überhaupt. Genau jo war da8 Land Lange, ehe menſch⸗ 
liche Augen es erblidten. Es ift in feiner WWefenlofigleit eine 
der älteften Landichaftsbilder überhaupt. Nur daS Meer felbit 
ift noch älter, die Urmutter der Erde und des Lebend. Darım 
verlange aud) niemand vom Meere die Schönheit der Wieje ober 
des Waldes. Das Meer tft eine große, ftille Duelle, aber was 
fie ununterbrochen ergießt, das fieht nur ein geiftige$ Auge. Das 
Meer ift ein gewaltiges Gefäß voll Möglichkeiten, aber was ſich 
daraus verwirklicht hat und verwirklichen wird, fieht wieder nur 
ein geiftiged Auge. Das Meer ijt ein riefige® Grab, worin 
Millionen Generationen ruhen, aber nur Lot und Fangnetz dringen 
in feine Tiefe. Das Meer ift eine gewaltige Kraft, von deren 
Größe Sturm und Brandungswelle nur eine Ahnung geben. Das 
durchfichtige Grün des Wellengipfeld, die Ringe der Schaums 
ftreifen, das nächtliche Leuchten in der Kielfurche, das alles ift 
nur ein Träumen von der Wirklichfeit dieſes gewaltigen, ewig 
an die Erde gefeflelten, fi) ewig aufbäumenden Rieſen. 

Ich las vor einiger Zeit in Darwin „Reife um die Welt“ 
fleinliche Bemerkungen über den Eindrud der Mteeresbilder: „Und 
welches find die fo gerühmten Serrlichleiten des unendlichen 
Ozeans? Eine langweilige Obe, eine Wafjerwüfte, wie der Araber 
ihn nennt. Es gibt allerdings einige entzüdende Szenen. Eine 
Mondnacht mit dem Haren Himmel und dem dunkel gliernden 
Meere, und die weißen Segel mit der weichen Luft eines ſanft 
wehenden PBafjatwindes gefüllt; eine Windftille, wo fih nur Die 
jpiegelglatte Oberfläche des Meeres janft wallend hebt, und alles 
il ift mit Ausnahme des gelegentlichen Flatternd der Segel. 
Wohl ift es ſchön, einmal einen Sturm zu fehen, wie er fid) am 
Horizont erhebt und mit Wut daher fommt, oder den heftigen 
Orkan mit den berghohen Wogen. Aber ich befenne, daß meine 
Einbildung mir etwad Großartigeres, etwas Schredlichereß in dem 
Anblid eines rechten Sturmes vorſpiegelte. Es ift ein unver⸗ 
gleichlich ſchöneres Schaufpiel, wenn man ihn am Lande fiebt, 


Briefe eines Zurückgekehrten 399 


wo da8 Schwanten der Bäume, der wilde Flug der Vögel, die 
ſchwarzen Schatten und die hellen Lichter, dad Rauſchen der 
Ströme den Kampf der entfeflelten Elemente verkünden.“ Alle 
Achtung vor Darwins Geift; aber diefer Sab mürde jederzeit 
hinreichen, zu beweilen, daß man ein großer Geift und eine enge 
Seele jein kann. In diefem Anſpruch gegenüber dem Meere, daß 
es nicht fo fein folle, wie es ift, Liegt Diefelbe Bejchränttheit, Die 
den Kampf um Nahrung zur Triebkraft der Schöpfung alles 
Lebens machen wollte. Darwin war eine merfwürdige Mifchung 
bon Genie und Bhilifter. Schon fein umftändlicher Stil ift mir 
auf die Dauer zumider. Schade, daß gerade deutiche Gelehrte 
hohen Ranges zuerft und zumeift vor Darwin auf den Knien 
gelegen haben, der ficherlic) die Bewunderung nicht voll verdient 
hat, die ihm noch heute von vielen gezollt wird, immer noch mehr 
im Auslande als in England und Amerika. Gerade über diefe 
Proſkynefis wäre manches zu jagen. ch fürchte, ed wird ſich 
noch mehr ©elegenheit dazu geben, als mir lieb ift. 

Ein DOgeandampfer von zehntaufend Tonnen, der im Nebel 
mit faft ungeminderter Gejchwindigfeit feinen Weg durch pfablofe 
Meere macht, ift mir immer ein viel überzeugenderer Ausdruck 
für dad geweſen, was man Fortichritt der Wiffenjchaft nennt, 
als die plumpe Hypotheſe vom „Überleben des Paſſendſten im 
Kampf umd Dafein.” Die Schiffskonftruftion, der Chronometer, 
der Kompaß, die Seekarten, und was fonft dazu nötig ift, find 
Zriumphe des menjchlichen Geiſtes. Aber noch immer gibt es 
Unberecjenbarfeiten. Hörte man nicht eben den Gang des Schiffes 
ſich verlangjamen? Warum da? Einigen fährt fchon ein 
Schreden in die Glieder. Gemach. Du fühlft den kalten Hauch, 
der uns entgegenweht. In wenig Minuten wird der Offizier, 
der ohne Unterlaß die Temperaturen der ind Meer binein- 
geſenkten Thermometer ablieft, die Nähe des Gefrierpunkts zu 
notieren haben. Eisberge müfjen nahe fein, oder mindeſtens 
Treibeismaſſen, groß genug, daß fie viel Abkühlung bringen. 
Dieſesmal cheinen fie nicht auftauchen zu wollen die geheimnis- 
vollen jchneeweißen Schlöfler, Mauern, Gebirgsfetten, Klippen 
mit den grünlich leuchtenden Linien ihrer Spalten, Täler, Frieſe 
und Bilafter. Der Nebel will fi) heben, die Nebelfrauen fangen 
an mit langen Gewändern und fliegenden Bändern über ben 
Bellen zu tanzen, ein gebieterifch gerabliniger Sonnenlichtreflex 
durchzuckt jchwertgleich dad Gewölk und legt fich breit auf das 
Meer, wo fi fein Licht in taufend Funken auflöft. Die Gefahr 


400 Briefe eines Zurückgekehrten 


einer Eisbewegung ift beſchworen. Wir werden Muße haben, una 
mit den Menfchen befaunt zu machen, Die fich diefer Planke oder 
vielmehr diefer Stahlröhre anvertraut haben. 


2 


Eine Dampferfahrt von ein paar Tagen gibt ausgezeichnete 
Gelegenheiten zu vergleichenden Völlerftudien. Der ſeltſame Zu⸗ 
ftand einer im Bauche einer großen Stahlhülfe ind weite Meer 
hinausſchwimmenden Menge von Menfchen jedes Alters, Berufs 
und Herkommens bringt merkwürdige Schichtungen und Grup⸗ 
pierungen hervor. Anziehungen und Wbftoßungen beivegen Die 
einen zu= und voneinander. Andre verhalten ſich volllonmen 
gleichgiltig und ſinken wie unlösliche Körper, die fi aus einer 
Flüſſigkeit ausfondern, langſam in ftillere Tiefen. In der ur⸗ 
ſprünglich von gleichen Gefühlen und Intereſſen getriebnen Reijes 
Beet: vollziehn ſich ſehr bald Sonderungen. um haben 
fie die Mühe der Einpaſſung in das enge Gehäuſe Sinter. fih, fo 
vergeflen viele vollftändig ihren vorherigen Zuftand. Man merkt, 
die Menſchen wollen auch aus dieſer Gegenwart alles machen, 
was gemacht werden kann. Wohl fieht man bier Augen, Die 
feine Träne mehr haben, mit angftvoller Sehnjucht den legten 
Schimmer des Landes fefthalten, von dem wir und mit Sturmes⸗ 
eile entfernen. Aber gleich daneben fordern andre voll Eifer 
den fehlenden Mann für eine Statpartie.e Das immer wieder 
verjuchte Experiment wird auch dieſesmal gemacht, durch emen 
Unterzeihnungsbogen, Mufit und Dellamationsktränzchen und 
Unterhaltungszirfel mit beftimmtem Programm für zehn Tage 
ind Leben zu rufen. Doch beteiligt ji kaum jemand daran. 
Natürlich, denn die Mehrzahl der Reiſenden find Deutiche, die 
Zwang und Syſtem befonder$ aus der Unterhaltung verbaunt 
jehen wollen. Ich babe auf Schiffen, mo das engliiche Element 
überwog, dieje Einrichtung mit Erfolg anwenden ſehen. Was 
man dort nicht fieht, hat fich Dagegen bei und ſchon organiftert: 
eine große Kneiperei nach allen Regeln der Kunft. Nach ameri- 
kaniſch⸗geſchmackloſer Sitte traftiert ſich eine Gefellichaft von 

Deutich-Amerilanern gegenjeitig mit Milwauleebier, defien Vor⸗ 
züge vor dem bayriſchen man laut preifen hört. Es find Leute 
aus allen Zeilen der Union, die fi) großenteilß vorher nicht 
gekannt haben. Geichäfts- und Gejelligleitätriebe machen, daß fie 
wie Ol zufammenrinnen. Cinzelne davon kannte ih fonft als vor» 


Briefe eines Surüdgefehrten 401 


treffliche Menſchen; als Gruppe, die fich durch Trinken, Rauchen 
und lautes Reden in ein Vergnügen bineinfteigert, das für alle 
Nebenmenſchen Läftig ift, tft mir dieſe Art zumiber. 

Wie fich dieſe Beute, denen es drüben offenbar „geglüdt“ 
tft, fchnell vereinigen, das erinnert mich an Die Vereinsgründung, 
die zwei ſchiffbrüchige Deutſche auf einer einfamen Inſel in dem 
Augenblid vollziehn, der fie zuerſt zufammenführt. Dan kann 
fiher fein, daß in wenig Tagen die neuen Freunde einander 
nicht mehr ausftehn können. Sobald einmal die Oberfläche ab- 
gegraſt iſt, ftoßen fie auf eine Menge von Unvereinbarleiten. 
Es fehlt ihnen eben jede Gemeinſamkeit der Bildungdgrundlagen 
und vor allem ein außreichender Gemeinbeſitz von gejellichaft- 
fihen Yormen. Ste fordern in dieſer Beziehung unglaublich 
wenig voneinander. Durch diefe Genügfamleit erniedrigen fie 
aber überall, wo fie binfommen, das gefellichaftlidhe Niveau. 
Leider tragen fie ihren Bier- und Bigarrendunft, ihr Lärmen 
und Gläferflingen überall mit fid. Duldet man fie und ihre 
Atmofphäre nicht in der Oberwelt, fo Steigen fie in die Unter- 
welt hinab. In einem amerikaniſchen Bahnzug findet mar fie 
dann bei Negern und Srländern im Smoling Car, und im Hotel 
vertagen fie ſich ins Kutſcherzimmer. Mehr, ald man glaubt, 
ſchadet der Deutjche mit dieſen Gebräuchen feiner gejellichaft- 
lichen Stellung. Ins Politiſche übertragen bedeuten diefe Nei- 
gungen die rüdfihtsloje Anfechtung der Geſetze zum Schub ber 
Sonntagsftille und aller MäßigleitSbeftrebungen, das dem An⸗ 
ſehen der Deutichen in Amerika die fchwerften Wunden geichlagen 
Hat. Sie mögen in fehr vielen Beziehungen Recht Haben und 
ihren Gebrauch geiftiger Getränle dem Mißbrauch, den bie 
Anglofelten damit treiben, mit voller Begründung entgegentellen. 
Der freie Bierausſchank und die Bierfiedelei in Sommergärten 
find aber nun einmal feine politifchen Programme für ein großes 
Boll. Die hervorragende Stellung der Bierbrauer und der Bier⸗ 
wirte in den politifchen Gruppen der Deutſchamerikaner hat dazu 
beigetragen, daß höhere nationale Bildungäbeftrebimgen bei den 
deutſchamerikaniſchen Politikern fo felten eine warme Unterftübung 
gefunden haben. Sie find mit Feuer gegen jede Beſchränkung 
der Trinkfreiheit vorgegangen, aber der Bewegung für Volks⸗ 
bibliothefen ftehn viele Deutiche teilnahmlos gegenüber. 

Das Bedürfnis des „Anſchluſſes“ ift bei Deutichen immer 
ftärfer al8 bei andern Völkern. Sch meine beim Durchichnitt. 


Hochgebildete Deutfche bewegen fich geradejo wie andre um ihren 
Radel, Gluchinſeln und Träume 26 


402 Briefe eines Surädgefehrten 


eignen Mittelpunft und find ſich jo lange ſelbſt genug, als fie 
nicht einen andern Firftern finden, mit dem fie fi) zum Doppel- 
ftern verbinden. Es ift aber das Eigentümliche, daß der Eng- 
länder ein tieferes Beruhen in fich jelbft auch dann zeigt, wenn 
er feinen geiftigen Schwerpimft hat, vielmehr eine taube Nuß 
iſt. Iſt es Naturell? Iſt es praktiiche Lebensweisheit?. Wohl 
beides: die Weisheit mwächft aus der Naturanlage heraus; fie 
hat ſich einmal die Regel gebildet, jebe Lebenslage kühl zu über 
ſchauen und ſich die Frage vorzulegen: Wie paßt du da hinein? 
Und die befolgt fie nun wie ein Naturgejeb inftinftiv. Der 
Deutiche ift beweglicher, Täßt fich leichter anziehn, folgt einem 
oberflächlichen Unterhaltungsbedürfniß und fühlt ſich ſehr häufig 
ebenſo raſch abgeftoßen, wie er fich vorher anziehn lief.” Ein 
gutes Teil des Streite® und Haders in großen und Heinen 
deutichen Gemeinjchaften kann man darauf zurüdführen, daß Die 
Perfönlichkeiten nicht hinreichend ſcharf abgegrenzt find, nicht 
genau genug willen und raſch genug enticheiden, was fie wollen 
und follen, weshalb fie aus Übereinftimmung oder aus Wider⸗ 
ſpruch wechſelſeitig viel zu viel in ihre Sphären hinübergreifen. 
Daher die endlojen Neibungen. Ein Halbdeuticher ruſſiſcher Ab⸗ 
funft, der die Dinge in einer kleinen Hafenſtadt Guatemalas 
halbneutral viele Jahre beobachtet Hatte, jagte mir einmal das 
treffende Wort: Wir ftreiten ung gerade jo, als ob wir alle Mieter 
enger Wohnungen in einer einzigen Berliner Mietlajerne wären, 
und doch könnte bier jeder unter feinen eignen Palmen und 
zwiichen feinen blühenden Staffeeheden jo friedlich leben. 
bin immer überzeugt gewejen, daß ein großer Teil der deutichen 
Bereinsmeierei zulebt in dem Bedürfnis wurzelt, in die einander 
wirt durchkreuzenden Anziehungen und Abftoßungen eine gefeb- 
liche Ordnung zu bringen. In den Bereinen plagen fie zwar 
erjt recht aufeinander, aber da find dann die Statuten, die &e= 
wohnheit und — das Bereinövermögen bie Anker, um die das 
wrade Schifflein ſchwingt. Die Pflanze entwidelt ein filbernes 
Haarkleid, um ſich gegen Vertrodnung zu ſchüten, die Schild- 
kröte baut fich ihr Inöchernes Haus und belegt es mit herrlichen 
Hornplatten, um gegen Stöße geihübt zu fein, der Dentiche 
ſchafft fich feine Vereine, die er mit Wappen, Siegel und Fahnen 
außftattet, um fich felbft vor feinem Eigen- und Sonderwillen 
zu ſchützen. 

Die Franzoſen, viel weichere Naturen als Deutiche und 
Angelſachſen, vereinigen fi als Einzelne leicht, verichmelzen 


Briefe eines Surüdgefehrten 408 


INN 


gfeihfam, Fühlen aber nicht das Bedürfnis der Drganifation, 
wenn es nicht die vorübergehende einer Geſelligkeit ift, in der 
fie glänzen können. Dazu trägt audy die viel mächtigere An⸗ 
ziehung bei, die auf fie das Weib ausübt. Deshalb jehen wir 
fogar im franzöſiſchen Studentenleben die Verbindungen und 
Vereinigungen Gleichitrebender zurüdtreten, Die jede deutſche 
Univerfttät zu einem Wald von parlartigem Wachsſtum machen, 
zu einer fröhlichen Anlage, in der zahlloje Kleine und große 
Gruppen bunt nebeneinander auf demfelben grünen Boden in 
die Höhe ftreben oder aud) in Die Breite gehn. Dem Deutſchen 
fteht in dieſer Beziehung der Standinavier am nädjiten; dieſem 
haben Charakter und Gewohnheiten bejonder8 im Nordweſten: 
Wisconfin, Minnefota, Dakota einen merkwürdigen Übergangs⸗ 
platz zwiſchen Deutihen und Engländern angewieſen. Das 
gemeinfame Quthertum trägt dazu etwas bei. Aber nur etwas. 
Der Hauptgrund liegt in einer gewiſſen Sympathie der Volks⸗ 
feele, beſonders zwiſchen Deutſchen und Schweden, die beide das 
Leben leicht nehmen. 

Unfre Landsleute jehen oft mitleidig auf Die Amerilaner 
hinab, die an Nervofität, Dyspepfie und andern Folgen der Über- 
arbeit und unvernünftigen Lebensweiſe leiden. Gewiß, der Ameri- 
kaner ift oft verjchloffen, „Ipinnt“ und ift dann fein guter Ge- 
jelfchafter. Aber was bedeutet das für das Voll? Was ein 
Volt aus feiner Gegenwart gewinnen kann und was nicht, darin 
liegt für mid) ein großer weltgeichichtlicher Unterſchied. So wie 
es Einzelne gibt, die fi) aus jeder Lebenslage ein weiches Bett 
zu bereiten willen, mährend andre unter allen Umſtänden bart 
liegen, ſchwer träumen und verdroffen aufftehn, um ihr Lager 
beifer zu maden, bis es ganz gut tft, fo ift es auch mit den 
Bölfern. Es ift die alte Beobachtung, für die Shafefpeares 
Caſar die allgiltige Form gefunden Bat: 


Let me have men about me that are fat; 
Sieek-headed men, and such as sleep o’nights. 
Yond Cassius has a lean and hungry look; 
He thinks too much: such men are dangerous. 


Wären die Ruſſen eine jo leicht zu vegierende, fo leicht 
bis in den Tod zu führende Mafje, wenn nicht ihr „Allmenic- 
tum,“ das und verſchwommen vorlommt, fie molluskenhaft an- 
paflungsfähig machte? Auch die Deutichen erfauften jahrhunderte- 
lang individuelles Behagen mit Knechtung. Stein politifch Lied 

26* 


404 Briefe eines Surüdigefehrten 


durfte Die Ruhe des Spiekbürgers ftören, man überließ bie 
Zeitung den Obern, zur Not den Fremden und kümmerte fidh 
um das Geichäft und das Vergnügen. &8 ſteckt darin mehr, als 
wir glauben, von der verderblicdden Apathie der Franzofen, Die 
fih heute dem Konvent und morgen der Militärdiktatrr beugen 
und dabei immer den unternehmenden Einzelnen abwarten, fet 
es nun Gäfar oder Brutuß, der fie retten joll. Die Deutſchen 
haben noch feine Veranlafjung, auf dieſe Eigenfchaft ihrer Nach⸗ 
barn jo hoch Hinabzufehen. Was fie in großen Leiten gerettet 
hat, war nicht die Leiftung vieler Einzelnen, jondern die über- 
menſchliche Anftrengung einzelner großer Menſchen, von denen 
das deutiche Volt nach langer Dürre jeit Stein und Blüdher 
allerdings eine überrajchende Anzahl geboren hat, und die Bereit⸗ 
willigfeit, mit der man diejen Leitern folgte. 

Ich finde die deutiche Gefelligfeit fchöner als jede andre, 
ih teile fie mit Freuden, auch auf der Bierbant, ſoweit fie 
Geifter belebt und die Herzen öffnet. Uber ich fürchte fie als 
Gleichmacherin nah unten bin, als Abftumpferin der beilfamen 
Selbftändigfeit der Einzelnen, als eine Verführerin, die und arın 
an eigentlimlichen, ftarfen Individualitäten in einem Augenblide 
macht, wo wir nicht reich genug daran fein können. Vielleicht 
ift e8 undankbar, diefe Urteil in einem Augenblide niederzu⸗ 
ſchreiben, wo ich noch unter dem Eindrude der fchönen Abende 
ftehe, die ich in der Heinen Kabine des Schiffdarztes im reife 
fieber Landsleute verlebt habe. Aber gerade von Ähnlichen 
Abenden nad) grauen, einförmigen Schiffahrtötagen im Atlan⸗ 
tiſchen Ozean klingt mir ein Wort nad), das Kurt von Schlözer, 
in der Mitte der fiebziger Jahre deutfcher Geſandter in Waſh⸗ 
ington, der unvergeßlich heitere, originelle, ausſprach: Es ift ver- 
dammt unbequem, alles, was wir tun, auf feine Wirkung 
Ganze prüfen zu müſſen; aber in die politifche Kinderſtube können 
wir doch aud nicht zurüd. Alſo vorwärts, in die Ungemüt- 
lichkeit hinein! 


* * 
v* 


Sei mir gegrüßt, liebliches Hamburg! Und du, deutſcher 
Landsmann, der du gewohnt biſt, bei dem Namen Hamburg an 
die erfte Handelsſtadt des Kontinents und die zweite Stadt bes 
Deutichen Reichs zu denen, verzeihe mir, wenn ich dein große, 
ftolzes, reiches Hamburg lieblich nenne. Ich dente jebt an bie 


Briefe eines Zurückgekehrten 405 





lachenden Bilder der Marſchdörfer mit ihren alteräbraunen hoch⸗ 
giebligen Häufern, an die blühenden Gärten und die hellen 
Sartenhäufer auf den höhern hügligen Elbufern von Blankeneſe, 
und vor allem denke id an bie alten Bäume, die grünen Pläbe, 
die gartenumjäumten Alſterufer, Die ſchattigen Straßen Ham⸗ 
burgs und feiner Vorftädte. Es mag für den Binnenländer ſehr 
interefiant und lehrreidh fein, in dem Geichäftsleben Hamburgs 
die Vereinigung deutſcher und engliſcher Neigungen, Richtungen 
und Begabungen zu jehen; ich finde es viel anziehender, in 
Hamburgs Außen» und Innenleben eine der reichiten Variationen 
über das Thema der deutſchen Stadt zu vernehmen. Daß Ham⸗ 
burg, rein als Städtebild, fchöner ift als jede andre Seeſtadt 
von gleiher Größe kraft feiner breiten Anlage um bie ftolze 
Waſſerfläche herum, die ganze Wieſen und Haine des vor fünfzig 
Jahren noch unbebauten Landes mit eingeſchloſſen hat, gereicht 
ihm ebenfo zum Stolz, wie die Größe und Ordnung jeiner 
Hafenanlagen. Sogar Venedig und Genua, die gefchichtlich nah 
verwandten Stäbterepublifen, verblaflen in meiner Erinnerung 
neben diejer fünftleriih ungemein viel ärmern, einfadhern Stadt 
ded Nordens, in der foviel mehr Behagen ift und nichts welft, 
fondern Saft und Kraft fich lebensfreudig regt. Dan wird ja 
freilich vergebend nad) den Baläften der Hamburger Batrizier 
fragen, der Doria und Vendramin. 

Was heute von Hamburger Kaufleuten Weltruf bat, das 
wohnt in einfachen Häujern, die nicht übermäßig luxuriös aus⸗ 
geitattet, aber herrlich gelegen find. Ein freier Blid auf die 
einzig ſchöne grünumrandete Waſſerfläche der Alfter, ein recht 
breiter, wohlgepflegter Rafenteppich, ein paar uralte Ulmen, bie 
noch aus der Zeit flammen, wo bier ein Dorfwäldchen ftand, 
gelten dieſen Leuten, die gar nichts fcheinen wollen, mehr als 
Marmorjäulen und Giebelpradit. Es ift wahr, daß nicht alle 
Hamburger damit einverftanden find. Aber die Träger hoher 
fünftleriiher Ideale find, wie überall, nicht die, die über Macht 
und Einfluß gebieten. Die Hamburger lafien fih in ber Kleinen 
Kunft, die dad Leben ſchmückt, Lichtwarls und Brinkmanns Rat 
ganz gern gefallen, aber ihre Häufer geftalten fie diefen ver- 
ehrten Ratgebern zuliebe nicht um. Ein befreundeter Hamburger 
zeigte mir fein Geſchäftshaus, eines von ben hohen ſchmalen 
Häufern am Kanal, unten Kontore, oben Speicher, mit kaum 
fichtbarem Eingang und ſchmalen Treppen. „Hier, wo jebt bie 
erweiterten Kontore find, da find wir, meine Brüber und ich, 





406 Briefe eines Zurückgekehrten 


——⸗ — — 


aufgewachſen. So waren die alten Hamburger Häufer; unten 
Geichäftsräume, oben Speicher, dazwilchen die Wohnräume. Man 
wohnte befchräntter als jept, aber da8 Wohnen in diefen alten 
Häujern hatte den befondern Weiz, daß alle warın beijammen 
war. Bor den Fenſtern ftiegen die Ballen empor, die der kräch⸗ 
zende Kran in den Speicher hob, und an der Schwelle des 
Haufes legten Schiffe au. Wer in foldem Haus groß wurde, 
der lernte die Kaufmannſchaft von felbft, der jog die Luft des 
Groß⸗ und Seehandels im Schlaf ein. Meine Eltern find bier 
geftorben, erft dann legten wir Geichäfts- und Wohnhaus aus⸗ 
einander. Damit ift aber auch die Stetigfeit geichwunden. Vielen 
behagen jchon jegt die vor dreißig Jahren erbauten Häufer nicht 
mehr, fie find nicht bequem genug, und man zieht e8 vor, der 
neuen Oeneration ein neuaußgeftattete8 Haus in neuer Lage zu 
erbauen, Statt da8 alte umzubauen. So fommt e8, daß wir feine 
Palaͤſte haben. Die ſchmalen hohen Biegelbauten, die am Hafen 
unmittelbar aus dem Waſſer auftauchen, gefüllt mit Waren, immer 
fi) leerend und immer neu gefüllt: das find unfre Paläfte.“ 
Da Hamburg noch ein elendes Neft war, als die Städte 
der eigentlichen Hanfe an der wendiihen Küfte von Lübeck bis 
Stralfund famt ihren öſtlichen Ablegern ihre wirtſchaftliche und 
politifche Blütezeit hatten, die aud) eine Blütezeit der Kunft war, 
bat es feine Kirchenbauten, die fi) mit Lübecks oder Danzigs 
Kleinodien mefjen könnten. Die Lübeder Marienkirche ift als 
Mufter für Kirchenbauten des vierzehnten Jahrhunderts bis Reval 
gedrungen, den furzen Weg an der Stecknitz Bin zur Elbe bat 
fie offenbar ſchwerer gefunden. Dazu ift Dann noch der Brand 
gefommen, der denfwürdige Brofanbauten vernichtet Hat. Vom 
alten Hamburg ftehn noch einige Reihen von Giebelhäufern von 
echt niederdeutichem Charakter, aber viel nücdhterner, ald was man 
ſonſt im weſtlichen Niederdeutfchland fieht. Hamburg hat in dieſen 
Teilen weniger Verwandtſchaft mit Lüneburg, Hannover, Hildes- 
beim, als mit den niederländiichen Städten, deren Vertreterin auf 
deutſchem Boden das hochgieblige kanalreiche Emden iſt. Diefen 
alten niederländiſchen Städten ift eine im höchſten Grade einfache 
und gleihförmige Bauart eigen, die fehr deutlich auf den demo⸗ 
fratiihen Charakter ihrer Bewohner hinweiſt. In Enkhuizen oder 
Hoorn ift bei allen Spuren einftiger großer Blüte der Gemein- 
weſen fein einziged wahrhaft palaftartigeg Haus, aud) Die 
fünjtleriich bedeutendern find jchmal und nüchtern. Auch mandye 
Straße in Umfterdam, Leiden u. |. f. trägt nod) diefen Eharalter, 


Briefe eines Surüdigefehrten 407 


wenn auch daneben Größeres und Eigentümlicheres entftanden 
iſt. Ich weiß nicht, ob ſich die Geſchichtsforſchung ſchon dazu 
berabgelafjen hat, die Stammbäume der ftädtiichen Wohnhäufer 
wiederherzuftellen. Vermutlich würde fie eine intereflante Ab⸗ 
zweigung von den Niederlanden und dem Scheldeland auß nad) 
Südengland Hinüber auf der einen und an der Südküſte der 
Nordſee Hin‘ 618 zur Elbe auf der andern Seite nachweiſen 
fönnen. Wer durch Städte wie Harwich oder Yarmouth an der 
DOftküfte wandert, findet dort das niederländifche Haus bis auf 
Zür, Schwelle und Fenſter wieder und im Innern eine über- 
einftimmende Anordnung der Räume Eine ftarfe Einwanderung 
vom Südufer der Nordjee, die man flandrifch nennt, bat ja bier 
ftattgefunden. 

Ver einen freien Nachmittag in Hamburg bat, jollte nad 
Limeburg ausfliegen. Wenn man in Hamburg die mädhtigfte 
Hanfeftadt Tennen gelernt hat, lohnt es fich, eine der verfallenften 
unter den einft blühenden zu jehen. Welcher Unterichied zwiſchen 
dem jtolzen, ja pompöjen neuen Rathaus Hamburgs und dem 
alten ſchadhaften Rathaus von Lüneburg. Es zeigt, jo maleriſch 
e3 wirkt, den Ziegelbau von feiner Schattenjeite. Auch die mit 
einem jchönen durchbrochnen Yafladenvorbau, Galerie und Bogen- 
pfeilern verjehene Nikolailirche und die Johanniskirche mit ihrer 
Ihönen Flachornamentroſette laſſen erkennen, wie die Vertoitterung 
der Nobziegelbauten einen Kleinlichen, ärmlichen Eindrud hervor⸗ 
bringt. Das aus graufchwarzen Glafurziegeln erbaute Haus in 
der Bardowieler Straße mit Porträtmedaillung fteht noch am 
fejteften da. Lüneburg muß man gejehen haben, um zu begreifen, 
wie Hamburg und Bremen waren, als Deutihland als Seemadht 
und feehandeltreibende8 Land nicht® mehr war, und die alte 
Herrlichkeit buchſtäblich in Stüde ging. 

Ich Habe immer gern die Beziehungen Hamburgs zum 
geiltigen und künſtleriſchen Deutichland verfolgt. Man Tönnte 
die Geſchichte der gefftigen Kultur Englands fchreiben, ohne 
Liverpool in irgend nennensiwertem Maße zu berüdfichtigen. Briftol 
müßte ſchon eher genannt werben. Uber mer kann die Geſchichte 
bed deutichen Geiſtes verftehn, der nicht Hamburgs Stellung in 
der Mufil- und Theatergeſchichte, Hagedorns, Klopftods und 
Leifingd Hamburger Beziehungen kennt. Es hat Zeiten gegeben, 
wo Hamburgs Anteil an der deutfchen Literatur auf ein dünnes 
Büchlein zufammengeichwunden war, dabei hat aber Hamburg 
in aller Stille wiflenfchaftliche Fortichritte gemacht, die feinen 





408 Briefe eines Surädgefehrten 


ftaatlihen Sammlungen und Snftituten eine der erften Stellen 
fihern, und hat fi einen Einfluß auf die Entwicklung der 
Malerei und des Kunſtgewerbes in Deutſchland errungen. Auch 
ſollten Die Hamburger Zeitungen nicht vergefien werben. Deutic- 
land wartet noch immer des Weltblattd, das kommen fol. Einjt- 


Hamburger Nachrichten zu den am beiten redigierten Beitungen 
Deutichlandg gehören. Über den Nachrichten, die, gleich manchem 
andern Blatt ihre Namens, einft das verbreitetfte Haus⸗ und 
Frühſtũckblatt, wichtig vor allem vun feine Familiennachrichten, 
waren, leuchtet augenblidlicdy noch der Schimmer Bismarckiſcher 
Mitarbeiterfchaft. Ich glaube, daß die jolide Dfenwärme bes 
Eingebürgertfeind in den Hamburger Häufern befier vorbalten 
wird als das ſchwankende Scheinwerferlicht von Friedrichsſruh 
her. Der Korreſpondent bat Zeiten gehabt, wo er dem Charakter 
eines Weltblatt8 näher kam als heute, jo 3. B. in der großen 
Zeit von 1870 und 1871. Damals hatte, foviel ich weiß, fein 
andres deutſches Blatt jo ausführliche und gute Korreſpondenzen 
aus rg wie dieſes Hamburger. Es war wahrſcheinlich das 
einzige, das ganz „echte“ Korreſpondenzen aus dem Bordeaux der 
weltgeſchichtlichen Abſtimmung vom 1. März 1872 und ans dem 
belagerten Paris der Kommune hatte. Ein „geriflener” Ham⸗ 
burger, der die Korreipondenzen aus Drten fchrieb, wo damals 
fein Deuticher ungerteaft man möchte jagen unzerriffen verweilen 
konnte, die ebenſo geniale wie naheliegende Idee, die 
ſeltenſte aller Nationalitäten, die der Helgoländer, vorzuichügen, 
womit er jogar bei Engländern Glück Hatte, die ihm fein 
teutoniſches Engliſch verziehen, als er ſich als einer der jeltenften 
Inſulaner unter britiſcher Flagge vorftellte. 

Hamburgs Kunftiammlungen find nach der kunſtgewerblichen 
Seite bin bedeutend. Das Kunftgewerbemujeum hat eine der 
allerichönften japanifchen Sammlungen, die es in Europa gibt. 
Zür Kenner enthält fie in manchen Teilen Beſſeres als das einft 
über Verdienft gerühmte Londoner Kenfingtonmufeum. Sie ftehn 
freilich alle weit Hinter den Boftoner Sammlungen zurüd, wie 
fi) denn überhaupt das Berftändnis für Japanisches in Amerika 
rafcher ausgebreitet hat als in Europa; das beweiſen die japanifchen 
Einflüffe im amerikanischen Kunftgewerbe, die zum Zeil erſt über 
Amerika für Europa wirkſam geworden find. Auch bier in 
Hamburg fieht man fchon bemerkenswerte Wirkungen der mit 
großen, in aller Stille gebrachten Opfern feit noch nicht einem 


Briefe eines Zurückgekehrten 409 


Menichenalter vermehrten Sammlungen. Ich frage mid: Wird 
man fo viel erreichen wie in Amerika und England, wo binter 
den kalten Zügen gleichgiltiger Gefichter eine künftleriiche Leiden- 
ſchaft Lebt, Die fi in Farben ergießt? Ich denke an Turners 
glühende Farbengedichte. Iſt nicht der Hamburger Charakter zu 
bart, zu männlich, als daß fi in Hamburg eine Kunftblüte 
entfalten könnte, wie fie die Niederlande gehabt haben? Die 
ruhmoolle Gejchichte der niederländiichen Freiftaaten kann nicht 
darüber täufchen, daß in der Vollsſeele der Niederländer eine 
Weichheit und Empfindlichkeit lebt, die die Erfinderin der Kunſt 
tiefer Töne und weicher Stimmungen ift, in der die Niederländer 
den andern um zwei Jahrhunderte vorangefchritten find. Für 
den niederländiichen Batrioten liegt die Kehrſeite diefer Fähigkeit 
in der Verweichlihung, die er dem Luxus und der in ben reichen 
Familien getriebnen Anzucht zufchreibt. Es iſt auch ein Stüd 
balbrepublilaniicher Meifterlofigleit dabei. 

Ein geiftvoller Niederländer, Sproß einer Künftlerfamilie, 
jfagte mir: Nous sommes une race effeminse. Daß könnte der 
wabrbeitliebendfte Hamburger von feinen Landsleuten nicht jagen. 
Es gibt wohlgemäftete Männer und Frauen in Hamburg, bes 
ſonders Frauen, die außjehen, ald ob fie hauptſächlich von Milch 
und Rotwein lebten. Aber im allgemeinen ift das ein fräftiges, 
arbeitliebendes Geſchlecht von energifchen Bügen. Die Hamburger 
Kaufmannsſöhne geben ausgezeichnete Soldaten. Es ift da eine 
hochgewachſene, hellblonde Naffe, die in ihren extremen Vertretern 
mit weißblonden Wimpern und fehr blauen Augen faft albinohaft 
ausfieht; das ift die verkörperte Energie. Haͤufiger find Die 
unterjegten Leute, deren breite Schultern ſtarke Laften tragen 
können. Die fpanijch- und portugiefiich-amerilaniihen Miſchungen 
baben auch jehr ſchwarzäugige und dunkelhaarige Hamburger 
und Hamburgerinnen erzeugt, deren Haut einen tropengelblichen, 
wächlernen Charakter Hat. Auf die Gefahr hin, in den „All 
deutichen Blättern“ wegen mangelnder nationaler Gefinnung 
denunziert zu werden, erfläre ich, daß meinem Geſchmacke dieſe 
Sremdlinge und Fremdlinginnen beffer zufagen als die einheimifchen 
Schönheiten. Man denke fi) aber die Hamburger nicht alß eine 
ftolze Batrizierraffe. Der Beſitz und damit die joziale Stellung 
wechjeln bier wie in allen Handelsftädten ungemein raſch. Wenig 
Familien behaupten fich durch Drei Generationen auf derſelben 
Höhe. Außerdem Hat man in den großen Hamburger Familien 
Gelegenheit, diefelbe Beobachtung zu machen wie in ben älteſten 


410 Briefe eines Surüdigefehrten 


Fürſtenhaͤuſern, daß die jahrhimdertelang fortgejepte vortreffliche 
Ernährung und Erziehung, Sorgenfreiheit, Lebenskunſt, feit ges 
gründetes Befihgefühl nicht imftande find, zu verbüten, daß die 
plebeitichiten Gefichter und die jchlotterigften Sammergeftalten von 
ſchönen, forgenfreien Eltern gezeugt und berangezogen werden. 
Es ſpricht fi) darin eine der merkwürdigſten Eigenfchaften des 
Menſchengeſchlechts aus, daß ſich die Natur entichieden ablehnend 
gegen die Bildung einer Dauerariftofratie verhält. Könnten 
Eigenſchaften der Übermenſchen durd Züchtung befeftigt und 
fortgepflangt werden, dann wehe ung andern, Die auß der Maſſe 
des mittlern Bauern-, Bürger- und Beamtenſtands hervorgegangen 
find. Aber die gütige Natur jorgt für ihre Kinder. Zu denen, die 
die Unterjchiede des Befibes und des Standes ihren Nachlommen 
für immer ficherftellen möchten, jagt fie einfach: Ich will nicht. 
Sie macht, dab fürftliche Geftalten und Lönigliche Geifter in 
Bauernhütten geboren werden. Die Nation wäre töricht, Die 
nicht der Natur ihr ausgleichendes Werk erleichtern wollte, indem 
fie alles tut, die Lage der ımtern Klafien zu verbefien. Es 
liegt vielleicht in der beſſern Lebenshaltung der einheimiichen 
Arbeiter — id ſpreche nidht von den importierten, billig 
arbeitenden Slowafen, Polen und Stalienern, die für Den 
Amerilaner gleich Hinter den Chineſen kommen —, die ber 
zweifellojeite Vorzug Amerikas vor Europa if. Sie erzeugt 
Männer und Frauen, deren Geftalt, Gang und Mienen niemand 
die Tagelöhnerarbeit anfieht. Sobald fi ein Weg nad oben 
auftut, find fie bereit, in eine höhere Schicht einzudringen, wo 
fie fi ganz zuhauje fühlen. Ich fürchte allerdings, Daß gerabe 
diefe Schicht an der Unluft, Kinder zu Haben, einft noch früher 
als die Franzoſen zugrunde gehn wird. 


* * 
% 


Die Fahrt von Hamburg nad) Lübed enthüllt nichts Großes, 
nichts Schlagendes. Es ift eben ein beſcheidnes Stüd Land, 
etwas aus der Voſſiſchen Luife, den Idyllen Storms und Geibels, 
ein beichauliches, friedfamed Stüd Erde, das übrigens in der 
Heide der jchleswigfchen Höhenrüden und überall, wo daß Meer 
bereinichaut, auch größere Züge hat. Fernow, ein Bewundrer 
klaſſiſcher Landichaft aus dem Weimariſchen Kreife zu Goethes 
Beiten, fagte kecklich von der niederländiichen Natur, in dieſen 
flachen Gegenden herrſche Weiz und Schönheit, Doch ſei bie 


Briefe eines Zurückgekehrten 411 


Schönheit keine hohe, und Größe finde ſich gar nicht darin. 
Die Größe der Düne, des Meeres und des hohen Himmels, wie 
ſie Rembrandt auf dem Bilde Haarlem (im Haag) zeigt, galt 
alſo nicht neben der gewaltſamen Größe der ſchroffen Gebirge 
oder den ſtilvollen Kegeln und Wölbungen der Albaner Berge. 
Das war die Zeit, wo man in der Landſchaft Fülle mit Größe 
verwechſelte. Ein erſt nur halb entwickeltes Schönheitsgefühl 
vergnügte fi) an der genrehaften Staffage, ohne die fein Land⸗ 
ſchaftsbild auch nur des Anblicks wert zu fein jchien. Dagegen 
ſchlummerte noch tief da8 Gefühl fir das Große und Schöne in 
der Einfachheit. Je niedriger das Land, defto höher der Himmel, 
deito mehr blaue Luft, Sonne, mäcdhtigere, freiere Wollengebilde; 
das war eine unentdedte Wahrheit. Übrigens reicht ein Gang 
durch die deutichen Gemäldefammlungen hin, zu erfennen, daß 
die landfchaftlichen Reize des norddeutichen Tieflands auch heute 
noch lange nicht genug künſtleriſch verwertet find. Es ift weit 
dahin, bis man fagen kann, fie ſeien ausgeſchöpft. Es iſt noch 
keiner dageweſen, der ſich die Abend- und Nachtſtimmungen, wo 
jede Einzelheit vor dem weiten, tiefen Horizonte wie abgelöft 
fteht und fich wunderbare Farbentöne von dunkelrot bis hell- 
grünlichgelb und mildhweiß auf der hohen Wand des Himmels 
milchen, fo zum Ziele feiner Darftellung gemacht hätte, wie drei 
Generationen von Künftlern aller Nationen, die die Alpen, das 
Mittelgebirge und fogar den Apennin gemalt und wieder gemalt 
haben. In Hamburg erfreuen fich die Werke der Worpäweder 
und einiger holſteiniſcher Künftler, die dieſes anftreben, großer 
Teilnahme, auch praftiicher d. h. zahlender, wie ich zu meiner 
Freude in den Häufern Eunftliebender Privatleute wahrnahm. 


