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—— ——
—
— —
SIEHE
Blürksinfeln und Träume
59
Blürksinfeln ung Träume
Geſammeltke
Aufläße aus den Grenjbotken
AIxiedrich Rakel
Keipjig
Fr. Wilh. Grunow
1905
/2-,5_53 2ur/?
a " —M 4. CAC.
2 f
Dormwort
Aus der Neihe der Beiträge Yriedrid Ratzzels zu den
„Srenzboten“ faßt dieſer Band eine Anzahl von Bildern und
Skizzen zufammen, die in ihrer Art und ihrem Inhalt neben
den mehr wiſſenſchaftlichen, Tritiihen und politiicden Beiträgen
für fi) ftehen. Die meilten davon find im Laufe der Jahre von
ihrem Verfaſſer ſelbft veröffentlicht worden, einen Teil haben die
„Srenzboten* erjt nad) jeinem Tode gebradit.
gum Titel hat der Band die Überjchrift erhalten, die Natel
feinen Sugenderinnerungen, die die erite Abteilung bilden, ge⸗
geben Hatte. Diefe und die Bilder aus dem Kriege mit Frank⸗
reich find Baujteine zu einem größern Werke, das Nabel plante.
Es follte, halb Dichtung, Halb Wahrheit, auf feinen Erinne-
rungen aufgebaut werden; Die einzelnen Skizzen follten „durch
Betrachtungen über die Natur und das Leben verbunden werden,
die den Leſer in den weiten Horizont der Welt auß dem Kleinen
Leben des Einzelnen hinausführen jollten.“ In den Mußejtunden
der Terienzeit des vergangnen Jahres gedachte der Heim—
gegangne Die Arbeit, mit der er ſich die lebte Zeit feines
Lebens mit Borliebe beichäftigt hatte, fortzufegen und zunächſt
jeine Studienzeit zu jchildern, die die Sugenderinnerungen mit
den Kriegsbildern verbinden follten. Aber fein allzu früher Tod
jegte jeinem Schaffen ein Ende, und dad Wert blieb unvollendet.
Doch wird es auch in diefen Bruchſtücken, die zu dem Schöniten
gehören, was Ratzel geichrieben bat, dem weiten Kreije feiner
Freunde und Verehrer ein wertvolles Vermächtnis fein, das fein
Andenken bei allen, die ihn gelannt haben, lebendig er-
halten wird.
Bon den Glücksinſeln und Träumen hatte Nagel die erften
fünf Kapitel dem Verleger noch wenig Wochen vor feinem Tode
für die Veröffentlichung in den „Örenzboten“ übergeben; fie jollten
VI Vorwort
— — ——— — GG EL GL GL GG LIDL LE GL N I LI NL DL ALL LOL —
ebenjo wie die jchon 1903 abgedrudten Bilder aus dem Lazarett
ohne feinen Namen erſcheinen; diejen zu verichiveigen war nad)
feinem Tode kein Anlaß mehr. Das- jechite Kapitel ijt aus zivei
undollendeten Skizzen, die fi im Nachlaß vorgefunden haben,
zulammengefügt worden.
Ebenſo find die einzelnen Bilder aus dem Kriege mit Frank⸗
rei, außer den ſchon früher veröffentlichten Lazaretterinnerungen,
dem Nachlaß entnommen. Das dritte, vierte, fünfte und fiebente
lagen in abgejchlofjenen Niederichriften vor, hätten aber noch eine
fie ganz in Einklang bringende Überarbeitung erfahren follen.
Die beiden eriten find unvollendete Skizzen, werden aber um
ihrer lebendigen Schilderung willen auch als ſolche willlommen
geheißen werden.
An die Banderbilder der drei folgenden Abteilungen ſchließen
fi die fie vielfach ergänzenden anonym erjchienenen Briefe eines
Zurüdgelehrten an. Nabel batte bier die Maske eines in bie
Heimat zurüdlehrenden Deutſchamerikaners vorgenommen, weil
er auf diefe Weife manches unbefangner ausſprechen, zugleich
aber aud) nützliche Parallelen zwiſchen deutſchem und amerika⸗
niſchem Weſen und Leben ziehn Eonnte.
Die beiden zum Schluß angefügten Einzelauffäge offenbaren
in bejonder8 jchöner Weiſe die Tiefe des Gedantenlebend und
der Weltanſchauung ihres Verfaſſers.
Mögen fi viele an den Schäßen, die diefer Band birgt,
erquiden und erbauen.
5
Inhalt
Seite
Bomwot . . nenne. V-VI
Glüdsinfeln und Träume .. ...12113
Grenzboten 1904, Hefte 40-48; 4546)
1. Somnenfinftenis. . . . . .. 3
2. Aunbenfahte 2 2 0 14
3. Heimweh . .... 32
4. Mit Reefenfomen, der es ſchnel verrät . ne 48
5. Mein D ne. 68
6. ee on en 96
Bilder aus dem Kriege mit Frankreich 15— 260
(Örenzboten 1903, Hefte 16—19. 1905, Sehe 16)
1. Die Gewitter hwüle . . . . ....17
2. Beim Erfah . een. er. 180
3. Ich hatt einen Kameraden ... 140
4. Auf dem Marſch. .. 121680
5. Dem Hauptmann zulieb ee... 0.174
6. Im Lazarett . ee 1388
7. Ein Jünbenber Blitz en 231
Altbayriihe Wanderungen . rn 261292
(Grenzboten 1897, Hefte 422 — 4)
Das deutfhe Dorfwirtshbaus . . nn. 298— 838
(&renzboten 1898, Hefte 1—3; 6)
Südweftdeutfhe:Wanderungen . .... 339-390
Grenzboten 1898, Hefte 19; 21; 25; 26)
Briefe eines Zurüdgefehrten . . . ...891--477
(Grenzboten 1899, Hefte 34: 37; 39; 50. 1900,
Heft 41. 1901, Hefte 18; 48; 51)
Königin der Nadt . nenn. 479-495
(Grenzboten 1900, Heft 2)
Die Tagesanfiht Guftav Theodor Behners . . . 497-509
Grenzboten 1901, Heft 17)
Verzeichnis der übrigen dbrenabolenbeirige Friedr. Rabels hl
Verzeichnis der Bücherbefprehungen.. . 20. 9518
—&
Glücksinſeln und Träume
avx⸗
Ratzel, Gluͤckdinſeln und Träume
I. Die Sonnenfinfternis
Eine bleiche, Heine Erinnerung, gleichſam
das erfte geiftige —— *— aus
dem dunkeln Erdboden der Kindheit.
Jean Baul
Der Boden, auf dem ih vom Finde zum Knaben beran-
gewachſen bin, iſt ein dürrer und fteiniger Boden. Darum war
es aber noch fein unfruchtbarer Boden für mid). Zwiſchen den
alten abgerundeten Pflafterfteinen aus rotem Sandftein ſproſſen
Grasbüſchel und an einigen Stellen fogar winzige Gänfeblümchen
und verzwergter Löwenzahn hervor. Wenn der grüne Schimmer
zu ſtark wird, der von ihnen über den gepflafterten Hof aus⸗
gebt, beginnt mit ftumpfen Küchenmeflern und roftigen Scheren-
Klingen ein Kampf gegen dieje niedrigen, genügjamen Gewächſe,
die graufam ausgeftochen und abgejchnitten werden. Nicht al?
Belämpfer, fondern meift nur als finniger Beobachter beteilige
ih mid) daran, ftaunend über die Fräftigen Wurzeln und derben
furzen Stengel der niedergetreinen Pflanzen, und hoch erfreut
durch die Entdedung, daß auch zwiſchen BPflafterfteinen fette
Regenwürmer gedeihen. Was mochte noch tiefer fich regen?
Wenn man nur graben fönntel Liegen doch alle Schätze des
Märkhend unter der Erde, wohnen doch Zwerge und Kobolde
in der Tiefe, wächſt doch Gold und Edelftein da drunten.
Ich legte den Regenwurm forgjam in die Spalte, der ich ihn
enthoben hatte, und dedte ihn wieder mit Erde zu. Uber meine
Gedanken verweilten bei ihm und gruben nad), bis fie e8 leuchten
fahen tief unten von einer andern Sonne und einem andern
Monde, und was ich von Glänzen und Glibern jemals gejehen
oder geahnt hatte, war nun an den Wänden von Höhlen in ber
Tiefe. Da ftrahlte Gold und Silber und glühte Metall mit
der Glut, die Abends bei finfender Sonne an der Spibe des
Blipableiterd auf dem Hohen Haufe ung gegenüber niederfloß,
1 *
DE
4 Glädsinfeln und Träume
da gingen leuchtende Bäche und tropfte blaues Wafler, und
überall regte e8 fi) von Weſen, neben denen mid) der geheimnis-
volle Wurm der Pflafterfteine ganz beicheiden aber befreundet
Deuchte.
Dann kamen aber auch wieder fonnige Tage, wo man die
Augen vor dem vielen Lichte verjchließen mußte, daB auf Die
Steine und die Mauern herabriefelte; da wuchſen in meinem
Kinderglauben die Gräfer und der Löwenzahn in ihren Spalten,
trugen Ahren und ſchmückten ſich mit hohen Blumen, die goldne
Käfer anlodten. Und Licht floß von oben aus den Aſt⸗ und
Bweiggittern der Bäume und zwiſchen großen grünen Blättern
berein, die e8 freudig durdiglübte Und e8 war das Feine
Märchenwelt, wie die untere, fondern eine Welt, wie fie ung
umgibt, nur fchöner, leucdhtender, weshalb auch die Pflaumen auf
den Bäumen unbeichadet der frühen Sahreszeit wie blaue Edel-
fteine Bingen.
Dann ftand mir das Kleine einftödige Haus meiner Eltern
mitten im Wiefengrün, und der friiche Duft vom Wachſen und
Blühen z0g über die zwei niedern Sandſteinſchwellen in dag
Haus herein. Dazu waren dieje jehr geeignet, denn die Schritte
von Generationen hatten ihnen eine fchöne Rundung gegeben.
Es ſaß ſich darum fo weich auf diefen Steinftufen wie auf einem
Polfter, doch kühler zuzeiten, und ich habe in meinem Leben
feinen Sig mehr fo gern gehabt wie diefen. Dazu trug jeben-
falls nicht wenig der tiefdunfle Hintergrund des Hausflurs bei,
worin dann und wann ein leuchtender grauer Streif, in dem
Billionen Stäubehen tanzten, beim Öffnen einer Tür erfchien.
Sehr oft ftand die Tür unjrer Küche offen, die auf diefen Gang
münbete, und aus ihr ftahlen ſich bläuliche Schimmer von blinkendem
Zinn und dumpfroter Glanz von Kupfertefieln heraus. Aber viel
mehr intereifierten mid) Düfte, Die Denfelben Weg nahmen, und viel-
verheißenbe Geräufche von dürrem Holze, das in der Flamme zer-
krachte, von Fett, das in der Pfanne broßelte, und von rollenden,
badenden, fchneidenden Bewegungen auf einem klappernden Brett.
Dad war das Kuchenbrett, das ich mir am liebften mit Mehl
beftreut und mit einem eiergelben Teig belegt dachte, aus dem
die gefchidte Hand meiner Mutter mit der Öffnung eined Waffer-
glaſes Küchlein von erfreulicher Rundung „ausſtach,“ die dann
im Schmalz unter dem erwähnten bedeutungsvollen Geräuſch ge-
baden wurden. Sehr erfreulid waren aud die Düfte langſam
dörrenden Obſtes, die jehr warm und weich einem bejondern
1. Die Sonnenfinfternis 5
Aufbau entftrömten, der fi über dem Herd erhob. Und über
allem fchwebte, gleichſam alle Fräftigend, der Geruch der Schinken
und Würfte, die in dem breiten Rauchfang hingen. Alles das
drang aus dem dunkeln Gang zu mir, wenn ic) auf den Stein-
ftufen des Häusleins faß und in die lichte Welt hinausſchaute.
Dem Büblein fam der Gedanke: Die Sarben, die Töne, die Düfte
befuchen di) auf ihrem Weg ind Freie: fie wiſſen, daß dem
Büblein der Beſuch der Küche verboten ift, und bringen ihm
Kunde von dem, was da binten im Dunkeln vorgeht. Das ſaß
aber gebuldig umb verträumte die Zeit, bis der Huf ericholl:
Büble, efien! Da fah man das Blondköpfchen vor dem Kleinen
Tiſche ſtehn und fein Mittaggebet fprechen, mährenddefjen es
freundliche Blicke mit dem Zinnteller vor ihm tauſchte, als wollte
es ſagen: Du haft mir vorhin aus der Küche zugewinkt, ich werde
es mir nun gut von Dir fchmeden laſſen. Und es drehte ihn
um unb Elapperte mit der Gabel auf feiner Unterfeite, biß die
dampfende Suppe zu zwedvollerer Tätigfeit einlud. War e8 aber
gefättigt, dann riefen ihm Sonne, Gras, Blumen und Würmer
von der andern Seite her, und bald erſchien es wieder auf jeiner
runden Schwelle, begrüßte fie alle und war überzeugt, daß fie ſich
alle miteinander freuten, wieder mit ihm beiſammen zu jein.
Da freute ſich offenbar auch noch ein großes rundes Ding
mit, ein wejentlicher Beitandteil diefer Welt eines Kindes, von
dem ich noch Kunde geben muß. Seitwärtd von der Tür ftand
nämlid in demjelben Hofe auf untergelegten Steinplatten ein
grüner Zuber, in den ſich in einer hölzernen Rinne das Regen⸗
wafjer vom Dad) ergoß. Für gewöhnlich Iag fein Spiegel ftill
wie aus Metall gegofjen in dem Rahmen der hölzernen Um⸗
faffung; aber bei Regen ftürzt das Negenbädlein in eiligem
Strahle von oben, reift Luftblafen mit, die dann filbern vom
Grunde des aufgewühlten Beckens auffteigen. Taufendmal habe
ih auf das Waſſer hingeſchaut, wenn die Regentropfen darauf
fielen, luſtig aufjprangen und Heine Wellenkreiſe beichrieben, die
fih einander in allen denkbaren Bufammendrängungen Ichnitten,
ſodaß die Waflerfläche wie ein höchft kunſtvolles Werk der Silber-
fchmiedefunft erfchien. Und noch öfter ftand ich über dad Waſſer
geneigt, wenn feine Oberflädhe ganz ftil war, und wartete, big
Luftbläschen in ſchlanken Wellenlinien an die Oberfläche ftiegen:
die Ichönften Perlen, mit feiner zu vergleichen, die in der tiefften
Mufchel auf dem Meeresgrunde berangereift it. AB ih in
ſpätern Jahren ald Student in der Ferne allein vor meinem
6 Glücksinſeln und Träume
Heinen Teekeſſel ſaß und der allmählichen Erhitzung des Waſſers
bi8 zum Sieben zufchaute, fah ich die Quftperlen ſich am Boden
meines Teekeſſels jammeln, ihn dicht bededen, dann ineinander
fließen und als größere aufiteigen, deren Aufeinanderfolge endlich
Das Wafler zum Wallen brachte; und wie arm ich damals oft
war, fo reich fühlte ich mich, da ich glänzende Perlen ohne Zahl
entftehn und vergehn lafjen Eonnte, die in wenig Minuten den
einförmigen Boden meines alten Keſſelchens in ein getriebnes
Kunſtwerk verwandelten. Wie gut ift e8, früh fehen zu lernen!
Als ich eined Tages wieder ganz verjunten in die Tiefen
meined Waſſerfaſſes ftarrte, die ich noch immer nicht ergründet
batte, fiel ein verirrter Lichtftrahl, der von einem fpiegelnden
Fenſterglas zurüdgeworfen fein mochte, in das Wafler, irrte auf
ihm herum, tauchte unter und wanderte bi8 auf ben Boden.
Wenn es aud) mur ein Flimmern war, fo vermochte ich ihm doch
zu folgen; der Strahl verfchwand, ich Jah ihn noch über den
Nand des dunkeln Faſſes finken, aber in meinem Auge blieben
wunderbar rotleuchtende Punkte, die er in ber Waffertiefe er-
leuchtet, ſichtbar gemacht hatte, Punkte wie von Edelfteinen. Ich
war jehr betroffen, ohne erjtaunt zu fein; denn wo filberne
Perlen aufftiegen, konnten auch Rubinfteine liegen. Als nun
eines Tages das Gefäß ausgeſchöpft und fein Boden trodengelegt
wurde, da waren dieſe rotglühenden Punkte jehr Kleine Würmchen,
die Schnellende, funtelnde Bewegungen machten, und außer ihnen
lag nod ein zufammengerollter dünner Wurm bon wunderjchöner
Roſafarbe auf dem Grunde, deſſen geheimnisvolle Dafein mir
nicht weniger rätjelhaft vorkam, als der Stallknecht Guſtav, der
Diefer Reinigung beiwohnte, erklärte, diefer Wurm komme manch⸗
mal in den tiefften Brunnen, aber immer nur als ein Einfiebler
vor. Bei mir beftand ein Bweifel, dieſe wundervollen voten
Tiere gehörten derjelben Welt an wie die blaſſen Regenwürmer,
einer Welt der Tiefe und der Schäbe, und ich dachte darüber
nad, wie dad Waſſer ded grünen Zubers gleichſam eine Ver⸗
bindung mit diefer andern Welt berftellte, neben der die Welten
der Stube und der Küche mir kaum mehr beachtenswert er-
ſchienen.
Das große Haus dagegen, das mein Höfchen von zwei
andern Seiten her einſchloß, ſah ich kaum; ſeine Fenſter waren
faſt immer geſchloſſen, und wenn auch Menſchen darin aus und
ein gingen, ich vergaß ſie, wenn ſie vorübergegangen waren, und
fümmerte mich nicht um fie. Dieſe weißlichgrünen Wände mit
1. Die Sonnenfinfternis 7
De 772
den Streifen des Regenwaſſers, diefe dunkelgrünen Fenfterläden,
die mir als Feinde des Licht und als Symbole der finfenden
Nacht und des Zubettegehns einen unangenehmen Eindrud machten,
diefe hohen Fenfter, die zum Zeil nie geöffnet wurden und ver-
ftaubt waren, famen mir alle fo ftumpf, fo glanzlos, fo unberedt
vor. Wie anders der Mond, den ich mit der Beit kennen lernen
durfte, wie er fein Licht in das Regenfaß ergoß. Wenn das
milde Licht der Mondfichel, die dem Vollmond entgegenreift, gleich
nach Sonnenuntergang die Welt übergoß, die, da fie an Giebeln,
Türmen und hohen Binnen einen Schimmer von Ubendrot feit-
hielt, noch nicht ganz bleich geworden war, durchbohrte ein
glänzender Siiberftab die Waflerfäule des Regenfaſſes. Die leiſeſte
Berwegung verwandelte ihn in eine Schlange, die fi) unaufhörlich
hinab und hinauf ringelte, und bei größern Wellen wurden Licht-
ftüde daraus, die gerade, gebogen und gewunden jid) einander
näberten und wieder zerbracdhen, wobei Silberfunfen nad) allen
Seiten dur die Flüſſigkeit ftoben.
Eine zweite Welt neben der der Tiefe zog mich noch weit
ftärler an. Das war die Welt, die über mir lag. Aus dieſer
ftieg zunächſt jeden Morgen der vorhin genannte Stallknecht
herab, der, nächſt den guten Eltern, der einzige Menſch war,
dem ich anhing. Er waltete in dem Stalle, deflen graue Rüd-
wand an der vierten Seite meines Hofes ftand. Das Stampfen
der Pferde, das Raſſeln ihrer Ketten, daS herüberflang, verliehen
ihm jelbft eine geheimnisvolle Würde, ald ob er darüber zu ge-
bieten bätte, und als er mich einmal in den Stall führte, deſſen
Zor fih in eine Nebengafje öffnete, und mir jagte, daß bie
ihönen gelben und weißen Figuren, die mit Sand auf den
Boden geftreut waren, fein eigne8 Werk jeien, fchien er mir
nicht viel weniger zu vermögen als der liebe Herrgott, der das
Gras wachſen ließ. Aus dem Zimmer ded Stalltnechts Elangen
Abends Laute, deren ftählernen Ton id) noch heute nicht vergeſſen
babe; er war Lehrer gewejen, ehe er unter die Dragoner ge-
gangen war, und fein baufälliges Klavier gehörte zu den Re—
liquien, die er aus der Schulftube in fein Reiterleben herüber-
genommen hatte. Auf dem blaßnußbaumnen Klavier ftand eine
fleine Erdkugel, die kunſtreich aus Pappe gefügt und mit der
Hand gemalt war. Hat mir jemals wieder ein Menſch jo im-
poniert wie der Stallineht Guſtav? Roſſe zähmen, eine Welt
von herrlichen Figuren aus bloßem Sand auf den Boden eines
Stalles zaubern, den Erdball nachbilden und deſſen Harmonien
8 Glädsinfeln und räume
auf Stahlfaiten erklingen laſſen: was ift vielfeitig, wenn nicht
dieſes? Wenn ich jpäter von den Penaifjancemenfchen lad, Die
alles Tonnten, erſchien die Figur Guſtavs vor meinen Augen.
Hatte nicht diefer Stallfnecht außerdem die Liebe für fi, mit
der er jeine Pferde pflegte und mit einem Kleinen Kerl, wie mir,
wie mit jeinesgleichen plauderte? Und war er nicht eine herrliche
Erſcheinung, ſchlank, helläugig, heiter, in weißen Lederhoſen und
roter Fade? Er ift ſpäter fürftlidder Stallmeifter geivorben,
und daß er als foldder, neben dem Wagen des Fürften reitend,
mir mit den Augen, von denen ich eine Erimmerung wie an
abwechfelnd lachende und fragende Kinderaugen habe, freunde
ſchaftlich zuwinkte, wenn ich, die Schulbücher unter dem Arme,
borbeiging, gehört zu den Anerlennungen im Beben, die ic) am
lebhafteften empfunden babe. Daß über meinem ganzen Ber-
hältnis zu Ouftan der Icharfjühliche Geruch des Pferbeftalles wie
Weihrauchwollen fchwebte, war noch ein befondrer Genuß. Hatte
ih Guſtav jo lieb, weil er von diefem Geruch umgeben war,
oder liebte ich den Geruch, weil er ihn mit fich trug?
Bon Guſtavs Zimmer ſah man an hohen Häufern hinauf,
und ganz oben, wohl im fünften Stockwerk, wohnte nach den
Auskünften, die mir geworden waren, dad Ehriftlindchen und ber
Knecht Ruprecht, die nur einmal im Jahre berabftiegen, um Die
guten Kinder zu belohnen, die böfen zu ermahnen. Ich warf
gelegentlich einen verſtohlnen Blick hinauf und fand keine Ent⸗
täufchung darin, daß ich in der Wohnung, die dieſen beiden
mythiſchen Geftalten zugeſprochen wurde, eine fchneiderähnliche
Geftalt auf erhöhten Site mit langen Armbeivegungen näben
oder ein andermal eine arme alte Frau die Yenfter abwiſchen ſah.
Knecht Ruprecht mußte wohl Leute haben, die feine Puppen
näbten, und das Chriſtkindchen mußte doch wohl eine Stief- oder
Pflegemutter haben, die für es forgte, folange es auf der Erde
fo viel zu tun hatte. Nichts konnte mich überrafchen, was in ber
Höhe vorging, da ich daS Gefühl Hatte, durch Guſtav darüber
auf dem lau zu werben. Ich wundre mid) aber
noch heute, daß ich mid) nicht mehr um Sonne, Mond und Sterne
kümmerte, die doch derjelben Höhenzone angehörten. ch fchlief
wohl zu lange und zu tief, um bon den legten viel zu fehen;
da8 Sonnenlicht aber nahm id), wie viele andre Menfchen ihr
ganzes Leben tum, als etwas Selhitverftändliches Bin.
Da geſchah e8 an einem Hochſommertage, daß mein Bater
auf den Dachboden ftieg, um auß alten Fenſterrahmen Gläſer
1. Die Sonnenfinfternis 9
II LIT DB BRETT
zu bredden, und mit Staunen fah ich, nachdem dieje forgjältig
gereinigt waren, wie man fie mit Rauch berußte. — Ihr habt
fie eben gereinigt, und nun beſchmutzt ihr fie wieder? — Warte
nur, mein Sohn, du wirft fchon jehen, wozu das nötig ift. Und
Guftav fagte mir: Heute ift eine totale Sonnenfinfternid. Gib
acht, daß du nicht erfchridit. Wenn es dunkel um uns her wird,
ſchaue du in dein Regenfaß. da wirft du die Sonne verjchwinden
und bald wieberfehren jehen. — Gehn wir nicht zu Bett, wenn
fie verihiwindet? — Wir dürfen aufbleiben, denn fie kommt bald
wieder, und wenn fie wiederfommt, kommt auch gleich) wieder
der Tag, der vorher war, und fchreibt fich mit demjelben Datum.
Ich veritand nicht viel von dem, was da gejagt wurde.
Es kam mir verworren vor. Den andern Tag aber jah ich mit
eignen Augen im Spiegel meines Waſſerfaſſes das Tagesgeſtirn
plöglich vergehn und wiedergeboren werden.
War diejes ganz ſchwarze unheimliche Ding, dad langjam
vorrüdend die belle Sonne auffraß, wirklich) der Mond? Dann
war e8 jedenfall® ein ganz andrer als der freundliche lichte, Den
ih wohl einmal an einem Winterabend die Welt in Silberflor
hatte Hüllen jehen. Aber die Sonne jelbft, Die war eine völlig
andre, oder vielmehr es war fo, als ob fie überhaupt nicht mehr
wäre, denn als das jchwarze Ungeheuer fich jo weit in die glüb-
rote Scheibe hineingefrefien hatte, daß der Reit davon Sichelform
anzunehmen begann, wurde die Quft plötzlich kühl, es erhob ſich
ein Wind wie am Abend, mich fröftelte. Später erzählte man,
der Raſen babe fi) in diejen Sekunden betaut, und es feien
dunkle Wolfen, wie bei Gewittern, mit biutroten Rändern plöglich
gegen den Simmel heraufgewachſen. ch erinnere mich nicht,
jemal3 wieder jo raſch Abendwerden gejehen zu baben; völlig
ohne Dämmerung und Abendglühn war der Tag dahin, und eine
fahle, bleierne Nacht lag auf und. In diefem Augenblid, wo
die Sonnenfinſternis vollftändig war, ſchaute ich wie alle andern,
die ihre gejchmwärzten Gläſer beifeite taten, in die Sonne und
jah nichts als eine ſchwarze Scheibe, über deren Ränder Feuer⸗
tropfen zu quellen jchienen. Won der zuerft dunkel gewordnien
Seite der Scheibe waren die Yeuertropfen in kurzem zu einem
dünnen Lichtband zufammengeflofien, und ſchon glühte dieſes fo
bel, daß man die Gläfer wieder vornahın. ch fchaute eifrig
in mein Waſſer hinein, da umfchlangen mid) die lieben Arne
meiner Mutter von rückwärts, und ein tränenüberftrömteß Ge⸗
fit drüdte ſich an das meine, und ich hörte nur die erjtidten
DZ
10 Slüädsinfeln und Träume
Worte: Wie jchredlich, wie ſchrecklich. Mein Gott, laß es nicht
weitergehn! Mich fröftelte zwar noch etwas, aber ich verftand
nicht8 von dieſer Angft, wollte gem im Waſſer fchauen, was fid)
weiter begab; doch meine Mutter zog mid) an fi) und herzte
mich wie ein Wiedergefundned. Nafcher, als es gelommen war,
muß fi) da8 Grau, das die Menichen jo erjchredte, wieder er⸗
heilt haben. Mein Bater trat zu und und bat meine Mutter,
durch das Glas zu fehen, wie die Sonne ſchon zur Hälfte wieder-
gelehrt fei, und zeigte, wie die Schatten der Bäume und der
Menſchen wiederfehrten, wuchſen und tiefer wurden. Die Leute,
die von höhergelegnen Punkten die Finfternid® beobachtet hatten,
ftiegen herab, die meiſten mit ernften Mienen, und als die Sonne
wieder faft ganz frei leuchtete, und die Wolken zurückſanken, die
gegen fie, als fie ſchwach geworden, herauſgewachſen waren,
ſchienen viele erleichtert aufzuatmen. — Gottlob, daß es vorbei
ift! — Es war doch ein fchredhaftes Ding! — Gut, daß wir
unjre liebe Herrgott3fonne wieder haben! hörte man fagen.
Es iſt eine Warnung, hatte ih auch fagen hören, umd
diefed Wort gab mir zu denken. Eine Warnung an wen? Und
von wem? Sch nahm mir vor, Obacht zu geben, wie ed num
mit der Sonne weiter gehn werde, denn ich hatte die unbeſtimmte
Befürchtung, daß Die Warnung wohl von ihr jelbft ausgegangen
fei, und daß die Verfinfterung vielleicht fagen jollte, fie werde
iebt öfters verhindert fein, jo regelmäßig wie bisher des Vor⸗
mittag zwiſchen dem Rotdorn und dem Roßkaſtanienbaum her⸗
vorzulonmen, deren Blüten fie zur hellen Glut entzündete, und
werde ded Abends nicht Hinter dem langen Dad) der Majchinen-
fabrif verſchwinden, deſſen Blechplatten dabei jedesmal zu ſchmelzen
und in Fluß zu geraten jchienen. Dieſe Befürhtung war glüd-
licherweiſe nicht begründet; wohl entzündete die Sonne im
Kommen nicht mehr die roten Blumen, aber nicht weil fie etwa
trüber geworden wäre, indem von der Verfinfterung etwas an
ihr haften geblieben wäre, fondern weil diefe Blumen des
Frühlings Hingewellt waren. Diele Sonne mochte fchon viele
zur Blüte gewedt und zum Grabe geleitet haben! Als id) einige
Wochen danach mit meinen Eltern auf dem Schloßberg in Baden
wohnen durfte, erbat id; mir die Erlaubnis, mit den Erwachſnen
den Sonnenaufgang an einem Haren Morgen ſehen zu Dürfen.
Und als ich die Feuerkugel zwiſchen langen grauen Nachtwollen,
die noch wie Schafe Hingeftredt waren, rein und hell hervor-
ſchweben ſah, war ich beruhigt: e8 war die alte Sonne, die ba
1. Die Sonnenfinfternis 11
. ö——— —⸗û— —— GL ALU TDG ——— —
heiter emporſtieg. Nur über eins war ich erſtaunt: daß ſie
einen Augenblick gezögert hatte, ſich von der untern Wolke los⸗
zumachen, und dann raſcher emporgeſchwebt war. Ich erklärte
mir das als einen Reſt von der Furcht vor der Verfinſterung,
der fie eben noch glücklich entgangen war. Die Morgenwollken
fahen gefährlich genug aus, und ein fonnenlojer Regentag war
ihr Werk. Natürlich ‚hatte ſich die Sonne bedadht, ehe fie herauf⸗
geſchwebt war und ſogleich wieder verfinftert werden ſollte. An
demfelben Abend Habe ich fie als volle Kugel im blauen Dunſt
der Rheinebene jo raſch hinabſinken jehen, daß es jchien, als
müffe im nächſten Augenblick ein gewaltig tönendes Aufprallen
auf dem Granit der Vogeſen erfolgen. Aber fie ging wie Luft
in Luft in die Dunftitreifen über, e8 war ein Dahinjchmelzen,
und nur das Blutrot, da8 dann alles überfloß, mochte an einen
gewaltfamen Untergang erinnern.
Als auf der Nüdfahrt vom Sonnenaufgang die Rede war,
und ich gefragt wurde, was mir daran am beiten gefallen habe,
meinte ich: der Augenblid, wo es Tag wird. ch erinnerte mich
dabei an den Moment der Chriſtbeſcherung, die damals noch am
Chrifttagmorgen ftattfand, wo zwiichen die noch fortbrennenden
Lichtchen des Tannenbaumd auf einmal da8 volle Tageslicht
bereinflutet, und meinte, gerade fo feten Die legten Sterne am
Himmel geftanden, eben noch außglühend, ehe Die Sonne ganz
oben war; dann ſeien fie ganz bejcheiden und till verlöjcht.
Zu den Bewohnern der obern Sphäre gehörte auch der
Schornfteinfeger, der einigemal unvermutet mit Kugel und Beſen
aus einem Schornftein aufgetaucht, auf dem Dachfirſt Hingegangen
und wieder verichwunden war, ein rätfelhafter, geheimnisvoller
Schatten. Wie bei allen Figuren der obern Sphäre nahm id)
au für ihn feine Verbindung mit der untern an, er lebte nun
einmal dort oben, und es fielen mir feine vierfachen Treppen
ein, die berabführen könnten. So gejellte ich ihn denn zum
Chriftlindchen und zum Knecht Ruprecht, zu dem langarmigen
Schneider und der alten Frau und fand es ganz natürlich, daß
fie alle mit der Sonne, den Sternen und dem Mond das Ge-
meinjame hatten, zu erſcheinen und zu verſchwinden und oft lange
Zeit verjchwunden zu bleiben. Nur eine einzige von den obern
Eriltenzen hatte ich auch unten auf der Erde gejehen; die rot-
badige Bädermarie, die in einem Eckfenſter an der Straße hinter
Semmeln, jo rund wie ihr Geſicht, und Brezeln zu ſitzen pflegte,
war einmal an einem der Dachfenfter erſchienen und hatte den
wu.
12 Glädsinfeln und Träume
Wolken und den Schwalben nachgefehen. Das hatte freilich meine
Auffaffung von einem bejondern und höhern Leben in Luft⸗ und
Lichtreichtum dort oben nicht erſchüttert. Vielmehr fchien eine
Bemerkung Guftavs, die andre lachen machte, einen tiefern Zus
fammenbang zwiſchen denfelben zu erfchließen; als die Meinen
eine Abends vor dem Haufe jagen, und er wie öfter in feiner
roten Jade vor ihnen ftand, hörte ich ihn nämlich jagen: Mit
der Sonnenfinfterniß war es doch eigentlich gerade fo, wie wenn
der ſchwarze Schornfteinfeger die rote Bädermarie küßt! Mir
fam das gar nicht jcherzhaft vor. Denn da8 waren ja alles
Weien von da oben: Sonne, Mond, Schornfteinfeger und Bäder-
marie. Das Chriftlindchen bringt und den Baum voll Sterne,
die wie die Morgendämmerung dem Chriſtfeſt vorleuchten, und
das ift ein Heiner Teil von den Sternen, die am Himmel ftehn,
und deren hellſter über Bethlehem am Himmel ftand, und die
man dann wieder in ftillen Nächten aus dem Waſſer fpiegeln
fieht, wo fie in der fchweigfamen Tiefe, die Nachts unermeßlich
ift, wie Goldfplitter in einem dunfeln Kriftall leuchten. So
mögen auch menſchliche Weſen, Die da oben hinter den rätjel-
haften Fenftern wohnen, die zuzeiten ſonnenhaft glühn und das
Mondlicht zurüdiprühn, jonnenhaft und mondähnlich fein. Das
Kind ahnt auch ein Nachtleben der andern Menſchen, das in der
Zeit fi) abipielt, mo Sterne und Mond am Himmel ftehn;
Laute davon wie ganz bon fernher dringen bis an fein Bettchen,
md es weiß noch nicht, was davon Wirklichkeit, was Traum ift.
Die Erwachſnen imponieren aber dem Kinde nicht zum twentgften
auch, weil fie nod) leben, wenn es in ben Schlaf verjunfen ift,
und lange vor ihm wieder wachen. Das ift nım eben bie Zeit,
wo aud die Steme und der Mond wachen, und die guten
Geifter, das Chriftlind voraus, niederfteigen.
2 *
”
Es gibt proſaiſche Menfchen, die unfer jehnfüchtiges Zurüd-
erinnern an bie Kindheit als etwas Leere, Sohle verlachen.
Sie wollen im beften Fall einen Traum darin fehen. Wie fehr
irren fi die! Ich brauche nur in bie Kinder⸗ und
märchen“ bineinzulejen, jo werde ich wieder des Gefühls inne,
mit bem id) fie zuerft vernahm, und es beginnt auß den Fernen
und den Tiefen Der Erinnerung ber zu leuchten und zu glänzen
von dem ungeheuern Reichtum, ben dad Kind daran bat, daß
1. Die Sonnenfinfternis 13
ö—— IE
es alles glaubt, auch das Wumderbarfte, und vor allem, daß
fein Glaube allem Xoten Neben gibt. Wieviel größer tft alſo
der Wirklichkeitsbereich des Kindes, wientel mehr beſitzt und be-
herrſcht das Kind, da ihm das Wunderbare gehört, ohne daß es
fi) darüber wundert, vielmehr fi) darin volllommen zubaufe
fühlt. Mir kommt meine Kindheit nicht eng und nicht arm vor,
wenn ich auch weiß, daß meine Faͤhigkeiten und meine Kenntnifje
damals noch gering waren, denn vieles beitand damals, was mir
die Erziehung und der Unterricht genommen haben, und alles
war lebendig, während fi) mir heute die Welt in eine große,
weite, tote Hälfte und eine Kleine teilt, die mit Leben begabt iſt.
Man jtellt immer den fogenannten Bildungsgang der Menjchen
jo dar, als ſei e8 ein unabläffiges Sichbereichern durch Kennt-
nifle, Sichllären und Sichveredeln durch immer mehr in die Tiefe
dringended Berjtändnis. In Wirklichkeit ift es unſre Abjegung
von ber Herrfchaft über den ungeheuern Bereich bes Glaubens,
von dem wir wie durch Mauern getrennt werden, der ung nicht
bloß verichloflen, der verwüſtet, unfruchtbar gemacht wird. Ein
ganz Kleiner Teil davon wird abgefondert, jo wie Fürſten von
einem ungeheuern Wald einen Bipfel als Wildpark abjondern
lafien; in dieſem jollen wir fortfahren zu glauben, in diefem
zwingt man uns dad Wunderbare auf, das man und dort ge-
nommen und verboten hat. Dan kann e8 aber nicht hindern,
daß die Mauer, die man gegen da8 Paradies unſrer Kindheit
aufgerichtet bat, Spalten und Rifje hat, durch die dad Wunder:
bare herüberftrahlt in unſre aufgeflärte gebildete Eriftenz.
ER
2. Knabenjahre
Seit der erften Kindheit, wieviel tauſend
verjhwimmende Geftalten von Heinen Ge
danten, Abnungen — dann balbgeborne
Dichtungen, Träume, Ideen, Kleinode von
Empfindungen ..
Adalbert Stifter
1
Was ift die Poeſie der Jugend? Bergangendeit! ch
vergleiche fie den blauen Bergen in der Ferne, den ungreifbaren
Wollen des Sonnenaufgangd und Untergangs, der kriftallnen
Tiefe des Weltmeerd, dem vergangnen Frühling, furz Dem
Fernen und dem Geitrigen, allem, was nur aus der Ent-
fernung herleuchtet. Man mag von Leuten jagen, fie hätten
ih ihre Sugend bewahrt, von Greifen fogar, jte hätten fi)
verjüngt: mit echter Jugend bat das nicht? zu tun, die kommt
in jebem Leben nur einmal vor. Wie Knoſpen und Blühen ihre
Zeit haben, bat Jugend ihre Zeit. Und mie die Roſe eben
deshalb jo ſchön iſt, weil fie es nicht weiß, und fo wie Die
Berge nicht blau find, wenn wir vor ihnen ftehn, und der
Horizont nicht filbern, wenn unſer Schifflein ihn durchſchneidet,
jo wird uns die Poefie der Jugend erft bewußt, wenn fie
ſchon lange hinter uns Liegt. Ich will damit nicht jagen, Daß
diefe Poefie nur Schein fe. Im Gegenteil, Jugend ſelbſt ift
lebende Poeſie, lebendig im Innerſten eines werdenden Menſchen,
aus dem fie alle Voefie, die draußen in der Welt, in der Natur,
in den Menſchen und ihren Gefchiden lebt, an ſich zieht, ſodaß
die Kinderfeele mehr draußen als drinnen ift und ſich mädjtig
von ber Poefie des Außenlebens nährt. Die Kindheit des Ein-
zelnen gleicht darin der Kindheit der Menjchheit, daß fie ganz
in ihrer Umwelt aufgeht, mit ihr eins ift, und auch barin, daß
fie fi dann aus diefer Naturverflechtung und Naturbejeelung
unter taufend fchmerzlichen Kämpfen wieder Loßlöfen muß, bis
2. Knabenjahre 1>
der naturlofe Menſch hergeftellt ijt, den man „brauchen Tann.“
Wie oft ift in jenen Jahren dad Gefühl in mir wiedergefehrt
von einer Welt, die jenfeit8 der engen meinen zu entdeden fei,
und nad) der Hin Gedanken und ‚Empfindungen ohne Namen
und Biel ins Unbekannte flogen? Und fie fehrten immer zurüd
und hatten kein Land gejehen! Aber wenn id) weit, meit Hinein
in einen. blauen Himmel ſehe, biß er zu zerfließen und immer
tiefer berunterzufchtveben ſcheint, dann meine ich wohl auch heute
no ein ferne® Singen und Jauchzen zu hören und wähne,
mein Jugendland müfje dort ımten am Horizont auffteigen, wo
die Wollen wie filberne Inſeln liegen.
Boll Leben waren bie vier engen Wände, in denen ich auf-
wuchs. Die Tapete ded Zimmers, wo ich ſchlief, in Form ımd
Farbe Erzeugnis einer fümmerlichen Phantafie: braune Ränkchen
auf gelben Grunde, denen Figuren entiproffen, die nicht Blume
und nicht Tier waren und fich deswegen meinem Traumfinn al
Männchen empfahlen — ih fah fie bald als Bergmänndhen aus
der Tiefe bis zur Dede fteigen, bald als Engelden von oben
herunterreiten —, die braunen glänzenden Rinder, die um den
Tonofen des Wohnzimmers ihren Reigen tanzten, eine bucklige,
farbige Porzellanfigur mit goldgerändertem Dreijpibhut, die als
Trinkbecher dienen follte, wozu niemand fie gebrauchen mochte,
ein eines Körbchen aus Gewürznelfen und grünen Glasperlen,
aus dem man eben noch etwas veralteten Nelkengeruch zu ziehen
vermochte, diefe und ähnliche Kleinigkeiten nährten meine kindliche
Einbildungstraft. Warum blieb nicht die Natur jelbft, Die reiche,
die Quelle einer elementaren Poeſie, wie fie es in meinen
früheften Kinderjahren gemefen war? Wie vermochten dieſe
Stümpereien fie zu verdrängen? Ich vermute, Daß der feimende
Beſitzſinn hineinfpielte, denn Diefer Zand war mein und den
Meinigen, die Werke der Natur aber gehören aller Welt. Und
jo begann denn auch die Wiederbefreundung mit der Natur durch
. Sammeln und Zuſammenraffen, fie zog mid) aus den vier
Wänden, Iodte mich |päter von den Büchern ins Freie hinaus.
Die Sammelleidenichaft, Die in der Neugier und in der
Anhänglichkeit an einmal Beſeſſenes wurzelte und aus meiner
Ziihichublade einen Gerümpelichrant machte, wo alte Nägel und
Hufeifen neben Riejeljteinen und Papierftüdchen lagen, deren
Wert nur mir allein befannt war, hat mid) durdy meine ganze
Sugend begleitet; an ihrem Faden bin ich ſpäter zu den ernitern
Studien gelangt. Sie nahm nacheinander die fonderbarjten Formen
16 Glädsinjeln und Träume
n
an. Ihre frübeften Regungen knüpfen ſich in meiner Erinnerung
an das Wiederabfchlagen der Buden und „Stände,“ wenn der
Jahrmarkt zu Ende war, der im Juni ımd im November ab-
gehalten wurde. Das Einpaden der Waren in ſchwere Kiften
und mehr noch das Zurüdbleiben zahllojer Papierfegen und ge-
legentlicher Refte von zerbrochnen Gegenftänden fefjelte uns alle;
niemand heute fi, in dem Kehricht berumzuftochern; lag dod)
darüber noch ein Abglanz des Reichtums, der in den Buben
geleuchtet hatte. Der Menſch hängt fein Herz an ſonderbare
Schäße. Ich Hatte ein Holzkaſtchen, nicht größer als eine Hand,
in dem id) von ben Rinderjahren an immer das aufbewahrte,
was mir augenblidlich das höchſfte Gut war. Es waren nad)
einander lebende Mailäfer, der Schädel einer Maus, ein durch⸗
fihtiger Nheinkiejel, einige Zeilen von der Hand der Schweiter
meines Freundes Hermann, die ich im Schlitten zu fahren pflegte,
ein Ring mit Haaren von meiner Mutter. Und wie viel noch!
Das ſchmuckloſe unpolierte Käftchen machte mir warm in der
Herzgrube, wenn ich nur daran dachte. ch Habe es auf allen
meinen frühen Wanderungen mitgetragen, und wo id) weilte,
machte es mid) heimiſch. Es war mwahrlid die Bundeslade
meiner jungen Sabre.
Mächtig nährte den Beſitz- und Sammelgeift die Vorliebe,
mit der wir „Rnöpfles“ jpielten, wobei Knöpfe in einen an eine
Hauswand auf die Steinplatte des Bürgerjteigd gezeichneten
Halbkreis mit dem gebognen rechten Zeigefinger geichoben wurden.
Sie hing jedenfall® damit zujammen, daß die Biedermeierfräde,
die blauen und braunen, mit ihren ſchönen Meffingtnöpfen außer
Mode gelommen waren. Es gab einen Überfiuß von fchönen
Metallfnöpfen in unfrer Kleinen Welt, und da fie fonft zu nichts
nüße waren, veripielte man fie. Es gab Knaben, die fich, mie
die Wilden, ganze Leibletten, ſchwere Leibgürtel und Schulter⸗
fetten daraus machten. edenfalld habe ich felbft damals viel
mehr Wert auf ein Kattunſäckchen vol Meſſingknöpfe ald auf
alle Sterne des Firmamentd gelegt.
Das Anlegen von Höhlen oder jonftigen Verſtecken im
Walde, die geheimnisvolle Einrichtung von Niederlagen von
Büchern, Spielfahen ımd Nahrungsmitteln in den entlegenften
Rinleln des Haufes, fogar das Hineinbohren und ⸗ſchnitzeln
von „Schapkäftchen“ in die Schultiiche, worin Namen und Alter
des Gräber8 niedergelegt und mit einem Holzpfropf abgeſchloſſen
wurden, entiprangen alle demjelben Trieb des Geheimtuns, der
2. Knabenjahre 17
—
in uns allen lebte. Und deshalb mußte auch jede Ausgrabung
Schätze bringen. Man kam nur meiſt nicht tief genug. Deshalb
ſahen die. Kinder unermüdlich halbe Tage zu, wie beim Graben
eined Brunnend Kübel um Kübel voll Erde und Sand berauf-
gemunden wurden. Nie ein Karfunkelitein! Nie ein Kleines
Tier, das mit leuchtenden Augen auf Goldhaufen lag und
achte!
Eine Taged vertraute mir ein Kamerad, der von ebenfo
großer Sammelleidenjchaft ergriffen war, daß neben einer Hinter-
tür des Naturalienkabinett3 ein Haufen Steine vom höcdhften
Werte liege, die herrenlod zu ſein fchienen. Die erfte freie
Stunde framten wir in dem Gerümpel, und fein Märchenſchatz
kann feine Finder höher beglücdt Haben. Nicht glaubend, daß
man dieſe Abdrüde von Kohlenpflanzen, dieſe Fragmente oder
ſchlechten Abdrüde von Clymenien, Nautilen, Spyrien und was
ſonſt noch auf dem Haufen lag, ohne weiteres an ſich nehmen
dürfe, holten wir ung die Erlaubnig, fie anzujehen, und waren
außer und vor Freude, als uns gejagt wurde, wir jollten nehnen,
was wir wollten. Wir füllten unjre Taſchen und trugen alles
auf zweimal nad) Haufe, wo niemand über dieſe ſchwerwiegende
Bereicherung der Büchergeitelle erfreut war. Das war der erfte
Anfang des Sammelns mit wiſſenſchaftlichem Zweck. Der war
zuerſt freilich nur Nebenzwed, aber da wir nun öfter dad
Mufeum bejuchten, wo viel mehr und volllonmnere Exemplare
aufgejtellt waren, begann dad Vergleichen und Benennen, und
unwillfürlih wurden wir in da8 Mlaffifizieren hineingeführt, das
die Grundlage aller weitern Fortichritte war. Es dauerte nicht
lange, fo madten wir auf eigne Hand Entdedungderpeditionen
in die Sandftein- und Muſchelkalkbrüche der Umgebung. Ich
war faum dem Snabenalter entwachſen, als ich die Fauna des
Keuperd und des Muſchelkalls mit zwei ausgezeichneten Formen
bereicherte. Niemand, am wenigſten ich ſelbſt, ließ fi) damals
träumen, daß damit ein Weg betreten war, der mich viel ſpäter
weit führen follte, nachdem ich einige andre ſchon gemandert
war. Damald bewegte fi mein Sammeln und Ordnen nod
ganz im Spiel. Im beiten Fall galt e8 als Liebhaberei.
Ziebhabereien, fonderbare8 Wort! Oft bin ich dir in meinem
Leben begegnet und habe dir nicht nachgedacht. Als aus ber
Liebhaberei wifjenichaftliche Arbeit geworden war, kam e& mir
zum eritenmal in den Sinn, wie du eigentlich geringſchätzig lauten
möchteft und doch fo manches Edles meinft. Wie manche Lieb-
Rayel, Slüdsinfeln und Träume 2
18 Glädsinfeln und Träume
haberei ijt da8 einzige, was ein Menſch auf diefer Welt Lieb
hat und lieb haben Tann!
Man erzählte und Sagen und Märchen, und jogar Anderjens
Märchen gehörten zu meiner frühen Lektüre. Die Sage ranlte
fih aber bei und Kindern lieber in das junge Gebüſch der
Gegenwart als um die alten Bäume der grauen Vergangenheit.
Dort war der Gegenjat zwiſchen ihr und der Wirklichkeit größer,
die Wirkung war ftärler, wo fie das Leben felbft zu bedrohen
ſchien. Darum lafen wir gleichgiltig in den Märchenbüchern,
hörten aber mit Grauen von dem kürzlich veritorbnen Bürger-
meifter von M., der Nachts ächzend einen Grenzſtein, ben er
zu Unrecht. verjegt hatte, wieder an feine Stelle fchleppte, und
hörten mit halb angenehmen Schauern den Boten Bender von
Eichelberg erzählen, der Arzneien in tiefer Nacht über den Berg
zu den Typhuskranken in Ziefenbad trug, wie ein Schatten
neben ihm gewandert fei, der jedesmal zufammengeichrumpft fei,
wenn Bender an Sefum dachte. In unjrer allernädjften Nach⸗
barjchaft hauften Geifter, die fi) nach den zuverfihtlih vorge⸗
tragnen Erfahrungen der ältern Spielgenofjen jogar in die Spiele
einmifchten. Ein beliebte Spiel war Haſchen in Verbindung
mit Berfteden, wobei der an fiherer Stelle angelangte an Die
Mauer jchlug und „Lupard“ rief.” Wir fpielten ed mit Vor⸗
liebe vor einer Gruppe von Felsgrotten, die aus der romantifchen
Gartenkunſt ftammten und eigens für Knabenſpiele gebaut zu
jein ſchienen. „Wenn man immer Lupard ruft, kann fein Geift
bier fchlafen,“ jollte e8 dort einmal aus der Höhle zurüdgerufen
haben. Es fiel niemand auf, daß diefer Ruf nicht ganz im
Geifterftil gehalten war, vielmehr etwas alltäglich Hang. Eine
Zeit lang unterließg man dad Spiel. Als aber ein mutvoller
Knabe doppelt Iaut fein Lupard in die Höhle Hineingerufen
hatte und feine Geiſterbeſchwerde erfolgte, nahmen wir e8 mit
dem gewohnten Lärm wieder auf. Ach dachte bei mir im ftillen:
Die Geifter find wohl wie meine Mutter, die und aud einmal
ein „Stillel” zuruft, menn e8 des Lärmes zubiel wird, dann
aber, wenn es nichts Hilft, lächelnd dem Treiben zufieht. Die
Geiftergeichichten endeten übrigens nicht immer jo harmlod. Als
ein Spiellamerad erzählt hatte, es käme vor, daß einem, ber
zuviel in den Spiegel fchaue, eine jchredliche Frage daraus an-
grinje, er Habe eine gefehen, die ſich mit den Fingern in Den
Mund gefahren fei, um denfelben über das ganze Geficht hin
auszuweiten, traute id) mid) wochenlang nicht, wenigfien® nicht
2. Knabenjahre 19
IIND LER ⸗— —
—— — —
am Abend, in den Spiegel zu ſchauen. Damals fiel mir dieſe
Enthaltſamkeit nicht ſchwer, weil ich den Spiegel ohnehin als
laftiges Toiletteſtück auf eine Linie mit dem Schwamm und ber
Bürfte ſtellte. E8 war nur eine willlommne Vereinfadyung, Die
Haare ohne Spiegel zu bürften. Der jchräge Scheitel kam dann
freilich zickzackförmig heraus.
Zu den geheimnisvollen Ungelegenheiten gehörten auch die
Verſuche, der Natur ins Handwerk zu pfuſchen, die auf manchen
Umwegen einige aus meinem Geſpielenkreis endlich bis zur
Pharmazie und zur Chemie geführt haben. Keine Roſenzeit ging
vorüber, ohne daß von neuem wieder Roſenblätter und Waſſer
in lange ſchmale Flaſchen gefüllt, wie man ſie damals für Kölniſch
Waſſer benutzte, und in die Sonne geſtellt wurden. Daß dieſe
durch ihre ſonderbare Geſtalt auffallenden Flaſchen nun nicht
imſtande waren, aus der Miſchung etwas viel beſſeres als den
natürlichen Roſenduft zu deſtillieren, kam ung gar überraſchend
vor und enttäuſchte beſonders lebhaft, wenn eigenſinniges Ver⸗
harren auf dem Wege dieſer „Sonnendeſtillation“ endlich nichts
als ein höchfſt übelriechendes Produkt erreichte. Bedenkliche
Richtungen ſchlug dieſer Probiertrieb in etwas ſpäterer Zeit ein,
als er ſich auf Feuerwerk warf. Ich weiß nicht, wie es kam,
daß unſre Soldaten auf dem Exerzierplatz ſo viel volle Patronen
verloren, aber es war ganz bekannt, daß man bei den Übungen
im Feuer nur hinter einer Plänklerkette herzugehn brauchte, um
da und dort eine volle oder nur halbgeleerte Batrone zu finden.
Indem wir zujfammentaten, füllten wir ganze Flaſchen mit Bulver.
Mit Speichel befeuchtet wurden daraus Tleine Berge geformt,
die unter Sprühen und Spraßen verbrannten. Als ich mid)
einmal zu nahe beranmwagte und hineinblies, ſprang mir ber
ganze Feuerteufel ind Geſicht. Es war am Tag nach meinem
zwölften Geburtstag. Die Pulvererplofion warf mich plötzlich
um einige. in meiner eignen Schägung zurüd, ich kam mir jünger
und — Dünmer vor, wiewohl mich die abgefengten Augenbrauen,
Wimpern und Stirnhaare jeltfam alt außjehen machten.
Bu den fonderbarften Dingen gehört Die Deutliche Erinnerung
an Träume, die ich in früher Jugend hatte Das kann wohl
nur damit zujammenhängen, daß wir jehr oft einen beftimmten
Traum träumen, der dann auf einmal verſchwindet. AB Er-
innerung, Die wir oft ſchwer von den Eindrüden der Wirklich⸗
fett trennen, taucht er dann zu irgendeiner Zeit wieder auf.
Ich muß zum Beifpiel jehr oft vom liegen über einem weiten
2»
20 Glüdsinfeln und Lräume
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Waſſer geträumt Haben. Wenn ich nun über den Strom hinflog,
fühlte ich die mächtige Anziehung des Waſſers, teil fürchtete
ih fie, teild war es ein ſüßes Gefühl, jo Hart darüber Hinzu-
ftreifen. Dem befannten Trid des Traumgotted, und Durch eine
endlofe Reihe von Zimmern zu führen, bi wir im legten frei
bon Mauern in der Luft ftehn, muß ich öfter zum Opfer ge:
fallen fein. Und nun nach 1849, aljo in fehr früher Jugend,
muß ich oft im Zraum ben roten preußiſchen Hufaren neben
feinem Pferd auf dem Marktplatz haben ftehn fehen, den ich ein
einzigemal in Wirklichleit dort erblidt Hatte. So hat wohl
auch in fpätern Jahren jeder Menich feine Traumgeftalt, die
ihn gleichfam begleitet, ein Schatten, der in Träumen ihm er-
ſcheint, wenn er ihn im Leben vielleiht nur ein einzigesmal
gejehen Hatte und im wachen Zuftand feiner faum jemals inne
wird. Es ift fonderbar, wie von den Sternen ber Kindheit,
wenn der Tag des Lebens heller wird, jo viele verlöfchen, und
gerade die in der Erinnerung fortleuchten, die einft am mwenigiten
beachtet worden waren. Gerade jo willkürlich, wie die wirklichen
Sterne aus der Tiefe des Weltalld, leuchten und jene von Stellen
an, die und früher fait dunkel erſchienen waren.
Daß e8 eine Natur gibt, die fchöner iſt als eine andre,
habe ich erft fpät eingejehen. Unſre Gegend Hatte gar nichts
voraus, aber ihre Natur ſprach zu uns in ihrer lebendigen
Sprade, die das Kind fo gut wie der Greis verfteht. Meine
Bervunderung galt ganz glei) den Sternen am Himmel und
den Blumen und Blümchen an der Erde. Der Wald, der und
auf Drei Seiten der Stadt leicht erreichbar lag, war zwar ein
beliebter Spielplag, wurde aber weiter nicht bewundert. Da⸗
gegen machten bie Getreidefelder, durch die fo jtille Schmale Sand-
und Graspfade zogen, einen tiefen Eindrud auf mein Gemüt,
deren Grund daß früh eingeprägte Danlesgefühl gegen den Geber
des täglichen Brote geweien fein mag. Ich ging ſchon al
Knabe, dem die Ahren um die Nafe ſchwankten, mit Vorliebe
dur ihr Silbergrau, wenn fie blühten und fo eigentümlic)
dufteten, und durch ihr Gold, deſſen bräunlicder Ton der Gipfel
alles Reifens zu fein fchien. Und die Kornblumen, Widen und
ftolzen Kornraden ftanden nicht wie Unkraut in dem Felde, fondern
wie Blumen in einem Garten. Leider entftellten wir zu jener
Zeit die Poefie der Getreidefelder hartmädig durd das Kauen
der halbreifen Weizenlörner, die man tagelang im Munde um-
herwarf, bis ein Fleined Klümpchen Kleber übrig war, aus dem
2. Knabenjahre 21
——— GG AU —— — —. —
durch geſchicktes Kneten Luftblaschen mit Knall austraten. Dieſes
„Knallgummikauen“ wurde auch in den Schulſtunden fortgeſetzt,
weil und wiewohl es, mit Recht, ſchwer verpönt war.
Der Wald reichte hart bis an meine Vaterſtadt, deren Nord⸗
ſeite halbkreisförmig in ihn hineingebaut iſt. In ihm ſtanden
wundervolle alte Eichen, und weite, Dichte Föhrenſchläge, in deren
Didiht man die Welt vergefjen konnte, wurden von fchlanken,
rotberindeten Föhren überragt. Zu meinen älteften und reiniten
Katureindrüden gehört ein Sonnenuntergang hinter diefen Führen,
an deren Rinde das Licht wie glühendes rote8 Gold niederrann.
Seltiamerweife fiel im Walde die Furcht vor Gefpenftern ganz
dahin. Die Waldgeifter waren mir willlommen. Wie erweiterte
fi) mir die Bruft, wenn ic dad Helldunkel und den Reid
tum des durch Die Afte ſchimmernden Himmelsblaus mit keinem
Menſchen teilte. Es war ein freundſchaftliches Vertrauen, das
mich mit dem Walde zuſammenband. Bot er doch der „neſt⸗
machenden“ Phantaſie des Jugendalters tauſend Kammern und
Winkel!
Mit zwölf Jahren lernte ich ſchwimmen; mein Verhältnis
zum Waſſer wurde dadurch ganz neu, denn wenn ich in das
klare Naß tauchte, fühlte ich, wie mein Inneres klarer und reiner
wurde, und mit den Augen wuſch ich die Seele, die nun freier
in die Welt ſchaute. Sonſt Hatten wir Knaben ganze Nadh-
mittage am Waſſer und im Waſſer verbracht, ung mit dem Schlamm
der Flußufer überzogen, bis wir Indianern glichen, dann in den
warmen Sand der Abhänge eingegraben und die ganze Krufte
untertauchend wieder abgewaſchen. Jetzt fuchte ich ftille Stellen
auf, und wenn id) gebadet hatte, wanderte ich wie ein neuer
Menſch durch die wogenden Getreidejelder heimwärts und fchaute
zu, wie an dem gelblichen Weſthimmel die Sonne fchneller ſank.
Zum Glück haben Kinder noch feine hohe Meinung vom
Wert ihres Lebens, ſonſt würde die Sorgfalt, mit der ihre Eltern
e8 umbegen, ihrer Eitelkeit jchmeicheln. Ich bin zweimal hart
am Ertrinfen gewejen, Doc) wurde mir gegenüber fein Fall daraus
gemacht, und die nähern Umſtände find mir deshalb auch nicht
belannt. Nur erinnere ich mich gehört zu haben, daß ich einmal
ganz ftill einen Sandabhang am Rhein Hinabgeglitten und ver-
funfen fe. Daß Kinder fo lautlos verjchwinden, ift eine große
Gefahr. Ich bin ſelbſt Zeuge geweſen, wie eine Yrau über den
Müpliteg ging, Hinter ihr ihr Mädchen von fünf Jahren; fie hört
die vertrauten Kindesſchrittchen nicht mehr, fieht fih um, und
23 Slüädsinfeln und Träume
nur das Kopftüchlein des Kindes ſchwamm im Bad, das Find
war ſchon tief unten und fam nicht lebend wieder.
2
Den größten Abſchnitt in dieſer Zeit macht nicht die Schule
jelbit, fondern das Gefühl eines gewifjen Herabfteigend in mo⸗
ralifcher Beziehung als Yolge des Umgangs mit andern Rindern.
Der gejcheite Knabe ſucht feine Freunde am liebften unter denen,
die ihn anftaımen, weil fie unter ihm ftehn, und unfre Schwach⸗
beiten entdeden wir mur denen gern, denen wir gleiche oder noch
größere zutrauen. Wir fteigen auch geiftig und moralifch lieber
bergab, als dag wir fteile Höhen erklimmen. Es mochte im
erften oder zweiten Schuljahre fein, als id) meine Mutter jagen
hörte: Sa, wenn du noch mwärjt wie in deinem vierten oder
fünften Jahre, allein jo brav wirft du dein Leben nicht mehr!
Alſo dad Paradies ſchon hinter mir? Da mir viel an dem lag,
was meine Mutter von mir hielt, Habe ich dieſes Wort nicht ver-
gefien. Eine andre Anderung machte ſich erſt allmählich fühlbar.
Die Heine Seele wurde ganz langjam inne, daß das äußere
Leben etwas von ihr wolle, immer mehr, womöglidy fie ſelbſt
mödte fie ganz an fich heranziehn. Sie foll nicht länger mit
fi) allein bleiben. Die Schule Hopft am Härtejten mit Diefer
Horderung an, doch wird diefe jahrelang hartnädig nicht ver-
nommen. Das Knäblein verfteht diefe Sprache noch nicht.
Nicht alles kommt zum Vorjchein, was in einem Sinder-
gemüt an Gutem und Böſem in wunderbarer Miſchung freift.
Die Triebe, die in ihm liegen, und die Anregungen, Die von
außen kommen, begegnen fi wie die Ströme bes fteigenden
Saftes in einem jungen Baume. Es gibt ftille innere Kämpfe
und Gärungen zwiſchen Schädlichkeiten und Heilmitteln, die die
Natur ſelbſt bereitet. In ſolchen unbewußten Vorgängen ſchwand
unmerflich der Rinderfinn, wie die Blüten fallen. Diefe ganze
Traumzeit verflog, als wäre jie in ein beſſeres Land zurüd-
gelehrt, und die Gegenwart kam mir zum erftenmal ohne Blüte
und Farbe vor. Zu derſelben Zeit habe ich vielleicht zum erſten⸗
mal empfunden, was Langeweile, innere Ode ift.
Wie am treibenden Stod die Sinofpen bald da bald dort
bervortreten, die eine von der Sonne gehegt aufbricht, Die andre
vom Froſt getötet abfällt, fo trieb nun meine junge Seele ihre
Knoſpen, und zwar jowohl der Sonne ald dem Schatten ent⸗
gegen. Nur blieben diefe lange geichloffen, fielen vielleicht bald
2. Knabenjahre 23
—
ganz ab, während jene fröhlich aufblühten. Die Schule ſtand
nun jahrelang ganzlich auf der Schattenſeite. Keine wahre Lebens⸗
aber lief nad) ihr Hin, da8 warme Jugendblut verbrauchte fich
ganz in Spielen, Träumen, halb träumenden Berjuchen zu jelb-
ftändiger Zätigleit und in der Anhänglichkeit an Elternhaus
und Freunde. Die Wehmut der gebrocdhnen Freundſchaft und
das unbejchreibliche Glück, wenn fie wieder bergeftellt wurde, das
waren die Wellengipfel und WWellentäler dieſes Lebensabſchnitts.
Ich babe aus meinem ganzen erſten Schuljahre nur bie
eine Szene in ganz heller Erinnerung, als uns eine herrliche
Bergkriftalldrufe gezeigt wurde. Die muß meine Liebe zu den
Kriftallen zuerft wachgerufen haben. Leid tat e8 mir nur, daß
fie in einem fo ftaubigen Glaskäſtchen wie eingefangen ſaß. Weil
ich leicht lernte, ftand ich ſchon zur Elementarjchule wie jpäter
zur Univerfität: ich ergriff, was mir gefiel, und hielt mich an
feinen ftrengen Gang. Was ich gelernt habe, ift ſelbſt erarbeitet,
die Schulen aller Stufen haben mid) immer nur angeregt und
mir Wege gezeigt, Darunter auch Holzivege.
Erft die Schulaufgaben und dann da8 Spielen! war das
erite Geſetz, das ich zuerjt für graufam und mit der Zeit auch
für umfinnig hielt. Denn da alle Spiel hieß, was nicht von
der Schule vorgefchrieben war, jo fielen in fpätern Jahren auch)
die mit Leidenſchaft betriebnen Naturſtudien und die Privat-
leftüre unter dieſes Gebot, und ich fühlte doch ſchon damals, daß
in ihnen Leben und Fortichritt war, während fi die Schul-
aufgaben jo oft wüftenhaft troden, Paragraph für Paragraph
duch die Lehrftunden hinſtreckten. Wie öde kamen mir Die
Grammatikſtunden vor, als ih ſchon angefangen hatte, aus Leffing
und Schiller zu lernen, was an der deutichen Spradhe gut und
ſchön if. Die Jugend kann fo viel Wideriprechendes in ſich
aumehmen, weil fie e8 einfach zum andern ftellt; wenn fie es
erleben müßte, verwüchſe es mit ihr zu einem Ungeheuer. Dan
bedenfe doch, daß wir in einem bureaufratifch-monardhiichen Klein⸗
ftaat aufiwuchfen, wo ſchon Lodenhaar bei jungen Männern, ein
Filzhut oder ein roted Mantelfutter verdächtig twaren, während
die Schule allen Bewunderung für Ariftives und fogar Brutus
einimpfte, ſodaß wir Schüler viel eher ein Berftändniß zum Frei⸗
ſtaat als zur Monarchie hatten, bei der wir an Nero oder Bhilipp
dachten! Im Grunde war es gut, daß in den damaligen deutſchen
Berhältnifien Wirkliches und Gegenwärtiges für und gar nicht
in Frage kamen. Niemand von uns Hatte einen lebendigen
24 Glädsinfeln und Träume
De
wu...
Staatömann oder Feldherrn, und id) wenigſtens Hatte auch noch
feinen Landtagdabgeorbneten gejehen. Unſre politiichen Geſpräche
fonnten um fo umfafjender und vielfeitiger jein, und während faft
jeder- von uns einen Verwandten hatte, der 1849 nad Frank⸗
reich oder Amerila ald „Hevoluzzer“ geflohen war, oder der in
Schleswig-Holftein oder Baden auf der andern Seite gefochten
hatte, lebten wir in ber Geſchichte des Peloponneſiſchen Krieges
ober ber Gracchen oder höchſtens, angeregt durch Schillers
„Maria Stuart“ und ſpäter Macaulay, in der engliichen des ſech—
zehnten und des fiebzehnten Jahrhunderts. Der Geſchichtsunterricht
ging fo fchleppend, daß er nie über den Fall von Konftantinopel
hinausfam; denn das war ein Kapitelfchluß im Lehrbuch! Dabei
wurde das Mittelalter jo geiftloß behandelt, daß ich eine Vor⸗
ftellung von Konradin erft durch den zufälligen Yund einer Bio-
graphie feines Freundes Friedrich von Baden gewann, Die ich
verſchlang. Als ich ſchon feit Jahren jede Jahreszahl und jeden
Namen aus der Geſchichte der alten Griechen innehatte, wirkte
e8 wie eine bligartige Erleuchtung auf mich, als ich zum erſten⸗
mal auf der Univerfität Ludwig Häuſſer die griechifche und Die
deutfche Sleinftaaterei vergleichen hörte. Wenn man fagt: Die
Schule ift der Markt der Knaben, bier lernen fie einander und
daB Leben fennen, jo galt das für und nur im befchräntteften
Sinne: die Schule war nicht unfre Agora, Höchftens unſer Tauſch⸗
markt, da bei und fehr viel „gefuggert“ wurde; der Markt des
Lebens lag weit ab von unſern kahlen Wänden. Nur im Ge
wand der Dichtung griff mir damals die Geſchichte and Herz;
in der Profa des Lehrbuchs war fie abjolut gleichgiltig. Iſt
das erſtaunlich? War denn nicht Homer der erſte Gefchichtichreiber
der Griehen? Und fo bringen jedem Jugendgemüt nicht die Ge⸗
lehrten, ſondern die Dichter die Gejchichte nahe. Für mich gab es
viele Jahre Fein Geſchichtsbuch, das mir höher ftand als Hebels
Bibliſche Geſchichten und die mythiſchen Partien in K. F. Beckers
Weltgeſchichte.
Ich will den freundlichen Leſer, der mir bis hierher gefolgt
iſt, nicht mit Schulgeſchichten langweilen. Zur Kennzeichnung
der Zeit gemügt vielleicht folgendes. Als ich wegen Mangels
aller Fortichritte und ſichtlichen Erfterbend aller Teilnahme an
dem Unterrichtsgang der Schule einer Privatichule überantwortet
wurde, die den Ruhm hatte, auch die verkommenſten Subjelte
durch Prüfungen zu bringen, vernahm id; von deren erftem
Lehrer das ſchöne Wort: Da man junge Hunde und Bären ab-
2. Knabenjahre 95
IL
richten kann, braudt man an jungen Menſchen nicht zu ver-
zweifeln. Das war nicht gerade ermutigend; doch widerſprach es
nicht den pädagogiichen Grundjäßen meines Vaters, der meine
Einführung bei dem Direltor mit den Worten begleitete: „Der
Bub ift gut, indeflen wenn er nicht pariert, fchlagen Sie ihn
braun und blau.” Wiewohl nun dieſer Direltor von berüdhtigter
Sclagfertigleit war — von den Fortichritten der Technik be=
geiftert prügelte er nicht mit dem Rohr wie Die gemöhnlichen
Lehrer, jondern mit einem kurzen Kautfchulfnüppel, deſſen eigen=
händige Herftellung er uns eingehend jchilderte —, habe ich von
ihm nicht zu leiden gehabt, jondern weiß ihm aufrichtigen Dan.
Als Schulmann wird er wohl mittelmäßig gewejen fein, feine
Unterrichtöftunden waren verworren, planlos; aber er hatte die
Gewohnheit, von deren Gegenftand faft immer abzufchweifen, und
aus feinen Erzählungen, die mit der Sache gar nichts zu tum
Hatten und eben deöwegen uns doppelt feffelten, haben wir alle
viel gelernt. Er war Pflanzen» und Inſektenſammler, begeijtert
für Phyſik und Chemie; dabei unterrichtete er in alten und neuen
Sprachen. Man kann fid) das Ragout jeines Unterrichts denken;
aber es mundete und. Es fommt mir jet wie eine Parodie
vor, daß wir ihm zum Geburtstag einmal ein Uräometer fchentten,
dad in einer Kanne voll Geifenfiederlauge ſchwamm, die ber
Sohn eines Geifenfiederd beifteuerte.e So fehr Hatte uns feine
Darftellung der Seifenfabrifation gefallen, die er in der grie
chiſchen Stunde an die Frage gefnüpft hatte: Womit mögen die
bomerifhen Helden den Staub des Kampfes gründlich abge-
waichen haben? Wie aus einem dürren Stamm an uneriwarteter
Stelle ein grüner Schoß entipringt, fo wedten dieje Schilderungen
und Beſprechungen, die andern als Allotria vorkamen, in mir bie
Lernluft, und ich empfing von ihnen den Anftoß zu der Nichtung
bes Denken? und Arbeitens, der ich mein Leben lang gefolgt bin.
Plötzlich ftürzte ich mich mit Leidenſchaſt auf die Naturgeſchichte,
und da ich mid) Darin von dieſem Lehrer eifrig gefördert ſah,
tat ich ihm zuliebe auch in den andern Fächern das nötige, im
deutihen Aufſatz ſogar mehr als dieſes. Als ich an einen
Sonnabend Vormittag. meinen Aufſatz, Jonathan und Patroflus“
abgeliefert hatte und am Sonntag von meinem Vater vernahm,
ein mit meinem Direftor befreundeter Geiftlicher habe ihn ge-
lefen und mit großem Lob davon geiprocdhen, mag fich wohl der
allererite Keim der Befriedigung über einen literariichen Erfolg
in mir geregt haben. Doc machte mid diefe Anerkennung,
26 Glüädsinfeln und Träume
we.
gewiß nicht eitel, denn ein ficherer Inſtinkt ließ mich fühlen, daß
es fi) in einem ſolchen Aufjage doch nur um die Handhabung
von Worten handle. Sa, wenn dad Thema geweſen wäre, eine
blühende Wieje oder die Verwandlungen des Dleanderihwärmers
zu ſchildern,. da hätten ſich Tatſachen darftellen laſſen, das wäre
etwas gewelen! Da hätten ſich auch Gefühle ausfprechen laſſen,
die man wirklich gehabt hatte. ch verjuchte einmal, ald ich von
einem Aufenthalt in dem Heimatsdorfe meined Vaters zurüd-
getehrt war, zu bejchreiben, wie ſchön es jei, aus dem Fenfter
auf den Apfelbaum zu fteigen und aus befien Krone dad NRaufchen
des Baches von drumten her zu hören oder feine Wellen im
Sonnenlicht bligen zu jehen. Ich Hatte die Kühnheit, den Kleinen
Verſuch meinem Direktor zu zeigen, der mit befonderm Qob bie
Wendung bedadhte: die Apfel waren fo groß, daß die Augen, bie
fie anfchauten, unwillkürlich wuchſen.
3
Grübeln und Spielen gingen wie blauer und roter Farben-
Ichimmer auf einem Käferflügel beitändig ineinander über. Auch
meine Gedanken über Neligion glichen Seifenblajen mehr al
irgend etwas anderm. So vergänglid waren fie auch im ein-
zelnen, bleibend war nur das Danfgefühl gegen Gott den Schöpfer
und die ahnungsvolle Ehrfurcht vor Gott dem ewigen Richter.
Biel tiefern Eindrud als der heimische trockne Gottesdienſt machte
es, wenn man an einem fonnigen Sonntage „binter* die Kirche
ging und im weiten Feld unter Lerchengefang hinſchritt, mit dem
fi) die Glodentöne ferner Dörfer miſchten. Da fühlte man da
Wehen eined Geiftes, von dem in unfrer falten, grauen Kirche
tein Atem war. Der Religiondunterridht blieb volllommen un-
fruchtbar im Dogmatiſchen, brachte und dagegen in der biblifchen
Geſchichte Kunde von großen Typen und Vorbildern menfchlicher
Entwidlung zum Guten und zum Böfen. Bisher hatte ich all-
fenntägli die Grau in Grau, trüb und poefieloß gezeichneten
Bilder aud dem Alten Teitament, die in die Galeriebrüftung
der Kirche eingefeßt waren, ohne Gedanken und Gefühl ange-
ſchaut; fie fprachen fo wenig verftändlich zu mir wie das Knäuf-
geſchlinge der korinthiſchen Säulen, in Das ich vergebens Leben
oder Sinn zu bringen ſuchte. Das änderte ſich nunmehr, und
zwar nicht bloß äußerlich. Ich hatte Gedanken, mit denen dieſe
Geſtalten zu beleben waren. Freilich nur eben, foweit fie Menſchen
waren. Gerade fo erging ed mir mit ber Kirchengeſchichte. Da
2. Knabenjahre 97
— —— — —— — ——— TEE ILS DE
gefiel mir, lange vor Dahn, natürlich das Heldenhafte an den
Arianern, wie ich denn ſelbſt an Chriſtenverfolgungen und Ketzer⸗
verbrennungen nicht ohne ein geheimes Wohlgefallen vorüberging.
Aber alle dieſe Religionsgeſchichten intereſſierten mich doch nur
ſo oder kaum ſo wie Romulus und Remus. Es war zwar ſtark,
daß ein Bruder den andern erſchlug, bloß weil er ſein Mäuerlein
überſprang, aber man konnte ſich immerhin hineinleben. Jeder
hatte Beiſpiele von dem unbegründeten Zorn des Jugendalters.
Dagegen in den Wortſtreit der Ausleger der Heilsbotſchaften,
wer lebte ſich da hinein? Die Hauptſache war doch offenbar.
daß uns dieſe Botſchaft geſandt war, ihren Sinn mußte der am
beſten verſtehn, der ſie uns ſendet, was die Menſchen hineinlegen,
iſt Nebenſache.
Für den Glauben fehlte mir alles Verſtändnis. Gerade
weil ich glaubte, begriff ich nicht, was Glaube ſei. Man ſollte
mit dieſem Worte die Jugend nicht quälen, ſie glaubt ja ohnehin
mehr, als nötig iſt, und zuviel beſtimmten Glauben von ihr
fordern, heißt ſie zum Zweifel herausfordern. Die Jugend kann
auch nicht den abgeklärten Glauben deſſen haben, der einmal ge⸗
glaubt Hatte und nun aus dem Zweifel zum Wiederglauben em⸗
porjteigt, in dem er ſich glüdlich fühlt, einen Geber des Guten
Dank zu willen und überhaupt einen Herrn über fi) zu willen.
Mir blieb Glaube ein leeres Wort, deflen Sinn ich erft zu ahnen
begann, al8 die Sache jelbit ind Wanken fam. Ich Hatte an
Geifter geglaubt und Diefen Glauben nie abgelegt, fondern, vor
dem Spott meiner Genoffen mich ſchaͤmend, ihn verborgen. Warum
nicht glauben? Ich ahnte, wie wenig wir wiflen. In welchem
meiner gelehrten Pflanzenbücher fand id) eine Auskunft darüber,
wer die Pflanzen gefchaffen habe? Die Wirklichkeit der Geijter-
dinge zu bezweifeln, jchien mir ohnmächtige Berneinung. Glaube
an Gott und feine Macht, und alles andre laß dahingeſtellt!
Durh den Umgang mit Tatholiichen und mit jüdiſchen
Schülern gewannen wir andern gelegentlich Einblide in ein ganz
anders beichaffnes Religiondweien, die und zwar nicht zu Zweifeln
an unjerm eignen aufregten, aber doch mancherlei Perſpektiven
auftaten, in Die man nicht ohne Behagen Hineinfchaute. Ich er-
innere mid, daß es zwei Dinge waren, die mich anzogen und
mir zu denken gaben. Das eine war die Heiligenwelt der Katho-
liken mit ihrem märcdhenhaften Glanz von Wundern, ihren ſchweren
Leiden und den zahlreichen Beilpielen von Heldengröße, dad andre
der Ernſt, mit dem die Juden ihre Feiertage feierten. Daß
28 Glüdsinfeln und Träume
Knaben, deren weltlicher Charakter uns fo mohlbefannt war, vom
Freitag Abend an feine Feder und fein Spiel anrührten, hatte
doch etwas Impoſantes. Man ahnte, daß etwas Großes da⸗
binterftehe. Weniger eindrucksvoll waren Die ungejäuerten Brote,
die Mabes, die fie uns in der Ofterzeit often ließen. Aber
jedenfall war auch das etwas ganz Bejondre8. Um jene Heiligen-
gefchichten aber beneidete ich) meine Mitſchüler, die fie glauben
durften. Das waren troß ihrer Heiligleit und Seligkeit Menfchen,
die ich verftand, mit ihnen konnte man leiden und felig werden.
Der heilige Bernardin von Siena, in defien Gegenwart fein Mit-
ſchüler eine unanftändige Rede zu ſprechen wagte, der heilige
Rupert, der nie einen Menjchen betrübte, der heilige Robert von
York, der ſchon als Knabe den Ernft des gereiften Mannes zeigte,
die heilige Balbina, die, ein Wunder von Schönheit, ſich eine
entftellende Halsgeſchwulſt anbetete, um ihre Schönheit mit mafel-
Lofer Reinheit zu verbinden, der heilige Godrich, der als Land⸗
främer und Heiliger durch Irland z0g, das waren alles ganz
verftändliche Erfcheinungen. So konnte id) mir auch ganz gut
denken, daß Die Heilige Johanna, die mit einem Korb und mit
einem Salbengefäß abgebildet wird, wie eine von den Botinnen
außgejehen Habe, die man auf den Dorfftraßen gehn jah, und
daß die heilige Wilfhilde, die Tochter des Herzogs von Bayern,
die die niedrigften Magddienſte verrichtete und ein jchlechtes Ge⸗
wand trug, ald Bärbel oder Urſchel um und berummanbdelte.
Es fehlte aber auch nicht an echt romantischen Zügen in
biefen Legenden. Dem Sailer zerbracdh die Feder dreimal, als
er dad Berbannungsurteil des Heiligen Bafiliuß unterjchreiben
jollte, und im dunkeln Kerker des heiligen Quirinus erichien
immer gerade um Mitternacht ein tröjtliches Licht. Wie anmutig
war body die Gefchichte vom heiligen Gotthard, der, als er in
feiner niederbagrifchen Heimat als Miniftrant fungierte, einmal
in feinem Ghorrödlein die glühenden Kohlen herbeitrug, ohne es
un geringften zu beichädigen. Welches erhebende Vertrauen in
dem mutigen Athanaſius, der ſprach: Auch dieſes Wölklein wird
bald vorübergehn! Und feine Berfolgungen gingen vorüber. Ge⸗
heimnisvoll lautete es in den Legenden von der heiligen Katha⸗
rina von Siena: fie jah künftige Ereigniffe voraus und hatte Die
Kenniniß der Herzen. Al der graufame Domitian den Heiligen
Johannes in einen Keffel fievenden Ols werfen ließ, freute ſich
diefer feiner Qualen und ftieg neu erfrifcht auß ber Glut hervor;
das Wunder geihah vor dem lateiniichen Tore, und Johannes
2. Knabenjahre 29
TEIL
————— — —— LEER GL LO LLO
heißt mit Bezug auf das Wunder „von der latiniſchen Pforte.“
Das alles prägte ſich mir tief ein, Zweifel kamen mir dabei gar
nicht in den Sinn, und ich wundre mich nicht über dieſes, Mit⸗
glauben,” da wir Doch fo viel andres leichtgläubig hinnahmen,
was viel weniger groß und impojant war. ch erinnere mid)
einer Unterredbung in meinem protejtantifchen Yamilienfreiß, wo
der 2egendenglaube getadelt wurde; zwar drang ich mit meiner
Anficht nicht durch, daß es ſchön fei, zu glauben, daß der heilige
Thomas von Aquin, einer der größten Weiſen aller Zeit, Un-
befannten, die ihn angingen, aus reiner Demut ihre Lajten ge-
tragen habe, oder daß Gregor der Große aus Beicheidenheit aus
Nom geflohen fei, um der Bapitwürde zu entgehn, oder daß der
beilige Zoo ein Buch zum Kopfkiſſen nahm, um immer wad)-
bereit zu bleiben. Aber im ftillen hing id} jo gläubig wie irgend-
ein Katholik an diefen Wundergeſchichten und dachte oft und lange
über bie Sentenzen nad), die darin vorfamen, zum Beilpiel: Wer
Gott für ſich Hat, verwirkt nichts. Wenn ich mir überlege, was
mir bis zum heutigen Tage die Freude an den Legenden friſch
erhalten bat, fo ift e8 die anziehende Miſchung von leicht glaub-
baren und beutlichen Gejchehnifien des Ulltaglebeng mit wunder⸗
baren großen KRundgebungen der unbegreiflihen Mächte bes
Himmeld. Es gibt Begebenheiten, in denen ſich die ganze Welt
zu offenbaren fcheint. Und diefe gehören dazu.
Bon dem, was dad Leben wirklich ausmacht, wußte ich aber
damals fo wenig, daß ih mir im NRüdblid auf jene Zeit wie
einer vorlam, der am Strome bingeht, in den andre unter-
tauchen. Dagegen fühlte ich mich in Leben der Natur immer
heimischer. Da ſchwamm ich immer weiter hinaus. Kaum ver-
ging eine Woche, daß ich nicht eine neue Entdedung machte. Ich
meine damit weniger den Nachweis neuer Standorte von Pflanzen
und dergleihen, auf die man oft noch in ſpätern Jahren ftolz
ift, als etwa den erften Blick auf die Stelle, wo ein etwas
zafcherer Bach, auf defien Boden weiße Kiefel wie unter Glas
lagen, in ein breitere Flüßchen mündete, deſſen jumpfige Ufer
dicht von Pfeilkraut und Kalmus umftanden waren. Sie blieb
mir geheimnisvoll und unbefchreiblid interefjant vom erften Er-
bliden an und iſt e8 durch meine ganze Jugend geblieben. Der
Bah kam aus einem Walde, der fich weit Hinzog, und der mir,
da ich ihn damals nie betreten hatte, der Inbegriff von Übe,
Einfamteit, Wildheit war. Als ih ihn nun zum erftenmal be-
trat, fah ich gleich am Rande eine hohe Epipaktis, die ftolze braun
30 Glüdsinfeln und Träume
— ELLE — ⸗— 8ü —7s—
rot blühende Orchidee im Schatten alter Buchen ſtehn. Warum
auch dieſes Bild mich ſo ergriff, daß es noch heute klar in meiner
Erinnerung ſteht, weiß ich nicht. Doch verftand ich von da an
da8 Geheimnis der blauen Blume vom Grunde aus. Wanderte
ich nach folchen reichen Stunden mit gefüllter Pflanzenkapſel heim-
wärts, mit Vorliebe auf einfamen Wiefenwegen, und alles ruhte bi3
auf die weißen Wollen, die, ununterbrochen ſich vertvandelnd, über
mir mitzogen, fo wäre ich ganz glücklich gewejen, wenn nicht der
Hochmut, ſich jo allein freuen, jo „ſelbſt fein“ zu können, ſich geregt,
eitle Gedanken gewedt Hätte, die ich zurüddrängen mußte.
Dinge, die da8 Gemüt angehn, beiprad man bei ung zus
hauſe nicht, Gefühle Hatten in den gewöhnlichen Zeiten feine
Worte. Es erinnerte mich an den tiefen Brunnen eines hoch⸗
gelegnen Dorfes über der Tauber, an dem ich an einem Glut⸗
tage vorbeifam; ich ging mit Leuten, die Kübel und Kannen
trugen, den rauen Weg hinauf. Warum ſchöpft ihr nicht Waſſer
aus dem Brunnen? Sie antworteten: Aus dem darf nur geihöpft
werden, wenn die Not groß ift, Ihr ſeht, daB er verſchloſſen ift.
Sch erinnere mich, daß mich fehr oft der Wunſch tief innerlich
bewegte, meinen Eltern eiwas Liebeß zu jagen. Uber über den
Reujahrswunfd und den Wunſch zum Geburtötage hinaus gab
es nichts. Dieſes Bebürfnis nahm fonderbare Geftalten an.
Bir durften unfre Eltern mit Du anreden, wir hörten aber Die
Anrede „Sie* bei Belannten, und ich bildete mir ein, daß ich
fie lieber gebrauchte, hätte e8 auch verfucht, wenn ich mich nicht
geichämt hätte. Nicht als ob ich meine Eltern höher ehren wollte,
fondern weil mir dieſe Anſprache edler vorfam. Empfindfame
Kinder leiden gewiß oft ſchwer unter dem Mangel der Aus⸗
ſprache. Das Abſchiednehmen war mir bei uns nicht traurig,
ed ging nichts von dem Turzen Lebewohlſagen und Händebrud in
mein inneres; aber der Moment des Alleinjeind danach ergriff
mich tief.” Es kam mir dann jedesmal der Gedanke: Wie, wenn
nnn Vater oder Mutter in beiner Abweſenheit wegſtürbe? Es
war doch fo gut wie fein Abfchied, den du genommen haft.
Dft dauerte e8 Tage, bis ich über dieſe trüben Gedanken weg⸗
fam, indem id) fagte: Man kann fid) doch nicht bei jeder Ent-
fernung fürß Leben verabichieden. Immerhin. hat diefe Abhärtung
den Borzug gehabt, dag wir nie Sentimentalität für etwas Ver⸗
bienftliches, wohl gar Geheiligtes hielten.
Da ich in einer engen Welt aufgewachſen war und mid) in
ihr immer mehr auf mich ſelbſt konzentriert hatte, war ich den
2. Knabenjahre 31
III — — EEE — ö— — —— NDR DE BILD LE —
Forderungen des äußern Lebens in keiner Weiſe gewachſen.
Unter ſolchen Umſtänden wird eigner Sinn Eigenſinn, eigner
Wille Eigenwille, und die Vorurteile ſchießen viel raſcher ins
Kraut als die Urteile. In ſelbſtgerechter Härte verurteilte
ich vieles, was ich nicht erfahren hatte, und begab mich aber
dann doch mit der Ruhe der Unerfahrenheit in jede neue Lage.
Die Unruhe kam immer erſt, wenn ich es anders fand, als ich
gehofft hatte, und immer fand ich es anders. So brachte jede
Veränderung eine Erſchütterung in mir hervor, denn ich war
eigentlich geneigt, alles, was ich kannte und ſah, ſo aufzufaſſen,
als ob es immer fo geweſen ſei und fo bleiben müfje.
Es war ein entihiedner Mangel der Erziehung in unjern
Heinern Bürgerfreifen, daß die Kinder nicht einen Fonds von
Lebendregeln, ich möchte jagen, von Rezepten, wie man fich in
beitimmten Zällen zu verhalten Habe, mitbelamen. Das ſchwach
entwidelte gejellichaftliche Leben lief es an Übung im freien Ber-
fehr mit Älteren, Höbergeftellten und Damen fehlen. Selbſt⸗
bewußte Naturen bilden fich zuleßt ihre Geſetze. Auch ich ar-
beitete mich aus dem Gewirr von Scheu und Stolz etwas heraus,
da8 mich am friichen Ausſchreiten hinderte, aber ich bin erit viel
fpäter, als id „etwaß“ geworden war, ganz die nublojen ver-
jpäteten Selbftuorwürfe wegen Blößen loßgetvorden, die ich mir
gegeben zu haben glaubte. Es war ein großer Fehler, dab ſich
meine Entwidlung früh aud) in gejellfchaftlichen Dingen nad):
inmen wandte Weil id) an einem wichtigen Wendepunfte mit
mir jelbft fertig geworben war, glaubte ich beftimmt, den rich⸗
tigen Weg auch im Verkehr mit andern finden zu können. Darin.
irrte ich aber fehr.
ar
5. Heimweh
Ja, ein Weh gibts, das man nicht ertrüge,
Wenn es nicht fein eignes Maß zerbräche.
Friedrich Hebbel
1
Ich liebe zwar ſehr den Quarkkuchen und habe ihn geliebt,
folange ich denken Tann, aber es ging heute nicht vecht vorwärts
damit. Ich Hatte mir vorgenommen, drei Stüde davon zu effen,
nun war ich no am erften. Die Billen waren fo fonderbar
ſchwer, ihre Süße jo aufdringlich, fait anwidernd, und fie Schienen
im Munde zu wachſen. Ich hatte, als man den Kuchen berein-
trug, wie immer, das herrliche Träftige Braun feiner Oberfläche,
in dem eine verborgne Glut ift, und als man ihn anſchnitt, das
bfühbende Gelb feiner Innenfeite bewundert, aus dem purpur-
ſchwarze Rofinen fröhlich herauszwinkerten. Jedesmal, wenn id
einen ſolchen Kuchen ſehe, muß ich an koſtbare Orchideen denken,
bei denen eine ähnliche Kombination von tiefen, fatten Yarben
um Braun und Gelb herum vorfommt. Der Vanillegeruch mag
Dazu beitragen. Die VBanillefchote fommt ja von Orchideen. Heute
vermochte ic) gar nit fo weit hinauszudenken. Ich hatte viel-
mehr eine Bifion ausſchließlich in die Höhe: daß grautapezierte
Zimmer, worin ich ftand, hatte feine Dede verloren, feine Wände
waren ungeheuer weit nad) oben gewachfen, die blauen Wellen⸗
linien darauf fchlängelten fich ind Unendliche hinaus und brachen
endlich nadt wie Drähte in der Luft ab, ich kam mir wie in
einem Schornftein vor, der oben nicht ganz fertig ift; und richtig,
nun fchauten auch von ganz weit oben ber die Sterne herein,
von denen ich gelejen Hatte, daß man fie bei Tage durch einen
Schornſtein erblide. Se höher das Zimmer wurde, deito lang⸗
jamer ging es mit dem Quarkkuchen. Dieje Viſion ſchnürte mein
ganzes Sch und damit natürlich auch meine Kehle zufammen. War
es ein Wunder, daß mir plößlich zwei heiße Tränen über Die
3. Beimweh 33
— ———— — — — LH DD LEE — —
Wangen liefen, da ich fühlte, wie ich immer länger und ſchmäler
wurde? Es legte ſich mir jetzt auch eine ſonderbare Schwere
auf die Bruſt und den Leib, und ich dachte: So mag es einem
naſſen Handtuche fein, das von den kraͤftigen Händen einer Waſch⸗
frau ausgewunden wird. Da meine Wangen jugendlich gewölbt
waren, floſſen die Tränen mit ſtarkem Gefäll ab, ſie fanden zum
Glück keine Höhlungen, wo ſie verweilen, und keine Bartſtoppeln,
an denen ſie Tautropfen ſpielen konnten; es gelang mir, ſie mit
dem Reſtchen Kuchen, das ich gerade in der Hand trug, aufzu⸗
halten, und dieſer letzte Biſſen, ſeltſam zu ſagen, ſchmeckte mir
beſſer als die andern. Das hing wahrſcheinlich damit zuſammen,
daß mir gerade eben die Erinnerung an einen Satz kam, den
ich irgendwo in einem Heldenbuche geleſen hatte: er verbiß den
Schmerz, ſchluckte die Tränen hinunter und nahm ſich vor, den
Kampf mit dem Leben mutig aufzunehmen. Dem wollte id) nach⸗
leben, und zunädjt gelang mir der erfte Schritt: das Salz meiner
Tränen wohlichmedend zu finden.
Ich ſtand an einen eifernen Ofen gelehnt, der an dem warmen
Herbittag eine wohltuende Kühle abgab und Träftig nach altem
Rauche roch. Beides empfand ich als Stärkung meines Entſchluſſes.
Sn der andern Ede des niedern grauen Zimmers jaßen auf dem
Lederjofa meine Eltern, und ihnen gegenüber ein älterer Herr mit
fhraubenförmiger Hausmüte auf den filbergrauen Löckchen, und
eine alte Dame, in deren Geficht mir nur die drei Erhebungen
der Badenfnochen und der Nafe auffielen, die fait in einer Linie
lagen. Es ſchien mir eine erwünfchte Ablenkung von der uner-
ſprießlichen Vertiefung in die Züge diefer Dame zu fein, ihr
Geſicht als Landkarte aufzufaffen, auß der der Hohentwiel, der
Hohenitoffel und der Hohenhöwen als drei markante Erhebungen
herauswuchſen, während der ziemlich breite Mund mit einem
Bahn, den man Mainau oder Reichenau nennen konnte, den
Bodenjee vertrat. Die vier Leute waren offenbar in großer
Verlegenheit. Die lieben faltigen Züge meiner Mutter fchim-
merten von Tränen, mein Vater fchaute ernit, faft grimmig drein,
noch erniter, wenn fein Blick auf mic) fiel, während meiner Mutter,
wenn fie mich anjchaute, eine ſolche Miſchung von Heiterjeinmwollen
und Bilflofem Schmerg im Geficht ftand, wie ich nie etwas gejehen
hatte. Beide hatten noch ihr erftes Stüd Kuchen auf dem Teller,
meine Mutter hatte noch nicht ihr Glas des zmeifelhaft gelblich-
rötliden Weind angerührt, den man in jener Gegend Schieler
nennt. Diejen beiden Menſchen war es offenbar geradeſo unbe-
Rayel, Slüdsinieln unb Träume 8
34 Glädsinfeln und Träume
haglich zumute wie mir ſelbſt. Vergeblich wollte mic) der rea⸗
Liftiihe Gnom, der alles fehende Portier am Tor meiner Seele,
darüber täufchen, der mid) hieß, doch die Zuſammenſetzung der
ſchraubenförmigen Hausmütze des alten Herrn aus Feilfürmigen
gelben und grauen QTuchfleden näher zu erwägen. ch verfuchte
es, aber die Augen flimmerten, und der lang zurüdgehaltne Drud
auf der Bruft machte fid) in einem lauten Seufzer Luft, dem
neue Tränen folgten.
Fritz, gehn Sie einmal hinüber in die Apotheke, ſchaun Sie
fi) um, es iſt ganz interefiant, hörte ich eine Stimme aus ber
Tiefe des Bodenfees. ch folgte der Aufforderung, Doch zögernd,
nicht aus gnomiſchem Zweifel an der Intereſſantheit dieſer Um⸗
welt, ſondern weil ich deutlich fühlte, es halte mich ein Band an die
alte Frau, die dort weinend in die Sofaecke zuſammengeſunken
war; es mußte reißen, wenn ſich die Tür zwiſchen uns ſchloß.
Ich hatte die Hand auf der Türklinke, da ließ das Band ſich
nicht weiter dehnen, ich fühlte, daß es in dieſem Augenblick kein
höheres Glück für mich gab, als meine Tränen mit denen meines
alten Mütterchens zu miſchen, und als dürfte ich dieſes Glück
nicht von mir ſtoßen. In einem Augenblick lag ich dort vor dem
Sofa, das Geſicht auf ihren Knien, und aller Schmerz war weg,
als ich dieſe lieben Hände fühlte, die fi) an Wangen und Ohren
überzeugten, daß ich es ſei. Ich glaubte auch einen Augenblid
die [were Hand meines Vaterd auf meinem Haupte zu fühlen,
die ich wohl kannte; aber fie zog ſich raſch wieder zurüd. Ich
dachte nichts als: nicht von bier weggehn, beilammen bleiben,
ſo Iniend oder kauernd, felbft Hundeartig unter dem Sofa, nur
bleiben. Es dauerte aber leider doch nicht lange, da ftand ich
wieder aufredht, mein Water und meine Mutter hielten meine
Hände in den ihren, die Schraube und die Landfarte waren
verſchwunden, ich weinte nicht mehr, doch war es mir viel weher
zumute, fo wie wenn man das Wort: Ich meinte, ich müßte
vergehn, wörtlich nimmt. ch hörte Ermahnungen und veriprad,,
was man wollte, aber in meinem Innern wunderte ich mich,
wann ich eigentlich vergehn, verfinken jollte.
* %
>
Unjer Land beiteht aus gelblichem Keuperjanditein, der ziem-
li weich, und aus fchiefrigem Ton, der jehr weich ift; deshalb
jteigt man beftändig rundliche Hügel hinan, die nicht ſehr hoch,
3. Beimweh 35
und breite Mulden Hinab, die nicht fehr tief find. In den
Mulden gehn ftille Bäche unter Erlen über grüne, mwohldrainierte
Wiefen, an ihnen ziehn ſich Dörfchen von mäßiger Größe hin,
an den Hängen liegen die Felder, und oben jtehn dunkle Wälder
mit ganz geraden Rändern. Es iſt eine weiche, liebliche Welt,
für den Menjchen wie gemacht, dem fie feine großen Beſchwerden
entgegenfeßt, und dieje Welt beiteht wieder aus ebenjovielen Kleinen
Welten, als Dörfer fi um Kirchtürme gefammelt haben, jede
von der andern fo weit entfernt, daß fich die Herren Pfarrer und
andre, die übrige Zeit haben, bequem an jchönen Nachmittagen
beſuchen können. Oben auf den Höhen laufen die bequemen
Zandftraßen, unten in den Tälern die laufchigen Fußwege, Die
diefe Heinen Welten untereinander und mit der meitern Welt
draußen verbinden. An den Landitraßen ftehn große Obſtbaͤume
und längs den Fußwegen an den Bächen Erlen, deren Blätter
faſt ſchwarzgrün und glänzend find, und wo Wege über Wieſen
führen, Heden, die Brombeere und Waldrebe dicht überſponnen
haben. Es liegt in der Natur eines folchen Landes, daß es viele
idylliſche Winkel Hat, und die Menjchen, die fich darin angefiedelt
haben, haben viele Jahrhunderte lang dazu beigetragen, ſolche
Winkel zu begen und zu vermehren. Sie willen, daß das ſchön
ift und wohl tut, reden aber nicht davon; es muß fo fein.
Als ic) unter dem großen Nußbaum oben auf der Höhe
ftand, die die Landſtraße überichreitet, und den grünen Stell-
wagen in einer Staubmwolfe hinunterrollen jah, der meine Eitern
bon mir wegtrug, empfand ich das Menichenfreundliche dieſer
Landſchaft nicht ſogleich, meinte vielmehr zu fühlen, daß dieſes
Hinunterrollen befonders graufam jet. Hätte ich dem Wagen auf
ebner Straße lange nadjfchauen können, wäre die Trennung
feichter gewejen. Aber fo mußte er im Nu in der Mulde dort
unten verichiwinden, man konnte es beredinen; und nun rollte er
wohl fchon in dem Dorfe, deſſen Turmſpitze ich über den Bäumen
noch eben auftauchen ſehe. Aber jchon meinen eriten Blid, als
ih mic wandte, um dem Dorfe zuzujchreiten, das meine Heimat
für Jahre fein follte, traf ein verfühnendes Bild: ein hohes Kreuz
aus Stein, ohne den Gekreuzigten ziwar, aber mit einem Weiheſpruch
auf dem Sockel, und auf dem Rand des Sodels ftand ein weißes
geblumtes Töpfchen mit einem Strauß der Iilafarbnen Heinen
Altern, wie fie in Strichen diefer Gegend im Herbfte blühn. Dieſes
einfache Kreuz mit feinem frommen Sprudy und der beicheiden
Ichönen Opfergabe irgendeines kindlichen Gemütd machte damals
3*
36 Glädsinfeln und Träume
einen großen Eindrud auf mich, und auch heute noch fteht es in
meiner Erinnerung als ein Sinnbild der Erhabenheit eines einfachen
Glaubens, der nicht viel Schmud und Farbe nötig hat. Auf der
andern Seite des Weged ging e8 eben in einen Kleinen GStein-
bruch hinein, wo fchöne gelbe Platten lagen. Ich ſetzte mich fo,
daß kein Vorübergehender mid) ſehen fonnte, während mir ber
Blick in den Weften offen war, wo eben die Sonne an einem
ganz reinen Horizont Abichied nahm. Nur mildes Gold färbte
den Abendhimmel, e8 war fein Sonnenuntergang mit Feuerwerk.
Und fo färbte ſich nun auch das blaue Gewölbe über mir weißlich,
und die Wälder und Die Felder wurden langſam bläfler und dann
ſchattenhaft und dunkler, ohne daß es doch eigentlich gebämmert
Hätte. Es war faft mehr Sonnenaufgangd- als Sonnenunter-
gangsftimmung, wie fie eben an jchönen GHerbftabenden manchmal
zu ericheinen pflegt.
Ich wüßte heute nicht zu jagen, was daran mit der Stim-
mung in meinem Innern barmonierte. Den beißen Augen und
Wangen mag die ftille Abendluft wohl getan haben, die allmählich
tühler wurde, und daß die Nacht jo zögernd kam, mag als Hinaus⸗
dehnen dieſes Tages gefühlt worden fein, denn der morgen kom⸗
mende war ja der erfte in der Fremde
2
Der erite Abend in einem fremden Hauſe gehört für ein
junge Gemüt zu den gebeimnisreichiten Erlebniffen. Was mag
alles in diefem Dunkel liegen, das zuerft aus Büſchen und Baum⸗
tronen berüberichaut, dann ind Haus fommt, immer dichter Durch
Gänge und Türen zieht und durd) die offnen Fenſter in breiten
Mafien aus dem frühen Herbftabend hereinfließt? Wenn biefes
junge Gemüt wund ift, gibt es nicht8 Lindernderes als den Schleier,
in den ſich Abends die fremde Welt hüllt, denn er legt eine Wand
um da8 Gemüt; die Fremde bleibt draußen, fie berührt mid)
nicht mehr, fie läßt mich endlich, endlid allein mit mir. Wie
fühlt das die Augen, fo weit offen in ein Dunkel zu jchauen,
wie ſchwinden die Entfernungen, die mich von den Lieben trennen,
wenn alles das Nächſte und Nahe hinuntergeſunken ift, das ſich
fonft zwiſchen uns drängt!
Heimweh! Wer dich nicht kennt, wie vermöchte der die Tiefe
der Schmerzen zu erfafien, die du bringft? Unmöglid Tann er
fich eine Borftellung von dir machen, jo wenig, wie fid) jemand die
N Ne ,1uw
3. Beimmeh 37
Liebe „einbilden* Tann, der fie nicht erlebt hat. Heute, wo lange,
lange mein Heimweh hinter mir liegt, unter foviel andern Lebens⸗
erfahrungen faft begraben, freue ich mich, auch dieſes Leiden durch⸗
gemacht zu haben. Wohl ift diefe Freude feine jtolze Freude,
denn, um offen zu fein, befiegt habe ich das Heimweh nicht, e3
verließ mich einfach eined Tages, ald es meine Seele wie ein
Bampir ausgeſogen hatte; aber diefer Tag leuchtet wie ein ewiger
Sonnenaufgang in mein Leben, und daß frohe Licht feiner Er-
innerung wird mir nie verblaſſen.
Ich bin niemald tränenreich geweſen, aber weiß der Himmel,
wie es kam, ich hatte damals trocknen Auges beftändig das Ge⸗
fühl zu weinen, doch ging dieſes Weinen nad) innen, und mein
ganzes Wejen wurde vertränt. Mein Auge blidte trüb, Die Welt lag
fo fonderbar bläulich, jo einförmig und einfarbig vor mir, jie war
mir jo gleichgiltig, ich fam mir wie in Waſſer gejeht vor. Wenn
ich ſprechen jollte, legte fi) mir ein eiſerner Ring in die Kehle.
Ich konnte jedoch handeln, und da mid) mein junger Beruf dazu
zwang, wurde ich glüdlicherweife jeden Augenblid inne, daß ich
noch ein Menſch von Fleiſch und Bein, fein tränendurdhjeuchtetes
Geſpenſt fei. Ich richtete nun mein Leben jo ein, daB es von
Morgen bis Abend in demfjelben Rahmen und denfelben Zeit-
abſchnitten dahinfloß wie das meiner Lieben in der Heimat. So
weit e3 möglich war, begleitete ich fie im Geift zu allen Genüſſen
und Arbeiten des täglichen Lebens, ftand mit ihnen auf und ſetzte
mich mit ihnen zu Tijche, weilte in ihren Zimmern und wandelte
in ihrem Garten. Ich begann nicht, ohne fie im Geift zu fragen,
und vollendete nicht3, ohne es ihnen in Gedanken vorzuitellen
und mich ihres Urteil3 zu freuen. Wenn etwas von Weſten
herüberhallte, Hang e8 mir wie ein Gruß, ich Horchte den ganzen
Tag in ihrer Richtung hinaus und ließ Gedanken über Gedanken
in den Abendhimmel fteigen. Dabei machte ich eine jonderbare
Erfahrung. Sch hatte nie gewußt, wie müde die weithin hallenden
Zöne in foldem Wellenlande Klingen. Der Weſtwind trug auß
dem Hardtwald dann und warn einen Schuß herüber, der dem
Reh, das er traf, ſcharf ins Ohr geflungen haben mochte; zu
mir kam er verhallend, fat verhauchend, wobei mid) die ver-
hallende Melodie eines alten Liedes umjummte: Vom Eichenwald
die Stimme ſchallt, fo fern, jo fern, jo fern. Und fo flog da3
Raſſeln der Eifenbahn, auf deren Lokomotive ſich meine Gedanken
ſchwangen, um fie immer und immer wieder heimwärts zu lenken,
wie eine Kette von müden Windftößen widermwillig Hoch durch die
38 Glüdsinfeln und Träume
al
Zuft, und jeder Raubvogelruf Hang wie ein Klagen. Nahrung
für mih! Das Fädlein Fremdſein und Alleinſein fand kein Ende;
ich ſpann zu allen ruhigen Stunden daran fort, e8 war ein büjter-
ſchönes Gefallen an dieſem planlojen Bhantafieren, das mid) jelbft
immer tiefer einjpann und alle Menichen um mich ber Draußen
fieß, während dieſelben Füden, Die ich mir ums Haupt zog, Die
Bäume und die Pflanzen, die Wollen und die Sterne mit um⸗
ſpannen und an mich heranzogen. Diejes willkürliche Ausſondern
des Nahen und Heranziehen bed Fernen, dieſes Bergejellichaften
und Befreunden mit einer fernen reichen Welt war nun im Grunde
doch nur ein beichönigendes Außftaffieren der jelbftgewollten Ein-
famfeit. Aber es war immerhin ein Sichverbinden mit einer
lebendigen Wirklichkeit, dad mir manchmal das Gefühl eineß un-
erihöpflichen Reichtum gab. Ich ahmte den jungen Wordsworth
nad, von dem ich einmal gelejen hatte, er habe in feiner träume
riſchen Periode eine ſolche Kraft des Sichhinausverſetzens aus
der Wirklichkeit gehabt, daß er auf Spaziergängen plößlich einen
Baum umarmte babe, um fich zu verfiddern, daß er noch in der
Welt ſei. Das gelbe Blatt, das mir durch die Herbſtluft zu-
ichwebte, fagte: Siehe die reihe Welt um Dich ber, öffne beine
Geele, fie ijt dein.
Die Welt war in dieſer Zeit voller Wunder für mich, und
ich hätte infofern glücklich jein Lönnen, als ic) jede halbe Stunde
einen Schatz heben konnte. Jedes jpäte verfümmerte Gänfe-
blümdjen am Wege, jedes verwehte Herbftblatt, das einen roten
Fleck trug, jchien mir zu jagen: ch bin für dich da, ftaune mid
an, pflüde mich, trage mid) in deine Schaplammer. Soldyer
Wunderglaube ift nur für den, der ihn hegt, und wehe ihm,
wenn er Runde davon über den engften Bereich feines Seelen-
lebend gelangen läßt. Als einft ein Glas hellgelben Weines
vor mir ftand, bei defien Eriftallnem Glanz mich der Gedanke
befiel, ob das wohl diefelbe Farbe und dasſelbe Licht fei, Die
ber liebe Gott in den Topas gelegt bat, bob ich daß Glas, um
dieſes Feuer gleihfam mit den Augen zu jchlürfen. Uber raſch
jegte ich e8 nieder, ald die Stimme der Schraube jcheltend über
den Tiih Hang: Der Wein ift Dir wohl nicht gut genug, Daß
du ihn fo zweifelnd anſchauſt? Bweifel, o Gott! Nichts war
mir in dieſem Augenblick ferner als Zweifel; danken hatte ich
dem lieben Gott wollen, daß er etwas jo Schönes geſchaffen bat.
Aber ich konnte davon nicht? verlauten laſſen, mußte ſchweigen.
Und da mir nun Das Herz in der Kehle fchlug, brachte ich
3. Heimweh 39
feinen Tropfen Hinunter, was mir nun erſt vecht übel gedeutet
wurde. Und fo kam e8, daß ich zum Dank für mein Anſtaunen
des Wunders des Schöpfers im gelben hellen Wein längere Zeit
feinen Wein mehr zu jehen befam. Ich Hatte, wenn die andern
ihre Släfer leerten, Beit, Darüber nachzudenken, daß fidh der Ur-
vater Noah einer lebhaftern Anerkennung feiner Weinfrende
erfreut hatte als ih, und da ich gerade von dem Nachteil ge-
lefen batte, worin die Epigonen gegenüber den Borfahren zu
fein pflegten, fühlte ich mid) al8 Epigone, fand Wort und Stellung
ſchön und ſog daraus Troft für „entgangnen“ Genuß der Kriftall-
belle de Weines. Wie, Dachte ih, wenn ich nun exit Der
Schraube jagen würde, ich verzichtete gern darauf, Den Wein zu
trinfen, wenn man mir erlaubte, mich nur an feiner Farbe zu
erfreuen wie an einem glänzenden Kriftall? Sch glaube, fie
hätten mich für einen Narren gehalten.
Es war ein feltiames Doppeltleben, von dem ich zwar recht
wohl fühlte, daß es, wie alle Doppeltjelige, nicht beftimmt war
zu dauern, in dag ich mid) aber für den Augenblid um fo tiefer
einzufpinnen ftrebte. Es war eine höchſt umbillige, ja eine un⸗
kluge Teilung meines Innern: das Befte an die Ferne, den trüben
Reit an die Nähe. In dieſem Wlter iſt das Gefühl der Pflicht
ſchwach entwidelt, jonft hätte dieſe fi einer ſolchen Teilung
widerjeßen müſſen. Aber jo kam es, daß ich alles tiefe Fühlen
und alles Mitdenfen und Miterleben mit Seelenanteil der Heimat
borbehielt, mit allem mechanifchen Tun, aller Handwerksmäßigkeit,
allem Auswendiggelernten meine nächte Umgebung abfpeifte. Die
ganze Liebe ind Erinnern, jodaß für dad Tun des Tages nichts
mehr übrig blieb: das war die kurzſichtige und jelbitzeritörende
Lofung, die der Gegenwart gleihjfam das Blut entzog, um ed
einem Schatten zu opfern, der dadurch doch Fein Gegenwarts⸗
leben gewinnen konnte. Welche Torheit, dieſes Auswandern der
Seele, die mit Schatten in der Ferne Lebt, während fi) die Gegen-
wart entjeelt, blutleer, entihlußarm hinſchleppt. Es ift eigentlich
ein Spielen mit dem Beiten des Lebens.
Das „Wer nie fein Brot mit Tränen aß“ ergreift mich,
wenn ich es leſe oder höre, heute wie am eriten Tag und wird
nie feine Wirkung verlieren. Doc meine ich, wenn ein Dichter
das Elendgefühl gejungen hätte, dad und vor dem Tageslicht
bangen, das ung den Morgen verwünfchen und die Nacht ſegnen
madt, dad uns darım das Verlafien des Lagers wie ein Hinaus⸗
treten aus warmer ſchũtzender Hütte in einen ftürmenden Wald
40 Glädsinfeln und Träume
—Nif
voll Widerwaärtigkeiten und Gefahren fürchten läßt, er würde aus
der Tiefe von noch viel mehr Herzen herausgeſprochen haben und
bon noch viel mehr verftanden worden fein. Dort hängen bie
Kleider, fieh fie nicht an, du haft e8 aufgegeben, andern Menfchen
zu begegnen; hier liegt die angefangne Arbeit, berühre dieſen
Siſyphusſtein nicht, er wird zurüdrollen, wie du ihn auch be=
wegft; die Bücher fchlage nicht auf, fie wollen dich deine Lage
vergeſſen machen, und du fühlft Dich Doch nur ficher, jo lange fie
dic) umgibt; vor allem aber trete nicht vor den Spiegel, der dich
höhnend daran erinnert, daß und wie du wirklich bift, und du
möchteft doch alles vergefien, was dich angeht, möchteft nicht
wirklich und jedenfalls jo nicht wirklich fein. Es gibt fein Heil
als da8 Bett, wo du dem Schidjal die Eleinfte Angriffsfläcdhe
bieteft; e8 find Augenblide, wo du dich nicht einmal zu ftreden
wagft; gekrümmt zu liegen, die Dede über die Augen gezogen, das
gibt das lebte Gefühl von Sicherheit.
3
Eine alte Landapothele war noch nad) der Mitte des ver-
gangnen Jahrhunderts eine der altertümlichiten und baroditen
Einrichtungen weit und breit. Diele von den SHerrichaftsfiken,
deren es in unfrer Landſchaft jehr viele gibt, waren im Ver⸗
gleich damit modern. An und für fidh ift eine Apothefe ein buntes
Wirrwarr von Büchſen und Gläfern, Kiften und Flaſchen, und
der hundertfältige Inhalt zahllofer Gefäße befteht bald aus uralten
Pflanzen» oder Tierftoffen, nach denen fein vernünftiger Menſch
mehr fragt, bald aus den modernften Präparaten, die tödliche
Eigenſchaften Hinter dem reinlichften Vorhemd bergen. Die
Ihwarzen Totenköpfe, die auf viele von diefen Behältern gemalt
find, die Aufichriften Gift! und Vorficht! vermehren die Schauer,
die in den Räumen der Apothelen walten. Rum war aber damals
eine Zeit, in Die noch die obfoleteften Arzneimittel der Zeit Der
Goldmadher und Wunderboftoren hineinreihten. Man zeigte mir
in einem alten irdnen Topfe von der plumpften Geftalt braune
Erdftüde mit anhängenden Leinwandfetzen als Mumia vera, und
in einem lavendelgefüllten Glaſe ftedte eine weißbäudjige Eidechſe,
troden wie Papier, Scincus marinus; aud) Hechtfiefer und Keller⸗
affeln waren in Glaͤſern aufgeftellt. Man zeigte mir lachend ge⸗
trodnete Schlammhäufchen von der Straße, die mit geſchmolznem
Schwefel dünn überſtrichen waren, und nannte fie Sulfur cabal-
3. Beimweh 41
linum, Roßſchwefel; früher hatte diefen Namen eine unreine, billige
Schwefeljorte getragen, und da es jegt nur reinen Schwefel zu
faufen gab, fam man auf dieje billige Art der fortdauernden
Nachfrage nach unreinem Schwefel nad). Der Schinder verkaufte
uns das halbflüſſige grauliche Hundefett, Abfall der Hundebraten,
die er ſich ſchmecken ließ, und wir befriedigten damit den Wunfch
der Bauern nad) Armefünderfett, Menfchenfett, Affenfett, Katzen⸗
fett, Bärenfett. In ftaubigen Winkeln jtanden Windöfen und Re⸗
torten, in denen vielleicht einft der Stein der Weifen geglüht oder
die Muttertinktur aller Heilfäfte zum Lebenselirier Digeriert, gekocht
und deftilliert worden war. Täglich wurde geftoßen, gerieben,
gehadt, gejchnitten. An einem der erſten Zage wurde Benzoe⸗
fäure ſublimiert: man erhigte köſtlich riechendes Benzoeharz in
einem eifernen Topfe, dem ein Hut aus Bapier aufgeklebt war,
in deſſen Innerm nad dem Erkalten fich ein dichter Schnee von
feidenglänzenden Rriftallen angejeßt hatte. Manchmal wurde ein
großer Windofen ins Freie getragen, mo dann übelriechende Safe
entwidelt oder Stoffe hergeftellt wurden, deren Bereitung mit
Explofionsgefahr verbunden war. Dazwiſchen durch wurden bie
Arzneien bereitet, wie die Rezepte der Arzte verlangten, viele
duch Kochen, in einige famen höchſt Eoftbare Stoffe, in mandje
Gifte, bei deren Handhabung und Abwägung die größte Vorficht
nötig war. An jonnigen Tagen wurden große „Hürden“ mit
frifden Blättern, Blüten und Wurzeln, die trodnen follten, ins
Freie getragen. Es war ein beftändiged Regen und Tun. Und
da dieſes alle ganz auf das Wohlfein der Menſchen gerichtet
war, hätte man glauben follen, e8 wäre ein höchſt ideales be-
geifterndes Tun geweſen. D nein! Es ſchwebte vielmehr eine
Miſchung von Geichäftsmäßigfeit und Sronte darüber. Der Apo-
thefer hat das Gefühl, dem Arzt über die Schulter zu fehen, hat
er fih doch in langjährigem Verkehr mit den Kranken ſelbſt eine
gewiſſe Kenntnis von ben Übeln erworben, die mit feinen Arzneien
geheilt werden jollen, und er iſt von der völligen Bedeutungs-
Iofigfeit vieler Verfchreibungen vollfommen überzeugt. Kleine Übel
furiert er ſelbſt, und hauptfächlich ift er immer bereit, an ich
jelbft mit felbftbereiteten Mitteln zu doftern. irgendeine Mixtur
ad libitum zuſammenzuſetzen und zu foften, wird ihm Bedürfnis,
und er läuft Gefahr, zunehmend mehr Alkohol dazu zu verwenden.
Man erzählt ſich mythiſche Geſchichten von Upothelern, die ihren
eignen Alkoholvorrat bi8 zum Seifenſpiritus und noch übler
jchmedenden geiftigen @etränfen außgeleert haben. Doch weg
42 Glüdsinfeln und Träume
En
damit! Lieber will ich mid) an eine eigentümliche Art von Poeſie
erinnern, die dieſes geichäftige Treiben mit kleinen und zum Teil
nichtigen Dingen gleihjam an den äußerſten Rändern umwitterte,
glikernd mit fpielendem Licht anftrahlte. Ich meine die Poeſie
der Wichtigtuerei.. Wenn ih ein paar Jahre fpäter auf der
Kafernenfenfterbrüftung ſaß und meinen Fafchinenmeflergurt mit
Schmierlad polierte, daß man fi in dem Lederriemen fpiegeln
fonnte, Hatte ich dasſelbe Gefühl von Liebe, die man in etwas
Unbedeutendes bineinlegt, das man vor fid) erhebt, biß es bedeutend
wird; Dann ftrebt eine lebendige Faſer aus unſerm eignen Weſen
zu diefem Ding hinüber, und auß ihm ſenkt fi) eine ähnliche
in unjer Herz, umd wir hängen dieſes Herz an einen Ledergurt
oder einen Meſſingknopf oder nun gar an den Winkel zwiſchen
Fuß und Knöchel beim Parademarſch. Welcher Tau, welcher
Segen in dieſem Sichverbinden mit ſo kleinen Dingen, das in
Wirklichkeit ein Sichverbünden gegen die Proſa der Alltäglichkeit
iſt. Wenn wir grünliches Chlorgas beftillierten und alles rings⸗
umber ſich die Naſe zubielt, und der blauhändige Färber, unfer
Nachbar, von jenfeit? der Hofmauer rief: Nächſtens Trepiert mein
Schwein von euerm Geſtank! da ſchwollen unjre Herzen. Es ift
wahr, e8 riecht fchlecht, es verurſacht Huftenreiz, aber es ijt Chlor!
Wie das ſchon Hingt! Und wir huſteten und fühlten unjre Augen
brennen; aber nur nicht lagen, fondern mit ernfter Würde wieber-
holen: Ehlor! Dörflide Einſamkeit ift gerade der rechte Boden
für das Gedeihen dieſes beſcheidnen Gewächſes. Im Winter,
wenn tiefer Schnee den Verkehr auf das allernotwendigſte be⸗
ſchränkte, die weite Welt wie verſchlafen unter ihrer Decke lag,
und wir und mit Muße dem Deſtillieren und Sublimieren im
qualmenden Laboratorium, genannt Hexenküche, hingeben konnten,
kam etwas von aldimiftifcher Stimmung über und. Gold oder
den Stein der Weifen machen zu wollen, dafür waren wir ja
zu aufgellärt; aber wenn die Deftillation irgendeined befannten
Stoffes gelang, fahen wir in jedem Tropfen, der in bie Phiole
fiel, „da8 Werk, das gelungen,“ und e8 wurde und weiter um
die Bruſt.
Wohl waren das Lichtblide, die durch weite Streden bon
Noutinearbeit getrennt waren; man ftieg bis zur SHerftellung
einer flüjfigen Stiefelwichſe Hinab, deren Unzweckmäßigleit dem
fritiihen Geiſte junger Alchimiſten vollftändig Har war, und
fabrizierte ein Tintenpulver, von dem niemand zu jagen wußte,
warum man nicht feine Galläpfel ablochte und feinen Eifenvitriol
3. Heimweh 43
auflöfte, um gleich eine tüchtige ſchwarze Tinte daraus zu machen?
Da aber das liebe Publikum diefe wie viele andre Produbkte
unſrer Offizin bereitwillig aufnahm, fteigerten alle diefe Quack⸗
falbereien und Pfufchereien nur das Gefühl der Wichtigkeit und
Unfehlbarfeit, womit wir und zwiſchen unfern taufend Büchſen
und Flaſchen bewegten.
Man wird erwarten, daß fid) in dieſen Verhältnifien, die
mir foviel Neues brachten, ein ungeheuer lebhafter Briefverfehr
mit den Meinen entwidelt hätte, aber dazu kam es merkwürdiger⸗
weife nicht; denn zu einem Briefwechjel gehören zwei, und wenn
ich auch jchrieb, jo nahm ſich im Elternhauſe niemand die Zeit,
mir mehr zu jchreiben, als in den normalen Beziehungen zwijchen
Sohn und Eltern und Bruder und Geichwiftern natürlich) und
notwendig ſchien. Damals jchrieben fi” nur Berliebte und
Geſchaftsleute Häufig, und die Poftlarte war noch nicht erfunden;
auch koſtete ein Brief auf eine Heine Entfernung ſechs und auf
eine größere neun Kreuzer, und die Groſchen und Sechſer rollten
nicht fo leicht und jo mafjenhaft in der Welt herum wie beut-
zutage. Gerade begann der Lohn des erwadjinen Arbeiter bie
Summe von dreißig Kreuzern zu überfteigen, und ich erinnere
mich noch recht gut, wie Burſchen aus unferm Dorf vom Rhein
zurückkehrten, wo fie Gold gewaſchen hatten; da hörte man, daß
der Rheinſand im beiten Falle vierundziwanzig biß dreißig Kreuzer
Gold bei angeftrengter Tagesarbeit liefere, und daß man nun
mit leichterer Mühe jechdunddreigig durch gewöhnliche Taglöhner-
arbeit gewinne. Sie behaupteten, die Elſaſſer Hätten das Gold⸗
wajchen ſchon viel früher aufgegeben, und nun drohe außerdem
auch noch der Wettbewerb der badilchen Regierung, die in Köln
eine Mafchine zum Goldwaichen bauen laſſe, die unglaubliche
Mengen Sand an einem Tage verarbeiten werde. Ich glaube,
dad war das Ende des Goldwaſchens in Deutfchland überhaupt.
Bon der badiſchen Majchine habe ich nie etwas weitereß gehört,
babe aber manchmal an fie gedacht, wenn ich von andern Leiftungen
der aufgellärten Bureaufratie des „Mufterländleg“ vernahm, Die
immer ihrer Zeit jo weit voraus war.
4
Es war nun Spätherbit, alle Zugvögel hatten uns verlaffen,
nur dürre Blätter flogen am Boden vor den Rovemberwinden
und body oben graue Wollen, deren ftürmijches Ziehen tagelang
44 Glädsinfeln und Träume
fein Ende nahm. Eine verfpätete Biene, ein erftarrter Käfer,
das waren die Lebensipuren draußen. Um fo lebendiger regte
es fich in meinem Innern. Wind und Wetter ftörten mich nicht
in meinen wandernden Gedanken, ftauten fie nur zu größerer
Tiefe auf.
Wenn es regnet, „was vom Simmel bherunterfann,“ wenn
es „mit Bütten jchüttete,” wenn der Wibbold fragte: Iſt denn
Duatember, daß der liebe Herrgott alle feine Stodfifche wäflert?,
wenn die Bäche rechts und linls vom Haufe anſchwollen und
fih ſchlammig gelb färbten, wenn auf die Brüde die Bächlein
bon der Straße Hin und über ihre niebre Mauer weg die Bäche
in den Bad ftürzten, wenn ſich Teine Katze geichweige denn ein
Menſch ind Freie wagte, und der böfefte Hofhund fein Haus
nicht mehr verließ, mochte um ihn palfieren, was da wollte, kurz,
wenn eine neue Sündflut einzubrechen drohte, da fühlten wir uns
zwar abgejchnitten von der Welt, da wurden wir zu Inſulanern,
die ihre wafjerumflutete Insula fortunata in dieſem Augenblick
um Tein Königreich der Welt vertaufchen mochten. Da fing zwar
daß Leben in und um und an zu ebben, aber durch den bünnen
Schleier der Wirklichkeit, die nur allein noch blieb, fchimmerte
es jebt wie von einer andern Welt, die biöher überjehen, über-
hört worden war. Es ift jo ftill, Die Stürme haben und ver-
lafien, die Wollen find fortgezogen, man hört die Zeit verrinmen,
die Sterne fingend ihre Bahn ziehn. Nun kommen die Yroft-
tage, wo ed im Straßenkot wie von Edelfteinen glikert und ftatt
des Taues Neiflriftalle auf den Halmen liegen. Da wird e&
wohl in einer Dezembernacht noch viel ftiller, und man wacht
Morgens von der ungewöhnlihen Ruhe auf, in die die Welt
tief verfunfen zu jein fcheint, wielleicht auch von der Kälte, be-
jonder8 aber von dem jonderbaren Schein, der durch die Fenfter
fält. Das ift ein Schneetag. Die ganze Nacht bat e8 ohne
Aufhören heruntergefchneit, und nun reicht die Straße fat bis
an die Yenfterbrüftungen, und die Dächer find erhöht, der Brunnen
trägt eine weiße Mühe, und jeder Dornzweig ift um einen
Silberftreifen verdoppelt. Nichts ift vergeflen, nicht einmal die
dürren WWegwartftengel, fie leuchten von ihrer weißen Auflage.
Und alle diefe weißen Laften fcheinen den &eräufchen des Tages
bie Hand auf den Mumd zu legen. Nur Licht der Wollen und
leuchtender Schnee, der einförmige, tiefe Himmel um eine dee
grauer als die Erde, Grau und rau, nur Morgens und Abende
bei tiefftehender Sonne lange bläuliche Schatten; aber über das
3. Beimmweh 45
ö—— ——Dꝰú— ———— — —— ——— ——— — — ⸗ —
alles eine Einheit der Stimmung, der nur wir gegenüberſtehn,
wir, eine kleine Welt, die ſich nie ſo ſich ſelbſt fühlt wie in
dieſen abgeſchloſſenen Tagen, wo die „andre Welt“ wie verloren
gegangen iſt.
Als der Geiſtliche am zwanzigſten Sonntage nach Trinitatis
ũber die Bekehrung des Kämmerers aus dem Morgenlande predigte,
wo es im Text hieß: „Stehe auf und gehe gen Mittag auf die
Straße, die von Jeruſalem gehet hinab nach Gaza, die da wüſte
iſt; und er ſtand auf und ging hin,“ und weiter: „Er aber zog
ſeine Straße fröhlich,“ überfiel mich eine ſolche Sehnſucht, hinaus⸗
zuziehn auf irgendeiner Straße, und ob ſie noch ſo wüſt wäre,
daß ich nach der Kirche, ohne einen Menſchen zu ſprechen oder
zu grüßen, hinauseilte und von der Bank am Föhrenwald in
die Ebne ſchaute, bis ich ſie weit, weit hinaus nach Weſten ge⸗
öffnet und an ihrem äußerſten Rande befreundete Türme ragen
ſah. Und da id nım zum Überfluß in denjelben Tagen in
Thomas a Kempis den Spruch laß: „Halte dich wie einen Pilger
auf Erden, den der Welt Geſchäfte nichts angehn. Bemwahre ein
freie und zu Gott gerichtete Herz, weil du bier feine bleibende
Stätte haft," jo fühlte ich mich nur um jo mehr berechtigt, geiftig
zu wandern, und hoffte es mit der Zeit noch dahin zu bringen,
meine fterblicde Hülle allein bier zu laffen und mit der Seele
dort zu weilen, wo es fie hinzog. Die Beichäftigung mit den
Giftſtoffen der Apothefe war ſehr geeignet zu Betrachtungen über
die tötenden und die bloß betäubenden Mitte, Man unterhielt
fi) gern über das auch Heute noch rätjelhafte Aqua tofana,
deſſen furchtbare Wirkungen ähnlich der des Hundswutgiftes und
andrer Krankheitsleime fich erit nach geraumer Beit äußern, oder
über Die traumerzeugenden Dämpfe der Stechapfelfamen, unter
deren Einfluß der Geift deflen, der fie einatmete, den Körper
verläßt, um umberwandernd die feltfamften Erfahrungen zu
fammeln. Welche intereffante Stufenleiter von diefen trägen und
augfebenden Giften bis zu der fchlagartig wirkenden Blaufäure!
Kein Wunder, daß Manfred-Byrons lebte Worte: Old man, ’t is
not so difficult to die dem Sjüngling- Knaben durchaus nicht
mehr fremd ind Ohr Hangen. Es ſchien ihm ja gar nichts fo
Unvermittelte3 und Unvorbereiteted mehr, was man Sterben nannte.
St Sterben denn notwendig immer Tod? Könnte nicht der
Geiſt diefe Hülle verlaffen und wieder in fie zurüdtehren? Die
Alten glaubten, daß er in ihrer Nähe noch längere Beit ver-
weile, nachdem der Leichnam kalt geiworden, und fie ehrten fie,
46 Glädsinfeln und Träume
brachten ihr Opfer dar. Was wiflen wir denn überhaupt vom
Tode? ES hängt doch alles, was wir davon halten, vom
Glauben ab. Das Sterben allein ift gewiß, vom Tod, ber
dabinterfteht, wiſſen wir nichts. Wie wenn fi) nun bie frei-
getvordne Seele auffhmwänge und zu den Lieben Orten flöge, an
denen ohnehin meine Gedanken weilen? Dann wäre ja der
Tod das Schönfte, wa8 nur zu denen tft. &8 gibt Tein andres
Mittel, zu wandern. Körperlich bin ich für vier lange Jahre
am dieje Stelle gebunden, feelifch fteht mir die Welt offen. Ber-
ſuche ichs nicht einmal, zu fliegen? Hier fteht in fteinernen
Krügen Kirfchlorbeerwajfer, ein blaujäurehaltiges Präparat, deſſen
ſcharfer Duft etwas Elegantes hat. Der Totenkopf über dem
altmodifch geichnörfelten Aqua Laurocerasi ſchreckt mich nicht.
Der Blaujäuregehalt des Deitillats ift nicht allzu ſtark. Vielleicht
it die Wirkung nur Betäubung, Traum und Nüdkehr, vielleicht
allerdings aud Sterben. Was macht mir das für einen Unter-
ſchied? Hier tft ein altes Glas aus böhmischen Kriftall, an
befien Klarheit ich mich ſchon lange ergöte. Wie unſchuldvoll
darin die giftige Flüffigkeit ind Bläuliche ſchimmert! Ein langer
Zug, und nod) einer, ich meine beim zweiten ſchon die Hände
zittern zu fühlen, doch ftelle ich den Krug orbnungsmäßig an
feinen Pla und fteige wie im Traum die Kellertreppe hinauf.
erwachte aus meinem langen Schlaf, die Glieder zer-
Ichlagen, der Kopf dumpf, aber mit unzweifelhaften Lebensgefühl.
Iſt meine Seele geiwanbert, jo kann fie nur kurze Zeit draußen
geweien fein, ich meine nur Minuten bier zu liegen. Draußen
diefelbe Schneelandſchaft, die ich verlafien habe. Man fpricht
an meinem Bette von einem nmgewöhnlich heftigen Anfall von
Nervenfieber, von einer Reihe von Tagen, die ich befinnungslos
gelegen bin, und freut fich offenbar über mein Wiedererwachen.
Briefe, deren Entzifferung mir Kopfichmerz macht, liegen auf
dem Zifche; ich fühle einftweilen nur Die Liebe, die fie ausſtrahlen.
Der erfte Gedanke, der mir halbwegs Klar wird, ift die Erwägung,
daß es noch Menfchen gibt, denen mein Daſein nicht gleichgiltig
if. Sogar ber Mann mit der jchraubenförmigen Mühe ſcheint
ehrlich) Anteil zu nehmen. Mein Blut ftürzt nicht mehr wie
ein Rataralt dur die Adern und fchwillt bedrohlich in das
bebende Her, zurüd, es wallt ruhig und gibt mir mit der Ruhe
das unbejchreibliche Gefühl der Genefung, das wohl wert iſt,
daß man um jeinetwillen eine Krankheit durchmacht. Mir freilich
war e3 nicht vergönnt, dieſes Gefühl auszukoſten. Wie Tonnte,
3. Beimmweh 47
— 7 — — —
wie durfte ichs? Habe ich nicht freventlich dieſe Krankheit herauf⸗
beſchworen? Ich fange an, wie ein Fremder auf meine Tat
hinzuſehen, und ich jchäme mich derſelben vor dieſem Fremden,
ich wüniche, daß fie verborgen bleibt. Einige Tage ſpäter, als
ih wieder lefen fonnte, bringt man mir unter andern der damals
üblichen Miniaturbändchen in Goldſchnitt und ſchwarzer Leinwand
auch das Bändchen Yauft von Nikolaus Lenau mit der Jahres⸗
zahlt 1836. Als ich im Schlußgefang die Worte Fauſis lefe,
Ich bin ein Traum, entflatternd deiner Haft,
Ich bin ein Traum mit Luft und Schul und Schmerz
Und träume mir das Mefler in das Herz!
überfällt mich ein jo heftiges Gefühl der Reue, da ich mir ent-
fliehen möchte, und ich meine Tränen der Scham.
» [X 902
4. Mit Krefienfamen, der es fchnell verrät ...
Bei den jungen Bäumen kommt e8 vor, daß fie auf eine
Harte Bodenſchicht ftoßen, die ihre Wurzeln nicht zu durchdringen
vermögen, da fieht man, wie plögli ihr Wachstum ftodt; fie
fterben nicht ab, aber fie machen auch feine Fortichritte, denn
ed geht gegen ihre Natur, die Nahrung in der Breite zu fuchen.
Wozu haben fie ihre ftarken Wurzeln, als daß fie damit in Die
Tiefe gehn? Sie jollen ſich nicht bloß damit fefthalten, jondern
auch die Nahrung und die Yeuchtigleit in tiefem Schichten er-
reihen. So werden nun ihre Schofje jeden Frühling dünner,
ihre Blätter bleiben Klein, ihrer Blüten find weniger, als es
fein jollten, und die Früchte, die fi) daraus entwideln, fallen
zum größten Teil vor der Reife ab. Man fagt: Dad Bäumchen
hat feinen Trieb. Da plößli ändert ſich dad alles: in einem
Srühling ſproßt es ftärker, fein Laub wird mehr und dunkler,
feine Blütenfülle ift ımerhört und gibt die fchönften Hoffnungen
für die Zeit der Reife. Es ijt, wie wenn eine Luft und Freude
zu leben über da8 Bäumchen gelommen wäre. Wan jagt jebt:
Es iſt in den Schuß gelommen. Wie kam da8? Seine eifrig
fuchenden Wurzelfaſern haben eine Spalte in der Steinſchicht des
Bodens gefunden, find durchgedrungen, und nun erweitern fie
die Spalte in fröhlidem Wachsſtum und jpeifen die legten Zweige
aus der frifchen, inhaltreichen Nahrungsquelle, die fie da unten
erichlofjen haben. So war e8 mir nad) meinem geiwagten Blau-
fäureerperiment gegangen: e8 war da eine harte Zwiſchenſchicht
über meinen Lebensquellen gewefen, ich glaubte innerlihem Ver⸗
ſchmachten nahe gefommen zu fein, und nun plößlich hatte ſich
in einer ſtarken Kriſis des Körperd und ber Seele die Ber-
bindung wiedergefunden. Und ba in der Beit des heftigften
Heimwehs die Seele in ſich zurüdgeicheucdht worden war, ftredte
fie nım mit Wonne alle Fühler in die Welt hinaus und juchte
4. Mit Kreffenfamen, der es fchnell verrät ... 49
Anſchluß am Licht und Luft, Feld und Baum, Blume und Biene,
und ber Neichtum des Leben? übergrünte wie in einer frucht-
baren Sturmnadt den Riß meined Innern. Ich wäre aber
wohl nicht fo raſch meiner harten, fteinernen Winterfchale ganz
{edig geworben, wenn ich nicht gerade in dieſem Borfrühling
Adalbert Stifter entdedt hätte Wie jeder Menic von Gemüt
fag ih nun an den Bänden ber „Studien,“ einem burftigen
Wandrer an Quellen gleichend, und konnte mid) nicht fatt trinfen
an dem Haren, frifchen Tau ihrer ſchönen Worte. Ich fchlug
zufällig im „Abdias“ auf: umgewiß fit, ob fein Schidjal ein
feltfamere8 Ding war oder fein Herz, und meinte, nad) der
Weile der Jugend, das Wort auf mich felbft beziehen zu müſſen.
Ich las aber auch die herrlichen Frühlingsſchilderungen in den
„Feldblumen,“ die fchönften, die wir in deutſcher Profa Haben,
und lernte fehen und tiefer empfinden, wenn ich mir jenen
Jüngling zum Mufter nahm, von deſſen Frühlingsbeobachtungen
Stifter dort erzählt: „Heute ift weithin heiterer Himmel mit
tiefem Blau, die Sonne ſcheint durch mein geöffnetes Fenſter;
da8 draußen fchallende Leben Elingt Harer herein, und ich höre
da8 Rufen fpielender Kinder; gegen Süden ftellen fich Kleine
Woltenballen auf, die nur der Frühling jo jchön färben Tann;
ein ferner Zaubenflug läßt aus dem Blau zuzeiten weiße
Schwenkungen vortauchen, der Vorftadtturm wirft goldne Funken.“
Eine Schilderung wie dieſe wirkt auf empfängliche Seelen un-
mittelbar bereihernd; fie regt an, in allem die Poeſie zu fuchen,
die nie fehlt, oder fie in alles zu legen, wo fie dann überall
Wurzeln fchlägt. Beſonders erinnere ich mic, daß mein Verhältnis
zum Licht nun ganz anderd wurde Es ftrömte mir, wo ich
vorher dunkle Äfte und Blätter und dazwiſchen lichte Zwiſchen⸗
räume gefehen hatte, burdy die ſchwarzen Gitter des Aft- und
Zweigwerks wie glühendes Silber und rann an all den bunfeln
Linien hin, umjäumte wie ein zarter Flaum jede Kontur, troff
von den Knoſpen ımd drang in allen Abftufungen von Grün
dur) die Blätter, dad Ganze ein Ineinanderweben und ⸗wogen
bon Körper und Licht, ein Schwimmen bes Körperlichen in einer
Lichtflut. Ich ſah aber auch mit nicht geringerer Freude dem
Leben zu, das der raujchende Regen in der Krone der alten
Binde medte, in die man gerade von den oberften Fenſtern unſers
Haufes hineinſchaute, ih ftaunte über das Miſchen von Grün
und Silber und Waflerglanz, wenn der Regen bereinpraffelte
und Die Blätter fi Hin und her warfen, als müßten he nicht,
Ratzel, Glücksinſeln und Träume
50 Slädsinfeln und räume
ob fie Die Unterjeite oder die Oberſeite vor der Flut fchüben
follten, und konnte minutenlang dem ruhigern Erguß zufchauen,
wo fi Tropfen um Tropfen auf den Blättern fammelten, bie
jich wie erleichtert aufrichteten, wenn wieder ein Tropfen von ber
Spitze abgeronnen war. Und daB gleichmäßige Raufchen eines
fanften Regens in der Baumkrone war mir ein füßer be-
rubigender Ton.
Möchte doch das Schidjal jedem eriwachenden Jüngling bie
„Studien“ in die Hände fpielen, möchte jeder ältere Freund
den jüngern auf dieſe reinen, reichen, die Sinne für Die außer⸗
menjchliche Welt öffnenden, das Her; für Edles werdenden
Schilderungen und Geſchichten BHinleiten. Wir alle haben es
beftändig nötig, aus unfern egoiftiichen Schranken, die wir uns
furzfichtigerweife immer wieder aufrichten, herandgeführt zu
werden, und zwar nicht in die ähnlich beichaffnen Vorftellungs-
Ereile und Empfindungsweilen andrer Einzelmenfchen, ſondern
in bie weite, reihe Natur, die nicht von Leid und Quft der
Menichen weiß und eben darum beiden fo mwohltätig ift. Noch
vor ein paar Wochen hatte id in mein Tagebuch gefchrieben:
Die Welt fo ſchön, und ih fo unglüdlih! Und je ſchöner fie
wird, befto breiter klafft der Gegenſatz zwiſchen der Herrlichkeit
außen und der Armut inmen. Mein Inneres tft wie wund, jede
Berührung fchmerzt, ich jpüre die Berührung des Blumenduftes
und des Sternenftrahl8 an diejer ſchwärenbedeckten Seele. — Seht
machte ich einen überzeugten, diden Strich durch und ſchrieb
darunter: Dieſes ichjüchtige Sichabwenden von der Natur ift aud)
ein Abfall von Gott. Ach nehme mir vor, auß mir hinaus in
die wunderbare Gotteswelt ftatt immer nur in mid bineinzu-
ſehen. Und die unmittelbar folgenden Seiten desſelben Tagebuches
zeigen mir den Fortichritt vom Sehen zum Beobachten und bie
Anfänge des Schanend ind Innere der Dinge. Die Naht war
mir bisher mm Schuß gegen die harten, jcharflantigen Dinge
des lichten Tages gewejen, ich Batte fie als die Wohltäterin ges
priefen, die unmerklich die Fäden auflöft, die wir am Tage um
und und durch die Welt binjpinnen, die unſre Seele lodert, frei
macht, den Traumgeiftern Raum gibt, ſich zu regen und zu
wandern. Nun Iauteten die Ergüfje meiner innerften Gefühle
ganz anderd: In diefem einzigen Lichtpunkt des Morgenjterns,
der Heinen Sonne, die der großen vorfährt und vorleuchtet, des
Dämmerungsfterns, defien Herrichaft beginnt, wenn die Dämmerung
alle andern Sterne auslöſcht, und die Somme noch nicht empor=
4. Mit Kreflenfamen, der es fchnell verrät... 51
geitiegen ift, liegt mir mehr als in der ganzen übrigen Natur.
Der Morgenftern, wie er einfam in der Vordämmerung fteht,
ift ein Tor ind große Helle, ein Lichtmeer jcheint herauszufließen,
das dahinter glüht. Mut und Hoffnung firahlen mid) aus jeiner
milden Glut an, Mut, aß Stern der Nacht in den Tag hinein-
zuleucdhten, Hoffnung, daß feine Finſternis jemals die Lichter des
Himmels ganz verbunfeln wird.
Der Herr Upotheler, der jeden Morgen nad) dem Frühſtück
in Schlafrod und Pantoffeln die Munde durchs Haus machte,
die fchraubenförmige Müße auf dem Haupt, in der Hanb ein
alte8 Salbentöpfhen, worin er unermüdlich den Seifenfchaum
zum bevorftehenden Gejchäft des Raſierens ſchlug, pflegte auf
diefem Gang die geichäftlichen Befehle zu erteilen, die wir Ordre
du jour nannten. Als an einem der erjten Tage nad) meiner
Geneſung die Vorfrühlingsſonne eifrig befchäftigt mar, die grauen,
alten Schneerefte auß den Schatten der Mauern und SHeden
herauszuſchmelzen, und ein milder, hellblauer Tag beraufzuziehn
verſprach, ein Tag für frifches, frohes Hinauswandern, trat er
zu mir und fagte unter eifrigem Rühren des Töpfchens: Fritz.
es wird Ihnen vielleicht gut tun, die linde Luft zu geniehen.
Ich Ichide Heute Nachmittag den Johann mit dem Wagen an
die Eifenbahnftation, um meine Nichte Luife aus Mannheim
abzuholen. Sie könnten bei diefer Gelegenheit in ber dortigen
Apotheke den Topf mit Bilfenkfrautertraft abgeben, ben der Kollege
neulich beftellt hat, und dann meine Nichte hierherbegleiten. Sie iſt
ein recht liebes Mädchen. Ihr Vater ift jo beichäftigt, daß er fie
leiber nicht ſelbſt hierherbringen kann. Er wird jpäter fommen.
Ih war natürlich gleich bereit. Was konnte es Schöneres
geben, als in dieſe Luft Hineinzufahren? Und außerdem war
ih, feitdem ich das Krankenbett verlaffen Hatte, bereit, zu tum,
was man von mir forderte, denn ich fühlte eine unbeftimmte
Pflicht der Abbitte und eine noch umfafjendere, aber nicht
ichwächere Regung, dankbar zu fein. Beide mochten mir wohl
au) den Mut verliehen haben, Inabenhafte Schlichternheit abzu⸗
tun. Sch empfing am Wagenſchlag des langjam unter das Tleine
dunkle Stationsdad) hereinrollenden Zuges das fchlanfe Mädchen,
das reifefrob dem engen Mbteil entichlüpfte. Bald ſaßen wir in
dem leichten Wägelchen nebeneinander und überholten ftolz den
alten grünen Stellwagen, der mir Gelegenheit zu Erzählungen
gab, die meine Dame in SHeiterfeit verjegten. Wie der ältere
Bruber dieſes Elappernden Fuhrwerks lebten Winter bei heftigem
4 *
593 Glädsinfeln und Träume
Binde auf offner Landftraße bis auf die Nänder abgebrannt
war, wobei die Bafjagiere kaum zwar nicht ihr nacktes, aber doch
ihr in ®intermäntel gehülltes Dajein retteten, fo raſch hatte ein
unvorſichtig weggeworfned Streichhol; die Dichte Strohlage des
Bodens entzündet, fchilderte id mit lebhaften Yarben und ver-
gaß nicht den Haupteffelt, wie der dicke Handelsjude Schlome,
ein Stammgaft dieſes Yahrzeugs, noch Dider durch feinen Pelz⸗
mantel, dur) das enge Yenfter mit Mühe heraudgezogen worden
war. Auch daß im Winterjchnee, wenn engfitige Schlitten an
die Stelle des Wagens treten, die Poſt Pafjagtere verliert, Die
lautlos in den tiefen Schnee fallen, jodaß der Boftichaffner an-
geblich deren Abgang erſt merkt, wenn er, am Biel angelommen,
fie vermißt, worauf er zurüdeilend die im Schnee mweiterfchlafenden
findet, und andre Beiträge zur Mythologie des Poſtwagens trug
ich meiner Buhörerin vor. Zweimal müflen die Fuhrwerke auf
unirer Straße „Steigen“ binauffahren, und beide Höhen krönt
eine Waldparzelle; ich ging, jo lange der Wagen im Schritt zu
fahren hatte, neben ihm ber, und ed war mir ein wohltuendes
Gefühl, die Hand auf demfelben Polſter ruhen zu lafien, in dem
das junge Mädchen lehnte. Anemonen und Schlüfjelblumen ziehn
dort unter den Buchen, die erft in Knoſpen ftanden, an bie
Stroße heraus. Ich reichte die jchönften, die ich pflüden konnte,
in den Wagen. Es ift nichts befondres, wenn ein Menſchenkind,
und nun gar ein junges, fih an Yrühlingsblumen freut, die, fo
unvermittelt und wumbermutet, wie fie auß der braunen Erde
hervorſprießen, doch jo recht geſchenkt find. Wer wäre nicht
dankbar, fie zu empfangen? Als ich aber dem Mädchen fagte:
Ich habe Ihnen da eine Schlüfjelblume gereicht, an der jchon ein
paar Blüten verwellt find, werfen Sie fie weg, wir finden gleich
ſchönere! — antwortete es: Es ift mir fo fchwer, mich von dieſer
Schlüfſſelblume zu trennen, wenn aud) einige von den chromgelben
Blütenköpfchen ſchon bräunlic” angehaudt find. Warum fie des⸗
halb gleich wegwerfen? Sie bleiben doch immer ein herrliches
Bert der Schöpfung, das ich ungern von mir tue. Wir werfen
doch auch ein Kunftwert nicht in den Staub, wenn es alt ge-
worden if. Und biefe Blumen find außerdem lebende Weſen,
bie verichmachten, wenn wir unfre Hand von ihnen abziehen.
Wir haben fie nun einmal aus ihrem Boden geriffen, ſorgen wir
nun dafür, daß fie folange wie möglich am Leben bleiben, es ift
doc) eigentlich eine Art Pflicht. Gleich nach der Ankunft werde
ih fie ind Waſſer ftellen.
4. Mit Krefienfamen, der es fchnell verrät ... 53
Ich mag das Mädchen erftaunt angejehen haben; das Hang
ja wie auß Stifter; jo Hatte ich überhaupt noch niemand ſprechen
hören, nicht einmal meinen alten Lehrer der Naturgeichichte, der
mich zuerft die Pflanzen kennen und lieben gelehrt Hatte. Ich
fchwieg, da mir die Empfindung, die da ausgejprochen worden
war, zu fein und zu eigentümlich vorkam, fte zu wiederholen oder
mich nachträglich dazu zu befennen. Aber ich fühlte tief, Daß ich
eigentlich ebenjo denfen und handeln müßte, wenn ich nicht noch
zu tief in ſchlechten Gewohnheiten ftedte, und ich war geipannt,
was dieſer feine Mund mir wohl noch offenbaren werde. Einjt-
weilen ahmte er mein Schweigen nad, und ich hatte Zeit, über
den wundervollen Effelt nachzudenken, den der Mannheimer
Dialelt, aus foldem Munde folhe Empfindungen tragend, in
dem Ohre eined Hörers herborbrachte, ber ihn bißher als das
Idiom von Getreide- und Hopfenhändlern oder Rhein⸗ und Redar-
ichiffern vernommen hatte.
In den angebräunten niedern Räumen des Apothelerhaufes,
wo fonft nur die Alten grämlid) und heifer redeten umd die Jungen
verdroffen ſchwiegen, Hang Luiſens Stimme hell und heiter. Dieje
Stimme war vielleicht in ihrer Weiſe ebenfo um einen Ton zu hell,
wie Luiſens Auge um eine Idee zu groß und zu Har war. Wenn
e8 fingend den dunkeln Gang berflang, bald ferner, bald näher,
mußte ih an Töne einer Glasharmonika denken, und ed drängte
fi mir die Frage auf: Kann in fo hohem, feinem Zone Seele
fein? Lebt etwas darin? Ober Klingt nur Talter, heller Kriftall?
Luiſens Auge berubigte darüber. Es war mır eines. Wer in dieſes
Geſicht blicte, ſah zuerft den vieredigen ſchwarzen Fleck eines an
einem jeidnen Band um ben Kopf befeftigten Stückchens Seide,
das das rechte Auge bededte. Das Auge war bei einer Operation
entfernt worden, Die Lider hatten ſich für immer geſchloſſen, Die
Augenhöhle war etwas eingeſunken. Ich fand die Stelle nidht
häßlich, aber es lag mir ein jchmerzlicher Zug um die zujammen-
gezognen Lider, den ber fchöne heitere Schwung der Augenbrauen
und die freie glatte Stimm wie ein trübed Wöllchen an einem
völlig beitern Himmel ericheinen ließ. Jedenfalls ſtießen ſich
auch viele andre nicht an dem ſchwarzen Band und led, denn
dag übrig gebliebne Auge war von einer foldden Klarheit, daß
es mehr als genügte, das Geficht des Mädchens zu exleuchten,
zu beleben. Ich weiß nicht, ob es auch auf andre einen fo ſeltſam
anziehenden Eindrud machte, jet die augenlofe Hälfte dieſes
Geſichtes, und dann wieder die Hälfte mit dem Leben und Leuchten
54 Glüdsinfeln und Träume
Lad
des Auges zu fehen. Der Wechſel von Schatten und Licht er-
innerte an den Neumond und den Vollmond. Kehrten fie mir
die Seite mit dem ſchwarzen Seidenviered zu, jo lag es wie ein
leichter Schatten auf allem, was uns umgab. Jeder Somnen-
ftraßl, jede Blume leuchtete weniger, und ich glaubte über das
feine Geficht einen Hauch von Trübung fid) außbreiten zu jehen.
Bandte Quife den Kopf, da ging es hell durchs Zimmer, und
mir kam es vor, ald müßte ich im Strahl ihres Auges Sonnen
ftäubchen tanzen jehen. Ja, dieſe ſonnige Bläue ftrahlte fiir mehr
als ein Gefiht Licht und Frohſinn aus, das konnte man jehen,
wenn Luiſe unter andern Menfchen war: unwilllürlich blieb der
Blick an diefem Auge haften. Ich nehme an, daß ed etwas
größer war, als ein Auge gewöhnlich ift, jedoch gewiß nur um
fo viel, daß es fie eben gerabe überftrahlte; damals dachte ich
übrigens niemals daran, fonderu fonnte mic nur in feinem Lichte,
dankbar wie für eine fchöne Blume, für einen bellen Stern.
Luiſens Geſichtszüge will ich nicht beichreiben; fie waren fein,
die Gefichtsform jchmal, und über einer fchönen Stimm, die feine
Falten zu Tennen ſchien, lag aſchblondes Haar in einer fchönen
Bogenlinie, die ein glatter Scheitel in der Mitte teilte; das
paßte alles fo gut zuſammen, daß man in dem Gefallen an der
Harmonie der Ericheinung die Regelmäßigleit und die Lieblichfeit
einzelner Züge ganz vergaß.
In den Mienen und in dem Benehmen Luiſens war Die
Miſchung entlegner Gaben und Neigungen, bie uns mehr- als
alles andre zu Menſchen binzieht, an Menfchen fefjelt. Auf ihrer
Stirn wohnte Hoheit, in ihrem Auge warme Freundlichkeit, die
jo weit über Schönheit binausreicht, aber ihre feinen Naſenflügel
ſprachen von Ungeduld, vielleicht manchmal von Stolz. In dem
weichen Munde zeigte fi) ganz von fern eine fommende Weisheit,
wie ein Feſtes, das werden will, und wenn auf ihrer Oberlippe
dag Licht eines Lächelns aufging, Hatte es zwar noch das un⸗
beftimmt Heitere der Jugend, aber ich dachte: So muß Pallas
Athene gelächelt haben, als fie noch ein Mädchen war. In ernften
Augenbliden fiel aber ein Schatten aus dem klaren Auge Darüber,
wie wenn in deſſen dunfelm Hintergrund ein Gedante von Weh⸗
mut und Trauer vorüberglitte. Sie fühlte wohl die Kühle dieſes
Schattend, und er verichwand bald.
Alle Menfchen, die durch eine auffallende körperliche Eigen-
tümlichleit, einen Fehler, einen Mangel „gezeichnet“ find, neigen
zu Nachdenklichkeit. Ein Teil ihres Weſens ift einwaͤrts gelehrt,
—— ———— ——
4. Mit Krefienfamen, der es fchnell verrät... 55
——— ————— 2. FT SAL BL L BL BL NS GL ———
fie befinnen ſich mehr als andre auf ſich ſelbſt. Gemeine Naturen
gehen im Egoismus oder im Hader mit dem Schidjal auf, edlern
ift der Kampf mit dem Wunſche, anders zu fein, nicht erfpart.
Wer diefen Wechlel von Licht und Schatten einmal erfahren Hatte,
dem gehörte er zu dem Menjchenfind. So dachte der Photograph
nicht, der in jener Beit der erſt werdenden Lichtbildfunft mit
einem unvolllommnen Apparat und mangelhafter Fähigkeit von
Dorf zu Dorf zog. Er nahm Luiſe natürlich von ber fehenden
Seite auf, und wer das Bild fah, mochte denken: Wie nedifch
trägt Dieje junge Dame ein ſchwarzes Bändchen chief über dem
Ohr. Als ich das Bild ſah, das nad) der damaligen Mode wie
ladierte3 Blech glänzte, entfuhr mir der Ausruf: Welche Lüge,
welche Feigheit! Nur ihr ganzes Geficht ift Ahnlich. Ohne das
andre Auge ift es gefäljcht!
Ein ganz woltenlojer Himmel kann nicht über einem ſolchen
Leben ftehn. Freundichaft und Liebe bringen ihm heißere Sonne,
aber auch ſchwerere Stürme. Es neigt ſich gern zu andern, bie
freier, Heiterer im Leben aufgewachſen find, und ranft fih an
ihnen auf bis zum Verlufte des eignen Schwerpunfts. Uns andre
reizt nur das Schöne, für jene bat immer auch das Gefunde,
Normale einen Wert, den wir nicht nadhfühlen. Kurz, es gibt
für fie mehr Anziehungspunkte außerhalb ihrer Perjönlichkeit, die
darum leichter ſchwankt und ſich neigt.
In Luiſens Wefen überwog nun äußerlich der Eindrud des
Ruhens in fich jelbft, gefteigert bi8 zum Herben, Verſchloſſenen.
Es ift etwas volllommen Blumenhaftes um die frühe volle Ent-
wideltheit junger Mädchenfeelen; wie eine Blume kommt fie über
Nacht, und man freut fi) ihrer ohne Warum? und Wohin?
Der junge Mann, der nicht aus dem Werden berausfommen
kann, der dag Gefühl Hat, nie fertig werden zu follen, fteht be-
wundernd im Anblid einer ſolchen Menfchenblume, deren Reiz
ihn fein Lejen und fein Lernen lehren Tonnte. Sie fteht Hoch
über ihm, wie eine nie gejehene Alpenblume in unerreichbarer
Felſenhöhe, er begnügt fi, fie beiwimbernd anzujehen. Aber
warum öffnet ſich diefe Blume nicht? Kann ed Menſchen geben,
die nur knoſpen?
Wir jungen Leute lebten in dem engen Haufe fo nahe bei-
jammen, wie konnte es fehlen, daß wir und näher kamen? In
Die Ferne hinauszuſchweifen, entdedungsluftig „mit taufend Maften‘
ift Jugendrecht. Glücklicher Heißhunger der Jugend nach neuen
Menfchen, neuen Dingen! Der Horizont war lange fo- enge,
56 Hlädsinfeln und Träume
IE
und was er umfchloß, war längit belannt; was nun neu an ihm
auftaucht, ift eine Entdedung, und nichts kann umintereſſant fein,
was bie Erfahrungen eines jungen Gemütes zu bereichern ver⸗
ſpricht. Es war mir fchon eine Freude geweſen, Die freie Stunde
eines ftillen Winternachmittags in der Schufterwerkftätte des
alten Adam zu fiten, wo der Glanz der wafjergefüllten Glas⸗
fugeln zum Nageln und Hämmern und zu den Erzählumgen von
Handwerk und Wanderſchaft leuchtete. Ich Hatte auch des Abends
mit Knechten und Mägden um das Herdfeuer gejeflen und hatte
gern dem ewig paffenden Knecht einen glühenden Span für bie
Pfeife gereicht. Aber die Unterhaltung mit Luifen war doch
etwas ganz andre, denn auf das, was fie fagte, fam es dabei
gar nicht an; der Laut ihrer Stimme und der Glanz ihres Anges
lieh allem einen höhern Wert, ihr Geipräh lam mir wie ein
blühendes Bäumchen oder wie eine Drufe köſtlicher Kriftalle vor.
Wenn ich von den Meinen in der Heimat ſprach, hörte fie mit
ftummer Teilnahme zu, wenn wir aber unfre gemeinjamen Er⸗
innerungen an die Straßen der Stadt und die Waldivege, die
fie umgeben, an den Markt ımd dad Theater, an bie ftadt-
befannten Perfönlichkeiten austaufchten, da lebte fie auf, da
leuchtete manchmal fogar ihr Auge und jtieg eine Nöte in ihre
Wangen, die von einer freudigen Teilnahme zeugte. Es war ihr
vielleicht von meinem Heimwehzuſtand des vergangnen Winters
berichtet worden, und id} wagte mir einzubilden, daß fie mir mit
dem Eingehen in dieſe Heimatsgeſpräche noch nachträglich wohl⸗
tun wolle Jedenfalls geizte ich nicht mit dem wärmften Ge⸗
fühle des Dankes.
Dabei konnte ich nicht aufhören, die Weltkenntnis und das
fihere Urteil Luiſens zu bewundern. Mit der richtigen Ahnung
für das Wirkliche, die Mädchen ſchon in die Kinderichule mit-
bringen, nahm fie aus ihrer engen Welt die Maße für Die weitere.
Was war nicht alles willkommner Gegenstand unſrer Geſpräche!
Bon den Geheimniſſen des Glaubens bis zu denen ber Küche
oder des Gartens reichte die Skala. Die Nätfel des Lebens
lagen noch fo tief in der Erde, wir warfen fie und einander zu,
wie Knaben mit Eicheln ober Roßkaſtanien Ball jpielen, aus
denen ein mächtiger Baum werden wird.
An jchönen Maitagen war e8 Sitte, auf den Bafaltkegel
des Steinberges zu fteigen, ber unjre Gegend beherricht, und fich
einmal die Welt von oben anzuſchauen. Es war, ald wollten
fi die Menſchen nad) dem langen Winter verfihern, daß fie
4. Mit Kreffenfamen, der es ſchnell verrät... 57
wieder, wie lettes Jahr, im Sonnenglanz vor ihnen liege. Und
da dort oben ein paar Pflanzen wuchſen, die in unfrer Flora
felten find, der Sage nad) jogar der ſchöne Frauenſchuh, ver-
jchönte noch der Reiz des Schätzeſuchens dieſen Ausflug. Luiſe
und ich verabredeten, den Sonnenaufgang von dort oben zu ſehen,
und die alten Schauinslands ließen uns in dunkler Nacht hinaus⸗
ziehen, nachdem fie einen Tag lang bie Köpfe geſchüttelt und über
die warme Kleidung, die für Luiſe geboten jet, lange Geipräde
geführt Hatten. Für mich Batte es nur eine Sorge gegeben:
welche Laterne für die erfte dunkle Stunde den Weg am belliten
erleuchten möchte, damit Luiſe ſicher dahinfchreite.
Ber, der einen Menfchen gern hat, wünjchte nicht, einmal mit
ihm auf einem Berggipfel zu ftehn, eine ferne Welt zu Füßen
und den Himmel allein ganz nahe zu Häupten? Es ift der
Gipfel der Einfamkeit, und da wir nun bon Erhabnem rings
umgeben find, fällt alle Niedrige von und ab. Wir brachen
lange vor der Dämmerung auf. Dort ftand die fcharfgezeichnete
und doc jo zarte, faſt durchſichtige Silberfihel: ihr Licht kam
mir golden vor, umd von der Kühle der Frühmorgenluft ſpürte
ich nichts. Wir fchritten durch die ZTauperlen des Graſes, ohne
eine abzuftreifen, fo koſtbar kamen fie und vor, wir ſahen den
Morgenftern noch heller und Die Mondfichel bläfjer werden, mwir
hörten die jchlafenden Dörfer erwachen und jahen die eriten
Urbeiter auf Feld hinausziehn. Bis wir an den Fuß des
Steinberg3 kamen, lagen auf manchen Wieſen jchon dichte Reihen
gemähten Graſes. Der Morgenmwind ging warm von Südoft her
md fchob fange, ſchwere, graue Wolfen vor die Sonne. Nicht
al3 Feuerball jtieg dieſe empor, jondern als glühender Lavaſtrom
floß fie durch die Spalten des Gemwölls, das ſich auszubreiten
und in Nebelwolken heraufzumogen begann, die das zeritreute
junge Sonnenlicht golden anglühte. Auf dem runden Gipfel, wo
die ſchwarzen Blöde des Baſalts wie eine zerbrochne Mauer liegen,
itand der Nebel vor dem Weft- und Norbhimmel dicht, als gelte
ed, eine neue Mauer aufzubauen, und nur hoch oben blaute es
unbeftimmt. Mit der Ausficht war e8 nichts. Don Dften her
Drang nur noch ein filbernes Licht durch, diefeß aber warf un⸗
merklich dunkler den Schatten bed Berges auf: die graue Wand
por ung, ſodaß man jeden Blod unterſcheiden konnte, und unfre
Seftalten dazu, feltfam in bie Höhe geredt. Es war fjonderbar,
wie jede Bewegung in bie Höhe zu fchießen jchien. Manchmal
umgaben goldne und bläuliche Säume die Umriffe. Als ich Hinter
58 Glädsinfeln und Cräume
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Luiſe trat, wollten unjre Nebelbilder fich verjchmelzen, Luiſe aber
trat zur Seite und beeilte den Abftieg zu einer mauergefchüßten
Stelle, wo wir und mit befreundeten Wandrern trafen, die von
andern Seiten beraufgeftiegen waren. Dieſe bielten nicht viel
von einem Berggipfel im Nebel und faßen ſchon um ein loderndes
Neifigfeuer, über dem der Kaffeekeſſel hing. Wir aber waren
in aller Stille ftolz, früher oben gewejen zu fein und mehr ge-
ſehen zu haben, und aus Luiſens Geſprächen hörte id) mit inniger
Freude ihren warmen Anteil an unſrer gemeinfamen Wanderung
heraus. Welches Glück in dem gemeinjfamen Beſitz noch fo be-
ſchränkter Erfahrungen! Waren nicht fogar die Sterne unfer, die
wir am Morgen beivundert Hatten und am Mbend bei der ge-
räufhoollern Heimkehr wiedererfannten?
Ich vermied es, auf dem ganzen Wege Luiſen zu berühren,
da ih ahnen modte, daß ein für Körpereleftrizität nicht leitender
Zwiſchenraum für uns von Heil jei. Ich war es zufrieden, wenn
ihr freundlicher Blid dem meinen antwortete, und wenn wir in
unfrer Unterhaltung dem Gewöhnlichſten den Reiz perjönlichen
Intereſſes beilegten, der allen Dingen Wärme und Leben gibt.
Freundſchaft und Liebe übertreffen noch weit Kunft und Dichtung
in der Gabe, alles und jedes aus der Sphäre der Gleichgiltigkeit
erheben, befeelen, ibealifieren zu können. Sicherlich haben beide
Dazu beigetragen, die Welt ſchöner, befreundeter zu machen, denn
nicht alle Gefühle diefer Art gehn mit dem Augenblid ver-
Ioren, der fie Hatte entftehn laffen. Die Schlüfjelblumen haben
dauernd für mid) an Wert gewonnen, jeitdem id) wußte, daß
Luiſe fie fo jehr liebte. Und das Brüdengeländer, wo wir beide
oft ftanden und in Pauſen erniter Geipräcdhe den ftillen Bach
unter und wegfließen ließen, fam mir wie ein Sinnbild des Glücks
vor, das feſt fteht, während die Zeit darunter unmerklich raſch
vorübergeht. Freunde follen einander fördern, fagte ich einmal,
al3 wir zufammen dem Bache nachblickten. Tas können fie am
beiten, wenn jeber die Arme frei hat. Nehmen wir an, wir
follten diefen Bach auf einer fchmalen Planke überjchreiten, Sie
gehn hinüber, ich halte Die Planke, damit fie nicht zittert. Leute,
die einander lieb haben, meinen, fie müflen mit verichlungnen
Armen zufammen himübergehn, und eins zieht dad andre hinab.
Ein Freundespaar handelt aljo vernünftiger als ein Liebespaar.
Sit es nicht fo in vielen andern Fällen?
Zuife lächelte fein. Ihre Rechnung wäre richtig, wenn
nicht dieſe Leute fich glüdlicher fühlten, wenn fie zufammen in
4. Mit Krefienfamen, der es ſchnell verrät... 59
—
Waſſer gefallen ſind, als andre, die den Weg trocken zurück⸗
gelegt haben.
Es mag nicht ganz ungefährlich ſein, in das Waſſer zu fallen,
über das die Planke der Freundſchaft führt. Ich habe die Idee,
es ſei tief. Es iſt ſo ſchön, in ſtilles tiefes Waſſer einzutauchen.
Aber werden die beiden ſo leicht wieder ans Licht kommen?
Das brauchen ſie vielleicht gar nicht. Es ſoll Augenblicke
geben ſo voll Glück, daß dahinter nichts mehr iſt, was die Mühe
zu leben lohnte. |
Was mochte dad Mädchen denken? ch verftand e8 nicht.
Daß dieje Freundichaft jeden Tag verichönte, jtand mir feft genug!
Nichts auf der Welt fam mir fo fiher vor. Ein Händedrud, ein
jtummer Vertrag, und daruntergejeßt die Unterfchrift eines jungen
Herzens voll Glaube: was gibt es Sichereres für dieſes Herz?
Ich ging ganz in dem Genuß des Umganged mit einem
Menjchen auf, der beffer, jchöner und viel, viel gefcheiter war
als ih. Im Grunde war es der Ehrgeiz, einen ſolchen Kameraden
zu gewinnen, der mid zu ihr hintrieb, und fpäter der Stolz,
fie zum Freunde zu Haben. Darum durfte auch neben Dieler
Kameradſchaft noch jo manches andre in meiner Seele Raum
haben; wäre e8 Liebe gewejen, die hätte jede andre Regung aus⸗
getrieben. Für fo junge Gemüter, wie das meine, liegt in früher
Liebe die Gefahr, daß fie den Menichen allein haben will, ihn
im wahren Sinne des Woris beherricht, deshalb ein Stehenbleiben
der ganzen innern Entwidinng, foweit fie eben nicht Liebe ift,
ein in die Blätter verfrühtes Schießen ohne Blüten und Frucht,
wa3 der Gärtner Vergeilen nennt. Dem Gefährten, den man
bewundert, es nachzutun, die Freude Darüber, daß er unjre Freuden
teilt, vereint zu denken und zu wollen, was man vorher einfam
und freudlos gedacht und gewollt, das iſt Die Blüte der Yreund-
Ihaft. In einem werdenden Menjchen iſt der Trieb zur Unter-
ordnung, er will folgen, will geführt werden, und dieſem Trieb
nachzuleben, macht fein Glück aus. Mein Blid zu dem Mädchen
war immer nur aufmwärt® gerichtet, und wenn jie etwas billigte,
was ich tat, oder einen Gedanken teilte, war ich eben fo glüdlich,
wie wenn ich etwas beſſer machen konnte, was fie rügte. Ich
erinnere mich, daß ich einen ganzen Tag glüdlich war, ald Luiſe
mit einer Nelfe von wunderbarer Weiße im Mund mir früh
aus dem Garten entgegenlam. Es war eine Antwort auf bie
Nede von geftern Abend, wo id) von den Nellen erzählt Hatte,
die eben aufgingen, und gemeint hatte, fie jeien weißer als weiß,
60 Glädsinfeln und Träume
weißer ald Schnee, und man müfje in ihrem Anſchauen glücklich
jein, ein ſolches under jehen zu Dürfen. Nellentenner wifien
wohl, welches Weiß ich meine; es gibt nämlich weiße Nelken,
denen durch eine ganz entjernte Beimiſchung von Purpur eine
But ihres Weiß verliehen wird, für die ich in der Natur nur
biendende, leuchtendweiße Sommerwolten zum Vergleich nennen
könnte. Bon diefen Wunderblumen trugen wir nun beide, ſo⸗
fange fie blühten, recht volle Exemplare im Munde. Und als
Zuife ſich eine nad) Bauernart hinters Ohr ftedte, tat ich es
natürlich nad), ließ e jedoch auf ein vernehmliches, Narr!“, das
brummend aus dem Munde der Schraube lam.
So wie zwei unſichtbare Linien von unfern Augen ausgingen,
die fih in jenen Himmelslichtern ſchweigend trafen und begrüßten,
fo ftrahlten von unfern Herzen Linien in die ganze Welt, die
und umgab. Es wurden ihrer immer mehr, und fie flochten fich
immer dichter zuſammen. Wie fonnte e8 anders fein?
So natürlid, wie Knoſpen junger Pflanzen die Erbichollen
heben und zur Seite drängen, um in Licht und Sonnenwärme
zu gelangen, fchlofjen wir zwei jungen Menjchenkinder uns gegen
den Drud bes alt und alt gewordnen Hausweſens bei Schau-
inslands zufammen, und indem wir und gegenjeitig zuftrahlten,
wurde es Lichter und wärmer um und ber.
Schöne Tage, wo alle Wünſche ſchweigen. Keins von und
wollte, daß e8 ander kommen, niemand dachte daran, ob foldhe
Sreundichaft nicht einmal die Blüte der Liebe treiben werde.
Es kam die Zeit, wo auch in den Gärten die Erde um=
gegraben wird, nachdem auf den Adern draußen die Sommer:
frucdht längft eingeeggt iſt. Es ift nicht gerade eine leichte Arbeit,
bie ſchweren Erbichollen zu durchſchneiden, umzumenden und zu
zerkleinern, aber es ift eine hoffnungsvolle, und trog den Schweiß⸗
tropfen, die fie koſtet, hat fie etwas von der Vorbereitung einer
Frühlingsfeier: das häßliche, vom Froft entfärbte und vom Schnee
zur Erbe gebrüdte Herbftgeftrüpp wird nun entfernt, der Boden
wird gereinigt, da8 Umgraben bringt friiche Erde an die Ober⸗
fläche, die braun glänzt, Hade und Rechen fäubern fie, und alles
ift zum Säen und Pflanzen bereit. Iſt e8 nicht, als ob alle
die Schäbe, die die Sonne aus dieſer Erde hervorloden wird,
nur warteten, bis die Strahlen fie weden? Wenn bie Erde
im Herbft verarmte, im Frühling wird fie wieder reich, und ich
zerbrödelte jede Erdkrume mit bem Gefühl: Wieviel Keime mag
fie bergen! Sept ift fie in Wahrheit die Muttererde! Glücklich,
4. Mit Krefienfamen, der es fchnell verrät ... 61
wer fäet und erntet! Er lebt etwas vom Leben der Natur mit,
das fein eignes Lebensgefühl erhöht.
Ich pflanzte vielerlei in Diefem Frühling, ein Apothelergarten
trägt alle die Würzpflanzen, deren Pflege Karl der Große in
einem berühmten Briefe feinen Gutsverwaltern and Herz gelegt
bat, und dazu noch vieled andre, was die Beit Dazugefügt bat.
Außerdem find die Apothefersleute Menjchen wie andre, die Ge⸗
müſe und Salate, Nettiche und Gurken, Lauch und Biwiebeln
brauchen. Das alles iſt beetweiſe abgeteilt, und während einiges
fortwächſt, wie es gejät wurde, ſät man andres in bejondre ges
ſchũtzte Kaftenbeete, aus denen dann die Pflänzlinge, wenn fie
ſtark geworben find, ins freie Land verpflanzt werben. Kreſſen
gehören zu den Gartenpflanzen, die man am frübeften augfät;
wenn der Winter früh gegangen ift, vertraut man die einen
rotbraunen Körnchen fchon in den lebten Tagen des Februars
der Erde an. Man Sät fie, um einen frühen Dfterjalat zu haben,
und weil ihr Grün früh die braunen Beete verjchönt.
So wie ber Malerlehrling, der zum erftenmal einen vollen
Binfel in die Hand befommt, an die nächite beſte Wand unfehlbar
die Linien Hedjt, die ihm gerade als ſchaffenswert vorſchweben,
fo trieb es mid), von ber Keimkraft der Körnchen, die mir ans
vertraut waren, den jchönften beften Gebrauch zu machen. Wie
oft ſchon Hatte ich der unverftändigen Neigung nachgegeben, ihren
Namen dorthin zu fchreiben, wohin die Sonnenftrahlen ihn zu
leſen kamen. Und fo fäte ich denn, oder es fäte ein Wille in
mir, der halb Spieltrieb war, ein ſchöngeſchwungnes 2 auf ein
noch freied Beet. Nach zehn warmen Frühlingstagen, die ein
fräftiger Regen unterbrach, ſah ich die winzig einen Doppel-
blättchen der Sämlinge hervorkeimen, alle rundlich, außeinander-
gefaltet, wie bittende Händchen, in deren Mitte dann erft Die
zerihnittenen und krauſen Blättchen der Gartenkreſſe wie zierliche
grüne Blüten auffnojpten. Dazwilchen kamen junge Gräfer,
bie ſenkrecht wie ganz feine grüne Linien, ein Heer von Spiehen,
erſchienen; manche waren auch zufammengebogen, und die Spihe
fonnte jich nur freimachen, inbem fie die dunkle Erbe mit Schnell-
fraft empor und beijeite ſchob. Mein eriter Gedanke war Freude
über das gelungne Wert. Wenn das fo fortiproßte, mußte das L
bald fihtbar fein, und ſchon jah man einige Umriſſe feiner Bogen-
linien. Den nädjten Tag war e8 fchon faſt zu erfennen. Da
fam mir eine Art Scham über die unzarte Entjchleierung eines
tiefen Gefühl, verichärft durch Zweifel, wie Luife meine Freiheit
62 Glädsinfeln und Träume
LIE LED — ——— ü BRüâ—â——— —— 0, 0° —— ——— t————— ————— EL
aufnehmen werde; und zum erſtenmal dachte ich daran, daß alle
es ſehen würden, und was ich antworten würde, wenn ſie fragen:
Warum? Ich trat an das Beet heran und ſah die Pflänzchen
und Keime zerftreut ftehn und die braune Erde dazwildhen vor⸗
ſchauen; da war fein L zu fehen, ich jchöpfte die Hoffnung, es
fei nicht aufgegangen. Aber wenn ich zurüdtrat, Da leuchtete der
liebe, gefürdhtete Buchftabe mich verhängnisvoll deutlich an, und
der folgende Tag vericheuchte jeden Zweifel. Nun mußten es
auch die fehen, denen es im Grunde gleichgültig fein konnte, ob
ein L ober ein &, für die aber die Frage von brennendem Intereſſe
war: Wer bat den Buchltaben Hingefät? Und was hatte er für
eine Abſicht dabei?
Des Mittagd nad) der Suppe kam die Frage, die fommen
mußte. Wer bat nur die Krefien in jo fonderbaren Schnörkeln
gejät? Die Hälfte des Beetes ift leer. Das ift fehr undkonomiſch
und hat doch gar feinen weitern Zwed. Alſo jprad} der Mann mit
der Schraube und rüdte feine Mübe aufs Ohr. — Die Krefien
habe ich gejät, antivortete ich mit einer Stimme, von der ich mir
Ipäter vorrebete, fie fei eifig geweſen; vielleicht zitterte fie jedoch
etwas, denn ich fühlte mein Herz fo gegen die Zifchlante pochen,
daß ih von ihr abrüdte in ber Furcht, der Tiſch mit allem,
was darauf war, werde ind Bulfieren und Klirren kommen. —
Und warum haben Sie dad Beet nicht vollgefät? — Ich
hätte nun antworten Tünnen: Weil der Samen nicht reichte,
ichämte mich aber jeder Ausflucht. — Es kam mir fo der Ge
danke, es jei ſchöner, auch einmal eine Figur hineinzuften. —
Und was ſoll es denn vorftellen? — Tas weiß ich augen-
blicklich jelbft nicht, e8 wird mir erit einfallen, wenn es weiter
heraus ijt.
Die fragende Miene des Inquiſitors belehrte mich, daß er
das 2 noch nicht fo beftimmt gejehen hatte wie ih. Die praktilche
Erwägung feiner Hausfrau: Das gibt nicht einmal eine ordent-
liche Schüffel voll Salat! ſchloß brummend das Verhör. Aber
im Aufftehn vom Tiſch, das ich heute beeilte, traf mich ein jo
nedifcher Blick aus Luiſens Auge, daß ich meinte, es träte der
allerhellfte Stern hinter Wollen vor. Sie weiß e8, was kümmern
mich die andern; und fie zürnt nicht!