% % 
* 


Lübeck hat im höchſten Grade die Eigenſchaften der echten 
alten Hanſeſtäͤdte, neben denen Hamburg nur ein Emporkömmling 
üt, allerdingd einer, dem es ſehr geglüdt iſt. Lübeck ijt eine 
geſchloſſene Eriftenz, die ehrmürdiges Alter mit einigen Spuren 
des Rückgangs verbindet, unter denen aber noch immer ein 
Strom ruhiger WVeiterentwidlung, wenn auch in behaglicher Enge, 
weitergeht. Eine gefunde Verbindung, die mohltuend anmutet. 
Welch erfreuliches Bild, wenn man aus dem Bahnhof tritt und 
übel wie eine turmreiche Inſel vor jich Liegen fieht, im Flach⸗ 
fand zwar und ſchon am Süßwafler, aber doch ſchon eine echte 


412 Briefe eines Surädigelchrten 


Küftenftadt in der Schiffe maftenreichem Wald, beherrſcht von 
feinem dunkelbraunen Dom, der, wie der ganze Marktplatz, höher 
als die übrige Stadt liegt. Das bebeutendite Denkmal ift jeden⸗ 
fall daS im wahren Wortfinn unvergleidhlide Rathaus aus 
dunkeln, ſchwärzlich wirlenden, glafierten Biegeln, die in der 
Miihung mit roten den durch Maſſe und fchöne Berhältniffe 
außgezeichneten Bau wie einen dunkelgeharniſchten Ritter hin⸗ 
ftelen.. Dabei find aber die Außentreppen, die verbindenden 
Bogengänge mit Galerien und die Türmchen böchft lebendig. 
Und im Innern zeugt die gefchnigte Stube von der Pracht, die 
in der wehrbaften Stadt ohne. Unter den Kirchen ift ber 
Dom mit feinen Türmen im Übergangsftil etwas jchwer, um jo 
leichter Schwingen fich die ſchmalen Hallen der Marienlirche zur 
Höhe, vor allem aber da Chor. Es ift fein Mangel an Metall 
in dieſem Gotteshaufe. Der Proteftantigmug zieht fonft vor, 
das Metall im Beutel zu behalten. Hier ift es freigebig ver- 
wandte. Die Kanzel gleicht einer Art von Salramentshäuschen, 
ift höchft bewegt, jeden Pfeiler zieren Botivbilder und Fahnen. 
Die Petrilirche ſendet den ſchlankſten Turm empor, ben vier 
Edtürmchen flanlieren. Es kommen auch zierlich durchbrocne 
Türmchen auf dem Hauptſchiff vor. Aber den Eindruck des 
Rathauſes und des Holſtentores erreicht keiner von dieſen 
Tempeln. Man kann an den Privathäuſern lernen, wie gut 
fich der Ziegelbau dem räumlich anſpruchsloſen Profanbau anpaßt, 
der mit dem Wechſel roter und gelber Steine einen warmen, 
heitern Ton erzielt, offne Loggien anwendet und in gebrannten 
Drnamenten nad) Art des Wismarer Fürftenhofs fchwelgt. Das 
berühmte Schifferhaus zeigt und das ftinnmungsvolle Düfter eineß 
Hausinnen. Um lange Tiſche behagliche Bänke, die Räume 
durch halbhohe dunkle geſchnitzte Wände geichieden. Schiffemodelle 
und erbeutete Korjarenwaffen zieren Dede und Wände. 

In der Stille diefer wundervollen Stadt, von deren Wällen 
man auf eine lachende Landſchaft von Wieſen, Feldern, Wäldern 
und bligenden Seen und Flußichlingen hinaus und hinab ſchaut, 
find namhafte Menſchen geboren. Geibel ſteht kühn in ben 
Mantel drapiert da, genau fo, wie man ihn einft in Münden 
dabinfchreiten ſah. Der Hiftoriler Curtius ift eine jeinem be= 
rühmtern Freunde und Landsmann feelenverwandte Natur ges 
weien: mehr anempfindend als ſchöpferiſch. hochgefinnt, ber Phraſe 
zuzeiten nicht abhold, im ganzen eine höchſt wohltuende Erſchei⸗ 
nung. Lübed hat auch Fräftigere, für die hanſeatiſche Diplomatie 


Briefe eines Surüdigefehrten 413 


in alter und in neuer Beit bedeutende Männer geftellt. Der 
Senator Krüger, ein mit der Schöpfung des neuen Reichs eng 
verbundner langjähriger hanſeatiſcher Gejandter in Berlin, war 
ein Lübeder. 


3 


Die waldreichen Mittelgebirge Neuenglands und des nörb- 
lichen Newyork haben vor den deutichen die tiefe Einſamkeit, die 
mannigfaltigere Bulammenfegung des Walde8 und Buſchwerks 
und den Reichtum an ftillen, Haren, waldumrandeten Seen 
voraus, mit denen die Seen des Schwarzwald und der Vogeſen 
und des Böhmerwald nicht zu vergleichen find. Der Harz und 
der Thüringer Wald haben feine Seen, in ihren Wäldern berrichen 
die Fichte und die Tanne über weite Streden hin unbedingt, 
und ihre Ruhe unterbricht ſogar im Winter die Schar der Gäfte, 
die jelbft nur zu oft die Einſamkeit aufftören, die fte fuchen. 
Es ijt aber dennoch ein ganz andrer Genuß, den Harz zu durch⸗ 
wandern, als in den Urwäldern der Adirondad$ zu ftreifen. Wir 
find nun einmal Kulturmenſchen, ob wir in Europa ober in 
Amerila wohnen, und die Würze unferd Naturgenufjes iſt eben 
die Kultur, die die Landichaft eines alten gejchichtlichen Gebiets 
wie mit einem feinen Duft durchdringt, den man nicht immer 
genau beitimmen kann, deſſen Fehlen aber bald ein Gefühl der 
Entbehrung erwedt. Der geſchichtliche Hauch, der durch alle 
unfre Lande weht und in jedem Dorfe und um jedes alte Ge⸗ 
mäuer webt, macht uns alle zu Ariftofraten. Er erinnert ung 
Daran, wie alt wir als Volk auf diefem Boden find, deflen Mit- 
befiber wir und nennen können, wie unfre Väter deffen Mit- 
eriwerber waren. Es quillt ein warmes Gefühl der Beheimatung 
Daraus bervor. Wielleicht hat der Fremdgewordne, wenn er in 
den Bann diefer Erinnerungen zurüdfehrt, eine feinere Unter: 
fheidung dafür. Jedenfalls find die gefchichtlichen Stätten aus der 
Beit der jächfiichen Kaifer die Leuchtenditen Erinnerungen meiner 
Harzmwanderung. 

Was an der Harzlandichaft Natur ift, das iſt ja echt deutſch, 
weil eben ein gut Stüd deutſche Kulturarbeit darin ſteckt. 
Nicht der Wald an fi}, fondern der ſchön gepflegte Wald, den 
nicht einmal der uralte Bergbau de Oberharzed in fo häßlicher, 
rein zeritörender Weiſe gelichtet Hat, wie bei uns drüben ber 
unerjättliche wmälderfreffende Holzhandel, ift der Schmud des 
Harzes. Wo die mit faftigem Graſe bewachſenen Lichtungen an 


414 Briefe eines Surüdgefehrten 


den Bächen Hin in dieſen dunkeln Harzwald hineinziehen, ent⸗ 
ftehn überall die jchönften Gegenfäge der Lage und ber Farbe. 
Die Bevöllerung des innern Harzes ift arm, aber ihre Dörfer 
find reinlih und gut gehalten. Und unter den größern Orten 
des Harzranded gibt es mande, jo freundliche altertümliche 
Städtchen, wie Wernigerode mit feinem ragenden Schloß, und 
jo modern blühende, wie Harzburg, die Stadt der Gafthäufer 
und der Penfionen. Alle diefe Randftädte haben irgendein eigen- 
tümliche8 Verhältnis zu der Natur: einft fuchten fie in ihr Schuß, 
heute begünftigt dasſelbe Verhältnis ihre Entwidlung zu viel- 
beſuchten Sommerfriihen. Die wilden Felſenmeere von Schierte, 
die Granitblöde des Brodens, die wundervoll leuchtenden Moos⸗ 
politer auf den Felſen der braunen murmelnden WWalbbädhe, 
das Brodengeipenft: das. find ja Dinge der Natur; aber es find 
wilde Gewächſe im Garten der Kulturlandichaft, die bei der 
fichtenden Arbeit ftehn geblieben find. Sie hauchen einen Träf- 
tigen Duft hinein. Man follte fie nicht ausgehn laſſen, es iſt 
für manche von ihnen ohnehin Gefahr, dab fie ganz verbrängt 
werden und das Schidfal teilen De8 Bären und des Luchjes, deren 
alte Knochen man mit Staunen aus Höhlen berträgt, oder der 
Eibe, "deren dunfelbraun gewordne Stämme in der Tiefe der 
Moore ruhn. 

Es ift ein tröftlicher Gedanke, daß nicht ganz jo ausge⸗ 
ftorben die Gejchlechter der Menſchen find, die einft hier ruhmvoll 
walteten. Die Leiber der alten Welfenherzöge und der Sadjien- 
faifer modern in den Grüften von Braunfchweig. Magdeburg, 
Queblinburg, aber e8 ift fiher, daß mancher Teil ihres Blutes 
in der Fette der Generationen bis in das Geſchlecht der Jetzt⸗ 
lebenden herabgelangt ift. Ich habe nicht die geringfte Reigung, 
darüber genealogifche Studien anzuftellen, die ich unter den über- 
flüffigen zu den unnübeften rechne. Ich ſehe mich vielmehr 
unter den Menſchen um, die bier wandeln und Handeln, und 
da finde ich Tatkraft und Zähigleit, die aus Zügen fprechen, Die 
vielfach den Zügen jener Alten, Großen gleichen. Bejonders 
Dtto der Große, der auch nad) feiner äußern Ericheinung am 
beiten gelannte unter den fjächftichen Kaifern, bat jo manchen 
lebendigen Vertreter unter den Yörftern oder ben Huſaren⸗ 
majoren, aber auch unter den Holzfällern von heute. Wohl ift 
halbſlawiſches Blut auch in die Harzlande gebrungen und bat 
breite ausdrudslofe Gefichter mit demütigen Mienen erzeugt, die 
übrigend von alterö ber unter Eriegögefangnen Sklaven erblich 


Briefe eines Surädigefehrten 415 


fein konnten. Aber ich glaube gerade auf diefem Boden nicht an 
Ammons Lehre von dem notwendigen Ausfterben der herrichenden 
Klaſſe und ihrem Erfah durch auffteigende niedere Schichten von 
niedrigen Anlagen. Mehr noch im weftlichen Niederjachien, be⸗ 
ſonders in Weftfalen, als bier jehe ich ein Volk von Herrſcher⸗ 
geftalten, das ſogar in den AInduftriegebieten nicht entartet ift. 
Ammons Lehre ift in Baden entftanden, wo feit mehr als zwei⸗ 
taufend Jahren Kelten und Römer mit Germanen gemifcht find. 
Bielleicht hat and) Die in demſelben bevorzugten Winkel Deutich- 
lands heimiſche Bildungs- und Parteiproßerei dieſes anthro⸗ 
pologifch-politifche Gewachs begünftigt. 

Die Verteilung der Brennpunkte der deutſchen Geſchichte hat 
über ſo viele Landſchaften ein Dämmerlicht großer Erinnerungen 
ausgegoſſen, daß man ſagen kann, der deutſche Boden ſei von 
einem Ende bis zum andern geſchichtlich durchgearbeitet. Der 
Unterſchied von den geſchichtlichen Landſchaften Weſteuropas liegt 
hauptſachlich in dem raſchen Wechſel der Schauplätze und dem 
Mangel eines alten Macht⸗ und Kulturmittelpunkts: keine große 
Kulturquelle, aber viele kleinen, die in ihrer Art doch wieder groß 
ſind. Manche der bedeutendſten Erinnerungen liegen auch ſo weit 
zurück, daß fie jahrhundertelang faſt vergeſfſen waren. So die 
ber ſaͤchſiſchen Kaiſer in den Landen um den Harz von der Unſtrut 

is zur Oder. 

Verſetzen wir uns einmal an die mittlere Unitrut. Da 
haut Memleben, die alte ſächſiſche Kaiſerpfalz, mit jatt rötlich- 
braunen Farben an Häujern und Dächern und an dem ernften 
maffigen Duadratturm feiner Kirche aus dem Grün der Obſt⸗ 
gärten und über bie begraften Ufer der Unſtrut ber, die hart 
an dem Gartenrande des dorfartigen Fleckens hinmurmelt. Bon 
oben blidt ein auch noch jeht dichtbewaldeter rundlicher Berg⸗ 
rüden herein. Ein Unftrutlahn „vor Anker“ zeigt, daß Mem⸗ 
leben noch nicht ganz verkehrlos if. Bon der Pfalz ftehn noch 
ein paar Pfeilerrefte, und von dem Klofter, daS bart Daneben 
lag, ein Stüd Gewölbe. Nur die Bietät wirb bei dieſen Reſten 
verweilen. Der alte Ort hat im übrigen nichts Hiſtoriſches an 
fi. Die einfache Landkirche mit ihrem feiten Turm ift aber 
wenigftend nicht Heinlich wie jo viele. Und wenn am „Wblaß- 
tag,” am erften Sonntag Trinitatid, Memleben feine Kirchweih 
feiert, da tanzen die jungen Leute unter der Linde und den 
Raftanienbäumen, daß man den Kirchhof, einen fchönen Garten 
um die Kirche, ganz vergißt und nur der Lebenden gedenlt. 





416 Briefe eines Surüdgefehrten 


Vom oftwärtd gewandten Söller des Mloftergartens überſieht 
man die Schlangenwindungen der Unftrut, hat unmittelbar vor 
fi den auch Heute nur einen ſtarken Büchſenſchuß vom Bau 
entfernten Wald der Finne, einen hochftämmigen dichten Laubwald, 
der auch im Dften den Horizont abſchließt, und im Rorben einen 
niedrigen, geradlinig abjchneidenden Zug, der oben mit Nabelholz 
bewaldet, unten in ftärlerm Maße als die Sinne in Ader und 
Wieſen verwandelt ift. Bon der Pfalz aus muß man den Wendel⸗ 
ftein mit feinen in mächtigen Mauern erhaltnen Befeitigungen 
vor ſich gehabt Haben. Das alles zujammen war eine Kultur⸗ 
oaſe und ift heute eine Hiftoriiche Landichaft. Der Name Großes 
Nieth, den die ganz ebnen Unftrutniederungen zwifchen Artern 
und Memleben führen — Memleben liegt gerade auf dem er- 
höhten Rande diejer Niederung, an den fi die Unftrut hin⸗ 
drängt — fcheint darauf zu deuten, Daß hier eine weite fumpfige 
Ebene zur Außtrodnung und zur Wiejemvirtichaft einlub; bier 
konnte aljo die Arbeit des Eindringens in den Wald geipart werben. 
Kreuzt man die Unftrut auf der aus der Pfalz berausführenden 
Heubrüde, fo gebt man auf einem breiten Damm am linken Ufer 
bes Fluſſes bis zum Fuße des Gipsfelſens, auf dem Wendelftein 
in impojanten Trümmern Liegt. Dieſer Damm ſchützt den öft- 
lichen, Memlebner Teil ded Rieths vor Überſchwemmung und 
bot zugleich die notwendige Verbindung mit der Burg auf dem 
Wenbelftein, die wir und als die militärtihe Ergänzung der 
Raiferpfalz denken müffen. 

Wie einfam es trobdem in dem vom Verkehr entleguen, 
als Sadgaffe im Wendenland endigenden Tal geweſen fein muß, 
zeigt die Tatfache, daß Memleben immer Dorf blieb, und wenn 
es auch Refidenz war, immer nur Bauern außerhalb der Pfalz 
beherbergt hat. Auch als der Verkehr wuchs, gingen feine großen 
Linien in diefem Gebiete nicht im Unftruttal, jondern Erfurt 
und Nordhauſen bezeichnen die Hauptwege. Was war e8 im Damals 
noch menjchenarmen Deutichland, daß einen welterfahrnen Herricher 
wie Kaiſer Dtto den Erften in diefe Waldeinjamkeit 309g? Er, der 
in Rom refidieren konnte, zog ein Kleines Sagdichlößchen in einem 
der walbreichiten Gebiete Deutſchlands vor. Er war alfo fein 
Städtemenich, fondern es lebte etwas von der altgermanifchen 
Naturliebe und ein Wunſch zu der Selbftändigfeit in ihm, Deren 
Nahrung die Einſamkeit ift. Noch heute tft Die Lage von Mem⸗ 
leben friedfam umbegt und ummallt; friedlich find auch Die rund⸗ 
lichen, langgezognen Umrifje feiner Berge. Wenn der Kaiſer 


Briefe eines Zurückgekehrten 417 


an einem Yrühlingsabend des Jahres 973 — von dem wir 
zufällig wiffen, daß er bier weilte — nad Weſten jchaute und 
die walddunkeln Berge, die heute die Hohe Schred heißen, pur- 
purn durchleuchtet und den Unjtrutipiegel in Gold verwandelt 
jah, mochte er ſich ſelbſt auch wohlig eingehegt fühlen. Da trat 
wohl ein Rudel Hiriche, an der Spite ein Sechzehnender, aus 
dem Walde gegenüber der Pfalz und Afte das junge Grün bes 
noch jchmalen Wiejenfjaumd. Und aus dem Forjte Hörte man 
Raute, die heute verjtummt find, Stimmen des Bären, des Luchſes 
oder des Wilent. 

Kaiſer Ottos Leiche wurde nah) Magdeburg gebradht, wo 
fie im Dome ruht. Aus der Waldeinjamkeit in die Stabt an der 
großen Heerjtraße, vom Ufer des Heinen Buffuffes an den mäch⸗ 
tigen Strom! Damald war Magdeburg eine junge Stabt, von 
ber vielleicht nichts als das hohe Schiff des Doms mit feinem 
maffigen romaniſchen Turm über die Mauern bervorragte. Aber 
fie war einer der geſchichtlichen Mittelpunkte, zeitweilig der Aus⸗ 
ſtrahlungspunkt weltgejchichtlicher Wirkungen. Heute denken viele, 
die den Namen des altberühmten Magdeburg nennen hören, 
nur an Zuder, Mafchinen und Elbſchiffahrt. Magdeburg gilt 
nicht für eine Stadt von dem gefchichtlihen Range Kölns ober 
Lübecks. Und doch fteht feine gejchichtliche Bedeutung nicht bloß 
in den Urkunden, jondern ſpricht fi) in feiner ganzen Er- 
ſcheinung aus. Viele fahren an Magdeburg vorbei, als ob es 
ein Häufermeer gleich allen andern wäre. Uber die paar Jahr⸗ 
hunderte, um die die niederjächfiichen Städte früher als die oft- 
elbiihen von den großen geichichtlicden Bewegungen Süd⸗ und 
Weſteuropas ergriffen worden find, haben auch hier ihre Spuren 
gelafien. Bon dem Hauch geichichtlicher Größe um den Dom 
zu Magdeburg oder das altehriwürdige Kaifer- Dito- Denkmal 
auf dem Magdeburger Ultmarkt haben Leipzig, Dresden und 
Berlin nicht. Nur an ber baltiichen Küfte ift dieſer Abftand 
nicht jo Deutlich, weil von Lübeck bis Marienburg die Trieblraft 
folonialer Entwidlung in dem einzigen dreizehnten Sahrhundert 
unglaublich viel nachgeholt bat. Magdeburg iſt rei an Türmen. 
Der Dom ragt ſchon mit feinem Schiffe jo mächtig hervor, wie 
nur ein Bau aus einer Zeit, bie ihr Größtes einzig in den 
Kirchenbau legte. Außerdem ift fein Zurmpaar eine bebeutende 
Erſcheinung. Ziel altertümlicder find die zylindriſch ſpitzdachigen 
Türme der Marienkirche mit dem echt nieberfächfiich-romanifchen 
giebelartig hoben, einfachen und doch nicht unzierfichen Nitelbau. 

Nayel, Blüädsinfeln und Träume 








418 Briefe eines Surüdgefehrten 





Wenig hat die alte Stadt aus den ſpätern Jahrhunderten auf- 
zuweilen, aber die Mauern der alten Zitadelle, die das 
Elbufer überhöhen, erzählen von der hohen Stellung Magde- 
burgs als Feitung in der preußilchen Zeit. Endlich der rege 
Schiffsverkehr auf dem Strom und an den Länden; die langen 
Linien der Lagerhäufer zeigen und die Bedeutung Magdeburgs 
als Hauptſtadt des Verkehrs auf der mittlern Elbe. Wenn man, 
aus diejem Treiben Hinaufichauend, hinter den Bäumen des Dom- 
platzes das maſſige hohe Turmpaar des Doms mit feinen zadigen 
Kanten auftauchen fieht, jo nahe an dem Strome, wie der Dom 
von Köln am Rheine oder der Frankfurter Dom am Wain, 
vermilcht ſich Die Erinnerung an die große Vergangenheit Magbe- 
burgs mit den Eindrüden des pulfierenden Lebend. Der Strom 
verbindet Wite8 und Neue. Diefe Lage des Doms beutet den 
engen Zuſammenhang einftiger und jebiger Blüte mit dem Strome 
an. Man könnte das fi) weiter oben anreihende, übrigend mit 
Magdeburg eng zulammenhängende Budau mit feinen Fabrifen 
und ftaubigen Ladeplätzen als eine vierte Art von Biftoriicher 
Landſchaft, ala die induftrielle neben den Elbuferlandichaften 
der alten Stadt, der Zitadelle und der Tampficiffländen be= 
zeichnen. 

Magdeburg: Straßen durdflutet ein beivegtes Geichäfts- 
treiben; aber der Eindrud der Stadt wird nicht in dem Maße 
davon beherrſcht wie der Leipzig oder Halle, Er behält mehr 
Altes, Edle. Aus der modernifierten, lebhaften Regierungs⸗ 
ftraße, die aus alter Zeit wejentlid nur die Enge bewahrt hat, 
tritt man in den Kreuzgang des Klofterd zu Unſrer lieben Frau, 
eines der zierlihen, bei aller Strenge phantafiereichen Werte 
des romanischen Stiß. Heute umgibt er einen grünen Raſen 
mit blühendem Gebüſch. Eichen, Birken und Weiden ſchauen 
in die Kleinen, fäulengeteilten Rundbogenfenfter. Es ift eine wohl- 
tuende Stätte des Friedens. Wie fie reinigend auf und wirkt, 
bezeugt fie die tiefe Berechtigung dieſer Werke der Weltflucht, 
die jo lange bleiben wird, als fich menjchliche Herzen vom öden 
Alltagstreiben abwenden. Ich muß in diefen Hallen an Mem- 
lebens Kaiſerpfalz und ftillen Kloſtergarten denken. 

Wenn man über die preußiſche Grenze aus Sachſen ober 
Anhalt fommt, empfängt man überall und immer den Eindnud 
eines ftarf in die Peripherie hinauswirkenden Staats, der fein 
toter Begriff, jondern ein höchſt Iebendiged Weſen ift. Nicht die 
Soldaten, die auf dem Domplap Stechſchritt üben, aud nicht 


Briefe eines Surüdigefehrten 419 


die zahlreichen Nuhmestafeln an der Nordwand des Doms, worauf 
Die Namen der Gefallnen der Feldzüge feit 1813 in langen 
Reihen verzeichnet find, nicht einmal Die anſpruchsvollen Poſaunen⸗ 
engel, die am ouvernementögebäude den ſchwarzen Adler halten, 
wozu fie ein Duett blafen, das nicht ſehr beicheiden zu fein 
fcheint, erinnerten mich in Magdeburg daran, jondern der ganze 
Gang der offiziellen Maſchine. Beftimmt wenn auch kurz, 
ftramm wenn auch barſch, ordentlich wenn auch nüchtern: es 
tut nicht unbedingt wohl, aber es erziwingt Achtung. Ich rechne 
zu den Spuren der preußifchen Regierungskunſt auch eine jo 
eigentümliche Erſcheinung wie dad von Schinkel entworfne Ge⸗ 
jellichaftshaus auf dem Hügel zwiichen Magdeburg und Budan, 
wo einjt Kloſter Bergen ftand, nnd ſich jebt die ſchönen Anlagen 
des Friedrich⸗Wilhelmparks zur Elbe Hinabziehn. Es ift doch 
entichieben preußifche Kunft in dieſem nüchternen aber korrekten 
und fogar fteifsebeln Aufbau griechiicher Säulen. Sogar die 
Bergnügungen der Bürger, Bürgerinnen und fünftigen Bürger 
von Magdeburg jollen unter veredelnden, vom Staate weiſe und 
großmütig verordneten Einflüffen vonftatten gehn. Das Gebäude 
mag etwas biedermeierifch ausjehen, aber es ift Doch ein ſchönes 
Denkmal und erjeßt reichlich die Königs⸗ und Feldherrndentmäler, 
die merfwürdigerweije in dieſer Friegeriichen Stadt vor kurzem 
noch gänzlich fehlten. Welche Erleichterung! 

Landſchaftlich wird die Elbe unterhalb Dresden? und zur 
Not noch Meißens noch weniger gewürdigt als nad) ihrem ge⸗ 
Ichichtlichen Wert. Man tut fie als die gelbe Elbe, als die trübe 
Elbe ab. Ich möchte wohl, wenn es möglich wäre, die Sta- 
tiftif der Nheinreifenden mit der Statiftif der Elbreilenden ver- 
gleihen. Es würde fi) ein Unterfchied herausftellen, der ganz 
außer Verhältuis fteht zu dem äfthetiichen Vorzug der flad)- 
rüdigen Nheinberge vor den ebnen Auen des Elblaufs unter- 
halb der meißniichen Berge. Die Bevorzugung der Rheinland- 
ſchaft Hat viele gute Gründe, ift aber weit übertrieben. Ich 
rechne beſonders die fchönen Parklandichaften der Elbauen im 
Anhaltiihen, wo die jchönften Eichen-, Ulmen- und Schwarz⸗ 
pappelgruppen auf den grünen Uferwiejen ftehn, zum landichaft- 
lich Anziehendſten Mitteldeutichlande. An Türmen, Schlöfjern 
und alten ummauerten Städtchen ift gewiß der Rhein reicher. 
Aber ich möchte mwenigftend an einen alten Turm an der an» 
haltiſchen Elbe erinnern, der ein biftoriiche8 Denkmal eriten 
Ranges ift. Ich meine den BZollturm von Roßlau. Man kann 

. 27” 


420 Briefe eines Surüdgefehrten 


biefen Hoßigen alten Elbzollturm, den jeßt ein lieblicher Wirts⸗ 
garten umgibt, nit anjehen, ohne der Zeiten zu gedenken, Ivo 
bier eine wahre und wirklide BZollgrenze die Elbe 
Inſofern ift das eine bedeutfame Stelle. Als dieje Linie nach 
vielen Mühen vom Zollverein durchrifien wurde, gewann Deutich- 
land feinen Elbftrom ganz und ungetrennt zurüd und damit 
eins der wichtigiten Organe feines innern Verkehrs. Die Blüte 
Hamburgs und Magdeburgs, der feitere wirtſchaftliche Anſchluß 
davon. 


Sachſens an Norddeutſchland waren die nächſte Yolge 


Der Kampf um den Elbzoll war aud ein Kampf für deutſche 
Einheit. 

Die Kunftblüte auß der Zeit der Größe der jächfiichen Kaiſer 
bat fich weiter im Weften entfaltet. Der Elbſtrom war damals 
no zu fehr Grenzſtrom zwiſchen Deutihen und Slawen, 
Magdeburg nicht Mittelpuntt der Beherrſchung, ſondern Aus- 
gangspunft der Eroberung, Milfion und Kolonijation umd zur 
Not ein fefter Plab zur Dedung. Nah dem Harz zu, deſſen 
Erzreihtum eben damald neu erlannt wurde, und nad ben 
nordweftdeutichen Verkehrsgebieten zu "liegen bie Kleinodien der 
nieberfächfiichen Bau⸗ und Bildnerkunſt aus den eriten Jahr⸗ 
hunderten unſers Jahrtauſends. Während Deutjchland fonft in 
wenig Gebieten eine durch Jahrhunderte hindurch umunter- 
brochne Entwicklung aufweiit, jehen wir bier an die romaniſche 
Kunft der Kaiſerzeit fi die jüngere Kunft der Blütezeit bes 
Bürgertumd anreihen, an die Paläfte die Natd- und die Bürger- 
Häufer. Daher der Reichtum an Dentmälern, die fi) auf ſechs 
Sahrhunderte verteilen. Gleich die alte Kaiferftadt Goslar fl 
jo reih an Baubentmälern und Dentmälern alter Sitte umd 
Lebensanſchauung, beſonders aud in den prädtigen Haus— 
injchriften, wie wenig andre niederdeutiche Städte (Einige von 
jeinen Fachwerkbauten gehören zu den beften ihrer Art. Seinem 
Marktbrunnen hat keine Stadt von diefer Größe etwas an bie 
Seite zu ftellen. Und dazu kommt nun das Kaiferhaus, dieſer 
große romanische Profanbau, deſſen Lage über der Stadt mit 
bem Blid in den Harz man der Beachtung jener Furzfichtigen 
Leute empfehlen darf, die den Sinn für das landſchaftlich 
Schöne ober Große zu einer Entdedung des legten Jahrhunderts 
ftempeln wollen. Goslar hat es mehr ald andre Städte dieſes 
Gebiets verftanden, fi) originelle Mauertürme, hübſche Stüde 
der Stadtmauer, die fie einft verband, dazu mächtige Tortürme 
zu erhalten. Man bat die alten Refte den neuen Bebürfniffen 





TUT 


vr. u; za vs ve .. 


Briefe eines Surfdigefehrten 421 


Tiebevoll angepaßt, was freilich leichter war in der verhältnis- 
mäßigen Ruhe, in die die alte Kaiſer- und Bergwerksſftadt ſchon 
lange zurüdgejunfen ift. Die Abtragung de Domd in den zivan- 
ziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts war ein ſtarkes Stüd 
felbftgerechter Biebermeierei, bei dem man es glüdlichermweije ges 
laſſen hat, nachdem die eingefchlummerte Pietät für die Werke 
der Väter einmal wachgerüttelt war. Ich muß leider befennen, 
daß mich die einft beivunderten Fresken auß der deutichen Ge⸗ 
ſchichte im wiederhergeftellten Kaiſerhaus als eine nicht geringere, 
wenn auch befler gemeinte Geichmadlofigleit angemutet haben. 
Was haben moderne Bilder, die immer zum Teil QTendenzbilder 
fein werden, an den alten Mauern zu tun, die an fidh fchon 
berebt genug find? 

Duedlindurg tft eine echt dentſche behagliche Stadt, die, 
man muß daß gleich Hinzufeßen, nie von einem großen Brande 
heimgeſucht worden ift. Jetzt eben fängt fie an, ftärler über 
ihre Mauern binaußzuquellen, und da wird denn auch die Er- 
neuerung im Innern ftärfere Schritte machen. Es find aber 
noch ganze Straßen in ihrer alten Enge umd mit ihren Fach⸗ 
werfgiebelhäufern erhalten. Die Häufer find einfach gehalten, zu 
den ftolzeften gehört noch das Geburtshaus Klopſtocks mit feinem 
auf zwei Säulen ruhenden Erler. Aber fie fehen ſauber und 
behaglich aus. Das Fachwerk gibt jedem Haufe etiwad Leb- 
bafte8 und Schmuckes und einen Halt. Es iſt die einfachite 
und natürlichfte Art von Verzierung. Der Schloßplag und feine 
Linden, unter deren Dach ſchon der Knabe Klopftod geipielt 
bat, und mehr noch der engere Hof zwiſchen Dom und Schloß 
find ftimmungsvolle Räume, altitädtiich klein, aber behaglich. 
Diefe Städte haben ja alle nicht den Raum für große Pläpe. 
Wie wohltuend find die Formen des Doms, die zierlichen Ge⸗ 
fimfe, Bogenreihen, die Frieſe voll Ungeheuern und die formen 
reihen Kapitäle der rundbogigen Fenjter! Uber wie fchade, daß 
der Platz, der den einzigen ganz freien Blid über Stadt und 
Harz bietet, nach der Stadt Hin mit Gärten bejegt und durch 
®itter abgeiperrt ift. Eine Vordrängung des Privatbefihes, die 
nicht geduldet werden ſollte. Quedlinburg ift eine berühmte 
Sartenftadt geworden, aber feine Anlagen find noch mäßig. Es 
wäre aller Grund, mehr darauf zu verwenden, ehe die fchänften 
Bläbe in Aderfelder umgewandelt werden. Der Befiß eines 
Ihönen waldartigen Parks in der Nähe der Stadt kann den 
Wunſch nicht entfräften, die erhöhten Punkte um die Stadt, Die 


422 Briefe eines Zurückgekehrten 


die ſchönſten Blide auf diefe und den Harz bieten, zum Zeil als 
Ausfihtspuntte feitzuhalten. Es ift zuzugeben, Daß viele deutiche 
Städte hinreichend für grüne Erholungsplätze in unmittelbarer 
Nähe gejorgt haben. Ya, ed gehört das Heranreichen des 
Waldes an die Städte zu dem Gharakteriftiichiten in der Phy⸗ 
fiognomie des heutigen Deutſchlands. Aber man hat in ſolchen 
raſch gewachſenen Städten wie Magdeburg oder Leipzig nicht 
Hinreichend dem Erholungsbedürfnis der raſch zunehmenden Be⸗ 
völferung in der Nähe und auf allen Seiten Rechnung getragen. 
Immerhin find aud in Ddiefer Beziehung die deutſchen Städte 
den amerilanifchen und den engliichen weit voraus. 

Halberftadt mit feinen maleriſchen Türmen liegt noch ganz 
in der Ebene, um fo weiter ift Die merkwürdig zufammengedrängte 
Gruppe der jchlanfen Turmpaare des Doms und der Liebfrauen- 
kirche ſichtbar. Da Halberſtadts trefjliche Lage und reiche Umgebung 
es auch in unfrer Zeit wieder zu einem blühenden Mittelpunlt 
erhoben haben, bat fiy um den Kern fchöner Fachwerkhäuſer 
und um das maleriihe Rathaus eine moderne Stadt gebildet, 
deren Kern bezeichnenderweije der ziemlich weit abliegende Bahn⸗ 
bof il. Das Ummälzende des Eifenbahnbaus bat mir in viel 
draftifcherer Weiſe das nahe Sangerhaufen gezeigt, wo der Bahn- 
hof gerade neben den alten Friedhof gelegt worden ift, durch den 
nun die neue Bahnhofitraße erhöht mitten hindurchführt. Der 
Friedhof ift verlaffen, er wird ſich allmählid in eine öffentliche 
Anlage verwandeln. Dan fieht, wie dad Antlitz der Stadt um⸗ 
gervandt worden if. Man betritt fie jebt von Hinten. Daher 
der merkwürdige Gegenjab der hoben Neubauten am Bahnhof zu 
den Heinen Häuschen dahinter. Erſt nad) diefen folgt der Markt, 
der alle Anzeichen des Mittelpunktes einer Heinen Stadt trägt. 

Hildesheim wird dag niederdeutiche Nürnberg genammt. Ich 
finde Diele Bezeichnung ganz ungeeignet. Hildesheim iſt ae 
älter und Hat zwei große DBlütezeiten gehabt. Schon für 
einfah Durchwandernden ift die Zahl Hervorragender — 
licher Häuſer in Hildesheim viel größer als in Nürnberg. Kein 
Dürer und kein Viſcher haben Hier gewirkt, aber die Hildes⸗ 
beimer Kunftblüte ragt in dem kirchlichen Werke viel weiter 
zurüd, und die Blüte der Profanarchiteltur in der Renaiffance 
ift viel veicher, bunter; ich möchte jagen, und das Bild liegt in 
der Stadt des taufendjährigen Roſenſtocks nicht weit, Diele Roſe 
bat viel mehr Blätter. Es ift gerade dad Merkwürbige bei 
Hildesheim, daß die Kunſtübung jo um ſich griff, da im ſech⸗ 





Briefe eines Surüdgefehrten 423 


zehnten umd im fiebzehnten Jahrhundert fein Haus gebaut oder 
renoviert worden ift, dem nicht künſtleriſcher Schmud zugefügt 
wurde. Das iſt eins von den diesſeits der n feltnen Beijpielen, 
wo die Baukunſt und die Bildhauerei ald Künfte fein Luxus, 
fondern etwas Selbftverftändliche geworden waren. Nur darin 
erinnert Hildesheim an Nürnberg. Wenn man fieht, wie ſich die 
Kunft dann auch in der Gegenwart wieder aufgerungen bat, umd 
wie weit das neue, nad) dem Bahnhof zu gewachlene Hildesheim 
von der Banalität der modernen Städte entfernt iſt, dann er⸗ 
Icheint und da8 vom alten Biſchof Bernward und feinen Ge- 
führten eingefenlte Samenforn als ein unvergänglided. Die 
Kunft ift einmal an diefem Orte groß geweſen, fie ift e8 wieder 
geworben und wird nie ganz verdorren. Und fo iſt Hildesheim 
für die Kunft geheiligt. Wenn ich zu beitimmen hätte, empfinge 
Hildesheim feinen aus dem jungen Schoß des abiterbenden ver- 
jüngten taujendjährigen Nofenftol zum Siegel und zum Zeichen 
feiner taujendjährigen Kunftblüte. 

Als Deutichamerifaner fühlte ich auf Diefen Stätten den 
ganzen Segen einer alten ruhmreichen Geſchichte. Um diejen 
Segen muß jeder unbornierte Trandatlantifer die Alte Welt be- 
neiden. Und gerade um dieſe Geichichte Traftvoller Herricher, 
die im einzelnen tüchtig zu verwalten und des Ganzen zugleich in 
großem Sinne zu walten gewußt Haben, müßte er eigentlich 
Deutſchland beſonders beneiden. Als BZurüdgelehrter muß ich 
aber auch den Vergleich ziehen zwifchen dem wenigen, was der 
Deutiche aus dieſer großen alten Geichichte macht, und dem vielen, 
wad der Umerilaner aus feinem bißchen Gedichte zu machen 
weiß. ch habe gebildete Mitbejucher der Harzitädte kläglich un⸗ 
willend gefunden. Ich werde darüber Feine pädagogiiche Ab- 
Handlung zum beiten geben, ſondern nur meine Meinung darüber 
ausſprechen, daß die Schule zu viel von Themiftofles und Cäfar, 
zu wenig von Heinrich dem Erften und Otto dem Großen 
jagt, und daß der Kaiſer vollauf Recht Hatte, als er gerade 
an ben Betrieb des Geſchichtsunterrichts an deutichen Schulen 
die beſſernde Hand legen wollte. Der Deutiche, der die Ge⸗ 
Ihichte feines Volkes vernachläffigt, fommt mir wie ein Mann 
vor, der ftatt des edeln alten Weind, den er im Steller bat, 
Krätzer trinkt. 

Wir haben zum Schluß Wolfenbüttel beſucht, die Stadt 
Leſſings. Wie klein iſt hier das achtzehnte Jahrhundert in ſeinen 
Denkmälern. In Wolfenbüttel iſt wohl die alte Bibliothek 





424 Briefe eines Surüdgefehrten 


Leffingd erneuert, und auch fonft find mande Häufer neu er= 
richtet oder aufgejeht worden. Aber es ift Doch im ganzen immer 
nur ein Heiner, enger, bolpriger Eindrud, den da8 Städtchen 
macht. Gemütfich, aber befchränftt. Das Kleine Haus gegenüber 
der Bibliothel, wo Leſſing gewohnt hat, paßt in dieſe alte Stadt 
hinein. Es befteht nur aus einem Erdgeichoß, aber feine Zimmer 
find geräumig, und ihre zopfige Ausſchmückung ift nicht ungefällig. 
Und auf Leifingd Tiſch Hat wohl dasſelbe Grün hereingeleudhtet, 
da8 heute dieſe Dafe in der Wüſte des Schloßplatzes fo freund- 
lich madt. Das erleichtert und. Aber immerhin erhält man von 
der ifolierten Höhe, auf der ein Geiftesheld fteht, jo recht einen 
Begriff, wenn man die Spurlofigfeit des Wirkens eines Leifing 
in Rolfenbüttel bemerkt. Außerhalb der Bibliothek feine Spur 
von ihm. Sch denke an die Eichen, die das Geftrüpp eine 
Auenwaldes niederdeutichen Flachlandes in ftillem Stolz über- 
türmen, und unwillkürlich wächſt Leifingd Denkmal von Rietſchels 
Meifterhand in den Braunfchweigiichen Anlagen, eines der jchönften 
Dichterdentmäler der Welt, in meiner Erinnerung angeſichts 
Wolfenbüttel empor. 

Man hat und als Ort beichaulicher Ruhe zum Naften von 
eindrudsreichen Ausflügen die anhaltiiche Sommerrefidenz Ballen- 
ftedt empfohlen. Ballenftedt ift aber vom Bahnhof ber eine der 
häßlichiten, kleinlichſten Städte, die man fich vorftellen fan, und 
entwidelt fich erft auf der entgegengejehten Seite nach Weſten 
zu einer reizenden Reſidenzſtadt mit Hoflieferanten, PBianoforte- 
lager, Hofbuchhandlung, Wiener Cafe. Die einen Kilometer lange 
Allee zum Schloßgarten gibt dem Ganzen jogar eine gewifje 
Größe. Und wenn man oben angelommen ift, fteht man einem 
Niefenbau gegenüber, der den einfadhen Namen trägt Großer 
Gaſthof. Vor ihm fpielt an den Abenden eine gar nicht üble 
Mufil, aber die haute volée von Ballenfiedt hält es nicht für 
guten Ton, zuzubören. Einige Gymnafiaften und Dienftmädchen 
find Die einzigen, Die der ganz guten Mufil ihr Ohr leihen. 
Herren, die die Diftinktion darin fuchen, daß fie ein Glas in 
die Augenhöhle klemmen und nah dem Parfüm ihrer Fran 
riechen, zum Hof gehörende oder penfionierte Generale, gehn laut 
ſprechend auf und ab, verhandeln aber beim Schall der Mufit 
feine harz⸗anhaltiſchen Staatsangelegenheiten, jondern den Erwerb 
eined nahen Grundftücks durch einen GArtner. 

Der befte Zeil einer ſolchen Refidenz ift immer der Schloß⸗ 
garten. Deutichland weiß gar nicht, welchen Segen es in feinen 


Briefe eines Zurückgekehrten 425 


vielen Hunderten von Schloßgärten hat. Auch viele Gärten 
Heinerer Befiter, Grafen und Yreiherren, find dem Publikum 
geöffnet und find ſehenswert. Erſt dieſer Tage habe ich Die 
Stolbergiichen Schloßgärten in Roßla und Wernigerode bewundert. 
Warum ift ein folder Schloßgarten fo ganz anders geartet als 
ein ftädtifcher Bart, das Erzeugnis der Millionenftiftung in einer 
amerilanifchen Großftadt? Ich trete in den durchaus nicht an- 
ſpruchsvollen Schloßgarten von Ballenftedt, und das erfte, was 
ih jehe, tft eine prächtige Blutbuche, höchſt geſchmackvoll in 
grüned Laubwerk bineinfomponiert, und daneben auf dem Gras⸗ 
plaß eine gerade ihre veilchenblauen Blütentrauben entfaltende 
Paulownia, um deren Fuß fi ein Efeugebüſch ausbreitet. Ich 
jehe bier auch höchſt feltfamerweife uralte Stechpalmen, eine 
ſüddeutſche Belanntichaft. Worin liegt denn der Unterjchieb? 
Hier fteht vor dem Schloß ein einfader Granitobelisf im 
Blumenrondell, den der Herzog der letzten Herzogin von Anhalt- 
Bernburg, Friederike von Holſtein⸗Glücksburg, gefebt hat. Warum 
ift er jo viel würdiger, anfprechender als alle die mühjfeligen 
Siegesdentmäler, die ich die lebten Tage gefehen Habe? Weil e8 
ber Gedanke eined einzigen Mannes von Gefchmad ift, der hier 
Ausdrud geſucht hat. Und fo iſt e8 mit den Gärten. Das Auge 
eine8 Seren, der nicht bloß ſorgſam ift, fondern Gejchmad hat, 
ruht auf diefen Bäumen. Ihm ſollen fie gefallen, daneben ift 
ihre Betrachtung auch dem Publikum erlaubt, das aber ganz zu⸗ 
frieden ift, wenn es nicht? dazu zu jagen hat. Nur ein gefchicht- 
liher Zufall, wie er im Aufgeben eine breiten Feſtungswalles 
liegt, der Höhen und Tiefen zu Parkanlagen barbietet, Hat 
ftädtifche Gartenanlagen von originaler Schönheit ins Leben ge- 
rufen; oder aber die Nachahmung der Werke der Fürften, wie 
in München. Die öffentlichen Gärten unjrer amerifaniiden Groß⸗ 
ftädte haben alle etwas Kaltes, und außerdem gehören fie zu 
den beftmeltenden Kühen im Stalle unfrer munizipalen Bolitifer. 
Auch das gibt dem Freiftaatenmann zu benfen. 