Wir lehnten den Nachmittag an der Brüde, die über den
Bach rechter Hand in den Garten führt; an dem leuchtenden
Frühlingsfonnentag war e8 eine Wohltat, den Bad) entlang über
den dunkeln Waſſerſpiegel Hinzufehen, auf den Erlen niederhingen,
4. Mit Kreflenfamen, der es ſchnell verrät... 63
deren Zaub noch nicht ſchwarzgrün wie im Sommer war. — Sehen
Sie, wie emjt im bellgrünen Glanze die fchwarzen Früchtchen
ſtehn? Das iſt gerade das Gegenteil von dem, wie ed am
Abend hier außfieht, wenn die Sterne in dem ſchweigenden
Wafler liegen wie eingeiprengted® Gold in einem ganz dunkeln
Kriſtall. — Solcherlei und andres, meiſt wohl ziemlich weit
bergeholtes, fprach ich zu dem Mädchen, das nicht viel ant⸗
wortete, aber nicht ungern zuzuhören jchien. Sch hatte mit der
Zeit das Gefühl, daß dag ein Herumreden fei. Das blaue Auge
richtete fich jehr hell auf mich, aber nicht jo völlig kriſtallhaft
falt, wie es wohl bliden konnte; ih dachte an einen ganz hellen
Saphir, den id auf dunkelm Sammet hatte liegen jehen. Ihre
Lippen öffneten ſich nicht, fie wußten wohl, daß die Frage dieſes
Auges mir nicht unverjtanden blieb; auch meine Lippen waren
verjiegelt, aber mein Auge jagte: Ja, ich habe dad 2 gejät, und
die Möte, die ich in den Wangen fühlte, bekräftigte eg: Sa, er
hat wirklich Die Kedheit gehabt. So fahen wir uns an, und
id) weiß nicht, warum id meinen Blid nicht von dem ihren
Löfen konnte. Es war ein unbeitimmted Vertrauen, deſſen ich
aus diefem Auge nicht genug jchöpfen konnte. Und endlich) brach
es wie ein Quell hervor: Wie jchön iſt ed Doch, daß Sie jetzt
da find, wo die Sonne jeden Tag heller und wärmer jcheint,
Fräulein Luiſe. Es wurde vorher ſchon ſchön und gut von dem
Augenblid an, wo Sie famen, und nun wird jeder Tag herr-
liher. Für mid find Sie der einzige Menſch, an den. ich mich
hier anſchließen Tonnte, Sie find jung — Aber nicht jo jung wie
Sie, Fritz, warf fie lächelnd ein — und haben nicht mit dem
Geſchäft zu tun, Sie kommen aus meiner Stadt und Tennen jogar
die Straße, mo meine Eltern wohnen, für das alles bin ich Ihnen
dankbar. Sch weiß wohl, daß das Dinge find, die Sie ganz
gleichgiltig Laffen, Sie follen fich auch gar nicht darum kümmern,
Sie haben ja befjeres zu tun. Aber wenn ichs kurz fagen foll,
ich freue mich eben einfach, daß Sie da find, jehen Sie, es ift
nicht anders, als wenn wir jet Morgens einen jo recht dicken
Strauß Anemonen in daS alte dunkle Apothefenzimmer jtellen,.
das Teuchtet wie ein Sonnenftrahl, und alle® nimmt von dem
Licht der frohen Blumen an und wird ſelbſt hell und froh da⸗
von. Der Blumenjtrauß allein weiß nichts davon. So, Yräuleim.
Zuife, ift e8 mit Ihnen.
Luiſens Auge lachte hell, als fie ſagte: Es iſt ja recht
jchmeidhelhaft, mit einem ganzen Strauß Yrühlingäblumen ver-
64 Glüdsinfeln und Träume
gliden zu werden. Mir wäre es genug, wenn Sie mich mit
einer einzigen Blume verglichen.
Nein, das geht nicht, fagte ich; wegen des Lichts muß es
ein Strauß fein, denn im Vergleich mit der Freude, Die aus
Ihrem Geficht auf die Welt ausgeht, ift eine Anemone nur
Dämmerung. Nein, ed muß etivad Leuchtendeß fein, was man
mit Ihrem Angeficht vergleicht.
Zuije errötete, wollte nicht weiter darüber geredet haben,
ob Strauß oder Blume, fondern fragte mit demfelben ſchelmiſchen
Lächeln, das ich vorhin über ihr Geficht Hatte gleiten fehen: Iſt
e3 wirklich ein 2, das Ste mit Krefle angejät haben?
Sa, und Ihr L, nur Ihres, das höchſte L, das es gibt.
Mit Krefienfamen, der es ſchnell verrät, fät ich e8 gern auf
jedes friiche Beet.
Nicht weiter, fiel mir Luije ind Wort, und ich verftummte,
im ftillen halb und Halb erftaunt, mich freuend über meine eigne
Kühnheit. Als aber nun Luiſe mit kühler, abfichtlich geſetzter,
faſt geſchäftsmaäßiger Stimme ſagte: Es iſt nım da und wächſt.
Was tut man damit? Zum Ausroden iſt es zu fpät! — be⸗
wunderte ich, wie fo oft ſchon, ihre ruhige Überlegenheit und
wollte nicht zurüdbleiben: Befehlen Sie ed, jo rode ich es doch
noch auß.
Dazu ift e8 ſchon zu ſpät. Man bat den Buchftaben ein-
mal erkannt. Die Frage ift nur: Was tun wir damit? Onkel,
Zante, die Köchin Kathi und alle, die in den Garten kommen,
fehen es, und bei Diejem Wetter wird es jeden Tag auffallender,
nächſtens — und fie lädjelte höchſt liebenswürdig — wird es
wie ein Transparent in die Welt hinausleuchten. Ach frage Sie,
was fangen wir damit an, ehe ed uns über den Kopf wächſt?
Ich wußte feinen Rat, meinte aber, Die Sache ſei gar nicht
jo gefährlich, jebt, wo ich wife, daß fie es nicht mißverftehe und
mir nicht zürne, nähme id) es gern auf mich, möchten doch Die
andern jagen, was fie wollten.
Fräulein Luiſe fchien nicht Damit einverftanden zu fein, das
grünende & fo auf die leichte Schulter zu nehmen. Man wird
fragen, warum Sie den Anfangsbuchftaben gerade meines Namens
hingejät haben, warum nicht des Ihrigen? Ein F ift gerade
jo leicht zu jäen wie ein 2, und gewöhnlich verewigen doch bie
Leute am liebjten ihren eignen Namen.
Fräulein Luiſe, Sie willen ja jet, warıım ich es getan
babe. Ich konnte wahrlich nicht anders.
4. Mit Krefienfamen, der es fchnell verrät... 65
Mein Onlel wird e8 faum glauben, und Tante ficherlich
nicht, fie werden annehmen, Sie feten in mich verliebt! — Dabei
errötete fie jehr liebfich, wirklich anemonenhaft, und ich fand ed
ſehr Tieb, daß fie diefe Worte fo zögernd ausſprach, gerade weil
fie dabei noch mehr errötete.e Zum Glück war aber mein Ge-
willen ganz rein. Verliebt? Kein Gedanke. Ich konnte ihr
mit der offenften Miene von der Belt antworten: Bon Liebe tft
feine Spur dabei, dafür ftehn Sie viel zu hoch über mir. Mein
Ehrenmwort, daß ich auch nicht mit einem Gedanken daran gedacht
habe, als ich die gefährlichen Körnlein da ausftreute. Warum foll
man denn nur den Namen einer Geliebten mit Kreſſenſamen auf
ein frifche8 Beet ftreuen Lönnen, und nicht Den eines Freundes,
einer Sreundin? Muß denn überall Liebe mit dabei fein? Wäre
ih Kreſſenſamen, ich verbäte mir, jo ohne mweitere8 und einfeitig
immer nur mit Liebe verbunden zu werden. ch Habe einmal
von der Liebe geleien, daß wenn fie einmal gelommen ift, fie
wächft und wächſt, wie die Flut, überall hindringt, alles aus⸗
füllt. Das muß wahr fein, denn überall lieft, überall hört man
von ihr, und die reinfte jelbftlojeite Freundſchaft muß fidh für
Liebe beargmöhnen Laffen. ch weiche diefer Flut nicht, und
wenn ich fo einjam vor ihr ftünde wie die Felienklippen vor
Helgoland. |
Ich mußte wohl bei dieſer Rede wider die Liebe etwas
pathetifch getworden fein und Die Hand aufs Herz gelegt haben,
denn Luiſe bat mich lachend, Leine jo bedenklichen Gebärden zu
machen. Aber ich war glüdlich, einmal fo offen reden zu dürfen.
War es doch nicht bloß ein Bekenntnis an das Mädchen, fondern
die Ausſprache einer jugendlichen felbfterrungnen Anſchauung von
Dingen, Die mir Die wichtigften erfchtenen.
So tief wie Paris unter den Helden der Ilias ftebt mir
die Liebe unter der Freundſchaft. Mögen die Dichter fie in
krankhaften Verſen befingen, die Sreundichaft fteht mir in jeder
Hinfiht höher, und das ift e8, wenn ichs denn offen jagen ſoll
und darf, was ich für Sie empfinde, aber ich würde durchs Feuer
für Sie gehen.
Luiſe war nachdenklich geworden. Dann verlangen Sie das⸗
jelbe au von mir? Und wenn id) nun nicht dazu bereit wäre?
Freundſchaft muß gleih an Opfern und Empfangen fein.
Wie könnte ich an Gleichheit denken, Ihnen, Ihnen gegen-
über! Unmöglih. Ich bin Ahnen jo verfchuldet, werde niemals
imftande fein, daS. abzutragen, was Ihre Gegenwart mir ift,
Raztzel, Büdsinfeln und Träume 5
66 Glüdsinfeln und Träume
und was Ihr Erſcheinen in dieſem Haufe mir geworben ift.
Dulden Sie ed einfadh, dab ich Sie dankbar verehre, ganz von
unten herauf nur, und fragen Sie nicht weiter. Wenn ich läftig
bin, fagen Ste mir ein Wort, es genügt, und ich ziehe mich
urüd.
Sie übertreiben augenſcheinlich. Denn was kann mein Er-
jcheinen für Ihre hiefige Exiſtenz bedeutet, was bewirkt haben?
Soweit ich ſehe, ift fie noch eben fo, wie fie vorher war. Was
follte ein Mädchen daran ändern Tönnen? Doc gut, Sie wollen
nicht, daß ich frage. Da wir aber gute Freunde fein follen, fo
erlauben Sie mir den Rat, zu dem ich ald Freundin berechtigt
bin, die vier Jahre älter ift: Leben Sie nicht in Illufſionen,
befonders nit mit Bezug auf mid; ich bin ein äußerft fehler-
behaftetes Geichöpf.
Ach ließ Luife nicht außreden, denn das Hang ja faft abjurd,
und reichte ihr die Hand. Sie drüdte fie lachend und meinte,
e3 folle damit allen Förmlichkeiten und für immer genügt fein.
Ja, für immer, rief ich begeiftert; aber das grinende 2 er-
ſchien mir, und ich fragte Heinlaut: Wie ift es nun mit ben
Krefien?
Die nehme ich auf mid), und wenn fie herangewadjjen find,
effen wir fie als Pfand der Freundſchaft auf, recht jung und
zart, damit das 2 bald verſchwindet, und Onkel und Tante werden
dazu geladen.
Und müflen noch obendrein Acetum vulgare und Oleum
olivarım dazu geben.
* *
*
Es war eine ganz hübſche Epiſode geweſen. Aber ich müßte
lügen, wenn ic) nicht einräumte, daß mir ein Stein vom Herzen
fiel, als das grüne 2 in Geftalt des Krefienfalats, wie er fo
zart noch kaum gegeflen worden ift, verihwand. Ich Hatte
mit fteigendem Mißfallen und jogar mit Reue die Kreife wuchern
und treiben und den Budjftaben wie mit Bosheit immer deut-
licher machen fehen, und ich jehe jebt ein, Daß der Hauptgrund
dabon eine innere Unficherheit war, ob nicht dennoch Liebe es
geweien fei, die im Gewande der Freundſchaft mir das Samen-
korn dieſer Igriichen dee in die Seele geworfen hatte. Am Abend
des verzehrten 2 lag auf meinem Tiſch ein feines Sträufchen
aus Krefie mit einer Aurifel in der Mitte, und von diefem Grün
4. Mit Kreflenfamen, der es ſchnell verrät... 67
—N ts⸗ ⸗
und Goldbraun umhüllt trug ein ſchmaler, langer, zuſammen⸗
gerollter Streifen Papier folgenden Vers:
Wenn es die Krefienfaat zu ſchnell verrät,
Bas für ein Name dir im Herzen fteht,
So nimm und miſche alles zum Salat
Und ſalze ihn mit Tränen, dies mein Rat.
20 iß bie Krefſe jung, wenn fe © vecht dort,
Und ſprich dazu: Mein Herze, werde hart
Ich kannte nicht die Hand, doch ertappte ich) mich, wie ich
den Streifen küſſen wollte. Ich zerdrüdte eine Träne und fagte
froh nichts weiter als: Freundin!
* *
*
In meinem Tagebuch finde ich folgende Aufzeichnung aus
dieſer Zeit: Nun keimt es wieder Blättern und Blüten entgegen.
Aus dem fteinigften Erdreich treiben grünende Keime, und ſchwache
Hälmchen jpalten mit gewaltiger Zrieblraft die Erdichollen. So
leuten am Himmel neue Sterne auf aus dem Dunkel, man
ahnt kaum, woher und warım? Doch freut man fi), daß bie
Welt nicht feiert, und daß der alte Gott nicht Targ geworden
if. Ein folder Stern warft du. Als du in unfre Nacht Hinein-
leuchteteft, fagten wir: Das Schickſal hat nod immer Gaben frei.
IX 902
5.
5. Mein Dorf
Jam summa procul villarum culmina fumant,
Majoresque cadunt altis de montibus umbrae.
Bergil
In der Geographie nennt man unſer Land ein welliges
Land, ein welliges Hügelland. Wer dieſen Namen lieſt, ohne
das Land geſehen zu haben, was kann er ſich dabei denken?
Ich habe mir auf der Schulbank gar nichts dabei gedacht, oder
wenn ich mich einmal zum Denken aufſchwang, ſo erweckte das
Wort „wellig“ höchſtens die Borftellung, wie unterhaltend es
fein müfje, eine wellige Wieje berabzurollen, wo man von dem
Stoß der obern Welle aus dem Tal darunter über die zweite
Welle wegbefördert würde, und fo immer weiter mit beichleumnigter
Geſchwindigkeit. Jetzt, wo ich es jahrelang gejehen habe, weiß
ih das ganz anderd. Unſer Land ift wellig, das heißt, daß
die Häufer und Höfe bald oben und bald ımten find, wie die
Schiffe auf wogender See. Man geht leicht einen Abhang hinab,
ohne e8 zu merken, zehn Schritte vielleicht, und wie man ſich
umfieht, ift der Hof verſchwunden, der eben noch Hinter uns
ftand, vielleicht fieft man noch eben feinen neu aufgejebten
Schornftein, das einzige Weihe zwiſchen Himmel und Wieſe,
zwiſchen Blau und Grün und an dem braunen Haufe. Dafür
taucht auf der andern Seite ein glänzender Kirchturmhahn auf
oder die Kreuzung von zwei Dachſparren oder die lange Hori⸗
zontale eines Scheunendaches; noch viel öfter ſchwillt und quillt
das Dunkel einer Baumkrone wie das tiefe Schattenbilb einer
Volle hervor. Aller paar Schritte ändert fi) daS Bild, immer
ift e8 im Wachſen oder Abnehmen, wie angejtedt vom Mond
mit feiner Wandelbarkeit. Ein ſolches Land zerlegt die Ausfichten
in Höbenfhichten. Bon einem Punkte über Eichelberg, wo id)
gern lag, fah ich zuerit einen breiten, grünen Rüden, den man
für flach gehalten hätte, wenn nicht alle Aderfurdhen und Raine
5. Mein Dorf 69
auf ihm in Bogen verlaufen wären, dann den blendend weißen
Zurm don Altenloh mit einer graufchwarzen Zwiebelkuppel.
Einſam fteht er wie ein Leuchtturm am mwogenden Deere; das
Schiff der Kirche fieht man von Hier nit. Dahinter und dar⸗
über zieht ein dunkler Waldſaum, den überragen noch eben ein
paar Baumkronen und das lange braune Dad) von einem ganz
oben liegenden Hof. Soviel Dinge ich fehe, ſoviel Bodenjchwellen
ziehn von mir Binaus. Und da Kirchtürme, Scheumendächer und
die Kronen von Eichen», Ahorn= und Birnbäumen immer am
höchften ragen, bilden fie eine Art von Ariftofratie in dieſer
Landſchaft. Nur Raubvögel, die man manchmal über ihnen
treifen fieht, ftreben noch höher hinaus. Und über allem ſchweben
die Wollen, die wegen der höhern Berge, die nicht fern find,
und wegen des feuchten und warmen Rheintals auf der andern
Seite oft jehr ſchön find. Wir haben bejonders fchöne, leuchtend
weiße Wolkenballen des Nachmittag und herrliche Wolkenſchichten
über den blauen Weftbergen des Abends. Frühmorgens liegen
im Spätiommer und Herbſt weiße Wollendeden und ⸗ſchlangen
im Rheintal.
Da es in unſerm Lande jehr viel einzelne Höfe und hohe
Bäume im Felde gibt, hat jede Bodenwelle ihr beſondres. Eine
trägt Wieſen und ſchaut hellgrün über eine andre mit golbhraunen
Haferfeldern, und darüber hinaus wogt es walddunkel. Ein un-
vergeßlich anheimelndes Bild tft der Hof mit feinem langen,
hoben Dach, das ſtolz den reichen Erntefegen birgt, die Glocke
Darauf, Die zur Arbeit und zur Haft ruft, und darüber fteigt
die dunkle Krone eine mächtigen Ahornbaumd wie eine Abend⸗
fommerwolfe in den Himmel hinein. Auch dab die Bäume ver-
einzelt oder in Heinen Gruppen auf den Höfen ftehn, gibt dem
Sand eine Art von Sprache. Denn jeder Baum meint etwas:
ber beichattet eine Feine Kapelle, bis zu der am Erntefeft die
Danktprozeifion geht, dort fteht zwiſchen zwei Linden ein uraltes
Kreuz, deſſen Grundftein in den Boden geſunken ift; jene Eiche,
deren dunkle Blättergruppen fo phantaftiiche edige Figuren in
den Himmel fchneiden, fteht auf der Grenze von vier Dorfge-
marlungen, und unter dem Holzbirnbaum dort, defien Krone fo
ſonderbar niederfiutet, ift der alte X-Bauer geftorben, den auf
feinem nahen Felde beim Grummetladen der Schlag getroffen
bat; man lieft die Tafel dort. So fagt jeder Baum fein Sprüd)-
lein, und Die, bie keins willen, fragen did: Warum fteh ich gerade
auf diejem Hügel, am Rande diefer Mulde oder an biefem
70 Glädsinfeln und Träume
Hohlwege? Da nun auch noch dazukommt, daß gerade wie die
Höfe und die Bäume jo auch die Wege auf⸗ und untertauchen,
ſodaß man nur immer Stüde davon fieht und ihren Zuſanmen⸗
bang fi) auß ber allgemeinen Richtung denken muß, fo ift das
ein geiprächiges, unterhaltliches Land. Und wer über dieje Hügel-
wellen von Dorf zu Dorf wandert, ift jozufagen nie allein und
kommt nie aus der Gelellichaft Heraus. rüber muß es noch
anders geweſen fein, als auf den Höhen Burgen ftanden, deren
Reſte man aufgededt hat, fogar römiſche. Auch Galgen und
Ding⸗ oder Richtftätten, dieſe mit niedern Steinkreuzen bezeichnet,
gab es in angemejlenen Entfernungen. SHoffentli waren «8
mehr als nötig; wenn nidht, war jene Welt noch jchlechter als
unſre. Sicherlich gibt es jeßt mehr Felder und Menſchen.
Höchſtens die fteinigen Höhen und Rüden liegen brach, das ver-
fünden von weiten ſchon Die hohen gelbblumigen Königskerzen,
die Keinen violetten Aftern und purpumen Difteln, die fteinigen
Boden lieben. Wenn der Ader beitellt und wieder wenn er
gemäht wird, was bei und durchaus mit der Senſe geichieht,
ift die Landichaft reich belebt. Doch bleibt fie faft immer gleich
ſtill, was Laute anbetrifft. Ein Ruf, der die Pferde ermuntert,
ein kurzes Befehldwort ded Bauern an den Knecht, ein Raben⸗
fchrei ift ftunbdenlang alles, was man hört. Die Hauptarbeiten:
Bilügen, Säen und Ernten vollziehn fid) in aller Stille; fie find
zu ſchwer, als daß die Luft zum Reden oder Singen auffäme.
Anders ift es im Spätjiahr, wenn fie erledigt find. Dann
fteigen aus den Aderfurden Die blauen qualmenden Rauchjäulen
des verbrannten Unkrauts, deſſen Geruch der Luft weithin eine
Schärfe erteilt, und die begraften Bühel, wo man Biegen und
fe und die Heinften magerften Kühe zur Weide treibt, um-
wöllt der Rauch der Hirtenfeuer, die einen ſeltſamen Eindrud
befonderd? am Wbend machen, wenn dunkle Geftalten um fie
ſchwanken. In derjelben Zeit gehn die Kühe und die Rinder
zur Weide auf die Wiefen, und die Landichaft bekommt einen
niederländiihen Zug. Auf einzelnen Waldwieſen, auf Stoppel-
federn und abgeernteten Kleeädern weiden ganze Herden von
Kühen, ftolge Tiere, bie zu fagen ſcheinen: Unfer Herr ift ein
reicher Bauer, verwechfle und nicht mit den Kühlein armer Leute;
diefe fieht man gerügfam und einfam an Rainen grafen.
An einem Waldeck fteht ein uralter Örenzitein, um ihn drei
mächtige Buchen, gleichſam eine Vorhalle, einen Vorhof des
Waldes bildend, in deffen Dunkel man nun eintritt. Dort lagern
5. Mein Dorf 71
die Herden an den warmen Herbittagen, die Kinder, die fie hüten,
finden dort Hafelnüfle und Bucheckern. Dann hört man dort
zuzeiten ſeltſame Mufil. Aus dem Walde heraus klingen die
Glocken ber Herden wegen der großen Entfernung der einzelnen
Gruppen auf ihren Waldwiefen und wegen der dazwiſchen⸗
jtehenden Bäume nicht einzeln, fondern wie ein Geſang; oft
klingen die bochgetönten zufällig zufammen, und das läutet wie
ein heller Ruf aus Waldestiefen.
Die Gemarkung könnte man die politiiche Grenze des Dorfes
nennen, wenn der Horizont als feine natürliche gilt. So wie
jedes Kind, das kaum noch feft auf den Beinen fteht, Die Felder
und Wieſen feines Vaters kennt, Tennt jeder Knabe die Grenzen
der Dorfgemarkung; er tritt nicht auf den Rain vor dem Stein⸗
wald oder auf die andre Seite der Vizinalſtraße nad) Senfen-
heim ohne da8 Gefühl, fremden Boden zu betreten. Wenn Die
Burſchen von Eichelberg in einem Nahbardorf eine Schlägerei
inizeniert haben, halten fie ſich für ficherer, ſobald fie Den Grenz⸗
graben überichritten haben. Zwei uralte Steinfreuze, die bis
an die Duerarme in den Boden gejunfen find, erzählen, wo
der Waldpfad von Micheldberg her die Grenze jchneibet, bie
Sage von einer graufen Bluttat.
Da fi) bei ung nur die großen Bauernhöfe ungeteilt ver-
erben, und zwar ebenjo oft auf den älteften wie auf den jüngften
Sohn, ift dad Dorfland immer mehr zerteilt worden, und Die
Stüde wechſeln um fo leichter ihre Beſitzer, je Heiner fie ge-
worden find. Es gibt zwar in meiner Erinnerung fein Beifpiel,
Daß ein wirklich reicher Bauer ganz arm geworden jet, aber
Abbrödlungen erlebt man alle Tage. Kinder der Armiten find
mit nichts auf die Wanderſchaft gegangen, und als fie nach einem
Jahrzehnt oder länger zurüdgelehrt waren, haben fie mit den
Erſparniſſen einen Uder gelauft und find bei gedeihendem Hand⸗
werk in den Mittelſtand der Bauern eingetreten und baben ſich
genug Feld erheiratet, daß fie vier oder fünf Kühe halten konnten.
Damit ift das Bild der Landſchaft immer mannigfaltiger und
bunter geworden. Jetzt liegt kaum einmal ein Feld brach, es
erregt Staunen, wo e8 vorlommt. Dagegen find ed der Feld-
früdhte weniger geworden, und von diefer Seite her zog Ein-
förmigfeit in die Gemarkungen. Der zarte Flachs mit feinen
hellblauen Blüten ift verſchwunden, die gelben Rapsfelder find
felten geworden, von den Getreibenrten wird ber Dinkel weniger
angebaut als früher, nur die Quzerne und der hohe Pferdezahn-
72 ' Glädsinfeln und Träume
mais haben an Ausbreitung gewonnen. Im Sommer die Kar⸗
toffel, im Herbſt Die Zutterrübe: dieſe beiden niedrigen, anſpruchs⸗
lofen, unpoetifhen Gewächſe find es, die ben größten Raum
einnehmen. Wir leben eben im Zeitalter der Nühlichkeit.
Das ift Die Ausficht, die den Bauer freut: der Blid auf
jein Dorf, wo feine Heimat im engften Sinne ift, deren Dach,
deren Darüber hervorragenden dunkeln Birn- oder hellen Nuß-
baum er erlennt. ft e8 nicht natürlih, daß man den Blid
aufs Liebfte, da$ man bat, jedem andern vorzieht? Man wendet
fi) auch einmal auf einer ſolchen Höhe um, wundert ſich über
die Nebelbant im Aheintal oder die ganz fernen linksrheiniſchen
Berge, die nad) Sturm oder in den hellen Paufen eines Regen⸗
tag8 blau am Abendhimmel ftehn. Aber das find nur Kurioſi⸗
täten. Herzensfäden jpinnen fi) da hinüber nicht, die wachſen
nur dem Eigenften und Näcjften zu. Wan kann wohl einen
alten Bauer, der nicht mehr gerade bie fchwerfte Arbeit tut,
auf dem höchſten Punkte feine Ackers ftillftehn und lange, wie
in Gedanken verſunken, ind Tal hinabſchaun fehen. Der Fremd⸗
ling möchte ihn wohl für einen ſchwärmeriſchen Raturbewundrer
halten; wenn er zu ihm Hintritt, möge er nicht enttäufcht fein,
wenn das Sinnen ded alten Mannes dem offnen Scheunentor
in jeinem ®ehöft galt, oder wenn er wohlgefällig dem Rhythmus
des Dreichend laufchte, daB don feiner Tenne herauftönt.
Die Alleen von Obſtbäumen, die vom Dorf in die Felder
hinausziehn, ſetzen die Dorfftraßen und Dorfwege fort. Ihre
dunkeln Linien führen in die ſonnigen Felder und verdichten ſich,
wo an Kreuzwegen die Baumreihen zuſammentreffen. Sie ſind
erſt im achtzehnten Jahrhundert entſtanden; da aber alle Dbft-
bäume, der Walnußbaum ausgenommen, ſchon in ihren erften
Lebensjahren charaltervolle Phyfiognomien annehmen, fo haben
wir jehr viel Apfel- und Birnbäume, auch Kirfchbäume, die ein
uxaltes Anjehen haben, und deren jeder fozujagen eine Perſön⸗
lichkeit if. Man bat bei ihnen immer den Eindrud, als ob fie
ro plagen müßten, ihre Laften füßer Früchte heranzupflegen
und durch Somme und Wetter dem Herbſt entgegenzutragen; aber
wenn fie e8 nicht gern täten, würden fie fie in ſolcher Fülle
tragen, daß ſich die "He biegen? Diefer Eifer und dieſe Güte
rühren uns, und wir jchließen Belanntichaften mit ihnen, und
mandje merkwürdige Geftalt darunter bleibt ung unvergeßlich.
Sie leben in unfrer Erinnerung, dieſe alten Bäume, wie bie
alten Bauern, ohne die wir und md Daß Dorf nicht vorftellen önnen.
5. Mein Dorf 73
..
Und leben fie nicht in der Tat? Wenden fie fich nicht der Sonne
zu, ſodaß fie zuleht der Straße den Rücken kehren? Halten fie
ihr nicht ihre Früchte entgegen, daß fie ſich raſcher röten? Und
jubeln fie nicht in die helle Frühlingsluft hinaus mit ihren
weißen und roten Blütenfträußen?
Die Dörfer find bei uns Hein und liegen immer an den
Straßen und Bächen, meift dort, wo die einen zu den andern
berabfteigen, recht verſteckt in der Tief. So liegt auch mein
Dörfchen in einem Kefjel oder vielmehr in einer ziemlich flachen
Mulde, und es ift jehr auffallend zu jehen, wenn man von
Senjenheim oder von Breitbrud, den beiden Verkehrs⸗ und
Kulturzentren, anjehnlichen Marktflecken, herkommt, wie die grau»
braunen, moo8grünen Dächer da unten zujammengedrängt liegen,
wie ein kleines Gebirge von Firften und Giebeln, und darüber
dunkle Wollen, die Bäume, die vor den Häufern oder in den
Graßgärten jtehn, und wie an ihrem erhöhten Rande aus einer
Gruppe von größern, weißwandigen Gebäuben der blendend
weiße Kirchturm mit feinem Kuppeldach aus alterSgrauen Schin⸗
deln wie eine Kerze hervortaucht. Dem frommen Vergleich einer
Herde von Hütten, die fi um bie Kirche, ihren Hirten und
treuen Beichüber, drängt, ſetzte der aufgellärte Dorfarzt, der
übrigens ganz freundlich mit den beiden Geiftlichen verfehrt, die
trivial⸗kritiſche Anficht entgegen, die Kirche bemühe fich vergebens,
die Eichelberger aus dem Pfuhl ihrer Sündigfeit herauszuziehn;
der Forſtgehilfe aber berichtete jchwäbelnd: Mei Bruder, der
Herre Rentamtmann, jagt, Eichelberg fomm ihm vor, als jeie
feine Bauernhäufer in eine Keſſeltreibe zſammekomme. Er leerte
nach biefer Behauptung fein Glas goldgelben Biere und fegte
da8 leere Glas in einen Sonnenfled, der auf dem Tiiche fpielte,
daß es hell aufleuchtete; die Herren tranfen nämlich aus dicken
gerippten Gläſern, die Bauern aus dünnen glatten. Der Effelt
war ſchön, aber die Bemerkung des Foritgehilfen fand darum
doch kein Echo, weil die andern fanden, daß er fid) zu viel für
feine Jugend beraußnehme, und daß man übrigens auch Licht⸗
effekte weiter nicht fchäßte, nicht einmal in Biergläfern.
Doch ich will ja noch nit von den merkwürdigen Be-
wohnern der erhöhten, weißwandigen Häufergruppe um den Kirch⸗
turm, jondern von Eichelberg im allgemeinen und bejonder® als
Dörfchen fprechen. Wenn es ſich nun darum handelt, den Über-
blid von einer der herabfteigenden Landftraßen zu vollenden, Die
wir genannt haben, fo ſei der geneigte Leer zunächſt darauf
——— TIER LT CELL LAS
74 Glüdsinfeln und Träume
—— IL ING GL LI GL LE NL — —— —ñ— — —— ——— LIND? LG — — LE
vorbereitet, daß er nicht vieles und nicht vielerlei ſehen wird.
Eichelberg iſt nur ein Dörſchen, hatte zu der Zeit, von ber wir
ſprechen, fiebenhundert Einwohner in achtundneunzig Häufern
oder Hütten, und man mochte dad Ganze in weniger ald einer
halben Stunde umſchritten haben. Dafür hat es, wie jebes
normale Dorf — ftadtähnliche Dörfer wie in der Nheinpfalz
gibt es bei und nidht —, die zwei großen Vorzüge: daß man
es leicht als Ganzes überfieht, und daß man jeden Augenblid
aus feinem Bann in die weite, freie Natur hinaustritt. In
Heinen und mittlern Dörfern öffnet fi) noch jedes Haus nad
irgendeiner Seite ind Freie, entweder ſchaut feine Vorderfront
auf Felder und Wieſen, oder, was viel häufiger der Fall ift,
man tritt aus dem Garten, der fi) am feine Rückſeite anſchließt,
unmittelbar ind Unbewohnte hinaus. Auch dem Bauern, dem
man darin wenig Empfindung zutraut, tut es wohl, ſich aus
dem „Gedränge“ der Häufer und Nachbarn Hinauszuflüchten.
Wenn er einen Schmerz überwinden, einen Groll auskochen laſſen
will, macht er ganz ſachte das Fleine Pförtchen auf, daß hinten
Hinausführt, überjchreitet die Bohle, die einen Kleinen von ber
Mühle herkommenden Wafjergraben überbrüdt, und macht ſich
auf feiner anftoßenden Wieſe oder ein paar hundert Schritt
aufwärts in dem Weinberge zu jchaffen, der bei uns bäufig
gerade gegenüber dem Hausgärtchen liegt. Oder er lehnt ſich
auf fein Gartengitter, haut hinaus, wo feine Menſchen find,
und fühlt, daß es nod eine Welt außerhalb feines Schmerzes
oder feines Grolls und außerhalb des Bereich! fremder Menſchen
gibt. Auf denfelben Pfaden treffen fi) auch gern die Burfchen
und die Mädchen, Die fi) etwas zu jagen Haben; beſonders die
Burſchen gehn bier gern am ftillen Abend, wenn fie noch eine
„Traget“ Grad gemäht haben. Wenn er erzählen fünnte, ber
feine Weg am Wafler hin! Wie mande Sorge au dem Dorf
ift auf ihm Hinaus-, auf ihm ift aber aud) in mandyer Dämme-
rung oder grauen Nacht Unglüd und Schande hineingetragen
worden, die dad Tageslicht fcheuen.
Auf einem der ubrglasförmigen, flachgerundeten Buntſand⸗
fteinhügel, der unmerfli feinen ihm zum Verwechjeln ähnlichen
Genofien überragt, ift 1843 eine Eiche zur Erinnerung an die
Schlacht bei Leipzig gepflanzt worden. Dort hinauf babe ich
viel mehr als bundertmal einen alten Freund meiner Jugend,
den Delan St., begleitet, dem ich es verdanke, daß ich die Liebe
zur Wiſſenſchaft mit meinem Kinderglauben vereinigen Tonnte.
5. Mein Dorf 75
Man fieht von jener baumgefrönten Stelle elf Dörfer und wohl
ebenjoviele Höfe. St. zitierte dort gern das Wort des Erasmus
von Rotterdam in feiner Beireibung von Holland: „Dieles
Land ift mir zum Vaterland geworden, und wollte Gott, daß
ih ihm ſowohl zur Freude wäre, ald es mir if.“ Ich habe
dort auch fagen hören: Dein erfter Gedanke, wenn du über dieſes
weite Gefilde hinſchauſt, it wohl: So weit vermag ich mich zu
regen; der zweite: Was du fiehft, hat dir Gott zur genußreichen
Anſchauung gegeben. Alſo Freiheit und Fülle.
Was aber die Möglichkeit betrifft, dad ganze Dorf mit einem
Blick zu überſchauen, fo hörte ich jagen: Wer nie das Reit, in
dem er lebt, von oben fieht, der hat auch feine rechte Vorſtellung
von dem Ganzen, dem er angeichlofien, eingegliedert ift. Und
auch das ift eine große Wahrheit. Ich liebte mein Torf, jo
wie ih es vom Behrberg aus ſah, vom Schufterhäußchen auf
der einen Seite bis zum Haus des GStraßenwärter8 auf Der
andern. Da fah ich e& zuerſt al ein Ganzes unter mir, und
dann erlannte ich auch gleich die drei „Dorfteile,“ in Die feine
achtundneunzig Häujer und fiebenhunbert Einwohner zerfielen.
Ich ſah nämlich gleich unter mir in den Kirchhof hinem und
auf die Kirche, von der er wie ein Garten ausging, und
diefen Kern ftanden im Halbkreis die Apotheke, das Bottorbang,
das proteftantiiche Pfarrhaus und die Mühle; diefe vier fühlten
offenbar eine ftarfe Bufammengehörigfeit, denn fie waren nicht
bloß alle blendend weiß getündht, jondern jedes hatte auch zwei
Dleander voll rofenroter Blüten in grünen Kübeln zu beiden
Seiten der Tür. Weiter ftand dann an der Straße das Gaft-
Haus, ein vergrößertes, aber nicht verſchönertes Bauernhaus mit
einem langen Flügel voll Ställen und Remiſen und den Rfäum⸗
lichleiten für eine Heine Bierbrauerei. Vom Giebel hing das
an eilernem Arm fi) Inarrend beivegende Wahrzeichen, das weiße
Lamm, über die Straße. Bon da an lagen die Bauernhäufer
bunt durcheinander, bis am andern Ende ein großer höher ge-
legner Hof mit weithin leuchtender weißer Kapelle den Abichluß
machte, die mit ihm ein Ganzes zu bilden fchien: der weithin
befannte Lauterbacherhof mit dem katholiſchen Kirchlein, von dem
ein ſchmaler Kirchhof talab zog; eine Anzahl von Kleinern Häuschen
mit entiprechend Heinen Gärtchen lag dort verftedt unter uralten
Linden, denen man anjah, daß fie eher zu dem Hofe und feiner
alten Kapelle als zu den Fleinen Wohnſtätten gehörten, die num
in ihrem Schatten lagen: Gegenüber diefem dreigfiedrigen Bogen
76 Glädsinfeln und Träume
bes Dorfeß zogen Wieſen und Gartengrunbftüde an dem Bade
bin, der fi in einen Dichten Park verlor, aus dem fern ein
hohes braune Dach und ein grauer Turm herausſchauten: das
Haus des Herrn Barons, daß faft dag ganze Jahr mit geichloffenen
Läden und Türen wie im Schlafe baftand
Dem fremden, der von einer der Höhen berabftieg, bie
Eichelberg umgeben, mochte wohl manches Städtchen feinen is
ftolgen Anblid bieten, wie daß Dorf mit jeinen in ungleicher
Höhe ftehenden, einander überragenden Häuſern. Zwar find
viele graue Dächer mit roten Biegelfteinen geflidt, auch gibt es
Strohbächer, bie filbergrau ſchimmern, aber das Profil des Dorfes
tft wie ein kleines Gebirge mit Giebelgipfeln und Graten. Leuchtend
treten auf neugededten Dächern die mit Biegeln Bineingelegten
Sahreszahlen hervor. Der Ichönfte re diefer Anſicht aber
bleiben die Bäume, die ebenfalld teils hoch herborragen, teils
nur die Lüden zwiichen den Häufern und Häufergruppen auß-
füllen; fie find wie die Rollen in dem Bild. Und wie alles
in dem Dorfe lebt, jo wie Halme und Bäume leben, und wie
es, voraußgefebt, daß du Die Sprache kennſt, aus Hütten ımb
Häufern zu bir ſpricht, jo zeigt auch der Schatten, worin ein
Haus fteht, durch feine Tiefe die Zeit an, Die e8 an dieſer Stelle
fteht: eine fchöne und untrügliche Whnentafel. In ber Sonne
ſchattenlos zu ftehn, ertragen nur die wenigen neugebauten Tage⸗
Iöhnerhäuschen, und auch dieje ftreben durch Anpflanzungen den
andern nad. Denn nichts ift im Dorfe zeitlos wie die Mauern
und Steine der Städte, in denen man wohnt, ohne zu wiflen,
bon wann oder von wem fie find.
Die Landftrafe, die durch dad Dorf führt — und zwar
fo, daß der breizehnte Kilometerftein genau vor dem Pfarrhaufe
fteht, was dem Herrn Pfarrer aus Gründen, von denen ex nicht
gern fpricht, unangenehm tft —, ift eigentlid nur ein ganz
äußerliches Zubehör, dad erkennt man daran, daß alle die alten
Banernhäufer feitab von ihr ftehn ober ihr den Rücken kehren.
Die Straße ift angelegt worden, als das Dorf ſchon Jahrhunderte
auf feiner Stelle ftand, nicht einmal die Honoratiorenhäufer
reihen fih an ihr auf, jondern ftehn um die Kirche; fie find
aus einer Gruppe von Wirtichaftsgebäuden hervorgegangen, Die
dem verichwundnen Klofter Gottreich gehört Hatten. Die wahren
Wege des Dorfes führen zwilchen den Häujern und zum Xeil
jogar durch Anbauten der GHäufer durch, ſchmale, berafte Pfade,
an Heden Bin, wo uralte, zum Teil mächtige Holumberfträudhe
5. Mein Dorf 77
und wilde Rofenbüjche ftehn; Diefe find für ben Verkehr der
Menichen, und es befteht ein ftillichweigenbes Übereinkommen,
daß nicht einmal Pferde auf ihnen geführt werden. Uber jedes
Haus hat feine Zufahrt von den Wegen ber, die ins Feld oder
zur Straße führen, und jede von ihnen endigt mit einem Stein-
unterbau, auf dem die jchwerften Erntewagen in die Scheune
bineinfahren können. Der mag ein Weit der Tenne aus der
Zeit fein, wo im freien gedroſchen wurde.
Der Kleine gelbe Bad} fließt mit unglaublicher Geſchwindigkeit
durch das Dorf, zu meiner Zeit war er unter allen Dingen und
Menſchen diefer Gegend überhaupt das einzige, dem es preifierte.
Was man ihm zu arbeiten gab, erledigte er mit erſtaunlichem
Fleiß in der kürzeſten Zeit, und gründlich; alſo ftürzte er ſich
oben im Dorf in eine hölzerne Rinne, ſchoß hindurch, als ob fie
in Teiner Weiſe bemoojt wäre, und doch leuchtete fie in der Sonne
wie Smaragd, und warf fi dann fogleih in das alteröbraune
Mühlrad, als ob er es in Stüde reißen wollte, jprang darüber
weg. daß die Tropfen leuchtend flogen, nachdem er es haftig in
feinen alten roſtigen Angeln umgedreht hatte, und floß dann
eine Strede zutraulicher zwilchen grünen Ufern hinter dem Dorfe
bin; da bier nicht viel zu tun war, nagte er im Vorübergehn
an einem Steinpfeiler der Pfarrmauer, den das unartige Bächlein
jedes Jahr einmal ind Wanken brachte. Dann kam er zu ung,
wo ihm aller Abfall des Apothelenlaboratoriums, beſonders ber
geſchmackloſe ausdeftillierte oder ausmazerierte Inhalt rußiger
Kupferblafen und ftaubiger „Maulaffen“ *) übergeben wurbe, den
er aufs jchleunigfte weiter beförderte. Die Kleinheit, Geſchwindig⸗
teit und Unermübdlichfeit des Angelbachs veranlaßte in meinen
Gedanken feinen Vergleich mit Menfchen. Ihm gleich war zwar
niemand, den ich kannte, aber ber Heine quedfilberne Schullehrer
ließ mit ähnlicher Unermübdlichkeit feine belehrende und erklärende
Stimme aus dem im Sommer geöffneten enfter feines niebern
Schulhauſes erihallen und begleitete feinen Unterricht mit bem
Klopfen feines Bakulus auf den Schultifchen, der Tafel ober den
Schülern mit einer Beharrlichkeit des Wellenſchlags. Und dann
war der Briefträger und fein Weib, beide beftrebt, die ſchmächtige
Korreipondenz Eichelbergd fo raſch wie möglich an die Adrefiaten
abzuliefern, und fofort wieber an ihre KRorbflechtarbeit zu gehn,
weshalb fie allmorgendlih da8 Dorf um⸗ und burdheilten, dem
*) RKegelförmige Glasflafhen mit weiter Öffnung.
18 Glädsinfeln und Tränme
LT ⸗ —
— —
Bächlein von ferne vergleichbar. Was ſich ſonſt in unſerm Dorfe
bewegte, ließ ſich Zeit, ſogar die Doktorkutſche, die bei Regen
ausfuhr, denn der Doktor konnte das raſche Fahren nicht ver⸗
tragen. Die andern Wagenbeſitzer — und alle Honoratioren
beſaßen mehr oder weniger alte Fahrwerkzenge — fuhren langſam,
weil ihre Wagen es waren, die raſches Fahren nicht vertrugen.
Beſonders die Pfarrerivagen zogen dahin, von dicken Gäulen
ſchwer gezogen, als wollten fie den fefteften Ader aufpflügen.
Und unfre Dorfftraße war allerdings bei Regenmweiter von einem
frifhgepflügten Ader nicht eben jehr verſchieden.
Die Stelle des Bürgerfteigd vertreten im Dorfe Heine
Streden rajenbewachjener Streifen längs der Häuſer und Gärten,
jelten durch uralte Bohlen verbunden; hierher rettet fich der Ver⸗
kehr, wenn nad) langem Regen die Wege ein Schlammftrom
geivorden find,
Es ift eine eigne behagliche Schönheit, die der Bauern⸗
häufer; fie fordert zwar nicht Bewunderung, denn es liegt in
ihrer Natur, befcheiden zu jein, aber alles in ihr Kat einen
direlten Bezug auf ein reges, leicht zu überfchauended Leben.
Die wohlgehaltnen Spaliere und Reben fprechen vom Fleiß, das
ganze Anweien vom zufammenhaltenden Einfluß nücdhterner Spar
famleit; das Bankchen vor dem Haus erzählt von der Ruhe nad
der Arbeit, vom Hinaufjehen zu den Sternen, die Gewürzpflanzen
im arten, die Blumen im Fenfter, dad Holz, das an der Seite:
hin aufgefchichtet ift, und Die Neifigwellen, die auß dem Giebel
ihauen, die Kate auf der Schwelle und die ftattlihe Reihe
yölgerner Milchſchüſſeln, die frifch gefchenert zum Trocknen auf
der Bank ftehn, wollen alle nicht ſchön fein oder Schönheit er⸗
zeugen, oder nur fo weit ald Ordnung und Behagen jchön find;
oder wie eine Hausfrau ſchön ift durch "starte Arme, kluge Augen,.
fröhlichen Mund. In unfrer Gegend gibt es feine gemalten.
Banernhäufer, denn nirgends Hatten Bier Die Bauern je ſoviel
im Überfluß, daß fie es dafür aufgewandt hätten. Übrigen? iſt
auch die Sitte des Bemalens der Häufer bei und in den Städten
niemals heimiſch geworden. Au einem einzigen Hof eines Nach⸗
bardorfed bat man unter verichiebnen Lagen von Kalktünchen.
einen heiligen Florian, den befannten Heiligen der Bauernhäufer,
entdedt und herausgekratzt; es ift auch nur ein Kleines unſchein⸗
bares Bil.
Ein Bauernhof ift darin ganz Natur, daß er niemals fertig
ift, denn auf diejer Seite ift er neu, auf jener alt; bier verfällt
5. Mein Dorf 9
ein Teil, und dort wird vielleicht ein andrer eben erneuert. Er
ift wie einer der Berge, die darauf niederjchauen, oder wie einer
ber Bäume, die er beichattet, immer im Werden. Menſchen, bie
nur das Äußere fehen, finden das haäßlich. Allerdings fehlt
dem Bauernhof, was man die lebte Feile nennt; aber die fehlt
notwendig allem Lebendigen, denn Leben heißt fi) verändern,
entwideln, verfallen. Und wenn nun gerade das Verfallen nicht
einmal immer ein einfaches Vergehn der Dinge ift, jondern ein
Aufrechterhalten des Alten aus Anhänglichleit und lieber Ge⸗
wohnbeit, fo wollen wir es bon vornherein nicht mit kaltem
Auge anichauen. In einem der Heinern Häufer unjerd Dorfes
fteht ein dreibeiniger Stuhl, in deſſen freisrunden Ahornfit die
Jahreszahl 1731 mit ſchönen großen Ziffern tief Hineingejchnitten
ift, von dem fagte der Schujterbauer, dem er gehörte: Daß ift
da8 einzige Stüd im ganzen Hofe, da vom Urahn ftammt, das
und bie tiefften Yundamente, die beim Brande im Jahre 1801
allein ftehn geblieben find; alles andre ift im Laufe der Jahre
neu gebaut und umgebaut, den Stuhl haben wir bewahrt, und
er wird hoffentlich) noch Spätern Nachlommen von dem erften
Schufterbauern erzählen, der wirflid ein Schufter war, der auf
diefem Stuhle fein Handwerk ausübte. Da ihm Ader und Wald
durch Erbichaft zufielen, wurden jeine Kinder Bauern, und ihre
Kindeskinder find eg bis heute auf demjelben Grunde geblieben. —
Einmal ſprach ich mit dem Beſitzer des Nußlocher Hofs, ber
der größte in unſrer Gemeinde ift, über Die alte Stube, die von
neuen umgeben gleichjam Den Stern feines Anweſens bildete, und
der fagte: Sie ift noch nicht das Älteſte, hier iſt ein Stein, ımd-
dort ift ein Balken, die älter find; was alt und gut iſt, Das
wächft eben immer wieder in das Neue hinein; es iſt wie ein
Erfenflog, in den alte Knuppen und junge Triebe ineinander
gewachſen find, es ift eigentlich nichts jchönes, und Doch: wenn
man den Klotz außeinanderfägt und poliert die Fläche, da kommt
der Ichönfte Maſer heraus, für den die Kunftichreiner ein gut
Stüd Geld zahlen. — Vor fünfzig Jahren, als ich das Dorf:
betrat, da kamen eben die großen Butmühlen für das Getreide
und verbeijerte Pflüge auf, danach folgten die erften Dreich-
mafchinen, für alle diefe wurden geichüßte Plätze geichaffen,
indem man das Scheunendacdh auf der einen Seite big faft auf
ben Boden fortführte, wodurch ein Ddreiediger Raum entitand,..
worin diefe Dinge untergebracht wurden. Später fam die viel
tiefer einjchneidende Maßregel der Feuerverſicherung, die Mauer-
80 Glädsinfeln und Träume
wert ohne Holzbalten in der Nähe aller Feuerftätten verlangte.
Möge diejer Erneuerungsprozeß nicht zu raſch vor ſich sn
Ver alt wird, Hat viel gejehen, jagt man. Das iſts, was dem
Alter feine Überlegenheit und Würde gibt. Was macht Diefen
Dreibeinſtuhl des alten Schufter8 wertvoll, al3 der Gedanke, daß
fieben Generationen ihn bejeffen, auf ihm gearbeitet haben, daß
eine ganze Kette von Menjchen auf ihm alt geworden ift? Wäre
er in dieſer Zeit von einer Hand in die andre gegangen, jo
wäre er und nicht jo wert. ber während Die Geſchlechter kamen
und gingen, blieb er erhalten, und wenn ed auch nur ein Drei-
bein ift, er kommt mir vor wie der Baum, an dem fi) Jahr
für Jahr eine neue Rebe jung emporrankt und wellend nieber-
fintt. Uber ift e nicht ebenſo mit allen Geräte alten Gebrauch! ?
Die jchönfte Farbe am Metall ift die des Alters, und fo ift
am Holzgerät der Glanz des Gebrauchs das ebelfte.
In alten Häufern gibt es noch grüme glänzende fen, die
mit ebenjo vielen Augen in die Stube leuchten, als fie Radeln
haben. Da aber das Holz immer teurer geworden it, find Die
Heinen Leute zu Heinern Ofen übergegangen, und die Frauen
lieben die gußeifernen „Sauföpfle,“ auf deren glühender Ded-
platte man fiebende Kartoffeln den Dedel ihres Keſſels lüpfen
fieht. Damit ift auch die Dfenbant geichwunden, deren Stelle
jebt vielfach ein Lehnjtuhl einnimmt, worin ein Großvater feine
alten Glieder wärmt. Noch einfchneidender ift die Reform, die
ein andrer Heizapparat, der Badofen, erfahren bat. Zwar wölbt
noch mander Badofen feinen runden Bauch über die Handmauer
hervor, aber die meiften find „foſſil,“ ftehn außer Gebrauch. Die
meiſten baden jept beim Bäder oder kaufen das Brot fertig.
Schade! Wenn an Badtagen friichgebadnes Brot und die ihm
unfehlbar folgenden Kuchen auf allen Tiichen und die Treppe
Hinauf zum Abkühlen ftanden, durchwehte ein feiner und gejunder
Duft da8 Haus, dem fein andrer es gleidhtut. Die Kinder, in
deren Natur es liegt, dab fie fi) an diefem Duft ergögen, und
dag ihnen friſchgebacknes Brot befier ſchmeckt als altes, bebelfen
fi in ärmlicher Weife, indem fie Brotfchnitte an ben glühend
heißen Zimmerofen leben, bis fie braungeworden abfallen.
Auf der Innenfeite der Stubentür find mit Kreide Bahlen-
reihen geichrieben, die Verkauftes oder Geliehenes betreffen. Bapier
war jelten, und eine mit guter Farbe angeftricdhne Stubentür
war geduldig wie Bapier. Nur durfte kein Enkellind mit nafjem
Singer vieljagende Zahlen verwiſchen, noch aud) ein Wihbold von
5. Mein Dorf 81
EEE. ——— — — ———— ——— ———— —— ——— —————— — —
Schuldner die ganze Tür ausheben und auf dem Kopfe weg⸗
tragen.
Das Wohnhaus nebſt Holzlage und einigen kleinen Neben⸗
bauten, bei Handwerkern gehört die Werkſtatt dazu, wendet ſeine
Vorderſeite zur Straße oder zum Hauptweg, die Scheune und
der Stall find im rechten Winkel dazu geſtellt, und gewöhnlich
ichließt der Mifthaufen, der mit jedem Sabre rechtediger und
ordentlicher geworden tft, die dritte Seite ab. In dem dazwijchen
liegenden Hofe ift der Ziehbrunnen, der vor oder neben jedem
Haufe fteht, mit feiner dunkeln Holzfarbe und der Zuſammen⸗
jtellung aus dem pfeilerartigen Sodel und dem jcdhräg auf-
fteigenden Biehbaum, der eine ſchöne Bogenlinie in den Himmel
zeichnet, mit den Gefäßen, die ihn umgeben, und den Pfützen,
in denen dieſe fich fpiegeln, die eigentümlichſte Erſcheinung. Seht
verſchwinden bie alten Ziehbrumnen, deren Biehbaum am untern
Ende mit Steinen beſchwert war: ein unerjchöpfliches Thema für
die Landichafter feit Rembrandt und Waterloo. Impoſant ift
da3 zweiflüglige Scheunentor, dad nit felten im Nundbogen
gebaut ti. So ſchwer es ift, fo läßt es Doc Raum für die
Hühner, die gern die Tenne aufjuchen, und für die Hauskatze,
bie dort ihr ergiebigite8 Jagdrevier hat. Vor dem Scheunentor
jteht ein. Streifen Gras, gerade fo lang und fo breit wie die
Negentropfen vom Scheunendadh fallen, nicht fürzer und nicht
enger. Das Scheunentor ftreift die Grashalme zur Erde, wenn e8
fi öffnet und fchließt, und fie jtehn leiſe raufchend wieder auf.
Wenn auch unjre Bauern ihre Nahrung aus dem Acker,
dem Garten und dem Weinberg ziehn, find fie doch alle Vieh—
züchter. Die Armfte Witwe hat eine Biege, der Eleinjte Bauer
eine Kuh und ein Schwein, der Hofbauer hat zwölf glänzende
Kühe im Stalle, vier Pferde, die noch praller leuchten, und drei
oder vier Schweine. „Das Vieh ift nicht, was Menſchen find,“
jagt man wohl, aber doch kommt es gleich Hinter ihnen. Wenn
man bedenkt, wie das Vieh auf den Menſchen angewiejen tft,
beſonders im kranken Buftande, wo es fi) jo wenig belfen Tann,
begreift man die Sorge, mit der es umgeben wird. Es ſpricht
fi) darin fogar der ganze Charakter einer Wirtſchaft aus; ver-
nachlaͤſſigtes Vieh gereicht ihr zur Unehre, gerade fo wie ver-
nadhläffigte Kinder, und infofern noch mehr, als dort ein greif-
barer oder zählbarer materieller Nachteil herausichaut.
Da jeded Haus feinen Grasgarten hat, über deſſen Raſen
alte und jumge Obftbäume ihren Schatten werfen und nad)-
Nagel, Stüdsinfeln und Träume 6
82 Glädsinfeln und Träume
einander ihre Blüten, Früchte und Blätter außftreuen, und ba
diefe Gärten immer viel ausgedehnter find ald die Häufer und
die Hofreiten, Tiegen unfre Dörfer buchſtäblich in Gärten. Man
hat aber auch andre alte Bäume ftehn laſſen, al man neuen
Häufern und Gärten Raum ſchuf, und ehe fie abjtarben, jorgte
man für Nachwuchs. So ift dad Dorf nicht bloß mit den Bäumen
feiner Gärten, ſondern auch mit Eichen, Linden, Ahorn eng ver-
fchwiftert. Das find dankbare Freunde, die Stürme abhalten,
Schatten jpenden, den Bienen Nahrung geben. In unjern Waldern
find die großen Ahorn und Eichenbäume längft verſchwunden,
und darum ift audy der Holzwert diefer Hausbäume nicht gering.
Linden wachſen immer noch in feuchten Wäldern.
Die ältern Gärten liegen zum Teil beträchtlich tiefer als
der Boden, auf dem Die Häufer und Scheunen ftehn. Auch bier
wohnen die Mentchen auf ihren eignen Trümmern, die fi) beſonders
in frühern Zeiten durch häufige Brände erhöhten. Eine künftige
Zeit wird vielleicht einmal diefe Scherbenberge außgraben.
Ein Grasgarten ift weder ein reiner Nubgarten, noch ein
Bart, fondern ift beides zugleih. Die Bäume ftehn zerftreut
über den Raſen bin, ihre Reihen haben die Tiefe eined Hains,
und deshalb fcheinen diefe Gärten größer, al fie find. Das
Hineinziehende und Anheimelnde teilen jie mit den Buchenhainen.
Bon der Schönheit ihrer blütenbededten und fruchtreichen Zweige
will ich gar nicht reden. Die Bauern kümmern fi) wenig um
biefe Gärten, e8 find die Grauen und die Mädchen, die auf dem
Graſe ihre Wäſche bleichen und es mähen, wenn e8 hoch genug
gewachſen if. Wenn die Yrüchte der Bäume nicht ſehr reichlich
find, wird wenig Wejend daraus gemacht. Wer rationelle Obft-
kultur betreibt, bepflanzt Ader oder Wieſen mit Sruchtbäumen
oder zieht an Mauern Spalierbäume. Die Bäume in den Gras⸗
gärten find deshalb oft ganz fich felbft überlaffen. So wie nun
ber ungepflegte Wald malerifchere Bäume enthält als der geregelte
Forft, jo ftehn auch in den Craßgärten alte Birn- und Apfel»
bäume, deren phantaftiiche Geftalten, deren mit Moos, Ylechten
und Miſtelſtrauch bebedte Afte gute Bilder geben. Ihr graue
Alter ftimmt zu dem alterSbraunen Holzwerl des Hauſes dahinter.
Yür den Stadtbewohner ift der Garten das lepte Gudfenfter,
durch das er noch einen Blid in den Wandel der fort und fort
Ichaffenden Natur gewinnt; für den Landmann ift er die nächſte
Umgebung ſeines Hauſes, feiner Hütte, feine Wohnplatzes. Das
Dorf fteht gewiffermaßen ſelbſt im Garten, und jedes Haus nimmt
5 Mein Dorf 83
—— —⸗ ————— —— LT NINE DE! — — —— —
EINE LER BP
Davon einen Raum ein, den man als den Lebensraum einer
Bauernfamilie bezeichnen könnte. Es ift der alte „Gard,“ Der
umfriedigte, zaunbewehrte, nächte Befit. Welches friedliche Bild,
diefe Umfriedigung, diefer „Gard“ von heute, wo nicht bloß Raum
für das Durchſchlüpfen von Raben und Hunden, jondern in
manchem baufälligen Zaun ſogar für Menichen if. Man bedarf
feiner nicht mehr ald Schub; Holunder und Rofen, die ihn um⸗
böfchen, verraten die friedliche Natur der Paliſade.
Man baut’ bei und die Bäume aus jungen Fichtenftämmchen,
die mit der Rinde dicht nebeneinander in die Erde geſetzt werben,
fie haben etwas Naturmäßiges und ſehen jogar zierlich aus, ſo⸗
lange fie neu find; wenn fie alt werden, trodnet die Rinde ab,
Löft fich los, und fie haben dann etwas Rauhes. Sind fie aber
fo alt geworden, daß die in der Erde ftedenden Zeile morſch
werben, jo neigen fie ſich hierhin und dorthin und werben nur
noch durch den vielleicht auch fchon morſch werdenden Querbalken
zufammengehalten, an deſſen Außenjeite fie befeftigt find. In den
Eden der Zäune jtehn Holunderfträucher, und früher gab es auch
viel Weißdorn an ihnen entlang. An defien Stelle find Heden-
rojen getreten, ſeitdem man den Weißdorn im Verdadht hat, Un-
geziefer anzuziehn; fie find auch ſchön, erheitern nicht bloß im
Sommer die Umgebungen unjrer Häujer, wenn die weißen oder
Purpurrofen mit dem goldnen Mittelring der Staubfäden blübn,
ſondern auch im Spätherbft, wenn der Wind die Sträucher ent-
blättert hat, two dann die glänzenden roten Hagebutten übrig
bleiben. Die Holunderbüfche find ernfter mit Ihrem dunkelgrünen
Laub, ihren grünlichweißen Dolden und fchwarzen Beeren. Es
gibt einige Hedenrofen, an deren Träftigen Duft die edelfte
Gartenroſe nicht heranreicht.
Der angeborne Farbenfinn des Menichen offenbart fich in
der Art, wie die hellen Farben der Geranien, Nelken, Tulpen,
Kaiferkronen, Lilien und einiger andrer zum Schmud des Weiß,
Grau und Braun der Wände und Mauern, Tore und Dächer,
der Holzitöße und Düngerhaufen herangezogen werden. In dieſen
Menfchen, die Tag für Tag in Staub und Schweiß ihr arbeit-
reiches Leben einförmig hinbringen, lebt ein Sinn für die Poefie
der blütenreichen Pflanzen, den kein Mühn und Sorgen erftiden
konnte. So wie fie fi im Frühjahr an ihren blütenſchweren
Apfel- und Birnbäumen freuen, wollen fie fi) den Sommer lang
an den unermüdlich Tnojpenden und blühenden Kräutern und
Sträuhern des Hausgartend umd der Fenſterbretter ergöben. Se
6*
84 Glädsinfeln und Träume
EI ——— GL DL BL
tiefer ſich das Braun der Giebelverichalung mit dem Alter ver-
tieft, deſto fröhlicher ſoll es das fich jährlich verjüngende Leben
der Bilanzen aufhellen. Neuerdings find zu den alten Blumen
des Bauerngartend Schlingpflanzen gefommen, bie die Garten-
gitter umranken oder fi) über die Orenzheden legen. Yu einem
Haus hat die große blaue Klematis bis tief in den Herbſt ihre
breiten Flächen gedrängter großer Blüten außgeipannt, deren
Ausläufer phantaftifche Spigen und Ranken an die Wand zeichnen,
alles leuchtend blau.
Das Stadthaus hat Spiegelfenfter oder zum mindeften große
ſpiegelnde Fenſter, die es recht jehen läßt; das Haus des Dorfes
— feine Kleinen Fenſter, Die oft breiter als lang find, und
deren bandgroße Scheiben oft Direlte Nachkommen der Buhen-
ſcheiben früherer Jahrhunderte find, in ſtarken Ballenvorjprüngen
oder unter dem Speichervorbau, der über die niedern Wohn-
räume vorragt. Daneben bat es Fenſter oder vielmehr Gud- und
Schlupflöcher in allen Größen und Formen, die weder Glas
noch Laden haben, fondern jchön dunkel im braunen Holze jtehn:
die Luftlöcher der Scheune, die Schlupflücher der Kapen, das
Stallfenfter, aus dem der Mift auf den unmittelbar davor empor
Ichwellenden Mifthaufen befördert wird, wovon e8 Spuren trägt.
Zwiſchen den Ballen der Scheme dringt der Überfluß des Heues
heraus, unter dem Dachgiebel hängen Flachsbüſchel und Büſchel
von Samenpflanzen für das — drihiehr und daneben niſten
Schwalben oder Rotſchwänzchen. den Öffnungen des Hauſes
rechne ich auch noch die Tore, * offen ftehn, jo lange jemand
im Haufe anweſend ift; Durch fie alle ſchaut man tief ind Dunkel,
aus der Haustür glüht Abends das Herdfeuer, aus dem Scheunen-
tor bligen die in Reihen aufgehängten Senjen. Dad Dad mit
den Offnungen für den Rauch fei nicht vergeflen.
Als ich zum erftenmal in da8 Dorf hinabſtieg — die Höhen
ring8herum lagen in Stoppeln, eine ftoppelfarbige Schafherde
war das einzige, was mit mir talwärts zog — fiel es mir auf,
wie man auf die grauen und die roten Dächer hinabſchaute. Ich
hatte als Stadtkind noch nie da8 Dad) eines Haufe von oben
geiehen, num ſah ich viele, große und Feine, alte und neue,
graue Schindeldächer und rote Ziegeldäder. Der Herbft war
da, der Hopfen war gut verlauft, die Neben veripradhen einen
fröhlichen Herbſt. Daß war der Grund, warum mir jo viele
neue Biegeldächer Hellrot entgegenglänzten. Es war dad dritte
Lahr, mit dem ber Bauer zufrieden fein konnte. Es war aud)
ö——7,t — —8
5. Mein Dorf 85
—.
die richtige Tageszeit, auf Die Dächer des Dorfes hinabzuſehen:
Die Dämmerftunde vor dem Abendläuten. Wer von und erinnerte
fich nicht, wenn er an den Anblid feines Heimatdorfes am Abend
denkt, an die Efloge des Bergil:
Et jam summa procul villarum culmina fumant,
Majoresque cadunt altis de montibus umbrae.
Das ift ein ewiges Gefühl, deſſen zweitauſend Jahre alte Aus⸗
ſprache uns wie felbfterlebt beivegt!
Es ift ein Unterſchied, in melde Art von Himmel der
Rauch vom Dache bineinzieht. In meinem Himmelstrapez, deſſen
Seiten großſtädtiſche Manſardendächer einfchliegen, qualmt er
verdroffen, ohne an einem befreundeten Horizonte offen und
Bäume, verivandte Geitalten, in den Himmel hineinziehn zu jehen.
Das war vor allem zur Feierabendzeit bei uns ganz anders.
Hier ftieg der blaue Rauch in feinem Strahl, der ſich nad) oben
kräuſelnd außbreitete, aus dem Schornftein, dort quoll er aus
dem Küchenfenfter und unter den Dachziegeln hervor und hüllte
das ganze Haus in feinen bläulichen Schleier. Aus einigen
Türen leuchten die rotgelben Feuerpunkte der Herdfeuer. Droben
wird der blaue Himmel immer weißer, und unten werden Die
Schatten in den Tälern und Gaſſen dunkler, fie fteigen empor,
breiten fi aus, überziehn endlich den Himmel, wo die Sterne
zuerft nur als feine Punkte den Dämmerfchatten durchbrechen,
während unten die Feuerpunkte ſich zujammenziehn und nur nod)
trübe glimmen, leuchten die Lichtpunkte oben immer heller.
Dad Dorf hat, wie fein Leben, jo feine Laute, aber e8
liegt jehr oft eine wohltuende Stille darüber, die in der Stadt
niemals erreiht wird. WBauernarbeit geht im allgemeinen ftill
für fich Hin, Pflügen, Eden, Eggen, Mähen, Dreichen find feine
Tagewerke, die viel Reden vertragen. Die Bäuerinnen find wohl
bon Natur beredter ald die Männer, aber es fehlt ihnen gar
oft an der zweiten und der britten, die zum Geſpräaͤch nötig
find. Die Burſchen und die Mädchen rufen einander zu und
fingen Sonntags Abends auf der Straße, an den Werktagen find
fie zu müde dazu. Was Laute hat und liegt in Ruhe, ift Doppelt
ſtill. Was gibt es ftilleres als ein Dorf, deſſen ganze Bevölkerung
auf dem Felde draußen bei der Ernte beichäftigt ift?_ ES ver-
gehn lautloſe Stunden bejonder8 am Vormittag. am Nachmittag
regt fi) vielleicht ein Kind nad) der Bruft der Mutter; man
hört dann einen leifen Geſang, der es in Schlaf wiegt. Oder
86 Slädsinfeln und Träume
— — — — ——————————— —— —— — — ———— ———— — — — ————r — ——— — — — ——
es ruft eine Kuh an die Futterzeit mahnend aus dem Stalle.
Man hört auch einmal ein Hämmern an einer Senſe oder einer
Sichel, die in der unabläſfigen Arbeit dieſer Tage den Dienſt
verfagt hat. Erſt Abends, wenn die hochgetürmten Wagen die
Dorfgaffe herabichwanfen, wird es lebhaft, doch find auch dann
die ungeftüm heifchenden Tiere lauter al8 die müden Menjchen.
Die Nacht ift lautlos bis auf die Brunnen, Die weiterrimmen.
Ganz vereinzelt tönt das Klirren einer Kette im Stall oder daß
Rauchen eines Holunderbuſches, durch den ſich ein Iltis windet.
Wir find Franken, und wie überall im Frankenland und
bejonder8 unter den Rheinfranfen vom Schwarzwald bis zum
Siebengebirge find fchlanfe, blonde und helläugige Leute Häufig,
Doch gibt es auch ſchwarze, und dieſe find im allgemeinen Türzer
und breiter und haben breitere Gefidhter. Keineswegs find fie
die lautern und vegfamern, wie e8 drüben in der Pfalz der Fall
ift, wo noch viel Franzoſenblut umläuft, ſondern die ftillern und
langiamern. Im jedem Dorfe gibt e8 einige ſehr große Burfchen,
wenn auch der Durchſchnitt von Mittelhöhe ift und auch recht
Heine darunter find. Die Eichelberger find eben aud jo ver-
jhieben, „wie der Hirt zum Dorf naustreibt.“
Alle Bauern dieſes Dorfes hatten für den, der unter ihnen
lebte, eine natürliche Ahnlichkeit, die man nicht gerade Familien⸗
Ahnlichkeit nennen wird, weil die Abftammungsverhältnifie doch
auch in diefem engen Kreiſe ſehr verichieden find, Die aber auch
nicht rein eine Sache der Einbildung if. Ich denke mir, das
wird überall jo fein, wo Dörfer fo einfam liegen, daß fie feinen
großen Zuzug von Fremden und auch feinen ſtarken Abfluß in
Städte haben, der immer zum Teil wieder zu ihnen zurüditrömt.
Da fehen ſich Benerationen Lang immer wieder diejelben Menſchen
und werden durch unbewußte Nachahmung einander immer ähn⸗
licher, beſonders in der Haltung; und außerdem tum fie alle
Feldarbeit, welche Hantierungen fie fonft auch treiben mögen,
verlehren mit- ihren Haustieren, fäen und ernten in Sturm und
Sonne. Und die Sonn- und Feiertage verſammeln ſie alle in
der Kirche und faſt alle des Abends im Wirtshauſe, wo wiederum
faft alle wenig und zwar hauptſächlich das dünne Bier trinken.
das golden glänzt, aber nicht viel Gehalt Hat. Die Eichelberger
gingen alle langjam und etwas vorgebeugt, ſogar die, die kerzen⸗
gerade vom Militär gelommen waren; bei ben Alten artete bieje
Haltung in vollftändige Gebeugtheit aus. Gebückt arbeitet der
Bauer hauptfächlich mit der Sichel, und bei uns ift die Sichel
5. Mein Dorf 87
.
viel gebräuchlicher ald die Senje, am Yuttertrog, beim Holzhaden,
am Nebftod, die Bäuerin beim Melfen und bei den Kleinen
Arbeiten im Garten und beim Wajchen. Auch das Pflügen mit
bem ſchwierigen Gehn im aufgeworfnen, fcholligen Boden ver-
leitet zum Gebüdtgehn hinter den raſch fortichreitenden Tieren.
Der Pflüger ift überhaupt der Typus eines Arbeiterd, der eine
ſchwere Arbeit aus dem Grunde herausfchafft. Auf den Wellen-
bügeln jah ih im SHerbft die Silhouetten von Pflügern, die
langjam in der klaren Luft in ihrer ruhigen Arbeit weiter⸗
fchritten, und das Bild bleibt mir tief eingegraben.
Die Tätigfeit des Bauern ift vieljeitig, es ift nicht das
einförmig immer gleiche Rollen eine Maſchinenrades, mie Die
Arbeit des „Arbeiters,” für alle Kräfte des Weſens eines Menjchen
ift Betätigung gegeben. Deswegen ift der rechte Bauer ein viel-
feitiger Menſch und noch darüber ein ſchöpferiſcher. Als die drei
heißen Sommer der audgehenden fünfziger Jahre eine Trocknis
hervorbrachten, die noch lange nachwirkte, und allen höher ge⸗
legnen Höfen das Waſſer ausging, ftellte ein einfacher Bauer
auf dem Schattberg zum Waflerihöpfen ein Windrad auf, Das
er ganz aus fich ſelbſt erfonnen Hatte, und von weither kamen
Leute, um es zu fehen. Es tft dann vielfach nachgeahmt worden.
Die alte Tradt war ſchon vor vier Jahrzehnten in dieſer
Gegend verſchwunden, der letzte Reſt lebte in den ſchwarzſeidnen
Hauben mit zwei hinten hinabhängenden kurzen Bändern, Die Die
älteften rauen trugen. Was fage ich, fie lebte? Nein, fie war
im Sterben, denn fein Mädchen würde ſich dazu bequemt haben.
Die Banern trugen bei der Arbeit eine kurze leinene Jade aus
jelbftgetvonnenem Stoff, im Dorfe von dem Färber hellblau ge-
fürbt, Den ich nie anders ald mit Indigohänden gejehen habe,
Sonntags trugen fie blaue Röde mit langen Schößen, lange Bein-
Heider und ſchwarze Schirmmützen. Die Mädchen und rauen
trugen zur Arbeit baumwollne geblümte Leibchen, bei Sonne oder
Negen Kopftücher, die bei diefen dunkel, bei jenen bumt waren.
Wenn das eigentliche Leben das Leben am Tage, das wache
Leben ift, jo Iebt der Bauer mehr und länger als der Stabt-
menſch. Im Sommer vor Sonnenaufgang, im Winter meift
lange vor Zag heraus, im Sommer mit Sonnenuntergang und
im Winter lange danad) zu Bett: jo find feine Tage eingeteilt.
Die hohen hellen Morgen, an denen noch die Sterne in die
Straße ſchauen, auf der fid) fchon die Feldarbeiter hinausbewegen,
und Die langen ftillen Abende, wo, wenn kaum Die Dämmerung
88 Glüädsinfeln und Träume
verglüht ift, ein verhallender Tritt eines Verſpäteten oder das
Klirren einer Kette im Stalle Die einzigen Laute find: das find
Tageßzeiten, die man nur im Dorfe kennt.
Das Bauernleben ift ein Leben in der Luft umb im Licht,
ein echte Freilichtleben. So wie der Sämann und der Mann
hinter dem Pflug oder der Egge, wenn er fi vom Himmel ab-
hebt, ein fertiges Bild ift, jo find es Die Kühe, find es bie
Hühner auf dem Grün der Wiejen, die Tauben, die die Luft
durchichneiden, fo ift das Getreide, das wie ein Heer von Lanzen
im Morgentau funkelt oder wie ein fahlgofbnes Meer dir feine
Wellen and Herz legt. So iſt alles hell, jcharf, Lörperli. Und
denkt nicht der Bauer auch darum realifticher, weil jich ihm bie
Dinge fo Icharf abheben?
Es ift fein Bufall, daß der Bauer fo gern vom Wetter
ſpricht, das heute ift, und zur Not von dem, das geftern war
oder morgen fein wird, denn er lebt in der Gegenwart, und
die Aufgabe des Tages füllt ihn aus. Er ift nicht vergeßlich,
weil fein Gedächtnis ungeübt ift, jondern weil für ihn das
Wenigſte Interefje hat, was wir unfrer Erinnerung einverleiben.
Für das, was ihn angeht, hat er mehr Gedächtnis als mancher
fahrige Stadtmenfch. Aber da er ohnehin nicht viel redet, braudht
er auch nicht viel Scheidegeld von UnterhaltungSmaterial. Wer
ift jo oberflächlich, zu glauben, es glühe in dieſen ftillen Herzen
keine Leidenfchaft nah? Wer nad) der trüben Farbe des Ge-
fteind von außen ber urteilt, wird nie eine Goldaber finden.
Als der blühende Sohn des Frachtfuhrmanns unfer8 Dorfes
duch einen Sturz vom Floß im Niederrhein ertrumfen war,
begegnete ich dem Alten in feinem blauen Fuhrmannskittel. —
Nun, wie gehts, immer landauf, landab? — Ja, fagte er, immer
gleih. Es ift mir halt fo, wie e8 in dieſer Spätjahräzeit auf
den Waldwegen ift: alles liegt voll dürren Blättern, man fieht
feinen Finger breit Erde; aber ber Winter kommt, der Boden
wird kahlgeweht, und dann fieht man erft die Riſſe.
Die Arbeiten mit der Hand, bie Geſchicklichkeit, Übung und
beionder8 viel Geduld verlangen, verdienen bei den Landleuten
allein ben Ehrennamen Arbeit:
Der befte Diben, den id) weiß,
Iſt eine Hand voll Schwielen,
fingt Ir. W. Weber. Sie find darin beichränktt aus Gewohnheit,
vielleicht ift ihnen auch der Reſpelt vor jeder Handarbeit ange⸗
_ 5. Mein Dorf 89
NINE LT LI
boren. Wenn man aber bedenkt, wie mannigfaltig dieſe Arbeiten
find, zum Beijpiel im, Vergleich mit denen des Handwerkers,
und wie bielfeitige Überlegung fie brauchen, verfteht man
wenigjtens etwas bon dieſer Schäßung.
Die einzigen Handwerke, die im Dorf etwas galten, waren
die des Wagners oder Stellmachers, des Maurerd unb des
Bimmermannd. Schufter und Schneider waren Heine Leute,
bier wie in den meilten Nachbardörfern Teine Altangejeflenen.
Trotzdem nun, daß ded Schreiner Beruf war, allen Eichelbergern
ihr letztes Kämmerlein aus ſechs Brettern und zwei Brettchen zu
zimmern, galt der Wagner bedeutend mehr, jei es, weil feine Arbeit
ind Große ging und Kraft verlangte, fei es, daß man ben
Wiederheriteller zerbrochner Pflüge und zerriffener Eggen für
notwendiger bielt als den Erbauer von Tiihen und Stühlen.
Aber trogdem war die Heine, helle, faubre Werkſtatt, die ſich der
blinde Tifchler Kobus an fein Häuschen angebaut Hatte, eine
wichtige Stätte der Eichelberger. Wer eintrat, fühlte ſich ange-
zogen und feftgehalten. Man traf oft Leute hier, die eine halbe
Stunde verplauderten. Der Holzduft und der Leimgeruch wirkten
wie der Mofladuft auf Kaffeefchweftern: anregend, belebend.
Wie oft ſaß ich dort auf einem Bretterjtoß und ſah die filbernen
oder atlasglänzenden Bänder des Holzes unter dem Hobel ſich
aufwinden und heraußquellen und hörte den feinen Geſang bes
Eifend, wie e8 über die feinen Faſern und die dunkeln Harz-
Iinien hinfuhr. Wie der Blinde noch im polierten Holze die
Maſern und Yleden fühlte und nachfuhr, das war wie eine ver-
borgne Weisheit der Natur.
Der Maurer hatte zwar die meifte Zeit wenig Arbeit,
aber er jchaute jedes Haus auf die Zeitigkeit feiner Mauern an,
fannte ungefähr jeden Stein, der in ihnen faß, und wußte ganz
gut, welche Zundamente gut waren und welche nicht. Der
Zimmermann war in jeiner Weiſe ebenjo gut unterrichtet über
das Balkenwerk, die Dachftühle und die Gartenzäune, und es
mochte die Wirkung des Aufeinanderangewiejenfeing beider Hand⸗
werfer jein, daß feit ®enerationen Glieder berjelben Familie die
Mauern und die Fachwerke aller Häufer des Dorfes aufrichteten.
Im übrigen waren fie echte Bauern, die dad Handwerk mur
nebenher betrieben. Und mit ihnen fagten fie: Nicht zu viel
arbeiten, mo es nicht dringend not tut, nicht zu viel reden, aber
mandymal wie der Donner daherfahren, nicht zu viel ausgeben,
aber auch nicht Targen.
90 Glüdsinfeln und Träume
Zu dem fchönften, was das Dorf Hat, gehört, daß die, die
darin fo nahe der Natur wohnen, den Wechſel der Jahreszeiten
ganz anderd fühlen, mitleben, fich jelbft mit dem Kommen umb
Gehn der Blüten und der Früchte, der Sonne und des Schnee
verändern. Das Berubigende eined Lebens, das in den feften
Ufern der Gewohnheit und mit den beftimmten Abfchnitten des
zu gleichen Zeiten immer gleichen Geſchehens dabingeht, Tiegt
eben in Diefem Eingefügtfein in die Folge der Jahreszeiten, und
die „Bauernregeln“ laſſen diejen Zuſammenhang recht deutlich
hervortreten. Vermittelnd tritt Die Arbeit zwiſchen den Menjchen
und feine Beit, jogar die außerordentlichen Ereignifje müſſen jich
einordnen.
Am Frühling und im Frühlommer wechſelt Braun mit dem
faftigen Grün ber jungen Saaten etwas zu einförmig; da find die
Buchenwälber fait jo grün wie das Getreide und Die Eichen noch
um einen Ton heller, gelbliher. Wenn die weißen und rötlichen
Obſtbaͤume nit wären und die Wieſen nidht voll Blumen
ftünden — mandye find lila von der Maſſe ded Schaumfraut? —,
wäre es nicht halb jo ſchön wie im Spätjommer, wo gelbe Ge⸗
treidefelder neben noch grünlicden ftehn und einige ſchon gejchnitten
und mit Garben bebedt find, wo die Wieſen lichtgrün, Die Brachen
bald Lichter, bald dunkler, der Wald faft Ichwärzlich jteht. Diele
Ausfiht ift den Bauern die liebjte, in der andern ijt zu viel
Ungewißheit, wie all daS reife, wie er es heimbringe. Wer ein
paar alte Birnbäume und gejunde Glieder hat, kann zufrieden
fein, fagten die alten Leute. Dieſes Wort jollte das Gefühl des
urſachloſen Beſchenktſeins ausdrüden, das jeden in einem Obſt⸗
jahre überfommt, wenn fid) die Bäume, für bie er nicht getan
bat, als höchftens die Erde um den Stamm gelodert, unter ber
Lait ihrer Früchte biegen, und wenn er in wachen Nächten bie
Birnen und Apfel ticktack ind Gras fallen hört, wo fie am nächſten
Morgen oft dichter ald die Herbftblätter liegen. In der Tat, wer
dafür nicht mindeftend das Gefühl der Zufriedenheit als Gegen⸗
gabe beut, der hat e8 überhaupt nit. Man muß aber zugeitehn,
in guten Erntejahren und beſonders in guten Weinjahren gibt es
fhwerlih irgendwo auf der Welt eine größere Maſſe von Zu-
friedenheit als bei und. Was die Natur beites gibt, bat da der lebte
Knecht in Fülle: füße Früchte. Der Menſch Tann fie nicht alle
aufeflen, man läßt zuleht die Schweine in den Grasgarten, die
machen reinen Tiih. Und wenn dann die legten Birnen gefallen
find, reifen einige der glänzend grünen Blätter zu Scharlach⸗ und
5. Mein Dorf 91
Purpurröte und erfreuen damit noch die Augen, die dafür offen
find. Über die Blumenbeete, die noch vor vierzehn Tagen in
Farben ftrahlten, ift num braunes Laub gehäuft, der Bienenſtand
ift in Stroh gehüllt, der Brunnen wirb ihm bald folgen. Üüſte
und Zweige find kahl, wo noch ein Blatt fiht, flattert e8 im
Winde, al8 wollte es ſich nächitens loslöſen, nur der Kohlmeife
ſchriller Lant tönt von den Bäumen. Stare eilen gefchäftig, aber
ftumm auf der Wieſe hin und ber, um fie von veripäteten Raupen
zu fäubern; ebenjo ftumm, nur träger und mächtig groß wandelt
der Nebel im Tal und ziwifchen den Bäumen ihrer Gänge.
Drüber Hin ruft es: Fort, fort! aus ben grauen Dreieden der
am grauen Himmel ſüdwärts wanbernden Gänfe.
So Hart wie die Arbeit der Woche, jo ſchön tft der Sonn-
tag mit feiner Ruhe. Nichts fchöneres als ein Sommerfonntag
unter blauem Himmel, in deſſen Ziefe die Glocken ganz fern
verhallen. Geftern Abend hat man biß in die Nacht hinein Heu
hereingetan, noch hängen einzelne Strähnen Davon am Scheunentor,
aber Hof und Einfahrt find dennoch ſauber gelehrt. Das tft
geftern noch bei der Laterne mit todmüden Armen gejchehen,
foviel Hält der Bauer darauf, daß es ſonntäglich bei ihm aus⸗
ſchaue. Jetzt bewegt fich alles mit Ruhe und Behagen, man
weiß, man muß Kräfte jammeln für die faure Woche, die kommt.
Die Sonntagheiligung ergibt fi da von ſelbſt, vorausgeſetzt,
daß nicht in der Zeit der Heuernte ein drohendes Gewitter zivingt,
die trockne Ernte auch an einem Sonntag in Sicherheit zu bringen.
Das Getreide kommt bei uns in der Regel troden herein, aber
der Juni ſendet in manden Jahren alltäglich fein Gewitter,
und damn Heißt es, jede helle, heiße Stunde außnüben. Den
„Stündlern,“ die an Wochenabenden ihre Betjtunden hielten,
wurde bei und, nicht ohne Berechtigung, der Vorwurf gemadht,
daß fie den von Gott gejehten und außerdem natürlichen Unter-
ſchied zwiſchen Wochentagen und Sonntag verwilchten.
Ein echter Bauer, aus dem der Bureaufratismus noch nicht
den Beamten berausgefchält hat, der angeblich in jedem Deutichen
ftedt, wollte gar nicht Bürgermeifter jein. Im Grunde hätte
er ed auch nicht gut gelonnt, denn fein Hof und Feld gaben ihm
alle Hände voll zu tun und boten jedem Grab von Herrichbegier
Genüge. Beim Militär galt damald noch die Stellvertretung,
wodurch den Bauernföhnen die Laft des Dienftes abgenommen
war; jo konnte auch durch diefen Kanal feine Luſt einfließen,
fi) an die Spitze der Gemeinde zu ftellen. Der ganzen Auf-
92 Glädsinfeln und Träume
faffung eines echten Bauern von feiner Stellung in der Welt
entiprach es vielmehr, einen andern die Arbeit tum zu laflen und
ihn dann zu Tritifieren oder gar mit ihm zu prozeifieren. Die
Bürgermeifter fanden e8 in den meilten Fällen rätlich, fich zu
biegen; denn fie waren von dem Berlehr mit den Behörden
ber gewöhnt, Grobheiten einzuftedlen. Unbedingte Anerkennung
fanden fie nur bei den Weibern, dem Schullehrer unb dem Ge⸗
meindediener, aber ſchon die Knaben, die Sünglinge werben wollten
und ihre erfte Pfeife im Munde Hatten, befiegelten ihren Ein-
tritt in die Mlaffe der wirtshausfähigen Burfchen, indem fie dem
Bürgermeifter irgendeine Ungezogenheit eriviefen. Unjerm Bürger-
meifter, der auß der Kleinen Gruppe ber Dorfhandwerker hervor⸗
gegangen twar, gelang es nicht, durch die Affeltation einer ftillen
Würde, wie fie, meift etwas fabenfcheinig, wie ihre fchwarzen
Amtdröde, die Bezirkspaſchas, vor fid) her tragen, feine Stellung
zu verbeſſern. Er Hatte Hinter dem Webftuhl gejeflen und hatte
fi durch Fleiß und Sparjamkeit zu einem Kleinen Bauern mit
fünf Kühen aufgeſchwungen oder vielmehr aufgerungen. Weber
haben, wenigftens auf bem Dorfe, eine gewifle Verwandtſchaft mit
den Scjneidern, die von der fißenden Arbeit herlommt und fidh
in einer farblojen Friedlichleit bekundet, die niemand imponiert.
Schmiede haben Dynaftien gegründet oder gehärtet, Weber werfen
ihr Schiffen im Hintergrund der Welt⸗ und Dorfgeſchichte.
Wenn ih auf mein Dorf, dieſe Stätte voll Leben und
Arbeit, herabſehe, vergefle ih nicht, daß fie zugleich ein ehr-
würdiges Denkmal ift. Ihre Anfänge ragen über Die Zeit hinaus,
in der Karl ber Große die Welt regierte. Das hölzerne Kirch⸗
lein, da8 als einem Priefter Werhenhari gehörend im achten
Jahrhundert erwähnt wird, ift zwar längft verfchollen, aber man
findet in ben Urkunden die Stiftungen zugunften derer, die Steine
zur neuen Kirche gebracht haben. Man tennt Aufzeichnungen
über Käufe und Verkäufe von Adern und Wiefen in unſrer
Gemarkung. Der Dreißigjährige Krieg hat das Leben auch dieſes
Dorfes bis zur Erde niedergebogen, aber es richtete ji) wieder
auf, als von dreihundert Menjchen, die e8 vorher bewohnt hatten,
nur noch vierzig übrig waren. Aus diejer Zeit der Trübſal
ftammt das Grab der von der Veit bingerafften im Steingrund.
Solange es Zeugnifje von unjerm Dorfe gibt, haben die Menſchen
gelebt, geftrebt, gelitten wie heute und haben in frühern Jahr⸗
hunderten mit folder Inbrunſt ihres Endes und ihrer Seligkeit
gedacht und fo viel Mefien, Kerzen und Bittgänge geftiftet, Daß
5. Mein Dorf 98
— — ü— —— ——— —— DE LG DL DL DH LE SL LG GG DL SL GL DL DL LS LLLLLL0L..2D GL LAY GL —.
die Lebenden im Dienfte der Toten ftehn würden, wenn nicht
die Jahrhunderte manches wieder in Vergefjenheit hätten kommen
laffen. Wenn man einem Eicdhelberger die Vorftellung ausreden
will, daß die gute alte Zeit fo viel befler als die gegenwärtige
fei, erzählt er von der Stiftung des Yörg von Gundelfingen
aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die jedem erwachſnen Eichel-
berger, der an dem geftifteten „Sabrtag,“ Sonntag nad) St. Geor⸗
gien, zur Kirche geht, ein Maß Wein, ein Maß Bier und Brot
vier Pfennige wert zuſprach und jeder Eichelbergerin, bie von
Anfang bis zu Ende mitbetete, eine Elle Tuch; das follten auch
die Vermöglichen nicht außichlagen, jondern nehmen und einem
armen Menjchen geben. Vom Jahre 1801 an iſt Diefe Spende
unterblieben, und die Eichelberger haben davon wenigftens den
Vorteil, daß fie das Ende der guten alten Beit ſicher zu datieren
wiffen.
Es hatte für mich einen unbejchreiblichen Reiz, mic) in dieſe
große Familie einzuleben. Denn e8 war eine Yamilie, unbeſchadet
der Unterſchiede des Glaubens und des Standes, die die Dorf-
bewohner ftellenweife jonderten. Diefe Unterjchiede waren feine
Klüfte, ich möchte fie vielmehr den Sprüngen in den Töpfen der
Bauernfrauen vergleichen, von denen da8 Sprichwort geht: Ein
zeriprungner Topf hält noch einmal jo lange. Darin lag die Gegen-
wirtung zur Vereinzelung und Vereinfamung, der im Dorfleben
alle verfallen, die nicht Hinter dem Pfluge gehn. Deshalb gedeihen
auf dem Dorfe von den Nichtbauern die am beften, die fich wenig⸗
ftend nebenbei mit Landwirtſchaft beichäftigen, und man merkte es
den Geiftlichen und Lehrern, den Ärzten und Apothelern an, wie
fie ihr bißchen Ader- und Gartenbefiß, ihre paar Kühe und Pferde
als die Wurzel pflegten, die jte mit Diefem Boden verband. Schon
die Monotonie des Landlebend würde den Stadtmenfchen nieber-
drüden, der fich nicht dur) Teilnahme an der Arbeit, die alle
bindet und verbindet, mit dem Ganzen in lebendiger Berührung
erhielte. Wie mandje Familie in der Stadt ertrug ihr Leben nur,
weil es noch nicht alle Wurzelverbindung mit dem Heimatsdorfe
verloren hatte; was man den niedern Bürgeritand nennt, auch
Heine Beamte, Lehrer erhielten ſich durd) dieje Verbindung friſch
und hoffend.
In einer Gemeinſchaft, deren Glieder alle mehr oder weniger
Landwirtſchaft treiben, ift ein gegenfeitige8 Helfen und Aushelfen
möglich wie in feiner andern, e8 ijt aber auch notwendig. Bei
der Grummeternte fommt e8 häufig vor, daß fie nad andauernden
94 Glädsinfeln und Eräume
—— — — LEBE DD DELETE 1 —
Frühherbſtregen und Stürmen in wenig Tagen eingebracht
werden muß; da treten Die älteſten Verwandtſchaftsbeziehungen
wieder in Kraft, der entferntejte Vetter hilft dem Bauer, der dab
feine nicht bewältigen Tann, e8 Helfen die Nachbarn, Helfer fommen
aus den Nachbarorten. Es ereignete fi), daß der alte Breußen-
frig und feine noch ältere Ehehälfte zugleich Tranf waren, als
der Kleine Weinberg, den fie hatten, geleert werden mußte; der
einzige Sohn war Soldat. Da traten die Nachbarn zufammen
und beforgten das Geſchaft glatt.
Es gibt Menfchen, deren poetifches Gefühl nur im Über:
lieferten, im SHergebracdhten blüht, und andre, die Neueß nötig
haben; jene haben die Poefie in fi und willen es nicht, wes⸗
halb fie natürlich” auch nicht Davon ſprechen, dieje find immer
hungrig danach. Man nennt jene die Ungebildeten, dieſe die
Gebildeten. Im Innern eine Bauern, der an einem jchönen
Samstag Abend müde von der Arbeit, aber zufrieden mit ihr,
zwifchen feiner Wiefe und feinem Ader dem Hofe zu jchlendert,
ift eine Poeſie, die taujend Dichter fchon auszuſprechen geſucht
haben; jo echt, wie fie in ihm lebt, ift es feinem gelungen, fie
zu fingen oder zu jagen.
Auch das gehört eben zur Stille dieſes Lebens, daß die
Leute nicht viel Aufhebend machen. Es bat jeder und hat jedes
feinen Pflichtenfreis; in der Regel ift er nicht weit, der wird
ausgefüllt, fo gut e8 geht, nad) jahrhundertalter Weife, und fo
wird auch die Erfüllung der Pflicht nad) Maßen gemefien, die
feit Jahrhunderten feitftehn. Und fo ift e8 mit den Gefühlen.
Wenn draußen Die Schneefloden wirbelten, und man konnte auf
der warmen Ofenbank fiten und dem Echnurren der Spinnräder
und den alten Geſchichten zuhören, empfand man bei den Bauern
und Nichtbauern die Poeſie, die darin liegt; aber die Bauern
ſprachen nicht davon, es zeigte fidh in ihrem Gehaben, die Nicht-
bauern meinten fie rühmen zu müſſen.
Die Arbeit zog dem Leben jedes Einzelnen die Linien, Denen
es folgte, fie grub die Furchen, in denen dieſe Bädjlein zu fließen
batten. Wenn man fah, wie übel die Menjchen ftanden, die ſich
dem Müßiggang ergaben, wie ſchwer die Alten ihr Leben und
fih felbjt ertrugen, die „übergeben“ hatten, um nod) ein paar
Jahrlein ruhig zuzubringen, lernte man die zuſammenhaltende
Macht der Arbeit ſchätzen. Ein Geiftlicher jagte: Die Arbeit der
Bauern wirkt mehr als meine Predigt, und wenn von ſchwierigen
* Ehen die Rebe war, hörte man: Wenn die beiden nicht gewöhnt
5. Mein Dorf 95
— —— — —
wären, zuſammen zu arbeiten und zu haufen (ſparen), wären fie
längft augeinander gelaufen. Die moraliihen Verwidlungen find
auf ein möglichit geringes Maß reduziert, die Ströme der Leiden-
ſchaft fließen in den Betten des Herkommens zwiſchen hoben
Dämmen breit dahin, Überſchwemmungen find felten, weil Damm-
brüche faft unmöglich find. Der Bauer geht gebüdt, e8 tft aber
do Kraft in ihm, nämlich die Kraft, die aus der Berührung
mit der Erde entipringt. Der Bauer fieht oft trüb oder träumerifch
in die Welt, aber es ift doch ein Geift in ihm, der in feiner
Einfachheit ficherer durch Leben und Pflichten durchleitet als der
zerftücte auseinandergezogne Geiſt des „Gebildeten.“ Was ein-
fadye Arbeit, die nicht beftändig fich zerfafert und augeinanderläuft,
zwilcden Sonnenaufgang und Untergang leijtet, lernt man nur
auf dem Ader. Das Dorf bleibt eine Schule tüchtiger Arbeit,
die den Tag nußt, folange er fcheint. In der Dorfgeſchichte Liegt
der hohe Wert des Schlichten und des Ehrlichen, da dem Grunde
der Dinge näher ift als dad Reiche und Schillernde, und Damit
auch näher der Poeſie. Es kommt nur darauf an, dieſe Natur
fo ſchlicht und fo ehrlich zu geben, wie fie ift. Manchmal, wenn
id) oben unter den drei Buchen die Nibelungen oder Homer laß,
zudte blitartig in mir ein Gefühl der Verwandtichaft dieſes ruhigen,.
unbegehrlichen Lebens, das in jo feften Formen ficher dahinfloß,
mit dem Epifchen auf. Ich konnte die Verwandtſchaft nicht deuten,
ich fühlte fie nur undeutlich als ein Glück. Seht weiß ich, dieſes
Leben war epiih!
Zwei Dinge bleiben beftehn, wenn alles andre ſich in buntem
Wechſel wandelt: die Erde und die Notwendigkeit für uns, von
ihr zu leben. Darin liegt da8 Elementare des Bauernlebeng,
daß es in diejer doppelten Notwendigkeit wurzelt, und deshalb
ift e8 unentwurzelbar. Daher auch die Einfachheit des ländlichen
Dafeins und Wirkens, die feine Schäferpoefie deuten und nicht
fo ganz verzerren kann. Wer jeinen Uder baut, den nährt fein
Ader, wo er fäet, erntet er, er fieht fein Leben vom Anfang
bis zum Ende voraus, aber nicht in einer kahlen Linie, ſondern
umbufcht, befonnt. Der Zweck des Lebens bleibt endlich doch
immer, daß es fich behauptet, und das tut es am beften auf eigner
Scholle, die das einfachite Verhältnis zwilchen dem Menſchen und.
der Natur fchafft, in die er hineingeboren tft.
ER
6. Bildung
Wo ji) dad Dad; auf den Boden ſenkte, war der Winkel
durch eine Bretterwand abgeteilt, und ein Fenſter war eingejebt,
das nad) Süden ging. Man hatte befonderd wertvolle Droguen
in dem fchrägen Dachkämmerchen aufbewahren wollen, doch be⸗
durfte man jeiner in dem mehr als geräuntigen alten Haufe
nicht. Niedere grüne Kaften, mit verjchnörkelten Aufſchriften, noch
von trodnen Arzneilräutern duftend, waren Tiſch und Stuhl, wo
ih jaß und las und träumte ine fchöne, belle Einfanteit,
befreiend durch den Blid über Dächer und Baumfronen. Rod
heute behaupte ih, daß die Sonne bier mit einem bejondern
Glanz und einer eignen Frenndlichkeit fchien, und ihre Wärme
hatte etwas Anbrütendes. So, wie fie über den heißen Ziegeln
zitterte, lag fie wogend in dem Winkel. Biegel und Schindeln
bildeten eigentlich keine Schranke zwiſchen der Luft draußen und
der drinnen, hinderten nicht, daß man fi) dem Himmel näher
fühlte. Mit fi) und einem Buche hier allein zu fein, daß ung
weit von der Gegenwart und vielleicht fogar von der Erde weg-
führt, war eins von den Gefühlen, die das ganze Innere durd)-
dringen, die von dem Augenblid an, daß wir in ihren Banntreis
treten, einen andern Menfchen aus und machen.
Der Trieb zum Nejtmachen, zum Schaffen einer engen, ab-
geihlofjenen Welt in irgendeinem Winkel, wo wir allein mit
und und mit ein paar Kubikmetern Luft find, muß einer ber
ältejten der Menichheit fein, und ich ahnte immer, daß er Ehr-
furdht verdiene. Er ftammt noch von jenfeits der Höhlenmenſchen
ber, die ihre Riefenbroden von Mammutfleifch oder ihre Wild-
pferdfeulen in die binterften, dunkelſten Spalten und Klüfte
ſchleppten. In dem abjoluten Duntel der Hinterften Höhlenkammer
mochten vielgeplagte Tiluvialmenjchen einmal Feinde, wilde Tiere
und andre Gefahren vergeflen, die fie von allen Seiten in die
-6. Bildung 97
0.00 0000, —— LS —————r————————⸗—————— — DL LH LS Di LLC GL LE sæ—— —
fhwere Schule nahmen, auß der der Menſch einer höhern
Kulturftufe hervorgehn follte, der den Speer- und Pfeilfpigen
Kanten und Schneiden anfchliff und die Ofen der Arte bohren
lernte. Vieles ſpricht dafür, daß die größte Erfindung der
Menſchheit, das Feuermachen, zuerft in einer ſolchen Höhlen|palte
aufleuchtete. Man könnte den Gedanken fortipinnen und Täme
zulegt in der grünen Einſamkeit der Waldwanderungen an, der
Helmholtz die Kraft nachrühmt, große wiſſenſchaftliche Entdedungen
zu zeugen. Auch die Knoſpe hüllt fi in dunkle Blätter, und
in lichtlofer Tiefe beginnt das Keimen im Samentorn; die Ein-
fehr eined werdenden Menſchen in fich felbft will dem, was er
in fi) wachſen fühlt, Wärme und Nahrung geben.
Die Lejeftunden waren Wonneftunden, je einfamer befto
ihöner; auf das Buch fam es weniger an. SHinreißend wie
Robinſon, Lederjtrumpf oder Sigismund Nüftig waren nicht
viele; aber das machte ja gar nichts, denn ein großer Teil des
Leſens war Sinnen und Träumen. Und etwas Neues mußte
doch in dem langweiligiten Buch ftehn. Mindeitend macht man
die Belanntichaft des Autors, und nach dem Satze: Wellen Buch du
lieſeſt, deſſen Geiſt kommt über dich, mußte immer irgend etwas
dabei herauskommen. Ich erinnere mich denn aud, daB id) auf
dem Höhepunkt der Lejewut nie geneigt gewejen wäre, ein Bud
langweilig zu finden, und ich focht heiße Kämpfe für die öbeften
Schmöfer aus, in Die ich alles mögliche hineinlas. Wenn ih in
dem Winfelfämmerden unter den Biegeln jaß, oder gar im Grünen
mid) einfam an eine alte Eiche lagerte, die einen. lebhaften Ver⸗
fehr von Räfern und Schmetterlingen hatte, da fonnte das Buch
jo volllommen unlesbar fein, wie ein Band von Sturms Snfelten
Deutſchlands, der mur trodne Artbeichreibungen enthielt: das
Gedrudte wirkte wie ein Zauber; ich ftellte mir die Käfer vor,
die da forgjam beichrieben waren, und verfolgte dabei ftundenlang
dad Krabbeln und Arbeiten der großen ſchwarzen Börde, die in
dem Eichenmulm wühlten. Wenn von Menfchen die Rede war,
ging ed mir nicht viel anderd. Ich betrachtete ihre Worte und
ihr Tun neugierig, wie das Krabbeln und Summen der Käfer,
überichlug aber regelmäßig die Dialoge und die Gefchide ber
Liebenden, da meine kurze Freundichaft mit Luife mich genugjam
belehrt Hatte, daß man dad Schönfte und Feinſte in dem Ver⸗
hältniß zweier Menfchen, die einander gern haben, nicht aufs
Papier bannen kann. In allen andern Beziehungen ſtand ich
aber unter dem magiſchen Banne des Gedrudten und war macht⸗
Rayel, Slüdsinfeln und Träume 17
98 Glüädsinfeln und Träume
108 gegen das erdbrüdende Herandrängen des ſchwarzen Buchſtaben⸗
heeres, da8 meinen Geift umzingelte. Dad damals ſchon übliche
„Er lügt wie gebrudt” blieb mir völlig unverftändlid. Num
meine ich einzufehen, daß aud etwas Stolz; bei diefer Unter⸗
werfung war, denn mein Alter war gerade dad, wo man den
höchſten Beweis von geiltiger Reife gegeben zu haben glaubt,
wenn man meint zu verftehn, was jeder andre gedacht bat. Und
doch haperte e8 mit dem Verftehn oft genug. Wie ange ſchlug ich
mid) mit dem Gedanken herum, der mir aus irgendeiner Literatur-
geichichte angeflogen war, daß jedes Volk von Rechts wegen fein
Nationalepo haben müfle, und es fchmerzte mich, zugeben zu
müfjen, daß weber die Meffiade noch Voſſens „Luife“ das für
die heutigen Deutichen fein fonnte. Ihn anzuzweifeln fam mir
nidht in den Sinn. Mein Wiſſen reichte nicht bin, die Gegen⸗
gründe mit Sicherheit heraufzuzitieren. Und fo ging es in
vielen anbern Dingen. Sch hätte joviel darum gegeben, mein
eignes Urteil in äfthetiichen Dingen zu haben, aber es ließ ſich
nicht erzwingen; ich hörte, wie andre ımteilten, und wenn id)
zu wiberjprechen wagte, merkte ich wohl, daß ich mich an Kleinig⸗
feiten bängte oder, halb unbewußt, fremde Urteile wiederholte.
Schwer ift e8, zu reifen!
Auch die Anfichten, die ich in den Büchern und Zeitungen
fand, waren mir Tatjachen, die ich mit derjelben Sicherheit er-
greifen und in mich hinein verpflanzen zu können glaubte, wie
die Beichreibung eines Landes oder eines geſchichtlichen Ereigniſſes.
Wenn ich aber nad) einiger Zeit auf die entgegengeſetzte Anficht
ftieß und doch nicht untericheiden konnte, welches die rechte fei,
fand ich doch bald den geringern geiftigen Nahrungswert der
Anfihten und Meinımgen heraus. Indem ic) an ein phyſilaliſches
Ariom dachte, nannte ich die Tatſachen Körper, die undurch⸗
dringlich find, die Anſichten aber Schatten, die der Wirklichkeit
entbehren.
Zu diefer Zeit waren noch viel mehr alte Bücher am Leben
al8 heute, und das gab auch ſogar Heinen Büchereien, wie man
fie gelegentlich bejonders in den Häujern der Pfarrer und ber
Arzte fand, einen Reichtum oder vielmehr eine Mannigfaltigleit, Die
eine moderne Bücherſammlung nicht hat. Schon äußerlich zeichneten
ih die alten Bände mit ihren braunen bunt oder mit Gold
bedrudten Lederrũcken und ihrem roten oder Marmorjchnitt vor
den Erzeugnifien ber zur Stümperei herabgeſunknen Buchbinderei
des mittlern neunzehnten Jahrhunderts aus. Die Menfchen,
6. Bildung \ 09
—— — —“⸗ ae — — ——
die Chronegks Kodrus oder Wielands Agathon laſen, haben
jedenfalls, im Verhältnis zu ihren Mitteln, mehr Bücher ge⸗
fauft als ihre Nachlommen, und fie hatten Freude an ihren
Bühern. Manche davon fahen doch wie Schmudjadhen aus.
Was für Prachtausgaben hat es von Haller, Ewald von Rleift,
befonder8 aber von Klopftod umd Wieland gegeben! Sogar die
Nachdrucker ftatteten ihre Bücher manchmal pompös aus. Man
lad weniger, aber man ftand auf einem vertrautern Fuß mit
diefem wenigen, man kehrte öfter dazu zurüd, Bücher wurden
Freunde, Lebendgefährten. Nun entdedte ein Jüngling aus der
dritten Generation diefe alten Bücher, die vielleicht in einem
ganz vergeflenen Winkel ftanden, und für ihn wurden fie eine
neue Welt, in die er fi mit dem Stolz des Entdeders hinein-
lebte. Wer hätte nicht die Erfahrumg gemadt, daß er fi im
Beginn feiner Bildung, bei noch unreifem und ſchwankendem
Urteil, in den Haffiichen Werfen verirrt, von dem fchön aus⸗
gelegten Hauptweg abkommt und in nebenjächliche Anpflanzungen
hineingerät? Es folgt Enttäufhung und Abſtumpfung, man
verichmäht nun überhaupt die klaſſiſchen Wege zu gehn und kehrt
vielleicht nie mehr zu dem zurüd, was man einmal aufgegeben
hat. So Hatte ih in der Meffiade eine Erhabenheit gefunden,
die mir zwar allzu wortreih und mühſam, verglichen mit der
Bibel, zu fein fchien, aber ich hielt mich neugierig an die Art,
wie Klopftod das Größte feinen Lefern poetiich vorftellbar zu
machen ftrebte; eigentlicy langweilig muteten fie mich aber nicht
an, ich babe fie durchgeleſen, und einzelne Stüde nicht bloß ein-
mal. Und ebenfo die Oben. Das, was mir damald daß un-
beftimmte Gefühl eines Mangels, ein ftumpfes, dumpfes Gefühl
gab, habe ich }päter erſt verftehn lernen, nämlich den Mangel
des Friſchen, Unmittelbaren. Ich kam der Wahrheit erſt näher,
als ich ahnte, daß gerade daß, was den frifchen Duell im Gras
oder die hohe Blume im Wald freudenreih und ſchön madt, in
Klopftocks Werfen nicht fei. Und ebenſo nicht in Hallers Verfen.
Schöne Gedanken, große Gefühle, aber alle gemacht, erjonnen,
für gebildete Leſer in einer feierlichen, Tünftlichen Sprache mit
viel Abficht gefagt. Alſo das Gegenteil von Natur. Daher aud)
die Empfindung, man müſſe ſolche Dinge nachahmen können. Die
Einzigleit und die Unnachahmlichleit des aus Gottes Hand her⸗
borgegangnen Kriſftalls oder der einfachiten Blüte war nicht in
diefen Dichtungen, denen man im beiten Fall den Lobiprud)
„Schön gejagt” ſpenden Tonnte.
7*
100 Glüdsinfeln und Träume
IH Habe in dieſen jungen lernfroßen Jahren bejonders
Goethe, aber mit ihm ber ganzen äfthetifchen Überkultur gefunder
und freier gegenüber geitanden als fpäter, wo ich mich in bie
äfthetifchen Yäden verwidelt hatte, die das Leben der gebildetiten
Kreiſe, vorab in einer Kunftftabt, volljtändig einfpinnen. Go
wie ich bei „Kunftlennern“ die Erfahrung gemacht habe, daß
das naive Empfinden des Kunſtwerks für fie von dem Augen⸗
blid an aufhört, wo fie fid) mit der Frage befchäftigen, wie e8
„gemacht“ iſt, jo fällt au auf das poetilhe Empfinden die
NRüdficht auf die Technik ald ein wahrer Meltau. Ich war dem
Leben noch zu nahe, als daß ich die Probleme des Herzens nur
fo als Objekte des Kunſthandwerks hätte auffafien können. Wie
fonnte Werther einen Eindrud auf mich machen, da ich auf dem⸗
felben Punkt geftanden Hatte wie er? Ich hatte das Unmännliche
in meiner eignen Stimmung mit Beihämung empfunden, da ver-
mochte Goethes fchöne Sprache da8 Entnervende in Werthers
Gefühlsſchwelgerei mir nicht zu verbeden. Ich las mit überzeugtem
Beifall in Vilmars Literaturgeichichte dad Wort von dem Gift in
herrlichem Kriftall, das Goethes Dichtung uns darbiete. Es tat
mir damals gerade das wohl, daß nicht die Großen mit ihrer
ganzen Wucht auf einmal an meinem Geſichtskreis aufftiegen.
Leichtere Wölkchen, die auch dann Feine Welt verfinfterten, wenn
fie tränenreich aufzogen, wie Höltys Gedichte, ſchwebten voran.
Ein junges Menſchenkind, dad ganz Leben und Natur ift, kann,
ohne in ungzeitige Schwelgerei zu verfallen, nur eine ſchwache
Doſis Poefie vertragen. Das Hineinpumpen fremder Poefie durch
wũtiges Leſen von Gedichten und Romanen in diefem Alter kommt
mir jeßt jo recht als eine ftrafbare Bildungspantjcherei vor. Die
elementare Poefie, die in und Kindern jtill pflanzengleich heran-
gewachſen war, wurde durch Diefed Begießen mit ungejund an-
treibenden Stoffen in falihe Richtungen gelenkt, werm nicht
auögetrieben: an die Stelle von Blühendem Gebrudtes, Papier
für Blumenblätter.
Es iſt mir erft jpäter klar geworden, daß e8 gerade bie
Weite des Wortes Bildung ift, was fo faszinierend auf alle wirkt,
die nad) Bildimg jireben. Sch beivegte mid in einem reife,
wo ed nicht für felbitverftänblich galt, daß alle, die darin ver-
fehrten, gebildet waren. „ft er gebildet?“ Tonnte man oftmals
fragen hören, und mandymal lautete die Antwort: „Sa, er ift
ſehr beleſen“ Die Bildung wurbe hauptſächlich darin geſucht,
dag man gewiſſe Schriften gelefen hatte, ich kounte mich aber
6. Bildung 101
des Verdachtes nicht erwehren, daß dabei weniger an die Be-
wältigung des Inhalts als an die Zeit gedacht wurde, die dazu
nötig war. Wer dieje Zeit aufwenden Tonnte, bewies damit,
baß er bis zu einem gewiſſen Grade Herr feiner Zeit war, und
wer fie aufwenden wollte, erfannte damit eine Art von Ber-
un gegen die Geſellſchaft an.
Was war e8 nun, befien Kenntnis man von diefen Gebil-
deten verlangte? Schillers Gedichte, Hebels alemannilche Gedichte
und Nheinländifcher Hausfreund, Nadlers Fröhlich Pfalz, Gott
erhalts!, Blüten und Perlen oder fonft eine Anthologie waren
Bücher, in denen die meiften gelefen hatten. Auch fand man
auf vielen Bücherbrettern Schlofjers Weltgeihichte und Canna⸗
bich8 Geographie. Einzelne Bändchen der Grofchenbibliothel waren
noch in mandyen Winkeln vorhanden. Dan lernte da Pſeudo⸗
Haffiker wie Krug von Nidda, aber auch echte Dichter wie Hölty,
Bürger, Claudius lennen, von deren Gedichten mehr geläufig
waren als heute. Dagegen gehörten Lenau, Uhland, Yreiligrath
einer Woge an, die erft nad) diejer unjern Strand erreichte, und
Goethe ftand allen fern, wurde als jchmwerverjtändlich von den
einen, als fittengefährlich von den andern und als teuer von
allen gemieden. Goethes Werke gab es auf zwei Stunden im
Umtrei3 nur bei einem alten einjamen Dorfarzt.
Es ging wohl von der weiblichen Seite der Eichelberger
Geſellſchaft zuerft die unerhörte Frage aus: Sind wir denn ge
bildet genug? Da war eine Arztesgattin, dort eine Pfarrerd-
tochter, die behaupteten, man müfje etwas mehr für den Geift
tun, die eine klagte, die Lehrersfrauen läſen fchon diefelben Bücher
wie die Frauen höherer Beamten, und die andre hatte bei einer
Fahrt im Stellmagen mit der Tochter des Wollwarenfabrilanten
Staar in Roßloch den Eindrud gewonnen, man müfje etwas
Beſondres tun, wenn man nicht auf das Niveau von foldyen
Leuten ſinken wolle Daß der jübiihe Kaufmann und Auswan-
derungsagent Stiegliß in Afpringen für feine zahlreichen Kinder
einen Hauslehrer angeftellt hatte, der angeblih in München und
Bari doziert hatte, verftärkte die Befürchtung, daß die Intelli⸗
gen; bed Bezirksamts Senjenheim überflügelt werden könnte.
Bei den mit reichlichem Kaffee gewürzten Beipredjungen in den
„Staat3zimmern* der Honoratioren ftellte ſich heraus, daß Die
Männer diefer Bildungsfrage Tühler gegenüberftanden. Natür-
lich! Sie, die Studierten, fonnten fi) doch nit von einem
Staar oder Stieglit überholt glauben! Der Rentamtmann er-
102 Slüdsinfeln und Träume
zählte, daß Herr Staar noch nicht einmal orthographiſch ſprechen
fönne; er fpreche beitändig von Streechwolle ftatt Streichwolle,
halte jenes für feiner; und das Bildungsftreben der Familie
Stieglig erjchien der Gejellichaft nicht mehr fo bedenklich, ald der
Bezirksföriter erzählt hatte, ihr Hauslehrer jei eine Art von
Naturmenſch, der auf Stroh ſchlafe und fi zur Verrichtung
feiner Bedürfniffe in den Wald begebe. Mein PBrinzipal, der
mit Herrn Stieglig Geichäfte machte, nahm feinen Klienten in
Schutz und erklärte, der Haußlehrer fei ein Menſch wie andre
auch, ſogar etwas hochmütig, und daß Herr Stieglitz ihn ange-
jtellt habe, fei durchaus nicht aus Überhebung geichehn, fondern
weil ihn das billiger Tomme, al vier Finder in die fernen
ftädtiihen Schulen zu ſchicken. Wenn nun aud) mit Beifall von
dem jchwäbiichen Rentamtmann das große Wort ausgegeben wurbe,
dieſes Bildungsftreben fei gerade ein jo norbdeutiches Gewächs
wie manche andern been, die beſſer im märkiſchen Sande als
in unjerm tiefern Boden gediehen, jo fiegte Doch der Wunſch
der Frauen und der heranwachſenden Jugend, etwas mehr von
der Welt zu vernehmen und die berannahenden Herbſtabende,
an denen die Männer länger im Kafino faßen, mit frifcherer
Leſeware zu verkürzen. Man beſchloß die Begründung eines
Leſezirkels, an dem die höhern Beamten, die Pfarrer, Arzte und
Apotheker des Eichelberger Ländchens teilnehmen follten, von dem
aber ſchon die Lehrer jelbftverftändlich ausgeſchloſſen waren. An
den Herrn Baron wandte man fi) gar nicht, weil man bei
feiner Abneigung gegen das Leſen moderner Literatur einen Korb
vermuten fonnte, und ebenjowenig an den katholiſchen Kaplan,
von dem man vorausfeßte, daß ihm manches Buch nicht gefallen
werde, dad man vielleiht zu leſen wünſchte. Mein PBrinzipal
wurde zum Gefchäftsführer gewählt, weil er, fagte man, freie
Zeit ımd junge Leute, nämlich und, zur Verfügung hätte Im
Hintergrunde mochte mehr noch die Hoffnung wirkſam geweſen
fein, daß feine Verichwägerung mit einem hervorragenden Verlags»
buchhändler ihm billiger Bezug der Bücher ermöglichen werde.
babe noch Heute eine große Freude an der OÄffnung
eines Bücherpakets voll Neuigkeiten, aber in jenen Jahren war
mir ja jedes Buch viel neuer, enthielt jedes viel mehr Wichtiges,
Werwolles, vielleicht Erſtaunliches. Das Gefühl geipannter Teils
nahme, mit dem ich im Schweizer Robinfon die allmähliche Ent-
leerung des geitranbeten Schiffes Ind, wobei ein Schab nad) Dem
andern and Lit kam, durchriefelte mich wie Seligkeit, wenn ein
6. Bildung 1083
grauer Bad vom Buchhändler anlangte. Schon die ſaubere Nechted-
geftalt mußte anſprechen, fie verkündete die entiprechend ge-
formten, ſcharf umgrenzten Büchergeitalten, die verheißungsvoll
herausquollen, wenn die Schnüre gelöft waren. Da lagen zu
unterjt die Beitjchriften mit ihrem kaum zu überjehenden In⸗
Halt: die Gartenlaube, die Damals noch in jungen Jahren ftand,
W. O. von Horns Maje, dad Buch der Welt mit feinen bunten
Sarbentafeln und, über alle geſchätzt, die ariftofratischen Wefter-
manns Monatshefte.e Man jah die Abende vorüberziehn, an
denen Dieje Hefte entfaltet werden follten, und zählte die Stunden
behagliher Spannung bei ihrer Lektüre voraus. Da wurden die
neu erjchienenen Bände der Romane von Mühlbach, von Had-
länder, von Mügge, von Otto Müller, Beder und jo manchen
andern außeinandergelegt. Ich habe auß jolchen Bänden auch
unvergeßliche Werke wie Scheffels Eflehard und Kürnbergers
Amerilamüden hervortreten jehen. Auffallend arm war damals
die Hiftoriiche und die Memoirenliteratur; bis in unfre Sreife
drangen Ranke und Sybel nicht hinab, am meisten gelejen fchien
mir Macaulays engliiche Geſchichte mit zahllofen ſchlechten Holz-
fhnittporträtd. Für mich lag regelmäßig irgendein Lern= ober
Studierbuch dabei, das mid) immer zuerft durch fein äußeres Ge⸗
wand ergößte, wie ed nun auch fein mochte, ehe ich mich an fein
Inneres machte. Sm Grunde gefiel mir eben fat jedes Buch
ſchon von außen, denn ed war immer eine Verbeißung, und
eine Ausnahme davon machten nur die „roh“ verjandten, die
man erſt heften lafjen mußte. Ich vergeile nicht den Eindrud,
als id die Homerausgabe der Firmin⸗ Didotſchen Flaſſiker
bibliothek mit lateiniſcher überſetzung erhielt: ein ſtarker, ſtraff
gehefteter Band in feſtem Umſchlag von unſcheinbarer graugrüner
Farbe, von dem ſich das vortreffliche Papier, der klare, ſaubere
Druck in fremdartigen eleganten Griechenlettern ſchön abhoben. Das
war ein Kunſtgenuß! Die höchſte Stufe dieſes äußerlichen Bücher⸗
genuſſes erſtieg ich allerdings erſt einige Jahre ſpäter, als mir
mein nun längft verſtorbner Freund L. D. aus Köln den Heinen
Horaz mit lateinifchen Profaerflärungen in Elzevierformat, eben-
falls aus Firmin⸗Didots Verlag, dedizierte. Das war dag erfte
Buch mit eingeklebten Photographien, das ich ſah. Es war in
grünen Maroquin gebunden, mit Goldſchnitt. Kein Krondiamant
konnte herrlicher leuchten!
Zu dieſem Genuſſe, Bücher zu ſehen und zu fühlen, auf-
zuichneiden und anzulejen, brachte der Leſezirkel noch den andern
104 Glädsinfeln und Träume
der Verteilung der Bände und Hefte an die Abonnenten. Man
fonnte dabei die lieben Belannten nach Bildung und Geſchmack
einteilen, Freunde begünftigen, Gleichgiltigen Heine Bosheiten
zufügen. Es erfolgten auch Reklamationen, und die Empfind-
lichfeit gegen vermeintlihe unpafjende Zuweiſungen war groß.
Es mag dabei Prüderie und Unverftand im Spiele geweſen fein,
aber ein gefünderes fittliches Empfinden berrichte in diefen Kreiſen,
al3 man Heute in ihnen finden wird.
Wenn fi) Reugierige auf die am Vormittag neu anlommende
Zeitung ftürzen, und ein Kannegießer in ereignisreichen Zeiten ſo⸗
gar dem Poftwagen auf die Höhe vor dem Dorf entgegengeht, um
die Nenigleiten eine halbe Stunde früher zu haben — er lieft
fie dann im Gehen, bedächtig langſam auf der Straße her⸗
ſchreitend —, fo ift das nur ein Ausfluß der Uufgeregtbeit Ein-
zelner. Im Grunde kümmert man fi) im Dorfe wenig um dag,
was draußen in der Welt vorgeht, und wenn man ed einmal
tut, legt man die Beitung mit dem ®efühl des Behagens aus
der Hand, mit dem der Philifter im „Hauft“ von den Schlachten
hinten weit in der Türkei reden hört. Es mag draußen ringsum
ſtürmen und branden, wir jehen die Wellen nicht, hören fie nicht
einmal. Jetzt find bald zwei Menfchenalter verfloffen, daB daß
Dorf die Durchmärſche der Ruſſen und der Preußen ſah, die
nad) Frankreich zogen; nur die Allerälteften wiflen, was ein Krieg
if. Früher Hat Eichelberg fchwerere Heimfuchungen in Kriegs⸗
nöten erfahren. Uber gerade darin zeigt es fich, wie ein Torf
organifch mit feinem Boden verwachſen ift, daß die Stürme es
zwar niederdrüden, e8 aber nicht hindern, ſich zu erheben, wenn
der Orkan vorüber ift.
Ich kaufte mir beim Buchbinder Werner in Senjenheim
fünf Buch gelbliches Konzeptpapier, wie e8 in ben Kanzleien
übli war, und faltete und heftete mir in ftillen Abenditunden
daraus vierzig Hefte zu vierundzwanzig Seiten, auch hatte id)
fardiged Papier von fefterm Griff mitgebracht, und zwar blaues,
violettes, grünes und rote, und davon wurden Umichläge um
die Hefte gemacht, je zehn von gleicher Farbe. Und nun erhielt
jede3 Heft feine Aufichrift von Theologie und Myftil an bis
zu Acker- und Wieſenban, Dichtung, Malerei, Theater, Mufil
waren nicht vergeffen. Indem ich nun faft alle Bücher, die mir
erreihbar waren, Kapitel für Kapitel lad und jeden Sab bes
merkte, der mir beſonders wiſſenswert zu fein fchien, um ihn
dann in fein Heft einzutragen; indem ich ebenfo jede Zeitichrift
6. Bildung 105
—
und jedes Tagblatt behandelte, die mir unter die Hände kamen,
ja endlich jeden bedruckten Papierfetzen, ſammelte ich in wenig
Monaten einen ganz gewaltigen Schatz von Wiſſen an, dem
leider nur alle Tiefe und aller innere Zuſammenhang fehlte,
denn ich jchrieb mir nicht nur die Stellen ab, die mir gefielen,
fondern auch die, die mir durch ihre Dunkelheit imponierten;
dieſe ſchrieb ich manchmal, ohne auch nur ein Wort davon ver-
ftanden zu haben, in mein Heft, in dem Wunſche, fie jo lange
immer wieder zu lejen, biß ich fie erfaffen würde. Daß das einmal
geihehn müſſe, bezweifelte ich feinen Augenblid. Woher jollte
mir eine Vorftellung von der Begrenztheit meines Verſtandes
gefommen jein? Niemand kann jemals Autodidakt in einem
reinern, ich möchte jagen verwegnern Sinne geweſen jein al
ih in jener Zeit. Der Gedanke, jemand zu fragen, der es
beſſer verftünde als ich, kam mir überhaupt niemald in den
Sinn, war mir doch fogar in der Schule niemand gegenüber-
getreten, dem ich ein tiefere oder reichered Wifjen zutraute, als
ih leihtlih zu erwerben Hoffte. In der Tat, es war ein ganz
folgerichtige3 und rückſichtsloſes Syſtem des Selbftunterrichtd, dem
ich folgte, und e8 gab davon feine Ausnahme. In keiner jpätern
Beit meineß Leben? verfügte ich über fo außgebreitete und mannig⸗
faltige Kenntniffe wie im Sommer 1861, wo id) drei Monate
lang jeden Morgen von drei bis ſechs und Dazu noch manche
Abenditunden über meinen Heften jaß, raſtlos eintragend und
nadhlejend. Ich mußte ganz genau Beicheid zu geben über bie
Geichichte der Burgruine Dürnftein in unjrer Nähe jowie über
die Natur des Klingfteinkegeld, auf dem fie ftand, das Leben
Zalob Böhmes war mir ebenjo vertraut wie der Feldzug der
Tauſend unter Garibaldi in Sizilien, die Entjtehung des Krebſes
der Obftbäume und die Auffafiung Macaulays von Friedrich dem
Großen kannte ich ziemlich gut, wußte aber unter anderm auch,
was Luiſe Mühlbach in verfchiednen Romanen über diefen meinen
Lieblingshelden gejagt hatte. Ich erinnere mich, daß ich den...
diefer Schriftftellerin an einem Sonntag Nachmittag zwischen meinen
Apotheferhantierungen verſchlang. Zugleich beichäftigte ich mid)
auf den Wunſch meines Prinzipald mit der Herſtellung von
Thein aus einem halben Pfund Kongotee, das ich mit meinem
Tafchengeld erworben Hatte; daß es mir nicht gelang, das Alka⸗
loid Triftallifiert zu erhalten, war der erfte Rüdjchlag, den mein
fnabenhafter Glaube daran, daß man könne, was man ernftlich
wolle, erlitt.
106 Glüdsinfeln und Träume
—
Das waren Beutezüge, die Wertvolles und Plunder in
bunter Miſchung heimbrachten, denn von Unterſcheidung und Aus-
einanderhaltung des Guten und des Schlechten war noch nicht
die Rede. Es regte ſich erſt ganz leiſe das kritiſche Vermögen.
Doch erinnere ich mich, daß mir nach der Ernte auf den fünf
Adern, d. i. Bänden der Eſſahs von Macaulay ſchon eine Ab-
neigung gegen die Advolatenmanier der Urgumentierung dieſes
Geſchichtſchreibers aufſtieg; auch wandte ich mich von den nervös⸗
geiftreihen Bemerkungen der Rahel zu des Angelus Silefius
Cherubiniihem Wanderämann mit Überdruß ab, als mir der innige
Glaube des Dichter! und die |chillernde Eitelkeit feiner Kommen-
tatorien deutlich wurde. Das find Mbneigungen, die ih mir
bewahrt babe, aber es waren damals Inſtinkte. Dafür nahm
ih viele® Halb oder ganz Unfertige mit in den Kauf, und am
meiſten blendete mid die Fülle der Tatſachen, die einzelne
Autoren vorzubringen Hatten. Da hatten natürlid die populär-
naturwifjenichaftlichen Schriftfteller mit ihren zufammenraffenden
und prahlerijch erponierenden Methoden leichtes Spiel.
Da in diefem Bemühen kein Plan war und nicht einmal
zur Ordnung des Yufgenommenen Zeit blieb, wurde der Geilt
zwar voller aber nicht klarer, dad Gefühl der Überladung nahın
überband, und der Flug erlahmte. Es blieb das ſchöne Gefühl
übrig, einmal höher gejtiegen zu fein, und Die wertvolle Lehre,
was ein tüchtiger Unlauf vermag; aber wenn ich auf diefe Art
von Bildungsarbeit zurüdichaue, jehe ich einen Mann voll kühnen
Mutes auf dad weite Meer hinausrudern, deſſen Ruderſchläge
bald erlahmen müfjen; er wird fein Ziel nicht erreichen. Wenn
nur dad Meer ihn nicht verfchlingt!
„Es gibt ein Lerngenie, jo wie ed ein Gejchäftögenie und
ein Bauerngenie gibt,” jagte Herr Keitel, wenn er mich über den
Büchern fand. „Aber jedes an feinem Platz. Du lernft mehr
als gut ijt. Wo bleibt der Pla für das Praktiihe? Füllſt du
dein Gehirn bis in den legten Winkel mit Dingen, die der Ver-
gangenheit angehören oder in der Luft ftehn, und wirſt doch fein
Gelehrter, wovon willft du eben?“
” «x
%
Nachdem ich ungefähr ein Jahr lang alles gelejen oder
wenigitend in allem gelejen Hatte, was der Zufall mir bot,
fing id) an, die Seichtigleit diejes Bildungsfluſſes zu ahnen, der
6. Bildung 107
fo breit und jcheinbar fo voll an meinem Leben hinſtrömte.
War e8, daß mir von dem Beſten jo wenig dargeboten wurde,
ſodaß ich mic, tatfächlich faft nur im Mittelmäßigen herumtrieb,
war es das Gefühl, jo manchem, woran mein Lefetrieb ge=
riet, noch nicht gewachlen zu fein, ich hörte auf, mich mit gleichem
Eifer den „Hiltorifchen“ Romanen der Mühlbach oder einem
Hefte einer chemiſchen Beitfchrift zuzumenden. Es begann nicht
gerade ein kritiſches Zeitalter, ich möchte eher jagen, daß aus
dem Nebel des allgemeinen Bildungsftrebens belle Punkte zu
leuchten begannen, auf die ich unwilllürlich hingelenkt wurde.
Und zwar meine ich mid) zu erinnern, daß beſonders der da⸗
mals vielgelejne neunbändige Roman „Der Zauberer von Nom“
von Gutzkow die Wendung bewirkte Dielen hatten unjre Bil-
dungsbefliſſenen auf gemeinjame Koſten aus der Leihbibliothef einer
benachbarten Stadt bezogen, und wer Anſpruch machte, mitzu-
reden, der las mit. Auch ich durfte jo nebenher traben. Durch
meine Hände gingen ja die Bücherjendungen, und id) laß die an-
tommenden oder Die abgehenden Bände. ALS ich mid) nun am Ende
fragte, wa8 denn eigentlich der Inhalt und Sinn der langen
Geſchichte fei, da wirbelte es mir nur jo im Kopfe, denn da id)
nicht herauszufinden vermochte, welche von den zahllojen Figuren
und Zuftänden des Romans der Wirklichkeit angehörten, und welche
der Welt des Scheins, jo Hatte ih meiner Weltkenntnis keine
einzige Tatſache Hinzuzufügen.
Starke Neigungen zogen mid) in zwei Richtungen von der
literariichen Näfcherei dieſes zerftreuten Leſens ab: das Streben,
fremde Spraden zu Tennen, und die ſtarke Wirkung der Natur,
ſei e8 im Freien, wo fie bei jedem Gange ins Feld hinaus
wie beraufchend auf mic, wirkte, jei e8 in den naturwiſſenſchaft⸗
lihen Werfen. Ich Hatte das Gymnaſium nicht ganz durch⸗
gemadt; die Lüden im Griechiſchen auszufüllen ſchien alfo die
nädjte Forderung. Hier war etwas ganz Greifbared zu gewinnen,
jedes gelernte Wort ſchien fo gut zu fein wie ein überall ge=
Ihäßtes Gelditüd.
Der Lehrer war ein Kleiner Mann mit lächelndem Kinder⸗
gejicht, der nie widerjpradh, und aus deſſen Mund ich nie das
Wörthen „Nein“ gehört Habe. Niemand, den ich kennen gelernt
babe, hatte einen jo engen Horizont wie Herr Klatt. Er war
ein Lehrersſohn aus einem Nachbardorf, Hatte in der nahen Be⸗
zirksſtadt dad Seminar befucht und gedachte fein Leben, dag gegen
wärtig no jung war, in Eichelberg zu beichließen. Darüber
108 Glädsinfeln und Träume
binauszufchauen hatte er nicht die geringfte Luft. Dabei war er
feine Einfiedlernatur, kein Idylliker, fondern ein echter bäuer-
licher Realiſt. Er Hatte fi) früh mit einer Gerberstochter aus
feiner Heimat verheiratet, die ihm ein Kleines Kapital mitgebracht
hatte, mit dem er einen Garten erwarb, worin die beiden Leute
viel mehr Nutzpflanzen zogen, al3 fie brauchen konnten — Ver⸗
Taufögelegenheiten dafür gab es noch nicht, da Die andern Leute
ſelbſt Gemüje und Obft im Überfluß oder aber fein Geld hatten,
fie zu kaufen —, und gerade fo viel Blumen, als für einen Ge⸗
burtötagsitrauß für fie und ihn hinreichten. Seinen Kohl und
feinen Salat zu verwerten, war das Problem, um das fi) der
Lehrer unaufhörlich herumdrehte. Er gab vor, Bücher laufen
zu wollen, wenn es ihm erjt gelungen fein würde, für die Er-
zeugniſſe feine Gemüſegartens lohnenden Abſatz zu finden.
Er beſaß ein „Rheinifches Konverjationdlerikon,“ das ſamt
feinen verichnörfelt Lithographierten Xitelblättern und feinem
braunen Löſchpapier längit verichollen ift. Und dieſes war wohl
die Hauptquelle ſeines Wiſſens. Außerdem hatte er von ber
eriten Fibel an ſorgſam die Bücher aufbewahrt, aus denen er
gelernt hatte, und dieje waren zu drei Reihen herangewachſen
und machten Klatt zu einem der bücherreichften Leute.
Die Schule war ihm nur ein Lohndienft, und zwar ein
unwillflommner. Die jungen Bauern, die noch bei ihm in bie
Schule gegangen waren, hielten nicht von feinem Lehren. Der
geiſtliche Herr Schulinfpeltor fällte das falomonifche Urteil: In
der Schule vermag er nichts, da ift er nur ein fladerndes Licht,
aber er weiß viel und vermehrt dadurch die Würde feines
Standes.
Der Bauer kennt zwei große Lehrer, die mit der Hierarchie
des Schulweſens nichts zu tun haben, die Natur und das Her⸗
kommen. Wenn er die Schule verlaſſen hat, beſucht er keine
andre Lehre mehr als ihre. Wer kanns ihm verdenken, daß
ihm der andre Lehrer, der das Seine jelbit erit aus Büchern
gelernt Hat, nicht imponiert? Die Honoratioren, Stolz auf ihre
Oymnafialbilbung, die, einerlei wie tief fie geht, und wieviel
davon „fißen geblieben” ift, für fie ein foziales Kennzeichen ift,
ftehn der Vollsſchule, der Bauernichule teilnahmlos, wenn nicht
jpottend oder abgeneigt gegenüber. Die Lehrer müßten weltklug
fein, was fie in der Regel nicht find, und nicht fein können,
wenn fie fi in einer fo ſchwierigen Geſellſchaft behaupten
wollten. Den guten, pflichtireuen und gebuldigen bringen es bie
6. Bildung 109
Jahre, viele bleiben zeitlebens in einer ſonderbaren Zwiſchen⸗
ftellung, wo dann der Bauer, der ſolche Sorgen nicht kennt,
weil er weiß, wo er Hingehört, fie graufam als „Halbvögel”
bezeichnet. Ich fand immer die Anlehnung des Lehrerd an den
Geiftlihen als die natürlichſte Löſung aller Schwierigkeiten, Die
feine Stellung umgeben. Und tatfächlich fteht die Geltung des
Lehrers bei feiner Gemeinde immer in einem gewiſſen Verhältnis
zu der Stellung, die der Geiftlihe darin einnimmt.
Ich ſprach über den Zaun Bin: Herr Klatt, Sie verftehn
Griechiſch.
Herr Klatt war mit dem Binden feines Endivienſalats be-
ichäftigt, den er mit dünnen Strohjeilen umwand. Ohne feine
Stellung, den Kopf beim Salat, aufzugeben, antwortete er: Zu
dienen, bis Ilias.
Haben Sie auch eine Grammatik ftudiert?
Ja, Büttner, fprad er in den Salat, aber nur bis in Die
Unregelmäßigen hinein, dann wurde mirs zuviel.
Büttner habe ic) auch, Bin aber noch nicht jo weit.
Nun, da werden Sie Ihre Wunder erleben. Die Griechen
waren ein ganz, andre Volt als wir, daß merkt man eben an
ihrer Sprade. Wie könnten wir in einer jo Fomplizierten
Sprache ſprechen: Dual, Aoriſt und jo weiter. Und dann nod)
die Unregelmäßigen! Herr Klatt erhob fi im Eifer feiner Dar-
fegung aus dem Grünen und wand eines feiner Strohjeile
um die Hand: Sehen Sie, fo lernt mans, und fo geht es wieder
hinaus — dabei löſte er die Windung wieder auf und ftredte
das Strohfeil —, und man weiß foviel wie vorher. Das muß
man viele mal wiederholen; endlich bleibt was hängen — und
Dabei wiederholte er die Wickelung mit dem Strohfeil rückwärts.
Die Ilias leſen zu können ift freilich vieler Mühe wert.
Ya, fagte Klatt und fing wieder an zu binden, da haben
Sie Net. Uber für den innern Menſchen, id) meine den
Chriſtenmenſchen, bleibt doch weniger, als man glaubt, davon
übrig. Ich meine, was unfereiner brauchen kann. In Kadetten⸗
ſchulen mögen heranwachſende Kriegsmänner die Ilias lefen und
Daraus lernen, fi mutig mit Yeinden berumzujchlagen. Uns
friedlichen Menſchen kommt das Waffengellirr und der Staub
doch ganz überflüjfig vor. Und was man fürs Leben braucht,
haben ſchon meine Schulbuben. Den Kleinen, die fid) von den
Großen unterkriegen laſſen, jage ih: Wehrt euch! Der Paris
mit feiner Helena paßt eigentlich auch nicht unter anjtändige Leute.
110 Glädsinfeln und Träume
— · PIE
Wie gut, daß es ſo wenig griechiſche Literatur gibt. Denken
Sie, der Homer hätte fo viel geſchrieben wie der Goethe, den
niemand kaufen Tann, der nicht Kapitalien hat. Den Homer kann
man zur Not auswendig lernen, beim Goethe hat man den erften
Band vergefien, wenn man den zehnten aufmacht, und es find
vierzig! Shakeſpeare find aud zwölf Bände. Dagegen foll es
Leute geben, die alle griechifchen Dichter vom Anfang bis zum
Ende gelefen haben. In der Schloßbibliothek habe ich eine
illuſtrierte frangöfifche Überfegung, die voll nadter Menſchen ift,
ganz oben Hinaufgejtellt, wo fie niemand fieht.
Herr Platt ſprach gern von der Schloßbibliothef, deren
Bücher er aller paar Jahre zu ordnen hatte Man behauptete
zwar, dieſes Amt fei ihm entzogen worden, weil er bie nicht
ganz moraliihen Werke von allen andern getrennt in faft un-
auffindbaren Eden aufgeftellt habe, ſodaß der Baron feine Lieb-
lingsleftüre mit Mühe zuſammenſuchen mußte Andre erzählten,
er babe die Schildfrotdofe des Baron? mit ımter die Duodez-
bandchen geftellt und fei in den Verdacht geraten, fie eingefteckt
zu haben. Aber Herr Klatt fuhr fort, auß feiner Kenntnis der
Schloßbibliothek einen Bildungsanſpruch Berzuleiten, zu dem feine
Borftudien ihn nicht berechtigten. Ach bin einmal in Abweſen⸗
beit de8 Baron in das plump=runde Turmzimmer getreten,
das dieje Bücherei beherbergt. Weder der Lehrer noch ich ver-
mochten fein roftiges Schloß zu Öffnen, man mußte den Gärtner:
berbeirufen.
Auf den Bücherfchräuten hatte man die verfchiebenften Büſten
aufgeftellt, wie man fie ererbt oder von wandernden Stalienern
gelauft hatte. Sonderbarerweile waren darunter auch ganz ge=
wöhnliche Köpfe von Senechten und Mägden, die ein Freund bes
Barons als Liebhaber nad) der Natur modelliert hatte.
% *
®
Delan Stellmann war ein großer dider Mann mit ent-
fpreddendem Kropf, blauer Nafe, rauchgrauer Brille, buſchigen
Brauen und grauen Loden; er trug fi) nadjläffig; man bes
hauptete, der Wind habe ihm einmal den ſchwarzen Etrohhut,.
wie ihn damals bie Geiftlichen trugen, von der Krempe weg⸗
geführt, wo er Ioder ſaß, und er babe e8 in feinen tiefen Ge⸗
danken nicht bemerkt. Er lebte in den Alten und galt für ben
fefteften Hebräer der Diözefe. Wie er in den Wlten lebte, das
6. Bildung 111
— ——— EL —
zeigte mir unſre Unterredung; ich habe unter berühmten Philo⸗
fogen und Archäologen, mit denen mich mein Leben zujammen-
geführt hat, feinen gefunden, der inniger vom Geift der griechifchen
Dichter durchdrungen geweſen wäre, al3 Stellmann. Aus jedem
jeiner Säße ſprach eine Kongentalität, die mir damals zunächſt
den Eindrud jchlagender Wahrheit machte. Du willit dich alſo
in die Griechen vertiefen? begann er ungefähr; bedenke, daß
das eine Welt iſt. Entweder fommft du nicht hinein oder
nicht mehr heraus. Was du mir von den Lateinern fagft, die
bu gelejen Haft, daraus mache ich mir nicht viel. Das hilft dir
auch nichts, denn die Griechen find die Schöpfer der Haffiichen.
Literatur, und du mußt fie mit reinen Augen fchauen. Im
Vergleich mit Homer find Pirgil und Horaz ganz moderne
Menſchen. Die fünmen dir den Blid nicht Hären. Es bat in
unfrer Zeit und in den nädjitvergangnen Kahrhunderten Männer
gegeben, die den Griechen näher jtanden, fie beſſer verftanden-
und zum Teil aud) gedolmetiht Haben als jene Römer. Du
fennft doch Schillerd Gedichte? Wenn ich jene lateinifchen Dichter
moderne Geifter nenne, fo verftehe wohl, daß ich nicht ſage
„moderne Menichen.“ Denn da3 ift gerade dad Große an den-
Griehen, daß fie jedem gefunden Menſchen verwandt find. Vom
Bauern kannſt du lernen, daß ein Sonntagskleid fürd Leben
genügt, aber jede Arbeitsjahr will fein Werktagdgewand..
Sorge dafür, daß du diefes immer in der gehörigen Feſtigkeit
und Dauerhaftigkeit bereit haft, jo wird dein Sonntagsfleid dir
Ihön erhalten bleiben. Wer fih aber am Werktage fonntäglid;:
fleidet, wird den Sonntag dur werktägliches Ausſehen ent⸗
heiligen; er bat weder Freude an diejem noch an jenem. Die:
Bildung, die jetzt dur Zeitungen und Volksſchriften verbreitet
wird, ift ein abgetragne® Sonntagdgewand.
Als ich einmal bis zu den Tragifern und an die Schwelle
Platos vorgedrungen war, fam die Nede auch öfters auf Die
Borahnungen des Chriftentumd in den Schriften der Alten.
Ihre Beiten, ſagte Stellmann, waren im Grunde Ehriften, aber
fie find ftehn geblieben. Sie waren wie Leute, die einen weiten.
Weg vorhaben, und da fehen fie auf der Seite ein marmornes
Bötterbild, das ift ſo verlodend jchön, fie können nicht vorbei.
Die Juden find daran vorbeigelommen und wurden Chriften.
Darum bat auch die Herrliche Griechenſprache nicht die Höchfte
Würde. ‘Das Griechiiche hebt und aus der Mafje, aber Menfchen.
werden wir erft durch das Hebräiſche.
112 Glädsinfeln und Träume
An einem warmen Herbftnachmittag fand ich ihn mit einem
alten Buche, das aufgefchlagen auf feinen Knien lag, aber fein
Blick ruhte nicht auf dem Gebrudten, fondern Ding an irgend⸗
einem Punkt im blauen Weſten. Er deutete mit der Hand auf
den Platz auf der Bank, den ich einnehmen follte, und fuhr fort,
ind Weite zu fchauen.
Ich bin nun jo alt geivorden, fagte er nad) einer längern
Pauſe, wie in Selbſtbeobachtung, daß ich manchmal aus einem
Bude eine Stimme wie ein ferne® Echo vernehme; es ift aber
meine eigne. Im leiten Liſpeln bewegter Luft im Scilf, im
erften Donner einer Gewitternadht, der ganz ferne, wie fchlaf-
trunfen vorüberwallt, im Schatten des Knalles einer Flinte, der
im Forſt verhallt, liegt etiwad von meinem eignen Innern, etwas
unbeftimmt Wedendes, Erinnernded. Es iſt mir, als Hätte ich
einmal eine ſchwermütig ſchöne Dichtung gehört, deren zerriſſene
Harmonie der rätjelhafte Laut aufweden will. Bet Beethoven
gibt es Laute, die diefen vergleichbar, etwas in mir heben wollen,
was begraben if. Doch fürchte ich, dieſer Schatz iſt unhebbar,
wenigftend in diefem Leben. In Sphärenharmonien wohnt viel-
leiht einft der Ton, der in dieſe Innern Melodien einflingt
und den Bann von ihrem Leben Löft.
Stellmann war ein Freund der Malven; er fand in ihren
aufftrebenden Blütenftengeln, in ihren großen einfachen Blättern
und in den tiefroten oder fattgelben Farben ihrer Blüten, die
niemals grell find, etwas Klaſſiſches. Wenn ich zwifchen meinen
Malven den Garten binaufgehe, fagte er, kann ich mir denken,
ich fhritte auf einen ... zu. Gewiß haben die Griechen jolche
Pflanzen in der Nähe ihrer Tempel oder an den Wegen gepflanzt,
die zu Bildjäulen binführten.
* 3
*
Auf der Ruine von Steinberg kam wie ein Geſicht das
Gefühl der Vergangenheit über mich. Ich hatte von den Alten
und dem Altertum jprechen hören und mit geiprochen, gefühlt hatte
ih es nie. Da lag ih in den dunkeln Bajaltblöden, aus denen
die Ringmauer der alten Burg befteht, der man römijche Funda⸗
mente zufchreibt, jchlürfte den Geruch des Goldlads ein, der in
ihren Ritzen wild wädjit, und bemwunderte die prächtige Blatt⸗
form der fremdartigen Ariſtolochia. Ein Trauermantel, der mich
und dieje Blumen umflog, fam mir wie ein Bote der Vorwelt
6. Bildung 118
vor. Ich dachte an die Witter, Die Möndje, die ANömer, und
3 kam ein Gefühl von Weite über mich, als ob fich mein Ge-
fihtöfreiß ind Ungemeflene außdehne, und doch wieder war mir
die Vergangenheit jo nahe, als träten die alten Geſtalten aus
den Niſchen und ſchauten auß den halbgebrochnen Fenfterbogen.
Es war wie ein Burüdverjegtwerden um Sahrhunderte und ein
Wieberzurückfehren in die Gegenwart mit neuen Erfahrungen
von alten Menſchen und Taten. Nie werde ich den jeltiamen
Buftand vergeflen, worin ich den Berg binabitieg; ed war mir,
al3 jei mein befte8 Teil dort zurüdgeblieben. Es war, wie wenn
jemand etwas Großes gelernt hat, das er nım zum erftenmal
ganz erfaßt. ch Habe von dba an alles Geſchichtliche Tiebge-
monnen und leichter aufgenommen.
Rayel, Slüdsinfeln und Träume 8
Bilder aus dem Rriege
mit Frankreich
avᷣ⸗
Büder aus dem Rriege
mit Ixankreich
avᷣ⸗
l. Die Gewitterjchwüle
Die Schwüle vor dem weltgefchichtlichen Gewitter des Som-
mer8 1870 ift feine Stilblüte der Geſchichtſchreiber; fie lag
wirklich in der Luft und drüdte auf die Gemüter, die allmählich)
des Hangens und Bangens der deutſchen Einheitöbeftrebungen,
bie nicht zum Biele kamen, der franzöfifchen Drohungen, denen
feine Taten folgten, und des öſterreichiſchen Rachegefühls, das
dumpf brütete, mübe wurden. Heil dem Krieg, der fommen muß,
und der alles in die rechte Ordnung rüttelt! rief e8 in jungen
Gemütern, die fich des Krieges von 1866 erinnerten, wie er als
ein die Luft reinigendes Gewitter jchredlich hereingebrochen und
heilſam vorübergezogen war, heilfam aud für den Feind, der
unterlegen war.
In Deutichland war für die genannte Schwüle noch ein
befondrer Grund, den wir damals höchftens geahnt, aber erft nad)
Jahren erlannt haben. Die Jahre 1864 und 1866 und was folgte
Hatten ung da8 Gefühl gegeben, auf dem Schlachtfelde die erften
zu fein, aber auf andern Feldern wußten wir uns noch nicht in
bemjelben Maße anerkannt, wiewohl wir zu willen glaubten,
daß auch auf ihnen die Überlegenheit der Nachbarvölker nicht
mehr jo groß fei, wie fie einft gewefen war. Befonder der
Alp Frankreich drüdte bei weitem nicht mehr jo auf Deutſchland
wie bißher, es traten dort immer mehr Symptome innerer Ber-
ſetzung zutage, und die Negierung, deren dunkle Pläne jo viele
Jahre drohend an unjerm Horizont geftanden hatten, war feit
1866 immer ſchwächer geworden. In demjelben Maße, wie
dieſer Drud wid), wuchs bei uns ein Kraftgefühl, dad feine der
Generationen feit 1813 gelannt hatte. Rußland war mit innern
Reformen und afiatifhen Plänen beichäftigt, Ofterreich nieber-
geworfen, jenjeit der Alpen wuchs dem lange vereinzelten Deutjch-
land ein neuer Freund heran. Es Fonnte nicht anders fein, als
118 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
nn
daß bei und mehr Sraft und Gelbitvertrauen da waren, als
unter den gejpannten Verhältniſſen Verwendung finden Tonnten,
es war wie ber Überſchuß negativer Elektrizität, der das Ge-
witter berbeizieht: die Krifis lag in der Luft, man mußte nur
no nicht, wann die Außgleihung eintreten würde; dad Wo?
dagegen war nicht mehr zweifelhaft, es konnte nur der Rhein
fein, deſſen ſchöne Gelände ber Bliß zerreißen und das Kriegs⸗
ungewitter mit Blei überjäen und mit Blut tränten würde. So
wie es im Leben der Natur Zeiten gibt, wo Töne durch Die
Luft ziehn, man weiß nicht woher, jo erflangen die Rheinlieder
der Befreiungskriege plögli an allen Orten, als hätten fie fich
felbft angeftimmt, und hallten in jeder Bruft nad, als hätten
die rechten Saiten nur getvartet.
Der Schwüle draußen auf dem Markt ded Lebens entiprach
die dumpfe Stimmung unter manchem Dache. Seit den Erfolgen
Preußens im Jahre 1866 waren bei uns viele Leute Tonfterniert,
d. h. fie blieben einfach ftehn, ließen die Ereignifje an fi) vor⸗
überfließen und ſahen ihnen mit dem Gefühl nad, da es ebenſo
unmöglid) jei, gegen diefen Strom zu ſchwimmen, als gefährlich,
fi) ihm anzuvertrauen. Das Gerüft ihrer politifchen Anficht
war erjdjüttert, aber fie wagten es noch nicht abzubredden. Da
jede lang binauögezogne Unfertigfeit unzufrieden macht, grollte
ein unbeftimmtes Unbehagen in vielen. Neben den Konfternierten
ftanden die, die in den Strom neuer Meinungen bineinzufteigen
wagten und fogar fröhli mit ihm ſchwammen. Sie drüdte
nichts, höchſtens empfanden fie Ungebuld, daß ſich Deutſchland
nicht raſcher und gründlicher auf den Einheitsftaat zu entwickelte.
Noch viel größer ald gewöhnlich war die Zahl der Unentichtednen
und Sleichgiltigen; ihre Zahl war größer, weil der feit jo vielen
Jahren dauernde Gaͤrungsprozeß eine Maſſe von Unjchlüffigkeit
aufgehäuft hatte, und ihre Unentichiedenheit war in demjelben
Maße gewachſen, als die politiihen Verhältniſſe verwidelter,
die Beitrebungen in Deutichland und draußen widerſpruchsvoller
geworden waren. Sie warteten einfach, bis eine unbelannte ſtarke
Hand eingreifen, dad Rechte bewirken werde.
Im Haufe meiner Eltern Batte, wie in fo vielen deutſchen
Beamtenfamilien, die Politit in der freudigen Outheißung aller
Alte der Regierung beftanden, die auß einem faft Tindlichen Ver⸗
trauen zu der Weisheit und zu dem guten Willen des Yürften
hervorging. Nach Karfreitag und Weihnacht ftand deſſen Ge⸗
burtstag unbedingt in der erſten Weihe der Feiertage. Man
1. Die Gewitterſchwüle 119
u A —
ging zur Kirche und betete von Herzen für das Wohl des Landes-
vater, dann aß man Kalbsbraten mit Kopfialat. Seit 1860
warfen die deutichen Neformbeitrebungen ein neues Thema auf.
Der Vater war großdeutih in Erinnerung an das reiche und
Iuftige Wien, und zum Teil wohl auch, weil er fein kleines Ver⸗
mögen in öſterreichiſchen Papieren angelegt hatte; er überjchäßte,
wie faft alle Süddeutichen, die guten Seiten des öfterreichiichen
Charakters, den er als eine etwas weichere, noch gutnrütigere und
harmloſere Varietät des füddeutichen auffaßte. Daß ein folcher
Charakter nichts für die Politik ift, überfahd man. Man war
viel eher geneigt, die dazwiſchenliegenden Bayern als weſentlich
verjchieden von und Schwaben und Franken zu betrachten. „Wir
und bie Öfterreicher trinken Wein, wir verftehn uns, die Bayern
trinfen Bier, find plump und träg,“ urteilte man leichtherzig.
Münden war noch nicht die geiftige und Fünftlerische Hauptftadt
Süddeutſchlands, man reifte vom Oberrhein faft leichter und
jedenfall® lieber nah Paris al nad) Münden. Die Urteile
über die Bayern bezog man aber aus der Pfalz und beſonders
in der ung nächftgelegnen Vorderpfalz war damals die Abneigung
gegen die Altbayern noch ſehr groß.
Wenn ich zurüdichaue, erjcheint mir das Voll Süddeutſch⸗
land? in jenen Tagen wie ein zwilhen Schlaf und Wachen
ringended. Weil es gefund war, mußte es erwachen. Wie
eine lebenskräftige Idee Leben fchafft, das zeigte in jenen Jahren
die gewaltige Wirkung des vaterländifchen Gedankens im deutichen
Boll. Es ging ein allgemeines Weden deffen, was in Schlummer
verjunfen war, bindurd. Das war der wahre Sinn der Barba-
roſſaſage, die zu dieſer Zeit gerade deshalb jo volkstümlich
wurde, weil man in der eignen Brujt das Erwachen vaterlän-
diſcher Wünſche und Hoffnungen erlebte. Wie wirr auch in dem
großen Kefjel Deutichland, das damals noch Großdeutichland war,
die Stämme ımd die Parteien durcheinander brodelten, es ftieg
ein einziger Rauch au ihm zum Himmel, immer wärmer und
immer dichter.
Ich, der ih zu den Füßen Häuffers, Baumgartend und
Treitſchkes gejeflen habe, darf wohl Beugnis für das ablegen,
was die Hochichulen für dieſe Bewegung geweſen find. Gerade
ihnen danken wir e8, daß e8 in ber Hauptiache eine geiftige
Bewegung blieb. Diefe Männer und ihresgleichen haben das
Fiasko des deutichen Parlaments von 1848/49 aufgewogen,
indem fie denjelben idealen Faden zu beflern Zeiten hin jpannen.
— — 20 0
120 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
Hohes, warmblütiges Verzichten auf den gemeinen außbeutenden
Genuß des Lebens rühmte einmal Häuffer als ben Geift ber
deutſchen Jugend der Befreiungsfriege; und die fittliche Ordnung
ift nie fertig, wir alle jollen Arbeiter daran fein, lernten wir
von Baumgarten. Gleich ihnen war auch Treitichle vor allem
eine offne männliche Natur und hatte am wenigften Brofefjoren-
haftes. Aus feinen Reden ift mir Die Verklärung des von Schwach⸗
herzigen gefcholtnen Krieges eingeprägt geblieben: Troß aller
Heinen Leiden, es ift etwad Große um den Krieg; man muß
es nur nicht verlieren können. „Er Hat die befiere Hälfte des
Lebenskelches getrunken, Die Hefe ift ihm erjpart geblieben,“ fagte
er von Theodor Körner. Und wohl feiner ging damald aus
dem Kolleg ohne Wunſch oder Gelöbnis. Wenn im Juli 1870
bie Kriegsdrohungen der Franzoſen niemand erfchredten, fondern
nur noch) DI in die Flammen der Begeifterung goffen, jo haben
wir viel davon diefen männlichen Hiftorifern zu danken, die zwar
zugaben, daß der Krieg ein graufamer Töter von Männern, aber
doc; Iehrten, daß er zugleich ein Schöpfer neuer Männer aus
Knaben und Weichlingen ſei.
Wie fonnten wir jemal® glauben, unjre Wege jo allein zu
oehn? Wir wähnten nur, allein zu fein, in Wirklichkeit ift jeber
bon und nur ein Baum im Walde feines Volles; fo war es,
und fo wird und muß es fein. Wir leben mit ihm, wir fterben
mit ihm, wir ernten die Früchte feiner Siege mit und büßen
feine Schuld mit, wenn Übermut oder Leichtfinn es zu Falle
bringt. Heute fühlte ich, wie ein Rauſch über und hinwegging,
und wir alle, Menſchen diejed Volkes, die ſich einzig und einjam
hielten, raufchten mit, jo wie der Nachbar feine Blätter regte.
- Der Sommer von 1870 war einer der trodeniten des
Jahrhunderts geweſen. Bon Ende Mai big zu dem mächtigen
Gewitter des 28. Julis, unter deffen Schlägen die Bortruppen
der deutjchen Heerjäulen den Rhein paffierten, waren keine ftarfen
Negen gefallen. In manchen Gegenden waren die vertrodneten
Vielen kaum des Mähens wert, der Weizen ftand dünn, der in
dem Gebirge bes ditlichen Frankreichs da und dort gebaute Roggen
ftand kaum fußhoch, die Kartoffeln fingen erft nach den Gewittern
im Auguſt an, fi) zu entwideln. Aber allgemein erwartete
man einen trefflihen Wein, und da der Mai ohne jchädlichen
Froſt verlaufen war, hingen die Obftbäume voll Früdte. Das
war auch in Frankrei jo, wo die Maflen von Trauben und
Obſt aller Art das Leben auf den langen Herbftmärjchen erträge
1. Die Gemitterfchwüle 121
Ticer gemacht Haben. Im Auguſt folgte ein fchöner Tag dem
andern. Als am 17. Suli, e8 war ein Sonntag, die Sonne an
einem faft wolfenlofen Abendhimmel hinabſank, ftand ich mit
einem Freunde, der eben als Einjährigfreiwilliger diente, auf
einem der Wiefenhügel über dem Höllental, zurüdtehrend vom
Feldberg, wo wir die Sonne hatten aufgehn ſehen. Hinaus-
blidend über den Ahein weg und tief in die Vogeſen hinein, die
in einem freundlichen Veilchenblau den Wefthimmel einfäumten,
ftiegen wir zu dem einfamen Sternenwirt3haug hinab, um unſre
müben Glieder zur Ruhe zu beiten. Wir hatten einen ftillen
Abend vor und. Der Urlaub meines Wandergenofien reichte
bis zum nächſten Mittag, und mich felbft rief feine Pflicht in
die Stadt zurüd.
Am Gaſthaus keine harmlos freundlichen Gefichter wie fonft,
fondern geipannte, erſchrockne. Was iſt hier geihehn? Die nächſte
Sekunde brachte die Aufklärung: Kriegsgerühtel Drohreden in
den franzöfiihen Kammern, mutvolle, begeifterte Artikel in den
deutjchen Zeitungen. Und das alles jeit den zwei Tagen, Die
wir im Gottesfrieden der Schmwarzwaldbergheiden ahnungslos
verlebt Hatten. Der Wirt berichtete, wie die Gäſte, die ſich zu
längerm Verweilen eingerichtet hatten, beim Eintreffen der lebten
Zeitungen jein Haus verlafien hätten. „Wer weiß, wann die
Rothofen vom Elfaß her einbreden? Sie find jedesmal in den
alten Kriegdzeiten bald über den Rhein geivejen.“ Ein Blid in
die Zeitung lehrte und zwar, daß fo nahe der Krieg nicht war,
aber wir jahen freilich die Wollen hoch aufgetürmt am Himmel
ftehn, und wer fieht voraus, wann der erite Blitz bervorzudt?
Unfer Entihluß war gegeben: Raſch eine Stärkung, und dann
den Weg zur Garnifon unter die Yüße genommen. „ES wird
eine gute Vorbedentung fein, meinte mein Kamerad, der erfte
Nachtmarſch dieſes Feldzugs.“ So fähritten wir denn in die
finfende Nacht, aus der ſich endlos das weiße Band der Straße
herausrollte, erft an erleuchteten Häufern vorbei, Hinter Deren
Fenſtern vielleicht fhon Sorgen um Söhne ober Gatten heran-
wuchlen, dann an fchlafenden, die Die Sicherheit gaben, daß auch
in drohenden Beiten fein befter freund den Menfchen nicht ver=
läßt. Unſre Neben verftummten bald, wir wanderten uhrenhaft
regelmäßig fürbaß. Schon zitterte der Schatten des hoben
Münfterturms in der Morgenluft, als wir den erften Halt
bor einem Brückenwirtshaus machten, wo in langer Reihe alle
die ungefügen, ſchweren Holzfuhrwerle hielten, die die Nacht
122 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
durch gefahren waren. Bei einem Glas Kirſchwaſſer fiel meinem
Genoſſen das einjt oft gefungne Herweghſche:
Wie weht jo ſcharf der Morgenwind!
Frau Wirtin, noch ein Glas geihwind vorm Sterben!
ein, und hell fang er es in die Morgenluft hinaus. Es ift doch
ſchön, das Sterben, daß feinem erjpart bleibt, in biefer Form
fo nahe gerüdt zu jehen!
Bor der Kaſerne, die an dem Ende der Stadt liegt, daß unferm
Wege das nächſte ift, trennten wir und. Sch warf einen Blid
auf das rege Treiben in dem weiten Hofe, wo eben Ausrüftungs-
gegenftände gemuftert und abgezählt wurden. Un einer Seite
wurden aus einer langen Reihe von Mänteln, die auf gefpannten
Seilen hingen, Staub und Motten berausgeflopft. Die Energie,
mit der darauf losgeſchlagen wurde, gefiel mir ausnehmend, fie
begeifterte mich geradezu. Klopft nur zu, laßt die alten fuchfigen
Mäntel frifch und munter werden! Der Sturm wird vieled und
viele wegfegen auch bei und. Die wellken Blätter und die an-
geftochnen Früchte der deutſchen Eiche wird er in alle Winde
wehen; der Baum wird bis ind innerjte Mark erbeben vor der
Wucht dieſes Stoßes. Es wird eine Prüfung für uns fo gut
wie für die da drüben. |
Sn der Stadt war heute das Gegenteil von der verichlafnen
Stimmung, die font auf Montagvormittagen liegt. Überall be-
tegte fih3 in raſchern Tempo. Und da nad) deutſcher Sitte
die Begeifterung nicht troden bleiben konnte, ftredten fi) aus
den Wirtshäufern Arme mit Bierkrügen und Weingläfern und
tränften Unbekannte, von denen fie Gemeinſamkeit der Begeifterung
und des Durſtes verlangten. Rufe, Gejänge überall. Dazwiſchen
ber geichäftige Gang oder der Galopp von Drdonnanzen
oder Offizieren. Kaum hatte ich mid) aus einem an einem
Wirtshausfenjter hängenden Knäuel losgemadht, der fich gebärdete,
als Habe er ſchon Siege zu feiern, als ich von rücdwärts gefaßt
und durch zwei vorgehaltne Hände blind gemadht wurde; bie
wohlbelannte Stimme Roller rezitierte:
Das ein erfriichdendes Windesweben
Kräufelnd errege das ſtockende Leben.
Der Wille von geftern ift welt, fuhr er fort, das Licht von
heute treibt neue Blätter zutage, laß fie im Windesweben dieſer
Zeit wachſen. Als er meine Augen frei ließ, ſah ich in die
1. Die Gewitterſchwüle 123
amnn- ——
feinen, fie ſhwammen etwas; ber alte Student Hatte „der Zeit“
offenbar ſchon ein gutes Maß von DI zugegoffen.
Hier ift ja nichts als Bier und Geſang, fagte ich, laß ung
aus den Gaffen hinaus ing Freie. Mich bedrüdt diefer Lärm.
Was will er jagen? Die Leute betäuben ſich.
Sei nicht kritiſch in ſolchen Tagen. Sie wifjen es nicht befler.
Es ift eine ganze Anzahl dabei von ſolchen, Die ficher morgen ins
Feld ziehn. Ach habe auch mitgefneipt, und morgen denfe id) mich
in R. zu ftellen.
Das tft gut, ich habe vor, dasjelbe zu tun. Du wirft gewiß
zur Kavallerie gehn wollen, um deine Kunſt ald Säbelfchläger zu
verwerten ?
Getroffen. Und du wirft ebenjo ficher in das xte Negi-
ment eintreten, wo deine Freunde dienen? Alſo Infanterift?
Ehenfall3 getroffen. Übrigens gehe id) natürli dahin,
wohin man mich ftellt. Denn weißt du, was außerdem, daß
wir unfre verdammte Pflicht und Schuldigfeit tun, indem wir
die Waffe in die Hand nehmen, mich ind Heer treibt? Ich
muß! Das ift eine Wohltat. Weißt du noch, wie wir fonft
ein Tuch in die Luft warfen, um die Richtung zu erfahren, in
der wir gehn folten? Das Hört nun auf. Vorhin ging id)
binter einem Zug Soldaten, die famen etwas auseinander, Da
die Hintermänner langſamer ausfchritten, ald die Vordern voran⸗
gingen. Da kam da3 Kommando Aufgeichloffen! und im Nu
war es wieder ein kompakter Haufe. Da dachte ih, wie oft
wir auseinander liefen, der voraudeilend, der zögernd, und eine
fräftige Kommandoſtimme erſcholl in meinem Innern: „Aufge-
ſchloſſen! Nicht zaudern und zögern!“ Und daran will id nun
feſthalten.
Die Menſchen hielten es nicht in ihren Häuſern, nicht ein⸗
mal in den geliebten Wirtshäuſern aus, alles drängte ins Freie,
jeder wollte hören und reden, die kleine Stadt ſelbſt ſchien für
die große Bewegung der Herzen zu eng. Was iſt in die Menſchen
hineingefahren? Sie reden miteinander, als ob ſie ſich kennten,
und wenn man von dem Fremdeſten weggeht, iſt es einem, als habe
man einen alten Bekannten geſprochen. Neues erfuhr man zwar
nicht. Es war der Tag vor der Unterredung König Wilhelms
in Ems. Der Blitz der Emſer Depeſche Hatte noch nicht den
Weſthimmel erhellt. Aber es hatten die wenigen Tage ſchon
eine Klarung inſoweit hervorgebracht, als Die Verblüfften und
Angſtlichen zu einer Minderheit zuſammengeſchmolzen waren, und
124 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
eine ruhige Entfchloffenheit ohne Überhebung gewann immer mehr
Raum. Schon war jeder Zweifel gejchwunden, daß die Süb-
deutichen an der Seite der Norddeutichen fechten würden.
An unfern Univerfitätäfreid hatte der Sturm gehörig
bineingemeht. Faſt die Hälfte war ſchon zu ihren Regimentern
abgegangen, andre waren in dem all wie ich: bereit, als
Keriegöfreiwillige in Reih und Glied zu treten, nur noch fo lange
in der Univerfitätöftadt verweilend, als zur Abwicklung nötig
war. Das Semeiter nahte fi) ohnehin feinem Ende zu. Die
jüngern Profeſſoren begrüßten das Außeinanderftieben ihrer
Hörer freudig, die Altern waren etwas verdubt. Ich kam zu
dem alten Hiftorifer der Philoſophie, mic) zu verabichieden. Es
ift auch Tapferkeit, in ſolchen Zeiten feine ftille Pflicht zu tum
und taufend Stimmen, die ung ind Gewühl des Lebens rufen, nicht
zu folgen; alfo jprad) der alte Profefior, bei dem ich noch ver-
fpätet ein Kolleg über Plato gehört Hatte. Es Hang zwar
fonderbar in dem allgemeinen Sturm und Drang nad) einer
andern, neuen Art der Pflichterfüllung; aber doch hatte er Hecht
aus feiner Anſchauung heraus. Er, der alte Held des Wortes,
der fein andre Schlachtfeld als den Hörſaal und zur Rot noch
das „Literariiche Zentralblatt“ kannte, hatte Recht, und es ge=
hörte eine Art von Mut dazu, etwas zu jagen, was damals
wie ein Mißton Hang. Uber er hatte doch nur Recht für fich und
feinesgleichen, die von der Natur zum Kampf mit dem Wort und
der Feder beftimmt waren. Leider haben fich viele die „ftille
Prliht“ zum Vorwand genommen, ihrer Feigheit und Bequem⸗
lichleit nachzuleben. Was für einen Bodenjat von gleichaltriger
Erbärmlidleit ließen jene Hunderttaufende Sünglinge zurüd, als
fie im Sommer 1870 über den Rhein ‚gingen. Er blieb zuerft
ruhig am Boden, dann aber, als die frühen großen Erfolge die
Lage ſicher gemacht hatten, fing e8 an zu gären und zu wüblen,
und als die jungen Helden zurüdtehrten, fanden fie in diefen
Heuchlern der „ftillen Pflicht“ ihre Neider und Verkleinerer, und
mand) einer, der fein Beftes fürd Vaterland getan und gewagt
hatte, ſah fich zur Seite geichoben von einem Wettbewerber, der
bie Kriegszeit wohl angewandt hatte, fi) in aller Stille den Boden
zu bereiten, der eigentlich den andern gehörte.
Andres als bei dem Philofophen vernahm ich bei dem
alten Philologen, der mid) feinerzeit im Doltoreramen freund
ih vor dem Auflaufen auf Sandbänlen der Unwiſſenheit be=
hütet hatte. In diefem ſchien etwas von altrömiichen Staats⸗
1. Die Gewitterſchwüle 125
gefühl zu fein; in Wirklichleit war es fein Preußentum, da3 ihn
veranlaßte, meinen Entichluß mit Teuchtender Freude willlommen
zu beißen. Eine Welle, die emporträgt, wie der Krieg, gibt es in
unferm Leben nicht, fagte er. Sie find glüdlich, daß Sie ſich ihr
anvertrauen können. Sie kann audy in den Abgrund ziehn; jedoch)
es können und follen ja nicht alle Bäume ftehn bleiben, der
Boden und der Heine Nachwuchs wollen auch Sonne haben. Ich
freue mic) ganz bejonderg, daß fi) die jüngften aus unjrer Mitte
tatbereit zeigen, die jogenannten unteifen Elemente, die noch
nicht die Erfahrung haben, die zur völligen Stumpfheit erfordert
wird. Wir Alten allein find zu bedauern, die im fichern Neſt
daheim bleiben. Was einmal dageweſen ijt, Tehrt nie wieder.
Die Welt iſt ein Strom, der ewig abwärts fließt. Machen wir
uns bereit, abzutreten, wenn unſre Beit um ift, und hegen wir
nicht den vergeblichen Wunſch, wiederzulommen. In folder Er-
fenntnis Dürfen mir auch nicht wünichen, daß die Jugend ebenjo
ſei wie mir.
Spät am Abend trat mein Kamerad, mit dem ich am Tage
vorher vom Feldberg herabgeftiegen war, in mein Bimmer.
Laß und ein paar Schritte ind Freie tun. Ich bin ganz
betäubt von Reden und Hören, und müd vom Bujammennehmen
aller Kräfte und Sinne. Aber dad Schlimmite liegt hinter uns.
Wir find marjchfertig, morgen früh um fünf ftehn wir am Bahn-
hof, um acht Uhr beziehn wir dad neue Duartier in den Kaſe⸗
matten von R.
Wir fliegen die Landitraße binan, die glei” neben der
Stadt in einen Rajtanienwald führt, verließen fie in halber Höhe
und traten in ein tiefbeichattete Rund, deſſen Mitte ein alter
fteinerner Tiſch einnahm. Manchen Abend hatten wir an diejer
Stelle gejeffen, wohin nur noch in vereinzelten Tönen die Lebens⸗
laute der Stadt drangen, die viel ferner zu ſein fchien, als
fie in Wirklichkeit war. Hier war vielerlei bejprocdhen, manches
Geſpräch auch bis zu feinem lebten Ende geführt, mander Ent-
ſchluß gefaßt worden. Pläne zu wiſſenſchaftlichen Arbeiten waren
bier erjonnen, Bücher hier ausgedacht worden. Wie weit lag das
alles nun Hinter ung! Kein Ton aus diefer Beit drang herüber,
die legten vierundzwanzig Stunden batten alle verwandelt.
Wir faßen jchweigend einander gegenüber, der eine fühlte
in und mit dem andern, Worte, die ausiprechen wollten, was
wir empfanden, gab ed nicht, fie wären doch profan gewejen.
Ich fühlte wieder, was mir in höchſten Momenten unſers gemein-
126 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
famen Lebens bewußt geworden war: die alle Heinen Unter⸗
ſchiede auglöfchende Seeleneinheit ftandhafter Freundſchaft. Ich
hätte nichts angeben können, was ich für mid) dachte oder wünſchte.
Die Überzeugung, daß er wolle, was ich wollte, und id, mas
er, ließ überhaupt feinen Sondergebanten auflommen.
Als wir uns erhoben, war die Straße blau vom Mond⸗
licht, die Bäume wiegten fich ſchwarz über dem blaumweißlichen
Band, die Gebüfche Ichloffen es feit auf beiden Seiten ein. Die
Stimmung war fremdartig und behaglich.
But, daß es foldde Stellen in ber Welt gibt, diefe Hier
wird mir vielleiht mandmal wohltun, wenn ich draußen ihrer
gedente.
Ich blieb ftehn, mo Lichter heraufihauten, und der dunkle
Streifen eined Turmes in der Luft erzitterte.e Auch ih will
dieſes Bild mit Hinaustragen. Die überrheiniiche Ratur wird
vielleicht noch Schöneres bieten, aber wieviele Erinnerungen um⸗
ranfen dieſes. Laß mich noch einen Augenblick betrachten.
Du gehft aljo mit?
Natürlich, gleich morgen früh jahre ih nah T. und
melde mid).
Das ift gut. Eigentlich ift es jelbftverftändlich, daß du mit»
gehit. Mache nur, dag wir mindeftens in dasſelbe Bataillon
lommen.
Sch fürdhte, ich komme zu ſpät hinaus. Denke dir, was
es heißt, die Elemente de Soldatentumd von unten an zu
lernen.
In der Stadt waren die patriotilchden Töne verklungen,
in den Gärten war es dunkel, die Mufilanten waren nad) Hauje
gegangen, und die Sänger hatten, wenn fie es nicht ebenjo ge⸗
macht Hatten, ihre Töne auf Geſprächshöhe herabgeftimmt. Nur
die langen Lolomotivpfiffe von der Eiſenbahnſeite mochten mit
den großen Dingen zujammenhängen, die heute nicht fchlafen
gingen.
Es wird jeßt ftill wie alle Tage, fagte mein Freund, und
Doch ift e8 fo ganz anders als alle Tage. Wir gehn zur Ruhe
und fchlafen vielleicht auch ein, aber die Dinge außer uns find in
Bewegung, und wer kann jagen, wann diefe Bewegung endet?
Abſtralt gejprochen: gar nicht, wenn nicht etwa beide Völker,
die die Sache zumächft angeht, fterben, was nicht zu erwarten ill.
Was geitern und ehegeitern begann, hat ein Morgen, das niemand
erihauen fann. Es wird in ganz kurzer Zeit eine Lawine von
1. Die Gewitterfchwüle 127
Ereigniffen fein, in der eine Bewegung die andre hervorruft, und
no in Sahrhunderten wird es nachdonnern.
Se ftiller e8 mit ſinkender Nacht geworden ijt, deſto beftimmter
vernehme ich in mir ſelbſt Akkorde. Als ob ſich zu gewaltigen
Tonmaſſen kleine und vereinzelte Laute vereinigten, die früher um
und verfchwebten, num aber dem Taktſtock eines mächtigen Welten⸗
fapellmeifter8 folgend in herrlidhen Melodien dahinwallen.
Sa, ich höre auch etwas raufchen, das muß Die Zeit jein
oder das Schidjal. Zeit ift ja Schidjal, meint irgendein indijcher
Philoſoph. Zum erftenmal höre ich diefen gewaltigen Ton. Mir
tommt e3 vor, als hätten wir bißher in einem jtillen Nebenarm
gelebt, durch den der angeihwollne Strom nun feinen braufenden
Weg nimmt.
Der Menſch trägt ahnungslos fein Schidjal mit fich, es lenkt
ihn auf allen Wegen, es belauert ihn auch, wo er weit von dem
beftimmten Ziele abjchweift.
* *
*
In meiner Kleinen Heimatftadt war alles jo viel friedlicher,.
da kamen die Nachrichten fo ſpät und jo langſam, durch dieſe
Blätter ging es nur wie leife8 Rauschen; das Braufen des
Sturmwindes hörten nur die, die es im eignen Innern fühlten,
body oben in der Luft drüber weggehn. Ich Hatte mirs ganz
anderd vorgeftellt. Diefe Handwerker, Krämer und Kleinbeamten
hatten nicht viel zu fürchten, oder fie glaubten e8 in ihrem be-
ſchränkten Optimismus. Auf den Feldern arbeiteten die Leute
raſtlos aber ftill. Sie hielten den Krieg für näher, als er war.
Konnten nicht morgen die Franzofen da fein? Ob die goldne
Frucht in den Scheunen jicherer ftehe als unter Gottes Himmel,
fragte die bange Sorge nidtt.
In meinem Vaterhauſe berrichte diefelde Stimmung. „Sic
nur nit aus dem Geleis werfen laflen,” war der Sprud)
meines Baterd. Ihm mißfiel mein Entihluß, unter die Soldaten
zu gehn; da fich aber mein Leben ſchon feit Jahren fein felb-
ſtaͤndiges Bett gegraben hatte, mißbilligte er ihn nicht mir gegen-
über. Du bandelft auf deine Verantwortung. Haſt du aber
auch daran gedacht, daß du als Krüppel zurüdlehren kannſt?
Bri nicht alle Brüden Hinter dir ab!
Obgleich ic; etwas Unbelanntem entgegenging, und inter
mir im tiefften Schmerz; meine Eltern ließ, erfüllte mich doch
128 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
eine eigentümliche Freude, wie ich fie noch nie empfunden hatte;
ed jchien mir, als fei mein ganzes Weſen, Geift und Leib, von
diefer Freude ergriffen und durchdrungen von dem Yugenblid
an, two ich mich entichlofien hatte, mein ganzes Ich einzujeben.
Bei Licht betrachtet, Hatte ich viel aufgegeben und wußte nicht,
wie fi meine Zukunft geftalten jollte. Aber ich war einig mit
mir feldft. Kein Bedenken trübte die Klarheit der innern Er⸗
kenntnis deſſen, wa8 der Augenblid gebot.
Auf uns, die wir in einer Gedankenwelt gelebt Hatten, in
der es feine Unterfchiede der Völker uud der Staaten gibt, wirkten
bie Ausbrüche des überwallenden Stammesgefühld, wie alles,
was im Grunde egoiftifh und beſchränkt ift, abſtoßend. Wir
Hatten die menjchheitlichen Regungen als die edeliten ſchätzen gelernt,
und diejer Völkerhaß, der fich ſchrankenlos äußerte, ſchien unire
Ideale wie eine trübe Ylut zu umtojen. In einer der großen
Verſammlungen, in denen die hinausziehenden Kämpfer ver-
abichiedet wurden, hörten wir einen unjrer größten Gelehrten
eine Rede reden, deren Säbe an einen zum Schwindel geneigten
erinnerten, der einen ſchmalen Steg zuerjt mit Vorſicht langſam
paffiert und mit einigen Sprüngen endigt. Cine gute Bolls-
rede muß jo fein, daß jeder, der fie Hört, glauben muß, daß er
fie felber Hätte halten können. Das Boll muß ſich darin
Iprechen hören. Ich Habe in diefen Zagen viel ftanımeln und
doch, in diefem Sinne, nie beſſer ſprechen bören.
Auf die Kälteften und Widermilligften wirkte die große
Einheit und Klarheit im Wollen und Streben der Maſſe. Eine
Vollsbewegung, in der die Maſſe nichts Dummes tut, wie ihre
Neigung ift, jondern den Winken eines genialen Staatsmannes
mit der ganzen Inbrunſt folgt, deren die Volksſeele fähig iſt,
imponierte nicht bloß den „Achtundvierzigern,“ die ganz andre
Vollsbemegungen gefehen hatten. Hier war in ber Tat eine
elementare Kraft an der Arbeit.
Über die große Erregung des Augenblids hinaus lag das
weit über den Geſichtskreis diejer bewegten Tage hinausziehende
Gefühl, an großen Taten, auch an großen Gefahren teil zu
haben, und die Aufforderung, die daraus an jeden erging, für
beides Die beiten Kräfte bereit zu halten.
Die patriotifchen Gejänge, die wir jo oft aus einem ums
beftimmten Drange nad) hoben Gefühlen angeftimmt hatten,
waren mit einem Schlage Wirklichkeit getvorden. „Der Gott,
der Eifen wachen ließ, der wollte feine Knechte,“ das fühlten
1. Die Gewitterſchwüle 129
wir ja fo tief, und darum eben handelte es fich, dieſes Gefühl
nun in die Tat umzufegen. Und wie war heute das andre
Lied zur Tat geworden: „Das Volk fteht auf, der Sturm bricht
108, wer legt noch die Hände jebt feig in den Schoß?“ Die
Worte famen uns jo ſchal vor, fie welkten ab, die Frucht der
Tat war in diefen Sturmtagen unverſehens gereif. Es wäre
jedem trivial vorgefommen, nun nod den alten Sang zu wieder⸗
holen.
Ich babe Heute früh in der Kirche das Wort vernommen:
Mit Gott wollen wir Taten tun. Ich habe es mir tief einge-
prägt. Es ijt gut, aus den Worten herauszukommen, fid) auf Taten
wenigiten® vorzubereiten. Es wird zuviel des Nedend. Der Sturm,
der die Volkstiefen aufwühlte, ift matt geworden von den vielen
Worten und dem vielen Gedrudten, daß er aufwehte, er ſcheint in
eine gewöhnliche Briſe abzuflauen.. Das ift gut für bie, Die
daheim bleiben. Wir aber wollen etwad von feiner Kraft mit-
nehmen. Darum hinaus!
Br
Ratzel, Blüddinjeln und Zräume 9
2. Beim Erfat
Am ... Juli gemeldet, ärztlid) unterſucht, troß aufge:
ſchoſſenem Wuchſe brauchbar befunden, wegen der Größe foger
belobt und als „ein guter dritter Flügelmann“ qualifiziert, den
Tag darauf in ftarker und lauter Gejellichaft von Kriegsfreiwilligen
dem Heinen Städtchen im öftlihen Baden zugedampft, wo bie
Erfaßtruppen ausgebildet wurden. Unteroffiziere begleiteten uns.
Wie gern gehordhte man. Viele von und gehordhten zum erften-
mal wieder feit ihrer Knabenzeit. Wie wohltuend ift, was den
Strom des Leben? dämmt! Wie groß war umire erfte Freude
an der Unterordnung im Soldatenftand! Du haft jo lange frei
in der Luft und im Licht geftanden, angeftrahlt und angeweht,
nun haft du Neben, Vorder⸗ und Hintermänner, bift ein Glied
in einem Ganzen und fiebft nur noch nahe. Daß der fteife
rote Kragen des Waffenrocks troß der Elaftizität der ſtachelnden
Roßhaarkrawatte den Hals einengt, und daß die fteifen roten.
Armelvorftöße die Knöchel in auffallender Breite über der Hand
hervortreten ließen, änderte nicht? daran, daß dies des Königs
Nod war. Und ebenjowenig vermochte dad freidige Blau ab-
geriebner Nähte und die allgemeine Grobheit des Uniformtuches
das Gefühl herabzufegen, daß wir mit ihm einen neuen Menjchen
mit neuen Pflichten und Aufgaben angezogen hatten, und ein
entfprechendes Können fchien fich troß der lächerlichen Verſtöße
der eriten Exerzierftunde wie junges Selbftvertrauen zu regen.
Darüber, daß da8 plumpe ſchwere Safchinenmeffer, dad allein
ſechs Pfund wog, ein ausgemacht unpraktiiche® Inftrument jei,
beftand bei uns fein Zweifel; aber indem wir, mit ihm gegürtet,
den erften Gang über den Bereich der Kajerne antraten, fchien
ed, indem es mit jedem Schritt an die Waden anſchlug, fagen
zu wollen: Du gebft nicht mehr allein, du wirft mich von nun
an mit dir tragen bei Tag und bei Nacht, und ich werde Dich
2. Beim Erfat 131
wie ein treuer Freund ſchützen. „Du Schwert an meiner Linfen“
tönte e8 im Ohre des jungen Rekruten.
Denfelben Tag noch war Eidegleiftung, wozu die drei Ab-
teilungen auf dem Ererzierplag zujammentraten. Die kraftvollen
furzen Worte des Major und die draſtiſche Militärmuftl, deren
Ehoräle einen „herumriſſen,“ machten einen mächtigen Eindrud.
Die Heereögliederung, gebaut auf Glauben an die Macht des
Kriegsherrn und Gehorjan gegen die Vorgejehten, beide befräftigt
durch einen religiöfen Eidſchwur, hat etwas, das an die katho—
Liiche Kirche erinnert. Der Soldat gehört von jet an nur dem
Heer. Die Treue dem Fahnenſchwur ift auf der andern Seite
die Vorausfegung der BZuverläffigfeit de Soldaten bon oben
bis unten. Nur fo iſt der „richtige Kerl“ möglid. Und zwar
fchweigende, weil felbftverjtändliche Treue. Schweigen und Ge-
horchen ift die Lofung für alle bis auf die Höchjiten, die zu
feiten haben. Moltke durfte nicht ſchweigen, Werder auch nicht
in jedem Fall. Mit Schweigen und Gehordhen kommt man
jedenfall3 weiter ald mit Honneur et Patrie; dieſes Tlingt zwar
angenehmer, ift aber in Wirklichkeit nicht viel wert, denn es ift
fein Gebot, Teine Forderung darin. Wir empfingen die Waffen
und die neben ihnen wichtigſten Ausrüftungsgegenftände, Zornifter
und Batrontafhen, und fühlten und fat erdrüdt von der
Menge neuen Beſitzes. Nur wenige kannten die Bedeutung alles
beflen, was uns da übergeben wurde. Wer wußte etwas von
der Raumnabel und ber Gewehrbürfte? Daran, daß wir dies
alles viele Monate in der Welt berumtragen würden, dachte
damals niemand. Und doc welches Gewicht trugen wir! Der
mit jechzig Pfund beladne Infanterift gehört ſchon heute vermöge
des leichtern Gewehrs und Faſchinenmeſſers der Vergangenheit an,
in die fih der moderne Soldat nicht mehr hineindenten kann.
Der Torntiter fit troß feiner Schwere doch nach dem Gewehr
der wichtigfte Ausrüſtungsgegenſtand. Man nennt ihn verächtlich
„Aff,“ Hat ihn aber doch recht gern. XTrägt er doch eine ganze
Habe: den Kefiel, den eifernen Beſtand — Weiß, Kaffee und
Salz —, die Nejervemunition. Wie oft hat man den müden
Kopf darauf zur Ruh gelegt. Und endlich entfteht doch immer
eine Art von zärtlihem Verhältnis zwilchen dem Träger und
feiner Laft.
In den hohen gewölbten Gängen des alten Gebäudes glänzten
die Langen Reihen der Gewehre, die nad) der Nummer aufgehängt
. waren, fodaß man fie im Dunkeln finden konnte, in den Schlaf-
9*
132 Bilder aus dem Kriege mit Sranfreid
jälen ftanden die Pritſchen paarweiſe mit den jpreugefüllten
Schlaffäden und den bei Tage gerollten Deden, und über jeder
ftand auf rohem Brett der Tornifter und was jeder an Hab»
feligfeiten aufzuftellen Hatte. Zu jeder Zeit des Tages waren
Gänge und Treppen von Uniformen belebt, und aus dem großen
Hofe, den ein altes Lanzengitter abſchloß, Hangen die Signale.
Das Wort Kaferne hat einen übeln Klang, und doch wurde e8
draußen im Felde mit einer gewiflen Sehnſucht ausgeiprochen,
wenn wir uns an die fchönen Zeiten erinnerten, wo wir als
angehende Kriegsleute unfre erften Anleitungen dort empfangen
hatten. Den Schlagſchatten diejer Erinnerung liefert die Luft im
Schlafſaal, defien Fenfter auch in den heißen Sulinächten nicht
geöffnet werden durften, wenn der Unteroffizier in der Laune
var, fid) vor Zug zu fürchten.
Ich babe noch nicht von dem Kommandanten unfrer Erſatz⸗
abteilung gejprocdyen, dem Major Bofle, den ich freilic) bis zum
Tag vor dem Abmarſch ind Feld immer nur von weiten gejehen
hatte. In feinen Mienen lag eine hohe aber enge Gefinnung,
aus der alles ausgeſchloſſen war, was das Leben breit und heiter
macht: Humor, Ironie waren ihm geile Triebe. Einer, der ihn
länger Tannte, fagte: Boffe ift auf einem fteinigen led gewachſen,
wo es nicht viel Grünes gibt. Allerdings erinnerte feine hohe,
Ichmale Geftalt an Pflanzen, die hauptſächlich aus Stengel be=
jtehn. Wenn er vor die Kompagnie trat, merkte man an dem
Blide, den er die Reihen entlang fandte, wie zumider ihm alles
war, was irgendivie herbortrat. Er verfinfterte fi) jchon, mo
er auf eine Naje ftieß, die nad, feiner Auffaſſung zu weit
hervortrat: „Diejes Vogelgeficyt verdirbt nıir die Front.” Immer
jaß irgendein Helm nicht gerade genug, oder war eine Krawatte zu
wenig oder zu viel über dem roten Kragen fihtbar. Zwei Singer
der rechten Hand zwiſchen dem zweiten und dem dritten Knopf
der Uniform, die linke auf dem Säbel, den er ſich pallaichartig
gerade ausgejucht Hatte, fo ftand der Major halbe Stunden lang
ferzengerade dor der Front und verzog feine Miene. Die Worte
famen ſpärlich und wie gequeticht aus feinem Munde, trafen aber
immer irgendwie ind Schwarze, denn da er den Dienjt gründlich
fannte, entging ihm Teine Abweichung vom Reglement, auch wenn
fie laum merklich war. Gerade für uns, die wir geneigt waren,
weniger bedeutendes nebenfächlich zu behandeln, war er ein vor⸗
züglicher Lehrer. Yreilich hatte der Offizier in ihm den Menſchen
faft aufgezehrt. Der Baun des Offizierkorps hat in den obern
2. Beim Erfaß 133
Rängen manchen dürren Aſt. Es ijt ein alter Baum. Ein
Leben lang vom Ehrgeiz leben, trodnet da8 Herz aus. Boſſe
war aber nicht troden im Militäriichen, jondern daß Leben felbft.
Kameraden von mir, die zu Offizieren befördert ihm dienftlich
näher traten, bewunderten feine Arbeitäleiftung, haben aber frei-
ih außer Dienft niemals ein Geſpräch von ihm gehört. Als
Kommandant auf einer der wichtigften Etappenftationen im Elſaß
hat er ſich Verdienſte erworben, die das auf ihn gemüngzte
Schlagwort: „Auf Kriegsbauer außgegrabnes Foſſil“ beichämten.
Er gehörte zu der nicht Heinen Zahl von Offizieren a. D., die,
im Sriedenddienft abgewelkt, durch den Krieg erft in die Lage
famen, ihre Züchtigfeit zu zeigen, und ein rühmliches Nachgrünen
erlebten. Boſſe war eine von den Naturen, die das Leben ver-
brauchen muß, ſoll nicht die Ruhe fie töten.
Nun beißt e8, allem dem, was wir feit Jahren gelernt und
geübt Haben, die praftiiche Spite und Schneide geben; das wird
ſchwer halten. Kannſt du mit deinen Würmern etwas anfangen?
Und was tue id mit meiner Afthetif? Ich fürchte, wir werben
das ruhig in dieſelbe Kifte paden und abjchließen, in die unjer
äußerer Zivilmenſch, unſre Bücher und unfer Papier für un-
beitimmte Zeit verichwinden müſſen. Sa, ich jehe ein. Das
Baterland braucht einftweilen nichts als unſre nadten Körper;
fo wie wir vor den StabSarzt bintreten, jo will man und: Beine
zum Marſchieren und Arme zum Schießen und Schlagen, ben
Leib, der beide zufammenhält, und den Kopf mit richtigen Sinnen,
mehr verlangt man nicht; aber diejeß wenige will gut geübt und
imftand gehalten fein. Was mid) betrifft, jo würde ich mid
mit dem Wechſel der Beſchäftigung aud) dann einverstanden er-
flären, wenn ich etwas Dazu zu fagen hätte. Aber das finde ich
ja gerade das Wohltätige, daß das gar nicht möglich ift. Freund,
das Schidjal, dad uns unfer 208 jo vom blauen Himmel herab
binwirft, ift Doch etwa Wundervolled. AU mein Wollen und
Streben, mein ſcharfes Hinfehen auf dag Ziel, mein Denken an
ben Wettbewerb der andern ift von mir genommen, ich fühle mich
ungeheuer frei, wie ichs nie gemwefen bin, indem ich das Joch des
gemeinen Kommißfoldaten auf mid) nehme.
IH babe mid mit Schattene und Spiegelbildern begnügt,
wie anders ijt das lebendige Weſen und Wirken. Ich wirke einft-
weilen nicht, ich werde gewirkt, aber ih fühle, daß ich zur Maſſe
gehöre, mit der zufammen ich ein ficheres Gewicht übe. Und
dieſes Bewußtſein, irgendwo jeft zu ftehn und eine Spur zu
134 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
Iaffen, auch wenn fie nur eine unter vielen ift, das macht Doch
den eigentlichen Mann aus. Wenn ich bedenke, daß es in diefen
Tagen Hunderttaufenden fo gebt, jo kommt mir diefe Zeit wie
ein großes Felt der Manneöweihe vor. Hunderttaujend Einzels
männer werden in die Mafje hineingeſchmiedet und werden als
befiere gebärtet Hervorgehn, nachdem daS Feuer diejer Tage fie
durchglüht haben wird.
Jetzt kommt gerade dieje Art von Gedächtnis ind Spiel,
die wir nicht geübt haben: Sachen, Lokalitäten wollen feftgehalten
fein. Was nübt da das Namen⸗ und Zahlengedächtnig? Bou⸗
vienne jagt, Napoleon babe fein Gedächtnis für Eigennamen,
Wörter und Daten gehabt, dagegen Tatfachen und Urtlichkeiten,
die er einmal gejeben habe, babe er nie vergefjen. „Die er einmal
gejeben habe,“ das ift die Hauptſache daran. Was ich gejehen
babe, ijt mein Eigentum, was ich gelejen babe, ijt nur geliehen.
Soweit ich mit Selbftgejehenem, d. i. Selbfterfahrnem arbeite,
bin ich original. Wörter und Zahlen lernen, ift das Geichäft
eined Wiederfäuers.
Reisſske holte aus feinem Gedächmis die Erinnerung an
Napoleond durchdringenden Blid. irgendein Jugendgenoſſe
fchildert jein Geſicht in der Zeit der italieniichen Feldzüge, das
ganz auf den Ausdrud der Augen reduziert gewejen fei, bie
durchdringend und willensfräftig geblidt hätten. Napoleon jelbft
bat jih noch auf St. Helena dankbar an Korfilas Täler und
ſcharfgeſchnittne Berge erinnert, die feine Augen früh geihärft
Hätten. Das Sehen im Dunkeln ift auch eine Soldatentugend.
Der Soldat Tann nicht immer mit der Laterne wandern, er
darf es zeitweilig nicht einmal. Weſſen Auge das Dunkel
einer ſchwarzen Regennacht durchdringt, dem find manche ſchmerz⸗
lihe Stürze, Quetſchungen, Schärfungen erſpart. Er wandert
nicht mit dem Bauche in eine Wagendeichjel und ftürzt nicht
über einen fchlafenden Ochfen. Was im Handeln eines Menſchen
ftraffe Zweckmaͤßigkeit ift, wirkt ebenfo als eine Schönheit wie
jede volllommme Erfüllung eines Gefäßes durch feinen Inhalt.
Die Haut, die der Muskulatur feit anliegt, die Rinde der Buche,
die ohne Riſſe und Auswüchſe den Stamm umgibt, als ſei fie
mit ifm aus einem Stahlblod gejchmiedet, das find Bilder,
deren Eindrud id) in dem Handeln des Mannes wieberfinde,
dad ohne Umfchweife daS Rechte erzielt, befonder8 ohne viel
Neden, da8 deu ftarlen Stamm des Willen? zur Tat oft efeu⸗
artig überwuchert und erſtickt. Das Wlter bildet den Stamm
2. Beim Erfah 135
— ——
immer einfacher und kräftiger aus, und jo wächſt mit den Jahren
die Schönheit der Handlungen der Menſchen, die zu Handeln
wiſſen. Große Stantd- und Kriegsmänner find deshalb im
höchſten Alter oft jchöner als in der Jugend, wo fie noch nicht
wußten, welcher Alt fi zum Stamm auswachſen werde.
Was iſts, daß eine Truppe kriegstüchtig macht? Die Be-
waffnung? Nein! Die Franzoſen Haben in ihren Chaſſepots
weitertragende Gewehre als die Bünbnabel gehabt, und ihre
Chaſſepots waren dabei leichter, und ſie haben doch nicht wider⸗
ftanden.
Das Kommando, die Führung? Nein! Davon hängt wohl
der Erfolg in großen Treffen ab, aber die Truppe muß aud)
tüchtig bleiben, wenn fie feinen Erfolg hat, und jede Kompagnie
muß Diejelbe Tüchtigleit zeigen, ob fie auch alle Offiziere ver-
loren habe.
Es ift die Disziplin. Jeder muß jedem Befehl aufs ge⸗
nauefte und fofort Folge leiften, er darf ſich nicht einmal be
finnen, fo wenig wie er ſich über eine Wendung oder einen
Griff befinnt. Einer wie der andre, und einer mit dem andern;
wenn es fo geht, daß die Kompagnie wie ein Mann exerziert,
dann würden aud) ihre 250 Mann wie einer jchießen, vor:
gehn umd fiegen. Das iſt Kriegstüchtigkeit. Und darin liegt aud)
dad Geheimnis, warum ed im Soldatenleben feine „Nebenfachen“
gibt. Das beftändige Puben und Yliden erhielt und tätig und
fteigerte in jede® Mannes Auge feinen eignen Wert und den
Wert des Soldatenjtandes. In dem bei Vorgeſetzten beliebten
Wort „Der Dann hält was auf ſich“ Liegt ein großer päda-
gogiſcher Grundſatz.
In den ſeltenen Fällen, wo der Soldat Zeit und Gelegen⸗
beit Hatte, Uniform und Ausrüſtung aufzufriichen und einen
Parademarſch, fei es auch in der Dorfftraße, auszuführen, fuhr
der Geiſt des Ererzierplaßes in ihn. Nur die Trägften blieben
dann zurüd. Wer die Erfahrung Hätte, welche Freude ber
Mann an einem gut ausgeführten Marfch hat, würde den viel-
veripotteten Barademarjch anders beurteilen. Mit der Marſchier⸗
fähigkeit hängt eng die Manövrierfähigkeit zuſammen. Und dieſe
ift nichts weniger als eine bejonderd wichtige Anwendung der
Kriegstüchtigleit auf die Bedürfniſſe des Schlachtenkriegs. Ahr
liegt zugrunde der möglichft enge Zulammenhalt der Einheiten
von der Sektion aufwärts, die ſich immer von jelbft wieder-
berftellen, zufammenfinden müflen, wie auch der Marich, bie
136 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
Schlacht, beſonders aber der Rüdzug, fie durcheinandergeworfen
haben mögen. Ohne Marſchfähigkeit feine Manöver im großen
Stil, wie z. B. die große Rechtsſchwenkung Ende Auguft. Sagt,
was ihr wollt, die Härte kann ſchön fein und ift e8 auch fehr
oft, die WVeichheit ijt immer haͤßlich. Die Nachgiebigkeit, die
Empfindlichkeit, da8 Schwanfen find abjolut Häfliche Dinge. So
wie du gern die gerade Linie des Horizonts fiehft oder auch
die leichtiwellige, die von leichter Beweglichkeit ſpricht, fo ift der
Wille, der gerade durchgeht, ſchön; es ſchadet nichts, wenn die
leifen Schwankungen darin find, ohne die man fi) daß Leben
nicht denken kann, aber unerfreulich wirken ſtarke Hebumgen und
Senkungen hart nebeneinander.
Eine Hauptſache war: Keine Eile, werm fie nicht befohlen
wird. Ruhig avancieren, und wenn es dad Schidfal will, ebenfo
rubig unter gründlidher Benutzung jeder Dedung retirieren. Dabei
das ſcharffte Augenmert auf die Waffe haben. Keine Patrone
jo verloren gehn, geichweige denn ein Gewehr. Gern wieber-
bolte der Sergeant die Geſchichte, die er 1866 mit angejeben
batte, wie ein verfolgter Dragoner, dem das Pferd erichofien
war, Laltblütig feinen Karabiner vom Sattel ſchnallte und nad)
Abgabe eines einzigen wohlgezielten Schuſſes auf jeine Ver⸗
folger fi unbeichäbigt zu den Seinen zurüdzog. Verjäumt
feine Gelegenheit, die gut ift, dem Feinde eins auf den Pelz zu
brennen.
Wir fehen nicht über die nächſte Stunde, was Tommen
wird, und unjre Erfahrung macht Halt bei den Doppelpoften
unfer® Kantonnements. Wirklich, ganz nur Werkzeug! Was
wäre diefe Mafchine ohne Vertrauen? Nur Vertrauen ift die
Brüde zwifchen dem Feldheren oben und dem letzten Wachtpoſten
unten. Eine Truppe Tann von Ratloſigkeit überfallen werden,
daß fie nicht aus noch ein weiß, aber es ift dann immer nod)
ein Weg zu finden. Mangel an Vertrauen ift eine Herzkrankheit,
die den imern Organismus der Truppe fo lange ſchwächt, bis
Berzweiflung an allem entfteht. Das Ende der Vertrauenslofig-
feit ift der Zuſammenbruch: eine Herde, von den böfen Geiſtern
des Ungehorfamd und der Furcht außeinandergetrieben.
In den reifen, denen ich bisher angehört Batte, war ber
Einzelne alles, eine Gemeinichaft gab e8 im wahren Sinne nidtt,
der ®ert de8 Mannes lag in feinen befondem Gaben, die er
darum auch bis zum Übermaß entwidelte. Umgekehrt fam num
in der Kompagnie alles auf da8 Ganze an. Wer fi am beiten
2. Beim Erſatz 137
in die Sektion, den Zug, die Kompagnie einfügte, war ber
brauchbarſte. Der Soldat ift fein kompliziertes Wefen, je ein-
facher, deſto beſſer. Sein Vorgeſetzter beurteilt ihn nach wenigen
hervortretenden Eigenfchaften, für Die eben das Ganze den Maß—
tab abgibt: er jei gelund, unverdroſſen, gehorſam, entichloffen,
im bejondern marſchfähig und ein guter Schüße.
Der „theoretiſche Unterricht“ wurde unjrer Abteilung don
einem jüngern Unteroffizier erteilt. Der Hörjaal mar eine Scheune.
Weisheit von der unmittelbariten Verwendbarkeit wurde da ge-
predigt. Auf einen mit erhobner Stimme vorgetragen Lehr-
fa, wie: Die Ordnung und Die Sauberkeit jedes von den Hundert⸗
taufenden von NRädchen in dem großen Mechanismus find Die
Vorausſetzung der Leiftungsfähigleit des Ganzen, folgten die An-
wendungen auf das Gewehrputzen, den Glanz des Leberwerf3,
die Inftandhaltung der Montur. Es wurde intereffanter, wenn
der Vorpoftendienft zur Sprache fam und z.B. die Kennzeichen.
der Nähe des Feindes aufgezählt wurden, zu Denen auch Die
auffallende nächtliche Unruhe der Hunde in bejebten Dörfern
gehörte. Verirrten Patrouillen wurde empfohlen, die Himmels⸗
rihtung bei dunkler Nacht in einem Walde durch Betaften der
Bäume zu fuchen, die an der Weitfeite bemoofter zu fein pflegen.
Kommt ein Soldat aus dem Bufanmenhang mit feinem Bug,
jo ſchließt er ſich fofort der nächſten gejchlofjenen Abteilung an;
vereinzelt zu bleiben ift ein großer Fehler, militärifch ganz un⸗
möglid. Das leuchtete und ohne weitere ein, und wer ein
Gedächtnis für unfre Stunden hatte, erinnerte fich vielleicht an-
geſichts der zahlloſen zerftreuten Gefangnen, die die Franzojen
nad) jeden Treffen zurüdließen, an dieſe wichtige Lehre.
Ich will aber nicht behaupten, daß wir im theoretifchen
Unterridht jehr viel gelernt hätten. Der Unteroffizier, der ihn
erteilte, war zu gutmütig. ch fehe ihn auf ber Deichiel eines
Wagen? in der Hörfaal-Scheıme fitend, auf dem Wagen und
um denjelben jein Auditorium zum Teil in ſehr bequemen Lagen,
alle ohne Ausnahme todmüde von dem endlofen Exerzieren,
Marichieren, Putzen uſw. Einige jchliefen immer einmal ein,
andre fanden noch Beit, das Gehörte zu parodieren. Sch fand
z. ®. folgenden Sat nicht übel: Auch Dummheit ift eine Gabe,
die der Soldat nicht verachten darf; er muß fie nur recht an⸗
zuwenden wiſſen, doch nicht im Übermaß!
Es murden kurze Aufllärungen über die Organtfation und
die Untformierung der franzöfiichen Armee verteilt. Mündlich
138 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
wurden wir über bie Fechtweiſe der Franzojen unterrichtet; als
wir die uns gemadten Mitteilungen mit der Wirklichleit ver-
gliden, merkten wir wohl, daß die Hauptſachen anders waren,
denn von der Fernwirkung der Chafjepots wußte unfer Inſtruktor
nicht8, er ſprach dagegen viel von dem faßenartigen, Ipringenden
Vorgehen der Franzoſen, das dieſe jehr wenig geübt haben. Man
merkte allen Mitteilungen ded Leutnantd die übertriebnen Bor-
ftellungen von der franzöfiihen Taftif an, die feit 1859 in
beutfchen Dffizierkreifen kurſierten. So weit war alſo doch das
Studium der franzöfiihden Heereseinrichtungen in Deutſchland nicht
vorgedrungen, daß man dieje weſentliche Stärke der Yranzofen
richtig gefchäht hätte. Was wäre geworden, wenn die franzöjifche
Artillerie in ihrer Art der unfern ebenjo überlegen geweſen wäre
wie das Chaffepot der Zündnadel?
Bon unjern Unteroffizieren lernte id) den jüngften und
liebenstwürdigften ſchon auf der Fahrt zum Depot Tennen, auf
der er fi) daß undergänglicde Verdienſt erwarb, uns die Ele-
mente des Regimentspatriotismus, verkörpert im Regimentslied,
zu lehren. In jenen Stunden, wo er unermüdlich das Lied vor⸗
fang, bis wir es innehatten, gab es für ihn nichts in der ganzen
Belt über dem Regiment. Dad war und allen neu und inter-
effant. Daß wir uns in dieſe Fleine Welt in kurzem fajt ebenfo
eingelebt haben würden wie er, hätten wir nicht für möglich
gehalten. Die Unteroffiziere, Die wir beinr Bataillon trafen,
teilten wir fofort in alte und junge. Dieſe waren erft befördert
worden, jene gehörten zum alten Eifen und blieben größtenteils
im Depot zurüd. Unter den jüngern haben fid) einige im Felde
ganz vorzüglich benommen. Bon andern gewann id) den Ein-
drud, mander wäre ein beſſerer Menſch geweſen, wenn er ben
bunten Rod nicht gehabt hätte, der ihn eitel und aus Eitelkeit
großmanngjüchtig und überhebend, gelegentlich auch brutal machte.
Ich babe einen von denen, die und gegenüber nie den richtigen
Ton finden konnten, immer ins Kleinliche und Tölpiiche fielen,
ſpäter aß Wirt im Odenwald wieder getroffen, wo er durch
jein biedered, militärifch offnes und pünktliches Weſen den beiten
Eindrud machte. Das Bejehlen, ſchon über eine Korporalichaft
von zwanzig Mann, ijt eben eine Runft! Ein älterer Sergeant
fagte einmal von einem etwas ftreberhaft auftretenden jüngern,
der ſich auffallend raſch beflerte: Der Hauptmann fchält ſolche
var wie eine Zwiebel, ber Unteroffizier N. wird noch Heiner
wer
2. Beim Erfag | 139
Wie viele andre Paare, die ihrer Vereinigung noch ficher
fein wollten, ehe ein ungewiſſes Kriegsgeſchick fie vielleicht aus⸗
einanderriß, hatte auch unfer Sergeant P. glei) am Xage der
Mobilmahung den Pfarrer gebeten, ihn mit der Crforenen
feineg Herzen? zu trauen. Da aber die Dinge fogar damals
nicht jo vajch gingen wie die Wünjche der Menſchen, hatte Die
Trauung erſt an dem Sie der Erjagtruppe geichehn können,
und e8 war da von einem Honigmond nicht die Rede, nicht
einmal bon einem freien Tage. Bon der Kirche in den Dienft
war die Loſung des Neuvermählten. Die junge Gattin aber
mochte bei allem Trennungsſchmerz froh fein, als fie durch Die
Erlaubnis unjerd Kommandanten die Möglichkeit gewann, ſich
mit einem Munitiondzug, der rheinwärts ging, aus dem Kriegs⸗
getümmel zurüdzuziehn. PB. wurde nod) lange mit Diefer Hoch⸗
zeitöreife genedt. Wer fi) einmal an die Waffen gewöhnt bat,
mag aus mandherlei Gründen jagen: Schade, daß ed nicht mehr
Kriege gibt. Ein Philifter, mer diefe Anficht überhaupt nicht
für möglich hält oder fie als frivol in Bauſch und Bogen ver⸗
dammt! Darf ich nicht das Gefühl haben, daß wenn alle die ge
wöhnlihen Werte des Lebens ringd um mid) finfen, mein un-
verlierbarfted, mein „jelbfteftes Selbft,“ wie einmal Lenau e8
nennt, um ebenfoviel fteigt?
AT 002
3. Ich hatt einen Kameraden
Das Talent zur Freundſchaft, daß nicht in alle Herzen
gelegt ift, feimt freilich in der Regel nur in Gleichgefinnten auf,
die in ähnlicher Lebenslage find. Daß e8 aber fo fein müſſe, iſt
eine von den trüben Philiftererinnerungen aus dem Niederichlag
beichränkter Lebenserfahrung. Das find Meinungen nicht von
den Dingen, wie fie find, jondern wie eine Anzahl von Menfchen
behauptet, daß fie fein müßten. Wer bat nicht aus der Schul⸗
zeit glückliche Erfahrungen vom Gegenteil? Auch nicht einmal
bloß zwiſchen armen und reichen, zwiſchen Dorf⸗ und Stadtlindern,
fondern zwiſchen dummen und gefcheiten, böjen und guten Kante
raden entwideln ſich echte Sreundichaften. Mich z0g es als Knaben
zu den Schulfameraden aus reichen Häufern, weil id) da in eine
andre Welt Hineinjah, die viel Schönes, Verlodendes zu haben
ſchien, und e8 zog mid) noch ftärfer zu denen, deren Eltern arm
waren; id) geftehe, daß der feuchtwarme Geruch einer Armlichen
Stube, in der auf einem’ vierbeinigen Kochofen Kartoffeln fieben,
während ein altes, freundliche Müttercjen auf erhöhten Platz
am Heinen Fenfter näht, für mich noch viel mehr Anziehungskraft
hatte als ein jchöner Salon voll Spielſachen. Ich habe biefen
Duft nie vergefien, der mid) ebenfo narkotifierte wie die Luft
eine® Treibhauſes oder eine tropifchen Urwaldes, womit jein
Dunftreihtum verwandt ift. Noch viel mehr hat mid) fpäter der
energifhe Kampf mit dem Leben begeiltert, den arme Mitichüler
führten, Die fchon mit dreizehn Jahren andern Nachhilfeſtunden
gaben, fein Tafchengeld hatten und fich ihre Bücher felbft einbanben;
ich wollte mich ihnen mit Wärme anſchließen, fand aber nicht immer
Gegenliebe. Wie jchön find die Yreundichaftsverhältnifie zwiſchen
Bergfteigern und ihren Führern, Die tief wurzeln in dem gemein-
jamen Beitehn großer Gefahren, der wechieljeitigen Hilfeleiftung,
vielleicht in der Errettung aus Todesnot. Ahnliche Freundſchaften
3. Ich hatt einen Kameraden 141
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müßten zwilchen Offizieren und Soldaten entſtehn, müßten ſogar
häufig fein, wenn nicht die militäriſche Ordnung Dazwilchenftüinde.
Aber Leſſing bat den Wachtmeifter Paul Werner, der fi für
feinen Major totichlagen läßt, nicht aus dem Nichts geichaffen;
und daß diefer Major zu dem Wachtmeifter jagt: Ich erfenne
dein Her; und deine Liebe zu mir, und daß er deſſen Freund-
{haft zulegt neben Minnas Liebe für feinen größten Schaß erklärt,
find feine Erfindungen.
Majore wie Tellheim gibt es freilich nicht viele. Aber
der lange ſchwere Ulan, den ich ſchwerverwundet von feinem
Leutnant auf einem gerade daftehenden Karren aus dem Gefecht
und Rugelregen an eine fichere Stelle fahren ſah, ſagte vielleicht
eine Tages wie der rauhe Juſt: Machen Sie, was Sie wollen,
Herr Major, ich bleibe bei Ihnen, ih muß bei Ihnen bleiben.
Es gehört ungeheuer wenig von feiten eines Vorgeſetzten dazu,
fi in den beſſern Elementen feiner Untergebnen — und das
ift die Mehrzahl — anhängliche Leute zu erziehn, die ihm jeden
Wunſch an den Augen abjehen und für ihn durchs Feuer gehn.
Leichter bildet fih ja ein innigere Verhältnis zwifchen
Kameraden, die in Reih und Glied nebeneinander marjdieren;
Stand, Beſitz oder Bildung machen dabei feinen Unterjhied, denn
in diejem Augenblide find fie demjelben Geſetz unterworfen, feflelt
fie dieſelbe Disziplin und leitet ihr Denken und Tun dieſelbe
Notwendigkeit der Ausdehnung aller perfünlichen Wünſche und
Beitrebungen durch die Zugehörigkeit zu einer Maſſe von Männern
gleihen Alters, gleihen Berufs und gleicher Pflichten. Ich möchte
mich aber durchaus nicht darauf beichränfen, zu jagen, dag Leben
in Reih und Glied jei der Freundſchaft günftig; es handelt ſich
um etwas mehr. Ich babe erfahren, wie dieſes Leben die ewigen
Grundlagen menſchlicher Gleichnatur im tiefften Grunde männlicher
Seelen aufgräbt und Duellen erjchließt, die für gewöhnlich nur
in engen Spalten mühſam tröpfeln oder riefeln. Not und Gefahr
vereinigte entlegne Quelladern, und als ftarfer Strom, der großer
Leitung fähig ift, traten fie zutage. Was alles ſich unter diejen
Berhältniffen an Beziehungen von Menſch zu Menſch entwidelt,
will ih gar nicht mit dem allgemeinen Namen Yreundicaft
beden, denn es Spielt bier Achtung, Bewunderung, Nacheiferung,
Schutz⸗ und Unlehnungsbedürfnis, kurz eine Reihe von elementaren
Gefühlen hinein, deren gleicher Natur fich Die Menfchen in andern
Lagen kaum jemals fo inne werden. Wann werden wir im
bürgerlichen Leben und des Taltblütigen Mutes bewußt, der ohne
142 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
un
WBimperzuden dem Tode entgegengebt? Nun wohl, gerade auf
dem Bewußtſein der Gemeinfamkeit diefer Eigenjchaft habe ich
die fefteften Sreundichaften, die zum Opfer des Beften, was jeder
batte, befähigten, entftehn jehen. Jede von ihnen Hat freilich der
Tod ſehr früh gelöft, was man ja faft natürlich finden möchte,
wenn man bedenkt, daß eben die Unkenntnis aller Todesfurdht
ihr Ritt gewefen war. Was bedeutet aber die Beit in dem Leben
großer Gefühle? Eine Blume, die nur eine Stunde geblüht
bat, macht mich fo lange glüdlich, wie ihre Erinnerung in meiner
Seele nicht verwellt, wie ihr Duft durch mein frohes Ge⸗
denken zieht.
% *
%
Bon einer Erfapabteilung in einem fernen kleinen Städtchen
einem Truppenteil vor Straßburg zugejandt, famen wir tief in
der Nacht in einem Dorfe an, das feine andern Bewohner mehr
als Soldaten und faft nicht mehr von feinen Häufern als bie
Mauern und die Ziegeldädher Hatte: außgeleert und ausgebrannt.
Die Ungaftlichkeit ſchaute ſogar in der Dunkeln Oftobernadht aus
ben zerbrochnen Fenjtern, an denen die Läden herabhingen oder
mit langen Hopfenftangen von unten zugejtemmt twaren, und den
dunkeln Toren, vor denen ftatt der Türen, die in Straßengefechten
eingetreten oder eingeichlagen worden waren, Bretter lehnten, in
deren Toreingängen zerbrochne Wagen lagen, durch deren Giebel⸗
dächer zufällige, unregelmäßige Stüde bunlelblauer Luft mit
Bruchftüden von Sternbildern hereinichauten. Bon Vorpoſten
angerufen, von Patrouillen angehalten, von einem Duartierpoften
zum andern geſchickt, fanden wir in irgendeiner entlegnen Scheune,
deren Dad aus Sparren, Luft und wenig hängen gebliebnenr
Ziegeln beftand, Die zweite Korporalidhaft der zweiten Kompagnie
im tiefiten nachmitternächtlichen Schlummer. Kein Laut als ber
regelmäßige Schritt des Duartierpoftens, und dann und wann
da8 Ans und Abſchwellen des Schnarchens, daß der Soldat
treffend Holzſägen nennt; durch den Eräftigen Rippenftoß eines
ungebuldigen Nahbarjchläfer8 unterbrochen, endigt ed manchmal
in einer im Traum berborgeftoßnen Verwünſchung, beginnt aber
jehr bald wieder und fteigert ſich bis zu den höchiten Tönen.
Mir klopft das Herz bei dem Gedanken, endlich mein Ziel er-
reicht zu haben; in diefer Schläfer- und Schnarcherichar lag mein
Freund Reiske, dem zuliebe ich es mit viel Mühe durchgeſetzt
3. Ich hatt einen Kameraden 143
——— — LEN EL — LET
hatte, gerade in dieſes Regiment und auch gerade in dieſe Kom⸗
pagnie eingeftellt zu werden. Ob er eine Ahnung bat, ob er
vielleicht träumt, daß ich jo nahe bin? Mein Herz Elopfte aber
vielleicht auch nod) aus einem andern Grunde, denn mir entſank aller
Mut bei dem Blick auf den Anhalt der Scheune; da lagen fie
dichtgedrängt, die Mußfetiere, gleich neben der Tür ein Unter-
offizier, der etwas Raum zwiſchen fi) und der Mannſchaft Hatte;
diefe aber Dicht beifammen, die Köpfe gegen Die beiden Mauern,
bie Beine in der Mitte gejchidt ineinander übergreifend, ſodaß
fein Platzchen unbelegt blieb und bejonders fein Pfad dazwiſchen
offen war. Was mar zu tun? Sid hineinwagen, um etwa
ruhig bis zum Morgen auf einem Häufchen Stroh zu warten
und zu jchlummern, dazu jchien Feine Ausſicht zu jein, wenn
man nicht bei den erſten Schritten gleich ein paar Hände oder
Füße zertreten wollte. Ich rufe aufs Geratewohl in den dunkeln
Raum hinein: Sit der Musketier Reiske hier? Keine Antwort,
als Stöhnen eines Leichtichläfers. Noch einmal: Musketier Reiske?
Da eine Stimme: Was will da einer? eine andre Stimme: Maul
halten! Die weckt wieder eine andre: Zeit zur Ablöfung! Auf!
D weh, ſchon zwei Uhr? Da ruft einer Reiske; wer ift das? Sch,
der Kriegöfreiwillige Mahler. Mahler, du? tönt e8 von ganz hinten
her, das iſt Reiskes Stimme, ih halte mich nicht mehr, eile
geftoßen und getreten und troß aller Eorgfalt bei jedem Tritt
an und auf Körper und Gliedmaßen ftoßend und tretend durch
da8 Gewirr von Armen und Beinen auf die Ede der Scheune
zu, woher der vertraute Laut erfchollen war; doch ehe ich dahin
fam, Hatte ein baumlanger Menſch mich beim erhobnen Bein
gepadt, ſodaß ich, einbeinigen Stehens ungewohnt, auf den nädjiten
fiel, der mid) mit hörbarem Fluch und Ruck weiter beförberte.
Und fo lag ich meinem freund im Arm oder vielmehr auf dem
Arm, denn dieſer war jchlaftrunten gerade im Begriff, fich zu
ftreden, als id) auf ihn Halb rollte und Halb flog. Flüche und.
Gelächter übertönten noch eine halbe Minute unfre Begrüßungs-
worte, ein Raſcheln und Scharren durch das Zurechtrücken der
geftörten Schläfer, die Stimme des Poſtens durch die Türöffnung:
Ruhe, e8 iſt noch nicht eind, und dann wieder Die tiefe Ruhe
wie vorher.
Ich flüfterte meinem Freund und nunmehrigen Kompagnie-
fameraden noch ein paar Botichaften zu, er teilte mir kurz die
wichtigſten Daten aus dem derzeitigen Beftand der Kompagnie
mit, und daß wir borausfichtlich in der Frühe um ſechs zur
-
144 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
Schanzarbeit antreten würden. So, jet leg Dich zwiſchen und
hin, id) werde verjuchen, mich etwas tiefer in Die Mauer hinein-
zudrüden, dein Nachbar links ift der gute Kamerad Haber, von dem
du manches lernen wirft, was der Musketier heutzutage braucht.
Diefer Nachbar ſchien ſchon gerüdt zu haben, ich fand nod)
Raum genug, indem ich mid) auf die Schmaljeite à la Hering
legte, und muß fofort in Schlaf verfunfen fein, hörte auch nicht,
wie um zwei Uhr der Poften abgelöft wurde; als ich aber beim
Zrühfonnenliht erwachte, war der Plab meine Nachbars zur
Linken leer, und er ſchien vor feinem Weggang fein Lagerſtroh
auf mich gelegt zu haben, denn ich fühlte mich in höchſt wohl-
tuender Weije zugededt.
Das war die erfte Liebe, mein Yreund Haber, die ich bon
dir erfahren habe. Wie oft habe ich feitdem deinen Zartfinn
erprobt. Du wirkteft nicht bloß, wie man guten rauen nach⸗
rühmt, von der Seite des Leibed auf den Gelft ein, indem du
dich mit vieljeitig geſchickter Hand bald als Kleiderreiniger und
Flijchneider, bald als Koch und Sellermeifter, bald ald Haus⸗
meijter, der für ein trocknes und warmes Lager jorgte, bald als
Büchfenipanner verdient machteſt, der unmögliche Roſtflecken aus
Gewehrläufen entfernte; du wußteft mit heiterm Sinn und mancher
tieblihen Volksmelodie Mißflänge zu übertönen und betrübte
Gemüter aufzurichten; umd über dem allen gabit du in ſchwierigen
Lagen Beilpiele von Heldenmut. Dabei verlangteft du nichts
für dich ſelbſt. Deine Leitungen erwarteten feinen Lohn und
feine Auszeichnung, deine Liebe war ſelbſtlos. ...
Doh ich eile ja weit dem Gang der Creignifje voraus,
indem ich meinen lieben Kameraden Haber wie einen längit Be-
fannten einführe, mo der Lejer mid) doch erft biß an die Schwelle
meines Eintritt3 in Die zweite Kompagnie begleitet hat. Ich will
es kurz maden. Den nächſten Morgen fünf Uhr Hornſignal,
das, von den zwei Horniften durchs Dorf getragen, bald da, bald
dort erklingt; ic) würde mid) zu jeder andern Zeit über dad
heitere Wandern des Signal3 gefreut haben, heute ftörte e8 mid)
in der Erwägung der neuen Lage, in der ich war. ch war
wie ein zugeflogner Bogel in dieſer Kriegerichar, in der nur
Reiske mich kannte, und diefer war unglüdlicherweife um bier
Uhr auf Poſten gegangen. Vermutlich hätte er mir noch ein
paar Berhaltungsmaßregeln gegeben, wenn ich nicht fo tief in
meinem Stroh gejchlafen hätte, Daß er mid) vergeblich zu weden
geſucht Hatte. Ich ftand num ratlos da. Inſtinktiv tat ich, was
3. Ich hatt einen Kameraden 145
alle andern taten, ging zum Brunnen, wuſch mid und kämmte
mich, bürftete die Halme und den Staub von der Uniform und
ftellte mich dem Unteroffizier vor, einem Heinen, lebhaften, rund-
gefichtigen Mann, der mich gleich von vorn maß, dann „ehrt“
tommandierte und mich auch von Hinten mufterte. Ungewöhnliche
Art der Borftellung! Sie find alſo der Kriegsfreiwillige, der
der Kompagnie zugeteilt iſt? — Samohl. — Und wollen in
meine Korporalihaft? — Jawohl. — Warım? — Weil der
Einjährige Reiske darin dient. — Das ift fein Grund. — Ich
war beftürzt, Freundſchaft ift hier offenbar fein Hinreichender
Grund, e8 galt alſo raſch einen befjern zu finden. — Neiße
ift mein Stiefhruder. — Sieht Ihnen aber verflucht unähnlich. —
Samohl, Stiefbruber. — Sehen Sie, daß Sie Kaffee bekommen,
Brot haben Sie wohl noch Feind gefaßt? — Noch nit. —
Sehen Sie, daß Ihnen einer ein Stüd gibt.
Ich machte Kehrt, um mich der fchiwierigen Aufgabe zu⸗
zuwenden, Unbefannte, die ich vielleicht heute Nacht bei meinem
Eiertanz durch die Scheune auf Hände und Füße getreten hatte,
zu veranlafjen, mir ein Stüd Brot zu ſchenken. — Halt, Kriegs⸗
freiwilliger! rief e8 Hinter mir. Der Unteroffizier winkte mic
heran, faßte meine linfe Achjelllappe an: Hier fitt der Kompagnie⸗
knopf loder; id) ſage Shnen, wenn Sie den verlieren, iſts gefehlt.
Sofort fejtnähen.
Dieſes Sofort ſchnitt mir dur) Markt und Bein. Zwar
würde ich im bürgerlichen Leben geglaubt haben, mit dieſem nur
wenig geloderten Knopf noch einige Wochen beitehn zu können;
aber bier, das mußte ich mir fagen, hat der Heine, faft halb⸗
tuglige Knopf mit der Nummer Zwei einen befondern Wert, war
nicht jo leicht zu erjeßen wie ein gewöhnlidyer Uniform- oder
nun gar ein Hoſenknopf, der im Notfall fogar vom Zivil fein
fonnte. Bei jpätern Gelegenheiten hörte ich unſern Unteroffizier
folgende Betrachtung anftellen: In jedem Regiment gibt es vierzig-
taujend Uniformknöpfe, aber jeder Kompagnieknopf ift nur vier-
Bundertundneunzigmal da. Alſo die größte Sorgfalt auf bie
Kompagniefnöpfe richten. Wenn ein Kamerad gefallen ift und
zurüdgelaffen werden muß, ift unjre erfte Pflicht, dag Gewehr
und die Munition zu retten, dann die Kompagnieknöpfe, dann erft
das Faſchinenmeſſer. Denkt euch doch eine Achſelklappe mit einem
gewöhnlichen Uniforminopf!
Wie wenig tief die Disziplin in mir erft Wurzeln gejchlagen
hatte, das wurde mir jelbft einleuchtend, als ich troß ber Er⸗
Natzel, Glückzinſeln und Träume 10
146 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
mahnung des Unteroffizierd zuerft nad) Brot und Kaffee ging,
bei deren Zuteilung mein Stubennadhbar der vergangnen Nacht,
der über dem Kaffeetopf waltete, mich freundlich bedachte, ſodaß
mic zwar unfreundliche Blide empfingen, aber fein zurüchveijendes
Wort laut wurde. Es ſchien die Meldung beim Unteroffizier
ſchon eine Art von Anſchluß an die Korporalichaft vorauszuſetzen.
Ich ftürzte meine Taſſe hinunter und biß Fräftig von dem Broden
Kommißbrot ab, den ich aus Reiskes Vorrat erhalten Hatte. Nun
der Kompagnieknopf! Nadel und Faden hat ja natürlich jeder
Musketier. Ich habe das ebenſo natürlich nicht, bin ein ganz
abnormer Menſch, fühlte in diefem Augenblid, daß ich tief unter
dem legten Soldaten ſtehe. Uber was tun? Ich jehe Haber
und. denke an Reiskes Empfehlung. Er tft jelbitverftändlich mit
Handwerkszeug verjehen, in der Scheımenede wird der bedeut-
jame Knopf feiter genäht. So, jagte Haber, der hält fo lange
wie Meg, und wenn Meb fällt, dürfen alle Knöpfe reißen, fogar
Kompagnielnöpfe. Übrigend trage ich immer zwei als Reſerve
im Geldbeutel.
Das Gewehr und den Brotjad quer umgehängt, das Faſchinen⸗
mefler umgegürtet, die Leinenhojen in den Stiefeln, Die Mütze
ftatt des Helms, fo treten wir zur Schanzarbeit an und „faflen“
Schaufeln, die man ftatt des Gewehr auf der linfen Schulter
trägt. Der Unteroffizier meldet mich dem Feldwebel, dieſer dem
Hauptmann; zum eritenmal trifft mich der DBlid der grauen
falten Augen, und weil id) immer Sleinigleiten jehen muß, ſo
fallt mir auf, daß der Hauptmann an feinem blonden Schnurr-
bart weiterlaut, der genau jo kurz wie feine Rede und über der
Lippe gerade abgejchnitten iſt. EB ift wohltuend für den Be
trachter, in einem Geficht, das er fo häufig fieht, eine folche feſte
Linie zu willen, wie diejer geradlinig abgebiffene untere Schnurr-
bartrand. Ich Habe in guten und übeln Tagen meinen Hauptmann
vor der Kompagnie gefehen und babe mich nicht bloß im allge=
meinen gefreut, daß er immer derjelbe war, fondern daß auch
dieſes dasſelbe blieb. Am ftillen dankte ich ihm, wie oft, daß
er nicht wie andre einen Bollbart wachſen ließ. Auch bier ift
semper idem ein guter gejunder Spruch. Übrigens gefielen mir
allezeit @efichter, denen wmwohlentwidelte Kinnbaden unb breites
Kinn einen faft quadratifchen Umriß erteilen; ihre Badenknochen
pflegen nicht ſtark entwidelt zu fein, ihre Augen ftehn hübſch
wagerecht, der Mund ift meift fei. Solche Gefichter haben
ettvad Abgeſchloſſenes, es ift weder ein Fragezeichen noch eine
3. Ich hatt einen Kameraden
ED BALL — — DE D LAIEN DEN DD ND GL EL DD — — wu
147
Aufforderung darin, fie jagen: Ich tue meine Sachen für mid),
kümmre du Did um Die deinen. In mir fpricht es, während ich
mid) in ftrammer Haltung anjehen lafle: Der legt keinen großen
Wert darauf, dich in der Kompagnie zu haben, auch iſt er nicht
eitel und verbeißt manches; aber wehe dir, wenn auß dieſen
Augen ein unverbifiener Blig — entihuldige das Bild — did)
träfe, du wärſt getroffen vom Kopf bis in die Ferſe. Zunächſt
wurde ich nur indirelt angeredet: Unteroffizier, forgen Sie, daß
der neue Mann heute nad) der Arbeit Griffe übt. — Bu Befehl,
Herr Hauptmann. — Mari!
Ich übte an dieſem Abend Griffe, bis eine Blutblaſe plabte,
die ich mir beim Schanzgraben in den Ballen der rechten Hand
gearbeitet hatte; similia similibus, wie Die Homöopathen jagen,
meinte dazu Reiske, was die harte Schaufel verbrochen, heilt
der milde Gewehrlolben. Außerdem war mir die linfe Schulter
vom „chmetternden“ Gemwehrübernehmen braun und blau ge-
worden. &8 iſt ja recht löblich, daß du die Dinge ernft nimmft;
du brauchft aber den Schießprügel darum nicht fo furchtbar auf
die Schulter zu werfen, dad nübt ung nichts und fchadet keinem
Tranzofen was. Dagegen rate id) dir, beim Präjentieren den
Bauch etwas mehr einzuziehn, daß das Gewehr bie Sehne eines
Bogenabichnitt3 bildet, um deſſen Peripherie der ganze Mußfetier
jozufagen herumgeſchwungen if. — Donnerwetter, Reiske, bu
ntmmft Diefe Dinge tief. Du fcheinit jebt beine alademijchen
Denkgewohnheiten auf die Durchleuchtung des Ererzierreglements
zu verwenden.
Ja, fagte Reiske, ich Habe genug darüber nachgedacht. Und
wenn du ed hören willft, gebe ich dir einmal im gebrungenften
Stil meine philofophifche Lehre von den Gewehrgriffen zum beften.
Für Heute fozufagen nur die Überfchrift oder das Ertraft: Die
Idee der Griffe ift die Aufnahme des Gewehrs in den ganzen
törperlichen und geiftigen Menſchen des Soldaten. Dieje In⸗
forporation einer ftarren Waffe aus Holz und Stahl kann aber
nicht verwirklicht werden, ohne daß in Holz; und Stahl die Liebe
übergeht. Dad Leder des Gewehrriemend nenne ich nicht be
ſonders, weil e8 mit dem Weſen des Gewehr! nichts zu tun
hat, tote8 mechaniiches Anhaͤngſel! Merkſt du, wie bier die
Forderung der Grifffertigkeit, die bein Unteroffizier erhebt, mit
der zufammentrifft, die der Büchſenmacher ftellt, daß der Soldat
fein Gewehr fo rein halten müfje wie feinen Körper? Mindeſtens
fo rein! Dieſes it eine Forderung der ſoldatiſchen Tugend
10*
148 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
ww
haftigfeit, da3 andre ift eine umfafjendere, die ſich auf den ganzen
Charakter und deſſen Betätigung in der foldatiichen Lebens⸗
ericheinung und führung erjtredt. Zur Erfüllung der Tugend-
forderung roſtfleckenloſer Reinheit des Gewehrlaufd Tann num
jeder erzogen werden, jagen wir faſt jeder, denn es gibt ja
Neinlichkeitsidioten. Dagegen zum Sichemporſchwingen der Ge⸗
wehrgriffe aus der mechaniſchen Übung deiner Knochen umd
Muskeln gehört Talent. Du ftehft vor einem Manne, der diejes
Talent bat, da fiehft du, während er Gewehr über! macht, über:
haupt fein Gewehr, das zudt nur fo durch die Luft, und wenn
es nun auch wie ein WVetterftrahl auf die Schulter fauft, haft
du nicht die Vorftellung, es liege nun ein Gewicht von zwölf
Pfund auf der Schulter, fondern du fagft: Diefer Mann bat
nur einmal feinen rechten Arm zu einer barmonijchen Bewegung
ausgeſchwungen, und ba es ihm ganz gleich ift, ob ber Gewehr-
folben der Erde aufruht oder in feiner linken Hand gehalten
wird, jo Hat das Gewehr einfach mitgeſchwungen. Und wenn
du General wäreft (was Gott verhütel) und würbeft dasſelbe
Talent für Gemehrgriffe vor dir präfentieren jehen, jo würdeſt
du den Eindrud haben, der Mann bietet mir aus Deferenz fein
Gewehr an, aber ich ſehe an der Art, wie ers hält, daß es mit
ihm verwachlen ift, und daß nicht einmal ein General e8 ihm
entwinden Tönnte. Dabei fommt nım eben noch der Winkel von
89 Grad in Frage...
Lieber Freund, ſagte ih, du bift ohne Zweifel auf dem
beften Wege, ein ziveiter Gaufeiih, wenn auch erft in der Sphäre
des Musketierd, zu werben, und ich beiwundre beine Gewehr⸗
Phitofonie —— aber für den Augenblick laſſe einmal deinen
ho ſt herabſteigen und dieſe blutige Schwiele in meiner
Hand —* Wie kanu ich ſie wegbringen? Ich möchte
morgen arbeitsfähig fein, aber mit dieſer Hand werde ich mit
dem beiten ®illen feine Schaufel ſchwingen. — O, das ift nicht
viel, das haben wir alle gehabt. Aus diejer Blutblafe wirft bu
die beite Schwiele des Regiments beranpflegen, wenn du Das
Blut herausdrückſt, dann die Stelle mit Hirichtalg did einfchmierft
und die ganze Nacht über verbunden hältſt. Und menn bie
Schwiele fertig ift, wirft du noch ganz andre Griffe machen.
Übrigens verfteht ſich Haber ausgezeichnet auch auf diefe Dinge. —
Und Haber, auch hier bilfbereit, Tnetet meine Hand, bis das
brennende Gefühl heraus iſt, falbt fie, verbindet fie, unb ich
kann mit Ruhe dem nächſten Tag entgegenjehen. Welche Schmad),
3. Ich hatt einen Kameraden 149
—— ——
wenn ich ſchon am zweiten Feldzugstage von der Arbeit hätte
wegbleiben müſſen! Dieſe Nacht legte ich mich nicht als Gedul⸗
deter, ſondern als Zugehöriger ins Stroh, und ich ſchlief mit
dem Bewußtſein ein, den erſten Tag im Feld etwas geleiſtet zu
haben. Das leiſe Brennen in der Hand kam mir faſt wie etwas
Wohltuendes, Ehrenvolles vor. Reisſske hatte noch weiteres von
dem Pikanten oder mindeſtens Eleganten eines Präſentierens
mit ganz leicht auswärts geneigtem Gewehr geſprochen. Daran
mag es gelegen haben, daß ich träumte, ich ſtünde Poſten vor
dem Quartier des Generals, defien bewundernden Blick auf mein
im intel von 89 Grad präjentierted Gewehr ich mit der frechen
Nede erwiderte: So ift dad Präfentieren nad) Reiske, Einjäh-
rigem der zweiten Kompagnie, wollen nicht Exzellenz das Exer-
zterreglement entiprehend ändern lafien? Merkwürbigermeife
hatte ich aber das volle Gefühl der Vermerflichkeit diejer Nede
fhon in dem Augenblide, wo ich fie ausſprach, ja ich fühlte
ftarf, wie ungehörig es überhaupt fei, bei präjentiertem Gewehr
den Mund aufzutun, und als ich in dieſem Augenblid erwachte,
war nur noch der Schreden und gar nichts mehr von Befrie-
Digung über den fchönen Griff in mir, und ich legte mich auf
die andre Seite mit dem Vorſatz, auch im Traum nichts gegen
da8 Neglement zu denken oder zu tun.
Unglaublich rajch lebte ich mich in meine neue Umgebung
ein. Zwiſchen Reißfe, dem alten Freund, und Haber, dem
neuen Kameraden, ftand ih nad außen gededt; in unfrer
Korporalihaft war mir niemand übel gefinnt, mit einigen
Kameraden fnüpften fi) engere Beziehungen. Der Unteroffizier
jah mir ſcharf auf die Singer, denn er teilte, und vielleicht mit
Net, die Anfiht, die der Hauptmann als Ergebnid einer
Gemwehrparade kurz nad) meinem Eintritt in den lapidaren Satz
faßte: Die Freiwilligen jind Lottel, nur zu Patrouillen Tann
man fie brauchen. Aber er fand nichts Wichtiges zu tadeln; die
Kompagniefnöpfe ſaßen fefter als je, und die Griffe Hatte ich
ſowohl von der praftifchen Seite ald — durch Anleitung Reisles —
in ihrem philoſophiſchen Sinne mir zu eigen gemacht. Es dauerte
auch nicht lange, bis ich in der Dffentlichkeit die Probe davon
ablegte; mein Traum erfüllte fi), wenn aud eine NRangftufe
tiefer, ich hatte den PBojten vor dem Haufe des Negimentöftabes
und präfentierte da8 Gewehr mit allem möglichen Raffinement.
Das Wetter änderte fi, auf drückende Hibe folgten Regen⸗
tage. Unſre Quartiere wanderten alle paar Tage in ein anbres
150 Bilder aus dem Hriege mit Frankreich
Dorf, Die Schanzarbeit wurde auögejegt, der Vorpojtendienft trat
an feine Stelle, und dieſen Löfte eine Detachierung in ein Gebiet
ab, wo Yranktireurd Transporte beumrubigten; und unter all
dieſem Wechſel floß unjer Leben im einfürmigen Gang des Dienjtes
fort, nur ſcheinbar mannigfaltig, in Wirklichkeit immer dieſelbe
Kraft anfpannend und diefelben Fähigkeiten übend und fteigernd.
Sch lernte ertragen, was mid) am fremdartigften berührt hatte,
nie einfam mit meinen Gedanken zu fein. Eine große Sache
für Menſchen, bie fih Sinnen und Denken zur Lebendaufgabe
gemacht haben! Ber Soldat gehört auch „in finftrer Mitter-
nacht fo einfam auf der ftillen Wacht“ nicht ganz ſich felber an.
Er muß wachen und jpähen, und die leeren Augenblide füllt er
mit Gedanken an den Dienft von gejtern oder von morgen an,
an die Vorgefehten, die Kameraden, an ben Feind, und behält
oft nicht viele Minuten, an die Lieben in der Heimat zu denken.
Aus fich felbit, ſozuſagen hinausgewieſen, jchließt er ſich doppelt
eng an Gleichgefinnte an, und was feinem eignen Innern viel⸗
leicht entgeht, daS gewinnt die Kameradfchaft und im günftigiten
Balle die Freundichaft.
So kam e8 denn auch bei uns, daß ich und meine zwei
Nebenmänner ein Kleeblatt wurden, das immer fejter wie aus
dreifachem Anſchlußbedürfnis gewachſen zufammenhielt und nod)
andre, die ferner blieben, gelegentlich anzog. Im Grunde bildete
aber Haber den Mittelpunft, weshalb e8 nun doch wohl an der
Zeit fein dürfte, zu fagen, wie diefer gute Kamerad war, und
wie er ſich gab.
Habers „Perſonale“ würde etwa gelautet haben: Unregel-
mäßiges Geficht, etwas aufgeworfen binausftrebende Nafe, unbe-
deutendes Kinn, weicher, freundlicher Mund, leichtes Bärtchen
auf der Oberlippe, und in dieſen freundlichen, aber an fich wenig
anſprechenden Zügen ein paar braune Augen, die gerade und
klar in die Welt fchauten, nur mie ed fchien, immer etwas
weiter hinaus, als gerade nötig war, weshalb Leute, die Haber
nicht kannten, ihn für einen unpraktiſchen Träumer halten mochten.
Aber fo gut wie dieſer ſchlanke, ſchwanke Schneidergefell zuzeiten
den Mut eined Nitterd entwidelte, verband er träumerijches
Radpenten mit fcharfer Wahrnehmung des Wirklichen.
Wie wenig kennt der unjre alemanniſchen Bauern, der ba
meint, ihr innere Leben jei fo einförnig wie ihre Tagewerke
und fo einfach wie ihre einfilbige Nede! Die Kunſt der Beur-
teilung der Menſchen wäre leicht, wenn fie ſich auf das bes
3. Jch hatt einen Kameraden 151
Ihränfen könnte, was einer ſpricht; man muß aber mindeftens
zu ahnen willen, was unter feinem Schweigen liegt. Die Augen
deuten e8 an, und die Handlungen |prechen es oft mit über-
rajchender Deutlichfeit aus. Vieles kommt erſt zum Vorſchein,
wenn die Wärme einer herzlichen Liebe das Mißtrauen durch⸗
ſchmilzt, das die Herzen einfacher Leute umſchalt und preßt, ſodaß
ſie ſich kaum regen können und verlernen, in Freude oder Schmerz
höher zu ſchlagen. So war Haber eine feine Seele, deren
Magnetrichtung auf das Gute erſt ſein Handeln zeigte. Und
als nun einer ſein Freund wurde, den er für beſſer hielt als
ſich ſelbſt, kam das Gute erſt heraus, und mitten in der Wild-
heit des Krieges freuten ſich die beiden, oben zu bleiben.
Als Soldat zeichneten ihn der Inſtinkt des Gehorchens und
der Ordnung und ein hervorragendes Talent zum Schießen aus.
Er war nicht bloß, was man ſo ſagt, ein guter Kompagnieſoldat,
ſondern überhaupt ein braver Kriegsmann. Ohne eigentlich Freude
am Krieg zu haben, war er ſehr geſchickt in allem, was der
Krieg vom Soldaten verlangt. In Friedenszeiten hätte er ſich
mit ebenſo großer Geſchicklichkeit in die verſchiedenſten Berufe
bineingelebt. Nun zweifelte niemand, daß er in die nächſte Lücke
als Unteroffizier eintreten müfle Ja manche meinten, er jei
der geborne Unteroffizier; die kannten aber Haber nit, der
durchaus feine Luft zum Befehlen in ſich fühlte und behauptete,
er habe das nie gelernt, habe übrigen? auch fein Zalent dazu,
und es werde ihm fchon bei dem Gedanken unbehaglid, in einen
jogenannten weitern Wirkungskreis eintreten zu jollen. Das war
nicht Biererei. Ich Habe nie eine weidyere, weiblichere, unter⸗
ordnungs⸗ und anfchlußbedürftigere Natur in einer männlichen
Heldenjeele kennen gelernt, nie weniger Ehrgeiz bei einer Pflicht-
erfüllung gefunden, die volljtändig war, ohne ftreng zu jein.
Haber tft übrigens jpäter in meine Gefreitenftellung gerüdt und
tat Unteroffizierdienft, als ihn ein Granatjplitter tödlich traf.
Man jpricht oft fo wegwerfend von Bedientenfeelen, und
doch wie ſchön kann die Seele eines Menfchen fein, der recht
dienen will und kraft ihrer Anlage dienen muß! Unfer Ra-
merad erniedrigte ſich nicht, indem er und die Uniforminöpfe
annäbte, fo wenig wie einer von uns, wenn wir und beim Gewehr⸗
putzen halfen einen Roſtfleck im Lauf bejeitigen, was nur ange=
ſtrengtes Neiben mit dem mergummundnen Ladeftod bewirkt,
wobei der eine daß Gewehr Hält und der andre reibt. Wenn
jener auch das Monopol des Feueranmachens bat, jcheut ſich
152 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
doch feiner, Kartoffeln zu Ichälen oder den Dünftenden Reid um-
zurühren. Das Reinigen der Gefäße, aus denen man gegeflen
hat, nicht gern felbit zu bejorgen, Mei eine menſchliche Schwäche,
bejonder8 wenn man einen ermüdenden Marſch hinter ſich hat.
In der Tat, das haben wir Haber jehr oft beſorgen lafjen, doch
wenn e3 nötig war, taten wir e8 aud) ſelbſt. Haber Hatte von
vornherein auf ſolche Gejchäfte eine Art Vorrecht mit der Moti-
vierung beansprucht, daß er Damit vertraut fei, und daß fie ihm
leiter von der Hand gingen. In der Tat war er über die
Anfangsgründe ſoldatiſcher Kochkunft Hinaus, d. h. er wuſch das
Fleiſch, ehe er es kochte, er Bing nicht mehr an dem Aberglauben,
daß das Salz; einkoche, weshalb es beftändig erneuert werden
müſſe, es konnte ihm auch ſchwerlich vorkommen, daß er ein Huhn
mit ſeinem ganzen „natürlichen“ Inhalt an den Bratſpieß ſteckte.
Beim Kaffeeklochen genügte es ihm nicht, die Bohnen auf Die
Tiſchplatte auszubreiten und mit einer foliden Bierflajche zu
zerquetihen. Da die Kleinen zinnernen Kaffeemühlen, die zur
Ausrüftung gehörten, nichts taugten, hatte er irgendwo eine echte
Kaffeemühle „gefunden,“ die man bisher ohne Neid und Auf⸗
jehen von einem Quartier zum andern zu fchleppen gewußt hatte.
Haber Hatte einmal die Anſicht ausgeſprochen, es ſchicke ſich für
ihn, durch Arbeit ein Hein wenig von der Schuld abzutragen,
die durch unsre Ausgabe für die Lebensbebürfniffe für ihn auf-
laufe. Als aber einmal dieſer figlige Punkt beſprochen und
Geld⸗ und Arbeitdleiftungen abgewogen waren, blieb er Hinfort
unberührt, und jeder tat, gab und nahm, wie e8 die Umftände
und das wachſende freumdicaftliche Vertrauen brachten. Wenn
Menichen bereit find, ihr Leben füreinander zu geben, werden
fie fi” wohl über Pfennige einigen können!
Haber jprad) wenig von feiner Vergangenheit, da8 war ja
auch nicht Stil bei und; nur einige Sentimentale jannen viel
dem nad, was fie in der Heimat gelafien hatten. Der durch⸗
ſchnittliche Soldat lebt der Gegenwart, und auch für mid) und
Heise war dus Feithalten der Gedanken an der einfachen Auf-
gabe des Tages das Selbfiverftändliche, ihr Hinausſchweifen in
Vergangenheit oder Zukunft, alten Bahnen folgend, betrachteten
wir als eine Abirrung, einen Rüdfall in früher Gewohntes.
Haber Hatte das arme, einfache, aber fühl geregelte Leben eines
Frũhverwaiſten Hinter fi, Pflegeeltern und Waiſenhaus, von
denen er pflihtmäßig dankbar ſprach, mochten ihm nicht viel
Stoff zum Burüddenten geben. Er Hatte ein Jahr in einem
3. Ich hatt einen Kameraden 153
III DL 37s⸗*
Heinen Städtchen in der Schweiz als Schneider gearbeitet und
war dann in dad Regiment eingeftellt worden, worin er nun
am Ende des dritten Jahres diente. Beim Überfluß an Hand-
wertern hatte man ihn nicht in die Werfftätte geſteckt, ſondern
feine unzweifelhaften Anlagen zum Soldaten tücdhtig ausgebildet.
Er freute fi) ohne Stolz, daß ihm jo vieles leicht wurde, womit
fit) andre im Dienfte plagen. Wer zum Dienen und Gehorchen
erzogen worden ift, wie ich, fagte er, dem fällt da8 Soldaten-
leben nicht ſchwer. Sch finde es viel leichter, in der Kompagnie
zu geboren, als in einer Werkſtatt. Eigentlich habe ich in
der Kompagnie eine beffere Heimat gefunden, als ich je gehabt
babe, und nad) dem Hauptmann wird mir fein Meiſter mehr
gefallen.
Bei der Belagerung von Straßburg mußte das ſüdlich davon
liegende Neudorf immer mit bejondrer Vorficht behandelt werden,
denn die eine Hälfte davon lag noch unter den Kanonen der
Feſtung, in deren Schub fich Hier gern franzöſiſche Patrouillen
vorwagten; die andre Hälfte war von den Unfern zu verſchiednen
malen befett worden, aber nie auf die Dauer, da eben da8 ganze
Dorf, das übrigens, halb VBorftadt, zum Teil auch ſtädtiſch ge=
baut war, nicht gehalten werden konnte. Zuletzt blieb in der
diesſeitigen Hälfte ein Unteroffizierpoften, der gelegentlicd) beun-
rubigt wurde, zu verichiednen malen bis hart an das Glacis
borging, dann aber auch wieder verdrängt wurde, wenn die
Franzoſen mit Übermacht aus der Zeitung vorbrachen. Als das
wieder einmal gejchehn war, wurden wir an einem ſchönen Auguft-
morgen nah Neudorf hineingeſchickt, aus deſſen äußerjten Häufern
nah ujrer Seite zu die Franzoſen die Vorpoften mit jchlecht-
gezielten Feuer beläjtigten. Sie durften ſich Hier nicht feſtſetzen,
mußten mindeſtens auf die Feitungsfeite zurückgeworfen werden.
Der Hauptmann ließ das Feuer einjtellen, daS fich zwiſchen den
Franzoſen drinnen und unfern Leuten außen entiponnen hatte,
und daß, dem Gerüchte nach, aus der nie fehlenden Büchſe unſers
Sergeanten Mohr einem Franzoſen, der beim Kaffee an einem
bon uns aus zu überjehenden Tiſche eines befannten Gajthaufes
jaß, Kaffeetaſſe und Leben gefoftet Hatte. Auf die Nachricht, da
fih die Franzofen eilig zurüdzögen, gingen Heine Abteilungen
bon unjrer Seite vor. Wir wollen ihnen zeigen, was bon Neu⸗
borf und gehört, und ihnen womöglich ein paar Leute wegjchießen,
damit fie nicht zu frech) werben, rief der Hauptmann dem jungen
Leutnant zu, der ung führte. Wir umgingen den Verhau, der
154 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
rs
quer über die Straße dad Groß der Feldwache dedte, und for-
mierten und in Spite, Saupttrupp und Seitendedungen. Meldet
fi jemand für die Spitze? fragte der Leutnant. Es ift ja
möglich, daß fie gleich angejchoflen wird. Haber und ich traten
bor. Der Haupitrupp wartete, bi8 wir und Die Seitendedungen
den Rand des Dorfes erreicht hatten; es fiel fein Schuß, er rüdte
nad) und bejegte fofort einige Häufer zu beiden Seiten der
platanenbejegten Straße. Dasjelbe taten verabredetermaßen die
Geitendedungen. So, nun erjt das übrige Dorf abſuchen, ob
noch was drinnen ſteckt. Die Spite wurde dur fünf Mann
verftärft, die fich dazu meldeten. Der Leutnant führte ung, wir
verteilten und auf beide Seiten der Straße. Gelegentlich wurde
gehalten, gefragt, ein Blid in ein Haus geworfen, es ſchien alles
fiber. Die Leute auf diefer Seite kannten uns jchon, waren
wir doch öfterd im Dorf geweſen, wir fonnten ihnen glauben,
daß die Sranzofen in die Feftung zurüdgefehrt ſeien. Wir waren
jebt an einer Art Dorfplag angelommen, wo unfre breite Straße,
die auf die Feftung zuführte, von einer quer durdjlaufenden Straße
gefreuzt wurde. Hier hatte man fonjt gewöhnlich Halt gemadht,
aber heute war der Wunſch zu lebhaft, den Yranzojen das
Biederlommen zu verleiden, ihnen womöglich einen Dentzettel
zu geben. Mindeiten? die Querſtraße mußte noch abgejucht
werden. Dieje Seite bier, meinte unjer Führer, ift nicht ver-
dächtig, fie führt auf eine Feldwache der Unfrigen zu, von der
aus man in ihre legten Häufer Hineinfieht; die andre, die von
uns wegzieht, ift bedenklicher, da find bie Sranzojen früher jchon
geſeſſen. Wir fuchen fie ab; Sie, wandte er fi) zu Haber und
mir, bleiben hier, beobachten die Straße zur Feſtung und forgen,
daß wir nicht von dorther überrajcht oder am Ende gar abge-
ihnitten werden. — Zu Befehl, Herr Leutnant, feine Sorge!
ſagte Haber, und wir verteilten und nad) Art der Doppelpoiten
auf beide Seiten der Straße, wo wir gebedt bis an die Wen⸗
dung fehen fonnten, die die Straße vor dem Glacis madt. Die
andern gingen die linke Querftraße hinauf, wo ſich nichts zu
regen jchien, während wir die unſre ſcharf im Auge behielten.
Zängere Zeit war audy hier alles jtill. Da auf ein Bft! meines
Kameraden ſehe ich ein auffallend raſches Huſchen an einem
Haufe Hin, wie ein Schatten, und plößliches Verſchwinden im
Eingang zu einem Garten. Adhtung! Das war ein Bauer!
rief Haber leije herüber. Ich ftand ſchon fchußfertig, um den
Schatten aufs Korn zu fallen, jobald er wieder erjchiene, aber
3. Ich hatt einen Kameraden 155
Haber winkte ab. Wir beide ſtanden unbeweglich und faßten
da8 Haus ſcharf ind Auge, wo die Bewegung gemwejen war.
Halt da! Wieder eine Bewegung, diejegmal ein Fenfterladen,
der geichloffen wurde. Da iſts nicht jauber, flüftert Haber mir
Hinter der vorgehaltnen Hand herüber. Jetzt bleibt alles rubig;
wir verwenden einige Sefunden fein Auge von dem Haufe, dann
ijt Haber in wenig weiten Sprüngen an meiner Seite. In dem
Haufe find Franzoſen, das iſt klar. Sieh, wie es vor den andern
vorfpringt und die Straße beherrſcht. Ich wette, wenn wir auf
der Straße vorgehn, befommen wir euer dort aus dem Edfenfter
des erjten Stoded, von dem aud man fait biß zur Feldwache
hinunter jehen kann. Auch fängt gerade vor dem Haufe eine
Reihe von bejonderd großen Bäumen an, die den Rüdzug aufs
Glacid begünftigen. Die Hauptjadhe ift aber, den Rothojen den
Rückzug abzufchneiden.
Sch ſchleiche mich jebt dahin, wähle in ungefähr vierhundert
Schritt einen guten Punkt. Geht ihr zurüd, fo ruft mich ein
Pfiff, im andern Falle bleibe ich dort liegen, bis ic) merke, daß
ihr auf ber Straße biß zu dem Kaufe vorgegangen ſeid. Sind
wirklich Franzoſen drin, fo forgt, daß fie nicht auf die Straße
heraugfommen, ich will fie in der Hintertür fallen. Du bleibit
einjtweilen bier, bis die andern zurüd find. — Gut, hoffentlich
friegen wir einige zum Schuß. — Haber fah fein Gewehr nad)
und verſchwand geräufchlos in den dichten Hafelbitichen des Garten-
zamd. Als der Leutnant mit der Patrouille herankam, ging
ih ihnen einige Schritte entgegen, meldete unjre Beobachtung
und den Plan Habers, der Billigung fand. Nun fcheinbar
ſorglos und doch vorfichtig auf der Straße vor, das bedenkliche
Haug und befonders fein Edfenfter im Auge bebaltend. Drei
Leute blieben an der Kreuzung zurüd, wir andern hielten uns
bei den Straßenbäumen und den Zäunen der Vorgärten, um
möglichſt nahe bei Dedungen zu bleiben. Der Leutnant hatte
fi) von einem der Zurüdgebliebnen das Gewehr geben laſſen
und die Hofentafchen mit Munition gefüllt. Saft lautlos war
man an das geſuchte Haus herangelommen, daS von mehr
ftädtiicher Bauart war als die andern; uns fiel beſonders die
ichmale fteinerne Treppe zu der engen Tür auf, die innerhalb
der Mauern des Hauſes lag. Horch, ein Geräufch innen, ein
Uugenblid Stuben, dann lautes Kommando: Zwei Mann in die
Tür! und in demjelben Augenblick Schüſſe aus den Fenjtern oben
and Schüfle aus der Tür, die eingedrüdt wird; einige von uns
156 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
—— — ö— —— —
erwiderten von den Bäumen der Straße aus die Schüſſe aus
den Fenſtern, zwei waren den erſten beiden ins Haus gefolgt.
Nun plötzlich zwei Schüſſe raſch hintereinander hinter dem Hauſe,
dann Rufe der Unſrigen. Auf Befehl: Keinen Schritt weiter!
bleiben wir an den Bäumen, der Sergeant führt zwei franzöſiſche
Anfanteriften aus dem Haufe, deutet auf zwei oder drei Gefallne,
die in dem dunfeln Gange liegen, und einer jeiner Begleiter
ftößt den Laden des gefährlichen Eckfenſters auf. Die Gefangnen
werden zur Seite geftellt, ein dritter liegt leicht verwundet im
Haufe; die zwei Toten, deren einen der Sergeant beim Offnen
der Tür über den Haufen geſtochen bat, bleiben liegen. Nun
raſch zurüd, die Gefangnen und den Leichtverwundeten voraus.
An der Kreuzung ein herrlicher Anblid: Haber mit drei Gewehren
in der einen, einem Roſenſtrauß in der andern und zwei ent-
waffneten Zuaven vor fi), die ung neugierig anlädheln. Die
ganze Geichichte Hatte ein paar Minuten gedauert. Der Leutnant
erzählte, wie er in dem Augenblid, mo er zwei Mann in den
Türeingang geichidt habe, damit fie dort gededt ftünden, den
Laden des Eckfenſters fich Habe halb öffnen fehen und ſogleich
auch an Steinchen, die die Kugel aufichleuderte, den Schuß
empfunden Habe; jeine Beinkleider waren Davon an mehreren
Stellen durchlöchert. Der Sergeant aber drüdte in demfelben
Augenblide die Tür ein, die von innen geöffnet werben wollte,
Ihlug einen Gewehrlauf zurüd, ftac mit dem Bajonett den
Träger nieder, worauf fi) der zweite ergab, und ein dritter von
der Treppe aus Pardon rief, als ihm Habers Schüffe fagten, daß
die Hintertür verfperrt fei. Haber hatte nicht eine halbe Minute,
nachdem vorn die Schüffe gefallen waren, die Hintertür aufreißen
und drei Sranzofen herausſtürzen jehen, deren einen fein erfter
Schuß niederftredte.e Dem zweiten fandte er eine Kugel nad),
der dritte warf auf den Zuruf jein Gewehr weg und ftellte ſich
jelbft, worauf fi) der zweite mit einem Fleiſchſchuß in der Hand
ummandte und jeinem Kameraden folgte. Zur Erinnerung nahm
Haber blühende Zweige von der Rofenhede mit, in deren Schuß
er jeine Umgehung zum glüdlicden Ende geführt hatte. Er teilte
fie eben aus, während wir und dem andern Ende des Dorfes
zu bewegten. Das verdädtige Pfeifen der Geichoffe, die ohne
Schaden in der Luft plabten, kündete uns an, daß man in der
Feſtung das Kleine Gefecht bemerkt Hatte. An der lebten Biegung
der Straße, wo man das umitrittne Haus noch jehen Tomnte,
wandte fih der Leutnant um, ber, kurzfichtig, als er eine Geſtalt
3. Ich hatt einen Kameraden 157
— —.
über die Straße huſchen ſah, mein Gewehr nahm und abſchoß;
wir hörten den andern Tag, daß er ein Mädchen tödlich getroffen
hatte, das nach dem Toten oder Schwerverwundeten habe ſehen
wollen, der in dem Hauſe zurückgeblieben war. Zur Feldwache
zurückgekehrt, empfing uns der Hauptmann mit Blicken, in denen
man etwas wie Anerkennung leſen konnte, und ließ ſich vom
Leutnant genauen Bericht erſtatten. Die Gefangnen wurden
gleich zurückgeſandt „zu den andern.“ In Neudorf blieb es
einige Tage volllommen ruhig, bis ein nächtlidher Ausfall die
Poſten des Regiments, daS ung abgelöjt Hatte, ganz daraus ver-
drängte, worauf es den nächſten Morgen mit geringem Berluft
auf unfrer Seite wiedergenommen wurde Die Beſatzung der
Feſtung fing damals ſchon an zu erfchlaffen, und bald ließ fie
uns ganz unbebelligt im Beſitz des Dörfchend. Habers entſchiednes
und wohlüberlegtes Auftreten in diejer Kleinen Affäre wurde in
der ganzen Kompagnie anerkannt, bejonderd der Leutnant hatte
eine Vorliebe für ihn gewonnen. Wenn er auch noch mehrmals
Gelegenheit fand, fi) auszuzeichnen und wohl fchwierigere Auf-
gaben zu löſen, jo war doch einmal fein Auf feftgeftellt; er ge-
hörte von da an zu den Soldaten, auf die ſich die Kompagnie
in allen Fällen verlaffen konnte An feiner Beicheidenheit und
feinem Gleichmut ging aber dieſe Erhöhung feines Anſehens ganz
ſpurlos vorüber, höchſtens daß fie ihn anfpornte, noch forgjamer
auch die Kleinen Pflichten des Soldaten zu üben. Sogar feinen
vertrauteften Kameraden gegenüber ſprach er nicht gern von dem
Neudorfer Straßengefecht, lenkte jogar ab, wenn die Unterhaltung
darauf kam, und wir fanden mit der Zeit heraus, daß von dem
legten unglüdlihen Schuß, den der Leutnant abgefeuert hatte,
für Haber ein Schatten ausging, der in feiner Erinnerung auf
dem fröhlihen Kampfe Ing. Das arme, unſchuldige Mädchen,
hörte ich ihn das einzige mal jagen, wo er noch einmal jenes
Tages gedachte, fällt ohne Schuld und ohne Waffen, und wir,
deren Sache es ift, zu töten und getötet zu werden, gehn un⸗
beſchädigt aus dem Kampfe hervor. Ein ſolcher Schuß kann die
Luft am Kriege verderben.
Als ih im Februar 1871 als Rekonvaleszent leichten
Garnifondienft in einer ſüddeutſchen Stadt nahe am Rhein tat,
wurde ich in eine der Lazarettbaraden gerufen, um zur nad
träglichen Fdentifizierung eines Unteroffizier meine? Regiments
beizutragen, der mit einem großen Verwundetentransport bon
Belfort angelommen war. Eine ſchwere Schäbelmunde Hatte
158 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
ö— — —— NL EL. — —— GIG LI DL DE NL —— ⸗ — —— — — DUC LE LED
ihn bewußtlos gemacht, und er war nicht wieder zum Bewußt⸗
ſein gekommen, ſolange er im Lazarett gelegen hatte; er war
langfam hinübergejchlummert und war jchon begraben, als id)
der Botichaft folgen konnte. Keine Papiere, fein Zornijter war
nicht mit eingeliefert worden; doch hatte man jeine Gewehrnummer
aufgezeichnet und Die Blechmarke, die er um den Hals getragen
Hatte, aufbewahrt. Damals herrſchte in dieſen Lazaretten jo
nahe beim Kriegsſchauplatz oft große Verwirrung, weniger wegen
der Vertvundeten aus ben lebten Schladhten bei Belfort, Dijon,
Le Mans und Paris, als weil die Krankenzahl im Januar in
unerhörtem Mae geftiegen war; und dazu famen nun Diele
neuen Transporte, die ſchon deshalb jehr ſtark waren, weil die
Zruppen im raſchen Borrüden möglichſt viel Marjchunfähige ab-
Ihoben. Die Uniform zeigte mir zu meiner Überrafchung, daß
der Mann meiner Rompagnie angehört hatte. Haben Sie jonft
gar nicht8 mehr von dem Toten? fragte id den Lazarettvor-
ftand. — Alles ift Hier, fagte er mit der trodnen Geſchäfts⸗
mäßigfeit ſolcher Leute und deutete auf ein Heine? Gefach in
einer Schublade; da lag ein Gewehrfchraubenichlüfiel, ein altes
Meſſer mit Hornheft und ein ledernes Zugbeutelchen; dieſe
beiden Dinge kamen mir ſo bekannt vor, daß ich einen Stich
im Herzen fühlte. Und der Inhalt des Beutelchens? Faſt
nichts; ein paar Münzen und Knöpfe; hier ein Kompagnieknopf
mit einem Zweier. Und dann noch dieſes Herzchen aus blauem
Glas ohne Wert. Daraus ift wohl nicht viel zu entnehmen.
Sch mußte bla geworden fein, mein Herz war plößlich ſchwer
geivorden, meine Hand faßte unbewußt an den Tiſch. — Sie
haben diefen Dann gefannt? fragte mich der Yazarettverwalter. —
Ya, allerdingd. Das war der Unteroffizier Haber von der
zweiten Korporalichaft der zweiten Rompagnie, einer der beiten
Soldaten des Regiments und für mich der befte Kamerad. Schade
um Dielen Dann. Kann id den Kompagnielnopf zur Erinnerung
mitnehmen? Und jagen Sie mir die Nummer feine Grabes,
dad verdient einen Lorbeerkranz.
Aus |pätern Erkundigungen machte ic) mir folgendes Bild
von der ſchweren Verwundung meine Freundes. Als bei dem
großen Artillerielampf des 16. Januar unjer Bataillon hart
über der Lifaine auf einer Anhöhe als Batteriebededung lag,
war e8 dem Granatfeuer ausgeſetzt; die meisten Geſchoſſe gingen
in den umbejebten Wald hinter unfrer Stellung, andre frepierten
im tiefen Schnee; immerhin fielen fie an einigen Stellen fo didht,
3. Ich hatt einen Kameraden 159
— —
— —
daß Schnee und Erde wie von einem Rieſenpflug aufgewühlt
waren. Die Truppen änderten mehrmals ihre Stellungen, wo
fie gerade waren, traten fie abwechſelnd lange Kreiswege im
Schnee, um ſich zu erwärmen, und fanden dann wieder bei den
Gewehren, die zufammengefeßt waren. Gegen Abend nahm die
Müdigkeit überhand, und mandje legten fi) in den Schnee, wo
fie gerade ftanden. Um fieben Uhr kam die Ablöfung und der:
erjehnte Ruf: An die Gewehre! Da blieb Haber, der ſonſt der
erite und der fchnellfte war, lautlos liegen. Man bob ihn auf
und fand ihn im Blute liegen; ein verirrter Granatfplitter Hatte
ihm dur den Helm durch den Schädel über dem linken Ohr
eingedrüdt. Er wurde bewußtlo8 Hinter die Yront gebradit.
Einige Tage darauf wurde der Kompagnie mitgeteilt, daß er
mit einigen andern das Eijerne Kreuz erhalten habe, und der
Hauptmann ſchloß daran warme Worte und Wünjche für ihn.
Ich jelbft Habe in dem Sommer nad) dem Kriege eine
Gelegenheit benutzt, die mich in die Nähe feined Heimatortes
führte, diefen zu befuchen und mich nach etwaigen Verwandten
von ihm zu erkundigen. Ich hörte mur von ganz entfernten,
die fi nie um ihn gefümmert hätten. Dagegen jei ein Mädchen
Dagemwejen, mit dem Haber als Waiſe erzogen worden fei, das
habe jehr an ihm gehangen; nad) der Todesnachricht Habe fie
ihren Dienft gelündigt und fei ohne Aufſehen weggegangen;
foviel man wifle, habe fie in der Schweiz einen andern Dienft.
angenommen.
ER
4. Auf dem Marfch
Als wir am Abend des 6. Auguſt, e8 war gerade noch
hell genug, einen berrenlofen franzöfifchen Rotſchimmel, der ver-
gnügt in einem Kleefeld weidete, auß der Nähe nicht mit einer
buntgejchedten wiehernden Kuh zu verwechieln, über den füblichen
Zeil des Sclachtfelde8 von Spihern gegen Forbach zu zogen,
hob der Musketier Reindel, feined Zeichens Schufter, einen im
tiefen durchgeregneten Aderboden jterfen gebliebnen Schub auf,
einen Heinen jchmalen Schuh, wie für einen Damenfuß, hielt ihn
prüfend in Die Höhe und ſprach gelaffen das Wort auß: Die
find verloren. Wenn die Franzofen alle jo beſchuht find, find
fie von vornherein verloren; damit marſchiert man nicht einmal
nach Koblenz, gejchweige denn nach Berlin. Für ung Rommiß-
beftiefelte klang das tröftlidh, denn wenn auch mandjen der Schuß
drüdte, konnte er fi) doch jagen: Diefes Schuhwerk drückt dich,
weil es ſtark ift, und eben deswegen wird e8 die Märjche aus-
halten, marjchiere dich nur erft einmal hinein. Sei frob, daß bu
nit firumpfig oder barfuß über da8 Feld Hüpfit wie diefer
Franzoſe, dem dieſer Schuh gehört Hat. Wo mag er jebt fein,
der Träger dieſes flachen leichten Schuhs? Da die weiße Gamaſche,
die dieſen Schuh fefthielt, wohl auch irgendwo im Straßengraben
liegt, fo kann man fid) ihn nur als Barfüßler mit aufgelrempelten
Rothofen vorftellen.
Frohlocke aber nicht zu früh, deutfcher Infanteriſt, der bu
mit dem jchweren Zündnadelgewehr, dem plumpen Safchinenmeffer,
zwei Patrontaſchen, Zornifter mit Nejervemunition, Brotbeutel
und Feldflaſche, beide möglichft gefüllt, und „eifernem Beftand“
bon Reid und Kaffee, und in der Negel noch mit einer Schaufel,
Art oder — Kaffeemühle beladen, Märſche zu machen haben
wirft, von denen du dir an den längften Übungsmarfchtagen in
der Garniſon nichts Haft träumen laſſen. Alte Soldaten, Die
1866 mit Dabei geweſen waren, fagten es jchon in der Pfalz
4. Auf dem Marfch 161
— — LG EL — — — *
voraus: Mit dem Marſchieren iſts wie mit der Bauernarbeit,
es geht in einem fort weiter und wird nie weniger. Frankreich
iſt ein großes Land, da finds viele Märſche bis and Ziel, un-
gerechnet die Nüdmärjche und Flankenmärſche. Mein Freund und
Vorgeſetzter, der Unteroffizier Reiske, mit dem ich ein Semefter
in Jena verlebt und zum Zeil auch jtudiert hatte, meinte das⸗
felbe, als er einmal nad) einem ftaubigen Marjch aus dem tiefen
Gras eines lothringiſchen Objtgartend heraus, in dem wir auf
dem Rüden lagen, wie im Traum die Worte ſprach: Der große
Rund hatte ſchon Recht, die Geſchichte ift Bewegung.
AH fo, du meinſt den Kuno Filcher.
Natürlich, ich mußte jebt an dieſes bedeutende Wort denten,
und wie ruhig er dabei auf dem Katheder jtand, als ob er allein
diefe Bewegung nicht mitmachen werde.
Sage mir aber, wie betont du den Satz. Sit die Gejchichte
Bewegung, oder tft die Gejchichte Bewegung?
Nun, beide. Weil die Gejchichte Bewegung ift, ift Die
Geſchichte Bewegung. Deshalb eben marfchieren wir jeden Tag
dreißig KRilometerjteine ab, und wenn das Quartier jeitwärts
liegt, no ein paar dazu. Ob fi Kuno Filcher jemals von
dieſer praftiichen Anwendung jeiner Behauptung eine Vorjtellung
gemacht Hat? Wäre er doch mit dabei!
Das ift dad Privileg der Philojophen, daß fie eine Maſſe
von Dingen, die die andern Leute im Schweiße ihres Angefichts
und im Staub ihrer Yüße tun, in ein paar Worte zulammen-
fafjen, die man faft nicht verfteht. Das eine ift dann Geſchichte,
und das andre ift Philofophie der Geſchichte und Hält fich für
befler.
Scheint dir nicht das erjte wichtiger ald das andre?
Sicherlich, aber dennoch Hätte ich jo Luft, einmal dieſe
Bewegung zu unterbrechen, einen ganzen Tag zu ruhn und nichts
als Seifenblajen zu machen; fie jollten fo ſchön, jo jchön fein,
und groß follten fie werden.
Ich komme auf meine Marjcherinnerungen zurüd. Es ift
mit dieſer Bewegung in der Geſchichte eine ernſte Sache. Es
gibt Soldaten, die in der Schlacht ihre Kugel kriegen, und andre,
die ſich wahrhaft zu Tode marſchieren, und jene ſind zu beneiden.
Traurige Ausleſe, der beide zum Opfer fallen, die im übrigen
Dienſt zu den beſten gehörten! Kaum kommt die Marſchfähigkeit
zu ernſtlicher Erprobung, da zeigt es ſich, daß einige, die man
zu den Kräftigſten gerechnet hatte, die Probe nicht beſtehn. Zu⸗
Nagel, Glückinſeln unb Träume 11
NEE TEN —
162 Bilder aus dem Kriege mit Sranfreid)
nächſt befteigen fie den Kompagnielarren, was in dieſer erften
Feldzugszeit niemand gern tut, dann hinken fie wieder mit, bleiben
neuerdings „fußlos“ liegen, werden, wenn man nicht3 mehr mit
ihnen anzufangen weiß, einmal in ein Lazarett geftedt oder von
einem energifchen Arzt gar nad) Haufe gefandt; in der Regel
find dieſe Unglüdlichen nad) ein paar Tagen ſcheinbar hergeitellt,
und ſobald fie wieder in Reih und Glied ftehn, fängt das Übel
von neuem an. (Einer meiner Kameraden hatte das Unglück
jedesmal mit wunden Yüßen irgendwo Hinter der Front zu liegen,
wenn es zum Schießen kam; er war ein braver Soldat, aber
er geriet in den Verdacht, ein „Drüder“ zu fein, und der blieb
an ihm Hängen. Andre find geborme Marfichfoldaten, die nie eine
Blafe an der Sohle, feine wunde Stelle am Knöchel, kein
Hühnerauge gehabt und fich bejonders feinen Wolf gelaufen haben.
Wenn fid) die andern am Ziel eined Tagesmarſches ind Stroh
legen, wandern dieſe friſch umher und erzählen jedem, der es
hören will, das komme alle von einem friſchen Walnußblatt,
täglich in den Helm gelegt, oder von der abjoluten Vermeidung
jedes Fußwaſchwaſſers. Für und gewöhnliche Menſchen war es
jedoch nie eine Kleinigkeit, dreißig Kilometer auf ſtaubiger Land⸗
ſtraße zwiſchen Bäumen, die keinen Schatten warfen, in Hitze
und Staub, in einer dichten ausdünftenden Maſſe von Menichen
zu wandern, wo zuletzt jeder jchweigt, mechanifch in die Spuren
ſeines Vordermanns tritt und deſſen Helmbeichlag oder auf den
Tornifter gefchnallten Blechkeſſel wie in Hypnoſe betrachtet. Man
zählt die Schritte, die Telegraphenftangen, die Straßenbäume, und
höchftens ein Kilometerftein oder ein Wegweiſer gewinnt einem
oder dem andern, der noch verhältnismäßig friſch geblieben ift,
einen Ruf oder minbeftens eine Handbewegung ab. Die Gefichter
find dann übermäßig gerötet, das Blut kann durch den mit
dreißig Kilogramm Gewicht beichwerten Körper nicht raſch genug
feine ®ege machen. Das Weiße der Augen jogar ift gerötet, Die
weiße Staubiwolle, die weithin über der Landftraße liegt, pubdert
die glühende Stim im Kampfe mit den Ninnen des nieder-
fließenden Schweißed. Und doch ſitzen die Helme nicht im Nacken
und macht das Gewehr keinen größern Winkel als fünfzig Grad
mit Kopf und Hals feines Trägerd. Aber mit dem Kommando
„Halt!“ Tiegen dieje raftlofen Marichierer auf beiden Seiten ber
Straße, feiner nimmt fi Zeit, den Tornifter abzufchnallen,
könnte doch in einer Minute der Marſch fortgefegt werden, nur
einen Halten am Gürtel macht man mit der Rechten frei, es handelt
4. Auf dem Marſch 163
ELLE —— — — — — —
—ñN
fich vor allem darum, dem Blute freiern Lauf zu laſſen und
möglichit viel Luft in tiefen Atemzügen zu gewinnen. Ob auf
Steinhaufen oder im Straßengraben, im Gras oder im Staub,
fie fallen automatifch nieder. Aber inſtinktiv laſſen fie die mittlere
Straße frei, denn fie wiflen aus Erfahrung, daß in folchen
Situationen die vorrafjelnden Batterien wie der Blib da find.
Nach zwei Minuten ift der regelmäßige Gang des Atmens wieder-
gewonnen, das Blut zirkuliert frei, die beftaubte Kolonne jeht
ihren Marſch fort.
Der Bauernfohn marjchiert von vornherein ander? als dag
Stadtkind, er ift beſonders ein Virtuos im leichten Wegfchreiten
über Feld und Stein, befonders über frifchgeadertes Feld, wo am
ſchwerſten durchzukommen if. Solche Märſche find ja jehr oft
der Anfang einer Schlacht oder eines Gefechtd, und fie ermüden
einen Zeil der Mannſchaft außerordentlid) und gewiß zur Un⸗
zeit. Die Kompagnien in eine breite Front außeinandergezogen,
der Schüßenzug ein paar hundert Schritte zurüd, fo fieht man
fie durch Schollen und über Löcher bin ſich vorarbeiten; immer
ein mühſeliger Anfang. Wie viel frifcher und heiterer geht es
auf braunem Heideboden vorwärts, wie man ihn in den Vogefen-
höhen und wieder auf den Hügeln an der Sarthe hatte! Um
über frifchgepflügten Ader mit Behagen Hinzufteigen, mußt du
in der Furche hinter dem Pflug gegangen fein und mit harter
Sohle die Erdichollen zertreten oder zur Seite gejchleudert haben;
Spaziergänger, die nur Pflafter und Aſphalt betreten, lernen nie
dieſe volle Rüdfichtölofigleit des „Durch“ und „drauf.“
Es gibt noch einen andern fachmäßigen Marjchtervirtuofen:
das ift der Landbriefträger in Waffen, deifen Beine auf lange
und viele Wege „eingegangen“ find; er jällt beim Gehen, wie
ein? von den Blechmännden auf dem Sahrmarft, die mit Uhr⸗
wert gehn. Außerdem hat er eine eigentümliche Vertrautheit mit
der Landitraße, ift auf du umd du mit Meilenfteinen und Weg⸗
zeigern und kann feinem Hund einen Steinwurf erfparen.
Solange der Soldat nicht ftumpffinnig geworden ift, bietet
er feine legten Kräfte auf, in jeinem Verbande zu bleiben. Ich
möchte Jagen: in Neih und Glied zu bleiben, ift die Bedingung
des guten Gewiſſens beim Soldaten. Er fchleppt ſich in feinem
Bataillon mit, bis er zuſammenbricht. Das ift nicht bloß Marſch⸗
Disziplin, es ftedt darin da8 Hängen des Menſchen am Menſchen,
bejonder8 an denen, die er gewöhnt tft, denen er gern folgt und
gehorcht. Kein ſchlechteres Beichen von innerm PBerfall einer
11*
164 Bilder aus dem Kriege mit Sranfreid,
ö— — — —
Armee, als wenn viele aus Reih und Glied treten und in irgend⸗
einer Entfernung nachziehn. Der Soldat, der ſeine Nebenmänner,
ſeinen Vor⸗ und Hintermann verläßt, mit denen er ſozuſagen
verwachſen fein muß, gibt ſich felbit auf, ift fein rechter Soldat
mehr, ift, auch rein menjchlicd genommen, ein Tor oder ein
Subjekt, das auf Schlechtes finnt. Die Entfernung zwiichen ihm
und der Truppe nimmt nicht bloß räumlich raſch zu; fie wächſt
moralifh mit der Entfernumg noch fchneller, verderblich und ver-
füßrerifch. fehnell.
Daß auf dem Mari das Trinfen mit der Zeit eine Sache
von enticheidender Bedeutung wird, weiß jeber Fußgänger. Der
Durft ift eine Dual, und was tut der Soldat nicht, um fi
ihrer zu erwehren! Damals laftete noch der medizinifhe Unfinn
auf und, daß auf dem Marſch nicht getrunfen werden durfte,
unter den vielen Sünden, die die höhern Militärärzte auf dem
Gewiſſen haben, eine der leichtfinnigften, denn damals jchon mußte
man willen, daB mäßiges Trinfen den von Hibe und Staub halb
Erfticten nicht ſchadet. Statt deſſen fahen wir in jo manchem
elſaſſiſchen Dorf die Kübel voll fühlen Waſſers, die die mit-
leidigen Einwohner an die Straße ftellten, einfach augleeren.
Der Herr Stabsarzt befahl da8 vom hohen Roſſe herab. Der
Durft hat etwas Bohrendes, da8 Gemüt Beunruhigendes und
zugleid) Verlockendes. Welcher Hochgenuß, ein Fühler Trunk!
Nur die Liebe iſt noch verführeriſcher. Der Hunger dagegen iſt
ein fozufagen rubigeres, ſchwereres Gefühl, das Iangfamer vorrüdt
und belajtet. Daher die häufigen Disziplinarvergehen aus Durft.
Wenn Fröſchweiler Waſſer gehabt hätte, wäre e8 befier auch für
die Sieger gewejen; dem fchweren Efjäfferwein verdankt man
einige dunkle Flecken in der Geichichte des Feldzugs von 1870.
Sonft war ja der Wein eine unbeſchreibliche Wohltat, und
natürlich ganz bejonders auf dem Marid. Schon der Anblid
einer vollen Feldflaſche rief heitere Empfindungen wad), und noch
wenn fie leer tvar, würzten Geſpräche von ihrem geweinen Inhalt
die langen Marichitunden, und es wurde dad Zitat darauf an-
gewandt: Aber ging es leuchtend nieder, leuchtet? lange nod)
zurüd! Wllgemein war längere Zeit die Klage, daß man nicht
ſehe, wa8 man trinfe, nicht bloß den Wein, auch die Fliegen
und andre Bufälligleiten. Da bradte ein finnreicher Kamerad
eine bornene Wagſchale „zuftande,“ die in einem Kramladen
gedient haben mochte, und dieje kreiſte, verehrt und begrüßt wie
der Becher des Königs von Thule, voll des purpurroten Saone⸗
4. Auf dem Marſch 165
ww
weind und Burgunders rveihein reihaus und wedte immer neue
Heiterkeit, beſonders nach dem finnreichen Vergleich mit einer
altdeutfchen Trinkichale aus dem Schädel eines Feindes, die Reiske
irgendwo in einem „Nibelungenmujeum“ gejehen haben wollte.
„Der liebe melancholiſche Kaffee,“ wie ihn die ſächſiſche Minna
von Barnhelm nennt, wurde zivar feiner Wärme wegen früh-
morgen? gern geichlürft; aber gleich danach galt er nur noch als
„ſchwarze Brühe,“ und diefe in die Feldflaſche zu füllen, wie
einige Aufgellärte anrieten, leuchtete nicht ein, jo lange man über
roten Wein zu diefem Zwed verfügte. Purpur erweckt ein Gefühl
von Reichtum, erinnerte fi) jemand irgendivo gelejen zu haben;
nun, dieſes Gefühls wollten wir, von allem andern abgejehen,
uns nicht ohne weitered begeben.
Nachtmarſch, bei deinem Namen ſenkt ſichs düfter wie ſpäte
Dämmerung um mich herab, und id) höre die Kolonne jchlurfend,
jchweigend dahinziehn. Töne, die am Tage verwehen oder fich
im Licht verflüchtigen, werden nun laut; man bört jeden Yehl-
tritt, jedes Straucheln und da Klappern des Schloſſes, wenn
dad Gewehr von der einen müden Schulter auf Die andre wandert.
Das dumpfe Rollen der Gejchüge und Proßen und der Mari
der Kanoniere, die ganz Hinten in der Kolonne kommen, machen
jegt eine ganz bejondre Muſik, Säbelicheiden, Karabiner, Sattel-
taſchen, Schmierbüchien, und was ſonſt um Pferde und Gefchübe
baumelt, Elingt darein. Aber man hört auch aus dem taftenden
Tritt der Hufe die Müdigkeit der Pferde. Was war das für ein
Ton? Ein lautes Schnalzen, wie wenn ein tiefſitzender Pfropfen
aus voller Flafche gezogen würde. Es ift ein letzter Verſuch des
KRompagnieipaßvogels, dem Schlaf zu wehren. Wirkjamer ift
der unmutige Ruf, dem Lachen folgt: Keinen Nachtmarſch mehr
als Vordermann von Leible; der lange Kerl fieht heute in
jedem Chaufjeebaum das Gefpenft eines Yranzojen, und indem
er fi) zagend umfieht, tritt er mir die Haden ab!
Auch der Dann mit gefunden Sinnen hat feine Viſionen,
wenn er fo ind Dunkel bineinfchreitet und vergeblich die Augen
erweitert, um heller zu ſehen. Gerade daß, jagt man, bewirkt,
daB man Dinge fieht, die nicht find. Doch davon weiß ich nichts.
Wohl aber erinnere ich mich, wie bei meinem erften enblojen
Mari in die fternloje Nacht hinein das Dunkel immer tiefer
ſank, und es num ausſah, als höbe fi) da8 Land zu unfern
beiden Seiten dem Himmel entgegen, erft die Bäume, dann ber
Ader, und wir zögen dazwiſchen hin wie in einem tiefen bunfeln
166 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
Tal. Zuletzt aber war alle ſchwarz wie Sammet, nur felten
Hufchte noch ein dünnes Licht über die Bajonette hin. ch fragte
mid), war das der Widerjchein weit offner Augen, die ſich Licht
aus dem Dunkel erſchauen wollen?
Der durchichnittliche Friedensmenſch weiß gar nicht, was
Schlaf für eine Macht ift, er dufelt in feinem weidyen Bett jo
langſam hinüber und freut fi), wie „Morpheus Arme“ ihn ganz
unmerklich umfangen. Wie follte er es willen, da die rechte
Müdigkeit ihm kaum je Blei in die Adern gegojlen hat? Welche
Macht der Schlaf über den Menfchen Bat, weiß nur der, dem
Nächte ohne Schlaf vergangen find, ſei e8 auf Bolten, fei es auf
dem Marſch; er dämmert zulegt am hellen Tage jo hin, marjchiert
wie ein Yutomat, ohne Hare8 Bewußtſein, und fchläft eine Se=
funde nad) dem Befehl „Ruben!“ im nächiten beiten Straßen
graben wie ein Kohlenfad. Der Tag tft ihm nur eine etwas
bellere Dämmerung. Hunger und Durft fogar gehn im Schlaf»
bedürfnis volllommen unter. Der Menſch mag überhaupt nicht
mehr reden, er lebt und geht wie im Traum. Wenn aber dann
aus diefem Hindämmern ein wirklicher Schlaf wird, erwedit du
nicht fo leicht den Müden, der tief, ganz tief in das Dunkel
dieſes gliederlöfenden, traumlofen Schlummers hinabgeſunken ift,
und wenn ihm die Beit dazu gegeben ift, wacht er nad) zwölf
Stunden zwar auf, verfinft aber wieder tief und fchläft, ob es
Tag oder Nacht jei, feine vierundzwanzig bis jech3unddreißig
Stunden ab. Dann aber welche Friſche, welches Behagen! Und
nun neues Marſchieren, neue Nachtwachen, zur Not Kämpfe, bis
ich endlidy wieder ein Quantum Blei in den Gliedern angefammelt
bat, das von neuem niederzieht. Die Hauptſache dabei ijt jedoch
der Kopf. Bleibt diefer Har, fo ficht und marjchiert der gefunde
Soldat troß der bleiernen Müdigkeit, denn da8 Blei verflüffigt
fi) immer wieder und wird lebendiges Duedfilber, jobald es ins
Teuer geht. Man muß in ſolchen todmüden Kolonnen marjdiert
fein, das Ganze eine große Gemeinfchaft Schweigender, bie nur
mit Bliden, höchſtens abgeriffenen Worten und Heinen gegen=
feitigen Hilfeleiftungen oder Rüdfichten miteinander jprechen, und
man muß dann mit folden Kolonnen aud ind euer gegangen
jein, daß man weiß, was für Kräfte im Menſchen ruhen fönnen.
Das, denke id mir, war zum Beilpiel dad Große in der Leiſtung
der Preußen bei Belle-Alliance.
In den Rubezeiten verliert der Schlaf von jeiner Macht;
er wird nicht gerade abgejeßt, durchaus nicht, wird vielmehr ein
4. Auf dem Marſch 167
—
guter Kamerad, der freundlich) unſer Lager teilt; aber man ſchläft,
wenn man will, bejonders viel bei Tage, weil der Tag lang-
weilt, und ſitzt dafür tief in die Nacht hinein am Teuer, jtößt
Sceite hinein, daß die Yunlengarben jtieben, und erzählt ſich
Geſchichten, aus denen ebenfalld Funken ftieben, Geſchichten, für
deren Schauer oder Unmöglichkeit der Tag zu licht wäre. Daß
und die Sorge nicht einichlafen ließ, ift uns durd) die Siege
erſpart worden. Heimweh dagegen, das ift leider allenthalben ein
ftarfes Mittel zum Wachhalten! Ach könnte davon erzählen, habe
aber auch diefelbe Erfahrung gemacht wie andre, das dem, der
fi) nächtelang auf feinem Lager wälzt, unfehlbar in der Kälte des
Morgens gerade die fühle Halbe Stunde vor Sommenaufgang, den
Schlaf bringt. Auch den forgenvoll Wacheiten wehen die friichen
Lüfte in Schlummer, Die der aufgehenden Sonne vorauseilen.
Der Negen erlaltet den Marfichierenden das Herz und er-
ichlafft die Muskeln, die Laften wachen, die wir tragen, jedes
Kleidungsftüd, dad wir anhaben, jede Brotfrume im Proviant-
beutel wird zum Schwamm, der fid) vollfaugt. Unwillfürlich
vergleicht man fi) mit dem Eſel der Fabel, der fich mit einer
Ladung Schwänune im Bache niederließ und nicht mehr aufftehn
fonnte. D wäre ich doch der Tlügere Efel, der es mit der Salz-
fadung fo madhtel Aber ich fühle, wie ich immer ſchwerer werde,
troßdem daß Regenbäche aus Rod und Hojen rinnen, und jede
Naht ein Tal geworden ift, daß feinen eignen Bad) beherbergt.
Dft Habe ich in Friedenszeiten der Poeſie des Regenwetters
das Wort geiprocdhen, und als behaglicher Wandrer freute ic) mich
des Nebes aus Waflerfäden, das die regnende Wolle quer über
dad Tal vom Himmel bis zum Boden ſpannte. Auch Heute
hüllt mic) das Neb des Regens mit taujend Fäden ein, aber
ic fomme mir wie gefangen darin vor, und es flicht fi) für
jedes Gewebe, das ich durchichreite, ein neues um mid) her. Durch
die ganze lange Marichlolonne geht dieſes Gefühl des Ankämpfens
gegen das Naſſe, dad gegen und prallt, und umſchlingt und um-
ſchlaͤngelt, anfeuchtet und abkühlt. Mein Unteroffizier geht noch immer
aufrecht, während faft alle den Kopf vorftreden, al3 wollten fie dem
Regen entgehn, der nur um fo dichter in Die Lüde zwiſchen Hals
und Binde regnet; er ijt aud) hier wieder der, der das erlöjenbe
Wort findet: Seht fieht man erft, was für ein Vergnügen es
fonjt war, in der freien Luft zu marſchieren; daß mir morgen
feiner über Staub jammert, wenn der Regen aufgehört hat, und
wir vierzig Kilometer zurücdlegen! Auch ftellt er Betrachtungen
168 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
—
an über den Unterſchied des Gefühls, das die Flüſſigkeit hervor⸗
ruft, die man vorn hinter die Binde gießt, und dem des Regen⸗
waſſers, das von rückwärts feinen Weg hinter die Binde findet.
Er fand dieſesmal feinen Anklang, denn wenn man den Mund
zum Lachen öffnen wollte, floß oder regnete eben dieſes geſchmack⸗
loſe Waſſer hinein.
Dem Waſſer ſind wir überhaupt nicht Freund. Als Regen
verdirbt es uns nicht ſofort den Humor, aber die Uniform geht
aus der „Façon,“ und hauptſächlich ſchadet es dem Gewehr.
Auf Regen folgt nicht bloß der Sonnenſchein, ſondern viel ſicherer
der Putztag und die gefürchtete Gewehrviſitation. Der Kampf
mit dem Roſt fällt dem gewehrtragenden Soldaten faſt jo ſchwer
wie der mit dem Feind und iſt oft nicht fo erfolgreich. Des⸗
wegen verglid) der Unteroffizier Reiske in einer feiner Abend⸗
betrachtungen den Büchjenmacher, als Yührer im Kampfe mit
dem Roſte, mit den Göttern; auch er kämpft gegen das Schichſal.
friegt es aber nicht unter, und der Roft ift nichts als Die Zeit,
die alles annagt und zerfrißt, am meilten den Stahl, deſſen
grauer Glanz im Gewehrlauf der Stolz des guten Soldaten ift.
Aus fortgefegten Betradjtungen diejed und andrer Philo-
ſophen in Uniform ergab es ſich auch, daß der Nuben bed
Waſſers im Kriege ift, daß der Soldat fich Hineinlegt, wenn er
biwafiert, denn es macht die Erde weicher; wird dieſe aber zu
weich, und jchlägt überhaupt das Gefühl der Näfle dur, dann
ſchleppt man Steine herbei, einen für den Kopf, einen für den
Rüden, einen für die Füße. Steine find immer hart, aber unjer
Gefühl für ihre Härte ift nicht immer dasſelbe, und es wird
die Behauptung gewagt, daß rundlidhe Steine, die troden find,
fogar den Eindrud einer gewiflen Weichheit machen, die man
vielleicht beſſer als Molligleit bezeichnen würde. Sobald man
aber Waſſer in den Körper gelangen läßt, vulgo trinkt, wird
dad Gefühl für die äußere Näfle verjtärkt, denn nun drüden
die beiden Waſſermaſſen gegeneinander, was nur für Filche ift.
Daraus z0g Reiske die Folgerung, daß ein Lager im Wafler,
das durch Steineinlagen troden und warm gemacht tit, bei einem
guten Trunk Wein in manchen Beziehungen einem Lager im
Bett bei innerlichem Gebrauch von gemwöhnlichem Brunnenwafler
borzuziehn ji. Ich muß leider zur Steuer der hiſtoriſchen
Wahrheit hinzufügen, daß diefe Erwägungen erit längere Beit
nad naſſen Biwals im Trodnen vor einem guten Feuer angejtellt
worden find, ebenjo wie ih auch aus ganz trodnem Stroh einer
4. Auf dem Marfd 169
Iuftigen Scheune heraus folgende Hydrologifche Betradjtung an-
ftellen hörte: Beim Naßwerden ift das Gute, daß man nicht
näfler werden kann; wenn bu in einer Aderfurche Liegit, und
es kommt bei plötzlichem Plabregen ein Bad) Herangeichofien, als
wollte er Did) wegtragen, fo bleibe ruhig liegen, denn du bift num
einmal naß, gerade jo wie ich dir rate, ruhig liegen zu bleiben,
wenn du totgefchoflen bift, denn du bift nun einmal tot.
Als ic) im Jahre vor dem Kriege zum erjtenmal nad) Franl-
reich 309, war eine meiner erften Frage: Wie jehen franzöfifche
Landitraßen aus? Wie wandert e8 fid) auf ihnen? Wem be-
gegnet man, und zu wem gejellt man fi ald Wandrer? Sc
ftaunte dann die breiten Heerftraßen an, die großenteild aus der
Zeit des erften Napoleon ftammen, freute mic) der jaubern,
tafenberänderten Fußwege, die an ihrer einen Seite aufgeworfen
find, begegnete zwiſchen Mülhaufen und Altkirch dem erften Rad⸗
fahrer auf Hohem, klapperndem Inſtrument, ſchaute mich aber ver-
gebens nad) den Wirtöhäujfern an der Straße um, in denen
Dumad drei Musketiere ihre fabelhaften Mahle zu fi zu
nehmen pflegten.
Dagegen freute ich mich Herzlich, daß in hellen WWielen-
gründen an murmelnden Bächen gerade jo fette Mühlen lagen
wie bei uns, oft einen Büchlenihuß vom Dorf entfernt, in
maleriſcher Vereinzelung. Das Moos leuchtete an ihren dunkeln
Nädern gerade fo tiefgrün wie jenjeitS des Rheins, ihre Mühl⸗
Inappen fchienen mir ebenfo weiß zu fein, und wenn ich nahe
genug kam, glaubte ich aus dem Rauſchen des Mühlbach die⸗
jelben poetifchen Stimmen zu vernehmen, die Wilhelm Müller
jo liebenswürdig verdolmeticht Hat; deſſen Gedichte mit ben
Müllerliedern Hatte ich nämlich vor nicht langer Zeit bei einem
Berlauf alter Schmöler bei 5. A. Brockhaus in Leipzig billig
eritanden.
Sept ſehen die Ichönen franzöfiichen Landftraßen freilich
anders aus. Jetzt liegen tote Pjerde oft wie Meilenjteine regel-
mäßig längs den Straßen, und dazwiſchen Nefte von zufammen-
gebrochnen Fuhrwerken. Die Wegweiſer find umgeworfen, bie
Straßenbäume abgehadt, auf zertretnen Adern erlennt man an
den Reihen von Erdlöchern mit Kohlenreſten den Lagerplah; es
it ein franzöſiſcher geweſen, daß beweijen die Zeltpflöde, die man
in der Eile im Boden hat fteden laſſen. Es ift furdjtbar ein-
fam auf der Landitraße, wir, die hier marfdhieren, find die ein-
zigen Menjchen weit und breit. So will e8 der Krieg: er muß
170 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
den Verkehr für fi) und kann Leinen neben ſich haben, nur die
Armeen wollen jpredyen, was id) ſonſt jo reg und laut hier
bewegt, ichweigt. Bon den Stangen bängen die zerichnittnen
Zelegraphendrähte herab, nur der Wind fpielt zwiſchen ihnen mit
ſchrillem Ton, im übrigen find fie ftumm geworden. Deswegen
hängen auch bon dieſem gejprengten Eifenbahnübergang die
Schienen verbogen in die Luft, und gelegentlich ift eine ein-
nründende Straße abgegraben. In der Kompagnie wird von
den lebhaftern, unterhaltungsbebürftigen Leuten geflagt, daß die
Landitraßen fo verödet feien. Nicht einmal einem alten Schader-
juden begegnete man, geſchweige denn einem friichen Bauern-
mädchen! Gefangne Franktireurs in ihren blauen Bluſen, bie
Hinter bie Front transportiert werben, wahrſcheinlich zum Tot⸗
ſchießen, ſind tagelang die einzigen Ziviliſten, denen man auf
ober an der Landſtraße begegnet. Die der liegen unbeftellt
oder find nur zur Hälfte beitellt. Man iſt erftaunt, irgendeinen
Menihen auf dem Felde arbeiten zu jehen. Im Dorfe diejelbe
Stille und faft diefelbe Einfamleit wie draußen. Wenn aber
draußen etwad wie Naturruhe eingefehrt ift, die etwas Groß⸗
artiged, faft etwas Erhabnes bat, trägt die Stille ded Dorfes
den Charakter der Verdrofjenheit: Die Läden und die Türen ge⸗
ſchloſſen, ſodaß der Befehl zum Uffnen gegeben werden muß,
die paar Menſchen, die ſich herauswagen, mißtrauiſch oder ängit-
id. Man merkt es, fie fühlen fi überflüffig, find auf die
Seite geichoben, fie jchleichen herum, arbeiten können fie nichts,
zu eſſen haben fie nicht viel, und ob fie auch nur ihr Haupt in der
eignen Hütte niederlegen, hängt von der Menfchlichteit des Feindes
ab. Am Morgen- oder im Abendlicht, wo die ſchweren Schatten
diejer müden Jahreszeit jo Dunkel fielen, meinte ich manchmal, das
Land grinje mid) wie ein Totenkopf an, in deſſen bohle Augen
die ewige Sonne, die von all diefen Leiden nichtö weiß, ver-
geblich hineinſcheint. Iſt daS nicht der Tod, dieſe Häufer ohne
Fenſter, mit zerborftnen, von der Feuersbrunſt gefchwärzten
Mauern, den eingeftürzten Torwegen, den gejällten Bäumen, für
die feine fröhlichen Menſchen mehr da find, die fie umſchatten
möchten? Das franzöfifche Dorfcafe mit feinen drei zerfeflenen
Rohrſtühlen und feinem einbeinigen Tiſchchen und verichoffenen
Billard ift von feinen Iungernden Gäſten verlaften, weber die
einförmigen politiſchen Geſpraͤche noch die Dominoſteine, deren
Geklapper damit eine gewifſe Ahnlichkeit hat, find zu vernehmen.
Sogar in den Heinen Städtchen berriht am frühen Morgen
4. Auf dem Marſch 171
412
Totenftille; fie find immer wenig belebt, jet machen fie fait den
Eindrud, außgeftorben zu fein.
Niemand mag fi zum forgenvollen Tagewerk erheben, nur
der Soldat, hier jo recht der Herr, zieht fingend zum Tore
hinaus. Was kümmert ihn die Beritörung in diefem Lande!
Es find Elementargewalten wie Blitz und Sturm, die hier ge-
hauft haben. Er zieht daran vorüber wie ein Wandrer an einem
furchtbaren Bergſturz. Wohl ift es wahr, daß die gleichmäßige
Fremdheit und ſcheue Wildheit jo vieler taufend Menſchen, an
denen man gleichgiltig, wenn nicht feindlicd) vorübergeht, und fo
vieler taufend Orte, an die fich feine andre Erinnerung knüpft
als: hier ftand ih auf Vorpoften, oder: hier ift mein Kamerad
gefallen, das Herz verarmt und gleichſam außbörrt. Ein jo
ſtarkes Gefühl der Fremdheit reizt um fo ftärler zur Sehnjucht
nad) einem Zande, wo nichts und niemand unbefreundet ift. Hüte
dich aber, dieſe Sehnfucht zu nähren! Suche lieber ben Menſchen
in deinem Feinde, jo du feiner habhaft werden kannſt, als daß
du deine Gedanken zuviel in die Heimat ſchweifen läßt. Heimweh
ift ein bittere und gefährliches Kraut. Hier ift dein und deiner
Gedanken Plap!
Aus dem Frieden der Naht erwacht man jeden Morgen
neu zur Wirklichleit des Kriege. Wie gut, daß man in der
Regel fofort viel zu viel zu tun bat, al8 daß man den Träumen
von Heimat und Heimkehr nachhängen Fönntel Und wie gut,
daß die Morgenfühle jo etwas Kräftigendes, Aufregendes in ſich
bat! Der fchwarze Kaffeefud, den man glühendheiß binuntergießt,
trägt bon innen heraus zur Ermunterung bei. Die Korporal-
haft jammelt fi ımd eilt im Laufichritt zum Ort des Ab⸗
marſches. Man freut fi jeden Tag von neuem, ind Bataillon
einzurüden, es iſt doch ein impofante® Ganze, dieje lange Front
von taujend Mann in ſechs oder zwölf Gliedern. Eben noch voll
Bewegung, Reden, Lachen, jebt ftill, daß man ein Blatt fallen
hört, und in eine Linie gerichtet: Bild der Unterordnumg von
taufend jelbjtändigen Menſchen, und eben deshalb Bild der
Drdnung und der hohen Zweckmäßigkeit. Mit Muſik hinaus
aus dem fremden Dorf, und nun „ohne Tritt,“ d. h. Riemen
gelodert, Brotreit des Frühſtücks gelaut, Zigarre angezündet.
Unfer Marſchieren ift in der erjten Stunde ein reined Wandern,
und da wir Deutiche find, der Wanderpoeſie trog Waffenlärm
nit bar. Wie freuen wir und der Sonne und ded Taues,
wir ſchlürfen die friſche Morgenluft, die und freudig entgegen-
172 Bilder aus dem Kriege mit Sranfreich
— N 2
weht. Was ſchadets, daß man nicht an ſchönen Punkten ver⸗
weilen, die Blicke genießen kann, um ſo mehr ſehen wir im
Fluge: die Welt iſt neu, in die wir hineinmarſchieren, der Tag
iſt jung, und wir ſind jung. Freilich führt jeder Schritt, den
wir vorwärts tun, von der Heimat weg. Denken wir nicht
daran, fchauen wir vorwärtd. Doch Halt, noch einen Blid zurüd,
einen lebten auf die Forts von Metz. Wie rötlich fie von ihren
fhöngeformten Hügeln herableuchten! Borgeftern verließen wir
fie, und fie find ſchon fo weit, fo weit, als lägen hundert Stunden
zwilchen und. Der Gedanke der Trennung ift in dieſem Leben
voll Bewegung und Veränderung ungeheuer expanfiv, er rüdte
fie fern don und weg, ald wir nur mußten, daß wir weſtwärts
weiterziehn würden.
Noch eine praktiiche Bemerkung zum Schluß. Der Wagen-
troß ift das Mittelalterlichite in der ganzen modernen Krieg⸗
führung. Mit Pferden und undisziplinierten, unwilligen Fuhr⸗
leuten taufend Wagen auf grundlofen Wegen mitzuführen,
die unter Umftänden die Bewegungen der Truppen hemmen
und einfach ftehn gelafien werden müſſen, fteht durchaus nicht
mit allen den finnreichen Verbeſſerungen auf andern Gebieten
der Kriegführung zufammen. Bei Le Mans haben wir im
Sanuar 1871 die Bagage von drei franzöfiichen Armeekorps
abgefchnitten und als tote Maffe in und um die Stadt liegen
jehen. Taujende von Fuhrwerken aller Art, mit und ohne Fuhr⸗
leute, mit toten und halbtoten Pferden, und noch mehrere un-
beipannt, Wagen zer⸗ und ihre Ladungen erbrochen, von ben
hungernden Pferden angenagt, die verwildert waren und Kämpfe
miteinander aufführten. Und was hängt nun alle von dem
richtigen Gang diefer Kolonnen ab, vor allem Verpflegung und
Munitionderfjag und der Nüdtransport der Verwundeten und
der Kranken. Wenn wir bedenten, welche Anforderungen an die
Beweglichkeit der einzelnen Körper allein ſchon die Größe der
Zruppenmafje ftellt, die ein künftiger Krieg in Aktion fegt, und
wenn wir die Umgehungd- und die Rückmärſche erwägen, zu denen
Die weittragenden Waffen nötigen werden, muß uns die Reform
des Militärtransportimefend als eine ber erſten Notwendigkeiten
der KriegSbereitfchaft erjcheinen. Die Manöver der legten Jahre
haben meine® Erachtens an rajch zu legende Feldeiſenbahnen
und an Selbitfahrern noch nicht das gezeigt, was bie Beweg⸗
lihhleit der Feldarmeen verlangt.
* *
%
4. Auf dem Marſch 173
—wꝰ⸗
Zurückkehrend bin ich an einem Sommermorgen von 1871
auf anderm Wege, von den blutgedüngten, weiten ebnen Ge⸗
treidefeldern von Amanvillerd her ind Mofeltal Hinabgejchritten.
Uber dem Fluß ftieg ein feiner blauer Hauch auf, von der
geitern gepflügten Erde z0g leiß und fühl der Bodengeruch her,
der immer an Leben, an Keimen erinnert; jemand fragte, ob er
von der biutgedüngten Erde nicht fchärfer wehe. Die eriten
Arbeiter wanderten auf das Feld Hinaus, und eine Kuh, die am
Wege wieberfäute, bob langſam den Kopf und fchaute und un-
beforgt nad. Das tägliche Leben jchien fait wieder eingerenft
zu fein. Der Sturm war heftig geweſen, aber, am menjchlichen
Leben gemeflen, kurz. Man mußte ſich jagen, ein tüchtiges Volt
könnte viel leiften, jo Gott ihm lange genug das Leben und die
Kraft ließe.
Sr
5. Dem Hauptmann zulieb
Bon allen Zeiten des Tages war mir der Spätnacdhmittag
immer am wenigften Freund. Diefe Stunden um fünf und ſechs
herum baben feinen rechten Eharalter, fie verſchwimmen zwilchen
dem hellen Nachmittag und dem grauen Ubend, fie haben felbit
etwa? Hellgraues, Trübliches. Liegt vielleicht über ihnen ein
Schatten von ganz ferner Erinnerung an die Schulzeit, mo die
Knaben zu lange fpielen, dann zu viel Beiperbrot eſſen und
endli müde und fatt die Grammatik nicht mehr bewältigen
können? Sm Herbſt ift es bejonders fchlecht mit dieſer Beit
beftellt, da ift gar fein Pla mehr für fie vor dem frühen
Abend, der jo jäh hereinbricht, fie führt nur noch ein Dämmer-
dafein, und leicht ftedt fie und mit dem Gefühl einer gewifien
Bwedlofigfeit an. ch laſſe mird gefallen, wenn man mit Bier-
uhrkaffee oder Yünfuhrtee darüber weghilft. Aber gerade von
ſolchen Genüffen war ich heute fo weit wie nur möglich ent-
fernt, jo weit, daß ich nicht einmal von ferne daran dadjte. Ich
dachte überhaupt an niemand und an nichts, was den Gedanken
eine8 Genuſſes wachrufen konnte. Meinen ganzen Berftand nahm
die Feldwache in Anſpruch, fünf Musketiere und ich Gefreiter,
die dort unter dem Brüdenbogen Iagerte, und der franzöfifche
Borpoiten, der aller Vermutung nad) in Schußweite — damals,
im Zeitalter der Bündnadel, höchſtens fünfhundert Meter —
und gegenüber dort hinter dem Eijenbahndamme lag. Mehr als
einen Büchſenſchuß ſah man nad) feiner Seite in dem welligen
Gelände. Eine Heine Welt, in deren engem Umfange fogar der
Maulwurfshaufen dort am Außerften Rande eine beachtenswerte
Erſcheinung ift! So fern ſcheint er zu fein, daß ich mid} frage:
Iſt dieſes Erdbraun nicht bläulich getönt wie ein ferner Berg?
Oder ſchimmert etwas Purpurned heraus? Eng und doch für
mich Die Welt, eine ganze Welt! Geftern habe ich einen Sfameraben,
5. Dem Bauptmann zulieb 175
der ſich zu weit in die Wiefe hinausgewagt Hatte, von einer
plumpen, breiten Tabatierefugel durch den Magen geichoflen, ſich
ichwerverwundet an diejer Stelle in Schmerzen krümmen jehen.
Seine letzten Grüße habe ih für den Fall feines Tode in
meinem Taſchenbuch. Ereilt mich dasſelbe Schickſal, dann könnte
e8 zwilchen jet und einer Sekunde mit meinem Leben aus fein.
Hat alfo nicht dieſes kleine, kahle Stüd Welt einen riefigen Wert
für mid? Es ift alles, was ich überhaupt von der Welt haben
fann, und es Lohnt ſich doch, ed noch einmal gründlich anzu=
Ihauen. Es gehört fi ja auch dienftlich, fügt die Stimme des
Feldſoldaten, der ich jeit vier Monaten bin, in mir Hinzu, daß
man fich im Gelände orientiert. Nun wohl: hier ijt ein Brüden-
bogen, über den die Landitraße wegführt; es fließt Hier fein
Bad, aber die herbftlich gelben Wieſen diefer Niederung mögen
wohl im Frühling unter Waſſer ftehn, es ſpricht auch manche
table, ichlammige Stelle dafür. Von links jchwingt fi Die
lache Kurve einer Eifenbahnlinie daher, Die fi) ungefähr tauſend
Schritt vor meinem Standpunkt mit der Straße ſchneidet. Eiſen⸗
bahn und Landitraße liegen auf hohen Dämmen, die meinen Ge⸗
ſichtskreis im Dften, Weften und Norden umgrenzen. Hinter
dem hohen Bahndamm im Norden liegt die Feine Yeitung, von
der wir ein paar gleichgiltige Türme vorgejtern beim Hermarſch
in der blafjen Novemberabendionne jchimmern fahen; beträchtlid)
näher, wahrjcheinlich gerade Hinter der Straßenfreuzung muß das
Häuschen liegen, aus dem geftern gejchojfen worden ift. Hier
auf dem feftgetretnen Tonboden vor dem Brüdenbogen hat der
Verwundete gelegen, bis ihn die Kranfenträger holten, dort klebt
von feinem Blut an den Grashalmen, e& tft ſchon überreift, als
wolle die Natur mit diefen Spuren fo raſch wie möglich auf-
räumen. Sch muß dieſe Blutfleden öfter anjchauen, fie jind
das Farbigfte, um nicht zu jagen das Heiterjte in meinem Um-
frei; die feinen Eißfriftalle auf der tiefroten Unterlage machen
in der Tat ein zierliche8 Bild. Ich denke an die roten Blüten
der Sommeradonid, die man in meiner Heimat Blutströpfchen
nennt, an blutrote Sonnenuntergänge, an Alpglühen, und Die
Gedanken jchweifen weit Hinaus bi8 an da8 purpurne Meer
Homerd. Wie arm ift die Palette der Natur, daß fie für da3
Blut eines fterbenden Menfchen feine andre Farbe als dieſes
glühende Rot bat. Sonnenuntergang iſt ja freilich auch ein Ver⸗
glühen, und fo wie die Sonne morgen wiederflommen wird, kann
auch der Musfetier Aigner wiederlommen.....
176 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
Die Landftraße ift mit Bappeln beießt, die, wie das in
Frankreich üblich ift, in Jonderbare Formen gejchnitten find: von
ımten an jedes Zweiglein abgefippt, bis nur nod eine Heine
pinjelförmige Laubkrone übrig it, oder unter dem Heinen Qaub-
büfchel an der Spitze eine ſchirmförmige Ausbreitung oder eine
einfeitige Abjchälung, daß der Baum wie halbiert ausfieht. Yaft
alle Blätter find fchon verweht. Dort hat fi) ein Brombeer-
ſtrauch zwiſchen Brüde und Damm eingeniftet, befjen Blätter
noch grün find; er fjcheint etwa? wie ein Humorift in Diefer
Landichaft zu fein, Deswegen trägt er aud) Dornen, damit nicht
magre Dorflühe feine heitere Laune mißbrauden, die ſchwarz⸗
glänzende jüße Beeren und im Spätherbit grüne Blätter trägt.
Ein Blatt davon ift purpurbraun, da iſt fein Blut daran, «8
ift eine tiefe verhaltne Glut, als glühten mich zahllofe Herbſt⸗
fonnenftrahlen an, die fi in den HBellwänden diefe Blattes
gefangen haben; „es blidt mi an mit ftiller Lebensluft, die
wärmend mir gedrungen in die Bruft,“ Elingt mir durd den
Sinn. Lenau ahnte wohl, wie fordernd, wie tätig dieſes Leben,
und im Grunde wie heiter es ift, troßdem daß der Tod immer
in Reih und Glied mit aufmarſchiert. Sagt er nicht auch:
„Drei Dinge hätt id) gern vollbracht, geitanden in der heißen
Schlacht“ ufw.?
Gefreiter, he, wo fehen Sie denn hinaus? Dorthin und
dorthin müflen Sie Yront machen, hörte ich die wohlbelannte
Stimme meines Hauptmanns hart neben mir. Er war von der
andern Seite des Straßendamms her kommend unter dem Brücken⸗
bogen durdygegangen, vor dem id) auf einem Bund Stroh ſaß
und den Himmel betrachtete. Ich war aufgefchnellt und ftand
aufrecht und aufmerkſam vor ihm. Dort ſteht der Feind — er
deutete nad) Dften —, von dort oben Haben mir nichtß zu
fürdten. Nicht Neues?
Nichts, Herr Hauptmann. Seit dem Schuß geitern Nach⸗
mittag bat ſich nichts gerührt. Ich bin in der Nacht um elf und
um bier jo weit vorgegangen, wie der Herr Hauptmann befohlen
haben, Teine Spur vom Feinde. Der Musfetier Haber ift heute
früh noch einmal auf eigne Fauft am Damm hingefchlichen, hat
nicht einmal eine Fußſpur gejehen.
Sie wiflen genau, daß der Schuß geitern von der Bahn
freuzung ber gefeuert worden ift?
Genau, Herr Hauptmann. Der Rauch ftand noch längere
Zeit fihtbar über dem Signal. Erlauben mir Herr Hauptmann
5. Dem Bauptmann zulieb 177
zu jagen, fuhr ich nad einer Halben Sekunde Paufe fort, daß
wir alle meinen, e8 müſſe hinter dem Damm an der Kreuzung
ein Bahnwärterhäuschen liegen, und dab eine Feldwache der
Zranzofen darin ift.
Mein Hauptmann fchaute mich wie fragend aus feinen kalten
blauen Augen an, und id) fand den Mut, hinzuzufügen: Wenn
wir die ausheben dürften, Herr Hauptmann!
Ohne fi zu befinnen, antwortete mein Hauptmann kurz
und troden: Verſuchen Sie, ob Sie morgen etwaß mehr zu
melden haben als heute, aber ſeien Sie vorfichtig.
Ich folgte ihm in reſpektvoller Entfernung, als er ſich raſch
zum Gehn wandte Noch über die Schulter die Frage: Sie
haben doch Fühlung rechts und links, Gefreiter? und nach der
kurzen Antwort: Zu Befehl, Herr Hauptmann, links mit dem
Schübenzug, rechts mit der erjten Compagnie, ftand ich am andern
Eingang unſers Brüdenbogens, und Hinter mir ftanden die drei
Musketiere, die gerade „daheim“ waren. Wir fchauten und zu⸗
frieden an, der Strenge hatte nicht zu tadeln gefunden. Freilich
blieb ihm auch nicht viel Zeit dazu, Hatte er doch noch fünf
Poſten abzugehn; wir wußten, daß er dieſe Arbeit gern jelbft
beforgte, wenn bie Kompagnie in einer fo exponierten Lage war
wie heute. Wie diefe Lage eigentlid) war, wußte natürlid) nie-
mand von ung zu jagen. Ich habe es überhaupt erjt aus der
Negimentögeichichte erfahren, die viele Jahre nachher erichienen
it. Wir waren geſtern raſch gegen eine Eleine befeftigte Stadt
borgerüdt, hatten dort die ganze Brigade vorgefunden, alles in
Bereitichaft, die Dörfer, wo fantoniert wurde, zur Verteidigung
hergerichtet: Barriladen an den Dorfeingängen, Schießſcharten uſw.
Was bedeutet da8? Die Kleine Feitung fol mit Handſtreich ge=
nommen werden, war die Meinung der Kompagnieftrategen, als
die ſich beſonders einige Avantageure und neugebadne Bizefeld-
webel aufipielten, die fo taten, als jähen fie in Die Geheimnifje
des Generalftabß ſchon ganz tief hinein. An etwas geringeres
als einen Handſtreich denken hätten auch wir andern für un⸗
ſoldatiſch gehalten; hatten wir doch die Franzoſen bisher nod)
immer zurücdweicdhen fehen. Wir hatten feit erwartet, daß man
am erften Abend nur die Dunkelheit abwarten werde, um dann
bon allen Seiten gegen die Stabt vorzurüden, Die Tore einzu=
ſchießen, worauf ſich dann auf dem Markt die fiegreichen Truppen
vereinigt hätten. Statt deflen waren zahlreiche Feldwachen aus⸗
geitellt worden, denen eingefchärft worden war, fich nicht leicht-
Rayel, Stlüdsinfeln und Träume 12
178 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
—N —
finnig gegen die Stadt vorzuwagen, wohl aber etwaige feindliche
BVorpoften dann und warn zu beunrubigen, damit fie weder an
unſrer Wachſamkeit nody an unſrer Kampfluft zweifelten. Der
Zweck bed Ganzen war einfach die Verjchleierung unſrer Stellung
in den Umgebungen der großen alten PBrovinzialhauptftadt, die
drei Märfche Hinter ung lag, die Erkundung der Stärke bes
Seindes auf diefer Seite und fo nebenher die Aufhebung einer
ganzen Anzahl von Waffen und Mumitiondniederlagen in den
Dörfern diefer franktireurberüchtigten Gegend. Das bejorgte an
diefen zwei Tagen unſre Kavallerie aufs befte. Ich habe fpäter
lagen hören, ein andrer als unſer Brigabelommandant hätte
allerdings eimen Handſtreich gewagt, e& fei auch davon die Rede
gemwejen, aber die Artillerie fei zu ſchwach dafür befumden oder
gehalten worden.
Einerlei, wir in unferm Iuftigen Lager hatten das Gefühl
der größten Wichtigkeit und zweifelten feinen Augenblid daran,
daß dieſer Abend oder dieſe Nacht irgend etwas Wichtigeß bringen
werde. Auch jetzt noch, nachdem die erfte Nacht faft ruhig ver⸗
faufen war — nur ein paar Vorpoſten hatten Schüfle ge⸗
wechjelt — hielt dieſes Gefühl an. Es wuchs mit dem finfenden
Abend. Die Franzofen konnten fich diefe letzten vierundzwanzig
Stunden ja auch deshalb jo ruhig verhalten haben, weil fie im
Schutze der Dunkelheit einen Vorſtoß maden wollten. Wir
wollten uns jedenfall8 nicht in Sicherheit wiegen. Vorſichtig!
war das legte Wort des Hauptmannd geweſen; e8 mußte jchon
fehr notwendig jein, Borfiht zu üben, wenn er dazu aufforderte,
denn für gewöhnlich war nicht das fein Lieblingäwort, er war
immer vielmehr bereit zu jagen: Drauf, unerjchroden, Taltblütig,
entſchieden.
Ich hatte dem Hauptmann nachgeſchaut, bis er verſchwunden
war; er mußte längs des Straßendamms bis in die Nähe des
Dorfes zurückgehn, wo die Kompagnie kantonierte, um von dort
aus den Weg zu einer andern Feldwache zu gewinnen; quer
über die Wieſen zu gehn, dafür war e8 noch zu Hell. Vom
Brüdenbogen ber tönten die Laute des Kartenſpiels: Kurz heraus⸗
geitoßne Worte, das Aufklopfen der Karten auf dem Zornifter-
rüden, ein Lachen wie unterdrüdter Fluch, Die Pauſe des Miſchens
und immer dieſelbe Muſik in einförmiger Wiederholung. Ich
hatte feine Zuft, mich da Hineinzumengen, fie wollten ihr Spiel
fertig machen, jo lange es hell war, ein Geſpräch wäre jeht kaum
willlommen gewejen, auch id) Hatte jept fein Verlangen mehr
5. Dem Hauptmann zulieb 179
nn
— — — — — zur — ⸗—— —
danach. Die Gedanken, die das Kommen des Hauptmanns unter⸗
brochen hatte, wollten ſich meiteripimmen. Der Blick in meine
„Ummelt“ rief fie gleich wieder hervor. Der Nachmittag ging zu
Ende, der Abend fandte feine erften Schatten, ic} mufterte gründlich
den ganzen engen Horizont und ſah feine Spur von Bewegung,
von Veränderung. Ach dachte an einen Lehrſatz, auf den der
trefflide Sergeant Vater im theoretifchen Unterricht bejondres
Gewicht gelegt hatte: Daß ein Dorf vom Yeinde beſetzt jei,
erfennt der Batrouillenführer daran, daß Hunde darin lebhafter
find als gewöhnlid. Nun, unfre Leute wußten ich zu deden;
nicht einmal ein Hundegebell tönte aus Les Verſoix herüber.
Bewegung war überhaupt nur am Himmel. Dort öffneten ſich
dann und wann zwiſchen den Wolfen blaue Yenfter, und ganz,
unten am Horizont ſchien ein gelblicher Lichtftreif zu jagen: Die
Möglichkeit eines Abendſonnenſtrahls foll nicht ganz in Abrede
geitellt werben. Aber die Wolfen, die ein rauher Nordweſt
launiſch durcheinander ſchob, beeilten fi, Die Fenſter gleid) wieder
zuzuhängen, und was der gelbe Lichtftreif meinte, ließ mich ganz
kalt; nicht weil er im Ton etivad Schwefliges hatte, da8 an und
für fi) fein Vertrauen erwedte, fondern weil ich jo weit gar
nicht denken wollte. Es war ein trüber, froftiger Tag, und damit
genug. Der Eindrud, den er über dieſer Tahlen, fahlen Land-
ſchaft machte, war jo einheitlich, daß man nicht? darüber hinaus-
zudenfen hatte: man war mit grau umd braun, trüb und kahl
ganz gefättigt, wenn auch nicht eben zufrieden. Wer nicht ganze
Tage von früh bi fpät in einer ſolchen Landichaft aushalten,
weſentlich auf demjelben Punkt jtehend immer denjelben Geſichts⸗
kreis muftern muß, Hat feine Ahnung, wie leer es in der Welt
ausſehen kann. Er erfährt dann erit, daß es Eindrüde gibt, bie
noch viel leerer jind als einfache Stille. Im bürgerlichen Leben
wird er dann lyriſch angehaudjt und jehnt fi) nach der Einfam-
feit des Waldes oder der Einfürmigfeit eines weiten Waſſer⸗
Ipiegeiß, die ihm voll tönen im Vergleich mit dieſer fchrillen
de. Der Soldat überlegt, was wohl in diefer Landſchaft
Kriegerifches paffieren Lönnte, und wa8 dann zu tun wäre. An
Abmarſch iſt nicht zu denken, wenn er nidjt etwa noch in der Nacht
allen, aud) dem Hauptmann, unerwartet plöglich befohlen wird.
Zu einem Vorgehn ſcheint man ſich ebenfowenig zu entichließen.
Wir müſſen aber mehr erfahren, der Hauptmann wünjcht e2.
Der Leer erlaube, daß ih ihm an diejer Stelle den Haupt⸗
mann voritelle, der die erfte Berfon in diejer Heinen Welt der
12*
180 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
ID PL LIND DEE
Feldwache vor Led Verjoiz und bis auf den Heutigen Tag eine
ber erften Perfonen im ganzen Bereich meiner Erinnerung ift.
Bon Liebe, Freundichaft, Verehrung und dergleichen ift zwar
bei uns nicht die Rede. Sole Worte nimmt der Soldat bi
zum Feldwebel aufwärts und einjchließlich gar nicht in den Mund.
Er gehorcht; und daß er nun diejem Vorgeſetzten jo gern gehordit,
darin liegt die Poeſie feines Verhältniſſes zu dem Vorgeſetzten.
Was er ihm fchuldet, ift im Reglement genau beftimmt, er ift
aber jederzeit bereit, weit mehr zu geben, freiwillig, al8 Dienſt⸗
mann. Der Mußfetier ift feinem Vorgeſetzten dankbar, der es
ihm möglich macht, die tägliche, unabänderliche Gewohnheit des
Gehorchens, die jo notwendig wie das Atmen ift, als eine Freude
zu empfinden. So war es bei den Nibelungen, und jo iſt es
bei den Musfetieren der zweiten Kompagnie. Was num aud)
diefem Gefühl zugrunde liegen möge, es vergoldet fein eintöniges
Leben. Früh, wenn im kalten Morgengrau die KRorporalichaften
aus den Kantonnementd zufammentreten, notdürftig gefrühltüdt,
faum fertig zugelnöpft und umgehängt haben, geht der Unter⸗
uffizier prüfend vor und hinter der Front von einem zum andern,
damit alles fißt; der Hauptmann foll nichts zu tadeln haben.
Siehe, da tritt er aus feinem Quartier, daS in der Regel nicht
beſſer als das feiner Musketiere if. Sein Pferd neigt ihm
freundlich den Kopf zu, es wird geftreichelt und koſend geflopft,
fein Dadel umwedelt ihn, die ganze Kompagnie freut fich Darüber,
fie veriteht ja, daß man ihn gern hat. Die zwei Bugführer,
Premierleutnant und Leutnant, treten heran und melden. Ach,
denkt jeder, der in der Front fteht, wie ganz anders find diel Der
Hauptmann überragt fie etwas, aber darin liegt es nicht, denn
er ift jelbft nur von Mittelgröße, und da folgen gleich am rechten
Flügel drei Musketiere bintereinander, die größer find als er.
Er überragt fie, doch überftraßlt er fie mehr mit feinen hellen
blauen Augen, die jo unbelümmert, immer glei ruhig und Eühl
in die Welt hinausfchauen. Noch niemand hat fie funfeln, aber
auch niemand fie trüb oder gar fchläfrig geiehen. Die Gefahr
bat gar keine Wirkung auf fie, das wiſſen wir alle. Wir empfinden
au, daß in feiner Haltung etwas ift, wa alle andern nicht
haben. Diefe fchlante, elaftifche Geftalt Hält fich jo abſichtslos
und ungezivungen gerade wie eine junge Schwarzivaldtanne.
Man kann es nicht recht außiprechen, aber man fühlt es, er iſt
nit bloß Offizier, er ift Ritter. Ja, das ift ed, das fühlt
fogar der gemeine Mann: fo meine ich auf Bildern Männer in
5. Dem Hauptmann zulieb 181
ftählernen Rüſtungen, den mächtigen, bewimpelten Turnierſpeer
in der eifenbehandfchuhten Zauft, gelehen zu haben. Auch, wiſſen
wir alle, daß dieſes Nitterliche nicht bloß in feinem Äußern if,
und daß fein abliher Name feine adliche Natur nur befiegelt.
Wir kermen ihn als den eiſern ftrengen und den eifern ge
rechten. Ich beftätige es aus friſcheſter Erfahrung. Noch Heute
liegen mir die vierundzwanzig Stunden Strafwache und Pa-
teouillengänge in den Knochen, die er über mich verhängte, als
mid) die Kompagnie von meinem Kommando zur Ordonnanz beim
Divifionsftabe nicht abgelöft hatte, und ich ruhig einen halben
Tag länger dort blieb, ftatt fofort die Kompagnie aufzujuchen,
die, unbelannt wohin, auf Borpoften marjchiert war; und noch
fühle ich es, wie mein Gerz ſich unter dem kalten Blick zufanmen-
309, der mir ein wahrhaft vernichtender zu fein fchten. Daß
war die zweite Begegnung; die erite war ganz anders geweſen.
Da hatte er mir, als ich don einem Häufergefecht vor Meb mit
durchſchoſſenen und von heraufgeichleuderten Kieſelſteinchen fieb-
artig durchlöcherten Beinkleidern zurüdfehrte, eine halbe Flaſche
Wein mit den Worten gereiht: Da, Freiwilliger, fliden Gie
Ihre Hojen.
Mein Bugführer, ein junger Leutnant, hatte fentimentaler-
weife geglaubt, ich Hätte ihm das Leben gerettet, weil ich ihn
hinter einen ſchützenden Alleebaum getragen hatte, als ein Prell-
ſchuß aus einem Fenſter von oben her auf feine Helmkokarde
ihn ohnmädtig gemacht hatte; und er fchien dem Hauptmann
diefe Epifode in Farben ausgemalt zu haben, die ſehr günftig
für mid) waren. Jener, ein guter Knabe mit etwas zu dicken
Baden, hatte es auch für eine Heldentat gehalten, daß ih, als
wir zurüdgehn mußten, mir nod) eine wunderſchöne halb ab-
gefchoflene Teerofe vom Blumenbrett des Fenſters pflücte, Hinter
dem möglicherweife noch Yranzojen lauern konnten! Seitdem
hatte mich der Hauptmann viele Wochen gerade fo ignoriert wie
vorher. Dann kam der Blid von Ei8 und die Strafe. Und
drei Tage darauf die dritte Begegnung: die erſte Einladung,
mit ihm und den Kompagnieoffizieren zu Abend zu efjen. Kein
Freiwilliger Hatte fich bisher dieſer Ehre zu erfreuen gehabt,
und id) war ganz bejonders ftolz, daß mit und der Vizefeldwebel
zu Tifche ſaß, der bis vor einigen Wochen unfer guter Kamerad
geivejen war, bis das Portepee eine Mluft zwiſchen uns alten
Freunden, von der Univerfität ber befannten, riß. Es wurde
ben ganzen Abend nur von gleichgiltigen Dingen geſprochen; aber
182 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
ich bin niemals in jo gehobner Stimmung aus der geiftreichften
Gefellichaft gegangen, wie ich von Diefem Holztiſch einer fran-
zöſiſchen Bauernftube aufftand, in ber mein Hauptmann ein-
quartiert war. Mid) erfüllten bis zur Berauſchung die wider⸗
iprechenditen Gefühle: meine Strafe erjchien mir noch viel ver-
Dienter, mein Zehler noch viel umverzeihlicder als vorher; aber
das alles war ja nun in der edelſten und zartfinnigften Weiſe
wieder gejühnt und verziehen. So gut wurde e8 nun freilich
nicht jedem. Er konnte Fehler lange nachtragen, der geftrenge
Chef, und jo Hat er es zum Beiſpiel bis über den Feldzug
hinaus dem Freiwilligen Bol nicht vergeflen können, daß er ihn
auf einem Doppelpoften an gefährlicher Stelle mit dem Bajonett
einen Apfel vom Baum jtechen ſah. Und ebenfowenig konnte
er es dem langen Biegler vergefien, der Schreiberdienfte verrichtete
und wegen ſchwacher Füße jehr oft auf dem Kompagniewagen
faß, daß er eimmal, als er auf dem geliebten Wagen fortfuhr,
fein Gewehr im Duartier zurüdgelafien hatte; Ziegler behauptete,
der Mari von 25 Kilometern Hin und zurüd, um den alten
„Scießprügel“ zu holen, fei ihm jaurer geworden als der
Kompagniearreit, den er abzufiten Hatte In allen diefen und
ähnlichen Fällen war die ganze Kompagnie jedesmal mit Aus⸗
nahme des Beitraften auf der Seite des Hauptmanns. Auch
wenn die Strafen manchmal hart auöfielen, was war Das im
Vergleich mit der Erinnerung an die Ealtblütige Haltung des
Chef3 in fo vielen Fällen, ſei e8 im Vorgehn unter den feinb-
lichen Kugeln, ſei es im Ausharren auf nächtlichem Marſch oder
in einer endloſen Bereitfchaftsftellumg in Regen und Wind?
Und war unjre Rompagnie nicht die einzige im Negiment, um
deren Quartiere ſich der Chef bis ins einzelite kümmerte? Das
war befannt, daß er ſich Leine Ruhe gönnte, bis der lebte Mann
von den Seinen untergebracht war; und vielleicht am höchſten
wurde es ihm von ung angerecdjnet, daß er einmal die Regiments-
mufifer mit Träftigen Worten aus den Häufern außquartiert hatte,
die für unfer Kantonnentent beftimmt waren. Man lieh fi
von ihnen gern etwas vorjpielen, liebte fie aber im übrigen
wegen ihrer Weichlichleit und Begehrlichkeit im Wohnen und
Eſſen nicht befonderd. Das Hornfignal zum Avancieren, dag
einer ohne Taubenneſter bläjt, ift mir lieber ald eure Tänze,
hatte man bei dieſer &elegenheit den Hauptmann fagen hören,
und damit hatte er wieder einmal die „öftentlihe Meinung“ der
Kompagnie zum Ausdrud gebradit.
5. Dem Bauptmann zulieb 183
Doch ich jehe, daß ich mich zu tief in Perſönliches einlaffe,
das außer mir heutzutage nur wenige intereifieren Tann; denn
der Dann, von dem ich fpreche, ift fein berühmter Mann, den
die Welt kennt, bat es auch nie darauf angelegt; feine Größe
war eine Größe in dem engen Kreis jeiner Pflicht. Soviel wie
ich hier von ihm ſpreche, habe ich aber freilich in den Stunden,
deren Inhalt ich erzähle, an ihn und an feine Wünſche und
Befehle gedacht, und infofern wurde ich wenigſtens meiner Auf⸗
gabe nicht untreu, indem ich etwas länger bei ihm verweilte.
Es war jet düfter geworben, ich Tehrte zu meinem Brüden-
bogen zurüd, meine Tartenjpielenden Kameraden waren ins freie
heraußgetreten, fchritten raſch auf und ab, fchlugen die Arme
kreuzweiſe über die Bruft und die Schultern, um ſich zu erwärmen,
und taufchten mit kurzen Worten ihre Anfichten und Ausfichten
über das Wetter, den ıumfichtbaren Feind, den man nicht mehr
erwartete, und den Proviant aus, den man dringend erwartete;
der eine kaute an einem Stüd Kommißbrot, der andre zünbdete
in feinem Pfeifchen die ũübliche Miſchung von etwas Tabak mit
viel Baumblättern an. Durch die Dämmerung ſah man drei
dunkle Geftalten am Straßendamm auftauchen, troß der trüben
Luft von weiten ſchon erfennbar al8 die Patrouille, die den
Nachmittag ausgeſandt worden war, um Meldungen mit rechts
und links und dem Kommando im Dorfe audzutaufhen. Sie
bradjte feine Neuigkeiten, bei den andern Feldwachen war es den
Zag über eben fo ftill wie bei ung geblieben, doch ließ der Haupt⸗
mann vermehrte Wachſamkeit, beſonders und wegen der ver⸗
muteten Bejegimg der Bahnkreuzung, empfehlen. Die Batrouille
hatte auf dem Rückwege die Abendfuppe, Brot und Wein gefaßt,
die wir ung beſtens jchmeden ließen. Die Naht war da, man
lehnte vor die Windjeite des Iuftigen Raumes eine Holztür, Die
aus dem nächſten Dorfhaud gebracht worden war, fehte fi) auf
das Stroblager und hörte mit einer gewiſſen Beruhigung die
gleihmäßigen und behutfamen Schritte des Doppelpoftens, der
jebt die Straße bewachte und von ihr aus die Nieberungen
zu beiden Geiten überjehen konnte, joweit die Dunkelheit es
zuließ. Einmal ein leifer Pfiff des einen Poſtens, der mitteilen
wollte, es komme ihm vor, als ſei vor ihm über der Bahnkreuzung
ein heller Schein; wir Tonnten nichts Beſtimmtes ſehen, aber die
Erijtenz einer franzöfiihen Feldwache hinter diefer Stelle wurde
dadurch noch wahrjcheinlicher.
*
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184 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
Wäre der Aufenthalt unter der Brüde bebaglicher geweſen,
fo hätten ſich die vier jungen Männer, die jebt ihre Gewehre
zur Sand nahmen und fi marjchfertig nebeneinander aufftellten,
vielleicht gezögert, aufzubrecdhen; aber e8 war hier unten, abgefehen
bon dem Tleinen Fled, wo das trübe Licht der Blendlaterne hin⸗
fiel, ebenfo dunkel wie draußen, ebenjo kalt und noch ein gut
Teil zugiger. Man ſehnte ſich nach Bewegung, und im ſtillen
war auch der Wunſch rege, ſich nicht etwa durch eine Schleich-
patrouille überrafchen zu laffen; es ift Har, daß man fich beruhigt
aufs Stroh legen wird, wenn man, von dem nächtlichen Gang
zurüdgelehrt, melden kann, daß die Luft da draußen rein ift.
Und dann wird bälder der Morgen da fein, und mit ihm viel-
leicht die Sonne, wahrſcheinlich Ablöfung, Veränderung, und das
Nächſte nicht zu vergeflen, der heiße Kaffee!
Sie gehn ohne viele Worte ab, voraus der Erzähler von
vorhin, der jetzt gar nicht mehr and Nefleltieren, jondern nur
ans Objervieren dachte; wenn man fein Geficht hätte jehen können,
würde man unter dem Buge von heiterer Gleihmütigfeit, den
er nicht leicht verlieren zu können ſchien, Die geipanntefte Auf⸗
merkſamkeit wahrgenommen haben, die die Zähne aufeinander-
preßte, die Augen hervortreten und die Umgebungen der Augen
fi) erweitern ließ, um dem Blid nad) allen Seiten frete Bahn
zu machen. Das war wohl auf jedem Geficht der vier Soldaten
der vorherrſchende Ausdrud; jedes Auge wollte dad Dunkel durch⸗
dringen, worin die Einzelheiten der Landſchaft gleichſam verfunten
waren; jeder wollte wenigſtens für den nächſten Schritt daB
Gelände aufllären, damit der Fuß ficherer auftrat. Ihre Un-
ftrengungen waren nicht vergebend, aus bem Schwarz, murbe
rau, und es gliederte fi), was eben noch eine Nacht gewefen
war, in Luft und Boden; in undeutlichen Umriſſen ftieg der
hohe Straßendamm zur Rechten auf, und vor ihnen kündete ein
ſchwacher Lichtſchimmer unten am Firmament, der zu ſchwanken
oder zu fladern fdhien, die Lage der Stadt an. Man ging
zwar immer vorfichtig vorwärts, aber nun doch ficherer und
deshalb auch raſcher. Als etwa fünfhundert Schritt zurückgelegt
waren, blieb der Führer ftehn und wartete, bis fich die brei um
ihn verfammelt hatten. Dann fagte er feife: So geht e8 nun
noch einmal ungefähr ebenjomweit fort, dann kommt von Weſten
ber halbrechts der Eiſenbahndamm, der diefen Straßendamm
freuzt; dort Hat unſre Aufflärung ein Ende. Ehe wir fo weit
fommen, müſſen wir aus dem Loch heraus und fchauen, ob es
5. Dem Bauptmann zulieb 185
nr,
auf der Straße oben fauber iſt. — Jawohl, heraus, herauf, fagte
zuftimmend einer von den vieren. — Aber nicht alle, fuhr der
junge Führer fort, indem er eindringlicher redete, als fee er
jede der geflüfterten Worte deutlich neben das andre, damit
niemand ein® überjehen könne: Ihr zwei pojtiert euch halbwegs
zwifchen bier und ber Sreuzung an den Straßenbäumen, ſodaß
ihr das Wärterhäuschen noch fehen könnt, ungefähr Hundert
Schritt davon, ih und Haber ſuchen bis in ben Winkel zu
fommen und dort gerade vor dem Häuschen hinaufzukriechen.
Verhaltet euch ftill, biß bei uns ein Schuß fällt, dann pfeffert
ein paar hinein; folgt ein Pfiff, jo fommt ihr uns fofort nach,
bleibt es ftill, jo geht ihr raſch im Schatten bis hierher zurüd,
bier treffen wir ung wieder. — Gut, verftanden, brummten bie
zwei, die jebt voraußgingen, während Haber und der Führer
ohne Worte folgten. Jene ſah man ſich nad) ein paar hundert
Schritten, die lautlo8 ind Graue zurüdgelegt worden waren,
halbrechts am Straßendamm Hinaufziehn, dieſe ſchlichen unhörbar
weiter. Kein Ton als das Kniſtern der vom Meif eritarrten
Hälmchen unter ihren Sohlen, das ihre angejpannten Nerven
wohl vernahmen, das aber ſchon in ein paar Schritten Ent-
fernung verweht war. Der Führer blieb wieder ſtehn und legte
dem Mußtetier, der bart an ihn herangetreten war, die Hand
auf das Gewehr, dad, Mündung abwärts, faft verftedt ihm im
Arm rubte. Geladen? — Felt! — Gut, fie fchlafen, wir über-
raſchen fie. — Nun Tangjamer weiter; ſchon gebüdt, oft, wo
der Boden uneben wurde, mehr Eriechend als gehend. Schon
hebt fich der Boden. — Seht langfam, behutiam! — Das Gewehr
in der Nechten, mit der Linken die Erbe befühlend, an den Gras⸗
büſcheln Halt fuchend, geht e8 den hohen Damm hinauf. Es it
gelungen, fein rollendes Steinen bat fie verraten, fie liegen
hart nebeneinander, können eben gerade die Schienen erkennen,
die fi) wie dunkle Schlangen, ftellenweile grau glänzend, parallel
nebeneinander Hinziehn. Sept noch ein Ruck, und der Blid
ſchweift über die Auffchüttung hinaus, fieht, nachdem er fi an
die Entfernung gemöhnt hat, dunkle Vierede und Nechtede am
Horizont: die Stadt; bleibt aber wie gefeflelt an dem kleinen
unförmlichen Bloc, der Hinter der andern Seite des Dammes
vorſchaut: das oft beſprochne Wärterhäuschen, bag Biel dieſer
nächtlichen Expedition. Sie liegen beide unbemeglich, ihre Augen
wollen fi in das formlofe Ding vor ihnen einbohren, chälent
aber nichts aus dem braunen Dunkel ald einen Zaun, worin
186 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
WEILE GG ILL DL DL DL LE DL. 2 DL EL DL LED ——rcnrrn —— ————— ——— — ———— — — 08
eine höhere Stelle die Tür anzuzeigen fcheint. Doch ift das
wichtig genug, denn dieje Stelle ift ihnen zugefehrt; dort, wo
der Zaun erhöht ift, werden fie vermutlich den Eingang finden.
Wird fi die Tür geräufchlos öffnen lafien? Horch, war das
nicht eine Stimme? Oder gar zwei? Es wurde den Beobachtern
jofort Klar, daß hinter dem Häuschen zwei Männer waren, voraus⸗
fihtli ein Doppelpoften; aber fie vegten ſich nicht, gingen nicht,
wenn fie jtanden, mußte man Geräufche von ihren Füßen oder
Gewehrkolben hören; fie jaßen oder lagen. Warum ein Doppel-
poften auf diefer Seite, die dem Feinde abgefehrt it? — D,
das kommt bei den Franzoſen vor. — Mit ber Schnelligfeit,
die den Gedanken in einer erwartungsvollen Tage eigen ift, gingen
diefe Erwägungen unjern beiden ftill Beobadhtenden durch den
Sinn. Das Geflüfter war verftummt. Der Führer hob feinen
Kopf höher, zog ben Körper auf den Rand des Dammes, fein
Gefährte, er jah etwas Dunkles zur Rechten fich heranziehn,
folgte ihm; eine leife Berührung jagte: Ich bin da, an deiner
Ceite, nun auf Händen und Füßen über den Bahndamm, forgend,
daß das Gewehr nicht die Schienen berührt; während der zweite
noch riecht, erhebt ſich der erjte pfeilichnell, im Moment, mo
feine Hand die Tür erfaßt bat, ift fie auch ſchon aufgebrüdt,
er ftürmt gegen den Eingang des Häuschens, in Gedanken auch
diefe Tür ſchon eindrüdend, da — ein Blitz, ein Schuß, ein
ichwerer Fall auf der andern Seite des Dammed, ein paar
Schüſſe von der Straße her, Klirren zerjchoffener Yenjter und
Schritte von dem Häuschen weg — bann alles ftill, und Die
Sterne leuchten ruhig wie vorher. Cine Piertelftunde jpäter
wird es wieder lebendig um den Bahnübergang, eine größere
Zahl dunkler Geitalten macht diesſeits Halt, zwei überichreiten
ihn, jteigen dort hinab, wo man vorhin den Fall hörte, und
ſchleppen nad) einer Minute einen anfcheinend lebloſen Körper
herauf, tragen ihn binüber. — Tot? fragt es aus der Reihe
der dort gebliebnen. — Es Icheint jo. — Nein, der ift warn,
aber der neben ihm war kalt. — Woher kommt das Blut? —
Donner, das ift viel, die ganze Schulter ift na. — Er bat in
dem Blute des toten Franzoſen gelegen. Hier, leuchte mit deiner
Zigarre, e8 rinnt noch etwas von oben herunter, hier am Halie,
nein, da ift dad Lo, am Kopfe — Au, da iſts gefehlt, am
Kopfe! — Fort! fommanbiert leiß eine Stimme, aus dem Bereich
diefer Spelunfe, und dann gleich Notverband, id} habe ihn mit. —
Man legt den noch immer regungslojen Körper auf zwei Gewehre,
5. Dem Hauptmann zulieb ‚187
— —
zwei tragen ihn, indem ſie ihn in halb ſitzender Lage unterſtützen;
nach hundert ober hundertfünfzig Schritten laſſen fie ihn ſachte
niedergleiten, ein Mantel iſt raſch ausgebreitet, ein Wachskerzchen
wandert aus einem Brotſack heraus und wird hinter ſchützend
vorgehaltnen Händen entzündet. Der Unteroffizier entrollt zwei
Binden zugleich, befühlt die Wunde und hat ſie mit ein paar
Umwindungen geſchickt geſchlofſen. — Wenig Blut mehr, ſagt er,
der arme Kerl hat ſchon zu viel verloren, aber die Wunde geht
nicht durch, und Puls hat er noch. Vorwärts. — In dieſem
Moment kommt Haber herangekeucht, ein Gewehr umgehängt, das
andre wie einen Stab in der Hand. — Hurra, ruft er leiſe, dem
©efreiten fein Gewehr! Was hätte der Hauptmann gefagt, wenn
wir das zurüdgelafien hätten? Und bier der Lauf von dem
Branzofengewehr, der dem Wackes aus der Hand herausgeſchoſſen
worden fein muß. Der wird ihn erft freuen!
25
6. Im Lazarett
\
Der Krieg ift für den Soldaten die Zeit des fchroffften
Wechſels aller Lebensbedingungen. Er bejingt diefen Zuftand,
ohne ihn viel zu bedenken, jelbft faft jeden Tag, wenn er in
den Morgen hineinmarſchiert:
Geftern noch auf ftolgen Rofien,
Heute durch die Bruft gejchoffen,
Morgen in das fühle Grab.
Doch nit Tod und Leben allein verichlingen fich eng im
bunten Reigen der Kriegßtage. Andrer Boden, andrer Himmel,
andre Aufgaben, andre Menjchen, andre Städte und Dörfer, vor
allem auch andre Duartiere, und nicht zuleßt: andre Städtchen,
andre Mädchen!
Der Soldat gewöhnt fi, diefe Unterjchiede gleichmütig hin⸗
zunehmen, der Wechjel der Tage muß ihm die Schule fein, in
der er derart abgehärtet wird, daß auch der Rückzug ihn nicht
entmutigt, der plößlich notwendig wird, wenn ein ununterbrochen
fiegreicher Vormarſch ins Stoden gerät. Auch dafür hat er fein
Lied, das zwar meift ohne befondern Grund angeftimmt, ficher-
fi aber mit dem mwahrften Gefühl in Beiten der Enttäufchung,
der Entbehrung gejungen wurde:
Es kann ja nicht immer fo bleiben
Hier unter dem wechſelnden Mond uſw.,
in deſſen langen Versreihen zulebt die Wechjelfälle im Schidjal
des großen Napoleon in naiver Weife bejungen werden. Auf
diefe fchwerfte Probe, die bed Rückzugs nach verlornem Gefecht,
ift ja ber deutſche Soldat gerade 1870/71 nur in einzelnen
Fällen gejtellt worden, und es gereicht ihm die Ruhe und Ord⸗
nung feiner Gewaltmärſche nad) Coulmiers oder von Dijon nad)
6 Im Lazarett 189
der Lijaine faſt noch ‚mehr zum Ruhm als manche geivonnene
Schlacht. Aber was fait jeder Einzelne an Wechſeln des Er-
lebens und der Stimmung durchzumachen hatte, überftieg in nicht
wenig Faͤllen weit die Grenze deſſen, was man im gewöhnlichen
Gang der Dinge noch für ertragbar Hält. Man trägt ed doch
und erfennt vielleicht fpäter, daß gerade in dem Übergang von
Wohlgefühl zu fchwerfter Sorge der Hammer des Schichkſals
ntederjauft, der aus dem Eiſen bes erſt werbenden ben Stahl
des vollendeten Charakter ſchmiedet.
Selten bin ih jo friſch und froh, jo fromm und freudig
aufgewadht ald an dem Morgen nad) meiner Berwundung. Man
Hatte mich in ein reines Bett im Oberſtock des kleinen Schul-
hauſes gelegt, die Wunde war feſt verbunden, jchmerzte nicht,
und Fieber Hatte ſich noch nicht eingeftellt. Das Gefühl, jo Hart
am Tode vorbeigegangen zu fein und nad) menſchlichem Ermeijen
das Leben zu behalten, erfüllte mein Herz mit Dank und mit
frohen Gedanken an meine Lieben, ich hoffte, daß fie eine Karte
über dieſe Affäre noch vor der amtlichen Berluftlifte erhalten
würden. Eine Zafje heißer Mil, die man mir reichte, erfüllte
mich mit einem Wohlbehagen, wie ich e8 nie gefühlt zu haben
glaubte. Die Mediziner jagen, daß jei Die Folge eines ſtarken Blut⸗
verluftes, und e8 war in der Tat etwas von wohltuender Schwäche
darin, der der Schlaf jede Minute willlommen ift. Ich dDämmerte
jo dahin, als der Wagen gemeldet wurde, brachte e8 troß einiger
Benommenheit dahin, mich ohne Hilfe anzuziehn und den Weg
die Treppe binabzufinden.
Unten bielten auf der dunkeln Straße einige von den fran-
zöftihen Leitermagen, die mir von Wagenpatrouillen ber in guter
Erinnerung waren; wir Snfanteriften, die in der Regel auf
den Seitenleitern Plab zu nehmen hatten, bieben die vorragenden
Teile der Sprofien ab, und daran mögen Wagen, die in unfrer
Benutzung geweſen waren, noch nad) Jahren zu erfennen geweſen
fein. Ich Hatte mich noch nicht auf das Stroh eines von diefen
Fuhrwerken gebettet, al3 der Hauptmann herantrat, feinen Burjchen
mit einer riefigen Stalllaterne zur Seite, und mir mit den Worten:
„Leben Sie wohl, Gefreiter, und pflegen Sie Ihre Wunde gut,
daß Sie bald wieder zu und kommen können; Ste haben ſich
geſtern jehr gut benommen!“ die Hand reichte. Der Unteroffizier
der Dragoneresforte fommandierte: „Marſchl!“ die Wagenreihe
fegte fi in Bewegung und fuhr rafjelnd aus dem Dorf. Es
waren meiſt leere Wagen, die Broviant holen gingen, und einige
190 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
ur
— — — ——
Wagen mit Kranken und Verwundeten. Der Stolz auf die Worte des
Hauptmanns durchrieſelte mich wie ein ſtärklender Trunf. Ich faltete
unwillkürlich die Hände und gelobte mir, ein guter Soldat zu
bleiben und des Hauptmanns gute Meinung zu rechtfertigen. Im
Hintergrunde meldete ſich freilich auch etwas wie ein unbeſtimmtes
Bewußtſein, zu den vom Glück Begünſtigten zu gehören, und Die
Hoffnung, künftighin ebenfo wie geftern Heil wieder aufzutauchen.
Nach der dunkeln Dämmerung der Todesnähe weld) herrlicher
Morgen, der mir heute aufging. Es wurde mir fo leicht, als träte
ich eine Reife in ein ſchönes Land an. Bweifellos, fagte ich mir,
macht diefer Tag einen Einjchnitt in deinem Soldatenleben; v3
war zulegt manchmal einförmig geworden, es Tann ſpäter nur
befier werden, größere Ereignifje ftehn uns bevor. ch dachte
nicht an das Lazarett vor mir, jondern an den Dienft, wenn ich
geheilt fein würde, an den Frühling, der da kommen würbe, an
Siege, an Frieden. Über allem das Gefühl, „Iedig aller Pflicht*
in die Welt hineinzufahren! Ich gab mich gerade wie ein Wandrer,
der nichts andres will, mit weiten Sinnen der Welt Hin, bereit,
mich jeder Einzelheit zu freuen.
Bom Himmel, der nicht mehr ſchwarz, vielleicht dunkelgrau,
vielleicht mehr dunkelblau war, blinkten noch vereinzelte Sterne,
Nachzügler der Armee von Taufenden, die ſchon hinuntergefunten
waren. Sind ed neugierig Zurüdgebliebne, die die Sonne grüßen
wollen? Sie werden warten müſſen, denn noch ift der öftliche
Horizont fo dunkel wie der weitliche. Vielleicht ift diefer feuchte
Haud, der mir nun übers Geficht ftreicht, der erfte weit voraus⸗
eilende Bote, das lebte Auszittern des Freudenſtrudels, den weit,
weit im Often die erften Sonnenftrahlen im Luftmeer aufrühren.
In den Lärden am Wegrand werden nun die äußerften jchivanfen
Zweige lebendig, raufchen wie im Traum in derfelben Luftwelle,
die mich berührt hat. Diele klare, frifche Luft fühlte ich an
den Haaren, mit denen fie fpielte, an der Stirn, die fie um-
fächelte, faft fchneidend beim Einatmen in Mund und Nafe, und
es war mir, als jpüle fie aufrüttelnd und erleichternd den Körper
entlang. Es lag fo viel Verheißung in diefem Morgen. Was
wird die hehre Sonne alle mit fi) beraufführen?
Irgendwo am Horizont ift unbeobachtet ein neuer Stern
aufgeglüht, gelbrötlicher als die andern, das kann nur ein Herd⸗
feuer jein, das Frühaufgeftanbne entzündet haben. Am Himmel
ift der Hintergrund heller und find die Wolken dunkler geworden;
am Ofthimmel ziehn fie jchon deutlich, Die Tanggeftredten, auf
6. Im Lazarett 191
dem Lager fidh redenden Nachtwolken. Darunter jebt ein Burpur-
Licht, da8 durch Wolfenlüden fcheint, bald hier bald dort deutlicher
verglübt und dort fih neu entzündet. Nun färbt es die oben
Wolfenränder, und gleich darauf ift ein milder Widerfchein davon
im Zenit. Aus Purpurfäden gehn Goldftreifen hervor. Wie
mich das alles jo wei) und wohlig anmutet, vergefje ich über
der Sonne, die nun beraufiteigt, Krieg und Dienft.
Nicht ich fahre dem Morgen entgegen, es iſt der liebe,
friihe Morgen, der mir jo freundlich entgegenfommt, der mir
alle diefe fremden Dörfer vergoldet, durch die wir in raſcher
Fahrt dahinrollen, und der in jedem unbelannten Yenfter eine
befannte, wohltuende Glut entzündet. Nichts ift fremd, wo die
Sonne hinleuchtet! Es ift zwar wahrjcheinlich ein vergebliches
Bemühn, auf die Dauer diefe fahle Herbitlandichaft dem falten
Winter zu entreißen, aber du bift redlich bemüht, mein Tieber
Morgen, e8 auch heute wieder zu verſuchen. Du breiteft einen
Glanz darüber, der die Kahlheit der Stoppeln und die Laub⸗
fofigteit der Bäume vergefien macht, und jcheinft ſelbſt einige
Bauern und Mädchen, die ung freundlich grüßen, die Verdroſſen⸗
heit über dieſe Zeit vergeflen zu machen, die ſchwer auf ihnen
loftet. Wir raffeln auf der langen Landftraße dahin, die fait
veröbet ift; in dieſen Kriegszeiten hat eben ber Verkehr faft -
ganz aufgehört. Wir überholen einige leere Proviantiwagen,
dann einen Wagen mit Kranken, die fi unfrer Kette anfchließen.
Ein Dorfarzt kommt und entgegen in einem leichten Einfpännerchen,
das eine mächtige Sahne mit dem Genfer Kreuz trägt, hält an
und erneuert einem von und den Verband, der in Unordnung
geraten ift; ein ®eiftlicher mit dem Roſenkranz wandert an uns
vorbei, der vielleicht auch Kranke in einem von den vielen zer-
ftreut liegenden Höfen beſuchen will. Den Doppelpoften am
Eine und am Ausgang einiger Dörfer werden Grüße und
Scherziworte zugerufen, und an den Häufern entziffert man die
Kreide oder Kohleinjchriften der Quartiermacher. In der Stadt
verkleinert ſich ımjer Zug raſch, ich werde zuleßt allein nad
einem Lazarett gefahren, das im „Luce“ eingerichtet ift. Dunkles
Haus mit langen Reihen ftaubbebedter Fenfter, alter Bau, aus
deffen Fundament die feuchten Stellen wie erdentfteigende Wolfen
am ®emäuer hinaufwachſen; darauf, daß es einft ein Klofter ge-
wejen ift, fcheint die Kleinheit des Eingangs zu deuten, eines
faft verborgnen Tores, dur) dad man in einen dunkeln Raum
tritt, der gleich wieder eine Tür in einen Hof hat, worin Refte
192 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
von fäulengetragnen Hallen an den alten Umgang eines Klofier-
hofs und ein eingefrormer Springbrunnen in der Mitte an
einftige Gartenanlagen erinnern. Nirgends ein Menid. Nur
daß die nad) dem Hof ſchauenden Fenſter nicht jo beftäubt find
wie die nad der Straße, könnte ald Lebenszeichen gedeutet
werden.
Steif von dem langen Yahren in der Winterluft, unfichern
Tritts infolge des Blutverlufte und des vielleicht fchon heran⸗
nahenden Wundfieberd wanke ich die Treppe hinauf, mich des
Gewehrs wie eines Stabes bedienend. Noch immer alles ftill.
Ich lehne mich auf dem erften Treppenabſatz in die DMauerede,
da ih vor Schwindel feine Stufe mehr unterfcheide, und muß
eine Zeit lang da geträumt haben. Denn als ich erwachte, lag
mein Zornifter und mein Faſchinenmeſſer neben mir, die ich im
Wagen gelafien Hatte, und mir gegenüber ftand in einem
Eimer ein menſchliches Bein, über dem nie abgeichnitten, das
vorhin nicht dageweſen war. ch rieb mir die Augen; Froſt
und Fieber jchüttelten mich, doch hatte ich noch Gedanken genug,
das nadte Bein zu bedauern, dad da in der Kälte ftand, und
den zu beneiden, der es verloren Hatte, da er nun vorausſicht⸗
ih in einem warmen Bette lag. Ich Hätte mein Bein darım
gegeben, wenn ich mich hätte zur Ruhe legen können! Mit dem
Aufgebot der lebten Kräfte taftete ich mich an die Tür, binter
der ſich Menfchen zu bewegen jchienen, und fiel, als ich fie
öffnete, faft in die Stube. Ach fah etwas, daB mich an ein
Schlachthaus erinnerte, viel Fleiih und Blut, und Menſchen,
die mit blutenden Händen an andern Menſchen herumſchnitten.
die bleih auf einem langen Tiſche lagen. „Hinausl“ „Zür
zul“ ſcholl es mir entgegen, und ich wankte zurüd, mechaniſch
wieder die Ede aufſuchend, in der ich ebenfo unwillkürlich in
Hoditellung zuſammenſank. Ein ſcharfer Ruck an der Schulter.