4 


Ich Liebe die Landjchaften über alles, die uns in das Wefen 
eined Landes und in das Herz eined Volks einführen. Wir leben 
Monate unter einem Volle und glauben viel davon zu fennen, 
da erichließt ſich und das ftille Heim irgendeiner unjcheinbaren 
Familie, und wir machen in den paar Bimmern, in ben Haus- 








426 Briefe eines Surüdgefehrten 


geräten, in dem vertraulich plaubernden Kreis offner Menſchen, 
unter einem Baum oder vor einem Kamin Entdedungen, die wir 
niemals genhnt hatten. Wir haben einen Blid in das Innerſte 
des Volks getan, gerade den Blid, der ben meiften Beluchern 
fremder Länder fo felten zuteil wird. Es gibt auch Landichaften, 
die uns fo einführen. Newyork ift eine europäijche Kolonie, Die 
Umgebungen von Newyork haben nicht? Charalteriftiiches; erft 
eine Hudfonfahrt bis Albany Hinauf ift ein erſter Schritt zur 
Kenntnid Nordamerilad. Aber doch nur ein Schrittchen. Die 
Seebabeorte an der gegenüberliegenden Küfte von Long Island 
ſehen gerade jo engliſch aus, wie gewiſſe Straßen von Newyorf 
deutih. Ich Habe einen tiefen Blid in das Eigentümlicdhe von 
Nordamerika erit getan, ald ich in einem Landſtädtchen von Neu⸗ 
england lebte. Eine von Kanada kommende Lotterbahn warf mich 
auf einer grünen Wieſe aus, die fich zu einem See von unwahr- 
fcheinliher Bläue hinabzog. Diefe Wiefe war von rötlichen 
Granitriffen durchzogen, und am Ufer lagen loje Blöcke desfelben 
Gefteins, auch diefe aufdringlich rötlich. Sie fchienen zu jagen: 
Dieje Wiefe möchte wei) und fchwellend jein, und diefer See 
möchte fi) Tieblich in den Himmel hinausdehnen. Es ift nichts 
damit. Wir find in Neuengland, wo foldye Weichheit nicht ge= 
duldet wird. Darum liegen wir bier und zerichneiden mit unfrer 
Härte dad Bild, damit man weiß, es ift ein raubes Land. Ich 
ftieg gegen den See hinunter und betrat eine kurze Straße von 
Kleinen weißen Häuschen mit grünen Yenfterläden, die an einer 
breiten mit mächtigen Ulmen bepflanzten Straße lagen. Diefe 
Bäume mußten gepflanzt worden fein, als die erften „Blods“ 
des Städtchend ausgelegt wurden. &3 fiel mir auf, daß in dem 
Städtchen, dad einen lebhaften Holzhandel betreibt, wenig Unter⸗ 
jhied in der Größe der Häufer und Gärten war. Auch waren 
fie jo ziemlich alle gleich gut gepflegt. An vielen Zenftern Blumen, 
an einigen intereflante Gruppierungen von Ahorn⸗ und Scharlach⸗ 
eichenblättern in golbnen und purpurnen Herbitfarben, über Türen 
Ihöne Zweige von der Ballamtanne, deren dürre Nadeln den 
füßejten Himbeergeruch außhauchen, oder von der zierlidden Schier- 
lingstanne. Sch ſah hochgewachſene, hagere, ernfte Mäuner und 
ſchlanke junge Mädchen, etwas blaß, die mich frei auß großen 
Augen anfchauten. In einem Haufe, wo man „zahlende Gäfte“ 
empfängt, jaß ich dann zu Tiſche mit einem Feldmeſſer. zwei 
Raufmannddienern, einem männlichen und einem weiblichen, und 
einer Lehrerin und fühlte mich von einem Taft und einer Höflich- 


Briefe eines Zurückgekehrten 427 


feit umgeben, bei denen ich die Einfachheit der Umgebungen ver- 
gab. Das war die erfte Erfahrung von dem Amerika, das fern 
ift von dem törichten, zweckloſen Lärmen und Treiben der großen 
Städte, von ihrem Lurus, ihrer Not, ihrer Zerjebung und un- 
geheuern Lüge, ihrer Beſtechung, ihrem Trunf und Lafter. Hier 
fing ih erſt an, die großen Kräfte zu begreifen, die von Neu- 
england ausgegangen waren und Amerika geftaltet und umge- 
ftaltet Haben. Und e8 Elang mir von diefem Tage an nicht mehr 
ruhmredig, wenn Neuengländer behaupteten, nur Leute, Die 
hasty pudding, ein neuengländisches Nationalgeriht, zu würdigen 
wüßten, verftünden die Geſchichte der Vereinigten Staaten von 
Amerita. 

So weit will id nun von dem altthüringiichen Boden, auf 
dem ich jett ftehe, wo Saale und Unftrut zufammentreffen, nicht 
ausgreifen. Aber ficherlich kann man feine Deutichere Landfchaft 
finden als bier, wo man ja auch räumlid) jo recht im Herzen 
von Deutichland iſt. Von allen Höhen Ichaut der Wald herein, 
der Reft altgermaniichen Urwalds; in allen Tälern grünen und 
blühen die Felder und Gärten der Urenkel der alten Thüringer, 
die vor bald anderthalb Jahrtaufenden bier zu roden begonnen 
haben. Die Dörfer im Wiefental und die Häuschen an den 
rebenbepflanzten Hängen rechts und links von der Unftrut find 
fauber gehalten, die Wege gepflajtert; da und dort fieht man 
einen Neubau oder Umbau im Werk. Entiprechend find auch die 
Seldwege in Ordnung, und daß fie faft überall von Kirſchbäumen 
begleitet werden, erhöht den Eindrud einer jorgjamen Wirtſchaft. 
Es ift die Frucht einer Kulturarbeit von vielen Jahrhunderten 
und der ungeftörten Friedensarbeit von faft drei Generationen, 
die von einem zahlreichen, fleißigen und genügjamen Volle ver- 
richtet worden ift. Wie anders jah es bier aus, als die Kanonen 
von Jena herüberdonnerten, und als fi über die laubwald⸗ 
begrünten fanften Höhen über Freyburg die von der Leipziger 
Schlacht her flüchtenden Yranzofen ins Unftruttal ergoffen! Das 
Unftruttal verfant nad den Kriegsſtürmen in eine Ruhe, die 
noch tiefer war al$ der Schlummer andrer deuticher Landichaften, 
und es bat von diefem Ruhezuſtand mehr behalten als fie. Die 
Eilenbahn, die e8 durchzieht, macht fein großes Geräufch, bie 
faubere Landftraße ift nur mäßig belebt. Wenn du von Naum⸗ 
burg kommſt und den Bergmweg ind Unitruttal wählſt, ftatt die 
längere Landitraße über Freyburg, und auf dem jchattigen Wald- 
pfad gegen Balgſtädt Herunterjteigit, liegt die Welt jo wohlig 





428 Briefe eines Surüdgefehrten 


eng umſchloſſen vor dir, daß du meinft, dieſen grimen Winkel 
nie mehr verlaflen zu ſollen. Du fiehft über die rotbraunen 
Dächer hinweg in den Einfchnitt des Unſtruttals zwiſchen den 
gerablinigen dadjfirftartigen Höhen des Mujchelfalf8 auf der einen 
und den meichern Hügeln des Keuperd auf der andern Seite. 
Es ift ein echt thüringiſches Bild, das bei Jena und in der 
KRoburger Gegend gerade jo wiederfehrt. Dazu die Erinnerung an 
da8 türmereihe Naumburg, dad man zurüdblidend in den baum⸗ 
reichen Saaleauen verſchwinden fah. 

Wir find bier mitten im Thüringerland, die Unftrut ver- 
dient ja. mehr als die Saale der eigentliche thüringiſche Fluß 
zu beißen. In ihren grünen Wiejen, die, rechts und links von 
Getreidefeldern umgeben, janft zu Walbhügeln anfchiwellen, geht 
fie friedlich dahin. Nur die Fährftellen, die den Poeten gefallen, 
haben leicht etwas Unfertiges, Zerrüttetes. Der rafige Uferſaum 
ift zerrifien, in den Fluß bineingetreten. Ein paar Steinblöde 
und ein Brett, das fich nächſtens ſpalten wird, vermitteln Den 
Übergang zum Wafler. Eine alterdgraue Bank unter einer 
Inorrigen Weide dient als Warteplag. Müde Menſchen ziehn vor, 
fi) daneben in den Schatten der Weide zu beiten. Ein alter 
Mann ruht bier im Grafe, das Geficht durch den Hut gegen 
die Sonnenftrahlen geſchützt, ein kleines Mädchen neben ihm, ein 
weißes Tuch über dem Geficht, ein Kleines Bündel liegt ihnen 
zu Häupten, keines Diebes gewärtig. Nichts ftört ihren Schlaf. 
Auch nicht der lange Kahn, der jeht zwiſchen den Rafenufern 
die Unftrut unhörbar herabgleitet, ſchweigend gelenkt von zwei 
Bewohnern ded alten Memlebend, die Steine nad) Naumburg 
führen. Geltfam ift der Eindrud des langen Yahrzeugd auf 
dem fchmalen, ftillen Waſſer, an dem Grad und Blüten bis zum 
Rande ftehn. 

Der Wald der Thüringer Vorberge ift ebenfo reich und 
mannigfaltig, wie der des eigentlichen „Waldes,“ des Gebirgeß, 
einförmig iſt. Es ift ein heiterer Wald, wo ich den Charalter 
ber Thüringer eher wiederfinde als in den Dunkeln Fichtenhainen 
von Eiſenach oder am Inſelsberg. Hier herrſchen Eichen und 
Buchen vor, man fieht aber auch Linden mit herrlichem Blätter- 
dom, als ftünden fie vor einer Dorfkirche und nicht unter Dem 
ganzen Voll von Bäumen. Das Unterholz find Hajelnüffe, Maß⸗ 
holder mit meißer Dolde und Weißdorn. Un den Rändern fieht 
blütenreih der Weißdorn. Maiblumen und Bogelgejang nehme 
ih als liebes Andenken aus dem Heitern Walde mit. Solcher 





Briefe eines Surüdigefehrten 429 


Wald begleitet Die Unftrut auf beiden Seiten ded Tald. An wenig 
Stellen ift er gelichtet, und dort ziehn über die runden Hügel 
breite Getreidefelder weg, die vor dem Frühſommerwind grün 
und filbern fließen und wogen. Wenn auch waldreich, ift Doch 
das Land ein Garten. Es gleicht einem Garten, den eine breite 
lebendige Hede dunkelgrün einfaßt. Der Garten ift nirgends 
weniger Illufion als auf dem Wege, den ich heute wandre. Be⸗ 
gleitete mich nicht von Laucha faſt bis Kirchſcheidungen eine 
Syringenhecke, die die Straße entlang gezogen iſt, wie man ſie 
ſonſt nur in Hofgärten trifft? Und iſt nicht der Bahnhof von 
Wallhauſen ganz in Rotdorn eingehüllt? 

Wal und Graben und zwei mächtige Tore find um Laucha 
erhalten, aber außer der Kirche und dem unbedeutenden Rathaufe 
ift nicht® da, was einen foldden ſtarken Schuß verlangte. Die 
Wahrheit zu fagen, hat die Buderfabrif an der Straße nad) 
Kirchicheidungen mir viel mehr den Eindrud der Größe gemacht 
als die ganze Stadt, und nicht bloß mit ihrem bochragenden 
Schornitein. Es iſt eben doch etwas Beengendes in dem Ein- 
geichloffenfein eines ſpätern Geſchlechts in die Schranke, die ſich 
ein dor vierhundert Jahren Fräftige® und jchaffensfreudiges Ge⸗ 
ſchlecht zog. Es find Feſſeln. Manches würde heute anders 
angelegt werden, wenn auch nicht gerade beſſer. Und wenn das 
Leben hier kräftiger ſtrömte, hätte es mit dem alten Gemäuer 
aufgeräumt, das mehr kleinlich als hart wirkt. 

Burgicheidungen liegt auf einem der langfam zu der Unftrut 
abjchwellenden bewaldeten Hügel Er ift durch das fchluchten- 
artige Blindtal von dem Hügligen Maſſiv losgelöſt. In einen 
Winkel darımter tjt jehr behaglich das Dorf Hineingelagert, deſſen 
rote Dächer und ſpitzer Schieferturm in einem mwohltätigen Kontraft 
zu dem breit bdaliegenden erniten Schloß darüber ftehn. Alles 
Darunter und daneben, jede Lücke ift mit Wald audgefüllt, der 
in Park verwandelt ift. Und von der Unftrut aus ift das Ganze 
ein lauſchiger Waldwinkel. der ganz beſonders durch den Kontraft 
mit dem Ralkplateau gegenüber wohltut, das fcharf mageredht 
abgejchnitten if. Einige Pappeln find als Senkrechte auf Die 
wagerechte Umrißlinie des Muſchelkalkbergs gefällt. Glücklicher⸗ 
weije Hält ſich das fonnenbejchienene, filbern leuchtende Gewölk 
. darüber nit an dieſes Mufter. Nur ein ganz, ganz kleines 
Stückchen Natur kann wie ein Steuerbogen liniiert werden. Die 
weißen Sommermwolten ſcheinen der Bappeln zu fpotten. Jetzt 
jehe ih ein Gebräng paußbädiger Engelstöpfe mit Ianghin- 


430 Briefe eines Zurũckgekehrten 


wehenden Haarſträhnen, und glei darauf jegeln Wolkenſchiffe 
mit blähender Leinwand überladen einher; fie werden fidh ver⸗ 
mutlich am Kuffhäufer vor Anker legen. Ein fächerfürniges 
Strahlenbündel durchfichtig milddigblauen Sonnenlichts ſprüht aus 
einer Wollenlüde über Berg und Tal herab. Unverſehens bat 
fi ein heroiſcher Zug über die Landichaft verbreitet und drängt 
bie Idylle zurüd. Ich muß daran denken, daß in diefem Tale 
der größte deutſche Hiftorifer, Leopold Ranke, groß geworben 
tft, in deſſen gelaffener Ruhe fi etwaß von dem Frieden Des 
Heimattals abfpiegeli. Eine jolde Einwirkung ijt ja ſchwerer 
nachzuweiſen als der Einfluß der politiichen Lage des damals 
noch jähfiichen, zwilchen preußifchen und thüringiichen Gebieten 
eingefchloffenen und vom übrigen Deutichland abgefchlofienen 
Ländchend auf das mehr ald neutrale, kühle Empfinden des 
Jünglings Ranke gegenüber der napoleoniſchen Herrſchaft und 
dem preußiſch⸗deutſchen Befreiungskrieg. Aber wer die Talenge 
von Nebra hinter ſich hat und ſieht das beſcheidne, friedliche 
Wiehe am Fuße der dichtbewaldeten Finne, in dem von dunkeln 
Hügelwellen ganz umringten Tal, der empfindet etwas wie klöſter⸗ 
lihe Stille. Der Geift mag forjchend auch von hier aus über 
den Berg- und Waldkranz hinweg die Welt zu begreifen juchen, 
die Seele wird rubig. 

An Lauda hörte ich dem Geſpräch de Wirts mit einem 
Rübenbeamten oder Zuderrat zu. Der Mann, der grau gefleibet 
war, dachte und redete grau, abgeflärt, fein Weſen war infipid 
und fchwerflüffig wie Melafje. Ich vernahm zu meinem Erjtaunen, 
daß die Probleme der weiblichen Erziehung auch in diefem ftillen 
Tal die Menfchen beichäftigen. Es war die Rede von einem 
Sunggefellen, einem begehrten Gutspächter. „Nee, et iS nicht 
mit dieſes Schema von fo Farrerſchwitwen und derartigen Frauen 
zimmern. Willen Se, da werde den Mädchens nur jo Pofſen 
in Kopp geſetzt. So mag er keene. Wer fo eene ninımt, der 
ärgert fih, jo lang er lebt. Die kommen nicht aus des Schema 
von Bildung heraus. Da geht fon Ichnippiges Ding uf de Bahn 
un läßt fi) von ihrem alten Vader den Koffer nacdhtragen. Nee, 
nur fo Teene.“ Ih gab dem Manne Recht und freute mid) 
außerdem, Daß er in dem Worte Schema eine jo ſchöne orna⸗ 
mentale Verſtärkung jeiner Rebe entdedt hatte. Die war aller- 
dings nicht fo originell wie meines Wirts in Roßleben Ausdrud 
„muggelig“ und „es muggelt.” Das follte den bimftig=trüben 
Himmel, die Neigung zu Trübungen anzeigen. Vielleicht ift das 


Briefe eines Surüdgelehrten 431 


Wort in der Weidmannfpracdhe diefer Gegend heimiſch? Jeden⸗ 
falls wußte mein Herr Wirt damit befler als Falb das Unbe— 
rechenbare de Witterungsgangs, bejonderd in gemitterreicher 
Junizeit zu verhüllen. 

Ich ſpann bei den Geipräcden des redjeligen Mannes meine 
ftillen Gloſſen über das Thema Bildung weiter. Die im Aus⸗ 
fand vielbejprochne und früher auch mehr als jet beiwunderte 
beutfche Volksbildung intereffiert in Amerika weite Kreife. Aber 
wer weiß genau, was es ift, und wie weit es geht? Beſteht die 
Volksbildung darin, daß die Handwerksgefellen und Dienftboten 
auffallend korrekte Briefe, beſonders Liebesbriefe fchreiben und 
ihre bildungsarmen Schundblättichen und Kolportageromane leſen 
fönnen? Ich finde in meinen Erfahrungen doch etwas mehr als 
dag. Ich meine, bei den deutſchen niedern Klaſſen ei Die Wirkung 
der Volksbildung beſſer zu erkennen als bei den darüber liegenden. 
Sie halten feft, was fie gelernt haben, und ihre Arbeitöweife, 
wo fie nicht in Fabriken verdummen, läßt ihnen Zeit, einen ge- 
funden Menjchenverftand damit in heilfame Verbindung zu ſetzen. 
Daß die Schule ihren Kindern zugute kommt, die man nirgends 
in Deutfchland ſich fo abſcheulich verwahrloft herumtreiben fieht 
wie bei und in Amerika, kann niemand leugnen, der dag Deutjche 
Leben auch nur von der Straße Her Tennt. 

Aber allerdings bei den höhern Klaſſen fteht in Deutſch⸗ 
land das, was die Frauen lernen, in feinem Verhältnis zu ihren 
Lebendaufgaben und aud) zu ihren Lebensanfprühen. Man mag 
an der Bildung, die die Amerilanerinnen in ihren Colleges 
empfangen, vielerlei ausſetzen, beſonders daß fie fich zerjplittert, 
daß fie zu vielerlei und das Einzelne deshalb nicht gründlich 
bietet, aber man wird ficherlich nicht leugnen können, daß es 
ernft damit genommen wird. Die Bildung, oder fagen wir beſſer 
die Schulung der jungen Mädchen wird in Deutjchland in der 
Regel bis zum fünfzehnten Jahre fortgefeht, dann folgen noch 
einige beliebige Privatftunden, bejonder8 in neuern Sprachen, 
Kunft- und Literaturgefchichte, und mit dem Eintritt der Ball- 
und Berlobungsfähigkeit hört auch dieſes fo ziemlich auf. Bu 
den merkwürdigſten Erfcheinungen im deutſchen Frauenleben ge- 
hört dieſes frühe Abgelöftwerden der Schulbildung durd) etwas, 
was Haus⸗ und Weltbildung bedeuten foll, aber keins von beiden 
ganz erzielt. Die Deutfchen find auch in diefer Hinficht im Über- 
gang. Ihre alte enge, aber gründliche Erziehung der Mädchen 
zu Hausfrauen, die etwas Tüchtiges leilten, möchten viele mit 





432 Briefe eines Surüdgelehrten 


einer freien, mannigfaltigen Bildung vertaufchen. Aber ſie 
ſcheinen lange zu dieſem Übergang zu brauden. Die alte gute 
deutſche Hausfrau ift im Ausfterben, und die neue deutiche Welt- 
Dame mit Univerfitätbildung ift noch nicht fertig.‘ Die jungen 
Amerifanerinnen bleiben in der Regel 5i zum zwanzigften und 
zweiundzwanzigſten Sahre in ihren Colleges. Wenn jie ji) ver- 
foben, vollenden fie ruhig ihre Kurſe. Es fehlt au nicht an 

„böhern Semejtern,“ denen das Gollegeleben fo gut gefällt, da 
fie zulegen. Jedenfalls hört das Bildungsbeſtreben nicht ſo paar 
Iharf mit einem gewiſſen Alter auf wie bei und. Und alle 
Bildung gefliffentlih an den Nagel zu hängen, jobald der Ver⸗ 
lobungsring am Finger glänzt, wie ed unter Deutichen lächer- 
licherweife jo oft gefchieht, würde eine Amerifanerin mindeſtens 
für geſchmacklos halten. Ich meine, immer beobachtet zu haben, 
dab wenn auch die amerilanifche Mädchenbildung in andern Be- 
ziehungen Mängel bat, doch eine ernftere Auffaflung in Bildungs- 
fragen durch fie in die ganze amerikaniſche Frauenwelt hinein⸗ 
getragen worden if. Es ift für fie fein Luxus, fonbern eine 
Lebendnotwendigkeit. Sogar bei dem Vergleich von englifchen 
und amerilanifhen Mädchen ift mir aufgefallen, wieviel mehr 
Opfer die Amerilanerinnen ald Lernende zu bringen willen. Daß 
fie als Lehrerinnen Hervorragendes leiften, dürfte heute außer 
Biweifel fein. In Kanada wirken Amerilanerinnen und Eng- 
länderinnen gerade in Schulen Häufig nebeneinander, und die 
unparteiiichen Beobachter ſchaͤtzen dort die Amerilanerinnen wegen 
der Ausdauer und Sadlichkeit, die fie an alles beranbringen, 
wa3 fie tun. 

Was der Frauenbildung in Amerika einen Vorſprung vor 
ähnlichen Beitrebungen in der ganzen übrigen Kulturwelt gibt, 
das ijt, daß fie auf einem ganz fihern Boden jteht. Niemand 
fällt es ein, die Frage aufzumerfen, ob Mädchen diejelbe Bildung 
empfangen follten wie Knaben. Sogar auf die einjt unbeſtrittne 
Eoeducation, die gemeinfame Erziehung von Mädchen und Knaben 
in derfelben Anftalt, erſtreckt ſich dieſe Fragloſigkeit. Das iſt 
aber die natürliche Folge der in der Entwicklung der 
Geſellſchaft des germaniſch-keltiſchen Amerikas tief begründeten 
Gleichſtellung der Frau mit dem Manne in allen Lebensgebieten 
Der Deutſche mag daran mancherlei zu bekritteln finden, er wird 
doch in vielen Beziehungen einſt auch darin einfach nur dem 
Amerikaner nachahmen können. Die Frauenhochſchule, den weib⸗ 
lichen Arzt, Apotheker und Anwalt, die große Stellung, bie der 


Briefe eines Zurückgekehrten 433 


Frau in Armen und Schulräten eingeräumt ift, wird man auch 
in Deutihland in nicht viel Jahren ald etwas Selbſtverſtänd⸗ 
liches hinnehmen. Dann erft wird eine gerechte Würdigung der 
Kräfte und der Anlagen der deutfchen Frau möglich fein, und dag 
Herabfehen der Amerikanerinnen wird vielleicht früher aufhören, 
als man glaubt. ch wenigftend bin überzeugt, daß die Hebung 
der Frauenbildung gerade den deutichen Frauen ungeahnte Vor⸗ 
teile bringen wird. Denn ihre beiten Eigenjchaften liegen tief 
und wollen mit einiger Geduld ans Licht gerufen werben. Einft- 
weilen liegt in den Urteilen amerilanifcher rauen über ihre 
deutichen Schweitern ficherlich ein gutes Stüd Pharijäertum, und 
es wirft nicht gerade ein ſchönes Licht auf den weiblichen 
Charakter, daß die amerikaniſchen Schulmänner den beutichen 
Mädchenunterricht, auch) den böhern, viel billiger beurteilen als 
die amerilanifchen Schulfrauen. In den weiblichen reifen der 
Vereinigten Staaten gilt es für ausgemacht, daß für höhere 
Srauenbildung in Deutichland überhaupt nicht gejorgt ift. Die 
Damen, die darüber ſprechen und fchreiben, haben eben feine 
Ahnung, daß man Bildung aud) auf eine andre Art erwerben 
fann als in ihren College. Es wäre müßig, fich mit folchen 
Vorurteilen außeinanderzujfegen, wenn man ihnen nicht einige 
Berechtigung zufprechen müßte. Dieſe vorlauten Damen haben 
Unredt in ber Geringihäßuug deilen, was in Deutfchland im 
Madchenunterricht tatjächlich geleiftet wird; aber ihr Urteil hört 
auf Vorurteil zu fein, wo es ſich auf das richtige Gefühl gründet, 
daß Hier in weiten Kreiſen eine unbeftimmte Abneigung gegen 
eine weitere Außdehnung und Vertiefung der Srauenbildung be= 
fteht, und daß fich diefe Unluft Hinter der Abneigung verbirgt, 
die Yrauenbildung überhaupt ernit zu nehmen. Mit weiblichen 
Takt, und gerade Taft hat die Umerikanerin in hohem Grabe, 
fühlen fie heraus, daß die deutſchen Männer ihre Abneigung 
gegen höhere Frauenbildung nicht logiſch zu rechtfertigen willen, 
vorwiegend weil fie dag Körnchen Egoismus nicht zugeben wollen 
und lönnen, das darin liegt. 

Doch ich berühre bier Fragen, die zu weitausſchauend find, 
als daß man fie auf einem Spaziergang behandeln folltee ch 
wende mich lieber zu den Geiprächen meiner Gefährten im 
** Gaſthaus zu Lauda zurüd, die fih an das Nädjite hielten 
und mir über Greifbares nützliche Winke gaben. Vom Weinbau 
wurde erzählt und von edeln alten Weinen, die Wennunger 
Bauern in ihren Kellern verwahren, von ber Beliebtheit der 

Ragel, Slädsinfeln und Träume 28 


434 Briefe eines Surüdgefehrten 


Saal- und Unftrutweine, die Kenner mit Franlenweinen ver⸗ 
glihen. Dan müffe fi nur an den Bodengeichmad gewöhnen, 
dann finde man fie Fräftig und bekömmlich. Trobdem werde Bier 
in fteigender Menge erzeugt und eingeführt, und früher unbelannte 
Sorten, wie das helle, bittere, dem Pilſener gleichende, aber durch 
einen Rauchgeſchmack ausgezeichnete Grätzer Bier aus Bofen, 
würden durch die fremden Radfahrer eingebürgert, deren wohl- 
begründeter und. ziwedbewußter Durft fi) mit Lagerbier nicht 
ftillen laſſe. 

Mein Wirt war ein bierkundiger Mann, der in Querfurt 
dem Studium der Elemente der Bierbrauerei obgelegen batte. 
Wiſſen Sie, fagte er, daß wir bier am Rande einer merfwürdigen 
Bierinjel Ieben? Ich babe Weißbier, aber in Leipzig und Galle 
weiß man kaum etwas von Weißbier. Liegt doch Döllnig, die 
Hajfiiche Heimat der Goſe, dieſer falzig-trüben, in der Ianghalfigen, 
breitgedrücdten Flaſche gärenden und ihren zähen braunen Rieder- 
ſchlag abjeßenden Abart des Weißbiers, im Saalkreis. Im An⸗ 
haltiſchen erſcheint ſchon wieder die kühle Blonde, und in Magdeburg 
gibt es ſchon förmliche Weißbierftuben, die an Claufing in der 
Bimmerftraße in Berlin erinnern. Merkwürdig ift es aber, wie 
werig die zum Zeil doch recht trinkbaren Berliner Braunbiere, 
die fogenannten bayriſchen, hier vorgedrungen find. Sch Tenne 
zwar Städtchen in der Provinz Sachen, wo man Nürnberger, 
Würzburger, vom Münchner nicht zu reden, und fogar Dortmunder 
Bier trinkt, aber Feind, wo etwa Patzenhofer denjelben Rang ein⸗ 
nähme. Jeder Wirt in diefen Landen jowie im Anhaltiſchen und 
im Sonbderöhäufifchen, der fich achtet, hat eine bayriſche Bierjorte 
im Schanfraum. Vollends im Konigreich Sachſen, da wird Das 
Berliner Bier und überhaupt das norddeutiche vollftändig Neben- 
fade. In Leipzig muß man e8 mit Mühe juchen. Gier treten 
bie einheimifchen Lagerbiere mehr in den Vordergrund, die aber 
faft alle nur befchräntte Horizonte haben. Der ſächſiſche WVelt- 
ruf — id meine den Ruf und Ruhm in der fächlilchen 
Welt — einzelner unter ihnen, wie des Dreddner Waldſchlößchen. 
früher auch einmal des Lützſchener, ift in den lebten Jahren nicht 
mehr gewachſen. Es find im Grunde doc) auch immer nur matte 
Brü 


Als ich das Geſpräch auf ben engern Umkreis zurücklenkte, 
antwortete mir auf meine Frage, woher die „Leben“ der Bel- 
leben, Wegeleben, Afchersleben, Sandersleben kämen, der grame, 
freundliche Zuderrat: Das ift einfach jo wie bei und in ber 


Briefe eines Zurückgekehrten 435 





Altmark, wo es Die Ulvendleben gibt. Da waren einmal alte 
Samilien angeſeſſen, von Belleben, Wegeleben uſw., die find aber 
nun außgeftorben, wie das jo gebt, ımd die Namen find den 
Drtichaften geblieben. Sie müfjen wifjen, wir haben folofjal alte 
Häufer in der Provinz, — Sa, aber die Leben, meinte id), 
die müflen doch troßdem wo hergelommen jein. Wie famen denn 
die alten Herren zu Diejen jonderbaren Endungen? — a, wenn 
man dad müßte, was die fich dabei gedacht haben. Sie waren 
die Herren im Lande und konnten nennen, was fie wollten und 
wie fie wollten! 

Wenn ich auch in diefer Antwort nicht? von dem hiſtoriſchen 
Genius Loci entdeden konnte, der in dem Geburtstal Leopold 
Nantes walten mußte, jo meinte ich doch eine gewiſſe Wurzel- 
gemeinſchaft zwifchen der hiſtoriſchen Auffaffung meines Gefährten 
und der Rankiſchen ganz tief unten zu entdeden. Der große 
Hiftorifer ift fo wenig wie diefer Keine Gaftwirt des Unſtrut⸗ 
ftadtchens ein Götzendiener der Logik geweſen. Er hat den Dingen 
und Menſchen ihr Recht, daS Recht ihrer Zeit, ihre Orts und 
ihrer freien Beftimmung gelaffen. Sein Amt als Hiftorifer war 
fein NRichteramt. Die Theorie meines heutigen Gewährgmannd 
über den Urfprung der leben iſt offenbar nicht feſt begründet. 
Aber fie erfennt die Bedeutung der bodenbefigenden Edeln für 
die Geichichte Thüringens an und zeugt infofern von hiſtoriſchem 
Inſtinkt. Es war mir auch interefiant, zu hören, wie das Volk 
im Tale von Memleben und des Kyffhäuferd an bie alte fächfiiche 
Kaijerzeit anfnüpft. Ein Bürger von Roßleben fagte: Über das 
Kyffhäuſerdenkmal mag man verſchiedner Meinung fein, daß es 
nun da ift, freut ung doch. Wir find ja immer kaiſerlich gewejen. 
Sie werden dad wiflen, bier zwilchen Harz und Saale. Schade, 
daß e8 nur ein Denkmal ift. Wenn ihm Berlin einmal zu groß 
wird, follte fi) der Kaifer in unfrer Gegend ankaufen. Warum 
follte e8 ihm nicht ebenfo gut gefallen wie weiland dem Kaijer 
Dtto? Mitten drin wäre er 3.3. in der Gegend von Xrtern, 
fo in einem Dreied zwiſchen Berlin, Dresden und Kaſſel. Die 
Eifenbahnverbindungen müßten dann jedenfalls verbeflert werden. 
So etwas Angenehmes, wie den Blid über die Goldne Aue, Tann 
ihm weder Sansſouci noch Babelöberg bieten. — Ih fragte: 
Barum bat man denn nicht lieber gleich die Kyffhäuferruine mit 
ihrem ftolzen Würfelturm zu einem Kaiferichlößchen wieder auf- 
gebaut? Der Lolallundige winkte aber entichieden ab: Da ift 
doc Frankenhauſen zu nahe. Es ift Doch eine häßliche Erinnerung 

28* 


436 Briefe eines Zurückgekehrten 


an diefe Mordichladht, wo die armen unfchuldigen Bauern Die 
Irrlehre Thomad Münzerd tauſendweis büßen mußten. Un- 
glüdlicherweije fieht diefe ganze Sandfteinlandicaft ohnehin ſchon 
blutrot aud. — Aber Sondershauſen? Da ift ja doch ein 
prächtiges Schloß! — Da kam id) erit recht übel an: Die Sonders⸗ 
häufer find froh, daß fie ihren Zürften nicht mit Arnſtadt teilen 
müſſen; nein, die behalten, was fie haben. Wer weiß, ob es 
dem Kaifer dort auf die Dauer gefiele? Sondershaufen ift jehr 
Still, zu ſtill für fo einen weltgereiften Herm. — 

Der Kyffhäuſergipfel fteht vor uns, feitdem wir die Talenge 
von Nebra verlafjen haben. Er gehört zu dem Ditende eines 
großen über Südweſt nach Norden herumziehenden Bergbogens. 
Daher der freie Blid nach Norden hinaus in die Fruchtebene 
der Golden Aue, die langſam zu einem ber Wälle mit faft 
horizontaler Begrenzung anjteigt, über die der Broden kühn 
hervorragt. Im Süden erheben fidh hinter dem ganz nahen 
Südzug des Kyffhäufergebirged, der dad Tal verbedt, zuerit Die 
einföürmig welligen Züge der Hainleite und Schmüde, und da⸗ 
Hinter die faum viel formenreichere Linie des Thüringer Waldes. 
Die Hainleite ift Hier eine einzige ſchön rundliche Flachwölbung, 
dem Vogelsberg nicht unähnlih. Wie der Broden auß Dem 
Harzgewölbe, fteigt eine leichte Erhebung aus diefer Anfchwellung. 
Der Kuyffhäufer tjt eins der waldreichſten Gebirge Deutſchlands. 
und zwar ift er bewaldet mit Buchen und Eichen von unten bis 
oben. Selten fiehbt man ftolzgere Exemplare. Nur die paar 
Lichtungen, wo Wirtshäuſer und Jagdhäufer ftehn, find waldfrei, 
und einige Steinbrühe, wo man den ſchönen roten Bauſtein 
gewinnt. Die Wege find Parkwege. Auch die breite Landſtraße 
von Frankenhauſen nah Roßla ift auf große Streden mit 
lebendigen Heden umgeben. Erfreulicherweiſe ijt hier nicht Die 
zubringliche Verſchwendung mit Wegweiſern üblich wie in andern 
Teilen des Thüringer Walde. Man geht unbehelligt dahin. Der 
Eindrud dieſes ununterbrochnen Waldes ift merkwürdig. Die 
Größe des Einfachen, Einförmigen verbindet fi) mit den Seinen 
und Barten unzäbliger Baumarten, die in Yorm und Yarbe fo 
vielfach wechſelnd das Waldkleid zufammenjegen. Die jo wohl- 
befannten Mulden- und Rinnenformen nehmen einen jehr weichen 
Bug unter biefem lebendigen Kleide an, das ſtillfröhlich ſproßt 
und wächſt und den harten Stein überquillt und überflutet. 

Du erwarteft nun, daß ich vom Kyffhauſer denlmal ſpreche? 
Mein Lieber, erlaſſe mir das. Es war eine banale Idee, die 





Briefe eines Zurückgekehrten 437 


fchöne, alterögemweihte Sage vom Wotbart, die den WWaldberg 
umwebt, in einen klotzigen Steinturm zu bannen, aus dem die 
fo ganz unmärchenhafte Geftalt des alten Wilhelms in ſchwerer 
Bronze herausreitet. Nun, es ift gejchehn, und nachträgliche Kritik 
ift zwecklos. Ich wundre mid) nur, daß Bildhauer und Baumeifter 
den landſchaftlichen Effekt ihrer Kolofje nicht beobachtet haben. 
Wer von Sangerhaufen her gegen den Kyffhäufer geht, fieht an 
der oftmärtd gewandten Flanke eine Warze hervorwachſen, die 
fi vergrößert, bis fie wie ein Kanonenrohr aus einem Schiffs⸗ 
turm bervorragt: das ift der aus der Turmwölbung beraus- 
reitende Kaiſer! Die deutfche Dentmaljucht hat viel Geld verpufft 
und viel Geſchmackloſes, ja Haßliches dafür gejchaffen. Aber fo, 
wie fie bier einen fchönen Berg, eine jchöne Ruine und eine 
tteffinnige Sage verballhornt bat, gelingt es ihr hoffentlich auf 
deutſchem Boden nicht zum zweitenmal. Wiewohl vom Hermanns 
dentmal bei Detmold auch ein Wörtlein zu jagen wäre. 


5 


Wer Deutſchland durchwandert hat, weiß von biefer oder 
jener Stelle mit ziemlicher Beitimmtheit zu jagen: Hier fängt 
Norddeutichland an, Hier Hört ſüddeutſches Wefen, ſüddeutſche 
Landſchaft auf. Frankfurt und Kafjel, Bamberg und Hof, Bonn 
und Köln find befannte Grenzpunkte. Nicht jo leicht iſt der 
Gegenſatz zwiſchen oft= und weſtdeutſch zu ftellen. Doch fürchte 
ich feinen Widerſpruch, wenn ich Naumburg als eine der am 
weiteiten oftwärts vorgeſchobnen Städte mitteldeutfcher Art nenne. 
Ja, in feiner Lage an einem mäßigen rundlichen Berge, den große 
Dbftbäume umftehn, mit dem Blid auf das friedlich umbufchte 
Wiejental der Saale und auf die Rebenhügel der Unjtrut, ift 
etwas Schwäbilcheg. Und dazu kommt an der erften Schlinge 
der Saale oberhalb Naumburgs an einem mwaldigen, quellenreichen 
Hag das turm= und zinnenreidhe Klofter Pforte. Verglichen mit 
den roten Badjteinbauten des Tieflandes haben ſchon alle die 
Sanleftädte und Dörfer reichere Farben, die dem Auge wohltun. 
Die grauen Dächer ftrablen hell in dem trüben Blau des leicht- 
bewöltten Sommermorgenhimmeld. Eines fehlt leider heute in 
Thüringen faft ganz, was ſich Niederdeutichland bewahrt Hat, 
und was in Öberdeutichland in fchnellem Abfterben begriffen ift: 
das alte Grau der tief herabreichenden Strohdächer, bie tief 
Ihwärzlich-blau fchimmern, wenn fie vom Regen feucht find, und 


438 Briefe eines Zurückgekehrten 


deren weiche, volle Formen das glänzende Grün der Moospolſter 
erhellt. Die Feuerverſicherungen drüden das Strohdach ebenfo 
wie manche altertümlichen Holztonftruftionen im Bauernhaus Durch 
hohe Prämien aus dem Wettbewerb. Zwar wurmt es den Bauern, 
aber dafiir will er nicht bejonders zahlen. Da nun au, wie 
man behauptet, die früher jedem Bauer vertraute Kunft, Stroh⸗ 
dächer auszubeſſern, in manchen Gegenden völlig abhanden ge= 
fommen ift — eine der „verlornen Künfte,” über die man Vücher 
reiben könnte —, werden die Ziegeldächer immer allgemeiner. 
Und hohe, fteile Dächer find es, die über thüringijch- heififchen 
Fachwerkbauten anfteigen. 

Es gibt in Mitteldeutichland eine Menge Bergftädte und 
Dörfer von ärmlihem Innern: enge Gallen, verfallne Mauern, 
alte Häufer. Sieht man aber von oben Binein, fo ift man er⸗ 
ftaunt, wie fauber die Dächer gehalten find. Da fieht man keine 
Lücke. Und beionderd wo dad Material Dachichiefer ift, da glänzt 
und die ganze Stadt entgegen. Da ſieht man denn auch die 
Gaſſen und Häufer mit mildern Augen an. Wer lange im 
Tiefland gelebt hat, bejonders im amerifaniichen, wo man zu den 
Häufern aufſchaut wie zu Bergeshöhen, der jagt ſich vielleicht beim 
Blick in eins von diejen mitteldeutichen Tälern, wo das Städtchen 
zufammengedrängt ift wie eine Herde, die fich ſchützen will, daß 
e8 nicht ganz ohne heilfame Yolgen für die zur Unbefcheidenheit 
neigende Menfchennatur jein Tönne, gelegentlih den Schauplag 
ihres Dichtend und Trachtens und Überhebens aus der Vogel 
perſpektive zu betrachten und fi) zu überzeugen, wie eng und 
Hein eigentlich ihre „Welt“ doch ſei. 

Es wäre interefjant, zu wiffen, wie weit die hoben fteilen 
Dächer zurüdgehn, und was urſprünglich an ihrer Stelle jtand. 
Es ift nicht ausgefchloffen, daß ſchon auf vorhiftoriichen Pfahl⸗ 
bauten bochgegiebelte Hütten ftanden. Naumburg an der Saale, 
Freyburg an der Unjtrut gehören noch zu den ragenden Städten, 
auch einige der laufigiichen, wie Bauben, aber im allgemeinen 
finkt das Niveau der Städteprofile nad Oſten bin. Dazu kommt 
aber auch fichtbar ein Unterjchied, ber der neuern Zeit angehört. 
„Scharfzinnige Gaſſen“ find für alte Städte wie Lübed, Hilbes- 
beim, Nürnberg und viele andre von diefer geftaltenreichen, hoch⸗ 
ftrebenden, vielgetürmten Urt ebenſo bezeichnend wie eine gewifie 
Flachheit für die jüngern. Wenn man die „mittlere Höhe“ der 
Städte beftimmen wollte, würde man finden, daß fie in den lepten 
Sahrhunderten immer Kleiner geworden ift. Die Heinen Reſidenz⸗ 


Briefe eines Zurückgekehrten 439 


jtädte gehören natürlich zu den flachiten, denn in ihnen durfte 
nichts das majeftätifche Überragen des Valaftes ftören, der felbft 
oft nicht ſehr impojant war. 

Daß aber die Verflachung nicht jo ganz neu ift, zeigt mir 
der Schritt von Naumburg nad) Leipzig, der geographiſch ein 
Hinabjteigen vom thüringijchen Hügelland in die fumpfige Tief- 
landbucht der Pleiße, ethnographiſch ein Überichreiten alter Völker⸗ 
grenzen ift. Das große Leipzig bat kein Firchliches Bauwerk wie 
die nahen Dome von Naumburg und Merjeburg aufzuweiſen. Im 
Kampf mit Naumburg bat fi) Leipzig ald Meßſtadt behauptet, 
als hiſtoriſche Stätte fteht Naumburg hoch darüber. Und mo 
wäre die ardhiteltonifche Bedeutung Dresdens ohne die Bauten 
prachtliebender Kurfürften, die großenteild erft im achtzehnten 
Jahrhundert entitanden find? 

Mit der Überſchreitung der Saale haben wir den alten 
Kulturboden verlaffen und find in das germanifierte ſlawiſche 
Kolonialland eingetreten. Auch der Volksſchlag ift auf den beiden 
Seiten verfchieden. Ich meiß wohl, daß den Thüringern viel 
flawifche Elemente beigemifcht find, und daß man ein rein 
germanifches Volk erft weitlih von der Werra trifft, wo dann 
allerding8 der Unterfchied zwilchen dem kräftigen, zähen Heſſen 
und dem beweglichen, lebensluftigen und nachgiebigen Thüringer 
zu greifen ift. Wber daß Übergewicht der breiten Wendengefichter 
tritt Doch für den, der von Weiten kommt, in Mitteldeutjchland 
erit jenfeitS der Saale ein. So iſt auch für den von Süden 
Kommenden die mittlere und die untere Pleißen- und Elftergegend 
ber Grenzſtrich, wo er fich von entſchieden öftlichen Lüften an- 
geweht fühlt. Es ift in gewiſſem Sinne aud) eine Art Halbaften, 
wo jchon das ſich urdeutich fühlende Leipzig liegt, denn in ber 
Raſſe und im Vollscharakter beginnen mongolifche Züge ftärter 
hervorzutreten. Hier beginnt die Herrichaft des Breitfchädels, der 
feine höchſte oder vielmehr breiteite Entwidlung bei den Mongolen 
und Rirgijen findet, fowie das Ziefland von bier an feine Unter- 
brechung mehr bat bis zum Fuße des zentralafiatiihen Hoch⸗ 
landes; und mit ihm beginnt das breite Geſicht. Nicht auf den 
Schultern des Weftdeutfchen fit die eigentliche töte carr6e, und 
der oberſächſiſche Philifter, den und Ludwig Richter als deutichen 
Typus gezeichnet hat, ift das Erzeugnis einer Raſſenmiſchung. 

Gotha ift eine hübſche Vertreterin der thüringiichen Reſidenz⸗ 
ftädte. Das alte Gotha hat fi in den letzten Jahrzehnten mit 
ausgedehnten, freundlichen Villenftraßen umgeben. Schon früher 


440 Briefe eines Zurückgekehrten 


war ed dur die Lage des Schloſſes mit feinem herrlichen 
Garten inmitten der Stadt begünftigt. Dieſe enge Vergeſell⸗ 
ſchaftung von Park und Stadt ift recht bezeichnend fir daB 
Verhältnis diefer Fürften zu ihren Bürgern. Schloß und Hütte 
trennt nur ein Garten, an dem beide Inſaſſen ſich erfreuen. 
Man durchwandre den alten engen ſtern von Gotha mit dem 
ſchmalen Gaſſen und unſcheinbaren Häufern, und man wird beim 
Hinaustreten in die grünen PBarlanlagen das Gefühl haben, daß 
diefe Bürgerichaft ihren Fürften viel verdankt. Es waren eine 
Bernharde und Karl Augufte, diefe alten Gothailchen Herzöge, 
aber jo manches Gute Haben fie doch Hinterlafien. Manchmal 
bat fich in ihnen ein freier Geiſtesfunke geregt. Sie haben ihren 
Anteil an zwei Anjtalten, die das Kleine Gotha berühmt gemacht 
haben, als es noch im Vergleich zu dem heutigen ein ärmliches 
Neft war: an der Sternwarte und an dem Geographiſchen In= 
ftitut. Das gehört auch zu den Lehren der Geſchichte der Leinen 
beutichen Refidenzftäbte, daß jo mancher Keim, den dad Bürgertum 
nicht mehr hegen konnte oder mochte, in den Fürften treue und 
eifrige Pfleger fand. Als Nürnberg und Augsburg aufbörten, die 
geographiſchen Karten für die Halbe Welt zu maden, traten 
Weimar und Gotha an ihre Stelle Ein Gang durch die herzog- 
liche Bibliothek zu Gotha zeigt, daB es den vielbeipöttelten 
und vwohlgehaßten Duodeztyrannen zugeiten nit an Sinn für 
Beſſeres als Jagd und Soldatenſpiel gefehlt Hat. Hatte Doch 
jeder feine Bibliothek und feine Kunſtkammer. Wenn nidit alle 
Perlen italienischer und deutſcher Kunft ihren Weg in die eng⸗ 
fischen Schlöffer gefunden haben, jo hat man den Liebhabereien 
deutſcher Kleinfürjten dafür Dank zu willen. Eine merkwürdige 
Wirkung diefer Art zeigte mir übrigens der Beſuch der Gothaiſchen 
Bibliothek; dort füllt nämlich die feltne vollftändige Weihe der 
dem engliichen Parlament vorgelegten Blaubücher einen großen 
Raum. Gotha verdankt fie dem Prinzen Albert. In ihrer Art 
gefiel mir Die Bibliothek des Perthesſchen Geographiſchen Inftituts 
noch befier, denn fie ift das Wert einer Privatanftalt, die voll- 
fommen auf ſich jelbft geftellt if. Es ift eine umfaflende, an 
neuern, feltnen Reiſewerken und amtlichen Berichten bejonbers 
reiche, trefflich geordnete und fchön aufgeftellte Bibliothel. Dazu 
die Kartenfammlung, von der mir ein englifcher Fachmann ſagte: 
Es gab eine Zeit, wo man fid) weder in Peteröburg noch in 
London oder Paris, jondern nur im Perthesſchen Archiv zu 
Gotha über die unbelannten Teile von LBentralaften und das 


Briefe eines Zurückgekehrten 441 


„dunkelſte Afrika” unterrichten konnte. Sch finde am rührenditen 
die Geringfügigfeit der Mittel, mit denen bier Großes geleiftet 
mworben if. Dad Wirken eines GStieler, Sydow, Behm, Hafien- 
ftein und vieler andrer ift ein lebendiger Proteft gegen Die 
Ianbläufige Meinung, man könnte das Beite und Größte in der 
Welt nur mit viel Geld fchaffen. Die ideale Genügjamfeit und 
das Genügen am deal bat die Blüte der Kartographie in dem 
Heinen Gotha allein möglich gemadt. Es ift dabei ganz 
harakteriftiich deutich-Heinftaatlih, daß Hoff und Stieler, die 
Säulen der wifjenfchaftlichen Arbeit des Gothas der zwanziger 
Sabre, herzoglidde und StaatSbeamte waren, die jo Bedeutendes 
in ihren Mußeftunden ſchufen. 

Eiſenach liegt am Rande Thüringens, aber gerade darum 
hat e8 von allen thüringilchen Städten am meiſten gemeinbeutjche 
Bedeutung, die freili von der literariichen Blüte Weimars 
überragt wird. Sängerkrieg, Quther, Bernhard, Goethe, Wart- 
burgfeft, Scheffel, Reuter, in unjrer Zeit der Kongreſſe die 
Vorliebe, womit Eiſenach als Verfammlungsftadt gewählt wird, 
zeigen, wie ber Begriff mitteldeutiche Lage bier praftiih und 
lebendig wird. Eiſenach felbit muß als Städtchen einen tiefen, 
ſchweren Eindrud gemadjt haben, jolange nicht die Bierlichleit und 
das Behagen der Villenquartiere aufgeblüht war. Der überall 
bervortretende rotbraune Fels des Motliegenden und Die Vorliebe 
für da8 Bauen mit rotem Sandftein machen Eiſenach den heifiichen 
Städten verwandt. Nur die Werra trennt gerade hier Thüringen 
und Heſſen. Auf demjelben Notliegenden führt der Weg zur 
Wartburg, die auf einem dem Wald entragenden Yeld aus dem⸗ 
jelben rotbraunen Stein gebaut if. Auch die Wartburg, jo groß 
ihr Ruhm ift, ift thüringifch eng und einfach. Ihre einzelnen 
Bauten find nicht nad) einem Plan entworfen, der Stil ift der 
der romanischen Profanbauten, ernſt und zierlich, ſchwer und 
leicht zugleih. Won unten heraufmandelnd glaubt man einer 
Kirche zu nahen, bis der fogenannte Kleine Turm hervortritt. Das 
alte Eiſenach Liegt recht waldverloren da unten. 

Die Eifenaher Landichaft gehört nur einem Ausläufer des 
Thüringer Waldes an, fie hat feine fo hohen Berge, aber mehr 
intime Reize als Friedrichsroda oder Ilmenau. Von der Wart⸗ 
burg aus führen unzählige Kamm⸗ und Abhangwege durch Fichten 
und Buchen hin. Das Annatal iſt eine „Klamm“ mit allen 
Requiſiten, aber in Miniatur: ſchroffe Felſen, moosbedeckt, Waſſer, 
das bald neben, bald unter uns murmelt, junge Ahorne aus den 





442 Briefe eines Zurückgekehrten 


Spalten, darüber hoher, lichter Buchenwald. In der von Moos 
jammetgrünen Landgrafenſchlucht zwängt man ſich zwiſchen Felſen 
durch und tritt zuletzt auf ein natürliches Rund, das von einer 
hohen, ſchlanken Buche beſchattet wird. Ein ganz andrer Weg 
iſt die geradlinige Schneiſe von der Wartburg zur Hohen Sonne, 
die ein herrliches, waldumrahmtes Bild der Burg gewährt. 

Welcher Gegenſatz zu dem Blick von der Wartburg die weite 
Ausſicht von der Feſte Koburg. Dieſe fränkiſchen Gaue wie 
heiter, wie reich an Städten und Dörfern, und auf den Bergen 
welche Fülle von Sclöffern, Klöftern und Kirchen. Was macht 
allein da8 reiche Banz für einen Eindrud. Wahrlich, das Koburger 
Bier und der gleich vorzügliche Koburger Schinken find feine 
Bnfälligleiten, fie fombolifieren dem denkenden Genießer das 
Frankentum Koburgs. Der Wald, der auf ber andern Seite alles 
beberricht, kommt hier nur noch parzellenweije vor. Die thũringiſchen 
Landichaften haben alle etwas Ingendliches in ihrer Waldumgrenzt⸗ 
beit; bier dagegen flutet die alte Geſchichte des Maingaus zu 
unfern Füßen heran, die ſchon rodete und baute, ald jenjeits des 
Rennfteigs noch das Brüllen des Urftierd den tiefen Wald belebte. 

Bei der Teilung zwijchen den Nefidenzen Gotha und Koburg 
hat Gotha den Löwenanteil davongetragen, es ift Doch Die eigent- 
liche Hauptftabt des Doppelherzogtums. Aber Koburg ift wicht 
ganz leer ausgegangen. Das berzogliche Theater |pielt zwar Dort 
etwas weniger, was beſonders jchmerzlich empfunden wird; aber 
unter anberm beherbergt Koburg auf feiner Feſte einen Schatz 
von Kupferftichen und andern Werten der künftleriichen Verviel⸗ 
fältigung aus dem vorkodalifchen Zeitalter, der zu dem veichiten 
feiner Art gehört. Weniger Wert wird man heute wohl auf die 
dort inftallierte Ruhmeshalle des vielgewandten und »geivanderten 
Ernit des Zweiten legen. ch ziehe den Trophäen von Eckern⸗ 
fürde und Ubelfinien den Blid in die fränlifchen Gaue vor, der 
mir die echtere gefchichtliche Lehre erteilt, dab der Burgenbau 
eine Beriode in unſerm Lande der einſamen Walbgebirge darftellt: 
er bat die Arbeit der Menjchen, die vorher nur den Fuß der 
Gebirge umbrandete, auf die Gipfel geführt und jo mande von 
ihnen dauernd umgejtaltet und bewohnbar gemadit. 

Ih möchte noch an eine andre thüringiiche Reſidenz ſtadt 
erinnern. Von Altenburg ift in der Welt viel weniger geredet 
worden und ift noch heute weniger die Rede ald von Weimar, 
Eiſenach und Gotha. Der Fremde fchaut ſich an dem feiten 
Schloß, das noch heute Nefidenz ift, daS hohe Zenfter an, aus 


Briefe eines Furückgekehrten 443 


dem Kunz von Kauffungen mit unglaublicher Kühnheit die beiden 
ſächſiſchen Prinzen herausholte; er beadjtet Die baumreichen, 
freundlichen Straßen des neuen und die engen mit Kleinen Häufern 
umftandnen des alten Altenburg und entfernt ji in dem Be⸗ 
wußtfein, feine Kenntnis von den wichtigen Dingen biefer Welt 
nicht wejentlich gefördert zu haben. Wer finden will, findet aber 
auch in Altenburg, 3. B. im Kunſtmuſeum, eine ſchöne Sammlung 
alter Sienejen und Ylorentiner, darunter eine Perle, ein Frauen⸗ 
bildnis von Botticelli; dann eine Sammlung von neuern beutjchen 
Bildern, die einmal für fich erfreulich und dann weiter auch 
dadurch intereflant it, daß über ihre Vermehrung ein Ausſchuß 
funftliebender Bürger befchließt, dem ber Rektor des Gymnafiums, 
angejehene Ärzte u. dergl. angehören. Ein Geſchichtſchreiber der 
Bufunft wird alfo darin ein document humain erften Ranges 
für den durchſchnittlichen Kunſtgeſchmack mittlerer Schichten unſers 
Beitalters finden. Das ijt ein Vorzug Diefer Sammlung vor großen, 
den Runftlaımen berühmter Direktoren unterworfnen Muſeen. 

Es iſt erfreulich, zu ſehen, daß das Skatſpiel, daß die 
berühmtefte Erfindung Altenburgs ift, den Geihmad für Höheres 
nicht ganz ertötet hat. Ein deutſch⸗amerilaniſcher Belannter, der 
als Arzt in einem fetten Qandort wirkt, wo noch bie jeltiame 
altenburger Bauerntradht getragen und die Hochzeit drei Tage 
lang gefeiert wird, erzählte nur Schönes von dem geiftigen Qeben 
der nahen „KHauptftadt,“ aber auch von der Abneigung der in 
der Mehrheit bäuerlichen Vollvertretung, Geldopfer aus dem 
Stantsjädel für Bildungszwede zu bringen. Wer Studien über 
den Konſervativismus einer bäuerlichen Bevölferung machen will, 
muß nad Altenburg gehn. Da ift nicht von der nur zu ges 
wedten Art der armen und unzufriednen Wrbeiterbevölferung des 
„Waldes.“ Sch bin überzeugt, wenn e8 auf die altenburgiiche 
Bevölferung anlüme, wäre weder die Buchdruderfunft noch Die 
Dampfmafchine erfunden worden, von der Elektrizität gar nicht 
zu reden. Jedenfalls Hätte aber durch ihre Arbeit der Zeil der 
Weltgeihichte, der von dunkeln Aderbodenichollen, von ſchwer 
aufitampfenden Rofjen, von gefüllten Scheunen, von ſaurer 
Sämannsarbeit, von Erntelränzen und vom froben Tanz um die 
Dorflinde Handelt, genau die Geftalt angenommen, bie er beute 
dat, wenn auch nicht andre mitgewirkt hätten. Und ich zweifle 
feinen Yugenblid, wäre die Welt nicht fo alt, daß alles erfunden 
ift, was Menfchen überhaupt erfinden können, fo würbe Altenburg 
nicht bloß den Stat, jondern auch den Pflug erfunden haben. 





444 Briefe eines Surüdgefehrten 


Es grünt und blüht ein reiches Leben an der Saale, Sm 
und Unftrut, aber für die großen Geſchicke Deutichlands ift jahr- 
hundertelang all dieſes Grünen und Blühen laum in Betracht 
geflommen. Daher der Eindrud des Zweckloſen, des ziellos Ver⸗ 
laufenden der Geichichte dieſer Landfchaften. Wenn es ein 
land gegeben hätte, das auch der letzten Kleinftadt das Gefühl 
hätte ermweden können, daß fie zu einem großen Ganzen gehöre, 
wäre die Frage berechtigt: Was hat ein Kahla, ein Saalfelb zu 
Deutihlands Wohle beigetragen? Ich kann mich des Eindrucks 
nicht erwehren, daß dieſes Zweckloſe einer mühleligen Kleingeſchichte 
oft ſchon im Außern mander von diefen Städtchen zum Vorſchein 
kommt. Ich flieg den Südabhang des Thüringer Waldes hinab 
und war enttäufcht über die Unfcheinbarkeit der äußern Merk: 
male der Geicdhichte eines jo namhaften Ortes wie Schmallalden. 
Iſt das derjelbe Ort, der in der deutſchen Geſchichte eine wichtige 
Rolle in dem enticheidendften Wugenblide geipielt hat? Man hat 
e8 nicht vergeſſen. Das Lutherhaus, heute eine Buchhandlung, 
das Melanchthonhaus, heute die Nofenapothefe, Haben ihre Ge⸗ 
denttafeln, die allerdings etwas Armlih und einfilbig find. In 
der Hauptlirche, deren verfallner BZuftand dem chriſtlichen Stun 
der Schmalfaldner keine Ehre macht, ift ein ſchlechtes Bild Luthers 
und ein Lutherftübchen, wo der Reformator gearbeitet hat; es 
ift bezeichnenberweile eine echte Gelehrtenzelle.. Das Rathaus ift 
unanfehnlich, das Pfarrhaus war einft ein hübſcher Fachwerkbau, 
der aber jebt vernachläſſigt ift. Die übrigen Häufer der jegt 
7000 Einwohner zählenden Stadt find meiſt chlecht gehalten, 
die Gaffen eng und ſchmutzig, und erft wenig Neubauten zeigen 
an, daß fi die Stadt aus ihrer engen Zufammendrängung 
hinaus bergaufwärt3 außbreiten will. 

An ähnlichen und Heinern Städten Thüringens und Sachſens 
fand ich oft noch am anziehenditen die enge Verbindung mit dem 
Lande, die jedenfall ein fozialer Charakterzug von Bedeutung 
it. Man weiß oft nicht, ob das ftäbtilche oder das ländliche 
Weſen überwiegt. Im achtzehnten Jahrhundert war das noch mehr 
der Fall, und um die Umwelt der weimarilchen Heroen zu ver⸗ 
ftehn, muß man den Straßen Ilm⸗Athens Kühe und Schweine 
zur Staffage geben. An das oberfränliiche Fichtelgebirgsftäbtdhen 
Wunſiedel ſchließen fih ganze Straßen von ameinander gebauten 
Scheunen an, für die da8 zufammengedrängte Stäbtchen keinen Raum 
bat. Bielleiht Hat auch die Küdficht auf die Feuerſicherheit eine 
ſolche merkwürdige Wbfonderung ländlicher Bauwerle veranlaßt. 


Briefe eines Aurüdgefehrten 445 


Wie man fieht, empfiehlt es ſich nicht, immer nur Weimar 
zu nennen, wenn man an die Bedeutung der Heinen Reſidenz⸗ 
jtädte für die Entwicklung des deutſchen Volles erinnern will. 
Man bat zuviel von Weimar und ſeinesgleichen geſprochen und 
darüber die hundert andern vergeflen, in denen, ungewärmt und 
unbeleuchtet von der Sonne des Genie, daß deutiche Bürgertum 
verfümmert if. Es ift wohl wahr, daß fidh in den deutlichen 
Mittel- und Kleinftädten durch alle Stürme ein gefunder Mittel- 
ftand erhalten bat, aber diefer Mittelftand mußte fi) mit der 
harten Schale des Philiftertumd umgeben, gewifjermaßen ver- 
fteinern, um unter fümmerlichen Bedingungen fortleben zu können. 
Wunderbar ift, was in einigen von dieſen Städten geiftig ge- 
ſchaffen worden ift, aber für jede große Schöpfung wurde immer 
gleich der Rahmen zu Hein. Den großen Eichen des beutichen 
Walded wurde hier nicht die tiefe Erde geboten, die fie brauchten, 
um fi) ganz tief einzumwurzeln. Herrliches ift erflungen, aber 
der Schallraum fehlte. Daher die merkwürdige Ericheinung, daß 
bon manchem, was aus Kleinen deutichen Städten ausgegangen 
it, die Welt mehr Borteil hatte als alle Mitbürger zujammen- 
genommen. Sobald es den engen Raum überjchritten hatte, wo 
e3 fi) unter der Sonne der Fürftengunft treibhausartig ent- 
widelt hatte, ſchwang es fi) in Höhen, biß zu denen die Auf- 
faflung des zeitgenöffiichen Pfahlbürgertums nicht reichte. Darum 
neben dem großen Stüd Weltgeichichte, die dad Dajein Goethes 
ausfüllt, dad Satyripiel: „Goethe im Urteil feiner Stadt- und 
Landesgenofjen.“ 

In einer deutſchen Kulturgeichichte, die einft geichrieben 
werden muß, darf das Kapitel nicht ftiefmütterlich behandelt 
werden, worin die Wirkung des Mangels eines großen ftäbtijchen 
Mittelpunkts in dem Deutichland des achtzehnten Jahrhunderts 
unterjuht wird. Man konnte an Einfluß auf Gejamtdeutichland 
weder Berlin noch Wien mit Amfterdam und mit Kopenhagen 
vergleichen. Was wäre auch heute Dänemark ohne Kopenhagen, 
da8 18 Prozent der Bevölkerung von Dänemark in fidh vereinigt, 
während Berlin nur 5 Prozent der Bevölferung von Preußen, 
3 der Bevölkerung von Deutſchland hat? Was Wien und Berlin 
Damals geleiftet Haben, wenn es auch noch wenig ift, zeigt doc), 
was möglid war. Das gilt noch mehr von den Leiftungen 
Hamburgs, Frankfurt? und Leipzig. Aber wie wenig boten 
alle dieje Städte Damals den aufitrebenden Geiftern, wie wenig 
bedeuteten fie ald Schule des Lebens! Nur Leifmg hat in den 





446 Briefe eines Zurückgekehrten 


großen Städten des damaligen Deutichlands gelebt, und nur jein 
Wirken ift ohne fie nicht zu denken. Aber man erinnere fidh, 
um von Weimar zu fchweigen, an Sean Pauls Leben, das im 
Klein- und Landftädtchen verflofien, nein verfidert if. Jean 
Paul gerade bat e8 gewußt und ausgeſprochen, daB das Genie 
für feinen Verkehr nicht das Neb der Landftraßen braudit, die 
auf die großen Treffpläge der Menfchen und Böller zufammen= 
laufen. Wohl ftand Sean Paul mit der ganzen Welt in Ver— 
bindung, aber wieviel von feiner Wirkſamkeit ging in kleinſtädtiſchen 
Reibungen verloren. Carlyle hat ald Jünger Jean Pauls öfter 
räftig auf die Großftädte losgezogen, aber er bat fein Experiment 
mit dem Landleben bald aufgegeben und von London den Gebrauch 
gemacht, den er für feine Zwecke nötig hatte. 

Die deutiche Sprache hat der Welt das Wort Bhilifter und 
die deutſche Literatur der Weltliteratur den Kampf gegen daS 
Bhiliftertum gegeben. Die franzöfiihen Romantiker und Ipäter 
Carlyle haben e8 mehr oder minder finngemäß ihren Spradhen 
einverleibt. Ein Glüd für uns, daß fie in Frankreich und Eng- 
land auch Philifter entdedten, ſonſt hätte man glauben können, 
Deutichland allein jei damit gejegnet! ch weiß nicht, ob Byron 
das Wort gebraucht hat, aber fein Kampf gegen cant, engberzige 
Heuchelei, ift auch ein Kampf, und ein titanifcher, gegen ein 
Philiftertum, das noch fchlimmer ald das von Goethe oder Tier 
befämpfte war und ift. Man jollte einmal die Definitionen bes 
Philifters zufammenftellen, das würde ein intereffantes Kapitel 
der praftifchen Völkerpſychologie werden. Und die Darftellung 
der Beziehungen zwiſchen Philifter, Snob und Bourgeois würbe 
darin einer der feflelndften Abſchnitte fein. Goethe Hat uns 
mehrere hinterlaſſen außer der befannteften: 


Mas tft ein Philifter? 

Ein bohler Darm, 

Mi und Hoffnung ausgefüllt, 
Daß Gott erbarm! 


In das kürzefte Wort gefaßt, wäre wohl das Weſen des 
merkwürdigen Geichöpfes „eng“ zu nennen: engherzig, enggeiftig, 
engfelig, daher kurzſichtig, daher geneigt, an jedes Ding und an 
jeden Menfchen, jede Handlung einen Fleinern Maßſtab anzulegen 
als nötig ift, daher auch ohne Wagemut und innere Heiterleit. 
Man begreift ganz gut, daß das Philiftertum in dem engen 
Horizont einer Kleinftadt eine ganze Bevollerung ergriffen und 


Briefe eines Zurückgekehrten 447 


anftedend fich über ganze Völker verbreitet hat. Und was Heine 
Nefidenzen anbelangt, jo kam da nicht bloß der Mangel eines 
weiten freien Tätigleitsfeldes in einem großen Horizont ins 
Spiel, jondern die falſchen Götzen des Hofes, die falſchen Ideale 
eines äußerlich und innerlich unfreien Lebens. Wo mar es doch, 
wo für die vom Hof Ubhängenden ganze Häuferreihen ohne Küche 
gebaut wurden, weil ihre Inwohner famt allen Zamilienangehörigen 
aus der Hoffüche geipeift wurden? Gerade fo lieferte das Hof- 
theater die Kunjtgenüfle Daß nun in ſolchen Verhältniſſen nur 
in der Kunſt die Befreiung aus „Philifternegen“ lag, beſonders 
im Theater, wo ein höheres Leben gemeint wurde, und daß Die 
aufgeflärten und Tunftfinnigen Kleinfürften von der Art Karl 
Augufts, Ludwigd des Erften von Bayern ald Kumftförberer 
wahrhaft prometheiich wirken konnten und mußten, braucht nicht 
außeinandergejeßt zu werden. 

So mie wir die deutiche Kleinſtadt in Amerika nicht haben, 
kennen wir auch nicht das Philiftertum, das wie in Gewächs⸗ 
häufern in ihr großgezogen worden ift. ber Bhilifter haben 
wir troßdem genug. Das Übel der Seelenverengerung ergreift 
bei und die Geld- und die Geſchäftsleute. Der Stolz auf die 
geradlinige Defzendenz von irgendeinem mit den früheiten Ein- 
wandrerzügen des fiebzehnten Jahrhunderts gelommmen Subjekt, 
gleichviel welchen Wertes, Standes und Charakters, wird lächers 
liher zur Schau getragen als der Stolz des deutſchen Klein- und 
Beamtenadeld. Der Bildungspbilifter ift eine ungeheuer verbreitete 
Spezies in Amerika. Aber das ſchwerſte Philifterjoch legt ung die 
Vorftellimg vom Gentleman auf, ein faljches Lebensidenl, die 
Naturen verflacdhend, verfümmernd, eine traurige Erbſchaft der 
alternden Kultur Altenglands. Doch davon wäre ein Buch zu 
fchreiben, und ich babe heute noch einige Beobachtungen mitzu- 
teilen. 

Dem deutihen Bürgertum ift die friiche Luft des weiten 
Neiches in erfter Linie zugute gelommen. Es war am weiteſten 
Dinuntergedrüdt und ift am rafcheften geftiegen. Aber mir fcheint, 
Daß ed nicht minder ein Segen bes neuen Reiches war, daß es 
Deutihland feine hohe Ariftolratie zurüdgegeben bat, die ihre 
natürliche Wufgabe, die foziale Spite der deutfchen Geſellſchaft 
zu fein, über einer politifchen vergaß, für die ihre Staaten viel 
zu Hein waren. Hoffentlich) kommen die Zeiten nie wieder, mo 
der Aufwand für ein Miniaturheer und eine lächerliche Diplomatie 
dieſe Länder bebrüdt. Wie viel befier ift e8 für alle, wenn die 


448 Briefe eines Surüdgelehrten 


Neichsfürften in der Armee und der Diplomatie des Reiches ihre 
Männer ftellen. Es wäre jchon früher manches beffer geweſen, 
wenn wir mehr Bernharde von Weimar, Leopolde von 
Ludwige vou Bayern gehabt hätten. Das Beilpiel der Hohenlohe 
und der Hohenzollern muß unter „Regierenden“ nod) viel mehr 
Nachahmung finden! Wieviel Heldenkraft ift auf beutjchen Hürften- 
chlöffern verdumpft und vermodert. Irgendwo in Deutichlaud 
regiert ein Herr mit den Einkünften eines mittlern Bankiers 
der Not hat, feine paar Schlöffer zu erhalten, und jeinen Hof- 
ftaat längft aufgelöft hätte, wenn nicht der Heine Adel des Landes 
bereit wäre, für weniges mehr als nichts die Erbämter zu be- 
Heiden. Er behält jo wenig übrig, daß er nicht einmal feinen 
Herzenswunſch erfüllen fann, den Kaiſer in feine Sagdrebiere 
einzuladen, die ihresgleichen ſuchen. Was Wunder, daß der früh 
der preußilchen Armee entzogne Fürſt Buddha zu feinem Lieb⸗ 
lingsheiligen erkürt und erft auftaut, wenn man ihm von Dem 
indiihen Königsſohne ſpricht, der Bettler wurbe. 

Das Reich Hat zunächſt die Mleinfürften wieder mehr auf 
ihre Völker oder Völkchen zurüdgebrängt, mit denen fie ſich zu 
vertragen haben. Die Landtage ſtützen ſich mit feltner Einmütig- 
feit auf Preußen, aus deſſen Ichneidiger Bureaufratie die beften 
Verwalter hervorgegangen find, die das Intereſſe des Landes 
auch unter abjolutiftiichen Formen ganz anders vertreten als Die 
gefügigen Höflinge, die jonjt die erjten Stellen als Erbſtellen 
zu befleiden pflegten. „Preußen hat ein Auge auf und,“ „Preußen 
forgt dafür, daß man und nicht wie früher auspreßt.“ In 
Domänen- und Beräußerungsfragen bat fi) Breußen in der 
Hegel für dad Land tätig gezeigt. „Wir werben doch eines 
Tage an Preußen fallen, daß weiß man dort jo gut wie bier, 
und Preußen will und aud nicht ausgeſogen wiſſen.“ Diefen 
Sap babe ich nicht felten gehört. Ja wenn mich meine füb- 
deutfchen Erfahrungen nicht trügen, gibt es fogar zwiſchen ben 
Bogejen und dem Böhmerwald Leute, die pietätlod genug find, 
zu jagen: Wir find in der glüdlichen Lage. durch Preußen gegen 
Billfürlichkeiten unfrer Dynaften und innern Bolititer gejichert 
zu fein, wenn fie noch fo partifularijtifch fühlen, mit einem Auge 
ſchielen fie doch vor jeder „Tat“ nad) Berlin. 

Um nad Thüringen zurüdzufehren: die Stellung der Heinen 
Fürſten zu ihrem Volt hat gerade hier unter dem Reiche nichts 
verloren. Es ift eine gute Ehe, nicht ohne die Trübungen, die 
dazu gehören, im allgemeinen voll Vertrauen und Singebung 


Briefe eines Zurückgekehrten 449 


von feiten der bürgerlichen und der bäuerlichen Teile des Volkes 
und fehr oft auch von feiten der Fürften. Ich bewundre Diele 
mehr als jenes, wie fie unter andern, jchwierigern Verhältniffen 
die alten patriarchaliihen Beziehungen aufrecht erhalten. Die 
Exiſtenz eined Herzog von Anhalt Hat gewiß viel Schönes, aber 
um einen Sommerfonntag in feinem herrlichen Bart zu Wörlig 
beneide ich ihn nicht. Als der Urgroßvater die Urgroßmutter 
nahm und ihr dieſen Park zum Ungebinde gab, da bejuchten 
ihn fchüchtern gute Bürgersfamilien aus Deſſau oder Wittenberg, 
die fih den Luxus eined Haudererd gönnen durften, und wenn 
Serenijfimus ihnen begegnete, ſanken fie in die Erde; er erfannte 
fie aber und zeichnete fie durch huldvolle Anſprache aus. Seht 
ergießen Eiſenbahn, Dampfboot — von Coswig aus — und 
Lohnkutſcher, dad Fahrrad, dieſes nivellierende Inftrument nicht 
zu vergeſſen, allfonntäglid und fogar allmittwochlich Taufende 
von Menſchen in dieſes friedliche Gelände. Wenige von ihnen 
haben das Bewußtfein, daß fie bier beim Herzog von Anhalt 
zu Gaft find. Die Mehrzahl fchreit, johlt und benimmt fich nicht 
wie zubaufe, nein wie in irgendeinem öffentlichen Lokal dritten 
Nanged. Dabei Hält ed der Herzog für feine Pflicht, wie fein 
Vater und fein Großvater, fi) gerade Sonntags dem Volk zu 
zeigen, und ſogar fein liebes Töchterlein Futichiert fein Pony: 
geipann durch die Wagenburg der Sonntagsgäfte. Früher hörte 
der Larm mit Sonnenuntergang auf. Seht ſorgt die mit herzog⸗ 
liher Genehmigung duch die ftillen Gründe von Jonitz und 
VOranienbaum gebaute Lolalbahn dafür, daß fih der Bodenſatz 
des Sonntagspublikums erft nad) zehn Uhr empfiehlt. Ans ber 
weltabgefchiednen Idylle ift ein Worftadtvergnügungsort ges 
worden. Kann man als Landesvater feinem Volle mehr ent- 
gegenfommen? 


6 


Nach der Feier des Unabhängigfeitstages, der Nordameri⸗ 
Taner aus den verjchiedenften Städten Deutſchlands um den Bot- 
Ihafter und einige Konſuln der Vereinigten Staaten verfammelt 
Hatte, ftand die feftlich geftimmte Gejellichaft in Gruppen bei- 
fammen, die lebhafte, heitere Geipräche mit auffallender Mäßigung, 
faft gedämpft pflogen. Leiſes Sprechen und unjcheinbared Be 
wegen, das jede Auffälligleit faft zu abſichtlich vermeidet, wird 
von Jahr zu Jahr mehr der gute Ton in der amerikaniſchen 
Geſellſchaft. Iſt das ein „frauenhafter“ Zug? Oder entfpringt 


Nayel, Städsinfeln und Träume 


450 Briefe eines Zurüdgefehrten 


es dem Streben nach Ichärferer Betonung der Grenze ee Das 
aufdringliche Naturburfchentum der nächftuntern Schicht? Jeben⸗ 
falls bin ich überzeugt, daß Die freundſchaftlichen und —— 
Exploſionen in einer übrigens echt amerikaniſchen Gruppe, 
nach aufgehobner Tafel „um die Bar Bing,“ bei Eorreften Seren 
den Verdacht erwedte, daß in diefen Landsleuten aus Newyork 
und Pennſylvanien etwas deutſches oder gar franzöſiſches Blut 
fliegen müſſe. Wer nicht noch einen Händedrud des unermüb- 
lihen, an Geift und heitrer Liebenswürbigfeit wnerichäpflichen 
Mr. Andrew White zu erhaſchen ftrebte, trennte fi nun mit 
einem lebten liebevollen Bid! auf den Saal, dem die Fülle des 
Grün .und der Blumen einen ganz beſondern heimatlichen Wei 
verlieh. Nicht die Sternenbanner, Büften und Infchriften machten, 
daß eine amertlanifche Luft durch den Raum wehte, der den 
banalen Charakter eine Gafthausipeife- und Geſellſchaftsſaals 
unter den Händen amerikaniſcher Damen und einiger junger 
Künftler vollftändig verloren hatte Es war völlig ein Stüd 
amerilanijcher Boden. Es kam mir vor, ald röche es nach 
Balfam- und Schierlingstannen. Nur einem Volle von ftarlem 
nationalem Empfinden gelingt es, mit feiner Berfönlichleit einen 
fremden Ort irgendiwo in der Welt jo deutlich und erfennbar 
zu durchdringen. 

Karl Peters erzählte mir einmal von einem Kommers, ben 
ibm jchottiiche Afrikafreunde in Edinburgh veranftaltet 55— 
wobei Teetaſſen und Kalaobecher mit Bier und Scotch W 
zujammenklangen und manche Säfte auch völlig „troden“ faßen. 
Unfer Tiſch erinnerte mic) daran mit feinen Midhgläfern und 
den Heinen Släfchchen graustrüben altoholfreien Ingwerbierd. Es 
fehlte ihm das Licht und die Blut edler Weine Sch merfte 
wieder einmal, daß die Temperenzbewegung aud) ihre Aftbetifche 
Seite hat. Für und, in deren AJugenderinnerungen die Reben 
hineinranfen, deren erfte Lateinftudien das Verslein einprägte: 
Aqua das Waſſer, Vinum der ein, Spira die Brezel, die tunkt 
man hinein, die die Weinlefe als das fröhlichſte Feſt des Jahres, 
des ehrlichiten und berzlichften der Erntes und Danffefte feiern 
fahen und mitfeierten, deren Erinnerungen an Yreundichaft und 
Liebe der Duft edeln Weines umweht, ift zum Glück die Allobol- 
frage feine reine Genuß⸗, Geſundheits⸗ und Nervenfrage. Niemals 
fommen mir die Anglofelten utilitariich=platter vor, als wenn 
fie den Wein- und Biergenuß mit aller feiner Poeſie kurzweg 
in dieſelbe Grube wie ihre tieriiche Whißfeynöllerei werfen. Man 


Briefe eines Surüdgefehrien 451 


muß ftumpf fein gegen das Schöne und Gute diefer Erbe, wenn 
man das alte Gold des Rheinweins oder ben grünlicdhen Bern- 
ftein des Moſels nur deshalb nicht mehr leuchten ſehen will, 
weil darin ein paar Tropfen von demfelben Alkohol find, der 
in Eonzentrierten Dojen den Menſchen vertiert. Ich fchmärme 
nicht für unſre Weinpoeten, aber wie kann man die Poeſie des 
Weines wegwerfen? Das ift nur möglich, wo der Sinn für die 
Schönheit des Lebens überhaupt krankhaft verfümmert ift. Kein 
fremdartigeres Gewächs auf beutjchem Boden als die fogenannte 
Abftinenzbewegung. Yür Mäßigkeit find wir entichieden und 
halten die Unmäßigleit für einen der Exbfehler der Deutichen, 
denen man, wie dem Neid und der Nörgelei, bei jeber Gelegenheit 
‚entgegentreten muß. ber wir proteftieren ebenjo entſchieden 
gegen die Intoleranz der fanatiihen „Waflerfimpel,“ und zwar 
hierzulande noch viel bereitwilliger al3 drüben. Dort hatten wir 
freilich das unangenehme Gefühl, daß mit uns zugleich Diefe 
„Plante* aus der demokratiſchen Plattform ein paar taufend 
derbe Fäufte von Brauern und Schenfwirten emporhielten, die 
ein Intereſſe von ganz andrer Natur daran hatten. 

Ich kann nie den Eindrud vergeflen, daß es eben doch der 
Kampf gegen die Wein- und VBiergegner war, der fefter als 
alle8 andre die Deutſchen aller Länder und Gefinnungen zu- 
fammenhielt. Da war plötzlich die politiiche Disziplin da, die 
man bei andern wichtigften Gelegenheiten vergeblich ſuchte. Ja 
dieje vielbeiprochne deutſche Disziplin! Sie wirkt Wunder, wenn 
wir kommandiert werden oder nad freier Übereinkunft unfre 
ganze Perfon in den Dienft einer Aufgabe ftellen, die wir ernft 
nehmen. Wie ſchmerzlich vermißt man fie oft im geſellſchaft⸗ 
lichen Leben. Wohl laufen wir damit auch nicht Gefahr, lächerlich) 
ober läppijch zu werden, weil wir Spiel für Ernft nehmen, oder 
aus der Schale der SKonvenienzen nicht mehr herauszukönnen 
und und unfrei durchs Leben zu plagen. Aber wir bereiten ung 
felbft und andern unnötige Schwierigleiten, weil wir kleinen 
Forderungen der Sitte nicht oder ungern und dann natürlich 
ohne Grazie folgen. Ich ſetze meine Hoffnung, daß es auch in 
dieſer Beziehung beſſer werden wird, nicht fo ſehr auf die Aus⸗ 
breitung jenes Sitten- und Ehrenloder des modernen Nittertums, 
das das ganze deutiche Offizierkorps umfaßt, in die bürgerlichen 
Schichten, als auf die mit der Pflege der „Weltpolitit* wachſende 
Einfiht, daß zum Unfehen eines Voll in der Welt auch die 
Erfüllung der höchften gejellichaftlichen Forderungen durch jeden 

29* 


452 Briefe eines Zurückgekehrten 
gehört, den Bildung oder Beſitz berechtigen, eine hervorragende 
Stelle in Anſpruch zu nehmen. 

Dresden iſt eine Stadt zum Schlendern. Der Strom, die 
große Brüde, die weiche Luft, die blauen Hügel, die intereffanten 
Bauwerke laden zur Betrachtung ein. Ich vergleiche dieſe Eigen- 
ſchaft Dresdens mit Ylorenz, Brüflel, Münden. Wer aud dem 
geihäftigen, nüchternen Leipzig kommt, das fidh, ſeitdem es fidh 
mit einem Kranz von Yabrildörfern umichlungen hat, niemals, 
auch an höchften Feſttagen nicht ſeines Alltagsgewandes entledigen 
kann, findet in Dresden die Feſttagsſtimmung einer von zahlloſen 
müßigen Menſchen bewohnten und zu allen Jahreszeiten von Ber: 
gnügungsreilenden befuchten Refidenzftadt. Die Menjchen gehn gut 
gelleidet, ſogar gepußt auf den Straßen, ihr Schritt ift langfam, 
fie „laffen fich Zeit,“ glänzend ausgeftattete Gewölbe äffnen ſich 
auf die Straßen, Kaffeehäufer find von lefenden und fpielenden 
Gäften befucht, und ftille Alleen öffnen ſich zu beiden Seiten ber 
Verkehrsſtraßen. Dabei fehlen nicht Die Erinnerungen an eine anders 
geartete Vergangenheit. Die Lebensader der alten Stadt, die Prager 
Straße, iſt feine breite Triumphitraße wie „Die Linden,” fie bat 
vielmehr etwas eng Bürgerliches, das der Entwidlung Dresdens aus 
Heinen, faſt börflichen Verhältniffen entſpricht. Dazu paßt bie 
bürgerliche Lage der Reſidenz, der gegenüber, nur durch Die 
Straße getrennt, fi) die Schaufenfter breit maden. Die groß⸗ 
artige Elblandichaft mit der Zerrafie, der herrlichen alten Brüde 
und dem Biwinger find durch den dunkeln Durchgang ganz Davon 
getrennt, gerade jo wie das bürgerlide und burenufratifche 
Dresden einft unberührt geblieben war von den Sun 
des Hofes. Beide umfaßt nun das moderne Dresden, bier Stadt 
der Induſtrie und des Handels, dort Fremdenftadt. Sogar in 
der Fremdenſtadt möchte man noch die Schichtungen einer geſchicht⸗ 
lichen Entwicklung verfolgen, denn der Wechſel iſt nicht unbe⸗ 
trächtlich von der Zeit an, wo die polniſchen und die ruſſiſchen 
Familien zuerft die Vorzüge Dresdens für den Aufenthalt in der 
Fremde erfannt hatten, und der Periode der großen Überichivem- 
mung mit Engländern und Amerikanern, der endlid ein ftarker 
BZuftrom norbbeuticher Ruhe⸗ und Genußfuchender folgte. 