„Auf, Gefreiter! Was bodft du da herum? Was haft du hier
zu tun?“ rief mir eine raue Stimme ind Ohr. Sch beſann
mich, daß ich fchon längere Zeit da zujammengefunfen gelauert
haben mußte, denn ich war jebt noch kälter als vorhin und
Happerte hörbar mit den Zähnen. Wieder einen Ruck. „Kerl,
ſchläfft du?“ — noch rauher ald vorhin. Set ſah ich eiuen
Lazarettdiener vor mir ſtehn, beſann mich dunkel auf den Armel⸗
umſchlag des Mantels, worin mein Überweiſungsſchein in das
Lazarett ſteckte, konnte ihn aber mit meinen blauen, blutloſen
Fingern nicht mehr faſſen, deutete nur darauf.
6. Im Kazarett 198
— — SPE —7s —
Der Lazarettdiener riß ihn heraus, warf einen Blick darauf
und ging mit ein paar unverftändlichen Worten die Treppe hinauf.
Lebt mußte ich alle meine Kräfte zufammennehmen, mic) nicht
auf das Gteinpflafter zu ftreden; ich machte eine lebte An⸗
ftrengung und fiel die Treppe mehr hinauf, als ich ging. Dann
erichten der Lazarettdiener wieder, riß mich mehr hinauf, al® er
mich führte, ftieß mich in eine Tür hinein und brüdte mir
meinen Schein in die Hand. Ach Stand wieder wie gebannt,
da Kälte und Schwindel mir dad Gehen unmöglid) machten;
ih fürdhtete bei jedem Schritt vorwärts lang hin auf das Ge-
fiht zu fallen, taftete mit der Hand nad der Wand und bob
mit der andern meinen Schein in die Höhe, um gejehen zu
werben. Mit meinem Zähneklappern, da8 den breit verbundnen
Kopf in rhythmiſche Bewegung verjeßte, muß ich einen lächerlichen
Eindrud gemadt haben, Aus einem weiten Kreis von Qazarett-
genofjen, die um einen glühenden Dfen faßen, löften ji) Ge—
italten los, die lachend auf mic) zufamen, mir Gewehr und Helm
abnahmen, dann aber mit Ausdrüden des Mitleids, als fie meine
blauen, jtarren Hände anfaßten, mich an ein leere Bett führten,
in das fie mid) halbausgekleidet hineinftedten. Die Erinnerung
an das Bittern des Feldbetts unter meinem vom Sieber auf
und ab geichleuderten Körper, und das Wort einer nicht freund-
lihen Stimme: Ich habe geglaubt, es ſei ein Preuß, weil er
gleich über und räfoniert hat! find meine legten Erinnerungen.
Als ih nach dreitägigem Fieber wieder denlen konnte
und mid zu erinnern begann, war id) in einem andern, größern
und hellern Saal, wo drei lange Reihen Betten mit Verwundeten
und Kranken ftanden. Ich richtete mich auf. ber meinem
Kopfe hing ein ſchwarzes Täfelchen mit Gefreiter X, fünftes Re⸗
giment, zweite Kompagnie, Kopfihuß, ſchwer. 38%. Sch ſchaute
mid) in dem Saale um und fah eine ganze Anzahl von Augen
auf mid) gerichtet. Wer in Lazaretten gelegen hat, Tennt dieje
ftillen Blide, die von Gefichtern außgehn, die tief in die Kiffen
gedrücdt find, in denen die Begierde liegt, zu ſehen, zu erleben,
die Leere dieſes Krankendaſeins auszufüllen; fie bitten, fie fragen,
oft folgt ein verftändnisvolles Winken, und dann nad) einiger
Beit wendet fi) der Kranke um und fieht nad) der andern Seite
und atmet tief auf, wie enttäujcht von der Vergeblichleit dieſes
Ausſchauens.
Dieſes erftemal blieben aber alle Blicke an mir haften,
denn ih war ja ein „Neuer,“ man batte mich biäher nur tief
Natzel, Slüdstnfeln und Träume 13
194 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
—
in den Kiſſen liegen ſehen und höchſtens im Fieber ſprechen hören.
Bon ganz Hinten her rief ſogar eine Stimme: „&uten Tag,
Fünfer. Bift aufgewacht?“
Ich jah den Rufer nicht, antwortete: „Sa, faft,“ wobei ich
bemerkte, daß meine Stimme ihren lang verloren hatte, und daß
die aufgerichtete Lage mich ſchon müde machte. Ich ſtreckte mich
wieder bin. Nach einiger Zeit legte fi) eine warme Hand auf
die meine; e8 war der Stabsarzt, der mir ben Puls fühlte, die
Zunge beichaute, die feuchte Stirn betaftete und zu dem Kranken⸗
wärter fagte, er möge heute Abend genau die Wärme aufzeichnen.
Das Fieber fei im Abzug, und für morgen fei das Material zur
Erneuerung ded Verbands zu beforgen.
Denfelben Abend jah ich einen andern Mann vor meinem
Bett figen, der meine Hände mit den feinen zufammenlegte. Ich
meinte, es fei eine von den vielen Geftalten, die ich im Sieber
gejehen Hatte, glaubte ihn aber beten zu hören, und als er ge
gangen war, lag ein Kleine Buch auf meinem Bett, ein Neues
Teftament. Ich Habe ed aus dem Lazarett binaußgetragen und
in der Welt umbergetragen und habe e3 biß heute in Ehren
gehalten. An dieſem Abend war es zu fpät, darin zu lefen, doch
gewährte mir ſchon Das, dab ich e& in der Hand hielt, eine
eigentümliche Befriedigung; es war mir, wie wenn aus dem
Heinen Buch eine Hoffnung in mich übergegangen fei, die Diefe
Stunde unmittelbar an die eriten ſchönen Stunden des Morgens
fnüpfte, wo id) mit dem Händebrud des Hauptmanns von Le
Berfoir weg und in den Sonnenmorgen hineingefahren war, und
vergaß, wie mid) damals der Froſt durchichnitten und ftarr
gemacht Hatte, und mie ſchlecht ich zuerit im Lazarett anf-
genommen worden war.
Ach müßte lügen, wenn ich fagen wollte, ich fei als gläubiger
Ehrift in den Krieg gezogen, war vielmehr, mie meine ganze
Generation, vom Zweifel gründlich angeftedt. Aber fchon beim
eriten Feldgottesdienft Hatte ich erfahren, daß wenn vieles im
Kriege zum Fluch wird, viele auch die Hände zum Gebet zu⸗
fammenzwingt. Wieviele Gebetsitimmungen in ftillen Nächten,
an friedlichen Abenden, die laute Kämpfe beichließen! Hätte doch
das gewöhnliche Friedenslebeu joviel davon. Man muß es er-
fahren, wie eine andädhtige Stimmung unjer ganzes Dafein und
unjre Mitwelt in eine reinere Sphäre weit über Blut und Rauch
hinaushebt, und wie in großer einfacher Stille einer Sternennadt
Kleines und Störendes verſchwindet.
6. Im Lazarett 195
rn. 2
— — / — — —
Heute ſenkte ſich dieſe Stimmung über mich wie das Abend⸗
rot dieſer Tage voll verzehrender innerer Hitze, freundlich klangen
deren wilde Phantafien in die goldne Stimmung dieſes Abends
aus. Den nächſten Morgen, nad) dem erften tiefen erquidenden _
Schlaf, Abnahme und Erneuerung des Verbandes, wobei ber
Generalarzt, der zugegen war, mir die Frage vorlegte, ob ich
das jchöne Loch in der Ohrmuſchel behalten wollte, um künftig
eine Zigarre darin zu tragen, oder ob das Ohr an den Kopf
angeheilt werben ſollte? Ohr für Nichtraucher märe mir lieber.
Gut; aber den Kopfihuß, der ben Processus mastoideus glatt
mitgenommen bat, wollen wir jehr forgfältig behandeln, bemm
da iſt nur noch ein Fartendides Knochenblatt zwischen der Luft
und dem Gehten. Ein Millimeter tiefer, ımd Sie lägen jebt
wo anders.
Wieviel Schmerz, Sehnſucht, Enttäufhung bis zur Ber-
zweiflung, aber auch Hoffnung bis zur kühnſten Illuſion lebt
und ſtrebt zuſammen, wühlt und bohrt in einem ſolchen Lazarett⸗
faal! Aber fo wie, rein körperlich und äußerlich genommen, wenig
von dem allen fi) laut Luft macht, ſodaß eine gewiſſe gebrüdte
Stille, in der jedes laute Wort auß Furcht, hier doppelt laut zu
fingen, zum Flüftern wird, für gewöhnlich über dem Kranken⸗
faale Liegt: fo ift aud) in den Seelen dieſer vielen Kranken mehr
Ergebung, als der vermuten möchte, ber ihre Leiden Tennt ober
ihre Wunden fieht. Es iſt ein Bild des Lebens und eine Lehre
fürd Leben, wie jeder Einzelne das Befte aus feiner Lage, auch
aus diefer Lage, zu ziehn ſucht. Dan begreift nun erft, daß ber
Menſch leben will, was ed auch Eofte, und in welche Zukunft
hinein auch immer fein Leben gerichtet fei. Das Leben bes
Menſchen ift eine von den Pflanzen der Flora subterranea, bie
auch in den dunkeln Kellern und Bergwerksſchächten fo gut wie
im goldnen Sonnenlicht gedeiht; aber aus dem Licht wie aus
der Dunkelheit treibt und rankt es nach oben, nirgends wächſt es
zur Wurzel zurüd; und wenn feine Blüten fo ein und un-
Iheinbar find, daß man fie faum fieht, und feine Früchte nie
zur Reife kommen zu wollen fcheinen: es Inofpen die Blüten und
reifen die Früchte, und Die Hoffnung forgt, daß es nie aufhöre.
Hier Haben fie fid) mit ihrem Schickſal außeinandergefebt, mandje
jogar mit dem Leben abgefchloffen. Die Zeit heilt! Welcher
Gegenſatz zu dem Stöhnen, Seufzen und ben Jammerrufen berer,
die der Tod auf dem Schlachtfeld überrafcht oder hart geftreift
bat. Auch das Schredlichite der Schlachtfelder und der Feld⸗
13*
196 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
fazarette, die verzerrte und verfrümmte Lage, in denen der Körper
mitten im Kampf mit der entfliehenden Seele plötzlich erftarrt
zu fein fcheint, gibt es bier nicht. Auch wiegt in der Farbe der
Gefichter und der Hände die gelbliche Blaßheit des blutlofen, zu
lange der friſchen Luft entzognen Lebens über die bläulihen und
Ihmwärzlihen Töne der Todesnähe vor. Die blauen Ringe um
die Augen, die ſchwärzlichen Lippen, der fahlblau ftiere Blick ſind
jelten; auch das gedunjene Bläulichrot manches dem Tode ver⸗
Tallnen Antlites fieht man glüdlicherweije nicht oft. Aus den
lebendigen Augen der Kranken, die einander ftill fragend anfehen,
itrablen, jo trüb fie manchmal bliden mögen, eine Lebenshoffnung
und Lebensluft in die gedrüdte Luft der Säle eined Lazaretts
au, und nur wie ein letztes Wetterleudhten bed Aufbäumens
gegen dad Schichſal zudt es jchmerzli um manden Mund.
Diejeß Lazarett hier, in einem großen Mittelpunkte des
Verkehrs, beherbergt ſchwer und leicht Bermundete, Genejende
und auch einige Aufgegebne; die einen find da, weil es ſich nicht
lohnt, fie weiter zu befördern, die andern, um auf Weiterfendung
in die größern Krankenhäuſer weiter rückwärts zu warten Es
iſt ein Zufall, daß in unferm Saale feine Franzoſen find, aber
von Deutichen find alle Stämme und alle Waffengattungen ver⸗
treten, unb die Altersitufen heben fi) von einem weißhaarigen
Schleswig-holfteiniichen Marketender biß zu dem adjtzehnjährigen
Schüler einer Unteroffizierfchule ab, der den linken Arm verloren
hat. Es ijt eine furdhtbare Summe von Sorgen und Schmerzen,
die hier verfammelt if. Wenige werden den äußern Frieden,
der über dem Ganzen liegt, mit ſich, im fich tragen, wenn fie
dieſes Haus verlafjen. Für die meiſten wird es ein jtiller Durch⸗
gangspunkt zwilchen zwei Stürmen gewejen fein; fie ahnen das
wohl und dämmern diefe Pauſe jo Hin. Für die Fieberkranken
ift e8 anderd. Die unter den ſchwerſten Formen litten, lagen
nicht in demjelben Saal. Uber bei meinem Nachbar zur Rechten
entwidelte fi) dad dumpfe Brüten und Schlummern in unjäg-
liher Müdigfeit zu einem regelrechten Tuphus, deifen Fieberhige
ihn Nachts aus dem Bett und auf die Gänge hinaustrieb, ſodaß
wir ihn oft mit Gewalt zurüdführen und ind Bett bringen
mußten. Zweimal fand ich ihn des Morgens neben feinem Bette
auf dem Boden liegen oder kauern. Mein Nachbar zur Linken
ging in faft beftändiger Bewußtlofigkeit glüdlicherweile dem Tode
entgegen; ihm hatte ein Schuß quer durchs Geſicht beide Augen
und das obere Stüd des Nafenbeins glatt herausgeriſſen. Ich
6. Im Lazarett 197
IE IB DL LI 2 IHN LE L — CS CLDB —— — L GA G HD ED
übte mich im Anfchauen einer der grauenhafteiten Wunden, indem
ih mehrmal® am Tage bei feinem Verbande half.
Daß beide Nachbarn meiner Hilfe jo nötig bedurften, übte
einen jehr günftigen Einfluß auf mein eigne8 Befinden, denn
nachdem die erften Fiebertaumel vorüber waren, ftand ich jo oft
wie möglich von meinem Lager auf, um ihnen Keine Dienfte zu
leiften, und gewöhnte mid) jehr bald daran, von früh bis fpät
tätig zu fein. Mein rechter Nachbar mit der Schußwunde im
Geficht war wohl aud im gefunden Zuſtand kein Adonis geweſen,
darauf ließen feine Knollennafe und feine entſprechend aufgeworfnen
Lippen fchließen; ich konnte mir den Kleinen, breiten Füſilier auch
nicht als Heldengeftalt vorftellen. Wenn ich mid nun mit jedem
Tage mehr an diefen ftummen Gaft anſchloß und mich innig freute,
daß er meine Hand nidht mehr Loßlafjen wollte, wenn ih ihm
Stirn oder Hände berührte, hatte ich Anlaß, darüber nachzudenken,
dab es nicht bloß eine Aſthetik des Häßlichen, ſondern auch eine
Ethik des Häßlichen, eine Verklärung durch die Seele gibt, die
fi) gleihfam herausringt und ſich über abjtoßende Züge lagert.
Eined Morgens jehr früh trug man diejen Armen hinaus,
ber till Hinübergejchlummert war, wie er dagelegen Hatte; das
einzige, was id) von ihm noch vernommen Hatte, war dag Ächzen
ſeines Bettes, als er fich fterbend ausftredte. Mein Nachbar zur
Linken war in den Zuftand unfäglicher Müdigkeit zurüdverfallen,
in den ein fchwerer Typhus ausläuft, und brauchte jo jorgjame
Pflege, daß er in einen bejondern Saal umquartiert wurde, wo
barmberzige Schweitern der jchweren Aufgabe der Wartung fait
unbeweglicher Rekonvaleszenten oblagen. Die beiden leeren Betten
wurden von einem oftpreußifchen Jäger und einem bayriſchen
Pionier beſetzt; der erfte war infolge eines Säbelhiebes in den Hals
einjeitig gelähmt gewejen und war nun nach Monaten joweit ge-
nejen, Daß er bald zu feiner Truppe zurückkehren konnte; der andre,
ein blonder, jchwerfällig gutmütiger DOftfranfe, war durch eine
Pulvererplofion der Hälfte jeiner Kopfſchwarte verluftig gegangen,
wodurch ihm eine lächerliche, einfeitige Glaße, umgeben von einem
Kranze weißer Härchen, auf feinem blondgelodten Langſchädel
entitanden war. Der Dftpreuße war das reine Quedfilber und
von der Manie des Theaterfpielensd in ſolchem Grade beſeſſen,
daß er des Abends, wenn die LXichter vorichriftsmäßig gelöſcht
waren, auß dem Bette aufitand und unter Monologen auf und
ab wanderte, twobei er vor dem Bette von denen Halt machte,
denen er zutraute, daß fie feine Kunſt würdigten. Wie oft habe
198 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
ih den Ritter Baudricourt von Baucouleurd und Wallenſteins
düftre Reden von ihm jchnarren und gröhlen hören!
Der fränkiſche Pionier war vom erften Tag an beliebt im
ganzen Saale, freundlich und hilfreich gegen jeden, dabei aber
von einer jo fomilchen Verehrungsſucht befallen, daß er fogar
für „den legten Trainjoldat“ komiſch wurde. Bon Offizieren,
angefangen vom portepeetragenden Vizefeldwebel, ſprach er in
einem ganz andern Ton als von der ganzen übrigen Welt, und
zwiſchen einem Korpskommandanten und dem lieben Herrgott war
in feinem Urteil kaum ein merklicher Unterſchied. War gar von
Bürftlichleiten die Rede, fo legte ſich fein ganzes Geficht in tiefe
Zalten, verlängerte fi), Die Augenlider ſanken herab, und feine
jungen Härchen fchienen fich rings um die Slate ehrfurchtsvoll
zu erheben. Ein badiſcher Unteroffizier, der nach ihm verwundet
hereinkam, fühlte ſich allein, al8 Mann der Autorität, eng mit
ihm verwandt und nahm ihn in Schuß, wenn feine Fürſten⸗
verehrung durch Erzählungen von angeblichen Begegnungen mit
Hoheiten und Durchlauchten künſtlich wachgerufen und verjpottet
werden wollte. In dem Mann ftedt jo viel Disziplin, daß man
aus euch allen gute Soldaten damit machen Tünnte... . nein,
verbejlerte er ih, als ihm unwillige Proteite und Ho! und
Holla! entgegenklangen, daß man die ganze franzöfiiche Armee
damit impfen Tönnte.
Es war jeßt Dezember geworden, und der frühe Winter
angebrochen, der den Soldaten beider Seiten namenloje Strapazen
auferlegt, den deutichen Feldherren aber ficherli ganz weſent⸗
lichen Borteil gebradjt hat. Die Sehnſucht, hinauszukommen, wurde
etwas gemildert durch das Behagen, mit dem man vom warmen
Zimmer aus die Schneefloden wirbeln und die kalten Stürme
braufen hörte. Der Aufenthalt in Diefem Siechenheim hatte zu⸗
zeiten jogar etwas Anheimelnded. Des Morgend, wenn der
große ſchäumende Keſſel Liebeskakao in die halbkugligen, zwei⸗
ohrigen Taſſen ausgeſchenkt und die langen, knuſprigen franzöftichen
Brote zerbrochen und ausgeteilt waren, und wenn dann alle,
die das Bett nicht verlaſſen durften, mit Arznei verſehen oder
verbunden waren, ſetzten wir „Mobile“ und um den eiſernen
Dfen, ftarrten in die Glut und erzählten uns vom Negiment, von
Haus und Heimat und bejonder8 von unfern Hoffnungen auf
baldige Evakuation und Rückkehr, ſei e8 zu der Truppe, fei es
nad dem Ende des Kriegs in die Heimat. Es war eine bunte
Geſellſchaft; der trug feine Uniform, der einen Lazarettmantel,
6. Im Lazarett 199
der den abgeſchoſſenen Sommerrod eines jchleswig-holfteiniichen
Marketenders, der im Lazarett geftorben war: eine gelbe Joppe
mit einem wunderſchönen grünen fchrägen Streifen über die Brut,
der von dem Bande der Provianttaihe des Marketenders her-
rührte, das dieſen Zeil vor den Sonnenftrahlen geſchützt batte;
der ging an Früden, der am Stod, ein dritter trug den Arm
in der Schlinge, ich jelbft Hatte den Kopf noch mit Binden und
Watte big zur Größe eines beträchtlichen Kürbiſſes umwunden.
Mütze und Uniform hatte ih ſchon am dritten Tage wieder an-
gelegt, nachdem die auffallend glänzenden fteifen Blutflede mit
warmem Waſſer erweicht und etwas weggejäubert waren.
Man hätte glauben follen, in dieſem Kreife habe der Krieg
mit feinen Wechjelfällen das Tagesgeſpräch abgegeben. Das war
aber nicht fo. Der Einzelne jprady von dem, was er erlebt und
getan hatte, von feinem Nebenmanne und von feinen Kameraden,
mit befondrer Vorliebe von feinen Offizieren; über das Bataillon
ragte fein Gefichtöfreis meift gar nicht hinaus. In das Lazarett
famen nur alte Zeitungen und neue Gerüchte, und da fidh Die
Gerüchte in der Regel als unmwahr erwieſen, beſonders wenn fie
von den Bäderjungen, Wäjcherinnen und andern Organen der
öffentlichen Meinung der Stadt jtammten, machte man fein großes
Weien davon. Nur die Üngftlihen Hörten immer wieder mit
Teilnahme zu. Übrigens war es ganz gut fo. Es war zwiſchen
der Einnahme von Metz und den großen Schladhten an der Loire
und der Somme eine Dürftige Zeit, zwilchen zwei großen Epochen
des Kriegs; das neue Große, das endlich mit dem Fall von Paris
abſchloß, war erft in der Vorbereitung. Uns kam das wie
Stodung, den Sranzofen wie Ermattung und Rüdgang vor. Bon
dem, was in unjrer Nähe vorging, wußten wir gar nichts, als
was Verwundete und Kranke berichteten, die ind Lazarett gebradjt
wurden. Da hörte man immer nur von Fleinen Vorpoftengefechten,
bon einzelnen Zügen ind Land hinein, von Bufammenftößen, bei
denen in der Pegel nicht einmal die Kanonen mitfpradhen. So
etwas hatten wir felbft alle genug mitgemadt. Ein Musfetier
vom dreißigften Regiment, ſeines Beichend Bergmann aus der
Saargegend, mit dem ich mich oft vor der Dfenglut über all-
gemeine Dinge unterhielt — Bergleute grübeln gern, fahren gern
in dunkle Gedankenſchachte oder -itollen ein —, fagte einmal ganz
treffend: Sch würde alle drum geben, wenn ich einmal einen
Bergmann träfe, mit dem ich von Kohlen und Eijenerz oder
vielleicht gar von Neunfirchen oder Saarbrüden fprechen könnte;
200 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
dagegen das Soldatengefhwäg iſt mir ſchon ganz zuwider. Wir
find eben doch alle hauptſächlich friedliche Arbeitsmenfchen, der
die8 und jener daß, die Uniform figt und nicht auf der Haut,
fondern da8 Hemd. Ahnlich dachten wohl viele. Auch folchen, die
nichts von Kriegsmüdigkeit Außerten, merkte man e8 an, daß ber
rechte Soldatengeift nur in ununterbrochnem Kontakt des Einzelnen
mit Vorgefehten und Kameraden gedeiht; er ift fein Erzeugnis
einfamen Nachdenkens, jondern gemeinſamen Handelns und Leidens
einer ftraff organifierten Mafje, in der jeder feinen Platz und
feine Pflicht Tennt. PVereinzelung und Trägheit lodern ihn un⸗
fehlbar. Ich Habe mir ſpäter oft Gedanken darüber gemadht, wie
weit folhe Erfahrungen auf das friedliche Leben der Völlker
Anwendung finden können; ohne mich als Staatöweijen auffpielen
zu wollen, wage ich die Behauptung, daß fich viele Völker unter
deſpotiſcher Negterung, die jedem jeinen Pla und jeine Pflicht
gegeben Hatte, glüdlich fühlten, auch wenn fie e8 aus falſchem
Stolz auf Freiheit nicht Wort haben mollten.
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2. Ars moriendi
Wie leicht ift Doch der Tod! Was und von ihm trennt,
find nur eingebildete Hinderniffe. Nein Gebirge, feine Mauer
erhebt fich zwiſchen ihm und uns, es geht ganz eben in das
große dunkle Tor hinein. Tränen können den eg ſchwerer
machen; wir wiflen ja aber, wie bald fie trodnen, und wie groß
die Erleichterung des Herzens ift, das ſich ausgeweint hat. Die
Hauptſache ift, daß wir einmal mit uns ſelbſt einig geworden
find, dem Gang der Dinge ruhig zu folgen. Je mehr wir ung
an den Zod gewöhnen, deito Kleiner werden die Schranken der
Emigleit. Wer den Tod nicht gefehen Hat und eben deswegen den
Tod fürchtet, dem ift das Jenſeits mit einer ungeheuer großen
Tür verihloffen, die über und über mit ſchweren ſchwarzen Platten
verfchlagen ift; fein Blick prallt erſchrocken zurüd. Wer den
Tod oft gefehen hat und vertraut mit ihm geworden tft, für den
gibt es höchftend noch einen blühenden Hag zwilchen bier und
dort; fein Blick ſchweift hinüber und nimmt dort noch ſchönere
Dinge wahr als bier, und er muß ſich halten, daß es ihn nicht
mit Macht auß dem Leben binauszieft. Es ift eine häßliche
Sache, die Abneigung des gewöhnlichen Lebens auch fchon gegen
6. Im Lazarett 201
das Neden vom Tod, kurzſichtig wie alle Feigheit; denn im
Grunde wird das Leben nur um fo jchöner, je todbereiter es
it. WIN man vielleiht nur nicht daran erinnert fein, daß Der
Borhang jeden Augenblid heruntergehbn könnte? Oder iſt es
eine fchlaue Berechnung, die um feinen Preiß das Leben ent-
wertet ſehen möchte, daS doch für den Philifter das Wertvollite
von allem ift?
Ich freue mich nad) dieſen vielen Jahren noch, daß mir
Nekonvaleszenten im Krantenhauje der Barmberzigen Schweitern
zu Nancy in der Behandlung der Todesfrage eine echte Philo-
fophenjchule waren. Faſt alle, die da verfammelt waren, hatten
dem Tode oft ind Auge geichaut, Hatten jo viele fterben ſehen,
Sterbende lagen ringd um ung jeden Tag. Wie hätten wir es
ablehnen mögen, vom Tode zu jprechen? Außerdem waren aud;
echte Chriften unter uns, die aus religiöfen Gründen das feige
Haften am Leben nicht Tannten, das bei mehr Menſchen, ald man
glauben mag, Urſache und Folge des Fernbleibens von der Kirche
ift. Dazu gehörte auch die blafje Schweiter Eulalie, deren dunkle
Augen tiefer und größer wurden, wenn von dem lebten Augen⸗
blid Sterbender die Rede war; fie hätte davon erzählen Tünnen,
Doc zog fie dor, an eine Bettkante gelehnt till zuzuhören,
da8 einzige mal des Tages, wo die immer SHeitere ihr Wert
unterbrad).
Gefreiter, was Heißt denn das moribund, das die Arzte
auf die Täfelchen fchreiben, die fie auf den Schladhtfeldern den
Schwerverwundeten anhängen?
Daß bedeutet zum Sterben beftinımt. Wenn ein Arzt einem
fo ein Xäfelhen anhängt, lafjen ihn die Kranfenträger in der
Regel liegen; der ftirbt dann bald.
Angenehm, wenn einer daß lieft, den es betrifft.
Das wird wohl jelten vorkommen.
Nun, ich habe es doch erlebt, daß wir in ©ravelotte einen
achten Jäger, einen rheiniichen, aufheben wollten, der noch Lebens⸗
zeichen gab; der winkte mit feiner lebten Kraft ab und fagte
leife: Dante, moribund.
Der iſt alfo gern geftorben.
Sa, jo ſchien es. In diefer Lage! Als unfer Rückweg
ung bei ihm vorbeiführte, lag er genau fo, wie wir ihn verlafien
hatten, muß innerlich verbiutet geweien fein; er ſah nicht anders
aus wie ein blaſſer Kranker; als wir ihm die Mugen zubrüdten,
ſchien er zu ſchlafen. Die Wunde Hatte er im Genid.
22 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
Eigentlich feine ſchöne Wunde. Aber damals mwirbelten die
Kugeln nur fo herum; in den Bäumen vor der Ferme Hubert,
unter denen wir zulegt lagen, ward manchmal nicht anders wie
Bogelgezwitiher. Da konnte einer aud im Genick verwundet
werden. Schuß vom Nüden in den Magen ift auch nicht gut,
und es gibt noch Ichlimmere.
Ganz richtig. Ich jage: je weiter herunter, deſto ſchlimmer.
a3 fagt ihr zu einem Schuß in die Ferſe, an dem ein Dragoner,
Landsmann von mir, geftorben ift?
Sch Habe aber vom Yeldzug von 1866 erzählen hören, da
ift ein Sergeant unſers Regiments an einer Berquetichung einer
einzigen Behe geftorben. Und wie hatte er die abgelriegt? Ein
Fahrkanonier, deſſen Handpferd ftürzte, hatte ihm beim Abſpringen
mit folder Gewalt darauf getreten, daß die Zehe nur noch ein
Brei war; dann ſchwarzer Brand und Tod.
Das ift freilich Pech.
Sollte mid) noch eine Kugel treffen, wenn ich wieder bei
der Kompagnie bin, dann möchte ich fie gerade fo von born
haben wie die legte: Kopf, Bruft, Oberarm, daS find Die
Teile, mo eigentlih Wunden fißen müſſen, dann ift der Menich
richtig gezeichnet, alle andern fommen mir wie neben hinausge⸗
gangen vor.
Höre, Badiſcher, verjündige dich nicht.
Kein Gedanke, ich meine eben auch, die Kugeln fliegen nicht
fo zufällig in der Quft herum, jede hat ihren gewiejenen Weg,
wie alle im Leben.
Rum, dad find jo Ideen.
Übrigend, fing jebt ein Dreißiger von der Saar an, was
ihr vorhin vom Sterben gejagt habt: es ift keine befondre Kunſt,
fo gleihmütig zu fterben, wenn man nur ein gehöriged Quantum
Blut verloren Hat. Je weniger Blut, je weniger Lebensluſt, fie
verraudt mit dem warmen Blut, wie es berausfließt. Indeſſen
gibt es auch font, meine ich, noch manche, die willig jterben.
Ja, glücklicherweiſe gibt es fie immer. Es gibt meldhe, die
gern in den Krieg gegangen find, weil fie fich fonft ohnehin
eine Kugel in den Kopf gejagt hätten; jo können fie ed num
ehrlicher haben. So mandyer arme Kerl kriegt Briefe, die ihm
die Luft verleiden, nad) Haufe zurüdzulommen, ungetreuer Schatz,
ruinierte Eriftenz und dergleichen.
Immerhin Ausnahmömenjchen, meinte der Theolog. Jeder
will leben, auch verjtümmelt will er weiter leben, die Natur bat
6. Im Lazarett 203
— — RD —— — LE DKL LS. 0020 002000000.0.000 0 000 —— — LOL:
e3 jo in den Menjchen gelegt. Und doch: was ift unfichrer als
Zuft und Leben, und was kann gewifler fein als Not und Tod?
Der Menſch jet auf das gefaßt, was ihm beitimmt ift, und vor
allem der Soldat fei von denen, die ihr Leben nicht lieb Haben
bis in den Tod. Er foll bereit fein, es jeden Augenblid freudig
Hinzugeben. Das kann aus Pflichtgefühl geichehn, wie es uns
gelehrt wird; es iſt aber fchöner, umd es gelingt ihm vielleicht
beifer, wenn er feinem lebensfrohen Herzen zufprecdhen Tann:
D Herz, o Herz, verzage nicht,
Aus Naht, aus Nacht der Morgen bricht!
Das Sterben iſt jedenfall8 an und für fich nicht ſchwierig.
Die meiften, die bier geftorben find, find wie in einer fchönen
Müdigkeit hinübergefchlafen. Müde zum Sterben, müde biß in
den Tod, was man fo jagt, ift etwas ganz andres als die Er-
fhöpfung des Aufgeregten, Sorgenvollen, dem fein Schlaf mehr
naht; Diefe hat den leeren Blid, das Troftlofe und das Hoff-
nungslofe in den Augen, die zwar eingefallen find, aber immer
no leuchten. Die Augen de in den Tod bineindämmernden
hauen oft groß und voll Ergebung aus friedvollem Geſicht, öfter
find fie verjchleiert; ihr Blick trübt ſich langfam, fie fehen nichts
bejtimmtes mehr, find der Welt der fichtbaren Dinge ſchon ab-
gewandt; vielleicht fieht die Seele jchon innen mehr, oder es
dämmert ihr innerlih zum Tag Hin, während auf die Augen
der Schatten ſinkt. So fterben die meiften todmüde, fie wollen
nicht8 mehr von der Welt wiſſen, lange ehe der erfte fühle Hauch
des niederſchwebenden Todes fie berührt hat. Bei Verwundeten
babe ich Todesangft nur entftehn jehen, wenn das Blut Leinen
Ausweg hat; beim Ausfließen des Bluts Tehrt Ruhe und Heiter-
feit ein. So ruhig jterbende follte man nicht mit Fragen jtören.
Man fteht dann in dem verglaften Auge noch einen Willen, ſich
zu erinnern, feſtzuhalten; aber dieſer Blid irrt ab, zerfließt ins
Weite. „Laßt mich doch ruhig fterben!“ fcheint er zu jagen.
Was baft du gedacht, Gefreiter, ald du den Bahndamm
Hinunterrollteft?
Davon weiß ich nichts. Meine lebte Erinnerung war der
Zon einer großen Glocke, an die jemand in meinem Kopfe fchlug;
das war der Riß im Trommelfel. Wenn ich nachdente, ver-
bindet ſich dieſer Ton mit dem grellen Licht des Gewehre, das
mir gerade ind Geficht Hineingefchoffen wurde. Uber es ift
möglih, daß id) mir da8 nur jo hinzudenke. Dagegen ijt mir
204 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
ganz deutlich, daß mein erfter Gedanke beim Aufwachen aus der
Ohnmacht das Bedauern über den Schmerz meiner Mutter war.
Merkwürdigerweije bedauerte ich gar nicht, daß ich fie nicht wieder
jehen würde; und doch glaubte ih in diefem Augenblid mit
einem Schritt im Jenſeits zu ftehn.
Das ftimmt, fagte der bayriſche Unteroffizier. Bei Kiffingen
erhielt mein unter, der den Zug führte, einen matten Granat⸗
iplitter, der ihm aber immerhin noch einige Rippen eindrüdte,
und er erzählte, fein leßter Gedanke fei geweſen: Du wirft deine
Eltern nit mehr jehen! Und von einem, ber faft ertrunfen
wäre, babe ich gehört, er habe ſich zuleßt im Sarg liegen und
feine Eltern davor betend knien jehen.
Man erzählt, daß manche Menfchen ſogar ihr ganzes Leben
in den paar Selunden haben vorüberziehn ſehen, in denen fie
bon einem Berg ftürzten oder am Ertrinfen waren. Sie be-
johreiben e8 wie ein ungeheuer raſches und langes Defilieren der
verichiedenften Eindrüde, bedeutender und unbebeutender, und
wenn fie aus der Todesnot erwachen, hat die ganze Vorftellung
nur Selunden, höchſtens eine Minute gedauert. Einige erzählen
au von dem Aufeinanderfolgen ganz bejtimmter, voneinander
gefonderter Bilder einzelner Szenen aus ihrem Leben. Ein
württembergifcher Unteroffizier war am Abend des 6. Auguft
bei Niederbronn von einer Kugel, er wußte nicht woher, in bie
Schulter getroffen worden; er glaubte jogar, es fei eine berirrte
deutfche Kugel geweſen; fie ging dur. Er hätte fich verbiutet,
wenn er nicht zufällig vor der Nacht aufgehoben worben wäre.
Wie er nun jo dalag und nur noch das Rollen der den fliehenben
Franzoſen nachfegenden Geſchütze, das Pferdegetrappel und ben
Eilmarſch der Kolonnen hörte, aber nicht wie vom Boden, fondern
als auß der Luft kommend, fühlte er ſich plößlich ganz ver-
wandelt und wie in eine andre Welt entrüdt. Eben hatte er
noch mit Bedauern gedadht: Das Leben geht dahin, du wirft
gleich tot fein, da fieht er in einem lichten Raum, ber fich un-
geheuer weit auftut, alle Menichen vor fi, die er jemals ge=
kannt hatte, und zwar faft genau fo, wie fie in fein Leben ein-
getreten waren oder es geitreift hatten; alle tun daß, was er
fie einmal Hatte tun jehen, Ehepaare und Kinder ftehn neben-
einander, der Lehrer unterrichtet, der Geiſtliche fegnet ein, und
unfer Halbtoter fieht ſich felbft in der Kirche und in der Schule.
Es fehlt auch nicht an befannten Landſchaften, Häufern, Tieren.
Säfte fieht er im Wirtshaus Moft trinten. Alles ſchaut ihn
— ——⸗— ——
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6. Im Lazarett 205
ſo freundlich, ſo glücklich an, er hat das Gefühl, als winkten
ſie ihn mit den freundlichen Augen zu ſich hin, und den Tod
hat er vergeſſen, wollte nur noch gern ſein, wo es ſo hell
und ſchön, und mo alles Vergangne und Vergängliche jo gegen⸗
wärtig und jo friſch war. Er beichrieb die Schärfe und Die
Deutlichkeit dieſer unzähligen Bilder in Linien und Sarben als
etwas ganz außerordentliche. Als er fi) aber ergriffen, ge-
tragen und aufgemwedt fühlte, ohne ſich doch dem Schlummer ganz
entreißen zu können, fjchmerzte es ihn, daß das Zor in bie
Ewigkeit zuging, durch das er diefen ſchönen Blick gewonnen Hatte.
Nur eine Erinnerung aus der Wirklichkeit habe er fpäter damit
vergleihen mögen, nämlich den Blid in Die hellerleuchteten Weih⸗
nachtsſtuben mit dem brennenden Chriftbaum in feiner Kindheit.
Es wurde an dieſem Abend noch von manchen Todesarten
gefprochen, auch von weniger milden. Der Lazarettgehilfe, der
ftill, vielleicht bei manchen Erzählungen zweifelnd, zugehört hatte,
fchilderte das ächzende, heifere Gepfeife der Luft, Die durch durch⸗
bohrte Lungenflügel zieht, für das Leben verwüſtend wie ein
Sturm, an deilen Stimme dieſer unheimliche Laut erinnert, und
erzählte, wie ein Hauptmann in der Tobjucht geitorben fei, weil
man ihm den Spiegel verweigert habe, in dem er jein blattern-
zerfetztes Gejicht betrachten wollte. Der Theologe aber, fein frei⸗
williger Gehilfe, kam noch einmal auf Erlebniffe zurüd, die beweiſen,
daß die Nähe des Todes gewaltige und plößliche Veränderungen
in einer Seele bervorbringt, die den Tod kommen fieht. Es ift,
jagte er, wie ein plößliches Losgeriſſenwerden von der Klippe,
an der fie bisher gehangen Hatte, und ein Hinaufgetragenmwerden
oder Hinabgeriffenwerden mit den Wellen und in den Wellen,
ehe fie in die Tiefe geht. Geijtesfranfe, die feit Jahren Die
Gegenwart nicht erkannt und das Vergangne vollftändig vergeſſen
hatten, erwachen eineri Tag, zwei Tage vor ihrem Tode zum
vollen Bewußtſein, bedauern Fehler, die fie im Zuftande der
Krankheit begangen haben, beklagen die verlornen Jahre, bereiten
fi) in voller Geiftesflarheit auf den Tod vor. Man hat foldhe
‚Zeute jagen hören: Ich werde gejund, um mid) zum Sterben
borzubereiten. @eiftliche haben Beichten von einer wunderbar
Haren Erinnerung und einer tiefen Selbfterlenntniß von Sterbenden
empfangen, die vorher nicht imftande geweſen waren, eine Gedanten-
fette zu flechten. Die Siebernden, die tagelang, vielleicht wochen⸗
lang phantafiert Hatten, in vielen Fällen laut und ftörend, ja
gewalttätig, ſah man vor ihrem letzten Augenblid zu ſich kommen
206 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
— — — — — z
und bei Harem Bewußtſein ruhig fterben. Wo bin ich denn
bisher geweſen? Welche Dunkeln Wollen umdräuten mid), aus
denen ich feinen Ausweg fand? Nun ift e8 auf einmal hell,
und dieſes Licht ift jo mild, jo wohltuend, flüftert wohl einer von
ihnen, und ein paar Augenblide darauf geht er friedlich aus dem
Leben. Mit den Verwundeten ift e8 ja anders, bei ihnen, wenn
fie draußen auf dem Felde liegen und fi) nicht regen und nicht
rufen können, geht das Leben langjam in einen Traum über,
dem nicht felten der lange Schlaf bald folgt. Wenn fie aber
wieber erwachen und ihre Gedanken erzählen, wundert man ſich,
auf was für Ideen der Menich nicht Tommt, der mit dem Blut
fein Leben jo langjam binftrömen fühlt, und feine Glieder find
wie gelähmt, er Tann den Strom nicht ftillen. Halb mag er es
nicht, denn es wird immer bämmriger, traumhafter um ihn ber,
und dieſen Zuftand will er fefthalten. So lange fein Bewußtſein
noch Kar ift, jchließt er den Mund, atmet jo leife wie möglich,
bemüht fich, nichts zu denfen, damit nicht der Körper an Kraft
verliere. Es gelingt ihm vielleicht, die Gedanken von ben fernen
Dingen abzuwenden; in der Ferne mag es wohl manches geben,
woran er num gerade nicht denken will. Uber mm berührt
vielleicht Blut jeine Tippen, und an defien laue Süßigfeit knüpft
fi) fofort eine Reihe fonderbarer Gedanken. Nie ift mir auf-
gefallen, daß das Blut jo füß if. Wie fade jchmedt der Lebens⸗
faft. Das ift gar Fein Lebensſaft, das Leben ift ebenjowenig
darin, wie es in dem DI ift, ohne das die Mafchine ftille fteht.
Das Leben fteht der Beurteilung durch unire Sinne zu body,
und num erft durch den Geihmadsfinn. Da verliert ſich der
Gedankenfaden. Eine rote Welle verichlingt ihn, und auf dieje
folgt eine zweite rote Welle; ſchön fpiegelt fi) die Sonne in
dem Purpurglanz der feuchten Wölbungen. Schade nur, daß
der Schaum diefer Brandung an Blutſchaum erinnert. Iſt nun
das nicht wie eine Uhr? Wie Welle die Welle treibt, treibt
Stumde die Stunde, und fie wandeln an mir bin und hinab;
und das ift mein Leben.
Zwei Dinge, die dem Tode folgen, jollten nicht fein, begann
der Lazaretigehilfe wieder, der Starrirampf und die gebrochnen
Augen, fie jind der Schreden der Schlachtfelder. Iſt es nicht
wie ein graufames Spiel der Natur mit dem Menjchen, daß fie
ihn bei gewiflen Verwundungen fo Hinbannt, wie er gerade ſich
bewegte, ald ihn die Kugel traf. Wer einen Schuß in einen
beftimmten Zeil bed Gehirns bekommt, bleibt balbftehend oder
6. Im Lazarett 207
Iniend, mit erhobnem Arm, der nod) den Säbel oder da8 Gewehr
hält: daß graufige Gegenteil des Todesichlafs, von dem ihr ſprecht.
Und was die Augen angeht, jo fuchit du in dem frieblichiten
Geſicht, das vielleicht freundlicher lächelt al3 jemals im Leben,
mandmal jogar fpöttijch oder verſchmitzt zu lächeln ſcheint, ver-
geben? das Licht und die Sprache der Augen; du findeft mur
zwei trübe blaugraue Bälle, in denen feine Seele mehr wohnt,
in die fein Lichtſtrahl mehr eingeht. Dieſes Stieren ind Weite,
jo ftumpf, jo zwecklos, hat etwas unfäglich trauriges. Es ift fo
recht das Siegel des Todes. Tu jedem Geftorbnen den Gefallen
und drüde ihm die Mugen zu, dann erft kehrt der Schlaf ganz
bei ihm ein, ſchloß der Theolog.
Wir find jebt beim Ende angekommen, das ift unzweifelhaft
dad Grab. Faft jeder Soldat findet fein Grab, wenn auch nicht
jeder eins für fi. Soldaten paſſen nicht in ftille, tatenlofe Gräber,
wo Leiche neben Leiche liegt, jede in ihrer befondern Grube, und
feine etwas von der andern weiß; jo wie fie im Gefecht und
auf dem Marſche eine Maſſe bilden, mögen fie auch in einem
Mafjengrab ruhn, auf die Gefahr Hin, daß es am jüngften Tag,
einige Verwechſlung mit den Knochen gibt. Das abgebrochne
Neid, daS weggeworfne feindliche Faſchinenmeſſer oder Bajonett,
von einem Kameraden, der mitgeichaufelt hat, darauf geftedt, find
die pafjenden Denkmäler für ſolche Gräber. Keine Umſtände,
fein Aufhebens! Freund und Feind, die beide ihre Pflicht erfüllt
haben, indem fie ihr Leben ließen, mögen beieinander ruhn.
vür die Eltern ift es fchmerzlich, nicht am Grabe ihres Sohnes.
beten zu können, dafür werden künftige Geichlechter ben Hügel
ragen jehen, unter dem der Staub von Helden mobert, und ein
weitäftiger Baum wird darüber raufchen und raunen.
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3. Erzählung des Mobilgardiften
Eines Abends ſpät führte ein Lazarettdiener einen Kleinen
Franzoſen in den Kranlenfaal, er hielt ihn an einem Zipfel bes
Armels, wie um anzudeuten, daß der Mann ein Gefangner fel.
Er war in der Tat mit einem Gefangnentrandport von Le Mans
gefommen. Als ihm ein Zeichen gegeben wurde, daß er ſich auf
das lebte Bett neben der Tür niederlegen folle, das gewöhnlich,
wegen der Bugluft unbejeßt blieb, wankte er dahin, offenbar:
208 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
INTEL GT GL
ſchwer fußkrank; er mochte vom Froſt gelitten haben, und feine
Süße waren durch Umwidlung mit Schaffell in unförmliche
Klumpen verwandelt. Kaum nad einer Minute ftedte er unter
der Dede; heftige Schütteln, wie e8 den vom Froſt erftarrten
und übermübeten befällt, wenn er in Wärme und Ruhe kommt,
warf ben Armen auf und nieder. Al man ihm warmes Getränf
anbot, machte er ein Zeichen, daß er ruhen, nur ruhen wollte,
und ſchien mit der Zeit einzufcdhlafen. Am andern Morgen war
er mit unter den Erjten munter, bat um Leinwand und wuſch
und widelte feine Süße, die eine einzige Wunde waren. Obgleich)
ihm das Gehn ſchwer fiel, juchte er fich nühlich zu machen, trug
Holz zum Ofen, beobachtete umfichtig das Kochen des Waflers
und legte ſich erft zu Bett, als ihn der Lazarettdiener wieder
am Armel dahin führte. Der Lazarettdiener, der nie Pulver
gerochen hatte, war jehr beflilfen, dem Franzoſen zu zeigen, daß
er Gefangner jet.
Der Arzt Eonftatierte, Daß der Arme außer erfrornen Zehen,
die vielleicht noch zu retten ſeien, an einer merkwürdigen Art
von Ausfah leide, der von den Knöcheln am Schienbein hinauf-
fraß; das Übel war nicht ganz felten, follte angeblich nervöfer
Natur fein und wurde von einigen, die davon gehört hatten,
als ein Rüd- und Ausichlag ausgeftandnner Angſt bezeichnet. Dem
neuen Batienten wurde die zerlumpte und ſchmutzige Miſchung
von Moblotuniform und Bivilkleidern, in der er angelommen war,
mweggenommen und durch einen blaugeitreiften baummollnen
Sazarettanzug erjegt, in den er mit Behagen Bineinjchlüpfte.
Diefe Leute, die bei Vendome und Le Mans gelämpft hatten,
waren oft wochenlang nicht aus den Kleidern und Schuhen ge=
fommen; die Schuhe legten fie tatfächlih manchmal nicht ab, bis
fie ihnen in eben von den Füßen fielen. Das geichah aber
leider recht oft, denn das im Lager von Conlie gebildete jech-
zehnte Korps war ja nody mehr als andre das Opfer betrüge-
riſcher Lieferanten geworden, die es mit niedern Schuhen mit
Bappdedeljohlen und mit dünnen Mänteln aus fogenanntem
Shoddytuch außsftatteten, dad, wie fi) einer der Moblots aus⸗
drüdte, Löcher befam, wenn die Sonne darauf fchien, und fid)
wie ein Schwamm mit Waffer füllte, wenn es regnete. Abgeſehen
davon, Haben fi) Die angeblid) fo praktiſchen Franzoſen Har
gemadht, daß das ſyſtematiſche Bitvalieren, das abhärtend wirten
follte, der Reinlichleit des Körpers, der Kleider und der Waffen
höchft unzuträglich ift? Wer die Gefangnen von Le Mans oder
6. Im Lazarett 209
von Pontarlier gejehen hat, weiß, daß der Schmuß, an den fie
fi) gewöhnt hatten, eine der Urjachen ihrer Niederlagen geworden
ivar, denn er überzog alles, jogar das Gewehr, begünitigte alle
möglichen Krankheiten und drüdte ihre Selbftadhtung auf den
Nullpunkt hinab.
Unfer Heiner Yranzoje, der fih nad) dem Verluſt einer
Zehe, die faft von ſelbſt vom Fuße fiel, rajch erbolte, durfte num
umbergehn. Da ſah man jo recht, wie glüdlich er war, dem
Kriege entronnen zu fein. Man brauchte nicht eben Phyſiognomiker
zu fein, um ihm am Geficht abzulejen, daß er feine Yajer von
Soldatennatur in fi Hatte. Ein Kopf jo rund wie eine Kegel⸗
fugel, glatt geichoren, ein Geſicht, daS dazu beftimmt zu fein
fhien, unter günftigen Verhältniffen ebenjo vund zu werben,
rundliche Lippen, weit offne Augen mit berabfintenden obern
Augenlidern — kurz ein Kopf, den die Natur in einer heiten
Laune aus lauter Kugel⸗ und Kreisabjchnitten zuſammengeſetzt
zu haben ſchien. Und nichts im übrigen Bau des Körpers wider⸗
ſprach der Auffaſſung, daß der ganze Menſch, unter der Herr⸗
ſchaft eines Kugel- und Kreisſtils ind Leben gerufen, beſtimmt
jei, auf der ebnen Bahn des von Urahnen ererbten Berufs durchs
Dajein zu wallen. Und diefer leichten Bewegung lagen feine
Hemmmiſſe auf feiten des Charakters im Wege; er hatte fich eine
ungemein freundliche Manier in Fragen und Antworten, Be⸗
fcheidenheit und Zuvorkommenheit im Tun jeder Art angeeignet,
die feiner natürliden Gutmütigleit wohl zu Geſicht ftand. Unire
Leute hielten ihn deswegen zuerſt für dumm, aber feine Anjtellig-
feit belehrte fie bald eine Beſſern. Des Morgens und des
Abends las er in einem zerlefenen Gebetbüchlein Turze Gebete,
und die barmherzige Schweiter empfahl ihn und als „guten,
frommen ungen.“
Seine Sofdatenlaufbahn erzählte er mir in den Stunden,
die wir zufammen vor dem Dfen des Krankenſaals jaßen, etwa
folgendermaßen: Ihr jeid Soldaten, und in eurer Mitte bin aud)
th Soldat, weil ihr mich als foldhen gelten laßt. In Wirklich-
feit bin ich nichts weniger als dag, war aud) nicht Soldat, als
man mid) in Reih und Glied ftellte. Sch wurde es eigentlich
erft in dem Augenblid, wo wir und in La Xuilerie verteidigt
und verſchoſſen hatten und fpäter dann von euern Leuten ges
fangen genommen wurden. Da fühlte ich etwas von Liebe zur
Waffe in mir, juft da, wo fie mir genommen wurde. Im Grunde
Hin ih nur ein fimpler Landmann und wäre ed auch geblieben,
Hagel, Blüdsinfeln unb Träume 14
210 Bilder aus dem Kriege mit Sranfreidh
w.nn
wenn man mich nicht geziwungen hätte, in den Krieg zu ziehn. Ich
bin wahrhaftig nicht von jelbft gegangen. Eines Tages holte
mich der Maire, der nicht mein Freund ift, aus meinem Schaf:
tal — id bin nämlich mit Leidenfchaft Züchter — und jagte
zu mir: Bring deine Sachen in Ordnung, in drei Tagen mußt
du dich in Rennes ftellen, du kommſt zur Mobilgarde. — Ich
war wie vom Donner gerührt. Ach ſoll Mobilgardift werben?
Maire, du ſcherzeſt, das ift ja unmöglich, es ift lächerlich —
Nicht im geringften. Du meißt doch, daß alle gerufen werben,
die die Flinte tragen können? — Sa, id) habe fo etwas gehört.
Aber ein Soldat muß Mut haben, Maire, und ich habe nicht
eine Spur davon. Ich fage das dir umd werde ed jedem jagen,
der es hören will: beim erften Schuß werfe id mein Gewehr
weg und laufe, was ich kann. ch bin auß einer ganz unmili-
tärifchen Familie, mein Vater und mein Großvater waren Hammel
züchter, wie ich es bin; macht das nicht zum Kriegsdienſt un⸗
tauglid? — Mein lieber Mathieu, reden Hilft hier nichts. Wir
wiffen genau, daß du weder dein Gewehr wegwerfen noch weg-
laufen wirft. — Ich fchweige von den drei Tagen vor dem Ab-
marſch. Drei Tage darauf gingen wir nad) Rennes, zehn meiner
Nachbarn, die dasfelbe Lo getroffen hatte, nahmen denjelben
Weg, einige von Weibern, Rindern und Verwandten begleitet;
es war eine traurige Karawane; kein einziger ging gern. An
der großen Straße angelommen, fagten die Männer: Es taugt
nicht, daß wir mit Weib und Kind in Rennes einziehn, fenden
wir fie zurüd, fie müfjen fernen ohne uns auszulommen, wer
weiß, wer von uns zurüdfehrt? — Da wir nun allen waren,
bob fi die Stimmung, wir teilten einander aus der Feldflaſche
mit, und einige begannen zu rauhen, andre zu fingen. Einer
lagte: Mir ahnt fo etwas, als ob wir bald zurüdfehrten. Uns
fällt e8 jo ſchwer, nad) Rennes zu gehn, und das find Doch nur
25 Kilometer, nun bedenke, die Pruffiend find hundertmal fo
weit hergefommen und jollten nicht bie erſte Gelegenheit ergreifen,
nad Haus zurüdzufehren? — Wir hörten das gern, glaubten
es aber nit. Ich dachte: Franzoſen find nicht Preußen, und
Frankreich ift nicht Deutichland; wer in Frankreich ift, bleibt
gern darin.
Diefen Abend durften wir ung in Nennes zerftreuen; id;
fchlief bei einem Wirte, den ich fannte, auf dem Stroh. Am
andern Morgen empfingen wir alte Gewehre und begannen zu
ererzieren, empfingen auch Tornifter, die wir mit Biegeliteinen
RATE NEE ERSTER TRUE
6. Im Lazarett 911
beſchwert der Übung halber trugen, Uniformen erhielten wir
leider nicht, Die gab man uns erft viel ſpäter, als wir ſchon
über Tourd Hinaus waren. So marjcdierte ich denn in ber
blauen Blufe und im Strohhut, wie ich an jenem Abend vom
Ader mweggegangen war; meine Kleider zerrifien, mein Strohhut
war lächerlich im Regen und an den falten Tagen, die dann
folgten. Ich dachte: Das ijt der Krieg; im Kriege darf ung fo
etwas nicht kümmern. In allen andern Augenbliden dachte id)
aber nicht an den Krieg, jondern an mein Haus, meine Leute,
mein Land, meine Himmel. Hätte man mir früher eine Uniform
angezogen, fo würde ich mir vielleicht ein militäriiches Gefühl
angeeignet haben; jo aber wurde ich den Gedanken nicht los, daß
daß nur eine vorübergehende Sache ſei. Deshalb lief ih auch
nicht, als Uniformen angelommen waren, wie andre, ungeduldig
danadı, jondern wartete ruhig, bis man mich aufforderte, endlich
Blufe und Strohhut abzulegen. Dad kam daher, daß ich in
meinem Innern immer noch nicht glaubte, daß es Ernſt ſei; id)
Tor meinte, jolange id) meine Zivilfleider am Leibe hätte, fei
id) immer noch nicht ganz dem Kriegsleben überantiwortet. Und
bejonder8 der Strohhut erinnerte mid) jo an den Sommer, die
Sonne ſchien durch einen Riß in der Krempe, ich trug ihn, bis
man mi ziwang, ihn wegzuwerfen; da meinte ich den jchönen
Sommer, der dem Kriege vorangegangen war, und alle feine
Freuden und Hoffnungen damit weggeworfen zu haben. Und
richtig war auch gleich darauf der Winter da. Um 12. Oltober
fiel der erfte Reif, und nad diefem kamen die Nebel und die
falten Regen. Da machten wir unfre Übungsmärſche, den Nebel
in den Knochen und das Wafler in den Muskeln, e8 ging ver-
dammt ſchlecht. Nebel und Waller innen und außen find wir
nicht losgeworden bis der Froſt kam, und da ganze Anjou
und Orléanais unter einem Schnee lagen, jo tief wie er bier
feit Jahren nicht gefehen worden war. Bei diefen Märjchen
ftellte fi heraus, wie ſchlecht unſre Schuhe waren, nach wenig
Negentagen fielen fie in Stüde. Später haben wir Stiefel nad)
dem Mufter der eurigen befonmen. Viele von uns fonnten ſich
aber durchaus nicht an die Lederftiefel gewöhnen. Denkt euch
Leute, die ihr ganzes Leben nur Holzſchuhe getragen haben, für
foldhe find die niedern Schuhe mit Gamaſchen. Uber wochenlang
marſchiert man damit nicht in Waſſer und Schlamm! Alle Diele
griffen zu den Holzſchuhen, wenn die andern ihnen buchſtäblich
bon den Füßen gefallen waren.
14*
212 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
Die Uniformen, die wir belamen, gefielen ung aud) nicht.
Manche fagten: Wenn wir die roten Hofen der Infanterie hätten,
wären wir aud) ganz andre Ferle, mit dieſen grauen find wir
wie die Müllerfnechte. Es wurde geantwortet: Iſt dir der rote
Streifen nicht breit genug? Die Meerjchweine (Marinejoldaten),
die fich defier halten als die hochmütigen Lignards, find blau
von oben bis unten. Einigen waren die Waffenröde zu eng,
andre ſchwammen darin. Alle aber klagten Darüber, daß beim
Mari mit dem Zornifter der Zwiſchenraum zwifchen dem fteifen
Uniformfragen und dem Hals immer größer wurde; der Regen
tropfte, der Schnee fiel hinein, floß ſchmelzend über den Rüden
und Tühlte den Schweiß ab. In den grobfädigen Stoff zog das
Waſſer wie in einen Schwamm hinein und fiderte an den Armeln
herab und im Saum zufammen, aus denen fid) dann Heine an⸗
dauernde Quellen über Hände und Schenkel ergofien. Ihr glaubt
nicht, wie an ſolchen äußern Übeln eine Armee leibet, bie das
große Unglüd hat, nichts zu leiften. Das ſchlimmſte war aber
doch, daß gerade ald wir befjer bekleidet und bewaffnet waren
als je und um Schuhwert und warme Mäntel die Deutichen faft
nicht mehr zu beneiden brauchten, es und militäriſch am ſchlechteſten
ging; und num halfen Bekleidung und Bewaffnung wenig, die
Unzufriedenheit zu heben, die Zaujende veranlaßte, fi ohne
Gegenwehr gefangen nehmen zu laffen.
Bon Gewehren empfingen wir zuerſt die großen Tabatiere-
flinten. Da man und aber gleich mitteilte, fte ließen manchmal
den Schuß durch die weite Nüdöffnung heraus, liebten wir fie
nit. Später erhielten wir Remingtons, die aber nidht mehr
lo8gingen, als wir fie vierzehn Tage im Regen umbergetragen
Hatten. Wir waren immerhin befler daran als die armen Mobilen
von der Ille⸗et⸗Villaine, die Bündhütchengewehre hatten, mit
denen fie gar nicht? anzufangen twußten. Iſt e8 zu verwundern,
wenn ein armer Kerl eine ſolche Flinte wegiwirft, wenn fie ihm
auf dem Nüdzug zu ſchwer wird? Man läuft ſchlecht mit dem
Gewehr auf der Schulter, am beiten wenn man die Hände frei
bat. Bajonette empfingen viele, als fie jchon im Feuer geftanden
Hatten. Man predigte und den Elan beim Bajonettangriff als
die große Tugend der franzöfifchen Soldaten, und wie oft übten
wir diefen Angriff, aber ohne Bajonettel Sch dachte auf den
Märſchen nah, ob man nicht in einer Zeit, wo foviel er»
funden wurde, eine Erfindung machen könne, ein gehöriges Brot-
mefler auf die Flinte zu jteden.
6. Im Lazarett 213
——ît——— LEEREN ⸗
Trotz der traurigen Figur, die wir machten, wurden wir
in den Städten, durch die wir marſchierten, immer von zahl-
reichen Zufchauern mit den Aufen: Vive la r&publique! und
Vive la guerre! empfangen. Die Damen winkten und aus den
Fenſtern. Ach, hätte ich doch einige von ihren feinen Tüchern
gehabt, um fie um meine wunden Füße zu binden, die in ihren
groben Fußlappen gerade dann oft furditbar fchmerzten, wenn
wir über das fchlechte Pflafter marfchierten. Der Hauptmann
rief ung zu, recht ftolz aufzutreten, um den Bürgern zu zeigen,
was für Feldioldaten wir feien. Jedoch wie foll man auftreten,
wenn die Sohlen bluten? Ich war nicht der einzige in der
Sektion, der tagelang nur noch auf den äußern Nändern der
Füße gehn konnte. Das macht allerdings feinen kriegeriſchen Ein-
drud. Wir wunderten und im Anfang, als wir ed noch nicht
gewohnt waren, wie unfer Ericheinen joviel Begeifterung erregen
tonnte. Später fahen wir ein, daß ihr Rufen und ihr Winken
nicht und armen Leuten galt, jondern der Fahne, die man uns
borantrug. Ich dachte mir: Sie rufen fo laut, um ihre Sreude
zu verbergen, daß fie nicht mit uns ind Feld müſſen!
Abends im Quartier hörten wir ganz andre Stimmen, als
die und beim Einzug aus den Fenftern gerufen hatten; zum
Beilpiel fagte eine Frau: Ihr armen Leute feid gar Teine Sol-
daten, und eure Befehlöhaber find gar feine Offiziere, jondern
Advokaten und Politiker. Wie feig müfjen die Franzojen jein,
fih fo in den Krieg führen zu laffen! Das war nicht tröftlich,
und man mußte ihr Recht geben.
Der Krieg rüttelt auch die Neugier und den Vorwib auf,
daß die Menichen ihre eignen Angelegenheiten vergeſſen und ſich
mit denen leidenjchaftlich beichäftigen, die fie nichts angehn. Statt
froh zu fein, daß fie zubaufe bleiben Tonnten, liefen und fuhren
fie ung nad) und gafften unfre Übungen an. Das war uns
fehr unbequem, denn wir wußten wohl, daß wir nichts konnten.
Das Fett der Begeifterung und auch der erften Neugier
war denn auch bald abgejchöpft, wir erregten fein Intereſſe mehr,
und da wir ſchwach waren, ımd unſre Vorgejegten ſich rejerviert
hielten, behandelten ung die Leute ſchlechter. Was wollt ihr?
Der Schwache ift nicht beliebt. Das Mehr, was die Deutfchen
ihnen abgenommen hatten, zogen fie an dem ab, was fie und
hätten geben müffen. Beſonders die Städte behandelten die Kinder
Frankreichs ſchlechter als den Feind. Wir ftanden hungernd und
frierend auf den PBläben, während fih unfre Offiziere mit den
214 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
— — —
Bürgern herumſtritten, und man hörte Stimmen: Wahrlich ein
Bauernkrieg gegen dieſe aufgeblaſenen Bourgeois wäre ſchöner,
als gegen die Deutſchen zu Felde zu ziehn! Aber auch unſre
Bauern hoben Brot und Hafer für ihre Feinde auf. Sie
jammerten, wenn wir etwas wollten: Was tun wir, wenn nach
euch die Deutſchen kommen? Landsleute, laßt ung fo viel, Daß
fie uns nicht fchlagen. Die armen Leute befamen nun Schläge
von ihren Landsleuten. Schlagt nicht jo zu, rief einmal unfer
Hauptmann, ald einige hungrige Mobile einen Bauern prügelten,
e3 ift kein Preuße, bewahrt eure Schläge für den Feind. Einer
antwortete ihm: Wenn dieje ihr Brot für den Feind aufbervahren,
dann wird der Yeind uns mit doppelter Kraft fchlagen!
Das ift ein entichiedner Mangel, daß man und Franzoſen
gelehrt bat, wenig zu eſſen; wir nehmen viel weniger Nahrung
zu uns als die Deutfchen, wir find eben deshalb weniger wider-
ftandsfähig, wir heizen weniger ein und leiden jchon darum mehr
von der Kälte. Die Freude ber Deutichen an ihren brodelnden
Töpfen voll Rei oder Kartoffeln mit einem Stüd magern
Hammel- oder Kuhfleiſches darin hat dazu beigetragen, daß fie
andre Bequemlichkeiten nicht vermißten. Die einen tranfen den
ganzen Tag Wein, andre, die feinen Wein hatten, jehr viel dünnen
Kaffee: ſtark oder ſchwach, warn oder kalt; dieſe Genüſſe fteigerten
ihr Behagen.
Der Winter blieb kalt, das Land lag tief im Schnee, und
wir machten unfre Märiche oft wochenlang Tag für Tag. Wie
nrüde, wie müde wird der Menſch, der tagtäglich in demjelben
Schnee feine ſchmutzige Spur dDahinzieht! Müde ſchon vom Hinein-
jehen in dieſe blendende, einförmige Landichaft, müde vom müb-
feligen Gehen, mehr Gleiten als Marfchieren, müde von dem
immer fich wiederholenden Auseinanderreißen der Kolonnen, dem
Zurüdbleiben, dem Schelten der Unteroffiziere, die vergeblich
antreiben. Man jchließt die Augen, man fühlt nur nod die
Richtung an den Nebenmännern, oder wenn der Vordermann,
dem man auf die Ferſe tritt, zurückſchreit. Wahrlich, es war
eine Wohltat, wenn man fi), wo e3 bergauf ging, dann und
warın in ein Kanonenrad legte und fortichieben half; der Körper
gewann eine Stüße, und ed gab Abmwechllung. Es war, ald ob
wir mit jedem Marſchtage jchwerer würden. Das kam davon,
daß wir, uns ſelbſt überlaffen, immer mehr zufammenfanfen, daß
feine fefte Sand und hob und fortzog. Die Kompagnien, die
noch einen tüchtigen Sergeanten hatten, hielten beſſer zuſammen.
6. Im Lazarett 215
Bourbali ſoll gejagt Haben: Ach habe Hunderttaufend Mann und
feinen Soldaten; Chanzy konnte nahezu dasjelbe jagen. Es
wurden uns Qageöbefehle verlejen, worin er uns euch deutiche
Soldaten zum Borbild hinſtellte. Die Strapazen, die ihr er-
trüget, müßten $ranzojen auch zu ertragen willen. Wir fagten
unter und: Ihre diden Stiefel, ihre langen Mäntel, ihre warmen
Uniformen, fogar die Wollkapuzen, die viele von ihnen tragen,
die erklären viel.
Im Lager bei Le Mans bildete damals ein alter Seemann,
der Admiral Jaures, dad 21. Korps. Zu diejem ftießen ir.
Sch weiß nicht, war e8 das Beilpiel von Truppen, die ſchon
beijer geübt waren, war e8 der Eifer, der fi von oben herab
in unjre Führer ergoß, oder vielleicht nur der trodne Boden
diefer Gegend, den dichtes Heidekraut bedeckte, wir lebten auf,
die Mürrifchen wurden heiterer, die Widerjpenitigen folgjamer, und
da auch die Erinnerung an die Heimat allmählich verblaßte, wurde
in mandem mit der Zeit ein guter Wille herangezogen, zu ges
horchen und zur Not in den Kampf zu gehn. Unjer Kommandant
erhielt ein Regiment, und die Yührung unſers Bataillons über-
nahm nun ein Hauptmann, der früher Profeflor an einer Kriegs⸗
ſchule geweſen war. Bielleiht nannte man ihn deshalb den
Philofophen, vielleicht auch weil er weniger als nicht3 von mili-
täriſchen Außerlichfeiten hielt. Darin war er daß Gegenteil von
feinem Vorgänger, der ftreng auf Ordnung im kleinſten gehalten
Hatte. Vielleicht wollte er fich bei ung beliebt machen. Er ſprach
oft vor der Front von dem Fluch der Eitelleit, dem der Soldat
verfalle, der in einer Zeit, wo alled auf den Kern anlomme,
feine Pflicht zu tun glaube, wenn nur alle blank jei. Das
paßte nun für uns gar nicht, denn wir litten eigentlich alle an
dem Fehler, Daß es bei ung zu wenig glänzte. Ich will Soldaten
befehligen, die den Feind fchlagen, ob fie Hoſen anhaben, ift dann
gleih. So machten wir denn Felddienftübungen von früh bis fpät
und jtürmten raſch aufgeworfne Schanzen, in denen wir, wenn wir
fiegreich oben ankamen, bis über die Knie in den Schlamm Tanken.
Was und anbetrifft, fo Hatte der neue Kommandant die
idealiten Vorftellungen von den Soldatenpflichten und Außerte in
Reden vor dem Bataillon feine Freude darüber, daß er berufen
fei, gerade und zu Helden zu erziehn, die jonft in der Dumpf-
beit des bürgerlichen Daſeins Hingelebt hätten, ohne zu willen,
daß in jedem Franzoſen ein Held tee. Für ſich ſelbſt ftellte
er Dagegen feit, daß der Offizier vom Bataillonsfommandanten
216 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
aufwärts, der fich gleich im Beginn des Angriffs an die Spike
feiner Truppen ſtelle, die er zu leiten habe, mit feinem Leben
die befte Karte ausſpiele, die er bis zuletzt in der Hand behalten
jollte. Was ift nun feine Truppe ohne ihn, wenn er fällt? Ihm
muß der Mut anerzogen fein, ſich nicht auszuſetzen. Der Tod
auf der Breſche, der für den Soldaten der höchſte ift, ift für
ihn viel zu billig! — Alſo, fagten wir, zieht er vor, im Bett
zu fterben.
Wenn wir von einer Höhe zurüdjahen, fah ein Regiment
im Mari wie eine Kette von Schafherden aus; der Unter-
offizier, ein Studierter, fagte: Wie eine Schlange, die fidh in
ihre Glieder auflöft. Mir war diejer Anblid doppelt unangenehm,
denn ich wußte, daß eine Herde Schafe ordentlicher beilammen
bleibt. Da ſah man, daß jeder Einzelne eine andre Richtung
und ein andre Tempo angenommen haben würde, wenn nicht
der Trieb zu leben einen an den andern gefeflelt hätte Aber
diefer Trieb genügt nicht für die Außerften Fälle, in denen es
fih zeigte, daß wir fein Vertrauen zu unjern Führern hatten.
Wir merkten bei jedem anftrengenden Marſche, daß die Maſchine
zu neu war, die Teile ftießen einander, menn man fie in Betrieb
feßte, ein Rad rieb fih am andern. Die Soldaten erzählten
fi, daß Chanzy weder obere noch untere Offiziere an den Stellen
bei den Borpoften angetroffen habe, die er ihnen zugewielen
hätte. Je mehr ſolche Dinge umliefen, deito lodrer wurde der
Zuſammenhalt der Herde. Mangel an Vertrauen tft eine Krank⸗
heit des Herzens, die lähmt und ſchwächt. AS unjer Major
eines Tages mit einer neuen Nofette im Knopfloch, die ihm
eben verliehen worden war, vor die Front trat, ging ein lautes
Hohnlachen durch die Reihen. Man fragte: Wo Hat der Philoſoph
das verdient? Es war vergeblid, daß man die Genbarmerie
vermehrte, um am Schlachttag die Ausreißer durch eine Poften-
fette Hinter der Front aufzuhalten. Chanzy wußte, wie die nabe
Stadt die Sehnſucht na Zimmern, Betten, beleuchteten Straßen,
die entfernte Hoffnung auf beiferes Efjen und Trinken, auf geflidte
Kleider und neubejohlte Schuhe erweckte; er ſoll fogar beabfichtigt
haben, im Falle der Schlaht die Brüde abzubrechen, um den
Rüdzug in die Stadt unmöglich zu machen, der vielen ald daß
willlommenfte Ende des Krieges erſchien.
Im Sanuar kam der Feind näher; wir ſahen ihn nicht,
aber es hieß, er fei nur noch einen Tag entfernt. Doc kamen
wir nicht gleich mit ihm in Berührung. Wir Hörten in der
6. Im Lazarett 217
ed
Ferne die Geſchütze donnern, ſahen Verwundete, die zurüd-
transportiert wurden, und ließen todmüde und außgehungerte
Regimenter an und vorüberziehn, die rückwärts verlegt wurden,
weil fie entmutigt waren. So wird es und aud) eines Tags
gehn! An einem Morgen nahmen wir eine Stellung hinter
den breiten Höhen vor Le Mans ein. Das Wetter war jchlecht,
die Erde weich. Das Bataillon wurde auseinandergezogen, die
Geltionen poftierten fi Hinter Dedungen. Der Major zeigte
und die Richtung, woher der Yeind fommen mußte, und jagte,
von unjerm Feſthalten binge das Schidjal von Le Mand ab.
Was kümmerte und Le Mans, dad wir biöher nicht einmal
betreten durften? Niemand begriff, warum wir gerade bier
kämpfen follten. Wir famen an diejem Tage nicht nahe an dem
Feind, und doch hieß es: Wir haben die Schlacht geiwonnen.
Welche Schlacht? Nun, diefe. Keiner war, der fich eine Schlacht
fo gedacht hätte: Marſchieren, Stehn, Marjchieren, Liegen, einige
Granaten, Aufipringen, wieder Marſchieren. Wo war der Elan,
wo das Vordringen? Geduld, Schweigen war Die Tugend, die
gefordert wurde. Das Tragen Hatte man längft vergeflen, denn
niemand wußte etwas.
Die Ihwarzen Schlangen, die dort in die fahle Dämmerung
hineinziehn, immer breiter zufammenfließend, das ift der Feind?
Das einzige, was wir von ihm gejehen haben! Wir folgen ihm
nicht, wir bleiben ftehn, wir legen und in die naffen Furchen,
wo gerade feine Pfüge ftand. Wenn wir gerwußt hätten, daß
fein Rüdzug nur ein Ausholen zum Stoß mit ftärfern Kräften
war, würden wir weniger ruhig gejchlafen Haben. Am dunkeln
Frühmorgen wurden wir alarmiert, e8 mar noch fein Schimmer
von Dämmerung am Himmel, feiner fah den andern. Unire
Führer waren Stimmen ohne Gefiht und Geftalt, Kommando=
rufe, denen man in der ſchwarzen Dunkelheit nur zögernd, un=
fider folgt. Dan hört Schüffe auf allen Seiten, ihre Patrouillen
Icheinen um und zu mwimmeln, wir erwarten im erften Morgen⸗
licht ein Heer von Helmipigen auftauchen zu jehen. Halt! ruft
mein Nachbar, hält mi am Arm zurüd und deutet bloß auf
ein ftangenartiged gerades Birkenſtämmchen, da8 ihm eine Ulanen=
lanze vorgetäujcht hatte. Der Lärm legt fi), man jagt, es feien
feindliche Patrouillen aus Verjehen in unfre Linie geraten. Das
müfjen Waghälje fein, die fich fo verjehen!
Eine wellige Ebene, wenig Wald, ziemlich viel Dörfer, jo
war dad Land öftlih von und. Es ſchien uns gefährlich) zu
218 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
—r'oOU — ———— LG
ſein, denn es konnte Tauſende von Feinden in feinen flachen
Mulden, Hinter den Hecken und niedrigen Mauern der ücker
bergen; Armeen Tonnten bier verſchwinden und wieder auftauchen,
und niemand wußte wohin? woher? Go waren wir dem im
der größten Ungewißheit, ob wir nicht mitten ind Verderben
bineinmarjchierten, und konnten troß bes anfeuernden Tagesbefehls
Chanzys, der und gejtern verlefen worden war, nicht die Über-
zeugung gewinnen, daß wir fiegen würden oder müßten. unge
Offiziere, die audgefandt waren, den nahen Feind auszulundfchaften,
kamen berangeiprengt, als ſei ihnen eine Armee auf den Ferien.
Große Maffen marjchieren gegen uns, riefen fie. Was? D, das
fonnte ich nicht genau fehen, ich glaube, e& find Feinde! Zum
Glück waren es zu der Stunde noch weldje von den Unjern.
Damals ſah im Schnee jeder Truppenförper ſchwarzgrau aus.
Dieje jungen Leute risfierten nicht, den Schuß auf ſich zu ziehn,
der ihre Zweifel zerjtreut hätte. Wir arbeiteten ung in derjelben
Unficgerheit weiter. Nım Halt! Das bedeutete zunächſt Nieder-
werfen, wo eben gerade einer ftand. Ich faß neben dem Sergennten
auf dem Rande des Straßengrabens, feine Hand berührte mich,
und als ich ihn zufällig anſah, winkte er mir zu, und ich ſah
die Spige feined® Schnurrbarts auf ein Dorf rechts am äußerſten
Horizont Hinweifen, über dem ganz tief eine lange weiße Wolfe
lag. Manchmal ſah mian Kleine Wölkchen darüber auffteigen, ſich
auflöſen und in der langen Bank verſchwinden: Dort wird ge⸗
ſchoſſen, e8 find Granaten, der Wind trägt den Schall von
und weg; gib adjt, wir werden gleich einjchwenfen und Pulver
riechen.
Wir rüdten bald weiter vor, glücklicherweiſe nicht gerades⸗
wegs auf das Schlachtfeld, jondern halbrechts. Aha, jagte man,
die Taktik der Preußen, wir werden fie überflügeln. Dieſe
Taktik imponierte und jehr; Die, die bei Zoigny geweſen waren,
behaupteten, es fei ein wahrer Unfinn, den Stier bei den Hömern
faffen zu wollen. Ich Hatte auch fagen hören: Wenn man
Truppen bat wie das fünfzehnte Korps, das die Befeitigungen
von Orleans faſt ohne Verteidigung verlaffen hat, muß man
froh fein, wenn man den Feind an feiner ſchwächſten Stelle um⸗
gehn kann.
Wir famen jet auf eine andre Landitraße, an der wir
und neuerdings aufftellten. Nicht Iange dauerte es, fo ſahen
wir eine lange Wagenreibe, träge Ochſenwagen heranfonımen,
auf denen Berwundete lagen, die hinter und abgeladen wurden,
6. Im Lazarett >19
— — AL LE RL LCD LS — —— ö— —— —— ——— ———— —
damit fie im Freien verbunden würden. Später ſollten fie weiter:
geichafft werben, doch haben wir fie in der falten Nacht dieles
Tages noch daliegen jehen, und ohne daß Hilferufen Einzelner
wären unjre Batterien über fie weggefahren. Der Anblick diejer
blutigen Leute, wie fie da auf die Erde gebettet wurden, war
nicht ermutigend. Wir marjdhierten über das Feld, die Erde
war feucht, die Füße waren bald zu ſchweren Klumpen geivorden.
Nun hörte man ſchon die Gewehre knattern, die hellern, fagte
man, find unjre Nemingtons, die bum! bum! find die, die deutfch
ſprechen. Zeitweiſe rollte das Gewehrfeuer minutenlang un⸗
unterbrochen fort. Wir durchſchreiten einen trocknen Graben und
erſteigen deſſen jenſeitigen Rand, da ſehen wir ſchon auf dem
Abhang, der ſich langſam gegen das Dorf ſenkt, Haufen von den
Unfern inter Hecken, in Gräben fniend und liegend fchießen,
Unteroffiziere und Offiziere ftehn hinter ihnen oder hufchen gebüdt
bon einer Gruppe zur andern. In dieje Reihe rüdten wir ein,
fie machte auf beiden Seiten Pla, man wies ung an, wie wir
und verteilen jollten, und zeigte die Richtung, in der wir fchießen
follten. Und nun ging das Schießen 108, von Bielen war feine
Nede, wir jahen keinen Feind, fchoffen eben in den Rauch, der
fi immer mehr verdichtete. Es war wie mit den Hunden in
einem Dorf, wenn einer bellt, bellen alle, jo rollten die Flinten⸗
ſchüſſe in unſern Reihen hin und ber, wenn einer losbrannte,
folgten die andern, und dann begann es wieder am andern Ende
und rollte jo fort. Eine wahre Wolfe von Kugeln muß uns
umhüllt haben, wir ſchoſſen, biß die Gewehre jo heiß waren,
daß man fie einen Augenblid auf die Erbe legen mußte. Da
die Gewehre der Deutſchen nicht fo weit trugen wie die unfern,
hatten wir faft feine Verluſte. Unfre ganze Sektion blieb un-
verwundet. Dann und wann pfiff eine Kugel durch uns bin,
wahrſcheinlich aus einem franzöfiihen Gewehr, das einer erbeutet
hatte. _ Wenn wir vorgerüdt wären, bätten wir etwas mehr
von deutichen Kugeln zu fchmeden befommen, aber unjer Major
rief immer nur: Kinder, feitbleiben! Cinzelne meinten, man
müſſe nun doc, endlich vorwärtäfommen, doch damit hatte es
niemand eilig.
Während noch Kolonnen vorrüdten, befonders Artillerie, die
überall am beiten zuſammenhielt, fiderten ſchon Flüchtlinge in
folden Maffen dur, daß man zweifeln mußte, ob die Haupt-
bewegung vormwärtd oder zurüd gehe. Einen Augenblid jah man
erjtaunt zu, wie fi) das zurüdwälzte, dann hörte man aus unjern
220 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
III TEL. (0000000 2200000100020. ———— ———— LE LG L —— — —
Neihen Rufe: Wir haben feine Patronen mehr! Unfer Train
ift fteden geblieben, abgefangen! Die Artillerie machte Halt.
Pla da, um Kehrt zu machen, rief einer, da drängten wir zur
Seite und zurüd, und e8 war fein Halten mehr, wir waren
mitten in dem Strom der Zurüdflutenden und ſchwammen mit.
Plötzlich rafjelte Hinter und und neben ung die Artillerie zurüd,
und nun ſah man Leute alles Gepäck wegwerfen, jogar Geldbörſen,
die allerdings ſeit Tagen einen Sou gefehen haben mochten.
Es war, wie wenn die Gewehre den vor Kälte fteifen Händen
von felbft entfielen. Sept ſah ich auch zum erftenmal Leute in
unfern Knäueln tot Hinftürzen, denn die Öranaten der feindlichen
Gefchübe, deren Donner ſchrecklich nahe kam, fchlugen mitten unter
uns ein. Es rührte mich aber nicht, jebt war alle Furcht ver⸗
flogen; ich hielt in einer Gruppe ftand, die ein beberzter alter
Sergeant noch Hinter einer langen Reihe von Badfteinen neben
der Biegelei auf dem lebten Höhenrande befehligte. Woher kam
mir der Mut, ftandzuhalten? Ich glaube, ed war, was man
den Mut der Verzweiflung nennt. Sch Hatte jo viel gelitten
und gedarbt in diejen lebten Wochen, daß ein Groll in mir aufs
geftiegen war gegen den Feind, gegen meine unfähigen Vorgeſetzten,
gegen meine feigen Kameraden, gegen ben Krieg im allgemeinen,
und dieſes neue Gefühl drängte num alle andre zurüd und gab
mir den Mut, mich gegen die allgemeine Flucht und gegen den
vordringenden Yeind zu ftelen. Es half freilih nichts. Wir
mußten und mit den legten Bataillonen, Seite an Seite mit
päpftliden Zuaven, Linien= und Marinefoldaten, zurüdziehn, die
früher voll Verachtung auf uns heruntergejehen hatten. Einige
Offiziere lobten ung, daß wir nicht fo raſch wie bie andern
Mobilen gelaufen waren. Dieſes Lob fchien mir jedoch ſchlecht
angewandt zu fein, ſoweit e8 mid betraf; ich wußte doch am
beiten, daß dieſes Standhalten nur eine kurze Epifode von einer
Stunde nad Wochen war, in denen faft niemand von und allen
jo recht feine Pflicht getan Hatte.
Die Nacht fank auf das Feld, und mit dem Dunkel und
der Kälte legte fi auf uns, die Befiegten, die ganze Laſt der
Enttäufhung und der Verzweiflung. Wir wußten nicht, ob wir
vor Froſt oder vor Furcht vor dem ungewiflen morgenden Tage
zitterten. Bwilchen den ®eichügen, die noch zur rechten Zeit
ausgerifjen waren, in den Aderfurdhen liegend, verloren wir das
bißchen Mut, da8 wir mitgebradht Hatten. Er erflarrte wie
alle. ch dachte mir: So hart wie dieſe Schollen, die nnter
6. Im Lazarett 221
der Sohle klingen, ift dein Herz geworden. Gibt e8 ein Unglüd,
das noch einen Eindrud auf dieſes Herz machen könnte? Es iſt
nur noch Gleichgiltigleit darin. Ich mochte nicht einmal mehr
an die Heimat denken.
Sn der Morgenfrübe, als der Januarfroft den Höhepunlt
erreicht hatte, rüttelte mich der Sergeant auf: Wir haben jeit
geftern fein Wort des Befehls, man fcheint uns vergeflen zu
haben. Du follft mit zwei Mann dort recht hinüber gehn, wo
der Rauch über dem Dorf Tiegt, und den Befehl holen. Du
wirft dort den Stab der Brigade finden, der wir jeßt angehören.
Hierbleiben wird nicht möglich fein, aber abziehn wollen wir
auch nicht ohne weiteres. Wir waren gern bereit zu gehn, man
mußte ſich bewegen, um warm zu werden. Es war duntel, Die
legten Sterne ftanden am Himmel, dort wo wir hin follten, war
es allein heller, dort dämmerte e8 von der Glut der Bauern
häufer, an denen das lebte Brennbare glühte und qualmte. Es
war ein trauriger Anblid, doch ftolperten wir über die harten
Erdſchollen fo raſch wie mögli den Brandftellen zu, zum Teil
von der Hoffnung getrieben, einen größern Truppenkörper der
Unfrigen zu finden, an den wir ung anfchließen fonnten, zum
Teil von der Wärme angezogen. Straße oder Weg fahen wir
nicht, wir müflen von hinten ber zwifchen den Häufern ind Dorf
hineingekommen fein. Kein Poften! Vor ein paar glühenden
Ballen ſaß mitten auf der Straße ein in feinen Mantel gehüllter
Mann, den Kopf verbunden, ich ſah feinen Säbel im Feuer
funkeln, das mich blendete, das mußte ein Offizier fein. Ich
ging auf ihn zu, meldete die Patronille, ohne zu wiflen, ob er
mid) höre oder nicht, da ſchaute er erftaunt auf, ſprang auf beide
Füße und rief mir franzöfifch zu: Gefangner! Er hatte nicht
einmal jeinen Revolver gezogen, fondern gleich nad meinem
Gewehr gegriffen, dad id) ihm im Schreck ohne weiteres ließ.
Sn der nächſten Sekunde waren wir von Pidelhauben umringt.
Wirklich gefangen!
Das war das lächerliche Ende meines Kriegsdienited. Die
nächften Tage befamen wir viele Kameraden, auch aus meiner
Kompagnie kam ein Trupp gefangen an. Zuerſt hungerten wir,
und eure Soldaten mit und. Wir fahen: auch der Sieg macht
nicht fat. Da war ein gewifler Troft darin. Dann belamen
wir jatt zu eſſen. Es regnete aber unaufhörlih, und wir
marſchierten endlos, immer nah Oſten. Wie merfwürdig, man
träumte num nicht mehr von der Heimat, fondern von warmen
222 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
m
Rafernenjtuben in deutichen Feſtungen und endloſem Nuben in
Kaſematten nad) den langen Märfchen! Dann famen fünf Tage
in den falten Güterwagen der Eifenbahn, bald fibend, bald liegend,
immer vom Froft und von der Näffe gejchüttelt, da8 war demora-
lifierender als eine verlorne Schlacht. Welches Glüd, daß ich
in euer Lazarett kam, ehe ich vollftändig zugrunde ging!
iz
4. Die barmherzige Schweiter
Sn dem Heinen Neuen Teitament, das mir der Divifions-
pfarrer geſchenkt Hatte, las id) manchmal den erjten Korintherbrief.
Benn ih an die Stelle kam: „Die Liebe hört nimmer auf, jo doch
die Weißjagungen aufhören werden, die Sprachen aufhören werden,
und das Erfenntniß aufhören wird,“ Dachte ich heute nicht lange
über die Liebe nad), die hier gemeint ſei. Dachte vor allem nicht an
die natürliche Liebe, die Gatten zueinander oder Eltern zu Kindern
begen, und die, ein Stüd Leben felber, weit über den Menſchen
hinaus durch die ganze lebendige Welt geht; ich ſah, ſeitdem id)
in dem Rekonvaleszentenhaus verweilte, zu jeder Stunde bes
Tags eine andre Auslegung vor mir. Bei den barmherzigen
Schweitern, die Bier pflegen, hört die Liebe nie auf. Sie find
Tag und Nacht zur Stelle, immer hilfbereit und immer heiter;
für fie fcheint es feine Müdigkeit, feine Abipannung, feinen Efel
zu geben. Ihr Verbinden der Wunden ift wie ein Gebet, von
dem fie fich neugeftärft erheben. Wie wäre die Welt, wenn es
auch außerhalb diejer Kloftermauern viele ſolche Frauen gäbe?
Das ift jebt nicht möglich, aber es muß einft fo fommen. Es
muß auc andern gelingen, wunſchlos zu werden und jenſeits
der Stürme zu leben. Die ftille Ergebung in die Pflicht des
Tages und des Augenblids, die diefe Frauen felig madıt, jo-
daß wir im Anblid ihres Wirken an die Seligpreifung der
Bergpredigt denken, liegt im Keim in jo vielem weltlichen Zun;
e3 muß Mittel geben, dieje Eigenichaft aus ihren Schalen frei
zu madhen.
Mein Ramerad, der Theolog im Waffenrod, den der Kriegs⸗
jturm aus einem Halliſchen Hörſaal bis vor Paris vermweht
Datte, und der als Typhusrekonvaleszent zurüdgelandt worden
war, meinte dazu: Das ift der Sinn der Sentenz: im Heinften
Punkt die größte Kraft, die von den meiſten, die fie nachſprechen,
6. Im £azarett 223
er ——— — — —— —
rein materiell gedacht wird. Aber habe einmal gelernt, daß
das Kleinſte, das ſich dir zur Arbeit beut, eine verborgne Tiefe
hat, in die du den größten Willen und das beſte Geſchick hinein⸗
legſt, und es füllt ſich niemals an, es geht immer noch mehr
hinein, ſo haſt du eine innere Erfahrung gewonnen, die mit der
Sicherheit des Kompaſſes unfehlbar auf eine große beſtändige
Lebensaufgabe zeigt. Was iſt nun tiefer als die Not des Lebens?
Schlechthin nichts.
Ich verftehe dich, jagte ih; du meinft eben, wegen diefer
Tiefe kann die Liebe nit aufhören.
Ganz recht; und ich möchte noch hinzufügen: jede Ent-
mutigung im Kampf mit der Not des Lebens ift ein Streiten
mit dem Gott in und, ein Abfall von dem, der uns ftark, ſtark
zur Tat will. Sehen wir und doch in allernächſter Nähe um.
Jedem Soldaten iſt es gelegentlich beichieden, Samariterdienjte
zu tun, beſonders im Gefecht. Im Lazarett gäbe es noch mehr
Arbeit. Ich habe geſehen, wie das gezwungne Nichtstun bei
ſo vielen Lazarettinſaſſen ihr Verhältnis zum Ganzen lockerte,
ich erkannte die Gefahr, daß dieſe Gewohnheit des zielloſen Herum⸗
lungerns von einem Tag in den andern auch mich erfaſſen könnte;
da ging es mir wie eine Rettung auf, als ich dieſe breite Breſche
ſah, wo Menſchenkräfte bauen könnten. Es zog mid in die
Aufgabe, Hand anzulegen, buchſtäblich hinein. Der Krieg iſt für
alle, die nicht ſiegen, beſonders für die ein großes Unglück, die
Krankheit aufs Lager ſtreckt; mit den Monaten empfinden ſogar
die von Sieg zu Sieg eilenden, daß er nicht ihr natürlicher
Zuſtand iſt. Muß darin nicht die Forderung ſein, alle Quellen
des Glücks zu öffnen, die überhaupt möglich ſind? Glück muß
zum Streit wider das Unglück aufgerufen werden. Wer das
einſieht, kann nimmer raſten, in dem ſpricht es: Nimm dich ſelbſt
in Zucht, wie dieſe Frauen es tun, fteigere die Disziplin ins
Sittlihe. Laß vor allem deine Seele nidyt bis zur Stagnation
ruhn, ſchaffe Dir die innere Duelle der Erfriihung, die feine
Abftumpfung, feine’völlige Ausebnung auffommen läßt. Sobald
fih der grüne Überzug der Schleimalgen ımd Wafferlinfen über
die Klarheit einer Quelle zieht, bift du nicht ficher, welches Ge⸗
würm darunter auskriecht. Darin liegt der Segen der äußern
Tätigkeit. Solange der Körper geſund ift, follte er immer hart
am Rande der Ermüdung gehalten werden. Der Menſch jei
wie eine Slamme: die bewegt fich, folange fie Nahrung bat, wenn
fie ruht, ſtirbt fie; aber folange fie lebt, ftrebt fie aufwärts.
224 Bilder aus dem Hriege mit Sranfreidh
AB in ben eriten Dezembertagen bei Paris und an der
Loire zugleich blutige Schlachten geichlagen worden waren, leerte
man in aller Eile die Feldlazarette hinter der Yront und fchidte
rüdmwärts, was transportabel war. Es war fäft für alle, auch
die des Lebend müde im Lazarett geworden waren, eine Er⸗
löſung, für manche mag auch die Entfernung vom Kriegsſchau⸗
plat willlommen geweſen jein, auf dem fi) damald die von
manchen für furchtbar gehaltuen neuen franzöfiiden Armeen vor⸗
wälzten. Es war ein glüdliches Los, das mich hierher verichlug.
Ich war nicht Friegsmüde, aber müde des Bluts; deſſen, und
der Trünmer, des Schmutzes Hatte ich genug. Als ich in dieſes
Haus eintrat, ſah ich feit Monaten zum erftenmal wieder ein
friedlich heiteres Antlitz. Vielleicht feflelte mich am meiften
die breitflüglige Haube, die das frifche, rötliche Geficht der
Schweiter einfaßte, fie war jo weiß, jo weiß; jeit wann hatte ich
nichts jo weißes gejehen? Seht mochte draußen im Felde der
Schnee liegen, der konnte ähnlich fein, aber nur der allein, und
auch auf diefem ftanden manchmal Blutlachen mit jonderbaren blaß
bräunlichroten Rändern. Bei ung jah man nur fahle, bräunliche,
gelblicde Töne; fogar das Weiße im Auge war trüb vom Blute,
das in den mübden Gefäßen ftodte. Ich Dachte an das Weißeite,
wa3 id) jemals gejehen hatte, an Yirnfelder im Hochgebirge, an
blendende Sommerwolten, die im tiefen Mittagsblau ſchwimmen,
an den weißen Frühlingskrokus, deilen Blüten noch Harer als
Lilien find. Ich Habe dann freilich noch viel helleres, leuchten⸗
deres gejehen. Denn wie ein Stern, der aus Sturmwollen ber-
sortritt, mutete mich die Menjchenliebe und Frömmigkeit an, die
ic bier erfahren habe. In der Krankheit und in jeder Art von
Rot fteht eine Wolfe vor dem Himmel, fagte die alte Schweiter
Eulalia, die Lothringerin; wir Pflegerinnen kämpfen, daß fie
fi zerftreue und Gottes Angeficht uns wieder hell anfehe.
Wenn von den Gründen geiprochen wurbe, warum wir und
in der Pflege der Schweitern jo wohl fühlten, wurde jedesmal
ihre verftändige, ruhige Behandlung der Kranken gerühmt; einige
behaupteten, fie hätten mitten im Fieber aus ihren Fingerfpigen,
die fih an den Puls legten, etwas beruhigendes berüberfließen
fühlen. Es ftellte fich dabei aber auch eine innere Berwandtichaft
herans. Jeder von und Soldaten, der in ihre Nähe kam, fühlte
etwas Verwandtes in ihrem Weſen. Nicht bloß in der Uniform
liegt daß, die fie tragen, und auf die fie fo ftolz find wie wir auf
‚bie unfre. Wir umd fie dienen, und zivar dienen wir beide einen
6. Im £azarett 225
ILL TE DE
Barten Dienjt, zur Not geht eg ums Leben. Wir und fie fämpfen
nieder, was wir tollen, und tum, was wir follen. Auch darin
find fie den Soldaten ähnlich, daß fie gerade und mutig ihrer
Pflicht nachgehn; das gewöhnliche Weltleben mit feinen Umwegen,
die gar oft zwecklos in fich zurüdlaufende Schlangenwege find,
mit feinem Biegen und Duden erzielt nur fchillernde Charaktere.
Der Soldat antwortet auf jede Frage eines Vorgeſetzten kurz und
bejtimmt, indem er ihm feit ind Auge ſchaut. Dasſelbe tft die
Urt der Rede der Schweitern. Diefe legen vielleicht noch mehr
al3 die Soldaten, wenn fie die Uniform anziehn, alle übrigen
Unterjchtede ab, fie verlieren Vorzüge und Vorteile und fteigen
Doch nicht herunter. In ihrem gehaltnen Wefen liegt ein Be-
wußtjein ihrer Grenzen. Ihr Gang ift gelaffen und leife, und
doch fchnell; eine geht wie die andre, fie find darauf geübt, wie
wir auf da8 Marfchtempo. Beobachte, wenn eine gerufen wird, fie
wendet nicht den Kopf, fondern wendet ſich mit dem ganzen
Körper um, es fieht dienftbereiter au. Neben dem Arzt ſteht
fie unbeweglih wie auf das Kommando Achtung! und was fie
aud ehe, e8 zuckt feine Wimper. Sie haben alle dieſelbe Art,
wenn fie den Kranken zu trinken geben, fie halten ihnen den
Kopf mit der einen Hand von rückwärts und neigen mit der
andern leicht den Trinkbecher; wie fanft lafien fie dann den
Kranken wieder auf fein Kiffen zurüdfinten, und ehe fie weiter-
gehn, ftreichen fie feine Dede zurecht, jorgen, daß fie ihn gut
einhülle. Eine macht e8 wie die andre, aber bloß angelernt iſt
das nit. Da muß jemand feine ganze Menfchlichkeit, oder wie
lage ich doch? fein Unfterbliches Hineinlegen, Damit das taufend-
mal Setane die Frifche der Blüte draußen in der Gottesnatur
behält. Die Schweftern lernen durd; Übung empfinden, was ber
Kranke braucht. Wenn ihn das Leiden ſprachlos gemacht hat,
oder wenn die leifefte Frage ihn aufregen würde, erraten fie feine
Wünjche, als wenn fie felbft gerade in feiner Lage wären.
Die lothringiſche Schwefter mit dem faltigen Geficht fagte:
Das hängt mit dem zufammen, was man in der Welt draußen
ald Enge und Einfeitigfeit belächelt. Eng ift dieſes Reich wohl,
wenn Sie in ihm nad) den Seiten Hingehn, aber e8 iſt un=
ermeßlih groß nach der Höhe und nach ber Tiefe Hin, es ift
ein Reich der tiefften Tiefe und der höchſten Höhe; oder viel-
mebr, verbeflerte fie ſich e8 müßte fo fein; alles ift nicht genau
jo hoch und fo tief, wie e8 fein follte. Nur nad) der Welt zu ftoßen
wir allerjeit8 an Mauern, und das ift gut; nicht hemmt dagegen
Natzel, Glücksinſeln und Träume 15
226 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
den Aufihwung und das Sichverſenken. Die beftändige Übung des
fi in die Lage unfrer Kranken verjegend öffnet die Sinne für
fo mandyeß, was und fonft unverftändlich bliebe. Es gibt ab-
ftoßende Menfchen, in die man fich nicht ganz hinein verſetzen
fann, die man aber doch verftehn muß, wenn man fie recht
pflegen will; aud fie haben Menjchen, denen fie teuer find, dieſe
werben gerade das finden, was ich nicht finden fonnte, und in⸗
dem ich fie gleichjam durch die Seele ihrer Vieben betrachte, finde
ich oft ein Berftändnis, wo id) es gar nicht erwartet hätte. Und
ein andermal: Im Dienft der Kranken und der Elenden jpringen
Duellen innern Glücks, von denen niemand weiß, der folchen
Dienft niemals geleiftet hat. Die ftille Heiterfeit lommt davon, die
wie ber Widerfchein eines verborgnen Lichts auf den Gefichtern der
Schweftern fliegt. Die äußere Heiterkeit, die ihr bewundert, fließt
aus derjelben Tiefe. Eure Weltweilen nennen den Humor daB
Lächeln des Herzens, das verwundet ift. Wber die Verwundung
ift gar nicht nötig. Welchem Soldaten müßte man erit jagen,
daß auf Kampf und Sieg die Freude einer gehobnen Stimmung
folgt? Wenn das Verzagen niebergerungen ift, wallt der Lebens⸗
mut hoch auf. Wir fämpfen gegen ums jelbit, reißen und vom
unferm eignen Sch los, das uns nieberzieht, und dieſes Los
fommen von ſich jelbft ftärft zu Werfen der Demut, die befeligen.
Was im gewößnlichen Leben die Stimmung trübt: Empfind-
lichkeit, Arger, Eitelkeit, Efel, gibt e8 da nicht. Die Aufgaben,
die wir uns ſetzen, hören nie auf, fie ziehn das Schifflein unſers
Lebens durch die Flut der Zeit, die Wellen rauichen jo friſch
und hell daneben auf, fein Augenblid ift bei jolddem Wandel zu
verlieren, jeder hat jeinen Zweck, feine Aufgabe. Das Aufſich⸗
befinnen führt zu nichts. So muß unfer Leben bejchaffen fein,
daß ſich eine Forderung des Augenblidd an die andre reiht, und
in diejer Kette Teine Lũcke bleibt, durch die du einen Blick in das
Nätjel deines Daſeins gewönneit. Befinne dich auf bein Tag-
werk, daS reicht aus.
Zu dem Theologen im Waffenrod jagte eine Schweiter über
ihren Dienft: Der Töchter natürliche Dienftitätte ift das Eltern-
haus, fie können nur einen viel jchwerem Dienft antreten, wenn
fie dieſe verlafien, denn in der rechten Dienftbarfeit gibt es nur
ein Avancement zu den größern Laſten. Das iſt freilich auch
immer ein Fortfchritt zu größerer Zufriedenheit und mehr innerer
Klarheit. Wem ſich dad Auge der weltlichen Gewohnheit ent-
äußert bat, beftändig zwiſchen groß und Hein zu unterfcheiben,
6. Im Lazarett 227
und nun immer das Große im Kleinen fieht, hat die Welt
feinen Reiz, mehr für und. Heimweh? Welches Heimmeh meinen
Sie? Das Heimweh, dad zurüdihaut, oder dad Heimweh nad)
dem Frieden, der Ruhe vor und? Wir ſchauen vorwärts. Auch
darin ift unfer inneres Auge anders gewöhnt. Vielleicht ift fein
Vorwurf, den man und macht, berechtigter als der des geringen
Intereſſes für amilienangelegenheiten unfrer Kranken. Gie
unterhalten und von nichts lieber ald davon und fordern natür=
lich unſre Teilnahme dafür; wir aber, gewohnt nach oben und
nach unten zu fehen, verftehn nicht mehr fo recht zu unterjcheiden,
was draußen jenfeit$ der Mauern unirer Krankenzimmer vorgeht.
Vielleicht, ſagte fie lächelnd, verftehn wir ung eben deshalb jo gut
mit den Soldaten, die fi) ja aud) aus ihren Familienbanden haben
löſen müflen, um in neue Verbindungen einzutreten, die vorüber-
gehend vielleicht faſt jo feft mie die unjern find.
> *
*
Meine Erinnerungen haben mid) weit über die Räume des
alten ZazarettS binausgeführt, wo ich die erften Erfahrungen im
Krankenleben und =fterben fammelte; ich möchte noch von ben
legten Tagen erzählen, die ich Darin verlebte.
Bis Ende November hatte und die rauhe Wirklichleit des
Kriegs in unfern Krankenſälen verfchont. Nur Botichaften und
Gerüchte drangen zu und, fie famen von ziemlich weit her, denn
unfre Truppen waren jeit Wochen im Vordringen; auch brachten
die Transporte nur einzelne Verwundete, umd die Gerüchte er-
zählten au) nur von einzelnen Gefallnen. Daß es nicht fo
bleiben werde, war Mar. Die erften Sturmvögel waren mie
gewöhnlich die Franzoſen jelbft, die Bewohner der Stadt, Die
kecker wurden, fi in auffallend großer Zahl auf den Straßen
verfammelten und einander wichtige Nachrichten zuzuflüjtern
hatten. Wir börten davon durch die Krankenwärter, die mand)-
mal etwas niedergefchlagen von ihren Gängen in bie Stadt
zurüdtehrten, und durch einen Der Unterärzte, ber leider gar
fein Held war, fondern in der Häßlichen nervöfen Feigheit der
Gebildeten alles ſchwarz jah und Befürchtungen fogar und gegen-
über an den Tag legte.
An einem der früh Dunkeln Dezembernachmittage hörte man
ein ftärfere$ Gewehrfeuer, dichter als fonft und ohne Zweifel raſch
näher fommend. Der jüngere Arzt, ber von ung allen am mwenigften
15*
228 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
zu fürdhten Hatte, fam in etwas aufgeregter Stimmung in den
Saal, befahl allen denen, die irgend trangportfähig jeien, ſich
bereit zu machen, auf den erften Befehl mit der hartbedrängten
Beſatzung abzumarſchieren, bezeichnete ſchon einige Leichtverwundete,
die marjchfähig ſeien, und andre, für die Wagen zu requirieren
wären; von der Mehrzahl, die übrig blieb, ſprach er nicht; man
wußte zur Genüge, daß fie dem Feind in Die Hände fallen
würde. Das tiefe Schweigen unterbrad ein Typhusrekonvales⸗
zent, Schlefier, angebli) Jude, mit der angebrachten Frage,
ob die weiße Flagge mit dem roten Kreuz bereit fei, unter ber
man ſich etivaiger Tioergriffe der ſiegreich eindringenden zu er-
wehren habe. Der Arzt verriet feine Nervofität uns in ſolchen
Dingen empfindlien Soldaten dadurch, daß er nicht das in ſolchen
Hüllen übliche „Halten Sie das Maul, bis Sie gefragt werden“
fand, fondern etwas Unſicheres brummte. Außen fam das Ge-
fecht offenbar näher, am offnen Fenfter hörte man Trompeten⸗
fignale, Trommeln, die zu einem Sturmangriff einjchlugen: Die
brummen, es find franzöfifche, unfre Hopfen heller, fagten unfre
Kenner; dann Salven: fiebengliedrig, bie war gut, das waren
Unfre. Dann wiederholte Salven und zeritreute® Gewehrfeuer,
das fich entfernte. Unterdeifen hatte ſich alles fertig gemacht,
was nur gehn konnte, und es ftellte fi im Mittelgang bes
Saales eine Elitetruppe auf, in der jeder Einzelne würdig geweſen
wäre, einem Rarifaturiften ald Modell zu dienen. Verbundne
Köpfe, ummwidelte Hälfe, Arme in Schlingen, Füße in Bellei-
dungen jeder Art und Größe, und auf daß alles die Uniform-
ftüde gezwängt, der Tornifter auf» und das Seitengewehr um⸗
geichnallt, jo ftand die mehr als falſtaffiſche Schar von neun⸗
zehn angeblich marjchfähigen Lazarettgenofien unſers Saales
Gewehr bei Fuß. Einige padten noch in Tornifter und Brot-
fad, was fie an Brotkrumen finden Tonnten. Es war fidherlich
eine lächerliche Gejellichaft, und jo mochte es auch jebem Ein⸗
zelnen davon vorlommen, wenn er feinen Nebenmann anfab.
Über der Ernft der Lage und die Disziplin wirkten auch bier
Wunder. Dieje Sammergeftalten ftellten fi) in Reih und Glied,
die Ylügelmänner waren glei) herausgefunden, und ein pom⸗
merjcher Unteroffizier, dem der Helm ganz fonderbar auf dem
verbundnen Kopf ſchwankte, ftellte zuredht, teilte Sektionen ab,
fommandierte „Stillgeftanden!“ und Tieß „In Reigen gejeßt,
rechtöum!“ machen, dann Front, worauf er erklaͤrte,
gejegt würden wir abmarfdhieren, wenn ber Befehl bazu kame.
6. Im Lazarett 229
jest follte fi jeder einftweilen an feinen PBlaß begeben. Das
Gewehrfeuer Hatte fi) indeflen offenbar immer weiter von ber
Stadt weggezogen, doch blieben unten im Hof bie Wagen be=
ipannt, die vorhin aufgefahren waren, und jet hörte man, wie
einzelne beorbert wurden, in der Richtung auf Zongpre Hinaus-
zufahren, um Verwundete bereinzuholen. Noch an demfelben
Abend wurden unjerm Saal zwei Leichtverwundete zugeteilt, ein
Musketier und ein Sergeant, bie daß Gefecht des Nachmittags
mitgemacht hatten und noch Beugen des Rüdzugd ber Franzoſen
gewejen waren. Ich ſehe den Sergeanten, dem zwei Finger ber
linfen Sand abgefchoffen waren, vor mir, wie er mit Begeifterung
die drei fiebengliedrigen Salven ſchilderte, die feine quer über
die Straße liegende Kompagnie in die Franzoſen abgegeben
batte, die man auf fünfzig Schritte Hatte herankommen laſſen.
Mit Recht war er bejonders ſtolz darauf, daß kein Schuß vor
dem Kommando Ioßgegangen war. Das war ein Unterjchieb,
das Hedenfeuer von den Sranzofen, daß nur fo praflelte, und
unfre Salven, ein Unterjchied, wie wenn ihr Heingefpaltnes Kien⸗
holz oder einen buchnen Kloß in den Dfen legt. Ya, Salven
kann man gar nicht genug üben, fügte er hinzu, als ob er
fi) vornähme, gleich bei der Rückkunft in die Garniſon dieſe
Kriegserfahrung Träftigft auszunutzen.
A
De ws men 8
* *
% —
Die letzten Gefechte hatten zahlreiche Verwundete gebracht,
und der frühe Froſt viele Kranke. Da wurde es nun Ernſt
mit dem „Evafuieren.” Zwei Tage nach dieſem aufgeregten
Abend hielten Leiterwagen, mit Stroh gefüllt, in denen zwanzig
von uns ein paar Etappen weiter rüdwärts befördert wurden.
Daß wir erft in Luneville Halt machen würden, mußten wir
damals nicht. Es war eine kalte Fahrt, auf ber einige von uns
die Lehre, daß man bei fünfzehn bis zwanzig Grab unter Nulf
unbeweglid) auf dem Stroh offner Wagen liegend die Beben
erfriert, wenn man nicht die Stiefel auszieht und bie Füße mit
Stroh ummwidelt, mit erneuter Erkrankung bezaflten.
Ganz andre Lehren trug ich aber in meinem Innern mit.
Dem Lazarett, wo id) genau vier Wochen gelegen hatte, fagte ich
mit dem Gefühl Lebewohl, reicher zu gehn, ald ich gefommen
war. Den Srieg, den ich bis zu meiner Verwundung wie einen
abwechilungsreichen Spaziergang mitgemacht Hatte, lernte ich bier
230 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
von der ernfteften Seite Tennen. Früher hatte mich ſchon der
Gedanke an eine chirurgiſche Operation aus einem Krantenzimmer
vertreiben können, und an den Ausbruch epileptiicher Krämpfe,
defien Zeuge ich mehrmals gewejen war, hatte ich nur mit
Grauſen zurüdgedadt. Hier erfuhr ich nun zum erftenmal ben
Segen ber GSelbitaufopferung, der vielen edeln Menfchen das
Leben erft lebenswert macht. Nun übertrug fi die Kamerad⸗
ſchaft mit Gefunden ganz felbftverftändlid in das Gelbftgebot
tätiger Teilnahme an den Leiden der Kranken. Ich Habe mit
der Zeit meinen Aufenthalt und meine Tätigkeit als eine Art
von freiwilligem Lazarettgebilfen liebgewonnen.
Am Rückblick auf diefe Erfahrungen erkenne ich, daß ſich
in dem alten Lazarett von D. Ereigniffe von enticheidender Be⸗
deutung für mein ganze Leben abgefpielt haben. Und zwar
wurde mir klar, dab es wohl widtig für einen Mann fei, dem
Tode nahe ind Auge geblidt und erfahren zu haben, daß ihm
das ohne Zittern möglich jet, daß aber eine höhere Art von Mut
dort auf die Probe geftellt werde, wo man tagtäglich mit dem
Tod umgeht und mit dem Opfer auch der niederiten Dienfte den
Menjchenleben, die der Tod fchon in der Hand hat, ein mildes
Hinübergehn erfauft. Ein Menſch iſt nicht fertig, der nicht letzte
Dienfte erwiejen, Sterbende bis an bie Schwelle der Ewigkeit
begleitet hat. Was bu einem Sterbenden tuft, und wäre es nur,
daß du ihm die Augen zudrückſt oder die Schweißtropjen ab-
wiſchſt, ift ein letzter Dienſt. Bedenke, was das beißt, ein legter!
Sterben Heißt die Grenze zweier Welten überjchreiten, der
Sterbende fteht in der Beit und fieht in die Ewigkeit hinüber,
du aber bleibft einftweilen noch Bier. Iſt e8 bir nun nicht, als
fiele durch dieſe Spalte zwilchen Beit und Ewigkeit ein Strahl,
der uns jonft nie, nie leuchtet, auf unjern Weg? Diejer Strahl
beiligt ben Sterbenden, und er ift e8, ber deinen Dienft am
Sterbebett verflärt.
ER
7. Ein zündender Blitz
Niemand weiß, wenn ein Gewitter aufzieht, ob der Blitz,
und wo er einfchlagen, und wen er treffen wird. In der grauen
Volle dort Tann ein Xodespfeil für mich oder di auf dem
Bogen liegen, und während wir wähnen, hier mitten im Leben
zu fein, zielt jchon ein himmliſcher Schüge, und fein Finger liegt
brudbereit an ber Sehne. Man jpricht vom Sriegägewitter und
vom Schlachtendonner und vergleicht das fahle Aufleuchten des
Geſchützfeuers dem fernen Blitz. Es gibt einen viel furdhtbarern
zündenden Blitz als den, ber Gewaffnete trifft, die mehr oder
weniger darauf vorbereitet find; er fchlägt wahllos in ein frieb-
liches Leben hinein, daß es zerfplittert, er tötet unb zündet mitten
unter nichtsahnenden Unfchuldigen, und wo e8 vorhin blühte und
grünte, tft eine Stunde darauf eine ſchwarze Brandftätte, und
aus den Trümmern bed Glüds von vorhin fteigt der Opferraud)
zum Himmel. Solche Blite, die weit von den Schlacdhtfeldern
und Seereszügen niederfahren, als ob fie fich verirrt Hätten,
gehören zum Schredlidäften bes Krieges. Sie zeigen uns bie
tobbringenden Mächte ohne Geſetz und Feſſel, umberichweifenb
wie Marodeure oder die vor Hunger tollen Hunde Hinter einem
Zroß, und anfallend, wen ein übles Geichid ihnen in ben
Weg wirft.
* *
*
Um 17. Januar lag eine dide Luft über dem Lande zwilchen
Vogejen und Jura. Zu ımfern Füßen waren Schnee und Nebel,
zu unfern Häupten Berge und Himmel nicht zu jcheiden. Die
Luft war wie greifbar. Der Kanonendonner von Montbeliard
rollte wie von einem Wintergewitter unheimlid) durch die Wolken,
nicht metallen, jondern bumpf echoend; der Nebel dämpft ben
232 Bilder ans dem Kriege mit Frankreich
Schall. Zündeten feine Blitze, die man nicht ſah? Vielleicht
ſchoſſen die Franzojen ohnehin ſchwächer? Eine Tags wird
diefe8 Donnern doc aufhören. Es rührte fi) nichts vor uns.
Wagten fie fi im Nebel nicht heran, ober hing ihre Überzahl
ſchon wie eine Lawine über und, bereit, uns zu erdrüden? Man
hatte in der Nacht den Lärm eines heftigen Gefechts von Norden
ber vernommen, dann war ed immer ftiller geworden. Darüber
war man eigentlich nicht verwundert. Froſt und Schnee find
allem Kriegstrubel abhold. Alles ift zur tiefen Stille in dieſer
Schlafzeit der Natur hergerichtet, und man wundert fidh, daß Die
Armeen in dem weißen Felde ftehn. Und die Schlacht an der
Liſaine war die rechte Winterſchlacht. Man lag und fror im
Schnee, man lief und tanzte in ihm, um fi) zu wärmen; zum
Überfluß beichütteten Die Wrtilleriften fogar ihre Batterien, die
Pioniere ihre Bruftwehren mit Schnee, um die Werke weniger
fihtbar zu machen. Am hellen Winterhimmel flimmerten die Sterne,
als ſchüttelten fie fi vor Kälte, oder als tanzten auch fie, um
fi zu wärmen. Nur in den Wäldern fnallten die vom Frofte
fpringenden Bäume um die Wette mit den Geſchützen und Flinten.
Nur den Toten, die beide Armeen täglid) auf bem Kampfplatze
zurüdließen, wo fie als bunfle Punkte im Schnee lagen, manch⸗
mal von einem rotbraunen Hof umgeben, war es gleichgiltig, ob
es fror oder nicht, ihre Glieder erftarrten höchſtens etwas früher.
Am Nachmittag trat Regen ein, und wenn fid) die Himmels-
borbänge nicht noch früher zugezogen hätten als gejtern, hätten
wir vielleicht die Nebeljchleier zerreißen und die Franzoſen in der
Richtung ded Doubs abziehn jehen. Wir wußten nichts Davon,
daß Bourbafi heute den Rüdzug angetreten hatte. Man fühlte
jedoch, daß eine Entiheidung gefallen war, und man begann zu
vermuten, daß ed bie für uns günftige ſei. Erſt fragte einer
den andern: Hörft dur auch nicht mehr die Kanonen von Norden
ber, oder bin ich von dem dreitägigen Gebonner taub geworben?
‘a, es donnerte noch, aber daß war viel weiter weg als geftern,
das war in Belfort. Im Quartier jah man Abends die Mienen
der Unfrigen heller, die der Franzofen düftrer geworben. Bei
einigen äußerte ſich die Erleichterung dadurch, daß fie ein Liebchen
pfiffen, das bie letzten Wochen verloren geweſen war, bei andern
dadurch, daß fie wieder zu Hagen anfingen. Für Frohfinn und
Trübfinn hatte die Gefahr der legten Tage den Mund verichlofien.
Man kümmerte fi) wieder um bie Proviant⸗ und Boftfendungen,
die am 12. von Vejoul Hatten zurüdgehn müflen und angeblich
2. Ein zündender Blitz 233
nun erft auf dem Ummeg über Straßburg und Nancy zu uns
ftoßen würden. Die dumpfe Gleichgiltigleit der Tage, in denen
man nur noch gefroren, gehungert und gefochten Hatte, löſte ſich
auf, e8 wurde Raum für Hoffen und Wünſchen. Mein Kamerad
Reiske, der feit lange nur nod) ben Spruch Werner aus „Minna
von Barnhelm“ auf den Lippen gehabt Hatte: Dem Soldaten
gehts im Winterquartier wunderli, ging jebt zu einer neuen
Nummer über: Am Abend wird es hell, wie das franzöfiiche
Spridwort jagt, ihr werdet jehen, wie hell die Dämmernadt
dieſes Winterfeldzugd enden wird. Seht kommt die Zeit, von
der der Sranzofe jagt: on reprend figure. Der Musfetier wird
fein wollnes Kopftud) ablegen, der Kanonier wird feine Bären-
tagen von Fauſthandſchuhen ausziehn, der Dragoner ſich der
wollnen Nahtmüge entledigen, die er noch unter dem Helme
trägt. Und wenn alle die Schalen und Hüllen des Winters ge-
fallen find, werden wir drei jogenannte Ruhetage puben und
fliden, Schneider und Scujter werden in einem anftändigen
Quartier angejtrengt arbeiten, und es wirb eine Parade geleiftet
werden wie nie!
Als wir am 18. Morgend den Mari nad Weiten an-
traten, zweifelte gar niemand, daß das Verfolgung fei. Das ftille
Gefühl bes Siege wurde auch bald fefte Überzeugung. Man
merkte es ſchon an der wenig ängſtlichen Marjchficherung, dag.
wir nicht viel zu fürchten hatten. Welch froher Ausmarſchl Sieg
und Frühling! Zuerſt riefelten noch Schneeförner herab, und
ſchwankende Wollengeftalten begleiteten unfern Marſch talaus.
Dur den Nebel jah man immer nur das Nächſte ganz, das
aber ſehr deutlich; alle8 andre trat gleich in die graue Undurch⸗
fihtigfeit zurüd. Um fo friiher marſchierte man in die fremde
Landſchaft. Es war ein verwirrendes Spiel, wie Bäume und
Häufer auftauchten und unterjanten. Als aber die Sonne durch⸗
drang, waren die Schatten jo wunderbar blau, und e8 raufchten
die Bäche jo voll und fo laut, ſchon Hatte bier außen der Schnee
die Felder verlaffen und die Bäche gefchmellt. Wir haben dasſelbe
Biel, ſchien zutraulic der Bach zu fagen, an dem wir entlang,
ind Tal des Doubs Hinunterftiegen, machen wir den Weg zus
jammen, und verplaudern wir die Stunden. Hier ftanden die
Mühlen nicht jtill, wie weiter oben, auch die Fabriken feierten
nit. Man zeigte und in Beaucourt ein großes neues Gebäude,
wo troß dem Kriege ruhig die feine Arbeit an dem Uhrwerk
immer- weiter gegangen war. Hier war nicht jedes Gemäuer
234 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
blatternarbig von Schüffen. Die Borhut machte noch Gefangne,
fie wurden aber nicht rüdwärts transportiert, ed waren großen-
teils Halberfrorne, Verhungerte, die gleich auf die Seite gebracht,
großenteil3 in Pflege genommen werben
Bei Blamont famen wir auf die große Landftraße, da ſah
e3 nun freilich anderd aus. Die, bie vor uns marſchiert waren,
hatten offenbar ſchon etwas Ordnung gemacht, aber noch ftarrte
es allenthalden von den wüften Spuren eines ungeorbneten
Rückzugs: die gefallnen Pferde lagen zu Dutzenden rechts und
lints von der breiten Straße, die von der Straße hinabgedrängten
und umgeftürzten Wagen oder die Nefte davon, die verlafienen
Feuer und Lagerpläße, wo Uniformftüde und Waffen zurüdgelaflen
worden waren, die Blutflede im Schnee, wo man Leichen weg⸗
getragen hatte. Beredt war die Tatſache, daß die Munitionskiſten
geſchloſſen ftanden, die großen Kiften mit Biscuits de Lyon aber
aufgebrodyen umberlagen. Macht Plab, da kommt ein größerer
Trupp Gefangner, die Unteroffiziere voraus. Still und gebrüdt
gehn dieſe dahin, mit Mienen des Überdruffeß jchleppen ſich die
Soldaten fort. Die meiſten mögen noch nicht lange Soldaten
gewejen fein, ſonſt würden fie wohl etwas mehr Haltımg und
Zuſammenhang zeigen.
Der Feind hatte feine Macht mehr, unſern Marſch zu ftören,
Heine Teile von uns näherten ſich unbehelligt jeinen Hauptmaflen,
die freilich nad) allem, was man hörte und ſah, noch immer an
Zahl ung weit überlegen waren. Doc wo man auf franzöftiche
Soldaten traf, waren es Kampfunfähige ober Kampfunluftige, die
froh waren, ihr Gewehr loszuwerden, das fie ſchon aus freien
Stüden in die Ede geitellt haben würden. In dieſen Winters
ftürmen war der friegerifhe Hauch von den Wangen der Gallier
völlig gewichen, das ganze Volk war blaß und mager geworden.
An Baume led Dames bei Bejanson kamen die gefangen werden
wollenden uns entgegen, ihre Waffen hatten fie hübſch zufammen-
gelegt, und fie machten kein Hehl aus ihrer Freude, mit ber
Kriegsepifode abjchließen zu können. Dazu mochte auch das voraus
eilende Gerücht von ben neuen Armeen, die im Anzug waren,
beigetragen haben; es ſprach von ungeheuern Scharen Deutichen,
die über Langres und Dijon herabiteigen jollten.
Für uns war ed nun am widhtigften, mit Der Manteuffelichen
Urmee, die in der Tat näher war, als mandye glaubten, in Ber:
bindung zu bleiben. Im breiten Doubstal mußten wir und treffen.
Während mın ein Teil ded vierzehnten Korps jo nahe an ber
2. Ein zündender Blitz 235
Schweizer Grenze marfchierte, ald nötig war, die Wege nad)
Belfort und Veſoul auf dieſer Seite frei zu halten, drüdte der
andre auf die Gegend zwilchen Doubs und Ognon, wo fich der
Feind vielleiht an das ftarle Beſangon anzulehnen verſuchte.
Bon der neuen beutihen Südarmee aber mußte ein Teil den
Doubs überfchreiten, um und die Sand reichen zu können, ein
anbrer Zeil weiter füblich die Saöne, um ben Franzoſen den
Weg über Pontarlier nad) Süden zu verlegen und Garibaldis
jchlecht georbnete und jchlecht geleitete Scharen, bie bei Dijon
ftanben, auf die Seite zu werfen.
Da wir dem linken öftlicden Flügel des Vormarſches an-
gehörten, famen wir bald tiefer in den Sura hinein. An Süb-
unb Oſtflanke jtiegen Weinberge empor, aber nicht weit. Hier
war nicht, wie in ben Vogeſen, ein ganzer Berg unten Weinberg
und oben Wald. In dem rauhen aber feuchten Klima legten fich
Matten dazwiſchen, die, wo der ſchmelzende Schnee fie verlieh, im
hoffnungsvolliten Grün leuchteten. Alle Soldaten freuten fidh über
die neuen Bilder, die einen fanden den Unterſchied dieſer tiefern
Täler, diefer räftiger vorjpringenden Berge und fchroffern Höhen
don den Vogeſen heraus, die andern erlannten, troßdem daß der
Schnee die Felder eben erſt verlafjen hatte, die Güte des Bodens
und lobten die großen wohnlichen Häufer. Dan fagte fih: Wenn
wir auf diefe Höhen fteigen Tönnten, würden wir tief in bie
Schweiz bineinjehen, und erwog in der Stille, um wieviel bie
Eroberung dieſes Teils von Frankreich und bem Frieden näher
gebradit haben möge.
Da fi) immer mehr Hügel zwilchen uns und dem Zentrum
der Armee auftürmten, und der Querverbindungen immer weniger
wurden, fandte die Spite auf jeden Weg, der rechts abzieigte,
Heine Abteilungen ind Land hinein. Sie follten Verfprengte
aufheben und Waffen konfiszieren. Nequilitionen waren zum
Glück jet nicht mehr notwendig, wir waren reichlich mit Nahrung
dveriehen, und das Land wurde zujehends befier. Es wurde aud)
nit mehr fo viel Vorſicht gelibt wie früher. Zwar war nod)
immer der Unterfchied zwiſchen ſichern und unſichern Landichaften;
diefe durchritt man fchnell, in jenen gab man den Pferden Ruhe.
Wenn man aus einem engen Tale, wo Wald und Bachesraufchen -
die Verbündeten des Feindes fein konnten, in offnere® Land
fam, atmete man auch jebt noch auf. ber mit jedem Tage
Fi das Gefühl: Der Frühling fommt und bringt Sieg und
rieden.
236 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
TILL TILL
Dad milde Wetter hielt nicht lange an. Am 20. trieben
Schneefloden in der grauen Luft, auf den Höhen wurde e8 zu=
ſehends weißer, und neuer Froſt jenkte fih ind Tal Um 21.
als eine neue Schneedede über Berg und Tal gebreitet war,
ritten wir ind Land hinein. Das war jo einfam und totenjtill,
man hörte faum die Hufe der Pferde. Der Schnee war glüdlicdher-
weife nicht jo tief, daß man nicht die Departementsftraße hätte
erfennen Tönnen. Die unfehlbaren ſchmalgeſchnittnen Bappeln be-
zeichneten fie, und manchmal ftanden Eichbäume in Reihen, die
wie Weiden zujammengefchnitten waren. Marſchiert war bier
feine Truppe vor uns, man ſah nur Spuren von Einzelnen.
Man trifft Hier felten Walnußbäume an den Lanbftrafen, Obft-
bäume gar nicht. Es jcheint aud) weniger Raben zu geben. Man
vermißt ihren jchwerfälligen Flug und ihr unfcheues, plump-
vertrauliches Verweilen neben der Straße. Dafür flogen fchon
Stare, entweder jehr frühe Boten des Frühlings oder Zeugen
eines milden Winter, der ihnen das Überwintern erlaubt hatte.
Man ritt ohne Karte und Kompaß ruhig der Straße nad), biß
fie fi) zu teilen jchien. Führte fie doch ziemlich gerade nad
Weiten und in das Hügelland hinein. Sie ftieg zulebt ſtärker
an, bis fie einen Höbenrüden in jcharfem Bogen erftiegen
batte, und ſchien ſich nun zu teilen, das heißt fie verichmälerte
fid zu einem Zizinalfträßchen und gab rechts und links einen
Feldweg ab. Die Batronille wurde geteilt; zu einer beftimmten
Stunde de Nachmittags jollten ſich die beiden Abteilungen in
V. zujammenfinden, wo, wenn die Verhältniffe günftig waren,
ein Relais für die Verbindung mit Qure gelegt werben jollte.
Der Haupttrupp ritt auf dem Pizinalfträßchen weiter, wo noch
immer ein paar Spuren von Holzſchuhträgern zu ſehen waren.
Ich ging mit einem Manne recht? ab, um auf ſpurloſem Feldweg
eine Häufergruppe zu erreichen, die nach der Angabe auf dem
legten Chaufjeeitein ſechs Kilometer entfernt war. Das Gelände
ftieg merflid) an, unb der Schnee wurde tiefer, jchon war es
geboten, Mulden zu umreiten, in die er Hineingewweht war. Wir
hielten auf einer Lüde in dem Waldrande, der fich dunkel und
ſchnee⸗ oder reifbeitäubt vor ung hinzog. Es ftand dort weit
fihtbar ein fteinernes Kruzifix. Al wir den Wald erreicht
hatten, ftießen wir auf das erite Hindernis.
Gefällte Tannen lagen über den Weg: unſre verfpätete
Chriftbaumbefcherung! Wir brachen von ihren duftenden Zweigen
ab und lauten die Nadeln, um den Durft zu vergeſſen, der ſich
2. Ein zündender Blitz 237
LEID DAL DL LOB GL GL DE —— DE DD DB DLR ö— — — — ——
allmählich einſtellte. Die törichten Menſchen hatten ihre ſchönſten
Bäume dahin geworfen. Nicht einmal ein Hindernis für eine
Kompagnie hatten ſie damit geſchaffen. Uns machte es freilich
einige Mühe, die Pferde um die Barrikade herumzuführen,
Infanteriſten wären darüber weg voltigiert. Die Hauptſache war,
daß der Weg in der angenommnen Richtung weiterführte, wir
wünſchten dringend, bald am Ziel zu ſein, denn es begann zu
dämmern, und das Gelände zeigte Einſchnitte, die nicht unbedenklich
ausſahen. Wir kannten die Eigentümlichkeit des Jura damals
noch nicht, daß die mildeſten Hügelketten von ſteilen Schluchten
und tiefen Keſſeln durchſchnitten werden, deren Daſein keine
Furche, kein Einſchnitt in den Umrißlinien verrät. Sie mußten
forgfam umgangen werden. Einzelne waren jo tief verweht, daß
die Pferbe leicht Bid über den Bauch verfinfen konnten. Die
Zeit verging im Suchen ficherer Umwege und Übergänge. Die
Sonne fant früh Hinter den Bergen hinab, und im Schatten
wurde die Abenbluft fchneidend. Den Wegweiſer, der an einer
Abzweigung an einem fchluchtenartigen Hohlweg ftand, beichatteten
Hohe Bäume. Es half nichts, ihn zu erflettern und zu verjuchen,
mit dem Streichhol; feine Inſchrift zu entziffern, fie war zer-
ſchnitten bis zur Unleferlichkeit.
Ich will nicht lang erzählen, wie wir beim Licht des Schnees
auf unjern Spuren zurüdgingen und bei raſch hereinbrechender
Naht und in dem Gewirr von Schluchten und Gruben, durch
die wir und gewunben hatten, verirrten und endlid die Uns
möglichkeit erfannten, und in irgendeiner Richtung herauszufinden.
Auf einer freiern Stelle, wo fürzlid) Holzfäller gearbeitet haben
mußten, fraßten wir den Schnee vom Boden, legten Holzfcheite
unb Gezweige zu einem Windſchutz zufammen, hinter dem bald
ein Feuer loderte. Eine tüchtige Abreibung und ein paar Hände
vol Mais den Pferden, ein Stüd Sped und eine Brotkruſte
den Menkchen, wozu beide begierig den Schnee ledten. Das
mußte heute genügen. Wir nidten am teuer ein, als wir ung
eben gejeßt hatten, und fanden kaum Zeit, zum Sternenhimmel
aufzujchauen, der unglaublid) groß, rei und jtill herableuchtete.
Es war eine Naht, in der wir vom weiten Meere und von
Sternen träumten, die fic darin |piegelten oder dicht wie Schnee-
floden fielen und uns zudedten.
Beim erjten Morgengrauen auf und der weißen Seite des
Firmaments entgegen. Der Morgenftern ſtand noch hoch, aber
draußen im Dften zitterte ſchon ein erfted Ahnen von Morgen»
238 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
Dämmerung in ben Aften. Die übrige Welt war noch ftill. Die
Dämmerung und der Schnee leuchteten und, als wir und auf-
machten, um den Weg zu fuchen, den wir geftern verloren hatten.
Wir waren nicht lange gegangen, da lagen hart unter ung Die
grauen Scinbeldäder mit den ſchwarzen Schornfteinen, al
wollten fie zubeden, was bier noch von Leben war.
Es war ganz; Mar, daß wir kaum emen Kilometer vom
Dorfe in einen Waldweg abgebogen waren, der auf ben Holzplag
führte. Hier liegt noch viel Schnee, umd weithin tft das weiße
Feld fleckenlos, ohne eine einzige Menfchen- oder Tierjpur. Unten
liegt der Schnee gegen die Hütten angeweht, ihre breiten Dächer
ſchauen wie Klippen aus dem Meere, über dem es jebt heller
zu werden beginnt. Um Waldrande beginnt in einem Fleinen
Kalkplattenbrudy ein undeutliher Weg, der hinabführen muß.
Wir folgen ihm; das Helle Gebell eines Hundes von weiter
Witterung findet ung an, daß dad Dorf wohl auch Menſchen
bergen wird. Der Weg führt ftetig hinab, wird zu einer Art
Straße, deren Schnee unrein wird, und jo marfchieren wir langjam,
immer die Pferde führend, in das Dorf hinein.
Diefeg Dorf lag wie im Hohlweg, zu beiden Seiten ging
es teil hinauf, und die Heinen Häufer, mandje and rohem Stein-
bau, ftanden eng um das Sträßlein, die älteften von ihnen drängten
fi) 6i3 auf den Weg vor und kümmerten fi) nicht darum, ob
fie jchief zu ihm ſtanden. Ein einziges vagte über die andern
hervor, es ftand auf hohen Mauern an dem Abhang der Mulde,
in der das Dörfchen lag. Doch ſah es jo verfallen unter jeinem
ſchweren dunkeln Dad) aus, daß man zweifeln mochte, ob es be-
wohnt je. Ein paar Männer und Weiber fanmelten fi) um
und, einige ſchauten neugierig drein, einige erichrafen. Mein
Kamerad fagte leichthin: Hier jcheinen wir noch nicht geweſen zu
fein. Es fehlten in der Tat alle Merkmale, die kantonierende
Truppen in den Dörfern zurüdlaffen: die Inſchriften an Toren
oder Fenfterläden, die Refte von Schutzhütten oder Wetterfchirmen
an den Eingängen und den Yusgängen, die Scheunen, die offen-
ftehn, weil fie außgeleert find, die von Pferden zerftampften Plätze
unter Bäumen. Als ich nad) dem Haufe des Maire fragte, zeigte
ed fich in der Tat, daß die Leute hier noch nicht die Übung bes
Berfehrd mit fremden Truppen hatten. Man fchidte nad irgend
jemand, doch ftellte es fich heraus, Daß daß der Lehrer war, ber
für den im nädjiten Weiler wohnenden Ortsvorfteher Schreiber-
bienfte beforgte, ein verwachſner Menſch. der nicht jo ganz
7. Ein zündender Blitz 239
dumm und unwiffend fein modjte, wie er ſich zu ftellen fchien.
Seinem Wunſch, eine halbe Stunde zurüd zu dem Weiler des
Maire zu reiten, ſetzten wir Die beftimmte Abficht entgegen,
hier zu bleiben. Wir überjchauten beide in demjelben Gedanken
prüfend die Hütten und die Scheunen. Wo mochten unire Pferde
am beiten aufgehoben jein? Die Ausfichten waren nicht glänzend,
da8 Dörfchen war offenbar ebenjo bürftig wie Hein. Die Leute,
deren Bahl nun gewachſen war, fchauten zwar abfolut friedlich
aus, fie wären und aber doch gern 108 geweſen und fdilderten
das Nachbardorf in hellen Yarben.
Auf einmal ftand die hohe, breitfchultrige Geitalt eines
Geiftlihen wie auß der Erde gewachſen Hinter dem Haufen, ber
fich teilte, ald er ihn gewahr wurde, als jei es ſelbſtverſtändlich.
daß er mit und parlamentieren müfje. Ich fühlte den prüfenden,
faft ftechenden Blick Kleiner kohlſchwarzer Augen auf und ruhn,
grüßte, ftieg vom Pferde und ging auf ihn zu. Der ſchien nichts
andre erwartet zu haben, fragte jogleich, woher wir kämen, und
ob ein größerer Truppenkörper nachkommen werde. Auf meine
nicht ganz beftimmte Antwort, die diefe Möglichkeit mit Wbficht
nicht ausſchloß, fagte er, daß wir die erften Deutichen feien, die
den Weg hierher gefunden Hätten. Er ging dann gleich dazu
über, die Friedfertigkeit feiner Dorfbervohner zu loben, und hob
fein Bemühen hervor, fie auf diefem Wege zu erhalten. Sie
hätten bier eine Streifpartie von Clinchant gehabt, erzählte er,
jchlecht berittne und viel zu leicht gefleidete Truppen, Leute, zum
Erbarmen la pauvret& möme, denen wir, Die wir jelbft in Friedens⸗
zeiten arm find, gaben, was wir entbehren konnten. Sonft bat
niemand den Weg hier herauf gefunden. Man hörte zwar deutlich
heraus, daß er unfre Ankunft bedauerte und uns vielleicht im
ftilen weit weg wünſchte, aber ein Blid auf die Dorfbewohner,
die fi) um und gejammelt Hatten, bejtätigte, was er von ihrer
Hriedliebe jagte.e Man konnte übrigens begreifen, wie ungern
er jein Dörfchen no fo fpät, vielleiht an der Schwelle de
Sriedend, von den Kriegswellen erreicht ſah. Es war Klein,
eigentliche Bauern gab es hier offenbar nicht. Den Leuten, bie
ung umgaben, jah man an, daß fie den ganzen Winter an der
Hobelbant oder über der Schnipbant gearbeitet Hatten. Dieſe
blafien, gebüdten Geftalten mit dem weichen Blick waren fein
Material für Franktireurs. Auch der Geiftliche flößte Vertrauen
ein, er erinnerte in feinem ruhigen Sprechen an bie bejonnenen,
zuverläffigen Halbbeutichen, die wir aus der Gegend von Belfort:
240 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
fannten. ch richtete an ihn die Frage, ob wir unſre Pferbe
irgendwo einftellen Tönnten, ich ſahe Fein Wirtshaus, bezahlte
aber gern das Futter. Am nötigften fei ein warmer Stall und
eine Abreibung mit trodnem Wolltuch. Ob ich beides bei einem
Pferdebeſitzer im Dorfe fände.
Pferdebauern gibt e8 hier Feine. Doch ift in meinem Haufe
ein geräumiger Stall, den gegenwärtig nur drei Kühe bewohnen,
und der Bauer, ber ben Kirdhengarten pflegt, wird das andre
bejorgen. Seine Haushälterin werbe uns hoffentlidy etwas Warmes
‚anbieten können.
Wir madten und auf den Weg. Die Umftehenden blieben
auf einen mahnenden Bli bes Geiftlicden zurüd, offenbar hatte
er fie gut in der Hand. Ein Knabe ging mit ung, zeigte den
Stall, wo wir das Nötigjte fanden und die Pferde bejorgten.
Hau war im Überfluß da. Das Pferd meines Kameraden ver-
ſchmähte das Zutter, hatte ſchon den Morgen am rechten Hinter-
bein gelahmt, e8 war ein franzöfifches Beutepferd von Langres,
ein ſchöner Falbe, aber für ſolche Strapazen wohl etwas zu fein.
‚Mit Mühe brachten wir die Ingredienzen eines Trankes zu⸗
fammen, der feine Nerven aufrütteln ſollte. Als es troden ge
rieben war, fing e8 an, den Kopf höher zu heben, und feine
"Augen blidten Harer.
Während mein Kamerad bei den Pferden blieb, juchte ich
das Haus des Geiftlichen auf. Es jah von außen bäuriih aus
mit feinen niedrigen Fenftern, die nicht einmal in einer Reihe
lagen und jedenfall ganz gleichgiltig und unbedeutend drein-
ſchauten. Trat man hinein, jo war der erfte Eindrud womöglich
noch ungünftiger, denn die fteinplattenbelegten Gänge und die
Ichmalen fteinernen Treppen wurden von diden Mauern erbrüdt,
und e8 fehlten jo ganz, wie in ben meilten katholiſchen Pfarr⸗
häufern, die erwärmenden Zengniffe menſchlicher Tätigkeit. Man
fühlte fi wie in einem Moſter, das eben von feinen Inſaſſen
verlafſſen worden war. Stein und Kalk, ein paar fchwere ſtumme
Züren, unb fonft nichts. Es regte fidy fein Weſen. Wir ftiegen
in das erfte Stodwerf hinauf, da war es fchon heller. Und
num öffnete fi) die Tür zu dem Studierzimmer des Geiftlichen,
„zugleih mein Kunftzimmer,“ fügte er Hinzu, da flutete mir das
Wintermittagglicht entgegen, als flöſſe es von den weit außge-
breiteten Goldflügeln der Kichtengel einer Verkündigung herab, die
in der Fenfternifche ftand. Das Haus war an den Außerften Rand
des Talabfalles gebaut, und fo fchaute feine Rückſeite hinab zu
2. Ein zündender Blitz 241
dem grünen Faden bes Flüßchens umb hinaus in die Höhe des
jenfeitigen Talrandes, und gerade dieſes Zimmer empfing von
drei Seiten volles Lit. Es war eine fonderbar großartige
gegenſatzreiche Lage zwiſchen dem Dörſchen auf der einen und
dem Blid in Die Welt und den Himmel auf der andern Geite.
Mein Begleiter erklärte mir, daß das Haus in die Reſte einer
Burg bineingebaut fei, die bier als Warte an der Stelle ge-
ftanden hatte, wo man ben weiteiten Blid talauf und talab ge-
winnt. Deshalb vorn Bauernhaus und Hinten eine Nitterburg
mit alten tief Hinabfallenden Mauern. Wer weiß, ob nicht bie
erften Fundamente keltiſche find? In diefer Gegend ift e8 mehr
als wahrſcheinlich, wir find nicht allzumweit von Bibracte und
bem Gau der Häduer, die fih den Römern zuleßt gebeugt haben;
bier ftand vielleicht eine Der Burgen, in denen feltiiche Edelleute,
Anhänger des Julius Sacrovir, noch zu des Tiberius Zeit bie
Unabhängigfeit Galliens verteidigten. Vielleicht ragen dieje feften
Grundmauern nod) weiter zurüd, fagte er, indem er einen Schrank
aufichloß, in dem glänzende Bronzefpeer- und Beilklingen, ſoge⸗
nannte Kelte, lagen. Sole alte Reſte findet man bier nicht
felten. Do mag nun in der Tiefe ruhig liegen, was noch un-
berührt unten liegt; wir haben feine Mittel, danach zu graben,
und wenn wir fie hätten, möchten wir es nicht. Meine Bauern
und id find darin ganz derſelben Anſicht. Das Leben des
Tages gibt und Aufgaben genug und braudt ung ganz, jebte
er mit merklicher Abfichtlichleit Hinzu.
Wir aßen auf dem Vorplatz, deſſen rote Badfteinfliefen ein
dicker Teppich bededte, wie ihn die Bäuerinnen hierzulande aus
den Nanditreifen ihre rauhen Wolltuches Flechten. Ein altes
ftummes Weib trug auf. Köftlich fchmedte die Gemüfefuppe mit
ihren bineingefchnittnen kräftigen Fleiſchſtücken, und Die gelben
Apfel waren troß dem Spätwinter noch voll Duft und Friſche.
Einen dunfeln herben Rotwein, deſſen Heimat die Gegend von
Belansgon war, ſchenkte der Pfarrherr fleißig in mein Glas, und
er ließ es nicht zu, daß ich ihn nad) der Sitte ded Landes mit
Waſſer mifchte. Sch müſſe mich nach der Falten Nacht im Freien
innerlich wieder erwärmen. Meinem Kameraden wurde das Efien
in den Raum im Erdgefhoß geichidt, wo man und Quartier
angewiejen hatte. Nach dem Efien kam die Haushälterin, die
fi den Fremden wohl anfehen und Lob für ihre Kochkunſt ernten
mochte, ein ſchlankes Weſen von unbäurifcher Geitalt und einem
blaſſen, friedvollen Geficht, daS etwas madonnenhaftes hatte.
Rage, Slüdsinfeln und Träume 16
242 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
Seltfam berührte mich bie Ahnlichkeit ihrer Haltung mit dem
Muttergottesbild, das ich vorhin in dem Zimmer des Geiſtlichen
geſehen hatte. Dan hätte weiten mögen, das Mädchen oder die
junge rau habe Modell dazu geftanden.
Eine halbe Landsmännin von euch, warf der Pfarrer Bin,
als fie ſich ſtill wieder entfernt hatte. Ihr bemerkt vielleicht,
wie wenig Ahnlichleit fie mit den Leuten dieſer Gegend bat?
Ste ift zwar dunkel wie eine Franzöſin und ſpricht unfer Patois
wie eine Juraffierin, aber ihre Eltern find aus Baden einges
wandert; ihr Bruder ift der Künftler, dem ich jchöne Werke in
der Kirche verdanke, ein geſchickter und frommer Holzichneiber!
Der Geiſtliche ließ mid) nach Tiſche nicht gleich aufftehn,
er fchien os manches auf dem Herzen zu haben, wovon e8 ihn
zu ſpr drängte. Wahrſcheinlich hatte er in diefem Dörfchen
feinen uß von Anſprache, vielleicht hoffte er auch neues
von mir zu hören. Zunächſt freilich ſchien er mehr Luft zu haben,
fich jelbft al8 mich zu vernehmen. Mir aber war es nur recht,
ihm zuzubören, denn aus feinem Munde rollte Sag auf Sag,
wohlgebilbet, Hangvoll und frei von der Phraſe, die fonit die
Außerungen der Franzoſen über ben Krieg entftellten. Übrigens
wies ihn feine Rebe nicht als Juraſſier aus, wofür ich ihn ges
halten hatte, er ftammte aus dem Herzen Frankreichs, der Touraine.
Es war etwas Abichweifendes, nad) Bildern Suchendes in feinen
Neben, das mir zuzeiten unklar blieb. Doch verftand ich ihn
wohl, wenn er jagte: Was wollen wir ſchwachen Leute? Über
uns, body oben bat fich ein Blod losgelöſt und rollt zu Tal
Ber hält ihn? Es gibt kein Geſetz Gottes, das der Krieg nicht
mit Füßen träte, er ift ein ſchweres Übel. Aber aus bem ge-
tretnen Boden fpringt oft die befte Saat auf; und es gibt auch
feine Tugend, zu deren Übung der Krieg nicht Anftoß gäbe. Sie
tönnen von franzöfiihden Kugeln und fogar von Meuchelmördern
erzählen, die ein Geſchäft mit der Flinte machen, aber gewiß
auch von franzöfiidem Chriftenfinn.
Bon jenem und von diefem, fagte ich, doch Heute lieber von
diefem. Es iſt zum Beiſpiel noch nicht lange her, als ich in einer
falten Nacht, e8 war am 4. Dezember, in Dijon eine alte Fran,
die nicht zu den Reichen gehörte, mit einem Topfe warmen
Kaffees bei den Poſten vor dem Spital herumgehn ſah, fie gab
den balberfrormen Burfchen zu trinken: eine Heine Gabe großer
Barmherzigkeit! Gewiß Hatte auch dieſe alte Frau die rauhe
Hand des Krieged zu fpüren bekommen. Wer nit? Aber e&
2. Ein zändender Blitz 243
II 8⸗⸗— GGG
hinderte fie nicht, Barmherzigkeit zu üben. Und als ich nad) dem
blutigen Gefecht bei Nuits erjchöpft neben dem Herd eined armen
Haufes niedergefunten war, fand id mich Morgend mit einem
Srauenrod bededt, den die mitleidige Hand der Bäuerin über
mich gebreitet hatte, während ich im Herdwinkel lag. Es war
das einzige, was ihr geblieben war, womit fie einem kranken
Feind eine Wohltat erzeigen konnte!
D, unfre Frauen find mildherzig. Die franzöfiichen Eigen-
Ichaften gedeihen überhaupt beſſer auf dem Boden ber weiblichen
als der männlichen Natur.... Ich bin für den Frieden, fuhr
er nad) einer Pauſe mit einem Ausdrud der Überwindung fort,
ja für den Frieben. Sie wundern ſich wohl?
Ich antwortete ihm, indem mein Blid unwillkürlich zu dem
friebvollen Marienftandbild zwiſchen den Fenſtern hinüberſchweifte,
daß der Geiftliche ja ohnehin ein Diener des Friedens fei, bem
die Greuel des Krieges viel unnatürlicher vorlommen müßten
als und. Sein Auge war dem meinen begegnet und blieb,
während er ſprach, mit einem Ausdruck von Innigkeit, der nichts
Gemwohnheitsmäßiges hatte, auf dem Bildwerfe ruhn.
Mit Recht jagt man, der Krieg ſei die Sache der Männer;
wir können fogar fagen, der waffenfähigen Männer. Welche große
Mehrheit von rauen, von Kindern, von Greifen, von Kranken
ift in jedem Volle dem Kriege abgeneigt. Viele tun, ala beftehe
diefe Mehrheit nicht. Aber wir Geiftlichen find jo recht ihre
Vertreter, wir kennen fie. Und als katholiſcher Geiftlicher, der
ſtündlich da8 Bild der ſchmerzensreichen Mutter und des Kindes
mit der Krone bed Weltherricher8 vor Augen bat, empfinde ich
doppelt tief das Unrecht, da8 der Krieg diefer Mehrheit tut,
deren Waffen die Tränen und das Gebet find. Laſſen wir ruhig
die reden, die behaupten, der Krieg entfalte erjt recht die Eigen-
ſchaften, die die Männlichkeit ausmachen. Es find nicht die beiten,
die Gott in und gelegt hat. Dad Weib und das Kind ftehn dem
gemeinfamen Grunde der Menfchheit näher, und eben deshalb
müflen fie auch meinem Herzen näher fein.
Gerade ihr Deutichen nrüßtet die chriftlichen Franzoſen ver⸗
ftehn, ſagte er plößlich abipringend. Ihre Führer haben Bewelfe
von Demltigung vor Gott gegeben. Ich habe mir jagen laſſen,
Ihr General Werber leſe am Wachtfeuer feine Bibel. Wie könnte
auch ein folder Wann feine Verantwortung ohne Glauben an
Gott tragen? Vielleicht ift einmal fein Auge auf Die Stelle ge-
fallen, wo die Juden auf den Stein Eben⸗Ezer ftoßen, bei dem
16*
244 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
Samuel ſpricht: Bis hier hat der Herr geholfen. Vielleicht jagt
er ſich heute: Verfuchen wir den Herrn nicht weiter. Yür Frauk⸗
reich ift daß ein Karfreitag, wie er in der Geſchichte der Völler
felten fo dunkel gewejen ift, aber aud) er hat feinen Abend, und
dann folgt Dftern und Pfingiten. Deutſchland war offenbar
berufen, diefen Tag heraufzuführen. Uber die Vernichtung Frank⸗
reichs kann der Wille des Höchſten nicht fein. Vor ihm find die
Franzoſen auch als Befiegte ein Bolt Gottes. Ich will nicht
fagen, daß die Deutichen das nicht feien, aber was die Franzoſen
für den chriſtlichen Glauben getan haben, muß irgendwo ihnen
zugerechnet ftehn. Und ihr Poiten im Hauptbuch der Vorfehung
fann nur wachſen, wenn fie geläutert aus Diefer Prüfung ber-
vorgehn. Er faltete die Hände und ſprach mit unmerklich ge
hobnem Ton: An meiner Schwäche vollende fi) deine Stärfe,
und je ſchwächer ich bin, defto ftärfer bift di, o Herr. Glaube
ich aber feft, fo ift deine Stärke auch die meine.
Als ich in den Stall zurüdtehrte, ſchlief mein Kamerad Höchft
behaglich unter feinem Mantel, und die Pferde fchauten mid)
freundfih an, als wollten fie fi für den warmen Stall be-
danken. Ich fehte mich zu ihnen. Die „ftille Lebensluſt“ gebt
befanntlich nirgends fo intenfiv von den Tieren auf den Menjchen
über wie in einem warmen Pferbeitall. Den Tieren war e8
wohl, meinem Kameraden offenbar nicht minder, auch mir bebagte
es in der bräunlicden Dämmerung des alten Holzbaues, defien
dide Bohlenwände Teine Kälte bereinließen. Draußen wehte von
den Bergen ber ein lalter Wind, der fich feucht anfühlte; der
Schnee auf den Dächern und an den Häufern fchien zu fagen:
Ich liege gut fo, es eilt mir keineswegs, wegzujchmelzen.
Als ſich der Abend früh herabfenkte, wanderte ich durch Das
Dörfhen und juchte den Fürzeften Weg ins Freie; der einzige
betretne führte an neun Bildftödeln, auf denen die Leidens-
Stationen des Herrn gemalt waren, zu einer Heinen Kapelle, von
der man talaufwärtö in abendgrauen Wald und über breite weiße
Flächen binfah, unter denen wohl Wieſen dem Frühling entgegen-
barren mochten. Der Abendhimmel ftand fühl darüber, am
Horizont topasgelb, oben weiß. Im Weiten war die Sonne am
Verſinken. Der Gedanke, dat fo gar nichts von dem Lärm des
Kriege, der hinter diefen Bergen noch wütete, bereindrang,
beſchlich mich Halb heimmvehartig. Wenn man monatelang in der
Geſellſchaft von Tauſenden marfchiert ift, gefochten und gelagert
bat, muß man fi) an das Aleinjein erjt wieder gewöhnen.
7. Ein zändender Blitz 245
—
Auf dem Rückweg begegnete ich dem Geiſtlichen.
Sie haben ſich unſern Heinen Kalvarienberg angejehen?
Er iſt beicheiden, aber die neuen Bilder find nicht fchlecht,
heimiſche Arbeit. |
Ich konnte ihm mit gutem Gewiffen jagen, daß ich fie be=
wundert hätte und erftaunt jei, Bilder von fo fünftlerifchem Aus⸗
drud und fo feiner Farbe bier zu finden.
Sie werden noch mehr finden, wenn Sie Zeit haben, ſich
umzuſehen. Sie wiſſen noch nicht, daß Sie fidh hier in einem
fünftlerifchen Zentrum befinden, müflen es aber kennen lernen,
fagte er lächelnd.
Ich wollte im Dorfe nad) dem Duartier abbiegen.
Haben Sie nichts Beflered zu tun, jo kommen Sie zu mir,
feßen Sie fi an den Kamin und erzählen Sie.
Ih folgte gern und freute mid), in dem Bimmer, wo ich
heute Mittag die Ausficht bewundert hatte, die Nöte des Abends
burch die drei Fenfter in alle Winkel eindringen, jeglichen Gegen-
ftand liebevoll und freigebig anglühn zu ſehen. Unb auf der
andern Seite wartete das Kaminfeuer nur, um jeinerjeitd, wenn
das Rot des Himmel! gewidhen wäre, Fackeln und rote Schatten
dur das Gemach huſchen zu Laffen.
Wir Franzoſen müſſen das Feuer jehen, fagte der Geiftliche,
indem er ſich mir gegenüber vor den Kamin fehte, da jehen Sie,
was für Phantaſiemenſchen wir find.
Es war freilich eine phantaftifche Beleuchtung, aber bie
Abenditille und die wohltuende Wärme milberten ihr Grelles.
Der Geiftliche ließ fich von Deutichland, von andern Ländern
im Dften erzählen, Die ich gefehen hatte, und von denen er nur
die Namen kannte. Er jelbft fam dann ins Reden, und unver⸗
ſehens ſtand man wieder mitten im Sriegsgeipräh. Mich er-
ſtaunte feine entichiedne Verurteilung des Krieges, die ich fo von
einem Franzoſen noch nie vernommen hatte. Der Krieg an ich
war ihm ein Greuel, und biefer doppelt.
Ih fälle mein Urteil nicht von weiten her, fagte er mit
einem Ausdrud der Überwindung, habe nicht bloß von weitem
zugeſehen, bin mitten im Gewühl gemefen, bin mitgeflohen. Mit-
geſündigt, mitgeftraft! rief er laut. Wir zogen in den Krieg
wie in einen Kreuzzug; meine Voltigeurd, die Paris geboren
oder wenigftend erzogen hatte, waren freilich feine Heiligen, aber
unter den Offizieren gab es Leute, die im Gefolge Gottfrieds
von Bouillon hätten reiten können. Dächten wir an einem Faden
246 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
fort, wie ihr, jo Hätte und der Kaiſer und fein Gefolge von
unfern Kreuzzugsgedanken abbringen müfjen, aber unſre Be-
geifterung führte gerade über die Lüden weg, in benen bie &e-
fahren lauerten. Wir jahen Frankreich bedroht, daß unter den
bejondern Schuß der heiligen Jungfrau geftellt war. Den Heiligen
Bater, dem man Rom nehmen wollte, unfer Land und unfern
Glauben: da8 alles verteidigten wir.
Hier ift das Gebet, da8 wir hundertmal in jenen Auguft⸗
tagen inbrünftig gejprodhen haben. Er reichte mir aus einem
Gebetbuch ein Kleines Blatt, das in Metz gedrudt worden war.
Es hieß am Schluß: N’oubliez pas, 6 mon Dieu, qu’en prot&-
geant la France, notre patrie, vous d@fendez votre Sainte
figlise, dont elle a méritéô le titre glorieux de fille ain&e.
Über ih bin bald überzeugt worden, daß ein Ratſchluß
feititand, an dem jo verfpätete Gebete nichts ändern Tonnten.
SH mußte tagtäglich erfahren, dab für unſre Nächſten, unfre
Soldaten, dieſes jchöne Gebet zu fpät Fam. Sollte man nicht
glauben, daß der Soldat, indem er jeinen ®illen aufgibt, über-
haupt das Walten eines höhern Willens deutlicher erfennen und
e3 willig anerfennen müßte? Es bat immer Soldaten demütigen
Herzens gegeben. Wer weiß, was im Krieg die nächſte Stunde
bringt? Frömmigkeit follte eigentlich zu den militäriſchen Haupt⸗
tugenden gerechnet werden. Ihr jeid in der großen Mehrzahl
Proteſtanten, aber Sie werden mir zugeitehn, daß die Religion
aller Soldaten etwas Katholifches Hat: das fefte Gefüge, bie
Unterordnung ded Einzelnen, defien Wille nichts gilt, und ber
Himmel fo nahe! Überhaupt, der Katholizismus ift die einzige
vernünftige Religion, zu ihr werden Sie und werden die Juden
und wird der Islam zurückſtrömen, ſo notwendig wie das Waſſer
Ir Bäche in ſein natürliches Bett zurücktritt, aus der die
Uberſchwemmung im Frühling fie herausſchwellen weh Ich jehe
in allen Revolutionen ſolche Überſchwemmungen, die die Lebens⸗
fülle der Menſchen aus ihrem gemieinen Bett verwüſtend über
die Nachbarfelder treibt. Das find nur Epifoden.
Doch ich kehre zu meinen Kriegserinnerungen zurüd. Am
18. Auguſt ftanden wir im euer bei Roncourt, das heißt wir
lagen in den Furchen der Getreideäder und in den Gräben ber
Wieſen und ließen bie Kugeln der Zündnabelgewehre über und
weggehn. Wir ftießen vor und ſchwenkten zurüd, und fo mehrere⸗
mal, und als wir zulegt alle Kräfte zufammennahmen und ben
Zend, der uns umfaſſen wollte, zurüdzuitoßen bofften, zer=
2. Ein zündender Blitz 247
ö— —— — ——— ——— — —
ſplitterte unſer ganzes Korps. Und als wir im eiligen Rückzug
die Furche wieder überſchritten, wo wir ſo lange im Kugelregen
gewartet hatten, lagen in ihr Mann an Mann die Tapfern, die
unſer Vorgehen und unſern Rückzug gedeckt hatten. Es war
ſchon ſpät Abends, und man unterſchied nicht, waren es Lebende
oder Leichen? Man rief, man ſprach ſie leiſe an, man rüttelte:
kein Laut, es waren die Toten, die noch Lebenden waren zurück⸗
gegangen, oder man hatte fie zurückgetragen. Ich kann dieſes
Bild nicht vergeflen, dieje Dunkeln Geftalten, die da geftredt oder
gekrümmt, manche mit erhobnen Armen dicht nebeneinander lagen.
Auf ihren bleichen Gefichtern fpielte daß Licht der erften Sterne.
Adieu, Kameraden, ich werde euch nie vergefien, nicht bloß
beten werde ich für euch, ich werde für euch Handeln, für
euch leben
Wir überftiegen die wandernden Barrifaden des Troffes und
machten unfern Weg über das Schlachtfeld, deſſen Erde aufge-
riffen und zerwühlt war, al® ob fi die Hände von Riefen im
Todeskrampf Hineingefrallt hätten. In Gravelotte war denen,
die beten wollten, nicht einmal bie Kirche und fogar der Heine
Kirchhof nicht geblieben, ber fie umgibt; jene lag voll Schwer-
vermwurndeten und Toten, und dieſer war für neue Gräber um:
gewühlt und ſtellenweis über Leichenhaufen mit friiher Erde auf-
gefüllt, in die kaum erlaltete Leichen gebettet wurden, bie jchon
bereit lagen. Nur ein zerichofienes Kreuz war übrig, vor dem
wir Inteten. Niemals hat ein Gebet, das ich zum Himmel fandte,
eine jo große Macht gehabt. Die Verzweiflung fuhr aus, wie
der böſe Geiſt aus dem Beſeſſenen. Diefes Elend, ſprach es in
mir, liegt hart am Tod, aber es grenzt aud) an das Glück
Ergib did in beide. Du bift jebt auf dem Gipfel des Elends.
Siehft du das Lichtlein ganz fern? Das ift das Glüd, das du
mit Glauben dir erringen und den Deinen fihern wirft.
No an diefem Abend waren wir vom Feinde, von Ihren
Leuten, umringt, die Leichtvermundeten entwaffnet und gefangen
abgeführt, die andern der Obhut des einzigen Arztes, der nicht
mit nad) Meb Hineingezogen war, unb der meinen überlaſſen.
Es müfjen katholiſche Preußen geweſen fein, die auf dieſem Punkte
bordrangen, ich hatte mich nicht über Feindſeligkeit zu beklagen.
Als dieſe weitergezogen waren, und Die Belagerungstruppen ſich
um Met zuſammenſchloſſen, famen andre, die weniger freundlich
waren, fie wiejen uns barſch weg, und wir brachten unſre legten
Kranken nad) Troyes. Einer nach dem andern genas, einige
248 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
ftarben, zulebt, mitten in dem fchredlichen Winter, war ich übers
flüffig geworden. Was nım tim? fragte ih mid. Zu den neu
gebildeten Truppen ftoßen, die feinen Überfluß an Geiftlichen
hatten? Dazu Hatte ich nicht den Mut. Man muß Vertrauen
zu dieſem Amte mitbringen, Vertrauen zu fi) und zu der Sache.
Mir aber lag Meb fo ſchwer auf der Seele, ich Zonnte nicht
einmal den Namen nennen hören, ohne daß ich innerlidh zu⸗
fammenfchraf. Und ic ſah voraus, Daß es noch mehr Mebe
geben werde in dieſen jchlecht vorbereiteten Feldzügen bes Winters
1870/71. Meine Nerven waren zerrütte. Eine einzige Er-
innerung, Die fi) mir am Tage aufdrängte und in der Nadht
im Halbwachen erſchien, peinigte mich biß zum Wahnfinn. Ich
hatte in St. Privat aus dem Schutt, der die Kirche füllte, im
der ich für meine Mitgefangnen eine Mefje las, eine ſchwarze
Hand aus den Brandtrünmmern ragen jehen, bededt mit weißen
Würmern, die an ihr nagten. Die verfolgte midh.... Gott
fichtlih mit dem Feinde, und wir, die wir und wie Gotte8 nächite
Freunde gefühlt Hatten, nicht bloß äußerlich befiegt, fondern
innerlich gejchlagen, der Glaube an unfre Sache und der Glaube
an uns felbft zerichlagen. Glauben Sie mir, nicht wir, die daß
erlebt haben, wünfchten den Krieg fortzufeßen; auf dieſe Ge⸗
danken konnten nur Freigeifter, Sournaliften, Advokaten kommen,
die fern von den Schlachten ihre Reden ſchmiedeten. Wir dachten
nur an innere Heilung und vertrauten dem Glauben und der
Herzensreinheit, die nach ſolchen Prüfungen wachſen mußten.
Darin lag für ımd die Revanche.
Ein Freund teilte mir mit, daß bie Kirche dieſes Dörfchens,
wo ih als junger Klerifer meine erften Dienfte geleitet Hatte,
verwaiſt jei; noch niemand hatte fi) um die ärmliche Stelle tief
im Gebirge beiworben, und ich erhielt fie jofort. Ich habe immer
die frommen, ſtarken, genügiamen Menſchen des Jura gern ge-
habt und war glüdlich, unter ihnen leben und wirken zu dürfen.
Hier genad id) von dem innern Zuſammenbruch des ſchrecklichen
Sommers. Der Krieg hat uns bis heute verſchont. Sogar die
Armee Bourbalis ift zu beiden Seiten unjrer Berge nach Norden
geftrömt und wieder zurüdgefloffen. Sie find der erfte deutſche
Soldat, den ich feit Me ſehe. Noch vor zwei Monaten hätte
ih Ihren Anblid nicht ertragen, jetzt freue ich mich, in dem
Zeinde dem Chriften die Sand zu reichen.
Sie wiſſen nım, wie id) den Krieg erlebt habe, und mögen
fi denten, wie ich ihn beurteile. Ich nenne mich Sranzofe, aber
2. Ein zändender Blitz 249:
zuerit bin ich Chriſt, und unter den Sranzofen bin ich einer vom
ben wenigen, fehr wenigen, bie nicht nad) Sieg, fondern nur nad}:
Frieden verlangen, und nicht nach Frieden, um den Krieg vor-
zubereiten, jondern nad) Frieden, um Gott zu dienen und zu
preijen. Wir Franzoſen find viel zu meit von Gott abgelommen:
Wir müſſen ganz andre Wege einfchlagen, ald Die wir jeit vier:
Sahrhunderten gegangen find. Als man die lebten gotijchen Dome
in Frankreich baute, da neigte fi die Zeit zu Ende, in ber
Frankreich groß und glüdlich war.
er ift glücklich al& der, dem es beichieben iſt, ganz zu
fein, was er fein Tann und joll? Gewieinen Weg zu gehn, das
it Glück. Sie werben jagen: Ach bin glücklich, weil mich als
Soldaten ein einfaches Sollen durch die Wirrnis von Wollen oder
Nichtwollen, Können oder Nichtlönnen durchführt. Nun wohl;
ich bildete mir ein Biel, auf das ich hinſtreben mußte. Auch
darum -vergrub ich mich in dieſes weltferne Dörfchen, weil bier:
niemand mich fragen konnte: Warum trennft du Did) von der
Maſſe deines Volkes, das im Kampfe fteht? Diefe armen Bauern
und Uhrmacher des Jura ftehn gerade ſo beijeite wie ich, nur
mit andern Gedanken. Wir fragen einander nicht, was wir.
über ben Krieg denken, wir wünſchen aber alle, daß er vorbei⸗
gehe unb ende.
Einft blühte die chriftlide Kunſt in den burgundifchen
Landen. Wer kennt nit die Schäfe Dijons? Wenn Gie in
Dijon waren, haben Sie Sainte Benigne gejehen, die jchönfte
aller echt gotiihen Kirchen, und Ste müjlen das Portal von
Notre Dame und im Innern die herrlichen Steinbilder der
Himmelfahrt Mariä von Duboiß bewundert haben. Das liegt
freilich jebt alle8 wie jenjeit8 eines tiefen Taled. Die Revolution
bat bei uns das Leben der Kunſt ausgetreten, und nun fällt
auf ung die Pflicht, das Scheintote wieder zu beleben. Denn es
war nicht geftorben, e8 fchien nur fo. Das iſt ja eben der
Grund, warum: wir alle, die e8 gut meinen, das Ende dieſes
Krieged aus tiefftem Herzen wünſchen. Wir wollen an die Arbeit
gehn. Haben Sie unfre düftere kellerähnliche Dorfkirche gejehen?
Hat es Ahnen nicht gegraut von den fetifchartigen Marienbildern
unjrer Kapelle? Nun wohl, jehen Sie einmal hier herein. Er
öffnete eine Heine Tür in der Vertäfelung der Seitenwand, die
in einen ähnlichen Raum wie dag Altarzimmer führte, der aber’
höher war und aus hoch angebrachten Senftern klares Licht von
Norden empfing. Er führte mich an der Hand in die Mitte des
250 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
Raumes und meidete fi) an meinem Erftaunen. Ich ftand in
einem Muſeum mittelalterlicher Kunſt, in dem zugleich höchſt ge=
Iungne Werke der neuern Bildſchnitzerei aufgeftellt waren. Zwei
fait lebensgroße Marien mit dem Finde ftanden nebeneinander
im beiten Lichte, die eine ſchien alt und zeigte Riſſe, die andre
war offenbar neu und jah aus, als ob noch eben daran gearbeitet
worden jei. Das lange blonde Haar, da8 in feinen Wellen über
die Schultern floß, trug ſchon feinen goldnen Ton, aber die Ge⸗
fichter waren erft grundiert, der Maler hatte fi) das Schwierigite
bis zuletzt vorbehalten. Nur das Stirnband, das die klare Stirn
Mariens frei hielt, leuchtete purpurn von dem weißen Grunde.
Der Künjtler hatte im allgemeinen bie Geftalt und die Stellung
der beiden Figuren auf dem alten Bildwerk wiederholt, aber
wie man fofort erfannte, mit Freiheit. Unter den Werten, Die
an den Xänden umber ftanden, waren auch einige alt, andre
neu, von diejen legten waren einige noch nicht bemalt, andre
fahen ganz friſch aus. Auch ohne die Erklärung meines Führers
würde ich eine gewifie Ahnlichkeit der Motive und fogar ber
Stimmungen herausgefunden haben: e8 waren Bilder der ®ottes-
mutter mit dem Kinde, mit dem Leichnam, und vielleicht das
bebeutendfte, jedenfall das ergreifendfte war der Tod Marieng,
in deſſen rührender Daritellung des Zuſammenbruchs eines Lebens
und mit ihm des Glückes aller derer, die fchmerzerfüllt die
Sterbende umgaben, ich Anllänge an Memling zu ertennen
meinte. Es war ein Feiner Marientempel und zugleich ein Tempel,
wo der Innigkeit des Mutter- und des Leidensgefühle Mariens
geopfert wurde. Schade, daß alle Kirchengeräte, zum Teil zer-
brochne, die an den Eden ftanden, etwas an bie Gerümpellammer
eines Runfttrödlerd erinnerten.
Der Pfarrer ließ mi) ruhig betrachten und ftaunen. Dann
fagte er: Solche herrlide Dinge fanden fi) in der alten reis
grafichaft einft in Menge. Was bier fteht, hat zuerft mein Vor⸗
gänger vom Untergang oder aus den Wucherhänden abicheulicher
Hebräer gerettet, der Freunde Renand. Mein Vorgänger fanmelte
nur, ich unterfange mich, da8 alle zu beleben, zu erneuern, für
Zranfreich® neues Leben nutzbar zu machen. Dan merkte bei
diefen letzten Worten ein Beben in feiner Stimme, wie bou
unterdrüdter Rührung. Dann ſprach er mit Begeifterung von
der Beitimmung aller diefer Werke, die hinauswandern follten
in die Torffirchen eines weiten Kreiſes, und wie fie veredelnd
wirfen würden, wie Die Kirchen erneuert werden follten, um die
2. Ein zändender Blit 251
— —
heiligen Bildwerke würdig aufzunehmen, und daß dann dieſe
Bewegung Frankreich ergreifen und ſich wie einſt die Predigten
Bernhards von Clairvaux in die Nachbarländer ausbreiten würde.
Frankreich muß beſſer werden, aud ihr müßt beffer werben,
Frankreich fiegt und triumphiert, indem es diefe Bewegung führt,
wie jo oft. So etwa fchloß er.
Es ift eines der unbehaglidhiten Gefühle, wenn ung eine
fremde Begeifterung fortreißen mödte, und wir find unfähig,
ihr zu folgen. Das zieht und zerrt, aber wir können mit dem
beften Willen nicht mit, und je heißer unjer Gefährte wird, deſto
tühler wird e8 und ums Herz. Diefem Manne machte es gar
feine Mühe, fi) über die Erde zu erheben; aber es jchien mir,
als ob feine Sonnenrofje von furzem Atem feien. Denn plöglic)
bielt er im Entrollen der weiten Perſpektiven inne, jein Blid
blieb ind Leere gerichtet, dann ſenkte er fich ſchwankend zurüd.
Es Hatte etwas Beängftigendes. Unmwillfürlih mußte ich biejen
Geift mit dem Roſenkranz vergleichen, der dort an der Türkante
über ein reizendes zinnenes Weihwaſſerkeſſelchen geichlungen hing:
ſo reihten ſich in ihm ſchöne Gedanken, einer an den andern. Aber
ich ſah nicht den Faden, der ſie zuſammenhielt. Und war er feſt?
Unwillkürlich mußte ich den Kopf betrachten, der faſt etwas
zu groß für die mittelhohe Geſtalt war, und den die kurzgehaltnen
Haare — nur eine ganz kleine Tonſur ließen ſie erkennen —
nicht Heiner machten, weil die Größe mehr im Geſicht als im
Schädel Ing. Bon der Stirn, die in Derfelben Linie mit dem
Vorderkopf zurüdflog, wanderte jedes Runzeln bis auf den hohen
Sceitel, von dem man e8 den fteilen Hinterkopf hinabfinfen zu
jehen meinte bis zu dem ftarfen Halsanſatz. Mund und Hand
wetteiferten an WBeichheit und Wärme, und wie die Hand⸗
beiwegungen, die die Rede begleiteten, rund waren, rollten die
Worte rundlich und voll von den Lippen. Wie eitel, mußte ich
denken, find alle dieje ſchönen Pläne, wie luftig ift die Größe
diefer Ideen! Fürchtet nichts für eure Ruhe, Franzoſen, von
diefem Neformer, und hofft noch weniger; das ift fein Mann
des Willens umd der Tat, eine befehlende Natur, nur eine
grübelnde, ſich beipiegelnde und wohl auch genießende.
Es dauerte nicht lange, daß die Nede auf ein Lieblings⸗
thema der Franzoſen, die Spionage, kam. Es lag ja bier im
Grenzlande noch näher als anderswo.
Der Erfolg des Krieges zeigt, Daß Ihre Führer ausgezeichnet
anterridhtet waren. Sie willen beſſer Bejcheid in Frankreich als
252 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
die franzöfiichen Generale. Das macht man nicht bloß mit Karten
und Büchern. Sie müfjen ausgezeichnete Kundichafter haben. Das
weiß man ja, fie find überall. Und Sie wiſſen das ficherlich beſſer
als ich!
Ich babe einen einzigen Rundichafter gejehen, das war ein
Reiter in franzöfiichem Jagdkoſtüm, der auf blutiggefporntem
Nenner nad Bar le Duc am 26. Auguft die erfte Nachricht von
dem Abmarſch Mac Mahond nah) Sedan bradte, nachdem er
mitten durch ihre Kolonnen durchgeritten war. Es war ein
preußijcher Offizier, der wer weiß wie die wichtige Nachricht er⸗
halten hatte. Sie werden ihn doch wohl nicht Spion nennen?
Zur Hälfte wohl. Die Maskerade fehlt ja nicht. Doch habe
ih allerdingd andre Leute im Sinn. Nennen wir fie einmal
Zurückgekehrte. Wir haben überall im Jura vor dem Kriege
Deutſche und Schweizer gehabt, Uhrmacher und andre, katholiſche
Deutſche aus dem Schwarzwald und proteftantifche Schweizer
aus der Gegend von La Chaux de Fonds. Die Deutidhen, bie
ung lieber waren, weil wir fie wegen ihrer Religion und ihres
Charakters befjer verjtanden, find alle, faft alle gegangen. Es
war feines Bleibens, auch nicht für die Rubigften; auch konnten
und wollten fie nicht bleiben. Run will man da und dort einen
wieder gejehen haben. Man verwechſelt wohl Schmuggler oder
Wilbdiebe damit, an denen es im Jura nie gefehlt hat. Grenzs
land und Waldland, gefährliches Land!
Eine einzige Familie ift bier geblieben, fuhr er nad) einer
Pauſe fort. Wer weiß, ob auch dieſe e8 vermocht hätte, wenn
ich nicht dazu beigetragen Hätte, aus dieſem Tal einen Winkel zu
machen, der in den Kriegsſtürmen unbemwegt, ftill wie ein Bergjee
des Jura blieb. Und ic) habe fie fozufagen unter meinen Schuß
genommen. Er fprad) leifer, als lafje er Erinnerungen vor feiner
Seele vorbeiziehn. Es ſchien zuerft eine jchwere Verantwortung
zu fein, die mich nicht wenig drückte. Zum Glück ift alles gut
borbeigegangen. Er wandte fi) mir wieder zu. Unſre Leute,
foweit fie Feineres arbeiten, find durch die Mechanik für bie
Kunft verborben. Wer die Woche lang Raͤdchen gefeilt ober
Kettchen zujammengefügt bat, hat nicht mehr Die Innigkeit, bie
die Kunft der Kirche braucht. Wer weiß, vielleicht ift e8 auch
Sache des Charakters. Die germanifche Seele ift vielleicht inniger
angelegt oder Hat eine dauerhaftere Fähigkeit, ſich zu verfenfen.
Tod genug. Der Mann lam aus feiner kleinen Malſchule im
Schwarzwalde hierher im Glauben, man brauche hier ebenſolche
7. Ein zändender Blitz 253
Schildermaler wie dort. Aber unjre Uhrenfabrifanten find darauf
gar nicht auß, jo wenig wie fie auf Kuckucksuhren oder andre
Spielereien verfallen, an denen die Schweizer und die Deutichen
ihre Freude haben. Der franzöfifche Bauer liebt ein hellglänzendes
Uhrblatt aus geſchlagnem Meifingbledh. Joſeph brachte nun einige
Uhrſchilder, die er gemalt Hatte, einem Fabrikanten in S. Hippo⸗
(gte, bei dem ſah ich fie. Es waren Darftellungen aus der Heiligen
Geichichte, Tonventionell, aber mit gläubigem Herzen gemacht. ch
fragte gar nicht nach dem Stil und der Vollendung, mid) feflelte
fo das Gefühl, das den heiligen Geſtalten Leben und Sprache
verlieh in einer Beit, mo fie jogar in den Seelen vieler Frommer
nur ein Scheinleben führen, daß ich fie für ein Billiges kaufte.
Und auch daß wagte der junge Schildermaler kaum zu fordern.
Es ftellte fi) heraus, daß er auch ſchon in Holz gebilbhauert
Hatte, Mein Vorgänger, der alte Pfarrer, übertrug ihm auf
mein Bitten die Wiederherftellung der vermoderten Kreuzweg⸗
bilder, die am Wege zu der Kapelle Trinite ftehn. Und als diefe
Arbeit zu aller, auch der Bauern Zufriedenheit gelang, ließ ſich
Joſeph hier nieder und warf fi) auf die Holzichniterei. Werk⸗
zeug und das Holz der Arven und Ahorne ließ er fich zuerit
aus feiner Heimat kommen, ſpäter Taufte ich ihm das nötige Holz
bei umd im Lande, wir fanden vortrefflihe Lärchen und Ahorne
Hier. Die Künftlerfeele lag in feinen erften Verſuchen zwar nicht
fo, wie Sie fie in den Werken beivunderten, die Sie in meinem
Atelier gejehen haben, aber doch fchon jo fprechend, daß meine
Amtsbrüder feine Werte erwarben, wie fie nur zu haben waren.
Sofeph ift fein Geldmacher; daß er feine Sachen zu jo billigem
Preiſe abließ, Hat ihm noch mehr Abnehmer verfchafft. Das war
vor drei Jahren. Seitdem ift er als Künſtler immer freier und
feiner geworden, als Menſch aber blieb er derielbe. Er will
nicht mehr jein als ein Bauer, der ftatt des Pflugs das Schnit-
meſſer führt. Ste fehen ja, wie einfach er if. Er bat eine
Tochter aus dem Tale geheiratet und bat feine Luft, weiterzu-
ziehn. Als e8 lebten Sommer beim Ausbruch des Kriegslärms
hieß: Fort mit den Deutjchen, bat fi) gegen ihn Teine Stimme
erhoben, und troßdem daß er fich nicht dazu berbeilaffen wollte,
ſich naturalifieren zu laffen, beſchloß die Gemeinde, ihn auf ihre
Verantwortung ungeftört bier zu laffen. Wir find ja zum Glück
weit von Veſoul und von Befancon, wo Die Schreier fißen, nie-
mand bat ihn verdädtigt, niemand ihn beläftigt, und er ſpricht
fein Wort vom Kriege.
254 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
un.
Nur eind habe ich für ihn befürdtet: daß das vergiitende
Wort Spionage mit feinem Namen in Verbindung gebracht werben
möchte. Wie leicht könnte, das geichehen! Er bat die Furcht⸗
Iofigfeit des Argloſen. Ich Habe ihn gewarnt, mit veriprengten
Deutichen oder Schmweizern, Die e8 unter den Schmugglern gibt,
zu ſprechen. Aber die Leute Tennen ihn. Man jieht da in felt-
jame Verhältniſſe. Neulich bat ihn ein Deuticher bejucht, der in
Döle bei einem großen Mepger dient und auf feinen Viehläufen
landauf Iandab wandert. Denken Sie, dieſer Wann ift noch
während des Kriegs zu dem Meifter zurücdgelehrt, bei dem er
vorher in Dienften geftanden Hatte. Eine rührende Anhänglid;-
feit, nicht wahr?