Während wir am Elbufer Hinwanderten, führte umd Die 
Betrachtung diefer Vergangenheit unmerflid) auß der trandatlan- 
tischen Stimmung der lebten Stunden in bie beutiche Gegen⸗ 
wart zurüd. Niemand Hatte den Wunfch, fi) ihr zu entziehen, 
denn auch die gebornen Amerilaner gehörten zu Denen, die fi 


Briefe eines Zurückgekehrten 458 


Deutihland in irgendeiner Beziehung verſchuldet wiſſen. Wir 
hatten in unferm reife einen der erſten Ärzte von Newyork, 
den Sprößling einer der idealgefinnten Judenfamilien, die in den 
fünfziger Jahren zu dem beiten Kern ber deutſch-amerikaniſchen 
Geſellſchaft gehörten. Er war in Deutihland gebildet, und zwar 
nicht gefirnißt, fondern gejättigt mit beutfcher Wiſſenſchaft, dabei 
Amerilaner von Gefittung und wohl auch Gefinnung. Er kam 
bon einem der großen internationalen Kongrefje und teilte uns 
feine Einbrüde mit. Wiſſenſchaftlich, meint er, folgen wir ja 
alle entichloffen und in Maſſe den deutſchen Führern. Ich habe 
da Leute getroffen, die kaum ein Wort Deutſch mehr radehrechen 
fonnten, deren Augen aber aufleuchteten, wenn fie ben Namen 
eine® von den alten, originellen, uneigennügigen, ibealvollen 
Lehrern vernahmen, zu deren Yüßen fie gejeflen hatten. ch 
habe einen Engländer mit Tränen der Rührung vom „alten 
Arnold“ ſprechen hören, der noch zu Ende der fechziger Jahre 
in Heidelberg bozierte. Nun, er war ja auch rührend, der liebe 
Heine Dann, der uns in feiner Vorleſung über die „Anatomie 
bes Embryo“ mit feinem alten Körper alle Lagen bes werdenden 
Menihen im Mutterihoß mit akrobatiſcher Gewandtheit vor- 
demonftrierte, und gelegentlich aber auch mit dem Kindspech 
übergoß, das er in einer Schale entzüdt herumreichte. Welche 
Begeifterung bei ihm für bie Sade, und welche Wärme und 
Anhänglichleit bei und für den Lehrer, der ganz in jeiner Auf⸗ 
gabe aufging! Solche Leute wachſen bei Ihnen in Deutichland 
immer wieder nad), bei uns bleiben fie leider immer jelten. 
Wiſſenſchaftlich kommen wir Deutichland befonders im Techniſchen 
nad) und mandymal zuvor. Da find unjre oft belädhelten Zahn⸗ 
ärzte mit ihren neuen Apparaten und Kunftwerlen von Gebiſſen 
der ganzen Welt voraus, da kommen aber auch jebt jehr nahe 
beran die Chirurgen. Das Chloroform und die unichähbare 
Krantenbarade find nicht die einzigen amerikaniſchen Erfindungen 
auf diefem Gebiet. Die amerikanische Eigentümlichkeit, daß jeder 
Urbeiter aus feinem Handwerkszeug das befte zu machen jtrebt, 
bie fogar die Art des Hinterwäldlers zur Mufterart aller Holz⸗ 
fäller der Erde macht und ber Welt die Goldfeder und die Schreib- 
mafchine gegeben bat, bat auch die chirurgiichen Werkzeuge und 
Verfahren ergriffen und wird noch Bedeutenderes darin leiften. 
Amerika hat mehr mufterhafte Krankenhäuſer als das alte, reiche 
Europa. Auch die Irrenanſtalten find bei uns durchſchnittlich 
vortrefflich eingerichtet. ch verkenne aber nicht, es find das 


454 Briefe eines Zurückgekehrten 


alles mehr techniſche Fortichritte. Beruhen aber nicht alle Fort- 
Ichritte der praftifhen Medizin zulebt auf —— So if 
es auch mit den amerikaniſchen Errungenſchaften in der Aſtronomie 
und in der Phyſik, die ſchon mit den Leiſtungen des alten Deutſch⸗ 
penniglvanierd Nitterhaus, den chauviniftiiche Amerilaner und 
dumme deutiche Nachtreter jebt Rittenhouſe zu jchreiben lieben, 
vor hundert Jahren anhuben. Kraft folder Fortſchritte haben 
wir freilich einige Lehrftühle an unfern mohldotierten Univerfi- 
täten mit namhaften Sräften beſetzen können. ber einen Lehr⸗ 
förper wie auch nur eine mittlere deutſche Univerfität haben 
weder Harvard noch Yale, von den jüngern zu ſchweigen. 

Das hängt nur äußerlich Damit zufammen, daß unfre meiften 
Profefioren für amerilanifche Verhältuiffe zu jchlecht bezahlt find. 
Die Haupturjache liegt tiefer.” Der Deuticde wirft feine Berfön- 
lichkeit rüdficht3lo8 in die Maſſe und geht ald Foricher unb 
Lehrer ganz in feiner Arbeit auf. Yür in gibt e8 nur noch 
den Maßftab defien, was er leiftet. Ob er dann wie ein Brummen- 
pußer berumläuft, der eben aus dem Schacht geftiegen ift, ob 
er in der Gejellichaft gefällt, ob er überhaupt gefällt, das if 
ihn gleich. Ein kleiner Kreis von Yachgenofien, mit dem er 
übrigens meiftens im Streite liegt, iſt fein Pairögeriht. Auf 
die Welt darüber hinaus gibt er nicht viel Sein Fach, feine 
Lieblingsgedanken oder =theorien, feine Schüler, die find feine 
Welt. Wenn nicht die leidigen Titel und Orden wären, könnte 
man fagen: der direlte Nachkomme des Sokrates und des Plato, 
ber Lehrer nicht bloß feines Volls, nein der Menfchheit. Das 
werden wir in Amerila nicht nacjmachen, wie e8 denn eine 
Anzahl von Dingen in Deutſchland gibt, die man nirgends im 
Ausland nachahmen kann; ed find mehr und größere, als man 
fih in Deutichland ſelbſt träumen läßt. 

Um bei den Hochſchulen zu bleiben: der Amerikaner ijt 
durchſchnittlich viel zu viel Sklave der Gejellichaft, als daß er den 
Adel des ganz freien Ritters vom Geifte jo leicht erringen Tönnte. 
Bon den talentvollen Jünglingen, die alljährlich von deutjchen 
Hochſchulen zu uns zurüdkehren, erreichen in der Regel nur bie 
Stellung und Einfluß, die ihre Unabhängigfeit opfern. Bei Be 
fürderungen heißt ed nicht: Was leiftet er? fondern die törichte 
Frage wird geftellt: Iſt er Gentleman oder Scholar? Gut, 
wenn er beides ift; daS kommt aber felten vor. Zeigt er aber 
in den Augen des Präfidenten, der für eine amerilanifche Uni- 
verfität viel mehr bedeutet als für eine preußiſche der Kurator, 





Briefe eines Zurückgekehrten 455 


Mängel in der erften Hinfiht, jo wird ihm irgendein ge= 
fhniegelter Streber vorgezogen. Da num nichts bequemer ift, 
als durch die Pflege der Außerlicheiten, die nad) den zunehmend 
plutofratifch werdenden Anfichten zum korrekten Bürger gehören, 
Lücken der Leiftungen zu verdeden, fo findet man die zahlreichen 
Brofefioren, die nichts leiften, immer auf der Seite des Gentleman. 
Der Scholar ift ihnen bedenklich, und von dieſer Seite her be= 
ginnt ſchon eine Reaktion gegen die angebliche Überſchätzung der 
beutichen Wiſſenſchaft, die wie alle8 Chauviniftiſche bereitiwilligft 
von den im Grunde doch jehr ungebildet gebliebnen anglofeltifchen 
Maflen aufgenommen und beſonders von den nad Popularität 
haſchenden Blättern gefchürt wird. Die deutſche Wiffenfchaft und 
ihre Pflege auf den Hochſchulen behält ihre Freunde. Einen 
Mann wie Andrew White erreichen die trüben Strömungen gar 
nicht. Aber der höchſte Stand des deutſchen Einflufies auf das 
amerilanifche Geifteßleben ift wahrſcheinlich Schon überjchritten. 
Wer möchte leugnen, daß Wiffenfchaftspflege und =Iehre in 
Deutfchland, Oſterreich und der Schweiz auch ihre Mängel haben ? 
Ich habe gerade die Fachmänner mit echt deuticher Unbefangen- 
beit darüber ſprechen hören. Gerade weil man ſich ihnen nicht 
verichließt, wird man fie noch beizeiten befeitigen Tünnen. Die 
amerilaniſchen Beurteiler prechen meift mit zu viel Vorein⸗ 
genommenbeit, als daß fie in Deutichland mit der Ruhe gehört 
würden, die man nötig hat, wenn man bie eignen Fehler ein- 
fehen fol. &8 find auch meift nicht Leute, denen man bierzu- 
lande wegen ihrer wifjenjchaftlicden Autorität ein willige8 Ohr 
leihen möchte. Immerhin wird es gut fein, die von ihnen nicht 
zu überhören, die ſachlich urteilen, und deren Ausſtellungen 
mandymal mit denen der deutichen Kritiler genau zufammenfallen. 
Ich möchte beſonders drei Punkte nennen, in denen neuerdings 
bie amerilaniiden Anſichten übereinzujtimmen ſcheinen. Sie 
rügen den Tleinlichen, in Spißfindigfeiten aufgehenden Charalter, 
den die deutſche Wifienichaftspflege anzunehmen beginnt, und 
machen dafür die Züchtung von Schülern und bie Steigerung des 
Gelehrtenehrgeizes verantwortlich, deren Grund die vielgepriejene 
Einrihtung des freien und großenteild ununterftühten Wett⸗ 
bewerb3 der Privatdozenten fei. Es öffne ſich dadurch auch Den 
Reichen die alademifhe Laufbahn immer weiter und breiter, 
während den talentvollen Armen vielfach bie Möglichkeit genommen 
fei, mit den andern umter gleichen Bedingungen um den Preis zu 
ringen. Diejelben Beurteiler tabeln die Einrichtung der Kollegien⸗ 


456 Briefe eines Zurũckgekehrten 


gelber, Die höchſt ungleichmäßige Einnahmen an Gelehrte unb 
Lehrer ohne jede Rückſicht auf ihr wahres wifjenfchaftliches Ver⸗ 
dienft verteile; während man mit allen andern beutichen Hoch⸗ 
ſchuleinrichtungen drüben experimentiert bat, tft es allerdings 
meines Wiſſens auch der ärmften Univerfität des Weſtens nicht 
beigelommen, es mit Kollegiengelbern zu verſuchen. Das ift be 
zeichnend für die Stärke des demofratiichen Zugs gerade in diefem 
selde, wo man doch in fo vielen andern Beziehungen Wrifto- 
kratiſches in bewußtem Gegenſatz zur Gleichmacherei anzupflanzen 
ſtrebt. Sc alaube, daß in diefem Falle die Amerikaner Recht 

Alle Gründe, die man für das Kollegiengelb anführt, 
find bei Licht betrachtet faul. Man kann doch am Ende nicht 
zugeben, daß unter allen Dienern des Öffentlichen Wohl nur 
die Hochſchullehrer den Anreiz bejondrer Bezahlung brandyen, 
damit fie ihre Pflicht tun? 

Dagegen ift der Vorwurf, der deutſche Gelehrte vergeffe 
über dem Forfchen allzubäufig, daß er zum Lehren berufen ſei, 
verftehe nicht, fich verftändlich zu machen, oder ziehe einen dunkeln 
Stil vielleiht gar nur vor, um bie Unklarheit feiner Gedanken 
zu verhüllen, ganz veraltet. Freilich fein Geringerer als Goethe 
jagt in den Aphorismen über Naturmwiflenichaft: Die Deutfchen 
befigen die Gabe, die Wiffenfchaft unzugänglich zu machen. Ob er 
heute die Sache wohl fo fchroff Hinftellen würde? A. von Hum⸗ 
boldt, der in der jchönen Einleitung zum Kosmos dieſen Aus⸗ 
ſpruch anführt, bezeichnet ihn dort als humoriftiſch, meint aber 
auch don ben wifjenichaftlihen Werken, daß man das Gebäude 
nicht erbliden Tünne, wenn das Baugeräft vor demfelben ftehn 
bleibe. Jedenfalls bat ja gerade dieſer Meifter gezeigt, daß 
Deutſchland auch große Baulünftler im Feld der Wiſſenſchaft 
erzeugen Tann. Sein Kosmos tft überhaupt das Größte, was 
in gemeinverftändlicder Darftellung wiſſenſchaftlicher Reſultate 
geleiftet if. W. von Humboldt hat au Schule gemadt. In⸗ 
defien jo ganz ift der Vorwurf Goethes noch nicht eutfräftet. 
Es gibt manche hHäßliche Faffaden in ber deutichen populär= 
wifienichaftlichen Literatur. Das Rorurteil iſt weggeräumt, als 
vergebe fich ein Gelehrter ettwaß, wenn er gemeinverftändlich 
ſchreibt. Der gute Wille, e8 zu tun, ift bei manchen nur zu 
fihtbar, deren Rede mit feltfamen Schnörkeln aufgepußt iſt, als 
ob dadurch die Unklarheit aufgehellt würde. Einigen gelingt es. 
Über e8 mag wohl fein, daß das praktiſche, auf wenig Zwecke 
folgerichtig —* anglokeltiſche Ingenium für dieſe Art von 


Briefe eines Zurũckgekehrten 457 


Schöpfungen befier angelegt iſt. Außerdem wird auch das Ver⸗ 
dienft auf dieſem Felde bei den engliſch Iprechenden Völkern viel 
bereitwilliger anerfannt als bei uns. Es ift genau baßfelbe 
Streben, das fi) in ihrer Geichichtichreibung viel deutlicher zeigt, 
zu fefleln, zu überzeugen ober wenigftens zu überreden. Macaulay 
als Hiftoriker ift raſch in der Schäßung der Fachleute geſunken, 
aber Macaulay als Nhetor oder, um es gerade herauszuſagen. 
als Advokat wirkt noch immer auf weite Kreiſe. Um biefe Art 
von belehrender und aufllärender Literatur, die in den Natur⸗ 
wifienfchaften die auch in Deutichland vielgelefenen und naiv über- 
ſchätzten Huxley unb Lubbod vertreten, beneiben wir bie Anglo⸗ 
kelten nicht. Sie bleibt weit hinter unſerm Ideal zurüd, daß 
höchfte Wahrhaftigkeit die Seele der Wiſſenſchaft fei. Übrigens 
ift gerade die populänwifienfchaftliche Literatur der Amerikaner 
ſchwach. Im Lande der öffentlichen Vorträge, Kurſe und Volks⸗ 
bibliothelen follte man mehr und beſſeres erwarten. Sie haben 
einen Klaſſiker darin, Benjamin Franklin, den man nicht mehr 
Heft, und — eine Maffe Überfegungen aus dem Franzöſiſchen 
und dem Deutjchen und Nachdrucke engliſcher Werte. 

Der tiefe Ernft, mit dem heute in Amerika paädagogiſche 
ragen in den weiteften Kreiſen beſprochen und vertieft werden, 
ift ein echtes Jugendmerkmal; er lebte in Deutihland zu der 
Zeit, wo alle bedeutenden Menichen Peftalozzis Werte laſen und 
feinen päbdagogilchen Verſuchen mit mehr ald Wißbegierde, mit 
herzlicher Teilnahme folgten. Auch Beute wirb in Deutichland 
viel über Erziehung verhandelt, aber mehr geichrieben als ge⸗ 
ſprochen. Es muß dem Amerifaner auffallen, daß Erziehungs- 
fragen weber in den Geipräden noch in Beitungen die Stelle 
einnehmen wie in Amerika. Manches Gute wird im allgemeinen 
von den Fachmännern über dieſe Frage geichrieben; das Publikum 
fieft e8 oder lieſt e8 auch nicht. Daß ſich dabei ein gewiſſer 
Bunftgeift breit macht, entipricht deutſchen Neigungen. Die 
Schule als eine Form des fozialen Lebens aufzufaflen und ihr 
das Biel zu ſetzen: to socialize the child, wie die übliche Rede 
lautet, das Kind fähig zu machen, feine Umgebungen zu veritehn, 
fi in fie einzuleben, feine Stelle auszufüllen und feinen Mit- 
menfchen das zu fein, was fie von ihm fordern dürfen, ift eine 
amerilanifche Idee. Sie ift zwar, wie alle amerifantichen Ideen, 
auf dem Boden der Alten Welt gewachſen, aber in die Form 
eines höchft praftiichen Erziehungsgrundfaßes haben fie die Ameri⸗ 
Inner gebracht. Die Zolgerung ift: mehr Törperliche Übung, 


458 Briefe eines Zurückgekehrten 


Handarbeit, häusliche Künfte, äfthetiiche Bildung, um eine te 
unmerkliche Hebung der jozialen Schichten zu bewirken. 
id) auch die grundverichiebnen Lebensbedingungen diesſeits yo 
jenjeit8 bed Dzeand erwäge, fcheint mir Doch immer die ameri- 
kaniſche Pädagogik hier auf einem guten Wege zu fein. Man 
überijhäbt vielleicht bie Leiftungsfähigteit der Pädagogik über- 
Haupt. Aber die öffentlichen Leſezimmer, Boltsbibliothefen, wan- 
dernden Bibliothefen Amerikas find ganz gewiß Einrichtungen, 
aus denen Deutjchland noch viel mehr für feine Bildungszwecke 

nehmen Tann als bisher. Und daß bie Amerikaner nicht 
fo ganz Unrecht haben, wenn fie den beutfchen Hochſchulen ben 
Mangel an pädagogiihen Rückſichten vorwerfen, beweilen Die 
Stimmen aus den Kreiſen des deutichen Profefjorentums, die 
Ahnlich lauten. Es ift bie Kehrfeite der glänzenden Zeiftungen 
der Fachmänner, daß fie da Recht in Anſpruch nehmen, allein 
über ihre Sachangelegenheiten zu urteilen. Wo es fi) nun, wie 
bei der Erziehung, um ein allgemeined Intereſſe umfafjendfter 
Art handelt, kommt leicht die Allgemeinheit dabei zu kurz. Der 
Kampf der Realichulmänner und der Philologen um bie Reform 
bes Mittelſchulunterrichts in Deutichland zeigt die wiberlichiten 
Zormen des Streit? um Bunftgewohnheiten und Bunftoorrechte, 
wobei die Jugend, die Menſchen überhaupt, auf die es allein 
anlommt, über Saden und Vorftellungen vergefien werden. Die 
große Öffentlichkeit, in der in den Bereinigten Staaten von 
Anfang an alle Erziehungs- und Bildungsfragen verhandelt 
werden und wurden, ift ein ganz bezeichnender und wichtiger 
Zug im tranatlantiihen Leben. 

h deutſchen Gelehrten ihr Spegialiilenkum vor⸗ 

rücken. Gewiß iſt nicht jeder ein Entdecker, aber da 
noch kein Handwerker. Es gibt auch eine Größe der Arbeit im 
Kleinen. Ideen fruchtbar zu machen, gelingt nur der emfigen 
Arbeit Vieler. Der Engländer Sorby ift der Entdeder der um⸗ 
wälzenden Methode der Unterfuhung dünngeſchliffner Gefteins- 
plattchen mit dem Mikroſtop. Aber nicht in England bat dieſe 
Methode ihre Anwendung gefunden. Die Gefteine der ganzen 
Erde machen ihre Wege durch die deutichen petrographiichen 
Inſtitute, und aus biejen erhalten England, Amerila, Indien, 
Rußland die Kunde von der Zufammenjehung der Geſteine ihres 
Bodend. In der Botanik und in der Zoologie ift troß genialer 
Einzelner, wie Hooler und Darwin, die Abhängigleit von Deutich- 
land jo groß, daß 3. B. in der Entwicklungsgeſchichte verwidelte 


Briefe eines Surüdgefehrten 459 


deutiche Wortbildungen wie Bindegewebäzelle, Randſchlier u. dergl. 
in die englischen Terte hinübergenommen werden. Julius Sachs 
tft faft noch mehr der Bater der neuern engliſchen und amteri- 
kaniſchen Botanik als der deutfhen. So ift e& fo ziemlich in 
allen Teilwiffenichaften. ch höre, daß fich die Amerikaner jetzt 
mit mehr Fleiß und Hingebung der gründlichen Sonder- und 
Einzelarbeit widmen als die Engländer und im Begriff find, 
ihre Vettern befonder8 in den Naturwifienichaften unb den 
philologiichen Fächern in den Schatten zu ftellen. Leider find 
aber unfre jungen Amerifaner nicht immer ſtark genug, den 
Bettlauf mit deutichen Strebendgenofien auf die Dauer durch⸗ 
führen zu können. Manche von ihnen wechjeln bei ihrem Aufent- 
halt in Europa regelmäßig zwifchen dem Hörfaal und der Kalt⸗ 
waſſerheilanſtalt ab. Andern fehlt der Antrieb, der den deutfchen 
Brivatdozenten die Überzeugung erteilt, daß nur“ Leiftungen 
ihnen zu einer Profefjur verhelfen werden; in Amerika glaubt 
man, diefe Einrichtung würde die Univerfitäten den Beſitzenden 
in bie Sand geben. Geltfam; während man ſonſt drüben 
überall da8 Heil nur vom freien Spiel der Kräfte erwartet, 
hemmt man e3 gerade da, wo ed, wie Deutichland zeigt, treffliche 
Früchte bringt. 

In einer von den Dresdner Fremdenpenfionen, wo man 
fiher ift, dem halben europareifenden Amerika zu begegnen, traf 
ih kurz nad) diefen Gefprächen mit einem Geſchichtsprofeſſor 
einer nicht unbebeutenden amerikaniſchen Univerfität zufammen, 
der den dort in größern Beiträumen wiederlehrenden Jahres⸗ 
urlaub, da8 fogenannte Sabbath Year, in Europa verlebte. Bor 
Jahren hatten wir uns fozufagen auf der Schwelle von Ban- 
crofts Tusculum getroffen, er von beutichen Univerfitäten zurüd- 
gelehrt, ich ſchon damals voll Sehnfucht, mid) aus amerilanifchen 
Geſchaften in die deutſche Heimatatmoiphäre zu retten, die ih 
mir wie eine reine, Träftige Höhenluft dachte. Ich Hatte nicht 
ganz Unrecht, wie ich jeßt wohl weiß, wenn aud) „nicht alle 
Blütenträume reiften.“ WIE wir damald Bancroft fahen, war 
er ein fchöner Greis, wie Amerika viele hat, jebt waren mir 
beide weiß. Aber jener Tag ftand noch klar in unfrer beider 
Erinnerung. Ich erinnerte mich ſogar genau der fajt beängjtigend 
flammenden Gerbitfärbung der Alleebäume, Ahorne, unter denen 
wir hinabſchritten. Neben der Verehrung für den in Amerifa 
und Deutihland Hoch geichätten Geichichtichreiber und Staats⸗ 
mann kam nun freilich aud die Eritifche Stimmung zum Aus⸗ 


460 Briefe eines Surädgelehrten 


drud, zu der Menſchen neigen, deren Selbiterziehung und 
bildung fich tief ins Alter fortfebt. Die Ideale wechſeln bei 
ſolchen raſcher. Sch verhehlte meinem Profeſſor nicht, daB mich 
Bancrofts vielgerühmte Gejchichte der Vereinigten Staaten von 
Amerila Tängft nicht mehr jo erwärmen fönne wie damals. 

Sch glaube in der Tat, daß Bancroft jein Boll gar nicht 
gefannt Hat; feine Amerilaner find engliſche Landedelleute und 
Bürger, die fi in die Neue Welt verirrt haben, befonders aber 
das erfte, und nım bier die Geſchichte von Eſſex, London, 
Briftol uſw. fortſetzen. Eine Schönfärberei voll anglo=ameri- 
kaniſcher Selbitgefälligkeit, das ift der Geift feiner Geſchichte. 
Ich fagte: Bancroft rühmte gern,. was er deutſcher Schulung 
und deutſchem Geiſtesleben verdankt habe; aber ich finde, daß jeine 
hiſtoriſche Methode kindlich ift im Vergleich mit der von Ranke, 
der fich freilich dazu berbeiließ, Bancroft als Gleichſtehenden zu 
behandeln; und außerdem finde ih, daß wenn ein bornierter 
Engländer diefe Geſchichte geſchrieben hätte, er nicht geflifient- 
licher die Verdienſte der Niederländer und der Deutichen um 
bie Entwidlung Amerikas hätte verjchweigen können. Wo ift da 
der Dank für das, was er Deutſchland ſchuldete? Diejes Über⸗ 
ſehen jei aber doch nur ein Fall von vielen und wiberjpreche 
ber Gerechtigkeit des Gefchichtichreiberd um jo mehr, als es fi 
dabei um Minderheiten handle, deren Stimme jo leicht übertönt 
werde. Mein alter Yreund meinte zwar, dafür jeien ja bie 
biitorifchen Vereine da, die gerade auch von ben Niederländern 
und den Dentſchen in Amerika begründet worben jeien, und 
übrigens jehe man jet über die Verdienfte der Völker, die den 
Boden der Vereinigten Staaten von Amerika erwerben halfen, nicht 
mehr jo hochmütig weg, wie unter anderm Rooſevelts Winning 
of the West und verwandte Werke der lebten Jahre bewieſen. 
Ich konnte das nicht jo ganz zugeben, jedenfalls nicht für Indiana 
und Ohio, deren Geſchichte ich ziemlich gut fenne. Die wahrhaft 
bedeutenden deutichen Pioniere des Weftend werden auch heute 
nicht nach Verdienft gewürdigt. Übrigens, meinte ich, babe dieſe 
Sache eine ganz ernfte Bedeutung für Amerika felbft, deſſen 
onglofeltiihe Bevölferung die geſchichtliche Wahrheit bejonders 
dringend bra 

Kein Volk ift durch Schläge von außen zertrümmert worden, 
wenn ed nicht innen ſchon zerrifien und unterwühlt war. So 
fürchte ich aud nicht für die Norbamerilaner, daß äußere An⸗ 
griffe ihnen jchaben werden. Ihre größten Gefahren lauern in 


Briefe eines Zurückgekehrten 461 


ihnen felbft. Ich glaube fie zu kennen, und fie find überhaupt 
nicht ſchwer zu finden. Es ift die alte Völkerkrankheit der Selbit- 
belügung, an ber fie leiden. Den Reim dazu in einer Stärke, 
die fonft felten vorfommt, haben die Engländer auf fie über- 
tragen. Sie täufchen fih mit einer foldhen Hartnädigleit und 
mit fo viel Scharffinn über ihre Fehler hinweg, daß dieje auf 
Selbftbelügung beruhende Selbſtgerechtigkeit ihnen Tängft in 
Fleiſch und Blut übergegangen if. Und da fie in demjelben 
Maße andre Völker tiefer ftellen, wie fie fich jelbft erheben, laden 
fie den Haß aller nahen und fernen Nachbarn auf fi. Ach 
finde die Amerikaner in diefer Beziehung einjtweilen noch etwas 
erträglicher ald die Engländer; denn fie find doch mit vielen 
fremden Elementen durchjegt, die fich gelegentlich noch zur Wahr⸗ 
heit aufſchwingen, und das an ſich widerliche Parteigezänt läßt 
fein Idol zu body kommen. Was aber die Engländer betrifft, 
fo geftehe ich, fein Volk zu kennen, dem als politiihem Körper 
die Wahrheitsliebe in ſolchem Maße abhanden gekommen wäre, 
während man im Privatleben zahlreichen ungemein wahren und 
offnen Naturen begegnet, und die Erziehung der Jugend zur 
Wahrheit fogar forgfältiger geübt wird als bei vielen andern 
Völkern. Ich möchte nicht, daß die Amerikaner jo tief ſanken, 
aber in den legten Sahren konnte man ſich der Befürchtung 
ſchwer erwehren, Daß e8 auch dazu kommen werde. Was haben 
die beiden Vettern gemeinfam in der Samonangelegenheit über 
die Deutfchen zufammengelogen! Es bat ung ja zum Glüd nichts 
geichadet. Im Gegenteil; wenn wir die Lehre daraus ziehn, die 
Wahrheit, die unſre Stärfe ift, nur um fo beffer zu pflegen, 
wird das Lajter unfrer Bettern und zum Vorteil gereichen. Ich 
babe ſchon früh, wenn ich das herablaffende Lob a plain German 
hörte, aus dieſem Worte einen tiefern Unterfchied zwiſchen deutſch 
und anglokeltiſch herauszufühlen geglaubt. Und ift es nicht fo, 
daß bei einem richtigen Deutichen die Wahrheit in der Form 
von Einfachheit, Abſichtsloſigkeit, Harm⸗ und Arglofigleit in allen 
feinen Bewegungen, in ber Art, wie er fi) trägt und gibt, zum 
Ausdrud kommt? So fol es fein. Darin liegen die unjchein- 
baren Keime der Größe unfrer Denker und unſrer StaatSmänner, 
bie mit derfelben Gelaffenheit, die der unfcheinbare plain German 
im täglichen Leben zeigt, dad Wahre und Weſentliche in den 
größten Verwicklungen fanden und fefthielten. Daß die Wahrheit 
immer obfiegt, ift eind von den wenigen fogenannten Geſetzen 
der Geſchichte, an bie ich noch glaube. 


462 Briefe eines Zurũckgekehrten 


7 


Zu den beliebten Gejprächögegenftänben einer anglofeltiichen 
Geſellſchaft gehören die Kirche und ihr Geiftlider. Natürlich 
nur, wenn Die Gejellichaft aus Leuten befteht, die, wie bie be⸗ 
zeichnende Nede lautet, „ſich ſelbſt achten,” d. h. fi in Obacht 
nehmen, daß fie nichts jagen, was was andre für unzuläffig erachten. 
Solche Geſpräche find, wie ich merfe, in Deutſchland ſtark außer 
Übung gelommen; in meiner Jugendzeit waren fie in manchen 
Kreiſen noch beliebt. Aber da hatten fie doch oft eine Neigung, 
fi zu vertiefen. Denn ba e8 in beutfchen Geſellſchaften immer 
Leute gibt, die fi) fo wenig achten, daß fie offen und ehrlich 
berausfagen, was fie denken, jo kam man auf ®lauben und Un⸗ 
glauben, Himmel und Hölle, Feuerbach und Strauß zu reden, 
und es wurden innige aus ber Tiefe des Herzens geichöpfte Be⸗ 
kenntniſſe bes Glaubens von fchneibenden Zweifeln durchbohrt, 
Dabei aber wohl auch mandye Schärfe des Zweifels flumpf be 
funden. In Amerika fand id) es ganz, anders. Da griffen Die 
Kirchen und die Seften tief in das Leben der ganzen Gejellichaft 
ein, und fo wie es zu oberſt methodiftifche Univerfitäten und 
preöbyterianifche Zegislaturen gab, unterhielt man fich weiter unten 
auf baptiftiihen Tanzkränzchen ober Horhlirchlihen Pidnidd. Troß 
der ungebeuern Hohlheit und Langweile folder Beranftaltungen 
in den Hänben halbgebildeter Eiferer waren Milfionsftunden Die 
beliebteften Berjammlungsorte der Jugend beiderlei Geſchlechts. 
Die Frage wurde ohne Furcht vor Qächerlichfeit erörtert, ob ber 
Beitritt zu Turn⸗ und Gefangvereinen mit der Bugehörigfeit zu 
einer beftimmten „Denomination“ vereinbar fei. Sogar Selten, 
bie fein einzige8 Dogma irgendeiner chriftlichen Kirche befannten, 
wie die Unitarier, diefer radilalfte Schoß des Kalvinigmus, um⸗ 
ipannten und durchdrangen in diefer Weije daß Leben ihrer Mit- 
glieder, und gerade dieſe Sekte, die bei geringer Zahl ihrer An= 
hänger, worunter aber Getfter und Charaktere erften Ranges 
waren, in den entſcheidungsreichen fünfziger und ſechziger Jahren 
des neunzehnten Jahrhunderts einen gewaltigen Einfluß auf das 
öffentliche Leben in Nenengland und dadurch in ganz Rordamerila 
übte, gibt ein intereflantes Beifpiel von dem rũckwirkenden Vorteil 
diefer ftraffen Zufammenfafiung auch auf das irdiſche Wohl der 
Menichen, die von feinem andern Bande fo feft umfaßt waren 
als don dem religidfen. Was Wunder aljo, daß bie kirchlichen 
Fragen faft Daß ganze Feld offupierten, das bie gefchäftlicden und 


Briefe eines Zurückgekehrten 4683 


die politifchen Intereſſen frei ließen. Es ſprach fi) das aud) in 
einer für Europäer überraichenden Pflege und Verbreitung der 
religiöjen Beitfchriften- und Traltatliteratur aus. Aber gerade 
in diefer famen die engeri, Tonventionellen Auffaffungen einer jehr 
äußerlichen Kirchlichleit oft jo naiv zum Ausdrud, daß wir Neu⸗ 
Hinzugelommnen nicht genug ftaunen fonnten, wie die intelligenten, 
fortgefhrittnen Amerilaner ſolche Plattheit und Läppifchleit mit 
der ernfteften Miene aufnahmen und diskutierten. 

Hier war ung ein Gegengewicht gegeben, das manche Über- 
legenheit der anglo-ameritanifchen Gejellichaft aufzumiegen ſchien. 
Ich bin immer der Meinung gewejen, daß die Blüte der freien 
Gemeinden verfchiebner Art, auß denen dann auch bie ethiſchen 
Geſellſchaften hervorgegangen find, gerade unter den Deutfchen, 
und befonder® auch unter deutichen Juden, der Überzeugung vieler 
Eingeiwanderter entjprang, daß fie damit einen geiftigen Vorſprung 
bor den Angloamerilanern gewönnen, von denen fie fich politifch, 
wirtichaftlic) und meift auch gejellichaftlich weit übertroffen fühlten. 
Sie haben ſich darin getäufcht; fie vergaßen, daß man nicht mit 
einem Bekenntnis, fei es des Glaubens oder des Unglaubens, 
fiegt, fondern nur mit dem Geift, dem Mut, der Tatkraft, ber 
Überzeugungstreue, womit e8 vertreten wird. Die deutihe Ein- 
wandrung aber, an fi arm an Sntelligenzen, fah fat feine von 
den geiftigen Kräften, die fie mitbrachte, bereit, fi) an die Spike 
der freien Gemeinden zu ftellen. Berhieß doc; die Bolitik, zunächſt 
gleichbedeutend mit Tagesfchriftftellerei, ganz andre Preife. Und 
welche Wandlung haben die Menfchheitdapoftel durchgemacht, Die 
in den freien Gemeinden da8 Wort führten! ch denfe an einen 
der meiftgenannten, den Böhmen Naprftel, einft der ſtürmiſche 
Aufklärer und Humanitätsapoftel von Milwaukee, der als fana⸗ 
tiſcher Tſcheche endigte; feinen Landsleuten Bat er ein in mandjen 
Beziehungen wertvolles ethnographiſches Muſeum in Prag hinter- 
laſſen. In Newyork wohnte ich einmal einem Konventifel bei, wo 
ein Bädermeifter, früher Jude, vielleicht auch jpäter wieder Jude, 
ein Schmähgedicht auf Deutichland im Stil von Atta Troll, geiit- 
und geſchmacklos über die Maßen, vortrug, das eine Fleine An⸗ 
zahl der Anweſenden veranlafte, fi) demonftrativ zu entfernen, 
während die andern dem Pfufcher ihren Beifall zujubelten. Übers 
Haupt, wie leuchtet in diefen Streifen ber Stern Heine, heller 
ficherlih, als er jemals in Deutichland geleuchtet hat. Die Agi- 
tation für die Aufftellung feines in Düſſeldorf abgelehnten Dent- 
mals in Newyork, die vor ein paar Jahren die deutſch⸗amerikaniſchen 








464 Briefe eines Zurückgekehrten 


Kreife beivegte, war nur der Ausfluß eines weit zurüdreichenden 
Heinefultuß der dortigen Halbbildung und der oberflädylidhern 
Elemente des deutich-amerilanifchen Judentums. In Sarı Yran- 
ci8co ftand die deutiche freie Gemeinde einft höher, aber ihr 
Führer jchlug fi nur kümmerlich dur. Kurz, wenn man dieſe 
Bewegung verglich mit der nahverwandten ber Unitarier, fiel der 
Vergleich ganz ausgeſprochen zugunften der Amerikaner aus. 
Andre Selten und Kirchen haben ähnliche Erfahrungen ges 
macht. Sogar die Lutheraner, die fo viele Fräftige Stüßen und 
in den fchon feit ben dreißiger Jahren eingewanberten Wit: 
Iutheranern einen alten, überzeugungstreuen Kern hatten, haben 
fi) verumeinigt, geipalten, wiedervereinigt, ohne in all, diejen 
Wandlungen die Kraft zu gewinnen, die jo manche Kleine, ſchwach 
fundierte Glaubendgemeinichaft der Amerikaner bat. ch möchte 
nicht ohne weiteres daraus folgern, wie man fo oft drüben zu 
tun pflegt, daß der Deutiche urfprünglid weniger religiöß an⸗ 
gelegt jei als der Anglofelte. Es kommt zunädft nur die Kirch⸗ 
lichleit in Frage. Und darin find uns die Anglofelten über- 
fegen, wie fie in allem den Vorſprung haben, was Unterordnung 
unter anerfannte Führer, feien e8 nun Berfonen oder Gejellichaften, 
und daraus folgende Ein- und BZujammengliederung und Bu- 
fammenhalt der Einzelnen fordert. In keiner Gejellichaft veriteht 
ftillichmeigend einer den andern fo genau wie bier, und in feiner 
folgen die Maſſen jo gehorſam Befehlen der Sitte, die nie aus⸗ 
geiprochen zu werden brauchen. Darin liegt ja auf allen Gebieten 
die große und gefährliche Kraft des Anglofeltentums, daß alle 
Bewegungen die Tendenz haben, ganz allgemein zu werden, Daß 
ganze Voll mitzureißen. Nicht die Tiefe und die Verſchieden⸗ 
artigfeit, fondern die Allgemeinheit des religiöjen Zuges imponiert 
dem fremden Beobachter. Beier noch als die Organiſation der 
politiihen Parteien und die fihere Schichtung der Gejellichaft 
gelingt ihnen der Zuſammenhalt der kirchlichen Gemeinichaft. 
Die Deutichen treibt gerade in diefen nicht bloß der teutonijche 
Individnalismus, auf den fie ſich gern berufen, fondern, daß 
wir es offen befennen, viel mehr der Hleinliche Neid und der un= 
verftändige Eigenfinn auseinander. Außerdem find die Bildungs⸗ 
gänge und ⸗anſprüche gerade in den deutſchen Kreiſen verichiebuer 
und werden ftärfer betont als in anglofeltiichen. Der zum Steine- 
Hopfen reduzierte Deutſche, und wie viele ereilte dieſes Geſchick 
in den kritiſchen Jahren transatlantifcher Eingewöhnung, der tim 
der Heimat da8 Gymnaſium durchlaufen bat, fieht ftolz auf den 


Briefe eines Zurückgekehrten 465 





reichgewordnen Kaufmann hinab, der nur die Volksſchule ab- 
folvtert hat. Unzweifelhaft hat aber der Anglofelte auch eine 
religiöfe Anlage von beſondrer Kraft und Luft der Yußerung 
und des Schaffend. Die deutfche Religiofität vertieft fi), hat einen 
Bug zum Innerlichen, die anglofeltifche wirkt, organifiert, macht 
Profelgten. Die Miffionstätigfeit iriſcher und fpäter angeljäd- 
ſiſcher Mönche in ganz Mittel-, Nord- und Weſteuropa gehört 
ebenjo der Weltgeſchichte an, wie die Miffionstätigleit der Eng- 
länder und der Amerilaner des achtzehnten und des neunzehnten 
Jahrhunderts an Erfolgen in der Kultur, in der Wirtichaft und 
in der Bolitik die Mifftionen der Deutſchen und der Skandinavier 
weit übertrifft und überhaupt nur von der der römiſchen Kirche 
und der Orthoboren bedroht werden dürfte, Die beide noch feiter 
organifiert find und noch planmäßiger vorgehn. Hier fommt eben 
die auf fo vielen Punkten enticheidende Gabe des Unglofelten zur 
Geltung, dem Gedanken fofort die Tat folgen zu laſſen. Der 
andre grübelt, diefer handelt. Der Amerikaner hat diefe Gabe 
in verftärkten Maße, fie ift bei ihm bis zur Torheit ausgebildet, 
mit der er für Schlagworte, Halbwahrheiten, Unmwahrbeiten, Un- 
wahrfjcheinlichkeiten ind Zeug gebt. 

Ich will aber damit nicht den Anglofelten die religiöfe 
Annerlichleit abiprechen, was im Hinblid auf die alte und die 
neue Geſchichte ihrer Kirchen und Selten ja ganz unmöglich ift. 
Darin liegen ja überhaupt die Erfolge diefer großen Raſſe, daß 
ihre innern Kräfte mit feltnen Gaben der Wirkung nad) außen 
verbunden find. Und ebenjowenig will ic) die große Verflachung 
beihönigen, die in jo vielen deutſchen Kreifen an die Stelle der 
alten, ftillen Yrömmigleit getreten iſt. Die Deutichen machen 
feine Ausnahme bei der allgemeinen Zerſetzung, der das religiöfe 
Leben in allen Sulturvöllern verfallen iſt. Echtes Chriftentum, 
das eine Gemeinſchaft von Menichen jedes Standes, Berufs und 
Alters mit gleicher Kraft umfaßt, gibt es nicht mehr auf den 
Höhen diefer Völker. Die liegen troden, bi8 zum Wüftenhaften. 
Um ſolches Chriſtentum zu finden, muß man in Amerila in ein 
Heine Walddorf von Maine oder Vermont oder noch befler in 
eine arme Negergemeinde des Südens gehn, die vom Geiſtlichen 
bi8 zum Armften — arm find fie aber alle — von Bildung 
unberührt, aber aufridhtig und bis zum Mberglauben gläubig ift. 
Es ift ein Buftand wie in einem Lande, aus dem ſich daß be- 
fruchtende Waſſer zurüdzieht; indem der Waflerjpiegel fintt, ver- 
teodnen die Quellen von oben Her, und endlich ift nur noch das 

Nagel, Glädsinfeln und Träume 80 


466 Briefe eines Zurückgekehrten 


Örundwafler in den tiefften Schichten übrig. Alles übrige dürr 
und wüſt. In Deutichland waren befanntlich die Höhen ſchon 
lange troden gelegt, als bei andern Völkern wenigftend noch künft- 
liche Leitungen bort Feuchtigkeit hinführten. Es gab eine Zeit, 
wo in großen deutſch⸗amerikaniſchen Gemeinden nur in zwei ex⸗ 
tremen Lagern das alte zweifelöfreie Chriftentum beftand: bei 
den Römiſch⸗Katholiſchen auf der einen, bei den Wltlutheranern 
auf der andern Seite, dazwiſchen eine breite Zone der Lauheit, 
wo heftige Angriffe auf Andersdenkende die religiöfe Überzeugung 
dokumentieren mußten. Wenn einmal die Geſchichte der deutſchen 
Gemeinden von Cincinnati, Milwaukee, Ehicago, St. Louis in 
deu vierziger und den fünfziger Jahren gründlich, aber auch unbe⸗ 
ſchönigt gefchrieben fein wird, wirb ber Eonfelfionelle Hader in 
feinen Heinlichften und giftigiten Formen jo manche Seite füllen, 
wo man Größeres und Schöneres fuchen dürfte. 