Zum Glück wartete der Geiftlihe meine Antwort nicht ab.
Hätte er nicht jo lebhaft von den Arbeiten des Bildſchnitzers ge⸗
ſprochen, ſo würde er irgend etwas von Überrafchung, vielleicht
ein Erichredten auf meinem Geficht gelejen haben. Im vierzehnten
Armeelorps erzählte man fi) Wunderdinge von einem Soldaten
eine8 badiſchen Negiments, der in der Verkleidung eines vieh⸗
taufenden Mebgerd Halb Frankreich während des Krieges durch⸗
ftreifte und aller paar Tage mit Nachrichten ind Hauptquartier
fam, unter denen angeblich die fo wichtige erfte über den Trans-
port der Bourbalifcden Armeelorp8 nad Dften war. Mehr als
einmal beargwöhnt und verhaftet, hatte er ſich immer wieder frei-
zumachen gewußt; er jollte auch bei Belfort wieder Dienfte ge-
leiftet haben. Ich Hatte den kühnen Kundichafter in der blauen
Blufe mit dem großen Hund zur Seite mehr als einmal gejehen,
würde ihn ficherlich wiebererfannt haben. Ohne mir Rechenſchaft
geben zu Tönnen, berührte mic) der Gedanke peinlich, daß er in
dieſem jtillen Dörfchen auftauchen könnte. War das jchon ein
Schatten, den der von vielen nahe geglaubte Friede vorauswarf?
Ich kannte meinen bolzjchnigenden Landsmann nicht, aber
es regte fich ein Gefühl für ihn in meinem Innern, defjen Keim
wohl die Befürchtung war, daf es für den fremden Mann nicht
heilfam ſein könne, fein Geichid zu eng mit den unklaren Plänen
des Geiftlichen zu verknüpfen. Sind Phantaften jemals zuper-
läffig? Das Abgeriffene feiner Reden, jo viel Wahres und Geift-
reiches fie enthalten mochten, und mehr noch die Art, wie er
dem Kriege den Rüden gewandt hatte, gerade als daraus ber
Krieg ded Volks geworden war, erfüllten mich mit Argwohn.
Ih hielt ihm nicht gerade für einen Feigling und Fahnen⸗
flüchtigen, aber doch für einen von den Schwärmern, die es
7. Ein zündender Blitz 255
leicht mit großen Pflichten nehmen, wenn deren Erfüllung nicht
in ihre Pläne paßt.
Den andern Nachmittag kam der Befehl, und am frühen
Morgen des 25. in Etaland der Bededung des Fuhrparks an⸗
zujchließen, der feinen Marich nad Döle fortjegen werde. Unfer
Aufbruch war raſch vorbereitet. Wir wollten zuerſt die Nacht
reiten, zogen aber ben Frühmorgen vor. Den Abend nahm ich
mit Dant das Anerbieten des Geiftlichen an, mich zu dem Holz⸗
jhniger zu führen. Er wohnte ewwas abfeit8 vom Dorf an dem
Hange, der es nach Norden überragt und ſchirmt. Außerlich
wor das Häuschen nicht von einem gewöhnlichen franzöſiſchen
Bauernhaus kleinern Yormats zu unterjcheiden, fein Dach war
flacher als draußen in der Ebene, wie überall in den Gebirgs-
börfchen de8 Sura, und feine enfter waren fchmal und
ftedften tief in den dicken Mauern, die übrigens fauber verkalkt
waren; auf der einen Seite zog ſich ein Gemüſegarten die leichte
Anhöhe hinauf, vor der das Häuschen fand, auf der andern
war ein Stall angebaut, deifen jchwärzliches Holzwerk ein reifes
Alter verriet. AL aber mein Begleiter die obere Hälfte der
Haustür zurüddrüdte und von innen mit fiherm Griff aufs
Hintte, trat man nicht in den üblichen Vorraum, der zugleich
Küche und Aufenthalt der Familie ift, fondern ging auf einem
mit unregelmäßigen Steinplatten gepflafterten Gang geradeaus auf
eine Ölastür, die ein Dämmerlicht in das Dunkel jandte. Offenbar
war gerade die Stelle des Vorraums durdhgebrocdhen, wo jonft
über dem langfam qualmenden Feuer der immer brodelnde,
ſchwarzberußte Keſſel an ſchwarzer Kette hängt. Dadurch hatte
dieſes Innere einen jo ganz andern Charalter als das fran-
zöfiihe Bauernhaus jonft, es erinnerte eher an die Hütte eines
deutihen Dorfhandwerferd. Aber nun öffnete fi, die Tür am
Ende des Ganges, und ein heller Raum ftrömte reichliches Licht
in das Dunfel. Man ſah eine fchräge Dede, in die zwei Ober-
lichter eingefeßt waren, durch Die dad vom Schnee blau zurüd-
geworfne Tageslicht eindrang.
Da Bingen die Schnigereien in allen Stufen der Voll.
enbung und daneben die Schablonen, nach denen die Grunblinien
auf die Holzblöde gezeichnet werden. Es waren auch in ben
Fenſterecken Holzſtücke von verjchiednen Formen aufgeichichtet,
denen man die Größe und die Geitalt der Figuren, die fi aus
ihnen entwideln follten, ſchon anfehen konnte. Ganz fertig
ſchienen aber nur einige Tafeln zu fein, die in hohem Relief
256 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
III DL — —⸗
‚Ornamente, meift Blumen und Ranken und ſchöngeſchnittne
Blätter, trugen. Die waren im beften Lichte aufgehängt, umb
‚gerade jet ſpann die Spätnachmittagfonne goldne und rote
‚Süden darım.
Joſeph ftand am Schnigtiiche, eine Chriftusfigur, die Die
:Hänbe jegnend erhob, lag vor ihm. Er arbeitete daran mit einem
feinen Mefjer weiter, ohne fich durch unjer Kommen viel ftören
‚zu laſſen. Den Pfarrer begrüßte er mit der Ehrfurdt, die dem
Seelenhirten gebührt, an meiner Uniform baftete einen Moment
jein Blid, dann wandte er ſich mit einer gewiflen Gefliffentlichkeit
‚wieder der Arbeit zu. Seine Haltung hatte das Freie, daß dem
Manne eigen ift, der ſich mit feiner Arbeit eind und durch fie
‚gehoben fühlt. Mit raſchem Schnitte nahm er ein Spänchen
:weg und änderte dadurch den Ausdrud der werdenden Geftalt
in wunderbarer Weile. Das war nicht bloß Übung, in dieſer
Sicherheit des Blicks und der Hand ſprach ſich die rafche Auf:
faſſung aus, die der ruhige, fait ſchwer auf den Dingen ruhende
Blid feiner hellen Augen betätigte. Die Beweglichkeit ſeines
geiftlichen Freundes hob fich auffallend von diejer tiefen Ruhe
und Sicherheit ab, die im blauen Arbeitskittel doppelt imponierte.
Der Mann nahm die etwas ſtark aufgetragne Batronage gleid)-
mütig bin, ließ fi aber offenbar nicht in feiner Arbeit dadurch
:ftören oder gar beeinfluffen.
Die Rede ging von den Arbeiten, von denen der Holzſchnitzer
nur Targe Kunde gab, auf die Kriegsläufte über. Der Kanonen-
Donner aus der Gegend der Schweizer Grenze hatte ſich gegen
Abend verftärkt. Den ganzen Tag hatten die Dorfbewohner in
„der Furcht gelebt, daß er fich nähern werde, und ich war ver-
ſchiedne mal darum gefragt worden. Nur der Sübwind hatte
ihn gelegentlich näher ertönen laffen, jet war es dagegen Klar,
daß er fi) entfernte.
Möchten fi) doch Bourbakis Krante und Krüppel endlid)
‚ergeben, fie haben ja nichts mehr zu gewinnen, rief der Geiftliche.
Sie hoffen immer noch etwas Kriegsruhm zu guter Legt
zu ernten, jagte obenhin der Bildſchnitzer. Ich würde es ihnen
gönnen. Die Deutichen haben foviel davon, und die Franzoſen
. gar nichts. Sind denn beide Nationen fo verfchieden? Vor dem
Kriege waren fie e8 doch nicht, wenigſtens in unſern Schichten,
.wo man arbeitet und froh ijt, ein kleines Biel zu erreidhen. Der
Sriede wird doch endlich kommen, und dann werden Deutiche
‚und Sranzofen wieder nebeneinander leben müſſen. Es wird wohl
2. Ein zündender Blitz 257
leichter alles wieder ind Gleis zu bringen fein, wenn die einen
nicht zu jehr Sieger und die andern nicht zu jehr Unterworfne
find. Du wunderft dich wohl, Landsmann, fuhr er zu mir auf
Deutſch (mit alemannifchen Anklang) fort, daß ic) fo rede, aber
bedenke, ich lebe hier unter Franzoſen, deren feiner mir ein Haar
gekrümmt hat, und ich lebe mehr noch in meiner Wrbeit.
Leider, antwortete ich, bringt der Krieg alle friedliche
Hantieren in Unordnung. Daß wir bier herauflommen mußten,
Hat euch ficherlich nicht gefallen. Und auch wir wären gern
weitergezogen.
Glaubs wohl! fagte der Bildichniker in feiner einfachen
Weile. Doch was kannt du dafür? Es heißt gehorchen. Übrigens,
um offen zu fein, ich habe mid) gefreut, einmal einen von den
deutſchen Soldaten zu ſehen, wenn fie nun doch einmal in dieſer
Gegend find. Der Herr Pfarrer weiß, daß ich fein Franzofe
bin. Man kann nun einmal nit von feiner Wurzel weg.
Eigentlich führen wir auch Krieg, der Herr Pfarrer und ich,
aber nur mit den fchlechten Figuren, die auf den Altären der
Kapellen ftehn. Wir haben doch ſchon manche befeitigt, aber es
gibt noch viel zu viele. Mein Leben reicht nicht Hin, fie zu
erjegen, und wenn ich jede Woche einen Herrgott fchnihte. Jetzt
hoffen wir auf nicht mehr als auf friedliche Zeiten, fie müſſen
fommen, und wenn die Menichen wieder ihrem Tagwerk nad)-
gehn können, wird ich irgendein Knabe finden, den ich unter-
richte, und dann wird e8 zufehends befier in Kirchen und Kapellen
werden. Er wiederholte die letzten Worte franzöfiih, und der
Geiftlihe war hocherfreut, jeine eignen Wünſche und Hoffnungen
in zwei Sprachen verlündet zu hören.
Die Sonne war hinabgefunten, nur ihr letzter Widerfchein
auf den Wolfen und dem Schnee lag noch rötlich in der Luft.
Eine einfadhe junge Frau kam herein, an deren Kleide fich ein
Heiner Knabe hielt, und brachte die trüb fladernde Ampel. Von
der Kirche Hang das Ave Maria⸗Glöckchen, und das laute Abend⸗
gebet, in franzöfticher Art fingend geſprochen, Hallte in dem
niedern Raum. Wir ſaßen auf der Bank vor dem grünen
Dfen, in dem SHolzrefte fröhlich Enifternd verbrannten. Der
Mann im blauen Kamifol ftand an feinem Schniptiih und warf
wentge Worte in dad Geſpräch. Dann und wann hob er mit
der Nadel, die an einem Kettchen an der Ampel hing, den Docht
heraus und glättete weiter. Er arbeitete mur noch mit Bims⸗
ftein, und nur an der untern Bartie des Chriftusbildes, glättend
Rayel, Slüdsinfeln und Träume 17
258 Bilder aus dem Kriege mit Frankreich
weiter, da es zum Schnitzen nicht hell gemug war. Auch an
diefer Arbeit erfannte man die Yeinheit feiner Hand und das
Liebevolle in feinem Verkehr mit den Stoffen. Der Knabe hatte
meine Militärmübe auf feinen blonden Lockenkopf geftülpt und
ſchwang einen hölgernen Span als Schwertihen mit den Worten:
Prussien, zum Krieg, zur Schlaht! Vorwärts!
Glückliches Kind, fagte der Geiftliche, alles ift ihm nur ein
Spiel.
Dad Wort Krieg wird in diefem Haufe fonft nicht gehört,
fagte der Bildſchnitzer. Es ift eine Art Wberglaube, daß ich
und meine Frau es nicht gern ausiprechen, fo wie man beim
Gewitter nicht vom Feuer ſpricht. Das Kind lernt dad von
feinen Spiellameraben. Ber Krieg ift eine Strafe Gottes, zu
hoch umd zu ſchwer zum Spiel.
Da muß ich mir einen Borwurf machen, die Erinnerung
daran in Ihr ftille Haus gebracht zu haben, meinte ich.
Tut nichts, fagte er, indem er mir zum Abſchied bie Hand
reichte, verichont ung nur der Krieg ſelbſt. Und dazu hat es
ja nun allen Anfchein. Wdieu, Landsmann, komm glüdlich heim
und grüße das badilche Ländle.
% *
®%
Den nachſten Morgen erhoben wir und um vier Uhr, um
zu füttern, die Nacht war Talt und fternenreid. Wir warfen
und noch für eine halbe Stunde aufs Stroh und hörten mit
Behagen dem Kauen und Mahlen der Pferde zu. Da plößlidh
rafch hintereinander fünf oder ſechs Schüſſe, dem Klang nad)
aus Henrygewehren, dann verworrenes Geſchrei. Näherte es fidh
und? Unſre Karabiner waren zur Hand. Man fchien ben Auf
„Feuer“ ganz in umfrer Nähe auszuſtoßen. Im Nu war die
Stalllatene in einen Winkel geftellt, wo ihr Licht und nicht
verraten konnte, dann das Tor weit geöffnet. Das Sternenlicht
genügte nicht, Die Straßen zu erleuchten, man mußte dem Ohr
allein vertrauen, das aber nur den Laut des Äffnens und bes
Schließend der Yenfter ımd der Türen und von Schrüten ber-
nahm, die nicht in unfrer Richtung zu gehn fchienen. In ben
Senftern des Geiftlihen war Licht, ſonſt alles dunkel. Da
wurde e8 vom obern Dorfe ber heller, als ob dort der Vollmond
aufgehe, aber das war feine Mondnacht. Zuckende Widerſcheine
hätten an ein Rorblicht denken laſſen, wenn nicht in demſelben
2. Ein zündender Blitz 259
Augenblid auffprühende Funkengarben den Brand gemeldet
hätten. Es war dem Anjchein nad) eine Scheune in Brand
geraten. Aber die Schüfle?r Die Möglichkeit eines Gefechts mit
deutfchen Soldaten war bier ausgeſchloſſen. Wo follten fie und
wo ihre Gegner herfommen? Für eine etwaige Streiftruppe ber
Franzofen wäre doch der Überfall unſers Heinen Boftens, von
dem die ganze Gegend wußte, dad Nächte geivejen. Wir rieten
auf Wilbdiebe oder Schmuggler. So ſaßen wir eine Stunde
ſchußbereit, bereit auch, im Wugenblid aufs Pferd zu fpringen
und davonzureiten. Ich Tam endlich auf den Gedanken, im Haufe
nachzuſehen, ob ber Geiftliche zurüdgelehrt ſei. Alles Klopfen
war vergeblich, fein Menſch antwortete. Die Sache wurde
rätfelhaft. Was blieb übrig, ald ohne Abſchied abzumarfchieren?
Längered Verweilen hatte feinen Sinn, wäre auch gegen den
Befehl geweſen, der uns ein frühes Bufammentreffen mit dem
Fuhrpark vorfchrieb. Alfo vorwärts! Borfichtig die fteile Seiten-
ftraße hinab zur Hauptftraße, in diefer nordwärts zum Ausgang
des Dorfes. Es jchienen fi mehrmals Fenſter beim Schall der
Hufe zu Öffnen, aber fein Kopf wurde fichtbar. Ein Begegnender,
den wir anriefen, verſchwand ohne Antwort im Dunkeln. Da,
beim Einbiegen in da8 Tal, wo unſer Weg talabwärts führen
mußte, ftand plößlich die Zeuerjtätte oben in halber Höhe am
Hang des Hügeld, Hinter ihr gefpenftilch, wie ein Rieſenſchatten,
der Kirchturm. Mir fchnürte fi die Bruft zuſammen. Un-
willtürlich hielten wir unfre Pferde an. Das war das Haug,
wo ich geitern Abend glüdliche Menſchen verlafien hatte. Das
Häuschen war fchon außsgebrannt, rauchende Balken hingen über
die Brandmauer, deren angeglühte Steine grell herausichauten,
in der dicht angebauten Scheune qualmte es noch in Holzftößen,
die zu Kohlenmeilern verbrannt waren, und ein ftinfender
Schwaden zog in der Morgenluft, da8 Dad) war eingeftürzt.
Die Sterne allein ftrahlten ruhig herab. Stumm ftand um Die
Stätte der Vernichtung eine Menge, in der ſich faum einer be
mwegte. Gleich darauf führte unſer Weg am Tor des Kleinen
Kirchhofs vorbei, deſſen entblätterte, jonderbar zinnenförmig ge=
ſchnittne Weißdornhecke ih vom Einmarſch her wiedererkannte.
Man ſah die gelben und die ſchwarzen Perlenkränze im Wider⸗
ſchein der roten Glut ſchimmern, und ein harter Ton von
Spaten, die den gefrornen Boden zu zerteilen ſuchten, klang
bon nahe her. Hart am Straßenrand waren graue Geftalten
an der Arbeit, eine dunklere jchien fie anzumeilen. Es ift nur
17*
260 Bilder ans dem Kriege mit Frankreich
ein Häufchen Knochen, hörte ich fie fagen, alles andre ijt ver⸗
brannt, man könnte fie in dieſem Voche unterbringen, darauf Die
Stimme des Geiftlichen, die feit, faft geihäftsmäßig Hang: Man
lege fie auseinander, dieſer ift Joſeph, jener der Knabe, jedes
Häufchen in einen Sarg für fi. Indem Hatte er den Hufichlag
unjrer Pferde gehört und tat einige Schritte auf die Hede zu.
Was iſt Schredliches vorgegangen? Joſeph und fein Sohn find
tot, aus Irrtum von jchweifenden Franktireurß erſchoſſen, zu⸗
fammen mit feinem Landsmann, dem Dlebger, in dem fie einen
Spion ſuchten; fein Haus verbrannt mit allem, was e8 an Werfen
und Hoffnungen barg. Maria lebt, aber ich fürdhte für ihren
Verſtand. Mein Meb! rief er, indem er die Hände zum Himmel
bob, mit erftidter Stimme.
.
Altbayriſche Wanderungen
“>
1
Bon allen deutichen Flüffen ift der Sun dem Nhein am
ähnlichften.” In feinem Steingrau ſchimmert jogar bei hohem
Waſſerſtand das Grün aus den Wellenlämmen. Wenn fi dazu
in jedem Wellentälhen das Blau des Himmels fpiegelt, jo gibt
das vielfache Dämpfen und Halbımterdrüdte Leuchten von Grün
und Blau eine herrliche Farbenmiſchung, die echt „alpin“ tft. Im
Winter finkt der Waſſerſtand des Inn, wie aller Gletſchergebornen,
dann Schlägt fich alle8 Grau nieder, und der Fluß wird immer
dünner, klarer und leuchtender. Ein wunderbares Bild, wie beim
Nachlaſſen der Regengüffe und Schneefchmelzen im Gebirge das
Grin und Blau der Alpenſeen und ®letfcherfpalten in die oft
ftundenbreiten, mit meißem Kies beftreuten Flußbetten der bay-
riſchen Hochebne berabiteigt! Es erinnert daran, wie die Sonne
aus den Dolomitzaden der Alpen das Steinerne gewiſſermaßen
ausglüht, fodaß fie nur noch Farbe und Licht find. Dann find
von ber Iller bis zum Inn die Bänder fichtbar, die Daß obere
Donauland mit den Alpen verknüpfen, und bei Paſſau fchürzt
fih ein wahrer Flußknoten. Blicken wir von der Schwelle des
herrlich erneuten Paſſauer Domes hinab, fo jehen wir, wie fich
der Elare, grüne Inn mit der trüben, gelblicden Donau und dem
Dunkeln Walbwafjer der „aus dem Wald“ kommenden Ilz ver-
bindet: die Alpen vereinigen fi) mit dem Schwarzwald und dem
Bayriſchen Wald.
So find ſich auch die Menfchen von den Alpenfirften bis über
die Donau Hinaus viel ähnlicher, als der Grundimterjchied ihrer
Lebensbebingungen erwarten läßt. Der bayriſche Stamm bleibt
ſich merkwürdig gleich zwilchen Lech und Plattenſee und zwiſchen
der Oberpfalz und der ſüdtiroliſchen Alpenwacht. Wenn ſich jeder
Deutſche unter deutfchgebildeten öfterreichiichen Offizieren in Rodna,
Agram, Zara, ober wo es fonft in dem weiten Reich der Habs⸗
264 Altbayrifhde Wanderungen
burger jein möge, beimifch fühlt, wie er fih einft in Mailand
und Ancona unter ihnen heimiſch fühlte, jo find es bayrifche
Züge, die ihn anmuten. Oberflächlich ſcheinen Wien und Münden
ſehr verjchieden zu fein, ja noch immer mehr außeinanderzugehn.
Und doc, je größer München wird, defto mehr treten wienerifche
Züge in feiner allmählich ſich außbildenden Großftadtphyfiognomie
hervor. Die zweite Großftadt des bayrijchen Stammes im Donau
land wird der erften einft ähnlicher fein, als die norddeutichen
Gropftädte mit all ihrem Verkehr untereinander geworden find,
Heinrich NoE erzählt einmal eine Bifion, die er im altbaju⸗
varijchen, nun längjt verweljchten Eividale vor einer Strobflafche
tüftenländiichen eines hatte. Die Bajuvaren waren wieder aufge
lebt und traten der eine als Yandrichter, der andre als Aufichläger,
ein dritter als Bezirkdarzt uſw. zur Zeit des Frühſchoppens in bie
Wirtsſtube. Sie hatten mit vereinten Kräften ein Faßchen Bod
aus einer berühmten Münchner Brauerei kommen lafien, das fie
nun mit heiterm Ernſt anftadhen und unter dem bebaglicden Genuß
von Bocwürfteln, Radi und Faſtenbrezeln bei Geigen- und Bither-
Hang und frohen Liedern ausfchlürften. So hätte es allerdings
fein können, wenn ſich die alten Bayern in Yriaul gehalten hätten.
Aber die heißere Sonne der Sübalpen hat dem Stamm nirgends
gut getan. Er bat fich felbft und alle feine alten Eharalterzüge
am beften im Gebirge und auf der Hochebene erhalten. Und noch
mehr gilt von ihm als von andern deutſchen Stämmen, daß er
die Stadtluft fchlecht verträgt. Der Bayer ift Bauer bis ins
Mark, und die anmutenditen, behaglichften Züge Münchens gehören
dem Untergrund von Länbdlichleit an, der der Hauptftabt Bayerns
noch die Züge einer großen behaglichen Zandftadt verlieh, als fie
fon 200000 Einwohner zählte. Der bayriſche Stamm bewohnt
freilich ein ftädtereiches Land, weil bier der Verkehr zwilchen dem
Süden und Norden und dem Dften und WVeften Europas durch⸗
fiutet. Aber Bayern ift ein Land der behaglichen Städte. Behag⸗
lich find vor allem die unberührteiten: Landshut und Straubing.
Welche Schweizeritadt hat jo warme Freunde in der ganzen Welt
wie Innsbruck und Salzburg? Daß macht nicht bloß Die Lage;
auch die breite Anlage, der wohltuende Übergang ins Dörfliche
und die anſpruchsloſe Art ihrer Bewohner trägt bazu bei, bie
wie ihre Städte nicht troßig ind Land binunterfchauen, fondern
ganz damit zufanmengehören. Salzburg? Schönheit wird auch
von den LZandleuten verftanden und gewürdigt. Unter den Gegen⸗
fägen, deren Bereinigung gerade bier etwas jo Wunderichönes
Altbayrifche Wanderungen 265
geihaffen Hat, find einige auch dem finblichiten Verftändnis zu⸗
gänglih. Dazu gehört beſonders der Blick auf Die weite Ebene
draußen und die fchönen Rokokobauten innen. Es ift ein ge⸗
waltiger Reichtum, der bier entfaltet ijt: Berg und Ebene, Fluß
und Wald, der graue Fels, der aus den weichen grünen Matten
bervorfteigt, dazu die Miſchung von monumentalem und fchlicht
bürgerlidem Charakter. Die geſchichtlichen Erinnerungen find in
Innsbruck nicht unbebeutend, aber fie Drängen fi) nicht auf. Und
troß der unvergeßlichen Grabwächter Beter Viſchers in der Fran-
ziöfaner-Hoflicche ift dag größte Monument dag am Berg Iſel dem
Andre Hofer gefebte, dem Sandwirt, der in der ftolzen Hofburg
bäuerlih Hof hielt und mit dem beichränkt gefunden Menſchen⸗
veritande des Bauern das Land Tirol verwaltete. Der Bayer,
der über die Grenze kommt, liebt nicht die fcharfgefchnittnen,
dunfeln Gefichter der Beamten und die mancher Bürger, auf
denen eine merkwürdige Mifchung von Beweglichkeit und Schlaff-
heit liegt, die eine mehr in den Mugen, Die andre mehr im Mund;
er findet fih erit in dem derben Tiroler Bauer wieder. Mit Be-
dauern empfindet er aber, Daß jene mit italieniſchem und ſlawiſchem
Blute verjebten eigentlichen Öfterreicher dem bayriiden Stamm-
verwandten den Charakter etwas „verdrudt“ Haben, und jogar
der bayriſche Holzknecht fieht mit jo etwas wie Mitleid auf feine
Tiroler Genoſſen hinab.
ALS Ludivig der Erfte feine Kunftftabt München jchnf, da war
der Stamm, auf den dieſes neue Reis gepfropft wurde, durchaus
nicht bloß eine Refidenzftadt wie Stuttgart und noch weniger wie
Karlsruhe oder Darmitadt. München war eine Stadt der Bauern
und Heinen Bürger, eine Stadt voll Ehrlichkeit, Frömmigkeit und
alter Sitte, aber von wenig Streblamfeit und Lurus. Die joge-
nannten geiftigen Intereſſen traten in den Hintergrund. Der Volks⸗
Charakter des Münchners iſt das Tonzentrierte Altbayerntum, zwar
abgeichliffen, aber nicht unfenntlich gemadht. Die beite Schilderung
des „Münchner im fozialen Licht,“ Die 1877 Mar Haushofer
in einem nicht in die weitere Offentlichkeit gedrungnen Aufſatze
gab, jagt von den Münchnern um 1830: Vielleicht in feiner andern
Stadt Deutjchlands kam das Bauernelement jo zum Durchbruch
al? gerade in München. Menjchen, die mit feinerm Werkzeug ban-
tieren, ſcheinen auch mehr mit Hobel und Feile bearbeitet; im alten
Münden waren tonangebende Werkzeuge die Geißel der Getreide⸗
bauern und die Art des Flößers. Da ſchallts. Davon iſt nun
viel abgebrödelt und fortgefpült. Außerlich zeigt fich dad in dem
266 Altbayrifde Wanderungen
Verſchwinden der Straßen mit Gebirgshäufern, die im Lehel
(Stadtteil an der ar unterhalb der Marimiliansbrüde) noch
vor einem Menfchenalter behaglich ihre hölzernen Galerien und
Heinen Zenfter jehen ließen. Welche Boefie Damals noch in der
Prozeifion, die alljährlid am Sonntag nad) Fronleichnam da
unten durdjgog! Man fühlte fi) volllommen aufs Land verſetzt.
Das Rauſchen der Iſar recht? und der alten Eichen des Eng-
liſchen Gartens links paßte zu den befränzten Häufern und den
laut betenden Scharen der feitlich gefleideten Kinder und Bruder:
ſchaften. Innen im Münchner Bürgertum lebt nod viel von
ber alten frommen Einfachheit und Gediegenheit früherer Zeiten.
Unter den fteinreihen Brauern und Kaufleuten find Männer
und rauen von echt bürgerlichem Sinn und Lebenswandel noch
zahlreicher als in andern gleichgroßen Städten. Sie treten nur
zu wenig hervor. Schon jeit langem ift e8 Regel, dab Nicht⸗
miünchner, vor allem Schwaben, Franken, Pfälzer und — Juden
die Angelegenheiten der Stadt leiten. Das hängt mit der Zurüd-
haltung der Altmünchner überhaupt und dann mit ihrer dem
Liberalismus und Diplomatifieren nicht günftigen Geifteßanlage
zufammen. Der bayriſche Stamm iſt nicht umfonft der Hort des
Katholizismus im deutfchen Volle geblieben. Neuerungen abhold,
dem Gemüt mehr vertrauend als dem Geift, dem Schönen mit
tiefem Verftändnis zugewandt, hat er eine natürliche Beftimmung
für den Katholizismus. Daher auch die abfolute Übereinftimmung
der konſervativen Richtung mit der klerikalen in Bayern wie in
Dfterreich, wie es bejonder8 der Antifemitismus erfahren hat.
Wenn auch die Sozialdemokratie in München rechts und links
(d. h. von der Iſar; links liegt München, rechts die Vorftädte
Au, Heidhaufen, Giefing u. a.) gehörige Verwühtungen angerichtet
bat, jo haben doch gerade Die Gemeindewahlen der legten Sabre
wieder eine große Zahl von Urbeiterftimmen für die konſervativen
Kandidaten ergeben. Jedenfalls ift in Münden der Gegenſatz
zwilchen Bürgern und Urbeitern noch nicht fo jchroff wie in vielen
andern deutichen Städten. Darin liegt ein koſtbarer, wohl zu
hütender Reſt der alten Landitadt, für die die „Schranne” mit
ihren fornverlaufenden Bauern wichtiger war als die Vörſe.
2
Doch wir find noch nicht in München. 8 ift zwiſchen dem
Inn und der ar ein breiterer Strich, als die meiften denfen,
bie fi Bayerns nur von ber Karte Ber erinnern. Und
Altbayrifche Wanderungen 267
dazu kommt jenjeits des Inns noch das Stud Bayern bis zur
Salzach, wo fi) Burghaujen, die alte Hauptftadt bayrilcher Her-
zöge, als ein Kleinod aus alter Zeit erhebt. Niemand verjäume
dort in den ſtimmungsvollen Schloßhof einzutreten. Wer kennt
Waſſerburg am Inn, die grünumflofiene Inſelſtadt mit ihren
Türmen und Toren? Wer das ſchön gelegne Gars mit feinem
ſchloßartigen Klojter? Wer weiß überhaupt von der Schönheit
des Inntales bei Soyen und Mühldorf, wo fich über der kalk⸗
weißen Sohle jchöne Waldberge in dichter Neihe erheben und
unter hohen Buchen zahlreiche kleine Seen ſtehn? Ron dem
welligen, waldigen Lande, dad ar und Inn in ihrem untern
Laufe umfaffen, mo der Femblid auf die eben noch berauf-
dämmernden fchönen Felsgipfel des Watzmanns und des Wendel»
fteind an die Nähe der Alpen erinnert, die übrigend auch von
der grünen Yarbe jener gleticher- und fimentiprungnen Flüſſe
verkündet wird, und — für den tiefern Blid — von der alten
Moränenlaudihaft des Diluvialgletichers mit ihrem Reichtum an
Heinen Seen und großen Mooren, weiß Deutichland wenig. Zwar
ift ein Faden des Weltverkehrsnetzes mitten hindurch gezogen,
die Eijenbahnlinte Münden — Simbach — Wien, die bei Mühldorf
den Inn überjchreitet, Die Linie des Ürienterpreßzuges. Aber
die Leute, Die auf dem ſchmalen Stahlwege dur Ober⸗ und
Niederbayern faufen, haben in diefem Lande, das ihnen reizlos
ericheint, weil es nichts auffallendes bietet, gerade Zeit, an bie
Vergnügungen zu denken, die fie eben in München verlafjen
haben, oder an die Gefchäfte, die fie in Wien machen werben.
Die Morgenjonne, die die Watzmannſchneide anglüht, die Abend⸗
fonne, die die Fenſter der ſchloßartigen Bauernhöfe in Flammen
ſetzt, läßt ihnen höchftens eine Seifenblafe durch die Landichaft
fliegen und wedt eine Ahnung, Daß das keine ganz leeren Räume
feier. Eine angenehme Beigabe in dem Buftande des Schlaf-
wachens, in dem man große Eifenbahnfahrten zurücklegt; weiter
nichts! Wen Tann ein Land intereffieren, wo es feine großen
Städte, feine blühende Induftrie — wie duften dieſe Blüten? —
gibt, und von dem die landläufigen Geſchichtsbücher nicht? andres
zu fagen willen, als daß auf dem Schladhtfeld von Umpfing bei
Mühldorf zwilchen Ludwig dem Bayer und Friedrich dem Schönen
von Öfterreich entſchieden worden fei?
Steige doch der Neijende, der Zeit und Sinn hat, irgendwo
aus, nachdem er den Yun bei Mühldorf gefreuzst bat, und
wandre ind Land hinein. Nördlich von der Bahnlinie betritt er
268 Altbayrifhe Wanderungen
die Landftraße, auf der ſich einft der große Berfehr zwiſchen
Münden und Wien bewegte. Zeugen davon find die breite An-
lage, die weit über die heutigen Bebürfniffe hinaudgeht, und in
den größern Dörfern ein altes Poſtwirtshaus mit überzähligen
Sremdenzimmern, die als landwirtichaftlide Vorratskammern
dienen. Es ſteht meift an einer Straßenfreuzung, hat ein hell-
fenftrige8 Gaftzimmer, oft mit freundlidem Erler. Wenn e8
nicht modernifiert ift, zeigen Möbel und Bilder an, daß es feine
fegte Erneuerung in den zwanziger oder dreißiger Jahren erfahren
bat. Wan findet ja nicht überall Zimmer, die Schapläftlein des
Empireftilö genannt werden könnten, wie einft im „Wilden Mann”
zu Paſſau; aber es ijt eine Wohltat, Reſte aus einer Zeit zu
jehen, die jenfeit3 der mit 1850 einreißenden Geſchmackloſigkeit
liegt. Gewöhnlich find diefe alten Häufer mit ihren breiten Höfen
und zahlreihen Stallungen jept mehr Bauernhof ald Poft; doch
find fie gut gehalten und bieten nicht felten an Efien und
Trinken Uusgezeichneted. Der Bayer beſucht gern das Wirtshaus,
das fich unter dem Einfluß einer ftarken Nachfrage, aber auch einer
unverblümten Kritif bierzulande in der Regel beſſer entwidelt
als in fchwäbiichen oder fränkifchen Landesteilen. Fragſt du, wo
das Träftige Bier herſtammt, deflen Farbe etwas dunkler und
deſſen Geſchmack weniger füßlid) zu fein pflegt als in München
oder gar in Salzburg, fo zeigt man dir ein großes weißes
Schloß, da8 von dem Landrüden zwifchen Inn und Iſar herüber-
ſchaut, einer milden Erhebung, die bier bewaldet, dort mit
Schlöſſern und Klöſtern beſetzt ift. Die alten Gejchlechter von
Maxlrain oder Neuhauß, die dort gehauft haben, mögen did)
wenig interejfieren, aber in diefen Schlöffern ift noch manche
fhöne alte Zäfelung, find Whnenbilder und mächtige Säulen
fchränfe erhalten. Biel von dem alten Hausrat hat allerdings
durch Die glänzenden Läden ber Münchner Antiquitätenhändler
feinen Weg in „altdeutiche Zimmer“ ber weiten Welt gefunden.
Die Architektur hat einen großen Stil: wahrſcheinlich italienifche
Einflüffe, die ja auch in den hallenumgebnen Höfen der Bürger-
häujer der Innſtädte zu erlennen find. in balbverwilberter
Part von der Größe eined guten Waldſtücks führt Dich auf
die Höhe, wo du vor dir die Alpen und Hinter dir ein Land
mit vielen Dörfern, Weilern und Höfen fiehft. Ganz oben ift
ein kleines Kircdhlein, auf deilen Kirchhof Klofterfrauen begraben
find, Die zeitweilig in dem Schlofje eine Erziehungsanftalt geleitet
hatten. Das große Gebäude weiterhin, das moderner als die
Altbayrifhe Wanderungen 269
andern ausſieht, ift natürlich Die Brauerei, ohne die ein Schloß
bier nicht zu denken fit.
Das oberbayriſche Land bat auch außerhalb des Gebirges
einen heitern Charakter. Der wellige Boden der Hochebene ſchafft
die mannigfaltigiten Lagen für Bauernhöfe, Kirchen, Schlöffer,
Wald⸗ und Baumgruppen. Die geichloffenen Flächen des Waldes,
der Wiejen, der Felder, die aud) noch im Mittelgebirge vorwalten,
durchbricht die Parklandſchaft. Einzelne Eichen, Ulmen, Ahorne,
Weiden und Gruppen foldher Bäume verteilen fich über daß ganze
Land, und aus den Gruppen der Laubbäume treten auf jeder
Bodenerhebung die Dunkeln Fichten hervor. Jeder Bauernhof bat
feine Bäume und Baumgruppen. Nuß- und Obſtbäume treten
dahinter ganz zurüd. Man fieht, wie das Land aus dem Walde
herausgewachſen ift, der es einjt ganz bededte. Jeder Ader und
jede Wiefe Hat ein paar Bäume oder ein Wäldchen übrig ge⸗
laflen. Da fih nun fchon von der Donau an und mehr noch
ſüdlich von der Linie Pfaffenhofen — Landshut die Dörfer immer
mehr in Einzelhöfe auflöfen, die fi) an die Hügel anlehnen oder
die Hügel krönen, fo entiteht eine der individualifierteften Land⸗
ſchaften, die wir in Deutjchland haben. Sogar die Kirche folgt
dieſem Zug. Gehört doch zu einem rechten Bauernhof auch eine
Kapelle. Auch die einft zahlreichen Einfiebler haben Kirdjlein
binterlaffen, und manches alte Kirchlein fteht mit wenig Höfen
zujammen als Kern einer alten Kirchengemeinde, von ber ſich
ein jüngered Dorf mit einer neuen großen Kirche abgezweigt bat.
Rah Hunderten zählen die Kapellen und Kirchen, in denen mur
an den Tagen der Patrone und fonftigen Feiertagen Gottesbienft
gehalten wird, die aber dem Gebete ftändig offen ſtehn. Das
mit Sorgfalt unterhaltne eigne Kirchlein gibt dem Bauernhofe
eine höhere Selbftändigfeit. Das landſchaftliche Auge freut ſich
der alterögrauen oder zierliden Gotteshäuschen, unter denen
manche uralten der romanischen Baumeife angehören. Es find
Heine Juwelen darunter, wo fi) ber Chor ſchön von dem
Schifflein abhebt, während ein Seitenanbau die Kapelle einer
frommen Stifterin vermuten läßt. Der Hof ſelbſt zeigt in feiner
rein weißen Farbe, von der fich die grünen Yenjterläden abheben,
weiche Sorgfalt über ihm wacht. Das zweitwichtigite Bauwerk
aber in diejer oberbagrifchen Landſchaft iſt ficherlich dad Wirts⸗
Haus. Weithin fi) anfündigend durch die blauweiße Fahnen⸗
ftange, in fchloßartiger Ausdehnung als ein gaſtlich erweiterter
Bauernhof ericheinend, mit Bäumen vor dem Tore, unter denen
270
Tifche für biertrinfende Menſchen und Yuttertröge für hafer⸗
frefiende Pferde ftehn, ſpricht es von dem Wohlbehagen und
der Lebensluft, Die in diefem Lande herrſchen. Wenn ber den
Hof oder die Gemarkung rings umziehende Wald an bie Zeit
erinnert, wo fich die Menſchen mit Feuerbrand und primitivdem
Beil Raum in dem bie Hochebene einförmig bebdedenden Walde
fchufen, fo erinnern bie Geweihe und „Gwichteln,“ Die an ber
Wand der Wirtöftube hängen, an die Wald⸗ und Jagdfreude,
die in den Abkömmlingen der altbayriſchen Hinterwälbler lebendig
geblieben ift. Schade, daß fie fo oft feinen andern Weg weiß, fich
zu äußern, als daß Wildern, das nirgends in Deutichland fo ver-
breitet ift wie bier. Es ſind oft nicht die fchlechtejten, die wilbern.
Man hört wohl aus dem Vorleben eines befonders jchneidigen
und intelligenten Bauern die vertraulide Mitteilung in be=
wunderndem Ton: Das war einft der gefürdhtetfte Wilderer weit
und breit!
Bon den Oberbayern des Gebirges ift viel gejchrieben worden,
Kobell und Stieler find ihre Dichter, die Bauernkomödie hat fie
weithin populär gemacht. Bom Bauer der bayriihen Hochebene
meinte man, die Bauerndynaftien auf den großen Höfen, die man
von den Höhen des Wellenlandes und aus umbuſchten Winkeln
an den Flüffen und Teichen glänzend weiß herichauen fieht, könnten
höchftend einen Kauz wie Immermann intereffieren. Wenn fie
des Sonntags zur Kirche gehn, die Männer im filberfnopfbefebten
Wams, in Lederhofen und dem runden niedern jeibenhaarigen
Hut, die Weiber im fchwarzieidnen Kopftuch, Daß den ganzen
Nüden mit zwei breiten Flügeln bededt, nicht felten in ſchwer⸗
jeidnem Rod, aber immer in dunkeln Farben, von denen die
roten Strümpfe abftechen, ziehn ftämmige Geſtalten, entichlofjene,
harte Geſichter, doch auch manches freundliche Auge an uns vor⸗
über. Wenn ich Dichter wäre, das Unverhüllte bis zum Rohen
Wahre in diefen Geftalten würde mich viel tiefer ergreifen. Jede
ift ein Typus. Hier iſt das Mädchen, hier dad Weib, hier der
Greis. Keiner ftrebt, etwas andres zu fein. Wir wollen uns
in andre Alter und Standesklaſſen verjegen oder betonen das
Sndividuelle bis zur Übertreibung. Hier dieſer gebüdt hinter
ben andern herfchreitende Weißlopf ift fo fehr der Greis wie
des Odyſſeus alter Vater, und der Wirt ift jo jehr Wirt wie
der in „Hermann und Dorothea.” So wie die Höfe biefer
Bauern immer unmittelbar ins Gras hineingeftellt find, deſſen
Wieſen, wenn auch baumbepflanzt, ſich nad) allen Seiten weit
Altbayrifche Wanderungen
Altbayrifche Wanderungen 271
ausbreiten, ehe die braunen Üder beginnen, fo heben fi auch
bie Menfchen unmittelbar von der Natur ab. Keine allzu häufige
Berührung mit den Nachbarn jchleift fie ab, fie entwideln frei,
was in fie hineingelegt ift.
Das in fie Hineingelegte ift mın allerdings von Landichaft
zu Landſchaft jehr verſchieden. Zwiſchen dem Oberbayern und
dem Niederbayern iſt mindeſtens ſoviel Unterſchied wie zwiſchen
dem Unterfranken und dem Mittelfranken. Der Oberbayer iſt
beſonders nach dem Gebirge zu der germaniſchere von beiden.
In der Tölzer und Lenggrießer Gegend und im Mangfallgebiet
findet man Leute, die zu den ſchönſten Vertretern germaniſcher
Männlichkeit gehören. Nah Salzburg Bin überwiegen Kleinere,
Dunflere Leute, von denen der Gendarm und der Forftgehilfe,
aus Gott weiß welcher Duelle fchöpfend, ald von „verdrudten
Welſchen“ fprechen. In Niederbayern ift dann wieder einer der
ſchwarzhaarigſten und dunkeläugigſten Menichenichläge zubaufe,
die e8 auf deutichem Boden gibt, bejonder8 von Regensburg
gegen den Bayrifchen Wald und nad) Amberg und Schwandorf
hin. Aus dieſer Gegend kommen tüchtige Soldaten; in ihr aud)
fitt der „Sraftadel“ roher Mefjerhelden. Nah Welten und
Norden gehn dieſe bayriichen Schattierungen allmählich in die
Franken über. Gewöhnlich verfteht man unter Altbayern die
Kreife Oberbayern, Niederbayern und Oberpfalz. In einzelnen
Zeilen entiprechen aud) deren Grenzen dem alten Bayernland;
aber dem Ganzen gegenüber ift doch die gejchichtlich wichtige und
bis in die Gegenwart herein wirkſame Tatſache zu beherzigen,
daß die öſtlichen Franken von den Bayern nicht ſcharf zu jondern
find, während zwiſchen den weltlichen Franken Unterfrantend und
den Bayern dad ganze Schwabentum liegt. Daher ein unmerf-
licher Übergang vom Altbayern zum Mittele und Oberfranken.
An Derbheit und Natürlichkeit kann e8 der Nürnberger mit dem
Münchner anfnehmen; und dem Wohlleben iſt der ditliche Franke
in Stadt und Land nicht abgeneigt, wenn er auch feine Lebens⸗
freude nicht jo laut und warm fundgibt wie der Nachbar im
Süden. Er tft allerdingd regfamer, auch eigenfinniger und recht⸗
baberifcher. Es ift aber boch fo viel Übereinftimmendes diesſeits
und jenſeits der Donau und Nab, daß die PVerfittung der oſt⸗
fränfifchen mit den altbayrijchen Gauen auffallend leicht vor ſich
gegangen ift. Keiner von ben Kleinſtaaten, die Bayern bei der
Auflöfung des alten deutichen Reichs in ſich aufnahm, hat eine
fo glänzende Vergangenheit geopfert wie Nürnberg. Nürnberg
272 Altbayrifde Wanderungen
iſt ohne Zweifel auch heute noch ftolz auf feine Geſchichte; es
it eine Perſönlichkeit unter den beutichen Städten, nicht bloß
eine Anhäufung von Häujern und Menſchen. Es blickt auch nicht
ohne Neid auf daß von der Regierung und dem Hof fo begünftigte
Münden, das überdies durch den Fremdenzufluß mit leichterer
Mühe Geld erwirbt als dad mehr abjeit8 gelegne Nürnberg.
Der Nürnberger Kaufmann ſpricht deshalb fchaudernd von dem
Leichtfinn und der Genußſucht der Münchner. Die Hauptſache
ift aber doch, daß fi) Rürnberg unter bayriſcher Herrichaft wohl
fühlen gelernt und einen fröhlichen Aufſchwung genommen bat,
wie e8 ihn in den lebten zwei Jahrhunderten feiner Selbftändig-
feit nicht erlebt hat. Die Kunftpflege der bayriſchen Könige hat
Nürnberg ebenjo wohl getan wie München, und foweit die ältere
franzöfifchzentralifierende Verwaltung einen zweiten Mittelpunit
überhaupt zulafien Tonnte, ift Nürnberg mehr als jede andre
Stadt außer Münden begünftigt worden. Im Eifenbahnneb if
Nürnberg ohne Zweifel der zweite Knotenpunkt. Die altbayrijche
Läßlichkeit war ganz geeignet, aus reichäftäbtiichen Zuſtünden
ſchonend in die Stellung einer Provinzialftadt überzuleiten. Der
konfeſſionelle Gegenſatz ift im allgemeinen Hug behandelt worden.
Größer tft nad) allen Zeugnifien der Abſtand in den einft
preußifchen, früher ansbachiſch⸗bayreuthiſchen Landesteilen em⸗
pfunden worden. Preußen hatte hier vor Torſchluß noch einige
feiner beften Beute hergefandt, Hardenberg, Humboldt, mit denen
die altbayrifchen Beamten nicht Tonkurrieren konnten. Diefe ftanden
3 B. im Bergwejen weit zurüd. Die bier und da noch vor⸗
handnen preußiihen Sympathien haben aber nicht einmal ver»
mocht, das Zuifenfeitipiel auf der Luiſenburg bei Wunfiebel über
dem Waſſer zu halten.
Doch zurüd nad Altbayern, und zwar recht in die Mitte
Hinein. Die vom Rhein berfommenden Nibelungen fanden in
der Bafiauer Gegend nicht eben den freunblichiten Empfang. Bon
fräntifcher Leichtlebigkeit und öfterreichiicher Weichmütigleit find
gerade hier die Altbayern am weiteften entfernt. Nicht bloß Die
Bauern, auch die Bürger der in Altbayern wenig zahlreichen
Städte befleißigen ſich nit ungern einer naturwüchfigen Unge-
ſchlachtheit. Wer fie nicht hat, erzieht fie fih an umd gewinnt
damit Lebensart. Grobheit, die mit Aufrichtigfeit und Mutter-
wit verbunden ift, ziert den Mann. Ein grober Wirt zieht die
Säfte an, ftatt fie zu verichenchen. Neben Jagdgeſchichten gehören
Erzählungen von groben Wirten und Beamten zu den beliebteften
Altbayrifche Wanderungen 273
Würzen der Unterhaltung; und dazu paflen treffli die Maß-
krüge kräftigen Biere, wozu „abgebräunte” Kalbshaxen von fabel-
after Größe und unförmliche Portionen Kalbs⸗ und Schweins-
braten verzehrt werden.
Die Neigung zur Volkstracht ift unter ſolchen Verhältniſſen
überall ba, fie wagt fich in allerlei Formen ſchüchtern vor. Aber
fie kommt zu feinem rechten Halt mehr, wenn er ihr nicht von
außen geboten wird. Daran hat es num gerade in Bayern nicht
gefehlt. Im Gebirge find ſchwarzlederne Kniehoſen, Wadenſtrümpfe,
Joppe und „a greand Hüntl” mit den Gemsbart oder der Spiel-
hahnfeder gleichjam offiziell für alle Jäger und für viele Touriften.
Wenn der Prinzregent mit feinem ganzen Sagdgefolge tn dieſer
Tracht im Berchtesgabner Land, im Iſartal über Lenggrieß oder
im Algdu jagt, gibt er ein weithin leuchtendes Beiſpiel der
Schätzung der alten guten Tracht. In derſelben Richtung find
die Vollötrachtenvereine wirkſam und am meiften wohl einfluß-
reiche Getftliche, Die der jüngern Generation feinen Zweifel
darüber laſſen, daß die Tracht der eigentliche Kirchenanzug ſei.
Die Hauptjadhe ift aber doch immer, daß die züngelnden, weg⸗
fpülenden Wellen de3 modernen Lebens überhaupt nie in dieſe
alten Höfe jo Hineingedrungen find wie in Die fränfiichen und
oberpfälziichen Dörfer. Darum jtedt au im Bau und Haus⸗
rat viel Altertümliche und Schönes, wovon leider das befte an
bie Tröbler übergegangen tft. ch habe romaniſche Säulen aus
Untersberger Marmor im Giebel eine Bauernhaufes gefehen
und mir von Kennern erzählen laffen, daß in alten Häufern der
Traunfteiner Gegend uralte Balkenwerk mit herausgeſchnitzten
gefnoteten Stridleiften erhalten ſei. Ein großer Feind des Alten
tft in Altbayern das Feuer. Ein vom Blig getroffner oder ſonſtwie
in Brand geratner Eindbhof tft natürlich faft rettungslos ver⸗
loren. Die Höhen, auf denen bie älteften Höfe liegen, find im
Ragelflubgebiet wafjerarm. Branditiftung dürfte faum in einem
andern Teile Deutichlands fo Häufig fein; fie ift nicht felten Die
Rache entlafjener fchlechter Dienftboten, leider auch des gekränkten
Bauernehrgeizes und manchmal fogar der verjchmähten Liebe.
3
Die fteilen, zum Teil ſchroff felfenhaft in die Donau ab»
fallenden Hügel, von denen die weiße Walhalla berunterjchaut,
breiten fich jenſeits Straubing zu Walbbergen aus, deren breite,
Rayel, Slädsinfeln und Träume
274 Altbayrifche Wanderungen
runde Formen an den Schwarzivald erinnern. Es ift eine ber
waldreichſten Landſchaften Mitteleuropas. Bon manddem Gipfel
im Bayriichen Wald erblidt das Auge des Wandrers nichts als
Wald, foweit es reicht, bie und da einen Dunkeln Seefpiegel,
eine graue ober rötlichgraue Granitwand oder einen weißen Quarz⸗
fels. An einem fühlen Wpriltage, wo der Schnee noch überall
in den Wäldern liegt und an den Waldrändern berausichaut,
der Wald jelbft faft ſchwarz unter einer tieffängenden grauen
Wolkendecke fteht, und die Bergwieſen fahl, kaum grün ange
haucht find, tft die Landichaft faft melancholiſch. Es ift das
fältejte, wa8 man ſich denken Tann. Grün find dann überhaupt
nur die jungen Fichtenſchläge. Auch die Felſen find graulich,
und die Häufer grau. Die were Rauchwollke, die über bem
einen oder dem andern die Glashütte anfündigt, erheitert die
Landihaft nicht. Nur nad) dem Ausgang zu, wo die Täler breit
find, die Bäche zwiſchen faftigen Wiejen bingehn, und das Ader-
feld fich höher hinaufzieht, bietet aud) der Bayriſche Wald freund-
liche Kulturbilder, die durch die Zeugen der inbuftriellen Tätig⸗
feit gehoben werben, Zwieſel mit feinem hochragenden Kird;-
turm, Gotteszell mit feinen freundlichen Häuſern muten fajt wie
Marlifleden aus den Alpen an. Bon ben größern Orten, die
„vor dem Wald“ liegen, kam man das nicht jagen, vor allem
nicht von dem als Übergangsplatz nad Böhmen fo wichtigen
Schwandorf, das in feinen alten Mauerreften eine echt Toloninle
Gründung um einen unjchönen vieredigen Marktplatz mit lauter un⸗
bedeutenden Häufern und ſchmutzigen Straßen ift. Schwandorf hat
eine gewiſſe nationale Bedeutung als legte bayrifche Stadt gegen-
über dem Tſchechentum, wo es bei Taus fein Gebiet am weiteften
nad) Weſten vorjchiebt. Man würde hier gern eine recht blühende
deutfche Stadt ſehen. Auch Weiden und Yurth im Wald find
unbedeutende Orte der Grenzzone, Zirichenreuth ift durch das
Denkmal Schmeller8 verklärt, des großen Schöpfers des Bayriſchen
Wörterbuchs, eined ber bebdeutendften Geifter, die der Bayriſche
Stamm zur deutſchen Wiſſenſchaft geftellt hat. Im übrigen
Deutſchland iſt diefer aud rein menſchlich anmutende Bayer
nicht nad) Verdienft gewürdigt worden, foviel Gutes auch Jakob
Grimm von ihm gejagt hat. Sein Plab ift neben den Brüdern
Grimm, nicht Hinter ihnen.
Die Bewohner des Bayriichen Waldes find ein genügjames,
fleißig arbeitendes Volk, fie haben ſich etwas von der bayriſchen
Heiterleit bewahrt, unter Berhältniffen, die viel weniger günitig
Altbayrifche Wanderungen 275
find als die in und an den Alpen. Die „Waldler“ laſſen
übrigend in der auffallend großen Zahl dunfelhaariger und
Ihwarzäugiger unterfegter Menichen die Erhaltung keltiſchen Blutes
in diefem Winkel vermuten, der gejchichtlich zum Waldſaum bes
alten Bojerlandes, Böhmens, gehört. Vom Böhmerwäldler find
fie troßbem wohl zu unterjcheiden. Yür die öfterreichiichen Böhmer⸗
wäldler ijt nicht bloß das fernere ,‚Reich,“ bejonders Schwaben
und der Rhein, mo früher manche als Haufierer Wohlftand er-
warben, ein glüdlicheres Land. Das tft ja für alle Gebirgler
jedes tiefergelegne Land mit befierm Boden und milderer Sonne.
Er fühlt auch den bayriſchen „Waldler“ fich fchon überlegen.
Und mit Recht. Die bayriiden Waldbewohner find in denſelben
Gehirgsteilen wohlhabender als die Öfterreihtichen. Dort find
nit Fürften und Grafen die Großgrundbeſitzer, jondern ber
bayrifche Staat felbft, der wohl weiß, was er an dieſem Träftigen
Bauernftande hat. In Ufterreich ftehn ein Fürft Schwarzen-
berg, der in Sübböhmen über 145000 Hektar befitt, und einige
Heinere Herren zwiſchen den großen Bauern und dem Staat.
Bon ſolchen Herren find die Leute abhängiger als vom Staat.
Es ift ein ſchlechter Zuftand für die Bauern und für den Staat;
gut ift er nur für den Grundherrn und feine paar taufend Be—
amte, Waldhüter ufw. Der öſterreichiſche Böhmertvalbbauer
wohnt und ißt ſchlechter als der bayrifche und weiß das auch
ſehr gut. Beiden gemein ift, hier Tann man fagen zum Glück,
das bayrifhe Phlegma, fonft wäre der Unterſchied noch fühl-
barer. Während ſich aber der bayriſche Waldbauer auch der
wohltätigen Seite dieſer Nationaleigenfchaft, nämlich der läßlichen,
humanen Verwaltung erfreut, die in dem wichtigen Forſtfach
immer rationeller geworden ift, hat der öfterreichifche eine zum
großen Teil tichechifche Beamtenfchaft über fi, und das empfindet
er noch ftärfer.
Eigentümliche Züge prägt das Hinübergreifen des bayrifchen
Stammes an dieſer Stelle den weſtlichen Deutihhöhmen auf.
Auch auf der böhmiſchen Seite tft der Bayer der Vertreter der
Kraft und Derbbeit, der Genußltebe und der Frömmigkeit; aber
er liebt nicht die geiftige Anftrengung, läßt viele an ſich vor⸗
beigehn, ohne aufzujehen. Da zeigt der oberjäcdhfiiche und der
Ichlefiihe Böhme einen ganz andern Charakter. Faft alle politiich
und wiſſenſchaftlich bedeutenden Deutjchhöhmen ftanımen aus dem
böhmtichen Erzgebirge und Mittelgebirge, bier liegt auch heute
die politiiche Entſcheidung über das Schidjal der Deutihhöhmen.
18*
276 Altbayrifche Wanderungen
Der Weften, wo der bayriihe Stamm im Pfälzerwald und
Böhmerwald vorherriäht, trägt wenig dazu bei. Im Böhmer⸗
wald und im Oberpfälzerwald mag die Armut und Wbgelegen-
heit der dünnen, ftädtelofen Bevöllerung eine gewifle Apathie
erzeugen. Was für Geiftesgaben aber bier in der Stille heran
wachien, davon find Gluck und Adalbert Stifter Zeugen. Im
Egerlande haben wir dagegen einen ber reichiten Zeile Böhmens,
eine blühende, verlehrsreiche Stadt und einen urfräftigen Bauern
ftand. Uber was die Egerländer für das Deutichtum leiften, das
machen fie mit Saufen ab, jagt man im übrigen Böhmen. Wo
& gilt, einen großartigen Kommers zu feiern, da müflen die
Egerländer heran mit ihrer echt bayrifchen Yeitfreudigleit. Der
Unterjchied greift bis nach Oberfranken hinüber. Sogar im König
reich Sachſen kann man in dem germaniſchen Teil, im Vogtlande,
die bayriſch⸗oberfraͤnkiſchen Charakterzüge noch recht gut durch⸗
fühlen, obwohl gegen Sachſen gerade wie im Yichtelgebirge auch
die konfeſſionelle Grenze zwiſchen Katholilen und Proteftanten
jehr merklich tft.
Mit verichiednen Mitteln verfolgen die Bayern diesſeits
und jenfeit3 der Grenze mit demfelben Eifer, derſelben liebe⸗
vollen Hingebung denſelben Zweck, die Pflege des Leibe. Den
Hauptunterſchied macht dabei eigentli nur das Getränk. Der
Bayer trinkt faft nur Bier, der Böhme und der Ofterreicher
wechfeln mit Wein ab, wobei fi) das Unerwartete berausftellt,
daß der Wein bier gerade jo maflenhaft genofien wirb wie dort
da8 Bier. In den Heinen Städten Niederöfterreichd trinkt der
Bürgerdmaun nicht felten an einem Abend feine ſechs bis adht
„Halbe“ Wein. Dieſer öfterreichiiche Wein ift allerdings etwas
teurer als das bayriſche Bier. Für zwanzig biß vierundzwanzig
Pfennige ftilt der Niederbayer feinen erften Durft mit einem
Liter frischen Bieres. Um diefen Preis gibt e8 auch in dem
weinreichften Gegenden Ofterreichs Teinen trinfbaren Wein. Schon
das ift ein Grund, warum ber Öfterreicher noch weniger fpart
als der Bayer. Dann kommt aber die Sorge für daß Eſſen;
Die wird ernſt genommen, oft leider erniter als jede andre. Frau
Sorge fteht am Herd der deutjch-öfterreichiichen Familie, nicht
al8 Armut, nein als Verſchwenderin von Fleiſch, Mehl und
Schmalz, fie jorgt, daß die Schnitel, die Bäufchel, das Gebadne
und am Spieß Gebratne, das Luftgfeldte und das Rauchgſelchte,
dad Saure und das Eingmachte, die Knödel, die Noden, die
Nudeln, die Strudel, die Schmarren, die Strauben, und wie
Altbayrifhe Wanderungen 277
alle die Fünftlichen Erzeugniffe beißen, in tadellofer Güte auf
den Tiſch kommen. Die Gaftfreundfchaft, au in einfachen
Familien, leidet unter dem Beitreben der Hausfrauen, ihren
Tiſch nur mit dem Beiten zu bejegen. Es ift mir vorgefommen,
daß ich mit dem Hausherrn allein zu Tiſche jaß, weil die Haus⸗
frau über dem ganzen Efjen nicht in der Küche ablommen Tonnte.
So mag die im niedern Bürgerftand Bayerns und Üfterreichs
einft weitverbreitete Sitte entftanden fein, daß der Mann über-
haupt allein zu Ziiche ſaß. Dennoch ift in den beſſern Sreifen
in rreich die Gefelligleit noch nicht fo in Schlemmerei und
Protzerei ausgeartet wie in Deutſchland. In Bayern ißt man
auch viel, aber nicht fo gut wie in Öfterreih. Zum Biere würden
auch manche Feinheiten der öfterreichiichen Küche gar nicht paflen;
dagegen find die eigentümlichiten Erzeugniffe der bayrifchen Küche,
die Mannigfaltigleit der Würfte, der Sauerfleiihe und Zeller-
fleifhe, der Knödel, des „Abgebräunten” beftimmt, zum Bier
genofjen zu werden. Man braudt feinen Phyfiologen zu fragen,
um zu begreifen, daß zu einem bitterfüßen, gehaltreichen Getränt,
das nicht voll ausgegoren ift und nad) altem Brauch mit fieben big
acht Grad Wärme getrunten wird, Feine feinen Speifen paflen.
Hier wäre ja nun der Ort, von der oft gerühmten und
verjpotteten Biergleichheit der bayriſchen Gejellichaft zu reden.
Ich ziehe es aber vor, oft Gejagtes nicht zu wiederholen, denn
dieje Gleichheit Liegt nicht darin, daß Fürſt und Bettler ihre
Maß für vierundzwanzig Pfennige trinken; dem bayrifchen Bier
find andre Seiten abzugewinnen. Iſt es nicht eine große Sache,
daß es gelungen ift, ein der Verfälichung und Verteuerung un-
gewöhnlich ausgeſetztes Bolldgenußmittel bei riefig wachjendem
Bedarf rein und billig zu erhalten? Was trinkt man in Norde
und Weftdeutichland für Bier, und wie teuer muß es das Volk
zahlen! Ich habe das Hofbräuhaug nie betreten ohne den Wunſch,
daß es in andern Ländern unb auf andern Gebieten nachgeahmt
werden möchte, denn es hat ohne Frage beilfam gewirkt. Auch die
äußere Wirkung darf nicht überfehen werben, daß das bayriſche
Bier eins der wenigen dentichen Erzeugnifie ift, die ihren Weg
um die Welt nur auf Grund der verbürgten Reinheit gefunden
haben. Auch davon wäre zu reden, daß man begonnen bat, den
Genuß des von Zahrzehnt zu Jahrzehnt ftärker, d. h. alkohol⸗
reicher getworbnen Bieres einzubämmen. Das hat Schwierig⸗
feiten, aber im Intereſſe des Vollswohlftandes und der Türper-
lichen und fittlichen Geſundheit des Volles mußte dem Übermaß
278 Altbayrifhe Wanderungen
des Biertrinfens entgegengetreten werden. Wohin ſoll e8 kommen,
wenn es Dörfer in Oberbayern gibt, wo die mäßigen Männer
nur einige wenige find, es aber nicht an Lümmeln fehlt, bie
täglich, folange das Gelb reicht, zehn Maß Bier trinken?
4
Die Türme der Münchner Yrauenlirche, deren abgeitumpfte
Kuppen etwad an Maßkrüge mit Binndedeln erinnern, find banal
im Vergleich mit dem Iuftigen Bau des Regensburger Domes,
und an Höhe werben fie von dem Turm der Landshuter Martins-
firhe (178 Meter), dem höchſten bayriihen Kirchturm, über-
troffen. Das hindert aber nicht, daß fie viel berühmter find.
So geht e8 aucd mit andern Dingen, für die München den Ruhm
bat, während fie befler in Augsburg, Nürnberg oder Regensburg
find. Münden tft die Kunftftabt, aber die ſchönſten Refte älterer
Kunſtpflege Haben jene andern Städte Bon München ift die
deutiche Renaiſſance ausgegangen, deren alte Muſter man in
jenen andern ftudieren muß. Münden erzeugt zwar daS meifte,
aber nicht immer auch das befte Bier in Bayern. Uber München
it der Sit der Regierung, die feit einem Sahrhundert plan=
mäßig zentralifiert und dadurch in wenig günftiger Lage eine der
ſchönſten, jehendwerteften und einflußreichiten Hauptftäbte Mittel-
europas geichaffen hat. Man fagt, Ludwig der Erſte habe das
neue München gejchaffen; in Wirklichkeit Hat er auf dem Kunſt⸗
gebiet nur fortgeſetzt, was Die Bureaufratie unter feinem Vater
begonnen hatte. Und fo Hat jpäterhin die Regierung beſonders
durch eine wohlüberlegte Verlehrspolitik mächtig zum Aufſchwung
Münchens beigetragen, während das benachbarte Augsburg gletch-
zeitig jo benachteiligt wurde, daß es nicht bloß viele von feinen
wohlhabendern Bewohnern, jondern auch einige feiner Induſtrien
an München verlor. -
Aber kommen wir auf Münchens Stellung zu Bayern zurüd.
Nachdem erft die Regierung, dann die Runft, dann die Wiſſen⸗
ſchaft, endlich in den lebten Sahrzehnten die Kunftinduftrie mit
einigen Induſtriezweigen und die Fremdeninduſtrie die fühigften
Köpfe des Landes nad) München hingezogen hatten, tft München
mehr als ein bayriicher Mittelpunkt geworden. Es iſt gegen⸗
wärtig die größte Fremdenſtadt Deutichlands, und zwar in viel
größerm Maße, als es Frankfurt a. M. und Dresden geweſen
find. Wllerdings hat Münden als Fremdenſtadt aud) vor feinen
Altbayrifhe Wanderungen ‘279
nächften Wetibewerberinnen, Wien und Berlin, Vorzüge, die ihm
eine Art von Unbejieglichkeit verleihen. Die friſche Natur, bie
Nähe der Alpen und Staliens, die Kunſtiſchätze und Kunſtſchulen,
die Bibliothek, dad bebaglicdhere, einfachere und im ganzen noch
immer billigere Leben, die Gemütlichleit der Bevölkerung find un⸗
verwüftliche Vorzüge. Mag auch das eine ober das andre Fach am
Theater, in der Mufil, in den Künſtlerwerkſtätten ober auf dem
Katheder nicht jo gut bejeht, und mögen vor allem die Samm-
[ungen und Inſtitute weniger glänzend ausgeftattet fein, das
macht gegenüber jo großen Borzügen gar keinen Unterjchied mehr.
Es ift und bleibt eine finnige und mwohltuende Vereinigung von
Genüſſen, nad) einigen Sommerwoden naturwüchſigen Lebens an
einem friihen See oder in einem Gebirgstal durch die Bilder-
fäle des Glaspalaſtes zu wandern oder eine Mozartiche Oper
in dem zierlichen Rokokoſaal des Nefidenztheaters zu hören und
in fo geichmadvoller Ausſtattung zu jehen. München ift befonders
auch für die Nichtdeutfchen ein Wallfahrtsort erften Ranges ge-
worden. Für die Sranzojen, die feit 1871 langſam gelernt haben,
ihre Flüge über Baden-Baden hinaus auszndehnen, find München
und Bayreuth die großen Anziehungspunfte, ebenjo wie fie 1890
ein unerwartet großes Kontingent zu den Bejuchern des Über-
ammergauer Paſſionsſpiels geftellt haben. Die englifche, Die
nordamerilanifche und vor allem auch die italienifche Kolonie
find ehr ſtark. Bor allem aber übt München eine mächtige An⸗
ziehung auf die Deutfchen aller Lande. Schweizer und Üfter-
reicher afflimatifieren fi) bier leichter als irgendwo fonft in
Deutſchland, wofür bejonderd die Künftlerichaft beredte Beiſpiele
liefert; Holbein bat feine zweite Heimat in Bajel, der Basler
Bödlin Heimat und Schule in München gefunden. Die Norb-
deutfchen, die im Anfang über manches die Nafen rümpfen, was
fie Hier finden, zaubern nicht, ſich der Vorteile ihres Aufenthalts
bewußt zu werden. Die Südweftdeutichen endlich fühlen ſich bier
erft recht zubaufe. Ich kenne Frankfurter, Stuttgarter, Karls⸗
ruber, bie jedes Jahr mindeftend eine Woche in München zu=
bringen. Tief in Tirol hört man von Bauern und Säügern die
Reize des Münchner Dftoberfeftes preijen, der größten Vereinigung
von Sehenswürdigkeiten und originellen Bierjchenken, die man
fehen Tann, gewürzt durch Wettrennen, Wettſchießen, Wett⸗
turnen u. dergl., durch Preisverteilung an Landwirte, deren
Ausſtellung Nebenſache geworden iſt. Soviel man auch gegen
das Überhandnehmen des Biertrinkens und Würſteleſſens beim
980 Altbayrifche Wanderungen
Ditoberfeft Toßgezogen ift, man lann nicht leugnen, daß das Feſt
bollötümlicher geblieben ift ald irgendein andre ſogenanntes
Bolksfeft im heutigen Deutihland. Es kann und nur verebelt
werben, aber hoffentlich bleibt Dabei dem bayriihen Volle bie
barmloje ®enußfreube, die „Die Wieſe“ zu einer gemein-bayrijchen
Angelegenheit gemacht hat. Alle andern Fefte der Art werden heut⸗
zutage in Deutſchland nur vom niedern Boll genofjen, aud wo
fih ein regierender Fürſt herabläßt, eine halbe Stunde babei
zu fein; in Münden bat fi) dad Bürgertum noch nicht davon
außgeichloffen. Für die Stämme Bayerns bat dieſes Vollsfeſt
bie Bedeutung einer behaglich⸗feſtlichen Vereinigung, von der ber
Ruhm Münchens in die entlegenften Gaue getragen wird.
Die affimilierende Kraft des bayrifchen Stammes, die fidh
gegen bie Deutſchen andern Stammes immer ſtark gezeigt bat,
bewährte fih aud in weiterm Felde. Sie gehönte einjt zu den
politiichen Kräften Oſterreichs. Leiber einſti Es ift von ein-
fihtigen Ofterreichern oft hervorgehoben worben, daß Äſterreichs
deutiche Benölferung nur durch Die umumnterbrocjene Aufnahme
reichſsdeutſcher Elemente die Anforderungen erfüllen konnte, die
die Führung des Kaiſerſtaates in Krieg und Frieden an fie
5 i
an deutſchen Urſprung der Begründer. Befonders die ſüddeutſchen
Reichsſtaͤdte Haben zahlreiche Einwandrer geliefert. Es ift ganz
begreiflih, daß man in Üfterreih felbft der Abnahme des
Donauverfehrd nad) Wien von Ulm abwärts einen Anteil an
dem Rückgang des Wiener Deutſchtums zuſchreibt. In der öfters
reichifchen Armee fpürt man den Mangel der einft fo zahlreichen
reichſsdeutſchen Offiziere noch empfindlicher; kein öfterreichiicher
Stamm erjegt den Ritt, den fie zwifchen den Kameraben ver-
ſchiedner Nationalität und befonders aud) zwischen den „Kapalieren“
und Bürgerlichen bildeten. Die Biographie Vinzenz Lachners
gibt ein hübſches Beilpiel der Einwanderung aus Bayern nad)
Wien auf dem Donaufloß. Altbayern ift dem Bufluß fränkiicher
und ſchwäbiſcher Elemente jeit der Bildung des Königreichs unter
der pfälziichen Dynaſtie weit offen, und jeit einem Menfchenalter
nimmt der Sübftrom Norddeuticher immer zu, von dem fidh ein
ftarfer Arm nah Münden ergießt. Während e8 nun dem Alt-
bayern ſchon in Schwaben und Franken nicht recht gefällt, und
gar Die Pfalz ihm ganz zuwider ift, fühlen fi) die Fremden
faft außnahmloß in Bayern wohl Es ift eine wichtige politifche
Altbayrifhe Wanderungen 281
Tatſache, daß das vor allem von den Schwaben und Franken
gilt, die Darauf angewiejen find, mit den Bayern unter einem
Zepter zu leben. Ob ber heitre Unterfrante oder Pfälzer als
Regierungsbireltor oder al „Schandi” (Gendarm) zu den ſchwer⸗
fälligen Altbayern verjeßt wird, er ift in kurzer Zeit daheim
und vergißt im Bierland feine fonnigen Weingehänge. Bedenkt
man die bunte Verſchiedenheit der politiichen Fetzen, aus denen
das bayriſche Königreich durch Napoleond Gnaden zufammengeflict
wurde, ſo iſt die Annähernng der drei Hauptſtämme überraſchend
gelungen. München hat dazu ſein redliches Teil beigetragen.
Welcher Franke oder Schwabe iſt nicht einmal in München ge⸗
weſen und hat die Überzeugung mitgenommen, daß der bayriſche
Untertan mit einer jo glänzenden, jeder Art und Stufe von
Genußliebe entgegenfommenden Hauptftadt wohl zufrieden fein
Iönne?
5
Das Hervortreten Bayerns bedeutet für da8 ganze weftliche
Süddeutichland eine Verichiebung der feit Jahrhunderten ge-
worbnen Verbältniffe. Wer hätte die Erhebung des „weit hinten“
liegenden Münchens zur Hauptitadt Süddeutſchlands vor einem
halben Jahrhundert für möglid) gehalten? Seitdem Augsburg
und Ulm mit dem jcheidenden jechzehnten Jahrhundert ihre große
Handelsftellung eingebüßt hatten, hatte fi) das Land öſtlich von
der Alb und der Regnitz immer mehr nach Dften zu geneigt,
dem Lauf feine großen, damals für den Verkehr ganz anders
maßgebenden Stromes folgend, während der Weiten von der
großen atlantifchen und wefteuropätichen Entwidlung rheinwärts
und niederlandwärts gezogen wurde. Wien und Frankfurt wollten
die Hauptftädte Sübddeutichlands fein, aber beide waren zu
exzentriſch gelegen, um das fein zu können, was dann Münden
in jo hervorragendem Maße geworden ift. München tft zunäͤchſt
an die Stelle ſowohl Regensburgs als Augsburgs getreten und
bat auch nicht wenig von dem übernommen, was einft Nürnberg
gehabt Hat, nämlich Bedeutung in Kunft und Runftgewerbe. Dan
kann Münden nicht die geiftige Hauptſtadt Süddeutſchlands
nennen; eine folde zu enttwideln ift ja unter deutichen Berhält-
nifjen glücklicherweiſe überhaupt nicht möglid. Da würde ſich
vor allen Stuttgart ſchön bedanken! Aber allerdings übt München
nit bloß durch politiiche Mittel und als Verkehrspunkt feine
Anziehung au. In feiner Bedeutung find geiftige Elemente, die
282 Altbayrifche Wanderungen
man fi aus dem Gejamtleben Deutichlands nicht mehr hinaus⸗
denken kann. Zu dem, was dem Antlit des heutigen Deutſch⸗
lands geiftigen Ausdrud verleiht, trägt außer Berlin München
das meifte bei. Welcher Gegenſatz zu ber Zeit, wo Bayern
am geiftigen Leben Weſt- und Norddeutihlands kaum An⸗
teil nahm!
Man liebt e8, das geiftige Leben und Schaffen ——
als eine zarte Pflanze darzuſtellen, für deren Gedeihen durch
Ludwig den Erſten und Maximilian der ganz unkultivierte Boden
mühlam habe zubereitet werden müflen. Nichts ift unrichtiger
als das. München ift zunächft Kunftftabt geworden, weil es die
Hauptitabt der Fünftleriich begabten Stämme der Bayern, Franken
und Schwaben ift, in deren fchönen, heitern Ländern die Kımft-
übung auch in den fcheinbar dunkelſten Zeiten nie jo berumter-
gelommen war wie in ben meiften Gebieten Norddeutſchlands.
Welche Dorflirhen hat Hier noch dad achtzehnte Jahrhundert
Dingeftellt! Ludwig der Erite hätte in feinen Bemühungen, eine
deutſche Kunftftadt zu Ichaffen, feinen Erfolg gehabt, wenn er
nicht am künſtleriſche Traditionen in jo manden Teilen bes
Landes Hätte anfnüpfen und fchlummernde Talente hätte wach⸗
rufen können. So beurteilt man aud) die heutige Stellung und
die Wirkungen der Kunftftabt München ganz falih, wenn man
nit berüdjichtigt, wie empfänglich die Bayern für Kunſt find,
und wieviel Künftlerifches Iandauf landab gejchaffen wird. Der
Bauer, der weit binten im Trauntal fein Haus mit ber Geftalt
des heiligen Georg und des heiligen Florian bemalen läßt und
auch feine Freude daran hat, wenn ihm der Maler das Heine
Austräglerhäusl von oben bis unten blau und weiß mit bayrifchen
Rauten tündt, daß es „Iuftig ausfchaugt“ ; der einfame Pfarr⸗
berr, der die Engel der Siftina mit bingebender Liebe für ein
noch einfameres Berglapellhen malt; der Schniker von Berchtes⸗
gaden oder Ammergau, der „Herrgöttle" im Dutzend fchneibet,
dann aber in den Mußeſtunden fi in eine figurenreiche Krippe
vertieft, die nach Jahren als echtes Kunſwerk erfteht, deſſen
größter Gewinn für ihn allerdings die Freude am Schaffen iſt;
der Algäuer Hirtenbub, der, zum Alademiler fortgeſchritten, eine
tiefempfundne Kreuztragung in fein altes, graues Dorflirchlein
ftiftet — das find alles Träger bayriſcher Kunft, die baflx
forgen, daß die freude an Formen und Farben im Volle lebendig
bleibt, denen es aber auch zu danken ift, wenn den Münchner
Kunſt⸗ und Kumftgewverbeftätten immer neue Kräfte zufließen.
Altbayrifhe Wanderungen 283
Überall in Bayern ift die Freude an der künſtleriſchen Aus-
fhmüdung des Daſeins ein Erbteil des Volles. Welche Brunnen
haben fich Heinere bayrifche Städte von Lindau bi8 Traun-
ftein in den lebten Jahren gejebt, wie ſchön find die Nathäufer
erneuert, und was für Kirchen find z. B. allein in München
neuerdings gebaut worden. Das find ganz andre Wirkungen, als
wie fie die einfeitige Denkmalsmanie mit ihren langweiligen
Wiederholungen in andern deutichen Ländern gezeitigt hat. Und
Dazu kommen die leidht verbreitbaren Erzeugnifje der Malerichulen,
der Glasmalerei, die Reproduktionen und vor allem bad Kunft-
gewerbe. Die Bedeutung der bayrifden Kunft lernt man nicht
in den gehäuften Ausstellungen des Münchner Glaspalaſtes Tennen.
Zu ihr gehört auch das dörfliche Wirtsfchild, auf dem ein frober
Künftler den diden Wirt vor dem Faß in impofanter Rücken⸗
anficht Dargeftellt hat, zu ihr gehören prächtige Scheibenbilder,
die vom Giebel eines Forſthauſes herabichauen, Geſchenke kunſt⸗
liebender Weidmänner, und fogar die bis auf die Uhr und das
Handtuch) täufchend an die Holzwand gemalte Zimmerausftattung,
die man vor Sahren in einem primitiven Wirtshaus des Iſar⸗
tale8 bewundern Tonnte.
Und das alles muß man fi in eine Natur hineindenten,
bie der Fünftlerifchen Phantaſie fehr viel bietet. Die bayrifche
Hochebene ijt allerdings, wie ihr Name fagt, an vielen Stellen
eben. Wer mit der Eijenbahn von Münden nad) Augsburg
oder nach Dachau fährt, fieht um ſich herum nur Moor, Heide,
Wieje und Ader. Gebt man aber eine halbe Stunde ifaraufiwärts,
fo fteht man an der Pforte eines tief eingeichnittnen Tales, deſſen
Hänge einen der Ichönften Buchenwälder tragen, und von deſſen
moränenbejegten Rändern fi rechts und links eine im kleinen
Rahmen ungemein mannigfaltige grüne, waldreiche Landichaft
ausbreitet. Es ift die ernftsliebliche Tandichaft, in die der grüne
Würmſee und mit ihm Hunderte von Tleinern Seen eingejentt
find. In Harlaching bei München bezeichnet eine Denttafel den
Drt, wo Elaude Lorrain gemalt und feine Bewunderung des
oberbayriichen Himmels mit feinem reichen Licht und feinen feinen
Wolkengebilden ausgeſprochen Haben fol. In den Alten it das
nicht; Die Hauptſache ift aber, daß e8 in der Natur ift. Der
Himmel bat über der Hochebene, troß des rauhen Klimas, eine
wunderbare Stlarheit, und wenn die Sonne fcheint, ift fie Licht-
reicher ald unten im Tiefland. Ich Fam einmal mit einem
Münchner Hygieniker zufammen, der behauptete, Die den Fremden
284 Altbayrifhe Wanderungen
anmutende Luftigfeit der Oberbayern fei vor allem dem vielen
Licht in ihrer Atmojphäre zuzufchreiben. Sch glaube mehr an
die Mitgift der Stammeseigenfchaften und an bie im allgemeinen
leichteren Lebensbebingungen im dünnbenölferten Land, wiewohl
es ſehr eigentümlich ift, Daß die Bierden der humorbollen obers
bayrifchen Dialeltdichtung, Kobell und Stieler, Kinder Ein-
geiwanderter waren, jener von einem pfälziichen, dieſer von einem
—* Vater. Aber die Fliegenden Blätter ſind allerdings
echte Münchner Kindln, und fo find es auch die heitern Volls⸗
ſtücke, die das Gärtnerthenter und die Schlierfeer in ganz Deutſch⸗
land populär gemacht haben. Bon den Letzten aus König Mari-
miltand Dichterkreis ift Paul Heyſe im Münchner Licht alt ge⸗
worden und Berliner geblieben, und Hermann Lingg bayriſcher
Schwabe, tft in feinem lieben München ernft und tief geblieben,
wie er am Schwäbilhen Meer geboren wurde. Freuen wir und
troßdem der hellen Sonne Dberbayernd — wenn fie fcheint.
6
Münchens wiſſenſchaftliche Bedeutung iſt nicht fo augen-
fällig wie feine Stellung in den bildenden Künften, in Muftt,
Theater und Dichtung. Uber im Beſitz der zweitgrößten und
beften Bibliothek in Deutfchland (die Hof» und ———
Hat 900000 Bände, wozu die Univerfität3bibliothef, die junge,
aber jehr gut ausgeſtattete Bibliothek der Techniſchen Hochſchule,
das an Seltenheiten ſehr reiche Konſervatorium der Armee u. a.
fommen), des großartigften paläontologiſch⸗geologiſchen Muſeums
der Welt, einer ber beiten Mineralienſammlungen, eines aus⸗
gezeichneten Herbariums, der für Kunſtſtudien viele gute Dinge
enthaltenden Sammlungen der Glyptothet, des Nationalmuſeums,
des Münzlabinetts, des Ethnographiſchen Muſeums, der großen
Archive, bietet München den wiſſenſchaftlichen Studien treffliche
Hilfsmittel und Anregimgen. An der Univerfität und der
nifchen Hochſchule, der Tierarzneiſchule, der Kriegsalademie lehren
Männer, die zu den Bierden der beutfchen Wiflenfchaft gehören.
Es gab Jahrzehnte, wo Chemie, Phyfiologie, Zoologie, Paldonto⸗
logie, Ingenienrwiſſenſchaften, Zweige der Mebizin und Surifterei
in München den Mittelpunkt ihrer Lehre und Forſchung hatten.
Diefe Dinge verichieben fi immer raid. So ift jet der Glanz
der Münchner Wiffenfchaft bläffer als vor dreißig Jahren. Uber
Altbayrifche Wanderungen 285
noch immer wird in Münden fehr tüchtig gearbeitt. Man
braucht nur an die Hiftortiche Kommiffion und an das pracht⸗
volle chemiſche Laboratorium zu erinnern. Und alle die Münchner
Hochſchulen werben mit jedem Jahre beifer beſucht. Im Ver⸗
gleich mit den Mitteln, die Berlin zur Verfügung ftehn, bietet
und leiftet München überrafchend viel Zugleich Hat es Den
großen Vorteil, daß es noch nicht jo großftädtiich zerftreuend
auf Profefioren und Studenten wirkt wie Berlin. München
gewährt noch immer durch feine einfach-behaglichen Lebensformen
ein genußreiches Bujfammenleben und -arbeiten, wo Berlin die
Menſchen ifoliert, überjättigt oder abhetzt. Berlin hat in den
fetten Jahrzehnten öfter die Erfahrung gemacht, die in Paris
alt ift, daß hinberufne Gelehrte aufhörten zu produzieren, ſobald
fie in der Hauptſtadt afflimatiftiert waren. Das Münchner
Leben bringt Gelehrte, Dichter, Künftler mit allen andern Ständen
in die engfte Verbindung. König Maximilians ZTafelrunde, Die
Liebig und Geibel, Sybel und Kobell vereinigte, ijt nichts Fünft-
liches geweſen, fondern fie war nur die königliche Form für eine
in der Münchner Auffafjung von Verkehr eingeborne Abneigung
gegen bloße Standed- und Gattungsfonderungen. Der enge Ver⸗
kehr der Altern und ber jüngern Künftler ijt anerlanntermaßen
von ebenſo großem Vorteil für die Münchner Kunſt geweſen
wie die Unterweifung in Malklaſſen und Xtelierd. Daß die be-
hagliche Gefelligleit am Biertifch, der nirgends in der Welt fo
berführeriiche Stätten bereitet find wie in München, viele vom
ernften Arbeiten abzieht, ift unzweifelhaft wahr, es gilt das
übrigen® mehr von den Jüngern der Wiſſenſchaft als der Kunft.
In einer Geſchichte der deutfchen Kunft, die den Rahmen und den
Hintergrund der Ereignifje berüdfichtigt, werden immer einzelne
Münchner Bierlofale genannt werden, in denen ſich berühmte
Öruppen junger Künftler bildeten, jo wie die franzöfifche Lite-
raturgeichichte Parifer Kaffeehäufer Hiftorifch gemacht Bat. In
der Corneliusſchen Beit war es der Stubenvoll, und aus dem
Ende der fechziger Jahre wäre ber Lettenbauer zu nennen,
wo Courbet, ftruppig, in Hemdärmeln und Bier aus Maf-
frügen trintend, da8 Evangelium der mobernften. Richtung ver-
Es ift eine Eigentümlichkeit des „Dunkeln“ Bayern, daß
da8 Unterrichtsweſen im Mittelpunkt des öffentlichen Intereſſes
ſteht. Das kommt von den Angriffen des Zentrums, das in
jeder Tagung an dem Aultusbudget berumnörgelt und bes
286 Altbayrifhe Wanderungen
nn
fonder8 mit den philofophiichen Fakultäten aller drei Landes⸗
univerfitäten nicht zufrieden ift. Bu einem BZurüdichrauben der
ganzen Entwidlung bat es aber dadurch nie kommen können,
höchſtens zu einer Verlangſamung. Und die Tatfachen zeigen,
daß die Univerjitäten im ganzen nidyt gelitten haben. Das
Kliquenweſen bat nie allmächtig werden können, und fein Dozent
bat nah 1870 Bayern aus politifchen Gründen verlaffen. Zub
war als Kultusminifter liberaler als Müller und Landmann,
hatte von früherm herzlicherm Einverftändniß her eine perjönliche
Schwädhe für die Altkatholiten, auch nachdem er fie als Katho⸗
liten Hatte fallen laſſen müflen, und war nicht ganz frei von
politiichen Erwägungen bei Neubejegungen. Aber er bewährte
Doch jederzeit Dabei gefunden praltiichen Sinn und ſcharfe Menfchen-
fenntnis. Ihm ift die Offenhaltung der bayrifchen Univerfitäten
für die Wettbewerbung des ganzen deutichen Gelehrtentums zu
danken. Eine Rückkehr zu der Abſchließung vor Marimilian dem
Zweiten wäre nad) dem Tode dieſes Herricherd noch möglich ge=
wejen, heute ift fie undenkbar. Es tft freilich auch undenkbar, da
noch einmal alle hiſtoriſchen Lehrftühle an der Münchner Univerfität
mit Proteftanten und Altkatholiken befeßt werben wie unter Lutz.
Auch den vorwiegend proteftantiichen Charakter des Oberſchulrats
wird man nicht aufrecht erhalten. Gerade die Lutziſche Unter-
richtspolitik hat in ben Tatholifchen Kreifen Bayern aufrüttelnd
gewirkt, e8 wird mehr wifjenfchaftlidy gearbeitet, beſonders auch
an den früher ehr ftagnierenden Lyceen ber Biſchofsftädte. Über
den Zuwachs an jungen Gelehrten aus den Tatholifchen Kreiſen
kann man fi im Intereſſe der Allgemeinheit nur freuen. Ratür-
lid werben diefe dann auch ihren Anteil an der Leitung der
Geichäfte verlangen, und es wird hoffentlich eine „Parität“
möglid) werden, Die in der Mitte Tiegt zwiſchen den zwei er-
tremen Auslegungen dieſes Wortes, die in Bayern immer ein-
ander fo bitter befämpft haben. Auf Tatholifcher Seite verlangte
man die Bertretung nach der Kopfzahl ber Konfeifionen, auf
protejtantifcher nad) der Befähigung. Karl Stieler bat ben
Unterſchied in einem oberbagriihen Wahlſchnaderhüpfl wißig
dDargejtellt, wo einer dem Hanſei jagt, ber mit den Schwarzen
gebt: Bei enk (euch) fan do die mehrere Dumma. Hanſei ant-
wortet offenberzig:
Ja ja, dos glaub i felber bald,
Die Dünmern fan mir ſcho,
Aber die mebrern fan do (doch).
Altbayrifhe Wanderungen 287
— —— —
7
Die Politik, auf die ih von München aus gelommen bin,
ift im Leben der bayriſchen Hauptitadt ein viel fremderes Ge⸗
wäh als die Kunſt. Der Bayer möchte fich eigentlich gar nicht
um Bolitit kümmern, wenn es nad) ihm ginge Er Hat nichts
von der Rechthaberei und dem Widerſpruchsgeiſt, die im Charakter
des Franken liegen. Dieſer Unterjchied zwiſchen ben beiden
Stämmen zeigt fi am deutlichiten beim Militär, wo der Alt-
bayer troß feiner gelegentlichen Ausſchreitungen als der folgjamite
Soldat gilt, während ſich Pfälzer und Unterfranken am ſchwerſten
unterordnen. In den fränkiihen Gauen haben bemofratifche
Richtungen immer mehr Anhänger gehabt als in den bayrifchen
und. bayriſch⸗ſchwäbiſchen. Der Bayer fümmert ſich nicht gern
um fremde Angelegenheiten, während der Franke beweglich und
neugierig ift. Ohne viel Redens und Aufheben von der An⸗
hänglichfeit an fein Fürſtenhaus, die ihm felbftverftändlich ift,
ift der Bayer der Ioyalfte Untertan von der Welt. Ihm ift
eben wohl, wenn alle® um ihn herum jo weit in Ordnung ift,
daß er auf feiner Scholle ungefchoren bleibt. Er iſt ſowohl zu
bequem als zu ftolz, politischen Idealen nacdhzuftreben. Niemand
fann fonjervativer „von Natur“ fein als der bayriſche Bauer.
Wenn die Sozialdemokratie in Bayern in halbftädtiihen Wahl-
freien mehrmals ſtarke Rückſchläge erfahren hat, fo hängt das
mit diefem realpolitiichen Zuge zufammen; außerdem kommt aber
auch) dabei die geringere Schärfe ber Standesunterfchiede in
Betracht. Der altbayriihe Bauer und Bürger geht aufrecht
durch die Welt und beneidet niemand, und die altbayrijche Arifto-
fratie zeichnete fich früher dur ihre Anſpruchsloſigkeit aus.
Man fonnte vor einen Menfchenalter noch das Bürgerliche als
den Grundzug der altbayrifchen Gejellichaft bezeichnen, ganz ent=
ſprechend der Tatſache, daß Bayern das eigentlichfte Bauernland
it. Sogar die Prinzen Tleiden fi), wenn fie al® Jäger die
Berge des Algäu oder bed Berchtesgabner Landes durchftreifen,
in das Jagbgeivand, das aus etwas gröberm Stoff die Bauern-
burſchen tragen; und wer bem Brinzregenten dort begegnet, glaubt
einen alten, verwitterten Bauerdmann mit auffallend freundfichem
und intelligenten Blick zu fehen.
Im allgemeinen gewinnt man in Bayern immer noch mehr
als in vielen andern Zeilen Deutichlands den Eindrud einer
fernigen Geſundheit des Vollskörpers, die nicht fo leicht durch
288 Altbayrifche Wanderungen
die krankmachenden Einflüffe des Tages zu erjchüttern fein wird.
Die Gefahr Liegt hier mehr im Innern des Körpers als in den
äußern Einfläffen. Ein fi) ſelbſt täufchendes Geſundheitsgefühl
möchte ich aber jenen bajuvariſchen Nationalftolz nennen, der
von oben ber mächtig genährt wird. Die ganze Welt beneibet
und um unfre Zuftände! Hört man jagen. Sa, Bayern kam
“ um viele8 beneibet werden, aber das liegt faſt alle8 mehr im
Boll und im Lande als in der jeweiligen Regierung. Es wirb
leicht überjehen, wieviel Heilfames von außen gelommen iſt. Man
hätte die Miberfolge von 1866 nicht jo bald und fo ganz über
den an ber Seite Preußens 1870 erreichten Erfolgen vergeſſen
follen. Die Armee ift unendlich viel beffer geworden. Daß fie
aber auf die Stufe binunterfommen konnte, auf der fie fich bei
aller Tapferfeit 1866 befand, wird für alle Zeiten den Ruhm
felbit jo treffliher Männer wie Walter, Spruner, von der Tann
u. v. a. trüben, die nicht fcharf genug gegen bie Verlotterung
angefämpft hatten. Bayern bat ja immer vortreffliche Soldaten
geliefert, und unter den Offizieren find immer bochgebilbete
Leute zu finden geweſen. Heute verbinden manche in wohl-
tuender Weife die beſcheidne Männlichkeit des ſüddeutſchen Ka⸗
valiers mit preußifcher Strammbeit, währenb wenige Jüngere
gerabe diefe in lächerliher und beraußfordernder Weije hervor⸗
fehren. Ältere Offiziere lagen, daß mit vielem Guten von
Norden ber auch abjolut Verwerfliches, wie die ſtreberiſche
Ordensſucht, eingedrungen ſei. Ich will nicht unterjuchen, wie
weit die Klagen über Günftlingswirtichaft hier tiefere Begrün-
dung haben als anderwärtd. Es macht mir mehr Freude, das
unbeeinflußte Urteil eine norbbdeutichen militäriichen Kenner
wiederzugeben: er bezeichnete die erſte bayrifche Brigade im
Sommer 1897 als einen der beftgeübten Truppenteile der deut⸗
[hen Armee. Schade, daß man aus dem fchönen Münchner Veib-
regiment, um die preußiihe Garde nachzuahmen, ein Regiment
mit ganz vorwiegend adlichem Offizierkorps zu machen fucht. Das
ift ein unbayriſches und höchſt unkinges Beginnen, unter hieſigen
Verhältniſſen und angefichtS der wachſenden piutofratiichen Ver⸗
bindungen biejed Adels fogar nicht unbedenklich.
Der bayriſche Beamtenftand hat immer das Lob der Ehr⸗
lichkeit, der Unparteilichfeit und eines Vorgehen! nad) dem Grund⸗
fag „Recht und Billigkeit“ verdient. Er enthält jehr viel In⸗
telligenz, bie ſich aber nicht immer jehr hervortut; und das
Verdienſt macht bis zu ben Spigen feinen Weg, wobei manchmal,
Altbayrifche Wanderungen 289
wie fo ziemlich überall, Verwandtihaft und Freundſchaft un-
merklich oder auch merklich nachhelfen. Die höhern Berwaltung3-
ftellen find hier nicht das Erbteil einer anjpruch8vollen Ariſto⸗
fratie geworben, wie in manden Teilen Norddeutſchlands; und
zum Wohl bes Landes. Um Beamte von höchſter Bildung und
im beiten Sinne bürgerlichen Auftreten, wie den verftorbnen
Ziegler, Negierungspräfidenten von Oberbayern, oder den nod)
rüftig arbeitenden Yinanzminifter Riedel Tann manches deutiche
Land Bayern beneiden.
Bayern und das Reich! Beſteht wirklich die Reichsverdroſſen⸗
heit, von der uns die Berliner Blätter legten Sommer (1897)
zu unterhalten wünjchten? Ja, fie beitebt, und zwar ift ihr
Dafeinsrecht hier genau dasjelbe wie anderswo das des „Rackers
von Staat.“ Der Bayer liebt fein Bayern warın, weil das fein
Mutterboden ift, des Franken Liebe ift jchon weniger warm,
weil er dieſem Königreich erft |pät eingegliedert worden ift. Ja
ich weiß einen oberfrämfiichen Winkel, wo die preußilhen Sym⸗
pathien aus andbach-bayreuthilcher Zeit noch recht Iebendig find.
Das findet man begreiflih. Iſt es nicht natürlih, daß man
auch an die Liebe zum Neich gewöhnt werden muß? Es wäre
töricht, mehr zu verlangen, als die aus verftändiger Erwägung
bervorgehende Erkenntnis von dem Wert der Zugehörigkeit zum
Neid. Man darf kühn behaupten, daß diefe von Jahr zu Jahr
jtärfer geworden tft und immer noch zunehmen wirb, während
ſich allerdings die nationale Begeifterung der Jahre nad) 1870
nicht jo fortgepflanzt Hat, wie man einft hoffen mochte. Der
Kulturfampf, die innerpolitifchen Fehler der nationafliberalen
Partei, die früher in Bayern faft die alleinige Trägerin dieſer
Begeifterung war, die wirtichaftliche Entwicklung mit ihren Ent-
täuſchungen für Bauern und Bürger, da8 Steigen der Volks⸗
lajten, da8 „Wapperigefeg” und jo manches andre hat ernüchternd
gewirkt. In die Lüden der alten nationalliberalen Führer ift
fein gleichwertiger Erſatz eingerüdt. Doc das ift eine Erichei-
nung, die nicht auf Bayern befchränkt iſt. Biel zu viel Wert
legt man in Norddeutihland dem Siglſchen „Vaterland” umd
ähnlichen Organen bei, die einem Preußenhaß Ausdrud geben,
der nur bei einigen extremen Politikern bejteht. Diefe in Bayern
jelbft größtenteils übel berüchtigten Leute vergrößern die ftille
Abneigung, der preußiiches Weſen in ganz Süddeutſchland be-
gegnet, die aber viel mehr Gemüts- als Verjtandesfadhe ift. Der
Beritand erkennt die Verdienſte an, die fich Preußen um Deutfch-
Natzel, Glücksinſeln und Träume 19
290 Altbayrifhe Wanderungen
land mit Einfluß Bayern? eriworben bat, da$ Gemüt fühlt fich
zurüdgeftoßen von jo mancher Charaktereigenichaft der Nord»
deutfchen und befonderd der Norboftdeutichen; gerade mehr Aufer-
liche Fehler, wie Eitelkeit, Geichwägigfeit, Prahlerei, Überhebung,
itoßen am meiften ab. Tüchtige Preußen und dag Tüchtige an
den Preußen haben die ernfthaften Leute in Bayern jederzeit
anerkannt. Kann man ed aber einem Stamme von jo auöge-
prägter Eigenart verdenfen, wenn er fich gegen die Schmälerung
feines Rechts, nach feiner Art zu feben, mit allen Mitteln wehrt?
Die Norddeutichen, die jetzt alljährlih fo zahlreich ind Land
fommen, follten doch etwas um fich fchauen, damit fie begreifen
lernen, daß feinem deutſchen Stamm die Gleichmacherei jo von
Natur aus zuwider fein muß wie dem bayrijchen, und daß es
viel mehr im Intereſſe Gefamtdeutichlands liegt, eine geſunde
Eigenart zu pflegen, wo fie noch ift, als unorganiihe Auf⸗
pfropfungen aufzuzwingen. Das Beilpiel Badens, das feinen
zu raſchen Anſchluß an Preußen mit einer latenten immerfort
wachjenden Unbehaglichkeit und Unzufriedenheit in allen Schichten
des Volkes erfauft bat, jollte zur Warnung dienen. Natürlid)
denke ich bei diefen Bemerkungen nicht in erfter Linie an die
paar NRefervatrechte, jondern an die allgemeine Achtung des
Rechts auf eigned Leben unter eignen Bedingungen.
Bon den vielbejprochnen Reſervatrechten möchte ich nur die
Poſt erwähnen; die ift typilch für die Stellung des Volkes zu
diefen Dingen. Die bayriſche Poſt bedient ihr Publikum billiger
al8 die Neichöpoft und ift darauf bedacht, wie bejonderd das
vortreffliche Landpoftweien zeigt, feine begründete Anforderung
unbefriedigt zu lafjen. Die Poſt kann fogar ale die öffentliche
Einrihtung Bayerns bezeichnet werden, die am wenigſten zu
Ausstellungen Anlaß gibt. Sollten nun auch einmal ımjre Poſt⸗
marken ftatt der Löwen den Adler tragen, jo wäre doch unter
allen Umſtänden der bayrifche Boftillon zu ſchützen. Der gehört
zur Landidhaft. Die preußiiche Poſt hat den guten alten Roftillon
ſchlecht zurechtgeftugt. Man ſehe nur dieje fteife Zivilpickelhaube
mit der jparfamen Andeutung eines Haarbüfchleins, und die trübe
dunfelblaue Uniform mit den grell ziegelroten Auficjlägen. Was
für ein andrer Kerl ift da ein bayriſcher Boftillon mit feinem
hellblauen Arad, feinen weißen Lederhofen und feinen hoben
Stiefeln! Mit Recht verehrt die ganze Anwohnerſchaft einer
Landſtraße ihren Poſtillon und ift ftolz auf ihn. Und aud er
kann Stolz fein: Kaulbach und Schwind haben ihn veravigt, und
Altbayrifche Wanderungen 291
Karl Stieler hat ihm einen feiner feinſten Aufſätze gewidmet.
Wenn er an Feiertagen in Blau und Silber und mit weißen
Federbuſch am Hut auffährt, ziert er die ganze bayriſche Welt.
Er repräfentiert den Staat beſſer als ein Didbaud) von Minijter
in Frack und Degen. Kein Wunder, wenn er ein beiterer Gejell
ift, zu dem wir und auch dann Hingezogen fühlen, wenn er von
feinem Bod herunter „ſakriſch“ Flucht und wettert. Er iſt eben
doch fchon äußerlich Fein Alltagsmenſch wie der Reichspoſtillon,
und in ihm hat ſich noch ein Stüd. Reiſepoeſie in die Gegen-
wart gerettet. Kurz, für den bayrifchen Reſervatspoſtillon müßte
eigentlich jeder Deutfche von Geſchmack eintreten.
Vergeſſe man doch nicht über dem Streit um Äußerlich-
feiten und Außerungen, daß die ganze Kulturentwicklung Bayerns
jeit einem Sahrhundert daB Volk immer mehr an dag übrige
Deutichland angenähert und angeichlofjen hat. Vor Hundert Jahren
war Bayern eine Welt für fi. Und heute? München teilt ſich
mit Berlin in die geiftige Führung Deutichlands, der wirtjchaftliche
Zujammenhang ift nicht mehr aufzulöjen, die Gemeinſamkeit der
politiichen Intereſſen und Gefahren ift unter all dem Hader der
Parteien immer mehr gewachfen, der Bund mit Ofterreidh hat
ſogar leidenſchaftliche Großdeutiche verjöhnt. Ob Deutichland mehr
gewonnen hat durch den Wiedereintritt ſeines Südoſtens in das
gemeinjame Qeben, oder ob Bayern der Niederlegung der Dorn-
töschenhede, hinter der e& ſich abgefchloffen hatte, mehr zu danken
bat, wollen wir nicht entjcheiben. Das eine aber fteht für jeden
feit, der Land und Volk und die Geichichte des Volkes Tennt,
daß Bayern auf daß übrige Deutſchland angewieſen ift, und daß
man das bier überall recht gut weiß, wo überhaupt politiiches
Urteil zubauje if. Die Bedeutung Bayern? für Deutichland
wird Dagegen im „Reich“ nicht jo gewürdigt, wie man wünſchen
möchte. Bayern wird zwar wie ein Eckſtein angejehen, der Die
Süpdoftleite des Reichs Fräftig ftüßt, für viele ift aber Altbayern
nichts al8 ein Ballaft, der das Reichsſchiff beſchwert. Das find
echt Heindeutfche Anjchauungen.
Bayerns Stellung fann nur aus einer großdeutichen Auf-
faffung verftanden werben, die feine geographiiche und Stammes-
verbindung mit dem bayriichen Stamm außerhalb Deutfchlands
würdigt. Es iſt der Übergang zu den alten Bayerngauen in
den Dftalpen und der mittlern Donau und der Übergang von
den Süddeutfchen des Weftens, mit Einjchluß der Schweizer, zu
denen des Oſtens, endlid das Bindeglied zwilchen Deutichland
19*
292 Altbayrifhe Wanderungen
und Stalien. Da alle dieſe Beziehungen über die politifchen
Grenzen hinauswirlen und durch Wechielitröme wirtichaftlicher
und geiftiger Art die Völler immer mächtiger auflodern, in Be
wegung ſetzen und einander entgegenführen, jo wirb das innere
Leben und Wachſen eines Bandes wie Bayern bon weitreichender
Bedeutung. Für jeden, der des Glaubens lebt, daß Deutichlands
Yaterefien und ®irkungsiphären in Europa mit dem militärifchen
ewicht und ber teuer erfauften inbuftriellen Übertegenheit
noch lange nicht beſchloſſen und feftgelegt find, und daß in ihrer
Ausbreitung den beftehenden Nachbarſchaftsverhältniſſen eine vor⸗
bereitende Rolle zugeteilt ift, find die bayrifchen Zuftände und Ent-
wiclungen eine wichtige gemeindeutfche Angelegenheit.
vr
Das deukſche Dorfwirtshaus
X
1
Über daS beutiche Bauernhaus iſt ſchon viel gefchrieben
worden. Auch über die Häufer der Bürger, über Burgen und
Schlöſſer, Bahnhöfe, Rajernen, Spitäler und viele andre Gebäude,
befonder auch über alte Häufer gibt es eine große Literatur.
Wie kommt es, daß gerade über dad deutihe Wirtshaus fo
wenig geichrieben worden ift? Iſt es doch für unſre Vollsart
und unjer Volksleben jo bezeichnend! Das Wirtshaus gilt bei
und mehr und iſt auch bei und mehr als bei irgendeinem
andern Volle. Es fteht höher und übt einen größern Einfluß.
Nirgends lernt der fremde fo viel von dem Leben und Trachten
eined Boll im Wirtshaus kennen wie in Deutichland. Seine
dumpfen Räume erjegen und Deutichen jogar einen großen Teil
von dem, was die Agora den Griechen war. Bringt doch die
Politik mit Verfammlungen und Wahlen fo in die Wirtähäufer
ein, daß manches heutzutage mehr Disfuffiond- und Agitationg-
mittelpuntt ift als Wirtshaus in dem guten alten Sinne. Wenn
ich Hinzufüge, daß auch unfer gejelliges und unjer Einzelleben fehr
ftart vom Wirtöhauß beeinflußt wird, fo fage ich das im Guten
und ohne an einen Vorwurf zu denken. Schreibe ich doch dieſe
Beilen auf der Holzbant neben der gaftlihen Tür eines länd⸗
lichen Wirtshauſes, das mich fat wie ein zweites Heim alljähr-
lich freundlich empfängt. Bin ich doch ein Deuticher, der einen
guten echten Trunk mit Freunden oder finnig allein als ein
Hohes Gut ſchätzt. Wie auf manches andre im deutichen Lande,
fo bin ih audy auf unſre guten, ehrlichen Wirtshäufer ftolz.
Wenn fie dem Mißbrauch unterliegen, fo iſt das eine Eigenſchaft,
bie fie mit allem Guten diefer Erbe teilen. Gerade das iſt
Ihön am deutichen Wirtshaus, daß es für den offnen und mäßigen
Genuß in Speife und Trank, womöglich nicht ohne Behagen an
mwohltuenden Räumen oder an gaftliher Naturumgebung da ift.
296 ‚Das dentfhe Dorfwirtshaus
Nicht dem Gewöhnlichen, fondern dem Beſſern in unferm Leben
ſoll das Wirtshaus dienen. In einem guten Wirtshauſe follen
die Säfte vergefien, daß fie nicht zuhauſe find. Der Wirt oder
die Wirtin an der Spitze ded Wirtstifched will den wechſelnden
Bäften die Illuſion des Familientiſches gewähren. Dieje Sitte
ift allerding3 in Frankreich, befonder8 auf dem Lande, weiter
verbreitet als in Deutichland, aber fie verdient namentlich wegen
des günjtigen Einfluſſes auf die Küche gelobt zu werden. Der
Gefahr eines allzu offnen Wortes ſetzt ſich der Wirt babei frei-
li aus, ebenjo wie der Gaſt der einer etwas peinlichen Lage,
wie ich fie vor einigen Jahren einmal in Saalfeld erlebte. Dort
ſagte ich zu dem Wirte, der gerade jo außfah wie die Gejchäfts-
reifenden, die da herum faßen: Finden Sie es nicht eigentlich
geihmadlos, ein Mittageffen aus fettem Rindfleiſch, Schweins⸗
knochen und Gänfebraten zufammenzujfeben? Antwort: Ich bin
der Wirt. Mir iſts ganz recht, wenn Sie einen Gang über-
fchlagen, denn andre efjen für zwei — Unfern ländlichen An⸗
ſchauungen entipricht e8 vielleicht mehr, daß fih die Wirtin, wo fie
überhaupt noch ſelbſt kocht, in frijcher, weißer Schürze und mit
rötetem Autlitz nach dem Appetit ihrer Gäfte erkundigt
und freundlide Mienen und Worte gewiflermaßen als lebten
Gang bietet. Dazu gehört freilich da gute Gewiſſen der „pers
fekten“ Köchin!
Sn der beutichen „Trinflemenate* ſchwebt uns ein Ideal
bon gemütlicher @ejelligfeit vor, wie ed im deutſchen Mannes⸗
herzen lebt, und der Speiſeſaal eines engliichen Inn von gutem
altem Schlag kommt dem feinen Behagen bed englüchen Innen⸗
lebens jo nahe wie möglich. Es kann und fol ja nicht anders
fein, als daß das beite Wirtshaus noch tief unter einem guten
„Heim“ fteht. Aber wie groß ift auf der andern Geite die
Zahl derer, die in ihren engen, Dumpfen Räumen nie das Be
bagen finden, das ihnen jchon eine Bierftube niebern Ranges
bietet! Die Schöpfung von Bierpaläften, die die äußern Bilder
unjrer Städte fo jehr beeinflußt, führt dem Leben weiter reife
einen Strom von Behagen zu, worin manchmal auch feinere
äfthetiiche Genüffe find. a fih die Daprifdien Bierfeller nach
Franken und an den Oberrhein auöbreiteten — es war vor
etwa vierzig Jahren —, da wurde das Leben der Kleinſtädter
bereichert; fie ließen ſich nun an ſchönen Sommerabenden mit
ihren Frauen unter dem künftigen Schatten junger Roßkaſtanien
nieder. Glücklicherweiſe hatten die Nachahmer den Bayern auch
Das deutſche Dorfwirtshaus 297
den feinen landichaftliden Sinn abgegudt, mit dem dieſe ihre
„Keller“ an herrlichen Ausfichtöpunkten anzulegen pflegen. Der
Spießbürger wunderte fi, indem er fein Bier tranf, nicht nur
über die merklich beſſere Verwertung des trefflichen Schweßinger
oder SHagenauer Hopfens, die die bayriſche Schule eingeführt
hatte, jondern auch über die Reize feiner Landichaft, die ihm
nie jo fchön vorgelommen war. Nicht überall gibt es freilich
eine fo jchöne Lage wie in Traunftein, wo mir von meinem
Gaſftfreund der Kollerteller als ber Ichönfte Keller in Europa
gerühmt wurde. Der Blid auf die Berge von Ruhpolding. ift
allerdingd wundervoll, bejonder8 wenn er mit dem Bid auf
einen vollen Maßkrug abwechſeln Tann. Wären nicht einige
leichte Schatten, die diefe beliebten Bierhügel über die Städte und
Städtdden Hinwerfen, wo die Leute um jo anſpruchsloſer wohnen,
je näher und je billiger fie diefen gemeinfamen Erholungsplag
haben, jo möchte man von dem „Bierkeller als Schule des Na⸗
turgenuſſes“ mit ungemilchtem Behagen ſprechen. Auch bin id)
bereit, jedem Literaturmenichen, der den Naturfinn von Rouffeau
an datiert, nicht bloß die Herrliche Lage mancher uralten Ka—
pelle und Kirche, jondern die Ausſicht von jo manchem altbe=
rühmten Vergwirtshaus oder von der Bank vor einem Fähr⸗
haus am Rhein zu nennen und ihm damit zu zeigen, daß das
Naturgefühl nicht in dem Augenblick erfunden wurde, wo fidh
ein Dichter hinſetzte, um eine Ausficht zu bedichten; ebenſowenig
wie dag deutſche Gaſthaus erft würdig war, bejungen und ge-
rühmt zu werden, als Leifing feinen Eöftlihen, von dem wadern
Juſt jo tief veracdhteten Wirt in der Minna von Barnhelm ein-
geführt Hatte, und Goethe fein Dorfwirtshaus von Wahlheim
mit den zwei Linden, unter deren außgebreiteten Aften („fo ver⸗
traulich, jo heimlich Hab ich nicht leicht ein Pläbchen gefunden“)
Werther feinen Kaffee trinkt.
Die Ausflüge auf dad Land, deren Ziel ein gutes Wirts⸗
haus ift, gehören zum beutfchen Leben. Sie machen es genuß-
reich, beeinfluffen es aber auch in andrer Beziehung mehr, als
man denkt. Es ift die Nüdlehr der Stadt zu dem Lande, aus
dem bie Stadt herausgewachſen ift. Die arme Stadt! Solange
die beutfchen Städte noch ihren Kranz von Adern und Gärten
hatten oder nicht jo weit hinausgerüdt Hatten wie jebt, um⸗
Ichloffen viele felbft fo viel Land, al fie zum Atmen und zur
Freude am Leben braudten. In Stuttgart oder Karlsruhe,
jo gut wie in Kleve oder Brieg, beſaß vor fünfzig Sahren der
298 Das dentiche Dorfwirtshans
Heine Bürger und Beamte feinen Garten vor dem Tor, wenn
nicht fogar vor dem Haus, und die Frau des Tagelöhners be-
baute einen Uder mit Kraut, Kartoffeln, Rettichen und Obſt,
wovon nur ein Zeil verkauft wurde Am Sonntag Nachmittag
auf feinem eignen Land leichte Arbeit zu tun und bann auf
dem Bäntchen vor der bohnenumrankten Holzhütte zu felbft-
gebautem Rettich einen Krug Moft oder Bier zu leeren, war
eine Erholung, bei der e8 dem Holzhauer nicht einfiel, über das
Wohlleben andrer Betrachtungen anzuftellen. Jetzt gibt e8 eine
Menge von Wohlhabenden, die ihr Leben in einem ſchmutzigen
Miethaus und im Anblid von ebenſolchen abftoßenden Backſtein⸗
höhlen verbringen, und denen Raſen und Bäume nur leihweife
zugänglich werden, wenn fie eine ftaubige und Toftipielige Eifen-
bahnfahrt aufs Land unternehmen. Die Stäbte find über Die
einjt grünen Flächen hingewachſen, und die Nachlommen derer,
bie dort gewohnt haben, juchen jetzt ihre Erholung in den balb-
ländlichen Wirtshäuſern der Vorftädte, wo fie unter Schutt und
Neubauten ſchon Natur zu finden glauben. Es ift eine ärm⸗
fichere und doch koſtſpieligere Erholung, aber gerade auf fie
wird unſer Volk nicht verzichten. Und ift fie nicht immer noch
gejünder ala viele andre? Wenn in Deutichland dem minder
begüterten Dann immer noch ein größeres Maß von Lebens
freude vergönnt ift al8 in den meiften andern Ländern Europas
und Amerilas, jo Hat daran das Ländlide und halbländliche
Wirtshaus feinen nicht zu unterfchäßenden Anteil. Je weiter
die Wege, je größer die Anziehung des Waldes und der Wiejen
mit ihren Blumen und Früchten, je jchöner die Ausblicke, defto
mehr tritt der materielle Genuß in den Hintergrund, befto
unfchädlicher find die Getränke, mit denen ein wohlbegrünbeter
Durſt geitillt wird, deſto vollftändiger ift die Erholung, an der
doch in vielen Fällen aud die Yamilie teilnimmt.
Ein Höhepunkt wirt#häuslicher Entwicklung tft in den Reftau-
rationen an Ausfichtöpunkten erreicht, wo ein feines Weges und
bed Lohnes feiner Mühe frohes Publikum verkehrt. Hier ift an
ſchönen Tagen ungeheurer Durft zu bewältigen, mährend Die
Küche Kalt zu fein pflegt. Aber Wirt und Kellner dürfen bier
nicht nur für die Gewährung materieller Genüſſe vorbereitet
fein, man verlangt von ihnen Naturgefühl und Orientierung.
ft feine Orientierungstafel vorhanden, dann wohnt ihnen fogar
eine hohe Autorität inne, auf die man ſich allerdings nicht blind
verlaffen darf; benn diefen Kellnertopographen fommt e8 bisweilen
Das dentfche Dorfwirtshaus 299
nicht darauf an, die Berge bunt am Horizont Durcheinander zu
werfen. Nur bie Stäbte und die Kirchtürme halten fie feit, denn
Darin werden fie fontrolliert. Will doch jeder Gajt feinen heimat-
lichen Kirchturm wiedererfennen. Es gibt in Deutſchland Städte,
die man ſich ohne ihre Ausflugöberge gar nicht mehr denten kann.
Daß diefe Höhen immer mehr auch im Winter bejucht werden,
wo die Mühe größer, aber der Ausblid heller zu fein pflegt,
bezeugt die Vertiefung des Naturgefühle. Ausſichtstürme find
auf manchen wohlgelegnen Bergen lange vor der Begründung
der Gebirgävereine und Touriſtenklubs von Menfchenfreunden
errichtet worden, die ihren Mitbürgern eine geſunde Freude zu-
gänglicder machen wollten. Natürlih übt immer der ruinen-
gefrönte Berg eine beſondre Anziehung aus, auch wenn es fein
Heidelberger Schloß ift, und fo gibt ed denn in Deutfchland
bald feine Ruine mehr, die nicht wenigftend mit einer Sommer-
wirtihaft verbunden wäre. Die einft einfame Rudelsburg tft
feit Jahren an Sonntagen mehr Bierwirtichaft ald Ruine, und
auf den alten Schlöfjern von Heidelberg und Baden find Reſtau⸗
rationen „erjten Ranges“ eingerichtet. Matthiſſon würde bort
heute, trog der mehrfach in alten Mauerlöchern angebrachten
brummenden Aolsharfen, auch beim fchlechteften Wetter nicht bie
Ruhe und Stimmung zu einer „Elegie in den Mauern eines
alten Schloſſes“ finden; dagegen würden die hohen Preije und
der öde Luxus feine Seele vielleicht zu einen Klagelied von der
Länge eines abjchredend ſplendid gedrudten „Menu“ ftimmen.
Yür den Freund der Einjamlkeit find diefe Orte entweiht.
Und jo Hat ja auch der Naturfreund den Erguß ſonn⸗ und feft-
täglicher Vergnũgungswallfahrer in die ftillen Wälder und Täler
zu beflagen. Was die Menge an ziemlich oberflächlichem Natur⸗
genuß geivinnt, geht dem Einzelnen an tiefern Eindrüden ver-
loren. Die Sadje will aber nicht egoiſtiſch betrachtet werden,
fondern wir müſſen bie Steigerung des Erholungsbedürfnifies
in Betracht ziehn, an der vor allem bie jtädtiichen Menjchen-
anhäufungen ſchuld find. Man hat die Leute hereingezogen in
die Städte, wo fie Mangel an Licht und Luft leiden. Die In⸗
duftrie, der Handel wollten es jo, und die andern fchauten dieſen
Buftrom lange Zeit mit Vergnügen an. Wenn ed nun bie Zu⸗
ſammengepferchten an ihren jpärlichen Feiertagen ins Freie hinaus⸗
treibt, fo find die Unbequemlichkeiten, Die fie damit den ftillern
Naturfreunden bereiten, Klein im Vergleich mit denen, die fie
jeldft ihre jauern Wochen hindurch zu ertragen haben. Laßt
300 Das deutfche Dorfwirtshaus
fie dieſe Laft ſtädtiſcher Eingefchlofienheit abjchütteln ımd freut
euch, daB fie nicht die bequemern Erbolungen in ftädtiichen
Kneipen und Singipielhallen vorziehen! Begreift, daß das länd-
lihe Wirtshaus bei unjerm Stand ber Bevöllerungsanhäufung
als Hillige und unfchädliche Erholungsftätte eine Wohltat ge
worden iſt!
Legt einmal die Scheu vor der Berührung mit der „Mafje“
ab und geht an den Pfingittagen ins Freie, wo ſich euch Die
aus allen Städten berausflutende Bevöllerung zeigt, die ſich
frühlingsmäßig heiter, wie ſonſt nie, außftaffiert hat und fich
alle Mühe gibt, heiter zu fein, weil fie SHeiterfeit zu finden
hofft. Ich freue mid über die Männer mit abgearbeiteten
Mienen, die heute einmal wirklich Felertag machen. Sie fühlen
fih aller Pflicht Iedig. Der grüne Zweig am Hute verfinnlicht
den feeliihen Mitbefit an Gottes freiem Walde, den fich fein
Deutſcher abftreiten läßt. Einige deuten ihre Unternehmungsluſt
durch eine mit „Kornjad” gefüllte Neifeflafche an, bie fie über
ihren feierlichen Bratenrod gehängt haben. Andre bemerken am
Eingang eine Ausſichtsturms, deſſen Beſteigung zehn Pfennige
toftet: Nee, das Geld legen wir in Bier an und für dich Olle
(zärtlich) in Kaffee. Ich freue mich für die würdigen Gattinnem,
die in ihren Sonntagslleidern entweder furchtbar ſchwitzen oder
entiprechende Angft außftehn, daß fie vom Regen durchnäßt
werben möchten. Gar nicht zu reden von der Angft um das
Zamilienportemonnaie, das fie in der Hand des feftlich heitern
Gatten heute nicht ganz ficher aufgehoben glauben. Ich freue
mid) am allermeiften über die Kleinen Mädchen, die in weißen
Kleidern, weißen Strümpfen, hellen Schuhen und bunten Sonnen
ſchirmchen wie Schmetterlinge umberflattern, ſich wechfeljeitig be⸗
grüßen und beguden. Das reine Glüd, dad durchaus feine Luft
bat, fi) von dem ſchon grollenden Pfingitgewitter trüben zu lafſen!
Draußen find die ländlichen Erbolungsftätten, mit Maien und
Blumen geſchmückt, bereit, Tauſende zu tränfen und zu ſpeiſen.
Nachmittags erihallt Muſik im Garten, und Abends folgt ber
unvermeidlide Tanz. Wenn id; daran denke, wie in Frankfurt
am dritten Pfingittag Hoch ımd Niedrig in den Wald zieht, um
den „Wälbchestag” im friichen Grün zu feiern, oder in München,
wo am Pfingftmontag alles, was von der niedern Bevölkerung
fahren oder gehen ann, die Raldwirtichaften von Großheſſellohe
und Pullach aufſucht, jo freue ich mich diefer Erholungen, ala
ob ich fie ſelbſt mitmadhte.
Das deutfche Dorfwirtshaus 301
Es fällt mir dabei ein, wie ih an einem Frühlingsſonntag
voll Sonnenfchein und Regenſchauern vor plötzlicher Durchnäflung
im Torgang eined Wirtshauſes bei London Schuß ſuchte. Die
Wirtſchaft ſchien verfchloffen. Nach mir famen aber andre Männer
berein, die das „Sejam“ wußten, das ſolche Türen öffnet. Sie
Hopften unb riefen Traveller, worauf, da dem Geſetz Genüge
geleiftet war, da3 nur dem „Neifenden” am Sonntag geiſtiges Ge⸗
tränt erlaubt, durch die Türfpalte die gewünschte Erfriſchung, in der
Negel ein Schnaps, herauswanderte. Ich biu fonft ein Verehrer
der englifchen Sonntagsruhe; foweit fie den Lärm der Städte
zur Ruhe bringt, ift fie eine körperliche, moraliſche und äſthetiſche
Wohltat. Aber wenn fie dem Städter die Ländliche Erholung
verichließt, übt fie einen törichten und graufamen Zwang aus.
Sn England ift nun die Umgehung bed Verbotes, am Sonntag
Erfriſchungen zu verkaufen, auf den finnreichiten Wegen möglich,
die dem anglofeltiichen Erfindungsgeift ein glänzendes Beugnis
ausftellen. Auch in einem Temperenzitante Nordamerilas, wo
man noch nicht jo weit war, begegnete e8 mir vor einigen Jahren,
daß ih mit einem Lolalzug, der Sonntagsruhe Hatte, bis zu
einer einſamen Waldftation fuhr. Da hieß es nun den Sonn-
tag zubringen. Um das trodne Biskuit und den falzigen Sped
möglichft gut anzufeuchten, tvanderte man zur nächiten Anfiedlung,
wo der Arzt für ſolche Fälle den erichöpften Reiſenden eine
beliebige Menge Bier oder Wein verfchreibt, genau in der ber-
gebrachten Nezeptform, aber zu etwas billigern Taxen. Ich
dachte an den alten Proviſorenwit;: Recipe et misce: Stiefel-
wid et mel rosatum. Der Sünger der Heillunde Holt die
Arznei aus feinem fühlen Medizinalfeller und ift gern bereit,
dem Reiſenden bei ihrer Vertilgung Gejellichaft zu leiften, natür-
fi in einem der Straße möglichit abgemandten bunfeln Bimmer,
das fi zum ſonntäglichen Kneiplokal zahlungsfähiger Nachbarn
entwidelt hat. Alſo bier machen die Sonntagögejeße den Arzt
zum Bierwirt!
Ich ziehe die andre Verbindung des gaftwirtlicden und ärzt⸗
lien Berufd vor, die fich ganz von ſelbſt auß der Natur des
Gaſthauſes als Raſt⸗ und Erholungshaus ergibt. Sie ift ebenfo
wahr und menjchlich, wie jene amerifanifche verlogen und ver⸗
zerrt if. Was ift dad Haus des Wirteß für fo manchen
Kranken, der fern von der Heimat Genefung fucht! Wieviele
Werte der Barmherzigkeit werden jahraus jahrein von den Wirten,
ihren Familien und Bebienfteten plötzlich Erkrankten oder, be-
302 Das dentfche Dorfwirtshaus
uni ——
ſonders im Gebirge, Berunglüdten geleiftet! Auf einzelne Fälle,
in denen übermäßige Rechnungen dafür gefchrieben werden, kommen
zahlreiche Samariterdienfte, von denen nichts befannt wird. In
den zahlreichen Bädern, Rurorten und Kuranftalten Deutfchlands,
Öfterreih8 und der Schweiz zeigt ſich die hoipizartige Funktion
des Wirtöhaujed von der beften Seite. Sie gliedert fich hier
allerdings einer großen Reihe von Vorkehrungen zum Wohl und
Wohlbehagen leidender und gejunder Menſchen ein. Boch erreicht
gerade in unjern Badeorten das deutiche Wirtshaus einen feiner
Höhepunkte. Wenn die Entwidlung eine® Baden-Baden oder
Wiesbaden überhaupt eine bewundernswerte Leiftung der Für⸗
forglichleit, der Intelligenz und des Schönheitsfinnes ift, fo tragen
die großen internationalen Hotel an ſolchen Pläßen neben den
andern Anlagen und Bauten ebenjoviel dazu bei, wie in ben
Heinern Bädern die beicheidnen Badegafthäufer, die zum Teil
noch in die menjchenfreundlichen legten Jahrzehnte des achtzehnten
Jahrhunderts zurüdreichen, die jo manche Heilquelle gefaßt und
fo manchen Waldweg um unjre Gebirgöbäder gezogen haben, und
in die auch die Anfänge unfrer Seebäder zurüdreichen. Damals
find jene freundlichen weißen Badehäufer, Logierhäufer und Wandel⸗
bahnen gebaut worden, die gewöhnlich im Bogen die Duelle um⸗
geben. Ihr einfacher Stil, eine Berbürgerlihung des Schloßftils
Ludwigs des Sechzehnten, mutet und ſehr behaglih an. Im
Gegenjag zu andern Gaſthauszimmern find ihre Räume groß,
nicht hoch, und haben wenige aber breite Fenſter. Das Ganze
ft von Parkanlagen umzogen, an deren Abſchluß fi in
einer jchattigen Rotunde, von Steinbänlen eingefaßt, ein ver-
moofter Denkftein erhebt, auf deflen einer Seite der fürftliche
oder gräfliche Eigentümer feinen Gäften ald milder Wirt den
Segen der Duelle wünſcht, während die andre altmodiſch ver-
traulich-beredfam dag wichtige Jahr und die Umftände diefer Er⸗
neuerung fommenden Gefchlechtern verkündet. Zauperlen in dem
Moos des alten Steine glänzen ung wie alte Tränen menſchen⸗
freundlichen Mitgefühl an. Gute Zeiten waren das doch!
2
Das Dorfwirtöhaus gehört in erfter Linie dem Dort, in zweiter
erft dem Verkehr, der die Dorfftraße durchzieht; der Verkehr
macht es zum Gaſthaus. In abgelegnen, verlehrsarmen Gegenden
hängt beshalb feine Güte, ja fein Dafein von den Anſprüchen der
Das dentſche Dorfwirtshaus 303
Dorfbewohner ab. Es hat bis vor wenig Jahren in manchen
Teilen Deutichlands Dörfer gegeben, die überhaupt feine Wirts-
häujer hatten, weil der Verkehr feine ind Leben rief, weil ſich
die Bauern mit einem alten Baumjtamm vor dem Rathaus als
Beratungsbant begnügten und ihren Durjt mit dem Haustrunk
ftillten. Auf dem Yläming, dem jandigen Höhenrüden, der von
der Gegend von Magdeburg nad) der Niederlaufit zieht, hat die
Verwaltung im Intereſſe des machjenden Verkehrs erft neuer-
dings in einzelnen Dörfern die Gründung von Heinen Gafthäufern
anregen müflen. Häufig find die WirtShäufer, die Leine befondern
Sremdenftuben haben, weshalb die befjern Gäfte in dem beften
Bimmer der Wirtsfamilie untergebracht werden. In dem wunder⸗
bar jtillen Sibratsgfäll im Bregenzer Wald fchlief ich fo einmal
in Gejellichaft der in Wachs nachgebildeten, früh verjtorbnen
Kinder des Hauſes wie In einer Gruft oder einem Kleinen Tempel
des Seelenkults. Aber Deutfchland ift doch faft in allen Zeilen
von Verfehrsäderchen jo weit durchzogen, daß der Wandrer in
allen größern Dörfern Stärkung und zur Not auch Unterkunft
finden kann. Auf die Gaftfreundichaft der Gutshöfe, Pfarrer ufm.
angewiefen zu fein, daß beginnt erft im polnischen und ungarifchen
Diten. Nur als ein Reſt vergangner Zeiten bat ſich in einzelnen
Teilen Süddeutichlands der Anſpruch der „Studenten“ auf Be-
wirtung im fatholiichen Pfarrhaus, zur Not auch auf Unterkunft
und Viatikum erhalten; manche geiftlihe Herren werben dadurd)
ganz gehörig mitgenommen, und ich habe im Algäu Klagen gehört
über die große Anzahl von reifenden Gymnafiaften und Theologie-
ftubierenden, die allſommerlich in die Pfarrhöfe einfallen. Daß
der beutfche und der öfterreichiiche Alpenverein an den bejuchteften
Orten der deutfchen Alpen einzelne gute und billige Gafthäufer
zu „Studentenherbergen“ erklärt hat, wo die wanderluftige ſtu⸗
dierende Jugend billige Behrung und Unterkunft findet, ift eine
fehr löbliche Erneuerung des alten Rechts fahrender Schüler auf
Erleichterung ihrer Reife.
So verſchieden in unſerm Lande der Verkehr war und ift,
fo wenig gleichen einander feine Wirkungen auf die Wirtöhäufer.
An Süd⸗ und WVeftdeutichland mit feinem alten und weitreichenden
Verkehr find ſchon früh aus dörfliden WirtShäufern Verkehrs⸗
ftätten, echte Gafthäufer geworden. Kein deutſches Gebirgsland ift
fo reih an großen, guten Gajthäufern wie der Schwarzwald mit
feinen Induſtrieorten und feinem alten, mächtigen Holzhandel. Hier
fmd lange vor dem Fremdenzuzug die Gafthäufer im Sommer
304 Das deutiche Dorfwirtshaus
und Winter von Leuten befucht geweſen, Die einen guten Trunk unb
entfprecjenden Billen verlangten. Daß die guten alten Wirts-
häufer auch fogar an einfamen Straßenfreuzungen und in Heinen
Weilern nicht fehlen, gehört zu den Eigentitmlichleiten des Schwarz-
walds, die man bejjer begreift, wenn man mitten im Winter
Hunderte von Holzfuhrwerten an einem einzigen Tage beim Kreuz
oder Sternen vorfahren fieht. Übrigens bat bier auch der Wein
feine Wirkung getan, der überall einer reinlichen und auf die
Küche bedachten Wirtichaft günftiger ift al das Bier. Der Ge—
Thäftsgeift, der fi) in den Schwarzwälder Werfftätten äußert,
ging natürlich auch nicht an den Gafthäufern vorüber, unb die
alemanniſche Reinlichkeit, die faft in jedem Bauernhauſe waltet,
hilft auch dazu. Endlich hat auch die Nähe der Schweiz ein-
gewirkt, dieſes Mufterlandes des modernen Gafthausweiens; bie
neuen großen Gafthäufer im Schwarzwald und in den Vogeſen find
in ganz Deutichland die fchweizerifchten im guten und im übeln
Sinne.
Bon den urſprünglich verfehräärmern mitteldeutichen Ge⸗
birgen ift der Harz in gafthäuslicher Beziehung dem Thüringer
Walde gerade fo ähnlich, wie er geologifch mit ihm verwandt
ift und landſchaftlich ſoviel Ahnliches aufzumeifen hat. Harz und
Thüringer Wald find arme Gebirge im Gegenjab zum Schwarz
wald, nur mit [pärlihen Dafen fruditbaren Landes, eher rauh als
mild und ſchon außerhalb der Zone des Weines gelegen. Die
Edellaftanien von Blankenburg, die nördlichften auf deutſchem
Boden, find nur noch Rurtofitäten, verglichen mit den „Refchten"-
wäldern von Eronberg oder Gernsbach. Die arme Bevö
biefer Gebirge befuchte aus guten Gründen bie atrtöhäufer wenig,
Reiſende gab es auch nicht viel, und fo mußte denn der Reife
luxus, den der Vergnügungsreifende verlangt, ganz von außen
hereingetragen und erft angepflanzt werden. In dem
fozialen Klima der Waldgebirge ift er aber nicht fo recht gebiehen.
Jedes Bett ſpricht von dem Kampf, den er mit den ärmlichen
Lebensgewohnheiten der Gebirgäbewohner zu kämpfen hatte, und
die Küche bat ebenſowenig an —— ũberlieferungen an⸗
knüpfen können. Es iſt nur der regſamen Intelligenz ber Ve⸗
wohner zuzuſchreiben, daß das Gaſthausweſen in dieſen Gebirgen in
munterbrochnem Fortſchritt iſt; Die ſchlechten oder mittelmäßigen
Zenſuren, die es in den aufrichtigen Reiſehandbüchern noch erhält,
werden hoffentlich mit jedem Jahre günftiger ausfallen. Schabe,
dab fo ziemlich überall die Preiſe immer rafcher fteigen als das
Das deutfche Dorfwirtshaus 305
nr
was dafür geboten wird! Ähnlich ift e8 im Erzgebirge, beſonders
auf der ſaächſiſchen Seite, und war es einjt im Rieſengebirge.
Ahnlich ift es noch heute im Taunus, im Wefterwald und auf der
Eifel. Hier Hat der Touriftenitrom ganz neue Häufer ing Leben
gerufen, da das alteinheimijche Wirtshaus viel zu einfach war, daß
es dem Bedürfnis eines plötzlich beginnenden Luxusverkehrs hätte
dienen können. Die Wirtshäujer in den induftriellen Gegenden
des Erzgebirge und der jchlefiichen Gebirge find Häufig mit
einem auffallend großen Saalanbau verjehen, der allfonntäglich
die vergnügungsfüchtige Jugend der Arbeiterbevölferung und ge⸗
legentlich ſozialdemokratiſche Verfammlungen beherbergt.
An Bayern und in Tirol haben wir ähnliche Verhältniffe wie
am Oberrhein. An den einjt vielbefahrnen Straßen des italieniſchen
Handels über den Brenner und den Fern, an den Salzftraßen,
die, die Iſar und den Inn kreuzend, vor dem Gebirge herziehn,
an der Donauftraße ftehn die alten Gafthäufer der Fuhrleute und
der Stellwagen. Einige haben ſich in gejchidter Art dem modernen
Fremdenverkehr angepaßt, der die großen Räume wenigftens zur
Sommergzeit füllt. Die beliebteften Gafthäufer am Brenner, im
Dberinntal, im Drautal, in den alten Durchgangspunkten de Augs⸗
burger Verkehrs, Mittenwald und Ammergau, gehören zu den alten
Verkehrsſtätten. Ihr durdy manches bunte Wandbild von Heiligen
oder von Frachtfuhren mit ſechs Paar Gäulen bezeugtes Alter
und ihre behaglichen weiten Räume haben dazu beigetragen, fie den
modernen Bergnügungsreifendeu angenehm zu machen. Welches
„Hotel“ Tann einen Raum bieten, der ſich an freundlicher Be-
baglichkeit mit dem zimmerartig breiten und hellen Vorplatz ber
Stockwerke eines ſolchen Haufes mefjen könnte, wo in Glasichränfen
die Familienſchaͤtze alter Gläfer, Teller und Platten aufgereiht find
und zwiſchen den Fenſtern der blumengeſchmückte Hausaltar fteht?
Der eleganteite Konverfationsfaal ift fade und alt neben einem
jolden anſpruchlos edeln Raum, der ſich bejonders auch dadurch
außzeichnet, daß er durchaus nicht überflüſſig iſt, was man von
vielen Raͤumen moderner Gaſthausbauten nicht fagen kann. Bei
diejen muß man unwillkürlich an den eignen Geldbeutel denken,
der törichten Luxus mitzahlen muß, während jener alte Vorraum
und durch feine bürgerliche Gediegenheit beruhigt.
Nicht allen den alten Poftgafthäujern war diefe glüdliche
Auferftehung beſchieden. Wer die von Touriſten ſelten begangne
Straße wandert, die in ziemlicher Entfernung vom Gebirge von
München über Mühldorf am Inn und Braunau nach be und
Napel, Städsinfeln unb Träume
306 Das deutfche Dorfwirtshaus
Budweis zieht, trifft in felten genannten Dörfern, zu denen auch
das ſchlachtenberühmte Ampfing gehört, große weißgetünchte Häufer,
deren bide8 Mauerwerk und breite erlergefhmüdte Fronten einen
mächtigen Hof umſchließen, der rüdwärts von Pferdeftällen und
Dflonomiegebäuben umgeben if. Wo einft Fremde aus aller
Herren Ländern Raſt machten, erzählen fich heute der Förfter
und der Pfarrer alte Geichichten, und den Pla der Poſtpferde
nehmen Adergäule ein. Aus einem berühmten Umfpannplap ift
ein Dorfwirtshaus von impofanten, faft hiftoriiden Formen ge⸗
worden, überſchattet im günftigen Fall von dem Adergut, das Beute
die Hauptſache ift, wo es früher nur ein Anhängfel des Gaft-
haufeß war.
Sind nun in ſolchen Gegenden die Wirte von der Höhe
wichtiger Organe des Verkehrs wieder herabgeftiegen und zu
Bauern geworden, fo find ſie doch eine bejondre Art von Bauern.
Überall, wo es nod einen tüchtigen Bauernftand gibt, bilben
die Bauernwirte eine in ihrem Kreis hervorragende, einflußreiche
Kaffe, die die Vorteile des bäuerlichen Lebens mit dem Vorzuge
verbindet, den die tägliche Berührung mit andern Schichten der
Bevölkerung und die Verbindung mit den Sanälen bietet, in
denen das Geld umläuftl. Das Wirtshaus ift das größte Haus
des Dorfes nächft dem Pfarrhaus, in feiner Einrichtung ſteckt
ein ftattliches Kapital, manches Zimmer ſcheint ja mit feinem
ganzen Inhalt aus der Stadt Hierher verjeßt zu fein. An
Kenntnis der Menfchen und der Weltläufe übertrifft der Wirt
oft den Pfarrer und den Lehrer, und gar nicht felten führt er
mit Würde an dem Honoratiorentiich in feiner eignen Gaftftube
den Vorſitz. Das hindert ihn freilich nicht, die leeren Krũge
und Gläfer feiner Gäfte mit eigner Hand zu füllen. Auch die
Wirtin und das Töchterlein feßen fi) mit ihren Stridftrümpfen
an den gemeinjamen Tiſch, wenn nad) dem Nachtmahl ihre Ge⸗
fchäfte in der Küche beforgt find. Mit der am Herrentiſch ges
mwonnenen Autorität wandert der Wirt zwifchen den Bauerntifchen
umber, die übrigens in der Regel an den Werktagsabenden nicht
jehr gefüllt find. Verheiratete, die etwas auf ſich Halten, und
auf Die, was wichtiger ift, ihre Weiber etwas halten, find, außer
an ben Sonntagen, Abends nicht im Wirtshaus zu treffen.
Natürlich bat der gefteigerte Fremdenverkehr in allen
Induſtrie⸗ und Touriftenlandichaften Deutfchlands auch den Wirt
erfaßt und umgeändert, und mit ihm alle dienftbaren @eifter.
Dabei bleibt aber doch immer ein Reſt von Natur; denn das
Das deutfche Dorfwirtshaus 307
RL DI IL —
Wirtsgefchäft ift zu einem fo großen Zeil angewandte Lebenskunſt,
daß es ohne angeborne Gabe ebenjowenig gelingt wie eine
andre Kunſt. Es liegt nahe, zuerft an die Schaufpielfunft zu
denken; der Wirt muß fih ja „geben“ Können. Man Tönnte
ebenjogut an jene Kunſt des Umgangs mit Menfchen denken,
die eine der allerwidtigften Vorausſetzungen der Erfolge re
gierender Yürften if. Dem Fürften rechnet man es hoch an,
wenn er die Menfchen wiedererkennt, die er einmal gejehen bat,
und wenn er denen ein paſſendes Wort fagt, deren Amt, Beruf,
Berdienft ihm vorher mitgeteilt worden find. Viel mehr leiftet
der Wirt, der auf einen Blid ben in fein Haus eintretenden
Fremden „nach Berdienft” würdigt, d. h. zunächft ihm Die richtige
Nummer gibt und ihn dann weiter „entſprechend“ behandelt
und — einihäßt. Laien behaupten, daß jei feine Kunft, e8 genüge
ein Blick auf das Gepäd; auch der Anzug verrate ſchon genug.
Das find ſehr oberflädjliche Urteile. Ich gebe zu, daß es am
Anzug ein Stüd gibt, das jehr weittragende Schlüffe auf feinen
Träger erlaubt. Es ift das Schuhwer!. Ein Mann von Stand
und Geihmad kann einen alten Filz, eine bäuriſche Joppe
tragen: fchlechtes Schuhwerk trägt er faft nie. Außerhalb Deutſch⸗
lands iſt dieſes Kennzeichen unbedingt ſicher. In Deutichland
gibt es freilich eine höchſt anftändige Klafje, die noch immer
ſchlecht „hauffiert“ ift. Das find die Gutsbeſitzer, und zwar nicht,
weil und feitdem der Landbau fchlechte Zeiten hat, ſondern weil
das Herummandern auf fotigen Feldwegen den Stiefel nötig macht.
Eine Statiftif des Verbrauchs von Schuhen und Stiefeln im
Deutichen Reiche würde ohne Frage eine Zunahme der beſchuhten
Männer und einen Rückgang der geftiefelten nachiweilen, ent-
ſprechend der Zunahme ſtädtiſcher Bevölkerung und ftäbtilcher
Lebensweife. Wenn man aber Abends durch die Korridore eines
internationalen Hotel8 geht, kann man ziemlich fiher auß der
Babl der vor den Türen ftehenden Stiefel auf die der hier ab-
geftiegnen deutſchen Reiſenden fchließen.
Wenn man Gäfte zu empfangen bat, muß man liebengwürdig
fein. Iſt der grobe Wirt dennoch nicht felten, jo fpricht ſich
darin die Schwierigkeit feiner Aufgabe aus. Der grobe Wirt
jpielt in der bayriſchen und ber öfterreichifchen Dialektdichtung
eine charakteriftiiche Rolle. Bayern und Deutjchöfterreich find die
Länder, wo der Wirt dem Bauer noch am nächſten verwandt ift.
Über der grobe Wirt hat doch eigentlich feinen Beruf verfehlt.
Der Geichäftsgeift kann die natürliche Liebenswürdigkeit auch nicht
20 *
308 Das deutſche Dorfwirtshaus
erfepen. In der Schweiz geht man mit der Zufriedenheit des
Handel3manned aus dem Gafthaus, der für fein Geld erhalten
bat, was er fordert. In Frankreich, in den Vogeſen, im Schwarz-
wald, am Rhein, in Schwaben, in Tirol gibt e& viel mehr Wirte
und Wirtinnen, die ein natürliches Bedürfnis empfinden, e8 dem
Gaſt behaglich zu machen. Das find Länder, wo e8 ein Bauern-
tum gibt, das durch die Kultur veredelt, aber nicht entartet ift.
In dem ländlichen Gafthaus haben ſich gerade hier gute
Seiten des Bauern- und Bürgertums erhalten, jene Seiten, bie
Goethe herausgefühlt und in „Hermann und Dorothea” für alle
Zeiten feftgebalten hat. So kenne und ehre ich eine Wirtöfamilie,
die ein Kleines Yürftentum von Tälern, Bergen, Seen und Flüffen
befibt; in ihrem Haufe hütet fie einen Familienſchatz von altem
Porzellan und Glas und wertvollen Bildern. Sie ift unzweifel-
haft die erfte im Drt, ihre Zöchter find, wie es Dortzulande
üblih, in einem Klofter im italienischen Tirol erzogen worben,
dabei arbeiten fie aber alle in der Wirtihaft mit. Die eine,
fünftlerifch begabt, hat das Speifezimmer mit japanifch=englifchen
Srisftengeln ausgemalt und fchmüdt allmorgendlid die Tiſche
mit den geihmadvollftien Blumenfträußen. Wenn im Serbit die
Blumen felten werden, weiß fie Kohl⸗, Rotrüben- und Salat⸗
blätter zu überrafchend ſchönen Krautfträußen zu vereinigen. Alles
ift fo gut, wie es die Leute geben Fönnen, uud die Preije find
anftändig.‘_ Der Gaft fühlt fich in einem folden Haus gehoben,
es geht ein ariftofratiicher Zug hindurch. Jeder tut feine Arbeit,
niemand drängt fi) auf. Die Leute freuen fi), wenn fie gute
Säfte Haben, und tun den andern gegenüber die Pflicht ihres
Berufs. Ein ſolches Haus ift für den Reiſenden eine Dafe in
der Wüfte der modernen Reiſeeinrichtungen und Neifemethoden,
befonder8 wenn die Tüchtigkeit feiner Beſihzer dafür forgt, daß
es auch „mit der Beit fortichreitet.” Vor einigen fam
ih die Mofel und die Saar herab, jchlief die eine Nacht in Metz,
die andre in Saarbrüden, die dritte in Trier. In Meb war
ich in einem der alten franzöftichen Hotels feinen Stils, e8 wurbe
von einem deutichen Gaftwirtdilettanten kenntnis⸗ und gejchmad-
108 bewirtichaftet; in Saarbrüden war ich in einem neugebauten
Haus für Geichäftsleute, dad phyfiih und moraliih nad Kalt
roch; in Trier in einem auf reifende Engländer zugefchnitinen
Provinzialfaus. Am vierten Abend Tief ic) wie ein mübes Schiff
in den ftillen Hafen eine von Yrauen liebevoll verwalteten
Heinen, warmen Gafthaufes in dem Mofelftädtchen E, ein. Das
Das dentfche Dorfwirtshaus 309
ö— — DL L DL 0 LLL — GL GL ALLE DD LED LEG DD LLC CD GL LLC BLZ DE DO DL DL GL LED GD DL GL DL EL GT LED
Haus hat einen guten Namen, es trägt den Bädekerſchen Stern,
jeitdem überhaupt Bädeler Hoteliterne verleiht, und es ift gut
befucht. Auch diesmal jagen wir zu fünfzehn zum „gemeinfchaft-
lichen Abendeſſen“ nieder und tranfen dazu fünfzehn bis dreißig
Schoppen &.er Schloßberg, hellgelben, grünlich-topafig jchillernden.
Tochter und Nichte warten auf, mit Grazie und Beftimmtheit.
Die weibliche Leitung der Küche verrät fi in der Schücdhtern-
heit der Würzung der Speilen, fonft ift alle aufs jorgfältigfte
zubereitet. Beitungen, Reiſebücher, Echreibzeug, alles in ſchönſter
Ordnung. Sogar der flatipielende Revierförjter und der Schiffs⸗
kapitän nebſt Gejellichaft finden Karten und Kreide hübſch auf
einem Nebentifch vor dem Lederjofa zurecht gelegt. Die Mädchen
waren unabläffig in Bewegung, die Wirtin überwadte fie vom
Tiſch aus, wo fie nad dem Efjen die Zeitung lad. Ein Wink
genügte. Ich ging nach dem Heinen Zimmer, da8 man mir an-
gewiefen Hatte, und fand es leer. Man hatte mir ein beſſeres
eingeräumt, da8 man bis zur Ankunft des letzten Auges für
Familten bereit hält. Statt der Oldrucke ſchmücken hübſche
Stidereien die Wände. Alles fpricht Hier von Sorgfalt und
Bemühen. Es find eben Menichen, mit denen man es bier zu
tun hat, nicht Rechenmafchinen.
Bu welchen Verzerrungen des Einfachen und Natürlichen
führt doch unfer Stadtleben, wenn es ſich die bier fo bolde und
in jedem Sinn gute weibliche Bedienung nicht mehr anders als
mit einem unmoralifchen Nebengeſchmack vorftellen kann! Nur
auf einer Wanderung in der Marl Brandenburg, nicht ganz
nahe bei Berlin, iſt e& mir vorgelommen, daß ſich in dem äußerlich
anftändigen Bierftübchen gegenüber dem einfamen Bahnhof die
hochgewachſene Hebe ald „Animierlellnerin“ entpuppte, die mit
unverfchämt geſtärktem Rauſchkleid den Gaſt bebeutiam ftreifte,
indem fie wie aus Verjehen ein zweites Glas zu dem lauen
Flaͤſchlein Patzenhofer ftellte. Der volantbejegte Eindrud dieſer
verwehten Großftadtpflanze drängt in meiner Erinnerung ſogar
die an bemielben Tage gewonnenen Bilder endlofer gelber Lu⸗
pinenfelder und Kleiner rotbadfteinener Kotjaffenhäuschen ſowie
des afazienumjäumten Bukower Sees zurüd.
Mit dem Dorfwirtshaus Hat der Kellner nichts zu tun.
Der Hausknecht ift jtreng aus der Wirtöftube gewiefen, Stall
und Hof find jein Nevier. Urfprünglich verlehrte er mit den
Gäſten nur, wenn er ihnen audfpannte oder fie frühmorgens
wedte, um, mit ſchwankender Laterne voranjchreitend, die Schlaf-
310 Das deuntſche Dorfwirtshaus
a
trunfnen zur Poſt zu führen. Die Zunahme bed Verkehrs hat
auch das geändert. Jetzt kommen die Relluer wie die Schwalben
mit der „Saifon“ und ehren im Winter in die Stadt zurüd.
Aber e8 wäre ımbillig, den deutfchen Kellner bier zu übergehn,
weil er nur ſporadiſch auf dem Lande auftritt. Er ift uns eine
willkommne Erſcheinung in England und Auftralien, in Agypten
und Kalifornien. Wir wollen ihn darum in feiner Seimat nicht
vergefien. Ehe er jein Glück in der weiten Welt verſucht, ver=
dient er fich die Sporen in dem Gafthauß einer Heinen deutſchen
Stadt. Wenn ich an dem deutſchen Wirt oft manches auszuſetzen
hatte, fo Habe ich faft immer mit ftilem Woblgefallen und nicht
felten mit Sympathie da8 eifrige Walten junger Kellner beob-
achtet. Das find in den bejjern Häufern Heinerer Städte Jüng-
(inge, die eine gute Schule Hinter ji) haben und mit einer
gewifjen Liebe ihren Schatz von Ortskunde, Spracdhlenninifien uſw.
an den verfchwenden, der ihnen hilfsbedürftig ſcheint. Wenn des
Abends die Säfte näher zufammenrüden, und nur der anſpruchs⸗
loſe „Stamm“ noch übrig ift, wandert eine franzöſiſche ober
engliihe Grammatik hervor, die bei Tage unter Adreß⸗ und
Kursbüchern ruht. Indem der junge Mann die geiftreichen Säbe
Ollendorffs lernt, träumt er fi in ein Welthotel in der Aue
de Rivoli ober ber Victoria Street oder noch weiter in die Welt
hinaus. In Liffabon fchrieb einer meiner Freunde feinen untrüg-
lich niederbayrifchen Namen ind Fremdenbuch. Der internationale
Oberfellner fchaute ihn freudigfragend an: Kennen Sie den „Wilden
Mann“ in Pafiau? — Natürlich, ſehr gut, und feinen fiebzig-
jährigen Oberkellner kannte ich wohl, ber leider tot if. — Oh.
der mar mein Lehrer, ich habe vier Jahre als Kellner im „Wilden
Mann“ gelernt. Willen Sie, diefer Alte war bei den Kellnern
Europas befannt, der bat mehr als zwanzig ausgebildet, die in
alle Welt binausgewandert find. Er ſprach vier Sprachen, hat
Baffau nie wieder verlaffen und war, mit all feinen Erfparnifien,
Zufrieden, der erfte und äftefte Kellner jeiner Vaterſtadt zu fein.
Dod kehren wir aufd Land zurüd. Das Dorfwirtähans
gehört dem Bauern, und bäuerlich bleibt e8 darum auch in allen
Entwidlungen, die ihm der Fremdenverkehr auferlegt. Deshalb
unterfcheidet e8 fich ganz weientlich von der „Benfion,“ die nur
für die Sommerfriichler hingeftellt ift; es hat feine eigne Not⸗
wendigfeit und ein ganz andres Leben. Das bayriiche und daB
Schwarzwälder Wirtshaus wird nicht wie daß ſchweizeriſche
Hotel — und eine Heine Anzahl tiroliſche — im Winter ge
Das deutfche Dorfwirtshaus 311
ſchloſſen und wird nicht nur drei, in hohen Lagen gar nur zwei
Monate dem Fremdenzuzug geöffnet, es iſt den ganzen fremden⸗
armen Teil des Jahres auf ſeine ländliche Kundſchaft angewieſen,
die auch im Sommer nicht ſo ſcharf von der ſtädtiſchen getrennt
iſt, ſondern unverändert ihre Anſprüche auf Komfort und Ver⸗
pflegung geltend macht. Die Anſprüche der Gaſtſtube mit denen
des „SHerrenftübel” zu vereinen gehört zu den Wufgaben, die
nur ein guter Wirt löft. Wenn die Bauern zu fegeln anfangen,
während neben der Kegelbahn im Wirtögarten eben das Eſſen
für feine Gäfte aufgetragen wird, lafien fie fich leicht Ruhe ge-
bieten; nicht jo leicht läßt fi) der Lärm einer Bauernhochzeit
mit dem Ruhebedürfnis nervöſer Städter vereinigen. Doch jchlägt
hier die alte Anziehung zwiſchen Buabn und Madln manchmal
die Brüde, da e8 die „Stadtfratzen“ gar nicht unter ihrem Stande
finden, fi im bäurifchen Ländler zu drehen, was auch Die
Burſchen gern annehmen. Am leichteften ebnet aber ohne Zweifel
das Bier, der Trunk, der allen zugänglich ift, die Verſchieden⸗
heiten aus. Ein gutes, billiges Bier, das dem Holzknecht ebenfo
gut mundet wie dem Zouriften, gibt dem ganzen Wirtöhaus-
leben einen im guten Sinne demokratiſchen, daher behaglichern
Charakter.
Wenn ich hier eine angenehme Seite der Vereinigung des
Trinkhauſes und des Gaſthauſes unter demſelben Dache berühre,
will ich nicht die Nachteile verbergen, die daraus ſo oft für das
gute deutſche Gaſthaus hervorgehn. Mit dem Egoismus der Ge⸗
nußſucht überfchreitet die Kneipgejellichaft Raum und Zeit, in
die eine billige Rückſicht fie bannen follte. Am obern Ende der
Wirtstafel trinken Familien Tee, während am untern daß Wein⸗
oder Biergelage mit Zigarrenqualm und banalem Gerede fchon
begonnen hat. Und zu fpäter Stunde, wo reijemüde Wandrer
gern Ruhe hätten, lärmt dieje Gejellichaft, deren laute Unter-
haltung fih zum Gebrüll gefteigert hat, in den Morgen hinein.
Auch im Auslande zeichnen ſich beſonders Deutiche dur die _
Rückſichtsloſigkeit aus, womit fie ihren Trinkſitten frönen; es
hebt nicht ihr Anfehen, daß fie, um ungeltört fneipen zu können,
die „Schwemm“ dem Salon, das Rendezvous des cochers dem
Speijejaal vorziehn. In der lieben Heimat bedroht diefe Neigung
am meilten das beliebte Gafthaus, von dem es in den Büchern
beißt: Einfach, bürgerlich, gut, billig. Was will man mehr?
Aber gerade bieje Roſe hat viele Dornen. Der einfachfte und
natürlichite Fall ift, daß mehr Leute jo denken wie ich, und daß
312 Das dentſche Dorfwirtshans
mich ihre Menge in meinem einfachen bürgerlichen Behagen ftört.
Es ift aber noch der befte Fall Minder leicht ift die parafitiiche
Dornenentwidlung der Stammgäfte zu ertragen, die guter Wein
oder alte Gewohnheit an das obere Ende des Speiſetiſches zieht,
wo fie ihr Kartenfpiel mit Fauftichlägen auf den Tiſch begleiten,
überhaupt fi) mit einer Ungeniertheit benehmen, die ich nicht
nachahmen könnte, wenn ich auch wollte. So kämpft das deutſche
Gaſthaus den ungleihen Kampf mit dem Trinkhaus, in dem es
vielleicht nur dann nicht unterliegt, wenn ihm Fremde ohne
„Zrinkfitten“ zu Hilfe fommen. ch komme in ein länbliches
Gaſthaus, das wunderfhön am Eingang eines vielbefuchten Parkes
liegt. Er ift wie gemacht zum ruhigen Aufenthalt. Ich bin
erftaunt, das als trefflich gerühmte Haus in Unordnung zu
finden. Zimmerfchlüffel verlegt, Zimmer nicht gelüftet ujw.: die
befannten Tibel. Der Wirt entfchuldigt ſich mit drei Berliner
Banlierd, die geftern Abend gelommen und bis heute früh um
fünf bei mehreren üppigen Bowlen fißen geblieben find. „Hoffent-
lih haben Sie die Herren ruhig trinfen laffen und fie einem
Kellner übergeben!“ — „Wo deuten Sie hin? Ich mußte auf-
bleiben, denn da handelte es fi um feinfte Sorten. Nein, id)
war der lebte.“ Und heute, es ift Sonntag, hat diefer Mann
fein Haus voll Gäfte, die alle feine Aufmerkfamfeit Heifchen. „Wie
tönnen Sie das?“ — „Dan muß! Das ift die ganze Kunft.
Diefe paar Sommermonate find unjer Geichäft, da heißt es, alle
Nerven anftrengen, im Winter ruhn wir wie die Dachſe.“ Dabei
kann natürlid) da8 Haus nicht in Ordnung lommen. Der Mann
wird im beften Fall ein paar Jahre früher Privatier, aber als
Gaftwirt bleibt er ein Stümper.
3
Mit der in den fünfziger Jahren leiſe beginnenden, dann
aber mit jedem Jahre rafcher anfchwellenden Beivegung der ſommer⸗
lichen Vergnügungsreifenden aus den Städten aufs Land, aus
den Ebenen ind Gebirge und and Meer beginnt eine neue Ara
bes deutſchen Wirtshauſes. Es hat ſich vervielfältigt, vergrößert,
verfeinert, verteuert. Die Zunahme der Vollszahl drängt auch
die Räume des Wirtshaufes zur Vergrößerung, damit hat be⸗
fonder8 in Mitteldeutichland das Dorfwirtshans feine bebagliche
familienhafte Enge abgeftreift; in der Woche gähnt den Beſucher
das faalartige Wirtszimmer an, wo des Sonntags die abgenrbeiteten
Das deutſche Dorfwirtshaus 313
— — GT
Geſichter der Weber, Bergleute, Glasbläſer, Schnitzer, Flechter
ins Glühen kommen. Wer die Wirtöhänjer jeder Stufe zählen
wollte, die allein im Harz im lebten Menſchenalter gebaut worden
find, würde mehrere hundert aufzuzählen haben, zu denen noch
die alten, aber in jedem Yalle gründlich erneuerten „Lofale“
fommen. Wer erfennt in Harzburg mit jeinen Reihen großer
Hoteld da8 beicheidne Städtchen von 1860 mit feinen paar alt=
bürgerlihen Safthäujern und feinem kaum beachteten jchüchternen
Anſpruch, ein Badeplatz zu werden? Ebenſo Haben ſich viele
von den Sommerfriihen am Nordfuß der bayriſchen Alpen zu
vielbejuchten Orten entwidelt. Dörfer und Marktflecken wie
Garmiſch, Partenlichen, Starnberg, Prien u. a. haben ein
ftäbtifche8 Gewand angezogen. Welcher Unterfchied, wo auf der
einen Seite eines Berges ein Orten ind Wachfen gefommen
ift, während das Schweiterftädtchen drüben vernadjläffigt wurde:
das gafthaug- und villenreiche, moderne breite Friedrichsroda auf
diefer und das enge, trübe Schmallalden auf jener Seite des
Thüringer Waldes. Nicht nur Villen von allen Größen und
Güten, neue Gafthäufer, Neftaurationen und fogar Keime von
Kaffeehäufern find entitanden. Daneben find jene in Fremden⸗
pläßen unvermeidlicden Tandläden mit geſchnitzten, geftanzten,
gellediten (oder erſt zu befledjenden) Andenken, banalen Bilder-
poftlarten u. dergl. wie Pilze emporgeichoffen. Wenigftens im
Dunſtkreis der Bahnhöfe und Dampfichiffländen ift der Ländliche
Duft gänzlich) abgeftreift.
Seder von diefen Orten hat heute mindeſtens ein Wirtg-
haus, dag den Anſpruch erhebt, ein „Haus erften Ranges“ zu
fein. Bor dreißig Jahren war auch ſchon eind da, das für das
beite galt; damals war es in der Regel noch die Bolt. Einzelne
Safthäufer waren ſchon weithin berühmt, nicht durch Neilehand-
bücher, die damals für unſre Gebirge erjt zu entftehn begannen,
und nicht durch Reklame, die man noch nicht Tannte, jondern
dur die liberlieferung von Mund zu Mund. Gie zeichneten
fi) durch beffere Zimmer und forgfältigere, nicht gerade feinere
Küche aus, befteuerten aber den Fremdling nicht beträchtlich höher
als die anſpruchsloſern Gafthäufer daneben, unter denen in der
Negel eined dur die Güte des eignen Weines oder Bieres
berühmt war. Die Abftufung lag überhaupt meniger in den
Anſprüchen und Preiſen als in der Gewohnheit. Den altbürger-
liden Komfort, der nicht vom XTapezierer auß der Stadt auf
Beitellung geichaffen, fondern das Erzeugnis eines feitbegründeten
314 Das deutfche Dorfwirtshans
Wohlſtands war, fand man in einem befdheidnen Haufe oft noch
beſſer als in einem anfprudißvollern. Doc lag ein ſeitdem ver⸗
ſchwundner Unterjchied auch darin, daß in dem größern, befuchtern
Haus die Leute gewöhnt waren, Bäfte zu empfangen, bie in
einem Pleinern oft als linbequemlichleit behandelt wurden.
Abſeits von den Straßen waren aber die Wirtshäuſer nur
für die Bauern berechnet. Das machte ſich beſonders in den
bis dahin nur auf einigen Hauptftraßen durchzogen Alpen fühl⸗
bar. AB Ludwig Steub vor fünfundzwanzig Jahren in die
bayriichen Alpen und ins tirolifche Unterinntal z0g, um neue
Material zur zweiten Yuögabe feiner „Drei Sommer in Tirol”
zu jammeln, war diefer Zuftand eben in der Umwandlung be=
griffen. Steub fand damals in Schlierfee ſchon Markgräfler mit
Selterjer und die Forellen zu einem Gulden dreißig Kreuzer;
aber die Bequemlichleit der Betten und Bimmer und die Höf-
lichkeit und Dienftbereitichaft Hatten wenig Fortichritte gemacht.
Im Eingang feines Buches ruft er erftaunt und erjchroden: Der
große Schlag iſt geichehen, das bayrifche Gebirge ift faſhionabel
geworden! Aber ſchon in der Klaufe bei Kufftein wiederholt er
fein oft ausgeſprochnes: Wer in Bayern gut leben will, muß
ind Tirol gehn. Die Bayern haben feitden von den Tirolern
gelernt, und was mehr ift: fie fangen an, das Wirtsgewerbe
als eine Kunft aufzufafjen, die gelernt und geübt fein will. Der
Bauernwirt tat fi) und feinen Bäften genug, wenn er bäuriich
ſprach und handelte und bäurifche Nahrung bot. Die ftäbtiichen
Anſprüche ließen ihn lange unberührt. Buerft hat er e8 ver-
ftanden, ſtädtiſche Preife zu fordern. Dann ließ er fih aber
auch zu höhern Leiftungen herbei, wobei daß weibliche Element
das treibende geweſen zu fein fcheint, denn fie zeigten ſich zuerft
in der Küche und am Belt.
Es fehlt zwar noch viel im Einzelnen, aber im Ganzen ift
doch der Stillftand überwunden und die Notwendigleit des Forts
ſchritts anerkannt. Eine ganz neue Erſcheinung ift dabei ber
gewaltig wachſende Einfluß der Großftäbtee Münchens Einfluß
äußert ſich in ganz Bayern von einem Ende bis zum andern
fo ftart, daß damit nur die Wirkung von Paris auf ganz Frank⸗
reich verglichen werben kann. Am früheften ift Münchner Bier
in Wettbewerb mit den Erzeugniffen ländliher Brauereien ge
treten, die aber in den meiften Teilen Ober und Niederbayern
mindeftend zur leichberechtigung der ländlichen geführt bat.
Die „Münchner Neueſten Nachrichten“ Liegen fait in jedem
Das deutfche Dorfwirtshaus 315
Dorfwirtöhaus aus, wenigftens in den Sommermonaten. München
tft aber auch der Lieferant von Weinen und Speilen, Möbeln
und Zimmerjhmud, und der wachſende Verkehr in Südbayern
und Rordtirol hat in Münden eine große Fremdeninduftrie her⸗
borgerufen. Der erleichterte Eifenbahnverfehr ermöglicht den
Wirten und Wirtinnen den Markt der nädhitgelegnen größern
Stadt zu beſuchen. Wer würde das früher für möglich gehalten
haben, daß feinjchmederiihen Gaſten zulieb eine Wirtin drei
Stunden auf der Eifenbahn fährt, um perjönlich die Fafanen zu
faufen, die am Drte nicht zu haben find? So ift Braunſchweig
für den Harz, Görlitz für das Niefen- und das Sfergebirge Markt
geworden, und die Forellen, die man dort ißt, find oft gerade
fo gut Fremdlinge wie der, der durd ihre Verſpeiſung jein
Naturgefühl noch etwas gebirgßhafter zu fteigern trachtet. Der
Sommerverlehr vermehrt jo plögli die Nachfrage nad) Nah⸗
rungsmitteln, daß ohne den Schnellverfehr jo manches Gebirgs-
dorf und noch eher mandyes Seebad von Hungersnot heimgeſucht
werben würde. Daß das ländliche Wirtshaus ländlichen Überfluf
bietet, fommt nur noch in den von Fremden am wenigften be-
ſuchten Gegenden vor; oder der einfame Winterreifende erfährt
diefen Segen, wenn ihn fein Stern zur Metzelſuppe daherführt.
Wir Haben ſchon gejehen, wie leicht fih die Wirtöhäufer im
Schwarzwald und an der Hardt in die neuen Verkehrsverhält⸗
niſſe gefunden haben, weil ihnen ſchon früher ihre glüdliche Lage
ein koſsmopolitiſches, fordernde8 und zablendes Publikum zuge-
führt Hatte. Merkwürdig, daß dabei die Preife noch über das
ſchweizeriſche Niveau geitiegen find, ſodaß der Freiburger und der
Offenburger feine Rechnung dabei findet, zu derjelben Beit eine
Schweizerreiſe zu madjen, wo die Norddeutichen, Srankfurter und
Engländer den Schwarzwald überſchwemmen.
Der Prozeß ift dort viel einfacher verlaufen, mo die neue
Entwidlung überhaupt an nichts Vorhandnes anknüpfen konnte,
fondern auf friſchem Boden aufzubauen hatte. Im Hintergrund
der Ulpentäler traten an die Stelle der Heulager in Alphütten
zuerit einfache Schnuhäufer mit Pritfchenlagern, die dann bei
zunehmendem Beſuch immer beſſer ausgeftattet und endlich zu
wahren Gafthäufern wurden, die auß dem Befi einer Alpen-
vereingjeltion in den eines Wirtes übergingen, der num jährlich
Taufende ein⸗ und ausgehn fieht. So find daB Wendelftein-
Haus, das Herzogenſtandhaus und andre in den bayrifchen Alpen
zu viel befuchten Höhengafthäufern geworden, und bald wird es
316 Das dentfche Dorfwirtshans
vom Pfänder bis zum Triglav im weiten Bereich der dentſchen
und der öfterreichiichen Alpen feinen bejuchtern Gipfel mehr geben,
der nicht in irgendeinem Zalhintergrund oder an feinem Joch⸗
fattel feine „bewirtichaftete” Hütte hätte. Dazu kommen zahllofe
Alpbütten, in denen im Sommer Wein oder Bier verzapft und
das alturfprüngliche Heulager dur) Wolldeden höhern Anſprüchen
angepaßt wird. Dabei treten die merfwürdigften Übergangs-
erjcheinungen hervor. Zum Beifpiel reiht das Geld nur für
die Bettladen, und diefe werden nun mit Heu auögefüllt, um
in einem fünftigen Jahr, wenn das Geichäft gut geht, Ländliche
Betten aufzunehmen. In den deutichen Mittelgebirgen zeigen
Harz, Thüringer Wald, Sächſiſche Schweiz und Niejengebirge
eine Menge nagelneuer Wirtöhäujer, die entweder mit großen
Mitteln groß, proßig und teuer Hingeftellt find, oder als Unter-
nehmungen einzelner Kleiner Leute zunächit nur beicheidnen An⸗
ſprüchen entgegenfommen wollen, leider aber gezwungen find, uns
verhältnismäßig dufe reile zu machen. Auch in den Vogeſen
hat der ſeit dem rgang an Deutichland gefteigerte Verkehr
neue Häufer ind Leben gerufen. Altdeuticher Wirt und elfälftiche
Wirtin geben zujammen einen guten lang, wenn nicht zufällig
der Wirt ein fißengebliebner Juriſt ift, dems „der Wirtin Töchter-
lein“ angetan bat. Ein folder Mann paßt nicht Hinter Die
heilen, harten, unpolierten Wirtstiſche aus Apfel- und Birnbaum-
holz, die im Elſaß üblich find. Sch Habe tief im Wasgenwald
einen Oeftrandeten diefer Art getroffen, der troß ängſtlichem
Bemühen den welichen Wirt nicht fertig brachte, nach deſſen
Mufter er mit der Serviette unter dem Arm jervierte; feine Frau,
die im Wirtshaus aufgewachſen war, leitete mit natürlider Sach⸗
kenutnis das Ganze. Ein intereffanter Fall von Vererbung!
Bon Frankreich herüber reicht ein ganz andres Syitem der
Wirtſchaftsführung in den von Fremden häufiger bejuchten GBaft-
häufern als das in Deutichland übliche. Der Wirt leitet Küche
und Keller, kocht, wenn es nötig ift, felbit, während die Frau
die Fremden empfängt und bedient, womöglich von Töchtern oder
weiblihen Verwandten unteritüßt. In Lothringen findet man
manches Wirtshaus nach diefem „Plan,“ der ja auch den Erfolg
manches nicht ganz Heinen Gaſthauſes in der Schweiz fchafit.
Im Elſaß nimmt der Wirt nad) deuticher Art die Stellung des
Hausherrn ein. Wäre nicht die in manchen eljäffiichen Dörfern,
jelbft im Weinland, hervortretende größere Nüchternheit der Be⸗
völferung, die das Wirtshaus an Werktagen meidet, jo würde
Das deutfche Dorfwirtshaus 317
fih die Übereinftimmung mit den rechtörheinifchen Alemannen
auch auf diefe Sphäre erftreden. Es ift aber feine Frage, daR
das Elſaß in feinen Gebirgswirtshäufern gerade jo wie in andern
Dingen hinter dem Schwarzwald zurüdgeblieben ift. Unliebjam
veripürt der Wandrer an abgelegnen Orten den Mangel ale
mannifcher Neinlichleit und Emfigleit. Der Eljäfjer wirft dem
Altdeutichen, der jein heimatliches Wirtshaus lobt, Vergnügungs-
ſucht und Wirtshaushoderei vor, während der Badenfer meint,
da die Elfäfler Weine bei weitem nicht jo füffig jeien wie der
Martgräfler, ſei e8 eine Kunſt, weniger lang bei einem elfäffifchen
Shoppen fiten zu bleiben. Ein Gang durch elſäſfiſche und
lothringiſche Städte und Städtchen läßt feinen Zweifel daran
auflommen, daß die Altdeutichen redlich beftrebt find, auch in
diefer Beziehung Unebenheiten auszugleichen. Mit dem deutichen
Bier ift eine Menge badifcher und bayriſcher Brauer und Wirte
eingewandert, und die bayriichen Keller- und Gartenwirtichaften
haben dazu beigetragen, die eljaß = lothringifchen Städtebilder
umzugeftalten. In andrer Weife bezeugt jo mandjes alte Haus
in Lothringen, das in die Hand eined deutſchen Wirte oder
Wirtsdilettanten übergegangen ift, die Anderung der Verhältniffe.
Wenn e8 nad alter Sitte in einer ruhigen Seitenftraße und
womöglich Hinter einem umgitterten Hofe liegt, ein Bild der
Ruhe und Neipeltabilität, und es tönt der Lärm einer GSelt-
Tneiperei deutſcher Dffiziere heraus, iſt der Kontraſt fehr ftark.
So wie aus Deutichland 1870 ſchiffbrüchige Eriftenzen jedes
Standes nad) dem Reichsland getrieben find, hat natürlich auch
das Wirtsgewerbe dort anziehend auf ſolche gewirkt, die in Alt⸗
deutichland nicht mehr viel zu hoffen hatten. Es gibt Städte,
wo alle Wirtshäufer feit 1870 die Beſitzer gewechjelt haben.
An den Südvogejen traf ich vor einem neuen Zouriftenmwirts-
Baus fünf fchöne junge Tannen ohne Wurzeln eingepflanzt. Der
Wirt meinte, zwei Jahre fähen fie ganz gut aus, und dann
könne man fie durch lebende Bäume erfegen, wenn ſich das Ge⸗
ſchäft erft einmal überfehen laffe, das doch zweifelhaft fei, folange
das Touriſtenweſen von den Einheimifchen ſcheel angelehen werde.
Wie mande Gründung auf diefem Gebiete wäre diefen murzel-
loſen Tannen zu vergleichen, die man einmal verſuchsweiſe für
ein paar Jahre hinſetzt!
Wo der Yremdenandrang Jahr für Jahr jo unaufhaltfam
wächſt, wie an der Oſtſee und der Nordfee, da wird bald jede Hütte
zum Gafthaus, allerdings unter befchräntenden Vorausſetzungen,
318 Das dentſche Dorfwirtshaus
wie fie einer meiner Freunde auf H. erlebte, wo ber Wirt hart»
nädig nur Sunggejellen in feine Yremdenzimmer, das beißt in
die neuen Bretterverfchläge ſeines alten Speicher aufnahm, weil
jeine Mittel noch nicht erlaubten, biß zu dem Grade von Komfort
fortzujchreiten, den weibliche Wejen angeblich fogar in einem
Heinen Dftfeeftranddorfe verlangen.
Eine bejondre Klafje von neuen Wirtshäufern wollen wir
nicht vergefien, die fi) zu den Eifenbahnen ungefähr fo verhalten
wie die alten Poftgafthäufer zu den Poftftraßen: die Bahnhof⸗
gafthäufer. Dieſe Gafthäufer gegenüber dem Bahnhof find die
eigentlihen Durchgangshäuſer. Es wäre viel befier, wenn ein
ſolches Haus den Titel trüge „PBaflantenhaus.“ Es ift immer
lärmend und natürli in großen verlehröreichen Städten vor
allem zu meiden, wo jeder Nachtzug neue Gäfte bringt. Auf dem
Zande ift e8 das GStelldichein der Eijenbahnbebienfteten, im Ge⸗
birge der Yührer, die bier die Touriften in Empfang nehmen.
Es ift immer neu und trägt leider oft ſchon heute in Spuren
frühen Berfalled die Merkmale eines übereilten Baues. Ent⸗
ſprechend ift Die gan; moderne, aber meift billige und fchlechte
innere Einrichtung.
In diefem Wandel der Zeiten hat natürlich auch daB Innere
der Wirtöhäufer entiprechende Veränderungen erfahren. Die
alten erneuern fi, und die neuen richten fi) von vornherein
modilh ein. Diefe Ummandlung auf ihren verfchiednen Stufen
zu beobachten, ift für den nachdenklichen Wandersmann ſehr an-
ziehbend. Die alten Wirtöhäufer bieten ihm immer Begchtens⸗
wertes, und Die neuen find zwar minder erfreulich, aber in ihrer
Weiſe auch lehrreih. Die alten waren auf dem Dorf vergrößerte
und bereidherte Bauernbäufer, in der Stabt Bürgerhäufer und
in den Marltfleden und Boftftationen ein interefiantes Mittel-
ding. Wer Hat nicht den urfprünglichften Komfort der hölzernen
Dfenbant mit Wonne empfunden, wenn er an einem fühlen
Herbftabend einkehrte und der Tiſch mit einem bampfenben
Gericht zwilchen ihn und den wärmenden Kachelofen gerüdt
wurde? Un pafiender Stelle fand er neben fidh ben im Fuß⸗
boden befeftigten Stiefelzieher und den mit einer fette an bie
Dfenbant gehängten eijernen Schuhlöffel. Wer mun gar das
Glück Hatte, zur Winterdzeit in dem Teil der Alpen zu wandern,
wo, ungefähr zwiſchen der Furka und dem Sulier, der grünliche
Tonftein von Chiavenna die Dfenlacheln erſetzt, der konnte das
Behagen kennen lernen, mit dem man auf bem niebern breit
Das deutſche Dorfwirtshans 319
aus Steinplatten aufgebauten Dfen feinen derben Veltliner zu
ſchlürfen pflegt, denn in den dortigen alten Bergwirtöhäufern
ift die Oberfläche des Ofens als erhöhter Ehrenplag mit einem
niedrigen Tiſch und Schemel außgeitattet. Was Tann die Moder⸗
nifierung an die Stelle dieſes Behagens jeßen, das man elementar
nennen möchte, und deſſen Beitandteile man eine Tages eifrig
für die Vollsmufeen der Bulunft fuchen wird?
Auch wenn die Mittel viel größer und der moderne Mafjen-
geichmad viel weniger ſchlecht wären, würden diefe guten alten
Dinge nicht zu erſetzen fein. Der Fall ift jehr lehrreich für unſer
Kunſtgewerbe. Welche kurzfichtigen Enthufiaften, die einem modiſchen
Stil zulieb alles umgeftalten möchten, ohne zu bebenten, daß das
gute Alte aus einem Boden herausgewachſen ift, den fie mit
aller Begeifterung nicht nachſchaffen können! Hier haben bie
Generationen, wie fie aufeinander folgten, für diefelben Bedürf⸗
nifje mit nur langfam fi) wandelndem Gejchmad geforgt, indem
fie nad) Maßgabe ihrer Mittel ſtückweiſe anjchafften und nad)-
ſchafften; fie wählten das Bwedmäßige und Gediegne, denn fie
dienten nidht der Mode. Die beiten Sachen entitanden auf
Höhepunften des bäuerlichen Dafeins: zur Ausftattung der Braut,
als Zaufe oder Firmgeſchenke. Der Umkreis des Bedarfs war
nicht groß, und wenn er durchſchritten war, brachte die neue
alte Gelegenheit, das alte neue Geichent. So ſammelten ſich die
mejfingnen Leuchter zum Dubend, das blankgeputzt den friefiichen
Kaminſims ſchmückt — ich war fehr erftaunt, denjelben Schmud
in den Hütten der Filcher von Cette und Ugde zu finden —,
und fo erhielten die geichliffnen Weinflafchen ihre zahlreiche
Nachfolge, die man im Glasichrant einer oberrheiniſchen Wirts
Ichaft bewundert. Der „Glasträger“ bat Jahr für Jahr eine
neue aus der böhmijchen Waldhütte in den Odenwald getragen.
Und ununterbrochen ging die Beichaffung neuer Leinwand am
Spinnrad fort, dad in der langen Winterzeit faft ohne Unter-
laß ſchnurrte.