Seitdem ift freilich aud bei den Amerikanern das religiöfe 
Bervußtfein ungemein gejunten, im Verhältnis noch mehr als bei 
uns. Die Aufllärung bat |päter begonnen, dafür aber aud alle 
Dämme überftiegen. Bezeichnenderweije haben nun darunter nicht 
die großen alten Religionggejellichaften jo jehr gelitten wie Die 
Heinern und jüngern. Diefe Erzeugnifie eine verfpäteten Auf» 
ſchwungs, faft möchte man jagen einer Aufwallung des religiöfen 
Empfindens, verloren an Anziehungskraft in einer Beit, wo alles 
Außerliche an Wert ftieg, alle Innerliche im Werte ſank. Der 
reichen, alten, ariſtokratiſchen Hochkirche haben ſich ſeitdem mandhe 
zugewandt, deren Vorfahren für den Methodismus, den Baptismus 
mit Gut und Leben eingetreten waren. Die Benfusperöffent- 
lihungen von 1900 werden uns im kirchlichen Leben der Union 
fiherlid) ein unverhälmismäßige® Wachstum des Katholizismus 
und der Hochkirche zeigen, das darf aber nicht über den Rück⸗ 
gang in der Tiefe umd Echtheit bes religiöfen Sinne täufchen, 
den natürlich feine Statiftit belegt. Die großen Kathedralen 
dieſer einflußreichiten Kirchen werden darum nicht ftärker befucht 
als früher die Kleinen Bethänfer. Die ftarle Abwendung von 
den radikalen Selten, die im lebten halben Menjchenalter ein- 
getreten ift, bedeutet ebenjomwenig eine Stärkung des pofitiven 
Chriſtentums. Es mag parador Klingen, aber fie ift ein Symptom 
derjelben Art für die Amerikaner, wie die zunehmende Entlirdh- 
lichung für die Deutſchen. Dort ein äußerliher Anfchluß, bier 
eine ebenſo äußerliche Abwendung. Die echte Neligiofität ift in 
beiden Fällen die Berlierende. Wenn die Symptome bei Ameri⸗ 


Briefe eines Surädgefehrten 467 


— 7 


kanern und Deutſchen ſo verſchieden auftreten, muß man auch in 
dieſer Sache an die grundverſchiedne Stellung der Frau denken, 
die dort mit anerkannter Überlegenheit die ganze Familie da 
feſthält, wo ſie das Heil ſieht, hier den Mann gewähren läßt 
und ihm, wenn auch unter Seufzern und Vorwürfen, nachfolgt. 
Noch etwas andres darf ebenſowenig vergeſſen werden: die 
äußern Anziehungsmittel des Kirchenbeſuchs in Amerika. Der 
Komfort auf die Einrichtung der Kirchen übertragen, die Kirchen⸗ 
muſik, die Tauſende von Deutſchen, hier bedeutende Sänger und 
dort armfelige Mufilanten, ernährt, und nicht zuletzt Die Prediger, 
Die große Nedner find, überragen alles zufammengenommen bie 
Attraktionen jeder Hoflirche des proteftantiichen Deutſchlands. Nur 
die Architelturen deutjcher Kirchen find im allgemeinen nicht bloß 
ehrwürdiger, fondern auch würdiger. Aber die in Amerika zahl- 
und einflußreichen Vertreter der Lehre von der Schönheit ala 
Lebensnotwendigleit, deren Schlagworte Ruskin zwar nicht er- 
funden, doch geprägt hat — Artistic Ordering of Life ift feit 
einigen Jahren ein beliebtes Thema der Zeitungen und Debattier- 
Hubs, in Sinn und Abficht: Afthetifche Vebensführung —, werden 
auch noch dad Ummwahricheinliche verwirklichen, daß eine Gejell- 
ſchaft im entichiednen religiöfen Niedergang Prachtgebäude für 
einen Kultus errichtet, dem eine raſch wachſende Mehrheit zweifelnd 
oder gleichgiltig gegenüberfteht. Einftweilen gehört ed noch zu 
den auffallendften Merkmalen des Katholizismus in Amerika, 
dab er impofante Gotteshäufer hinftellt, neben denen alle andern 
kirchlichen Gebäude verichwinden. Für die amerikaniſche Auf⸗ 
fafjung ſpricht fi) darin eine Macht aus, von der fie fich willig 
imponteren läßt. Wenn man die großen Kloftergebäude und Die 
mächtigen, wenn auch nicht oft ſchönen Kathedralen des ſpaniſchen 
Amerikas Hinzurechnet, muß man allerding$ zugeben, daß die be- 
deutendften Werke religiöfer Architeltur in der Neuen Welt von 
Montreal bis Buenos Wired überhaupt der Katholizismus ge- 
ſchaffen bat, troßdem daß die Entdedung Amerikas mit der Re⸗ 
formation zufammenfiel. Das ift aber nur ein äußeres Zeugnis 
dafür, daß der Katholizismus überhaupt die ältefte gejchichtliche 
Macht befonderd im Weften der Vereinigten Staaten if. Mit 
wie andern Gefühlen trat der junge deutiche Kaplan der vierziger 
Jahre in Wisconfin oder Minnefota feiner jungen Gemeinde 
gegenüber, da er mußte, daß zweihundert Jahre früher die Je⸗ 
juiten auf diefem Boden milfioniert und gelitten hatten. Da 
veriteht man erjt die Macht eined Mannes wie des Erzbiſchofs 
30* 








468 Briefe eines Zurüdigefehrten 


IE EG CL GI GL KG GD HGB —mU— — S DE LG GO GQ GIG LEH SP LG IDG SED DB LG LG — —— — —— —— ———— ——— 


Henni, einer geiftig und an tiefer Wirkung alle überragenden 
Figur in der Gejchichte jenes etwa feit 1830 Tolonifierten Nord⸗ 
weitend, den man heute den „alten Nordweiten” nennt. 

Die proteftantiichen Kirchen Deutſchlands haben vor denen 
Amerikas das Alter, die Ausbreitung, die Anlehnung an den 
Staat, die bureaukratiſche Organifation und nicht zuleßt Die theo- 
logiſchen Fakultäten der Univerfitäten für ſich. Es find zum Teil 
nur äußere Vorzüge, aber ihr Gewicht ift alles in allem doch 
ehr groß. Freilich groß für Die äußere Stellung und für Die 
Aufrechterhaltung alle defien, was Einrichtung ift, nicht groß 
für das innere Leben. Dieſes jcheint mir, wider alle Erwarten, 
nicht Eräftiger zu fein als in den Kleinen, jungen Kirchen Amerikas. 
Der Kirchenbefuch, bei weitem nie jo ftarf in Deutichland wie 
in England oder Amerika, wo jehr viele Familien gewohnheits⸗ 
mäßig zweimal des Sonntags zur Kirche gehn, hat in ganz auf- 
fallendem Maße abgenommen. Sehr beliebte Prediger füllen noch 
die Kirchen, die jedoch im Durchſchnitt von gähnender Leere und 
an Zahl und Größe weit hinter dem Wachstum der Bevölferung 
zurüdgeblieben find. Man nannte mir die große Zahl gebilbeter 
Männer unter den Kirchenbeſuchern als einen Lichtpunkt in dem 
Dunkel diefer Teilnahmlofigfeit. Aber bei näherm Zuſehen habe 
ich davon nicht viel bemerfen können. Es ift wahr, das weibliche 
Element überwiegt nicht fo jehr in den Kirchen wie in Frankreich, 
aber die Zahl der deutihen Männer gebildeten Standes, die Die 
Kirche nicht ganz jelten und nicht aus äußern Gründen befuchen, 
wie Offiziere, Beamte, Gutsbefiter, Leiter großer Arbeitermaffen 
und dergleichen, die gelegentlich einmal ein gutes Beiſpiel geben 
müfjen, tft noch geringer, als die Klagen der kirchlichen Preſſe mich 
Batten erwarten lafjen. ch rede Hier von der proteſtantiſchen 
Seite, die ich kenne. Auf der katholiſchen ift der Zufammenhang der 
untern Klaffen mit ihrer Kirche offenbar noch nicht jo weit gelodert, 
und die obern umſchließen zwar auch dort viele fogenannte Auch⸗ 
katholiken, aber feit dem Kulturkampf foll auch in diefen die Teil- 
nahme an allen Tirchlichen Angelegenheiten wieder gewachſen fein. 

Ungemein oft bat mich feit meiner Rückkehr nad Europa 
die Frage beichäftigt, wie gerade in den Schichten, die ftolz auf 
ihre Bildung find und dad Wort Halbbibung mit der äußerften 
Beratung außfprechen, ein fo großer Mangel an wahrer ge= 
ſchichtlicher Bildung möglich fein Tann, wie ihn die weitverbreitete 
Ablehnung aller kirchlichen Gefinnung vorausjeßt. Iſt das nicht 
eigentlich das ftärkfte Zeichen von halber und feichter Bildung, 


Briefe eines Surüdgefehrten 469 





wenn ich hochmütig die Form ablehne, in bie fich der Gottes- 
glaube einer Hinter mir liegenden Zeit ergofjen hat, jo wie man 
auf beliebige andre „überwundne Standpunkte“ überlegen binab- 
ſchaut? Ach wohne und Heide mich anders als vergangne Ge- 
ſchlechter, aber ich kann doch nicht etwa ebenfo leicht ihren Glauben 
ablegen. Es geht nicht ohne Schädigung meiner jelbft und derer, 
die um mich find, daß ich auß den hohen Hallen der kirchlichen 
Gemeinschaft, an denen viele Geichlechter mit dem Beiten ihrer 
Kraft gebaut haben, in eine Bretterhütte meines eignen armen 
Planen und Wirkens überfiedle. Es gibt Dinge, die man nicht 
allein tun kann. Alle find einverftanden, daß fte nicht, jeder für 
fih, Staaten bilden können; aber an der Zerbrödlung der alten 
Kirche nach einzelnem Gutdünken zu arbeiten, halten fie nicht für 
Raub. Die Hurzfichtigen! US ob irgend etwas auf der Welt 
imftande wäre, dad Gefühl zu erfeben, da3 in der Kirche in- 
mitten der von denfelben Gedanken und Empfindungen getragnen 
Mafje der Andächtigen ung bejeelt und erhebt. 

Mir jcheint e8 natürlich, bis zur letzten Möglichkeit in dieſer 
Gemeinſchaft zu verharren, mit deren Beſtand ja jogar dad ganz 
Außerliche des erhabnen Kirchenbaus zufammenhängt, wo ſich nun 
feit Jahrhunderten die Gemeinde verfammelt. Die Biveifel des 
Einzelnen an Einzelheiten kommen dabei nicht in Betracht, fie 
können den Gottesglauben und die Grundgedanken des Chrijten- 
tums nicht erichüttern. Es find ja auch nicht die Zweifel, die die 
Abwendung von der Kirche herborgebradht haben, jondern das 
Gegenteil, die Dentträgheit. Die allgemeine Abneigung unſrer Zeit 
gegen religiöſe Vertiefung ift der Grund, warum ſich gerade die 
Maſſe der jogenannten Gebildeten lautlos zurüdzieht. Sie wollen 
beileibe fein Aufjehen erregen, wollen äußerlih „mittun,“ Taufen 
und Trauungen wollen fie jogar mit kirchlichem Pomp begehn, und 
jelten bat einer den Mut, die legte Konſequenz zu ziehn und das 
firchliche Begräbnis abzulehnen. Welche Heuchelet, welche Feigheit 
und welche Oberflächlichkeit! Und das gerade auch in den Kreifen, 
von denen die Nation geiftige Impulfe und Aufllärung erivartet. 

Man kann nicht jagen, daß die deutichen Geiftlichen in ihren 
Predigten die Fragen des Öffentlichen Wohl unberührt laſſen, 
wie in der Zeit der Reaktion. In den fünfziger Jahren wurde 
diefer Vorwurf vielen nicht mit Unrecht gemacht; heute kann man 
bon der Kanzel freie und einfchneidende Meinungsäußerungen 
hören. Schade, daß fie nicht felten den Eindrud beftellter Arbeit 
machen, wie bei der ftraffen Organifation aller deutfchen Kirchen 


470 Briefe eines Zurückgekehrten 


natürlich ift, und noch mehr ſchade, daß fie fo oft die kleinliche 
Eonfeifionelle Gehäſſigkeit offenbaren, die von der Kirche um fo 
ferner gehalten werden follte, je breiter fie fi) in der deutichen 
Tagesprefie macht. Der allgemeine Rückgang de religiöfen 
Lebens gibt einen jehr dunkeln Hintergrumb ab für den Hader 
der Konfeifionen, den man glüdlicherweije in diefer Urt nur in 
Deutichland findet. Man kann fi) der Vermutung nicht ver⸗ 
ließen, daß fich viele Blätter dieſes traurigen Stoff nur be 
mächtigen, um damit dem echt deutichen Geſchmack breiter Leſer⸗ 
maſſen an Fleinlichen Zänkereien entgegenzulommen. Das gehört 
zu den unerwartetften Erfahrungen, daß ich in großen deutichen 
Zeitungen dieſelbe Freude an diefer häßlichen Zänkerei wieder- 
fand, die ih in Miffouri und in Wisconfin als den Ausfluß der 
mangelhaften Bildung untergeorbneter Pfennigihriftfteller mit Ver⸗ 
achtung angefeh enhatte, und deren Hohlheit dort jogar die einfachen 
Hinterwaldsleute bald einjahen. Leider ift es nur eine von den 
vielen betrübenden Erfahrungen, die jeder machen muß, der die 
deutſche Preffe von heute mit der vor einem Menfchenalter ver- 
gleiht. AB damal Mark Twain feine Satire auf die ſchwer⸗ 
fälligen deutichen Zeitungen losließ, Tonnten wir überlegen bar= 
über lächeln, denn wir wußten, daß fie taujendmal gründlicher, 
ehrlicher und anftändiger als die amerilantichen waren. Es bat fid) 
jehr zum Schlimmen verändert. Doc darüber ein andermal 


8 


Heute hörte ih in der Univerfitätölirche zu X einen be- 
rühmten Pfarrer und Profeſſor über den Bergpredigtſpruch pre- 
digen: Selig find die Sanftmütigen, denn fie werben daß Erd— 
rei) befiten. Es war die Rede von der Macht, die die Sanft- 
mut übt, und es wurden natürlich die nächſtliegenden Beilpiele 
angezogen, die weltüberwindende Macht des Chriftentums und 
die Macht des Weibes. Ich dachte mir, daß in unſrer welt- 
politiiden Zeit auch noch andre Anwendungen hätten gemacht 
werden können. Daß kein Volk auf die Dauer mit Gewalt allein 
andre Völker beberrichen kann, daß es unjern deutſchen Methoden, 
andre Völker zu beherrfchen, vielfach an der ruhigen Sanftmut 
gebricht, die nicht der Ausdrud der Schwäche, jondern der größten 
Sicherheit des Willend und der volliten Selbſtbeherrſchung ift, 
das wären jehr zeitgemäße Auslegungen geweſen gerade bei diefer 
Zuhörerichaft, in deren Stubentenreihen jo mander zulünftige 





Briefe eines Surüdigefehrten 471 


Beamte, vielleicht auch ein zukünftiger Kolonialftaatsmann jaß. 
Wir befiben nur das, was uns nicht befitt. Nur die Eigen- 
Ichaften befähigen ung, ein Ear erfanntes Biel auf dem kürzeſten 
Wege zu erreichen, Die wir fijer in den Bügeln haben. Beim 
Vergleich der germaniichen Völkerzweige erichienen mir immer die 
Deutichen und die Holländer durch die Verbindung von Bhlegma 
und Erregbarkeit audgezeichnet. Am Tropenkoller laborteren fie 
beide mehr als andre. Ich teile nicht die native Anficht eines ameri- 
kaniſchen Profeſſors, der in dem ſyſtematiſchen Betrieb der Leibes⸗ 
übungen den einzigen Grund fieht, warum ſich Die Anglofelten 
beſſer in der Hand hätten. Er jagt: Das täglidde Meilen der 
Kräfte birgt die Gefahr der rohejten Prügelei, wenn nicht feite 
Regeln eingehalten werden; ich kann mich nicht der Gefahr auß- 
feßen, daß mein Gegner beim Fußball Hand an mich legt, wenn id) 
nicht ganz genau weiß, daß er gewifle Grenzen nicht überjchreiten 
wird. Inſofern jedoch als die Spiele, in denen Entichlofjenheit 
und Kraft den Ausfchlag geben, auf die Selbftzucht heilſam zurüd- 
wirken, ift auch in dieſer Anficht ein Körnchen Wahrheit. 

Über die ganze Wahrheit liegt doch wo anderd. Daß der 
Einzelne fi der Gefamtheit fchuldet, diefe Erkenntnis muß ung 
ganz durchdringen. Wir haben fie noch viel nötiger als andre 
Böller, denn wir find durch unfre geographiiche Lage und durch 
die feilartige Einzwängung unſers Bollstums zwiſchen Slawen 
und Romanen, endlich durch die Unmöglichkeit, verpaßte Gelegen- 
heiten zu überſeeiſchen Verjüngungskolonien noch einmal zu finden, 
gezwungen, Kräfte für die elementaren ragen von Sein oder 
Nichtjein aufzumwenden, die andre fparen können. Sa wenn es 
uns gelingt, und noch Jahrhunderte geſund zu erhalten, während 
andre dem Greilentum unrettbar entgegenfiechen, können fich auch 
die Außern Dafeinsbedingungen noch einmal günftiger geftalten. 
. Aber einftweilen fommt es doch vor allem darauf an, daß wir 
uns Die eigentümliche Lage des Deutichen Reich! und Volkstums 
vollftändig Far machen und und und die, die und nachfolgen, 
Dafür erziehn. In überjeeilchen Ländern wird ſich vorausſichtlich 
fein Gebiet ben Deutjchen erjchließen, wo fie durch Ackerbaukolo⸗ 
nifation ein geichloffenes Deutſchland aufbauen könnten. Sch ſage 
ein gejchlofjenes, gerade weil ich für Millionen Deutiche Die 
Hoffnung bege, daß te 3. B. im gemäßigten Südamerila, und 
zwar noch viel meiter ſüdlich, als fie jeht in Argentinien und 
Chile eben, und auf den fühlen Hocländern des tropilchen 
Amerikas in zeritreuten Gruppen Gebeihen finden werden. Die 








472 Briefe eines Surädgefehrten 


beften Gelegenheiten find vor Jahrhunderten verloren worden, 
und fein noch jo fcharfes Schwert nimmt den Anglofelten Nord⸗ 
amerifa und den Ruſſen Nordafien ab. Die Vereinigten Staaten 
von Amerila und dag Neich des weißen Baren können zugrunde 
gehn, die Amerikaner umd die Ruffen wachſen fort wie das Gras 
ihrer Steppen. In Südamerika können nod viele Millionen 
Deutihe Raum finden, in Auftralien einige Millionen, in Sübd- 
afrifa einige Hunderttaufende. Aber alle diefe nur neben und 
zwifchen andern Völlern, deren Auswandrerftröme neben und 
zwilchen den Deutjichen und neuerdings fie an Zahl weit über- 
treffend denjelben Zielen zufluten. Darauf kommt es mın aljo an, 
daß die Deutjchen im gedrängten Wettbewerb mit andern Böllern 
ihr Gedeihen finden, wobei ſich unfehlbar Unterſchiede an Kraft des 
Schaffens und fogar des einfachen Beharrens heraußftellen werden, 
die mit der Beit aus dem Völkerdurcheinander ein Böllerübereinander 
machen müſſen. Vielleicht ift die größte Frage auf diefem Gebiet 
die der Zukunft des romanischen Amerikas. Wird ed dem immer 
mächtiger anjchwellenden Strom italienifher Auswandrer gelingen, 
in Sübbrafilien und den La Plataländern die dort borhandne, 
noch dünne romaniſche Bevölkerung zu erneuern? Wenn, wie 
wir glauben, nicht, fo forge Deutfchland beizeiten, ſich dort eine 
ſolche Summe von feftgewurzelten Interefien zu Ichaffen, daß der 
unverjchämte Anſpruch Nordamerikas, auch jüblih vom Golf 
von Mexiko zu berrichen, ohne weiteres zerichelt. Das kann 
freilich nur die Tüchtigkeit der Deutſchen als geichlofjene Volls⸗ 
perjönlichfeit vom Gejandten bis zum deutſchen Rinderhirten im 
Gauchogewand fchaffen; aber nicht bloß die Tüchtigfeit der Herz- 
und Armmuskeln, fondern auch die liebendwerten Eigenschaften 
eines Nationaldharalterd, die verhindern, daß die Achtung des 
Schwädern in Furcht und Haß ausarte. 

In Europa liegt die Zukunft Deutfchlands in der Erhaltung 
jeiner Machtſtellung und in der Feſthaltung aller Vollögenoffen: 
zwei Aufgaben, die man immer mehr als auf einer Linie ftehend 
anerlennen wird; hier muß und die Verlegung unſrer Vollögrenze 
jo empfindlich fein wie die Heinfte Beſchädigung unſrer Staats⸗ 
grenzen. Herner liegt e8 aber Deutichland vermöge feiner geo- 
graphiſchen Stellung ob, feine volle Kraft an den Zuſammenſchluß 
der mitteleuropätichen Mächte zwiſchen den Weltmächten England, 
Rußland und Nordamerika zu ſetzen. Und dieſe Aufgabe ift die 
wichtigfte und vielleicht nicht die ſchwerſte von den dreien. Das find 
Aufgaben, die fo verfchiebne, faft widerftrebende Kräfte zur Arbeit 


Briefe eines Zurückgekehrten 473 


— LIDL LI SH LCD BY GL N GG GG GL GL ÖL LEGE GG AGD GB ML DT LG DD ——————— ————— —— 0.0.0.0 


rufen, daß man mit den alten Regeln, die aus der unendlich viel 
einfahern Geſchichte der ältern Mächte Europas oder der Kolo⸗ 
nialgejhichte Hollands oder Englands oder gar der römiſchen, auf 
die man uns noch hinweiſen möchte, bei und nicht auskommt. 
Unfer Fall liegt viel verwidelter als alle frühern, denn von der 
gemeineuropätfchen Krankheit der Bölferzerflüftung und der Völfer- 
verfeindung ift Mitteleuropa am ſchwerſten heimgeſucht, und 
während wir für die Welt draußen freien, weiten Blid und 
große Auffaffungen nötig haben, will und der Hader der Natio- 
nalitäten, der Konfeffionen und der wirtfchaftlichen Intereſſen⸗ 
gruppen Kleine Geifter und enge Herzen anerziehn, wozu die liebe 
Prefle, die von ber Dummheit und den fchlechten Neigungen ihrer 
Leer viel bequemer und einträglicher lebt als von den guten, aus 
beften Kräften beiträgt. 

Aus Hein wird Tleinlid. So geht es in der Sprade, und 
fo geht es in der Sadje. Kleine Berhältnifje machen Kleine Leute. 
Es gehört ein Getft von einer gebirgsquellbaften Tiefe und Friſche 
dazu, auf der Schufterbanf Welträfel zu löſen wie Jakob Böhme. 
Wie mußte Bismard wachen, um mit fünfzig eine deutfche und 
mit fiebzig Jahren eine Kofonialpolitif zu machen, die beide er 
mit dreißig und vierzig noch gar nicht hätte begreifen können! 
So ift denn auch in den gejamteuropäifhhen Dingen die Saat 
weitaußgeftreut, aus ber Heine Gemüter aufmachen, und fie ftreut 
fi) wie Unkraut mit bejchwingten Samen immer neu aus. 

Wir haben es in Amerika drüben allerdings jehr leicht, die 
deutfche Nationalitätenpolitit engherzig zu nennen, wenn wir fie 
mit dem WVeitoffenftehn aller Tore des großen Landes vergleichen, 
duch die Einwandrer jeder Raſſe, Sprache und jedes Glaubens 
frei einziehn, außgenommen die Chinefen und die Japaner, aus⸗ 
genommen ferner die armen Teufel, die gar nichts haben, und 
die Räudigen und fonft Unbeilbaren. Stelle ich mich aber in 
die Mitte dieſes meines alten Landes und jehe die 220000 Fran⸗ 
zofen in Elfaß-Lothringen, Hinter denen zweihundertmal jo viel 
Franzoſen in Wefteuropa wohnen, fo erwäge ich, wie nötig für 
Deutichland in Ermanglung andrer, natürlicher Grenzen erften 
Ranges die feite und fichere Sinftellung feines Volkstums in 
diefem Meer von Völkern ift, das von allen Seiten anſchwillt; 
da begreife ih dann recht gut, daß man tut, was möglid) iſt, 
aus diefen Franzoſen Deutfche zu machen. Die deutiche Politik 
in Nordſchleswig findet noch weniger Beifall als die reichSländtiche. 
Es mag fein, daß fie noch Öfter zu Heinlichen Mitteln greift, 








474 Briefe eines Surüdgefehrten 


die niemand billigen mag. ber dieje 139000 Dänen find in 
ihrer Weife gerade fo unbequem wie die Franzoſen. In gewiſſem 
Sinne find diefe 360000 Menſchen im Weften und im Norden 
eine größere politifche Gefahr als die zehnmal zahlreichern Polen, 
denn fie jtügen ſich auf Staatsweſen ihres eignen Vollstums, denen 
fie auch politifch früher angehört haben, und zu denen nod) immer 
ihre Sympathien fie hinüberziefn. Man fol zwar diefe Gefahr 
nicht übertreiben, da ja die Maſſe jedes Volles glüdlicherweihe 
mit den Sorgen und Freuden ihre Vebend viel zu ſehr be= 
ſchäftigt iſt, als daß fie die Vertiefung und die Leidenfchaft 
an die nationale Frage hinzubringen vermöcdhte, von denen wir 
mande Angehörigen der höhern Klafien befeelt finden. Aber 
jedenfalls ift die allmähliche Gewinnung diefer teild ſich wider- 
willig, teil jehr paffiv ftellenden Nordſchleswiger und Elſaß⸗ 
Lothringer eine wichtige Aufgabe, die nicht bloß unfern Politikern 
und Beamten, fondern infofern jedem Einzelnen von uns geitellt 
ift, als die am ficherften zum Siege führende Waffe die Über- 
legenheit in Kultur und Sitte ift, die fi unmwilllürlid die An= 
erfennung ihrer Überlegenheit erzwingt. Unb das ift eben der 
Bunt, wo diefe Nationalitätenfragen, die neben andern Hein zu 
fein fcheinen, mit ben großen Fragen zujammenhängen, die die 
Bufunft eines Volls überhaupt betreffen. 

Seitdem die Vertretung von Benniylvanien noch vor der 
Unabhängigkeit beſchloß, es feien ihre Verhandlungen nur in 
einer Sprache zu führen, und dazu die der engliihen Minder⸗ 
beit erfor, ift im „Lande der Freiheit“ daran feitgehalten worden, 
die Okonomie der Beit und der geiftigen Arbeit verlange, daß 
in einer politifchen Gemeinfchaft, wie verſchiedenſprachige Gruppen 
fie auch zufammenjegen mögen, eine Sprache da8 gemeinfame 
Mittel der PVerftändigung und des Werftändnifies, des tiefern 
Sichverftehng, Sichlennenlernens jei. Das wird ald Forderung 
des Staate8 und wie etwas Selbftverftändliches hingenommen. 
Andres fordern die Bebürfniffe des täglichen Lebens, andres die 
böhergeftimmte Humanitäre und politifche und willenichaftliche 
Meinungsäußerung. Man greift zur Mutterſprache, die ſchon 
im Namen an die familienhafte Gejchlofienheit des Stammes er- 
innert, der feiner Natur nad) unter dem Staat ſteht, um an 
das Mitleid aller für unglüdliche Vollsverwandte zu appellieren, 
die allerdings vielleiht fein Wort in diefer Sprache jchreiben 
fönnen, man beipricht in ihr die Intereſſen der Schule und der 
Kirche, die über Die engen Örenzen der Völlerbruchſtücke hinaus 


Briefe eines Zurückgekehrten 475 


bis an die der Menfchheit reichen, und verftändigt ſich in ihr vor 
allem über daß, was Die Ausgewanderten mit der Heimat noch 
zufammenhält. In dieſer Weife haben nicht bloß die Deutichen, 
fondern innerhalb dieſer wieber fogar die Quremburger ihre be= 
fondre Literatur und Preſſe in Amerika gepflegt, und fo neben 
den Iren die Gälen und die Walifer und unzählige andre. Sogar 
unter den Anglofelten haben politiſches Bewußtſein Bruchteile 
diefer Yamilte ausgebildet, die ſich in der fernen Inſelheimat 
nicht als Vollsperſönlichkeiten fühlten. In diefer Weiſe bildeten 
fi die feit zufammenhaltenden Nachlommen der chottifch-prote- 
ftantifchen Einwandrer in Nordoftirland, kurʒweg Irish Scotehmen, 
Iriſche Schotten, genannt, zu einem ebenfo tätigen wie felbftbe- 
wußten Völkchen mit einer ganz reipeftabeln Literatur aus, über 
die man fi) in des liebenswürdigen Whittier Prose Works unter- 
richten fann. Niemand kümmert fi) politiih um all das, da 
von allen die Vorausfegung ftillihweigend anerkannt wird, dem 
Staat werde gegeben werden, was er braudht, und der Verkehr 
werde fich das feine ebenfalls zu ſchaffen wiſſen. 

Hoffentlih kommt man in ähnlicher Weiſe auch in Deutſch⸗ 
land und in Hſierreich⸗ Ungarn dazu, die Staatsnowendigkeit ſcharf 
gegen das Lebensbedürfnis der untergeordneten Glieder, der 
Stämme abzugrenzen. 

Die wichtigſten Yragen alle ziehn in Deutichland langſam 
nah Oſten Hin. Dort liegt die größte Gefahr, der Zug des 
Dftens nad Weiten, der nur über Deutfchland weggehn Tann; 
und auch die größte Zukunft. Leider ftehn wir aud) bier im 
Bann einer Geſchichte, die uns in den polnischen Angelegenheiten 
eine Politik aufnötigt, die wir offenbar nicht gewählt haben würden, 
wenn wir überhaupt hätten wählen können. Dem großen eurafiichen 
Slawentum, das vom Dnjepr bis zum Stillen Ozean reicht, ein 
weitenropäifche® entgegenzuftellen, das ſtark genug war, bie 
Verwirklihung des alljlamiichen Gedanken zu Hindern, lag im 
Intereſſe Mitteuropad. Es it die Politik, die Ofterreih- Ungarn 
unter mandyen Schwankungen und Fehlgriffen befolgt, und zu der 
wir ung gemeinfam mit ihm auf der Balkanhalbinſel befennen, 
jowelt wir e& für nötig halten, dort Stellung zu nehmen. Bor 
allem diente ja befanntlich aud) die Einpflanzung einer deutjchen 
Dynaftie in Rumänien diefem Gedanken mit großem Erfolge. Es 
ift weiter befannt, wie im Norden ſchon von dem Nüdfluten der 
Deutihen nad) Dften im frühen Mittelalter an die Bedingungen 
für eine Einfchiebung polniſcher und litauiſcher Staaten zwiſchen 








476 Briefe eines Surüdgelehrten 


Deutichen und Ruffen durch eine Ineinanderdrängung der Wohnſitze 
beſonders ber Deutfchen und der Polen erjchwert und durch Den 
Berfall de polnischen Staat8 unmöglid) gemacht wurde. Tort 
renzt nun Deutſchland politiih an Rußland, aber das deutſche 
Volkstum iſt durch das polniſche und das litauiſche vom ruſſiſchen 
getrennt. Wird die großſlawiſche Idee das Polentum für ſich 
gewinnen? der werden die hiſtoriſchen Erinnerungen und die 
Gegenjäbe zwiſchen dem Chriftentum des Weſtens, das von Rom, 
und dem des Dftend, dad von Byzanz ausging, jede Verbindung 
auch in Zukunft unmöglih machen? Die Deutſchen fchmeicheln 
fi, e8 werde jo fein, und nehmen Mickewiczd Dichterwort: „ES 
tft ein alter Haß im ſlawiſchen Geſchlechte“ für ein wahres Wort. 
Ich begreife, dab fie es glauben wollen, aber mit meinen 
alten Augen, die an amerikaniſche Dimenfionen gewöhnt find, 
fehe ich die Unterjchiede nicht fo groß, und da ich fo viele Völlker⸗ 
unterjchiede fi) Habe verwilchen jehen, kann ich nicht fo feſt ge= 
rade an die Dauer diejer glauben. Wenn man die Hinreißende 
Macht geiehen bat, womit räumlich große politische Gedanken 
auf die Gemüter der Menichen wirken, legt man größere Maß- 
jtäbe auch an die europäiſchen Verhältniſſe. Wie in Amerika zuerft 
der Staat von Meer zu Meer, dann der Grundſatz „Amerika 
den Umerilanern,“ endlich der Gedanke einer großen pazifiichen 
Politik, den man in Europa noch immer nidht recht erfaßt bat, 
ſchwungradgleich die politiicden Auffafjungen in Bewegung und 
im Wachſen erhalten hat, ift im höchſten Grade Iehrreid. Es 
ift ja möglich, daß Kleinere Differenzen, wie die alten zwiſchen 
Nord und Süd, oder die neuern ziwilchen den atlantiſchen und 
den Miſſiſſippiſtaaten, darüber nur eingefchlummert find. Aber 
jedenfall8 fchlummern fie einftweilen ſehr tief. Wenn ih nım 
febe, wie den großen politifchen Gedanken die großen wirtſchaft⸗ 
lichen Entwürfe folgen und auch nicht etwa bloß Entwürfe bleiben, 
fo muß ich jenen eine fchöpferiiche Kraft zuerfennen, die durch 
gewaltige Werke wie die Pazifilbahnen oder der Interozeaniſche 
Kanal oder die Kanäle im Seengebiet vereinigend wirken. Ich 
meine, in Amerika gelernt zu haben und diefe Lehre auf Europa 
anwenden zu bürfen: die Kunſt der Politik befteht zu einem jehr 
großen Zeil darin, die politifchen Konflikte auß engen Räumen, 
wo fie fi wie Gejchwüre einfrefien, herauszuführen. Darin liegt 
das Heil, das die Erweiterung der Räume der Welt gebradt 
bat. Es ift feine Beſchwörung der Übel, aber eine für lange 
hinaus heilfame Verteilung. Auch daB gefunde Wachstum der 


Briefe eines Zurüdgefehrten 477 


Staaten neigt dazu, fich in beſtimmten Richtungen zufammten- 
zubrängen und in andern dafür zurüdzubleiben. Beſchränkten 
Erwägungen, faft Inſtinkten folgend, ging der ungelenkte Strom 
deutſcher Auswandrung ein Zahrhundert lang nad) dem Norden 
der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Daß er fo viel Größeres 
für da8 ganze Deutſchtum in Dfteuropa, Vorderafien, Südafrika 
und Südamerika leiften Tonnte, fah damals fein einziger „Staat$- 
mann“ ein, d. h. feiner erkannte die Aufgabe, die von Rechts 
wegen bie größte hätte fein müſſen. Einftweilen jehe ich nur 
einige wenige fortgeichrittne Geifter in ganz Mitteleuropa an der 
Arbeit, ihre Volldgenofjen zu lehren, Völker⸗ und Staatengrenzen 
zugunften eine größern Zufunftögebilde weniger zu betonen 
als das, was Völker und Staat einige. Auffallenderweife ver- 
ſchließen fich diefem Streben am allermeiften die, die inner» und 
außerhalb Deutſchlands einen hervorragend unpolitiihen Götzen⸗ 
dienjt mit dem Namen Bidmard treiben. AB ob nicht gerade 
Bismarck, zuzeiten bewußt, zuzeiten inftinftiv, in der Heraus⸗ 
bildung des Reichs aus dem Zollverein, in der Tripelallianz und 
in der Kolonialpolitit dem gefunden Trieb: Hinaus aus der Engel 
fo mächtig gedient Hätte. Auf die Gefahr Hin, daß man mir 
die Eigenſchaft eines Realpolitikers abſpricht, muß ich erflären, 
daß ih den zehnten Teil der Worte und der Tinte, die in der 
jentimentalen Burenbegeifterung verjchwendet worden find, auf 


den mitteleuropäiichen Zollverein vertvandt ald eine ungemein‘ 


glüdlihe nationale Anlage betrachten würde. Yür mich gibt es 
überhaupt in der europäifchen Politik weitlih von der Weichſel 
feine größere Frage ald eben diefe des Zuſammenſchluſſes der 
Völker und der Staaten, die zum Teil feit Sahrtaufenden nur 
Gegenſätze unter fich anerkannt haben, zu einem Bunde, der zu- 
nächft ihre wirtichaftlichen Intereſſen gegen die Rieſen im Dften 
und im Weſten Träftig vertritt. Welcher Macht Europas ift aber 
diefe Frage näher gelegt ald dem im Herzen des Erdteils Tiegenben 
Deutichland? Ich wage zu behaupten, daß feine eigne Zukunft nod) 
mehr als die von Mittel- und Wefteuropa von der Stellung ab- 
Hängt, die e8 dazu einnimmt. 


Bi 





Die Rönigin der Nacht 
57 





Dad Märchen bringt die verlorne Krone dem unerlannten 
Königsfind in Höhlen, im Waldesdunkel, in düſtern Köhlerhütten 
zurüd, und in ähnlichen dDämmerigen Umgebungen findet der in 
füßer Hoffnung bie Welt durchfragende Prinz die Prinzeſſin, die 
feiner harrt wie ein Veildden im Gebüſch, und wenn fie hinaus⸗ 
treten, wiflen fie nicht, ob ihr Glück fie mehr blendet oder der 
Lichtſtrom des hellen Tags der wirklichen Welt. Auch ich fite 
mandymal in einem lihtarmen und daͤmmerungsreichen braunen 
Känmerlein, von Märchenduft umweht, in Träume verfunlen. 
Es iſt aber ein gajtlidher, ob feiner gemütlichen „Ummelt“ bes 
rühmter Raum: die Trinflemenate de... . Hofs in einer 
Stadt Mitteldeutichlands. Nur handelt es fich für mich nicht um 
Märchen, die mich darin befuchen; von denen muß ich leider mit 
Rudolf Baumbach jagen: 


Alſo wars in alten Seiten 
Heute kommt das nicht mehr vor! 


Vielmehr trage ich felbit die Märchengedanten Binein und fuche 
fie dort mir zu deuten und zu erllären. Denn mir ift die ganze 
Schöpfung ein Rieſenmärchen, und jede Schuppe von einem 
Schmetterlingsflügel ein tiefes Geheimnis. Deshalb erlebe ich 
jeden Tag merk⸗ und denkwürdige Geichichten, und über dieſe 
Mätjel der Wirklichkeit finne ich dann in dämmernder Erholung 
in diefen vier dunkelgetäfelten Kubilmetern, deren zwei weiß- 
verhängte Yenfterchen auf einen Gang gehn, der einen andern, 
im rechten Winkel auf ihn ftoßenden fragen muß, wie e8 draußen 
außfieht, wenn er vom Wetter und von der Gaſſe etwas wiflen 
wil. Ein Luftloh, das man glüdlicherweile fchließen Tann, 
duchbricht die braune Rüdwand nad einem andern Dämmer- 
raum, auß dem die Stimmen gedämpfter Unterhaltumgen und 
der zinnerne Wohlklang zugellappter Dedeltrüge herüberdringt. 
Rayel, Glückamſeln und Träume 81 


482 Die Königin der Nadıt 


Meift figen einſame Becher darin, und man muß ihr Idiom 
fennen, um mit ihnen Zwieſprache halten zu können. Durch 
fange Übung verftehe ich ein bifschen davon; da8 langſame Öffnen 
bes Dedeld, dem ein ftiller Blid auf den rahmigen Schaum 
folgt, dann ein Schlud, und ein ſachtes Bullappen verraten mir 
den Gaft, der gute Stimmung, etwa wie Weihe, mitgebracht 
bat. Wenn ich daß Höre, fühle ich mich von gleicdhgeftimmter 
Seele angehaudt und antworte, indem ich mein eigned Behagen 
noch vertiefe, hoffend, e8 werde durd) Lehne und Wand hinüber- 
wirken. Diffonanzen von heftig zugeflappten Dedeln, die wie 
Ausrufe des Ärgers Hingen, oder von unmutig weggerüdten 
Krügen, die an Seufzer erinnern, nehme ich nicht Hoch auf, weil 
ih aus Erfahrung weiß, daß eine braune Dämmerung, vereint 
mit einem guten Trunk, Balfam in die Runden von „taufenb 
Pfeilen des Geſchickes“ gießt, und daß dieje Heilmittel vor vielen 
andern den Vorzug raſcher Wirkung haben, meiften? fchon nad) 
dem erften Krug. 

Bon der Dede meines Heinen Gemachs hängt über bem 
alten Tiſch die Lampe, deren Licht man dämpfen kann. Man 
(at fie ohnehin jo jpät wie möglich anzünden, denn es ift nicht 
zu verfennen, daß ihr gelber Schein ein Fremdling in dieſen 
Näumen tft, der die darin urheimiſche Dämmerung in die Eden 
und Winkel verdrängt und fi mit einem flimmungßwidrigen 
Lichtkreis, den er auf Tiſch und Dede wirft, als Herrichender 
befunden möchte Dean braucht fein Licht, um zu finnen. Um 
aber Zeitungen zu leſen oder naſchige Speiſen zu genießen, zu 
deren kritiſcher Verzehrung man Licht nötig hätte, ift das offenbar 
nicht der Ort. Pſychologiſch kann ich es nicht begründen, tenne 
und fühle e8 aber als fichere Tatſache, daß helles Licht den 
Gehalt der Luft an irgendeinem traumförbernden Etwas beein 
träcdhtigt. Nervenmüden follte man dämmerige Räume anıveifen, 
fie nit auf fonnige Meeresufer oder in Täler veriepen, mo 
das Licht von Hellgrauen Kalkfelſen zurückſtrahlt. Unfre Voreltern 
fühlten ſich in ihren Heinfenftrigen Stuben wohler als wir in 
unfern lichtreichen, und jo tun es noch heute die Bauern. Nicht 
mag für vieles gut fein, aber in der Dämmerung rubt fi der 
Geift in Träumen aus. 

So faß ich eine Spätjommertagd im braunen Stübchen, 
ſann dem Grün bes beißen Walbes nad, den ich eben durch⸗ 
wandert hatte, und probierte e8 mit der Erinnerung an die felts 
famen Lichtgeftalten, die die Sonnenftrahlen, wenn fie noch im 


Die Königin der Nacht 483 


ftarfem Winkel einfallen, zwiſchen den Blättern der Bäume durch 
auf den Boden zeichnen. 

Es gelang nidht recht. Klar war mir mohl die Eigentüm- 
lichkeit der Lichtumriffe, die die Fraufen Zwiſchenraͤume des Eichen- 
baumſchlags zeichnet, und daß fie auch anders gefärbt find als 
unter Buchen, deren Blätter wie grüne Transparente wirken, 
und unter Föhren, an deren Rinde rötlicde Töne herabrinnen. 
Aber es war fo jchwer, die höchſt willkürlichen Geftalten feftzu- 
halten. Man muß fie einmal photographifch feitlegen, fagte ich 
mir, wie es fiherlich ſchon längft gemifjenhafte Landichafter getan 
haben. Schade, daß die Wiflenfchaft nicht engere Freundichaft 
mit der Kunſt Hält, meditierte ich weiter. Hier ift nun ein 
Gegenstand, der mifjenswert ift, den 3. B. die Naturichilberung 
recht wohl beachten follte, und von dem doch wahrſcheinlich nur 
ein paar finnige Landfchafter Bericht zu geben willen. Kann 
mir einer der vielen reijenden Botanifer jagen, wie ſich der 
Schatten und das Licht in den Wäldern der verſchiednen Zonen 
abftufen und nebeneinander legen, und in was für Farben? Ach 
erinnere mid an tropiſche Landſchaftsſtizzen, ich glaube aus 
Brafilien, von dem Karlöruher Keller; da war eine über- 
wältigende Maſſe von grünem Licht unter den Bäumen, eine 
wahre grüne Dämmerung, aber nicht nur zu fühlen, zu greifen 
war ed. Ob nun dort die Menſchen ebenjo grünmüd werden 
wie wir Bewohner von Städten und Kulturfteppen rot= und 
gelbmüd, und fie dann ebenjo gern etwa ein SMatfchrofenfeld 
betradjten wie wir eine grüne Wieſe? Ih bin ja auch durd) 
tropiſche Urwälder getwandert, aber leider zu einer Zeit, wo mein 
Sinn für diefe Dinge noch nicht offen war. Immerhin erinnere 
id) mid) doc, daß es mir mandymal ded Grünen zuviel wurde, 
beſonders in einem Gebirgstal, wo die Hänge hinauf Farnbaͤume 
in lichten Hainen ftanden, der Boden mit großem Bärlappmoos 
dicht bededt war, deſſen Hellgrün faft leuchtete wie Leuchtmoos 
in Sichtelgebirgägrotten, an dem Waſſerrand große Begonien fich 
außbreiteten, und zum Überfluß fi) noch ein mannglanger grüner 
Zeguan auf dem Felſen fonnte; da ftrebte ich allerdings in Die 
Höhe aus diefer grünen Welt hinaus und freute mich, als ich 
auf jonniger Halde heidenartiges Gebüſch, zwetichenbaumähnliche 
niedrige Eichen, die mit Orchideen beladen waren, und andre 
jah, was gelblih und graulich ſchimmerte. Ob foviel Grün nicht 
entnervend wirt? Dem Rot, der Segenfarbe, wird ja einftimmig 
ein heroiſcher Charakter zugeichrieben. 