Heute dedt man dir auf gemeinem fichtnen Tiſch, deſſen
Platte nicht wie die in Abgang geratnen birnen= oder apfelholznen
gebohnt wird, deshalb verbedt werden muß, ein jchnödes Tuch,
das einer Jutefabrik entftammt, darüber ein braunes Wachstuch,
und ftellt darauf eine unnötige Menge von Taſſen, Untertafjen,
Zellern, Zuderfchälden, Kannen und Kännchen aus grüngerän-
dertem Porzellan mit dem Monogramm de Herrn Hinterhuber
ober der Frau Obermayer. Es darf nicht an flaubigen Palmen,
3% Das deutfcdhe Dorfwirtshaus
fogar blechernen, auf der langen Wirtötafel fehlen, die für die
Herrſchaften beftimmt ift. Für Blumenfträuße reicht die Zeit nicht
mebr, audy geht die Blumenzucht in den Dorfgärten zurüd, wo die
genügfamen, dankbaren Bauernblumen, wie Buſchnellen, Hahnen⸗
famm, BZinnien, Stundenblumen, Rosmarin, nicht mehr die alte
Liebe finden. In dem Schlafzimmer ſetzt und in Staunen jeneß
untrüglichfte Merkmal der Reform: der Eimer aus Steingut, in
einfadhern Verbältnifien aus blauemailliertem Eijen, neben dem
Waſchtiſch. Mit ihm ericheinen glüdlicherweile fait regelmäßig
die umfänglidern Waſchſchüſſeln, die unzweifelhaft die befte von
allen Neuerungen im deutſchen Wirtshauszimmer find. Wenn
aber daneben noch jenes ſinnreichſte und ftilvollfte Möbel ber
Biedermeierkultur erhalten tft, der auf ſchraubenförmig gewundnem
Buße, wie eine Lotoßblume, fi) dir entgegenhebende Spuds
napf, der feine Sägeipäne unter gedrehtem Dedel ſcheu ver-
hüllt und fi immer an Stellen berumtreibt, wo er Gefahr
läuft, umgeftoßen zu werden, dann ftehn zwei Zeitalter beutfcher
Kultur vor dir. Verachte dieſen opferichalenähnlichen Spudnapf
nicht, er fteht nicht fo allein, wie e8 den Anſchein bat. Nicht
nur das Sofa aus den vierziger oder fünfziger Sahren mit
möglichft viel Holz und möglichit wenig Polſter, nidht nur das
Bildnis irgendeined Yürften oder einer Prinzeffin, Beute Ur⸗
greife oder längft zu den Ahnen verjanmelt, in faſt märchen⸗
bafter Jugendlichkeit, die fo ftraßlend auch vor fünfzig Jahren
kaum gemwejen fein können, nicht nur der grapbitglängende Dfen,
der ein bufeifenförmiges Rohrpaar zur Dede jtredt,
über die raſche Vergänglichleit feiner ſchwer erzeugten Wärme:
viel mehr gehört zu ihm, ift ihm alter8= und Eulturberwandt.
Dft ift es der ganze Geift des Haufes, der nur ein paar neue
Formen angenommen bat, die mechaniſch angeeignet und ange⸗
lernt find.
Aus diefem Widerfpruch gehn recht unfreundbliche Eigen-
ſchaften des modernifierten ländlichen Wirtshauſes hervor. Der
alte Buftand, der beifeite gefegt werden joll, war das Erzeugnis
einer langen nngeftörten Entwidlung, in der er die organiichen
Eigenſchaften des langſamen Herangewachſenſeins erwarb. Das
alte ländliche Wirtshaus war, ob gut oder jchlecht, aus einem
Sub. Indem nun unlundige Hände Änderungen vornehmen,
begegnen ung endlojfe Widerſprüche. Der neue Wirt Ichafft mit
gewaltigem Aufwand ein moderned Eßgeſchirr an, aber feine
Frau gehört zu der in Deutichland fchredlich raſch zunehmenden
Das deutfche Dorfwirtshaus 991.
Maſſe von Frauen, die nicht mehr Tochen können; deshalb ein
ungenießbares Eſſen auf fein gemaltem Steingut. Und jo
weiter durch geichliffne Gläſer mit fchlechtem Wein biß zum
Schlafzimmer im modernſten Renaiſſanceſtil mit unmöglichen
" Betten.
Die deutiche Renaifjance hat ihre tollften Sprünge in den
neu eingerichteten Wirtöhauszimmern gemacht, Die in den zwei
Yetten Jahrzehnten von angeblich wertlofem ®erümpel gereinigt
und dafür mit ftilvollen Möbeln ausgeftattet worden find. Wo
Preiserhöhungen für ein Zimmer von achtzehn Kreuzern ſüdd.
auf drei Mark eingetreten find, wie in jo vielen Wirtshäuſern
der füddeutfchen Sommerfriichen und Yremdenftädte, Tonnte es
dem Wirt nicht darauf anfommen, ob er ein paar hundert Mark
mehr für feine neuen Sofas und Sefjel anlegte, wenn nur der
Eindrud de Lururiöfen erreicht wurde, der die ſprungweis vor-
genommenen Preißfteigerungen rechtfertigte. Die deutiche Renaiſ⸗
fance zeigt natürlich gerade hier ihre ſchwachen Seiten ganz
unverhüllt, wo der praftifche Bwed der einfach bequemen Ein-
richtung fo nahe und eben deshalb ganz außer dem Geſichtskreis
des von den neuen Ideen erfüllten Kunjtfchreiner8 und Tape⸗
ziererd liegt. Die fünfziger und die fechziger Jahre Hatten die
deutſche Bimmereinrihtung auf ihren niederften Stand herunter-
gebracht, wo Bequemheit und Schönheit gleich vernadjläffigt
worden waren, Billigfeit und Schablone ſich mit der vollendeten
Unfähigkeit der Handwerker verbanden, das praftiich und äſthetiſch
Unbrauchbarſte zu fchaffen, maß e8 um 1870 auf dem weiten
Erdenrund an Haudeinrihtung gab. Und dann der plößliche
Auffhwung zum Stiloollen! Statt jedes einzelne Möbel be⸗
quemer und fefter zu machen, wurden die unpraktiſchen, unfoliden
Konftruftionen mit Schnörteln umgeben, wie fie der Stil vor-
ſchrieb. Statt das zum Liegen und Siben gleich unbequeme
Sofa, an deſſen geichweiften harthölzernen Nüden und Lehnen
man fi) unfehlbar anjtieß, wenn man den kühnen Gedanken zu
verwirklichen juchte, fi) auf ihm augzuftreden, mit einem wahren
Diwan zu vertaufchen, wurde das hochrüdige Brunffofa eingeführt,
auf defien Gefims zweckloſe Krüge und Vaſen verbächtig klappern,
wenn fi der Nuhebedürftige auf ihm ummendet. Oder, um
den „Fortſchritt“ an einem andern Heinern Beiſpiel zu zeigen:
den guten alten Leuchter mit feitem Handgriff und tiefer Röhre,
in die das Licht feft Hineingeftellt und burch eine bewegliche
Hülfe nachgefchoben werden konnte, bat der filberpfattierte ver⸗
Rayel, Slädsinfeln und Träume 21
322 Das dentiche Dorfwirtshaus
drängt, der eine ſchlanke, faft windig zu nennende Form, keinen
Griff und nur ein jeichtes Grübchen für ein dünnes Licht Hat.
Bon Schieben fein Gedanke; daB Licht leuchtet hoch von oben
herunter, wenn e8 neu ift, droht bei jeber Beivegung berunter-
zufallen und fintt in fein Grübchen ein, wenn e3 niebergebraunt
ift. Diefen Leuchter darf man auch nicht oft blankputzen, weil
fonft das Kupfer durchſchimmert. Im glaßreichen Böhmen und
in Schlefien gibt es folche Leuchter aus dem filberbelegten Glas
der Weihnachtskugeln! Die haben doch wenigftens noch etwas
Rührendes, Naives. Wenn ich aber dieje glänzenden Belege
des Verlommend des einfachiten praktiſchen Sinne und des
elementaren Geſchmacks ſehe, denke ich mit Sehnſucht am die
ſchwarze Eifenflammer in der Mauer neben dem Herb, in bie
einft der büfterflammende Kienfpan eingejchraubt wurde. Und
viel ſchöner vor als die verjchnörfeltfte Dedtenmalerei, die rote,
—— — lebendige Flamme poetiſcher als der langweilig⸗hellſte
In den induftriellen Zeilen bon Deutfchland find die befiern
unter ben neuen Gafthäufern oft wahre Gewerbeaußftellungen.
Das bringen die gejchäftlichen Beziehungen mit fi), daß der
Wirt Mbnehmer der neueften Erzeuguifie des Umkreiſes Ieineß
Stadichens it. Was für Privatleute Überfiuß wäre, das kann
feinem Haufe Nugen bringen. Ich babe in Gaſthäuſern Fleiner
Städte der Laufitz —** Teppiche, ſchleſiſches Steingut und
Dresdner elektriſche Lampen, dazu Seiden⸗ und Federblumen
auf jedem Tiſch und Schrank, geſchliffne Glaſer, japaniſche Brettchen
mit echt abendländiſchen Muſtern, vogtlaändiſche Vorhänge ge-
. ber leider bat dieſe vera ihre Lücken, die übrigens
lehrreih find. Die Tapeten der Wände find foft immer ge
ſchmadlos. Schwere Farben und große Mufter, fogenannte Ohr⸗
feigenmufter, wiegen vor. Bon Sarmonie zwiſchen den Wänden
und der Dede tft feine Rede. Die Hauptiadhe ift aber, daß all
da8 bunt zufammengewürfelte nicht zufammenpaßt. In Nieder⸗
deutfchland, wo, wie in Belgien und Frankreich und auch in
unferm Reichsland, in den vierziger und fünfziger Jahren bie
Mahagonimöbel ſehr verbreitet waren, machen die einfachen,
praltiichen, geräumigen Formen noch heute einen harmoniſchen
Eindrud., i Kunftgeiverbe
und Vollskunſt. Auf welche Abwege dad Streben nad) einer
—— run u — nn
Das deutfche Dorfwirtshaus 323
äußerlichen Ausſchmückung der Gebrauchögegenftände ohne Rück⸗
fiht auf den Zweck und ohne Verbeflerung des Materials führt,
kann man nirgends befler als gerade in den Zimmern einfacher
Wirtshäufer beobachten. In größern Städten find einige neue
Gafthäufer mit gediegnem Geſchmack eingerichtet worden, wie man
ihn vor dreißig Jahren nicht kannte. In die Fleinern Städte und auf
das Dorf ergießt fich der verlogne Schund eines „billigen Luxus,“
ber unglaublich teuer, weil unzwedmäßig und undauerhaft ift.
Wie wenig von dem Aufſchwung der beutichen Kunft dem
Bolle zugute gekommen ift, zeigt auch der Bilderſchmuck der Wirts⸗
häufer dieſes Volls. Hier hat der Olfarbendrud verwüftend ge-
wirkt. Hätten wir doch noch die alten Stahlftiche oder Litho-
graphien, die den nun längft bläulich oder grünlich bereiften
Stümpereien in Olfarbe haben weichen müffen. Die großen Er-
eigniffe unfrer neuern Geſchichte haben nichts daran gebeflert. Ver⸗
gleiche ich Die Schlacdhtenbilder von 1864, 1866, 1870/71 — wahr
lich, e8 Hat unſern Künftlern nicht an Material gefehlt! —, die
ihren Weg bis in die Gaftzimmer deutjcher Wirtöhäufer gefunden
haben, jo bin ich immer wieder erftaunt, wie wenig es ift, und wie
Ichlecht und unzwedmäßig da8 wenige genannt werden muß. Lahm
aufgefaßt, ſchlecht gezeichnet, enblich noch ſchlecht gebrudt, das gilt
von nahezu allen. Wie waren da die alten Bilder: Napoleon
bei Aufterlig, Napoleon bei Wagram und dergleichen in Stahl-
ftihen und Lithographien padend. In einem lothringifchen Gaft-
haus fand ich den feinerzeit auch in Deutichland verbreiteten Holz-
ſchnitt nad) Yoond 1859 preisgefröntem Bilde „Die Erſtürmung
des Malakoff.“ Niemand kann das Bild ohne Interefje betrachten.
Der Holzichnitt fieht wie eine Doppeljeitige Beilage zur Illustration
aus, kann aljo nicht teuer geweien fein. Ein jo interefjanteg,
babei echt volkstũmliches weil ganz verſtändliches Schlachtenbild
aus unjern großen Jahren habe ich nie in einem deutſchen Gaſt⸗
zimmer gejehen. Was Wunder, daß ſich und ein Vorſaal oder Gaft-
zimmer eines Wirtöhaufes tief einprägt, wo wir alte Ölgemälde
hängen ſehen, und jeien fie auch bis zur Unfenntlichleit dunkel ge⸗
worden. Zum Glüd find noch nicht alle zum Trödler gewandert.
Das deutſche Bett wird einft auch jeinen Geichichtichreiber
finden. Ich gebe bier nur Eleine Beiträge zu einer Seite jeiner
Geſchichte. Wenn man das Bett ald eines der bea
Geräte des Menichen deshalb bezeichnet Hat, weil er faft bie
Hälfte aller Stumden feines Lebend darin zubringt, fo erheiſcht
das Wirtshausbett eine doppelt jorgfältige Betrachtung, denn es
21*
324 Das 'deutfche Dorfwirtshaus
beherbergt feine Gaͤſte noch viel länger als das Häusliche oder
Familienbett. Das Wirtshausbett ift in Deutichland vom. Bett
bes Privathauſes vor allem darin verihieben, daß es ein Einzel⸗
bett iſt. Während man in Frankreich und in England in ſtadtiſchen
und ländlichen Gafthäufern noch häufig die Doppelbetten trifft,
die bequem von einem Paar benugt werden Fönnen, u an
Schläferpaare, nicht bloß Ehepaare, zur Not aud) an drei Schläfer
vermietet werden, wiegt in Deutfchland überall das Einzelbett
vor. Es entipridht das ganz der Entwicklung des deutſchen Bettes
überhaupt. Das alte Himmelbett iſt in vielen Teilen Deutſchlands
—— im achtzehnten Jahrhundert in die Aumpellanımer gewandert,
die Familie in England und in Frankreich daran feftbielt.
Im ehelihen Schlafgemach ift es dann durch zwei aneinander-
gerüdte Betten erjegt worden. Auch zu den Bauern bat fi
diefe Mode verbreitet. Sie berühren Er aber auch darin mit
der Geburtsariftofratie, Daß bei beiden an der alten Sitte bes
geräumigen Bettes am zäheſten feitgehalten worden if. Das
find die beiden Stände, bei denen nicht leicht Raummangel ein-
trat, und die auch am fefteiten auf ihrem Boden ſitzen geblieben
find. In dem ſeit dem Nebgehnien S Sahrhundert immer mehr
verarmenden Kleinbürgertum und unfteten Beamten- und
Dffizierdfamilien muß man Dagegen en Trug des Schalen,
meift auch kurzen — 7 Bettes augen, da3 der Rajernen-
pritfhe am nächften verwandt if. Dad Minimum hat es in
Mitteldeutſchland erreicht, wo Ehningen, Tele bon Hefien, Sachſen
und Schlefien fowohl in den Dimenfionen al in der Ausftattung
des Bettes das Unmöglihe an Unbequemlichkeit leiften. Bann
ſchon on eine Schütte Stroh!
Als daB beutiche Bett von feiner üppigen Fülle verlor und
abzumagern begaun, konnte es ſich doch nicht entichließen, auf
feine hohen Dimenfionen ohne weiteres zu verzichten. Was es
an Yedern verlor, gewann e8 an Holz zurüd, indem es fich num
auf die vier Füße ftellte, auf denen es fich bis auf den heutigen
Tag feit erhalten Hat, tropdem daß niemand zu fagen weiß,
weichen Bert diefe Vierfüßigkeit eigentlich haben fol. Die Un-
zäbligen, die aus hohen Betten beraußgefallen find, die vielen,
die die Schwierigfeit erprobt haben, felbft mit Hilfe eines Bett-
ſchemels oder Hockers die Spike des Bettturmes zu befleigen,
die zahllofen Furchtſamen, die jede Nacht unter da8 Bett leuchten
um den Miſſetät er zu entbedien, der ſich dort verborgen hält,
warınm baben fie ih nicht zufammengetan und einen Bund gegen
Das deutfche Dorfwirtshans 925
bie hohen Bettbeine und überhaupt gegen die Vierfüßigkeit des
ganzen Weſens gemacht? Die Furcht und die Bequemlichkeit ver-
mögen doch fonft foviel in deutichen Landen, warım denn nicht
bier? Ya, wenn nicht die Bequemlichkeit, fich ind Unbequeme zu
fügen, fo verführeriich wäre!
Erft nad) fremden Muftern bat man ganz langfam die
Bettbeine niedriger gemacht, aber manchmal doch nur fo weit,
daß die VBefteigung noch immer eine beträchtliche Leiftung, einen
Aufſchwung verlangt, defien nicht jeder fähig tft. Obgleich Die
deutſche Sprache den Müden fagen läßt: „Ich bin fo müd,
daß ich ing Wett Hineinfallen möchte,“ jo bat der Deutiche doch
nicht aus der eignen Erkenntnis der Untauglicjleit des hoch⸗
beinigen Bette heraus ein Bett geichaffen, das diefen Wunſch
des Müben erfüllte, fondern in Nachahmung der engliichen und
franzöfifchen Vorgänger. Aber leider in Heinlicher, ftümperbafter
Weile, die wieder das wejentliche überjah, daß das Belt zum
Nuhen in geftredter Lage beftimmt if. Das Bett ift mın auf
fürzere Beine gejtellt, hat aber in feinen Weichteilen noch einen
Neft der alten Auftürmung in der dreifachen Fiffenlage und
dem überflüffigen, wenn nicht jchädlichen Unterbett bewahrt. Es
ift jehr merkwürdig, wie das bejonderd im Sommer unerträgs
liche. und ungelunde Federdedbett in ganz Weftbeutichland, der
Schweiz, Bayern und felbft Böhmen durch die wollne oder ge-
fteppte Decke mit. einem leichten Federkiſſen (Plumeau) ſchon jeit
Jahrzehnten verdrängt ift, während man ihm in Thüringen, im
Harz, in Sachſen, in der Mark und Schlefien noch in anſpruchs⸗
vollen Gafthäufern, fogar in großftäbtiichen begegnen kann. Die
angenfällige Verbeflerung wird an manchen Stellen mehr ala ein
Sabrhundert nötig haben, fi vom Rhein und von der Donau
bis zur Oder fortzupflanzen. Den für den müden ®andrer ver-
bängnißbollen zeitiweiligen Sieg des Seegrafes über das Roßhaar
und die gewiß nur kurzlebige Verdrängung beider durch die heim-
tüdiichen Sprungfedermatraßen zu ſchildern, muß id) Dem Hiſtoriker
des bdeutichen Bettes überlaflen, der hoffentlich feine Aufgabe in
Angriff nimmt, ehe es zu jpät ift.
4
Der Bergivandrer, der bei fintender Nacht noch das och
überjchritt, fteigt auf kaum kenntlichem Pfad, über den fich ge=
fegentlih) eine morſche WWettertanne gelegt Hat, ins Tal Binab.
996 Das deutfche Dorfwirtshaus
Durch das Gebüſch der Legföhren, aus dem nur einzelne ſchlanke
Ebereſchenbaumchen und ſchwanle Gerten der Bivergweide heraus⸗
ragen, glänzt ihm ein rötlicher Schimmer herauf, der erft Hein
wie ein Stern ift, dann breiter, voller leuchtet, endlich die züngelnde
Flamme zeigt, vor der ſich unfenntliche Geftalten hin und ber
bewegen. Es ift das SHerdfeuer einer für einige Wochen ala
Sommerwirt3haus dienenden Alphütte. Welch tröftlicher Anblid
empfängt nun den Müden, wenn er vor der breiten Tür des einfachen
Blodhaufes feinen Ruckſack abhängt, um ihn neben dem Bergſtock
auf der Bank neben der Tür abzulegen, wo Reiben hölzerner Weid⸗
linge (Milchſchalen) zum Trodnen ftehn. Über bem Herdfener hat
die Stelle des gewaltigen Kefield, worin die Mil für den KAſe
zum Gerinnen gebracht wird, eine flache eiferne Pfanne ein=-
genommen, in der ein Schmarren „broßelt,* dem, indem er ſich zu
bräunen beginnt, ein herrlicher Geruch entqualmt. Eine kundige
Hand bewegt dieſes Mittelding von fteifem Brei und Backwerk mit
einem eijernen Schäufeldden, hebt ed immer wieder vom Boden
der Pfanne ab und zerichneidet es in Kleinere Stüde. Dem Duft
merkt man an, wie jüß die Milch war, die bier mit dem Mehl
gemifcht wurde, und wie rein die Butter, in der der Teig brät.
Die Pfanne wird jeht vom Herd gehoben, einer von den Hirten,
der den Wirt fpielt, teilt die Blechlöffel aus, und die Gejellichaft
greift mit Wohlgefallen zu, ohne indeffen die Mäßigung zu ver-
geſſen, die beim Efien aus gemeinfamer Schüfjel geboten ift.
So alt wie dad gemeinfame Mahl ber im Kreife um die Speile
gelagerten, fo alt ift auch die Duelle des Anſtandes in der Zurüd-
haltung der Hungrigen, von denen jeber glei den halben
Schmarren auffreflen möchte, aber geduldig wartet, bis ſein
Nachbar „hHineingelangt“ Hat. Der moderne Table d'hote⸗Menſch,
der feinem Nachbar den lebten Biſſen wegißt, kann von diejen
einfachen Leuten lernen.
Das Mahl ift beendet, man Löfcht nun den Durft aus einer
Bütte frifchen Waſſers, das eben von einer nahen Duelle geholt
worden ift, gießt fi) Wafjer über die Hände, die man mit wergnem
Handtuch abtrodnet. Vielleicht wandert noch eine Flaſche Enzian
aus dem Dunkel des Wandichräntchens dort in der Ede unter
dem Seiligenbild hervor und würzt zujammen mit dem unbers
meiblichen Tabak die Unterhaltung ber Hirten und ihres Gaftes,
die fich wieder um das Herdfeuer verjammelt haben. Es plaudert
ſich auch ohne das vortrefflich angefidhtö der Flammen, die wie
lebend auf und nieber fteigen, fid) ausbreiten und zurüdfinten.
Das dentfche Dorfwirtshaus 327
Es liegt ſoviel beruhigendes, in Träume wiegendes im Anſchauen
eineß Herdfeuers; ich würde e8 nervöſen, fchlafjuchenden Menjchen
empfehlen. Eine harzgefüllte Lüde zeriprengt mitunter ein dürres
Sichtenfcheit mit lautem Knall und ſchleudert wohl gar einen
Zeuerbrand vom Herde. Der Gaft, der vermutlich das luft⸗
arme Schlaflämmerdhen neben dem zugleich ala Käferei, Küche
und Gaftzimmer dienenden Raum verjchmäßt, fteigt eine Stunde
nad) Sonnenuntergang mit wohlverficherter Baterne einen ſchmalen
Hühnerfteig empor zum Heulager über dem Biegenftall, wo er
fi) zwiſchen zwei Wolldecken unbeſchreiblich bebaglich bettet.
Schön iſts dann, wenn bei der erften Dämmerung die Sterne
ohne Funkeln vom Himmel verſchwinden, und nicht eine Wolle
im regenverfündenden Morgenrot beraufzieht; es ift aber auch
nicht fo ganz unſchön, wenn nad einem warmen Wbend ein
Landregen „einhängt,“ der mit ftiller Notwendigkeit hernieder-
riejelt. Kennſt du vielleicht, lieber Leſer, auch eine Stimmung,
in der du dem grauen Regenſchleier dankſt, daß er fich zwiſchen
deiner Einfamleit und der Welt zuzieht? Jedenfalls tut e8 beim
einförmigen Ton der fallenden Tropfen gut, fi) noch etwas tiefer
ind Heu zurüdzuziehen und das Gefühl der Geborgenheit im
Trodnen und Warmen zu genießen.
So ungefähr denke ich mir auch dag urſprüngliche Wirts⸗
haus, das ähnlich bei Holzfällern im Walde und bei Fiſchern
am Seeftrand fein mochte. In erweiterter Form, aber im lern
dasſelbe war das nieberjähhfiiche Bauernhaus mit dem Herd im
Hintergrund der Tenne, über dem Ganzen der offne Dachftuhl
wie in einer byzantiniſchen Kirche. Wenn in Weftfalen ober im
Lüneburgiſchen ein Bauernhaus Säfte aufnahm, fo faßen fie ge⸗
rade fo um das Herdfeuer wie heute dort in der Alphütte; umb
ihre Schlafftelle war dann meiftend auch über dem Scafftall
neben dem uralten Langhaus.
Im heutigen Wirtshaus ift der Herd ftreng vom Gaſtzimmer
gejondert. Der Herd iſt eine Werfftätte geworben, die mit zahl-
reichen tunftreichen Geräten auögeftattet tft, womit eine entfprechend
mannigfaltige Menge von Speijen zubereitet wird. Eine jehr tief-
gehende Arbeitsteilung |pricht fich darin aus. Der Halb ftäbtifche
Charakter de3 in ganz Mittel- und Süddeutichland vorherrichenden
fränkischen Bauernhaufes mit feiner Abſonderung mehrerer Räume
zum Wohnen, Schlafen und Kochen, außerdem nicht jelten noch
eined PBrunf- und Borratzimmers kam diefer Arbeitsteilung ent⸗
gegen. Darum finden wir mertwürdigerweije dad Wirtshaus aud)
328 Das dentſche Dorfwirtshaus
in ſolchen Dörfern Niederdeutſchlands nad fränkiſchem Stil an=
gelegt, wo die Bauernhäuſer noch niederfächfiich find. In ber
Abtrennung bejondrer Räume kommt auch das alemanniſche und
da8 bayrifch-tirolerifche Bauernhaus der Ausicheidung von Küchen
und Wirtſchaftsräumen entgegen. Deshalb leuchtet und hier überall
nicht mehr der Herd vom Mittelpunlt des Hauſes ber mit Iener
die Kultur und die Gaftlichleit fymbolifierenden Flamme. Beim
Eintritt in das Haus haben wir in der Regel gleich links von
der Hausflur dad Wirtözimmer, defien in der rechten Ede fidh
mächtig erhebenber Kachelofen mit feinen bebaglichen Bänken bie
Stelle des Herdes als Sammelplat der Haußgenofien und Säfte
eingenommen bat, während die gegenüberliegende Kammer als
„Herrenftübchen“ eingerichtet ift, wo dazu ein Bedürfnis iſt. Ans
dem Hintergrund ber macht fi dur) den Duft und das Ge
klapper der Töpfe die Küche bemerklich, und man muß froh fein,
wenn man von der Flur aus einen Einblid in ihr Innere
gewinnt. Mit dem Herde, dem dunkeln Raudfang, den leuch⸗
tenden fupfernen und zinnernen Geſchirren, und durch den bläu-
lichen Dampf, in dem alles ericheint, ift bad oft ber einzige noch
maleriſch gebliebne Raum im ganzen Haufe.
Das nun die Entwidlung doch nicht notwendig gerade dieſen
Weg nehmen mußte, lehrt die Erhaltung des großen Vorraumes
mit dem Herde in den franzöſiſchen und den italienifcheu Wirts⸗
häufern nicht bloß der Dörfer, jondern aud) ländlicher Städte. So
wie das franzöfifche und das norditalieniiche Bauernhaus diefeu
Raum ald Eintrittsraum, Küche und Wohnraum bewahrt, fo ift er
auch im Wirtshaus erhalten geblieben, wo fich daneben ein Heines
Gaftzimmer befindet, da8 mehr Speile al Trinkzimmer ift.
Es gibt aber auch größere, vortrefflihe Gafthäufer, wo die Küche
mit Bratipieß, Roſt uf. im Hintergrund, alle glänzend und
rein, bon der Straße aus zugänglich ift; man findet darin ſogar
den Schreibtiſch, an den Wänden die Eifenbahnfahrpläne, kurz es
ift eine Verbindung von Küche und Kontor und jymbolifiert Har
die beherrichende Stellung der hier waltenden ®irtin. Daneben
erft führt eine kleinere Tür zu den Gaft- und Wohnzimmern.
St nun bei und auch räumlich der Herd aus der Mitte
des Hauſes gerüdt, fo bildet für das Wirtshaus doch die Küche
noch immer den Schwerpunkt, um den ſich alles andre reißt und
ordnet; und das auch dort, wo nicht eine energiihe Wirtöfrau
am Herde den Kochlöffel ald Feldherrnſtab ſchwingt. In ber
Rähe der Küche pflegt der Eingang zum Keller zu liegen, unb
Das deutſche Dorfwirtshaus 329
um Speife und Trank drehen ſich ja die Wünſche und Hoffnungen
der Gäfte des Hauſes. Für ſolche, Die länger unter dem gaſt⸗
lihen Dad) des WirtShaufes verweilen, ift jelbftverftändlich die
Leiftungsfähigleit der Wirtsküche ebenjo wichtig wie die Ein-
richtung des ganzen übrigen Haufe; aber auch dem Wandrer,
der nur im Borübergehen vorfpricht, wird es erft recht wohl,
wenn er fi in einen fruchtbringenden Rapport mit der Küche
ſetzen kann. Am. Uufprafjeln des Feuers und am lang ber
Küchengeräte merkt er, daß man ſich bort für ihn in Tätigkeit
jet, und fein Behagen wird num erft voll. Gewiegte Speije-
kenner verfügen ſich wohl gleich felbit in die Küche, um Wünfche
oder Natichläge vorzubringen, z. B. die, die ſich den Schnitt
lau) auf der Suppe oder die Bichorie im Kaffee zu ver-
bitten wagen. Sie feßen ſich aber dabei der Gefahr einer ab-
weifenden Behandlung nad) dem Grundſatz der Nichteinmiſchung
und ber territorialen Unverleglichleit eine® Gebietes aus, wohin
fi die Gynäkokratie als auf ihr eiferfüchtig gehütetes Altenteil
zurüdgezogen bat.
Was und wie auch das Wirtöhauß fein mag, von ber in
der Küche waltenden Kunſt und Wiffenichaft hängt ein großer
Teil des Rufes ded Hauſes ab. Und darum ſeien am Schluß
diefer Wanderftudie einige Erfahrungen aus dem Gebiet der
deutichen Kochkunſt beicheidentlich mitgeteilt. Sie beftreben ſich,
den ſchuldigen Reſpekt vor der in Deutichland, wie nirgends
fonft, in der Küche alleinherrichenden Weiblichkeit mit dem Frei⸗
mut zu verbinden, dem der deutſche Mann auch dort nicht ent-
jagen darf, wo er von ben Werfen der holden Frauen jpricht.
Sie ſcheuen fih auch nicht, Dinge mit Wichtigkeit zu behandeln,
die man hergebrachterweiſe als unwichtig Hinftellt, während das
Wohl und Wehe der Nationen auch von ihnen abhängt. Iſt es
nicht eine Torheit, der Küche wie einer unantaftbaren Inſtitution
gegenüberzuftehn, fi) zu ärgern und zu fchiweigen? Sch bin
überzeugt, daß ein guter Zeil beutfcher Grämlichkeit und Empfind-
lihleit vom ſchlechten Eſſen kommt.
Es ift ein Grundzug des deutſchen Dorfwirtshaujes von
ben Alpen bis zum Belt, daß die Frau die Küche und der Mann
den Keller verwaltet, während die Ordnung der Schlafzimmer
den weiblichen Dienftboten obliegt. Der Mann unterhält außer-
dem die Gaͤſte. Daß es anderswo ganz anders ift, haben wir
ſchon bei der Erwähnung lothringifcher Wirtöhäufer erwähnt.
In Frankreich und in Stalien beforgt der Mann die Küche, die
330 Das deutfche Dorfwirtshaus
Frau die Gaſt⸗ und Speifezimmer. Der Keller tritt bort mehr
zurüd. Dort taucht in ftarf befuchten Wirtshäufern überhaupt
der Mann den ganzen Tag kaum aus feinem bunfeln
hervor, der Saft bat es nur mit weiblichen Weſen zu tun. Be⸗
kennen wir es mit dem oben gewahrten Freimut: die Küche fährt
befler dabei. Der Mann erweift fich auch bier als der Träger
des Fortſchritts. Die beherrichende Stellung der franzöfiichen
Kochkunſt bat der Koch gefchaffen und nicht die Köchin. Die
Unfelbftändigleit der deutichen Küche entipricht der Unfelbftändig-
feit der deutichen Frau neben ihrem Mann. Alle Achtung vor
bem ehrbaren Stand der Köchinnen. Uber man gibt allgemein
zu, daß zu den höchſten Höhen ber Kochkunſt nur Köche empor-
geftiegen find. Man muß auch zugeben, daß kochende Männer
nicht Rückſchritte zugelafien hätten, wie twir fie gerade in ber
Küche des Dorfwirtshaufes beobachten muſſen, wo fie allerdings
nur ein deutlicher bervortretendes Symptom eines allgemeinern
Verfalls find. Der liebenswürdigen Flatterhaftigleit der weib-
lihen Natur entjpringen unzählige Heine Verſtöße gegen bie jo
einfaden Grundregeln der vernünftigen Speifebereitung. So
wie man dem englilchen Kunſtgewerbe vielfach den überwiegenden
Einfluß der Yrau in Charakterzügen der Feinheit und Bartheit
anmerft, die aber oft ind Süßliche, ich möchte fagen ind Teehafte,
abjchweifen, jo muß man in der deutjchen Küche einen Mangel
an Kraft, Würze, Gejalzenheit der Herrichaft des von Natur
ſchwachen, empfindlichen weiblichen Geſchmacks zufchreiben. Nur
ein Mann konnte die Grundlagen der Paprikaküche Ungarns
ſchaffen und die Eräftige Olla potrida des Kaſtilianers auf wohl-
gewürzter Höhe erhalten. Unbillig wäre es allerdingd, zu ver⸗
ichweigen, daß die deutfche Küche unter dem Drud ber Bolle-
verarmung in frühern Jahrhunderten fo manches Gute verloren
bat, das ihr einft eigen war, und daß die weibliche Sparfamteit
Bewundernöwerted in der Anpafjung an bürftige Lebensverhält-
nifje gerade in der Küche geleiftet bat.
Bei allen Laudfchaftlichen Unterfchieden ift von einem Ende
zum andern Deutſchland daß Land der großen Suppen. Die
feanzöfiiche Küche ſpendet Imftreiche, gewürzte Suppen in fo
einen Mengen, daß fie kaum den Boden des Tellers bebeden.
England brät fein Fleiſch und läßt Beef-Tea nur taffenweis für
ſchwache Magen zu. Italien hat feine kräftigen Mineftras, Reis⸗
und Gemüfefuppen, in deren didflüffiger Maſſe ſoviel Fleiich-
bröddhen, Fragmente von Leber, Herz und Stüde von unbeftimm-
Das deutfche Dorfwirtshaus 331
baren Vögeln fteden, zum Glück unbeftimmbar! denn fie könnten
auch von Mäuſen oder Maulwürfen jtanımen, daß fie eine ganze
Mahlzeit in fich vereinigen. Deutſchland allein ift aus großen
Suppenſchüſſeln dünne Suppen, in die die Kraft des gelochten
Fleiſches übergegangen ift, oder denen man in andrer Welle
etwas Gehalt zu verleihen bemüht ift. Mit einer folchen Suppe
muß das deutihe Eſſen anfangen. Undantbar wäre es, zu ver-
tennen, daß in deutſche Suppen ſchon manche ſchöne „Ideen,“
gebadne und andre, hineingelegt worden find, wodurch man fie
befähigte, ein Mittaggmahl nicht bloß in ſtofflich genußreicher,
fondern auch in gemütlich) ergöglicher Weiſe einzuleiten. Denken
wir uns einmal unter Vernachläſſigung aller Unterichiede des
Raumes Alldeutichland beim Efjen. Welche mannigfaltigen Suppen
ericheinen da! Immerhin find landſchaftliche Unterſchiede wohl
zu erfennen. Im Süden berrichen die Teigjuppen, ſchwimmende
Mehlſpeiſen könnte man fie nennen, vom Wasgau bis zur Salzad),
vom Bodenjee bis zur Lahn; die hervorragendften unter dieſen
Suppenbeftandteilen find die Nudeln (als Nouille find dieſe
tunftvoll dünn geichnittnen Bänder und Fäden aus Teig auch
ind Franzöfiihe übergegangen) und der geriebne Teig, aud)
Eiergerftl genannt, die Späßle in Schwaben und am Oberrhein,
deren Vertreter in Bayern die verfchiednen Arten von Knödeln
find, die Flädle, die aus dünnen, in Schmalz gebadnen „Fladen“
bandförmig gejchnitten werden, die gebadnen Erbien aus Tropfen
eines dünnen Zeiged, die man in heißes Fett fallen läßt. Es
it ein endlojes Variieren über da8 Thema Mehl, Mil und
Ki, ein Variieren mit Geſchmack und Bhantafie. In Schwaben
erreicht dieſe Entwidlung ihren Höhepunkt. In Bayern, dem
Lande des größten Fleiſchkonſums in Deutichland, kommt die
kräftige Milzſuppe und jene herkömmlich am Samstag gegefjene
Suppe mit einer großen, mit flüffiger Fleiſchmaſſe gefüllten
Wurſt, deren Inhalt der Eſſende geichictt, wenn auch nicht immer
appetitlih, in die Suppe ftreift. Dieje mannigfaltigen Suppen
nehmen nach Norden immer mehr ab, nördlich von Köln, Kaffel,
in Thüringen, Oberjachfen treten Graupen, Reis, Hülfenfrüchte,
Kartoffeln immer mehr an ihre Stelle, und es ericheinen dazu
ganz neue Schöpfungen und Suppenzutaten: Rofinen im Nord-
weiten in der Bumpernidelfuppe, Kirichen, gedörrte Bwetichgen,
Bier. Hier ift auch das Land der Kalteichale und der Fiich-
fuppen, die in der Hamburger Walfuppe eine wahrhaft phan-
taftiiche Ausbildung erfahren Haben. Der Kenner flawijchen
332 Das dentfche Dorfwirtshaus
Bollstumd wird hier manchen Spuren begegnen, die nad) Dften
weijen. Eine Filchfuppe und Daneben ein mohnbeftreutes „Striegel*
find mir immer als ganz fremde Ericheinungen auf deutſchen
Wirtötifchen erichienen, und man begegnet jener auch nur im
DOften, bier aber von Litauen biß Kroatien. Die im ganzen
Südeuropa und in Frankreich und Belgien jo wichtigen Gemüſe⸗
fuppen, in die auch Rüben, Sellerie und Kartoffeln geichnitten
werben, die Grundlage des franzöfiihen Pot-au-feu unb der
ſpaniſchen Olla potrida, find in Süddeutſchland nicht heimiſch;
in unjre ®irtsfüchen find fie nur in der fehr verdünnten Form
der jogenannten S$uliennefuppen eingedrungen. Die deutiche
Kühe Hat überhaupt viel von ber Kenntnis des Wertes ber
Suppenträuter eingebüßt, die einft viel weiter verbreitet war.
Das Spridwort „Er ift wie Beterfilie auf allen Suppen,“ b. 6.
überall zu finden, verfteht man in vielen Zeilen Deutichlands
fhon heute nicht mehr. Der vortrefflicde Lauch ift durch den
bejonders in Bayern graffierenden Schnittlaudh übel erjegt worden.
Daß Sauerampfer und Kerbel trefflide Suppen geben, weiß
man im öſtlichen Deutichland überhaupt nicht, und der in Frank⸗
reich beliebte Löwenzahn, den man für nichts auf jeder Wieſe
pflüden kann, wird bei und verſchmäht. In manchen Teilen
Deutichlands ift die Gartenkunft nicht weit genug fortgeichritten,
dem Gaftwirtstifch Die Gemüje, Salate und Würzpflanzen zu
liefern, die notwendig find, wenn die Speijen mannigfaltig und
Ihmadhaft werden follen. In mandem Wirtsgarten Frankreichs
findet man ein Dutzend Salatarten, in ganz Oberbayern und
Schwaben, im größten Teile von Mittel» und Norddeutſchland
nur eine, und zwar die ſchlehtefre, —— weicdhhlättrige
Kopfjalatart. Salate, die zu den Freuden bed genuhfäbigen
Menſchen gehören, wie der römiſche, kommen überhaupt in
diefer Zone auf feine Wirtstafel. So tft ed mit den Gemülen
und dem Obſt. Daher ber Unfinn der Näpfe voll einge-
machter Preißelbeeren im Hochlommer und ber bürren Biwetichgen
vom vorigen Jahr in der Beit der Kirfchen- und der Aprikoſen⸗
ernte. In einem Lande, wo es Boden und Sonne genug
gibt, friihe Gemüfe, frühes Obſt, friihe Mil, friſche
Butter und friſches Fleiſch in Maſſe zu erzeugen, muten mid
die Pyramiden von Konfjervenbühfen, Wargarinetöpfen und
geräudherten Schinken und Würften, mit denen die Ladenfenfter
prablen, als eine koloſſale Verirrung an. Es ift ja ganz fchöm,
daß Deutſchland eine große Konjerveninduftrie für den Export
Das deutfche Dorfwirtshaus 333
Yat, und auch für die Verforgung der Armee und der Marine
find Konferven nötig. Sie werden aber zum Unfinn und zur
Zandplage, wo fie dazu verführen, die friſchen Erzeugniffe im
Übermaß zu Tonfervieren, um fie dann teurer, ſchlechter und un⸗
geiunder als die friichen auf den Markt zu bringen. Sovtel,
wie ben Gäften an Genuß und Behagen, entgeht dabei den
Wirten und Bauern durch die Vernadhläffigung der Gartenzucht
an Gewinn. Nicht vom Klima, wie man entichuldigend jagt,
hängt bie Armut der Gemüſe- und Obftgärten in Bayern und
im größten Teil von Mittel- und Norddeutſchland ab; ich Tenne
vortrefflich gepflegte und ertragreiche Gärten in hoher Lage in
Nordtirol und in den fübmeftdeutichen Gebirgen. Die Urſache
dieſes Verfalls ift allerdings zufammengefebt, doch aus nahver⸗
wandten Eigenfchaften des Volles: der Trägheit der Arbeitenden
und der Genügfamkeit der Genießenden. Das find aber die
Grundurſachen aller Barbarei, die ja mit einer in andern Dingen
fehr hohen Kultur zufammengehn kann. Iſt e8 nicht barbarijch,
die Gaben zu vernadhläffigen, die dem Menfchen verliehen find,
damit er fich fein Dafein immer mehr ausgeftalte? Die Kultur-
fortſchritte liegen in der Steigerung der Leijtungen und For⸗
derungen. Darum find auch die Kleinften Merkmale der Aus⸗
ftattung des täglichen Lebens jo lehrreich.
Da ich Hier gerade von Pflanzen gefprochen habe, die uns
die köſtliche Erfrifchung der Salate liefern — der von Eichrodt
befungne Schnedenfalat tft ſpezifiſch ſüdweſtdeutſch, der Ochſen⸗
maulfalat ift wahrjcheinlich auch urſprünglich nur in beichräntten
fränkiſchen Gebieten befannt gewejen —, jo mögen auch einige
Worte über DI und Eifig erlaubt fein, ohne die es keinen Salat
gibt. DI aus Nüffen und Buchecern fpielt Heutzutage felbft in
der Dorfküche feine Nolle mehr. Das Olivenöl herricht unbedingt
vor. Die deutſche Nafe ift num diefem welſchen Produft gar
wenig gewachſen. Mit rauhem und ranzigem DI Tann man
aber aus den zarteiten Pflanzen Teinen guten Salat bereiten.
Und der Eifig gehört heute der chemiſchen Induſtrie, Die ihn aus
Holz waſſerklar und Icharf wie Mineraffäure herftellt; früher galt
er al8 ein Nebenerzeugnis der Bierbrauerei und der Weinfüferei.
Ihn durch Zuſatz von Würzkräutern zu verbeſſern, veriteht man
faft nirgends in Deutichland mehr. Franzöſiſcher Eſſig und
franzöfifche Eſſigkonſerven von Maille und andern werden da⸗
gegen maflenhaft nach Deutſchland eingeführt. Bon Pfeffer ver-
braucht Deutichland nur die mildeiten Sorten, und wenn aud)
334 Das dentfche Dorfwirtshaus
feit vierzig Jahren Gulaſche und andre Paprilagerichte in Deutſch⸗
land in die Wirtsküche und im Süden auch in die bürgerliche
Küche eingedrungen find, fo ift ihre Wirrzung doch nur ein blaffer
Schatten von ber brennenden Schärfe des ſpaniſchen Pfeffers in
Ungarn und Spanien. Auch die engliihe Küche würzt fchärfer
und mannigfaltiger als die deutſche. Wenn diefe ihre guten
alten „Zunten“ und „Brühen“ bewahrt hätte, jo Zönnte fie
freifich. mit Verachtung auf Die Batterien von Saucen in Gläfern
Hinabjehen, die den engliſchen Wirtstifch zieren. Wber ae
ein ärmlich verneinender Geiſt hat die Erfindung gemacht, daß
man jeder Bratenbrühe mehr „Konfiftenz“ verleihen Tann, indem
man fie mit billiger Kartoffelftärle zu einem efelhaften braunen
Kleifter verrührt. Und damit verderben nun unjre Wirte ihre
beiten Braten, indem fie eine einzige Generalſauce über jegliche
Art von Fleiſch gießen.
Die Zeiten find vorbei, wo fi) die Dienftboten am Rhein
ausbedangen, nidht jeden Tag Lachs eſſen zu müflen, und wo
Wildbret in den waldreichen Gegenden Mitteldeutſchlands billiger
war als Rindfleiſch. Deutſchland ift indeflen noch immer ein
wildreiches Land. Seinen Fiſchreichtum hat die Induſtrie fchwer
geichädigt, aber die Fiſchzucht Hat auch wieder manches Gerwäfler
fruchtbarer gemacht, und die Sonlefihere liefert ihre Erzeugniffe
} eine unbelannte Größe
war. Auf den Tiſchen der Alpengafthäufer wechſeln
Nordſeefiſche mit Frutti di mare des Mittelmeers ab. Aber die
zunehmende Bevöllerung hat die Fleiſchpreiſe überall in die Höhe
getrieben. Seit etwa zehn Jahren find ſogar im Oſten und im
Südoften Deutſchlands, mo Breslau und München die billigften
deutichen Großftädte waren, die Hagen über die hoben Fleiſch⸗
preife immer lauter geworben. Auf dem Dorfe tft Fleiſch immer
eine Feiertagsſpeiſe geblieben, aber der Bebarf der Städte nimmt
das gute Fleisch dem Lande und läßt ihm das fchlechte. Fleiſch iſt
darum die ſchwachfte Seite der Küche des Dorfwirishauſes, und im
Sommer tritt in deu überfüllten Sommerfrifchen und Seebädern
gelegentlich einmal ein Fleiſchmangel ein, dem durch ſchleunigen
Bezug aus der nächiten Großftabt vorgebeugt werden muß.
dann Daß nelodhte Sleifdh ober brät eß nocheinmal _„Guppe
und Fleiſch“ ift daS Lofungswort der bürgerlichen Küche in ganz,
Deutihland. Für den Tiich bebeittet das fobiel wie Suppe und
Das deutfche Dorfwirtshaus 335
Suppenfleiſch. Früher war der Unterjchied bes Wertes der Fleiſch⸗
ftüde vom Rind jo gering, daß auch Die beiten Stüde gefocht wurden,
und da ftaud das geſottne „Zellerfleiih,“ das der Bayer vom
Holzteller ißt, Teinem Braten nach, und das „Rindfleiſch mit
Beilage* war am Gafthaustiih der Kern des Mittagmahls.
Daß bat ſich in den meilten Gegenden ftarf geändert, und auf
dem Lande eſſen auch die wohlhabenden Bauern ein zähes Kuh⸗
oder Stierfleiich, daß dem Städter ungenießbar vorkommt. Des⸗
wegen nimmt auch die Zubereitung des Fleiſches in ſolchen Formen
überhand, wo die ſchlechte Beichaffenheit des Stückes verbedt
wird: daß Kochen des in Stüde geſchnittnen Fleiſches mit Kar⸗
toffeln, das gehadte Fleifch ald Kuchen, Klops ufw., vor allem
aber die zu Zufägen aller Urt einladende Wurf. „Gebadnes“
war einft nur der öfterreichiichen Küche eigen, und die Backhähndl
bleiben charakteriftiich für Wien und alles Land öftlid) von Wien,
während fich die Schnigel als die bequemfte Bubereitung des
ichlechteften, zu hautartiger Dünne außgezognen Kalbfleifches weit
verbreitet haben.
Wo ift die alte Kunft des Bratens hinverſchwunden, die
wir auch darum als eine edle bezeichnen müſſen, weil fie dem
einfachſten, natürliden Vorgang noch fo nahe ftand? Der
Jager, der ein Stüd Wild erlegte, ſchnitt ein Stüd Fleiſch ab
und briet es an einem Stab, den er fchräg in die Erde ftedte,
ſodaß das Fleiich gerade vom euer beitrichen wurde. Er drehte
ihn einigemal herum, und der Braten war fertig mit dem natur-
mäßigften, beften Geichmad, dem des friſch geröfteten Fleiſches,
um das ausgetretnes Blut und Fett eine fchöne, wohlbuftende
Rinde bilden. Das Braten am Spieß ift eine leichte Abänderung
diejeß Verfahrens. In England und in Frankreich Hört man das
Geräufch des durch ein Uhrwerk gebreßten Bratipießes aus der
Wirtsküche, Deutichland ift faft überall vom Spieß abgegangen.
Für die meiften find die großen Bratipieße in den alten Schlöffern
foffile Merkwürdigkeiten, und erft das Beitalter der Bubenfcheiben
und Truhen bat auch den Spieß da und dort wieder in Die
Kühe zurüdgeführtt. Das Braten zwiſchen zwei beiveglichen
etfernen Roften, in England vor den Augen des Gaftes im Grill-
Room geübt, in Frankreich und in Italien noch weit verbreitet, ift
bei uns ebenfalld außer Gebrauch gelommen. Es ift wahr, daß
beide Methoden nicht jo einfad find wie das beutiche Braten
in der Bratröhre des Herde; aber ein Huhn vom Spieß oder
ein Beefſteak vom Roſt ift auch etwas andres als ein Braten in
836 Das deutfche Dorfwirtshaus
der Pfanne, der immer in der trodnen heißen Dfenluft von
feinem natürlichen Saft und Duft verliert. Gar nicht zu reden
von jener zur Verhüllung der ſchlechten Dualität des Fleiſches
erfundnen Verballhornung des Lendenjtüds, des „beutichen“ Beef⸗
ſteaks, des zerhadten, mit Zwiebeln dicht beftreuten und infizierten,
das mit dem echten Beefſteak nichts ald den Namen gemein bat,
oder des Noftbrateng, der ungleid dem italienifchen arrosto nie
einen Roſt gejehen Hat, oder des bayriichen Kalbsbratens, der
zuerft gefocht und dann leicht angebraten wird! Diele und viele
andre würde der Biolog „Kümmerformen“ bes echten Bratens
nennen, mit dem fie nur den Schein einer Berührung mit dem
Teuer gemein haben. Das einzige Beefſteak hat die natürliche
Eigenichaft des Bratend bewahrt, die Kraft und den Wohlges
ſchmack der Fleifchfafer und des Blutes gleichfam in verdichteter
Zorm zu bieten. Zum Zeil find diefe Entartungen aus Spar⸗
famfeit geboren, zum größern Teil aber aus Dummheit und Be⸗
quemlichleit, die fi) in der beutichen Küche mit einer merlwür⸗
digen Unbeftändigleit verbündet haben. Gerade die Geſchichte
des Braten? zeigt, wie feſt die Engländer an einmal bewährten
Gebraͤuchen halten, und auch die Franzoſen find in der Küche
viel Tonferbativer als Die Deutſchen. So wie bei und das Ge⸗
werbe ımd beſonders das vielgelobte Kunſtgewerbe auf die Maſſen⸗
erzeugung billiger Scheinwaren, die im Kern nur Schund find,
mit einem gewiffen Radikalismus ausgeht, fo ift in ber deutichen
Wirtsküche die raſche und billige Mafiendarftellung der Speijen
im Fortichreiten, wobei ſich eine Turzfichtige Weisheit in Surrogat
und ſchön fein follenden Spielereien gefällt. Was nübt mir die
Mufchelichale, in die man ein gemeined Hackfleiſch füllt? Oder
die alten Krebsſchalen, in die man gekochte Semmelkrumen hinein-
ftopft? Ich kann mich dabei nie enthalten, an die Betroleums
lampe mit ſchlechtem Brenner und verichnörfelten „Nenaiffance“=
Füßen zu denfen. Die liebevolle Vertiefung in die Geheimnifie
der Kochkunſt ſchwindet immer mehr. Ich ſehe die Zeit kommen,
wo man im bdeutjchen Wirtshaus dem nad einem Mittageflen
verlangenden Saft eine Erbswurſtſuppe und eine Fleiſchkonſerven⸗
büchfe in heißem Waſſer binftellt, die er fich öffnet und aus
dem Blech heraus Leer ißt. Der Wirt als Händler, vielleicht
auch als Spekulant in Sonjerven und fonftigen „Danerivaren“:
das ift das Biel, dem unfre Küche zuftrebt, oder vielmehr der
Strudel, in den fie Hineingerifien wird. Zum Glück fcheint
mon die Gefahr zu erfennen und fucht durch Kochichulen der
Das deutfche Dorfwirtshaus 337
Eulinarifchen Verrohung und Verflachung entgegenzuwirten, die
tn der Heinbürgerlichen und Arbeiterfüche noch viel bedenklichere,
unmittelbar das Yamilienleben bedrohende Wirkungen hat als in
der Wirtsküche
Genug nun von der Kühe! ES gibt Dinge, von benen
man einmal muß abbrechen können. Mit Recht gilt es alß ein
Zeichen ſchlechter Erziehung, viel vom Efien zu reden. Wir
fonnten aber an ber Küche bei unfrer Wanderung durch) das
ländliche Wirtshaus nicht vorübergehn, und wollten es nicht, denn
fie ift der Beachtung wohl wert. Vielleicht hat unfre Plauderei,
die nur Einzelned berühren Tonnte, fchon gezeigt, daß fid) auch
in ber Küche der Charakter und die Geichichte eines Vollkes
fpiegeln. Die Wiffenichaft jollte dag wohl in Betracht ziehen.
Ich hoffe auch dafür viel von ber aufblühenden Vollskunde.
Bar ift noch in dem neuen Werke „Deutiche Volkskunde“ von
Elard Hugo Meyer (Straßburg, 1897), das in vielen Beziehungen
vortrefflich ift, die Küche und die Vollsernährung fo kärglich be-
handelt, daß man von einer auffallenden Lücke ſprechen Tann.
Die Bedeutung der Speilen ımb Getränfe, ihrer Bereitung und
ihres Genuſſes hat der Verfaſſer dieſes Buches offenbar zu gering
geſchätzt. Sind fie aber nicht mindeſtens ebenjo wichtig wie Dorf-
anlage, Hausbau, Arbeiten, Fefte, Sprüde und Sagen? Iſt es
vielleicht weniger der Forſchung würdig, der Berwandtichaft des
ſchleſfiſchen Hefenkloßes, diefer von Dichtern gepriejenen National-
ſpeiſe, mit ber fchmäbiich-fräntifchen Dampfnudel nachzugehn, als
den Beziehungen des jchlefiichen und des fränkiſchen Bauernhaufes?
Auch die Verbreitung der Kochkunft und ihrer Werke zeigt große
Büge, die den Zuſammenhang des Alltäglichen mit mächtigen Be-
wegungen der Geſchichte zeigen.
Es gibt zu denken, daß im allgemeinen in Deutichland von
Beten nad) Dften die Kochkunſt abnimmt. In Süddeutſchland
ft Bayern, troß manchem Guten, tief unter Schwaben, in Mittel-
deutfchland ift Sachſen ein ausgeſprochnes Minimalgebiet, in
Rorddeutichland bietet Weftfalen viel mehr eigentümliche gute
Dinge als alles Land öſtlich davon. Spiegelt ſich nicht auch
darin der Gang der beutichen Kultur aus ihren alten rheiniichen
Sitzen nad) Dften wider, und die Veränderung und Verarmung
als die Folge der Anpflanzung auf neuem folonialen Boden,
defien eignes Wachsſstum niedergetreten war? Rätſelhaft bleibt
allerdings der Tiefftand der Kochkunft in ganz Mitteldeutichland
von Der belgifchen biß zur polnifchen Grenze, und ea ſchwer
Nagel, Slüdstnfeln und Träume
338 Das dentſche Dorfwirtshaus
tft die Dürftigfeit der deutich-jchweizeriichen Küche außerhalb des
Bannkreiſes der Fremdengafthäufer zu erflären. Oſterreich ift
ein Gebiet für fi), deſſen Küche unter dem Einfluffe Staliens
und Ungarns in manchen Beziehungen noch die Südweſideutſch⸗
lands übertrifft, und zwar find in Oſterreich Böhmen und 5 Siilefien
noch trefflich außgeftattet, wo wir auf der deutſchen Seite: f
einer traurigen Verarmung gegenüberitehn.
m
Südweſtdeutſche Wanderungen
357
1
Der geniale Berfafler der „Gefchichte der Sage,“ der viel
zu früh verſtorbne Julius Braun, pflegte fein badiſches Ländle
das Weich der Mitte zu nennen. Er, Badenſer durch Geburt
und auch von Humor, kannte fehr gut Die ftolze Selbftzufrieden-
heit und da8 warme Behagen feiner zwiſchen Rhein und Schwarz-
wald fo ſchön warm gebetteten Landsleute. Er legte aber feinem
Scherz einen tiefern Gedanken ımter: Baden iſt im räumlichen
Sinne wirklich ein Land der Mitte. Zwiſchen der Schweiz und
dem Elſaß, der Pfalz und Württemberg, fid) im Nordoften bei
Wertheim und Prozelten mit dem bayriſchen Franken, an ber
obern Donau mit Hohenzollern» Preußen berührend und endlid
im Süboften noch durch den Bodenſee mit Ofterreich verbunden,
fteht e8 den allerverichiedenften und entlegenften Einflüflen offen.
Neulid wurde Baden in einer altbayrifchen Zeitung aß das
„Brobierlandl* von Deutichland bezeichnet, wozu die überaufge-
Härte Bureaufratie ed gemacht haben follte. Zange vor der Bureau-
kratie hat die Natur jelbft Baden zum Probierland! gemacht. Denn
jo wie e8 in Badens Lage geichrieben fteht, Daß auf dem Schwarz-
wald alpine und an den heiten ®eländen des Rheintals ſüd⸗
franzöfifche Pflanzen wachſen, oder daß der Wein von Durbad)
mehr an den Elſafſer, der Bauländer an den Württemberger und
ber feurige Gerlachſsheimer an den Frankenwein erinnert, fo fliegen
den offnen Köpfen in diefem offnen Lande hier franzöſiſche und
Dort ſchweizeriſche Ideen an, und in diefem Winkel berrichen
Würzburger und in jenem Heilbronner Einflüffe vor. Wenn dies
nun auch leider gar nicht felten zu dem Ergebnis geführt hat,
daß der von allen Seiten befruchtete Volksgeiſt einem Ader glich,
in deſſen Saaten von allen Himmelögegenden Samen blühenden
Unkrauts verweht wird, jo hat e8 doch zu der Art von Bildung
beigetragen, die, nad) dem badiſchen Ausdrud, den Mann ge=
würfelt macht. Nicht umfonft trägt der Rhein jeine grüngrauen
Fluten durch Die ganze Länge des Landes, wobei er an beiden
342 Südweftdentfhe Wanderungen
Ufern die reichſten Sammlungen alpiner Gefteine in enblojen
Kiesbänken ablagert. Einſt wurden die abgeihliffnen Berg-
frijtalle, die „Nheinkiefel,“ bald waſſerklar, bald gelblich und
rötlich, als Halbedeliteine wert gehalten. Heute haben fie jehr an
Schaͤtzung verloren. Auch das Gold des Rheines wird faum mehr
gewaſchen, ſeitdem der Tagelohn das Doppelte und das Dreifadhe
des durchſchnittlichen Ertrages einer mühſamen Tagesarbeit mit
dem Waſchtrog beträgt. Mitte der fünfziger Jahre, als Handel
und Wandel darniederlagen, lohnte es fi) noch, einen Verdienſt
von vierundzwanzig Kreuzern zu erwaſchen. Damals prägte die
Rarlsruber Münze noch die ſchönen hellgelben Dulaten aus Rhein⸗
gold, die heute nur noch der Sammler fieht, und die Ehepaare
des badifchen Fürſtenhauſes trugen Eheringe aus Rheingold. Bald
wird der Nhein feinen Anwohnern das Gold in andrer Form
bringen. Man wird ihn bi8 Straßburg für größere Fahrzeuge
ſchiffbar machen und hoffentli auf den Seitenfanal Straßburg
Ludwigshafen verzichten. Dann wird das Land zu beiden Seiten
des Oberrheins in noch höherm Make werden, was e8 zur Römer⸗
zeit war und feitdem immer mehr geworden it: eines der be=
lebteften Straßenländer Europad. Der Rhein, die SU, Kanäle,
Straßen, Eifenbahnen, dieje meift Doppelt auf beiden Seiten, wie
Bergitraße und Talſtraße: jtärfer und unaufhaltiamer noch ala
das Waſſer ftrömen die Menichen und die Waren landauf landab,
Schweiz und Niederlande verfnüpfend und bis nad Üfterreich
und Frankreich hinein von den zwei großen links⸗ und rechts—
rheinischen Pläten Straßburg und Mannheim aus mächtig an=
ziehend wirkſam.
Wer hätte es fich träumen lafjen, daß das langweilig in den
Rheinſand Hingewürfelte Mannheim der fünfziger Jahre, die Stadt
ohne Altertümer und Straßennanıen, die ohne ihr Theater in
einem dunkeln Winkel der deutſchen Geſchichte ftünde, ein Welt⸗
bandel3plag werden würde? Heute ift Mannheim einer der erften
Süßwaflerhäfen Europas, für Oberdeutichland und die Schweiz
mindeftens das, war für das Ofterreich nördlich von der Donau
das mächtig aufblühende Auffig ift, für Getreide und Tabak noch
viel mehr. Was Frankfurt an oberbeutihem Verkehr verloren
bat, das ijt fait alles Mannheim zugute gelommen, und das zur
Wettbewerbung hingeſetzte Ludwigshafen Hat Mannheims Größe
nur noch vermehrt. Mannheim hat jeiner jungen Nachbarin Euger-
weife die Großinduftrie überlaffen und ift nicht bloß eine ber
reichften Aheinftäbte geworden, fondern auch eine der reinlichiten
Süöweftdeutfche Wanderungen 343
geblieben. Der Spuren der Kleinen engen Refidenz der Latho-
liſchen Rurfürften von der Pfalz find immer weniger geworden.
Noch vor vierzig Jahren gab es Straßen, deren Heine einftöcige
Häuschen in die Breite der vom fröhlich ſproſſenden Gras grünlich
angehauchten Straßen Hinter ihren ſchmalen Sanbfteinfteigen hinab⸗
zuſinken ſchienen: das verfteinerte Kleinbürger- und Kleinbeamten⸗
tum. In Darmſtadt, Homburg, Wiesbaden, Karlsruhe gab und
gibt es zum Teil noch diejelben Häufer, die alle aus der Wende
des Jahrhunderts ftammen. Auch Stuttgart Hat noch Spuren
davon. So wie in Mannheim herrſchten fie doch nirgendswo.
Hatte doch feine von allen diefen Städten jo fchwer gelitten und
gefämpft. Jene gediehen unter dem Schuß ihrer Fürften zu einem
wenn nicht großen und rühmlichen, doc auskömmlichen Leben,
während Mannheim eigentlid) erſt mit dem Eintritt Baden in
den Zollverein fein eigned unabhängiges Leben gewann. Ich habe
Mannheim nie betreten, ohne daß mich wie ein junger, frifcher
Hauch die Empfindung anmwehte: von allen blühenden Städten
Deutſchlands dankt diefe am meiften ihre Blüte dem, was Ge⸗
famtdeutichland geeinigt und groß gemacht hat. Es iſt auch fein
Zufall, daß zwei der namhafteſten badifchen Staatsmänner, Die
am Reich haben bauen helfen, Mathy und Solly, aus Mannheimer
Familien ftanmen. Und da jo oft dem Judentum ein Löwenanteil
an dem gejchäftlichen Aufblühen Mannheims zugeichrieben wird,
möchte ich Die bezeichnende Tatſache hervorheben, daß Mathy
und Jolly franzöfiichen Uriprungs find. Diefe jugendliche Grün-
dung bat wie eine Kolonie in überfeeifchen Landen Menfchen
auß allen Gegenden angezogen; und ſicherlich waren es nicht die
energielojeiten, die fich in dem fandigfumpfigen Winkel zwiſchen
Nedar und Nhein niederliefen. Mannheim hat oft verfucht, fo
wie wirtichaftlih auch politiich allen badiſchen Städten voran⸗
zujchreiten, wa8 ihm nicht immer gelungen und noch viel weniger
befommen if. Die Zeiten, wo Heder und Struve Mannheim
zum Brennpunkt einer oberdeutihen Bewegung in republikaniſchem
Sinne zu machen ftrebten, find faft vergefien. Doch blieb ſeitdem
eine Eiferfucht und ein Mißtrauen zwiſchen Karlsruhe und Mann⸗
beim lebendig, das ja nun auch bejeitigt zu fein fcheint, wie fo
manches Kleine und jo manches Mihverftändnis im beutichen
Leben. Wer aber da3 unerwartete Aufblühen Karlsruhes ver-
folgt Hat, zweifelt nicht daran, daß es wefentlich durch bie Über-
tragung der in Mannheim heimiſchen Tatkraft in die Ichläfrig
und unfelbftändig gewordnen Kreiſe der Reſidenz gefördert worben
344 Sũudweſidentſche Wanderungen
ift. 68 ift derſelbe Prozeß, der wiſcn Mainz und Darmſtadt
und entfernter zwiſchen Nürnberg und Münden, Leipzig unb
Dresden geipielt hat; wie denn mit icber deutichen Reſidenz eine
Schweiterfiadt in Wettbewerb getreten ift, wobei fi) das dort
gebrüdte und gebucte Bürgertum, durch den Gegenſatz angeſpornt,
freier regte. Das iſt ein ſehr heilſamer Wettbewerb, der in der
Neubelebung bürgerlicher Tugenden ungemein glüdlich gewirft hat.
Ich rechne hierher auch die Pflege des Theaters, deren Einfeitig-
teilt man den Mannheimern oft verdaddt hat. Dan warf ihnen
bor, daß fie außer vom Geſchäft nur noch vom Theater zu reden
müßten. Welde franzöfifche oder engliſche —* hat aber aus
eigner Kraft eine fo reipeltable Pflegeftätte der Kunſt erhalten?
Ale Achtung and darin vor Mannheim!
Um auf das Wirtſchaftliche zurüdzulommen, jo werden die
in den lebten Jahren von ſchwäbiſcher Seite viel erörterten Pläne
zur Hebung der Nedarihiffafrt — Vertiefung bis Heilbronn,
Nebenkanal für Eßlingen — natürlich auch dem badijchen Rhein⸗
Nedarhafen zugute fommen müfjen. Eine Zunahme des Nedar-
verkehrs hatte Mannheim in den letzten Jahren en ſchon
zu verzeichnen. Sogar der Paſſagierverkehr hat auf dem untern
—* wieder Aufnahme gefunden. Wir, die das ——
nur durchwandern, freuen uns dieſes Aufblühens einer jungen
Stadt nicht in dem lokalpatriotiſchen Sinne, der in Mannheim
bon der ftark jũdiſch durchſetzten Großfaufmannichaft bis hinunter
zum „Neckarſchleim“ — bie unterften Vollsklaſſen, vor allem
Schiffer und Hafenarbeiter — fehr ſtark ift, jondern weil Mann⸗
heim und das Wiederaufblühen des gejamten deutichen Wirtſchafts⸗
lebens verdeutliht. Und außerdem verzeichnen wir mit BBe-
friedigung das dabei zutage tretende einträchtige Zuſammenwirken
der Stadt mit der Regierung, bie bei den Außgaben für die neuen
Hafen- und Bahnanlagen in Mannheim wahr 6 bewieien bat,
dag man in Baden nicht bloß die Kühnheit und die Veweglich⸗
feit hat, die zum Probieren gehört, fondern aud) die den Erfolg
fider faſſende Weitfiht. Muß ich mich vielleiht zu den unpral-
tiichen Ideologen rechnen lafjen, weil id) die Anfiht der Manns
nicht teile, ihre Stadt werde „von oben herunter“ nur
jo fräftig gefördert, weil man den Plänen zur Hebung Straßburgs
eine große unverrüdbare Tatjache, Mannheim als die Haupthandels⸗
ftadt Oberdeutſchlands, entgegenjeßen wolle? Diefe herrlichen, wohl⸗
gelegnen Länder, Baden auf der einen, daB Eljaß auf der andern
Seite, Tönnen zwei große Handelsftädte nähren. Schreitet Dentſch⸗
Südweltdeutfche Wanderungen 945
land, wie wir alle hoffen, vorwärts, dann wird die Ausdehnung
der Großſchiffahrt bis Straßburg nichts andre für Mannheim
bebeuten, als was Frankfurt erlebt bat, als fich ein Zeil feines
Handel nah Mannheim verlegte; Frankfurt hat durch Die
Ranalifation des untern Mains reichlich wieder gewonnen, was
e8 vorher verloren Hatte, und die Zukunft wird ihm noch viel
mehr, nämlich fein altes Verkehrsgebiet, das Mainbeden bis
Böhmen und zur Donau, wieder erichließen, wenn es den bay-
rifhen Plänen auf Verbeflerung der Mainichiffahrt und der
Main-Donauverbindungen fräftigen Vorſchub Ieiftet. Für Straß-
burg ift man ja leicht verjucht, eine noch viel größere Perſpel⸗
tive zu eröffnen: den mitteleuropäifchen Zollbund im engen Verein
mit Frankreich, wo dann Straßburg natürlich) eine großartige
Aufgabe zufiele. Ach bin aber kein Freund von Nebel, nicht
einmal im fchönen Rheintal, wo der Nebel nicht fo ſchmutzig braun
und grau wie im Norden, fondern von tadellojer Weiße ift, als
fei er von den Alpengipfeln mit dem Rhein berabgeflofien, und
nicht einmal im Weinlande, wo der Nebel als guter Freund des
Winzerd gilt, weil er die Traubenbeeren mweid) made, und auch
bon den Vorbergen des Odenwalds und des Schwarzwalds herab
jehe ich ihn nicht gern, auf denen die Sonne um fo wärmer
liegt, je Dichter da unten das Nebelmeer wogt. Dieje Rhein⸗
und Nedarnebel gehn aber immer rajch vorüber, und gewöhnlich
folgt noch an demjelben Mittag ein heller Sonnenſchein.
Halten wir uns aljo an da8, was wir Deutlich jehen und
greifen können, fo zweifeln wir feinen Augenblid, daß Baden
im Elfaß ein Hinterland oder, wenn es höflicher klingt, ein
Nebenland gewonnen hat, mit dem es einen ſich unerwartet ent-
widelnden Verkehr pflegt. Früher war der Lokalverkehr zwifchen
den beiden Ländern ungemein beichräntt. Nur eine ftehende
Brüde auf der langen Rheinlinie Bafel-Dannheim! Wie wenig
bedeutete der Verkehr über die Schiffbrüden von Rheinau und
Selz! Es iſt doch fein Zufall, daß, jo oft ich über die Selzer
Brüde gegangen bin, Elſäſſer Bauern badiſche Ferkel vom
Naftatter Markt gen Hagenau trugen, weiter nichts, wobei ſich
mir immer ber törichte Gedanke aufbrängte, wie ſchön e8 wäre,
wenn die Eijäffer die altveutichen Menfchen ebenjo freundlich
behandelten wie die altdeutichen Ferkel, die fie mit Bärtlichkeit
in weichen Säden über den Rhein trugen. Sollte nicht die jahre-
lange Erfahrung, wie gutartig dieje altdeutichen Tiere find, das
unter blauer Bluſe jchlagende Herz diefer fränkiſch⸗alemanniſchen
346 Südweftdeutiche Wanderungen
Hartlöpfe auch für altdeutfche Menſchen wärmer fchlagen machen?
Doc weg mit ſolchen Aheinnebeln! Da taucht die alte Rheinauer
Schiffbrücke vor mir auf, wo ich 1870 Boften ftand, als Fuhre
um Fuhre die Negiezigarren der Benfelder „Manufaltur” gen
Lahr gefahren wurden. In jeglichem Sinn konfiszierte Ware!
Die Rheinauer Bauern waren einig; einen folcden Verkehr hätte
fi die alte Brüde nie träumen laffen. Der Rhein bildete eben
bis zum Fall von Straßburg hauptſächlich eine Schranfe, die nur
der Schmuggel gewohnheitsmäßig überfchritt. Es genügt, an die
Tatfache zu erinnern, daß damals Hagenau und Karlsruhe, in
der Luftlinie achtundvierzig Kilometer, alſo einen ſtarken Tages
marſch, voneinander entfernt, durch eine Eifenbahnfahrt von einem
vollen Tage getrennt waren. Heute ift Karlsruhe, das über Raftatt-
Durmersheim in einer Stunde von Hagenau erreicht wird, ein
wichtiger Markt für die Bodenerzeugnifie des untern Elſaß.
Und wer hätte ſich träumen lafien, daß Karlsruher Bier auf
elſäſſiſchen und füdlothringifgen Dörfern getrunfen und dazu
ftatt des einſt alleinherrichenden Münfterläjes Käs „usn Badiſche·
gegeſſen würde?
Ich hoffe, daß mein altdeutſches Herz mir keinen Streich
fpielt, wenn ich erfläre, daß ich das ganz vernünftig finde. Denn
das Eljäffer Bier war in der franzöjiichen Zeit gerade fo „um:
geitanden“ wie der eljälfiiche Volkscharakter. Es war fein Bier,
fondern eine füßliche, ſchwach gehopfte Limonade, für die fran⸗
zöjiihen Kaffeehausbummler und die Dominojpieler an Kleinen
Boulevarbtifchchen gebraut. Könnte ich hier doch jenen württem⸗
bergifhen Hauptmann von der Ulmer Artillerie ſprechen lafjen,
deſſen Leute im beißen September 1870 beim Batteriebau in
Königshofen einen großen Bierkeller anfchnitten, der feinen In⸗
halt dann in die fernften Stellungen der Belagerer ergoß, bis
der Genuß der fchalen hellen Flüffigkeit in dem weit um Straß-
burg lagernden Ringe durftiger Menſchen wegen ihrer abführenden
Eigenſchaften verboten, der Reſt des Kellers zugefchüttet wurde.
Mir ftehn die Träftigen Schwabenflühe nicht zur Verfügung, mit
denen der breitbetreßte Hauptmann „das faumäßige Geſöff“ in die
Tiefe zurüdverwünidhte, aus der es jubelnd and Licht gehoben
worden war. Auch ber braune Spiegel des Bieres fpiegelt in
feiner Weiſe treu die Weltgefchichte zurüd. BIS zum Rhein war
in den fechziger Jahren die von Altbayern ausgegangne Bier⸗
verbefjerung vorgedrungen. Hier hatte fie Halt gemacht. Die
Rechtsrheiniſchen Hatten ſich an das Träftigere Gehräu gewöhnt,
Südweftdentfche Wanderungen 347
das der in dieſem Fache finnige Bayer bierehrlih zum fräftigen
Männergetränt auögeftaltet hat. Den Linksrheiniſchen mundeten
mehr füßliche Biere, wie fie die Franzoſen liebten. Es lag nicht
am Hopfen, den damals die Hopfengärten von Hagenau, noch
nicht dur) amerikaniſchen Wettbeiverb gedrüdt, jo edel wie je
lieferten, und nicht an der Gerſte, wiewohl diefe die beiten deutjchen
Sorten nicht erreihte.e Das Ideal des Eljäffer Brauerd war
ein Bier, das die Lederhojen des ftandhaften Trinkers auf Die
Bank leimt. So trennte alfo der Rhein nicht bloß zwei Reiche,
fondern zugleich zwei Gefchmadsrichtungen. Man könnte jagen,
er floß als Grenzitrom zwiſchen Bierpropinzen.
E8 ift aber merkwürdig, wie es dabei nicht fein Verwenden
hat. Der Weingeſchmack tft auf beiden Seiten nicht minder ver-
ſchieden. Seufzend muß es der Eljäffer Wirt zugeben, daß ſogar
die lieben guten Yreunde aus der Schweiz den Marlgräfler allem
Eijäffer Wein vorziehn, und der Altdeutjche, der ſich mitten in
der angeheirateten Obereljäfler Weinbauerfamilie die Unbefangen-
heit der Zunge wenigjtend im Weinfoften bewahrt hat, gibt mit
Achjelzuden zu, daß von feinem Eljäffer Weine Hebel hätte fingen
lönnen, wie von feinem Marfgräfler „z'Müllen uf der Poſcht!
Trintt mer nit en guete Wi? Tufig Sappermofcht! Goht er
nit wie Baumöl i (ein)?" Der balbgelehrte Agronom fchreibt
die Rauheit des Eljäler Weins gewiſſen Unvolllommenheiten
der Kellerei zu. Weg mit diejer rationaliftiichen Klügelei! Es
find diejelben unbegreiflihen, aus irgendeiner unbelannten Tiefe
herauf wirkenden Urjachen, die auch die Menfchen auf beiden
Seiten des Rheins fich nicht haben gleich entwideln lafjen, wie-
wohl ihr alemanniſch-fränkiſcher Grundftod ebenfo wenig ver-
fchieden geweſen fein dürfte wie die Neben der römifchen Koloniſten,
die von den Vogelenhängen nad) den Schwarziwaldbergen gebracht
worden find. Warum dann freilich” die Hardthügel bei Neuftadt,
Dürkheim, Edenkoben uſw. einige der feinften Weine der Welt
erzeugen, die hart Hinter den beiten Sorten vom Rhein und
der Mofel fommen, während gegenüber auf der badifchen Seite
vom Rhein bis zur Tauber nur ländliche Gewächſe gedeihen, ift
ebenſo ıwmerflärlih wie die Tatjache, daß der linksrheiniſche
„Pälzer“ derber und beweglicher ift als der rechtsrheiniſche
ernftere und gejeßtere Badenfer. Die körperliche Erfcheinung
weift auf eine reinere Erhaltung des alten Franlenftammes rechts
vom Rhein, wo zwilchen Karlsruhe und Mannheim einer der
hochwüchfigſten Stämme des Deutfchen Reichs fibt. Die Pfalz
348 Süöwefdeutfhhe Wanderungen
dagegen hat, wie ſchon die Familiennamen zeigen, jehr viel fran-
zöſiſches Blut aufgenommen, und vielleicht ift am Fuß ber Harbt
auch mehr römiſches lebendig geblieben als im Lande zwiſchen
Schwarzwald und Odenwald. Der badiiche Anteil der Pfalz liegt
weniger frei, ift aud) weniger ‚Stärmen außgejeßt geweſen.
nicht ganz vollendete Verjenlung. Im badiſchen Lande nennt
man fie mit den unberühmten Namen Kraichgau und Bauland.
Diefe Gaue dürften auch heute nur von wenigen Fremden durch⸗
wandert werden, benn weder ihre Natur noch ihre fonftigen
Denkwürdigkeiten bieten Anziehungen für die Menge. Runftfreunde
beſuchen in Bruchſal dad Rokokoſchmuckkaſtchen bes bifchöflichen
Schlößchend, wobei fie einen fcheuen Blid auf das halbrunde,
fenfterreiche Zellengefängnis werfen, das beſonders durch die
Erinnerungen einiger Revolutionäre auß dem Sabre 1849 bes
rühmt geworben ift. Freunde der Reformation ftatten dem ftillen
Bretten einen Beſuch ab, um ehrfurchtsvoll dem bier gebomen
Melanchthon ihre Neigung zu beweilen. Sie müfien aber beutlidy
nad Melanchthon ‚fragen. Denn Bretten hat nod) eine andre
Berühmtheit, die in weiten Sreifen viel mehr Teilnahme weckt
als die Erinnerung an den — ich gebrauche die leiſe tabelnden
Worte eines Apothelers der Gegend — früh aus feiner Heimat
fortgezognen Melandithon, ber zwar ein berühmter Mann ge-
worden jei, aber für Bretten ober fein Bezirksamt weiter nichts
mehr getan babe. Dieſe zweite Merkwürdigkeit ift das „Brettemer
Hundle,“ ein urmythiſches Geſchöpf, das alle Völker Europas
Iennen. Bei einer Belagerung durch die Schweden fchidten die
außgehungerten Bürger das gemäftete Hündchen ind feindliche
Lager, deſſen Anführer über den fetten Anblid außer aller Faſſung
geriet und die Belagerung aufhob. Ebenfalls in die Schwebenzeit
führt ung der nicht ganz mythifche, fondern zum Glück vollbezeugte
Opfertod der Pforzheimer Bürger in ber in berjelben
geihlagnen Schlacht bei Wimpfen, ein llaſſiſches Beifpiel der
gerade im mittlern Baden jo recht ausgeprägten Yürftentreue
bed Volkes.
Aus diefem Lande nad Dften führen gutgehaltne aber
ftaubige Landftraßen den Wandrer Welle auf, Welle ab. Geht
er im Muſchelkalk, fo ift der Staub weißgrau, gebt er im Keuper,
fo ift er gelblichgrau und ein bißchen weniger reichlich. Sonft
ift fein großer Unterjchied. Die Wellen find glei mild, eine
Südweftdeutfhe Wanderungen 349
gleiht der andern zum Verwechſeln, nur trägt die eine einen
dunkeln Waldichopf, wo die andre von einer Eyflopenmauer von
Kallplatten gekrönt tft, die ein fleißiger Bauer aus feinem fteinigen
Acker berausgelefen und zufammengetragen hat. „Hinten“ im
Gansſchmauſerland, in der Gegend von Buchen und Krautbeim,
werben dieſe Mauern beängftigend lang und breit, dort ift eine
der fteinreichften und Tornärmften Gegenden ded Landes. Wie
Haſen von Yruchtbarkeit find die fetten Auen und Hänge des
Neckartals, des Taubergrundes und des Maintals zwiſchen bieje
höhern und rauhern Striche hineingelegt, und es ift bezeichnend, wie
fih auch bier das geichichtliche Veben an das Waſſer angeichloffen
dat, wie eine Pflanze, die Feuchtigkeit braucht, um zu gedeihen.
Bon den vielen, die alljährlich Rothenburg ob der Tauber
beiucdhen, deſſen Bebeutung als Schahläftlein der ftädtiichen Re⸗
aaiffancenrdhiteltur nach unfrer beicheidnen Meinung übertrieben
wird, gehn fehr wenige ein paar Kilometer rechts oder links
ind Land hinein. Und doc würde ſichs verlohnen, den Gegenſatz
der Mufchellalhochebene zu dem breit eingejchnittnen Taubergrumd
tennen zu lernen. Der Volksmund hat wieder einmal Recht, wenn
er bier nicht von Tal, fondern von Grund ſpricht. Das Wort
wird unter ähnlichen Umftänden von den grünen Flächen ge⸗
braucht, die in den Sanditein der Sächfiichen Schweiz gleichjam
verjenkt find. Der Taubergrund liegt wie ein grüned Band zwiſchen
den flachen Wellen bed grauen Kalle. Biel Iohnender als immer
nur die Giebel und Mauern Rothenburgs zu bewundert, wäre
eine Wanderung von Rothenburg über die Höhen, die Schlingen
der Tauber abjchneidend, nad) dem faubern Mergentheim, deutich-
ordenegeihichtlichen Namens, über das römerfundberühmte Lauda
und Tauberbifchofsheim nach dem fchönen Wertheim. Es wäre
eine der an gejhichtlichen Erinnerungen und Dentmälern reichiten
Wanderungen, die man an einem Heinern deutichen Fluſſe Hin
irgendwo unternehmen könnte. Es würbe freilich dem Wandrer
nicht eripart bleiben, auf der Höhe über Tauberbiſchofsheim die
zerichoffene Feldlapelle zu beiuchen, an deren Wände 1866
Ichwerverwundete Württemberger die Grüße Sterbender an das
fliedende Leben jchrieben. Er würbe aber dort auch verfühnende
Worte gemeinfamer Siegeszuverficht lefen, die im Juli 1870
württembergilche und babijche Soldaten vor dem Ausmarſch nad)
Frankreich eingegraben haben. Tauberbifchofsheim, vor der Eifen-
bahnzeit der Typus eines Hinterlandftäbtchens, wo ein ftillftehendes
Kleinbũrgertum ärmlich und behaglich und im allgemeinen etwas
850 Sũdweſtdentſche Wanderungen
ftumpffinnig lebte, ift heute ein regjameß, fortichreitendes Städtchen
geworden, dag nicht mehr fo tief unter dem aufgellärten, vom
Mainverkehr berührten und von löwenſtein⸗wertheimiſcher Jürften-
gunft beichienenen Wertheim fteht.
Man würde Wertheim die Perle des Teaubertales nennen
müfjen, wenn es nicht doch mehr den Main angehörte. Mögen
fi) die Rothenburger nicht gekränkt fühlen, gegen die Ratur
fann man nun einmal nit an. Bon allen deutichen Städten
gleicht Wertheim am meiften Heidelberg, natürlid in verjü
Maßftabe. Der Main Tann es hier mit dem Nedar, die be-
waldeten Hügel am rechten Mainufer können es mit dem Heibel-
berger Schloßberg und der Molkenkur aufnehmen; die Wertheimer
Burg iſt eine der jhönjten unter ihresgleichen ; eiwad einziges
wie da8 Heidelberger Schloß ift fie allerdings in feiner Weile;
dafür ift ihr nun auch die Schmad eripart geblieben, dat ein
Wirtshaus über fie gejeht tworden ift, wie es das Heidelberger
Schloß und die ganze Landſchaft verunftaltet.
Der Wandrer kann, wenn er will, feinen Fuß noch weiter
feben und in Miltenberg den durd) Luthers Aufenthalt berühmt
geiwordnen, bochgiebligen alten Gafthof zum Rieſen bejuchen,
wobei er allerdings aud) an den Bauernkrieg wird denken nrüffen,
deſſen Haffiihe und blutigfte Stätten: Roſenberg, Sagftfeld,
Würzburg, bier herum Liegen. Nicht weit davon kann er auch
ein Stüd portugiejiicher Geichichte mitten in diejen ftillen Winkel
Deutſchlands Hineinfladern jehen, denn ob Brombach erhebt fich
die Gruft der katholiſchen Löwenfteine, in der Dom Miguel be-
ftattet iſt. Wielleicht zieht aber der Wandrer vor, von diefem
langen Gang durchs Zaubertal im gaftlidien Wertheim auszu-
rubn, wo ihm einer der edelften, wegen feiner geringen Menge
wenig befannten Frankenweine, genannt Kalmut, ein braungoldnes
Getränk von faft beängftigendem euer, winlt, während das jehr
nahe bayriſche Kreuzwertheim ein Bier von gediegnem Rufe brant.
Das Land umber ift geritenberühmt.
Es wird dem Wandrer aud nicht leicht an trautem Wechſel⸗
geipräch fehlen, das gut zum Ausruhn ift. Das Volk ift zutraulich
und von fränkiſch⸗leichter Auffaſſung. Als ich zum letztenmal in
dieſem Gan weilte, war mein Tiſchgenoſſe ein badiſcher Poſtillon.
der ſich bitter über die bayriſchen Kollegen beſchwerte, die ihn
bänfelten, daß er nicht mehr großherzoglicher, jondern Reichs
poftillon fei. Sein Schlußſatz lautete ungefähr: Dad will ich
gar nicht unterfuchen, ob ein Reichspoſtillon nicht doch am End
Südweftdeutfche Wanderungen 351
grad foviel ift wie ein blauweißer; das fteht aber feft, daß die
Blauweißen befjer täten, auf ihre Landitraßen zu fchauen, daß
fie beffer unterhalten werben. Jetzt iftd eine Schand; wenn man
auf die württembergifchen kommt, iſts jchon nicht mehr rechtes,
aber die bayrifchen find noch weniger nu. Einſtweilen fahren
wir in Baden noch am beiten. In Heſſen ſolls jebt ziemlich
ordentlich fein.
Ich lächelte in mich hinein: O du glücliches Volk der Mitte.
Die Nedereien zwiſchen den Angehörigen verfchiedner Stämme
und Staaten, die in der ganzen Welt vorkommen, treten natür-
li in einem Örenzlande wie Baden ganz bejonderd hervor. Es
tft für die Kenntnis der Volksſeele auf beiden Seiten, der ur⸗
teilenden und beurteilten, wertvoll zu wiſſen, welche Meinungen,
Neigungen und Abneigungen ſich ausgebildet haben. Denn merk⸗
würdigerweiſe handelt es ſich dabei nicht um bie tiefen Unter-
fchiede, fondern um die feinern und feiniten Schattierungen von
Begabungen und Gewohnheiten. Der Bauer von ber Harbt
(Gegend von Karlsruhe) fieht im Pfälzer, von dem ihn nur
der Rhein trennt, einen lebhaften aber etwas geſchwätzigen und
windigen Nachbar; er kauft im Zweifeldfalle mit mehr Vertrauen
von einem Schwaben als von einem „Drimmesriiwwer“ (Drüben-
berüber), wie er den Pfälzer nennt. Für den Pfälzer dagegen
ift der badiſche Nachbar, ſoweit er oberhalb Mannheims wohnt,
ſchon ein halber Schwabe. Auf den Schwaben aber fchauen beide
Angehörige der nobilis gens Francorum als auf eine bejchränftere
oder doch Langfamer dentende Abart Binab. Der „Dumme Schwob“
tft ſprichwörtlich; und doch kann darüber kein Zweifel berrfchen,
daß der Schwabe mehr gefchichtliche Zeugniffe für hervorragende
Begabung aufzumeilen Hat als der Badenfer von der Tauber
bis zum Bodenſee. Beſonders auch auf dem politifchen Gebiete
haben fi} die Schwaben in ihrem prädtig geichloflenen und ab⸗
gerundeten Württemberg jicherli viel verftändiger benommen
als die immer zwiſchen Exrtremen ſchwankenden Babenjer. Auf
deren Rechnung ftehn jeit der Einführung der Verfafjung viel
mehr und größere politifche Schwabenftreihe als auf der der
ſchwaͤbiſchen Nachbarn, folange e8 ein Württemberg gibt. Ihren
Ruhm, politiich vorgeichrittner zu fein als alle andern Deutichen,
haben die ſanguiniſchen Badenjer bis auf den heutigen Tag teuer
bezahlen müflen. Das bat fie aber nicht abgehalten, auf den
Schwaben hinabzufehen. Einen merkwürdigen Beleg der badischen
Überlegenheit liefert die Tatſache, daß dieje großen Politifer noch
9353 Sũudweſtdentſche Wanderungen
nie eine größere Beitung zuftande gebradht haben. Sie leſen
landauf landab die Frankfurter Zeitung, jo wie früber das
Sranffurter Journal, die Straßburger Bolt, den Schwäbiſchen
Merkur. Die Badiſche Landeszeitung, Landesbafe genannt, ift
das größte, aber zugleich engherzigfte fanatiſch nationalliberaie
Blatt Badens. Entiprechend find die ultramontanen Blätter ge
ſchrieben. Die Mafie ift farblos und kraftlos.
Eigentümlich und beſonders intereflant ift das Verhältnis
der Drei Bweige des alemannilchen Stammes, die am Überrhein
zufammenftoßen: badiſche Oberländer, Elſaſſer und Schweizer. Die
Alemannen find unter allen deutichen Stämmen der einheitlichfie;
aud) die des Algäu und des Vorarlberg find den weſtlicher
wohnenden fehr ähnlich. Früher haben fie das auch ſelbſt anerfamnt.
Man nehme nur das Leben Johann Peter Hebels mit feinen
innigen Beziehungen zur Schweiz und feinem geivaltigen Ente
eu die eijäjfide Dialeltliteratur. Hebel ift der Vertreter des
iſchen Gemeinbewußtſeins, das ſich allerdings
eh bald durch die politifchen Grenzen Deutjchlands, Frankreichs,
ber Schweiz wieder trennen ließ. — find die badiſch⸗elſaſſiſchen
Beziehungen noch bis 1870 in engen Freien jehr warm ge-
blieben; Familienbande, die jeitdem zerriffen find, waren biß dahin
gepflegt worden, und Straßburg war troß der Zollſchranken die
alte Hauptftadt auch für den gegenüberliegenden Zeil von Baden.
Der franzöfierende Elſaſſer verjpottete die Sleinftaaterei der
benachbarten „Schwowe,” aber der Bürger und der Bauer des
Elſaß hegten das lebhafte Gefühl der Verwandtſchaft, das fich
erft von der Enfiöheimer Gegend an auf Grund alter geſchicht⸗
licher Verbindungen mehr dem fchweizeriihen Alemannentume
—
Für den unbefangnen Betrachter hob ſich gerade von dem
Schweizer ſowohl der badifche wie der elfäffiiche Alemanne bu
die übereinftimmende Eigenschaft einer gewäen Weichheit und
Nachgiebigkeit ab, die den Eigenfinn der Einzelnen nicht aus⸗
ſchließt. Ob fi) nun die feäftigern Zeute des alemannikhen
Stammes in die Alpen gezogen haben, oder ob die Burgunder,
deren Refte man in der Weſtſchweiz vermuten darf, ein beſonders
zedenbafter Stamm geweſen find, weiß niemand zu jagen. Viel⸗
leicht genügt aber zur Erklärung der bärtern, Inodjigern Büge,
die das Volk jenſeits des Rheins und des Bodenſees merklich
auszeichnen, die Einwirkung ber ben Körper und bie Seele
ftählenden Gebirgsluft und überhaupt ber Gebirgänatur. Wer
Südweftdeutfche Wanderungen 353
von den weichen Oberdeutichen in Bauſch und Bogen redet,
vergikt, daß an Kriegsruhm und Staat3finn fein deutſcher Stamm
dem ſchweizeriſch⸗ alemanniſchen voranfteht. Daran ändert gar nichts
bie Neigung des Badenjers, feinen freundnachbarlichen Spott über
Die militärijchen Beftrebungen der Schweizer außzugießen, die im
ganzen achtunggebietend find, im einzelnen aber natürlich viel
Lächerliches haben. Seitdem aber die ſchweizeriſche Miliz durch
einfichtige und energijche Führer weſentlich nach deutſchem Grund⸗
gedanfen reformiert ift, fieht ber benachbarte Süddeutſche das
Kriegsweſen der Eidgenofien wieder mit günftigerm Blid an. Er
ertennt mit alemannifcher Billigleit an, daß der Deutſchſchweizer
doch ein natitrliches Talent zu ſtrammem Auftreten bat, Daß
der liederliche franzöfiihe Pumphoſenſchnitt aufgegeben worden iſt,
bedeutet nur eine Äußerlichkeit, aber die Haltung hat entſchieden
dadurch ſchon gewonnen. Man fieht jegt Schweizer in Uniform,
die das „Herausdrücken“ der Waden verftehn, als Hätten fie bei
der Garde in Berlin Parademarſch ftudiert.
Der Badenfer hat ja auch fonft allerlei an dem Schweizer
auszuſetzen, und umgelehrt. Und doch, wie eng hängen bie Sander
geſchichtlich zuſammen. Man kanrı jagen, fie haben eine gemein-
fame Geſchichte von taufend Jahren von den Römern an. Die
Bähringer haben auf heute fchweizeriichem Boden früher eine
rühmliche Tätigkeit entfaltet al3 auf dem, wo das badijche Fürften-
haus ihnen entſproſſen it. Man braucht nur an die Bedeutung
diefer Dynaftie in der Weſtſchweiz zu erinnern, die ſich in ber
Geſchichte Bernd und Freiburg im Üchtland ausprägt. Ihre
Stellung ift auf die Habsburger übergegangen, die fie nicht jo
glücklich zu wahren wußten. Kann man die Gejchichte von Glarus
Schreiben ohne die Sädingens, der alten klöſterlichen Schuhherr-
[haft und der Stadt des heiligen Fridolin? Won dem gemeinfam
alemanniſchen Grundftrom, der die Schweiz mit Oberdeutichland
auch dann verwandtichaftlich verband, als fie ald Eidgenoflenfchaft
tatſächlich und feit 1648 rechtlich von Deutjchland getrennt war,
zeugt jeder Blid auf die Nefte der Jahrhunderte in ländlichen
und ftädtifchen Bauwerken. Gerade wie im Sundgau, im Schwarz-
wald und in Oberfchtwaben find die Häufer einzeln und in Gruppen
finnig und fonnig in die Landichaft Hineingeftellt, wie es ber
jelbftändigen Natur ihrer Erbauer gemäß ift. Dasjelbe zeigt ſich
au in größern Anſammlungen. Man betradite ſich einmal
Zlüelen. Und wer von Waldshut oder Sädingen nicht etwa
nad) dem nahen Laufenburg ober Rheinfelden, fondern nach einem
Rayel, Glückzinſeln und Träume 23
354 Süöwefdeutfhe Wanderungen
jo ehe innerjcjweizerifchen Städtchen wie Bofingen ——
wird, den mutet dort die ee Arditeltur gerade fo
deutſch an wie das behäbige Leben der Bürger. Bafel, wo unfer
Hebel geboren ift, und wo er fi, weil er dort „daheim“ fei,
noch in feinem Todesjahr zur Ruhe ſetzen wollte, ift Die deutichefte
unter allen großen Städten ber Schweiz. Man muß einmal,
etwa aus Frankreich oder von jenſeits des Gotthard kommend,
auf der alten NRheinbrüde geftanden und die prächtige Front
geſehen haben, die Baſel dem dort ſchon mächtigen grünen Strom
zuwendet. Dieſe alten Häuſer mit ſteilen Dächern und Giebeln.
Galerien und Vorbauten, Gaͤrtchen und Baumgruppen, darunter
ſogar dunkle Fichten, geben über der feſten Ufermaner ein echt
deutſches Stäbtebild, ohne Plan und a 35 ohne —
J gefallen, höchſt ungleich, aber voll Rei
dem reichen Wechſel von Licht und hatten‘ wo —* intel
beftinmt zu fein fcheinen, das notdiſch fpärliche Licht aufzufangen:
der ftärffte — zu den großen einheitlich gefärbten und
deforierten Flächen des üblichen Städtebaues.
Politiſch hat Baden niemals mehr nachhaltig auf die Schweiz
gewirkt, wie ja überhaupt ſeit Jahrhunderten der offizielle und
der nichtoffiziele Einfluß Frankreichs, der Einfluß der Ideen umb
der Hingenden Münze, jeden andern zurüdgebrängt hat. Über
diefen und fein fett 1870 bemerkbar gewordnes, im Grunde fchon
feit dem Sonderbund beginnende Rückſchwenken wäre viel zu
jagen. Es gehört aber nicht in den ſñdweſtdeutſchen Rahmen,
wo es und viel mehr intereifiert, daß bie ſchweizeriſchen Alemannen
1849 bezeugten, baren die eljäffifcden nad) 1870 zu üben
verfucht Haben. Dazwiſchen bat fich freilich immer bie" freund-
nahbarlihe Abſtoßung gerade wie an andern Grenzen gezeigt,
d während in einigen Örenzgebieten republitaniihe Ideen
Burzel faßten, trat in andern das badiſche Staategefühl über-
rafchend ſtark hervor.
Für biefe Abſtoßung bes Ühnlichen kenne id; in ber ganzen
Ausdehnung der deutſch⸗ſchweizeriſchen Grenze fein fchönereß
Beilpiel ald die liebliche rebenbebedte Inſel Reichenau, die bie
deutiche Kaiſer⸗ und SKunftgeichichte von karolingiſchen Zeiten an
fennt und mit hohen Ehren nennt. Die mm 1500 Einwohner
zählende Inſel liegt im Unterfee, dem fchweizeriichen Ufer faft
ebenfo nahe wie dem babifchen. Ihr fchweizeriicher Verlkehr tft
Südweftdeutfhe Wanderungen 355
immer beträchtlich gewejen. In Dampfbootverbindung fteht fie
heut überhaupt nur mit dem fchweizerifchen Ufer. Die Reichenauer
haben aber 1848/49, als Konftanz das Hauptquartier der be-
fonder8 von Zürich aus geſchürten Revolution im Seekreis mar,
ein in diefem Teile Badens faft einzig daſtehendes Beiſpiel von
Treue gegeben. „Se finn oft gnue von Konſchtanz go prebbige
fumme, 's bat ene awer niemand glaabe möge,“ fagte mir ein
alter Reichenauer. Als Großherzog Leopold in fein durch Preußen
von den Sreifchärlern gereinigte® Land zurückkehrte, verlieh er
ben Weichenauern für alle Zeiten das Recht, fünfzig Mann
Militär und dreißig Spielleute zu alten. Daß die Kleine Inſel
auch im Ernft ihren Mann ftellt, beweiſt das Kriegerdenkmal in
Mittelzell mit einer langen, in Stein gegrabnen Lifte von Mit-
fümpfern des 1870er Krieges. An einem Kreuzweg zwiſchen
Mittel- und Niederzell ift außerdem zur Erinnerung an zwei
in dieſem Kriege gefallne Neichenauer ein Steinfreuz errichtet.
Scheffel erzählte gern, wie er fi) unter den alten Schattenbäumen
vor dem Wirtshaus von Mittelzell bei einer Flaſche goldnen
Reichenauers in die karolingiſchen Kaiſer⸗ und Mlofterzeiten zurüd-
gedacht habe, und wie wohl es ihm fpäter nach 1870 wurde,
wenn er von Radolfzell berüberfuhr und in demſelben Schatten
die neue Kaiſerzeit überdachte, die ihn fo tief ergriffen und manches
in im, dem alten Großdeutſchen und Preußenhafler, umge⸗
wandelt hatte.
2
Soweit den Rhein Gebirge einfafien, wenden fie feinem
Tale ihre ſchönfte Seite zu. Der Unterfchied ift nicht immer
fo fchneidend wie im Wefterwald oder in der Eifel wo man aus
dem mittelrheinifchen Paradies jo oft nur zu einer öden, armen,
mit dünnen Schälwälbdern beftandnen Hochfläche emporfteigt. Aber
auch in dem durch feinen Waldreichtum an ſich jo anziehenden
Odenwald, der noch immer hochftämmige Eichen nährt wie zu ber
Beit, da Siegfried am Stegfriedsbrunnen, den man bei Fürth i. O.
zeigt, erichlagen wurde, gliedert fi) bie rheinwärts gefehrte
Seite, die Bergftraße, als bewegtere und lieblichere Landichaft
ab. Ihr kommt es zugute, daß durch die Einfchnitte ihres be-
wegtern Profils höhere Waldberge ernft in die hochkultivierte
Bandfchaft herüberfchauen. Vom Schwarzwald Löft ſich aber der
Streifen der Vorberge wie ein Saum von Gärten los, bereichert
in der Breifadher Gegend durch das eigentümliche Vulkangebirge
28*
856 SüdweRdeutfche Wanderungen
des Kaiſerſtuhls, der ſich in langen Wellenhügeln zu flachen
Kegeln aufbaut. Daß dunkle Geftein fteht an wenig Stellen
aus dem üppigen Rulturkleid hervor, da3 vorwiegend aus Reben
zujammengefeßt ift. Der badiſche Weinbau erreicht bier einen
feiner Höhepunkte. Im Auslande kennt man die „Raiferftühler“
wenig, da fie nicht in großen Mengen erzeugt werben. Im
„Ländle“ aber ſchätzt man fie nad) Verdienft. Es ift darunter
ein natürlicher Schaummein, dem Afti verwandter ald dem Cham⸗
pagner. Auch an den Vogeſen, die vom Breiſacher Schloßberg
aus gejehen faft jo nahe zu ftehn fcheinen wie der Schwarze
wald — und beide find bier zum Verwechſeln ähnlich — zieht
fih in diefem oberrheinifchen Winkel, der der wärmſte Deutich-
lands tft, der bellgrüne, mannigfaltig in Weinberge, Ader und
Wieſen gegliederte und durch blühende Städtchen, Dörfer und
Burgen beliebte Rulturftreif noch höher hinauf. Er fchlingt fein
bunte® Band bis fechdhundert Meter Höhe um den Fuß des
walddunleln Gebirge.
Diefe Kulturftufe erinnert ſchon an den Süden. Der Harz,
der Thüringer Wald, der Bayriſche Wald find bis zum Yuß
bewalbet. Das tft ein nordiſcher Bug, daß fi die Guſdne Aue
zu Füßen der walddunkeln Sarzberge außbreitet und ſich jelbft in
die Täler nur fchüchtern hineinzieht. Beſonders auf ber Vogeſen⸗
feite gewinnt das Rheintal ungemein an Reichtum der Land⸗
ſchaftsbilder, die immer auch geſchichtliche und Kulturbilder find,
durch das Hinaufranlen der menſchlichen Werte und Siedlungen
an den Gebirgsflanken, ebenjo wie ihnen dann am Weſtabfall
ber mildere Charakter der lothringiſchen Hochebene zugute kommt,
die zwar der Rauhen Alb geologiſch und geographiſch entipricht,
aber ohne rauh zu fein. Beſonders der Landichaft von Meb iſt
ein warmer Ton eigen, man möchte jagen etwas an den Süden
Erimmernded. Der Mont St. Quentin von Dften geliehen, mit
feinem Buſchwald, feinem Neft zufammengedrängter Steinhäufer,
im übrigen waldlos, ift fchon fein deutjches Bild mehr. Es ift
ein verftärkter Typus der Weinbergslandſchaft: auf der fanften
untern Bodenanſchwellung Ader, Wiefen, Gärten mit den end⸗
loſen Hainen von Mirabellenbäumen, die 1870 umjern Soldaten
Zabung boten, darüber dad Dorf, dann beim fteilern Anftieg
die Weinberge, zulebt der Buſchwald. Es ift Feine Landichaft
bon großen Formen, aber fie bat die befondre Größe, die der
Landichaft eigen ift, die das für ein weites Gebiet Allgemein⸗
gültige zum Ausdruck bringt.
Südmweftdeutfche Wanderungen 957
Die Talöffnungen nad) der Aheinebene zu umfchließen die
fchönften und reichſten Bilder des oberrheinifhen Landes. Da
liegen Städte, deren Häufer fih an den Höhen hinauf» und in
einmünbende Täler bineinziehen, und gleich darüber fteht ber
dunkle Wald. Draußen nichts als ebene Üder und Wiejen, in
ber Ferne der GSilberhaud) des Rheins. Bon Höhenftufen aber
ſehen mit uns alte Burgen und erneuerte Kirchen ind Land
hinaus. Und ihrer find jo viele, daß fie von Berg zu Berg
einander ihre Eindrüde von der Welt da unten zuraunen könnten,
die wohl nicht fehr fchmeichelhaft für die haſtenden Menjchen
wären. Diefe Toren, möchte es da wohl lauten, glauben die
Welt umzuwälzen, und da unten fließt der Rhein wie vor tauſend
Jahren, und der Wald, der ihn umjäumt, ift jo friſch und mild
wie je, und Rhein und Wald und wir mit ihnen, wir überleben
Diefe atemlofen Geſchlechter. Mit dem eljäffifchen Dichter höre ich
noch andre Geſpräche in diefer Gegend, die die Berge des
Schwarzwald und der Vogeſen miteinander über ben Rhein
und über den Doppelfaum der Kiesbänfe ober Uferwälder weg
führen; ihr Gegenſtand ift die Nichtigkeit der Sonderungen, Die
die Menichen in das von Natur zufammengehörende legen wollen.
Der alte Rhein ftimmt raufchend mit ein. Ich überjchreite, ſolche
Gedanken im Sinn, den Rhein nach der Schweiz hin, wo Die
felben Burgen auf römischen Sundamenten auf Landſchaften von
bemjelben Charakter und ähnlich geartete Menſchen hinabſchauen.
Ein großes, durch gleichen Urfprung und gleiche Geſchichte ver⸗
bundnes Land, das Erbe der Staufer und der Habsburger, ſchließt
fi) vor meinem geiftigen Ange wieder zufammen, und der Hori⸗
zont dehnt ſich immer weiter nad) Süden zu, biß das blaue
Mittelmeer an provenzalifchen Geftaden auftaucht: der alte burgun-
diſche und arelatifche Anteil des Deutichen Reichs, der natürlichite,
die Alpen umgebende Weg Südweſtdeutſchlands zum Meer.
Baden und Elſaß, Pfalz und Aheinhefien jamt dem untern
Mainland erfcheinen mir in einem goldnen Lichte, wenn ich an
die Zeit zurüddente, wo bier da8 Herz des Reichs ſchlug. Hat
und ber von den neuern Geſchichtſchreibern Deutſchlands jo viel
gepriefene Drang nad) Dften, dem dad Verbrängtiwerden aus
bem Weſten folgte, wirklich Erſatz gebracht für den Verluft der
Rhone- und Alpenwege nach Süden und der Rheinmündungs-
ande im Nordweiten? Wirb die Zeit fommen, wo fi die Sad-
gaflen aufichließen, in die nun feit vielen Jahrhunderten daß reiche
rheiniſche Leben ſüdweſt⸗ und füboftwärts bineindrängt? Man
358 Südweftdeutfhe Wanderungen
würdigt wohl nicht genug diefen Gegenſatz zwiſchen Nord⸗ und
Süddeutfhland, daß Rorddeutichlaud die ihm von Natur gehörige
Meereslage und Küfte bat, während Sübdentichland nicht ein-
mal mehr über die Alpenwege verfügt, die zum Mittelmeer
führen. Die Imbuftrie von Mülhaufen und von Augsburg Hat
die Zollichranlen vor der Tür, während Mittel- und Norbdeutich-
fand das freie Meer vor ſich haben. Norbbeutichland ift ein
natürlicher abgerundeter Körper, Süddeutichland einer, dem Lebens⸗
organe genommen find.
en Degraden allen Riff Te ken ae
Trümmern liegenden alten Schlofies von Baden, 5
naunt, ſchweift der Bid in die Aheinebene hinaus, nad) ber 5
zu beiden Seiten des ſchmalen Silberbandes der Dos bie dunkeln
Berge Badens in langen Wellen abdachen. Dumpfe Töne und
zerriffene Stüde einer Melodie der Kurmuſik ſchweben herauf
durch die üppigen Wälder der Edellaftanien zu ben Tannen ‚un
Fichten, die ſchon einen Derbern, mehr gebtsgßhaiten Wuchs zeig
Sie miſchen fi) mit den feltiamen Klängen der durch die —*
niſchen Doppelbogen des alten Schloſſes ziehenden Bergluft, die
zum Überfluß bie Saiten einer Kolsharfe berührt. Deutlich er
tennt man bon hier oben den eigentümlichen Aufbau des Bodens
der berühmten Bäderftabt, der im Grunde berfelbe ift wie bei
Heidelberg und Zreiburg: das Tor eine dem Strome zu fi
öffnenden Seitentales. Eigentümlich ift aber bei Baben die reiche
Gliederung der Talweitung mit der Ausmündung der Dos. Da
ift die Gruppe von Höhen im Norden, auf denen ſich dad nene
und das alte Schloß erheben, die wichtigite wegen bed Schutzes,
den fie der Stadt gewährt. Dann die des Fremersbergs im Süden,
und zwiſchen dieſen der fchön gemwölbte, jo recht zum Bau einer
Billenftadt auffordernde breite Hügel im Dften. Zwiſchen ihm und
den Nordhügeln lag die römiſche Aurelia, und liegt die alte Stadt;
bie neue zieht jich zwiichen ihm und deu Sandhügeln an der
Do8 Hin, auf beiden Seiten eine8 der herrlichſten Baumgange
der Welt, der Lichtenthaler Allee, und ſchon fängt fie nun am,
den Mittelhügel jelbft von allen Seiten ber zu überbauen. Bon
dem engen, bäujererfüllten Tal der Altftadt erhebt ſich eine
Schmale Stufe, auf der die Stiftskirche mit altbadifchen Zürften-
gräbern fteht, darüber eine breite mit dem neuen Schloß
und dem wundervollen Schloßgarten. Ein fonniger Dftobertag
unter den pfeilergetragnen Rebgängen, ben uralten Linden und
Ulmen dieſes Gartens, im Ringe der alles fo traulich umfafjenden
Südweftdentfche Wanderungen 359
Waldberge gehört zum ftimmungsvolliten der beutfchen Landfchaft.
Die milde Lage Baden? erlaubt es, daß noch im Dftober bier
eine ũberraſchende Menge von Palmen, Dracänen, Bananen ujw.
im Freien auf nordiihem Raſen vor dem Dunkel der Tanuen
und Eichen fteht: ein reiches Bild von einer Miſchung, bie
nirgeuds jo wiederkehrt. Freilich, es gehört aud die Yeudhtig-
feit dazu, in deren Menge und nachhaltigem Erguß dieje Rand⸗
landichaften des Odenwaldes und des Schwarzwaldes nicht zu⸗
fällig mit denen der Alpen wetteifern. Seidelberg, Baden und
Salzburg, dieſe herrlichen Städtebilder, ftehn in mander Er-
innerung nur wie Rauchbilder, d. h. höchftend der Vordergrund
ift grün, alles andere verhüllt ein Nebelichleier eine aus feinen,
enblofen Waflerfträhnen gewobnen Landregens. Selbft über die
Dinge im nächſten Vordergrund ift ein blauer Hauch gebreitet,
und in den Kromen der Bäume jchweben Iosgerifiene Wolken⸗
Hoden. Alles trieft und fchwillt durchfeuchtet.
Der don Norden fommende Wandrer fieht fi in Baden⸗
Baden zum erftenmal von Schwarziwalbbergen umgeben. Und
diefe Badener Berge gehören zu den jchönften des Gebirges.
Indem fie Baden-Baden faft von allen Seiten einfchließen — vom
neuen Schloß gejehen liegt ja die Stadt mit allen ihren Aus⸗
[äufern geradezu in einem Keſſel, und die gerühmte Milde des
Badner Klimas hängt weſentlich von dieſer Lage ab — zeigen
fie die denkbar größte Mannigfaltigkeit in der Abwandlung der
befannten Mittelgebirgsformen und in der Höhenabftufung; den
mehr kegeligen Geftalten im Oſten liegen die ftarf gemölbten,
im WWeften um den Fremerdberg gegenüber und zivtichen ihnen
ichließen die flachen Höhen Hinter Lichtenthal die Fette. or bie
einen wie die andern legen fi) die ſchönen Anſchwellungen
ntedrer Stufen. Es ift ein fchöner Rhythmus in dieſen Linien,
bei aller Einfachheit des Themas eine Fülle der Abwandlungen.
Inſofern mag hier der Wandrer das Weſen der Schönheit des
Shwarzwaldes und zugleich auch des Schweftergebirge® im
Weſten glei von Anfang vollftändig in fich aufgenommen
haben. Wieviel größere Berge und tiefere Täler er auch er⸗
fteigen und durchwandern wird, er wird immer wieder die Wellen-
linien des alten abgeglichnen Gebirges finden, in beren allge
meiner Übereinftimmung eine Fülle von anziehenden Beſonder⸗
beiten gegeben iſt.
Befonders aber forgen die Täler für Abwechſlung, im
Schwarzwald noch mehr ald in den Vogeſen. Wohl find die
360 Südwehdentfche Wanderungen
Täler der Vogejen nicht jo tief und auch oft nicht fo ſteilwandig
wie im füdlihen Schwarzwald. Aber daß fie fat alle aß
Wiejentäler mit weichem Raſen, Heinem, Harem, über Felſen
prudelndem Bach durch den dunkeln Wald beraufichauen und
ſchon von geringer Höhe in bläulicher Tiefe zu liegen jcheinen,
gibt ihnen gerade in der Vogeſenlandſchaft eine Bedeutung, bie
fi) nit an den Metern der Tiefe und Breite mißt. Und daun
baben alle dieje Täler Urjprungsgebiete, die das gerade Gegen⸗
teil der alpinen find. In den Vogeſen und im Schwarzwalb
ziehen fi) die Wiefentäler ſchön fanft und grün zu den Kmmen
hinauf, und diefe obern Teile umfchließen dann die breiteften
Wieſen und Üder der zeritreuten Weiler, die eben deshalb fo
oft von den Höhen in die grünen, unbewohnten Täler hinab⸗
fhauen. In den Alpen ift e8 umgelehrt. Da liegen die Dörfer
unten, wo fich bier der Wald von Hang zu Hang über das Tal
erftredt, und die Talanfänge find wüſte, ununterbrocdden von
Zawinen und Wildbächen umgewälzte Schuttkeffel. Über dieſen
grünen Zalanfängen ſchwebt etwas an die Ruhe des Alters er-
innernded. Wer dad „große Tal“ zwildden Hub und Dagsburg
durchſchreitet, vergleicht das Kleine Bächlein von heute und die
oberflädlich überhaupt ganz waſſerlos hereinmündenden Neben-
täler. Das Tann nicht immer fo gewefen fein. Wir wandern in
uralten Gebirgen, bei denen nur die Pflanzendede jung ift, und
da8 Menfchenleben und, verglichen mit der Geſchichte des Ge⸗
birges, felbft die Burgen aus Nömerfteinen ganz nahe am die
Gegenwart heranrüden.
Mit allen unfern Waldgebirgen teilen dieje beiden die Aus⸗
dehnung und Schönheit der Wälder. Schon Baden-Baden, Gernd-
bad, Wildbad und die andern jährlich mehr bejuchten Fremden⸗
orte des nördlichen Schwarzmwaldes bieten eine endloje Variation
von Waldwegen, und das ift gerade wie bei Eifenad) und Harz
burg ihre den meiſten zugänglichſte und verftändlichfte, die
meiften ergreifende Schönheit. Daß die Wege feltner in den
Tälern als an und auf den Hängen hinführen, ift die Urſache herr⸗
licher von Bäumen eingerahmter Ausblicke. Belonderd in den
nördlichen Vogeſen tritt die hervor, wo die Täler oft fo tief
und ſchmal in den bunten Sandftein eingefchnitten worden find.
Da jchmiegt fih der Weg in ganz eigentümlicher Weile dem
überall heruortretenden Geſteinskern des Berges an, defien braun-
rote Schihtenflädhen ihn wie auf natürlichen Stufen am Berge
Hinleiten. Biegt er ein, jo ift er wohl auf beiden Seiten von
Südweftdeutfhe Wanderungen 361
Felsvorſprũngen umdrängt, zwiſchen denen er ſich hindurchwindet.
Man iſt oft zweifelhaft, ob man auf natürlichen Buntſandftein⸗
platten wandelt oder auf einer alten römiſchen Pflafterung. Da⸗
mit find auch fteile Abfälle gegeben, wie der Schwarzwald fie
feltner hat Mit diefen Feldgebilden und daraus herbor-
wachienden Mauern und Türmen, ihren weit hinausgebauten
Kirchen und Kapellen, ihren Dörjhen auf hohen Talrändern
find die Vogeſen dad Land der Silhouetten. Das gilt ja ſogar
von Straßburg mit feinem hohen Münfterturm; und wie fcharf
zeichnet fi) Fröfchweiler auf feinem Höhenrüden ab! Am Fuße
der Berge find die Dörfer und Städtchen oft fo eng an den Ge⸗
birgsrand gedrängt, daß man von dem oben hinführenden Wege
nur ihre Kirchturmipige und die vorgefchobenften Häufer fieht.
Wo die Sandfteinguadern fo viele natürlihe Mauern gebaut
haben, ift die unmittelbare Bedeutung des Buntjandfteing für den
Burgenbau ſchon der Römer und mehr noch des Mittelalterd als
Fundament und Quaderbruch ebenjo flar wie die der phantaftifchen
Telsgebilde auf die Vollsphantafie und — die Phantafie der
Keltomanen. Wo ein Sandfteinfel® ein natürliches Fundament
ins Tal hinausbaute, mußte eine Burg darauf gejeßt werden, und
wo der Yeld eine natürliche Säule war, mußte er einen &renz-
oder Grabmonolith bedeuten. Der alte Sagenreichtum ded Elſaß
hängt damit ebenjo zufammen wie das wuchernde Gebeihen ber
modernen Keltenfagen in den Vogeſen.
Schwarzwaldlenner vermifien in den Bogejen bie male
riſchen Gruppen alter Holzhäufer. Sie fehlen nicht ganz, es liegt
aber nicht in der Befiedlungsweife der im Innern wenig be=
wohnten Vogeſen, jo zahlreiche hochgelegne Dörfchen zu haben
wie der Schwarzwald.. Die rechte Rheinſeite hat dafür nicht Die
Menge der alten Burgen aufzumeifen, die ſich in den Vogeſen
an manchen Stellen geradezu drängen. Die nädjite Umgebung
von Babern und Lützelburg hat deren fieben wohl erlennbare
und daneben nod) vereinzelte Trümmer. In Baden find aud) jo
interefiante alte Städtchen nicht häufig, wie in dem politifch einft
jo viel buntern und eigentümlichern Elſaß. Mit ihnen können
fi) einige der vor den Talausgängen des jüblidden Schwarz
waldes am Rhein Liegenden Städtchen, wie etwa Daß in ber
Kirchengeihichte des Oberrheins und ber Schweiz berühmte
Sädingen, die Stadt des Heiligen Fridolins, oder das einit ftarfe
Waldshut vergleihen. Die Nüchternheit der meiften babifchen
Amtsftädte bezeugt dagegen deutlih, daß niemand von ber
362 Südwehdeutfche Wanderungen
Bureaufratie, und wäre fie jo gebildet wie die badiſche, Schöpfungen
don eigner Art verlangen darf. Und man möge nidht vergeflen,
daß dad rechte Rheinufer von ſchwerer verwüftender not
in bemfelben Zeitalter heimgeſucht wurbe, wo fi) das finfe
unter Frankreichs Schub tiefer Ruhe erfreute.
Baden bat fich jedoch in feinen alten Biſchoſs⸗ und Fürſten⸗
ftädten, beſonders in SKonftanz, Freiburg, Baden-Baden und
Heidelberg, genug geichichtliche Denkmäler bewahrt, daß es jeinen
Nachbarn im Weiten nicht zu beneiden braucht. Ja in Raſtatt
und Karlsruhe verdankt es feinem Fürſtenhauſe Stäbte, die zu
den eigentümlichiten Deutſchlands gehören. Naftatt trägt die
Spuren des Markgrafen Ludwig auß der ausgeſtorbnen Baben-
Badenihen Linie, des Siegerd von Benta, bed Gefährten des
großen Eugen. Es iſt eine ausgeſprochne Militärftadt. Die
Feſtung und nad) der Feſtung die Garniſon haben die ——
derſchlungen. Einige Denkmäler erinnern an die Kriege mit
Türken und Franzoſen, der Stil Ludwigs des Vierzehnten ift
mit Glück nachgeahmt. Das Naftatter Schloß aber, breit, ge
räumig, impofant wie alle Rokokobauten, ift troß feiner Nutz⸗
barmachung als Kaſerne des dritten badiſchen Infanterieregiments
Nr. 111 eine traurige Ruine. Der Eindruck des Vergeblichen.
vollkommen Überflüffigen ift bejonder8 allen Bemühungen ber
Götter und Genien eigen, die in unzählbarer Menge die Binnen,
Giebel und Galerien bevöllern. Der vergoldete Jupiter auf ber
Spige der Kuppel mag noch fo gleißende Blitze fchleudern, fie
erreichen nicht das Bajonett des Heinen badiſch⸗preußiſchen Mus-
ketiers, der langweilig unten auf und ab fchreitet. Den edeln
und mannigfaltigen Bemühungen der mit allen Geräten, Waffen
und Früchten der Erde auögeftatteten fteinemen Götter ſpricht
die einförmige Übung des Stechſchritts Hohn, die die Rekruten
auf der Ebene der Sandwüſte hinter dem Schloß ausführen. Und
ganz bejonderd ergebnislos kommt uns die Anftrengung der
Genienpaare vor, die auf allen Seiten das badiſche Wappen
zeigen. Sie vermögen höchitend die Neugierde eines zufälligen
Beſuchers zu reizen, befien Aufmerkſamkeit im nächften Augen⸗
blick durch die jehr leſerliche Inſchrift: Kgl. Preußiſches Proviant⸗
amt abgelenkt wird. Jedoch geht ſeit der Niederlegung der
Walle Raſtatt als Mittelpunkt der badiſchen Rheintalbahnen, der
Murgtalbahn und der Linie nach Selz und Hagenau einer ge⸗
ſunden Entwicklung entgegen, die ſich ſchon in einem nicht ums
beträchtlichen neuen Bahnhofſtadtteil ausſpricht. Die firategifchen
Südweftdeutfche Wanderungen 363
Erwägungen des alten Türkenbeſiegers bei der Befeitigung Raftatts
find dur die Yurüdgewinnung von Straßburg hinfällig ge-
worden; zugleich wird aber durch dieſe Raſtatt einer neuen Blüte
entgegengeführt. Und das bat fich der alte Feldherr wohl nicht
träumen laffen, wieviel Weisheit auch feine mächtige Allonge-
perüde bededt haben mag.
Karlsruhe wird von vielen, die e8 nicht genau kennen, als
eine der langiweiligften Städte Deutichlands bezeichnet; feine
Sücheranlage ift allerdings fehr regelmäßig, und da es nicht
älter als hundertachtzig Jahre ift, kann es feine ehrwürdigen
Denkmäler umfchliegen. Ich teile jene Anficht nicht, finde viel-
mehr gerade in Diefer jungen Stadt erfreuliche Zeugniſſe dafür,
daß der diefen warm- und weichherzigen Südweſtdeutſchen eigne
Schönheitsfinn nicht bloß als ein gefchidhtliher Schatten dünn
und grau in alten Städten, Münftern und Schlöflern umgeht.
So herrliches er dort geichaffen hat, das Schönfte bleibt Doch,
Daß er lebendig geblieben if. Er war nur eingeldhlafen. In
einem Schlaf, den Not und Verkümmerung jo tief gemadht
haben, entjtanden die Armlichen Neuftädte mit den unglaublich
Heinen, abjolut ſchmuckloſen Häufern, die man hierzulande ein-
ftöckig nennt; in Wirklichkeit beftehn fie nur aus einem Erd⸗
geſchoß. Aber als Friede und Gedeihen einzogen, da wachte
ſogleich der alte Schönheitsfinn wieder auf. Karlsruhes Bau⸗
geiciäte zeigt die Stufen dieſes Auffteigens ſehr deutlich. In
der 1740 gegei ründeten Stadt gab e8 außer dem zopfigen Schloß
nur Kleines, Armliches; jogar die Minifterien und die Wohnungen
der Prinzen fahen nur größern Bürgerhäufern glei. In den eriten
beiden Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts mit der auf dieſe
dörfliche Reſidenz zurückwirkenden Vergrößerung Badens wurden
einfache Kirchen in antikiſierendem Stil, zwar nüchtern, aber
durch die großen Verhältniſſe wirkungsvoll von Weinbrenner
gebaut, der beſonders als theoretiſcher Kenner der antiken Bau⸗
funft geihäßt war. Das jebt durch den pompöſen Prachtbau
des Erbgroßherzogichloffes verbrängte „Schlößle,“ damals für
eine der Prinzejfinnen gebaut und fpäter von der Mutter des
regierenden Großherzogs bewohnt, entſprach als einfache Wille,
ſchmucklos, aber mit großen Räumen, auf originellen Felſenunter⸗
bau dem Streben nad größern Dimenfionen bei einfachſter Hal⸗
tung im Außern. Auch die innere Ausftattung dieſes Schlößchens
war bis zu feinem Abbruch einfacher als die von Taufenden von
Wohnhäufern und Villen moderner Geldproßen. In diefer Zeit
364 Südweftdeutfdhe Wanderungen
wohnten die Würdenträger des Hof unb des Staats und bie
Ariftofraten, die ſich in Karlsruhe niederließen, faft alle in der
Stefantenftraße in bürgerlich einfachen, äͤußerlich abſolut ſchmuck⸗
Iofen Häufern, die im Innern ein eben zureichendes Maß von
Bequemlichkeit hatten. In vielen waren die Wohnungen, wie
im Bauernhaus, gar nit vom Hausgang abgeichlofien. Der
Eintretende gelangte ohne Hindernis bis an die Eingänge der
Kühe, Wohn⸗ und Dienerzimmer, die alle in berjelben Flucht
lügen. Das Schöne an diefen Häufern war, daß ihre tiefen,
ſchattigen, obftreihen Gärten bis an den damals noch nicht
„angelegten“ Hardtwald reichten. In einem ſolchen Haus, das
Stadt und Land verband, hat Scheffel feine Knabenjahre ver-
lebt. Ich Habe nie eine ftillere Straße gejeben als dieſe. Man
mag da3 langweilig nennen, man kann e8 auch poetifch finden.
Sceffel Hat als Mann gern in diefer Straße gewohnt. Biele
Stumden des Tages Ionnte man fie durchwandern, ohne einem
Menichen zu begegnen. Die Bepflanzung mit Bäumen, wie in
andern deutichen Städten in den fünfziger Jahren durchgeführt,
hatte fie weſentlich verfchönert.
Mit dem Meifter des neuromaniſchen Stils, Hübſch, trat
ein neuer Abfchnitt der Baugefchichte Karlsruhes ein. Die Kunft-
halle in ihrer alten, jebt Durch Bergrößerungen weſentlich ums
geftalteten Form, das neue Theater zeigen einen feinen Sinn
und ein Vermögen, mit geringen Mitteln Großes zu wirken und
die romantischen Stilformen der Gegenwart anzupafien. Wenn
die Gefchichte der dentichen Kımft einft in einem das Kunſt⸗
gewerbe umfafienden Sinn gejchrieben werden wird, werben bie
Tonrelief8 des Hoftheaterd von Reich in Hüfingen hoffentlich
nicht vergeſſen werben. In dieje Zeit fallen die fchönen Bauten
Eifenlohr8, die beſonders durch die virtuofe Verwendung des
bimten Sandfteins herborragen. In den fünfziger Jahren war daB
Wohnhaus Eifenlohrs in der Karlsftraße eine Sehenswirrdigfeit.
Heute verſchwindet e8 neben dem pompöfen palaftähnlicdden Bau
des Bürgers ©. gegenüber. Auch der ältere Teil der Techniichen
Hochſchule gehört noch diefer Zeit edler Einfachheit an. Alles
Moderne ift gejchmüdter, wobei natürlich viel mehr Gelegenheit
zur Entfaltung gegeben war. Karlsruhe war unterdefien der Sik
einer Architefturfchule am Polytechnikum und einer Kunftichule
und einer der belebenden Mittelpunlte bes fübbeutichen Kunſt⸗
gewerbeß geworden. Uber wir ſehen nod immer mit Freude
die Anregungen jener einfach⸗ſchönen Bauweiſe nadyvirten, bie
Südmweftdeutfche Wanderungen 365
beſonders auch in der Verwendung ded ungetünchten Braun:
rot des Buntſandſteins ſchöne Vorbilder gegeben hat. Die ein-
fachſten Bauten der badiſchen StaatSbahn, aus grau bemorfnem
Baditein mit Fenfter- und Türeinfaſſungen aus buntem Sand⸗
ftein, konnten der Privatarchitektur zum Mufter dienen und find
mit großem Glück z. B. in neuen Familienhausanlagen Freiburgs
nachgeahmt.
Welche Wandlung bat dieſer neuerweckte Kunſtſinn aber erſt
in der alten Schwarzwälder Induſtrie bewirkt! Welcher Fort⸗
ſchritt von den karminroten Roſen auf dem weißen ſchön lackierten
Schild der Schwarzwälderuhr von einſtmals und den kunſtvollen
Aufbauten von geſchnitzten Wand⸗ und Regulatorengehäuſen, die
ein Beſuch der Ausſtellungen in Triberg oder der Uhrmacher⸗
ſchule in Furtwangen zeigt! Nicht früher als im Anfang der
fiebziger Jahre Hat dieſer künſtleriſche Aufſchwung begonnen, alfo
ziemlich gleichzeitig mit dem Erwachen aus dem allgemeinen
Verfall, der das Gewerbe jo ziemlich zwei Menjchenalter immer
tiefer aus dem römifch-franzöfiihen Stil des erſten Kaiſerreichs
durch den Biedermeierftil 6i8 zur äußerſten Verarmung der
fünfziger Jahre hinab geführt Hatte. Die Pariſer Ausftellung
atte zuerſt auf dem Gebiet der Uhreninduftrie eine jo große
berlegenbeit in der Ausftattung der Werke aus dem franzöfiichen
Jura über die der Schwarzwälder und Schweizer gezeigt, daß
man ſchon damald die Reform der Zeichen- und Schnipfchulen
ind Auge faßte. Zuerſt erſchien nun ein merkwürdiges Gemilch
des gewohnten Gewöhnlichen mit ſchulmäßig⸗klaſſiſchen und Re⸗
naiſſancemotiven, daß ſich ſehr feſtgeſetzt hat, und nur langſam
bat ſich das felbftändige Kunſtvermögen der Alemannen daraus
wieder erhoben. Die künſtleriſche Ausſtattung blieb nicht bei den
Uhren jtehn, fie hat fih auf alle Schwarzwälder Induſtrien
außgebreitet, und neue Zweige der Kunſtinduſtrie haben ſich be-
ſonders an die ſchon lange gepflegte Holzbildhauerei angefchloffen.
Die Aufgaben werben auch bier immer ſchwieriger, aber ohne
dieſes Aufraffen hätte der Wettkampf mit den Rachbarinduftrien
nur mit Niederlagen auf der ganzen Linie geendet, während nun
die Schwarzwälder Anduftrien ein zwar mühſames, aber ftellen-
weis immer noch recht erträgliches Leben führen. Auch fie gehören
zu dem, was im Schwarzwald den Wandrer anzieht und ihm
Sympathie mit dem ebenfo fleigigen wie findigen Volke einflößt.
Das Haufieren mit Schwarzwälder Holzwaren joll bis ins
frühe Mittelalter zurüdgehn, die „Slasträger“ haben ihre zuerit
366 Südweftdeutiche Wanderungen
jehr einfachen Gläfer wahrſcheinlich ſchon im fechzehuten Jahr»
hundert ins Rheintal und in die Nachbarländer getragen. Ein
Glasträger foll aus Böhmen im Anfang des fiebzehnten Jahr⸗
hunderts die erfte Holzuhr in den Schwarzwald gebradht haben,
die dann die geſchickten „Schnefler“ (Schnipfler, Schnitzer) nach⸗
machten, und aus der die große Schwarziwälder Uhreninduſtrie
hervorgegangen jein foll. Uber dad war überhaupt die Art der
Haufierer, daß fie von ihren Wanderungen alle mitbrachten,
was die Heimat brauchte, und die Heimat erhielt dadurch manche
Anregung zu neuen Erzeugniffen. Wie die Hanfierer organifierte
Gejellichaften bildeten, die in ale wieberlehrenden Verſamm⸗
Iungen der SHeimgelehrten in Triberg, Steig und andern Orten
ihre Abſatzgebiete verteilten, Preiſe beftimmten und fid) Geſetze
gaben, da8 möge der Leſer in Trenkles Geſchichte der Schwarzes
wälder Induſtrie (1874) nachſchlagen. Man muß den Hut ab⸗
ziehen vor dieſem Fleiß, diefer Selbftändigteit und diefem Sinn
für billiges, gejehlihes Handeln. Es gibt Taum ein Gewerbe
gebürgert hätten. Natürlich hat ſich keines ganz in dieſer Form
erhalten lafien, und beionders in ber Uhrmacherei Bat die Groß⸗
unternehmung an der Notwendigfeit der Verfeinerung des Mecha-
nismus und der künſileriſchen Ausftattung Bundesgenofjen er=
halten, gegen die ſogar jene Hanbfertigleit nicht auflommt, bie
einft die berühmten genauen Schlaguhren bis auf das lebte
Rabchen aus Holz zu jchaffen wußte.
Die Induſtrie hat fi) im Schwarzwalde hauptſächlich auf
en entwickelt, die ſich in breiten Wellenhũgeln, an Die
Schwarzwald öftlid)
abdachen. oſtlichen Teil, in der Baar, iſt dieſe Landichaft
— und reich an ftattlichen Dörfern. Die Breg, ber Donau-
quellfiuß, windet fih bier langſam durch Ihr —— zwiſchen
—— — hin. Wer in dieſem Tal aus der Alb dem Schwarz⸗
wald zuwandert, der mache in Donaueſchingen Halt, wenn auch
nicht wegen der ſchön gefaßten Donauquelle. Er betrachte ſich
und beſonders bie wundervollen Sammlungen, die ber Firft von
Fürftenberg dort vereinigt hat und mit freiem Sinn und frei⸗
gebig verwalten läßt. Die Bibliothek, die Urkundenfammlung, bie
Gemäldefammlung und das geologikkh-paläontologiihe Muſenm
Südweftdeutfche Wanderungen 367
ſind ebenfo viele bedeutende Sehenswürdigkeiten. Das Heine
Städten der Baar ift durch fie ein geiftiger Mittelpunkt ge-
worden. Lente wie Scheffel, Riezler, Baumann haben hier gelebt
und gearbeitet. Wie gut wäre e8, wenn viele Glieder unſers
hohen Adels dieſes Beiſpiel nachahmten; und wie viel beſſer noch,
wenn fie nad) dem Beiſpiel eines Duc de Broglie, eine Duke
of Argyll felbft mit Hand anlegten. Krupp bat nicht bloß ein
interefjanted Waffenmuſeum, jondern aud) eine jchöne geologifche
Sammlung zu zeigen, und feine Privatbibliothel ift anfehnlich.
Der verftorbne Gruſon hatte die ſchönſten Orchideen und Kakteen,
die in Deutichland eines Privatmanns Garten zieren. Es ließen
fi) noch viele Namen nennen. Uber im allgemeinen ift das
alleß gar nichts im Verhältnis zu dem, was bei uns Staat und
Körperichaften für Wiſſenſchaft und Kunſt leiften müffen, und noch
mehr außer Verhältnis zu den Mitteln jener Leute. Um fo er-
freulicher ift da8 Bild, das Donaueſchingen gewährt. In dem an
feltenen Bäumen reichen Schloßgarten erhebt ſich dad jebt eben
vollendete neue Schloß als ein ftolzer Renaifjancebau, neben dem
das aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ftammende
„alte* Schloß nur ein gemütliches ländliche Herrenhaus von
etwas größern Verhältnifien tft. Dieſes war feinerjeitS an bie
Stelle des Hüfinger Schlofjeß getreten, das einer ganz andern,
fefte Mauern und fichere Gänge Tiebenden Beit angehörte. Die
neuen fürftlichen Bauten in Donaueſchingen erinnern auffallend
an Karlsruher Vorbilder, durchaus nicht zu ihrem Nachteil; fie
find von einheimischen Künftlern entworfen und ausgeführt.
Die Fürften von Yürftenberg find ſtolz, die Herren ber
Donauquelle zu fein, in die in Eräftigern Beiten die hoben Be⸗
fucher bineinfprangen, um ein Glas auf daß Wohl der Herrichaft
zu leeren. Die Gelehrten wollten ihnen dieſen ſchönen Beſitz
ftreitig machen, indem fie ſagten: Wohl entfteht die Donau bei
Donaueſchingen durch die Bereinigung der Breg und der Brigady,
aber deren Quellen find die Donauquellen. Hier jagt man aber:
Der aus der Donauquelle im Donaueſchinger Schloßhof heraus-
fließende Bach vereinigte fich früher mit der Breg und Brigach
bei deren Zufammenfluß und hieß Donaubach. Alſo liegt hier die
Duelle. Einerlei, die offizielle Donauquelle ift ein großes, ungemein
Mares Waſſer in einem freißrunden Beden mit monumentalem
Steingitter. Den Zweifler belehren monumentale Infchriften und
Bilder. Auf der einen Seite „Bis zum Meer 2840 Kilometer,“
auf ber andern „Über dem Meer 678 Meter,“ darüber thronenb
368 Südweltdeutfhe Wanderungen
eine Duellnymphe, zu deren Füßen ein Rind die Duelle aus
voller Vaſe ausgießt, und endlich im Kreis die Steinbilder des
Tierkreiſes. Das Ganze, von Linden und Ahornen überjchattet, ift
ein reizendes Stüd Natur und Kunſt, dem wir nur Die leeren,
zweckloſen, gemeinen Zinkvaſen auf der Baluftrade wegwünichten.
Donauefchingen liegt frei auf weiter Hochebene. Gehn wir
dem Schwarzwalde zu, jo treten breite, fladye Höhenzüge erft
noch weit auseinander und lafien den Blid in die Ferne ſchweifen;
dann nähern fie fi einander und führen jachte ind Gebirge
über, indem fie den Fluß und den Weg von beiden Seiten immer
mebr einengen und ihre hohen Tannen näher heranſchieben. Dabei
wird da und Dort in ber Flußrinne der Felsboden fichtbar, erft
roter Sandftein, dann Granit, und zulegt rinnt das Waſſer an
dunkeln Yelsblöden Hin, die fid) von dem ganz überraften Tal⸗
boden abheben. Das ganze Bregtal bis auf die Höhe hinauf
ift aber immer nur von denfelben flachen Wölbungen eingerahmt,
und aud) in der Ferne taucht fein höherer Gipfel auf, bis bei
dem neuerdingd von Sommergäften viel befuchten Oberbrand
plößli Dad ausgedehnte Alpenpanorama im Süden und die jüb-
lihen Schwarzwaldgipfel im Weiten auftauchen, worauf dann
über NReuftadt auch der höchſte Schwarzwaldberg, der Feldberg,
erfcheint, der zwar an Höhe, kaum aber in der Form die be⸗
ſcheidnern Wölbungen übertrifft. Er zeigt im oberften Teil eine
leihte Abweichung von der einfachen flachen Kurve, eine Ans
näherung an einen Gipfel, der aber doch flach if. Und fo kommt
man eigentlich auß dem Hochebnenhaften nicht heraus, biß man
in das Höllental Hinabfteigt, wo der ſchmale Taleinſchnitt das
Großartige bewirkt, das die Erhebung nicht vermochte. Bei
dem kühnen Felfenturm des Hirfchiprungs erinnert man fi an
ahnliche Bildungen im obern Bodetal und an fo manche andre
Felsklippen an den Hängen dieſes oder jened Mittelgebirgstales.
Es zeigt fi) darin das allgemeine Geſetz, daß die ſcharfen Formen
in unjern alten Gebirgen nicht wie in den Alpen den @ipfeln
und Kämmen, fondern den Taleinjchnitten angehören. Deswegen
ift auch das ſchönfte am Fseldberggipfel, der mit feinem gaftlichen
Haufe dort herüberwinkt, genau wie beim Broden, der Rundblick,
der hier allerdings ein Ulpenpanorama umfaßt, wie man e& in
den Alpen felbft nicht findet, und Dazu den Blid ind Rheintal
bis in die Vogeſen Hinein.
Die Hochebene der Baar ſenkt fi) al ein ununterbrochen
wohl angebautes Land zum Bodenſee hinab. Im Welten tauchen
Südweftdeutfhe Wanderungen 369
an ihrem Rande die Tallgrauen Abfälle des Nanden und die
altoultanifchen Kegel des Hegau hervor. Das Nordufer des
Bodenſees aber gehört zu den ausgedehnteſten Weinlandichaften
Deutichlandd. Won den Höhen hinter dem mauer- und türme-
reichen Meeröburg, wo da8 Grablirchlein herabichaut, neben dem
das rührend einfache Grabbentmal der Annette von Droſte⸗
Hülshoff fteht, bis über Hagenau hinaus ift der ganze fanfte
Abhang ein einziger Weingarten; das lichte Mattgrün der Neben
bedeckt einförmig dieſes Geftade, jo wie in Flachlaändern Wiejen
oder Nübenfelder weite Flächen einnehmen. Steigt man auf
engen Wegen die heißen Wände hinauf, mo der edelfte Seewein,
der Meeröburger, außgebrütet wird, jo fieht man auf der Hoch⸗
ebene Hopfengärten, Obftbäume, Kleefelder, aber meilenweit fein
Getreide. Dahinter fteht in der Ferne wieder der dunkle Rand
des Waldes.
3
Vor der Sägemühle an der Landftraße, Die fi) nach dem
grauen ummauerten Pfalzburg hinaufwindet, fiße id) am Holztiſch
und fchaue in die duftigen, blauen Waldberge der Vogejen hinein.
Talauf talab hallt da8 Singen der Säge und das Fallen der
Bretter. Der Harzgeruch des friſch zerichnittnen Holzes würzt
die feuchte Luft. Hart vor mir ftehn Die erften Tannen, und
Tannen erfüllen den vielgeftaltigen Geſichtskreis rechts und links
und vor mir. Der faft regelmäßig flache Regel des Schneebergs
it bi8 oben mit Tannenmwald befleidet. Ich bin drei Stunden
gewandert, habe wenig Föhren und zahlloje Tannen gefehen und
babe kaum einmal ihren Schatten verlafien. Ihr Wurrzelgeflecht,
da8 über den Boden hervortritt, bat mir den Weg herauf er-
leichtert; man fteigt auf dem Fußpfad wie auf Holzitufen von
einer Wurzel zur andern. Der Duft ihrer nahen Zweige weht
mit der Abendluft talaud. Diefe Taufende und Abertaufende
von Tannen, kräftig alle im Gewand ihrer ftraff anliegenden
filbergrauen Rinde und mit den breiten Schirmäften, fcheinen
wie eine Armee über die runden Berge im Weften berzumar-
ſchieren und mit unmiberftehlider Kraft ins Rheintal hinab⸗
zudringen. Sin den Schluchten fchieben ſich dieſe dunkeln Heer-
haufen zujammen, und nur an den flachen Berghängen zeigen
fi) Lücken, Lichtungen. Dort Hinten ſchimmert e8 gelblih und
bläulichgrüän vom Talausgange her, das ift der obere Rand des
Rebengürtel3, ein Örenzjaum, der dem Walde zuruft: vi weiter!
Nayel, Slüdstinfeln und Träume
370 Südwefdentiche Wanderungen
Aber er ift nur Grenze, folange der Menih will. Als bie
Nömer flohen und ihre Dörfer und Pflanzungen den Alemannen
überfießen, da dauerte es nicht lange, daß unter ben hellen Neben
Die Vorpoften de dunkeln Waldes erichienen, fie überfchattend
und in fi) aummehmend. Dieſer dunkle Tann ift der alte Wald,
der Urwald des Schwarzwald und der Vogeſen, mit denen er
feit Sahrtaufenden verwachſen ift, und die auch heute ohne ihn
gar nicht zu denken find. Er ift vor den Menſchen dageweſen
und würde an ihre Stelle treten, wenn fie jemald wieder die
Zäler verließen, in die fie ſich feit der alten Sleltenzeit mühſam
bineingerodet haben.
Zwiſchen biejen tiefen, dunkeln Wäldern des Gebirges ımb
dem gartenartig angebauten Yande des ebnen Rheintals zieht an
allen tiefern Berghängen ein Saum von Laubwald entlang. So
hoch vor allem der Kaftanien- oder Keſtenbaum anjteigt, jo weit
it ein Bug von lichter Heiterkeit durch die Hellgrünen, groß-
blättrigen Kronen und die vielverſprechenden Früchte des kräftigen
Baumes eingeflodhten. Er macht nidht den Eindrud eines Fremd⸗
lings wie Die weiter oben dann und wann eingeiprengte Lärche
Ebenſo wie die Hopfenbuche, deren Ührenfrüdhte im Herbſt den
Boden bededen, eine gern gejehene Bereicherung ded an Abo,
Ulmen und Eichen armen Schwarzwald» und Vogeſenwaldes tft,
fo grüßt uns der Keftenbaum, der die Eigenfchaften des Wald⸗
und Fruchtbaums vereinigt, als ein vertrauter und dazu freigebiger
Saft, den man an feinem mittägigen Berghang miffen möchte.
Die Nordvogeſen tragen auf ihren roten Sandfleinguadern
auch die Säulen herrlicher Buchenhallen. Die fchönften Buchen⸗
wälder Dentichlands, wie fie am Dftleeftrand umd dann wieder
im Wellenhügelland und an den fteilen Talhängen des bayriſchen
Imn⸗ und Iſargebiets grünen, übertreffen nicht die Buchenwälder
der Sandfteinvogefen und der Hardt. Und dieſe Buntjandftein-
hügel haben dazu die naturgehborne Phantaftif ihrer Yelsformen
und die Menge des gleicdjjam aus dem Stein herauswachſenden
Gemäuers alter Burgen, Schlöffer und Klöſter für fi. Die
Kammwanderung von der mädjtigen Ruine Hochbarr zu ben
durchaus nicht umbedeutenden Trümmern ber Burgen Groß⸗ umd
Kleingeroldseck führt auf fchattigen Waldivegen in einer halben
Stunde an drei Burgruinen vorüber. Bon diefen burggelrönten
Hügeln fieht man Vorſprung hinter Vorjprung des buchtenreichen
Gebirges, wie Vorgebirge ind Meer, in die Ebene hinaustreten.
In die Buchten ſchmiegen ſich die Städtchen und Dörfer, beren
Südweftdentfche Wanderungen 371
—— —— ⸗—
DObftgärten wie zerſtreute Vorpoſten des hinabſteigenden Waldes
den Gebirgsrand der Ebne durchſchwärmen.
Dieſes mächtige Schloß von Hochbarr über Zabern, das
auf zwei ſeltſam geſtalteten Felſen auf konglomeratartig kieſel⸗
fſteinreichem Buntſandſtein gegründet iſt, wiederholt in feinen
wulſtförmigen umlaufenden Gefimjen die Struktur des Felſens.
Man fieht bei diefen Bauten oft kaum, wo die auß dem roten
Fels herauswachiende Burgmaner ‚anfängt; und dieſe hängt in
der Tat jo innig mit dem Grundfelfen zuſammen, daß bei Spren-
gungen beide miteinander gebrochen find. Auf der Walded, Die
weiter nördlich, zwiſchen den Hanauer Weihern, zwei ftillen, halb-
verfumpften Waldfeen, auf einem Sandſteinkegel emporfteigt,
nimmt dieje Verbindung phantaftiiche Dimenfionen an. Der Zu-
gang zu dem ſchlanken, gut erhaltnen vieredigen Wartturm wird
durch die voripringende Platte eines Felstifches gedeckt. Aus
ihm eröffnet ein natürliches Fenſter den Blick nach Norden.
Die meiſten Stufen find in den Fels gehauen, und zu beiden
Seiten des obern Plateaud find zwei große keſſelförmige Ver⸗
tiefungen im Yelögrunde zu ſehen. Der etwas tiefere weftlidhe
Teil der Burg zeigt überhaupt kein Mauerwerk, jondern Stufen,
Bänke und Binnen find aus dem anftehenden Stein gejchnitten.
Manches an diejen Sandfteingebilden erinnert an die jächfifche
Schweiz, aber Stein, Geftalten und Kanten find härter.
Eine feltne Erſcheinung: Seen in den Nordvogefen. Diele
beiden Hanauer „Weiher“ liegen in einer Talweite, die mitten
im Walde dem Aderland der Heinen Weiler Walde und Schweizer-
landel Raum geichaffen Hat. Die Ärmlichkeit diefer Weiler zeigt,
daß Hier nie viel zu holen war. Eher waren die Seen früher
ausgebehnter als jebt, und das bißchen Ackererde ift eben offen-
bar dem Umftande zu danken, daß alter Seeboden troden wurde.
Da fie nicht unmittelbar von Bergen umgeben find, bieten bie
Heinen Seen nur an einzelnen Uferftellen, tvo der dunkle Yöhren-
wald ganz nahe herantritt, wirkſame Partien. Die Ränder des
Heinern See find faft ringsum verfumpft, und auch den Glanz des
Wafferjpiegeld des größern trübt allzuviel ſchwimmendes Gelräute.
So teilen fie eigentlich nur die Einſamkeit mit den Suüdvogeſenſeen,
die als echte Gebirgsjeen auß tiefen Schluchten wie dunkle Augen
bliden. Treffend nennt der Bollamund diefe ebenfo wie Die
flachen, am Rande jumpfigen lothringer Seen „Weiher.“
Kaum gleichen fi) zwei Gebirgslandfchaften auf deutſchem
Boden fo wie die der Sanbfteinvogefen und der Hardt. Politiſch
24*
372 Südweltdeutihe Wanderungen
gehören fie zu drei Ländern: Elſaß, Pfalz und Lothringen, von
Natur find fie eind. Diefe Natur wird hoffentlich herauf aus
ihrer Tiefe und durch alle menſchlichen Schranten hindurch einigend
wirkten! Beim Eintritt in den lichten, hochſtämmigen Buchenwald,
der zum Wajenftein über Niederbronn emporführt, fühlt man fich fo
vollitändig an den Fuß des Trifels verjeht, daß man bad Gefühl für
die Drtlichkeit verliert. Und fo ift e8 überall in den nördlichen Vo⸗
gejen. Natürlich reicht ein Blid von der Höhe Bin, Die Eigentümlich-
feit des Qandes zu zeigen: die breitere Zone der Vorberge, von deren
Rand fi vom Wafenjtein, Wafenlöpfel u. a. der neue Kirchturm
von Fröſchweiler wie eine zum Simmel weilende Säule erhebt, das
am ernfteften ftimmende von allen Schlachtdentmälern um Wörth.
Man kann ich Teine deutichere Landichaft vorftellen als
diele, deren Schauplaß die Schladht bei Wörth geweſen iſt. Das
Bielental zwilchen Fröfchweiler und Wörth, aus dem fidh Die
Deutihen am Nachmittag des 6. Uuguft zur legten Entſcheidung
weitwärts emporlämpften, ift, vom Kirchhof in Fröichweiler aus
gejehen, die reine Idylle. Won bier aus der fanfte Mbfall der
Wieſen, drüben der Dftabhang mit obſtbaumbeſtandnen Wieſen,
Adern und Weinbergen fteiler anſteigend, bis er in eine flache
Wölbung übergeht, ns der als Abſchluß ein ununterbrodhner
Zaubwalbftreifen des Herrenberges hervortritt. Grün in allen
Tönen und Schatten. Dahinter erhebt fi) noch ganz nahe der
Ichöne, dicht bevaldete Rüden des Hochwalds, und aus der Ferne
[hauen Die Höhen um Bitſch, und weiter nördlid von der Pfalz
und Weißenburg zu, faft in einem Halbkreis um daS Amphi⸗
theater von Wörth. Die alte Grenze zwiichen Deutichland und
Frankreich andeutendb und zugleich das nächfte Verteidigungsobjelt
und die Rüdzugslinie der Franzoſen verdeutlichend, geben fie dem
Bilde einen großen Zug. Wer aus dem Walde hinter Fröſch⸗
weiler beraustritt, dem erjcheinen die Vogeſen nahe. Nur eine
gute Stunde Weges ift es noch bis Niederbronn, das ſchon von
bewaldeten Gebirgsaußläufern umfaßt wird. Den Flüchtlingen
des 6. Auguft mochte das freundliche Reichshofen mit ſeinem
hohen Kirchturm aus rotem Sandftein, das in dem weiten
Wiejengrunde weſtlich von dem die Orte Reichshofen und Fröſch⸗
weiler trennenden Höhenzug liegt, als ein Halt⸗ und Ruheplatz
winken. Die Flucht ging aber bekanntlich weit darüber hinaus,
und die bayriſchen Reiter drangen noch am Abend des Schlacht⸗
tages bis zum Weſtrand von Niederbronn vor, das allerdings
mehr vollgepfropft als eigentlich militäriſch beſetzt war.
Stöweftdeutfche Wanderungen 378
Es war ein wohlgewählte® Schlachtfeld auf dieſen fchönen
fanftgeneigten Uderfluren und Weinbergen, die fich von den weft-
lihen Höhen zur Sauer hHerabziehn und dad an ihrem Fuße
liegende Wörth in flahem Bogen umfaflen, darüber das hoch⸗
gelegne Fröſchweiler in der beberrihenden Mitte, auf beiden
Blanfen und im Rüden ſchützender Wald, vor ſich die Dedung
durch die Sauer in ihrem Wiefengrund. Das ift ein Schlachtfeld,
wo eine anjtürmende Armee, wenn fie nicht ganz feitgefügt war,
zerſchellen mußte. Die Franzojen waren ganz ſicher, den von
Dften und Norden beranrüdenden Feind ſchon beim Herabfteigen
ind Tal oder doch im Tal ſelbſt volllommen überſchauen und
beichießen zu können. Die Mitrailleufenbatterien beitrichen jogar
einzelne Straßen von Wörth. Die Oſthänge werden nicht allein
überragt von den Weſthängen, fie find auch viel weniger reich
an Baumpflanzungen und haben Feine Weinberge. Baftionenartig
vorfpringende Stützpunkte, wie fie auf der Weftjeite der Herren-
berg und der Galgenberg bieten, kamen natürlid) auf der Oſt⸗
feite gar nicht in Betracht, ebenfowenig jchluchtenartige Hohlwege,
wie der von Wörth nad Elſaßhauſen hHeraufführende, der den
Schleſiern fo furdhtbare Opfer koftete. Von dem Nußbaum aus,
der al8 der Standpunlt Mac Mahons gezeigt wird, liegen bie
öftlichen Talhänge zwiſchen Görsdorff und Gunſtett wie eine janft-
geneigte Ebene. Die Deutſchen wurden tatfächli in allen Be-
wegungen gejehen bis zu dem Augenblid, two fie beim Heraußtreten
aus dem Weftrand von Wörth reif fürs Ehafjepotfeuer waren.
In der Rheinebene und body an den Vogeſen Hinauf gibt
es im Elſaß bejonderd viele lichte Wälder hochſtämmiger Buchen
und Eichen, wo die ziemlich dicht ftehenden Bäume ſchlank empor-
ftreben. Sehr paflender Wald zum Feuergefeht! So ift der
Wald Hinter Fröſchweiler, wo am Nachmittag des 6. Auguft
Ducrot gegen die nadjftürmenden Bayern und Preußen den
Rückzug Mac Mahons zu deden ſuchte. Wo die von Reichshofen
fommende Straße den Wald verläßt, ift noch ganz gut ber
rechtwinklige Einjchnitt Tenntlih, wo die Zweiundachtziger eine
von den Ducrotiden Batterien nahmen, die den Deutichen in
Fröſchweiler fo großen Schaden zugefügt hatten.
Den Rhein im Oſten, der ebenfo dazu gehört, muß man
fi) allerdings denten, denn Wörth Liegt ſchon ganz in den Vor⸗
bergen, und der Blid dringt nicht bis Hagenau hinter feinem
breiten uralten Yorfte. Doch wird es von dieſer Höhe aus aud)
dem an ftrategiiche Blide nicht Gewöhnten Har, wie die Fran⸗
374 Südweftdeutfhe Wanderungen
zofen von dieſer Vorftufe der Vogeſen herab die füdlich fie um-=
windenden Wege nad) Bitſch und Zabern beden und ben gegen
Straßburg Vordringenden in der rechten Flanke bedrohen wollten.
Das ftille Hagenau lag damals außer Schußweite und ſeine
Beſetzung durch die badiſche Divifion an jenem 6. Auguſt erwies
ſich als ganz überflüſſige Vorſicht, da die Franzoſen an nichts
weniger dachten, als Ihre nen Idon ſchwachen Truppen durch
eine Entſendung in den Deutſchen zu verringern.
An jenem heißen Tage une ma Polen ausgeſtorben wähnen.
Viele Bewohner waren nad) Straßburg geflohen, die andern
hielten ſich in ihren Kleinen Häufern verfiel. Nur die nad
Feangöfiiher Sitte weit offnen Kaffeehãuſer luden die Durſtigen
And heute Liegt die Sonne in den ſtillen Straßen des
Stäbtihens, und nicht viele Schatten jchneiben ihr grelle Licht.
Es Hat fich nicht viel geändert im Ausſehen diefer Straßen, und
da8 Leben, das jebt am Mittag eines Septembertagd ganz in
Schlaf verfallen zu fein jcheint, ift im Grunde nicht viel anders
aß das Leben vor einem Menichenalter. Nur ruht es heute
forgloß, während es damals ängfilich dem KRanonendonner laufchte,
der jo laut hereinrollte, als ob vor den Toren gelämpft wiürbe.
Es träumte damals von Mord und Plünderung. Nichts Davon
wurde wahr. Das Städtchen bat vielmehr weniger vom Srieg
gemerkt als jo mandye Stadt Deutichlands, von franzöfiichen nicht
zu reden. Nachdem ſich dad Schladhtengemwitter in jo großer Nähe
entladen hatte, zog es raſch über die Vogeſen, und Hagenau
log von nun an fern von allen Zugftraßen Eriegerifcher Gewitter.
Nur friedlich belebt war es als Sih der Regierung bis zu deren
Überfiehlung nad) Straßburg. Gs machte mir ſchon einen jehr
berubigten Eindrud, als ich 1871 kurz nach dem Kriege in einem
Hagenauer Gafthof eljäffische Männerftimmen fi) zur Probe
idylliſcher Yrühlingsgefänge anfchiden hörte. Die Menichen waren
ihren Schreden loßgeworden und hatten ihre im Elſaß feit lange
berühmte Sangedfreude wiebergeiwonnen.
Hagenau gehört zu den elfälfiihen Städten, Die unter
deutſcher Herrihaft auffallend gewonnen haben. Es iſt vielleicht
aud mit einer gewiſſen Vorliebe behandelt worden, Die weniger
der alten „Barbaroflaftadt“ galt als dem Mittelpunlt einer
rubigen, fleißigen, vorwiegend bäuerlihen Bevölterung. Hagenau
ift ohnehin mehr, ald was man bei Bäbeler und Konjorten unter
Zanditäbtchen verſteht. Es trägt noch Spuren Davon, daß es
einft ein Lieblingfiß deuticher Kaiſer war. Die ſchöne Bafilike
Südweftdeutfche Wanderungen 375
——.
der St. Georgskirche mit ihren ſchweren romaniſchen Säulen und
Bogen und ihrem gotifchen Chor ift von Barbarofja gegründet
worden. Der aus jenen Zeiten her der Stadt zueigne Hagenauer
Forſt läßt der Stadt ſolche Einkünfte zufließen, daß fie fich den
ſchönen Luxus prächtiger Gartenanlagen geftatten kann, um Die
einige deutiche Städte von der zehnfachen Einwohnerzahl fie be=
neiden könnten. Die impofante Hopfenhalle zeigt, daß Hagenau
der Mittelpunkt einer fruchtbaren Landſchaft ift. Eine neue Er⸗
rungenſchaft find die ausgedehnten Kafernenbauten, die vom leicht
erhöhten Süben auf die Stadt herabſchauen. Hoffentlich nehmen
fie ihr nicht zuviel Licht!
Leider bat Hagenau dur den NRüdgang der Hopfenpreije
und durch Die Damit eingetretene Beichränfung des Hopfenbaueß in
ben lebten Jahren an Wohlſtand eingebüßt. Seine einft lebhaften
Beziehungen zu Nordamerika haben beſonders gelitten. Yrüber
Batten die hiefigen Hopfenhändler Zweiggefchäfte in den Mittel
punkten der nordamerilanischen Bierbrauerei, wo fie jede Menge
abfeben Eonnten. „Nicht einmal vom Himmel Bing es ab, ob
der unterelfäfler Hopfenbauer fein Haus richten (erneuern) laſſen
wollte oder nicht; denn wenn der Sommer gut war, hatte er
viel Hopfen, und wenn der Sommer jählecht war, teuern zu ver⸗
faufen. Heutzutage gilt der Hopfen jo wie jo nichts, und wenn
Sie aufs Dorf hinausgehn, zeigt es Ahnen der Buftand ber
Häufer, daß die Bauern nur noch Geld fürs Nötigfte, und oft
nicht einmal das haben.“ So erzählte mir ein Bauernſohn aus
der Zauterburger Gegend, der, ald wir auf der breiten Rhein-
ftraße gegen Selz zu fürbaß jchritten, mit Stolz auf den Hagenauer
Schießplatz hinwies, wo er oft als Xrtilleriit geübt habe. Er
rühmte die freigebige Hand der Militärbehörden bei Landkäufen,
Pferdekäufen und bei der Bemeſſung der Arbeitslöhne, die in
diefer fchwierigen Zeit den Bauern fehr wohl tue. Schlecht war
er auf die Juden zu fprechen, die den Hopfen ausgeführt hätten,
folange fie den Nutzen davon hatten, aber ebenjo unbedenklich)
in Die Hagenauer Hopfenhalle amerikanischen oder jogar ruffiichen
Hopfen einführen würden, wenn es ihnen Nuben brädte. Man
kann bier, meinte er ganz richtig, nicht von Heut auf morgen vom
Hopfenbau abgehn, wir müſſen einfach weiterbauen und jehen, wie
wir den Hopfen anbringen. Wir brauchen große Brauer, wie in
Bayern, die gute Ware gut bezahlen, und brauchen eine ſtrenge
Auffiht auf den Handel. Dem Manne wäre e8 am liebiten geweſen,
wenn die Regierung den Hopfenhandel in die Hand genommen
376 Südweftdentfche Wanderungen
hätte, fo wie fie den Tabak für ihre Manufalturen lauft. Daß
die eljäffer Bauern nicht unternehmend genug feien und ſich von
den Juden zuviel bieten ließen, davon war er feft überzeugt.
Auch mochte feine Auffaffung nicht ganz unbegründet jein, daß
die Regierung dem jüdiſchen Zwiſchenhandel fchon ganz anders
entgegengetreten fein würde, wenn fie eine Bauernpartei hinter
fi hätte, die dieſen Schaden aus eriter Quelle aufdedte.
Bisher ift Die Armee allein fo frei geweſen, fich bei den
Remonteanläufen einfach die Mitwirkung der Juden zu verbitten.
Die Verwaltung behauptet, keine Handhabe zu haben, gegen die
Bewucherung vorzugehn. Tatſache ift, daß bie Bauern rechts
und links vom Rheine ganz zufrieden find, wenn fie von ben
Juden bevormundet werden. Sie ziehn aus eigner Entſchließung
die Juden zu jedem Kauf und Verlauf herbei. In Dagsburg,
dem hoch gelegen Vogejendorf bei Zabern, mit feiner auf tiſch⸗
ähnlichen Felsgebilde kühn erbauten Kapelle, hörte ich einige
Tage darauf erzählen, wie die Bürger aus Leiningenjchen Zeiten
große Holzbezugsrechte genöflen. Alljährlih am 10. November
zieht jeder fein Holzlos, das ihm das Recht auf eine Anzahl
wertvoller Stämme gibt. An diefem Tage wimmelt e8 dort von
Juden au Zabern, Pfalzburg und Rummatsweiler. Warum? Weil
die meiften Dagsburger ihr Holzrecht feit lange, oft für Reihen von
Jahren an die Juden verlauft haben. Die Juden ftehn vor der Tür,
für fie wird eigentlich geloft, und mancher trägt in jeiner Brief-
tafche die Anweifungen für Holz; im Wert von Taujenden herum.
Man würde ſich irren, wenn man glaubte, ſolche Zuftände
müßten in weiten Kreifen eine antiſemitiſche Bewegung erzeugen.
Dieſe ift jedenfalld in jo manchen Zeilen Altdeutichlands, mo es
faft feine Juden gibt, ftärfer ald in Baden oder im Ella, wo
man fo mande8 Dorf und Städtchen mit mehr als zwanzig
Prozent Juden zählt. Der Südweſtdeutſche findet fi) mit den
übeln Seiten des Juden durch Scherz und Epott ab. Tas ift
der Geift der Tlaffiichen Sudenanekdoten des „Rheinländifchen
Hausfreunds“ und der idealifierten Darjtellungen der Pfalzburger
Juden in den Romanen von Erdmann-Ehatrian. Nachdem meine
Dagsburger Gewährsmänner ihre lagen über die wuchernden
Juden ausgeichüttet hatten, gab einer zum Schluß eine Geſchichte
zum beiten von einem Rabbiner in einem eljäffiihen Stäbtchen,
ber 1848 gezwungen wurde, eine Zobrede auf die noch unfichere,
eben geborne Republif zu halten, weldyer Aufgabe er ſich durch
den tieffinnigen Spruch entzog: Was fann mer viel ſage? Die
Süöweftdeutfhe Wanderungen 877
EDIT 1 ö—r0 jm —⸗
Republik iſt zu vergleichen einem Schuhmacher: heut lebt er,
und morgen fann er fchon tot fein. Und unter dem Gelächter
über alte und neue Judenanekdoten ging alle Bitterleit verloren,
die fi) vorher Luft gemacht Hatte.
Die weitgehende BZerteilung der Uder- und Wiefenfluren,
die ſich biß zur Berftüdelung fteigert, fällt gerade hier im Hopfen
lande auf. Man dent, die oft beklagte und nicht neue Ver⸗
ſchuldung der Bauern hätte ihren Gläubigern Mittel an die
Hand gegeben, größere Komplere zufammenzulfaufen. Aber da
wird nım auf einen Punkt hingewieſen, den ſich der Wandrer
freilih nicht gedacht hat: Das iſt ja, jagt ung ein Hagenauer
Kaufmann, der Vorteil, den die Bauern von den Juden haben,
daß ein Jude nie jelbjt den Acker bemwirtichaftet; alfo läßt er
dem Bauern fein Feld, wenn er auch den Gewinn davon ein-
ſtreicht. So ift es auch mit den Notaren, die häufig Gläubiger
find: fie wollen nicht daS Land. Der Bauer behält alſo den
Boden unter feinen Füßen, iſt aber freilih dann in vielen Fällen
nicht viel mehr al8 der Pächter feines Gläubiger. Wenn der
Bert der landwirtſchaftlichen Erzeugnifie finkt, dann wird Die
Kette der Verfchuldung fühlbarer, und im Bauernftand greift das
Unbehagen jo epidemiſch um ſich, wie e8 die Politiker des Reichs⸗
landes gern zu ſchildern pflegen, um die Unzufriedenheit mit der
deutſchen Herrichaft beijer zu begründen. Gern übergehn fie
dabei den fteigenden Wohlftand der Städte, der wie überall das
Gegenſtück des Rückganges der Landwirtichaft if. Grundſätzlich
verſchweigen fie die tiefern Wurzeln dieſes Mipftandes in der
geflifjentlich herangezognen Unjelbjtändigleit der Bauern, zu deren
Hebung ganz bejonders die bei ihnen jo einflußreiche Tatholifche
Partei bei weitem nicht fo viel getan hat wie 3. B. in Altbayern.
Gerade dieſes fatte Raſten der Befiter über den hart arbeitenden
und wenig gewinnenden Mafjen der Urbeitenden ift echt franzöfifch.
Die altdeutichen Beamten haben fi) über die Würdigung dieſer
Sadlage hinwegtäuſchen Inffen durch die wohltuende Urbanttät
des Verkehrs der Obern mit den Untern und durch die ruhige
Geduld, mit der der Bauer alles über fich ergehn läßt. Wenn
der Bauernitand im untern und im obern Eljaß, und daS obere
möchte ich beſonders betonen, der einzige im ganzen Lande iſt,
ber ſich ehrlich in den 1870 geworden Buftand gefunden hat,
jo Hat daran die Verwaltung weniger Verdienft, als fie haben
fönnte. Sie laßt fich hoffentlich die Möglichkeit nicht entgehn,
in Bufunft mehr davon zu erwerben.
378 Südweftdeutfche Wanderungen
Ich höre mit Behagen meinem Wandergejährten zu, wie er
ſich als ganzer Bauer und Elſäſſer derb und frei ausſpricht,
dabei aber ohne den Ärger und ben Groll des ftähtiichen Ait⸗
eljäffers, der Deutichland nur vom Hörenjagen, und von welchem
Hörenfagen! kennt. Mein Gefährte vertritt glüdlicherweije Hundert-
taufende, die feit 1871 in der deutichen Armee gedient haben.
Dies find die beiten Yörderer bes Verftändnified für deutſches
Weien. Ihnen jedenfalls ift es zunächit zu danken, wenn man
in den Heinften und lebten Dorfwirtöhäufern das Bild Des
Kaiſers findet, und in jedem Bauernhaus, wo es feit 1871 ge
funde Söhne gegeben bat, eine der befannten militärtichen
Aquarellbilder des Soldaten zu Pferd oder in voller Ausrũftung
und in friegeriicher Stellung, ober eine der beliebten Gruppen
photographien mit bröhnenden Unterjchriften wie „Kanonendonner
ift unfer Gruß” u. dgl So wie die Eljäfler als Soldaten das
Lob ihrer Vorgeſetzten haben, zählt man auch viele unter ihnen,
die Soldaten mit Leib und Leben find. Das wird ſich noch mehr
zeigen, werın man ihnen das Dienen im Lande erlauben wird,
das bis jeht nur ald Ausnahme zugelaſſen iſt. Aus dem Munde
eines Burſchen im Kreis Zabern, der in der Garde gedient
bat, habe ich die Außerung gehört: Ich würde mid) jeden Tag
freuen, wenn die Geitellungdorder nad) Berlin läme. Und Diele
Anhänglichfeit an die alte Garnifon ift nichts vereinzeltes. Freilich
tehrt der Elfäfler immer wieder gern zu feiner Heimat zurüd.
Das ift ein tiefberechtigter Zug, den ihm niemand verübeln kann,
der das oberrheiniiche Land kennt.
Wenn Hohe und Niedere in ganz Deutichland der „Bug
nad Weſten“ ergreift und das Behagen an bem Leben in
rheiniichen Landen alljährlih Tauſende von Dft und Mittel-
deutichen, manchmal ſogar Öfterreicher, veranlaßt, ſich dort eine
neue Heimat zu gründen, wie follte e8 nicht den Einheimiſchen
dahin ziehn, wo feine frühen Erinnerungen ibm das fonnige
Klima, die ſchöne Landſchaft. daS heitere Daſein und Die ganze
unbewußte Empfindung der Atmofphäre einer alten Kultur zurück⸗
rufen! In den Landen, die der deutichen Literatur die von Wig
und Frobfinn fchäumenden Werke von Fiſchart, Grimmelähaufen,
Abraham a Santa Clara, Hebel, Scheffel, Eichrodt, Stöber,
Kobell, Nadler geichenkt haben, laden die Menfchen gern, laut
und herzlich, und haben die Augen einen wärmern Ausdruck
Man freut fi) mehr und ärgert fi) weniger als anderwärts.
Roc mehr als der Pfälzer und der Babenjer liebt der Eljäfjer
I 7
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Südweftdeutihe Wanderungen 379
feinen derben Spaß, während er dem oft froftigen Wortwitz bes
Norddeutſchen fremd gegenüberfteht. In der Rorporalichaft der
franzöfiihen Armee war der Eljäfler der „Luftigl.” In den
trübften Zeiten, die über Südmweftdeutfchland hingegangen find,
ift faum in einem deutſchen Lande fo viel gelacht worden wie
zwiſchen Schwarzwald und Vogeſen. Das heitere Lachen der
Mädchen, die nedenden Zurufe der Burfjchen gehören zum ober-
rheiniſchen Dorf. Fiſchart mag vielleicht in Mainz geboren
fein — fein Geburtsort wird wohl nie mehr ficher beitimmt
werden können —, jedenfall Hat er, ſich als Eljäffer und bes
fonder8 al8 Straßburger fühlend, dem derben und tieffinnigen
Volkswitz in Haffiichen Werken feine Stelle in unfrer Literatur
erobert. Er kann darin mit feinen befjer als mit Johann Ulrich
Megerle aus Sreenheinftätten bei Meßlirch (zwifchen der Baar
und dem Bodenfee) verglichen werden, der ald Abraham a Santa
Clara der Vertreter desfelben derbwißigen und fpottluftigen Volks⸗
geifte8 in der Predigt und der Erbauungßliteratur war. Ein
Zeitgenoſſe hebt beſonders hervor, Megerle fei „fein geſchwätziger,
ſondern ein tieffinniger, beredter Schwab“ geweſen. In Wirklichkeit
ift feine Miſchung von Derbbeit, Fröhlichleit und ernftem tiefem
Sinn echt alemanniſch und nicht ohne einen romanischen Beiſatz.
Der Rorddeutiche macht dad, wie der Engländer in Frank⸗
reich, gern mit dem „Weinland“ ab. Darin liegt es aber nicht
allein, wieviel Wein, Moft und Bier, dazu Kirſchen⸗ und
Zwetſchgenwaſſer erfter Güte im Lande gern und verſtändnisvoll
genofjen wird. Auch nicht darin, daß die Leute weißeres Brot,
beſſeres Obſt und mehr Gemüſe efjen, und daß die Frauen
Ihmadhaftere Speijen zuzubereiten wifjen als die in Mittelbeutfch-
fand. Es liegt auch nicht in der Altern Kultur überhaupt, bie
ich indefien für kein leere8 Wort halte. Der Kunſthiſtoriker
Springer fagte mir einmal: Wenn ih in Straßburg ein Haus
bauen ſah, fo merkte ich, daß die römilche Überlieferung noch in
jedem Maurergeſellen lebt. Der Unterjchied zwilchen den Süb-
weſtdeutſchen und den übrigen Deutſchen liegt tiefer, er geht bis
in die Blutmiſchung zurüd. Wenn ich im Markgräflerland oder
an den Haffiihen Stätten deutſch⸗franzöſiſcher Kämpfe an ber
Lauter oder Sauer wandre, mutet mich die Bevölkerung eigen-
tümli an. Dieje edeln Profile, dieſe dunkeln Haare und. Augen,
diefe bräunliche Haut, die da unter fränfiichen Langköpfen auf-
tauchen, verjegen mich vielleicht nad) Zirol oder ing fübliche
Kärnten, wo ſich noch heute Germanen mit Romanen mifchen.
380 Südweftdentfhe Wanderungen
Kehre ich nad) Dften zurüd, jo hören dieſe romaniſchen Züge
bei Würzburg auf, Häufig zu jein, jo wie fie mir in Bayern
jenfeit8 des Lech allmählich verloren gehn.
Auf diefen Anteil romaniſchen Blutes, fei e8 römiſchen oder
franzöfiiden Urſprungs, trifft der Deutide aus Nord⸗ und Dft-
beutichland im ganzen Süden wie auf etwas Fremdartiges. Man
hat an der Spree gar feine Ahnung, wie wenig oberflächlich die
ftille Abneigung gegen nordoftdeutiches Weſen in Baden und die
laute Oppofition dagegen im Elſaß find. Es ift nicht dad Wider-
ftreben gegen Maßregeln, ſondern gegen einen fremden Geilt.
Die Gefebe, die man bier neu eingeführt hat, muß mandher
Beionnene für trefflih anerkennen, mit dem Geift und ben
Sitten, die ind Land gezogen find, febt er ſich viel weniger
leicht auseinander. So ift au im Politiſchen der demofratifche
Bug, den man bejonderd an den Zentrumsleuten der beiden
oberrheinifchen Länder tadelt, durchaus nicht bloß eine Meinung,
die Dieje irgendwo und von irgendivem aufgenommen hätten. Nein,
es ift ein angeborner Sinn für das Hecht ded Einzelnen, der
fi} den rauhen Forderungen des Staats widerſetzt. Deswegen
bat fi hierzuland eine freie Gefinmung unter den allerber-
fchiedenften Berhältniffen wiedergeboren, erhalten und bewährt.
Tiefen Leuten liegt ein demokratiſcher Zug buchſtäblich im Blute.
Keine Beitung und feine Partei braucht ihn zu lehren. Sie
zeigen ihn auf dem Rathaus, nicht bloß im Ständehaus; fie bes
währen ihn unter fi im täglichen Leben, nicht bloß vor der
breiten Offentlichleit. Diefe Gefinnung ift in andrer Form der
Geift der Eidgenoſſenſchaft.
Ölaubt man, Baden fei das Land vollöfreundlicher Ein-
richtungen, weil es einen liberalen Fürften und eine aufgellärte
Bureaukratie habe? Das wäre fehr oberflächlich geurteil. Es
würde immerhin noch triftiger fein, wenn einer jagte: Ihr ſeid
politifche Optimiften, die fi) die Eden und Kanten der Wirk⸗
lichfeit durch angenehme Selbittäufcyungen beichönigen. Aber
nur ein dem Volle ganz Fremder würde glauben können, alles
mit dem politiiden Optimismus abgetan zu haben, der ja ohne
Frage da ift. Ich halte es mit dem echt alemanniſchen Grund⸗
fag: Was dem einen recht ift, daS ift dem andern billig und
frage die Leute im Lande felbit, was fie von ihrer Politik denken.
Da erinnere ich mich einer fehr beredten, wenn aud) furzen Aus⸗
fage. Gerecht, wohlwollend und verſöhnlich, jo rühmt ein ſchönes
Dentmal in den ftädtiichen Anlagen von Donaueſchingen ben
Shöweftdeutfche Wanderungen 381
langjährigen Präfidenten der badilchen zweiten Kammer, den Apo⸗
theker Kirsner, einen der einflußreichiten Politiker des badifchen
Landes. Es iſt bezeichnend; das find eben die Eigenfchaften,
die der Alemanne hochſchätzt. Durch fie hat Kirsner, der dabei
entſchieden freifinnig im bürgerliden Sinne war, mehr gewirkt
als durch die Staatsmänniſchkeit und Klarheit, die ihm ebenfalls
die Denkmalinfchrift nahrühmt. Es dürfte in Preußen felten
vorfommen, daß man einem Apotheker und Landtagspräfidenten
ein ſolches Denkmal feht, und das in einer Stadt, wo man fid
vergeblich nach Fürften- und Feldherrndenkmälern umſchaut. Wohl⸗
wollen und Verſöhnlichkeit wird man als große politiſche Eigen⸗
ſchaften nur bei einem Volle rühmen, das aus weicherm Stoffe
gemacht iſt. Und ſo in der Tat iſt in dieſem alemanniſchen
Volkscharakter mehr Weichheit, als die ſo leicht erregten politiſchen
Leidenſchaften zu verraten ſcheinen. Der Volksmund kennt den
Ausdruck „wehleidig“ für eine Abſtufung von empfindlich und
Hat auffallend zahlreiche Bergleihe für den Empfindlichen und
Schücternen, die 3. B. dem derben Bayern fern liegen. Schon
vor dem lauten, rajchen Franken Nordbaden? und der Pfalz
zieht fi) der Alemanne gern aufs Schweigen zurüd. Der jchwei-
zeriiche Wlemanne ift von Härterm Stoff als der badiſche und
bejonders als der eljällifche, vornehmlich in den Urkantonen und in
Bern. Aber der behagliche Ton fogar der politifchen Neben zeigt,
daß auch er daß weiche Gemüt dei Alemannen bat, worin jene
Eigenfchaften wurzeln. Auf einer weijen, bejonnenen Politik der
Übereinfünfte ruht das Gedeihen der Eidgenoffenichaft, und nicht
Hein ift Die Zahl ſchweizeriſcher Staatsmänner, denen Dentmäler
mit berjelben Auffchrift zu ſetzen wären wie dem trefflichen Kirsner.
Übrigens konnte die hohe Geftalt dieſes badifchen Landtagspräfi-
denten mit der breiten Stirn und den freundlichen braunen Augen
darunter und dem beredten Mund, von dem die Worte wohl⸗
tuend wie mit leiſem Gejang flofjen, als der klaſſiſche Typus des
alemanniſchen Stammes gelten.
In der badifchen Gefchichte treten uns dieſe Züge bei Fürſten
und StaatSmännern in allen Generationen entgegen. Sie haben den
Markgrafen Karl Friedrich, der jpäter der erfte Großherzog wurbe,
zum Liebling des Volles gemacht, dad ihn noch heute nicht ver-
geilen Hat. Sie waren dem Großherzog Leopold eigen, den man
den Bürgerfreund nannte. Und wer fände fie nicht in der ſym⸗
pathifchen Geſtalt des regierenden Großherzogs Friedrich wieder?
Wenn auch die Badenſer, die mit ihrem Großherzog politiſch
382 Südweftdentfhe Wanderungen
rn...
nicht im einzelnen übereinftimmen, mit Stolz auf ihn ſehen, fo
ift darin das Gefühl beftinnmend, in ihm den angefehenften und
geſchichtlich wirkungsvollften Vertreter des badiſchen Weſent in
den Jahrhundert zu haben. Er verkörpert ſchon in feinem
ein Außern bie milde billige Denkungsart, die der Vadenſer
—2 Seine liebenswürdigen Formen im Verkehr mit Hoch
und Niedrig und feine freundliche Nachgiebigleit, Die gepaart find
mit einem ftrengen Feithalten an politiichen Grundſätzen von
liberaler Färbung, machen ihn zum Ideal des badiichen Polititere.
Einem bayriſchen Geſchmack mag er nicht derb, einem preußiichen
nicht fchroff genug ericheinen; für feine Untertanen ift er gerabe
fo recht. Und er hat fie mit aller Milde feit gehalten auf dem
Wege zur deutichen Einheit, auf dem er entichieden mehr Folge⸗
richtigkeit bewieſen bat, als bie große Mehrzahl diefer Unter-
tanen, und größere Opfer gebradjt Hat, wie irgendein Eingelner
unter ihnen. Man ahnt nur die Kämpfe, die ihn fein Rüdtritt
bon der Stellung des oberjten Kriegsherrn foftete, die von ben
Yüurften feined Ranges doch bis dahin ala eine notwendige Folge
der Landesherrichaft aufgefaßt wurde. Sadjien bat nach feiner
Riederlage von 1866 nicht ſoviel verloren, wie Baden nad) ben
Siegen von Straßburg und Belfort 1871 aufgegeben bat. Der
König von Sachſen ift der Kriegsherr feiner Truppen, der Groß⸗
berzog von Baden fieht neben ſich einen preußiichen General das
bierzehnte Armeekorps lommandieren, das faft ganz aus badiſchen
Truppen beſteht. Man bat in ben fiebziger Jahren viel von
den Schwierigkeiten erzählt, mit denen der Großherzog ‚zu —
hatte, bis ſich die militärifche Nebenregierung in jeinen ande
in den immerhin noch halb felbftändigen Organismus des babifchen
Landes eingefügt hatte Die warmherzigen Babenjer ahnten
damals nicht, dab fie mit dem Übermaß bed Dante und bes
Preifes für die angeblid) abgewandte, in Wirklichkeit fo nicht vor⸗
handen geweſene Gefahr der Invaſion des Menſchenknäuels, genannt
Bonrbakiſche Armee, dem ehrgeizigen General Werder den Kopf
verdrehten. Werder juchte fich an jener Befehlöhaberftelle in Karls⸗
rube für vermeintliche Zurüdfegungen gegenüber andern Helden des
Krieges von 1870/71 ſchadlos zu halten, wodurch in der kritiſchſten
Beit die Stellung des Großherzogs recht ſchwierig wurbe.
Aus ſolchen Schwierigkeiten, bie ji natürlich auf alfen
Stufen wiederholt haben, ift in Baben doch niemals eine Danernde
Berftimmung zwilchen Einheimifchen und „Preuhen“ entitanben.
Und das ift beſonders lehrreich Im Hinblick auf die elſaſſiſchen
Stiöweftdeutfhe Wanderungen 383
BVerhältniffe, wo gleiche Urfachen zu ganz andern Wirkungen ge-
führt Haben. Man fieht, wieviel gegenüber angeblich unansgleich-
baren Unterſchieden des Vollscharakters der aus der Erkenntnis
der Notwendigleit eines Zuftandes geichöpfte einfache gute Wille
vermag. Es find in Baden feit dreißig Jahren Taufende von
preußifchen Offizieren und Poſtbeamten, Univerfitätd- und Gym⸗
nafialprofefioren angeftellt worden, weitere Taufende von Nord⸗
deutfchen find eingewandert und haben fich z. B. in dem fchönen
Hreiburg jo Dicht angefiedelt, daß fie viel von dem alemannilchen
Charakter der Dreifamftadt famt der alten Billigfeit und An⸗
ſpruchsloſigkeit vermilcht haben. Nicht immer ift daß Auftreten
der Fremden gegenüber den Einheimifchen geſchickt und Flug ge-
weſen, aber dieje haben fi) dadurch nicht hindern laſſen, ſich
den Norddentſchen gegenüber, fogar wenn fie aus dem äußerjten
Notdoften famen, als Landsleute zu zeigen, d. h. das gemeinjame
Deutiche in den Vordergrund zu ftellen umd Die immer doch ver-
hältnismäßig Tleinen Stammesvericjiedenheiten zurüdtreten zu
laflen. Das ift das Gegenteil von der elfäffifchen Methode. Hoc
und Niedrig hat fi in Baden vor allem bereit gezeigt, das
Gute anzuerkennen, das man der preußiihen Führung auf dem
militäriſchen Gebiete verdantt. Sogar der Vergleich zwiſchen der
Behandlung ber Untergebnen durch badifche und preußifche Offi⸗
ziere fiel für den gemeinen Mann nicht immer zugunften feiner
Landsleute aus. Man konnte ſchon 1870 badiſche Soldaten Die
rubigere Art des Verkehrs rühmen hören, die preußifche Offiziere
mit ihren Soldaten pflogen; ganz richtig führten fie fie auf Die
allgemeine Wehrpflicht zurüd.
In weiten Kreiſen wirkten noch die Erinnerungen an das
Sturmjahr 1849, wo das Großherzogtum wie ein Wrad auf
den wilden Wellen einer überreizten Bollsftimmung trieb; die
Armee und ein Teil des Beamtentums hatten damals einfach
verfügt. Daß ſolche BZuftände gerade in einem Lande von der
außgejebten Lage Badens nicht wiederlehren durften, darüber
war man überall einig.‘ Die Demokraten, die die traurigen
Erinnerungen an 1848/49 höchſt kurzſichtig als rühmliche hoch⸗
halten wollen, mußten zugeben, daß die preußifche Schulung min-
deſtens zwedmäßiger fei als die badijche, wenn jie auch zum Teil
trog 1866 über den Zweck einer Armee eigne Unfichten hatten.
Der Herrſchaft der Liberalen und fpäter Nationalliberalen in
Baden mag man manche Vorwürfe machen, fie hat jedenfalls
redlih an der Annäherung zwiſchen Badenfern und Norddeutichen
384 Südweftdentfhe Wanderungen
EIS LIE TLIE
gearbeitet. Nur die Kraft der nationalen Gefinnung, die fie
mit Eifer nährten, hat jo mandje perſönliche Verſtimmung über
Anmaßungen der norddeutichen Freunde überwinden lafien. Sogar
die ultramontane Prefie Badens, die eine fräftige, offne Sprache
ſehr liebt, läßt erkennen, daß Badend Lage ebenfo wie die Ge⸗
mütsart feiner Bewohner anders find alß die Bayernd. Der Ton
des „Vaterland“ oder früher des „Vollöboten“ gegen Preußen
ift hierzulande nie üblich geworden. unge Heikiporne, die ihn
anpflanzen wollten, mußten fühlen, daß aud in der politifchen
Polemik der fränfifch-alemannifche Geſchmack Maß und Grenzen
liebt. Ihre Preſſe und ihre politifchen Reden ließen den Wider-
willen gewiflermaßen nur durchſcheinen, den ihnen die preußifche
Hegemonie erwedte. Wo fie fich einmal deutlicher äußerte, wie
in der Frage der Bejebung des Freiburger Erzbilchofituhles oder
gegenüber unglaublien Berufungen an die Landeshochſchulen
oder in der Frage der Selbftändigfeit der babifchen Eifenbahnen,
bat ihre Oppofition nicht felten ind Schwarze getroffen und ihnen
and) bei Solchen Beifall gewonnen, die ihren Beftrebungen jonft
lau gegenüberftanden. Dabei hielten aber die engen Beziehungen
zum rheinifchen Katholiziemus und durch diefen zum Zentrum
doch die Verbindungen nach allen Seiten offen, und eine Ab⸗
fchließung wie im Eljaß kam bier niemand in den Sim. Man
kann jagen, in Baden haben Freund und Feind daran genrbeitet,
da8 Land fefter in das Neid) einzufügen, zwar aus jehr ver-
ſchiednen Gründen und mit einem jehr verichiednen Maß von
gutem Willen, aber immer doch mit demjelben Erfolge.
Wie anders dad Elſaß. Baden und Elſaß zeigen ja auch,
wie ihre Lage es jelbftverftändlich macht, in der politiidhen Ent⸗
wicklung manche Ahnlichkeit. Bor allem gehört die Erſtarkung bes
Katholizismus in Baden und im Elſaß zu den großen folgenreichen
Veränderungen in Sübddeutichland. Beide find fi auch darin
ähnlich, daß ihre proteftantiichen Minderheiten bis in die fiebziger
Sahre einen überwiegenden Einfluß auf die Politik a
hatten, bis fich die katholiſchen Mebrheiten auf ihre Macht be=
ſannen und eine Herrſchaft brachen, die wie alle Partei-, Selten⸗
und Kliquenherrſchaft zulegt tyranniſch, kleinlich, ausſchließlich,
kurz unerträglich geworden war. In Baden hatte der liberale
Rückſchlag gegen das geiſtloſe reaktionäre Regiment der Stengel
und Genoſſen, das ſich mit dem Konkordat unmöglich gemacht hatte,
und der Schwung der nationalen Idee im Anfang ber fechziger
Jahre eine aus Broteftanten, liberalen Katholifen und Juden
Südwefdeutfhe Wanderungen 385
beitehende Kammer mit einer verjchivindenden Minderheit von
drei oder vier Ultramontanen zujtande gebradjt. Ich erinnere
mid) noch gut der Kammerverhandlungen, in denen der ultra-
montane Jakob Lindau aus Heidelberg, feines Zeichens Klein⸗
faufmann in Wolle und Baumwolle, wie ein Fels im Meere
feiner Gegner aufragte, ein Hüne von Geitalt, ein Redner von
Gottes Gnaden, der auch im bitterften Kampfe den pfälzifchen
Humor nit verleugnete. Den liberalen Beamten und Profeſſoren
ftand er als ein echter Vollsmann gegenüber, der zuzeiten auch
etwas Demagogie nicht verichmähte. Das rechtfertigt aber nicht, daß
man ihn in der altlatholifchen Bewegung, weil er den Kirchen⸗
ſchatz in fein Haus in Heidelberg gerettet hatte, um die Teilung
zu verhindern, wie einen Dieb verurteilte. Das Gefängnis brad)
die Geſundheit des Mannes, dem in ruhigern Zeiten auch Feinde
die Hand gereicht Hatten.
Im Elſaß hatte das zweite Kaijerreich den liberalifierenden
Protejtantigmug begünftigt, der durch feine fchriftitellernden und
wiſſenſchaftlichen Talente, Durch feine Beamten umd nicht zulekt
durch feine Parifer Verbindungen einflußreich war — es war ber
unterelfäffifche und beſonders der Straßburger Proteſtantismus
Augdburgiichen Belenntniffes; die reformierte Inſel von Mül-
bauen jtand dieſem fern. Ohnehin fuchte das zweite Kaiſerreich
der von ihm jelbit großgezognen. Macht des Klerikalismus, als fie
bedrohlich wurde, überall Kleine Hinderniffe entgegenzufehen. Die
Elſäſſer Katholilen hatten ſich in den ruhigen Zeiten der fünfziger
und der jechziger Jahre ähnlich wie die badischen darein gefunden,
daß die Proteftanten überall an der Spike waren, jo 3. B. daß
fie in der Verwaltung Straßburg eine Art erblichen Vorrechts auf
die erjten Stellen beanſpruchten. Es ſchien ja die Stellung der
Katholifen in dem katholiſchen Frankreich gefichert, wo das De-
partement des Niederrheind mit einem Drittel proteftantifcher
Bevölkerung (jegt 36 Prozent) überhaupt das proteftantilchfte war.
Der Übergang des Landes an Deutichland änderte plöblich bie
Lage. Das Elſaß gehörte jet zu einem vorwiegend proteftantifchen
Reiche, und feine Katholiken waren in der Minderheit. Zugleich
fehlte die jtarfe Hand des franzöfiichen Kaiſerreichs, die auf ihnen
gelajtet hatte. Alles waren Gründe dafür, den eljäffiichen Katho-
lizismus mobil zu machen. Vereine, Verfammlungen, Zeitungen,
Broſchüren, Flugblätter: ein Leben wie nie zuvor. In kurzem
waren die Berlufte der Franzoſenzeit ausgeglichen, die Abneigung im
Volke gegen die neuen Herren und die Neigung berjelben Herren,
Rapel, Glückainſeln und Träume 25
386 Südweftdentfhe Wanderungen
dem Volle im Bunde mit einer Madıt, wie die katholiſche Kirche
fie bietet, entgegenzulommen, forderten diefe zu einem Doppelipiel
auf, das in meifterliher Weiſe durchgeführt wurde.
Nur politiicde Träumer mochten diesſeits oder jenſeits der
Bogelen an ein tiefe Mitgefühl der Kurie mit dem nieder-
geworfnen Frankreich glauben. Stalienifchen Politikern, wie fie
im Batilan fiben, eine ſolche Sentimentalität zutrauen, ift eigentlich
eine Beleidigung. Die Realpolitifer fagten fi), daß eine Bere
ftärtung der deutichen Katholiken durd) eine Million unzufriedne
Elſäſſer und Lothringer in einer Zeit nicht unwilllommen fein
fonnte, wo fi) in dem jumgen Reiche der Kern eines weit-
verbreiteten Widerftands gegen die Konzilsbeſchlüſſe von 1870
zu entwideln drohte. Mit dem Proteft war den Bolitilern des
Papfttums nicht geholfen, die klerikalen Abgeordneten des Reichs⸗
lands nahmen aljo die neue Lehre injoweit an, als fie ihnen
die Möglichleit bot, an der Seite be$ Bentrumd die deutſche
Negierung im Reichſstage zu belämpfen. Und diefelbe Regierung
fah dann im Elfaß einen Yortichritt in dem Beginn einer, wenn
auch feindfeligen, Teilnahme an den Geſchäften und in ber
Aufgebung des ohnehin zweilchneibigen Proteſtes. So bat ſich
zu derjelben Zeit, wo in Baden die nationale Hochflut eintrat,
im Elfaß die Erſtarkung des katholiſchen Sonderbewußtſeins unter
ben günftigften Umftänden vollzogen, und dieſes Bewußtſein hatte
große Schritte in der politifchen Bahn gemacht, ald es in Baden
erſt anfing, felbftändig gehn zu lernen.
Es ist jelbftverftändlidh, daß die PBroteftanten von Straßburg
und Mülhaufen und die nicht zu den Ultramontanen eingeſchwornen
Katholiten auch die Tonfejfionellen Zwiſtigkeiten, die nicht fehlen
konnten, der deutichen Verwaltung in die Schuhe jchoben und
fie verantwortlich machten für das greifbare Wachstum des
Herilalen Einfluffe8 in der Bevöllerung. In Kolmar habe ich
bittere Vorwürfe gegen fie wegen der Zulaffung eines Kapuziner-
Hofterd, der Gründimg oder Stiftung des Biſchofs NEE, in
Siegolsheim im Kayfersberger Tal vernommen mit dem auch
fonft zu börenden Kehrreim: Das hätten die Franzofen nicht
erlaubt. Wenn es gilt, der deutichen Verwaltung etwas am
Zeuge zu fliden, wiffen die Elſäſſer nicht jenfeit3 der Vogeſen⸗
grenze Beſcheid, fonft hätte ihnen der Stich ind Spaniſche nicht
entgehn können, den Kirche und Schule in Frankreich unter
der Republif angenommen haben. Übrigens hat ihn ein ſcharf⸗
blidender Geift, wie Zaine, ſchon vor einem Menjchenalter kommen
Südweftdentfche Wanderungen 387
jehen*) Das Elſaß wäre von dieſer Bewegung nicht verjchont ge⸗
blieben; hatte ſich doch fein Klerus am engften mit Frankreich ver-
bunden. Schon äußerlich) genommen ift ja auch die letzte Uniform,
die Frankreich im Reichslande zurüdgelaflen hat, die der fatholifchen
Geiftlihen. Man kann nicht leugnen, daß fie Eindrud mad.
Sie fpielt fi} jehr auf. Wo fonft daß befannte Paar Gendarmen
mit den quergefebten Dreiſpitzen und dem gelben Lederwerk
paradierte, zeigen fich heute auf jeder größern Station der lange
bis zu den Knöcheln reichende ſchwarze Rod mit der ſchwarzſeidnen
Schärpe, der breitfrempige Seidenfilz und die ſchwarzen, weiß-
beränderten Bäffchen. Eine präjentable Uniform, die fich jehr zur
Kofetterie eignet, auch zur politifchen, und vor allem den Vorzug
aller Uniformen bat, den Korpsgeiſt zu heben.
Wie beicheiden, bürgerlich-bäuerlich macht ſich daneben das
Auftreten der badiſchen Klerifer, die man in Röcken von jeder
Länge und in Hüten von jeder Form, auch im Schlapphut des
Kunſtjüngers, einhergehn fieht. Darin fpricht fi) nicht eine
andre Mode, fondern eine gänzlich verichiedne Stellung in ber
Geſellſchaft aus, und diefem Unterjchied entipricht am lebten Ende
auch die verſchiedne Art von politiicher Stellung und Geltung
der Herifalen Parteien rechts und links vom Rhein. In Baden
haben wir eine Oppofition wie andre aud), nur ftärfer und folge-
ricätiger, Die „mit umd gegen“ für das Wohl des Heimatlandes
arbeitet; im Reichsland verlörpert fie einen fremden Geift, der
fi) dem, den Deutichland dort anpflanzen will, gänzlich un=
verwandt fühlt. Die Bedeutung der Abneigung der obereljäffiichen
Induftriellen oder der Straßburger Sozialdemokraten verſchwindet
vor der der Klerikalen, die in Frankreich dad Vaterland ihrer
firchlichen und fozialen Ideale jehen. Wer nun glauben wollte,
daß etwa die proteſtantiſchen Geiſtlichen des Unterelſaß durch
eine entſprechende Anlehnung an Deutſchland eine Art von Gegen⸗
gewicht bilden müßten, der irrte ſich. Wohl gibt es hier deutſch⸗
gefinnte Männer, aber es ift in dieſem Stande zugleich auch eine
andre Art von Franzöfelei heimisch: die Bewunderung der Re
*) Man Ile in Taines hinterlaffenen Carnets de voyage, Notes sur
la provinoe 1863—65 (Paris, 1895) die Abſchnitte über das in der Zeit
der größten Blüte des zweiten Kaiſertums ſchon bedrohlich gewordne An-
wachſen des Firchlichen fies auf den höhern Unterricht. Die Minifter
Rapoleons erkannten die Gefahr, vermochten aber nichts gegen fie, meil
ihr Herr vom Klerus nicht loskommen konnte, mit deſſen Hilfe er Raifer
geworben war. Übrigens enthält das geiftvolle Bud) ©. 147 und 382
intereffante Schilverungen des damaligen Straßburg. o5*
o
388 Südweftdeutfhe Wanderungen
vofution, die republilanische Gefinnung in der Art, wie fie im fran-
zöſiſchen Proteſtantismus ja immer Boden gefunden bat. ch Habe
fie in unterelfäffiichen Pfarrhäufern fanatifch entwidelt gefunden.
St es bei jo vielen Gegenfäben zu vervundern, wenn in
den Schichten, wo die Menjchen gewohnt find und die Zeit dazu
haben, ihre Unficht zu „kultivieren“ und zur Schau zu tragen,
Eifäffer und Deutihe wie Fluß und Nebeufluß nebeneinander
in demjelben Bette fließen, ohne fi) zu milden? Ein angejehener
ruhiger Mann, Wirt und Bürgermeifter in einem vielgenannten
Städtchen des Obereljaß, von der Nüchternbeit der Lebensauffaffung,
die dort die Leute gern von fi rühmen, fchilderte mir die
Schwierigkeiten, die ihm als Wirt die Abneigung zwiſchen Deutichen
und Eljäffern gemacht habe. ES ſei befier geworden im einzelnen,
aber noch immer habe er das Gefühl, als ob fie ſich ben Rüden
fehren möchten, wenn fie gezivungen find, an demſelben Tiſche zu
fiten. „Que voulez vous? Die Lüt möge fi Halt nit, fie
gfallen einander zu ſchlecht. Ya das Einandergefallen, darin
liegt eben die Schwierigkeit. Auch Völler lieben und haſſen, und
die Politik tert fi) gründlich, die glaubt, diefes Imponderabile
außer Rechnung laffen zu können. Es iſt Tatjache, Eljäfler umd
Altdeutiche fließen in den obern Schichten wie zwei Ströme
nebeneinander, die fich nicht vermiſchen Tünnen. Die zahlreichen
Verbindungen herüber und hinüber, die ein Bierteljahrhundert
geihaffen hat, haben im einzelnen manches gebefjert, dieſe Haupt⸗
tatfache Haben fie aber gar nicht berührt. Es iſt eine beklagens⸗
werte Schönfärberet, werm deutiche Beamte bei allen Gelegenheiten
die Gegenjäbe als ausgeglichen bezeichnen. Dad nüpt gar nichts.
Eher ſchadet e8 unſerm Unjehen, wie denn in Diefem ganzen Ver⸗
haͤltnis der Witdeutiche fich viel zu oft in die ungünſtige Stellung
Bringt, daß er möchte, und daß der Elſäſſer nicht will. Außerdem
leitet er Waſſer auf des Gegners Mühle durch die große Beachtung,
die er den Heinen und kleinlichen Gegnerjchaften, Gänfeleien und
Schilanen ſchenkt. Wieviele Kindereien hat bie reichsländiſche Po⸗
lizei durch ihren Übereifer erft zu Staatsaktionen aufgebaufckt!
Sch lege ſonſt fein großes Gewicht auf ſchweizeriſche Urteile
über die Verhältniffe im Elſaß. denn wir find ja den Schweizern
unbequem, feitdem wir groß geworden find, und am unbequemften
im Elſaß, wo wir auch alteidgenöffiichen Boden einverleibt haben.
ber ih mußte doch einem Basler Politiker Hecht geben, der mir
angeficht8 der Erinnerungen an die Selbitändiglett Mülhaufens,
die in dem Musse du vieux Mulhouse vereinigt find, über ben
Südweftdentfche Wanderungen 989
Berfall Mülbaufens, nicht der Stadt und der Gefchäfte, fondern
der leitenden Familien Hagte. Er meinte, der Rüdgang habe aller-
dings fchon mitten in dem größten @ebeihen unter dem britten
Napoleon begonnen, als dad Eljaß allen andern Teilen Frank⸗
reichs voran die Erwerbung materieller Güter der Pflege der
Freiheit und Selbftändigkeit vorangeftellt Habe. Aber auch Deutich-
land babe, ohne zu wollen, dazu beigetragen, indem es fich in
eine Politik der Heinen, nervöjen Maßregeln babe hineintreiben
laſſen, die nur dazu gedient hätten, daß Deutiche und Eljäfler ſich
wechfeljeitig daß Leben fauer machten, worüber fie beide größere
Biele verfehlten, die fie zu verfolgen meinten. Aus meiner Beobad)-
tung obereljäffiichen Lebens konnte ich Hinzufügen, daß es jeden»
falls die Eljäffer find, die dabei am meiften verloren haben. Die
Auswanderung bed intelligenten und tatlräftigen Nachwuchſes,
der fich nicht entfchließen Eonnte, fich in die beftehenden Ver⸗
hältniffe einzuleben und fich ihre Vorteile zu fichern, hat gerade
in den Smbuftriegebieten des Oberelfaß am meiſten dazu beigetragen,
daß der Einfluß des einheimiichen Elements fo ziemlich in allen
Beziehungen geſunken iſt. Scharfjehende Deutiche haben Ichon vor
1870 eine gewifle partikulariſtiſche Verengerung des eljäffiichen
Geſichtskreiſes beobachtet. Bei Befuchen in der Weißenburger und
Zauterburger Gegend fur; vor dem Kriege im Sommer 1870
gewann auch ich denſelben Eindrud, der meinen pfälziichen Freunden
längft vertraut war, daß über dem lintereljaß eine verfchlafne
Spießbürgeritimmung ſchwebe. Es war ein Mißverbältnis
zwiichen dem ruhmredigen Sichbelennen zur großen Nation und
dem fichtlichen Beſtreben, hinter den Vogeſen als Bürger des
gläugendften Großftaat8 ein behagliches Kleinſtaatsdaſein zu führen.
Ganz unbegründet erſchien und damals ſchon bie Überhebung,
mit ber dieje Biedermeier auf die Heinftaatlichen deutihen Nach⸗
barn Hinabjchauten. Nicht bloß die Badenſer und die Pfälzer
haben unter der Geringſchätzung ihrer ftammverwandten Nachbarn
leiden gehabt, auch die Schweizer hatten fich über jo manche
berhebung ihrer eljäffiichen Nachbarn zu beklagen.
Wie wenig gut es aber den Bewohnern dieſer beiden öſtlichen
Departements tat, daß fie ein anjcheinend gedeihliches, weil von
den Strömen der Zeit viel weniger bewegte und bebrohtes
Dajein führten, als die Nachbarn überm Rhein und jenjeitd des
Aura, das wußten fie jelbft nicht. Die gewaltigen Enttäufchungen
der jahre 1870/71 Haben fie vorübergehend aufgerüttelt. Aber
nur die einfihtigften Eljäffer vermögen fi) zu der Erkenntnis
390 Südmweftdentihe Wanderungen
aufzuſchwingen, daß ihre öftlihen Nachbarn fie in vielen Be
ziefungen überholen. Es ift eine ſeltſame Werbindung von
philifterhafter Selbfttäufhung und franzöfifher Überhebung, bie
fie befangen macht. Dem unparteiiſchen Beobadhter aber, der heute
aus Baden oder aus der Pfalz oder von der Saar ins Elſaß
fommt,. ift e8 nicht zweifelhaft, daß dort drüben eine Träftigere
Luft die Nerven ftählt und die Augen heller madt. Ein bald
breißigjähriges8 Schmollen bedeutet eben einen gewaltigen Verluft
an Schwung und Tatkraft. Die männlichen Eigenfchaften gehn
unter weibiicher Empfindlichkeit und Launeuhaftigkeit unter. An
die Stelle der offnen Ausſprache tritt der Klatih. Man fticdhelt
auf die Plumpheit, Geſchmackloſigkeit, Rauheit der deutichen Sitten
und überfieht dabei das wefentlichite, daß wir als das männlichere,
durch Selbſtzucht Träftigere, mit ernſten Aufgaben beichäftigte
Volk dem verweichlichten, eines klaren Blickes in ſeine Zukunft
baren Volke gegenübertreten.
Ein gebildeter Bürger im Unterelſaß zeichnete, ohne es zu
wiſſen, ſich und feine Landslente, indem er von den Franzoſen
mit feiner Beobachtung fagte: „Der Franzos if darin komiſch,
er ifch zu ängftlich. Beim Tleinfte obstacle, daß er uf jeim Wäg
findt, rvetiriert er. Der Dütſche goht par force drüber weg.
C’est la raison: der Edmond About us Paris verlauft fein
Terme unterm Preis und goht Hinter die Vogeſe zrud.” Der
feife Tadel war mir ebenjo intereflant in biefen Sägen wie
die Sympathie des ſtark fühlenden Mannes für den ſchwachen.
Viele Elfäfler ſchätzten eben an den Franzoſen gerade eine Art
von Schlaffheit, die die Dinge gehn läßt, wie fie gehn, das
gerade Gegenteil der preußiichen Schroffheit und Raſtloſigkeit.
Es lebte fi) To leicht damit. Jetzt hoffen fie fich in einem reichs⸗
ländiihen Sonderbafein etwas von diefem Stillieben zu erhalten,
und der Ruf: Das Elfaß den Elfäffern! hat bei der Maſſe keinen
edlern Sinn. Aber die Regierenden in Straßburg werden hoffent-
lich nad fo vielen Enttäujchungen einjehen, daß da ein ganz
andrer PBartilularigmus wäre als der, dem mir jonft in Deutſch⸗
fand geneigt find, ein Daſeinsrecht zuzugeftehn, und deſſen fich
einst auch unfre Landsleute zwiſchen Rhein und Vogeſen er⸗
freuen mögen.
Briefe eines Zurückgekehrten
ax⸗
1
Ich habe gelernt, was Heimat heißt, und darin einen Schaf
gefunden, ber mich rei macht, und in deſſen Beſitz ich nie
wieder arm werden Tann. Ich könnte Amerika, und bejonders
einen weftlichen Staat der Union, defien Name nicht zur Sache
tut, faft ebenfogut mein Vaterland nennen wie Europa und
befonder8 einen gewiſſen ſüdlichen Staat Deutichlands, wenn ich
nämlich nach der Zahl der Jahre rechnete, die ich in beiden gelebt
habe. Aber folange ich drüben war, babe ich mit jehnfüchtigem
Herzen an dem Lande, an dem Dorfe, an der Hütte der Heimat
gehangen. Den Tag über übertäubte Die Aufregung des Tämpfenden
Lebens jeden Gedanken, ber nicht den nächſten oft brängenden
Aufgaben gewidmet war, aber die Nacht, die alle Entfernungen
ausloſcht, führte meine Seele in die Heimat zurüd. Wer dieſes
Doppelgeleifige Beben nicht Tennt, Tann fich keine Vorftellung von
der beftändigen Paarıng und Durchkreuzung der Gedanken von
bier und von dort machen. Der Hubfon und der Rhein, bie
White Mountaind und der Schwarzwald, das Fellengebirge unb
Die Alpen, die Legislatur und ber Landtag, der Kongreß und
der Reichstag, der Präfident und der Kaiſer, und jo weiter bis
zur Scharlacheiche und Steineiche, zur Catawbatraube und zum
Riesling, und hinunter bis zum Bier von Milwaukee und von
München: dieſes geboppelte Denken, das ewig nebeneinanberftellt
und sdrängt und vergleicht, muß natürlicd) auf einer Seite endlich
ein Minus finden. Die Mehrzahl wird von der bunten Gegen⸗
wart befiegt, die Erinnerungen verblafjen, fie find endlich nur
noch der faft unwirklich blauende Hintergrund für Die Szenen
von heute und geftern. Die Minderzahl kämpft die Stärke der
friſchen Eindrüde nieder und läßt fie gar nicht bi8 an bie Er-
innerungen herantommen, die an gefählikter Stelle weitergrümen ;
aber fie trägt Wunden von biefem Kampfe, die nur der Tob
‚394 Briefe eines Surüdigefehrten
oder die Heimkehr heilen. Sie mögen äußerlich noch fo friſch
ericheinen, e8 find im Grunde leidende Menjchen, die mit ihren
Erinnerungen nicht fertig werden können. Es entjiehn in ihrem
Gehirn die feltiamft gemwundnen Gedankenwege, die alle an be=
ftimmten Heinen Punkten enden, die die größte Ahnlichleit mit
dem haben müflen, was man fire Seen nennt. An Dielen
Punkten erheben fi nicht jo ausſchließlich, wie und die Bücher
glauben machen mollen, Gräber der Liebe, Rafjenbänte mit ver-
liebten Erinnerungen, uralte Bäume der Kindheit und dergleichen ;
ih) habe Männer gelannt, deren Erinnerungen um eine Heine
Weinſchenke (die man dort Beifel nennt) in Lerchenfeld und wieder
um einen beftinmten Winkel in dem kleinen hölzernen Raum
eined Gaftzimmerd fchwebten wie Schatten, die an einen Drt
gebannt find, an den fie immer zurüdlehren müflen, und anbre,
die heimmwehlrant waren an der Erinnerung an die Durlacher
Kirchweih. Mein Beruf brachte mich einmal mit drei Pfälzer
Dejerteuren von demfelben Regiment zufammen, die fi) mit
leuchtenden Augen von ihren Erinnerımgen an die alte Kaferne,
fogar an ihren Gefängnisraum, worin fie öfter geſeſſen hatten,
unterhielten. Ich bin überzeugt, daß fie gern in ihr Kaſchoh,“ wie
fie e8 mit heimiſchem lange nannten, zurüdgefehrt wären, wenn
fie ſich damit die Rückkehr überhaupt hätten erlaufen können. Für
ſolche Leute ift der größte Feittag ded Jahres die Nahahmung
einer heimifchen Gewohnheit, jo wie die Bayern ihre „Wiesn,“
eine enge Erinnerung an die Mimchner XTherefienwiefe beim
Dftoberfeft, und die Schwaben ihr annftatter Volksfeſt im
Newyork haben. Dan muß den Bug der deutichen Vereine beim
Deutichentag in Chicago 1893 gejehen haben, damit man dieſes
Hängen an den Kleinen Bejonderbeiten der Tleinften Landſchaften
und Bezirke verfteht: es kommt aus berfelben Wurzel wie das
Geſündeſte an dem alten politifchen Partilularismus, und man
hatte ja gerade dort die Empfindung, daß die Liebe zum Bater-
lande leicht durch die Liebe zu deu Raterländern verdunfelt
werben könnte. Ich zweifle, ob dem großen Vaterlande mit gleicher
Freude das wiederlehrende Opfer tagelanger Reifen nad) einem
zentralen Berfammlungsort gebracht würde, das gewifle alte
Korpsftudenten hier in Amerika alljährlih auf dem Altar ihrer
Univerfitätserinnerungen niederlegen.
Es liegt da eine deutiche Bejonderheit vor, die zu der oft
beiprochnen politiichen Ausstattung unſers Volles gehört. Der
Ire, der ja fo ziemlich überall in Amerika gleich neben dem
Briefe eines Zurückgekehrten 395
Deutichen kommt, folgt en masse feiner grünen Yahne, die ſich
am St. Patridstage fogar den Ehrenplab auf den Flaggenftangen
der eriten Negierungsgebäude einzelner Staaten erobert. Die
Sranzofen, zu wenig zahlreich, daß fie ald Menge wirken könnten,
hängen belanntlid) mit einer leidenfchaftlichen, geradezu krank⸗
machenden Sehnſucht an der Heimat. Das berühmte Schweizer:
heimweh ift nicht im Vergleich mit diefer Sehnfucht, die dem,
den fie befällt, die Lebensluft außfaugt und den Willen wellen
macht. Selbftmorbe aus Verzweiflung an der Fremde, die ihnen
nicht erlauben will, in die ſchöne Heimat zurüdzufehren, find bei
Franzoſen häufiger als bei jeder andern Nation. AB ih in
einem Heinen Gafthaus eines verfallnen Nefte8 in den Dünen
des Stillen Dzeand lebte — ed war eine Daje von Behagen
inmitten von Öde und Armut —, trat der Wirt, ein Heiner
Sranzofe, am erften Vormittag mit zwei Schnapsgläfern und
einer Flaſche Mezcalbranntwein auf gläfernem Brett in mein
Bimmer und bat mich, ein Gläschen mit mir trinken zu dürfen.
Er plauderte eine Viertelitunde und zog ſich dann mit der feinen
Höflichkeit zurüd, Die dem weichen, nur allzu weichen Gemüt des
Franzoſen entjtammt, weshalb fie auch an feine Stufe bon
Bildung oder gar Beſitz gebunden iſt. Die kurzen Situngen
twiederholten fich jeden Tag. Der Mann erzählte mir aus feinem
Leben und dem Leben feiner Gefährten; alles, was er erzählte,
endete unglüdlih, faum einem Franzojen war es in dieſem
Staate gelungen, fein Leben „zu machen,“ und viele hatten mit
Selbftmord geendet. Jetzt ftand er allein im Kampf ums Brot,
und was fir ihn mehr war, im Kampf um ein anftändiges
Leben, mit Stalienern, deren Wettbewerb ihn Hart bebrängte.
Ich war noch nicht vier Wochen wieder in meine Stadt zurüd-
gelehrt, als ich die Nachricht erhielt, daß mein franzöfticher
Gaftfreumd fich erhängt Habe. Und diefe Nachricht Tief bei mir
an demfelben Tage ein, an dem die Wafhingtoner Zeitungen den
Selbitmord des franzöſiſchen Botjchafterd bet der Regierung ber
Vereinigten Staaten meldeten.
So verzehrt von Heimatfehnfucht wie Franzofen, und fo
leidenſchaftlich die Heimat umfaffend wie Iren habe ich Deutiche
felten gefunden, faft nie. Der Deutſche läßt ſich felten von einer
Empfindung ganz erfaflen, er brennt jelten lichterloh, er bat
immer einen Vorrat von ablühlenden Peflerionen, mit denen er
unzeitgemäße Entflammungen zu löjchen weiß. Es find darunter
Eigenfchaften, die ich nicht Lieben und nicht loben Tann, und bie
396 Briefe eines Surüdgelehrten
ich übrigens jet auch nicht auseinanderfaſern möchte. Es find
darunter auch Egenfiheften bo von der größten Bedeutung für
Deutichland und für andre Länder. Im Dentichen lebt eine er⸗
ſtaunlich ſtarke Teilnahme für Dinge, Menichen, Vorgänge um
ihn ber. Es koſtet ihn gar nich, ieben Augenblick jo objektiv
werden, daß er mit dem, was ihn gerade feflelt, völlig ver»
ſchmilzt. Daber feine Wanberluft, feine Forſchbegier fein Grübeln
und fein Verbohren, jeine Einwurzelung im fremdeiten Boben.
Darum ift er ja der geborne Kolonift, der den Auffen Sibiriem,
den Amerilanern Amerika, den Holländern Indien uneigennühig
erwerben hilft. Etwas hat das neue Reich daran geändert. Ich
merle e8 an der jungen Generation der Landsleute, daß ihr
Blut in vollern Wellen durch die Adern pulft und nicht mehr
fo dünn wie früher, mo es viel Raum für Die ZTransfufion
fremdefter Säfte ließ. Ich ſehe in den legten dreißig Jahren
nicht mehr ſoviel grüne blühende Schoffe des alten Patriotismus
abwelten, die nicht weiterleben konnten, weil fie dem Kirchturm-,
Hütten-, Gräber-, Kneipenpatriotismus entiprungen waren, ber
nur in einer ganz engen Atmofphäre gedeiht. Diele hat aber
nie auf die Dauer unferm atlantifchen Sturmilima ſtandge⸗
halten. Es ift ein großer Fortſchritt, daß ſich der überfeeifche
Deutiche in die Borftellung einlebt, Deutichland fei jo gut wie
England kraft feiner Lebensinterefien überall auf der Welt, wo
Deutiche leben. Wo ber Deutiche jeinem alten Lande die Löfung
weltpolitifcher Aufgaben zutraut, hat feine Vereinzelung aufgehört,
und jein Nationalgefühl ift nicht mehr ein Pflänzchen unter
Glas, das mit Heinliher Sorge mühſam und unter Aufwand
vielen Biers gehegt werden muß.
Barım follten wir es nicht offen befennen, daß Die große
Mehrzahl der Deutichen in ben Vereinigten Staaten im Grunde
nie jo recht an ihre volle politiſche Gleichberechtigung mit ben
Anglotelten geglaubt, fie : nicht mit bem veuer berzlicher Über⸗
zeugung angeftrebt hat? Sie find politiid anders angelegt, Emmen
politifch nicht dasfelbe und mit denjelben Mitteln wollen. Sogar
ein Karl Schurz, als Nebner bewundert und beivunbernswert,
iſt nicht ganz der Politiker, wie er für Amerika fein müßte.
Mau müßte ben Deutichen viel grünbficher ausgezogen haben, daß
man ganz ſicher im Tritt mit den Amerilanern zu marjchieren ver⸗
mödjte. Das gelingt nur den Deutichen der dritten und ber vierten
Generation, an denen dann leider nur noch der Name beutich tft,
der Name Aftor, Kant, Havemeyer und jo weiter. Eb hängt
Briefe eines Surüdigefehrten 397
mit ganz guten Elementen des deutichen Charakters zufammen,
daß wir feine lebhaften Bewundrer der Politik als Handwerk
find umd demgemäß in der handwerksmäßigen Politik, wie fie
in den parlamentariichen Staaten Weft- und Mitteleuropas be=
trieben wird, übrigens aud) in der lebhaftern, gewalttätigern und
pannendern Innenpolitik der Vereinigten Staaten, feine großen
Anftrengungen maden. Diele Politik ift zu dilettantiſch, zu
phrafenhaft, als daß dem ehrlichen Deutichen fo recht wohl in
dem raflelnden Betrieb dieſer Mühle werden fünnte, von der man
Mirza Schaffys Wort gebrauchen möchte: Dad Klappern der
Räder höre ich wohl, aber ich jehe kein Mehl. Der Deutiche Hat
Anterefje für die lokale Politit der Gemeinde, des Bezirks, des
Heinen Staats, mo er die Verhältniffe kennt und überfchaut; Hier
entwidelt er fogar manchmal eine amverhältnismäßig große Leiden-
ichaft, die höherer Siegeöpreije würdig wäre. Aber den Blid fürs
Große ded Staates glaubt er feinen StaatSmännern, feinen er-
probten Beamten überlafjen zu können. Diefe bequeme Auffaſſung
führt jedoch zu übeln Ausgängen. Deswegen vertritt der minder
gebildete Irländer den gebildeten Deutfchen in den Legiölaturen
der Vereinigten Staaten, und wenn je ein Deutjcher, wie Karl
Schurz, mit in den Vordergrund tritt, find feine Landsleute
unter denen, die ihn jchmähen und nicht verftehn wollen. Darum
vertritt eben der Magyar im Peſter Neichdtag die Millionen von
Deutichen des Banatd, Wejtungarnd und ber Zips. Aud in
Preußen, wo zweifellos dad Staatöbemußtjein der Deutjchen eine
höhere Stufe erftiegen Hat als je vorher im ganzen Verlauf ihrer
Geſchichte, ift man den Polen, den Litauern gegenüber ſehr
rüdjihtsvoll verfahren. Man ift nur mit Anforderungen der
Kultur, nicht der Politik an fie herangetreten. Die Majuren, die
Litauer, die proteftantifhen Polen Schlefiend Haben fich zu einem
guten Zeil felbft germanifiert. Auf die preußiiche Germanifation
hätten fie lange warten können.
Laß mich zur Gegenwart zurüdlehren und entichuldige, wenn
ih bier von Dingen geredet habe, die ich vielleicht in einigen
Monaten anderd, wenn auch vielleicht nicht beſſer verftehn werde.
Die Gedanken fliegen voraus wie die Seevögel, die mit ihren langen
weißen Sichelichiwingen den Schaum ber Wellenlämme aufflattern
madyen. Geſtern verſank bie atlantiiche Küſte Nordamerika.
Nun no eine Woche Waller und Himmel, und eine andre
Küfte wird auftauchen. Ihre ferne flache Linie wird uns dann
gerade jo fremd vorkommen wie bie jo wohlbekannte amerikantjche,
398 Briefe eines Zurückgekehrten
die fchon im Nebel entihwindet. Was find denn dieſe Linien
überhaupt anders als jchattenhafte Ausdrücke für den allgemeinen
Begriff „Land“? Kein Haus, fein Baum, kein Tier, nur ein
welliger graulidher Saum am Horizont. Es ift wie eben gebornes
Land, das gerade hervortaucht, noch feucht, wie ed im Schoß des
Meeres lag, von unbeftimmten Umrifien, noch nicht aus⸗ und
Durchgebilbet. Was daraus zu und fpricht, das ift von und erft
hineingelegt worden. Es ift nidht Amerika und nicht Europa, es
ift Land überhaupt. Genau jo war da8 Land Lange, ehe menſch⸗
liche Augen es erblidten. Es ift in feiner WWefenlofigleit eine
der älteften Landichaftsbilder überhaupt. Nur daS Meer felbit
ift noch älter, die Urmutter der Erde und des Lebend. Darım
verlange aud) niemand vom Meere die Schönheit der Wieje ober
des Waldes. Das Meer tft eine große, ftille Duelle, aber was
fie ununterbrochen ergießt, das fieht nur ein geiftige$ Auge. Das
Meer ift ein gewaltiges Gefäß voll Möglichkeiten, aber was ſich
daraus verwirklicht hat und verwirklichen wird, fieht wieder nur
ein geiftiged Auge. Das Meer ijt ein riefige® Grab, worin
Millionen Generationen ruhen, aber nur Lot und Fangnetz dringen
in feine Tiefe. Das Meer ift eine gewaltige Kraft, von deren
Größe Sturm und Brandungswelle nur eine Ahnung geben. Das
durchfichtige Grün des Wellengipfeld, die Ringe der Schaums
ftreifen, das nächtliche Leuchten in der Kielfurche, das alles ift
nur ein Träumen von der Wirklichfeit dieſes gewaltigen, ewig
an die Erde gefeflelten, fi) ewig aufbäumenden Rieſen.
Ich las vor einiger Zeit in Darwin „Reife um die Welt“
fleinliche Bemerkungen über den Eindrud der Mteeresbilder: „Und
welches find die fo gerühmten Serrlichleiten des unendlichen
Ozeans? Eine langweilige Obe, eine Wafjerwüfte, wie der Araber
ihn nennt. Es gibt allerdings einige entzüdende Szenen. Eine
Mondnacht mit dem Haren Himmel und dem dunkel gliernden
Meere, und die weißen Segel mit der weichen Luft eines ſanft
wehenden PBafjatwindes gefüllt; eine Windftille, wo fih nur Die
jpiegelglatte Oberfläche des Meeres janft wallend hebt, und alles
il ift mit Ausnahme des gelegentlichen Flatternd der Segel.
Wohl ift es ſchön, einmal einen Sturm zu fehen, wie er fid) am
Horizont erhebt und mit Wut daher fommt, oder den heftigen
Orkan mit den berghohen Wogen. Aber ich befenne, daß meine
Einbildung mir etwad Großartigeres, etwas Schredlichereß in dem
Anblid eines rechten Sturmes vorſpiegelte. Es ift ein unver⸗
gleichlich ſchöneres Schaufpiel, wenn man ihn am Lande fiebt,
Briefe eines Zurückgekehrten 399
wo da8 Schwanten der Bäume, der wilde Flug der Vögel, die
ſchwarzen Schatten und die hellen Lichter, dad Rauſchen der
Ströme den Kampf der entfeflelten Elemente verkünden.“ Alle
Achtung vor Darwins Geift; aber diefer Sab mürde jederzeit
hinreichen, zu beweilen, daß man ein großer Geift und eine enge
Seele jein kann. In diefem Anſpruch gegenüber dem Meere, daß
es nicht fo fein folle, wie es ift, Liegt Diefelbe Bejchränttheit, Die
den Kampf um Nahrung zur Triebkraft der Schöpfung alles
Lebens machen wollte. Darwin war eine merfwürdige Mifchung
bon Genie und Bhilifter. Schon fein umftändlicher Stil ift mir
auf die Dauer zumider. Schade, daß gerade deutiche Gelehrte
hohen Ranges zuerft und zumeift vor Darwin auf den Knien
gelegen haben, der ficherlic) die Bewunderung nicht voll verdient
hat, die ihm noch heute von vielen gezollt wird, immer noch mehr
im Auslande als in England und Amerika. Gerade über diefe
Proſkynefis wäre manches zu jagen. ch fürchte, ed wird ſich
noch mehr ©elegenheit dazu geben, als mir lieb ift.
Ein DOgeandampfer von zehntaufend Tonnen, der im Nebel
mit faft ungeminderter Gejchwindigfeit feinen Weg durch pfablofe
Meere macht, ift mir immer ein viel überzeugenderer Ausdruck
für dad geweſen, was man Fortichritt der Wiffenjchaft nennt,
als die plumpe Hypotheſe vom „Überleben des Paſſendſten im
Kampf umd Dafein.” Die Schiffskonftruftion, der Chronometer,
der Kompaß, die Seekarten, und was fonft dazu nötig ift, find
Zriumphe des menjchlichen Geiſtes. Aber noch immer gibt es
Unberecjenbarfeiten. Hörte man nicht eben den Gang des Schiffes
ſich verlangjamen? Warum da? Einigen fährt fchon ein
Schreden in die Glieder. Gemach. Du fühlft den kalten Hauch,
der uns entgegenweht. In wenig Minuten wird der Offizier,
der ohne Unterlaß die Temperaturen der ind Meer binein-
geſenkten Thermometer ablieft, die Nähe des Gefrierpunkts zu
notieren haben. Eisberge müfjen nahe fein, oder mindeſtens
Treibeismaſſen, groß genug, daß fie viel Abkühlung bringen.
Dieſesmal cheinen fie nicht auftauchen zu wollen die geheimnis-
vollen jchneeweißen Schlöfler, Mauern, Gebirgsfetten, Klippen
mit den grünlich leuchtenden Linien ihrer Spalten, Täler, Frieſe
und Bilafter. Der Nebel will fi) heben, die Nebelfrauen fangen
an mit langen Gewändern und fliegenden Bändern über ben
Bellen zu tanzen, ein gebieterifch gerabliniger Sonnenlichtreflex
durchzuckt jchwertgleich dad Gewölk und legt fich breit auf das
Meer, wo fi fein Licht in taufend Funken auflöft. Die Gefahr
400 Briefe eines Zurückgekehrten
einer Eisbewegung ift beſchworen. Wir werden Muße haben, una
mit den Menfchen befaunt zu machen, Die fich diefer Planke oder
vielmehr diefer Stahlröhre anvertraut haben.
2
Eine Dampferfahrt von ein paar Tagen gibt ausgezeichnete
Gelegenheiten zu vergleichenden Völlerftudien. Der ſeltſame Zu⸗
ftand einer im Bauche einer großen Stahlhülfe ind weite Meer
hinausſchwimmenden Menge von Menfchen jedes Alters, Berufs
und Herkommens bringt merkwürdige Schichtungen und Grup⸗
pierungen hervor. Anziehungen und Wbftoßungen beivegen Die
einen zu= und voneinander. Andre verhalten ſich volllonmen
gleichgiltig und ſinken wie unlösliche Körper, die fi aus einer
Flüſſigkeit ausfondern, langſam in ftillere Tiefen. In der ur⸗
ſprünglich von gleichen Gefühlen und Intereſſen getriebnen Reijes
Beet: vollziehn ſich ſehr bald Sonderungen. um haben
fie die Mühe der Einpaſſung in das enge Gehäuſe Sinter. fih, fo
vergeflen viele vollftändig ihren vorherigen Zuftand. Man merkt,
die Menſchen wollen auch aus dieſer Gegenwart alles machen,
was gemacht werden kann. Wohl fieht man bier Augen, Die
feine Träne mehr haben, mit angftvoller Sehnjucht den legten
Schimmer des Landes fefthalten, von dem wir und mit Sturmes⸗
eile entfernen. Aber gleich daneben fordern andre voll Eifer
den fehlenden Mann für eine Statpartie.e Das immer wieder
verjuchte Experiment wird auch dieſesmal gemacht, durch emen
Unterzeihnungsbogen, Mufit und Dellamationsktränzchen und
Unterhaltungszirfel mit beftimmtem Programm für zehn Tage
ind Leben zu rufen. Doch beteiligt ji kaum jemand daran.
Natürlich, denn die Mehrzahl der Reiſenden find Deutiche, die
Zwang und Syſtem befonder$ aus der Unterhaltung verbaunt
jehen wollen. Ich babe auf Schiffen, mo das engliiche Element
überwog, dieje Einrichtung mit Erfolg anwenden ſehen. Was
man dort nicht fieht, hat fich Dagegen bei und ſchon organiftert:
eine große Kneiperei nach allen Regeln der Kunft. Nach ameri-
kaniſch⸗geſchmackloſer Sitte traftiert ſich eine Gefellichaft von
Deutich-Amerilanern gegenjeitig mit Milwauleebier, defien Vor⸗
züge vor dem bayriſchen man laut preifen hört. Es find Leute
aus allen Zeilen der Union, die fi) großenteilß vorher nicht
gekannt haben. Geichäfts- und Gejelligleitätriebe machen, daß fie
wie Ol zufammenrinnen. Cinzelne davon kannte ih fonft als vor»
Briefe eines Surüdgefehrten 401
treffliche Menſchen; als Gruppe, die fich durch Trinken, Rauchen
und lautes Reden in ein Vergnügen bineinfteigert, das für alle
Nebenmenſchen Läftig ift, tft mir dieſe Art zumiber.
Wie fich dieſe Beute, denen es drüben offenbar „geglüdt“
tft, fchnell vereinigen, das erinnert mich an Die Vereinsgründung,
die zwei ſchiffbrüchige Deutſche auf einer einfamen Inſel in dem
Augenblid vollziehn, der fie zuerſt zufammenführt. Dan kann
fiher fein, daß in wenig Tagen die neuen Freunde einander
nicht mehr ausftehn können. Sobald einmal die Oberfläche ab-
gegraſt iſt, ftoßen fie auf eine Menge von Unvereinbarleiten.
Es fehlt ihnen eben jede Gemeinſamkeit der Bildungdgrundlagen
und vor allem ein außreichender Gemeinbeſitz von gejellichaft-
fihen Yormen. Ste fordern in dieſer Beziehung unglaublich
wenig voneinander. Durch diefe Genügfamleit erniedrigen fie
aber überall, wo fie binfommen, das gefellichaftlidhe Niveau.
Leider tragen fie ihren Bier- und Bigarrendunft, ihr Lärmen
und Gläferflingen überall mit fid. Duldet man fie und ihre
Atmofphäre nicht in der Oberwelt, fo Steigen fie in die Unter-
welt hinab. In einem amerikaniſchen Bahnzug findet mar fie
dann bei Negern und Srländern im Smoling Car, und im Hotel
vertagen fie ſich ins Kutſcherzimmer. Mehr, ald man glaubt,
ſchadet der Deutjche mit dieſen Gebräuchen feiner gejellichaft-
lichen Stellung. Ins Politiſche übertragen bedeuten diefe Nei-
gungen die rüdfihtsloje Anfechtung der Geſetze zum Schub ber
Sonntagsftille und aller MäßigleitSbeftrebungen, das dem An⸗
ſehen der Deutichen in Amerika die fchwerften Wunden geichlagen
Hat. Sie mögen in fehr vielen Beziehungen Recht Haben und
ihren Gebrauch geiftiger Getränle dem Mißbrauch, den bie
Anglofelten damit treiben, mit voller Begründung entgegentellen.
Der freie Bierausſchank und die Bierfiedelei in Sommergärten
find aber nun einmal feine politifchen Programme für ein großes
Boll. Die hervorragende Stellung der Bierbrauer und der Bier⸗
wirte in den politifchen Gruppen der Deutſchamerikaner hat dazu
beigetragen, daß höhere nationale Bildungäbeftrebimgen bei den
deutſchamerikaniſchen Politikern fo felten eine warme Unterftübung
gefunden haben. Sie find mit Feuer gegen jede Beſchränkung
der Trinkfreiheit vorgegangen, aber der Bewegung für Volks⸗
bibliothefen ftehn viele Deutiche teilnahmlos gegenüber.
Das Bedürfnis des „Anſchluſſes“ ift bei Deutichen immer
ftärfer al8 bei andern Völkern. Sch meine beim Durchichnitt.
Hochgebildete Deutfche bewegen fich geradejo wie andre um ihren
Radel, Gluchinſeln und Träume 26
402 Briefe eines Surädgefehrten
eignen Mittelpunft und find ſich jo lange ſelbſt genug, als fie
nicht einen andern Firftern finden, mit dem fie fi) zum Doppel-
ftern verbinden. Es ift aber das Eigentümliche, daß der Eng-
länder ein tieferes Beruhen in fich jelbft auch dann zeigt, wenn
er feinen geiftigen Schwerpimft hat, vielmehr eine taube Nuß
iſt. Iſt es Naturell? Iſt es praktiiche Lebensweisheit?. Wohl
beides: die Weisheit mwächft aus der Naturanlage heraus; fie
hat ſich einmal die Regel gebildet, jebe Lebenslage kühl zu über
ſchauen und ſich die Frage vorzulegen: Wie paßt du da hinein?
Und die befolgt fie nun wie ein Naturgejeb inftinftiv. Der
Deutiche ift beweglicher, Täßt fich leichter anziehn, folgt einem
oberflächlichen Unterhaltungsbedürfniß und fühlt ſich ſehr häufig
ebenſo raſch abgeftoßen, wie er fich vorher anziehn lief.” Ein
gutes Teil des Streite® und Haders in großen und Heinen
deutichen Gemeinjchaften kann man darauf zurüdführen, daß Die
Perfönlichkeiten nicht hinreichend ſcharf abgegrenzt find, nicht
genau genug willen und raſch genug enticheiden, was fie wollen
und follen, weshalb fie aus Übereinftimmung oder aus Wider⸗
ſpruch wechſelſeitig viel zu viel in ihre Sphären hinübergreifen.
Daher die endlojen Neibungen. Ein Halbdeuticher ruſſiſcher Ab⸗
funft, der die Dinge in einer kleinen Hafenſtadt Guatemalas
halbneutral viele Jahre beobachtet Hatte, jagte mir einmal das
treffende Wort: Wir ftreiten ung gerade jo, als ob wir alle Mieter
enger Wohnungen in einer einzigen Berliner Mietlajerne wären,
und doch könnte bier jeder unter feinen eignen Palmen und
zwiichen feinen blühenden Staffeeheden jo friedlich leben.
bin immer überzeugt gewejen, daß ein großer Teil der deutichen
Bereinsmeierei zulebt in dem Bedürfnis wurzelt, in die einander
wirt durchkreuzenden Anziehungen und Abftoßungen eine gefeb-
liche Ordnung zu bringen. In den Bereinen plagen fie zwar
erjt recht aufeinander, aber da find dann die Statuten, die &e=
wohnheit und — das Bereinövermögen bie Anker, um die das
wrade Schifflein ſchwingt. Die Pflanze entwidelt ein filbernes
Haarkleid, um ſich gegen Vertrodnung zu ſchüten, die Schild-
kröte baut fich ihr Inöchernes Haus und belegt es mit herrlichen
Hornplatten, um gegen Stöße geihübt zu fein, der Dentiche
ſchafft fich feine Vereine, die er mit Wappen, Siegel und Fahnen
außftattet, um fich felbft vor feinem Eigen- und Sonderwillen
zu ſchützen.
Die Franzoſen, viel weichere Naturen als Deutiche und
Angelſachſen, vereinigen fi als Einzelne leicht, verichmelzen
Briefe eines Surüdgefehrten 408
INN
gfeihfam, Fühlen aber nicht das Bedürfnis der Drganifation,
wenn es nicht die vorübergehende einer Geſelligkeit ift, in der
fie glänzen können. Dazu trägt audy die viel mächtigere An⸗
ziehung bei, die auf fie das Weib ausübt. Deshalb jehen wir
fogar im franzöſiſchen Studentenleben die Verbindungen und
Vereinigungen Gleichitrebender zurüdtreten, Die jede deutſche
Univerfttät zu einem Wald von parlartigem Wachsſtum machen,
zu einer fröhlichen Anlage, in der zahlloje Kleine und große
Gruppen bunt nebeneinander auf demfelben grünen Boden in
die Höhe ftreben oder aud) in Die Breite gehn. Dem Deutſchen
fteht in dieſer Beziehung der Standinavier am nädjiten; dieſem
haben Charakter und Gewohnheiten bejonder8 im Nordweſten:
Wisconfin, Minnefota, Dakota einen merkwürdigen Übergangs⸗
platz zwiſchen Deutihen und Engländern angewieſen. Das
gemeinfame Quthertum trägt dazu etwas bei. Aber nur etwas.
Der Hauptgrund liegt in einer gewiſſen Sympathie der Volks⸗
feele, beſonders zwiſchen Deutſchen und Schweden, die beide das
Leben leicht nehmen.
Unfre Landsleute jehen oft mitleidig auf Die Amerilaner
hinab, die an Nervofität, Dyspepfie und andern Folgen der Über-
arbeit und unvernünftigen Lebensweiſe leiden. Gewiß, der Ameri-
kaner ift oft verjchloffen, „Ipinnt“ und ift dann fein guter Ge-
jelfchafter. Aber was bedeutet das für das Voll? Was ein
Volt aus feiner Gegenwart gewinnen kann und was nicht, darin
liegt für mid) ein großer weltgeichichtlicher Unterſchied. So wie
es Einzelne gibt, die fi) aus jeder Lebenslage ein weiches Bett
zu bereiten willen, mährend andre unter allen Umſtänden bart
liegen, ſchwer träumen und verdroffen aufftehn, um ihr Lager
beifer zu maden, bis es ganz gut tft, fo ift es auch mit den
Bölfern. Es ift die alte Beobachtung, für die Shafefpeares
Caſar die allgiltige Form gefunden Bat:
Let me have men about me that are fat;
Sieek-headed men, and such as sleep o’nights.
Yond Cassius has a lean and hungry look;
He thinks too much: such men are dangerous.
Wären die Ruſſen eine jo leicht zu vegierende, fo leicht
bis in den Tod zu führende Mafje, wenn nicht ihr „Allmenic-
tum,“ das und verſchwommen vorlommt, fie molluskenhaft an-
paflungsfähig machte? Auch die Deutichen erfauften jahrhunderte-
lang individuelles Behagen mit Knechtung. Stein politifch Lied
26*
404 Briefe eines Surüdigefehrten
durfte Die Ruhe des Spiekbürgers ftören, man überließ bie
Zeitung den Obern, zur Not den Fremden und kümmerte fidh
um das Geichäft und das Vergnügen. &8 ſteckt darin mehr, als
wir glauben, von der verderblicdden Apathie der Franzofen, Die
fih heute dem Konvent und morgen der Militärdiktatrr beugen
und dabei immer den unternehmenden Einzelnen abwarten, fet
es nun Gäfar oder Brutuß, der fie retten joll. Die Deutſchen
haben noch feine Veranlafjung, auf dieſe Eigenfchaft ihrer Nach⸗
barn jo hoch Hinabzufehen. Was fie in großen Leiten gerettet
hat, war nicht die Leiftung vieler Einzelnen, jondern die über-
menſchliche Anftrengung einzelner großer Menſchen, von denen
das deutiche Volt nach langer Dürre jeit Stein und Blüdher
allerdings eine überrajchende Anzahl geboren hat, und die Bereit⸗
willigfeit, mit der man diejen Leitern folgte.
Ich finde die deutiche Gefelligfeit fchöner als jede andre,
ih teile fie mit Freuden, auch auf der Bierbant, ſoweit fie
Geifter belebt und die Herzen öffnet. Uber ich fürchte fie als
Gleichmacherin nah unten bin, als Abftumpferin der beilfamen
Selbftändigfeit der Einzelnen, als eine Verführerin, die und arın
an eigentlimlichen, ftarfen Individualitäten in einem Augenblide
macht, wo wir nicht reich genug daran fein können. Vielleicht
ift e8 undankbar, diefe Urteil in einem Augenblide niederzu⸗
ſchreiben, wo ich noch unter dem Eindrude der fchönen Abende
ftehe, die ich in der Heinen Kabine des Schiffdarztes im reife
fieber Landsleute verlebt habe. Aber gerade von Ähnlichen
Abenden nad) grauen, einförmigen Schiffahrtötagen im Atlan⸗
tiſchen Ozean klingt mir ein Wort nad), das Kurt von Schlözer,
in der Mitte der fiebziger Jahre deutfcher Geſandter in Waſh⸗
ington, der unvergeßlich heitere, originelle, ausſprach: Es ift ver-
dammt unbequem, alles, was wir tun, auf feine Wirkung
Ganze prüfen zu müſſen; aber in die politifche Kinderſtube können
wir doch aud nicht zurüd. Alſo vorwärts, in die Ungemüt-
lichkeit hinein!
* *
v*
Sei mir gegrüßt, liebliches Hamburg! Und du, deutſcher
Landsmann, der du gewohnt biſt, bei dem Namen Hamburg an
die erfte Handelsſtadt des Kontinents und die zweite Stadt bes
Deutichen Reichs zu denen, verzeihe mir, wenn ich dein große,
ftolzes, reiches Hamburg lieblich nenne. Ich dente jebt an bie
Briefe eines Zurückgekehrten 405
lachenden Bilder der Marſchdörfer mit ihren alteräbraunen hoch⸗
giebligen Häufern, an die blühenden Gärten und die hellen
Sartenhäufer auf den höhern hügligen Elbufern von Blankeneſe,
und vor allem denke id an bie alten Bäume, die grünen Pläbe,
die gartenumjäumten Alſterufer, Die ſchattigen Straßen Ham⸗
burgs und feiner Vorftädte. Es mag für den Binnenländer ſehr
interefiant und lehrreidh fein, in dem Geichäftsleben Hamburgs
die Vereinigung deutſcher und engliſcher Neigungen, Richtungen
und Begabungen zu jehen; ich finde es viel anziehender, in
Hamburgs Außen» und Innenleben eine der reichiten Variationen
über das Thema der deutſchen Stadt zu vernehmen. Daß Ham⸗
burg, rein als Städtebild, fchöner ift als jede andre Seeſtadt
von gleiher Größe kraft feiner breiten Anlage um bie ftolze
Waſſerfläche herum, die ganze Wieſen und Haine des vor fünfzig
Jahren noch unbebauten Landes mit eingeſchloſſen hat, gereicht
ihm ebenfo zum Stolz, wie die Größe und Ordnung jeiner
Hafenanlagen. Sogar Venedig und Genua, die gefchichtlich nah
verwandten Stäbterepublifen, verblaflen in meiner Erinnerung
neben diejer fünftleriih ungemein viel ärmern, einfadhern Stadt
ded Nordens, in der foviel mehr Behagen ift und nichts welft,
fondern Saft und Kraft fich lebensfreudig regt. Dan wird ja
freilich vergebend nad) den Baläften der Hamburger Batrizier
fragen, der Doria und Vendramin.
Was heute von Hamburger Kaufleuten Weltruf bat, das
wohnt in einfachen Häujern, die nicht übermäßig luxuriös aus⸗
geitattet, aber herrlich gelegen find. Ein freier Blid auf die
einzig ſchöne grünumrandete Waſſerfläche der Alfter, ein recht
breiter, wohlgepflegter Rafenteppich, ein paar uralte Ulmen, bie
noch aus der Zeit flammen, wo bier ein Dorfwäldchen ftand,
gelten dieſen Leuten, die gar nichts fcheinen wollen, mehr als
Marmorjäulen und Giebelpradit. Es ift wahr, daß nicht alle
Hamburger damit einverftanden find. Aber die Träger hoher
fünftleriiher Ideale find, wie überall, nicht die, die über Macht
und Einfluß gebieten. Die Hamburger lafien fih in ber Kleinen
Kunft, die dad Leben ſchmückt, Lichtwarls und Brinkmanns Rat
ganz gern gefallen, aber ihre Häufer geftalten fie diefen ver-
ehrten Ratgebern zuliebe nicht um. Ein befreundeter Hamburger
zeigte mir fein Geſchäftshaus, eines von ben hohen ſchmalen
Häufern am Kanal, unten Kontore, oben Speicher, mit kaum
fichtbarem Eingang und ſchmalen Treppen. „Hier, wo jebt bie
erweiterten Kontore find, da find wir, meine Brüber und ich,
406 Briefe eines Zurückgekehrten
——⸗ — —
aufgewachſen. So waren die alten Hamburger Häufer; unten
Geichäftsräume, oben Speicher, dazwilchen die Wohnräume. Man
wohnte befchräntter als jept, aber da8 Wohnen in diefen alten
Häujern hatte den befondern Weiz, daß alle warın beijammen
war. Bor den Fenſtern ftiegen die Ballen empor, die der kräch⸗
zende Kran in den Speicher hob, und an der Schwelle des
Haufes legten Schiffe au. Wer in foldem Haus groß wurde,
der lernte die Kaufmannſchaft von felbft, der jog die Luft des
Groß⸗ und Seehandels im Schlaf ein. Meine Eltern find bier
geftorben, erft dann legten wir Geichäfts- und Wohnhaus aus⸗
einander. Damit ift aber auch die Stetigfeit geichwunden. Vielen
behagen jchon jegt die vor dreißig Jahren erbauten Häufer nicht
mehr, fie find nicht bequem genug, und man zieht e8 vor, der
neuen Oeneration ein neuaußgeftattete8 Haus in neuer Lage zu
erbauen, Statt da8 alte umzubauen. So fommt e8, daß wir feine
Palaͤſte haben. Die ſchmalen hohen Biegelbauten, die am Hafen
unmittelbar aus dem Waſſer auftauchen, gefüllt mit Waren, immer
fi) leerend und immer neu gefüllt: das find unfre Paläfte.“
Da Hamburg noch ein elendes Neft war, als die Städte
der eigentlichen Hanfe an der wendiihen Küfte von Lübeck bis
Stralfund famt ihren öſtlichen Ablegern ihre wirtſchaftliche und
politifche Blütezeit hatten, die aud) eine Blütezeit der Kunft war,
bat es feine Kirchenbauten, die fi) mit Lübecks oder Danzigs
Kleinodien mefjen könnten. Die Lübeder Marienkirche ift als
Mufter für Kirchenbauten des vierzehnten Jahrhunderts bis Reval
gedrungen, den furzen Weg an der Stecknitz Bin zur Elbe bat
fie offenbar ſchwerer gefunden. Dazu ift Dann noch der Brand
gefommen, der denfwürdige Brofanbauten vernichtet Hat. Vom
alten Hamburg ftehn noch einige Reihen von Giebelhäufern von
echt niederdeutichem Charakter, aber viel nücdhterner, ald was man
ſonſt im weſtlichen Niederdeutfchland fieht. Hamburg hat in dieſen
Teilen weniger Verwandtſchaft mit Lüneburg, Hannover, Hildes-
beim, als mit den niederländiichen Städten, deren Vertreterin auf
deutſchem Boden das hochgieblige kanalreiche Emden iſt. Diefen
alten niederländiſchen Städten ift eine im höchſten Grade einfache
und gleihförmige Bauart eigen, die fehr deutlich auf den demo⸗
fratiihen Charakter ihrer Bewohner hinweiſt. In Enkhuizen oder
Hoorn ift bei allen Spuren einftiger großer Blüte der Gemein-
weſen fein einziged wahrhaft palaftartigeg Haus, aud) Die
fünjtleriich bedeutendern find jchmal und nüchtern. Auch mandye
Straße in Umfterdam, Leiden u. |. f. trägt nod) diefen Eharalter,
Briefe eines Surüdigefehrten 407
wenn auch daneben Größeres und Eigentümlicheres entftanden
iſt. Ich weiß nicht, ob ſich die Geſchichtsforſchung ſchon dazu
berabgelafjen hat, die Stammbäume der ftädtiichen Wohnhäufer
wiederherzuftellen. Vermutlich würde fie eine intereflante Ab⸗
zweigung von den Niederlanden und dem Scheldeland auß nad)
Südengland Hinüber auf der einen und an der Südküſte der
Nordſee Hin‘ 618 zur Elbe auf der andern Seite nachweiſen
fönnen. Wer durch Städte wie Harwich oder Yarmouth an der
DOftküfte wandert, findet dort das niederländifche Haus bis auf
Zür, Schwelle und Fenſter wieder und im Innern eine über-
einftimmende Anordnung der Räume Eine ftarfe Einwanderung
vom Südufer der Nordjee, die man flandrifch nennt, bat ja bier
ftattgefunden.
Ver einen freien Nachmittag in Hamburg bat, jollte nad
Limeburg ausfliegen. Wenn man in Hamburg die mädhtigfte
Hanfeftadt Tennen gelernt hat, lohnt es fich, eine der verfallenften
unter den einft blühenden zu jehen. Welcher Unterichied zwiſchen
dem jtolzen, ja pompöjen neuen Rathaus Hamburgs und dem
alten ſchadhaften Rathaus von Lüneburg. Es zeigt, jo maleriſch
e3 wirkt, den Ziegelbau von feiner Schattenjeite. Auch die mit
einem jchönen durchbrochnen Yafladenvorbau, Galerie und Bogen-
pfeilern verjehene Nikolailirche und die Johanniskirche mit ihrer
Ihönen Flachornamentroſette laſſen erkennen, wie die Vertoitterung
der Nobziegelbauten einen Kleinlichen, ärmlichen Eindrud hervor⸗
bringt. Das aus graufchwarzen Glafurziegeln erbaute Haus in
der Bardowieler Straße mit Porträtmedaillung fteht noch am
fejteften da. Lüneburg muß man gejehen haben, um zu begreifen,
wie Hamburg und Bremen waren, als Deutihland als Seemadht
und feehandeltreibende8 Land nicht® mehr war, und die alte
Herrlichkeit buchſtäblich in Stüde ging.
Ich Habe immer gern die Beziehungen Hamburgs zum
geiltigen und künſtleriſchen Deutichland verfolgt. Man Tönnte
die Geſchichte der gefftigen Kultur Englands fchreiben, ohne
Liverpool in irgend nennensiwertem Maße zu berüdfichtigen. Briftol
müßte ſchon eher genannt werben. Uber mer kann die Geſchichte
bed deutichen Geiſtes verftehn, der nicht Hamburgs Stellung in
der Mufil- und Theatergeſchichte, Hagedorns, Klopftods und
Leifingd Hamburger Beziehungen kennt. Es hat Zeiten gegeben,
wo Hamburgs Anteil an der deutfchen Literatur auf ein dünnes
Büchlein zufammengeichwunden war, dabei hat aber Hamburg
in aller Stille wiflenfchaftliche Fortichritte gemacht, die feinen
408 Briefe eines Surädgefehrten
ftaatlihen Sammlungen und Snftituten eine der erften Stellen
fihern, und hat fi einen Einfluß auf die Entwicklung der
Malerei und des Kunſtgewerbes in Deutſchland errungen. Auch
ſollten Die Hamburger Zeitungen nicht vergefien werben. Deutic-
land wartet noch immer des Weltblattd, das kommen fol. Einjt-
Hamburger Nachrichten zu den am beiten redigierten Beitungen
Deutichlandg gehören. Über den Nachrichten, die, gleich manchem
andern Blatt ihre Namens, einft das verbreitetfte Haus⸗ und
Frühſtũckblatt, wichtig vor allem vun feine Familiennachrichten,
waren, leuchtet augenblidlicdy noch der Schimmer Bismarckiſcher
Mitarbeiterfchaft. Ich glaube, daß die jolide Dfenwärme bes
Eingebürgertfeind in den Hamburger Häufern befier vorbalten
wird als das ſchwankende Scheinwerferlicht von Friedrichsſruh
her. Der Korreſpondent bat Zeiten gehabt, wo er dem Charakter
eines Weltblatt8 näher kam als heute, jo 3. B. in der großen
Zeit von 1870 und 1871. Damals hatte, foviel ich weiß, fein
andres deutſches Blatt jo ausführliche und gute Korreſpondenzen
aus rg wie dieſes Hamburger. Es war wahrſcheinlich das
einzige, das ganz „echte“ Korreſpondenzen aus dem Bordeaux der
weltgeſchichtlichen Abſtimmung vom 1. März 1872 und ans dem
belagerten Paris der Kommune hatte. Ein „geriflener” Ham⸗
burger, der die Korreipondenzen aus Drten fchrieb, wo damals
fein Deuticher ungerteaft man möchte jagen unzerriffen verweilen
konnte, die ebenſo geniale wie naheliegende Idee, die
ſeltenſte aller Nationalitäten, die der Helgoländer, vorzuichügen,
womit er jogar bei Engländern Glück Hatte, die ihm fein
teutoniſches Engliſch verziehen, als er ſich als einer der jeltenften
Inſulaner unter britiſcher Flagge vorftellte.
Hamburgs Kunftiammlungen find nach der kunſtgewerblichen
Seite bin bedeutend. Das Kunftgewerbemujeum hat eine der
allerichönften japanifchen Sammlungen, die es in Europa gibt.
Zür Kenner enthält fie in manchen Teilen Beſſeres als das einft
über Verdienft gerühmte Londoner Kenfingtonmufeum. Sie ftehn
freilich alle weit Hinter den Boftoner Sammlungen zurüd, wie
fi) denn überhaupt das Berftändnis für Japanisches in Amerika
rafcher ausgebreitet hat als in Europa; das beweiſen die japanifchen
Einflüffe im amerikanischen Kunftgewerbe, die zum Zeil erſt über
Amerika für Europa wirkſam geworden find. Auch bier in
Hamburg fieht man fchon bemerkenswerte Wirkungen der mit
großen, in aller Stille gebrachten Opfern feit noch nicht einem
Briefe eines Zurückgekehrten 409
Menichenalter vermehrten Sammlungen. Ich frage mid: Wird
man fo viel erreichen wie in Amerika und England, wo binter
den kalten Zügen gleichgiltiger Gefichter eine künftleriiche Leiden-
ſchaft Lebt, Die fi in Farben ergießt? Ich denke an Turners
glühende Farbengedichte. Iſt nicht der Hamburger Charakter zu
bart, zu männlich, als daß fi in Hamburg eine Kunftblüte
entfalten könnte, wie fie die Niederlande gehabt haben? Die
ruhmoolle Gejchichte der niederländiichen Freiftaaten kann nicht
darüber täufchen, daß in der Vollsſeele der Niederländer eine
Weichheit und Empfindlichkeit lebt, die die Erfinderin der Kunſt
tiefer Töne und weicher Stimmungen ift, in der die Niederländer
den andern um zwei Jahrhunderte vorangefchritten find. Für
den niederländiichen Batrioten liegt die Kehrſeite diefer Fähigkeit
in der Verweichlihung, die er dem Luxus und der in ben reichen
Familien getriebnen Anzucht zufchreibt. Es iſt auch ein Stüd
balbrepublilaniicher Meifterlofigleit dabei.
Ein geiftvoller Niederländer, Sproß einer Künftlerfamilie,
jfagte mir: Nous sommes une race effeminse. Daß könnte der
wabrbeitliebendfte Hamburger von feinen Landsleuten nicht jagen.
Es gibt wohlgemäftete Männer und Frauen in Hamburg, bes
ſonders Frauen, die außjehen, ald ob fie hauptſächlich von Milch
und Rotwein lebten. Aber im allgemeinen ift das ein fräftiges,
arbeitliebendes Geſchlecht von energifchen Bügen. Die Hamburger
Kaufmannsſöhne geben ausgezeichnete Soldaten. Es ift da eine
hochgewachſene, hellblonde Naffe, die in ihren extremen Vertretern
mit weißblonden Wimpern und fehr blauen Augen faft albinohaft
ausfieht; das ift die verkörperte Energie. Haͤufiger find Die
unterjegten Leute, deren breite Schultern ſtarke Laften tragen
können. Die fpanijch- und portugiefiich-amerilaniihen Miſchungen
baben auch jehr ſchwarzäugige und dunkelhaarige Hamburger
und Hamburgerinnen erzeugt, deren Haut einen tropengelblichen,
wächlernen Charakter Hat. Auf die Gefahr hin, in den „All
deutichen Blättern“ wegen mangelnder nationaler Gefinnung
denunziert zu werden, erfläre ich, daß meinem Geſchmacke dieſe
Sremdlinge und Fremdlinginnen beffer zufagen als die einheimifchen
Schönheiten. Man denke fi) aber die Hamburger nicht alß eine
ftolze Batrizierraffe. Der Beſitz und damit die joziale Stellung
wechjeln bier wie in allen Handelsftädten ungemein raſch. Wenig
Familien behaupten fich durch Drei Generationen auf derſelben
Höhe. Außerdem Hat man in den großen Hamburger Familien
Gelegenheit, diefelbe Beobachtung zu machen wie in ben älteſten
410 Briefe eines Surüdigefehrten
Fürſtenhaͤuſern, daß die jahrhimdertelang fortgejepte vortreffliche
Ernährung und Erziehung, Sorgenfreiheit, Lebenskunſt, feit ges
gründetes Befihgefühl nicht imftande find, zu verbüten, daß die
plebeitichiten Gefichter und die jchlotterigften Sammergeftalten von
ſchönen, forgenfreien Eltern gezeugt und berangezogen werden.
Es ſpricht fi) darin eine der merkwürdigſten Eigenfchaften des
Menſchengeſchlechts aus, daß ſich die Natur entichieden ablehnend
gegen die Bildung einer Dauerariftofratie verhält. Könnten
Eigenſchaften der Übermenſchen durd Züchtung befeftigt und
fortgepflangt werden, dann wehe ung andern, Die auß der Maſſe
des mittlern Bauern-, Bürger- und Beamtenſtands hervorgegangen
find. Aber die gütige Natur jorgt für ihre Kinder. Zu denen, die
die Unterjchiede des Befibes und des Standes ihren Nachlommen
für immer ficherftellen möchten, jagt fie einfach: Ich will nicht.
Sie macht, dab fürftliche Geftalten und Lönigliche Geifter in
Bauernhütten geboren werden. Die Nation wäre töricht, Die
nicht der Natur ihr ausgleichendes Werk erleichtern wollte, indem
fie alles tut, die Lage der ımtern Klafien zu verbefien. Es
liegt vielleicht in der beſſern Lebenshaltung der einheimiichen
Arbeiter — id ſpreche nidht von den importierten, billig
arbeitenden Slowafen, Polen und Stalienern, die für Den
Amerilaner gleich Hinter den Chineſen kommen —, die ber
zweifellojeite Vorzug Amerikas vor Europa if. Sie erzeugt
Männer und Frauen, deren Geftalt, Gang und Mienen niemand
die Tagelöhnerarbeit anfieht. Sobald fi ein Weg nad oben
auftut, find fie bereit, in eine höhere Schicht einzudringen, wo
fie fi ganz zuhauje fühlen. Ich fürchte allerdings, Daß gerabe
diefe Schicht an der Unluft, Kinder zu Haben, einft noch früher
als die Franzoſen zugrunde gehn wird.
* *
%
Die Fahrt von Hamburg nad) Lübed enthüllt nichts Großes,
nichts Schlagendes. Es ift eben ein beſcheidnes Stüd Land,
etwas aus der Voſſiſchen Luife, den Idyllen Storms und Geibels,
ein beichauliches, friedfamed Stüd Erde, das übrigens in der
Heide der jchleswigfchen Höhenrüden und überall, wo daß Meer
bereinichaut, auch größere Züge hat. Fernow, ein Bewundrer
klaſſiſcher Landichaft aus dem Weimariſchen Kreife zu Goethes
Beiten, fagte kecklich von der niederländiichen Natur, in dieſen
flachen Gegenden herrſche Weiz und Schönheit, Doch ſei bie
Briefe eines Zurückgekehrten 411
Schönheit keine hohe, und Größe finde ſich gar nicht darin.
Die Größe der Düne, des Meeres und des hohen Himmels, wie
ſie Rembrandt auf dem Bilde Haarlem (im Haag) zeigt, galt
alſo nicht neben der gewaltſamen Größe der ſchroffen Gebirge
oder den ſtilvollen Kegeln und Wölbungen der Albaner Berge.
Das war die Zeit, wo man in der Landſchaft Fülle mit Größe
verwechſelte. Ein erſt nur halb entwickeltes Schönheitsgefühl
vergnügte fi) an der genrehaften Staffage, ohne die fein Land⸗
ſchaftsbild auch nur des Anblicks wert zu fein jchien. Dagegen
ſchlummerte noch tief da8 Gefühl fir das Große und Schöne in
der Einfachheit. Je niedriger das Land, defto höher der Himmel,
deito mehr blaue Luft, Sonne, mäcdhtigere, freiere Wollengebilde;
das war eine unentdedte Wahrheit. Übrigens reicht ein Gang
durch die deutichen Gemäldefammlungen hin, zu erfennen, daß
die landfchaftlichen Reize des norddeutichen Tieflands auch heute
noch lange nicht genug künſtleriſch verwertet find. Es ift weit
dahin, bis man fagen kann, fie ſeien ausgeſchöpft. Es iſt noch
keiner dageweſen, der ſich die Abend- und Nachtſtimmungen, wo
jede Einzelheit vor dem weiten, tiefen Horizonte wie abgelöft
fteht und fich wunderbare Farbentöne von dunkelrot bis hell-
grünlichgelb und mildhweiß auf der hohen Wand des Himmels
milchen, fo zum Ziele feiner Darftellung gemacht hätte, wie drei
Generationen von Künftlern aller Nationen, die die Alpen, das
Mittelgebirge und fogar den Apennin gemalt und wieder gemalt
haben. In Hamburg erfreuen fich die Werke der Worpäweder
und einiger holſteiniſcher Künftler, die dieſes anftreben, großer
Teilnahme, auch praftiicher d. h. zahlender, wie ich zu meiner
Freude in den Häufern Eunftliebender Privatleute wahrnahm.
% %
*
Lübeck hat im höchſten Grade die Eigenſchaften der echten
alten Hanſeſtäͤdte, neben denen Hamburg nur ein Emporkömmling
üt, allerdingd einer, dem es ſehr geglüdt iſt. Lübeck ijt eine
geſchloſſene Eriftenz, die ehrmürdiges Alter mit einigen Spuren
des Rückgangs verbindet, unter denen aber noch immer ein
Strom ruhiger WVeiterentwidlung, wenn auch in behaglicher Enge,
weitergeht. Eine gefunde Verbindung, die mohltuend anmutet.
Welch erfreuliches Bild, wenn man aus dem Bahnhof tritt und
übel wie eine turmreiche Inſel vor jich Liegen fieht, im Flach⸗
fand zwar und ſchon am Süßwafler, aber doch ſchon eine echte
412 Briefe eines Surädigelchrten
Küftenftadt in der Schiffe maftenreichem Wald, beherrſcht von
feinem dunkelbraunen Dom, der, wie der ganze Marktplatz, höher
als die übrige Stadt liegt. Das bebeutendite Denkmal ift jeden⸗
fall daS im wahren Wortfinn unvergleidhlide Rathaus aus
dunkeln, ſchwärzlich wirlenden, glafierten Biegeln, die in der
Miihung mit roten den durch Maſſe und fchöne Berhältniffe
außgezeichneten Bau wie einen dunkelgeharniſchten Ritter hin⸗
ftelen.. Dabei find aber die Außentreppen, die verbindenden
Bogengänge mit Galerien und die Türmchen böchft lebendig.
Und im Innern zeugt die gefchnigte Stube von der Pracht, die
in der wehrbaften Stadt ohne. Unter den Kirchen ift ber
Dom mit feinen Türmen im Übergangsftil etwas jchwer, um jo
leichter Schwingen fich die ſchmalen Hallen der Marienlirche zur
Höhe, vor allem aber da Chor. Es ift fein Mangel an Metall
in dieſem Gotteshaufe. Der Proteftantigmug zieht fonft vor,
das Metall im Beutel zu behalten. Hier ift es freigebig ver-
wandte. Die Kanzel gleicht einer Art von Salramentshäuschen,
ift höchft bewegt, jeden Pfeiler zieren Botivbilder und Fahnen.
Die Petrilirche ſendet den ſchlankſten Turm empor, ben vier
Edtürmchen flanlieren. Es kommen auch zierlich durchbrocne
Türmchen auf dem Hauptſchiff vor. Aber den Eindruck des
Rathauſes und des Holſtentores erreicht keiner von dieſen
Tempeln. Man kann an den Privathäuſern lernen, wie gut
fich der Ziegelbau dem räumlich anſpruchsloſen Profanbau anpaßt,
der mit dem Wechſel roter und gelber Steine einen warmen,
heitern Ton erzielt, offne Loggien anwendet und in gebrannten
Drnamenten nad) Art des Wismarer Fürftenhofs fchwelgt. Das
berühmte Schifferhaus zeigt und das ftinnmungsvolle Düfter eineß
Hausinnen. Um lange Tiſche behagliche Bänke, die Räume
durch halbhohe dunkle geſchnitzte Wände geichieden. Schiffemodelle
und erbeutete Korjarenwaffen zieren Dede und Wände.
In der Stille diefer wundervollen Stadt, von deren Wällen
man auf eine lachende Landſchaft von Wieſen, Feldern, Wäldern
und bligenden Seen und Flußichlingen hinaus und hinab ſchaut,
find namhafte Menſchen geboren. Geibel ſteht kühn in ben
Mantel drapiert da, genau fo, wie man ihn einft in Münden
dabinfchreiten ſah. Der Hiftoriler Curtius ift eine jeinem be=
rühmtern Freunde und Landsmann feelenverwandte Natur ges
weien: mehr anempfindend als ſchöpferiſch. hochgefinnt, ber Phraſe
zuzeiten nicht abhold, im ganzen eine höchſt wohltuende Erſchei⸗
nung. Lübed hat auch Fräftigere, für die hanſeatiſche Diplomatie
Briefe eines Surüdigefehrten 413
in alter und in neuer Beit bedeutende Männer geftellt. Der
Senator Krüger, ein mit der Schöpfung des neuen Reichs eng
verbundner langjähriger hanſeatiſcher Gejandter in Berlin, war
ein Lübeder.
3
Die waldreichen Mittelgebirge Neuenglands und des nörb-
lichen Newyork haben vor den deutichen die tiefe Einſamkeit, die
mannigfaltigere Bulammenfegung des Walde8 und Buſchwerks
und den Reichtum an ftillen, Haren, waldumrandeten Seen
voraus, mit denen die Seen des Schwarzwald und der Vogeſen
und des Böhmerwald nicht zu vergleichen find. Der Harz und
der Thüringer Wald haben feine Seen, in ihren Wäldern berrichen
die Fichte und die Tanne über weite Streden hin unbedingt,
und ihre Ruhe unterbricht ſogar im Winter die Schar der Gäfte,
die jelbft nur zu oft die Einſamkeit aufftören, die fte fuchen.
Es ijt aber dennoch ein ganz andrer Genuß, den Harz zu durch⸗
wandern, als in den Urwäldern der Adirondad$ zu ftreifen. Wir
find nun einmal Kulturmenſchen, ob wir in Europa ober in
Amerila wohnen, und die Würze unferd Naturgenufjes iſt eben
die Kultur, die die Landichaft eines alten gejchichtlichen Gebiets
wie mit einem feinen Duft durchdringt, den man nicht immer
genau beitimmen kann, deſſen Fehlen aber bald ein Gefühl der
Entbehrung erwedt. Der geſchichtliche Hauch, der durch alle
unfre Lande weht und in jedem Dorfe und um jedes alte Ge⸗
mäuer webt, macht uns alle zu Ariftofraten. Er erinnert ung
Daran, wie alt wir als Volk auf diefem Boden find, deflen Mit-
befiber wir und nennen können, wie unfre Väter deffen Mit-
eriwerber waren. Es quillt ein warmes Gefühl der Beheimatung
Daraus bervor. Wielleicht hat der Fremdgewordne, wenn er in
den Bann diefer Erinnerungen zurüdfehrt, eine feinere Unter:
fheidung dafür. Jedenfalls find die gefchichtlichen Stätten aus der
Beit der jächfiichen Kaifer die Leuchtenditen Erinnerungen meiner
Harzmwanderung.
Was an der Harzlandichaft Natur ift, das iſt ja echt deutſch,
weil eben ein gut Stüd deutſche Kulturarbeit darin ſteckt.
Nicht der Wald an fi}, fondern der ſchön gepflegte Wald, den
nicht einmal der uralte Bergbau de Oberharzed in fo häßlicher,
rein zeritörender Weiſe gelichtet Hat, wie bei uns drüben ber
unerjättliche wmälderfreffende Holzhandel, ift der Schmud des
Harzes. Wo die mit faftigem Graſe bewachſenen Lichtungen an
414 Briefe eines Surüdgefehrten
den Bächen Hin in dieſen dunkeln Harzwald hineinziehen, ent⸗
ftehn überall die jchönften Gegenfäge der Lage und ber Farbe.
Die Bevöllerung des innern Harzes ift arm, aber ihre Dörfer
find reinlih und gut gehalten. Und unter den größern Orten
des Harzranded gibt es mande, jo freundliche altertümliche
Städtchen, wie Wernigerode mit feinem ragenden Schloß, und
jo modern blühende, wie Harzburg, die Stadt der Gafthäufer
und der Penfionen. Alle diefe Randftädte haben irgendein eigen-
tümliche8 Verhältnis zu der Natur: einft fuchten fie in ihr Schuß,
heute begünftigt dasſelbe Verhältnis ihre Entwidlung zu viel-
beſuchten Sommerfriihen. Die wilden Felſenmeere von Schierte,
die Granitblöde des Brodens, die wundervoll leuchtenden Moos⸗
politer auf den Felſen der braunen murmelnden WWalbbädhe,
das Brodengeipenft: das. find ja Dinge der Natur; aber es find
wilde Gewächſe im Garten der Kulturlandichaft, die bei der
fichtenden Arbeit ftehn geblieben find. Sie hauchen einen Träf-
tigen Duft hinein. Man follte fie nicht ausgehn laſſen, es iſt
für manche von ihnen ohnehin Gefahr, dab fie ganz verbrängt
werden und das Schidfal teilen De8 Bären und des Luchjes, deren
alte Knochen man mit Staunen aus Höhlen berträgt, oder der
Eibe, "deren dunfelbraun gewordne Stämme in der Tiefe der
Moore ruhn.
Es ift ein tröftlicher Gedanke, daß nicht ganz jo ausge⸗
ftorben die Gejchlechter der Menſchen find, die einft hier ruhmvoll
walteten. Die Leiber der alten Welfenherzöge und der Sadjien-
faifer modern in den Grüften von Braunfchweig. Magdeburg,
Queblinburg, aber e8 ift fiher, daß mancher Teil ihres Blutes
in der Fette der Generationen bis in das Geſchlecht der Jetzt⸗
lebenden herabgelangt ift. Ich habe nicht die geringfte Reigung,
darüber genealogifche Studien anzuftellen, die ich unter den über-
flüffigen zu den unnübeften rechne. Ich ſehe mich vielmehr
unter den Menſchen um, die bier wandeln und Handeln, und
da finde ich Tatkraft und Zähigleit, die aus Zügen fprechen, Die
vielfach den Zügen jener Alten, Großen gleichen. Bejonders
Dtto der Große, der auch nad) feiner äußern Ericheinung am
beiten gelannte unter den fjächftichen Kaifern, bat jo manchen
lebendigen Vertreter unter den Yörftern oder ben Huſaren⸗
majoren, aber auch unter den Holzfällern von heute. Wohl ift
halbſlawiſches Blut auch in die Harzlande gebrungen und bat
breite ausdrudslofe Gefichter mit demütigen Mienen erzeugt, die
übrigend von alterö ber unter Eriegögefangnen Sklaven erblich
Briefe eines Surädigefehrten 415
fein konnten. Aber ich glaube gerade auf diefem Boden nicht an
Ammons Lehre von dem notwendigen Ausfterben der herrichenden
Klaſſe und ihrem Erfah durch auffteigende niedere Schichten von
niedrigen Anlagen. Mehr noch im weftlichen Niederjachien, be⸗
ſonders in Weftfalen, als bier jehe ich ein Volk von Herrſcher⸗
geftalten, das ſogar in den AInduftriegebieten nicht entartet ift.
Ammons Lehre ift in Baden entftanden, wo feit mehr als zwei⸗
taufend Jahren Kelten und Römer mit Germanen gemifcht find.
Bielleicht hat and) Die in demſelben bevorzugten Winkel Deutich-
lands heimiſche Bildungs- und Parteiproßerei dieſes anthro⸗
pologifch-politifche Gewachs begünftigt.
Die Verteilung der Brennpunkte der deutſchen Geſchichte hat
über ſo viele Landſchaften ein Dämmerlicht großer Erinnerungen
ausgegoſſen, daß man ſagen kann, der deutſche Boden ſei von
einem Ende bis zum andern geſchichtlich durchgearbeitet. Der
Unterſchied von den geſchichtlichen Landſchaften Weſteuropas liegt
hauptſachlich in dem raſchen Wechſel der Schauplätze und dem
Mangel eines alten Macht⸗ und Kulturmittelpunkts: keine große
Kulturquelle, aber viele kleinen, die in ihrer Art doch wieder groß
ſind. Manche der bedeutendſten Erinnerungen liegen auch ſo weit
zurück, daß fie jahrhundertelang faſt vergeſfſen waren. So die
ber ſaͤchſiſchen Kaiſer in den Landen um den Harz von der Unſtrut
is zur Oder.
Verſetzen wir uns einmal an die mittlere Unitrut. Da
haut Memleben, die alte ſächſiſche Kaiſerpfalz, mit jatt rötlich-
braunen Farben an Häujern und Dächern und an dem ernften
maffigen Duadratturm feiner Kirche aus dem Grün der Obſt⸗
gärten und über bie begraften Ufer der Unſtrut ber, die hart
an dem Gartenrande des dorfartigen Fleckens hinmurmelt. Bon
oben blidt ein auch noch jeht dichtbewaldeter rundlicher Berg⸗
rüden herein. Ein Unftrutlahn „vor Anker“ zeigt, daß Mem⸗
leben noch nicht ganz verkehrlos if. Bon der Pfalz ftehn noch
ein paar Pfeilerrefte, und von dem Klofter, daS bart Daneben
lag, ein Stüd Gewölbe. Nur die Bietät wirb bei dieſen Reſten
verweilen. Der alte Ort hat im übrigen nichts Hiſtoriſches an
fi. Die einfache Landkirche mit ihrem feiten Turm ift aber
wenigftend nicht Heinlich wie jo viele. Und wenn am „Wblaß-
tag,” am erften Sonntag Trinitatid, Memleben feine Kirchweih
feiert, da tanzen die jungen Leute unter der Linde und den
Raftanienbäumen, daß man den Kirchhof, einen fchönen Garten
um die Kirche, ganz vergißt und nur der Lebenden gedenlt.
416 Briefe eines Surüdgefehrten
Vom oftwärtd gewandten Söller des Mloftergartens überſieht
man die Schlangenwindungen der Unftrut, hat unmittelbar vor
fi den auch Heute nur einen ſtarken Büchſenſchuß vom Bau
entfernten Wald der Finne, einen hochftämmigen dichten Laubwald,
der auch im Dften den Horizont abſchließt, und im Rorben einen
niedrigen, geradlinig abjchneidenden Zug, der oben mit Nabelholz
bewaldet, unten in ftärlerm Maße als die Sinne in Ader und
Wieſen verwandelt ift. Bon der Pfalz aus muß man den Wendel⸗
ftein mit feinen in mächtigen Mauern erhaltnen Befeitigungen
vor ſich gehabt Haben. Das alles zujammen war eine Kultur⸗
oaſe und ift heute eine Hiftoriiche Landichaft. Der Name Großes
Nieth, den die ganz ebnen Unftrutniederungen zwifchen Artern
und Memleben führen — Memleben liegt gerade auf dem er-
höhten Rande diejer Niederung, an den fi die Unftrut hin⸗
drängt — fcheint darauf zu deuten, Daß hier eine weite fumpfige
Ebene zur Außtrodnung und zur Wiejemvirtichaft einlub; bier
konnte aljo die Arbeit des Eindringens in den Wald geipart werben.
Kreuzt man die Unftrut auf der aus der Pfalz berausführenden
Heubrüde, fo gebt man auf einem breiten Damm am linken Ufer
bes Fluſſes bis zum Fuße des Gipsfelſens, auf dem Wendelftein
in impojanten Trümmern Liegt. Dieſer Damm ſchützt den öft-
lichen, Memlebner Teil ded Rieths vor Überſchwemmung und
bot zugleich die notwendige Verbindung mit der Burg auf dem
Wenbelftein, die wir und als die militärtihe Ergänzung der
Raiferpfalz denken müffen.
Wie einfam es trobdem in dem vom Verkehr entleguen,
als Sadgaffe im Wendenland endigenden Tal geweſen fein muß,
zeigt die Tatfache, daß Memleben immer Dorf blieb, und wenn
es auch Refidenz war, immer nur Bauern außerhalb der Pfalz
beherbergt hat. Auch als der Verkehr wuchs, gingen feine großen
Linien in diefem Gebiete nicht im Unftruttal, jondern Erfurt
und Nordhauſen bezeichnen die Hauptwege. Was war e8 im Damals
noch menjchenarmen Deutichland, daß einen welterfahrnen Herricher
wie Kaiſer Dtto den Erften in diefe Waldeinjamkeit 309g? Er, der
in Rom refidieren konnte, zog ein Kleines Sagdichlößchen in einem
der walbreichiten Gebiete Deutſchlands vor. Er war alfo fein
Städtemenich, fondern es lebte etwas von der altgermanifchen
Naturliebe und ein Wunſch zu der Selbftändigfeit in ihm, Deren
Nahrung die Einſamkeit ift. Noch heute tft Die Lage von Mem⸗
leben friedfam umbegt und ummallt; friedlich find auch Die rund⸗
lichen, langgezognen Umrifje feiner Berge. Wenn der Kaiſer
Briefe eines Zurückgekehrten 417
an einem Yrühlingsabend des Jahres 973 — von dem wir
zufällig wiffen, daß er bier weilte — nad Weſten jchaute und
die walddunkeln Berge, die heute die Hohe Schred heißen, pur-
purn durchleuchtet und den Unjtrutipiegel in Gold verwandelt
jah, mochte er ſich ſelbſt auch wohlig eingehegt fühlen. Da trat
wohl ein Rudel Hiriche, an der Spite ein Sechzehnender, aus
dem Walde gegenüber der Pfalz und Afte das junge Grün bes
noch jchmalen Wiejenfjaumd. Und aus dem Forjte Hörte man
Raute, die heute verjtummt find, Stimmen des Bären, des Luchſes
oder des Wilent.
Kaiſer Ottos Leiche wurde nah) Magdeburg gebradht, wo
fie im Dome ruht. Aus der Waldeinjamkeit in die Stabt an der
großen Heerjtraße, vom Ufer des Heinen Buffuffes an den mäch⸗
tigen Strom! Damald war Magdeburg eine junge Stabt, von
ber vielleicht nichts als das hohe Schiff des Doms mit feinem
maffigen romaniſchen Turm über die Mauern bervorragte. Aber
fie war einer der geſchichtlichen Mittelpunkte, zeitweilig der Aus⸗
ſtrahlungspunkt weltgejchichtlicher Wirkungen. Heute denken viele,
die den Namen des altberühmten Magdeburg nennen hören,
nur an Zuder, Mafchinen und Elbſchiffahrt. Magdeburg gilt
nicht für eine Stadt von dem gefchichtlihen Range Kölns ober
Lübecks. Und doch fteht feine gejchichtliche Bedeutung nicht bloß
in den Urkunden, jondern ſpricht fi) in feiner ganzen Er-
ſcheinung aus. Viele fahren an Magdeburg vorbei, als ob es
ein Häufermeer gleich allen andern wäre. Uber die paar Jahr⸗
hunderte, um die die niederjächfiichen Städte früher als die oft-
elbiihen von den großen geichichtlicden Bewegungen Süd⸗ und
Weſteuropas ergriffen worden find, haben auch hier ihre Spuren
gelafien. Bon dem Hauch geichichtlicher Größe um den Dom
zu Magdeburg oder das altehriwürdige Kaifer- Dito- Denkmal
auf dem Magdeburger Ultmarkt haben Leipzig, Dresden und
Berlin nicht. Nur an ber baltiichen Küfte ift dieſer Abftand
nicht jo Deutlich, weil von Lübeck bis Marienburg die Trieblraft
folonialer Entwidlung in dem einzigen dreizehnten Sahrhundert
unglaublich viel nachgeholt bat. Magdeburg iſt rei an Türmen.
Der Dom ragt ſchon mit feinem Schiffe jo mächtig hervor, wie
nur ein Bau aus einer Zeit, bie ihr Größtes einzig in den
Kirchenbau legte. Außerdem ift fein Zurmpaar eine bebeutende
Erſcheinung. Ziel altertümlicder find die zylindriſch ſpitzdachigen
Türme der Marienkirche mit dem echt nieberfächfiich-romanifchen
giebelartig hoben, einfachen und doch nicht unzierfichen Nitelbau.
Nayel, Blüädsinfeln und Träume
418 Briefe eines Surüdgefehrten
Wenig hat die alte Stadt aus den ſpätern Jahrhunderten auf-
zuweilen, aber die Mauern der alten Zitadelle, die das
Elbufer überhöhen, erzählen von der hohen Stellung Magde-
burgs als Feitung in der preußilchen Zeit. Endlich der rege
Schiffsverkehr auf dem Strom und an den Länden; die langen
Linien der Lagerhäufer zeigen und die Bedeutung Magdeburgs
als Hauptſtadt des Verkehrs auf der mittlern Elbe. Wenn man,
aus diejem Treiben Hinaufichauend, hinter den Bäumen des Dom-
platzes das maſſige hohe Turmpaar des Doms mit feinen zadigen
Kanten auftauchen fieht, jo nahe an dem Strome, wie der Dom
von Köln am Rheine oder der Frankfurter Dom am Wain,
vermilcht ſich Die Erinnerung an die große Vergangenheit Magbe-
burgs mit den Eindrüden des pulfierenden Lebend. Der Strom
verbindet Wite8 und Neue. Diefe Lage des Doms beutet den
engen Zuſammenhang einftiger und jebiger Blüte mit dem Strome
an. Man könnte das fi) weiter oben anreihende, übrigend mit
Magdeburg eng zulammenhängende Budau mit feinen Fabrifen
und ftaubigen Ladeplätzen als eine vierte Art von Biftoriicher
Landſchaft, ala die induftrielle neben den Elbuferlandichaften
der alten Stadt, der Zitadelle und der Tampficiffländen be=
zeichnen.
Magdeburg: Straßen durdflutet ein beivegtes Geichäfts-
treiben; aber der Eindrud der Stadt wird nicht in dem Maße
davon beherrſcht wie der Leipzig oder Halle, Er behält mehr
Altes, Edle. Aus der modernifierten, lebhaften Regierungs⸗
ftraße, die aus alter Zeit wejentlid nur die Enge bewahrt hat,
tritt man in den Kreuzgang des Klofterd zu Unſrer lieben Frau,
eines der zierlihen, bei aller Strenge phantafiereichen Werte
des romanischen Stiß. Heute umgibt er einen grünen Raſen
mit blühendem Gebüſch. Eichen, Birken und Weiden ſchauen
in die Kleinen, fäulengeteilten Rundbogenfenfter. Es ift eine wohl-
tuende Stätte des Friedens. Wie fie reinigend auf und wirkt,
bezeugt fie die tiefe Berechtigung dieſer Werke der Weltflucht,
die jo lange bleiben wird, als fich menjchliche Herzen vom öden
Alltagstreiben abwenden. Ich muß in diefen Hallen an Mem-
lebens Kaiſerpfalz und ftillen Kloſtergarten denken.
Wenn man über die preußiſche Grenze aus Sachſen ober
Anhalt fommt, empfängt man überall und immer den Eindnud
eines ftarf in die Peripherie hinauswirkenden Staats, der fein
toter Begriff, jondern ein höchſt Iebendiged Weſen ift. Nicht die
Soldaten, die auf dem Domplap Stechſchritt üben, aud nicht
Briefe eines Surüdigefehrten 419
die zahlreichen Nuhmestafeln an der Nordwand des Doms, worauf
Die Namen der Gefallnen der Feldzüge feit 1813 in langen
Reihen verzeichnet find, nicht einmal Die anſpruchsvollen Poſaunen⸗
engel, die am ouvernementögebäude den ſchwarzen Adler halten,
wozu fie ein Duett blafen, das nicht ſehr beicheiden zu fein
fcheint, erinnerten mich in Magdeburg daran, jondern der ganze
Gang der offiziellen Maſchine. Beftimmt wenn auch kurz,
ftramm wenn auch barſch, ordentlich wenn auch nüchtern: es
tut nicht unbedingt wohl, aber es erziwingt Achtung. Ich rechne
zu den Spuren der preußifchen Regierungskunſt auch eine jo
eigentümliche Erſcheinung wie dad von Schinkel entworfne Ge⸗
jellichaftshaus auf dem Hügel zwiichen Magdeburg und Budan,
wo einjt Kloſter Bergen ftand, nnd ſich jebt die ſchönen Anlagen
des Friedrich⸗Wilhelmparks zur Elbe Hinabziehn. Es ift doch
entichieben preußifche Kunft in dieſem nüchternen aber korrekten
und fogar fteifsebeln Aufbau griechiicher Säulen. Sogar die
Bergnügungen der Bürger, Bürgerinnen und fünftigen Bürger
von Magdeburg jollen unter veredelnden, vom Staate weiſe und
großmütig verordneten Einflüffen vonftatten gehn. Das Gebäude
mag etwas biedermeierifch ausjehen, aber es ift Doch ein ſchönes
Denkmal und erjeßt reichlich die Königs⸗ und Feldherrndentmäler,
die merfwürdigerweije in dieſer Friegeriichen Stadt vor kurzem
noch gänzlich fehlten. Welche Erleichterung!
Landſchaftlich wird die Elbe unterhalb Dresden? und zur
Not noch Meißens noch weniger gewürdigt als nad) ihrem ge⸗
Ichichtlichen Wert. Man tut fie als die gelbe Elbe, als die trübe
Elbe ab. Ich möchte wohl, wenn es möglich wäre, die Sta-
tiftif der Nheinreifenden mit der Statiftif der Elbreilenden ver-
gleihen. Es würde fi) ein Unterfchied herausftellen, der ganz
außer Verhältuis fteht zu dem äfthetiichen Vorzug der flad)-
rüdigen Nheinberge vor den ebnen Auen des Elblaufs unter-
halb der meißniichen Berge. Die Bevorzugung der Rheinland-
ſchaft Hat viele gute Gründe, ift aber weit übertrieben. Ich
rechne beſonders die fchönen Parklandichaften der Elbauen im
Anhaltiihen, wo die jchönften Eichen-, Ulmen- und Schwarz⸗
pappelgruppen auf den grünen Uferwiejen ftehn, zum landichaft-
lich Anziehendſten Mitteldeutichlande. An Türmen, Schlöfjern
und alten ummauerten Städtchen ift gewiß der Rhein reicher.
Aber ich möchte mwenigftend an einen alten Turm an der an»
haltiſchen Elbe erinnern, der ein biftoriiche8 Denkmal eriten
Ranges ift. Ich meine den BZollturm von Roßlau. Man kann
. 27”
420 Briefe eines Surüdgefehrten
biefen Hoßigen alten Elbzollturm, den jeßt ein lieblicher Wirts⸗
garten umgibt, nit anjehen, ohne der Zeiten zu gedenken, Ivo
bier eine wahre und wirklide BZollgrenze die Elbe
Inſofern ift das eine bedeutfame Stelle. Als dieje Linie nach
vielen Mühen vom Zollverein durchrifien wurde, gewann Deutich-
land feinen Elbftrom ganz und ungetrennt zurüd und damit
eins der wichtigiten Organe feines innern Verkehrs. Die Blüte
Hamburgs und Magdeburgs, der feitere wirtſchaftliche Anſchluß
davon.
Sachſens an Norddeutſchland waren die nächſte Yolge
Der Kampf um den Elbzoll war aud ein Kampf für deutſche
Einheit.
Die Kunftblüte auß der Zeit der Größe der jächfiichen Kaiſer
bat fich weiter im Weften entfaltet. Der Elbſtrom war damals
no zu fehr Grenzſtrom zwiſchen Deutihen und Slawen,
Magdeburg nicht Mittelpuntt der Beherrſchung, ſondern Aus-
gangspunft der Eroberung, Milfion und Kolonijation umd zur
Not ein fefter Plab zur Dedung. Nah dem Harz zu, deſſen
Erzreihtum eben damald neu erlannt wurde, und nad ben
nordweftdeutichen Verkehrsgebieten zu "liegen bie Kleinodien der
nieberfächfiichen Bau⸗ und Bildnerkunſt aus den eriten Jahr⸗
hunderten unſers Jahrtauſends. Während Deutjchland fonft in
wenig Gebieten eine durch Jahrhunderte hindurch umunter-
brochne Entwicklung aufweiit, jehen wir bier an die romaniſche
Kunft der Kaiſerzeit fi die jüngere Kunft der Blütezeit bes
Bürgertumd anreihen, an die Paläfte die Natd- und die Bürger-
Häufer. Daher der Reichtum an Dentmälern, die fi) auf ſechs
Sahrhunderte verteilen. Gleich die alte Kaiferftadt Goslar fl
jo reih an Baubentmälern und Dentmälern alter Sitte umd
Lebensanſchauung, beſonders aud in den prädtigen Haus—
injchriften, wie wenig andre niederdeutiche Städte (Einige von
jeinen Fachwerkbauten gehören zu den beften ihrer Art. Seinem
Marktbrunnen hat keine Stadt von diefer Größe etwas an bie
Seite zu ftellen. Und dazu kommt nun das Kaiferhaus, dieſer
große romanische Profanbau, deſſen Lage über der Stadt mit
bem Blid in den Harz man der Beachtung jener Furzfichtigen
Leute empfehlen darf, die den Sinn für das landſchaftlich
Schöne ober Große zu einer Entdedung des legten Jahrhunderts
ftempeln wollen. Goslar hat es mehr ald andre Städte dieſes
Gebiets verftanden, fi) originelle Mauertürme, hübſche Stüde
der Stadtmauer, die fie einft verband, dazu mächtige Tortürme
zu erhalten. Man bat die alten Refte den neuen Bebürfniffen
TUT
vr. u; za vs ve ..
Briefe eines Surfdigefehrten 421
Tiebevoll angepaßt, was freilich leichter war in der verhältnis-
mäßigen Ruhe, in die die alte Kaiſer- und Bergwerksſftadt ſchon
lange zurüdgejunfen ift. Die Abtragung de Domd in den zivan-
ziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts war ein ſtarkes Stüd
felbftgerechter Biebermeierei, bei dem man es glüdlichermweije ges
laſſen hat, nachdem die eingefchlummerte Pietät für die Werke
der Väter einmal wachgerüttelt war. Ich muß leider befennen,
daß mich die einft beivunderten Fresken auß der deutichen Ge⸗
ſchichte im wiederhergeftellten Kaiſerhaus als eine nicht geringere,
wenn auch befler gemeinte Geichmadlofigleit angemutet haben.
Was haben moderne Bilder, die immer zum Teil QTendenzbilder
fein werden, an den alten Mauern zu tun, die an fidh fchon
berebt genug find?
Duedlindurg tft eine echt dentſche behagliche Stadt, die,
man muß daß gleich Hinzufeßen, nie von einem großen Brande
heimgeſucht worden ift. Jetzt eben fängt fie an, ftärler über
ihre Mauern binaußzuquellen, und da wird denn auch die Er-
neuerung im Innern ftärfere Schritte machen. Es find aber
noch ganze Straßen in ihrer alten Enge umd mit ihren Fach⸗
werfgiebelhäufern erhalten. Die Häufer find einfach gehalten, zu
den ftolzeften gehört noch das Geburtshaus Klopſtocks mit feinem
auf zwei Säulen ruhenden Erler. Aber fie fehen ſauber und
behaglich aus. Das Fachwerk gibt jedem Haufe etiwad Leb-
bafte8 und Schmuckes und einen Halt. Es iſt die einfachite
und natürlichfte Art von Verzierung. Der Schloßplag und feine
Linden, unter deren Dach ſchon der Knabe Klopftod geipielt
bat, und mehr noch der engere Hof zwiſchen Dom und Schloß
find ftimmungsvolle Räume, altitädtiich klein, aber behaglich.
Diefe Städte haben ja alle nicht den Raum für große Pläpe.
Wie wohltuend find die Formen des Doms, die zierlichen Ge⸗
fimfe, Bogenreihen, die Frieſe voll Ungeheuern und die formen
reihen Kapitäle der rundbogigen Fenjter! Uber wie fchade, daß
der Platz, der den einzigen ganz freien Blid über Stadt und
Harz bietet, nach der Stadt Hin mit Gärten bejegt und durch
®itter abgeiperrt ift. Eine Vordrängung des Privatbefihes, die
nicht geduldet werden ſollte. Quedlinburg ift eine berühmte
Sartenftadt geworden, aber feine Anlagen find noch mäßig. Es
wäre aller Grund, mehr darauf zu verwenden, ehe die fchänften
Bläbe in Aderfelder umgewandelt werden. Der Befiß eines
Ihönen waldartigen Parks in der Nähe der Stadt kann den
Wunſch nicht entfräften, die erhöhten Punkte um die Stadt, Die
422 Briefe eines Zurückgekehrten
die ſchönſten Blide auf diefe und den Harz bieten, zum Zeil als
Ausfihtspuntte feitzuhalten. Es ift zuzugeben, Daß viele deutiche
Städte hinreichend für grüne Erholungsplätze in unmittelbarer
Nähe gejorgt haben. Ya, ed gehört das Heranreichen des
Waldes an die Städte zu dem Gharakteriftiichiten in der Phy⸗
fiognomie des heutigen Deutſchlands. Aber man hat in ſolchen
raſch gewachſenen Städten wie Magdeburg oder Leipzig nicht
Hinreichend dem Erholungsbedürfnis der raſch zunehmenden Be⸗
völferung in der Nähe und auf allen Seiten Rechnung getragen.
Immerhin find aud in Ddiefer Beziehung die deutſchen Städte
den amerilanifchen und den engliichen weit voraus.
Halberftadt mit feinen maleriſchen Türmen liegt noch ganz
in der Ebene, um fo weiter ift Die merkwürdig zufammengedrängte
Gruppe der jchlanfen Turmpaare des Doms und der Liebfrauen-
kirche ſichtbar. Da Halberſtadts trefjliche Lage und reiche Umgebung
es auch in unfrer Zeit wieder zu einem blühenden Mittelpunlt
erhoben haben, bat fiy um den Kern fchöner Fachwerkhäuſer
und um das maleriihe Rathaus eine moderne Stadt gebildet,
deren Kern bezeichnenderweije der ziemlich weit abliegende Bahn⸗
bof il. Das Ummälzende des Eifenbahnbaus bat mir in viel
draftifcherer Weiſe das nahe Sangerhaufen gezeigt, wo der Bahn-
hof gerade neben den alten Friedhof gelegt worden ift, durch den
nun die neue Bahnhofitraße erhöht mitten hindurchführt. Der
Friedhof ift verlaffen, er wird ſich allmählid in eine öffentliche
Anlage verwandeln. Dan fieht, wie dad Antlitz der Stadt um⸗
gervandt worden if. Man betritt fie jebt von Hinten. Daher
der merkwürdige Gegenjab der hoben Neubauten am Bahnhof zu
den Heinen Häuschen dahinter. Erſt nad) diefen folgt der Markt,
der alle Anzeichen des Mittelpunktes einer Heinen Stadt trägt.
Hildesheim wird dag niederdeutiche Nürnberg genammt. Ich
finde Diele Bezeichnung ganz ungeeignet. Hildesheim iſt ae
älter und Hat zwei große DBlütezeiten gehabt. Schon für
einfah Durchwandernden ift die Zahl Hervorragender —
licher Häuſer in Hildesheim viel größer als in Nürnberg. Kein
Dürer und kein Viſcher haben Hier gewirkt, aber die Hildes⸗
beimer Kunftblüte ragt in dem kirchlichen Werke viel weiter
zurüd, und die Blüte der Profanarchiteltur in der Renaiffance
ift viel veicher, bunter; ich möchte jagen, und das Bild liegt in
der Stadt des taufendjährigen Roſenſtocks nicht weit, Diele Roſe
bat viel mehr Blätter. Es ift gerade dad Merkwürbige bei
Hildesheim, daß die Kunſtübung jo um ſich griff, da im ſech⸗
Briefe eines Surüdgefehrten 423
zehnten umd im fiebzehnten Jahrhundert fein Haus gebaut oder
renoviert worden ift, dem nicht künſtleriſcher Schmud zugefügt
wurde. Das iſt eins von den diesſeits der n feltnen Beijpielen,
wo die Baukunſt und die Bildhauerei ald Künfte fein Luxus,
fondern etwas Selbftverftändliche geworden waren. Nur darin
erinnert Hildesheim an Nürnberg. Wenn man fieht, wie ſich die
Kunft dann auch in der Gegenwart wieder aufgerungen bat, umd
wie weit das neue, nad) dem Bahnhof zu gewachlene Hildesheim
von der Banalität der modernen Städte entfernt iſt, dann er⸗
Icheint und da8 vom alten Biſchof Bernward und feinen Ge-
führten eingefenlte Samenforn als ein unvergänglided. Die
Kunft ift einmal an diefem Orte groß geweſen, fie ift e8 wieder
geworben und wird nie ganz verdorren. Und fo iſt Hildesheim
für die Kunft geheiligt. Wenn ich zu beitimmen hätte, empfinge
Hildesheim feinen aus dem jungen Schoß des abiterbenden ver-
jüngten taujendjährigen Nofenftol zum Siegel und zum Zeichen
feiner taujendjährigen Kunftblüte.
Als Deutichamerifaner fühlte ich auf Diefen Stätten den
ganzen Segen einer alten ruhmreichen Geſchichte. Um diejen
Segen muß jeder unbornierte Trandatlantifer die Alte Welt be-
neiden. Und gerade um dieſe Geichichte Traftvoller Herricher,
die im einzelnen tüchtig zu verwalten und des Ganzen zugleich in
großem Sinne zu walten gewußt Haben, müßte er eigentlich
Deutſchland beſonders beneiden. Als BZurüdgelehrter muß ich
aber auch den Vergleich ziehen zwifchen dem wenigen, was der
Deutiche aus dieſer großen alten Geichichte macht, und dem vielen,
wad der Umerilaner aus feinem bißchen Gedichte zu machen
weiß. ch habe gebildete Mitbejucher der Harzitädte kläglich un⸗
willend gefunden. Ich werde darüber Feine pädagogiiche Ab-
Handlung zum beiten geben, ſondern nur meine Meinung darüber
ausſprechen, daß die Schule zu viel von Themiftofles und Cäfar,
zu wenig von Heinrich dem Erften und Otto dem Großen
jagt, und daß der Kaiſer vollauf Recht Hatte, als er gerade
an ben Betrieb des Geſchichtsunterrichts an deutichen Schulen
die beſſernde Hand legen wollte. Der Deutiche, der die Ge⸗
Ihichte feines Volkes vernachläffigt, fommt mir wie ein Mann
vor, der ftatt des edeln alten Weind, den er im Steller bat,
Krätzer trinkt.
Wir haben zum Schluß Wolfenbüttel beſucht, die Stadt
Leſſings. Wie klein iſt hier das achtzehnte Jahrhundert in ſeinen
Denkmälern. In Wolfenbüttel iſt wohl die alte Bibliothek
424 Briefe eines Surüdgefehrten
Leffingd erneuert, und auch fonft find mande Häufer neu er=
richtet oder aufgejeht worden. Aber es ift Doch im ganzen immer
nur ein Heiner, enger, bolpriger Eindrud, den da8 Städtchen
macht. Gemütfich, aber befchränftt. Das Kleine Haus gegenüber
der Bibliothel, wo Leſſing gewohnt hat, paßt in dieſe alte Stadt
hinein. Es befteht nur aus einem Erdgeichoß, aber feine Zimmer
find geräumig, und ihre zopfige Ausſchmückung ift nicht ungefällig.
Und auf Leifingd Tiſch Hat wohl dasſelbe Grün hereingeleudhtet,
da8 heute dieſe Dafe in der Wüſte des Schloßplatzes fo freund-
lich madt. Das erleichtert und. Aber immerhin erhält man von
der ifolierten Höhe, auf der ein Geiftesheld fteht, jo recht einen
Begriff, wenn man die Spurlofigfeit des Wirkens eines Leifing
in Rolfenbüttel bemerkt. Außerhalb der Bibliothek feine Spur
von ihm. Sch denke an die Eichen, die das Geftrüpp eine
Auenwaldes niederdeutichen Flachlandes in ftillem Stolz über-
türmen, und unwillkürlich wächſt Leifingd Denkmal von Rietſchels
Meifterhand in den Braunfchweigiichen Anlagen, eines der jchönften
Dichterdentmäler der Welt, in meiner Erinnerung angeſichts
Wolfenbüttel empor.
Man hat und als Ort beichaulicher Ruhe zum Naften von
eindrudsreichen Ausflügen die anhaltiiche Sommerrefidenz Ballen-
ftedt empfohlen. Ballenftedt ift aber vom Bahnhof ber eine der
häßlichiten, kleinlichſten Städte, die man fich vorftellen fan, und
entwidelt fich erft auf der entgegengejehten Seite nach Weſten
zu einer reizenden Reſidenzſtadt mit Hoflieferanten, PBianoforte-
lager, Hofbuchhandlung, Wiener Cafe. Die einen Kilometer lange
Allee zum Schloßgarten gibt dem Ganzen jogar eine gewifje
Größe. Und wenn man oben angelommen ift, fteht man einem
Niefenbau gegenüber, der den einfadhen Namen trägt Großer
Gaſthof. Vor ihm fpielt an den Abenden eine gar nicht üble
Mufil, aber die haute volée von Ballenfiedt hält es nicht für
guten Ton, zuzubören. Einige Gymnafiaften und Dienftmädchen
find Die einzigen, Die der ganz guten Mufil ihr Ohr leihen.
Herren, die die Diftinktion darin fuchen, daß fie ein Glas in
die Augenhöhle klemmen und nah dem Parfüm ihrer Fran
riechen, zum Hof gehörende oder penfionierte Generale, gehn laut
ſprechend auf und ab, verhandeln aber beim Schall der Mufit
feine harz⸗anhaltiſchen Staatsangelegenheiten, jondern den Erwerb
eined nahen Grundftücks durch einen GArtner.
Der befte Zeil einer ſolchen Refidenz ift immer der Schloß⸗
garten. Deutichland weiß gar nicht, welchen Segen es in feinen
Briefe eines Zurückgekehrten 425
vielen Hunderten von Schloßgärten hat. Auch viele Gärten
Heinerer Befiter, Grafen und Yreiherren, find dem Publikum
geöffnet und find ſehenswert. Erſt dieſer Tage habe ich Die
Stolbergiichen Schloßgärten in Roßla und Wernigerode bewundert.
Warum ift ein folder Schloßgarten fo ganz anders geartet als
ein ftädtifcher Bart, das Erzeugnis der Millionenftiftung in einer
amerilanifchen Großftadt? Ich trete in den durchaus nicht an-
ſpruchsvollen Schloßgarten von Ballenftedt, und das erfte, was
ih jehe, tft eine prächtige Blutbuche, höchſt geſchmackvoll in
grüned Laubwerk bineinfomponiert, und daneben auf dem Gras⸗
plaß eine gerade ihre veilchenblauen Blütentrauben entfaltende
Paulownia, um deren Fuß fi ein Efeugebüſch ausbreitet. Ich
jehe bier auch höchſt feltfamerweife uralte Stechpalmen, eine
ſüddeutſche Belanntichaft. Worin liegt denn der Unterjchieb?
Hier fteht vor dem Schloß ein einfader Granitobelisf im
Blumenrondell, den der Herzog der letzten Herzogin von Anhalt-
Bernburg, Friederike von Holſtein⸗Glücksburg, gefebt hat. Warum
ift er jo viel würdiger, anfprechender als alle die mühjfeligen
Siegesdentmäler, die ich die lebten Tage gefehen Habe? Weil e8
ber Gedanke eined einzigen Mannes von Gefchmad ift, der hier
Ausdrud geſucht hat. Und fo iſt e8 mit den Gärten. Das Auge
eine8 Seren, der nicht bloß ſorgſam ift, fondern Gejchmad hat,
ruht auf diefen Bäumen. Ihm ſollen fie gefallen, daneben ift
ihre Betrachtung auch dem Publikum erlaubt, das aber ganz zu⸗
frieden ift, wenn es nicht? dazu zu jagen hat. Nur ein gefchicht-
liher Zufall, wie er im Aufgeben eine breiten Feſtungswalles
liegt, der Höhen und Tiefen zu Parkanlagen barbietet, Hat
ftädtifche Gartenanlagen von originaler Schönheit ins Leben ge-
rufen; oder aber die Nachahmung der Werke der Fürften, wie
in München. Die öffentlichen Gärten unjrer amerifaniiden Groß⸗
ftädte haben alle etwas Kaltes, und außerdem gehören fie zu
den beftmeltenden Kühen im Stalle unfrer munizipalen Bolitifer.
Auch das gibt dem Freiftaatenmann zu benfen.
4
Ich Liebe die Landjchaften über alles, die uns in das Wefen
eined Landes und in das Herz eined Volks einführen. Wir leben
Monate unter einem Volle und glauben viel davon zu fennen,
da erichließt ſich und das ftille Heim irgendeiner unjcheinbaren
Familie, und wir machen in den paar Bimmern, in ben Haus-
426 Briefe eines Surüdgefehrten
geräten, in dem vertraulich plaubernden Kreis offner Menſchen,
unter einem Baum oder vor einem Kamin Entdedungen, die wir
niemals genhnt hatten. Wir haben einen Blid in das Innerſte
des Volks getan, gerade den Blid, der ben meiften Beluchern
fremder Länder fo felten zuteil wird. Es gibt auch Landichaften,
die uns fo einführen. Newyork ift eine europäijche Kolonie, Die
Umgebungen von Newyork haben nicht? Charalteriftiiches; erft
eine Hudfonfahrt bis Albany Hinauf ift ein erſter Schritt zur
Kenntnid Nordamerilad. Aber doch nur ein Schrittchen. Die
Seebabeorte an der gegenüberliegenden Küfte von Long Island
ſehen gerade jo engliſch aus, wie gewiſſe Straßen von Newyorf
deutih. Ich Habe einen tiefen Blid in das Eigentümlicdhe von
Nordamerika erit getan, ald ich in einem Landſtädtchen von Neu⸗
england lebte. Eine von Kanada kommende Lotterbahn warf mich
auf einer grünen Wieſe aus, die fich zu einem See von unwahr-
fcheinliher Bläue hinabzog. Diefe Wiefe war von rötlichen
Granitriffen durchzogen, und am Ufer lagen loje Blöcke desfelben
Gefteins, auch diefe aufdringlich rötlich. Sie fchienen zu jagen:
Dieje Wiefe möchte wei) und fchwellend jein, und diefer See
möchte fi) Tieblich in den Himmel hinausdehnen. Es ift nichts
damit. Wir find in Neuengland, wo foldye Weichheit nicht ge=
duldet wird. Darum liegen wir bier und zerichneiden mit unfrer
Härte dad Bild, damit man weiß, es ift ein raubes Land. Ich
ftieg gegen den See hinunter und betrat eine kurze Straße von
Kleinen weißen Häuschen mit grünen Yenfterläden, die an einer
breiten mit mächtigen Ulmen bepflanzten Straße lagen. Diefe
Bäume mußten gepflanzt worden fein, als die erften „Blods“
des Städtchend ausgelegt wurden. &3 fiel mir auf, daß in dem
Städtchen, dad einen lebhaften Holzhandel betreibt, wenig Unter⸗
jhied in der Größe der Häufer und Gärten war. Auch waren
fie jo ziemlich alle gleich gut gepflegt. An vielen Zenftern Blumen,
an einigen intereflante Gruppierungen von Ahorn⸗ und Scharlach⸗
eichenblättern in golbnen und purpurnen Herbitfarben, über Türen
Ihöne Zweige von der Ballamtanne, deren dürre Nadeln den
füßejten Himbeergeruch außhauchen, oder von der zierlidden Schier-
lingstanne. Sch ſah hochgewachſene, hagere, ernfte Mäuner und
ſchlanke junge Mädchen, etwas blaß, die mich frei auß großen
Augen anfchauten. In einem Haufe, wo man „zahlende Gäfte“
empfängt, jaß ich dann zu Tiſche mit einem Feldmeſſer. zwei
Raufmannddienern, einem männlichen und einem weiblichen, und
einer Lehrerin und fühlte mich von einem Taft und einer Höflich-
Briefe eines Zurückgekehrten 427
feit umgeben, bei denen ich die Einfachheit der Umgebungen ver-
gab. Das war die erfte Erfahrung von dem Amerika, das fern
ift von dem törichten, zweckloſen Lärmen und Treiben der großen
Städte, von ihrem Lurus, ihrer Not, ihrer Zerjebung und un-
geheuern Lüge, ihrer Beſtechung, ihrem Trunf und Lafter. Hier
fing ih erſt an, die großen Kräfte zu begreifen, die von Neu-
england ausgegangen waren und Amerika geftaltet und umge-
ftaltet Haben. Und e8 Elang mir von diefem Tage an nicht mehr
ruhmredig, wenn Neuengländer behaupteten, nur Leute, Die
hasty pudding, ein neuengländisches Nationalgeriht, zu würdigen
wüßten, verftünden die Geſchichte der Vereinigten Staaten von
Amerita.
So weit will id nun von dem altthüringiichen Boden, auf
dem ich jett ftehe, wo Saale und Unftrut zufammentreffen, nicht
ausgreifen. Aber ficherlich kann man feine Deutichere Landfchaft
finden als bier, wo man ja auch räumlid) jo recht im Herzen
von Deutichland iſt. Von allen Höhen Ichaut der Wald herein,
der Reft altgermaniichen Urwalds; in allen Tälern grünen und
blühen die Felder und Gärten der Urenkel der alten Thüringer,
die vor bald anderthalb Jahrtaufenden bier zu roden begonnen
haben. Die Dörfer im Wiefental und die Häuschen an den
rebenbepflanzten Hängen rechts und links von der Unftrut find
fauber gehalten, die Wege gepflajtert; da und dort fieht man
einen Neubau oder Umbau im Werk. Entiprechend find auch die
Seldwege in Ordnung, und daß fie faft überall von Kirſchbäumen
begleitet werden, erhöht den Eindrud einer jorgjamen Wirtſchaft.
Es ift die Frucht einer Kulturarbeit von vielen Jahrhunderten
und der ungeftörten Friedensarbeit von faft drei Generationen,
die von einem zahlreichen, fleißigen und genügjamen Volle ver-
richtet worden ift. Wie anders jah es bier aus, als die Kanonen
von Jena herüberdonnerten, und als fi über die laubwald⸗
begrünten fanften Höhen über Freyburg die von der Leipziger
Schlacht her flüchtenden Yranzofen ins Unftruttal ergoffen! Das
Unftruttal verfant nad den Kriegsſtürmen in eine Ruhe, die
noch tiefer war al$ der Schlummer andrer deuticher Landichaften,
und es bat von diefem Ruhezuſtand mehr behalten als fie. Die
Eilenbahn, die e8 durchzieht, macht fein großes Geräufch, bie
faubere Landftraße ift nur mäßig belebt. Wenn du von Naum⸗
burg kommſt und den Bergmweg ind Unitruttal wählſt, ftatt die
längere Landitraße über Freyburg, und auf dem jchattigen Wald-
pfad gegen Balgſtädt Herunterjteigit, liegt die Welt jo wohlig
428 Briefe eines Surüdgefehrten
eng umſchloſſen vor dir, daß du meinft, dieſen grimen Winkel
nie mehr verlaflen zu ſollen. Du fiehft über die rotbraunen
Dächer hinweg in den Einfchnitt des Unſtruttals zwiſchen den
gerablinigen dadjfirftartigen Höhen des Mujchelfalf8 auf der einen
und den meichern Hügeln des Keuperd auf der andern Seite.
Es ift ein echt thüringiſches Bild, das bei Jena und in der
KRoburger Gegend gerade jo wiederfehrt. Dazu die Erinnerung an
da8 türmereihe Naumburg, dad man zurüdblidend in den baum⸗
reichen Saaleauen verſchwinden fah.
Wir find bier mitten im Thüringerland, die Unftrut ver-
dient ja. mehr als die Saale der eigentliche thüringiſche Fluß
zu beißen. In ihren grünen Wiejen, die, rechts und links von
Getreidefeldern umgeben, janft zu Walbhügeln anfchiwellen, geht
fie friedlich dahin. Nur die Fährftellen, die den Poeten gefallen,
haben leicht etwas Unfertiges, Zerrüttetes. Der rafige Uferſaum
ift zerrifien, in den Fluß bineingetreten. Ein paar Steinblöde
und ein Brett, das fich nächſtens ſpalten wird, vermitteln Den
Übergang zum Wafler. Eine alterdgraue Bank unter einer
Inorrigen Weide dient als Warteplag. Müde Menſchen ziehn vor,
fi) daneben in den Schatten der Weide zu beiten. Ein alter
Mann ruht bier im Grafe, das Geficht durch den Hut gegen
die Sonnenftrahlen geſchützt, ein kleines Mädchen neben ihm, ein
weißes Tuch über dem Geficht, ein Kleines Bündel liegt ihnen
zu Häupten, keines Diebes gewärtig. Nichts ftört ihren Schlaf.
Auch nicht der lange Kahn, der jeht zwiſchen den Rafenufern
die Unftrut unhörbar herabgleitet, ſchweigend gelenkt von zwei
Bewohnern ded alten Memlebend, die Steine nad) Naumburg
führen. Geltfam ift der Eindrud des langen Yahrzeugd auf
dem fchmalen, ftillen Waſſer, an dem Grad und Blüten bis zum
Rande ftehn.
Der Wald der Thüringer Vorberge ift ebenfo reich und
mannigfaltig, wie der des eigentlichen „Waldes,“ des Gebirgeß,
einförmig iſt. Es ift ein heiterer Wald, wo ich den Charalter
ber Thüringer eher wiederfinde als in den Dunkeln Fichtenhainen
von Eiſenach oder am Inſelsberg. Hier herrſchen Eichen und
Buchen vor, man fieht aber auch Linden mit herrlichem Blätter-
dom, als ftünden fie vor einer Dorfkirche und nicht unter Dem
ganzen Voll von Bäumen. Das Unterholz find Hajelnüffe, Maß⸗
holder mit meißer Dolde und Weißdorn. Un den Rändern fieht
blütenreih der Weißdorn. Maiblumen und Bogelgejang nehme
ih als liebes Andenken aus dem Heitern Walde mit. Solcher
Briefe eines Surüdigefehrten 429
Wald begleitet Die Unftrut auf beiden Seiten ded Tald. An wenig
Stellen ift er gelichtet, und dort ziehn über die runden Hügel
breite Getreidefelder weg, die vor dem Frühſommerwind grün
und filbern fließen und wogen. Wenn auch waldreich, ift Doch
das Land ein Garten. Es gleicht einem Garten, den eine breite
lebendige Hede dunkelgrün einfaßt. Der Garten ift nirgends
weniger Illufion als auf dem Wege, den ich heute wandre. Be⸗
gleitete mich nicht von Laucha faſt bis Kirchſcheidungen eine
Syringenhecke, die die Straße entlang gezogen iſt, wie man ſie
ſonſt nur in Hofgärten trifft? Und iſt nicht der Bahnhof von
Wallhauſen ganz in Rotdorn eingehüllt?
Wal und Graben und zwei mächtige Tore find um Laucha
erhalten, aber außer der Kirche und dem unbedeutenden Rathaufe
ift nicht® da, was einen foldden ſtarken Schuß verlangte. Die
Wahrheit zu fagen, hat die Buderfabrif an der Straße nad)
Kirchicheidungen mir viel mehr den Eindrud der Größe gemacht
als die ganze Stadt, und nicht bloß mit ihrem bochragenden
Schornitein. Es iſt eben doch etwas Beengendes in dem Ein-
geichloffenfein eines ſpätern Geſchlechts in die Schranke, die ſich
ein dor vierhundert Jahren Fräftige® und jchaffensfreudiges Ge⸗
ſchlecht zog. Es find Feſſeln. Manches würde heute anders
angelegt werden, wenn auch nicht gerade beſſer. Und wenn das
Leben hier kräftiger ſtrömte, hätte es mit dem alten Gemäuer
aufgeräumt, das mehr kleinlich als hart wirkt.
Burgicheidungen liegt auf einem der langfam zu der Unftrut
abjchwellenden bewaldeten Hügel Er ift durch das fchluchten-
artige Blindtal von dem Hügligen Maſſiv losgelöſt. In einen
Winkel darımter tjt jehr behaglich das Dorf Hineingelagert, deſſen
rote Dächer und ſpitzer Schieferturm in einem mwohltätigen Kontraft
zu dem breit bdaliegenden erniten Schloß darüber ftehn. Alles
Darunter und daneben, jede Lücke ift mit Wald audgefüllt, der
in Park verwandelt ift. Und von der Unftrut aus ift das Ganze
ein lauſchiger Waldwinkel. der ganz beſonders durch den Kontraft
mit dem Ralkplateau gegenüber wohltut, das fcharf mageredht
abgejchnitten if. Einige Pappeln find als Senkrechte auf Die
wagerechte Umrißlinie des Muſchelkalkbergs gefällt. Glücklicher⸗
weije Hält ſich das fonnenbejchienene, filbern leuchtende Gewölk
. darüber nit an dieſes Mufter. Nur ein ganz, ganz kleines
Stückchen Natur kann wie ein Steuerbogen liniiert werden. Die
weißen Sommermwolten ſcheinen der Bappeln zu fpotten. Jetzt
jehe ih ein Gebräng paußbädiger Engelstöpfe mit Ianghin-
430 Briefe eines Zurũckgekehrten
wehenden Haarſträhnen, und glei darauf jegeln Wolkenſchiffe
mit blähender Leinwand überladen einher; fie werden fidh ver⸗
mutlich am Kuffhäufer vor Anker legen. Ein fächerfürniges
Strahlenbündel durchfichtig milddigblauen Sonnenlichts ſprüht aus
einer Wollenlüde über Berg und Tal herab. Unverſehens bat
fi ein heroiſcher Zug über die Landichaft verbreitet und drängt
bie Idylle zurüd. Ich muß daran denken, daß in diefem Tale
der größte deutſche Hiftorifer, Leopold Ranke, groß geworben
tft, in deſſen gelaffener Ruhe fi etwaß von dem Frieden Des
Heimattals abfpiegeli. Eine jolde Einwirkung ijt ja ſchwerer
nachzuweiſen als der Einfluß der politiichen Lage des damals
noch jähfiichen, zwilchen preußifchen und thüringiichen Gebieten
eingefchloffenen und vom übrigen Deutichland abgefchlofienen
Ländchend auf das mehr ald neutrale, kühle Empfinden des
Jünglings Ranke gegenüber der napoleoniſchen Herrſchaft und
dem preußiſch⸗deutſchen Befreiungskrieg. Aber wer die Talenge
von Nebra hinter ſich hat und ſieht das beſcheidne, friedliche
Wiehe am Fuße der dichtbewaldeten Finne, in dem von dunkeln
Hügelwellen ganz umringten Tal, der empfindet etwas wie klöſter⸗
lihe Stille. Der Geift mag forjchend auch von hier aus über
den Berg- und Waldkranz hinweg die Welt zu begreifen juchen,
die Seele wird rubig.
An Lauda hörte ich dem Geſpräch de Wirts mit einem
Rübenbeamten oder Zuderrat zu. Der Mann, der grau gefleibet
war, dachte und redete grau, abgeflärt, fein Weſen war infipid
und fchwerflüffig wie Melafje. Ich vernahm zu meinem Erjtaunen,
daß die Probleme der weiblichen Erziehung auch in diefem ftillen
Tal die Menfchen beichäftigen. Es war die Rede von einem
Sunggefellen, einem begehrten Gutspächter. „Nee, et iS nicht
mit dieſes Schema von fo Farrerſchwitwen und derartigen Frauen
zimmern. Willen Se, da werde den Mädchens nur jo Pofſen
in Kopp geſetzt. So mag er keene. Wer fo eene ninımt, der
ärgert fih, jo lang er lebt. Die kommen nicht aus des Schema
von Bildung heraus. Da geht fon Ichnippiges Ding uf de Bahn
un läßt fi) von ihrem alten Vader den Koffer nacdhtragen. Nee,
nur fo Teene.“ Ih gab dem Manne Recht und freute mid)
außerdem, Daß er in dem Worte Schema eine jo ſchöne orna⸗
mentale Verſtärkung jeiner Rebe entdedt hatte. Die war aller-
dings nicht fo originell wie meines Wirts in Roßleben Ausdrud
„muggelig“ und „es muggelt.” Das follte den bimftig=trüben
Himmel, die Neigung zu Trübungen anzeigen. Vielleicht ift das
Briefe eines Surüdgelehrten 431
Wort in der Weidmannfpracdhe diefer Gegend heimiſch? Jeden⸗
falls wußte mein Herr Wirt damit befler als Falb das Unbe—
rechenbare de Witterungsgangs, bejonderd in gemitterreicher
Junizeit zu verhüllen.
Ich ſpann bei den Geipräcden des redjeligen Mannes meine
ftillen Gloſſen über das Thema Bildung weiter. Die im Aus⸗
fand vielbejprochne und früher auch mehr als jet beiwunderte
beutfche Volksbildung intereffiert in Amerika weite Kreife. Aber
wer weiß genau, was es ift, und wie weit es geht? Beſteht die
Volksbildung darin, daß die Handwerksgefellen und Dienftboten
auffallend korrekte Briefe, beſonders Liebesbriefe fchreiben und
ihre bildungsarmen Schundblättichen und Kolportageromane leſen
fönnen? Ich finde in meinen Erfahrungen doch etwas mehr als
dag. Ich meine, bei den deutſchen niedern Klaſſen ei Die Wirkung
der Volksbildung beſſer zu erkennen als bei den darüber liegenden.
Sie halten feft, was fie gelernt haben, und ihre Arbeitöweife,
wo fie nicht in Fabriken verdummen, läßt ihnen Zeit, einen ge-
funden Menjchenverftand damit in heilfame Verbindung zu ſetzen.
Daß die Schule ihren Kindern zugute kommt, die man nirgends
in Deutfchland ſich fo abſcheulich verwahrloft herumtreiben fieht
wie bei und in Amerika, kann niemand leugnen, der dag Deutjche
Leben auch nur von der Straße Her Tennt.
Aber allerdings bei den höhern Klaſſen fteht in Deutſch⸗
land das, was die Frauen lernen, in feinem Verhältnis zu ihren
Lebendaufgaben und aud) zu ihren Lebensanfprühen. Man mag
an der Bildung, die die Amerilanerinnen in ihren Colleges
empfangen, vielerlei ausſetzen, beſonders daß fie fich zerjplittert,
daß fie zu vielerlei und das Einzelne deshalb nicht gründlich
bietet, aber man wird ficherlich nicht leugnen können, daß es
ernft damit genommen wird. Die Bildung, oder fagen wir beſſer
die Schulung der jungen Mädchen wird in Deutjchland in der
Regel bis zum fünfzehnten Jahre fortgefeht, dann folgen noch
einige beliebige Privatftunden, bejonder8 in neuern Sprachen,
Kunft- und Literaturgefchichte, und mit dem Eintritt der Ball-
und Berlobungsfähigkeit hört auch dieſes fo ziemlich auf. Bu
den merkwürdigſten Erfcheinungen im deutſchen Frauenleben ge-
hört dieſes frühe Abgelöftwerden der Schulbildung durd) etwas,
was Haus⸗ und Weltbildung bedeuten foll, aber keins von beiden
ganz erzielt. Die Deutfchen find auch in diefer Hinficht im Über-
gang. Ihre alte enge, aber gründliche Erziehung der Mädchen
zu Hausfrauen, die etwas Tüchtiges leilten, möchten viele mit
432 Briefe eines Surüdgelehrten
einer freien, mannigfaltigen Bildung vertaufchen. Aber ſie
ſcheinen lange zu dieſem Übergang zu brauden. Die alte gute
deutſche Hausfrau ift im Ausfterben, und die neue deutiche Welt-
Dame mit Univerfitätbildung ift noch nicht fertig.‘ Die jungen
Amerifanerinnen bleiben in der Regel 5i zum zwanzigften und
zweiundzwanzigſten Sahre in ihren Colleges. Wenn jie ji) ver-
foben, vollenden fie ruhig ihre Kurſe. Es fehlt au nicht an
„böhern Semejtern,“ denen das Gollegeleben fo gut gefällt, da
fie zulegen. Jedenfalls hört das Bildungsbeſtreben nicht ſo paar
Iharf mit einem gewiſſen Alter auf wie bei und. Und alle
Bildung gefliffentlih an den Nagel zu hängen, jobald der Ver⸗
lobungsring am Finger glänzt, wie ed unter Deutichen lächer-
licherweife jo oft gefchieht, würde eine Amerifanerin mindeſtens
für geſchmacklos halten. Ich meine, immer beobachtet zu haben,
dab wenn auch die amerilanifche Mädchenbildung in andern Be-
ziehungen Mängel bat, doch eine ernftere Auffaflung in Bildungs-
fragen durch fie in die ganze amerikaniſche Frauenwelt hinein⸗
getragen worden if. Es ift für fie fein Luxus, fonbern eine
Lebendnotwendigkeit. Sogar bei dem Vergleich von englifchen
und amerilanifhen Mädchen ift mir aufgefallen, wieviel mehr
Opfer die Amerilanerinnen ald Lernende zu bringen willen. Daß
fie als Lehrerinnen Hervorragendes leiften, dürfte heute außer
Biweifel fein. In Kanada wirken Amerilanerinnen und Eng-
länderinnen gerade in Schulen Häufig nebeneinander, und die
unparteiiichen Beobachter ſchaͤtzen dort die Amerilanerinnen wegen
der Ausdauer und Sadlichkeit, die fie an alles beranbringen,
wa3 fie tun.
Was der Frauenbildung in Amerika einen Vorſprung vor
ähnlichen Beitrebungen in der ganzen übrigen Kulturwelt gibt,
das ijt, daß fie auf einem ganz fihern Boden jteht. Niemand
fällt es ein, die Frage aufzumerfen, ob Mädchen diejelbe Bildung
empfangen follten wie Knaben. Sogar auf die einjt unbeſtrittne
Eoeducation, die gemeinfame Erziehung von Mädchen und Knaben
in derfelben Anftalt, erſtreckt ſich dieſe Fragloſigkeit. Das iſt
aber die natürliche Folge der in der Entwicklung der
Geſellſchaft des germaniſch-keltiſchen Amerikas tief begründeten
Gleichſtellung der Frau mit dem Manne in allen Lebensgebieten
Der Deutſche mag daran mancherlei zu bekritteln finden, er wird
doch in vielen Beziehungen einſt auch darin einfach nur dem
Amerikaner nachahmen können. Die Frauenhochſchule, den weib⸗
lichen Arzt, Apotheker und Anwalt, die große Stellung, bie der
Briefe eines Zurückgekehrten 433
Frau in Armen und Schulräten eingeräumt ift, wird man auch
in Deutihland in nicht viel Jahren ald etwas Selbſtverſtänd⸗
liches hinnehmen. Dann erft wird eine gerechte Würdigung der
Kräfte und der Anlagen der deutfchen Frau möglich fein, und dag
Herabfehen der Amerikanerinnen wird vielleicht früher aufhören,
als man glaubt. ch wenigftend bin überzeugt, daß die Hebung
der Frauenbildung gerade den deutichen Frauen ungeahnte Vor⸗
teile bringen wird. Denn ihre beiten Eigenjchaften liegen tief
und wollen mit einiger Geduld ans Licht gerufen werben. Einft-
weilen liegt in den Urteilen amerilanifcher rauen über ihre
deutichen Schweitern ficherlich ein gutes Stüd Pharijäertum, und
es wirft nicht gerade ein ſchönes Licht auf den weiblichen
Charakter, daß die amerikaniſchen Schulmänner den beutichen
Mädchenunterricht, auch) den böhern, viel billiger beurteilen als
die amerilanifchen Schulfrauen. In den weiblichen reifen der
Vereinigten Staaten gilt es für ausgemacht, daß für höhere
Srauenbildung in Deutichland überhaupt nicht gejorgt ift. Die
Damen, die darüber ſprechen und fchreiben, haben eben feine
Ahnung, daß man Bildung aud) auf eine andre Art erwerben
fann als in ihren College. Es wäre müßig, fich mit folchen
Vorurteilen außeinanderzujfegen, wenn man ihnen nicht einige
Berechtigung zufprechen müßte. Dieſe vorlauten Damen haben
Unredt in ber Geringihäßuug deilen, was in Deutfchland im
Madchenunterricht tatjächlich geleiftet wird; aber ihr Urteil hört
auf Vorurteil zu fein, wo es ſich auf das richtige Gefühl gründet,
daß Hier in weiten Kreiſen eine unbeftimmte Abneigung gegen
eine weitere Außdehnung und Vertiefung der Srauenbildung be=
fteht, und daß fich diefe Unluft Hinter der Abneigung verbirgt,
die Yrauenbildung überhaupt ernit zu nehmen. Mit weiblichen
Takt, und gerade Taft hat die Umerikanerin in hohem Grabe,
fühlen fie heraus, daß die deutſchen Männer ihre Abneigung
gegen höhere Frauenbildung nicht logiſch zu rechtfertigen willen,
vorwiegend weil fie dag Körnchen Egoismus nicht zugeben wollen
und lönnen, das darin liegt.
Doch ich berühre bier Fragen, die zu weitausſchauend find,
als daß man fie auf einem Spaziergang behandeln folltee ch
wende mich lieber zu den Geiprächen meiner Gefährten im
** Gaſthaus zu Lauda zurüd, die fih an das Nädjite hielten
und mir über Greifbares nützliche Winke gaben. Vom Weinbau
wurde erzählt und von edeln alten Weinen, die Wennunger
Bauern in ihren Kellern verwahren, von ber Beliebtheit der
Ragel, Slädsinfeln und Träume 28
434 Briefe eines Surüdgefehrten
Saal- und Unftrutweine, die Kenner mit Franlenweinen ver⸗
glihen. Dan müffe fi nur an den Bodengeichmad gewöhnen,
dann finde man fie Fräftig und bekömmlich. Trobdem werde Bier
in fteigender Menge erzeugt und eingeführt, und früher unbelannte
Sorten, wie das helle, bittere, dem Pilſener gleichende, aber durch
einen Rauchgeſchmack ausgezeichnete Grätzer Bier aus Bofen,
würden durch die fremden Radfahrer eingebürgert, deren wohl-
begründeter und. ziwedbewußter Durft fi) mit Lagerbier nicht
ftillen laſſe.
Mein Wirt war ein bierkundiger Mann, der in Querfurt
dem Studium der Elemente der Bierbrauerei obgelegen batte.
Wiſſen Sie, fagte er, daß wir bier am Rande einer merfwürdigen
Bierinjel Ieben? Ich babe Weißbier, aber in Leipzig und Galle
weiß man kaum etwas von Weißbier. Liegt doch Döllnig, die
Hajfiiche Heimat der Goſe, dieſer falzig-trüben, in der Ianghalfigen,
breitgedrücdten Flaſche gärenden und ihren zähen braunen Rieder-
ſchlag abjeßenden Abart des Weißbiers, im Saalkreis. Im An⸗
haltiſchen erſcheint ſchon wieder die kühle Blonde, und in Magdeburg
gibt es ſchon förmliche Weißbierftuben, die an Claufing in der
Bimmerftraße in Berlin erinnern. Merkwürdig ift es aber, wie
werig die zum Zeil doch recht trinkbaren Berliner Braunbiere,
die fogenannten bayriſchen, hier vorgedrungen find. Sch Tenne
zwar Städtchen in der Provinz Sachen, wo man Nürnberger,
Würzburger, vom Münchner nicht zu reden, und fogar Dortmunder
Bier trinkt, aber Feind, wo etwa Patzenhofer denjelben Rang ein⸗
nähme. Jeder Wirt in diefen Landen jowie im Anhaltiſchen und
im Sonbderöhäufifchen, der fich achtet, hat eine bayriſche Bierjorte
im Schanfraum. Vollends im Konigreich Sachſen, da wird Das
Berliner Bier und überhaupt das norddeutiche vollftändig Neben-
fade. In Leipzig muß man e8 mit Mühe juchen. Gier treten
bie einheimifchen Lagerbiere mehr in den Vordergrund, die aber
faft alle nur befchräntte Horizonte haben. Der ſächſiſche WVelt-
ruf — id meine den Ruf und Ruhm in der fächlilchen
Welt — einzelner unter ihnen, wie des Dreddner Waldſchlößchen.
früher auch einmal des Lützſchener, ift in den lebten Jahren nicht
mehr gewachſen. Es find im Grunde doc) auch immer nur matte
Brü
Als ich das Geſpräch auf ben engern Umkreis zurücklenkte,
antwortete mir auf meine Frage, woher die „Leben“ der Bel-
leben, Wegeleben, Afchersleben, Sandersleben kämen, der grame,
freundliche Zuderrat: Das ift einfach jo wie bei und in ber
Briefe eines Zurückgekehrten 435
Altmark, wo es Die Ulvendleben gibt. Da waren einmal alte
Samilien angeſeſſen, von Belleben, Wegeleben uſw., die find aber
nun außgeftorben, wie das jo gebt, ımd die Namen find den
Drtichaften geblieben. Sie müfjen wifjen, wir haben folofjal alte
Häufer in der Provinz, — Sa, aber die Leben, meinte id),
die müflen doch troßdem wo hergelommen jein. Wie famen denn
die alten Herren zu Diejen jonderbaren Endungen? — a, wenn
man dad müßte, was die fich dabei gedacht haben. Sie waren
die Herren im Lande und konnten nennen, was fie wollten und
wie fie wollten!
Wenn ich auch in diefer Antwort nicht? von dem hiſtoriſchen
Genius Loci entdeden konnte, der in dem Geburtstal Leopold
Nantes walten mußte, jo meinte ich doch eine gewiſſe Wurzel-
gemeinſchaft zwifchen der hiſtoriſchen Auffaffung meines Gefährten
und der Rankiſchen ganz tief unten zu entdeden. Der große
Hiftorifer ift fo wenig wie diefer Keine Gaftwirt des Unſtrut⸗
ftadtchens ein Götzendiener der Logik geweſen. Er hat den Dingen
und Menſchen ihr Recht, daS Recht ihrer Zeit, ihre Orts und
ihrer freien Beftimmung gelaffen. Sein Amt als Hiftorifer war
fein NRichteramt. Die Theorie meines heutigen Gewährgmannd
über den Urfprung der leben iſt offenbar nicht feſt begründet.
Aber fie erfennt die Bedeutung der bodenbefigenden Edeln für
die Geichichte Thüringens an und zeugt infofern von hiſtoriſchem
Inſtinkt. Es war mir auch interefiant, zu hören, wie das Volk
im Tale von Memleben und des Kyffhäuferd an bie alte fächfiiche
Kaijerzeit anfnüpft. Ein Bürger von Roßleben fagte: Über das
Kyffhäuſerdenkmal mag man verſchiedner Meinung fein, daß es
nun da ift, freut ung doch. Wir find ja immer kaiſerlich gewejen.
Sie werden dad wiflen, bier zwilchen Harz und Saale. Schade,
daß e8 nur ein Denkmal ift. Wenn ihm Berlin einmal zu groß
wird, follte fi) der Kaifer in unfrer Gegend ankaufen. Warum
follte e8 ihm nicht ebenfo gut gefallen wie weiland dem Kaijer
Dtto? Mitten drin wäre er 3.3. in der Gegend von Xrtern,
fo in einem Dreied zwiſchen Berlin, Dresden und Kaſſel. Die
Eifenbahnverbindungen müßten dann jedenfalls verbeflert werden.
So etwas Angenehmes, wie den Blid über die Goldne Aue, Tann
ihm weder Sansſouci noch Babelöberg bieten. — Ih fragte:
Barum bat man denn nicht lieber gleich die Kyffhäuferruine mit
ihrem ftolzen Würfelturm zu einem Kaiferichlößchen wieder auf-
gebaut? Der Lolallundige winkte aber entichieden ab: Da ift
doc Frankenhauſen zu nahe. Es ift Doch eine häßliche Erinnerung
28*
436 Briefe eines Zurückgekehrten
an diefe Mordichladht, wo die armen unfchuldigen Bauern Die
Irrlehre Thomad Münzerd tauſendweis büßen mußten. Un-
glüdlicherweije fieht diefe ganze Sandfteinlandicaft ohnehin ſchon
blutrot aud. — Aber Sondershauſen? Da ift ja doch ein
prächtiges Schloß! — Da kam id) erit recht übel an: Die Sonders⸗
häufer find froh, daß fie ihren Zürften nicht mit Arnſtadt teilen
müſſen; nein, die behalten, was fie haben. Wer weiß, ob es
dem Kaifer dort auf die Dauer gefiele? Sondershaufen ift jehr
Still, zu ſtill für fo einen weltgereiften Herm. —
Der Kyffhäuſergipfel fteht vor uns, feitdem wir die Talenge
von Nebra verlafjen haben. Er gehört zu dem Ditende eines
großen über Südweſt nach Norden herumziehenden Bergbogens.
Daher der freie Blid nach Norden hinaus in die Fruchtebene
der Golden Aue, die langſam zu einem ber Wälle mit faft
horizontaler Begrenzung anjteigt, über die der Broden kühn
hervorragt. Im Süden erheben fidh hinter dem ganz nahen
Südzug des Kyffhäufergebirged, der dad Tal verbedt, zuerit Die
einföürmig welligen Züge der Hainleite und Schmüde, und da⸗
Hinter die faum viel formenreichere Linie des Thüringer Waldes.
Die Hainleite ift Hier eine einzige ſchön rundliche Flachwölbung,
dem Vogelsberg nicht unähnlih. Wie der Broden auß Dem
Harzgewölbe, fteigt eine leichte Erhebung aus diefer Anfchwellung.
Der Kuyffhäufer tjt eins der waldreichſten Gebirge Deutſchlands.
und zwar ift er bewaldet mit Buchen und Eichen von unten bis
oben. Selten fiehbt man ftolzgere Exemplare. Nur die paar
Lichtungen, wo Wirtshäuſer und Jagdhäufer ftehn, find waldfrei,
und einige Steinbrühe, wo man den ſchönen roten Bauſtein
gewinnt. Die Wege find Parkwege. Auch die breite Landſtraße
von Frankenhauſen nah Roßla ift auf große Streden mit
lebendigen Heden umgeben. Erfreulicherweiſe ijt hier nicht Die
zubringliche Verſchwendung mit Wegweiſern üblich wie in andern
Teilen des Thüringer Walde. Man geht unbehelligt dahin. Der
Eindrud dieſes ununterbrochnen Waldes ift merkwürdig. Die
Größe des Einfachen, Einförmigen verbindet fi) mit den Seinen
und Barten unzäbliger Baumarten, die in Yorm und Yarbe fo
vielfach wechſelnd das Waldkleid zufammenjegen. Die jo wohl-
befannten Mulden- und Rinnenformen nehmen einen jehr weichen
Bug unter biefem lebendigen Kleide an, das ſtillfröhlich ſproßt
und wächſt und den harten Stein überquillt und überflutet.
Du erwarteft nun, daß ich vom Kyffhauſer denlmal ſpreche?
Mein Lieber, erlaſſe mir das. Es war eine banale Idee, die
Briefe eines Zurückgekehrten 437
fchöne, alterögemweihte Sage vom Wotbart, die den WWaldberg
umwebt, in einen klotzigen Steinturm zu bannen, aus dem die
fo ganz unmärchenhafte Geftalt des alten Wilhelms in ſchwerer
Bronze herausreitet. Nun, es ift gejchehn, und nachträgliche Kritik
ift zwecklos. Ich wundre mid) nur, daß Bildhauer und Baumeifter
den landſchaftlichen Effekt ihrer Kolofje nicht beobachtet haben.
Wer von Sangerhaufen her gegen den Kyffhäufer geht, fieht an
der oftmärtd gewandten Flanke eine Warze hervorwachſen, die
fi vergrößert, bis fie wie ein Kanonenrohr aus einem Schiffs⸗
turm bervorragt: das ift der aus der Turmwölbung beraus-
reitende Kaiſer! Die deutfche Dentmaljucht hat viel Geld verpufft
und viel Geſchmackloſes, ja Haßliches dafür gejchaffen. Aber fo,
wie fie bier einen fchönen Berg, eine jchöne Ruine und eine
tteffinnige Sage verballhornt bat, gelingt es ihr hoffentlich auf
deutſchem Boden nicht zum zweitenmal. Wiewohl vom Hermanns
dentmal bei Detmold auch ein Wörtlein zu jagen wäre.
5
Wer Deutſchland durchwandert hat, weiß von biefer oder
jener Stelle mit ziemlicher Beitimmtheit zu jagen: Hier fängt
Norddeutichland an, Hier Hört ſüddeutſches Wefen, ſüddeutſche
Landſchaft auf. Frankfurt und Kafjel, Bamberg und Hof, Bonn
und Köln find befannte Grenzpunkte. Nicht jo leicht iſt der
Gegenſatz zwiſchen oft= und weſtdeutſch zu ftellen. Doch fürchte
ich feinen Widerſpruch, wenn ich Naumburg als eine der am
weiteiten oftwärts vorgeſchobnen Städte mitteldeutfcher Art nenne.
Ja, in feiner Lage an einem mäßigen rundlichen Berge, den große
Dbftbäume umftehn, mit dem Blid auf das friedlich umbufchte
Wiejental der Saale und auf die Rebenhügel der Unjtrut, ift
etwas Schwäbilcheg. Und dazu kommt an der erften Schlinge
der Saale oberhalb Naumburgs an einem mwaldigen, quellenreichen
Hag das turm= und zinnenreidhe Klofter Pforte. Verglichen mit
den roten Badjteinbauten des Tieflandes haben ſchon alle die
Sanleftädte und Dörfer reichere Farben, die dem Auge wohltun.
Die grauen Dächer ftrablen hell in dem trüben Blau des leicht-
bewöltten Sommermorgenhimmeld. Eines fehlt leider heute in
Thüringen faft ganz, was ſich Niederdeutichland bewahrt Hat,
und was in Öberdeutichland in fchnellem Abfterben begriffen ift:
das alte Grau der tief herabreichenden Strohdächer, bie tief
Ihwärzlich-blau fchimmern, wenn fie vom Regen feucht find, und
438 Briefe eines Zurückgekehrten
deren weiche, volle Formen das glänzende Grün der Moospolſter
erhellt. Die Feuerverſicherungen drüden das Strohdach ebenfo
wie manche altertümlichen Holztonftruftionen im Bauernhaus Durch
hohe Prämien aus dem Wettbewerb. Zwar wurmt es den Bauern,
aber dafiir will er nicht bejonders zahlen. Da nun au, wie
man behauptet, die früher jedem Bauer vertraute Kunft, Stroh⸗
dächer auszubeſſern, in manchen Gegenden völlig abhanden ge=
fommen ift — eine der „verlornen Künfte,” über die man Vücher
reiben könnte —, werden die Ziegeldächer immer allgemeiner.
Und hohe, fteile Dächer find es, die über thüringijch- heififchen
Fachwerkbauten anfteigen.
Es gibt in Mitteldeutichland eine Menge Bergftädte und
Dörfer von ärmlihem Innern: enge Gallen, verfallne Mauern,
alte Häufer. Sieht man aber von oben Binein, fo ift man er⸗
ftaunt, wie fauber die Dächer gehalten find. Da fieht man keine
Lücke. Und beionderd wo dad Material Dachichiefer ift, da glänzt
und die ganze Stadt entgegen. Da ſieht man denn auch die
Gaſſen und Häufer mit mildern Augen an. Wer lange im
Tiefland gelebt hat, bejonders im amerifaniichen, wo man zu den
Häufern aufſchaut wie zu Bergeshöhen, der jagt ſich vielleicht beim
Blick in eins von diejen mitteldeutichen Tälern, wo das Städtchen
zufammengedrängt ift wie eine Herde, die fich ſchützen will, daß
e8 nicht ganz ohne heilfame Yolgen für die zur Unbefcheidenheit
neigende Menfchennatur jein Tönne, gelegentlih den Schauplag
ihres Dichtend und Trachtens und Überhebens aus der Vogel
perſpektive zu betrachten und fi) zu überzeugen, wie eng und
Hein eigentlich ihre „Welt“ doch ſei.
Es wäre interefjant, zu wiffen, wie weit die hoben fteilen
Dächer zurüdgehn, und was urſprünglich an ihrer Stelle jtand.
Es ift nicht ausgefchloffen, daß ſchon auf vorhiftoriichen Pfahl⸗
bauten bochgegiebelte Hütten ftanden. Naumburg an der Saale,
Freyburg an der Unjtrut gehören noch zu den ragenden Städten,
auch einige der laufigiichen, wie Bauben, aber im allgemeinen
finkt das Niveau der Städteprofile nad Oſten bin. Dazu kommt
aber auch fichtbar ein Unterjchied, ber der neuern Zeit angehört.
„Scharfzinnige Gaſſen“ find für alte Städte wie Lübed, Hilbes-
beim, Nürnberg und viele andre von diefer geftaltenreichen, hoch⸗
ftrebenden, vielgetürmten Urt ebenſo bezeichnend wie eine gewifie
Flachheit für die jüngern. Wenn man die „mittlere Höhe“ der
Städte beftimmen wollte, würde man finden, daß fie in den lepten
Sahrhunderten immer Kleiner geworden ift. Die Heinen Reſidenz⸗
Briefe eines Zurückgekehrten 439
jtädte gehören natürlich zu den flachiten, denn in ihnen durfte
nichts das majeftätifche Überragen des Valaftes ftören, der felbft
oft nicht ſehr impojant war.
Daß aber die Verflachung nicht jo ganz neu ift, zeigt mir
der Schritt von Naumburg nad) Leipzig, der geographiſch ein
Hinabjteigen vom thüringijchen Hügelland in die fumpfige Tief-
landbucht der Pleiße, ethnographiſch ein Überichreiten alter Völker⸗
grenzen ift. Das große Leipzig bat kein Firchliches Bauwerk wie
die nahen Dome von Naumburg und Merjeburg aufzuweiſen. Im
Kampf mit Naumburg bat fi) Leipzig ald Meßſtadt behauptet,
als hiſtoriſche Stätte fteht Naumburg hoch darüber. Und mo
wäre die ardhiteltonifche Bedeutung Dresdens ohne die Bauten
prachtliebender Kurfürften, die großenteild erft im achtzehnten
Jahrhundert entitanden find?
Mit der Überſchreitung der Saale haben wir den alten
Kulturboden verlaffen und find in das germanifierte ſlawiſche
Kolonialland eingetreten. Auch der Volksſchlag ift auf den beiden
Seiten verfchieden. Ich meiß wohl, daß den Thüringern viel
flawifche Elemente beigemifcht find, und daß man ein rein
germanifches Volk erft weitlih von der Werra trifft, wo dann
allerding8 der Unterfchied zwilchen dem kräftigen, zähen Heſſen
und dem beweglichen, lebensluftigen und nachgiebigen Thüringer
zu greifen ift. Wber daß Übergewicht der breiten Wendengefichter
tritt Doch für den, der von Weiten kommt, in Mitteldeutjchland
erit jenfeitS der Saale ein. So iſt auch für den von Süden
Kommenden die mittlere und die untere Pleißen- und Elftergegend
ber Grenzſtrich, wo er fich von entſchieden öftlichen Lüften an-
geweht fühlt. Es ift in gewiſſem Sinne aud) eine Art Halbaften,
wo jchon das ſich urdeutich fühlende Leipzig liegt, denn in ber
Raſſe und im Vollscharakter beginnen mongolifche Züge ftärter
hervorzutreten. Hier beginnt die Herrichaft des Breitfchädels, der
feine höchſte oder vielmehr breiteite Entwidlung bei den Mongolen
und Rirgijen findet, fowie das Ziefland von bier an feine Unter-
brechung mehr bat bis zum Fuße des zentralafiatiihen Hoch⸗
landes; und mit ihm beginnt das breite Geſicht. Nicht auf den
Schultern des Weftdeutfchen fit die eigentliche töte carr6e, und
der oberſächſiſche Philifter, den und Ludwig Richter als deutichen
Typus gezeichnet hat, ift das Erzeugnis einer Raſſenmiſchung.
Gotha ift eine hübſche Vertreterin der thüringiichen Reſidenz⸗
ftädte. Das alte Gotha hat fi in den letzten Jahrzehnten mit
ausgedehnten, freundlichen Villenftraßen umgeben. Schon früher
440 Briefe eines Zurückgekehrten
war ed dur die Lage des Schloſſes mit feinem herrlichen
Garten inmitten der Stadt begünftigt. Dieſe enge Vergeſell⸗
ſchaftung von Park und Stadt ift recht bezeichnend fir daB
Verhältnis diefer Fürften zu ihren Bürgern. Schloß und Hütte
trennt nur ein Garten, an dem beide Inſaſſen ſich erfreuen.
Man durchwandre den alten engen ſtern von Gotha mit dem
ſchmalen Gaſſen und unſcheinbaren Häufern, und man wird beim
Hinaustreten in die grünen PBarlanlagen das Gefühl haben, daß
diefe Bürgerichaft ihren Fürften viel verdankt. Es waren eine
Bernharde und Karl Augufte, diefe alten Gothailchen Herzöge,
aber jo manches Gute Haben fie doch Hinterlafien. Manchmal
bat fich in ihnen ein freier Geiſtesfunke geregt. Sie haben ihren
Anteil an zwei Anjtalten, die das Kleine Gotha berühmt gemacht
haben, als es noch im Vergleich zu dem heutigen ein ärmliches
Neft war: an der Sternwarte und an dem Geographiſchen In=
ftitut. Das gehört auch zu den Lehren der Geſchichte der Leinen
beutichen Refidenzftäbte, daß jo mancher Keim, den dad Bürgertum
nicht mehr hegen konnte oder mochte, in den Fürften treue und
eifrige Pfleger fand. Als Nürnberg und Augsburg aufbörten, die
geographiſchen Karten für die Halbe Welt zu maden, traten
Weimar und Gotha an ihre Stelle Ein Gang durch die herzog-
liche Bibliothek zu Gotha zeigt, daB es den vielbeipöttelten
und vwohlgehaßten Duodeztyrannen zugeiten nit an Sinn für
Beſſeres als Jagd und Soldatenſpiel gefehlt Hat. Hatte Doch
jeder feine Bibliothek und feine Kunſtkammer. Wenn nidit alle
Perlen italienischer und deutſcher Kunft ihren Weg in die eng⸗
fischen Schlöffer gefunden haben, jo hat man den Liebhabereien
deutſcher Kleinfürjten dafür Dank zu willen. Eine merkwürdige
Wirkung diefer Art zeigte mir übrigens der Beſuch der Gothaiſchen
Bibliothek; dort füllt nämlich die feltne vollftändige Weihe der
dem engliichen Parlament vorgelegten Blaubücher einen großen
Raum. Gotha verdankt fie dem Prinzen Albert. In ihrer Art
gefiel mir Die Bibliothek des Perthesſchen Geographiſchen Inftituts
noch befier, denn fie ift das Wert einer Privatanftalt, die voll-
fommen auf ſich jelbft geftellt if. Es ift eine umfaflende, an
neuern, feltnen Reiſewerken und amtlichen Berichten bejonbers
reiche, trefflich geordnete und fchön aufgeftellte Bibliothel. Dazu
die Kartenfammlung, von der mir ein englifcher Fachmann ſagte:
Es gab eine Zeit, wo man fid) weder in Peteröburg noch in
London oder Paris, jondern nur im Perthesſchen Archiv zu
Gotha über die unbelannten Teile von LBentralaften und das
Briefe eines Zurückgekehrten 441
„dunkelſte Afrika” unterrichten konnte. Sch finde am rührenditen
die Geringfügigfeit der Mittel, mit denen bier Großes geleiftet
mworben if. Dad Wirken eines GStieler, Sydow, Behm, Hafien-
ftein und vieler andrer ift ein lebendiger Proteft gegen Die
Ianbläufige Meinung, man könnte das Beite und Größte in der
Welt nur mit viel Geld fchaffen. Die ideale Genügjamfeit und
das Genügen am deal bat die Blüte der Kartographie in dem
Heinen Gotha allein möglich gemadt. Es ift dabei ganz
harakteriftiich deutich-Heinftaatlih, daß Hoff und Stieler, die
Säulen der wifjenfchaftlichen Arbeit des Gothas der zwanziger
Sabre, herzoglidde und StaatSbeamte waren, die jo Bedeutendes
in ihren Mußeftunden ſchufen.
Eiſenach liegt am Rande Thüringens, aber gerade darum
hat e8 von allen thüringilchen Städten am meiſten gemeinbeutjche
Bedeutung, die freili von der literariichen Blüte Weimars
überragt wird. Sängerkrieg, Quther, Bernhard, Goethe, Wart-
burgfeft, Scheffel, Reuter, in unjrer Zeit der Kongreſſe die
Vorliebe, womit Eiſenach als Verfammlungsftadt gewählt wird,
zeigen, wie ber Begriff mitteldeutiche Lage bier praftiih und
lebendig wird. Eiſenach felbit muß als Städtchen einen tiefen,
ſchweren Eindrud gemadjt haben, jolange nicht die Bierlichleit und
das Behagen der Villenquartiere aufgeblüht war. Der überall
bervortretende rotbraune Fels des Motliegenden und Die Vorliebe
für da8 Bauen mit rotem Sandftein machen Eiſenach den heifiichen
Städten verwandt. Nur die Werra trennt gerade hier Thüringen
und Heſſen. Auf demjelben Notliegenden führt der Weg zur
Wartburg, die auf einem dem Wald entragenden Yeld aus dem⸗
jelben rotbraunen Stein gebaut if. Auch die Wartburg, jo groß
ihr Ruhm ift, ift thüringifch eng und einfach. Ihre einzelnen
Bauten find nicht nad) einem Plan entworfen, der Stil ift der
der romanischen Profanbauten, ernſt und zierlich, ſchwer und
leicht zugleih. Won unten heraufmandelnd glaubt man einer
Kirche zu nahen, bis der fogenannte Kleine Turm hervortritt. Das
alte Eiſenach Liegt recht waldverloren da unten.
Die Eifenaher Landichaft gehört nur einem Ausläufer des
Thüringer Waldes an, fie hat feine fo hohen Berge, aber mehr
intime Reize als Friedrichsroda oder Ilmenau. Von der Wart⸗
burg aus führen unzählige Kamm⸗ und Abhangwege durch Fichten
und Buchen hin. Das Annatal iſt eine „Klamm“ mit allen
Requiſiten, aber in Miniatur: ſchroffe Felſen, moosbedeckt, Waſſer,
das bald neben, bald unter uns murmelt, junge Ahorne aus den
442 Briefe eines Zurückgekehrten
Spalten, darüber hoher, lichter Buchenwald. In der von Moos
jammetgrünen Landgrafenſchlucht zwängt man ſich zwiſchen Felſen
durch und tritt zuletzt auf ein natürliches Rund, das von einer
hohen, ſchlanken Buche beſchattet wird. Ein ganz andrer Weg
iſt die geradlinige Schneiſe von der Wartburg zur Hohen Sonne,
die ein herrliches, waldumrahmtes Bild der Burg gewährt.
Welcher Gegenſatz zu dem Blick von der Wartburg die weite
Ausſicht von der Feſte Koburg. Dieſe fränkiſchen Gaue wie
heiter, wie reich an Städten und Dörfern, und auf den Bergen
welche Fülle von Sclöffern, Klöftern und Kirchen. Was macht
allein da8 reiche Banz für einen Eindrud. Wahrlich, das Koburger
Bier und der gleich vorzügliche Koburger Schinken find feine
Bnfälligleiten, fie fombolifieren dem denkenden Genießer das
Frankentum Koburgs. Der Wald, der auf ber andern Seite alles
beberricht, kommt hier nur noch parzellenweije vor. Die thũringiſchen
Landichaften haben alle etwas Ingendliches in ihrer Waldumgrenzt⸗
beit; bier dagegen flutet die alte Geſchichte des Maingaus zu
unfern Füßen heran, die ſchon rodete und baute, ald jenjeits des
Rennfteigs noch das Brüllen des Urftierd den tiefen Wald belebte.
Bei der Teilung zwijchen den Nefidenzen Gotha und Koburg
hat Gotha den Löwenanteil davongetragen, es ift Doch Die eigent-
liche Hauptftabt des Doppelherzogtums. Aber Koburg ift wicht
ganz leer ausgegangen. Das berzogliche Theater |pielt zwar Dort
etwas weniger, was beſonders jchmerzlich empfunden wird; aber
unter anberm beherbergt Koburg auf feiner Feſte einen Schatz
von Kupferftichen und andern Werten der künftleriichen Verviel⸗
fältigung aus dem vorkodalifchen Zeitalter, der zu dem veichiten
feiner Art gehört. Weniger Wert wird man heute wohl auf die
dort inftallierte Ruhmeshalle des vielgewandten und »geivanderten
Ernit des Zweiten legen. ch ziehe den Trophäen von Eckern⸗
fürde und Ubelfinien den Blid in die fränlifchen Gaue vor, der
mir die echtere gefchichtliche Lehre erteilt, dab der Burgenbau
eine Beriode in unſerm Lande der einſamen Walbgebirge darftellt:
er bat die Arbeit der Menjchen, die vorher nur den Fuß der
Gebirge umbrandete, auf die Gipfel geführt und jo mande von
ihnen dauernd umgejtaltet und bewohnbar gemadit.
Ih möchte noch an eine andre thüringiiche Reſidenz ſtadt
erinnern. Von Altenburg ift in der Welt viel weniger geredet
worden und ift noch heute weniger die Rede ald von Weimar,
Eiſenach und Gotha. Der Fremde fchaut ſich an dem feiten
Schloß, das noch heute Nefidenz ift, daS hohe Zenfter an, aus
Briefe eines Furückgekehrten 443
dem Kunz von Kauffungen mit unglaublicher Kühnheit die beiden
ſächſiſchen Prinzen herausholte; er beadjtet Die baumreichen,
freundlichen Straßen des neuen und die engen mit Kleinen Häufern
umftandnen des alten Altenburg und entfernt ji in dem Be⸗
wußtfein, feine Kenntnis von den wichtigen Dingen biefer Welt
nicht wejentlich gefördert zu haben. Wer finden will, findet aber
auch in Altenburg, 3. B. im Kunſtmuſeum, eine ſchöne Sammlung
alter Sienejen und Ylorentiner, darunter eine Perle, ein Frauen⸗
bildnis von Botticelli; dann eine Sammlung von neuern beutjchen
Bildern, die einmal für fich erfreulich und dann weiter auch
dadurch intereflant it, daß über ihre Vermehrung ein Ausſchuß
funftliebender Bürger befchließt, dem ber Rektor des Gymnafiums,
angejehene Ärzte u. dergl. angehören. Ein Geſchichtſchreiber der
Bufunft wird alfo darin ein document humain erften Ranges
für den durchſchnittlichen Kunſtgeſchmack mittlerer Schichten unſers
Beitalters finden. Das ijt ein Vorzug Diefer Sammlung vor großen,
den Runftlaımen berühmter Direktoren unterworfnen Muſeen.
Es iſt erfreulich, zu ſehen, daß das Skatſpiel, daß die
berühmtefte Erfindung Altenburgs ift, den Geihmad für Höheres
nicht ganz ertötet hat. Ein deutſch⸗amerilaniſcher Belannter, der
als Arzt in einem fetten Qandort wirkt, wo noch bie jeltiame
altenburger Bauerntradht getragen und die Hochzeit drei Tage
lang gefeiert wird, erzählte nur Schönes von dem geiftigen Qeben
der nahen „KHauptftadt,“ aber auch von der Abneigung der in
der Mehrheit bäuerlichen Vollvertretung, Geldopfer aus dem
Stantsjädel für Bildungszwede zu bringen. Wer Studien über
den Konſervativismus einer bäuerlichen Bevölferung machen will,
muß nad Altenburg gehn. Da ift nicht von der nur zu ges
wedten Art der armen und unzufriednen Wrbeiterbevölferung des
„Waldes.“ Sch bin überzeugt, wenn e8 auf die altenburgiiche
Bevölferung anlüme, wäre weder die Buchdruderfunft noch Die
Dampfmafchine erfunden worden, von der Elektrizität gar nicht
zu reden. Jedenfalls Hätte aber durch ihre Arbeit der Zeil der
Weltgeihichte, der von dunkeln Aderbodenichollen, von ſchwer
aufitampfenden Rofjen, von gefüllten Scheunen, von ſaurer
Sämannsarbeit, von Erntelränzen und vom froben Tanz um die
Dorflinde Handelt, genau die Geftalt angenommen, bie er beute
dat, wenn auch nicht andre mitgewirkt hätten. Und ich zweifle
feinen Yugenblid, wäre die Welt nicht fo alt, daß alles erfunden
ift, was Menfchen überhaupt erfinden können, fo würbe Altenburg
nicht bloß den Stat, jondern auch den Pflug erfunden haben.
444 Briefe eines Surüdgefehrten
Es grünt und blüht ein reiches Leben an der Saale, Sm
und Unftrut, aber für die großen Geſchicke Deutichlands ift jahr-
hundertelang all dieſes Grünen und Blühen laum in Betracht
geflommen. Daher der Eindrud des Zweckloſen, des ziellos Ver⸗
laufenden der Geichichte dieſer Landfchaften. Wenn es ein
land gegeben hätte, das auch der letzten Kleinftadt das Gefühl
hätte ermweden können, daß fie zu einem großen Ganzen gehöre,
wäre die Frage berechtigt: Was hat ein Kahla, ein Saalfelb zu
Deutihlands Wohle beigetragen? Ich kann mich des Eindrucks
nicht erwehren, daß dieſes Zweckloſe einer mühleligen Kleingeſchichte
oft ſchon im Außern mander von diefen Städtchen zum Vorſchein
kommt. Ich flieg den Südabhang des Thüringer Waldes hinab
und war enttäufcht über die Unfcheinbarkeit der äußern Merk:
male der Geicdhichte eines jo namhaften Ortes wie Schmallalden.
Iſt das derjelbe Ort, der in der deutſchen Geſchichte eine wichtige
Rolle in dem enticheidendften Wugenblide geipielt hat? Man hat
e8 nicht vergeſſen. Das Lutherhaus, heute eine Buchhandlung,
das Melanchthonhaus, heute die Nofenapothefe, Haben ihre Ge⸗
denttafeln, die allerdings etwas Armlih und einfilbig find. In
der Hauptlirche, deren verfallner BZuftand dem chriſtlichen Stun
der Schmalfaldner keine Ehre macht, ift ein ſchlechtes Bild Luthers
und ein Lutherftübchen, wo der Reformator gearbeitet hat; es
ift bezeichnenberweile eine echte Gelehrtenzelle.. Das Rathaus ift
unanfehnlich, das Pfarrhaus war einft ein hübſcher Fachwerkbau,
der aber jebt vernachläſſigt ift. Die übrigen Häufer der jegt
7000 Einwohner zählenden Stadt find meiſt chlecht gehalten,
die Gaffen eng und ſchmutzig, und erft wenig Neubauten zeigen
an, daß fi die Stadt aus ihrer engen Zufammendrängung
hinaus bergaufwärt3 außbreiten will.