81* 





484 Die Königin der Vacht 


Wie merkwürdig lag dieſe grüne Rieſenechſe da! Mes 
nicht auffallend, daß die Natur in den Tropen, nicht zufrieden 
mit ber Fülle des Gruus in den Pflauzen, auch noch fo viele 
grüne Tiere ſchafft? Grüne Reptilien, grüne Schlangen, grüne 
Fröſche, beſonders aber Die zahlreichen grünen Vögel. Zährenb 
du den fetten Leguan betrachteteit, flog über dir eim grüner 
Papageienſchwarm in lebhaft plaudernden Pärchen weg. Sogar 
in einer Tiergruppe, bie fonit wenig grün bat, in der der 
Schmetterlinge, ſchuf die Ratur in den Zrapen Grũne. Seltiam, 
diefe Wiederholung. Sch möchte ed nicht Laume nennen, benn 
es haudelt fi) um Werke des Schöpfer. Mber ſeltſam mutet 
es an. Sollte dad Warum unfindbar jein? 

Der Bote, der in dieſem Augenblick Hereintrat, fa sicht 
gerade wie auß dem Märchen aus, wenn ic) von feiner voten 
Dienftmanusmüge abjehe, die an den verregneten Hut des Tünb- 
Imgöpilzes unjrer Herbftwälber erinnerte. Uber märchenhaft Flag 
die Bolfchaft auf zierlichem Kärtchen, deren Träger er mar: 
„Die Königin der Naht ift im Begriff aufzugehn. Berlieren 
Sie Teine Zeit. Kommen Sie." Der erfte Gebante ſchweifte 
mondwaͤrts; er ber Name des Unterzeichnerd, eines befannten 
Kaltuözichters, brachte ihn dann jfogleih in die Wirklichkeit 
zurück. Noch nie hatte ich das Glück gehabt, Cereus grandi- 
florus in Blüte zu jehen. Es war alſo felbftverftändlich, daß ich 
den Ruſe ohme Zögern folgte. Dieſer Kaltuszüchter war, wie 
alle ſeinesgleichen, ein etwas fonderbarer Herr; um jo liebenß⸗ 
würdiger, daß er bei diefem Anlaß an mid dachte. (Erinnerte 
er fich vielleicht unſers neulichen Geſprächs über die merkwürdigen 
Beobachtungen des genialen märkiſchen Rektors Sprengel, ber 


umterjucht Hat? Der platte — Lubbochk, 38 geſchwtzige 
Bücher beutihe Verleger ſich beeilen, friſch aus dem Ofen ſcher⸗ 
ſehen zu laſſen, bat übrigens feiner jüngſt wieder herablaſſend 
als eines armen deutſchen Schulmeiſters gedacht! 

Raſch überſchlug ich bei dieſem Auf bie Summe meiner 
Talteologifcgen Erinnerungen. Es tauchten vor mir auf Säulen- 
loftuffe won architeltoniſcher Regelmäßigleit, Die in den Trocken⸗ 
wäldern des pazifiihen Saumd won Mittelamerika einfam groß 
and ſtill den mittlern Baumfchlag überragen, und an die Beinen 
im Hafen verftediten Opuntien ber Bergmieien bed Veljengebings 
bon Eolorado, bei deren Berührung dem enttäufchten Wandrer 


Die Königin der Nat 485 


Hax wird, daß fogar in den Ulpenmaiten bei dreitaufenb Metern 
Meereshöhe ein fühlbarer Unterichieb zwiſchen der milden Ratur 
Ewropad und der rauhen des weftlicden Kontinents befteht. Auch 
Schlangenkaktuffe, die in regenfeuchten Heinen Mexikos von den 
Baumäften hängen, und Melonengeftaltige in Felsrigen der 
Tierra templada grünten wie aus Nebelichleiern im meiner Er- 
innerung auf. Aber die Königin ber Nacht hatte ich noch nie 
geiehen. Gelejen davon wohl, vielleicht jogar in Adalbert Stifter 
Rachſommer, wo der Dichter den Herrn des Roſenhauſes zum 
Träger feiner eignen Kaktusliebhaberei macht. Alfo eine Art 
Märchenbotichaft follte mich doch noch in dem dunkeln Kämmer⸗ 
fein erreihen! Ich Tann mir zwar biefe Kaktusblüte ungefähr 
vorjtellen, es ift aber Doch eine Seltenheit, baß man ihrer an⸗ 

ig wird, unb etwas beiondres if fie fchon wegen ihrer 
Bergänglichkeit; blüht fie doch nur einige Abenditunden und 
öffnet fi dann nie mehr. Im Grunde iſt ja jebe Blüte, Die 
wir jo recht ankam, ein Märchen, diefe wird aber vermutlich 
jo groß und jo ſchön gebaut fein, daß fie ſelbſt den Stunpffinn 
aufrüttelt, der Tein Naturwunder erfennt oder anerkemt. Und 
ſchon aus dieſem Grunde werde ich mir felbft eine Wohltat er- 
weilen, indem id) fie betrachte, weil mein Sinn wieder einmal 
weit aufgetan werden wirb für das Schöne und Große, für das 
Ratſelhafte in der Natur. 

Im Vorbeigehn hob ich eine von den doppeltgeflügelten 
Ahornfrüchten auf, die dad Gewitter der lebten Nacht auf den 
Doden der baumbejäten Anlage geworfen hatte Es ift ja im 
Grunde au ein Meines Wunder, diefe ganz gleichmäßige Aus⸗ 
flattung von Billionen von Baumfamen mit zwei jommetrifchen 
Blattflügeln, die fo fein gezeichnet und angeblich jo wirkſam find, 
das fchwere Ahornkorn zu vertragen. Und tft nicht ber Wieſen⸗ 
grund, den nun ſchon Spätjommer- und Frühherbftblüten: 
Stabivjen, Euphrafien, Leine Potentillen mit vierblättrigen 
Blütchen, Habichtsfräuter durchſticken, auch ein großes Wunder? 
Jedes Pflänzchen, das fi) da fo befcheiden neben das andre 
drängt, iſt Die Außerfte Spite eines Zweigs an bem großen 
Schöpfungsbaum, defien Krone die Erde mit Gejteinsfchichten 
vergangner Perioden bededt, und feine Abzweigung von einem 
andern reiht Millionen von Jahren in die Vorzeit zurüd, und 
ber Aft, dem beibe entiprofien find, noch viel mehr Millionen, 
und zuletzt jehe id den ganzen Stamm bed Reichs der Blüten- 
pflanzen tief in der Erde, wo die Eteinlohlen Liegen, fich von 





486 Die Königin der Nadıt 





dem alten Strunfe der blütenlojen Sigillarien, Riejenfarne und 
Riefenbärlappe trennen. Ya es ift eine Hiftoriiche Geſellſchaft, 
diefe Heinen Wiejengeiächle, mit unabjehbaren Ahnenreiben; ihre 
gleihmäßige Oberfläche kommt mir wie ein Querſchnitt durch 
ein uraltes Stüd Erdgeſchichte vor. 

Bei dem kaftusfreundlichen Manne jagen Männer, Weiber, 
Kinder und Hunde beifammen und bewunderten die Königin der 
Nacht, die binnen einer Stunde mehrere volle Strahlenfränze 
rein weißer Blüten entfaltet hatte. Es war wie in einem Kind⸗ 
bettzimmer. Man prüfte und lobte die Neugebornen und aß, 
trank und rauchte leichte Dinge Dazu, bie der Gelegenheit an= 
gepaßt waren. Yür den Lejer, der den Cereus grandiflorus noch 
nicht perjönlich kennt, will ich eine kurze, unbotanische Beſchrei⸗ 
bung hinzufügen. Er denke fich ein Stämmden wie eine ver⸗ 
trodnete Schlange, deren Wirbelfäule kantig durch Die feft an⸗ 
liegende Haut jticht, das ſich unter mancherlei Bindungen hinab 
und hinauf verzweigt. Außer winzigen Stacdheln trägt e8 bünne 
jtrohhalmähnliche Hautanhänge, Luftwurzeln. Die Wurzeln find 
fo eingerichtet, daß fie durch dürren Sand tief biß auf eine 
feuchte Schicht Hinabitreben können, aus der fie Die paar Tröpfchen 
faugen, die das durch feine Harte Haut gegen Verdunſtung ge= 
ſchützte Gewaͤchs für die Blütezeit auffpeihern wird. Ich denfe 
mir e8 aus feinem irdnen Topfe heraus in da8 Tal einer Sand» 
düne, die an eine merifaniiche Bafaltklippe angeweht if Weißer 
Sand, bräunlicher Stein und ungetrübter blauer Steppenhimmel: 
jo denke ich mir die urjprünglide Ummelt der Königin der 
Nacht. Die Farbe des Steins iſt in ihrem Stämmdhen, das 
Zmeig und Blatt zugleidh ift, die Farbe Des Schnees ift in Der 
Blüte, dad Gold der Sonne in den Staubfäden, die fi in 
einem leuchtenden Strom aus der Blüte ergießen; die Sonne 
jelbjt aber ift in der Strahlenform der Blüte, die aus zahl» 
reichen ſchmalen Blumenblättern beiteht, deren Weiß etwas durch⸗ 
ſchimmerndes hat, das du nur mit zartem PBapierporzellan ver⸗ 
gleihen magit. Wenn man dad Vergrößerungsglad anwendet, 
fieht man, daß der eigentümliche bleiche Glanz dieſer Blüten von 
der körnigen Bejchaffenheit der Oberfläche der einzelnen Blumen- 
blätter fommt. Ich kenne Kaktusblüten von bläulichem Burpur- 
cot und reinem Weiß der zarten Staubfädenbüjchel, Die glänzender 
find, aber keine, die an ftiller Majeftät mit diefen großen blaffen 
Sternen wetteifern könnten. Da tft wirklich etwas Königinnen- 
Daftes, eine Miihung von Wehmut und von Luft, und die ftille 


Die Königin der VNacht 487 


Frage ſcheint aus jedem Blumenkelchlein hervorzuhauchen: Warum 
blübe ich bier in diefer fremden Well? Und warum tft der 
Weg jo Klein von der Blüte zum Wellen? Auch der Gegenſatz 
zwiſchen der Pflanzengeftalt und dieſer Blüte ift ergreifend. Bei 
andern Kakteen ruft der Unterfchied zwiſchen der kriſtalliniſchen 
Starrheit der höchſt regelmäßig gefanteten, gefurchten und be⸗ 
dornten Pflanze zu ihrer zarten Blüte, die wie ein Schmetter- 
ling auf einem Kriftall fitt, unfer Staunen wach. Hier ift es 
Armut und Reichtum, VBettlergewand und Strahlenkrone. Wahr- 
lich, es ijt ein Märchen, das und dieſe vergänglichde Blüte er- 
zählt. Und wenn man bedenkt, daß fich in ihrer Heimat Taufende 
von diejen Blüten öffnen, ohne daß ein menjchliches Auge fie 
fieht, jo fcheint der Reichtum und die Schaffensfreube der frucht- 
baren Mutter Natur vernehmbar aus ihr zu ſprechen. Für 
jahrelanges Mühen und Kargen im Aufbau des dürren Stengel» 
und Blättergerüfts fiehe hier den Lohn in der überraichenden 
Blütenichönheit, der nur ein Alter von einigen Stunden bes 
ſchieden iſt. 

Bei uns war zum Glück kein Zweckmäßigkeitsfanatiker in 
der Stunde voll Weihe, in der wir das ſchöne Gebilde be= 
trachteten. Sonſt hätte er, fidher nicht verfehlt, ung zu belehren, 
daß eigentlich gar nichts Überrafchended an ber ganzen Gefchichte 
jei ala höchftens unſre Bewundrung. Es komme eben darauf 
an, die Fortpflanzung der Spezies Cereus grandiflorus ſicherzu⸗ 
ſtellen, koſte es, was es wolle. Daher die —** große Blüte. 
Se kürzer ihre Dauer, deſto auffallender ihr Äußeres, das be⸗ 
ſtimmt ſei, mexikaniſche Brummläfer, eitle Schmetterlinge oder 
dumme Hummeln anzuziehn, damit ſie den Blütenſtaub von einer 
Pflanze zur andern übertragen. Einige Pflanzen erzeugen tauſend 
kleiner Blütchen, die ſommerlang duften, andre wenige große, 
denen eine ganz kurze Lebenszeit beſchieden iſt. Es kommt eben 
auf die Umſtände an, unter denen das eine und das andre 
zwedmäßig iſt. Im Grunde ſeien die Einrichtungen vieler Blüten 
heimiſcher Pflanzen bemerkenswerter, die z. B. den Zweck er- 
reichten, den Blütenſtaub auf das zart behaarte Rückenſchild 
der Biene abzuflopfen, die, wenn fie dann in ber Nachbarblüte 
Honig jammelt, ihn an deren Stempel befruchtend abjitreifen 
müffe Und nım gar die Fälle von Nahäffung, wo die Neſſel 
die honigreiche Taubnefjel nachahmt, ſodaß fie von Inſelten an⸗ 
geflogen wird, die ihren Irrtum erſt einſähen, wenn der Zweck 
erreicht ſei. 





488 Die Königin der Vacht 


Ich fage, zum Glück hatten wir feinen Zweckmäßigkeits⸗ 
fanatifer unter und und durften ungehemmt uns unfrer Be⸗ 
wunderung der Schöpferphantafie hingeben, die dieſes Wert neben 
Millionen andrer geichaffen bat. Bon des Amethyſten, den bu 
am Halſe trägft, „veildenblauem Gewand,“ das in einer Berg- 
kluft entitanden ift, wo nicht von Befläubung, Befruchtung und 
Iharffinnigem Hinterdaslichtführen törichter Inſekten die Rede ift, 
bis zu der Kunft und Pracht eines Menichenanges ließen wir bie 
Schönheiten der Natur an un vorübergehn. Wer möchte leugnen, 
daß e8 darunter einige ehr zmedmäßige Mechanismen gibt? Wenn 
Millionen Sandlörner übereinander liegen, werden fid) Doch wohl 
einige davon auf das zmedmäßigfte eng aneinander paflen. 

Was wollen aber diefe paar BZwedmäßigfeiten jagen, in 
denen: die Natur fich jelbft zu helfen fcheint, neben der Maffe 
von großen und ſchönen Bildungen, die nur eine Künftlerphantafie 
bingezeichnet haben Tann? Es könnte ja alle jo ganz anders 
fein, gemeiner, Häßlicher. Und in Wirklichkeit, wie wenige® in 
der Natur dürften wir wagen, häßlich zu nermen! Wir wollen 
es jeboch gar nicht fo nennen, denn wir fühlen, daß unfer Urteil 
und unjer Geſchmack nicht an die Schöpfungen der Natur heran» 
ragt. Die Natur hat ihre Schönheitögejebe, die umabhängig find 
von ben Eriftenzbedingungen ber einzelnen Geichöpfe Die Natur 
tut fich ſelbſt Genüge in der Ausbildung des Schönen, unbe 
fümmert, ob es mir oder der in Blumen bonigjaugenden Hummel 
Augen ober Vergnügen macht. Wir fennen und wiflen über: 
haupt nur einen Heinen Zeil des Schönen, deſſen fie fähig ift, 
ſchon weil ungeheuer viele einzelne Geſchöpfe und ganze natür⸗ 
liche Verwandtſchaftsgruppen untergegangen find. Was die Schöns 
Beiten eine Waldes riefiger Bärlappbäume waren, in denen 
Bögel noch nicht nifteten und fangen und Schmetterlinge noch 
nicht flogen, wifjen wir nicht. Und welche Kriftallbildungen Die 
Erde in ihrem Innern erzengt, ift und unbekannt. Wir jehen 
einen Strom von Flabenlava, die aus Strähnen, Zöpfen, Wirbein, 
Sinoten des jäh geflofienen Geſteins zufammengewirrt ift, ein 
Bild der Berftörung. Daran finden wir nichtd Schöne; nur 
das Erhabne der Einfamkeit unter den gigantifchen Maſſen be= 
wegt und. Aber bei der Berwitterung dieſes ordnungslos hin⸗ 
gegofienen Feuergefteins fallen Friftalle von gefebmäßiger und 
zugleich zierliher Bildung heraus, die fid) zu ihrer Bildungs- 
ftätte wie die Perle zur Mufchel verhalten. Für wen war man 
dieſe Schönheit beftimmt? " 





Die Königin der Nacht 489 


Wenn man von den Beziehungen zwiſchen Blumen unb 
Inſekten oder honigſaugenden Zwergvögeln ſpricht, handelt es 
fih um Tiere mit hoch entwickelten Sinnen. Aber wie iſt es 
mit der in allen Yarben ftrahlenden und jchillernden ſtummen 
nnd blinden oder nur Licht, aber faum Farben empfindenden 
Bevölferung des Waflers? Mit den filbernen oder goldnen 
—— den präctigen Gärten von Seeanemonen und Korallen, 

den ſchöngewundnen Schaltieren, den bunten Nacktſchnecken und 
endlich den an Sinneßempfindung tiefftehenben, aber in zierlichtten 
Formen gebauten Schleimtieren, die man NRadiolarien, Rhizo⸗ 
poden, — nennt? In der Organiſation ihres Körpers, 
ber nichts als ein Häufchen lebenden Schleimß ift, ftehn fie auf 
der nnteriten Stufe im Bau ihrer Hall» und Biegelgehäufe er- 
reichen fie mit das Höchſte an Schönheit und Regelmäüßigkeit. 
Dieſe feinen Gebilde, die überdies größtenteil® ungemein klein 
find und nur durch das Milroflop gejehen werben können, haben 
fiherlich niemand zu gefallen. Sie find, vergleichbar dem Kriftall 
der Lava, nicht beftimmten Zwecken zuliebe geichaffen, ſondern bie 
Natur bildet fie, weil fie fie bilden muß, fid) jelbft zum Zweck, 
weil es jo in ihren Geſetzen liegt. Nicht felten find niebere 
Tiere mit nefielnden Organen von beftiger Wirkung auge 
ftattet, die jede Annäherung eines fremden Tieres hindern follen, 
und zugleich Ioden fie durch die Leuchtenbften Farben und die 
Ichönften Formen an. Ber löft biejen Widerſpruchꝰ 

In meiner Erinnerung taucht ein Bild aus den bayriſchen 
Boralpen auf. Ber Kahn trägt mich auf ben Tichtblänlich- 
grünen See hinaus, deſſen unteres ſeichtes Ende eine won weißen 
und gelben Seerofen dicht durchflochtene Schilfwilbnis if. In 
den tiefern Gräben fahren wir zwiſchen unzähligen fchtwinnnenden 
Blüten dahin, an deren Bau mic einigermaßen dieſe Königin 
ber Nacht erinnert. Auch die Schönhelt ber weißen Seeroie 
Hegt in dem zarten Weiß der Kränze von Blumenblättern, bie 
die Roſette goldgelber Staubfäben umgeben. Beide wirlen zu⸗ 
jammen wie ein ungemein jummetrifche® Kunſtwerk, wenn bie 
Rofe auf dem dunkeln Wafferfpiegel wie ein Stern ſchwebt, 
und der Blid über die Fläche Hin ein fternbejätes Yirmament 
zu fehen meint. Eine tiefere Schönheit enthüllt un bie genaue 
Betrachtung der Blume. Da fehen wir die weißen aufen- 
ſtehenden Blütenblätter langfam in die goldgelben der Mitte 
übergehn, bie immer bünner, fabenförniger werden, biß fie fi) 
in die Träger der Staubfäden verwandeln, die ihrerjeit im 


490 Die Königin der Nacht 


Kreife um den fronenförmig außgezadten Gipfel ftehn. Pflücken 
wir aber die Seerofe und betrachten den untern Teil, der ben 
Bliden der Menſchen entzogen zu bleiben pflegt, jo jehen wir 
vier grünlide und braunrötliche Blätter, Die wie ein Kelch Die 
innere Rofette umgeben und die Knoſpe vollftändig verhüllen, 
und zwar jo, da immer bon rechts ber eins über das andre 
jeitlich übergreift. Abwechſelnd mit ihnen ftehn vier Blätter, 
gleihjam einen innern Kelch bildend, die fchon faft ganz weiß 
find; am Grunde find fie blaßrofenrot, und eine grüne Mittel- 
linie, oft nur angedeutet, zieht bis zu ihrer Spike, wo ſich das 
Grün noch einmal ausbreitet, den Außerften Rand wie mit einem 
grünen Farbentröpfchen ausfüllend, das an die zierliche Spige bes 
Schneeglödchend erinnert. Nun erit folgen dreimal vier reinweiße 
Blumenblätter, die nad) innen an Größe abnehmen; und alle die 
zwanzig jegen uljo aus fünf Vierblätterrojetten den ſchönen Blüten- 
ftern der vollendeten Blume zufammen. So ift eigentlich die der 
Bewunderung der Fiſche dargebotne Unterfeite der Seerofe nicht 
minder jchön als die Oberfeite, die und entzüdt. 

Es geht ein Grundgeſetz der Farbenharmonie durch diefe 
Blüte. Es ift ein allgemeine Geſetz, nur wird es in dieſem 
einen alle bejonder8 deutlich. Dan wird gerade Dabei am 
wentgjten von Zweckmäßigkeit fprechen können, denn es handelt 
jih um Vorgänge tief im Innern der von doppelten und drei⸗ 
fachen Hüllen eingeichloffenen werdenden Blüte. Keine Farbe 
tritt jchroff neben die andre, ſondern von einer führt es in 
taufenderlei Abjtufungen zur andern über, feine ift ganz allein 
einem einzigen Organe zugeteilt, feine tritt nur einmal, fondern 
alle treten immer in Wiederholung auf. Man ahnt darams, 
was ja dann das Mikroſtop recht deutlich zeigt, den mojail- 
artigen feinern Bau der Pflanzenergane. Das Rot der Roſe 
iſt in Millionen Heiner Farbkörnchen dur dag Blütenblatt 
verteilt, und fo jede Farbe. Hier Tiegen fie dünner, dort 
dichter, je nachdem der Vorrat groß tft. Diefer aber ift in der 
Negel innen im Blätterfreis der Blüte größer als außen, unb 
auch in diejer Verteilung herrſcht Negel und Geſetz. So wie 
fi die Mafje um den Kriftallmittelpunft oder die Kriftallachfe 
ftreng gejeßlich verteilt, wobei in bewundernswürdiger Gerechtig⸗ 
keit feine einzelne Seite vor der andern bevorzugt wird, jo find 
offenbar auch Maffe und Farbe in der Blüte aus einer Summe 
heraus in Teile zerfällt worden, bie einander gleich find, Drei, 
fünf, jech8, fieben oder mehr, je nad) dem Bau. Auch hier eine 





Die Königin der Nadıt 491 


gerechte Verteilung, wenn auch nit nad ſcharfen Linien wie 
im Kriſtall, und als Folge davon die Bildung der Farbeniterne, 
die von den dreiftrahligen bis zu den vollen Büſcheln und 
Blumenkörben der Zujammengefebtblütigen der Ausdrud eines 
großen Bildungsgeſetzes find. Wir jehen Hier überall eine konzen⸗ 
triihe Anordnung um das Ende der Achſe der Pflanze, die 
einen großen Teil der Schönheit der Blüten mit fi) bringt. 
Ganz treffend nennt man bie kantigen Kaktuſſe Kriftalle des 
Pflanzenreichs; aber auch die Roſe ift ein Kriftall von organifcher 
Freiheit; die Kriftallgefeße geftalten in ihr den zartejten organischen 
Stoff. Es gibt ſehr ſchöne unſymmetriſche Blüten, man denke 
nur an die Orchideen, aber die einfache, ſozuſagen klaſſiſche Schön⸗ 
beit ift Die der Blumenſterne. Darauf führt ja am Ende auch die 
Schönheit der Blumen zurüd, Die immer zu den jchönften ge= 
hören werden, der Roſen. Und würden die Dichter von den 
Blumenaugen ſprechen können, die und traulich und Doch ges 
heimnisvoll anſchauen, wenn nicht die regelmäßige Anordnung 
der Blätterfreife in der Blume darauf hinwieſe? Eine wilde 
Rose, eine Brombeerblüte, Die große Blüte der ahornblättrigen nord- 
amerifantichen Himbeere mit den bläulichroten ſilberſchimmernden 
Blumenblättern find Mufter von regelmäßigen Sternformen: 
innen die zuſammengeſchloſſenen Griffel um den Mittelpunkt, dann 
die goldnen Staubgefäße, dann die Blumenblätter, und zwiſchen 
dieſen durchſchauend die Kelchblätter. Ahnlich die Georginen und 
die Altern, nur daß bei diefen durch die Vervielfältigung der 
äußern Blätter die Zahl der Strahlen wählt. Sehr oft find, 
wie bei allen diefen, die wir eben genannt haben, die tiefen 
Farben außen; jogar die purpurroten Spitzen der Gänſeblümchen, 
die lila Spitzen der innen weißen Herbſtzeitloſe, die Purpur⸗ 
fpiten des Kahnes und der Flügel der Kleeblüten beftätigen die 
Negel. Aber es kommen auch dunkle Flecke an der Baſis heller 
Blumenblätter vor, beſonders Ichön beim Mohn, bei mandıen 
Lilien und Tulpen, bei den goldgelben Potentillablüten und vielen 
andern. 

Die Farbenverteilung in der Blüte hängt eng zuſammen 
mit der ganzen Mafjenverteilung, die fi) in der Yorm aus⸗ 
fpridt. Das macht ja eben den Eindrud des bewußt Künft- 
lerifchen, daß die Yarbe die Struftureigentümlichkeiten der Blüte 
jo Har zur Ericheinung bringt, wie die Ornamentik es an einem 
Bau tut oder tun folltee Das zeigen bejonders jchön die ge- 
äderten und geftreiften Blumenblätter. Außerdem fieht man 





492 Die Königin der Nacht 


bald, daß neben der Verteilung der Farben die Verteilung der 
Formen auf einen flarken Ausdrud der Gejehmähigleit deß ganzen 
Baus binarbeitet, den wir meinen, wenn wir bon dem „Stil“ 
einer Pflanze ſprechen. Sehen wir die liebliche Rigella, das 
Gretchen im Buſch an, deffen firmige Benennung ſchon anzeigt, daß 
e3 eine eindrudsvolle Blumenperjönlichkeit ift. Wie tft bier das 
Motiv der Zerichligung von den erften Blättern bis zur Blumen- 
frone folgerichtig durchgeführt: an dem ſchwanken, lantigen. 
ſchlanken Stengel ftehn die Blätter ſpärlich in langer Spirale, 
jedes einzelne Durch das Verſchwinden der breiten Flächen gleidh- 
fam auf die Grundlinien zurüdgeführt, als ob es nur noch aus 
ben SHauptadern eineß fertigen Blattes beftünde. Wie fchön 
drängen fi) aber dann fünf ober mehr folder Blätter zu dem 

„Buſche“ zufammen, in dem die milbblaue Blume wie im 
Moofe fteht, und der die Knoſpe wie ein Moosbüſchelchen ein⸗ 
hält. Ihre Blumenblätter find fcharf zugeipigt, oft auch zer- 
teilt, und dunkleres Blau verbreitet fi) in ihren ftarf hervor⸗ 
tretenben Adern. Der Kranz ſchlanker Staubfäden ımb das 
Büfchel weit heraußtagenber Griffel vollenden eine Pflanze von 
zartem, durchſichtigem Bau, in der die Formen ebenfo harmoniſch 
aufeinander gejtimmt find wie das Blau der Blüte und das Blau⸗ 
grün der Stengel und Blätter. 

Die Knoſpen haben ihre bejondre herbe Schönheit. Ich 
vergleiche Knoſpen und Blüten der Wieſenſtabioſe, die Knoſpen 
find dunfelviolett, zufammengedrängt, haben etwas geſchloſſenes 
in ihrer ganzen Erfheinng; die aufgeblühte Stabiofe Tennen 
wir alle al& eine bellviolette, durch die herausragenden Staub- 
fäden baarartig fein gegliederte Blume. Dazu kommen innen 
die grünen, an der Spibe braunroten Kelchblätter. Die Knoſpe 
der weißen Seerofe tft grünlibraun und hat faft bie Gorm 
einer geſchloſſenen Teichmuſchel. Die Roſenknoſpen haben be⸗ 
kanntlich ſchon eine ſehr elegante Form wegen der Zepa 
und Ausfranſung ihrer grünen Kelchblätter. Aber doch, wel 
Überraſchung, wenn fie ſich entfalten; denn neben ber ſeſi⸗ 
geihhloffenen, zufammengezognen Knoſpe ift die voll aufgeblühte, 
fi) ausbreitende Rofe eine ganz neue, felbftändige Schöpfung. 
Nur die Unterfeite zeigt Dann noch die Spuren ber zierlichen 
Hülle, die fi) zur Blüte wie die Puppe zum Schmetterling 
verhält. Mit diefem Snojpenzuftand der Vorbereitung Tann fein 
einzige von den Zweckmäßigkeitsmotiven der offnen Blume in 
Verbindung gefebt werben; fo liefern uns alfo die Formen ber 


Die Königin der acht 493 


Knoſpen beionders wertvolle Beiträge zu dem Berftändnis der 
innern Geſetze der Blütenbildung. 

Wir ſprachen von der Unterſeite der Blüten, bie man auch 
die Rückſeite nennen könnte. Es ift ein wejentlicher Unterſchied 
zwiſchen beiden, ein vitaler im wahren Wortſinn. Die Ober⸗ 
ſeite iſt der Sonne zugewandt, die Unterſeite der Erde. Die Übers 
feite zeigt die reichiten Farben, die Farben der linterjeite gehn 
entweder in das Grün der übrigen Pflanzenteile über ober find 
ſchon entichieden grün. Daß nun aud) die Unterſeiten mandher 
Blüten Farbe zeigen, dad mag damit zufammenhängen, daß fie 
auch Licht empfangen, wem auch in kleinerm Maße. Die Untere 
feite der weißen Seerofe wird vom Waſſer Her belichtet, die 
Kaktusblũte empfängt Die von den Felswänden oder ben heiken 
Boden zurüdftraßlenden Licht und Wärmemengen. Immer ift 
aber in der der Lichtquelle entichieden zugewandten Seite das 
„Sonnenhafte” aller Lebendentwidiung deutlich ausgeſprochen. 
Das ganze Pilanzenleben ift ja befauntli vom Licht unmittel- 
barer abhängig ald das tieriiche und das menichliche, es gibt 
feine grünende und feine VBlütenpflanze in den dunkeln Tiefen 
bes Meeres, der Seen, der Höhlen, wo es belanntlid nit an 
Tieren fehlt. Die Blüte bricht aber bei den meiſten Pflanzen 
auf der Höhe ded Leben auf, die mit der Sonne anfteigt. 
Lichtarmut verkleinert die Blüten. Die Farbenpracht des Hoch⸗ 
gebirgsflors iſt durchaus nicht bloß auf die Anlodung der Ju⸗ 
felten berechnet, fondern fie ift auch durch Den Lichtreichtum ber 
Haren Höhen verurfadht. Wenn Lenau von ben weißberiuheten 
Birkenſtaͤmmen fagt, fie ſaͤhen aus, als jei der Monbichein daran 
bangen blieben, fo tft e8 ein jchöneß, tueffenbes Bild; wenn aber 
jemand fagt, es fei Sonnenlicht in dem großen und kleinſten 
Blüten an der Erbe haften geblieben, jo ift es die volle Wahr⸗ 
heit; denn die Verdichtung des Lichts und der Wärme, bie von 
der Sonne jtammen, im Lebenäprozeß der Pflanzen ſchafft die 
Blütenpracdht. Darum liegt auch eine tiefere Wahrheit in jebem 
Bilde, dad die Blumen mit der Sonne verknupft. Sogar wenn 
mid) eine mit SHerbitzeitiojen Dicht bejäte fahle Herbſtwieſe an 
den milden Mbendichimmer eineB müden Tags erinnert, oder eine 
Frühlingsau voll Primula farinosa an einen Hauch, von Morgen- 
röte, iſt die Wirklichkeit kosmiſcher Beziehungen im Bilde, in der 


Ein Stern des Himmels und der Blütenſtern, ein Sounen- 
ftrahl und der Strahl dieſer Blüte: warum foll es dem Dichter 





494 Die Königin der Nadıt 


LIE 


überlaffen bleiben, da8 Große und das Kleine und das Ferne und 
das Nahe zu vergleichen und baraus ein Bild feiner Rede oder 
feine Gedichts zu geftalten, daß verglüht wie ein Fünkchen? 
Nein, ich will bei ſolchem Vergleich verweilen. Was find mir 
denn überhaupt in dieſer gewaltigen Welt der uns fichtbaren 
Schöpfung, die ficherlih nur ein Tropfen im Meer iſt, Größen- 
und Entfernungsunterichiede? Das find ja nur Unvolllommen- 
beiten meiner Wahrnehmung. Sie dürfen mid) ficherlich nicht 
abhalten, die Dinge am Himmel, in denen aus einem Mittelpunft 
heraus mädjtige Kräfte nad) allen Seiten hinausſtreben, zu ver- 
gleihen mit den Dingen an der Erde, in denen ich dasſelbe 
wahrnehme. Auch diefe Zeile der Pflanze, von denen uns 
Goethe zuerft gelehrt hat, wie fie ſich in geſetzlichen Spirafen um 
die Pflanzenadjfe bald als grüne Blätter, bald als Keldh- und 
Blumenblätter und bald als Staubfäden reihen, find aus geſetzlichen 
FKreifungen der Bildungsftoffe entftanden, eine Weltihöpfung in 
kleinerm Maße. So wie diefe Blume verwelft, verlöfcht einft die 
Sonne, und beide Welten teilen die Gejchichte eines Auffteigeng, 
eines Höhepunkts und eines Niedergang?. 

Was will da ein leichtfinniges Wörtlein wie Zufall jagen? 
Nur für einen blöden Sinn fönnen die imponierenden Ent- 
fermingen der Weltigfteme die Veranlaffung zu einem Staunen 
fein, das er nicht empfindet, wenn er dieſe Wunderblüte fich 
öffnen und jchließen fieht. Es find in beiben diejelben Kräfte 
und biefelben Geſetze. Das eine ift aber jo wımberbar wie das 
andre. Ja, in die Wunder des unendlid) Kleinen werden wir 
aller Borausficht nach niemals jo tief eindringen lönnen wie in 
die des ıumendlic” Großen. So müßte denn eigentlid das Ver⸗ 
borgenjein dieje8 ganzen Cereus von der Wurzel bi8 zur Blüte 
und Frucht in einem winzigen Kaktusſamenkörnlein, aus dem 
fi) Die ganze Seltjamfeit und Pracht in geſetzmäßiger Folge 
und mit kaum einer Abweichung von der feit Jahrhunderts 
taujenden feftjtehenden Form entfaltet, wenn Licht- und Wärme- 
ftrahlen die Hülle durchdringen, als eines der allergrößten 
Wunder der Schöpfung gelten. Jedoch das Keimen eines Weizen- 
fornd oder einer Moosſpore ift ja gerade jo wunderbar. Wir 
find alfo von unerllärlichen Dingen und Vorgängen umgeben, 
ob unfer Blid in die Tiefe des Sternenhimmel taucht oder über 
eine Wiefe oder nur ein Moospolſter Hinftreift, nur daß der ge- 
ftirnte Himmel der blühenden Wieſe um ung in vielen Einzelheiten 
erreiäbarer ift als der „geitiente Himmel über uns.“, 





Die Königin der Nacht 495 


Die Königin der Nacht fchien fih zum Niedergang zu 
rüften, die hinausgerichtete Kraft ihrer Strahlen erlahmte, ihr 
Blütenftern jchaute und nicht mehr voll an, fondern ſenkte ſich 
erdwärtd. Das Sonnenhafte will fi) entichwingen. Es bat 
feinen Bwed, auch dieſes Sterben zu jehen. Lebt doch die 
Ihöne Blume in meinem Innern fort, jo wie fie lange, ehe fie 
erichien, in der Seele eines unbegreiflih) hohen und reichen 
Weſens geblüht Haben muß. Doch ftill; ich ftreife hier an bie 
Grenzen der Moftil. Wenn dad mein naturmwifjenichaftlicher 
Freund müßte, der mir auf meine Frage nad) dem heutigen 
Stande des Wiſſens von den Blüten geantivortet hat: Außerhalb 
der Ihnen belannten Handbücher behandeln Die felbitändigen 
Werke über Blüten faft nur noch die Anpaſſung, beſonders an 
die blütenbefudenden Inſekten und Vögel. Der Gute hatte 
offenbar geglaubt, über dieſes große Problem hinaus, das in 
Wirklichkeit höchſt mebenfächlich ift, brauche niemand zu fchauen, 
ber fih um Blüten kümmere. 

Ich aber danke der Königin der Nacht, daß fie mir einen 
Dämmerftrafl darüber hinaußgeworfen bat. Zwar follte von 
Rechts wegen jede Grasblüte und jedes Moosbecherchen benfelben 
tiefen Eindrud machen, aber es ijt doch mwirffamer, wenn uns in 
dem großen Märchenbuch der Schöpfung ein jo glänzenbes 
Blatt gezeigt wird. War es doch die fchönfte der Blumen, Die 
dem Seraphiniſchen Wandersmann einen der größten Gedanken 
eingab, die je in zwei Zeilen ausgeſprochen worden find: 


Die Roſe, welche hier dein äu 
Die —X —* in Bott ale er Ar 














Die Tagesanſicht | 
Guſtav Theodor Jechners 


ur 





Nagel, Glückzinſeln und Träume 99 





Ein Raturforicher von anerkannter Größe der Perjönlichkeit 
und der Erfolge, der Gott mit derfelben Hingebung fucht, mit 
der er den Naturgefeten nachforſchte, und mit noch größerer, und 
der feinen Gottesglauben mit hingebender Dffenheit bekennt, ift 
in Deutihland in der zweiten Hälfte bes neunzehnten Jahr⸗ 
hundert8 eine fo feltne Erfcheinung, daß er ſich auch aus mächtigern 
Umgebungen als der feiner Yachgenofien abhöbe, ftrahlend für 
einige, dunkel für viele Er ift überhaupt im Geiftesleben dieſes 
Zeitalter und bis in die Gegenwart herein eine jeltne Er- 
ſcheinung. Wenn aud nicht bei allen Völfern eine materialiftiiche, 
jedes Gefühl von Zugehörigkeit zu einem Weſen und einer Welt 
über dem, was greifbar und zeitlich ift, als Schwäche verhöhnende 
Strömung fo mädtig geworden ift wie in Deutichland, fo durch⸗ 
dringt doch ein Widerwille, zu glauben, die ganze Kultur, an der 
das neunzehnte Jahrhundert gebaut Hat. Wohl Hat e8 Männer 
von anerlannten Leiftungen in der Naturwiffenichaft gegeben, ic) 
nenne nur Karl Ernft von Baer unb Louis Agaffiz, die ſich 
nicht gefcheut Haben, in der Natur, die fie fo erfolgreich durchforſchten, 
da8 Werk eines höhern Weſens zu verehren, das ihnen hoch über 
Die Sphäre hinausreichte, wo ſich ihre Arbeiten bewegen. Aber 
fo wie Guſtav Theodor Fechner hat fi) von dieſen und ihren 
Geiftesverwandten Teiner in das Wejen Gottes und de Jenſeits 
vertieft. Gerade darum kann fi) an Fechner eine Weltanſchauung 
anfchließen, die Gott in der Welt und die Welt in Gott fieht 
und zu glauben wagt, ohne das Kleinfte von dem aufzugeben, 
was die Wiffenjchaft weiß und noch erfahren wird. Dieſe Welt- 
anihauung ift im Heraufdämmern, ihre Strahlen find fchon in 
manche Seele gebrungen und werden eine8 Tages mächtig durch 
eine Menichheit Fluten, die ſich nicht auf die Dauer mit Der 
Berneinung von allem zufrieden geben Tann, was außer dieſem 
ſchwachen Menfchengeifte if. Nach vollendeter „Aufklärung“ das 
ſchwankende Licht unſers eignen Bewußtſeins in einer troftlojen 
Nacht Fladern zu jehen, wird doch immer mehreren wie ein 

82* 


500 Die Tagesanfiht Guſtav Cheodor Fechners 


törichter Verzicht auf das Beſte erſcheinen, das wir in der Welt 
überhaupt haben können; und eine unvollkommne, lückenhafte 
Wiſſenſchaft wird in ihrer Unfähigkeit erkannt werden und endlich 
auch ſich ſelbft erkennen, den Bereich unſers Geiſtes auch nur 
von ferne auszufüllen. 

Zumal wenn in weitere Kreiſe die Überzeugung gedrungen 
ſein wird, daß ſich dieſe Wiſſenſchaft über die Weite und Tiefe ihres 
Werkes gewaltig täuſcht, wird man ihren Verſuchen entſchiedner 
entgegentreten, alles zu zerſtören, was ſie nicht begreift. Eine 
Geologie und eine Biologie, die über die elementarften Voraus⸗ 
jegungen ihrer eignen Denkarbeit in ſchweren Irrtümern befangen 
find — id) erinnere nur an ihre Unklarheit über die entſcheidende 
Frage der erdgeſchichtlichen Perſpektive —, hat nicht das Recht, 
uns über die Stellung des Menichen in der Welt und zu Gott 
zu belehren. Ihre bochklingenden Erörterungen über Schöpfung, 
Geiſt, Stoff, Kraft uſw. machen nur allzu oft den Eindrud der 
Gedanken eines zünftigen Handwerfers, defien Welt eine dumpfe 
Werkſtatt ift, gegenüber den Werfen des Fünftleriichen Genins. 
Diefer Schufter mag glauben, die ärmlich beleuchtete Glaskugel 
vor der er arbeitet, fei eine Sonne; und andern feine blöde 
Kurzſichtigkeit aufdrängen zu wollen, ift Vermefjenheit, die man 
zu lange denkträg ertragen hat. 