An ähnlichen und Heinern Städten Thüringens und Sachſens
fand ich oft noch am anziehenditen die enge Verbindung mit dem
Lande, die jedenfall ein fozialer Charakterzug von Bedeutung
it. Man weiß oft nicht, ob das ftäbtilche oder das ländliche
Weſen überwiegt. Im achtzehnten Jahrhundert war das noch mehr
der Fall, und um die Umwelt der weimarilchen Heroen zu ver⸗
ftehn, muß man den Straßen Ilm⸗Athens Kühe und Schweine
zur Staffage geben. An das oberfränliiche Fichtelgebirgsftäbtdhen
Wunſiedel ſchließen fih ganze Straßen von ameinander gebauten
Scheunen an, für die da8 zufammengedrängte Stäbtchen keinen Raum
bat. Bielleiht Hat auch die Küdficht auf die Feuerſicherheit eine
ſolche merkwürdige Wbfonderung ländlicher Bauwerle veranlaßt.
Briefe eines Aurüdgefehrten 445
Wie man fieht, empfiehlt es ſich nicht, immer nur Weimar
zu nennen, wenn man an die Bedeutung der Heinen Reſidenz⸗
jtädte für die Entwicklung des deutſchen Volles erinnern will.
Man bat zuviel von Weimar und ſeinesgleichen geſprochen und
darüber die hundert andern vergeflen, in denen, ungewärmt und
unbeleuchtet von der Sonne des Genie, daß deutiche Bürgertum
verfümmert if. Es ift wohl wahr, daß fidh in den deutlichen
Mittel- und Kleinftädten durch alle Stürme ein gefunder Mittel-
ftand erhalten bat, aber diefer Mittelftand mußte fi) mit der
harten Schale des Philiftertumd umgeben, gewifjermaßen ver-
fteinern, um unter fümmerlichen Bedingungen fortleben zu können.
Wunderbar ift, was in einigen von dieſen Städten geiftig ge-
ſchaffen worden ift, aber für jede große Schöpfung wurde immer
gleich der Rahmen zu Hein. Den großen Eichen des beutichen
Walded wurde hier nicht die tiefe Erde geboten, die fie brauchten,
um fi) ganz tief einzumwurzeln. Herrliches ift erflungen, aber
der Schallraum fehlte. Daher die merkwürdige Ericheinung, daß
bon manchem, was aus Kleinen deutichen Städten ausgegangen
it, die Welt mehr Borteil hatte als alle Mitbürger zujammen-
genommen. Sobald es den engen Raum überjchritten hatte, wo
e3 fi) unter der Sonne der Fürftengunft treibhausartig ent-
widelt hatte, ſchwang es fi) in Höhen, biß zu denen die Auf-
faflung des zeitgenöffiichen Pfahlbürgertums nicht reichte. Darum
neben dem großen Stüd Weltgeichichte, die dad Dajein Goethes
ausfüllt, dad Satyripiel: „Goethe im Urteil feiner Stadt- und
Landesgenofjen.“
In einer deutſchen Kulturgeichichte, die einft geichrieben
werden muß, darf das Kapitel nicht ftiefmütterlich behandelt
werden, worin die Wirkung des Mangels eines großen ftäbtijchen
Mittelpunkts in dem Deutichland des achtzehnten Jahrhunderts
unterjuht wird. Man konnte an Einfluß auf Gejamtdeutichland
weder Berlin noch Wien mit Amfterdam und mit Kopenhagen
vergleichen. Was wäre auch heute Dänemark ohne Kopenhagen,
da8 18 Prozent der Bevölkerung von Dänemark in fidh vereinigt,
während Berlin nur 5 Prozent der Bevölferung von Preußen,
3 der Bevölkerung von Deutſchland hat? Was Wien und Berlin
Damals geleiftet Haben, wenn es auch noch wenig ift, zeigt doc),
was möglid war. Das gilt noch mehr von den Leiftungen
Hamburgs, Frankfurt? und Leipzig. Aber wie wenig boten
alle dieje Städte Damals den aufitrebenden Geiftern, wie wenig
bedeuteten fie ald Schule des Lebens! Nur Leifmg hat in den
446 Briefe eines Zurückgekehrten
großen Städten des damaligen Deutichlands gelebt, und nur jein
Wirken ift ohne fie nicht zu denken. Aber man erinnere fidh,
um von Weimar zu fchweigen, an Sean Pauls Leben, das im
Klein- und Landftädtchen verflofien, nein verfidert if. Jean
Paul gerade bat e8 gewußt und ausgeſprochen, daB das Genie
für feinen Verkehr nicht das Neb der Landftraßen braudit, die
auf die großen Treffpläge der Menfchen und Böller zufammen=
laufen. Wohl ftand Sean Paul mit der ganzen Welt in Ver—
bindung, aber wieviel von feiner Wirkſamkeit ging in kleinſtädtiſchen
Reibungen verloren. Carlyle hat ald Jünger Jean Pauls öfter
räftig auf die Großftädte losgezogen, aber er bat fein Experiment
mit dem Landleben bald aufgegeben und von London den Gebrauch
gemacht, den er für feine Zwecke nötig hatte.
Die deutiche Sprache hat der Welt das Wort Bhilifter und
die deutſche Literatur der Weltliteratur den Kampf gegen daS
Bhiliftertum gegeben. Die franzöfiihen Romantiker und Ipäter
Carlyle haben e8 mehr oder minder finngemäß ihren Spradhen
einverleibt. Ein Glüd für uns, daß fie in Frankreich und Eng-
land auch Philifter entdedten, ſonſt hätte man glauben können,
Deutichland allein jei damit gejegnet! ch weiß nicht, ob Byron
das Wort gebraucht hat, aber fein Kampf gegen cant, engberzige
Heuchelei, ift auch ein Kampf, und ein titanifcher, gegen ein
Philiftertum, das noch fchlimmer ald das von Goethe oder Tier
befämpfte war und ift. Man jollte einmal die Definitionen bes
Philifters zufammenftellen, das würde ein intereffantes Kapitel
der praftifchen Völkerpſychologie werden. Und die Darftellung
der Beziehungen zwiſchen Philifter, Snob und Bourgeois würbe
darin einer der feflelndften Abſchnitte fein. Goethe Hat uns
mehrere hinterlaſſen außer der befannteften:
Mas tft ein Philifter?
Ein bohler Darm,
Mi und Hoffnung ausgefüllt,
Daß Gott erbarm!
In das kürzefte Wort gefaßt, wäre wohl das Weſen des
merkwürdigen Geichöpfes „eng“ zu nennen: engherzig, enggeiftig,
engfelig, daher kurzſichtig, daher geneigt, an jedes Ding und an
jeden Menfchen, jede Handlung einen Fleinern Maßſtab anzulegen
als nötig ift, daher auch ohne Wagemut und innere Heiterleit.
Man begreift ganz gut, daß das Philiftertum in dem engen
Horizont einer Kleinftadt eine ganze Bevollerung ergriffen und
Briefe eines Zurückgekehrten 447
anftedend fich über ganze Völker verbreitet hat. Und was Heine
Nefidenzen anbelangt, jo kam da nicht bloß der Mangel eines
weiten freien Tätigleitsfeldes in einem großen Horizont ins
Spiel, jondern die falſchen Götzen des Hofes, die falſchen Ideale
eines äußerlich und innerlich unfreien Lebens. Wo mar es doch,
wo für die vom Hof Ubhängenden ganze Häuferreihen ohne Küche
gebaut wurden, weil ihre Inwohner famt allen Zamilienangehörigen
aus der Hoffüche geipeift wurden? Gerade fo lieferte das Hof-
theater die Kunjtgenüfle Daß nun in ſolchen Verhältniſſen nur
in der Kunſt die Befreiung aus „Philifternegen“ lag, beſonders
im Theater, wo ein höheres Leben gemeint wurde, und daß Die
aufgeflärten und Tunftfinnigen Kleinfürften von der Art Karl
Augufts, Ludwigd des Erften von Bayern ald Kumftförberer
wahrhaft prometheiich wirken konnten und mußten, braucht nicht
außeinandergejeßt zu werden.
So mie wir die deutiche Kleinſtadt in Amerika nicht haben,
kennen wir auch nicht das Philiftertum, das wie in Gewächs⸗
häufern in ihr großgezogen worden ift. ber Bhilifter haben
wir troßdem genug. Das Übel der Seelenverengerung ergreift
bei und die Geld- und die Geſchäftsleute. Der Stolz auf die
geradlinige Defzendenz von irgendeinem mit den früheiten Ein-
wandrerzügen des fiebzehnten Jahrhunderts gelommmen Subjekt,
gleichviel welchen Wertes, Standes und Charakters, wird lächers
liher zur Schau getragen als der Stolz des deutſchen Klein- und
Beamtenadeld. Der Bildungspbilifter ift eine ungeheuer verbreitete
Spezies in Amerika. Aber das ſchwerſte Philifterjoch legt ung die
Vorftellimg vom Gentleman auf, ein faljches Lebensidenl, die
Naturen verflacdhend, verfümmernd, eine traurige Erbſchaft der
alternden Kultur Altenglands. Doch davon wäre ein Buch zu
fchreiben, und ich babe heute noch einige Beobachtungen mitzu-
teilen.
Dem deutihen Bürgertum ift die friiche Luft des weiten
Neiches in erfter Linie zugute gelommen. Es war am weiteſten
Dinuntergedrüdt und ift am rafcheften geftiegen. Aber mir fcheint,
Daß ed nicht minder ein Segen bes neuen Reiches war, daß es
Deutihland feine hohe Ariftolratie zurüdgegeben bat, die ihre
natürliche Wufgabe, die foziale Spite der deutfchen Geſellſchaft
zu fein, über einer politifchen vergaß, für die ihre Staaten viel
zu Hein waren. Hoffentlich) kommen die Zeiten nie wieder, mo
der Aufwand für ein Miniaturheer und eine lächerliche Diplomatie
dieſe Länder bebrüdt. Wie viel befier ift e8 für alle, wenn die
448 Briefe eines Surüdgelehrten
Neichsfürften in der Armee und der Diplomatie des Reiches ihre
Männer ftellen. Es wäre jchon früher manches beffer geweſen,
wenn wir mehr Bernharde von Weimar, Leopolde von
Ludwige vou Bayern gehabt hätten. Das Beilpiel der Hohenlohe
und der Hohenzollern muß unter „Regierenden“ nod) viel mehr
Nachahmung finden! Wieviel Heldenkraft ift auf beutjchen Hürften-
chlöffern verdumpft und vermodert. Irgendwo in Deutichlaud
regiert ein Herr mit den Einkünften eines mittlern Bankiers
der Not hat, feine paar Schlöffer zu erhalten, und jeinen Hof-
ftaat längft aufgelöft hätte, wenn nicht der Heine Adel des Landes
bereit wäre, für weniges mehr als nichts die Erbämter zu be-
Heiden. Er behält jo wenig übrig, daß er nicht einmal feinen
Herzenswunſch erfüllen fann, den Kaiſer in feine Sagdrebiere
einzuladen, die ihresgleichen ſuchen. Was Wunder, daß der früh
der preußilchen Armee entzogne Fürſt Buddha zu feinem Lieb⸗
lingsheiligen erkürt und erft auftaut, wenn man ihm von Dem
indiihen Königsſohne ſpricht, der Bettler wurbe.
Das Reich Hat zunächſt die Mleinfürften wieder mehr auf
ihre Völker oder Völkchen zurüdgebrängt, mit denen fie ſich zu
vertragen haben. Die Landtage ſtützen ſich mit feltner Einmütig-
feit auf Preußen, aus deſſen Ichneidiger Bureaufratie die beften
Verwalter hervorgegangen find, die das Intereſſe des Landes
auch unter abjolutiftiichen Formen ganz anders vertreten als Die
gefügigen Höflinge, die jonjt die erjten Stellen als Erbſtellen
zu befleiden pflegten. „Preußen hat ein Auge auf und,“ „Preußen
forgt dafür, daß man und nicht wie früher auspreßt.“ In
Domänen- und Beräußerungsfragen bat fi) Breußen in der
Hegel für dad Land tätig gezeigt. „Wir werben doch eines
Tage an Preußen fallen, daß weiß man dort jo gut wie bier,
und Preußen will und aud nicht ausgeſogen wiſſen.“ Diefen
Sap babe ich nicht felten gehört. Ja wenn mich meine füb-
deutfchen Erfahrungen nicht trügen, gibt es fogar zwiſchen ben
Bogejen und dem Böhmerwald Leute, die pietätlod genug find,
zu jagen: Wir find in der glüdlichen Lage. durch Preußen gegen
Billfürlichkeiten unfrer Dynaften und innern Bolititer gejichert
zu fein, wenn fie noch fo partifularijtifch fühlen, mit einem Auge
ſchielen fie doch vor jeder „Tat“ nad) Berlin.
Um nad Thüringen zurüdzufehren: die Stellung der Heinen
Fürſten zu ihrem Volt hat gerade hier unter dem Reiche nichts
verloren. Es ift eine gute Ehe, nicht ohne die Trübungen, die
dazu gehören, im allgemeinen voll Vertrauen und Singebung
Briefe eines Zurückgekehrten 449
von feiten der bürgerlichen und der bäuerlichen Teile des Volkes
und fehr oft auch von feiten der Fürften. Ich bewundre Diele
mehr als jenes, wie fie unter andern, jchwierigern Verhältniffen
die alten patriarchaliihen Beziehungen aufrecht erhalten. Die
Exiſtenz eined Herzog von Anhalt Hat gewiß viel Schönes, aber
um einen Sommerfonntag in feinem herrlichen Bart zu Wörlig
beneide ich ihn nicht. Als der Urgroßvater die Urgroßmutter
nahm und ihr dieſen Park zum Ungebinde gab, da bejuchten
ihn fchüchtern gute Bürgersfamilien aus Deſſau oder Wittenberg,
die fih den Luxus eined Haudererd gönnen durften, und wenn
Serenijfimus ihnen begegnete, ſanken fie in die Erde; er erfannte
fie aber und zeichnete fie durch huldvolle Anſprache aus. Seht
ergießen Eiſenbahn, Dampfboot — von Coswig aus — und
Lohnkutſcher, dad Fahrrad, dieſes nivellierende Inftrument nicht
zu vergeſſen, allfonntäglid und fogar allmittwochlich Taufende
von Menſchen in dieſes friedliche Gelände. Wenige von ihnen
haben das Bewußtfein, daß fie bier beim Herzog von Anhalt
zu Gaft find. Die Mehrzahl fchreit, johlt und benimmt fich nicht
wie zubaufe, nein wie in irgendeinem öffentlichen Lokal dritten
Nanged. Dabei Hält ed der Herzog für feine Pflicht, wie fein
Vater und fein Großvater, fi) gerade Sonntags dem Volk zu
zeigen, und ſogar fein liebes Töchterlein Futichiert fein Pony:
geipann durch die Wagenburg der Sonntagsgäfte. Früher hörte
der Larm mit Sonnenuntergang auf. Seht ſorgt die mit herzog⸗
liher Genehmigung duch die ftillen Gründe von Jonitz und
VOranienbaum gebaute Lolalbahn dafür, daß fih der Bodenſatz
des Sonntagspublikums erft nad) zehn Uhr empfiehlt. Ans ber
weltabgefchiednen Idylle ift ein Worftadtvergnügungsort ges
worden. Kann man als Landesvater feinem Volle mehr ent-
gegenfommen?
6
Nach der Feier des Unabhängigfeitstages, der Nordameri⸗
Taner aus den verjchiedenften Städten Deutſchlands um den Bot-
Ihafter und einige Konſuln der Vereinigten Staaten verfammelt
Hatte, ftand die feftlich geftimmte Gejellichaft in Gruppen bei-
fammen, die lebhafte, heitere Geipräche mit auffallender Mäßigung,
faft gedämpft pflogen. Leiſes Sprechen und unjcheinbared Be
wegen, das jede Auffälligleit faft zu abſichtlich vermeidet, wird
von Jahr zu Jahr mehr der gute Ton in der amerikaniſchen
Geſellſchaft. Iſt das ein „frauenhafter“ Zug? Oder entfpringt
Nayel, Städsinfeln und Träume
450 Briefe eines Zurüdgefehrten
es dem Streben nach Ichärferer Betonung der Grenze ee Das
aufdringliche Naturburfchentum der nächftuntern Schicht? Jeben⸗
falls bin ich überzeugt, daß Die freundſchaftlichen und ——
Exploſionen in einer übrigens echt amerikaniſchen Gruppe,
nach aufgehobner Tafel „um die Bar Bing,“ bei Eorreften Seren
den Verdacht erwedte, daß in diefen Landsleuten aus Newyork
und Pennſylvanien etwas deutſches oder gar franzöſiſches Blut
fliegen müſſe. Wer nicht noch einen Händedrud des unermüb-
lihen, an Geift und heitrer Liebenswürbigfeit wnerichäpflichen
Mr. Andrew White zu erhaſchen ftrebte, trennte fi nun mit
einem lebten liebevollen Bid! auf den Saal, dem die Fülle des
Grün .und der Blumen einen ganz beſondern heimatlichen Wei
verlieh. Nicht die Sternenbanner, Büften und Infchriften machten,
daß eine amertlanifche Luft durch den Raum wehte, der den
banalen Charakter eine Gafthausipeife- und Geſellſchaftsſaals
unter den Händen amerikaniſcher Damen und einiger junger
Künftler vollftändig verloren hatte Es war völlig ein Stüd
amerilanijcher Boden. Es kam mir vor, ald röche es nach
Balfam- und Schierlingstannen. Nur einem Volle von ftarlem
nationalem Empfinden gelingt es, mit feiner Berfönlichleit einen
fremden Ort irgendiwo in der Welt jo deutlich und erfennbar
zu durchdringen.
Karl Peters erzählte mir einmal von einem Kommers, ben
ibm jchottiiche Afrikafreunde in Edinburgh veranftaltet 55—
wobei Teetaſſen und Kalaobecher mit Bier und Scotch W
zujammenklangen und manche Säfte auch völlig „troden“ faßen.
Unfer Tiſch erinnerte mic) daran mit feinen Midhgläfern und
den Heinen Släfchchen graustrüben altoholfreien Ingwerbierd. Es
fehlte ihm das Licht und die Blut edler Weine Sch merfte
wieder einmal, daß die Temperenzbewegung aud) ihre Aftbetifche
Seite hat. Für und, in deren AJugenderinnerungen die Reben
hineinranfen, deren erfte Lateinftudien das Verslein einprägte:
Aqua das Waſſer, Vinum der ein, Spira die Brezel, die tunkt
man hinein, die die Weinlefe als das fröhlichſte Feſt des Jahres,
des ehrlichiten und berzlichften der Erntes und Danffefte feiern
fahen und mitfeierten, deren Erinnerungen an Yreundichaft und
Liebe der Duft edeln Weines umweht, ift zum Glück die Allobol-
frage feine reine Genuß⸗, Geſundheits⸗ und Nervenfrage. Niemals
fommen mir die Anglofelten utilitariich=platter vor, als wenn
fie den Wein- und Biergenuß mit aller feiner Poeſie kurzweg
in dieſelbe Grube wie ihre tieriiche Whißfeynöllerei werfen. Man
Briefe eines Surüdgefehrien 451
muß ftumpf fein gegen das Schöne und Gute diefer Erbe, wenn
man das alte Gold des Rheinweins oder ben grünlicdhen Bern-
ftein des Moſels nur deshalb nicht mehr leuchten ſehen will,
weil darin ein paar Tropfen von demfelben Alkohol find, der
in Eonzentrierten Dojen den Menſchen vertiert. Ich fchmärme
nicht für unſre Weinpoeten, aber wie kann man die Poeſie des
Weines wegwerfen? Das ift nur möglich, wo der Sinn für die
Schönheit des Lebens überhaupt krankhaft verfümmert ift. Kein
fremdartigeres Gewächs auf beutjchem Boden als die fogenannte
Abftinenzbewegung. Yür Mäßigkeit find wir entichieden und
halten die Unmäßigleit für einen der Exbfehler der Deutichen,
denen man, wie dem Neid und der Nörgelei, bei jeber Gelegenheit
‚entgegentreten muß. ber wir proteftieren ebenjo entſchieden
gegen die Intoleranz der fanatiihen „Waflerfimpel,“ und zwar
hierzulande noch viel bereitwilliger al3 drüben. Dort hatten wir
freilich das unangenehme Gefühl, daß mit uns zugleich Diefe
„Plante* aus der demokratiſchen Plattform ein paar taufend
derbe Fäufte von Brauern und Schenfwirten emporhielten, die
ein Intereſſe von ganz andrer Natur daran hatten.
Ich kann nie den Eindrud vergeflen, daß es eben doch der
Kampf gegen die Wein- und VBiergegner war, der fefter als
alle8 andre die Deutſchen aller Länder und Gefinnungen zu-
fammenhielt. Da war plötzlich die politiiche Disziplin da, die
man bei andern wichtigften Gelegenheiten vergeblich ſuchte. Ja
dieje vielbeiprochne deutſche Disziplin! Sie wirkt Wunder, wenn
wir kommandiert werden oder nad freier Übereinkunft unfre
ganze Perfon in den Dienft einer Aufgabe ftellen, die wir ernft
nehmen. Wie ſchmerzlich vermißt man fie oft im geſellſchaft⸗
lichen Leben. Wohl laufen wir damit auch nicht Gefahr, lächerlich)
ober läppijch zu werden, weil wir Spiel für Ernft nehmen, oder
aus der Schale der SKonvenienzen nicht mehr herauszukönnen
und und unfrei durchs Leben zu plagen. Aber wir bereiten ung
felbft und andern unnötige Schwierigleiten, weil wir kleinen
Forderungen der Sitte nicht oder ungern und dann natürlich
ohne Grazie folgen. Ich ſetze meine Hoffnung, daß es auch in
dieſer Beziehung beſſer werden wird, nicht fo ſehr auf die Aus⸗
breitung jenes Sitten- und Ehrenloder des modernen Nittertums,
das das ganze deutiche Offizierkorps umfaßt, in die bürgerlichen
Schichten, als auf die mit der Pflege der „Weltpolitit* wachſende
Einfiht, daß zum Unfehen eines Voll in der Welt auch die
Erfüllung der höchften gejellichaftlichen Forderungen durch jeden
29*
452 Briefe eines Zurückgekehrten
gehört, den Bildung oder Beſitz berechtigen, eine hervorragende
Stelle in Anſpruch zu nehmen.
Dresden iſt eine Stadt zum Schlendern. Der Strom, die
große Brüde, die weiche Luft, die blauen Hügel, die intereffanten
Bauwerke laden zur Betrachtung ein. Ich vergleiche dieſe Eigen-
ſchaft Dresdens mit Ylorenz, Brüflel, Münden. Wer aud dem
geihäftigen, nüchternen Leipzig kommt, das fidh, ſeitdem es fidh
mit einem Kranz von Yabrildörfern umichlungen hat, niemals,
auch an höchften Feſttagen nicht ſeines Alltagsgewandes entledigen
kann, findet in Dresden die Feſttagsſtimmung einer von zahlloſen
müßigen Menſchen bewohnten und zu allen Jahreszeiten von Ber:
gnügungsreilenden befuchten Refidenzftadt. Die Menjchen gehn gut
gelleidet, ſogar gepußt auf den Straßen, ihr Schritt ift langfam,
fie „laffen fich Zeit,“ glänzend ausgeftattete Gewölbe äffnen ſich
auf die Straßen, Kaffeehäufer find von lefenden und fpielenden
Gäften befucht, und ftille Alleen öffnen ſich zu beiden Seiten ber
Verkehrsſtraßen. Dabei fehlen nicht Die Erinnerungen an eine anders
geartete Vergangenheit. Die Lebensader der alten Stadt, die Prager
Straße, iſt feine breite Triumphitraße wie „Die Linden,” fie bat
vielmehr etwas eng Bürgerliches, das der Entwidlung Dresdens aus
Heinen, faſt börflichen Verhältniffen entſpricht. Dazu paßt bie
bürgerliche Lage der Reſidenz, der gegenüber, nur durch Die
Straße getrennt, fi) die Schaufenfter breit maden. Die groß⸗
artige Elblandichaft mit der Zerrafie, der herrlichen alten Brüde
und dem Biwinger find durch den dunkeln Durchgang ganz Davon
getrennt, gerade jo wie das bürgerlide und burenufratifche
Dresden einft unberührt geblieben war von den Sun
des Hofes. Beide umfaßt nun das moderne Dresden, bier Stadt
der Induſtrie und des Handels, dort Fremdenftadt. Sogar in
der Fremdenſtadt möchte man noch die Schichtungen einer geſchicht⸗
lichen Entwicklung verfolgen, denn der Wechſel iſt nicht unbe⸗
trächtlich von der Zeit an, wo die polniſchen und die ruſſiſchen
Familien zuerft die Vorzüge Dresdens für den Aufenthalt in der
Fremde erfannt hatten, und der Periode der großen Überichivem-
mung mit Engländern und Amerikanern, der endlid ein ftarker
BZuftrom norbbeuticher Ruhe⸗ und Genußfuchender folgte.
Während wir am Elbufer Hinwanderten, führte umd Die
Betrachtung diefer Vergangenheit unmerflid) auß der trandatlan-
tischen Stimmung der lebten Stunden in bie beutiche Gegen⸗
wart zurüd. Niemand Hatte den Wunfch, fi) ihr zu entziehen,
denn auch die gebornen Amerilaner gehörten zu Denen, die fi
Briefe eines Zurückgekehrten 458
Deutihland in irgendeiner Beziehung verſchuldet wiſſen. Wir
hatten in unferm reife einen der erſten Ärzte von Newyork,
den Sprößling einer der idealgefinnten Judenfamilien, die in den
fünfziger Jahren zu dem beiten Kern ber deutſch-amerikaniſchen
Geſellſchaft gehörten. Er war in Deutihland gebildet, und zwar
nicht gefirnißt, fondern gejättigt mit beutfcher Wiſſenſchaft, dabei
Amerilaner von Gefittung und wohl auch Gefinnung. Er kam
bon einem der großen internationalen Kongrefje und teilte uns
feine Einbrüde mit. Wiſſenſchaftlich, meint er, folgen wir ja
alle entichloffen und in Maſſe den deutſchen Führern. Ich habe
da Leute getroffen, die kaum ein Wort Deutſch mehr radehrechen
fonnten, deren Augen aber aufleuchteten, wenn fie ben Namen
eine® von den alten, originellen, uneigennügigen, ibealvollen
Lehrern vernahmen, zu deren Yüßen fie gejeflen hatten. ch
habe einen Engländer mit Tränen der Rührung vom „alten
Arnold“ ſprechen hören, der noch zu Ende der fechziger Jahre
in Heidelberg bozierte. Nun, er war ja auch rührend, der liebe
Heine Dann, der uns in feiner Vorleſung über die „Anatomie
bes Embryo“ mit feinem alten Körper alle Lagen bes werdenden
Menihen im Mutterihoß mit akrobatiſcher Gewandtheit vor-
demonftrierte, und gelegentlich aber auch mit dem Kindspech
übergoß, das er in einer Schale entzüdt herumreichte. Welche
Begeifterung bei ihm für bie Sade, und welche Wärme und
Anhänglichleit bei und für den Lehrer, der ganz in jeiner Auf⸗
gabe aufging! Solche Leute wachſen bei Ihnen in Deutichland
immer wieder nad), bei uns bleiben fie leider immer jelten.
Wiſſenſchaftlich kommen wir Deutichland befonders im Techniſchen
nad) und mandymal zuvor. Da find unjre oft belädhelten Zahn⸗
ärzte mit ihren neuen Apparaten und Kunftwerlen von Gebiſſen
der ganzen Welt voraus, da kommen aber auch jebt jehr nahe
beran die Chirurgen. Das Chloroform und die unichähbare
Krantenbarade find nicht die einzigen amerikaniſchen Erfindungen
auf diefem Gebiet. Die amerikanische Eigentümlichkeit, daß jeder
Urbeiter aus feinem Handwerkszeug das befte zu machen jtrebt,
bie fogar die Art des Hinterwäldlers zur Mufterart aller Holz⸗
fäller der Erde macht und ber Welt die Goldfeder und die Schreib-
mafchine gegeben bat, bat auch die chirurgiichen Werkzeuge und
Verfahren ergriffen und wird noch Bedeutenderes darin leiften.
Amerika hat mehr mufterhafte Krankenhäuſer als das alte, reiche
Europa. Auch die Irrenanſtalten find bei uns durchſchnittlich
vortrefflich eingerichtet. ch verkenne aber nicht, es find das
454 Briefe eines Zurückgekehrten
alles mehr techniſche Fortichritte. Beruhen aber nicht alle Fort-
Ichritte der praftifhen Medizin zulebt auf —— So if
es auch mit den amerikaniſchen Errungenſchaften in der Aſtronomie
und in der Phyſik, die ſchon mit den Leiſtungen des alten Deutſch⸗
penniglvanierd Nitterhaus, den chauviniftiiche Amerilaner und
dumme deutiche Nachtreter jebt Rittenhouſe zu jchreiben lieben,
vor hundert Jahren anhuben. Kraft folder Fortſchritte haben
wir freilich einige Lehrftühle an unfern mohldotierten Univerfi-
täten mit namhaften Sräften beſetzen können. ber einen Lehr⸗
förper wie auch nur eine mittlere deutſche Univerfität haben
weder Harvard noch Yale, von den jüngern zu ſchweigen.
Das hängt nur äußerlich Damit zufammen, daß unfre meiften
Profefioren für amerilanifche Verhältuiffe zu jchlecht bezahlt find.
Die Haupturjache liegt tiefer.” Der Deuticde wirft feine Berfön-
lichkeit rüdficht3lo8 in die Maſſe und geht ald Foricher unb
Lehrer ganz in feiner Arbeit auf. Yür in gibt e8 nur noch
den Maßftab defien, was er leiftet. Ob er dann wie ein Brummen-
pußer berumläuft, der eben aus dem Schacht geftiegen ift, ob
er in der Gejellichaft gefällt, ob er überhaupt gefällt, das if
ihn gleich. Ein kleiner Kreis von Yachgenofien, mit dem er
übrigens meiftens im Streite liegt, iſt fein Pairögeriht. Auf
die Welt darüber hinaus gibt er nicht viel Sein Fach, feine
Lieblingsgedanken oder =theorien, feine Schüler, die find feine
Welt. Wenn nicht die leidigen Titel und Orden wären, könnte
man fagen: der direlte Nachkomme des Sokrates und des Plato,
ber Lehrer nicht bloß feines Volls, nein der Menfchheit. Das
werden wir in Amerila nicht nacjmachen, wie e8 denn eine
Anzahl von Dingen in Deutſchland gibt, die man nirgends im
Ausland nachahmen kann; ed find mehr und größere, als man
fih in Deutichland ſelbſt träumen läßt.
Um bei den Hochſchulen zu bleiben: der Amerikaner ijt
durchſchnittlich viel zu viel Sklave der Gejellichaft, als daß er den
Adel des ganz freien Ritters vom Geifte jo leicht erringen Tönnte.
Bon den talentvollen Jünglingen, die alljährlich von deutjchen
Hochſchulen zu uns zurüdkehren, erreichen in der Regel nur bie
Stellung und Einfluß, die ihre Unabhängigfeit opfern. Bei Be
fürderungen heißt ed nicht: Was leiftet er? fondern die törichte
Frage wird geftellt: Iſt er Gentleman oder Scholar? Gut,
wenn er beides ift; daS kommt aber felten vor. Zeigt er aber
in den Augen des Präfidenten, der für eine amerilanifche Uni-
verfität viel mehr bedeutet als für eine preußiſche der Kurator,
Briefe eines Zurückgekehrten 455
Mängel in der erften Hinfiht, jo wird ihm irgendein ge=
fhniegelter Streber vorgezogen. Da num nichts bequemer ift,
als durch die Pflege der Außerlicheiten, die nad) den zunehmend
plutofratifch werdenden Anfichten zum korrekten Bürger gehören,
Lücken der Leiftungen zu verdeden, fo findet man die zahlreichen
Brofefioren, die nichts leiften, immer auf der Seite des Gentleman.
Der Scholar ift ihnen bedenklich, und von dieſer Seite her be=
ginnt ſchon eine Reaktion gegen die angebliche Überſchätzung der
beutichen Wiſſenſchaft, die wie alle8 Chauviniftiſche bereitiwilligft
von den im Grunde doch jehr ungebildet gebliebnen anglofeltifchen
Maflen aufgenommen und beſonders von den nad Popularität
haſchenden Blättern gefchürt wird. Die deutſche Wiffenfchaft und
ihre Pflege auf den Hochſchulen behält ihre Freunde. Einen
Mann wie Andrew White erreichen die trüben Strömungen gar
nicht. Aber der höchſte Stand des deutſchen Einflufies auf das
amerilanifche Geifteßleben ift wahrſcheinlich Schon überjchritten.
Wer möchte leugnen, daß Wiffenfchaftspflege und =Iehre in
Deutfchland, Oſterreich und der Schweiz auch ihre Mängel haben ?
Ich habe gerade die Fachmänner mit echt deuticher Unbefangen-
beit darüber ſprechen hören. Gerade weil man ſich ihnen nicht
verichließt, wird man fie noch beizeiten befeitigen Tünnen. Die
amerilaniſchen Beurteiler prechen meift mit zu viel Vorein⸗
genommenbeit, als daß fie in Deutichland mit der Ruhe gehört
würden, die man nötig hat, wenn man bie eignen Fehler ein-
fehen fol. &8 find auch meift nicht Leute, denen man bierzu-
lande wegen ihrer wifjenjchaftlicden Autorität ein willige8 Ohr
leihen möchte. Immerhin wird es gut fein, die von ihnen nicht
zu überhören, die ſachlich urteilen, und deren Ausſtellungen
mandymal mit denen der deutichen Kritiler genau zufammenfallen.
Ich möchte beſonders drei Punkte nennen, in denen neuerdings
bie amerilaniiden Anſichten übereinzujtimmen ſcheinen. Sie
rügen den Tleinlichen, in Spißfindigfeiten aufgehenden Charalter,
den die deutſche Wifienichaftspflege anzunehmen beginnt, und
machen dafür die Züchtung von Schülern und bie Steigerung des
Gelehrtenehrgeizes verantwortlich, deren Grund die vielgepriejene
Einrihtung des freien und großenteild ununterftühten Wett⸗
bewerb3 der Privatdozenten fei. Es öffne ſich dadurch auch Den
Reichen die alademifhe Laufbahn immer weiter und breiter,
während den talentvollen Armen vielfach bie Möglichkeit genommen
fei, mit den andern umter gleichen Bedingungen um den Preis zu
ringen. Diejelben Beurteiler tabeln die Einrichtung der Kollegien⸗
456 Briefe eines Zurũckgekehrten
gelber, Die höchſt ungleichmäßige Einnahmen an Gelehrte unb
Lehrer ohne jede Rückſicht auf ihr wahres wifjenfchaftliches Ver⸗
dienft verteile; während man mit allen andern beutichen Hoch⸗
ſchuleinrichtungen drüben experimentiert bat, tft es allerdings
meines Wiſſens auch der ärmften Univerfität des Weſtens nicht
beigelommen, es mit Kollegiengelbern zu verſuchen. Das ift be
zeichnend für die Stärke des demofratiichen Zugs gerade in diefem
selde, wo man doch in fo vielen andern Beziehungen Wrifto-
kratiſches in bewußtem Gegenſatz zur Gleichmacherei anzupflanzen
ſtrebt. Sc alaube, daß in diefem Falle die Amerikaner Recht
Alle Gründe, die man für das Kollegiengelb anführt,
find bei Licht betrachtet faul. Man kann doch am Ende nicht
zugeben, daß unter allen Dienern des Öffentlichen Wohl nur
die Hochſchullehrer den Anreiz bejondrer Bezahlung brandyen,
damit fie ihre Pflicht tun?
Dagegen ift der Vorwurf, der deutſche Gelehrte vergeffe
über dem Forfchen allzubäufig, daß er zum Lehren berufen ſei,
verftehe nicht, fich verftändlich zu machen, oder ziehe einen dunkeln
Stil vielleiht gar nur vor, um bie Unklarheit feiner Gedanken
zu verhüllen, ganz veraltet. Freilich fein Geringerer als Goethe
jagt in den Aphorismen über Naturmwiflenichaft: Die Deutfchen
befigen die Gabe, die Wiffenfchaft unzugänglich zu machen. Ob er
heute die Sache wohl fo fchroff Hinftellen würde? A. von Hum⸗
boldt, der in der jchönen Einleitung zum Kosmos dieſen Aus⸗
ſpruch anführt, bezeichnet ihn dort als humoriftiſch, meint aber
auch don ben wifjenichaftlihen Werken, daß man das Gebäude
nicht erbliden Tünne, wenn das Baugeräft vor demfelben ftehn
bleibe. Jedenfalls bat ja gerade dieſer Meifter gezeigt, daß
Deutſchland auch große Baulünftler im Feld der Wiſſenſchaft
erzeugen Tann. Sein Kosmos tft überhaupt das Größte, was
in gemeinverftändlicder Darftellung wiſſenſchaftlicher Reſultate
geleiftet if. W. von Humboldt hat au Schule gemadt. In⸗
defien jo ganz ift der Vorwurf Goethes noch nicht eutfräftet.
Es gibt manche hHäßliche Faffaden in ber deutichen populär=
wifienichaftlichen Literatur. Das Rorurteil iſt weggeräumt, als
vergebe fich ein Gelehrter ettwaß, wenn er gemeinverftändlich
ſchreibt. Der gute Wille, e8 zu tun, ift bei manchen nur zu
fihtbar, deren Rede mit feltfamen Schnörkeln aufgepußt iſt, als
ob dadurch die Unklarheit aufgehellt würde. Einigen gelingt es.
Über e8 mag wohl fein, daß das praktiſche, auf wenig Zwecke
folgerichtig —* anglokeltiſche Ingenium für dieſe Art von
Briefe eines Zurũckgekehrten 457
Schöpfungen befier angelegt iſt. Außerdem wird auch das Ver⸗
dienft auf dieſem Felde bei den engliſch Iprechenden Völkern viel
bereitwilliger anerfannt als bei uns. Es ift genau baßfelbe
Streben, das fi) in ihrer Geichichtichreibung viel deutlicher zeigt,
zu fefleln, zu überzeugen ober wenigftens zu überreden. Macaulay
als Hiftoriker ift raſch in der Schäßung der Fachleute geſunken,
aber Macaulay als Nhetor oder, um es gerade herauszuſagen.
als Advokat wirkt noch immer auf weite Kreiſe. Um biefe Art
von belehrender und aufllärender Literatur, die in den Natur⸗
wifienfchaften die auch in Deutichland vielgelefenen und naiv über-
ſchätzten Huxley unb Lubbod vertreten, beneiben wir bie Anglo⸗
kelten nicht. Sie bleibt weit hinter unſerm Ideal zurüd, daß
höchfte Wahrhaftigkeit die Seele der Wiſſenſchaft fei. Übrigens
ift gerade die populänwifienfchaftliche Literatur der Amerikaner
ſchwach. Im Lande der öffentlichen Vorträge, Kurſe und Volks⸗
bibliothelen follte man mehr und beſſeres erwarten. Sie haben
einen Klaſſiker darin, Benjamin Franklin, den man nicht mehr
Heft, und — eine Maffe Überfegungen aus dem Franzöſiſchen
und dem Deutjchen und Nachdrucke engliſcher Werte.
Der tiefe Ernft, mit dem heute in Amerika paädagogiſche
ragen in den weiteften Kreiſen beſprochen und vertieft werden,
ift ein echtes Jugendmerkmal; er lebte in Deutihland zu der
Zeit, wo alle bedeutenden Menichen Peftalozzis Werte laſen und
feinen päbdagogilchen Verſuchen mit mehr ald Wißbegierde, mit
herzlicher Teilnahme folgten. Auch Beute wirb in Deutichland
viel über Erziehung verhandelt, aber mehr geichrieben als ge⸗
ſprochen. Es muß dem Amerifaner auffallen, daß Erziehungs-
fragen weber in den Geipräden noch in Beitungen die Stelle
einnehmen wie in Amerika. Manches Gute wird im allgemeinen
von den Fachmännern über dieſe Frage geichrieben; das Publikum
fieft e8 oder lieſt e8 auch nicht. Daß ſich dabei ein gewiſſer
Bunftgeift breit macht, entipricht deutſchen Neigungen. Die
Schule als eine Form des fozialen Lebens aufzufaflen und ihr
das Biel zu ſetzen: to socialize the child, wie die übliche Rede
lautet, das Kind fähig zu machen, feine Umgebungen zu veritehn,
fi in fie einzuleben, feine Stelle auszufüllen und feinen Mit-
menfchen das zu fein, was fie von ihm fordern dürfen, ift eine
amerilanifche Idee. Sie ift zwar, wie alle amerifantichen Ideen,
auf dem Boden der Alten Welt gewachſen, aber in die Form
eines höchft praftiichen Erziehungsgrundfaßes haben fie die Ameri⸗
Inner gebracht. Die Zolgerung ift: mehr Törperliche Übung,
458 Briefe eines Zurückgekehrten
Handarbeit, häusliche Künfte, äfthetiiche Bildung, um eine te
unmerkliche Hebung der jozialen Schichten zu bewirken.
id) auch die grundverichiebnen Lebensbedingungen diesſeits yo
jenjeit8 bed Dzeand erwäge, fcheint mir Doch immer die ameri-
kaniſche Pädagogik hier auf einem guten Wege zu fein. Man
überijhäbt vielleicht bie Leiftungsfähigteit der Pädagogik über-
Haupt. Aber die öffentlichen Leſezimmer, Boltsbibliothefen, wan-
dernden Bibliothefen Amerikas find ganz gewiß Einrichtungen,
aus denen Deutjchland noch viel mehr für feine Bildungszwecke
nehmen Tann als bisher. Und daß bie Amerikaner nicht
fo ganz Unrecht haben, wenn fie den beutfchen Hochſchulen ben
Mangel an pädagogiihen Rückſichten vorwerfen, beweilen Die
Stimmen aus den Kreiſen des deutichen Profefjorentums, die
Ahnlich lauten. Es ift bie Kehrfeite der glänzenden Zeiftungen
der Fachmänner, daß fie da Recht in Anſpruch nehmen, allein
über ihre Sachangelegenheiten zu urteilen. Wo es fi) nun, wie
bei der Erziehung, um ein allgemeined Intereſſe umfafjendfter
Art handelt, kommt leicht die Allgemeinheit dabei zu kurz. Der
Kampf der Realichulmänner und der Philologen um bie Reform
bes Mittelſchulunterrichts in Deutichland zeigt die wiberlichiten
Zormen des Streit? um Bunftgewohnheiten und Bunftoorrechte,
wobei die Jugend, die Menſchen überhaupt, auf die es allein
anlommt, über Saden und Vorftellungen vergefien werden. Die
große Öffentlichkeit, in der in den Bereinigten Staaten von
Anfang an alle Erziehungs- und Bildungsfragen verhandelt
werden und wurden, ift ein ganz bezeichnender und wichtiger
Zug im tranatlantiihen Leben.
h deutſchen Gelehrten ihr Spegialiilenkum vor⸗
rücken. Gewiß iſt nicht jeder ein Entdecker, aber da
noch kein Handwerker. Es gibt auch eine Größe der Arbeit im
Kleinen. Ideen fruchtbar zu machen, gelingt nur der emfigen
Arbeit Vieler. Der Engländer Sorby ift der Entdeder der um⸗
wälzenden Methode der Unterfuhung dünngeſchliffner Gefteins-
plattchen mit dem Mikroſtop. Aber nicht in England bat dieſe
Methode ihre Anwendung gefunden. Die Gefteine der ganzen
Erde machen ihre Wege durch die deutichen petrographiichen
Inſtitute, und aus biejen erhalten England, Amerila, Indien,
Rußland die Kunde von der Zufammenjehung der Geſteine ihres
Bodend. In der Botanik und in der Zoologie ift troß genialer
Einzelner, wie Hooler und Darwin, die Abhängigleit von Deutich-
land jo groß, daß 3. B. in der Entwicklungsgeſchichte verwidelte
Briefe eines Surüdgefehrten 459
deutiche Wortbildungen wie Bindegewebäzelle, Randſchlier u. dergl.
in die englischen Terte hinübergenommen werden. Julius Sachs
tft faft noch mehr der Bater der neuern engliſchen und amteri-
kaniſchen Botanik als der deutfhen. So ift e& fo ziemlich in
allen Teilwiffenichaften. ch höre, daß fich die Amerikaner jetzt
mit mehr Fleiß und Hingebung der gründlichen Sonder- und
Einzelarbeit widmen als die Engländer und im Begriff find,
ihre Vettern befonder8 in den Naturwifienichaften unb den
philologiichen Fächern in den Schatten zu ftellen. Leider find
aber unfre jungen Amerifaner nicht immer ſtark genug, den
Bettlauf mit deutichen Strebendgenofien auf die Dauer durch⸗
führen zu können. Manche von ihnen wechjeln bei ihrem Aufent-
halt in Europa regelmäßig zwifchen dem Hörfaal und der Kalt⸗
waſſerheilanſtalt ab. Andern fehlt der Antrieb, der den deutfchen
Brivatdozenten die Überzeugung erteilt, daß nur“ Leiftungen
ihnen zu einer Profefjur verhelfen werden; in Amerika glaubt
man, diefe Einrichtung würde die Univerfitäten den Beſitzenden
in bie Sand geben. Geltfam; während man ſonſt drüben
überall da8 Heil nur vom freien Spiel der Kräfte erwartet,
hemmt man e3 gerade da, wo ed, wie Deutichland zeigt, treffliche
Früchte bringt.
In einer von den Dresdner Fremdenpenfionen, wo man
fiher ift, dem halben europareifenden Amerika zu begegnen, traf
ih kurz nad) diefen Gefprächen mit einem Geſchichtsprofeſſor
einer nicht unbebeutenden amerikaniſchen Univerfität zufammen,
der den dort in größern Beiträumen wiederlehrenden Jahres⸗
urlaub, da8 fogenannte Sabbath Year, in Europa verlebte. Bor
Jahren hatten wir uns fozufagen auf der Schwelle von Ban-
crofts Tusculum getroffen, er von beutichen Univerfitäten zurüd-
gelehrt, ich ſchon damals voll Sehnfucht, mid) aus amerilanifchen
Geſchaften in die deutſche Heimatatmoiphäre zu retten, die ih
mir wie eine reine, Träftige Höhenluft dachte. Ich Hatte nicht
ganz Unrecht, wie ich jeßt wohl weiß, wenn aud) „nicht alle
Blütenträume reiften.“ WIE wir damald Bancroft fahen, war
er ein fchöner Greis, wie Amerika viele hat, jebt waren mir
beide weiß. Aber jener Tag ftand noch klar in unfrer beider
Erinnerung. Ich erinnerte mich ſogar genau der fajt beängjtigend
flammenden Gerbitfärbung der Alleebäume, Ahorne, unter denen
wir hinabſchritten. Neben der Verehrung für den in Amerifa
und Deutihland Hoch geichätten Geichichtichreiber und Staats⸗
mann kam nun freilich aud die Eritifche Stimmung zum Aus⸗
460 Briefe eines Surädgelehrten
drud, zu der Menſchen neigen, deren Selbiterziehung und
bildung fich tief ins Alter fortfebt. Die Ideale wechſeln bei
ſolchen raſcher. Sch verhehlte meinem Profeſſor nicht, daB mich
Bancrofts vielgerühmte Gejchichte der Vereinigten Staaten von
Amerila Tängft nicht mehr jo erwärmen fönne wie damals.
Sch glaube in der Tat, daß Bancroft jein Boll gar nicht
gefannt Hat; feine Amerilaner find engliſche Landedelleute und
Bürger, die fi in die Neue Welt verirrt haben, befonders aber
das erfte, und nım bier die Geſchichte von Eſſex, London,
Briftol uſw. fortſetzen. Eine Schönfärberei voll anglo=ameri-
kaniſcher Selbitgefälligkeit, das ift der Geift feiner Geſchichte.
Ich fagte: Bancroft rühmte gern,. was er deutſcher Schulung
und deutſchem Geiſtesleben verdankt habe; aber ich finde, daß jeine
hiſtoriſche Methode kindlich ift im Vergleich mit der von Ranke,
der fich freilich dazu berbeiließ, Bancroft als Gleichſtehenden zu
behandeln; und außerdem finde ih, daß wenn ein bornierter
Engländer diefe Geſchichte geſchrieben hätte, er nicht geflifient-
licher die Verdienſte der Niederländer und der Deutichen um
bie Entwidlung Amerikas hätte verjchweigen können. Wo ift da
der Dank für das, was er Deutſchland ſchuldete? Diejes Über⸗
ſehen jei aber doch nur ein Fall von vielen und wiberjpreche
ber Gerechtigkeit des Gefchichtichreiberd um jo mehr, als es fi
dabei um Minderheiten handle, deren Stimme jo leicht übertönt
werde. Mein alter Yreund meinte zwar, dafür jeien ja bie
biitorifchen Vereine da, die gerade auch von ben Niederländern
und den Dentſchen in Amerika begründet worben jeien, und
übrigens jehe man jet über die Verdienfte der Völker, die den
Boden der Vereinigten Staaten von Amerika erwerben halfen, nicht
mehr jo hochmütig weg, wie unter anderm Rooſevelts Winning
of the West und verwandte Werke der lebten Jahre bewieſen.
Ich konnte das nicht jo ganz zugeben, jedenfalls nicht für Indiana
und Ohio, deren Geſchichte ich ziemlich gut fenne. Die wahrhaft
bedeutenden deutichen Pioniere des Weftend werden auch heute
nicht nach Verdienft gewürdigt. Übrigens, meinte ich, babe dieſe
Sache eine ganz ernfte Bedeutung für Amerika felbft, deſſen
onglofeltiihe Bevölferung die geſchichtliche Wahrheit bejonders
dringend bra
Kein Volk ift durch Schläge von außen zertrümmert worden,
wenn ed nicht innen ſchon zerrifien und unterwühlt war. So
fürchte ich aud nicht für die Norbamerilaner, daß äußere An⸗
griffe ihnen jchaben werden. Ihre größten Gefahren lauern in
Briefe eines Zurückgekehrten 461
ihnen felbft. Ich glaube fie zu kennen, und fie find überhaupt
nicht ſchwer zu finden. Es ift die alte Völkerkrankheit der Selbit-
belügung, an ber fie leiden. Den Reim dazu in einer Stärke,
die fonft felten vorfommt, haben die Engländer auf fie über-
tragen. Sie täufchen fih mit einer foldhen Hartnädigleit und
mit fo viel Scharffinn über ihre Fehler hinweg, daß dieje auf
Selbftbelügung beruhende Selbſtgerechtigkeit ihnen Tängft in
Fleiſch und Blut übergegangen if. Und da fie in demjelben
Maße andre Völker tiefer ftellen, wie fie fich jelbft erheben, laden
fie den Haß aller nahen und fernen Nachbarn auf fi. Ach
finde die Amerikaner in diefer Beziehung einjtweilen noch etwas
erträglicher ald die Engländer; denn fie find doch mit vielen
fremden Elementen durchjegt, die fich gelegentlich noch zur Wahr⸗
heit aufſchwingen, und das an ſich widerliche Parteigezänt läßt
fein Idol zu body kommen. Was aber die Engländer betrifft,
fo geftehe ich, fein Volk zu kennen, dem als politiihem Körper
die Wahrheitsliebe in ſolchem Maße abhanden gekommen wäre,
während man im Privatleben zahlreichen ungemein wahren und
offnen Naturen begegnet, und die Erziehung der Jugend zur
Wahrheit fogar forgfältiger geübt wird als bei vielen andern
Völkern. Ich möchte nicht, daß die Amerikaner jo tief ſanken,
aber in den legten Sahren konnte man ſich der Befürchtung
ſchwer erwehren, Daß e8 auch dazu kommen werde. Was haben
die beiden Vettern gemeinfam in der Samonangelegenheit über
die Deutfchen zufammengelogen! Es bat ung ja zum Glüd nichts
geichadet. Im Gegenteil; wenn wir die Lehre daraus ziehn, die
Wahrheit, die unſre Stärfe ift, nur um fo beffer zu pflegen,
wird das Lajter unfrer Bettern und zum Vorteil gereichen. Ich
babe ſchon früh, wenn ich das herablaffende Lob a plain German
hörte, aus dieſem Worte einen tiefern Unterfchied zwiſchen deutſch
und anglokeltiſch herauszufühlen geglaubt. Und ift es nicht fo,
daß bei einem richtigen Deutichen die Wahrheit in der Form
von Einfachheit, Abſichtsloſigkeit, Harm⸗ und Arglofigleit in allen
feinen Bewegungen, in ber Art, wie er fi) trägt und gibt, zum
Ausdrud kommt? So fol es fein. Darin liegen die unjchein-
baren Keime der Größe unfrer Denker und unſrer StaatSmänner,
bie mit derfelben Gelaffenheit, die der unfcheinbare plain German
im täglichen Leben zeigt, dad Wahre und Weſentliche in den
größten Verwicklungen fanden und fefthielten. Daß die Wahrheit
immer obfiegt, ift eind von den wenigen fogenannten Geſetzen
der Geſchichte, an bie ich noch glaube.
462 Briefe eines Zurũckgekehrten
7
Zu den beliebten Gejprächögegenftänben einer anglofeltiichen
Geſellſchaft gehören die Kirche und ihr Geiftlider. Natürlich
nur, wenn Die Gejellichaft aus Leuten befteht, die, wie bie be⸗
zeichnende Nede lautet, „ſich ſelbſt achten,” d. h. fi in Obacht
nehmen, daß fie nichts jagen, was was andre für unzuläffig erachten.
Solche Geſpräche find, wie ich merfe, in Deutſchland ſtark außer
Übung gelommen; in meiner Jugendzeit waren fie in manchen
Kreiſen noch beliebt. Aber da hatten fie doch oft eine Neigung,
fi zu vertiefen. Denn ba e8 in beutfchen Geſellſchaften immer
Leute gibt, die fi) fo wenig achten, daß fie offen und ehrlich
berausfagen, was fie denken, jo kam man auf ®lauben und Un⸗
glauben, Himmel und Hölle, Feuerbach und Strauß zu reden,
und es wurden innige aus ber Tiefe des Herzens geichöpfte Be⸗
kenntniſſe bes Glaubens von fchneibenden Zweifeln durchbohrt,
Dabei aber wohl auch mandye Schärfe des Zweifels flumpf be
funden. In Amerika fand id) es ganz, anders. Da griffen Die
Kirchen und die Seften tief in das Leben der ganzen Gejellichaft
ein, und fo wie es zu oberſt methodiftifche Univerfitäten und
preöbyterianifche Zegislaturen gab, unterhielt man fich weiter unten
auf baptiftiihen Tanzkränzchen ober Horhlirchlihen Pidnidd. Troß
der ungebeuern Hohlheit und Langweile folder Beranftaltungen
in den Hänben halbgebildeter Eiferer waren Milfionsftunden Die
beliebteften Berjammlungsorte der Jugend beiderlei Geſchlechts.
Die Frage wurde ohne Furcht vor Qächerlichfeit erörtert, ob ber
Beitritt zu Turn⸗ und Gefangvereinen mit der Bugehörigfeit zu
einer beftimmten „Denomination“ vereinbar fei. Sogar Selten,
bie fein einzige8 Dogma irgendeiner chriftlichen Kirche befannten,
wie die Unitarier, diefer radilalfte Schoß des Kalvinigmus, um⸗
ipannten und durchdrangen in diefer Weije daß Leben ihrer Mit-
glieder, und gerade dieſe Sekte, die bei geringer Zahl ihrer An=
hänger, worunter aber Getfter und Charaktere erften Ranges
waren, in den entſcheidungsreichen fünfziger und ſechziger Jahren
des neunzehnten Jahrhunderts einen gewaltigen Einfluß auf das
öffentliche Leben in Nenengland und dadurch in ganz Rordamerila
übte, gibt ein intereflantes Beifpiel von dem rũckwirkenden Vorteil
diefer ftraffen Zufammenfafiung auch auf das irdiſche Wohl der
Menichen, die von feinem andern Bande fo feft umfaßt waren
als don dem religidfen. Was Wunder aljo, daß bie kirchlichen
Fragen faft Daß ganze Feld offupierten, das bie gefchäftlicden und
Briefe eines Zurückgekehrten 4683
die politifchen Intereſſen frei ließen. Es ſprach fi) das aud) in
einer für Europäer überraichenden Pflege und Verbreitung der
religiöjen Beitfchriften- und Traltatliteratur aus. Aber gerade
in diefer famen die engeri, Tonventionellen Auffaffungen einer jehr
äußerlichen Kirchlichleit oft jo naiv zum Ausdrud, daß wir Neu⸗
Hinzugelommnen nicht genug ftaunen fonnten, wie die intelligenten,
fortgefhrittnen Amerilaner ſolche Plattheit und Läppifchleit mit
der ernfteften Miene aufnahmen und diskutierten.
Hier war ung ein Gegengewicht gegeben, das manche Über-
legenheit der anglo-ameritanifchen Gejellichaft aufzumiegen ſchien.
Ich bin immer der Meinung gewejen, daß die Blüte der freien
Gemeinden verfchiebner Art, auß denen dann auch bie ethiſchen
Geſellſchaften hervorgegangen find, gerade unter den Deutfchen,
und befonder® auch unter deutichen Juden, der Überzeugung vieler
Eingeiwanderter entjprang, daß fie damit einen geiftigen Vorſprung
bor den Angloamerilanern gewönnen, von denen fie fich politifch,
wirtichaftlic) und meift auch gejellichaftlich weit übertroffen fühlten.
Sie haben ſich darin getäufcht; fie vergaßen, daß man nicht mit
einem Bekenntnis, fei es des Glaubens oder des Unglaubens,
fiegt, fondern nur mit dem Geift, dem Mut, der Tatkraft, ber
Überzeugungstreue, womit e8 vertreten wird. Die deutihe Ein-
wandrung aber, an fi arm an Sntelligenzen, fah fat feine von
den geiftigen Kräften, die fie mitbrachte, bereit, fi) an die Spike
der freien Gemeinden zu ftellen. Berhieß doc; die Bolitik, zunächſt
gleichbedeutend mit Tagesfchriftftellerei, ganz andre Preife. Und
welche Wandlung haben die Menfchheitdapoftel durchgemacht, Die
in den freien Gemeinden da8 Wort führten! ch denfe an einen
der meiftgenannten, den Böhmen Naprftel, einft der ſtürmiſche
Aufklärer und Humanitätsapoftel von Milwaukee, der als fana⸗
tiſcher Tſcheche endigte; feinen Landsleuten Bat er ein in mandjen
Beziehungen wertvolles ethnographiſches Muſeum in Prag hinter-
laſſen. In Newyork wohnte ich einmal einem Konventifel bei, wo
ein Bädermeifter, früher Jude, vielleicht auch jpäter wieder Jude,
ein Schmähgedicht auf Deutichland im Stil von Atta Troll, geiit-
und geſchmacklos über die Maßen, vortrug, das eine Fleine An⸗
zahl der Anweſenden veranlafte, fi) demonftrativ zu entfernen,
während die andern dem Pfufcher ihren Beifall zujubelten. Übers
Haupt, wie leuchtet in diefen Streifen ber Stern Heine, heller
ficherlih, als er jemals in Deutichland geleuchtet hat. Die Agi-
tation für die Aufftellung feines in Düſſeldorf abgelehnten Dent-
mals in Newyork, die vor ein paar Jahren die deutſch⸗amerikaniſchen
464 Briefe eines Zurückgekehrten
Kreife beivegte, war nur der Ausfluß eines weit zurüdreichenden
Heinefultuß der dortigen Halbbildung und der oberflädylidhern
Elemente des deutich-amerilanifchen Judentums. In Sarı Yran-
ci8co ftand die deutiche freie Gemeinde einft höher, aber ihr
Führer jchlug fi nur kümmerlich dur. Kurz, wenn man dieſe
Bewegung verglich mit der nahverwandten ber Unitarier, fiel der
Vergleich ganz ausgeſprochen zugunften der Amerikaner aus.
Andre Selten und Kirchen haben ähnliche Erfahrungen ges
macht. Sogar die Lutheraner, die fo viele Fräftige Stüßen und
in den fchon feit ben dreißiger Jahren eingewanberten Wit:
Iutheranern einen alten, überzeugungstreuen Kern hatten, haben
fi) verumeinigt, geipalten, wiedervereinigt, ohne in all, diejen
Wandlungen die Kraft zu gewinnen, die jo manche Kleine, ſchwach
fundierte Glaubendgemeinichaft der Amerikaner bat. ch möchte
nicht ohne weiteres daraus folgern, wie man fo oft drüben zu
tun pflegt, daß der Deutiche urfprünglid weniger religiöß an⸗
gelegt jei als der Anglofelte. Es kommt zunädft nur die Kirch⸗
lichleit in Frage. Und darin find uns die Anglofelten über-
fegen, wie fie in allem den Vorſprung haben, was Unterordnung
unter anerfannte Führer, feien e8 nun Berfonen oder Gejellichaften,
und daraus folgende Ein- und BZujammengliederung und Bu-
fammenhalt der Einzelnen fordert. In keiner Gejellichaft veriteht
ftillichmeigend einer den andern fo genau wie bier, und in feiner
folgen die Maſſen jo gehorſam Befehlen der Sitte, die nie aus⸗
geiprochen zu werden brauchen. Darin liegt ja auf allen Gebieten
die große und gefährliche Kraft des Anglofeltentums, daß alle
Bewegungen die Tendenz haben, ganz allgemein zu werden, Daß
ganze Voll mitzureißen. Nicht die Tiefe und die Verſchieden⸗
artigfeit, fondern die Allgemeinheit des religiöjen Zuges imponiert
dem fremden Beobachter. Beier noch als die Organiſation der
politiihen Parteien und die fihere Schichtung der Gejellichaft
gelingt ihnen der Zuſammenhalt der kirchlichen Gemeinichaft.
Die Deutichen treibt gerade in diefen nicht bloß der teutonijche
Individnalismus, auf den fie ſich gern berufen, fondern, daß
wir es offen befennen, viel mehr der Hleinliche Neid und der un=
verftändige Eigenfinn auseinander. Außerdem find die Bildungs⸗
gänge und ⸗anſprüche gerade in den deutſchen Kreiſen verichiebuer
und werden ftärfer betont als in anglofeltiichen. Der zum Steine-
Hopfen reduzierte Deutſche, und wie viele ereilte dieſes Geſchick
in den kritiſchen Jahren transatlantifcher Eingewöhnung, der tim
der Heimat da8 Gymnaſium durchlaufen bat, fieht ftolz auf den
Briefe eines Zurückgekehrten 465
reichgewordnen Kaufmann hinab, der nur die Volksſchule ab-
folvtert hat. Unzweifelhaft hat aber der Anglofelte auch eine
religiöfe Anlage von beſondrer Kraft und Luft der Yußerung
und des Schaffend. Die deutfche Religiofität vertieft fi), hat einen
Bug zum Innerlichen, die anglofeltifche wirkt, organifiert, macht
Profelgten. Die Miffionstätigfeit iriſcher und fpäter angeljäd-
ſiſcher Mönche in ganz Mittel-, Nord- und Weſteuropa gehört
ebenjo der Weltgeſchichte an, wie die Miffionstätigleit der Eng-
länder und der Amerilaner des achtzehnten und des neunzehnten
Jahrhunderts an Erfolgen in der Kultur, in der Wirtichaft und
in der Bolitik die Mifftionen der Deutſchen und der Skandinavier
weit übertrifft und überhaupt nur von der der römiſchen Kirche
und der Orthoboren bedroht werden dürfte, Die beide noch feiter
organifiert find und noch planmäßiger vorgehn. Hier fommt eben
die auf fo vielen Punkten enticheidende Gabe des Unglofelten zur
Geltung, dem Gedanken fofort die Tat folgen zu laſſen. Der
andre grübelt, diefer handelt. Der Amerikaner hat diefe Gabe
in verftärkten Maße, fie ift bei ihm bis zur Torheit ausgebildet,
mit der er für Schlagworte, Halbwahrheiten, Unmwahrbeiten, Un-
wahrfjcheinlichkeiten ind Zeug gebt.
Ich will aber damit nicht den Anglofelten die religiöfe
Annerlichleit abiprechen, was im Hinblid auf die alte und die
neue Geſchichte ihrer Kirchen und Selten ja ganz unmöglich ift.
Darin liegen ja überhaupt die Erfolge diefer großen Raſſe, daß
ihre innern Kräfte mit feltnen Gaben der Wirkung nad) außen
verbunden find. Und ebenjowenig will ic) die große Verflachung
beihönigen, die in jo vielen deutſchen Kreifen an die Stelle der
alten, ftillen Yrömmigleit getreten iſt. Die Deutichen machen
feine Ausnahme bei der allgemeinen Zerſetzung, der das religiöfe
Leben in allen Sulturvöllern verfallen iſt. Echtes Chriftentum,
das eine Gemeinſchaft von Menichen jedes Standes, Berufs und
Alters mit gleicher Kraft umfaßt, gibt es nicht mehr auf den
Höhen diefer Völker. Die liegen troden, bi8 zum Wüftenhaften.
Um ſolches Chriſtentum zu finden, muß man in Amerila in ein
Heine Walddorf von Maine oder Vermont oder noch befler in
eine arme Negergemeinde des Südens gehn, die vom Geiſtlichen
bi8 zum Armften — arm find fie aber alle — von Bildung
unberührt, aber aufridhtig und bis zum Mberglauben gläubig ift.
Es ift ein Buftand wie in einem Lande, aus dem ſich daß be-
fruchtende Waſſer zurüdzieht; indem der Waflerjpiegel fintt, ver-
teodnen die Quellen von oben Her, und endlich ift nur noch das
Nagel, Glädsinfeln und Träume 80
466 Briefe eines Zurückgekehrten
Örundwafler in den tiefften Schichten übrig. Alles übrige dürr
und wüſt. In Deutichland waren befanntlich die Höhen ſchon
lange troden gelegt, als bei andern Völkern wenigftend noch künft-
liche Leitungen bort Feuchtigkeit hinführten. Es gab eine Zeit,
wo in großen deutſch⸗amerikaniſchen Gemeinden nur in zwei ex⸗
tremen Lagern das alte zweifelöfreie Chriftentum beftand: bei
den Römiſch⸗Katholiſchen auf der einen, bei den Wltlutheranern
auf der andern Seite, dazwiſchen eine breite Zone der Lauheit,
wo heftige Angriffe auf Andersdenkende die religiöfe Überzeugung
dokumentieren mußten. Wenn einmal die Geſchichte der deutſchen
Gemeinden von Cincinnati, Milwaukee, Ehicago, St. Louis in
deu vierziger und den fünfziger Jahren gründlich, aber auch unbe⸗
ſchönigt gefchrieben fein wird, wirb ber Eonfelfionelle Hader in
feinen Heinlichften und giftigiten Formen jo manche Seite füllen,
wo man Größeres und Schöneres fuchen dürfte.
Seitdem ift freilich aud bei den Amerikanern das religiöfe
Bervußtfein ungemein gejunten, im Verhältnis noch mehr als bei
uns. Die Aufllärung bat |päter begonnen, dafür aber aud alle
Dämme überftiegen. Bezeichnenderweije haben nun darunter nicht
die großen alten Religionggejellichaften jo jehr gelitten wie Die
Heinern und jüngern. Diefe Erzeugnifie eine verfpäteten Auf»
ſchwungs, faft möchte man jagen einer Aufwallung des religiöfen
Empfindens, verloren an Anziehungskraft in einer Beit, wo alles
Außerliche an Wert ftieg, alle Innerliche im Werte ſank. Der
reichen, alten, ariſtokratiſchen Hochkirche haben ſich ſeitdem mandhe
zugewandt, deren Vorfahren für den Methodismus, den Baptismus
mit Gut und Leben eingetreten waren. Die Benfusperöffent-
lihungen von 1900 werden uns im kirchlichen Leben der Union
fiherlid) ein unverhälmismäßige® Wachstum des Katholizismus
und der Hochkirche zeigen, das darf aber nicht über den Rück⸗
gang in der Tiefe umd Echtheit bes religiöfen Sinne täufchen,
den natürlich feine Statiftit belegt. Die großen Kathedralen
dieſer einflußreichiten Kirchen werden darum nicht ftärker befucht
als früher die Kleinen Bethänfer. Die ftarle Abwendung von
den radikalen Selten, die im lebten halben Menjchenalter ein-
getreten ift, bedeutet ebenjomwenig eine Stärkung des pofitiven
Chriſtentums. Es mag parador Klingen, aber fie ift ein Symptom
derjelben Art für die Amerikaner, wie die zunehmende Entlirdh-
lichung für die Deutſchen. Dort ein äußerliher Anfchluß, bier
eine ebenſo äußerliche Abwendung. Die echte Neligiofität ift in
beiden Fällen die Berlierende. Wenn die Symptome bei Ameri⸗
Briefe eines Surädgefehrten 467
— 7
kanern und Deutſchen ſo verſchieden auftreten, muß man auch in
dieſer Sache an die grundverſchiedne Stellung der Frau denken,
die dort mit anerkannter Überlegenheit die ganze Familie da
feſthält, wo ſie das Heil ſieht, hier den Mann gewähren läßt
und ihm, wenn auch unter Seufzern und Vorwürfen, nachfolgt.
Noch etwas andres darf ebenſowenig vergeſſen werden: die
äußern Anziehungsmittel des Kirchenbeſuchs in Amerika. Der
Komfort auf die Einrichtung der Kirchen übertragen, die Kirchen⸗
muſik, die Tauſende von Deutſchen, hier bedeutende Sänger und
dort armfelige Mufilanten, ernährt, und nicht zuletzt Die Prediger,
Die große Nedner find, überragen alles zufammengenommen bie
Attraktionen jeder Hoflirche des proteftantiichen Deutſchlands. Nur
die Architelturen deutjcher Kirchen find im allgemeinen nicht bloß
ehrwürdiger, fondern auch würdiger. Aber die in Amerika zahl-
und einflußreichen Vertreter der Lehre von der Schönheit ala
Lebensnotwendigleit, deren Schlagworte Ruskin zwar nicht er-
funden, doch geprägt hat — Artistic Ordering of Life ift feit
einigen Jahren ein beliebtes Thema der Zeitungen und Debattier-
Hubs, in Sinn und Abficht: Afthetifche Vebensführung —, werden
auch noch dad Ummwahricheinliche verwirklichen, daß eine Gejell-
ſchaft im entichiednen religiöfen Niedergang Prachtgebäude für
einen Kultus errichtet, dem eine raſch wachſende Mehrheit zweifelnd
oder gleichgiltig gegenüberfteht. Einftweilen gehört ed noch zu
den auffallendften Merkmalen des Katholizismus in Amerika,
dab er impofante Gotteshäufer hinftellt, neben denen alle andern
kirchlichen Gebäude verichwinden. Für die amerikaniſche Auf⸗
fafjung ſpricht fi) darin eine Macht aus, von der fie fich willig
imponteren läßt. Wenn man die großen Kloftergebäude und Die
mächtigen, wenn auch nicht oft ſchönen Kathedralen des ſpaniſchen
Amerikas Hinzurechnet, muß man allerding$ zugeben, daß die be-
deutendften Werke religiöfer Architeltur in der Neuen Welt von
Montreal bis Buenos Wired überhaupt der Katholizismus ge-
ſchaffen bat, troßdem daß die Entdedung Amerikas mit der Re⸗
formation zufammenfiel. Das ift aber nur ein äußeres Zeugnis
dafür, daß der Katholizismus überhaupt die ältefte gejchichtliche
Macht befonderd im Weften der Vereinigten Staaten if. Mit
wie andern Gefühlen trat der junge deutiche Kaplan der vierziger
Jahre in Wisconfin oder Minnefota feiner jungen Gemeinde
gegenüber, da er mußte, daß zweihundert Jahre früher die Je⸗
juiten auf diefem Boden milfioniert und gelitten hatten. Da
veriteht man erjt die Macht eined Mannes wie des Erzbiſchofs
30*
468 Briefe eines Zurüdigefehrten
IE EG CL GI GL KG GD HGB —mU— — S DE LG GO GQ GIG LEH SP LG IDG SED DB LG LG — —— — —— —— ———— ———
Henni, einer geiftig und an tiefer Wirkung alle überragenden
Figur in der Gejchichte jenes etwa feit 1830 Tolonifierten Nord⸗
weitend, den man heute den „alten Nordweiten” nennt.
Die proteftantiichen Kirchen Deutſchlands haben vor denen
Amerikas das Alter, die Ausbreitung, die Anlehnung an den
Staat, die bureaukratiſche Organifation und nicht zuleßt Die theo-
logiſchen Fakultäten der Univerfitäten für ſich. Es find zum Teil
nur äußere Vorzüge, aber ihr Gewicht ift alles in allem doch
ehr groß. Freilich groß für Die äußere Stellung und für Die
Aufrechterhaltung alle defien, was Einrichtung ift, nicht groß
für das innere Leben. Dieſes jcheint mir, wider alle Erwarten,
nicht Eräftiger zu fein als in den Kleinen, jungen Kirchen Amerikas.
Der Kirchenbefuch, bei weitem nie jo ftarf in Deutichland wie
in England oder Amerika, wo jehr viele Familien gewohnheits⸗
mäßig zweimal des Sonntags zur Kirche gehn, hat in ganz auf-
fallendem Maße abgenommen. Sehr beliebte Prediger füllen noch
die Kirchen, die jedoch im Durchſchnitt von gähnender Leere und
an Zahl und Größe weit hinter dem Wachstum der Bevölferung
zurüdgeblieben find. Man nannte mir die große Zahl gebilbeter
Männer unter den Kirchenbeſuchern als einen Lichtpunkt in dem
Dunkel diefer Teilnahmlofigfeit. Aber bei näherm Zuſehen habe
ich davon nicht viel bemerfen können. Es ift wahr, das weibliche
Element überwiegt nicht fo jehr in den Kirchen wie in Frankreich,
aber die Zahl der deutihen Männer gebildeten Standes, die Die
Kirche nicht ganz jelten und nicht aus äußern Gründen befuchen,
wie Offiziere, Beamte, Gutsbefiter, Leiter großer Arbeitermaffen
und dergleichen, die gelegentlich einmal ein gutes Beiſpiel geben
müfjen, tft noch geringer, als die Klagen der kirchlichen Preſſe mich
Batten erwarten lafjen. ch rede Hier von der proteſtantiſchen
Seite, die ich kenne. Auf der katholiſchen ift der Zufammenhang der
untern Klaffen mit ihrer Kirche offenbar noch nicht jo weit gelodert,
und die obern umſchließen zwar auch dort viele fogenannte Auch⸗
katholiken, aber feit dem Kulturkampf foll auch in diefen die Teil-
nahme an allen Tirchlichen Angelegenheiten wieder gewachſen fein.
Ungemein oft bat mich feit meiner Rückkehr nad Europa
die Frage beichäftigt, wie gerade in den Schichten, die ftolz auf
ihre Bildung find und dad Wort Halbbibung mit der äußerften
Beratung außfprechen, ein fo großer Mangel an wahrer ge=
ſchichtlicher Bildung möglich fein Tann, wie ihn die weitverbreitete
Ablehnung aller kirchlichen Gefinnung vorausjeßt. Iſt das nicht
eigentlich das ftärkfte Zeichen von halber und feichter Bildung,
Briefe eines Surüdgefehrten 469
wenn ich hochmütig die Form ablehne, in bie fich der Gottes-
glaube einer Hinter mir liegenden Zeit ergofjen hat, jo wie man
auf beliebige andre „überwundne Standpunkte“ überlegen binab-
ſchaut? Ach wohne und Heide mich anders als vergangne Ge-
ſchlechter, aber ich kann doch nicht etwa ebenfo leicht ihren Glauben
ablegen. Es geht nicht ohne Schädigung meiner jelbft und derer,
die um mich find, daß ich auß den hohen Hallen der kirchlichen
Gemeinschaft, an denen viele Geichlechter mit dem Beiten ihrer
Kraft gebaut haben, in eine Bretterhütte meines eignen armen
Planen und Wirkens überfiedle. Es gibt Dinge, die man nicht
allein tun kann. Alle find einverftanden, daß fte nicht, jeder für
fih, Staaten bilden können; aber an der Zerbrödlung der alten
Kirche nach einzelnem Gutdünken zu arbeiten, halten fie nicht für
Raub. Die Hurzfichtigen! US ob irgend etwas auf der Welt
imftande wäre, dad Gefühl zu erfeben, da3 in der Kirche in-
mitten der von denfelben Gedanken und Empfindungen getragnen
Mafje der Andächtigen ung bejeelt und erhebt.
Mir jcheint e8 natürlich, bis zur letzten Möglichkeit in dieſer
Gemeinſchaft zu verharren, mit deren Beſtand ja jogar dad ganz
Außerliche des erhabnen Kirchenbaus zufammenhängt, wo ſich nun
feit Jahrhunderten die Gemeinde verfammelt. Die Biveifel des
Einzelnen an Einzelheiten kommen dabei nicht in Betracht, fie
können den Gottesglauben und die Grundgedanken des Chrijten-
tums nicht erichüttern. Es find ja auch nicht die Zweifel, die die
Abwendung von der Kirche herborgebradht haben, jondern das
Gegenteil, die Dentträgheit. Die allgemeine Abneigung unſrer Zeit
gegen religiöſe Vertiefung ift der Grund, warum ſich gerade die
Maſſe der jogenannten Gebildeten lautlos zurüdzieht. Sie wollen
beileibe fein Aufjehen erregen, wollen äußerlih „mittun,“ Taufen
und Trauungen wollen fie jogar mit kirchlichem Pomp begehn, und
jelten bat einer den Mut, die legte Konſequenz zu ziehn und das
firchliche Begräbnis abzulehnen. Welche Heuchelet, welche Feigheit
und welche Oberflächlichkeit! Und das gerade auch in den Kreifen,
von denen die Nation geiftige Impulfe und Aufllärung erivartet.
Man kann nicht jagen, daß die deutichen Geiftlichen in ihren
Predigten die Fragen des Öffentlichen Wohl unberührt laſſen,
wie in der Zeit der Reaktion. In den fünfziger Jahren wurde
diefer Vorwurf vielen nicht mit Unrecht gemacht; heute kann man
bon der Kanzel freie und einfchneidende Meinungsäußerungen
hören. Schade, daß fie nicht felten den Eindrud beftellter Arbeit
machen, wie bei der ftraffen Organifation aller deutfchen Kirchen
470 Briefe eines Zurückgekehrten
natürlich ift, und noch mehr ſchade, daß fie fo oft die kleinliche
Eonfeifionelle Gehäſſigkeit offenbaren, die von der Kirche um fo
ferner gehalten werden follte, je breiter fie fi) in der deutichen
Tagesprefie macht. Der allgemeine Rückgang de religiöfen
Lebens gibt einen jehr dunkeln Hintergrumb ab für den Hader
der Konfeifionen, den man glüdlicherweije in diefer Urt nur in
Deutichland findet. Man kann fi) der Vermutung nicht ver⸗
ließen, daß fich viele Blätter dieſes traurigen Stoff nur be
mächtigen, um damit dem echt deutichen Geſchmack breiter Leſer⸗
maſſen an Fleinlichen Zänkereien entgegenzulommen. Das gehört
zu den unerwartetften Erfahrungen, daß ich in großen deutichen
Zeitungen dieſelbe Freude an diefer häßlichen Zänkerei wieder-
fand, die ih in Miffouri und in Wisconfin als den Ausfluß der
mangelhaften Bildung untergeorbneter Pfennigihriftfteller mit Ver⸗
achtung angefeh enhatte, und deren Hohlheit dort jogar die einfachen
Hinterwaldsleute bald einjahen. Leider ift es nur eine von den
vielen betrübenden Erfahrungen, die jeder machen muß, der die
deutſche Preffe von heute mit der vor einem Menfchenalter ver-
gleiht. AB damal Mark Twain feine Satire auf die ſchwer⸗
fälligen deutichen Zeitungen losließ, Tonnten wir überlegen bar=
über lächeln, denn wir wußten, daß fie taujendmal gründlicher,
ehrlicher und anftändiger als die amerilantichen waren. Es bat fid)
jehr zum Schlimmen verändert. Doc darüber ein andermal
8
Heute hörte ih in der Univerfitätölirche zu X einen be-
rühmten Pfarrer und Profeſſor über den Bergpredigtſpruch pre-
digen: Selig find die Sanftmütigen, denn fie werben daß Erd—
rei) befiten. Es war die Rede von der Macht, die die Sanft-
mut übt, und es wurden natürlich die nächſtliegenden Beilpiele
angezogen, die weltüberwindende Macht des Chriftentums und
die Macht des Weibes. Ich dachte mir, daß in unſrer welt-
politiiden Zeit auch noch andre Anwendungen hätten gemacht
werden können. Daß kein Volk auf die Dauer mit Gewalt allein
andre Völker beberrichen kann, daß es unjern deutſchen Methoden,
andre Völker zu beherrfchen, vielfach an der ruhigen Sanftmut
gebricht, die nicht der Ausdrud der Schwäche, jondern der größten
Sicherheit des Willend und der volliten Selbſtbeherrſchung ift,
das wären jehr zeitgemäße Auslegungen geweſen gerade bei diefer
Zuhörerichaft, in deren Stubentenreihen jo mander zulünftige
Briefe eines Surüdigefehrten 471
Beamte, vielleicht auch ein zukünftiger Kolonialftaatsmann jaß.
Wir befiben nur das, was uns nicht befitt. Nur die Eigen-
Ichaften befähigen ung, ein Ear erfanntes Biel auf dem kürzeſten
Wege zu erreichen, Die wir fijer in den Bügeln haben. Beim
Vergleich der germaniichen Völkerzweige erichienen mir immer die
Deutichen und die Holländer durch die Verbindung von Bhlegma
und Erregbarkeit audgezeichnet. Am Tropenkoller laborteren fie
beide mehr als andre. Ich teile nicht die native Anficht eines ameri-
kaniſchen Profeſſors, der in dem ſyſtematiſchen Betrieb der Leibes⸗
übungen den einzigen Grund fieht, warum ſich Die Anglofelten
beſſer in der Hand hätten. Er jagt: Das täglidde Meilen der
Kräfte birgt die Gefahr der rohejten Prügelei, wenn nicht feite
Regeln eingehalten werden; ich kann mich nicht der Gefahr auß-
feßen, daß mein Gegner beim Fußball Hand an mich legt, wenn id)
nicht ganz genau weiß, daß er gewifle Grenzen nicht überjchreiten
wird. Inſofern jedoch als die Spiele, in denen Entichlofjenheit
und Kraft den Ausfchlag geben, auf die Selbftzucht heilſam zurüd-
wirken, ift auch in dieſer Anficht ein Körnchen Wahrheit.
Über die ganze Wahrheit liegt doch wo anderd. Daß der
Einzelne fi der Gefamtheit fchuldet, diefe Erkenntnis muß ung
ganz durchdringen. Wir haben fie noch viel nötiger als andre
Böller, denn wir find durch unfre geographiiche Lage und durch
die feilartige Einzwängung unſers Bollstums zwiſchen Slawen
und Romanen, endlich durch die Unmöglichkeit, verpaßte Gelegen-
heiten zu überſeeiſchen Verjüngungskolonien noch einmal zu finden,
gezwungen, Kräfte für die elementaren ragen von Sein oder
Nichtjein aufzumwenden, die andre fparen können. Sa wenn es
uns gelingt, und noch Jahrhunderte geſund zu erhalten, während
andre dem Greilentum unrettbar entgegenfiechen, können fich auch
die Außern Dafeinsbedingungen noch einmal günftiger geftalten.
. Aber einftweilen fommt es doch vor allem darauf an, daß wir
uns Die eigentümliche Lage des Deutichen Reich! und Volkstums
vollftändig Far machen und und und die, die und nachfolgen,
Dafür erziehn. In überjeeilchen Ländern wird ſich vorausſichtlich
fein Gebiet ben Deutjchen erjchließen, wo fie durch Ackerbaukolo⸗
nifation ein geichloffenes Deutſchland aufbauen könnten. Sch ſage
ein gejchlofjenes, gerade weil ich für Millionen Deutiche Die
Hoffnung bege, daß te 3. B. im gemäßigten Südamerila, und
zwar noch viel meiter ſüdlich, als fie jeht in Argentinien und
Chile eben, und auf den fühlen Hocländern des tropilchen
Amerikas in zeritreuten Gruppen Gebeihen finden werden. Die
472 Briefe eines Surädgefehrten
beften Gelegenheiten find vor Jahrhunderten verloren worden,
und fein noch jo fcharfes Schwert nimmt den Anglofelten Nord⸗
amerifa und den Ruſſen Nordafien ab. Die Vereinigten Staaten
von Amerila und dag Neich des weißen Baren können zugrunde
gehn, die Amerikaner umd die Ruffen wachſen fort wie das Gras
ihrer Steppen. In Südamerika können nod viele Millionen
Deutihe Raum finden, in Auftralien einige Millionen, in Sübd-
afrifa einige Hunderttaufende. Aber alle diefe nur neben und
zwifchen andern Völlern, deren Auswandrerftröme neben und
zwilchen den Deutjichen und neuerdings fie an Zahl weit über-
treffend denjelben Zielen zufluten. Darauf kommt es mın aljo an,
daß die Deutjchen im gedrängten Wettbewerb mit andern Böllern
ihr Gedeihen finden, wobei ſich unfehlbar Unterſchiede an Kraft des
Schaffens und fogar des einfachen Beharrens heraußftellen werden,
die mit der Beit aus dem Völkerdurcheinander ein Böllerübereinander
machen müſſen. Vielleicht ift die größte Frage auf diefem Gebiet
die der Zukunft des romanischen Amerikas. Wird ed dem immer
mächtiger anjchwellenden Strom italienifher Auswandrer gelingen,
in Sübbrafilien und den La Plataländern die dort borhandne,
noch dünne romaniſche Bevölkerung zu erneuern? Wenn, wie
wir glauben, nicht, fo forge Deutfchland beizeiten, ſich dort eine
ſolche Summe von feftgewurzelten Interefien zu Ichaffen, daß der
unverjchämte Anſpruch Nordamerikas, auch jüblih vom Golf
von Mexiko zu berrichen, ohne weiteres zerichelt. Das kann
freilich nur die Tüchtigkeit der Deutſchen als geichlofjene Volls⸗
perjönlichfeit vom Gejandten bis zum deutſchen Rinderhirten im
Gauchogewand fchaffen; aber nicht bloß die Tüchtigfeit der Herz-
und Armmuskeln, fondern auch die liebendwerten Eigenschaften
eines Nationaldharalterd, die verhindern, daß die Achtung des
Schwädern in Furcht und Haß ausarte.
In Europa liegt die Zukunft Deutfchlands in der Erhaltung
jeiner Machtſtellung und in der Feſthaltung aller Vollögenoffen:
zwei Aufgaben, die man immer mehr als auf einer Linie ftehend
anerlennen wird; hier muß und die Verlegung unſrer Vollögrenze
jo empfindlich fein wie die Heinfte Beſchädigung unſrer Staats⸗
grenzen. Herner liegt e8 aber Deutichland vermöge feiner geo-
graphiſchen Stellung ob, feine volle Kraft an den Zuſammenſchluß
der mitteleuropätichen Mächte zwiſchen den Weltmächten England,
Rußland und Nordamerika zu ſetzen. Und dieſe Aufgabe ift die
wichtigfte und vielleicht nicht die ſchwerſte von den dreien. Das find
Aufgaben, die fo verfchiebne, faft widerftrebende Kräfte zur Arbeit
Briefe eines Zurückgekehrten 473
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rufen, daß man mit den alten Regeln, die aus der unendlich viel
einfahern Geſchichte der ältern Mächte Europas oder der Kolo⸗
nialgejhichte Hollands oder Englands oder gar der römiſchen, auf
die man uns noch hinweiſen möchte, bei und nicht auskommt.
Unfer Fall liegt viel verwidelter als alle frühern, denn von der
gemeineuropätfchen Krankheit der Bölferzerflüftung und der Völfer-
verfeindung ift Mitteleuropa am ſchwerſten heimgeſucht, und
während wir für die Welt draußen freien, weiten Blid und
große Auffaffungen nötig haben, will und der Hader der Natio-
nalitäten, der Konfeffionen und der wirtfchaftlichen Intereſſen⸗
gruppen Kleine Geifter und enge Herzen anerziehn, wozu die liebe
Prefle, die von ber Dummheit und den fchlechten Neigungen ihrer
Leer viel bequemer und einträglicher lebt als von den guten, aus
beften Kräften beiträgt.
Aus Hein wird Tleinlid. So geht es in der Sprade, und
fo geht es in der Sadje. Kleine Berhältnifje machen Kleine Leute.
Es gehört ein Getft von einer gebirgsquellbaften Tiefe und Friſche
dazu, auf der Schufterbanf Welträfel zu löſen wie Jakob Böhme.
Wie mußte Bismard wachen, um mit fünfzig eine deutfche und
mit fiebzig Jahren eine Kofonialpolitif zu machen, die beide er
mit dreißig und vierzig noch gar nicht hätte begreifen können!
So ift denn auch in den gejamteuropäifhhen Dingen die Saat
weitaußgeftreut, aus ber Heine Gemüter aufmachen, und fie ftreut
fi) wie Unkraut mit bejchwingten Samen immer neu aus.
Wir haben es in Amerika drüben allerdings jehr leicht, die
deutfche Nationalitätenpolitit engherzig zu nennen, wenn wir fie
mit dem WVeitoffenftehn aller Tore des großen Landes vergleichen,
duch die Einwandrer jeder Raſſe, Sprache und jedes Glaubens
frei einziehn, außgenommen die Chinefen und die Japaner, aus⸗
genommen ferner die armen Teufel, die gar nichts haben, und
die Räudigen und fonft Unbeilbaren. Stelle ich mich aber in
die Mitte dieſes meines alten Landes und jehe die 220000 Fran⸗
zofen in Elfaß-Lothringen, Hinter denen zweihundertmal jo viel
Franzoſen in Wefteuropa wohnen, fo erwäge ich, wie nötig für
Deutichland in Ermanglung andrer, natürlicher Grenzen erften
Ranges die feite und fichere Sinftellung feines Volkstums in
diefem Meer von Völkern ift, das von allen Seiten anſchwillt;
da begreife ih dann recht gut, daß man tut, was möglid) iſt,
aus diefen Franzoſen Deutfche zu machen. Die deutiche Politik
in Nordſchleswig findet noch weniger Beifall als die reichSländtiche.
Es mag fein, daß fie noch Öfter zu Heinlichen Mitteln greift,
474 Briefe eines Surüdgefehrten
die niemand billigen mag. ber dieje 139000 Dänen find in
ihrer Weife gerade fo unbequem wie die Franzoſen. In gewiſſem
Sinne find diefe 360000 Menſchen im Weften und im Norden
eine größere politifche Gefahr als die zehnmal zahlreichern Polen,
denn fie jtügen ſich auf Staatsweſen ihres eignen Vollstums, denen
fie auch politifch früher angehört haben, und zu denen nod) immer
ihre Sympathien fie hinüberziefn. Man fol zwar diefe Gefahr
nicht übertreiben, da ja die Maſſe jedes Volles glüdlicherweihe
mit den Sorgen und Freuden ihre Vebend viel zu ſehr be=
ſchäftigt iſt, als daß fie die Vertiefung und die Leidenfchaft
an die nationale Frage hinzubringen vermöcdhte, von denen wir
mande Angehörigen der höhern Klafien befeelt finden. Aber
jedenfalls ift die allmähliche Gewinnung diefer teild ſich wider-
willig, teil jehr paffiv ftellenden Nordſchleswiger und Elſaß⸗
Lothringer eine wichtige Aufgabe, die nicht bloß unfern Politikern
und Beamten, fondern infofern jedem Einzelnen von uns geitellt
ift, als die am ficherften zum Siege führende Waffe die Über-
legenheit in Kultur und Sitte ift, die fi unmwilllürlid die An=
erfennung ihrer Überlegenheit erzwingt. Unb das ift eben der
Bunt, wo diefe Nationalitätenfragen, die neben andern Hein zu
fein fcheinen, mit ben großen Fragen zujammenhängen, die die
Bufunft eines Volls überhaupt betreffen.
Seitdem die Vertretung von Benniylvanien noch vor der
Unabhängigkeit beſchloß, es feien ihre Verhandlungen nur in
einer Sprache zu führen, und dazu die der engliihen Minder⸗
beit erfor, ift im „Lande der Freiheit“ daran feitgehalten worden,
die Okonomie der Beit und der geiftigen Arbeit verlange, daß
in einer politifchen Gemeinfchaft, wie verſchiedenſprachige Gruppen
fie auch zufammenjegen mögen, eine Sprache da8 gemeinfame
Mittel der PVerftändigung und des Werftändnifies, des tiefern
Sichverftehng, Sichlennenlernens jei. Das wird ald Forderung
des Staate8 und wie etwas Selbftverftändliches hingenommen.
Andres fordern die Bebürfniffe des täglichen Lebens, andres die
böhergeftimmte Humanitäre und politifche und willenichaftliche
Meinungsäußerung. Man greift zur Mutterſprache, die ſchon
im Namen an die familienhafte Gejchlofienheit des Stammes er-
innert, der feiner Natur nad) unter dem Staat ſteht, um an
das Mitleid aller für unglüdliche Vollsverwandte zu appellieren,
die allerdings vielleiht fein Wort in diefer Sprache jchreiben
fönnen, man beipricht in ihr die Intereſſen der Schule und der
Kirche, die über Die engen Örenzen der Völlerbruchſtücke hinaus
Briefe eines Zurückgekehrten 475
bis an die der Menfchheit reichen, und verftändigt ſich in ihr vor
allem über daß, was Die Ausgewanderten mit der Heimat noch
zufammenhält. In dieſer Weife haben nicht bloß die Deutichen,
fondern innerhalb dieſer wieber fogar die Quremburger ihre be=
fondre Literatur und Preſſe in Amerika gepflegt, und fo neben
den Iren die Gälen und die Walifer und unzählige andre. Sogar
unter den Anglofelten haben politiſches Bewußtſein Bruchteile
diefer Yamilte ausgebildet, die ſich in der fernen Inſelheimat
nicht als Vollsperſönlichkeiten fühlten. In diefer Weiſe bildeten
fi die feit zufammenhaltenden Nachlommen der chottifch-prote-
ftantifchen Einwandrer in Nordoftirland, kurʒweg Irish Scotehmen,
Iriſche Schotten, genannt, zu einem ebenfo tätigen wie felbftbe-
wußten Völkchen mit einer ganz reipeftabeln Literatur aus, über
die man fi) in des liebenswürdigen Whittier Prose Works unter-
richten fann. Niemand kümmert fi) politiih um all das, da
von allen die Vorausfegung ftillihweigend anerkannt wird, dem
Staat werde gegeben werden, was er braudht, und der Verkehr
werde fich das feine ebenfalls zu ſchaffen wiſſen.
Hoffentlih kommt man in ähnlicher Weiſe auch in Deutſch⸗
land und in Hſierreich⸗ Ungarn dazu, die Staatsnowendigkeit ſcharf
gegen das Lebensbedürfnis der untergeordneten Glieder, der
Stämme abzugrenzen.
Die wichtigſten Yragen alle ziehn in Deutichland langſam
nah Oſten Hin. Dort liegt die größte Gefahr, der Zug des
Dftens nad Weiten, der nur über Deutfchland weggehn Tann;
und auch die größte Zukunft. Leider ftehn wir aud) bier im
Bann einer Geſchichte, die uns in den polnischen Angelegenheiten
eine Politik aufnötigt, die wir offenbar nicht gewählt haben würden,
wenn wir überhaupt hätten wählen können. Dem großen eurafiichen
Slawentum, das vom Dnjepr bis zum Stillen Ozean reicht, ein
weitenropäifche® entgegenzuftellen, das ſtark genug war, bie
Verwirklihung des alljlamiichen Gedanken zu Hindern, lag im
Intereſſe Mitteuropad. Es it die Politik, die Ofterreih- Ungarn
unter mandyen Schwankungen und Fehlgriffen befolgt, und zu der
wir ung gemeinfam mit ihm auf der Balkanhalbinſel befennen,
jowelt wir e& für nötig halten, dort Stellung zu nehmen. Bor
allem diente ja befanntlich aud) die Einpflanzung einer deutjchen
Dynaftie in Rumänien diefem Gedanken mit großem Erfolge. Es
ift weiter befannt, wie im Norden ſchon von dem Nüdfluten der
Deutihen nad) Dften im frühen Mittelalter an die Bedingungen
für eine Einfchiebung polniſcher und litauiſcher Staaten zwiſchen
476 Briefe eines Surüdgelehrten
Deutichen und Ruffen durch eine Ineinanderdrängung der Wohnſitze
beſonders ber Deutfchen und der Polen erjchwert und durch Den
Berfall de polnischen Staat8 unmöglid) gemacht wurde. Tort
renzt nun Deutſchland politiih an Rußland, aber das deutſche
Volkstum iſt durch das polniſche und das litauiſche vom ruſſiſchen
getrennt. Wird die großſlawiſche Idee das Polentum für ſich
gewinnen? der werden die hiſtoriſchen Erinnerungen und die
Gegenjäbe zwiſchen dem Chriftentum des Weſtens, das von Rom,
und dem des Dftend, dad von Byzanz ausging, jede Verbindung
auch in Zukunft unmöglih machen? Die Deutſchen fchmeicheln
fi, e8 werde jo fein, und nehmen Mickewiczd Dichterwort: „ES
tft ein alter Haß im ſlawiſchen Geſchlechte“ für ein wahres Wort.
Ich begreife, dab fie es glauben wollen, aber mit meinen
alten Augen, die an amerikaniſche Dimenfionen gewöhnt find,
fehe ich die Unterjchiede nicht fo groß, und da ich fo viele Völlker⸗
unterjchiede fi) Habe verwilchen jehen, kann ich nicht fo feſt ge=
rade an die Dauer diejer glauben. Wenn man die Hinreißende
Macht geiehen bat, womit räumlich große politische Gedanken
auf die Gemüter der Menichen wirken, legt man größere Maß-
jtäbe auch an die europäiſchen Verhältniſſe. Wie in Amerika zuerft
der Staat von Meer zu Meer, dann der Grundſatz „Amerika
den Umerilanern,“ endlich der Gedanke einer großen pazifiichen
Politik, den man in Europa noch immer nidht recht erfaßt bat,
ſchwungradgleich die politiicden Auffafjungen in Bewegung und
im Wachſen erhalten hat, ift im höchſten Grade Iehrreid. Es
ift ja möglich, daß Kleinere Differenzen, wie die alten zwiſchen
Nord und Süd, oder die neuern ziwilchen den atlantiſchen und
den Miſſiſſippiſtaaten, darüber nur eingefchlummert find. Aber
jedenfall8 fchlummern fie einftweilen ſehr tief. Wenn ih nım
febe, wie den großen politifchen Gedanken die großen wirtſchaft⸗
lichen Entwürfe folgen und auch nicht etwa bloß Entwürfe bleiben,
fo muß ich jenen eine fchöpferiiche Kraft zuerfennen, die durch
gewaltige Werke wie die Pazifilbahnen oder der Interozeaniſche
Kanal oder die Kanäle im Seengebiet vereinigend wirken. Ich
meine, in Amerika gelernt zu haben und diefe Lehre auf Europa
anwenden zu bürfen: die Kunſt der Politik befteht zu einem jehr
großen Zeil darin, die politifchen Konflikte auß engen Räumen,
wo fie fi wie Gejchwüre einfrefien, herauszuführen. Darin liegt
das Heil, das die Erweiterung der Räume der Welt gebradt
bat. Es ift feine Beſchwörung der Übel, aber eine für lange
hinaus heilfame Verteilung. Auch daB gefunde Wachstum der
Briefe eines Zurüdgefehrten 477
Staaten neigt dazu, fich in beſtimmten Richtungen zufammten-
zubrängen und in andern dafür zurüdzubleiben. Beſchränkten
Erwägungen, faft Inſtinkten folgend, ging der ungelenkte Strom
deutſcher Auswandrung ein Zahrhundert lang nad) dem Norden
der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Daß er fo viel Größeres
für da8 ganze Deutſchtum in Dfteuropa, Vorderafien, Südafrika
und Südamerika leiften Tonnte, fah damals fein einziger „Staat$-
mann“ ein, d. h. feiner erkannte die Aufgabe, die von Rechts
wegen bie größte hätte fein müſſen. Einftweilen jehe ich nur
einige wenige fortgeichrittne Geifter in ganz Mitteleuropa an der
Arbeit, ihre Volldgenofjen zu lehren, Völker⸗ und Staatengrenzen
zugunften eine größern Zufunftögebilde weniger zu betonen
als das, was Völker und Staat einige. Auffallenderweife ver-
ſchließen fich diefem Streben am allermeiften die, die inner» und
außerhalb Deutſchlands einen hervorragend unpolitiihen Götzen⸗
dienjt mit dem Namen Bidmard treiben. AB ob nicht gerade
Bismarck, zuzeiten bewußt, zuzeiten inftinftiv, in der Heraus⸗
bildung des Reichs aus dem Zollverein, in der Tripelallianz und
in der Kolonialpolitit dem gefunden Trieb: Hinaus aus der Engel
fo mächtig gedient Hätte. Auf die Gefahr Hin, daß man mir
die Eigenſchaft eines Realpolitikers abſpricht, muß ich erflären,
daß ih den zehnten Teil der Worte und der Tinte, die in der
jentimentalen Burenbegeifterung verjchwendet worden find, auf
den mitteleuropäiichen Zollverein vertvandt ald eine ungemein‘
glüdlihe nationale Anlage betrachten würde. Yür mich gibt es
überhaupt in der europäifchen Politik weitlih von der Weichſel
feine größere Frage ald eben diefe des Zuſammenſchluſſes der
Völker und der Staaten, die zum Teil feit Sahrtaufenden nur
Gegenſätze unter fich anerkannt haben, zu einem Bunde, der zu-
nächft ihre wirtichaftlichen Intereſſen gegen die Rieſen im Dften
und im Weſten Träftig vertritt. Welcher Macht Europas ift aber
diefe Frage näher gelegt ald dem im Herzen des Erdteils Tiegenben
Deutichland? Ich wage zu behaupten, daß feine eigne Zukunft nod)
mehr als die von Mittel- und Wefteuropa von der Stellung ab-
Hängt, die e8 dazu einnimmt.
Bi
Die Rönigin der Nacht
57
Dad Märchen bringt die verlorne Krone dem unerlannten
Königsfind in Höhlen, im Waldesdunkel, in düſtern Köhlerhütten
zurüd, und in ähnlichen dDämmerigen Umgebungen findet der in
füßer Hoffnung bie Welt durchfragende Prinz die Prinzeſſin, die
feiner harrt wie ein Veildden im Gebüſch, und wenn fie hinaus⸗
treten, wiflen fie nicht, ob ihr Glück fie mehr blendet oder der
Lichtſtrom des hellen Tags der wirklichen Welt. Auch ich fite
mandymal in einem lihtarmen und daͤmmerungsreichen braunen
Känmerlein, von Märchenduft umweht, in Träume verfunlen.
Es iſt aber ein gajtlidher, ob feiner gemütlichen „Ummelt“ bes
rühmter Raum: die Trinflemenate de... . Hofs in einer
Stadt Mitteldeutichlands. Nur handelt es fich für mich nicht um
Märchen, die mich darin befuchen; von denen muß ich leider mit
Rudolf Baumbach jagen:
Alſo wars in alten Seiten
Heute kommt das nicht mehr vor!
Vielmehr trage ich felbit die Märchengedanten Binein und fuche
fie dort mir zu deuten und zu erllären. Denn mir ift die ganze
Schöpfung ein Rieſenmärchen, und jede Schuppe von einem
Schmetterlingsflügel ein tiefes Geheimnis. Deshalb erlebe ich
jeden Tag merk⸗ und denkwürdige Geichichten, und über dieſe
Mätjel der Wirklichkeit finne ich dann in dämmernder Erholung
in diefen vier dunkelgetäfelten Kubilmetern, deren zwei weiß-
verhängte Yenfterchen auf einen Gang gehn, der einen andern,
im rechten Winkel auf ihn ftoßenden fragen muß, wie e8 draußen
außfieht, wenn er vom Wetter und von der Gaſſe etwas wiflen
wil. Ein Luftloh, das man glüdlicherweile fchließen Tann,
duchbricht die braune Rüdwand nad einem andern Dämmer-
raum, auß dem die Stimmen gedämpfter Unterhaltumgen und
der zinnerne Wohlklang zugellappter Dedeltrüge herüberdringt.
Rayel, Glückamſeln und Träume 81
482 Die Königin der Nadıt
Meift figen einſame Becher darin, und man muß ihr Idiom
fennen, um mit ihnen Zwieſprache halten zu können. Durch
fange Übung verftehe ich ein bifschen davon; da8 langſame Öffnen
bes Dedeld, dem ein ftiller Blid auf den rahmigen Schaum
folgt, dann ein Schlud, und ein ſachtes Bullappen verraten mir
den Gaft, der gute Stimmung, etwa wie Weihe, mitgebracht
bat. Wenn ich daß Höre, fühle ich mich von gleicdhgeftimmter
Seele angehaudt und antworte, indem ich mein eigned Behagen
noch vertiefe, hoffend, e8 werde durd) Lehne und Wand hinüber-
wirken. Diffonanzen von heftig zugeflappten Dedeln, die wie
Ausrufe des Ärgers Hingen, oder von unmutig weggerüdten
Krügen, die an Seufzer erinnern, nehme ich nicht Hoch auf, weil
ih aus Erfahrung weiß, daß eine braune Dämmerung, vereint
mit einem guten Trunk, Balfam in die Runden von „taufenb
Pfeilen des Geſchickes“ gießt, und daß dieje Heilmittel vor vielen
andern den Vorzug raſcher Wirkung haben, meiften? fchon nad)
dem erften Krug.
Bon der Dede meines Heinen Gemachs hängt über bem
alten Tiſch die Lampe, deren Licht man dämpfen kann. Man
(at fie ohnehin jo jpät wie möglich anzünden, denn es ift nicht
zu verfennen, daß ihr gelber Schein ein Fremdling in dieſen
Näumen tft, der die darin urheimiſche Dämmerung in die Eden
und Winkel verdrängt und fi mit einem flimmungßwidrigen
Lichtkreis, den er auf Tiſch und Dede wirft, als Herrichender
befunden möchte Dean braucht fein Licht, um zu finnen. Um
aber Zeitungen zu leſen oder naſchige Speiſen zu genießen, zu
deren kritiſcher Verzehrung man Licht nötig hätte, ift das offenbar
nicht der Ort. Pſychologiſch kann ich es nicht begründen, tenne
und fühle e8 aber als fichere Tatſache, daß helles Licht den
Gehalt der Luft an irgendeinem traumförbernden Etwas beein
träcdhtigt. Nervenmüden follte man dämmerige Räume anıveifen,
fie nit auf fonnige Meeresufer oder in Täler veriepen, mo
das Licht von Hellgrauen Kalkfelſen zurückſtrahlt. Unfre Voreltern
fühlten ſich in ihren Heinfenftrigen Stuben wohler als wir in
unfern lichtreichen, und jo tun es noch heute die Bauern. Nicht
mag für vieles gut fein, aber in der Dämmerung rubt fi der
Geift in Träumen aus.
So faß ich eine Spätjommertagd im braunen Stübchen,
ſann dem Grün bes beißen Walbes nad, den ich eben durch⸗
wandert hatte, und probierte e8 mit der Erinnerung an die felts
famen Lichtgeftalten, die die Sonnenftrahlen, wenn fie noch im
Die Königin der Nacht 483
ftarfem Winkel einfallen, zwiſchen den Blättern der Bäume durch
auf den Boden zeichnen.
Es gelang nidht recht. Klar war mir mohl die Eigentüm-
lichkeit der Lichtumriffe, die die Fraufen Zwiſchenraͤume des Eichen-
baumſchlags zeichnet, und daß fie auch anders gefärbt find als
unter Buchen, deren Blätter wie grüne Transparente wirken,
und unter Föhren, an deren Rinde rötlicde Töne herabrinnen.
Aber es war fo jchwer, die höchſt willkürlichen Geftalten feftzu-
halten. Man muß fie einmal photographifch feitlegen, fagte ich
mir, wie es fiherlich ſchon längft gemifjenhafte Landichafter getan
haben. Schade, daß die Wiflenfchaft nicht engere Freundichaft
mit der Kunſt Hält, meditierte ich weiter. Hier ift nun ein
Gegenstand, der mifjenswert ift, den 3. B. die Naturichilberung
recht wohl beachten follte, und von dem doch wahrſcheinlich nur
ein paar finnige Landfchafter Bericht zu geben willen. Kann
mir einer der vielen reijenden Botanifer jagen, wie ſich der
Schatten und das Licht in den Wäldern der verſchiednen Zonen
abftufen und nebeneinander legen, und in was für Farben? Ach
erinnere mid an tropiſche Landſchaftsſtizzen, ich glaube aus
Brafilien, von dem Karlöruher Keller; da war eine über-
wältigende Maſſe von grünem Licht unter den Bäumen, eine
wahre grüne Dämmerung, aber nicht nur zu fühlen, zu greifen
war ed. Ob nun dort die Menſchen ebenjo grünmüd werden
wie wir Bewohner von Städten und Kulturfteppen rot= und
gelbmüd, und fie dann ebenjo gern etwa ein SMatfchrofenfeld
betradjten wie wir eine grüne Wieſe? Ih bin ja auch durd)
tropiſche Urwälder getwandert, aber leider zu einer Zeit, wo mein
Sinn für diefe Dinge noch nicht offen war. Immerhin erinnere
id) mid) doc, daß es mir mandymal ded Grünen zuviel wurde,
beſonders in einem Gebirgstal, wo die Hänge hinauf Farnbaͤume
in lichten Hainen ftanden, der Boden mit großem Bärlappmoos
dicht bededt war, deſſen Hellgrün faft leuchtete wie Leuchtmoos
in Sichtelgebirgägrotten, an dem Waſſerrand große Begonien fich
außbreiteten, und zum Überfluß fi) noch ein mannglanger grüner
Zeguan auf dem Felſen fonnte; da ftrebte ich allerdings in Die
Höhe aus diefer grünen Welt hinaus und freute mich, als ich
auf jonniger Halde heidenartiges Gebüſch, zwetichenbaumähnliche
niedrige Eichen, die mit Orchideen beladen waren, und andre
jah, was gelblih und graulich ſchimmerte. Ob foviel Grün nicht
entnervend wirt? Dem Rot, der Segenfarbe, wird ja einftimmig
ein heroiſcher Charakter zugeichrieben.
81*
484 Die Königin der Vacht
Wie merkwürdig lag dieſe grüne Rieſenechſe da! Mes
nicht auffallend, daß die Natur in den Tropen, nicht zufrieden
mit ber Fülle des Gruus in den Pflauzen, auch noch fo viele
grüne Tiere ſchafft? Grüne Reptilien, grüne Schlangen, grüne
Fröſche, beſonders aber Die zahlreichen grünen Vögel. Zährenb
du den fetten Leguan betrachteteit, flog über dir eim grüner
Papageienſchwarm in lebhaft plaudernden Pärchen weg. Sogar
in einer Tiergruppe, bie fonit wenig grün bat, in der der
Schmetterlinge, ſchuf die Ratur in den Zrapen Grũne. Seltiam,
diefe Wiederholung. Sch möchte ed nicht Laume nennen, benn
es haudelt fi) um Werke des Schöpfer. Mber ſeltſam mutet
es an. Sollte dad Warum unfindbar jein?
Der Bote, der in dieſem Augenblick Hereintrat, fa sicht
gerade wie auß dem Märchen aus, wenn ic) von feiner voten
Dienftmanusmüge abjehe, die an den verregneten Hut des Tünb-
Imgöpilzes unjrer Herbftwälber erinnerte. Uber märchenhaft Flag
die Bolfchaft auf zierlichem Kärtchen, deren Träger er mar:
„Die Königin der Naht ift im Begriff aufzugehn. Berlieren
Sie Teine Zeit. Kommen Sie." Der erfte Gebante ſchweifte
mondwaͤrts; er ber Name des Unterzeichnerd, eines befannten
Kaltuözichters, brachte ihn dann jfogleih in die Wirklichkeit
zurück. Noch nie hatte ich das Glück gehabt, Cereus grandi-
florus in Blüte zu jehen. Es war alſo felbftverftändlich, daß ich
den Ruſe ohme Zögern folgte. Dieſer Kaltuszüchter war, wie
alle ſeinesgleichen, ein etwas fonderbarer Herr; um jo liebenß⸗
würdiger, daß er bei diefem Anlaß an mid dachte. (Erinnerte
er fich vielleicht unſers neulichen Geſprächs über die merkwürdigen
Beobachtungen des genialen märkiſchen Rektors Sprengel, ber
umterjucht Hat? Der platte — Lubbochk, 38 geſchwtzige
Bücher beutihe Verleger ſich beeilen, friſch aus dem Ofen ſcher⸗
ſehen zu laſſen, bat übrigens feiner jüngſt wieder herablaſſend
als eines armen deutſchen Schulmeiſters gedacht!
Raſch überſchlug ich bei dieſem Auf bie Summe meiner
Talteologifcgen Erinnerungen. Es tauchten vor mir auf Säulen-
loftuffe won architeltoniſcher Regelmäßigleit, Die in den Trocken⸗
wäldern des pazifiihen Saumd won Mittelamerika einfam groß
and ſtill den mittlern Baumfchlag überragen, und an die Beinen
im Hafen verftediten Opuntien ber Bergmieien bed Veljengebings
bon Eolorado, bei deren Berührung dem enttäufchten Wandrer
Die Königin der Nat 485
Hax wird, daß fogar in den Ulpenmaiten bei dreitaufenb Metern
Meereshöhe ein fühlbarer Unterichieb zwiſchen der milden Ratur
Ewropad und der rauhen des weftlicden Kontinents befteht. Auch
Schlangenkaktuffe, die in regenfeuchten Heinen Mexikos von den
Baumäften hängen, und Melonengeftaltige in Felsrigen der
Tierra templada grünten wie aus Nebelichleiern im meiner Er-
innerung auf. Aber die Königin ber Nacht hatte ich noch nie
geiehen. Gelejen davon wohl, vielleicht jogar in Adalbert Stifter
Rachſommer, wo der Dichter den Herrn des Roſenhauſes zum
Träger feiner eignen Kaktusliebhaberei macht. Alfo eine Art
Märchenbotichaft follte mich doch noch in dem dunkeln Kämmer⸗
fein erreihen! Ich Tann mir zwar biefe Kaktusblüte ungefähr
vorjtellen, es ift aber Doch eine Seltenheit, baß man ihrer an⸗
ig wird, unb etwas beiondres if fie fchon wegen ihrer
Bergänglichkeit; blüht fie doch nur einige Abenditunden und
öffnet fi dann nie mehr. Im Grunde iſt ja jebe Blüte, Die
wir jo recht ankam, ein Märchen, diefe wird aber vermutlich
jo groß und jo ſchön gebaut fein, daß fie ſelbſt den Stunpffinn
aufrüttelt, der Tein Naturwunder erfennt oder anerkemt. Und
ſchon aus dieſem Grunde werde ich mir felbft eine Wohltat er-
weilen, indem id) fie betrachte, weil mein Sinn wieder einmal
weit aufgetan werden wirb für das Schöne und Große, für das
Ratſelhafte in der Natur.
Im Vorbeigehn hob ich eine von den doppeltgeflügelten
Ahornfrüchten auf, die dad Gewitter der lebten Nacht auf den
Doden der baumbejäten Anlage geworfen hatte Es ift ja im
Grunde au ein Meines Wunder, diefe ganz gleichmäßige Aus⸗
flattung von Billionen von Baumfamen mit zwei jommetrifchen
Blattflügeln, die fo fein gezeichnet und angeblich jo wirkſam find,
das fchwere Ahornkorn zu vertragen. Und tft nicht ber Wieſen⸗
grund, den nun ſchon Spätjommer- und Frühherbftblüten:
Stabivjen, Euphrafien, Leine Potentillen mit vierblättrigen
Blütchen, Habichtsfräuter durchſticken, auch ein großes Wunder?
Jedes Pflänzchen, das fi) da fo befcheiden neben das andre
drängt, iſt Die Außerfte Spite eines Zweigs an bem großen
Schöpfungsbaum, defien Krone die Erde mit Gejteinsfchichten
vergangner Perioden bededt, und feine Abzweigung von einem
andern reiht Millionen von Jahren in die Vorzeit zurüd, und
ber Aft, dem beibe entiprofien find, noch viel mehr Millionen,
und zuletzt jehe id den ganzen Stamm bed Reichs der Blüten-
pflanzen tief in der Erde, wo die Eteinlohlen Liegen, fich von
486 Die Königin der Nadıt
dem alten Strunfe der blütenlojen Sigillarien, Riejenfarne und
Riefenbärlappe trennen. Ya es ift eine Hiftoriiche Geſellſchaft,
diefe Heinen Wiejengeiächle, mit unabjehbaren Ahnenreiben; ihre
gleihmäßige Oberfläche kommt mir wie ein Querſchnitt durch
ein uraltes Stüd Erdgeſchichte vor.
Bei dem kaftusfreundlichen Manne jagen Männer, Weiber,
Kinder und Hunde beifammen und bewunderten die Königin der
Nacht, die binnen einer Stunde mehrere volle Strahlenfränze
rein weißer Blüten entfaltet hatte. Es war wie in einem Kind⸗
bettzimmer. Man prüfte und lobte die Neugebornen und aß,
trank und rauchte leichte Dinge Dazu, bie der Gelegenheit an=
gepaßt waren. Yür den Lejer, der den Cereus grandiflorus noch
nicht perjönlich kennt, will ich eine kurze, unbotanische Beſchrei⸗
bung hinzufügen. Er denke fich ein Stämmden wie eine ver⸗
trodnete Schlange, deren Wirbelfäule kantig durch Die feft an⸗
liegende Haut jticht, das ſich unter mancherlei Bindungen hinab
und hinauf verzweigt. Außer winzigen Stacdheln trägt e8 bünne
jtrohhalmähnliche Hautanhänge, Luftwurzeln. Die Wurzeln find
fo eingerichtet, daß fie durch dürren Sand tief biß auf eine
feuchte Schicht Hinabitreben können, aus der fie Die paar Tröpfchen
faugen, die das durch feine Harte Haut gegen Verdunſtung ge=
ſchützte Gewaͤchs für die Blütezeit auffpeihern wird. Ich denfe
mir e8 aus feinem irdnen Topfe heraus in da8 Tal einer Sand»
düne, die an eine merifaniiche Bafaltklippe angeweht if Weißer
Sand, bräunlicher Stein und ungetrübter blauer Steppenhimmel:
jo denke ich mir die urjprünglide Ummelt der Königin der
Nacht. Die Farbe des Steins iſt in ihrem Stämmdhen, das
Zmeig und Blatt zugleidh ift, die Farbe Des Schnees ift in Der
Blüte, dad Gold der Sonne in den Staubfäden, die fi in
einem leuchtenden Strom aus der Blüte ergießen; die Sonne
jelbjt aber ift in der Strahlenform der Blüte, die aus zahl»
reichen ſchmalen Blumenblättern beiteht, deren Weiß etwas durch⸗
ſchimmerndes hat, das du nur mit zartem PBapierporzellan ver⸗
gleihen magit. Wenn man dad Vergrößerungsglad anwendet,
fieht man, daß der eigentümliche bleiche Glanz dieſer Blüten von
der körnigen Bejchaffenheit der Oberfläche der einzelnen Blumen-
blätter fommt. Ich kenne Kaktusblüten von bläulichem Burpur-
cot und reinem Weiß der zarten Staubfädenbüjchel, Die glänzender
find, aber keine, die an ftiller Majeftät mit diefen großen blaffen
Sternen wetteifern könnten. Da tft wirklich etwas Königinnen-
Daftes, eine Miihung von Wehmut und von Luft, und die ftille
Die Königin der VNacht 487
Frage ſcheint aus jedem Blumenkelchlein hervorzuhauchen: Warum
blübe ich bier in diefer fremden Well? Und warum tft der
Weg jo Klein von der Blüte zum Wellen? Auch der Gegenſatz
zwiſchen der Pflanzengeftalt und dieſer Blüte ift ergreifend. Bei
andern Kakteen ruft der Unterfchied zwiſchen der kriſtalliniſchen
Starrheit der höchſt regelmäßig gefanteten, gefurchten und be⸗
dornten Pflanze zu ihrer zarten Blüte, die wie ein Schmetter-
ling auf einem Kriftall fitt, unfer Staunen wach. Hier ift es
Armut und Reichtum, VBettlergewand und Strahlenkrone. Wahr-
lich, es ijt ein Märchen, das und dieſe vergänglichde Blüte er-
zählt. Und wenn man bedenkt, daß fich in ihrer Heimat Taufende
von diejen Blüten öffnen, ohne daß ein menjchliches Auge fie
fieht, jo fcheint der Reichtum und die Schaffensfreube der frucht-
baren Mutter Natur vernehmbar aus ihr zu ſprechen. Für
jahrelanges Mühen und Kargen im Aufbau des dürren Stengel»
und Blättergerüfts fiehe hier den Lohn in der überraichenden
Blütenichönheit, der nur ein Alter von einigen Stunden bes
ſchieden iſt.
Bei uns war zum Glück kein Zweckmäßigkeitsfanatiker in
der Stunde voll Weihe, in der wir das ſchöne Gebilde be=
trachteten. Sonſt hätte er, fidher nicht verfehlt, ung zu belehren,
daß eigentlich gar nichts Überrafchended an ber ganzen Gefchichte
jei ala höchftens unſre Bewundrung. Es komme eben darauf
an, die Fortpflanzung der Spezies Cereus grandiflorus ſicherzu⸗
ſtellen, koſte es, was es wolle. Daher die —** große Blüte.
Se kürzer ihre Dauer, deſto auffallender ihr Äußeres, das be⸗
ſtimmt ſei, mexikaniſche Brummläfer, eitle Schmetterlinge oder
dumme Hummeln anzuziehn, damit ſie den Blütenſtaub von einer
Pflanze zur andern übertragen. Einige Pflanzen erzeugen tauſend
kleiner Blütchen, die ſommerlang duften, andre wenige große,
denen eine ganz kurze Lebenszeit beſchieden iſt. Es kommt eben
auf die Umſtände an, unter denen das eine und das andre
zwedmäßig iſt. Im Grunde ſeien die Einrichtungen vieler Blüten
heimiſcher Pflanzen bemerkenswerter, die z. B. den Zweck er-
reichten, den Blütenſtaub auf das zart behaarte Rückenſchild
der Biene abzuflopfen, die, wenn fie dann in ber Nachbarblüte
Honig jammelt, ihn an deren Stempel befruchtend abjitreifen
müffe Und nım gar die Fälle von Nahäffung, wo die Neſſel
die honigreiche Taubnefjel nachahmt, ſodaß fie von Inſelten an⸗
geflogen wird, die ihren Irrtum erſt einſähen, wenn der Zweck
erreicht ſei.
488 Die Königin der Vacht
Ich fage, zum Glück hatten wir feinen Zweckmäßigkeits⸗
fanatifer unter und und durften ungehemmt uns unfrer Be⸗
wunderung der Schöpferphantafie hingeben, die dieſes Wert neben
Millionen andrer geichaffen bat. Bon des Amethyſten, den bu
am Halſe trägft, „veildenblauem Gewand,“ das in einer Berg-
kluft entitanden ift, wo nicht von Befläubung, Befruchtung und
Iharffinnigem Hinterdaslichtführen törichter Inſekten die Rede ift,
bis zu der Kunft und Pracht eines Menichenanges ließen wir bie
Schönheiten der Natur an un vorübergehn. Wer möchte leugnen,
daß e8 darunter einige ehr zmedmäßige Mechanismen gibt? Wenn
Millionen Sandlörner übereinander liegen, werden fid) Doch wohl
einige davon auf das zmedmäßigfte eng aneinander paflen.
Was wollen aber diefe paar BZwedmäßigfeiten jagen, in
denen: die Natur fich jelbft zu helfen fcheint, neben der Maffe
von großen und ſchönen Bildungen, die nur eine Künftlerphantafie
bingezeichnet haben Tann? Es könnte ja alle jo ganz anders
fein, gemeiner, Häßlicher. Und in Wirklichkeit, wie wenige® in
der Natur dürften wir wagen, häßlich zu nermen! Wir wollen
es jeboch gar nicht fo nennen, denn wir fühlen, daß unfer Urteil
und unjer Geſchmack nicht an die Schöpfungen der Natur heran»
ragt. Die Natur hat ihre Schönheitögejebe, die umabhängig find
von ben Eriftenzbedingungen ber einzelnen Geichöpfe Die Natur
tut fich ſelbſt Genüge in der Ausbildung des Schönen, unbe
fümmert, ob es mir oder der in Blumen bonigjaugenden Hummel
Augen ober Vergnügen macht. Wir fennen und wiflen über:
haupt nur einen Heinen Zeil des Schönen, deſſen fie fähig ift,
ſchon weil ungeheuer viele einzelne Geſchöpfe und ganze natür⸗
liche Verwandtſchaftsgruppen untergegangen find. Was die Schöns
Beiten eine Waldes riefiger Bärlappbäume waren, in denen
Bögel noch nicht nifteten und fangen und Schmetterlinge noch
nicht flogen, wifjen wir nicht. Und welche Kriftallbildungen Die
Erde in ihrem Innern erzengt, ift und unbekannt. Wir jehen
einen Strom von Flabenlava, die aus Strähnen, Zöpfen, Wirbein,
Sinoten des jäh geflofienen Geſteins zufammengewirrt ift, ein
Bild der Berftörung. Daran finden wir nichtd Schöne; nur
das Erhabne der Einfamkeit unter den gigantifchen Maſſen be=
wegt und. Aber bei der Berwitterung dieſes ordnungslos hin⸗
gegofienen Feuergefteins fallen Friftalle von gefebmäßiger und
zugleich zierliher Bildung heraus, die fid) zu ihrer Bildungs-
ftätte wie die Perle zur Mufchel verhalten. Für wen war man
dieſe Schönheit beftimmt? "
Die Königin der Nacht 489
Wenn man von den Beziehungen zwiſchen Blumen unb
Inſekten oder honigſaugenden Zwergvögeln ſpricht, handelt es
fih um Tiere mit hoch entwickelten Sinnen. Aber wie iſt es
mit der in allen Yarben ftrahlenden und jchillernden ſtummen
nnd blinden oder nur Licht, aber faum Farben empfindenden
Bevölferung des Waflers? Mit den filbernen oder goldnen
—— den präctigen Gärten von Seeanemonen und Korallen,
den ſchöngewundnen Schaltieren, den bunten Nacktſchnecken und
endlich den an Sinneßempfindung tiefftehenben, aber in zierlichtten
Formen gebauten Schleimtieren, die man NRadiolarien, Rhizo⸗
poden, — nennt? In der Organiſation ihres Körpers,
ber nichts als ein Häufchen lebenden Schleimß ift, ftehn fie auf
der nnteriten Stufe im Bau ihrer Hall» und Biegelgehäufe er-
reichen fie mit das Höchſte an Schönheit und Regelmäüßigkeit.
Dieſe feinen Gebilde, die überdies größtenteil® ungemein klein
find und nur durch das Milroflop gejehen werben können, haben
fiherlich niemand zu gefallen. Sie find, vergleichbar dem Kriftall
der Lava, nicht beftimmten Zwecken zuliebe geichaffen, ſondern bie
Natur bildet fie, weil fie fie bilden muß, fid) jelbft zum Zweck,
weil es jo in ihren Geſetzen liegt. Nicht felten find niebere
Tiere mit nefielnden Organen von beftiger Wirkung auge
ftattet, die jede Annäherung eines fremden Tieres hindern follen,
und zugleich Ioden fie durch die Leuchtenbften Farben und die
Ichönften Formen an. Ber löft biejen Widerſpruchꝰ
In meiner Erinnerung taucht ein Bild aus den bayriſchen
Boralpen auf. Ber Kahn trägt mich auf ben Tichtblänlich-
grünen See hinaus, deſſen unteres ſeichtes Ende eine won weißen
und gelben Seerofen dicht durchflochtene Schilfwilbnis if. In
den tiefern Gräben fahren wir zwiſchen unzähligen fchtwinnnenden
Blüten dahin, an deren Bau mic einigermaßen dieſe Königin
ber Nacht erinnert. Auch die Schönhelt ber weißen Seeroie
Hegt in dem zarten Weiß der Kränze von Blumenblättern, bie
die Roſette goldgelber Staubfäben umgeben. Beide wirlen zu⸗
jammen wie ein ungemein jummetrifche® Kunſtwerk, wenn bie
Rofe auf dem dunkeln Wafferfpiegel wie ein Stern ſchwebt,
und der Blid über die Fläche Hin ein fternbejätes Yirmament
zu fehen meint. Eine tiefere Schönheit enthüllt un bie genaue
Betrachtung der Blume. Da fehen wir die weißen aufen-
ſtehenden Blütenblätter langfam in die goldgelben der Mitte
übergehn, bie immer bünner, fabenförniger werden, biß fie fi)
in die Träger der Staubfäden verwandeln, die ihrerjeit im
490 Die Königin der Nacht
Kreife um den fronenförmig außgezadten Gipfel ftehn. Pflücken
wir aber die Seerofe und betrachten den untern Teil, der ben
Bliden der Menſchen entzogen zu bleiben pflegt, jo jehen wir
vier grünlide und braunrötliche Blätter, Die wie ein Kelch Die
innere Rofette umgeben und die Knoſpe vollftändig verhüllen,
und zwar jo, da immer bon rechts ber eins über das andre
jeitlich übergreift. Abwechſelnd mit ihnen ftehn vier Blätter,
gleihjam einen innern Kelch bildend, die fchon faft ganz weiß
find; am Grunde find fie blaßrofenrot, und eine grüne Mittel-
linie, oft nur angedeutet, zieht bis zu ihrer Spike, wo ſich das
Grün noch einmal ausbreitet, den Außerften Rand wie mit einem
grünen Farbentröpfchen ausfüllend, das an die zierliche Spige bes
Schneeglödchend erinnert. Nun erit folgen dreimal vier reinweiße
Blumenblätter, die nad) innen an Größe abnehmen; und alle die
zwanzig jegen uljo aus fünf Vierblätterrojetten den ſchönen Blüten-
ftern der vollendeten Blume zufammen. So ift eigentlich die der
Bewunderung der Fiſche dargebotne Unterfeite der Seerofe nicht
minder jchön als die Oberfeite, die und entzüdt.
Es geht ein Grundgeſetz der Farbenharmonie durch diefe
Blüte. Es ift ein allgemeine Geſetz, nur wird es in dieſem
einen alle bejonder8 deutlich. Dan wird gerade Dabei am
wentgjten von Zweckmäßigkeit fprechen können, denn es handelt
jih um Vorgänge tief im Innern der von doppelten und drei⸗
fachen Hüllen eingeichloffenen werdenden Blüte. Keine Farbe
tritt jchroff neben die andre, ſondern von einer führt es in
taufenderlei Abjtufungen zur andern über, feine ift ganz allein
einem einzigen Organe zugeteilt, feine tritt nur einmal, fondern
alle treten immer in Wiederholung auf. Man ahnt darams,
was ja dann das Mikroſtop recht deutlich zeigt, den mojail-
artigen feinern Bau der Pflanzenergane. Das Rot der Roſe
iſt in Millionen Heiner Farbkörnchen dur dag Blütenblatt
verteilt, und fo jede Farbe. Hier Tiegen fie dünner, dort
dichter, je nachdem der Vorrat groß tft. Diefer aber ift in der
Negel innen im Blätterfreis der Blüte größer als außen, unb
auch in diejer Verteilung herrſcht Negel und Geſetz. So wie
fi die Mafje um den Kriftallmittelpunft oder die Kriftallachfe
ftreng gejeßlich verteilt, wobei in bewundernswürdiger Gerechtig⸗
keit feine einzelne Seite vor der andern bevorzugt wird, jo find
offenbar auch Maffe und Farbe in der Blüte aus einer Summe
heraus in Teile zerfällt worden, bie einander gleich find, Drei,
fünf, jech8, fieben oder mehr, je nad) dem Bau. Auch hier eine
Die Königin der Nadıt 491
gerechte Verteilung, wenn auch nit nad ſcharfen Linien wie
im Kriſtall, und als Folge davon die Bildung der Farbeniterne,
die von den dreiftrahligen bis zu den vollen Büſcheln und
Blumenkörben der Zujammengefebtblütigen der Ausdrud eines
großen Bildungsgeſetzes find. Wir jehen Hier überall eine konzen⸗
triihe Anordnung um das Ende der Achſe der Pflanze, die
einen großen Teil der Schönheit der Blüten mit fi) bringt.
Ganz treffend nennt man bie kantigen Kaktuſſe Kriftalle des
Pflanzenreichs; aber auch die Roſe ift ein Kriftall von organifcher
Freiheit; die Kriftallgefeße geftalten in ihr den zartejten organischen
Stoff. Es gibt ſehr ſchöne unſymmetriſche Blüten, man denke
nur an die Orchideen, aber die einfache, ſozuſagen klaſſiſche Schön⸗
beit ift Die der Blumenſterne. Darauf führt ja am Ende auch die
Schönheit der Blumen zurüd, Die immer zu den jchönften ge=
hören werden, der Roſen. Und würden die Dichter von den
Blumenaugen ſprechen können, die und traulich und Doch ges
heimnisvoll anſchauen, wenn nicht die regelmäßige Anordnung
der Blätterfreife in der Blume darauf hinwieſe? Eine wilde
Rose, eine Brombeerblüte, Die große Blüte der ahornblättrigen nord-
amerifantichen Himbeere mit den bläulichroten ſilberſchimmernden
Blumenblättern find Mufter von regelmäßigen Sternformen:
innen die zuſammengeſchloſſenen Griffel um den Mittelpunkt, dann
die goldnen Staubgefäße, dann die Blumenblätter, und zwiſchen
dieſen durchſchauend die Kelchblätter. Ahnlich die Georginen und
die Altern, nur daß bei diefen durch die Vervielfältigung der
äußern Blätter die Zahl der Strahlen wählt. Sehr oft find,
wie bei allen diefen, die wir eben genannt haben, die tiefen
Farben außen; jogar die purpurroten Spitzen der Gänſeblümchen,
die lila Spitzen der innen weißen Herbſtzeitloſe, die Purpur⸗
fpiten des Kahnes und der Flügel der Kleeblüten beftätigen die
Negel. Aber es kommen auch dunkle Flecke an der Baſis heller
Blumenblätter vor, beſonders Ichön beim Mohn, bei mandıen
Lilien und Tulpen, bei den goldgelben Potentillablüten und vielen
andern.
Die Farbenverteilung in der Blüte hängt eng zuſammen
mit der ganzen Mafjenverteilung, die fi) in der Yorm aus⸗
fpridt. Das macht ja eben den Eindrud des bewußt Künft-
lerifchen, daß die Yarbe die Struftureigentümlichkeiten der Blüte
jo Har zur Ericheinung bringt, wie die Ornamentik es an einem
Bau tut oder tun folltee Das zeigen bejonders jchön die ge-
äderten und geftreiften Blumenblätter. Außerdem fieht man
492 Die Königin der Nacht
bald, daß neben der Verteilung der Farben die Verteilung der
Formen auf einen flarken Ausdrud der Gejehmähigleit deß ganzen
Baus binarbeitet, den wir meinen, wenn wir bon dem „Stil“
einer Pflanze ſprechen. Sehen wir die liebliche Rigella, das
Gretchen im Buſch an, deffen firmige Benennung ſchon anzeigt, daß
e3 eine eindrudsvolle Blumenperjönlichkeit ift. Wie tft bier das
Motiv der Zerichligung von den erften Blättern bis zur Blumen-
frone folgerichtig durchgeführt: an dem ſchwanken, lantigen.
ſchlanken Stengel ftehn die Blätter ſpärlich in langer Spirale,
jedes einzelne Durch das Verſchwinden der breiten Flächen gleidh-
fam auf die Grundlinien zurüdgeführt, als ob es nur noch aus
ben SHauptadern eineß fertigen Blattes beftünde. Wie fchön
drängen fi) aber dann fünf ober mehr folder Blätter zu dem
„Buſche“ zufammen, in dem die milbblaue Blume wie im
Moofe fteht, und der die Knoſpe wie ein Moosbüſchelchen ein⸗
hält. Ihre Blumenblätter find fcharf zugeipigt, oft auch zer-
teilt, und dunkleres Blau verbreitet fi) in ihren ftarf hervor⸗
tretenben Adern. Der Kranz ſchlanker Staubfäden ımb das
Büfchel weit heraußtagenber Griffel vollenden eine Pflanze von
zartem, durchſichtigem Bau, in der die Formen ebenfo harmoniſch
aufeinander gejtimmt find wie das Blau der Blüte und das Blau⸗
grün der Stengel und Blätter.
Die Knoſpen haben ihre bejondre herbe Schönheit. Ich
vergleiche Knoſpen und Blüten der Wieſenſtabioſe, die Knoſpen
find dunfelviolett, zufammengedrängt, haben etwas geſchloſſenes
in ihrer ganzen Erfheinng; die aufgeblühte Stabiofe Tennen
wir alle al& eine bellviolette, durch die herausragenden Staub-
fäden baarartig fein gegliederte Blume. Dazu kommen innen
die grünen, an der Spibe braunroten Kelchblätter. Die Knoſpe
der weißen Seerofe tft grünlibraun und hat faft bie Gorm
einer geſchloſſenen Teichmuſchel. Die Roſenknoſpen haben be⸗
kanntlich ſchon eine ſehr elegante Form wegen der Zepa
und Ausfranſung ihrer grünen Kelchblätter. Aber doch, wel
Überraſchung, wenn fie ſich entfalten; denn neben ber ſeſi⸗
geihhloffenen, zufammengezognen Knoſpe ift die voll aufgeblühte,
fi) ausbreitende Rofe eine ganz neue, felbftändige Schöpfung.
Nur die Unterfeite zeigt Dann noch die Spuren ber zierlichen
Hülle, die fi) zur Blüte wie die Puppe zum Schmetterling
verhält. Mit diefem Snojpenzuftand der Vorbereitung Tann fein
einzige von den Zweckmäßigkeitsmotiven der offnen Blume in
Verbindung gefebt werben; fo liefern uns alfo die Formen ber
Die Königin der acht 493
Knoſpen beionders wertvolle Beiträge zu dem Berftändnis der
innern Geſetze der Blütenbildung.
Wir ſprachen von der Unterſeite der Blüten, bie man auch
die Rückſeite nennen könnte. Es ift ein wejentlicher Unterſchied
zwiſchen beiden, ein vitaler im wahren Wortſinn. Die Ober⸗
ſeite iſt der Sonne zugewandt, die Unterſeite der Erde. Die Übers
feite zeigt die reichiten Farben, die Farben der linterjeite gehn
entweder in das Grün der übrigen Pflanzenteile über ober find
ſchon entichieden grün. Daß nun aud) die Unterſeiten mandher
Blüten Farbe zeigen, dad mag damit zufammenhängen, daß fie
auch Licht empfangen, wem auch in kleinerm Maße. Die Untere
feite der weißen Seerofe wird vom Waſſer Her belichtet, die
Kaktusblũte empfängt Die von den Felswänden oder ben heiken
Boden zurüdftraßlenden Licht und Wärmemengen. Immer ift
aber in der der Lichtquelle entichieden zugewandten Seite das
„Sonnenhafte” aller Lebendentwidiung deutlich ausgeſprochen.
Das ganze Pilanzenleben ift ja befauntli vom Licht unmittel-
barer abhängig ald das tieriiche und das menichliche, es gibt
feine grünende und feine VBlütenpflanze in den dunkeln Tiefen
bes Meeres, der Seen, der Höhlen, wo es belanntlid nit an
Tieren fehlt. Die Blüte bricht aber bei den meiſten Pflanzen
auf der Höhe ded Leben auf, die mit der Sonne anfteigt.
Lichtarmut verkleinert die Blüten. Die Farbenpracht des Hoch⸗
gebirgsflors iſt durchaus nicht bloß auf die Anlodung der Ju⸗
felten berechnet, fondern fie ift auch durch Den Lichtreichtum ber
Haren Höhen verurfadht. Wenn Lenau von ben weißberiuheten
Birkenſtaͤmmen fagt, fie ſaͤhen aus, als jei der Monbichein daran
bangen blieben, fo tft e8 ein jchöneß, tueffenbes Bild; wenn aber
jemand fagt, es fei Sonnenlicht in dem großen und kleinſten
Blüten an der Erbe haften geblieben, jo ift es die volle Wahr⸗
heit; denn die Verdichtung des Lichts und der Wärme, bie von
der Sonne jtammen, im Lebenäprozeß der Pflanzen ſchafft die
Blütenpracdht. Darum liegt auch eine tiefere Wahrheit in jebem
Bilde, dad die Blumen mit der Sonne verknupft. Sogar wenn
mid) eine mit SHerbitzeitiojen Dicht bejäte fahle Herbſtwieſe an
den milden Mbendichimmer eineB müden Tags erinnert, oder eine
Frühlingsau voll Primula farinosa an einen Hauch, von Morgen-
röte, iſt die Wirklichkeit kosmiſcher Beziehungen im Bilde, in der
Ein Stern des Himmels und der Blütenſtern, ein Sounen-
ftrahl und der Strahl dieſer Blüte: warum foll es dem Dichter
494 Die Königin der Nadıt
LIE
überlaffen bleiben, da8 Große und das Kleine und das Ferne und
das Nahe zu vergleichen und baraus ein Bild feiner Rede oder
feine Gedichts zu geftalten, daß verglüht wie ein Fünkchen?
Nein, ich will bei ſolchem Vergleich verweilen. Was find mir
denn überhaupt in dieſer gewaltigen Welt der uns fichtbaren
Schöpfung, die ficherlih nur ein Tropfen im Meer iſt, Größen-
und Entfernungsunterichiede? Das find ja nur Unvolllommen-
beiten meiner Wahrnehmung. Sie dürfen mid) ficherlich nicht
abhalten, die Dinge am Himmel, in denen aus einem Mittelpunft
heraus mädjtige Kräfte nad) allen Seiten hinausſtreben, zu ver-
gleihen mit den Dingen an der Erde, in denen ich dasſelbe
wahrnehme. Auch diefe Zeile der Pflanze, von denen uns
Goethe zuerft gelehrt hat, wie fie ſich in geſetzlichen Spirafen um
die Pflanzenadjfe bald als grüne Blätter, bald als Keldh- und
Blumenblätter und bald als Staubfäden reihen, find aus geſetzlichen
FKreifungen der Bildungsftoffe entftanden, eine Weltihöpfung in
kleinerm Maße. So wie diefe Blume verwelft, verlöfcht einft die
Sonne, und beide Welten teilen die Gejchichte eines Auffteigeng,
eines Höhepunkts und eines Niedergang?.
Was will da ein leichtfinniges Wörtlein wie Zufall jagen?
Nur für einen blöden Sinn fönnen die imponierenden Ent-
fermingen der Weltigfteme die Veranlaffung zu einem Staunen
fein, das er nicht empfindet, wenn er dieſe Wunderblüte fich
öffnen und jchließen fieht. Es find in beiben diejelben Kräfte
und biefelben Geſetze. Das eine ift aber jo wımberbar wie das
andre. Ja, in die Wunder des unendlid) Kleinen werden wir
aller Borausficht nach niemals jo tief eindringen lönnen wie in
die des ıumendlic” Großen. So müßte denn eigentlid das Ver⸗
borgenjein dieje8 ganzen Cereus von der Wurzel bi8 zur Blüte
und Frucht in einem winzigen Kaktusſamenkörnlein, aus dem
fi) Die ganze Seltjamfeit und Pracht in geſetzmäßiger Folge
und mit kaum einer Abweichung von der feit Jahrhunderts
taujenden feftjtehenden Form entfaltet, wenn Licht- und Wärme-
ftrahlen die Hülle durchdringen, als eines der allergrößten
Wunder der Schöpfung gelten. Jedoch das Keimen eines Weizen-
fornd oder einer Moosſpore ift ja gerade jo wunderbar. Wir
find alfo von unerllärlichen Dingen und Vorgängen umgeben,
ob unfer Blid in die Tiefe des Sternenhimmel taucht oder über
eine Wiefe oder nur ein Moospolſter Hinftreift, nur daß der ge-
ftirnte Himmel der blühenden Wieſe um ung in vielen Einzelheiten
erreiäbarer ift als der „geitiente Himmel über uns.“,
Die Königin der Nacht 495
Die Königin der Nacht fchien fih zum Niedergang zu
rüften, die hinausgerichtete Kraft ihrer Strahlen erlahmte, ihr
Blütenftern jchaute und nicht mehr voll an, fondern ſenkte ſich
erdwärtd. Das Sonnenhafte will fi) entichwingen. Es bat
feinen Bwed, auch dieſes Sterben zu jehen. Lebt doch die
Ihöne Blume in meinem Innern fort, jo wie fie lange, ehe fie
erichien, in der Seele eines unbegreiflih) hohen und reichen
Weſens geblüht Haben muß. Doch ftill; ich ftreife hier an bie
Grenzen der Moftil. Wenn dad mein naturmwifjenichaftlicher
Freund müßte, der mir auf meine Frage nad) dem heutigen
Stande des Wiſſens von den Blüten geantivortet hat: Außerhalb
der Ihnen belannten Handbücher behandeln Die felbitändigen
Werke über Blüten faft nur noch die Anpaſſung, beſonders an
die blütenbefudenden Inſekten und Vögel. Der Gute hatte
offenbar geglaubt, über dieſes große Problem hinaus, das in
Wirklichkeit höchſt mebenfächlich ift, brauche niemand zu fchauen,
ber fih um Blüten kümmere.
Ich aber danke der Königin der Nacht, daß fie mir einen
Dämmerftrafl darüber hinaußgeworfen bat. Zwar follte von
Rechts wegen jede Grasblüte und jedes Moosbecherchen benfelben
tiefen Eindrud machen, aber es ijt doch mwirffamer, wenn uns in
dem großen Märchenbuch der Schöpfung ein jo glänzenbes
Blatt gezeigt wird. War es doch die fchönfte der Blumen, Die
dem Seraphiniſchen Wandersmann einen der größten Gedanken
eingab, die je in zwei Zeilen ausgeſprochen worden find:
Die Roſe, welche hier dein äu
Die —X —* in Bott ale er Ar
Die Tagesanſicht |
Guſtav Theodor Jechners
ur
Nagel, Glückzinſeln und Träume 99
Ein Raturforicher von anerkannter Größe der Perjönlichkeit
und der Erfolge, der Gott mit derfelben Hingebung fucht, mit
der er den Naturgefeten nachforſchte, und mit noch größerer, und
der feinen Gottesglauben mit hingebender Dffenheit bekennt, ift
in Deutihland in der zweiten Hälfte bes neunzehnten Jahr⸗
hundert8 eine fo feltne Erfcheinung, daß er ſich auch aus mächtigern
Umgebungen als der feiner Yachgenofien abhöbe, ftrahlend für
einige, dunkel für viele Er ift überhaupt im Geiftesleben dieſes
Zeitalter und bis in die Gegenwart herein eine jeltne Er-
ſcheinung. Wenn aud nicht bei allen Völfern eine materialiftiiche,
jedes Gefühl von Zugehörigkeit zu einem Weſen und einer Welt
über dem, was greifbar und zeitlich ift, als Schwäche verhöhnende
Strömung fo mädtig geworden ift wie in Deutichland, fo durch⸗
dringt doch ein Widerwille, zu glauben, die ganze Kultur, an der
das neunzehnte Jahrhundert gebaut Hat. Wohl Hat e8 Männer
von anerlannten Leiftungen in der Naturwiffenichaft gegeben, ic)
nenne nur Karl Ernft von Baer unb Louis Agaffiz, die ſich
nicht gefcheut Haben, in der Natur, die fie fo erfolgreich durchforſchten,
da8 Werk eines höhern Weſens zu verehren, das ihnen hoch über
Die Sphäre hinausreichte, wo ſich ihre Arbeiten bewegen. Aber
fo wie Guſtav Theodor Fechner hat fi) von dieſen und ihren
Geiftesverwandten Teiner in das Wejen Gottes und de Jenſeits
vertieft. Gerade darum kann fi) an Fechner eine Weltanſchauung
anfchließen, die Gott in der Welt und die Welt in Gott fieht
und zu glauben wagt, ohne das Kleinfte von dem aufzugeben,
was die Wiffenjchaft weiß und noch erfahren wird. Dieſe Welt-
anihauung ift im Heraufdämmern, ihre Strahlen find fchon in
manche Seele gebrungen und werden eine8 Tages mächtig durch
eine Menichheit Fluten, die ſich nicht auf die Dauer mit Der
Berneinung von allem zufrieden geben Tann, was außer dieſem
ſchwachen Menfchengeifte if. Nach vollendeter „Aufklärung“ das
ſchwankende Licht unſers eignen Bewußtſeins in einer troftlojen
Nacht Fladern zu jehen, wird doch immer mehreren wie ein
82*
500 Die Tagesanfiht Guſtav Cheodor Fechners
törichter Verzicht auf das Beſte erſcheinen, das wir in der Welt
überhaupt haben können; und eine unvollkommne, lückenhafte
Wiſſenſchaft wird in ihrer Unfähigkeit erkannt werden und endlich
auch ſich ſelbft erkennen, den Bereich unſers Geiſtes auch nur
von ferne auszufüllen.
Zumal wenn in weitere Kreiſe die Überzeugung gedrungen
ſein wird, daß ſich dieſe Wiſſenſchaft über die Weite und Tiefe ihres
Werkes gewaltig täuſcht, wird man ihren Verſuchen entſchiedner
entgegentreten, alles zu zerſtören, was ſie nicht begreift. Eine
Geologie und eine Biologie, die über die elementarften Voraus⸗
jegungen ihrer eignen Denkarbeit in ſchweren Irrtümern befangen
find — id) erinnere nur an ihre Unklarheit über die entſcheidende
Frage der erdgeſchichtlichen Perſpektive —, hat nicht das Recht,
uns über die Stellung des Menichen in der Welt und zu Gott
zu belehren. Ihre bochklingenden Erörterungen über Schöpfung,
Geiſt, Stoff, Kraft uſw. machen nur allzu oft den Eindrud der
Gedanken eines zünftigen Handwerfers, defien Welt eine dumpfe
Werkſtatt ift, gegenüber den Werfen des Fünftleriichen Genins.
Diefer Schufter mag glauben, die ärmlich beleuchtete Glaskugel
vor der er arbeitet, fei eine Sonne; und andern feine blöde
Kurzſichtigkeit aufdrängen zu wollen, ift Vermefjenheit, die man
zu lange denkträg ertragen hat.
Manches mag ſich nun an Fechnerd Weltanſicht unvollfonmen
erweilen, einiges -fann man ſchon jet als unhaltbar erkennen.
In der Hauptjadde ift fie ein großartiger Verſuch, das uns zu⸗
gänglicde Schöpfungdwert mit Anerkennung und Verwendung
alle3 deſſen, was tatſächlich befannt iſt, jo nachzudenken und nad)
zubilden, daß dem Geilte fein Recht gewahrt bleibt, und daß bie
Lüden des Willens jo ergänzt werden, daß nicht das der Kurz⸗
fichtigleit bequeme Leichtverftändliche bevorzugt, fondern alles in
dem großen Stil eined Werks ausgedacht wird, in deſſen Zuſammen⸗
bang die ganze Erde felbjt nur ein verjchwindendes Teilen tft.
vechner, der Denker und Dichter, deſſen Glaubensbedürfnid im
tiefften Herzen erlebt ift, und der aus eignen Erfahrungen feine
im höchſten Sinne praktiſche Auffaſſung der Religion Ichöpft, hat
in jeiner Zagedanficht Tein wiflenjchaftliches Syitem aufbauen,
fondern eine Weltanſchauung bieten wollen, die vom Erlaunten
ausgehend die Hätjel des Dajeind erhellt und aus Dem vollen
Verftändnifje deſſen, was die Menichenjeele braucht, wenn fie
nicht dumpf über die Abgründe dahin dämmert, dad Wiſſens⸗ und
Glaubensbedürfnis zugleich zu fättigen unternimmt. Keine nene
große Entdeckung, wie wir fie ihm in der Pſychophyſil verbanfen,
Die Tagesanfiht Guſtav Cheodor Sechners 501
kein Neubau auf den Trümmern eineß niedergerifienen alten will
das fein. Die dichteriichen, naturbejeelenden Weltbilder vergangner
Beiten werden ausdrücklich al die Vorgänger der Tagesanficht
anerkannt, die ſich in ſchroffen Gegenſatz überhaupt nur zu einer
Geiftedrichtung ftellt, nämlich zu der Überhebung, die ung ver-
bieten will, zu glauben, wo für fie daß Denken mit dem Wiffen
aufhört.
Fechner Hat uns felbft erzählt, wie ihm die Anregung zu
der lebten, erichöpfenden Darftellung feiner „Tage8anfiht” im
Leipziger Roſental aufleimte, als er von einer Bank, die wir
in der Nähe der Stelle denfen dürfen, wo fich heute fein Dent-
mal erhebt, dur eine Lüde im Gebüſch auf die große Wiele
hinausſchaute, um jeine Franken Augen an ihrem Grün zu er-
quiden. „Die Sonne fchien hell und warm, die Blumen ſchauten
bunt und Iuftig aus dem Wiefengrün heraus, Schmetterlinge
flatterten darüber und dazwiſchen hin und ber, Vögel zwiticherten
über mir in den Zweigen, und von einem Morgentonzert drangen
die Klänge in mein Ohr.“ Aus diefen Eindrüden fchweiften
jeine Gedanken zu dem ab, was nad) der gewöhnlichen Anficht
hinter ihnen liegt. Nacht und Stille, keine Farbe, die du fiehft,
fein Ton, an dem du dich erfreuft, ift wirklich; die Sonne fängt
erft Hinter deinem Auge zu leuchten an, draußen vor deinem
Bewußtiein find Yarben und Töne nur blinde, ſtumme WWellen-
züge. Uber nie war ihm dieje im Widerſpruch mit der natürlichen
Anſicht der Dinge ftehende „Nachtanficht* fo unerbaulid und
jo unwahrſcheinlich erjchienen als in diefer Stunde. Richt zum
eritenmal regte ſich in diefer fonnigen Stunde der Widerſpruch
gegen die „habesgleihe Welt“ voll Zinfternis, über bie einige
zur Not noch einen Gott feben, von dem fie aber felbft nicht
veritehn, wie er eine ſolche Welt Ichaffen Tonnte; jedenfalls kann
er nur fremd und fern über ihr ſchweben. Uber der Widerjpruch
regte fi) damals mit neuer Triebfraft, verftärkt durch die Forderung
des Herzens, au für fid) and dem Blick in eine helle, fonnige
Ferne bie Befriedigung der Sehnſucht nad) dem Sicheinswiſſen
mit einem Wefen zu gewinnen, das die Leiden und die Freuden
aller feiner Gefchöpfe zu den feinen bat: „Yiwei Herzen, die jebt
eins find, möchten es immer fein; und fürchteſt bu, daß der Tod
Die Bande, die jebt eins an das andre knüpfen, zerbrechen wird,
jo ift es die Furcht der Nachtanficht; der Tod in der Tages⸗
anficht ſprengt vielmehr die Bande, die jebt beide noch voneinander
trennen.“ Fechner hatte ſchon früher in einem Lied von wunder-
barer Innigkeit diefer Zuverficht in einer Auslegung des Spruchs
502 Die Tagesanſicht Guſtav Cheodor Fechners
im erſten Korintherbrief: „Es find mancherlei Kräfte, aber es
iſt ein Gott, der da wirkt alles in allem,“ Worte geliehen:
In Gott ruht meine Seele,
Weil Gott lebt, lebe ich,
Denn er allein hat Leben,
Nun führt er aus, wie in dem angeblichen Fortſchritt des
menſchlichen Geiſtes, der doch nur einſeitige Entwicklung iſt, Gott.
aus der entgötterten Natur heraus und hoch über ſie gehoben,
angeblich um ihn vor ſeiner eignen Zerſplitterung zu retten, der
Welt fern und fremd, und dieſe Welt ein toter, abdeſtillierter
Rückſtand geworden ſei. Das iſt der Urſprung und Anfang aller
Nachtanſicht. Die heidniſche Vielgötterei, Die der Welt ihren Geiſt
und ihr Göttliches im einzelnen ließ, war eine TageSanficht ge⸗
wejen, aber freilich eine Anficht nur von Bruchftüden. Die reifere
Tagedanficht, die Fechner bringen wollte, erſchließt den Blick über
dieſe Bruchſtücke hinaus ind AU und will arbeit über ihr Ber-
hältnis zum AU geben, aljo den Reichtum jener frühern Anficht
in die erhabenjte Anſchauung aufheben, die heute möglich if.
Sie ift ſich Har bewußt, daß aud ihr Ausgangspunkt, die An⸗
nahme, daß die finnlihe Ericheinung fein Trugbild fei, fondern
über die empfindenden Einzelgeihöpfe hinaus durch die Welt
reiche, Hypotheſe bleiben wird, jo gut wie die Annahme der Nacht⸗
anſicht, daß die Welt finfter und ftumm zwildhen den Einzel-
geihöpfen liege. Aber die Tagedanficht ift nicht bloß ein erbau⸗
liderer Glaube, fondern auch ein befjerer Boden zu weiten und
hohen Entwidlungen pofitiver VBeftimmungen; und bauptjächlich
ftunmt fie beffer mit der natürlichen Auffaſſung der Dinge über:
ein. Die Tagedanficht bringt und mit dem Glauben, daß die
finnlide Welt außer und nicht bloß Schein jei, den höhern
Glauben an ein Bugehören unjerd bewußten Lebens zu einem
allgemeinen, worin es jamt der ganzen Welt umſchloſſen ift. So
wie und unfer Körper als ein Teil der Stoffwelt außer uns er-
ſcheint, fo ift dann unfer jelbft fich erfcheinender Geiſt Teil des
nicht minder ſelbſt fich erjcheinenden geiftigen Weſens, das zum
Weltganzen gehört. Die Einheit des menſchlichen Geiftes ift dann
nur ein untergeordneter Bruchteil der Einheit des göttlichen
Geiftes. Die Tagesanfiht macht und das ſchöne Wort zur folgen»
reichen Wahrheit, daß wir in Gott leben, weben und find, und
er um und, und daß er um unfre Gedanken weiß, wie wir felbit.
Die Tagesanfiht Guſtav Theodor Fechners 503
Damit tft alſo unſer „Ein- und Untertanfein“ gegenüber Gott
fein äAufßeres, wie Teil gegen Teil, Stufe gegen Stufe, jondern
ein inneres, wie Teil gegen Ganzes, Stufe gegen Treppe. Und
dann ift uns auch Gottes Weſen nicht mehr unfaßlich, da wir
ſelbſt eine Stufe, eine Probe, ein Haud) davon find, fondern von
den innern Verhältnifien des göttlichen Weſens ift und unmittelbar
etwa3 zugänglich in unſern eignen innern Verhältniffen. Wir
werden nicht Gottes Daſein erichöpfen, wohl aber in der Er-
kenntnis feiner Daſeinsweiſe und feiner Beziehungen zu und und
zu allen andern Weſen höher aufzuiteigen und weiter vorzudringen
vermögen durch Verallgemeinerung, Analogie, Abftufung. Und
mit dieſen Schlüffen werden fi Schlüffe auf unſre jemjeitige
Daſeinsweiſe ergeben; denn wenn unfer jebiges Dafein nur eine
untere Stufe unfer® in Gott beichloffenen Daſeins ift, hat es auch
darin feine Fortſetzung zu juchen. Und wenn endlich Die ganze
Welt über und hinaus zur göttlich bejeelten geworben tft, er-
weitert ſich auch der Kreis und erhebt ſich der Stufenbau in-
dividuell bejeelter Wejen über uns hinaus und hinauf.
Dem Vorwurf, daß fie fi) vom fichern Boden der Natur-
foridung entfernt, wird die Tagedanficht nicht entgehn. Warum
ſoll aber die Durchforſchung der materiellen Welt ihre bisherigen
fihern Wege verlafien, wenn fie aufhört, ſich dem ſich darüber
aufbauenden Glauben in geiftigen Dingen zu widerſetzen? Diejer
Widerjpruch Hat nur eine gejchichtliche, aljo vorübergehende Be⸗
rechtigung in dem alten Streit zwiſchen Kirche und Wiſſenſchaft,
der auf eine Zeit zurückgeht, wo die Priefter Gott und die Welt
zugleich erflärten, wo die Mythologie einen großen Teil des
Gebietö beherrichte, das fpäter die Wiſſenſchaft ſich zu eigen ge-
macht Hat. Uber diejer Streit ift nicht notwendig. Die moſaiſche
Schöpfungsgeihichte hat im Grunde nichts mit Religion zu tum,
und ob der Leib des Menſchen aus dem der Affen hervorgegangen
ift, berührt nicht die Meinung, die ich von feiner Seele bege.
Läuft nicht alles Wiffen in Glauben aus, gerade wo ed ins
Allgemeinfte, Höchſte, Lebte, Fernſte, Tieffte und Yeinfte geht?
An Glauben fortfeden muß fich jedes Willen um das, was ift.
Wenn wir bedenken, wie die Allgemeingiltigfeit aller Naturgeſetze
nur aus der Erfahrung abftrahiert ift und keineswegs als not⸗
wendig erwiefen werden Tann, jo können wir weder die nächſten
noch die letzten Schritte ohne Glauben tun; wir wohnen und
leben fozufagen in einer Welt des Glaubend. Und fo ftüht ſich
denn die Tagesanficht auf das Wiflen, ſoweit ed reicht; darüber
hinaus glaubt fie, was fie braudt; und erkennt endlich das
504 Die Tagesanficht Guſtav Theodor Sechners
Hiftorifhe ®laubensprinzip an, das Fechner in den „Drei
Motiven und Gründen des Glaubens“ entiwidelt hat. Wan könnte
e8 am Türzeften jo bezeichnen: ein Glaube ericheint ım8 um fo
triftiger, je allgemeiner und einftimmiger, je baltbarer unb wirk⸗
ſamer er ſich durch Welt und Beit erftredt, und je fähiger er
fich gezeigt bat, mit wachjender Kultur zu erftarten und zu wachſen.
Fechner hat zwar dieſes &laubensprinzip nur an die dritte Stelle
verwielen; aber in ihm wurzelt nicht bloß im tiefften Grunde
die Tagesanficht, fondern es ift and) am bezeichnenbiten für bie
geiftige Natur des Denfers. Die Anerkennung des Rechtes befien,
was da ift und war, auf eine entiprechende Zukunft jondert
deiner am tiefften von der Maſſe der Naturforicher, die kein
—— Necht in der Gedankenwelt, ſondern nur den Irrtum
Undern und dag eigne Fürwahrhalten Ferne, jenen zu zer⸗
—* und dieſem zum Siege zu verhelfen als ihre Pflicht er⸗
achten, jeder einzelne gewifſermaßen Religionsftifter auf ſeinem
engen Gebiet, je entſchiedner, deſto höher ummanert fein Gebiet
if. Fechner bat es jelbft ausgeſprochen, baß für ihn ber befte
Glaube der jet, der fi am widerſpruchsloſeſten mit allem unferm
Wiſſen und unſern praltiſchen Intereſſen vereinbart, und bie
bisherigen Widerſprũche der verichiednen Glaubensrichtungen ver-
fühnt, ftatt fie noch weiter zu jondern. Gerade deshalb erſcheint
mir Fechner, mit andern Naturphilojophen verglichen, als ein
Denker von hervorragend praktiſcher Anlage und Bebeutung,
aus defien Lehren eine dem ganzen Menfchen genugtuende und
die ganze Ericheinungswelt umfaffende und deutende Philoſophie
zu gewimen iſt.
Dieſer praktiſche Zug tritt beſonders in ber entſcheidenden
Seelenfrage zutage. Die Frage des Zuſammenhangs zwiſchen
Leib und Seele, materieller und geiftiger Schöpfung, ob fie nur
ein Weſen oder zweierlei find, mit andern Worten Monismus
und Dualismus hat Fechner innerhalb feiner € —* nicht
entſcheiden wollen, ſondern er legte das Hauptgewicht darauf,
immer nur von den Tatſachen der Erfahrung auszugehn, unbe
fümmert zunächit um die Deutung Di dieſes Bufanmenhangs Er
neigte wohl im ganzen mehr zu einer einheitlichen Auffafſung.
aber feiner im hödjften Sinne Droftifcen Dentweile erfchien die
Wiederholung bed Verhaltniſſes von Leib und Seele durch alle
gerade für feine Tagesanficht bezeichnend, daß ſie die Verbindung
zwiſchen Seele und Leib nicht bloß als eine ausnahmsweis, Sich
Die Cagesanſicht Guſtav Cheodor Fechners 505
für Menſchen und Tiere beſtehende und nicht bloß auf das Dies⸗
ſeits beſchränkte, überhaupt nicht als eine äußerlich trennbare
anſehen will oder kann. Die Seelenfrage hat ja Fechner lange,
ehe er bie Tagesanſicht zuſammenhängend formulierte, in dem
Sinne behandelt, daß man nicht fragen folle, wo die Beleelung
anfange oder aufhöre, da „die Idee nicht durch Pflanzen und
Sterne weht wie ein Wind,“ und der Geiſt nicht an Nerven
gebunden fei, ſodaß er nur den Menſchen und den Tieren als
vorrechtweiſe zuftehe. Im Sinne der TageBanficht fteigt über
die Welt der einzelnen menichlichen Bewußtſeinskreiſe eine höhere
Belt in den Bewußtſeinskreiſen der Sterne auf, und ber enge,
bochentwidelte Bewußtſeinskreis des Menjchen hat den kindlichen
der Bflanzen unter fih. Im Sinne der Nachtanficht freut und
rühmt ſich der Menſch der Einheit feine Bewußtſeins, worin
er etwas ganz beſondres der Zerſtreuung der Naturdinge gegen-
über zu haben meint. Aber die Tagesanficht fühlt fich von keiner
Berftreuung der Dinge bedrüdt, denn ihr ift die Einheit des
Bewußtſeins allgegemvärtig, und der Menſch hat die feine nicht
als eine von der göttlichen untericheidbare, fondern ihr unterge-
ordnete. Fechner ruft mahnend: Sieh doch nur in dich hinein!
Die Einheit des Bewußtſeins ift nicht vergleichbar der Spike,
fondern dem Bujammenhang der Pyramide: eine Pyramide kann
fi) gliedern und untergliebern, ohne ſich zu fpalten; fo gliedert
und ftuft fi) die Well. So wie in unjerm eignen Geiftesbau
die Sinneskreiſe voneinander gefchteden find, und einer feine
g mit dem andern teilt, während unfer Vewußtſein
fie alle umfaßt, fo ift auch Die Scheidung des Bewußtſeins zweier
Nachbarſtufen nur Scheidung im Bewußtſein einer höhern. Und
jo wie dieſe Abſtufung iu den Menſchen Hinein, reicht fie über
ihn hinaus. So haben die Menfchen und alle andern Geſchöpfe
eines Geſtirns ihr Geftirn als höhere Stufe über fi), das Ge-
ftten aber feine Geſchöpfe unter und in fih. Und jedes Geftirn
bat teil an der allgemein menſchlichen Bewußtſeinseinheit, diejer
Teil ift von dem der andern Geſtirne gejchieden, in Gott nur
unterſchieden. Noch mehr als die Menichen auf der Erde find
die Sterne am Himmel voneinander verfchieden. Innerhalb dem
großen allgemeinen Zuge einer Kraft, die fie ordnet und erhält,
bat jedes feine eigne Schwere, feinen eignen Tages» und Jahres⸗
wechjel, jeine beſondre Geichichte, fein eigneß Leben. Man jehe
unfre Erde, wie fie in dem reinen, feinen, Haren Äther ſchwimmt,
einem großen Auge vergleichbar gebaut, das Licht einatmend.
Sollte e8 nun für den Ather feine Gefchöpfe geben? Der Ab-
506 Die Tagesanfidt Guſtav Cheodor Fechners
ftand zwilchen Gott und uns ift groß, Die himmliſchen Geſchöpfe
find eine Bwifchenftufe zwiſchen Gott und und, aber auf einer
Stufenleiter, in der die Stufen fidh vielmehr ein- als ausſchließen;
in diefer Welt mag ed Entwidlungsftufen geben, jo wie es auf
der unfern Denfchen, Tiere, Pflanzen, Embryonen, Kinder, Er-
wachſene, Greije gibt.
Was aber die Seelen um uns betrifft, jo möge der Leſer
in bem feinen Büchlein „Nanna“ ſelbſt nachforichen, wie e8 mit
der Seele der Pflanzen fteht. Dort fcheint und Fechner den
Nachweis beſonders glüdlich geführt zu haben, daß zur Beſeelung
nicht die Nerven der Menſchen ımd der Tiere gehören. „Willſt
du e8 nicht der Welt, den Sternen, den Pflanzen erlafjen, daß fie
Nerven wie Menſchen und Tiere haben, um fie für bejeelt zu
halten, wenn widtigere Gründe für die Befeelung |prechen? Sie
wollen eben nit Menſchen und Tiere fein und brauchen zur
andern Seele aud andre Träger und Ausdrud im Weiche Der
Materie.“ Wir teilen mit allen andern Geſchöpfen der Erbe
die tiefe Zugehörigleit zu dem Planeten, der in Wahrheit unfre
Muttererde ift: diefelbe Erbe, die uns und alle ihre Geſchöpfe
durch dieſelbe Kraft an fich gefeilelt Hält, hat auch alle aus ſich
geboren, nimmt alle wieder in fi) zurüd, nährt und Hleidet alle,
vermittelt den Verkehr zwilchen allen und behält bei allem diefem
Wechſel einen durch den Wechſel felbft ſich forterhaltenden und
fortentwidelnden Beftand. Und jo wie in diefen materiellen Be⸗
ziehungen bie Erde fihtbar alle ihre Zeile, und aud) uns, ver⸗
Mmüpft und damit über ihnen allen ſteht, tut fie es unfichtbar in
den geiftigen. Die Erde bat alles, was die Menſchen haben, Da
fie fie jelbft Hat. Warum follte fie noch einmal ein Gehirn in
einer Schädelfapfel eng zujanımengefaltet haben, da ihre ganze
organische Welt an der feften Erboberfläde frei dem Licht umd
den Schwingungen des Himmeld und der Luft dargeboten ift,
woraud alle Nerven und Gehirne ihrer Geſchöpfe unmittelbar
ihre Anregungen jchöpfen, und wodurch fie fi) ihre wechſelſeitigen
Anregungen mitteilen? Uber doch jagt man: da der Menſch feinen
Geift verliert, wenn man ihm fein Gehirn nimmt, fo ift Die
Erbe von vornherein geiftlos, weil fie fein Gehirn hat. Und von
der Schöpfung des organischen Lebens meint die Nachtanficht, es
fei ein Geborenwerden lebendiger Kinder aus einer toten Mutter,
die jene von fich abgejondert habe und fo tot geblieben jei wie
borber.
Wie Fechner feine Tagesanſicht mit der naturwiſſenſchaft⸗
lichen Auffaffung der Natur verknüpft, an der er ja ſelbſt fo
Die Tagesanficht Guſtav Theodor Fechners 507
erfolgreih mitgebaut Bat, Tann bier nicht ausführlich gezeigt
werben, wo es und mehr darauf ankommt, bie pofitiven Grunb-
züge feiner Anficht zu zeichnen. Wohl aber möchten wir noch
auf Fechners religiöje Ideen zurüdlommen, da doch die Gewinnung
ober Bewahrung eines bejeligenden Glaubens mitten in einer
noch über die alltägliche Wiſſenſchaft an Tiefe und Weite hinaus⸗
reichenden Weltanficht als das eigentümlichfte und wirkſamſte Er-
gebnis feiner Betrachtung immer mehr herbortritt. Fechner bat
feine Stellung zum Übel in ber Welt ungefähr fo bezeichnet:
Das Übel in feiner Entitehung und Fortentwidiung bis zu den
Örenzen, bis zu denen e8 überhaupt zu gedeihen vermag, ift nicht
in dem Willen ober der Bulafjung Gottes, fondern in einer Ur-
notwenbigfeit des Seins zu fuchen, vermöge deren das Sein jelbft
überhaupt nicht fein könnte, ohne in zeitlichen Anfängen und end-
lichen Bezirken dem Übel zu verfallen. Gerade in der Ausgleichung,
Hebung, Verſöhnung, Überbietung des Übels Liegt der Duell des
größern, allgemeinern, höhern Guten, an dem alles Fortſchreitende,
feinen Daſeinskreis Erweiternde und Erbhebende und Einzelne und
Endliche teil Hat. So notwendig das bel, jo notwendig tft die
Richtung des göttlichen Willend auf feine Hebung. Gerabe fo
notwendig wie daß Übel, bildet die logiſche Notwendigkeit ein
Grundmoment feines Weſens, gegen die feine Allmacht ankommt.
Daß Gott das Übel nur in ſich heben und verföhnen kann, indem
er e8 in allen feinen Geichöpfen tut, und daß feine Mittel, es
zu tun, jo weit über bie feiner Gefchöpfe in Beit, Raum und
Aufftieg zu höhern Lebensſtufen Hinaußreichen, fichert Diefe Hebung
und Verföhnung. „Man muß fie auch nur von da erwarten“;
bier zieht die jcharfe Abfonderung der Tagesanfiht von allem
Peſſimismus:
In Gott ruht meine Seele,
Gott wirkt fie in ng aus:
Sein Wollen tft mein Sollen;
Ich Tann dawider wollen;
Doch er führt es hinaus.
Aus dieſer Auffaſſung folgt notwendig auch das Begreifen der
göttlichen, d. i. ſittlichen Gebote als Anweiſungen, das Handeln
zum eignen Wohl dem zum Wohl des Ganzen unterzuordnen.
Wer hat ſich noch nicht die Frage vorgelegt, wie es habe
kommen können, daß er das Beten ſo ganz verlernt habe, das
ihn in ſeinen jungen Jahren in jeden Tag des Lebens hinein
und aus jedem heraus führte? Nicht der Wegfall des Bedürfniſſes
hat es bewirkt, ſondern die Gedankenloſigkeit, die der größte
508 Die Tagesanfidht Guſtav Cheodor Fechners
Feind bed Lebens der „Gebildeten“ if. Ye mehr fie leſen
und hören, defto weniger denken fi. Man könnte die moderne
Durchſchnittsbildung, und zwar gerade die, die auf die „Halb
bildung“ von oben herabzujehen meint, als die Gewohnheit be=
zeichnen, fi) mit einem großen Aufwand von Leien, Hören und
Neben das Denken an und über die tieffte und wichtigfte Frage
des Lebend zu erjparen. In dieſem Sums von angeblichen
Denten an der Oberfläche Hin ift aud) das Betenlünnen verloren
gegangen. Denn da e8 zum SHinabfteigen in große Tiefen auf-
fordert, ift e8 mit den Gebanlenjpielen ber jogenannten Bildung
nicht vereinbar. Der gebildete Deutiche betet in der Regel nur,
wenn ed ihm an ben Hals gebt. Sch Habe in meinem Leben
nur einmal eine jehr große Schar deutiher Männer aller Stände
ernftlich beten und fich deſſen auch nachher nicht ſchämen ſehen;
das war aber in einem Feldgotteßdienft nad) einem großen Sieg
der beutfchen Waffen im Jahre 1870. Vollends num über das
Gebet deufen und fchreiben, das tun Heute außerordentlich wenig
Nichttheologen. Darin find uns Engländer und Amerikaner
überlegen, id) meine in dem Mut, ed zu tum, nicht in der Art,
wie fie es tum. Denn fo tief wie Fechner hat kaum einer das
Beteu erfaßt, nicht einmal R. W. Emerfon.
Kann Beten Die Rotivendigkeit bezwingen? fragt er. Nein,
da8 kann es nicht, aber unter ihren Gründen felbft Platz greifen.
Gewiß wirkt e8 im Menſchen und infolgedefien darüber hinaus;
denn nicht8 wirkt im Menfchen, was nicht feine Wirkungen mittelbar
oder unmittelbar, ſichtlich oder unſichtlich über ihn hinaus in bie
mit ihm zufammenhängende Welt erftredte, mögen wir and) biefe
Wirkungen nicht zu verfolgen wiſſen. Aber warum follte eine
an Gott als den Zertreter des Weltganzen gerichtete Bitte ohne
Erfüllung bleiben, da ich Doch ſelbſt innerlich in ihm bin? Das
Greifbare am Gebet ift aber die Wirkung, die e8 auf den Betenden
jelbft Hat. „Nimm das Gebet auß der Welt, und es ift, als
hätteft du das Band der Menfchheit mit Gott zerrifien, die Zunge
des Kindes gegenüber dem Water ftumm gemadt. Ohne den
Glauben an die Wirkſamkeit des Gebeis Lönnte aber das Gebet
weder dieſe praltifche Wirkjamfeit Außern, noch jeine hiſtoriſche
Bedeutung gewinnen. GSelbitverftändlih find ber Wirkjamteit
des Gebets in der Weltordnung felbft Schranten gezogen. Der
Menſch erbitte von Bott nichts Unmögliches, nichts, was er mit
feinen eignen Rräften felbft erreichen kann, da er ja felber für
Gott dad nächſte oder alleinige Mittel ift, es zu erreichen ober
zu leiften. An Gott wende er fi), menn bie eiguen Mittel er»
Die Cagesanſicht Guſtav Theodor Fechners 509
ſchöpft ſind, und täglich bitte er Gott, daß er ihn imſtande hält,
das Seinige zu leiſten, und erflehe dazu den Segen von oben.
Gebet iſt aber auch das Vertrauen, daß Gott alles zum beſten
wenden werde, und daß das Jenſeits vollenden werde, wozu die
Mittel des Diesſeits nicht hinlänglich ſind. Aber freilich, dieſes
Vertrauen ſetzt den lebendigen, an uns teilnehmenden Gott der
Tagesanſicht voraus. Und eine Folge dieſes Vertrauens wird
das Bedürfnis fein, im Gebet zu danken. Was ſollte ung endlich
abhalten, im Gebet die Vermittlung von hingeſchiednen Lieben
oder Heiligen zu ſuchen, an deren Fortleben wir glauben? Der
Glaube an dieſe Mittler ift viel mißbraucht worden; aber niemand
kann leugnen, daß er ſchön und praktiſch wirkſam jei.“
* *
%*
Da in diefe Tage der hundertite Geburtstag Guſtav Theodor
Fechners gefallen ift (geb. zu Groß-Särchen in der Niederlaujik
am 19. April 1801), wird von den großen wiflenfchaftlichen
Berdieniten des Mannes nach langer Pauſe mandherlei gefprochen
werden. Vielleicht regen dieje Bruchſtücke und Auszüge aus feinen
religiöfen Betrachtungen unſre Lefer an, fi) mit jeinen Schriften
über Glaubens- und Seelenfragen befannt zu machen. Den ganzen
Mann lernt man ohnehin nur kennen, wenn man fein Yorjchen
und feinen Glauben als eins erfaßt. Er gehörte keineswegs zu
denen, die erft zu glauben anfangen, wenn jie zu forſchen auf-
hören; fjondern ihn zwang eine innere Notwendigkeit, fi) eine
Weltanſicht zu jchaffen, die dem forjchenden Geift und — dem
Glauben an einen weltumfafienden und durchdringenden Gott
Befriedigung und Glüd gewährte. Die 1843 erjchienenen Gedichte
zeigen denſelben kindlichen Glauben wie feine lebten Schriften.
Gerade in diejer Einheit feines geiftigen Weſens liegt fein Eigen-
tümlichjte® und zugleich das Beite, was die Nachwelt von ihm
haben kann. Offnen wir ihm, der nad) feinem eignen Glauben
als Geiſt unter uns fort lebt und mirkt, die Wege.
Derzeichnis der übrigen Brenzbotenbeiträge Friedr. Ratzels
Außer den in diefem Band ef ffenticten Auffägen ee die
end aufgezählten größern und Be —— von Se Fer Hagel
in den Grenzboten erfchtenen. Die
balten längere Bücherbeiprechungen. De de Berfoffer eme und ke Seit Dee
Bücher folgen in alphabetiſcher Anorbnung mit denen der nur kurz
ſprochnen Bücher.
1888, Heft 12 *Ein neues Erobirh „ls 6.)
„ 87 *Die ber Gefdiähte (5 ©.)
1889, „ 7 *@eographifche bücher (4, S.)
1891, „ 10 *Cafati und Smmin Balce 10 08),
1898." 18 * Das au Karl Peters 0 S.)
314 —— eftofeitanifcgen Schudgebien
„2 De einmal Dant (1 ©.)
„ 24 Bon unfern guten Freunden, den Schmweisern (6'/, ©.)
„28 Unfre guten Freunde, bie Schweizer (Erwiderung) (1/, S.)
84 Unter den Linden ©.
„ 36 Die Repräfentation Cha u der Gejellihaft der Böller (10 &.)
„ # ende e SE. Landſchaft (2), S.); Schweizer
„ 49 *Gegemvart und . Siebenbürger Sachſen (8 &.)
n ologifche W
1898, „” „3 Serge Am Weltau l ung) (1 6.)
„ 109 9Hamwat (2!
„ 25 "Mo ftehn —8* often (4 22
Bismardlult
189, " 1 Weiendad (1, ©.
” 10 Gummträder (1 6)
n 1 Böller und Räume (9 ©.)
18 Ehrung rung für Virchow (1 ©.)
Bierfrühling (/, ©.)
512
Verzeichnis der Srenzbotenbeiträge
1894, Heft 18 Der Berfal der Rekrologie (21/, S.)
1895,
1896,
1897,
”
3 —— ab (31), 2
26 Das inbenknat In Anerite E/. S.)
34 Berein erei (2 ©.)
(1 S.)
2, 5, Ge 15, 20, 28, 27, 37, 42, 48 Engliſche Weltpolitit
(1
25 ühnfeigfperrung (a8
81 —*2 über D (5 €
36 Der kubaniſche Be
44 Koloniale Biergefpräde
50, 51 Dardanellen und —X 34 S.)
2 Unfre Pflicht in Transvaal (4 6)
4 Zur Zrandvanlangelegenheit (1 ds
er chwert i
24 Deuticher Kolonien und — (16)
26 Deutj sone ( (1 38
34 *linfre Bo ten (7 &,)
85, 36 Die geogeaphüiche Lage e Deutlanbs (136)
52 *Der Gtont old Organismus (10 ©.)
15 Bildung (2 ©.)
18 Doktor Bar Betenb (51/, S.)
22 Brutal (?
25 Deutfelerbs Stellung unb Rede um Bine (1,6)
30 Wandtland und Reichsland (!
ijchen ber
4 Die Hiftorijee —— 8 S.
21 *Stalien und bie
Fri Bucheler —— dr. 5 dse 8)
2 Ein’ Beitrag zu den Anfängen der deutſchen Kolonial⸗
politif (1 ©.)
*Neue Literatur über Amerika (6 ©.)
5 Der ——6 Firchaſtsverein (6 ©.)
39 Die Amerilaner (11 ©.)
27
IRRE RETTET TER TITTHLE NIC I Re ic
Derzeichnis der Bücherbefprechungen
Algenftädt, Luife. Frei zum Dienft.
1903, 9. 14.
Arendt, Otto. France et Allemagne,
1903, 9. 46.
Baedeker, Karl. Sübbayern, Tirol
und Salzburg. 1896, 9. 28.
— Agypten. 1897, 9.11.
— Spanienu. Bortugal. 1897, 9.11.
— — Sämweiz (27. Aufl.). 1897,9.831.
(29. Aufl.). 1901, 9.27.
— eSmbeutclam —9 —
H. 27.
— Nordamerika (2. Auf).
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Barttelot, W. ©. Stanleys Nachhut.
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und Weisfagung. 1902, 9. 4.
Frank, P. D. Gegenwart und Zu:
funft der Siebenbürger Sadjen.
1892, 9.49.
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tums in Indiana. 1897, 9.3
Goloderger, L. M. Das Sand *
unbegrenzten Möglichkeiten.
1903, 9. 52.
Göß, Hermann. Eine Drientreife
„H. 1.
Götz, Wilhelm. Die Verkehrswege
im Dienfte des Welthandels.
1888, 9. 37.
33
514
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