Manches mag ſich nun an Fechnerd Weltanſicht unvollfonmen 
erweilen, einiges -fann man ſchon jet als unhaltbar erkennen. 
In der Hauptjadde ift fie ein großartiger Verſuch, das uns zu⸗ 
gänglicde Schöpfungdwert mit Anerkennung und Verwendung 
alle3 deſſen, was tatſächlich befannt iſt, jo nachzudenken und nad) 
zubilden, daß dem Geilte fein Recht gewahrt bleibt, und daß bie 
Lüden des Willens jo ergänzt werden, daß nicht das der Kurz⸗ 
fichtigleit bequeme Leichtverftändliche bevorzugt, fondern alles in 
dem großen Stil eined Werks ausgedacht wird, in deſſen Zuſammen⸗ 
bang die ganze Erde felbjt nur ein verjchwindendes Teilen tft. 
vechner, der Denker und Dichter, deſſen Glaubensbedürfnid im 
tiefften Herzen erlebt ift, und der aus eignen Erfahrungen feine 
im höchſten Sinne praktiſche Auffaſſung der Religion Ichöpft, hat 
in jeiner Zagedanficht Tein wiflenjchaftliches Syitem aufbauen, 
fondern eine Weltanſchauung bieten wollen, die vom Erlaunten 
ausgehend die Hätjel des Dajeind erhellt und aus Dem vollen 
Verftändnifje deſſen, was die Menichenjeele braucht, wenn fie 
nicht dumpf über die Abgründe dahin dämmert, dad Wiſſens⸗ und 
Glaubensbedürfnis zugleich zu fättigen unternimmt. Keine nene 
große Entdeckung, wie wir fie ihm in der Pſychophyſil verbanfen, 


Die Tagesanfiht Guſtav Cheodor Sechners 501 


kein Neubau auf den Trümmern eineß niedergerifienen alten will 
das fein. Die dichteriichen, naturbejeelenden Weltbilder vergangner 
Beiten werden ausdrücklich al die Vorgänger der Tagesanficht 
anerkannt, die ſich in ſchroffen Gegenſatz überhaupt nur zu einer 
Geiftedrichtung ftellt, nämlich zu der Überhebung, die ung ver- 
bieten will, zu glauben, wo für fie daß Denken mit dem Wiffen 
aufhört. 

Fechner Hat uns felbft erzählt, wie ihm die Anregung zu 
der lebten, erichöpfenden Darftellung feiner „Tage8anfiht” im 
Leipziger Roſental aufleimte, als er von einer Bank, die wir 
in der Nähe der Stelle denfen dürfen, wo fich heute fein Dent- 
mal erhebt, dur eine Lüde im Gebüſch auf die große Wiele 
hinausſchaute, um jeine Franken Augen an ihrem Grün zu er- 
quiden. „Die Sonne fchien hell und warm, die Blumen ſchauten 
bunt und Iuftig aus dem Wiefengrün heraus, Schmetterlinge 
flatterten darüber und dazwiſchen hin und ber, Vögel zwiticherten 
über mir in den Zweigen, und von einem Morgentonzert drangen 
die Klänge in mein Ohr.“ Aus diefen Eindrüden fchweiften 
jeine Gedanken zu dem ab, was nad) der gewöhnlichen Anficht 
hinter ihnen liegt. Nacht und Stille, keine Farbe, die du fiehft, 
fein Ton, an dem du dich erfreuft, ift wirklich; die Sonne fängt 
erft Hinter deinem Auge zu leuchten an, draußen vor deinem 
Bewußtiein find Yarben und Töne nur blinde, ſtumme WWellen- 
züge. Uber nie war ihm dieje im Widerſpruch mit der natürlichen 
Anſicht der Dinge ftehende „Nachtanficht* fo unerbaulid und 
jo unwahrſcheinlich erjchienen als in diefer Stunde. Richt zum 
eritenmal regte ſich in diefer fonnigen Stunde der Widerſpruch 
gegen die „habesgleihe Welt“ voll Zinfternis, über bie einige 
zur Not noch einen Gott feben, von dem fie aber felbft nicht 
veritehn, wie er eine ſolche Welt Ichaffen Tonnte; jedenfalls kann 
er nur fremd und fern über ihr ſchweben. Uber der Widerjpruch 
regte fi) damals mit neuer Triebfraft, verftärkt durch die Forderung 
des Herzens, au für fid) and dem Blick in eine helle, fonnige 
Ferne bie Befriedigung der Sehnſucht nad) dem Sicheinswiſſen 
mit einem Wefen zu gewinnen, das die Leiden und die Freuden 
aller feiner Gefchöpfe zu den feinen bat: „Yiwei Herzen, die jebt 
eins find, möchten es immer fein; und fürchteſt bu, daß der Tod 
Die Bande, die jebt eins an das andre knüpfen, zerbrechen wird, 
jo ift es die Furcht der Nachtanficht; der Tod in der Tages⸗ 
anficht ſprengt vielmehr die Bande, die jebt beide noch voneinander 
trennen.“ Fechner hatte ſchon früher in einem Lied von wunder- 
barer Innigkeit diefer Zuverficht in einer Auslegung des Spruchs 


502 Die Tagesanſicht Guſtav Cheodor Fechners 


im erſten Korintherbrief: „Es find mancherlei Kräfte, aber es 
iſt ein Gott, der da wirkt alles in allem,“ Worte geliehen: 


In Gott ruht meine Seele, 
Weil Gott lebt, lebe ich, 
Denn er allein hat Leben, 


Nun führt er aus, wie in dem angeblichen Fortſchritt des 
menſchlichen Geiſtes, der doch nur einſeitige Entwicklung iſt, Gott. 
aus der entgötterten Natur heraus und hoch über ſie gehoben, 
angeblich um ihn vor ſeiner eignen Zerſplitterung zu retten, der 
Welt fern und fremd, und dieſe Welt ein toter, abdeſtillierter 
Rückſtand geworden ſei. Das iſt der Urſprung und Anfang aller 
Nachtanſicht. Die heidniſche Vielgötterei, Die der Welt ihren Geiſt 
und ihr Göttliches im einzelnen ließ, war eine TageSanficht ge⸗ 
wejen, aber freilich eine Anficht nur von Bruchftüden. Die reifere 
Tagedanficht, die Fechner bringen wollte, erſchließt den Blick über 
dieſe Bruchſtücke hinaus ind AU und will arbeit über ihr Ber- 
hältnis zum AU geben, aljo den Reichtum jener frühern Anficht 
in die erhabenjte Anſchauung aufheben, die heute möglich if. 
Sie ift ſich Har bewußt, daß aud ihr Ausgangspunkt, die An⸗ 
nahme, daß die finnlihe Ericheinung fein Trugbild fei, fondern 
über die empfindenden Einzelgeihöpfe hinaus durch die Welt 
reiche, Hypotheſe bleiben wird, jo gut wie die Annahme der Nacht⸗ 
anſicht, daß die Welt finfter und ftumm zwildhen den Einzel- 
geihöpfen liege. Aber die Tagedanficht ift nicht bloß ein erbau⸗ 
liderer Glaube, fondern auch ein befjerer Boden zu weiten und 
hohen Entwidlungen pofitiver VBeftimmungen; und bauptjächlich 
ftunmt fie beffer mit der natürlichen Auffaſſung der Dinge über: 
ein. Die Tagedanficht bringt und mit dem Glauben, daß die 
finnlide Welt außer und nicht bloß Schein jei, den höhern 
Glauben an ein Bugehören unjerd bewußten Lebens zu einem 
allgemeinen, worin es jamt der ganzen Welt umſchloſſen ift. So 
wie und unfer Körper als ein Teil der Stoffwelt außer uns er- 
ſcheint, fo ift dann unfer jelbft fich erfcheinender Geiſt Teil des 
nicht minder ſelbſt fich erjcheinenden geiftigen Weſens, das zum 
Weltganzen gehört. Die Einheit des menſchlichen Geiftes ift dann 
nur ein untergeordneter Bruchteil der Einheit des göttlichen 
Geiftes. Die Tagesanfiht macht und das ſchöne Wort zur folgen» 
reichen Wahrheit, daß wir in Gott leben, weben und find, und 
er um und, und daß er um unfre Gedanken weiß, wie wir felbit. 


Die Tagesanfiht Guſtav Theodor Fechners 503 


Damit tft alſo unſer „Ein- und Untertanfein“ gegenüber Gott 
fein äAufßeres, wie Teil gegen Teil, Stufe gegen Stufe, jondern 
ein inneres, wie Teil gegen Ganzes, Stufe gegen Treppe. Und 
dann ift uns auch Gottes Weſen nicht mehr unfaßlich, da wir 
ſelbſt eine Stufe, eine Probe, ein Haud) davon find, fondern von 
den innern Verhältnifien des göttlichen Weſens ift und unmittelbar 
etwa3 zugänglich in unſern eignen innern Verhältniffen. Wir 
werden nicht Gottes Daſein erichöpfen, wohl aber in der Er- 
kenntnis feiner Daſeinsweiſe und feiner Beziehungen zu und und 
zu allen andern Weſen höher aufzuiteigen und weiter vorzudringen 
vermögen durch Verallgemeinerung, Analogie, Abftufung. Und 
mit dieſen Schlüffen werden fi Schlüffe auf unſre jemjeitige 
Daſeinsweiſe ergeben; denn wenn unfer jebiges Dafein nur eine 
untere Stufe unfer® in Gott beichloffenen Daſeins ift, hat es auch 
darin feine Fortſetzung zu juchen. Und wenn endlich Die ganze 
Welt über und hinaus zur göttlich bejeelten geworben tft, er- 
weitert ſich auch der Kreis und erhebt ſich der Stufenbau in- 
dividuell bejeelter Wejen über uns hinaus und hinauf. 

Dem Vorwurf, daß fie fi) vom fichern Boden der Natur- 
foridung entfernt, wird die Tagedanficht nicht entgehn. Warum 
ſoll aber die Durchforſchung der materiellen Welt ihre bisherigen 
fihern Wege verlafien, wenn fie aufhört, ſich dem ſich darüber 
aufbauenden Glauben in geiftigen Dingen zu widerſetzen? Diejer 
Widerjpruch Hat nur eine gejchichtliche, aljo vorübergehende Be⸗ 
rechtigung in dem alten Streit zwiſchen Kirche und Wiſſenſchaft, 
der auf eine Zeit zurückgeht, wo die Priefter Gott und die Welt 
zugleich erflärten, wo die Mythologie einen großen Teil des 
Gebietö beherrichte, das fpäter die Wiſſenſchaft ſich zu eigen ge- 
macht Hat. Uber diejer Streit ift nicht notwendig. Die moſaiſche 
Schöpfungsgeihichte hat im Grunde nichts mit Religion zu tum, 
und ob der Leib des Menſchen aus dem der Affen hervorgegangen 
ift, berührt nicht die Meinung, die ich von feiner Seele bege. 
Läuft nicht alles Wiffen in Glauben aus, gerade wo ed ins 
Allgemeinfte, Höchſte, Lebte, Fernſte, Tieffte und Yeinfte geht? 
An Glauben fortfeden muß fich jedes Willen um das, was ift. 
Wenn wir bedenken, wie die Allgemeingiltigfeit aller Naturgeſetze 
nur aus der Erfahrung abftrahiert ift und keineswegs als not⸗ 
wendig erwiefen werden Tann, jo können wir weder die nächſten 
noch die letzten Schritte ohne Glauben tun; wir wohnen und 
leben fozufagen in einer Welt des Glaubend. Und fo ftüht ſich 
denn die Tagesanficht auf das Wiflen, ſoweit ed reicht; darüber 
hinaus glaubt fie, was fie braudt; und erkennt endlich das 





504 Die Tagesanficht Guſtav Theodor Sechners 


Hiftorifhe ®laubensprinzip an, das Fechner in den „Drei 
Motiven und Gründen des Glaubens“ entiwidelt hat. Wan könnte 
e8 am Türzeften jo bezeichnen: ein Glaube ericheint ım8 um fo 
triftiger, je allgemeiner und einftimmiger, je baltbarer unb wirk⸗ 
ſamer er ſich durch Welt und Beit erftredt, und je fähiger er 
fich gezeigt bat, mit wachjender Kultur zu erftarten und zu wachſen. 
Fechner hat zwar dieſes &laubensprinzip nur an die dritte Stelle 
verwielen; aber in ihm wurzelt nicht bloß im tiefften Grunde 
die Tagesanficht, fondern es ift and) am bezeichnenbiten für bie 
geiftige Natur des Denfers. Die Anerkennung des Rechtes befien, 
was da ift und war, auf eine entiprechende Zukunft jondert 
deiner am tiefften von der Maſſe der Naturforicher, die kein 
—— Necht in der Gedankenwelt, ſondern nur den Irrtum 

Undern und dag eigne Fürwahrhalten Ferne, jenen zu zer⸗ 
—* und dieſem zum Siege zu verhelfen als ihre Pflicht er⸗ 
achten, jeder einzelne gewifſermaßen Religionsftifter auf ſeinem 
engen Gebiet, je entſchiedner, deſto höher ummanert fein Gebiet 
if. Fechner bat es jelbft ausgeſprochen, baß für ihn ber befte 
Glaube der jet, der fi am widerſpruchsloſeſten mit allem unferm 
Wiſſen und unſern praltiſchen Intereſſen vereinbart, und bie 
bisherigen Widerſprũche der verichiednen Glaubensrichtungen ver- 
fühnt, ftatt fie noch weiter zu jondern. Gerade deshalb erſcheint 
mir Fechner, mit andern Naturphilojophen verglichen, als ein 
Denker von hervorragend praktiſcher Anlage und Bebeutung, 
aus defien Lehren eine dem ganzen Menfchen genugtuende und 
die ganze Ericheinungswelt umfaffende und deutende Philoſophie 
zu gewimen iſt. 

Dieſer praktiſche Zug tritt beſonders in ber entſcheidenden 
Seelenfrage zutage. Die Frage des Zuſammenhangs zwiſchen 
Leib und Seele, materieller und geiftiger Schöpfung, ob fie nur 
ein Weſen oder zweierlei find, mit andern Worten Monismus 
und Dualismus hat Fechner innerhalb feiner € —* nicht 
entſcheiden wollen, ſondern er legte das Hauptgewicht darauf, 
immer nur von den Tatſachen der Erfahrung auszugehn, unbe 
fümmert zunächit um die Deutung Di dieſes Bufanmenhangs Er 
neigte wohl im ganzen mehr zu einer einheitlichen Auffafſung. 
aber feiner im hödjften Sinne Droftifcen Dentweile erfchien die 
Wiederholung bed Verhaltniſſes von Leib und Seele durch alle 


gerade für feine Tagesanficht bezeichnend, daß ſie die Verbindung 
zwiſchen Seele und Leib nicht bloß als eine ausnahmsweis, Sich 





Die Cagesanſicht Guſtav Cheodor Fechners 505 


für Menſchen und Tiere beſtehende und nicht bloß auf das Dies⸗ 
ſeits beſchränkte, überhaupt nicht als eine äußerlich trennbare 
anſehen will oder kann. Die Seelenfrage hat ja Fechner lange, 
ehe er bie Tagesanſicht zuſammenhängend formulierte, in dem 
Sinne behandelt, daß man nicht fragen folle, wo die Beleelung 
anfange oder aufhöre, da „die Idee nicht durch Pflanzen und 
Sterne weht wie ein Wind,“ und der Geiſt nicht an Nerven 
gebunden fei, ſodaß er nur den Menſchen und den Tieren als 
vorrechtweiſe zuftehe. Im Sinne der TageBanficht fteigt über 
die Welt der einzelnen menichlichen Bewußtſeinskreiſe eine höhere 
Belt in den Bewußtſeinskreiſen der Sterne auf, und ber enge, 
bochentwidelte Bewußtſeinskreis des Menjchen hat den kindlichen 
der Bflanzen unter fih. Im Sinne der Nachtanficht freut und 
rühmt ſich der Menſch der Einheit feine Bewußtſeins, worin 
er etwas ganz beſondres der Zerſtreuung der Naturdinge gegen- 
über zu haben meint. Aber die Tagesanficht fühlt fich von keiner 
Berftreuung der Dinge bedrüdt, denn ihr ift die Einheit des 
Bewußtſeins allgegemvärtig, und der Menſch hat die feine nicht 
als eine von der göttlichen untericheidbare, fondern ihr unterge- 
ordnete. Fechner ruft mahnend: Sieh doch nur in dich hinein! 
Die Einheit des Bewußtſeins ift nicht vergleichbar der Spike, 
fondern dem Bujammenhang der Pyramide: eine Pyramide kann 
fi) gliedern und untergliebern, ohne ſich zu fpalten; fo gliedert 
und ftuft fi) die Well. So wie in unjerm eignen Geiftesbau 
die Sinneskreiſe voneinander gefchteden find, und einer feine 

g mit dem andern teilt, während unfer Vewußtſein 
fie alle umfaßt, fo ift auch Die Scheidung des Bewußtſeins zweier 
Nachbarſtufen nur Scheidung im Bewußtſein einer höhern. Und 
jo wie dieſe Abſtufung iu den Menſchen Hinein, reicht fie über 
ihn hinaus. So haben die Menfchen und alle andern Geſchöpfe 
eines Geſtirns ihr Geftirn als höhere Stufe über fi), das Ge- 
ftten aber feine Geſchöpfe unter und in fih. Und jedes Geftirn 
bat teil an der allgemein menſchlichen Bewußtſeinseinheit, diejer 
Teil ift von dem der andern Geſtirne gejchieden, in Gott nur 
unterſchieden. Noch mehr als die Menichen auf der Erde find 
die Sterne am Himmel voneinander verfchieden. Innerhalb dem 
großen allgemeinen Zuge einer Kraft, die fie ordnet und erhält, 
bat jedes feine eigne Schwere, feinen eignen Tages» und Jahres⸗ 
wechjel, jeine beſondre Geichichte, fein eigneß Leben. Man jehe 
unfre Erde, wie fie in dem reinen, feinen, Haren Äther ſchwimmt, 
einem großen Auge vergleichbar gebaut, das Licht einatmend. 
Sollte e8 nun für den Ather feine Gefchöpfe geben? Der Ab- 





506 Die Tagesanfidt Guſtav Cheodor Fechners 


ftand zwilchen Gott und uns ift groß, Die himmliſchen Geſchöpfe 
find eine Bwifchenftufe zwiſchen Gott und und, aber auf einer 
Stufenleiter, in der die Stufen fidh vielmehr ein- als ausſchließen; 
in diefer Welt mag ed Entwidlungsftufen geben, jo wie es auf 
der unfern Denfchen, Tiere, Pflanzen, Embryonen, Kinder, Er- 
wachſene, Greije gibt. 

Was aber die Seelen um uns betrifft, jo möge der Leſer 
in bem feinen Büchlein „Nanna“ ſelbſt nachforichen, wie e8 mit 
der Seele der Pflanzen fteht. Dort fcheint und Fechner den 
Nachweis beſonders glüdlich geführt zu haben, daß zur Beſeelung 
nicht die Nerven der Menſchen ımd der Tiere gehören. „Willſt 
du e8 nicht der Welt, den Sternen, den Pflanzen erlafjen, daß fie 
Nerven wie Menſchen und Tiere haben, um fie für bejeelt zu 
halten, wenn widtigere Gründe für die Befeelung |prechen? Sie 
wollen eben nit Menſchen und Tiere fein und brauchen zur 
andern Seele aud andre Träger und Ausdrud im Weiche Der 
Materie.“ Wir teilen mit allen andern Geſchöpfen der Erbe 
die tiefe Zugehörigleit zu dem Planeten, der in Wahrheit unfre 
Muttererde ift: diefelbe Erbe, die uns und alle ihre Geſchöpfe 
durch dieſelbe Kraft an fich gefeilelt Hält, hat auch alle aus ſich 
geboren, nimmt alle wieder in fi) zurüd, nährt und Hleidet alle, 
vermittelt den Verkehr zwilchen allen und behält bei allem diefem 
Wechſel einen durch den Wechſel felbft ſich forterhaltenden und 
fortentwidelnden Beftand. Und jo wie in diefen materiellen Be⸗ 
ziehungen bie Erde fihtbar alle ihre Zeile, und aud) uns, ver⸗ 
Mmüpft und damit über ihnen allen ſteht, tut fie es unfichtbar in 
den geiftigen. Die Erde bat alles, was die Menſchen haben, Da 
fie fie jelbft Hat. Warum follte fie noch einmal ein Gehirn in 
einer Schädelfapfel eng zujanımengefaltet haben, da ihre ganze 
organische Welt an der feften Erboberfläde frei dem Licht umd 
den Schwingungen des Himmeld und der Luft dargeboten ift, 
woraud alle Nerven und Gehirne ihrer Geſchöpfe unmittelbar 
ihre Anregungen jchöpfen, und wodurch fie fi) ihre wechſelſeitigen 
Anregungen mitteilen? Uber doch jagt man: da der Menſch feinen 
Geift verliert, wenn man ihm fein Gehirn nimmt, fo ift Die 
Erbe von vornherein geiftlos, weil fie fein Gehirn hat. Und von 
der Schöpfung des organischen Lebens meint die Nachtanficht, es 
fei ein Geborenwerden lebendiger Kinder aus einer toten Mutter, 
die jene von fich abgejondert habe und fo tot geblieben jei wie 
borber. 

Wie Fechner feine Tagesanſicht mit der naturwiſſenſchaft⸗ 
lichen Auffaffung der Natur verknüpft, an der er ja ſelbſt fo 





Die Tagesanficht Guſtav Theodor Fechners 507 


erfolgreih mitgebaut Bat, Tann bier nicht ausführlich gezeigt 
werben, wo es und mehr darauf ankommt, bie pofitiven Grunb- 
züge feiner Anficht zu zeichnen. Wohl aber möchten wir noch 
auf Fechners religiöje Ideen zurüdlommen, da doch die Gewinnung 
ober Bewahrung eines bejeligenden Glaubens mitten in einer 
noch über die alltägliche Wiſſenſchaft an Tiefe und Weite hinaus⸗ 
reichenden Weltanficht als das eigentümlichfte und wirkſamſte Er- 
gebnis feiner Betrachtung immer mehr herbortritt. Fechner bat 
feine Stellung zum Übel in ber Welt ungefähr fo bezeichnet: 
Das Übel in feiner Entitehung und Fortentwidiung bis zu den 
Örenzen, bis zu denen e8 überhaupt zu gedeihen vermag, ift nicht 
in dem Willen ober der Bulafjung Gottes, fondern in einer Ur- 
notwenbigfeit des Seins zu fuchen, vermöge deren das Sein jelbft 
überhaupt nicht fein könnte, ohne in zeitlichen Anfängen und end- 
lichen Bezirken dem Übel zu verfallen. Gerade in der Ausgleichung, 
Hebung, Verſöhnung, Überbietung des Übels Liegt der Duell des 
größern, allgemeinern, höhern Guten, an dem alles Fortſchreitende, 
feinen Daſeinskreis Erweiternde und Erbhebende und Einzelne und 
Endliche teil Hat. So notwendig das bel, jo notwendig tft die 
Richtung des göttlichen Willend auf feine Hebung. Gerabe fo 
notwendig wie daß Übel, bildet die logiſche Notwendigkeit ein 
Grundmoment feines Weſens, gegen die feine Allmacht ankommt. 
Daß Gott das Übel nur in ſich heben und verföhnen kann, indem 
er e8 in allen feinen Geichöpfen tut, und daß feine Mittel, es 
zu tun, jo weit über bie feiner Gefchöpfe in Beit, Raum und 
Aufftieg zu höhern Lebensſtufen Hinaußreichen, fichert Diefe Hebung 
und Verföhnung. „Man muß fie auch nur von da erwarten“; 
bier zieht die jcharfe Abfonderung der Tagesanfiht von allem 
Peſſimismus: 

In Gott ruht meine Seele, 

Gott wirkt fie in ng aus: 

Sein Wollen tft mein Sollen; 

Ich Tann dawider wollen; 

Doch er führt es hinaus. 


Aus dieſer Auffaſſung folgt notwendig auch das Begreifen der 
göttlichen, d. i. ſittlichen Gebote als Anweiſungen, das Handeln 
zum eignen Wohl dem zum Wohl des Ganzen unterzuordnen. 

Wer hat ſich noch nicht die Frage vorgelegt, wie es habe 
kommen können, daß er das Beten ſo ganz verlernt habe, das 
ihn in ſeinen jungen Jahren in jeden Tag des Lebens hinein 
und aus jedem heraus führte? Nicht der Wegfall des Bedürfniſſes 
hat es bewirkt, ſondern die Gedankenloſigkeit, die der größte 








508 Die Tagesanfidht Guſtav Cheodor Fechners 


Feind bed Lebens der „Gebildeten“ if. Ye mehr fie leſen 
und hören, defto weniger denken fi. Man könnte die moderne 
Durchſchnittsbildung, und zwar gerade die, die auf die „Halb 
bildung“ von oben herabzujehen meint, als die Gewohnheit be= 
zeichnen, fi) mit einem großen Aufwand von Leien, Hören und 
Neben das Denken an und über die tieffte und wichtigfte Frage 
des Lebend zu erjparen. In dieſem Sums von angeblichen 
Denten an der Oberfläche Hin ift aud) das Betenlünnen verloren 
gegangen. Denn da e8 zum SHinabfteigen in große Tiefen auf- 
fordert, ift e8 mit den Gebanlenjpielen ber jogenannten Bildung 
nicht vereinbar. Der gebildete Deutiche betet in der Regel nur, 
wenn ed ihm an ben Hals gebt. Sch Habe in meinem Leben 
nur einmal eine jehr große Schar deutiher Männer aller Stände 
ernftlich beten und fich deſſen auch nachher nicht ſchämen ſehen; 
das war aber in einem Feldgotteßdienft nad) einem großen Sieg 
der beutfchen Waffen im Jahre 1870. Vollends num über das 
Gebet deufen und fchreiben, das tun Heute außerordentlich wenig 
Nichttheologen. Darin find uns Engländer und Amerikaner 
überlegen, id) meine in dem Mut, ed zu tum, nicht in der Art, 
wie fie es tum. Denn fo tief wie Fechner hat kaum einer das 
Beteu erfaßt, nicht einmal R. W. Emerfon. 

Kann Beten Die Rotivendigkeit bezwingen? fragt er. Nein, 
da8 kann es nicht, aber unter ihren Gründen felbft Platz greifen. 
Gewiß wirkt e8 im Menſchen und infolgedefien darüber hinaus; 
denn nicht8 wirkt im Menfchen, was nicht feine Wirkungen mittelbar 
oder unmittelbar, ſichtlich oder unſichtlich über ihn hinaus in bie 
mit ihm zufammenhängende Welt erftredte, mögen wir and) biefe 
Wirkungen nicht zu verfolgen wiſſen. Aber warum follte eine 
an Gott als den Zertreter des Weltganzen gerichtete Bitte ohne 
Erfüllung bleiben, da ich Doch ſelbſt innerlich in ihm bin? Das 
Greifbare am Gebet ift aber die Wirkung, die e8 auf den Betenden 
jelbft Hat. „Nimm das Gebet auß der Welt, und es ift, als 
hätteft du das Band der Menfchheit mit Gott zerrifien, die Zunge 
des Kindes gegenüber dem Water ftumm gemadt. Ohne den 
Glauben an die Wirkſamkeit des Gebeis Lönnte aber das Gebet 
weder dieſe praltifche Wirkjamfeit Außern, noch jeine hiſtoriſche 
Bedeutung gewinnen. GSelbitverftändlih find ber Wirkjamteit 
des Gebets in der Weltordnung felbft Schranten gezogen. Der 
Menſch erbitte von Bott nichts Unmögliches, nichts, was er mit 
feinen eignen Rräften felbft erreichen kann, da er ja felber für 
Gott dad nächſte oder alleinige Mittel ift, es zu erreichen ober 
zu leiften. An Gott wende er fi), menn bie eiguen Mittel er» 





Die Cagesanſicht Guſtav Theodor Fechners 509 


ſchöpft ſind, und täglich bitte er Gott, daß er ihn imſtande hält, 
das Seinige zu leiſten, und erflehe dazu den Segen von oben. 
Gebet iſt aber auch das Vertrauen, daß Gott alles zum beſten 
wenden werde, und daß das Jenſeits vollenden werde, wozu die 
Mittel des Diesſeits nicht hinlänglich ſind. Aber freilich, dieſes 
Vertrauen ſetzt den lebendigen, an uns teilnehmenden Gott der 
Tagesanſicht voraus. Und eine Folge dieſes Vertrauens wird 
das Bedürfnis fein, im Gebet zu danken. Was ſollte ung endlich 
abhalten, im Gebet die Vermittlung von hingeſchiednen Lieben 
oder Heiligen zu ſuchen, an deren Fortleben wir glauben? Der 
Glaube an dieſe Mittler ift viel mißbraucht worden; aber niemand 
kann leugnen, daß er ſchön und praktiſch wirkſam jei.“ 


* * 
%* 


Da in diefe Tage der hundertite Geburtstag Guſtav Theodor 
Fechners gefallen ift (geb. zu Groß-Särchen in der Niederlaujik 
am 19. April 1801), wird von den großen wiflenfchaftlichen 
Berdieniten des Mannes nach langer Pauſe mandherlei gefprochen 
werden. Vielleicht regen dieje Bruchſtücke und Auszüge aus feinen 
religiöfen Betrachtungen unſre Lefer an, fi) mit jeinen Schriften 
über Glaubens- und Seelenfragen befannt zu machen. Den ganzen 
Mann lernt man ohnehin nur kennen, wenn man fein Yorjchen 
und feinen Glauben als eins erfaßt. Er gehörte keineswegs zu 
denen, die erft zu glauben anfangen, wenn jie zu forſchen auf- 
hören; fjondern ihn zwang eine innere Notwendigkeit, fi) eine 
Weltanſicht zu jchaffen, die dem forjchenden Geift und — dem 
Glauben an einen weltumfafienden und durchdringenden Gott 
Befriedigung und Glüd gewährte. Die 1843 erjchienenen Gedichte 
zeigen denſelben kindlichen Glauben wie feine lebten Schriften. 
Gerade in diejer Einheit feines geiftigen Weſens liegt fein Eigen- 
tümlichjte® und zugleich das Beite, was die Nachwelt von ihm 
haben kann. Offnen wir ihm, der nad) feinem eignen Glauben 
als Geiſt unter uns fort lebt und mirkt, die Wege. 














Derzeichnis der übrigen Brenzbotenbeiträge Friedr. Ratzels 


Außer den in diefem Band ef ffenticten Auffägen ee die 
end aufgezählten größern und Be —— von Se Fer Hagel 
in den Grenzboten erfchtenen. Die 
balten längere Bücherbeiprechungen. De de Berfoffer eme und ke Seit Dee 
Bücher folgen in alphabetiſcher Anorbnung mit denen der nur kurz 
ſprochnen Bücher. 
1888, Heft 12 *Ein neues Erobirh „ls 6.) 
„ 87 *Die ber Gefdiähte (5 ©.) 
1889, „ 7 *@eographifche bücher (4, S.) 
1891, „ 10 *Cafati und Smmin Balce 10 08), 
1898." 18 * Das au Karl Peters 0 S.) 
314 —— eftofeitanifcgen Schudgebien 


„2 De einmal Dant (1 ©.) 

„ 24 Bon unfern guten Freunden, den Schmweisern (6'/, ©.) 

„28 Unfre guten Freunde, bie Schweizer (Erwiderung) (1/, S.) 
84 Unter den Linden ©. 


„ 36 Die Repräfentation Cha u der Gejellihaft der Böller (10 &.) 
„ # ende e SE. Landſchaft (2), S.); Schweizer 
„ 49 *Gegemvart und . Siebenbürger Sachſen (8 &.) 


n ologifche W 
1898, „” „3 Serge Am Weltau l ung) (1 6.) 
„ 109 9Hamwat (2! 
„ 25 "Mo ftehn —8* often (4 22 
Bismardlult 


189, " 1 Weiendad (1, ©. 
” 10 Gummträder (1 6) 
n 1 Böller und Räume (9 ©.) 


18 Ehrung rung für Virchow (1 ©.) 
Bierfrühling (/, ©.) 


512 


Verzeichnis der Srenzbotenbeiträge 


1894, Heft 18 Der Berfal der Rekrologie (21/, S.) 


1895, 


1896, 


1897, 


” 


3 —— ab (31), 2 
26 Das inbenknat In Anerite E/. S.) 
34 Berein erei (2 ©.) 


(1 S.) 
2, 5, Ge 15, 20, 28, 27, 37, 42, 48 Engliſche Weltpolitit 


(1 

25 ühnfeigfperrung (a8 

81 —*2 über D (5 € 

36 Der kubaniſche Be 

44 Koloniale Biergefpräde 

50, 51 Dardanellen und —X 34 S.) 
2 Unfre Pflicht in Transvaal (4 6) 
4 Zur Zrandvanlangelegenheit (1 ds 

er chwert i 


24 Deuticher Kolonien und — (16) 

26 Deutj sone ( (1 38 

34 *linfre Bo ten (7 &,) 

85, 36 Die geogeaphüiche Lage e Deutlanbs (136) 

52 *Der Gtont old Organismus (10 ©.) 

15 Bildung (2 ©.) 

18 Doktor Bar Betenb (51/, S.) 

22 Brutal (? 

25 Deutfelerbs Stellung unb Rede um Bine (1,6) 
30 Wandtland und Reichsland (! 


ijchen ber 
4 Die Hiftorijee —— 8 S. 
21 *Stalien und bie 
Fri Bucheler —— dr. 5 dse 8) 
2 Ein’ Beitrag zu den Anfängen der deutſchen Kolonial⸗ 
politif (1 ©.) 
*Neue Literatur über Amerika (6 ©.) 
5 Der ——6 Firchaſtsverein (6 ©.) 
39 Die Amerilaner (11 ©.) 


27 


IRRE RETTET TER TITTHLE NIC I Re ic 


Derzeichnis der Bücherbefprechungen 


Algenftädt, Luife. Frei zum Dienft. 
1903, 9. 14. 

Arendt, Otto. France et Allemagne, 
1903, 9. 46. 

Baedeker, Karl. Sübbayern, Tirol 
und Salzburg. 1896, 9. 28. 
— Agypten. 1897, 9.11. 
— Spanienu. Bortugal. 1897, 9.11. 
— — Sämweiz (27. Aufl.). 1897,9.831. 
(29. Aufl.). 1901, 9.27. 

— eSmbeutclam —9 — 


H. 27. 

— Nordamerika (2. Auf). 
1904, 9.39. 
Barttelot, W. ©. Stanleys Nachhut. 
1891, 9.20. 
Baumann, Oskar. Durch Maflai- 
land zur Riſauene 1894, 9.43. 


Beyer, D. W. Deutſche Ferien⸗ 
wanderungen. 1894, 9. 28. 
Bitter not ift ung eine starte deutſche 


Flotte 9, 9.49. 
Blum, Kicharb, Die Entwidlung der 
Vereinigten Stanten von Amerita. 
1903, 9. 52. 

v. Boguslawsky, Georg. Behdafen: 
heit der Ozeane. 1889, 9. 7. 


Brehm, U. E. Vom Nordpol zum 
Aquator. 1891, 9.15. 
Brandt, M.v. Die Zubunft Oft: 
afiens. 1895, 9.31. 

— Aus dem Lande * Zopfes. 
1895, 9.31. 


— Drei Jahre oftaftatifcher Politik. 

1897, 9. 52. 

— 33 Jahre in Oſtaſien. 1902, 9.42. 
Buchner, M. Chineſen und Japaner. 
1895, 9.31. 

Sajati, G. v. Zehn Jahre in Aqua⸗ 
1891, 9.10. 

Sun, "Sant. Aus ben Tiefen des 

Weltmeers. 900, H. 49. 
Ratzel, Glückſsinſeln und Träume 


Cronau, R. Amerika. 1891, 9. 16. 
Dahn, Felix. Moltke als Erzieher. 


92, 8. 17. 
Debes, E. Neuer Handatlas. 
1894, H. 26. 
Decken, Richard. Manuia Samoa. 
1902, 9. 4. 
Dedert, Emil. Die Neue Welt. 
1892, 9.84 
— Nordamerika. 1903, 9.52 


Deede, W. Stalien. 1899, 9. 48. 
Deagumpe, G.Das heutige Griechen: 


1897, 9. 22. 
Denment €. Boll3univerfalleriton. 
1901, 9. 36. 

Deutſches Land und Leben. 
1900, 9.49. 
Doflein, Fr. Von den Antillen zum 
fernen Weften. 1901, 9.19. 


Dominik,v. Kamerun. 1901, 9. 27. 
Eulendburg, Graf Frig. Dftafien 


1860—1862. 1900, 9.29. 
Sichtelgebirgführer. 1897, 9.31. 
Fiſcher, P. D. Stalien und die 

Italiener. 1899, 9. 21. 
Förfter, Wilhelm. Himmelskunde 

und Weisfagung. 1902, 9. 4. 


Frank, P. D. Gegenwart und Zu: 

funft der Siebenbürger Sadjen. 

1892, 9.49. 

Fritſch, H. v. Allgemeine Geologie. 

1889, 9. 7. 

Fritſch, W. A. Gedichte des —B 
tums in Indiana. 1897, 9.3 

Goloderger, L. M. Das Sand * 

unbegrenzten Möglichkeiten. 

1903, 9. 52. 

Göß, Hermann. Eine Drientreife 

„H. 1. 

Götz, Wilhelm. Die Verkehrswege 
im Dienfte des Welthandels. 

1888, 9. 37. 


33 


514 


Haade, W. und W. Kuhnert. Das 
Tierleben der Erbe. 

‚9.49. 1901, 9. 50. 

Hann, Julius. Klimatologie. 

1889, 9. 7. 

Danzjatob, 9. Der Bogt Fr et 


— Unfee Volkstrachten. "1898 ‚9.3. 
Heim, Albert. Siciäerhumbe. 1 
Hellwald, F. v. —* 
Rofſelſprunge. 1891, 6. 
Heſſe⸗Wartegg, €. v. Chi 
Japan 1897, 9. 52. 


Hutter, Fram. W ng 
Norvhinterlande von on an 
Jannaſch, R. Die 
Chinas. 


En 
Jannet, &. und P. Kämpfe. Die 
Vereinigten Staaten Rorbamerilad 
in der Gegenwart. 1893, 9.38. 
Sanjen, 3.8. Forſchungen und Er 
lebniffe im dunkeln Afrika. 
1891, 9. 22. 
Zoofte, % P. Aus a zweiten 
eimat. 04, 9.29. 
Kaiſerreiſe nach dem Heiligen Lande. 
1899, 9.51. 
Keller, Konrad. Das Leben des 
Meeres, 1895, 9. 49. 
Kebler, Graf Harıy. Rotigen über 
Mexiko. 1893, 9.85. 
Kayferling, R. Vom Sapanifchen 
Meer bis zum Mral. 1897, 9. 52. 
Kreßmann, A. Gründung einer 
deutfchen Rolonialfhue. 


902, 9.42. 

Krieger, Maximilian. — 
9, 9 

Krümmel, Otto. Bewegungsformen 

bed Meeres. 1889, 9. 7. 

Sangband, P. Deutſche Rolonial- 

1894, 9. 26. 

— — Erde 1902, 9. 42. 


Lindau, Paul. Altes und Neues 
aus der Neuen Welt. 
1898, 9.38. 
— Ferien Im Morgen. 
9, 9. 43. 
Lindau, Rubolf. Zwei nee in der 
Turtei. 9, H. 43. 


Kiteraturverzeichnis 


Lingg, Ferdinand. Erbprofil der 
Zone vom 31. bis 65. Grad nörb- 

1 Breite. 1888,  % 12. 
Belt: 


icher 
Loczy, Ludw. v. China im 
andel. 


1897, 9.51 
Marſhall, W. Die deutichen Meere. 

1895, 9.51 
— Sn Wechſel der Tage. 50 
— Zoologiſche Ploubereien 

1899, 9. 52. 
— — I 1901, 9.51. 
Rufen, W. v. Aus Krim und Rau- 

1902, 9.42. 
Pre "art. Reiferomane. 

1895, 9.50 
Mendner, Ni. Unterwegs und 


Daheim. 1902, 9.42. 
Merzbacher. ©. Aus den Hochregionen 
des Kaufafus. 1901, 9. 32. 
Meyer, Hand. Die Smiel e Beneie 
— Oſtafrilaniſche Sietjgejaptten. 
1891, 9. 17. 
Re: biſtoriſch⸗ —— ar 
means Reifebücher: Die beugen 
Alpen 1895, 


— an Same. 1895, 8. 0. 
gt 
a ER 197. "Ta. 
Rom, Wi. Die —— 
der Geſtirne. 99, 8. 27. 
Mirbach, Frh. v. Die Reife des 
Kaiſers nach Paläftina. 


1899, 9.43. 
u A. v. 


Unfre Marine in 
bina. 1902, 
Püller. Der Krieg zwiſchen 2 Kim 
und Japan. 


1895, 9.31. 

Naumann, Fr. Aſia. 1899, 9.48. 

Rippold, Oito. Wanderungen durch 

Jopan. 1894, 9. 3. 

D.D. Sibiriſche Briefe. 1894, 9.1. 
Dorbt, 3. F. von. Baul Krüger. 

1900, 9.49. 

Peters, Karl Die Emin Peſcha 

Erpedition. 1891, 9.18. 


£iteraturverzeichnis 


Peters, Karl. Be in Aria 
Piel, Graf 3. Studien Be⸗ 
obachtungen aus der Süudſee. 


1899, 9. 52. 
Philippſon, A. Griechenland und 
jeine Stellung im or. 0.2 
olenz, W. v. Das Land > 
» kunt 1908, 9. 8 


ft. 
Fe Friedrich. —— 


— Die Vereinigten Staaten von 
Nordamerika. 1893, 9. 38. 
Regel, Frig. Kolumbien. 1899 ‚9.51. 
Kichthofen, von. Der von 
Satmonzfett 1895, 9. 31. 
Ruhfrat, 6 Aus dem Lande ber 
1900, 9. 29. 

— * aa aunde 1899, 9. 50. 
Saale, Deutfche Kern 
—— 1894, 9. 2. 
— — und Leben des ſozialen 
1896, 9. 52. 
ei, Dierk 23 Jahre Sturm 
Sonnenſchein in Südafrika. 

1902, 9.50. 

Schinz, $- Deutid-Sübmeftafrite. 


1892, 9.4. 
m 


Schuhen Golpen, R.v. Über den 
Begriff der allgemeinen Bildung. 
Schwabe, 8. Mit S — 
chwabe, K. chwert und flug 
in Deut Sübmeitafrite. 
1899, 9.48. 
Siegfrid, C. Quer durch die Geo⸗ 
graph 1894, 9. 18. 
Sienkiewicz, H. Briefe 1008. Afrika. 


Sievers, Wilh. Aflen. 1898, 9. 18. 
— Amerika. 1894, 


— Europa. 1895, ö. 18. 
— Wuftralien und Ozeanien. 
1896, 9.14. 


515 


Slatin, R. Feuer und 5 
Sudan. 1 14. 
Smith, Ahr 9- Shen en 
rakterzug 00, 8-2 


Sohr⸗ Berghaus. Herde 
1902, s. 42, 
Spielmann, C. Der neue Mongolen 
fturm 1895, 9.81. 
Stern, €. Aus dem mobernen Ruß: 
land. 1894, 9. 2. 
Stuhlmann, Friedrich. Mit Emin 
43. 


Paſcha im Herz von ev 
€. Zweibund b ober Dee 


Tall 

—* 1893, 9. 25. 
Trautwein. Das bayriſche Hoch⸗ 
land. 1897, 9. 81. 

Tür, ©. Feldpoſtbriefe 
1893, 9. 34. 
Uchtomski, Fürft D. Drientreife bes 
[oeobfürftenihronfolgere von Ruf: 
tnter Gineffher Flagge. de 
Tide * 9.931. 


Belten, &. Schilverungen der Sua⸗ 
ei 1902, 9. 1. 


1895, N 45. 
—— D. Karte des —8— 
eiches. 1893, 9.1 
Wafpingtn, Booter z ocom Ar 
en empor. 8, 9. 26. 
Whitman, ©. Aus —8 Leben. 
1895, 9.41. 


Witt, D. Nartbelion. 1901, 9. 28. 
Wolf, Carl. Meraner ‚Stine. 51 
1, 9.51. 

Wolfrum, W. Briefe und: ebuch⸗ 
blätter aus Oſtafrila. 1898, H. 34. 
Mor uty, Georg. —53 — 


Eduard. Bilder aus ber 
—2 1902, 9. 42. 
Zur See, mein Boll. Blotienlieer 

900, 9 


5: