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„395
Kibrarn of
Princeton University.
Elizabeth Foundation.
ze Eee ee
GLOBUS
XCVIII. Band
GLOBUS
Uiustriiertë
Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde
Vereinigt mit den Zeitschriften „Das Ausland“ und „Aus allen Weltteilen“
Begründet 1862 von Karl Andree
Herausgegeben von
H. Singer
Achtundneunzigster Band
— E23
Braunschweig
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn
1910
1000,
345°
2.4.19
Inhaltsverzeichnis des XCVIII. Bandes.
Allgemeines.
Die Geographie auf der 82. Versamm-
lung deutscher Naturforscher und
Arzte 17. Der Hund im Altertum 20.
Kühl, Antike und moderne Bronzen
21. Militäruntauglichkeit und Groß-
stadteinfluß 36. Steinmetz, Eine
Berichtigung zu Eduard Hahns Auf-
satz „Niederer Ackerbau oder Hack-
bau“ 66. Die wirtschaftliche Bedeu-
tung der einzelnen Erdöllagerstätten
84. Weißenberg, Zur Besprechung
des Buches von E. N. Adler „Von
Ghetto zu Ghetto“ 99. Banse,
Abflußlosigkeit und Entwässerung im
Orient. Mit 1 Karte als Sonderbei-
lage 117. 10. internationaler Geo-
graphenkongreß 163. Menschenopfer
im Altertum 194. Halbfaß, Die
Ausnutzung der Wasserkräfte im
Auslande 215. Bildung einer Angkor-
Gesellschaft (Paris) 226. Luftdruck-
schwankungen als Ursache der plötz-
lichen Todesfälle 228. Baglioni,
Ein Beitrag zur Kenntnis der natür-
lichen Musik. Mit Abb. 232. 249.
264. Die Frage der Schiffsverbin-
dung zwischen Europa und Sibirien
244. Das angeblich fehlende Natur-
gefühl des frühen Mittelalters 276.
Banse, Die geographische Bedeutung
der Araber. Mit 1 Karte 316. Neue
Bemühungen um die Heiligsprechung
des Kolumbus 368. Passarge, Herr
Geheimrat Penck und seine Urteile
über Dr. Michaelsens Dissertation 369.
Die Kürzung des Afrikafonds 385.
Europa.
Allgemeines. Nacktschneckenstudien
in den Südalpen 52. Tetzner, Die
Brautwerbung der Balten und West-
slawen 154. 170. Kämpfe auf dem
Gebiete der slawischen Altertums-
kunde 196. Koch, Die Flüsse in
der ersten Jahreshälfte 1910 236. Er-
gebnisse neuerer simultaner Tem-
peraturmessungen in einigen tiefen
Seen Europas 260. Eine neue euro-
päische Verkehrslinie 274. Zur
Thermik der Alpenseen und einiger
Seen Nordeuropas 275. Flußgeröll,
Molasseproblem und Alpenfaltung 308.
Täuber, Ein uralter Flußname
(Aach-aqua-ava) 333. Die Herkunft
des europäischen Hausrindes 356.
Deutschland, Österreich- Ungarn u.
Schweiz. Kurzdauernde Temperatur-
schwankungen (Potsdam) 19, Die
Entwickelungsgeschichte der Gera
und ihrer Nebengewässer 19. Die
neuen Untersuchungen über den
unterirdischen Lauf des Timavus 20.
Neue Forschungen in den paläolithi-
schen Stätten im Löß von Willen-
dorf 34. Jaeger, Tölz und die
Isarlandschaft. Mit 1 Karte 37. 62.
Pola eine kolchische Kolonie Bl.
Prähistorische Entdeckungen in einer
Karsthöhle 51. Landeskundlicher
Grundriß von Lübeck 51. Landver-
lust und Landgewinn auf Hiddensöe
52. Verschwinden des Neusiedler-
sees 52. Geographische Wanderskizze
über Bornholm 52. Eingewöhnung
von Pflanzen wärmerer Zonen auf
Helgoland 68. Morphologie des kri-
stallinen Odenwaldes 68. Die Mol-
luskenfauna der Schwäbischen Alb 68.
Die Temperaturen und Sauerstoff-
mengen im Sakrower See bei Pots-
dam 83. Quartärstudien im Gebiete
der nordischen Vereisung Galiziens
83. Die geologischen und hydro-
graphischen Verhältnisse der Therme
Stubica- Toplice 83. Verdunstungs-
messungen am Grimnitzsee in der
Mark 83. Die Graswirtschaft in der
Hügelregion des nordost- und zentral-
schweizerischen Alpenfußlandes 83.
Stürme und Sturmwarnungen an der
deutschen Küste 1896 bis 1905 84.
Glazialstudien im Tölzer Diluvium
84. Gengler, Das Schnupfen im
Bayerischen Wald. Mit Abb. 91.
Kugelbildungen in den Sediment-
und Eruptivgesteinen der Rheinpfalz
99. Das Kamel zur Römerzeit in
der Schweiz 100. Der Sirgenstein
und die diluvialen Kulturstätten
Württembergs 116. Paläontologische
Entdeckungen in einer Vorstadt von
Triest 116. Schneemessungen in den
Schweizer Hochalpen 146. Die deut-
schen Weilerorte 146. Zum Schutz
der Alpenflora (Berchtesgaden und
Bad Reichenhall) 147. Die Tektonik
des schweizerischen Tafeljura 148.
Die Vegetation des Oberrheins 148.
Junghans, Das Wiederaufleben
des sächsischen Zinnbergbaues 159.
Seiches und Berg- und Talwinde in
Riva 164. Der Schaalsee 180. Kon-
struktion eines Pfahlbaues im Atter-
see 195. Die Eisverhältnisse in den
südbayerischen Seen 211. Die süd-
lichen Rheingletscherzungen von
St. Gallen bis Aadorf 211. v. Gab-
nay, „Sunnawend‘“ im Märamaroser
Komitat 240. Die Gewitterfrequenz
in der Schweiz 244. Halbfaß, Der
585178
Mohriner See in der Neumark. Mit
1 Karte 257. Ein schweizerischer
Nationalpark 259. Ergebnisse zehn-
jähriger Gewitterbeobachtungen in
Nord- und wMitteldeutschland 260.
Carthaus, Die Höhlen Westfalens
und die Ausgrabungen in der Veleda-
Höhle 261. Neue prähistorische
Karstfunde 274. Die Schwerkraft in
der Umgebung des Plattensees 275.
Steinzeitliches Dolmengrab bei Aesch
276. Volksdichtedarstellung des Krei-
ses Goldap 276. Geologie der Insel
Sylt 276. Olbricht, Das Diluvium
in der Umgebung von Hannover.
Mit Abb. u. Karten 277. Schroeter,
Der erste schweizerische „National-
park“, Val Cluoza im Unter-Engadin
282. Rasse und Kultur der jüngeren
Steinzeit in der Rheinpfalz 292. Die
Eishöhle bei ÖObertraun 306. Die
ostpreußischen Straßen im 18. und
19. Jahrhundert 306. Beobachtungen
des niederösterreichischen Gewitter-
stationsnetzes 1901 bis 1905 306. Die
jüngeren Krustenbewegungen in den
Karpathen 307. Volksdichte im Kreise
Dirschau 308. Die kristallinische
Zone der Kärnter Alpen 324. Der
wirtschaftliche Wert von Wasser-
straßen in Württemberg 340. Mor-
phologie des Böhmerwaldes 340.
Tertiär und Quartär des subbes-
kidischen Vorlandes in Ostschlesien
354. Die künstliche Veranlassung
des Abganges von Lavinen (Schweiz)
354. Die Frage nach der Erhebungs-
zeit des Thüringer Waldes und des
Harzes 354. Die Sumpfschildkröte
in der Provinz Brandenburg 354.
Die Bevölkerungsentwickelung in den
Regierungsbezirken Kassel und Wies-
baden 355. Beiträge zur Agrarge-
schichte des Westerwaldes 356. Die
Siedelungen im westlichen Nadrauen
356. Die glaziale Karpathenland-
schaft 356. Beiträge zur- Kenntnis
der rügenschen Burgwälle 356. Der
Erdgasbrand bei Neuengamme 371.
Die Wallburgen auf den westlichen
Höhen des Etschtales zwischen Meran
und Bozen 386.
Nordeuropa, Belgien, die Nieder-
lande und Großbritannien. Das
Klima in Schweden während der
spätquaternären Periode 19. Wasser-
standsschwankungen des Vänern 19.
274. Der neue Wasserweg nach
Rotterdam 146. Der Glämujökull
kein Gletscher 147. Flechtner-
Lobach, Die Volkskunstin Schweden
174. Ebelings Reise durch das is-
vI
Inhaltsverzeichnis des XCVIII. Bandes.
ländische Südland 180. Die lappi-
schen Zaubertrommeln 196. Der
See Torneträsk in Lappland 260.
Weiteres über den Pfahlbaufund am
Wettersee 302. Erkes, Meine vierte
Islandreise, Sommer 1910. Mit Abb.
309. Die Insel Texel 355.
Frankreich, Spanien, Portugal und
Italien. Darstellungen menschlicher
Hände in der Höhle von Gargas 18.
Mielert, Die Insel Korsika. Mit Abb.
56. 69. 85. Der Stillstand in der
Bevölkerungszunalime Frankreichs 67.
Das Verhältnis von Alpen und Apen-
nin zu Korsika und Sardinien 99.
Halbfaß, Die Entwässerung des
Val di Chiana in Toskana. Mit Karte
108. van Gennep, Die neueren Aus-
grabungen in der Stadt Alesia. Mit
Abb. u. 1 Plan 165. Beimischung
von Sklavenblut in der Bevölkerung
Italiens 212. Die Republik Portugal
292. Schoen, Alte Sitten in der
Bretagne 325. 348. Schmidt, Aus
den italienischen Marken 363. Er-
richtung eines paläontologischen In-
stituts in Paris 371.
Rußland und die südosteuropäische
Halbinsel. Erster Versuch einer
Erklärung kaukasischer geographi-
scher Namen 35. Die Bewohner der
südosteuropäischen Halbinsel 35.
Neues über die Lasen 143. Bestei-
gung des Kasbek 179. Das König-
reich Montenegro 179. Türkische
Eisenbahnbauten und -projekte 191.
v. Hahn, Ein Versuch der Erfor-
schung des Klimas im Kaukasus 191.
Bergbesteigungen im Kaukasus 227.
Asien.
Kleinasien, Vorderasien u. Arabien.
Oman 15. Nöldeke, Zu dem Artikel
„Die Grabesmoscheen der Schi’iten
im Iraq“ 82. v. Schultz, Der
„Turssuk“. Mit Abb. 105. Saad, Jafa.
Mit 1 Plan 137. Jagd, Fischfang und
Bienenzucht der Juden in der tannäi-
schen Zeit 146. Rescher, Weib und
Ehe in der Spruchweisheit der Araber
186. Türkische Eisenbahnbauten und
-projekte 191. Kasi, Der Kurden-
stamm Manggur. Mit Abb. 213.
Die Hittiterforschung 241. Ohne-
falsch-Richter, Entdeckung des
bei Homer erwähnten Räucheraltar-
platzes der Aphrodite in Paphos auf
Cypern. Mit Abb. u. 1 Karte 293.
Goldstein, Zur Ethnographie der
Juden 311. Butlers archäologische
Expedition nach der Stätte von
Sardes 322. Die persische Frau 351.
Max Freiherr v. Oppenheims neue
Reise nach Syrien und Mesopotamien
385.
Asiatisches Rußland. Der klimatische
Einfluß des Baikalsees auf seine Um-
gebung 36. Zweifel an Deschnews
sibirischer Reise von 1648 195.
Chinesisches Reich, Tibet, Japan
mit Korea. Baron Budberg, Über
die Bedingungen des Exporthandels
in der Nordmandschurei 7. Der
Nachlaß der ermordeten deutschen
Reisenden Brunhuber und Schmitz 50.
Scheitern der chinesischen Volks-
zählung 67. Die Quellen und Ur-
sachen der japanischen Auswande-
rung 82. Frauen- und Mädchen-
handel in China zur Zeit der Hun-
gersnöte 99. Der japanische Kohlen-
bergbau 100. Baron Budberg, Zur
Charakteristik chinesischen Seelen-
Jebens 111. Fertigstellung der Jünnan-
bahn 116. Eiszeitliche Ablagerungen
in der Nordwestmongolei 131. Die
koreanische Seidenindustrie 132. De
Lacostes Reise durch die westliche
Mongolei 147. Das Ende des Kaiser-
reichs Korea 177. Der chinesische
Alligator 275. Baron Budberg,
Bürg- und Haftpflicht im chinesischen
Volksleben 285. Carruthers’ Reise in
der nordwestlichen Mongolei 291.
Eisenbahnbau in Südchina 305.
Untersuchung des Jangtsebogens und
Jalongkiangauf ihre Schiffbarkeit 323.
China ein Verfassungsstaat 371.
Vorder- und Hinterindien, Indo-
nesien. Hosseus, Ein botanischer
Ausflug auf den Pedrotallagala
(Ceylon) 45. Der Zimt des Königs
von Annam 98. Eigenartige Stoff-
verzierung des Toradja auf Mittel-
Celebes 116. Lonystaffs vorjährige
Reise in das Karakoramgebirge 131.
Die neue Ruhestätte der Reste der
Gebeine Buddhas 195. Die indischen
Verbrecherklassen 210. Carthaus,
Die Insel Timor 245.
Afrika.
Allgemeines. Kumms Durchquerung
des nördlichen Afrika 180. Strucks
Übersichtskarte der Hauptsprach-
familien in Afrika 244.
Nordafrika und die Sahara. Cortiers
neue Saharareise 18. Abkommen
über die tunesisch -tripolitanische
Grenze 19. Gentils neue Marokko-
reise 147. Burmester, Einige Be-
obachtungen über tropische Schutz-
krusten und Wadibildungen (Agyp-
ten). Mit Abb. 149. Die Steinzeit
Agyptens 275. Ein altägyptisches
Steingrab 307. Neuere Anschauungen
über das Projekt der Saharabahn
319. Die österreichische Bahara-
Expedition 320. Tod des Scherifen
Ma el-Ainin 372. Die Frage nach der
Entstehung der Agypter 372.
Westafrika mit Kamerun. Spieß,
Verborgener Fetischdienst unter den
Evheern. Mit Abb. 10. Das Klima
der Niederguineaküste 20. Freiherr
v. Steins Expedition nach der Gegend
von Nun und Mbam 35. Das Gebiet
der Ntum und Mwei 35. Die Kultur-
regionen Togos 100. Bahnbau in
Nigeria 113. Höhlenzeichnungen
und -malereien im Senegal-Niger-
gebiet 132. Karte des Konzessions-
gebietes der Gesellschaft „Süd-
Kamerun“ 179. Der Fischfang der
Eingeborenen an der mauretanischen
Küste 271. Bahn von Konakry nach
Kurussa 291. Die Verhältnisse Libe-
rias nach amerikanischer Auffassung
297. Die spanischen Besitzungen im
und am Golf von Guinea 307. Nsibidi,
eine neue Negerschrift (Südnigeria)
308. Chevaliers westafrikanische
Mission 322. Die deutsch-englische
Grenzexpedition in Kamerun 323.
Der Inhalt eines Fetischtopfes von
der Goldküste 324. Spieß, Die Jo-
holu-Gottheit und ihr Schlangenkult
337.
Äquatoriales Afrika (mit Osthorn)
und der Sudan. Das Somaliland-
Protektorat 18. Die aerologische
‘xpedition nach dem Viktoriasee 20.
Die Handels- und Wirtschaftsverhält-
nisse Angolas 36. Tordays Reisen
im südlichen Kongobecken 130. Eine
Riesenhöhle in Deutsch-Ostafrika 130.
Zum Tode Boyd Alexanders 131. 292.
Die innerpolitischen Verhältnisse
Abessiniens 141. Die Farbestempel
der Buschongo 146. Priebusch,
Die Stellung des Häuptlings bei den
Wabena 205. Mitteilungen über das
heutige Wadai 206. Zwei hydro-
graphische Missionen im französischen
Westafrika 210. Gifte der Eingebo-
renen im Uhehegebiet 211. Karte
des Massaireservats 226. Die kongo-
lesisch - portugiesische Grenze am
Dilolosre 226. Tilho über das Tsad-
seegebiet 276. Eine in Wadai ge-
fundene Reliquie Eduard Vogels 385.
Südafrika. Hutter, Im Gebiet der
Etoshapfanne (Deutsch - Südwest-
afrika). Mit Abb. 1. 24. Pearsons
Reise an der südafrikanischen West-
küste 36. Die Binnenkonchylien von
Deutsch-Südwestafrika und ihre Be-
ziehungen zur Molluskenfauna des
Kaplandes 98. Seiner, Der Ver-
bindungsweg zwischen Deutsch-Süd-
westafrika und der Betschuanenland-
Eisenbahn 122. 133. Seiners neue
Reise nach Deutsch-Südwestafrika 195.
Range, Steinwerkzeuge der Busch-
leute des deutschen Namalandes. Mit
Abb. 207. Volkskunde der Buren 212.
Passarge, Die Kalkpfannen des
östlichen Damaralandes. Mit Abb.
216. Die Auin-Buschmänner 227. Die
Buschleute der Namib 306. Michael-
sen, Die Kalkpfannen des östlichen
Damaralandes (Erwiderung). Mit
Abb. 378. Schneefall in Transvaal 387.
Afrikanische Inseln. Zur Kenntnis
des photochemischen Klimas der
Kanaren 84. Die Kapverdischen
Inseln 100. Tiergeographie der
Seychellen 194. v. Boxberger,
Wandertage auf Mafia. Mit Abb. u.
1 Karte 197. Die Riesenlandschild-
kröte der Insel Aldabra 226. Die
spanischen Besitzungen im und am
Golf von Guinea 307. Straußenzucht
auf Madagaskar 388.
Amerika.
Allgemeines. Friederici, Die Ver-
breitung der Steinschleuder in Ame-
rika 287. Chamberlain, Über die
Bedeutungen von „amerikanisch“,
„Amerikaner“ usw. 341.
Britisch- Nordamerika und Alaska.
Aus dem Norden Kanadas 32. Eine
neue Expedition zur Ersteigung des
Mount McKinley 50. Versuche, den
Mount Robson zu ersteigen 163.
Macmillans Reise im nordöstlichen
Labrador 243. Leffingwells Expe-
dition an der Nordküste Alaskas 340.
Die Indianer von Labrador 372.
Vereinigte Staaten. Woltereck,
Indianer von heute 90. Woltereck,
Aus dem Leben eines Sioux-Indianers
129. Lumbholtz’ Expedition nach
Arizona und Sonora 162. Pennsyl-
vanien zur Zeit Penns 189. Eigen-
tümlichkeiten der Bewohner der
Hatterasinsel 212. v. Rümker,
Naturdenkmalpflege in den Ver-
einigten Staaten von Amerika 229.
254. Nansen über „Vinland“ 292.
Henning, Streifzüge in den Rocky
Mountains. Mit Abb. 328. 343. 859.
Woltereck, Indianererziehung auf
der staatlichen Indianerschule Car-
lisle. Mit Abb. 373. Reliefkarte der
Vereinigten Staaten von Amerika 387.
Bureau of Mines und Bureau of
Standards 388.
Mexiko, Zentralamerika und West-
indien. Der Panamakanal 79.
Massenhaftes Auftreten von Kope-
En EEE UBER
poden vor dem kalifornischen Meer-
busen 82. Lumholtz’ Expedition nach
Arizona und Sonora 162. Die Karst-
gebiete im nördlichen Yucatan 227.
Die Technik der Purpurfärberei in
Zentralamerika und Mexiko 228.
Fossile Säugetiere aus dem Pleistozän
in den Höhlen des zentralen Cuba 387.
Südamerika. Lehmann, Syphilis und
Uta in Peru 13. Die kroatische
wissenschaftliche Mission in Süd-
amerika 18. Bahn Bahia de Cara-
ques—Quito 18. Seljan, Die Guayrä-
Fälle (Salto das Sete-Quedas) des
Paraná 48. v. Buchwald, Zur
Völkerkunde Südamerikas II 74.
Seljan, Drei südamerikanische
Sagen 94. Max Schmidts neue Reise
nach dem zentralen Südamerika 162.
Frhr. v. Nordenskiöld, Sind die
Tapiete ein guaranisierter Chaco-
stamm? Mit Abb. u. 1 Karte 181.
Die Leichenbeseitigung bei den
Macheyengas 196. Das Wunder der
Jungfrau Maria bei der Belagerung
von Cuzco 228. Eilerts de Haans Suri-
nam-Expedition 1908 243. v. Buch-
wald, Primitiver Feldbau und Ar-
beitseinteilung (Südamerika) 269.
Eilerts de Haans Surinam-Expedition
1910 306. Die Eisenbahnen Colom-
bias 324. Sievers, Die Quellen des
Amazonenstromes 339. Reeves’ Karte
des südlichen Peru und nördlichen
Bolivia 388.
Australien u. Ozeanien.
Das Festland. Vermessung der austra-
lischen Überlandbahn Port Augusta—
Fremantle 80. Schmidt, Der an-
gebliche universale Heiratstotemismus
der südostaustralischen Stämme und
einiges andere 238.
Die Inseln. Pygmäenbevölkerung in
Niederländisch-Neuguinea 50. Der
geologische Bau von Kaiser-Wilhelms-
Land 67. Diebstahl und Duell in
Buin (Bougainville) 99. Die englische
Expedition nach Holländisch - Neu-
guinea 147. 339. Untersuchungen über
Wachstum und Geschlechtsreife bei
melanesischen Kindern 180. Mosz-
kowskis Forschungsreise in Neu-
guinea 195. Vulkanische Ausbrüche
am Geysir von Waimangu 195. Pyg-
mäen im Schneegebirge Nieder-
ländisch-Neuguineas 210. Die heutige
Lage der Gilbert-Insulaner 223. Die
deutsch -holländische Abgrenzungs-
kommission in Neuguinea 227. Her-
derscheesMamberamo-Expedition 243.
Schultz, Das Falealii 300. Neue
holländische Expedition in das Schnee-
gebirge Neuguineas 372. Die Fahrt
der holländischen Grenzexpedition auf
dem Kaiserin-Augusta-Fluß376. Roux’
Aufenthalt auf den Aruinseln 384.
Abschluß der Hamburger Südsee-Ex-
pedition 3885. Friederieis Wanderungen
an der Küste von Kaiser -Wilhelms-
Land 386.
Polargebiete u. Ozeane.
Nord- und Südpolargebiet. Aufbruch
der neuen englischen Südpolarexpe-
dition 14. Charcots Südpolarexpe-
dition 36. 115. Berniers neue Polar-
expedition 50. 163. 292. Die polaren
Eisverhältnisse im Sommer 1909 82.
Filchners Südpolarexpedition 131.
273. 340. Rasmussens Expedition nach
dem polaren Amerika 131. Die ge-
Inhaltsverzeichnis des XCVIII. Bandes.
plante japanische Südpolarexpedition
131. Amundsens Nordpolarexpedition
131. Mikkelsens Grönlandexpedition
148. 371. Der Moschusochse 163. Die
Coleopteren des arktischen Gebietes
164. Wissenschaftliche Luftschiff-
fahrten in der Arktis 179. Durch-
querung Spitzbergens durch Filchner
210. Die Frage der Schiffsverbindung
zwischen Europa und Sibirien 244.
Amundsens Südpolarexpedition 259.
Entdeckung eines Vulkans und warmer
Quellen auf Spitzbergen 260. Die
Aussagen der Eskimobegleiter Cooks
339. Die bisherigen geologischen
Kenntnisse über die Bäreninsel, Spitz-
bergen und das König-Karl- Land
354. Die englische Südpolarexpedi-
tion 385. Cooks Bekenntnis 385.
Ozeane. Expedition des „Thor“ im
Nordatlantischen Ozean und Mittel-
meer 17. 305. Morphologie des süd-
westlichen pazifischen Ozeans 19.
Die Forschungsfahrt des „Michael
Sars“ im Nordatlantischen Ozean
147. 382. Der Kaiser-Wilhelms - Berg
der Heardinsel ein Vulkan 322.
Morphologie des Meeresbodens im
südwestlichen pazifischen Ozean 355.
Hydrographie,
Meteorologie, Geophysik.
Expedition des „Thor“ im Nordatlan-
tischen Ozean und Mittelmeer 17.
305. Kurzdauernde Temperatur-
schwankungen (Potsdam) 19. Das
Klima in Schweden während der
spätquarternären Periode 19. Wasser-
standsschwankungen des Vänern 19.
274. Die aerologische Expedition
nach dem Viktoriasee 20. Das Klima
der Niederguineaküste 20. Die Be-
deutung der Seen für die Gewitter-
bildung 35. Der klimatische Einfluß
des Baikalsees auf seine Umgebung
36. Grundzüge der Biologie und
Geographie des Süßwasserplanktons
51. Zunahme des Widerstandes, den
Wasser von verschiedener Temperatur
der Vermischung entgegensetzt 52.
Aufstiege von Pilotballons auf deut-
schen Handelsschiffen 67. Radium,
Thorium und Aktinium in der
Atmosphäre 68. Die polaren Eis-
verhältnisse im Sommer 1909 82.
Temperaturen und Sauerstoffmengen
im Sakrower See bei Potsdam 83.
Die geologischen und hydrographi-
schen Verhältnisse der Therme Stu-
bica - Toplice 83. Verdunstungs-
messungen am Grimnitzsee in der
Mark 83. Zur Kenntnis des photo-
chemischen Klimas der Kanaren 84.
Stürme und Sturmwarnungen an der
deutschen Küste 1896 bis 1905 84.
Der Winterhimmel des Hochgebirges
und des Tieflandes 98. Verdunstungs-
messungen auf dem Meere 100. Ver-
schiebungen der Atmosphäre im
Jahreslauf 116. Monatskarten für
den Indischen Ozean 132. Die perio-
dischen Schwankungen der Gletscher
1908 146. Schneemessungen in den
Schweizer Hochalpen 146. Die For-
schungsfahrt des „Michael Sars“ im
Nordatlantischen Ozean 147. 382. Sei-
ches und Berg- und Talwinde in Riva
164. Wissenschaftliche Luftschiff-
fahrten in der Arktis 179. Der
Schaalsee 180. v. Hahn, Ein Ver-
such der Erforschung des Klimas im
Kaukasus 191. Menschenopfer im
Altertum 194. Die Eisverhältnisse
VII
in den südbayerischen Seen 211.
Die südlichen Rheingletscherzungen
von St. Gallen bis Aadorf 211. Luft-
druckschwankungen als Ursache der
plötzlichen Todesfälle 228. Koch,
Die Flüsse in der ersten Jahreshälfte
1910 236. Der Begriff „Interglazial“
244. Die Gewitterfrequenz in der
Schweiz 244. Halbfaß, Der Moh-
riner See in der Neumark. Mit
1 Karte 257. Der See Forneträsk in
Lappland 260. Ergebnisse zehn-
jähriger Gewitterbeobachtungen in
Nord- und Mitteldeutschland 260.
Ergebnisse neuerer simultaner Tem-
peraturmessungen in einigen tieferen
Seen Europas 260. Zur Thermik
der Alpenseen und einiger Seen Nord-
europas 274. Die Schwerkraft in der
Umgebung des Plattensees 275. Be-
obachtungen des niederösterreichi-
schen Gewitterstationsnetzes 1901 bis
1905 306. Ergebnisse und fernere
Ziele der wissenschaftlichen Drachen-
und Ballonaufstiege 307. Säkulare
Anderungen der erdmagnetischen
Elemente 307. Wehner über die
Revision eines Satzes der Gravi-
tationslehre 307. Fragen der Eiszeit
354. Neue Kreuzfahrt des magne-
tischen Vermessungsschiffes „Carne-
gie“ 371. Schneefall in Transvaal
387.
Geologie
u. Paläontologie.
Die Entwickelungsgeschichte der Gera
und ihrer Nebengewässer 19. Der
geologische Bau von Kaiser-Wilhelms-
Land 67. Morphologie des kristallinen
Odenwaldes 68. Quartärstudien im
Gebiete der nordischen Vereisung
Galiziens 83. Die geologischen und
hydrographischen Verhältnisse der
Therme Stubica-Toplice 83. Glazial-
studien im Tölzer Diluvium 84. Die
Lebensweise des Diplodocus 98. Kugel-
bildungen in den Sediment- und
Eruptivgesteinen der Rheinpfalz 99.
Das Verhältnis von Alpen und Apennin
zu Korsika und Sardinien 99. Palä-
ontologische Entdeckungen in einer
Vorstadt von Triest 116. Eiszeitliche
Ablagerungen in der Nordwest-
monyolei 131. Der Zusammenhang
zwischen Abplattung und Gebirgs-
bildung 145. Die Tektonik des
schweizerischen Tafeljura 148. Vul-
kanische Ausbrüche am Geysir von
Waimangu 195. Die Entstehung der
Faltengebirge 211. Passarge, Die
Kalkpfannen des östlichen Damara-
landes. Mit Abb. 216. Die Karst-
gebiete im nördlichen Yucatan 227.
Entdeckung eines Vulkans und
warmer Quellen auf Spitzbergen 260.
Geologie der Insel Sylt 276. Ol-
bricht, Das Diluvium in der Um-
gebung von Hannover. Mit Abb. u.
Karten 277. Die Eishöhle bei Ober-
traun 306. Die jüngeren Krusten-
bewegungen in den Karpathen 307.
Flußgeröll, Molasseproblem und Alpen-
faltung 308. Der Kaiser-Wilhelms-
Berg der Heardinsel ein Vulkan 322.
Die kristallinische Zone der Kärnter
Alpen 324. Flysch und Erdöl 324.
Morphologie des Böhmerwaldes 340.
Fragen der Eiszeit 354. Tertiär und
Quartär dessubbeskidischen Vorlandes
in Ostschlesien 354. Die bisherigen
geologischen Kenntnisse über die
Bäreninsel, Spitzbergen und das
VHI
König-Karl-Land 354. Die Frage
nach der Erhebungszeit des Thürin-
ger Waldes und Harzes 354. Die
glaziale Karpathenlandschaft 356. Er-
richtung eines paläontologischen In-
stitutes in Paris 371. Michaelsen,
die Kalkpfannen des östlichen Da-
maralandes (Erwiderung). Mit Abb.
378. Fossile Säugetiere aus dem Plei-
stozän in den Höhlen des zentralen
Cuba 387. '
Botanisches
und Zoologisches.
Der Hund im Altertum 20. Gengler,
Die Schwalben im Volksglauben 31.
Hosseus, Ein botanischer Ausflug
auf den Pedrotallagala (Ceylon) 45.
Grundzüge der Biologie und Geo-
graphie des Süßwasserplanktons 51.
Nacktschneckenstudien in den Süd-
alpen 52. Eingewöhnung von Pflanzen
wärmerer Zonen auf Helgoland 68.
Die Molluskenfauna der Schwäbischen
Alb 68. Massenhaftes Auftreten von
Kopepoden vor dem kalifornischen
Meerbusen 82. Die Laichwanderungen
der Fische 84. Die Binnenkonchylien
von Deutsch-Südwestafrika und ihre
Beziehungen zur Molluskenfauna des
Kaplandes 98. Die Lebensweise des
Diplodocus 98. Florengeschichtlicher
Überblick der Farne 98. Der Zimt
des Königs von Annam 98. Das’Kamel
zur Römerzeit in der Schweiz 100.
Zum Schutz der Alpenflora (Berchtes-
gaden und Bad Reichenhall) 147.
Die Vegetation des Oberrheins 148.
Der Moschusochse 163. Die Coleo-
pteren des arktischen Gebietes 164.
Tiergeographie der Seychellen 194.
Die Riesenlandschildkröte der Insel
Aldabra 226. Der chinesische Alli-
gator 275. Die Identität des post-
glazialen Elches mit der heute noch
lebenden Art 308. Die Sumpfschild-
kröte in der Provinz Brandenburg
354. Die Herkunft des europäischen
Hausrindes 356. Fossile Säugetiere
aus dem Pleistozän in den Höhlen
des zentralen Cuba 387. Straußen-
zucht auf Madagaskar 388.
Urgeschichte.
Darstellungen menschlicher Hände in
der Höhle von Gargas 18. Neue For-
schungen in den paläolithischen
Stätten im Löß von Willendorf 34.
Prähistorische Entdeckungen in einer
Karsthöhle 51. Der Sirgenstein und
die diluvialen Kulturstätten Württem-
bergs 116. Höhlenzeichnungen und
-malereien im Senegal-Nigergebiet 132.
Konstruktion eines Pfahlbaues im
Attersee 195. Carthaus, Die Höhlen
Westfalens und die Ausgrabungen in
der Veledahöhle 261. Neue prähisto-
rische Karstfunde 274. Die Steinzeit
Agyptens 275. Steinzeitliches Dolmen-
grab bei Aesch 276. Rasse und Kultur
der jüngeren Steinzeit in der Rhein-
pfalz 292. Weiteres über den Pfahl-
baufund am Wettersee 302. Prä-
historische Fälschungen 323. Beiträge
zur Kenntnis der rügenschen Burg-
wälle 356. Die Herkunft des europäi-
schen Hausrindes 356. Die Wall-
burgen auf den westlichen Höhen
des Etschtales zwischen Meran und
Bozen 387.
Anthropologie.
Lehmann, Syphilis und Uta in Peru
13. Militäruntauglichkeit und Groß-
stadteinfluß 36. Der Stillstand in
der Bevölkerungszunahme Frank-
reichs 67. Klotz, Die „organgesetz-
liche“ Orientierung des Organismus
Mensch im Raume. Mit Abb. 101.
Audree, Anthropologische Indices
160. Der Ursprung der Haussa 164.
Untersuchungen über Wachstum und
Geschlechtsreife bei melanesischen
Kindern 180. Pygmäen im Schnee-
gebirge Niederländisch - Neuguineas
210. Beimischung von Sklavenblut
in der Bevölkerung Italiens 212.
Rasse und Kultur der jüngeren Stein-
zeit in der Rheinpfalz 292. Die Frage
nach der Entstehung der Ägypter 372.
Ethnographie nebst
Volkskunde.
Spieß, Verborgener Fetischdienst unter
den Evheern. Mit Abb. 10. Geng-
ler, Die Schwalben im Volkszlauben
31. Die Bewohner der südosteuro-
päischen Halbinsel 35. Steinmetz,
Eine Berichtigung zu Eduard Hahns
Aufsatz „Niederer Ackerbau oder
Hackbau“ 66. v. Buchwald, Zur
Völkerkunde Südamerikas II 74.
Woltereck, Indianer von heute 90.
Gengler, Das Schnupfen im Bayeri-
schen Wald. Mit Abb. 91. Seljan,
Drei südamerikanische Sagen 94.
Frauen- und Mädchenhandel in
China zur Zeit der Hungersnöte 99.
Diebstahl und Duell in Buin (Bou-
gainville) 99. Die Kulturregionen
Togos 100. v. Schultz, Der „Turs-
suk“. Mit Abb. 105. Baron Bud-
berg, Zur Charakteristik chinesischen
Seelenlebens 111. Eigenartige Stoff-
verzierung der 'Toradja auf Mittel-
Celebes 116. Woltereck, Aus dem
Leben eines Sioux-Indianers 128.
Neues über die Lasen 143. Die
Farbestempel der Buschongo 146.
Jagd, Fischfang und Bienenzucht in
der tannäischen Zeit 146. Die deut-
schen Weilerorte 146. Tetzner,
Die Brautwerbung der Balten und
Westslawen 154. 170. Die Völker-
kunde im Unterricht an den höheren
Schulen 163. van Gennep, Die
neueren Ausgrabungen in der Stadt
Alesia. Mit Abb. und 1 Plan 165.
Flechtner-Lobach, Die Volks-
kunst in Schweden 174. Frhr. von
Nordenskiöld, Sind die Tapiete
ein guaranisierter Ohacostamm? Mit
Abb. und 1 Karte 181. Rescher,
Weib und Ehe in der Spruchweisheit
der Araber 186. Die Leichenbesei-
tigung bei den Macheyengas 196.
Die lappischen Zaubertrommeln 196.
Kämpfe auf dem Gebiete der sla-
wischen Altertumskunde 196. Prie-
busch, Die Stellung des Häuptlings
bei den Wabena 205. Range, Stein-
werkzeuge der Buschleute des deut-
schen Namalandes. Mit Abb. 207.
Die indischen Verbrecherklassen 210.
Tod Mihajlos, des letzten Zigeuner-
fürsten 210. Gifte der Eingeborenen
im Uhehegebiet 211. San Lucio, der
Heilige für den Schweizerkäse 212.
Volkskunde der Buren 212. Eigen-
tümlichkeiten der Bewohner der
Hatterasinsel 212. Kasi, Der Kurden-
stamm Manggur. Mit Abbild. 213.
Goldstein, Besitz und Vermögen
bei den primitiven Völkern 222. Die
heutige Lage der Gilbert-Insulaner
223. Die Auin-Buschmänner 227.
Die Technik der Purpurfärberei in
Zentralamerika und Mexiko 228.
Methoden der Eisengewinnung bei den
alten Völkern 228. Das Wunder der
Jungfrau Maria während der Be-
lagerung von Cuzco 228. Baglioni,
Ein Beitrag zur Kenntnis der natür-
lichen Musik. Mit Abb. 232. 249.
264. Schmidt, Der angebliche
Heiratstotemismus der südaustra-
lischen Stämme und einiges andere
238. v. Gabnay, „Sunnawend“ im
Märamaroser Komitat 240. Die Hit-
titerforschung 241. v. Buchwald,
Primitiver Feldbau und Arbeitsteilung
(Südamerika) 269. Der Fischfang
der Eingeborenen an der maureta-
nischen Küste 271. Volksdichtedar-
stellung des Kreises Goldap 276.
Baron Budberg, Bürg- und Haft-
pflicht im chinesischen Volksleben
285. Friederici, Die Verbreitung
der Steinschleuder in Amerika 287.
Ohnefalsch-Richter, Entdeckung
des bei Homer erwähnten Räucher-
altarplatzes der Aphrodite in Paphos
auf Cypern. Mit Abb. und 1 Karte
293. Schultz, Das Falealii 300.
Die Buschleute der Namib 306. Ein
altägyptisches Steingrab 307. Nsibidi,
eine neue Negerschrift (Südnigeria)
308. Volksdichte im Kreise Dirschau
308. Goldstein, Zur Ethnographie
der Juden 311. Banse, Die geo-
graphische Bedeutung der Araber.
Mit 1 Karte 316. Butlers archäologi-
sche Expedition nach der Stätte von
Sardes 322. Der Inhalt eines Fetisch-
topfes von der Goldküste 324. Schoen,
Alte Sitten in der Bretagne 325. 348.
Spieß, Die Joholu-Gottheit und ihr
Schlangenkult 337. Die persische
Frau 351. Hahn, Bemerkung zu
der Berichtigung von Steinmetz zum
„niedrigen Ackerbau oder Hackbau“
353. Danzel, Magisches und mit-
teilendes Zeichnen 357. Die Indianer
von Labrador 372. Woltereck,
Indianererziehung auf der staatlichen
Indianerschule Carlisle. Mit Abb. 373.
Die zweistufige Bestattung der Eth-
nologen und die Teilbestattung der
Prähistoriker 386. DBegraben und
Verbrennen im Lichte der Religions-
und Kulturgeschichte 387.
Sprachliches.
Erster Versuch einer Erklärung kaukasi-
scher geographischer Namen 35.
Strucks Übersichtskarte der Haupt-
sprachfamilien in Afrika 244, Täu-
ber, Ein uralter Flußname (Aach-
aqua-ava) 333
Biographien. Nekrologe.
Henry Harrisse f 115. Theobald Fischer
+ 227. T. W. Saunders f 244. Hormuzd
Rassam t 275. Eilerts de Haan + 306.
Leon Laloy f 372. Gustav Adolf Graf
von Götzen 7386.
Karten und Pläne.
Kartenskizze des oberen Isargebiets 38.
Die Veränderungen im Val di Chiana
seit der römischen Zeit 108. Der
Orient. Sonderbeilage zu Nr.8. Plan
von Jafa 138. Plan der Burg Alesia
165. Die Indianerstämme im bolivia-
nisch-argentinischen Grenzgebiet 182.
Übersichtskarte der Mafia-Inselgruppe
197. Tiefenkarte des Mohriner Sees
257. Übersicht über das Diluvium
Nordwest-Deutschlands 278. Geolo-
gische Übersichtskarte der Umgebung
von Hannover 279. Lage des ältesten
Paphos auf Cypern nach Ohnefalsch-
Richter 293. Die Stellung Arabiens
und der Araber im Bereich des
Islam 317.
Abbildungen.
Allgemeines. Stimmgabel nach Be-
zold 233. Skizze zur Elementarregel
geologischen Beobachtens 378.
Europa. Der Monte Rotondo (2625 m)
vom Lago dell’ Oriente (2055 m) aus
58. Gipfelkamm des Monte Rotondo
58. An der Bucht von Porto 59.
Bucht von Ajaccio 59. Alte Kastanien-
bäume auf Korsika 60. Buchenwald
auf der Südseite des Passes von
Vizzavona (1000 m) 60. Südlicher
Teil von Bastia, vom Genueser Fort
aus gesehen 70. Rückblick auf dem
Wege nach Rivisecca in die Berg-
welt des Restonicatales 70. Zitadelle
von Corte 71. Hirtenkolonie Rivi-
secca, 1500 m hoch 71. Typische
Hütte in der Hirtenkolonie Rivisecca
72. BRasenplateau mit dem Abfluß
des Lago dell’ Oriente (2055 m) 72.
Die höchste Gipfelpyramide des Monte
Rotondo, 2625 m, von Osten her ge-
sehen 73. Evisa (842m) mit Blick
auf die Küstenberge 85. Motiv hinter
Evisa beim Ponte de Tavoletta (611 m)
86. Motiv aus den Calanches 86.
La Piana 86. Viehhürde in Cargese
87. Motiv aus Bocognano 87. Häuser-
anlage in Bocognano 88. Bahnviadukt
im Gravonetal unterhalb des Col de
Vizzavona (900 m) 88. Einfaches
Gschmeiglasl aus Grafenau 92. Far-
biges Gschmeiglasl aus Grafenau 92.
Gschmeiglasl mit Bild (farbig) aus
Cham 92. Die drei Schichten Alesias
166. Hipposandale (Pferdeschuh) aus
Alesia 167. Die sogenannte „Mutter“
(Alesia) 167. Kleinere in Alesia ge-
fundene Gegenstände: Glöckchen,
Löffel, Kanne, Axt usw. 188. Die
alesische Panflöte 168. Panflöte aus
dem „Urteil des Paris“ 265. Sche-
matisches Profil durch das Diluvium
der Umgebung von Hannover 280.
Das Val da Scarl 282. Der Hinter-
grund des Val Cluoza von der Alp
Murter aus gesehen 283. Piz Foral
im Val da Scarl 283. Arvenwald im
Val da Scarl 284. Die Lavawüste
Odädahraun 310. Thoroddsentindur,
höchste Spitze der Dyngjufjöll 310.
Lava auf der Hochebene im Süd-
westen der Dyngjufjöll 311. Knebel-
see (Askjasee) mit Solfataren am
Fuße des Thoroddsentindur 311.
Asien. Steintrommel mit Inschrift,
aus Fenghsiang, Provinz Schensi 42.
Urne mit Bügel zum Wassertragen
bei Opfern (China) 42. Liegender
oder springender Hirsch aus Gold,
gefunden 1688 in Sibirien 42. Chi-
nesisches Opfergefäß mit Deckel, aus
Bronze 42. Metallspiegel aus der
Hanzeit 42. Steinrelief aus den
Grabkammern der Familie Wu (147
n. Chr.), Schantung 42. Tongefäß in
Form eines Getreidespeichers. Toten-
beigabe aus Gräbern der Hanzeit 43.
Kochherd auf „Bären“-Füßen mit
Feueröffnung, Rauchabzug und zwei
Kochöffnungen, aus Gräbern der
Hanzeit 43. Totenbeigabe aus Ton
in Form eines Schafstalles mit Ge-
treidemühle (China) 43. Kochgerät
aus Bronze im Stil der Hanzeit 43.
Häuschen aus Ton mit Ziegeldach
43. „Tausend-Buddha-Felsen“ am
Yaho, Provinz Szechuan 44. Bud-
dhistische Heilige. Felsrelief bei Yong
Kinghien 44. Assyrisches Kellek 105.
Verschluß am Fuße eines Burdjuk
105. Eingeborene durchqueren auf
dem Burdjuk den Bartang 106. Zu-
sammengestellter Turssuk auf dem
Transport über Land 106. Der Turssuk
unbelastet auf dem Wasser 107. Der
Turssuk im Gebrauch. Zwei Passa-
giere und zwei Fährleute 107. Junger
Kaderweschi mit Dienern 214. Bürger
vonManggurabstammung ausSaudsch-
bulagh 215. Der Räucheraltarberg
(Paphos) 294. Die von Prof. Meister
im Juni 1910 publizierte Inschrift
(Paphos) 294. Altertümliches Räucher-
becken aus Stein mit verwitterter
Inschrift auf dem Räucheraltarberg
(Paphos) 295. Felsenräucherkammer
auf dem Räucheraltarberg mit aus-
gegrabener Inschrift (Paphos) 295.
Ruinen von Alt-Paphos 296. Auf den
Trümmerfeldern von Alt- Paphos
297.
Afrika. Ebene an der Südostecke der
Etoshapfanne 1. Landschaftstyp an
der Etoshapfanne 2. Wildebeest (Gnu)
3. Junges Eland 4. Löffelhund 4.
Ausgewitterte Kalkformationen inder
Etoshalandschaft 5. Abzeichen des
Boko 11. Gboniti 11. Aweli und
Ahoneza 12. Nuhewiho 12. Wume-
trowo 12. Kupferhaltige Kalkriffe
bei Tsumeb 24. Der Otjikotosee
von Süden aus 25. Kalkbergkette
bei Otavi 26. Landschaftstyp zwi-
schen Grootfontein-N. und Ghaub 26.
Viehträinke und Bananenpflanzung
auf der Missionsstation Ghaub 27.
Schuppenartige Rindenbildung an
Bäumen im Gebiet der Etoshapfanne
28. Kakteen im östlichen Etosha-
gebiet 28. Werft der Heigum-Busch-
männer bei Namutoni 29. Saiten-
instrument der Bali 29. Welliges
Grauwackenland mit Strauchsteppe
im Chansefeld 123. Die Lebvanavlei
in der Nordplatte des Ngamirumpfes
124. °Ai-kho& mit Ochsenfrosch in
der Massarinjanivlei 125. Grassteppe
mit vereinzelten Büschen auf trocken-
gelegtem Boden des Ngamisees 126.
Der Ngamifluß bei Komaning im
Januar 1907 133. Der Tamalakane
unmittelbar an seiner Mündung 134.
Ausspannplatz Lilokwalo am Botletle
mit den drei Briefbäumen 134.
Wagenweg im Bette des Botletle bei
*Namessan 135. Matete (Ohé-khoë)
am Botletle 135. Die Ntsehokutsa-
Salzpfanne im Makarrikarri-Becken
136. Der Ostabfall des Mahura-
plateaus bei Serue 136. Baustein
bei der Cheopspyramide mit Schutz-
rindenlappen 150. Sphinxkopf mit
Kruste und Verwitterung am Hinter-
kopf 150. Abschuppung in der Reil-
schlucht 151. Blindende der Sclater-
schlucht 151. Stufe in der Derfler-
schlucht mit Kruste und Wasser-
erosion 152. Erosionsschlucht im
Wadi Dugla 152. Oberlauf des Wadi
Dugla 153. Vegetationsstreifen im
Unterlauf des Wadi Dugla 153.
Kopalbäume bei Kilindoni 198. Neger-
hütten in Marimbani mit Akadju-
baum 198. Im Urwald von Tschun-
Inhaltsverzeichnis des XCVIII. Bandes.
Australien.
IX
Zugang zum Dorf
Kipingwi 199. Korallenklippen auf
Miöwi 200. Arabisches Grab auf
Tschole 200. Einbaum ohne Aus-
leger (Mtumbwi) 201. Aus den
Ruinen von Kua 201. Steinwerk-
zeuge von Rotekuppe im südlichen
Namalande 207. Die Kalkpfanne
Okateitei 217. Marimba vom Uelle.
Azande 234. Marimba aus Quili-
mane 234. Marimba der Balondo-
stämme 235. Marimba vom Uelle.
Azande? 236. Sansa aus Südost-
afrika 250. Sansa der Barotse 250.
Sansa der Mayombe 250. Sansa vom
Ubanghi-Mobeghi 250. Sansa vom
Sambesi 250. Sansa aus Masciona
(Maschona) 250. Sansa vom unteren
Kongo 250. Sansa von Alt-Calabar
250. Sansa aus Alt-Calabar 250.
Panflöte aus der Umgebung von
Harrar 265. Fanflöte der Mayombe
265.
guruma 199.
Amerika. Tapietefrau vom Rio Para-
Tapietemann vom Rio
Pilcomayo 183. Echte Tapietehütte
184. Moderne Tapietehütte 184.
Chorotiweib mit Tatuierung; Tapiete-
weib mit Tatuierung; Matacoweib
mit Tatuierung; Tapiete (Yanaygua)
mit Tatuierung; Tapieteweib mit
Tatuierung 185. Axt der Tapiete
185. Panflöte vom Amazonenstrom
265. „Castle Rock“ (South Table
Mountain) bei Golden 329. „Hanging
Rock“, Clear Creek Canyon 330.
Der „Roadmaster“, Clear Creek Can-
yon 330. Black Hawk 331. Central
City 331. Idaho Springs 343. Stark
gefaltete Felspartie bei Idaho Springs
344. Silver Plume, von Osten ge-
sehen 344. Georgetown, von Westen
gesehen 345. Blick auf die Conti-
nental Divide von Waldorf aus 360.
Mount McClellan von Waldorf ge-
sehen 361. Gray’s und Torrey’s Peak
vom Mount Mc Clellan gesehen 361.
Richard Kissitti (Apachen-Indianer
374. Joe Exendine (Blonz-Indianert
374. Jake Rocher (Hopi-Indianer)
und Ted White (Zuäi-Indianer) 374.
Elisabeth Penny (Nez-perc6s- India-
nerin) 375. Estella Sky (Sehwarz-
fuß-Indianerin) 375.
Panflöte vom Fly River,
Panflöte vom Fly
Panflöte von
Panflöte von
Panflöte von
Panflöte von
piti 183.
Neuguinea 265.
River, Neuguinea 265.
den Fidschiinseln 265.
der Insel Buka 265.
der Insel Buka 265.
der Insel Buka 265.
Botanisches u. Zoologisches. Wilde-
beest (Gnu) 3. Junges Eland 4.
Löffelhund 4. Schuppenartige Rinden-
bildung an Bäumen im Gebiet der
Etoshapfanne 28. Kakteen im öst-
lichen Etoshagebiet 28. Alte Kasta-
nienbäume auf Korsika 60. Buchen-
wald auf der Südseite des Passes von
Vizzavona 60. Kopalbäume bei
Kilindoni 198. Negerhütten in Marim-
bani mit Akadjubaum 198. Arven-
wald im Val da Scarl 284.
Ethnographie, Anthropologie und
Volkskunde. Abzeichen des Boko
11. Gboniti 11. Aweli und Aho-
neza 12. Nuhewiho 12. Wumetrowo
12. Werft der Heigum-Buschmänner
bei Namutoni 29. Saiteninstrument
der Bali 29. Steintrommel mit In-
schrift, aus Fenghsiang, Provinz
Schensi 42. Urne mit Bügel zum
Wassertragen bei Opfern (China) 42.
Liegender oder springender Hirsch
aus Gold, gefunden 1688 in Sibirien 42.
Chinesisches Opfergefäß mit Deckel,
Inhaltsverzeichnis des XCVIII. Bandes.
aus Bronze 42. Metallspiegel aus der
Hanzeit 42. Steinrelief aus den Grab-
kammern der Familie Wu (147 n.Chr.),
Schantung 42. Tongefäß in Form
eines Getreidespeichers. Totenbei-
gabe aus Gräbern der Hanzeit 43.
Kochherd auf „Bären“-Füßen mit
Feueröffnung, Rauchabzug und zwei
Kochöffnungen, aus Gräbern der
Hanzeit 43. Totenbeigabe aus Ton
in Form eines Schafstalles, mit Ge-
treidemühle (China) 43. Kochgerät
aus Bronze im Stil der Hanzeit 43.
„Tausend-Buddha-Felsen* am Yaho,
Provinz Szechuan 44. Buddhistische
Heilige. Felsrelief bei Yong Kinghien
44. Die Milchdrüse der Mammalia,
gesehen beim menschlichen Weibe
103. Assyrisches Kellek 105. Ver-
schluß am Fuße eines Burdjuk 105.
Zusammengestellter Turssuk auf dem
Transport über Land 106. °Ai-kho&
mit Ochsenfrosch in der Massarinja-
nivlei 125. Matete (Ohé-khoë) am
Botletle 135. Die drei Schichten
Alesias 166. Hipposandale (Pferde-
schuh) aus Alesia 167. Die sog.
„Mutter“ 167. Kleinere in Alesia
gefundene Gegenstände: Glöckchen,
Löffel, Kanne, Axt usw. 168. Die
alesische Panflöte 168. Tapietefrau
vom Rio Parapiti 183. Tapietemann
vom Rio Pilcomayo 183. Echte
Tapietehütte 184. Moderne Tapiete-
hütte 184. Chorotiweib mit Tatuie-
rung; Tapieteweib mit Tatuierung;
Matacoweib mit Tatuierung; Tapiete
(Yanaygua) mit Tatuierung; Tapiete-
weib mit Tatuierung 185. Axt der
Tapiete 185. Einbaum ohne Aus-
leger (Mtumbwi) 201. Steinwerk-
zeuge von Rotekuppe im südlichen
Namalande 207. Junger Kaderweschi
mit Dienern 214. Bürger von
Manggurabstammung aus Saudsch-
bulagh 215. Marimba vom Uele.
Azande 234. Marimba aus Quili-
mane 234. Marimba der Balondo-
stämme 235. Marimba vom Uelle.
Azande? 236. Sansa aus Südostafrika
250. Sansa der Barotse 250. Sansa
der Mayombe 250. Sansa vom
Ubanghi-Mobeghi 250. Sansa vom
Sambesi 250. Sansa aus Masciona
(Maschona) 250. Sansa vom unteren
Kongo 250. Sansa aus Alt-Calabar
250. Sansa aus Alt-Calabar 250.
Panflöte vom Fly River, Neuguinea
265. Panflöte vom Fly River, Neu-
guinea 265. Panflöte von den Fidschi-
inseln 265. Panflöte von der Insel
Buka 265. Panflöte von der Insel
Buka 265. Panflöte von der Insel
Buka 265. Panflöte aus dem „Urteil
des Paris“ 265. Panflöte aus der Um-
gegend von Harrar 265. Panflöte
der Mayombe 265. Panflöte vom
Amazonenstrom 265. Der Räucher-
altarberg (Paphos) 294. Die von Prof.
Meister im Juni 1910 publizierte In-
schrift (Paphos) 294. Altertümliches
Räucherbecken aus Stein mit ver-
witterter Inschrift auf dem Räucher-
altarberz (Paphos) 295. Felsen-
räucherkammer auf dem Räucher-
altarberg mit ausgegrabener Inschrift
(Paphos) 295. Ruinen von Alt-Paphos
296. Auf den Trümmerfeldern von
Alt-Paphos 297. Richard Kissitti
(Apachen-Indianer) 374. Joe Exen-
dine (Sioux-Indianer) 374. Jake
Rocher (Hopi-Indianer) und Ted
White (Zuni-Indianer) 374. Elisabeth
Penny (Nez-perces-Indianerin 375.
Estella Sky (Schwarzfuß-Indianerin)
375.
Bücherschau.
Andrees Geographie des Welthandels,
2. Aufl., Bd.I 225.
Archaeological Survey of Nubia, Bull. 5
338.
Artbauer, Kreuz und quer durch Ma-
rokko 321.
Aubin, En Haiti 80.
Baedeker, Südbayern, Tirol und Salz-
burg, 34. Aufl. 97.
Baedeker, Palästina und Syrien, 7. Aufl.
162.
Baeßler-Archiv, Bd.I, Heft 1 272.
Prinzessin von Bayern, Des Prinzen
Arnulf Jagdexpedition in den Tian-
Schan 304. j
Beyschlag, Krusch u. Vogt, Die Lager-
stätten der nutzbaren Mineralien,
Bd. I, 2 352.
Birkner, Der diluviale Mensch in Europa
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Boas, The Kwakiutl of Vancouver Is-
land 145.
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Bowditch, The Numeration, Calendar
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grapbical Collections 145.
DeCarvalho, Prehistoria Sul-Americana
178,
Curschmann, Die deutschen Ortsnamen
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209.
Dähnhardt, Natursagen, Bd. III, 1 16.
Déchelette, Manuel d’Archöologie, Bd. II
322.
Der Islam, Bd. I, Heft 1 193.
Faitlovitch, Quer durch Abessinien 161.
Flemmings Namentreue Länderkarten,
Bl. 1 bis 3 80.
Frazer, Totemism and Exogamy 144.
Frobenius, Kulturtypen aus dem West-
sudan 272.
Gerste, Notes sur la médecine et la
botanique des anciens Mexicains 83.
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schen Sibirien 178.
Goës, Die indischen Großstädte 179.
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gänge in die Umgebung von Berlin
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Grube, Religion und Kultus der Chi-
nesen 81.
Grund, Beiträge zur Morphologie des
Dinarischen Gebirges 114.
Guardia, Cartas de Juan Vazquez de
Coronado 224,
Haberlandt, Botanische Tropenreise,
2. Aufl. 369.
Haddon u. Quiggin, History of Anthro-
pology 369.
Heilborn, Der Mensch der Urzeit, 2. Aufl.
290.
Herrmann, Island in Vergangenheit
und Gegenwart, Bd. IIL 178.
Heuser, Pennsylvanien im 17. Jahr-
hundert 189.
Hesse, Tierbau und Tierleben 96.
Hoebels Karte von China 272.
Hölzels Wandkarte der Alpen, neue
Bearbeitung von Franz Heiderich 370.
Hübners Geographisch - statistische Ta-
bellen aller Länder der Erde, 59. Ausg.
291.
Hunziker, Das Schweizerhaus, Bd. VI
209.
Jahrbuch d. städt. Museums f. Völker-
kunde Leipzig, Bd. II 303.
Jochelson, The Yukaghir and the Yu-
kaghirized Tungus 114.
Johnson, Geological and Archaeological
Notes on Orangia 208.
Katalog des Ethnographischen Reichs-
museums (Leiden), Bd. I, 1, IV u. V 50.
Kayser, Lehrbuch der Geologie, 3. Aufl.
353.
Keller, Die antike Tierwelt, Bd.I 17.
Kessler, Serbien 193.
v. Kimakowicz- Winnicki, Spinn- und
Webewerkzeuge 162.
Koch, Beiträge zur Kenntnis der Höhen-
grenzen der Vegetation im Mittel-
meergebiete 224.
Laufer, Chinese Pottery of the Han
Dynasty 209.
Lehmann-Nitsche, Sumarios de las Con-
ferencias XVII Congreso Internacio-
nal de los Americanistas 291.
Mc Clintock, The Old North Trail 352.
Manes, Ins Land der sozialen Wunder
290.
Matienzo, Gobierno del Perú, obra
escrita en el siglo XVI 243.
Messikomer, Aus alter Zeit 145.
Meyer, Das deutsche Kolonialreich,
Bd. II 33.
Michaelsen, Die Kalkpfannen des öst-
lichen Damaralandes 216.
Middelberg, Geologische en Technische
Aanteckeningen over de Goudin-
dustrie in Suriname 353.
Moszeik, Die Malereien der Busch-
männer in Südafrika 370.
Münsterberg, Chinesische
schichte, Bd. I 40.
Oldenberg, Aus dem alten Indien 144.
Pawlowski, Les ports de Paris 81.
Pietschmann, Bericht des Diego Rodri-
guez de Figueroa über seine Ver-
handlungen mit dem Inka Titu Cusi
Yupanqui 291.
Pittier, Versuch über die Nutzpflanzen
Costa Ricas 34.
Pringsheim, Physik der Sonne 114.
Putnam Anniversary Volume 15.
Rehse, Kiziba 77.
Sapir, Takelma Texts 178.
Schlaginhaufen, Reisen in Kaiser-Wil-
helms-Land 304.
Schmidt, Die Stellung der Pygmäen-
völker in der Entwickelungsgeschichte
des Menschen 53.
Schuller, Kleiner spanisch-indianischer
(araukanischer) Katechismus 15.
Schuller, Calzadas Beichtbuch auf Spa-
nisch und Araukanisch 15.
Schultze, Das Sultanat Bornu 162.
Seligmann, The Melanesians of British
New Guinea 241.
Solger, Studien über nordostdeutsche
Inlanddünen 81.
Bolger etc., Dünenbuch 224.
Speck, Ethnology of the Yuchi Indians
243.
Steinhauff und Schmidt, Lehrbuch der
Erdkunde für höhere Schulen 321.
Stiny, Die Muren 97.
Stjerna, Les groupes de civilisation en
Scandinavie à l’&poque des sépultures
à galérie 161.
Strehlow, Die Aranda- und Loritja-
stämme in Zentralaustralien, III. Teil
226.
Stuhlmann, Handwerk und Industrie
in Ostafrika 304.
Thonner, Vom Kongo zum Ubangi 208.
Thurston u. Rangachari, Castes and
Tribes of Southern India 49.
Trebitsch, Bei den Eskimos in West-
grönland 97.
Trietsch, Levante-Handbuch, 2. Aufl. 193.
Trietsch, Handbuch über die wirtschaft-
lichen Verhältnisse Marokkos und
Persiens 193,
Vischer, Across the Sahara from Tripoli
to Bornu 97.
Wagner, Geographisches Jahrbuch,
33. Bd. 291.
Walther, Lehrbuch der Geologie von
Deutschland 353.
Kunstge-
Wilhelm, Kungfutse, Gespräche 242.
Wilke, Spiral-Mäander-Keramik und
Gefäßmalerei 338.
Zacher, Römisches
Gegenwart 144.
Volksleben der
Mitarbeiter.
Andree, R., Prof., Dr., München 15. 16.
17. 18. 50. 97. 114. 115. 116. 144. 145.
146. 160. 162. 180. 196. 209. 210. 212.
226. 259. 272. 275. 276. 303. 304. 308.
323. 356. 369. 372. 386.
Baglioni, 8., Prof., Dr., Rom 232.
264.
Banse, Ewald, Braunschweig 117. 316.
Bauer, Adolf, Kopenhagen 260. 302. 305.
Beltz, R., Dr., Schwerin 161.
v. Boxberger, Leo, Dr., Marburg a. L.
197.
v. Buchwald, Otto, Guayaquil 74. 269.
Baron Budberg, Roger, Dr., Polizeiarzt,
Charbin 7. 111. 285.
Burmester, Herbert, Dr., München 149.
Byhan, A., Dr., Hamburg 15. 243.
Carthaus, Emil, Dr., Halensee - Berlin
245. 261.
Chamberlain, Alexander F., Prof., Dr.,
Worcester, Mass. 341.
Dahms, Paul, Prof., Dr., Zoppot 96.'
Danzel, Th. W., Leipzig 257.
Eckert, Max, Prof., Dr., Aachen 225.
Erkes, Heinrich, Köln 147. 309.
Flechtner-Lobach, Alice, Stettin 174.
Förster, B., Oberstleutnant a. D., Mün-
chen 35. 36. 79. 130. 180. 276. 306.
323.
Friederici, Georg, Dr., Dorlisheim (El-
saß) 287.
v. Gabnay, Franz, Forstmeister, Buda-
pest 240.
Gengler, J., Dr., Erlangen 31. 91.
van Gennep, Paris 4165.
Goldstein, F., Dr., Steglitz- Berlin 193.
222. 311.
Graebner, Fritz, Dr., Köln 241.
Greim, G., Prof., Dr., Darmstadt 19.
20. 97. 99. 100. 114. 115. 116. 131.
132. 145. 146. 276. 307. 353. 354.
v. Hahn, C., Wirkl. Staatsrat, Tiflis
51. 143. 179. 191. 227.
249.
S. 37, §p.2, Z.12 von unten lies Magnesia statt Mangan.
l, „ 20 von oben lies Przybyllok statt Przybyllek.
l, „ 22 von oben lies Seelheim statt Saelheim.
4 von oben lies griechisch-cyprische Silben-
inschriftfunde statt Silbeninschriftfunde.
. 293, Sp.1, Z.19 von unten lies mein bereits am 23. Juni
geschriebener Bericht statt mein Bericht.
ll, a
ur, %a
Po en Page
zn
8.293, Sp.1, 2.17 von unten lies Juni statt Juli.
„n 293, „ l, „ 6 von unten lies 22. August statt 27. August.
» 295, „ 2, „» 2 von oben lies Juli statt Juni.
» 293, „ 2, „ 19 von oben lies Juni statt Juli.
„ 294, „ 1, „ 11 von unten lies 22. August statt 27. August.
a 294, „ l, „ 6 von unten lies Apostolides statt Aphrostolites.
»„ 294, „ 2, „ 6 von oben lies Auf deren westlicher Beite
statt Auf dieser westlichen Seite.
un
294, » 2, a;
Räucheraltarblockes.
|
|
. 294, Sp. 2, Z. 7 von unten lies Tonschalen statt Tonschale.
1 von unten lies 22. August statt 27. August.
294 muß die Unterschrift der Abb. 2 heißen:
Prof. Meister im Juli 1910 publizierte Inschrift des
Inhaltsverzeichnis des XCVIII. Bandes.
XI
Halbfaß, W., Prof., Dr., Jena 36. 51.
52. 83. 108. 164. 180. 215. 257. 260.
275. 371. `
Hahn, Eduard, Dr., Privatdozent, Berlin
353.
Hartmann, Albert, Dr., München 338,
Henning, Karl L., Denver, Colo. 328.
343. 359. 387. 388.
Hoernes, Max, Prof., Dr., Wien 322.
Hosseus, C. 0., Dr., Bad Reichenhall 45.
147. 274.
Hutter, Franz, Hauptmann a. D., Mur-
nau 1. 24.
Jaeger, Julius, Generaldirektionsrat
a. D., München 37. 62.
v. Jezewski, S., Dr., Jena 67. 80. 82.
100. 113. 116.
Junghans, Werner, Chemnitz 159.
Kasi, Mirsa Djewad, Berlin 213.
Klotz, Ernst, Leipzig 101.
Koch, L., Duderstadt 2386.
Krause, Arthur, Dr., Oberlehrer, Leipzig
321.
Kühl, Hugo, Dr., Kiel 21.
Lehmann, Walter, Dr., Kustos, München
13. 33. 34. 178. 224. 228. 243. 273. 291.
Maurer, F, Dr., Pfarrer, Bullenheim
144. 146.
Messerschmitt, J. B., München 114.
Michaelsen, H., Dr., Hamburg 378.
Mielert, Fritz, Sprottau 56. 69. 85.
Moser, L. Karl, Prof., Dr., Triest 20.
51. 82. 116.
Moszkowski, Max, Dr., z. Zt. Nieder-
ländisch-Neuguinea 195.
Nöldeke, Arn., Dr., München 82.
Frhr. v. Nordenskiöld, Erland, Stock-
holm 181.
Ohnefalsch-Richter, Max, Dr., z. Zt. auf
Reisen 293.
Olbricht, K., Dr., Hannover 277.
Passarge, S., Prof., Dr., Wandsbek
208. 216. 227. 369.
Priebusch, Martin, Missionar, Ilembula
(Deutsch-Ostafrika) 205.
Range, P., Dr., Lübeck 207.
Rescher, O., Dr., Stuttgart 186.
Roth, E., Dr., Oberbibliothekar, Halle
20. 52. 67. 68. 83. 84. 98. 100. 148.
163. 164. 180. 193. 194. 211. 224. 228.
244. 276. 292. 306. 807. 308. 324.
340. 354. 355. 356. 369.
felde.
|
Ä
Berichtigungen zum XCVIII. Bande.
v. Rümker, K., Prof., Dr., Breslau 229.
254.
Saad, L., Dr., Jafa 137.
Schmidt, Max, Dr., Direktorialassistent,
z. Zt. Brasilien 162.
Schmidt, Everhard, Dr., Privatdozent,
Rom 363.
Schmidt, W., Prof., Mödling b. Wien
238.
Schoen, Heinrich, Prof., Dr., Cahors
(Lot) 325. 348.
Schroeter, C., Prof., Zürich 282.
v. Schultz, Arved, Gießen 105.
Schultz, Erich, Dr., Oberrichter, Apia
300.
Schwalbe, G., Prof., Dr., Straßburg i. E.
53.
Seiner, Franz, z. Zt. Deutsch-Südwest-
afrika 122. 133.
Seljan, Mirko u. Stevo, Santiago (Chile)
18. 48. 94.
Singer, H., Schöneberg - Berlin 14. 15.
17. 18. 19. 32. 33. 34. 35. 36. 50. 67.
77. 80. 81. 82. 97. 98. 99. 100. 130.
131. 132. 141. 147. 148. 161. 162. 163.
164. 177. 178. 179. 189. 191. 193. 195.
206. 208. 210. 211. 212. 223. 226. 227.
241. 243. 244. 259. 271. 272. 273. 275.
290. 291. 292. 297. 304. 305. 306. 307.
319. 320. 321. 322. 323. 324. 339. 340.
351. 352. 368. 370. 371. 372. 376. 382.
384. 385. 386. 387. 388.
Spethmann, Hans, Dr., Greifswald 81.
352.
Spieß, C., Missionar, Ho (Togo) 10. 337.
Steinmetz, R. S., Prof., Dr., Amster-
dam 66.
Stönner, Dr.,
Berlin 49.
Stübe, R., Dr., Privatdozent, Leipzig
40. 81. 209. 242.
Tannhäuser, F., Prof., Dr., Berlin 352.
Täuber, C., Prof., Dr., Zürich 333.
Tetzner, F., Prof., Dr., Leipzig 154.
170.
Volz, W., Prof., Dr., Breslau 353.
Weißenberg, 8., Dr., Elisabethgrad 99.
Wiedemann, A., Prof., Dr., Bonn 338.
Winternitz, M., Prof., Dr., Prag 17.
Wolkenhauer, W., Prof., Dr., Bremen
115.
Woltereck, K., München 90. 128. 373.
Direktorial - Assistent,
8.295 muß die Unterschrift der Abb. 3 heißen: Altertümliches
Räucherbecken aus Stein mit verwitterter Inschrift von
dem unweit des Räucheraltarberges gelegenen Ruinen-
S.296, Sp.2. Der Satz „Auch an dieser Stelle hat Dr. Zahn
versuchsweise graben lassen und einige Bildwerke ge-
funden“ schließt sich unmittelbar an den voraufgegangenen
Absatz an. Der dann folgende Satz des neuen Abschnitts
von „Ganz“ bis „wird“ mußlauten: Ganz anders nun hier
in Kuklia, der Stätte der antiken Stadt Palaipaphos,
die so zum Unterschiede von der weiter westlich bei
dem heutigen Distriktshauptort Ktima an der Stätte
des Dorfes Paphos gelegenen antiken Stadt Neapaphos
genannt wird.
S. 297, Sp.2, Z. 8 von oben lies und soll vorher statt und
vorher.
Die von funden.
8.297, Sp. 2, Z.9 von oben lies gefunden haben statt ge-
S. 297, Sp. 2, Z.7/8 von unten lies wodurch für Rantidi die
Zeit Homers genau fixiert würde.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unn VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. ı.
urn
BRAUNSCHWEIG.
7. Juli 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika).
Von Hauptmann a. D. Hutter.
Die Gneismassive und Sandsteinplateaus Südwest-
afrikas umschließt in breitem Gürtel im Osten und
Norden die dritte morphologische Formation des Landes:
die Kalaharisenke.
In ihrer Gesamtheit erstreckt sie sich vom Mittel-
lauf des Oranje bis zu dem des Okavango !), weit nach
Osten sich ausbreitend; im Norden bis zum Kaokofeld
übergreifend. Ihre Südgrenze hier oben im Norden ist
nennung: „Outjo-Sandsteinterrasse“. Er ist aber keine
Sandsteinformation mehr — und auch keine Terrasse,
sondern gehört bereits zur Kalksteinformation der Kala-
haridepression.
Diese, die Kalaharisenke, ist als das nunmehr
trockengelegte und mit Sand überdeckte ungeheure Becken
einer einzigen \Vasseransammlung oder eines Systems aus-
gedehnter Binnenseen anzusprechen. Die allmähliche
Abb.1. Ebene an der Südostecke der Etoshapfanne. Im Hintergrunde die Station Namutoni.
die von Grootfontein über Otavi nach Outjo und in West-
südwestrichtung darüber hinaus streichende Bergkette.
Auf älteren Karten (u. a. im Langhansschen Kolonial-
atlas 2) trägt dieser kettenförmige Höhenzug die Be-
1) Einer der vielen unrichtigen Namen, von denen unsere
Geographie bekanntlich wimmelt. Das Wort stammt von
Andersson; es lautet, nach Schinz, richtig: „Ovankuangara*.
Aber auch das ist nicht der Name des Flusses, sondern der
eines an seinem Mittellaufe sitzenden Negerstammes. Die
Ovambo nennen den Okavango: Ombuenge. — Bei dieser
Gelegenheit sei gleich bemerkt, daß auch die Benennung
„Kunene“ bei den Eingeborenen unbekannt ist.
?) An Karten benutzte ich: Deutsch - Südwestafrika
1:2000000 von P. Sprigade u. M. Moisel, 1910; die sog.
Globus XCVIII. Nr. 1.
Austrocknung hat eine Anzahl verschiedener kleinerer
Senken in ihr zutage treten lassen, von denen die des
Ngamisees der tiefste Punkt der ganzen Depressionsform
zu sein scheint. Wenigstens ist nach Schinz „bei
unbedeutenderen Regenperioden eine jede dieser einzelnen
Senkungen das Sammelbecken der nächsten Umgebung;
sowie aber der Wasserstand eine gewisse Höhe erreicht
hat, beginnt eine Entleerung nach dem Ngamisee zu.“
Kriegskarte; Langhans, Deutscher Kolonialatlas; und Karte
des Reisewerkes „Deutsch-Südwestafrika“ von Dr. Schinz
(1884 bis 1887). — Die ziemlich geringe Genauigkeit süd-
westafrikanischen Kartenmaterials und der Mangel an ein-
wandfreien Höhenangaben ist leider bekannt.
I
2 Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika).
Eine weitere Senke ist jene, deren tiefster Punkt
die Etoshapfanne ist. Die zu ihr sich senkende und des-
halb sowie in sonstiger Richtung zu ihr ressortierende
Umgebung faßt Rohrbach unter dem Namen „Etosha-
becken“ zusammen.
Dieses Etoshabecken reicht, die Pfanne (+ 1050 m)
als Mittelpunkt angenommen, im Westen bis zum Kaoko-
feld (Ostrand desselben: + 1200 bis 1400 m), im Norden
gehört dazu das ganze Amboland bis zum Kunene (On-
kunbi am mittleren Kunene nach Schinz + 1120 m).
Bevor ich mich der Etoshapfanne und ihrer Umgebung
zuwende, möchte ich noch auf die unverkennbare Ähnlich-
keit der Verhältnisse der Kalaharidepression im ganzen,
wie des Etoshabeckens speziell mit jenen der großen
zentralafrikanischen Senke am Südrande der Sahara auf-
merksam machen. Dort wie hier findet sich der einstige
Binnensee in vereinzelten größeren und kleineren Über-
bleibseln (dort Tsad-, Fitri-, Irosee usw.). Dort wie hier be-
stand und besteht die Unentschiedenheit über Zu- oder
Abflußrichtung einer großen Wasserrinne (dort das Bahr
Abb.2. Landschaftstyp an der Etoshapfanne.
Bei Hochwasser gibt dieser Strom durch ein vielfach
verzweigtes System von flachen Omiramben Wasser zur
Pfanne ab; Beweis hierfür: erst jüngst in der Pfanne
entdeckte Fische. Im Osten erstreckt es sich bis Groot-
fontein (+ 1530 m) und einer etwa von da Nordost zur
Einmündung des Löwen-Omuramba in den Kunene
streichenden Linie. Im Süden deckt sich die Grenze mit
der der Kalaharisenke (Otavi + 1410 m, Neidaus + 1430 m,
Otjomongundi + 1239 m, Namatanga + 1270 m, Orubob
+ 1300 m).
Die Niveauunterschiede innerhalb dieses Becken-
randes sind außerordentlich gering, namentlich in der öst-
lichen Hälfte. So zeigt der Onsillakanal, der die Etosha-
pfanne mit einer weit kleineren, nahe östlich gelegenen,
der Onandovapfanne verbindet, regengefüllt beinahe gar
keine Wasserbewegung. So ist auch bis zur Stunde
noch unentschieden, ob der Omuramba u Ovambo ein
Zu- oder Abfluß der Pfanne war oder ist. Nach der
größeren Höhentendenz der bergigen Otavi-Grootfontein-
Landschaft möchte ich ihn eher für einen Zufluß halten.
Auch der — wenn auch sehr schwach — terrassen-
förmige Abstieg von Gochab bis Grootfontein — ich
habe drei deutlich erkennbare Stufen gefunden — sowie
die Überhöhung Grootfonteins über die ungemessene
Ebene bis hinüber zum Omuramba u Omatako spricht
dafür,
el Ghasal); dort wie hier ist der Plus- oder Minushöhen-
unterschied der verschiedenen Senkengebiete (dort Tsad-
becken, Egei, Bodele) zweifelhaft. An der Etoshapfanne
und am Ngamisee finden sich die gleichen Aus- und Ein-
buchtungen, zum Teil mit analoger Vegetation wie dort
oben die „ridschul* und „ngaldjam“. Nur die klima-
tischen und geologischen Verhältnisse sind verschieden;
und demzufolge verschieden der Grad des Austrocknungs-
prozesses. Aber die Tatsache eines interessanten Gegen-
stückes ist unverkennbar.
Die Etoshapfanne ist zweifellos das Überbleibsel
eines großen Binnensees, dessen Wasserspiegel sich er-
heblich weiter ausgedehnt hat, als das jetzige Bassin der
Pfanne es tut. Einen ungefähren Anhalt über diese
ehemalige Größe gibt der Salz- oder Natrongehalt („Brak“
ist die landesübliche Bezeichnung) der Umgebung; in-
folge der gänzlichen Abflußlosigkeit dieser Wasseran-
sammlung mußte, namentlich in Verbindung mit dem
geologischen Untergrund, Versalzung eintreten. Dann
das fast gänzliche Fehlen von Rivierbildungen. Dieses
Fehlen von Rivierbildungen hängt übrigens außerdem
eng zusammen mit der geologischen Unterlage der Pfanne,
sowie eines daran sich angliedernden Gebietes, oder
genauer ihrer lokalen Beschaffenheit und der dadurch
möglichen mechanischen und chemischen Be- und Aus-
arbeitung derselben zur Karstformation.
Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 3
An sich ist diese geologische Unterlage, der Kalk,
der ganzen dritten morphologischen Hauptformation des
Landes, der Kalaharisenke, gemeinsam. „Das Leitgestein
dieser Formation“, sagt Schinz, „ist ein rezenter, weißer
Kalkstein von bald dichtem, bald porösem Gefüge.“ Und
eben das poröse Gefüge herrscht in einem gewissen
Umkreis um die Etoshapfanne.
Diese drei dem der Pfanne näherliegenden Teil des
Etoshabeckens eigenen Faktoren — Brakgehalt des
Bodens, Fehlen von Omirambenbildung und Karstforma-
tion — lassen diesen Teil als landschaftliche Einheit
aus dem Etoshabecken herausgreifen: ich nenne sie das
Etoshagebiet.
Unter ihm möchte ich hiermit verstanden haben:
Die Pfanne selbst, einen Streifen ihres Westufers, ihr
Nordufer bis zur Höhe von Osohoma. Im Osten bildet
der Omuramba u Ovambo die Nordgrenze. Von seinem
östlichen Ende zieht die Grenzlinie herunter nach Groot-
fontein-N. und deckt sich von da ab im Süden mit der
Grenze der ganzen Kalaharisenke, der alten „Outjo-
Sandsteinterrasse“. Von deren Westende folgt sie un-
gefähr der Pad Outjo—Okaukwejo bis zum Westufer der
Pfanne.
Kalk — „Otavikalk* nennt ihn Rohrbach — ist
der Untergrund des ganzen Gebietes. In der Pfanne
selbst ist seine obere Schicht durch die stete, periodische
(zu jeder Regenzeit stattfindende) Einwirkung des
Wassers chemisch bearbeitet und aufgelöst und bildet
Konglomerat zwischen Tsumeb und Grootfontein zu
Mittelgebirgen.
Die Streichungstendenz all dieser kleinen und
großen Kalkriffe und -bänke ist ausnahmslos Ost— West;
in der gleichen Richtung zieht die Längsachse aller
Pfannen: auch drüben in der Kalahari. Die Etosha-
pfanne ist ja nur der mächtigste Repräsentant dieser
einstigen Salzseen; eine ganze Reihe kleinerer ist über
die Kalkformation hin verstreut.
Die ostwestliche Länge der Etoshapfanne beträgt
etwa 150 km; ihre größte (Nord—Süd) Breite erreicht sie
im Westteil mit ungefähr 80 km.
Es ist aber, wie gesagt, an vielen Stellen schwer,
den Uferzug zu fixieren — abgesehen davon, daß leider
noch keine eigentliche genaue Erforschung dieses höchst
interessanten Naturgebildes stattgefunden hat: also auch
hierin zeigt sich Ähnlichkeit mit dem großen Natronsee
Zentralafrikas. Am schwierigsten ist die Fixierung am
Südrand: dort geht das anfängliche Steilufer westlich
von Namutoni bald in eine wellenförmige, vielgegliederte
und ausgebuchtete Erhebung des ganzen Geländes gen
Süden über. Erst drüben in der Südwestecke erhebt
sich die verschwommene Randlinie wieder zu Riffen und
Bänken.
In der Kette kleiner Pfannen längs dem Südufer
findet sich meist Brakwasser; doch treten in einigen auch
süße Quellen aus dem Kalkgestein zutage; so bei Na-
mutoni, bei Springbockfontein, bei Okaukwejo und an
Abb.3.
zur trockenen Zeit eine Effloreszenzschicht von salpeter-
saurem Kalzium. Es finden sich aber auch ungelöste
Gebilde: Kalkfelsen und Kalkinseln ragen aus dem „See“-
grund empor. Am Nordufer legt sich bald nach Osohoma
eine mäßige Decke geringerer Ablagerungen darüber. Im
Süden der Pfanne tritt er unbedeckt zutage, in der in
unmittelbarer Nähe des Ufers — soweit man von einem
solchen sprechen kann — sich hinziehenden Reihe kleiner
Pfannen, die durch Riffe und Bänke getrennt sind. An
der Südgrenze des Gebietes erreichen diese Riffe über-
raschende Höhen, 200 bis 300 m (relativ), und erheben
sich in den Otavibergen, den Bobosbergen und in dem
Globus XCVIII. Nr.1.
Wildebeest (Gnu).
anderen Orten. Ein weiteres Analogon zum Tsadsee:
dieses unvermittelte und auf den ersten Blick über-
raschende Vorkommen von Brak- und Süßwasser fast
unmittelbar nebeneinander.
Gleich unbestimmter Uferzug findet sich an der
Westseite (nach Schinz); sowie stellenweise im Osten,
wo die Pfanne immer schmäler wird, um sich endlich
zu dem etwa 10km langen Onsillakanal (der Verbin-
dung mit der Onandovapfanne) zu verjüngen, der ein-
zigen Omurambenbildung des Gebietes. Schärfer aus-
geprägt ist der nördliche Uferrand, sowohl durch die
Konfiguration selbst als durch die Beschaffenheit der
2
4 Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika).
Abb.4. Junges Eland.
Bodenbedeckung. Terrassenförmig steigt hier das Ge-
lände vom Seegrunde aus an und markiert auf diese
Weise ganz deutlich die verschiedenen einstigen Ränder
der Pfanne. „Mit der Entfernung vom Austrocknungs-
zentrum, eben der Pfanne, steigert sich die Reichhaltig-
keit der Vegetation im allmählichen Erobern der trocken-
gelegten Zonen: erst spärliche Grasflur, auf der nächst
höheren Terrasse solche von dichterem Bestand, dann
folgt — immer in zentrifugaler Richtung — Busch-, und
endlich Wasserwald“, wie Schinz in Anlehnung an die
von Pechuöl-Loesche eingeführte Waldeinteilung die
höheren Baumbestände auch hierzulande nennt. „Die
bzw. Uferlinien werden unter diesen Umständen haar-
scharf gekennzeichnet.“
Aus diesem Uferzug ergibt sich als ungefähre Grund-
form für die Etoshapfanne ein nach Osten sich zu-
spitzendes Dreieck (der Tsadsee war zu Nachtigals Zeiten
gleichfalls ein langgezogenes ^; nur lag die Spitze gen
Norden).
Die Höhe vom Boden der Pfanne bis auf die obere
Kante des Steilrandes westlich Namutoni schätzt Rohrbach
auf 15 bis 25 m.
Das, was diesem Becken — und ebenso der Onan-
dovapfanne — ein ganz eigenartiges Gepräge gibt, sind die
bereits genannten Salzausblühungen, die die ganze
ungeheure, vollkommen vegetationslose Mulde über-
decken.
An der Peripherie ruhen sie, bis zu 10cm dick, auf
vollkommen trockener Unterlage; je weiter nach der
Mitte zu, desto weicher wird die ganze Masse und bildet
schließlich unergründlichen, zähen, übelriechenden Schlick
mit allen möglichen Salzausscheidungen übersättigt. Die
Onandovapfanne zeigt in ihrer ganzen Ausdehnung
festen Untergrund.
In der Regenzeit ist die mächtige Etoshapfanne
eine große Wasserfläche, die Onandovapfanne desgleichen
und der Onsilla ein breiter Strom.
Ich habe die Pfanne nur in der Trockenzeit kennen
gelernt: und da bietet sie ein einzigartiges, unvergeß-
liches Bild, das auf den verschiedenen Streifen von
Namutoni aus immer wieder aufs neue zu bestaunen
ich nicht müde ward. Man muß sich nämlich trotz oder
vielmehr gerade wegen der ab-
soluten Fläche des Landes ein-
zelne Auslugpunkte aufsuchen,
von denen man Ausblick auf die
Pfanne hat. Also sogar in dieser
Richtung ähnelt der Salzsee Süd-
afrikas dem Schilfsee der Sahara.
Auch von den Türmen der Feste
aus, die doch hart an der Süd-
ostecke der Pfanne liegt, sieht
man nicht ein Stückchen von ihr.
Reitet man frühmorgens von
der Station nach Norden zu zum
Onsilla oder nach Westen nach
den Wasserstellen Hoachas und
Hoas, so ahnt man vorerst gleich-
falls erst recht nicht ihre so un-
mittelbare Nähe. Plötzlich, nach
Passieren eines der zahlreichen,
schmalen, aber dichten Busch-
waldstreifen, an einer Weg-
biegung, liegt ein uferlos sich aus-
dehnender scheinbarer Wasser-
spiegel gen Westen. Kleine be-
waldete Erbebungen, die wie
Inseln in ihm liegen, erhöhen
die Täuschung (es sind weit in
die Pfanne hineinragende Uferteile). — Und nun be-
ginnt mit dem Höhersteigen der Sonne ein wechsel-
volles, reizendes Strahlungsspiel draußen auf der
Fläche und insbesondere in den durch Landzungen
und Buchten lebhaft gegliederten Uferpartien. Bald
schimmert hier ein schmaler, weit ins Land hineinzün-
gelnder, vermeintlicher Wasserarm wie eine tiefblaue
Ader, bald leuchtet dort eine smaragdgrüne, schilfum-
säumte Bucht — „ridschil und ngaldjam“ vermerke ich
in meinem Tagebuch; wie ich in ihm auch „die über-
raschende Ähnlichkeit der Einmündung des Onsilla in die
tiefgegliederte und rasch sich weitende Ostecke der Pfanne
mit dem Kamerunästuar“ hervorhebe — und drüben, wo
eine bewaldete Bodenwelle sich weit in den „See“ hinein
Abb.5. Löffelhund.
Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 5
vorschiebt, spiegeln sich, um die Täuschung vollkommen
zu machen, die Bäume in der Salzpfanne wie im ruhigen,
offenen Wasser eines wirklichen Sees.
Ist die Sonne höher gestiegen, wandelt sich das ganze
Bild zu einer neuen Täuschung: da glitzern und funkeln
die weißen Salzausblühungen auf der uferlosen Fläche
gleich frischgefallenem Schnee, und man glaubt sich nach
nordischer Winterlandschaft versetzt. Unwillkürlich ge-
dachte ich, so oft ich diese Salzschneedecke, die unter
dem Tritt des Menschen oder dem Huf des Tieres und
dem Rad der Karre leise knistert, kreuz und quer durchzog,
der Sage vom Reiter, der ahnungslos über den zugefrorenen
und überschneiten Bodensee gezogen. Straßen gleich durch-
Abb. 6.
ziehen das „Schneefeld“ nach allen Richtungen Wild-
fährten.
Gleichfalls an die nordische Heimat gemahnten mich
die verschiedenen Wasserstellen am Südufer der Pfanne;
wenigstens der eine der beiden Typen. Sie sind nämlich
entweder sumpfige, schilf- und rieddurchsetzte und -um-
säumte Buchten oder (die bereits oben erwähnten) Kalk-
pfannen. In beide fließt von der Tiefe quellenartig Wasser
ein. Auf letztere, als Gebilde der Karstformation, werde
ich bei Besprechung dieser noch zurückkommen.
Der erste Typ mutet, wie gesagt, ganz heimatlich an;
namentlich wenn die Wasserstelle im Buschwalde oder
in dessen Nähe liegt. Die Umrahmung, Ried und Schilf,
verrät schon aus der Ferne einen solchen Platz; still
und ruhig liegt das offene Wasser, das üppigen Gras-
wuchs ringsum hervorgerufen hat. Ständen nicht da
und dort, auf und zwischen den Klippen und phanta-
stisch ausgewaschenen Kalksteinplatten der seltsam be-
Ey RER EEE
Ausgewitterte Kalkformationen in der Etoshalandschaft.
laubte Mopanebaum oder eine kandelaberartige Aloë —
man glaubte sich, besonders in der Abenddämmerung,
an einem einsamen schilfumsäumten Altwasser im baye-
rischen Auenwald, des Einfallens eines Fluges Wildenten
gewärtig. Und wenn nun auch gerade keine Enten kommen,
so doch Tiere mit heimatlich schlichtem Federkleid: große
Schwärme rebhuhnfarbiger Wasserwachteln und starke
Ketten Perlhühner. In der Steppe schnarrt lauten Tones das
Gackelhuhn (onomatopoetisch von den Eingeborenen, „Kar-
rada“ genannt), und im Röhricht quakt der Ochsenfrosch,
dieser südafrikanische Riesenvetter seiner nordischen Teich-
verwandten. — Solche Stellen finden sich am ganzen Südufer
der Pfanne nicht wenige; so Rietfontein, Hoas, Hoachas,
ee
h aaa - Da
Klein-Namutoni und andere. Bis hinunter nach Sissekab
und Goab kommen sie vor; Rietfontein bei Grootfontein
zeigt den gleichen Typ. Auch Groß-Namutoni (Amutoni
schreibt Schinz) — an welcher Wasserstelle bereits der
erste Europäer, der bis in diese abgelegenen Gebiete hier
vordrang, der Engländer Galton 1851 lagerte — war eine
solche, bevor dort die stattliche Feste Namutoni sich er-
hob. Auch jetzt noch ist dicht neben- der Station der,
allerdings gereinigte, offene Wassertümpel.
Dieser Platz sowie Klein-Namutoni vereinigt die
beiden Typen. Auf der ganz flach gewölbten Kuppe einer
unbedeutenden Erhebung liegt eine Kalkpfanne, die
durch die Kalkausscheidung einer früher offenen Quelle
mit einer Sinterdecke übermauert worden ist. Auf diese
Weise erklärt sich — das sei hier von der Besprechung
der Karstformation vorweg genommen — die auf den
ersten Blick höchlich überraschende Tatsache, daß im
Etoshagebiet die meisten Wasserstellen auf den — aller-
2*
6 Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrike).
dings ganz minimalen — Geländeerhebungen sich vor-
finden. Diese Wasseransammlung hat sich einen Ausweg
gesucht und, entweder durch den Kalk sich durcharbeitend
oder die Decke ein Stück sprengend, eben den offenen
Wassertümpel, der nach und nach versumpfte, gebildet.
Die dadurch ermöglichte Vegetation hat das übrige be-
sorgt. (Auf der Langhansschen Karte, die ich wegen
ihrer Detailangaben, die sich auf ihr noch nach der
früher üblichen Weise der Eintragung der lokalen Tage-
buchnotizen der ersten Forscher finden, sehr zum Studium
empfehle — abgesehen von den verschiedenen „wasser-
losen Wüsten“ u. dgl. —, findet sich hier in dieser
Gegend, wo jetzt alles einhüllende Sandstürme über die
Fläche brausen, der Eintrag: „Zur Regenzeit schwarzer
Morast.“)
Ich habe auch eine der oben erwähnten Kalkinseln
besucht: „Achatinsel“ hat sie der um die Erforschung
seines Bezirks sehr verdiente mehrjährige Stationschef
auf Namutoni, Oberleutnant Fischer, getauft. Auch ich
hielt, gleich ihm, anfänglich die Formation für Achat.
Die Insel liegt am Beginn einer weit nach Nordosten sich
erstreckenden Bucht, der sogenannten Onkandoschapfanne,
westlich Uitsab, in der Etoshapfanne. Unvermittelt er-
hebt sich aus dem weißlichgrauen Schlick des Pfannen-
bodens mit teils vollkommen senkrecht, teils sägerücken-
förmig ansteigenden Wänden ein mächtiger Kalkfels, der
in Platten und Knollen sich abblättern läßt. Diese
Stufen verjüngen sich nach oben, so daß die ganze etwa
500m an der Basis im Umkreis betragende Insel wie
eine Pyramide mit Terrassen oder fast noch ähnlicher wie
ein riesiger Baumkuchen aussieht. Was so täuschend
an Achat erinnert, ist die samtartige, baumschwamm-
braune Färbung des Gesteins. Feine Linien gleich dem
Geäder eines Blattes durchziehen die Oberfläche der wellen-
förmig gepreßten Platten, die, ausgebrochen, bänderför-
mige Anordnung von aufeinanderlagernden Schichten
zeigen und an den Bruchrändern halb durchsichtig im
helleren Braun schimmern.
Uferlose Steppe umrahmt das Salzmeer. Keinen Ruhe-
punkt im Gelände findet das Auge. Die oben erwähnte
Terrassenbildung am Nordufer, die Vertikaldifferenz
des Seebodens zum Ufer, der Ränder des Omuramba u
Ovambo: all diese Höhenunterschiede sind so gering,
daß sie in der ungeheuren Fläche vollkommen ver-
schwinden; die Bergzüge im Süden ragen nicht mehr
über den Horizont (Abb. 1). So sehr mich wochenlang
der Reiz der Pfanne, der Steppe, gefesselt, so groß war
die Freude für mich als berggewohnten Süddeutschen,
als ich endlich wieder, quer durch das Buschmannsfeld
gegen Otavi ziehend, bei Harib die dem Tafelzug des
Uisib aufgesetzte Zacke über den Horizont langsam sich
heraufrecken sah; unwillkürlich trieb ich mein Pferd
zum Galopp an, um rascher den Berg wachsen zu sehen.
In das fahle, gelbe Gras der Steppe ist im Süden und
Osten streifenförmig langgezogener Dornbuschwald ein-
gestreut, der aus seinem gelben Blütenknospenmeer zu
Beginn des südafrikanischen Frühlings mit herrlichen
Wohlgerüchen die reinen Lüfte erfüllt (Abb. 2). Laub-
bäume, einzeln und in Gruppen, stellenweise in größeren
Beständen, mischen sich darein, und eine, buchstäblich
eine Palme (Hyphaene) ragt hoch als willkommene
ÖOrientierungsmarke bei Hoas über den Busch. Nach
Norden das gleiche Steppenbild — die Ränder des
Omuramba sind mit vereinzelten Bäumen und Palmen
bestanden, bis etwa Osohama. Hier beginnt ge-
schlossener Wald (das besagt schon der Name: in der
Ovambosprache heißt: „Ohama“ Wald; Plural Oohama;
daraus ist „)sohama“ geworden), der sich nach Nordosten,
ins Sandfeld hinein, als dichter Dornbusch bis zum
Löwen-Omuramba fortsetzt. Auf der Westseite herrscht,
unabsehbar nach Nord, West und Süd sich ausdehnend,
sandige Steppe; Bäume und Sträucher sind fast voll-
ständig verschwunden; hin und wieder erhebt eine Aloë
ihre Blattrosette über das wogende Feld, da und dort
steht eine Akazie. „Hauptmann Franke berichtet, daß
man schon eine Reitstunde nördlich Okaukwejo keinen
Stein mehr findet, und daß bis zum Kunene hinauf im
ganzen Lande kein Steinchen von der Größe einer Erbse
auf der Oberfläche des grauweißen Sandbodens liegt“
(Rohrbach). Schinz geriet indirekt durch diese Stein-
armut in der Landschaft Ondonga in sehr unangenehme
Verwickelungen mit den Eingeborenen. Er hatte von
einem im Felde liegenden „großen Stein“ gehört, den er
der Beschreibung nach für einen Meteoriten hielt. Kaum
hatte er ihn besichtigt — wobei sich herausstellte, daß
es lediglich ein Quarzstück war — und sich noch dazu
ein Stückchen davon abgeschlagen, als er von der auf-
geregten Menge und dem Häuptling für Verletzung
eines heiligen Ortes und eines die Existenz des ganzen
Stammes symbolisierenden heiligen Gegenstandes ver-
antwortlich gemacht wurde: eine solche Seltenheit war
im ganzen Lande ein größeres Steinstück.
Die zahlreichen Wasserstellen mit ihrem üppigen
Graswuchs, die von allen Tieren zeitweilig sehr begehrte
brakhaltige Vegetation, und insbesondere die Pfanne
selbst, die ja ein e ungeheuere Salzlecke ist, machen die
Umgebung der Etoshapfanne zu einem wahren Tierpark;
sowohl der Zahl als den Arten nach. Fünf und mehr
Meter breite dunkle Streifen kreuzen allenthalben den
Salzsee, führen zu den Riedwasserstellen: es sind die
Heerstraßen des Wildes. Nicht nur, daß sich hier oben
beinahe alleauch im Herero-und Namalande vorkommenden
Gattungen finden; es weist das nähere und weitere Gebiet
der Etoshapfanne auch mehrere diesen Landschaften eigene
Tierweltvertreter auf. Und diese hauptsächlich möchte
ich hier nennen. In Rudeln von 100 und mehr Stück
schweift die nächst dem Eland größte Antilopenart, das
Gnu — hierzulande allgemein „Wildebeest“ genannt
(Abb. 3). Der Bur, der ihm diesen Namen gegeben hat,
hat in diesem Falle das Richtige getroffen: es ist tat-
sächlich mehr ein Rind, ein „Beest“, als eine Antilope.
Merkwürdig kontrastieren mit dem schweren mächtigen
Bau, dem Nacken, Gehörn und der Widerristmähne eines
Büffels die zierlich schlanken Antilopenläufe Das
Eland (Boselaphus orcas, Abb. 4) ist mit seiner rötlichen
Decke und dem bis zu 1m langen, starken stangen-
geraden, gewundenen Gehörn das mächtige Gegenstück
im Ostteil des Etoshagebietes, in der Grootfonteiner
Landschaft bis hinauf zum Omuramba u Ovambo, hin-
über zum großen Omuramba. Der „Gemsbock* (Oryx
beisa) scheint verhältnismäßig selten zu sein; dagegen
ist die „Hartebeest“-Antilope (Bubalis caama) dem
Norden eigentümlich. Die edelste und schönstgebaute
Antilope, das Kudu, trifft man fast nur mehr hier oben
in diesem Wilddorado. Die Giraffe ist gleichfalls nur
mehr hier oben anzutreffen und macht sich — den
Telegraphenleitungen sehr unangenehm bemerkbar.
Innige Freundschaft mit dem Wildebeest scheint das
Zebra geschlossen zu haben; wenigstens sieht man selten
eine Herde Wildebeeste ohne begleitende und darin
verteilte Zebrarudel über Steppe und Pfanne galoppieren;
und als dritter im Bunde pflegt sich der Strauß, nicht
selten zu 20 und 30 Stück auftretend, anzuschließen.
Erdferkel habe ich bei Grootfontein mehrmals beobachtet,
und nicht selten in den Waldstreifen östlich der Etosha-
pfanne unseren Hasen. Ein Gürteltier (?) soll einmal
von einem Reiter auf Namutoni im Felde totgeschlagen
worden sein.
Budberg: Über die Bedingungen des Exporthandels in der Nordmandschurei. 7
Daß bei diesem außerordentlichen Wildreichtum auch
die Raubtiere nicht fehlen, ist selbstverständlich: vom
Leoparden und Geparden — beide nennt der Bur „Tiger“
— bis zur Hyäne, dem Schakal und den zierlichen,
behenden Löffelhunden (Abb. 5). Aber auch der Löwe
zeigt sich hier oben bisweilen; wohl auf Streifzügen von
der Kalahari herüber.
Nicht minder arten- und zahlreich als das Haarwild
ist die Vogelwelt vertreten; von der Riesentrappe („Paw“
genannt) bis herunter zum Siedelsperling. Auffallend
häufig an der Pfanne sind der Schlangenfresser und der
Pfefferfresser. Turakoähnliche Vögel beobachtete ich nur
hier oben im Norden; desgleichen ist mir aufgefallen,
daß fast alle Vögel verschiedener Art in der Land-
schaft zwischen der Pfanne und dem großen Omuramba
Kopfschopf und Langschwanz (zwei bis drei bis zu Im
lange Schwanzfedern) aufweisen. Auch die Färbungen
sind lebhafter, vielfach stahlgrün und leuchtend dunkel-
blau. In der Regenzeit findet vom Kunene her nach den
wassergefüllten Pfannen Masseneinwanderung von Wasser-
vögeln statt: Flamingos, Kronenkranichen, Ibissen,
Reibern, Enten usw. Zur Regenzeit wimmelt es im
ganzen Amboland (nach Schinz) von Riesenfröschen.
Es ist der sogenannte Ochsenfrosch (Rana adspersa).
Ich habe an und in den Riedwasserstellen ein paar
Exemplare davon gefunden; das größte maß über 20 cm
von der Schnauze bis zum Hinterteil. Bei dieser Gelegen-
heit möchte ich erwähnen, daß auf einer Farm bei
Grootfontein die Pumpe aus 10m Tiefe häufig lebende
Frösche (rot und schwarz gezeichnet) sowie zahlreiche
Wasserkäfer heraufbefördert.
Der Vollständigkeit halber muß ich noch bemerken,
daß die Termitenbauten im ganzen Etoshagebiet eine
wesentlich andere Form zeigen als die wohlbekannte
kuppel- und schwammförmige Zentralafrikas, die auch im
Herero- und Namalande die gewöhnliche ist. Hier oben
haben sie ausnahmslos obelisk- oder kegelförmige Gestalt
und erreichen höchstens 1 bis 1,5 m Höhe. In der nähe-
ren Umgebung der Etoshapfanne zahlreich und schnee-
weiß, geben sie im grünen Buschwald oder der gelben
Steppe eine eigenartige Landschaftsstaffage ab.
Nun zu den beiden Faktoren, die dem Etoshagebiet
nächst der Pfanne selbst das ihm eigene Landschafts-
gepräge verleihen: der Karstformation und der durch
die damit geschaffenen besonderen Grundwasserverhält-
nisse mit ihr eng zusammenhängenden Vegetation.
Wenn man von Omaruru weiter gen Norden vordringt,
so herrscht im Westen bis Outjo, in der Mitte und öst-
lich bis Okatupa (an der Otavibahn) und Otjenga (an
der Waterberg — Otavi-Pad) noch vollständig der Typ
des Hererolandes.. Dann beginnt allmählich das Bild
sich zu verwandeln. Eine weite, schwachwellige Ebene
nimmt ihren Anfang, fern im Norden durch scheinbar
zusammenhängende Bergzüge mit weichen Formen be-
grenzt: die mehrfach erwähnte (fälschlich einst so ge-
nannte) Outjo-Sandsteinterrasse, die ihre Ostfortsetzung
in dem Höhenkonglomerat zwischen Otavi und Groot-
fontein hat. Der wohlbekannte Dornbusch findet sich
zwar noch, aber er ist nicht mehr allein herrschend;
Laubbäume, die allerdings auch nicht selten mit langen
Stacheln bewehrt sind, mischen sich darein. Lichte
Parklandschaft wechselt mit reiner Steppe, aus der sich
höchstens hohe Aloön da und dort erheben, und ge-
schlossenen Waldbeständen; feines, weiches, dichtes Gras
mehrt sich. (Ich verweise hinsichtlich der Vegetation
auf die Langhanssche Karte.) Näher den eben genann-
ten Höhenzügen überrascht ihre Bewaldung — im ange-
nehmen Gegensatz zu den kahlen Bergformen des Herero-
landes. „Es ist kein Hochwald im deutschen Sinne“,
schreibt Rohrbach sehr richtig, „aber ein für südafrika-
nische Augen ganz leidlicher Baumwuchs, der die Hänge
bedeckt und die Berge des Nordens, namentlich zur
Regenzeit, vollkommen grün erscheinen läßt.“
Der Eintritt in die Hügelkette, die sich jetzt deutlich
in mehrere Gruppen und Züge gliedert, findet allent-
halben durch niedrige Talpässe, sogenannte „Pforten“,
statt. Solche Pforten führen auch von einem der, aus-
nahmslos Ost— West streichenden, Täler und Kessel in
das nächste. Damit ist der oben gezeichnete Südrand
des Etoshagebietes erreicht: die Karstformation.
Diese Karstformation beginnt — ich folge hier
nächst meinen eigenen, mehr laienhaft schildernden
Tagebuchaufzeichnungen den Ausführungen Rohrbachs
etwa bei Outjo. Zahlreiche, teils offene, teils
unterirdische Einstürze, Trichter, Schlote usw. kenn-
zeichnen sie. Seltsam ausgewitterte, da und dort stalak-
titenförmig aufgebaute Höhlungen gähnen oft plötzlich
im Buschwald dem überraschten Wanderer entgegen
(Abb.6). Der Kalk, aus dem dieser Karst aufgebaut ist,
ist so porös. und wasserdurchlässig, daß er die hier im
Norden bereits beträchtlichen Regenmassen (durchschnitt-
liches Jahresmittel der Niederschläge 600 mm) wie ein
Schwamm aufsaugt und es zu gar keiner ausgesprochenen
Omirambenbildung kommen läßt. Dagegen hat das in den
Kalk eingedrungene Wasser unterirdisch durch seine auf-
lösende und ausspülende Wirksamkeit ein großes Ein-
sturz- und Höhlengebiet geschaffen. In unterirdischen
Becken sammelt sich seeartig das Wasser gleich wie in
den Kalkalpen Mitteleuropas, in Istrien und an anderen
Orten. Vielfach stehen diese Becken miteinander in Ver-
bindung, und rauschend und brausend durchziehen unter-
irdische Ströme das Gestein.
In dem Höhlengebiet von Awachab hört man, dem
Eingangsstollen noch fern, mächtiges: Getöse unsichtbaren
Wassers, und: tiefe Schächte gähnen in dem Labyrinth.
(Schluß folgt.)
Über die Bedingungen des Exporthandels in der Nordmandschurei.
Von Baron Budberg. Charbin.
Mit Recht lenkt die Mandschurei die Aufmerksamkeit
aller handeltreibenden Nationen in immer steigendem
Maße auf sich, denn allein an Fähigkeit, alle Arten von
Getreide zu produzieren, übertrifft sie jetzt schon, bei
noch lange nicht beendeter Kolonisation, die indessen
von Jahr zu Jahr schnell fortschreitet, die reichsten
Kornländer der Erde. Das Verlangen der Großstaaten,
die Tore der Mandschurei müßten allen Nationen offen
gehalten werden, hat ja noch kürzlich in dem nordameri-
kanischen Vorschlage, die mandschurischen Bahnen zu
Globus XCVIIL Nr.1.
neutralisieren, beredten Ausdruck gefunden. Japan und
Rußland haben nicht eingewilligt, die Haupttore dem
internationalen Handel zu öffnen, neue Nebenpforten sind
es, durch die andere Nationen immerhin lohnenden Ein-
gang finden können. Ob aber Japan und Rußland mit
Erfolg sich auch dem Projekt, neue Bahnen, deren das
Land und der Handel bedürfen, mit Hilfe internationaler
Anleihen zu bauen, werden widersetzen können, erscheint
sehr fraglich. So lohnend nun aber auch der Markt in
der Mandschurei ist, so verwickelt sind andererseits alle
3
8 Budberg: Über die Bedingungen des Exporthandels in der Nordmandschurei,
Handelsbedingungen, mit denen der ausländische Kauf-
mann es hier zu tun hat.
Nur ein gründliches Studium aller hier in Betracht
kommenden Bedingungen kann den europäischen Kauf-
mann auf Erfolg rechnen lassen. Werfen wir einmal
einen flüchtigen Blick auf diese Schwierigkeiten.
1. Die chinesische Sprache gilt mit Recht als die
schwerste aller Sprachen. Nicht allein die Schriftsprache
mit ihren Tausenden von komplizierten Charakteren,
sondern nicht weniger die Umgangssprache mit ihren
verwickelten Redewendungen und Tonhöhen, an die das
europäische Ohr sich erst im Laufe von Jahren gewöhnt,
bietet große Hindernisse. Dazu macht es sich sehr be-
merkenswert, daß es bis jetzt kein praktisches Sprach-
buch zum Selbstunterricht, etwa nach der Methode von
Toussaint-Langenscheidt, für den Deutschen gibt. Es
wäre vielleicht empfehlenswert, daß an den deutschen
Konsulaten in China chinesische Sprachlehrer gehalten
würden zur praktischen Unterweisung deutscher Staats-
angehöriger in Sprache und Handelsbedingungen des
Landes. Der Lehrerberuf in China ist wenig lohnend,
die Ausgaben für eme Garantie der Einnahme oder ein
ständiges Gehalt des Lehrers würden sich aber bezahlt
machen oder nur geringe Zuschüsse des Konsulats erfor-
dern. Wirklich gute Sprachlehrer sind hier schwer zu
haben, man findet sie unter den chinesischen Seminaristen
der katholischen Missionen, die Latein lernen und deren
Aussprache große Deutlichkeit kennzeichnet. Dringend
zu raten ist jedem Deutschen, der in China Geschäfte
machen will, daß er vor den Schwierigkeiten, die die
Aneignung der chinesischen Sprache und Sitten mit sich
bringt, nicht zurückschreckt. An Ausdauer und auch
an Fähigkeit, sich fremden Verhältnissen anzupassen,
fehlt es dem Deutschen ja nicht, dadurch hat er vor
vielen anderen Nationen einen bedeutenden Vorteil
voraus.
2. China besitzt bis jetzt kein einheitliches Geld-
system. Im Verkehr stehen: a) Silber in Barren von ver-
schiedenem Gewicht und Wert. Der Silberwert, nach der
Gewichtseinheit „Lan“ berechnet, liegt wohl allen Geld-
werten zugrunde, nur reicht das im Lande vorhandene
Silber bei weitem nicht aus, um die große Menge der
kursierenden Anweisungen zu decken. b) Silbermünzen,
wobei die verschiedenen Provinzen ihre eigene Prägung
besitzen. c) Geprägte Kupfermünzen. d) Gegossene
Kupfermünzen (Tschech, Cash, Sapeque), je nach dem
Ort und der Zeit der Emission von verschiedener Legie-
rung und verschiedenem Wert. e) Papiergeld, je nach
der Provinz, wo es ediert wird, von sehr verschiedenem
Kurswert. So beträgt der Wert des girinschen Djau
etwa !/, mehr als der des zizikarschen. f) Private An-
weisungen nicht nur einzelner Banken, sondern selbst
kleiner Firmen, die in manchen Bezirken oder Ortschaften
das fast allein in Verkehr stehende Geld bilden. g) Aus-
ländische Münzen, so in der Nordmandschurei, nahe der
Bahnlinie, russisches Geld, in der Südmandschurei ja-
panisches.
Nur der Silberwert hält sich ziemlich konstant, leider
aber ist das Silber in Münze als auch in Barren in den letzten
Jahren fast völlig verschwunden, was den Beamten zuzu-
schreiben ist, die kein Interesse am Wohl der Bevölkerung
hier besitzen. Die Landbauern sind Mandschuren, die Be-
amten waren bis zum russisch-japanischen Kriege oder noch
früher, bis zu den Boxerwirren, ebenfalls Mandschuren. Diese
interessierten sich natürlich für das Wohl ihrer Heimat und
Heimatsgenossen, und war auch damals Bestechlichkeit nicht
selten, so herrschte sie doch lange nicht in dem Maße wie
heutzutage, wo die Beamten fast ausschließlich Chinesen aus
dem Süden sind. Die Regierung war gezwungen, als Beamte
Südchinesen hierher zu ernennen, weil diese an Bildung den
Mandschuren weit überlegen sind. Das Verderbliche dabei
aber ist, daß der Zwiespalt zwischen Chinesen und Man-
dschuren schroff ist; so fühlen sich diese chinesischen Be-
amten hier in eine ihnen unsympatbische Gegend versetzt,
und ihr ganzes Sinnen und Trachten richtet sich nur darauf,
das Volk auszuplündern, sich möglichst schnell zu bereichern.
Meist entstammen diese aus dem Süden gebürtigen Beamten
ärmeren Familien und sind noch dazu wegen der Erlangung
ihres Postens gründlich in Schulden geraten; die von ihnen
beliebte Erpressung und Willkür reicht also ans Unglaub-
liche. Sie sind es, die das Silber an sich reißen und in ihre
Heimat befördern, auch leisten sie Vorschub der Emission
von Assignationen durch Firmen, deren Spekulationen von
Hause aus schwindelhaft erscheinen. Sehr wesentlich wird
noch das Interesse der Beamten, segensreich in ihrem Bezirk
zu wirken, durch die Bestimmung gelähmt, daß sie alle drei
Jahre gewechselt werden sollen. Die Ernennung der Unter-
beamten hängt meist ganz von dem Ortspräfekten ab; dieser,
von einem Posten auf den anderen versetzt, nimmt sein Ge-
folge aus ihm ergebenen Personen und Freunden mit sich,
und so erscheinen alle Bedingungen für ein Arbeiten in die
eigene Tasche erfüllt. Indessen müssen wir hier bemerken,
daß die jetzige Regierung durch Gründung vorzüglicher Man-
dschurenschulen alles tut, um sich einen Bestand an gut ge-
bildeten mandschurischen Beamten zu schaffen.
Alle die aufgezählten Werte schwanken in ihrem
Kurse. Früh morgens versammeln sich selbst in kleinen
Ortschaften die Vertreter der größeren Firmen und die
Geldwechsler, um den Tageskurs zu bestimmen.
3. Gewicht und Maß. Nur das Pfund, „Dsjin“, ist
einheitlich, während das Getreidemaß, das „Dan“, nicht
einheitlich ist; jeder Ort hat sein eigenes „Dan“ als Ge-
treidemaß.
4. Das Steuersystem ist ebensowenig einheitlich. Jede
Provinz hat ihre speziellen Abgaben, die teils von der
Zentralregierung, teils von dem Generalgouverneur oder
den Gouverneuren festgesetzt werden; sie legen sich
hauptsächlich auf den Handel in allen Zweigen.
Es dürfte nicht ohne Interesse sein, hier eine Provinz
als Beispiel anzuführen. Wir folgen den Angaben Bo-
lobans in bezug auf die Provinz Zizikar.
Jedes Handelshaus, jeder Laden ist zu genauester Buch-
führung mit Monatsabschluß verpflichtet. Von dem Brutto-
gewinn ist 1 Proz. in das Du-tsch-sö, das Departement der
Finanzen, abzuführen. Solch ein Besteuerungssystem bringt
zwar dem Fiskus Geld ein, erscheint aber höchst unrationell,
denn die Ware, die z. B. erst durch die vierte oder fünfte
Hand an den Konsumenten kommt, unterliegt somit einer
vier- bis fünffachen Besteuerung. Sehr ungerecht ist hierbei
noch die Bestimmung, daß an Orten, die dem internationalen
Handel geöffnet sind, von Ausländern die Steuer nicht ent-
richtet zu werden braucht. Das führt denn auch, nament-
lich in der Südmandschurei, zur Umgehung des Gesetzes,
indem Japaner und andere Ausländer fiktiv ihren Namen
chinesischen Geschäften geben.
Für den Verkauf von Pferden und Vieh sind vom Kauf-
preise 3,53 Proz. als Steuer zu entrichten und außerdem
0,2 Djau pro Tier für die Kaufbescheinigung.
Für Straßenbeleuchtung in den Städten zahlt jedes Ma-
gazin 0,1 Proz. An Grundsteuer ist im Herbst pro Schan
0,66 Djau zu zahlen. Seit dem Januar 1909 haben die Dör-
fer eine neue Steuer zur Erhaltung der Polizei zu entrichten
0,4 Djau pro Schan, für jeden Ochsen und jedes Pferd
0,4 Djau, Einkünfte, die dem Kreispräfekten zur beliebigen
Verwendung überlassen bleiben.
Lombardgeschäfte, Dang-pu, zahlen 1 Proz. der Rein-
einnahme.
Für Holzkauf sind 10 Proz., für Kohle 20 Proz. der
Kaufsumme zu zahlen. Diese unglaublich hohe Steuer findet
wohl nur darin ihre Erklärung, daß die Beamten durch sie
diesen Handel in ihren eigenen Händen zu konzentrieren
wünschen.
Für Verkauf von Immobilien sind 6,6 Proz. einschließlich
der Gebühren für die Ausfolge der Dokumente zu zahlen.
Getreidesteuer: Beim Verkauf werden zwei Kategorien
unterschieden: Si-ljang und Zu-ljang. Zu der Kategorie Si-
ljang gehören: Sesam (sesamum orientale), Dsch-ma, Hirse
(Panicum italicum, Panicum miliacem u. a.), Gudsa, Paidsa,
Hun-midsa, Bai-midsa, Reis (Oryza montana), Dsjin-mi, Weizen,
Sjau-mai. Diese Kategorie zahlt 2,4 Proz. Die Kategorie
Zu-ljang zahlt 1,4 Proz. vom Verkaufspreis; zu ihr gehören:
Mais, Bau-ör-mi, Gaoljang (Holeus sorghum), Hafer (Avena),
Budberg: Über die Bedingungen des Exporthandels in der Nordmandschurei. 9
Ling-da-mai, Gerste (Hordeum), Da-mai, Buchweizen (Poly-
gonum), Zjau-mai.
Für Einfuhr in die Stadt sind von allen Waren 5 Proz.
zu zahlen, für Opium 5,5 Proz. Beim Fleischverkauf, na-
mentlich bei dem von Schweinen, werden 0,26 Djau pro ge-
schlachtetes Tier bezahlt.
Lastfuhren, die in die Stadt Zizikar zur Bahn gehen
oder aus ihr kommen, zahlen 0,1 Djau pro Arbeitstag.
Tierhäute dürfen ohne Stempel nicht verkauft werden,
und für den Stempel ist zu zahlen: Ochsenfell 1,5 Djau,
Pferd 1 Djau, Maultier 0,8, Esel 0,6, Hammel 0,5, Fischotter
0,7, Eichhorn 0,2, Fuchs 1,0, Wolf 1,0, Zobel 5,0, Biber 8,0,
Hirsch 1,0, Elch 2,0, Tiger 2,0, Bär 4,0, Hünd 0,4, Katze
0,2 Djau.
Kaufleute haben außer den vorher erwähnten Steuern
in den Städten auch noch ihre Steuern an die Kaufmanns-
gilden zu entrichten.
5. Nicht wenig erschwert dem ausländischen Kauf-
mann den Handel die große Solidarität der gesamten Be-
völkerung in weitestem Rayon im Aufrechterhalten der
Preise, was sich ganz besonders im Getreidehandel zeigt.
Es brauchen nur irgendwo größere Getreidekäufe mit
Lieferungen auf die Bahn im Gange zu sein, um sofort
die Preise im ganzen Lande proportional den Ausfuhr-
bedingungen steigen zu machen. Das System münd-
licher Benachrichtigung, mit dem auf ausgedehnten Ge-
bieten Post und Telegraph nicht an Schnelligkeit wett-
eifern können, hat durch Jahrtausende alte Gewohn-
heiten der Chinesen eine uns Europäern ganz unverständ-
liche Entwickelung erreicht.
Der chinesische Aufkäufer versteht es indessen, seinen
Feldzugsplan zu maskieren. Es genügt schon, daß die
Lieferungen nicht an die Bahn gehen, um Alarm vorzu-
beugen. Diese chinesischen Aufkäufer kaufen das Ge-
treide sofort nach der Ernte, während die Kampagne der
europäischen Mühlen und Exporteure viel später erst
einsetzt. Ja, bereits lange, bevor die Ernte besorgt ist,
streckt der Aufkäufer dem Bauern Geld vor oder kauft
gar die kommende Ernte. Der Aufkäufer geht völlig
sicher, wenn er frühzeitig das Getreide kauft, denn von
der Ernte an steigt notwendig der Preis, fast stets ohne
jedes Nachlassen, höchstens gegen das Neujahr der Chi-
nesen, wo jeder Geld braucht. Der Aufkäufer stapelt
das Getreide auf bis zur günstigen Verkaufszeit; er legt
sein Kapital damit zu 25 bis 40 Proz. an, hat dabei die
Möglichkeit, wenn nötig, jederzeit ohne Verlust das Ge-
treide zu verkaufen, es kommt barem Gelde gleich. Der
größte Vorteil indessen ist der, daß er sich rechtzeitig
die Beförderung an die Bahn sicherstellen kann. Der
Versuch der mandschurischen Mühlen, der bisher größten
Ankäufer von Getreide, durch Bildung eines Syndikates
die Preise zu drücken, ist völlig fehlgeschlagen. Die
europäischen Exporteure und Mühlen sind bisher ge-
zwungen, aus vierter bis fünfter Hand zu kaufen.
6. Eine weitere große Kalamität stellt die Möglichkeit
der Ausfuhr aus dem Innern des Landes dar. Das Ver-
hältnis zwischen Produktionsfähigkeit des Landes und vor-
handenem Material an Lasttieren und Wagen, bei man-
gelhaften Straßen und klimatischen Bedingungen (Regen-
perioden) ist äußerst ungünstig. Zur Überwindung aller
dieser Schwierigkeiten gelangt ohne chinesische Kombi-
nationen und Hilfe kein Europäer.
7. Beim Abschluß von Geschäften bedient sich der
Chinese völlig anderer Sicherstellungen als der unter
Europäern gebräuchlichen. Für den, der das Land und
die Verhältnisse gut kennt, sind dabei erhebliche Ver-
einfachungen, die Ersparnis großer Formalitäten und
Ausgaben möglich. Nach chinesischem uralten Gewohn-
heitsrecht, das zugleich Staatsgesetz ist, spielt das Bürg-
und Haftrecht im ganzen Volks- und Wirtschaftsleben
eine gewaltige Rolle. Je nach der Größe des Verbrechens
haftet z. B. die ganze Verwandtschaft für ihre Glieder.
Nehmen wir an, ich sei von meinem chinesischen Dienst-
boten bestohlen worden und dieser geflohen. Ist mir
sein Vater, sein Sohn, ja auch nur sein Bruder bekannt,
so kann ich ihn verhaften und verlangen, daß er mir
den Verlust ersetzt oder im Kerker gehalten wird, bis
der Schuldige sich gestellt hat oder arretiert ist. Es
geht sogar so weit, daß für große politische Verbrechen,
die durch eine Person begangen sind, deren ganze Fa-
milie der Todesstrafe unterliegen kann.. Hier in diesen
und ähnlichen Fällen haben wir es mit natürlicher Bürg-
schaft zu tun. Zu der natürlichen Bürgschaft kommt
die freiwillige. Ein Chinese, der in Dienst treten will,
findet gewiß keine Stelle, wenn ihm ein Bau-thjau, eine
geschriebene Bürgschaft fehlt. Diese auf einen Streifen
gewöhnlichen Papiers geschriebene, wenn es ein Kauf-
mannsgeschäft ist, mit Siegel versehene Bürgschaft sichert,
vorausgesetzt natürlich, daß das Vermögen des Bürgen-
den groß genug ist, den zukünftigen Dienstherrn vor
allem Schaden, der ihm durch die in Dienst genommene
Person verursacht werden könnte. Bei Abschluß von
kaufmännischen Geschäften aller Art sind dieselben Prin-
zipien im Gebrauch, was zu vorzüglichen Sicherheiten
führt. Die Russen, denen die Fähigkeit, sich fremden
Verhältnissen anzupassen, völlig abgeht, haben in der
Mandschurei durch Ignorierung dieses Gewohnheitsrechtes
sich selbst und geregelten Handelsprinzipien enormen
Schaden bereitet. Zugleich aber führt auch die Igno-
rierung dieses eigentümlichen Bürgschaftsrechtes zu
schnell um sich greifender Demoralisation der Bevölke-
rung überhaupt. Charbin und die ganze Bahnstrecke
leidet unter der immer zunehmenden Zahl von Verbrechen
aller Art, und wenn die Russen nicht lernen, sich nütz-
lichen Einrichtungen zu akkommodieren, so müssen die
Verhältnisse über kurz oder lang äußerst unerfreulich
werden. Raube, Morde und große Diebstähle durch
Dienstboten, Erpressungen durch Chinesen, die gar der
Verwaltung dienen, wie sie hier zu Alltäglichkeiten ge-
hören, wären ganz undenkbar bei Beobachtung des Bürg-
und Haftgesetzes. Selbst hiesige Stellenvermittelungs-
bureaus ahnen nichts von dem eigentümlichen System
der Bürgschaft. Von Diebstählen und anderen Verbrechen,
verübt durch Angestellte und Bediente bei Chinesen, die
eine Bürgschaft stets verlangen, hört man kaum jemals.
Ganz besonderen Wert erhält diese Institution an den
Orten internationalen Handels, wo die Bevölkerung stark
fluktuiert. Der Raum erlaubt es leider nicht, hier im
einzelnen auf diese wichtige Einrichtung einzugehen, die
im wirtschaftlichen Leben Chinas und der Chinesen auch
außerhalb Chinas eine so große Rolle spielt.
8. Die Bahnlinie, die in ihrem Hauptteil von Man-
dschuria bis Charbin das große Gebiet durchschneidet,
geht durch die unfruchtbarste Steppengegend, und ebenso
führt die Strecke von Charbin über Pogranitschnaja zum
Hafen Wladiwostok durch nicht kultiviertes Gebirgsland.
Nur der kurze Zweig zwischen Charbin und Kuantschen-
dsö geht, wie die ganze japanische Bahn, durch reiches
Gebiet, und an Zufuhrbahnen fehlt es der Nordman-
dschurei völlig. Gegen das große Projekt einer Bahn
Dsjindschau — Taunanfu — Zizikar — Aigun mit kleinen
Zufuhrbahnen nach Beilindsö— Hulan und ins reiche
Tunkön-Gebiet protestiert Rußland. Die Ausführung
dieses Projektes wäre allerdings geeignet, die Mandschu-
rei dem internationalen Handel völlig zu erschließen, und
würde China die Möglichkeit geben, die Kolonisation der
Mandschurei und Mongolei durchzuführen, wodurch allen
industriellen Staaten das reichste Absatzgebiet eröffnet
würde. Aber damit wäre Rußland verdrängt, und sein
Protest ist somit wohl verständlich, um so mehr, als es
hierin auf Japans Unterstützung rechnen darf. Auf die
5*
10 Spieß: Verborgener Fetischdienst unter den Evheern.
Schwierigkeiten einzugehen, mit denen der Exporteur es
auf der russischen Bahn zu tun hat, würde hier zu weit
führen.
9. Neben der Bahn ist von größter Wichtigkeit das
mächtige Zufuhrsystem der Wasserwege des Sungari mit
seinen großen Nebenflüssen. Die Benutzung dieses
Systems ist indessen laut Vertrag nur China und Ruß-
land gestattet, was den Ausländer völlig von russischen
und chinesischen Schiffsbesitzern abhängig macht.
Wohl könnten noch eine große Reihe anderer Schwie-
rigkeiten angeführt werden, mit denen der Ausländer
nichtrussischer Nationalität es hier zu tun hat, aber
das würde zu weit führen; erwähnt seien nur noch an-
deutungsweise das Fehlen von Kreditinstitutionen, die
den Kaufmann unterstützen könnten, und die völlig un-
geordneten städtischen sogenannten Selbstverwaltungen.
Aber trotz allen den angeführten Schwierigkeiten,
mit denen es hier der deutsche Kaufmann zu tun hat,
dürfte es dennoch sehr lohnend sein, dem Markt die
größte Aufmerksamkeit zu schenken.
Uns will es scheinen, daß von deutschen Pionieren
speziell auf dem Exportgebiet ein großer Fehler dadurch
begangen worden ist, daß sie bisher nicht versucht
haben, durch Assoziation mit chinesischen Fir-
men von gutem Ruf Geschäfte zu betreiben.
Den Chinesen fehlt es an dem notwendigen Betriebs-
kapital, nicht aber den Firmen an sicheren Garantien,
die sie bieten können. Auf Grund peinlich genauer
Buchführung lassen sich die Operationen jedes Handels-
hauses genau prüfen. Durch Vorschüsse an die Bauern
ist möglichst frühzeitig Betriebskapital auszuwerfen; euro-
päisches Kapital trüge dabei bis 20 und mehr Prozent. Chi-
nesische Firmen betreiben bisher noch fast gar keinen
direkten Exporthandel von Getreide, liefern nur euro-
päischen Exporteuren. Haben chinesische Firmen freie
Kapitalien, so legen sie diese doch nicht frühzeitig in
den Getreideankauf, weil das Kapital hier überhaupt
große Prozente trägt; geliehene Kapitalien tragen selbst
bei sicheren Garantien 30 und mehr Prozent.
Ehe wir unsere Betrachtungen schließen, sei noch
auf einen eventuell gut zu verwertenden Faktor hinge-
wiesen. Die katholische Mission erfreut sich in China
großer Sonderrechte. Sie hat das Privileg, Land und
Immobilien zu erwerben, auch in allen dem internatio-
nalen Handel nicht eröffneten Bezirken.
Sie ist in der Mandschurei sehr verbreitet, namentlich
in den Provinzen Girin und Mukden, wo jeder bedeuten-
dere Ort einen Missionar hat. An Landbesitz fehlt es
ihr dort nicht. Zwischen den Sitzen der einzelnen Mis-
sionare befinden sich in kleinen, nicht allzuweit von-
einander entfernten Ortschaften Filialen, die von den
europäischen Missionaren oder von in hier existierenden
Priesterseminaren erzogenen chinesischen Missionspriestern
verwaltet werden. So ist fast das ganze Land, wenig-
stens die kultiviertesten Strecken, von einem feinmaschi-
gen Netz katholischer Missionen überzogen, mit Land-
besitz und recht engem Zusammenhang untereinander.
Die Mission trägt den Namen „Französische Mission“,
ihre Glieder sind fast alles Franzosen, aber es sind auch
gute Deutsche, wie der Elsässer Pater Stöffler, und meh-
rere Belgier darunter; denn bei Anstellung von Missio-
naren soll, wie die Vorschrift lautet, keine Rücksicht auf
die Nationalität genommen werden. Abgeschlossen vom
europäischen Verkehr, in inniger Verbindung mit der
Landbevölkerung, wobei einige von ihnen 30 und mehr
Jahre in der Mandschurei leben, haben diese Missionare
reiche Kenntnisse der Verhältnisse, und sie alle zeichnet
ein herzliches Entgegentreten Europäern gegenüber, un-
abhängig von deren Nationalität, aus. Durch Vermitte-
lung der Missionare, die selbst Land besitzen, dürfte für
die Beschaffung notwendig erscheinender Speicherplätze
gesorgt werden können, und auch auf manche andere
Hilfeleistung ihrerseits wäre zu rechnen, wenngleich alles
dieses die vorher empfohlene Assoziation mit chinesischen
Firmen, die Einfluß auf den Geldkurs’ haben und außer
aller europäischer Konkurrenz stehende Konjunkturen
besitzen, nicht ausschließt.
Eine Monopolisierung des Getreidehandels der ganzen
Mandschurei durch große europäische Kapitalien ist wohl
denkbar. An fast allen Zentren der Mandschurei sind
bereits Abteilungen der Reichsbank Hu-bu-jin-hang er-
öffnet. Sie unterliegen der direkten Administration des
Finanzministeriums, und die Angestellten der Bank
stehen im Staatsdienst. Alle Abteilungen stehen im
engsten Zusammenhange, der Jahresabschluß umfaßt alle
Abteilungen als ein Ganzes. Bildete sich nun ein euro-
päisches Konsortium mit großem Millionenkapital, das
mit dem Hu-bu-jin-hang kontraktierte, dann wäre eine
fast vollständige Monopolisierung des Getreidehandels
zum Nutzen europäischen Kapitals, des chinesischen
Fiskus und der chinesischen Landbevölkerung erreicht.
Dem Hu-bu-jin-hang wären die Kapitalien zum Vorschuß
an die Landbevölkerung und zum Ankauf von Getreide
aus erster Quelle zur Disposition zu stellen. Über die
europäischen Marktpreise und Nachfrage nach Getreide
würden an den Hauptzentren London, Hamburg usw.
Agenturen des Unternehmens den Hu-bu-jin-hang in
steter Kenntnis erhalten. Nur in dieser Weise ließe sich
mit vollem Erfolge dem unsinnigen Steigen der Getreide-
preise bei jeder Ankaufskampagne steuern und würden
die europäischen Exporteure nicht den großen Schaden
erleiden, wie es im letzten Jahre der Fall gewesen ist.
Bei solchen Kombinationen schiene den Kapitalgebern
die Zusage der Hälfte des Gewinnes an den Hu-bu-jin-
hang für die geleistete Arbeit noch immerhin sehr vorteil-
haft. Ein ganz besonderes Interesse, in solch ein Unter-
nehmen größere Kapitalien anzulegen, dürften vorzüglich
die deutschen Schiffahrtsgesellschaften haben.
Verborgener Fetischdienst unter den Evheern.
Von C. Spieß. Missionar in Togo.
Immer näher rückt der Zeitpunkt, daß dem Heiden-
tum der Evheer durch die europäischen Kulturströmungen
die Lebenskraft genommen wird. Die Mission als Weg-
bereiterin neuer religiöser Bewegungen war als erste an
dem Niedergang der heidnischen Religion beteiligt, ihr
folgte die Regierung. Der Götter- und Fetischdienst
zieht sich deshalb immer mehr zurück. Die einstige
Macht, namentlich die Möglichkeit öffentlichen Hervor-
tretens, ist gebrochen. An geheimen Orten, in verborgenen
Winkeln, entlegenen Hainen, einsamen Hütten macht der
Fetischdienst seine letzten Anstrengungen. Es wird Zeit,
zu sammeln, was noch zu erhalten, und photographisch
aufzunehmen, was noch aufzutreiben ist. Über das Be-
stehende kann nur der alte Eingeborene die Erklärungen
Spieß: Verborgener Fetischdienst unter den Evheern. 11
und Aufschlüsse geben, die man wünscht — das heran-
wachsende Geschlecht weiß nicht mehr viel von der Väter
Sitten und Handlungen.
So schwer verständlich der Inhalt der heidnischen
Religion bleibt, so unklar ist uns die Vorstellung des mit
den religiösen Übungen verbundenen Fetischismus. Ich
sehe, um mich kurz auszudrücken, im Fetischtum stets
greifbare Gegenstände, die, durch Priesterhand geweiht
und von dessen Geist angehaucht, mit überirdischer
Kraft versehen, die Verbindung mit der größten unsicht-
baren Macht über und um uns nicht herstellen, sondern
fortwährend aufrecht erhalten sollen. Die folgenden
Ausführungen scheinen es mir von neuem zu bestätigen.
1. Die Abzeichen eines Boko (Zauberer).
Betreten wir die Hütte eines Boko, so finden wir in
einer Ecke derselben seine Zeichen, in diesem Falle Kraft-
mittel, die ihm sein Ansehen erwirken: Abb. 1. Links
auf ihr sehen wir einen Legbagbo, auch Agbonudzola
genannt, soviel wie Wächter des Hauses oder Zaunes.
Des öfteren hat der Legbagbo zwei oder mehrere kleine
Stäbe vor sich, um irgend einen Unfall oder etwas Böses
abzuwenden. Er ist aber auch gleichzeitig Beschützer
des Afa (s. unten) selbst. Das weiße Tuch, in das er
gehüllt ist, gilt, wie die weiße Toga der Priester, als
Zeichen der Reinheit, Klarheit und Wahrheit. Den mit
zwei Kauris versehenen Kopf schmücken rote Schwanz-
federn des Klevo, eines selten vorkommenden Vogels.
Diese Federn spielen eine große Rolle bei den heidnischen
Zauberern. Zur Ausrüstung des Boko, der auch Afakala
genannt wird, gehört weiter das in der Mitte sich vor-
findende Se, über das ausführlich meine Abhandlung im
Globus, Bd. 94, 1908, Nr. 1, berichtete. Das Afa, der
kleine Beutel mit Kernen (von der Ölpalme oder anderen
Früchten), ist für den Boko das wichtigste Zaubermittel.
Aus diesen Kernen, je nachdem der Wurf derselben aus-
fällt, deutet er Glück oder Unglück an.
"W Dr ae Ar Hr I
ne REIT.
Abb. 1. Abzeichen des Boko (Zauberers).
Unter dem Afa liegen die Afatiwo, zwei kleine Stäbe,
die der Boko bei seinen Manipulationen in die Hand
nimmt, aber auch als Ausweis seinen Gesandten an einen
anderen Ort mitgibt, und das Awudza, der Schweif eines
Rindes, das hin und wieder zu gleichen Zwecken benutzt
wird, gewöhnlich jedoch zur Vertreibung böser Mächte dient.
Afa, Afatiwo und Awudza befinden sich auf einem
mit weißem Tuch bedeckten breiten Brette, der sog. Boko-
‘Tafel (eté), mittels der der Zauberer durch bestimmte
Zeichen auf dieser mit einem anderen Boko oder Afakala
sich verständlich macht. Auf die Tafel streut er eine
feingeriebene Masse aus Holz (aye genannt) oder auch
Mehl, worin er mit zwei oder drei Fingern die Schrift-
zeichen (Afadmoo, genau Afa-Städte) einträgt. Ein öfters
wiederkehrendes Schriftzeichen ist das Rechteck C],
Abb. 2. Gboniti.
Gbosobo genannt, dessen Bedeutung ich bis jetzt nicht
ermitteln konnte.
In die im Vordergrunde stehenden Tassen und Gläser
tut der Zauberer Wasser oder liha (Maisbier). Besucht
ein Boko den anderen, so kniet der Kommende vor dem
Afa (jenem Wahrsage-Fetisch) nieder und neigt seinen
Kopf bis auf die Erde. Diese Afa-Begrüßung nennt der
Evheer nudedegu. Darauf schüttet der Besucher ein
wenig vom Wasser oder Maisbier auf die Erde — ein
Zeichen der Ehrfurcht vor dem Gott, der alles gemacht —
und nimmt dann selber einen Schluck, worauf die Unter-
redung beginnen kann.
2. Gboniti.
Irgend ein Baumstück, in gleichmäßigen Abständen
mit Kornmehl bestrichen, um das oben zwei Holzstäbchen,
mit starkem Lianenstrick an den Stock gebunden, fest-
gewickelt sind, wird etwa 30 cm tief in ein Loch, in das
vorher ein getöteter Ziegenbock gelegt wurde, gesteckt:
Abb. 2. Sie zeigt uns den Gboniti (Bedeutung: Heran-
nahendes wird zerbrochen, geknickt, zurückgehalten) in
einem Trõ-(Götter-) Haine. Wie die festgebundenen
Stäbchen am Gboni, so sollen auch böse Geister, Unglück
und anderes festgehalten werden. Der Ziegenbock dient
zur Nahrung des Gboni. Der Gboniti im Trö-Gehöfte
ist der Freistätte unter den Israeliten gleich.
Hat jemand Unrechtes begangen oder eines der Tro-
Gesetze übertreten, so wird er zum Gboni im Götterhofe
flüchten, wo ihn dann Furcht und Zittern, mit verwirrten
Reden begleitet, so gewaltig überfällt, daß ihm Blut aus
dem Munde kommen soll. Das Schuldgefühl wird auf
12 Spieß:
ý Abb. 3. Aweli und Ahöneza.
ihm lasten so lange, bis der Priester, der auf des Flücht-
lings Geschrei hin erscheint, den die Tat Gestehenden
mit einem aus Flakräutern hergestellten Absud durch
Abwaschen vom Fluch befreit und damit auch vor der
Rache seines Verfolgers. Ebenso flüchten Frauen, die
einem Manne wider Willen folgen mußten, zur Gboni-
Stätte, wo sie dann unter starkem Geschrei, beim Gotte
des Priesters Schutz suchend, durch Vermittelung des
Priesters aus ihrem erzwungenen Verhältnis erlöst werden,
so daß der Mann kein Anrecht mehr an ihnen haben kann.
Der Evheer nennt Schutz beim Gboni suchen : trome-
dodo, genau: Zuflucht suchen bei einer Gottheit.
Abb. 4.
Nuhewiho oder Busuyiwe.
Verborgener Fetischdienst unter den Evheern.
Trosi ist der Name für Priester, genau: Frau (asi)
des Gottes (trö). Es können sowohl Frauen wie Männer
die Tro-Dienste als Vertreter der Gottheiten verrichten,
vorausgesetzt, daß sie aus einem Priestergeschlecht stam-
men oder als vom Trö berufen gottesdienstliche Funk-
tionen übernehmen dürfen.
3. Aweli und Ahoneza.
Aweli, zur Legba-Fetisch-Gruppe gehörend, wird auf
freien Plätzen und Gehöften errichtet, und Ahoneza, eine
Schüssel auf dem Kopfe tragend, worin Essen für Aweli
getan wird, ist dessen Bote (Abb. 3). Auch unter diesem
Fetisch wird bei seiner Herstellung ein getöteter Ziegen-
bock gelegt. Durch Hühner- und Ziegenblut sowie
Palmöl, das der Priester über diesen Fetisch schüttet,
sucht er sich den im Aweli wohnenden Geist willig und
geneigt zu machen. Se, die beiden Eisenstäbe, sind als
Abwehrmittel beigegeben, und das um Aweli gebundene
weiße Tuch, aklala genannt, das eine große Rolle in der
Abb. 5. Wumetröwo.
Götter- und Fetischlehre spielt, ist als Zeichen der Rein-
heit und Vollkommenheit anzusehen. Besitzer dieser
Fetische glauben sich vor bösen Geistern gefeit.
4. Nuhewiho oder Busuyiwe.
„Hütten, um böse Geister abzuhalten“, ist die
Bedeutung beider Namen. An Kreuzwegen oder im Ge-
büsch außerhalb einer Stadt kann man diese aus Gras-
büscheln errichteten, etwa lm hohen Fetischhüttchen
sehen (Abb. 4). In und außerhalb derselben befinden
sich eine Reihe kleiner, teils aus Lehm geformter, teils
aus Holz geschnitzter menschenähnlicher Figuren. Erstere
bezeichnen die Evheer mit Legbavi, „kleine Legba“,
letztere mit Aklama kpakpewo, wörtlich: geschnitzte
Geister. Aklama ist der dem Menschen vom ersten
Augenblick an beigegebene unsichtbare Schutzgeist,
der ihn stets begleitet. Was wir mit dem Worte „dabei
habe ich Glück gehabt“ oder „da kannst du von Glück
sagen“ ausdrücken, das bezeichnet der Evheer mit aklama
di nam; das Aklama war mir günstig. Diese Legbaviwo
und Aklamakpakpewo treten an die Stelle wirklicher
Menschenopfer. Der Eingeborene sagt: „Amewo tsona
14 Aufbruch der neuen englischen Südpolarexpedition.
finden in den Mythen des syphilitischen Gottes Xolotl-
Nanauatzin.
Über die Uta ist von Ricardo Palma (Sohn) eine be-
sondere Arbeit erschienen: La Uta del Peru, Lima, im-
prenta de „El Lucero“ 1908. 8°. 1048. Die S. 15
bis 21 geschilderten klinischen Bilder werden durch Ab-
bildungen von 8 Fällen illustriert. Es wird (S. 18) betont,
daß die Krankheit nur sehr selten große Deformationen
des Gesichtes mit Verstümmelung der Nase herbeiführt.
Eine Verstümmelung von Gliedern wird nicht beobachtet
(S.19). Die Krankheit soll meist schon in sehr jungen
Jahren die Individuen befallen. Was die Ätiologie an-
langt, so wird S. 22 ff. der Volksglaube, daß die Übertragung
durch eine Fliege oder einen Moskito hervorgerufen werde,
argumentiert. Jedenfalls hat die Uta nichts mit einem
tuberkulösen Lupus zu tun (S. 27). Die pathologisch-
anatomische Untersuchung zeigt Proliferationen des Corpus
mucosum Malpighis einerseits nach der des Stratum corne-
um beraubten Oberfläche der Haut und andererseits nach
der Tiefe in die Dermalschicht, die mit Embryonalgewebe
infiltriert wird, das zentral verhornte Nester malpighischer
Zellen aufweist. Hiermit gehen Veränderungen der Gefäße
(Peri- und Endarteritis obliterans) einher. Im 5. Kapitel
wird die Differentialdiagnose besonders zwischen Uta und
Lupus tuberculosus durchgeführt.
Der für Amerikanisten interessanteste Teil beginnt
mit Kapitel V, wo eine Reihe altperuanischer Tongefäße
mit Darstellungen pathologisch verunstalteter Personen
beschrieben und durch Photographien erläutert wird.
Palma hebt hervor, daß in den Fällen, wo auch Glied-
maßen verstümmelt sind, an Uta nicht gedacht werden
kann (8.66). Nach Resumierung der verschiedenen
Möglichkeiten, die Mutilationen durch Kulthandlungen,
Bestrafungen usw. zu erklären, kommt Palma (S. 83) zu
dem Schluß, daß nur ein pathologischer Prozeß dar-
gestellt sein kann, und daß da in erster Linie Syphilis
in Frage kommt mit Resultaten chirurgischer Eingriffe
(S. 87).
Wie man sieht, ist das Ergebnis der beiden hier er-
wähnten Arbeiten von Tello und Palma für die Lösung
der Frage der peruanischen Darstellungen von Krank-
heiten destruktiven Charakters ein ziemlich mageres.
Um überhaupt hier jemals Licht verbreiten zu können,
wird es nötig sein, eine große Zahl von solchen peru-
anischen Tongefäßen in öffentlichen und privaten Samm-
lungen systematisch zu untersuchen und nach Typen zu
ordnen. Es wird dabei die Möglichkeit nicht außer Augen
zu lassen sein, daß außer Syphilis auch Lepra in Betracht
gezogen werden muß. Es scheint mir, daß in vielen
Fällen eine scharfe Trennung dieser beiden Krankheiten
an plastischen Darstellungen nicht durchführbar sein
wird. Das gesamte Material, das bereits eine umfang-
reiche Literatur gezeitigt hat, aus der namentlich die
Abhandlungen von R. Lehmann-Nitsche hervorzuheben
sind, müßte kritisch gesichtet werden. Dringend zu
wünschen ist die Herbeischaffung einwandfreier Knochen
(nicht bloß von Schädeln), deren syphilitische Verände-
rung ebenso zweifellos wie ihr präkolumbianisches Alter
anerkannt wäre.
Rassenpathologische Probleme sind geeignet, auch in
Amerika neue und weite Gesichtspunkte zu eröffnen.
Die Lepraforschung müßte sich hier mit den wenig be-
kannten leichteren Formen von Lepra, die sich in eigen-
tümlichen Fleckenkrankheiten äußern, Elephantiasis und
anderem mehr, beschäftigen.
Es wäre auch lohnend, zu ermitteln, inwieweit hier
ein Zusammenhang mit Nahrungsmitteln besteht.
Dr. Walter Lehmann, München.
Aufbruch der neuen englischen Südpolarexpedition.
Die „Terra Nova“, das Schiff der neuen englischen
Südpolarexpedition, hat in den ersten Tagen des Juni
England verlassen und soll in Lyttelton (Neuseeland) gegen
die Mitte des Oktobers eintreffen. Im Gegensatz zu früheren
Südpolarexpeditionen, die die Reise gen Süden gewöhnlich
erst in der zweiten Hälfte des Dezembers angetreten haben,
soll die „Terra Nova“ bereits Ende November von Neu-
seeland aufbrechen, so daß sie gegen Ende Dezember den
Mc Murdosund erreichen dürfte. Dort wird die „West-
abteilung“ gelandet werden, die sogleich an den Bau der
Winterstation gehen und dann, möglichst von Mitte Januar
1911 ab, eine Anzahl von Depots gegen Süden vor-
schieben soll. Inzwischen soll das Schiff die Küste von
Edwardland rekognoszieren und dort, wenn möglich, eine
kleinere „Ostabteilung“ mit ausreichenden Vorräten und
einigen Transportmitteln absetzen. Hierauf wird es nach
dem MeMurdosund und von da, etwa Mitte Februar, nach
Norden zurückkehren. Sollten die Kohlenvorräte es ge-
statten, so soll die „Terra Nova“ auf der Rückreise das
Packeis bei den Ballenyinseln untersuchen und zu diesem
Zweck nach Westen oder Süden vordringen. Mit Ablauf
des März geht sie dann nach Neuseeland.
Die Westabteilung dürfte im April mit dem Hausbau
und dem Errichten von Depots am Südrand des großen
Eisfeldes fertig sein, und der Winter wird nun mit der
Vorbereitung des großen Vorstoßes polwärts verbracht
werden. Dieser soll im Oktober 1911 beginnen. Den
Oktober und November wird die Reise über das Eisfeld
und der Anstieg auf dem Beardmoregletscher in Anspruch
nehmen, so daß Scott das südpolare Hochland Anfang
Dezember erreicht haben wird. Etwa drei Wochen dürfte
schließlich der Zug über dieses Plateau bis zum Südpol
beanspruchen.
Dieses ist das endgültige Operationsprogramm Scotts.
Aus ihm geht hervor, daß er die Absicht, vom Edward-
lande aus den Südpol zu bezwingen, aufgegeben hat und
sich an die bekannte Route Shackletons halten wird. Es
ist das Richtigste, was Scott, dessen vornehmstes Ziel
eben der Südpol ist, tun konnte. Selbst wenn eine Lan-
dung auf Edwardland möglich sein sollte — was im übrigen
sehr zweifelhaft ist —, so würde Scott nicht darauf rechnen
können, auf diesem gänzlich unbekannten Wege in einer
Kraftanstrengung zum Südpol zu gelangen. Die Unter-
suchung von Edwardland bleibt also die Aufgabe einer
Nebenabteilung.
Als Teilnehmer an der Expedition werden genannt:
Marineleutnant E. R.G.R. Evans als Zweitkommandieren-
der; Dr. E. A. Wilson als Chef des wissenschaftlichen
Stabes; Marineleutnant H. L. L. Pennell als Physiker und
Meteorologe der „Terra Nova“; G. M. Levick als Arzt
und Zoologe; E. L. Atkinson als Arzt und Bakteriologe
(beide von der Kriegsmarine); Dr. G. L. Simpson als
Physiker; T. Griffith Taylor und W. G. Thompson als
Geologen; E. W. Nelson und D. G. Lillie als Biologen;
C. S. Wright als Chemiker. — Die Heimkehr der Expe-
dition ist für März 1912 zu erwarten.
Oman. — Bücherschau. 15
Oman.
Über Oman, das von der Türkei so gut wie unabhängige,
um so mehr aber heute unter englischem Einfluß stehende
arabische Sultanat, hat der französische Marinearzt L. Moreau
auf Grund eines mehrmonatigen Aufenthalts im Persischen
Golf in den „Archives de médecine navale“, ausgehend von
hygienischen Bemerkungen, auch einige allgemeine Angaben
gemacht.
Im Gegensatz zum Klima des übrigen Arabien, das heiß
und trocken ist, ist das allerdings ebenfalls heiße Klima von
Oman durch seine Feuchtigkeit bemerkenswert. Diese Eigen-
tümlichkeit wird gewöhnlich darauf zurückgeführt, daß,
während die arabische Küste am Roten Meer infolge der
verhältnismäßig geringen Verdunstungsfläche desselben trocken
bleibt, die Küste von Oman der beständigen Verdunstung der
Wasser des Indischen Ozeans ausgesetzt ist. Moreau zweifelt
aber an der Richtigkeit dieser Annahme und fragt: Warum
hält nicht der an der Straße von Ormuz endigende Gebirgs-
zug diese Feuchtigkeit auf, und warum sollte andererseits
das Rote Meer trotz seiner angeblich unzureichenden Fläche
nicht Verdunstungserscheinungen zeigen, während doch der
etwa ebenso beschränkte Persische Golf in der heißen Jahres-
zeit sie im beträchtlichen Maße auslöst? Moreau ist im Monat
Januar während seines Aufenthalts in,mehreren kleinen Häfen
der afrikanischen Küste des Roten Meeres über den Feuchtig-
keitsgehalt der Luft erstaunt gewesen.
Das Klima von Oman ist bald trocken, bald feucht. Der
Winter, der von Dezember bis Februar dauert, zeichnet sich
durch das Auftreten einiger Regenfälle aus. In Maskat
übersteigen die Niederschläge niemals 160 bis 180 mm jähr-
lich, und die Temperatur sinkt im Winter nicht unter 20°C.
Folgende Tatsache zeigt, wie selten und unergiebig die Regen
dort sind: Die auf der Reede von Maskat ankernden Kriegs-
schiffe lassen als Andenken an ihre Anwesenheit zur großen
Freude des Sultans ihre in riesigen Lettern mit weißer Farbe
geschriebenen Namen auf den Abhängen der die Reede um-
gebenden Granitberge zurück, und diese Inschriften sind dank
der Trockenheit des Klimas so unverlöschbar, daß manche
noch nach einem halben Jahrhundert zu lesen sind.
Mit Beginn des April steigt die Temperatur und erreicht
schnell 39 bis 40°. Vom Mai bis Juli steigt sie auf 45 und
sogar 48°, um im August bis auf 33 und 30° zu fallen. Wäh-
rend der heißesten Monate weht im Golf von Oman fast un-
aufhörlich ein besonderer Wind, ein von den Eingeborenen
„Gharbi“ genannter Wüstenwind, und man muß mehr in den
Persischen Golf hinausfahren, um hier den „Schemal“ oder
Nordwestwind anzutreffen. Im allgemeinen ist die Tempe-
ratur in Oman weniger launenhaft, als an den Küsten des
übrigen Arabiens und Persiens. Für die Europäer aber ist das
‚Klima schwer erträglich, und sie können nicht einmal auf
die beuachbarten kühleren Höhen flüchten, um sich vor der
Hitze zu retten; denn die 3020 und 2360 m Höhe erreichen-
den Dschebels Akhdar und Nakhl sind ihnen infolge der
dort ständig herrschenden Stammesfehden und der Räuber-
banden nicht zugänglich. Deshalb suchen sie zur Zeit der
größten Hitze Karachi in Indien auf.
Die Bevölkerung fluktuiert stark und setzt sich aus sehr
verschiedenen Elementen zusammen. Die Araber (etwa 300 000)
dominieren allerdings stark. Die eingewanderten Beludschen
zählen 60000 und die ostafrikanischen Neger, die Suaheli,
etwa 40000. Die handeltreibenden Inder sind durch die Ban-
janen (1000) und die Luwatja (700) vertreten. Dann kommen
noch 500 goanesische Perser und 400 Parsen hinzu. Diese
Zahlen sind die des französischen Konsulats und ergeben im
ganzen 402600 Einwohner für das Sultanat, während man
sonst Schätzungen von 1 Million findet. Moreau sagt, Oman
sei zum größeren Teil Wüste; ehemals war die Lage günsti-
ger, und damals mag die Bewohnerzahl 1 Million und mehr
betragen haben. Aber die schlechten hygienischen Verhält-
nisse, in denen die Bevölkerung lebt, haben die Sterblichkeit
in beträchtlichem Maße vermehrt. Die 'Tuberkulose richtet
große Verheerungen an, und man sieht keinen Weg, wie ihr
zu steuern sei: zu einem Araber kann man nicht über Hy-
giene sprechen. Namentlich unter den Neugeborenen fordert
die Tuberkulose in allen Formen schwere Opfer. Außerdem
sind die inneren Kämpfe ein wesentlicher Faktor für die Be-
völkerungsabnahme bei den verschiedenen räuberischen oder
rauflustigen Stämmen. Ohne die Beludschen und Suaheli,
deren Zahl allein sich dauernd zu vermehren scheint, würde
Maskat selbst, das mit seinen Vorstädten und Matra 30 000 Ein-
wohner hat, nur die Hälfte davon zählen.
Für die Araber ist Vegetieren das wahre Leben; Fata-
listen und resignierte Pessimisten, verachten sie das diessei-
tige Leben und gelangen zur Beschaulichkeit, der Schwester
der Trägheit. Die meisten sind Fischer; abgesehen aber von
den Morgenstunden, die genügen müssen, ihnen die Mittel
für die dürftige Existenz zu schaffen, verzichten sie auf jede
Arbeit, und das lebhafte Treiben des Basars ist nur eine den
Fremden verführende Täuschung, verbirgt ihm die Indolenz.
Die Inder, die den Kleinhandel beherrschen, sind die Aristo-
kraten der Bevölkerung, manche haben sich ein kleines Ver-
mögen erworben, das ihnen ein gewisses Wohlleben gestattet.
Sie wie die Omanaraber huldigen dem Opiumgenuß, und die
Araber haben es verstanden, den Opiumgenuß mit den harten
Pflichten des Ramadan in Einklang zu bringen: sie nehmen
vor Anbruch des Tages einige Pillen und stehen dann wäh-
rend dessen ganzer Dauer unter dem Einfluß des Giftes. Sie
sind übrigens recht fanatisch. Die meisten Inder sind gleich-
falls Mohammedaner. Die Beludschen und Neger verrichten
die schweren Arbeiten, sie tragen Lasten und spannen sich
vor die Karren; Zugtiere fehlen nämlich in Oman, nur der
Sultan besitzt etwa 40 Pferde. Das Kamel dient nur als
Tragtier bei den Karawanen, die größtenteils von Matra auf-
zubrechen pflegen.
Die Hauptstadt Maskat verdankt ihre Bedeutung ihrer
Lage an der Vereinigung der arabischen, indischen und per-
sischen Seewege. Der Hafen ist im Grunde eines Einschnitts
gelegen, sozusagen in einem natürlichen Bett zwischen Bergen,
aber schlecht geschützt vor den Nordost- und Nordwestwinden.
Bücherschau.
Kleiner spanisch-indianischer (araukanischer) Ka-
techismus. Neue Ausgabe durch Rudolf R. Schuller.
438. Santiago de Chile 1907, Druckerei Cervantes.
Beichtbuch in Fragen und Lehrpredigten auf Spa-
nisch und Araukanisch nach dem unveröffentlichten
Manuskript des Franziskanermissionars P. Antonio Her-
nández Calzada (1843). Mit biographischen Notizen
von P. Antonio Pavez O. F. M., hsg. von Rudolf
R. Schuller. In 200 Ex. 125 S. Santiago 1907, F. Becerra M.
In diesen beiden Publikationen (in spanischer Sprache)
liefert der bekannte Verfasser, der schon 1907 eine außer-
ordentlich verdienstliche und umfangreiche araukanische
Bibliographie veröffentlichte, neues, wertvolles Material zum
Studium des Mapuche. Die erste Schrift ist ein Abdruck
des 1879 in Buenos Aires anonym erschienenen kleinen
Katechismus, der in Frage und Antwort spanisch und arau-
kanisch die Hauptlehren der katholischen Kirche behandelt
und am Schlusse die Gebote und die drei gebräuchlichsten
Gebete wiedergibt.
Das Beichtbuch, dessen Manuskript in der National-
bibliothek zufällig gefunden wurde, ist größer und reicher
ausgestattet. Schuller schickt ihm einige bibliographische
Angaben über das Manuskript und die anderen Arbeiten des
P. Hernändez voraus, während P. Antonio Pavez einen Abriß
von dessen Leben, Missions- und literarischer Tätigkeit gibt.
Das Buch enthält in zwei Spalten — rechts Mapuche, links
spanisch — zahlreiche, auf Grund der zehn Gebote gebildete
Fragen, die der Priester an den Beichtenden richten soll, vor-
her eine kürzere und am Schluß eine lange Ermahnung für
den Beichtenden. Auf 8.61 bis 68 folgen noch zwei bisher
unveröffentlichte Lehrpredigten über Tod und Hölle und das
ewige Leben. Aby.
Putnam Anniversary Volume. Anthropological Essays
Presented to Frederic Ward Putnam in Honor of his seven-
tieth Birthday, April 16, 1909, by his Friends and Asso-
ciates. New York 1909, G. E. Stechert and Co.
Die zahlreichen „Festschriften“, welche im letzten Jahr-
zehnt zu Ehren verdienter Gelehrter auf geographischem und
ethnographischem Gebiete erschienen (Bastian, Ratzel, Boas,
E. B. Tylor und anderer), enthalten eine Fülle wertvollen
Stoffes, da die Mitarbeiter eine Ehre darein setzten, nur
Tüchtiges dem Meister als Huldigung darzubringen. Der
vorliegende Anniversary Volume ist unter allen der umfang-
reichste mit über 600 Seiten und prächtig ausgestattet; Re-
dakteur war der unermüdliche Franz Boas, Mitarbeiter sind
die hervorragendsten amerikanischen Anthropologen, Ethno-
graphen und Kulturhistoriker. Putnam, dessen große Ver-
dienste als Leiter des Peabody-Museums die allgemeinste An-
erkennung genießen, begann seine wissenschaftliche Arbeit
16 Bücherschau.
mit Studien über Fische, ging dann zu anthropologischen
und archäologischen Forschungen über und schloß daran die
ethnologischen. Das der Festschrift angehängte Verzeichnis
seiner Veröffentlichungen umfaßt von 1855 bis 1909 über
400 Nummern.
Die Zahl der Abhandlungen in der vorliegenden Fest-
schrift beträgt 26, unter denen sich einige sehr umfangreiche
befinden. Fast alle bewegen sich auf einer gewissen Höhe,
manche bringen Neues und sichern dem Bande dauernden
Wert. Sie alle nach Gebühr zu würdigen, ist leider hier
nicht möglich, doch wollen wir einzelnes herausgreifen, was
zur Kennzeichnung des Ganzen dienlich erscheint.
Kroeber, der auf kalifornischem Gebiete so gründlich
Erfahrene, beschäftigt sich mit der Frage des ersten Auf-
tretens des Menschen in Kalifornien und mit der Entwicke-
lung der dortigen Kultur, wobei er in bezug auf ersteres zu
dem Ergebnisse gelangt: Altogether it may be said that the
problem of the antiquity of man in California still awaits
its anwer, während die fleißig betriebenen archäologischen
Forschungen uns die allmähliche Kulturentwickelung der
Nordwestamerikaner erkennen lassen. Mit der alten Töpferei
der Zußi-Indianer befaßt sich eingehend Walter Fewkes.
Während die moderne Töpferei mit ihren vielen kennzeich-
nenden Ornamenten sehr gut erforscht ist, hat man die
ältere, ursprüngliche ganz vernachlässigt, da bis jetzt sorgfältige
Ausgrabungen, namentlich in Heshotauthla, bewiesen haben,
daß sich wesentliche Unterschiede zeigen. Es liegen keinerlei
Übergänge zwischen alt und neu vor, der Symbolismus der
dargestellten Ornamente usw. ist bei beiden durchaus ver-
schieden, so daß Fewkes für die neue Töpferei einen extra-
cultural origin annimmt.
Großen Umfang erreicht die Abhandlung von W. J.
Mills über die sehr sorgfältig durchgeführte Ausgrabung
des Seip Mound in Ohio, der einer der größten bisher un-
berührten seiner Art ist und seinen Namen nach den Be-
sitzern (Seip) trägt. Wiewohl mancher wichtige Fund darin
gemacht wurde, können wir doch nicht weiter darauf ein-
gehen, da die Ergebnisse mit der Moundforschung im all-
gemeinen stimmen. — Schon längst war es aufgefallen, daß
in der peruanischen Kunst der Fisch eine hervorragende
Rolle spielt. Zahlreich sind die Holz- und Tongefäße in
Fischform, als Dekoration auf Vasen und Bechern ist sie
vielfach verwendet, und von der naturwahrsten Form, welche
die verschiedenen Arten mit Sicherheit erkennen läßt, geht
der Fisch allmählich in stilisierte Ornamentformen über, von
denen niemand den Ursprung ahnen wird, der nicht die
Übergänge kennt. Dieses wird unter Beifügung zahlreicher
Abbildungen von Charles W. Mead gezeigt
Wie man auch in Europa nur allmählich dazu gelangt
ist, für die Urzeiten verschiedene Kulturperioden zu erkennen,
und jetzt selbst die Steinzeit höchst subtil nach französischem
Vorbilde je nach den gröber oder feiner bearbeiteten Stein-
geräten in eine Anzahl Epochen zerlegt wird, so beginnt
man auch für die prähistorische Zeit der Vereinigten Staaten
mit der Zerlegung. Warren Moorehead versucht dieses
zunächst für Ohio; für ihn ist es safe to assume that three
cultures have clearly established, wobei auch ein kurzköpfiges
südliches und ein langköpfiges nördliches Volk in Betracht
komme. — Die Ruinen von Mitla in Mexiko, welche schon
eine große Literatur hervorgerufen haben, darunter das
Prachtwerk unseres Landsmanns Seler über die dortigen
Wandmalereien, haben einen amerikanischen Gelehrten von
Verdienst, Marshall H. Saville, zu weiteren Forschungen
veranlaßt. Sie liegen hier, von vielen Abbildungen begleitet,
in der Abhandlung „Über die kreuzförmigen Bauten von
Mitla“ vor. Diese zeigen sich als die großartigsten Grab-
kammern der ganzen Neuen Welt, nicht nur durch ihre
Größe, sondern auch durch die meisterhafte Durchführung
der Steinhauerei und die Ausschmückung ausgezeichnet.
Was die Kreuzform betrifft, die ja in Amerika keineswegs
ungewöhnlich ist, so scheint sie religiöse Bedeutung zu haben
und mit dem Tlaloc- oder Quetzalcoatl-Kultus in Verbindung
zu stehen. — Eine Spezialität aus der Mayadekoration be-
handelt G. Byron Gordon. Man hat dort in langschnäbe-
ligen, rüsselbesetzten Köpfen altweltliche Elefanten gesehen,
und Hartogh van Zouteveen (Arch. f. Anthrop., VII) hat im
Jahre 1874 mit Hilfe solcher Elefantenrüssel phönizische
Kultur zu den Mayavölkern gelangen lassen. Gordon zeigt
in seiner Abhandlung, daß es sich hier um die Köpfe von
großschnäbeligen Papageien handelt, deren lang stilisierte
Schnäbel zu Rüsseln phantasiert wurden. — Ausgrabungen
in den Totenräumen des Pueblo Bonito (New Mexico) hat
G. Pepper unternommen, die eine große Ausbeute lieferten.
Besonders erwähnenswert sind die reichen Türkisbeisaben
(Schnitzereien in Gestalt von Fröschen) und die Türkis-
mosaiken, die an die altmexikanische Mosaikkunst erinnern,
von der nur wenige Exemplare sich in europäischen Museen
erhalten haben.
Ein eingehendes Verständnis mit den Mayahieroglyphen
und den Schriften von Förstemann und Seler verlangt eine
Abhandlung von Ch.Bowditch über die Daten und Zahlen
auf den Seiten 24 und 46 bis 50 des Dresdener Mayakodex,
die wir nur dem Titel nach anführen können. Ergän-
zungen zu den bisher bekannt gewordenen so farbenreichen
und eigentümlichen religiösen Zeremonien (namentlich den
Sandmalereien) der Navaho-Indianer bietet A. M. Tozzer.
Diese eigentümlichen Sandmalereien, die zum Teil farbige
Darstellungen von Regengöttern, Wirbelwinden u. dgl bringen,
sind hier am ausführlichsten unter Beigabe guter Abbil-
dungen behandelt, so daß wir erst jetzt voll über ihre Be-
deutung klar werden.
Ganz überrascht sind wir, mitten unter all den ameri-
kanistischen Abhandlungen plötzlich auf eine solche aus der
europäischen Volkskunde zu stoßen, die auch mit guter Be-
herrschung unseres folkloristischen Materials verfaßt ist.
„Certain Quests and Doles“ betitelt sich die Arbeit von
Charles Peabody. Also Bitten, Verlangen und Gewähren,
Schenken. Er faßt darunter die meist auf religiösem Hinter-
grunde beruhenden gabenheischenden Umzüge zusammen,
welche bei den meisten europäischen Völkern an kirchlichen
Festen gewöhnlich von Knaben ausgeführt werden, ‘wobei
verschiedene Sitten, Lieder herrschen. Englische, deutsche,
italienische, französische usw. werden vergleichend angeführt
und dabei die große Übereinstimmung nachgewiesen. Bo finde
ich z. B., daß die schottischen Kinder am 31. Dezember um-
herziehen und Haferbrot erbitten, wobei sie singen:
My feet’s cauld, my shoons thin
Gie’s my cake and let me rin,
wobei mir sofort aus einem Martinigesang meiner nieder-
deutschen Heimat die schlagende Parallele einfiel:
Ik sta up kölem steine
Mik freiset mine beine,
Gif mik wat, ik mot en hüs noch wider gän.
Eine hochverdiente Amerikanistin, Frau Zelia Nuttall,
fehlt auch nicht mit einem Beitrag, welcher das Überleben
der echten Purpurfärberei in Mexiko betrifft. Sie fand in
Tehuantepec, daß die dortigen Frauen schön purpurfarbige
Baumwollgewänder trugen, und berichtet dann, wie die
Fischer bei dem Orte Huamelula mit dem Baumwollgarn in
das Meer fahren, dort die Purpurschnecken (Caracol genannt,
Purpura patula) sammeln und ihren färbenden Saft auf das
Garn ausdrücken. Dieses wird dann weiter behandelt und
erhält später erst seine schöne Farbe. Der vorher beschriebene
Prozeß dient auch zur Aufklärung der antiken Purpurfärberei
im Mittelmeer. Frau Nuttall unterläßt nicht, Auszüge aus
der Abhandlung des Berliner Zoologen v. Martens (Zeitschr.
f. Ethnol. 1898) und den Schriften von Eduard und Cäcilie
Seler zu geben, welche vor ihr über diesen Gegenstand ge-
schrieben haben. Zum Schlusse wirft die Verfasserin die
brennende Frage auf, ob dieses Überbleibsel der Purpur-
färberei bodenständig und ursprünglich oder entlehnt sei,
durch „schiffbrüchige mittelmeerische Seefahrer nach Ame-
rika gelangte“, und ihre Ansicht neigt sich der letzteren
Auffassung zu. Warum aber jene schiffbrüchigen Mittel-
meerleute wichtigere Kulturelemente nach Amerika zu
bringen unterließen, sagt die Verfasserin nicht,
Rein anthropologischer Art ist der Beitrag über die Mes-
sungen, welche Alexander Hrdlicka an Indianern des
südwestlichen und nördlichen Mexiko ausführte, nach denen
die Otomi die kleinsten sind (Männer 159 cm im Durchschnitt),
während die Maricopa (Männer 175cm) als die größten er-
scheinen. Einige sprachliche Beiträge: über die Sprache der
Irokesen von Franz Boas, über die Wintungrammatik von
Roland Dixon und über einen neuen Siouxdialekt von
J. Swanton entziehen sich meiner Beurteilung. Zum
Schlusse erhalten wir noch eine flott geschriebene Skizze von
George Dorsey, der im Jahre 1908 die deutschen Salo-
monsinseln besuchte; sie bietet aber für uns nichts Neues.
R. A.
Oskar Dähnhardt, Natursagen. Eine Sammlung natur-
deutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden. Bd.IIl:
gie Erster Teil. Leipzig 1910, B. G. Teubner.
15
Den allseits mit großem Beifall aufgenommenen beiden
ersten Bänden der Natursagen folgt hier der dritte, Tier-
sagen behandelnde. In der Einleitung nimmt Dähnhardt
grundsätzliche Stellung zu der jetzt vielfach die Ethnologen
wieder beschäftigenden Frage nach der Entlehnung oder
Wanderung der verschiedenen Sagen usw., und bei der
Kleine Nachrichten. 17
großen Fülle des zu verzleichenden Stoffes und dessen Durch-
arbeitung konnte Dähnhardt wohl zu einem Ergebnisse ge-
langen, wenigstens soweit es sich um die hier in Betracht
kommenden Materien handelt. Er geht aus von den bei
Bastian, R. Andree u. a. für den Völkergedanken sprechen-
den Beweisen, gibt aber auch den Wanderungen ihr Recht.
„Im allgemeinen darf man wohl annehmen, daß Sagen und
Märchen, die nur in einem Motiv übsreinstimmen, ohne
Wanderung überall in gleichen oder ähnlichen Formen ent-
stehen können, besonders Natursagen, denn die Natur ist
überall das gleiche Objekt, an dem sich die beobachtende
und dichtende Volksphantasie in gleicher Weise versucht.
Doch ist auch hier die Wanderung nicht ausgeschlossen.
Gleichheit mehrerer Motive deutet dagegen wohl immer
auf Wanderung hin.“
Für beides nun bietet die vorliegende Sammlung ein
überreiches Material. Nicht nur, daß der Verfasser unter
Beihilfe einer Anzahl hervorragender Forscher im In- und
Auslande seine gewaltige Sammlung zusammenbrachte, er
hat sie auch so geordnet, daß man mit Leichtigkeit über-
sehen und auffinden kann, was die Natursagen nicht nur
der europäischen, sondern auch amerikanischer, afrikanischer
und anderer Völker bieten. Das Übereinstimmende wird
sofort klar. Es ist ein entschiedenes Verdienst von Dähn-
hardt, daß er nicht, wie es bei ähnlichen Untersuchungen
meist der Fall ist, an der europäischen Scholle kleben blieb,
sondern nach Möglichkeit die Völker der Erde zusammen-
faßt°. Die 18 Kapitel, in welche er seinen überreichen Stoff
gliedert, zerfallen wieder in viele Unterabteilungen. Wir
können sie nicht alle hier registrieren, heben aber die Ab-
schnitte über Gestalt und Eigenart der Tiere, das Entstehen
des Ungeziefers, Tierstimmen, die Namen, Gewohnheiten
(Geruch, Diebstahl), Nahrung, Verwandlungen der Tiere
hervor. Auch greifen einzelne Untersuchungen, wie jene
über die Gewinnung des Feuers und die Seelenvögel, über
den engeren Rahmen hinaus. Der noch ausstehende Schluß-
band des Werkes soll sich mit der Geschichte und Psycho-
logie der Sagen beschäftigen.
F. Birkner, Der diluviale Mensch
München 1910, Isaria-Verlag. 1,75 f. 3
Die neuerdings sich häufenden Funde von Überresten
des diluvialen Menschen in Europa haben schon verschiedene
zusammenfassende Schriften veranlaßt. Unter diesen ist die
vorliegende die wissenschaftlich am besten begründete, die
klar einen größeren Leserkreis unterrichtet. Zwar bringt sie
uns in Wort und Bild nichts Selbständiges und Neues, aber
sie zeichnet sich aus durch eine recht objektive Zusammen-
fassung und stellt bei abweichenden Ansichten und Hypo-
thesen (z. B.in der Eolithenfrage) das Für und Wider gegen-
einander. Etwa 100 Abbildungen, alle nach guten, neuen
Vorlagen, schmücken die Schrift. Den vom Verfasser selbst
angezweifelten „Neandertaler nach Kupka“, Fig. 53, hätte
man vielleicht besser durch eine der traditionellen Abbil-
dungen Adams ersetzen können, die wenigstens biblische
Autorität hinter sich haben.
in Europa.
Otto Keller, Die antike Tierwelt. 1. Bd.: Säugetiere.
XII u..434 S. m. 145 Abbild. im Text u. 3 Lichtdruck-
tafeln. Leipzig 1909, Wilhelm Engelmann.
Otto Keller gehörte als einer der ersten zu jenen auch
jetzt noch keineswegs zahlreichen klassischen Philologen,
welche die klassische Altertumswissenschaft nur als einen
Teil der allgemeinen Wissenschaft vom Menschen ansehen
und daher auch einen weiten und geschärften Blick für all-
gemeine ethnologische Beziehungen haben. Eine Autori-
tät ersten Ranges ist Keller für die kulturgeschichtliche Be-
deutung der Tiere im klassischen Altertum, und sein 1887
zu Innsbruck erschienenes Buch „Tiere des klassischen Alter-
tums in kulturgeschichtlicher Beziehung“ gehört zu den
Büchern, die der Philologe ebenso wie der Kulturforscher zu
schätzen weiß. Es ist erfreulich, daß zu diesem Werk nun
— mit Unterstützung der kaiserl. Akademie der Wissen-
schaften in Wien — eine groß angelegte, auf zwei Bände
berechnete Fortsetzung und Erweiterung erscheint. Der vor-
liegende erste Band behandelt die Säugetiere und bietet ein
außerordentlich reichliches, durch wertvolle Illustrationen noch
vermehrtes kulturgeschichtliches Material. Der Verfasser be-
schränkt sich hierbei keineswegs nur auf die Griechen und
Römer, sondern zieht auch die orientalischen Völker (nament-
lich Inder und Agypter) in Betracht, soweit uns antike
Schriftsteller über sie berichten. Auch mit den prähistori-
schen Forschungen über die Verbreitung der Tiere und die
Anfänge der Zähmung und Züchtung von Haustieren zeizt
sich Keller wohlvertraut.
Das Werk ist ferner ein wichtiger Beitrag sowohl zur
Geschichte der materiellen als auch der geistigen Kultur der
Völker des Altertums. Denn wir erfahren aus ihm nicht
nur, was die Alten von den Tieren wußten bzw. fabelten,
welche Tiere sie kannten, zähmten und züchteten, welche
Bedeutung die Tierwelt für die Volkswirtschaft und den
Sport hatte, sondern auch was die Alten von den Tieren
glaubten, welche Rolle sie im Mythos, im Volksglauben, im
Kultus und in der: Volksmedizin spielen, ferner was die
Dichter von den Tieren erzählen und wie die Künstler sie
darstellen. Manche wichtige Beiträge zur vergleichenden
Fabel- und Märchenforschung wird man in den Ab-
schnitten über die Affen, den Löwen, die Hauskatze, die
Maus, das Wiesel, das Eichhörnchen, den Esel, das Maultier
und andere finden. Insbesondere aber sei hier das Schluß-
kapitel über das mythische Einhorn erwähnt, welches in
Sage und Dichtung östlicher und westlicher Völker eine so
große Rolle spielt. Wertvolle religionsgeschichtliche
Beziehungen werden in allen Abschnitten, namentlich aber
in denen über den Hund, die Hyäne, die Ziege, das Schaf,
das Pferd, das Rind und das Schwein nachgewiesen. Für
die Wirtschaftsgeschichte sind von größter Wichtigkeit
die Abschnitte über die Hundezucht — es ist erstaunlich,
welche Mengen von Hunderassen die Alten gezüchtet hatten!
— sowie über die Pferde-, Ziegen-, Schaf-, Rinder- und
Schweinezucht.
Die gründlichsten Monographien sind dem Pferd und
dem Rind gewidmet. Ich verweise nur auf die eingehen-
den Untersuchungen über die Verbreitung des Pferdes im
Altertum, über die Pflege und Zucht des Pferdes bei den alten
Griechen, über Reiten und Fahren, über das Wettrennen mit
Wagen, über das Roß in Mythologie und Kult, insbesondere
das bei den indogermanischen Völkern so bedeutsame Roß-
opfer, über die Rinderzucht im Altertum, über den Apis-
kult der Agypter, über den Minotaurus, über das antike Hirten-
leben, über die Milchwirtschaft bei den Alten usw. Diese
bloße Aufzählung genügt, um zu zeigen, daß das Werk nicht
nur für den klassischen Philologen, sondern auch für den
Ethnologen viel wertvolles und dankenswertes Material
enthält. Möge dem vorliegenden ersten Bande recht bald
der zweite nachfolgen.
Prag. M. Winternitz.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Anfang Juni hat eine dänische Expedition Kopen-
hagen verlassen, die im Nordatlantischen Ozean und
im Mittelmeer ozeanographische Studien ausführen
wird. Ihr Leiter ist Dr. Johs. Schmidt, bekannt durch
seine früheren Forschungen im Atlantik, besonders über den
Aal. Seine Begleiter sind J. W. Nielsen als Hydrograph,
C. H. Ostenfeld und O. Paulsen als Planktonspezialisten, Sven
Palitsch vom Carlsberg-Laboratorium als Chemiker und ein
Biologe. Während des ersten Teiles der Fahrt in den Ge-
wässern von Island und den Färöer, Juni über, sollen die
Forschungen einen mehr offiziellen Charakter haben, weil
sie auf Kosten der dänischen Regierung geschehen und einen
Teil des internationalen Schemas der Meeresforschung bilden.
Der zweite Reiseabschnitt wird mit Beginn des Juli in einem
englischen Hafen seinen Anfang nehmen, und die Kosten
hierfür tragen teils der Carlsbergfonds, teils Privatleute. Auf
die atlantischen Gewässer südlich von Irland wird nicht viel
Zeit verwendet werden, es soll dann gleich nach dem Mittel-
meer gehen. Expeditionsschiff ist der bekannte Forschungs-
dampfer „Thor*.
— Die Geographie auf der 82. Versammlung deut-
scher Naturforscher und Ärzte (Königsberg i. Pr., 18.
bis 23. September 1910). Aus Königsberg wird uns berichtet:
Die Geographie ist zunächst an der sogenannten gemein-
schaftlichen Sitzung der Hauptgruppen am Donnerstag, dem
22. September, vormittags beteiligt. Es ist gelungen, den
Führer der nächstjährigen deutschen Südpolarexpedition,
Oberleutnant Filchner, für diese Sitzung zu einem Vortrage
über sein Unternehmen zu gewinnen. Damit knüpft die
18 Kleine Nachrichten.
Tagung wieder an die Traditionen der Zeit Neumayers an.
Dem Herkommen der letzten Jahre entsprechend, ist auch
wieder eine geographische Sektion eingerichtet worden, deren
Einführende Professor Hahn und Professor Lullies sind. Der
Praxis der Geographentage folgend, haben sie eine Anzahl
Gegenstände ausgewählt, die das Rückgrat der Diskussion
bilden sollen. Solche Gegenstände sind: Die Rolle der Erd-
beschreibung auf der Naturforscherversammlung (Hahn-
Königsberg); die Geologie im Schulunterricht (Lullies-Königs-
berg); die Zerstörung der Steilküsten in der Gegenwart
(Brückmann-Königsberg); die großen Straßen des Weltver-
kehrs (Hennig-Berlin und andere); Landeskunde des nord-
östlichen Deutschland, besonders auch Posens (voraussichtlich
Schütze-Posen und andere); Ethnographische Probleme aus
dem südöstlichen Asien (Oberlehrer Bork-Königsberg und
andere).
— Das Somaliland-Protektorat gehört zu den
Schmerzenskindern der englischen Regierung, weil dort der
sogenannte „Tolle Mullah“ sein Wesen trieb und die Engländer
zu kostspieligen und doch nutzlosen Feldzügen zwang. Die
englische Regierung hat sich daher entschlossen, das Innere
der Kolonie aufzugeben und künftig nur einige Punkte an
der Küste, darunter Berbera, besetzt zu halten. Die der Re-
gierung freundlich gesinnten Stämme sollen mit Waffen ver-
sehen werden, damit sie sich der Angriffe des „Tollen Mullah“
selbst erwehren können, und dann soll mit der Zurück-
ziehungder Truppen begonnen werden. Das Somaliland-Protek-
torat ist ein Glied in der Kette jener Stationen, die England
den Weg nach Indien sichern sollen, und darin beruht allein
die Bedeutung der Kolonie; wirtschaftliche Vorteile bietet
sie wenig oder gar nicht. Jener Zweck aber kann durch die
Besetzung der Küste genügend erreicht werden. Kürzlich
wurde nun wieder berichtet, der „Tolle Mullah“ sei gestorben,
und wenn diese Nachricht sich diesmal bestätigen sollte,
so würde die englische Regierung in ihrem Entschlusse doch
vielleicht wankend werden, zumal dieser im Parlament durch-
aus nicht allgemeine Billigung gefunden hat. Die Opposi-
tion wandte ein, daß durch das Aufgeben des Protektorats
das englische Ansehen nicht nur dort, sondern auch in
Abessinien leiden würde.
— In Südamerika ist seit dem Jahre 1903 eine von
Agram ausgesandte „kroatische wissenschaftliche
Mission“ tätig, an deren Spitze die Herren Mirko und
Stevo8eljan stehen. Über ihre bisherigen Unternehmungen
mag folgendes mitgeteilt werden: Die Mission landete
im genannten Jahre in Rio de Janeiro und begab sich nach
S8. Paulo, um über Land die Stromschnellen des Rio Paraná-
panema zu erreichen. Talabwärts an diesem Flusse und den
Rio Ivinheima hinauf kamen die Forscher in die Campos de
Vaccaria, überschritten die Höhenzüge Dorados-Brillante zum
Rio Miranda und erreichten Corumbä, die am Rio Paraguay
gelegene Handelsstadt von Matto Grosso. Diese Reise dauerte
ein Jahr, und die Mission hatte beschlossen, die Rückkehr
zu den Gestaden des Atlantischen Ozeans quer durch Para-
guay und den brasilianischen Staat Paraná zu bewerkstelligen.
Bei dieser Gelegenheit wurden die großartigen Wasserfälle
El Salto del Guayrä des Rio Paraná und der am gleich-
namigen Flusse gelegene Salto del Jguaztı besucht. Das
letzte Projekt der Mission, das zwischen den Flüssen Xingü
und Paranätinga - Tapajoz liegende und bis heute auf allen
Karten als unbekannt bezeichnete Landgebiet zu erforschen,
scheiterte an der Revolution, die im Jahre 1906 in Matto
Grosso (Cuyabä) herrschte. Die Regierung dieses brasiliani-
schen Staates bemächtigte sich mit Gewalt der der Mission
gehörigen Reit- und Tragtiere, des Proviants und der
Munition und verhinderte dadurch die geplante Expedition,
für die die Mittel in Chile aufgebracht waren. Ihre letzte
Forschungsreise richtete die Mission im Jahre 1908 nach dem
linken Ufer des unteren Amazonenstromes und ins Amapä-
gebiet. (Erwähnt sei, daß seit 1889 die beiden Reisenden
drei Jahre in Abessinien weilten, dort mit geographischen
und ethnographischen Studien beschäftigt waren. Sie kamen
bis zum Omo, Rudolf- und Stefaniesee. Die ethnographische
Sammlunz wurde dem Kroatischen Landesmuseum in Agram
übergeben, die Resultate sind in kroatischen Zeitschriften
veröffentlicht worden und deshalb ziemlich unbekannt ge-
blieben.)
— Die französischen Prähistoriker E. Cartailhac und
Abbe Breuil setzen ihre Beschreibungen der Malereien
und Figurenritzungen in den Höhlen der Pyrenäen fort. Jetzt
(L’Anthropologie 1910, 8.129) sind sie bei der Höhle von
Gargas in der Gegend von Bagneres-de-Luchon angelangt,
wo zu den bekannten Büffel- und Pferdebildern sich etwas
Neues gesellt: das sind die massenhaften Darstel-
lungen menschlicher Hände, auf die allerdings 1906
schon Felix Regnault hingewiesen hatte. Bei den Analogien,
welche diese Handbilder in der heutigen Ethnographie bieten,
erscheint ihr Vorkommen in der Höhle von Gargas besonders
belangreich. Die Handdarstellungen sind durch die ganze
Höhle verteilt, und die Forscher konnten mehr als 150 zählen;
sie müssen aber ursprünglich viel zahlreicher gewesen sein,
da in der sehr feuchten Höhle die Sickerwasser viele fort-
gewaschen haben, andere durch spätere Kalkablagerungen
verdeckt wurden. Die Darstellung der Hände erfolgte in
sehr einfacher Art. Die Hand wurde mit ausgebreiteten
Fingern auf die feuchte Höhlenwand gelegt und dann rote
oder schwarze Farbe ringsum aufgetragen, so daß beim Fort-
ziehen der Hand deren Abbild rot oder schwarz umrahmt
zurückblieb. In überwiegender Menge handelt es sich um
linke Hände, woraus hervorgeht, daß der Darsteller die rechte
Hand zum Auftragen der Farbe benutzte, was auf Rechts-
händigkeit der prähistorischen Höhlenbewohner schließen
läßt. Noch etwas fällt bei den abgebildeten Händen auf:
bei vielen fehlen an einem oder mehreren Fingern einige
Glieder, was, bei der Häufigkeit des Vorkommens, nicht auf
Zufall beruhen kann. In Frankreich ist die Höhle von Gar-
gas die erste, in welcher man solche Handbilder beobachtet
hat, während ganz gleiche und in der gleichen Art her-
gestellt in den Höhlen von Santander in Spanien 1906 ge-
funden wurden.
Mit Recht haben Cartailhac und Breuil die Ethnographie
zur Erklärung der von ihnen beschriebenen Handbilder heran-
gezogen. Wir kennen ganz ähnliche Handbilder aus sehr
verschiedenen Kulturepochen bei Nord- und Südamerikanern,
Nordafrikanern, Phöniziern, besonders aber aus Australien,
wo sie auf den Felsmalereien der Eingeborenen in der gleichen
Technik wie in der Höhle von Gargas dargestellt sind (Ma-
thews im Journ. Anthropol. Institute, Bd. 25, Tafel 14). Was
die Beschreiber der Handbilder nicht erklären, ist das Fehlen
einzelner Fingerglieder bei den Händen der Gargashöhle.
Auch hierfür kann eine ethnographische Parallele angeführt
werden, nämlich das sehr verbreitete Ablösen eines Finger-
gliedes als Zeichen der Trauer bei verschiedenen amerikani-
schen, afrikanischen und polynesischen Völkerschaften. R. A.
— Seit dem Juli 1909 wird — durch eine französische
Gesellschaft — eine neue Eisenbahn gebaut, die von dem
ecuadorianischen Hafenort Bahia de Oaraques nach Quito
führen soll. Sie wird etwa 300 km lang sein und daher die
Hauptstadt Ecuadors weit schneller mit dem Meere verbinden,
als die schon bestehende von Guayaquil ausgehende Bahn.
Auch hat Bahia de Oaraques, das gegenwärtig erst 4000 Ein-
wohner zählt, vor Guayaquil den Vorteileines viel gesünderen
Klimas und einer geringeren Regenmenge voraus. Bisher
sind von Bahia de Caraques ausfreilich erst 5km im Betrieb.
Die Linie folgt dem Rio Chone (oder Calceta) aufwärts ins
Gebirge, überschreitet dieses in 400m Höhe und erreicht die
Stadt Balzar. Dort wird sich die Bahn gabeln, der nördliche
Ast nach Quito, der südliche nach Guayaquil führen. Bis
Balzar sind alle Vorarbeiten vollendet. Ein großer Übelstand
ist beim Bau der Mangel an süßem Wasser. Die Gezeiten
machen sich bis 30km den Choné hinauf bemerkbar, und
die Einwohner sind soweit auf das Regenwasser angewiesen.
Die Bahnbaugesellschaft hat daher die Anlage einer Wasser-
leitung beschlossen. Anfangs erschien die Frage der Be-
schaffung von Arbeitskräften bedenklich; sie scheint nun
aber durch die Herbeiziehung von solchen aus Colombia und
Jamaika gelöst zu sein.
— Kapitän Üortier dürfte seine neue Saharareise,
über die hier einige Male berichtet worden ist, inzwischen
beendet haben und nach Frankreich zurückgekehrt sein. Sie
hatte namentlich topographische Zwecke, und es sollte den
zahlreichen neueren französischen Routen in der westlichen
Sahara durch astronomische Ortsbestimmungen ein festes
Gefüge gegeben werden. Deshalb reiste er nicht mit bis an
die Zähne bewaffneten Meharistenkompagnien, sondern mit
nur wenigen Reitern, wurde somit freilich auch manchmal
durch räuberische Unternehmungen der Wüstenstämme in
seiner Bewegungsfreiheit behindert. Aber er bringt doch
ein schönes, umfassendes Material heim und erhöht damit
die großen Verdienste, die er sich bereits um die Kenntnis
von der Sahara erworben hatte.
Wie zuletzt (Bd. 97, 8.18) mitgeteilt wurde, hatte Cortier
von Ahaggar aus im März 1909 Agades erreicht. Von da
begab er sich nach Beendigung seiner Arbeiten in der Oase
Air direkt nach Gao am Niger. Sein zuletzt bekannt ge-
wordener Brief datiert aus Timbuktu vom 7. Februar d. J.
(„La Géographie“, Mai 1910, mit Kartenskizze). Danach ver-
Kleine Nachrichten. 19
ließ Cortier am 8. November 1909 Gao und zog in nördlicher
Richtung bis Teleya, das er 10 Tage später erreichte. Von
da wollte er sich westwärts nach Mabruk begeben, hörte
aber, daß dort eine starke Räuberschar der Uled-Djerir an-
wesend war; er benutzte also die nächste Zeit zu einem Vor-
stoß nach dem unbekannten Osten, über Inkufi nach Arli.
Am 10. Dezember war Cortier wieder in Teleya und fand
nun den Weg nach Westen frei, da die Uled - Djerir inzwischen
durch Truppen aus Timbuktu zerstreut worden waren. Sein
Marsch führte ihn über In-Emsel, durch Tilemsi über In-
Schiker nach In-Beriem in Timetrin. Dieses, das 200 km
westlich von Adrar liegt, ist ein isoliertes Massiv von der-
selben Art wie Adrar, aber von geringerer Bedeutung. Auch
in der Gegend von In-Beriem sollte sich eine Räuberschar
befinden, und da Cortier mit seinen wenigen Leuten nicht
daran denken konnte, sie anzugreifen, so beschleunigte er
seine Reise bis Bu-Djebiha (östlich von Arauan) und kam
auch nicht mit ihr in Berührung. Sein Weg führte ihn
über Mabruk, die heilige Stadt der Kunta (an der alten
Karawanenstraße Tuat—Timbuktu), die aber heute nur noch
ein Ruinenhaufen ist, aus dem sich die Kasbah des verehrten
Marabuts Sidi-Amar erhebt. In Bu-Djebiha erreichte
Cortier seine Route von 1906. Nachdem er dann u. a. die
Lage von Arauan astronomisch bestimmt hatte, begab er
sich auf dem nächsten Wege, der jetzt von neuem mit
Brunnen besetzt ist, nach Timbuktu. Er gedachte sich von
da nach Bamba und Gao zu begeben, um noch einige Er-
gänzungsarbeiten auszuführen, und über Niamey in Cotonou
die Küste zu erreichen.
— Ein Abkommen über die tunesisch-tripolita-
nische Grenze ist am 19. Mai zwischen Frankreich und
der Pforte geschlossen worden. Es war in diesem Grenz-
gebiet nicht selten zu Mißhelligkeiten gekommen, und erst
jüngst hatten türkische Truppen aus Wassen (oder Uessen)
auf eine tunesisch-französische Militärabteilung aus Dehibat
geschossen. Man kam deshalb überein, durch eine gemischte
Kommission, die im April in Tripolis zusammentrat, die Un-
sicherheit der Verhältnisse zu beseitigen. Das Abkommen
berücksichtigt die Interessen der Grenzstämme von Ras Adjir
an der Küste bis Djenneien und bestimmt im übrigen, daß
Dehibat bei Tunesien, Wassen mit Umgebung bei Tripolitanien
verbleibt. Im Süden von Djenneien sichert die Grenzlinie
Tunesien den vollen Besitz eines Karawanenweges, der vor
Ghadames endet, ebenso das Eigentumsrecht auf die Brunnen
von Monteser, Kreschem el-Hauja und Tiaret, sowie der
Hälfte der Brunnen von Zar und Meschigig.
Damit sind freilich noch nicht alle Quellen für Unzu-
träglichkeiten in den französisch-türkischen Grenzgebieten
in Nordafrika und der Sahara verstopft, und es fehlt nament-
lich an einer Einigung für die Strecke Ghadames—Ghat und
an einer Regelung der Frage des Karawanenschutzes. Mit
den Vorbereitungen dazu war kürzlich schon der Kommandant
Colonna de Leca beauftragt worden, der sich mit den
türkischen Behörden in Fessan und Ghat ins Einvernehmen
setzen sollte; er wurde aber infolge des Einspruchs der
Türken wieder zurückberufen, nach dem Zwischenfall von
Yat (zwischen Bilma und Gatron), wo Tibbus aus Tibesti,
denen die Kamele einer von Türken begleiteten Karawane
gehörten, von einer französischen Abteilung aus Agades an-
gegriffen worden waren. Es waren dabei zahlreiche Tibbus
getötet worden.
— K. Knoch hat an der Turmstation des Meteorologi-
schen Observatoriums zu Potsdam lebhafte kurzdauernde
Temperaturschwankungen gefunden, die er nach
ihrer Größe, Häufigkeit des Auftretens usw. untersucht hat.
Nach seinen Ergebnissen hängen sie mit den Inversionen der
Temperatur in den erdbodennahen Luftschichten zusammen.
(Bericht des Preußischen Meteorologischen Instituts zu Berlin
für 1909.) Gr.
— Auf die Tagesordnung des internationalen Geologen-
kongresses, der in diesem Jahre zu Stockholm stattfindet, ist
als eine der zu behandelnden Hauptfragen die über die
Klimaschwankungen nach dem Maximum der letzten Eiszeit
gesetzt worden. Um die Diskussion der Frage auf dem
Kongreß selbst vorzubereiten, sind von den schwedischen
Geologen eine Anzahl Arbeiten über den Gegenstand ver-
faßt worden, unter denen hier auf die Gunnar Anders-
sons hingewiesen werden soll. (Sveriges Geologiska Under-
sökning, Ser. ©. Nr. 218, Stockholm 1909. Preis 1 Kr.) Unter
dem Titel: Das Klima in Schweden in der spätquar-
ternären Periode gibt er eine ausführliche auf die vor-
handene sehr reiche Literatur und eigene Untersuchungen
gestützte kritische Darstellung der bisher angewandten Me-
thoden zur Erkennung der Entwickelung des Klimas, sowie
der mit ihnen erhaltenen Resultate über die klimatischen
Verhältnisse der spätglazialen und der postglazialen Zeit.
Auf Einzelheiten einzugehen, verbietet hier der Mangel an
Raum, es sei nur erwähnt, daß dem Referenten eine ziem-
liche Vollständigkeit erreicht scheint und die Kritik der ein-
zelnen Ansichten und Tatsachen sicher geeignet ist, die Dis-
kussion des Themas ein gutes Stück vorwärts zu bringen.
Gr.
— Als erste Veröffentlichung des neu errichteten Schwe-
dischen Hydrographischen Bureaus ist eine Untersuchung
der Wasserstandsschwankungen des Vänern von dem
Direktor des Bureaus, Axel Wallén, erschienen (Stockholm
1910, in schwedischer Sprache mit Resume in französischer
Sprache). Die ersten Pegelbeobachtungen am See wurden
schon 1807 angestellt, und die vorliegende Arbeit sucht aus
den über hundertjährigen Beobachtungen die mittleren und
andere charakteristische Wasserstände der Seeoberfläche zu
berechnen und einen Beitrag zum Problem der Periodizität .
der Seespiegelschwankungen zu liefern, soweit dabei der
Vänern in Betracht kommt. Die Diskussion der Zahlentabellen
ergibt, daß außer der jährlichen auch eine oder wahrschein-
lich mehrere Perioden von längerer Dauer vorhanden sind,
von denen besonders deutlich eine 11jährige Periode heraus-
tritt, die in sehr genauer Übereinstimmung mit dem Gang
der Sonnenflecken und der Periode der meteorologischen Fak-
toren steht. Gr.
— Die Entwickelungsgeschichte der Gera und
ihrer Nebengewässer hat A. Reichardt zum Gegenstand
einer Studie gemacht, die sich hauptsächlich mit der Unter-
suchung der Ausbildung und Veränderung des Geralaufs im
Thüringer Becken seit der Eiszeit beschäftigt. (Ztschr. f.
Naturwissenschaften, Halle a. 8., Bd.81, Heft 5/6.) Infolge-
dessen werden besonders ausführlich die Schotterablagerun-
gen präglazialen, glazialen und postglazialen Alters unter-
sucht und beschrieben und dabei teilweise auch wesentliche
Ergänzungen und Berichtigungen unserer Kenntnis der gla-
zialen Ablagerungen geliefert. Die Schlüsse, die der Ver-
fasser in dieser Richtung zieht, sind die, daß die Südgrenze
der glazialen Geschiebe den Thüringer Wald nicht erreicht,
daß diese Grenze aber auch nicht überall mit der Grenze
des Inlandeises zusammenfällt. Vor dem Eis war ein Stau-
see, der zum Teil Blöcke noch südlicher, als der Eisrand lag,
verfrachten konnte. Das Gebiet war nur einmal vereist und
zwar zur Zeit der zweiten oder Haupteiszeit. Eine Karte zeigt
die Verbreitung der festgestellten Schotter und der südlichen
Eisgrenze, eine andere in größerem Maßstabe den vom Ver-
fasser angenommenen Stausee nebst Umgebung; außerdem
finden sich eine Anzahl erläuternde Profile im Text. Gr.
— Den am besten ausgeloteten Teil des süd-
westlichen pazifischen Ozeans und zwar das Gebiet
zwischen der Ostküste Australiens, der Nordspitze Neu - See-
lands und den Tongainseln hat Fr. Henjes einer Bearbeitung
in morphologischer Hinsicht unterzogen. (Aus d. Archiv d.
deutschen Seewarte, XXXII. Jahrg. 1909, Nr. 3.) Nach einer
kurzen Übersicht des zugrunde liegenden Lotungsmaterials
werden auf einer sehr detaillierten Tiefenkarte basierend die
Böschungswinkel der verschiedenen auftretenden Formen —
Schelf, Kontinentalabhang, submarine Berge, Rücken und
Gräben — und die mittlere Tiefe der Eingrad- und Fünf-
gradfelder berechnet. Zur zahlenmäßigen Ermittelung der
Unebenheit des Meeresbodens schlägt Henjes eine neue Me-
thode vor, die durch zwei Zahlenausdrücke die Oberflächen-
form charakterisieren soll. Der eine ist der Wechsel zwischen
Hebung und Senkung, die „Undulation“, welche die Uneben-
heit in horizontaler Richtung untersucht. Im Gegensatz zu
Krümmel, der zur Ermittelung Profile benutzt, schlägt Henjes
vor, in dem zu untersuchenden Gebiet sämtliche Erhebungen
auszuzählen und auf die Flächeneinheit zu reduzieren. In
vertikalem Sinn wird die Unebenheit durch die Größe der
relativen Niveauunterschiede, die „Amplitude“, bestimmt, die
Henjes als Mittel aus den Niveauunterschieden der höchsten
Stelle nach den tiefsten Punkten der Umgebung feststellt.
Die Methode wird an einigen Beispielen für den Meeres-
boden und die Landoberfläche in verschiedenen Gegenden
durchgeführt und außerdem der Versuch einer kartographi-
schen Darstellung der erhaltenen Zahlenwerte gemacht. Außer
der Tiefenkarte in Buntdruck sind noch eine Karte der Schiffs-
routen, die das Lotungsmaterial lieferten, eine Anzahl Profile
und Kärtchen besonders interessanter Stellen und Formen in
größerem Maßstab beigegeben. Gr,
20
Kleine Nachrichten.
— Über den Verlauf und die Resultate der aerologi-
schen Expedition, welche vom Aeronautischen Observa-
torium zu Lindenberg nach dem Viktoriasee in Afrika
geschickt worden war, liegt jetzt ein ausführlicher, mit vielen
Tafeln geschmückter Bericht vor. Die Erörterungen über
Vorgeschichte und Verlauf der Expedition zeigen hinreichend,
mit welchen sachlichen Schwierigkeiten die Expedition, die
erste derartige Landexpedition in den Tropen, fortwährend
zu kämpfen hatte, sie geben aber auch Zeugnis von der
Zähigkeit, mit der die beiden Meteorologen Berson und Elias
trotz aller Widerwärtigkeiten ihre Pläne verfolgten und durch-
zusetzen suchten. So konnten sie trotz der Ungunst der Ver-
hältnisse nicht nur eine reiche Summe von Erfahrungen, die
künftigen ähnlichen Expeditionen sehr zugute kommen wer-
den, mit nach Hause bringen, sondern auch eine relativ reich-
liche Menge positiver Resultate in dem Beobachtungsmaterial,
das ausführlich mitgeteilt wird, liefern. Eine zusammenfas-
sende Besprechung derselben am Schluß ergab denn auch
neue und überraschende Aufschlüsse hauptsächlich über Wind-
und Temperaturverteilung, über Land- und Seewinde am
Viktoria-Nyanza, und über die Monsune und Passate der
Küstenregion Ostafrikas.
— Das Klima der Nieder-Guinea-Küste und ihres
Hinterlandes beschäftigte R. Sieglerschmidt in seiner Ber-
liner Doktorarbeit 1910 (auch in den „Mitt. a. d. deutschen
Schutzgeb., 1910, Heft 1, erschienen). So ist die Luftbewe-
gung an der Küste jenes Gebietes durch den täglichen
Wechsel von Land- und Seewinden charakterisiert. Die ozea-
nische Luftströmung, welche sich von Juni bis September
vom nördlichen Angola bis einschließlich Kamerun weit in
das Innere des Kontinents hinein erstreckt, gibt dem jähr-
lichen Gange der anderen meteorologischen Elemente (Tem-
peratur, Niederschlag, Bewölkung und Feuchtigkeit) seine
charakteristischen Eigenheiten, während im Hinterlande des
nördlichsten und südlichsten Teiles jenes Gebietes schon
der Wechsel sommerlicher Erwärmung und winterlicher Ab-
kühlung höberer Breiten den jährlichen Gang der meteoro-
logischen Elemente bestimmt. Der Festsetzung der Rolle,
welche die Periode Juni bis September (Oktober) an der
Nieder-Guinea-Küste und im größten Teile ihres Hinterlandes
in dem jährlichen Gange des Luftdrucks, des Windes, der
Temperatur und des Niederschlages spielt, kommt eine be-
sondere Wichtigkeit zu.
— Über die Resultate der neuen Untersuchungen
über den unterirdischen Lauf des Timavus und die
unterirdischen Gewässer der küstenländischen Region er-
fahren wir aus dem Triester „Piccolo“ folgendes: Die Unter-
suchungen wurden im Dezember 1907 vom Chemiker G. Timeus
unter Mithilfe von Prof. Vortmann und des Direktors des
Hydrotechnischen Triester Gemeindeamtes, Ingenieur Piac-
centini, begonnen und dauern noch an. Durch die letzten
Untersuchungen sollte ermittelt werden, ob eine Beziehung
zwischen der Wippach (fluvius frigidus der Alten), den Seen
von Doberdö und Pietrarossa und den Quellmündungen des
klassischen Timavus stattfinde Man schüttete eine Lösung
von 10kg Lithiumchlorür bei Vertotsche, nächst Biglia, in
die Mitte des Flusses Wippach. Die spektroskopischen Unter-
suchungen haben erwiesen, daß die Meinungen, die man sich
auf Grund der Tradition und der Hypothesen früherer Hydro-
logen und Geologen (ÜOzoernig) gebildet hatte, durch die an-
gestellten Versuche tatsächlich sich bestätigen. Der Wippach-
fluß steht durch unterirdische Kanäle mit den genannten Seen
in Verbindung und entsendet einen Teil seines Wassers auch
in den unterirdisch fließenden Timavus, d.h. in alle drei bei
der Kirche 8. Giovanni in Tuba ausmündenden Arme. Dies
Resultat enthüllt uns den Umfang des Zuflusses des unteren
Timavus, erklärt uns seine Mächtigkeit und chemisch - physi-
kalische Beschaffenheit und bildet deshalb eine neue Er-
rungenschaft in der Kenntnis des interessanten Flusses. Die
bisher ausgeführten Versuche haben endlich die Identität der
oberen Reka und des Timavus festgestellt. Die Reka (slaw.:
Fluß), die bei 8. Kanzian in die Tiefe stürzt, erscheint bei
S. Giovanni di Duino (8. Johann am Tybein); der unter-
irdische Timavus gibt einen Teil seines Wassers an die
Quellen von S. Giovanni bei Triest, Cedassamare und Aure-
sina am Gestade. Auch das wurde mittels Lithiumchlorür
und Anwendung der Radioaktivität durch Pechblende nach-
gewiesen.
Das Resultat löst nun eine große historische und wissen-
schaftliche Frage: die der Abhängigkeit des 'Timavus von
der Wippach und den genannten Seen. Mehr aber noch ent-
hält es die Beziehung zwischen den großen Schächten, die
sich in der Nähe des Timavus befinden. Das Taubenloch
nordöstlich von S. Giovanni di Tuba steht in Verbindung mit
dem Laufe, welcher die hervorbrechenden Quellen des Timavus
nährt, und mit diesem selbst; im zweiten Schachte jedoch,
48 m tief (der sich unter dem Damme der Südbahnlinie öffnet,
500m von den Timavoquellen und an 700m von der Mühle
Sardotsch) fließt ein Wasserfaden, der die untermeerisch
hervorbrechenden Quellen im Becken des Hervorbruches der
genannten Mühle nährt; er steht aber nicht in Verbindung
mit dem Timavus. Nachdem dieser letzte Umstand nach
einem großen Wasser zur Gewißheit wurde, ist es logisch,
anzunehmen, daß bei anormalem Stande des Wasserspiegels
eine Verbindung zwischen dem hydrographischen System des
unterirdischen Timavus und den bei der Mühle Sardotsch
hervorbrechenden Quellen besteht.
Die Erscheinung der sogenannten Anastomose des unter-
irdischen Deltas wird nun klar. Der unterirdische Timavus
richtet seinen Lauf dem Meere zu in Form eines Ausführungs-
gefäßes mit einem ausgedehnten Netze von unterirdischen
Kanälen; diese Kanäle durchkreuzen sicher die Schächte,
Höhlen und ausgehöhlten Gräben der ehemaligen hydro-
statischen Systeme, von denen einige jetzt nur bei bestimmtem
Wasserstande benutzt werden.
Die weiteren Untersuchungen des unterirdischen Flusses
in der Lindner Höhle bei Trebich im Triester Territorium
sollen nur die früheren Untersuchungen, daß dieser unter-
irdische Fluß die Reka oder wenigstens ein Teil der Reka
ist, erhärten. Das Projekt einer zweiten Wasserleitung für
die sich zusehends vergrößernde Hafenstadt Triest wird diese
Untersuchungen beschleunigen. Dr. L. Karl Moser.
— Den Hund im Altertum nimmt Ferdinand Orth
zum Vorwurf seiner Programmabhandlung (Schleusingen 1910).
Die Urgeschichte ergab das für die Phylogenie zahmer Hunde
beachtenswerte Ergebnis, daß die ältesten Urbewohner Europas
den Haushund noch nicht besaßen und ihn am Ende der
paläolithischen Periode offenbar von außen her bezogen haben.
In diluvialen ungestörten Schichten kommt der Haushund
noch nicht vor; er erscheint erst in der neolithischen Zeit
mit dem Beginn der Pfahlbauperiode. Immerhin scheint
festzustehen, daß vor 4000 bis 5000 Jahren bereits Spitzhunde,
Schäferhunde, Pariahunde, Windhunde, Jagdhunde, Dachs-
hunde, Doggen und kleine Hunde als Rassen existierten, die
unseren heutigen Hunden sehr ähnlich waren; immerhin ist
aber bisher noch kein Beweis dafür erbracht worden, daß
eine dieser Rassen völlig mit einer noch heute lebenden
übereingestimmt hätte. Wenden wir uns den einzelnen Erd-
teilen zu, so erwähnt für Asien wohl eine Keilschrift etwa
um 4000 v. Chr. den Hund. Doggen scheinen die ältesten
Hundebilder darzustellen; diese Art wurde auch für die
Hunderassen Europas von größter Bedeutung. Von Afrika
haben wir die Windhunde und die aus ihnen gezüchteten
Jagdhunde entlehnt. Wenn auch die europäischen Rassen
an Größe und Wildheit den asiatischen Vettern nachstehen,
sind sie ihnen an Mut doch mindestens ebenbürtig, wenn
nicht überlegen. Wie kein anderes Tier paßt sich der Hund
den Menschen an; die Hunde eines gebildeten Volkes sind
klug und gelehrig, Eigentümlichkeiten des Charakters ihrer
Herren spiegeln sich in ihnen vielfach wider. Die Farbe
ist durch Zucht und Kreuzung vielfach kunstvoll verändert.
Als Haushund der Urzeit in Europa haben wir uns wohl den
Spitz zu denken, dessen Überreste zahlreiche Pfahlbauten
aufweisen. Der Hirtenhund hält dann etwa die Mitte zwi-
schen Hof- und Jagdhund. Auch von Kriegshunden weiß
Plinius bereits zu berichten, welche die besten Hilfstruppen.
darstellen; man entnahm sie hauptsächlich den starken Doggen-
rassen. Polizeihunde scheinen erst eine Errungenschaft der
Neuzeit zu sein. Welche Bedeutung der Hund im Gedanken-
kreise des griechischen und römischen Volkes einnahm, zeigen
die zahlreichen Sprichwörter, Bilder und Redewendungen,
welche an den Hund anknüpfend in den Sprachschatz beider
Völker übergegangen sind, wofür Verfasser eine reichliche
Menge von Beispielen anführt. Der Hund spielt auch eine
große Rolle im Kultus und in der Mythologie, vielfach sind
namentlich seine Beziehungen zur griechischen und römischen
Mythologie. Doch nicht nur in die dunkeln Tiefen der
Unterwelt hat die Phantasie des Menschen seinen vierbeinigen
Begleiter versetzt, auch in die Höhen des Himmels hat sie
ihn seit vielen Jahrtausenden erhoben; der strahlendste Fix-
stern am Firmament, dessen Aufgang und Untergang für die
Landwirtschaft und die Seefahrt des Altertums von größter
Wichtigkeit war, ist der Hund des Orion, ist der Hundstern.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr, Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- UND VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. 2.
14. Juli 1910.
BRAUNSCHWEIG.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Antike und moderne Bronzen.
Von Dr. Hugo Kühl.
Das Szepter des etwa 4000 Jahre vor Christus re-
gierenden Ägypterkönigs Pepo I. bestand aus Kupfer.
Der eigentlichen Bronzezeit ging ein kupfernes Zeitalter
voraus. Manche Ausgrabungen bestätigen es; so fand
Schliemann in dem alten Troja Kupfergeräte, welche
98,7 Proz. metallisches Kupfer, aber kein Zinn, ge-
schweige denn das viel später verarbeitete Zink ent-
hielten. Daneben fand der genannte Archäologe auch
Streitäxte, welche einen nicht mehr zufälligen, d. h. als
Verunreinigung des Metalles anzusehenden Zinngehalt,
nämlich 3,8 bis 5,7 Proz. aufwiesen. Durch die Aus-
grabungen von Mykenä wurden Waffen an das Tages-
licht gefördert, welche schon durch einen hohen, 10 bis
14 Proz. Zinn betragenden Gehalt, wie wir ihn in den
klassischen Bronzen der griechischen Blütezeit finden,
ausgezeichnet waren. Zink tritt in allen diesen Bronzen
nur als Verunreinigung des Kupfers auf.
Wie die griechischen und makedonischen Bronzen,
enthalten auch die ältesten römischen und keltischen
kein Blei. Dieses Metall wurde etwa 425 bis 450 v.Chr.
der Bronze einverleibt; das Zink dagegen nach Angabe
des bekannten Geschichtsforschers Mommsen zur Zeit der
römischen Kaiser. Aluminium, Mangan und Phosphor
finden wir erst in den modernen Bronzen als beabsich-
tigten Zusatz.
Der Name Bronze leitet sich für die bekannten
Kupferlegierungen her von der Stadt Brindisi, dem alten
Brundusium (griechisch Brentaesion), wo in späterer Zeit
eine großartige Bronzeindustrie bestand. Zur Herstellung
der damals „Brundusinische Metallkomposition“ genann-
ten Bronze empfahl Muratori folgende Mischungen:
Kupfer. . 2 Teile Blei. . 1 Teil Zinn . . 1, Teil
a $ ET Te un Ta are
Auf der Grundlage eines umfangreichen Analysen-
materials will ich die antiken und modernen Bronzen
einer kurzen Betrachtung unterziehen.
Die Bronze hat ihre Geschichte. Das graue Alter-
tum kannte nicht die Legierungen, welche wir heute so
nennen. Ich erwähnte schon das aus Rohkupfer be-
stehende Szepter aus dem Jahre 4000 v. Chr. Aus
etwas späterer Zeit stammt ein Haken, welcher eben-
falls dem Nillande angehört und 3,48 Proz. Eisen ent-
hält. Wenn man, was mir zweifelhaft zu sein scheint,
hier auch noch annimmt, daß der Eisengehalt ein zu-
fälliger ist, so finden wir in dieser Zeit doch schon aus-
gesprochene Legierungen von Kupfer und Eisen. Die
Erfahrung war Lehrmeister, man beobachtete, wahr-
scheinlich zufällig, daß das Kupfer härter und wider-
standsfähiger wurde, wenn beim Verhütten im Meiler
Globus XCVIII. Nr. 2.
Kiel.
gewisse eisenhaltige Erze mit ausgeschmolzen wurden.
Als Beispiel führe ich die Zusammensetzung einer alten Bud-
dhastatue aus Hindostan an, die Legierung bestand aus
91,50 Teilen Kupfer und 7,95 Teilen Eisen. Außerdem
wurden Spuren von Silber, Gold, Arsen und Schwefel
gefunden. Diese Stoffe sind als Verunreinigungen an-
zusehen; die schon erwähnte primitive Art der Metall-
gewinnung ermöglichte natürlich auch nicht annähernd
eine Reingewinnung.
Einen interessanten Beleg hierfür bieten uns unter
anderem alte cyprische Bronzen: Speerenden und Dolch.
Speerenden Dolch
1. 2. 3 4. Metalle
97,226 Proz. 98,398 Proz. 99,470 Proz. 88,771 Proz. Kupfer
1,322 „ 0729 „ 0384 „ 0,476 „ Eisen
_ 0,153 „ 0,084 , Spuren Nickel
0,279 „ 0,305 „ — — Gold
0,076 , = — 1,504 „ Blei
Spuren — — 8,508 „ Zinn
— — — 0,304 „ Kobalt
1,348 „ Spuren Spuren — Arsen
— 0,305 „ = = Schwefel
Spuren Spuren Spuren —_ Phosphor
Man sieht sofort, daß die Speerenden aus’ Rohkupfer
bestehen, alle anderen Stoffe sind zufällige Beimen-
gungen; der Dolch stellt dagegen eine ausgesprochene
Zinnbronze dar mit einem entschieden beabsichtigten
Bleizusatz.
Beachtenswert ist, daß die Speerenden Spuren von
Phosphor enthalten; wir dürfen aus den Analysen schlie-
Ben, daß phosphorhaltige Erze zur Verhüttung gelangten.
Wir haben natürliche Phosphorbronzen vor uns; die
künstlichen, mit beabsichtigtem Phosphorgehalt, wurden
erst viel später von Künzel und Montefiori geschaffen und
hatten folgende Zusammensetzung: Kupfer 90,34 Proz.,
Zinn 8,90 Proz., Phosphor 0,76 Proz.
Noch einige charakteristische Beispiele seien ange-
führt, die uns zeigen, daß die Bronzen in ältester Zeit
durch gemeinsames Verhütten der Erze, nicht etwa
durch Zusammenschmelzen der Metalle erhalten wurden.
Es handelt sich um verschiedene, in Brandenburg und
Posen gefundene antike Bronzen. Die Proben, welche
zur Analyse dienten, wurden entnommen 1. von einem
kleinen, 20cm hohen und oben 22cm weiten eimerför-
migen Schmuckbehälter aus der Nähe von Primentdorf
(Posen), 2. von einem dort gefundenen Ohrringe, 3. von
einem verzierten Bronzeeimer von Meyenburg (Priegnitz),
4. von einem im Gräberfeld von Zaborowo gefundenen
Messer, 5. von einer dort ausgegrabenen Ampel, 6. von
einer Pincette, 7. von einem bei Belitz (Brandenburg) in
+
22 Kühl: Antike und moderne Bronzen.
einer Graburne gefundenen Halsringe, 8. von einem
Kessel aus dem Pfahlbau am Dabersee (Brandenburg).
5 yi r Eisenhalt. Eisenhalt.
Nr. Kupfer Zinn Blei Kobalt Nickel
1 87,90 Proz. 11,25 Proz. Spuren 0,32 Proz. —
2 87,74 „ 11,37 „ 0,10 Proz. 0,50 „ _
3 86,63 „ 12,98 „ 016 „ — Spuren
4 93,66 „ 6,14 „ Spuren 0,40 , 0,31 Proz.
5 8985 „ 815 „ 09 , — —
6 84,84 „ 13,80 „ 0,59 0,35 „ =
7 8526 „ 1387 „ 0,39 0,36 5 $s
8 10012 „ 0,20 „ Spuren Spur. v. Eis. —
Die geringen Mengen von Blei, Kobalt, Eisen und
Nickel sind Verunreinigungen, die aus den Kupfer- bzw.
Zinnerzen stammen, in Nr. 1 bis 7 liegen Zinnbronzen
vor, und zwar gehören sie einer älteren Zeit an als die
keltischen, welche mindestens 13 Proz., meistens 14 bis
15 Proz. Zinn enthalten. Das älteste Stück ist Nr. 8,
ein Rohkupfer.
Einen beabsichtigten Zusatz von Kobalt und Nickel
finden wir bei einer von Liebreich analysierten dunkel-
stahlgrauen, gußstahlharten Bronze von Zaborowo. Ko-
balt und Nickel waren als solche im Altertum nicht
bekannt, doch liegt die Annahme nahe, daß man die
Beobachtung in der Praxis machte, daß gewisse Erze,
die Kobalt und Nickel enthielten, die Metalle härten.
Dieselbe Beobachtung führte weit später zur Herstellung
des Nickelstahles. Die soeben erwähnte Bronze von Za-
borowo enthielt 56 Proz. Kupfer, 1,5 Proz. Zinn, 4 Proz.
Kobalt, 14 Proz. Nickel, 0,4 Proz. Eisen, 12 Proz. Arsen,
1,5 Proz. Antimon, 0,75 Proz. Schwefel.
Ähnliche Beispiele für antike Bronzen aus der älte-
sten Zeit ließen sich noch viele anführen, aber diese ge-
nügen zum Verständnis.
Als man das Kupfer reiner darzustellen lernte und
das Zinn ein ergiebiger Handelsartikel wurde, vervoll-
kommnete sich auch die Bronzetechnik. Die Phönizier
beherrschten die Meere des Abendlandes, sie brachten
ihre Bronzemischungen in den Handel. In Griechenland
fiel die Blütezeit der Bronzetechnik zusammen mit dem
Zeitalter der Kunst, das zu ihrer Entwickelung natür-
lich wesentlich beitrug. Der Künstler stellte an die Zu-
sammensetzung der Legierung ganz bestimmte Anforde-
rungen, denen die Metalltechnik genügen mußte. Herr-
liche Bronzen mit wundervoller Patina sind uns aus der
großen hellenischen Zeit erhalten.
In Rom entwickelte sich die Bronzetechnik anfangs
unter hellenischem Einfluß, später wohl selbständig, doch
läßt sich der ursprüngliche Einfluß der Kulturmacht
Hellas nicht leugnen. Welche Bedeutung die Bronze
bald gewann, geht daraus hervor, daß zu Beginn unserer
Zeitrechnung in den Kulturländern eine krankhafte
Sucht nach Bronzestatuen vorhanden war. Noch zur
Zeit des großen Geschichtschreibers Plinius standen in
Rhodos 3000 Bildsäulen. Der ob seiner opulenten Gast-
mähler berühmte Lucullus brachte einen 45 Fuß hohen
Apollo von Apollonia nach Rom. Im Tempel des Augu-
stus stand ein 50 Fuß hoher tuskanischer Apollo. Der
von Lysippos gegossene, in Tarent aufgestellte Jupiter
war 60 Fuß hoch, der von Chares gegossene Koloß von
Rhodos maß 70 Fuß. Weit überboten wurden diese
Monumente noch von dem 110 Fuß hohen Standbilde
des Nero. Leider ist von all dieser Herrlichkeit nichts
geblieben. Und wie kommt das? Nicht der Vandalis-
mus der Barbarenvölker allein schuf diesen Riesenstatuen
ein frühes Grab. Die Masse, welche in damaliger Zeit
zum Guß verwendet wurde, war schlecht, reich an Zink
und Blei. Die Denkmäler wurden unansehnlich und in
einer kunstärmeren Zeit wahrscheinlich zum großen Teil
zu Waffen und anderen Gerätschaften eingeschmolzen.
Über die Zusammensetzung der Bronzen damaliger Zeit
orientieren uns Münzen, die das Gepräge der römischen
Kaiser tragen, auch sind uns Gerätschaften erhalten, die
entschieden aus dieser Zeit stammen.
Daß zinkische Denkmäler leicht unansehnlich werden,
beweist die Statue Friedrichs des Großen in Berlin, welche
längst ihre Feinheiten einbüßte. Freilich spielt die Zu-
sammensetzung der Atmosphäre eine Rolle. So sind z.B.
die Bronzedenkmäler der Stadt London zum großen Teil
infolge der Einwirkung von Schwefelwasserstoff, schwef-
liger Säure und anderen Rauchgasen korrodiert und mit
einer unansehnlichen Patina bedeckt, während die in Gärten
der Vorstädte Londons aufgestellten Bronzen vorzüglich
erhalten sind. Für die oberflächliche Zerstörung des
Friedrich-Denkmals sind die Atmosphärilien nicht verant-
wortlich zu machen, denn die Bronze eines Geschützrohrs
vor dem Zeughaus, das in unmittelbarer Nähe steht, hat
sich wunderschön gehalten. Das Friedrich-Denkmal hat
laut Analyse folgende Zusammensetzung: Kupfer 87,44
Proz., Zinn 3,20 Proz., Zink 8,89 Proz., Blei 0,65 Proz.
Aus dem Altertum sind uns einige Zink- und Blei-
kompositionen überliefert. Das Gewerbemuseum in Nürn-
berg besitzt z. B. fünf römische und eine griechische
Bronze folgender Zusammensetzung:
1. Römisches 2. Römischer 3. Römischer
Pferdegebiß Löffel Henkel
Kupfer 44,41 Proz. Kupfer 81,33 Proz. Kupfer 66,88 Proz.
Zinn 5,18 „ Zinn 1,83 „ Zinn 6,81 „
Blei 44,17 „ Blei 3,16 „ Blei 10,03 „
Zink 6,00 „ Zink 13,02 „ Zink 15,80 „
Eisen 0,26 „ Eisen 0,65 „ Eisen 0,34 „
4. Silberfarbige 5. Dunklere röm. 6. Griechische
röm. Kunstbronze Kunstbronze Gefäßbronze
Kupfer 73,96 Proz. Kupfer 84,87 Proz. Kupfer 76,11 Proz.
Blei 24,17 „ Blei 13,82 „ Blei —
Zinn 237 „ Zion 18 „ Zink 823 „
Zinn 15,65 „
Eisen —
Die griechische Bronze besitzt einen normalen Zinn-
gehalt, wenn wir die Metallmischungen der Blütezeit zu-
grunde legen, sie unterscheidet sich von letzteren durch
den Zusatz von etwa 8 Proz. Zink. Die Komposition
verrät, daß es sich um eine jüngere Bronze handelt. ;
Ein scharfer Unterschied zwischen Kunstbronze und
zu Gebrauchsgegenständen verarbeiteten Legierungen be-
stand natürlich nicht. Die verschiedene Zusammen-
setzung rührt einfach daher, daß die Gegenstände ver-
schiedenen Zeiten oder verschiedenen Gegenden angehören.
Es wurde schon erwähnt, daß lange Zeit hindurch die
Phönizier einen großen Teil der alten Welt mit Bronze-
metall versorgten. Ihre Schiffe brachten von Cypern
wertvolle Kupfererze von Großbritannien das Zinn. Sie
versorgten Kleinasien, Griechenland, Ägypten, ihre Han-
delsschiffe kamen nach Gallien und Spanien. Die Ger-
manen kamen damals noch nicht in Betracht. Neben
diesem großen Bronzereich müssen wir noch zweier an-
derer Zentren gedenken. Der gewaltige asiatische Kon-
tinent bildete eine Welt für sich, Persien und China
sind niemals durch die Phönizier in der Bronzetechnik
beeinflußt worden. Die reichen Länder waren völlig in
sich abgeschlossen, mithin auch ihre Kultur. Im fernen
Westen lag das dritte große Bronzereich, das heutige
Zentralamerika. Das Abendland und der Orient wußten
nichts von der Kultur dieser in sich abgeschlossenen Welt.
Alle alten griechischen, ägyptischen und keltischen
Bronzen haben gemeinsam, daß sie keinen Zusatz von
Blei oder doch nur geringe Spuren dieses Metalles auf-
weisen. Hierdurch unterscheiden sie sich scharf von den
römischen Bronzen der Cäsarenzeit, welche durch einen
oft recht bedeutenden Bleigehalt charakterisiert sind.
Kühl:
Antike und moderne Bronzen. 23
Ich verweise auf die oben mitgeteilten Analysen. End-
lich sei auch an dieser Stelle nochmals darauf hinge-
wiesen, daß Zink haltende, dem Messing nahestehende
Legierungen als die jüngsten römischen Bronzen anzu-
sehen sind.
Um meine Ausführungen zu beleben, will ich die
Analysen einiger Legierungen, welche verschiedener Her-
kunft sind, anführen. Es handelt sich
l. um eine im Herzogtum Anhalt ausgegrabene an-
tike Bronze, 2. um eine im Taunus gefundene jüngere
römische Bronze, 3. um zwei schon einmal erwähnte
römische Bronzen [a) silberfarbig, b) dunkler], 4. um
japanische und chinesische Bronzen.
Zinnbronze Zinkbronze Bleibronze
1. 2. 3a.
Kupfer 90,00 Proz. Kupfer 66,00 Proz. Kupfer 73,96 Proz.
Zion 10,00 „ Zink 26,55 „ Blei 24,17 „
Arsen, Antimon, Zion . 3,89 „ Zinn 2,37 ,
Blei, Zink, Eisen, Blei 2,64 „
Nickel in Spuren Eisen 0,93 „ 3b.
Gold 0,06 „ Kupfer 84,87 Proz.
Blei 13,82 „
Zinn 1582" -
4.
a) b) c)
Kupfer ..».... 82,72 Proz. 82,90 Proz. 81,30 Proz.
A Rena 4,36 , 2,64 „ 397 „
BIER»... ran: 9,20 , 10,47 , 11,05 ,
Gold o 050 — Spuren —
Eisen seseo 2,55 „ 0,64 , 0,67 5
Nickel . 2...» — Spuren —
Zink s seis sye 1,86 , 274 5 327 „
Arsen . sassa’ Spuren 0,25 Spuren
Schwefel ..... Spuren — —
d) e)
Kupfer eeso 83,09 Proz. 72,09 Proz.
Zinn te e ons 0% 3,23 „ 5,52 „
Blei. >85 5-03 11,50 „ 20,31 ,
Gold el. et — —
Eisen ao iaa 022 „ 178, 7%
Nickel, i s 4... — —
Zink O NE A 0,50 0,67 „
Aron e i aLa oieta 0,25 „ Spuren
Schwefel ..... — Spuren
Diese japanischen und chinesischen Bronzen sind
auch Blei-Kupferlegierungen wie die oben angeführten
römischen. Ganz außerordentlich interessant sind sie
infolge ihrer mattschwarzen Patina. Man liest sehr oft,
daß „Patina“ basisch kohlensaures Kupfer ist. Soweit
der schöne, blaßgrüne Belag in Frage kommt, welcher
den Kupferdächern altehrwürdiger Gebäude ein so war-
mes, freundliches Aussehen verleiht, ist die Erklärung
richtig, völlig unzureichend aber, wenn es sich um den
Edelrost antiker Bronzen handelt. Bronzen, die dem
Meeresboden entrungen wurden, wie die kürzlich bei Ma-
hédia gefundenen, enthalten in der Patinaschicht Chlor-
und Bromverbindungen des Kupfers, weil die im Meer-
wasser enthaltenen Salze sich mit der Oberfläche der
Bronzen chemisch umsetzten. Es treten elektrolytische
Vorgänge ein; ich erinnere daran, daß ein in Kupfer-
vitriollösung getauchter Eisennagel sich mit Kupfer be-
deckt. Bronzen, die lange Zeit im Erdboden lagen, er-
leiden aus gleicher Ursache ähnliche Veränderungen.
Die mattschwarze Farbe des Edelrostes der japanischen
und chinesischen Bronzen wurde durch Bleiverbindungen 1)
bedingt, und zwar durch Schwefelblei und Bleisuboxyd.
Nicht immer besitzen bleireiche Bronzen eine schwarze
Patina, wenn sie auch stets dunkler ist als sonst. Natur-
gemäß wird das Metall sich am meisten an der Patina-
bildung beteiligen, welches an der Oberfläche der Bronze
1) Aus der Natur: Die Bildung der Patina. Von Dr. Kühl.
vorherrscht.
Ein ungleichmäßiges Erstarren des Gusses
kann eine reiche Ausscheidung des einen Metalles an der
Oberfläche zur Folge haben. Wir können an dieser
Stelle nicht auf alle Einzelheiten eingehen, glauben aber
dargetan zu haben, daß die Edelrostbildung durch die
verschiedensten Einflüsse bedingt wird.
Nachden wir die Bronzen der Antike, ihre Zusammen-
setzung und Bedeutung genügend gewürdigt haben, über-
springen wir einen großen Zeitraum. Im Mittelalter
werden nur selten Gerätschaften, die praktischen Zwecken
dienen, aus Bronze gefertigt. Zur Hauptsache kommen
Prunkstücke in Betracht, Taufbecken, Leuchter und
Glocken. Ein mittelalterlicher Leuchter aus der Prager
Domkirche hat eine an Bronzen der römischen Kaiserzeit
erinnernde Zusammensetzung, nämlich Kupfer 86,04 Proz.,
Zink 10,38 Proz., Zinn 2,17 Proz., Blei 1,41 Proz. In
einer alten Dorfkirche Eiderstedts befindet sich ein herr-
liches Taufbecken aus Bronze, nach Analyse des Verfassers
eine Zinnbronze, die aus früher erwähnten Gründen einen
kleinen Zusatz von Eisen erhielt. Die Analyse gab fol-
gende Werte: Kupfer 78,25 Proz., Zinn 16,75 Proz.
Blei 1,85 Proz., Zink 2,13 Proz., Eisen 1,20. Noch aus-
gesprochener Zinnbronze ist das von Himly früher unter-
suchte Taufbecken von Hemmingstedt; es enthält
76,43 Proz. Kupfer, 25 Proz. Zinn, 2,05 Proz. Blei,
0,02 Proz. Eisen und Spuren von Arsen.
Das kirchliche Mittelalter mit seiner Freude an
schönen Gotteshäusern verwandte naturgemäß die größte
Sorgfalt auf den Glockenguß. Der Glockengießer war
Künstler. Eine durch wundervollen Klang ausgezeich-
nete Glocke meiner Heimat hat folgende Zusammen-
setzung: Kupfer 72,85 Proz., Zinn 18,15 Proz., Zink
1,75 Proz., Blei 1,50 Proz., Nickel 4,65 Proz., Eisen
1,10 Proz.
Großartiges ist im Mittelalter geleistet worden, wir
müssen es um so mehr bewundern, als die Kenntnis der
Aluminium-, Phosphor- und Manganbronzen fehlte. Diese
Legierungen sind Errungenschaften des vergangenen
Jahrhunderts, das in der zweiten Hälfte völlig unter dem
Zeichen der mächtig sich entfaltenden Technik stand.
Die Naturwissenschaften, die Chemie und Physik,
leiteten die Bronzeindustrie in ganz andere Bahnen.
Man untersuchte den Charakter der Legierung, bestimmte
die Festigkeit, die Elastizität und andere Eigenschaften,
schuf auf diese Weise Gesetze, nach denen neue Metall-
kompositionen, die dem jedesmaligen Zweck entsprachen,
geschaffen werden konnten. Man darf sagen, an Stelle
der Kunst der Antike tritt die Wissenschaft. Der Musik-
instrumentenfabrikant kam ebenso auf seine Rechnung
wie der Kanonen- und Kunstbronzegießer, jeder Zweig
der Metallindustrie sah seine Wünsche befriedigt.
Ein ungeheures Aufsehen erregte seinerzeit in ar-
tilleristischen Kreisen die von Montefiori und Künzel
entdeckte Phosphorbronze. Die Bedeutung wird am
besten charakterisiert durch einen Ausspruch Dumas in
den Comptes rendus: „Bei der Prüfung verschiedener
Legierungen zu Geschützbronzen fand sich, daß der
Grund des geringen Widerstandes gewöhnlicher Bronze
in dem konstanten Gehalt dieser Legierung an Spuren
von Zinn in oxydiertem Zustande besteht. Dieses Oxyd
(Zinnasche) wirkte in mechanischer Weise, indem es die
Molekel, d. h. die kleinsten Teile der Legierung, durch
Zwischenlagerung einer Substanz, welche an sich gar
keine Zähigkeit besitzt, voneinander trennt.“ Man
wußte schon längst, daß die beim Schmelzen der Metalle
stattfindende Oxydation die Qualität der Bronze nach-
teilig beeinflußt. Bezeichnen wir das oxydierte Metall
mit einem Kreuz, das sauerstofffreie mit einem Strich,
so ergibt sich folgendes Schema: — + — + —.
4*
24 Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika.)
Während man früher diesen Übelstand notdürftig
durch Umrühren der flüssigen Metallmasse mit Stangen
aus grünem Holz zu beseitigen suchte, setzte man jetzt
der Speise Phosphor als Phosphorkupfer oder seltener
als Phosphorzinn zu. Es genügen die kleinsten Mengen;
so wurden in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts
folgende Mischungen empfohlen:
I. II.
Phosphorkupfer mit 9 Proz. Phos-
phor ..... A S aS a 2,20 Proz. 1,10 Proz.
KUplar nn E 75,80 „ 76,90 „
RI a E ae te lee 22,00 „ 22,00 „
Wie das Phosphor wirken, wenn auch nicht in so
hervorragender Weise, Mangan und Aluminium. Alu-
miniumbronzen werden meistens mit 5 bis 10 Proz. Alu-
minium hergestellt, sie haben sich in der Bijouterie und
Feinschmiedetechnik einen dauernden Platz erobert. Alu-
miniumbronzen mit 5 bis 7,5 Proz. Aluminium sind durch
einen schönen, weichen, lange anhaltenden Ton ausge-
zeichnet und eignen sich daher vorzüglich zur Herstellung
von Harmoniumstimmen. Die Manganbronze wird in
der Technik zur Herstellung von Preßzylindern, Wasser-
leitungshähnen, Pumpen vornehmlich benutzt. Der Ge-
halt an Mangan schwankt zwischen 0,5 und 5 Proz.
Wir haben ein Stück Kulturgeschichte vor uns,
einen Abschnitt aus der Geschichte der Menschheit,
wenn wir die Bronzetechnik in ihrer Entwickelung
betrachten.
Der Strom fließt bald rauschend durch schöne Ge-
filde, bald droht sein Wasser im Sande zu versickern;
dann sammeln sich wieder die Tropfen zu Bächen, die
Bäche zum gewaltigen Strom. Die Kunst des Bronze-
gusses stand nicht zu jeder Zeit auf gleicher Höhe, auch
kann man nicht von einer stetig fortschreitenden Ent-
wickelung sprechen. Herrlich sind die Werke der phö-
nizischen Zeitepoche, minderwertig verglichen mit ihnen
die Schöpfungen des reichen römischen Cäsarenreiches.
Gutes und Schlechtes schufen das Mittelalter und die
Renaissance, neu belebt und befruchtet wurde die Kunst
durch die Arbeit der exakten Wissenschaften.
Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika).
Von Hauptmann a. D. Hutter.
(Schluß.)
In einzelne dieser unterirdischen Reservoirs gestattet
die Natur einen Einblick, indem sie die darüber lagernde
Kalkdecke entfernt hat, d.h. diese ist eingestürzt und
hat so den Spiegel des Grundwassersees freigelegt. Der
von dichtem, grauem Busch: all das macht ihn zu einem
herrlichen, unvergeßlichen Bilde. Er ist annähernd kreis-
rund; etwa 100 und 150m betragen die Durchmesser.
Sein Niveau schwankt; in der einen Nacht, die ich dort
Abb. 7.
schönste und größte dieser Einbruchseen ist der Otji-
kotosee westlich Tsumeb (Abb. 8). Die 15 bis 20 m
hohen Kalkwände fallen beinahe senkrecht zum Wasser-
spiegel ab. Die tiefblaue Wasserfläche, der weiße Fels,
die an ihm hinkletternden Feigenbäume, die Kandelaber-
euphorbien und leuchtenden Aloön, das Ganze umrahmt
Kupferhaltige Kalkriffe bei Tsumeb.
T
zubrachte (es war Trockenzeit), stieg er um 1,3cm. Durch
ein bisweilen zutage tretendes Felsloch kommuniziert er
mit dem unterirdischen Wassersystem; dorthin zieht auch
stets starke Strömung beim Tränken verunglückende Tiere.
Seine Freilegung scheint vor noch gar nicht so sehr
langer Zeit erfolgt zu sein; Ovamboleute erzählten mir,
Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 35
„ihre Großeltern wüßten noch, daß sie von dem Wasser
nichts gesehen hätten, weil es von Klippen bedeckt ge-
wesen sei, gerade so wie das Wasser bei Hoais jetzt
noch.“
Dieser „See von Hoais“, 50km westlich des Otjikoto-
sees, ist ein typisches Bild für die noch geschlossenen
Wasserbecken.
In dichtem Buschwald, auf einem mit Klippen über-
säten und aus Klippen aufgebauten schwachen Höhen-
rücken reitend, sieht man plötzlich zur einen Seite tief
unten eine vollkommen ebene, grüne, kreisrunde Fläche
von vielleicht 500m Durchmesser, gleich einer großen
Arena, ringsum von hohem Rand umschlossen. Schon
Solche geschlossene unterirdische Becken, groß und
klein, finden sich mehrenorts in weitem Umkreis um die
Pfanne. Im Norden von ihr scheint das von Schinz er-
wähnte Okasima ka Namutenja, nordwestlich Osohoma,
das einzige zu sein; westlich und südwestlich des eben
geschilderten Hoaissees dagegen liegen: Guinas, Awachab,
Gamkarob und andere; und noch mehr sind wahr-
scheinlich noch unbekannt. Kleinere unterirdische Becken
passiert man auf Ritten seitab der Wege geradezu häufig;
das dumpfe Dröhnen des Hufschlages zeigt den Hohl-
raum an. Sind solche offen, so bilden sie den oben an-
gedeuteten zweiten Typ der Wasserstellen des Etosha-
gebietes, die sogenannten „Kalkpfannen“.
Abb. 8.
diese Einsenkung muß durch Einsturz entstanden sein.
Aber unter der nunmehrigen Decke liegt ein weiterer,
mit Wasser gefüllter Hohlraum. Klettertt man den
steilen Steig, der zu dieser Decke hinunterführt, hinab,
so sieht man in dem dichten, weichen Grasteppich der-
selben ein tiefes Loch. Ein langer, vielfach geknickter,
bald enger, bald weiterer Schlot führt senkrecht in die
Tiefe, in der man wie in einem Brunnenschacht eine
glitzernde Wasserfläche erblickt: offenbar den Spiegel
eines unterirdischen Sees. Die Buschleute holen hier
Wasser, und ihre Behauptung, „daß 40 Mann hinterein-
ander in den Schacht hinunter müßten, um zum Wasser
zu gelangen“, erschien mir durchaus glaublich. Auch das
Niveau dieses Sees soll sich in den verschiedenen Jahres-
zeiten heben und senken.
Globus XCVIII. Nr.2.
Der Otjikotosee von Süden aus.
Bei diesen kleineren Kalkpfannen dürfte sich der
Bildungsprozeß in einer gewissen Reihenfolge vollzogen
haben; zuerst ging in offener Kalkeinsenkung eine Quelle
zutage, dann bildete sich durch die Kalkausscheidung
eine Sinterdecke. Unter ihr betätigte das Wasser seine
Aushöhlungskraft, und nun brach infolge mechanischer
oder chemischer Einwirkung die Decke: die offene Kalk-
pfanne war geschaffen (vgl. oben bei Namutoni).
Von hohem geologischen, zoologischen (ich erinnere
an die herausgepumpten Frösche usw.), paläontologischen
und ethnographischen (weiter unten davon) Interesse
wäre eine eingehende Erforschung des ganzen Höhlen-
gebietes in der an eigenartigen Naturerscheinungen
reichen Etoshalandschaft. Von den Höhlen bei Awachab,
bei Nosib (nordöstlich Otavi), Gorogoab (nordwestlich
5
26 Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika).
Abb. 9.
Grootfontein) und verschiedenen anderen wissen die
‚Buschleute und Bergdamara, die einzigen Bewohner
dieser fast noch gänzlich unbekannten Teile des Landes,
Seltsames zu berichten. So soll der Ekuma-Omuramba
an der Nordwestecke der Etoshapfanne — die, nebenbei
bemerkt, im Idiom der Buschleute „Chum“, d. i. Sand,
heißt — in eine in einem dort sich erhebenden Kalkfels
befindliche Höhle münden und von da unterirdisch bis
zum Otjikotosee weiterlaufen; so sollen in diesem und im
Gamkarobsee (einem nordöstlich Outjo gelegenen, gleich
Kalkbergkette bei Otavi.
dem Hoaissee geschlossenen unterirdischen Becken) ge-
legentlich Wasserschöpfens Ertrunkene sofort in die Tiefe
gezogen werden und noch nie wieder an die Oberfläche
gekommen sein, usw. Aus diesen Erzählungen geht her-
vor, daß die Eingeborenen von dem unterirdischen, System
von Höhlen und Gängen in dem Karstgebiete wohl
wissen.
Diese Karstformation setzt sich nach Osten fort. In
dem Dreieck Otavi — Tsumeb — Grootfontein erheben
sich, wie ich eingangs bereits erwähnte, die diese For-
Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 29
Hier liegt „als vorgeschobene Insel der großen Palmen-
region im Ambolande ein lichter Hain von ihnen, der
etwa 50km lang und 20km breit ist“ (Rohrbach). Es
sind kümmerliche Pflanzenindividuen, die schon sehr
„licht“ stehen. In dieser Landschaft beobachtete ich
auch nicht selten die unschönen Kakteengebilde (Abb. 13),
die bis zu 2 und 3m Höhe erreichen.
Reizvoll stets aufs neue ist das Bild der Aristida-
steppe: diese ist es, die hier dicht den Boden überkleidet.
Die geschilderte, gegenüber den übrigen Teilen des
Landes wesentlich anders. geartete Vegetation ist natür- .
lich noch weit mehr als durch die dem Etoshagebiet
eigenen Boden- und Grundwasserverhältnisse durch das
Klima veranlaßt; ist ja doch einer dieser beiden Faktoren
selbst, der Grundwasserreichtum, eine Folge des letzteren.
Ich beschränke mich bei der Betrachtung des Klimas
auf die Aufführung der wesentlichsten Verschiedenheiten
und einiger weniger meteorologischer Eigentümlichkeiten?).
Abb. 14. Werft der Heigum-Buschmänner bei Namutoni.
Schinz hat ganz recht, wenn er sagt: „Ich weiß mir
nichts Schöneres, als solch eine Grasflur. Kühl weht der
Seewind von Westen weit insLand hinein, kosend überfährt
er die glitzernden langen Federschweife der Aristida; sich
langsam wiegend, folgen sie der Richtung des Windes,
und nun erglänzt die wogende Fläche wie eitel Silber.“
Brennend rote Blumendolden mischen sich darein, und
leuchtend rot oder gelb ragt eine Aloe, eine Kandelaber-
euphorbie über die schwankenden Halme.
Dieses reizvolle Vegetationskleid, in herrlicher Park-
landschaft zusammengefaßt, im Verein mit den weichen
Formen der bewaldeten Kalkberge
läßt vielerorts im Etoshagebiet voll-
ständig vergessen, daß man inmitten
des südafrikanischen Sandfeldes sich
befindet, so nahe dem pflanzenlosen,
ungeheuren Salzsee. Im Tale von
Ghaub, im Waldgebirge der Bobos-
berge (dem „Harz Südwestafrikas“),
bei Harib, zwischen Sissekab und
Goab, im Bett des Omuramba Ugab
nahe der Uisibpforte bin ich stunden-
lang durch solche paradiesische Land-
schaften geritten. Nur eines fehlt
— das Wasser. Auch in diesen herr-
lichen Naturparken rauscht nirgends
ein Bach, sprudelt nirgends eineQuelle.
— Je mehr man sich dem Bannkreis
des Zentrums des ganzen Gebietes, der Etoshapfanne, nähert,
desto — „südafrikanischer“ wird Gelände und Bedeckung.
Das macht sich in einem Umkreise von beinahe 50 km be-
merkbar. Die vollkommene Ebene beginnt, der Laubwald
dominiert nicht mehr; immer mehr Dornbusch mengt sich
darein; und dichter und niedriger werden die weithin
den Boden deckenden Waldbestände. Gesteinübersäte
Ödlandstrecken wechseln mit Kalkklippen und Sandinseln
ab. Erst in der nächsten Umgebung der Pfanne wird
das Steppengras, untermischt mit häufigem Brakbusch,
wieder dichter, der Busch wird lichter und ist mit Laub-
bäumen, namentlich dem Omutati, untermischt: die uns
bereits bekannte Landschaft an der Pfanne.
Da ist vor allem die weit größere Niederschlagsmenge
zu nennen. Jahreszeitlich sind allerdings auch hier
Trocken- und Regenzeit streng voneinander geschieden,
aber die Regenzeit währt bedeutend länger — außerdem
geht ihr im September und Oktober eine sogenannte
erste kleine Frühregenzeit voraus — und dann ist die
Intensität der Regen selbst eine beträchtlich größere.
Oberleutnant Fischer beobachtete auf seiner jüngsten
Expedition nach dem Löwen-Omuramba (Dezember) an
26 Regentagen zusammen 305 mm Niederschlagsmenge.
Die Jahresmittel sind: Otavi 591, Grootfontein 691,
Abb. 15.
Saiteninstrument der Bali.
(Aus Hutter: Wand. u. Forsch. im Nordhinterland von Kamerun.)
Ghaub 691, Namutoni 558 mm. — Die Temperaturen sind
bereits wesentlich tropischer. Die Morgentemperaturen
gehen nie unter 0° herunter. Mittags herrscht oft eine
recht drückende Hitze, die besonders unerträglich wird,
wenn ein heißer Ostwind als Vorbote eines Sandsturmes
stoßweise einsetzt.
3) Eine eingehende Darstellung der Niederschlagsver-
hältnisse Südwestafrikas findet sich in einem Aufsatz von
Dr. Ottweiler in den „Mitteilungen aus den deutschen
Schutzgebieten usw.“, Jahrgang 1907. — Hinsichtlich einer
großzügigen Überschau über die gesamten klimati-
schen Verhältnisse sind wir immer noch auf Schinz an-
gewiesen.
30 Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika).
Diese Sandstürme sind hier oben weit häufiger als
.im übrigen Lande. Ich finde in meinem Tagebuch für
die Monate August und September 1907, die ich an der
Pfanne zubrachte, nur wenige Tage, an welchen ich nicht
bald mehr, bald minder starke verzeichnete. Die rasende
Schnelligkeit, mit der sie, nicht selten Sandhosen bildend,
über die unermeßlichen Flächen dahintoben, erbarmungs-
los Busch und Strauch entlaubend, ist ja wohl die gleiche
wie im Süden; aber der feine Kalkmehlstaub der, Etosha-
landschaft macht sie weit lästiger und empfindlicher
als dort.
Die — allerdings wenigen — Gewitter, die ich hier
erlebte, hatten geringere Heftigkeit als in den Tropen
Kameruns.
Endlich erwähne ich noch eine eigenartige im August
1907 an der Pfanne beobachtete Wolkenformation: „Die
am Morgen dicht geballten Haufenwolken verdünnten und
lockerten sich mit zunehmender Sonnenbestrahlung, so
daß sie endlich täuschend großen Eistafeln glichen, die
durch große Sprünge zwar zerteilt sind, aber dicht neben-
einander gelagert blieben (weder in Deutschland noch in
Kamerun je beobachtet).“
Die einzigen eingeborenen Bewohner dieses
Etoshagebietes sind im westlichen Teil Buschmänner,
im östlichen ebensolche und — in den Otavibergen sowie
nordöstlich Outjo — Bergdamara (auch Klippkaffern
genannt).
Die Bergdamara haben eine Art Stammeszusammen-
gehörigkeit unter einem patriarchalischen Oberhaupt,
dem im Lande wohlbekannten Kapitän Krüger, der
früher in Neidaus saß: nunmehr hat er sich in Ghaub
niedergelassen, wo ich ihm einen kurzen Besuch abstattete.
Im ganzen Gebirge verstreut haust der Stamm, der
hinsichtlich seiner Mitgliederzahl bedeutend unterschätzt
wird. In ihrem Gebiet sah ich übrigens, auf Rietfontein,
die erste und einzige Hütte in Betschuanenbauart: großer
rechteckiger Lehmhauskasten mit Giebel und Firstdach
aus Gras; eine runde Lehmhütte mit Kegelgrasdach
beobachtete ich, ebenfalls im Bergdamaragebiet, bei
Uitkomst.
Der interessanteste volkliche Bestandteil ist zweifels-
ohne der auf dem ethnischen Aussterbeetat stehende Busch-
mann. Schinz, Passarge, von Luschan und Schultze
haben über dieses dem Untergang geweihte Volk vor-
züglich und eingehend berichtet; ich aber war viel zu
kurz und vorübergehend in den von ihnen bewohnten
oder, richtiger, durchstreiften Gebieten, als daß ich es
wagen möchte, gleichfalls mich eingehender über sie
zu verbreiten. Ich gebe lediglich meine Beobachtungen
und eingezogenen Erkundungen aphoristisch wieder —
in volklicher Hinsicht ist oft die kleinste Angabe nicht
unwichtig; und gerade auf diesem Felde ändert sich
in einer kurzen Spanne nicht selten manches.
Ich bin nur mit Vertretern des Stammes oder der
Horde der Heigum in flüchtige Berührung gekommen.
Oberleutnant Fischer ist es gelungen, eine ganze Anzahl
dieser scheuen, unsteten Menschen nahe der Station
Namutoni anzusiedeln. Ihre dort angelegte Werft
(Abb.14) mit bienenkorbartig, aus dünnen Baum-
stämmen und Zweigen aufgebauten, mit Holzstücken
(zugleich Brennholz) und alten Zeugfetzen eingedeckten
Pontoks ist für Buschmannsbegriffe bereits ein großer
Luxus und ein großes Zugeständnis an Zivilisation.
Ganz anders sehen ihre im „Feld“ errichteten, eigent-
lichen Hütten oder, besser gesagt, erbärmlichen Unter-
schlupfe aus. Nur einmal gelang es mir auf meinem
Ritt von Namutoni weit seitab der gewöhnlichen Straße
nach Otavi solche zu Gesicht zu bekommen. Beobachtet
wurde und fühlte ich mich stets von den scheuen Ge-
sellen auf der ganzen Strecke; da und dort zuckte nachts
im Dornbusch Feuerschein auf: Buschmannlager.
Schon der Zugang zu einem solchen, im dichtesten
Dornbusch liegend, ist ohne Führung absolut nicht zu
finden. Im Zickzack, in Schleifen, manchmal wieder ein
Stück zurück, führte mich ein paar Stunden seitab Goab
ein Buschmann zum Lagerplatz seiner etwa 15 köpfigen
Horde. Auf einer etwas lichteren Stelle des Busches
standen unregelmäßig 10 flüchtig und erbärmlich aus
Zweigen und Gras errichtete Windschirme etwa von der
Form des schräg aufgeklappten Daches eines Kinder-
wagens. Die „Einrichtung“ eines solchen Windschirmes
bildeten schmutziges Graslager, primitivste Bogen und
Pfeile mit abnehmbaren vergifteten Holzspitzen in Fell-
köchern (Haare nach innen), ein paar Kirri, eine Holz-
zunderdose, einige verbeulte leere Konservenbüchsen,
schmutzige Tierdärme als Wassersäcke und — über-
raschend — ein Musikinstrument von genau der gleichen
Form, sogar Saitenzahl, wie ich es in Kamerun bei den
Bali getroffen habe (Abb. 15). Während ich das Lager
musterte, kamen einige Weiber mit auf dem Kopf ge-
tragenen Kalabassen mit Feldkost, darunter kleine braun-
rote Beeren von nicht unangenehmem Geschmack; eines
der Weiber rauchte aus einer Pfeife, die aus einer halben
Tschamaschale und einer leeren Patronenhülse (Boden
durchlocht) als Pfeifenrohr bestand.
Die mir zu Gesicht gekommenen Exemplare sind
wohl klein (Männer 1,50 bis 1,60 m; Weiber 1,40 bis 1,50 m),
aber durchaus keine Zwerge; sehr mager, jedoch wohl-
proportioniert und manche mit entschieden intelligentem
Gesichtsausdruck. Dem auf Namutoni befindlichen
Dolmetscher namens „Obey“, der auch ganz erträglich
deutsch radebrechte, hätte niemand den Buschmann an-
gesehen. Die Form der Eheschließung ist, nach Ober-
leutnant Fischer, die denkbar einfachste: der Mann bringt
Wild, das Mädchen Feldkost; das wird gemeinschaftlich
verzehrt — und das Band ist geschlossen. Also die
altrömische „confarreatio“. Der gleiche Gewährsmann
rühmt ihre Sittenreinheit.
Diese Heigum hausen südlich und nördlich (bis bei-
nahe zum Löwen -Omuramba) des Ostteils der Etosha-
pfanne; Fischer schätzt ihre Gesamtzahl auf höchstens
1000 Köpfe. „Weit höher stehen (nach ihm) die nörd-
lich davon lebenden“ — und damit allerdings eigentlich
nicht mehr in das von mir umzirkte Etoshagebiet ge-
hörenden — „Kung, deren ‚Feld‘ bis zum Okavango
und nach Osten bis zum großen Omuramba reicht. Sie
sind scheu wie wilde Tiere, von ebenmäßigem Körperbau
und gelten für vorzügliche Bogen- und Speerschützen.
Sie sollen sogar eine straffe Organisation haben, mit ab-
geteilten Familiendistrikten für Kostsuche und Jagd und
mit einem, alle Kung beherrschenden Kapitän. Ihre
Zahl soll die der Heigum weit übertreffen. Mit diesen
leben sie in Feindschaft. Noch jetzt ereignen sich zwi-
schen beiden blutige, im Dunkel der Nacht und des
Busches sich vollziehende Kämpfe, bei denen Weiber und
Kinder nicht geschont werden. Die Sprache beider
Stämme ist verschieden. Die Heigum sprechen Namaqua,
die Kung ein völlig anderes Idiom“.
Man hat die Buschmänner mit den schon viel be-
schriebenen, rätselhaften, sogenannten Buschmannzeich-
nungen, diesen wenigen vorgeschichtlichen Spuren, die
bisher im Lande gefunden worden sind, in Verbindung
gebracht. Mit wie viel oder wie wenig Recht, vermag
ich nicht zu sagen. Aus dem Etoshagebiet sind bisher
lediglich künstlich in den Stein gehauene Tierspuren
(von Kudus, Gemsböcken, Giraffen, Elefanten, Pavianen),
auch einige Menschenspuren bekannt. Nur ein „Bild“,
das eines Flußpferdes, etwa 15cm lang, fand Rohrbach
Gengler: Die Schwalben im Volksglauben.
3
nahe bei Ghaub in einer Felsenschlucht eingemeißelt.
Diese Spurenzeichnungen befinden sich auf dem betrete-
nen Pfade und sind zum Teil bereits wieder, offenbar
durch die Füße der Darüberwandernden, abgeschliffen.
Außerdem fand Rohrbach noch eine andere prä-
historische Spur („prähistorisch“ im afrikanischen
Sinne) an zwei Stellen der Ötaviberglandschaft: rohe
Wälle von zusammengetragenen Steinen. Die eine Stelle
habe ich ebenfalls gesehen; es ist der sogenannte Busch-
mannpaß, eine Pforte in den Bobosbergen auf dem Wege
von Ghaub nach dem Otjikotosee, ganz nahe der Otavi-
bahn. Unverkennbar war damit die Sperrung des Passes
beabsichtigt. Und Bohrbach hat sicher recht, wenn er
„die jetzt in dieser Landschaft familien- und hordenweise
lebenden Buschmänner und Klippkaffern als für der-
gleichen Arbeit nicht in Betracht kommend“ bezeichnet.
Also müssen einmal Stämme mit einer anderen
Organisation, menschenreicher, und auf einer verhältnis-
mäßig höheren Kulturstufe stehend und mit anderen in
Fehde liegend hier gelebt haben? Darf man, auf Grund
der Buschmannszeichnungen, an den hochentwickelten
europäischen Vorzeitmenschen der Cro-Magnon-Rasse
denken ?
Ob das Dunkel, das wie über ganz Afrikas. Ur-
geschichte, so auch über der des Etoshagebietes liegt, wohl
je gelichtet wird? Vielleicht; wenn geographische und
paläontologische Forschung den Schleier von seinen unter-
irdischen Naturgeheimnissen hebt.
Die Schwalben im Volksglauben.
Von Dr. J.
Von einem Vogel, der so ganz zum Haustier ge-
worden ist, wie unsere Schwalbe, ist es nicht zu ver-
wundern, wenn sich Bauern und Bürger, Gelehrte und
Dichter fast aller Länder mit seinem Tun und Treiben,
mit seinem Kommen und Gehen eingehend beschäftigt
haben. Und alle haben die Schwalbe, die Bringerin des
Frühlings, lieb und bieten ihr gern Schutz und Obdach,
so der Lappe auf der Kolahalbinsel, der deutsche Bauer
im Gebirge, der Ungar in der Steppe, und selbst der Ost-
jake in Westsibirien nagelt ihr ein Brettchen unter
das Nest.
So ziemlich überall gilt sie für heilig und unantastbar,
selbst der sonst keinen Vogel schonende Spanier hat ein
Sprichwort: „Wer eine Schwalbe umbringt, tötet seine
Mutter“, was ihn übrigens nicht abhalten soll, die im
Netz gefangenen Schwälbchen sich vortrefflich schmecken
zu lassen. In Süddeutschland sagt der Volksmund:
„Glücklich der Mann, unter dessen Dach die Schwalbe
ihr Nest geklebt, denn kein Blitz vermag ihm zu schaden;
der Bube aber, der ein Schwalbennest zerstört, ist ver-
flucht, seine Eltern werden Kummer und Schande an
ihm erleben.“ Auch in England galt und gilt sie als
ein Vogel des Segens. Schon Shakespeare preist sie in
einem schönen Gedicht, dessen Ende sagt:
„Und wo sie gerne nisten, fand ich immer
Die reinste Luft.“
Und in Irland scheint sie ebenso beliebt zu sein, denn
Ussher und Warren beginnen ihre Schwalbenschilderung
mit den Worten: „This welcome bird“. Auch in Griechen-
land ist sie bei der Bevölkerung gern gesehen, und beim
bulgarischen Volke herrscht die Meinung, daß demjenigen,
der den Schwalben oder deren Eiern etwas zu leide tut,
gelbe Sprossen im Gesichte wachsen.
Daß die Schwalbe als Glücksbringerin früher noch viel
mehr in Ansehen stand als jetzt, zeigt folgende, zurzeit
völlig in Vergessenheit geratene Geschichte. „Wer die erste
Schwalbe im Frühjahr sieht, darf nur unter seinem linken
Fuß nachgraben, er wird dort eine Kohle finden, die ihm,
solange er sie bei sich trägt, stets Glück bringt.“
In Franken und Thüringen muß den in den Kuh-
ställen nistenden Schwalben stets die größte Schonung
zu teil werden. Denn erstens bringen die Vögel Glück
und zweitens würden sie, wenn sie Störungen erführen,
die Kühe mit ihren aus spitzen Stacheln bestehenden
Schwanzfedern in die Euter stechen, so daß diese nur
Blutmilch geben. Um diese Krankheit zu vertreiben, gibt
es nur ein Mittel. Man setzt einen Scherben voll solcher
Blutmilch auf das Dach des Stalles oder der Scheune,
Gengler.
über welches viele Schwalben hin und her fliegen, und in
kurzer Zeit geben die Kühe wieder normale Milch.
Ein eigentümlicher Brauch ist heute noch in Thrakien
und Mazedonien im Schwang. Am 13. März werden den
kleinen Kindern rote und weiße Leinen, sogenannte
martenica, über Finger und Hände gewickelt. Diese
Leinen werden dann am Tage des Erscheinens der ersten
Schwalbe unter Steine gelegt. Am 13. April wird
Nachschau gehalten. Sind Ameisen an den Leinen, so
ist eine Seuche unter den Schafen in diesem Jahre zu
befürchten, sind Käfer dabei, so kommt ein anderer
Vermögensschaden, liegen die Leinen aber allein, so ist
nur Glück im Jahre zu erwarten.
In Oberbayern, in der Freisinger Gegend, wird die
Schwalbe wohl ebenso verehrt wie wo anders, doch sieht
man nur sehr ungern, wenn ein solcher Vogel durch das
Fenster in ein Zimmer fliegt, denn dies bedeutet, daß es
in diesem Hause bald eine Leiche gibt.
Auch allerlei Medizinen wurden in früheren Jahr-
hunderten von den alten Ärzten oder, besser gesagt,
Kurpfuschern aus den Schwalben bereitet. Es wurde ein
Wasser gebrannt aus zerhackten jungen Schwälbchen,
das vorzüglich gegen die Fallende Sucht und alle mög-
lichen Gehirnkrankheiten zu gebrauchen war. Ein gutes
Mittel gegen Lähmungen der Muskeln und Verhärtungen
der Sehnen wurde hergestellt, indem man zwölf Schwalben
mit den Federn zerstieß und diesen Brei mit Fett,
am besten Eberfett, zu einer Salbe verrieb. Gegen alle
Arten von Augenleiden wurde das Schell- oder Schwalben-
kraut, Hirundinaria, angewendet, weil die Schwalben mit
diesem Kraut ihre blinden Jungen durch Berühren sehend
machten. .
Der Gesang, eigentlich mehr ein munteres Geschwätz,
des Schwalbenmännchens wird in den verschiedenen Land-
strichen verschieden mit Ausnahme des zerrenden Strophen-
endes in Worte gebracht. So übersetzt man den Sang
in Mitteldeutschland:
„Ich wollte meinen Kittel flicken
Und hatte keinen Zwerrrn,
Hatte nur ein kurzes Endchen,
Da mußt’ ich lange zerrrn.“
In Mittelschwaben wird das Lied so verdeutscht:
„Die vorwitzigen und geschwätzigen Weiber
Gehen immer in Heimgarten'),
Wär’ gescheider sie täten spinnen,
Dann hätt’ man Zwirn, hätt’ man Zwirn.“
1) Auf Besuch.
33 Aus dem Norden Kanadas.
Geradezu klassisch hat unser Rückert das Schwalben-
liedchen übersetzt in seinem
„Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar . . .“,
wovon besonders die Strophe:
„Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm
War’n Kisten und Kasten schwer,
Als ich wiederkam, als ich wiederkam
War alles leer“
so volkstümlich geworden ist, daß sie in vielen Gegenden
als Übersetzung des Schwalbengesanges gilt. So sagt
man in Franken:
„Als ich fortzog
War’n Kisten und Kästen schwerrr,
Als ich wiederkam
War’n alle leerrr“,
oder in Siebenbürgen bei den Sachsen:
„Dën ech geng, den ech geng,
Less’ ech Scheuer uch Kasten völ;
Als ech köm, als ech köm,
Fänt ech näst mië als gespärrr“,
oder in der Mark:
„As iek futt trock, as iek futt trock,
Was Hus un Huof voll;
Nu iek wi’er kuem, nu iek wi’er kuem,
Es Alles verrieten, verslieten, verdrieten, versplieten.“
Über das Kommen und Gehen der Schwalben im
Frühjahr und Herbst ist viel geschrieben, gestritten und
auch gesungen worden.
Aristoteles sagt von den Schwalben, die er yeAıdav
nennt, sie ziehen mit den Ringeltauben fort, es sind aber
auch schon viele in Verstecken ganz ohne Gefieder ge-
sehen worden. Anakreon besingt sogar ihren Zug:
„Du, meine Freundin Schwalbe,
Kommst hergezogen jährlich
Und baust dein Nest im Sommer;
Doch Winters gehst du ledig
Den Nil hinauf nach Memphis.“
Auch Julius Sturm hat ein schönes Gedicht über den
Zug der Schwalbe gemacht.
In Deutschland waren noch bis in das 19. Jahrhundert
herein ganz tolle Geschichten über das Verschwinden
der Schwalben zur Winterszeit bekannt: „Die Schwalben
verlieren zu Beginn des Winters ihre Federn und liegen
nackt zu großen Klumpen geballt in Höhlen beisammen;
bei Beginn der Frühlingswärme wachsen ihnen rasch
wieder die Federn und sie fliegen davon.“ — „Die
Schwalben verwandeln sich im Herbst in Fische, die aber
an keine Angel anbeißen; im Frühjahr werden sie wieder
Vögel.“ — „Alle Schwalben fallen im Herbst in das
Wasser und sterben dort; ihre nicht verwesten Körper
werden im Frühling an das Ufer geworfen, und daraus
wachsen wieder neue Schwalben hervor.“ — Am weitesten
verbreitet war die Ansicht, daß die Schwalben im
Schlamme der Flüsse und der Teiche erstarrt den Winter
verbrächten. Auch in Rußland und Ungarn war dieser
Glaube an einen Winterschlaf der Schwalben beim Land-
volk verbreitet. Schon der russische Naturforscher Pallas
eiferte gegen solchen Unsinn, und Johann August Donn-
dorf versuchte 1795 den Wegzug der Schwalben nach
südlicheren Gegenden nachzuweisen; dennoch glauben
heute noch so manche Leute lieber an das Märchen vom
Winterschlaf als an den Wegzug. Die Bulgaren sind
wohl der Ansicht, daß die Schwalbe im Herbst nach
Afrika zieht, aber sie trauen dem kleinen Vogel nicht
die Kraft zu, das Meer zu überfliegen. Sie glauben, daß
die Schwalben auf den Flügeln der Störche sitzend über
das Meer befördert würden.
All das in vorstehenden Zeilen Gesagte bezieht sich
nur auf die Rauch- oder Stachelschwalbe (Hirundo
rustica L.). Diese heißt in den meisten Gegenden schlecht-
weg Schwalbe, in Bayern und Franken Hausschwalm,
Gabelschwälble, Gäbeleinsschwälble, in Nordfranken und
Hessen Schmalb, Schmabel, Schmalemche. In folgenden
Zeilen möchte ich noch etwas von der Mehlschwalbe
(Chelidon urbica L.) bringen, welche in Franken und
Bayern gewöhnlich Steuerling genannt wird.
In vielen, sonst ganz guten Naturgeschichten findet
man heute noch mehr oder weniger ausführlich beschrieben
„Der Schwalben Rache“. Es sollen Schwalben einen
Haussperling, der ein Schwalbennest in Besitz genommen,
eingemauert und so getötet haben. Der Urheber dieses
Märchens, denn es ist tatsächlich ein solches, ist P. Bougeant,
der es in seinem 1739 erschienenen, 1783 wieder ge-
druckten Amusement philosophique sur le langage des
Bêtes erzählt. Dort lautet die Geschichte: „Ein Sperling
fand einmal ein eben fertiges Schwalbennest, welches
ihm sehr wohl gefiel, so daß er sich da einquartierte. Sobald
die Schwalbe den unrechtmäßigen Besitzer erblickte,
erhob sie ein Geschrei und rief ihre Artgenossen zu Hilfe,
um den Eindringling wieder herauszujagen. Wie der
Blitz waren eine Menge Schwalben da und griffen den
Sperling an. Dieser aber, in seinem Neste sicher und von
allen Seiten gedeckt, steckte aus der kleinen Öffnung Kopf
und Schnabel heraus und biß um sich, was einige, die ihm
zu nahe kamen, zu ihrem Nachteil erfuhren. Der Streit
hatte kaum eine Viertelstunde gedauert, da zogen die
Schwalben ab. Der Sperling triumphierte in seinem
Neste und die Zuschauer waren der Meinung, daß die
Schwalben die Belagerung aufgegeben hätten. Plötzlich
kamen sie alle zurück. Jede trug ein Klümpchen Kot,
woraus sie ihr Nest machen, und nun stürzten sie alle
auf den Sperling zu und vermauerten ihn dergestalt,
daß er ersticken mußte.“ Professor Beckmann sagt
darüber in seiner Phys. ökon. Bibl. XIV: „Ich finde das
ganze Ding sehr unrichtig“ und Donndorf meint schon
1795: „Billig sollte man nach gerade diese so oft auf-
gewärmte Geschichte aus der Naturgeschichte ganz
relegieren“. Aber das Geschichtchen ist eben zu schön
und findet immer wieder gläubige Leser.
Schließen möchte ich diese Zeilen mit einer kleinen,
ebenfalls viel erzählten und oft geglaubten Anekdote.
Ein ehrsamer und äußerst wißbegieriger Schuster in
Basel hing im Herbst dem vor seinem Fenster wohnenden
Mehlschwälbchen ein Halsband um mit der Inschrift:
„Schwalbe, die du so schön bist, sage mir, wohin ziehst
du im Winter?“ Im Frühling kam der Vogel wieder;
er hatte ein anderes Halsband um, auf dem stand: „Nach
Athen, zum Anton. Warum fragst du danach?*
Aus dem Norden Kanadas.
Im Jahre 1908 bereiste eine Dame, Frl. Agnes Deans
Cameron, sechs Monate lang Nordkanada, wobei sie, unter-
stützt durch die Hudsonbai-Kompagnie, viele wenig oder
gar nicht bekannte Gegenden durchstreifen konnte. Frl. Cameron
verließ Edmonton und erreichte nach einem 150 km langen
Ritt Anfang Juni Athabasca Landing. Von hier bis zur
Küste des Eismeeres benutzte sie meist das Boot und die
Wasserwege: Athabascafluß, Athabascasee, Sklavenfluß,
Großen Sklavensee und Mackenzie. Die Rückreise ging den
Peace River aufwärts und über den Kleinen Sklavensee. Die
Beobachtungen der Reisenden bezogen sich auf die all-
gemeinen geographischen Verhältnisse und auch auf die im
Delta des Mackenzie angetroffenen Eskimostämme und
gefielen der kanadischen Regierung so, daß sie sie beauftragte,
Bücherschau. 33
in England Vorträge zur Verbreitung von Kenntnissen über
Kanada zu halten. Auch die Londoner geographische Gesell-
schaft veranstaltete im Februar d. J. einen Vortragsabend,
und im „Geogr. Journ.“ für Juni ist einiges über Frl. Camerons
Ausführungen mitgeteilt worden.
Von Interesse für die Geschichte der Geographie ist ein
Besuch, den Frl. Cameron der Stätte des heute aufgegebenen
und vergessenen Fort McLeod am Peace River abgestattet
hat. Von diesem Punkte brach nämlich im Frühling 1793
Alexander Mackenzie zu seiner denkwürdigen Reise nach der
Eismeerküste auf, die ihn nachher veranlaßte, auf dem
schwarzen Gestein der Küste Britisch-Columbias mit roter
Farbe die Inschrift „Alexander Mackenzie from Canada by
Land, 1793 anzubringen. Mackenzie ist nämlich der erste
Mensch, der den amerikanischen Kontinent nördlich von
Mexiko von Meer zu Meer durchkreuzt hat. Die Hudsonbai-
Kompagnie hat jetzt jenen Punkt durch eine Tafel bezeichnen
lassen. Ferner stöberte Frl. Cameron die Archive mehrerer
Posten der Hudsonbai-Kompagnie durch, in denen sich un-
veröffentlichte Berichte der alten Pelzhändler finden, und
machte Auszüge daraus. Besonders reiche Ausbeute gewährte
in dieser Beziehung das Fort Simpson. Unter anderm fanden
sich Nachrichten, die über die Zeit der Reisen John Franklins
neues Licht verbreiten sollen.
Sehr optimistisch lauten Frl. Camerons Berichte über
das Großwild des subantarktischen Kanada. Sie erzählt, daß
die 350 bis 500 Köpfe starke Herde von Waldbisons am
Sklavensee sich auf ihrem Bestand erhält, indem sie durch
eine besondere Abteilung der berittenen Nordwest-Polizei
vor ihren einzigen Feinden, dem Wolf und den Fort Smith-
Indianern, geschützt wird. Auch von einer Verminderung
des Caribou, des Rentieres der Barren Lands, soll keine
Rede sein. Ferner hält sich noch der Moschusochse auf dem
Landstrich nördlich und östlich vom Großen Bären- und
Großen Sklavensee, einem Gebiet, das mit Gras bedeckt und
„barren“ nur in dem Sinne genannt werden kann, als es
baumlos ist. Am Peace River schoß Frl. Cameron einen Elch.
Vor der Mackenziemündung hat Balaena mysticetus noch
seinen Stand, er wird aber, wenn nicht Maßregeln zu seinem
Schutze getroffen werden, bald aus dem arktischen Leben
verschwunden sein. Jeder gefangene Wal dieser Art bringt
2000 Pfd. Sterl. und darüber. Die Walindustrie im Mackenzie-
delta ist heute ganz in den Händen unternehmender Amerikaner,
die ihr Hauptquartier in San Francisco haben. Von 1891
bis 1908 sind in diesen Gewässern 1345 Wale gefangen
worden, die einen Wert von mindestens 2'/, Millionen Pfd.
Sterl. (ganz abgesehen vom Tran) repräsentieren. Fräulein
Cameron bedauert, daß diese Summe Kanada verloren
gegangen ist. Auch Pelze finden mit den Walfischfänger-
schiffen ihren Weg zu den Amerikanern; es mögen jährlich
für 300000 Pfd. Sterl. sein.
Die Aussichten, die die Landwirtschaft in jenen einsamen
Teilen Nordkanadas hätte, werden von Frl. Cameron als
höchst günstig bezeichnet. In Fort Good Hope unter dem
Polarkreise werden Kartoffeln, Rüben und Karotten angebaut,
und der Weizen der 1876 auf der Centenar -Ausstellung in
Philadelphia den höchsten Preis errang, war in dem
kleinen Garten am Kloster der Grauen Nonnen bei Fort
Chipewyan am Athabascasee unter 58° 40’ nördl. Br. ge-
wachsen. Es ist bekannt, daß zwischen den großen Seen
und den Felsengebirgen, nördlich von der Grenze mit der
Union bis zum Saskatchewan-Fluß sich eine 1600km lange
Weizenebene erstreckt, sie wurde durch den Bau der
kanadischen Pazifikbahn zur Wohlhabenheit geführt. Das
Lockmittel der freien Weizenfarmen, die die kanadische
Regierung in diesen Prärieprovinzen anbietet, führte im
vorigen Jahre nicht weniger als 100000 amerikanische Farmer
nach Kanada, und ebenso viele aus dem Mutterlande und
Nordeuropa. Dieser Teil Westkanadas birgt an 80 Mill. Hektar
anbaufähigen Landes, aber erst der 20. Teil steht unter dem
Pfluge. Weniger bekannt ist, daß nördlich von Saskatchewan,
in den Tälern des Athabasca-, Sklaven- und Peaceflusses ein
unbenutztes Hinterland von weiteren 40 Mill. Hektar liegt,
das sich für erstklassigen Weizen eignet. Vertrauen auf den
Weizen zog die Eisenbahn nach Edmonton am Saskatchewan;
Vertrauen auf Weizen und Holz, Pelze, Fische und Ol, Salz
und Kohle wird sie zum Athabasca und Peace führen.
Vermilion am Peace unter 58° 30° nördl. Br. ist das Herz
einer welligen Ebene, in der Prärie und Busch miteinander
abwechseln, von größerer Ausdehnung als Belgien. In Ver-
milion ist Weizen in dreißig aufeinander folgenden Jahren
gediehen, kürzlich wurden 30000 Bushels von einer besäten
Fläche von 400 ha geerntet. Der Weizen reift von der Aus-
saat bis zum Speicher in 90 Tagen, eine Folge täglichen
18 ständigen Sonnenschein. So rühmt der weibliche
Regierungsagent Kanada.
Bücherschau.
Das Deutsche Kolonialreich. Eine Länderkunde der
deutschen Schutzgebiete. Unter Mitarbeit von Prof. Dr.
Siegfried Passarge, Prof. Dr. Leonhard Schultze, Prof. Dr.
Wilhelm Sievers und Dr. Georg Wegener herausgegeben
von Prof. Dr. Hans Meyer. 2. Band: Togo, Südwest-
afrika, Schutzgebiete in der Südsee und Kiautschougebiet.
XIV u. 575 8. mit Karten, Abbildungen usw. Leipzig
1910, Bibliographisches Institut. 15 %.
Im Abstand von einem halben Jahre ist dem ersten der
zweite Band gefolgt; damit liegt das Werk abgeschlossen
vor. Im Vorwort bemerkt der Herausgeber, eine neue Auf-
lage werde sich auf drei Bände herauswachsen, da in ihr
mehr Zitate aus den Reiseberichten Aufnahme finden würden.
Diese Absicht ist zu billigen.
Im allgemeinen kann man von dem zweiten Bande sagen,
daß gerade die Kolonien die beste Darstellung gefunden haben,
deren Bearbeiter nicht „dort gewesen“ sind; es ist das eine
Erscheinung, die auch sonst nicht selten hervortritt. Passarges
Landeskunde von Togo läßt nichts zu wünschen übrig und
berücksichtigt auch sehr eingehend die ja äußerst verworrenen
ethnographischen Verhältnisse. Dabei greift die Darstellung,
weil Togo ja nur eine politisch geschlossene Einheit, keines-
wegs aber eine geographische ist, weit über die Grenzen der
Kolonie hinaus, indem sie auch, wo es zum Verständnis nötig
ist, ganz Oberguinea und den Westsudan heranzieht. In der
Auffassung der Völkergeschichte des Westsudan folgt Passarge
Desplagnes, und er sieht in den merkwürdigen Tamberma-
burgen die alte Garamantenkultur. 8.89 ist Passarge die
Helme der Kabrevölker als „Masken“ aufzufassen geneigt;
es sind aber wohl Schmuckhelme. Nicht einleuchtend er-
scheint uns die 8. 107 ausgesprochene Vermutung, daß die
völlige Nacktheit und das Tragen von Penisfutteralen ge-
wisser Völker Nordtogos ein Zeichen bestimmter religiöser
Vorstellungen, vielleicht des Phalluskults sei. Abweichend
von Passarge hat L. Schultze seinen Stoff über Südwestafrika
gegliedert, indem er diese Kolonie in sieben Landschaften
zerteilt und bei jeder gesondert die geographischen und
ethnographischen Verhältnisse behandelt hat. Vorauf geht
diesem Abschnitt ein allgemeiner Überblick, und ein Abschnitt
„Kolonialwirtschaft“ folgt als dritter am Schluß. Dies ist
wohl die vom Herausgeber vorgezeichnete Disposition, die
dieser selber für Ostafrika eingehalten hatte. In gleicher
Weise hat Sievers seinen Stoff gegliedert. Im Verhältnis zur
wirtschaftlichen Bedeutung ist sein Abschnitt über die Süd-
seekolonien der umfangreichste des Buches. Es hat eben
jede Inselgruppe eine gesonderte Behandlung gefunden, wobei
eine hervorragende Beherrschung der Literatur zutage tritt.
Schließlich folgt noch Kiautschou.
Andere Mitarbeiter haben dann im Anschluß an ent-
sprechende Karten auf Einschaltblättern, so wie im ersten
Bande, gewisse Punkte noch besonders behandelt, z. B. die
Geologie, Pflanzen- und Säugetierverbreitung, die Völker und
Sprachen. Mit Kärtchen, Diagrammen, Autotypien und
Farbendrucken ist der Band reichlich ausgestattet, so daß er
ein schönes und lehrreiches Anschauungsmaterial enthält.
(In der Besprechung des ersten Bandes war bei der Erwäh-
nung der Abbildungen bemerkt worden, es müsse befremden,
daß die photographischen Aufnahmen der landeskundlichen
Expeditionen dem Herausgeber, auf dessen Veranlassung sie
vom Kolonialamt ausgesandt wären, zur Verfügung ständen,
während die Mitglieder dieser Expeditionen selber in der
Benutzung ihrer Ergebnisse beschränkt seien. Hierzu ist uns
inzwischen mitgeteilt worden, daß der Herausgeber jene Auf-
nahmen vom Kolonialamt, dessen Eigentum sie wären, für
sein Buch gekauft habe. Ihn trifft daher ein Vorwurf nicht.)
H. Singer.
A. Gerste S. J., Notes sur la Médecine et la Botanique
des anciens Mexicains. 161 8. Rom 1909, Imprimerie
Polyglotte Vaticane.
Diese mit dem Loubat-Preise gekrönte Abhandlung ist
eine Überarbeitung einer Reihe von Aufsätzen, die in der
Revue des Questions scientifiques von demselben Autor in
den Jahren 1887 bis 1888 erschienen sind. Es ist ein großes
34 Kleine Nachrichten.
Verdienst des Herzogs von Loubat, durch Drucklegung dieses
bedeutenden Werkes die mexikanistische Forschung aufs neue
gefördert zu haben. Die Nachrichten über die Medizin und
Botanik der alten Mexikaner in spanischen Quellen fließen
so reichlich, daß es möglich ist, ein ziemlich erschöpfendes
Bild der nicht unerheblichen Kenntnisse der Mexikaner auf
beiden Gebieten, die ja stets und überall Hand in Hand
gehen, zu geben. Besonders bemerkenswert ist aber die
Wechselbeziehung dieser Kenntnisse mit religiösen Ideen und
magischen Vorstellungen, die P. Gerste an der Hand einer
reichen Literatur dem Leser darlegt, wobei er sich nicht
bloß auf die Mexikaner beschränkt, sondern auch auf die
benachbarten Völker zu sprechen kommt. Die schon von
del Paso y Troncoso behandelte Frage der botanischen
Gärten im alten Mexiko wird 8.62 bis 73 untersucht. Von
linguistischem Standpunkte aus ist es sehr interessant zu
sehen , wie die mexikanische Sprache durch reiche Synonyma
eine Nomenklatur für die Botanik geschaffen hat, die, von
scharfer Beobachtung geleitet, einer modern wissenschaftlichen
Namengebung zustrebt. Die unerschöpfliche Quelle für
diese Studien ist, abgesehen von dem Werke Sahaguns, das
großartige naturwissenschaftliche Opus des Arztes Franciscus
Hernandez, dessen Original uns leider beim Brande des
Escurial 1671 verloren ging, das aber durch eine Kopie er-
halten blieb und 1790 in Madrid herausgegeben wurde, nach-
dem schon vorher Nardo Angelo Recchi und Eusebius
Nieremberg und nach letzterem Franc. Ximenez die Manuskripte
und Zeichnungen des Hernandez ausgiebig benutzt hatten.
Die Darstellung von Pflanzen und Pflanzenteilen in
mexikanischen Bilderschriften gibt dem Autor im 7. Kapitel Ge-
legenheit,aufdieEntwickelung des Schriftsystemsder Mexikaner
einzugehen, das die Tolteken in Mexiko eingeführt haben
sollen; 8. 82 wird gesagt, daß die Mexikaner über den
Ideographismus hinaus zu einem phonetischen System und
schließlich zum Syllabismus gelangt wären. Es ist dies aber
doch nur in sehr wenigen Fällen nachweisbar. Die mexikanische
Hieroglyphenschrift, wie sie in den uns erhaltenen Doku-
menten vorliegt, ist über eine Rebusschrift im wesentlichen nicht
hinausgegangen. Erst die Missionare haben in ihren Ver-
suchen, das Paternoster und andere religiöse Texte in
Hieroglyphenschrift zu fixieren, das phonetische System ein-
geführt, das jedoch niemals eine weitere Entwickelung
genommen hat. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, daß
die Mexikaner im Laufe der Zeit ihr Hieroglyphensystem in
diesem Sinne selbst ausgebaut haben würden. Hierin wurden
sie aber bei der Eroberung des Landes durch die Spanier
und insbesondere durch Vernichtung ihrer Bilderschriften
und Unterdrückung ihrer Traditionen mit einen Schlage
gewaltsam unterbrochen. Es ist unwahrscheinlich, daß das
mythische Teoamoxli und das astrologischen Zwecken dienende
Tonalamatl (8. 84) in anderen Zeichen als konventionellen
Symbolen ohne streng phonetischen Wert abgefaßt waren.
Wenn die Priester davon das Geheimnis bewahrten, so muß
eben berücksichtigt werden, daß neben den Hieroglyphen-
aufzeichnungen mnemonischer Art die mündliche Tradition
bestand, daß das Geheimnis des Inhalts des Tonalamatls
durch Interpretation von einer Generation auf die andere
lebendig erhalten wurde. Bei aller Hochachtung vor der
Gelehrsamkeit des Autors muß dies nachdrücklich hervor-
gehoben werden. Verhältnisse wie in Agypten (8. 85)
können nicht auf Mexiko angewandt werden, wo, wenn man
es so nennen will, die hieratische Schrift sich nicht zu einer
demotischen zu entwickeln Zeit gehabt hat.
Richtig ist, daß die Mexikaner in der Darstellung von
Pflanzen generische Typen verwandten (S. 89), wobei die
Farben eine wichtige Rolle spielen (8. 91). Sicherlich ist
P. Gerste auf dem rechten Wege, wenn er in diesem Zu-
sammenhange auch auf Wampums und Quipos hinweist.
Im 9. und 10. Kapitel geht Verfasser näher auf die
botanische Nomenklatur ein, deren ausdrucksreichere, aus
einer und derselben Sprache genommenen Worte einen Vor-
zug vor der Nomenklatur Linnés haben (S. 117). Synonyma
dienten in vielen Fällen zur Determination doppelsinniger
Worte (8. 119). Die Klassifizierung innerhalb natürlicher
Gruppen wird an Vertretern der Cucurbitacese (ayötli) be-
leuchtet (S. 125 ff.) Die scharfe Naturbeobachtung und die
Erfassung der botanischen Physiognomien verschiedener
Landesteile durch die Mexikaner spiegelt sich in ihren Orts-
namen und deren Hieroglyphen wieder (S. 132), worauf
übrigens bereits Sapper (Indianische Ortsnamen im nördlichen
Mittelamerika. Das nördliche Mittelamerika, Braunschweig
1897, 8. 334 bis 353, besonders S. 344) hingewiesen hat.
Im 12. Kapitel spricht Verfasser von den Blumen in
der mexikanischen Poesie und gibt (S. 142 bis 144) Uber-
setzungsproben von mexikanischen Hymnen, die Peñafiel
unter dem Titel „Cantares en idioma Mexicano“ (Mexiko 1904)
faksimiliert herausgegeben hat.
Anhangsweise wird die neuere Literatur über den vom
Verfasser behandelten Stoff hinzugefügt.
Dr. Walter Lehmann, München.
H. Pittier, Versuch über die Nutzpflanzen Costa
Ricas (spanisch). 176 S. mit 31 Tafeln. Washington 1908.
Der ehemalige Direktor des Instituto fisico-geogräfico
von Costa Rica, der jetztim Landwirtschaftlichen Departement
der Vereinigten Staaten tätig ist, hat mit dieser mühevollen
Arbeit der Forschung, weit über die botanischen Sonder-
interessen hinaus, einen Dienst erwiesen. Die wissenschaft-
liche Bestimmung so vieler Gewächse, deren Vulgärnamen
alphabetisch angeordnet sind, gibt eine wertvolle Grundlage
für allgemeine ethno-botanische Studien, bei denen ja gerade
Nutzpflanzen eine hervorragende Rolle spielen. Die Nomina
vernacula sind von Wichtigkeit, da sie zum Teil verschiedenen
indianischen Sprachen entlehnt sind. Es ist merkwürdig, wie
sehr Bezeichnungen ein und desselben Gewächses in ver-
schiedenen Landesteilen wechseln. Ich habe auf meinen
Reisen eine Menge solcher Namen durch ganz Mittelamerika
verfolgt und erblicke in ihnen ein nicht zu unterschätzendes
Hilfsmittel zur Lösung ethnologischer und linguistischer
Probleme. Wertvoller sind aber noch die 8. 159 bis 169
aufgeführten, wissenschaftlich bestimmten Gewächse mit
den indianischen Namen in den Sprachen der Talamanca,
Terraba, Boruca und Guatuso. Allen Amerikanisten sei
diese Arbeit Pittiers bestens empfohlen.
Dr. Walter Lehmann, München.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Auf dem vorjährigen Anthropologentage in Posen be-
richtete J. Szombathi über neue Forschungen in den
paläolithischen Stätten im Löß von Willendorf in
der Wachau. Dem jetzt im „Korr.-Bl. d. deutsch. Ges. f.
Anthropologie“ erschienenen Bericht über jene Tagung ent-
nehmen wir darüber folgendes: Zwei jener Fundstätten kannte
man bereits seit langem, eine neue wurde 1908 beim Bau der
Bahn Krems—Grein entblößt und dann durch Szombathy,
Obermaier und Bayer untersucht. Es ergaben sich neun
übereinanderliegende Kulturschichten, von denen die oberste
das reichste und schönste Material an Steinwerkzeugen ent-
hielt, durchweg Formen, die in Frankreich dem oberen
Aurignacien zugeschrieben werden. Von der Fauna sind
zu erwähnen: in der 1. (untersten) Schicht: Rentier und
Bison; in Schicht 2: Rentier, Bison, Wolf; in Schicht 4:
Mammut, Rentier, Hirsch; in Schicht 5: Mammut, Rentier,
Riesenhirsch; in Schicht 6: Mammut und Pferd; in Schicht 7:
Pferd, Mammut, Rentier, Wolf, Höhlenlöwe; in Schicht 8:
Pferd, Mammut, Rentier, Bison, Wolf, Höhlenlöwe; in
Schicht 9: Mammut, Pferd, Rentier, Riesenhirsch, Fuchs.
Auch diese Tierwelt entspricht vollkommen dem französi-
schen Aurignaeien. Die obersten Schichten lassen natur-
gemäß Übergänge zum Solutr6een erkennen. Gräber oder
zusammenhängende Skelette sind nicht aufgedeckt worden.
Von besonderem Interesse ist ein in Schicht 9 gefundenes
Figürchen aus Stein (im Bericht abgebildet), die „Venus
von Willendorf“. Die vollkommen erhaltene Figur ist
11cm hoch, aus Kalkstein gearbeitet und zeigt Spuren von
roter Bemalung. Sie stellt eine dicke Frau dar mit großen
Brüsten, ansehnlichem Spitzbauch, vollen Hüften und Ober-
schenkeln, doch ohne eigentliche Steatopygie. Es sind die
gleichen Formen, wie sie die stark beschädigte „Venus von
Brassempouy“ zeigt. Das Kopfhaar ist durch einen spiralig
um den größten Teil des Kopfes gelegten Wulst ausgedrückt,
das Gesicht völlig vernachlässigt: es findet sich keine An-
deutung von Augen, Nase, Mund, Ohren und Kinn. Die
Arme sind reduziert, die Unterarme und die Hände nur in
flachen, über die Brüste gelegten Reliefstreifen ausgedrückt.
Die Unterschenkel sind zwar mit Waden versehen, aber stark
verkürzt; die Füße weggelassen. Der Künstler hat die Ge-
stalt des menschlichen Körpers sehr gut beherrscht, es ist
ihm aber offenbar nur darauf angekommen, die der Frucht-
36 Kleine Nachrichten.
auf 5, ja auf 8 Millionen angegeben wird, und daß der An-
spruch der Rumänen auf ihr „Römertum“ wenig Berechtigung
hat. Die Völker der Halbinsel werden kurz charakterisiert,
und es werden auch ihre nationalen und politischen Be-
strebungen skizziert. Erläutert werden die Ausführungen
durch 18 Abbildungen.
— Uber dieHandels- und Wirtschaftsverhältnisse
Angolas im Jahre 1908 äußert sich ein englischer Konsulats-
bericht. Es ist dort von der Heranziehung von Botanikern
für die Entwickelung der Kautschukindustrie, der Bildung
eines Syndikats für die Ausbreitung des Baumwollanbaues
und von der gesteigerten Ausnutzung der schiffbaren Flüsse
die Rede. Man ist mit der Beseitigung der Hindernisse am
Loje, 30km von Ambriz, beschäftigt und gewinnt damit die
Aussicht, daß dort Barken mit 2t Ladung 200 km weit ver-
kehren können. Nach Beendigung dieser Arbeiten soll der
Sitz der Verwaltung nach Sanda verlegt werden, wo die
Handelshäuser von Ambriz nach Errichtung von Läden mit
den Eingeborenen der Kaffeedistrikte verkehren könnten.
Weitere Vorschläge beziehen sich auf die Nutzbarmachung
des oberen Sambesi, des Luena, Lungue-Bungo, Kuando,
Kuito und Kubango. Die Loandabahn, die bis zum Kassai
fortgeführt werden soll, deren Bau aber seit 1908 unter-
brochen war, reicht gegenwärtig bis Ambaca, 360 km von der
Küste. Der Bau der ihr parallelen Lobitobahn, die in Katanga
enden soll, war ebenfalls seit 1908 unterbrochen und soll in
diesem Jahre wieder aufgenommen werden. Kaffee ist noch
der Hauptausfuhrartikel Angolas. Millionen von Kaffeebäumen
nehmen den schattigen Bergstreifen ein, der in 500 bis 700 m
Höhe vom Kuanza bis zum unteren Kongo parallel der Küste
sich hinzieht. Die Kakaokulturen von São Thomé nehmen
gegenwärtig über 243000 ha ein.
— H. H. W. Pearson, Professor der Botanik in Kap-
stadt, gibt im Maiheft des „Geogr. Journal“ von 1910 einen
zusammenfassenden wissenschaftlichen Bericht über die
hier schon erwähnte Expedition, die er von Ende
November 1908 bis Ende Mai 1909 von der Kapstadt aus
durch das der afrikanischen Westküste nahe gelegene
Binnenland bis in den südlichen Teil von Angola unternommen
hat, um die Flora dieser meist sterilen Regionen gründlich
zu erforschen. Seine Beobachtungen sind natürlich vornehm-
lich für Botaniker von Interesse. Von besonderem Werte
für den Geographen, allgemein gesprochen, ist die beigefügte,
mit erfreulicher Deutlichkeit bearbeitete Karte, die den
westlichen Teil der Kapkolonie von der Kapstadt bis zum
unteren Lauf des Oranjeflusses umfaßt. Vergleicht man
damit die 9. Sektion der 10-Blätterkarte von Perthes, so
springt vor allem die Klarheit der Darstellung der Gebirgs-
züge und der kleineren Flußläufe wohltuend in das Auge.
Pearson verließ die große Kaplandbahn bei der Station
Ceres Road und durchzog die nach Norden sich erstreckende
Gebirgsgegend mittels Ochsenwagen über Calvinia nach
Okiep und Klein-Namaqualand bis Pella am Oranjefluß.
Von der Trostlosigkeit der Ufer dieses Flusses an der deutsch-
südwestafrikanischen Grenze gibt seine Beschreibung einen
richtigen Begriff: „Die Ufer des tief eingeschnittenen Fluß-
bettes werden tagsüber von einer intensiven Gluthitze aus-
gedörrt, die selbst in der Nacht jede Spur von Feuchtigkeit
aufsaugt. Wolken und Regen gibt es höchst selten, selbst
wenn auf den Plateaus in der näheren Umgebung ein
Gewittersturm ausbricht. Gegen Abend durchsausen heftige
Winde das schluchtartige Flußbett und erfüllen die Luft mit
so dichtem Sandstaub, daß man vom diesseitigen Ufer nicht
das jenseitige sehen kann; und da dabei alle nur etwas
lockeren Erdteilchen an den Hängen fortgewirbelt werden,
so kann kein Pflänzchen hier sich halten, höchstens ver-
kümmert in den Rissen und Spalten von festem Gestein.“ —
Pearsons Weg führte vom Oranjefluß über Warmbad und
Keetmanshoop nach Lüderitzbucht und Swakopmund, in
Gegenden, die uns zur Genüge bekannt sind und über die
er auch nicht allgemein bemerkenswert Neues bringt. Zu-
letzt machte er von Mossamedes aus einen Abstecher über
Humpata längs des Kakulovar zum Fort Rosadas (dicht
beim Fort Humbe) am Kunene. Humpata (1860 m ü. d. M.)
besitzt für den Europäer das herrlichste Klima im ganzen
tropischen Afrika; der Winter ist trocken; der stets sonnigen
Tageszeit folgen Nächte mit Abkühlung bis unter den
Gefrierpunkt. Gutes Trinkwasser ist immer vorhanden ; hier
gibt es keine Moskitoplage und deshalb auch kein Fieber.
In Humpata und Lubango bestand bis jetzt eine Kolonie von
mehr als 1000 Buren; sie waren der portugiesischen
Regierung von großem Nutzen, denn sie hielten die rebel-
lischen Eingeborenen bis hinab zum Kunene im Zaum. Da
sie aber selbst von der portugiesischen Verwaltung wenig
berücksichtigt wurden und außerdem durch die Fortführung
der Bahn von Mossamedes nach dem Innern sich in ihrem
Verdienst als Ochsenfuhrwerksbesitzer geschädigt fühlen, so
beginnen sie jetzt truppenweise nach ihrer Heimat Transvaal
zurückzuwandern. — Am Schluß dieses kurzen Abrisses sei noch
auf die 10 vortrefflichen Abbildungen Pearsons vom Busch-
mann- und Damaraland, von der Umgebung des Oranje-
flusses und von Landschaften aus Angola aufmerksam
gemacht. B. F.
— Dr. Laloy gibt nach einem russisch geschriebenen
Aufsatz von Wosznenski in den Denkschriften der Akademie
der Wissenschaften zu St. Petersburg 1907 ein kurzes Résumé
über den klimatischen Einfluß des Baikalsees auf
seine Umgebung (La Géographie, 15. Februar 1910). In
einer Tiefe von 250 m und mehr scheint sich die Temperatur
des Sees stets gleich zu bleiben; oberhalb dieser Tiefe ist in
den Monaten Dezember bis Juli der See unten wärmer als
oben, während in den übrigen Monaten das Gegenteil der
Fall ist. Die jährlichen Anderungen erreichen an der Ober-
fläche 9°, in 20m Tiefe nur 7°, in 50m Tiefe 5°, in 100m
Tiefe nur 3°. Anfang Dezember und Mitte Juli ist die Tem-
peratur des ganzen Sees annähernd diejenige, die seiner
größten Dichte entspricht, also 4°. Die mittlere Temperatur
der Luft in größerer Entfernung vom See ist im Dezember
— 23,3°, im Juni und Juli + 17°, dagegen über dem See
— 12°, 4° bzw. + 12°. Der See erwärmt also seine Umgebung
sehr bedeutend, seiner Größe und gewaltigen Tiefe ent-
sprechend weit stärker, als dies bis jetzt von irgend einem
See der Erde bekannt war. Gleichzeitig vermindert er aber
auch die Niederschläge, denn während des Zeitraumes
1896/1903 betrugen dieselben im Durchschnitt in der Um-
gebung des Sees jährlich 546 mm, auf der Insel Olkhon da-
gegen nur 140 mm; die untere Station auf dieser Insel zählte
im Durchschnitt 62 Regentage, die Umgebung des Sees da-
gegen 159. Auch hier ist also der klimatische Einfluß des
Sees auf seine Umgebung ein ganz gewaltiger. Halbfaß.
— Über Militäruntauglichkeit und Großstadt-
einfluß handelt eine Arbeit von Moritz Alsberg
(Leipzig 1909). Der Verfasser bespricht die Wechselwirkung
dieser beiden Erscheinungen besonders im Deutschen Reich
und bekennt sich mit vielen anderen zu der Anschauung,
daß die durch die industrielle Entwickelung der Kultur-
staaten hervorgerufenen Zustände, besonders aber die An-
häufung großer Menschenmengen in den industriellen Zentren,
für die körperliche und geistige Gesundheit der Menschheit,
sowie für ihr sittliches Wohl bedeutende Gefahren mit sich
bringen. Es trete eine Entartung ein, die sich in allerlei
Krankheitserscheinungen, Schwächezuständen, einer Abnahme
der Geburtenzahl und in Abnormitäten zeige und natürlich
die Wehrhaftigkeit der Völker herabsetze. Um diesem Übel
entgegenzutreten, sei der allzu großen Anhäufung der
Menschen in den Großstädten zu steuern (Verfasser denkt
da u. a.an die ja auch von gewissen politischen Parteien bei
uns aus rein egoistischen Gründen verlangte Erschwerung der
Freizügigkeit), es solle zu Luft, Licht und Sonne und zu
einer den gesundheitlichen Anforderungen entsprechenden
Lebensweise zurückgekehrt werden. Wie letzteres wohl zu
erreichen sei, darüber werden einige Andeutungen gemacht.
— Einzelheiten über Charcots Südpolarexpedition,
die im Juni nach Frankreich heimgekehrt ist, sind noch
wenig bekannt geworden. Es wird berichtet, daß zahlreiche
Lotungen ausgeführt worden sind, und daß man hierbei in
den meisten Fällen die Wassertemperatur an der Oberfläche
und am Meeresboden gemessen hat, ebenso die Dichte des
Wassers. In einigen Fällen sind auch Serientemperaturen in
Abständen von 100 zu 100m gemessen worden. Diese Lo-
tungen, die eine Fortsetzung der Arbeiten der belgischen und
der schwedischen Südpolarexpedition bedeuten, ergaben als
wichtigste Resultate folgendes: das Kontinentalplateau (Schelf)
hat in der Nähe des Grahamlandes eine sehr unregelmäßige
Oberfläche, während Peters I.-Land offenbar ganz unvermittelt
aus ozeanischer Tiefe ansteigt. Eine Flachsee unter 70° südl. Br.
und 119° westl. L. deutet vielleicht auf die Nähe von Land
(also nordöstlich von Edwardland), während sich aus einer
Lotung von über 5000 m unter 66° südl. Br. und 118° westl. L.
auf eine tiefe Einsenkung im Meeresboden schließen läßt.
Es sind etwa 20 Schleppnetzzüge ausgeführt worden, die aber
über 500 m Tiefe nicht binabreichen.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr, Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GEOBUS
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- UND VÖLKERKUNDE
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. 3.
BRAUNSCHWEIG.
21. Juli 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Tölz und die Isarlandschaft.
Von Julius Jaeger.
Der nordwestlich von der Speckkarspitze in Tirol
entspringende Isarstrom fließt zunächst in westlicher
Richtung durch das Hinterautal nach Scharnitz, schlägt
dort die Nordrichtung ein und durchbricht in einer Enge
den vorderen Karwendel, setzt diesen Weg bei Mitten-
wald zwischen diesem Gebirge und dem des Wettersteins
fort bis in die Gegend von Wallgau, wo er eine nord-
östliche Richtung bis Fall einschlägt, am linken Ufer von
den Bergen des Isarwinkels, am rechten von den sog.
Rißbergen (Vorder- und Hinterriß) begleitet, um dann
wieder einen wesentlich nördlichen Weg zu nehmen bis
Tölz und München und sich endlich in Nordostrichtung
über Freising und Landshut nach einem Gesamtlaufe von
352 km unweit von Deggendorf in die Donau zu er-
gießen. Seine hauptsächlichsten Nebenflüsse in un-
serer Landschaft sind rechtsseitig der Rißbach bei Vor-
derriß, die Dürrach und der Walchenbach (aus dem
Achensee) bei Fall mündend, der Steinbach oberhalb Rain,
der Gaisacher Bach bei Gaisach und der Ellbach bei
Tölz mündend; linksseitig die Leutasch bei Mittenwald,
die Jachen (aus dem Walchensee und der Jachenau) zwi-
schen Anger und Winkel und als größter Nebenfluß die
Loisach, unterhalb Wolfratshausen in die Isar sich er-
gießend.
Von Kalkalpen sind außer obengenannten links
der Isar noch die Benedietenwand bei Wegscheid und
Anger, rechts der Isar Fockenstein, Kampen und Roß-
stein, dann bei Lenggries der Geierstein zu erwähnen.
Gegen Norden folgt dann das höhere Vorgebirge des
Flysches mit Zwieselstock, Blomberg, Rechel- und Sulz-
kopf (zwischen Lenggries und Tölz) und endlich das
niedere Vorgebirge mit Buchberg und Kalvarienberg
bei Tölz. Nördlich von dort die Hügelregion der
Moränen bis zur südlichen Grenze der Münchener
Hochebene.
Die genannten Kalkalpen, insbesondere Karwendel,
Wetterstein-, Riß-, Isarwinkelgebirge und Benedictenwand
bestehen zumeist aus Dolomit und Wettersteinkalk, denen
stellenweise Platten- und Dachsteinkalk, rhätische und
Raibler Schichten, Lias, Jura und Kreide beigesellt worden
sind. Sie gehören daher ihrem Hauptbestande nach der
Keuperstufe der Alpentrias an. Alle ihre Gesteine sind
sog. Sedimente, d. h. ursprünglich horizontale Nieder-
schläge aus Gewässern, deren ehemalige Gebiete sich nur
mutmaßlich bestimmen und begrenzen lassen. Teils
haben sich jüngere Meere auf den Ablagerungen älterer
Gewässer ausgebreitet, teils haben sie näher oder ferner
von diesen Ablagerungen gebrandet. Wenn also keine
Störungen dazu gekommen wären, würden wir regel-
Globus XCVIII. Nr. 3.
München.
mäßige Schichtenkomplexe und ein nahezu ebenes Land
vor uns haben, wie es z. B. bei der großen russischen
Platte der Fall ist. Nun sind aber im Alpenlande einige
Umwälzungen der heftigsten Art hinzugetreten, welche
die Lager der Sedimente verstürzt und ein formenreiches
Gebirgsland geschaffen haben. Hatten schon in den der
Trias vorausgehenden Epochen Gebirgserhebungen statt-
gefunden, z. B.in den karbonischen Zeiten, so ist nun aber
im mittleren Tertiär bekanntlich die großartige Alpen-
erhebung eingetreten, die unseren südlichen Gauen ein ab-
wechslungsreiches Gepräge gab, indem sie Gebirge der ver-
schiedensten Höhen und Gestalten aus jenen Ablagerungen
emporpreßte und übereinanderschob, wohl infolge eines
enormen Seitendruckes von Süden her. Diese Rücken,
Pyramiden, Spitzen und Gewölbe bilden heute den er-
habenen Gebirgshintergrund unserer Tölzer Landschaft.
Wie in einer Linie erscheinen vermöge der Perspektive
die in verschiedenen Entfernungen sich erhebenden
Spitzen des Seekars (2050 m), Juifen (1985 m), Bettel-
mannskars (2273 m), Demeljoches (1906 m), Gamsjoches
(2455 m), Thorjoches (2004 m), Grubenkars (2662 m),
der etwas näher herantretenden Benedictenwand (1802 m)
und vieler anderer.
Von ihren hauptsächlichsten Bestandteilen istder Haupt-
dolomit fast ohne Versteinerungen, während der Wetter-
steinkalk Gyroporellen (Kalkalgen) und vereinzelte Cri-
noiden, Spongien, Korallen und Mollusken enthält !).
Diese Gebirge wären vegetationslos, wenn sich ihnen
nicht, wenigstens in untergeordneter Weise, die Mergel
der Raibler und rhätischen Schichten zugesellt haben
würden, die ebenfalls zum Alpenkeuper gehörig nicht
bloß einen Reichtum von Versteinerungen bieten — die
Verwandtschaft dieser Gebirgsstufe mit dem mitteldeut-
schen Keuper nahelegend —, sondern auch vermöge
') Da die Gebirgszgruppen Karwendel, Rißgebirge und
Wettersteingebirge sich benachbart sind und auf allen drei
sich Hauptdolomit und Wettersteinkalk in größerer oder klei-
nerer Ausdehnung finden, ja der Dolomit nach oben manch-
mal von reinem Kalk, dem sog. Dachsteinkalk, überlagert
wird, so ist bei der Frage nach der Herkunft des Mangan
im Dolomit zunächst daran zu denken, daß auch der kohlen-
saure Kalk mehr oder weniger kohlensaure Magnesia ent-
hält und daß bei der Lösung des Kalkes durch kohlensaures
Wasser kohlensaure Magnesia — Dolomit — unter Volumens-
minderung zurückbleibt. Die frühere Hypothese einer vul-
kanischen oder plutonischen Entstehung des Dolomits aus
Kalkgestein durch Einwirkung von Magnesiadämpfen (L. von
Buch) mußte aufgegeben werden. Dagegen gibt es heiße
Quellen mit direkt dolomitartigen Niederschlägen, und es
kann daher auch an eine unmittelbare Entstehung von Dolo-
mitgestein besonders bei gangartigem Dolomit gedacht werden,
6
Jaeger: Tölz und die Isarlandschaft.
ihrer Fruchtbarkeit die Berge mit dem grünen Pflanzen-
kleide, mit Wiesen und Wäldern zu schmücken ver-
stehen. — Wie diese Gebirge dem Buntsandstein und
Muschelkalk wie teilweise auch
Partnachschichten aufliegen, so
werden sie andererseits außer von
jenen rhätischen Schichten auch
lich in den Westalpen große Probleme einfach erklären
lassen, so wird etwa auch das Auftreten einzelner Bänder,
insbesondere des Jura und der Kreide, in den Bergen
| Kartenskizze des oberen Isargebiets r
MUNCHEN
von Dachstein- und Plattenkalk,
Lias und Aptychen-Jura wie von
Neocomschichten in untergeord-
neter Weise überlagert bzw. be-
gleitet. An diese Kalkalpen schließt
sich nördlich eine Reihe ansehn-
licher, mit Wald bedeckter Berg-
kuppen des Flysches an, so auf
nach Penck, Ammon, Wied und anderen.
Maßstab 1:450000.
10
e Grenze der Jungmoränen.
„Grenze der Altmoränen.
Alluviale Flusstäler,
Baierörunnoy
dem linken Ufer der Isar besonders
Blomberg (1197 m) und Zwiesel
(1349 m), auf dem rechten Rechel-
und Sulzkopf (1328 und 1280 m).
Sie liegen auf kretazeischen und
alttertiären Schichten und sind bei
der Alpenerhebung mit aufgerichtet
worden. Das gleiche Schicksal er-
griff die noch weiter nördlich ge-
breitete ältere Molasse des Buch-
berges (858m) und des Kalvarien-
berges (680 m) bei Tölz, während
die obere Süßwassermolasse, der
Untergrund der nördlich von Tölz
sich anreihenden Hügelregion und
Hochebene, ungestört blieb, da ihr
Niederschlag der Alpenerhebung
wohl erst nachfolgtee Während
schon Suess die Unmöglichkeit
hervorhob, im Vorlande der Alpen
und Karpathen die Uferbildungen
des ehemaligen alpin-karpathischen
Meeres aufzufinden, das uns das
Material für die Flyschberge ge-
liefert haben sollte, rechnet die in
neuester Zeit sich immer mehr gel-
tend machende Deckentheorie
mit der Annahme, daß die Helve-
tischen Decken unter Überschrei-
tung des Rheines und sich nach
Osten senkend in der Tiefe unter
die ostalpinen Gesteine gedrungen
seien und nun am Nordrande der
ostalpinen Kalkzone in dem
schmalen Saume der Sandsteinzone
bzw. des Flysches mit steilem Ein-
fallen nach Süden zutage kämen,
also nicht aus einem schmalen
Meeresarm an Ort und Stelle nieder-
geschlagen sich an die ältere Kalk-
zone angelagert hätten?). Falls
diese Theorie der Deckenüberschie-
bung eine allgemeinere Anwendung
finden sollte, durch die sich nament-
|
Hirtenkirchen
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Kaltenbrunn
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Miltenwalg
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Scharnitz
2?) Vortrag in der Naturforscher-
versammlung von Salzburg, 23. Sep-
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i u. Moose.
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Grubenkar
Speckkar
tember 1909, von V. Uhlig-Wien
über „Die Tektonik der Ostalpen“,
abgedruckt in der „Naturw. Rund-
schau“, XXIV. Jahrg., Nr. 49 u. 50 vom 9. u. 16. Dezember
1909. Auch die vereinzelten Kalkberge auf einem Funda-
mente vom Schiefergebirge in Tirol, wie z. B. die Saile und
Serlesspitze, werden die Deckentheorie unterstützen, wenn
man nicht die Ansicht einer früher bestandenen allgemeinen
Kalküberdeckung des Schiefergebirges festhalten will.
der Ostalpen nicht mehr der Annahme eingedrungener
schmaler Meeresbuchten bedürfen, sondern sich durch
Deckenüberschiebung erklären lassen.
Die Jodquellen von Krankenheil entstammen dem
Blomberg, wobei neben den Flyschmergeln auch der dar-
Jaeger: Tölz und die Isarlandschaft. 39
unterliegende Gault-Grünsandstein und nebst Schwefel-
kiesputzen auch Nummulitenschichten ihre Rolle spielen,
welch letzteren die Quellen ihren Kochsalzgehalt zu ver-
danken scheinen. Dasselbe gilt auch von der Jodquelle
in dem bei Bichl gelegenen Bade Heilbrunn, die neben
der Kirche entspringt. — Den Mangel an Tierversteine-
rungen im Flysch neben Reichtum an fossilen Meeres-
algen rechnet Gümbel zu den denkwürdigen Tatsachen
und vermutet Gasexhalationen oder giftige Metallsalze
als Zerstörer des Tierlebens.
Aber die Alpenerhebung schuf keine stationären Ge-
bilde, sondern sofort machte sich gegen sie ein Faktor
geltend, der ruhelos an dem Bestande und der Gestalt
unserer Gebirge zehrt, die Verwitterung. Nieder-
schläge und Winde, Frost und Hitze, Humus- und Koh-
lensäure, Bergstürze und Wasserfälle arbeiten an der
Umformung und Erniedrigung der Berge, und aus stehen-
gebliebenen Resten abgetragener Gewölbebögen läßt sich
berechnen, daß unsere Alpen seit der Erhebung zum
Teil um weit mehr als die halbe Höhe durch Erosion er-
niedrigt wurden, wobei sie in ihren Formen teils be-
reichert, teils verkürzt worden sind. Zu diesen gewöhn-
lichen Faktoren der Abtragung trat nun aber am Ende der
Tertiärzeit noch ein Moment der eingreifendsten Art in
der anrückenden, das Diluvium beherrschenden Eiszeit.
In ihrer vollen Entwickelung überzogen die Gletscher in
einer Weise das Alpenland, daß nur dessen höhere Spitzen `
eisfrei blieben, ähnlich den sog. Nunatakkers in Grön-
land. Obwohl schon vor dieser Zeit sicherlich zahlreiche
Flüsse und Bäche den Alpen entquollen, geeignet Täler
zu schaffen oder doch anzulegen, zu vertiefen und um-
zugestalten, so ist doch erst durch die Gletscher der Eis-
zeit die Ausräumung und Modellierung der Talsenken
und zahlreicher Seebecken in und vor dem Gebirge er-
folgt. Man darf annehmen, daß in den Östalpen nicht etwa
eine einmalige Eiszeit mit verschiedenen Schwankungen,
sondern ausweislich ihrer verschiedenen Ablagerungen
wenigstens drei Eiszeiten mit längeren und wärmeren
Interglazialzeiten geherrscht und daran noch drei kürzere
Vorstöße sich angeschlossen haben 3). Diese Vergletsche-
rung, welche sich insbesondere auch im Isargebiet gel-
tend machte, hat aber trotz ihrer Dauer und Stärke doch
wohl in der Hauptsache das Isartal mit seinen Win-
dungen und Nebenflüssen wenigstens bis Krün oder Fall
so belassen, wie es nach der Alpenerhebung zur Ableitung
der Niederschläge sich nach Norden entwickelt hatte,
wenn auch der Gletscher, bei seiner Höhenlage die Hin-
dernisse und Engen bei Riß, Fall und am Sylvenstein
leicht überschreitend, wohl imstande war, außer den Ab-
zweigungen über Walchen- und Kochelsee, wie über Klais
und Kaltenbrunn nach Partenkirchen zum Loisach-
gletscher noch die direkte Route nach Norden einzu-
schlagen t). Immerhin mußten die enormen Schmelzwasser
nach den verschiedenen Eiszeiten den entschiedensten
Beitrag zur Gestaltung des Isarbettes liefern und konnten
die Bucht zwischen Winkel, Lenggries und Tölz zu
einem großen See erweitern, dessen Terrassen an letzte-
rem Orte heute noch sichtbar sind. Seine nördliche Auf-
dämmung fand dieser See am Buchberg und Kalvarien-
®) Penck u. Brückner, „Die Alpen im Eiszeitalter“.
I. Buch, 8. 110 und an anderen Stellen.
t) v. Klessin, „Moränenlandschaft der bayerischen
Hochebene“ in der „Zeitschr. d. deutsch. n. österr. Alpen-
vereins“ 1883, Bd. XIV, 8. 193 ff. Klessin nimmt übrigens
an, daß die Isar ihr jetziges Bett erst nach dem Rückzuge
der Gletscher und nach geschehenem Durchbruch bei Fall
errungen habe. Rothpletz („Ein geologisch. Querschnitt durch
die Ostalpen“, 1894, S. 126) hebt das Dasein einer Verwer-
fungsrinne von Fall über den Barmsee nach Partenkirchen
bis Eibsee hervor.
berg, aber seine gespannten Wasser ruhten nicht, bis sie
ihre Schotterdämme und die Gebirgsbarre bis zum Ni-
veau des Gletscherbodens durchsägt und sich einen aus-
giebigen Abfluß nach der Ebene verschafft hatten. So
schwand wohl einer der schönsten Alpenseen dahin, das
Schicksal des vormaligen Rosenheimer, Salzburger Sees u. a.
teilend. Der frühere Ablauf des Sees etwa in der Rich-
tung der Greilinger Ötz oder des Ellbaches wird in der
Gegend von Schaftlach vermutet, wo über 80 m tiefe
Schotter sich finden ’). Die heutige Isar erleidet dagegen
bald schon nach ihrem Austritt aus dem Tölzer Becken
in dem Wolfratshäuser Filze, verstärkt durch die dort
einmündende Loisach, eine zweite seeartige Ausbuchtung,
worauf sie dann als gesammelter Fluß ihren Weg durch
die reizenden, an Canons erinnernden Engen der Mo-
ränenlandschaft nach der Landeshauptstadt und weiter
bis zur Donau fortsetzen konnte.
Ältere tertiäre Schichten finden sich kurz oberhalb
Tölz in den Gaisacher und Wackersberger Höhen, und
ist am Kalvarienberge und am Fuße des Buchberges die
untere oligozäne, versteinerungsreiche Meeresmolasse ver-
treten. Cyrenenschichten treten nördlich vom Kalvarien-
berge und am Zollhause zutage. Die Faltung der Mo-
lasse wird zu Ende des Miozän oder im Pliozän ver-
mutet®). Tölz steht zumeist auf Tuff.
Der diluviale Isargletscher hat im Norden von Tölz eine
Reihenfolge von sieben bis acht nordostwärts konzentrisch
gelagerten Endmoränen auf beiden Seiten des Flusses hinter-
lassen, von denen die aus der Würmeiszeit stammenden bis
nach Hohen-Schäftlarn reichen, während diejenigen der gro-
Ben Rißeiszeit bis in die Gegend von Baierbrunn und Grün-
wald gedrungen sind. Vom Öberinntale bis in die Ge-
gend von Wackersberg bei Tölz finden sich auch Grund-
moränen. Giletscherschliffe und geglättete erratische
Blöcke trifft man z. B. in Wallgau, dann in der Zone
der Endmoränen, z. B. in Schäftlarn. Findlingsblöcke
aus Ur- und Kalkstein liegen häufig bei Hechenberg,
Sachsenkam, Rimselrain und am Buchberge. Nagelfluh
tritt insbesondere bei Wolfratshausen, Schäftlarn und im
Gleißental zutage.
Zur Nagelfluh gehörige verfestigte Moränen finden
sich bei Wolfratshausen an der Schwarzen Wand und in
Happerg, wodurch die Annahme einer eiszeitlichen Ent-
stehung der Nagelfluh ihre Bekräftigung erhält”).
Zwei Abzweigungstäler, von der Moränenlandschaft
nach Nordosten in die Ebene führend, der Teufelsgraben
und das Gleißental, die heute trocken liegen, werden ihre
Entstehung den Schmelzwässern zu verdanken haben,
die von dem Isargletscher bei seinem Rückzuge abflossen,
oder einer Zerfaserung des Gletschers im Vorlande, ähn-
lich dem Mündungsdelta großer Flüsse 8).
Das Erratikum der Tölzer Gegend enthält nicht nur
die Steine der nördlichen Kalkalpenkette und der Vor-
berge als Buntsandstein, Dolomit, Wettersteinkalk, Lias,
Jura, Kreide, Flysch, Seekreide, Molasse und Tuff, sondern
auch verschiedene Gesteine der Zentralalpen, da sich eine
mächtige Zunge des diluvialen Inntalgletschers von der
Gegend des heutigen Zirl aus über den 1176m hohen
Seefelder Paß geschoben und in der Richtung des heu-
tigen Isartales und unter Aufnahme verschiedener Lokal-
gletscher aus dem Kalkalpengebiete zur Ebene fort-
gewälzt hatte, so daß der Isargletscher gewissermaßen
°) Nach Rothpletz, „Mitteilungen der Münchener geo-
graphischen Gesellschaft“, IV. Bd., 2. Heft, 1909, S. 251.
z Rothpletz, „Querdurchschnitt“, 8. 98 ff.
7) Penck, „Eiszeitalter“, 8. 176, 182 u. 195; Höfler,
„Isarwinkel“, 8. 16 f. u. 28.
) v. Ammon, „Die Gegend von München“, 8. 256 ff. u.
304; Geistbeck, „Die Seen der deutschen Alpen“, 8. 332.
6*
40 Stübe: Oskar Münsterbergs „Chinesische Kunstgeschichte“.
aus dem Inngletscher zu gutem Teile entstanden ist. Wir
treffen darum in der Tölzer Gegend, dann in dem Schotter
der Endmoränen wie der Münchener Ebene auch Gerölle aus
dem Urgebirge der Alpen, insbesondere Granite, Diorite,
Hornblende, auch Quarzite, Phyllite und Glimmerschiefer,
aber seltener als im Innbogen ®). Noch ist zu bemerken,
daß unter dem Flußschotter bei Tölz feiner, geschichteter
Kalkschlamm aus Schalen von Muscheln und Schnecken,
die sog. Seekreide, gefunden wird, welche an die einstige
°?) Penck, „Vergletscherung der deutschen Alpen“, X.
Meeresbedeckung erinnert. — Sieht man heute von der
unvergleichlichen Aussichtswarte des Kalvarienberges auf
die Endergebnisse dieser erdgeschichtlichen Ereignisse,
so ‚präsentiert sich im Süden das Bild einer erhabenen
Alpenlandschaft als Hintergrund, der sich ein ansehn-
licher Fluß entwindet, flankiert von den Flyschbergen
und Vorhöhen und zu unterst geschmückt durch das
freundliche Städtebild von Tölz mit Bad Krankenheil.
Im Norden dehnen sich vor unseren Blicken die wald-
bedeckten Höhen der Moränen links und rechts des Flusses
bis in die Breite des Taubenberges. (Schluß folgt.)
Oskar Münsterbergs „Chinesische Kunstgeschichte“.
Von Dr. R. Stübe.
Bis vor kurzem war es weiteren Kreisen kaum mög-
lich, sich vom Kunstleben des Orients und seinen Schöp-
fungen eine zutreffende Vorstellung zu bilden. Unsere
Museen weisen den Kunstwerken der großen orientalischen
Kulturvölker ihren Platz nicht in den der Kunst ge-
weihten Hallen an, sondern ordnen sie in die Bestände
der völkerkundlichen Sammlungen ein und stellen sie
dadurch in die herabdrückende Nähe der technischen
Produktion von Völkern ärmerer oder primitiver Kultur.
Schon dadurch fällt ein falsches Licht auf die Kunst des
Orients. Sie kommt nicht zu ihrem Rechte, wenn sie
lediglich als ethnographisches Material, als Darstellung
einer Volkskultur angesehen wird. Mindestens gebührt
ihr die gleiche kunstgeschichtliche Schätzung, wie der
mittelalterlichen Kunst Europas, und in vielem ragt sie
weit über diese hinaus. In neuester Zeit haben Aus-
stellungen orientalischer Kunstwerke in oft überraschender
Weise uns den hohen künstlerischen Wert der orienta-
lischen Schöpfungen anschaulich nahe gebracht, wie jetzt
die islamische Ausstellung in München. Ferner ist ge-
rade in diesen Tagen in Paris vom Musée Guimet eine
Ausstellung der chinesischen Malerei veranstaltet worden,
die auch mit Gemälden aus dem Besitz des chinesischen
Kaiserhauses ausgestattet ist. Darin bekundet sich eine
Würdigung der ostasiatischen Werke, die ihrem künst-
lerischen Wert gerecht wird. Bisher hatte nur die
japanische Malerei, zumal der Farbenholzschnitt, in
Europa die Beachtung kunstliebender Kreise gefunden,
und die hohe Schätzung der japanischen Kunst ist ja
durchaus berechtigt. China trat dem gegenüber bisher
sehr zurück, hauptsächlich weil man von den besten
Werken seiner Kunst bisher nur an wenigen seltenen
Stücken eine lebendige Anschauung gewinnen konnte.
Durch Hirths Arbeiten zumal war ja manches über die
Geschichte der chinesischen Kunst bekannt; aber das
Studium kunstgeschichtlicher Beziehungen vermag die
Anschauung der Werke nicht zu ersetzen. Eine solche
in reichem, oft überraschendem Maße zu gewähren, ist
das größte Verdienst von Oskar Münsterbergs „Chine-
sischer Kunstgeschichte“, deren I. Band (Eßlingen a. N.
1910, Paul Neff) die altertümliche Kunst der vorbuddhi-
stischen Zeit und von der hohen Kunst die Malerei und
Bildhauerei vom 3. Jahrhundert bis zur Gegenwart dar-
stellt. Der zweite Teil wird die Entwickelung der Archi-
tektur und das Kunstgewerbe in seinen verschiedenen
Zweigen darstellen.
Was an dem vorliegenden Bande das Interesse und
die Bewunderung weiterer Kreise finden wird, sind die
zahlreichen Proben der chinesischen Malerei aus späterer
Zeit. Werke, die neben Fremdartigem eine feine Natur-
beobachtung und eine überraschend lebensvolle Darstellung
geben, treten seit der Tangdynastie (618 bis 960) hervor.
Leipzig.
Ein Werk graziöser Zeichnung ist die Frauengestalt auf
einem Bilde vom Jahre 752 n.Chr. (Nr. 134), und unter
den Naturstudien sind zahlreiche von wunderbarer Fein-
heit (Nr.139, 146), so daß die Kunst der Tangzeit, die
freilich nur aus Kopien erkennbar ist, durchaus moderne
Züge trägt und als die Vorbereitung der klassischen
Kunst unter den Sung (960 bis 1280) erscheint. Auf
allen Gebieten malerischer Darstellung finden wir aus
dieser Zeit Werke, die oft an moderne Technik erinnern
(Tafel IV, Abb. 171, 178, 200). Vor allem tritt klar
hervor, wie sehr die Japaner in ihren feinsten künst-
lerischen Schöpfungen von China abhängig sind.
Es mag indes genügen, den ästhetischen Wert des
Werkes nur durch einige Hinweise anzudeuten. Wesent-
licher ist der ganze Standpunkt, den das Werk der ost-
asiatischen Kunstwelt gegenüber einnimmt. Aus lang-
jähriger Arbeit erwachsen, verwertet es nicht nur in
zusammenfassender Darstellung die bisher geleisteten
Vorarbeiten von Hirth, Giles, Bushell und Binyon, sowie
die Schätze der großen Museen. Es führt in mehreren
Punkten auch weiter oder weist die Bahnen einer erst
auszubauenden Forschung. Wie die älteren Bestände
an Werken ostasiatischer Kunst in unseren Museen auf
das Kunstgewerbe beschränkt waren, die der Handel als
Merkwürdigkeiten aus einer fremdartigen Welt nach
Europa führte, so sind auch noch neuere, an sich gute
Darstellungen der chinesischen Kunst, wie die von Paleo-
logue (1887) und Bushell (1904), in der Hauptsache der
Keramik und dem Bronzeguß gewidmet; die Werke der
großen Malerei und Skulptur fehlten bis vor kurzem in
den Sammlungen wie in der Literatur. Lediglich der Reiz
des Fremdartigen und Seltenen bestimmte das Interesse
für die ostasiatische Kunst. Vollends dachte niemand
an eine Archäologie Chinas, die jetzt für die Kultur-
geschichte Chinas von entscheidender Bedeutung geworden
ist. Hier hat Chavannes bahnbrechend gewirkt durch
seine Bearbeitung der Schantungskulpturen; ebenso hat
Laufers Werk über die Keramik der Hanzeit (Chinese
Pottery of the Han Dynasty. Leiden 1909) ganz neue
Aufschlüsse zur Geschichte der Kunstformen gebracht.
Für die Malerei hat bekanntlich Friedr. Hirth als
Sammler und Forscher die Aufmerksamkeit auf die Ge-
schichte der großen Kunstwerke gelenkt, um deren ästhe-
tische Würdigung sich Binyon das größte Verdienst
erworben hat. Endlich darf Woermann nicht vergessen
werden; ohne hier Spezialforscher zu sein, hat seine um-
fassende Kenntnis des gesamten Kunstlebens und sein
feiner Blick ihn befähigt, auch die Besonderheit der
chinesischen Kunst geistvoll zu erfassen und ihr eine
achtbare Stelle im Zusammenhang der allgemeinen Kunst-
geschichte zu verleihen. Münsterberg hat nun versucht,
eine in sich gegründete Geschichte des chinesischen Kunst-
Stübe: Oskar Münsterbergs „Chinesische Kunstgeschichte“. \ 41
schaffens im Zusammenhange mit der geschichtlichen
Gesamtentwickelung Chinas und den bestimmenden
Wesenszügen der chinesischen Kultur zu geben. Dem-
entsprechend tritt nicht die Geschichte der Künstler und
ihrer Werke, sondern die Wandlung der Stile und die
historische und psychologische Analyse der Formen in
den Vordergrund. Daß sich ein uns so fremdartiges
Wesen wie das chinesische, das wir erst beginnen kennen
zu lernen, sogleich völlig enthülle, ist nicht zu erwarten.
Und vielleicht hat A. Conrady recht, wenn er urteilt
(Wassiljew, Die Erschließung Chinas. Deutsche Ausg.,
Leipzig 1910, 8.233), daß es dem Europäer vielleicht
niemals gelingen werde, das innere Wesen des chinesischen
Geistes völlig zu erfassen. So wird auch Münsterbergs
psychologische Analyse, so anregend sie ist, vielleicht
nicht von jedem in gleicher Weise angesehen und geteilt
werden, und die Zukunft mag manches in anderem Lichte
erscheinen lassen. Auch über manche seiner historischen
Aufstellungen, die über das tatsächlich Vorliegende hin-
aus Zusammenhänge der Entwickelung zu erschließen
suchen, wird man zurückhaltender und oft skeptisch
denken.
Das Gebiet, das historisch von entscheidender Be-
deutung ist, bildet die altchinesische Kunst der vorbud-
dhistischen Zeit. In ihr sind die Grundlagen der chine-
sischen Kultur zu ihrer vollen, alle fernere Zeit beherr-
schenden Wesensart durchgebildet, in ihr hat auch die
chinesische Kunst ihre elementaren Charakterzüge ge-
wonnen. Es ist die Kunst, die ihren Abschluß unter
der Handynastie (206 v. Chr. bis 221 n. Chr.)
findet.
Das ganze Werk Münsterbergs ist von dem Gedanken
einerdieganze Menschheit seit altersumfassenden Kultur-
gemeinschaft beherrscht, es sucht demnach in der Kunst
Chinas überall die Spuren weitreichender Zusammenhänge
mit anderen Kulturgebieten. Die strenge Absonderung
großer, in sich geschlossener und selbständiger Geschichts-
gebiete, wie sie bisher gewonnen ist, trennte China bis-
her von dem westasiatischen Kulturbereich, der in Baby-
lonien wurzelt und sich zum Mittelmeerkreise erweitert hat.
Zwischen beiden schien Indien ein isoliertes Dasein zu
führen. Die geographischen Verhältnisse schienen nament-
lich in den Hochgebirgen und Wüsten Asiens unüber-
windliche Scheiden zwischen den großen Kulturgebieten
errichtet zu haben. In der Tat sind sie stark genug
gewesen, um Kulturen von stark ausgeprägter Eigenart
und innerer Geschlossenheit erwachsen zu lassen. Aber
in der Strenge, wie man früher meinte, bestand zwischen
den großen Kulturgebieten diese Abgrenzung doch nicht.
Gerade die sinologische Forschung hat in der letzten
Zeit immer sicherer feststellen können, daß Chinas
Kulturentwickelung nicht ohne ein tiefgreifendes Wirken
fremder Mächte verständlich ist; und damit ist das
letzte, bisher isolierte Geschichtsgebiet in die universal-
geschichtlichen Zusammenhänge hineingezogen worden.
Conrady hat den Zusammenhang Chinas mit Indien
bis in das 4. Jahrh. v. Chr. zurückverfolgt (Zeitschr.
d. Deutsch. Morgenländ. Gesellsch. 1906) und die
Zusammenhänge Chinas mit dem Westen und mit
Zentralasien mehrfach beleuchtet (Wassiljew, Er-
schließung Chinas, S. 204 bis 215, und im 3. Bande der
Ullsteinschen „Weltgeschichte“). Auch die vorliegende
Kunstgeschichte Münsterbergs enthält einen wertvollen
Beitrag Conradys (S. 78 bis 89), in dem das in alt-
chinesischen literarischen Quellen vorliegende Material
für die Geschichte der figürlichen Darstellungen zum
ersten Male erschlossen wird. Diese Nachweise hätten
noch tiefer auf Münsterbergs Aufstellungen wirken
müssen, mancher Mißgriff wäre dadurch vermieden.
Globus XCVIIT. Nr. 3.
So berechtigt es also auch ist, die chinesische Kunst
nicht nur im Zusammenhang der Kulturentwickelung
Chinas zu erfassen, sondern auch stets auf mögliche
Einwirkungen fremder Kulturen Obacht zu geben, so
schwierig ist es noch, hier die Grenzen zwischen eigenem,
bodenständigem Schaffen und Entlehnungen fest zu
ziehen. Lediglich die Formen der Kunstsprache sind es,
die hier als Zeugnisse dienen. Welche Beweiskraft ihnen
eigen ist, das wird noch nicht in jedem Falle zu bestimmen
sein. Zumal in primitiven Formen der Kunst werden
ähnliche Erscheinungen leicht wiederkehren.
Münsterberg vertritt mit großer Bestimmtheit die
These vom Zusammenhang der chinesischen Kunst mit
dem Westen. Schon für die sogenannte Steinzeit (3. Jahrt.
v. Chr.) nimmt er diesen Einfluß an; von einem kauka-
soiden Volk sei die erste Kultur in China eingeführt
worden. Die Ornamentik der prämykenischen Bronge-
zeit sei hier in Ton nachgebildet worden. Das Volk,
das als Träger und Vermittler dieser Kultur wirksam
war, seien die ehemals weitverbrerteten Ainos gewesen,
die aus dem Westen einen gewissen Kulturbesitz mit-
brachten. Neben anthropologischen Erscheinungen soll
die Ornamentik der Tongefäße den Zusammenhang mit
dem sogenannten mykenischen Kulturkreise erweisen.
Diese Hypothese ist von Münsterberg in interessanter
Weise entwickelt worden; aber trotz einiger Vorsicht, die
dabei zu Worte kommt, rechnet sie doch mit mehreren un-
bekannten Größen. Wir werden reichere Funde von der
Zukunft abwarten müssen — vielleicht erschließt solche
der beginnende Bahnbau in China —, ehe hier sichere
Erkenntnisse möglich sind. Auch die Bronzezeit des 2. vor-
christlichen Jahrtausends wird als eine Ausstrahlung der.
mykenischen Kultur aufgefaßt. Ihre Formen aber seien
in nationalem Stile umgestaltet worden. Die Kunst
dieser Zeit bleibt rein dekorativ, sie ist auf lineare Orna-
mentik und Tierstilisierung beschränkt, unbekannt bleibt
noch die menschliche Gestalt. Auch hier sind die Pro-
bleme schwierig; originale Werke sind nicht erhalten.
Die chinesischen Annalen erzählen zwar eine Kaiser-
geschichte seit 2852 v. Chr., sie ist aber für die älteste
Zeit durchaus mythisch und noch auf lange hinaus halb-
geschichtlich. Wertvoll sind zwar die Abbildungen in
chinesischen Kunstwerken, deren älteste Stücke der
Schangzeit (1766 bis 1122 v. Chr.) angehören; aber
diese Kunstverzeichnisse sind erst im 12. Jahrh. n. Chr.
angelegt. Diese Abbildungen entsprechen zweifellos
nicht den primitiven Formen, sondern setzen sie um in den
durchgebildeten Stil ihrer eigenen Zeit. Die primitiven
Formen treten uns am ehesten noch in den mit Inschriften
` versehenen sogenannten „Steintrommeln“ entgegen, in
denen vielleicht die alten Bronzekessel nachgebildet sind
(Abb. 121). Wahrscheinlich sind diese Geräte Opfer-
gefäße, die im Ahnenkultus eine Rolle spielten. Derartige
Gefäße sind es, auf denen sich eine reiche Ornamentik
entwickelt (Abb. 2). Daß diese Ornamente häufig an
entlegenen Stellen wiederkehren, ist begreiflich. Leicht
werden sich ähnliche Linienführungen einstellen; wir
finden ähnliche Formen etwain den Tätowierungen der Süd-
seeinsulaner wie auf mexikanischen Tongefäßen. Viel-
leicht ist die Art, wie eine Fläche mit Ornamenten be-
deckt wird, charakteristischer als die einzelnen Formen.
Danach scheint mir, daß die chinesische Ornamentik
völlig selbständig gebildet ist. Auch die Annahme einer
Entlehnung des „Wolkenornaments“ aus einem wie
immer auch bestimmten „mykenischen* Kreise scheint
1) Der Verleger des Münsterbergschen Werkes war so
freundlich, die beigegebenen Abbildungen daraus für diese
Besprechung zur Verfügung zu stellen.
7
42 Stübe: Oskar Münsterbergs „Chinesische Kunstgeschichte“.
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Abb.1. Steintrommel mit Inschrift, aus Fenghsiang, Provinz Schensi
(zugeschrieben dem 11. oder 9. Jahrh. v. Chr., jedenfalls vor 770 v. Chr., jetzt im Confucius-Tempel zu Peking). Aus Bushell, Chinese Art, Bd.
—
Abb. 2. Urne mit Bügel zum Wassertragen bei Opfern, Abb. 5. Metallspiegel aus der Hanzeit.
mit Ornamenten aus Tierköpfen, Spiral- und Mäanderlinien.
Rankenornamente mit Löwen, Vögeln und Trauben.
Abb. 3. Liegender oder springender Hirsch aus Gold,
gefunden 1688 in Sibirien.
2 CAT w 2 “1 I oh `o iy
Abb.4. Chinesisches Opfergefäß mit Deckel, aus Bronze. Abb.6. Steinrelief aus den Grabkammern der Familie Wu
Stilisierter Hirfch (?), reich mit Ornamenten verziert. Um 1000 n.Chr. (147 n. Chr.), Schantung. (Chavannes, La sculpture en Chine.)
Stübe: Oskar Münsterbergs „Chinesische Kunstgeschichte“. 43
mir nicht erweislich. Auch in den Grabbauten will | zwischen Mensch und Tier verkünden. Abb. 3 zeigt
Münsterberg eine Einheit des europäischen und ost- | eine solche Darstellung, die eines springenden Hirsches
asiatischen Kulturkreises erkennen. Wiederum läßt ! aus dem sibirischen Kunstgebiet. Eine Nachbildung
sich nicht leugnen, daß
manche Anlagen sehr
ähnlich sind; aber schließ-
lich hat eine Grabanlage
überall eine ähnliche Be-
deutung, wie auch der
Totenkult, aus dem sie
hervorgeht, natürlich
überall ähnliche, allge-
mein menschliche Züge
aufweist. Die Möglich-
keit einer weitreichen-
den Kulturverbindung
zwischen Ostasien und
einem westlichen, auch
nach Europa hinüber-
greifenden Kulturgebiet
können wir kaum erken-
nen; man würde vielmehr,
wo so früh ein ausge-
prägter, nationaler Stil
auftritt, doch auch mit
der Fähigkeit selbstän-
digen Schaffens rechnen
dürfen.
Interessant ist die Be-
handlung der Zeit seit
dem 6. Jahrhundert v.
Chr. China hatte bereits
einen durchaus eigen-
artigen, geistigen Kultur-
besitz geschaffen in seiner
Geschichtsschreibung
und Poesie, deren Reste
in den vier „klassischen
Büchern“ (king) erhalten
sind. Das sich in sym-
bolische Formen klei-
dende Denken der Chi-
nesen, ihr Staatsleben, 7
ihre Moral und Poesie Abb. 8. Kochherd auf „Bären“-Füßen mit Feueröffnung, Rauchabzug
Abb.7. Tongefäß in Form eines Getreide- Abb. 11. Häuschen aus Ton mit Ziegel-
speichers. Totenbeigabe aus Gräbern der Han- dach, im Innern ein Kornstampfer. Nach
zeit. Nach Laufer, Chinese Pottery of the Han Dynasty. Laufer, Chinese Pottery of the Han Dynasty.
sind ganz aus dem eigen- und zwei Kochöffnungen, aus Gräbern der Hanzeit. Nach Laufer, Chinese
sten Wesen der Nation Pottery of the Han Dynasty.
erwachsen. Damit ist
nun nicht gesagt, daß
es in der Kunst auch so
sein müßte. Wenn man
auch einem so selbstän-
digen Kulturvolke eige-
nes künstlerisches Schaf-
fen wird zutrauen dür-
fen, so können doch
fremde Anregungen ge-
wirkt haben. Münster-
berg findet solche zu-
nächst für das 5. bis
3. vorchristliche Jahr- RE
hundert in den Skythen- `
völkern, die in Sibirien ` -
und Südrußland eine Abb.9. Totenbeigabe aus Ton in Form Abb. 10. Kochgerät aus Bronze im Stil
a nn.
materiell reiche Kultur eines Schafstalles mit Getreidemühle. der Hanzeit. Nach Laufer, Chinese Pottery of
hatten. Künstlerisch sind Nach Laufer, -Chinese Pottery of the Han Dynasty. the Han Dynasty.
für sie — wie für prä-
historische Menschen und heute etwa für manche sibiri- | dieses echten Jäger- oder Nomadenwerkes findet Münster-
schen und polaren Stämme — die Tierdarstellungen be- | berg in Opfergefäßen wie Abb. 4, einer völlig sinnlos ge-
zeichnend, die einen intimen Zusammenhang des Lebens | wordenen Stilisierung. Ob es damit wirklich so steht? An
7+
4 Stübe: Oskar Münsterbergs „Chinesische Kunstgeschichte“.
Abb. 12.
Nach Beltz, Eine Reise in Szechuan.
sich sind Umbiegungen naturalistischer Formen in kaum
erkennbare stilisierte Gebilde in aller primitiven Kunst
wahrnehmbar. Aber mit einer Formel sind schwerlich alle
Erscheinungen zu erklären. Man muß auch damit
rechnen, daß durch rein praktische Zwecke bedingte.
Formen, z. B. Geräte, mit einem Schmuckwerk umhüllt
und in Formen umgebildet werden, die aus der Phantasie
dem Dinge anwachsen. — In den Zusammenhang mit
den Skythen will Münsterberg auch die berühmten
Traubenspiegel einordnen, in denen man meist Denkmäler
hellenistischen Einflusses sieht (Hirth), und es scheint
zweifellos, daß griechisches Formgefühl die Trauben-
und Vogelornamente beherrscht (Abb. 5). Ob diese
Formen dann aus dem sibirischen Völkerkreise oder aus
Baktrien nach China kamen, muß wohl noch dahin-
gestellt bleiben.
Ein wesentlich bereicher-
tes Bild bietet die chinesi-
sche Kunst seit 200 v. Chr.;
sie gewinnt an figürlichem
Gehalt, Menschen und Tiere
treten nicht nur in großer
Fülle hervor, sie erscheinen
auch in natürlicher Bewe-
gung. Eine realistische Auf-
fassung der Natur bricht
sich Bahn und verleiht der
Darstellung Leben und Be-
wegung. Die von Chavannes
gefundenen Skulpturen (Re-
liefs) in Schantung (1. und
2. Jahrhundert n. Chr.) re-
präsentieren eine weit ältere,
figurenreiche Darstellungs-
weise, das historische Ge-
mälde. Erhalten ist zwar
nichts davon; Conrady aber
hat in einem Gedicht des
4. Jahrhunderts v. Chr., den
„Elegien von Ts’u* des K’üh
Yüan (Ff 293 v. Chr.), die
Beschreibung von Wand-
gemälden in alten Tempeln
erwiesen, die in Form und
Stoffen den Schantung-
skulpturen sehr nahe stehen.
Ähnliche Werke lassen sich
auch anderweit in der litera-
rischen Tradition bis ins
2. vorchristliche ‚Jahrhun-
Abb. 13.
„Tausend-Buddha-Felsen“* am Yaho, Provinz Szechuan.
Buddhistische Heilige.
Nach Mission d’Ollone.
dert zurückverfolgen.— Zur Ver-
anschaulichung der Schantung-
skulpturen mag Abb. 6 dienen,
eine Darstellung aus den
Grabkammern der Familie Wu
(147 n.Chr.). Wir sehen neben
dem stilisierten Baum zwei zwei-
rädrige Wagen mit Pferden, oben
einen Diener mit Hund und einen
schießenden Bogenschützen. Tat-
sächlich erreichen diese Darstel-
lungen eine Wiedergabe des ge-
samten Lebens. Sie berühren sich
vor allem darin mit den Elegien
aus Ts’u, daß sie in Welt und
Leben die Mächte des Guten und
Bösen darstellen, wie Conrady
sehr feinsinnig betont. — Hier
erhebt sich nun die Frage, wie
diese Kunst in China erwachsen ist. Überraschend ist
die lebenswahre Darstellung namentlich in den Pferden.
Münsterberg nimmt die Ausbildung eines zentralasiatischen
Mischstiles an, der seinerseits von der mykenischen Kunst
beeinflußt war und nach China gelangte. Bei den starken
Völkerbewegungen wäre auch ein solcher bedeutender Ein-
fluß Zentralasiens auf China denkbar. — Ein reicheres Bild
des chinesischen Lebens gewähren die erst von Laufer
erschlossenen Töpferarbeiten der Hanzeit. Merkwürdig
ist Abb.7. Hier — wie an vielen Stellen der Erde —
bilden die Tonwerke das wirkliche Leben nach. Den
häufigen Hungersnöten suchte man durch Anlage von
Speichern zu begegnen. Der Speicher wird dann auch
in den Totenkult eingeführt, indem man die Verstorbenen
durch kleine Getreidespeicher vor Not zu schützen sucht.
Auch den altchinesischen Kochherd lernen wir aus den
Felsrelief bei Yong Kinghien.
Hosseus: Ein botanischer Ausflug auf den Pedrotallagala (Ceylon). 45
Requisiten des Totenkults kennen (Abb. 8). Vorn
sehen wir die Feueröffnung, hinten den Rauchabzug,
auf der Oberfläche kreisförmige Öffnungen für die Gefäße.
Kulturgeschichtlich sehr interessant ist Abb. 9. Zu dem
ältesten wirtschaftlichen Besitz Chinas gehört das Schaf;
das Schriftzeichen für „Schaf“ gehört zum ältesten
Bestande der chinesischen Bilderschrift. Eine Schafherde,
die dem Toten mitgegeben wird, stellt diese Abbildung
dar. Vor den Schafen steht eine Mühle, wie sie in
China noch heute in Gebrauch ist. Die untere kreis-
förmige Platte bildet einen vertieften Rand zur Aufnahme
des Mehls, während sich der Mahlstein um einen Zapfen
in der Mitte dreht. Das Kochgerät (Abb. 10) zeigt
gegenüber den ursprünglichen Tonwerken durch die
Feinheit dieser Formen zweifellos seinen Ursprung in
der Bronzetechnik, und man möchte hier angesichts der
meist plumpen Tongeräte der Hanzeit doch an westliche
Vorbilder denken.
In der Tat greift in der Hanzeit seit dem 3. Jahr-
hundert der hellenistische Einfluß nach China hinüber,
zunächst durch Baktrien und Indien vermittelt, später
durch einen direkten Verkehr mit Rom erheblich gesteigert.
Es ist eine der interessantesten Erscheinungen der
gesamten Kulturgeschichte, wie der die Formen be-
zwingende und beseelende, den Gestalten unmittelbar
fühlbaren, menschlichen Lebensgehalt verleihende
griechische Geist in Indien und China eine künstlerische
Revolution hervorruft. Nichts ist dafür bezeichnender
als die Neubildung der Göttergestalten, deren altertüm-
liche Starrheit — das Kulturbild bewahrt archaische
Form weit länger als andere Werke — gemildert wird,
die von den verzerrenden Attributen, mit denen sie die
indische Spekulation ausgestattet hat, von den zahlreichen
Köpfen, Beinen und Armen, erlöst werden, um als rein
menschliche Größen menschlichem Empfinden nahe zu
treten. In der Entwickelung des Avalokitesvara zur
Kuanyin vom Typus der Madonna tritt dieser Prozeß
vielleicht am klarsten und zugleich schönsten hervor.
Aber der hellenistische Einfluß hat auch tief in das
Leben eingegriffen. Wir spüren ihn im Kunstgewerbe,
ohne ihn sind die oben erwähnten Metallspiegel kaum zu
erklären. Er befreit die Menschengestalt vor allem aus
ihrer Gebundenheit an andere Raumkünste. Jetzt er-
scheinen freistehende plastische Darstellungen der
Menschen wie auch des Tierkörpers, die als Schmuck-
stücke von Bauten und Gärten dienen, häufiger in China.
Freilich ergeben auch hier die literarischen Quellen, daß
in vereinzelten Fällen schon früher Menschengestalten
und Tiere plastisch dargestellt sind. Um Werke von
eigentlich künstlerischer Tendenz aber scheint es sich
hier noch nicht zu handeln. Seit dem 4. Jahrhundert
erst erlebt die künstlerische Produktion ihre große
Befreiung. Nach Münsterbergs Anschauung sind die
Völker Zentralasiens die Vermittler dieser Kunst
gewesen, sogar Indien sollen sie vielleicht angeregt haben.
Die Türkvölker seien damals hochkultiviert gewesen, sie
hätten Kultureinflüsse des Westens selbständig ver-
arbeitet, und der so entstandene Mischstil habe die Kunst
der Hanzeit schaffen helfen. — Ob sich diese Auf-
stellungen als haltbar erweisen werden, erscheint mir
zweifelhaft. Mir scheint vielmehr, daß außer ältestem
Kulturbesitz babylonischen Ursprungs die größen An-
regungen auf Zentralasien von Indien und China aus-
gehen und hier erst eine Mischkultur erzeugt haben.
Ein wesentlicher Zug in der Kunst Chinas dieser Zeit
ist die Entwickelung des Hausbaues (Abb. 11) in festem
Material mit Ziegeldach, das wohl von Griechenland aus
beeinflußt ist. Zum Teil auf fremde Anregungen gehen
vor allem auch die phantastischen Tiergestalten der
chinesischen Kunst zurück, wie Drache und Phönix,
Löwe und Tiger. Sie haben in der Hanzeit ihre typischen
Formen gewonnen.
Wir haben damit die schwierigen und weitausgreifen-
den Probleme der ältesten chinesischen Kunst- und
Kulturgeschichte nur berührt. Die Darstellung der
hohen Kunst bleibt durchaus in den weiten kultur-
geschichtlichen Zusammenhängen; aber immer stärker
tritt in ihr das rein Künstlerische hervor. Nur auf eine
große Bewegung sei noch hingewiesen, die dem chinesischen
Geistesleben und Kunstschaffen die stärksten Anregungen
gegeben hat, auf die buddhistische Mission. Mit ihr ge-
langt die gedankenreiche und phantastische Wesensart des
indischen Geistes, ihre Großartigkeit und Schrankenlosig-
keit nach China. Vor allem die Baukunst (Abb. 12) und
die Skulptur werden aus der Gestaltenfülle des indischen
Glaubens bereichert. Eine Gruppendarstellung, wie die
buddhistischen Heiligenreliefs in Abb. 13, wäre schwer-
lich je aus dem chinesischen Wesen hervorgegangen.
Hier denkt man an die Stupas von Santschi, von
Amaravati und an die gewaltige steinerne Erzählung der
buddhistischen Mythologie von Boro-Budur.
Münsterbergs Buch faßt die Probleme mit großem
Kennen an und nimmt zu ihnen entschiedene Stellung.
Vielleicht muß man historisch über vieles anders
urteilen. Das darf das Verdienst des Buches nicht
verringern, das einen reichen Stoff in glänzender Weise
anschaulich vorlegt und ein umfangreiches gelehrtes
Material zur Prüfung der Fragen mitteilt.
Ein botanischer Ausflug auf den Pedrotallagala (Ceylon).
Von D. C. C. Hosseus.
Der ausgezeichnete Nachtzug — für einen Zuschlag
von 2 Rupies 50 (also etwa 3.X) erhalt man einen Platz
im Schlafwagen — brachte mich von Colombo, der
Handelszentrale Ceylons, nach Nuwara Eliya. Interessant
war die Reisebegleitung, zumeist Freiwillige eines eng-
lischen Regiments, die sich zu einer Manöverübung ins
Gebirge begaben. Da mir für meinen botanischen Aus-
flug von Direktor Willis in Peradeniya der Sammler des
dortigen Gartens zur Verfügung gestellt war, wurde
meine Nachtruhe dort gestört — leider vergeblich, da
jener nicht erschienen war.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, befand ich
mich in herrlichster Gegend. Draußen lag eine Tee-
plantage neben der anderen; zwischen den Ständen waren
Bad Reichenhall.
Eukalyptusbäume als Luftreiniger für die Fiebergegenden
gepflanzt. Verstohlen blickten Bungalows, die Land-
häuser der Pflanzer, aus dem saftigen Grün hervor.
Bananen und Pharmium tenax vervollständigten das fried-
liche Bild.
Hinter Nuovo mußten wir den bequemen Wagen ver-
lassen und in eine kleine schmalspurige Bahn umsteigen,
bei der je ein Wagen nur zwei Abteilungen enthält. Den
mangelhaften Komfort vergaß man in dem Augenblick,
da man die Station hinter sich hatte, um bergauf durch
den Urwald zu fahren. Zum ersten Male treten hier die
Farrenbäume vermischt mit tiefrotem Rhododendron
(arboreum) und anderen Ericaceen formationsbildend auf.
Im dichten Dschungel verbinden Lianen die einzelnen
46 Hosseus: Ein botanischer Ausflug auf den Pedrotallagala (Ceylon).
Urwaldstämme; diese sind nicht mehr so hoch wie im
Tale, je mehr die Bahn sich aufwärts bewegt, desto
niedriger werden vor allem die Rhododendren. Die Tee-
plantagen verschwinden mehr und mehr. Endlich sind
wir auf einer Hochebene angelangt. Vor uns liegt Nu-
wara Eliya, der erste Höhenkurort Ceylons. Lieblich
heben sich aus frischem Grün die einzelnen Villen ab,
im Hintergrunde stürzt von ziemlicher Höhe ein Wasser-
fall von den die Ortschaft umrahmenden Hügeln.
Nach mannigfachen Irrfahrten auf der Suche nach
meinem Präparator landete ich im Grand Hotel und
wurde von dem deutschen Betriebsleiter empfangen. Auf
sein Anraten hin nahm ich mir einen Wagen nach Hack-
gala, dem Höhengarten von Peradeniya. Oben in Nu-
wara Eliya, das 1700 m ü. d. M. liegt, wehte der Süd-
westmonsun und riß es ständig Nebel. Nach 200m
Höhenverlust ist der Garten, dem Wind wie Nebel fehlen,
erreicht. Sein Vorstand, Herr Nock, übernimmt gern
die Führung, so daß es möglich ist, alles Wissenswerte
aus bester Quelle zu erfahren. Ein abwechselungsreiches
Bild: Hier blühen unter Alsophilen unsere heimischen
Veilchen, dort späht aus üppigem Grün der Tradescan-
tien ein Margaretchen hervor. Der Vater von Herrn
Nock hat den Garten auf die jetzige Höhe gebracht, heute
ist es die Aufgabe des Sohnes, ihn zu erweitern und vor
allem die Versuche mit Anpflanzungen von Kampfer-
bäumen fortzuführen. Von größtem Interesse sind die
zur Reife gelangten Pfirsiche und Kirschen. Viele
sonstige in Europa zum Teil heimische, zum Teil akkli-
matisierte Pflanzen werden ebenfalls in Hackgala mit
Erfolg kultiviert. Nelken, Rosen und Veilchen blühen üppig
am Wegesrand; Geisblatt schlingt sich um ein lauschiges
Laubengestell. Dazwischen wachsen in herrlicher Farben-
pracht allenthalben frei die Orchideen. Die Höhe der
Station ist, wie bereits angedeutet, 1500 m, sie hat
aber nicht unter den Einflüssen des Monsuns zu leiden,
so daß ein blauer Himmel an der Tagesordnung ist.
Ein herrlicher Ausblick ist uns von einem gemütlichen
Gartenhaus, das oft von den Sommerfrischlern aus Nu-
wara Eliya benutzt wird, beschieden. Wir sehen hinaus
auf die Berge der Uva-Provinz; in weitem Bogen heben
sich die grünen Grashügel im Vordergrund von den Tee-
pflanzungen und dem Urwalde ab. Ein unvergleichliches
Panorama, mit dem sich wohl kein europäisches Mittel-
gebirge messen kann! Fehlt es doch auch nicht an einem
herrlichen Wasserfall uns zur Rechten, der von hoch oben,
vorbei an üppigen Farrenbäumen, in den dichten Urwald
stürzt. Zuletzt zeigte mir Herr Nock noch mit großem
Stolze sein kleines Treibhaus. Darin waren herrliche Chry-
santhemen in allen Farben in Blüte. Außerdem enthält die
kleine Sammlung viele empfindliche Orchideen und Farne
neben Geranien und Begonien. Ein in der Nähe gelegenes
Laboratorium mit dem Blicke auf die Berge gibt neben
seinem Hauptzweck, wissenschaftlichen Untersuchungen
zu dienen, auch Botanikern Raum zum Wohnen. Zwei
gemütliche Stübchen und eine Kücheneinrichtung laden
zum freundlichen Aufenthalte ein. Nach englischer Sitte
bittet mich Herr Nock noch zum „Five o'clock tea“;
während der Erfrischungspause läßt eine Spieluhr ihre
trauten deutschen Weisen ertönen. Nur zu schnell
mahnte die Ungeduld des Kutschers zum Aufbruch. Mein
liebenswürdiger Wirt gab mir noch ein Stück das Geleite.
Auf dem Rückwege hatte ich noch Gelegenheit, eine ty-
pische singhalesische Strohhäuservereinigung zu besich-
tigen. Um 5 Uhr kam dann auch endlich mein Präparator
De Silva an, und wir machten uns gleich auf den Weg, um
wenigstens noch einige Pflanzen aus dem Moore in der
Nähe einzulegen. Hier tritt uns die Calla palustris mit
ihren schönen weißen Blüten zwischen Juncus Leschenaul-
tii überall entgegen. Besonders häufig sind Eriocaulon-
Arten (collinum, subcaulescens, Brownianum) zwischen
Coelachne perpusilla, Anaphalis brevifolia und zeylanica,
Senecio ludens und Galium asperifolium. Außerdem
sind drei unseren fast gleiche Arten von Polygonum
überall anzutreffen, ebenso ein Verbascum. In großen
Mengen finden wir Emilia sonchifolia, eine Komposite, die
zum Unterschiede von den in Peradeniya gesammelten
infolge des Höhenunterschiedes bedeutend tiefer rot ge-
färbt ist. Neben Rhododendron arboreum mit seinen
herrlichen dunkelroten Blüten fällt besonders der allent-
halben wachsende, gelbblühende, dornige Ulex europaeus
auf. Von botanischem Interesse ist die häufig an-
gepflanzte Leguminose Acacia melanoxylon, welche sich
durch ihre Heterophyllie, d. h. die doppelte Entwickelungs-
form ihrer Blätter auszeichnet. Diese Erscheinung ist
uns z. B. ja auch von unserem heimischen Efeu bekannt,
der an den blütentragenden Ästen andere fast ganz-
randige Blätter als am unteren Stamme aufweist, wo wir
die charakteristisch gezackte Blattform antreffen, oder
von Ranunculus fluvialis, dem Wasser-Hahnenfuß.
Am nächsten Tage ging ich auf Zuraten des Wirtes
trotz der schlechten Witterungsverhältnisse auf den Pedro-
tallagala, den höchsten Berg Ceylons (2538 m). Die Be-
steigung ist natürlich keine touristische Leistung. Auch
die Unannehmlichkeiten der sonstigen Tropentouren fallen
weg, wenn man das Glück hat, bei der Regenzeit fast
ohne Regen davonzukommen. Um 6 Uhr 40, verhältnis-
mäßig spät, brachen wir auf, mein Sammler, ein Kuli
und ich. Entsetzt schaute mich ersterer an, als ich er-
klärte, meinen Rucksack selbst tragen zu wollen. „Dafür
ist doch der Kuli da.“ Es dauerte lange, bis ich ihm
auseinandergesetzt hatte, daß ich mich nur ungern von
diesem Begleiter trennen würde.
Die erste Zeit hatten wir noch Rhododendronbestände,
dann änderte sich mit einem Mal das Bild. Bei guter
Straße nahm uns der Urwald auf. Viel sehen konnten
wir freilich nicht, da es nebelte und leicht regnete.
Leider war bei der ganzen Tour die Blütenfülle anderer
Jahreszeiten zu vermissen. Der Weg ist floristisch ziem-
lich interessant, um so mehr, als in der gewöhnlichen
Dschungelflora mit Baumorchideen und Moos sich in un-
gefähr 2100 m ein Moor befindet. Eugenien, Knoxien,
Gordonien (darunter E. sclerophylla, woran sich Loran-
thus suborbicularis als Liane emporschlingt, K. platycarpa
und K. pl. var. foliosa, G. zeylanica) bilden u. a. den Ur-
wald, in dem an lichten Stellen Osbeckia rubicunda fast
formationsbildend auftritt. Unter einem mächtigen
Baume von Lasianthus varians finden wir ein kleines
Veilchen, Viola serpens (das ich auch später auf den
Höhen Siams wiederfand) und Polygala arillata. Da-
neben wachsen die rosablühende Rhodomyrtus tomentosa
und Alloephania decipiens, Disporum leschenaultianum
und Moonia heterophylla.
Das vorhin erwähnte Moor umrahmen unter anderem
Symplocos cordifolia, Eugenieen und Hedyotis- Arten
(coprosmoides und quinquenervia). In ihm treffen wir in
Blüte Gentiana quadrifaria, Exacum zeylanicum, Anotis
nummularia, Drosera peltata, zwischen dem tropischen
Schilf Fimbristylis complanata, Carex Walkeri und die
allenthalben im Moore kriechende Selaginellacee Lyco-
podium Carolinianum. Von 2500m ab tritt der Wald
zurück, und wir betreten dann Grasland, mit Rhodo-
dendron arboreum, das, dem Standorte entsprechend, be-
deutend an Stammhöhe abgenommen hat, und mit kleineren
Sträuchern bestanden ist. Der Gipfel selbst, 2538 m ü. d. M.,
ein kleines steiniges Hochplateau, beherbergt neben
Knoxien (platycarpa var. foliosa), Rosaceen (Rubus maero-
carpus und lasiocarpus) nur Gräser und eine geringe
Hosseus: Ein botanischer Ausflug auf den Pedrotallagala (Ceylon). 47
Anzahl Phanerogamen, wie Leucas biflora, Crepis japonica,
Plantago asiatica, Anaphalis zeylanica, Emilia sonchifolia,
und Polygonum. Äußerst interessant für den Unter-
schied im Habitus der gleichen Art in verschiedenen
Höhenzonen ist das in Menge gedeihende Disporum
leschenaultianum. In dem Rasenpolster hat es hier näm-
lich eine Zwergform angenommen, mit reduzierten Blättern
und größeren Blüten. Auch einen Fall von Verderben
bringendem Zusammenleben treffen wir an. Auf einer
niederen Oleacee, Olea polygama Wight, schmarotzt eine
Mispelart Viscum japonicum Blume, die der Wirtspflanze
bereits fast alle Kraft und allen Saft aus den Zweigen
gesogen hat. So sehen wir denn auch hier wieder, daß
selbst auf den Gipfeln der Berge die Natur ihre Ge-
schöpfe zu einem ständigen Kampfe ums Dasein zwingt.
Am frühen Nachmittage waren wir wieder unten im
Hotel angelangt. Die projektierte Tour auf den Adams
Peak mußte unterbleiben, da es infolge der Regenzeit
völlig aussichtslos war, ohne die größten Schwierigkeiten
in seine Nähe zu gelangen. So besichtigte ich denn am
Spätnachmittag noch den im europäischen Stile angelegten
Gemüsegarten des Herrn Lösch und den kleinen Versuchs-
garten der englischen Regierung. In ersterem lassen sich
sehr interessante Studien über das Gedeihen der Gemüse-
und Obstarten und ihre Anpassung an den stark lehm-
haltigen Boden machen. So seien die Pflanzen angeführt,
die immer geerntet werden können: Sellerie, Radieschen
(am besten stehen die roten), Petersilie, französischer
Spinat (der bei uns vor allem in Baden und im Elsaß
gepflanzt wird) und Erdbeeren. Eine zwei- bis drei-
malige gute Jahresernte haben die Kartoffeln. Ebenfalls
sehr gut gedeihen und tragen Rotrüben, Bohnen (alle
Sorten werden gepflanzt, am besten rentieren sich die
gelben Wachsbohnen), weiße Rüben, Lauch, Kopfsalat,
Rosenkohl, Sauerampfer, Artischoken. Dagegen machen
Rotkohl und die anderen Kohlarten, außer Rosenkohl,
aus doppelten Gründen Schwierigkeiten. Entweder leiden
die Pflanzen unter der Wurzelkrankheit, oder die in der
Regenzeit plötzlich mit tropischer Macht hervorbrechende
Sonne bewirkt ein zu schnelles Schießen, das durch keine
Ruheperiode ausgeglichen werden kann. Der Haupt-
kampf ist hier oben ebenso wie bei uns gegen Engerlinge
und Weißlinge zu führen. Auch das Wild, speziell Hir-
sche, soll manchmal schaden.
Mit Obstbäumen sind ebenfalls eine Reihe Versuche
im Gang; die Pfirsiche und Kirschen gedeihen zwar, doch
lassen die Früchte viel von dem Aroma, das sie bei uns
haben, zu wünschen übrig. Außerdem werden Versuche
mit Weinreben, Apfelsinen und Pflaumen angestellt.
Neben diesen Anlagen ist auch noch eine Blumen-
zucht zu Schnittzwecken vorhanden. Hunderte von
weißen Nelken, Veilchen und Rosen wandern zu allen
Zeiten des Jahres hinunter in die Hotels und in die
Paläste Colombos. Nebenbei sei erwähnt, daß auch Fisch-
bassins unter den größten Schwierigkeiten, da das Wasser
vor dem Austrocknen in der heißen Zeit geschützt werden
muß, angelegt wurden. Karpfen und Forellen treiben
sich vergnügt in einem gegen ihren Feind, die hier hau-
sende Fischotter, gesicherten Teiche herum.
Auch der Regierungs-Versuchsgarten bietet ein nütz-
liches Beobachtungsfeld. Der Habitus seiner Pflanzen
gleicht z. B. dem derjenigen in München in jeder Weise.
Mitte Juli waren in Blüte: Kornblumen, Dahlien, Tabak,
Margareten, Fuchsien, weißer und roter Fingerhut (im
Habitus der wild aufwachsenden in der Sächsischen
Schweiz), Begonien, Iris (Kaempferi), Rosen, Nelken, Veil-
chen, Semperviren, Kapuzinerkresse, Glockenblumen.
Außerdem zieren eine Menge Koniferen den Garten, dar-
unter zwei Legföhren.
Am folgenden Morgen heißt es von dem idyllisch ge-
legenen Nuwara Eliya Abschied nehmen. Malerisch liegen
auf der Rückfahrt die einzelnen Bungalows in den Tee-
pflanzungen. Sobald wir einige Meter unter dem Hoch-
plateau sind, beginnt das für ihren Bau geeignete Klima,
die großen weiten Hänge sind mit Tee bedeckt. Ein-
geborenenhäuser, gegen den Wind durch Bambusstauden,
Strohmatten und Kokosgeflecht geschützt, gewöhnlich
beschattet von Musabäumen, vollenden das harmonische
Ganze.
Im allgemeinen ist das Bild infolge des hügeligen
Terrains von einer imposanten Mannigfaltigkeit, auch
fehlt selten dazwischen undurchdringlicher Urwald.
An der Bahn lassen sich überall an Phormium tenax
Bulbillen beobachten. Wie selten bei einer Pflanze sieht
man hier, wie alle Kräfte aufgespeichert werden, um
möglichst viele, im Kampf ums Dasein lebensfähige Nach-
kommen zu erzeugen. Der Mensch hat sich seinerseits
das wieder zu nutze gemacht, indem er Phormium
tenax als natürlichen Zaun benutzt, der schon nach kurzer
Zeit zu einer undurchdringlichen Mauer zusammenwächst.
In kühn geschwungenen Kurven, die sich erst bei
der Talfahrt dem Auge deutlich und schön zeigen, geht
es an Wiesen, die den unseren gleichen, und an dichten
Wäldern vorbei. Durch den Regen sind die Wasserfälle
von einer in den Tropen seltenen Fülle und Pracht, die
der Weltenbummler niemals schaut; vermeidet er doch
gewöhnlich, in der ungemütlichen Regenzeit zu reisen,
um diese Schönheiten für Mühe und Ärger in Kauf zu
nehmen. Der Bach, der sich durch all diese Naturschön-
heiten hindurchschlängelt, kann kaum die Wassermenge
der Fälle in seinem granitenen Bette aufnehmen. Auf
der Straße, die sich an der Bahn talwärts hinzieht, sieht
man Singhalesen fröstelnd ihres Weges ziehen, die Buckel-
ochsen mit der dem degenerierten Teil der Buddhisten
eigenen Roheit gegen Tiere zu rascherem Gange an-
treibend. Sie empfinden nur eine Scheu davor, ein Tier
zu töten; aber das Quälen des Tieres ist auch bei ihnen
keine Sünde.
Die Ausblicke hinunter in das Tal können sich mit
nur wenigen von mir in den Alpen gesehenen Vorgebirgs-
landschaften messen. Im Tropensommer ändert sich das
Bild. Alles ist dann im reichsten Blütenschmuck. Aber
mit dem Erscheinen der Blütenpracht verschwindet das
belebende Element, das Wasser, oft monatelang. So
raffiniert wie in der Sächsischen Schweiz, um Geld einen
künstlichen, wenige Sekunden tätigen Wasserfall zu
zeigen, ist man hier oben noch nicht.
Je mehr wir uns Nuovo nahen, desto ausgedehnter
wird der Teebau. Überall sehen wir arbeitende Ein-
geborene, den Kopf gegen Regen und Sonne mit einem
Sack geschützt, sonst ziemlich wenig bekleidet. So an-
ziehend das Bild einer grünen Teepflanzung ist, so ab-
stoßend wirken die Stoppeln der nicht mehr tragfähigen
oder der ihrer Blätter beraubten Teestauden. Dann sind
die Stauden, die, was man noch aus den daneben-
liegenden geschnittenen Exemplaren ersehen kann, zu
sehr ins Holz gegangen, und deren Blätter infolgedessen
minderwertig geworden waren, völlig zugestutzt. Im näch-
sten Jahre werden diese zurzeit kahlen Stauden eine
gute, vollwertige Ernte geben.
Bei der Weiterfahrt nach Kandy können wir einen
Doppelbau von Tee und Cinchona, dem Lieferer der
Chinarinde, sehen. Die Cinchona-Bäume erheben sich in
systematischer Anordnung bis zu 20 m Höhe. An den un-
bebauten Grashängen haben sich Adlerfarne formations-
bildend angesiedelt.
Auch ein richtiger Tropenregen war mir noch auf
der Fahrt beschieden. In Walagala begann es wie auf
48 Seljan: Die Guayraä-Fälle (Salto das Sete-Wuedas) des Paraná.
Kommando zu gießen; in wenigen Augenblicken war alles
durchnäßt, die Menschen trieften; ein Mann mit Bananen
trug in die Restauration „Wasserbananen“ zurück. Die
Rinne neben dem Zuge reichte nicht aus, in einer Minute
floß alles durcheinander in und über ihr talwärts. In
10 Minuten lachte wieder die Sonne fröhlich auf die von
Wasser strotzenden Gefilde Gleich hinter Walagala
birgt zwischen zwei Tunneln die kurze freie Strecke einen
herrlichen Wasserfall, hinter dem zweiten Tunnel ist
abermals ein solcher. Äußerst ausgeprägte Erosionen
sind bei beiden zu bemerken, auch sehr gut ausge-
waschene Strudeltöpfe.
Ungefähr 200 Fuß oberhalb Nawala Pitiya (583 m
ü. d. M.) beginnen wieder die Mimosen (pudica) ihre roten,
runden Köpfchen aus dem Grase herauszustecken. Gleich
oberhalb der Station sind die ersten Betelnuß- und Reis-
pflanzungen.
Hier oben sind die Häuser der Eingeborenen aus
Stein gebaut, die Dächer sind zum Teil mit Gras, zum
Teil mit Ziegelsteinen bedeckt. Überall sieht man bei
den Dörfern Brennereien. Die Palmen treten wieder in
den Vordergrund; in Höhe von etwa 550 m beginnt der
systematische Anbau von Kokosnüssen. Eine sehr schöne
alte Ravenala-Fächerpalme fiel mir um so mehr auf, als
sie die einzige ihrer Art weit und breit war. Etwas
tiefer treffen wir Zweibau von Betelpalmen und Tee,
unterbrochen von Reisfeldern und ausgedehnten Bananen-
anpflanzungen. Von Gompola ab überwiegt die Kokos-
nuß. Carica Papaya, die bei den Eingeborenen am
meisten geschätzte Frucht mit saftigem, gelbem Fleische,
ist hier nur wenig angebaut.
Immer mehr nähern wir uns Kandy, der liebge-
wonnenen Stätte, die wir denn auch bald erreichen. Ge-
schäftig eilt der Portier herbei, sich nach dem Verlaufe
der Reise erkundigend.
Bei dem schönen Ausflug hatte ich Gelegenheit, einen
großen Fehler im Verkehrswesen Ceylons kennen zu lernen.
Es existiert kein auch nur einigermaßen moderner Auf-
fassung genügender gedruckter Führer, noch viel weniger
aber ein kurzer wissenschaftlicher Ratgeber. So ist man
denn auf ein langwieriges Quellenstudium für den klein-
sten Ausflug angewiesen. Es ist dies vielleicht dadurch
zu erklären, daß unter der englischen Herrschaft — und
zwar mit vollem Rechte — zuerst auf die wirtschaftliche
Ausnutzung der Kolonie Gewicht gelegt wurde. So ver-
danken denn auch die Botanischen Gärten in erster
Linie den mit ihnen verbundenen Versuchsgärten ihre
Bedeutung. Nachdem vor allem durch die unglückselige
Kaffeekrankheit, die Kaffeepest, hervorgerufen durch den
Pilz Hemileia vastatrix, der die ganzen Bäume überzieht,
dem Lande großer wirtschaftlicher Verlust entstanden
war, mußten die Leiter der Gärten wieder für eine neue
Bodenverwertung Sorge tragen. Man ging deshalb vor
allem zum Teebau sowie zur Anpflanzung von Hevea
brasiliensis, dem Kautschuklieferer, und von Cinchona
über. Wieviel Gutes diese Anlagen geschaffen haben,
kann man überall von den Pflanzern hören, die gern die
Direktoren besuchen, um bei ihnen Unterstützung mit
Rat und Tat zu suchen.
In Kandy hielt ich mich noch einige Tage auf, um
mich in erster Linie mit dem Studium verschiedener,
unterwegs gesammelter Pflanzen zu beschäftigen. So-
dann wurden von dem Präparator und mir eine Anzahl
Früchte nach der Schweinfurthschen Methode für das
Museum in Hamburg in Alkohol gesetzt. Die freien
Stunden durfte ich dieses Mal wieder im alten Königs-
palaste bei dem gastfreundlichen Gouvernementsagenten
und seiner liebenswürdigen Familie zubringen. Schweren
Herzens nahm ich von Ceylon, der Perle der indischen
Inseln, Abschied.
Die Guayrá -Fälle (Salto das Sete- Quedas) des Paraná.
Unter den bekannten Wasserfällen der Erde nimmt der
„Salto del Guayrá“ mit seinen enormen Wassermassen einen
der ersten Plätze ein.
Die von den Höhenzügen von Minas Geraes und Goyaz
kommenden Bäche bilden die Flüsse Rio Grande und
Paranáhyba, die sich an der nordwestlichen Grenze des
Staates 8. Paulo vereinigen und den Namen Paraná
annehmen. Zahlreiche Stromschnellen und Kaskaden unter-
brechen den nach Süden gerichteten Lauf dieses Flusses
(Alto Paraná), der nach Empfang zahlreicher links- und
rechtsseitiger Nebenflüsse die Gestalt eines mächtigen
Stromes angenommen hat. Als Zuflüsse von rechts sind zu
erwähnen: Rio Pardo, Ivinheima, Amambay, Igatimi; von
links: Tiete, Paranipanema, Ivahy und Piquiry, an dessen
linkem Ufer die Ruinen der im 15. Jahrhundert gegründeten
Niederlassung Guayrä zu finden sind.
Unerwartet wird nun dem etwa 4km breiten Strome
an der Grenze von Paraguay mit Brasilien Halt geboten.
Die Ausläufer der Serra de Maracayıı hatten ihm den Weg
verlegt, und der Paraná war genötigt, durch die Basalt- und
Kalkfelsen sich den Durchgang zu erzwingen. Hart muß
der Kampf der Naturelemente gewesen sein! Das Wasser
blieb Sieger, durchbrach die Felsmasse und tobt nun in
wilden Sprüngen und unter donnerähnlichem Rollen abwärts.
Um ein Bild von den Guayrä-Fällen zu bekommen,
nehme man den Bleistift zur Hand und ziehe im beliebigen
Maßstabe eine Senkrechte, die mit einer Abweichung von
5°N.S. und 4600 m Länge das Paraguay- (rechte) Ufer dar-
stellen soll. Auf den Endpunkt dieser Linie trage man
einen Winkel von 42° 36’ auf, dann ergibt die Verlängerung
der zweiten Linie die Richtung der brasilianischen Seite (des
linken Ufers) und zugleich die Form eines Trichters, dessen
oberer Rand mit 4200m und dessen Endpunkt (Scheitel-
punkt) mit 80 bis 100m Weite bemessen werden soll. Eine
mit dem Paraguayufer (in 80 bis 120m Abstand) laufende
Parallele bildet den Hauptkanal, den die erste Wasserfall-
gruppe in der Gestalt eines senkrechten Sturzes von 285m
Höhe und einer schiefen Ebene mit 87m Gefälle erzeugt hat.
Es entfällt hiermit auf die Länge von 4600 m eine Niveau-
differenz von 115m=23m pro Kilometer. Die rechte
Seite des von 35 bis 45m hohen Felsen begrenzten Haupt-
kanales besitzt eine Anzahl reizender Kaskaden, die durch
die Einmündung des toten Armes entstanden sind, während
der Rest der gewaltigen Wassermassen durch sechs Seiten-
kanäle dessen linke Seite durchbrach und infolgedessen
eine gleiche Anzahl Wasserfallgruppen verursachte, daher
der u Name „Salto das Sete-Quedas“ (Siebenfacher
Fall).
Die erste Barre liegt nach den Berechnungen des Barons
Maracayıı 317,5 m über dem Meere, unter 54° 16’ 27’ westl. L.
von Greenwich und 24° 4’ 5” südl. Br. Wir fanden 54° 16’ 25” L.
und 24° 4' 29” südl. B.
Der Zusammenstoß der verschiedenen Strömungen ver-
ursachte zahlreiche Wirbel und Strudel; im wilden Durch-
einander jagen mit rasender Geschwindigkeit die schaum-
bedeckten Wozen dahin, weiße Nebel und hohe Wassersäulen
steigen aus den dunkeln Tiefen empor und erglänzen unter
den goldenen Strahlen der Königin des Tages in allen
Regenbogenfarben, um kurz darauf gleich einer Vision in
Nichts zu zergehen. Ringsherum ein infernalischer Lärm,
ein Tosen und Brausen. Bald gleicht es dem Sturmgeläute,
bald dem Kanonendonner, und doch liegt im Ganzen eine
unbeschreibliche Harmonie. `
Das großartige Naturschauspiel hat schon in den ersten
Zeiten nach der Entdeckung dieser Länder die Aufmerksam-
keit der Forscher erweckt. So meldet der paraguaysche
Geschichtschreiber Padre Lozano im Jahre 1755:
„Guayrá nannte man einen ziemlich großen Teil
Paraguays, der sich ungefähr 150 Meilen von Asunción
entfernt über 100 Meilen erstreckte, im Osten von Brasilien,
im Süden von Uruguay begrenzt war und sich nach Norden
weit in die unermeßlichen Urwälder verlor; die Westgrenze
bildete das Amtsgebiet von Asuneiön. Der Name „Guayrä“
stammt von dem vielgenannten Häuptling „Guayracä“, dem
Führer der zahllosen Indianerscharen, die dieses wasserreiche
Waldgebiet bevölkerten.“
Bücherschau. 49
Ruiz Diaz de Guzmän, einer der ersten Geschicht-
schreiber Argentiniens, sagt in seinem 1635 veröffentlichten
Werk: „Infolge der furchtbaren Wucht und Schnelligkeit,
mit der die gesamte Wassermasse über eine von zwei
Felsen begrenzte Barre stürzt, erreicht die Stromschnelle
eine Länge von zwei Meilen. In Pfeilform verengt sich das
Sturzbett, und von oben schäumen, wirbeln und rasen nun
die Wasser in 11 Kanälen hinab dergestalt, daß kein Menschen-
auge lange zusehen kann, sondern sich zeitweilen schließen
muß, um dem Schwindel zu wehren.“
Felix Azara, Führer des einstigen spanischen Grenz-
ausschusses, schildert die Guayrä-Fälle in seiner „Natürlichen
Beschreibung der Gebiete von Paraguay und Misiones“ wie
folgt: „Alle Flüsse dieser Gegend mit Ausnahme des Paraguay
und seiner westlichen Seitengewässer haben Stromschnellen
und Felsbänke.
südl. Br. gelegen, wird durch eine Felsrutsche ge-
bildet, die sich 60 Fuß tief unter einem Winkel von 50 bis
60° neigt. Das Eigentümliche dieses Falles ist die kolossale
Wassermenge; denn während der Paraná weiter oben
2100 Klafter hat, verengt er sich in der Schnelle auf 30
und erreicht erst nach zwei Meilen wieder 50 Klafter.“
Das herrliche Naturwunder, das zwischen brasilianischem
und paraguayschem Gebiete eingebettet ist, hat Angehörige
beider Staaten auch in späterer Zeit zu Schilderungen ver-
anlaßt. Wir nennen vor allen den Hauptmann Nestor Borba,
der 1875 die Fälle besuchte und in den letzten Jahren den
Conde Antonelli, den belgischen Konsul Arnoldo Schoch und
andere zu Nachfolgern hatte.
Santiago (Chile), Mai 1910. Mirko u.Stevo Seljan.
Der große Fall des Paraná, auf 24”4’27”
Bücherschau.
Edgar Thurston und K. Rangachari, Castes and Tribes
of Southern India. 7 Bände. Madras 1909, Govern-
ment Press.
Jeder, der sich mit der Ethnographie Südindiens be-
schäftigt, weiß, wie schwer es ist, auf diesem Gebiete zu
arbeiten, da das einschlägige gedruckte Material gering ist
und man infolgedessen selbst bei Kleinigkeiten sehr bald mit
seinen Arbeiten ins Stocken kommt oder aber so und soviel
in suspenso lassen muß. Dieser ungeheure Landkomplex mit
seiner zahlreichen Bevölkerung, die sich aus den verschieden-
artigsten Teilen zusammensetzt, harrte und harrt noch jetzt
der intensiven Bearbeitung. Hierbei ist nun das vorliegende
Werk ein großer Fortschritt auf diesem so wenig angebauten
Gelände. Hoffentlich ist es der Beginn einer neuen Zeit für
Südindien. Notwendig ist uns dafür das Arbeiten im Lande
selbst, das Sammeln und Sichten an Ort und Stelle durch
gut vorbereitete Europäer, sei es nun durch indische Beamte,
oder sei es durch Forschungsreisende aus Europa. Vergessen
wir nicht, daß die europäische Zivilisation, nicht zuletzt der
europäische Kaufmann, sicher und schnell dazu beitragen,
daß die ursprünglichen Sitten und Gewohnheiten mitsamt
ihrem Gerät usw. vom Erdboden verschwinden. Auch hier
bei den kultivierteren Völkern bringt jedes Jahr ebenso wie
bei den Wildvölkern neue Verluste an wissenschaftlichem
Material. Darum möge man in Europa sein Auge auch ein-
mal hierhin wenden, um die Mittel aufzubringen, um jüngere
vorgebildete und vor allem sprachlich geschulte Kräfte hin-
auszusenden, um noch zu retten, was zu retten ist. Ein
typisches Beispiel für die Vernichtung der ursprünglichen
Kultur bietet der Siegeslauf der Petroleumtins, die als
Wasserbehälter an Stelle von Bambusgefäßen oder gefloch-
tenen und mit Harz gedichteten Gefäßen im tiefsten Urwald
gefunden werden.
Bereits im Jahre 1906 hat Thurston ein Buch desselben
Inhalts erscheinen lassen unter dem Titel: Ethnographic
Notes in Southern India, Madras, das in den beteiligten
Kreisen den Wunsch nach einer Erweiterung entstehen ließ.
Diese wird in dem uns vorliegenden Werk geboten. In sieben
Bänden zu je etwa 450 bis 500 Seiten läßt sich eine ganze
Menge mitteilen. Der Druck ist allerdings groß, um so be-
quemer ist das Lesen. Die Anordnung des Materials ist eine
rein lexikalische, was einesteils dem Werk und seinen ein-
zelnen Artikeln zum Vorteil gereicht, da das Material in sich
dazu drängt, diese Art der Behandlung zu wählen, anderer-
seits hat es aber auch seine Schattenseiten, so z. B. darin,
daß der Zusammenhang zueinandergehöriger Dinge unnötig
auseinandergerissen wird. Um diesem Übelstande zu be-
gegnen, sind einzelne Artikel zu kleinen Abhandlungen für
sich geworden. 169 Tafeln vervollständigen das Werk und
lassen uns nur bedauern, daß es nicht doppelt so viel sind.
Daß die Tafeln in Europa vielleicht besser hergestellt worden
wären, will ich nebenbei nur kurz erwähnen, zumal der Preis
der sieben Bände, die in Ganzleinen gebunden sind, derartig
lächerlich gering ist (1£ 7 s.), daß das Buch in die weite-
sten Kreise dringen kann. Man muß der anglo-indischen
Regierung Dank wissen, daß sie ihre Publikationen so billig
auf den Markt bringt. Möglich ist das natürlich auch nur in
einem Lande, das eingeborene Arbeiter zu billigem Preise
stellt.
Inhaltlich bringt das Werk nicht nur die Tribes and
Castes, sondern auch was drum und dran hängt oder dazu
gehört. Nicht ganz Südindien umfaßt des Verfassers und
seiner Assistenten und Mitarbeiter Arbeit. Das bearbeitete Ge-
biet ist folgendes: Die Madraspräsidentschaft, ferner die drei
kleinen Eingeborenenstaaten Puduköttai, Banganapalle und
Sandur sowie die beiden großen Eingeborenenstaaten Tra-
vancore und Cochin, ein Gebiet von rund 150000 Quadrat-
meilen mit einer Bevölkerung von über 40 Millionen Men-
schen. Daß bei einem derartig großen Gebiete noch manches
nachzuholen ist, ist selbstverständlich. Nicht überflüssig ist
daher in der Einleitung die Aufforderung Thurstons an all«
Interessenten, mitzuarbeiten an dem Werk, und vor allem
näher einzugehen auf die einzelnen Völkerschaften und Kasten.
In der Einleitung behandelt Thurston fast ausschließlich das
anthropologische Material, das er mit großem Eifer gesammelt
hat. Am Schluß derselben bespricht er kurz die Sprachen.
Es würde meines Erachtens nur vorteilhaft für das
Werk gewesen sein, wenn die sprachliche Seite etwas mehr
gepflegt worden wäre. Für Indien ist es keine Unmöglich-
keit, in allen betreffenden Alphabeten zu drucken, und dem
sich mit diesen Dingen Beschäftigenden kann die genaue
Orthographie eines Wortes manchen Fingerzeig geben, zumal
die englische Transkription alles andere, nur nicht gut ist.
Die Originaletikettierung, wenn man so sagen darf, ist für
das Studium im einzelnen bei einem großen, ja bei dem
größten Teil unentbehrlich, da dadurch Hinweise gegeben
werden, die sich unter der englischen Transkription nur zu
leicht verstecken und dadurch Anlaß zu den größten Irr-
tümern geben können. Sämtliche einheimische Namen sowohl
der Kasten und Völkerschaften als auch der ihnen zugehöri-
gen Gegenstände und Gebräuche müßten daher außer in Trans-
skription auch in dem betreffenden einheimischen Alphabet
gedruckt werden. Das würde den Wert dieses an und für
sich dankbarst zu begrüßenden Werkes noch ganz außer-
ordentlich steigern. Ein Zweites, was zur Wertsteigerung
noch beitragen würde, wäre das nähere Eingehen auf Reli-
gion und Kultus. Denn gerade von den ursprünglichen Reli-
gionsformen und der Lokalmythologie ist uns wenig genug
bekannt. Wie notwendig dies wäre, erkennt man auch, wenn
man bedenkt, daß doch alles dieses beim Zusammenprallen
mit dem Hindukultus auf diesen abgefärbt und ihn beein-
flußt hat und ebenso auch umgekehrt. Manche modernen
Gebräuche sind nur aus der vorhinduistischen Zeit erklärbar,
und da sich der Lokalkultus neben dem offiziellen Brahmanis-
mus erhalten hat, liegt noch mehr die Möglichkeit vor, Er-
klärungen und Zusammenhänge zu finden, die wieder zur
Aufklärung der dortigen Hindumythologie dienen könnten.
Alles dieses ist aber wichtig, spielt doch die Religion, einerlei
ob primitiv oder hochentwickelt, die hervorragendste Rolle
bei der Entwickelung der Völker.
Als die Arier (Hindu) aus dem Norden Indiens in das
Dekkan einbrachen und erobernd bis Ceylon gelangten, fanden
sie eine fremdsprachige, dunkelfarbige Bevölkerung vor, die
sie unterjochten und ihrem wohlgegliederten Staatswesen ein-
verleibten oder anfügten. Und während auch hier das Bans-
krit als Kultussprache seinen Einzug hielt, erhielten sich die
Volkssprachen in ihrer Ursprünglichkeit. Die für uns wich-
tigste ist das Tamil (Tamulisch), das im Südosten die herr-
schende Sprache ist. Sie zeigt uns, daß wir in den sogenannten
Dravidavölkern alte Kulturträger vor uns haben, da sie bereits
die Schrift kannten. Dies geht daraus hervor, daß sie ein
eigenes Wort, kein Lehnwort für „schreiben“ haben. Diese
und die zugehörigen Dravidavölker bilden einen großen Teil
des Materials unseres Werkes. Einen zweiten ebenfalls großen
Anteil haben Völker, die wir als sogenannte Wildvölker an-
sprechen, von dunkler Hautfarbe und schwarzem wolligen
Haar. Sprachlich ziehen sie sich vom Süden Indiens über
Assam und die Mon-Khmervölker bis nach Malakka und den
Inseln des Indischen Archipels hin. Sie bilden eine der inter-
essantesten Partien aus dem großen indischen Völkerleben.
Die südindische Kulturwelt ist aber trotz des Zusammen-
hanges mit dem Norden eine Welt für sich geblieben. Die
50 Kleine Nachrichten.
Einwirkung, die von den Eroberern ausging, war sehr groß,
aber nicht so groß, um nicht zu gestatten, daß die Lokal-
färbung beibehalten wurde. Und diese hat dem Lande bis
heute ihren Stempel aufgedrückt. Von Südindien aus gingen
dann Kulturstrahlen nach allen Richtungen. Den schönsten
Ableger seiner Kultur aber finden wir in Hinterindien, in den
prächtigen brahmanischen Tempel- und Palastbauten, deren
herrlichstes und schönstes der Tempel von Angkor ist. Süd-
indien ist der Schlüssel zur näheren Kenntnis Hinterindiens.
Wie wichtig daher für uns die Kenntnis Südindiens ist, er-
hellt wiederum aus dieser Tatsache.
Wir können daher das Buch jedem empfehlen, voraus-
gesetzt, daß er nicht zu viel verlangt, denn wie gesagt, viel
ist noch zu leisten. Hoffen wir, daß bei einer zweiten Auf-
lage, die sicher bald folgen wird, Sprache und Religion recht
kräftig berücksichtigt werden, dann wird es an Abnehmern
wiederum nicht fehlen. St.
Katalog des Ethnographischen Reichsmuseums.
Bd. I: Borneo. Erste Abteilung von Dr. H. H. Juyn-
boll. XXXIII und 353 8. Mit vielen Abbildungen und
14 Tafeln. Bd. IV: Die Inseln rings um Sumatra
von H. W. Fischer. XL und 246 S. Mit Abbildungen
und 11 Tafeln. Bd.V: Javanische Altertümer von
Dr. H. H. Juynboll. XXIII und 265 8. Mit vielen
Textabbildungen und 15 Tafeln. Leiden 1909/10, E. J. Brill.
Mit diesem Kataloge stellt sich das Leidener Ethnogra-
phische Reichsmuseum an die Spitze aller ähnlichen An-
stalten, was die Beschreibung seines reichen Inhalts betrifft.
Kein anderes verwandtes Museum hat seine Schätze der
wissenschaftlichen Welt in gleicher Weise zugänglich gemacht,
und besonderen Dank verdient die Museumsleitung, daß sie,
von der Muttersprache absehend, eine weiter verbreitete
Sprache für die Veröffentlichung wählte. Dabei können wir
aber die Bemerkung nicht unterdrücken, daß das Vorwort
des verstorbenen Museumsdirektors J. E. D. Schmeltz, eines
geborenen Hamburgers, von groben Sprachfehlern wimmelt,
während die Holländer unsere Sprache viel besser handhaben.
Schmeltz kommt das Verdienst zu, den Katalog angeregt zu
haben, und auch die Methode, nach der er verfaßt ist,
geht auf ihn zurück, denn er war der erste, welcher, schon
1881, mit dem Katalog des Museums Godeffroy die ethno-
graphischen Gegenstände nach naturwissenschaftlicher Art
unter Beifügung der Literatur beschrieb.
Die drei vorliegenden Bände umfassen einen Teil des
ostasiatischen Kolonialbesitzes der Niederlande, und hier ist
keine Sammlung so reich und schön vertreten wie die Lei-
dener, die aber immer noch nicht die ihr gebührenden Räum-
lichkeiten aufweist. Dafür steht aber nach dem Tode von
Schmeltz einer der ersten Kenner der indischen Inselwelt,
Dr. Juynboll, jetzt an der Spitze, und sein Einfluß, seine
große Gelehrsamkeit und Sprachkenntnisse sind im Kataloge
überall zu spüren, der den Fachleuten zu einem sicheren
Führer wird und ihnen auch die überaus zerstreute Lite-
ratur zugänglich macht,
Auf die vielen Tausende im Kleindruck verzeichneten
Einzelgegenstände können wir hier natürlich nicht eingehen,
da sie uns, abgesehen vom Geistesleben, so ziemlich alles
vorführen, was das materielle Leben der Eingeborenen be-
trifft. Während im ersten Bande, dem eine zweite Hälfte
folgen soll, Juynboll uns alles genau vorführt, was Speise
und Trank, Schmuck, Kleidung, Häuser und Einrichtung,
Jagd, Fischerei, Acker- und Gartenbau, Geräte und Fahr-
zeuge der Dajaks betrifft, umfaßt der fünfte, von demselben
Verfasser, die wichtigen Altertümer Javas. Wir lernen dar-
aus auch die Steinzeit der Insel, den alten Hinduglauben und
folgenden Buddhismus nebst den zum Kultus gehörenden
Gegenständen kennen. Von Belang ist, daß hier den europäi-
schen Trudensteinen ganz ähnliche natürlich durchlochte, mit
Aberglauben verknüpfte Steine auch auf Borneo nachgewiesen
werden. Aber nicht genug mit der Beschreibung der Sta-
tuen und sonstigen Gegenstände aus Stein und Metall — es
sind auch die altjavanischen Münzen und Inschriften im
Kataloge beschrieben.
Nur äußere Rücksichten veranlaßten es, daß die im
vierten Bande des Katalogs beschriebenen Gegenstände von
den Sumatra umlagernden Inseln in einem Bande von Kon-
servator Fischer behandelt werden, wobei aber deren große
Verschiedenheiten betont werden. Es handelt sich um die
ethnographisch so hochinteressanten Inseln Nias, die Men-
taweigruppe, Engano, Banka, Biliton und die Riouwgruppe
mit zum Teil ganz eigentümlichen Kulturen, die aber noch
nicht überall genügend erforscht sind. Das gilt namentlich
von den westlichen Eilanden. Hier ist die vergleichende
Übersicht, die Fischer in der Einleitung gibt, als besonders
lehrreich hervorzuheben.
Es fehlt in diesen sorgfältigen Katalogen auch nicht an
einzelnen zusammenfassenden Hinweisen, an der einschlägigen
vergleichenden Literatur, die mit erstaunlicher Vielseitigkeit
beherrscht ist, stets gründlich und mit guter Kritik, wobei
nur Sicheres geboten wird. Wer irgendwie mit der Völker-
kunde des ostasiatischen Archipels sich in Zukunft befassen
will, dem wird der Katalog von Leiden als eine der zuver-
lässigsten Originalquellen unschätzbare Dienste leisten. R.A.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— EineneueExpedition zurErsteigung desMount
McKinley. Der Mount McKinley in Alaska ist der höchste
Berg Nordamerikas; seine Höhe war 1898 durch eine
trigonometrische, aus ziemlich großer Entfernung von der
U. S. Geological Survey ausgeführte Messung auf 6237 m
ermittelt worden. 1906 waren mehrere Bergsteiger, darunter
H. C. Parker von der Columbia - Universität, mit dem be-
kannten Dr. Frederick Cook zum McKinley gegangen, um
ihn zu erklimmen, und Cook, der zuletzt allein übrig ge-
blieben war, behauptete dann, ihn auch wirklich erstiegen
zu haben. Diese Behauptung war für unglaubwürdig erklärt
worden, neuerdings wieder von Parker selbst, als die Cooksche
Nordpolaffäre von sich reden machte. Damals, im Dezember
1909, sollen sich mehrere amerikanische Alpinisten nach dem
McKinley begeben und seinen Gipfel unter verhältnismäßig
geringen Schwierigkeiten Anfang April d. J. erreicht haben.
Beweise von Cooks Anwesenheit auf dem Gipfel sollen dabei
nicht gefunden worden sein. Sonderbarerweise ist über diese
Besteigung nichts Näheres bekannt geworden, so daß der
Verdacht nicht abzuweisen ist, es handle sich auch hier um
eine amerikanische Ente. Nun ist Ende April d. J. eine
neue amerikanische Gesellschaft, zu der auch Parker gehört,
nach dem Berge aufgebrochen, um die Besteigung auszuführen.
— Unterdessen sind die Resultate einer neuen trigonometri-
schen Messung des McKinley durch eine Abteilung der
U. S. Geological Survey bekannt geworden. Auch sie ist aus
großen Entfernungen (200 bzw. 300 km) vorgenommen worden
und hat einen Wert von 20300 Fuß (6200 m) ergeben.
— Kapitän J. E. Bernier wird im Auftrage der kana-
dischen Regierung in diesem Sommer seine Fahrten in den
Meeresteilen des arktischen Amerika fortsetzen, und zwar
kommt es ihm vor allem darauf an zu ermitteln, ob das von
Peary 1906 im Nordwesten von Grantland gesichtete Crocker-
land in der Tat existiert. Auch Cook wollte 1908 bei seinem
angeblichen Vordringen zum Nordpol in jener Gegend eine
lange Küste gesehen haben, die er Bradleyland benannte.
Vermutlich wird Bernier versuchen, durch den Parryarchipel
und westlich von Ellesmereland dorthin vorzudringen; ob
ihm das aber gelingen wird, ist fraglich. Ferner will Bernier
nach dem Smithsunde gehen und feststellen, was an der Be-
hauptung Cooks, seine Instrumente und Originalaufzeich-
nungen seien auf einem Felsen bei Etah zurückgelassen
worden, Wahres ist.
— Eine Pygmäenbevölkerung hat die Expedition
der Britischen Ornithologen-Vereinigung in Niederländisch-
Neuguinea angetroffen. Vorläufig ist darüber allerdings nur
folgendes bekannt geworden: Die Expedition war den Mimika-
fluß hinaufgezogen und fand in einer Höhe von etwa 600 m
den Pygmäenstamm. Die größten Individuen sind etwa 4 Fuß
6 Zoll (137 cm) groß; die Durchschnittshöhe beträgt 4 Fuß
3 Zoll (128,5cm). Der Stamm ist „außerordentlich wild“.
Auch aus anderen Gegenden Neuguineas sind Nachrichten
über kleinwüchsige Leute bekannt. So fand Rudolf Pöch
solche, die einem Gebirgsstamme angehörten, unter dem Kai
an der Ostküste der Insel. O. Reche erwähnt ferner in seinem
Bericht über die Befahrung des Kaiserin- Augusta -Flusses
(Globus, Bd. 97, S. 286), daß binnenwärts vom Oberlaufe eine
Pygmäenbevölkerung zu existieren scheine, den „ganz auf-
fallend kleinen Schädeln von besonderem Typus“ nach zu
urteilen, die dort in den Dörfern am Flusse gesehen wurden.
— Der Nachlaß der um die Jahreswende 1908/09 am
Salwin von den Lissu ermordeten deutschen Reisenden
Brunhuber und Schmitz ist von der chinesischen Re-
Kleine Nachrichten. 51
gierung dem deutschen Auswärtigen Amt und von diesem
im Juni d. J. deren Angehörigen ausgehändigt worden. Von
Interesse ist, daß von den schriftlichen Aufzeichnungen, den
Photographien und den Routenaufnahmen Brunhubers einiges
hat gerettet werden können. Freilich ist das wissenschaft-
liche Material an Messungen und Beobachtungen selbst ver-
loren gegangen; es hat sich aber ein vollständig ausgearbeitetes,
offenbar schon für die Veröffentlichung bestimmtes Tagebuch
vorgefunden, das, wie wir uns bei einer Durchsicht über-
zeugen konnten, neben den Reiseabenteuern auch viele geo-
graphische und ethnographische Bemerkungen enthält. Es
beginnt mit dem Aufbruch von Tengjueh, in den ersten Tagen
des Dezember 1908, und schließt mit der Ankunft in dem
Orte Tschengte, Mitte Dezember. Da es sich dort als un-
möglich erwies, mit der großen Karawane weiter dem Salwin
aufwärts zu folgen, sandte sie Brunhuber, wie er am Schlusse
seiner Eintragungen bemerkt, zum Mekong hinüber, und
zwar auf dem in Tschengte ausmündenden Pfade, den 1895
der Prinz Heinrich v. Orleans gleichfalls bis zum Mekong be-
nutzt hatte. Demnach liegt Tschengte etwa unter 27°57’n.Br.,
und die Reisenden standen damit an der Schwelle des Un-
bekannten. Allerdings hatten sie auch schon vorher, gleich
zu Beginn der Reise, unbekanntes Gebiet erschlossen; denn
aus den Aufzeichnungen geht hervor, daß sie von Tengjueh
in im allgemeinen nordöstlicher Richtung über den Schweli
zum Salwin vordrangen und diesen bis Orleans’ südlichsten
Punkt abwärts verfolgten. Sie haben also einen anderen
Weg eingeschlagen als 1905 Litton und Forrest. Brunhuber
hörte am Salwin, daß dort drei Jahre vor ihm mehrere
Europäer durchgekommen waren, und war sehr überrascht
darüber. Daraus geht hervor, daß Brunhuber Forrests Be-
richt und Karte über die Reise mit Litton nicht mehr kennen
gelernt hat, was sehr zu bedauern ist, da sich dort vieles zur
Charakteristik der Lissu findet. Jener Bericht erschien An-
fang September 1908 im „Geogr. Journ.“, und in demselben
Monat traten Brunhuber und Schmitz die Ausreise an.
— Pola eine kolchische Kolonie. Zu der in Nr. 12
des Globus vom 31. März d. J. veröffentlichten Abhandlung
von E. Frauer „Das österreichische Küstenland an
der Schwelle der Geschichte“ möchte ich eine kleine
Bemerkung hinzufügen. Wenn Pola von Kolchiern gegründet
ist, so kann der Name im Zusammenhang stehen mit dem
noch jetzt im Grusinischen gebräuchlichen 8o- oder Sa-
peli. So- oder Sa- ist Präfix und zeigt den Ort von etwas
an, z. B. Sa-mtredi Ort der Tauben, Taubenheim. So- oder
Sa-peli aber bedeutet Dorf, Niederlassung, z. B. Acha-Sopeli
= Neudorf. So würde also Pola zu übersetzen sein nicht
mit „Stadt der Flüchtlinge“, „Zufluchtsort“, sondern einfach
mit Niederlassung. E. v. Hahn, Tiflis.
— In einem Aufsatz, „Grundzüge der Biologie und
Geographie des Süßwasserplanktons, nebst Bemer-
kungen über Hauptprobleme zukünftiger limnolo-
gischer Forschungen“, abgedruckt in der Internat. Revue
der gesamten Hydrobiologie und Hydrogeographie (1910),
plädiert der bekannte dänische Planktonforscher Wesen-
berg-Lund für eine gründliche Untersuchung eines der
großen tropischen Seen im besonderen und für eine inter-
nationale Süßwasseruntersuchung im allgemeinen, analog den
„internationalen Meeresuntersuchungen“. Einige wissenschaft-
lich geschulte Beobachter müßten während eines oder zweier
Jahre an sechs oder sieben Seen stationiert werden, ‚die un-
gefähr auf demselben Längengrad von Norden bis zum Aquator
liegen, etwa an einem grönländischen See oder im Enare,
einem der großen schwedischen Seen, einem der baltischen
Seen, einem hochalpinen See, am Genfersee und an einem
der großen afrikanischen Seen. Zur Durchführung dieses
Planes seien weder Kongresse noch Komitees noch große
Summen nötig, sondern nur wenige Forscher und relativ recht
bescheidene Mittel. Referent kann diesen allzu optimistischen
Standpunkt nicht teilen. Die gesamte Süßwasserfauna faßt
Verfasser als eine „Emigrationsfauna“ auf, deren Formen
teils vom Meer, teils vom Festland eingewandert sind; für
ihre Lebensgeschichte hat die Eiszeit allerdings eine sehr
wichtige, aber doch nur vorübergehende Bedeutung gehabt,
die vielfach übertrieben wird. H.
— Prähistorische Entdeckungen in einer Karst-
höhle. Wenig mehr als 1km vom Dorfe 8. Kanzian ent-
fernt, am Gipfel eines mit Kalktrümmern bedeckten Hügels
zur Rechten des Weges, der zu den Häusern nach Dane führt,
öffnet sich unvermittelt ein Schlund, versteckt unter einem
riesigen Kalkblock, der gleichsam über der Mündung drohend
lastet und nur drei Löcher frei läßt. Dort ist der Eingang
in die „Fliegengrotte“, bezeichnet mit Nr. 115 auf der
von Boegan veröffentlichten Höhlenkarte, die zweimal in den
letzten Jahren von den Mitgliedern des Vereins „Alpe Giulie“
untersucht wurde. Zur Befahrung eignet sich das von den
drei Löchern gegen Süd gelegene kleinste am besten. Zum
Abstiege bedient man sich einer Strickleiter längs einer verti-
kalen Wand, die 60m herabzieht in einen Saal von 30 m
Durchmesser, dessen Boden mit Pilzen und Moosen bedeckt
ist, jetzt nur von der Wildtaube bewohnt. Von hier gelangt
man in zwei geräumige Galerien in zwei verschiedenen Rich-
tungen. Die höhere von ihnen ist die großartigere und führt
in einen unterirdischen Saal mit kristallinischen Sinterbil-
dungen, die gleichsam eine Moschee aufbauen, mit Wasser-
becken und Sinterkaskaden, die auf einen gewaltsamen
Wassereinbruch schließen lassen. Dann verlängert sich die
Grotte in ein Labyrinth von Gängen, Kaminen und Seiten-
hallen, die sich zu Triumphpforten erweitern, bis zu einem
gewissen Punkte, wo sich der felsige Boden erhebt und dem
weiteren Vordringen Halt gebietet. Nach der Schilderung
des beherzten Grottenfahrers Savini, der mit einigen Mit-
gliedern der genannten Gesellschaft diesen Schlot zweimal
befahren hatte, hatten sie das Unglück, sämtliches Beleuch-
tungsmaterial und die aufgesammelten Tropfsteine infolge
schlechter Befestigung am Seile zu verlieren, indem alles in
die Tiefe zurückfiel. Bei einer dritten Fahrt durchsuchte
Savini den Boden des Schlotes und stieß hierbei auf einen
Bronzehelm mit seitlich eingedrückter Kalotte und gespaltenem
Federbuschknopfe, den der Direktor des Triester städtischen
Antiquitäten- Museums dem kelto-etruskischen Zeitalter zu-
sprach und als wertvolles Kleinod prähistorischer Zeit erkannte.
Auf dem Nackenschilde befindet sich eine Inschrift mit ge-
punzten Buchstaben in altitalischer Schrift mit etruskischem
Einschlag. In der Annahme, daß dieser Helm nicht bloß
zufällig in die Tiefe herabgefallen sei und daß der Boden
dieses Schlotes einst bewohnt gewesen sei, pachtete Savini
diese Grotte und nahm eine methodische Ausgrabung vor.
In der Tat enthielt die Erde des Höhlenbodens einen Depot-
fund aus Bronze, der noch älter als der Helmfund ist, der
eigentlichen Bronzeperiode angehört und bezeugt, daß diese
Höhle als Zufluchtsort und menschliche Wohnung vielen
Generationen vorgeschichtlicher Zeit gedient hat. Der Depot-
fund besteht aus zwei Lanzenspitzen, zwei Kelten, von denen
einer leicht verziert ist, und aus einem primitiven Messer.
Die Gegenstände lagen in einer Aschenschicht, die von
Kohlenpulver durchsetzt war. Die anderen Bronzegegen-
stände sind entstellt und durch das Feuer unkenntlich ge-
macht, darunter eine schön verzierte Lanze, ein Kelt, und
ein Deckel, wahrscheinlich von einer Ciste, mit bezüglichem
Henkel, herrührend, Funde, die mit den bei S. Kanzian schon
gemachten Funden stets rivalisieren können.
Prof. Dr. L. Karl Moser (Triest).
— Hans Spethmann gibt in den Mitteilungen der
Geographischen Gesellschaft und des Naturhistorischen
Museums in Lübeck, 2. Reihe, Heft 24, 1910 einen landes-
kundlichen Grundriß von Lübeck. Verfasser faßt die
Lübecker Bucht als ein Seitenstück zu alpinen Zungenbecken
auf, von dem die Lübecker Mulde nur ein Zweigbecken ist.
Von den 297,7 qkm, die der lübische Staat, der zweitkleinste
unter den deutschen Bundesstaaten, einnimmt, liegen
245,4qkm mindestens 20m über dem Meere. Die Trave,
der Hauptfluß Lübecks, wird 124km lang, ihr Fluß-
gebiet ist 2683qkm groß. Da das Niveau der
Lübecker Bucht, das im Durchschnitt unter NN steht,
sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ständig
gehoben zu haben scheint, so ist eine langsame Senkung
des Travemünder Küstenlandes noch in jüngster Zeit als sehr
wahrscheinlich anzunehmen. Da der Westwind über
große Wasserflächen mit gemäßigten Temperaturschwankungen
in Lübeck der herrschende ist, ist auch der Unterschied
zwischen dem kältesten und wärmsten Monatsmittel (in den
Jahren 1888 bis 1907) nur 17° gewesen, während die größte
absolute Schwankung im gleichen Zeitraum 58,3" betrug.
Die größte Hitze stellt sich durchschnittlich im August ein, auf
die Travestrecke Travemünde—Lübeck entfallen 25 Eistage,
während z.B. auf Warnemünde— Rostock 39, aufSwinemünde—
Stettin 72, auf Frisches Haff—Königsberg 107 Eistage kommen.
Die jährlichen Niederschlagsmengen (630 mm) stehen gegen
Hamburg um etwa 70mm zurück. Die Sonnenscheindauer
betrug im Winter nur 2, im Sommer dagegen 4,55 Stunden
(in Hamburg nur 1,6 bzw. 3,5 Stunden). Zur Verbesserung
seiner Wasserwege hat der Staat Lübeck in den letzten
50 Jahren nicht weniger als 44,5 Millionen Mark ausgegeben,
bei einer Bevölkerungsziffer von wenig über 100000 gewiß
eine sehr stattliche Summe. Die Einwohnerzahl der Stadt
ist auch zur Zeit der höchsten Blüte der Hansa sicher nicht
höher als jetzt gewesen. Im Seegüterverkehr der Ostsee
52 Kleine Nachrichten.
nimmt Lübeck hinter Stettin, Danzig und Königsberg die
vierte Stelle ein; der regste Austausch findet mit Schweden
statt, esfolgen Großbritannien, Finnland, Deutschland, Rußland
und Dänemark; für die Einfuhr kommen in erster Linie
Holz, Erze und Steine in Betracht, für die Ausfuhr ver-
arbeitetes und unverarbeitetes Eisen, Steinkohlen, Dünge-
mittel, Salz und Gips. Der Gesamtwert des lübischen Handels
wird leider nicht mitgeteilt. An größerer Industrie fehlt es
bislang, dagegen ist der Ertrag der Landwirtschaft relativ
sehr bedeutend. H.
— Über Landverlust und Landgewinn auf
Hiddensöe bei Rügen berichtet E. W. Schmidt im
Neuen Jahrb. f. Min., Geol. und Paläontol., Beilagebd. 29,
Stuttgart 1910. Der Landverlust der Insel Hiddensöe betrifft
pro Jahr durchschnittlich einen Streifen von 1,5 m Breite an
seinen Rändern, da, wo überhaupt Abbrüche erfolgen, näm-
lich am Nordwestufer, so daß nach etwa 800 Jahren das
Meer den gegenüberliegenden Strand bei Grieben erreichen
würde, wahrscheinlich aber noch früher. Die Hauptursache liegt
in dem überall zutage tretenden Grundwasser, sodann darin,
daß die Schichten sehr schräg zum Strand einfallen.
Meist hat das Grundwasser den Abbruch schon so weit vor-
bereitet, daß ein Abrutsch stattfindet, schon ehe das Meer
das vorliegende und stützende Material fortgeräumt hat. Als
einzig wirksame Schutzmaßregel schlägt Verfasser das Ab-
fangen des Grundwassers durch Windmühlen vor, dagegen
hat das Bepflanzen des Ufers, selbst an gleichmäßig vor sich
gehendem Bandabrutschen, wenig Zweck. Der Brandung selbst
kann natürlich nur mit einer kostspieligen Mauer entgegen-
getreten werden, namentlich an den gefährdetsten Stellen. Die
Landansätze finden am nordöstlichen, besonders aber am süd-
westlichen Ende des Iuselkerns statt, sie sind aber quantitativ
erheblich geringer als die Landverluste. Ein einziger starker
Sturm vernichtet die Anlandungen während vieler Jahre.
Halbfaß.
— Der Neusiedlersee in Ungarn, ein bekanntes Bei-
spiel von Seen mit periodischem, stark veränderlichem
Wasserstand, wird noch in diesem Jahre endgültig von der
Erdoberfläche verschwunden sein. Die Raabregulierungs-
gesellschaft, die seine Trockenlegung schon seit Jahren be-
treibt, hat in jüngster Zeit den Kanal fertiggestellt, der das
Wasser des Sees der Raab und durch diese der Donau zu-
führen wird. Mit der landwirtschaftlichen Ausnutzung des
trockengelegten Seegebietes soll schon im Spätherbst dieses
Jahres begonnen werden. Halbfaß.
— Der bekannte amerikanische Limnologe Birge lenkt
in einem Aufsatz „An Unregarded Factor in Lake Tempe-
ratures“ (Transactions of the Wisconsin Acad. of Sciences, Arts
and Letters, Bd. XVI, Teil II, Madison 1910) die Aufmerksam-
keit der Seenforscher auf die bereits früher einmal von
Groll (Der Oeschinensee, 1905) erwähnte Zunahme des
Widerstandes, den Wasser von verschiedener Tempe-
ratur der Vermischung entgegensetzt, je weiter sich
seine Temperatur von 4° unterscheidet. Er erklärt damit
die Intensität der Sprungschicht und die Beharrlichkeit, mit
welcher innerhalb derselben die gleiche Temperatur immer in
derselben Tiefe wiederkehrt, vorausgesetzt nur, daß sie von
4° recht verschieden ist. In einer an derselben Stelle er-
schienenen Abhandlung „On the Evidence for Tempe-
rature Seiches“ polemisiert Birge gegen die von Watson
zuerst eingeführte und dann von Wedderburn beträchtlich er-
weiterte Theorie der Temperaturseiches, welche, wenn sicher
begründet, ein ganz neues Licht auf die thermischen Er-
scheinungen eines Sees werfen und wichtige Analogien für
verwandte Erscheinungen im Meer bieten würde. Birge ist
geneigt, die periodisch erscheinenden Temperaturschwankungen
in derselben Tiefe im allgemeinen den in regelmäßiger
Folge herrschenden Winden zuzuschreiben und nicht etwa
Schwingungen von Wassermassen, die nur einmal von einer
Windrichtung ausgelöst zu werden brauchen, da die Ampli-
tude der Schwankungen meist viel zu groß ist, als daß
sie durch einfache Umlagerung oder Vermischung im
Sinne der zuerst genannten Abhandlung erklärt werden
könnte. Dagegen ist er der Ansicht, daß Temperaturseiches
in kleineren Seen mit geringeren Temperaturschwankungen,
als sie im Loch Ness beobachtet wurden, sehr wahrscheinlich
vorkommen. Wedderburns Beobachtungen im Loch Garry
hat Birge offenbar noch nicht gekannt. Halbfaß.
— Nacktschneckenstudien in den Südalpen geben
H. Simroth (Festschr. zum 70. Geburtstage von W. Kobelt,
1910) Veranlassung, der Geltung eines Gesetzes betreffs Ver-
haltens dieser Tiere zur Pflanzenwelt zu gedenken,
in welcher an und für sich der Charakter der Mediterran-
länder den klarsten Ausdruck findet. Das Gesetz läßt sich
so formulieren: Je weiter eine Gattung über die Erde ver-
breitet ist als freie Form (nicht Speicherschnecke), desto mehr
dringt sie in die eigentliche Xerophytenregion vor; je mehr
sie sich dagegen auf das paläarktische oder paläoboreale Ge-
biet beschränkt, um so enger hält sie sich an die mittel-
europäischen Laub- und Nadelwälder. Dabei erweisen sich
die piemontesischen Alpen nach ihrem Nacktschneckenbestand
gewissermaßen als rückständig; sie haben eine nördliche
Fauna, da sie am längsten in der Eiszeit verharrten. Sie in
eine Parallele mit dem Menschen bringend, versucht Sim-
roth die Pigmentierung zur historischen Entwickelung her-
anzuziehen. Auf den Neandertaltypus soll bei uns eine feinere
Rasse folgen, die nach Klaatsch jetzt in den Australnegern
erhalten, also nach dem Südosten ausgewichen ist. Sie soll
zugleich negroiden und mongoloiden Einschlag zeigen.
Man weiß nicht, woher sie stammt. Da wäre zu vermuten,
daß auch ihr Herd am Büdrande der Alpen lag. Hier könnte
die Scheidung in Dunkle und Gelbe eingetreten sein, also in
Neger und Mongolen, wobei die ersten nach Süden, die letzten
in der frühesten Eiszeit nach Osten ausweichen, mit euro-
päischen Resten in Ungarn, Finnland, Lappland. Weiter
macht sich an der eigentlichen europäischen Rasse, welche
die Kulturentwickelung unmittelbar weiterführt, eine neue
Scheidung bemerkbar im Auftreten der Langköpfe. Darf
man auch die Entstehung des blonden, germanischen Zweiges
in die Südalpen verlegen, von wo er zugleich mit dem blonden
Limax tenellus während der Eiszeit weiter nach Norden
verlegt wäre, wo man zumeist seinen Herd sucht? Man
stellt diesen Germanen jetzt noch dunkelhaarige Dolicho-
kephale gegenüber, eine alpine Rasse, die sich nach Südosten
zum Balkan hinziehen soll. Da drängt sich der Vergleich
mit den dunkeln südostalpinen Antalien und Limax geradezu
auf. So verbinden sich mit dem Studium der oberitalieni-
schen Nacktschneckenfauna noch weitgehende Frageu mancher-
lei Art.
— Eine geographische Wanderskizze über Born-
holm veröffentlicht W. Ule in der „Geograph. Zeitschrift“
(16. Jahrg., 1910). Diese Insel zeigt deutlich zwei Bruch-
bildungen: eine ältere, durch die West- wie Ostküste, und
eine jüngere, durch welche die beiden anderen nordwestlich—
südöstlich verlaufenden Küsten entstanden sind. Durch die
zweifachen Spaltensysteme wurde die Insel ein echter Horst,
eine stehengebliebene oder gehobene Scholle inmitten ringsum
abgesunkener Gesteinsmassen. Geologisch besteht Bornholm
überwiegend aus Granit, wie das benachbarte Schweden
auch. Nur der Südosten der Insel wird von Sedimentär-
gesteinen verschiedenen Alters gebildet. Im Bereich des
ersteren herrschen Formen, die an Südschweden, zuweilen
auch an Partien aus mitteldeutschen Gebirgen erinnern;
innerhalb der Sedimentärgesteine trifft man ein im all-
gemeinen eintöniges Flachland. Morphologisch ist Born-
holm ein Hochland, das sich allseitig steil aus dem Wasser
erhebt. Die landschaftliche Schönheit der in wilde Klippen
aufgelösten Steilküste des Granitgebietes der Insel ist be-
kannt. Die steilen Ufergehänge sind echte Kliffküsten, ge-
schaffen durch das Meer. Soweit der Granit reicht, haben
wir im kleinen eine stark zackige Küstenlinie; im Bereich
der Sedimentärgesteine trägt die Küste den Charakter einer
glatten oder Ausgleichsküste. Im Süden gibt es dann noch
eine ausgedehnte Dünenlandschaft. Auffallend geradlinig
und gleichmäßig verlaufen die Bäche innerhalb des Granits.
Sowie sie in die Sedimentärzone treten, wird ihre Richtung
unbestimmt, die sich fortwährend dann ändert. Die Feuch-
tigkeit ist auf der ganzen Insel als Folge der ozeanischen
Lage recht beträchtlich. Die Niederschlagshöhe beträgt etwa
500 bis 600mm; das Maximum des Regens fällt auf den
September und Oktober. Die Jahrestemperatur liegt zwischen
7 und 8°; besonders milde Winter zeitigen diese relative
Höhe. Ursprünglich ist Bornholm wahrscheinlich ein reines
Waldland gewesen, heutzutage zeigen die größeren Forsten
hauptsächlich Nadelwald, namentlich Kiefern. Die Heide
nimmt weite Flächen ein, welche auf der inneren Hochfläche
vielfach in Moorvegetation übergeht. Floristisch erinnert
die Insel durchaus an das mitteleuropäische Florengebiet.
Auch die Tierwelt schließt sich in dieser Beziehung an,
wenn auch scheinbar der Storch fehlt und man den Maul-
wurf nicht kennt. Hinter der Landwirtschaft und der prächtig
gedeihenden Seefischerei treten alle anderen Erwerbsquellen
zurück. Der Reichtum an prähistorischen Fundstücken mag
wohl in der Inselnatur Bornholms mit begründet sein.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN:
„DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. 4.
BRAUNSCHWEIG.
28. Juli 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
P. W. Schmidts Arbeit „Die Stellung der Pygmäenvölker in der
Entwickelungsgeschichte des Menschen‘“').
Eine Besprechung von G. Schwalbe.
Die vorliegende Abhandlung von W. Schmidt stellt
sich die Aufgabe, eine möglichst vollständige Übersicht
über die Anthropologie und Ethnologie der Pygmäen-
stämme zu geben. Sie ist vortrefflich und klar geschrieben;
in anziehender fesselnder Darstellung entwickelt der
Verfasser seine Anschauungen mit der Bestimmtheit,
welche geeignet ist, seine Leser zu denselben zu bekehren.
In einem ersten Hauptabschnitt werden die anthro-
pologischen Merkmale der Pygmäenvölker beschrieben
und werden dabei Kollmanns und des Referenten An-
sichten kritisch besprochen. Mit E. Schmidt (Globus,
Bd.87, 1905) und dem Referenten weist P. W. Schmidt
die Ansicht Kollmanns zurück, daß in Amerika sich
Zwergvölker finden, daß es in Europa Zwerge gegeben
habe (sogenannte neolithische Zwerge). Es sind dies
nur kleine Individuen derselben größeren Rasse; sie be-
finden sich innerhalb der Variationsbreite der betreffen-
den größeren Rasse. Den Begriff der Pygmäen beschränkt
der Verfasser ausschließlich auf kraushaarige Stämme
von geringer Körpergröße (unter 150 cm) in ähnlicher
Weise, wie es auch Referent getan hatte. Wellhaarige
Völker von nur wenig größerer Körperhöhe, wie die
Wedda, Senoi, Toala, Kubu, rechnet W. Schmidt nicht
zu den Pygmäen; er schlägt vor, jene als Pygmoide zu
bezeichnen. Als kraushaarige echte Pygmäen bleiben
dann nach dem Verfasser übrig 1. in Asien die Negrito,
Andamanesen und Semang, 2. in Afrika die zerstreuten
zentralafrikanischen Pygmäenstämme und die Busch-
männer. Diese Pygmäen sind aber nach der Meinung
des Verfassers auch noch ganz allgamein durch Brachy-
cephalie charakterisiert, während die Pygmoiden dolicho-
cephal sind. W. Schmidt hält es aber für wahrscheinlich,
daß diese Pygmoiden gemischt sind, daß z.B. die Wedda
das Resultat der Mischung mit einem echten Pygmäen-
volk sind, obwohl er nicht zu sagen weiß, mit welchem.
Wie steht es nun mit der Behauptung Schmidts, daß
auch Brachycephalie zu den charakteristischen Merk-
malen der echten kraushaarigen Pygmäen gehört? Ihm
ist wohl bekannt, daß zwar die Andamanesen und Negrito
brachycephal sind, diese in höherem Maße als jene, daß
aber die Buschmänner und zentralafrikanischen Pygmäen
mehr oder weniger dolichocephale Schädel besitzen. Ich
bemerke noch, daß auch die Semang nach Martin und
Annandale durchaus nicht als brachycephal bezeichnet
3) Studien und Forschungen zur Menschen- und Völker-
kunde unter wissenschaftlicher Leitung von Georg Buschan.
VI/VII. 309 8. Stuttgart 1910, Strecker & Schröder.
Globus XCVIII. Nr. 4.
Straßburg i. E.
werden können, wie Schmidt meint. Vielmehr ergibt sich
aus der von Schlaginhaufen, auf den sich Schmidt selbst
bezieht, gegebenen Zusammenstellung der Schädelformen
der zehn bisher untersuchten Semangschädel, daß von
ihnen zwei dolichocephal, vier mesocephal und vier
brachycephal sind, daß der mittlere Schädelindex 78,4
ist. Man kann also nicht, wie Schmidt, davon reden,
- daß die Brachycephalie ein durchgehendes Merkmal der
Pygmäenstämme sei; Verfasser sucht allerdings die Doli-
chocephalie der afrikanischen Pygmäen dadurch zu er-
klären, daß sie dieselbe durch Mischung mit Nachbar-
stämmen erworben haben, wofür gar kein Beweis vor-
liegt! Die Tatsache bleibt bestehen, daß die afrikanischen
Pygmäen nicht brachycephal sind, sondern mesocephal
oder dolichocephal. Man wird also wohl für die Pyg-
mäen als allgemein gültigen Charakter die Brachycephalie
streichen müssen, was ja auch schon sich von selbst ver-
steht, wenn man — und mit Recht — die dolicho-
oophalen Buschmänner mit zu den Pygmäen rechnet.
Schmidt verteidigt trotz der zahlreichen anthropolo-
gischen und ethnologischen Verschiedenheiten die Einheit
der Pygmäenstämme. Er sagt, „daß die sämtlichen jetzt
noch existierenden Pygmäenstämme in ganz deutlicher
Weise nur versprengte und abseits in äußerste Rand-
und Waldgebiete gedrängte Völkerreste sind, die früher
ganz gewiß einmal größere Länderstriche eingenommen
haben. Dann aber kann auch durch die Wedda (und
vielleicht einige südindische Stämme) als Mischvolk der
weite Zwischenraum zwischen den afrikanischen und den
asiatischen Pygmäen zu einem guten Maß verringert
werden“ (S. 26). Hier figurieren die Wedda, deren
Mischvolknatur zunächst nur vermutet wurde, schon als
tatsächlich anerkanntes Mischvolk, wofür die ausgezeich-
neten Untersuchungen der Herren Fr. und P. Sarasin
wohl kaum irgendwelche Handhabe bieten.
Man muß also trotz der Erörterungen von W. Schmidt
an der anthropologischen Verschiedenheit der afrikani-
schen und asiatischen Pygmäen festhalten. Für die
zentralafrikanischen Pygmäen aber sind Ähnlichkeiten
mit den größerwüchsigen Nachbarn oft nicht zu ver-
kennen, wie aus Bemerkungen von Czekanowski (Z. f.
Ethnologie, 41. Jahrg. 1909, S. 594) hervorgeht, so daß
man hier von lokalen Größenvariationen innerhalb der-
selben Rasse sprechen könnte. In meiner von W. Schmidt
bekämpften Arbeit (Zur Frage der Abstammung des
Menschen, 1906) habe ich diese Ansicht an verschiedenen
Stellen ausgesprochen (z. B. S. 49) und als natürlichste
8
54 Schwalbe: P. W. Schmidts Arbeit „Die Stellung der Pygmäenvölker usw.“.
und einfachste Auffassung der Pygmäen bezeichnet, sie
seien lokale Größenvarietäten des rezenten Menschen.
Ich führte auch die Meinung eines Kenners der zentral-
afrikanischen Pygmäen, Elliot Smith, an (Lancet 1905),
welcher sagt, es sei kein Grund vorhanden, sie als etwas
anderes als nur kleine Neger anzusehen. Smiths Arbeit
scheint W.Schmidt entgangen zu sein. Auch die helle
Hautfarbe der afrikanischen Urwaldpygmäen ist nicht
dagegen anzuführen, da viele im Innern des zentralafri-
kanischen Urwalds lebenden größeren Stämme ebenso
hell erscheinen.
Bei der weiteren Aufzählung der anthropologischen
Merkmale der Pygmäen erwähnt Schmidt unter anderem
die unverhältnismäßige Größe des Rumpfes gegenüber
den Extremitäten, die durch die hohe vertikal ansteigende
Stirn charakterisierte gute Schädelbildung bei schnauzen-
artiger Bildung des Mundes und zurücktretendem Kinn.
Auch die geringe Körpergröße, die Bildung des Schädels
und die Körperproportionen der Pygmäen vergleicht
Schmidt geradezu mit denen eines Kindes und gewinnt
daraus die Vorstellung, daß die Pygmäen schon körper-
lich als die Kindheitsformen der Menschheit zu be-
trachten seien. Er vergißt dabei aber, daß die von ihm
selbst hervorgehobene starke alveolare Prognathie der
Pygmäen nichts weniger wie kindlich ist! Wenn
er ferner aber auch die Brachycephalie ganz allgemein
zu den kindlichen Merkmalen rechnet, so dürfte dies
wohl nicht ohne berechtigten Widerspruch bleiben. —
Da die großwüchsigen Rassen das Stadium der klein-
wüchsigen bei ihrer Entwickelung durchlaufen, so stellt
Schmidt die kleinwüchsigen infantilen Rassen an den An-
fang der Menschheitsentwickelung. Er nimmt also hier
das biogenetische Grundgesetz an und zwar in strengster
Observanz, allerdings in sehr eigentümlicher Einschrän-
kung, indem er sagt: „Man muß aber zugeben, daß es
viel von seinem problematischen Charakter verliert, wenn
man sein Geltungsbereich auf die Spezies Mensch und
das Verhältnis der einzelnen Rassen zum Kindheitsstadium
beschränkt.“ Schmidt vermeidet also, das biogenetische
Grundgesetz auf die übrigen Primaten und überhaupt
auf die Entwickelungsreihen der Organismen auszudehnen.
Für ihn scheinen zwischen Menschen und übrigen Säuge-
tieren hier keine genetischen Zusammenhänge zu existieren.
In der Streitfrage zwischen mir und Kollmann handelt
es sich gerade darum, Kollmann gegenüber darauf hin-
gewiesen zu haben, daß keineswegs alle Stadien der
Ontogenie und in derselben zeitlichen Reihenfolge in
der Phylogenie rekapituliert werden. Dies ist keines-
wegs eine unklare Haltung, wie Schmidt mir vorwirft,
sondern ein von allen Zoologen, die sonst auf dem
Boden des biogenetischen Grundgesetzes stehen, all-
gemein anerkannter Standpunkt. Ich habe dies in
meiner Arbeit genau erörtert, auch hervorgehoben, wie
die Annahme einer genauen Rekapitulation ontogene-
tischer Verhältnisse in der Phylogenie oft ad absurdum
führt. Er hat dies unter anderem an dem Beispiel der
aus der Mundöffnung hervorragenden Zunge vieler Säuge-
tierembryonen gezeigt, für welchen Zustand erwachsene
Formen nie gefunden werden. — Nach W. Schmidt sollen
also die Pygmäen an der Wurzel des Menschenstammes
stehen, und von einem ursprünglich weit verbreiteten
Pygmäenstamme sollen alle großwüchsigen Rassen ent-
standen sein. Die jetzt lebenden Pygmäen aber sind nach
ihm „nur in äußerste Rand- oder Waldgebiete versprengte
Völkerreste“. Schmidt setzt die Pygmäen auch für älter
an als die Australier und die Neandertalspezies und sucht
die Bedeutung der letzteren für die Stammesentwickelung
der Menschenrassen abzuschwächen, geht auch leicht über
das unbestreitbare höhere geologische Alter der Neander-
talspezies hinweg. Er spricht dabei wieder irrtümlich
davon, daß „die durchgehende Brachycephalie der Pyg-
mäen etwas ganz ausgesprochen Kindliches ist“, während
die dolichocephale Form der Neandertaler und Austral-
neger gewiß nichts Jugendliches sei, vergißt dabei aber,
daß die jungen Individuen der Neandertaler (Krapina,
Le Moustier) und der Australneger auch noch sehr milde
Schädelformen zeigen, noch nicht die als bestial bezeich-
nete Schädelbildung der erwachsenen erkennen lassen.
Man kann überhaupt nur erwachsene Schädel mit erwach-
senen, kindliche Schädel mit kindlichen vergleichen.
Letztere gleichen sich, wie bekannt, überall mehr; erstere
zeigen erst die charakteristischen Verschiedenheiten der
betreffenden Menschenrassen. Das höhere geologische
Alter der Neandertalspezies und ihre ungleich mehr der
der Affen näher stehende Form berechtigen dazu, dieser
Form, welche Referent als Homo primigenius bezeichnet
hat, -eine tiefere Stellung in der Entwickelungsreihe der
Menschen zuzuweisen, als den mit wohlgebildeten Schädeln
versehenen Pygmäen. Welche spezielle phylogenetische
Stellung die Pygmäen einnehmen — und Referent hat
mit Sarasin und Martin eine tiefe Stellung nie geleug-
net — ist zurzeit nicht genauer zu bestimmen. So sind
die Einwände, welche der Verfasser gegen die bisher be-
sprochenen Anschauungen des Referenten erhebt, nicht
gerechtfertigt. Aus diesen Einwänden soll auch unzweifel-
haft hervorgehen, daß es unmöglich sei, die Pygmäen als
kleine Menschenvarietäten, die neben großen sich ent-
wickelt haben, zu bezeichnen, wie dies Referent ausführ-
lich erörtert hat. Daß der von Schmidt gebrauchte Aus-
druck „Kümmerformen* sich nicht mit den Anschau-
ungen des Referenten deckt, sei noch besonders betont.
Referent sagt vielmehr (S. 58, l. c.): „Die geringe Körper-
größe der Pygmäen ist keine Erscheinung physi-
scher Degeneration, sondern das Resultat einer Auslese
unter fortwährender Einwirkung äußerer Verhältnisse,
nämlich relativ geringer Ernährung bei gleichzeitiger
Isolierung.“ Es wurde dabei vom Referenten betont, daß
die geringe Ernährung durchaus nicht mehr für die jetzt
lebenden Pygmäen zu gelten brauche. Merkwürdiger-
weise erkennt Schmidt meine Angaben (nach Europaeus)
über den Einfluß der Ernährung auf Körpergröße bei
den Lappen an, während er meine Anschauungen sonst
zurückweist. Daß die Körpergröße bei Tieren durch
äußere Verhältnisse sehr beeinflußt werden kann, dafür
hat Referent zahlreiche Beispiele angeführt.
Damit soll der kritische Bericht über den ersten Teil
des Schmidtschen Werkes abgeschlossen sein; der Mangel
an Raum gestattet es nicht, eingehender die Einwände
Schmidts gegen meine Auffassung zu besprechen.
Für die Beurteilung des zweiten Teiles ist es
wichtig, noch einmal zu betonen, daß Schmidt nach-
gewiesen zu haben glaubt, die Pygmäen seien anthro-
pologisch die primitivsten aller jetzt lebenden und aus-
gestorbenen Menschenformen. Sie stehen nach ihm an
der Basis der Menschheitsentwickelung. Wenn man aber
daran nach seinen Ausführungen im anthropologischen
Teile noch zweifeln könne, so sei kein Zweifel mehr er-
laubt, wenn man die ethnologischen Verhältnisse
der Pygmäen berücksichtige.
Dieser Abschnitt, „Die ethnologischen Verhältnisse der
Pygmäen“, ist, da hier W.Schmidt als selbständiger For-
scher auftritt, von ihm weit ausführlicher behandelt. In
einem ersten Kapitel bespricht er die materielle Kul-
tur der Pygmäen, Kleidung, Körperschmuck, Lebensweise,
Art der Ernährung, Wohnung und Siedelung, Bereitung
des Feuers, Waffen und Stoff der Werkzeuge und Waffen,
jedesmal gesondert für die einzelnen Pygmäenstämme und
dann wieder zusammenfassend. Ich will aus diesem Ge-
Schwalbe: P. W. Schmidts Arbeit „Die Stellung der Pygmäenvölker usw.“. 55
biet nur auf einiges hinweisen. Da Verfasser den anthro-
pologischen Beweis geliefert zu haben glaubt, daß die
Pygmäen die primitivsten Menschen sind, so muß ihre
Kultur auch als die primitivste anzusehen sein. Diese
Meinung wird vom Verfasser auch überall da aufrecht
erhalten, wo tatsächlich bei anderen Rassen primitivere
Zustände als bei den Pygmäen vorkommen, z. B. in der
Kleidung. Das Primitivste ist hier offenbar die voll-
ständige Nacktheit, wie sie unter anderem bei den Tas-
maniern gefunden wurde. Bei den Pygmäen dagegen
kommt nach Verfasser „vollständiges Nacktgehen unend-
lich viel seltener vor als bei großwüchsigen Stämmen“.
Nur bei den männlichen Akka und Andamanesen konnte
vollständiges Nacktsein festgestellt werden. Bei dieser
Gelegenheit spricht sich Schmidt über das Schamgefühl
aus und meint, daß die Kleidung mit dem Schamgefühl
in irgend einer Verbindung stehen müsse, während For-
scher, wie von den Steinen (Unter den Naturvölkern Zentral-
Brasiliens, 1894, S. 190), Stuhlmann (Mit Emin Pascha
ins Herz von Afrika, 1894, S.765), uns andere Tatsachen
mitteilen, aus denen hervorgeht, „daß die Kleidung —
ursprünglich wenigstens — mit dem Schamgefühl nichts
zu tun hat“. Auch die verschiedenartigen Wohnungen
der Pygmäen werden für die primitive ethnologische
Kultur derselben angeführt, darunter sehr primitive, die
Höhlenwohnungen, Windschirme, andererseits aber be-
reits Hütten. Die Meinung Panckows, daß diese
weitverbreiteten kugeligen und halbkugeligen Hütten
nicht ihr primitives Eigentum, sondern von ihren
großwüchsigen Nachbarn entlehnt seien, wird vom Ver-
fasser zurückgewiesen. Die Tatsache aber, daß bei den
Pygmäen schon kleinere oder größere Hüttenkomplexe und
eine größere soziale Einheit bestehen, entfernt sie wohl
auch schon von den primitivsten Kulturzuständen. Höchst
primitiv ist zweifellos die Tatsache, daß die Andamanesen
die Feuerbereitung nicht verstanden, sondern das früher
einmal gewonnene Feuer mühsam erhalten mußten, wäh-
rend die übrigen Pygmäen sich verschiedener Methoden
der Feuerbereitung bedienen. Dagegen zeigen die An-
damanesen in der Herstellung von Töpfen und ihrer Ver-
zierung mit mancherlei geometrischen Ornamenten wieder
eine höhere Stellung, die sich überdies bei ihnen offen-
bart in der Herstellung ihrer für den Fischfang benutzten
Böte. Auch in ihren übrigen kulturellen Leistungen, in
der Anfertigung von Körben, Fischnetzen und Stricken,
in der Herstellung von Waffen stehen die Andamanesen
durchaus nicht auf einer niedersten Kulturstufe. Bogen
und Pfeil sind nach W. Schmidt allen Pygmäenstämmen
eigen, vielfach aber finden sich auch Speer und Schild
daneben. Aber nach Schmidts langen gelehrten Ausein-
andersetzungen finden sich bei den Pygmäen „die ältesten
Formen von Bogen und Pfeil, diese stehen der Urform
von Bogen und Pfeil am nächsten, und es scheint, daß
die Pygmäen die Erfinder dieser Fernwaffe gewesen sind“.
Auf diesem Gebiet bewanderte Ethnologen mögen hier
entscheiden. Wenn aber W. Schmidt als Resultat der
Übersicht über die materielle Kultur der Pygmäen (be-
sonders der Andamanesen) es ausspricht, „daß die
Pygmäenstämme als Ganzes genommen eine Entwicke-
lungsstufe sozusagen bis auf unsere Tage fortgeführt
haben, die noch vor der paläolithischen liegt“, die also
der viel „umstrittenen eolithischen Periode“ entsprechen
würde, so kann diese Auffassung nicht ohne Widerspruch
hingenommen werden. Die Tatsache, daß der Werkzeug-
bestand der Andamanesen nur aus rohem Steinmaterial
(Hammer und Amboß aus Dolerit oder Basalt, Schleif-
steine aus Sandstein, Stücke zum Schaben und Tätowieren
aus Quarz, Kochsteine) oder aus scharfen Muscheln be-
steht, ihr Waffenmaterial aus Bambus, Holz und Fisch-
knochen, ist doch kein Beweis dafür, daß sie einer prä-
eolithischen Periode angehören. Da das auf den Anda-
manen vorhandene eben genannte Steinmaterial der
Qualität nach zur Herstellung von Pfeil- und Lanzen-
spitzen und von Steinmessern nicht verwendbar war,
so müssen Muscheln, Holz und Knochen als Ersatz dienen.
Die Waffen aber, die mit diesem Material angefertigt
wurden, sprechen unbedingt für höhere Kunstfertigkeit,
für eine weit höhere Kultur, als sie die Wesen, welche
Eolithen und Archäolithen gebrauchten, besitzen konnten.
Ein solches „Holz- und Knochenalter“ wird sich unter
ähnlichen Verhältnissen in ähnlicher Weise entwickeln.
Hat doch v. d. Steinen ein solches bei den Schingu-
Indianern nachgewiesen und ausdrücklich (l. c., S. 205)
zurückgeführt „auf die Abhängigkeit des Menschen von
seinem Wohnorte“. Nur bei der durch nichts bewiesenen
Annahme Schmidts, daß die Pygmäen geologisch älter
seien als die ältesten Paläolithiker, würde eine solche
Behauptung zu verstehen sein; man müßte dann aber
den hohen Kulturzustand der Andamanesen bei An-
erkennung der Eolithen Wesen zuschreiben, die noch
nicht als Menschen zu bezeichnen wären.
Wenn wir schließlich unbefangen den materiellen
Kulturbesitz der Andamanesen überblicken, so ist dieser so
unhomogen wie möglich: einerseits nahezu vollständige
Nacktheit, das Fehlen der Feuerbereitung, andererseits hohe
Kulturentwickelung in den Dingen, welche für ein Leben
auf den abgeschlossenen Inseln oder in Wäldern verlangt
wurden (zweckmäßigste Ausrüstung zur Jagd und zum
Fischfang). Der Mangel an Raum verbietet es mir, noch
weiter auf diese interessante Frage einzugehen.
Ich komme nun zu dem letzten, umfangreichsten und
interessantesten Abschnitt des Schmidtschen Buches, zu
dem Kapitel, welches die geistige Kultur behandelt. Daß
die Pygmäen durchaus nicht auf einer niederen Stufe
der Intelligenz stehen, darüber sind wohl alle Kenner
der Pygmäen einig. Wichtig ist aber für die Beurteilung
ihrer Stellung die weitere Tatsache, daß die Pygmäen-
stämme Zentralafrikas, ferner die Negrito und Semang
keine eigene Sprache besitzen, sondern die Sprache der
ihnen benachbarten großwüchsigen Rassen reden. Auch
die Sprache der Buschmänner ist mit der der Hotten-
totten verwandt; die Sprache der Andamanesen aber in-
folge der insularen Lage selbständig. Ich glaube, daß
die Beziehungen der Pygmäensprachen zu denen benach-
barter großwüchsiger Rassen doch wohl auf einen anthro-
pologischen Zusammenhang beider hinweisen, daß nicht
eine nicht bewiesene unbekannte eigene Sprache, wie
Schmidt meint, vorausgegangen ist, die dann infolge des
Verkehrs mit den großwüchsigen Nachbarn durch der
letzteren Sprache ersetzt wurde. Ich meine, die erstere
Auffassung ist die natürlichere. In betreff des Zählens
und der Zahlwörter sind die Verhältnisse bei den Pyg-
mäen sehr primitiv. Bei der Besprechung der Kunst-
übung der Pygmäen wird auf den Unterschied aufmerk-
sam gemacht, der hier zwischen afrikanischen und asia-
tischen Pygmäen besteht, das verbreitete Vorkommen von
Tänzen bei den ersteren, das Fehlen derselben bei letzteren;
Musikinstrumente sind so gut wie gar nicht bei den Pyg-
mäen vorhanden. Geometrische Zeichnungen werden von
den Andamanesen, besonders aber von den Semang, und
zwar bei diesen auf den Kämmen der Frauen und
Köchern der Männer ausgeführt. Ganz hervorragend
dokumentieren sich aber die Kunstleistungen der Busch-
männer in ihren Fels- und Höhlenzeichnungen und Skulp-
turen. Eine eingehendere Besprechung der nun folgenden
interessanten Kapitel, welchedieethische Veranlagung der
Pygmäen (Familie, Stammesverhältnisse, Eigentum, Wahr-
heitsliebe, geschlechtliche Sittlichkeit, Ehe, Totemismus)
8*+
56 Mielert: Die Insel Korsika.
behandeln, muß ich mir versagen. Es genügt, auf
einige Gesamtverhältnisse der hierauf bezüglichen Unter-
suchungen hinzuweisen, so auf Feststellung der Mono-
gamie bei den Pygmäen, ferner auf die Angabe des Ver-
fassers, „daß wohl bei allen Pygmäenstämmen die soziale
Entwickelung so weit fortgeschritten ist, daß sie dieGrenzen
der Einzelfamilie überschritten und zur Bildung von
kleineren Familienverbänden mit einem Oberhaupt an der
Spitze vorgedrungen sind“. Dagegen möchte ich auf die
Kapitel „Religion und Seelenlehre“ noch mit wenigen
Worten eingehen.
Aus dem hier vorliegenden Beobachtungsmaterial sucht
W. Schmidt nachzuweisen, daß bei den Pygmäen überall
die Anerkennung und Verehrung eines höchsten Wesens
vorhanden sei; man könne bei ihnen, den Kindheits-
stämmen der Menschheit, von einem Monotheismus reden;
ja sogar ein gewisser Kultus, der in Verehrung jenes
höchsten Wesens, Dankbarkeit gegen dasselbe, Gebet und
Darbringung von Primitialopfern bestehe, sei bei ihnen
vorhanden. Besonders eingehend sucht Schmidt dies,
namentlich auf Grundlage der Berichte von Man (und
Portman), für die Andamanesen nachzuweisen. Puluga
stellt hier nach der Meinung von Schmidt ein höchstes
Wesen dar, während Brown (vgl. auch Man, Bd. X, 1910,
S. 33—37), der neueste Erforscher der „Religion“ der
Andamanesen, die gegenteilige Behauptung aufstellte, daß
es sich hier um kein höchstes Wesen handle, sondern
daß Puluga eine Personifikation des Nordostmonsuns sei,
daß überhaupt die jetzt lebenden Andamanesen „sicher
nicht an ein höchstes Wesen glauben“ (l. c. S. 36).
Ich selbst vermag aus Mans Mitteilungen, die ich im
Original eingesehen habe, nicht die weitgehenden Folge-
rungen von Schmidt zu ziehen. Ich möchte hier auch
auf einen Widerspruch hinweisen. Schmidt (S. 199) be-
zweifelt, „ob unsere Kenntnis der Andamanesen schon bis
zu einer solchen Intimität vorgedrungen sei, daß wir allen
unter ihnen definitiv jegliche Art von Liebe und Dank-
barkeit gegen Puluga absprechen könnten“. Und weiter
(S. 244) sagt Schmidt: „Ich habe oben schon dargelegt,
wie es eine psychologische Unmöglichkeit zu sein scheint,
daß die Eingeborenen dieses Wesen .als den Ursprung
des Guten erkennen und dabei nicht irgendwie Dankbar-
keit und Liebe gegen dasselbe empfinden sollen.“ Damit
steht im Widerspruch, was Schmidt (S. 151) nach
Portman über den Charakter der Andamanesen berichtet.
Da heißt es unter anderem: „Sie haben ein kurzes Ge-
dächtnis sowohl für Gutes als Böses, schlagen schnell
um und haben einen geringen oder gar keinen Begriff
von Dankbarkeit.“ Ich halte es also nach allem für
durchaus nicht bewiesen, daß diese Pygmäen den Begriff
eines höchsten Wesens haben. Schmidt war es aber
darum zu tun, nachzuweisen, daß schon die primitivsten
Menschenrassen eine solche Vorstellung besitzen. Ich
würde umgekehrt, wenn dies wirklich für die Pygmäen
nachzuweisen wäre, daraus schließen, daß dann die mit so
ansehnlicher Intelligenz begabten Pygmäen nicht die
Kindheitsformen der Menschheit veranschaulichen.
In dem letzten Abschnitt des Werkes bespricht Schmidt
die Begräbnisgebräuche bei den Pygmäen und auch die
Jenseitsanschauungen. Er sagt hier: „daß die sämtlichen
Pygmäenvölker an ein Fortleben nach dem Tode glauben,
könnte schon aus der Sorgfalt, mit der sie die Bestattung
vornehmen, insbesondere aus der Hinsetzung von Speise
und Trank an das Grab, entnommen werden“ (S. 261).
Ich überlasse es Fachleuten auf diesem Gebiet, zu ent-
scheiden, ob dadurch ein Beweis für einen Unsterblich-
keitsglauben der Pygmäen geliefert ist.
In anziehender fließender Darstellung faßt Schmidt in
drei Schlußkapiteln seine Resultate, über die im wesent-
lichen schon im Vorstehenden berichtet wurde, zusammen.
Nur kristallisieren sich seine Anschauungen hier aus
früheren vorsichtigeren Aussprüchen nun zu bestimmter
festerer Form. Es steht für Schmidt unzweifelhaft fest
(S. 299), daß wir in den Pygmäen „unter allen jetzt
lebenden Menschenrassen noch die treuesten Abbilder
unserer ersten Vorfahren, unserer ersten Eltern erblicken
müssen“. S. 300: „Die spezifischen Merkmale der Pyg-
mäen sind die der anfangshaften Kindheit, die der euro-
päischen Quartärmenschen und der Australier sind die
Kennzeichen des Greisenalters.“ Dieses Anfangsstadium
der Menschheit soll mit einem Male durch Mutation „aus
vorhergehenden Formen“ entstanden sein. Ein Beweis
für diese Anschauung wird nicht gebracht. Auch bedenkt
wohl Schmidt nicht, daß auch Mutationen doch immer
nur relativ geringe Veränderungen, aber nie größere
Sprünge darstellen. Für den Geist des Menschen aber
soll das Hervorgehen „aus früher bestehenden Formen
in jeder Weise“ ausgeschlossen sein. Den Schlußsatz der
ganzen Abhandlung kennzeichnet am besten die Stellung
des Verfassers zur Entwickelungslehre, die er durch sein
Werk für erschüttert hält. Er sagt: „Fassen wir zu-
sammen, so sprechen die bei den Pygmäen ersichtlichen
Tatsachen für einen sehr klar unterscheidbaren Dualis-
mus ihres ganzen Wesens, indem sie eine Entstehung aus
vorhergehenden Formen für den Körper nur in plötzlicher
sprunghafter Form, für den Geist aber in gar keiner
Weise als zulässig erscheinen lassen.“
Ich glaube, bei meiner in den vorstehenden Zeilen
erfolgten Besprechung des Schmidtschen Werkes gezeigt
zu haben, daß durchaus nicht alle Grundlagen der An-
schauungen und die daraus gezogenen Schlußfolgerungen
des gelehrten Verfassers sicher sind. Eine oft sehr
niedere, aber bei den einzelnen Pygmäenrassen in vielen
Dingen sehr verschiedene Kultur ist wohl zuzugeben,
nicht aber der von Schmidt gefolgerte hohe religiöse
Standpunkt der Pygmäen. Es ist ferner zu betonen, daß
die mehrfach vorkommenden, den Pygmäen scheinbar
fremden Kulturelemente durchaus nicht notwendig aus
späterer Berührung mit großwüchsigen Nachbarn her-
vorgegangen zu sein brauchen, sondern ebenso verständ-
lich erscheinen aus der Annahme einer früheren Kultur-
stufe, welche ihnen noch bei ihrer ehemaligen weiteren
Verbreitung mit ihren Nachbarn zum Teil gemeinsam
war, von der sich dann aber bei der Zurückdrängung
der Pygmäen in Wälder und auf Inseln Reste erhalten
haben.
Sehr zu begrüßen ist die in einem Schlußwort des
Werkes enthaltene Aufforderung an die wissenschaft-
lichen Kreise aller Länder, sich zu vereinigen zu einer
umfassenden Untersuchung der Zwergvölker.
Die Insel
Von Fritz Mielert.
Korsika.
Sprottau.
Mit 21 Abbildungen nach ÖOriginalaufnahmen des Verfassers.
Einem einzigen ungeheuren Felskoloß ähnlich erscheint
die Insel Korsika, wenn man sich ihr mit dem Schiffe
nähert, ein stolzer Fels, schmäler, wenn man von der
französischen Riviera her an die Insel herankommt, wall-
artig, mit sehr imposant in den Äther hinaufgezückten
Spitzen, wenn man von Italien naht. Und tatsächlich
Mielert: Die Insel Korsika. 57
ist im westlichen Mittelmeerbecken keine einzige unter
den größeren Inseln derart von alpinen Gebirgen erfüllt
wie Korsika. Das weitaus größere Sardinien, das ge-
wöhnlich als das Hauptland betrachtet wird, zu dem
Korsika das abgelöste Supplement darstellt, weist eines-
teils nicht so hohe Gebirge auf, andernteils sind diese
auch nicht so kompakt und lassen breiten Ebenen und
Hügelgeländen Raum.
Nach Fischer gehörten Sardinien, Korsika und die
östlich davon liegende Insel Elba nebst ihren kleinen
Trabanten wahrscheinlich zu einem großen Festlands-
gebiet, das, westlich vom heutigen Apennin gelegen,
sich diesem parallel erstreckte und wohl als Urapennin
bezeichnet werden kann. Die Meerestiefe zwischen Korsika
und dem festländischen Italien wie zwischen Korsika und
Sardinien ist gering. Sie beträgt an den tiefsten Stellen
400 bis 500m, während sich zwischen Korsika und der
Provence Tiefen von 2000m und darüber vorfinden.
Geologisch ähnelt Korsika im Aufbau vollständig den Inseln
Elba und Sardinien, gehört also mitin ihre Reihe und somit
auch zu dem italienischen Inselbogen.
Bis in die äußersten Winkel der Insel ziehen sich
die Bergmassen, für den ersten Blick ein wirres Durch-
einander, ein dem Touristen hoch willkommenes Berg-
labyrinth bildend, das größte Abwechselung verspricht.
Bei genauerer Betrachtung aber doch ein — wenn auch
ziemlich lose — zusammenhängendes System. Man kann
nämlich in der Meridianrichtung eine Reihe von Höhen-
linien erkennen, die im Innern des Landes sich aufbauen
und es in zwei Längshälften scheiden. Es bildet aber dieser
Gipfelzug keineswegs eine gerade Linie, sondern ein
schwach gebogenes lateinisches S. In ihren Umrissen kann
die etwa 8750 qkm große Insel mit denen einer Weintraube
verglichen werden. An der Nordostecke dieser im ganzen
etwa 183km langen und bis zu 85km breiten „Wein-
traube“ erstreckt sich eine etwa 40 km lange und durch-
schnittlich 12 bis 14km breite Landzunge in genau
meridionaler Richtung nach Norden, der „Stiel“ der
Weintraube. Selbst diese Landzunge wird bis in die
äußerste Nordspitze, das Kap Corse, hinein von einem
Bergzuge erfüllt, der sich in ganz respektablen Höhen
hält. Seine bedeutendste Erhebung ist der ungefähr in
der Mitte der Längenausdehnung gelegene Monte Stello,
1305 m. Von diesem Höhenzuge zweigen nach beiden
Seiten zu den Küsten Bergrücken ab, die zwischen sich
wundervolle Täler bergen.
Wenn man will, kann man schon diesen Höhen-
rücken als Beginn der die Insel durchziehenden Gipfel-
reihe betrachten, denn er hängt ebenso lose mit den
übrigen Höhen zusammen, wie diese unter sich. Der
südlich der Landzunge, also in der großen Landmasse der
Insel sich erhebende erste größere Gipfel ist der® des
Monte Asto (1533 m), der sich in der Hauptsache nord-
südlich erstreckt und nördlich mit dem Monte Ambrica
(1040 m), südlich mit dem Monte Reggi Pozzo (1470 m)
abbricht. Es sei gleich hier bemerkt, daß diese wie auch
alle übrigen noch zu nennenden Hochgebirgsmassen
Korsikas verwirrend viele Seiten- und Parallelzüge
besitzen, die ihrerseits sich wieder zu besonderen Gebirgs-
systemen vereinigen und in denkbar größter Mannig-
faltigkeit nach allen Himmelsrichtungen hin sich ver-
zweigen. Es seien darum nur die hauptsächlichsten
Erhebungen der zentralen Gipfelreihe angeführt. Südwest-
lich vom Bergsystem des Monte Asto folgt der Monte
Padro (2393m), die nördlichste der über 2000 m
Gipfelhöhe besitzenden bedeutenderen Gipfelmassen
Korsikas. Ihr Zusammenhang mit der südwestlich von
ihr sich erhebenden Zentralmasse des Monte Cinto
(2710 m) ist sehr locker. Von dem Gebirgsmassiv des
Globus XCVIII. Nr. 4.
Monte Cinto, der höchsten Erhebung Korsikas, schwenkt
ein Seitenzweig in einem nach Westen ausbiegenden,
ziemlich deutlich zu verfolgenden Höhenzug mit mehreren
bedeutenderen Erhebungen über 2000m ab. Er
bildet eine markante Wasserscheide zwischen Westen
und Osten und wird nur von einem bis auf 1464 m sich
herabsenkenden flachen Einschnitt durchquert, dem Paß'
(Col) von Vergio. Mit dem Cimatelli (2100 m) bricht diese
Wasserscheide in das Tal des Tavignano ab und hängt
durch einen Seitenzweig lose zusammen mit dem zweit-
höchsten Bergmassiv Korsikas, dem Monte Rotondo
(2625 m, Abb. 1 und 2 a.f.S.). Dieser ist wiederum durch
niedrigere Felsgrate undeutlich verbunden mit dem
Monte d’Oro (2391 m), dessen Gipfel in Luftlinie etwa
10km von dem des Monte Rotondo entfernt ist. Es
sind die beiden einander am meisten genäherten Hoch-
gipfel Korsikas. Zwischen diesem und dem nächst-
südlicheren Alpengipfel, dem Monte Renoso (2327 m)
besteht eine markantere Verbindung, die aber im Paß
oder Col de Vizzavona (auch La Foce genannt) bis auf
1162 m herabsinkt. Die nun folgende höhere Erhebung,
der Monte Incudine (2136 m), übrigens der südlichste
der Hochgipfel über 2000 m, liegt in Luftlinie bereits
25km südlicher und ist von ihrem nördlichen Nachbarn
durch das Tal des Taravo getrennt. Die noch südlicher
gelegenen Erhebungen hängen ihrerseits ebenfalls nicht
mit dem Monte Incudine zusammen, können aber gleich-
falls noch als das Rückgrat Korsikas angesehen werden.
Es sind Monti, die nur im äußersten Süden einen be-
stimmten Namen führen. Hier, wo sie am niedrigsten
sind, nämlich 1200 bis 1300 m, heißen sieMontideCagna.
Westlich von dieser Gipfelreihe treten die Berge in
ungebrochener Wildheit, jedoch mit immer niedrigeren
Gipfelhöhen bis hart ans Meer heran, in dessen Nähe
sie aber doch noch Höhen von 800 bis 1000m
behaupten. Hier ist darum die Küste auch außerordent-
lich zerklüftet und reich an Buchten. Von der Landzunge
des Kap Corse an zählt die Westküste sechs größere
Buchten: jene von St. Florent, Calvi, Porto (Abb. 3 a. S. 59),
Sagone, Ajaccio (Abb. 4 a. S. 59) und Valinco, ungerechnet
die nach Hunderten zählenden kleinen Buchten, deren Reihe
sich bis zur Südspitze fortsetzt. Auch im südlichen Teil
der Osthälfte Korsikas treten die Berge vollständig an
das Meer heran, weshalb es auch hier nicht an Buchten
mangelt. Von diesen sind die beiden Golfe von Manza
und Porto Vecchio zu nennen. Zwei Drittel der Ostküste
aber sind flach. An zwei Stellen füllen Lagunen die
flachen Gestade, so im Norden, unmittelbar südlich von
Bastia der Etang di Biguglia, 1500 ha groß, und in der
Mitte der Ostküste die kleineren Strandseen von Diane,
Urbino, Ghisonaccia und Palo. Die östliche Hälfte Nord-
korsikas zeigt nicht minder hohe Bergmassen als die
westliche, doch gehen hier die Abdachungen weniger schroff
von statten. Die Ostseite der Insel besteht vorwiegend
aus Kreidegesteinen, meist Kalk, während der weit
größere westliche Teil aus altkristallinischen Gesteinen,
vornehmlich Granit, sich aufbaut.
Bei der mäßigen Ausdehnung der Insel sind die Flüsse
nur kurz und nicht schiffbar. Ausnahmslos entspringen
sie im Innern des Landes an den hier aufgetürmten
Hochgebirgsmassiven, durcheilen als reißende Gießbäche
mächtige Schluchten und fließen nur zum Teil vor ihrer
Mündung durch flacheres Gelände. Zur Ostküste gehen
der Golo und der Tavignano, nebst einer Anzahl kleinerer
bachartiger von ganz kurzem Lauf. Der Golo, etwa
80 bis 85km lang, entspringt an dem vom Monte Cinto
südlich abschwenkenden Bogen, nimmt die Abflüsse
der Ostseiten des Monte Cinto und Monte Padro, sowie
einiger Gebirgsmassen der Osthälfte Korsikas auf und
9
58 Mielert:
mündet südlich vom Etang di Biguglia
ins Meer. Der Tavignano, von dem
Monte Cimatelli kommend und alle öst-
lichen Abflüsse des Monte Rotondo und
Monte d’Oro in sich vereinend, ist von
ungefähr derselben Länge wie der Golo
‘und mündet zwischen den Strandseen
Diane und Urbino ins Meer. Von den
Flüßchen der Ostseite wären dann noch
zu nennen der Fiumorbo, der die Ab-
flüsse des Monte Renoso, und der Travo,
welcher jene des Monte Incudine sammelt.
Nach der Westküste hin gehen außer
unzähligen kleinen der Liamone, auf
dem Monte d’Oro entspringend und in
den Golf von Sagone ausmündend, der
Gravone und Prunelli, die vom Monte
Renoso kommen, einander parallel fließen
und sich kurz vor ihrem Ausmünden in
den Golf von Ajaccio vereinen. Be-
deutender als die genannten, die einen
Lauf von etwa 40km haben, ist der
Taravo, der am Monte Renoso seinen
Ursprung hat und nach etwa 53km
langem Lauf in dem Golf von Valinco
endet. Außer den genannten Strandseen an der Ostküste
und einer Anzahl kleiner Bergseen besitzt Korsika keine
stehenden Gewässer.
In einem derartigen Berglande, das mit wenigen Aus-
nahmen bis an den Rand mit steilwandigen Bergmassen
angefülltist, und in dessen Innern, dazu noch in der Richtung
der Längsachse, sich die Hauptgebirge wie ein Riesen-
wall erheben, sind die Wegeverbindungen naturgemäß
sehr schwierig herzustellen und nichts weniger als bequem.
Doch sind ungeachtet der Verhältnisse unter dem fran-
zösischen Regime eine Reihe guter fahrbarer Straßen an-
gelegt worden, die zu den wichtigsten Orten des Landes
führen. Die bedeutendste dieser Straßen ist die, welche
die beiden Hauptorte der Insel, Bastia und Ajaccio, mit-
einander verbindet. Wie auch sonst in Bergländern folgt
die Straße, wo es irgend angängig ist, den Flußtälern,
hat aber doch zwei Wasserscheiden zu überwinden. Sie
geht, nachdem sie von Bastia aus am Fuß der Berge ent-
Abb. 2. Gipfelkamm des Monte Rotondo. Nordöstliche Seite, östlich von den
höchsten Spitzen, 2350,m.
Standhöhe des Photographen etwa 2200 m.
Die Insel Korsika.
Abb.1. Der Monte Rotondo (2625 m) vom Lago dell’ Oriente (2058 m) aus.
lang den Unterlauf des Golo erreicht hat, in dessen Tal
bis zu seinem Mittellauf, übersteigt dann den Col de
S. Quilico (560 m) und senkt sich in das Tal von Corte
hinab, wo sie den Tavignano quert. Von hier geht sie
durch außerordentlich wilde Bergwelten zum Col de
Vizzavona (1162 m) hinan und steigt in das Gravonetal
hinab, in dem sie bis Ajaccio sich hinzieht. Sie ist eine
der wundervollsten Straßen Korsikas, doch besitzt sie
eine stattliche Zahl nicht weniger pittoresker Rivalinnen.
So zweigt von Corte ab eine großartige Straße über den
Col d’Ominanda (657 m) in das Golotal hinein, überquert
den Col di Vergio (1464m) und erreicht, durch wilde
Schluchten führend, den Golf von Porto. Eine andere
geht von Corte, der bedeutendsten Binnenstadt der Insel,
im Tavignanotal zur Ostküste. Doch gibt es — und
auch die Straße Bastia— Ajaccio gehört teilweise dazu —
viele Straßen in Korsika, die wegen der Schwierigkeit,
welche die tief eingerissenen, vielbuchtigen Schluchten
den Straßenanlagen bereiten, quer
über Berge hinweg und durch Ein-
schnitte der Bergkämme führen und
auf diese Weise die wundervollsten
Einblicke in die grandiosen Berg-
welten gestatten, wie es anderwärts
nur Gemsensteige zu tun imstande
sind. Außer diesen fahrbaren Straßen,
die das Land in allen Richtungen
durchschneiden und an Steigungen
und Windungen das Möglichste leisten,
gibt es noch eine Anzahl Fußsteige,
die als Wegeverbindungen zu den
abseits der Straße gelegenen Dörfern
dienen. Es sind durchweg Saum-
pfade, die an Schroffheit und Ungang-
barkeit nichts zu wünschen übrig
lassen. So schwer auf große Strecken
hin die Westküste wegen ihrer kap-
artig vorspringenden, durchweg sehr
steilen Bergmassen zu begehen ist, so
hat man doch selbst hier Landstraßen
angelegt, die insgesamt einen einzigen,
beispiellos herrlichen Strandweg rund
um die Insel herum bilden. Nur dort,
wo wenig und gar nicht bewohnte
Mielert: Die Insel Korsika.
59
Vorgebirge ins Meer hinaustreten, schwenkt die Straße, um
zu kürzen, quer ins Land hinein, desgleichen hält sie
sich an der Ostküste von den sumpfigen Strandseen fern
und ähnelt auch zwischen Bonifaccio und Ajaccio mehr
einer Binnenstraße, da sie das Meer auf dieser Strecke
nur an einigen Punkten berührt.
Natürlich begegnet die Anlage von Bahnen, mit Aus-
nahme jener an der flachen Ostküste, noch größeren
Schwierigkeiten. Insbesondere bedeutet die Korsika durch-
querende Strecke Bastia—Corte—Ajaccio ein Bravour-
stück moderner Ingenieurkunst. Von dieser Hauptlinie
(158km lang) zweigt in Casamozzo am Golo die Ostküsten-
bahn (64 km) nach Ghisonaccia und in Ponte alla Leccia am
Golo die Westbahn (74km) nach Ile Rousse und Calvi
ab. Schon die auffallend große Zahl von Tunneln und
Viadukten der Haupt- und der Westbahn (etwa 35 Tunnel
und nicht viel weniger Viadukte) gibt, wenn nichts
anderes, über die Schwierigkeit der Bahnanlage, aber
auch über die ungeheure Wildheit und Pracht dieser
korsischen Bergwelt Aufschluß. Von den Tunneln ist der
von Vizzavona seiner Länge wegen, 3916 m, erwähnens-
wert, desgleichen auch ein Viadukt bei der Station
Vecchio, dessen Höhe 74m beträgt.
Bei der verhältnismäßig noch geringen Zahl und Aus-
dehnung der Schienenstränge ist der Verkehr noch auf
das Fuhrwesen angewiesen. Wie in der Provence und an
der Riviera trifft man hier schwere zwei- und vierrädrige
Lastkarren, denen mehr oder weniger zahlreich Maultier-
paare vorgespannt werden. Auch Maultier- und Esel-
karawanen sieht man vielfach, besonders solche, die das
Holz der Bergwälder zu Tale schaffen. Den Personen-
verkehr vermitteln Personenposten und eine Anzahl Miet-
wagen, welch letztere in den größeren Ortschaften zu
haben sind. Vielfach reist man aber zu Pferde und zu
Fuß. Da die Ortschaften oft weit auseinander liegen, so
sind die Landstraßen hinreichend mit Wegebrunnen ver-
sehen, die, von Quellen gespeist, durchweg gutes Wasser
liefern. Für die Tiere findet sich stets ein Trog vor, in den
das Wasser der Quelle erst fällt, ehe es seinen Lauf fortsetzt.
Auch Straßenwirtshäuser finden sich, jedoch sehr spärlich
und nur für den Fuhrmannsbedarf ausreichend. Auf gute
Beköstigung und bequemes Nachtlager kann man nur in
den Städten und größeren Dörfern rechnen.
Das Klima ist herrlich. Wegen seiner Lage zwischen
dem europäischen Kontinent und Afrika vereinigt Korsika
beider Eigentümlichkeiten und erzeugt in den tiefer
Abb.3. An der Bucht von Porto.
Rechts oben die Fahrstraße nach dem Orte Porto.
gelegenen Teilen dank seinem vorwiegend guten Boden
sämtliche Gewächse der Mittelmeerküsten in prächtigster
Entfaltung. Mit Ausnahme der Ostküste, deren Strandseen
im Sommer Fieber erzeugen, ist die Luft überall gesund.
Die Korsen genießen den seltenen Vorzug, zugleich Hoch-
gebirgs-und Seeluft atmen zu können. In kaum zwei bis drei
Stunden Bahnfahrt von der Küste befindet man sich in-
mitten herrlicher Hochgebirgswälder, die ideale Sommer-
frischen bieten; die Orte der Westküste, insbesondere
Ajaccio aber, besitzen die klimatischen Vorzüge der be-
günstigsten Winteraufenthalte der Riviera. Die Mittel-
temperatur im Jahre beträgt an der Küste 17,7°C, im
Sommer etwa 25°, im Winter 11,2%. Tem-
Abb. 4.
Bucht von Ajaccio.
peraturen unter 0° kommen zuweilen
vor, dauern aber nicht an, ebenso ist in
den Niederungen und an den Küsten
Schnee selten und ohne Bestand. Die
Berge sind freilich im Winter mit
Schnee bedeckt, im Sommer jedoch bis
auf 2100 m Höhe schneefrei. Auch über
dieser Höhenlage hält sich der Schnee
nur an geschützteren Stellen. Der
Sommer ist regenarm, die übrigen
Jahreszeiten dagegen bringen reichlich
Niederschläge, die, auf das Jahresmittel
berechnet, etwa 630 mm ergeben.
Wegen der geringen Größe des Lan-
des sind die Vegetationsbilder im Norden
dieselben wie im Süden. Wir können
also nur Höhenzonen der Vegetation
unterscheiden, diese aber sind sehr aus-
geprägt und eine jede für sich sehr
mannigfaltig an Arten. Vom Meeres-
niveau bis hinauf zu etwa 550m ge-
deihen die subtropischen Gewächse
9*
60 Mielert:
Die Insel Korsika.
Abb.5.
Afrikas sowie die der Niederungen Spaniens und Ita-
liens. Von 550 bis 1800 m zeigt das Land das Vege-
tationsgepräge von Mittelfrankreich und Süddeutsch-
land. Über 1800 m herrscht der Charakter der nor-
wegischen Pflanzenwelt der Berge. Die untere Zone
bringt alle bekannten südlichen Gewächse hervor, und
selbst die Dattelpalmen gedeihen hier auf das üppigste.
Sie sind aber nur als Zierbäume angepflanzt. Dagegen pflegt
man in dieser Zone den Anbau der Orangen, Agrumen,
vor allem aber der Olive, die der eigentliche Charakter-
baum dieser Zone ist. In einzelnen Gegenden, wie in der
Balagna, den zwischen den Monte Cinto, Monte Padro
und dem westlichen Meere gelegenen Tälern, bildet er
sehr große Waldungen. Er kommt auch in der zweiten
Höhenzone noch vor, jedoch nur bis etwa 850m. Rund
12000 ha des Landes sind seiner Kultur gewidmet, die
bis 300000hl Oliven, bzw. 400000kg Öl liefert.
Die korsischen Ölbäume tragen bessere Früchte
als jene der Provence und Italiens, doch ist die Kunst
der Ölbereitung noch sehr primitiv. Den korsischen Öl-
bäumen rühmt man auch nach, daß
sie unter allen Ölbäumen der Welt
den Witterungsverhältnissen am
besten trotzen. Dieses Lob hat ihnen
der große Humboldt gespendet. Sie
bedürfen weniger Pflege. Man schnei-
det, um sie zu kräftigen, ihre ältesten
Äste ab, gräbt die Erde rings um
den Baum auf oder breitet etwas
trockenen Dünger um den Stamm.
Auch Maulbeerbäume, Feigen- und
Mandelbäume gedeihen bei dem ewig
heiteren Himmel, dem guten Boden
und der hinreichenden Bewässerung,
vor allem aber wegen der geschützten
sonnigen Lagen in den von hohen
Bergen umschlossenen Tälern kräf-
tiger und besser als in Südfrankreich
und an der Riviera. In ebensolcher
Güte wie diese Baumfrüchte gedeiht
hier der Wein, der kräftig und wür-
zig ist und dessen Kultur eine fort-
schreitende Steigerung erfährt. Der
Jahresertrag beziffert sich auf reich-
lich 300000 hl. Abb. 6.
Alte Kastanienbäume auf Korsika.
Aber fast noch typischer als Olive
und Wein erscheinen die mächtigen
Bestände von Edelkastanien, die
große Wälder bilden und etwa
27000 ha Boden bedecken. Sie finden
sich in allen Teilen des Landes
und kommen bis 900m Höhe vor.
Ihre Früchte bilden das wesentlichste
Nahrungsmittel der Landbevölkerung,
die sie in mehr als zwanzig ver-
schiedenen Formen zuzubereiten weiß.
Die Ergiebigkeit der meist kolossal
starken, zuweilen gigantischen Bäume
(Abb.5) ist so groß, daß sie der
Bevölkerung mühelosen Unterhalt ge-
währt und diese vielfach von ander-
weitiger Bestellung des Landes und
besonders von der Feldarbeit abhält.
Starke Bäume liefern jährlich gegen
300 Liter Früchte. Noch heute, wenn
auch nicht mehr in dem Maße wie
früher, läßt man zur Bestellung der
Wein- und Getreidefelder sich Arbeits-
leute und Gärtner aus Italien (be-
sonders Luccesen) kommen, deren Zahl sich früher auf
etwa 12000 belief. Jetzt, wo auch rühmlicherweise
die bebaute Fläche sich bedeutend vergrößert hat, ist
die Zahl der italienischen „Sachsengänger“ auf etwa
die Hälfte zusammengeschrumpft, da die Korsen nun
selber etwas mehr Unternehmungs- und Arbeitslust an
den Tag legen. Für den Getreidebau eignen sich
besonders die sehr fruchtbare Balagna sowie die flachen
östlichen Gestade und die Gegend am Kap Corse. Die
übrigen Gebiete, also der Süden und Westen, sind wegen
der Abschüssigkeit ihrer Hänge und deren felsiger Natur
fast ausschließlich nur für die Baumkulturen geeignet.
Angebaut wird in erster Linie Weizen, daneben in weit
geringerem Maße Gerste, Mais, Roggen, Hanf und Flachs.
Von sonstigen in der unteren bzw. warmen Zone vor-
kommenden pflanzlichen Charakterformen seien noch
erwähnt die an ihren intensiv roten oder gelben Beeren-
früchten kenntlichen großen Erdbeerbäume (Arbutus
Unedo), die im Februar schon wieder in ihrer immer-
grünen glänzenden Blattfülle neben den Fruchtbüscheln
Buchenwald auf der Südseite des Passes von Vizzavona (1000 m).
Mielert:
Die Insel Korsika. 61
des letzten Sommers frische Blütenbündel zeigen, ferner die
außerordentlich üppig gedeihenden Opuntien und Agaven.
In der mittleren Höhenzone interessieren besonders
die noch ansehnlichen Reste der großen, durch Brände
dezimierten Waldbestände, in welchen dieLaricio-Kiefer,
aber auch Lärchen, Eichen und Buchen (Abb.6) die
Charakterbäume bilden. Sie mögen heute etwa den 11. bis
12. Teil der Insel ausmachen. Beiden Zonen gemeinsam
sind die Buschwälder mit ihrem Durcheinander eng-
gedrängter immergrüner Sträucher, die sog. Macchien,
die große Strecken der Berglehnen bedecken und schwer
zu durchdringende Dickichte bilden. Für Naturfreunde
sind diese Macchien das Entzückendste, was man sich
denken kann. In einer Höhe von !/„bis 4m wachsen
hier in frischfröhlichem Verein weißüberblühte Myrten,
Efeu, Brombeersträucher, Klematis, Rosmarin, wilder
Spargel, bläulich blühende Erika, gelbblütige Heli-
anthemum, Lawendel, Cistus- und Lorbeerrosen, Tama-
rinden, Ginster, Zwergeichen, Karuben usw. Sie hauchen
insgesamt einen warmen würzigen Duft aus, der in
seiner berauschenden Stärke und Wohligkeit schon allein
imstande ist, einem das Scheiden von Korsika schwer
zumachen. An ihren Duft sich erinnernd, brach Napoleon
auf St. Helena in die. bezeichnenden Worte aus: „A l'odeur
seule je devinerais la Corse les yeux fermés.“ Wo die
Macchien Platz lassen, auch als Unterholz in den Wäldern,
besonders aber in den Ebenen der Ostküste, decken dichte
Felder von hervorragenden Adlerfarnen das Land; sie
sind dem Korsen das verhaßteste Unkraut, da sie sowohl
den Ackerbau wie die Viehzucht schädigen.
Die Viehzucht steht ebenfalls noch auf sehr geringer
Stufe, am wenigsten aber ist die Rinderzucht gepflegt.
Dagegen gibt es etwa 250000 Schafe und 186000 Ziegen.
Auch die Industrie ist unbedeutend und sorgt nur für
die einheimischen Bedürfnisse.
Merkwürdigerweise ist der Korse, im Gegensatz zu
dem Griechen, ein ausgesprochener Bergbewohner, kein
Seefahrer. Er liebt, wie schon bemerkt, den Ackerbau
und andere anstrengendere Arbeit nicht, sondern ist der
müheloseren Viehzucht zugetan. Fast sprichwörtlich ist
der Korse wegen seines Gerechtigkeitssinnes, seiner
Vaterlandsliebe, Tapferkeit, Ehr- und — Rachsucht!
Letztere zeitigte in Gemeinschaft mit der außerordent-
lich ausgeprägten Familien- und Verwandtenliebe die
fürchterliche Sitte der Blutrache. In den frühesten Zeiten
bildete jede Familie dieses Bergvolkes gleichsam einen
kleinen Staat für sich, dessen einzelne Glieder fest zu-
sammenhielten. Wurde eins derselben verletzt, so fühlte
sich der kleine Staat in seiner Gesamtheit beleidigt. So
erklärt man sich die Entstehung der korsischen Blutrache,
welche die verderbliche Eigentümlichkeit besitzt, daß der
sich beleidigt fühlenden Familie nichts daran liegt, den
eigentlichen Mörder zu richten, sondern daß es ihr
genügt, irgend ein Glied aus der Familie des Mörders
umzubringen. War dies geschehen, so rächte sich die
andere Familie durch einen neuen Mord, und so zogen
sich die Feindseligkeiten ohne Aufhören durch Jahrzehnte
und Jahrhunderte. Der Wohlstand des Landes siechte
dahin, die Kultur hob sich nicht, die Bevölkerung ver-
minderte sich infolge dieser rohen Selbsthilfe. In den Jahren
1820 bis 1852 waren bei den etwa 240000 Einwohnern
des Landes ungefähr 4300 Morde vorgekommen. Um
dieser Unsitte ein entschiedenes Ende zu bereiten, hat
man in den Jahren 1853,54 zwei drakonische Gesetze
erlassen, die, so hart sie vielleicht scheinen, das einzige
Mittel waren, dem Unwesen ein für allemal ein Ende zu
machen. Das eine Gesetz betraf das Verbot, ohne
Erlaubnis der Behörde Waffen zu tragen. Übertretungen
wurden unerbittlich durch Konfiskation der Waffe und
Geld- oder Gefängnisstrafe geahndet. Auf Grund des
anderen wurden, sobald jemand die Blutrache ausgeübt
hatte und ins Gebirge entflohen war, des Mörders nächste
Verwandten so lange gefänglich eingezogen, bis man des
Täters habhaft wurde oder er sich von selbst stellte.
Durch dieses Gesetz traf man den Korsen in seinem
Heiligsten, seiner Eltern- und Verwandtenliebe. Ehe er
es über sich brachte, seine Eltern oder Geschwister im
Gefängnis zu wissen, litt er die entehrendste Strafe. Auf
diese Weise wurde die Blutrache in kürzester Zeit fast
ganz unterdrückt. Heute aber ist dieses ohne Zweifel not-
wendige Gesetz wieder aufgehoben worden, und damit
ist die Vendetta, wie der Korse die Blutrache nennt,
wieder lebensfähig geworden. Der Mörder, der vor seiner
Gegenpartei und den Behörden in die Schluchten und
Macchien der Berge flieht, wird Bandit genannt. Erwird von
seinen Freunden und Verwandten heimlich mit Nahrungs-
mitteln unterstützt, fristet aber natürlich ein ziemlich
klägliches Dasein. Dessenungeachtet genießen solche
Männer, besonders wenn sie sich durch Geschicklichkeit,
Schlauheit und Kühnheit auszeichnen, große Bewunderung,
allerdings in der Hauptsache bei der auf tiefer Kultur-
stufe stehenden Masse des Volks und dem Abschaum der
Städtebewohner. Man feiert die Banditen in Erzählungen
und Liedern, ja auch die Ansichtskartenindustrie be-
mächtigt sich ihrer und macht durch ihre wohlgelungenen
Portraits gute Geschäfte, bezeichenderweise nicht zuletzt
bei den das Land besuchenden Touristen. Eben jetzt
sieht man in allen Ansichtskartenhandlungen eine Karte
mit dem Portrait eines Roi des bandits, Königs der Banditen.
Meist beschließen diese Leute ihr Leben durch dieKugelihres
Widersachers oder der sie verfolgenden Gendarmen, die
ihrerseits ebenfalls mit ihrer Geschicklichkeit, zähen
Ausdauer in der Verfolgung und Todesverachtung eine
berühmte Spezialität Korsikas bilden, ein Gegenstück zu
den braven spanischen Guardias. Selten fristet ein Bandit
ein derartig langes Leben in der Wildnis wie Antonio
Bellacoscia (f 1893), der fünfzig Jahre in den Schlupf-
winkeln einer Seitenschlucht des Gravone lebte. Schon
in früheren Zeiten, so im 18. Jahrhundert, eiferten neben
der Geistlichkeit einsichtige Männer gegen diese das
Land entvölkernde Unsitte, freilich ohne den erwünschten
Erfolg. In ganz Korsika gibt es außer den großen
Städten nur zwei Orte, deren Einwohner friedlich, ohne
Vendetta leben, es sind dies Bastelica am Monte Renoso
und der herrlich gelegene Flecken Vivario (2800 Ein-
wohner) an der Eisenbahnlinie Corte—Ajaccio. Vor der
Schwelle der kleinen Kirche dieses Ortes befindet sich
ein Grabstein, auf dem der Bibelvers (lateinisch) steht:
Verflucht sei, wer seinen Nächsten heimlich erschlägt
und alles Volk wird sagen Amen (5. Mos., Kap. 27).
Der aus dem 17. Jahrhundert herrührende Stein deckt
den letzten Einwohner des Dorfes, der die Vendetta
ausübte. Dieser Stein, von dem damaligen Pfarrer des
Ortes in anerkennenswerter Energie mit jener Inschrift
versehen, ist der Talisman von Vivario.
Wie in allen der Kultur noch wenig erschlossenen
Bergländern blühen auch hier noch die strengen Sitten
der Berge, Gastfreundschaft und Sittenreinheit. Die
Stellung des Weibes ist niedrig. Das Volk selbst ist
zersplittert in etwa 30 große Familienschaften oder
Familienringe, die einander befeinden und überwachen
und eifersüchtig gegen jede Bevorzugung anderer an-
kämpfen. Die Sprache der Korsen ist eine italienische
Mundart. Musik und Gesang hört man wenig, doch
wird Poesie gepflegt. Bekannt sind ja die Totenklagen
der Korsen, die bei Todesfällen, besonders wenn sie durch
die Vendetta verursacht wurden, eine große Rolle spielen.
— Die Statur der ländlichen Korsen, unter denen es
62 Jaeger: Tölz und die Isarlandschaft.
‘auch blondhaarige und blauäugige gibt, ist fast ausnahms-
los gedrungen, breitschulterig und mittelgroß. Ihre heutige
Tracht — die frühere ist nirgends mehr auf der Insel
zu finden — erhöht noch das Martialische, ja Athletische
ihrer Erscheinungen. Sie tragen nämlich Manchester-
anzüge, breitkrempige schwarze Filzhüte und schweres
nägelbeschlagenes Schuhwerk. Über die samtnen Westen
binden sie eine breite rote Schärpe. Stolz und Freiheits-
liebe sprechen aus ihren gesunden kraftstrotzenden
Gesichtern. Die Frauen der Landkorsen geben sich um
vieles bescheidener. Schöne Gesichter findet man
selten unter ihnen. Auch ihre Kleidung ist anspruchslos.
Daß man viele von ihnen in schwarzen Gewändern sieht,
erklärt sich durch die lange Trauer, die man um Ver-
wandte trägt. Um die Eltern trauert man vier bis sieben
Jahre, um den Gatten trauert die Witwe bis zu ihrer
Wiederverheiratung oder, wenn sie sich nicht mehr ver-
heiratet, bis an ihren Tod.
Die Kost des Korsen ist sehr einfach. Kastanien in
verschiedenen Zubereitungen, Milch, Brot, Käse, Früchte
und Wein bilden die tägliche Nahrung. Fleisch gibt es
gewöhnlich nur an den Festtagen. Der ganzen Lebens-
weise entspricht auch die bedürfnislose Art zu wohnen.
Die Häuser bestehen vielfach nur aus vier rohen Wänden
und einem wenig schrägen Dach. Im Innern, in das man un-
mittelbar durch die Tür des Hauses tritt, finden sich nur
die allernotwendigsten Möbel, wie ein Bettgestell, Truhen,
Wandbretter und allenfalls ein altes Kanapee. Sauber-
keit kann man den \Vohnungen der Korsen nicht gerade
nachrühmen. Bei größeren Häusern werden die Räume
im Erdgeschoß als Stallung, Ölpresse und Vorratskammern
benutzt, und nur das Obergeschoß dient zur Bewohnung.
Keller mit gemauerten Wänden sind bei solchen Häusern
ebenfalls vorhanden.
(Fortsetzung folgt.)
Tölz und die Isarlandschaft.
Von Julius Jaeger.
München.
(Schluß.)
Sind wir hiermit im wesentlichen zu dem Bilde der
Landschaft gelangt, wie es seit Schluß der Eiszeit den
Generationen der Menschheit entgegentritt, so lassen die
Überbleibsel des Tier- und Pflanzenreichs aus früheren
Zeitaltern und insbesondere aus dem Tertiär keinen
Zweifel darüber zu, daß das organische Leben schon
lange vor der Eiszeit sich auch in unseren Breiten ent-
wickelt hatte, während in dieser kalten Erdperiode, ab-
gesehen von den Interglazialzeiten, verschiedene Formen
des Tier- und Pflanzenreichs untergingen oder auswan-
derten und durch andere Organismen ausdauernder Art
ersetzt wurden. Anders verhält es sich mit dem
Menschen, dessen Existenz selbst in der Eiszeit oder
gar in dem vorausgehenden Tertiär für unsere Ge-
genden bis heute in keiner Weise dargetan werden
konnte. Funde in nicht sehr entfernten Landschaften
haben es allerdings wahrscheinlich gemacht, daß der
Mensch schon in den Interglazialzeiten der Eiszeit, wie
in Taubach bei Weimar, oder wenn nicht noch in der
letzten Eiszeit, so doch früh nacheiszeitlich an der
Schussenquelle, oder am Rande der Endmoränen wie im
Keßlerloch bei Thaingen und am Schweizersbilde, oder
in Höhlen gelebt und gehaust habe, so in der sog. Ofnet
bei Nördlingen, Waltenhoferhöhle bei Regensburg, Tisch-
oferhöhle bei Kufstein, Wildkirchli am Säntis in alt-
oder jungpaläolithischen bzw. neolithischen Zeiten. Aber
hiervon finden sich bis heute keine Analoga in dem
bayerischen Alpenlande, überhaupt keine Funde aus dem
älteren Steinzeitalter der Menschheit, bezüglich
dessen angenommen wird, daß es dem französischen Mou-
sterien entsprechend schon vor der Würmeiszeit zu Ende
ging, während das jüngere Paläolithikum die Würm-
eiszeit umfassen, das Neolithikum aber erst nach
dem Gschnitz- und Daunstadium in der Postglazialzeit
begonnen haben soll!0). Selbst vom Neolithikum fand
sich bis jetzt in unserem Bezirke nichts, und in anderen
Teilen unseres Alpenlandes stieß man nur hier und dort
auf ganz vereinzelte Artefakte, insbesondere Jagdwaffen,
die nicht auf eine seßhafte Bevölkerung, sondern nur auf
einzelne Wanderer z. B. zur Aufsuchung bearbeitungs-
werten Steinmaterials in den Bergen oder streifende
1%) Penck, „Das Alter des Menschengeschlechts“ in der
„Zeitschr. für Ethnologie“, 40. Jahrg., 1908, 8. 390 ff.
Jäger schließen lassen. Auf der Roseninsel im
Würmsee fand sich jedoch in den Pfahlbauüberresten
das Neolithikum durch Werkzeuge aus Stein und Band-
keramik vertreten. Eine regelmäßige Besiedelung trat
im Alpenvorlande wie im Tölzer Lande erst in den Me-
tallzeiten ein, besonders in der Bronze- und Hall-
stattzeit, welche durch Einzelfunde und Hügelgräber
vertreten sind.
Hierfür kommen namentlich in Betracht das untere
Isartal mit Grünwald und Pullach, dann aber auch ein-
zelne Funde in Tölz, Ellbach, bei Königsdorf und Hügel-
gräber bei Attenloh, Höhenrain, Münsing und Umgebung
wie in Walchstadt. Im Hochgebiete wurde ein einziger
Fund auf der Rauhalpe am Silberkopfe in einer Bronze-
lanze gemacht, wobei man an einen Verkehr nach der
Gegend des Achensees denken kann (Höfler). Die sog.
Birg bei Hohen-Schäftlarn, eine große Befestigung mit
mehrfachen Wällen und Gräben (Erdwerk), hatte wohl
die Bewohner bei Gefahren zu bergen und wird der La
Tene-Zeit zugeschrieben !!).
Die Abstammung dieser prähistorischen Völker ist
immer noch dunkel; nur über den letzten Jahrhunderten
vor Beginn der Römerherrschaft beginnt es einigermaßen
zu dämmern, indem angenommen wird, daß die aus
Italien aufgebrochenen Rhätier und später die Kelten
aus Gallien mit ihrer La Tene-Kultur in unseren Alpen-
ländern aufgetreten sind. Für beide Völkerschaften
werden auch eine Reihe von Berg-, Fluß- und Ortsnamen
in Anspruch genommen wie Scharnitz (Scarbia), Tölz
(Tullenza, Tollenz), Isar (Isara) usw. Man darf aber darauf
hinweisen, daß auch längst Germanen diese Gegend heim-
gesucht haben mußten, wie sogar historisch sicher die
Cimbern und Teutonen mit den Ambronen bei ihrem
!!) Eine sorgfältige Feststellung der vorgeschichtlichen
und römischen Funde des Landes ist nunmehr begonnen
worden durch das Werk „Die vorgeschichtlichen Denkmale
des Königreichs Bayern“. I. Bd.: Oberbayern von Dr. Franz
Weber, mit 5 Karten (München 1909, Selbstverlag des Ge-
neralkonservatoriums der Kunstdenkmale und Altertümer
Bayerns), dem eine genaue Inventarisierung in den Jahren
1903 bis 1908 vorausging. Dabei wurde natürlich eine strenge
Musterung gehalten und wurden eine Reihe von unsicheren
Angaben über Einzelfüunde oder Bodenaltertümer, welche die
Nachprüfung nicht bestanden, ausgeschieden und als unhalt-
bar bezeichnet.
Jaeger: Tölz und die Isarlandschaft.
Zuge über die Alpen in die oberitalienischen Gefilde, und
daß man es nicht als unberechtigt ansehen kann, wenn
verschiedene Schriftsteller dem deutschen Elemente
gegenüber Rhätiern, Kelten und Römern einen größeren
Einfluß auf das Alpenland und seine örtlichen Namen
einräumen wollen, wobei jedoch die Gefahr einer Über-
treibung zu bekämpfen wäre 12).
Eine unzweifelhaft historische Bedeutung hat nun
aber dieRömerherrschaft in den Alpen- und nördlichen
Voralpenländern während der ersten fünf christlichen
Jahrhunderte mit ihren Provinzen Rhätien, Vindelicien und
Norikum, sie hat dort zahlreiche Spuren ihrer Anwesen-
heit in Straßenführungen, Befestigungen, Lagern, Schanzen,
Landhäusern und in Einzelfunden hinterlassen. Speziell
in unserer Landschaft sollen auch verschiedene Örtlich-
keiten, wie z. B. Rappinalpe und Rappinbach (von ro-
vina), Silvenstein (von silva), Blomberg bzw. Planberg
(mons planus — nach Sepp jedoch Blumenberg), Juifen
(jugum Joch), Krün (carina), Klais (clausa oder clusa),
Spiegel bei Tölz (spicula, specula), Speckberg (auch von
specula — Wartberg), Vereins-Alpe (verrines alpes), Na-
derhäusl (von nautarius — Überfuhrhäusl bei Tölz und
Hoheneck), Straß am Buchberg (strata via) ihre Namen
vom Römischen herleiten. An Straßen, gutenteils wohl
Verbesserungen von Keltenstraßen, ist die Isarstraße von
Tölz über Bairawies, Grünwald (Kreuzung der Konsular-
straße), Oberföhring bis Neufahrn und Birkeneck; dann
die Querstraße Waakirchen, Wörnern (Stück der großen
Straße Salzburg— Kempten, ursprünglich wohl keltische
Saumstraße zur Salzverfrachtung von Traunstein an den
Lech) über die zweifelsohne in Tölz errichtete Isarbrücke
(Fund römischer Bronzemünzen, auch glaubte man Mauer-
reste auf beiden Seiten der Brücke aus dieser Zeit ge-
funden zu haben), dann Ortsstraßen von Tölz nach
Königsdorf und Ellbach, Greiling und Reigersbeurn, wie
das „Römerstraßl“ hoch am Dürrenbergerjoche, südlich
des Demeljoches, welches zu Rothwandalpe und Juifen
und weiter wohl zur Pertisau führte (dessen römischer
Ursprung übrigens bezweifelt wird), zu nennen. Außer-
dem sind Einzelfunde zu erwähnen von Bairawies, Reigers-
beurn (wohl römische Turmstelle), Achmühle, Baierbrunn,
viereckige Umwallungen mit Graben im Hachinger Holz,
dann in Oberbiberg, bei Deinig und Riedhof, Bronze-
münzen in Unter-Schäftlarn, ein Silberdenar in Tegerndorf
bei Münsing.
Insbesondere war nach der ganzen strategischen Lage
von Tölz als Flußübergangsstätte am Ausgang des Ge-
birges dort eine auch durch den Fund römischer Münzen
angedeutete römische Ansiedelung. Die bei Baierbrunn,
Schäftlarn, Baierrain, Reigersbeurn, Hechenberg, Icking,
Walchstadt und besonders in Münsing und Umgebung
sich findenden Hochäcker, welche auf Gemeinschaftlich-
keit an Grund und Boden, große Viehweiden, ausgedehnte
Rodungen deuten, müssen wohl schon der keltischen Zeit
zugeschrieben werden, wurden aber dann von den Römern
respektiert bzw. weiter benutzt. Man trifft sie vorzugs-
weise noch in Waldungen verbreiteter an, indem diese
nach Verfall des Hochackerbetriebes wieder einen größe-
12) So z. B. August Prinzinger der Ältere in Salz-
burg, auch Dr. A. Peez, „Die Stammsitze der Bayern und
Österreicher“ in Beil. zur „Allg. Ztg.“ vom 18. Novbr. 1899,
Nr. 264, 8.1ff. und A. Wessinger in „Zeitschr. des deutsch.
u. österr. Alpenvereins“, 1885, Bd. XVI, 8. 159 ff. und von
1888, 8. 118; dann „Ortsnamen des Bezirksamtes Miesbach“
in „Beiträgen zur Anthropologie Bayerns“, 1886, 8. 33 ff.;
weiter V. Hintner, „Über einige Talnamen Deutsch-Tirols“
in der Zeitschrift des Ferdinandeums von 1900, 8.59 ff. Ihr
Eintreten für deutschen Ursprung der Namen ist um so be-
merkenswerter, als die zumeist berücksichtigten Länder Salz-
burg und Tirol weit mehr Namen von romanischem Klange
enthalten als z. B. unser bayerisches Alpenland.
ren Umfang annehmen konnten, während die außerhalb
gebliebenen Hochäcker wohl vielfach dem verbesserten
Ackerbetriebe werden haben weichen müssen. Die Be-
setzung der Gegend von Münsing mit Hügelgräbern und
Hochäckern und Einzelfunde dortselbst geben zu
erkennen, daß die Prähistoriker sowohl als auch die
Römer diesen Übergang zwischen Isartal und Würmsee
wohl zu benutzen wußten.
Unter dem Ansturm germanischer Völkerschaften zur
Völkerwanderungszeit fand schließlich die Herrschaft der
Römer in den deutschen Gauen ihr Ende. Bei Rück-
wanderung dieses mächtigen Elementes blieben aber
immerhin zahlreiche Kolonen, die sich hier angesiedelt
hatten, im Lande zurück und behaupteten sich in ein-
zelnen Ortschaften, die man Walchenorte nennt, indem
die römischen Ansiedler von den deutschen Bewohnern
überhaupt die Walchen, d. h. die Welschen, genannt
wurden. Dergleichen Ortschaften sind in unserer Land-
schaft z. B. Rimselrain (915 Rimistirain, Rain der Röm-
linge, vgl. Rimsting am Chiemsee), Rummelsburg (Ruminis-
perch, Berg der Römer), Wackersberg (urk. Walchonis-
perg), W.allgau (765 Walhogoi), die Walchen (Bach bei
Fall mündend — Abfluß des Achensees), Walchstadt (bei
Wolfratshausen), Rappin- und Walchenalpe bei Krinner
am Berge in der Jachenau.
Die dauernde Verdrängung der Römer aus den Donau-
provinzen war zumeist durch die Einwanderung der Ba-
juvaren von Nordosten her verursacht, welche zunächst
das ebene Getreideland und später erst das Gebirge in
Besitz nahmen. Dieser Invasion und nachfolgenden An-
siedelung werden bekanntlich die auf die Endung -ing
ausgehenden Namen südbayerischer Ortschaften,
dann die Anlage der sog. Reihengräber zugeschrieben.
Auch in unserem Bezirke fehlt es, wenigstens in den
nördlichen zur Landwirtschaft geeigneten Teilen, nicht
an solchen Ortsnamen, wie das bei Tölz gelegene Greiling,
dann weiter nördlich Leutzing, Gelting, Ascholding, Har-
mating, Egling, Münsing, Icking, Deining, Thanning be-
zeugen. Reihengräber haben sich mit Sicherheit bis
jetzt erst in Greiling und Beigarten, Gde. Straßlach, ge-
funden, und verschwinden dieselben überhaupt gegen
Sümpfe, große Forsten und Gebirge (Fr. Weber). Ver-
schieden von den Walchenorten und solchen mit Namen auf
-ing sind eine Reihe Ortsnamen vom Wasser (ach, bach)
hergenommen, woran sie liegen wie Gaisach, Steinbach,
Fischbach, Arzbach, Ellbach (Elehenbach), dann vom
Walde (lach, lohe) wie Schaftlach (Scaftlohe), von der
Baumart, wie Ober- und Unterbuchen, von der Boden-
beschaffenheit und Lage wie Moosen, Anger und Leng-
gries (Sand), Wackersberg, Untermberg, Huppenberg,
Rothenrain, Schönrain, Ramsau, Enzenau, Kirchbichl
(Bühel, Hügel), Holzwang (Grasboden im Holz). Auf
Siedelung in Dörfern deuten die Namen Rigers- und
Benedictbeurn, Königsdorf, Dorfen, während die
Namen von Einzelsiedelungen auf -ham, -kam, -heim,
-hofen ausgehen, wie Niederam, Sachsenkam, Piesenkam,
Mosham, Höfen, Beuerhof, Gilgenhöfe, Osterhofen,
Manhardshofen. Auf die Bayern wird Bairawies, Baier-
brunn, Baierrain und Feggenbaiern zu deuten sein, auf
christliche Zeiten Kirchbichl, Kirchsee, Dietramszoll. Be-
merkenswert erscheint, daß in unserer Landschaft der
Waldgürtel vom eigentlichen Gebirge durch das Allgäu
(818 Alpagowi — Alpengau) und durch den Warngau
(995 Waringouwa) getrennt war. Früher baumreicher als
jetzt hießen die Höfe hier noch „In den Linden, in den
Buchen, in der Eich“, Ornet (Ahorn), Attenloh (Eschen-
wald), Haslach, Staudach, Reisach, Buchberg. Auch auf
den Moränen hießen die Höfe nach der Lage „Feller,
Angerer, Holzer, Lettner, Haslauer, Mooser“ usw. Feld,
Friesengut am Buchberg.
64 Jaeger: Tölz und die Isarlandschaft.
Wald und Weide liegen um den Hof herum, und die vor-
herrschende Arbeit zielt auf Holz, Weide und Streu,
während der Getreidebau auch bei Hechenberg, Sachsen-
kam, Bairawies noch spärlich ist 13).
Außer den Bajuwaren und dem Einflusse von Ale-
mannen, wie er im westlichen Vorlande schon im Dia-
lekte von Kochel und Benedicetbeurn hervortritt, waren
auch noch Slawen an der Mischung des Volkstums be-
teiligt, insbesondere Wenden, aber nur in untergeord-
neter Weise und zumeist wohl infolge von Kriegsgefangen-
schaft. So wurden solche zur Bearbeitung der Moorgründe
zwischen Königsdorf und Beuerberg in der sog. Winidau
oder Wendenau (palus magna Wynidouwa) verwendet,
und werden die Namen slawischer Hörigen bei Walch-
stadt, Deining und Icking (800 n.Chr., nach Hundt) er-
wähnt; aber daß auch der Name Tölz, wie Sepp will,
slawischen Ursprungs sei, wird zu bezweifeln sein.
Allerdings machten sich slawische Eigentümlichkeiten
auch in religiösen Anschauungen, Ortsbenennungen und in
der Tracht geltend. So brachten sie ihre Regengöttin
Dodola mit, und die Namen Dudel, Dudelhausen, Dudel-
alm sind im Isarwinkel zu Hause, wie man auch von
einer windischen Tracht spricht 14).
Ein nicht seltener Hausname ist auch Beham, der
Böhm.
Nach den Sachsenkriegen verpflanzte Karl der Große
auch Sachsenkrieger in den Bezirk, wovon die Ort-
schaften Sachsenkam, Sachsenpiesenkam, auch Sachsen-
hausen bei Wolfratshausen Zeugnis geben. Die Auf-
nahme von Hessen deuten die Ortschaften Hessenthal,
Hessenbühel, Hessenmühle an, von Wäringern die alte
Bezeichnung Waringouwa (Warngau), von Friesen das
Bei all diesen fremden
Stammesangehörigen ist mehr an einzelne Versprengte,
Kriegsgefangene oder Flüchtlinge (30 jähriger Krieg usw.)
zu denken, als an eine regelmäßige Einwanderung.
Übrigens siedelten im 17. Jahrhundert Tiroler Berg-
werksleute in die Gegend von Tölz über (früheres Erz-
bergwerk bei Arzbach und einzelne Kohlenfunde) und
sorker schon Bewohner des oberen Isartales (Floß-
leute usw.)
Alle diese so verschiedenen Elemente wie Rhäter,
Kelten, Römer, Slawen und Germanen verschiedener
Stämme haben durch Vermischung natürlich ihren Ein-
fluß auf die Rasse, besonders bezüglich der Schädelbil-
dung und Ausprägung des Gesichtstypus, ausgeübt und
auch bewirkt, daß in Tölz z. B. 20 Proz. Brünette gegen-
über 11,63 Proz. in Preußen gezählt worden sind. Im
übrigen gehört schon besondere Anlage, Geübtheit und
Aufmerksamkeit dazu, um in Volksangehörigen ein oder
das andere fremde Element zu ermitteln oder auch nur
zu vermuten, und es hat erst die wissenschaftliche soma-
tische Untersuchung einiges Licht gebracht, wie denn
das verhältnismäßig häufige Vorkommen von Rundköpfen
(genauer schmalgesichtigen Kurzköpfen) mit dunklen
Augen und Haaren in Südbayern auf romanische Ein-
flüsse zu deuten scheint 15).
Die ferneren Schicksale unserer Landschaft sind im
allgemeinen dieselben wie in Bayern südlich der Donau
13) Höfler, „Der Isarwinkel*, S. 35 ff. u. 57 ff., führt
die Beschaffenheit und Bedeutung dieses landwirtschaftlichen
Bezirkes des näheren in interessanter Weise aus.
14) Auch Umzüge mit dem Bilde der Dodola mit der
Bitte um Regen sind zu erwähnen; vgl.J.Sepp, „Die Grün-
dung von Tölz 763“ in der Beil.zur „Allg. Ztg.“ vom 5. März
1907, Nr. 54, 8. 427 f.
1$) Die grundlegenden Untersuchungen sind in der Arbeit
von Dr. J. Ranke, „Die Schädel der altbayerischen Land-
bevölkerung“, in den „Beiträgen zur Anthropologie Bayerns“,
Bd. V, Heft 2 u. 3, 1883, 8. 53 ff. enthalten.
überhaupt. So die Christianisierung durch den heil.
Severin (t 480). Eine Kirche in Heilbrunn soll schon unter
Konstantin d.Gr.erbaut worden sein. Vom heil. Valentin
in Passau (435 bis 460) datieren 12 Valentinkirchen der
Isar entlang, wie auch der heil. Rupert v. Salzburg (etwa
600), der den Herzog mit seinem Volke taufte, bedeuten-
den Einfluß äußerte 16). Die ältesten Kirchen sollen sich
über heidnischen Tempeln erhoben haben, und Spuren
des Nornendienstes zeigen sich in Schlehdorf, Sachsen-
kam, auf dem Frauenberg bei Hartpenning usw. Klöster
wurden gegründet in Schäftlarn, Dietramszell und Reut-
berg, und es waren die Benediktiner vom 6. Jahrhundert an
tätig (Benedietbeurn).. Die von den Hunnen unab-
sichtlich verschonte Hauptkirche in Königsdorf (Kumiz-
dorf) galt als Mutterkirche des ganzen Isartales von
Ascholding bis zum Rißbach, und Tölz war eine Filiale
von jener.
Politisch gehörte der Isarwinkel zum Sundergau, und
saß der frühest bekannte Gaugraf Cundhart zu Huckins-
perg (Huppenberg), wo auch wie in Tölz und später in
Lenggries eine Dingstätte bestand 17).
An Burgen ist Hohinspurch (oberhalb des heutigen
Hohenburg), Schellenburg, Burg Tollenz, Hohenegge,
Hochenperch (jetzt Hechenberg) zu erwähnen, wie auch
am Eglsee bei Sachsenkam („am Burggraben“) Spuren
ehemaliger Befestigung sich gefunden haben sollen.
Das Gebiet zwischen Loisach und Isar befand sich
dazumal in bischöflichem, gräflichem oder klöster-
lichem Besitz. Von Kriegsstürmen hatte der Bezirk
viel zu leiden. So insbesondere schon bei den Ver-
wüstungen der Ungarn (907 bis 955). Der Hauptort
Tollenz entstand nach München 1158 und Landshut
1180 18), und waren seine ersten Bewohner Holzarbeiter,
Flößer, Steinhauer und Kalkbrenner, die sich auf dem
Ried und Gries ansiedelten. Um 1180 erscheint ur-
kundlich ein Hainricus de Tolnze, dem die Erbauung der
Burg in Tölz zugeschrieben wird (dicht an der jetzigen
Pfarrkirche), welche Ende des 17. Jahrhunderts bis auf
die Gruftkapelle abgebrochen worden sein soll. Das
jüngere fürstliche Schloß ward erst 1460 (östlich vom
heutigen Garten des Bürgerbräu) erbaut. Die ober-
16) Westermeyer, „Chronik der Burg und des Marktes
Tölz“ 1891, 8. 14/15. An den Walchenorten wurde das Vor-
handensein römisch-christlicher Kirchengemeinden schon zur
Zeit der Völkerwanderung vermutet, so z. B. in Groß-Ding-
harting, Walchstatt bei Icking. „Vorgeschichtl. Denkmale
im Gebiete von München“ von Fr. Kroff in einer Beilage
der „Münch. N. Nachr.“ vom Oktober 1909.
l7) Der südliche Teil des Tölzer Bezirkes gehörte jedoch
noch zum Walchengau. Später bildete das Tölzer Land einen
Teil der Grafschaft Wolfratshausen, während Tölz nachmals
ein herzogliches Pflegegericht Rentamts München wurde, als
es vom Bistum Freising, an das es von den Herren von
Tolnze überging, 1265 zu Lehen an Herzog Ludwig II. abge-
treten worden war. Götz, Handbuch der Geographie von
Bayern. Bd. I: Oberbayern.
18) Nach Sepp wäre Tölz schon 763 entstanden, der
Name (Tollenz) aber vom slawischen dole (Talgrund) abzu-
leiten, nach anderen vom keltischen tuille oder tol = Hügel
oder tollenz (wie das keltische Bregenz, Bludenz usw.) oder
aber aus dem Rhätischen oder Etruskischen (tulunusa).
Wessinger denkt an das ahd. dola = Abzugsgraben, Dole.
Ehedem hieß Tölz übrigens tolet (Ortlef de Tolet), tolnze
(Heinrich de Tolnze), tölnz, tholansa, Tollense Tollenz, Tol-
lezn, Tolnse, Tulnz, Tolnz, Tol, Tolhe, 1392 zum ersten Male
Töltz, dann wieder abwechselnd Tolisz, Tollezt, Tultz und
Tolntz, während man ausschließlich Tölzt oder Tölz erst seit
300 Jahren schreibt. Die Römeransiedelung mag Tollentum
oder Tollusium geheißen haben. Siehe Westermayer, a.a. 0.,
8. 1. u. 2; Götz, a. a. O., 8. 411 usw. Offenbar scheint der
Name von den Römern nur übernommen worden zu sein,
und wird das ungemeine Schwanken in der Namensbezeich-
nung von Tölz auf die Unsicherheit des deutschen Schreib-
wesens im Mittelalter und den fremdländischen Klang des
Namens zurückzuführen sein.
Jaeger: Tölz und die Isarlandschaft.
ländische Salzstraße von Reichenhall ging über die Brücke
bei Tölz, durch das in besseren Zeiten 800 bis 1000
Saumpferde passierten. Seit 1588 bildeten auch die
Sämer (Salzführer) eine eigene Körperschaft zu Tölz.
Die Salzstraße führte weiter über den Buchberg, Sindels-
dorf, Murnau, Füssen, Schongau nach Schwaben und in
die Schweiz. Die ersten Bürger von Tölz waren Schmiede
und Wagner. Als Markt erscheint Tölz urkundlich 1281.
Sein Wappen ist ein halber goldener Löwe im schwarzen
Felde. Auch war dort vom gleichen Jahre an ein her-
zogliches Kastenamt; erster Pfleger Conrad v. Eglinger.
Als Gericht (comitatus) erscheint Tölz in den späteren
Jahren Kaiser Ludwigs des Bayern 1343; erster Richter
Ingram v. Sachsenkam. Bannmarkt mit Magistrat, Markt-
recht, freier Bürgeraufnahme und Jurisdiktion 1331.
Blüte im 16. Jahrhundert, wo es sogar Vertreter zu
Fürstenversammlungen abordnen konnte. Heute hat
Tölz, das bis dahin als schönster bayerischer Markt galt.
städtische Verfassung und zählt über 5000 Einwohner.
Bei den inneren Fehden der bayerischen Herzöge hatte
Tölz viel zu leiden. Ein großer Brand von 1453 zer-
störte die Frauenkirche und die anstoßende herzogliche
Burg. Wiederaufbau von Markt, Pfarrkirche und Schloß
unter Albrecht III. (Gemahl der Agnes Bernauer). Jaco-
baea, Gemahlin Herzog Wilhelms IV., nahm mit Vorliebe
Aufenthalt in Tölz und badete auch schon in Heilbrunn.
Einsturz des Schlosses 1770, Abbruch 1777. Während
früher, wie überhaupt in Bayern, auch in Tölz dem Wein
gehuldigt wurde, kam Ende des 16. Jahrhunderts die
Bierbrauerei in Aufschwung, und bis ins 19. Jahrhundert
war das Tölzer Bier in München das beliebteste. Neben
der Brauerei spielte auch die Flößerei auf der Isar eine
Hauptrolle in der gewerblichen Betätigung. Waren und
Geld kamen aus Welschland auf dem Wasserwege zu
den Hauptorten des Isarwinkels durch die Hilfe des
Schöffmanns (verdorbene Form: „Schomer“ bis heute ge-
bräuchlich) und Floßmanns. Die Isar ist nämlich von
Mittenwald an flößbar und wurde früher auch mit
Schiffen befahren. So fuhr der griechische Kaiser Pa-
laeologus 1424 aus Italien kommend auf fünf Schiffen
die Isar hinab und weiter nach Ungarn. Bei sinkendem
Wasserstande wurden Felssprengungen am Fall 1404
und später 1790, in der Riß 1531, oberhalb Tölz 1535,
am Sulver- oder Sylverstein 1531, bei Ascholding 1537
nötig. Ein brauchbarer Fahrweg neben der Isar soll
etwa 1469 entstanden und damals die heutige Straße
durch die Stallau nach Benedictbeurn anstatt des frü-
heren Weges über den Buchberg hergestellt worden sein.
Im Jahre 1893 verkehrten noch gegen 6000 Flöße
mit Brennholz, Brettern, Kalk, Kohlen und Gips auf der
Isar. Längere Zeit bestand auch eine regelmäßige
Personenbeförderung in der sog. Ordinarifloßfahrt von
Tölz isarabwärts, die aber seit Verbesserung der Verkehrs-
mittel eingestellt wurde.
Die älteren Häuser des Marktes Tölz sind durch Fresko-
malereien und Inschriften, wodurch in den oberbayerischen
Märkten eine plastische Verzierung ersetzt werden sollte,
vielfach geschmückt und geben dem Orte ein recht
freundliches Ansehen. Tölz hatte auch ein Tanzhaus
(zu ebener Erde Brothaus), wo namentlich bei Hochzeiten
Ehrentänze aufgeführt und worin seit 1640 auch Theater
gespielt wurde. Religiöse Schauspiele gab es hier wohl
schon im Mittelalter und durch etwa 200 Jahre alljährlich
am Karfreitag ein Passionsspiel, dann eine Prozession der
vermummten Geißler vom Kalvarienberge.e Auch wurde
der von München aus der Pestzeit 1517 überkommene
Gebrauch des Metzgersprunges zur Faschingszeit geübt.
Die verdientesten Pfleger in Tölz mit dem Sitze im neuen
Schlosse waren in drei Generationen die Edlen von
Winzerer. Kaspar von Winzerer, der dritte Pfleger, war
mehrmals Feldhauptmann neben Georg von Frundsberg
und anderen und nahm 1525 an der siegreichen Schlacht
von Pavia gegen Franzosen und Schweizer teil, dann an
den Bauernkriegen 1525/26 usw., wie an den Türken-
kriegen. Im Jahre 1632 legten die Schweden, welche
Tölz vom Ölberge aus in Brand schossen, dem Markte
schwere Brandschatzungen auf, und 1633 wurde derselbe
durch einheimische und spanische Soldateska beunruhigt;
1634 herrschte dort und besonders in Wackersberg die
Pest. Bei Anteilnahme Max Emanuels am Türkenkriege
mußten die Flößer von Tölz Vorräte ins Lager bei Ofen
verbringen. Im Spanischen Erbfolgekrieg 1703/04 litt
Tölz an den Raub- und Rachezügen der Tiroler ins Isar-
tal. Im Sendlinger Bauernkriege 1705 war Tölz und
der Isarwinkel !?) der Hauptherd der Bewegung. Im
Österreichischen Erbfolgekriege hausten die Panduren
im Isarwinkel und brandschatzten Tölz im Jahre 1742 2°).
— Außer der spätgotischen Pfarrkirche im Orte, Maria
Hilfskirche auf dem Mühlfelde, Dreifaltigkeitskirche der
Franziskaner am linken Isarufer interessiert uns die im
Zopfstil erbaute Kalvarienkirche (mit zwei Etagen: Ober-
und Unterkapelle), von Fr. v. Nockher um 1720 errichtet.
Im Mittelalter war die Anhöhe eine Schwaige von Tölz
des Namens „die Hechenbergerin“, größtenteils Gemeinde-
weide. Westlich von der Kirche wurde 1718 die Leon-
hardskapelle errichtet, wo alljährlich am 6. November
noch heute die Leonhardsfahrt für den Patron der Haus-
tiere, besonders der Pferde, mit geschmückten Bauern-
wagen in großem Stile abgehalten wird. Kreuzweg-
stationen führen zu einem Ölberge am östlichen Abhang.
Weit bekannt ist, wie oben schon angedeutet, der Kal-
varienberg wegen seiner Aus- und Rundsicht auf die
reizende Umgebung von Tölz und die stolze Kette der
nördlichen Kalkalpen. — Das Mineralbad Kranken-
heil (über der Brücke) verdankt seine Entstehung den
Forschungen des Botanikers Prof. Otto Sendtner 1846.
Dr. Rohatsch aus Sachsen faßte drei Mineralquellen und
nannte den Brunnen Krankenheil (Brunnenschrift 1849, in
5. Aufl. mit Beiträgen von Dr. Petz und Höfler). Bäder
wurden zunächst in den Bauernhäusern des Sauerbergs
und im Zollhause 1849 eingerichtet; 1857 wurde die
sog. Annaquelle nach Krankenheil hereingeleitet unter
Aufhebung der Bäder im Markte und Zollhause.
Bemerkenswert ist auch die starke Jodquelle in dem
benachbarten Bade Heilbrunn bei Bichl, welche seit
den Ungareinfällen bereits bekannt und — nach Schil-
derung eines Mönches — vom Stifte Benedictbeurn
wieder aufgefunden worden sein soll 21).
19) Der Isarwinkel, bezeichnet durch das Knie, das
die Isar zwischen Wallgau, Fall und Tölz beschreibt, ist ge-
wissermaßen ein anthropogeographischer Gau mit einem durch
den Volksschlag, seine Kraft und Ursprünglichkeit, seine
Sitten und Gebräuche bedingten gemeinsamen Gepräge.
2) Im Jahre der Tiroler Erhebung fand nur ein kurzes
Gefecht zwischen Tirolern und bayerischem Militär und
Bürgerwehr im Juli 1809 bei Lenggries statt, wobei ein Ti-
roler fiel. Siehe „Über die Rückwirkung der Erhebung Tirols
1809 auf den Isarwinkel“ Carl Pfund in der „Monatsschrift
des historischen Vereins Oberbayern“, Jahrg. 9, Heft 3 u. 4,
S. 41.
”) Für die geschichtlichen und besonders kirchlichen
Verhältnisse ist bemerkenswert G. Westermayer, „Chronik
der Burg und des Marktes Tölz“ 1891, dann aber Dr. M.
Höfler, „Der Isarwinkel“ 1891, und „Der Führer durch
Bad Tölz und Umgebung“ 1901 (7. Aufl.), welche auch in
einer Reihe der verschiedensten anderen Beziehungen wich-
tige Aufschlüsse gewähren.
66 Steinmetz: Eine Berichtigung zu Eduard Hahns Aufsatz „Niederer Ackerbau oder Hackbau“.
Eine Berichtigung
zu Eduard Hahns Aufsatz „Niederer Ackerbau oder Hackbau“.
Ich bin der Überzeugung, daß es für den praktischen
Betrieb der Wissenschaft von großem Werte ist, auf den
Prioritätsanspruch bei Hypothesen, Theorien und An-
schauungen genau achtzugeben. So geschieht es auch in
allen Wissenschaften, ‘die schnell und positiv vorwärts-
schreiten. Es befremdete mich daher, als ich in der Globus-
nummer vom 7.April dieses Jahres in Hahns Aufsatz
„Niederer Ackerbau oder Hackbau“ auf S.203, zweite
Spalte, zweiter Absatz von oben die Worte las: „es ist...
nicht nötig, daß ich von meiner!) Grundanschauung,
daß die Bodenkultur im großen und ganzen auf die Ini-
tiative.der Frau zurückgeht, absehe.“ Die Ansicht oder
die Hypothese, daß die Frau die Bodenkultur entdeckt
habe, nimmt Herr Hahn hier also für sich in Anspruch.
Ob mit Recht?
In seinem Werke „Das Alter der wirtschaftlichen Kul-
tur“ von 1905 nennt er als „gewichtigen Vorgänger“ in
diesem seinen Gedanken Heinrich Schurtz, der in seiner
„Urgeschichte der Kultur“ 1900 denselben Gedanken
ausgesprochen hat, S.241, wie mir vorkommt, ohne Be-
deutendes hinzuzufügen. Und weiter nennt Hahn allein
noch von den Steinen, aber diesen nur, als ob er bloß auf
die Bedeutung vom Wegfangen fremder Weiber in diesem
Zusammenhange gesprochen hätte. Wie jeder weiß, und
wie ich kaum ins Gedächtnis zurückzurufen brauche,
spricht von den Steinen sich aber sehr deutlich in diesen
Worten aus: „Der Mann hat die Jagd betrieben und
währenddes die Frau den Feldbau erfunden“, auf S. 214
seines bekannten Werkes „Unter den Naturvölkern Zentral-
Brasiliens“ von 1894, und er fügt sehr schöne Bemer-
kungen daran. Im Jahre 1895 spricht Otis Tufton Mason
in seinem Buche „Woman’s Share in Primitive Culture“
über die große nützliche Arbeit der Frau als Sammlerin
von wilden Vegetabilien und fährt dann folgenderweise
fort: „It was the genius of the women that invoked the
aid of the fire fiend to devour the forests; it was they
that cleaned up the fields, planted the seeds, gave to the
growing crops of maize and pumpkins all the cultivation
they got, without the help of horse or dog or any other
creature“ (S.147). Er beruft sich hierbei auf eine Ar-
beit von Lucien Carr in „Ky. Geol. Survey, no date“, die
ich nicht kenne, und von der Mason auf derselben Seite
sagt: „The greatest tribute paid to savage women as
tillers of the soil is by Lucien Carr. This author has
noted down, after an extended reading of many years,
the testimony of all the ancient discoverers and explorers
of North America concerning the Indian women as far-
mers.“ Auch Mason, auf 5.18 und 19 des genannten
Buches, bespricht die sonstigen hiermit zusammenhängen-
den Erfindungen, die wir seiner Meinung nach den Frauen
verdanken.
Hahn behandelt in seinem inhaltsreichen Werke über
„Die Haustiere“ von 1896 das Sammeln von wilden Ve-
getabilien und den sehr bedeutenden Anteil der Frauen
daran nicht gesondert, oder vielmehr das letztere mit
keinem Worte und das erste nur mit sehr wenigen auf
S. 385. Jagd und Fischfang sind ihm die erste Kultur-
stufe, das Sammeln ein bloß hypothetischer Urzustand.
Auch bei seiner Besprechung des Hackbaues S. 388 bis 396
erwähnt er die Frauenarbeit mit keinem Worte, und
ebensowenig bei seiner Behandlung der Anfänge des
Ackerbaues; S. 538 führt er nur ganz nebenbei aus Catlin
an, wie die Squaws die Zizania Aquatica pflegen.
1) Die Sperrung ist von mir.
Schurtz war also nicht der einzige Vorgänger Hahns
in der Hypothese über die Erfindung des Landbaues durch
die Frauen. Mason und von den Steinen hätte er eben-
falls nennen müssen, besonders da er dem Gedanken
selbst einen so großen Wert beimißt, worin er meines
Erachtens vollständig recht hat.
Aber der erste von diesen drei Vorgängern Hahns
hatte schon einen Vorgänger, der den Gedanken bedeu-
tend früher aussprach, Julius Lippert, der in seiner
„Kulturgeschichte der Menschheit“ von 1886 im ersten
Bande sich mit großer Bestimmtheit wie folgt ausläßt:
„...es müßte die Frau sein, welche die Fürsorge zur
ersten Stufe des Landbaues lenkte“ (S. 446), „dieser An-
bau war überall Sache der Frau“, und „... Erfindung des
Landbaues durch die sorgenvolle Arbeit der Frau“ (S. 447).
Diese wenigen Worte genügen, um Julius Lippert die
Ehre zu sichern, die ihm zukommt: den Gedanken von
der unendlich folgenschweren Erfindung der Landkultur
durch die Frauen zuerst erfaßt und klar ausgesprochen
zu haben. Schurtz hatte das Vorangehen von Lippert
und von den Steinens sofort erkannt.
In seinem „Alter der wirtschaftlichen Kultur“ 1905,
S.31 wirft Hahn der Ethnologie vor, die ganze Arbeits-
teilung zwischen Mann und Frau und besonders ihre Er-
findung und Besorgung des primitiven Landbaues bei der
Darstellung der Anfänge des Ehe- und Güterrechts nicht
berücksichtigt zu haben. Wir wollen sehen, ob er hier-
mit im Rechte ist. Schon Friedrich von Hellwald betont
im Jahre 1889 in seinem Buche „Die menschliche Familie“,
S. 202 bis 203 den Kern der Sache, indem er sagt: „Im
Kreise der feldbauenden Bevölkerungen (war) die Frau
als Mutter bloß der anerkannte Mittelpunkt der Familie“,
und hieraus entwickelte sich das eigentliche Matriarchat,
das „hauptsächlich bei pflugführenden Völkerschaften an-
getroffen wird.“ Und kein Geringerer als Herbert Spencer
hat in der ersten Auflage von 1876 der „Principles of
Sociology“ im ersten Bande den Zusammenhang zwischen
der Arbeitsteilung der Geschlechter und der Stellung der
Frauen erörtert: S.717 ff. Noch deutlicher wies Lippert
in seiner „Geschichte der Familie“ von 1884, S. 30, auf
den Zusammenhang zwischen der Eigentumsstellung der
Frau, Folge ihres Landbaues, und dem Mutterrechte hin.
Genau so äußert sich Starcke in „Die primitive Familie“,
1888, S.71 bis 72.
von Dargun, „Mutterrecht und Vaterrecht*, 1892,
S. 63 ff., beruft sich eben auf alle die genannten Forscher,
welche als wichtige Ursache des Mutterrechts „die Stellung
des Weibes als Ackerbauerin und seßhafte Herrin des
Feldes hervorgehoben“ haben! Bachofen in seinem
„Mutterrechte* von 1861 wies schon auf die Ehe als ein
Agrarverhältnis hin und meinte, daß die ganze eheliche
Terminologie von den Ackerbauverhältnissen entlehnt sei.
Als allgemein, mit Ausnahme von Herrn Hahn, bekannt
dürfte ich voraussetzen, daß die neuere Ethnologie die
ganze Familiengeschichte im engsten Anschlusse an die
Entwickelung der Wirtschaftsformen erforscht. Brentano,
der bekannte Volkswirtschaftler, machte in seinem inter-
essanten Aufsatze über „Die Volkswirtschaft und ihre
konkreten Grundbedingungen“, im ersten Bande der Zeit-
schrift f. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von 1893,
S. 140, gewissermaßen den Anfang hiermit; die Bestellung
des Feldes durch die Frauen ist sein Ausgangspunkt.
Hildebrand und Grosse befolgten das gute Beispiel 1896,
indem der letztere sogar eine ganze Geschichte der Fa-
milie auf dieser Grundlage lieferte, und endlich hat Cunow
Kleine Nachrichten. 67
in der „Neuen Zeit* von 1898 das Mutterrecht aus der
Feldarbeit der Frau abzuleiten versucht. Ich selbst habe
in der Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1899 den Wert
der soziologischen Methode im Gegensatze zur folkloristi-
schen darzulegen versucht, welch erstere die Zusammen-
hänge zwischen den sonstigen Seiten des sozialen Lebensund
der Familienentwickelung zum Ausgangspunkte nimmt,
während die zweite Methode zufällige Reste alter Sitten
in Gebräuchen und Sagen mit der Kraft von Hypothesen
zu deuten unternimmt und die alte Geschichte aus ihnen
ableitet. Ich prophezeite damals, daß auf ersterem Wege,
mit besonderer Berücksichtigung der ökonomischen Grund-
lage jeder Gesellschaftsform, die besten Resultate erzielt
werden könnten (S. 824).
Aber weit eher als alle Ethnolegen haben zwei aus-
gezeichnete Ethnographen und Forschungsreisende den
richtigen Gedanken erfaßt.
Lewis und Clarke in ihrer -
„Expedition to the Sources of the Missouri“ von 1814
(Neuabdruck von 1902, Bd. 2, 5. 334) sagen schon ganz
deutlich: „The importance of the females in savage life
... is regulated wholly by their capacity to be useful.
... Where the women can aid in procuring subsistence
for the tribe, they are treated with more equality and
their importance is proportioned to the share which they
take in that labour.“
Ich glaube hiermit bewiesen zu haben, einerseits, daß
Herr Hahn keinen Grund hatte, von seiner Hypothese
von der Entdeckung des Feldbaues durch die Frauen zu
sprechen, sondern daß alle Ehre hier dem viel verkannten
Julius Lippert zukommt, und andererseits, daß ebenso-
wenig Grund vorliegt, der Ethnologie einen Vorwurf zu
machen aus der Nichtbeachtung der Arbeitsteilung der
Geschlechter bei der Erklärung der Familienformen.
Amsterdam, im Mai 1910. S. R. Steinmetz.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Scheitern der chinesischen Volkszählung. Der
Versuch der Zentralregierung in Peking, im 1. Jahre Hsuan-
Tung eine Volkszählung zu veranstalten, ist vollständig miß-
glückt. Wie der „Östasiatische Lloyd“ mitteilt, fürchtete das
Volk vor allem, daß die Ergebnisse der Zählung der Regierung
die Grundlagen zu einer neuen Besteuerung liefern sollten,
und verweigerte jede Auskunft. Aber auch eine daraufhin
angeordnete Zählung der Haushalte konnte nur in sehr
mangelhafter Weise durchgeführt werden. Läßt schon die
Größe der chinesischen Haushalte, in denen der Familienvater
häufig mit zahlreichen verheirateten Söhnen und Schwieger-
töchtern, Enkeln und Urenkeln zusammenlebt, keine sicheren
Schlüsse auf die Zahl der Bevölkerung zu, so ist selbst die
Familienzählung in einer ganzen Reihe von Provinzen nur
in den Hauptstädten der Regierungsbezirke und in den ge-
öffneten Handelsplätzen vorgenommen worden, während vier
Provinzen überhaupt keinen Bericht über die Zählungsergeb-
nisse erstattet haben. Ebenso fehlt die Bevölkerung ohne
festen Wohnsitz, wie die gesamte ungeheuer zahlreiche Boots-
bevölkerung, die Kulis und Karrentreiber, die Bettler usw.,
in den Berichten über die Zählung vollständig. Unter diesen
Umständen erscheint es zwecklos, die von der Regierung ver-
öffentlichten Zahlen weiter zu verbreiten. J.
— Den geologischen Bau von Kaiser-Wilhelms-
Land schildert Steph. Richarz nach dem heutigen Stand
unseres Wissens (Neues Jahrb. f. Mineral. 1910, 29. Beil.-Bd.).
Die weiter von der Küste entfernten Gebirge bestehen zum
größten Teil aus körnigen Gesteinen von mittlerem Kiesel-
säuregehalt, kristallinische Schiefer kommen vor, deren
Alter jedenfalls größer als die der oberen Kreide sein dürfte.
Nach Norden schließt sich ein aus Kalken, Mergeln, Sand-
steinen und Andesiten bestehendes Gebirge an, das im Torri-
celligebirge als der oberen Kreide angehörig bestimmt wurde.
Die Küste selbst wird vielfach von älteren oder jüngeren
Korallenriffen gebildet; erstere sind oft hoch über dem
Meeresspiegel gelegen. Die Korallenriffe sitzen vulkanischem
Gestein, meist Andesit, auf oder werden auch von solchen
Gesteinen bedeckt. Tektonische Störungen lassen sich bis in
die jüngste Zeit hinein verfolgen, doch scheinen die eigent-
lichen Faltungsprozesse einer ferneren Vergangenheit an-
zugehören und in der letzten Zeit nur Hebungen statt-
gefunden zu haben. Die genannten jüngeren moränen Ton-
und Kalkablagerungen liegen in der Nähe der Küste zwar
hoch über dem Meeresspiegel, aber horizontal, während die
weiter von der Küste entfernten und noch höher über den
Meeresspiegel gehobenen Bildungen von ganz ähnlicher Zu-
sammensetzung aufgerichtete Schichten zeigen. Wann die
Faltung ihr Ende erreichte, ließe sich erst bestimmen, wenn
das Alter dieser jungen Ablagerungen festgestellt wäre, wo-
durch eine der wichtigsten Aufgaben für die Geologie in
Kaiser-Wilhelms-Land gekennzeichnet ist. Das Alter der
Korallenriffe ist auch zu erforschen, dann das der jungen
andesitischen Eruptivgesteine.e An praktisch verwertbaren
Bodenschätzen wären vor allem Kohlen, und zwar Braunkohlen
zu nennen, die einen Heizwert wie die Brüxer aufweisen;
ihr Heizwert ist also nicht gerade bedeutend, doch sind sie
immerhin zu verwerten. Daneben ist Kupfer in einem Basaltroll-
stück nachgewiesen, Platin von derselben Stelle und Seifengold
in fast allen deutschen Flüssen unseres Schutzgebietes. Das
Gold erscheint vornehmlich in Blättchenform bis '/, gem
Größe. Das Muttergestein besteht aus den anstehenden alt-
eruptiven diabasischen und dioxitischen Gesteinen, die stellen-
weise einem Granit auflagern und wohl durch dessen Kontakt-
metamorphose vielfach von kleinen, oft nur Millimeter breiten
Klüften durchsetzt werden, die mit Brauneisenerz und
Blättchen von Freigold erfüllt sind oder auch mit gold-
haltigen schwefligen Erzen angereichert auftreten. Leider
achten die Goldsucher zu wenig auf die geologische Be-
schaffenheit des Gebietes, dessen Erforschung dabei so leicht
gefördert werden könnte.
— Der Stillstand in der Bevölkerungszunahme
Frankreichs, der in absehbarer Zeit sich in einen Rück-
gang zu verwandeln droht, beschäftigt andauernd die fran-
zösischen Politiker und Gelehrten. Man weiß, daß der Haupt-
grund für jene Erscheinung in gewissen sozialen, teilweise
sogar durch das Gesetz sanktionierten Eigentümlichkeiten
des französischen Volkes liegt, hat aber auch wohl an-
genommen, daß für die Abnahme der Geburtenzahl außer-
dem physiologische Gründe in Frage kämen. Gründe dieser
Art will indessen Prof. Lannelongue vom Institut de France
nicht gelten lassen, er hat in einer neuerlichen Denkschrift
für den französischen Senat ausgeführt, daß die absolute Un-
fruchtbarkeit in Frankreich seit 50 Jahren dieselbe geblieben,
17 oder 18 Proz. betragen habe. Lannelongue ist Mitglied
des Senats und verlangt, daß dieser ein energisches Ein-
schreiten der Gesetzgebung zur Bekämpfung des Übels
veranlasse. Als dessen Hauptursachen werden unter anderem
bezeichnet: die immer mehr um sich greifende Scheu vor
der Ehe in Verbindung mit spätem Heiraten, die gesetzliche
Beschränkung bei letztwilligen Verfügungen, die Massen-
abwanderung vom platten Lande in die Städte. Zur Be-
kämpfung werden unter anderem empfohlen: Wer mit 29 Jahren
noch Junggeselle sei, habe erhöhten Militärpflichten zu ge-
nügen. Alle Staatsbeamten müßten mit 25 Jahren verheiratet
sein, und um das zu ermöglichen, wären Gehaltserhöhungen
und pekuniäre Bevorzugungen für Beamte mit wenigstens
drei Kindern einzuführen. Die Bestimmungen des Bürger-
lichen Gesetzbuches, die bisher die Verfügungsfreiheit der
Eltern darin beschränkten, daß deren Vermögen unter alle
Kinder zerstückelt wird, wären zu ändern. Zum Teil sind
diese Forderungen derart, daß sie tief in die individuelle
Freiheit der Staatsbürger eingreifen; aber zu ihrer Recht-
fertigung wird eben ins Feld geführt, daß es sich um eine
Existenzfrage für den Staat handle.
— Das wichtigste Ergebnis der Aufstiege von Pilot-
ballons auf deutschen Handelsschiffen von 1906 bis
1908 ist nach W. Köppen (Annal. d. Hydrogr. 1910, 38. Jahrg.)
der Nachweis, daß auf dem Atlantischen Ozean, wo doch die
Passatwinde am regelmäßigsten entwickelt sind, in einer
Höhe von etwa 3000 m das Gebiet der veränderlichen Winde
nicht etwa nur die gemäßigten Zonen einnimmt, sondern
auch die ganze heiße Zone mit umfaßt. Die große Stetig-
keit, welche die Winde dieser Zone ebenso wie deren Tempe-
68 Kleine Nachrichten.
ratur und Luftdruck von denjenigen der gemäßigten Zonen
unterscheidet, ist bei den Winden in 2 bis 4km und viel-
leicht auch höher hinauf nicht mehr zu finden; diese Ver-
änderlichkeit der oberen Winde besteht aber nicht etwa
darin, daß die Grenze zwischen einer oberen und unteren
Luftströmung, beide von stetiger, aber verschiedener Richtung,
ihre Höhe wechselt, sondern es treten neben Ost- und West-
winden auch fast rein polare oder äquatoriale Winde und
Windstillen in der Höhe auf. Die Fehlergrenzen, innerhalb
deren die Ergebnisse der Aufstiege unsicher sind, gehen
nicht weit genug, um an dirsem Hauptresultat einen Zweifel
zu lassen. Zusammengehalten mit dem, was wir von höheren
Breiten wissen, läßt sich der Tatbestand folgendermaßen dar-
stellen: Die Tendenz zu Westwinden nimmt allgemein mit
der Höhe zu; wo daher unten alle Windrichtungen gleich
häufig sind oder bereits westliche Winde das Übergewicht
haben, nimmt ihr Übergewicht mit der Höhe zu, also die
Veränderlichkeit der Windrichtung nach oben ab; wo dagegen
unten die östlichen Winde die Vorherrschaft besitzen, wird
diese nach oben geringer, die Windrichtung also zunächst
veränderlicher, bis in noch größeren Höhen die Vorherrschaft
der westlichen Winde beginnt und nach oben mehr und
mehr zunimmt. Die Höhe, in der sich dieses vollzieht, ist
verschieden; am Aquator, nach den Erfahrungen beim Kra-
katau-Ausbruch zu urteilen, scheinen die Ostwinde bis zu
den Grenzen der Atmosphäre zu gehen. Da der Grund dieser
Zunahme der Westwinde — oder Abnahme der Ostwinde —
mit wachsender Höhe in der Abnahme der Temperatur der
Atmosphäre mit zunehmender Breite liegt, so kann man
nicht erwarten, daß sie überall und in allen Höhen zutreffe.
— Eine interessante Mitteilung über die Eingewöhnung
von Pflanzen wärmerer Zonen auf Helgoland ver-
öffentlicht P. Kuckuck in der Botan. Ztg. 1910, 68. Jahrg.
Eine ganze Reihe von Pflanzen, die auf dem Festlande ent-
weder erfrieren oder im Winter gedeckt werden müssen,
überwintern daselbst ohne Deckung. Während beispielsweise
die jüngeren aus Samen gezogenen Pflanzen von Pinus
insignis und Cupressus macrocarpa in Erfurt dem Frost er-
lagen, kamen sie in Helgoland gut durch. Ebenso hält sich
Arum italicum ohne Decke. Yucca filamentosa kam zu
schöner Blüte und bildete neue Blattschopfe aus der Erde.
Yucca trecubina hielt sich wenigstens geraume Zeit. Danae
racemosa hat sich vollständig eingewöhnt. Quercus Ilex
leistete mehrere Winter hindurch Widerstand und gibt gute
Aussichten auf dauernden Erfolg. Feigen gibt es mehrfach
auf der Insel usw. Es ist anzunehmen, daß noch bessere
Erfolge erzielt worden wären, wenn gerade dem Boden des
Akklimatisationsrundells bei der Einrichtung des Gartens die
genügende Aufmerksamkeit zugewandt worden wäre. Bei
allen Versuchen, die teilweise natürlich auch Mißerfolge
brachten, kann man beachten, daß die Pflanzen wärmerer
Zonen bei der Überführung in ein ungünstigeres Klima sich
recht verschieden erhalten. Die Fähigkeit, die Kardinal-
punkte ihres Gedeihens zu verschieben, ist bei den verschie-
denen Arten eben sehr ungleich. Jedenfalls ermutigen die
Versuche zu ihrer Fortsetzung, wenn auch die Verheerungen
durch den Wind recht beträchtlich genannt werden müssen.
Die Verluste durch Frost brauchen nicht zu entmutigen, da
auch im Mittelmeergebiet zuweilen ganze Plantagen von
Apfelsinen- und Zitronenbäumen erfrieren. Dafür ist beson-
ders günstig in Helgoland der Umstand, daß die tiefen
Temperaturen daselbst immer nur für sehr kurze Zeit er-
reicht werden. Eine Aufeinanderfolge von Frosttagen ist
selten und kurz. Günstig ist auch das Fehlen der Nacht-
fröste im Frühjahr.
— In seiner Arbeit über die Morphologie des
kristallinen Odenwaldes (Verhlgn. d. naturh.-med. Ver.
zu Heidelberg 1910, N. F., 10. Bd.) kommt Fr. Planck zu
dem Resultat: Die heutige Gestalt verdankt er namentlich
den gebirgsbildenden Kräften der Tertiärzeit, -durch welche
die große Höhendifferenz im Westen geschaffen wurde, wo-
durch das Gebirge eigentlich erst als solches auftritt. Der
gehobene Teil wurde Denudationsgebiet, im gesunkenen Teil
lagerten sich die Schuttmassen ab, welche die Bäche aus dem
Gebirge heranschafften. Im kristallinen Odenwald ist die
Abtragung der gehobenen Scholle bereits so weit fort-
geschritten, daß die Auflagerungsfläche der Sedimente, die
paläozoische Rumpffläche, freigelegt ist. Die Anlage des
Fiußnetzes im kristallinen Gebirge ließ einen bestimmten
Einfluß des Steilabbruchs im Westen und der Beschaffenheit
der Rumpffläche nicht verkennen. Bei der weiteren Aus-
gestaltung des Grundrisses der Bäche gelangten namentlich
Kluftrichtungen zu maßgebendem Einfluß; geringere Bedeu-
tung hat im kristallinen Odenwald die epigenetische Tal-
bildung. In bezug auf die Ausbildung der Oberfläche im
kristallinen Odenwald ist wesentlich, daß sich die verschie-
dene Gesteinsnatur mehr in den Klein- als in den Groß-
formen ausspricht. Die schroffsten und für ihre Eigenart
bezeichnendsten Formen weisen der Biotitgranit, der Porphyr
und der Basalt auf. Die auffallenden Veränderungen im
Aussehen der zur Rheinebene sich öffnenden Täler kurz vor
ihrer Ausmündung in diese sind wahrscheinlich auf fort-
dauernd längs der Rheintalspalte sich vollziehende vertikale
Bodenbewegungen zurückzuführen. Kein Tal und Weinberg
im ganzen Odenwald weisen Spuren einer Bearbeitung durch
Gletscher auf; beide verdanken ihre Form denselben Kräften
der Abtragung, die auch heute noch tätig sind. Nirgends
sind gekritzte Geschiebe oder geschrammte anstehende Felsen
zu finden. Der Blocklehm findet seine natürliche Erklärung
in den Kriechbewegungen der Schotter, auf die die großen
Schneeschmelzwasser beschleunigend und der Druck einer
gewaltigen Schneedecke verfestigend eingewirkt haben. Die
Lage vieler dieser Bildungen schließt die Mitwirkung eines
Gletschers von vornherein aus. Auch die Umbiegungen von
Schichten, das Hakenwerfen, ist auf Gehängedruck leicht
zurückführbar. Ziehen wir endlich noch die Unwahrschein-
lichkeit in Betracht, daß die Schneegrenze so weit herab-
gereicht hat, wie sie eine derartige Vergletscherung des
Odenwaldes bedingte, so müssen wir den Gedanken einer
Vergletscherung des Odenwaldes unbedingt zurückweisen.
— D. Geyer kommt (Festschr. zum 70. Geburtstage von
W. Kobelt, 1910) zu dem Resultat, daß die Mollusken-
fauna der Schwäbischen Alb zu der borealen Zone ge-
hört, wenn man für die Weichtiere Europas mit Kobelt drei
in westlicher Richtung sich erstreckende annehmen will, die
er als boreale, alpine und mediterrane angibt. Es überwiegen
in der Alb die Arten, deren Verbreitungszentrum in der
Nordhälfte unseres Erdteiles liegt. Aber gerade die hervor-
ragendsten Züge im faunistischen Bilde sind fremden Ein-
flüssen zuzuschreiben. Die Alpen und die Mittelmeerländer
sind nahe genug, um ein Übergreifen ihrer Fauna ins
Schwabenland vermuten zu lassen. So gehören von den
97 Landschneckenarten der Alb 76 der borealen, 7 der al-
pinen und 12 der mediterranen an. Diese letzten Zuwanderer
sind mit drei Ausnahmen dicht und gleichmäßig über die
ganze Alb verbreitet und besetzen in größerer Individuen-
zahl die sonnigen Felsen und Heiden. Mit den Wald-
bewohnern zusammen bilden sie den Grundstock der Albfauna.
Sie übertreffen die alpine Spezies nach Artenzahl, Häufigkeit
des Vorkommens und nach der Ausdehnung des besetzten
Gebietes. Für die Verbreitung der Landschnecken kommen
örtliche Entfernungen nicht in Betracht, sie hängt weder
vom Klima noch von dem geologischen Untergrund, der Be-
wässerung oder der Vegetation ab, sondern wird von dem
Grade geregelt, in welchem die klimatischen Verhältnisse
auf der geologischen Unterlage im Zusammenhang mit der
Bewässerung und der Vegetation zur Entfaltung kommen.
Kalk erweist sich als die günstigste Formation.
— Radium, Thorium und Aktinium in der Atmo-
sphäre und ihre Bedeutung für die atmosphärische Elektri-
zität betrachtet K. Kurz (Abhandlgn. der Königl. Bayer.
Akad. der Wissensch., 25. Bd., 1909). Da eine restlose Zer-
legung der Abklingungskurven nach den Gesetzen der Zer-
fallstheorie möglich ist, befinden sich in der Atmosphäre
keine weiteren als diese radioaktiven Stoffe. Als Durch-
schnittsverhältnis der Beweglichkeiten der Thor- und Ra-
diumzerfallsprodukte wird 1:2,9 gefunden. Fassen wir die
drei Wirkungen der radioaktiven Stoffe, die Wirkung der in
der Atmosphäre suspendierten Zerfallsprodukte von Radium,
Thorium, Aktinium, die Wirkung der f- und y-Strahlung,
die von den in den obersten Schichten der Erdkruste ver-
teilten Stoffen Uran, Radium, Thorium, Aktinium herrührt,
die Wirkung der durch diese Stoffe in hohem Grade ionisierten
Bodenluft zusammen, so sehen wir, daß eine Gesamtwirkung
resultiert, die in der Größenordnung an die für den Elektri-
zitätshaushalt zu leistende Gesamtarbeit heranreicht. Wie
weit die Gesamtionisation der Atmosphäre von den radio-
aktiven Stoffen tatsächlich bewirkt wird, kann erst ent-
schieden werden, wenn erstens über die Wirkung der durch-
dringenden Strecken und der Bodenatmung ein größeres Be-
obachtungsmaterial zur Verfügung steht, und wenn zweitens
einwandfreiere Bestimmungen des Wiedervereinigungskoeffi-
zienten und der Ionenzahlen in der Atmosphäre und damit
der Zahl der pro Sekunde in Kubikzentimetern neu zu erzeu-
genden Ionen vorliegen.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- und VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. :
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. 5.
BRAUNSCHWEIG.
4. August 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Die Insel Korsika.
Von Fritz Mielert. Sprottau.
Mit 21 Abbildungen nach Originalaufnahmen des Verfassers.
(Fortsetzung.)
Betrachten wir nun im Anschluß an das allgemein
Gesagte die einzelnen Landschaften der Insel genauer
und zwar zuerst die Halbinsel des Kap Corse. Botaniker
und Naturfreunde können hier schier „von Sinnen
kommen“, so üppig und mannigfaltig ist die Natur, die
diese kleine Halbinsel und die Umgebung von Bastia,
das an deren Fuße liegt, erfüllt. In die dichten Gruppen
von Palmen mischen sich mächtig aufgeschossene Cypressen,
Pinien und ein ganzes Heer der entzückendsten Sträucher,
stellenweise erinnern diese Vegetationsbilder im Verein
mit den herrlichen Bergkolossen, an die sie gelehnt sind,
direkt an westindische Landschaftsszenerien. An derartig
paradiesischen Fruchtgärten entlang, in denen die besten
Weine Korsikas gedeihen, und an einigen schimmernd
weiß im dunkeln Grün gelagerten Dörfchen vorbei
gelangen wir nach einer Meile Weges von Bastia aus
nördlich zu der Grotte von Brando, einer Stalaktitenhöhle,
deren Gebilde sich durch schneeige Weiße auszeichnen.
Weiterhin nordwärts treffen wir auf das Kloster der
hl. Katharina, dessen Krypta mehrere originelle Reliquien
aufbewahrt, z. B. Mandeln aus dem Paradiese, Erde, aus
der Adam gemacht wurde, der Stab, womit Moses das
Rote Meer teilte, u. a. m. Die Korsen sind ebenso aber-
gläubisch wie unwissend, die geistlichen Behörden aber
müßten derartigen Unfug, wie er auch sonst noch viel-
fach in romanischen Ländern sich vorfindet, entschieden
beseitigen. Der Glanzpunkt der Halbinsel ist das etwa
30km von Bastia entfernte Luri, eine wunderbare Tal-
landschaft, ein einziges herrliches Gartenland, in
welchem sich auch Getreidefelder finden. In ähnlich
gearteter Paradieseslandschaft geht es weiter bis Rogliano
(41km von Bastia), das eine aus 7 Weilern bestehende
Gemeinde inmitten eines großartigen Tales bildet. Oliven,
Weinplantagen und Opuntien sind die Charakterpflanzen
dieses Tales, das von schroffen Felsen umschlossen ist.
Über den Col de la Serra (361m) führt die Landstraße
nach der Westseite hernieder, die einen ganz anderen
Charakter als die Ostseite hat. Unterwegs eröffnen sich
die berauschendsten Ausblicke auf das Kap Corse, dem
vorgelagert eine kleine Insel den Leuchtturm trägt. Die
Halbinsel bildet ein Korsika im Kleinen. Wie bei der
Insel, so liegen auch hier die mächtigen Erhebungen,
einen geschwungenen Bergrücken bildend, im Innern,
und wie dort, so ist auch hier die Ostküste sanfter
gestaltet als die Westküste, die außerordentlich buchten-
reich und wild zerklüftet ist. Großartige Bergpanoramen
umringen uns an dieser Küste, und aus der Ferne
Globus XCVIII. Nr. 6.
leuchten die schneetragenden Grate des Monte Cinto.
In den Ortschaften dieser Seite wie auch im Lurital wird
viel der Cedratbaum angebaut, dessen Fruchtschalen das
Citronat liefern. Von St. Florent, das an dem pracht-
vollen gleichnamigen Golf liegt, führt die Straße eines-
teils südwestlich ins Land hinein nach den Küstenstädtchen
Ile-Rousse und Calvi, andererseits kann man über den
541m hohen Col di Teghime quer durch die Halbinsel
(23km) nach Bastia zurückkehren. Grandiose Ausblicke
auf beide Meere, auf die Halbinsel und die malerischesten
Landschaftsszenerien im Engpaß des Ficajolatals und die
denkbar reichste Vegetation verschönen diesen Beschluß
der Umwanderung der Halbinsel.
Bastia ist mit etwa 30000 Einwohnern die größte
Stadt der Insel und in kommerzieller Beziehung auch
die erste. Ihrer Lage nach ist sie wichtiger als Ajaccio,
da sie dem Festlande, insbesondere dem regen italienischen
Handelshafen Livorno, nahe gegenüberliegt (85km nur!)
Von Marseille liegt es nur 55km weiter entfernt als
Ajaccio (330 km). Bastia ist nicht alt. Es wurde 1383
von dem genuesischen Gouverneur Lomellino angelegt,
und zwar auf dem Felsen oberhalb des heutigen alten
Hafens, wo sich bereits ein Kastell mit dem Namen
„Bastei“ (Bastia) vorfand (Abb. 7). In der genuesischen
Zeit war Bastia die Hauptstadt der Insel und
sie blieb es auch,. als die Franzosen es über-
nahmen, bis 1811 auf Betreiben Lätitias, der Mutter
Napoleons, und des Kardinals Fesch Ajaccio, in dessen
Nähe sich auch antike Stadtreste befinden, Hauptstadt
wurde. ‚Ihre Lage am Fuße wundervoller, hoher, blaugrün
schimmernder Berge ist ebenso schön, als ihre Umgebung
fruchtbar ist. Die Stadt selbst aber macht vielfach
keinen guten Eindruck. Der Hafen ist belebter als
jener von Ajaccio, die ihm zunächst liegenden Stadtteile
aber sind ziemlich wüst und unordentlich. Angenehm
wirken nur sehr wenige Straßen der inneren hochgelegenen
Neustadt, die mit sog. Jaspismarmorplatten gepflastert
sind. Malerisch im höchsten Grade nimmt sich das nach
genuesisch-neapolitanischem Muster an steilem Felshang
aufgebaute Gassenlabyrinth der Altstadt aus, das den
kleinen gut umschlossenen Althafen einschließt, der
aber heute nur noch von wenigen gebrechlichen Fischer-
barken, Seglern und kleinen Dampfbooten belebt wird.
Der Schmutz und Gestank in der Altstadt ist nicht minder
groß als in den übelberüchtigtsten Quartieren Genuas
und Neapels. Die Leute leben hier aber auch zusammen-
gepfercht wie selten sonst. Der Fischmarkt der Alt-
10
70 Mielert:
Die Insel Korsika.
Abb.7. Südlicher Teil von Bastia, vom Genueser Fort
aus gesehen.
stadt ist interessant. In einem Winkel des Marktplatzes
haben die Teichfischer ihren Stand, die von dem Fisch-
reichtum besonders des Etang di Biguglia hier feilbieten.
Außer Aalen, die sehr reichlich vertreten sind, sieht man
bei diesen Fischern die nach ihrer Färbung und Form
schlangenähnliche Muräne, ferner sog. mugini, soglie,
ragni usw.
Die korsischen Bahnen sind Schmalspurbahnen, ihre
Wagen sind klein, unbequem und verwahrlost. Für diese
Mängel, die sehr der Abstellung bedürftig
sind, entschädigen die großartigen Natur-
eindrücke, welche die Fahrt auf diesen Bahnen
vermittelt. Sofort hinter Bastia fährt der Zug
durch einen 1422 m langen Tunnel. Die als-
dann folgende 22 km lange Strecke bis Casa-
mozza, während der die Bahn zwischen dem
Etang di Biguglia und den Bergen hinfährt,
gehört zu den landschaftlich schönsten, aber
auch fruchtbarsten der Insel. Über riesen-
große Eukalyptusbäume und urwüchsige Schilf-
hütten hin schweift der Blick auf die wellige
Gegend, die beispiellos dicht mit gigantischen
Kräutern und Buschvegetation bewachsen ist,
und auf den 1500 ha großen Bigugliasee, den
eine grüne Nehrung von dem weißschäumigen,
tiefblauen Meere trennt. Hohes Schilf, mäch-
tige Agaven, Oliven, Eukalyptus wachsen wirr
durcheinander und umsäumen urwaldartig
den Strandsee. Bei Furiana sieht man lange
Gemüsebeete, die ihre Bewässerung durch
Schöpfräder erhalten. Die massenweise An-
pflanzung der Eukalyptusbäume zeigt zur Ge-
nüge, daß wir uns in einer der Fiebergegen-
den Korsikas befinden. Die Berge, an deren
Fuße die Bahn entlangfährt, sind bis oben
Abb. 9.
hin dicht von Vegetation überzogen und dolomitenartig
steil. Oben starren ihre Grate wie grobzinkige Sägen.
An ihren Hängen erblickt man im bunten Verein
Olivenwälder, unter denen stellenweise etwas Getreide
angebaut ist, und herrliche Korkeichen. Ich habe nur
in Südandalusien ebenso schöne Exemplare wie hier
gesehen. Viele hatten auffallende Kandelaberformen.
Vom Hauptstamm zweigen horizontal einige Hauptäste
ab, die am Ende schräg nach oben wachsen, und
ebenso symmetrisch entsprießen die Nebenäste. Die
Bahndämme sind von Akazien und mannshohem Erika-
gebüsch, sowie einer Fülle südlicher Blumen umringt.
Im großen und ganzen aber trägt dieses große fruchtbare
und doch so wenig rationell bebaute Gebiet das Gepräge
einer Wildnis.
Casamozza liegt herrlich zwischen kleinen, aber schön
gestalteten und durch die reichste Pflanzenwelt ver-
schönten Bergen. Von hier zweigt in bisheriger Richtung
ein Seitenstrang der Bahn nach dem von Casamozza aus
64 km entfernten Ghisonaccia an der Ostküste ab. Diese
Linie führt durch ähnliche, wie bisher skizzierte Land-
schaften und an durchweg kleinen Orten vorüber.
Erwähnenswert sind auf dieser Bahnstrecke die See-
bäder an der Station Prunete-Cervione und Aleria,
das einst eine phönizische Kolonistenstadt war. Noch heute
sieht man Reste des antiken Quais. In dem Etang de
Diane liegt eine Insel aus Austerschalen, die 400 m im
Umfange hat, 25m hoch und mit Vegetation bedeckt ist.
Wenige Kilometer weiter folgt das kleine Sch wefelbad
Puzzichello (zwei kalte Quellen von 14°), und eine
Meile südlicher, ziemlich weit im Lande und unweit
des Fiumorbo, endet die Bahn in der kleinen Station
Ghisonaccia.
Die Hauptbahn führt von Casamozza, wo sie den
Golo erreicht, in dessen Tal aufwärts und bietet bald
Hochgebirgsbilder in immer mehr gesteigerter Schönheit.
Insbesondere reißen hier die wie ein wunderbares bläu-
liches Feuer zum Himmel hinaufflammenden senkrechten
Zinnen des Monte Cinto und weiterhin der schneebedeckte
Monte Rotondo zur Bewunderung hin. Die die Gegenden
mit ihrem Duft erfüllenden Macchien entfalten hier in
restlosester Schönheit ihre Pracht, und Tunnels und
Viadukte, das großartige Defilee des Golo sorgen für
Rückblick auf dem Wege nach Rivisecca in die Bergwelt
des Restonica-Tales.
Mielert:
Die Insel Korsika. 71
angenehme Abwechselung in der Nähe. So erreicht man
Ponte alla Leccia (47km von Bastia), wo der vom
Monto Cinto kommende Asco in den Golo mündet und sich
in der Nähe Kupferminen befinden. Von Ponte alla Leccia
führt südöstlich eine Fahrstraße nach den 30km ent-
fernten, inmitten wundervoller Berge gelegenen Stahl-
quellen von Orezza, die auch von Ausländern besucht
werden. Das Wasser (11°C) enthält kohlensaures
Eisenoxydul und viel freie Kohlensäure. Leider ist der Ort
im Sommer nicht fieberfrei. Die Hauptsaison ist Mai— Juni.
Die Straße nach Orezza, die berückend schöne Ausblicke auf
den Monte Rotondo und Monte Cinto bietet, steigt im
Col del Prato bis auf nahezu 1000 m und durchquert dann
die Castagniccia, eine durch ihren Kastanienreichtum
berühmte Gegend der Insel. Von Orezza läuft die Straße
weiter nach den oben erwähnten Seebädern von Prunete-
Cervione.
Von Ponte alla Leccia zweigt nach Westen hin ein
an Tunneln sehr reicher Strang ab zur Westküste, die er
in Ile-Rousse erreicht. In ihrem letzten Teil durchquert
diese Bahn die Balagna, wie erwähnt, eine der frucht-
barsten und am meisten kultivierten Gegenden Korsikas,
deren Hauptorte Ile-Rousse und Calvi, bis wohin die
Bahn zieht, sind, beides Orte, die nur wenig über
2000 Einwohner haben. Die Hauptbahn verfolgt den
Golo aufwärts bis zu seiner Biegung nach Westen und
gewinnt, durch Tunnels gehend und nach Überquerung
mehrerer Talschluchten, die Stadt Corte, die größte
Binnenstadt des nördlichen Landes mit etwa 5500 Ein-
wohnern. Corte hat eine unvergleichlich herrliche Lage.
Dort, wo der Tavignano aus seiner Riesenschlucht heraus-
tritt, erhebt sich ein ungemein schroff zum Tale des
Tavignano abfallender Felshügel von etwa 150m Höhe
über dem Flußbett. An diesem, besonders an der Ost-
und Südseite, bauen sich amphitheatralisch die Häuser
und Hütten des Ortes auf, überragt von einer kühn auf
dem gratartigen Plateau errichteten Zitadelle (Abb. 8).
Der Ort besteht nur aus einer leidlich ebenen Haupt-
straße, die sich am unteren Hang des Stadthügels
hinzieht, alles andere ist ein über diese Straße sich
breitendes, beispiellos malerisches Gewirr von steilen Gassen.
Die Hütten sind zum größten Teil ruinenhaft, rauch-
geschwärzt und wenig einladend. Charakteristisch an
ihnen wie auch an den Häusern der Unterstadt, die oft
Abb. 10.
Hirtenkolonie Rivisecca, 1500 m hoch.
Abb.8. Zitadelle von Corte.
fünf Stockwerke hoch sind, erscheinen die eigenartigen
Rauchabzüge. Von den Küchen aus wird der Rauch
durch ein Rohr sofort nach außen geleitet und an der
Außenwand bis zur Höhe des Hauses. In ähnlicher
Weise sind die Wasserausgüsse nach außen gelegt.
Abzweigungen des Hauptrohres reichen bis unter die
Simse der Fenster. Das Klima von Corte, das 400 bis
500 m hoch liegt, ist gesund, aber im Sommer doch noch
immer viel zu heiß, als daß die Stadt als Sommerfrische
geeignet erschiene. Das Gros der Bewohner von Corte
sind echte Bergkorsen, die in ihrem Äußern etwas
Banditenhaftes haben. Man denke sich
mittelgroße, breitschulterige Männer
mit starkblickenden Augen, etwas un-
gepflegten Schnurr- oder Backenbärten
und die breite, gedrungene Gestalt in
Manchesterkleidung. Die Jacke ist stets
offen, so daß das bunte Hemd zu sehen
ist, die Hüften sind von einem breiten
roten Schal umschlungen. Die weiten
Hosen sind etwas aufgekrempt, die
Beine stecken in faltenreichen niedrigen
Stiefeln. Den Kopf deckt ein ver-
wegener schwarzer Schlapphut. Der
Gang der Männer von Corte (wie auch
anderwärts), die gern, die Hände in
die Hosentaschen versenkt, die Haupt-
straße auf und ab promenieren, ist
kerzengerade und seemännisch breit.
Von den Bergen wird Corte nur durch
den Tavignano getrennt, erstere wirken
daher durch ihre unmittelbare Riesen-
höhe von 1200 bis 1600 m großartig
und übermächtig. Von Cortes Altstadt
sieht man geradenwegs hinein in die
ungeheure romantische Talschlucht des
10*
72
WET. ei
Abb. 11.
Rechts der verschließbare, links der offene Raum.
Tavignano, und nur durch einen massigen Bergklotz
davon getrennt, öffnet sich südlich die ebenso wunder-
volle Restonicaschlucht, die zum Monte Rotondo hinleitet,
dessen Schneefelder und Felszinnen man von Corte aus
sehen kann.
Um die Natur der korsischen Hochlandswelt näher
kennen zu lehren, sei kurz eine Tour auf den Monte
Rotondo skizziert. Das Restonicatal, das bald hinter
Corte einen grandiosen Schluchtcharakter annimmt, ist
verschönt durch eine unbeschreiblich üppige Pflanzen-
wildnis. Der brausende Bach, der bald nach seinem
Austritt aus der Schlucht am Fuße des Stadthügels von
Corte in den Tavignano mündet, ist von smaragdner
Färbung und eilt kaskadenreich und wild brandend über
riesige Felsblöcke, die, obwohl Granit, von dem scharfen
Wasser zu blendend schneeiger Weiße gewaschen sind,
so daß man bei flüchtigem Hinsehen weißen Marmor zu
sehen glaubt. Das Wasser soll rostiges Eisen spiegel-
blank reinigen, und Boswell erzählt, daß die alten Korsen
ihre rostigen Flintenläufe zur Reinigung in das Wasser
der Restonica steckten! Im unteren Teil
der Restonicaschlucht bilden neben einer
Fülle von Büschen, Farren und Blumen
mächtige, uralte Kastanien- und Nuß-
bäume die Bedeckung der Schluchttiefe
und der Bergwände, von denen im Vor-
blick insbesondere die Prachtgestalt des
Monte Finelio Bewunderung erregt.
Weiter oben treten an Stelle der Kasta-
nien Buchen, vor allem aber Bergkiefern,
die in ideal schönen riesigen Exemplaren
die steilen Hänge bekleiden. In das Tal
führt ein Fahrweg, der aber nach etwa
einer Marschstunde als außerordentlich
schlecht zu begehender Schotterweg sich
fortsetzt.
Ungemein schön ist die nach etwa
drei Stunden südlich abbiegende Seiten-
schlucht des Rivisecca, einesteils infolge
ihres herrlichen Schluchtcharakters, an-
dernteils infolge ihrer unbeschreiblich
schönen Bewaldung. Die Wände der
Schlucht sind fast senkrecht und tragen
Typische Hütte in der Hirtenkolonie Rivisecca.
Mielert: Die Insel Korsika.
Dolomitengepräge. Von der Sonne
beschienen leuchten sie in allen er-
denklichen Nuancen von Orange,
Bläulich und Brandrot. Rückwärts
gewendet sieht man die bizarren,
senkrecht gegliederten Schroffen des
Monte Finelio und anderer Berg-
kulissen dieser Gegend (Abb. 9), und
nach etwa fünfstündigem Marsch
von Corte aus tritt man in etwa
1500 m Höhe aus dem Urwalde heraus
auf eine von Felsblöcken übersäte
Alm, hinter der ein kahler Riesen- .
berg mit sanft gerundeter Kuppe, in
feinem Grün-Gelb-Rot strahlend,
herabgrüßt. Eine kleine schräge
Schneerinne blinkt an ihm, uns
kündend, daß wir den höchsten
Regionen nun schon nahe gekommen
sind. Nach Osten hin setzen die
Schluchtwände ihren bizarren Cha-
rakter fort, im Westen aber tritt
kulissenartig ein Berggrat an die
Alm heran, der wie eine phanta-
stische Theaterdekoration anmutet.
. — Aus dem Felsblockchaos der stark-
böschigen Alm sieht man Rauchsäulen aufsteigen und er-
kennt nun Bauwerke von Menschenhand, die Hirtenhütten
(Kabann, Cabanne) von Rivisecca (Abb. 10). Sie sind das
Ursprünglichste, was man an Steinhäusern zu sehen be-
kommen kann. Es sind für gewöhnlich etwa 1,20 bis 1,60 m
hohe Mauervierecke, die einfach durch aufeinandergeschich-
tete Steinfindlinge errichtet sind, ohne Kalk oder ein son-
stiges Bindemittel, und kaum, daß man sich besonders Mühe
gegeben hat, die Fugen durch Farrenkrautbüschel zu
verstopfen. Fensterlöcher besitzt eine solche Hütte nicht,
nur eine aus Latten gefertigte mehr oder weniger rohe
Tür. Das Dach besteht aus Stücken von Hochstämmen
oder Latten, die mit Steinplatten beschwert sind. Das
Innere ist absolut kahl, der Boden festgestampfte Erde.
Dem Gast wird höchstens eine Pferdedecke gereicht, auf
der er sich ausstreckt; als Kopfstütze während der Nacht
dient ein Balken. Tische, Bettgestelle, Sessel u. dgl.
sind nicht vorhanden, An diese geschlossene Behausung
ist in der Regel ein auf einer Seite offener, ebenfalls
überdachter Raum (Abb. 11) angebaut, den Steinsimse
Mielert:
Die Insel Korsika. 73
an den Wänden umziehen, und der auf Wandbrettern
die Produkte der Milchwirtschaft, Käse in verschiedenen
Zubereitungen birgt. Vor diesen beiden Räumen liegt
ein von Felsblöcken umfriedetes nur wenige Quadrat-
meter großes Höfchen, in dessen einer Ecke gewöhnlich
das Feuer zum Abkochen der Milch und zur Bereitung
der frugalen Mahlzeiten angezündet wird. Holzscheite,
in eine Ritze der Mauer gesteckt, dienen als alleinige
Beleuchtung während der Nacht. Neben der Hütte steht
ein dürrer kleiner Baumstamm mit Aststümpfen, der
Palo, an welchen ähnlich wie in griechischen Gebirgen
Töpfe, Kessel und anderes Gerät aufgehängt werden. In
dieser Hirtenkolonie, die etwa 5 oder 6 Hütten aufwies,
wohnten ungefähr 10 bis 12 Leute, durchweg Männer.
Die älteren bleiben tagsüber zu Haus, kochen die Milch
ab, bereiten die Mahlzeiten und auch den Käse, der von
einem der Männer, zuweilen
auch von wöchentlich einmal
heraufkommenden Frauen
der Männer zu Tale und
in die größeren Orte zum
Verkauf geschafft wird.
Die „Blume“ der Milch-
und Käsewirtschaft ist der
Broccio, einer der größten
Leckerbissen der ländlichen
Korsen. Es ist eine Art ge-
ronnener süßer Ziegenmilch,
schneeweiß, und wird mit
Rum- und Zuckerzutat ge-
gessen. Die jungen Männer
und Burschen müssen das
Vieh auf die Weideplätze
treiben und kehren abends
gegen sieben Uhr mit den
Herden heim. Diese, die
durchweg nur aus zierlichen
schwärzlichen und gefleckten
Ziegen und Schafen bestehen,
werden dann in steinerne
runde Umfriedigungen ge-
trieben und dort von cen
Männern gemolken. Der Er-
trag ist sehr gering, etwa
20 Ziegen geben kaum einen
kleinen Eimer Milch. Die
Herden beziffern sich für
jeden Besitzer auf 100 Stück
und darüber. Im Mai ziehen
die Hirten in die Regionen der Sommerweiden, im
September, bei Beginn der Regengüsse und des Schnee-
falls, treiben sie ihre Herden ins Tal, wo sie während
des Sommers auch meist ihre Frauen und Kinder lassen.
Die Ersteigung des Monte Rotondo ist eine der inter-
essantesten, die korsische Berge bieten. Von den Hirten-
hütten von Rivisecca wendet man sich südwestlich in
eine mächtige, von titanischen Trümmern erfüllte Schlucht
hinein, deren Blöcke mit Macchien überwachsen sind.
Zwischen diesem dichten Gestrüpp geht es von Fels zu
Fels in einer Schräge von etwa 70° zur Höhe. Rück-
blicke sind bei dieser Partie schwindelerregend. In
etwa 2100 m Höhe hat man den Grat erreicht und sieht
nun die Nordseite des Gipfels des Monte Rotondo in
nächster Nähe vor sich aufragen. Eine gewaltiges Bild!
Eine steile Felsmauer, oben mit vielzackigen vertikal ab-
fallenden Felsmassen, unten mehr plattig und terrassiert,
in ihren Klüften und Löchern noch im Hochsommer
ziemlich viel Schnee bergend, senkt sich zu einem finster
hingegossen liegenden kleinen See, dem Lago dell’ Oriente
Globus XCVIII. Nr. 5.
Abb. 13.
Die höchste 6ipfelpyramide
des Monte Rotondo, 2625 m, von Osten her gesehen.
Standpunkt des Photographen ca. 2500 m.
(Abb. 1), der von üppigen schwellenden Grasmatten und
marmorweiß gewaschenen plattigen Felsblöcken um-
lagert ist. Dem See entfließt ein eiskalter Bach (Abb. 12),
der über eine ungeheure etwa 200 m hohe Felsbarre fall-
artig zu Tale schießt, es ist die Hauptquelle der Restonica.
Natürlich wird kaum ein Besucher dieses hehren Alpen-
bildes es versäumen, zu dem im 2058m Höhe liegenden See
hinabzusteigen und ihn zu umwandern. Die Ziegen der
verschiedenen umliegenden Hirtenkolonien verirren sich
zuweilen selbst bis zu diesen saftigen Graspolstern, in
denen wir, wie auch noch weiter oben an den Schnee-
feldern, unsere schönsten deutschen Wiesenblumen wieder-
finden, z. B. Vergißmeinnicht, Gänseblümchen (Tausend-
schön), Kamille, Ranunkel, Veilchen und andere. Die
Hauptmasse des Rotondogipfels zieht sich halbkreisförmig
um den See herum, nach Norden geöffnet. Wegen dieser
Rotundenform hat der Gipfel
auch den Namen erhalten.
Vom See aus nordwärts sieht
man den Bach zwischen üppi-
gen Graspolstern etwa 40 bis
50m dahinlaufen, worauf er
unvermittelt seine Riesen-
stürze über die erwähnte Fels-
barrenwand beginnt. Dar-
über hinaus sieht das Auge
auf die nördlichen Ein-
rahmungen des Restonica-
tals, Ausläufer des Monte
Rotondo-Massivs.
Mein Führer, ein Hirt aus
Rivisecca, leitete mich auf
etwas umständlichem Wege
zum Gipfel. Wir umwander-
ten den See an seinem Süd-
ufer und stiegen über die
Felsblöecke an dem von
kleinem Steingeschiebe be-
deckten Felskamm, von dem
wir vorher herabgestiegen
waren, hinauf und auf der
anderen Seite westlich hinab,
um die Südseite des Monte
Rotondo zu gewinnen. Es
war mir dies ganz lieb, da
ich auf diese Weise beide
Gipfelseiten kennen lernte.
Die Nordseite ist wohl wegen
der senkrechten, etwa 100
bis 150 m hohen oberen Schroffen sehr schwer ersteigbar.
Der Grat, den wir vom See aus erklommen hatten, konnte
etwa 2250 m Höhe haben. Er zeigte ein gegen Süden ge-
breitetes sehr großes Schneefeld und dahinter im Westen den
allmählich immer höher ansteigenden östlichen Gipfelkamm
mit stetig schroffer abfallenden schneegezierten Wänden
(Abb.2). Die nun folgendeKletterei zurSüdfront der Haupt-
gipfel war sehr mühsam. An Schneeflözen vorbei ging es,mit
dem Blick in ein ungeheures schluchtartiges, nach Osten
sich öffnendes Tal, über gewaltige Felstrümmer und in
oft ziemlich exponierter Lage an überhängenden Fels-
wänden vorbei. Die zertrümmerten scharfkantigen
Blöcke lagen roh aufeinander, so daß man zwischen ihnen
hindurch in schwarze tiefe Hohlräume blicken konnte.
Fehltritte können hier verhängnisvoll werden, doch
erleichtert meist das auch in dieser Höhe noch anzu-
treffende Gestrüpp das Weiterkommen. Die Südseite
der Hauptgipfelwände ist ziemlich schneefrei, in den
obersten Teilen aber fast ebenso schroff wie die Nord-
front. Nur bieten hier Geröllkanäle eine wenn auch
11
A
A G 3% aA
74 Buchwald: Zur Völkerkunde Südamerikas.
mühevolle, so doch verhältnismäßig leichte und ungefähr-
liche Gelegenheit zur Erklimmung der obersten Spitzen,
die völlig vegetationslos sind. Die höchste Zinne bildet
eine Art zackige, sehr schlanke Pyramide mit 90°
steilen Wänden (Abb. 13). Das Plateau ist äußerst be-
schränkt; für den Ersteiger ist es bei dem meist herr-
schenden starken Winde keine Kleinigkeit, sich in dieser
luftigen Höhe zu behaupten, wenn er nicht „fliegen“
will. Der Ausblick ist naturgemäß großartig und in
gewisser Hinsicht auch interessanter als der mancher
Alpengipfel, da er eine Schau über Land und Meer ge-
stattet. Korsikas Felsgebirge liegen schründenreich unter
und um uns. Im Norden ragt der Monte Cinto als un-
geheurer Wall in den Äther, in der Tiefe glasten noch
einige dunkle Bergseen des Monte Rotondo, weit draußen
aber verschwimmen hell leuchtende Felsgebirge mit den
grünlichen Ebenen und dem dunstigen Meer, das in den
Himmel hinaufzuwachsen scheint.
Den Abstieg bewerkstelligten wir auf demselben
Wege, auf dem wir gekommen waren. Vom Lago
dell’ Oriente aus stiegen wir über die sehr steilen, vielfach
völlig senkrechten Felsbarren im Zickzack hinab, begleitet
von der tosenden jungen Restonica, und fanden uns in
etwa 1800 m Höhe bereits wieder von den üppigsten
etwa 2m hohen Macchien und Buschwäldern umschlossen,
am Rande einer nahezu senkrecht abfallenden Wand,
unter der die Hütten der Hirtenkolonie Timozzo in etwa
1500m Höhe lagen. Östlich, zur Seite, verlor sich die
Restonica in einer wilden caüonartigen Schlucht. Über
den Hütten von Timozzo bricht sie dann fallartig über
eine Geröllhalde herab. In diese Schlucht hinabzusteigen
war unmöglich. Wir wählten darum den Abstieg an
der steilen, aber dicht von Buschwald übersponnenen
Wand und ließen uns, mehr. als wir stiegen, an dem
harten Gestrüpp hinab. Die Hütten von Timozzo erfreuen
sich keiner so aussichtsreichen Lage wie die von Rivisecca.
Hinter ihnen, im Süden, entzieht die nahezu 300 m hohe
bebuschte Felswand ihnen den Blick auf die Gipfel des
Rotondo, abwärts dagegen öffnet sich eine wildromantische
Schlucht voll der schönsten Kiefern und Tannen. Östlich
stürzt die Restonica über Geröll herab, um in wilder
Hast über die Wand der jäh in die Schlucht abbrechenden
Alm von Timozzo hinunterzurasen. Im ganzen voll-
zieht sich also der Nordabfall des Rotondo in vier
schmalen Terrassen mit gewaltigen nahezu senkrechten
Wänden. Der Abstieg von Timozzo, das aus etwa 6 bis
8 Hütten besteht und etwas stärker bevölkert ist als
Rivisecca (auch einige Frauen und Kinder sah ich hier), ge-
staltet sich gleich unter denHütten,wo man auf abschüssigem
glatten Pfade die steile Abschlußwand der Schlucht
quert, sehr unbehaglich. Dann gehtes stetig im grünen
Dämmer des herrlichen Hochwaldes auf schlechtem Schotter-
pfade abwärts, und nach einer Stunde über eine malerische
halbzerfallene Bogenbrücke, den Ponte del Dragone. Diese,
ähnlich wie die Brücke im griechischen Epirus aus
rohen Steinen und in einem einzigen kühnen und dünnen
Bogen errichtet, entbehrt trotz der verhältnismäßig
geringen Breite von etwa 1,50m jeglichen Geländers.
Man steigt auf ihr über Blöcke und Platten im Bogen
steil hinauf bis zur Mitte, von wo aus man in ähnlicher
Weise zur anderen Seite absteigt; bei der Höhe, in der
die Brücke über das Felsbett der wildschäumenden
Restonica sich schwingt, für nicht ganz Schwindelfreie
kein gerade angenehmes Intermezzo der Talwanderung.
Was das Restonicatal in seinem unteren Teile auch
besonders auszeichnet, ist der Reichtum an Quellen und
Bächen, die überall an den Bergwänden niederstürzen.
(Schluß folgt.)
Zur Völkerkunde Südamerikas.
Von Otto von Buchwald. Guayaquil.
In der Zeitschrift „Süd- und Mittelamerika“, 1910, II,
finde ich einen G. St. unterzeichneten Bericht über den
in der Anthropologischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag
von Dr. Max Schmidt über peruanische Webereien, der
mich sehr interessiert hat, und zu dem ich einige Be-
merkungen hinzufügen möchte.
Der Verfasser spricht über die verdienstlichen Aus-
grabungen Dr. Max Uhles und sagt folgendes:
„Wir kennen geometrische Ornamente und Flecht-
muster aus altperuanischen Geweben, die aus der Gegend
von Ica stammen; die Gewebe aus Pachacamac dagegen
zeigen neben dieser geometrischen Ornamentik eine ganz
andere Art von bildlichen Darstellungen, die Szenen aus
dem täglichen Leben und andere szenische Bilder wieder-
geben.
Dank der Ergebnisse der systematischen Ausgrabungen
von Uhle wissen wir, daß diese szenischen Darstel-
lungen zwar aus sehr alter Zeit, die weit vor der Inka-
kultur zurückliegt, stammen, daß sich aber doch deutlich
eine noch frühere Zeitperiode unterschelden läßt, deren
Kulturerzeugnisse sich aufs engste an die alte Kultur
von Tiahuanaco anschließen. Die Gewebe dieser letzteren,
der zeitlich früheren Kulturperiode sind ohne Webstuhl
gewebt und stimmen in ihrer Technik durchaus mit den
entsprechenden Geweben von Ica überein. Nur die Ge-
1) Vgl. Bd. 96, 8. 317.
II).
webe der späteren Periode mit den szenenhaften Dar-
stellungen sind mit dem Webstuhl gearbeitet, der seinem
Wesen nach genau mit den entsprechenden Formen der
Südsee und Ostasiens übereinstimmt. Auf den sich der
alten Tiahuanacokultur anschließenden Geweben haben
wir es zumeist mit der Darstellung szeptertragender
Figuren zu tun, die entweder als Muster eingewebt oder
auf einfaches Baumwollengewebe aufgemalt sind 2). Auf
den Geweben der späteren Periode mit den szenenhaften
Darstellungen finden wir insbesondere Bootsszenen dar-
gestellt, bei denen hochgeschnäbelte Binsenboote zur Ver-
wendung kommen, wie sie heute noch auf dem Titicaca-
see in Gebrauch sind ...“
Ehe ich mich in dem weiteren Teile des Berichtes
umsehe, möchte ich auf die Landkarte verweisen, wo
Ica und Pachacamac verzeichnet sind. Am ersten Orte,
im Süden, finden wir Ähnlichkeiten nur mit Tiahuanaco.
Am zweiten, dicht bei Lima, dieselbe Kultur und eine
neuere sehr verschiedene. Trotz einer wahrscheinlichen
Urverwandtschaft finden wir zwei Völkerschaften (nicht
nur Epochen), die scharf unterschieden werden können
und nach meiner Ansicht auch noch im heutigen Peru
gefunden werden. Daß beide Völker aus Ostasien gekom-
men sind, scheint auch mir wahrscheinlich, wie ich bereits
anderwärts bemerkt habe.
?) Vgl. Sarmiento de Gamboa, ed. Richard Pietschmann
1906. Bilder als Gegenstücke zu dem Geschichtswerke 1572.
Buchwald: Zur Völkerkunde Südamerikas. 75
Wie aus den Forschungen Dr. Uhles zu ersehen ist,
findet sich die ältere Kultur an der Küste und im Gebirge,
die jüngere aber nur an der See.
Letztere könnte also sehr wohl die erstere zeitweilig
in das Gebirge zurückgedrängt haben, wo sich das Reich
der Inkas und auch schon ihrer Vorgänger ausbildete.
Daraus würde sich der alte Kampf mit den Küsten-
indianern erklären, die erst von einem der letzten Inkas
endgültig unterworfen wurden.
Die wenigen in dem kurzen Bericht gegebenen Daten
über die spätere Kulturperiode glaube ich nun noch heute
an der Nordküste von Peru zu finden — in dem alten
Reich der Chimus, denen noch nicht die ner are
gewidmet wird, die sie verdienen.
Die Binsenboote finden sich noch heute in dk Häfen
von Eten und Pimentel und werden wohl erst von der
Küste nach dem Titicaca gekommen sein. Es ist aber nicht
wahrscheinlich, daß die ersten Einwanderer auf diesen
kleinen Fahrzeugen angekommen sind, denn sie sind zwar
sehr sicher, aber natürlich nicht dauerhaft. Man muß da
wohl hölzerne Fahrzeuge annehmen, die erst bei späterem
Mangel an geeignetem Holz an der nackten Küste durch
Binsenboote ersetzt wurden, bis man bei späterer Besetzung
des Guayas im Norden wieder besseres Material fand
(vgl. Globus, Bd. 95, Nr. 10).
Nun komme ich zu den Geweben, bei denen ich, nach
der Beschreibung, eine große Ähnlichkeit zwischen den
alten und heutigen finde.
Der noch jetzt gebräuchliche Webstuhl ist der mög-
lichst einfache. Die Fäden werden zwischen zwei Hölzern
ausgespannt, und es hat jede Bahn (pano) ungefähr 35 bis
40 cm. Das obere Holz wird an einen Balken gebunden,
und das untere befestigt die webende Indianerin mit
einem breiten Gürtel um ihre Hüften. Das Weberschiff
wird mit der Hand durch die Fäden geworfen, mit einem
Querstock gewechselt und mit einem Lineal angedrückt.
Der fertige Stoff wird am unteren Ende aufgerollt.
Die 'altindianischen, außerordentlich festen Farben
sind erst seit wenigen Jahren durch deutsche Anilin-
farben verdrängt. Benutzt wurden für:
Schwarz: Die Schoten verschiedener Akazien und
Eisenvitriol (aleaparrosa).
Rot: Cochenilla, die an den Abhängen der Berge überall
an der Opuntia (Feigenkaktus, tuna, higo chumbo) ge-
funden wird.
Grün: Blätter eines Strauches, Chilca genannt.
Blau: Ich habe nur importierten Indigo gesehen, doch
wächst die Indigofera Anil überall an der Küste.
Gelb: Verschiedene Wurzeln und Blumen, die als „Aza-
fran“ bezeichnet werden.
Braun: Die natürliche Farbe einer Varietät der Baum-
wolle (Algodon pardo).
Heutzutage werden auf diese Weise Ponchos und
Satteltaschen (alforjas) gewebt; erstere nur in Streifen
gemustert, letztere aber oft mit Zeichnungen aller mög-
lichen Gegenstände, wie Schiffe, Menschen, Tiere und
Pflanzen. Ich kannte eine Indianerin, die, ohne selbst
lesen zu können, ganze Verse in die Satteltaschen ein-
webte, sobald man ihr nur die Buchstaben angab.
Ferner berichtet G. St. von der Zeichnung eines Blas-
rohres, von der er sagt, daß es die einzige Darstellung
dieser Waffe sei, die man in Peru gefunden habe. Ich
habe das Blasrohr in Jaen de Bracamoros, also in dem’!
Hinterland der Provinz Lambayeque, angetroffen, wo es
zur Jagd auf Rehe benutzt wurde, um mehrere in einem
Rudel zu erlegen. Man benutzte einen kleinen, mit Baum-
wolle umwickelten Pfeil oder Pflock, der vor dem Schuß
in Gift eingetaucht wurde. An der Küste muß das Blas-
rohr aber immer selten gewesen sein, weil das geeignete
Holz (Palme) dort nicht vorkommt. Auch in Ecuador
wird diese Waffe, wie schon früher bemerkt, benutzt; sie
ist wohl schon auf derWanderung von Süden mitgebracht.
Auch von einem Vogel, der am Mais sitzt, und Män-
nern mit Schleudern auf den Geweben wird.erzählt.
Ersterer ist wohl der grüne Sittig oder Papagei mit
rotem Gesicht, der den Pflanzungen viel Schaden tut.
Zum Schutze werden die reifen Maispflanzen nach unten
geknickt, oder man stellt Knaben auf, um die Vögel zu
verscheuchen. Ich habe oft die Schleuder wie eine Peitsche
knallen hören, und hie und da gelingt der Wurf und ein
Vogel fällt aus dem Schwarm zur Erde, während die
anderen ihn mit lautem Geschrei umkreisen.
Da die Entwickelung der andinischen Völker durch
die spanische Eroberung schroff unterbrochen wurde,
kann man die räumliche Verteilung jener Zeit noch deut-
lich an den Ortsnamen unterscheiden. Die Kraft der
Inkas war gebrochen und damit auch großenteils das
Vordringen ihrer Sprache. Nur im Gebirge und be-
sonders im Norden förderten die Missionare die weitere
Ausdehnung des Kichua, weil sie fanden, daß die Indianer
diese Sprache besser begriffen als das Spanische. Anderen-
teils muß man bedenken, daß diese hochentwickelte Sprache
die Übersetzung außerordentlich erleichterte. Aber auch
diese Bewegung ging zurück, nachdem man von den
Priestern auch die Kenntnis der übrigen Sprachen ver-
langte. Von dieser Zeit an sehen wir nur noch ein Vor-
dringen der spanischen Namen gegen die indianischen.
Da aber die Priester meistens nur dem alten Namen den
eines Heiligen hinzufügten, so hat sich die ältere Form
noch vielfach erhalten.
Wenn ich nun die Namen der Umgegend von Lima
ansehe, so finde ich, daß sie dem Kichua angehören. So
auch der Name Pachacamac (pacha + kamak oder camac
= Schöpfer und Erhalter der Welt), der sehr alt ist und
an die Sagen von Kami und Keri = Sonne und Mond 3)
erinnert, von denen uns Dr. v. d. Steinen (Unter den
Naturvölkern Zentralbrasiliens, S.319) erzählt.
Dr. Tschudi erwähnt in seinen Sprachproben einen
Vers, von dem er sagt, daß er aus der Zeit der Inkas
stammt: Es handelt sich um eine Prinzessin (üusta), die
mit einem Krug voll Wasser in den Himmel versetzt ist.
Ihr Bruder zerschlägt das Gefäß, das Wasser fließt her-
aus und fällt zur Erde als Regen, Schnee und Hagel.
Darin heißt es: Pachacamac (der Schöpfer der Welt),
Pacharurac (der Erbauer der Welt) hat dich zu diesem
Zweck dort hingesetzt und erhält dich.
Der Name Pachacamac ist also für einen Ort des
religiösen Kults durchaus passend, und doch wäre es
möglich, daß die Kichuas ihn einem früheren, nicht ver-
standenen Wortlaut angepaßt haben.
So heißt das Schlachtfeld, wo im Norden von Quito
einst die Karankis besiegt wurden, heute Hatuntaki *)
(hatun, groß + takani, schlagen, ein Name, der aus Tun-
taki [Schlafstelle] entstanden ist). So bedeutet der Name
des Hafens Pacasmayo Pacayfluß (pacay = inga edulis)
in Kichua, während in der Mochicasprache der Name
Pakatnamu lautet und wahrscheinlich Eintritt der Fische
bedeutet.
Wenn ich auch kein großes Gewicht darauf lege, so
möchte ich doch auf den Namen der Stadt Lima aufmerk-
sam machen, die von dem Fluß Rimac durchflossen wird
(d.h. wenn er Wasser hat). Man sieht sofort, daß Fluß-
und Stadtname dasselbe Wort sind. Rimac bedeutet „der
3) Ich möchte auch Keri mit Mond in Kichua: killa oder
quilla vergleichen, denn für „e“ kann ich „i“ und für „r“
ebensogut „l“ setzen.
*) Hatuntaki könnte auch heißen:
Biegesfest.
Großer Tanz, also
11*
76 Buchwald: Zur Völkerkunde Südamerikas.
Sprecher“ oder „der, welcher spricht“, es ist ein Partizip
des Verbums rima = sprechen und soll auf ein Orakel
deuten. Die Verwechselung der Buchstaben R und L ist
allerdings häufig, aber auffällig ist das Vorkommen beider
Formen nebeneinander. Außerdem sprechen die Gebirgs-
indianer das i oft wie e aus — sie sagen Lema statt
Lima. Nun sehen wir, daß der Cura Carrera in seiner
Mochica-Grammatik die Stadt „Limac“ nennt; es wäre
also doch wohl möglich, daß der Name den Stamm „läm“
= sterben enthält.
Obwohl gemäßigt, ist das Klima von Lima doch für
die Gebirgsindianer nicht gesund, und ich mache noch
besonders auf die Quebrada de Berruyas oberhalb Lima
mit ihrer Beulenkrankheit aufmerksam.
Auf alle Fälle sehen wir aus den Ortsnamen, daß die
Kichuas sich dort festgesetzt haben, und erst im Norden,
wo es heißer wird, finden wir die Namen der Mochica.
Ein anderes Wort scheint mir größere geschichtliche
Bedeutung zu haben, es ist das Wort Jaku — Wasser.
Ich habe bereits früher erwähnt, daß das Wort Jaku
in der ganzen Kichua sprechenden Bevölkerung nördlich
von Apurimak gefunden wird. In Cuzco aber, dem Zen-
trum der Inkas, heißt das Wasser Unu, ähnlich wie bei
den verwandten Stämmen des Ostens. Ebenso finde ich
im Norden von Ecuador bei den Atakames oder Esme-
raldas: uve = Wasser, una — Regen. Es muß also
eine einst unterbrochene Verbindung gegeben haben.
Wenn ich nun das Wort Jaku in anderen Sprachen
suche, so finde ich nur bei den Küstenindianern, den
Mochica, des Wort Jä, augenscheinlich dem Jaku ähnlich.
Allmählich tauchen die alten, bisher verworfenen
Sagen wieder auf, man hört von Verbindungen mit dem
Norden, Landungen an der Küste, Befestigungen am
Apurimak (Limatambo) zum Schutze gegen Fremdlinge,
die von der See kamen; bis wir zu der geschichtlichen
Zeit kommen, in der die Inkas den Chimu besiegten.
Wenn wir also die Ausgrabungen des Herrn Dr. Uhle
betrachten, so finden wir in Pachacamac eine ältere und
eine neuere Schicht; die ältere gleich der von Ica, lehnt
sich an die Funde von Tiahuanaco an, gehört also doch
wohl zur Vorgeschichte der Inkas, während die neuere
Schicht den Küstenindianern zugeschrieben werden muß.
Diese letztere wird also wohl mit Zurückdrängung der
älteren Bewohner bis tief in die Gebirge eingedrungen
sein, wie wir das im Norden (Cajamarca, Cachapoyas und
Canar) sehen. Zu Anfang der geschichtlichen Zeit finden
wir die Kichuas bereits wieder im Besitz der Küste bis
zum 10. Grad südl. Br., wie die geographischen Namen
beweisen.
Auf dem 12. Grad südl. Br. finden wir die ersten
Spuren der neueren Schicht, die sich dann bis zum
Äquator ausgebreitet haben wird. Dort im Norden
grenzen sie an den jetzt ausgestorbenen Stamm der Ata-
kames, die Sprachähnlichkeiten mit Cuzco haben, und
hinter ihnen die Colorados-Cayapas mit Annäherungen an
Kichua und Aimaraä.
Wie schon früher bemerkt, finden sich Spuren der
Atakames bis zum 3. Grad südl. Br., und weiter nach
Osten die letzten Spuren des Colorados bis zum 5. Grad
südl. Br.
Es ist also anzunehmen, daß die ganze Küste von
Südkolumbien bis zur Wüste von Atakama weit im Süden
von verwandten Völkern besetzt war, die, wenn auch un-
gleich entwickelt, einst auf einer gleichmäßigen Kultur-
stufe gestanden haben.
Leider habe ich bis jetzt die Provinz Esmeraldas noch
nicht selbst untersuchen können, beziehe mich aber auf
Prof. E.Seler, der in seinen „Gesammelten Abhandlungen
zur amerikanischen Sprach- und Altertumskunde“ sagt:
„Nach Theodor Wolf soll es namentlich in Atakames
(westlich von Esmeraldas) und in der Gegend von „La
Tola“5) zahlreiche „Huacas“ geben, in denen man Ton-
gefäße und Tierfiguren aus Ton oder Stein, selten aus
Metall gefunden hätte, den Hausrat einer armen, aber
künstlerisch nicht ganz ungebildeten Bevölkerung.“
Welchen weiten Einblick in die amerikanische Ver-
gangenheit uns die Unterscheidungen Dr. Uhles gewähren,
möchte ich noch mit einem Beispiel beleuchten: Nehmen
wir das Wort „Wasser“ als Leitwort an, so finden wir
Völker mit Unu-pi und Jä-Jaku. Daß die Bezeichnung
pi, die in Ecuador und Kolumbien vorkommt, auf die
Völker mit „Unu“ zurückzuführen ist, habe ich bereits
früher dargelegt. Diese Gruppe finden wir also vom
4.Grad nördl. Br. bis zum 22.Grad südl. Br. an der Küste
des Stillen Meeres. Aber die Verbindung geht noch viel
weiter, wenn wir nach Osten blicken. Es sei mir gestattet,
aus Dr. Emil A. Göldis „Excavagöes archeologicas em
1895“ eine Liste nach Martius’ Glossarium zu entnehmen.
Darin finden wir für Unu = Wasser
Ini Indios Tariana
uni-weni„ Baniva
uni $ Mariatí, Baré, Moxos, Uirina
oenoe y„ı Orejones
une’ „ Maypure
oni 5 Jucuna, Uainumbi, Guianau, Palicur
(Tupi)
ain n„ Pebas
wuni „ Aruak (Surinam)
ueni Tamanaco.
Wir finden also das Leitwort Unu bis nach Guayana
und das Pronomen nu (Nu-Aruak) — nokka der Kichua.
Ja noch mehr: Wenn ich die ethnographischen Reste be-
trachte, so finde ich, daß die Zeichnungen der Gefäße, die
Dr. Göldi in Brasilianisch-Guayana fand, dieselben For-
men haben, wie meine Krüge aus dem Lande der Puruhá
(Riobamba) und die Ketten von den Ufern des Guayas.
Alle diese Völker scheinen also einen eigenartigen Kultur-
grad gehabt zu haben, aus dem sich später die andinischen
Stämme weiter entwickelten, während sich im Urwald der
Urzustand erhielt. Zwischen diese Völker schiebt sich
wie ein Keil eine neue Einwanderung. Es sind die
Stämme mit „Ja“-„Jacu“, die wohl schon ihre eigene
Kultur mitgebracht haben.
Die andinischen Völker hatten bereits gelernt, ihre
Bauten aus behauenen Steinen auszuführen, die wir in
Tiahuanaco, Cuzco und Ollantaytambo bewundern, wäh-
rend wir die neueren Einwanderer in dem Übergang vom
Luftziegel zum Steinbau antreffen. Sie verstanden aber
schon den Stein zu Skulpturen zu benutzen, deren Vor-
bilder sie der Natur des Landes, das sie besetzten, ent-
nahmen. Wenn ich nun diesen Keil neuerer Einwande-
rung zwischen den andinischen Stämmen als ein Dreieck
betrachte, so liegt die Basis am Stillen Meer. Weder im
Norden noch im Süden habe ich Verbindungen getroffen.
Ziehe ich daneben die Meeresströmungen und die noch
fortdauernde Senkung der Küste in Betracht, so scheint
eine Einwanderung von Osten an irgend einem Punkte
, der gegebenen Basis nicht unmöglich zu sein.
®) Bei „La Tola“ ist es allerdings fraglich, ob man die
vorgefundenen Altertümer den Esmeraldas oder den Kayapas
(Cayapa) zuschreiben darf, da der Ort bereits in dem Gebiet
der letzteren liegt.
Die Wasiba.
Die Wasiba.
Kisiba heißt die Landschaft im Westen des Viktoria-
sees, zwischen diesem See und dem unteren Kagera. Sie
gehört zum Bezirk Bukoba und ist mit ihren Bewohnern,
den Wasiba oder Basiba, schon 1894 von Herrmann
geschildert worden. Fünf Jahre später behandelte sie
Richter in seiner Arbeit über den Bezirk Bukoba. Kürzere
Notizen finden sich natürlich bei
Reisenden, die in älterer oder neuerer Zeit das Land
durchwandert haben. Jetzt ist nun — nachdem sie schon
seit mehreren Jahren angekündigt war — eine neue,
umfangreichere Monographie über die Wasiba erschienen,
als deren Verfasser der noch im Lande tätige Missionar
Hermann Rehse sich ein großes Verdienst erworben hat !).
Rehse hat vieles sehen und sammeln können, was seinen
Vorgängern nicht bekannt geworden war, und es ist erfreu-
lich, daß ihm Gelegenheit geboten war, es in voller Aus-
führlichkeit zu veröffentlichen. Sein Buch berücksichtigt
die ganze materielle und geistige Kultur des Volkes und
bringt schließlich auch (im 18. Kapitel) eine Geschichte
der Wasiba, deren Verfasser der des Lesens und
Schreibens kundige Neffe des jetzigen Königs von Kisiba
ist. Mitgeteilt wird diese historische Abhandlung des
einheimischen Schriftstellers im Urtext mit Interlinear-
übersetzung. Zur Ausstattung des Buches mit Abbil-
dungen sind die in Kollmanns Buch vorhandenen in großem
Umfange herangezogen worden; das übrige hat der
Verfasser geliefert. Einige Einzelheiten aus dem reichen
Beobachtungsmaterial des Verfassers mögen hier mit-
geteilt werden.
Wie fast überall im Zwischenseegebiet, so besteht
auch die Bevölkerung Kisibas aus zwei verschiedenen
Rassenelementen: den ursprünglichen Bewohnern, die hier
Wairu oder Bairu genannt werden, und den Bahima oder
Wahima, aus dem Norden eingewanderten Hamiten (Rehse
selber nennt sie irrtümlich ein semitisches Volk). Die
Wahima sind auch hier, trotz ihrer numerischen Schwäche,
das herrschende Volk, zu ihm gehören der König und
die Verwaltungsbeamten.
Neben der Königsfamilie gibt es 27 Familien oder
Stämme, von denen Rehse sagt, daß alle zu einer Familie
gehörenden Mitglieder dieselbe „Musiro“ hätten. „Musiro*
lasse sich am besten mit „Eigentümlichkeit“ oder auch
„Verbotene Speise“ übersetzen. In der Regel sei „Musiro“
ein eßbares Tier, zuweilen aber werde damit auch irgend
ein anderes verbotenes Ding bezeichnet. Wenn jemand
die diesem Dinge zugeschriebene Eigentümlichkeit ver-
letze oder eine seiner Familie verbotene Speise esse, so
bekomme er einen Ausschlag an Armen und Händen.
Es handelt sich hier offenbar, wie v. Luschan in seinem
Vorwort bemerkt, um totemistische Anschauungen. Aus
den weiteren Bemerkungen Rehses über „Musiro“ und
die damit verbundenen Gebräuche geht das auch sehr
deutlich hervor. Die Mitglieder derselben Familie,
Ruganda, dürfen untereinander nicht heiraten. Die
Kinder gehören immer zur Ruganda des Vaters. Die
Familie Abaruani darf das Fleisch von schwarz und
weiß gestreiften Kühen nicht essen und deren Milch
nicht trinken; sie hat von jeher die Henker und die
Polizisten für den König gestellt, und ihre Angehörigen
dürfen daher bis heute nicht vor ihm erscheinen. Man
1) Kiziba, Land und Leute. Eine Monographie von
Hermann Rehse. Mit einem Vorwort von Prof.
Dr.v. Luschan. Herausgegeben mit Unterstützung des Reichs-
Kolonialamts. XI und 394 8. mit 131 Abb. im Text, I Licht-
r age und 1 Karte. Stuttgart 1910, Strecker & Schröder.
24 M.
den verschiedenen "
weiß in jedem Falle, warum diese oder jene Familie das
Fleisch dieses oder jenes Tieres nicht essen darf; meist
deshalb nicht, weil das Tier der Familie einmal einen
Schaden zugefügt oder sie aus schwerer Not gerettet hat.
Die Königsfamilie steht in besonderer Beziehung zu den
Schlangen.
Aus der Ausstattung der Wohnung mag erwähnt
werden, daß zu ihr — hier unter dem Äquator — Öfen
aus Ton gehören. Allerdings kann sie nur der Wohl-
habende sich leisten. So ein Ofen besteht aus einer
Schale, die die Kohlen enthält. Die Schale ist mit Löchern
versehen, die innerhalb ihres Fußes münden. Der Fuß
ist eine Tonröhre von etwas geringerem Durchmesser als
die Schale und hat vier Löcher, die den Luftdurchzug
vermitteln. Man stellt diesen Ofen meist im Vorraum auf,
um diesen, in dem es abends kühl wird, zu erwärmen.
Außer den Speiseverboten für Familien bestehen auch
solche für Frauen. Diese dürfen eine bestimmte Fisch-
art, Heuschrecken — die als Leckerbissen gelten — und
Ziegen nicht genießen, schwangere Frauen außerdem nicht
das aus dem Süden stammende Salz. Die Priester der
Geister essen keine Fische und kein Ziegenfleisch. Der
König genießt nur Ochsenfleisch, Bananen, eine gewisse
Gemüseart, Milch und Bananenbier. Sämtliche Wahima
essen keine Fische und alle Erwachsenen, Wahima wie
Wairu, auch kein Geflügel. Eine Erklärung für diese
Speiseverbote und -beschränkungen hat man nicht.
Tätowierung, Ziernarben, sowie sonstige Körper-
verunstaltungen kommen nicht vor, dagegen scheint es
eine Art Deformierung des Kopfes zu geben; wenigstens
sagt Rehse: „Bei neugeborenen Kindern hat die Hebamme
die Pflicht, dem Kopf durch Drücken mit den Handflächen,
die vorher mit Fett beschmiert und an dem Herdfeuer
angewärmt werden, eine angenehme Form zu geben.
Man nennt dieses Drücken der Köpfe neugeborener Kinder
töpfern, kubumba.“
Die Jagd erstreckt sich auf alles, was kreucht und fleugt,
selbst auf die Mücken, aus denen man sich eine Delikatesse
bereitet. Nur Schlangen tötet man nicht; denn sie
gehören zu den Lebewesen, über die der Erdgeist
Irungu herrscht. Jede Schlange hat ihren besonderen
Geist in sich, d. h. sie ist die Verkörperung eines Geistes,
der einem menschlichen Körper entwichen ist. Allerdings
hat man ein Instrument zum Fangen von Schlangen, das
aus einem an einem Ende gespaltenen Stocke besteht;
aber es dient nur dazu, in der Hütte angetroffene Schlangen
daraus zu entfernen, man tötet sie nicht, sondern schleudert
sie damit in den nächsten Busch.
Eine große Rolle spielt die Rindviehzucht, aber haupt-
sächlich nur der Milch wegen. Geschlachtet werden nur
männliche Kälber und Rinder, das Schlachten von Kühen ist
dagegen Sünde; man bequemt sich dazu erst jetzt aus-
nahmsweise, nachdem Europäer ins Land gekommen sind.
Von jedem geschlachteten Rinde muß dem Landesgeiste
ein Bein geopfert werden. Gebuttert wird in einem
größeren Flaschenkürbis. Indessen dient die Butter nicht
zum Essen — man hält das für ekelhaft —, sondern nur
zum Einschmieren der Körperhaut und der Kleidungs-
stücke, auch zum Behandeln der Felle durch die Gerber.
Die Buttermilch bleibt unbenutzt.
Zu den Genußmittel gehören u. a. Bier, Hanf und
Tabak. Das Bier ist das bekannte Bananenbier. Neu
ist aber, daß man daraus neuerdings einen „Kognak“
destilliert. Das Verdienst für diese Errungenschaft
gebührt wohl irgend einem weißen „Kulturträger“. Wer
an diesen „Kognak“ nicht gewöhnt ist, verfällt in einen
78 Die Wasiba.
höchst bösartigen Rausch mit Unzurechnungsfähigkeit
und Wahnsinn, der oft 3 bis 4 Tage dauert und dem
Hanfrausch an Kraft nichts nachgibt. Der Tabak
wächst sozusagen wild, die Bearbeitung ist Sache der
Frau, und die Wahimaweiber rauchen auch fast alle.
Der König aber darf nicht Pfeife rauchen. Unter
„Spielen und Tanz“ erwähnt Rehse den Hofnarren des
Königs, einen Mann, der sich durch seine überaus große
Belustigungsgabe auszeichnet, selber aber stets ernst
bleibt.
Die Töpferei wird von Männern ausgeübt und gilt hier
für ebenso ansehnlich wie jeder andere Beruf. Die Dreh-
scheibe ist nicht bekannt. Ebenso nimmt das Schmiede-
handwerk keine Ausnahmestellung ein, wie sonst vielfach
in Afrika. Die Eisentechnik ist recht gut ausgebildet.
Die Herstellung des Roheisens geschieht aus Eisenstein
mit Hilfe von Holzkohle, die beide in einem Haufen über-
einandergeschichtet werden, wobei eine größere Anzahl
von Blasebälgen zur Bedienung dieses Eisenschmelzofens
verwendet wird. Es sind ebensoviel Leute wie Blase-
bälge vorhanden. In der Unterschrift zu einer Abbildung
(115) bemerkt Rehse, daß die Blasebälge „unter tanz-
artigen Bewegungen“ bedient würden. Im Text findet
sich darüber nichts Näheres.
Zu den gesetzlich anerkannten Gründen für die Ehe-
scheidung gehört u. a. Irrsinn, der in Kisiba sehr häufig
vorkommt. Kindermord ist unbekannt. Nur der neu-
geborenen Krüppel entledigt man sich, indem man sie
am jenseitigen Ufer des Kagera, d. h. außerhalb des
Landes, aussetzt. Aber die Eltern behaupten, das wäre
ihnen sehr schmerzlich, und sie täten es nur dem Kinde
zuliebe, das sonst ein elendes Leben führen würde.
Zwillinge müssen stets ganz gleich behandelt werden.
So darf ein Zwilling nicht allein geschlagen werden, der
andere muß zugleich sein Teil bekommen. Ist dieser zu-
fällig nicht anwesend, so schlägt man symbolisch die
Erde. Pubertätsfeiern sind nicht bekannt, ebenso-
wenig Geheimbünde. Wie schon aus dem oben Erwähnten
hervorgeht, nehmen der Scharfrichter und seine Familie
eine verachtete Stellung ein. Die Todesstrafe wird ge-
wöhnlich durch einen Genickschlag mit dem Beilmesser
vollstreckt; verschärfte Todesstrafen gibt es nicht. Der
König hat das Begnadigungsrecht und übt es z. B. aus
Anlaß besonderer Ereignisse, wie Geburten oder Hoch-
zeiten, aus. Er verleiht ferner eine Art Orden, nämlich
sein Königsgewand (ein verziertes Ochsenfell) und einen
mit schwarzen Mustern bemalten Rindenstoff.
Es besteht ein Priestertum, das den Verkehr zwischen
Menschen und Geistern zu vermitteln hat. Nur die
Geister haben Priester, die Gottheit nicht; ihr wird auch
nicht geopfert. Man denkt sich den Priester als von
dem Geist, dem er dient, „ergriffen“ = besessen.
Die Seele des Königs wird ein regierender Geist, die
Seele des Untertanen ein dienender, also ein Diener
der regierenden Geister. Alle Geister können aus dem
Jenseits zurückkehren und in den Kopf eines Lebenden
fahren. Ein „regierender“ Geist „erleuchtet“ den Menschen,
in den er fährt, und dieser wird dadurch zum Priester
gemacht. Der Priester gibt vor, seinen Geist im Halb-
traum zu sehen, nimmt Opfer für ihn entgegen und ver-
braucht sie für sich selber. Die Leiche eines Priesters
wird in Rindenstoffe gewickelt und auf einem Balken
sitzend in den Wald getragen. Hier setzt man die Leiche
auf einen Stuhl, bekleidet sie mit Rindenstoff oder einem
Leopardenfell, steckt ihr eine Tabakspfeife in den Mund
und stellt ihr einen Flaschenkürbis nebst Saugrohr zur
Seite. Man meint, daß dann die wilden Tiere die Leiche
nicht angreifen. Die Leichen anderer Menschen, auch des
Königs, werden dagegen begraben.
Der Kuß zwischen Erwachsenen ist nicht bekannt, die
Mutter küßt jedoch ihr kleines Kind. Die Töchter des
Königs dürfen sich bei Lebzeiten ihres Vaters nicht ver-
heiraten, damit der König nicht in Versuchung kommt,
seine Schwiegersöhne zu bevorzugen.
Es gibt ein höchstes Wesen, Rubaga, d. i. Gnaden-
spender, genannt, der als Schöpfer des Menschen und
des Rindes gilt. Opfer werden ihm nicht gebracht. Der
Mensch steht, solange er lebt, in Rubagas Gewalt, seine
Seele kehrt aber nach dem Tode nicht zu ihm zurück,
sondern geht zu dem Geist der Seelen, zu Wamara.
Was Rehse über die „Geister“ mitteilt (vgl. auch oben),
ist ziemlich verworren und widerspruchsvoll; es liegt das
wohl zum Teil an seinen Gewährsmännern. Es ist von einem
Erdgeist, einem Sonnengeist, einem Seegeist und anderen
die Rede. Naturerscheinungen werden ihrem Wirken
zugeschrieben. So denkt man sich das Gewitter als eine
Anzahl kleiner roter Vögel, die in irgend einem Felsen im
Nyansa hausen, und die der Gewittergott, der Sohn des
Seegeistes, über das Land schickt, wenn es ihm paßt.
Der Donner entsteht durch das Rauschen der Flügel
jener Vögel, der Blitz durch die im Sonnenlicht glänzende
rote Farbe des Gefieders. Übrigens hat der Seegeist
nur ein Bein.
Unter den ärztlichen Instrumenten ist auch aus
Kisiba der Schröpfkopf zu erwähnen; er kommt von allen
Instrumenten am meisten zur Verwendung. Das Instrument
besteht aus der etwa 15cm langen Spitze eines Kuh-
oder Ziegenhornes, das nahe an der Spitze mit einer
kleinen Seitenöffnung versehen ist. Man ritzt mit einem
scharfen Rohrhalm, manchmal auch mit einem Messer,
die Haut an der zu schröpfenden Stelle, setzt das Horn
darauf und saugt es mit Hilfe der oberen Öffnung luft-
leer. Dann verklebt man das Loch mit Darm- oder
Hautteilen, heute meist schon mit Papier, öffnet es nach
einer Weile und nimmt das Horn ab.
Die Zeitrechnung ist sehr ungenau. Man zählt nach
Monaten oder Tagen. Wieviel Tage der Monat hat, ist
unbekannt; man teilt ihn nach Mondphasen ein. Die
astronomischen Kenntnisse sind auchrecht mangelhaft, man
kennt nicht einmal den Großen Bären. Kometen ge-
sehen zu haben, wollen sich die ältesten Leute nicht
erinnern. Von Sonne und Mond heißt es, daß der
Sonnengott Kasoba jeden Tag ein neues Exemplar im
Osten aufsteigen lasse, das dann im Westen verschwinde.
Aus dem Erscheinen großer heller Sternschnuppen folgert
man eine der Erde vom Sterngeiste Hangi drohende Gefahr.
Auf Sonnen- und Mondfinsternisse will man merkwürdiger-
weise nie aufmerksam geworden sein. Bezüglich des
Rechnens der Wasiba sei bemerkt, daß die Multiplikation
durch Addition und die Division durch Substraktion ersetzt
wird. Folgendes Beispiel für diese Division führt Rehse
an: Der König gibt drei Leuten eine Rinderherde von
65 Stück mit der Bestimmung, sie untereinander gleich-
mäßig zu verteilen. Dann würde sich zunächst jeder so
lange immer ein Rind fortnehmen, als die Herde es ge-
stattet. Schließlich würden noch zwei Rinder übrig
bleiben. Zwei Rinder haben acht Beine, jeder würde
also noch zwei Beine bekommen. Dann wären noch zwei
Beine übrig, von denen der erste und zweite je eines
erhält. Der dritte würde von dem ersten Kalb, das
von den so verteilten zwei Kühen geboren würde,
ein Bein zuerst für sich erhalten, und von den drei
anderen Beinen des Kalbes gehörte jedem der drei
Männer eines. Die Rinderherde wäre also wie folgt
verteilt:
Der erste: 21 Rinder, 3 Beine, Aussicht auf 1 Bein.
Der zweite: 21 Rinder, 3 Beine, Aussicht auf 1 Bein.
Der dritte: 21 Rinder, 2 Beine, Aussicht auf 2 Beine.
Der Panamakanal. 79
Die Rinder, deren Beine man so verteilt hat, dürfen
aber nicht geschlachtet werden, sondern bleiben so lange
gemeinschaftliches Besitztum, bis sie zusammen mit den
von ihnen geborenen Kälbern sich durch 3 teilen lassen.
Kälber und erwachsene Rinder zählen gleich. Es wird
nur nach der Anzahl der Beine gerechnet.
Der Panamakanal.
Bekanntlich sind nach dem gegenwärtigen und end-
gültigen Plan bei der Ausführung des Panamakanals vor
allem drei großartige Werke zu vollenden: erstens die
Durchstechung der 8km langen und 102 m hohen Wasser-
scheide von Culebra bis auf ein Niveau von 26m ü.d.M,,
zweitens die Aufstauung der Flüsse Chagres und Grande
zu Binnenseen im Norden und Süden, und drittens die
Herstellung von Schleusenwerken von Gatun bis zur
Limonbai und von Pedro Miguel bis zum Stillen Ozean.
Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika hat
1902 den Kanalbau von den verkrachten französischen
Kompagnien übernommen und seit 1905 die Arbeiten
mit eiserner Energie und unter Anwendung aller Hilfs-
mittel und Erfindungen, welche die modernste Technik
bietet, begonnen. Der Kostenpunkt, an dem die früheren
Untersuchungen hauptsächlich gescheitert waren, spielt
jetzt absolut keine Rolle. War Lesseps’ Kostenvoranschlag
von 1875 674 Mill. Mark und steigerte er sich 10 Jahre
später bis zu 960 Mill. Mark, und hatten die Amerikaner
1905 nur 559 Mill. Mark berechnet, so hat man gegen-
wärtig vor den wahrscheinlich sich ergebenden Gesamt-
kosten von über 1500 Mill. Mark nicht die geringste Scheu,
obwohl in dieser Summe noch nicht der Betrag von
160 Mill. Mark für die in Aussicht genommene Befestigung
des Hafens von Colon einbegriffen ist.
Die Leitung des Kanalbaues ist dem Obersten Goet-
hals übertragen, unter dem die Oberstleutnants Hodges
und Sibert stehen; sämtlich Offiziere vom Ingenieur-
korps der Vereinigten Staaten.
Wie weit das Werk gegenwärtig gediehen und in
welcher Weise es durchgeführt wird, darüber gibt ein
Korrespondent des Londoner „Standard“ in den Nummern
vom 21. Mai und 2. Juni d. J. ausführlichen und an-
schaulichen Bericht.
Die Durchstechung des Höhenrückens von Culebra
stellt sich jetzt als ein keilförmiger, 100m tiefer Ein-
schnitt dar, oben in der Breite von 1600 m. Maschinen
mit 300 bis 400 Bohrern lockern das Erdreich; 75 bis
100 Dampfschaufeln heben es aus und laden es in bereit-
stehende Karren. Jede dieser Maschinen fördert täglich
1300 bis 1400cbm und wird nur von 2 oder 3
Mann bedient. Die Karren, je 18 von einer Lokomotive
gezogen und in einem Abstand von ein paar hundert
Metern, laufen in sechs Etagen übereinander längs der
beiden Böschungen hin. Das so verfrachtete Erdreich
wird entweder nach Panama zur Herstellung eines Wellen-
brechers oder nach Gatun zum Bau des Dammes geschafft.
Ist der Durchstich zu Ende geführt, so wird der
Fluß Chagres in die tiefer liegende Ebene von Pedro
Miguel bis Gatun geleitet, um als „Gatun Lake“ das
bisher trockene und angebaute Land in einem Umfang
von 424 qkm zu überschwemmen, wobei der Kanal selbst
300 m Breite und eine Wasserhöhe von über 12 m haben
wird. Man erwartet, daß innerhalb von zwei Jahren
dieser 48km lange Binnensee sich anstaut. Um die An-
stauung zu bewirken, arbeitet man jetzt an dem Damm
von Gatun, der 3km lang, 45m hoch, und 800m breit
werden soll, wozu man eine Erdmasse von 2!/, Mill. cbm
braucht. Um ihn undurchlässig gegen das heran-
strömende Wasser zu machen, gibt man ihm die außer-
ordentliche Breite und eine sehr mäßig ansteigende
Böschung. Da aber auch für etwa überschüssiges Wasser
Vorsorge getragen werden muß, erhält der Damm ein
kleines Schleusenwerk („Spillway“), und dieses wird dann
die elektrische Kraft für die Anlagen längs des ganzen
Kanals liefern.
Wie der Chagres im Norden zur Bildung des einen,
so wird der Rio Grande im Süden zur Bildung des
zweiten Binnensees verwendet; der beim Josahügel (in
der Nähe von Panama) zu errichtende Damm hat die
Wasser des Rio Grande aufzustauen. Da das für die
Dammbildung bestimmte Land gegenwärtig von Farmern
bewohnt ist, so sollen diese eine Entschädigung im Be-
trage von 2 Mill. Mark erhalten.
Um das Funktionieren der Schleusenwerke für alle
nur denkbaren. Fälle sicherzustellen, hat man ein
Modell derselben und ein Modell des größten Ozean-
dampfers, des „Olympic“ (der in Belfast gebaut wird),
angefertigt und mit diesem alle nur möglichen Proben
angestellt. Durch ein sinnreiches System von Leitungs-
röhren innerhalb der Schleusen gedenkt man es fertig
zu bringen, daß die Wassermasse nur ganz allmählich
steigt; auch hat man die Schleusentore derart konstruiert,
daß sie den etwaigen Anprall selbst des größten Dampfers
unschädlich machen. Die Schleusen sind 33m breit
und 304m lang und haben eine Wassertiefe von 121/4 m.
Zwischen Colon und Panama werden sechs Paar neben-
einderlaufende Schleusen gebaut, so daß zu gleicher Zeit
Schiffe von Nord nach Süd und umgekehrt befördert
werden können. Außerdem besteht jede Schleuse aus
einer größeren und einer kleineren Abteilung für den
gleichzeitigen Transport von Schiffen mächtigeren und
geringeren Umfanges. Vierzig Dampfer werden einst
die 80km lange Strecke des Kanals täglich in zehn
Stunden zurücklegen. Gegenwärtig sind die Aus-
grabungen der Schleusen vollendet, und mit dem 21m
hohen Mauerwerk ist man ebenfalls nahezu fertig ge-
worden. Mit dem Bau des 3000 m langen Wellenbrechers
in der Limonbai sollte im Juli d. J. begonnen werden.
Am Kanalbau sind 44000 Arbeiter beschäftigt, eine
bunte Menge von Engländern und Amerikanern, von
Italienern und Spaniern, von Chinesen und Japanern.
Zur Aufrechthaltung der Ordnung dienen 500 Marine-
soldaten und 245 Polizisten. Sie haben wenig zu tun; denn
die Verwaltung sorgt ausgezeichnet für die Verpflegung
der Arbeiter und für ihr Unterkommen in Blockhäusern,
deren Fenster mit feinmaschigen Netzen von Kupfer-
draht überzogen sind zum Schutz gegen die Moskitos, die
Verbreiter der Malaria. Der Gesundheitszustand ist deshalb
weitaus besser als zur Zeit Lesseps’. Für die Beamten und
höheren Angestellten, meist Amerikaner, die mit Frauen
und Kindern 7929 Personen zählen, gibt es nicht nur
hygienisch und bequem eingerichtete Wohnungen, sondern
auch Gasthöfe, Klubhäuser und Sportplätze. Um sich
bei Kräften und in voller Gesundheit zu erhalten, sind
sie auf das strengste verpflichtet, jedes Jahr auf sechs
Wochen nach Jamaika oder nach den Vereinigten Staaten
in Urlaub zu gehen. Nie dürfen sie ein Jahr über-
springen, um etwa im folgenden drei Monate Erholung
sich zu verschaffen. — Für die Vollendung des Kanals
wurde seinerzeit im Kongreß das Jahr 1915 fest-
gesetzt. Oberst Goethals aber setzt alles daran und
hegt die sichere Erwartung, daß schon im Jahre 1913
das Werk zu Ende geführt sein wird. B. F.
80 Vermessung der australischen Überlandbahn Port Augusta— Fremantle. — Bücherschau.
Vermessung der australischen Überlandbahn Port
Augusta—Fremantle.
Die schon seit einer Reihe von Jahren projektierten Über-
landbahnen, die den australischen Kontinent von Nord nach
Süd und von Ost nach West durchqueren sollen, dürften nun-
mehr in nicht zu ferner Zeit zur Ausführung gelangen. Die
Entscheidung über den Bau der Nordsüdbahn Port Darwin—
Port Augusta wird demnächst getroffen werden, gleichzeitig
soll die gr der Übernahme des sogenannten Nordterrito-
riums von Südaustralien durch den Bund ihre endgültige
Lösung finden. Nach dem ursprünglichen Entwurfe wird die
Linie dem Laufe des Überlandtelegraphen folgen, und in
diesem Falle würde die Länge der noch zu erbauenden Teil-
strecke Oodnadatta—Pine Creek 1063 engl. Meilen oder 1710 km
betragen; es ist aber nicht unmöglich, daß man es noch in letzter
Stunde vorzieht, eine weiter östlich verlaufende, durch leichter
zu erschließende Gebiete führende Trasse zu wählen ').
Auch der Plan der ostwestlichen Querbahn, die gleich-
falls von Port Augusta ausgehen und bei Coolgardie das west-
australische Bahnnetz erreichen soll, ist in der letzten Zeit
wesentlich gefördert worden. In den beiden letzten Jahren
ist eine Vermessung dieser Linie ausgeführt worden, über
deren Ergebnisse soeben ein eingehender Bericht erschienen
ist). Die Vorarbeiten wurden unter der Leitung der Ver-
waltung der süd- und der westaustralischen Staatsbahnen
vorgenommen. Auf westaustralischem Gebiet liegen 730 km,
auf südaustralischem Boden 980 km der Linie; ihre Gesamt-
länge ist also zufälligerweise ebenso groß wie das fehlende
Glied der Nordsüdbahn. In Westaustralien bot das Gelände
im allgemeinen keine Schwierigkeiten, so daß hier werktäglich
rund 10 km bearbeitet werden konnten. Zur Beförderung
der Geräte und des Gepäcks dienten 91 Kamele. Wesentlich
1) United Empire (Monthly Journal of the Royal Colonial In-
stitute) 1910, Nr.1 u. 2.
*) Zeitung des Vereins deutscher Eisenbahnverwaltungen 1910,
Nr. 34.
niedriger, auf nur 5km pro Tag, stellten sich die Fortschritte
auf der südaustralischen Seite, wo, abgesehen von der Gelände-
beschaffenheit, besonders die Wasserversorgung große Mühe
machte.
Die maßgebende Steigung der Linie beträgt 1:80 und
kommt auf einer Gesamtlänge von 7km vor, der kleinste
Krümmungsradius ist 360 m. Die Nivellements trafen bei
einer Entfernung von 2300 km von Meeresspiegel zu Meeres-
spiegel mit einem Fehler von 85 cm zusammen. Die Kosten
des Bahnbaues werden auf 3 988 000 Pfd. Sterl. geschätzt, wo-
von nur 5000 Pfd. Sterl. auf Grunderwerb, aber 609 000 Pfd. Sterl.
auf die Wasserbeschaffung entfallen. Der Verkehr soll zu-
nächst durch einen Personenzug und zwei Güterzüge in jeder
Richtung bedient werden. Die Wahl der Spurweite für die
neue Bahn war bei der in Australien herrschenden Spurweiten-
verwirrung nicht leicht. Während die Linien von Westaustralien
und Queensland mit der sogenannten Kapspur von 1,067 m
gebaut sind, die von Neusüdwales mit der europäischen Nor-
malspur von 1,435m, haben die Bahnen von Victoria und
Südaustralien teils die Breitspur von 1,60 m, teils Schmalspur-
weiten von 1,067 und 0,76 m. Da man nun für die Überland-
bahn die Normalspur gewählt hat, wird der Reisende, der
von Perth nach Queensland gelangen will, nicht weniger als
fünfmal umzusteigen haben. Aufgewogen wird dieser Nach-
teil aber vor allem durch die höheren Zuggeschwindigkeiten,
die im Vergleich mit einer schmalspurigen Ausführung er-
zielt werden können, was bei der Aufgabe der Bahn, die
Fahrzeit gegenüber dem Seewege herabzusetzen, besonders
ins Gewicht fällt.
Der Bau der Überlandbahn wird neuerdings auch aus
strategischen Gründen u. a. von Lord Kitchener stark befür-
wortet. Die Verkürzung der Reisedauer zwischen Europa
und den Großstädten an der Süd- und Ostküste Australiens
wird 2 bis 3 Tage betragen. Außerdem wird die Linie aus-
gedehnte Flächen erschließen, die sich als Weideland nutzbar
machen lassen, ferner auch Landstriche mit reichen minera-
lischen Schätzen, wie z. B. das aufblühende Bergwerksgebiet
von Tarcoola in Südaustralien. J.
Bücherschau.
Flemmings Namentreue (idiomatographische) Län-
derkarten. Herausgegeben von A. Bludau und Otto
Herkt. Blatt 1 bis 3. Berlin und Glogau, Carl Flem-
ming, o. J. Je 3,50 %.
Von diesen Karten sind bisher Rußland, Frankreich und
Italien erschienen, die letzten beiden, in 1:1500000, im
Juni d. J. Als besonders wichtig und neu wird an diesen
Karten die Eigenschaft der Namentreue hervorgehoben, d. b.
es handelte sich bei ihnen „um die konsequente Durchfüh-
rung der Aufgabe, jedes geographische Objekt der Karte, das
einen Namen trägt, der in der Karte verzeichnet werden soll,
mit dem Namen zu versehen, den es an Ort und Stelle trägt,
und nicht mit demjenigen , der ihm in entstellter oder über-
setzter Form in Lehrbüchern beigelegt ist und der sich in-
folgedessen auch auf Karten unberechtigterweise dann ein-
gebürgert hat“. Für die Karten der Länder, die eine be-
sondere Schrift besitzen, ist eine besondere Transkription
angewendet worden. Man kann sie auf der Karte von Ruß-
land ‚sehen.
Außerlich repräsentieren sich die lithographierten Karten
in sehr gefälligem Gewande in vielen Farben ; alles ist sauber
und deutlich, und was überhaupt aufgenommen ist, das ist
auch gut zu erkennen. Aufgenommen worden aber ist viel,
sehr viel, ohne daß der Eindruck der Überladenheit entstanden
ist. Die Bahnen sind rot eingetragen, solche mit Schnellzugs-
verkehr in breiteren Linien. Auch das Kunststraßennetz (in
braunen Doppellinien) hat Aufnahme gefunden, so wird in
der Ankündigung gesagt. Man sieht, wo Garnisonen liegen,
wo Bischofsitze sind, wo deutsche und Österreich -ungarische
Konsulate sich befinden, wo Flußschiffahrt beginnt und noch
viele andere Dinge. Aber so manches auf den Karten scheint
doch noch nicht im Lot zu sein, und die Bearbeiter werden
für künftige Auflagen noch tüchtig revidieren müssen. Wir
haben uns das nördliche Stück des Blattes Italien etwas ge-
nauer angesehen und bemerken unter anderem folgendes:
Die Montreux—Berner Oberland-Bahn fehlt. Ebenso — und
das ist eigentlich schon sehr bedenklich — die seit mindestens
vier Jahren fertige Vintsghgaubahn (Mals—Meran). Ferner
die Berninabahn und die Bahn ins Val Camonica. Die Sim-
plonbahn ist so gezeichnet, als gehe sie nicht etwa, wie es
in der Tat der Fall, geradesweges von Iselle nach Brig durch
einen Tunnel, sondern als folge sie der großen südwestlichen
Ausbiegung der Simplonstraße und führe über den Simplon.
Es fehlt ja nicht der große Tunnel der benachbarten Gott-
hardbahn, beim Simplon aber der Schnitzer! Das Kunst-
straßennetz ist doch wohl nicht so vollständig eingetragen,
als es die Ankündigung verheißt. Das ist ja auch bei Karten
dieses Maßstabes nicht zu verlangen; wo solche Straßen aber
gezeichnet sind, da müssen sie auch stimmen. Da ist z. B.
die große Dolomitenstraße erst bis Buchenstein (Pieve) ge-
zeichnet, während sie bis Falzarego schon lange fertig war
und im vorigen Sommer auch ihr Endziel Cortina erreicht
hat. Da zweigt sich ferner auf dieser Karte kurz östlich
von Campitello (etwa bei Canazei) eine Kunststraße zur
Marmolata ab; die gibt es in Wirklichkeit nicht. Wahr-
scheinlich gibt es in Wirklichkeit auch nicht die schöne
Chaussee, die die Karte von Zermatt über die italienische
Grenze nach Breuil zeichnet. Beschwören können wir ihre
Nichtexistenz zwar nicht; daß aber urplötzlich, ohne daß
man etwas davon gehört hätte, eine Kunststraße, die doch
das Stilfser Joch in den Schatten stellen würde, durch die
gewaltigen Gletscher des Matterhorngebietes über den über
3300 m (!) hohen Theodulpaß gebaut worden sei, will uns
nicht recht plausibel erscheinen. H. Singer.
Eugene Aubin, En Haiti. Planteurs d’autrefois, nègers
d’aujourd’hui. XXXV u. 345 8. mit 64 Abbildungen und
2 Karten. Paris 1910, Armand Colin. 5 Fr.
Der weitgereiste Verfasser, dessen frühere Berichte über
Marokko und Persien wohlverdiente Beachtung gefunden
haben, hat sich in den Jahren 1904 bis 1906 in Port-au-Prince
aufgehalten, mehrere Reisen durch Haiti gemacht und dar-
über in Briefen an das „Journal des Débats“ berichtet. Bie
sind in dem vorliegenden Bande vereinigt. Allerdings sind
nicht alle Reisen des Verfassers, deren Routen auf einer der
Karten angegeben sind, behandelt, sondern nur die in der
Umgebung der Hauptstadt und zum Etang Saumätre (diese
am ausführlichsten), ein Besuch von St. Marc und den Oahos
und ein Zug von Gonaives nach Cap Haitien. Bas Buch,
dessen Verfasser sowohl aus der Fülle seiner eigenen Beob-
achtungen wie aus der ihm wohlbekannten Literatur schöpfen
konnte, liefert einen schätzenswerten Beitrag zur Kenntnis
der Republik und ihrer Bewohner, wobei auch viel auf die
geschichtlichen Ereignisse eingegangen wird. Der Wodukult
wird im zweiten Kapitel im Zusammenhange besprochen.
Die ursprüngliche Negerbevölkerung setzte sich aus den ver-
Bücherschau. 81
schiedensten Elementen Westafrikas zusammen; aber infolge
der allmählichen Durchmischung dieser Elemente, des Klimas,
der Einführung des Christentums und der Berührung mit
den Weißen bildete sich ein einheitlicher, neuer und „ge-
milderter“ Negertyp heraus. Erwähnt mag werden, dal es
in Haiti heute etwa 3000 Syrer gibt, von denen zwei Drittel
in der Hauptstadt wohnen. 8. XXI finden wir eine Notiz
über das deutsche Element: „Die ersten Deutschen waren
1764 in die Kolonie gekommen; Reste einer verunglückten
Kolonisation in Cayenne, wurden sie in Bombardopolis bei
Möle Saint-Nicolas untergebracht, und hier wurden sie durch
Kaffeekultur wohlhabend; zur Zeit der Revolution waren es
etwa 1000. Das unabhängig gewordene Haiti unterschied sie
von den französischen Weißen, gab ihnen das Bürgerrecht
und die Familiennamen von Schwarzen. Sie bemühten sich
übrigens, das zu verdienen und verschwanden unter den Negern.
Ein neuer Zustrom von Deutschen, aus den Hansestädten,
kam um 1860. Mehrere traten als Angestellte in die Dienste
französischer Geschäftsleute, heirateten deren Töchter und
wurden ihre Nachfolger. Seitdem fand ein beständiges Ein-
strömen statt, und der deutsche Handel spielt heute in den
haitischen Häfen, besonders in Port-au-Prince, eine ansehn-
liche Rolle.“
Dem Buche sind zahlreiche kleine Lichtdrucke beigegeben ;
von den Karten ist die eine ein ganz gutes Übersichtsblatt
mit den Routen des Verfassers, die zweite stellt in 1: 250000
die Gegenden im Osten und Süden von Port-au-Prince dar.
Auguste Pawlowski, Les ports de Paris. X und 150 8.
mit 27 Abbildungen. Paris 1910, Berger-Levrault et Cie.
Paris ist nach Wert und Menge der Güter der größte
Hafen Frankreichs; dank einem weitverzweigten Kanal-
system, das die Seine mit den übrigen Stromsystemen des
Landes verbindet, das Zentrum von dessen Binnenschiffahrt.
Im eigentlichen Sinne aber hat Paris nicht einen Hafen,
sondern eine ganze Anzahl, vor und innerhalb der Stadt, und
sie betrachtet der Verfasser des vorliegenden kleinen Werkes
in historischer, technischer und Verkehrs- und Handels-
beziehung unter Heranziehung eines umfangreichen statisti-
schen Materials. Handelswelt und Schiffahrt aber haben
natürlich mit Bezug auf die Hafenanlagen noch mancherlei
Wünsche und Vorschläge, und auch auf diese wird ein-
gegangen. Die Abbildungen stellen Hafenanlagen, Kanäle,
Flußteile dar. Vielleicht wäre die Beifügung einiger Pläne
und Kartenskizzen von Vorteil gewesen.
F. Solger, Studien über nordostdeutsche Inland-
dünen. (Forschungen zur deutschen Landes- und Volks-
kunde, Bd. 19, Heft 1.) 89 8. mit 4 Taf. und 11 Text-
abbild. Stuttgart 1910, J. Engelhorn. 5,60 .#.
Solger liefert als Einleitung einen kurz gefaßten Abriß
über die Stranddünen. Ihre Entstehung wurzelt in dem
Küstenwall, von dem man aprioristisch anzunehmen hat, daß
er von Vegetation entblößt wurde. Alsdann setzt er sich in
Bewegung, wobei er von dem Bestreben geleitet wird, die
Form eines Bogens anzunehmen. Entweder eilen die Flanken
einem trägeren Mittelstück voraus, wodurch die Sichel-
düne entsteht, oder die Flanken werden durch Vegetation
festgelegt, die Mitte wandert und läuft sich tot: Parabel-
düne. Ist die Küstendüne ein fremdes Element in dem Ge-
biete, in dem sie getroffen wird, so ist die Wüstendüne hei-
misch in den Gegenden, in denen sie auftritt. An der Hand
der Forschungen Hedins im Tarimbecken wird für die
Wüstendüne als charakteristisch die Walldüne angesehen,
die im großen Maßstabe die Erscheinung der Wellenfurchen
wiederholt.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen wendet sich Solger
speziell den norddeutschen Inlanddünen zu, dabei aber viel-
fach auf andere Teile Norddeutschlands übergreifend. Mit
Hilfe eines reichen Beobachtungsschatzes werden zwei Gruppen
unterschieden: Bögen, deren äußere Krümmung nach Osten
gerichtet ist, und langgestreckte Wälle, Strichdünen, mit einer
Orientierung O—W oder OSO—WNW. Beide Gebilde sind
tote Formen und setzen für ihre Entstehung ein anderes Klima
als das gegenwärtige voraus. Es muß trocken gewesen sein und
im Gebiet vorherrschender Ostwinde gelegen haben, die eine
Folge einer Antizyklone waren, die sich über dem nordischen
Inlandeise entwickelt hatte. Die nach dem Rückzug des
Eises einsetzenden Westwinde vermochten den Grundriß dieser
Dünenformen nicht umzugestalten, sondern nur geringe Va-
riastionen herbeizuführen. Hans Spethmann.
Wilhelm Grube, Religion und Kultus der Chinesen.
VII u. 220 8. Leipzig 1910, Rudolf Haupt. 3 f
Grubes Schilderung der chinesischen Religion und ihres
Kultus ist die einzige für weitere Kreise bestimmte Dar-
stellung, die dieses schwierige Gebiet wissenschaftlich mit
vollendeter Meisterschaft behandelt und die uns äußerst
fremdartigen Gedanken und Institutionen unserem Ver-
ständnis wirklich erschließt. Es ist ein aus dem Nachlaß
Grubes herausgegebenes Werk, das den Verlust dieses aus-
gezeichneten Mannes, der seiner Wissenschaft allzu früh ent-
rissen ist, schmerzlich fühlbar macht. Denn die Notwendig-
keit, die ostasiatische Kulturwelt zu erschließen, ist für die
Wissenschaft wie für das praktische Leben gleich dringend.
Und dafür hatte Grube alle Fähigkeiten in hohem Maße:
intime, auf reicher Anschauung beruhende Kenntnis des
chinesischen Wesens, ausgedehnte Quellenkenntnis und eine
seltene Gabe lichtvoller Darstellung, die auch die schwieri-
gen Probleme der chinesischen Geistesgeschichte wie der
Sprache und des Denkens einfach zu gestalten und klar zu
machen weiß. Grubes Buch ist nicht nur gegenüber den
vielen schlechten Büchern, die über China produziert werden,
eine Wohltat, es nimmt auch im Kreise der sinologischen
Literatur eine beachtenswerte Stellung ein. Denn wir haben
hier wenig, worauf man weitere Kreise mit gutem Gewissen
verweisen könnte. Oonradys schöne Vorträge „Chinas
Kultur und Literatur“ (Leipzig 1909) betonen die Literatur,
die Religion wird in ihnen wesentlich als eine im Kultur-
leben Chinas mitwirkende Macht erfaßt. An erster Stelle
ist gewiß J. J. M. de Groots „The Religious System of
China“ als Standardwerk zu nennen. Es ist ein gewaltiges
Werk, von den sieben „Büchern“, auf die es angelegt, sind
erst zwei in fünf starken Quartbänden erschienen. Das ist
eine Masse, die in unserer Zeit bei dem Andrängen stets
neuer Stoffe schwer zu bewältigen ist. Andererseits ist die
Darstellung des chinesischen Religionswesens, die de Groot
in Chantepie de la Saussayes „Lehrbuch der Religions-
geschichte“ (3. Aufl., Tübingen 1905, Bd. 1) gegeben hat,
keineswegs leicht geschrieben. Sie enthält vieles nicht, was
unentbehrlich ist und doch nicht überall als bekannt und
verstanden vorausgesetzt werden darf. Knapp, aber sehr ge-
haltvoll ist die Skizze von de Groot in der „Kultur der
Gegenwart“ (Leipzig 1906, Teil I, Abt. III, 1), aber, wie viele
Teile dieses glänzenden Sammelwerkes, nicht gerade als Ein-
führung für solche, die den Dingen fernstehen, zu brauchen.
Gerade darin liegt der Wert von Grubes Buch: es ergänzt
die bisherigen guten Werke durch eine elementarere Gestal-
tung, es baut das Verständnis des chinesischen Religions-
wesens von Grund aus auf, indem es die einzelnen Baustücke,
wie sie vom chinesischen Denken und der Kultur Chinas ge-
bildet sind, kennen lehrt. Vor allem ist die Klarlegung der
Begriffe, die das Chinesische anstatt unseres Religionsbegriffes
braucht, von entscheidender Bedeutung für das Verständnis
des gesamten chinesischen Religionswesens. Auch das ist
ein wichtiger Schritt zum richtigen Verständnis, daß die
Darstellung nicht von den klassischen Schriften ausgeht, son-
dern von den volkstümlichen kultischen Bräuchen. In ihnen
haben wir das wirkliche Leben, nicht die systematische
„Lehre“. Von hier aus erst ist das Werk des Konfuzius
historisch richtig zu erfassen. Zweifellos gehört Konfuzius
nicht zu den Religionsstiftern, so tief auch seine Wirku
auf das Chinesentum ist. Der Konfuzianismus ist „Lehre
etwa im Sinne eines philosophisch-politischen Systems. Kon-
fuzius hat gewirkt, einmal weil er der typische Exponent
aller tüchtigen chinesischen Wesenszüge ist und damit seinem
Volke faßbar war, sodann weil er die primitiven Elemente
des Volksglaubens schonend behandelte und sie durch ihre
Verbindung mit seiner Pflichten- und Staatslehre ethisch er-
höhte. Grube hat hier in weiterem Zusammenhange dar-
gestellt, was sein schöner Aufsatz „Der Konfuzianismus und
das Chinesentum“ („Deutsche Rundschau“ 1900) begonnen
hatte. — Weit größere Schwierigkeiten als der nüchterne,
klare Konfuzius machte der ungleich tiefere Denker, der
Mystiker Lao-tse. Auch er ist kein Religionsstifter, sondern
Philosoph von hohem, prophetischem Geist, unfraglich die
interessanteste Geistesgröße Chinas. Stark hervorheben muß
man den sozialistischen Zug in Lao-tse, der die Menschen
aus einer verderbten, unheilsvollen Zeit in die Paradieseszeit
und das Kinderland der Menschheit zurückführen möchte,
in ein Leben, wo die Kultur den Menschen noch nicht ver-
dorben hatte. Bei alledem ist Lao-tse ein tief religiöser,
metaphysisch denkender Geist, so daß immer wieder Ver-
suche gemacht sind, sein Denken mit der indischen Philo-
sophie in Verbindung zu setzen. Die kritische Umsicht und
das eindringende Verständnis, mit dem Grube dem Leben
und Denken dieses großen Geistes gerecht wird, ist eine
Meisterleistung. Mit der volkstümlichen Religion, die durch
den Namen „Taoismus“ an Lao-tses Lehre ankuüpft, hat
der große Philosoph freilich nichts zu tun. Hier sind Elemente
primitiven Glaubens und alchemistische Geheimlehren zu
einer Form der Volksreligion verwachsen. Dieses Empor-
82 Kleine Nachrichten.
steigen volkstümlichen Glaubens und Aberglaubens gestaltet
auch den chinesischen Buddhismus, der gegenüber der Lehre
Buddhas etwas völlig Neues ist. Eine besondere Stellung
aber gebührt dem Buddhismus als einer Kulturmacht, die
in China auf Denken, Kunst und Literatur den tiefsten Ein-
fluß geübt hat, was Grube vortrefflich schildert. Besonders
dankenswert ist der letzte Abschnitt in Grubes Buch, die
Darstellung der verwirrenden, heutigen synkretistischen Volks-
religion und eines besonderen Gebietes, des geomantischen
Systems, des mit den Totenbräuchen verknüpften Zauber-
wesens. Der Islam in China ist nicht berücksichtigt, obwohl
er recht stark ist; er hat indes auf Chinas Denken keinen
Einfluß geübt und ist auch seinerseits in seinem starren
Dogmengefüge nicht durch chinesische Züge umgebildet wor-
den. Ob er politisch und kulturell eine größere Zukunft
in China haben wird, ist eine mehrfach in entgegengesetztem
Sinne beantwortete Frage (Wassiljew, Dabry de Thiersant,
de Groot, Conrady). Eine Reihe von guten Bildern — Ori-
ginalaufnahmen der Gattin Grubes — liefern wertvolles An-
schauungsmaterial zum Kultus.
Wer China kennen zu lernen genötigt ist — durch prak-
tische oder wissenschaftliche Interessen —, kann Grubes Buch
nicht entbehren. China ist nicht ohne ein Zurückgehen in
seine ältere Geschichte verständlich. Denn das heutige China
ist in seinem innersten Wesen ein Altertumsstaat, das einzige
Gebilde, in dem ein uraltes Staatswesen und seine Grundlagen
bis heute ohne wesentliche Neubildungen Zehen
R. Stübe.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— MassenhaftesAuftretenvonKopepoden vordem
kalifornischen Meerbusen. Der Kapitän des Dampfers
„Hermine“ der Triester Österreichisch-amerikanischen Schiff-
fahrtsgesellschaft berichtet, daß er am 29. Mai d. J. während
des Tages von Kap Corrientes bis zum Kap 8. Lucas, d. h.
während der Überquerung der breiten Einfahrt in den kali-
fornischen Meerbusen, durch eine förmliche schwimmende Bank
lebender Krebse, Kopepoden, aufgehalten worden ist. Die
Meeresoberfläche war mit einer Schicht dieser Tiere so dicht
bedeckt, daß durch sie die Schraube in ihren Bewegungen
gehindert war und der Dampfer infolgedessen längere Zeit
aufgehalten wurde. — An diese Krebsart schließen sich die
Jugendformen des amerikanischen Hummers an, der eben-
falls in unglaublichen Mengen an den kalifornischen Küsten
erscheint.
— Die polaren Eisverhältnisse im Sommer 1909.
Das dänische meteorologische Institut hat seinen Bericht über
die polaren Eisverhältnisse des Sommers 1909 veröffentlicht;
er beruht auf sämtlichem dem Institut zugänglich gewordenen
Material von originalen oder gedruckten Beobachtungen. Das
Gesamtresultat läßt sich wie folgt zusammenfassen: Ungünstig
für die Schiffahrt waren die Eisverhältnisse im Barentsmeer
um Spitzbergen, während im Grönlandmeer und in der Däne-
markstraße die Eisgrenze viel weiter westlich als gewöhnlich
lag. Die isländischen Küsten waren fast ganz frei von Eis,
viel Eis aber wurde vor Neufundland und auf den trans-
atlantischen Dampferwegen gesehen. Recht günstig waren die
Verhältnisse im Südosten von Grönland und im Archipel im
Norden von Amerika. In der Beringstraße waren sie etwa
normal und im Beaufortmeer, besonders gegen die Mitte des
Sommers, ziemlich günstig. Es wird in dem Bericht vermutet,
daß in diesem Sommer (1910) die Eismassen längs der Süd-
ostküste Grönlands ziemlich gering sein und daß sich für die
Südwestküste ebenfalls günstige Bedingungen ergeben werden.
— DieQuellenund Ursachender japanischen Aus-
wanderung erörtert Yosaburo Yoshida in den „Annals
of the American Academy of Political and Social Science“
(Band 34, 8. 377 bis 387). Als Hauptbeweggründe für die
Auswanderung erscheinen die Bevölkerungszunahme, der auf
den unteren Volksschichten lastende wirtschaftliche Druck
und das Streben nach Wohlstand oder Bildung. Japan ist
eines der dichtest besiedelten Länder der Erde. In den Jahren
1872 bis 1903 hat sich seine Volksdichte von 87 auf 122 Ein-
wohner pro Quadratkilometer erhöht. Die Auswanderung er-
reicht indessen ihren Höhepunkt nicht in den am dichtesten be-
siedelten Distrikten überhaupt, sondern in jenen, die den größten
Prozentsatz kleinbäuerlicher Familien aufzuweisen haben, vor
allem in den südwestlichen Bezirken Hiroshima, Yamaguchi,
Wakayama und Fukuoka. In den Jahren 1899 bis 1903 betrug
die Zahl der japanischen Auswanderer (ausschl. der nach China
und Korea gehenden) insgesamt 84576; davon entfielen 56 687
auf die genannten vier Distrikte und den Bezirk Kumamoto.
Der Strom dieser Auswanderer richtet sich zum weitaus über-
wiegenden Teil (über 80 Proz.) nach den Vereinigten Staaten
und Hawaii. Nach den ersteren gingen im Jahre 1906 8466,
nach Hawaii 30093 Japaner. Die Mehrzahl von ihnen sind
Landwirte, die entweder selbst Land pachten oder sich als
Farmarbeiter verdingen. Einen starken Anreiz zur Auswande-
rung bilden für diese Klasse von Leuten vor allem die Er-
folge, die einzelne ihrer Landsleute in Amerika errungen
haben. Das Glück des kalifornischen „Kartoffelkönigs“ Kin-
ya Ushizima z. B., das oftmals in den Zeitungen geschildert
worden ist, hat viele seiner engeren Landsleute aus dem Di-
strikt Fukuoka angelockt. Die zweitgrößte, an Zahl aller-
dings schon weit schwächere Gruppe der Auswanderer bilden
die Studenten. Unter den 9544 im Jahre 1908 nach den fest-
ländischen Vereinigten Staaten zugelassenen Japanern befanden
sich 2252 Studenten. Die Zahl der Studierenden, die seit den
70er Jahren nach der Union gegangen sind, beläuft sich auf
viele Tausende. In früherer Zeit erhielten diese Leute bei
ihrer Rückkehr in die Heimat häufig gute Stellungen als
Beamte. Heute erfährt die Mehrzahl der japanischen Stu-
denten, die nach Amerika auswandern, bittere Enttäuschungen
und fristet schließlich als Dienstboten oder als Feldarbeiter
ihr Dasein. J.
— Im Globus, Bd. 97, Nr.15 ist ein Artikel von Dr. ing.
Felix Langenegger abgedruckt mit dem Titel „Die
Grabesmoscheen der Schi’iten im Iraq“. Der Ver-
fasser läßt darin eine Angabe vermissen, zu welcher Zeit sein
Besuch in Kerbelä, um welche Stadt es sich besonders han-
delt, stattfand. Seine Beobachtungen stammen nun aus dem
Jahre 1905 und sind heute keineswegs das Allerneueste auf
ihrem Gebiete, wie man vielleicht annehmen könnte (vgl.
Türkische Bibliothek, Bd. XI: Das Heiligtum al-Husains zu
Kerbelä. Berlin 1909. Besprochen im Globus, Bd. 97, Nr. 5).
Die ausführlicheren Angaben über die Grabesmoscheen der
Schi’iten beschränken sich auf Kerbelä, weil, wie der Verfasser
sagt, es ihm gelungen ist, sich dort verkleidet einzuschleichen,
und er so authentisch berichten kann. In weiteren Kreisen
ist nun wohl bekannt, daß ein Europäer sich nicht zu ver-
kleiden braucht, um nach Kerbelä hineinzugelangen. Es
scheint aber aus dem letzten Absatze auf 8. 235 hervor-
gehen zu sollen, daß es das Husainheiligtum ist — in das
allerdings ein Ungläubiger nur, wenn er nicht erkannt wird,
eindringen kann —, welches authentisch beschrieben wird.
Meine eigenen Beobachtungen über das Innere des al-
Husainheiligtumes, die ich mit zeichnerischen Aufnahmen
belegen konnte, stammen aus dem Jahre 1907 und weichen
teils von den Langeneggerschen ab, teils sind sie vielleicht
geeignet, jene zu ergänzen. In der Mitte des Raumes unter
der Kuppel steht quer zu dem von Süden her Eintretenden
eine riesige Sandüqa aus silbernem Gitterwerk nach Art der
Maschrebijen. Was sich darunter befindet, ist sowohl bei
der natürlichen Tagesbeleuchtung als auch bei der üblichen
künstlichen Beleuchtung des Kuppelraumes durch das Gitter-
werk hindurch schwer zu erkennen. Der Sarg al-Husains
selber steht in einem unterirdischen Gewölbe, welches durch
einen engen Gang so mühsam zu erreichen ist, daß man dem
Schäh Näsir ed-din bei seiner Wallfahrt abriet, es zu be-
sichtigen. An das Ostende der großen Sandüga schließt sich
eine kleinere aus ebensolchem silbernen Maschrebijenwerk
an; es soll die des 'Ali Ekber sein, eines Sohnes al-Husains,
der auch bei Kerbelä fiel. Die Wallfahrt vollzieht sich um
diese beiden Sandügen herum im Drehungsinne der arabischen
Handmühle, also von rechts nach links (T. B. XI, 8.20, steht
leider infolge Druckfehlers „von links nach rechts“). Daß
Opfergaben durch das Gitterwerk geworfen werden, habe ich
nicht beobachtet; es ist aber nicht unwahrscheinlich. Zu
meiner Zeit lag ein Geisteskranker, die Hände hoch an das
silberne Gitter gefesselt, hart an die Sandüqa gepreßt, auf
den Steinplatten des Fußbodens. Man hatte ihn dem Heiligen
zum Opfer gebracht, in der Hoffnung, daß dieser den guten
Willen anerkennen und die Krankheit von dem Unglücklichen
nehmen würde. Ein großer, runder Kronleuchter aus Glas
hängt aus dem Mittelpunkte der Kuppel herab; er ist von
moderner, vielleicht europäischer Arbeit und wird eine Stif-
tung aus den ersten Jahrzehnten nach dem Wahhäbiten-
Kleine Nachrichten. 83
überfall (1801) sein. Die gläsernen Armleuchter an den
Wänden sind drei- und mehrarmig und ebenfalls moderner
Arbeit. Waffen und Uhren sind im Husain an den Wänden
nicht aufgehängt. (Im Heiligtum des ’Ahbäs zu Kerbelä
sollen dagegen Waffen in großer Zahl vorhanden und einige
an der Decke aufgehängt sein. Uber der Sandüqa des ’Ali
in Nedschef muß ein riesiger krummer Säbel angebracht sein,
wohl eine Erinnerung an den dhu’l-fiqär, das berühmte
Schwert ’Alis. Auf den im Lande käuflichen Bilderbogen
tritt er an dieser Stelle wenigstens immer auf.) Auch elek-
trische Bogenlampen gibt es im Heiligtume natürlich nicht.
(Betreffs der Ausschmückung des Innern verweise ich auf
T. B. XI.) Photographische Aufnahmen aus dem Innern
sind der ungenügenden Beleuchtung wegen meist mißlungen;
auch wünscht die Geistlichkeit deren Bestehen nicht. Es gibt
aber Abzüge nach einer Platte, die so stark retuschiert ist,
daß die Kopie wie nach einer Handzeichnung gemacht aus-
sieht (veröffentlicht in Grothe, Geogr. Charakterbilder, Taf. 79,
Abb. 138). Diese Aufnahme, die wohl 1904 schon bestand,
kann zur Unterstützung meiner Angaben herangezogen werden.
Einige Irrtümer geschichtlicher Art oder in der Auf-
fassung von al-Husains Charakter, die dem Verfasser des
Globusartikels untergelaufen sind, will ich nicht weiter be-
richtigen. Die dritte der Abbildungen nach Aufnahmen des
Verfassers — d. h. nach aus seinem Besitze stammenden
Photographien — trägt ihre Bezeichnung „Goldene Kuppel
des Heiligtums des Mahdi in Samarra“ zu Unrecht: sie stellt
das Stadtbild von Nedschef mit der Goldkuppel ’Alis von
Westen gesehen vor. „Ohaimüke“ (richtig chaime-gäh) ist
nicht „Begräbnisplatz“, sondern ein (heiliger) Ort (zäh) in der
Weststadt von Kerbelä, wo der Sage nach al-Husains Zelt
(chaime) gestanden hat. Er trägt einen kleinen oktogonalen
Zentralbau (vgl. Grothe, Geogr. Charakterbilder, Taf. 84,
Abb. 145. Ein Grundriß ist in T. B. XI, Taf. 7, gegeben),
der sehr hübsch liegt. Arn. Nöldeke.
— Über Temperaturen und Sauerstoffmengen im
Sakrower See bei Potsdam, die auf Veranlassung des
Instituts für Meereskunde in Berlin von G. Schickendantz
beobachtet wurden, berichtet dieser in der „Intern. Revue der
ges. Hydrobiologie und Hydrographie“, Bd. III, 1910. : Er
findet, daß namentlich im Herbst die Kurven für Temperatur
und Sauerstoff parallel gehen und daß die Sprungschicht
einen Abschluß für die Durchlüftung des Wassers bildet
Die Temperaturschwankungen am Grunde des Sees erklärt
er durch Erwärmung vom Boden aus. Im September und
November trat daselbst freier Schwefelwasserstoff auf. Die
Untersuchungen sollen fortgesetzt werden. Halbfaß.
- Quartärstudien im Gebiete der nordischen
Vereisung Galiziens lassen Walery Ritter v. Lozinski
(Jahrb. d. k. k. geol. Reichsanstalt 1910, 60. Bd.) zu folgenden
Schlüssen gelangen. Die Wasserläufe im nordgalizischen
Tieflande sind ungleichen Alters. So ist die Entstehung des
heutigen Sanlaufes wie des ursprünglichen Wisloklaufes noch
in die präglaziale Zeit zu versetzen. In postglazialer Zeit
müssen aber Bewegungen der Erdoberfläche in vertikaler
Richtung stattgefunden haben, wobei Senkungen am Kar-
pathenrande, wie Hebungen im nordgalizischen Tieflande in
Betracht kommen. Die erstere Eventualität ist nicht gut
annehmbar; gegen die Möglichkeit postglazialer Senkungen
am Karpathenrand spricht schon der Umstand, daß in den
erweiterten Talausgängen die terrassierte Bodenausfüllung
vielfach bis zur älteren Unterlage durchschnitten ist und die
Flüsse über nackten Schichtköpfen dahinfließen. Am nächsten
liegt wohl der Gedanke, die postglaziale Hebung im nord-
galizischen Tieflande als eine Folge der Senkung der Erd-
oberfläche unter dem diluvialen Inlandeise und der darauf-
folgenden Entlastung zu betrachten. Der westgalizische
Karpathenrand, wo das diluviale Inlandeis in Eiszungen auf-
gelöst war, ist seit dieser Zeit vollkommen stabil geblieben ;
es hat weder eine merkliche Hebung noch eine Senkung
erfahren. Angesichts der Stabilität des westgalizischen Kar-
pathenrandes kann die postglaziale Hebung des Tieflandes
nur als eine Aufwölbung von sehr großer Spannweite und
relativ kleiner Amplitude aufgefaßt werden. Höchstwahr-
scheinlich war die Amplitude lokalen Schwankungen von 0 bis
zum Maximalwerte von etwa 50m unterworfen. Es hat den
Anschein, als wenn die durch das Abschmelzen des diluvialen
Inlandeises entstandene Spannung in der Erdkruste nicht
überall, sondern nur in gewissen Krustenteilen zur Auslösung
gekommen wäre. Denn in der nordwestlichen Umrandung
des Tieflandes, im östlichen Teile des polnischen Mittelgebirges,
ist kein Anzeichen von postglazialen Krustenbewegungen
vorhanden, vielmehr muß eine Stabilität seit der Diluvialzeit
angenommen werden. Dieses könnte zum Teil dadurch be-
gründet werden, daß das genannte Gebiet infolge seiner
höheren Lage von einem weniger mächtigen Inlandeise be-
lastet und zum Teil ganz eisfrei war. Außerdem muß noch
der Umstand in Betracht gezogen werden, daß der östliche
Teil des polnischen Mittelgebirges unmittelbar nach dem
Verschwinden des Inlandeises einen bedeutenden Massen-
zuwachs durch die Bildung einer mächtigen Lößdecke aus
von Winden importiertem Staubmaterial und infolgedessen
eine dauernde Belastung erfuhr.
— Die geologischen und hydrographischen Ver-
hältnisse der Therme Stubica-Toplice in Kroatien
erörtern Gorjanovic-Kramberger, Chr. Steeb und
M. Melkmus im Jahrb. d. k. k. geol. Reichsanstalt 1910,
60. Bd. Bereits 1205 werden diese heißen Quellen urkundlich
erwähnt. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts bestand kein
Badeetablissement, man badete in hölzernen Kisten im Freien.
Erst 1820 baute man Badehäuser, die 1895 vergrößert wurden.
Die geotektonischen Untersuchungen zeigen, daß das Thermen-
gebiet von Stubica an eine von Südwesten nach Nordosten
streichende Spalte gebunden ist und daß die in Rede stehen-
den Thermen aus der Tiefe aufsteigende Spaltquellen dar-
stellen und eine Ausdehnung von etwas über 300m zeigen.
Dabei war das Thermalgebiet seinerzeit noch umfangreicher.
Die Therme von Stubica gehört .zu den heißesten von Kroa-
tien und muß als sogenannte juvenile bezeichnet werden, die
postvulkanischen Ursprungs ist. Chemische Eigenschaften
wie Temperatur dieser Quelle dürften stets unverändert ge-
blieben sein, die Ergiebigkeit aber abgenommen haben. Die
Quellenwasserstäinde bewegen sich meistens im entgegen-
gesetzten Sinne wie das Barometer, wenn auch oft mit 1 bis
2 Tagen Verspätung, wobei Schnee und Frost die Quellen
träge machen. Wahrscheinlich hängen die größeren Schwan-
kungen im Niveau der Thermen, welche sich auf längere
Perioden wie Monate und Jahre erstrecken, hauptsächlich
mit der Bewegung des Grundwassers zusammen, während die
kleineren Oszillationen des Wasserspiegels der Quellen durch
den Luftdruck und die Niederschläge hervorgerufen werden.
Die Stubicaer Thermen sind auch radioaktiv; bei den käl-
teren Quellen tritt diese Eigenschaft, wie meistens, stärker
hervor. Im Thermalwasser ist radioaktive Emanation auf-
gelöst. Der Thermalschlamm aus dem Antonia-Schlammbade
zeigte eine Radioaktivität von 0,6 Mache-Einheiten.
— Um die Verdunstungshöhe im offenen Wasser-
becken zu messen, hat die Preußische Landesanstalt für
Gewässerkunde am Grimnitzsee in der Mark und am
Ufer desselben in den Jahren 1908 und 1909 von Mitte Juli
bis Ende Oktober Verdunstungsmesser aufgestellt, von
denen der auf dem Wasser befindliche von einem 14,5 m im
Durchmesser haltenden floßartigen Gerüst umgeben war, um
störende Wellenbewegungen möglichst zu vermeiden. Das
Verdunstungsgefäß, das mit dem in größerer Entfernung vom
Ufer auf dem See verankerten Floße starr verbunden war,
hatte eine Verdunstungsfläche von 2000 qcm. Die beiden am
Ufer aufgestellten Messer von ähnlichen Dimensionen wurden
auf verschiedenem Wasserstand gehalten, um den Einfluß,
den der Abstand des Wasserspiegels vom Gefäßrande auf die
Verdunstung hat, festzustellen. Alle drei Gefäße waren der
vollen Einwirkung der Luft und der Sonne ausgesetzt und
mit Regenmessern versehen. Wie wir dem Führer durch
die Sammelausstellung auf dem Gebiete des Wasser-
baues auf der Weltausstellung in Brüssel, die das
Preußische Ministerium der öffentlichen Arbeiten veranstaltet
hat, entnehmen, zeigen die drei offenen Gefäße eine ziemlich
gute Übereinstimmung in der Verdunstungshöhe; die Ver-
schiedenheiten, welche auftreten, sind meist auf die ver-
schieden große Erwärmung des Wassers zurückzuführen. Im
Mittel betrug die tägliche Verdunstungshöhe in dem an-
gegebenen Zeitraum 3,5 mm, am größten war sie natürlich
zur Zeit der größten Wärme, die 1908 im Juli, 1909 im August
eintrat, sie stieg bis auf 5,8 mm im Mittel des Zeitraumes
von Mitte Juli bis Mitte August 1908 und sank auf 1,52 m
im Oktober 1909. Auf die weiteren Resultate darf man ge-
spannt sein, wenngleich in Betracht gezogen werden muß,
daß der Grimnitzseee ein räumlich recht unbedeutendes
Wasserbecken ist. Halbfaß.
— Eine Betrachtung der reinen Graswirtschaft in
der Hügelregion des nordost- und zentralschwei-
zerischen Alpenfußlandes führt J. Suter (Münch. Diss.
der Techn. Hochschule 1910) zu der Ansicht, daß dieselbe
im Hügelland heute vielfach auch über solche Gebiete ver-
breitet ist, wo andere mehrseitige Betriebssysteme am Platze
wären, die zwar ebenfalls die Graswüchsigkeit des Bodens
ausnutzen, aber dabei die Ackerkultur nicht ganz vernach-
84 Kleine Nachrichten.
lässigen. Überall im angegebenen Gebiete, wo heute die reine
Graswirtschaft betrieben wird, wäre sie, sofern die Nieder-
schlagsmenge 120 bis 130 cm pro Jahr nicht übersteigt, ferner,
wo die Lage und Beschaffenheit des kleefähigen Bodens die
Pflugarbeit gestatten und wo die Sommerstallfütterung an-
gezeigt ist, durch Kleegraswirtschaft zu ersetzen. Ausgenom-
men sind die Graswirtschaften in besten Obstlagen. In Gegen-
den mit etwa 130cm ev. auch etwas weniger Regenmenge,
wo ein großer Teil des Kulturlandes infolge starker Neigung,
großer Steinigkeit oder Bündigkeit dem Pfluge große Hinder-
nisse in den Weg legt, oder wo die Zusammensetzung des
Bodens den kleeartigen Pflanzen nicht entspricht, dürfte die
Graswirtschaft mit etwas Ackerbau in Frage kommen. Dem
Ackerbau ist eine um so größere Ausdehnung zu geben, je
leichter der Boden pflügbar ist und je weniger allzu reich-
liche Niederschläge und Temperaturdepressionen usw. die
Entwickelung und Reife des Getreides, der Hackfrüchte usw.
hemmen. Die Gras-Weidewirtschaft ist um so eher am Platze,
je niedriger das Bodenkapital ist, je schwieriger die Arbeits-
kräfte zu beschaffen sind, je mehr der arrondierte Grund-
besitz vorherrscht und je schattiger seine Lage ist, je mehr
reichliche Niederschläge den Graswuchs begünstigen und
andererseits dem Anbau von Getreide, Hackfrüchten und
Feldfutterpflanzen hindernd in den Weg treten. Je geringer
ferner das Streuareal für die Stallhaltung ist und je schwie-
riger sich seine Beschaffung stellt; je mehr Gewicht auf
Aufzucht gesunder wie leistungsfähiger Tiere gelegt wird
und je höher die Anforderungen an Milch- und Molkerei-
produkte sich stellen. Die den Obstbau namentlich an den
Ufern der Seen begünstigenden klimatischen Verhältnisse
verlangen eine ziemlich dichte Pflanzung der Obstbäume
zum Zwecke möglichster Ausnutzung genannter natürlicher
Produktionsfaktoren, erschweren aber den Ackerbau.
— V. Franz kommt in seiner Arbeit über die Laich-
wanderungen der Fische (Arch. f. Rassen- u. Ges.-Biol.,
Jahrg. 7, 1910) zu der Schlußfolgerung, daß diese Wanderungen,
die größten aller durch die Fortpflanzung bedingten Phänomene
im Tierreich, ohne eine Spur sexueller oder erotischer Instinkte
zustande kommen. Männchen und Weibchen reagieren nicht
aufeinander, sondern reagieren gemeinsam auf ein Drittes,
das sind die optimalen Entwickelungs- und Lebensbedingungen
für die junge Brut, die in den hydrographischen Bedingungen
der Laichgebiete gegeben sind. Diesmal behält also nicht
der Dichter recht, sondern der nüchterne Naturforscher.
Nicht Hunger und Liebe, wohl aber das Prinzip der Erhaltung
der Art regiert hier das Getriebe.
— In den Beiträgen zur Kenntnis des photochemi-
schen Klimas der Canaren und des Ozeans zeigt
E. Rübel (Vierteljahrsschr. der naturf. Gesellsch. in Zürich,
54. Jahrg., 1909), daß in der Beobachtungszeit auf dem Meere
1400 die höchste gemessene Gesamtlichtstärke war, 830 die
höchste diffuse, 900 die höchste direkte betrug. Auf dem
Meere erreicht das direkte Sonnenlicht nur vereinzelt den
doppelten Wert des diffusen; auf dem Meere ist das diffuse
Licht aber stärker als auf dem Lande. Hohe Sonnenstände
haben auf die Lichtintensitäten eine ausgleichende Wirkung.
Die Lichtsummen steigen auf dem Meere höher als in Wien.
Auf dem Pik herrschten nicht die großen erwarteten
Lichtstärken. Die Zahlen vom 6. bis 8. April 1908 blieben
unter dem Mittel derjenigen des Berninahospizes bei gleicher
Sonnenhöhe und Sonnenbedeckung. Das direkte Sonnenlicht
erreichte in größter Seehöhe den sechsfachen Wert des diffusen.
In der Wolkenregion herrscht "/ı,s bis '/, des Tageslichtes,
im Lorbeerwald im Mittel Y, bis 4o-
— Die wirtschaftliche Bedeutung der einzelnen
Erdöllagerstätten. Für den Weltmarkt kommen nach
F.W. Moeller, der Wirtschaftsbetrieb des Erdöls (Techn. u.
Wirtsch., 3. Jahrg., 1910), nur die Vereinigten Staaten,
Rußland, Niederländisch-Indien, Galizien, Rumänien und
allenfalls Britisch-Indien und Japan in Betracht. Wegen der
verhältnismäßig sehr geringen Erschließung dieser Fundstätten
ist es unmöglich, die Vorräte zu schätzen, die noch zu
gewinnen sind. Dabei wird der flüssige Brennstoff in der
künftigen Gestaltung unserer Verkehrsverhältnisse eine immer
größere Rolle spielen. Zudem ist das Lichtbedürfnis der
Menschheit noch immer im Steigen begriffen. Dabei zeigen
die Vereinigten Staaten, wie ununterbrochen seit 1903, immer
noch weitaus die größte Produktion, sie sind mit über
63 Proz. an der Weltproduktion beteiligt. Rußland, das von
1898 bis 1901 an der Spitze stand, folgt jetzt in weitem
Abstande mit etwa 23 Proz. Im ganzen zeigt sich, daß die
Weltproduktion nach einem zeitweiligen Rückgang in den
Jahren 1905/06 wieder schnell gestiegen ist (um mehr als
25 Proz.) An dieser Steigerung ist absolut genommen
Amerika am meisten beteiligt, prozentualiter, abgesehen von
den anderen Ländern, Galizien. In Amerika ist die Steigerung
auf die zunehmende Erschließung neuer Olgebiete zurück-
zuführen, nicht etwa auf eine ausgedehntere Bohrtätigkeit
in den bekannten Feldern. Das Versiegen von Quellen in
Pennsylvanien, New York, Ohio usw. gehört zu den alltäg-
lichen Erscheinungen. Dafür bringt jetzt Kalifornien allein
40 Millionen Barr. hervor. Die in den erschlossenen Ollagern
von der United States Geological Survey vorgenommene
Abschätzung hat ergeben, daß diese Felder bei einer Ver-
größerung der Förderung in ihrem jetzigen Umfange ungefähr
bis 1935 ausreichen, falls der Gebrauch in demselben Maße
zunimmt wie bisher.
— Die Stürme und Sturmwarnungen an der deut-
schen Küste in den Jahren 1896 bis 1905 stellt L. Groß-
mann (Aus dem Archiv der deutschen Seewarte, 32. Jahrg.,
1909) zusammen. Gegenüber früheren Jahren hatte nicht
Rügen und Umgebung, sondern die preußische Küste die
meisten Stürme. Sieht man von den leichtesten Sturm-
erscheinungen ab, so nimmt die Sturmhäufigkeit von der
Nordsee nach Osten hin zu; dabei hat Rügen als das weit
nach Norden vorgeschobene Gebiet verhältnismäßig viele
Stürme und bedingt hierdurch eine für die westliche Ostsee-
und die hinterpommersche Küste gefundene Unstetigkeit in
der west-ostwärts gerichteten Zunahme, die jedoch bei einer
Vermehrung der Stationen über diesen Gebieten gewiß auch
erheblich abnehmen würde. Von Rügen ostwärts treffen wir
dabei von den schweren Sturmerscheinungen prozentisch etwa
dreimal so viel wie an der Nordsee an. Die Verteilung der
Stürme über unserer Küste wird besonders hervorgerufen
durch die beiden Haupttypen unserer Stürme aus westlichen
Richtungen, diejenigen, die sich von Westen nach Osten
ausbreiten, und die, welche in Verbindung mit Depressionen
über Nordosteuropa auftreten und sich westwärts ausdehnen.
Von 100 Sturmphänomenen der Nordsee berühren durchschnitt-
lich 70 die preußische Küste, während unter 100 Sturm-
phänomenen der preußischen Küste nur 47 auch an der Nord-
see auftreten. Dies ist besonders darauf zurückzuführen, daß
jene zweite Kategorie von westlichen Stürmen in hohem
Grade auf die östliche Ostsee beschränkt ist; sie ist es, welcher
wir den Sturmreichtum im Osten und besonders im Sommer
zuzuschreiben haben. Wie für das vorangehende Jahrzehnt
ist das Ergebnis der Sturmwarnungen für die stürmischen
Winde aus östlichen Richtungen wenig zufriedenstellend und
der Erfolg in den Monaten Mai bis August erheblich un-
günstiger als für die Monate September bis April; zum
größten Teile ist dieses gewiß der Einrichtung des Abend-
dienstes auf der Seewarte während der letzteren Zeit zuzu-
schreiben. Das Ergebnis für die Stürme aus westlichen Rich-
tungen und besonders in den kalten Monaten ist ganz er-
heblich besser. Der Nutzen der jetzigen Sturmwarnungen
könnte sicher eine bedeutende Steigerung erfahren, wenn
die von der Seewarte ausgegebenen Warnungen durch Funken-
spruch über die gesamte deutsche Küste ausgebreitet würden,
so daß jeder mit Funkensprechapparat ausgerüstete Dampfer
die Telegramme auffangen und womöglich durch Signale be-
kannt geben könnte. Namentlich für die Fischdampfer
würde diese Einrichtung von großem Segen sein.
'
— Die Resultate über Glazialstudien im Tölzer
Diluvium teilt P. Aigner mit (Mitt. d. geogr. Gesellsch. in
München, 5. Bd., 1910). In Übereinstimmung mit der gegen-
wärtigen geologischen Anschauung stellt er den Decken-
schotter zum Quartär und faßt ihn als dessen untersten Hori-
zont in der dortigen Gegend auf; er nimmt ihn jedoch aus
der Reihe der glazialen Faziesbildungen heraus und be-
trachtet ihn in seiner Hauptmasse als eine präglaziale Ab-
lagerung. Er vertritt dabei die Ansicht, daß die eigentliche
volle Eiszeit erst eintrat, als der Deckenschotter bereits ver-
festigt und oberflächlich stark verwittert war. Da nun für
dieselbe nur mehr die letzte und vorletzte Eiszeit nach
Penckscher Zählung übrig bleibt, er aber diese beiden aus
den angeführten Gründen in eine einzige zusammenlegt, so
gelangt Aigner vollständig auf den Standpunkt von Geinitz.
Wir haben im Quartär nur eine einzige Eiszeit gehabt, und
alle Unregelmäßigkeiten in ihrem Verlaufe, sowie alle schein-
baren Wiederholungen sind auf lokale Schwankungen und
Unterbrechungen wie auf verschiedenartige gegenseitige Be-
einflussung der einzelnen Gletscher während der Entwicke-
lungsperiode der Eiszeit zurückzuführen.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schüneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- UND VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. 6.
BRAUNSCHWEIG.
11. August 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Die Insel Korsika.
Von Fritz Mielert.
Sprottau.
Mit 21 Abbildungen nach ÖOriginalaufnahmen des Verfassers.
(Schluß.)
Ganz anderen Charakter als das vegetationsreiche
Restonicatal besitzt die nördlich mit dem Tavignanotal
parallel laufende Talschlucht des Golo, die Scala Santa
Regina genannt. Es ist eine Felsschlucht von so
imposanter Gestaltung, wie man solche auch außerhalb
Korsikas selten antrifft, ein wahrer Jubelschrei des
Finster-Schönen. Vegetation ist so spärlich, daß sie in
dem Chaos der vertikal gezackten, gigantischen Fels-
In der Tiefe rauscht der
wände ganz verschwindet.
Abb. 14. Evisa (S42 m) mit dem Blick auf die Küstenberge.
Golo in majestätischer Ruhe gleichmäßig dahin. Am
Ausgange dieser Schlucht tritt man in das Hochtal von
Niolo, dessen Hauptort Calacuccia (850 m hoch gelegen)
ist. Im Norden steigen hinter einer schluchtartigen
Senkung die Graunitmauer des Monte Cinto und seine
westlichen, wunderlich gezackten Trabanten auf, die zum
Col di Vergio hinleiten und die höchsten Erhebungen
des südlich abschwenkenden Bogens des Monte Cinto
sind. Man sagt, daß das Niolobecken den Kern des
Korsenvolks, die stärksten Männer beherberge. Ich habe
sie nicht anders gefunden wie in irgend einem anderen
Tale. Die sanften Berglehnen sind hier vielfach mit
Globus XCVIIL Nr. 6.
Getreide bestellt, auch sieht man außerordentlich starke
Steineichen, deren Früchte der hier anscheinend viel be-
triebenen Schwarzviehzucht zugute kommen. Der Monte
Cinto ist von Calacuccia aus in etwa sieben Stunden
leicht zu ersteigen. Sein Gipfel, eine abgestumpfte
Pyramide, bildet unten eine lange Geröllhalde, oben eine
mäßig steile Granitmasse.
Etwa eine Fahrtstunde hinter Calacuccia tritt man
in den größten Forst Korsikas, den 4638 ha umfassenden
Kiefernforst von Valdoniello.. Er ist ein ungemein
köstliches Einschaltbild in der Serie der imposanten
Bergpanoramen Korsikas. Man kann sich in einen
großen Schwarzwaldforst versetzt glauben, so wogt es
vor uns in blaugrünen Tönen an den Berglehnen und
in der Schlucht. Die Stämme sind zum größten Teil
sehr alt und darum von beträchtlichem Stammesumfang.
Solche von 1!/, bis 2m Umfang sind sehr häufig, doch
gibt es auch eine Kiefer, die 5m Umfang hat und daher
den ehrenden Beinamen le roi führt. Ein prächtiger
Blumenflor und hohe Farrenkräuter bilden die Bedeckung
des Bodens dieses Waldes, der sich bis etwa 1300 m
12
86
Höhe hinaufzieht. Der Auf-
stieg zum Paß von Vergio
geht auf einigen weit-
geschwungenen Serpen-
tinen völlig mühelos vor
sich. Einige wild zerzauste
Gruppen von Kiefern
schmücken die Kammhöhe
(1464 m), von der man auf
den eben durchfahrenen
Forst von Valdoniello und
zu den Bergwällen des
Monte Cinto und seiner
Partner im Süden, des Ci-
matelli und Monte Rotondo,
blickt.
Gen Westen hin senkt
sich die Straße sehr steil
und schnell in kurzen Ser-
pentinen und erschließt die
wunderbare, dolomiten-
artig aufgebaute Bergwelt
von Evisa und Porto, Berg-
gebilde, die auffallend an
jene des Monte Christallo
usw. in den Tiroler Dolo-
miten erinnern. Die Straße
zieht sich am oberen Hange
einer sehr tiefen Schlucht
hin, die nebst den Hängen
von dem 1708ha großen,
unvergleichlich schönen
Kiefern- und Buchenwald
von .Aitone bekleidet ist.
Er ist noch üppiger als der jenseits des Passes gelegene
Forst, die Farrenkräuter erreichen hier Höhen bis zu
Mielert: Die Insel Korsika.
an
Abb. 15. Motiv hinter Evisa beim Ponte de Tavoletta (611m).
Im Hintergrund die Monti alla Polmenascia (1715 m).
2m und darüber. Bald
nach dem Austritt aus die-
sem Walde gelangt man
nach Evisa (Abb. 14), das
etwa 1000 Einwohner
hat. Der Ort, 850 m hoch,
liegt außerordentlich wage-
mutig an dem oberen Teile
eines steilen Berghanges
und ist von mächtigen
Schluchten umgeben, in
welche die Häuser von
- Evisa von dem etwa 60°
geneigten Hange kühn hin-
abschauen. Im Osten lockt
der herrliche Bergwald, im
Westen steigen, scheinbar
in den Himmel hinauf-
gewachsen, die Berg-
schroffen des Küstengebir-
ges empor. Die Straße vom
Paß Vergio über Evisa nach
dem Meer ist bewunderns-
wert in ihrer Kühnheit und
Meisterhaftigkeit der An-
lage durch dieses Labyrinth
von steilen Hängen und
Schluchten. Evisa ist von
reichen Oliven- und Ka-
stanienkulturen umgeben,
weiterhin breiten sich die
herrlichsten Macchien. In
etwa einer Stunde Fahrt
hoch über Schwindel er-
regenden Abgründen hin lenkt die Straße in die grandiose
Schlucht von Porto ein, deren nördliche Bergwand brandrot
Abb. 16.
Motiv aus den Calanches.
Abb. 17.
La Piana.
Mielert: Die Insel Korsika.
leuchtet. 1200 bis 1500 m hohe
Steilwände schließen einen in der
Tiefe brausenden Gießbach ein, dessen
Wasser von dem harten Geklipp zu
milchigem Schaum zerschlagen ist.
An den roten Hängen glänzt eine
tropenartige Vegetation, und oft ge-
statten, wie bei dem Ponte de Tavo-
letta (611m über der Schluchttiefe,
Abb. 15), Einschnitte und Seiten-
schluchten entzückende Ein- und
Aufblicke, wo dann wie ein Land
der Verheißung samtgrüne Matten
und bläulich dunstige Felszinnen
hoch, hoch oben uns entgegen-
leuchten.
Das Mündungsland des Schlucht-
baches ist gleichfalls von überwälti-
gender Schönbeit. Zu beiden Seiten
ragen gleich Riesenpylonen die fels-
gepanzerten Bergwände, unten brei-
tet sich eine von dem nun ruhigen
spiegelklaren Bach durchzogene tro-
pische Ebene, bedeckt mit hohem
Schilf, grünen Wiesen und riesen-
großen Eukalyptusbäumen, und mitten im Mündungsgebiet,
von majestätischen Wogen umbrandet, erhebt sich ein pitto-
resker kantiger Hügel, aus dessen Kuppe ein altes Genueser
Fort wächst (Abb. 3). Nach Norden hin sucht die Straße in
vielen Windungen ihren Weg zu dem ganz unbedeutenden
Hafenörtchen Porto und von dort wie vorher an schroffen
Bergklötzen nordwärts nach Calvi. Südlich zieht ein
anderer Strang der Straße in vielen kurzen Serpentinen
hinauf zu der Wunderwelt der Calanches. Man hat
diese ein großes Areal bedeckenden Porphyrfelsen, welche
die Straße auf etwa 2km Länge durchläuft, eine zu
Stein gewordene Märchenwelt genannt, und in der Tat
suchen die Felsen an phantastischen Formen ihresgleichen.
Teils sind es aus schwarzen Tiefen, in die nie ein Sonnen-
strahl dringt, aufragende Felsnadeln und Felsgrate,
deren oberste Zinnen so grotesk verwittert sind, daß
man alle möglichen Tier- und Märchengestalten zu er-
blicken vermeint (Abb. 16), hier Bären und dort Ko-
bolde, Könige mit Kronen, Prinzessinnen mit wallendem
Abb. 19.
Motiv aus Bocognano.
Abb.18. Viehhürde in Cargese.
Haar usw. An anderen Bergwänden sieht die Porphyr-
masse aus wie im Herabfließen erstarrte Teigmassen, deren
Ränder die verschiedenartigsten Fratzen- und Tiergesichter
vorgaukeln. Zwerg Nase, Einhörner, Ungetüme mit
Schweineschnauzen, Tiere mit Elefantenrüsseln usw.
erblickt man ohne besondere Hinzunahme von Phantasie.
Besonders schön und märchenhaft wirkt diese eigenartige
Schöpfung der Natur kurz vor Sonnenuntergang. Das
Felsgebiet ist wegen der senkrechten kraterartigen Klüfte
und Schründe außerordentlich schwer zu begehen; das
Meer erglänzt 300 bis 400m tief unter diesen Felsen,
dem phantastischsten Winkel, den Korsika aufzu-
weisen hat. ;
Eine halbe Stunde südlich von diesem Labyrinth der
Porphyrfelsen erreicht die Straße das 450m steil
über dem Meere thronende Örtchen La Piana (Abb. 17),
das in seiner sehr üppigen Umrahmung durch schöne
Gärten und Haine ein wahres Paradies genannt werden
muß. Die landschaftliche Stimmung der Umgebung
Pianas ist eine der herrlichsten, die
Korsika besitzt.
Von Piana aus zieht die Straße
weiter am Meeresufer nach Ajaccio.
Der nächste Ort auf dieser Etappe,
Cargese, zwischen zwei sanft gewölbten
Hügeln 50 m über dem Meere gelegen,
ist ethnographisch bemerkenswert. Hier
siedelten sich nämlich 1676 etwa 750
Griechen an, die aus Morea vor dem
Joch der Türken entflohen waren. Sie
hatten Hilfe bei dem Schutzstaate
Genua gesucht, der ihnen Cargese als
Niederlassung anwies. In der Folge-
zeit hatten sie aber viel von den be-
nachbart wohnenden Korsen zu leiden,
vor denen sie 1731 nach Ajaccio fliehen
mußten. Als Korsika französisch ge-
worden war, siedelte Gouverneur Mar-
beuf die Griechen wieder in Cargese
an (1774), wo sie trotz der An-
feindungen, die noch lange anhielten,
sich bis heute behaupten. Es sind 110
Familien, die ihre Religion, Sprache
und Sitten treu bewahrt haben. Neben
12*
88 Mielert: Die Insel Korsika.
Abb. 20. Häuseranlage in Bocognano.
der griechisch-orthodoxen Kirche des Ortes steht heute
auch eine römische. Das Einvernehmen mit den Korsen,
mit denen sie sich vermischten, ist heute gut. Die
Physiognomie der Straßen ähnelt der der neugriechischen.
Die Häuser sind stattlicher als in anderen korsischen
Orten, die Kultur des Landes (Wein, Maulbeer, Feigen
und Feigenkaktus, letztere für die Schweinezucht) ist
sorgfältig. Eigenartig erscheinen einzelne Viehhürden
(Abb.18), welche, da das Gelände im Gegensatz zu
Piana und anderen Orten der Küste sehr schattenarm ist,
eine Art Schuppen bilden, dessen eine Langseite offen ist.
Die Hürden sind von rohen Mauern aus aufeinander-
gehäuften Steinblöcken gebildet, die Dächer aus Baum-
stämmen und Reisern.
Zwischen Cargese und Calcatoggio hält sich die Straße
meist in unmittelbarer Nähe der Meeresküste, die hier
flacher ist, ihre felsige Natur aber stets beibehält. Die
Buchten haben aber einen so köstlich feinkiesigen Strand
und eine derartig prachtvolle Brandung, daß sie die
schönsten Seebäder abgeben könnten.
gegen Nordwinde geschützt durch die
hinter der Stadt bis 790 m aufsteigen-
den Berge der Halbinsel. Unmittel-
bar im Norden der Stadt ragt der
Monte Salario 242 m auf. Die Stadt
selbst wird durch eine Landzunge,
deren Spitze die Zitadelle ausfüllt,
in zwei Teile gegliedert. Die Straßen
und Plätze der Neustadt Ajaccios
machen einen schöneren Eindruck als
jene von Bastia, sind aber im all-
gemeinen weniger geräuschvoll. Die
Altstadt ist etwas luftiger, ihr Gassen-
netz, das von der Zitadelle und der
Neustadt eingezwängt wird und eben
ist, besitzt aber doch noch manchen
„Auftigen“ Winkel. In einer kleinen
reineren Gasse der Altstadt befindet
sich das Geburtshaus Napoleons,
übrigens nicht mehr der ursprüng-
liche Bau. Dieser wurde nämlich
1793 von den Feinden der Partei
Bonaparte ganz niedergerissen. Schön
ist in der Neustadt der breite Cours
Napoleon, der belebteste Straßenzug
der Stadt mit teilweise elegant zu nennendem Gepräge. Die
nach Osten hin sich senkende Straße ist dort mit Ulmen, Pla-
tanen und Akazien, weiter oben aber mit Orangenbäumen
bestanden. Die Place des Palmiers ist wie die in sie
einmündende Avenue du premier Consul mit tropischen
Bäumen, vor allem aber mit außerordentlich schönen
starken Dattelpalmen bepflanzt. Der Cours Napoleon
ist fast ganz aus den Felsen herausgehauen, die Steil-
wände des Monte Salario treten an einer Stelle bis fast
zur Straßenfront vor.
Ajaccio ist infolge seiner außerordentlich geschützten
Lage und der herrlichen Umgebung vorzüglich zum
Winteraufenthalt für Kranke geeignet. Das Klima hat
eine große Gleichmäßigkeit, einen hohen Grad
relativer Feuchtigkeit und ist sehr mild. Gegen die
Riviera zeichnet sich Ajaccio durch eine um etwa
1!/,° höhere Temperatur aus, und es ist auch zum
Unterschied von manchen renommierten Riviera- Winter-
aufenthalten völlig staubfrei. Die Schwankungen der
Leider ist die Gegend so gut wie ganz
unbewohnt. Sagona, einst Stadt und
Bischofssitz, besteht heute aus 3 bis
4 ärmlichen Häusern. Der Liamone,
der hier mündet, fließt inmitten
eines sumpfigen Schwemmlandes, das
von großartiger Vegetation (Sumpf-
pflanzen und Eukalyptusbäume und
Macchien) überwuchert ist. Nord-
östlich von Sagona liegt die Sommer-
frische Vico und ein paar Stunden
weiter das kleine Bad Guagno mit
zwei jodhaltigen Schwefelthermen (52
und 37°C). Calcatoggio, an der Straße
nach Ajaccio, liegt bereits wieder hoch
über dem Meere, 330 m, inmitten eines
herrlichen Waldes voller Nuß-, Ka-
stanien- und Feigenbäume. Vom Col
die San Sebastiano, 415m, wendet
sich die Straße vom Meere ab und
erreicht geradenwegs das schöne
Ajaccio.
Ajaccio liegt an der Nordkante
einer naturschönen Bucht (Abb. 4),
Abb. 21. Bahnyladukt im Gravonetal unterhalb des Col de Vizzavona (900 m).
Mielert: Die Insel Korsika. 89
Tagestemperatur sind unbedeutend, da sie selbst im
Winter höchstens 6° betragen. Sogar in den kältesten
Monaten zeigt die Mittagstemperatur sommerliche Wärme,
doch können selbst die späteren Abendstunden in der
kühlen Jahreszeit im Freien zugebracht werden. Tau
fällt reichlich, Nebel aber ist äußerst selten. Durch das
herrliche Kolosseum von Bergen im Nordwesten, Norden
und Osten ist Ajaccio vor den kalten Luftströmungen
aus diesen Himmelsrichtungen völlig geschützt, während
die Südwest- und Südwinde über den Golf her freien
Zutritt haben. Gegen die rauhere Seeluft schützt den
Ort die Lage an dem Innenrande des tief eingebuchteten
Golfes. Ajaccio wird daher schon jetzt, wenn auch nicht
in dem Maße wie Biskra, Heluan, Luxor und andere
renommierte Winterkurorte, von Kranken aufgesucht.
Sehr günstig wirkt das Klima gegen phthisische Anlage
und das erste Stadium der Phthisis, bei trockenen
Katarrhen, Kehlkopf- und Nervenleiden.
Die Umgebung ist ideal schön, und würdig, als land-
schaftlicher Rahmen einer großen Weltstadt zu dienen. Die
Höhen hinter der Stadt sind aufs dichteste mit Macchien
und Obstgärten sowie Hainen bedeckt, aus denen ver-
einzelte Granitfelsblöcke und Felsgruppen herausragen.
Von alten Cypressen, Kastanienbäumen, Platanen, Nuß-
bäumen, Oliven und Orangen umhütet, leuchten hier und
da die für Korsika so typischen Grabkapellen im grellen
Weiß, umflammt von den wild wuchernden Purpurblüten
der Oleander, Granaten und Pelargonien und flankiert
von den bläulichen Blattschwertern der großen Agaven-
buketts. Der wohlhabendere Korse bestattet seine Toten
in kleinen Grufthäuschen, die er inmitten seiner Gärten
und Landgüter an irgend einem stimmungsvollen Plätzchen
der Landschaft errichten läßt. Nach patriarchalischer
Sitte ruhen hier also die Toten auf ihrem eigenen Grund
und Boden. Diese Sitte findet sich in ganz Korsika
verbreitet. Nach Südwesten hin breitet sich das wellen-
förmige, von staunenswerter Pflanzenfülle überzogene
Mündungsland des Gravone und Prunelli. Dahinter und
im Osten ragt das Amphitheater der korsischen Alpen
und der ihnen vorgelagerten steilen Berglabyrinthe.
Das Gravonetal ist eines der imposantesten der ganzen
Insel. Insbesondere erschließt es die Bergwelten der
alpin gestalteten, südlich vom Monte d’Oro abzweigenden
Seitenketten dieses Bergriesen, sowie die prächtige Hoch-
landwelt des Monte Renoso. Einer der schönstgelegenen
Orte dieses an Macchien und Kastanienwäldchen reichen,
vielschluchtigen Riesentales ist Bocognano (Abb. 19 und
20), neuerdings als Sommerfrische aufkommend. Wie
Evisa ist es an steilem Hange erbaut; in der Tiefe
darunter rauscht der Gravone, gegenüber aber baut sich
eine hehre Alpenwelt auf, ein südlicher Zweig des Monte
d’Oro von etwa 2000m Höhe. Wundervolle Idyllen von
Bauernhäuschen sieht man hier in Bocognano. Sie haben
in diesem üppigen Tal einen etwas kultivierteren,
behäbigeren Anstrich als die rohen Mauervierecke anderer
korsischer Bergwinkel.e. An die von Obsthainen (hier
auch Äpfel und Birnen) umgebenen Hütten lehnt sich
gewöhnlich eine aus Reisergeflecht errichtete luftige
Laube; ringsum blüht und duftet das Meer der Mac-
chien, in die man unmittelbar aus den kleinen Gärten
hineintritt.
Die Straße Ajaccio—Corte zieht sich in dem Gravone-
tal bis zum Oberlauf des reißenden Gebirgsbaches. Dort,
wo er nach Süden umbiegt und zu den Halden des
Renoso leitet, überschreitet ihn die Straße und erklimmt
die Höhe der Wasserscheide, den Col de Vizzavona. Die
Fahrstraße wie die Bahn erforderten im Gravonetal viele
Kunstbauten. Gießbäche stürzen durch die Seiten-
schluchten in den Gravone hinab und müssen durch
Globus XCVIII. Nr. 6,
Viadukte (Abb. 21) überbrückt werden, die massigen
Ausläufer des Monte Renoso, die sich ins Gravonetal
drängen, machten viele Durchstiche und Tunnels not-
wendig. Unterhalb der Paßhöhe (bei etwa 1000 m Höhe)
durchwandert man einen prächtigen Wald, der fast nur
aus Buchen besteht, in Korsika in solcher Massen-
haftigkeit eine große Seltenheit (Abb. 6). Die kahle,
nur von Macchien überwachsene Paßhöhe (1169 m)
leitet nach Norden hin in sanfter Neigung in einen
anderen Wald, einen außerordentlich großartigen und
wilden Kiefernforst (1382 ha) hinein, der die Schlucht-
tiefe von Vizzavona ausfüllt und sich an der großen
breiten Lehne des sehr steilen Monte d’Oro noch hoch
hinaufzieht. Die Luft in dieser Waldregion ist im Hoch-
sommer unvergleichlich stärkend. Mitten im Forst an
der staublosen schönen Waldstraße liegt im Schatten der
Bäume ein großes Hotel, desgleichen, ebenfalls rings von
Wald umschlossen, eines in der Tiefe der Schlucht bei
der Station Vizzavona. Beide Hotels angesichts der
unmittelbar davor aufragenden Riesenfelswände des
Monte d’Oro erbaut, sind die bekanntesten und besuchtesten
Sommerfrischen Korsikas, die internationalen Charakter
haben. Für Naturfreunde, Bergsteiger, Botaniker,
Geologen usw. sind diese guten Hotels geeignete Stand-
orte, von denen man nach allen Himmelsrichtungen un-
zählige lohnende Touren unternehmen kann. Von höchster
Romantik ist auch die weitere Fortsetzung der Bahn
und der Fahrstraße nach Corte. Sie erschließt die
gewaltigsten Ausblicke auf den Monte d'Oro und später
auf den Monte Rotondo und führt durch die überaus
großartigen Schluchten von Vecchio und Venaco.
Prachtvolle Touren bieten sich auch in der südlichen
Hälfte der Insel Korsika. Der Kürze wegen seien nur erwähnt
eine Wanderung über St. Maria Siche auf den aussichts-
reichen Col Foce d’Istria (327 m), an dem hochmalerischen
Corrano und dem Thermalbad Guitera (44° C, schwefel-
saures Natrium) vorbei nach dem oberhalb einer Fels-
schlucht 727m hoch gelegenen Zicavo. Dieses ist von
bewaldeten Bergen umgeben und bietet eine gute Gelegen-
heit zur Ersteigung des Monte Incudine. Eine andere
ebenfalls sehr lohnende Exkursion ist jene durch die von
wunderschöner Vegetation (Steineichen, weißen Eichen,
Lärchen usw.) erfüllte Landschaft nach Bastelica (800 m),
von wo aus sich der Monte Renoso am besten besteigen
läßt. Bastelica ist eines der größten Dörfer Korsikas
(3400 Einwohner). Unter seinen Bewohnern gibt es
viele Blonde mit blauen Augen und großer Statur. Wie
schon bemerkt, hat Bastelica wie Vivario keine Vendetta.
Die Straße von Ajaccio. nach Bonifaccio fällt im ersten
Teile mit jenen nach Bastelica und Zicavo zusammen
und ist bis zu dem malerisch gelegenen Sartene, der
Binnenhauptstadt des südlichen Korsika (6100 Ein-
wohner), sehr interessant. Von Sartene aus ist die
Gegend weniger kultiviert und öder, jedoch stets groß-
artigen Gepräges. Bei etwa 160 km von Ajaccio trifft man
auf den 700 ha umfassenden großen Weinberg, den 1884
eine Pariser Gesellschaft hier angelegt hat. Bonifaccio
(140 km von Ajaccio, 4000 Einwohner) lagert auf einer
langen weißen Kalkbank, 64m über dem Meere. Trink-
wasser erhält die Stadt durch eine einzige Quelle, die am
Hafen liegt. Dieser, durch einen 1000 m ins Land ein-
schneidenden Meeresarm gebildet, gehört zu den sichersten
Korsikas und ist Torpedostation der französischen
Kriegsmarine, die Stadt selbst Festung dritten Ranges.
Unterhalb der Stadtfelsen befinden sich einige Grotten,
unter denen besonders eine (Sdragonato) wunderbare
Lichteffekte aufweist.
Von Bonifaecio, von wo aus die Küste Sardiniens
nur 10 km entfernt liegt, führt an der Ostküste der Insel
13
90 Woltereck:
Indianer von heute.
eine landschaftlich weniger interessante Straße nach dem
pittoresken Städtchen Porto Vecchio (3000 Einwohner),
in dessen Umgebung viel Korkeichen und Eukalyptus-
bäume angepflanzt sind. Bis zur nächsten Bahnstation
der Insel, Ghisonaccia, sind von hier aus noch 64 km.
Der Plan, Bonifaccio und Porto Vecchio durch eine
Weiterführung der Bahn mit Ghisonaccia zu verbinden,
ist noch nicht verwirklicht worden. Auch scheint keine
Aussicht vorhanden zu sein, daß dies in absehbarer Zeit
geschehen wird.
Indianer von heute.
Von K. Woltereck.
Die Indianerfrage ist noch immer ein vielumstrittenes
Problem in Amerika. Erst kürzlich sprach sich wieder
der Indian Commissioner dahin aus, daß nur zweierlei
mit den Indianern zu machen sei, sie auszurotten oder
sie zu wirklichen Staatsbürgern zu erziehen. Dazu aber
seien Gesetze des Kongresses nötig, damit ihre Gesundheit,
ihre Schulen und ihre Industrien mehr gehoben und ge-
schützt würden (s. Outlook vom 30. Okt. 1909: The
Mohonk Conference).
Wer auf östlichen Reservationen und in der Nähe
großer Städte die Überbleibsel der Ureinwohner Amerikas
zuerst sieht, wird leicht das Interesse für die Rothäute
verlieren und sich schnell für die Ausrottung oder doch
wenigstens für das wünschenswerte und unausbleibliche
Aussterben erklären, so degeneriert und ungesund sehen
dort die Nachkommen stolzer Stämme aus, die auf be-
schränkten Reservationen und infolge zu schneller Ver-
mischung mit den Weißen ihre eigenen starken Charakter-
eigenschaften verloren und nur die Laster der Weißen
angenommen haben.
Wenn man sie aber im Mittelwesten, z. B. in Dakota
die Sioux, in Montana die Blackfeet, besucht oder die
Pueblos und Navahoes auf den großen Reservationen des
Südwestens in Arizona und Neu-Mexiko kennen lernt, die
weit entfernt von Eisenbahn und Zivilisation leben, so
muß man bedauern, daß sie zu modernen Staatsbürgern
gemacht werden sollen. Aber an ihre Lebensberechtigung
wird man wieder glauben; und solange es ihnen ermög-
licht wird, die Lebensweise ähnlich fortzusetzen, wie zu-
erst darüber von den Spaniern im 16. Jahrhundert berichtet
wurde (von Coronados Entdeckungszug 1540), ist auch für
die Lebensfähigkeit der dort lebenden Stämme gesorgt,
die bis jetzt durch alle Kämpfe und Versuche von Mission
und Zivilisation zähe an ihrer alten Eigenart festgehalten
haben.
Man muß einmal bei den Pueblostämmen, den Hopis
und Akomas z. B., die Gastfreundschaft genossen haben,
um diese hübschen, liebenswürdigen Naturkinder zu ver-
stehen, oder durch die Einsamkeit der riesigen Navaho-
reservation reiten, wo wir tagelang keinen Weißen, oft
keinen Menschen sahen und allein auf die Führung der
früher berüchtigten, wilden Navahoes angewiesen waren,
um sie lieb zu gewinnen und ihnen zu vertrauen. Die
dort lebenden wenigen Amerikaner behaupten sogar, man
könne den Indianern mehr vertrauen als weißen Führern,
die es da übrigens gar nicht gibt.
Die Navahoes (28.000) sind außer den Cherokees
(32 000) und Sioux (21 000) jetzt noch der stärkste Stamm
des indianischen Volkes, dasman auf 291581 Seelen schätzt
und dem 55831436 Acres Land als Reservationen be-
lassen sind. Sie sind einer der wenigen Stämme, die, wie
man annimmt, stetig nicht abnehmen, sondern wieder zu-
nehmen, obwohl eine genaue Zählung bei ihrem Nomaden-
leben fast unmöglich ist, und daher die Zahlen auch
schwanken. Aber nach ihrer Gefangenschaft in den Jahren
1860 bis 1863, als !/, ihres Stammes zugrunde ging,
zählten sie nur etwa 12000, und wenn es auch damals
den amerikanischen Truppen nicht gelungen sein mag,
sich aller Navahoes zu bemächtigen, so sprechen doch die
Zahlen entschieden für eine Zunahme, während andere
Stämme, wie z. B. die Cowcreek-Indianer in Oregon und
die Humptulip im Staate Washington, auf je 23 Personen
zusammengeschrumpft sind.
Im Gegensatz zu den einst so starken Sioux, die nach
den Kriegen durch Tuberkulose schwer gelitten haben,
machen die Navahoes einen sehr gesunden, kräftigen
Eindruck. .Man sieht prachtvolle, sehnige Gestalten unter
ihnen mit kühnen, oft schön geschnittenen Zügen und
stolzer Haltung. Sie fühlen sich anscheinend ganz unab-
hängig, da sie durch Schafzucht und Pferdezucht, Webe-
reien und Silberschmiedekunst genug verdienen, um sich
selbst zu erhalten, und außer den Schulen, die sie nicht
wünschen, der Regierung nichts zu verdanken glauben;
denn die weiten’ Steppen und großen Wälder ihrer Reser-
vation betrachten sie als ihr rechtmäßiges Eigentum.
Ebenso ist es mit den Hopis, die seit undenklichen
Zeiten auf den kahlen Tafelbergen (Mesas) in der Sonnen-
herrlichkeit der „Gemalten Wüste“ ihr friedliches, glück-
liches Dasein führen und sich auch selbständig durch eigene
Industrien ernähren; die Männer besorgen im Sommer die
mühsame Feldarbeit unten am Fuße der Mesas, und im
Winter weben sie für ihren und andere Stämme die Ge-
wänder, während die Frauen Felsenhäuser bauen und in-
stand halten müssen und die kunstvollen Tongefäße ihres
Haushalts formen, brennen und mit seltsamen, symbolischen
Figuren bemalen. Die Hopis haben ganz besonders starr
an ihrem alten Glauben und ihren eigenartigen Sitten fest-
gehalten. Aber wer mit ihnen in erster Morgenstunde
oder bei flammendem Sonnenuntergang hoch oben von
den flachen Dächern schweigsam und regungslos wie sie
in den Himmel geschaut, der sich weit, weit über sie aus-
spannt in der geheimnisvollen Welt der Wüste, der wird
ihren Sonnenkultus ehren und verstehen.
Noch vor drei Jahren kam es dort zu einem Zusammen-
stoß der alten und neuen Kultur wegen des jetzt überall
streng durchgeführten Schulzwanges für die jüngere in-
dianische Generation, und nur mit Hilfe einiger Truppen
aus dem Fort Wingate in Neu-Mexiko wurde die Sache,
übrigens unblutig, beigelegt. Die Opfer dieses Streites
sah ich im vorigen Sommer beim Besuche der Regierungs-
schule in Keams Cannon, wo in den Ferien etwa 30 Kinder
zurückgehalten wurden als Strafe für die widerspenstigen
Eltern, worunter die fröhliche Schar aber nicht zu leiden
schien. Auch erinnere ich mich sehr gut an zehn schöne
wilde Hopiknaben in der größten östlichen Indianerschule,
der von Carlisle in Pennsylvanien, die gerade angekommen
waren, als ich sie vor zwei Jahren besuchte, und die durch
ihre langen Haare und scheues Wesen auffielen.
Erst seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts,
nachdem die großen Aufstände der sich immer wieder
empörenden mächtigen Siouxstämme niedergeworfen waren,
hatte man von amerikanischer Seite angefangen, durch
bessere Erziehung die jüngere Generation der Indianer
für die Zivilisation zu gewinnen, um dadurch die bisher
rassefeindlichen Beziehungen günstiger zu gestalten. So
entstanden neben Missionsschulen und Privatunternehmen,
Gengler: Das Schnupfen im Bayerischen Wald. 91
wie die durch Kapitän Pratt gegründete Industrieschule
in Carlisle, die erst später verstaatlicht wurde, nach und
nach staatliche Anstalten, die versuchen, den jungen In-
dianer für das heutige moderne Leben praktisch vorzu-
bereiten und ihm größere Möglichkeiten zur eigenen Ent-
wickelung und zur Hebung seines Stammes aufzuschließen.
Wie drüben bei manchen neuen Bestrebungen, die nichts
mit der Frauenfrage als solcher zu tun haben, so haben
auch die amerikanischen Frauen tatkräftig mitgeholfen.
Im Jahre 1878 schon bildete sich ein Frauenbund „Women’s
National Indian Association“, der die trostlose Rechtslage
der Indianer zu heben versuchte. Denn in den amerika-
nischen Gesetzen war dazumal z. B. nicht vorgesehen, daß
die Ermordung eines Indianers durch einen Weißen als
Mord strafbar war, wie natürlich umgekehrt, und so war
der rote Mann lange Zeit rechtlos. Erst 1887 wurde den
Indianern das amerikanische Bürgerrecht zuerkannt, und
damit ward ihnen selbst und ihrer Habe rechtlicher
Schutz.
In den 80er Jahren erlangte der obengenannte Frauen-
bund ferner, daß die Regierung private Industrieschulen,
wie Carlisle, Pa, Hampton, Vir., und andere verstaatlichte
und dadurch deren größeres Wachstum ermöglichte. Ein
besonderes Erziehungskomitee wurde gebildet, das mehr
Schulen einrichten sollte, und ein gewisser Schulzwang,
der jetzt überall so energisch durchgeführt wird, sollte
damit verbunden sein. Damit fing eigentlich eine ernste
Erziehungsreform für die Indianer erst an, die erreicht
hat, daß jetzt von 50000 Kindern 29000 die Schule be-
suchen, die sich auf etwa 400 Anstalten verteilen, die
der Regierung fast 4 Millionen Dollar kosten, während
man 1877 nur 20000 Dollar dafür verwandte. (Die
Statistischen Angaben sind amtlichen Mitteilungen der
indianischen Abteilung in Washington, D. C., entnommen.)
Diese Schulen sind teils Tagschulen, teils Internate;
dazu kommen noch Missionsschulen und Distriktschulen,
wo rote und weiße Amerikaner zusammen auf der Schul-
bank sitzen. 25 von den Internaten liegen außerhalb der
Reservationen, meist im Osten, und man hat berechnet,
daß dort jeder Schüler der Regierung etwa 167 Dollar kostet,
da aller Unterricht, Unterhalt, Kleidung usw. von der Re-
gierung bestritten wird und viele Beamte gehalten werden
müssen. Carlisle hat z. B. 82 staatlich besoldete Ange-
stellte bei 1034 Schülern und Schülerinnen; denn auch
hier herrscht das in Amerika allgemein übliche Koedu-
kationssystem.
Nun ist letzthin die Frage viel besprochen worden:
Soll man die Zivilisation zu den Indianern bringen oder
soll man die Indianer zu ihr bringen? Schon der vorige
Indian Commissioner F. Leupp und der jetzige so tat-
kräftige Valentine scheinen sich für das erste zu erklären,
was das allmähliche Eingehen der auswärtigen Internate
bedeuten würde. Und dann gibt es noch die Frage: Sind
Tagschulen wichtiger als Internate?
Dank der Liebenswürdigkeit der Herren Leupp und
Valentine hatte ich Gelegenheit, alle Arten von Indianer-
schulen zu besuchen. Tagschulen bei den Sitka-Indianern
oben in Alaska, große Internatschulen auf den Reserva-
tionen in Arizona (Keams Cannon, Fort Defiance), Distrikt-
schulen in Kalifornien (Mesa Grande), Missionsschulen in
Neu-Mexiko (St. Michals, Gallup) und, wie schon erwähnt,
auch die berühmte Regierungsschule in Garlisle, das größte
Internat fern von der Reservation. Überall habe ich die
Fürsorge und Arbeit für die kleinen Rothäute bewundern
müssen, im angenehmen Gegensatz zu der sonst üblichen
Gleichgültigkeit oder Verachtung in der amerikanischen
Gesellschaft, die noch barbarische Siegergefühle hegt.
Aber welche Schätze an alter, wenn auch primitiver Kultur
verachten sie damit in ihrem eigenen Lande, die sie oft
unter großen Mühen in Asien und Europa suchen, welche
Schätze an alten Sagen und Gesängen, Sitten und Ge-
bräuchen sind in den Staaten noch zu heben, trotz der
langen, erfolgreichen Arbeit von bekannten amerikanischen
Ethnologen, Prof. Holmes, Dr. Hough, J. W.Fewkes und
anderen, die schon viel wertvolles Material zusammen-
gebracht haben; wie bei den kürzlich vollendeten Aus-
grabungen von Ruinen aus prähistorischer Zeit in Arizona
und Colorado, die das hohe Alter einzelner Stämme, der
Hopis z. B., genauer festlegen lassen. Auch über die sehr
entwickelte musikalische Begabung der Indianer sind in
letzter Zeit interessante Studien veröffentlicht worden,
doch darauf werde ich an anderer Stelle näher eingehen.
Um noch einmal auf die Schulfrage einzugehen, so
möchte ich noch hinzufügen, daß auch ich nach allen
Beobachtungen glaube, daß es sich empfiehlt, zunächst
die Zivilisation auf die Reservationen zu tragen, und zwar
am besten durch Tagschulen, damit die jüngere Generation
der älteren nicht durch zu schnell veränderte Lebens-
weise entfremdet wird. Denn es wird immer noch beob-
achtet, daß auf fernliegenden Internaten erzogene Schüler
oft gar nicht zu ihrem Stamme zurückkehren wollen, ihr
Volk und ihre Sitten verachten lernen und sich dort unter
den Weißen einzeln nur schwer eine Existenz erkämpfen
können; oder aber sie streifen nach der Rückkehr in die
Heimat schnell alles Neue wieder ab und fallen indolenter
als vorher in die alte Lebensweise zurück.
Das Schnupfen im Bayerischen Wald.
Von Dr. J. Gengler.
Der Bayerische Wald erstreckt sich an der Ostseite
Bayerns längs der böhmischen Grenze hin und wird un-
gefähr abgeschlossen im Norden von der Schwarzach,
im Westen und Süden von der Donau und im Osten,
wie schon gesagt, von der Grenze des Königreichs
Böhmen. Obwohl „der Wald“ — so wird allgemein
das Gebiet genannt, und seine Bewohner „die Waldler“
— in seiner größeren Hälfte dem Regierungsbezirke
Niederbayern angehört, so hängen seine Geschichte,
Landesbeschaffenheit und Volksart doch viel mehr mit
dem Regierungsbezirk Oberpfalz zusammen. Seine
Bewohner gelten in Bayern noch als ganz „Wilde“.
Sie haben aber auch, infolge ihrer geographischen Lage
abgeschlossen von der Welt wie auf einer meerumspülten
Insel lebend, alte Art und Sitte behalten und bieten in
ihren Gebräuchen, an denen sie zäh festhalten, und Über-
lieferungen so viel Eigentümliches und uralt Her-
gebrachtes, daß dem den Wald Bereisenden eine Fülle
des Interessanten entgegentritt.
Durch meinen Beruf gezwungen, hielt ich mich
mehrere Jahre hintereinander im Frühjahr und Herbst
in verschiedenen Gegenden des Waldes auf und machte
hier, dem Volke näher tretend, manch eigenartige Be-
obachtung. Eine ganz besondere Eigenheit der Waldler
ist ihre außerordentlich große Vorliebe für das Tabak-
schnupfen. Geschnupft wird ja wohl so ziemlich in
allen Ländern der Erde, aber in solchem Grade wie hier
ist diese Sitte oder Unsitte sicher nirgends zu finden.
Schon früh im Leben fängt der Waldler zu schnupfen
an. In der Volksschule wird bereits der dem Vater
13*
92 Gengler: Das Schnupfen im Bayerischen Wald.
oder älteren Bruder heimlich „gekrallte* Tabak im Ver-
borgenen von vielen Knaben verbraucht. Wenn die
Burschen dann die Feiertagsschule besuchen, setzen sie
natürlich eine Ehre darein, sich wie erwachsene Männer
zu gebärden, infolgedessen gilt es bei ihnen als zum
guten Ton gehörig, so bald als möglich nach der Schul-
entlassung ihren eigenen Schnupftabak zu führen. Hat
sich aber einmal einer an den Tabak gewöhnt, so ist es
ihm in der Regel unmöglich, wieder davon loszukommen;
also wird wieder flott weitergeschnupft. Späterhin
wirkt das Abgewöhnen geradezu schädlich auf den
Menschen ein; er wird unruhig, zur Arbeit unlustig und
ganz apathisch, sodaß selbst in den südbayerischen Straf-
anstalten und Irrenpflegeanstalten den dort internierten
Männern der Schnupftabak nicht ganz entzogen werden
darf. So,wurde mir auch von einem alten geistlichen
Herrn erzählt, der ein so leidenschaftlicher Schnupfer
war, daß er auf das Altartuch kleine Häufchen Tabak
legte, die er dann während des Gottesdienstes, indem er
seinen Kopf auf den Altar herabbeugte, rasch mit der
Abb. 1. Einfaches G@schmeiglasl
aus Grafenau. °/, n. Gr. aus Grafenau.
Abb. 2. Farbiges Gschmeiglasl
Gelb, grün, schwarz.
Zu diesem Bresil, der in beliebiger Menge bei jedem
Dorfkramer zu haben ist, kommt nun je nach dem Ge-
schmack des Konsumenten eine mehr oder weniger große
Portion Rindsschmalz, das meist ein ganz graugrün-
liches Aussehen und einen abscheulichen Geruch hat,
dann etwas Kalk und eine kleine Menge fein pulverisierter
Glasscherben. Mit einer höchst einfachen, in den meisten
Fällen selbst angefertigten Maschinerie wird dann der
Tabak gebrauchsfertig gemacht. Im Zimmer steht auf
einem Holzblock befestigt eine hölzerne Schüssel; in
diese hängt von der Decke herab ein Holzstempel, der
im Kreis herum bewegt werden kann. In diese Schüssel
wird nun die Schmalzlermischung gebracht und mit dem
beweglichen Holzstempel so lange verrieben, bis die
nötige Feinheit und Feuchtigkeit erreicht ist. Der Ver-
fertiger überzeugt sich von dem Grade der Beschaffen-
heit von Zeit zu Zeit selbst mit eigener Nase. Ist der
Schmalzler fertig, so wird er in Schweinsblasen oder
Holzschachteln aufbewahrt. Besondere Feinschmecker
reiben auch noch Tannennadelspitzen und noch geheimnis-
Abb.3. @schmeiglasl mit Bild (farbig)
aus Cham. °/, nat. Gr.
3/; nat. Gr.
Nase einsog. Ohne dieses Labsal wäre es ihm unmög-
lich gewesen, seinen Amtspflichten zu genügen.
Schnupfen sah ich nur Burschen und Männer, niemals
Frauen und Mädchen. Bei diesen scheint der Tabak-
genuß auch gar nicht in Ansehen zu stehen, denn alle
jungen Mädchen versicherten, sie würden niemals einem
Burschen, der schnupfte, die Hand zum Ehebund reichen.
Es wird aber wohl jedes schöne Waldlerskind späterhin
seine Meinung darüber geändert haben oder ledig ge-
blieben sein, denn ein nicht schnupfender Waldler gehört
in das Reich der Fabel.
Was schnupfen nun die Waldbewohner ? Ihr National-
tabak ist „der Schmalzler“, im Walde „Gschmei“ oder
„Schmai“ genannt. Die echten alten Waldler bereiten
sich ihren Gschmei nach eigenen Rezepten auch heute
noch selbst zu Hause. Der Hauptbestandteil ist Fresko-
Brasil-Tabak, kurzweg Bresil, Presil oder auch Brisil
genannt. Dieser besteht aus entstielten und zerstampften
Tabakblättern, die mit einer eigenen Brühe gebeizt, zu
dicken Stricken gedreht um einen Holzpfahl gewunden
in festen Ballen, Häuten oder Palmblättern verpackt in
den Handel kommen. Von einem Geruch kann man bei
diesem Tabak schon nicht mehr reden, er stinkt geradezu.
vollere Dinge darunter, ja es wird von den Waldlern
sogar behauptet, von alten raffinierten Schnupfern würde
mit Vorliebe trockener Menschenkot daruntergemischt.
Jetzt kaufen besonders die jungen Leute ihren Tabak
vielfach schon fertig im Laden. Mit der Zeit sind große
Fabriken in Landshut und Regensburg entstanden sowie
an verschiedenen kleineren Orten, die nach geheim
gehaltenen Rezepten ihren Schmalzler fabrizieren. Die
Zentrale für den ganzen Handelszweig ist Landshut.
In hübsch rot und weiß verzierten Holzschächtelchen,
in kleinen Zehnpfennigzinnbüchsen und Zehnpfennig-
blechdosen, in Staniol und Schweinsblasenpackung kann
man jetzt beim Kramer seinen Schmalzler einkaufen.
Im Laufe der Jahre sind natürlich eine ganze Menge Sorten
von Schnupftabaken entstanden, wie der Pariser, Saar-
brücker, Straßburger, einige auch mit großartig klingenden
Namen, wie Pariser finissimo, Robillard, Grand Cardinal,
Doppelmops, Natchitotches usw. Der Lieblingstabak ist
und bleibt aber stets der althergebrachte Schmalzler.
Ganz eigentümlich mutet es einen an, wenn man so eine
Schmalzlerreklame liest, und man kann daraus sehen,
welchen Wert die Waldler auf ihren Tabak legen. So
beginnt z. B. eine Anpreisung der Marke „Schmalzler-
Gengler: Das Schnupfen im Bayerischen Wald. 93
franzl“ mit folgenden Worten: „Der beispiellose Erfolg,
welchen wir mit unserem Echtbayerischen Schmalzler
in ganz Deutschland und dem Ausland erzielt haben,
gibt uns Veranlassung ...“
Wenn man so hört und sieht, was der Tabak kostet
und wie viel täglich davon verbraucht wird, so muß man
zu der Ansicht kommen, daß das Schmalzlerschnupfen
ein teures Vergnügen sei. Und dies ist es auch in
Wahrheit. Außerdem braucht der Schnupfer fast doppelt
so viel Schmalzler, als er wirklich schnupft, denn eine Menge
Tabak fällt nebenhin. So kann man mit Recht sagen, daß
im Wald ein großes Vermögen geradezu nutzlos ver-
schleudert wird. Dazu kommen noch die Kosten für
den Rauchtabak; denn das Schnupfen schließt das
Rauchen keineswegs aus, und der größte Teil der Waldler
hat von früh bis spät auch noch seine Pfeife im Mund.
Als Behälter für seinen Schmalzler hat der Waldler
fast ausschließlich das Schmalzlerglasl im Gebrauch.
Es sind dies kleine flachgedrückte Fläschchen mit halb-
langem Hals, meist in bunten Farben schillernd und
mit dem Schwanze eines Eichkatzls zugestöpselt (vgl. die
Abbildungen). Dieses Glas wird in der Brusttasche der
Joppe getragen. Einzelne Vereine besitzen auch Vereins-
Gschmei-Gläser von dem Umfang eines kleineren Tellers,
die ein ganzes Paket Schnupftabak auf einmal fassen
und bei den abendlichen Zusammenkünften unter den
Vereinsmitgliedern fleißig die Runde machen. Vielfach
sieht man ferner Horndosen mit Nickelbeschlägen, seltener
große viereckige Dosen aus Birkenrinde, ähnlich den
schwedischen Zündholzschachteln, auch kleine Krüglein
aus Steingut. In der Stadt ist die Dose mehr im
Gebrauch, von der gewöhnlichen hölzernen bis zu der
silbernen, auch kann man kostbare alte Familienerbstücke
aus edlem Metall und mit schöner Verzierung in den
Händen reicher Bauern und Bürger sehen.
Geschnupft wird je nach dem Tabakbehälter auf
verschiedene Art. Wer das Glasl führt, schüttet sich
die nötige Portion Tabak mit eigentümlich ruckweise
stoßender Bewegung auf die Stelle der Hand, die man
auch anatomisch Tabatiere nennt, und führt dann den
in kunstgerechten Häufchen oder langer Linie aufgelegten
Schmalzler bedächtig zur Nase, mit dem Handrücken
diese und die Oberlippe von den nebenhin fallenden
Tabakresten reinigend. Diese Art des Schnupfens ist
im Lande am weitesten verbreitet. Im allbekannten
Waldlerlied, das früher auch viel von bayerischen
Studenten gesungen wurde, heißt es in der Eingangs-
strophe in bezug auf diese Schnupfart:
„Grüeß di Good, Wäldlersbua,
Vallerallerie
Wo kimmst denn heer, ober a?
Häst a an gueten Schmälzlertobak ?
Vallerallerie
Hau a Prieß heer!“
Aus den Dosen wird meist mit den Fingern geschnupft,
doch sah ich auch des öfteren, daß Leute mittels kleiner
Hornlöffelchen oder aus Birkenholz geschnitzter Schiffehen
den Tabak zur Nase brachten. Daß die Waldler, wie
es Bibra von den Bewohnern von Island, den Hochschotten
und Nordschweden beschreibt, den Tabak bei zurück-
gebeugtem Kopf direkt aus dem Glasl in die Nase
schütteten, konnte ich niemals bemerken. Reinlicher
und hygienischer ist ohne Zweifel der Gebrauch des
Glasls, denn wenn man bedenkt, was alles mit den Finger-
spitzen bei der im Wald noch vollkommen unbekannten
Nagelpflege in die Dose hineingebracht und dann mit in
die Nase geführt wird, so kann man wohl annehmen,
daß so manche Infektionskrankheit durch das Schnupfen
verschleppt wird.
Sowie zwei Waldler zusammenkommen, ist es das
erste, nachdem „Grüeß Good“ gesagt ist, daß sie sich ihre
Schmalzlerglasl zum Gebrauch hinreichen oder die Dose
anbieten. Ein Ablehnen würde in jedem Falle, auch
wenn man versichert, kein Schnupfer zu sein, übel-
genommen werden. Es bleibt also dem Fremden nichts
anderes übrig, als eine Prise zu nehmen und sie, nachdem
er die Bewegungen des Schnupfens gemacht hat, heimlich
wegzuwerfen. Ich habe dabei stets noch ein heftiges
. Niesen markiert und so jedesmal die Sache zu beider-
seitiger Zufriedenheit erledigt.
Wie oft ein Schnupfer seine Nase mit Schmalzler
füllt, ist nicht ganz leicht zu sagen. Die einen füllen
jedesmal beide Nasenlöcher, andere nur abwechselnd
bald das rechte, bald das linke, ja einzelne habe ich
gefunden, die überhaupt nur ein Nasenloch mit Tabak
bedachten. Eines Sonntags beobachtete ich einen Wirt, der
durchschnittlich alle zwei Minuten seine beiden Nasenlöcher
mittels eines Löffels mit Schmalzler füllte. Andere
schnupften ganz unregelmäßig; sowie ihnen aber von
einem Bekannten das Glasl geboten wurde, bedienten sie
sich dessen sofort ausgiebigst, auch wenn sie unmittelbar
zuvor beide Nasenlöcher reichlich gefüllt hatten.
Pflügende Bauern hielten plötzlich mitten in der Arbeit
ihr Gespann an, schnupften und pflügten dann weiter.
Sogar während des Essens sieht man häufig die Leute
eine Prise nehmen. Bei Bauern bemerkte ich höchst
selten den Besitz eines Taschentuches, Bürger aber be-
dienten sich meist eines außerordentlich großen, farbigen,
in der Regel dunkelblauen Schnupftuches. Jeder
Schmalzlerschnupfer verbreitet um sich einen höchst un-
angenehmen Geruch nach scharfem Tabak und verdorbenem
Schmalz. Kommt man in ein Wirtslokal, wo eine Anzahl
Schnupfer oder Waldler, was eigentlich gleichbedeutend
ist, beisammen sitzen, riecht das ganze Zimmer nach
dem reichlich verschütteten Schmalzler, und es gehört
manchmal eine wirkliche Überwindung dazu, in solchem
Lokal etwas zu genießen.
Nicht nur Bauern und Bürger schnupfen im Wald,
sondern auch die Lehrer und Geistlichen, und die in die
Waldorte versetzten Beamten gewöhnen sich regelmäßig
in kurzer Zeit diese unschöne Sitte an. Alle Schnupfer
erklären natürlich das Schmalzlerschnupfen für einen
sehr großen Genuß und für äußerst gesund; besonders
die erste Morgenprise sei geradezu eine Delikatesse.
Worin aber der eigentliche Genuß besteht, kann keiner
beschreiben. „Schö is und guet is, dös glabst“ — mehr
bringt man aus den Leuten nicht heraus. Die Gebildeten
behaupten, das Schnupfen bewahre vor Katarrh oder
vertreibe einen solchen sehr rasch; der Tabak mache die
Nase und dadurch das Gehirn rein, so daß man geeigneter
zu geistiger Arbeit sei, auch vertreibe eine Prise rasch
den sich zur Unzeit einstellenden Schlaf. Es mag ja
manches wahr sein, wenn man aber einen leidenschaft-
lichen Schmalzlerschnupfer mit gedunsener Nase, rot ent-
zündeten Nasenlöchern und ebensolcher Oberlippe an-
schaut und dazu dessen Ausdünstung riecht, so kommt
man rasch zu der Ansicht, daß diese Sitte weder ästhetisch
wirkt noch für den Organismus gesund sein kann.
Wie und wann mag nun das Schnupfen in den
Bayerischen Wald gekommen sein? Darüber an Ort und
Stelle selbst Genaues zu erfahren, war mir nicht möglich.
Was ich gehört habe, führe ich in den folgenden Zeilen
an. Das Schnupfen soll schon zu Ende des Dreißig-
jährigen Krieges aufgekommen und von Frankreich oder
dem Elsaß aus eingeführt worden sein. Leute, die in
verschiedenen Heeren gedient, hätten die Sitte mit-
gebracht, andere gelehrt, und so sei das Schnupfen ziem-
lich rasch im Volke verbreitet worden. Die Beimischung des
94 Seljan: Drei südamerikanische Sagen.
Schmalzes sei zuerst erfolgt, um den in der Tasche rasch
trocknenden Tabak feucht zu erhalten. Die übrigen
reizenden Beigaben seien Originalerfindungen der Waldler
selbst, denen bei längerem Gebrauche und dadurch er-
folgter Abstumpfung der Nerven der Tabak allein zu
mild geworden sei. Deshalb hätten sie Kalk, Glas u. dgl.
zugesetzt, um den prickelnden Reiz in der Nasenschleim-
haut zu erhöhen.
Alle Schnupfer behaupten, der Schmalzler übe eine
ganz vorzügliche Wirkung auf die Geruchsnerven der.
Konsumenten aus, so daß die Nase des Schnupfers auch
die feinsten Unterschiede in Geruchssachen sofort
bemerke. Dies ist jedoch nur Einbildung, es findet
gerade das Gegenteil statt. Zum Beweis dafür möchte
ich zum Schluß noch folgende selbsterlebte Geschichte
anführen. Ein alter Förster, der mit Geistesgaben nicht
allzu reich gesegnet war, plagte seine Stammtischgenossen
sehr häufig mit Bitten um Samen seltener Blumen. Da
gab ihm eines Tages einer dieser Herren ein Schächtelchen
mit den kugelförmigen Exkrementen von Kaninchen mit
der Bemerkung, das sei der seltenste Blumensamen,
den es gebe. Zu Hause merkte aber die Frau Förster,
daß man ihren Mann nur uzen wolle, und verrieb diesen
„Samen“ mit Schmalzler und schüttete die Mischung
in die Dose ihres Gemahls, diesen genau instruierend.
Der Stammtischabend kam, der Förster ließ zum Willkomm
seine silberne Dose kreisen, und nachdem alle reichlich
geschnupft, fragte einer der Herren: „Nun, Herr Förster,
was ist denn aus dem seltenen Blumensamen geworden ?“
Genau der Weisung seiner Gattin antwortetete dieser
mit der größten Gelassenheit: „Den haben die Herren
soeben geschnupft.*
Drei südamerikanische Sagen.
I. Los Penitentes.
Zwischen den Stationen Punta de Vacas (Kühe-
station) und Puente del Inca (Schwefelkalkquellen)
hat die im Talwege des Rio Mendoza gebaute Trans-
andinische Bahn eine Höhe von 2780 m über dem
Meeresspiegel erreicht. Steile, zerklüftete imposante Ge-
birgsketten begleiten die Bette der oft sehr launenhaften
Bäche der argentinischen Anden. Besondere Beachtung
verdienen die nach dem Bächlein Tupungato genannten
Berggruppen, die bei La Cumbre (Gipfel) mit dem Kul-
minationspunkt von 3990 m über dem Meeresspiegel die
Grenzlinie zwischen Argentinien und Chile darstellen.
„Los Penitentes“ (Die Büßen) heißt der Mittel-
punkt dieser natürlichen Scheidewand zweier mächtigen
Schwesternationen des südamerikanischen Kontinents:
Knieende Riesengestalten, die Hände zum Himmel
emporgestreckt, hat hier die Natur aus den Felsen
gebildet. Ein greiser Andenführer erzählte uns dar-
über:
Dies geschah in den Zeiten, als die Wege nur wenigen
in den Bergen bekannt gewesen waren. In dem Tale,
das man heute Punta de Vacas nennt, herrschte der
mächtige Kazike Zoli. Er hatte eme sehr zahlreiche Fa-
milie. Zwanzig Söhne gebar sein Weib. Die Jagd des
Guanaco, Kräuterwurzeln und die Forellen des kristall-
hellen Gebirgswassers befriedigten im vollen Maße die
bescheidenen Ansprüche dieser Naturkinder. Das Volk
war glücklich. Die Söhne Zolis wuchsen heran, im ganzen
Lande hätte man keine herrlicheren Jünglingsgestalten
finden können. Beim Steinwerfen, Ringen und Pfeil-
schießen blieben sie unübertroffen, ihr tödlicher Lanzen-
wurf war sehr gefürchtet, und sie benannten sich „Abaré“
(Aba-re = außergewöhnlicher Mensch), die tapfersten des
Stammes. Geblendet von der außergewöhnlichen Kraft
und den körperlichen Vorzügen gewährten Zolis Spröß-
linge dem Laster des Hochmutes eine willige Aufnahme.
„Abaré“ wurden zum Schrecken der Nebenmenschen und
entblödeten sich nicht, sogar den großen Geist in die
Schranken zu fordern.
„Mond und Sterne, neiget euch in Ehrfurcht vor uns,
denn wir sind mächtiger als der große Geist, welcher
euch geschaffen hat!“ riefen die Entarteten nachts dem
Gewaltigen zu. Da geschah, was vorauszusehen war:
die Erde erzitterte gar heftig, Feuersäulen stiegen rings-
um empor, und das im tausendfachen Echo widerhallende
Donnerrollen verkündete den Tag der Vergeltung. Das
Tal wurde verschüttet, darin die Menschheit vernichtet
und die Frevler in Steinfiguren verwandelt, in „Los Pe-
nitentes“, welche die Nachwelt vor dem Hochmut warnen
sollen 2).
U. Der Ipacaraysee.
Die Eisenbahn von Asunción nach Villa Rica und
Pirapö hat historische Bedeutung: Die Teilstrecke Asun-
cion—Paraguari ist nämlich der älteste Schienenweg von
ganz Südamerika; er wurde unter der Selbstherrschaft
Lopez’ angelegt. Die Bahn führt durch Wald und Weide-
land. Rein und erfrischend weht die Luft von den Bergen
und ist durchtränkt von dem Duft der ausgedehnten Apfel-
sinengärten und der herrlichsten Blumenwelt. In Tri-
nidad, das man in wenigen Minuten erreicht, bietet man
dem Reisenden ein Glas Milch frisch von der Kuh weg.
Dann kommt Luque mit seinem Strohhutgewerbe; Frauen
erscheinen am Zug und tragen auf dem Kopf übereinander-
gestülpt eine ganze Anzahl breitrandiger Schattenspender,
sie schalkhaft zum Kauf anbietend. An Areguä vorüber
gelangt man nach Patino-cue, beides malerisch gelegene
Ortschaften. Hier zweigt eine Straßenbahn auf Holz-
schienen ab und führt nach dem Ipacaraysee.
Wir machten den Abstecher, bestiegen den kleinen,
qualmenden Dampfer „Flecha“ und fuhren in nordöstlicher
Richtung hinüber nach San Bernardino, dem „Nizza Pa-
raguays“. Weiß blinkende Landhäuser, am Seegestade wie
an den baumüberrauschten Berghängen verstreut, laden den
Wanderer zur Einkehr. Hier kann man nach Herzenslust
jagen, fischen, kühlende Bäder nehmen in dem klaren
Wasser; hinten im Walde winkt die Bismarckschlucht dem
Freunde unberührter Naturschönheit. Der See hat 20 km
Länge, 4km Breite und eine Tiefe von 1 bis 4m; er wird
von dem Pirayufluß gespeist, der die Wasser des Löwen- und
Tomasgebirges sammelt. Sein Abfluß im Nordwesten, der
Salado, geht zum Rio Paraguay. An diesen See knüpft
sich folgende Sage:
Wo jetzt der See seine Wellen kräuselt, lagen einst
weite Jagdgründe, fruchtbare, honigreiche Gefilde und
Ansiedelungen der Menschen, Da brach eine große Dürre
herein, so daß alle Brunnen vertrockneten bis auf einen;
dieser wurde mit Schildwachen umstellt, damit er nicht
verzeitig erschöpft werde. Eines Tages erschienen zwei
weißgekleidete Frauen, Mutter und Tochter, alt und weiß-
haarig die eine, jung und goldhaarig die andere, und
1) „Penitentes“ nennt man in den Anden bekanntlich
auch die Schneefiguren, die unter dem Einflusse der Sonnen-
strahlen Menschengestalt angenommen haben. Von weitem
gleichen sie weißgekleideten Mönchen (Monjes penitentes).
Seljan: Drei südamerikanische Sagen. 95
baten um der Barmherzigkeit Gottes willen, ihren Durst
stillen zu dürfen. Aber alles Bitten war umsonst; die
Wachen stießen sie zurück, und in der Nacht erlag das
Mädchen den Qualen des brennenden Durstes. Da ver-
fluchte die verzweifelte Mutter am Leichnam des Kindes
diese Stätte der Herzlosigkeit und schrie zu Gott, er solle
dem grausamen Volke Wasser schicken, so viel, daß man
es nicht bewältigen könne. Kaum war das Wort gesprochen,
rauschte es hohl auf in dem Born, und Wassermassen
brachen hervor so gewaltig, daß bald das ganze Tal über-
schwemmt war; zuletzt stieg die Flut bis zum Gipfel der
Berge und vernichtete das ganze Geschlecht der bösen
Anwohner.
II. Jandira.
Der Itarare, ein Grenzfluß zwischen den Staaten
S. Paulo und Paranä, ist der interessanteste Zufluß des
Stromes Paranäpanema, weil dessen unterirdischer
Lauf zu den seltensten Naturschönheiten Brasiliens gezählt
werden darf. Das Wort „Itararé“ gehört der Tupi-Guarani-
sprache an und bedeutet: „Der Felsen, in dessen Innern
das Wasser rauscht“ (ita-rare).
Der Itararé befindet sich 1 km südlich des Städtchens
S. Pedro, seine Wassermassen stürzen in einen 20 m tiefen
Abgrund und verschwinden plötzlich in einer unter-
irdischen Galerie, um erst nach 30 km wieder an das
Tageslicht zu treten. Der Abstieg in die Unterwelt dieses
„Styx“ von Südamerika, so darf man mit Recht diese
Stelle nennen, ist beschwerlich und gefährlich, aber man
wird durch den Genuß eines wahrhaft grauenvoll-schönen
Schauspieles entschädigt. Eine Sage berichtet uns, wie
dieses Naturwunder entstanden ist; wir geben sie
wieder:
„Itararé? — wissen Sie was dies bedeutet?“ fragte
uns ein alter Caboclo (so nennt man die Eingeborenen
im Innern von Brasilien). „Ein Stein, in dessen Innern
das Wasser rauscht“, war die Gegenantwort. — „Nein!
Der Stein des Fluches heißt er. Dies ist der ehemalige
Fluß Mandü, er war einst groß und reich an Fischen.
Die Ufer waren von dichtem Urwalde bedeckt und an
Jagd mangelte es nicht. Alles ist nun dahin, weil...“ —
„Weil...?* fragten wir neugierig. —
„Ja, dies ist eine andere Geschichte, doch wenn sie
wollen, so werde ich erzählen.“ —
Der Alte begann:
Viele Jahre sind dahin, ich war noch ein Kind, als
diese Geschichte von einem graubärtigen Häuptling er-
zählt wurde. Ich lasse das Wort dem Kaziken:
Die Indianerstämme zogen sich von den Ufern des
Paranäpanema in dieses Tal zurück, weil ihre Existenz
von den Bleichgesichtern bedroht war. Die Urwälder
wurden ausgerodet, das trockene Holz in Brand gesteckt
und Mais angebaut. Sobald die Ernte vorüber war, zogen
die Eindringlinge weiter. Die Vernichtung unserer Wälder
wurde fortgesetzt. Öde Heide nahmen die Stellen unserer
trauten Wohnstätten (Aldejas) ein, und wir waren ge-
zwungen, gleich einem gehetzten Wild, verfolgt von den
Weißen, ins Innere zu fliehen.
Eine Nacht wurden wir trotz unserer Wachsamkeit
überrascht. Unsere mit Curare vergifteten Pfeile konnten
den mit Panzerhemden geschützten Angreifern nicht
schaden. Ein Teil der Krieger blieb tot auf dem Schlacht-
felde liegen, während die anderen zu Gefangenen gemacht
wurden.
Das Unglück wäre nicht so groß gewesen, wenn nicht
Jandira, die Tochter des großen Häuptlings, dem Sieger
in die Hände gefallen wäre.
Alle Stämme des Südens wurden zu dem großen Rate
eingeladen und beschlossen, Jandira, die Perle unserer
Aldejas, um jeden Preis zu befreien. Die Männer schnitzten
Pfeile, während eine Hexe den Auftrag erhielt, ein be-
sonderes Gift zuzubereiten. Mit Federn geschmückt ging
die Alte in den Wald, sie lauschte dem Geplapper der
Papageien die Geheimnisse der Natur ab und kam beladen
mit verschiedenen Pflanzen zurück. Abseits des Lagers
kochte die Hexe das Gift; blaue Dünste stiegen in die
Luft, und plötzlich fiel die Alte um, sie war tot. Niemand
aber wagte sich der Stelle zu nahen. Man wartete die
Gärung ab, erst dann wurde die Zauberin begraben,
während wir unsere Pfeile in die Giftmasse eingetaucht
hatten, um den Kriegspfad zu betreten.
Da gebot der greise Priester unseres Stammes: „Halt,
Toren! wollt ihr ins Verderben ? Gegen die Bleichgesichter,
die nur mit Feuerwaffen kämpfen, ist euch der Tod sicher.“
— „Was sollen wir tun?“ fragten wir den Alten.
„Sendet einen Krieger in das Lager der Feinde, er
soll die Rolle des Angebers spielen. Man wird ihm glauben,
und er wird Gelegenheit haben, Jandira zu sprechen.
Der Hauptmann der Bleichgesichter ist wahnsinnig ver-
liebt in den Stolz unseres Stammes, es wird Jandira nicht
schwer fallen, ihm nebst seinen Genossen gelegentlich
eines Festes den Arirú (Schlaftrunk) zu kredenzen.
Sobald dann eine Nacht der dreimalige Ruf des Ma-
cucú das Gelingen unseres Planes verkünden wird, hat
die Stunde der Vergeltung geschlagen; kein Bleichgesicht
darf uns entkommen, und deren Köpfe werden die Pforten
unserer Tapuis schmücken.“
Allgemeiner Jubel hieß die Worte des Priesters will-
kommen. Aber es vergingen Tage auf Tage, man wartete
vergeblich auf den Ruf des Macucü. Die Liebe des weißen
Heerführers fand Gegenliebe bei der schönen Jandira.
Der abgesandte Krieger mußte ohne Erfolg zurückkehren,
an Rache war nicht zu denken. Jandira wurde vom Stamme
verflucht, und wir flohen an die Ufer des Ivahy. Arme
Jandira! Der Himmel ließ sie schwer den Verrat büßen.
Eines Tages kam eine weiße Frau mit vielen Pagen und
Gefolge unverhofft ins Lager. Hart stritten die beiden
Frauen um den Besitz des Geliebten, da sagte Jandira
zu dem Hauptmann Antonio: „Ich ziehe mich zurück an
die Ufer des Mandü; wenn du mich liebst, so wirst du
kommen, ehe der Mond hinter den blauen Bergen ver-
schwunden ist. Wenn nicht, so nimm meinen Abschied
entgegen, denn ich werde meine Füße mit Cipo (Schling-
pflanze) fesseln und in dem kühlen Grunde des Stromes
mit mir mein Leid begraben.“
Sie ging leichtfüßig wie eine Gazelle, langsam ent-
schwand ihr helles Gewand im Dunkel der eintretenden
Abenddämmerung. Da umschlangen zwei üppige Arme
den ihr nachblickenden Heerführer. „Bleibe Antonio!“
sprach die weiße Sirene, und Antonio blieb.
Der Mond war im Entschwinden, dessen Silberstrahlen
liebkosten eine weiße Gestalt, deren Umriß sich scharf
von dem dunkeln Hintergrunde des Waldes abhob, und
die vergeblich auf den Geliebten wartete. „Antonio!“
gellte ein Schrei durch die stille Nacht. Jandira hatte
ihre Sünde gebüßt.
Am frühen Morgen begab sich Antonio, vom Gewissen
getrieben, auf den ihm von der Indianermaid bezeichneten
Platz. „Jandira! Jandira!“ rief er verzweifelt. „Jandira!
Jandira!“ antwortete höhnisch das Echo. Jandira blieb
unsichtbar; knapp neben dem Felsenufer lag ein aus Wald-
rosen geflochtener Blumenkranz. Antonio stürzte zum
Felsenufer und gewahrte, in die Tiefe blickend, den von
den Wellen umspülten Leichnam der Geliebten. Der
Schmerz machte ihn wahnsinnig, er sprang mit dem Rufe
„Jandira!“ in den Abgrund gerade in dem Augenblick,
als die weiße Frau mit dem Gefolge herangesprengt kam,
um ihn vor der Verzweifelungstat zu retten. „Verflucht
96 Dahms: Tierbau und Tierleben, im Zusammenhang betrachtet.
sei das Wasser, verflucht sei das Mädchen, das mir meinen
Herzallerliebsten geraubt hat!“ Dreimal tönten diese schau-
erlichen Worte aus dem kleinen Munde der zornigen Frau.
Da fielen Blitze vom heiteren Himmel, und unter Donner-
rollen verschwanden der Fluß, die Frau und das Gefolge.
Santiago (Chile), April 1910. Mirko u.Stevo Seljan.
Tierbau und Tierleben, im Zusammenhang betrachtet.
Von Prof. Dr. Paul Dahms.
Die moderne Tierbiologie erstrebt das Ziel, in das Innere
des Lebens einzudringen und seine Beziehungen und Vor-
gänge zu verstehen. Aus bescheidenen Anfängen heraus hat
sie immer mehr und mehr an Boden und Bedeutung ge-
wonnen; sie zeigt keine Einzeltiere mehr, keine Geschöpfe
„an sich“, sondern Glieder des gewaltigen Naturreiches, die
mit dem Ganzen leben und von ihm abhängen. Diese
Wechselbeziehung zwischen Lebewesen und Umgebung zeigt
uns die Tierwelt in einem ganz anderen Lichte als die früher
übliche Zoologie. Die trockene Beschreibung ist vor einer
überlegten und planvollen Betrachtung‘ zurückgewichen, und
vielfach sind die Kenntnisse, die uns die Wissenschaft erst
übermitteln mußte, um das Leben der Tiere in der freien
Natur mit- und nebeneinander verstehen zu können.
Da findet man ein jedes Lebewesen regsam und tätig,
im Kampfe um sein Dasein und in Sorge um die Erwerbung
seiner Nahrung, verfolgend und verfolgt, hineingesetzt als
Mitspieler in das Theater des täglichen Lebens. Zu dem
bloßen äußerlichen Leben, das man dereinst als Hauptmerk-
zeichen eines Tieres ansah, tritt für die Biologie noch das
geistige Leben hinzu. Da kommen bestimmte Kräfte zum
Ausdruck, wie wir sie kaum erwarten. Sie arbeiten nach
eigener Weise und bringen dem Tiere besonderen Vorteil und
Nutzen. Auch in anderer Hinsicht entfalten sich wirksame
Kräfte. Sie gaben der Tierwelt, wie wir sie heute um uns
sehen, ihr eigenartiges Gepräge. In den verschiedenen Or-
ganen und Einrichtungen der Tierwelt erkennen wir Apparate,
die ihre ganz besondere Aufgabe zu erfüllen haben. Sie
wirken als originelle Waffen und Werkzeuge und rufen in
uns den Wunsch wach, das Tier mit ihnen in Tätigkeit zu
sehen. Das führt uns hinein in die Behandlung einer Reihe
von Fragen, durch die man ohne kundigen Führer und Er-
klärer kaum oder nur ungenügend hindurch findet. Gerade
diese Kapitel bieten aber überaus viel Neues und Interessantes.
Sie sind noch lange nicht abgeschlossen, und was wir in
ihnen finden, zeigt steten Wechsel und volles, üppiges Leben.
Abstammung und Vererbung, Anpassung und Mimikry,
Selbstverstümmelung und Regeneration, Zusammenleben
gleichartiger Tiere in Staaten oder in bloßem Nebeneinander
bieten so viel Stoff und so viel verschiedenartige Auffassungen
des Beobachteten, daß man dieses gewaltige Gebiet unmöglich
allein beschreiten kann und darf, will man nicht falsche
Vorstellungen von dem Wirken des Naturganzen in sich auf-
nehmen.
Gerade diese Themen locken immer wieder zum Studium
an, und die Literatur nutzt vielfach dieses Streben aus und
bringt eine Menge von Werken und Werkchen auf den
Markt, um unter dem Deckmantel der wohlwollenden Be-
lehrung in geräuschvoller Weise ein vorteilhaftes Geschäft
zu betreiben. An sachgemäßer Hand eingeführt zu werden
in dieses Reich, wo man die Kräfte der Natur in gemein-
samer Arbeit sich betätigen sehen kann, ist die Aufgabe eines
Werkes, von dem uns der regsame Verlag von B.G. Teubner
in Leipzig vor kurzem den ersten Band geboten hat. „Tier-
bau und Tierleben, in ihrem Zusammenhang be-
trachtet“ ist der Titel des Gesamtwerkes, dessen erster
Teil Richard Hesse, Professor der Zoologie an der Land-
wirtschaftlichen Hochsehule in Berlin, zum Verfasser hat ').
Er behandelt den Tierkörper als selbständigen Organismus
auf 789 Seiten.
Die Aufgabe, die sich der Verfasser stellt, ist in muster-
gültiger Weise gelöst. In verständlicher Sprache, ohne jedes
Beiwerk, führt er in einer Reihe größerer Kapitel, deren
Stoff in Abschnitten noch besonders sichtbar geordnet ist,
glatt sein Thema durch. Am Kopfe jeder Seite finden wir
kurz angegeben, was unten behandelt wird, so daß man beim
bloßen Blättern bereits erkennen kann, wovon gerade die
Rede ist. Falls man eine ganz bestimmte Frage beantwortet
haben möchte, führt ein ausführliches Register zu dem ge-
Zoppot.
1) Preis 20 4.
wünschten Bescheid. Durch die Verwendung zweifachen
Druckes ist in diesem eine übersichtliche Anordnung der
Stichwörter erzielt, während eine Reihe von Fußnoten die
Bedeutung und Herkunft der fachmännischen Ausdrücke
erläutert.
Selbstverständlich ist die Darstellung in dem Bande bei
der Vielseitigkeit des Materials kurz gefaßt, und manchem
Leser mag wohl der Wunsch auftauchen, noch mehr über den
einen oder anderen Gegenstand zu erfahren. Auch für ihn ist
gesorgt. In einem besonderen Literaturverzeichnis wird auf-
geführt, woher die benutzten Untersuchungen nebst ihren
Ergebnissen stammen, und wo man an der Quelle selbst
schöpfen kann. `
Der gesamte Inhalt wird in vier Büchern gegeben, denen
noch eine Einleitung und ein Schluß, „das Ganze und seine
Teile“, beigegeben iste Das erste Buch behandelt die „Statik
und Mechanik des Tierkörpers“, das zweite das Thema „Der
Stoffwechsel und seine Organe“. „Fortpflanzung und Ver-
erbung“, sowie ferner „Nervensystem und Sinnesorgane“
werden im dritten und vierten Buche besprochen. Das erste
Buch zerfällt z. B. in zwei Hauptabschnitte, nämlich die
Körperform und Bewegung einmal bei den Einzelligen und
dann bei den Vielzelligen, den Metazoen. Aus dem zweiten
Teile seien die Abschnitte genannt, um einen Überblick über
die Art zu bieten, wie der Verfasser seinen Stoff behandelt.
Nach allgemeinen Bemerkungen über das Stützgerüst des
Metazoenkörpers und Besonderheiten des Stützgerüstes bei
den Wirbellosen behandelt er die Besonderheiten des Wirbel-
tierskeletts. Allgemeine Bemerkungen über die Bewegungen
der Metazoen und eine Besprechung der Bedingungen des
passiven Schwebens im Wasser und in der Luft schließen
sich daran. Die Ortsbewegung der Metazoen durch Flim-
merung und die der Metazoen durch Muskeltätigkeit werden
des weiteren behandelt. In letzterem Falle wird eine Reihe
von Unterabschnitten geboten: die schrittweise Ortsbewegung,
die Ortsbewegung durch Schlängelung und die Bewegung
mit Hilfe von Hebelgliedmaßen. Auch dieses letzte Kapitel
ist wieder in eine Reihe von Abschnitten zerlegt. Wir er-
fahren, wie das Schwimmen mit Hebelgliedmaßen vor sich
geht, wie Springen, Laufen, Klettern und der Flug erfolgt,
wie ferner das Flugvermögen sich entwickelte und auch
heute noch entwickelt, und schließlich Genaueres über den
Flug der Insekten, über den der Fledermäuse und über den
Vogelflug.
Schlägt man die betreffenden Seiten auf, so wird — wie
bereits erwähnt wurde — eine weitere Teilung geboten und
durch kurze Angaben am Kopfe der Seiten weiteres an-
gegeben. Da heute gerade der Flug und die Flugmaschinen
viel Entgegenkommen finden, ist eg wohl von Interesse, Ge-
naueres über die Behandlung des Vogelfluges zu erfahren.
Hierbei werden nacheinander behandelt: Ruder- und Segel-
flug, Bau des Flügels, Anordnung und Bau der Schwungfedern,
Flügelhaltung, Flugmuskeln, Flugarbeit, Erzeugung des not-
wendigen Luftwiderstandes, Zahl der Flügelschläge, Abflug,
Rütteln, Flug in Schwärmen, Steuerung, Fluggeschwindigkeit,
Flughöfe, Flugleistungen, Flugbild, Schwebe- und Segelflug,
Flugfähigkeit und Bau des Vogelkörpers.
Die gleiche Sorgfalt und genaue Bearbeitung haben auch
die anderen Kapitel erfahren. Die feine und sorgfältige
Durchführung wird durch die ruhig dahinfließende Dar-
stellungsweise in würdiger Weise gehoben. Wesentlich zur
Erklärung des Gebotenen tragen die vielen Abbildungen bei,
von denen 480 im Texte verteilt sind; 12 von ihnen illu-
strieren allein das über den Vogelflug Gesagte. Neben diesen
Bildern sind dem Bande noch 15 Tafeln in Schwarz-, Bunt-
und Lichtdruck nach Originalen von Künstlern beigegeben,
die dem Buche zur besonderen Zierde gereichen.
Nochmals sei darauf hingewiesen, daß die Behandlung
des ganzen Materials durchaus dem Stande der heutigen
Wissenschaft entspricht. Die ruhige, sachliche und klare
Darstellung des gewaltigen Materials und die eigene Meinung
des Verfassers, die vermittelnd, berichtigend und erläuternd
überall hervortritt, stellen das Werk als ein fest in sich ab-
geschlossenes Ganzes hin.
Bücherschau. 97
Bücherschau.
Hanns Vischer, Across the Sahara from Tripoli to
Bornu. XIV u. 308 S. mit Abb. u. 1 Karte. London
1910, Edward Arnold. 12s. 6d.
In diesem anschaulich geschriebenen Buche schildert der
Verfasser, ein in England naturalisierter Schweizer und Kolo-
nialbeamter in Nord-Nigeria, seine auch im Globus erwähnte
Reise von Tripolis über Mursuk und Kauar nach Bornu, Juli
bis Dezember 1906. Seine Route, wie sie auf der dem Buche
beigegebenen Kartenskizze in 1:4000000 (vorher im „Geogr.
Journ.“ veröffentlicht) dargestellt ist, entspricht zwischen
Tripolis und Mursuk dem Richardson-Barthschen Reisewege
von 1850 und folgt weiter südlich bis zum Tschadsee (Ngigmi)
der bekannten alten, heute verödeten Karawanenstraße nach
Kuka, die ja schon von mehreren Forschern begangen worden
ist. Der letzte von ihnen ist Monteil, 1892, von dem wir
auch — von dem neuerdings einige Male von französischen
Offizieren geschilderten südlichsten Stück Kauar-Ngigmi ab-
gesehen — die jüngste Beschreibung der Straße besitzen.
Konnte Vischer somit geographische Entdeckungen dort nicht
mehr machen, so war er doch eben seit 15 Jahren wieder
der erste Europäer, der jenen auf den ruhmreichsten Blättern
der Erforschungsgeschichte Afrikas verzeichneten Wüstenweg
verfolgen konnte, und da sich in seinem Bereiche, wie wir
hier erfahren, mancherlei geändert hat, so darf die Erzählung
Vischers Interesse beanspruchen.
Die heutige Saharaforschung liegt in den Händen des
französischen Militärs, der gelegentlich auch von Gelehrten
begleiteten Offiziere der Kamelreiterkompagnien, für die
weder die Natur der Wüste, noch deren Bewohner ernstliche
Hindernisse mehr bieten. Die Vischersche Expedition er-
innert mehr an die alte Zeit: er befehligte keine Kolonial-
truppe, die es mit dem Teufel aufnimmt, sondern stand an
der Spitze einer kleinen Karawane furchtsamer Mekkapilger
aus dem Sudan und befreiter Sklaven aus Tripolitanien, die
mit Weib und Kind in ihre alte innerafrikanische Heimat
zurückzukehren wünschten. Kein Wunder also, wenn sich
außerhalb, ja auch innerhalb des Machtbereichs der türkischen
Garnisonen alle die Schwierigkeiten wiederholten, von denen
uns Rohlfs oder Nachtigal erzählen. So machen Tibbu und
Asger-Tuareg gemeinsame Sache, um den großer Goldschätze
verdächtigen Reisenden bei Tedscheri zu ermorden und zu
berauben, und es setzt einen — anscheinend unblutigen —
Kampf, in dem es ihm gelingt, die Tuareg zu verjagen und
die Tibbu einzuschüchtern. In diesen Fährlichkeiten erweist
ihm eine alte Tibbufrau, eine mit ihm reisende Mekkapilgerin,
mit ihrem Mut, ihrer Energie, ihrem Rat und ihrer Mund-
fertigkeit wertvolle Dienste, bis er in Bilma in der Oase
Kauar die französische Truppenabteilung antrifft, die sie
kurz vorher besetzt hatte, und in derem Schutze er nun be-
quem Bornu erreicht.
Auf seinem ganzen Marsche hatte Vischer wiederholt
Gelegenheit zu beobachten, wie die Wüste immer 'mehr auf
die Oasen eindringt und ihre Gärten und Palmenhaine mindert.
Gleich das noch zur Zeit Barths blühende Misda, wo es seit
12 Jahren nicht geregnet hatte und die Brunnen austrockneten,
war in traurigem Zustande. Im Wadi Schiati war dasselbe
der Fall. Mursuk mit seinen 3000 Einwohnern (nach Nachti-
gal noch 6500) sah auch schon recht ruinenhaft aus. In
Gatrun, Kauar und weiter südlich drohte die Wüste ebenfalls.
Aber Vischer glaubt mit Recht nicht an Klimaverschlechterung,
sondern sieht die Gründe für die Erscheinung in der Ab-
nahme der Menschen, die vor der schlechten Verwaltung (in
Fessan) oder der Unsicherheit (in der Wüste) das Feld räumen.
Einen Fall, daß eine Gewitterwolke sich entlud, der herab-
strömende Regen aber nicht den Boden erreichte, beobachtete
Vischer im Oktober bei Yat (S. 244). 8.262 kommt er auf
Grund von Beobachtungen in Bilma zu der Anschauung, daß
eine regelmäßig benutzte Zugvogelstraße aus Innerafrika
durch die Wüste nach Norden führt. 8.266 berichtet er von
dem „singenden“ oder „sprechenden“ Berg Jetko in Kauar,
der durch sein Geräusch nach Ansicht der Eingeborenen das
Nahen der Karawanen ankündigt. An dem Wege südlich
von Bilma hat Vischer in heute verlassenen Oasen die Spuren
prähistorischer Bewohner, einige neolithische Steinbeile ge-
funden, die Stücken aus der Gegend zwischen Bilma und
Air und aus dem Haussalande gleichen. P. Sarasin be-
schreibt sie kurz (ohne Abbildung) im Anhang.
Als Vischer in Tripolitanien und Fessan war, waren diese
türkischen Gebiete Verbannungsorte für türkische Beamte
und Offiziere mit liberalen, fortschrittlichen Anschauungen —
Jungtürken. Diese, hochgebildete Leute, lebten dort in teil-
weise recht elenden Verhältnissen, hielten aber am Vertrauen
in die Zukunft ihres Vaterlandes fest, klagten nicht, sondern
bewiesen sich dort als Kulturträger, indem sie z. B. Schulen
einrichteten. Es war das vor der türkischen Revolution.
Von den Mitgliedern der als so fanatisch verschrieenen
Senussisekte erfuhr Vischer viel Freundlichkeit und Unter-
stützung. Vischer glaubt nicht an den ihr zugeschriebenen
wilden Fanatismus, obwohl sich ja die — unseres Erachtens
durchaus verständliche und berechtigte — Feindschaft gegen
die Franzosen nicht ableugnen läßt. Vischer meint, das
heutige Oberhaupt der Sekte werde sicherlich nicht den
heiligen Krieg predigen; das wäre wohl auch zwecklos an-
gesichts der Rassen- und Interessengegensätze unter ihren
Anhängern. Wir erfahren, daß dank den Senussi heute der
Teegenuß die Saharavölker beherrscht, und das schon in
einem Maße, daß eine Einschränkung eine Wohltat für sie
wäre. — Wie aus diesen Andeutungen hervorgehen dürfte,
enthält das Buch Vischers manches Interessante und auch
Neue. Einige nach Photographien und Skizzen hergestellte
Abbildungen sind ihm beigegeben. Singer.
Karl Baedeker, Südbayern, Tirol und Salzburg, Ober-
und Nieder-Österreich, Steiermark, Kärnten und Krain.
Handbuch für Reisende. 34. Aufl., XXVIII u. 6768. mit
73 Karten, 16 Plänen und 11 Panoramen. Leipzig 1910, Karl
Baedeker, 8 fb.
Die 34. Auflage, die der vorigen gegenüber stellenweise
ein wenig gekürzt, an anderen Stellen etwas erweitert ist,
zeigt wieder mancherlei Neues. So hat sich die Zahl der
beschriebenen Routen um einige vermehrt. Das Kartenmaterial
ist ebenfalls von neuem vermehrt worden. Man sieht es gleich
am Abschnitt über München. Enthielt die 33. Auflage einen
Plan von München in 1: 13250, der aber nicht die ganze Stadt
umfaßte, so begegnen wir diesmal einem Plane von ganz München
in 1:30000 (mit Übersicht von Nymphenburg) und außer-
dem einem kleineren Ausschnitt aus jenem älteren Plan, das
Stadtinnere darstellend. Es sind ferner mehrere Spezialkarten
hinzugekommen, oder es sind ältere Blätter durch neuere er-
setzt (z. B. Umgebung von Innsbruck, Umgebung von Brixen,
Bozen, Meran, Ischl, Gastein, Bregenz). Daß endlich auch
der Schlern ein Panorama erhalten hat, ist ebenso zu billigen
wie die Beigabe eines Panoramas der Aussicht vom Pfänder.
Das dritte neue Panorama betrifft den Monte Pian bei Schluder-
bach. Daß im Text in den Einzelangaben überall geändert
und gebessert worden ist, versteht sich von selbst. Da hat
das eine Gasthaus ein Lob erhalten, einem anderen ist es
gestrichen worden, oder es hat eine Berichtigung der Preise
stattgefunden. So waren im vorigen Jahre z. B. in gewissen
Orten der Dolomiten dank einer gewaltigen Reklame mit diesem
Alpengebiet und der Einrichtung von ein paar mangelhaften
Automobillinien die Preise recht ansehnlich in die Höhe ge-
gangen, so daß der Baedeker von 1908 hier gar nicht mehr
stimmte. Jetzt ist nun auch in dieser Beziehung anscheinend
alles up to date.
Dr. R. Trebitsch, Bei den Eskimos in Westgrönland.
Mit ethnologischem Anhang von Dr. M. Haberlandt. Mit
62 Abbildungen und 1 Karte. Berlin 1910, Dietrich
Reimer. 8 wA
Schon der Titel sagt, daß wir wesentlich Neues hier
nicht erwarten können, denn Grönlands Westküste, die von
Frederikshaab bis Upernivik der Verfasser auf einer Sommer-
reise kennen lernte, ist geographisch wie ethnographisch vor-
züglich erforscht. Aber trotzdem wird man die frischen
lebendigen Schilderungen gern lesen und sich an den wohl-
gelungenen photographischen Aufnahmen erfreuen, die uns
die Grönländer in den verschiedensten Lebenslagen vorführen.
Dr. Trebitsch hat es verstanden, obwohl längst europäische
Kultur über Westgrönland hinging, vorzüglich ethnographisch
zu sammeln. Seine Ausbeute, darunter manches alte Stück, hat
im Kustos des Wiener ethnographischen Museums, Dr. Haber-
landt, einen sachkundigen Bearbeiter gefunden. Von Wert
sind auch die phonographischen Aufnahmen des Verfassers
und die von ihm mitgeteilten Lieder und Gesänge der Grön-
länder.
J. Stiny, Die Muren. Versuch einer Monographie mit be-
sonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in den Tiroler
Alpen. Mit 34 Abbildungen. Innsbruck 1910, Wagnersche
Universitätsbuchhandlung. `
Der Verfasser versucht auf Grund eigener Untersuchungen
und eines Teils der großen Literatur über die Muren ein
zusammenfassendes Bild der wissenschaftlichen Seite des
Phänomens zu geben, während die technische (Murenver-
98 Kleine Nachrichten.
bauung) höchstens gestreift wird. In systematischer Behand-
lung der Erscheinung nach allen Gesichtspunkten wird den
Bedingungen ihrer Bildung im einzelnen nachgegangen.
Verfasser hat eine große Menge eigener Beobachtungen und
Messungen hinein verarbeitet, wie auch die Bilder meist nach
eigenen Aufnahmen des Verfassers hergestellt sind. Das Buch
gibt eine recht anschauliche übersichtliche Schilderung und
ist zur Einführung in die Fragen wohl geeignet. Aufgefallen
ist uns, daß die Profile 8. 115 und 116 verkehrt gedruckt
scheinen, sowie daß die Profile ohne Längenmaßstäbe sind.
Ein umfängliches Literaturverzeichnis schließt das Buch ab.
Vollständigkeit ist bei der Zersplitterung der Literatur über
die Muren natürlich gänzlich unmöglich; vor allem sind, wie
der Titel angibt, die Tiroler Verhältnisse berücksichtigt. Gr.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— In seinem Beitrag über die Binnenkonchylien von
Deutsch-Südwestafrika und ihre Beziehungen zur
Molluskenfauna des Kaplandes schreibt O. Boettger
(Festschr. zum 70. Geburtstage von W. Kobelt, 1910), daß
die xerophilen Landschnecken in unserer dortigen Kolonie
fast alle den mittleren und südlichen Gebieten, während
die an größere Feuchtigkeit gebundenen Landschnecken
dem Norden des Gebietes angehören. Ein Zug der Ge-
meinsamkeit, ja der Übereinstimmung mit dem portugiesi-
schen Gebiet im Norden der Kunene ist unverkennbar; um
so schroffer trennt sich die Fauna von der der britischen
Gebiete im Osten und Süden, wenn man von Klein-Nama-
land absieht, das in seiner Schneckenfauna noch ganz mit
Groß-Namaland übereinstimmt. Eine ganze Reihe wichtiger
Familien vom Kapland wie von Natal fehlen unserer Kolonie.
Geradezu frappierend ist der Mangel jeder Art der Fleisch-
fressergattung Ennea, während als gemeinsame Züge das
Fehlen der Vivipariden und das auffallende Zurücktreten der
Ampulariiden und Melaniiden zu gelten haben.
— Über die Lebensweise des Diplodocus schreibt
O. Abel (Abhandlgn. der k. k. zool.-botan. Gesellsch. in
Wien, 5. Bd., 1910), daß er sich vorwiegend in Wasser auf-
hielt und sich zweifellos von flottierenden Süßwasserpflanzen,
wahrscheinlich hauptsächlich Algen, nährte. Diese Tiere
waren Bewohner einer Gegend, in welcher sich weite, seichte
versumpfte Seen und langsam dahinfließende Ströme be-
fanden, wo sich Sümpfe weithin ausbreiteten. Dann kann
man als feststehend erachten, daß Diplodocus kein kriechendes
oder sich fortschiebendes, sondern ein schreitendes Tier war,
wobei der Schwanz nicht in freier Balance getragen, sondern
auf dem Boden nachgeschleift wurde; er diente zusammen
mit den säulenförmigen Hinterbeinen als wichtige Stütze der
schweren Beckenregion. Der Gang dieses Tieres war zwei-
fellos sehr langsam und sehr schwerfällig; es ist kaum an-
zunehmen, daß es ein so schnelles Tempo wie die Elefanten
einzuschlagen vermochte. Wahrscheinlich hielt sich der
einzelne Diplodocus ruhig so lange an einer Stelle im Wasser
auf, bis er daselbst keine Nahrung mehr fand. Beim Schrei-
ten dürfte diese Art den Hals in ähnlicher Weise auf- und
abwärts bewegt haben, wie es die großen straußartigen Vögel
zu tun pflegen.
— In seinem Werke über die Geographie der Farne
(Jena 1910) gibt H. Christ auch einen florengeschicht-
lichen Überblick. Die Selbständigkeit dieser Familie be-
steht einmal in ihrer tief in ältere Erdperioden zurück-
reichenden systematischen Stellung und Abstammung, dann in
ihrer mesotherm hygrophytischen, aus den Klimaverhältnissen
der alten Perioden ihnen anhaftenden Natur. Das große
Sammel- und Reservegebiet der tertiären Farne ist die tro-
pische Waldflora der Alten und Neuen Welt. Hier haben
sich die tertiären und noch viel ältere Typen erhalten,
wenn auch im Laufe der Zeiten durch Variation, Mutation
und Hybridation vielfach abgeändert. Gleichwertig tritt
diesem Gebiet die chinesische Flora zur Seite, ein Refugium,
um der durch die Eiszeit verödeten gemäßigten Zone der
beiden nördlichen Hemisphären den Hauptstock ihrer Farne
durch Rückströmung wieder zuzuführen. Denn daß zur
Tertiärzeit der Norden so gut die Farne wie die übrige Wald-
flora des mesotherm feuchten Klimas besaß, scheint außer
Zweifel zu stehen. Dann zerstörte diesen tertiären Wald mit
seinen Farnkräutern die Vereisung; dabei ist unserer Familie
diese Rückwanderung dank der strengen Auswahl geschützter
Standorte in relativ stärkerem Umfang gelungen als den
Blütenpflanzen. Als Relikt der Eiszeit und als endemisches
Produkt des Hochgebirzes findet sich dann eine kleine Gruppe
arktisch-alpiner Farne, die genau mit dem arktisch-alpinen
Element der Phanerogamenflora parallel gehen. Von den
Gebieten, meist Hochländern, welche schon während, jeden-
falls aber nach der Tertiärzeit austrockneten, versteppten
oder sich mit Hartlaubgewächsen bedeckten, nahmen die
xerophytischen Farne Besitz, welche die heutige mediterrane,
altafrikanische, mexikanisch-kalifornische und brasilische
Camposflora charakterisieren. Die großen desertischen und
Steppenebenen der Alten und Neuen Welt haben keine Farn-
flora. In der Südhemisphäre ist die farnreiche Waldflora
Neuseelands und Ostaustraliens von entschieden tertiärem
Gepräge: durch zirkumpolare Ausstrahlungen weist sie nach
dem Süden von Amerika und Afrika auf ein altes Zentrum,
dessen Lage heute noch nicht ermittelt ist. Die Hochgebirge
der Tropen haben, außer den Anden, eine spezielle Farn-
flora nicht hervorgebracht.
— In betreff des Winterhimmels des Hochgebirges
und des Tieflandes kommt H. Bach (Zeitschr. f. Balneol.,
3. Jahrg., 1910) zu dem Resultat, daß ersterer in jeder Be-
ziehung vor dem des Tieflandes begünstigt ist. Wolken,
Nebel und Feuchtigkeit beeinträchtigen nur sehr wenig die
strahlende Kraft des Sonnenlichtes, das in reichster Fülle
auf die vom Schnee bedeckte Landschaft herniederflutet. Und
selbst wenn auch der Alpenhimmel von Wolken bedeckt ist, ist
doch die allgemeine Helligkeit des Lichtes immer noch weit
stärker alsin der Ebene. Unter diesen Umständen darf es nicht
verwundern, daß auch die Zahl der Gesunden, die im Winter
das Gebirge, und sei es auch nur für wenige Wochen, zur
Erholung aufsuchen, von Jahr zu Jahr zunimmt. Es gibt
heute bereits eine stattliche Anzahl von im Berufe Befind-
lichen, die zu diesem Zwecke ihre Ferien in den Winter
verlegen. Ganz abgesehen von dem nicht zu unterschätzenden
physischen Einfluß der Sonne auf den Menschen ist eben der
rein psychische Faktor des Sonnenscheins für Gesunde und
Kranke nicht hoch genug zu veranschlagen.
— Der Zimt des Königs von Annam. Der zur
Gattung der Lauraceen gehörige Zimtbaum ist über ganz
Indochina verbreitet, er wächst wild in Kambodscha und
Kotschintschina, im Süden der hinterindischen Halbinsel wie
in Tonkin. Angepflanzt wird er dagegen nur wenig, von
einigen Mois, Pasis und Ssedangs auf Veranlassung der Missio-
nare. Wild kommt er u. a. im ganzen Bereich der anami-
tischen Gebirgskette vor, wo er vor allem in zwei Gebieten
ausgebeutet wird: 1. in Quang-Nam und Quang-Nai und 2.
in Thanh-Hoa. In den beiden zuerst genannten Gebieten
erfolgt die Ernte durch Mois, die mit ihren Zimtlasten
jährlich zu bestimmter Zeit in die Ebene hinabsteigen und
sie da an die Anamiten verkaufen, die wiederum Agenten der
Chinesen sind. à
Der Thanh-Hoa- oder „Königszimt“ hat infolge der ihm
zugeschriebenen Heilkräfte bei den Chinesen einen derartigen
Ruf, daß er mit Gold aufgewogen wird. Er ist kein Kultur-
produkt, sondern kommt allein von wilden Bäumen her.
Seinen Namen hat er daher, daß allein ihn der König ver-
braucht; er ist Eigentum der Distriktshäuptlinge. Wenn
ein solcher Zimtbaum — so berichten Perrot und Eberhardt —
in den Bergen von den dort Holz fällenden Eingeborenen
gefunden wird, so versehen sie ihn mit einem Merkzeichen
und benachrichtigen sofort den Distriktschef. Dieser setzt
davon den Residenten der Provinz in Kenntnis und ersucht
um Entsendung von Beamten, die der Entrindung des Baumes
beiwohnen sollen. Es genügt eben nicht, daß der Zimt nur
aus Thanh-Hoa zu kommen braucht, um „Königszimt“ zu
sein; es ist auch erforderlich, daß die französischen und ein-
heimischen Behörden den stehenden Baum in Augenschein
nehmen und ihre Gegenwart beim Fällen dadurch bezeugen,
daß sie auf die geernteten Zimtstücke das Siegel der Resi-
dentur und der Provinzialmandarinen drücken; diese beiden
Zeichen sind notwendig, um die echte Herkunft zu be-
scheinigen.
Der Baum, wird mit Hilfe von Gerüsten von oben ab
völlig seiner Aste beraubt, dann erst schneidet man den
Stamm unmittelbar über dem Boden ab. Alle Aste werden
abgeschält, und die Rinde wird in gleichmäßig 30 bis 40 cm
lange und 7 bis 8em breite Stücke geschnitten. Danach
Kleine Nachrichten. 99
wird jedes Zimtstück mit den offiziellen Stempeln versehen.
Der Distriktschef darf den Zimt erst, nachdem der königliche
Hof seine Auswahl getroffen hat, verkaufen. Die Rinden-
stücke werden gezählt und nun an Ort und Stelle präpariert.
Dieses geschieht dadurch, daß man die Innenseite der Rinden-
stücke mit einem Schaber aus Knochen oder Holz bearbeitet,
um die noch anhaftenden Faserreste zu beseitigen. Auch
die äußere Seite wird von allen Fremdkörpern, wie Flechten
und Moosen, befreit. Die Stücke werden dann in der Sonne
getrocknet, wobei man das Zusammenrollen der Rinde durch
ein Bambusbrettchen verhindert.
Darauf scheiden die Provinzialmandarinen die so zu-
gerichteten Zimtstücke in drei Sorten, nach ihrer Dicke und
der Heimat des Baumes. Sie setzen auch die Preise fest, die
in der Regel 5, 8 und 15 Piaster (je 2,25 Fr.) betragen, und
kaufen zu diesen Preisen die verschiedenen Stücke, die sie
an den königlichen Hof schicken. Dieser sendet die weniger
guten zurück, und dann kann der Distriktschef über den
übrigen Zimt verfügen. Er verkauft ihn an die Chinesen
für den doppelten oder dreifachen Preis, den der Hof bezahlt
hat, und die Chinesen ihrerseits verkaufen ihn weiter mit
einem gehörigen Aufschlag, woraus sich der hohe Preis der
Ware erklärt. Stücke, die der Hof mit 15 Piaster bezahlt
hat, kosten im Handel 40 bis 50 Piaster und mehr. So bringt
ein Baum von 15 bis 16m Höhe in der Regel eine Einnahme
von 5000 bis 6000 Piaster oder 12000 bis 15000 Fr.
— Frauen- und Mädchenhandel in China zur Zeit
der Hungersnöte. In seinem Aufsatze „Prostitution in
China“ (Bd. 97, 8.317) hat Baron Budberg den chinesischen
Mädchenhandel erwähnt, der in Zeiten von Hungersnöten
herrscht. Es mag hier noch einiges von dem nachgetragen
werden, was P. Johann Jesacher aus Poschan in einem
Briefe über die letzte Hungersnot in Ost-Schantung über
jenen Handel mitteilt („Die Kathol. Missionen“, Juli 1910).
Er blüht in solchen Zeiten der Not. Vom Gesetz ist er frei-
lich verboten, aber man weiß es zu umgehen. Die Opfer
werden auf die Märkte für den Frauenhandel gebracht, die
teils ständiger, teils wechselnder Art sind, und da feilgeboten;
der gewöhnliche Marktpreis ist 200 bis 300 #. Es gibt ferner
Handelsreisende, die entweder auf eigene Rechnung oder als
Agenten einer Firma umherreisen, Bräute suchen und ab-
geben, kaufen und verkaufen. Der Handel, den der Ver-
mittler direkt mit den Eltern abschließt, gilt in China nicht
einmal als etwas Schlechtes. Die Mädchen bringen den
Eltern durch ihren Verkaufspreis das Geld, mit dem sie ihre
Schulden zahlen oder Getreide zum Essen kaufen können.
Oft wünschen die Mädchen sich selber dieses Los, weil sie
hoffen, im Hause des Käufers keine Not leiden zu müssen;
der ist ja in der Regel sehr reich und wohl imstande, sich
eine Nebenfrau halten zu können — so wird kalkuliert. Es
kommt dann allerdings manchmal anders, aber man tröstet
sich mit dem Gedanken: Die Eltern haben es so gewollt;
gegen das ihr von den Eltern bestimmte Los wagt eben keine
chinesische Tochter zu murren.
Aber auch Frauen kommen in den Handel. Witwen
ohne Knaben werden fast immer aus dem Hause entfernt,
besonders wenn die Familie arm ist; sie werden einem anderen
Manne zugewiesen und ihre etwa vorhandenen kleinen Mäd-
chen an andere Leute abgegeben oder verkauft. In den
chinesischen Moralbüchern spielen die treuen Witwen, die
nicht mehr heiraten, eine große Rolle; sie erhalten mit dem
50. Lebensjahre eine behördliche Auszeichnung, und ihnen
zu Ehren werden Triumphpforten und Tafeln aus Stein auf-
gestellt. In Wirklichkeit aber kommt es selten vor, daß eine
Witwe ledig bleibt; denn das ist zu teuer. erdies ist sie
gewöhnlich nicht Herrin ihrer Entschließungen, sondern dem
Willen ihrer Schwiegereltern unterworfen. Aber nicht nur
Witwen, sondern auch verheiratete junge Frauen kommen
manchmal auf den Markt, wenn sie keine Knaben haben.
In diesem Falle verkauft sie der eigene Mann in der Zeit
der Not an einen anderen; die Kinder, die als Last betrachtet
werden, fallen für weniges Geld an Liebhaber von Kindern.
Oft wünschen die Frauen selbst wegen Hunger und Not von
ihren Männern getrennt und an andere verheiratet zu werden,
und manchmal geht ein solcher Handel in aller Kälte vor
sich; aber es kommt natürlich auch das Gegenteil vor, und
man sieht dann, daß es in der Tat nur die bittere Not ist,
die zur Trennung geführt hat.
Mehr als gegen den Verkauf selbst richten sich die
Gesetze gegen gewisse dabei übliche Mißbräuche. So gilt es
als schweres Verbrechen, wenn der Unterhändler die Eltern
oder den Mann übervorteilt, d. h. weniger zahlt, als der Auf-
traggeber ihm zur Verfügung gestellt hat. Es kommt aber
selten zu einer Klage. Daß Hunger und Not zahlreiche
Frauen und Mädchen veranlassen, sich freiwillig preiszugeben,
kommt ebenfalls vor, aber das ist ja keine Eigentümlichkeit
Chinas allein.
— Diebstahl und Duell in Buin (Bougainville).
In der „Zeitschr. f. vergleichende Rechtswissenschaft“ teilt
Richard Thurnwald seine Ermittelungen über Einge-
borenenrechte der Südsee mit, zunächst, Bd. XXIII, Heft 3,
über die Rechte in der Landschaft Buin auf Bougainville,
die er näher kennen gelernt hat. Der Diebstahl spielt dort
eine nur geringe Rolle. Es kommt wohl vor, daß sich jemand
Sago, Kokosnüsse, Betelnüsse oder einen Speer aneignet. Ist
der Wert der Sache aber gering, so macht der Bestohlene
nur eine Bemerkung darüber zu den Angehörigen des Diebes,
nimmt ihm gelegentlich, ohne zu fragen, dasselbe weg oder
verbietet ihm, seinen Ort wieder zu besuchen. Man spricht
dann von dem Diebe wie von einem Menschen, der geistig
nicht normal ist. Handelt es sich aber um Wertvolleres,
wurden z. B. Armringe, Muschelgeld, Schweine, größere
Mengen Kokosnüsse, Sagolaub (das zum Bedecken der Dächer
verwendet wird) „gestohlen“, d. h. ohne Erlaubnis des Eigen-
tümers weggenommen, so beginnen Feindseligkeiten. Diese
bestehen anfangs oft darin, daß einer dem anderen mit dem
Speer auflauert oder ihn jagt, ohne daß er aber den Speer
auf den Überraschten wirklich abschleudert. Die Folge ist
dann, daß der andere Angst bekommt und ebenfalls nur
bewaffnet sein Haus verläßt. Diese Feindseligkeiten können
dann durch Zahlung von Äbuta-Muschelgeld beigelegt werden,
oder es kommt zum Duell (Unegu), wie das auch beim Ehe-
bruch mitunter geschieht. Dabei funktioniert ein Häuptling
als Unparteiischer und die Verwandten der beiden Paukanten
als deren Sekundanten. Ist eine erhebliche Verwundung,
und zwar des Übeltäters, zustande gekommen, so gebietet
der Unparteiische Einhalt. Die Sekundanten haben in diesem
Falle darauf zu achten, daß ihr Mann nicht zu schlimm zu-
gerichtet wird, namentlich würden sie, wenn es zum Tot-
schlag käme, diesen sofort an den Angehörigen der Gegen-
partei durch Blutrache vergelten. Auf diese Weise wird
auch der Eifer der Kämpfer etwas niedergehalten.
— Die Besprechung des Buches von E. N. Adler „Von
Ghetto zu Ghetto“ (Globus, Bd. 97, 8.321) endet mit dem
Satz: „Eine Menge wertvoller Illustrationen erhöht den Wert
des Buches“. Nun sind die Illustrationen wirklich muster-
gültig, ich behaupte aber, daß nur die wenigsten von ihnen
Adler gehören. So sind die kaukasischen Juden auf den
Seiten 120, 121 und 123 mein Eigentum, und es ist mir ganz
unbegreiflich, auf welche Weise Adler zu ihnen gelangt ist,
da ich sie nur Dr. Fishberg in New York zur Verfügung
gestellt habe. Ein gewissenhafter Autor soll den Ursprung
der Illustrationen wie auch anderer Entlehnungen nennen,
und da Adler dies nicht tut, so protestiere ich energisch da-
gegen. Dr. 8. Weissenberg.
— Eine umfassende, doch kurz geformte Zusammenstellung
über das Vorkommen von Kugelbildungen in den ver-
schiedenen Sediment- und Eruptivgesteinen der
Rheinpfalz hat Dr. Häberle geliefert. Insbesondere die
Pfälzer Buntsandsteine sind reich daran, wie die Aufzählung
der Fundorte zeigt, doch werden auch außerpfälzer Vor-
kommnisse in den Kreis der Betrachtung gezogen. Die Kugel-
bildungen in den Sedimentgesteinen werden als Konkretionen
erklärt, die der Eruptivgesteine als Produkte der Verwitterung
und Absonderung angesprochen. (Pfälzische Heimatkunde,
VI. Jahrg., 1910, 8. 2. Gr.
— In der neu gegründeten „Geologischen Rundschau“
(1910, Heft 1, 8.1) gibt Tornquist auf Grund der neueren
Arbeiten eine sehr interessante zusammenfassende Schilderung
des Verhältnisses von Alpen und Apennin zu Korsika
und Sardinen. Danach ist die Granitzone im Westen Kor-
sikas und der Osthälfte Sardiniens als südliche Fortsetzung
der helvetischen Grundscholle, d. h. der äußeren alpinen
Zentralzone aufzufassen; sie unterscheidet sich jedoch von
ihr dadurch, daß die in den Alpen vorhandenen, auf den
nördlichen Alpenrand geschobenen Decken hier auf der
Granitzone vollständig fehlen. Die westlich von der Granit-
zone in Sardinien liegenden mesozoischen Gesteine, die von
dem Granit durch einen großen, S— N laufenden Einbruch ge-
schieden und gefaltet sind, entsprechen den subalpinen Zügen
im Westen der Alpen; die im Osten Korsikas auftretenden
mesozoischen Kalkzüge, die nach Osten gerichtete Über-
schiebungen mehrerer Decken und des Granits zeigen, würden
danach zum Apennin gehören. Die Alpen klingen demnach
in der sardisch-korsischen Granitzone aus, sind aber hier
100 Kleine Nachrichten.
auch tektonisch wieder eng mit dem Apennin verwachsen,
so daß eine einfache Abtrennung durch eine quer zum Gebirge
gerichtete Linie nicht durchführbar ist. Das Ausklingen der
alpinen Tektonik zeigt sich deutlich in der allmählichen Ab-
nahme der Deckenüberschiebungen von den Ost- durch die
Westalpen bis Sardinien, während in gleicher Richtung die
nach Osten gerichteten, apenninen Überschiebungen zunehmen.
Gr.
— Über die Kulturregionen Togosäußert sich 8. Pas-
sarge im „Deutschen Kolonialreich“, 2.Bd. (vgl. die Be-
sprechung oben, 8. 33). Vergleichen wir die Kulturverhält-
nisse Togos mit den großen Kulturschichten des Westsudan
und Oberguineas, so ergibt sich nach Passarge ein sehr auf-
fallender Gegensatz zwischen Nordtogo einerseits und Mittel-
und Südtogo andererseits. Im Norden tritt uns eine primitive
Kultur entgegen, die als „primitive Sudannegerkultur“ zu-
sammengefaßt sei. Sie ist höchst wahrscheinlich nicht ein-
heitlich, sondern setzt sich aus mehreren uralten Kulturschichten
zusammen, z. B. aus der nigritischen, der westpapuanischen
und der melanesischen Kultur. Jedenfalls wird sie charakteri-
siert durch das Kegeldachhaus, primitive Bekleidung — wie
Nacktheit, Penisfutterale, Blätterbüschel, Rückenfell, Scham-
tücher aus Fell und Leder — ferner durch Musikbogen,
Flöten, Beile mit eingelassener Klinge, Bogen mit Eicharpe-
Besehnung; dazu kommen Lippendurchbohrung und Zahn-
feilung. In politischer Beziehung ist Kleinstaaterei charakte-
ristisch. Jede Familie wohnt für sich in Einzelhöfen. Auf
viel höherer Stufe steht die Kultur des westafrikanischen
Kreises. Von den für ihn am meisten charakteristischen Ele-
menten sind in Südtogo zu finden: Giebeldachhaus, Holztrommel,
Valiha, Rindenstoffe, Fasergeflechte, mit dem Webstuhl her-
gestellte Pflanzenfasergewebe, die Trommelsprache und viel-
leicht auch das ausgebildete Fetischwesen mit Giftordal,
Gottesurteilen, Menschenfiguren, Maskentänzen und Geheim-
bünden. Die Staatswesen sind im allgemeinen nicht groß,
wohl aber sind aus Giebeldachhäusern bestehende große Dörfer
mit Straßen, in denen mehrere Sippen wohnen, häufig oder
die Regel. Im mittleren Togo stoßen beide Kulturzonen zu-
sammen, namentlich im Bereich ‚der mittleren Zone, wo die
von der Küste ins Hinterland gedrängten Völker, gegen die
aus Norden andrängenden prallend, herumgewirbelt wurden.
Das quadratische Haus mit Kegel- oder Pyramidendach und
Mischung der oben genannten Kulturelemente sind für diese
Region bezeichnend. Später ist das ganze Gebiet durch die
vom oberen Niger stammende Garamantenkultur beeinflußt
worden, und zwar sowohl im Bereich der hochstehenden west-
afrikanischen Kultur, als auch namentlich bei den primitiven
Sudannegern. Bei diesen Sudannegern sind wahrscheinlich
die Tambermaburgen, die Spannringe und Spannmesser in
Nordtogo und eine Streitaxt mit aufgesteckter und oben mit
Eisenbolzen verkeilter Klinge in Mossi, Gurma und wohl auch
Nordtogo als Bestandteile der Garamantenkultur zu erklären.
Der Bogen mit frontaler und davon abgeleiteter temporaler
Besehnung ist im Sudan bei den Völkern, die von den „Roten“
— d. h. Völkern, die den Nubiern und roten Berbern des
Atlas, sowie den heutigen Fulbe nahegestanden haben — ab-
stammen, und in Togo in Tschaudjo sowie Atakpame und
den Waldstädten, in Tamberma und Dagomba zu finden. Hier-
her gehören auch die Armschienen und Helme der Tamberma
und Kabure, sowie deren Altersklassen. Aber auch in das
Gebiet der westafrikanischen Kultur scheint der Einfluß der
„Roten“ gedrungen zu sein. Das beweist das Auftreten des
Lehmkastenhauses in Buem, und ferner zeigen dies in reli-
giöser Beziehung der ausgebildete Götterkreis, der dem der
antiken Welt ähnelt, die Gottheit Mia-no, die dem Ammo und
der thebanischen Götterdreiheit in vieler Beziehung gleicht,
die kegelförmigen Lehmaltäre des Odente und vielleicht auch
die aus drei Kegeln bestehenden Lehmherde in Baika. Auf
die Garamantenkultur des Debo-Sumpflandes weist außerdem
der Reisbau hin, der gerade im Gebiet der Lehmkastenhäuser
so intensiv betrieben wird, und der Messingguß mit Hilfe von
Wachsmodellen in derselben Gegend. Auch die Baumwoll-
weberei mag auf sie zurückgehen. Schließlich hat sich der
Islam kulturell bemerkbar gemacht, und zuletzt auch der
Europäer mit seinem Handel und seiner Kolonisation.
— Wenig hört man im allgemeinen über die Kapver-
dischen Inseln, die den Portugiesen gehören. Deshalb
mögen hier über sie ein paar Einzelheiten mitgeteilt werden
nach einer Veröffentlichung Francisco Manteros, der sich
allerdings vorzugsweise mit den wirtschaftlichen Verhältnissen
der portugiesischen Inseln Westafrikas beschäftigt. Mit we-
nigen Ausnahmen sind die Inseln stark gebirgig, auch ist
das Wasser meist spärlich und schlecht. Regen fällt in manchen
Jahren selten, so daß der Boden wenig ergiebig ist, obwohl
es ihm an Fruchtbarkeit unter normalen Verhältnissen nicht
fehlt. Die Hauptinsel ist S. Thiago, den lebhaftesten Verkehr
aber hat S. Vicente mit seinem Hafen Porto Grande. Sie be-
rühren viele Dampferlinien, ihr Hafen ist der beste der Gruppe,
gegen Wind gut geschützt und mit bedeutenden Kohlenvor-
räten versehen. Infolge des Regenmangels gibt es auf den
Kapverden wenig Wald, spärliche Vegetation und wenig
Bodenbau; manche der Inseln sind überhaupt völlig nackt,
nachdem sie ihre ehemals dichten Wälder infolge vulkanischer
Ausbrüche und der verwüstenden Tätigkeit der unwissenden
Bewohnerschaft verloren haben. Sa. Luzia ist weder bevölkert
noch angebaut, Boa-Vista zeigt wenig Anbau, Sal und Maio
sind unfruchtbar, nur blüht hier die Salzgewinnung. Am
besten ist der Anbau auf 8. Thiago, Santo Antão, S. Nicoläo,
Fogo und Brava entwickelt. Die wertvollsten Produkte sind
Kaffee, Zucker, Branntwein und Rizinusöl, aber nur dieses
wird in erheblicher Menge gewonnen. Was von Zerealien,
Gemüsen und Früchten produziert wird, hat wenig Wert und
dient nur für den eigenen Bedarf der Bevölkerung; der Wasser-
und Regenmangel läßt einen umfangreicheren Anbau nicht
lohnend erscheinen. Die ärmere Bevölkerung lebt im all-
gemeinen von den dürftigen Landeserzeugnissen, vom Handel
mit Rizinus, der Fischerei und der Hafenarbeit. Eine große
Plage sind die schweren, von Regengüssen begleiteten Stürme,
die alles verwüsten. Andererseits herrscht manchmal, wie
angedeutet, Jahre hindurch Dürre, so daß Hungersnot sich
einstellt und einen gefährlichen Umfang annimmt.
— Das Kamel zur Römerzeit in der Schweiz ist
jetzt nachgewiesen. Natürlich handelt es sich dabei um ein
zahmes. In dem von Dr. Jakob Heierli vortrefflich redigierten
Jahresberichte der Schweizer Gesellschaft für Urgeschichte
(Zürich 1910) sind wieder zahlreiche neue Funde aus der
überreichen Römerstation Vindonissa (Windisch) verzeichnet,
und dort berichtet der Zoologe Prof. Konrad Keller auch über
ein Oberkieferbruchstück mit Zähnen, das durch fremdartigen
Charakter unter den übrigen Haustierresten auffiel. Das wilde
Kamel ist seit der Diluvialzeit aus Europa verschwunden, der
vorliegende Kieferrest muß daher von einem als Kuriosität
in die römisch -helvetische Kolonie eingeführten Exemplare
stammen. Keller bemerkt dazu: „Die tierfreundlichen Römer
haben sicher noch andere seltsame Geschöpfe eingeführt.
Haben wir doch schon früher erfahren, daß sie den prächtigen
Pfau zuerst in unser Land gebracht haben, ebenso die hoch-
geschätzten großen Windhunde, die vorher unbekannt waren.“
— Der japanische Kohlenbergbau. Als ein gutes
Beispiel für die industrielle Entwickelung Japans kann der
Aufschwung des japanischen Kohlenbergbaues angesehen wer-
den. Während die Förderung im Jahre 1888 erst 2022968 t
betrug, erreichte sie 1898 bereits eine Höhe von 6749600t
und ist bis zum Jahre 1908 auf 14825362t gestiegen. Der
Wert des gesamten Abbaues des letzteren Jahres betrug über
63000000 Yen. An der Kohlenproduktion sind beteiligt die
Regierungsbezirke Fukuoka, Saga und Nagasaki auf Kyushu,
Yamaguchi im anstoßenden Teil der Hauptinsel, Ibaragi nord-
östlich von Tokyo und die Gruben der Nordinsel Hokkaido.
Der Regierungsbezirk Fukuoka mit Moji lieferte allein 60 Proz.
der Gesamtausbeute. Die Kohlenausfuhr Japans bewegte
sich bis zum Jahre 1903, in welchem 3433460 t exportiert
wurden, in aufsteigender Linie. Seitdem ist, hauptsächlich
infolge des wachsenden Inlandverbrauches, eine Abnahme
der Ausfuhr zu verzeichnen gewesen: 1908 wurden 2863110 t
ausgeführt. Die japanische Kohle geht vorwiegend nach
Korea, China, Hongkong und den Straits Settlements, ihre
Hauptkonkurrenten sind die indische und die australische Kohle,
die aber beide der japanischen Ausfuhr keinen besonderen
Abbruch tun. („Ostasiat. Lloyd.*) J.
— Über weitere in neuerer Zeit angestellte Verdunstungs-
messungen auf dem Meere berichtet Dr. R. Lütgens
(Annal. d. Hydrogr. 1910, 8. 267). Sie umfassen Messungen
auf Dampfern und Segelschiffen bei Reisen von der ge-
mäßigten Zone nach Häfen der Tropen und eine Beobach-
tungsreihe de Quervains auf der Fahrt von Grönland nach
Skagen. Diese Beobachtungen haben nicht nur wertvolle
Fingerzeige für die Methodik der Messungen geliefert, son-
dern auch im allgemeinen gut stimmende Resultate ergeben,
so daß man hoffen darf, demnächst über diese außerordent-
lich wichtige Frage der Einverleibung des Wassers der Meere
in den Kreislauf der Atmosphäre sicheres, vergleichbares
Zahlenmaterial zu erhalten, während seither so gut wie nichts
Sicheres darüber bekannt war. Gr.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 65. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unp VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTT “
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. 7.
BRAUNSCHWEIG.
25. August 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Die „organgesetzliche‘“ Orientierung des Organismus Mensch im Raume.
Von Ernst Klotz.
Das Phänomen der geordneten Orientierung des körper-
lichen Menschen im Raume nach Maßgabe seiner orga-
nischen Achse haben ältere wie neuere Denker berührt.
Ich begründete wissenschaftlich — exakt anatomisch —
die wagerechte Orientierung des menschlichen Körpers,
wobei nach unten die Ventralseite gerichtet ist, als „organ-
gesetzliche“. Wenn Platon definiert: Der Mensch ist ein
zweibeiniges Tier ohne Federn, so hatte er dabei die
senkrechte Orientierung der Hauptachse dieses tierischen
Organismus im Sinne, wie er es erfahrungsgemäß sah.
Tiefere anatomische Einsicht lag der platonischen Defi-
nition ja nicht zugrunde. Die bekannte Glossierung
jener Definition des Platon durch Diogenes, der einen
gerupften Hahn im Hörsaal der Platonischen Akademie
laufen ließ, den Schülern zurufend: „Seht da! das ist der
Mensch des Platon!“ ließ Uas wesentliche Moment — die
Orientierung der Achse des Wirbeltierkörpers, die beim
Hahn eine wagerechte ist — völlig aus dem Auge. Beweis,
daß jener scharfsinnige Glossator der Antike das Phä-
nomen der „organgesetzlichen“ Orientierung des Wirbel-
tierkörpers im Raume nicht erfaßt hatte.
Zur Erdbeschreibung, beziehentlich in die spezielle
Geographie, gehört die Beschreibung der „organgesetz-
lichen“ Orientierung der vital-strukturell an die Erde, in
deren Kreis gebundenen pflanzlichen wie tierischen Orga-
nismen.
Das Grundgesetz der vital-mechanischen — „organ-
gesetzlichen“ — Orientierung des Organismus Mensch im
Raume ist bislang nicht erkannt und nachgewiesen worden.
Nicht die geologische Bedingtheit der Flora und Fauna,
diese Bindung im engeren Rahmen des Biochemischen,
galt es zu erörtern, nein, die kosmische Orientierung des
Menschen als Organismus, das Grundgesetz seines vital-
mechanischen Seins war festzustellen durch anatomische
Begründung. Friedrich Ratzel in seiner „Anthropogeo-
graphie“ rang mit diesem Phänomen — dem vital be-
deutsamsten des Menschen: der organischen Haltung seines
Körpers im Raume. Auch gibt Ratzel scheinbar eine
„anatomische“ Lösung jener Aufgabe, d. h. er beruft sich
dabei auf einen Anatomen; mangels eigener tiefer schürfen-
der anatomischer Studien wiederholt er vielfach nachge-
sprochene Devisen Blumenbachs, des alten Göttinger Ana-
tomen. Dieser anatomische Autor ist indessen als nicht
voraussetzungslos bekannt, ja mehr noch: man weiß auch,
daß ihm die erkannte Wahrheit, jene greif- und sichtbare,
die ein Forscher wie Goethe — zum Erweis der morpho-
logischen Einheit der Animalia — vorlegte: das Os inter-
maxillare nicht heilig war. — Ratzel ließ sich ‚fesseln
durch jenes Gelehrten bekannte „Gattungsbeschreibung“
Globus XCVIII. Nr. 7.
Leipzig.
des Menschen und versuchte seinerseits die Forschung
festzulegen auf diese: „Der Mensch, aufrechtgehender
Zweihänder mit etwas vorstehendem Kinn und in gleich-
engen Abständen aneinandergereihten Zähnen, von denen
die unteren Schneidezähne senkrecht aufragen“ 1).
Es ist das große Streben Friedrich Ratzels, das Weben
und Leben des Riesenkomplexes „Welt“ im wissenschaft-
lichen Denken zu umspannen; „die räumliche und stoffliche
Einheit des Lebens“ im Lehrsatz zu fassen: „Unsere Erde
ist in sich ein Ganzes durch die alle Einzelkörper und
Einzelwesen beherrschende Schwerkraft.“ Dieser Gelehrte
hatte aber das Unglück, sich jenem „Anatomen des Men-
schen“ anzuvertrauen, welcher den „Menschen“ prinzi-
piell herausriß aus der Ordnung der Animalia, in die
ein Linné ihn noch richtig gestellt: unter die „Qua-
drupedia“ (Systema naturae 1735). Mit jener tendenzi-
ösen Propagierung des „Homo erectus bimanus“ Blumen-
bachs, welchem der Anthropogeograph — ohne zureichende
Prüfung der organischen Verhältnisse am realen Objekt —
Nachfolge leistete, geschah es, daß in dieser „Anthropo-
geographie“ der Homo gerade entgegen der „organgesetz-
lichen“ Schwerrichtung der Animalia von Quadrupeden-
bildung hingestellt wird — vor den Sinn des Denkers 2).
Jene „alle Einzelwesen beherrschende Schwerkraft“ wirkt
somit bei dieser theoretischen Orientierung des mensch-
lichen Organismus nach Blumenbach-Ratzel in organ-
widriger Richtung. In praxi, als Dauerhaltung des
Menschen, bewirkt jene Lastung in organwidriger Rich-
tung nicht selten Deformationen, wodurch dieselbe als
„organwidrige“ gekennzeichnet wird. In der Regel werden
beim rezenten Menschen durch die aufrechte Haltung so-
gar organische Erkrankungen nachweisbar verursacht.
Hier sei zunächst verwiesen auf eine auf Grund exakter
Beobachtungen veröffentlichte Abhandlung aus der König].
chirurgischen Klinik zu Berlin: „Der Erwerb der aufrechten
Körperhaltung und seine Bedeutung für die Entstehung
orthogenetischer Erkrankungen“ von Rudolf Klapp °).
Daß ältere Autoren solche bereits in allen Epochen wohl,
doch ohne ausreichende anatomische Begründung verlaut-
barten Erklärungen über organische Erkrankungen in-
folge aufrechter Haltung— als „extreme“ Ansichten — aus
ihrem Denken abzuschieben sich bemüht haben, sei hier
1) Blumenbachs lateinischer Text lautet: „Homo, erectus
bimanus, mentum prominulum, dentes aequaliter approxi-
mati, incisores inferiores erecti.“
2) Vgl. hierzu Klotz, „Der Mensch organgesetzlich hin-
gestellt“, — sowie die weiteren meiner neuen Tafeln und
Werke betreffend neue anatomische Entdeckungen am bisher
falsch gesehenen Organismus Mensch, die demnächst erscheinen.
») Münchener Medizin. Wochenschrift 1910, Nr. 11 bis 12.
14
102 Klotz: Die „organgesetzliche“ Orientierung des Organismus Mensch im Raume.
gleichfalls lediglich festgestellt, und es sei verwiesen z. B.
auf des älteren Züricher Anatomen Hermann Meyers
Arbeit „Die richtige Gestalt des menschlichen Körpers“.
Dieser Ältere, Hermann Meyer, haftet mit seinem Sinn
noch völlig an der äußeren Erscheinung des Menschen.
Obgleich Anatom: diese „Erscheinungsweise“ dieses Or-
ganismus paralysierte den Forscher in ihm. — Der Dichter
zeigt uns den „Forscher“ mehrfach so. Einmal paraly-
siert Helena, ein anderes Mal ruft er, den Organismus
Weib im Zauberspiegel erblickend, paralysiert: „So etwas
findet sich auf Erden ?...*
Im Zauberspiegel sah die Forschung, die „exakte“,
den Organismus Mensch bislang generell. Als ein Zauber-
spruch ward nun auch erkannt der Orientierungssatz
einer modernsten „Normal“-Anatomie, welcher so lautet:
„Zur Beschreibung der einzelnen Organe des menschlichen
Körpers ist man gezwungen, an denselben drei Richtungen
oder Achsen anzunehmen, welche man sich in der auf-
rechten, natürlichen Haltung des Menschen durch den
Körper desselben gelegt denkt“ 4).
Es ist ersichtlich, daß hier der „Erectus bimanus“
das naturwissenschaftliche Denken über den Menschen
als Organismus noch im Bann hält. Der „Glaube“ an
die „aufrechte* Haltung verführte sogar zu logischem
Irrtum; man setzte „aufrecht“ gleich „natürlich“. Die
„aufrechte“ Orientierung der Hauptachse des menschlichen
Körpers ist keineswegs allein schlechthin die „natürliche“,
jede andere Orientierung der Achse ist gleichfalls „natür-
lich“. Jener Satz besagt außerdem, absolut irreführend:
„zur Beschreibung der einzelnen Organe“ sei „man ge-
zwungen“, nach Maßgabe der „aufrechten“ Haltung das
morphologische Denken zu orientieren. Dieser Zwang
besteht, außer in jener Methode, nicht. Diese Methode
aber ist falsch; sie enthält keinerlei Bezwingendes vor
einem exakt fundierten naturwissenschaftlichen Denken,
dem die „organgesetzliche“ Orientierung des Organismus
Mensch im Raume aufgegangen ist. Dieser Beweis ist von
mir anatomisch evident erbracht: u. a. durch Vorlegung
meiner neuen „organgesetzlichen“ Demonstration des
menschlichen Darmkanals 5) vor Kapazitäten der Anatomie,
der Heilkunde und der Chirurgie. Gerade am für die
Allgemeinexistenz des Organismus wesentlichsten Organ-
komplex, dem Verdauungskanal, konnte unwiderlegbar
erwiesen und durch Erfahrung erhärtet werden, daß die
derzeitige „normale“ Anatomie falsch beschreibender Me-
thode sich bedient, die behindert hat, den Organismus
Mensch in seiner „organgesetzlichen“ Orientierung im
Raume sehen zu lernen. Die Lehre, die bislang gültig,
war solchem Lernen entgegen.
In jenem logisch und morphologisch fehlerhaft fun-
dierten Örientierungssatze der „Normal“-Anatomie sind
die letzten Ausläufer jener anthropozentrischen Denk-
richtung auszurotten gewesen, welche ein äußeres, struk-
turell spezifisches Mal für den Unterschied zwischen „tie-
rischem“ und „menschlichem“ Organismus zu halten
suchten. Ein „Organ“ war als spezifisch menschliches
nicht zu halten. Auf diesem Plan hat Goethe durch Fort-
nahme des Os intermaxillare als eines Unterscheidungs-
males des „Tieres“ vom „Menschen“ tabula rasa gemacht.
So krampfte man sich endlich allein noch an die „auf-
rechte Haltung“. — Daß ein wissenschaftliches Denken
nach dem Resultat der Goetheschen Forschungen noch
suchen und diskutieren konnte ein äußeres Mal, das „eigen-
tümlich“ der Menschengestalt sei, das beweist, daß die
Qualität auch dieses Denkens keine konstante ist. So
*) „Lehrbuch der normalen Anatomie“ von Gust. Broe-
sike, 7. Aufl. 1904.
$) Klotz, „Neue anatomische Entdeckungen am sogenannten
Blinddarm usw.“ (Noch nicht publiziert.)
schrieb 1874 zum Erweis der „richtigen Gestalt des
menschlichen Körpers“ Herm. Meyer diesen Satz: „Sucht
man nun nach einem solchen Merkmale, welches ein
entschieden charakteristisches, fürden menschlichen Körper
sogleich auffälliges ist, so drängt sich vor allem als ein
solches die aufrechte Haltung auf“ (S.1). Daran hielt
nun nicht allein das Denken derer, fest, welche den Menschen
„von der Tierwelt zu emanzipieren“ trachteten (Meyer),
sondern selbst die Naturforscher und Denker der nach-
darwinschen Epoche, fälschlich auf Lamarck sich berufend:
„Der Mensch kann — infolge seiner Gewohnheiten — die
bei den Individuen seiner Art seit einer langen Reihe
von Generationen ununterbrochen beibehalten worden
sind, nur aufrecht gehen; nichtsdestoweniger ist diese
Stellung für ihn sehr ermüdend und er kann in diesem
Zustand nur während einer beschränkten Zeit und nur
mit Hilfe der Kontraktion mehrerer Muskeln verharren.
Wenn die Wirbelsäule des menschlichen Körpers die Körper-
achse bildete und den Kopf sowie die anderen Teile im
Gleichgewicht hielte, so könnte die aufrechte Haltung für
ihn ein Ruhezustand sein. Wer wüßte nun aber nicht,
daß dem nicht so ist, daß der Kopf nicht in seinem Schwer-
punkte eingefügt ist; daß die Brust und der Bauch sowie
die Eingeweide, welche die Höhlen enthalten, beinahe voll-
ständig auf der Vorderseite der Wirbelsäule hängen; daß
diese auf einer schiefen Grundlage ruht? usw.“ (Lamarck,
Philosophische Zoologie, S.89 bis 90; in der von Haeckel
eingeleiteten Ausgabe.) Soviel hier für jene, welche ihrer
„Überzeugung“ wissenschaftlich, vielmehr pseudowissen-
schaftlich dahin Ausdruck gaben: „Der Mensch ist an die
aufrechte Haltung angepaßt“, dabei auf Jean Lamarck
obendrein verweisend. Der Philosoph Lamarck ist, wie
angeführt, der Ansicht, 1. daß diese „Anpassung“ nicht
vollzogen ist, 2. daß die aufrechte Haltung der Anordnung
der Innenorgane nicht gemäß ist, ebensowenig der senk-
rechten Orientierung der Wirbelsäule, welche dabei auf
einer schiefen Basis (Kreuzbein) balanciert.
So erweist sich der von Ratzel zitierte „Erectus bi-
manus“ als ein Phantom, dessen Erscheinung der Forschung
eine Gestalt von „eigentümlicher“ Bildung vorgetäuscht
hat, bei dessen „organgesetzlicher“ Orientierung im Raume
jedoch prägnant die Quadrupedenmale, das Gebundensein
der physiologischen Funktionen — deren „organgemäßer“,
ungehemmter Verlauf — in die Erscheinung treten. Jene,
nach Blumenbach angeführten „Gattungsmale“ erweisen
sich nicht als stichhaltig, vielmehr als eine willkürliche
Häufung inkonstanter Male. Vor den Funden der Palä-
ontologie, im Anblick des fossilen Menschen, des Homo
mousteriensis Hauseri etwa, sind weder das „etwas vor-
stehende Kinn“, noch die „in gleichengen Abständen an-
"einandergereihten Zähne“ und ebensowenig die „senkrecht
aufragenden“ unteren Schneidezähne zu halten. Diese
unteren Schneidezähne ragen selbst bei den domestizierten
menschlichen Organismen der Zivilisation — nur diese
„Varianten“ kannte Blumenbach — in der Regel nicht
senkrecht auf. — Hervorgehoben sei hierbei noch ausdrück-
lich, daß diese Blumenbachsche „Gattungsbeschreibung“
es sich mit einer nur äußeren Beschreibung des Menschen
genügen läßt. Ein Linné jedoch, dessen Einordnung des
Menschen unter die „Quadrupedia“ er bekämpfte, forderte
schon ein gründlicheres Verfahren vom Forscher: „Die
Anatomie des Körpers soll nach Linnes Forschungs-
programme studiert werden“ 6). Im „I. Systema naturae“
von 1735 fordert der 28 jährige Student Linné auch
Angaben bzw. Studium der „Begattung und Geburt“.
Daß über diese physiologischen Funktionen die Forschung
°) Vgl. Lönnberg, „C. v. Linné und die Lehre von den
Wirbeltieren.*
Klotz: Die „organgesetzliche“ Orientierung des Organismus Mensch im Raume. 103
gerade hinsichtlich der Gattung Mensch sich bislang nicht
auf dem Boden exakten Wissens bewegte, habe ich 1907
anatomisch und physiologisch nachgewiesen 7). Auch in
bezug auf diese urphänomenale physiologische Funktion
zur Erhaltung der Gattung habe ich nachgewiesen, daß
der Kopulationskontakt „organgemäß“ nur in „Quadru-
peden“ -Stellung der Femina vollzogen werden kann.
‚ Mit Bezug auf diesen „organgesetzlichen“ erhobenen Be-
fund an den Generationsorganen des Menschen erweist
sich dieser charakterisiert als konstanter „Quadru-
pede.“ Den später von Linne für „Quadrupedia“ ge-
prägten und wissenschaftlich eingeführten Namen „Mam-
malia“, der einesteils gewählt ward, weil er die Wale mit
in die Klasse der Säugetiere (Ordnung „Cete“) aufnahm,
verwerfeich, denn anderenteils erweist sich die Bedeutung
der Funktion des Säugens irrig bewertet. Sie ist erstens
von minderer urphänomenaler Bedeutung als die Fort-
pflanzung, zum anderen aber zwingt — und dieses mor-
phologisch und physiologisch Wesentliche übersah Linné
bei jenem Wechsel der Namen — auch die „organgesetz-
liche“ Bildung der Milchdrüse aller „Mammalia“ zur mo-
difiziert wagerechten Haltung der Wirbelsäule. Streng
genommen, ist allein die reine Quadrupedenstellung der
Säugetiere als gemäß der Struktur der Milchdrüse usw.
als „organgemäß“ anzusprechen, deren natürliche Gestalt
jenes proportionale Gebild ist, das beim menschlichen
Weibe ebenso wie bei allen „Quadrupedia“ mit der größten
Kreisfläche an der Brust ansetzt und in immer kleineren
Kreisen bis zur Mammilla sich verjüngt (Abb. 1). An-
er
1.
Die Milchdrüse der Mammalia, gesehen
beim menschlichen Weibe.
1. In Proportion (bei wagrecht-typischer Körper-
haltung). 2. Disproportioniert (bei senkrecht- 2
atypischer Körperhaltung des Weibes). i
thropologischer Erfahrung gemäß ist diese Drüse aber
beim menschlichen Weibe auf der ganzen Erde mehr oder
minder, zumal in späteren Jahren des Individuums und
nach Mutterschaftsperioden, disproportioniert zu finden:
verlagert in der entgegengesetzten Richtung der Aufrich-
tung des „Erectus bimanus“ (Abb.2). Die Gestalt 2 der
Milchdrüse, der regelmäßige Typus der menschlichen
„Mutter“-Brust, darf als „Mißbildung“, als „unnatürlich“
angesprochen werden, insofern, als von dem „gestaltenden“
Prinzip jene Form nicht, wohl aber die Form 1 geschaffen
worden ist. Form 1 zeigt die natürliche Gestalt der Mamma,
wie solche allein erhalten bleibt bei „organgesetzlicher“
Orientierung des Organismus, die folglich auch seine
„organgemäße“ Stellung im Raume ist, d. i. zur Erde als
wagerechter Ebene.
Da keine Vererbung der erworbenen Anomalie statt-
hat, vielmehr Funktionsstörungen des Organs durch Ent-
zündung in der Falte bei b die Regel ist, die dessen Zer-
störung zur Folge haben kann, so liegt Abweichung von
der „morphologischen und physiologischen Variations-
breite“ oder „Funktionsbreite“ vor. Vgl. hierzu Schwalbe,
„Mißbildung und Variationslehre“. Dieser Zustand der
mechanischen Deformation durch organwidrige Verlage-
rung der organischen Schwerrichtung infolge aufrechter
Haltung erweist sich keineswegs als „naturgewollt“. Die
aufrechte Haltung also zeigt sich hiernach als Anomalien
7) „Der Mensch ein Vierfüßler.
deckung usw.“
Eine anatomische Ent-
setzend im lebenden Gewebe, als „krank“machend. Sie
ist folglich nicht als die „natürlich-normale“ diskutabel.
Hieraus folgt, daß jene nur hypothetischen, jeder exakten
Begründung entbehrenden Versuche, den Organismus
Mensch im Raume zu orientieren (Blumenbach-Ratzel), zu
verneinen sind, weil absolut hinfällig. Jene Autoren haben
bezüglich des Organismus Mensch eine „Art von Inter-
pretation der Natur“ gewagt, die der nach Wundt zu
berücksichtigenden Behandlung unter doppelten Gesichts-
punkten — dem empirischen und erkenntnistheoretischen
— nicht entspricht, sonach unwissenschaftlich ist.
Eine genugsam bekannte „Eigenart“ hat der „Mensch“:
was er nicht beweisen kann, das suggeriert er. So sugge-
rierte Blumenbach seinen „Schülern“: Der Mensch ist
kein Vierfüßler! — Neuere Naturforscher bekunden eine
Variante dieser Eigenart: in objektiv gelten sollender
Lehre und Polemik postulieren sie: Es sei gewesen,
daß der Mensch an die Vierfüßlerstruktur vital gebunden
war. Hier ist als Klassiker dieser Irrlehre zu nennen
Wiedersheim mit seiner Arbeit „Der Mensch als Zeuge
seiner Vergangenheit“. Man erkannte nicht, ahnte aber
bisweilen, daß bei modifizierter Vierfüßlerstellung manche
Funktionen besser sich abwickeln; daß alle wesentlichen
physiologischen Funktionen gebunden sind beim Organis-
mus Mensch an die Gesetze, die bündig sind für die
Quadrupeden-Bildung, dieses sah und diskutierte man
nicht. So ergab sich, daß auch jene Lehre und Polemik,
welche davon ausgeht, der Mensch sei Quadrupede ge-
wesen, der Kriterien strenger Wissenschaftlichkeit ent-
behren, auch sie erweisen sich als nur hypothetisch, als
nicht kontrolliert am Objekt.
Der „Naturforscher“ und „Philosophen“, deren Be-
mühen es war, ist oder sein wird, dem „Menschen“ wenig-
stens ein wichtigeres körperliches Kennzeichen anzu-
dichten, das ihn vom „Wirbeltier“ unterscheidet, braucht
hier nicht gedacht zu werden. Wohl aber sei gedacht
jener Sentenz von Goethe: „Die Götter haben im mensch-
lichen Körper eine unmögliche Synthese geleistet: das
Tier mit dem Menschen zu verbinden. Die Eingeweide
kommen alle übereinander zu stehen, da sie bei den
Tieren hängen, in der Wampe.“ Und nach Wundt stehe
hier noch die folgende erkenntnistheoretische Erwägung
zur präziseren Klärung der Begriffe der natürlichen
(physischen) Verwandlung bei verwandlungsfähigen Be-
standteilen und der natürlichen Gebundenheit als des
Kriteriums der Abgeschlossenheit eines organisierten Sy-
stems. Bei den Erörterungen über „Energieverwandlung“ 8)
heißt es unter anderem: „Hieraus ergibt sich, daß in jedem
in sich abgeschlossenen System und demnach auch in dem
Universum, sofern es als ein solches gedacht wird, die
Summe der gebundenen, nicht mehr verwandlungsfähigen
Energie fortwährend auf Kosten der verwandlungsfähigen
zunehmen muß, bis ein Zustand erreicht wird, in dem
überhaupt alle Energie in die gebundene Form über-
gegangen und demnach absolute Stabilität eingetreten ist.“
Als ein abgeschlossenes morphologisches System,
dessen vitales Sein gebunden ist an eine organgesetzliche
Orientierung seiner Hauptachse zur Erde, spreche ich
den Menschen an. Jene Synthesis von Mensch und Erde,
wobei des ersteren Hauptachse wagerecht orientiert ist
und senkrecht zum Mittelpunkt der Erde an der so
orientierten Wirbelsäule die Eingeweide pendeln, spreche
ich an als der „Götter“ Werk. Und als des „Menschen“,
nicht der „Götter“ Werk schätze ich jene „unmögliche
Synthese“, die schon ein Goethe als solche grüßte.
Es ist der Organismus Mensch, soweit er objektiv er-
kennbar vorliegt — der rezente wie auch ‚der fossile,
°) „Naturwissenschaft und Psychologie“, 1903, 8.43 bis 44.
14*
104 Klotz: Die „organgesetzliche“ Orientierung des Organismus Mensch im Raume.
der neugeborene wie auch der erwachsene —, ein Wesen
von solcher morphologischer und physiologischer Bildung,
daß es systematisch — zur Vermeidung organischer De-
formation, zur Vermeidung physiologischer Hemmungen
— gebunden erscheint, überwiegend wagerecht seine
Hauptachse eingestellt zu tragen, dergestalt, daß nach
unten die Bauchseite orientiert ist; allein bei dieser
Orientierung des Gesamtorganismus sind die Innenorgane
dergestalt geordnet, daß ein Pendeln und Ruhen inner-
halb der organischen, morphologischen und physiolo-
gischen Variationsbreite statthaben kann. :
Beweis dessen ist folgende positiv und real erkenn-
bare urphänomenale Bildung auch des menschlichen
Körpers:
1. Alle weichen, leicht verletzbaren Organe — Magen,
Blase, Uterus, Brüste usw. — liegen mitsamt der Bauch-
seite wie beim Wirbeltierorganismus, d. h. sie sind allein
bei wagerechter Orientierung der Wirbelsäule im Raume
unter Wendung der Bauchseite nach unten geschützt und
gedeckt; eben von der Wirbelsäule als knöchernem Dach.
2. Allein bei solcher Orientierung des Körpers hängen
Magen, Herz, Lunge usw. und verlaufen Schlund, Darm
und Blutkreislauf usw. anatomisch erkennbar in „organ-
gemäßer“ Weise, und die Gefahren der morphologischen
Bildung von Anomalien und der biochemischen Auto-
intoxikation infolge Hemmung auszuscheidender Exkrete
bestehen nicht, d.h. bei „organgemäßer“ Körperbewegung.
3. Beim Prozeß der Fortpflanzung, beim Mutter-
schaftsprozeß und beim Gebären des menschlichen Weibes
ist — anatomisch erkennbar — die Quadrupedenstellung
oder sind die ihr entsprechenden Orientierungen des
weiblichen Körpers die morphologisch und physiologisch
einwandfreien. Nur bei Quadrupedenstellung der Femina
passen männliches und weibliches Fortpflanzungsorgan
zusammen wie Patrize und Matrize. Nur bei reiner
Quadrupedenstellung vermag die Gravida Blase und Rek-
tum ohne Hemmung zu entleeren. Nur die mehr oder
minder echte Quadrupedenhaltung als Gebärlage — von
der hockenden Haltung bis zur tiefsten Nachvornbeugung
des Körpers — ist anatomisch und physiologisch als
„organgemäß* wissenschaftlich diskutabel und sie ist
von den Frauen der „Urvölker“ überwiegend, auf Grund
guter Erfahrung, bevorzugt °).
Die systematisch gebunden organisierte Architektur
der menschlichen Gestalt schließt — soweit einer exakten
Forschung objektiv erkennbar — andere Baumöglich-
keiten aus als das „organgesetzliche“ Gefüge des Nebenein-
ander der Wirbelknochen samt der mehr oder minder
rechtwinkelig zur wagerechten Wirbelsäule teils hängend
(Eingeweide, Rippen), teils stützend (Extremitäten)
gebildeten Organlagerung im Raume. Es ist das Ge-
schichte des Übereinander — bei aufrechter Haltung der
Menschengestalt — nicht im Bauplan zu dieser organi-
sierten Architektur gelegen.
Die Lehrsätze der Entwickelungsmechanik, welche
die Entstehung dieser Architektur — der „organgesetz-
lichen“, lebendigen — unter dem ausschlaggebenden
gestaltenden Einfluß der Funktion behaupten, sind irrig
fundiert. Eine solche „funktionelle Anpassung“ (Roux)
ist im Hinblick auf den Organismus Mensch gerade als
nicht bewiesen anatomisch erkannt. Trotz überwiegend
atypischer Funktion, bei senkrechter Haltung dieses
Organismus in der Zivilisation, blieb für seine vitale
Architektur konstant die geschilderte wagerechte Orien-
tierung seiner Hauptachse: die physiologisch typische;
°) Vgl. hierzu G. J. Engelmann, „Die Geburt bei den
Urvölkern“. Für die Bekanntschaft mit diesem Werke sage
ich Herrn Prof. Dr. v. Luschan, Direktor am Museum f.
Völkerkunde Berlin, besonderen Dank.
kein „funktioneller* Umbau, keine Neugestaltung fand
statt.
Mit diesem gegebenen urphänomenalen Faktor ist
fortan zu rechnen.
Als irrig und irreführend werden hiernach erkennbar
auch jene auf der 77. Versammlung Deutscher Natur-
forscher und Ärzte vorgetragenen Lehren von Ingenieur
Joseph Wimmer: „Mechanik der Entwickelung der tieri- ,
schen Lebewesen“, wo „eine Mechanik der Entwickelung
der tierischen Lebewesen“ vom „niedersten* bis zum
„höchstorganisierten“, dem atypisch aufrecht hinge-
stellten Menschen, vorgeführt wurde. ` Dieser „höchst-
organisierte“ „Aufrechte“* ist gerade „organisiert“ nicht
nachweisbar.
Gebhard hat z. B. 1910 — 9. Kongreß für orthopä-
dische Chirurgie — auf die „mangelhafte Anpassung“
der unteren Extremitätenknochen beim Dauer- Aufrecht-
geher Mensch hingewiesen. Ein Fortschreiten dieser
„funktionellen Anpassung“ ist trotz Mehrgebrauch in
der Zivilisation nicht zu konstatieren; im Gegenteil: die
Zunahme der pathologischen Deformation gerade an
diesem Teile des Baues — der Plattfuß — wird fest-
gestellt.
Den im naturwissenschaftlichen Denken eingebürger-
ten Begriffen „Aktivitätshypertrophie“ und „Inaktivitäts-
atrophie* (Roux) sind bezüglich des atypisch den Bau
seiner vitalen Architektur tragenden Menschen, zwecks
klarer Beschreibung seiner „organgesetzlichen“ Bildung,
die präziser orientierenden Begriffsworte „organgemäß“
und „organwidrig“ voranzustellen oder beizufügen.
Als Beweisgruppe 2 — zum negativen Erweis der
wagerechten Orientierung als „organgesetzlicher* und
„organgemäßer* — führe ich das Phänomen der Er-
krankung der Organe infolge andauernd organwidriger
Umstülpung der geordneten vitalen Architektur des
menschlichen Körpers an. Durch die Aufrichtung der
Längsachse des menschlichen Körpers erfolgen, und
zwar überwiegend in umgekehrter Richtung zur Auf-
richtung, a) Verlagerungen und Senkungen (Magen, Ge-
bärmutter), b) „organwidrige* Aktivitätshypertrophien
oder Dilatationen, vital intakte Organe von physiolo-
gischem Tonus in atonischen, pathologischen Zustand
verwandelnd (Blindsack, Venen am Anus, Hämorrhoiden),
c) Organknickungen und Verwachsungen am Skelett und
an Weichteilen (am Thorax sind die immobilen Rippen,
am Darm die Knickung zwischen Pylorus und Duodenum,
sowie am Colon transversum die Flexuren Coli dextra
und Duodeno jejunalis, ferner am Uterus die Bänder, die
Eileiter, der Beckenboden gefährdete Organe). Alle diese
Erkrankungen erfolgen wesentlich aus mechanischer Ur-
sache: infolge Verlagerung der organischen Richtung der
Achsen jener Organkomplexe, welche — organwidrig —
aus der Richtung des „organgesetzlichen* Untenventral-
wärts verlagert wurden in ein Untenkaudalwärts. — Mehr-
jährige, ärztlich bestätigte Kontrolle hat ergeben, daß
bei Absolvierung der regenerativen Ruhe — Schlaf —
unter Einhaltung — während selbst relativ kurzer Zeit —
der „organgemäßen“ Lage — Bauchlage — die Erholung,
die Wiederherstellung der körperlichen und geistigen
Spannkraft eine intensivere ist. Sogenannte Schlaf-
trunkenheit, Hirndruck infolge Liegens oder gar der in
der Volkskunde und Ethnologie bekannte schreckhafte
Traum, das „Albdrücken“, verfolgen den Menschen,
welcher unter „organgesetzlicher* Orientierung seines
Körpers ruht, nicht. Jene temporären Trübungen des
Geistesleben treten besonders bei Lagerung des Organis-
mus in Rückenlage auf. Der Experimentator paralysiert,
wie bekannt, durch temporäre Fixierung in jener Lage
das Wirbeltier. Ich spreche hiernach, gestützt auf gute
v. Schultz:
Der „Turssuk“.
Y
105
Gründe, sowohl jene aufrechten Orientierungen des Or-
ganismus Mensch im Raume als auch jene in „Rücken-
lage“ weder als typisch-natürliche noch als organische
an. Als „organgesetzliche“ wie auch anatomisch und
physiologisch „organgemäße“ und „typisch - natürliche“
sind allein jene beschriebenen modifizierten Orientierungen
des Organismus anzusprechen, wobei nach unten die
Ventralseite orientiert ist. Es ist das Problem unserer
Epoche, das Phänomen der Aufrichtung des Menschen
leidenschaftslos, tendenzfrei und von neuem zu disku-
tieren.
Als Leistung ist dieses Phänomen von einer mangel-
haft am Organismus Mensch unterrichteten Naturkunde
völlig überschätzt, fehl gedeutet worden &ls „Gattungs-
mal“ des „Menschen“, des „Erectus bimanus“. Die Funde
der Paläontologie dulden keinen Zweifel darüber, daß
diese Leistung bereits unter den fossilen Reptilien ge-
läufig war. Retrospektiv sehen wir schon unter den
Sauriern eine sich aufrichtende Art auftreten und „auf
den Hinterfüßen schreiten“: die Camptosaurier !°).
Lamarck übrigens spricht, wie oben angeführt, dieses
Phänomen der „Aufrichtung“ lediglich als „Gewohnheit“
an. Lamarck konstatiert demnach in dieser Beziehung:
Keine erfolgte „Anpassung“ im Sinne des morphologischen
Fortschrittes.. Der Proanthropus machte von dieser
„Gewohnheit“ im Stadium des Naturlebens einen seinen
vitalen Bedürfnissen gemäßen Gebrauch. Den rezenten
Menschen — in der Zivilisation — sehen wir diese „Ge-
wohnheit“ überspannen; was seine Vita minder günstig
beeinflußt: organische Deformation, Erkrankung war als
ursächliche Folge nachzuweisen möglich.
So führen von dem gesicherten Boden dieser Fest-
stellungen neue Wege zu einer organgesetzlichen Menschen-
kunde, und neue Ausblicke eröffnen sich der Völkerkunde,
neue Richtpunkte entstehen der Soziologie — der Wissen-
schaft von den gesellschaftlichen Verbänden der Völker
10) Vgl. R. 8. Lull, „Die Ausbreitung der Dinosaurier“
(The Arserionn Journal of Science 1910, Bd.29, 8. 1—39).
sowie der Lebenskunst — dieser angewandten vitalen
Ästhetik.
Es ist seit meinen Studien am Organismus Mensch
dessen Natur mehr aus dem Dunkel, das alle Dinge des
Seins umgibt, herausgetreten, und es zeigen z. B. jene
von Elias Metschnikoff dargebotenen „Studien über die
Natur des Menschen“, daß dieser Autor gerade die
„Natur“ dieses Organismus total verkennt, indem er an
ihm „Disharmonien“, Mängel der organisierenden Natur
nachweisen zu dürfen glaubte. Dergleichen Postulate
sind abzulehnen. Sie wurden erweisbar als betrübende
Mängel der Methode einer Naturforschung, welche den
Organismus Mensch verkehrt, selbst zum Studium seiner
Natur, vor sich hinzustellen, organwidrig im Raume zu
orientieren pflegte. Bei. solcher, so vielfach und tief in
alle Gebiete der Menschenkunde, der Völkerkunde, der
Kunde vom Leben des Organismus Mensch einschneidenden
Wirkung derartiger Studien habe ich die wissenschaft-
liche Verpflichtung, die Resultate solcher Forschungen
führenden Kapazitäten der Forschung vorzulegen oder
zu berichten, nicht außer acht gelassen. Ich darf Dank
sagen für entgegenkommendes und förderndes Interesse
an der Sache, für offene Zustimmung, für Belehrung, für
Erteilung weiterer Anregungen durch Gewährung von
Einblicknahme in Sammlungen und Hinweise auf Lite-
raturquellen für die Sache u. a. den folgenden ersten
Forschern und Gelehrten Deutschlands: Wilh. Waldeyer
und Ernst Haeckel als Anatomen und vergleichenden
Anatomen; Bernh. Schultze als Gynäkologen; Herm. Sena-
tor als Kliniker; E. Sonnenburg als Spezialforscher auf
dem Gebiete des Blinddarms; A. Bier als Kliniker;
Wilh. Ostwald, ferner dem Biologen R. France, dem
Zoologen L. Plate und dem Philosophen Wilh. Wundt,
dem ich über jene Befunde der Nichtanpassung der
Organe an eine als atypisch erkannte Körperbewegung
des Menschen ebenfalls berichten durfte. Mit diesem
Umriß sei über die „organgesetzliche Orientierung des
Menschen im Raume“ einleitend berichtet.
| Der „Turssuk“.
Verkehrsgeographische Betrachtungen aus dem westlichen Pamir.
Von Arved v. Schultz.
v. Moltke, Huntington, Grothe, Rohrbach und
neuerdings Lehmann-Haupt!) geben uns aus Armenien
und Mesopotamien Schilderungen und Abbildungen des
Abb. 1. Assyrisches Kellek.
1) v. Moltke: Briefe über Zustände und Begebenheiten
in der Türkei in den Jahren 1835 bis 1839. Berlin 1882. —
Huntington: Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 33. Berlin 1901. —
Globus XCVIII. Nr. 7.
Nach Layard.
Gießen.
„Kellek“, dieses eigenartigen, aus aufgeblasenen Schafs-
häuten zusammengesetzten Floßes. Eine Reihe von Reliefs
aus den altassyrischen Königsgräbern lassen das hohe
Abb.2. Verschluß
am Fuße eines
Burdjuk.
Grothe: . Geographische Charakterbilder aus der asiatischen
Türkei und den südlichen mesopotamisch - -iranischen Rand-
gebirgen (Puscht-i-kuh). Leipzig 1909, Tafel 54, Abb. 92. —
15
106 v. Schultz: Der „Turssuk“.
Abb.3. Eingeborene durchqueren auf dem Burdjuk den Bartang.
Alter dieser Fahrzeuge erkennen, ebenso ist der Gebrauch,
breitere Ströme auf einzelnen aufgeblasenen Häuten zu
überschwimmen, auf einigen Reliefs dargestellt?): Abb. 1.
Die Abbildungen des „Kellek“, die Huntington, Grothe
und Rohrbach geben, zeigen eine größere Anzahl an ein
leichtes Holzgerüst gebundener aufgeblasener Schafs-
häute, auf denen Passagiere und Fährleute Platz
finden. Auf den größeren mehr oder weniger ruhig
dahinströmenden Wassern der vorderasiatischen Flüsse
können eben Fahrzeuge von solchen Dimensionen be-
triebsfähig sein. Auf kleineren Gebirgsflüssen mit
schlecht ausgeglichenem Gefälle gestalten sich die Ver-
hältnisse anders, und so weichen die Darstellungen, die
hier vom „Turssuk“ genannten Fahrzeug von den Quell-
flüssen des Amu-Darja im westlichen Pamir gegeben
werden sollen, in einigen Punkten
wesentlich von den Schilderungen
der oben genannten Autoren ab.
Die beiden Quellflüsse des Amu-
Darja, Pändsch und Murgab, ent-
springen auf einer etwa 4000 m
hoch gelegenen, vegetationsarmen,
schutterfüllten Mulde des zen-
tralen Pamir und fließen in ent-
gegengesetzter Richtung ausein-
ander. Der Pändsch beschreibt,
sich erst dem Hindukusch parallel
haltend, einen großen Südbogen,
der Murgab (im Oberlauf Ak-su,
im Unterlauf Bartang genannt)
einen Nordbogen, und beide ver-
einigen sich nach etwa 450 km
Lauflänge unter 72° Länge und
38° Breite in weniger als 2000 m
Rohrbach: Im Vorderen Asien. Berlin
1901. — Lehmann-Haupt: Armenien
einst und jetzt. Berlin 1910. Siehe
auch A. v. Schultz: Volks- und wirt-
schaftliche Studien im Pamir. Peter-
manns Mitteilungen 1910, Heft 5.
*) Vgl. Lehmann - Haupt, auch
C. Bezold: Ninive und Babylonien.
Monographien zur Weltgeschichte. Abb. 4.
Seehöhe. Beide Flüsse bilden anfangs
unbedeutende Wasserläufe in den
flachen Hochtälern des zentralen Pamir,
graben sich aber von 721/,0 Länge
an tief in ihre Betten ein und schaffen
mit zunehmender Wassermenge eine
echte alpine Landschaft. Die schutt-
erfüllten Hochtäler mit den spärlich
nomadisierenden Kirgisen werden von
engen tiefen Tälern, auf deren Ter-
rassen und Schuttkegeln die Dörfer
und Felder der Tadschick liegen, ab-
gelöst. In der Ausbildung ihrer Fluß-
betten weichen die beiden Ströme
Pändsch und Bartang wesentlich von-
einander ab. Der Pändsch folgt vor-
wiegend dem Streichen der einzelnen
Bergzüge des westlichen Pamir, sein
Lauf ist bei der starken Zerstörung
des Gesteins aber mehr der Ver-
schüttung durch Schutthalden und
Bergstürze ausgesetzt, während der
Bartang in seinen engen Korridoren
oft ein auf längere Strecken hin aus-
geglichenes Gefälle zeigt. Das Tal des
Pändsch bietet eine gute Verkehrs-
straße in den Pamirprovinzen Wachan,
Schugnan, Roschan dar, der Fluß selber kann aber nur
auf einer kurzen Strecke von etwa 20km, bei der Ver-
einigung mit dem Bartang, auf dem Turssuk befahren
werden. Weiter unterhalb durchbricht der Pändsch die
vorgelagerten, mehr meridional streichenden Ketten und
setzt seine im Oberlauf begonnene Westrichtung wieder-
um fort. Der Durchbruch des Pändsch ist auf dem
Fluß wie im Tale nur mit ganz gewaltigen Schwierigkeiten
passierbar. Der Bartang bildet eine im ganzen Lande
berüchtigte Engschlucht, die auch nur mit sehr erheb-
lichen Mühen durchwandert werden kann, es ist aber
doch möglich, auf etwa 100 km des Unterlaufes strom-
abwärts von einem der auf winzigen, fächerförmigen
Schuttkegeln gelegenen Dörfer zum anderen mit Hilfe
des Turssuk zu gelangen.
Zusammengestellter Turssuk auf dem Transport über Land.
v. Schultz: Der „Turssuk“. j 107
Zum Überschreiten der Flüsse
benutzen die Tadschick im ganzen
westlichen Pamir meistens eine
einzige aufgeblasene Ziegenhaut,
während die Nomaden im zentralen
Pamir überall reitend durch Furten
die Flüsse passieren können. Der
„Burdjuk“, die sorgfältig zu-
genähte und aufgeblasene Ziegen-
haut (nicht Schafshaut, wie in den
Schilderungen aus Vorderasien),
besitzt an einem Bein einen rohen
Verschluß (Abb. 2), der zum Auf-
blasen und Herauslassen der Luft
dient. Durch eine am Halse des
Tieres angebrachte Schlinge wird
die linke Hand gesteckt, der Mann
liegt auf dem Bauch und rudert
mit seinen Beinen und dem freien
rechten Arm. Es erfordert natür-
lich ziemliche Gewandtheit, sich
auf dem runden, glitschrigen Burd-
juk halten zu können, und so wird
den Kindern der Tadschick diese
Kunst schon früh gelehrt. Im
Sommer versammeln sich in den
größeren Dörfern alle Knaben, um
unter Leitung einiger Erwachsener das Burdjukfahren zu
üben. Unglücksfälle kommen selten vor und ereignen
sich meist dadurch, daß der Mann vom Burdjuk abgleitet
und unter ihn gerät.
Eine ganz besondere Bedeutung gewinnt dieses pri-
mitive Fahrzeug auch am Bartang. Es sind nicht zu
unterschätzende Schwierigkeiten, mit denen man in dieser
Engschlucht stromaufwärts vorwärtsdringt, während
stromabwärts im Sommer eine vielleicht etwas waghalsige,
aber doch bequeme Turssukfahrt dem Reisenden keine
besonderen Strapazen auferlegt. Auf den 150 km des
Unterlaufes des Bartang sind drei übereinanderliegende
Pfade vorhanden, von denen bald der eine, bald der
andere, wie es gerade die Verhältnisse gestatten, be-
E s r A EEE
Abb. 6.
Abb. 5.
Der Turssuk im Gebrauch. Zwei Passagiere und zwei Fährleute.
> r = F = Aa E
Der Turssuk unbelastet auf dem Wasser.
schritten werden muß. Der eine Pfad führt hart am
Fluß entlang und ist vorwiegend im Herbst bei niedrigem
Wasserstand zu benutzen. Alle Augenblick muß hier der
Bartang auf dem Burdjuk überschwommen werden, damit
man an den oft vertikal abfallenden Wänden der Felsen
vorbei kann (Abb. 3). Pferde können mit einigem Risiko
durchgeführt werden. Der zweite Pfad ist der kürzeste,
nur für Fußgänger, und wird am meisten von den Ein-
geborenen benutzt. Er führt an den Felsen entlang
über die „Owryngen“ — Treppen und Leitern, die die Tad-
schick roh aus Pappelstämmen zusammenzimmern. Es
gehört schon einige Übung dazu, um oft in schwindelnder
Höhe über dem Wasser auf den schwankenden Stangen
seinen Führern und Trägern folgen zu können. Pack-
pferde sind nur auf dem dritten
höchstgelegenen Pfad, der sich
mit gewaltigen Umwegen auf
den Kämmen der Berge dahin-
schlängelt, durchzuführen — wohl
immer mit Verlust an Zeit und
auch an Tieren.
Für die Fahrten stromabwärts
wird auf dem Bartang und vor
dessen Mündung auf dem Pändsch
zum bequemeren Vorwärtskommen
der Turssuk benutzt. Der Turssuk
der Tadschick im westlichen Pamir
ist bedeutend kleiner als der vor-
derasiatische. Während der vorder-
asiatische oft aus 30 Häuten zu-
sammengestellt wird, erlauben hier
die Verhältnisse kaum mehr als
ein Dutzend Ziegenbälge zu-
sammenzubinden — so daß auch
nicht mehr als zwei Personen auf
dem leichten Stangengestell Platz
“ finden können (Abb.4 u. 5). Die
Fährleute, etwa zwei oder drei, bei
schwierigem Fahrwasser auch vier
für ein Floß, haben jeder einen
eigenen Burdjuk unter sich, klam-
mern sich an den Turssuk an und
15*
108
Halbfaß: Die Entwässerung des Val di Chiana in Toskana.
steuern ihn, selbst im Wasser liegend, mit den
Füßen (Abb.6). Im Sommer auf den ruhigen Fluten
des Pändsch halten es die Fährleute leicht eine halbe
Stunde und mehr im Wasser aus. Auf dem Bartang,
besonders in vorgeschrittener Jahreszeit, müssen die
Fährleute alle Viertelstunde aus dem Wasser, um
sich von den Anstrengungen zu erholen und vor allen
Dingen sich zu erwärmen. Der Beruf dieser Leute vererbt
sich meist von Generation zu Generation, und es ist
staunenswert, was die tüchtigsten von ihnen leisten.
Ich habe beim Hinaufdringen in die Bartangschlucht im
Oktober Leute gesehen, die über eine Stunde im eisigen
Wasser arbeiteten, um mich und meinen Diener um eine
schwer passierbare Felsecke zu bringen. Wir machten
uns ein Feuer an, während unsere Führer aus nur zwei
Burdjuks ein Floß bauten, uns einzeln darauf banden
und selber nackt, bis an die Brust im Wasser stehend,
uns von einem vereisten Felsblock zum anderen zogen
oder auf dem steinigen Boden durch das schnellströmende
Wasser auf ihren Schultern trugen.
Die unumgänglichen Rasten, die der Fährleute wegen
aber doch gemacht werden müssen, verzögern im all-
gemeinen weitere Turssukfahrten recht beträchtlich. Zu
Wasser kann man auf dem Bartang schon 10 bis 15 km
in der Stunde zurücklegen, während auf den breiten Fluten
des Pändsch man oft ganz auf das Rudern der Leute
angewiesen ist, da die Strömung oft vollständig versagt.
In ständigem Gebrauch ist der Turssuk nur den
Sommer über an der Mündung des Bartang in den
Pändsch. Die Eingeborenen, welche aus dem westlichen
Pamir nach Buchara ziehen, können nicht anders die
zahlreichen, oft über 100m breiten Arme des Bartang
passieren. Sonst ist der Turssuk weniger im Gebrauch,
da doch immer mehrere Fährleute nötig sind. Er wird
mehr Verkehrsmittel der Wohlhabenderen, während der
einfache Burdjuk, allgemein verbreitet, von größter Wich-
tigkeit ist. Brücken fehlen am Pändsch und Bartang fast
vollständig, und trotzdem findet ein reger Verkehr mit Hilfe
des Burdjuk oder kleiner Turssuk, die nur aus wenigen
Ziegenhäuten bestehen, von einem Ufer zum anderen statt.
Die Entwässerung des Val di Chiana in Toskana.
Eine kulturgeographische Betrachtung.
Von Prof. Dr. W. Halbfaß. Neuhaldensleben.
Mit einer Karte.
Wer von Rom kommend die Schnellzugsstation Chiusi
passiert, hat zur Fortsetzung seiner Reise in nördlicher
Richtung zwei Eisenbahnwege zur Verfügung: die auch
von den internationalen Zügen Berlin—Rom und Paris—
Rom benutzte Linie über Terontola, Arezzo nach Florenz,
PERIODO ROMANO SECOLO XIX ANNO 1502
(LEONARDO DA VINCI)
Scala di %
; On foeu PIEvE
ANNO 1551
den Höhen wächst, sicher zur Freude aller, welche
diesen feurigen Wein zu schätzen wissen. Wirft man
vom Eisenbahnfenster etwa bei der letzten Eisenbahn-
station vor Arezzo, bei Frassineto, einen Blick auf dieses
Tal, so sieht man leicht, daß es auch sonst sehr frucht-
CITTA t RB Argine di
N
ANNO 1600
CÄRNAIOLA
ANNO 1599
(GIANFILIAZZI)
(RICASOLI) ANND 1780
me — me — 5° Chilometri
Die Veränderungen im Val di Chiana seit der römischen Zeit.
und die Linie über Siena nach Empoli, wo sie wieder in
die Bahn von Florenz nach Pisa einmündet. Zwischen
beiden Linien, sich erst der zuletzt genannten, dann der
ersten nähernd und sie beinahe erreichend, erstreckt
sich ein über 50km langes Tal von wechselnder Breite,
das Val di Chiana, das durch seinen Namen an den allen
Italienreisenden wohlbekannten Chiantiwein erinnert, der
in der Tat in dieser Ebene und auf den nördlich angrenzen-
bar und wohlangebaut ist; in der Tat gehört es heute
zu den gesegnetsten und blühendsten Gefilden des ehe-
maligen Großherzogtums Toskana.
Es war nicht immer so; viele Jahrhunderte hindurch
war das herrliche Val di Chiana völlig versumpft und
daher ganz unbewohnbar, bis es menschlicher Tatkraft
im langen Kampf mit der Natur gelang, es wieder in
einen Zustand zurückzuversetzen, den es schon einmal
Halbfaß: Die Entwässerung des Val di Chiana in Toskana. 109
im Altertum eingenommen hatte. Die Geschichte dieser
Kulturtat, die übrigens auch heute noch nicht gänzlich
abgeschlossen ist, ist auch von geographischem Stand-
punkt so interessant, daß sie wohl wert erscheint, hier
einem deutschen Leserkreis etwas ausführlicher dar-
gestellt zu werden ?).
Das heutige ValdiChiana liegt genau in einer Linie
mit der obersten Strecke des Arnotales auf der Nord-
und dem Mittellauf des Tiber auf der Südseite. Es ist
von den italienischen Geologen Cocchi, De Stefani, Verri,
Ristovi, Pantanelli längst als sicher nachgewiesen, daß
im oberen Pliozän und im Postpliozän der Arno bei
Arezzo nicht westwärts abbog, sondern geradeaus durch
das Längstal der Chiana nach Süden weiterfloß und so
dem Tiber tributär war. Die Alluvialmassen im oberen
Arnotal und in den alten Alluvionen des Chianatals be-
stehen durchweg aus denselben Geschieben, die zudem
zu groß sind, als daß sie durch den späteren kleinen Zu-
fluß des Arno, den die Römer den Clanis nannten, hätten
transportiert werden können. Durch eine Senkung bei
Pontassieve oder eine Hebung des Bodens bei Arezzo —
darüber gehen die Ansichten der Geologen auseinander
— floß dann in späterer Zeit der Arno nach Florenz
weiter, während in seinem ehemaligen Unterlauf die
Chiana dem Tiber zuströmte; ihr nicht unbedeutendes
Gefälle wurde durch Schleusen zur Schiffahrt ausgenutzt,
die sich auch auf den damals viel größeren Lago di
Montepulciano und Lago di Chiusi ausdehnte, welche
noch einen einzigen. stattlichen Binnensee bildeten. So
war es noch zu Zeiten der Etrusker und Römer, und das
heutige Chiusi, römisch Clusium, erinnert noch deutlich
an jenes Schleusenwerk. Merkwürdigerweise ging der
römische Senat schon damals mit dem Gedanken um, die
Chiana in den Arno abzuleiten, um Überschwemmungen
des Tiber hintanzuhalten. Die Bewohner von Florenz
aber wehrten sich mit Erfolg dagegen, da sie ihrerseits
Überschwemmungen des Arno durch Zuleitung des Chiana-
flusses fürchteten. Daß das Chianatal noch im Beginn
des Mittelalters fruchtbar und zum mindesten nicht un-
gesund war, geht schon aus der Tatsache hervor, daß die
Via Cassia, eine Hauptverkehrsader zwischen Mittel- und
Süditalien, mitten durch dasselbe hindurchführte.
Dann erfolgte aber eine allmähliche Versumpfung des
Tales, die etwa um das Jahr 1000 ihren Höhepunkt er-
reichte, aber noch Jahrhunderte hindurch anhielt, so daß
noch die Karten des 15. und 16. Jahrhunderts, wie man
sie z.B. auch in den Landkarten der Galleria Geografica
des Vatikan in Rom, die unter Gregor XIII. im Jahre 1580
ausgeführt wurden, sehen kann, einen ausgedehnten
Sumpf bzw. eine ganze Reihe einzelner Sümpfe zeigen,
da, wo sich jetzt das lachende Gefilde des Val di Chiana be-
findet. Die Ursache dieser höchst unerfreulichen Er-
scheinung ist ohne Zweifel darin zu suchen, daß bei dem
mäßigen Gefälle des Tales schon verhältnismäßig geringe
Veränderungen der Talsohle genügten, um die Abfluß-
verhältnisse zu verschieben. Auch haben jedenfalls die
durch die Seitenbäche des Tales zugeführten Sand- und
Schlammassen erheblich dazu beigetragen, den Abfluß
des Tales nach Süden allmählich so zu verringern, bis
er schließlich gänzlich versiegte. Es erhellt aber, daß
dieser Zustand nicht eingetreten wäre, wenn die Bewohner
1) Die neueste kurze Darstellung auf Grund der vorhan-
denen Quellen findet sich in einem Abschnitt der vortreff-
lichen Arbeit von Canestrelli: Le regioni a spartiacque in-
certo ed interminato dei bacini dell’ Arno e del Serchio,
Memorie geografiche, pubbl. come supplemento alla Rivista
geogr. ital. dal Dott. Giotto Dainelli, No. 7, Firenze 1909.
Dieser Arbeit (8. 27) entstammt auch die hier beigegebene
Karte, für deren Überlassung ich dem Autor bestens danke.
des Tales rechtzeitig Vorkehrungen gegen die drohende
Versumpfung getroffen hätten; war doch zu den Römer-
zeiten das Tal noch kein Sumpf! Man muß eben noch
Ursachen zu Hilfe nehmen, die nicht in den natürlichen
Verhältnissen des Landes liegen, sondern in seinen poli-
tischen und sozialen Umwälzungen, in die es seit der
Besitzergreifung durch die Deutschen und durch die
langen Kriege geriet, wodurch, wie Iginia Abeniacar in
seinem Buche: „Il lavoro dell’ uomo sul suolo toscano*
(Torino 1907, S.31f.) ganz richtig ausführt, die Bevöl-
kerung in die Städte getrieben und das Land größten-
teils entvölkert wurde, so daß es sich selbst überlassen
blieb und nun in den Zustand geriet, der notwendig zur
Verödung des einst so blühenden Tales führte.
Nachdem schon vom 14. Jahrhundert ab durch mensch-
liche Nachhilfe der schon von jeher vorhandene, aber nur
sehr unbedeutende Abfluß des Sumpfgebietes gegen das
Arnotal allmählich vertieft und in einen Kanal verwandelt
worden war, der im Jahre 1436 noch wesentlich tiefer
gelegt wurde, während die Versumpfung des oberen
Chianatales immer noch zunahm, brachte erst das
16. Jahrhundert eine wesentliche Besserung dadurch, daß
die Gemeinden jenen südlichen Teil des Chianatales an
die Medicäer abtraten, die nun ihrerseits mit Eifer daran
gingen, das ganze Chianatal wieder trocken zu legen.
Antonio di Ricasoli, der von Cosimo I. bestellte Bau-
meister, verlangte vor allem die Beseitigung einer Schleuse,
welche die Mönche von Arezzo im Bette der Chiana unter-
halb der Stelle, wo heute der Vingone in die Chiana
mündet, da wo jetzt die Bahn von Arezzo nach Florenz
über die Chiana führt, angelegt hatten. Diese sogenannte
Chiusa dei Monaci, die man von der Bahn aus sehr gut
übersehen kann, da sie noch heutigentags existiert,
bildete offenbar damals ein Hindernis gegen die geplante
Entsumpfung. Sie ist unzählige Male teils von Menschen-
hand, teils von Hochwasser zerstört, aber immer wieder
aufgebaut worden und bietet insofern ein besonderes
Interesse dar, als zwei der größten Physiker ihrer und
aller Zeit, Torricelli und Galilei, zur Begutachtung, ob sie
dauernd zu entfernen sei oder nicht, aufgefordert wur-
den. Beide Gelehrte scheinen nicht zu einem abschließen-
den Urteil gekommen zu sein, aber bei dieser Gelegen-
heit kam ein Vorschlag zur Sprache, der sich für die
Folge als außerordentlich bedeutsam für die Veränderung
des Bodens auch in Italien durch den Menschen erwies.
Torricelli erwähnt nämlich die Idee, durch Abdämmung der
Geröll- und Sandmassen, welche die Flüsse bei Hochwasser
mit sich führen, allmählich das Flußbett zu erhöhen und
dadurch ein besseres Gefälle zu erzielen. Erst viel später,
im Jahre 1702, führten die Ingenieure Franchi und Tosi
diese Idee in der Praxis aus und wurden dadurch die
Begründer der Kolmaten, welche zuerst in Toskana,
später aber auch in anderen Landesteilen und über Italien
hinaus eine Entsumpfung des Bodens auf eine recht
einfache und nicht sehr kostspielige Manier herbeigeführt
haben. Die Methode, die man dabei einschlägt, ist die
folgende: Man baut zunächst einen Damm, der das Ge-
biet absperrt, das erhöht werden soll, leitet das Hoch-
wasser hinein, läßt es dann stehen, bis sich die trüben
Bestandteile gesetzt haben, dann öffnet man eine Schleuse
und läßt das klare Wasser abfließen. Der Boden des
Flußbettes wird dann entsprechend den zugeführten Se-
dimenten höher. Bei einer Wanderung durch das Chiana-
tal, bei der man sich übrigens im Frühjahr wenigstens
mit Wasserstiefeln versehen muß, begegnet man noch
heute allenthalben diesem Manöver in seinen verschie-
denen Stadien, wobei es einem passieren kann, daß man
in dem erst frisch angeschwemmten Erdreich gehörig
stecken bleibt.
110
Wir sind dem Gang der Ereignisse etwas vorangeeilt
und müssen noch einmal ins 16. Jahrhundert zurück-
kehren. In der Mitte dieses Jahrhunderts begann man
den Canale Maestro zu bauen, der in einer Länge von
50km von Lago di Montepulciano im Süden bis zur schon
erwähnten Chiusa dei Monaci reicht, wo er in die heutige
Chiana mündet, welche sich wenige Kilometer weiter
unterhalb bei dem Ponte a Buriano in den Arno ergießt.
Natürlich wurde dieser Kanal nicht auf einmal fertig,
man hat ihn von unten auch angebaut im toskanischen
Gebiet; im römischen Gebiet des Chianatals wurde am
Ende jenes Jahrhunderts durch den Papst Clemens VIII. ein
Damm aufgeführt, der das Wasser des obersten Chianatales
vom Tiber abschneiden sollte und natürlich erheblich mit
dazu beitrug, es dem toskanischen Chianatal zuzuführen;
andere Dämme, die denselben Zweck hatten, folgten im
17. Jahrhundert. Indessen machte die Entsumpfung des
Tales nur langsame Fortschritte, zum Teil infolge der
Grenzstreitigkeiten und gegenseitigen Eifersüchteleien des
Kirchenstaates und des Großherzogtums Toskana, deren
politische Grenzen an dieser Stelle mit der Wasserscheide
zwischen Arno und Tiber zusammenfielen. In jener Zeit
wog im Kirchenstaat im allgemeinen die Besorgnis
vor, es möchte durch die Wasser des Chianatales eine
Überschwemmung des Tibergebietes eintreten — eine Be-
sorgnis, die im ganzen gewiß unbegründet ist —, und
daher trugen die Päpste selbst dazu bei, die ursprüng-
liche Abdachung des Chianatales nach Süden immer mehr
in ihr Gegenteil zu verkehren zum Vorteil des Arno-
gebietes. So wurden 1782 die berühmten Argine di
separazione (Staudämme) angelegt, die seit diesem
Jahre die Wasserscheide zwischen Arno und Tiber bilden
und damit zugleich die Südgrenze die Chianatales be-
zeichnen. Man erreicht sie von der Station Chiusi sehr
leicht, wenn man gleich hinter dem Stationsgebäude in
die Straße einbiegt, die über die Schienen in östlicher
Richtung in wenigen Minuten hinführt. Es sind dies von
außen nur unscheinbare Dämme, die etwa 1,60 m hoch
und 2,20 m breit sind; sie sind inzwischen durch neuer-
dings aufgeführte Dämme überholt worden, heben sich
aber noch immer deutlich von ihrer Umgebung ab, wenn
man sie eben ganz in der Nähe betrachtet.
Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts waren etwa 90 qkm
Land im unteren Chianatal entsumpft worden, während
der obere Teil des Tales hauptsächlich aus politischen
Gründen, wie oben auseinandergesetzt wurde, versumpft
blieb. Erst dem genialen Wasserbaumeister Grafen
Fossombroni, einem geborenen Arentiner — sein Denk-
mal steht in Arezzo auf der kleinen Piazza Umberto I. —,
gelang es, durch gütliche Vereinbarungen mit den Päpsten
und deren technischen Beratern eine gemeinsame Ent-
wässerung des gesamten Chianatales durchzusetzen, und
zwar einerseits durch Kanalisierung der von links und
rechts in den Canale Maestro einmündenden Bäche — das
Kanalnetz erreicht eine Länge von mehr als 150km —,
andererseits durch wiederholte Tieferlegung der Chiusa
dei Monaci, die allmählich im Laufe von drei Jahrhun-
derten eine Senkung von mehr als 26m erfahren hat,
der aber wahrscheinlich noch größere Senkungen bevor-
stehen. Durch Fossombroni und seine Nachfolger sind bis
zum Jahre 1877 im ganzen etwa 150 qkm entwässert
und bewohnbar gemacht worden, mit einem Kostenauf-
wand von etwa 12 Millionen Lire. Die so gewonnenen
Ländereien hat aber der italienische Staat nach und nach
wieder an die Umwohner für 20 Millionen Lire verkauft,
also noch ein recht gutes Geschäft gemacht, ähnlich wie
der Fürst von Torlonia bei der Senkung des Trasimeni-
schen und des Fuciner Sees. Ob freilich diese Veräuße-
rung durch den Staat für die Zukunft von Vorteil ge-
Halbfaß: Die Entwässerung des Val di Chiana in Toskana.
wesen ist, muß dahingestellt bleiben, denn der Besitz
verpflichtet natürlich auch zur Instandhaltung der mannig-
fachen wasserbautechnischen Anlagen, besonders der
Dämme, Kanäle, Abzugsgräben, Brücken usw., die in
diesem Gebiet geschaffen wurden, und hierin wird schwer-
lich — es liegt dies ja in der menschlichen Natur — eine
so gleichmäßige und großzügige Arbeit geleistet, wenn sie
sich auf viele Besitzer erstreckt, als wenn alles in einer
Hand liegt. Nach meiner persönlichen Erfahrung scheint
nach dieser Richtung hin wenigstens im oberen Teile des
Gebietes vieles recht im argen zu liegen.
Zu diesen Bedenken, die immerhin verhältnismäßig
leicht zu heben wären, etwa durch eine genossenschaft-
liche Bewirtschaftung und staatliche Beaufsichtigung des
Chianatales, treten aber noch zwei Umstände hinzu, die
wohl geeignet sind, die Fortsetzung und glückliche Be-
endigung dieses schönen Kulturwerkes ernstlich zu ge-
fährden; sie liegen in der Natur und Beschaffenheit des
Landes selbst und sind daher um so gewichtiger. Auf
das eine störende Moment hat schon der bekannte Wiener
Geologe Professor Dr. Reyer in seinem ausgezeichneten
Buch „Aus Toskana, geologisch -technische und kultur-
historische Studien“ (Wien 1884), dem ich manche Daten
entnommen habe, aufmerksam gemacht. Die fortgesetzte
Vertiefung der Chiusa dei Monaci, durch die doch zum
größten Teil die Entwässerung des Chianatales möglich
gemacht ist, muß notwendig einmal ein Ende nehmen,
weil schließlich sonst der Abfluß der Chiana zum Arno
nicht mehr möglich wird und sich ein See im Ausmün-
dungsgebiet der Chiana bilden muß. Es wird sich dann,
wie Reyer mit Recht hervorhebt, rächen, daß man den
natürlichen Lauf der Gewässer gewaltsam geändert hat,
zumal in einem Gebiet mit einem so weichen Grund und
so starker Erosionsfähigkeit, die diesem Teil von Toskana
eignet. Das andere Bedenken, auf das ich etwas aus-
führlicher eingehen muß, betrifft die Existenz der beiden
Seenbecken im obersten Chianatal, der Seen von Monte-
puleiano und Chiusi. Nach der von Perrone heraus-
gegebenen „Carta Idrografica Italiana, Arno, Val di
Chiana e Serchio (Roma 1902) hatte der größere See
von Chiusi im Jahre 1895 ein Areal von 3,60, 1899 nur
noch von 3,1 qkm, der kleinere See von Montepulciano
1895 ein solches von 1,77 qkm. Beide Seen haben seit-
dem noch beträchtlich an Umfang, aber auch an Tiefe
verloren infolge der vielen Sand- und Schlammassen,
welche die in die Seen -einfließenden Bäche ihnen zu-
führen. Nach Reyer soll die größte Tiefe des Lago di
Chiusi 1823 10m, 1848 8m, 1879 4m betragen haben,
die des Lago di Montepulciano 8 bzw. 6, bzw. 3m. Mögen
nun auch diese Angaben nicht ganz exakt sein, so kann
an einer in absehbarer Zeit vollzogenen Ausfüllung der
Seen — falls die äußeren Verhältnisse so bleiben — nicht
gezweifelt werden. Als ich den See von Montepuleiano
mit einem Fischer befuhr, war die südliche schmälere
Hälfte vollständig verkrautet, die größere Nordhälfte im
Durchschnitt 1!/, bis 2m tief, doch versicherte mir der
Fischer, daß es noch einzelne Stellen bis zu 4m Tiefe
gäbe. Perrone hat berechnet (a. a. O., S. 247), daß der
See von Montepuleiano in 16 Jahren, also etwa 1918,
der See zu Chiusi erst in 68 Jahren, also erst im Jahre
1970 aufgefüllt ist. Dieser wird also noch bedeutend
länger sein Leben fristen als jener. Was wird nun die
natürliche Folge davon sein? Existiert der See von Monte-
puleiano nicht mehr, so muß bei dem so außerordentlich
geringen Gefälle von dem See abwärts, bei jedesmaligem
Anschwellen der in den früheren See einmündenden Bäche,
eine Überschwemmung des Gebietes eintreten, die nur
sehr langsam wieder verschwinden und daher beträcht-
lichen Schaden anrichten wird, weil dann das Aus-
Budberg: Zur Charakteristik chinesischen Seelenlebens. 111
gleichungsbecken fehlt. Vermehrt wird diese Gefahr noch
durch die gleichzeitige Existenz des Sees von Chiusi, der
ja voraussichtlich noch mehr als ein halbes Jahrhundert
den kleineren See überdauern wird, da der Überschuß
dieses Sees das Überschwemmungsgebiet notwendig ver-
größern muß. Man hat, um diesen Schwierigkeiten mit
Erfolg zu begegnen, einmal vorgeschlagen, die Ausfüllung
beider Seen künstlich nach Möglichkeit zu beschleunigen,
ein radikales Mittel, das aber in seinen Folgen vorläufig
noch nicht zu berechnen ist, andererseits aber auch an
eine Teilung der Chiana gedacht in der Weise, daß der
Lago di Chiusi fortan nicht mehr ins Chianatal, sondern
durch die Tresa ins Tibertal abwässert. Dieser Zustand
kann durch Änderung der Argine di separazione leicht
erreicht werden, da ja das Gefälle der ganzen Gegend
überaus minimal ist. Dadurch würde man zunächst den
Folgen der ungleichen Ausfüllung beider Seen begegnen
und zugleich wenigstens zu einem kleinen Teil der natür-
liche hydrographische Zustand des Landes wieder her-
gestellt. Da die Länderschranken innerhalb des König-
reichs ja längst gefallen sind, so würde auch der Gegen-
satz zwischen dem toskanischen Arno und dem römischen
Tiber wegfallen, und der Tiber könnte eine kleine Ver-
mehrung seiner Wasserzufuhr gut vertragen.
Nach den Erfahrungen, die man anderswo mit der
beschleunigten Ausfüllung von Seen gemacht hat, möchte
ich dringend davor warnen, dieses Experiment bei den
beiden Seen des oberen Chianatales zu wiederholen. Im
Gegenteil würde ich alles daran setzen, die Ausfüllung
der beiden Seen möglichst hintanzuhalten, damit sie
möglichst lange den Lauf der Gewässer im Chianatal
retardieren. Ob das technisch möglich ist, mögen die
Wasserbauingenieure im Verein mit den Geologen ent-
scheiden; jedenfalls hängt diese Frage sehr eng mit der
bereits oben berührten Kernfrage zusammen: Wird sich
die künstliche Verlegung des Abflusses des Chianatales
nach Norden ins Arnogebiet dauernd aufrecht erhalten
lassen? Ich möchte diese Frage mit Reyer verneinen.
Zur Charakteristik chinesischen Seelenlebens.
Von Dr. med. Roger Baron Budberg. Charbin.
Man dürfte wohl kaum ein anderes Volk finden, das
so wenig wie das chinesische das Bedürfnis spürt, seine
Blicke über die Grenzen der realen Welt und die in ihr
wirkenden Kräfte hinauszulenken. Sich ein ganzes System
über das Weiterleben der Seele nach dem Tode auszubauen
und es zu fester Überzeugung in sich erstarken zu lassen,
erscheint selbst dem nichtgebildeten Chinesen wenn nicht
unmoralisch, so doch sehr einfältig. Sagte doch der größte
Gelehrte des Ostens, Konfuzius, über seine Ansicht gefragt,
was er vom Tode halte: wie solle er das wissen, da er ja
nicht einmal das Leben kenne. Und nach seiner Ansicht
über das Sein oder Nichtsein nach dem Tode gefragt,
wurde er sogar gereizt; denn zu albern erschien ihm solch
eine Frage.
Bei anderen Völkern finden wir das Bedürfnis, sich
zur Erhaltung ihres Seelengleichgewichts, zu ihrer inneren
Befriedigung, an irgend ein religiöses System zu klammern.
Nicht so bei den Chinesen. Das ihnen seit Hunderten
von Generationen überlieferte und zu logischem Emp-
finden gewordene Moralsystem befriedigt jedes Einzel-
individuum wie die Gesellschaft. Dieses Moralsystem ist
so leicht verständlich, weil es ja völlig auf Gesetzen sich
gründet, die aus der sichtbaren Welt, dem Tier- und
Pflanzenleben genommen sind. Aus der Liebe und Ach-
tung zu den Eltern entspringt notwendig Liebe zur Familie,
zu Heimatsgenossen usw., dann weiter natürlich auch
Achtung vor dem Alter, Anerkennung der Autorität Vor-
gesetzter und Ähnliches. Das Gesetz selbst ruht auf
diesem Moralsystem, es bestraft Verstöße dagegen hart,
das Staatsgesetz ist Wächter der guten Sitten, bestraft die
Sündigenden, belohnt oft die Tugendhaften, selbst nach
ihrem Tode noch, alles das zu gutem Beispiel und zur
Förderung eines befriedigenden Zusammenlebens. Das
sind Prinzipien, wie wir sie, wenn wir Details betrachten,
in europäischen Staatsgesetzen nicht kennen. Dank alle
diesem ist es auch nur erklärbar, daß das fast vollkommene
Moralsystem im Laufe von vielen Jahrhunderten oder,
richtiger gesagt, Jahrtausenden so tief im Denk- und
Empfindungsleben des Volkes sich eingeprägt hat.
Unter Christen und Anhängern anderer religiöser
Systeme gehören die Fälle, wo kleine Verbrecher und auch
sehr große sich ihrer Schlechtigkeit gar nicht bewußt
werden, nicht zu Ausnahmen, während der Chinese wohl
stets sich seiner Schuld bewußt ist. Das jedem Individuum
leicht verständliche Moralsystem des Konfuzius läßt dem
Gewissen und Verstande gar zu wenig rettende Neben-
pförtchen, wie sie in den verschiedenen anderen Religions-
systemen leichter zu finden sind.
Aus dem Gesagten folgt, daß der Chinese sich häufiger,
ja in Wirklichkeit zumeist, mit vollem Bewußtsein auf
den Weg des Verbrechens begibt. Motive sind da meistens
Not, Trägheit, Enttäuschungen und nicht an letzter Stelle
Haß gegen andere. Schwere seelische Kämpfe macht so
mancher junge Chinese durch, ehe er sich entschließt,
schlechte Wege zu betreten; hauptsächlich sind es die
Liebe und Rücksicht für die Seinigen, die ihm den Kampf
schwer machen, üble Folgen und Gefahren, denen er seine
eigene Person aussetzt, treten dabei ganz in den Hinter-
grund. Ist der böse Entschluß gefaßt, so flieht der Chi-
nese möglichst weit von seiner Heimat. Foltern unmensch-
lichster Art sind wohl imstande, dem Verbrecher das Ein-
geständnis abzunötigen, nicht aber, ihn auch zum Verrat
der Seinigen zu bewegen, denn das wäre der schwerste
Verstoß gegen das eigene Gewissen, das auch der größte
chinesische Verbrecher nie ganz verliert. Richtige in Ge-
nossenschaft stehende Räuber, Chunchudzen, sie bauen
sich gar ein neues Moralsystem auf, indem sie zu ihren
Opfern nur schlechte Menschen wählen, ja selbst die Fälle,
wo solche Räuber Arme und Bedrückte unterstützen, sind
nicht selten, und diesen ihren Moralsystemen liegen die
Gesetze allgemeiner chinesischer Moral zugrunde, wie die
nötige Achtung vor den Eltern, Treue zu Freunden, mit
denen sie sich eidlich verbrüdert haben.
Das Fehlen jeden Bedürfnisses nach einem tröstenden
Glaubenssystem macht auch den christlichen Missionen
die Verbreitung ihrer Lehre in China so unendlich schwer.
Wohl kommen den Missionaren schwere Verhältnisse zu
Hilfe, unter denen das unglückliche Volk zu leben hat,
die grenzenlose Ungerechtigkeit bestechlicher Beamten,
Bedrückungen aller Art, neben noch existierenden großen
Privilegien der Missionen, wodurch diese ihre Angehörigen
vor Verfolgungen, selbst gerechten, zu schützen vermögen.
Aber aus Überzeugung läßt sich wohl niemals ein er-
wachsener Chinese taufen. In keinem Fall ist es seelisches
Bedürfnis, sondern bloß der Wunsch nach Schutz, der zur
Konvertierung führt, wobei der Bekehrte sowohl, wie der
auf den Weg des Verbrechens sich begebende Chinese
sich dessen bewußt ist, daß er sich des ihm durch seine
112 Budberg: Zur Charakteristik chinesischen Seelenlebens.
Vorfahren überlieferten Moralsystems begibt. Alle diese
Schwierigkeiten hat die katholische Kirche bereits seit
Jahrhunderten in China klar erkannt, und sie hat sich
deshalb dort zum Zweck erfolgreicherer Propaganda mit
Billigung des Papstes völlig umgestaltet, nicht nur äußer-
lich, sondern auch innerlich. Priester tragen hier statt
ihrer Amtstracht chinesische Kleider, ja die Jesuiten
tragen statt der Tonsur echte Zöpfe; von allen den ver-
schiedensten Orden wird ein langer Bart peinlichst her-
angezogen, denn er schafft ehrwürdiges Aussehen. Vielen
tief eingebürgerten Sitten und Gebräuchen, die eigentlich
völlig im Widerspruch stehen mit dem Wesen der katho-
lischen Lehre, wird Rechnung getragen, sie werden nicht
nur geduldet, sondern, wo es nötig erscheint, sanktioniert.
Bei Kindern scheint es notwendig, von früher Jugend
auf durchdachte Mittel anzuwenden, um die ihnen an-
geborene Denk- und Empfindungsweise zu paralysieren.
Um die Jugend in den katholischen Missionsschulen zu
lehren, bedarf es keineswegs immer des Missionars selbst,
ein einziger Missionar genügt für ein großes Gebiet und
viele Schulen, über die er die oberste Aufsicht übt. Die
Kinder werden ja gar nicht durch Überzeugung zum
Glauben gebracht, und deswegen kann der Unterricht in
den Schulen christlich völlig ungebildeten, häüfig sogar
heidnischen Lehrern und kaum etwas gebildeten chine-
sischen Nonnen überlassen werden. In den Kindern muß
der freie Geist paralysiert werden, und das geschieht in
folgender Weise: Gelehrt werden den Kindern einige
hundert Hieroglyphen, nur solche, die in Katechismus und
Gebetbüchern in Gebrauch sind.
Einen gar zu wehmütigen Eindruck machen diese
Schulen auf mitfühlende Seelen. Vom frühen Morgen bis
zum Abend hocken die Kinder auf dem chinesischen Kan,
einer Art liegendem Ofen, der durch den ganzen Wohn-
raum längs den Wänden sich hinzieht und zum Schlafen
wie auch zum Tagesaufenthalt dient; mechanisch plappern
sie so ihre Gebete und Hieroglyphen, es wird ihnen kein
Augenblick zur Entfaltung wirklich denkender Arbeit
gestattet. In dieser Weise ein oder ein paar Jahre be-
handelt, verkrüppelt natürlich der Verstand völlig, und
die Unglücklichen können geistig in nichts mehr wider-
sprechen, sie folgen blindlings ihren Seelsorgern. Ein
Trost ist es den Missionaren, daß in weiteren Generationen
christliche Gemeinden wieder fähig werden zu denken
und wohl auch überzeugte Christen sind. Da nimmt man
es denn schon mit in den Kauf, zuerst sich mit dem Aus-
wurf chinesischer Gesellschaft zu begnügen und in den
Schulen die Kinder geistig zu verkrüppeln. Etwas Mit-
leid scheinen bei den Missionaren nur die chinesischen
Nonnen zu erwecken, die ohne Ausnahme an schweren
oder leichteren Formen der Neurasthenie und Hysterie
erkranken. Häufig hört man die Bemerkung, daß, so ab-
stoßend neue Christen sind, um so sympathischer Familien
erscheinen, die bereits in dritter oder vierter Generation
Christen sind. Angenehm berührt bei ihnen die größere
Freiheit und Ungezwungenheit der weiblichen Personen.
Der Eingeweihte indessen weiß, daß diese scheinbaren
Fortschritte fraglich sind und ein tieferer Blick hinter
die Kulissen den Europäer erröten lassen müßte.
In Glaubenssachen ist das chinesische Volk das tole-
ranteste von allen Völkern; hält es sich fern von seinen
christlichen Landsleuten und kommt es gar zu offenem
Kampf, so liegt das nicht an dem Glauben, sondern an
wohlbegreiflichen Ursachen, deren Betrachtung über den
Rahmen unseres Themas hinausreicht.
Den intelligenten Chinesen widert, wie wir es immer
wieder hören, der christliche Standpunkt ganz gewaltig
an, wonach der Mensch zur Tugend im irdischen Leben
angehalten wird durch die Aussicht auf Strafe und Ver-
geltung im Jenseits. Dieser Standpunkt steht mit kon-
fuzianischer Lehre in direktem Widerspruch und erscheint
deswegen dem Chinesen geradezu unmoralisch. Trotz
aller Logik ist nicht nur der ungebildete, sondern auch
der gut gebildete Chinese voll. Aberglaubens. Die Auf-
fassung, daß der Chinese Götzendiener im wahren Sinne
des Wortes sei, ist falsch. Er weiß, daß es in der Welt
eine unendliche Menge von Naturkräften gibt, die der
menschliche Geist nicht erforscht hat und vielleicht nie
erforschen wird. Zu solchen Kräften gehören die Elektri-
zität, der Magnetismus, Somnambulismus und viele andere,
die auf und um uns wirken können, ohne daß wir auch
nur einigermaßen ihr Wesen uns zu erklären vermögen.
Seine Gottheiten stellen nichts anderes dar als eine Kom-
bination verschiedener Kräfte, denen nicht notwendig
persönliches Denken zugeschrieben wird. So hat nicht
allein jedes Flüßchen, jeder Berg, nein, sogar die einzelne
Pflanze ihre Gottheit oder nennen wir sie Seele, das heißt
Kräfte, die ihr innewohnen. Götzen in Tempeln stellen
nicht nur Symbole solcher Kräfte dar, sondern ihnen lassen
sich Kräfte einimpfen.
Der Mensch besitzt mehrere tierische Seelen, die nach
dem Tode zum Himmel streben, und eine Anzahl Seelen-
kräfte, die in die Erde gehen. Die Seelen Verstorbener
lassen sich einfängen und sich in Götzenbilder, wohl auch
in die Ahnentafeln sperren. Gräber sind Wohnungen
der Seelen. Der Lebensstoff der Seele hat seinen Sitz im
Blute des Menschen, wobei einzelne Organe und Teile des
Körpers ihn in größerer oder geringerer Konzentration
besitzen. Auch die Tiere haben eine Seele, deren Kräfte
um so stärker sind, je größer oder je menschenähnlicher
das Tier ist. Hierauf gründet sich ein großes medizinisches
System, das vor Jahren noch als gar zu barbarisch und
abergläubisch der europäischen Medizin erscheinen mußte;
jetzt allerdings, wo neben Bibergeil Spermine, Ovariol,
Thyreoidea und andere Organpräparate auch in Europa
mehr und mehr Verbreitung finden, lacht man weniger
über den chinesischen Aberglauben. Ganz besonders ge-
schätzt sind seit den ältesten Zeiten die Genitalorgane ver-
schiedener Tiere, nachdem sie eine sachverständige Prä-
paration erfahren haben. Gegen Skrofulose wird der
Speichel des Orang-Utan gerühmt, als sehr giftig gilt da-
gegen der Speichel der Missionare. Teuer bezahlt werden
zu medizinischen Zwecken die Frühlingssprossen des Hirsch-
geweihes. Aber nicht nur körperliche Leiden lassen sich
durch diese Mittel, denen seelische Kräfte innewohnen,
bekämpfen, auch der Charakter des Menschen und geistige
Fähigkeiten lassen sich dadurch, wie man sagt, unzweifel-
haft stärken. Da ist vor allen Dingen das Herz des Menschen
sofort nach seinem Tode voll großer Kräfte. Bei Hin-
richtung sehr tapferer Räuber sieht man häufig, daß so-
fort nach dem Tode der Scharfrichter dem Leichnam das
Herz aus der Brust reißt, und daß er selber, wenn er
Soldat ist, oder ein anderer Militär in das noch pulsierende
warme Herz beißt; das soll von der Tapferkeit des Ver-
storbenen solche auf den das Blut und Fleisch Genießen-
den übergehen lassen. Daß die Erfahrung wirklich diese
Wahrheit begründet, ist dem, der die chinesische Fähigkeit
der Autosuggestion kennt, verständlich. Der Eindruck
auf den Soldaten und seine Kameraden ist gewaltig und
wird dem Gedächtnis tief eingeprägt, und er wird in
Augenblicken, wo er Gefahren ins Gesicht schaut, unwill-
kürlich an die von ihm übernommene Kraft erinnert.
Bei dem Genusse des pulsierenden Herzens besorgt der
Soldat nicht, daß mit der Tapferkeit auch andere üble
Eigenschaften des Hingerichteten auf ihn übergehen.
Das Volk fürchtet sonst in hohem Grade, mit dem Blut
oder den Körpern der Hingerichteten in Berührung zu
kommen, weil üble Kräfte es infizieren könnten.
Bahnbau in Nigeria.
113
Sind Personen von tollen Hunden gebissen worden,
so sollen sie das tollwütige Tier unter allen Umständen
zu töten suchen, um sich in den Besitz der Leber desselben
zu setzen; denn deren Genuß schützt vor Infektion. Es
mag ja wohl sein, daß etwas Wahres darin steckt, impft
man doch bei uns zum Schutz vor Tollwut mit infiziertem
Rückenmark der Kaninchen.
Fest überzeugt scheint jeder Chinese davon zu sein,
daß die Seele des Menschen nicht unlöslich mit dem Körper
verbunden ist; das zeigen ihm die Traumbilder, die er
sich durch Wanderungen der Seele erklärt. Somnambu-
lismus kennt man auch in China, es ist die Fähigkeit,
seine Seele in gewünschte Fernen zu schicken, und da
die Wanderungen der Seele kaum Zeit kennen, so ist die
Wechselbeziehung zwischen Körper, Seelen und Seelen-
kräften ein nicht berechenbar kleiner Zeitraum.
Liebhaber des Spiritismus, die Geister oder Kräfte
schreiben lassen, gibt es überall.
Auch an Materialisierung von Geistern, Teufeln aller
Art glaubt wohl jeder Chinese; er ist indessen nicht über-
zeugt, daß diese Geister ein Denkvermögen wie wir besitzen,
es schwebt ihm vielmehr auch hier vor, als seien es be-
sondere Kräfte, die jedoch große Einflüsse auf das Leben
der Menschen gewinnen können. Lärm von Trommeln,
Feuerwerk aller Art usw. vermögen solche Kräfte zu ver-
scheuchen. Feuerwerk wird daher zu Neujahr, wo ein
besonders reges Leben unter diesen Kräften herrscht,
reichlich abgebrannt; ebenso muß zu Hochzeiten, Ein-
weihungen neuer Wohnstätten und bei Todesfällen gründ-
lich gelärmt werden, um böse Geister zu verscheuchen.
Sind die Eltern oder ein geliebtes Kind schwer krank,
so versucht man das Leben zu retten, indem man aus
Metall ein Abbild formen läßt, mit eingraviertem Namens-
zuge der kranken Person; das soll die bösen störenden
Kräfte veranlassen, den kranken Organismus, aus dem
die Seele zu fliehen droht, zu verlassen.
Sind Kinder in schwerer Krankheit, ist das Bewußtsein
getrübt und fürchtet man den Tod, dann bereitet man
Speisen, holt Blumen, Spielzeuge, Kleider usw., die das
Kind liebte, zusammen, man bittet und lockt die Seele,
in den zeitweilig gequälten Körper wieder zurückzukehren.
Aus all dem Gesagten ersehen wir, daß es kein festes
Vorstellungssystem über die Seele, den Tod und das Fort-
leben nach dem Tode bei den Chinesen gibt, und auch
kein seelisches Bedürfnis danach, wohl aber, namentlich
bei Gebildeten, ein wissenschaftliches. Spiritismus und
Experimentieren in anderen geheimen Kräften sind in China
sehr verbreitet. Ohne Wahrsager kann man sich in China
keine noch so kleine Stadt vorstellen, ja man darf sogar
behaupten, daß die Wahrsagekunst in China zu einer
großen Wissenschaft geworden ist. Da aber der Laie
keine Kontrolle über das Verständnis und Talent des
Wahrsagers und Kenners geheimer Kräfte besitzt, so üben
die größten Betrüger und Ignoranten ein einträgliches
Geschäft unter Vorgeben der Gelehrsamkeit. Hierdurch
wird das arme Volk, ebenso wie durch seine völlig un-
kontrollierten Ärzte, in gewissenlosester Weise betrogen.
Zum Schluß dürfen wir den Ahnenkultus nicht uner-
wähnt lassen, an dem die Chinesen noch bis zur Stunde
so festhalten. Die Vorstellung, daß den Ahnen dabei
eine göttliche Verehrung gezollt wird, ist durchaus un-
richtig. Forscht man nach den eigentlichen Motiven und
Vorstellungen bei intelligenten Chinesen, so bekommt man
zur Antwort: „Die Liebe und Achtung zu den Eltern,
die stufenweise zu den Vorfahren emporsteigt, kann mit
dem Tode nicht aufhören; gar zu unmoralisch wäre es,
die einmal aus ältester Zeit hergebrachte Form dieser
Verehrung zu vernachlässigen; wer sich selbst liebt, wird
den Kultus üben, weil die Gesellschaft sich von ihm los-
sagen würde, wenn er die Achtung und Dankbarkeit seinen
Eltern, seinen Vorfahren gegenüber, denen er seine Exi-
stenz und Gutes in sich verdankt, vergessen würde. Ob
die Seelen fortexistieren, das kann niemand wissen, das
ist auch gleichgültig, wenn man nur die erforderliche
Pietät übt.“
Konfuzius selbst übte gern religiösen Kultus, ohne
indessen etwas von seinen persönlichen Anschauungen
mitzuteilen; jedem sei überlassen, sich seine eigenen An-
sichten zu bilden, nicht aber, sie zu propagieren; wahre
Moral könne sich nach seiner Auffassung eben nur auf
einem natürlichen Sittengesetz aufbauen, nicht auf reli-
giösen Dogmen.
Bahnbau in Nigeria.
Die britischen Schutzgebiete am unteren Niger, Süd-
und Nordnigeria und die mit ersterem seit 1906 ver-
einigte Kolonie Lagos, sind heute in einer vielversprechenden
Entwickelung begriffen. Um die Fortschritte, die diese
Länder schon gemacht haben, richtig zu würdigen, muß
man in Erwägung ziehen, daß selbst küstennahe Teile
Südnigerias noch vor sehr wenigen Jahren auf der Karte
nur einen großen weißen Fleck bildeten, während Nord-
nigeria erst vor zehn Jahren in Verwaltung genommen
wurde und die Besetzung der Nordprovinzen sogar erst
im Jahre 1903 erfolgte. Zur weiteren Erschließung der
Schutzgebiete sind in den letzten Jahren zwei umfang-
reiche Bahnbauten in Angriff genommen worden, nach
deren Vollendung im Jahre 1912 die Nigerländer ein
Eisenbahnnetz von etwa 1400 km Länge besitzen werden.
Die eine dieser Linien, bisweilen auch als „Südbahn“
bezeichnet, bildet eine Verlängerung der schon 1901
eröffneten Strecke Lagos—Ibadan; sie verläuft über
Ilorin und Jebba, wo der Niger gekreuzt wird, nach
Sungeru, dem Sitze der Regierung von Nordnigerien.
Die zweite Linie, die „Nordbahn“, beginnt bei Baro am
linken Nigerufer und führt von da, dem Bako- und dem
Kadunatale folgend, über Saria nach Kano, dem Mittel-
punkt der Haussastaaten. Etwa 200km nördlich von
Baro vereinigt sich mit ihr die von Sungeru kommende
Anschlußstrecke. der Lagoseisenbahn. Die Arbeiten an
diesen Bahnbauten schreiten, wie den letzten Jahres-
berichten über Süd- und Nordnigeria (Colonial Reports
Annual Nr. 630 und 633) zu entnehmen ist, schnell vor-
wärts. Die Verlängerung der Lagoslinie ist bereits bis
zum Nigerübergang bei Jebba (494km von Lagos) in
Betrieb; die dortige Brücke ist im Bau. Den Verkehr
zwischen beiden Ufern wird bis zur Vollendung der
Brücke eine Dampffähre vermitteln. Auf der Linie
Baro—Kano ist der erste 130 englische Meilen lange
Abschnitt Baro—Minna fertiggestellt, die zweite Teil-
strecke von Minna bis zum Kadunafluß (85 englische
Meilen) soll bis Ende 1910, der letzte Abschnitt bis
Kano (210 Meilen) bis zum Schluß des Jahres 1911
vollendet sein!). Den Eingeborenen ist bereits die Be-
nutzung der Bauzüge erlaubt worden. Während die
Südbahn teilweise ein sehr zerrissenes, von Dickicht er-
fülltes Gelände durchschneidet, sind auf der Nordbahn
verhältnismäßig wenig Schwierigkeiten zu überwinden.
1) Vgl. auch Export 1910, Nr. 23.
114 Bücherschau.
Baro liegt 107m, Saria 790m, der Endpunkt Kano
553m hoch. Dagegen werden die Arbeiten vielfach
durch die Unerfahrenheit der Eingeborenen im Gebrauch
der Werkzeuge und beim Gleislegen und den ungünstigen
Gesundheitsstand des weißen Personals verzögert. Die
Baukosten betragen etwa 37 500 .% für das Kilometer.
Der Verkehr auf der Lagoslinie hat sich trotz des
schleppenden Geschäftsganges und einer schlechten
Baumwollernte im DBerichtsjahre (1908) weiter
gehoben. Es wurden 212748 Personen befördert, dar-
unter 204381 Fahrgäste III. Klasse, und Güter im
Gewicht von 109356t, was gegen das Vorjahr eine
Zunahme um 24329 Personen und 26456t bedeutet.
Die Gesamteinnahmen stiegen von 139747 Pfd. Sterl.
auf 146382 Pfd. Sterl, dagegen blieben die Reinein-
nahmen mit 42957 Pfd. Sterl. um 22355 Pfd. Sterl.
hinter denen des Jahres 1907 zurück; diese Abnahme ist
zum großen Teil eine Folgeerscheinung der Eröffnung
der nördlichen Teilstrecken, deren Betrieb auch noch
während der nächsten Jahre wenig Gewinn abwerfen
dürfte.
Von der Vollendung der Eisenbahn bis Kano er-
wartet man einen großen Aufschwung der Produktion
und des Handels. Die Haussaländer zeichnen sich durch
einen sehr hohen Kulturstand aus. Ackerbau und Vieh-
zucht blühen, die Industrie ist wohlentwickelt, der Außen-
handel vortrefflich organisiert. Die Stadt Kano bildet
den Schnittpunkt von elf großen Handelsstraßen, in einem
Umkreis von 50km ist eine Fläche von 400000 ha
ständig angebaut. Die Baumwollpflanzungen der Haussa
liefern schon heute für 1 bis 2 Millionen Menschen
Kleidung. Die Eingeborenen, auch die arabischen
Händler in Kano beginnen schon die Vorzüge der
modernen Verkehrsmittel zu schätzen, und es erscheint
z. B. als nahezu sicher, daß durch die Eröffnung der
Eisenbahn jener Teil des Handels, der heute noch von
Karawanen quer durch die Sahara mit Tripolis vermittelt
wird, eine Ablenkung nach dem Niger erfahren wird. J.
Bücherschau.
E. Pringsheim, Physik der Sonne. VII und 435 8. mit
7 Taf. Leipzig 1910, B. G. Teubner. 16 fb.
Das vorliegende Buch, das zwar einen rein physikalischen
Charakter trägt, enthält doch eine Anzahl Kapitel, die für
die Geophysik und Meteorologie und damit auch für die Geo-
graphie von Bedeutung sind. In der Einleitung kommen
auch diese Punkte sofort zum Ausdruck, indem der Einfluß
der Sonne auf das irdische Leben und als Quelle irdischer
Energie dargestellt wird, wobei besonders auf die Bewegung
der Atmosphäre, der Meere, auf den Kreislauf des Wassers
und anderes Bezug genommen wird. Von den anderen
Kapiteln ist das über die Periodizität der Sonnentätigkeit
besonders zu nennen, die sich am reinsten in den Perioden
des Erdmagnetismus und der Polarlichter wiederspiegelt, aber
auch für die Klimatologie von Bedeutung ist. Da das Buch
alle neueren Ergebnisse der Sonnenforschung, wie Zeemaneffekt
u. a. enthält und auch sonst gut geschrieben ist, wird es
wohl auch in weiteren Kreisen mit Nutzen gelesen werden.
Eine große Anzahl guter Abbildungen und Tafeln trägt viel
zum leichteren Verständnis bei.
J. B. Messerschmitt-München.
A. Grund, Beiträge zur Morphologie des Dinarischen
Gebirges. Mit 12 Abbildungen im Text, einer Tafel und
drei Karten. Geographische Abhandlungen, herausgegeben
von A. Penck, Band IX, Heft3. Leipzig 1910, B. G. Teub-
ner. 8%.
Die Beiträge sind eine Fortsetzung zu des Verfassers
„Karsthydrographie“ und sollen in drei großen Abschnitten
den Einfluß der jungtertiären „posthumen Störungen“ und
die Wirkungen der quartären Vergletscherung und Senkung
auf das Oberflächenbild der Herzegowina zeigen. Diese drei
Abschnitte enthalten eine Unmenge einzelner Daten und
Beobachtungen, deren Zusammenfassung zum Teil nochmals
in einem Schlußkapitel gegeben ist, in dem aber außerdem
eine Vergleichung des im Dinarischen Gebirge Gewonnenen
mit den Beobachtungen aus Westbosnien und Istrien durch-
geführt wird. Danach stammen, wie in dem „Zur Mor-
phologie des Dinarischen Gebirges“ überschriebenen Schluß-
kapitel genauer ausgeführt wird, die Formen des Dinarischen
Gebirges aus zwei Zyklen, von denen der erste die der Ab-
lagerung des Oligozäns nachfolgende Abtragungsphase dar-
stellt, welche die Einebnung der Narentakarstebene bewirkte.
In diesen Zyklus haben junge „posthume Störungen“ ein-
gegriffen; dadurch entstand ein Stufenland, wodurch wieder
ein neuer Zyklus eingeleitet wurde. Ein Vergleich zwischen
den Poljen und Narentaterrassen ermöglichte es, deren gegen-
seitiges Alter festzustellen, das sich auch in der Morphologie
der Poljen verrät. Die zwei genannten Erosionszyklen lassen
sich nur innerhalb weiter Grenzen in die geologische Zeit-
rechnung eingliedern; sie werden vom Verfasser mit dem
Miozän und Pliozän gleichgestellt. Auf den letzten Erosions-
zyklus folgte im Narentatal eine Zuschüttung mit glazialen
Schottern und eine Senkung der Küstenpartien, während die
zentralen Teile des Gebirges noch in Hebung verharrten.
Das Dinarische Gebirge ist aber während der Zyklen nicht
zu einer einheitlichen Rumpffläche geworden, sondern neben
ihr finden sich noch Mosorbergländer, die nach ihrem mor-
phologischen Charakter nicht Teile der Rumpffläche gewesen
sein können. Der Karstzyklus ist übrigens in räumlichem
Nebeneinander mit einem fluviatilen Zyklus. — In dem Ab-
schnitt über die Vergletscherung des Dinarischen Gebirges
werden die Glazialspuren, fluvioglazialen Ablagerungen usw.
der einzelnen Teile geschildert und auf Grund dieser Schilde-
rungen der Versuch gemacht, eine Karte der eiszeitlichen
Schneegrenze im einzelnen zu zeichnen. Die Gletscherspuren
stammen nach den Angaben des Verfassers aus der Riß- und
Würmzeit. In einem Kapitel „Zur Karsthydrographie“ findet
sich hauptsächlich eine kritische Besprechung der Einwände,
die gegen die Theorie Grunds von anderen Seiten vorgebracht
worden sind, daneben aber auch Ergänzungen und Berich-
tigungen zu seinen früheren Ausführungen auf Grund eigener
Beobachtungen und der Literatur.. Im ganzen hält er aber
seine Theorie gegenüber den Ansichten Katzers usw. in ihren
Grundzügen aufrecht, ebenso wie im Schlußkapitel seine An-
sicht von der tektonischen Natur der Poljen. Gr.
Waldemar Jochelson, The Yukaghir and the Yukaghi-
rized Tungus. Teil I. (The Jesup North Pacific
Expedition, Bd. IX, Teil 1.) Leiden 1910, E. J. Brill.
Es ist eine große und verdienstvolle Leistung des russischen
Ethnographen, die wir hier dankbar anzeigen. Sie bringt
uns Kunde von einem einst zahlreichen sibirischen Volke,
das heute auf wenige hundert Köpfe zusammengeschmolzen
über einen Raum zerstreut lebt, größer als das Deutsche
Reich. Und wie hat der Verfasser in einem eisigen Klima,
begleitet von seiner Frau, dort studiert! Jeder Ethnograph
muß seine Freude daran haben, wie er, aufs beste vorbereitet,
bei dem untergehenden Völkchen noch alles Wesentliche zu
erforschen weiß, so daß er für alle Zeiten dieses Volk
noch festgelegt hat. Zweimal war Jochelson in dem un-
wirtlichen Lande, dem kältesten der Erde, wo im Winter
Temperaturen bis — 68°C erreicht werden und wo zuweilen
das Jahr nur 37 frostfreie Tage zählt. 1895 war der Ver-
fasser mit einer russischen Expedition dort, 1902 mit der
Jesupexpedition. Das Ergebnis aus beiden Forschungsreisen
liegt jetzt, in der ersten Hälfte, hier vor. Es bildet nunmehr
die beste und zuverlässigste Quelle über die Jukagiren, die
in diesem Jahrhundert noch völlig verschwunden sein werden.
Zur Zeit, als die Russen nach Ostsibirien kamen, reichten
die Jukagiren noch von der Lena bis zur Kolyma und von
der Eismeerküste bis zum Werchojanskischen Gebirge im
Süden. Heute sind davon noch kleine isolierte Gruppen auf
diesem gewaltigen Gebiete übrig, inmitten von Jakuten, Tun-
gusen und Tschuktschen, in denen sie teilweise aufgehen;
nur an der Jassatschna und am Korkodon, Nebenflüssen der
Kolyma, wohnen sie etwas dichter zusammen, auf der weithin
ausgedehnten Tundra an den großen Flußläufen nomadisierend.
Der Name Jukagiren, mit dem die Russen das Volk
bezeichneten, ist wahrscheinlich tungusischen Ursprungs. Sie
selbst nennen sich Odul, was einen Starken (Krieger) be-
deutet; zu ihnen gehören auch die jetzt stark russifizierten
Tschuwantschen. Die Typen des Volkes, die Jochelson auf
mehreren wohlgelungenen Tafeln mitteilt, kann ich nicht von
Kleine”Nachrichten.
115
denen anderer ostsibirischer Völker unterscheiden; ich habe
daneben Abbildungen aus Schrenck und aus Middendorff
gelegt und dort die gleichen Gesichter gefunden, wie denn
auch der Verfasser sagt, daß die bedeutende tungusische Bei-
mischung sich sehr stark bemerkbar mache. Das Aussterben
steht sicher bevor. Jochelson teilt eine Anzahl Daten über
die Geburtenzahl mit, die sehr gering ist; viele Kinder sterben
im frühesten Alter, viele Ehen sind unfruchtbar. Ein
besonderer Völkergeruch der Jukagiren wird festgestellt,
und statt des Kusses herrscht eine Art Nasengruß.
Sehr gelobt wird, im Gegensatz zu den Nachbarvölkern,
die Reinlichkeit der Jukagiren, die sich oft waschen und
die Seife schätzen, was aber nicht hindert, daß sie stark
verlaust sind. Unter den Krankheiten sind Masern, Pocken
und Syphilis die verheerendsten, und diese verdanken sie den
Russen. Merkwürdig ist, daß sie verhältnismäßig ausgedehnte
anatomische Kenntnisse besitzen, aber das wird erklärlich,
wenn man weiß, daß sie das Fleisch von den Knochen ihrer
toten Schamanen lösen. Sie kennen den Unterschied zwischen
Arterien und Venen, haben für den Puls einen besonderen
Namen und geben Erklärungen für die Funktionen der
Organe. Ein besonderes Kapitel ist einer merkwürdigen
Nervenkrankheit, „der arktischen Hysterie“, gewidmet, die
auch bei den Nachbaryölkern vorkommt.
Was die Zählart betrifft, so spielen dabei die Finger und
die Zahl 5 ihre Rolle, wie bei so vielen Völkern, daneben
ist aber auch ein auf die 3 begründetes System in Ge-
brauch. Kerben in Stöcken dienen zur Unterstützung des
Gedächtnisses, z. B. der Bezeichnung der Wochentage, da
sie den christlichen Kalender angenommen haben. Längen-
maße werden durch Spannen, Handbreiten usw. bezeichnet,
doch gilt schon die russische Arschine. Aber Entfernungen
zu bestimmen ist nicht Sache der Jukagiren; sie sagen
„Midol“ für die Tageswanderung vom Aufbruch des Lagers
bis zum Wiederaufschlagen, und für die Zeit, die man
gebraucht, um zu einem näheren Ziele zu gelangen, sagen sie:
„so lange bis ein Kessel Wasser kocht“ — was an das süd-
deutsche „der Weg ist eine Pfeife Tabak weit“ erinnert. Die
Zeiteinteilung des Jahres, beginnend etwa mit unserem Juli,
geschieht nach zwölf Mondmonaten, für welche sie Namen
haben.
Gelobt wird der treuherzige Charakter des Volkes, der
aber unter dem Einflusse der Russen, von denen es wie
Sklaven behandelt wird, sehr gelitten hat. „Wer Nahrungs-
mittel besitzt, muß sie mit jenem, der keine besitzt, teilen“
gilt bei den Jukagiren. Über die Sprache wird Jochelson
eine besondere Arbeit veröffentlichen; er sagt jetzt nur so
viel, daß sie nach Grammatik und Wortschatz eine durchaus
isolierte Stellung einnimmt.
Daß das untergehende Völkchen zumeist aus Rentier-
nomaden besteht, ist bekannt; außer diesen gibt es auch
Sippen, bei denen der Hund das Zugtier ist, doch sind diese
in der Minderheit. Im Jahre 1897 veranstalteten die Russen
eine Zählung, und da zeigte sich, daß die Kopfzahl der
Jukagiren, die Tschuwantschen eingerechnet, schon auf 1455
herabgesunken war, während sie in der Mitte des 18. Jahr-
hunderts, ehe die Russen ihnen Seuchen brachten, noch 5000
betrug. Dafür gehören sie aber auch der orthodoxen Kirche
an, über deren Priester der Verfasser sehr ungünstig urteilt.
Sehr ausführlich sind die Familien- und Verwandt-
schaftsverhältnisse behandelt, welche zum Teil recht ver-
wickelter Art sind, und bei denen die alten Theorien von
Promiskuität, Gruppenehe, Matriarchat, Brautraub usw. nur
stellenweise noch Anwendung finden. Jochelson baut darum
nur an der Hand der Tatsachen von Grund aus neu auf —
es ist aber ein so weites und oft verwickeltes Gebiet, daß
wir hier auf das Original verweisen müssen und nur weniges
andeuten wollen. Da ist zunächst der ungemein freie geschlecht-
liche Verkehr der jungen Leute, der sehr früh beginnt. Das
mannbare Mädchen erhält eine eigene Hütte, wo es nach Be-
lieben die verschiedensten Besucher empfängt. Wiederholt hat
Jochelson Entbindungen beigewohnt, von denen er interessante,
ins einzelne gehende Beschreibungen gibt. Der reiche Band,
dem ein weiterer folgen wird, schließt mit der Schilderung
der sozialen Verhältnisse, wobei noch erwähnt werden mag,
daß Spuren eines ehemaligen Totemismus vorhanden sind
(Tiernamen von Sippen), und berichtet über die Spiele und
die Blutrache, die heute sehr milde Formen angenommen hat.
R. A.
Waldemar Bogoras, Chukchee Mythology. (The Jesup
North Pacific Expedition, Bd. VII, Teil 1.) Leiden
1910, E. J. Brill.
Die allgemeine Schilderung der Tschuktschen hat
Bogoras in Band 7 der Jesup-Expedition schon früher ver-
öffentlicht, jetzt folgt als wesentliche Ergänzung die Samm-
lung der Mythen, Erzählungen, Schamanengesänge, Sprich-
wörter und Rätsel, welche uns tiefe Einblicke in das religiöse
und Geistesleben des Volkes eröffnen. Die Texte wurden
vom Verfasser aus dem Munde der Tschuktschen in deren
Sprache mit ‚philologischer Genauigkeit aufgeschrieben, mit
interlinealer Übersetzung versehen und dann frei umschrieben,
so daß sie ein höchst wichtiges Material nicht nur für den
Sprach-, sondern auf für den Mythenforscher bilden. Als eine
Eigentümlichkeit in bezug auf die Sprache hebt Bogoras
hervor, daß die Aussprache der Frauen von jener der Männer
abweicht, daß sie z. B. č sprechen, wo die Männer š sagen
und statt r nach weichen Vokalen 3. Die Buchstaben & und r
sind aber sehr häufig in der Tschuktschensprache, so daß die
Rede der Weiber mit ihren gehäuften & und r gegenüber
jener der Männer einen ganz eigenen Klang erhält. Weiber-
gesänge der Rentiertschuktschen, die mitgeteilt sind, zeigen
diese Häufung in hervorragender Weise. Auch bei diesem
fernen Volke zeigt sich schon der Einfluß der Russen, da in
den wenigen Sprichwörtern und auch sonst in den. Mythen
und Erzählungen russische Elemente sichtbar werden. Es
war auch hier die höchste Zeit, das Ursprüngliche nieder-
zuschreiben.
Daß in den Mythen der Rabe Kuurkil, die Riesen, aller-
hand Geister, Heiraten irdischer Weiber mit dem Monde,
wunderbare Abenteuer eine große Rolle spielen, ließ sich
nach dem, was bisher über dieses Thema bei den Paläarktikern
bekannt wurde, voraussehen, und hier liegt reicher neuer
Stoff zur Vergleichung mit den Mythen der Nachbarvölker
und selbst der Nordwestamerikaner vor. Die Schamanen-
gesänge behandeln vorzugsweise die Beschwörungen, welche bei
Kranken und zur Herbeilockung von Wild und Fischen ge-
sungen werden. Die Schöpfungssagen, die in verschiedenen
Formen erzählt werden, drehen sich meistens um den Raben.
Auch Kriegsgeschichten wissen die Tschuktschen zu erzählen,
die von ihren den Russen gegenüber angewendeten Listen
berichten oder von ihren Streitigkeiten mit den Tannit.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Henry Harrisse.$ Der berühmte französische Ge-
lehrte Henry Harisse, der hochverdiente Altmeister der ameri-
kanischen Entdeckungsgeschichte und unermüdliche Forscher
auf dem Gebiete der Geschichte der Kartographie, ist am
13. Mai d. J. in Paris im hohen Alter von 80 Jahren gestorben.
Ein großer Sonderling, der seine letzten Lebensjahre in ab-
soluter Einsamkeit verbrachte, hatte er auch bestimmt, daß
sein Tod nicht bekannt gegeben werde und sein Begräbnis
in allergrößter Stille geschehen solle. H. Harrisse, wahr-
scheinlich von russisch-jüdischer Abstammung und um 1830
in Paris geboren, kam früh nach den Vereinigten Staaten
und wurde dort Advokat am Obergericht in New York. Er
wandte sich aber bald geschichtlichen Studien, insbesondere
der amerikanischen Entdeckungsgeschichte zu und wurde auf
diesem Gebiete ein ausgezeichneter Nachfolger Al. von Hum-
boldts und d’Avezacs. Unter seinen zahlreichen wertvollen
Schriften seien zunächst genannt: „Fernand Colomb, sa vie
et ses oeuvres“ (1872); „Christophe Colomb, son origine, sa vie,
ses voyages, sa famille“ (Paris 1884, 2Bände); „Jean et Sébastien
Cabot, leurs origines et leurs voyages au nouveau monde“
(1883). Seine Hauptwerke sind: „History of the Discovery
of North America. A critical and documentary Investigation,
with a Cartographia Americana Vetustissima“ (Paris 1892,
ein Quartband von 804 Seiten); „Découverte et évolution carto-
graphique de Terre-Neuve et des régions circonvoisines (1497,
1501, 1769)“, Paris 1900; „Excerpta Colombiniana“ (Paris
1887). Harrisses Werke haben ganz besonders in Deutsch-
land durch Hermann Wagner, Sophus Ruge und andere An-
erkennung gefunden, wie der Verfasser denn auch zum korre-
spondierenden Mitgliede der Göttingenschen Gelehrten Gesell-
schaft ernannt wurde. W.W.
— Mitwirklich staunenswerter Schnelligkeit ist jetzt schon
ein vorläufiger Bericht über die Arbeiten und Resultate der
von Dr. Charcot geführten antarktischen Expedition
auf der „Pourquoi pas?“ erschienen, der von dem Stab der
116
Kleine Nachrichten.
Expedition auf der Heimreise von Montevideo bis zu der am
5. Juni erfolgten Landung in Frankreich vorbereitet wurde.
(Institut de France, Académie des Sciences, Rapport prelimi-
naire sur les travaux exécutés dans l’Antarctique par la mission
commandée par Mr. le Dr. Charcot de 1908 à 1910.) Es ge-
nüge hier, darauf hinzuweisen, daß die Expedition mehr als
2000 Meilen neuen Landes entdeckt hat und von den Süd-
Shetlandinseln weit nach SW und W fuhr, hier an der Eis-
mauer bis zum 126.Grad östlicher Länge vordringend, daß
große Küstenstrecken neu kartiert wurden, geologische und
glazialogische Beobachtungen angestellt wurden, meteorolo-
gisch gearbeitet, an verschiedenen Stellen Schwerkraftsbe-
stimmungen durchgeführt, die Gezeiten studiert wurden, daß
man ungefähr 100 Tiefenlotungen im Meer ausführte, von
denen 13 über 1000 m hinabreichten, daß außerdem Zoologie
und Botanik und viele andere Aufgaben gefördert wurden.
Man sieht daraus, wie vielseitig die Expedition ihre Zeit aus-
nutzte. Wegen der Resultate selbst muß auf den Bericht
verwiesen werden, da auch für ihre einfache Aufzählung hier
der Platz nicht zur Verfügung steht. Gr
— Die Jünnanbahn. Nach mehr als achtjähriger
Bauzeit ist am 1. April d. J. die Eisenbahnlinie, welche die
französische Kolonie Tonkin mit der chinesischen Nachbar-
provinz Jünnan verbindet, vollendet worden (Annales de Géo-
graphie 1910, 8. 279/80). Ihre Gesamtlänge von dem Hafen
Haiphong bis zur Endstation Jünnanfu beträgt 855 km, wovon
388 km auf das französische Gebiet entfallen. Bis zur Grenz-
station Laokay, die in 90m Höhe gelegen ist, folgt die Bahn
dem Laufe des Roten Flusses oder Songkoi; jenseits dieses
Ortes beginnt der Anstieg nach den Hochflächen von Jünnan,
die Linie biegt in das Namtital ein und überschreitet in
1710m Seehöhe die Wasserscheide zwischen dem Songkoi-
und dem Sikiangsystem. Sie fällt nun wieder bis auf 1960 m
und endet, nachdem sie kurz zuvor mit 2030 m ihren Scheitel-
punkt erreicht hat, in Jünnanfu in einer Höhe von 1900 m.
Die Maximalsteigungen der Linie betragen 25 pro Mille, die
kleinsten Krümmungsradien 100 m (Bulletin de la Société des
Ingénieurs coloniaux 1908, 8. 487 bis 517). Der Bau dieser
Gebirgsbahn bot ganz außerordentliche Schwierigkeiten; die
Ausführung der ursprünglich vorgesehenen Trasse über
Mongtse und Linganfu mußte aufgegeben und an ihrer Stelle
eine völlig neue Linie östlich der alten gewählt werden.
Das mörderische Klima des Namtitales raffte eine erschreckend
hohe Zahl von Arbeitern und Beamten hinweg. Die Bau-
kosten stellten sich auf etwa 162000000 Fr. oder 70000000 Fr.
mehr als veranschlagt.
Die Konzession für die Linie wurde von der chinesischen
Regierung im Jahre 1898 erteilt, die Gründung der Jünnan-
bahngesellschaft erfolgte im Jahre 1901. Die erste 102 km
lange Teilstrecke Haiphong—Hanoi, auf der sich alsbald ein
äußerst lebhafter Lokalverkehr entwickelt hat, wurde im
Jahre 1902 vollendet; die Eröffnung der Linie bis Laokay
erfolgte im März 1906.
Der Bau der Jünnanbahn stellt eine hervorragende
Leistung der französischen Technik dar, die überall die ver-
diente Anerkennung finden wird. Die Dauer der Reise zwi-
schen Haiphong und Jünnanfu, die früher bergab zwei,
bergauf mehr als vier Wochen erforderte, ist heute auf zwei
Tage Eisenbahnfahrt verkürzt. Sehr geteilt sind dagegen
die Ansichten über den wirtschaftlichen Wert des neuen
Schienenweges. Allerdings sichert die Bahn den Franzosen
bei ihrem Vordringen in Südchina einen großen Vorsprung
gegenüber England, das den Bau einer Eisenbahnlinie von
Burma nach Jünnan noch nicht durchsetzen konnte. Aber die
natürlichen Reichtümer Jünnans, das von französischer Beite
als ein Land geschildert wurde, in dem Milch und Honig
fließt, sind noch recht wenig entwickelt. Weder der Bergbau
noch die Landwirtschaft vermag zur Stunde ein für den
Eisenbahntransport lohnendes Massenprodukt zu liefern. Auch
die früher recht bedeutende Opiumausfuhr Jünnans droht
aufzuhören, seitdem die chinesische Regierung den Mohnbau
verboten hat. Da aber die Bauern zum Ersatz den Maisbau
aufgenommen haben, erscheint es nicht ausgeschlossen, daß
der Mais den ersten wichtigen Ausfuhrartikel der Eisenbahn
abgeben wird. Auf jeden Fall dürfte aber noch eine Reihe
von Jahren vergehen, bevor Frankreich von der Bahnlinie
den erhofften Nutzen ziehen wird.
— Wenn man noch darüber im Zweifel sein konnte, daß
die neuere Forschungsart auf prähistorischem Gebiete der
älteren weit überlegen ist und hier unter dem Einflusse der
Geologie eine ganz andere, mehr wissenschaftliche Methode
Platz gegriffen hat, so benimmt die von dem Tübinger Prä-
historiker Dr. Robert Rudolf Schmidt herausgegebene
vorläufige Schrift: Der Sirgenstein und die diluvialen
Kulturstätten Württembergs (Stuttgart 1910) die letzten
Zweifel. Frankreich war uns in dieser Beziehung methodisch
vorangegangen; hier aber liegt eine ebenbürtige Arbeit vor
und findet eine scharfe Klassifikation der Chronologie der
verschiedenen Kulturen des Eiszeitalters statt, nicht mehr,
wie bisher meistens geschah, einer einzigen Diluvialepoche,
wobei Geologie und Paläontologie hilfreiche Hand leisten.
Der Sirgenstein ist ein Fels des Weißen Jura in der Gegend
von Blaubeuren, seine Höhle bewahrt die Jahrtausende alten
unberührten Überbleibsel der Urzeit, die Dr. R. R. Schmidt
heben konnte, wobei sich als ganz sicher ergab, daß es sich
hier um eine untere, mittlere und obere Diluvialschichtung
handelte, die durch klimatische Faktoren veranlaßt war. Die
untere Stufe, in welcher der Höhlenbär mit 90 Proz. der
Tierreste als Jagdtier vertreten ist, zeigt die sogenannte
Moust6rienkultur samt der La Quina-Kultur, so genannt nach
einer besonderen Art von Feuersteinschabern. Die mittlere
Diluvialschicht ist vertreten durch die (nach französischem
Vorbilde) sogenannte Aurignacien- und Solutreenkultur, wäh-
rend die obere Diluvialstufe durch die Magdaleniengeräte
vertreten ist. Im ganzen hat der Verfasser etwa 5000 Feuer-
steingeräte aufgefunden. Aber abgesehen von der erwähnten
Dreiteilung konnte Schmidt als wichtigstes Ergebnis seiner
Forschungen den Nachweis von acht eiszeitlichen Kultur-
epochen am Sirgenstein führen, eine so reiche Kulturenfolge,
wie wir sie wohl aus Westeuropa kennen, die aber zum
ersten Male hier auf deutschem Boden nachgewiesen wird.
— Eine ganz eigenartige Weise der Stoffverzierung
ist von den Toradja auf Mittel-Celebes bekannt ge-
worden, über die wir jetzt durch den Jahresbericht 1909 des
völkerkundlichen Museums „Maritiem Museum Prins Hendrik“
zu Rotterdam unterrichtet werden. Die Überkleider dieses
Volkes sind nämlich mit Figuren versehen, die durch fein
pulverisierten Glimmer (Batoe Banggai) hergestellt werden.
Das Kleidungsstück selbst besteht aus geklopftem Baumbast.
Es zeigt die Naturfarbe und ist nur an der sichtbaren Außen-
kante schwarz gefärbt, und auf diesem schwarzen Unter-
grunde heben sich die silberglänzenden weißen Figuren ab.
Während man nun auf Sumatra Glimmerplättchen aufnäht
und auf Bali Blattgold mit Eiweiß aufklebt, klebt man bei
den Toradjas den fein pulverisierten Glimmer auf, der so
glänzende Figuren bildet. Das erinnert an ein: Verfahren,
das die Afridis im nordwestlichen Indien (Gegend von Kabul)
anwenden. Sie bemalen ihr Gewebe mit einem klebrigen
Saffloröle (nicht mit Wachs, wie zuweilen gesagt wird) und
bestreuen dann die so hergestellten Figuren mit dem pulveri-
sierten Glimmer, der nach dem Trocknen des Oles fest auf
dem Stoffe haftet.
— Paläontologische Entdeckungen in einer Vor-
stadt von Triest. Dem städtischen Museum für Natur-
geschichte in Triest wurden einige sehr interessante Tierreste
übermittelt, die gelegentlich einer Erdaushebung längs des
Wildbaches Sette Fontane auf einem Landgute gemacht
wurden. Es sind Rhinozeroszähne, also Reste, die von einem
Tiere stammen, das in der quaternären Zeitepoche unsere
Gegenden bewohnte. Dann wurden noch Geweihe vom Ur-
hirsch, vollständig kalziniert zwischen zwei Sandschichten
gebettet, die diese Reste einschließen, gefunden. Die voll-
ständige Kalzinierung des Geweihstückes gestattet die An-
nahme, daß dieser Prozeß Hunderttausende von Jahren ge-
dauert hat. Dr. L. K. Moser.
— In einem Aufsatz über die Verschiebungen der Atmo-
sphäre im Jahreslauf (Annalen der Hydrographie 1910,
S. 349) bespricht W. Köppen in gedrängter Form die Entwicke-
lung unserer Kenntnis von dem jährlichen Transport großer
Luftmassen, der dadurch angezeigt wird, daß im Nordwinter
der Luftdruck über den Kontinenten, im Südwinter über den
Ozeanen stark steigt. Für den bisher unbekannten Teil der
Südhalbkugel ließen sich der jährliche Gang und die Größe
des Drucküberschusses aus den numerischen Auswertungen
für die bekannten Teile der Erde ableiten; die Beobachtungen
der letzten antarktischen Expeditionen wiesen aber diesen
Überschuß nicht auf, so daß dadurch ein neues Rätsel ent-
stand. Die Lösung sucht Meinardus, auf den Köppen verweist,
in einer mutmaßlichen großen Höhe des antarktischen Kon-
tinents, die aus dem erwähnten meteorologischen Material
auf 2000 + 200m geschätzt wird. Um die Größe dieser Zahl
zu fassen, vergleiche man mit ihr die mittlere Höhe der ein-
zelnen Erdteile oder die der gesamten Landflächen der Erde,
die nur 700 m beträgt. Gr.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 655. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
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2
I
Sonderbeilage zum Globus, Bd. XCVIII, Nr. 8.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- UND VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN«.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. 8.
BRAUNSCHWEIG.
1. September 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Abflußlosigkeit und Entwässerung im Orient.
Von Ewald Banse.
Braunschweig.
Mit einer Originalkarte und 5 Tabellen.
Der Orient ist der größte Trockenraum unseres
Planeten, nur das Binnengebiet Innerasiens kommt ihm
ungefähr gleich.
Zwischen dem 17.und 36.Grad nördl. Br., dem 17.Grad
westl.und dem 74.Grad östl. L.!) dehnt sich ein Abschnitt
der Erdoberfläche, der weniger als 200 mm Niederschlag im
Jahre empfängt. Ihn säumt ein in der südlichen Sahara
und dem nördlichen Vorderasien sehr breiter Gürtel mit
Niederschlägen unter 600 mm. Davon sind wohl zwei
Fünftelin einer für spontane Landwirtschaft ungenügenden
Menge benetzt, so daß sie, gerade in der Gegenwart durch
eine kulturfeindliche Religion und stupide Regierungen ver-
nachlässigt, in wirtschaftlicher Beziehung tatsächlich dem
natürlichen Dürreraum gleich zu rechnen sind.
Die Verteilung der Temperatur und durch sie des
Luftdrucks ergibt im Winter im allgemeinen süd-
wärts gerichtete Luftströmungen, die, aus kühleren in
wärmere Breiten übergehend, von vornherein der Konden-
sation abgeneigt sind. Bloß örtliche Eigenheiten,
insbesondere in kalte Schichten aufragende Gebirge,
erwirken höhere Regenziffern, die jedoch im Verhältnis
zum Körper des ganzen Orients wenig ausgedehnt sind.
Der Atlas, der Dschebel Tripolitaniens und Barkas, die
Horste Syriens, die Faltenketten Kleinasiens, Armeniens
und Nordirans gehören dahin. Im Sommer erhitzt sich
die ganze Region intensiv und bildet den heißesten Teil
der Erdoberfläche. Die 30°-Isotherme hält sich ungefähr
in der Nähe der Grenzen des Orients. Diese Erwärmung
und Luftauflockerung bedeutet die Anziehung der um-
gebenden Teile der Atmosphäre. Am polaren Rand also
wieder nordsüdliches, mithin kondensationfeindliches Ge-
fälle. Am äquatorialen Rahmen südnördliche Winde: der
Süden der Sahara und Arabiens haben dann Sommerregen.
Der riesige Trockenraum wird biologisch in tausend-
fältiger Beziehung wirksam. Er trennt Pflanzen- und
Tierprovinzen gerade wie Rassen, nur spärlich läßt er
manche ihrer Vertreter sich begegnen. Doch wäre es
unnatürlich, ihm eigene aktive Kraft abzusprechen.
Einen arabischen Volksschlag hat bloß der Orient ge-
züchtet, das einhöckerige Kamel, die Dattelpalme sind in
der Hauptsache auf sein Bereich beschränkt.
In jedem Gebiet kann man mindestens zwei (mehr
oder weniger feine bzw. grobe) Gegensätze hervorheben,
1) Der Westpunkt des Orients ist 17°5’ westl, L., der Ost-
punkt 71° 35’ östl. L. Das Nordende bezeichnet 42° 9’ nördl. Br.,
das südliche 12°38’ nördl. Br. Der Länderkomplex erstreckt
sich also über 88 Grade und 40 Minuten in westöstlicher
und 30 Grade und 11 Minuten in nordsüdlicher Richtung.
Globus XCVIII. Nr. 8.
die der Ränder und der Mitte. Jene werden stets
komplizierter organisiert sein, da die Nachbarschaft sie
beeinflußt. Es ist klar, daß in einem so großen und
von der Natur so eigenartig ausgestatteten Länder-
komplex, wie der Orient es ist, die Unterschiede ganz
besondersinteressante Ursachen und Wechselerscheinungen
darbieten werden. Da die Charakteristika des Klimas
im Morgenlande ganz ausschließlich hervortreten und
sämtliche Verhältnisse vielleicht mehr oder, besser, auf-
fälliger beherrschen als anderswo, so lassen die Differenzen
ausschließlich auf klimatische Gründe sich zurückführen.
Diese aber finden ihren augenfälligsten Ausdruck in
der Umreißung und Hervorhebung des Begriffs der Ab-
flußlosigkeit.
Die Unterscheidung von abflußlosen oder zentralen
und zum Meer entwässerten oder peripherischen Teilen
bildet die erste Aufgabe der Öberflächenkenntnis des
Morgenlandes. In ihr bergen sich die Geheimnisse der
orientalischen Länderkunde, soweit man absieht von dem
Innern des Bodens.
Deshalb will ich im folgenden bestimmen und zahlen-
mäßig fixieren sowohl die zum Meer entwässerten, als
die abflußlosen Gebiete. Dabei ergibt sich eine Fülle
interessanter Tatsachen, deren Erscheinungen ich an
dieser Stelle allerdings nur zum allerkleinsten Teil nach-
gehen kann.
Die Messung führte ich in gleicher Weise aus, wie es
skizziert wurde in der Arbeit „Der Orient, Begriff,
Areal und Volksdichte“ 2). Doch sei bemerkt, daß es
bei einem solchen ersten Versuch weniger ankommt auf
exakte Zahlen — die die Karten uns meist noch nicht
gewähren — als auf die Möglichkeit, die betreffenden
Verhältnisse der einzelnen Länder untereinander ver-
gleichen zu können. Deshalb sind die Ziffern ab-
gerundet auf die Tausender.
Überblickt man die beigegebene Karte, so fallen drei
größte Gebiete der Abflußlosigkeit auf: das saharische
(7807000 qkm = 46,4%/, des Orients), das arabisch-
syrische (2568000 = 15,3°/,) und das iranisch-armenische
(2072000 —12,3%/,)., Es mag zunächst seltsam er-
scheinen, daß ihre Größe wächst mit der Annäherung an
das regenspendende Atlantische Meer, doch erklärt die
Zerteilung des Asiatischen Orients die Mehrzahl und die
relative Kleinheit seiner zentralen Partien, wie auch
im Verein mit der differenzierten Faltengebirgsnatur das
2) Peterm. Mitt. 1909, Heft 11 und 12.
16
118
Banse: Abflußlosigkeit und Entwässerung im Orient.
Vorkommen einer Anzahl kleinerer abflußloser Flecke.
Kann man in der afrikanischen Orienthälfte bloß zwei
wichtigste Zentralexklaven aussondern, so sind es in der
asiatischen sechs. Und auch die arabisch-syrische
Provinz zerfällt ziemlich scharf in drei Unterabtei-
lungen.
Der Verlauf der Grenzlinien der Abflußlosigkeit ahmt
im allgemeinen die Bildung der entsprechenden Küsten
nach, die einzige größere Ausnahme bewirkt in Nordost-
afrika der Nil, der die Östgrenze der saharischen Zentral-
region weit abdrängt vom Erythräer-Ufer, dem sie bei
Fehlen des Stromes konform laufen würde. Die merk-
würdige Einbauchung in Nordostarabien ist mehr theo-
retischer Natur.
Ich unterscheide zwei Arten abflußloser Gebiete.
Solche im vollen Umfange des Wortes, also Zentral-
regionen höherer Ordnung, und solche, die selb-
ständige Teile jener darstellen, Zentralprovinzen
niederen Grades. Zu den ersten gehören sämtliche
meerabgeneigten Stücke der Oberfläche, ohne Rücksicht
auf die Größe, allein in Hinblick auf ihre Selbständigkeit.
So ist der kleine Zentralklex Nordwestmesopotamiens
ebensogut ersten Ranges wie die nordafrikanische
Zentralregion, die zwischen Senegal und Niger und
zwischen ihm und dem System des oberen Nil beträcht-
lich über die Orientgrenzen hinausgreift. Andererseits ist
der große abflußlose Raum Irans nur ein Bruchteil der
riesigen Zentralweiten Asiens und deshalb in hydro-
graphischem Sinne ein Element zweiter Ordnung. Im
Verein mit dem kaspischen Zubehör Armeniens müssen
wir ihn aber im Rahmen der Orientgeographie als
Individuum höheren Sinnes ansehen.
Es finden sich demnach acht abflußlose
Regionen erster Ordnung. Die saharische, die west-
(57 000 qkm) und die ostnubische (62000), die arabisch-
syrische, die beiden mesopotamischen (zwischen Belich
und Chabur 9000; zwischen Chabur und Tigris 29 000),
die kleinasiatische (77000), die iranisch-armenische. Sie
umfassen zusammen 12949000 qkm, d. h. nicht weniger
als 77°/ des Orients!
Um die Bedeutung dieser Zahl zu verstehen, muß
man sich klar werden über die Wirkungen der Ab-
flußlosigkeit.
Der hervorstechendste Charakterzug im Antlitz der
Zentralgebiete ist der Mangel einer hydrographischen
Verbindung mit dem Weltmeer. Daraus folgt morpho-
logisch der schärfste Unterschied gegenüber peripherischen,
meerverbundenen Landen: während hier die Abtragung
das letzte Ziel der exogenen Erdumbildner ist, fehlt sie
doch wenigstens in absolutem Sinne, denn der Erosion hält
die Wage die Akkumulation, die nichts weiter ist als der
kategorische Imperativ der Schwerkraft und des lücken-
los umzirkenden und in sich zurücklaufenden Wasser-
scheidegürtels. Die Erschaffung einer flachen Ebene ist
die Tendenz des Begriffs der Abflußlosigkeit, die natür-
lich durch endogene Vorgänge mannigfach gestört wird.
Eine Verbindung mit der See ist also einzig auf dem
Luftwege möglich, durch den Wind. Schon darin zeigt
sich, eine wie große Rolle ihm in Zentralregionen
zukommt.
Da die Ausebnung überhaupt das Endziel der Erd-
oberflächenkräfte ist (auch die erdinnerlichen steuern
doch schließlich darauf los), so erweisen sich die Zentral-
gebiete als verkleinerte Abbilder des Gemäldes der
Planetenrinde. Da sie aber die flächenhafte Ausdehnung
des allgemeinen geographischen Zyklus beeinträchtigen
und schädigen, so weichen sie von der Norm ab: sie
sind ungesunde Ausnahmen, morphologische Krank-
heitserscheinungen der Erdoberfläche.
Versteht man also die Zentralherde, wie ich sie
nennen möchte, als unnormale Auswüchse, so wird man
viel leichter sehen, daß sie in jeglicher geographischer
Beziehung schädigend wirken. Die Erscheinungen
auch nurzu streifen, würdezu weit führen. Siesind ja eben der
Gegenstand der länderkundlichen Behandlung überhaupt.
Nur das sei unterstrichen, daß die drei abflußlosen Vierteile
des Orients seine Menschenarmut erklären und seine kultu-
relle Rückständigkeit erklären helfen. Der Zentralgürtel
ohne Ende wirkt wie eine Mauer, den Blick der Bewohner von
den Außenlanden nachinnen wendend, wodoch kein blinken-
des Ziel, seine Grenzzone ist schwerer und kostspieliger zu
passieren, denn hohe Gebirgspässe, kurz er bezeichnet
einen Saum, an dem tatsächlich die Welt mit Brettern
zugenagelt scheint. Die 77°/, abflußlosen Landes,
verstärktdurch 13%, nurperiodischentwässerten
Bodens: sie sind die festeste Klammer des Orient-
verbandes und der innerste Wesensgrund seiner
Rückständigkeit!
Im Gegensatz zu den Zentralherden nehmen die durch
Abfluß mit dem offenen Meer verbundenen Länder-
strecken peripherische Lagen ein. Manchmal sind
sie so schmal, daß sie nur aus dem Bereich der vom
Küstensteilrand meerab gesenkten kurzen Rinnen
bestehen. Nirgends entwickeln sie sich zu bedeutender
Breite. Im Afrikanischen Orient bloß in Südmarokko,
Südtripolitanien und Südnubien; im Asiatischen sind Ost-
anatolien und Westarmenien, das Ursprungsland der
hethitischen Kultur, von Meer zu Meer durchgehendes
Randgebiet, ja südöstlich bis zum 30. Parallel zieht ein
ausgesprochenes Band abflußreicher Landschaften. In
dieser anatolisch-kurdischen Zone ist überhaupt die
Entwässerung innerhalb der Orientgrenzen am regsten
entwickelt und am folgenreichsten, hier ist der größte
zusammenhängende Komplex peripherischer Gebiete (und
zu seinen Füßen stand die Wiege der sumerischen
Kultur). Da aber eben hier drei Meere (vom binnen-
ländischen Kaspischen Meer abgesehen) einander sich
nähern: Schwarzes, Mittelländisches Meer und Persergolf, so
ist auch das anatolisch-kurdische Band als randlich zu
betrachten. Deshalb nenne ich die Abfluß zur See
genießenden Teile des Orients Randländer. Sie umfassen
3874000 qkm, also nur 23°/, des Orients. Doch sind
sie der Schauplatz dessen, was das Morgenland bisher
an wertvolleren Kulturgütern hervorgebracht hat. Die
ehemals oder jetzt höheren Kulturkreise 'konzentrieren
sich aber auf noch kleinere Gebiete, nämlich diejenigen,
welchen fließendes Wasser das ganze Jahr hindurch die
Unterlagen bietet zu reger Wirtschaft. Der größere
Teil jener 23°/, steht nämlich nur in Zwischenräumen,
während und nach?) der Regenzeit mit dem Ozean in
hydrographischem Konnex. So haben also nachweisbar
periodisch Abfluß 2207000 qkm, d. s. 57°/, der
Randländer, ständig aber 1667000 qkm, nur 33%,
derselben.
Von den einzelnen Meeren hat am meisten Anteil
am orientalischen Länderraum#) das Atlanter-
meer, nämlich 11,90/, (1993000 qkm). Davon kommen
auf den eigentlichen Ozean (westlich der Gibraltarstraße)
aber nur 478000 qkm, während das Mittelmeer (im
weitesten Sinne) 1515000 qkm näher beeinflußt. Mediterran
sind also nur 9°/, des Morgenlandes. Sie verteilen sich
auf zwei Hauptherde, den anatolisch-syrischen und den
atlassisch-tripolitanischen. Zwischen beiden klafft die
kyrenisch-marmarikanische Lücke, die somit in kultureller
Hinsicht viel beiträgt zur Selbständigkeit des Rarb. Im
3 Ganz selten und bloß vorübergehend auch vorher.
4) Ich verstehe darunter die perennierend und periodisch
zu dem betreffenden Meere abfließenden Gebiete.
Banse: Abflußlosigkeit und Entwässerung im Orient.
119
einzelnen betragen die Anteile des Ägäischen Meeres
(mit Marmara) 106000 qkm, des Schwarzen 243000 und
des Mittelmeeres ohne jene beiden 1036000.
Nicht viel geringer als das atlantische Bereich ist
das des Inderozeans: 1971000 qkm = 11,7%/, des
Orientareals. In erster Linie gehören das süd- und
westiranische, das südwestarmenische und das mesopo-
tamische Gebiet hierher, und zwar nicht allein in hydro-
graphischer Beziehung, sondern ganz besonders auch in
wirtschaftlicher. So beansprucht auch der Persergolf
nicht weniger als 882000 qkm oder 5,2°/, des Orients,
also immerhin etwas mehr als die Hälfte des mediterranen
Prozentsatzes. Beider Gebiete berühren sich in Nord-
und Westarmenien sowie in Südostanatolien, und in den
letzten beiden Landschaften stiegen ja auch die alten
Königsstraßen über die taurischen Höhen. Dem Indischem
Ozean im besonderen (also außerhalb des Persergolfs und
des Roten Meeres) gehen die Abflüsse von 687000 qkm
zu, dem Roten Meer 402000 (2,4%, des Orients;
Abessiniens Anteil also nicht gerechnet). Dem Kaspischen
Meer gehören 268000 qkm (1,6°%/,), dem Aral
116000 (0,7%).
Die vier orientalischen Regionen:
IL Die Atlasländer.
1. Die Grenze dauernd entwässerten Gebiets
fällt im Rarb nur auf einer einzigen Strecke deutlich
sichtbar mit einem Hauptkamm zusammen (von 7 bis
fast 5° westl. L.), sonst verläuft sie häufig über mehr
oder minder ebene Flächen, ja in Ostmarokko und
Algerien deckt sie sich im großen Ganzen mit dem Süd-
rand des Tellatlas. Auch in Tunisien geht sie ungefähr
konform mit der Nordgrenze Mitteltunisiens. Das zeigt,
daß der nördliche Atlaszug wohl genug meteorologische
Energien besitzt, in seinem eigenen Bezirk der Dauer-
erosion der Wässer eine hervorragende Stellung zu sichern,
nicht aber, den im Regenschatten schmachtenden und
darum steppigen Binnenraum zu erobern. Das Gegenteil
erblicken wir in Marokko. Hier ist das Atlasvorland nicht
hoch genug, die atlantischen Westwolken zu kondensieren,
und deshalb sehen wir die meernahen Teile südlich des
34. bis 33. Parallels ohne dauernde Eigenentwässerung.
Das Gebiet der ständigen hebt erst an jenseits einer
etwa 50km vor dem Fuß des Hohen Atlas beginnenden
Zone. Mit den Tälern der Umm er rebia, des Tensift
und des Sus durchschneidet sie das periodische Vorland in
drei Stücke, Schauja, Abda und Haha.
In dem Umstand, daß die Randzone dauernd ent-
. wässerten Bodens in Marokko (30°15’) um 5° 15’ süd-
licher reicht als in Tunisien (35°30'), zeigt sich ganz
klar die wichtige Rolle des Atlantermeers als Regen-
machers und die Bedeutung des Gebirgssystems als
Regenvertreibers.
Das ganz perennierend zum Meer abfließende Areal
umfaßt 259000 qkm, d. s. 34, 5”/, der ganzen Berberei,
ein im Orient nur in der Region des gefalteten Vorder-
asiens etwas übertroffener Prozentsatz. In Marokko
beträgt es 141000 qkm=35,7%/, des Landes, in
Algerien 90000 qkm—=32,5°%/,5) und in Tunisien
28000 qkm = 35,9°/, des tunisischen Bodens.
2.Dielnnengrenze desnurperiodischentwässerten
Raumes illustriert fast noch augenscheinlicher die Be-
deutung der maßgebenden Naturfaktoren, namentlich der
See. Sie scheint sich durchaus nicht um den Saharaatlas
zu kümmern, denn dessen Bereich berührt sie nur an
zwei Stellen, der Gegend des 2. Meridians, dort wo der
®) Im Oranschen Anteil 31000 qkm, in dem von Alger
29000 und in dem von Constantine 30000.
Scheliff seine fernsten Winterwasser sammelt, und im
östlichsten Algerien unter dem 8. Längenkreis, wo die
feuchtende Wirkung der Kleinen Syrte sich bemerkbar
macht. Daß die Südgrenze nicht weiter äquatorwärts
verläuft, liegt offenbar erstens daran, daß die Flüsse des
Tellatlas®), d. h. seine kondensatorische Energie, nicht
stark genug sind, das algerische Binnenplateau anzu-
zapfen, und zweitens an den niedrigen Niveauverhältnissen
desselben.
In Tunisien also drängt die Kleine Syrte dort, wo
Gebirge sind (deren Stellung den Seewinden offene Tore
bietet), die perennierende Grenze im Hinterland zurück,
in Algerien und Ostmarokko springt sie im Regenschatten
des Tellatlas weit nordwärts vor, in Mittelmarokko läuft
sie eine Strecke sogar mit auf dem Hauptkamm (vom
Ajaschin gen Südwesten). Sofort aber, wo ähnliche
Verhältnisse eintreten, wie in Tunisien, da wo der Hohe
und der Antiatlas das Land zum Meer öffnen, senkrecht
gegen die Küste ausstreichen, da im Südmarokkanischen
springt die Grenze weit ins Binnenland zurück. Dazu die
drei genannten Exklaven des Atlasvorlandes.
Das ganze, nur periodisch mit dem Meer korrespon-
dierende Areal des Rarb umgreift 222000 qkm = 29,7°/,.
In Marokko beträgt es 152000 qkm = 38,6°/, des
Landes’), in Algerien 37000 qkm = 13,4°/8) und in
Tunisien 33000.
3. Die Nordgrenze des ständig abflußlosen Gebietes
unterliegt den Gesetzen des Südrandes des periodisch ab-
fließenden Teils, mit dem sie ja gleichläuft. Ich beschränke
mich deshalb auf die Anführung der Zahlen.
In Marokko sind gänzlich ohne Abfluß 101000 qkm
—25,7%/, des Landes, in Algerien sogar 150000 qkm
—=540/, (!), in Tunisien?) 17000 qkm = 21,8°/,. Im
Bereich des Rarb überhaupt 286000 qkm = 35,8°/,10).
Lehrreich ist eine Zusammenstellung der einzelnen
Verhältnisse zu einer Tabelle (I) und ihr Vergleich mit
den Volksdichten. Es zeigt sich, daß zwischen ihnen
sehr intime Fäden laufen, zumal zwischen den Prozent-
sätzen abflußlosen Areals und den Volksdichten. Sind
jene hoch, sinken die letzten, verringern sich die ersten,
steigen diese.
Die Anteile der Meere. Die Wasserscheide
zwischen dem Atlantischen Ozean im engeren Sinne |
(westlich der Gibraltarstraße) und dem Mittelmeer ver-
läuft anfangs auf dem nördlich gerichteten Aste und dem
ostsüdöstlich orientierten Teile des Rif (und zwar der
inneren Mauer), biegt unter dem 4. Meridian westlicher
Länge gen Mittag um und erreicht in südwestlichem
Sinne den Hohen Atlas dort, wo die Nordgrenze des
abflußlosen Gebietes ihn nach Süden verläßt. Die Muluja
erobert hier der mediterranen Einzugssphäre einen langen
Sporn.
Zum Atlantermeer werden nun ständig entwässert
89000 qkm, periodisch aber 138000, so daß die atlantische
Zone des Atlas 227000 qkm umfaßt, d. s. 30,3%/,
des Gesamtareals. Nach dem Mittelmeer fließen ab
perennierend 169000 qkm, zur Regenzeit 84000, zu-
sammen also 254000 qkm = 33,9°/0 der Berberei. Das
mediterrane Bereich ist also eine Kleinigkeit größer als
¢) Mit der erwähnten Ausnahme natürlich, den Systemen
des Scheliff und des Medscherda.
7) Südmarokko (Bereich des Antiatlas) 76000 qkm; Ost-
marokko (Ed Dahra) 15000 qkm; Westmarokko (Haha, Abda
und Schauja) 61000 qkm.
®) Im Oranschen 20000 qkm, im Algerischen nur 8000,
im Coustantineschen 9000.
°) Ich halte es nicht für überflüssig, zu bemerken, daß
es sich nicht um die politischen Begriffe handelt, sondern
um natürlich umgrenzte, geographische.
1°) Davon gehören der Sphäre der Schott 47000 qkm.
16*
120
das atlantische, es ist länger, aber auch schmaler, während
das letzte, ausschließlich auf marokkanischem Boden
befindlich, gedrungener ist und daher in seinen
geographischen Wirkungen offenbar kräftiger. Diese
klimatische und hydrographische Hinneigung des
Westens zum Atlantermeer ist ja eben, verstärkt durch
morphologische Tatsachen, die biologisch und anthropo-
geographisch wichtigste Note im Leben der Atlasländer.
I. Die Saharische Region.
1. Ständigen, ihm von Geburt eigenen Abflusses
entbehrt die Saharatafel völlig! Einzig im fremden
Lande entquollenes Wasser durcheilt sie, doch ist dabei
zu beachten, daß es nicht sowohl ent- als bewässert.
Und außerdem beschränkt sich dieses Gebiet auf die
schmale Schraubenlinie des gelbflutenden Nil, der in
steilwandigem Tale die ganze Quere der Region durch-
strömt, abgewandt der roten, ihn beiderseits begleitenden
Zinnenreihe ungefalteter Palisaden, kaum in der Regen-
zeit in feuchtem Konnex mit ihren Furchen. Die
Schwemmlandstreifen am Nil und seine blinkende Flur
selber kann man auf 2500 qkm schätzen, zusammen mit
dem Deltaboden (und allerdings einschließlich der bitteren
Haffe) auf 27000 qkm = 0,3°/, der Sahara. Nun muß
aber gesagt werden, daß dieses Alluvialbändchen min-
destens 10 Millionen Menschen trägt und ernährt, mehr
als 80°/ aller Saharier! Ohne den Nil würde die weite,
weite Sahararegion nicht mehr als anderthalb Millionen
Menschen besitzen, während sie in Wirklichkeit deren
121/, Mill. zählt.
2.Auch die nur periodisch entwässerten Räume
nehmen nicht allzu viel Platz ein. In Tripolitanien drängt
der stufenförmige, den Seewinden Feuchtigkeit entlockende
Nordabfall des Landes die Todesmauer des Zentral-
gebietes weit nach Süden zurück, bis in die Gegend des
28. Parallels. Wo jedoch wie in der Kyrenaika eine
Gebirgsstirn dicht am Meere aufragt, nach dem
Innern zu aber abflacht, da ahmt die Grenzzone den
Verlauf der Küste in unweiter Entfernung nach. Die
Marmarika gar erreicht kaum ein Viertel von Barkas
Höhenspitzen, und erst in der Nilsphäre erwirkt das bis
2280 m hohe Erythräer-Gebirge eine Verbreiterung der
periodischen Zone, deren Innenrand unmerklich westlich
des libyschen Nilufers verläuft. Im südwestlichsten
Nubien drängt das System des Uädi Malik die Grenze
gen Abend. Weiter westlich greift die abflußlose Zone
mächtig über das Gebiet des Afrikanischen Orients hinaus,
und erst in der Sphäre des Nigers schiebt das Uädi
Telemsi eine periodische Zunge polwärts. Die kühle
nordwestafrikanische Küstenströmung äußert ihr regen-
minderndes Wirken vornehmlich in dem niedrigen Land
südlich des 27. Breitekreises. Das Landeinrücken weiter
nordöstlich kommt zustande durch die eigenen höheren
Niveauverhältnisse, die größere Nordbreite und die Nähe
der gebirgigen Kanaren und des Atlas.
Die Anteile der Meere. Zum Atlantischen
Ozean fließen in der Regenzeit ab an der Westküste
189000 qkm (= 2,1°/, der Sahara), innerhalb des Niger-
systems 62000, zusammen also 251000 qkm = nur 2,8°%/,
des Saharaareals.
Zum Mittelmeer neigen in Tripolitanien 263000 qkm
(78,6°/, Tripolitaniens!), in der Kyrenaika 37000 qkm
(46,8°/, dieses Landes), in Ägypten 139000 qkm (26,3°/,),
in Nubien sogar 270000 qkm (50,7°/,), zusammen also
709000 qkm = 8°/, der Sahara.
Die Wasserscheide gegen das Erythräer-Meer
deckt sich im großen Ganzen mit der Firstseite des
erythräischen Gebirges, nur etwas nördlich von 28° Nord-
breite an zieht sie sich weiter gen Abend vom Suesgolf
Banse: Abflußlosigkeit und Entwässerung im Orient.
zurück, um südlich von Ismailije auf den Kanal zu
treffen. Da das Gebirge gen Morgen steiler abfällt als
zu Abend, so kann das Einzugsgebiet des Roten Meeres
auf der afrikanischen Seite nicht groß sein. In Ägypten
umfaßt es nicht mehr als 48000 qkm (9°%,, der Landes-
fläche) und in Nubien auch nur 55000 qkm (10,3°;,).
Im ganzen korrespondieren also im Afrikanischen Orient
mit dem Schilfmeer bloß 103000 gkm=1,2°/, des
saharischen Areals.
Zusammengenommen besitzen in der Sahararegion
zeitweisen Abfluß zum Meer 1063000 qkm, d. s. 12%,
der Gesamtfläche.
3. Abflußlose Zentralherde sind alles übrige,
nämlich 7926000 qkm !!), 88°, der Sahara! Eine
furchtbare Zahl. Denn sie drückt aus die für alle jetzt-
klimatischen Zeiten stabilierte biologische und anthropo-
geographische Unfähigkeit der Gesamtheit, namentlich
in Fragen der Kultur!2). Diese Zahl ist das festeste
Bollwerk des Isläm in Afrika. Übrigens ist das so um-
rahmte Gebiet als die eigentliche Sahara zu betrachten,
„die“ Wüste schlechthin!
Nebenbei bemerke ich noch, daß zwei in sich wieder
abgeschlossene Sphären sich herausschälen lassen, die der
Schott mit 657000 qkm (dazu kommen 47000 auf
atlassischem Boden, macht also zusammen 704000 qkm)
und die des Bachr el Rasäl mit 327000 qkm (natür-
lich nur innerhalb der Örientgrenze gerechnet). Vgl.
Tabelle II a. S.121.
III. Südwestasien.
1. Das mit dauerndem Abflußzum Meer beschenkte
Gebiet beschränkt sich auf Teile Syriens und Mesopo-
tamiens. In jenem ist die einzige Ursache hierfür zu
suchen in der den feuchten Mittelmeerwinden ausgesetzten
Gebirgsnatur. Im Doppelstromland aber entstammt
weitaus das meiste nie versiegende Wasser den iranisch-
armenischen Nachbargebirgen, einzig die Systeme des
Chabur und des Belich sind ständig fließende Flußkinder
mesopotamischen Bodens, da ihre kalkigen und basaltischen
Geburtsstätten hoch genug ragen, die Wolken des Perser-
golfs zu Regen zu kondensieren. So ist die Ausstattung
des euphrattigrischen Raumes unvergleichlich günstiger
als die des nilotischen, und dieser größeren geogra-
phischen Vielseitigkeit entspricht die der sumerischen
Kultur.
Das Gebiet dauernden Abflusses beschränkt sich also
in Südwestasien auf die nordwestliche oder Meer- und
die nordöstliche oder Gebirgsseite der Landbegrenzung.
Es umfaßt innerhalb Syriens 64000qkm (34°), .
Syriens); davon gehen zum Mittelmeer 56000 qkm (29,9°/,
des Landes), zum Euphrat 8000 qkm. In Mesopotamien
90000 (= 26,3°/, des Landes; alles zum Persergolf).
Im ganzen beläuft sich die Summe abflußreicher
Länderstrecken in Südwestasien auf 154000 qkm, d. s.
doch nur 4,1°/, der vorderasiatischen Horizontaltafel!
2. Der periodische Abfluß spielt demgegenüber
eine weit umfassendere Rolle. Sein Umfang steigt auf
960000 qkm, also schon 25,6°/, der Region. Er fehlt
so gut wie ganz in Syrien oder, präziser ausgedrückt,
er läßt sich hier schlecht ermitteln auf Karten nicht sehr
großen Maßstabes. In Sinai bedeutet er den weitaus
1) Davon entfallen auf die beiden nubischen Herde
119000 qkm, auf die Sahara im engeren Sinne 7807000 qkm.
12) Ich weise darauf hin, daß zum richtigen Verständnis
dieser Arbeit der stete Vergleich meiner Karte mit P. Lang-
hans’ trefflicher „Wandkarte von Afrika zur Darstellung
der Bodenbedeckung“ in 1:7,5 Mill. erforderlich ist. Wollte
ich die Parallelen hier selber ziehen, würde einneuer Aufsatz
daraus.
Banse: Abflußlosigkeit und Entwässerung im Orient. 121
größten Teil des Ländchens (ausgenommen die Mitte des
2628000 qkm, also nicht weniger als 70,2°/, der Tafel-
Ostens, nordwestlich des Akabagolfs), nämlich 54000 qkm | region! Immerhin nicht so viel wie im saharischen
= 84°/, Sinais. Davon gehören dem Roten Meere | Schwesterbezirk. Davon kommen allein auf Arabien
22000 qkm, dem Mittelmeer 29000 und dem Nildelta | 92,7°/,! Hier sind 2435000 qkm gänzlich ohne Ver-
3000 qkm. In Mesopotamien 200000 qkm = 57,1°/, des
Landes. Davon entfallen auf die Striche westlich des
Belich 4500 qkm, zwischen ihm und dem Chabur 13000,
zwischen diesem und dem Tigris 94000, zwischen Tigris
und Adem 13000, östlich des unteren Tigris 17000,
westlich des unteren: Frat 17500 und zwischen Euphrat
und Tigris innerhalb Babyloniens 41000. Alles neigt
zum Persergolf. In Arabien 707000 qkm = 22,7°/,
arabischen Bodens. Hiervon liegen im Bereiche des
Roten Meeres 277000 qkm (= 8,8°/, Arabiens), auf der
Süd- und omanschen Ostküste 240000 und im Einzugs-
gebiet des Persergolfs 186000, wovon auf Ost- und
Mittelarabien 99000 entfallen und auf die Euphratzone
87000 qkm.
3. Der Umfang dauernder Abflußlosigkeit ist
bindung mit dem Meere (77,5°/, des Landes). Aus ihnen
lassen sich herausschälen 47000 qkm in Nordarabien,
die das System des Uädi Hauran vom übrigen Lande
abtrennt, in die Sphäre des Toten Meeres entfallen bei-
nahe 6000 qkm, und der Umkreis der Großen Nefud
beläuft sich auf 571000 qkm. Der Zug des Uädi Ermek
begrenzt sie in Mittag. Im Hinterlande Syriens entbehren
Abfluß 123000 qkm (66°/, des Landes); hiervon rechnen
36000 zum Toten Meer, und 1800 liegen im äußersten
- Süden, zwischen den beiden Flügeln, mit denen die Sphäre
jenes gen Mittag greift. In Sinai beträgt die Zahl
des Abflußlosen 10000 qkm (16°/,) und in Mesopotamien
60000 qkm (17,1°/, der Fläche), und zwar im Ober-
land 37000 qkm (= 10,7°/, des Landes) und im Süd-
osten 23000.
auch in Südwestasien am größten. Er begreift in sich Zur Übersicht vgl. die Tabelle II.
I. Die Atlasländer.
Algerien
| Marokko Tunisien | Atlasländer
Ares) in gime een een 394 000 278 000 77000 749 000
Ständiger Abfluß in 2 s e ore e es ess 35,7 32,5 35,9 34,5
Periodischer Abfluß in % © 2.22... 38,6 13,4 42,3 29,7
ADAUBlON In Sr le de A N a 25,7 54! 21,8 | 35,8
Volksdichte. Ea u ra eak of TA a a nee eh 15,2 18 23,4 | 17,1
II. Aus der Sahara.
Tripolitanien | Barka Fesän Ägypten Nubien Sahara
Areal.in-akm ul net 335 000 79 000 394 000 529 000 533 000 | 8 897 000
RIP IE si kx = Ta f Winziger \
Ständiger Abfluß in °% 2.2.20. 4,9 \ Bruchteil von 1 f 0,3
Periodischer Abfluß in %/p . 2.2... 78,6 46,8 — 9 10,3 12
AbAuBlos. =. ooy m aaa, REN 21,4 53,4 100 68,4 49,3 R8
Volksdichts:, wir: so. a a an a A 1,1 1,6 0,1 21 1 1,4
II. Südwestasien.
| Sinai Syrien Mesopotamien Arabien | Südwestasien
Areal in a 2,6. aaa ae ts 64 000 188 000 350 000 3 142 000 3 743 000
Ständiger Abtluß in g > > 222200. — 34 26,3 — 4,1
Periodischer Abfluß in Y, . . . - 84 57,1 22,7 25,6
Ablußlos in Y 2 onen 16 66 17,1 77,5 70,2
Yolkadichte rn) Sue st N Te 1,6 12,8 6,5 0,7 1,84
IV. Nord-Vorderasien.
| Kleinasien Armenien Iran Nord-Vorderasien
Areal in Ak e a ee a DE 525 000 381 000 2 529 000 3 435 000
e l A NA re EE R T T T E 85,3 49 26,6 35
Adiublos-iniY;, e e ma een ana ar 14,7 51 73,5 61,7
Volkadichte a Non la ee A 16,9 11 5,1 7,6
V. Der Orient.
j z Nord- Afrikanischer Asiatischer y
| Atlas | Sahara Südwestasien Vorderasien | Orient Orient Orient
Areal in qkm . 2.2... | 749 000 8 897 000 3 743 000 3 435 000 9 646 00 7 203 000 16 824 000
Ständiger Abfluß in Y%, >- 34, 0,3 4,1 1,6 \ 5 23.8
Periodischer Abfluß in /, . 297 12 25,6 85 13,3 f_ 8 25
Abflußlos in p >... 35,8 88 70,2 61,7 85,1 66,3 76,2
Volksdichte >... ... | m 1,4 1,84 7,6 2,6 46 | 3,5
Globus XCVIII. Nr.8. 17
122 Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn.
IV. Nordvorderasien.
In dieser Region des Asiatischen Orients greifen die
Gebiete ständigen und periodischen Abflusses so innig in-
einander, daß es nur mit Hilfe großmaßiger Karten
möglich wäre, sie zu sondern. Der Gebirgsbau ist so
hochragend und gleichzeitig in horizontalem Sinne derart
kompliziert, daß die Unterscheidung gar nicht recht zur
Geltung kommt und ausgesprochen periodische Striche
(wenigstens größeren und geographisch entscheidend
tätig werdenden Umfangs) tatsächlich fehlen. Deshalb
sei hier nur die Rede von peripherischen, d. h. abfluß-
begabten Teilen schlechthin, und zentralen.
1. Das Gesamtareal des zum Ozean abfließenden
Raumes stellt sich .auf 1308000 qkm = 35°/ọ der
Region. Und zwar sind es in Kleinasien 447000 qkm
— 85,3°/, dieses Landes, wovon zum Levantischen Becken
des Mittelmeers abfließen 89000 qkm (= 16,9%/, des
Ganzen, 19,8°/ der peripherischen Teile), zum Ägäer-
meer 70000 (13,4 bzw. 15,7°/,), zur Marmarasee 35 000
(6,7 bzw. 7,9°/,) [die wichtige Westabdachung Kleinasiens
ist hydrographisch also 106000 qkm groß (20,1 bzw.
23,6°%,)!) zum Schwarzen Meer 243000 (46,3 bzw.
54,3°/,) und zum Persergolf durch den Euphrat 10000 qkm
(2 bzw. 2,3°/,). Diese Zahlen illustrieren die Haupt-
abdachungen Anatoliens sowohl in morphologischer wie
biologischer und kultureller Richtung. — In Armenien
sind peripherisch nur 188000 qkm = 49°/, des Bodens.
Der pontische Anteil beläuft sich auf 26000 qkm (6,73°/,),
der des Persischen Golfs auf 162000 (42,4°/,). — In Iran
zählen wir hierher 673000 qkm = 26,6°/, des Raumes,
und zwar gehören zum Indusbereich 1?) 204000 qkm,
zum Tigris und Schatt el arab 77000 (Dijala 18000,
Karun 58000), zum Persergolf (direkt!) 149000, zum
Indischen Ozean in engerem Sinne (also außerhalb des
Persergolfs und ohne die Indussphäre) 243000 qkm.
2. Die abflußlosen Zentralräume sind weit
größer, denn sie umgreifen 2127000 qkm = 61,7°/, der
Region. In Anatolien sind ohne Verbindung mit dem
Meere 77000 qkm (10000 und 67000), also 14,7°/, des
t+) Manche Wasseradern erreichen übrigens den Strom
nicht ganz oder wenigstens nicht immer.
Landes. — In Armenien 194000 qkm —=51°/, seines
Bodens. Hiervon entfallen auf den Wanbezirk 16000,
auf den des Urmia 50000, die Umkreise dieser beiden
Seebecken machen mithin 66000 qkm oder 17,3°/, des
Landes aus. Der kaspische Anteil ist 128000 qkm groß
(33,6°/, Armeniens). — In Iran fließt über die Nordgrenze,
aber in abflußloses Gebiet, das Wasser von 405000 qkm,
nämlich in den Kaspischen See von 140000 qkm, in die
Turansche Wüste von 149000, in den Aral von 116000.
Im Westen ist das System des Kercha ebenfalls ohne
Verbindung mit dem Meer: 65000 qkm. Und schließlich
ist das abflußlose innere Zentralgebiet, das eigentliche
Binneniran, 1385000 qkm groß und bedeutet nicht
weniger als 54,8°', der iranschen Ländertrias (westliche
oder persische Halbe 807 000 qkm = 58,3°/, des Binnen-
raumes, östliche oder afganisch-beludschische 578000 =
41,7°,,). Im ganzen sind also 1856000 qkm in Iran
ohne Abfluß zum Ozean, d. s. 73,5°/, Irans.
Das irano-armenische Zentralgebiet I. Ordnung um-
faßt 2072000 qkm.
Zur Veranschaulichung vgl. die Tabelle IV a. S. 121,
die ebenfalls zeigt, daß Schwinden abflußreichen und
Wachsen abflußlosen Bodens Verminderung der Volks-
dichte zeitigt, und daß dieses Verhältnis gen Osten
statthat.
Zum Schluß gebe ich in Tabelle V eine Übersicht der
geschilderten Beziehungen und Verhältnisse sowohl der
vier orientalischen Regionen, als des Afrikanischen und
Asiatischen Orients, wie des Orients überhaupt.
Da zeigt sich klipp und klar, daß die natürliche
Entwässerung am günstigsten entwickelt ist im Atlas,
die Abflußlosigkeit am stärksten ausgeprägt in der
Sahara. Dem entsprechen die Volksdichten, die dort
am stärksten, hier am schwächsten sind. Andererseits
steht der Asiatische Orient in der Entwässerung
zum Ozean und der Mitteldichte besser da als der
Afrikanische, der dafür mehr abflußlose Räume aufweist.
Im ganzen Orient übertrifft die Zahl der abflußlosen
Gebiete die der peripherischen um mehr als das Dreifache.
Diese Formeln sind der zahlenmäßige
kürzeste Ausdruck der geographischen Aus-
stattung der orientalischen Länderräume.
Der Verbindungsweg
zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn.
Von Franz Seiner.
Zurzeit Südwestafrika.
Mit 11 Abbildungen nach Aufnahmen des Verfassers.
Über die Kalahari herrscht trotz Passarges grund-
legenden Arbeiten noch in weiten Kreisen eine erstaun-
liche Unklarheit und Unkenntnis. Darüber kann man
sich aber nicht wundern, wenn man sieht, daß einzelne
Reisende in zahlreichen Berichten, Zeitungsnotizen und
Vorträgen die Kalahari noch immer als eine Wüste be-
zeichnen. Auch in Deutsch-Südwestafrika ist es den
wenigsten bekannt, daß mehr als zwei Fünftel des Schutz-
gebietes der Kalahari angehören, nämlich der Nord-
Kalahari das Amboland, Öschimpolofeld, Gabfeld (von
der Etosapfanne bis zum Omuramba Omatako), ?Kung-
feld !) (vom Omuramba Omatako bis zum Ärmelland des
ÖOkawango) und der Caprivizipfel; zur Mittel-Kalahari
gehört die Omaheke sowie das westliche Kaukaufeld und
zur Süd-Kalahari die Trockensteppe östlich der Linie
t) "= dentaler, *= palataler, ®= cerebraler, *= late-
raler Schnalzlaut.
Seeis—Hoächanas—Auobbett—Rietfontein-Süd. Irrtüm-
lich benennt man im Schutzgebiete als Kalahari gewöhn-
lich nur die Steppe östlich des weißen Nosob, während
man die Omaheke gemeinhin als Sandfeld bezeichnet.
Zur Unsicherheit des Begriffes „Kalahari“ trägt noch der
Umstand bei, daß die Eingeborenen selbst nur die innere
Süd-Kalahari mit dem Namen Kalahari belegen und die
Ausdehnung dieser Bezeichnung auf die nördlich an-
grenzenden Sandfelder bis zur südäquatorialen Wasser-
scheide, die durch das Vorherrschen tiefer Sandablage-
rungen und durch ihre Entwickelungsgeschichte mit der
Süd-Kalahari eine geographisch-geologische Einheit bilden,
erst von Passarge vorgenommen wurde. Andererseits
wird die Unklarheit selbst in gebildeten Laienkreisen
noch dadurch erhöht, daß, entsprechend den Niederschlags-
verhältnissen, die Süd- und Mittel-Kalahari von der bota-
nischen Kalahariformation bedeckt wird, einer subtropi-
schen xerophilen Buschsteppe mit Grasflächen und zum
Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn. 123
Teil dürftigster Vegetation; diese Formation geht all-
mählich in die tropische, von Flußsümpfen durchzogene
Trockenwaldsteppe der Nord-Kalahari über. Der Flächen-
inhalt der Kalahari läßt sich nach der allerdings noch
sehr unsicheren Kenntnis ihrer Grenzlinien mit annähernd
1400000 qkm berechnen, wovon ein großer Teil, nämlich
600000 qkm, auf die Nord-Kalahari entfällt, während
die Mittel- und Süd-Kalahari rund je 400000 qkm be-
sitzen. Deutsch-Südwestafrika wäre längs der Östgrenze
durch die Trockensteppen der Süd- und Mittel-Kalahari
von dem südostafrikanischen Wirtschaftsgebiete völlig
abgeschnitten, wenn nicht die Sümpfe und Kanäle des
aus der Nord-Kalahari kommenden Okawango eine Ver-
bindung durch die zentrale Niederung der Mittel-Kalahari
ermöglichen würden.
Der erste regelmäßige Geschäftsverkehr zwischen dem
nunmehrigen deutschen Schutzgebiete und dem britischen
Südafrika fand mit Umgehung der Kalahari am Oranje statt.
Es ist nun wohl schon mehr als 60 Jahre her, daß englische
Händler den Oranje überschritten und als die ersten
eine direkte Handelsverbindung ihrer Geschäftsfreunde
mit den Herero (mit Ausnahme von Kriegsmaterial); die
nach dem Damaraland ziehenden Händlerwagen wurden
von den Hottentotten genau durchsucht und vorgefundene
Kriegsmaterialien ohne weiteres beschlagnahmt. Da das
Hauptgeschäft mit den Herero aber eben im Waffen- und
Munitionshandel lag — ein Ochse war für wenige Patronen
und eine Herde von 20 bis 30 Stück für ein Gewehr
erhältlich — und die Herero sich gegen Händler, die kein
Kriegsmaterial in das Land brachten und der deutschen
Missions-Handelsaktiengesellschaft nicht angehörten, oft
harte Bedrückungen erlaubten, indem sie jene zwangen,
die Waren zu Schleuderpreisen abzugeben, so suchte bald
der größte Teil der Händler auf dem Wege längs des
Östrandes der Süd-Kalahari und über den Ngamisee quer
durch die Mittel-Kalahari das viehreiche Damaraland zu
erreichen. War diese Route auch länger und beschwer-
licher als der Oranjeweg, so führte er doch größtenteils
durch die Gebiete der englandfreundlichen Betschuanen,
und nur im Chansefelde waren die diebischen Buschleute
Abb.ı1. Welliges Grauwackenland mit Strauchsteppe im Chansefeld.
Weißen ständige Niederlassungen im Namalande errich-
teten. Die Hottentotten behandelten ihre Geschäfts-
freunde sehr gut und tauschten von ihnen gegen ge-
raubtes Hererovieh hauptsächlich Pferde, Waffen, Muni-
tion, Branntwein, Kleidungsstücke, daneben auch andere
Waren ein. Da das eingehandelte Vieh in der Kapkolonie
zu hohen Preisen abgesetzt werden konnte, so warf dieses
Geschäft für die Händler großen Gewinn ab. Allmählich
erstarkten aber die Herero, indem sie von den aus der
Walfischbai kommenden Händlern und Jägern gegen Elfen-
bein, Felle, Straußenfedern und Gehörne Kriegsmaterial
und Pferde eintauschten, und brachten den Hottentotten
große Verluste bei, so daß im Jahre 1870 zwischen beiden
Teilen zu Okahandja Frieden geschlossen wurde. Zwei
Jahre später wurden am Vaal nahe dem Südostrande der
Süd-Kalahari, im heutigen Griqualand-West, große Dia-
mantenfelder entdeckt, und es konnte der Fleischbedarf
der dort sich rasch entwickelnden Minenstadt Kimberley
weder aus dem britischen Südafrika noch aus den Buren-
staaten gedeckt werden, so daß sich bald ein lebhafter
Handelsverkehr mit dem Namalande entwickelte. Allein
die kriegsmüden Hottentotten konnten der steigenden
Nachfrage nicht mehr genügen und gestatteten daher
und an der Grenze des Hererogebietes die räuberischen
Khauas-Hottentotten zu fürchten. Der Handelsverkehr
auf dieser Linie wurde bald sehr rege, denn die Geschäfte
waren glänzend; viele Tausende von Rindern wurden auf
diesem Wege in die Minenbezirke geschafft und dort mit
großem Gewinn abgesetzt, und andererseits erhielten die
Herero solche Mengen an Kriegsmaterial, daß sie große
Munitionsdepots anlegen konnten. Schließlich hob sich
aber die Viehzucht im britischen Gebiete und in den
Burenstaaten, so daß der Handel mit dem Damaraland
zurückging, und zwar besonders rasch, als im Jahre 1880
zwischen Hottentotten und Herero wieder blutige Wirren
ausbrachen, und 1889 der verdienstvolle Landeshaupt-
mann Kurt v. Frangois für das Schutzgebiet das uner-
läßliche Einfuhrverbot für Waffen, Munition und geistige
Getränke erließ. Zwar konnte die schwache Schutztruppe
dem nun namentlich an der Ostgrenze der Omaheke auf
dem Ngamiweg beginnenden Schmuggel nicht steuern,
jedoch der Masseneinfuhr von Kriegsmaterial war vor-
gebeugt. Die Hauptstationen der englischen Schmuggler
waren im Osten Olifantskloof, im Süden die Furten am
Oranje und im Westen die Walfischbai. Mehrmals wurden
englische Schmuggler mitten im Nama- und Damaraland,
17*
124 Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn.
sowie bei Olifantskloof aufgegriffen, so daß die Herero
sich allmählich aus dem Norden mit Munition zu versorgen
begannen. So zog im Januar und Februar 1896 Trau-
gott, ein Sohn des Owambandjeruhäuptlings 'Tjetjo, mit
einer vielhundertköpfigen Rinderherde durch das Ambo-
land nach dem Kunene, wo sich portugiesische Munitions-
händler befanden, und die Hererohäuptlinge bezogen nun
auf diesem Wege regelmäßig durch Owambo Munition.
Die Viehausfuhr auf dem Ngamiwege wäre während des
Matabeleaufstandes in Süd-Rhodesia 1896 zweifellos wie-
der emporgeblüht, wenn nicht gleichzeitig die Rinderpest
im Schutzgebiete wie im übrigen Südafrika verheerend
aufgetreten wäre und eine strenge Grenzsperre durch die
deutschen und britischen Behörden erfordert hätte. Bis
zum Ausbruch des Hereroaufstandes 1904 fand fast nur
nach dem Oranje ein schwacher Viehexport statt. Die
südwestafrikanischen Eingeborenenunruhen 1904 bis 1907
brachten eine abermalige Belebung des Ngamiweges, in-
Osten abfallend, am 20. Längengrad allmählich in das
Kaukaufeld übergeht, das sich an der Ostgrenze des
Schutzgebietes nächst den !Kai’kaihügeln auf 1070 m
und bei Rietfontein-Nord auf 1170 m senkt, sowie die
Westseite des Okawangobeckens begrenzt. Letzteres be-
ginnt an der deutschen Grenze bei 20° 30’ s. Br. mit
1030 m Höhe (Blaubuschpfanne) und ist vom Ngami-
land und Tauche bis zum Nordostende am Sambesi und
Linjanti eine Ebene von durchschnittlich 950 m Meeres-
höhe. Südöstlich des Okawangobeckens und von ihm
durch das Haina- und Madenassafeld geschieden befindet
sich das Makarrikarribecken mit 900 m Meereshöhe. Die
östliche Randzone der Mittel-Kalahari endet am Matabele-
land mit 1200m ü. d. M., während ihre südöstlichste
Landschaft, das Mahurafeld, vom Südrande des Makarri-
karribeckens nach Südosten um 400 m ansteigt und bei
Loale-Serue mit 300 bis 400 m hohem zerklüfteten Hange
am Bamangwatohügelland endet.
Abb. 2.
dem zahlreiche Hererowerften mit großen Rinderherden
durch das Chansefeld in das Ngamiland flüchteten, und
die Mehrheit des geflüchteten Hereroproletariats in die
britischen Minengebiete zog, während andererseits aus
dem Ngamiland bedeutende Mengen von Betschuanenvieh
in das Schutzgebiet eingeführt wurden. Es ist wohl
zweifellos, daß diese Verbindung mit der Betschuanen-
land-Eisenbahn bei den unausbleiblichen großen Ein-
geborenenaufständen im britischen Südafrika als Vieh-
ausfuhrstraße für das Schutzgebiet wieder große Bedeu-
tung erlangen wird, falls dessen Viehstand sich bis dahin
genügend hebt.
Der sogenannte Ngamiweg, d.h. der Wagenpfad von
Rietfontein-Nord an der ÖOstgrenze des Schutzgebietes
bis Palapye Road an der Betschuanenland - Eisenbahn,
besitzt eine Länge von 930 km und liegt bis auf die öst-
lichsten 50km in der Mittel-Kalahari. Diese wird an-
nähernd durch den 19. Breitengrad von der Nord- und
durch den 23. Breitengrad von der Süd-Kalahari getrennt.
Die westlichste Landschaft der Mittel-Kalahari bildet die
Omaheke, die mit 1500 bis 1600 m am Damaralande be-
ginnt und als wenig gewellte Fläche, allmählich nach
Die Leboanavlei in der Nordplatte des Ngamirumpfes.
Breitkronige Bäume der Acacia horrida Willd.
Die Flußbetten, die vom Damaraland zum Okawango-
becken streichen und natürliche Verbindungswege dar-
stellen, kommen für den regelmäßigen Verkehr wegen
ihres Wassermangels nicht in Betracht. Die Ngamistraße
führt daher von Rietfontein-Nord über die Kalkpfannen
des Chansefeldes zum Ngamisee, läuft dann längs des
Ngamiflusses und Botletle in das Makarrikarribecken,
geht aber nicht weiter durch die Maklautsipforte an die
Betschuanenlandbahn in der Bamangwatoebene, sondern
führt vom südwestlichen Rande des Makarrikarribeckens
über die Kalkpfannen des Mahurafeldes hinan zum Ost-
abfall des Kalahariplateaus bei Serue und schlängelt sich
erst hier zur Bamangwatoebene hinab. Den beschwer-
lichsten Teil des ganzen Ngamiweges bildet die Strecke
von den Salzsümpfen des Kumadau im Makarrikarri-
becken bis zum Ostabfall des Kalahariplateaus.
Der ganze 930 km lange Ngamiweg zerfällt in folgende
Teilstrecken: Chansefeld 190 km, Hainafeld 20 km, Ngami-
rumpf 40km, Südrand des Ngamisees 50 km, am Ngami-
fluß 60 km, längs des Botletle 190 km, südwestliches Ma-
karrikarribecken 90 km, Mahurafeld 190 km, Osthang des
Kalahariplateaus 50km und vom Fuße des letzteren bis
Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn.
125
Serue 50km. Auf die Trockensteppen entfallen 500 km,
auf die Flußlandschaften 430 km. — Der Wagenweg von
Windhuk bis Rietfontein besitzt eine Länge von 500 km,
von denen sich 435 km bereits in der Kalahari, und zwar
in der Omaheke befinden; nur die 65km lange Strecke
von Windhuk bis Seeis liegt im Damaraland. Der übrige
Weg gliedert sich in die Teilstrecken Seeis — Gobabis
163 km, Gobabis—Oas 52 km, Oas—Olifantskloof 110 km
und Olifantskloof — Rietfontein 110km. Auf der Weg-
linie Windhuk—Gobabis können die Rinder meist täglich
getränkt werden, während von Gobabis bis Oas sich in
der Trockenzeit kein Wasser vorfindet. Von der Weg-
strecke Oas— Rietfontein liegen
die ersten 56 km und die letzten
40km auf deutschem, die übrigen
124km mit Olifantskloof auf
britischem Gebiete; außer am
zuletzt genannten Platze ist auf
der ganzen 220 km langen Linie
nur nach starken Regenfällen
Wasser für das Vieh zu finden,
diesem sind aber in der Regen-
zeit die wasserhaltigen Sand-
pfannen durch gifthaltige Gräser
gefährlich. Der von der Schutz-
truppe mit Umgehung von Oli-
fantskloof innerhalb der deut-
schen Grenze angelegte Kamel-
pfad von Oas nach Rietfontein
ist infolge Wassermangels für
Rinder meist unpassierbar.
In Rietfontein beginnt der
eigentliche Ngamiweg. Bezüglich
des Rietfonteiner Riviers herrscht
in der Kartographie noch eine
erstaunliche Unkenntnis, indem
der Epukiro über Rietfontein und
weiter als Letjahau in den Bot-
letle geführt wird und somit als
800 km langes Bett im weißen
Fleck der Mittel-Kalahari para-
diert; andererseits wird der Epu-
kiro durch eine Gabelung ober-
halb von Rietfontein auch mit
der Grootlagte in Verbindung
gebracht. Meine Erkundungen
im Januar 1907 ergaben nun,
daß der Letjahau von der Ba-
kalaharischwelle zum Botletle
führt und mit dem Rietfonteiner
Rivier, das gleich anderen Betten
sich im Hainafelde verläuft, in
keiner Verbindung steht, wäh-
rend der Epukiro nach der Fest-
stellung (Januar und Juli 1907) der Kommandanten der
deutschen Truppenstationen in Epukiro und Rietfontein,
Oberleutnant Rechtern und Leutnant Bullrich, von
Otjiamangombe aus in nordöstlicher Richtung zum Oka-
wangobecken streicht, als 3km breites Bett die deutsche
Grenze 100 km nördlich von Rietfontein schneidet und zum
Rietfonteiner Rivier keinen Arm sendet. Ebenso konnte:
Dr. Pöch keine Einmündung eines Epukirobettes in das
Rietfonteiner Rivier, wie es heute noch die meisten Karten
zeigen, bemerken, und auch die Eingeborenen versichern,
daß eine derartige Verbindung nicht bestehe. Zudem
erklärt Oberleutnant Rechtern, daß zwischen dem Riet-
fonteiner Rivier und dem Epukiro mehrere zum Oka-
wangobecken streichende kleine Betten liegen. Bei Riet-
fontein ist die Talsohle des Riviers 70 bis 100 m breit
Abb. 3. ®Ai-kho® (154 cm hoch)
mit Ochsenfrosch in der Massarinjanivlei.
und von zahlreichen Grauwackenwällen durchzogen, die
Uferböschungen sind sanft und 30 bis 40m hoch, und
das Flußbett ist in die rötlichen und grauen Grauwacken
eingeschnitten. Die Kaserne am Talrande steht un-
mittelbar auf den Felsen, in denen ein tiefer, gedeckter,
wasserreicher Brunnenschacht ausgesprengt wurde. Außer-
dem finden sich hier zwei Quellen vor: die Südquelle
400 m nordnordöstlich der Kaserne auf dem rechten Ufer,
die Nordqueile 300m talaufwärts auf der gleichen Ufer- .
böschung. In den Quellöchern zeigt sich das Gestein
mit weißen Kalktuffschichten überzogen, die namentlich
an der südlichen, stärkeren Quelle ausgedehnt sind. Nach
Passarge verdankt der Kalktuff
sein Dasein einer Zeit, als zahl-
reiche starke Quellen aus dem
Gestein der Uferböschungen her-
vorbrachen und die Hänge zum
Bette hinabrieselten. Die heu-
tigen Quellen sind also nur ein
Rest eines ehemals ausgedehnten
Quellensystems, und mit diesem
geologischen Befund stimmen
auch die Berichte der Händler
und Buschmänner überein, die
von einer erheblichen Abnahme
der Quellen seit den letzten Jahr-
zehnten erzählen. Das Quell-
wasser dämmt sich im Bette an
den bis 2m hohen und 2 bis 4m
breiten, stark zerklüfteten Fels-
bänken zu kleinen Teichen mit
dichter Schilfvegetation auf, in
der namentlich das Orugras der
Herero (Phragmites vulgaris
Lam. Crep.) dichte, 11/;m hohe
Bestände bildet. Perlhühner und
Namakwafeldhühner finden sich
regelmäßig morgens und abends
in Scharen ein, und in der Regen-
zeit sind auch häufig Enten an-
zutreffen. Größeres Wild ist
aber durch den verhältnismäßig
starken Verkehr schon längst
aus der Umgebung gescheucht.
Der Boden des Bettes wird meist
von Sand und Lehm, stellen-
weise auch von Grauwacken-
gerölle und Kalkbrocken ge-
bildet. Zur Regenzeit macht sich
auf dem Verwitterungsgrund
reicher Pflanzenwuchs bemerk-
bar, und zeigen sich die Rasen-
flächen des Bettes von zahl-
reichen Bäumchen sowie niedri-
gem Strauchwerk durchsetzt. Das Gelände bei Rietfontein
umfaßt große, vorzügliche Viehweiden und eignet sich zur
Anlage einer großen Farm; jedoch leidet die Gegend unter
häufigen Einfällen von Heuschrecken. Die Buschmänner der
Umgebung sind deutschfreundlich und leisteten der Sta-
tionsbesatzung wiederholt wirksame Hilfe gegen durch-
ziehende Herero und Owambandjeru. Zur Zeit meines Auf-
enthalts im Januar und Februar 1907 lag eine kleine Werft
der *Au-nin, die zu Passarges Kaukauvolk gehören, 1 km
nördlich der Kaserne und eine Werft der 3Ai-khoe, die
Passarge zum Ngamivolk rechnet, 1!/;km südwestlich
der Station. Die Buschmänner der zuletzt erwähnten
Werft waren den *Au-nin dienstbar und wurden von
ihnen als Naru (Untergebene, Sklaven) bezeichnet. Da
Dr. Pöch im Juni 1908 nur *Au-nin in Rietfontein vor-
126 Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn.
fand, so scheinen die 3Ai-kho& mittlerweile ausgewandert
oder von jenen vertrieben worden zu sein. Gegenwärtig
liegt in Rietfontein eine Abteilung der Schutztruppe mit
Reitkamelen. Annähernd 20 km oberhalb von Rietfontein
sind zwei schwache, aus den Grauwacken im Bette ent-
springende und zeitweilig versiegende Quellen namens
Ob und Sandpits, und 15 bis 20km unterhalb der Ka-
serne befindet sich im Flußbett eine andere wasserarme
Quelle, Butsivango. Das Tal wird an beiden Rändern
von einem 5 bis 8km breiten, dichten Buschwald auf
braunem Sande flankiert.
Chansefeld. Auf der weiten grausandigen Ebene
mit Kalksteinuntergrund, die sich von der Zone tiefen,
braunen Sandes am Nordufer des Rietfonteiner Riviers
bis in die Nähe des 50km entfernten Wasserplatzes
Gwachanei hinzieht, herrscht eine Grassteppe mit vor-
wiegend Aristidagräsern und eingestreutem Strauchwerk
vor; stellenweise wird diese Ebene in Nordwest-Südost-
richtung von Streifen braunen Sandes mit lichten Busch-
beständen durchzogen. Annähernd 10 km westlich von
Gwachanei beginnt Kalkgerölle im grauen oder braunen
dern täglich zu tränken vermag. Das Land zwischen
beiden Pfannen ist meist von brauner, sandiger Roterde
mit reichlichen Grauwackenstücken und wenigen Kalk-
schollen bedeckt und trägt eine eintönige Strauchsteppe.
Von Sseribes his zu der 13 km entfernten Pfanne 2Kchautsa-
West ist das Gelände von flachen Grauwackenwällen
durchzogen, flache kesselförmige Senkungen und Mulden
sind nicht selten. Brauner, lehmiger Sand, der teils
Verwitterungsprodukt aus Grauwacken, teils Decksand
ist, herrscht vor, und es treten in ihm Kalkschollen nur
stellenweise auf. Die Strauchsteppe dieses Grauwacken-
landes ist die artenärmste des Chansefeldes und erhält
ihr charakteristisches Gepräge durch das massenhafte Auf-
treten des Bignoniaceenstrauches Catophractes Alexandri
G. Dom. mit grauweißen, wolligen Blättern, großen weißen
Blüten zur Regenzeit und grauweißen Schoten. Die
Pfanne von ?Kchautsa-West ist 6m tief und hat einen
Durchmesser von 80m. Der Boden ist mürber, sandiger
Kalktuff, der stellenweise durch vegetabilische Substanzen
dunkelgrau gefärbt und von Kalkblöcken bedeckt ist; er
enthält vier wasserreiche, schlanımige Tümpel, die mehrere
Abb.4. 6Grassteppe mit vereinzelten Büschen auf trockengelegtem Boden des Ngamisees
zwischen dem Alluvialwald im Hintergrunde und der Schilfmasse.
Sande mit gestrüppartigem Gehölz aufzutreten. Die Pfanne
von Gwachanei ist 6 bis 10 m tief in Grauwacke ein-
gesenkt und besitzt eine nordsüdliche Längenachse von
1100 m, sowie eine Breite von 500m. Die Böschungen
sind am Nord- und Südende völlig flach, sonst aber steil.
Am nordwestlichen Ende finden sich im Grauwackenboden
zwei sekundäre Kessel vor, von denen der östliche einen
Durchmesser von 50 bis 60m, Kalktuffrand und kalk-
haltigen Sandboden besitzt, in dem eine 4 m tiefe Brunnen-
grube aufgeschlossen ist, zu der nur von Osten her eine
flache Böschung den Zugang für das Vieh gestattet. Der
Kessel ist von dem charakteristischen Kalktuff ausgefüllt,
dessen oberste, 0,5 m dicke ausgetrocknete Schicht hart
und gesteinartig ist, während die unterliegende, 3 m
dicke feuchte Masse weiche, erdige Beschaffenheit auf-
weist. Der Platz ist der Sitz eines englischen Polizei-
sergeanten und einiger Basutopolizisten, weshalb hier
das Tränken fremder Rinder nicht gestattet wird. Das
Vieh muß daher nach der nordöstlich von Gwachanei
gelegenen und 15km entfernten Pfanne von Sseribes
getrieben werden, in deren Grauwackenboden ein flaches
Brunnenloch eingesenkt ist, das am Ende der Trockenzeit
eines normalen Regenjahres noch eine Herde von 30 Rin-
hundert Stück Großvieh während der ganzen Trockenzeit
zu tränken vermögen. Auf dersüdlichen Pfannenböschung
findet sich ein enges, 1,5 m tiefes Brunnenloch mit vor-
züglichem Trinkwasser vor. Da in regenarmen Jahren
die Pfanne von Sseribes bald nach Beendigung der Regen-
zeit austrocknet, so ist ?Kchautsa-West die erste Pfanne,
an der Vieh, das von dem 80 km entfernten Riet-
fontein kommt, getränkt werden kann. Die westliche
Weghälfte zwischen ?Kchautsa- West und dem 22km
östlicher gelegenen Chanse führt durch ein Grauwacken-
land mit kilometerlangen Tälern und Mulden von ver-
schiedener Breite (Abb.1); in der östlichen Hälfte des
Weges weist das Gelände flache Wälle, Rücken und Platten
von Grauwacke mit Kalkhauben auf. Die Strauchsteppe
gehört zu den ödesten Gegenden der Kalahari, und der
Wagen poltert fortwährend über braunen Schottersand
mit Kalkschollen und Grauwackenstücken. Die Pfanne
von Chanse hat einen Durchmesser von 500 bis 800 m;
sanfte Böschungen führen von Süd, West und Ost zum
eigentlichen kalkigen Pfannenboden hinab, der teilweise
von einem schlammigen, an Wasserpflanzen reichen Teich
bedeckt ist. Am Steilrand der Nordseite befindet sich
die teichbildende Quelle, die für große Rinderherden
Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn. 127
während der ganzen Trockenzeit ausreicht. Der Boden
der schwach gewellten Busch- und Strauchsteppe zwischen
Chanse und der 12km nordöstlicher gelegenen Pfanne
2Kchautsa-Ost besteht hauptsächlich aus einer Mischung
von braunem Schottersand und Verwitterungsprodukten
und ist stellenweise infolge Kalkreichtums hellgrau. Die
Kalkpfanne ?Kchautsa-Ost enthält im Sandstein des
Pfannenbodens zwei Brunnen, die aber am Ende der
Trockenzeit nur wenig Wasser geben, ebenso wie die
verschlammte Quelle am südlichen Kalktuffrand, die nach
starken Regengüssen einen Teich bildet. Bei dieser Pfanne
beginnt das Land, das bis Rietfontein-Nord eine ebene
Fläche von durchschnittlich 1200 m Meereshöhe darstellt,
allmählich nach Norden abzufallen. Die 26km lange
Wegstrecke von ?Kchautsa-Ost nach Gautsirra führt meist
über braunsandigen, wenig gewellten Verwitterungsboden
auf Chalzedonsandstein und Grauwacken. Die Vegetation
zeigt den Charakter einer Decksandbuschsteppe mit vor-
wiegend Akazien-, Tiliaceen- und Combretaceenarten.
Die Pfanne von Gautsirra hat einen Durchmesser von
200m und eine Tiefe von 3m; in den teilweise ver-
kieselten Sandstein des Pfannenbodens sind drei Brunnen-
löcher gebrochen, deren Wasser für eine große Rinder-
herde stets ausreicht. Südlich bzw. östlich der Weglinie
Gwachanei—Gautsirra liegen zwar zahlreiche Kalkpfannen,
von denen jedoch keine am Ende der Trockenzeit zuver-
lässig das zur Tränkung einer großen Rinderherde nötige
Wasser besitzt. Zwischen Gautsirra und der 38km
nordnordöstlich gelegenen Kalkpfanne Kubi (1090 m ü.
d. M.) herrschen auf grauem kalkreichen Sande weite
Grasebenen mit eingestreuten Bäumen und Buschgehölz
aus Giraffenakazien auf tiefem braunen Sande vor. Die
Brunnenlöcher von Kubi enthalten zu Beginn der Regen-
zeit gewöhnlich noch täglich für ein Ochsengespann
Wasser. Von Kubi führt ein Wagenpfad direkt nördlich
nach der 116 km entfernten Batauanastadt Tsau im
Tauchesumpfland des Okawangobeckens; dieser Weg läuft
durch die Steppe westlich des Ngamisees und ist nach
Dr. Pöch zu Anfang der Regenperiode bis Makakun,
16km südlich von Tsau, wasserlos. Der Weg von Kubi,
wo sich ein Posten von Basutopolizisten befindet, nach
dem 11 km nordöstlicher gelegenen Kuke wird, je nach
der Tiefe des grauen bis braunen Sandes, von einer mehr
oder minder lichten Buschsteppe eingenommen, die um
die häufig auftretenden kleinen Gesteinsflächen und Kalk-
pfannen sich zu einem gestrüppartigen Gehölz verdichtet.
Die Kalkpfanne Kuke hat ein Brunnenloch von 10 bis 12 m
Durchmesser und ist 3m tief; aus dem weichen Kalktuff
des Bodens quillt das erfrischend kalte Wasser hervor,
bildet einen Tümpel und kann täglich Hunderte von Rin-
dern tränken. Annähernd 4km östlich von Kuke steht
ein mächtiger Baobab (Adansonia digitata L.) als äußerster
Vorposten seiner südlichen Verbreitungsgrenze. Die
Weideverhältnisse im Chansefelde sind in der Trocken-
zeit nur stellenweise einem großen Viehdurchtrieb
günstig.
Von Kuke schlängelt sich der Weg 20 km durch die
meist tiefsandige Strauchsteppe des Hainafeldes und er-
reicht an den Mabäle a pudi-Hügeln den Ngamirumpf,
mit welchem Namen Passarge das südlich des Ngamisees
gelegene Gebiet, in dem sich das Grundgestein in den
Öberflächenverhältnissen und der petrographischen Be-
schaffenheit des Landes geltend macht, bezeichnet. Es
wird durch die Zentralsenke, einen 8 bis 10km breiten
und am Wagenwege bis 30 m tiefen Graben in eine
Nord- und Südplatte geteilt (Abb.2). Der Südplatte ist
südlich der dichtbewaldete Porphyrzug der bis 300m
hohen Mabäle a pudi-Hügel vorgelagert. Der größte Teil
des Landes wird von braunem Steppensand bedeckt, aus
dem das feste Gestein nur lokal aufragt. Der Wagenweg
führt in einer Länge von 40 km und in Südwest-Nordost-
richtung durch dieses in der Trockenzeit wasserlose, in
der Regenzeit infolge der Dichte des namentlich in der
Zentralsenke oft waldartigen Buschgehölzes schwer zu
passierende Gebiet. Die Nordplatte fällt mit 50m hohem
sanften Hange zum Südrande des Ngamisees ab.
Der Ngamisee (950 m ü. d. M.) bildet annähernd ein
spitzes Dreieck, dessen Scheitel im Osten bei Toting liegt
und dessen kürzeste Seite der 17 km lange Westrand ist;
die beiden übrigen Seiten sind nach Passarge geradlinig
je 45km lang, so daß der Flächeninhalt 650 qkm beträgt.
Passarge berechnete dabei als See nur die Schilfmasse,
die der letzten Wassermenge und ihrer Begrenzung ent-
sprach. Der mit Schilf bestandene, meist erhärtete See-
schlamm ist meterhoch mit lockeren Aschenablagerungen,
die durch jahrhundertelanges Abbrennen des Schilfes
entstanden, bedeckt, so daß man bei unvorsichtigem Ein-
dringen in die Phragmiteswände bald bis an die Hüften
in der lockeren Asche und den faulenden Vegetabilien
versinkt. Die Eingeborenen, namentlich die 3Ai-khoe,
deren Haupttummelplatz das Chansefeld ist, bahnten sich
zahlreiche schmale Pfade durch die Schilfmassen, um den
Seeboden nach eßbaren, miehlliefernden Wurzelknollen
zu durchsuchen (Abb.3). Der schwärzlichgraue See-
schlamm geht oberflächlich wenige hundert Meter vom
Schilfrande in den kalkreichen, weißen, losen Flußsand
über, der das Seebecken in einer Zone von verschiedener
Breite umrahmt und am Nordrande des Sees mit dichtem,
am Südrande mit lichtem Buschwald bestanden ist. Die
mehrere hundert Meter breite Zone zwischen dem Alluvial-
sand und dem Beckenschlamm trägt nach meinen botani-
schen Beobachtungen und Sammlungen saure niedrige
Gräser, also schlechtes Viehfutter und ebensolche Kräuter,
sowie einzelne vom Waldrande vordringende Büsche, da-
gegen finden sich hier stellenweise Cucurbitaceen in
enormen Mengen vor und begründen den Wildreichtum
der Gegend (Abb. 4). Auf lokalen Gesteinsflächen steht
undurchdringlich dichter Busch. Wo jetzt der Alluvial-
wald steht und Rinderherden weiden, tummelten sich noch
vor einem Jahrhundert badende Flußpferde herum. Living-
stone, der am 1. August 1849 den Ngamisee entdeckte,
bemerkte, daß der See früher bedeutend größer gewesen
sei, und die Eingeborenen erzählten, der Tauche, der
Hauptzufluß, habe in früheren Jahren viel mehr Wasser
besessen und sei bei Hochstand so reißend gewesen, daß
er Baumstämme, Antilopen und selbst Flußpferde mit
sich fortwirbelte. Chapman stellte 1853 die Maximaltiefe
des Sees mit 12 Fuß fest, 1861 war er schon viel flacher;
der Reisende erwähnt, daß die Wassermenge enorm zurück-
gegangen sei, und die Eingeborenen erinnerten sich noch
der Zeit, in der sie bei Hochwasser mit ihren Kanus
zwischen den Kronen der Uferbäume fuhren und die
sturmgepeitschten Wellen so stark waren, daß sie wie
Donner rasten und Flußpferde an das Ufer warfen.
Fleck fand 1891 als die größte Tiefe des stark reduzierten
Sees 5 Fuß. Vier Jahre später hörte der Zufluß vom
Tauche auf, und im nächsten Jahre war vom See nur
mehr eine trockene braune Schilffläche mit grauem Aschen-
boden übrig. Im Jahre 1899 wurde nach Passarges
Beobachtung der See infolge einer abnormen Okawango-
flut von Osten her durch den Ssiroökanal teilweise ge-
füllt, um aber gleich wieder auszutrocknen. In den letzten
Jahren wurde nur der östlichste Zipfel des Sees bei To-
ting von den im Bette des Ssiroö vordringenden Über-
schwemmungsfluten des Okawango erreicht; so mußte
ich im Januar 1907 bei Toting die Sumpftümpel des
Ssiro@ im Boote passieren, während mein Wagen mehr-
mals im Schlammboden stecken blieb. Dr. Pöch fand
128
Woltereck: Aus dem Leben eines Sioux-Indianers.
aber bereits im Oktober des nächsten Jahres auch den
Ssiroö versiegt und den ganzen See trocken gelegt. Da
es nicht sicher ist, ob auf dem 50 km langen Wege längs
des Südrandes des Sees von Bolibing bis Toting in der
Trockenzeit sich genügend Wasser für eine Rinderherde
vorfindet, so muß man mit einer 110 km langen Durst-
strecke von Kuke bis Toting rechnen. Bei einer Reise
von Toting nach dem 70 km entfernten Tsau (42km
lange Durststrecke, tiefer, lockerer Sand) passiert man
unzählige alte Kanäle des Okawango bzw. Tauche, die
noch vor 10 bis 20 Jahren Wasser führten, heute aber
verödet, versandet und verfallen daliegen und das traurige
Bild eines absterbenden Flußsystems bieten.
Die Batauanastadt Tsau an den südlichsten Tauche-
sümpfen wird von 2000 Eingeborenen unter dem Ba-
tauanahäuptling Muntibi, der in einer Missionsschule der
Kapkolonie eine gute Erziehung genoß, bewohnt. Die
englische Regierung ist vertreten durch einen Magistrat
mit einer Polizeiabteilung aus britischen Unteroffizieren,
einem Sanitätssergeanten und berittenen Basuto. Unter
den sechs Handelsniederlagen sind die bedeutendsten jene
der den Handel beherrschenden Bechuanaland Trad-
ing Association Limited, kurzweg Bi-Ti-E genannt, und
des Engländers Weatherilt. In Toting hält ein verarmter
englischer Minenbesitzer namens Priest einen Kaufladen.
(Schluß folgt.)
Aus dem Leben eines Sioux-Indianers.
Vor den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
war eine Schulerziehung bei den Indianern eine große
Seltenheit, die nur durch schwere Kämpfe der wenigen
Schulen und auch der Schüler erkauft werden konnte.
Daher dürfte es von Interesse sein, von der Entwickelung
des Siouxknaben Ohiyesa, des jetzigen Dr. Charles
A. Eastman, zu hören, der als einer der begabtesten
zivilisierten Indianer in den Vereinigten Staaten gilt und
dort noch heute als angesehener Beamter und Schrift-
steller lebt!).
Ohiyesa (the winner, der Sieger) ist im Jahre 1858
in Minnesota, der alten Heimat der Sioux, geboren und
hat dort bis zu seinem 15. Jahre das freie Nomadenleben
seines Volkes gelebt. Während dieser Zeit hat er nie
das Haus eines Weißen gesehen, hat niemals die englische
Sprache gehört, ward aber gelehrt, den weißen Feind zu
hassen und zu verachten. Sein Vater „Many Lightnings“
war der Abkömmling einflußreicher Häuptlinge, und auch die
junge schöne Mutter, die bei Öhiyesas Geburt starb, stammte
aus altem Geschlechte. Das Kind erhielt zuerst den Namen
„Hakadah“ (the pitiful last, der jämmerliche Letzte) und
hatte von seinen älteren Brüdern und Gespielen dieses
Namens wegen erst viel auszustehen, bis er sich den
stolzeren Namen Ohiyesa durch eigene Tüchtigkeit er-
warb. Er wuchs unter der Pflege von Uncheedah, seiner
Großmutter, einer stolzen, alten Indianerin, auf, die die
ruhmreichen Traditionen ihres Geschlechtes in seine
junge Seele pflanzte.
Sie wickelte ihn in die praktische Wiege aus Eichenholz;
sie schnitzte für ihn das erste Spielzeug aus Hirschhufen
und Rehknochen und bereitete die indianische Säuglings-
speise aus Wildbrühe, wildem Reis und Mais für Hakadah.
Die Wiege begleitete die alte Frau überall; wenn die
Arbeit sie vor das Zelt rief, wurde das Kind auf seinem
Holzbrett gegen den Zeltpfosten gelehnt, ging es zu
Pferde weiter fort, so hing Hakadah am Sattelknopf, und
im Walde ließ sich das praktische Kinderbett leicht in
den Zweigen aufhängen. Und die Großmutter sang ihm
auch zuerst das alte Wiegenlied der Sioux:
„Schlaf, schlaf, mein Kind, die Chippewas
Sind noch nicht da, sind noch nicht da —
Schlaf, schlaf, mein Kind, und werde stark,
Der Kampf dein harrt, der Kampf dein harrt....“
Der Siouxaufstand in Minnesota fand statt, als Ohiyesa
erst gegen sechs Jahre alt war, aber er hat ziemlich klare Er-
innerungen an alle Schrecken und Entbehrungen behalten,
die sich an die Flucht der Sioux aus der alten Heimat nach
Kanada knüpfen. Ohiyesa bekam dabei zum ersten Male die
1) Diese kurze Skizze habe ich aus mündlichen und
schriftlichen Mitteilungen des mir persönlich bekannten
Dr. Eastman (Ohiyesa) zusammengestellt. K. W.
„Washehus“ (Bleichgesichter) zu sehen; aber seiner Groß-
mutter gelang es mit dem Kinde zu einem Onkel zu ent-
kommen, während der Vater und die Brüder nach er-
bittertem Widerstande durch Verrat eines Halbbluts in
Gefangenschaft gerieten.
Bei diesem Onkel in Kanada verblieb Ohiyesa bis zu
seinem 15. Jahre und wurde dort den alten Sitten seines
Volkes getreu erzogen. Wie aus dem Wiegenliede ersichtlich
ist, werden indianische Knaben schon früh an ihre spätere
Bestimmung als Krieger und Schützer ihres Stammes
gewöhnt. Die Großmutter sang und erzählte weiter von
den Heldentaten der Sioux; sie lehrte ihn die Natur
um sie her verstehen und kennen, den Gesang der
Shechoka-Rotkehlchen und der Oopehanska-Drossel zu
lieben und dem Schrei der Hinakaga (Eule) zu mißtrauen,
den die Ojibway, ihre Feinde, so täuschend nachahmten.
Der Onkel half weiter mit seiner Erziehung und
suchte vor allem die stoischen Eigenschaften der Indianer
in seinem jungen Neffen früh zu entwickeln, denn
Dr. Eastman sagt, daß die allgemeine Ansicht, die diese
Eigenschaften aus Instinkt oder Vererbung bei den
Indianern erklärt, falsch sei, und daß aller Stoizismus, alle
Geduld und Ausdauer anerzogen und durch fortwährende
praktische Übungen erworben werden müßten. Er er-
zählt von den häufigen und langen Fasten, die er schon
als Kind durchzumachen hatte, von den gefürchteten,
aber häufigen Aufträgen, die er in der Dunkelheit im
Walde für den Onkel auszuführen hatte, wobei er auch
das Fürchten verlernte, und von den frühen Weckrufen
durch das Abschießen einer Flinte über seinem Kopfe
oder dem nachgeahmten Kriegsruf von Feinden. Und
wehe, wenn der geweckte Knabe nicht schnell und furcht-
los aufsprang und nach seiner Waffe griff, die immer
bereit liegen mußte.
Körperliche Strafen zwar drohten nicht, wenn das
kindische Herz sich verriet, aber Spott und Verachtung
wären die mehr gefürchteten Folgen gewesen. Auch
von langen Jagdzügen weiß Dr. Eastman zu erzählen,
auf denen er als Knabe seinen Onkel begleiten durfte, auf
Büffel und Grizzlies, die es damals noch in großer Zahl
gab, und wobei Ohiyesa alle Freuden des freien Lebens
in und mit der Natur kennen und lieben lernte.
Mit acht Jahren lehrte ihn Uncheedah, dem großen
Gotte sein erstes Opfer zu bringen. Und das bedeutete
für Ohiyesa viel, denn er mußte sich von dem liebsten,
was er hatte, trennen, um es dem großen Geiste zu
schenken, und das war ÖOhitika, der Hund. Als der
kleine tapfere Krieger alle Vorbereitungen dazu durch-
gemacht hatte und sich dann mit der Großmutter in
Waldeseinsamkeit allein dem großen Geheimnis (the great
mystery) gegenüber fühlte, sprach die alte Frau folgende
Woltereck: Aus dem Leben eines Sioux-Indianers.
Worte: „O großer Geist, wir hören deine Stimme in den
brausenden Wassern unter uns. Wir hören dein Ge-
flüster in den Eichbäumen über uns. Unsere Seele ist
gestärkt durch den Hauch deiner Nähe. O höre unser
Gebet. Sieh herab auf diesen Knaben und segne ihn.
Und mache ihn zu einem tüchtigen Krieger und Jäger,
wozu du seinem Vater und Großvater geholfen hast.“
Aber die Zukunft Ohiyesas gestaltete sich anders.
Sein Vater Many Lightnings, von dem das Kind jahrelang
nichts gehört hatte, nicht einmal wußte, ob er die blutigen
Indianeraufstände überlebt hatte, war während seiner
Gefangenschaft unter christlichen Einfluß gekommen;
er hatte sich taufen lassen und seinen stolzen Indianer-
namen als Christ mit dem einfachen Namen Jakob East-
man vertauscht. Als die Familie dann wieder vereinigt
war, wünschte der Vater alle seine Kinder für die neue
Lehre und Zivilisation zu gewinnen, was ihm auch mehr
oder weniger schnell bei seinen älteren Söhnen gelang. Nur
Öhiyesa versuchte sich länger dagegen zu wehren.
Nach dem freien Leben beim Onkel konnte er sich
erst gar nicht an die neue Lebensweise und die anderen
Lebensanschauungen des ihm fremd gewordenen Vaters
gewöhnen. Er mußte nun in einem Blockhause schlafen,
anstatt in einem Zelte aus Büffelhaut, und auch die
geliebte Jagd und den Fischfang hatte der Vater mit
Ackerbau und Viehzucht vertauscht. Seine Großmutter,
die mit ihm zurückgekommen war, war in dieser Zeit die
einzige, die den armen Jungen verstand. Aber auch sie
mußte sich äußerlich fügen, obwohl sie nach wie vor die
Weise ihres Volkes für die beste hielt.
Bald kam nun das erste Schuljahr in einer kleinen
benachbarten Stationsschule, wohin Ohiyesa täglich sein
flinkes Pony tragen mußte. Vergeblich waren die
inneren Kämpfe um die Rettung alter Indianerideale,
Gehorsam und Ehrfurcht gegen das Alter, andere
Indianertugenden, die der Knabe bei seinem Onkel ge-
lernt hatte, blieben schließlich Sieger. Er mußte sich
fügen und auf die Schulbank.
Ergötzlich und rührend sind die ersten Eindrücke, die
der schon 15jährige von dem Leben des weißen Mannes
erhielt, und wovon Dr. Eastman auch so fesselnd zu er-
zählen weiß. Weitere Jahre auf der Missionsschule von
Dr. Riggs, einem Vorkämpfer auf dem Gebiete sozialer
und rechtlicher Reform für die Indianer, folgten, und hier
erst begann der eigentliche Unterricht in der verhaßten
Sprache der Weißen. Aber der persönliche Einfluß
des tüchtigen Lehrers, der sich bald für den be-
gabten Sioux interessierte, half dabei, und durch ihn
lernte Ohiyesa nach und nach an die Berechtigung der
Zivilisation glauben.
Durch das Fürwort von Dr. Riggs wurde dem viel-
versprechenden jungen Indianer eine weitere College-
erziehung zuteil, zunächst auf dem Beloit College, dann
im Dartmouth College, das er 1887 nach Erlangung des
Grades als Bachelor of Arts (B. A.) verließ, um nun mit
der Berechtigung zu einem Spezialstudium in Boston
Medizin zu studieren. Und auch hier bestand er seine
Examina mit Auszeichnung.
Nach Abschluß der Universitätsjahre wurde dem jungen
Eastman sofort von der Regierung die Stelle eines staat-
lich besoldeten Arztes auf der Pine Ridge Agency
(Dakota) inmitten wichtiger Indianer - Reservationen
angeboten, wo er besser als ein Weißer helfen konnte.
Denn ärztliche Hilfe war damals wie auch noch heute
dringend nötig, da seit der Veränderung der Lebens-
bedingungen der tückische Feind des roten Volkes, die
Tuberkulose, ganze Stämme auszurotten droht. Drei
Jahre füllte er dies Amt aus, dann wurde er zum Sekretär
des Bundes christlicher junger Männer (Y. M. C. A.) er-
129
nannt und hatte als solcher bis 1894 einen großen Teil
der indianischen männlichen Jugend unter seinem Einfluß.
In dieser Stellung mußte er viel reisen und Vorträge
halten, deshalb vertauschte er nach einigen Jahren die
anstrengende Tätigkeit mit der eines staatlichen
Anwalts der Santee-Sioux in Washington.
Seit 1900 ist er im Archiv der indianischen Abteilung
in Washington beschäftigt und hat das ganze ungeheure
Gebiet der Siouxstämme zu bearbeiten. Er verlegte aber
bald unter Beibehaltung seines Amtes den Wohnsitz
nach der kleinen Universitätstadt Amherst, Mass., und
lebt dort jetzt noch als angesehener Beamter und Schrift-
steller.
Aber erst in den letzten Jahren hat er Zeit gefunden,
sich auch literarisch zu beschäftigen und von dem eigen-
artigen Leben seines Volkes zu berichten, mit dem seine
Jugenderinnerungen so eng verknüpft sind. Diese Kennt-
nisse hat er häufig durch längeren Aufenthalt auf den
Reservationen amtlich und nicht amtlich aufgefrischt;
er kennt viele der berühmtesten Häuptlinge und besten
„Geschichtenerzähler“ (story-tellers) persönlich?) und hat
durch sie erfahren, was niemals ein Weißer hören würde.
Deshalb gilt er als der „bei weitem beste und fähigste“
Darsteller der Sioux, ihres Charakters und ihres Lebens.
Außerdem kennt er viele andere Stämme, denn die Zivili-
sation hat bei ihm nicht die Liebe und Sympathie für
sein Volk verdrängt. Noch jetzt kehrt er alljährlich auf
einige Wochen in die Freiheit der Wälder zurück, be-
sucht seine alten Freunde und läßt sich von ihnen aus
der ruhmreichen Vergangenheit ihrer Stämme erzählen.
Dr. Eastmans erstes Buch: „Aus den Kinderjahren
eines Indianers“ (Indian Boyhood) erschien im Jahre
1902 und hat seitdem schon verschiedene Auflagen er-
lebt. Zwei Jahre später veröffentlichte er: „Rote Jäger
und das Volk der Tiere“ (Red Hunters and the Animal
People), Skizzen in Buchform, die ebenfalls sehr günstig
aufgenommen sind.
Auch als Redner hat sich Dr. Eastman während der
letzten Jahre in vielen Städten Freunde erworben, die mit
Interesse seinen Vorträgen über indianische Eigenart
und Gebräuche folgen.
Seit 1891 ist er mit Miss Elaine Goodale verheiratet,
einer talentvollen Amerikanerin aus alter, neuenglischer
Familie, die sich schon vor der Heirat einen literarischen
Namen gemacht hatte. Als 15jähriges Mädchen hatte
sie ihren ersten Band Gedichte herausgegeben und von
sich reden gemacht. Dann war sie für soziale Arbeit
auf dem damals noch sehr öden Felde der Indianer-
erziehung gewonnen. Sie unterrichtete einige Jahre auf
einer Reservationsschule, lebte eine Zeitlang ganz unter
den Indianern, um Sitten und Charaktereigentümlich-
keiten zu studieren, und wußte sich in solchem Maße ihr
Vertrauen zu erwerben, daß sie einst auf einen längeren
Jagdzug mitgenommen wurde, was selten Weißen, noch
seltener weißen Frauen zuteil geworden ist. Sie hat
darauf vielerlei über ihre Erfahrungen veröffentlicht und
mit dazu beigetragen, den Haß und die Verachtung der
Weißen gegen ihre überwundenen Feinde zu mildern und
bei manchen ein werktätiges Interesse zu erwecken.
Seit ihrer Heirat mit Dr. Eastman führt sie als Gattin
und Mutter ein nicht minder tätiges Leben, da sie neben
häuslichen Verpflichtungen nach wie vor, jetzt in gemein-
samer Arbeit mit ihrem Manne, die Erziehung und da-
durch die Zukunft des indianischen Volkes zu heben
versucht. Von beiden erhofft man noch manche
2?) Der Geschichtenerzähler hat bei den Indianern so wie
bei vielen orientalischen Völkern eine besonders geachtete
Stellung.
130
Tordays Reisen im südlichen Kongobecken. — Kleine Nachrichten.
literarische Arbeit, die gewiß zu einer immer besseren
Lösung der Indianerfrage in den Vereinigten Staaten
beitragen wird.
Aus einem Gespräch mit Dr. Eastman könnten viel-
leicht folgende seiner Bemerkungen von allgemeinem
Interesse sein. Er sagte u. a. über die heutige Indianer-
frage: Der Indianer muß notwendigerweise in dem
Amerikaner aufgehen, aber es wäregut, wenn die starken
Charakteranlagen und Eigentümlichkeiten der roten
Rasse in dem neuen Leben bewahrt und weiter entwickelt
werden könnten. Der Indianer ist heute nicht mehr der-
selbe wie vor 30, und noch weniger wie vor 100 Jahren.
Scheinbar allerdings entwickelt er sich langsam durch
die Zivilisierung, aber er verändert sich doch stetig.
Das ist dem Indianer selbst ganz klar; denn seine
religiösen Ideen und auch seine Lebensanschauungen
haben sich ganz bedeutend verändert, seitdem er auf
den Reservationen lebt. K. Woltereck.
Tordays Reisen im südlichen Kongobecken.
Schon mehrfach ist hier von den Reisen die Rede gewesen,
die E. Torday in Begleitung von Hilton Simpson und Norman
H. Hardy vom Oktober 1907 bis September 1909 in den
Ländern am Unterlauf von Kasai, Sankurru und Kwilu
ausgeführt hat, und deren Ergebnisse sowohl auf geographi-
schem, als auch, und hauptsächlich, auf ethnologischem
Gebiete liegen. Jetzt finden wir einen Bericht Tordays nebst
einer übersichtlichen Kartenskizze und 14 Abbildungen im
Juliheft des Geogr. Journals von 1910 (8.26—53), der uns
Veranlassung gibt, auf die Reise nochmals zurückzukommen.
Der Charakter der Landschaften an jenen Flüssen ist
ziemlich einförmig: welliges Grasland mit Gallerie- Wäldern
an den Flüssen, über große Flächen hin gut kultiviert, im
Nordosten begrenzt und streckenweise durchzogen vom Kongo-
Urwald; nur im Westen, am Oberlauf des Kwilu, erhebt sich
ein über 600m hohes Plateau, das weiter im Süden in ein
anmutiges Hügelgelände übergeht. Im Vergleich mit den
bisherigen Karten sind die Gegenden zwischen dem Sankurru
und dem Lukenje von ungemein zahlreichen Rinnsalen durch-
schnitten (bis zum 3. Grad südl. Br.); auch erstreckt sich der
Oberlauf des Lukenje viel weiter nach Osten, nämlich bis über
den 29. Grad östl. L. Von den Niederlassungen der Eingebore-
nen erscheint besonders die Stadt Lusambo am Sankurru be-
merkenswert; sie zählt an 40000 Einwohner und ist ein
Sammelplatz der verschiedensten innerafrikanischen Stämme,
überdies ein Zufluchtsort von allem möglichen schwarzen
Gesindel.
Eine der interessantesten unter den ziemlich gleichartigen
Völkerschaften sind die (sonst als Bakuba bekannten) Bu-
schongo, seßhaft zwischen dem Kasai und Sankurru, welche
sich mit den Basongo Meno und Baluba zu einer nationalen
Einheit verschmolzen haben. Sie sind sich einer auf mehrere
Jahrhunderte zurückreichenden Vergangenheit bewußt und
rühmen sich, weit vom Norden her, wahrscheinlich aus dem
Quellgebiet des Schari, eingewandert zu sein; sie vermögen
eine ununterbrochene Reihenfolge von 121 Herrschern anzu-
geben. Im 16. Jahrhundert standen sie auf dem Gipfel ihrer
Macht und kulturellen Entwickelung. Ein weiser König
thronte über dem Volk, beraten und geleitet von einer Art
Parlament, in welchem die höchsten Militärs und Staats-
beamten, selbst Frauen und Sklaven Sitz und Stimme hatten.
Nirgends, außer in Ägypten, bestand in Afrika ein so voll-
kommen organisiertes Reich, und nirgends erreichten die
Sittengesetze eine solche ideale Ausbildung. Ist auch jetzt
die ehemalige Herrlichkeit und Macht ziemlich in Verfall
geraten, so besteht doch noch unter dem gegenwärtigen Häupt-
ling ein wohlgeordnetes Staatswesen. Die Bevölkerung beweist
ein besonderes künstlerisches Geschick in allerlei Handwerk, in
Stickerei und Holzschnitzerei. Weder europäische Gewänder
noch Waffen haben Eingang gefunden. Die Hütten sind
rechteckig gebaut, die Wände mit hübschen Malereien ver-
ziert. Die Religion der Buschongo enthält eine durchdachte
Kosmogonie; sie glauben an einen Gott als Weltschöpfer, der
vornehmlich auch ihre Könige geschaffen hat. Bezeichnender-
weise wird er als übernatürliches Wesen von weißer Hautfarbe
gedacht. Man bringt ihm weder Opfer noch betet man ihn
an. Bei einzelnen Stämmen existiert auch der Glaube an
Seelenwanderung. Überall aber herrscht ein hoher Grad von
Sittlichkeitsgefühl, welches selbst den gebildetsten Europäer
in Erstaunen versetzt.
Unter den Buschongo lebt ein fremdartiges Zwergvolk,
das in zwei merklich verschiedene Gruppen zerfällt. Es bleibt
pygmäenhaft, solange es im Verfolgen der jagdbaren Tiere
zeitlebens in den Urwäldern sich herumtreibt; dagegen nähert
es sich schon in der zweiten Generation dem hohen Wuchs
der Buschongo, sobald es seßhaft wird und mit dem Acker-
bau sich beschäftigt. Eine etwaige Vermischung mit jenen
ist ausgeschlossen, wie man Torday versicherte. Dieser zieht
daher sofort den wohl etwas gewagten Schluß, daß die Haupt-
faktoren der körperlichen Veränderung bei dieser Zwergvolk-
gattung in dem zu neuer und stetiger Gewohnheit gewordenen
Aufenthalt in freier, sonniger Luft und in der Regelmäßigkeit
der Lebensweise gesucht werden müssen. Jedenfalls hat man
die Pygmäen als die Ureinwohner zu betrachten; denn die
Lichtung der Wälder zum Zweck des Ackerbaues haben ein-
wandernde Stämme besorgt, wie die Akela, nördlich vom
Lukenje, die südlich angrenzenden Bankutu und die zwischen
dem Lukenje und dem oberen Sankurru wohnenden Batetela.
Noch in neuester Zeit drängen auch von Süden her in das
Gebiet zwischen dem Kwilu und Loange die rührigen Badjok
(die Kioko Angolas). Der europäische Einfluß hat sich, jedoch
nur in bezug auf Bekleidung und nur vereinzelt längs der
Ufer des Kasai und des Sankurru geltend gemacht; Feuer-
gewehre sind allein bei den Badjok im Gebrauch. Alle übrigen
Stämme erhalten sich ihre Ursprünglichkeit; selbst dem Kanni-
balismus sind noch die Bankutu im Nordosten und (bis vor
kurzem) die Batetela im Osten und die Bambala und Bapende im
Südwesten (zwischen dem Kwilu und Loange) ergeben. Den
zähesten Widerstand gegen das Eindringen der Weißen leisten
die kriegerischen Stämme der Bakongo und Baschitele (südlich
von der Mündung des Sankurru in den Kasai) und die Bankutu
(nördlich vom Oberlauf des Lukenje).
Torday macht im Schlußwort zu seinen ethnographischen
Schilderungen und Betrachtungen folgende immerhin beachtens-
werte Bemerkung, hauptsächlich mit Rücksicht auf den einst
merkwürdig hochentwickelten Kulturzustand der Buschongo.
„Wie kam es, daß ein ohne fremde Einwirkung zu ver-
ständiger politischer Bildung aufwärts strebendes Volk in dem
erreichten hohen Kulturzustand nicht nur nicht verharrte,
sondern sogar ihn allmählich ganz verkümmern ließ? Die von
Europa nach Afrika einfiltrierte Zivilisation stiftet nur lücken-
haften Nutzen. Der Neger muß, will er neben der weißen
Rasse seinen Platz in der Welt behaupten, aus eigener Kraft
eine ihm eigentümliche Kultur sich erringen. Wäre es da
nicht unsere Pflicht als Europäer, ihm über die Schwierig-
keiten der Zivilisierung mit Verständnis und Nachsicht hin-
wegzuhelfen? Aber das können wir nur, wenn wir sowohl
seine früheren als auch seine gegenwärtigen materiellen und
psychologischen Verhältnisse sorgfältig und gewissenhaft er-
forschen.“ B. F.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Eine Riesenhöhle ist in Deutsch-Ostafrika im
Berge Nangoma (Matumbiberge im Bezirk Kilwa, eine Stunde
südlich von Nandembo) im August 1909 durch den Polizei-
wachtmeister Weckauf entdeckt worden. Im Februar 1910
hat sie der Missionar Ambros Mayer zusammen mit Weck-
auf von neuem besucht und einer vorläufigen Untersuchung
unterzogen, worüber im „Kolonialblatt“ vom 1. August d. J.
berichtet wird. Der Zugang hat eine Weite von 43 und eine
Höhe von 21m und die ganze Höhle eine Gesamtlänge von
329 m. Bornhardt charakterisiert sie als eine „Schlauchhöhle
im Kalkgebirge mit Einsturztrichter am oberen Ende, die
durch Wasserwirkung entstanden ist“. Der Zugang liegt im
Urwald versteckt, und die Eingeborenen, die Matumbi, waren
bemüht, die Existenz der Höhle vor den Weißen geheim zu
halten. Weckauf hat sie denn auch nur zufällig gefunden.
Die Höhle kann mehreren tausend Menschen ein Versteck
bieten und hat als solches auch im Aufstand von 1905/06
eine Rolle gespielt. Ahnungslos marschierten die Truppen
Kleine Nachrichten. 131
damals durch das menschenleere Land, dessen Bewohner sich
dort in Sicherheit gebracht hatten. Hierin waren sie be-
günstigt worden durch einen in der Höhle befindlichen
Brunnen mit reichlichem Wasser. Die ganze Höhlensohle
war mit dem seit undenklichen Zeiten angesammelten Unrat
der zahllosen dort hausenden Fledermäuse bedeckt, und als
Zeichen der Anwesenheit von Menschen in neuerer Zeit, näm-
lich während jenes Aufstandes, fanden sich im mittleren Teil
überall Spuren von Feuerstellen und Speiseabfälle. Mayer
meint nicht mit Unrecht, daß eine gründliche Untersuchung
des Bodens wohl auch Reste aus der Vorzeit, prähistorische
Funde, zutage fördern möchte, und so wäre eine solche
Untersuchung — etwa mit pekuniärer Unterstützung des
Kolonialamts — wohl geboten. — Die Höhle heißt wie der
Berg Nangoma.
— Über die von W. Filchner geplante Südpolar-
expedition ist weiterhin folgendes zu berichten: Filchner
ist im Juli in England und Schottland gewesen und hat sich
mit den Leitern des jetzigen englischen und künftigen
schottischen Unternehmens, Scott und Bruce, persönlich von
neuem ins Benehmen gesetzt. Ein Einverständnis ist um so
leichter erzielt worden, als der Südpol, den sowohl die Eng-
länder wie dieSchotten erstreben, nicht zu Filchners Forschungs-
programm gehört. Mit Bruce ist ein Übereinkommen dahin
getroffen worden, daß der 20. Grad w. L., der Coatsland
schneidet, die ungefähre Scheidegrenze der deutschen und
der schottischen Expedition bilden soll: was westlich liegt,
soll Filchners, was östlich liegt, Bruces Arbeitsfeld sein. Auf-
gegeben hat Filchner seinen Erweiterungsplan, der dahin
ging, ein zweites Schiff nach dem Roßmeer zu entsenden,
von dem aus für die vom Weddellmeer kommende Haupt-
abteilung Vorratsdepots landeinwärts vorgeschoben werden
sollten. Im Juli und August hat Filchner eine „Ubungsfahrt“
nach Spitzbergen ausgeführt.
— Knud Rasmussen hat Mitte Juli seine große, für
mehrere Jahre berechnete Expedition nach dem polaren
Amerika zum Studium der Eskimostämme angetreten, und
zwar auf einem eigenen Schiffe. Es begleitet ihn der Arzt
P. Freuchen, der sich auch den naturwissenschaftlichen
Fächern widmen soll. Zunächst will Rasmussen bei Kap
York an der Melvillebucht eine Handelsstation begründen,
die den schwer um ihre Existenz kämpfenden Smithsund-
Eskimos Gelegenheit geben soll, für ihre Waren (Felle) zweck-
mäßige moderne Fanggeräte einzutauschen. Es heißt, daß
Rasmussen auf dieser Station drei Jahre bleiben und dann
erst die westlichen Eskimos aufsuchen will.
— Auch die Japaner wollen sich an der Südpolar-
forschung beteiligen, und zwar als Konkurrenten der eng-
lischen Expedition unter Scott; denn sie wollen versuchen,
eher den Südpol zu erreichen als dieser. So liest man
wenigstens in den Meldungen der Tagespresse aus Yokohama.
Es heißt dort weiter, daß der Leiter des Unternehmens der
Leutnant Schirase, der Führer des Schiffes Kapitän
Nomura sei; die Bemapnung des Schiffes werde 15 Personen
betragen, der wissenschaftliche Stab 10 Mitglieder zählen;
am McMurdosund werde überwintert werden, dieser werde
also auch der Ausgangspunkt für die Schlittenreise zum Süd-
pol sein; das Expeditionsschiff sei ein Schoner von 200; der
Aufbruch solle am 1. August d. J. erfolgen, die Ankunft
am MeMurdosund um den 1. November; die auf 41000 Yen
(etwa 110000 ) berechneten Kosten seien vom Parlament
bewilligt worden; zur Ausrüstung gehörten unter anderem
auch mandschurische Pferde.
Wir nehmen von diesen Nachrichten hier Notiz, glauben
aber vorläufig, daß diese japanische Suppe wohl nicht so
heiß gegessen werden wird, wie sie gekocht erscheint. Aus
den angegebenen Daten und aus der Absicht, den Engländern
zuvorzukommen, dürfte hervorgehen, daß Schirase gleich
nach seiner Ankunft auf Victorialand, Anfang November d. J.,
den Schlittenvorstoß zum Südpol wagen will, also ein Jahr
vor Scott. Ob das aber möglich sein wird, ist recht fraglich.
Überdies ist nichts davon zu hören gewesen, daß die Expedition
am 1. August auch wirklich aufgebrochen ist. Die Summe
von 110000 46 erscheint sehr klein, selbst für das ja sehr
billig arbeitende Japan. In Widerspruch mit der Meldung,
daß diese für genügend gehaltenen Mittel bereits bewilligt,
also vorhanden seien, steht übrigens eine andere, daß sich
ein Komitee zur „Unterstützung“ der Expedition gebildet habe.
— Als das Datum des Beginns der großen Nordpolar-
expedition R. Amundsens kann man wohl den 13. Juni
auffassen; denn an diesem Tage verließ sein Schiff „Fram“
Christiania. Freilich wird die eigentliche Polarreise, die Treib-
fahrt durch das Polarbecken von Point Barrow aus, erst ein
Jahr später, im Juli oder August 1911, beginnen; denn vor-
auf geht ihr die lange Fahrt um die Südspitze Südamerikas
und durch den Großen Ozean nach San Francisco, die ozeano-
graphischen und magnetischen Studien gewidmet sein wird.
Außerdem ist zunächst eine Kreuzfahrt durch den nord-
atlantischen Ozean unternommen worden, gleichzeitig mit
Nansen, der im Juli mit dem norwegischen Kanonenboot
„Frithjof“ zwecks Golfstrom - Forschungen eine Fahrt von
Nordirland nach Grönland und über Ostisland nach Norwegen
zurück ausgeführt hat. Die gleichzeitige Rout® Amundsens
war Ohristiania—Kanal—Südirland—Orkneys—Bergen—Chri-
stiansand. Hier in Christiansand war Amundsen in der
ersten Augusthälfte eingetroffen, und er nahm hier seine Vor-
räte and Hunde an Bord. Dann sollte die Reise um Amerika an-
getreten werden. Die Drift durch das Polarbecken, deren wissen-
schaftlicher Zweck vorwiegend in ozeanographischen Arbeiten
aller Art besteht, ist auf vier bis fünf Jahre veranschlagt,
das Schiff ist indessen auf sieben Jahre ausgerüstet. Die
Zahl der Teilnehmer an der Driftfahrt ist auf 14 bemessen,
die übrigen werden vor deren Beginn heimkehren.
Der „Fram“ ist vorher einem gründlichen Umbau unter-
zogen worden, und es ist da auf seine Aufgaben sowohl wie
auf die Sicherung der Bequemlichkeit und des Wohlbefindens
der Teilnehmer das größtmögliche Gewicht gelegt worden.
An die Stelle der bisherigen Dampfmaschine ist ein Petro-
leummotor von 180 Pferdekräften getreten.
— Der am 2. April bei Niery in Dar-Tama ermordete
englische Afrikareisende Boyd Alexander (vgl. Bd. 97,
8.370) ist ein Opfer seines Wagemutes gewesen. Bekanntlich
sind die Franzosen noch heute nicht völlig Herren in dem
vor Jahresfrist besetzten Wadai, und zur Zeit, als Alexander
in Abescher weilte, waren sie es erst recht nicht. Dar-Tama
gehörte zu den Gebieten Wadais, wo sich der Bevölkerung
seit dem für die französischen -Truppen so verhängnisvollen
Kampfe am Bir-Tauil eine große europäerfeindliche Bewegung
bemächtigt hatte. Der französische Resident in Abescher,
wo Alexander Mitte März angelangt war, wußte das und
widersetzte sich deshalb Alexanders Plänen, der durch Dar-
Tama nach Dar-For zu reisen vorhatte. Alexander aber —
so lautet die französische Darstellung — setzte sich über
diesen Widerstand hinweg und brach auf, ohne dem Residenten
Nachricht zu geben. Er bezahlte das mit dem Tode.
— Von T. G. Longstaffs vorjähriger Reise in das
Karakoramgebirge ist im Globus mehrfach die Rede ge-
wesen. Es sei nun noch erwähnt, daß sein ausführlicher
Bericht mit der zum völligen Verständnis notwendigen Karte
im diesjährigen Juniheft des Londoner „Geogr. Journ.“ er-
schienen ist, und daß er als die Hauptresultate seiner Reise
die folgenden betrachtet: Die Entdeckung des Saltoropasses,
die Festlegung der Wasserscheide im östlichen Karakoram,
die Entdeckung des größten asiatischen Gletschers, des Siachen,
und die des Piks Teram Kangri, dessen Höhe er trigonome-
trisch auf 27500 Fuß ermittelt hat. 27500 engl. Fuß sind
8390 m. Longstaff meint, daß seine Messung schwerlich ganz
genau sei, und hält es nicht für unmöglich, daß der Teram
Kangri der höchste Berg der Erde sei. Als solcher gilt
heute der Mount Everest mit 8840 m. Sollte also Longstaffs
Vermutung sich in der Tat als richtig erweisen, so wäre seine
Messung freilich höchst ungenau.
— J. G. Granö hat in den Jahren 1905 bis 1909 vier Reisen
in die Nordwestmongolei und nach den südsibiri-
schen Grenzgebirgen unternommen, hauptsächlich um die
eiszeitlichen Ablagerungen dort zu studieren, und be-
richtet nun in einem umfangreichen Band, der mit einer
größeren Anzahl von Abbildungen, Profilen und Kartenskizzen
ausgestattet ist, über die Ergebnisse (Fennia 28, Nr. 5, Helsing-
fors 1910). Gegenüber den heute noch in der wissenschaft-
lichen Literatur bisweilen vertretenen Ansichten, es sei in den
Grenzgebirgen der zentralasiatischen Wüsten nie eine größere
Ausdehnung der Gletscher vorhanden gewesen, oder es seien
in jenen Berggegenden nur unbedeutende, örtlich sehr be-
schränkte Gletscher von größerem Umfang vorgekommen,
führt er den Nachweis, daß in allen Berggegenden Zentral-
asiens in geologisch junger Zeit eine Eiszeit eingetreten ist,
die in bezug auf das Aussehen der heutigen Gegend und auf
die entstandenen glazialen und fluvioglazialen Ablagerungen
dieselben Folgen gehabt hat, wie die Vereisungen Europas
und Nordamerikas. Das Firngebiet erreichte seine größte
Ausdehnung an der Grenze der Nordwestmongolei und
Sibiriens, hier bildeten die Eisfelder, wie der Verfasser zeigen
konnte, eine mehrere 100km lange und wenigstens stellen-
weise etwa 100km breite zusammenhängende Decke. Die
132 Kleine Nachrichten.
Grenze der Vereisung lag damals, wie unzweifelhafte End-
moränen bezeugen, 1000 bis 1500 m tiefer als heute. Im Russi-
schen Altai konnten außerdem noch zwei Endmoränenhori-
zonte festgestellt werden, die Stillstandslagen bei dem
Rückgang der Vereisung entsprechen; sie liegen 1000 m und
400 m unterhalb der heutigen Gletschergrenze. Gr.
— Die koreanische Seidenindustrie. Die Zucht der
Seidenraupe war in Japan zu Beginn seiner Geschichte nicht
bekannt, die ersten Versuche damit scheinen dort vielmehr
erst im 4. nachchristlichen Jahrhundert, zur Zeit des 16. Mi-
kado Nintoku (311 bis 399), gemacht worden zu sein, und zwar
infolge der Beziehungen zu Korea. Man geht also wohl nicht
fehl in der Annahme, daß die Seidenraupenzucht damals in
Korea geblüht hat, und muß sich darüber wundern, daß sie
nachmals fast ganz in Vergessenheit und in neuerer Zeit ganz
in Verfall geraten war. Die Frage wird von M. Le Boulanger
in „A travers le Monde“ vom 18. Juni d. J. besprochen, und
es finden sich da auch Mitteilungen über die neuen Bestrebungen,
die alte Industrie wieder zu beleben.
Das Klima Koreas ist sehr trocken, und dieser Umstand
müßte die Seidenraupenzucht bezünstigen. Diese Trockenheit
begünstigt allerdings auch das Auftreten zahlreicher Para-
siten, die für die Seidenzüchter eine Geißel sind. Aber diese
bilden auch die Verzweiflung der Seidenzüchter in Japan,
denen infolgedessen ein jährlicher Schaden von 15 Millionen
Yen zu erwachsen pflegt, und trotzdem ist Japan nicht weniger
ein Seidenland geblieben. In Korea wie in Japan ließen sich
solche Verluste überdies durch eine sorgfältige Kultur aus-
gleichen. Man hat dann gemeint, daß an dem Verfall der
koreanischen Seidenzucht die unwissende, indolente und aber-
gläubische Bevölkerung die Schuld haben könnte. Wie vor 1'/,
oder 2 Jahrtausenden, so zieht der Koreaner noch heute die
Seidenraupe in elenden, schlecht erleuchteten und ventilierten
Häusern, und trotzdem sind die Kokons, die er erhält, von
verhältnismäßig guter Qualität, wenn auch sehr wenig zahl-
reich. Wenn also die verbesserten Methoden des Westens
und Japans in Korea Eingang fänden, so würde sich hier
der Ertrag auf das Fünffache oder gar Zehnfache steigern lassen.
Jetzt scheint man dem Verfall ernstlich Einhalt zu tun.
Seit 1906 ist in der Produktion der Beginn eines Fortschritts
zu bemerken; denn in den letzten vier Jahren ist die Ausbeute
von 5 auf 11 Millionen Liter Kokons gestiegen. Aber das ist
nicht das Verdienst der Koreaner, sondern der japanischen
Regierung und der japanischen Einwanderer. Der japanische
Direktor des Kulturbureaus in Korea, Nakamura, hat jüngst
versichert, daß Japan die Pflege der Seidenzucht auf der Halb-
insel sich ganz besonders werde angelegen sein lassen, und
so sind denn auch in diesem Jahre Maßnahmen getroffen
worden, für die Kultur des Maulbeerbaumes im Großen ge-
eignete Landstriche zu bepflanzen. Die Bodenpreise sind ge-
ringfügig, und die Arbeitskräfte kosten fast nichts. So nimmt
die Einwanderung praktisch wohlerfahrener japanischer Seiden-
züchter immer mehr zu. Die japanische Regierung will sie
in jeder Weise, auch pekuniär, unterstützen und hat auch
jüngst in Söul eine Musteranstalt errichtet, die in vollem Be-
triebe steht und von einer Gruppe japanischer und koreanischer
Damen geleitet wird. Ihr Zweck ist, auch die Eingeborenen
an moderne Seidenzuchtmethoden zu gewöhnen. Die Japaner
rechnen darauf, in kurzer Zeit mehr als 100 Millionen Yen
aus der koreanischen Seidenzucht zu ziehen und eine beträcht-
liche Masse Rohseide auf den internationalen Seidenmarkt
werfen zu können. Eine neue Art „gelber Gefahr“, meint
Le Boulanger, die speziell die französischen Seidenbauer be-
droht.
— Überdievonihmentdeckten Höhlenzeichnungen und
-malereien im Senegal-Nigergebiet (vgl. Bd. 97, S. 386)
sendet uns Fr. de Zeltner nähere Mitteilungen (aus den Sit-
zungsberichten der Pariser Akademie der Wissenschaften). Es
handelt sich um fünf Höhlen, deren Zeichnungen in mehreren
Einzelheiten mit denen der französischen und spanischen Höhlen
übereinstimmen oder sich von diesen unterscheiden. Während
prähistorische Fundstätten sonst am Ufer und auf dem Niveau
von Wasserläufen liegen, finden sich diese immer in einer
gewissen Höhe über dem heutigen Stand der Gewässer. Stets
sind ferner die Zeichnungen usw. im vorderen Teil der Höhlen
angebracht, dort, wo sie weit offen und hell sind, so daß die
Künstler keine künstliche Beleuchtung brauchten. Dann finden
sie sich regelmäßig an leicht mit der Hand zu erreichenden
Stellen. Diese niedrige Lage ist den Zeichnungen mitunter
sogar schädlich gewesen, sie sind dadurch abgenutzt, daß sich
offenbar Leute an die Wand gelehnt haben. Als Färbemittel
sind verwendet: Roter Ocker, Indigoblau, Schwarz und — selten
— eine weiße Farbe unbekannter Herkunft.
Höhle 1 liegt am Wege Bamako—Kuluba in halber Höhe
einer Felsklippe. Ihre Zeichnungen, sämtlich geometrisch,
sind mit rotem Ocker hergestellt, in gleicher Größe; es sind
Menschen, Pferde und Reiter. Große Flächen sind punktiert.
Man sieht auch von Dreieckszeichnungen gekreuzte Kreise.
Bestimmte Anordnung oder Beziehungen der gezeichneten
Gruppen zueinander sind nicht zu erkennen. Diejenigen Be-
wohner von Bamako, die von den Figuren wissen, halten sie
für „alt“, aber bedeutungslos, Grabungen in der Höhle förderten
nichts von Bedeutung zutage.
Höhle 2 findet sich bei dem kleinen Dorfe Boko in der
Nähe von Kita. Der rosafarbene Sandstein, in dem sie liegt,
hat ein sehr feines Korn, was die Herstellung sehr sauberer
mit Ocker gezeichneter Figuren ermöglicht hat. Die meisten
sind über die fast horizontale Decke verteilt; sie stellen Zeichen
von alphabetischer Art, auch einige Männer und Tiere dar.
Die eingeborenen Malinke nennen sie Sebe, d.h. Schrift, und
schreiben sie den Niamara, den ersten Menschen, heute ver-
schwundenen Riesen zu.
Die Zeichnungen der Höhle 3, aus rotem Ocker, zeigen
neben tierähnlichen Darstellungen verschiedene andere Figuren,
deren Inneres in Abteilungen geteilt zu sein scheint und eine
darin eingeschlossene Punktierung zeigt. Die Ähnlichkeit mit
gewissen Zeichnungen vom Lac des Merveilles ist groß.
Höhle 4 bei dem Dorfe Bondonfo ist die interessanteste,
infolge der Verschiedenheit und Sonderbarkeit der Figuren
und der verwendeten Farben. Da sieht man vor allem eine
Gruppe von sechs Vierfüßlern in Weiß, Maul und Ohren spitz,
der Schwanz lang. Die Größe wechselt zwischen '/ und Im,
die Darstellung ist sehr realistisch. Zwei gleiche, doch kleinere
und rote Tiergestalten finden sich auf der Rückwand. Weiter-
hin sieht man zwei Zeichnungen aus einem breiten weißen,
rot getüpfelten Strich; die eine von der Form eines großen
lateinischen B, die zweite oval mit Strichen im Innern un-
regelmäßig geteilt; ein birnförmiges weißes Zeichen scheint
die Verlängerung zu bilden. Höchst eigentümlich ist eine
Zeichnung am Eingang einer versperrten Seitenhöhle; sie be-
steht aus zwei weißen gekrümmten parallelen Linien von
30cm Länge mit roten und weißen Punkten dazwischen, ober-
und unterhalb. Daneben sieht man einen Handumriß, iden-
tisch mit denen von Gargas und auch mit denen, die die
Schwarzen heute noch machen, indem sie die linke Hand
gegen eine Mauer legen und mit der anderen mit Hirsebrei
herumfahren. Schließlich sind hier etwa hundert, Decken und
Wände durcheinander überdeckende weiße Zeichnungen merk-
würdig, die man am besten mit dem Schwanze eines Fisch-
skeletts vergleichen könnte. Eine Anzahl davon wird von
einer weißen, rot punktierten Linie umschlossen, die nicht in
sie eingreift. An manchen Stellen, auf dunkelm Grunde, hat
man für diese Fizuren ein helles Rosa verwendet.
Höhle 5 liegt ebendort, hat, wie Höhle 4, zwei Ausgänge
und durchbricht einen 50 m hohen isolierten Felsblock. Beide
Enden des so entstandenen Ganges sind mitroten oder schwarzen
Zeichnungen geschmückt. Die roten stellen stilisierte Tiere
dar, die schwarzen die aus Höhle 4 erwähnten im Innern ab-
geteilten Figuren. Unter den Tierfiguren finden sich mehrere,
die offenbar nur einen Tausendfuß darstellen können, und
andere, die bei der Kürze des Schwanzes und der Länge von
Beinen und Hals nur als Kamele zu deuten sind. Eine Figur
erinnert auch an einen beladenen Ochsen. Vor einem der
Eingänge liegt eine horizontale Sandsteinplatte, die mit 35 regel-
mäßig verteilten Näpfchen versehen ist: das erste aus West-
afrika bekannte Vorkommen dieser Art.
Die Kunst dieser Höhlen, so bemerkt De Zeltner am Schluß,
befand sich anscheinend in Verfall oder war ein Überlebsel.
Sie ist heute, nahezu ohne Spuren hinterlassen zu haben, ver-
schwunden. Ausführlich, mit Abbildungen, will De Zeltner
über seinen Fund in „L’Anthropologie“ berichten.
— Auf den von der Deutschen Seewarte herausgegebenen
„Monatskarten für den Indischen Ozean“ waren auf
der Rückseite Darstellungen der mittleren Luft- und Wasser-
temperatur und des mittleren Luftdrucks für die einzelnen
Monate gegeben. Da diese Monatskarten hauptsächlich in
die Hände der schiffahrttreibenden Bevölkerung gelangt sind
und die anderen ähnlichen Darstellungen, soweit sie leichter
erreichbar sind, sich nur auf die extremen Monate beziehen,
hat die Seewarte in sehr dankenswerter Weise die Karten,
wenn auch in etwas verkleinertem Maßstab, in den Annalen
der Hydrographie (1910, Tafel 21 bis 23) zum Abdruck ge-
bracht. Die Karten umfassen nicht nur den Indischen Ozean
selbst, sondern auch die ihn umschließenden Festlandsgebiete
von Afrika, Südasien und Australien; ein erläuternder Text
(8. 145 ff.) erörtert das der Darstellung zugrunde liegende
Material und hebt die Hauptzüge in dem Vergleich der Iso-
baren und Isothermen hervor. Gr.
Verantwortlicher Redakteur:
H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55.
— Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
mm Da un
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr.og.
BRAUNSCHWEIG.
8. September 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Der Verbindungsweg
zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn.
Von Franz Seiner.
Zurzeit Südwestafrika.
Mit 11 Abbildungen nach Aufnahmen des Verfassers.
(Schluß.)
Vom Ostzipfel- des Ngamisees führt ein 60 km langes
Bett, der sogenannte Ngamifluß, zur Tamalakanemündung.
Das Bett hat meist eine 200 m breite Sohle, die Gehänge
sind flach und mit grauem Sande überschüttet, die Fluß-
rinne ist 5 bis 10m breit und löst sich häufig in ovale
Pfannen und Mulden, von denen viele stets Wasser führen,
auf (Abb. 5). Annähernd 10km vor der Einmündung
des Tamalakane werden die Ufer scharf ausgeprägt, und
ist das 400 bis 500 m breite Bett von zusammenhängenden
im Botletle nach Osten ab (Abb. 6). Ungefähr 2km
oberhalb der Einmündung des Tamalakane befindet sich
an einer Furt der Kaufladen eines früher im nördlichen
Damaralande seßhaften schwedischen Händlers, der hier
eifrigst der Herstellung von Stricken aus Sansevierien-
bast obliegt. Die gleiche Hausindustrie ist auch
im Schutzgebiete bei Grootfontein-Nord möglich. Der
vom Tamalakane gespeiste Botletle durchfließt die
zwischen dem Okawango und Makarrikarribecken ge-
Abb. 5.
Phragmitessümpfen erfüllt, dieihr Wasser aus dem letzten
ständig fließenden Abzugskanal des Okawangobeckens,
dem Tamalakane, erhalten. Seit zehn Jahren erreicht das
im Ngamibette südwestwärts dringende Hochwasser den
See nicht mehr, sondern ging nach meiner Beobachtung
nur bis Lekala (20 km nordöstlich des Sees) und zur Zeit
Dr. Pöchs gar nur bis Ma3gnaisa (35 km vom See ent-
fernt). Das grasige Bett wird von den Ochsenwagen
als Fahrstraße benutzt. Der Tamalakane ist an seiner
Einmündung 100m breit und war im Januar 1907, also
bei Mittelstand, 4m tief; sein Wasser füllt zum kleineren
Teil die nächsten 10 km des Ngamibettes und fließt sonst
Globus XCVIIL Nr. 9.
Der Ngamifluß bei Komaning im Januar 1907.
legene Kalaharisteppe in einem 190 km langen, gewun-
denen Laufe, bildet auf dem sandbedeckten Chalze-
donsandstein bis Makala mabele ein Bett mit 1 bis 6km
breiter Talsohle, sowie seichter, flacher Flußrinne; von
Makala mabele an zeigt sich an den sandüberschütteten
Ufergehängen mürber Kalkstein, gleichzeitig verengt sich
das Bett bedeutend, bildet aber erst von Maholi an einen
10 bis 15m tiefen und bis 200m breiten Graben, der
in Sand und Kalk eingegraben ist und in dem sich eine
30 bis 60 m breite Flußrinne dahinwindet. Der Wagen-
weg führt teils im Bette, teils an den Talrändern und in
der angrenzenden Steppe dahin (Abb.8). Die Weide-
18
134 Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn.
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Abb.6. Der Tamalakane unmittelbar an seiner Mündung.
Rechts im Hintergrunde die Abgangsstelle des Ngamiflusses, links jene des Botletle.
verhältnisse im Bette sind schlecht, indem auf dem san-
digen Schlamm saure, zuweilen in der Regenzeit gifthaltige
Abb 7. Ausspannplatz Lilokwalo am Botletle mit den
drei Briefbäumen.
Gräser wachsen. So verlor ich hier anfangs Januar 1907
durch derartige Gräser vier Zugochsen. Das Gefälle von
der Tamalakanemündung (950 m) bis zum
Makarrikarribecken bei Rakops (910 m) be-
trägt 40m. Zur Zeit meiner Bereisung
glich der Fluß auf manchen Strecken einem
schmalen, seichten Wiesenbach mit schwach
strömendem oder stagnierendem Wasser,
während Dr. Pöch ein Jahr später (November
1908) östlich von Tschanocha eine Furt pas-
sierte, die völlig trocken dalag, so daß eine
Verbindung des oberen und unteren Fluß-
laufes fehlte. Am Flusse befindet sich ein
buntes Gemisch von Völkerschaften. Die ur-
sprünglichen Bewohner sind nach Dr. Pöch
Buschmänner, Matete oder Ohé-khoë genannt.
Sehr zahlreich sind die Makuba, die mit den
Majei des Caprivizipfels identisch sind. Die
wichtigste Niederlassung ist das Dorf Tscha-
nocha des bekannten Barolong Peter Sebigo,
der Pflugkultur und sogar Straußenzucht be-
treibt. Außerdem befinden sich am Botletle
als Viehhirten der Betschuanen zahlreiche
Herero; unter diesen mittellosen Viehwächtern
findet man manchen früher wohlhabenden
Kapitän und Grootmann. Als nämlich die
Herero nach dem Entscheidungskampfe am
Waterberg über die britische Grenze geflohen
waren, hatte der Magistrat von Tsau, an-
geblich um allen Eigentumsstreitigkeiten zu
entgehen, angeordnet, daß jeder Herero als
Besitzer des Viehes, das er persönlich über die
Grenze geschafft habe, betrachtet werden
solle. Durch diese Verordnung wurden die
alten Stammesorganisationen, soweit sie noch
bestanden hatten, aufgelöst. Die Kapitäne
waren bei der Flucht ihren Herden weit vor-
ausgeeilt, so daß infolge der Verordnung die
mit dem Vieh nachfolgenden Wächter zu Be-
sitzern der Herden ihrer Häuptlinge wurden,
während diese nun als Viehwächter bei den
135
Abb.8. Wagenweg im Bette des Botletle bei ”Namessan.
Links die von Phragmitesbeständen eingefaßte Flußrinne, in der Mitte ein ausgespannter Wagen.
Betschuanen in Dienst traten oder sich als Arbeiter für die
Transvaalminen anwerben lassen mußten. Der einzige wohl-
habende Hererokapitän, Samuel Selo (von Pöch Zeppert ge-
nannt), wohnt in Komani am Botletle und wanderte bereits
vor dem Aufstande über Rietfontein-Nord aus. Makala mabele
bildet die Grenze zwischen Muntibis und Khamas Reich. Ein
sehr bekannter Ausspannplatz am Flusse wird im Sitschuana
Lilokwalo = Letter trees oder Briefbäume nach einer Gruppe
schöner Motsiarabäume (Terminalia prunioides) genannt, in
deren Stämme zahlreiche Weiße, namentlich Buren, ihre Namen
einschnitten (Abb.7). Flußpferde sind im oberen Botletle nur
bei Hochwasser zu finden, hielten sich im Januar 1907 aber
am unteren Tamalakane noch in derart großer Zahl auf, daß
sie meinem Boote, wie es mir der dortige schwedische Händler
vorhergesagt hatte, eines Abends nach Sonnenuntergang den
Flußweg vollkommen verlegten und mich zur raschen Landung
zwangen.
Bei Rakops, einem großen Bakrutsedorf mit einer Polizei-
station und dem Kaufladen eines Engländers, tritt der Fahr-
weg in das Makarrikarribecken ein und führt in einer
Länge von 90km durch dessen südwestlichen Teil. Anfangs
hält er sich auf der weiten grasigen Kalksteinfläche dicht am
Botletle, dessen Bett 80 bis 100 m breit und 8 bis 10 m tief
ist, sowie eine sumpfige Flußrinne von 20 bis 40m Breite
besitzt; der Fluß erreicht die große Soasalzpfanne nicht mehr.
Bei Massinja verläßt der Wagenpfad den Botletle und führt
entweder längs der von letzterem bei Hochflut gespeisten Sümpfe
des einstigen Kumadausees oder je nach dem Grade ihrer Aus-
troeknung quer durch das Sumpfland zum östlicher gelegenen
Salzpfannengebiet; diese Kumadausümpfe sind wegen ihres meist
brackigen Wassers und ihres Moskitoreichtums berüchtigt. Die
ganze Botletlelandschaft samt dem Kumadaugebiet ist wegen
ihrer guten Weide- und Ackerbauverhältnisse dicht bewohnt.
Vorherrschend unter den Eingeborenen sind Makalaka, Ba-
krutse und Matete (Ohé-khoë). Die Matete betrachtet Dr. Pöch
als einen stark mit Buschmannsblut vermischten Bantustamm.
Sie sind jedenfalls ein den !'Tannekwe (Sumpfbuschmännern)
des Okawangogebietes der Nord-Kalahari entsprechendes
Bastardvolk, nur überwiegt bei ihnen bereits das Negerelement
(Abb. 9). Die gesamten Flußlandschaften und Überschwemmungs-
gebiete vom Ngamisee bis zur Soasalzpfanne werden von den
zahlreichen Löwen beunruhigt, weshalb nachts Rinderherden
scharf zu bewachen sind und die Zugochsen an die Joche
gebunden bleiben müssen. In der Gemarkung Mopipi, wo der
Abb. 9. Matete (Ohé-khoë) am Botletle.
18*
136 Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn.
Kaufladen eines Engländers steht, betritt man das Gebiet
der großen Salzpfannen. Zur Regenzeit gibt es hier vor-
zügliche wasserreiche Viehweiden. Bei Moschanin zwischen
den Salzpfannen Karrikarri und Ntschokutsa traf ich im
Dezember 1906 sämtliche überlebenden Herero aus Oma-
den Betschuanen als Viehhirten verdingten. Die Salz-
pfanne Ntschokutsa besitzt einen Durchmesser von 8 bis
10km und ist von dichtem schönen Wald umrahmt;
über der blendend weißen inneren Pfannenfläche, die aus
hellem Kalkmergel sowie ausblühendem kalkreichen Salz
e Abb. 10. Die Ntschokutsa-Salzpfanne im Makarrikarri-Becken.
ruru (mit Ausnahme des Kapitäns Michael) an, die nach
dem siegreichen Gefecht Frankes auf den Rat eines in
Omaruru ansässigen englischen Händlers nach der Wal-
fischbai geflohen waren, sich dort für die Diamanten-
minen in Kimberley hatten anwerben lassen und nach
besteht und bei jedem Tritt wie gefrorener Schnee
knistert, liegt bei Dämmerung oder bedecktem Himmel
ein bläulicher Schein und gibt ihr das Aussehen eines
Wasserspiegels (Abb. 10). Die Brunnenlöcher enthalten
nur in der Regenzeit reichlich Wasser.
Abb. 11. Der Ostabfall des Mahuraplateaus bei Serue. Tiefsandiger Wagenweg.
Ablauf ihrer Arbeitszeit in geschlossenem Haufen zur
Fortsetzung des Kampfes über die Mittel-Kalahari nach
Damaraland zurückzukehren suchten, im Salzpfannen-
gebiete aber wegen Ausbrechens der Pocken gleich einer
anderen direkt aus dem Damaraland nach den Transvaal-
minen ziehenden Hereroschar ein isoliertes Lager be-
ziehen mußten und sich schließlich an Ort und Stelle bei
Der 190 km lange Weg durch das Mahurafeld ist
die beschwerlichste Strecke der ganzen Ngamiroute. Er
steigt vom Makarrikarri-Becken (900 m ü.d.M.) bis zum
Östabfall (1300 m ü. d. M.) des Mahuraplateaus um 400 m
an, ist stellenweise tiefsandig und enthält nur vier stets
wasserhaltige Kalkpfannen, nämlich Lotlakani (1000 m
ü. d. M.) im Makokobett, Litauani (1030 m), Kolokama
Saad:
Jafa.
137
und Mohissa (1140 m). An diesen wasserreichen Pfannen
befinden sich unter der Aufsicht von Buschmännern,
deren Sprache nach Dr. Pöch dem Sitete sehr nahe zu
stehen scheint, Viehposten der Bamangwato. Mit einem
leicht beladenen Ochsenwagen legte ich die Strecke, zu
deren Passierung schwer beladene Frachtwagen oft zwei
bis drei Monate gebrauchen, in neun Tagen, nämlich in
der Zeit vom 5. bis 14. Dezember 1906, zurück, wobei
ich allerdings durch zufällige Regenwasservorräte in eini-
gen Sandpfannen begünstigt wurde. Das Landschaftsbild
wechselt häufig. Waldartiges Gehölz und Buschsteppe
mit Copaifera mopane und Acacia Passargei sind vor-
herrschend, aber auch die Strauch- und Krautsteppe
nimmt einen großen Raum ein und gehört zu den ödesten
Gegenden der Kalahari. Eine südlichere Route führt
von Lotlakani parallel zum Makokobett über ein Kalk-
pfannengebiet mit einigen stets wasserhaltigen Brunnen
und dann 40 km durch das tiefsandige, wasserlose Pupu-
feld, mit dem die Mahurasteppe am Östabfall des Plateaus
endet; auf dieser von Passarge aufgenommenen Route
erlitten im Jahre 1879 schlecht organisierte Trekburen
enorme Verluste, indem ganze Wagenzüge im Sande
stecken blieben und Hunderte von Menschen und Zug-
ochsen an den erschöpften Brunnen verdursteten. Der
nördliche Wagenweg umgeht das Pupufeld, indem er in
die Makweebene, eine Übergangslandschaft zwischen Ma-
hurafeld und Maklautsipforte mit meist festem Sand-
boden, einbiegt und dann südwärts 50 km lang auf dem
zerklüfteten Ostabfall (Abb. 11) des Plateaus über Rücken
und durch Täler nach Khamas Hauptstadt Serue, die
noch auf den Gehängen liegt (1200 m ü. d. M.), führt. In
Serue befinden sich ein Magistrat mit einer Polizeiabtei-
lung, ein kleines Spital, eine Missionsstation, Schmiede,
Wagenbauer und acht Kaufläden. Unter den 30 000 Ein-
wohnern, meist Bamangwato, sind einige hundert Herero.
Der weitere Weg, bereits außerhalb der Kalahari, geht
über Masintila (975m ü. d. M.) durch das Bamangwato-
hügelland nach dem 50 km von Serue entfernten Palapye
Road an der Betschuanenlandbahn. — Im Juni 1906
reiste der Resident Commissioner des Betschuanenland-
Protektorates, Ralph Williams, nach Tsau und zog dann
von dort, wie später der unermüdliche Hauptmann
Streitwolf auf seiner Reise nach dem Caprivizipfel und
zurück nach Gobabis, längs des Tamalakane und
durch das Mababefeld an den Linjanti-Sambesi und nach
der Bahnlinie an den Viktoriafällen; Williams schlägt
nun in seinem Reiseberichte vor, die Route Tsau— Vik-
toriafälle zur ständigen Verbindung des Ngamilandes mit
dem Bahnnetz zu machen und den ungemein beschwer-
lichen und wasserarmen Wagenweg durch das Mahurafeld
gänzlich aufzulassen ; allein diesem Vorschlag widerstreben
die Batauana von Tsau und die Bamangwato von Serue, die
feste Beziehungen zueinander unterhalten und nach Ver-
drängung der Buren den Wagenverkehr in Händen haben.
Jafa.
Von Dr. L. Saad.
Jafa.
Mit einem Plan.
Jafa — französische Schreibweise Jaffa, das neu-
testamentliche Joppe, ist von alters her der Haupthafen
von Jerusalem bzw. Palästina. Es ist heute ein kosmo-
politischer Platz, wo die verschiedensten Rassen vertreten
sind. Den größten Teil der Bevölkerung bilden Araber,
sie sind aber gemischt. Das alte Jafa ist auf einem
Hügel von etwa 46m Höhe amphitheatralisch und stufen-
weise aufsteigend aufgebaut. Die ehemalige Festung ist
eine offene Stadt geworden.
Die Stadt gehört administrativy zum Mutesariflik
Jerusalem und ist Sitz eines Kaimakams. Seit Jahren
ist davon die Rede, Jafa zum Mutesariflik und Jerusalem
zum Vilayet zu erheben, in Anbetracht seiner immer zu-
nehmenden Ausdehnung und Wichtigkeit. Militärisch
gehört es zum fünften Armeekorps (Damaskus).
Die Stadt liegt unmittelbar am Meere, frei nach allen
Seiten, von Orangengärten umgeben. In den Gärten
finden sich außerdem Zitronen, Ölbäume, Feigen, Granat-
äpfel und an Gemüsen Bohnen, Erbsen, Kohl, Blumen-
kohl, Spinat, Kürbis, Batlindjan, Wurzeln, dicke Rüben,
Gurken, Zwiebeln u. a. m. Außerhalb der Stadt werden
Wein, Weizen, Gerste, Hafer, Durra, Sesam, Wasser- und
Zuckermelonen, Kartoffeln usw. angebaut. Der Boden
ist meistens Sandboden, auch hier und da schwarzer
Alluvialboden, besonders außerhalb der Stadt.
Die Altstadt besteht aus einem Gewirre kleiner
Gäßchen mit engen und finsteren Häusern. Es ist un-
möglich, sich eine annähernde Vorstellung davon zu
machen, ohne selbst diese Gäßchen gesehen zu haben.
In manche Wohnung dringt kein Sonnenlicht, hier wie
überall in der Stadt fehlen Kanäle, sämtliche Abfallstoffe
und Unrat werden vor das Haustor geworfen, und deren
Beseitigung ist nur unvollkommen; vieles davon wird
von den herrenlosen Hunden verzehrt. Ein Wunder,
daß in diesen dunkeln Gäßchen nieht mehr Miasmen und
Globus XCVIII. Nr. 9.
Keime verheerender Seuchen sich entwickeln. Außer
der Altstadt sind die Stadtviertel Maslach und Menschie
am schmutzigsten und ungesundesten, dagegen gelten
das Stadtviertel Adjami und die angrenzenden Teile, wie
die deutsche Kolonie, für gesünder.
Im Innern der Stadt sind die Straßen meistens 1,70
bis 2,50 m breit. Die Häuserhöhe schwankt durchweg
zwischen 5 bis 10 und 20m. In der Außenstadt sind
die Hauptstraßen meistens 12m breit, an einzelnen
Stellen etwas mehr. Die Häuserzahl beträgt nach un-
gefährer Schätzung 6800.
Die schon erwähnte deutsche Kolonie bildet einen
besonderen Stadtteil und wird von den Eingeborenen
„Meleken“ genannt; sie liegt 1km von der Stadt ab.
Im Jahre 1866 ließ sich hier eine amerikanische Kolonie
nieder, sie konnte sich jedoch nicht halten, daher der
verstümmelte Name „Meleken*. Einige der Kolonisten
starben, andere verloren ihr Vermögen, der Rest kehrte
in die Heimat zurück. Zwei Jahre später (1868) traten
württembergische Kolonisten an ihre Stelle und gründeten
eine freie, religiöse Gemeinde, die „Tempelgemeinde“.
Heute wohnen nur noch wenige Deutsche in der Kolonie,
sie haben sich meistens an anderer Stelle, am Meere oder
etwas weiter in „Walhalla“ ein Haus gebaut. Die
Schwesterkolonie Sarona ist 40 Minuten und Wilhelma
drei Stunden von hier entfernt. Es gibt mehrere Hotels
in der Stadt.
Die Einwohnerzahl dürfte 35 000 bis 40000 betragen;
davon sind 21896 Muselmänner, 1011 Moghrebi,
300 Neger, 600 Ägypter, 4008 orthodoxe Griechen,
587 Lateiner, 498 katholische Griechen, 100 Armenier,
193 Maroniten, 62 Protestanten, 14 Syrier, 12 Kopten
und 6000 Juden. Deutsche gibt es im ganzen Bezirke
Jafa, Ramle und Gaza 680, nämlich 505 Reichsangehörige
und 175 Schutzgenossen. Engländer 60 Erwachsene,
19
III I ITIO TI
II IAT
II IOTI IR:
| INH) | iN IIIN
| | I || III) | II] |
IN
300 Meter.
PLAN von JAFFA
von
Dr. med. L. Saad.
Maßstab etwa 1:6750
iij
AAAA
1. Paßbureau. — 2. Quarantänebureau. — 3. Hafenamt. —
4. Deutsche Palästina-Bank. — 5. Crédit Lyonnais. — 6. Deutsche
Post. — 7. Österreichische Post. — 8. Türkische Post und Tele-
graphenamt (Bustrusstraße). — 9. Österreichische Lloyd-Agentur. —
10. Agentur der Messageries Maritimes. — 11. Französische Post. —
12. Agentur der Khedivial Mail Line. — 13. Agentur der Bell Asia
Steam Ship Cie. Ltd. — 14. Agentur der Prince Line. — 15. Leucht-
turm und Haus Simons des Gerbers. — 16. Bureau des Leuchtturms
(Agence des Phares). — 17. Griechisches Kloster und Kirche. —
18. Franziskanerkloster (Casa Nova) und Hospiz. — 19. Neues Fran-
ziskanerkloster und Kirche. — 20. Russische Agentur und Post. —
21. Armenisches Kloster und Kirche. — 22. Deutsche Levantelinie
und Agentur der Nordischen Dampfschiflahrtsgesellschaft (russische). —
23. Englisches Konsulat (Howardstraße). — 24. Französisches Kon-
sulat (Bustrusstraße). — 25. Serail (Lokalbehörde). — 26. Munizi-
palität. — 27. Stadtgarten. — 28. Turmuhr. — 29. Französisches
Krankenhaus. — 30. Mädchenschule von Miss Arnott. — 31. Schule
der Frères des écoles chrétiennes. — 32. Mädchenpensionat der
Schwestern v. h. Joseph. — 33. Dschami el-Mahmudie. — 34. Dschami
el-Bahr. — 35. Dschami es-Serai. — 36. Bir el Hadsch‘ Ali (Brunnen). —
37. Bir el Mahmudie (Brunnen). — 38. Bir es Siksik (Brunnen). —
40. Hammäm es-Serir (türkisches Bad). — 41. Hammäm er-Rumele
(türkisches Bad). — 42. Hammäm el-Beg (türkisches Bad). —
43. Gemüse-, Fisch- und Fruchtmarkt. — 44. Hötel Kaminitz. —
45. Griechische Kirche „St. Georg“. — 46. Hardeggs Hôtel Jeru-
salem (Deutsche Kolonie). — 47. Hötel du Parc (Deutsche Kolonie). —
48. Franks Restaurant „Deutsches Gasthaus“. Deutscher Verein
(parterre). Dr. J. Benzingers Reisebureauu. — 49. Deutsche
protestantische Kirche. — 50. Deutsches Hospital. — 51. Deutsche
Schule der Tempelgemeinde. — 52. Deutsche protestantische
Schule. — 53. Cooks Bureau. — 54. Bureau der Eisenbahn
Jafa—Jerusalem. — 55. Reisebureau der Hamburg- Amerika-Linie
(vis-à-vis vom Zollhaus. — 56. Agence Lubin (Reisebureau) im
Hötel du Parc.
Saad:
Jafa. 139
mit Frauen und Kindern 240. Franzosen: europäische
Untertanen 138, Schutzgenossen 450 (bestehend aus
Juden, Marokkanern usw.); Italiener 60; Spanier (mit
den umliegenden Kolonien 150 Familien) im ganzen un-
gefähr 750 Personen; Österreicher 108; Rumänen 20
Familien mit ungefähr 100 Personen, fast alle Israeliten;
Amerikaner 82 mit den in den zwei jüdischen Kolonien
Rischon (15) und Mulebes (27) wohnenden; Griechen 210.
Bei dieser Liste ist in Betracht zu ziehen, daß es
sehr vie® Einwohner gibt, die nicht eingetragen sind,
besonders von auswärts eingewanderte türkische Unter-
tanen und Juden fremder Nationalität.
Von den Juden, die ins Land kommen, sind 50 Proz.
Einwanderer, die hier arbeiten wollen, die anderen
50 Proz. kommen, um in Palästina zu sterben. Unter
ihnen gibt es Jemeniten aus Südarabien, die zumeist
arabisch sprechen, aber auch gut hebräisch verstehen,
ausgezeichnete Arbeiter (Steinhauer, Lastträger, Diener
usw.) sind und sehr anspruchslos leben. Dann Juden
aus Buchara, meist vermögend; die meisten von ihnen
besitzen Häuser in Jerusalem und kehren zeitweilig nach
Buchara zurück.
Die Wohnhäuser sind meistens aus Sandstein, hier
und da auch aus Cäsareasteinen errichtet, diemit Mahonen
(Leichtern) von den Ruinen Cäsareas geholt werden.
Sie haben selten mehr als zwei Stockwerke und flache
Dächer mit Ziegeln bedeckt. Die innere Einrichtung
ist durchweg primitiv, nach den Bedürfnissen und
Gewohnheiten der verschiedenen Nationalitäten.
Die Wohnungspreise sind in den letzten Jahren
infolge der Judeneinwanderung sehr in die Höhe gegangen.
Die Fremden im allgemeinen und besonders die Europäer
wohnen am bequemsten, dann kommen die wohlhabenden
eingeborenen Christen. Die Hauptmasse der Bevölkerung
aber, d.h.diemuselmännischeund hauptsächlich diejüdische,
wohnt in der Regel eng zusammen. Bei den Juden ist
z. B. oft Sitte, daß mehrere Familien zusammen ein Haus
mieten, alsdann nimmt jede Familie ein Stube, in welcher
vier bis fünf Personen schlafen. Die Betten werden bei Tage
zusammengelegt und in der Stubenecke übereinander
aufgeschichtet. In den Vororten von Jafa wohnen mit
der Familie die Haustiere (Esel, Kamele, Maultiere, Pferde,
Ochsen, Schafe) zusammen.
Die Kleidung gewinnt von Tag zu Tag mehr
europäischen Anstrich. Den europäischen Hut sieht man
aber jetzt nach der Erklärung der neuen Verfassung,
hierzulande „hurie“ (Freiheit) genannt, weniger als
früher. Viele Eingeborenen, die früher einen solchen
trugen, tragen jetzt den Fez oder, da dieser infolge des
türkisch-österreichischen Konflikts verpönt ist (Öster-
reich stellt sie meistens her), einen Kalpak mit dem
kleinen türkischen Stern vorn.
Die Sterblichkeit betrug im Jahre 1908 unter den
Einheimischen: im Januar 31 Fälle, Februar 22, März 30,
April 26, Mai 37, Juni 22, Juli 18, August 25,
September 11, Oktober 12, November 20, Dezember 20.
Die französischen Schutzgenossen, meistens Juden oder
Moslim, wenden sich in Sterbefällen nicht ans Konsulat,
sondern an ihre religiösen Chefs. Bei den Juden, die
russische Untertanen sind, ist ebenfalls eine genaue
Statistik nicht möglich, da diese ihre Todesfälle nicht
anmelden. Jede religiöse Gemeinde hat ihren eigenen
Begräbnisplatz, und die meisten befinden sich zurzeit
infolge der Ausbreitung der Stadt mitten zwischen den
Wohnhäusern, mit Ausnahme des deutschen, der un-
gefähr 3km außerhalb in der Nähe der deutschen Kolonie
Sarona liegt.
Das deutsche Hospital hat 23 Betten, das englische 46,
das französische 50, das jüdische 20, das Militärhospital 14.
nicht vollendet.
Das deutsche Hospital ist das älteste; es genügt be-
scheidenen Ansprüchen, hat von der Heimat keine Unter-
stützung und wird von den deutschen Kolonisten unter-
Das städtische Krankenhaus ist noch
halten. Das englische und französische sind für hiesige
Verhältnisse gut gebaut und zweckentsprechend aus-
gestattet. Das jüdische und das Militärhospital dagegen
sind ärmlich und in einem Mietshause untergebracht.
Ein Hauptfeind jedes Fremden, wie auch der Ein-
geborenen, ist die Malaria. Die Malariafieber sind
endemisch, sie treten manche Jahre gleich Epidemien
auf, verheerend durch ihren perniziösen Charakter. Vor
mehreren Jahren hatten wir in Jafa eine solche, eine
remittierende Form, es starben damals 40 bis 50 Personen
täglich daran. Viele Fälle waren mit Gelbsucht ver-
bunden, die hierzulande das „Gelbe Fieber“ genannt wird,
aber mit dem „Gelben Fieber“ Amerikas nichts zu tun
hat; sie ist eine der schwersten Fieberformen (febris
remittens biliosa melanurica). Im Spätsommer vorigen
Jahres wurde Jafa, wie ganz Palästina, von einer schweren
Dengunepidemie heimgesucht; das Dengunfieber tritt so
ziemlich alle 11 Jahre seuchenartig auf. Mitte Oktober
war Jafa ein allgemeines Hospital, nur wenige wurden
verschont, Komplikationen mit Herzaffektionen und
Erythema nodosum waren nicht selten. In Jerusalem
war die Seuche sehr gelinde aufgetreten.
Impfung und Wiederimpfung sind obligatorisch.
Um eine Anstellung zu bekommen, um zu reisen, um zu
heiraten und überall, wo man den Geburtsschein braucht,
muß man den Impfschein zeigen. Vom Stadtarzt und
einem dazu abgerichteten Impfbeamten wird die Impfung
unentgeltlich ausgeführt. Es wird auch von vielen Un-
berufenen geimpft, ohne daß eine gesetzliche Strafe
darauf steht. Die Leichenschau ist seit fünf Jahren
eingeführt, obligatorisch ist sie aber nur für türkische
Untertanen. Der Totenschein muß von einem von der
türkischen Regierung anerkannten Arzte ausgestellt sein
und dann bei der Quarantänebehörde vorgezeigt werden, die
ihrerseits daraufhin durch einen zweiten Schein die
Erlaubnis zur Beerdigung gibt. Die vorgeschriebene
Anmeldung von Geburten von Fremden geschieht bei
deren Konsulaten, von türkischen Untertanen, die Christen
sind, bei ihren Kirchengeistlichen, von denMohammedanern
bei der Stadtbehörde, von den Juden beim Rabbiner.
Das Wasser (Brunnenwasser, Grundwasser) ist trink-
bar, doch tut man gut, es zu filtrieren. Es ist vorwiegend
salzig schmeckend und von 18 bis 20° Härte. Die
Brunnen in den Gärten sind ausgemauert. Das Wasser
wird durch Schöpfräder und durch Zieheimer herauf-
befördert. Gewöhnlich ist das Wasser in den Orangen-
gärten am besten, da es, besonders wenn in den Gärten
bewässert wird, sich durch das Schöpfen erneuert. Eine
Stunde von Jafa entfernt ist der Nahr el Andsche (d. h.
Fluß der Krümmung), und man denkt daran, die Stadt und
die Örangengärten von ihm aus mit Wasser zu versorgen.
Der Fluß entspringt vier Stunden von Jafa am Gebirge
Juda und hat 11 Quellen. Den ganzen Fluß entlang
bis zu seiner Mündung ins Meer befinden sich zu beiden
Seiten, mit geringer Unterbrechung, Sümpfe. Am Andsche
herum gibt es Wildschweine, Hasen, Rebhühner, Schnepfen,
Wachteln, und im nahen Gebirge Wölfe, Hyänen, Schakale,
Füchse, Stachelschweine und mitunter Steinböcke. Saladin,
der im Norden bei Arsuf dem König Richard Löwenherz
eine große, blutige Schlacht geliefert hatte, ohne ihn
besiegen zu können, schlug sein Lager bei der Andsche-
Brücke am linken Flußufer auf, während Richard mit
seiner Armee die Nacht an demselben Fluß am Meeres-
ufer zubrachte. Heute besteht diese Brücke nur in
einem einzigen Bogen von wenig sorgfältigem Mauerwerk,
19*
140
Saad:
Jafa.
aber in ziemlich gutem Zustande. Man bemerkt da
noch einige Reste einer früheren Brücke und in der
Nähe am rechten Flußufer Trümmer einer Wasserleitung.
Das Wasser des Flusses ist gut und könnte auf eine
große Strecke hin das Land fruchtbar machen, wenn es
gut geleitet würde.
Das Klima ist subtropisch und hauptsächlich durch
eine ausgesprochene Regenzeit charakterisiert. Das Jahr
zerfällt in eine winterliche Regenzeit und eine sommer-
liche Trockenzeit. Der Winter ist gesund und angenehm,
wird aber dem Bewohner durch die große Feuchtigkeit
der Häuser, die meist aus einem porösen Sandstein er-
baut sind und gleich einem Schwamm den Regen ein-
saugen, verleidet; der Sommer dagegen wird durch die
Malaria gefährlich. Mit Ende April beginnt die Zeit der
großen Hitze, die erst Ende Oktober schließt. Der
angenehmste, kühle Wind ist der Ostwind, der Südwind
ist der heißeste, der im Winter wehende Westwind
bringt Regen, während der Nordwestwind immer schönes
Wetter im Gefolge hat. Der Nordwind ist ebenso selten
wie der Ostwind. Am lästigsten empfindet man die
große Hitze im Sommer, infolge der reichlichen Schweiß-
erzeugung. Sie wird durch die heißen trockenen Ost-
und Südostwinde (Sirocco) noch gesteigert. Der Sirocco
dauert im Sommer oft 8 bis 10 Tage an; im Winter
kommt er selten vor und hält dann nur ein paar Tage
an. Die höchste durch Sirocco erzeugte Temperatur ist
440C, die gewöhnliche Siroccotemperatur 30 bis 35°C.
Eine wahre Erquickung während des Sommers ist eine
angenehme Seebrise (von Westen kommend), die zwischen
8 und 9 Uhr vormittags beginnt, gegen Abend allmählich
nachläßt und in der Nacht in den Landwind übergeht.
Es ist daher begreiflich, wenn der Fremde während des
Sommers nicht die Arbeitsfähigkeit wie in der Heimat
besitzt; nur durch langsame Akklimatisation lernt er die
höhere Temperatur ertragen. In der Regel werden die
Nächte von Mitte September an kühler, so daß man
besser schlafen kann.
Die Regenzeit dauert ungefähr von Mitte Oktober
bis Anfang Mai, die Monate April und Oktober kann
man als Übergangsmonate betrachten. Das Regenwetter
wird häufig einen oder mehrere Tage durch heiteren
Himmel unterbrochen. Schnee und Hagel sind eine
Seltenheit und zerfließen bald, Eis kennt man nicht.
Der kälteste Monat ist der Januar, der wärmste Monat
der August, ausnahmsweise kommt ihm der Juli fast
gleich. Erst im November ist eine entschiedene Ab-
kühlung da. Selten hat Jafa eine Temperatur unter Null.
Die Seestürme beginnen in der Regel Ende der ersten
Woche des November mit Regen. Der letzte Sturm ist
der „des 9. März“ alten Stils (d.h. 22. März), hierzulande
„dokus mart“ genannt. Es können nach dieser Zeit in
der ersten Hälfte des April noch ein oder zwei Tage
stürmisch sein, das ist aber ohne Bedeutung. Von jetzt
ab beginnen die Segler zu fahren. Der Nebel ist gering;
gewöhnlich werden im Jahre 10 bis 12 Nebeltage be-
obachtet, besonders im Frühjahr und Herbst, im Winter
selten.
Jeder Europäer lebt hier nach heimatlichen Gewohn-
heiten, angepaßt den hiesigen Produkten. Die Ein-
geborenen genießen viel Reis, Weizenbrot, auch wohl
Durrabrot, wenig Fleisch, dagegen Öl, Grünzeug in
größeren Quantitäten, Oliven, Schaf- und Ziegenkäse,
dicke Milch, Eier, Rettig, gesalzene Fische, „fsih“
genannt (eine besonders aus Ägypten und von der Gegend
von EI-Arisch importierte Fischart), und viele Früchte,
wie es die Jahreszeit mit sich bringt, auch viele Zucker-
speisen. An geistigen Getränken werden Mastic
(eine Art Schnaps), Kognak geringster Sorte, dann Wein
und Bier konsumiert. Der Wein wird hauptsächlich in
den deutschen und jüdischen Kolonien Palästinas bereitet,
vielfach auch exportiert. Bier wird auch in Jafa gebraut,
aber in sehr geringer Qualität, die besseren Sorten sind
eingeführt, besonders bayerisches und Bomonti- Bier.
Das Gewerbe steckt noch in den Kinderschuhen. Es
gibt 11 Seifensiedereien, alle in der Altstadt, in jeder
werden vier oder fünf Leute beschäftigt. Das Öl kommt
meistens aus der Umgegend von Nablus und Jerusalem,
dann aus der Umgegend von Jafa, speziell von Lydda;
wenn die Ernte schlecht ist, aus Mitylene und Marseille.
Die hiesige Seife wird nach Ägypten, hauptsächlich nach
Kairo exportiert, von dortins Innere. Die Seifensiedereien
sind ganz primitiv eingerichtet. Die Arbeit geschieht
mit geschmolzener kaustischer Soda, die aus Belgien oder
England bezogen wird. Außer den Seifensiedereien sind
die Gerbereien erwähnenswert. Es gibt deren neun,
1 deutsche, 2 jüdische, 3 griechische und 3 Muselmännern
gehörig. Siesind auch sehr primitiv, jeder hat vier bis fünf
Arbeiter. In den Gerbereien werden alle Sorten Häute
für den Lokalgebrauch und den Export verarbeitet.
Büffelfelle kommen besonders aus Singapore und Rangoon,
aus Ägypten wird Kamel- und Rindleder eingeführt.
aus Europa feineres Rindleder.
Dann gibt es eine bedeutende Eisengießerei, den
Deutschen Gebr. Wagner gehörend, und eine deutsche
Eisfabrik der Familie Murad, die 3000 kg Eis täglich
liefern kann.
Der Handel Jafas nimmt jährlich zu. Besonders ein-
geführt werden Wollwaren, Mehl, Reis, Zucker, Petroleum,
Kaffee, Maschinenöl, Kohlen, Zink, Kupfer, Blechplatten,
Kleidung, Eisen und Eisenwaren, Eisenbettgestelle,
Bauholz, Wein, Spiritus, Maschinerien und Tabak. Die
Ausfuhr besteht in Orangen, Sesam, Seife, Melonen, Wein,
Spirituosen, Kognak, Häuten, Koloquinten, Wolle, Oliven-
öl, Rosinen.
Die ÖOrangenausfuhr, meist nach Liverpool, umfaßt
den größten Teil des ganzen Ausfuhrhandels; fast drei
Viertel der Einwohner leben davon, und von dem Ausfall
des Orangengeschäfts hängen auch viele andere Geschäfte
ab. Wein und Spirituosen werden nach Hamburg, in
kleinen Quantitäten nach England und Amerika aus-
geführt, Wolle nach Amerika und Europa, Häute nach
Frankreich. Rosinen nach Italien für Weinfabrikation
kommen hauptsächlich aus Salt über Jerusalem. Es
sind Anpflanzungsversuche mit verschiedenen Sorten
Baumwolle gemacht worden, und zwar mit gutem Erfolge.
Man hegt große Hoffnung.
Im Export nimmt England den ersten Rang ein,
dann folgen Ägypten, Deutschland, Frankreich, die
Türkei, Österreich, Rußland und Italien. Im Import
dagegen hat die Türkei den ersten Platz, den zweiten
England. Von Banken bestehen die Deutsche Palästina-
Bank, die Banque Otoman, der Crédit Lyonnais und die
Anglo-Palestine Bank.
Am Schiffsverkehr sind beteiligt: Deutschland mit
23 Dampfern (davon 6 Touristendampfern), England mit
232, Frankreich mit 76, Österreich mit 210, Rußland
mit 190, Italien mit 89 Dampfern und 4 Seglern, die
Türkei mit 33 Dampfern und 1057 Seglern, Griechen-
land ist mit 22 Dampfern und 4 Seglern, Belgien mit
7 Dampfern, Holland mit 11, Norwegen mit 2
und Amerika mit 11 beteiligt.
Jafa hat keinen Hafen. Die Schiffe müssen auf der
Reede Anker werfen, und diese ist sehr gefürchtet. Nach
den Navigationsvorschriften müssen die Schiffe vor Jafa
stets unter Dampf stehen, dagegen Handelnde haben es
oft büßen müssen. Für die kleinen Segler nnd Leichter
ist ein von den Felsen eingeschlossener kleiner Hafen
Die innerpolitischen Verhältnisse Abessiniens. 141
vorhanden, bei starkem Sturm ist er aber auch nicht
sicher. Ägyptische Segler (skif genannt) und sonstige
Küstenfahrer kommen von Juni bis September.
Die Direktion der Bahn Jafa—Jerusalem plant seit
Jahren umfassende Kaianlagen, aber es ist nicht zum
Bau gekommen. Auch Hafenprojekte tauchten in der
letzten Zeit mehrmals auf. Ebenso ist die Rede von
einer Bahn Port Said—Jafa.
Der Quarantänedienst untersteht der internationalen
Sanitätsverwaltung in Konstantinopel.. Delegierte sämt-
licher Mächte bilden den Sanitätsrat, der die Quarantäne-
maßregeln anordnet, die Beamten ernennt und absetzt.
Von Jafa fährt eine Bahn nach Jerusalem. Der
Bahnverkehr geschieht neuerdings zweimal täglich. Zeit-
dauer hinauf 4 Stunden, herunter 3°/, Stunden. Die
Bahn ist 87km lang und schmalspurig und schaukelt
sehr, da der Untergrund Sand ist und die Schwellen
keine solide Unterlage haben, besonders auf der Strecke
Jafa—Deir aban.
Jafa hat ein türkisches und internationales Telegraphen-
bureau und Post.
Pilger, hauptsächlich Russen und Griechen, kommen
um die Osterzeit herum, die Russen bilden die Mehrzahl.
Die Touristenzeit beginnt Ende Februar und dauert bis
Ende Mai. Gewöhnlich landen ungefähr 4000 Touristen
jährlich und 9000 bis 10000 Pilger, meistens Russen.
Als Sehenswürdigkeit gilt der sogenannte „Russenbau“,
ein russisches Kloster mit Kirchein einem schön angelegten
großen Garten, in dem sich das Grab der Tabita befindet.
Diese Grabhöhle bildet alljährlich am vierten Sonntage nach
Ostern den Gegenstand hoher Verehrung. Es strömen
die Leute aus Jafa in Massen hierher, und auch ebenso
zum Brunnen Abu Nabut, der auf dem Wege zum
Russenbau an der Jerusalemer Chaussee liegt, um das
Andenken der Tugenden der heiligen Tabita und ihres
Wunders zu feiern. Es gibt sechs Moscheen. Die
Moschee Dschami el Kebir, vom Volke auch Dschami
Abu Nabut Pascha genannt, wurde von Nabut Pascha,
der seinerzeit Gouverneur von Jafa war, in großem Maß-
stabe restauriert, auch sorgte er in freigebigster Weise
für die Erhaltung. Ein einfacher, geweißter viereckiger
Raum ist die Moschee Dschami el Tabie (Eingang zum
Leuchtturm); hier soll das Haus Simons des Gerbers ge-
standen haben. Die Imame der Moscheen bekommen
meisten 100 bis 130 Piaster Gehalt, der Muezzin 40 Piaster.
Daneben haben sie viele Nebeneinnahmen z. B. am
Beiram, bei Begräbnissen, bei Geburten usw. Die fremden
Bekenntnisse sind mit Kirchen vertreten.
Wenige Schritte vom Landungsplatze liegt das Kloster
der Franziskaner. Im Jahre 1252 besaßen die Franzis-
kaner eine von Ludwig IX., König von Frankreich, er-
baute Kirche mit Kloster. 1267 zerstörte sie Sultan
Bibars und verjagte die Eigentümer, diese konnten bis
zum 16. Jahrhundert nicht mehr zurück und ließen sich
erst wieder um die Mitte des 17. Jahrhunderts hier
nieder. 1654 wurden Kirche, Kloster und Hospiz wieder
erbaut mit Erlaubnis des Gouverneurs von Gaza. Im Laufe
der Jahrzehnte wurden sie während der herrschenden
Unruhen und Kriege wieder zerstört und die Inhaber
vertrieben. 1830 wurden Kirche, Kloster und Pilgerhaus
am Meere von neuem erbaut, und 1839 bis 1890 wurde
der neue Kirchen- und Klosterbau vorgenommen. In
ihrem Hospiz gewähren die Franziskanerväter jedermann
Unterkunft.
Das griechische Kloster existiert seit 1645; zurzeit
befindet es sich in den Händen der orthodoxen Araber,
die griechischen Geistlichen sind daraus vertrieben. Das
armenische Kloster liegt am Meere neben dem Franzis-
kanerkloster. Wann die erste Gründung war, ist un-
bekannt. Man weiß nur, daß im Jahre 1725 der
Patriarch Gregoire von Jerusalem die erste Etage des
Klosters bauen ließ und die Einweihung des Platzes
der Kirche St. Nicolas vornahm. Erst von dieser
Zeit an hatte das Kloster Geistliche und nahm Pilger
auf. Die unteren Magazine dienten früher den Pilgern
als Depot für ihrGepäck, da sie oft 1 bis 3 Wochen auf
eine Karawane nach Jerusalem warten mußten. Napoleon
hatte hier während der syrischen Expedition seine kranken
Offiziere. Dann gibt es noch ein Kopten- und ein
Maronitenkloster, die kein hohes Alter haben. Das
Maronitenkloster zum heiligen Antonius wurde erst vor
zehn Jahren gebaut aus den Mitteln der Gemeinde und
des Patriarchats Jerusalem, von dem es auch abhängt.
Die Mönche kommen vom Libanon.
Die Schulen Jafas sind: die deutsch-evangelische
Schule nebst Pfarrhaus auf der deutschen Kolonie,
gegründet vor zehn Jahren und mit einer Schülerzahl
von 22; die deutsche Schule der Tempelgemeinde, eben-
falls auf der deutschen Kolonie; die Ecole des Frères
des écoles chrétiennes; die neugebaute große griechische
Schule und Handelsschule, die zurzeit infolge des Streites
zwischen den Griechen und orthodoxen Arabern ge-
schlossen ist; die Schule der französischen Josephs-
schwestern; die italienische Schule der Schwestern; die
englische Schule der Miss Arnott und die amerikanische
Schule.
+
Die innerpolitischen Verhältnisse Abessiniens.
Das heutige Abessinien ist eine Schöpfung Meneliks II.,
der es geeint, ihm in den Kämpfen mit Italien die Un-
abhängigkeit wiedergegeben und den inneren Ausbau
bis zu einem gewissen Grade vollendet hat. Menelik war
eine alle seine Landsleute an Klugheit und Energie weit
überragende Persönlichkeit, der sich alle beugten, und
weil dem so war, erhob sich häufig die Frage, was wohl
aus seiner Reichsschöpfung werden würde, nachdem er
vom Schauplatz abgetreten wäre. Würde sie nicht bald
aus den Fugen gehen, würde das Reich sich unter inneren
Kämpfen nicht wieder in seine Einzelbestandteile und
Teilfürstentümer auflösen, wie in früheren Zeiten schon
oft? Und würde Abessinien damit nicht eine Beute
seiner europäischen Nachbarn, Englands, Frankreichs
und Italiens, werden?. Denn daß diese Mächte sich als
die schließlichen Erben Meneliks betrachtet haben, kann
keinem ernstlichen Zweifel unterliegen.
Sie betrachten sich sicherlich auch heute noch als die
Erben, und sie werden es wohl auch einmal werden.
Vorläufig freilich erscheinen ihre Aussichten nicht so
günstig, als sie selber und auch der unbeteiligte Zu-
schauer erwartet haben werden. Menelik entglitten im
vorigen Jahre die Zügel der Regierung, er wurde ein
geistig toter Mann. Er ist damals und später ja auch
körperlich tot gesagt worden. Jedenfalls war damit der
Augenblick gekommen, wo das Geschick des Reiches sich
entscheiden, wo sich herausstellen mußte, ob Menelik
zur Genüge die Stellung seines Erben, seines noch un-
mündigen Enkels Lidj Jeassu, zu sichern vermocht hatte.
Wohl schien es so; aber die Lage war deshalb so kom-
pliziert und gefahrdrohend, weil Meneliks Gemahlin, die
ehrgeizige und fremdenfeindliche Kaiserin Taitu, die
Regentschaft, wenn nicht die Kaiserkrone selbst, an-
strebte. Andererseits war es ein Glück, daß Menelik
142
noch lebte; denn seine Existenz war ein genügend mäch-
tiger Faktor, die Großen des Reiches in seinem Sinne
handeln und an seinem politischen Vermächtnis fest-
halten zu lassen. Hinter ihm stand das Volk. Es kamen
wohl Unruhen vor, so in Tigre, aber sie wurden sehr
schnell unterdrückt. Die Sicherheit der Europäer konnte
gewährleistet und damit fremden Mächten der Vorwand
für eine ihnen vielleicht nicht ganz unwillkommene Ein-
mischung genommen werden. Schließlich gelang es sogar,
die Kaiserin Taitu unschädlich zu machen, durch eine
kleine und ganz unblutige, aber sehr tatkräftig durch-
geführte Revolution, den Staatsstreich vom 21. März
dieses Jahres.
Die deutsche Tagespresse, die sich ja seit einigen
Jahren — seit dem Beginn des nicht gerade sehr impo-
nierenden deutschen Auftretens in Abessinien — dauernd
und eingehend mit den dortigen Verhältnissen beschäf-
tigt, hat auch über jene Zeit berichtet. Hier wollen wir
aus einem interessanten Briefe des Mgr. Jarosseau, des
apostolischen Vikars der Galla (abgedruckt in den „Mis-
sions catholiques“ vom 1. Juli), einiges über den Staats-
streich und die Ereignisse, die zu ihm geführt haben,
mitteilen.
Zum Verständnis erinnert Jarosseau an einige Tat-
sachen aus der Geschichte der Laufbahn Meneliks. Im
Jahre 1886, als dieser erst einfacher König von Schoa
war, starben ihm schnell hintereinander seine beiden
noch ganz jungen Söhne. Obwohl sie nicht von Woisero
Bafana, der damaligen Königin, geboren waren, ihre
Mutter Gite-Näsche, eine Galla, vielmehr von sogenannter
niedriger Herkunft war, so hatte Menelik den einen oder
anderen als seinen Nachfolger betrachtet. Nach dem
Tode der beiden Söhne wäre Meneliks Linie erloschen
gewesen, wenn er nicht aus der Zeit, als er Geisel des
Kaisers Theodorus in Magdala war (1855 bis 1865), von
der Wollo-Galla-Prinzessin Woisero Desseta eine Tochter
gehabt hätte. Diese, Schoa-Regga mit Namen, hatte den
Dedjas Wadadjo, den Sohn des Ras Gobana, geheiratet,
und aus dieser Ehe war um 1888 ein Sohn namens
Wossen Seged entsprossen. Als kurz darauf \Wadadjo
gestorben war, gab Menelik Schoa-Reggas Hand dem
ehemals mohammedanischen König der Wollo Mohammed
Ali, der Christ wurde und heute unter dem Namen Ras
Wolde Mikaël bekannt ist. Beider Sohn ist der um 1895
geborene Lidj Jeassu, der seit dem im März 1908 er-
folgten Tode seines Stiefbruders Wossen Seged der ein-
zige legitime Thronanwärter wurde und nun in der Tat
Meneliks Nachfolger sein wird.
Als nämlich vor jetzt mehr als zwei Jahren Menelik
seine bis dahin so kräftige Gesundheit wanken und seine
geistige Kraft abnehmen fühlte, beschäftigte er sich leb-
haft mit der Frage seiner Nachfolgerschaft. Mehr als
sonst jemand mit dem ehrgeizigen Intrigenspiel in seiner
Umgebung vertraut, wünschte er vor seinem Abtreten
vom Schauplatz diese für die Ruhe und Unabhängigkeit
des von ihm geschaffenen Reiches höchst gefährlichen
Umtriebe gründlich zu ersticken. Er glaubte auch zu
wissen, daß, bei der Gewalt seines Willens über das Volk,
die Art, wie er den Knoten durchhauen würde, die
Frage der Thronfolge endgültig und unbestritten regeln
würde. Deshalb gab er am 30. Oktober 1909 der äthio-
pischen Nation durch ein amtliches Dokument seinen Willen
kund. Es ist eine höchst bemerkenswerte Kundgebung,
und sie mag deshalb im Wortlaut hier mitgeteilt werden.
Der siegreiche Löwe von Juda, Menelik IL, durch den
Willen Gottes König der Könige Äthiopiens.
Kinder, Brüder, Freunde!
Bis heute regierte ich dank der Gnade Gottes mein
Land, ohne dab ich mich über euch zu beklagen hatte,
Die innerpolitischen Verhältnisse Abessiniens.
was der beste Beweis dafür ist, daß ihr mich wirklich
liebt. Ich freue mich, auch feststellen zu können, daß
dank eurer vollkommenen Einigkeit sich keinerlei Feind-
seligkeit gegen das Land geäußert hat.
Und jetzt erkläre ich in Übereinstimmung mit dem,
was ich schon früher euch habe wissen lassen, daß der
Erbe meines Thrones mein Enkel Jeassu ist, Sohn der
Woisero Schoa-Regga und des Ras Mikaël.
Ich habe den Ras Bitoddede Tessama zu seinem Vor-
mund eingesetzt ‘und stelle ihn euch als solchen vor.
Ihm vertraue ich den Schutz meines Thrones an. Außer
Jeassu habe ich keinen anderen Sohn.
Indem ich diese Maßregeln traf, habe ich euch die
Unruhe ersparen wollen, die ihr empfinden könntet, wenn
ich infolge meines unsicheren Gesundheitszustandes künf-
tig meinen Palast hüten muß. Wie dem auch sei: wenn
sich jemand finden sollte, der es wagen würde, zu meinen
Lebzeiten zu sagen: ‚Nehmen wir das Kind und stürzen
| wir das Reich in Unordnung“, den verfluche ich. Möge die
Verwünschung, die Judas sich zugezogen hat, und der
gegen Arius geschleuderte Fluch auf ihn fallen! Möge
die Erde selber den verleugnen, der meine Worte ver-
leugnen wird, und möge ihm als Sohn ein schwarzer
Hund geboren werden!
Ihr alle, die ich groß gemacht und zu Würden er-
hoben habe, ihr alle, Fürsten und Soldaten, Große und
Kleine, wisset es: wer meinen Befehl verletzt, den ver-
fluche ich; und wer nach meinem Tode nicht meinem
Sohne folgt, den verfluche ich. Endlich, um die Besorgnis
zu vermeiden, daß mein Sohn Jeassu sich von eurem
Willen trennt, von euch, die ihr seine Väter und Brüder
seid, und daß er oder der Ras Bitoddede Tessama, sein
Vormund, dem ich ihn anvertraut habe, böse handeln,
überliefere ich den einen wie den anderen, falls sie
ihre Pflicht verraten sollten, denselben Verwünschungen.
Geschrieben in der Stadt Adis-Abeba, am 20. Tage
des Teqemt, im Jahre des Heils 1902 (= 30. Oktober 1909).
Dies die Proklamation, um die die Partei der „Jung-
Äthiopier“ sich scharte, auf die sie alle Kräfte der Nation
zu vereinigen hoffte. Indessen neben dem Meneliks
Willen ergebenen Jung-Äthiopien gab es eine mächtige
Partei, die dem erklärten Nachfolger des Kaisers in heim-
licher Feindschaft gegenüberstand. Die Seele dieser
Partei war die Kaiserin Taitu, und sie war bemüht, den
Lidj Jeassu als einen Abkömmling der Galla und eines
Mohammedaners hinzustellen, was in den Augen der
Abessinier als ein Mangel von schwerwiegender Be-
deutung angesehen werden konnte. Bald ergriff auch
die Kaiserin plötzlich eigenmächtig die Regierung, um
ihre ehrgeizigen Ziele leichter erreichen zu können, und
der ziemlich charakterschwache Ras Tessama ließ sich
allmählich der Vorrechte berauben, die er von Menelik er-
halten hatte. So sah man schon den Tag kommen, da
Taitu, obwohl vom Volke gehaßt, entgegen dem klar aus-
gesprochenen Willen Meneliks ihre eigene Herrschaft
aufrichten würde.
Aber die Jung-Äthiopier waren nicht untätig und
warteten nur auf eine passende Gelegenheit, dem Willen
Meneliks der Taitu gegenüber Geltung zu verschaffen. Sie
bot sich bald. Der Dedjas Abata, der Statthalter von Tigre,
war des dort zugunsten der Kaiserin angezettelten Auf-
standes Herr geworden, deshalb arbeitete sie an der
Schwächung seines Einflusses und setzte ihn schließlich
ab, um ihrem Bruder Wolie die Würde eines Wag-Schum
von Tigre zu verschaffen. Dadurch hoffte sie Tigre für
ihre Sache zu gewinnen. Dann stellte sie einen anderen
ihrer eifrigen Parteigänger, den Ras Mangascha Tigem,
an die Spitze der wichtigen Provinz Walaga. Diese
beiden Schritte der Kaiserin brachten ihr Maß zum Über-
Neues über die Lasen.
143
laufen, und am 21. März begaben sich in Adis- Abeba
die Führer der Jung-Äthiopier, gefolgt von mehr als
60000 Menschen, zum Abuma Matheos, dem obersten
Geistlichen der Stadt, und verlangten von ihm folgendes:
Die Kaiserin Taitu verachte den Willen des Kaisers und
sei auf dem Wege, die Einheit und den nationalen Bestand
Abessiniens zu zerstören. Er solle ihr den Willen des
abessinischen Volkes mitteilen, wonach sie sich jeder
Regierungshandlung zu enthalten und sich künftig nur
ihren Gattenpflichten gegen den erhabenen kranken Kaiser
zu widmen habe.
Der Abuna mufte gehorchen. Er begab sich in den
kaiserlichen Palast, den die Menschenmenge einschloß,
und teilte Taitu mit, was ihm aufgetragen war. Es blieb
ihr nichts anderes übrig, als sich, wenigstens äußerlich,
zu fügen. Dann marschierte die Volksmenge nach der
Wohnung des Regenten Tessama, wo sich auch der Thron-
folger Jeassu befand. Der Regent war nicht anwesend,
sondern bei dem kranken Kriegsminister Apte-Giorgis.
Man verlangte deshalb nach dem Prinzen. Dieser er-
schien und wurde, von einer Eskorte umgeben, zur
Wohnung des Apte-Giorgis geleitet. Dieser sowie
Tessama, schon betagt und ruhebedürftig, hatten sich
ziemlich leicht unter das Joch der Kaiserin gebeugt.
Aber die ungestüme Beredsamkeit der beiden Haupt-
wortführer der Jung - Äthiopier, des Dedjas Gebra-Sellassie
und des Regnas Matsche-Merrede, rissen sie nun doch
aus ihrer Indolenz empor, und sie ergaben sich den be-
geisterten Patrioten. Im Grunde wünschte sich der Regent
nichts Besseres, als seine Person gedeckt zu sehen und
sein hohes Amt auch wirklich wahrzunehmen; er hat
denn auch, sagt Jarosseau, seit diesem Tage seine Tat-
kraft wiedergewonnen und zeigt sich seinen Regenten-
pflichten gewachsen.
Die Kaiserin hatte indessen geschworen, ihre Rache zu
nehmen; sie wandte sich um Hilfe an ihre Verwandten in
Semien und erbat auch bei mehreren europäischen Gesandt-
schaften in Adis-Abeba Unterstützung gegen das neue
Regime. Ja sie, deren Fremdenhaß zur Genüge bekannt
war, soll sogar einer europäischen Macht versprochen
haben, ihr nach ihrem Tode Abessinien abzutreten, wenn
man ihr helfen würde, sich zur Kaiserin von Äthiopien
krönen zu lassen. Das mußte natürlich als Hochverrat
aufgefaßt werden und beschleunigte ihren völligen Sturz,
nämlich ihre Verweisung aus Adis-Abeba.
Ob die Rolle der ehrgeizigen und energischen Frau
damit endgültig ausgespielt ist, steht dahin, und man
weiß nicht, was kommen wird, wenn Menelik wirklich
gestorben sein wird. Vorläufig hat Abessinien die Ruhe
im Innern und damit seine Unabhängigkeit sich gerettet:
deshalb war der 21. März 1910 für das Reich sicherlich
ein bedeutsamer Tag.
Neues über die Lasen.
Prof. Dr. Marr hat im September vorigen Jahres eine
Studienreise nach Lasistan gemacht und in den „Nachrichten
der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg“ seine
Reiseeindrücke veröffentlicht. Wir geben hier einen Auszug
aus seiner Arbeit.
Die Lasen sprechen einen grusinischen Dialekt, der dem
Karthwelischen, Mingrelischen und Swanetischen nahe ver-
wandt ist. Jedoch ist ihre Sprache, wie das Volk selbst und
sein Land wissenschaftlich nicht erforscht worden. Das ist
um so mehr zu bedauern, als diese Erforschung für die Auf-
klärung über den Ursprung und die Entwickelung der grusi-
nischen Kultur sehr große Dienste leisten könnte. Denn der
gelehrte Professor stellt die interessante, allerdings sehr ge-
wagte Hypothese ') auf, daß das alte Kolchis nicht im Bassin
des Rion, sondern in dem des Tschoroch zu suchen wäre.
Denn die Form Tschoroch gleicht nach der Phonetik der ja-
hetischen Sprachen der Form Koroch, was wieder aus „Kolch“
fr geht über in 1) entstanden sein mag.
Weiter ist folgender Umstand sehr interessant: Die Gru-
siner (Georgier) nennen die Lasen Tschani; den alten Arme-
niern waren sie bekannt unter dem Namen Tschein, der mit
dem biblischen Tubalkain, dem Erfinder des Kupfers und
Eisens, verwandt ist. Endlich hat die Erforschung der alt-
grusinischen Kirchensprache in dieser das Vorhandensein
einiger lasischer und mingrelischer Wörter dargetan.
Lasisch kann man auch im russischen Reich, nämlich im
Gebiet von Batum hören, in drei Stunden Entfernung von
der Stadt nach Westen, am Meeresufer und höher in der
Murgulschlucht; jedoch ist hier die Sprache stark mit grusi-
nischen und mingrelischen Elementen gemischt. in Batum
selbst sieht man viele Lasen, aber sie sind alle zugereist. Am
reinsten hat sich die lasische Sprache im Westen von Tür-
kisch-Lasistan erhalten, obgleich sie auch hier zuerst von
der griechischen, dann von der türkischen Sprache beeinflußt
wurde. Gebildete Lasen schämen sich ihrer Sprache und ziehen
die türkische vor. Von Batum nach Türkisch-Lasistan zu ge-
langen, ist einerseits leicht, weil man in wenigen Stunden
mit dem Dampfer dahin kommen kann, andererseits schwer,
weil die dortigen Behörden den ausländischen (wohl nur den
russischen?) Touristen und Forschern keineswegs freundlich
entgegenkommen. Prof. Marr erzählt, daß man ihn be-
ständig beobachtet und ihn für einen Spion gehalten habe.
In Archava wurde er sogar von der Polizei arretiert und von
!) Es wäre ungemein interessant zu erfahren, wie Prof. Marr
die Einzelheiten der Argonautensage dem Tschoroch und seinem Bassin
anpaßt. Jedenfalls konnte bei der ungemein starken Strömung dieses
Flusses von einem Einlaufen und Aufwärtsfahren in seinem Wasser
nicht die Rede sein, v. H.
dem Mudir tüchtig angeschrien. Die mit dem Gelehrten
sehr sympathisierende Menge befreite ihn aus der Haft.
Prof. Marr besuchte das Städtchen Atina und die Schlucht
des gleichnamigen Flusses, Wizeh, Archava und Chope. Die
linguistischen Resultate dieser Reise sind zusammengefaßt in
dem Werke, welches eben jetzt gedruckt wird unter dem Titel:
„Grammatik der tschanischen (lasischen) Sprache mit Chre-
stomathie und Wörterbuch“.
Früher erstreckte sich das Gebiet der Lasen wahrscheinlich
weiter nach Westen bis zum Kisil-Irmak, dessen griechische
Benennung Halys man aus dem lasischen Wort, das Wasser
bedeutet, ableiten kann (vgl. grusinisch Zchali). In der Gegen-
wart sind die südlichen Grenznachbarn der Lasen die Chemschi-
nen, im Südwesten und Westen die Türken, besser gesagt ver-
türkte Lasen, im Osten und Südosten mohammedanische Grusiner.
Das Gebiet der Lasen gehört zum Sandschak Ris im Vilajet
von Trapezunt.
Weideland gibt es in Lasistan wenig, die Bevölkerung
beschäftigt sich hauptsächlich mit Acker- und Gartenbau;
ausgeführt werden Haselnüsse und Apfel, auch Zitronen und
Apfelsinen, jedoch sind letztere nicht sehr gut. Mais wird
zwar gebaut, aber nicht in genügender Menge, weshalb solcher
aus Rußland eingeführt wird. Die Lasen beschäftigen sich
auch mit Fischfang; besonders geliebt wird die „Chamsa“ d. i. `
Anschowe. Die meisten Lasen suchen aber ihren Erwerb
außerhalb ihres Landes; berühmt sind im Süden von Ruß-
land die lasischen Holzsäger und Bäcker. Letztere kommen
meist aus der Schlucht von Atina und beherrschen die russische
und polnische Sprache.
Russisches Geld ist in Lasistan mehr als anderes im Um-
lauf, sogar russisches Kupfergeld wird gern angenommen.
Auch im Verkehr untereinander rechnen die Lasen meist
nach Rubeln und Kopeken. Russisches Papiergeld wird fran-
zösischem und türkischem Gold vorgezogen.
Die nach Rußland auf Erwerb gehenden Lasen bringen
sich sehr oft von dort Frauen mit; man behauptet, daß sie
sich für Christen ausgeben und sagen, daß sie mit den Frauen,
wenn auch in die Türkei, jedoch in ein Gebiet mit christlicher
Bevölkerung ziehen. Die Frauen nehmen dann den Islam an.
Das Klima von Lasistan ist im allgemeinen gesund; Ma-
laria herrscht nur in Atina. Neben Fieber sind venerische
und Augenkrankheiten nicht selten, ebenso Tuberkulose. Ve-
nerische und tuberkulöse Krankheiten werden aus Rußland
eingeschleppt. Arztliche Hilfe fehlt fast allenthalben; am
besten steht er in dieser Beziehung noch in Atina, wo ein grie-
chischer Arzt mit einem Diplom der Universität Athen lebt,
auch wohnen dort ein armenischer Feldscher aus Jekatheri-
nodar und ein türkischer Sanitätsbeamter.
Der politischen Gesinnung nach sind die Lasen alle Jung-
türken, und keiner von ihnen hat an der Gegenrevolution
vom Frühjahr 1909 teilgenommen. Nationalistisch-partikula-
144 Bücherschau.
ristische Bestrebungen sind nicht zu bemerken; die Lasen
sind türkische Patrioten aus Überzeugung. Diesen Patriotis-
mus bringen sie aus der unteren, mittleren und hohen Schule
mit. Türkische Zeitungen werden fleißig gelesen.
Als Umgangssprache brauchen die Männer die türkische
und überlassen die Muttersprache den „Weibern“. Übrigens
lebt in Chope ein gewisser Faik-Effendi, der den Versuch ge-
macht hat, ein lasisches Alphabet aufzustellen; unter der
Regierung Abdul Hamids wurde er deshalb verfolgt, sein
Haus wurde durchsucht, seine Arbeiten und Bücher verbrannt,
der Verfasser selbst ins Gefängnis geworfen und später ver-
bannt. Die nationalen lasischen Überlieferungen gehen durch
den Islam verloren. Das Volk selbst legt seine Anfänge um
drei Jahrhunderte zurück und schreibt die christlichen Bauten
im Lande den Mingreliern zu. Es waren aber nachgewiesener-
maßen die Lasen vom 6. bis 16. oder 17. Jahrhundert Christen.
Lasistan
versieht damit das westliche Transkaukasien und sogar die
In die Augen fällt die große Anzahl von Mullas.
türkischen Provinzen. Jetzt sind die alten muselmännischen
Redensarten aus der Mode gekommen, wie diese: „Unter den
Tieren ist das dümmste Geschöpf die Gans, unter den Menschen
der Lase“ oder „Lasischen Brei kann kein Muselman essen“.
Da die Lasen ganz und gar vertürkt sind, so ist es ver-
ständlich, daß sie ihr Volksepos nicht beibehalten haben. Spuren
des Heidentums haben sich in den Namen der Wochentage
erhalten. So heißt der Sonntag bei den Lasen Tag der Sonne,
dann folgt der Tag des Mondes, hierauf der Tag des Himmels.
Der Donnerstag hat den griechisch-christlichen Namen Parae.
Dem Heidentum und dem Christentum entstammt ein all-
mählich aussterbender Feiertag „Litrop“. An diesem Tag ver-
sammeln sich die Lasen aus allen Dörfern am Meer und
baden. v. H.
Bücherschau.
Hermann Oldenberg, Aus dem alten Indien. Drei Auf-
sätze über den Buddhismus, altindische Dichtung und
Geschichtschreibung. VII und 110 8. Berlin 1910, Gebr.
Paetel. 2%.
Das vorliegende Buch enthält drei Abhandlungen. In der
ersten untersucht Oldenberg die christliche und buddhistische
Liebe, die, wie schon oft behauptet, im Buddhismus aus-
geprägter und größer sei als im Christentum. Aber der be-
deutendste Indologe muß die Frage verneinen. Denn im
Buddhismus ist sie die Felge des Gleichmuts, der Friedlich-
keit und Freundlichkeit, des allgemeinen Wohlwollens, aber
niemals tatkräftige, zielbewußte, reine Hingabe des Menschen
an seinen Nächsten. Das lehrt uns ein Vergleich des Sankt
Franziskus mit Sariputta oder Ananda: bei dem einen auf-
opferndes Wirken, bei dem anderen die zur Ruhe des Nirwana
führende Kontemplation. In der zweiten Abhandlung be-
spricht Oldenberg altbuddhistische Dichtungen, in der dritten
die Geschichtschreibung im alten Indien. „Eine eigentliche
Wissenschaft war die Geschichte der Inder nicht.“ Sie blieb
mit der nichtgeschichtlichen, dichterischen Erzählung ver-
einigt, ein Singen und Sagen von alten Zeiten. Der Inder
hat eben mehr Sinn für phantastische Spekulationen als für
historische Realitäten. Denn für diese Volksseele sind andere
als die geschichtlichen Werte entscheidend. Mr.
Albert Zacher, Römisches Volksleben der Gegenwart.
294 8. Stuttgart 1910, Julius Hoffmann. 3 .%
Roms Kunststätten, wie oft werden sie besucht und an-
gestaunt! Doch am Volk geht man achtlos vorbei. Wer
aber Roms Vergangenheit und Gegenwart verstehen will,
muß Roms Bevölkerung kennen. Einen Beitrag hierzu will
Zacher liefern, er will die proteusartige Volkspsyche vor
unseren Augen entfalten. In kurzen Abschnitten schildert
er Wohnung und Kleidung, Wein und Osteria, aber auch
römisches Christentum und Aberglauben, Frauenleben und
Liebe, Volksbildung und Geselligkeit. Auch die weniger er-
freulichen Seiten, wie die Vendetta und Mala Vita, vergißt
er nicht. Das Ganze hat etwas Mosaikartiges an sich, aber
die lebendige Schilderung, die treffliche Zeichnung einzelner
Personen und Charaktere, die Verwertung des Selbsterlebten
und Beobachteten machen das Buch zu einer wertvollen Gabe.
Nicht ein Nachschlagewerk oder Reisehandbuch soll es sein,
sondern ein Weihgeschenk für alle, die in der spröden römi-
schen Volksseele zu lesen sich erkühnt haben und dieser
glücklichen Stunden sich freuen. Mr.
J. G. Frazer, Totemism and Exogamy. A Treatise on
Certain Early Forms of Superstition and Society. 4 Bde.
London 1910, Macmillan and Co. 50s.
Der Verfasser des hochgeschätzten „Golden Bough“, von
dem wohl eine französische, aber noch keine deutsche Über-
setzung vorhanden ist, beschenkt uns hier wieder mit einem
Kapitalwerk, das, man kann wohl sagen, eine kleine Bi-
bliothek vertritt. Die vier stattlichen Bände umfassen zusammen
nicht weniger als 2180 Seiten, und beigefügt sind 8 Karten,
welche die Verbreitung des Totemismus in, den verschiedenen
Ländern zeigt. Lehrreich ist besonders die Ubersichtsweltkarte,
die mit einem Blicke die so verschiedenartige Verteilung des
'Totemismus zeigt: Nordamerika von der Ostküste bis hinauf
nach Alaska mit Ausschluß der pazifischen Stämme; spärliche
Vertretung in Südamerika, unregelmäßige Verteilung bei den
Afrikanern, Mischung mit nicht totemistischen Völkern in
Indien, Allgemeinherrschaft in Australien und Melanesien.
Die sieben Spezialkarten zeigen das dann im einzelnen.
Schon im Jahre 1887 war Frazer mit einem kleinen
Werk über Totemismus hervorgetreten, welches das Wissen
davon erst begründete oder wesentlich erweiterte und da-
mals berechtigtes Aufsehen erregte. Trotz der 23 Jahre, die
seitdem vergangen sind, hatte Frazer das neue wichtige Pro-
blem der Ethnologie damals in seinen Grundzügen richtig er-
kannt, und so konnte er denn die kleine, alles allgemein er-
örternde Schrift jetzt wieder als Einleitung seinem, großen
Werke voransetzen. Als „Entdecker“ des Totemismns muß
freilich, vor Frazer, der Schotte John Ferguson Me Lennen
gelten, aber unser Autor gab die erste bündige Definition,
erläuterte die Etymologie leni der Ojibwaysprache), zeigte
den Unterschied von Totem und Fetisch und schied klar die
verschiedenen Arten, den Sippen-, Geschlechts- und persönlichen
Totem, dabei die religiösen und sozialen Seiten dieser meık-
würdigen Einrichtung erörternd.
Der gewaltige Stoff, welcher seitdem namentlich aus
Australien angewachsen ist, seit einmal die Aufmerksamkeit
aller ethnologischen Forscher darauf hingelenkt war, lieg‘
jetzt in durchgearbeiteter und methodisch vorzüglicher Weise
hier vor. Es ist ein schweres Stück Arbeit gewesen, und
nur ein so mit den verschiedenen Literaturen vertrauter
Gelehrter, wie Frazer, konnte die gewaltige Arbeit bemeistern.
Noch sei vieles einzuernten, und trotz vorgerückten Alters
ist er fleißig bei der Arbeit. My sun is westering and the
lengthening shadows remind me to work while it is day,
sagt er.
Was die Exogamie betrifft, so erscheint sie in dem Werke
nur so weit berücksichtigt, als sie in Verbindung mit dem
Totemismus steht; beide Institutionen werden auch isoliert
für sich gefunden; sie sind ja auch nach Ursprung und Natur
gänzlich verschieden, wiewohl bei einzelnen Völkern Mischun-
gen vorkommen. Dagegen behandelt Frazer die Verwandt-
schaftssysteme, deren Entdecker der Amerikaner Morgan war.
Statt der angenommenen so verwickelten Systeme zeigt
Frazer, daß der Ursprung sehr einfach war. Eine Gemeinschaft
war in zwei exogame und untereinander heiratende Gruppen
getrennt, und alle Männer und Frauen wurden nach ihrer Ab-
kunft und nach der Gruppe, zu der sie gehörten, klassifiziert.
Das Prinzip der Klassifikation war Heiratsfähigkeit, nicht das
Blut. Die maßgebende Frage war nicht: Woher stamme ich?,
sondern: Wen kann ich heiraten? Allerdings umschloß jede
Klasse Blutsverwandtschaften, aber sie gehörte nicht auf Grund
ihrer Blutsverwandtschaft zusammen, sondern wegen ihrer
sozialen Verwandtschaft als mögliche oder unmögliche Gatten.
Als der Brauch der Gruppenehe durch die individuelle Heirat
ersetzt wurde, blieben noch die klassifikatorischen Verwandt-
schaftsbezeichnungen im Gebrauch, doch als die alten Gruppen-
rechte in Abgang kamen, wurden ihre einstigen Bezeichnungen
allmählich zu Ausdrücken, welche die Blut- und Verwandt-
schaftsbande in unserem Sinne bedeuteten. Daher lebt das
klassifikatorische Verwandtschaftssystem heute noch als ein
soziales Fossil, welches den ehemaligen Zustand der Exogamie
und Gruppenehe bezeugt, der längst verschwunden ist.
Die gewaltige kritische Verarbeitung des angeschwollenen
Stoffes über Totemismus, Exogamie und Verwandtschaftssysteme
umfaßt, nach Erdteilen geordnet, den größten Teil des ersten
und den ganzen zweiten und dritten Band, während der Schluß-
band sich mit der Stellung dieser Institutionen in der Sozial-
geschichte und den Theorien über deren Ursprung befaßt.
So tief Frazer hier auch eingedrungen ist, er bescheidet sich
zu bekennen, daß er nicht glaube, hierdurch alle Fragen end-
gültig gelöst zu haben; er selbst habe ja seine Ansichten dar-
über wiederholt geändert. Die Frage nach dem Totemismus
Kleine Nachrichten.
145
in der klassischen Zeit und im alten Orient hat er dabei
ausgeschlossen.
Frazer kommt in
Schlusse, daß man den Totemismus als Faktor von primärer
Wichtigkeit in der religiösen und ökonomischen Entwickelung
seiner Zusammenfassung zu dem
der Menschheit überschätzt habe, namentlich in letzterer
Beziehung, während ein Einfluß auf die Religion allerdings vor-
handen sei; dieser Einfluß sei aber unbedeutend im Vergleich
mit jenem, den Ahnenverehrung und Naturdienst ausüben.
Das Hauptinteresse aber, das wir am Totemismus nehmen,
bestebe darin, daß wir dadurch einen Blick in das kindliche
Gemüt der Wilden erlangen; er eröffne uns ein Fenster in
eine längst entschwundene Vergangenheit. Was die Exogamie
betrifft, so ist sie auch ein Produkt wilder Urzeit, doch ist
das geschichtliche Interesse daran weit tiefer als am Tote-
mismus. Während dieser, falls er je unter den Vorfahren der
zivilisierten Rassen vorhanden war, ohne eine Spur bei deren
Nachkommen zu hinterlassen verschwand, hat uns die Exo-
gamie die noch vorhandenen, für die Heirat verbotenen Ver-
wandtschaftsgrade hinterlassen.
Wie viel oder wenig auch beide Institutionen den heutigen
Kulturvölkern hinterlassen haben mögen, sie wurzeln beide
in wildester Urzeit, und daher ist auch ihr Studium so
wichtig für uns. Sie stellen den letzten Akt eines Dramas
dar; jetzt fällt, vor unserem oder dem nächsten Geschlecht,
der Vorhang für immer. Und nun erhebt Frazer einen Warn-
und Weheruf, der uns an die gleichen Rufe Adolf Bastians
erinnert: „Der Gang der Kultur hat sich so beschleunigt,
ihre Ausdehnung ist so gewaltig geworden, daß viele Natur-
völker, die vor hundert Jahren ihr altes Leben noch ungestört
in den Tiefen der Urwälder oder auf entfernten Inseln lebten,
jetzt aus ihrem Dasein rauh hinausgeworfen und zu Kari-
katuren ihrer Überwinder gemacht werden. Mit ihrem
Schwinden oder ihrer Umänderung geht ein Element von Ruhe,
von Abwechslung und pittoresker Erscheinung aus der Welt.
Vielleicht wird dadurch die Gesellschaft als Ganzes glück-
licher, aber sie wird nüchterner und einförmiger in der Farbe
werden. Für die kommenden Geschlechter aber, die durch
lange Zeiträume von den heute untergehenden Naturvölkern
getrennt sein werden, werden sie ein Gegenstand der Neugier
und Bewunderung sein. Die Schattenseiten schwinden und
die guten glänzen in hellem Lichte. Was wir an Grausam-
keit und Elend bei ihnen noch kennen, wird dann zurücktreten
vor dem Schönen und Guten, was heute noch von ihnen er-
forscht wurde; der Reiz, der bei uns ausgebreitet ist über das
Zeitalter der Patriarchen, über Genesis und Odyssee, über
die frühesten Strahlen der aufgehenden Sonne der Geschichte,
wird dann auch ihnen zuteil werden.“
Franz Boas, The Kwakiutl of Vancouver Island.
(The Jesup North Pacific Expedition, Bd. V, Teil II.)
Leiden 1909, E. J. Brill.
Man kann wohl sagen, daß die Kwakiutl ein Spezial-
forschungsgebiet von Franz Boas sind, auf dem es ihm kein
anderer gleichtut. Merkwürdigerweise empfing er die An-
regungen zur Erforschung dieser Nordwestamerikaner in
Berlin, wo schon vor bald 30 Jahren Material von ihnen
zusammenströmte. Wiederholt ist Boas bei ihnen gewesen,
und ehe er die Arbeit abschließen konnte, die jetzt vor uns
liegt, hat er in den letzten 20 Jahren schon eine Reihe
sehr wichtiger Abhandlungen über sie veröffentlicht. Vieles
ist enthalten in den von der British Association heraus-
gegebenen Berichten über die Nordweststämme von Kanada;
über die Häuser handelte er besonders in den Berichten des
Nationalmuseums 1888; wiederholt und eingehend war die
Sprache Gegenstand seiner Untersuchungen; die Mythologie
wurde in den Verhandlungen der Berliner anthropologischen
Gesellschaft behandelt und die merkwürdigen Geheimbünde
und sozialen Verhältnisse in der Bustianfestschrift und 1906
auf dem Amerikanistenkongreß.
Man erkennt aus dieser Aufzählung, die sich vermehren
ließe, wie Boas mit den Kwakiutl! gleichsam verwachsen ist.
Das große vorliegende, mit vielen vorzüglichen Abbildungen
versehene Werk ist nun ein zusammenfassendes, aber nur
einen Teil des Ganzen behandelndes, da das gesamte geistige
Leben, die Religion, Mythen, Sagen und sozialen Verhält-
nisse ausgeschlossen sind, wohl weil in den früheren Veröffent-
lichungen erschöpfend dargestellt. Seit dem Jahre 1900 hat
Boas die Kwakiutl nicht wieder besucht, aber Ersatz für
vieles, was er nicht persönlich erforschen konnte, hat er
durch die Mitteilungen seines Mitarbeiters Hunt erhalten,
der die Sprache vollständig beherrscht. Und mit dessen
Hilfe gelang etwas sehr Wichtiges: die Indianer diktierten
ihm in ihrer Sprache genaue Beschreibungen ihrer Gebräuche,
Sitten, ihrer technischen Verfahren, welche nun, in der Ur-
sprache und englischen Übersetzung vorliezend, ein zuver-
lässigeres Bild darbieten, als es der gelegentliche Reisende zu
geben vermag. Der Band bringt uns so alles, was sich auf
die Industrie dieser Indianer bezieht, ihre Steinarbeiten (Zer-
schlagen, Durchbohren, Schleifen der Geräte), die Holzarbeiten
(das Material, namentlich Zedern, Flechtwerk, Kähne), das
Spinnen und Weben, das Färben und Malen, Feuermachen.
Die Maße für Raum und Zeit, das Haus und seine Einrichtung,
die Mahlzeiten, die Kleidung, die Fischerei und Jagd nebst
den dazu gehörigen Fallen, Netzen und Bogen werden auf
das genaueste erörtert.
British Museum. Handbook to the Ethnographical
Collections. With 15 Plates, 275 Illustrations and
3 Maps. Printed by Order of the Trustees. 1910.
Unerreicht stehen die Führer und HandbücherdesBritischen
Museums durch ihre Gediegenheit und erstaunliche Billigkeit
bei prachtvollster Ausstattung da. Die mit 100 bis 200 vor-
züglichen Abbildungen versehenen Führer durch die Stein-,
Bronze- und Eisenzeit kosten nur je eine Mark, und das
vorliegende Handbuch von 300 Seiten mit einer Fülle ganz
vorzüglicher Abbildungen, welches die Typen der ethno-
graphischen Gegenstände aller Völker bringt, ist für zwei
Mark fast geschenkt zu nennen. Die Auswahl aus den Samm-
lungen des reichen Museums ist sehr verständig, und der vom
bewährten Konservator Charles H. Read herrührende Text
ist ein Kunststück eigener Art, daß auf einem beschränkten
Raume außerordentlich viel in fachmännisch sicherer Weise
beibringt. Soweit das Handbuch sachliche Dinge der Natur-
völker behandelt, ersetzt es teure, große Werke. Aus-
geschlossen sind noch die Sammlungen, welche die alt-
amerikanischen Kulturvölker und orientalischen Religionen
betreffen, die in besonderen Handbüchern behandelt werden
sollen. R. A.
Volksleben, Gesang und
Ein Beitrag zur
H. Messikomer, Aus alter Zeit.
Humor im zürcherischen Oberland.
Volkskunde. Zürich 1910, Orell Füssli. 4,20 é.
Diese zweite Sammlung ist für jeden, der mit der
zürcherischen Mundart vertraut ist, ebenso lehrreich und
unterhaltend zu lesen, wie die früher im Globus besprochene.
Der Dialektforscher findet in den Erzählungen nicht nur Er-
gänzungen zum Schweizer Idiotikon, sondern auch eine Menge
alter volkstümlicher Bräuche geschildert. Es folgen dann,
hochdeutsch erläutert, die namentlich im vorigen Jahrhundert
viel gesungenen Gitarrenlieder. Es ist aber wenig Volks-
tümliches dabei, und allgemein bekannte Kunstlieder, darunter
H. Heines „Du hast Diamanten und Perlen“, gehören nicht
in das Buch. Dagegen sind die „Spruchbrieflein“, auf die
man jetzt erst aufmerksam wird, echte Volkskinder. Sie
decken sich mit dem, was Marie Andree-Eysn erst kürzlich
in ihrem Buche „Volkskundliches® über Versbriefe veröffent-
licht hat.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Den Zusammenhang zwischen „Abplattung und
Gebirgsbildung“ untersucht A. v. Böhm in seinem so be-
titelten Buche (Wien 1910, Franz Deuticke) und zeigt dabei,
daß mit der durch die Gezeitenreibung veranlaßten Gestalts-
änderung der Erde Massenbewegungen verknüpft sind, die
ausreichen, um die größten und wichtigsten geologisch-dyna-
mischen Vorgänge zu erklären, denen man in der Geschichte
der Erde begegnet: die Verschiebungen der Strandlinie und
die Gebirgsbildung. Das inhaltreiche Buch zerfällt in drei
Abschnitte, von denen der erste eine kurze Einleitung gibt,
die Formeln entwickelt, die für die Berechnung von Rotations-
ausschnitten aus einem Sphäroid gelten, und graphisch die
Bewegungen beliebiger Oberflächenpunkte eines Sphäroids
beim Übergang in inhaltsgleiche Sphäroide von anderer Ab-
plattung oder in die inhaltsgleiche Kugel verfolgt. Der
wichtigste Satz, der sich dabei ergibt, ist der, daß ähnlich
gelegene Punkte auf den Oberflächen inhaltsgleicher Sphäroide
dieselbe reduzierte Breite haben; geht aber das Sphäroid in
146
die inhaltsgleiche Kugel über, so fallen geographische und
geozentrische Breite mit der reduzierten zusammen. Der
zweite Abschnitt wertet auf Grund der im ersten entwickelten
Formeln die Größen für verschiedene Abplattungen von der
inhaltsgleichen Kugel (Abplattung 0) bis zur zehnfachen Ab-
plattung der Erde numerisch aus, der dritte Abschnitt zieht
daraus die geologischen Folgerungen. Er gibt eine Dar-
stellung der Mechanik des Vorgangs beim Übergang der Erde
in ein Sphäroid von geringerer Abplattung, weist die Rich-
tung und Größe der entstehenden Druckkräfte nach und zeigt
wie sich aus dabei auftretenden Vorgängen notwendigerweise
Schwankungen des Meeresspiegels bis zu recht bedeutendem
Ausmaß und Bildung von Gebirgsfalten entwickeln müssen.
Besonders interessant ist dabei, daß nach v. Böhms Ablei-
tungen, seit die Abplattung der Erde zehnmal so groß war
wie jetzt, bei der Verringerung der Abplattung die Zone von
34 bis 55° Breite immer der Schauplatz des größten tangen-
tialen Drucks war, dessen Maximum bei etwa 45° lag. Das
ist aber die Zone der Erde, welche auch im allgemeinen den
Schauplatz der meisten und größten gebirgsbildenden Vor-
gänge darstellt. Gr.
— In der gewohnten Weise ist auch für das Jahr 1908
der Bericht über die periodischen Schwankungen
der Gletscher, von Brückner und Muret verfaßt, erschienen
(Zeitschr. f. Gletscherkunde 1910, Bd. IV, 8.161). Als Gesamt-
resultat ergibt sich, daß der Gletscherrückgang auf der ge-
samten Erde auch im Jahre 1908 fortgedauert hat. Einzelne
Ausnahmen werden sich ja immer zeigen, indem vereinzelte
Gletscher unter dem Einfluß der Witterung, auf die sie je
nach Länge, topographischen Verhältnissen usw. verschieden
stark reagieren, einmal in einem Jahre stationär werden oder
auch geringes Vorschreiten aufweisen. Im folgenden Jahre
schließen auch diese sich jedesmal wieder dem allgemein
herrschenden Rückgang an, so daß ein Vorschreiten in größerer
regionaler Verbreitung, welches allein für bedeutendere An-
derungen der klimatischen Verhältnisse beweisend wäre, nicht
eingetreten ist. Auch das im vorigen Bericht angezeigte
Vorrücken der norwegischen Gletscher, das sich auch bei den
schwedischen Gletschern fühlbar macht, hat sich wieder
etwas vermindert. Da keine weiteren Anzeichen des Gletscher-
wachsens gemeldet werden und die für Skandinavien fest-
gestellte Ausnahme das allgemeine Bild nicht wesentlich
ändern kann, muß man also sagen, der Gletscherrückgang
ist immer noch eine allgemeine Erscheinung auf der ganzen
Erde. Gr.
— Durch die Regulierung der Neuen Maas und Durch-
stechung der Dünenkette bei Hoek van Holland ist ein neuer
Zugang vom Meer nach Rotterdam für Seeschiffe in
einer Länge von 33km und einer durchgehenden Tiefe von
8m bei Niedrigwasser geschaffen worden, der sogenannte
„Neue Wasserweg nach Rotterdam“ Es hat sich nun
herausgestellt, daß er seit seiner Eröffnung im Jahre 1879
zugleich mit der fortschreitenden Vertiefung einen größeren
Einfluß auf die Gezeiten erhalten hat, indem dadurch das
Fortschreiten der Flutwelle nach Rotterdam um 40 Minuten
beschleunigt wurde und damit auch ein bedeutendes An-
wachsen der Flutgröße gleichen Schritt gehalten hat. (Ann.
d. Hydr. 1910, 8. 271.) Gr.
— Einige Ergebnisse aus Schneemessungen in den
Schweizer Hochalpen und ihre Beziehungen zu den
Schwankungen der Firnlinie teilt der Direktor des Schweize-
rischen Meteorologischen Instituts zu Zürich, Dr. J. Maurer
mit (Meteorol. Zeitschr. 1910, 8. 289), die von großer Wichtig-
keit für das Verhalten und besonders die Ernährung der
Gletscher sind. An Zahlenmaterial, besonders vom Säntis und
der neuen meteorologischen Station Eigergletscher, wird der
Zusammenhang zwischen dem Schneefall, den Schneehöhen
und ihrem jährlichen Gang, sowie der Lage der Firngrenze
und ihrer Verschiebung betrachtet und kritische Bemerkungen
über die Versuche, alle diese Größen rechnerisch zu ermitteln,
angeschlossen. Interessant ist es, dabei zu hören, daß sich
in den letzten Jahren fast durchweg ein bedeutendes Über-
wiegen der jährlichen Abschmelzung über den Anfall an
Schnee herausgestellt hat, ein Ergebnis, das auch durch die
Beobachtungen an dem Nivometer von Orny (Glacier de
Trient) wesentlich gestützt wird. Gleiches ergaben die Beob-
achtungen an der Firndecke des Titlis, der, wie man hierbei
mit Interesse vernimmt, dauernd von der Meteorologischen
Zentralstation in Zürich aus unter Beobachtung gehalten wird.
Hierzu werden starke Fernrohre, zum Teil die Refraktoren der
benachbarten Sternwarte benutzt und damit nicht nur quali-
tative Beobachtungen, sondern auch Messungen vorgenommen,
so daß hier eine Reihe auch aus Tagen gewonnen werden
Kleine Nachrichten.
konnte, wenn der Gipfel nur sichtbar, aber das Hochgebirge
nicht zugänglich ist. Auch hierbei wurde ein dauerndes
starkes Überwiegen der Abschmelzung über die Ernährung
durch Schnee in den letzten Jahren festgestellt, was durch
einige beigegebene Bilder des Titlisgipfels in vorzüglicher
Weise belegt wird. Den Schluß machen einige kritische Be-
merkungen über den Zusammenhang zwischen dem Verhalten
der Gletscher und den Brücknerschen Perioden der Klima-
schwankung, der nach den von Maurer mitgeteilten Zahlen
bei weitem nicht so ausgesprochen und viel verwickelter ist,
als man seither meinte. Gr.
— Kulturgeschichtlich betrachtet stehen unsere einfachen,
erhaben in Holz geschnitzten alten Tapetendruckplatten kaum
höher (sobald wir bloß auf die Technik achten), als manche
ähnliche Platten, welche Naturvölker zum Aufdrucken von
Mustern auf ihre Haut benutzen. Von den alten Karaiben
hat man die dazu dienenden Druckwalzen gefunden, und die
Guanchen der Kanarischen Inseln haben uns die Pintaderas
hinterlassen, Stempel, mit denen sie sich Verzierungen auf
die Haut farbig aufdruckten. Jetzt lernen wir durch Joyce
(Man, Juni 1910) die Farbestempel der Buschongo im
Kasaidistrikt der belgischen Kongokolonie kennen, die in
recht gefälligen Mustern und Formen aus Holz geschnitzt
sind und in der Gestalt von Frauenköpfen, Beilen, Rudern
usw. erscheinen. Sie heißen tukula, und die auf ihnen ent-
haltenen Muster werden mit einer roten Farbe auf den Körper
bei festlichen Gelegenheiten, aber auch auf Geflecht aus
Palmblättern aufgedruckt. Die rote Farbe wird von den
Frauen durch Zerreiben des an sich roten Tukulaholzes in
Wasser erhalten; so entsteht eine Paste, die verhärtet auf-
bewahrt und vor dem Gebrauch wieder angefeuchtet wird.
Noch ist zu erwähnen, daß diese oft zu Figuren gestalteten
Tukulapasten beim Tode ihres Besitzers zum Andenken an
diesen an die trauernden Freunde verteilt werden.
— Moritz Mainzer berichtet in seiner Schrift über
Jagd, Fischfang und Bienenzucht der Juden in der
tannäischen Zeit (Frankfurt a. M. 1910, J. Kauffmann). Ob-
wohl iın Alten Testament wenig hiervon die Rede ist, zeigt
doch’ die talmudische Literatur, daß Jagd und Fischfang aus-
geübt wurden. Mit Pfeil, Schleuder, Netzen, Fanggruben und
Käfig, mit Leimrute und Lockvogel betrieb man die Jagd
auf Vierfüßler und Federwild. Auch Jagdhütten von Rohr
und Schilf geflochten errichtete man im Dickicht des Jordan-
tales. König Herodes versuchte sogar nach römischer Sitte
Hetzjagden einzuführen, aber ohne Erfolg. Zum Fischfang
benutzte man Netze, Harpunen, Angelhaken, Reusen und
Schleusen. Besonders fischreich war der See Genezareth,
an dessen Ufer einst Jesus seine Jünger berief. Hier lagen
größere Fischerdörfer, wie Bethsaida, deren Bevölkerung sich
ganz der Fischerei widmete. ‚Die Bienenzucht lieferte Wachs
und Honig, der, wie bei den Agyptern und Römern, zu Heil-
zwecken Verwendung fand. Wunden wurden mit Honig be-
handelt; Sommerhonig, bei Konjunktion von Venus, Jupiter
und Mars gesammelt, galt als Mittel gegen den Tod. Nach
der Überlieferung wurde der Leichnam der Hasmonäerin
Mariamne mit Honig einbalsamiert. In der talmudischen
Literatur finden sich ferner Ansätze zur Bildung eines Jagd-
und Fischereirechtes. Vornehmlich das Bienenrecht weist zahl-
reiche Parallelen mit den deutschen und römischen Rechts-
grundsätzen auf, wenn auch die Bestimmungen über die
Sabbatruhe genuin jüdisch waren.
— Die deutschen Weilerorte betitelt sich eine Ab-
handlung von O. Behaghel in „Wörter und Sachen“, II,
S.42, in welcher er den Ursprung der im deutschen Süd-
westen so häufigen Ortsnamen Weil und Weiler nachweist.
Es herrschten darüber bisher sehr verschiedene Ansichten.
Arnold hatte sie den Alemannen zugewiesen, Heeger den
Franken, Hans Witte den Keltoromanen, Cramer (für das
Gebiet von Aachen) den Römern. Und dahin gelangt auch
die gründliche Untersuchung von Behaghel, der die Ableitung
von villa, villarium oder villare nachweist, zumal Weil und
Weiler von Haus aus keine germanischen Wörter sind. Wenn
beide mit deutschen Besitzernamen verbunden sind, so zeigt
er, daß deren Namen nicht die ursprünglichen, sondern die-
jenigen späterer Besitzer sind. Der Hauptnachweis gelingt
Behaghel aber dadurch, daß er die Weilernamen überall
geographisch verfolgt und zeigt, wie sie sich an den alten
Römerstraßen und besonders bei den alten Römerkastellen
gruppieren. Je weiter nach Norden und Osten, je näher dem
römerfeindlichen Gebiete Germaniens, desto spärlicher wird
die Verbreitung der Weilerorte, deren (wenige versprengte
Orte abgerechnet) Hauptverbreitung in der deutschen Schweiz,
Kleine Nachrichten. 147
Elsaß- Lothringen, der Rheinpfalz, Württemberg, Teilen Alt-
bayerns, Baden, Hessen, der Rheinprovinz liegt, also in Land-
schaften, die einst von den Römern besetzt waren.
— Von Herrn Heinrich Erkes wird uns aus Mjóifjördur
(Island) unter dem 1. August geschrieben: Der Glämujökull
im Nordwesten Islands, der mit dem Drangajökull auf allen
Karten Islands als ein großes Firngebiet der nordwestlichen
Halbinsel verzeichnet steht, ist kein Jökull, d. h. kein Gletscher
oder Firnfeld; so behauptete der Botaniker Stefán Stefánsson,
Direktor der Realschule zu Akureyri, in Heft 1 der isländi-
schen Zeitschrift „Skírnir“ von 1910. Im kürzlich erschie-
nenen Heft 2 dieser Zeitschrift äußert sich Prof. Th. Thoroddsen
dahin, daß die Beschaffenheit der Gläma für eine endgültige
Lösung der Streitfrage wohl noch nicht genügend untersucht
sei. Demzegenüber mag es von Interesse sein, daß nach
meinen Erkundigungen tatsächlich die Bauern aus dem
Mjöifjördur — dieser Fjord erstreckt sich von Norden aus
dem Isafjardardjúp zur Gläma hin — manches Mal über den
„Gletscher“ gestiegen sind, ohne über Eis oder Firn zu kommen,
vielmehr auf dieser Höhe nur Gestein, und zwar die überall
im Nordwesten Islands vorkommende, vom Frost zersprengte
Basaltdecke vorfanden. Nur nach strengen Wintern und in
kalten Sommern bleibt der Schnee auf der Gläma das ganze
Jahr hindurch liegen. Diese in der Umgegend der Gläma
allgemein bekannte Feststellung scheint allerdings die Ansicht
Stefän Stefänssons zu bestätigen, daß die Gläma kein Jökull
ist und nicht länger als Gletscher oder Firnkuppe auf den
Karten Islands verzeichnet bleiben darf.
— Über die von der British Ornithologist? Union aus-
gesandte englischeExpedition nach Holländisch-Neu-
guinea (vgl. zuletzt Bd. 98, 8.50) werden im „Geogr. Journ.“
für Juli und August einige weitere Angaben gemacht. Trans-
portschwierigkeiten scheinen das Vorwärtskommen verzögert
zu haben. Kapitän Rawling, der Topograph, berichtet, daß er
mit Goodfellow und Shortridge am 16. Januar in von den
Eingeborenen gekauften Kähnen den Mimikafluß hinaufge-
fahren sei und am obersten erreichbaren Punkt, sieben Tage-
reisen von der Küste bei dem Dorfe Tipue ein Basislager
errichtet habe. Hierher wurden dann alle erreichbaren Vor-
räte gebracht. Inzwischen fand Rawling 13km westlich vom
Lager einen breiten Fluß, den Obota, der sich, wie sich er-
gab, unterhalb Wakatimi in den Mimika ergoß. Dr. Marshall
befuhr ihn fünf Tage lang und nahm ihn auf, konnte aber
der Stromschnellen wegen Rawlings Lager nicht erreichen.
Am 17. Februar glückte es Rawling unter großen Schwierig-
keiten, die Berge zu erreichen, und er legte dort in einigen
hundert Fuß Höhe ein Lager an, in dem er einige Zeit allein
mit drei Gurkhas verblieb. Nachdem Dr. Wollaston ange-
kommen war, machten beide einen erfolglosen Versuch, eine
Lichtung auf einem der Berge zu gewinnen; dafür erhielten
sie von einer anderen Stelle in 520 m Höhe eine Rundsicht,
die sie belehrte, daß der Busch sich ununterbrochen, soweit
das Auge reichte, ausdehnte. Deshalb mußte jeder Schritt seit-
wärts vom Flusse mit dem Buschmesser erkämpft werden.
Während jenes Aufstiegs traf man auf die früher erwähnten
Pygmäen. Für das Vorwärtskommen konnte von den Ein-
geborenen keinerlei Hilfe erlangt werden, auch fanden sich
keine Kulturen: die Leute leben ganz von dem, was wild
wächst, und einigen wenigen Fischen. Die letzten Nach-
richten über die Expedition datieren vom 1. Juni und wissen
von neuen Schwierigkeiten und schlechtem Wetter zu be-
richten. Man will nun versuchen, von einem östlich von
Tipue liegenden Punkt in das Hochgebirge zu gelangen, und
zwar ist das Ziel die Carstenszspitze, die für höher gehalten
wird, als die von der Lorentzschen Expedition erreichte
Wilhelminaspitze.
— Die Forsehungsfahrt des „Michael Sars“ im
Nordatlantischen Ozean (vgl. Bd. 96, S. 370) begann mit
der Abreise von Plymouth am 7. April d. J. Die Arbeiten
standen unter der Leitung von John Hjort, die übrigen wissen-
schaftlichen Teilnehmer waren Prof. Gran, Helland-Hansen
und Kapitän Iversen; auch befand sich Sir John Murray an
Bord, auf dessen Veranlassung die Expedition ausgerüstet
worden war. Uber ihre Tätigkeit und Ergebnisse ist bisher
u. a. folgendes bekannt gegeben worden. An den meisten
der 74 Beobachtungsstationen wurden physikalische und
biologische Untersuchungen vorgenommen, und es wurden
über 600 Temperaturmessungen in verschiedenen Tiefen aus-
geführt. Diese Temperaturbeobachtungen stimmen sehr gut
mit denen des „Challenger“ überein, aber die Bestimmung
des Salzgehaltes und der Dichtigkeit des Wassers hat neue
Resultate ergeben. Die Strommessungen in der Straße von
Gibraltar zeigten, daß die Grenze zwischen den oberen (öst-
lich gehenden) und den unteren (westlichen) Strömungen in
einer Tiefe von 50 bis 100 Faden liegt, wechselnd mit den
Gezeiten. Die größten gemessenen Geschwindigkeiten waren
etwa fünf Knoten. In den warmen Gewässern der Sargassosee,
wo die Schleppnetze der deutschen Plankton-Expedition wenige
Pflanzen erlangt hatten, zeigte die Zentrifugalmaschine, daß
das Wasser hier Pflanzen von den kleinsten Formen enthielt,
die den Maschen des feinsten Seidennetzes entgehen mußten;
sie fanden sich zu Tausenden in Tiefen bis zu 50 Faden.
Prof. Gran ermittelte eine Menge neuer Spezies und konnte
durch mikroskopische Quantitativuntersuchungen ihre ver-
tikale Verteilung feststellen. Das Temperaturprofil durch den
Golfstrom südlich der Großen Bänke zeigte unerwartete Er-
gebnisse: sowohl die Temperatur wie das Plankton deuten
auf einen Gegenstrom am südlichen Rande des Golfstromes
hin. Deshalb folgte der „Michael Sars“ dem Laufe des Golf-
stromes durch den Atlantischen Ozean, ständig beobachtend.
Das Ergebnis soll später mitzeteilt werden.
— Professor Louis Gentil von der Sorbonne, bekannt
durch seine geologischen Forschungsreisen in Marokko, ist
vom französischen Unterrichtsminister mit einer neuen Stu-
dienreise dorthin beauftragt worden. Sein Ziel ist diesmal
das Muluja-Tal, mit dessen Untersuchung er seine früheren
Studien im algerisch-marokkanischen Grenzgebiet ab-
schließen will.
— Auf 8. 35 des 97. Globusbandes war von De Lacostes
Reise durch die westliche Mongolei die Rede. Der
Reisende war Ende September 1909 nach Kobdo gelangt.
Er ist inzwischen nach Frankreich zurückgekehrt und hat in
der Pariser geographischen Gesellschaft einen Vortrag ge-
halten (abgedruckt in „La Geographie“, Bd. XXI, 8.375 bis
384, mit Übersichtsskizze). Danach führte die Weiterreise
von Kobdo in nordwestlicher Richtung über den mongolischen
Altai (Taschuntopaß) nach dem in 1800 m Meereshöhe ge-
legenen russischen Grenzposten Kasch-Agatsch und dann am
Katun abwärts und über Biisk nach der Bahnstation Obi
(November).
Es sei hier einiges aus den allgemeinen Bemerkungen
De Lacostes über die Mongolei mitgeteilt: Das Klima ist recht
ungünstig, die Winter sind streng, und auf ein stürmisches
Frühjahr folgt ein furchtbar heißer Sommer, der durch die
unglaublichen Fliegenschwärme und durch häufige Stürme
von großer elektrischer Kraft noch unerträglicher gemacht
wird. Trotz dieser Stürme aber ist Regen spärlich, doch fallen
Hagelstücke von nicht gewöhnlicher Größe. Die Mongolen
fürchten den Blitz, der auch häufig Verheerungen anzurichten
pflegt. Vegetation findet sich auf den Steppen, aber Bäume
fehlen ganz, außer auf den nördlichen Abhängen einiger
Gebirgsketten, die den feuchten Nordwinden ausgesetzt sind.
In Anbetracht der Dürre des Gebiets überrascht es aber doch
einigermaßen, wenn man sieht, welch wasserreiche Neben-
flüsse zur Selenga und zum Baikalsee gehen. Das erklärt
sich aus dem reichlichen Schnee des Winters.
Zwischen Urga und Uliassutai sah der Reisende nicht
ein einziges Haus; die Bevölkerung schien spärlich und ärm-
lich, die Herden durch Hunger und Durst dezimiert zu sein.
Das aber ist nicht dem Mangel an Subsistenzmitteln zuzu-
schreiben; denn das Gras der Steppen wäre ausreichend, wenn
nur die Mongolen sich die Mühe nehmen wollten, es für den
Winter in Heuschobern aufzubewahren. Die Lage der Mon-
golen ist höchst elend, da sie von den Chinesen, ihren eigenen
Lamas und Mönchen, ihren einheimischen Fürsten und den
Geldverleihern unterdrückt und ausgesogen werden. Zwischen
Urga und der sibirischen Grenze begegnete De Lacoste 400
bis 500 Chinesen, die von einem Auswanderungsbureau in Urga
abgeschickt waren, um die meistversprechenden Landstriche
zu besetzen und zu kolonisieren, und es hatte hin und wieder
den Anschein, als wollten die Chinesen diese Maßnahme bis
zum eventuellen Ausschluß der Mongolen durchführen. De
Lacoste bemerkt, daß die Russen hier nicht so einflußreich
wären wie in Kaschgarien; denn ihre Konsuln in Urga und
Uliassutai hätten keine Militärbedeckunz, und in Kobdo
(1000 Einwohner) gäbe es überhaupt keinen.
— Zum Schutz der Alpenflora. Der Verein zum
Schutz und zur Pflege der Alpenflora (Sitz Bamberg) hat sich
in den letzten Jahren um die Schonung der gefährdeten
Alpenblumen große Verdienste erworben. Auf seine Anregung
ist eine neue Verordnung zurückzuführen, die der Bezirks-
amtmann Graf Lerchenfeld für Berchtesgaden und Bad
Reichenhall in den Bayerischen Alpen erlassen hat. In
einer früheren Verordnung war das Ausgraben und Ausreißen
von Edelweiß, Alpenrose, Zwergalpenrose, Alpenveilchen, Berg-
mandel, Braunelle, Christblume, Frauenschuh, Gamsblume,
148
Kleine Nachrichten.
Seerose, gelber und kleiner Teichrose und Steinrösl verboten.
Die neue distriktspolizeiliche Vorschrift enthält folgende all-
gemein interessierende Bestimmungen: „$1. Der Schutz wird
auf stengellosen Enzian, Türkenbund, Fliegenorchis, Alpen-
zwergstendel, Knabenkraut, Kuckucksblume, wohlriechendes
Köhlröschen oder Schweißbleaml, Hirschzunge ausgedehnt.
$2. Als Pflanzenschonbezirk wird erklärt das Gebiet, das
einerseits von der Landesgrenze, andererseits von einer Linie
begrenzt wird, die vom Torrener Joch nach dem Königburg-
Bach und von dem Königsbach zum Kessel, dann über den
Königssee zum Eisbach, diesen entlang zur Hirschwiese, von
dieser über die Rothleitenschneid zum großen Hundstod ver-
läuft. $3. Auf dem in Absatz 2 bezeichneten Gebiete ist
das Pflücken, Abreißen, Ausgraben, Ausreißen, Sammeln und
Fortbringen wild wachsender Pflanzen aller Art verboten. Aus-
genommen ist das Sammeln wild wachsender Pflanzen zu
wissenschaftlichen Zwecken durch Personen, die sich
im Besitz eines vom Bezirksamt Berchtesgaden widerruflich
auszustellenden Erlaubnisscheines befinden. Ferner das Aus-
graben und Sammeln von Enzianwurzeln durch die mit forst-
amtlichem Erlaubnisschein versehenen Personen. Die Er-
laubnisscheinesind beim Sammeln und Fortbringen mitzuführen.
Die gemäß $4 der oberpolizeilichen Vorschriften ausgestellten
Erlaubnisscheine gelten für Pflanzenschonbezirke nicht. Zu-
widerhandlungen gegen diese Vorschriften werden mit Geld
bis zu 150 4 oder mit Haft bestraft.“
Im Anschluß hieran sei erwähnt, daß auch in Berchtes-
gaden ein alpiner Pflanzgarten angelegt wird. Das in der
Hinter-Gern gelegene Gelände hat Kommerzienrat Stöhr aus
Leipzig, nach dem das auf dem sagenreichen Untersberg er-
richtete Stöhrhaus genannt ist, angekauft. Es ist Aussicht
vorhanden, daß spätestens im nächsten Jahr die Anlage des
großzügig gedachten Alpengartens in Angriff genommen wird.
Während der in Bad Reichenhall zu errichtende Alpengarten
etwa 500m ü. d. M. liegen wird, ist jener in einer Höhe von
` 900 bis 1000 m gedacht. Dr. C. 0. Hosseus.
— Ein Teil der Mitglieder der Grönland-Expedition
Ejnar Mikkelsens ist am 19. August d. J. mit dem Zweit-
kommandierenden Marineleutnant Laub an Bord eines Grön-
landfahrers in Aalesund eingetroffen; dagegen sind Mikkelsen
selbst und ein anderes Mitglied namens Iversen in Grönland
verblieben, und über ihr Schicksal ist nichts bekannt. Das
Expeditionsschiff ist Ende März d. J. vom Eise zerdrückt
worden.
Mikkelsens Hauptaufgabe war, nach den Leichen Mylius-
Erichsens und Hagens zu ‚suchen, die im November 1907 auf
ihrem Rückzuge vom Danmarkfjord in Nordgrönland über
das Inlandeis zum Schiffe dem Hunger und der Kälte erlegen
waren, und deren Tagebücher und Karten heimzubringen,
die sie vor Antritt ihres Todesmarsches vermutlich am Dan-
markfjord bei Kap Reichstag zurückgelassen hatten. Nach
Erledigung dieser Aufgabe wollte Mikkelsen den Pearykanal
nach Westen hinaufgehen und ermitteln, ob dieser ein iso-
lierter Sund oder ein Teil eines ausgedehnten Fjordsystems
wäre (vgl. die Karte im Globus, Bd. 94, 8.320). Im einzelnen
ist der Reiseplan 8. 339 des 95. Globusbandes skizziert worden.
Von dem tatsächlichen Verlauf der Expedition ergaben die
ersten kurzen Nachrichten folgendes Bild.
Mikkelsen verließ mit sechs Gefährten an Bord der
„Alabama“, eines kleinen, mit einem Petroleummotor ver-
sehenen Schoners, Anfang Juli 1909 Kopenhagen und ging
an der Shannoninsel ins Winterquartier.. Noch im Herbst
1909 begab sich eine Schlittenexpedition von drei Mann an
der ostgrönländischen Küste nordwärts bis nach Lambertland
(79'/%° n. Br.), um dort ein Depot für die Frühjahrsreise an-
zulegen und nach Mylius-Erichsens und Hagens Leichen zu
suchen, die in dieser Gegend vermutet werden. Man fand
sie aber nicht. Die Frühjahrsschlittenreise zum Danmarks-
fjord begannen Mikkelsen und Iversen am 3. März 1910, sie
verließen an diesem Tage das Schiff und zogen über die Dove-
bucht (bei Kap Bismarck) nach Norden. Mikkelsen hatte Laub
die Weisung gegeben, auf seine Rückkehr nicht länger als
bis zum 1. August 1910 zu warten, dann vielmehr mit dem
Schiffe die Heimfahrt anzutreten. Er ist bei dieser Weisung
offenbar von der Erwägung ‚ausgegangen, daß es sich für
ihn vorteilhafter erweisen könnte, nach der Untersuchung
von Danmarkfjord und Pearykanal die Westküste Grönlands
hinunter nach den Niederlassungen am Smithsund zu gehen,
anstatt nach der Ostküste zurück. Drei Wochen nach Mikkel-
sens Abgang wurde die „Alabama“ vom Eise zerdrückt, doch
konnte die Bemannung sich und die Vorräte auf der Shannon-
insel in Sicherheit bringen. Als nun Mikkelsen und Iversen
ausblieben, errichtete Laub für sie ein Haus auf Shannon,
das er mit Lebensmitteln für zwei Jahre ausstattete, und be-
nutzte die am 7. August sich bietende Gelegenheit, mit einem
Fangschiff heimzukehren.
Ein besonderer Grund für Besorgnisse um Mikkelsens
und Iversens Schicksal liegt nun nicht vor; denn zweierlei
ist wahrscheinlich. Sie können um Nordgrönland herum den
Smithsund erreicht haben und vielleicht noch in diesem
Herbst mit einem der letzten Dampfer zurückkehren. Oder
sie sind mit Verspätung nach der Shannoninsel gekommen,
und treffen dort zufällig noch einen Walfischfänger, der sie
mitbringt, oder überwintern da und benutzen im Sommer
1911 eine Gelegenheit zur Heimreise. Freilich kann auch
irgend ein unglücklicher Zufall, wie er ja in der Polar-
forschung sich nicht selten ereignet hat, den beiden ver-
hängnisvoll geworden sein; auch damit muß man eben rechnen.
— Die Tektonik des schweizerischen Tafeljura
erörtert Ed. Blösch (Neues Jahrb. f. Miner. 1910, 29. Beilage-
band). Das älteste Gestein ist ein Biotitgneis, der älter als
Devon ist und von verschiedenen Eruptivgängen durchsetzt
wird. Unter deın Grundgebirge lagerten sich in der Perm-
zeit die Breceien und roten Tone des Rotliegenden; erstere
dürfen als verkitteter Gehängeschutt des hereynischen Gebirges
aufgefaßt werden. Das Wüstenklima reicht noch weit in die
Buntsandsteinzeit hinein. Eine kontinentale Senkung machte
die Gegend zum Meeresufer und während der Ablagerung
des Muschelkalkes zum Meeresboden. Nach der Hebung blieb
das Meer während der ganzen Jurazeit im Lande, meist aller-
dings nicht tief. Zur Malmzeit hob sich der Schwarzwald
wieder und ihm folgte auch das ganze Gebiet im Süden.
Gegen Ende der Eozänzeit sank der Westen des Gebietes, im
Mittel- und Oberoligozän traten dann wieder langsame He-
bung mit Brüchen am Anfang des Rheintalgrabens und Ver-
werfungen im Basellande auf. Zur Miozänzeit sackte sich
der südliche Teil, während der Schwarzwald beständig stieg.
Gegen Ende der Miozänzeit begann die Jurafaltung. Bei der
Gebirgsbildung zog sich das Meer zurück, und eine gewaltige
Erosion setzte ein. Die alpinen Eiszeiten bedeuten für das
Gebiet jeweilen Perioden der fluvioglazialen Aufschüttung,
während in den Interglazialzeiten erodiert wurde. Der Ost-
rhein floß zuerst noch zur Donau und die Aare über Basel
nach Frankreich. Nach Abla zerung des Deckenschotters kam
neue Bewegung in die starre Erdrinde. Das Rheintal von
Basel abwärts sank so weit ein, daß das Wasser nach Norden
abfloß. Gleichzeitig fanden Bewegungen auf den Verwerfungen
in Baselland statt. Auch nach Ablagerung der Hochterrasse
wurden die Steppentiere der Lößzeit durch Erdbeben suf-
geschreckt, die Folgen von neuerlichen Dislokationen waren;
diese dauern heute noch fort. Die vierte alpine Vergletsche-
rung erreichte auch dieses Gebiet. Die Eisströme aus den
Alpen, dem Jura und dem Schwarzwald vereinigten sich und
überfluteten den Tafeljura bis gegen Basel. Der Urgestein-
sporn bei Laufenburg am Rhein bereitete schon damals dem
Rhein große Mühe. Er zwängte sich durch ein tiefes Canon
südlich der jetzigen Stadt und verschüttete dann sein Bett
mit Niederterrassenschotter. Überall, wo heute Stromschnellen
sich finden, liegt eine Stromverlegung vor. Während früher
der Rhein nach Osten floß, kommt jetzt Donauwasser durch
die Aach in den Rhein. Die eigentliche Ursache ist das
Absinken des Rheintalgrabens und die dadurch bewirkte
Tieferlegung des ganzen Flußsystems.
— Die Vegetation des Oberrheins schildert R. Lau-
terborn (Verhandl. d. naturh.-med. Ver. zu Heidelberg 1910,
N. F., 10.Bd.). Dabei ergibt sich die Beobachtung, daß der
Planktongehalt eines fließenden Gewässers in erster Linie
abhängig ist von der Stärke der jeweiligen Planktonzufuhr,
die ihm aus seinen stehenden Hinterwassern zuteil wird.
Dem Gefälle kommt nur eine sekundäre Bedeutung zu, indem
bei Abnahme desselben die mitgeführten suspendierten Sand-
und Schlickpartikel rascher sedimentieren. Die zahlreichen
Altwasser des Rheines drohen leider mehr und mehr zu ver-
schwinden, obwohl die Vegetation der strömenden Altrheine
und Seitenarme so manches Beachtenswerte bietet. Die Ver-
landung schreitet bei all diesen Wasserteilen durchgehends
rapide vorwärts, aus ihnen wird meist Sumpf, dann Ellern-
bruch und Wiesenmoor. Obgleich der Oberrhein in mehr
als 300km langem Laufe eine weite Talebene durchfließt, ist
er trotzdem bisher biologisch noch kein ausgesprochener
Tieflandstrom, sondern hat in Fauna und Flora noch viel-
fach den Charakter eines Gebirgswassers bewahrt. Auf die
biogeographische Bedeutung des Oberrheins als Verbindungs-
glied zwischen der Flora und Fauna der nordischen Gewässer
und derjenigen des Alpenvorlandes will Verfasser später ein-
gehen und eine Reihe von Belegen aus dem Tier- und
Pflanzenreich dazu beibringen.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 56. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr.10.
BRAUNSCHWEIG.
15. September 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Einige Beobachtungen über tropische Schutzkrusten und Wadibildungen.
Von Dr. Herbert Burmester. München.
Mit 8 Abbildungen nach Photographien des Verfassers.
In jeder Felswüste treten zwei Phänomene auf, welche
das Charakteristikum bilden für die weiten, öden Land-
flächen, über denen die heiße Sonne der Subtropenzone
leuchtet: die tropische Schutzkruste und die viel-
fach gewundenen Trockentäler mit steilen, glatten Seiten-
wänden, die Wadis. J. Walther !) bezeichnet die Schutz-
kruste der Schutzrinde geradezu als Leitfossil der
Wüste. Unter diesem Worte versteht man einen in allen
Wüsten vorkommenden sehr dünnen, harten Überzug der
Felsen. Dieser Überzug, der starker, trockener Hitze
seine Entstehung verdankt, besteht aus Eisen- oder
Manganoxyden, die durch Ritzen der Kruste mit einem
scharfen Instrumente zu unterscheiden sind. Nach
J. Walther ?) zeigt eine gelbe Strichfarbe junge eisen-
oxydhydrathaltige Kruste an, rote Strichfarbe ältere Rinde,
die sich durch Wasserverlust in Eisenoxyd verwandelt
hat, während ein grauer Strich Gehalt an Manganoxyd
angibt. Die Farbe der Kruste selbst wechselt zwischen
tiefem Schwarz, hellem Grau und allen ins Braun gehen-
den Schattierungen, wobei im wesentlichen der Gehalt
an Kieselsäure mitwirkt, indem die Kruste um so dunkler
ist, je reicher das Gestein an Kieselsäure ist). Ebenso
ausgesprochene Erscheinungen in der Felswüste sind die
tief in die horizontalen Plateaus eingerissenen Schluchten,
die von hohen, unnahbaren Wänden begleitet sind und
oft mit einer gewaltigen Steilwand blind enden, nachdem
sie sich stundenlang, ja tagereisenweit in den harten Fels
eingeschnitten haben.
Schutzkrusten und Wadis sind also die wichtigsten
Erscheinungen der Felswüste und scheinbar völlig unab-
hängig voneinander, indem die Wadis als das formgebende
Element, die Rinden als sekundäre Begleiter auftreten.
Vielleicht aber lassen sich bei genauerer Untersuchung
der Schutzkruste in den Wadis Zusammenhänge erkennen,
die sowohl auf die Bedeutung der Krusten wie auf das
Wesen der Wadibildungen ein helleres Licht werfen
können.
Die Wüste östlich des Niltales, die in der Nähe von
Kairo beginnt, ist eine ausgesprochene Felswüste, in der
alle Erscheinungen, welche diese in so reichem Maße
kennzeichnen, in verschiedensten Formen auftreten. Die
Kalkplateaus des Gebel Mokattam bei Kairo und die sich
südlich anschließenden Partien, die östlich von Heluan
gelegen sind, bieten ein vortreffliches Feld zur Wüsten-
1) Johannes Walther, Gesetz der Wüstenbildung, 8. 21.
Ebenda. Neuere Untersuchungen erklären die Schutz-
rinde für Flechtenbildungen.
®) J. Walther, Denudation in der Wüste.
Globus XCVIII. Nr. 10.
beobachtung, einerseits wegen ihrer leichten Erreichbar-
keit von Kairo aus, andererseits, weil gerade für die
Heluaner Gegend die vorzügliche Karte t) Georg Schwein-
furths existiert, so daß die in Frage kommenden Plateaus
und Schluchten leicht identifiziert werden können. An
der dort angenommenen Nomenklatur wurde darum auch
im folgenden festgehalten.
I. Untersuchungen über die Wirkung der Schutz-
kruste auf die Intensität der Verwitterung.
In der Wüste ist ein strenger Unterschied zu machen
zwischen Gesteinspartien, welche der Sonne ausgesetzt
sind, und solchen, die wenig oder gar keine Sonnenstrah-
lung erhalten. Die ersteren Teile sind mit Kruste be-
deckt, die härter als das Muttergestein ist, und werden
von der Verwitterung oberflächlich schwer angegriffen,
eine Eigenschaft, welche dieser Kruste den Namen „Tro-
pische Schutzkruste“ gegeben hat. Diese Schutzrinde
bildet sich überall dort auf den Felsen, wo sie der Sonnen-
strahlung direkt ausgesetzt sind, kriecht aber auch in
kleine, oberflächliche Vertiefungen hinein, in welche keine
Sonnenstrahlen fallen können. Somit dürfte es im wesent-
lichen die Erhitzung des Gesteins sein, welche eine Ver-
bindung des Gesteins mit den in der Luft befindlichen
Eisen- und Mangansalzen bzw. Flechtenbildung begünstigt.
An den im Schatten liegenden Partien ist das Gestein gegen
oberflächliche Verwitterung durch keine Rinde geschützt,
die Feuchtigkeit des Nachttaues oder eines der seltenen
Regen kann sich länger halten, und ungehindert kann hier
die chemische Verwitterung angreifen. Die Verwitterung
beginnt also an Schattenpartien, bildet dort kleine, allmäh-
lich sich nach innen erweiternde Höhlungen oder Über-
hänge, bis schließlich sich eine Höhle ihre Seiten oder Deck-
wand von innen durchbrochen hat, oder das Dach eines
Überhanges infolge seines eigenen Gewichts eingestürzt
ist. Man nennt diese Erscheinung Verwitterung von innen
nach außen. Ist nun z. B. ein gewaltiger Felsblock, der
das Dach eines Überhanges gebildet hatte, herabgebrochen,
so bildet sich an der Bruchstelle alsbald von neuem
Schutzkrustee Nun aber fällt es entschieden auf, daß
solche Blöcke, die als Reste der Decke eines Überhangs
auf dem Boden liegen, an allen Seiten Schutzrinde zeigen
und trotz dieses Schutzes ausgesprochene Höhlungen
aufweisen, die von innen die Kruste durchbrochen haben,
*) G. Schweinfurth, Die Umgegend von Heluan als Bei-
spiel der Wüstendenudation.
20
150 Burmester: Einige Beobachtungen über tropische Schutzkrusten und Wadibildungen.
Abb. 1. Baustein bei der Cheopspyramide mit Schutzrindenlappen.
so daß die Kruste in großen Lappen von der Höhlendecke
herabhängt. Abb. 1, die einen Baustein aus den um die
Cheopspyramide verstreuten Tempelruinen zeigt, läßt er-
kennen, daß die herabhängenden Teile den Grund der
von ihnen gebildeten Höhlungen beschatten, also der
Höhlenbildung Vorschub leisten und somit zur rascheren
Verwitterung beitragen. Diese Lappen und Überhänge
verdanken aber nur der Schutzrinde ihr Bestehen, denn
diese schützt sie vor zu raschem Vergehen, ja manchmal
ist alles Muttergestein der Verwitterung schon zum Opfer
gefallen und nur die härtere Schutzrinde hängt noch,
mehrfach schon von innen angenagt, Schatten spendend
als Höhlendach oder zerborstene Seitenwand am Felsen.
Wir sehen also, daß der Name Schutzkruste nur insofern
eine Bedeutung hat, daß sie das unmittelbar darunter
liegende Gestein vor oberflächlicher Verwitterung, die
ohnehin gering ist, schützt. Dagegen aber begünstigt
sie die in der Wüste maßgebende Schattenverwitterung,
indem sie durch ihre größere Härte und Lebensdauer
länger schattengebende Partien als Höhlendach oder
Seitenwand bestehen läßt, als es ohne diesen
Schutz der Fall sein könnte. Die Schutz-
kruste schützt also das Gestein nicht
vor der Zerstörung, sondern beschleunigt
diese im Gegenteil dadurch, daß sie durch
Schattenspende die Aushöhlung der Felsen
rascher fortschreiten läßt. Wir sehen daher,
daß die Existenz der Schutzrinde nicht eine
für die Wüstenbildung hindernde Macht ist,
sondern als begünstigender Faktor für die
Entstehung der Felsformen, der gesamten
Oberflächenbeschaffenheit aufzufassen ist und
somit auch bei der Entstehung der Wadis
seine Bedeutung haben muß. Es ist hiermit
natürlich nicht gesagt, daß die Schutzkruste
die Verwitterung bedinge, denn man findet
auch verkrustete Felsen, die keine Verwitte-
rung aufweisen; wo aber einmal die kleinste
Höhlung, etwa schon vor der Krustenbildung,
entstanden ist, gibt die Kruste den wider-
standsfähigen Deckmantel, unter dessen
Schatten die Unterminierung des Felsens
ruhig arbeiten kann. Es sind infolgedessen
auch alle die Felsblöcke, welche die stärkste
Verkrustung aufweisen, am intensivsten an-
genagt, es sind alte Felsen, bei denen Kruste
und Verwitterung Zeit zur Entwickelung hatten.
Um aber zu erkennen, ob es in der Wüste viel-
leicht eine „Wetterseite* gibt, welche etwa die
Südseite sein könnte, wegen der dort größeren
Sonnenstrahlung, wandte ich mich an ägyptische
Bauwerke. In der Wüste selbst sprechen zu
viele Faktoren mit, als daß man dort ein reines
Resultat erhalten könnte. Die Windrichtung,
die Härte des Gesteines sind hierbei maßgebend,
und schwerlich wird man Blöcke finden mit
zweifellos gleichalterigen Bruchstellen, die ver-
schiedenen Himmelsgegenden ausgesetzt sind.
Es ist bekannt, daß die Steine, welche zu den
ägyptischen Bauten verwendet wurden, schon
jetzt nach 6000 Jahren Kruste an der Ober-
fläche zeigen. Eines der bekanntesten Beispiele
ist das von G. Schweinfurth gefundene Stauwerk
im Wadi Geraui bei Heluan. Die dort ver-
wendeten, nach Osten schauenden Blöcke sind
oben wenig angefressen, zeigen deutliche Bräu-
nung; jedoch ist in dem weichen Gips in jeden .
Block eine deutliche Höhlung hineingewittert.
Für unsere Zwecke bieten aber die Pyramiden,
welche allen vier Himmelsgegenden ausgesetzte Seiten
besitzen, das günstigste Studienobjekt. Von den Pyra-
miden bei Giseh kommt nur die Chefrenpyramide in
Betracht, da nur sie noch teilweise den ursprüng-
lichen Mantel in der Nähe ihrer Spitze aufweist. Bei
den anderen finden wir angewitterte Blöcke, bei denen
die Zeit ihrer Bloßlegung unbestimmbar ist. An der
Chefrenpyramide besitzt aber keine der vier Seiten eine
merklich stärkere Bräunung als die anderen, auch die Ver-
witterung hat ziemlich gleich stark angegriffen. Die
steile Sommersonne hat also Kraft genug, auch auf der
Nordseite Schutzkruste zur Entwickelung zu bringen.
Wir haben dadurch für die Untersuchung der Wadis
die große Erleichterung, daß wir bei Krusten- und Ver-
witterungsuntersuchungen die Lage der Felsen in bezug
auf die Himmelsrichtung gegenüber anderen Faktoren ohne
große Fehlerquelle vernachlässigen können. Richten wir
unser Augenmerk auf den Sphinx (Abb. 2), so bemerken wir,
daß auf dem Hinterkopfe starke Kruste und ausgesprochene
Verwitterung auftritt, in dem nach Osten gerichteten
-e
Burmester: Einige Beobachtungen über tropische Schutzkrusten und Wadibildungen. 151
Gesicht aber wenig Kruste und geringe Verwitterung. Ob
hier etwa durch verschiedene Bearbeitung des Materials
dieser Unterschied bedingt ist, entzieht sich meiner
Kenntnis, jedenfalls aber
existiert die Tatsache, daß
hier bei fehlender Kruste
auch die Verwitterung
fehlt.
Es sei hier noch eine
eigenartige Anordnung
der Rinde erwähnt, wo-
bei sich auf normal braun
verkrusteten Felsen eine
örtliche, schlackenartig
aufgelagerte Kruste fin-
det, die manchmal in selt-
samen Figuren vollkom-
men willkürlich angeord-
net erscheint. Diese Rinde
ist tiefschwarz und stets
erhaben. Schneidet man
einen solchen Stein durch,
so liegt unter diesen An-
- häufungen meist dunk-
leres Gestein, das Höhlen,
Knollen bildet, oder auch
in Schichten angeordnet
ist. Die Härteprobe er-
gibt, daß es Hornstein-
einsprengungen im Kalk
sind, wodurch auch ohne
weiteres die dunklere
Farbe des Gesteines er-
klärt ist, da diese bei zu-
nehmendem Gehalt an
Kieselsäure auch an
Dunkelheit der Farbe
zunimmt. Hornsteinein-
sprengungen erscheinen
ja auch in einer Gegend,
wo vielfach verkieseltes
Holz gefunden wird,
nicht als unwahrschein-
lich. Jedenfalls aber sehen
wir, daß härteres Gestein
erhaben ist gegenüber
krustenbedecktem Kalk.
Der Kalk verwittert also,
seine Schutzkruste hält
der äußeren Verwitterung
nicht unbedingt stand
und erneut sich ständig
wie etwa die menschliche
Haut, ohne dabei aus-
gesprochene Abschup-
pung zu zeigen. Zu ihrer
Erneuerung nimmt sie
Material von dem Mutter-
fels, bedingt also eine ihn
verkleinernde Verwitte-
rung von außen nach
innen.
Diese natürlich sehr
langsame Verwitterung
von außen nach innen
Abb.3. Abschuppung in der Reilschlucht.
Abb.4. Blindende der Sclaterschlucht.
geht Hand in Hand mit der weit rascheren und wich-
tigeren Schattenverwitterung.
Nicht immer arbeitet sich die Kruste kontinuierlich
in den Fels hinein, es gibt Fälle, wo sich die Kruste in
dünnen Schichten vom Gestein loslöst: die Erscheinung
der Abblätterung oder Desquamation. In diesen Fällen
wird diese Tatsache der Sprengwirkung durchgepumpter
und dann kristallisier-
ter Salzlösungen zuge-
schrieben 5).
Abb.3 zeigt das Blind-
ende der Reilschlucht bei
Heluan. Wir sehen hier
eine teilweise Loslösung
der Schutzkruste, welche
hier eine kohlkopfartige
Verwitterung bedingt.
Abb.4 zeigt neben
dunkeln, verkrusteten
Partien am Blindende
der Sclaterschlucht helle,
frische Flächen, von denen
die Kruste losgelöst ist.
An diesen frischen Stellen
bildet sich aber wieder
neue Kruste, welche wie-
derum durch Schatten-
spende zur Verwitterung
beiträgt; es wird somit
in diesen Fällen durch
Mitwirkung des Salzes
ein intermittierender Vor-
gang an Stelle des zuerst
betrachteten kontinuier-
lichen angebahnt.
I. Wasserwirkungen
in der Wüste.
Der langgestreckte
Lauf, den alle Wüsten-
wadis besitzen, läßt auf
eine Anlage derselben
durch Wasser schließen.
Die Hauptfrage hierbei
ist die, ob die jetzt
zur Verfügung stehenden
Wassermengen zur Aus-
bildung genügen oder ob
früher größere Nieder-
schläge stattfanden. Für
den Sinai scheint eine Plu-
vialperiode®) wohl nach-
gewiesen zu sein.
W. F. Hume’) schließt
aus gewaltigen Schotter-
ablagerungen und unter
Berücksichtigung der all-
gemeinen Temperaturab-
nahme zur Eiszeit in Eu-
ropa auf die Existenz
größerer Schneefelder in
früheren Perioden. Jeden-
falls aber stellt er für
den Sinai unzweifelhaft
fest, daß jetzt in den
Schotterablagerungen der
Wadimündungen die De-
nudation die Ablagerung
*) Johannes Walther, Gesetz der Wüstenbildung, 8.20.
°) J. Walther, Gesetz der Wüstenbildung, 8. 44.
7) W. F. Hume, The Topo
graphy and Geology of the
Peninsula of Sinai (Cairo 1906), 8. 127.
20*
152 Burmester: Einige Beobachtungen über tropische Schutzkrusten und Wadibildungen.
übertrifft, daß sich also jetzt kleinere
Flüsse in die von gewaltigen Fluten
ausgeschwemmten Schottermengen
ein Bett graben. Wir können hier-
aus nicht ohne weiteres Schlüsse
auf das Niltal ziehen, aber die ge-
nauere Betrachtung der heutigen
Wadiformen gibt uns verschiedene
Kennzeichen, daß neben der all-
gemeinen Verwitterung auch die
Wassererosion ihren Anteil an
der Modellierung des Reliefs der
Wüste hat, und zwar in früheren
Zeiten in größerem Maße als
heute. Betreten wir eines der be-
deutenderen Wadis der Heluaner
Umgebung, etwa das Wadi Hof,
so erkennen wir ohne weiteres, daß
wir uns in einem Tale befinden, in
dem das Wasser seine Wirkung
äußert. Der Boden besteht aus
deutlich gerolltem Sand; ist er
aus anstehendem Fels, so finden
wir ausgesprochene Wassererosions-
rinnen, die konkaven und konvexen
Bogen sind deutlich ausgeprägt;
hier ausgespülte, weiße Hohlkehlen, dort angehäufte
Schuttmassen. Nun aber richten wir unseren Blick auf
eine harte Kalkbank, über die erodierende Wassermassen
ohne Zweifel darüber gehen, wenn ein seltener Regenguß
seine belebenden Fluten herniedergesandt hat. Auf dieser
Kalkbank finden wir an den Stellen, wo das Wasser nur
mit verminderter Kraft fließen kann, leichte Anflüge von
Schutzkruste, während dort, wo das Wasser in heftigem
Schwalle seine Furchen getrieben hat, nicht das geringste
Zeichen von Bräunung zu erkennen ist. Somit hat also
an manchen Stellen das Wasser, an anderen die Kruste
den Sieg davongetragen. Um diesen Kampf von Kruste
und Wasser besser studieren zu können, untersuchte
ich die Kalkbänke in den Nebenwadis, weil dort aller
Voraussicht nach der geringeren Wassermengen halber
die Krustenwirkung stärker sein mußte. Diese Ver-
mutung fand ich bestätigt, denn ausnahmslos zeigte der
Abb. 5.
Abb. 6.
Stufefin der Derflerschlucht mit Kruste und Wassererosion.
Erosionsschlucht im Wadi Dugla.
Boden der Nebenwadis dort, wo er harte Kalkbänke auf-
wies, dunkle Krusten über früheren Erosionsschliffen.
Noch klarer wurde das Bild an kleinen Stufen innerhalb
der Wadis und an den Blindenden. Abb. 5 einer Stufe
in der Derflerschlucht zeigt deutlich den Unterschied
zwischen den dunkeln, mit Kruste versehenen Partien
und dem weißen, glatt gewaschenen Erosionsstreifen. Am
Fuße dieses Streifens, der eine ziemlich tiefe Rinne dar-
stellt, ist unten ein großes Strudelloch entstanden. In
der ganzen Breite des Absturzes findet sich sonst nur
brauner, verkrusteter Fels, über den kein starker Wasser-
fall vernichtend rinnt. Diese erodierte Kalkbank liefert
einen beredten Beweis, daß heute die Krustenwirkung
der Erosion gegenüber an Ausdehnung gewinnt, denn
die ausgewaschene Bahn des Regenwassers nimmt nur
einen kleinen Teil der Gesamtbreite des Wadibettes ein.
Außerdem sind die mit brauner Rinde überzogenen Par-
tien des Abbruches nicht teilweise
wieder ausgespült, wie wir es in
den Hauptwadis sahen. In den
Hauptwadis kommen noch so
viel Wassermassen zusammen, daß
sie der beginnenden Verkrustung
sich erwehren können, in den
Nebentälern ist die Kraft schon
erlahmt, und schmaler und un-
bedeutender wird der Bereich des
Wassers. In der Reilschlucht oder
Sclaterschlucht (Abb. 4) besteht
das Blindende aus einem gewalti-
gen Felszirkus, in den sich eine
schmale, unverhältnismäßig kleine
Erosionsrinne eingegraben hat.
Auf dem genannten Bilde der
Selaterschlucht überschaut das
Auge die Steilabstürze, ohne die
Wasserrinne zu sehen, da sie, für
den PBeschauer unsichtbar, im
linken Winkel eingegraben ist.
Dieser nur wenige Meter breite
und tiefe Weg konnte niemals so
viel Wasser beschaffen, daß es zur
Ausarbeitung des Wadis genügt
Burmester: Einige Beobachtungen über tropische Schutzkrusten und Wadibildungen. 153
Abb. 7.
Oberlauf des Wadi Dugla.
hätte. Eines der besten Beispiele bietet das Ende
des Wadi Dugla bei Turra, eines Hauptwadis, bei dem
die Wassererosion stärker, aber trotzdem noch sehr
gering auftritt. Stundenlang begleiteten das Wadi fast
senkrechte Seitenwände auf seinem gewundenen Wege,
endlich schließen sie sich in einem Halbkreise mit dunkel
verkrusteten Wänden von 20 bis 30 m Höhe. Es ist aber
kein eigentliches Blindende, welches in diesem Tale auf-
tritt, da hier eine 10 bis 20 m tiefe und nur wenige Meter
breite Erosionsrinne eingerissen ist, die sich in einer Längs-
ausdehnung von etwa 100m bis zu einer 30 m höheren
Stufe des Wadis erstreckt. Abb. 6 zeigt links die Ero-
sionsschlucht als schmalen dunkeln Streifen in dem breiten
Bette eingegraben, Abb. 7 die gesamte Breite des Wadi-
oberlaufes, der sich über eine kurze Steilstufe auf das in
Abb. 6 betrachtete Niveau stürzte.
Aus dieser Bilderfolge dürfte zu erkennen sein, daß
sich ehemals ein breiter Strom in den Kessel stürzte
(Abb.7) und von diesem in einem zweiten Falle über die
unteren Wandpartien in das Wadibett herunterbrauste,
während jetzt das Wasser des breiten Oberlaufes unver-
hältnismäßig stark zusammen-
geschnürt wird, durch die enge
Rinne hindurchströmt (Abb. 6)
und sich schließlich im unteren
Bett wieder verbreitert. Daß
die Wirkung dieser auf so ge-
ringe Breite zusammengedrängten
Wassermengen augenscheinlich
stark ist, zeigen die mächtigen
Strudellöcher, die im Schlucht-
grunde eingebettet sind, aber die
Schlußwand, wo früher das Wasser
als Fall darüberfloß, ist braun,
verkrustet. Dort rinnt kein zer-
störendes Wasser mehr, ja selbst
die Erosionsrinne wird wohl nur
bei starken Regenfällen ganz aus-
gefüllt, denn auch an ihren oberen
der Sonne zugänglichen Partien
beginnt sich schon ein zarter
Hauch von Schutzkruste
zu zeigen. — Außer diesen Merk-
Globus XCVIII. Nr. 10.
Abb. 8.
Vegetationsstreifen im Unterlauf des Wadi Dugla.
malen, die sich aus der Verfolgung
des Widerstreites der entstehenden
Rinde und des strömenden Wassers
ergeben, lassen sich noch ver-
schiedene Momente für die Wahr-
scheinlichkeit größerer Wasser-
mengen auffinden, Tatsachen, die
vielleicht im einzelnen nicht so
schlagend sind, aber in'ihrer Summe
die vertretene Ansicht einer Art
Pluvialperiode unterstützen
können. In den Wadis, und zwar
vorzugsweise in den Seitentälern,
finden wir oft inselartige Block-
ansammlungen, denen das Wasser
im Bogen ausweicht und die uns an
ähnliche Erscheinungen in Alpen-
tälern erinnern. Die Seiten- oder
Mittelfelder bestehen aus meist
stark gebräunten und verwitterten
Blöcken verschiedener Größe; sie
zeigen, obwohl sie oft mitten im
Wadi liegen und auf beiden Seiten
die gesammelten Regenwasser vor-
beiströmen, keine Kennzeichen von
Wassertransport und Rollung, ein
Zeichen, daß jetzt das Wadi nicht mehr völlig von strö-
mendem Wasser ausgefüllt wird. Ferner hat sich zwi-
schen den Blöcken in ihrem Verwitterungsschutt bereits
eine üppige Vegetation angesiedelt, die hier, ohne durch
fließendes Wasser gestört zu werden, gedeiht. Diese
Existenz stärkerer Vegetation zeichnet auch durchweg
die Nebenwadis aus, während in den Haupttälern infolge
der sich dort zeitweise ansammelnden größeren Wasser-
fluten meist nur stellenweise dürftige Fettkräuter und
Dornen ihr Dasein fristen, die von dem reißenden Wasser
verschont geblieben sind. An vielen Stellen der Wadi-
seitenhänge finden wir die Gehängeschotter, die ja meist
aus Krustenbrocken bestehen, in Form ausgesprochener
Wasserdejektionskegel angeordnet, die völlig festge-
backen sind. In diese älteren Gebilde haben sich die
jüngeren, kleinen Erosionsrinnen der heutigen Regen-
wasser eingerissen.
Richten wir nun unser Augenmerk auf das Wadi
Geraui, in dem die alten Ägypter ein Stauwerk errichtet
hatten, so erklärt sich die Anlage eines Stauwerkes nicht,
wenn wir die jetzigen Regenmengen in Betracht ziehen,
21
154 Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen.
da es wegen eines Regenfalles innerhalb mehrerer Jahre
keinen Zweck hätte, solch mühsame Bauten auszuführen.
Die Existenz eines Stauwerkes zeigt Wassermangel zur
Zeit der alten Ägypter; aber sie mußten über mehr Wasser
verfügen als jetzt, um es nutzbringend verwerten zu
können. Ein beredtes Zeichen für die Klimaänderung
Ägyptens geben ja auch die vielfach vorhandenen ver-
steinerten Holzreste, die ebenfalls Feuchtigkeit zu ihrer
Entstehung voraussetzen. So erhalten wir den Eindruck,
daß sich eine langsame Klimaänderung vom Feuchten zum
Trocknen im Niltale vollzogen hat. Daß zur Zeit der
alten Ägypter ein sekundärer Maximalwert an Feuchtig-
keit bestanden haben mag, dem das Stauwerk im Wadi
Geraui seine Erbauung verdankt, erscheint gar nicht un-
wahrscheinlich. In neuester Zeit ist das ägyptische Klima
tatsächlich feuchter geworden, nachdem durch den großen
Staudamm von Assuan die Felder länger mit Wasser ver-
sorgt werden, und sich sowohl die Fläche des Frucht-
landes wie die Dauer der Bewässerung vergrößert hat.
Es muß darum zu den Zeiten, als der Moirissee (Birket
Karun) und das ganze Fayum als großes Reservoir unter
Wasser standen, der Feuchtigkeitsgehalt der Luft wie
die Niederschlagsmenge gewachsen sein.
II. Wadibildungen.
Im vorangegangenen wurde versucht, eine Reihe von
Erosionserscheinungen heranzuziehen, welche in uns den
Eindruck erwecken, daß die Anlage der Wüstentäler der
betrachteten Gegenden nicht durch dieselben Wasser-
mengen geschaffen werden konnte, die heute existieren.
Der Kampf, den das Wasser mit der Kruste führt, gab
uns den Fingerzeig und ließ uns erkennen, wie in den
Nebenwadis die Verkrustung den Sieg davonträgt, wäh-
rend in den Hauptschluchten allein noch genügende
Wassermengen zusammengebracht werden, die der
Krustenwirkung ausreichenden Widerstand entgegensetzen
können. Der Kampf entbrannte, als noch häufig sich
Wasser in mächtigem Schwalle durch die Täler ergoß;
die Kraft des Wassers erlahmte, und langsam gewann die
Kruste die Oberhand.
Betrachtet man auf einer ebenen Fläche die Entstehung
eines Wadis, so fallen uns langgestreckte, gekrümmte
Vegetationsstreifen auf, die sich in kleinen Senkungen
hinziehen und bereits den späteren gewundenen Lauf
eines Wadis darstellen (Abb. 8). Es sind dies Rinnen,
in denen bei einem Regen das Wasser fließt, Tümpel
bildet und so den Vegetationsstreifen entstehen läßt.
Diese Pflanzen halten mit ihren Wurzeln die Feuchtig-
keit länger, geben dadurch ihrer Umgebung die Möglich-
keit, rascherer Verwitterung als die trockenen Partien
und arbeiten somit für die zerstörende Wirkung chemi-
scher Agenzien vor. An irgend einer Stelle bildet sich
ein Überhang, Einbruchskessel weiten sich aus; ein Wadi
beginnt kenntlich zu werden. Das Wesentliche scheint
mir daran das Zusammenwirken von Vegetation und
Wasser zu sein, welches bestimmte, langgestreckte Streifen
der früher gleichartigen Wüstenfläche auflockert und
durch subterrine Erosion späterer Verwitterung
leichter zugänglich macht. Daß im Untergrunde der
Wadis Wasser vorhanden ist, beweisen die Zisternen, die
sich stets im Laufe von Tälern finden. Die Ausbildung
in der jetzigen Zeit ist aber im wesentlichen durch
Krustenverwitterung und Überhangsbildung gegeben. Die
sich hieran reihende Schlußfolgerung, daß nun keine lang-
gestreckten Täler, sondern kesselförmige Einbrüche ent-
stehen müßten, trifft aber unter Berücksichtigung des
soeben Entwickelten nicht zu. Betrachten wir die Ver-
witterung in den Wadis genauer. Wir wissen, daß
mächtige Blöcke durch Unterhöhlung herabstürzen, das
Wadi erweitern helfen und nach ihrem Zerfalle als Ge-
hängeschutt liegen bleiben. Es werden sich einerseits
Kessel ausbilden, andererseits wird sich das Tal nach
rückwärts einschneiden. Da aber das Gestein in der
Rückwärtsverlängerung des \Wadis durch Vegetations-
einfluß und subterrine Erosion für die Verwitterung vor-
bereitet ist, so muß die Ausgestaltung des Wadis in dieser
Richtung ungleich rascher fortschreiten. Es haben sich
auch tatsächlich schon starke Kesselerweiterungen ge-
bildet, und zwar in erster Linie dort, wo kleine Bachbette
in das Wadi münden, was als selbstverständlich erscheint,
wenn wir eine Prädisponierung für Verwitterung voraus-
setzen dürfen.
Außer dieser Anlage durch Wasserwirkung kommen
natürlich auch andere geologische Momente in Betracht,
wie verschiedene Gesteinshärte und Verwerfungen. Das
Wadi Dugla z. B. läuft ein Stück in einer Verwerfungs-
kluft, seine letzten, schon deltaartig verteilten Arme haben
die Verwerfungsreihe sehr gut aufgeschlossen (Abb. 8:
links geneigte Schichten, rechts horizontale).
Im vorangegangenen war versucht worden, im An-
schlusse an Betrachtungen über die Schutzkruste und
ihre Wirkungen, über das Gegeneinanderarbeiten von
Wasser und Rinde zu zeigen, daß in früheren Zeiten
die Wasserwirkung, jetzt die Arbeit der Krusten-
verwitterung maßgebend für das Relief der Wüste
ist. Gleichzeitig aber sahen wir, daß Erosion und Ver-
witterung Hand in Hand miteinander wirken, daß das
Wasser vorarbeitet und auf gelockertem Boden die an-
deren Kräfte eingreifen können. Und außerdem er-
kannten wir den jetzigen Unterschied, der zwischen Haupt-
und Nebentälern besteht; im Nebenwadi Anhäufung
verwitterter Blöcke in mächtig getürmten Haufen, im
Hauptwadi überwiegende Erosion und Transport
des zertrümmerten Materials durch zeitweilig nach
stärkeren Regen hier sich noch sammelnde Wasser-
mengen.
Die Brautwerbung der Balten und Westslawen').
Volkskundliche Streifzüge an der Ostgrenze Deutschlands.
Von Prof. Dr. Tetzner.
I. Die deutsche Ostgrenze beginntim Norden bei Nimmer-
satt und durchschneidet hier den südwestlichsten Zipfel
der lettischen Sprachinsel. Von Nimmersatt bis Dube-
ningken durchwandern wir das litauische, und von da
1) Vgl. Tetzner, Die Slawen in Deutschland. Heirats-
gebräuche der Altpreußen, 8.22; der Litauer, 8.81 bis 85,
58 bis 62; der Letten, 8.158 bis 160; der Masuren, 8.191 bis
193; der Philipponen, 8.241 ff.; der Tschechen, 8.258, 262;
bis zur äußersten schlesischen Südspitze polnisches Sprach-
gebiet; und zwar in Ostpreußen masurisches, in Posen
und in Schlesien polnisches. In Ostpreußen überwiegt
auf der Linie Nimmersatt—Scheschuppe die litauische,
der Mährer, 8.277 ff.; der Sorben, 8.305 bis 324, 343 ff.; der
Polaben 8.368 bis 374; der Slowinzen, 8.429, 432 bis 436; der
Kaschuben, 8.458 bis 461; der Polen, 8.485 bis 491. — Der-
selbe, Die Slowinzen und Lebukaschuben, 8.58, 70 bis 82,
Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen.
155
von dabis Wielitzken die deutsche, und nun so weit, bis
die Oder eintritt, die masurisch -polnische Bevölkerung,
die sich im äußersten Süden mit der tschechisch-mähri-
schen im Kreise Ratibor mischt. In Masuren liegt auch
das Philipponenländchen, dessen Einwohner ihrem Stamme
nach Ostslawen, Weißrussen waren, die aber heutzutage
durch Mischheiraten und nach Erlernen der deutschen
und masurischen Sprache und wegen Aufgabe der alt-
russischen Sitten sich in die westslawische Bevölkerung
als ein Stamm besonderer Eigenart eingefügt haben.
Wir finden an der deutschen OÖstgrenze sämtliche baltische
und westslawische Stämme vereint oder benachbart und
sollten meinen, daß volkskundliche Studien in diesem
Gebiete recht erhebliche Eigenart der Stämme erweisen
würden. Dies wäre nun, was das Volkstümliche angeht,
zu prüfen, und da ist von vornherein festzustellen, daß
natürlich die Sprache mit allem, was mit der Sprache
zusammenhängt, jedem der erwähnten Völker und Stämme
seine Grenze zieht und sein Gepräge gibt. Ein weiterer
Untersuchungsgegenstand sind die Sitten und Gebräuche,
insbesondere die Hochzeitsgebräuche. Und auf diese
will ich näher eingehen, vorläufig nur auf die Werbungs-
gebräuche. Heutzutage freilich sind die Unterschiede
überhaupt nur in abgelegenen Orten zu finden. Es hat
sich alles bereits so ausgeglichen, daß nur selten der
eifrige Sucher etwas Eigenartiges entdecken kann. Das
war vor 400 bis 600 Jahren anders. Die Leute, die
damals über unsere Balten und Westslawen schrieben,
ein Peter v. Dusburg (1326), Äneas Sylvius (1405 bis
1464), insbesondere Simon Grunau (1524), Erasmus Stella
(1518), Kaspar Hennenberger (1584 ff.), Balthasar Russow
(1584), noch mehr Johann (1551) und Hieronymus Ma-
letius (um 1560), taten sich etwas darauf zugute, Volks-
tümliches barbarisch zu finden und zu schelten, und die
folgenden Jahrhunderte haben bis an die Schwelle der
Neuzeit daran festgehalten. Und so ist auch bei den
meist von Pastoren herrührenden Schilderungen von Ein-
horn (1649), Prätorius (um 1680), Lepner (um 1690),
Schütze u. a., auch bei den weltmännischen Berichten
von Äneas Sylvius, Herberstein (1557), Brand (1673) nie
zu vergessen, in welcher Absicht die Veröffentlichung er-
folgte, und daß ihnen die Objektivität, ja selbst oft der
Wille zur Objektivität abging. Ich schweige ganz von
den Fabeleien Grunaus und Stellas und setze den Bericht
der beiden Maletius an die Spitze. Er ist in diesen
Punkten nach Abzug der humanistisch - selbstbewußten,
für Sabinus berechneten Worte wohl glaublich und er-
streckte sich nach den beigegebenen Sprachproben auf
Balten und angrenzende Slawen, insbesondere Weißrussen.
Der Bericht ist auch insofern interessant, als er mit
Dusburgs Bemerkungen für alle Zeit die Quelle für die
Darstellung der baltischen Hochzeit bot, unter anderem
bei Lukas David (1576), Kaspar Schütz (1592), Waisse-
lius (1599), Hartknoch (1684), Lukanus (1748). Hiero-
nymus Maletius stützt sich auf seines Vaters 1551 im
Druck herausgegebenen Brief über die Opfer und den
Götzendienst der alten Preußen, Liven und anderer Nach-
barvölker, in dem es heißt: „Bei den Sudauern, Kuren,
Schameiten, Litauern haben vielerorts die heiratsfähigen
Mädchen eine Klingel (tintinabulum) am Gürtel bis zu
den Knien herabhängen. Sie werden auch nicht in die
Ehe geführt, sondern geraubt, nach Spartanersitte, wie
sie Lykurg einführte. Geraubt werden sie aber nicht
vom Bräutigam selbst, sondern von zweien seiner Ver-
wandten. Und nachdem sie geraubt worden sind, dann
erst wird — nach Einholung des elterlichen Jaworts —
die Ehe geschlossen.“ Johannes Maletius fährt nun fort,
die Hochzeit zu schildern, die mit der dreimaligen Führung
der Braut um den Herd beginnt. Hieronymus hat diese
Beschreibung fast wörtlich übernommen, doch so, daß
bei ihm als Verlobungsbrauch erscheint, was der Vater
als Hochzeitsbrauch aufführt. Auch sein Anfang lautet
anders. Er schreibt in seiner „Warhafftigen beschreybung
der Sudawen“ von jren sponsalien vnd verlöbnus, wie folgt:
So einer begehrt eines Mannes Tochter, so gibt er sie
ihm nicht vergebens, er muß ihm eine Mark oder zehn geben,
nach seinem Reichtum; so er nicht Geld gibt, so gibt er
einen Ochsen oder Getreide, er will sein Kind keinem Freund
umsonst geben, er muß auch der Braut geloben, einen Borten
und Mantel zu kaufen; wenn sie nun versagt ist, so bittet
sie ihrer Freunde Frauen und Jungfrauen, auf daß sie mit
ihr wehklagen, die Braut hebt sehr an zu weinen, darnach
spricht sie:
Oho, wer wird meinem Väterlein und Mütterlein ihre Bettlein
machen,
Wer wird ihnen die Füße waschen, wer wird ihnen die Füllen
und des Viehes warten, o mein liebes Kätzelein, Hündelein,
Hühnerlein, Gänselein, Schweinelein, Pferdelein usw.
Wer wird euch Guts tun.
Wenn dies alles gesagt ist, was im Haus ist, so nehmen
sie ihre Freunde und führen die Braut zum Feuer, da spricht
sie dann:
Ocho moy myle Schwante panicke, das ist:
O mein liebes heiliges Feuerlein,
Wer wird dir das Hölzlein zutragen,
Wer wird dich verwahren.
Und für großem Leid beseicht sie sich, und wenn dies
die Freunde sehen, so umfahen sie die Braut und sprechen:
Oho mein liebes Freundlein,
Mühe dich nicht so fast oder hart,
Siehe dein Bläselein möchte dir zerbersten,
Daß du nicht tüchtig wärest deinem Männlein.
Wenn die Braut von heime ziehen soll, so schicket ihr
der Bräutigam einen Wagen, und wenn sie auf die Grenze
kommt, so kommt einer gerannt hinter einem Wagen und
hat in der einen Hand einen Brand Feuer, in der andern
eine Kanne mit Bier, und wenn er zu drei malen um den
Wagen gerannt hat, so spricht er:
Wie du in deines Väterleins Haus hast verwahret dein
Feuerlein, so wirst du auch tun, so es dein eigen sein wird,
— und schenket der Braut von dem Bier.
Der Wagentreiber ist wohl geschmücket, der heißt auf
ihre Sprache: Kellewesse! Wenn der Wagen für die Haus-
tür kommt, so fället er eilends vom Pferd, und die im
Bräutigams Hause seind, die schreien alle: Kellewesse perioth,
Kellewesse perioth, d. h. der Treiber ist kommen, so läuft
Kellewesse in das Haus, und alle aus dem Wagen. An der
Haustür steht ein Stuhl mit einem Kissen und ein Handtuch
darauf; so machen sie einen langen Reihen, da muß Kelle-
wesse dadurch laufen, wird übel gerauft und geschlagen, zur
andern Tür wieder aus; erwischet Kellewesse zum erstenmal
den Stuhl, so gehört ihm das Handtuch, und tun ihm nichts.
Danach empfahen sie die Braut, Kellewesse stehet auf, und
die Braut wird gesetzt auf den Stuhl, und bringen ihr den
Willkomm; wenn sie nun getrunken hat, so führet man die
Braut um den Herd, Kellewesse bringt den Stuhl wieder, da
wird sie wieder aufgesetzt, und waschen ihr die Füße, mit
dem Fußwasser besprengt man die Gäste, Brautbett, Vieh
und alles Hausgerät. Danach bindet man der Braut die
Augen zu und schmieret ihr den Mund mit Honig und
führet sie für alle Türen, die im Hause seind, dann spricht
der die Braut führet:
trenke, trenke, stoß an, stoß an,
so stößet sie mit den Füßen an die Tür, einer geht hernach
her mit einem Sack, darinnen ist allerlei Samen, als: Weizen,
Roggen, Gerste, Hafer, Leinsamen, und streuets über die
Braut vor allen Türen und spricht:
Unsere Götter werden dir alles genug geben,
So du wirst an unser Götter Glauben bleiben.
Darnach tut man ihr das Tuch von den Augen, setzen
sich zu Tisch, essen und trinken, tanzen darnach bis auf den
harten Abend, wann die Braut soll zu Bette gehen; im Tanz
kommt ihrer Freunde einer und schneidet ihr das Haar ab,
die Weiber umher setzen ihr einen Kranz auf, mit einem
weißen Tuch benähet; das heißen sie Abklopte”den träg
sie, weil sie keinen Sohn zeugt, sprechend:
Die Maidlein die du trägst, sind von deinem Fleisch,
Trägst du aber ein Männlein, so ist deine Jungfrauschaft aus!
21*
156 Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen.
Darnach führt man sie zu Bett und schlagen sie und
bringen den Bräutigam und der Braut den Brauthahn, ge-
bratene Bocksnieren oder Bärennieren, und zur Köstigung
muß kein ausgeschnitten Vieh geschlachtet werden, auf daß
sie fruchtbar miteinander bleiben.
So barbarisch manches in dieser Schilderung klingen
mag, so glaube ich doch, daß in derselben Gegend im
vorigen Jahrhundert die Brautwerbung ganz ähnlich
stattfand. Als nämlich 1834 die Philipponen in Ost-
preußen ihre Dörfer angelegt hatten, ließ die Regierung
durch den Mund der angesehensten Siedler die Sitten
und Gebräuche jener Raskolniken bekunden und proto-
kollieren. Onufri Jakublew, der angesehenste der Kolo-
nisten, sagte folgendes über die Werbung und Ehe
aus, und die anderen Vornehmen bestätigten Onufris
Bekundung. „Die Ehe ist bei uns kein Sakrament; kein
Priester als solcher hat dabei etwas hereinzureden. Ein
Brautpaar muß bei beiden Eltern die Einwilligung zur
Ehe einholen. Wenn die Eltern gestorben sind, gilt
der nächste Verwandte als anzurufende Person. Die
Eheschließung findet so statt, daß sich im Brauthaus das
Brautpaar, die beiden Elternpaare und fünf Zeugen ver-
einen, von denen mindestens einer schreiben kann. Einer
der fünf Zeugen fragt den Bräutigam: „Willst du die
NN heiraten?“ Nach des Bräutigams Ja erfolgt die
gleiche Frage an die Braut. Der Vorgang wird dann
von einem Zeugen zu Papier gebracht, des Inhalts, daß
sich die betreffenden beiden ehelichen, sämtliche An-
wesende unterschreiben oder unterkreuzen. Damit gilt
die Ehe als vollzogen, Verlöbnis fehlt; Ehebruch gilt als
schweres Verbrechen.*
So sieht die philipponische Ehe 1834 auf dem Papier
aus. Die Wirklichkeit war ein wenig anders. Onufris
Sohn selbst stahl sich des Schönfelder Schulzen Tochter.
Onufri zeigte die Sache der Behörde an. Aber das
Mädchen bekundete, sie wollte bei ihrem neuen Manne
bleiben, und schließlich versöhnten sich alle. In einem
anderen Falle machten die Eltern eines geraubten Mädchens
gleichfalls Anzeige, aber die Untersuchung ergab, daß
der ganze Raub nur eine abgekartete Sache war. In
einem dritten Fall wurde das Mädchen dem Brauträuber
wieder abgenommen, in einem vierten wurde die Raub-
ehe als rechtlich geschlossen von allen Parteien betrachtet,
weil der Bräutigam mit der Braut Dach und Fach er-
reicht hatte, ehe die Angehörigen der Braut des Paares
habhaft geworden waren. Das Mädchen war überhaupt
immer einverstanden. Und Gerß schreibt deshalb richtig:
Wenn die Eltern ihre Einwilligung zur Heirat nicht
geben, oder wenn der Bräutigam bei den Angehörigen des
Mädchens Schwierigkeiten zu finden glaubt, oder wenn er
sich jener oben angeführten Förmlichkeit nicht unterwerfen
will, so begibt er sich nach dem Wohnorte der Braut, oder
auf den Jahrmarkt, oder am Markttage in die nächste Stadt,
wo er des Mädchens sich bemächtigt, sie auf seinen Wagen
oder Schlitten setzt und mit ihr entflieht. Wird die Ent-
führung von den Angehörigen der Braut entdeckt, so setzt
man sofort dem Räuber nach, wird er nicht eingeholt und
gelingt es ihm, unter ein Dach zu kommen, so wird die Ehe
als vollgültig geschlossen angesehen; holt man ihn aber ein,
so steht es den Angehörigen des Mädchens frei, die Braut
wegzunehmen und den Entführer durchzuprügeln. Gewöhn-
lich ist das Mädchen und manchmal sind auch die Eltern
desselben von der Entführung schon zuvor unterrichtet
worden, und sie setzen darum auch nur so nach, daß sie ihn
nicht einholen. Die ganze Zeremonie findet auch gewöhnlich
nur deshalb statt, um dem Ganzen eine gewisse Solemnität
zu geben. Es geschieht aber auch manchmal, daß ein
Mädchen von einem jungen Manne unversehens und ohne
vorherige Übereinkunft geraubt wird, was ihr aber dennoch
nicht unangenehm ist. Es ist möglich, daß aus diesem
Grunde die Philipponenmädchen beinahe zu jedem Jahr-
markte der Nachbarstadt, wo die meisten Entführungen ge-
schehen, sich einfinden und sich hierbei, um die Aufmerk-
samkeit der Jünglinge auf ihre Person zu lenken, mit großer
Sorgfalt auszuputzen pflegen.
Nach dem Raube, so sagen die Philipponen, pflegt der
Entführer vor dem Staryk zu erscheinen mit den Worten:
„Verzeiht, heiliger Vater, daß ich sündiger Mensch aus Not
mir ein Weib mit Gewalt geholt habe.“ — Und der heilige
Vater pflegt dann, nachdem er dem Sünder Buße auferlegt
hat, nicht nur zu verzeihen, sondern gewöhnlich auch als
Vermittler zwischen ihm und den Schwiegereltern aufzu-
treten, wenn der Raub ihrer Tochter nicht nach ihrem Sinn
gewesen war. Die wider Willen der Eltern geschlossenen
Ehen bleiben immer fortbestehen. .
So widersprechend Onufris und Gerßens Bericht er-
scheinen, so sind beide doch nur gegenseitige Ergänzungen,
und wenn wir nur einen Bericht hätten, kämen wir zu
keinem richtigen Urteil. So wäre auch des Maletius Be-
trachtung aufzufassen. Wir erhalten hierbei einen wert-
vollen Einblick in die sogenannte Raubehe überhaupt.
Die gefühlvolle Mutter kann noch heute zum Aus-
druck bringen, daß ihr die Tochter von einem fremden
Manne geraubt worden ist. Es gibt noch heute genügend
Beispiele dafür, daß die Mutter oder der Vater das
Mädchen, das in der Wirtschaft unentbehrlich ist und
nötig gebraucht wird, nicht heiraten lassen wollen, und
daß die Tochter gern frei sein will und mit Rückert
denkt: „Ach wenn doch wer käme und mich mitnähme.“
Wie war das aber erst in früherer Zeit, als der
Reichtum eines Bauern zum guten Teil in Arbeitskräften
bestand, wo jeder Verlust eines Mädchens im Dorf der
Verlust zweier Arbeitshände war! Wenn man im Kriege
Gefangene machte, erwarb man Arbeitskräfte, und die
Verteilung der erbeuteten Mädchen wird wohl auch unter
diesem Gesichtspunkt angesehen worden sein und nicht
immer unter dem im ersten Gesang der Iliade (Achill-
Briseis) bekundeten. Sahen nun die Dorfgemeinschaften
den Verlust eines Mädchens als Einbuße am Gemein-
eigentum an, so hat sich der Gedanke auf vielen Dörfern
noch jetzt erhalten. Manche Dörfer halten die gesamten
Dorfschönen für ihr gemeinsames Eigentum; kommt ein
Fremder auf den Tanzsaal oder sucht er gar mit den
Mädchen anzubändeln, so wird er seine Kühnheit bald
am eigenen Leibe büßen, falls er sich nicht durch eine
Bierspende gewissermaßen einkauft. Hielten ja die
Innungen auch daran fest, daß ein fremder Innungs-
genosse für seine Aufnahme in die Stadt und die Stadt-
innung einen recht beträchtlichen Preis zahlte. Daß die
Raubehe bei irgend einem monogamen Volk Sitte ge-
wesen sein kann, ist vollständig ausgeschlossen.
Keine Gemeinschaft kann eines alle schützenden Ge-
setzes entbehren. Die Beispiele Arminius - Thusnelda,
Paris-Helena, David-Michal (auf dieses berufen sich die
Philipponen gern) sind schon zu ihrer Zeit als Aus-
nahmen betrachtet worden, als verwegene Taten, wie sie
auch heute noch vorkommen. Und schon Herodot be-
kundet im Anfang seiner Aufzeichnungen, daß man da-
mals nicht anders als heute dachte. Die Frauen wären
nicht geraubt worden, wenn sie nicht damit einverstanden
gewesen wären. Der Brautraub hatte jedenfalls in den
Zeiten, von denen unsere Quellen berichten, den Schrecken
eingebüßt und wurde bei derberen Sitten beinahe als
Zeremonie angesehen. Wenn das Wort Raub nicht
dabei stände, würde man kaum in des Maletius Bericht
etwas von Raub merken, es war nicht viel mehr als eine
abgekartete Geschichte. Höchstens ersonnen, um das
Brautkaufgeld zu sparen oder doch selbst bestimmen zu
können. Die gekaufte Frau fühlte sich durchaus nicht
als Sklavin oder Ware; man nimmt zu gern den Scherz
der Dainos für Ernst. Und wie sagt doch schon Brand von
den lettischen Mädchen ? Er führt die kurische Daina an:
„Zittre, zittre, fremdes Mädchen
Unter meinem Mäntelchen.
Warum hast du nicht gezittert,
Als du mir die Hand gegeben.“
Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen.
157
„„Heb dich auf, du feiner Sohn,
Laß mich unter dich kriechen !**
„So will ich dich bezahlen,
Dieses Sommers reitend.“
Das Mädchen soll „geraubt* werden, nachdem der
Jüngling den Händedruck für Annahme der Werbung
angesehen hatte. Da sie nun aber zu zittern scheint,
und der Werber die Braut zum Gespräch herausfordert,
erklärt sie sich ihm als die Seine. Da versichert der
Bräutigam, das Kaufgeld gern bezahlen zu wollen. —
Wenn Johannes Maletius den Brautraub von zwei Ver-
wandten des Bräutigams ausführen läßt, so hat Paul Ein-
horn schon einen ausführlichen Ritus festgestellt: Der
Bräutigam geht mit etlichen seiner guten Freunde zur
Braut und deren Eltern, gibt einen anderen Grund des
Kommens kund und wird gut empfangen und auf-
genommen und bewirtet. Einer wartet draußen bei den
Pferden, das erzählt man beim Essen. Da wird die
Braut aufgefordert, den Harrenden hereinzuholen. Sie
geht, wird ergriffen und fortgeführt. Und schließlich
geben die Eltern ihre Einwilligung.
Hasentöter meint, die liefländischen Bauermädchen
würden vom Bräutigam und seinen Freunden in der Nähe
des Hauses belauert, auf einen Schlitten geworfen und
entführt. Die Angehörigen der Braut eilten mit Spieß
und Schwert hinterdrein. Entsteht nun ein Kampf, so
wird schließlich das Paar eine Nacht zusammengelassen,
und dann bestimmt das Mädchen, ob sie beide beieinander
bleiben wollen. Schon Brands Herausgeber bezweifelt
aber 1702, daß dies allgemein gewesen sei. Hören wir
doch schon von Dusburg, daß die Preußen ihre Weiber
„gemäß alter Gewohnheit und nach überkommenem Brauch
bis heute für eine gewisse Summe Geldes kauften“. Daher
käme auch die Magdstellung der Frau, sie äße nicht mit
am Tische u. dgl. Wenn Dusburg noch lebte, könnte er
das letztere noch heute hier und da beobachten, ohne
daß deshalb die Frau eine Magdstellung darin sähe. Die
Kaufehe in Preußen bezeugt neben Hieronymus Maletius
auch sein Zeitgenosse Lukas David mit ähnlichen Worten
und dem Zusatz, daß statt Geld auch Ochsen und Ge-
treide gegeben werden. Bei der Kaufehe war noch kenn-
zeichnend das Fehlen des Bräutigams bei der Ver-
lobung, wie dies Maletius bei den Preußen, Hupel bei
den Letten, die Dainos bei Letten und Litauern schildern.
In historischer Zeit ist also bei den Balten und Weiß-
russen „Raubehe“ mehr Ritus als Raub gewesen, und
die Kaufehe sehen wir noch vor unseren Augen bestehen
oder in mildere Formen übergehen; doch so, daß der
Käufer nicht immer der Bräutigam, die Bezahlten nicht
immer die Brauteltern sind. Bei ärmeren Volksstämmen
ist es allerdings meist noch ganz so. Bei gewissen
Stämmen der baltischen wie der westslawischen Be-
völkerung, beispielsweise bei Slowinzen und Nehrungs-
letten, dient der Bräutigam, wie weiland im Alten Testament
in des Schwiegervaters Haus als tüchtiger Fischer jahre-
lang um die Braut. Die Gelegenheit muß abgewartet
werden, bis beide wirtschaftlich selbständig sind und
etwa das Häuschen übernehmen können. Die Auslese
vollzieht sich nicht nach den Gesetzen der Schönheit, der
Gesundheitslehre u. dgl. Man will frühzeitig in der Lage
sein, Kinder zu haben, die das Fischergewerbe mit seiner
aufzehrenden Kraft rüstig fortsetzen, das Väterliche
übernehmen und nach altem Herkommen verwalten
können. Bei wohlhabender Bevölkerung aber sieht der
Bräutigam laut Berichten des 16. und 17. Jahrhunderts
schon recht sehr auf Mitgift oder vielmehr, die Ver-
wandten erwägen die gegenseitigen Güter und eine
standesgemäße Ehe durchaus. Bei den Russen geschah
dies laut Herberstein, Warbotsch u. a., noch bevor sich
Braut und Bräutigam gesehen hatten. Für die Litauer
haben Brand, Prätorius und Lepner ausführliche Berichte
geliefert. Letzterer schreibt:
Von der Litauer Freischaft.
Wenn die erwachsene junge Littausche Kerdel (welche
sie Barsdutus, Bärtige, nennen) heyrathen wollen, sehen sie
auf ein gutes wohlhabendes Gehefte, auf gesehende Freund-
schaft und insgemein auf eine Gleichheit. Als wird kein
Sohn des Erbes leicht eine Dienst Magd freyen (usw.). Wenn der
Vater siehet, daß ihm zu seinem Ackerbau und Leistung des
Schaarwerks ein Arbeiter fehlet, oder auch die Tochter nicht
gesucht wird zur Freyschaft, so schickt er einen Freys-Mann
in ein Hauß, und lässet um einen Schwieger-Sohn werben,
erhält er abschlägige Antwort, welche nicht geachtet, oder
von ihm vor einen grossen Schimpf gehalten wird, so schickt
er weiter. Bisweilen nimmt er auf die andere Tochter auch
einen Schwieger-Sohn und schaffet ihm ruhige 'Tage, denn
ein Schwieger-Sohn muß wie ein Knecht arbeiten, und be-
kommt davor keinen Lohn als nur Kleider und etzliche
Plätzgen Haber und Lein zu säen. Oefters halten sie Söhne
bey sich und geben ihnen Weiber, wie denn im hiesigen
Kirchspiehl vor wenig Jahren ein Stein-alter Mann ver-
storben, welcher drey seiner Söhne bey sich hatte, da
wimmelte es von den Kindern dieser Söhne. Die Schwieger-
Tochter (Marte) muß gleich einer Magd arbeiten, und be-
kommt davor nur ein Plätzgen Lein zu säen, davon bespinnet
sie sich, ihren Mann und ihre Kinder. Jemehr die Littauer
Arbeiter im Hause haben, je besser stehet es um sie. Auch
schicket eine Wittwe einen Freys-Mann aus, ihr einen andern
Mann zu freyen, welches ihr nicht schimpflich ist. Man
muß sich aber verwundern über die Einträchtigkeit dieser
Leuthe. Bey den deutschen Bauern und andrer Gelegenheit
Leuten gehet solches nicht an; da kan selten ein Vater mit
einem Sohn in einem Hause leben; dafern der Vater dem Sohn
zur Hand gehet, so geschicht es doch nicht von der Schwieger-
Tochter. So eine Beschaffenheit hat es nicht, wenn der
Littauer einen Schwieger-Sohn in sein Hauß nimmt; unter
ihnen blühet die Einträchtigkeit und der Gehorsam. Auf
diese Art wird der Acker gut bearbeitet, der Herrschaft die
Pflicht geleistet. Sie erhalten durch zusammengesetzte Arbeit
(ohne was das Spinnen betrifft) sich miteinander, die Kinder,
insonderheit die Töchter werden versorget, und dürffen nicht
veralten. Die Stief-Väter und Stief-Mütter werden von denen
Kindern nicht groß geachtet, und nur beym Nahmen ge-
nennet. Stirbet die Mutter, und der Stief-Vater überlebet
sie, muß er zum Hause heraus, und erhält nur sein Ein-
gebrachtes, und sonsten ein weniges, so gehets auch der
Stief-Mutter. Die Werbung aber in der Littauer Freyschaften
geschieht in folgender Gestalt: Der Bräutigam bittet den
Freys-Mann (Pirszlys), er möchte die Eltern der Braut grüssen
und sie befragen: Ob sie ihm wolten ihre Tochter zur Ehe
geben. Dieser reitet gleich der Sonnen Aufgang, oder wohl
auch vor derselben, und bringet sein Wort kurtz bey; Biß-
weilen wird er von den Eltern zum Sitzen genöthiget, bis-
weilen auch nicht, allemahl aber muß er ohne eintzige Ant-
wort auf seine Werbung zurück reiten, doch bringet er einen
gemeinen Gruß mit. Wenn ein paar Tage verflossen sind,
kommt der Freysmann wieder und spricht: Er grüsse das
Hauß von des Freyers Hause; Er sey ein Swetzas (Gast) ge-
sandt vom Bräutigam, und setzt die vorige Worte darzu.
Wollen die Eltern ihm die Tochter nicht geben, so sprechen
sie, er möchte nur nicht mehr reitens machen, sondern eine
andere suchen, diese werde er nicht erlangen; die Ursache
des Absagens wird nicht hinzu gesetzet. Und dieses nehmen
sie, wie schon gedacht, nicht eben für einen sonderlichen
Schimpf auf, als andere Völcker, welche nicht gern einen
Korb vorliebnehmen. Belieben sie den Bräutigam, so wird
ihm Essen und Trincken gegeben, und also wird er in etwas
aufgenommen, doch empfängt er das Ja-Wort noch nicht (so
schöff halten sie sich, zum Schein mit ihrer Waare, welcher
sie doch öfters wünschen loß zu werden), doch wird ihm
gleichwohl ein Tag zu seiner Wiederkunft angesetzet. Wenn
dieselbe geschiehet, wird er gefraget, wie die Braut oder der
Schwieger-Sohn inskünftige soll gehalten werden, wie viel
Acker den künftigen Ehe-Leuten zu ihrer Aussaat, an Lein-
Saat und Haber von den Eltern werde gegeben werden?
Denn wird dem Freys-Mann ein Schnupf-Tuch gegeben, von
der Braut selbsten, dafern sie nieht blöde ist, und zum Vor-
schein kommet, sonsten verrichtet es die Mutter. Der Freys-
Mann hat auch ein solches Tuch bey sich, und giebts der
Tochter oder der Mutter; dem Freys-Mann wird auf seinem
Stab ein Würtzgen gebunden, ingleichen zwey Handtücher,
welche er um den Leib bindet, wie auch ein Würtzgen,
Schnupf-Tuch und Hosenbänder gegeben, welches alles er zu
158 Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen.
sich nimmt. Sein Pferd wird im Sommer mit allerley Kraut,
im Winter aber mit Kletten und alten Lumpen behangen.
In solcher Zierrath, mit solchen Freuden-Zeichen, kommt der
Freys-Mann voller Wonne in des Bräutigams Hauß und bringt
dem Bräutgam die Hoffnung zur Heyrath, denn bishero hat
er zwischen Furcht und Hoffnung leben müssen. Er über-
liefert das eine empfangene Handtuch des Bräutgams Eltern,
das andere behält er vor sich, und das Schnupf-Tuch mit
den Hosenbändern und Würtzgen dem Bräutigam (diese Ge-
schenke nennen sie die Zeichen, denn sie gebrauchen sich
keiner Ringe, als in der Trauung, welches sie von den
Deutschen werden angenommen haben), und läst sich mit
Essen und Trincken bewirthen. Darauf führet der .Bräuti-
gam mit seinen, und die Braut mit ihren Anverwandten in
die Kirche zur Predigt. Nach verrichtetem Gottes-Dienste
gehen sie alle in den Krug (i zwalgu zum Anschaun, oder
vielmehr, damit sie miteinander bekannt werden), und sauffen
einander lustig auf die Haut. Darauf wird von beiderseits
Eltern die Verlöbniß (welche sie Uzgertuwes, das Zutrinken
oder die Daribas, die Behandlung nennen, wiewohl diese
Wörter von etlichen unterschieden werden) bestimmet. Wann
die Zeit heran kommt, wird erstlich in des Bräutigams Hause
von dem Freyes-Mann und etzlichen Kerdels, so dem Bräuti-
gam verwandt sind, und mit ihm zur Braut reiten wollen,
ein paar Tage gezechet. Der Braut Bruder, oder der nechste
Freund, welcher bei dem Bräutigam mit gesoffen, reitet
voran zu dem Hause der Braut, und bringet Rauten-Krantz
und ein Stutzgen mit Raut bewunden. Die Braut kommt
diesem entgegen, begleitet mit Mägden und Weibern. In
das Stutzgen wird Trincken eingeschencket, und der Braut
Bruder (welcher jetzt von seinem Amte Uzgerys der Zu-
trincker genennet wird) trincket der Braut, seiner Schwester,
zu, sie thut bescheiden, und trincket einer von ihren Ge-
fehrten zu, unterdessen kommt der Bräutigam, der Freyes-
Mann und ihr gantzer Trop. Diese werden alle hinein und
am Tisch genöthiget; der Freyes-Mann bedancket sich gegen
der Braut Eltern, daß sie so günstig gewesen seyn, und dem
Bräutigam die Braut zu geben versprochen, und bittet, daß
die Braut, welche sich ihnen entzogen, möchte zugegen seyn,
und dem Bräutigam sprechen. Diese kommt nach ihrer Art wohl-
bekleidet und geschmücket mit einem Krantz auf dem Haupt.
Der Bräutigam giebt ihr die Hand, und diese wiederum ihm,
nebst einem Tuch, beyde küssen sich. Diese beyde geben allen
am Tisch sitzenden, die Hände. Braut und Bräutigam werden
grad über gesetzet, jene mit ihren, dieser mit seinen Freunden.
Die Braut hat ein paar Mägde um sich. Sie wechseln den
Sitz um, die Braut schencket dem Bräutigam ein Hembde,
dieser erwiedert solche Gabe mit Gelde oder einem andern
Geschencke. Ehe Bräutigam und Braut vom Tisch aufstehen,
nimmt ein jeder ein Kauszelis (ist ein kleines höltzernes
Gefäß) mit Littauschen Bier gefüllet in die Hand, beyde
trincken einander zu und giessen das letzte von dem Getränck,
davon ziemlich viel überbleiben muß, einer dem andern in
die Augen, davon die Beysitzer besprenget werden. Ist eine
schöne Bäurische Höflichkeit! Die Gäste bleiben eine Nacht,
der Bräutigam aber ein paar Nächte durch auf dem Ver-
löbniß, welches also sein Ende erreicht. Nach diesem er-
suchet der Bräutigam etliche mahl die Braut um einiger
Ursachen willen, insonderheit, damit die Verlobte sich nicht
eigenthätig, da öfters aus geringer Ursache ihnen eine Reue
ankommet, trennen mögen, müssen die Eltern die künftge
Verlobung dem ordentlichen Pfarrern ansagen, bei Straf
8 Marck der Kirche zu gut. Wie solches die Kirchen-Recesse,
so nach gehaltener Visitation der Kirchen in den Littauschen
Aemtern, welche im Jahre des Heyls 1639 durch den Druck
von der hohen Herrschaft gegeben seyn, ernstlich haben
wollen. Weil man aber bemercket, daß dennoch die Ver-
lobungen der Littauer unter sich öfters allerhand Unrichtig-
keit nach sich ziehen, und nicht wollen gehalten werden;
Als haltens die meisten Pfarrer dieses Amtes, und ich mit
ihnen also: Daß die Erklärung ihres Ehe-Wercks in der
Widden geschiehet, vor dem ordentlichen Pfarrer, welcher
sich um die Zulässigkeit dieses Wercks erkundiget, ihnen
vorstellet, was sie vor ein wichtiges Werck vorhaben, und
wie viel an dem Ja-Wort gelegen sey, und daß selbiges nach-
mahls nicht könne zurück gezogen werden. Wenn die, so es
angehet,. bey ihrem Ja-Wort bleiben, geben Bräutigam und
Braut einander die Hände, und diese hernachmahls dem
Pfarrer und andern Anwesenden. Es ist aber zu bemercken,
daß die Art zu Freyen, Werben und Verlöbniß zu halten,
an vielen Oertern mancherley sey, und ich nur dieselbe be-
Denn
rühret, welche in meinem Kirchspiel in Brauch ist.
es melden auch obbemeldete Kirchen-Recesse in der Ab-
theilung von Freyschaften, Verlöbnissen und Hochzeiten, daß
durch die Werber erstlich geschehe die Besichtigung, dar-
nach die Anmeldung, zum dritten die Werbung, dann aller-
erst die rechte Verlöbniß. Hie sollte jenes statt haben:
Quod fieri debet per pauca, non fiat per plura. Was man
mit wenigen kann verrichten, daß soll durch viel nicht ge-
schehen. Doch fällt bey den Wohlhabenden nur solche Weit-
läufigkeit vor, von den Armen geschiehet die Verlobung auf
einmahl bey wenigen Essen und Trincken, und die Hochzeit
im Kruge, kurtz genug.
Eine einfachere — polnische — Brautwerbung vor
100 Jahren, die aber bis auf den dreifachen Besuch
des Freiwerbers und die üblichen Geschenke an vielen
Orten alles Wesentliche enthält, schildert Pohl mit fol-
genden Worten:
Der Brautwerber nimmt einige Männer mit sich, welche
im Dorfe allgemeines Vertrauen genießen, sie verfügen sich
spät am Sonnabend zu dem Hause des Mädchens, und die
Eltern laden eine Gesellschaft zusammen, ¥0 gut es in der
Eile geschehen kann. Wenn die Gäste recht lebhaft ge-
worden, nimmt der Wortführer eine Flasche Met und einen
Becher aus dem Korbe und trinkt den Eltern oder Ver-
wandten des Mädchens zu; nach diesem füllt er ihn aufs
neue und gebietet dem Werber, ihn dem Mädchen zuzu-
trinken, wobei er folgende Reime spricht:
Fleißig wie der Biene Leben
Ist das Ackerleben,
Und süß wie der Honig
Ist der Ehestand.
Nimmt nun das Mädchen den Becher an, welches natür-
lich vorher mit den Eltern besprochen worden, so ist damit
das Jawort gegeben; verweigert sie ihn und entfernt sich
aus dem Zimmer, so stimmen die anwesenden Burschen und
Mädchen das Freierlied an, der Werber geht beschämt von
dannen, aber der Wortführer bleibt, weil die Eltern zum
Zeichen der fortdauernden Freundschaft den Becher an-
genommen. In solchem Falle wird die allbekannte Redensart
gebraucht, das Mädchen habe den Werber nach Dreikraut
geschickt (poszle za trojzielem). Bei dem Jawort findet das
Aufbieten und die Verlobung nach einer fröhlich durch-
zechten Nacht sofort am Sonntage statt.
Das Freierlied heißt:
An die schlanke Fichte
Setzten sich drei Vögel,
Und zum schönen Mädchen
Kamen drei Jünglinge.
Du bist mein, so spricht der eine,
Und der andre: Sei nicht hart!
Und der dritte: So Gott will,
Kommst du in mein Haus.
Und das Mädchen lacht sie aus
Und versetzte ihnen:
Meine Mutter, die hat mich
In der Milch gebadet.
Von dem Monde ließ sie nur
Meine Augen schauen,
Und die Blumen ließ sie nur
Meinen Busen küssen.
Doch wollt schöne Knaben ihr
Mich zum Weibchen haben,
Dann müßt ihr zum Sonntagsfest
Mir drei Sachen bringen.
Und der erste der soll mir
Milch von Vögeln schaffen,
Und vom Monde soll der zweite
Einen Strahl mir holen.
Und der dritte soll noch heut
Über Meere reiten,
Und zur Hochzeit einen Kranz
Mir von Dreikraut bringen.
(Schluß folgt.)
Junghans: Das Wiederaufleben des sächsischen Zinnbergbaues.
159
Das Wiederaufleben des sächsischen Zinnbergbaues.
Von Werner Junghans.
Allenthalben hört man im Erzgebirge von dem wieder-
aufgenommenen Zinnerzbergbau, besonders vom Geyer-
schen „Zinnstockwerk* Erfreuliches. Mitte Mai waren
gute Erze angefahren worden, ebenso wie im Januar.
Als ich die Grube befuhr, hörte ich, daß man diesen
August oder September den Abbau beginnen würde, da
sehr gute Erzkörper in drei Versuchsstrecken angefahren
waren.
Weiter konnte man kürzlich lesen, daß eine englische
Gesellschaft im Freiwalde bei Ehrenfriedersdorf und im
Saubergschachte zu Ehrenfriedersdorf Aufschlußarbeiten
vornimmt.
Vor zwei bis drei Jahren wurde der Römerschacht
zu Altenberg auf Zinn wieder betrieben, und in Zinnwald
wurde die Grube „Vereinigtfeld“ in Betrieb gesetzt, zu-
erst oberirdisch, dann aber auch unterirdisch. Ober-
irdisch baute man die alten Bergwerkhalten auf ihren
Wolframgehalt ab, den die alten Bergleute noch nicht
zu schätzen wußten. Dann hörte man, daß auf dem
böhmischen Revier von Zinnwald ein Schacht „Segen
Gottes“ niedergebracht worden sei und man den Betrieb
unter Tage eröffnet habe.
So sieht man, daß in neuester Zeit in den vier
erzgebirgischen Zinnrevieren Geyer, Ehrenfriedersdorf,
Altenberg und Zinnwald der Bergbau wieder aufge-
nommen worden ist. Der Grund dafür ist der hohe
Preis für Zinn und dann die Seltenheit von Zinnvor-
kommen. Denn Zinn wird außer in Sachsen und dem
böhmischen Erzgebirge nur noch in Schaggenwald bei
Marienbad, das auch in einem durch die Erzgebirgshaupt-
verwerfung abgetrennten Stück Erzgebirge liegt, in Eng-
land, auf einigen Inseln des Malaiischen Archipels und
in den Malaienstaaten Malakkas gefunden. Infolge dieses
geringen Angebots und der regen Nachfrage der modernen
Metall- und Elektrizitätsindustrie stieg der Preis so stark,
daß die verlassenen alten sächsischen und böhmischen
Reviere wieder abbauwürdig erschienen. Allerdings sind
alle vier Reviere nicht von großer Ausdehnung, und das
Zinn scheint nicht zu besonders großer Teufe herabzu-
steigen. Beides liegt in der Natur des Zinnvorkommens.
Das Vorkommen der Zinnerze hängt wesentlich mit
der ehemaligen Tätigkeit eines gewissen Vulkanismus zu-
sammen. Da die Zinnerze des Kontinents auf das Erz-
gebirge (und ein ihm verwandtes Gebirge) beschränkt
sind, so muß dieser Vulkanismus auch mit dem Wesen
des Gebirges zusammenhängen. Das ist auch durch die
neuesten Untersuchungen des Leipziger Geologen Dr.
Gäbert über die Genesis des Erzgebirges klar dargelegt
worden. Um die Entstehung der Zinnerze zu erklären,
muß man daher erst die Genesis des ganzen Gebirges
kennen.
Das Erzgebirge besteht in der Hauptsache aus Gneis
und einer peripheren Glimmerschiefer- und Phyllitzone.
Der Gneis hat die Eigentümlichkeit, in verschiedenen
Kuppeln aufzutreten:in der Freiberger, Saydaer, Katharina-
berger, Annaberger und Marienberger Kuppel. Bei ver-
schiedenen dieser Kuppeln kann man beobachten, daß die
zentralen Teile granitisch ausgebildet sind, während das
Gestein allmählich gegen die Peripherie hin gestreckter
wird. Daraus folgt, daß die erzgebirgischen Gneise
granitischer, plutonischer Natur sind. Die verschiedenen
Kuppeln sind granitisches, erstarrtes Magma. Das ganze
Gebiet liegt auf einem ehemaligen Herd plutonischer
Tätigkeit. Dabei scheint die Tätigkeit des Vulkanismus
ähnlich wie die Gase in einem Topfe dicken Breies ge-
wirkt zu haben, indem der Brei sich zu Blasen ent-
sprechend den verschiedenen Kuppeln bläht, wobei natür-
lich durch das Blähen die oberste Schicht am gestrecktesten
ausgebildet wurde, während die zentralen Teile, die die
Denudation und Erosion jetzt freigelegt hat, noch das ur-
sprüngliche Gefüge zeigen.
Als später dieses aufgeblähte Magma erstarrt war,
konnte das noch darunter flüssige sich nicht hindurch-
brechen. Es suchte daher die schwachen Stellen, nämlich
an der Peripherie heraus. So haben wir Eruptionsmassen,
die jünger als der Gneis sind, als Granite bei Kirchberg
und Eibenstock, bei Aue, Ehrenfriedersdorf, Geyer,
Bobritsch, Dohna, Gottleuba, endlich bei Altenberg, Zinn-
wald, Schellerhau und Fley, als Porphyre bei Augustus-
burg, Chemnitz, Flöha, Siebenlehn, Tharandt, Hainsberg
und die ungeheure Porphyrmasse des Teplitzer Porphyrs,
die sich von Graupen bis Ob.-Frauendorf bei Dippoldis-
walde erstreckt und in Gangschwärmen noch den ganzen
erzgebirgischen Ostflügel durchsetzt. Das Vorkommen
von Zinnstein ist nun an einige dieser peripheren Aus-
bruchsstellen besonders gebunden, und zwar an die von
geringer Ausdehnung, nämlich an den bekannten Orten
Zinnwald, Altenberg, Geyer und Ehrenfriedersdorf. So
ist das Verhältnis der Bergwerkdistrikte zu der Gebirgs-
tektonik.
Dem Alter nach sind die Granite stets jünger als das
umgebende Gestein.
Merkwürdigerweise hat jedes Vorkommen etwas Be-
sonderes an sich, so daß jedes für sich beschrieben werden
muß; nur einiges Gemeinsame gibt Anhaltspunkte zu
einer Einteilung in drei Typen: den Zinnwald-Geyerschen
Typ, den Altenberger und den Ehrenfriedersdorfer. Die
beiden letzten Arten der Lagerstätten kommen allerdings
untergeordnet auch bei dem ersten Typ vor, so daß der
erste Typ als der allgemeinste, alle Vorkommenarten
umfassende erscheint. Daher möge er zuerst beschrieben
werden.
Die Granite von Zinnwald, wie von der Binge zu
Geyer haben eine minimale Ausdehnung (von etwa 200
bis 300m). Sie zeigen sich als steile Kegel, die (mit ab-
geschnittener Spitze) in das Muttergestein so eingelassen
sind, daß sie in der Teufe sich verbreitern. Man kann
sich leicht das Eindringen der glutflüssigen Masse in das
umgebende Gestein vorstellen, das bei Zinnwald Teplitzer
Porphyr, bei Geyer Glimmerschiefer ist. Diese Gesteine
sind durch den nach oben dringenden, glutflüssigen Granit
etwas verändert worden, was man besonders bei dem
Glimmerschiefer in Geyer sehen kann. Aber auch der
erstarrte Granit hat sich verändert. Er hat sich ganz
merkwürdig an seinen Kontaktstellen mit den Neben-
gesteinen ausgebildet, nämlich zu dem sogenannten Stock-
scheider, einem granitischen Gesteine, das von großen
Feldspatkristallen durchschossen ist und das Zinnstein
führt. Oft umschließt der Stockscheider losgerissene
Stücke von Glimmerschiefer oder Porphyr. Der Granit
hat bei dieser Abkühlung an dem umgebenden Gesteine
eine Umwandlung erfahren, indem der Feldspat durch
Topas und andere Fluorverbindungen, eine komplizierte
Glimmerart und diverse Erze, besonders Zinnstein (Sn O3),
verdrängt wird. Dieses Gestein heißt Greisen. Bei
seiner allmählichen Abkühlung entstanden senkrechte
und wagerechte Klüfte im Granit. In diese drangen die
erzhaltigen Gase aus der Teufe hinauf und erfüllten sie
bei ihrer Abkühlung mit den Erzen. So entstanden
saigere (senkrechte) und schwebende (wagerechte) Gänge.
160
Anthropologische Indices.
Die letzten werden auch Flöze genannt. Während die
saigeren nur selten (wie in Geyer) eine bestimmte Rich-
tung einhalten, scheinen die Flöze schildförmig gebogen
zu sein. Beide Arten werden von mit Zinnstein impräg-
niertem Greisengestein begleitet, dem sogenannten Zwitter-
gestein. Dieses ist desto reicher an Erz, je ärmer das
Flöz ist, und umgekehrt. Man denkt sich die Ent-
stehung so, daß das Gas in den saigeren oder stehenden
Gängen in die Höhe drang und in der Nähe der Kuppe
des Granits diese und die wagerechten Klüfte, die meist
parallel zur Kuppe gehen, wie man am Greifenstein be-
obachten kann, mit Erz ausfüllten. Man sieht also, daß
der Niederschlag (bergmännisch ausgedrückt: das Herein-
brechen) von Zinnstein nur in der Nähe der Erdober-
flächen erfolgen konnte. Das wird bestätigt durch die
Aufgewältigung des unteren Bünaustollens zu Zinnwald,
der sämtliche Erzgänge unabbauwürdig oder gar taub,
jedenfalls von geringerem Adel, antraf. Allerdings sind
infolge des höheren Druckes, der in den tieferen Partien
bei der Eruption herrschte, die Zinngase in das die Klüfte
begleitende Gestein hineingepreßt worden, so daß dieses
Gestein als zinnhaltiger Greisen, wenn auch unabbau-
würdig, gefunden wurde.
Es scheint diese Anreicherung des Greisens auch
nicht lange nach der Teufe zu anzuhalten. Denn bei
dem zweiten Lagerstättentyp, dem Altenberger, bei dem
der ganze Granitstock durch Klüfte, die Zinn führen,
durchsetzt ist und das umgebende Granitgestein in
Greisen verwandelt worden ist, „Zwitterstockwerk“
genannt, wurde eine gänzliche Abnahme des Zinngehaltes
der Zwittergesteine bei etwa 230 m Teufe ermittelt.
Der dritte Typ ist der bei Ehrenfriedersdorfer Sau-
berge auftretende Hier ist nämlich das Zinnerz in
Gängen, die nicht im Granit, sondern im Gneisglimmer-
schiefer aufsetzten, anstehend getroffen und zu gehöriger
Teufe (etwa 130m) zum Teil abgebaut worden. Man
sollte nach Obigem hoffen, daß diese Gänge in den wahr-
scheinlich darunter liegenden Granit hineinsetzten.
Auch der berühmte Greifenstein ist von Zinngängen
durchschwärmt, von denen zwei an seiner Südflanke durch
den Garisch- und Leyerstollen aufgeschlossen sind. Man
hat diese Stollen neuerdings bis auf den Greifenstein-
granit getrieben und dort den Stockscheider und zinn-
führendes Greisengestein angefahren.
Störungen in der Lagerung der Gänge, Verwerfungen
treten oft ein. So ist im Ehrenfriedersdorfer Sauberg-
schachte der Prinzler, ein Erzgang, von einem der erz-
gebirgischen Kobalt-Silberformation, die jünger ist, ver-
worfen worden.
Sehr interessant ist es nun, wie der moderne Berg-
mann im Gegensatz zum alten die fündigen Zinnerze
abbaut. Besonders schön ist das im Geyerschen Berg-
werk „Zinnstockwerk Geyer“ zu beobachten. Die
Schachtanlage steht auf dem südlichen Rande der großen
Binge, einer durch eingestürzte Zinnbergwerke des
Mittelalters gebildeten 80 m tiefen Grube. Diese ist ein
Zeugnis sowohl von der Kühnheit der alten Bergleute,
wie von der Unvollkommenheit ihrer Art der Anlage.
Denn während der moderne Schacht mit elektrischer
Förderung arbeitet, stürzte man in den alten Bauen das
Wasser über Radstuben, in denen Wasserräder aufge-
stellt waren, deren Kraft man zum Fördern verwendete.
Zu diesem Zwecke und aus Gründen der Billigkeit ließ
man die abgebauten Hohlräume stehen, bis das Verhängnis
hereinbrach. Im Zinnstockwerk kann man noch einen
solchen alten Bau in seiner ganz imposanten Ausdehnung
sehen, oder vielmehr nicht sehen, da das Grubenlicht
nicht von einem Ende zum anderen leuchtet, auch nicht
bis auf den in der Tiefe liegenden Spiegel einer 8m
hohen, die Sohle des Baues bedeckenden Wassersäule. Wie-
viel Vorzüge bieten dagegen die modernen technischen Ein-
richtungen. Über Tage sind ein Kompressor für die
zum Bohren gebrauchte komprimierte Luft, eine elektrische
Förderanlage und Pumpstation und schließlich die nötigen
elektrischen Umform- und Schaltstationen aufgestellt.
Den Schacht selbst, „Franzschacht* genannt, hat
man im Nebengestein, Andalusit-Glimmerschiefer, nieder-
gebracht und von ihm nach Nord, Ost und West drei
wagerechte Versuchsstrecken angelegt, dienun den ganzen
Granitstock in einer Ebene durchschneiden. Kennt man
durch diesen Querschnitt den Wert, den Adel und die
Ausdehnung der einzelnen Erzgänge, so wird man mit
dem Abbau beginnen können. Der Abbau kann nun,
da man den Erzvorrat nach den Schwankungen der
Geschäftslage regeln muß, rationell und rentabel bis auf
die letzten verwertbaren Reste getrieben werden.
Man wird ihn nach oben richten, damit man das los-
geschossene Erz durch Rollen oder Bremsberge auf die
Querschläge ohne Maschinen mittels der Schwerkraft
fördern kann. Nun wird es nach dem schönen, elektrisch
erleuchteten Füllort geschafft und mit den zwei Förder-
gefäßen zutage gebracht. Der Vertrieb selbst wird mit
durch Preßluft getriebene Bohrhämmer und durch
Sprengen geleistet. Um die Gesundheit der Arbeiter zu
schützen, wird der Bohrstaub mit Druckwasser nieder-
geschlagen. Eine elektrische Pumpe im Füllort hebt
die Abwässer und die Grubenwässer. Da das Gestein
sehr hart ist, kommt man ohne Zimmerung aus. Auch
sonstige Vorsichtsmaßregeln wie im Kohlenbergbau sind
im Erzwerk nicht nötig, was den Betrieb verbilligt. Die
Wetterführung wird durch Wettertüren leicht geregelt.
Für alle Fälle ist im Füllort ein Telephon angebracht.
Bei dem schon erwähnten Fündigwerden vorzüglicher
Erze und bei den guten technischen Einrichtungen kann
man hoffen, daß der Zinnbergbau im Erzgebirge erprieß-
lichen Fortgang nehmen wird.
Anthropologische Indices.
Für einen jeden, der sich mit Anthropologie, Ethnologie
und Urgeschichte beschäftigt, liegt eine wertvolle und un-
entbehrliche Gabe jetzt vor in der „Table des 20 premières
années“, welche zu Band 1 bis 20 der ausgezeichneten fran-
zösischen Zeitschrift „L’Anthropologie“ (Paris, Masson & Cie.)
erschienen ist. Kaum eine zweite Zeitschrift verfolgt in
gleichem Maße, sei es in Originalartikeln, sei es in sach-
lichen Berichten, die genannten drei Schwesterwissenschaften
so ausführlich wie die genannte, und die 20 jetzt abge-
schlossenen Bände bringen eine Riesenfülle von Stoff, der
nun übersichtlich, einmal nach den Verfassern, dann nach
Materien geordnet, auf mehr als 200 Seiten vor uns liegt.
Nimmt man dazu die „Table générale des publications de la
société d’anthropologie de Paris depuis sa fondation (1860—
1899)“, die im gleichen Verlage schon 1900 erschien, so hat
man die vielfach vorbildliche französische Forschung und einen
Teil der ausländischen beisammen.
Das Bedürfnis nach guten Registern steigt bei der Zer-
streutheit und starken Produktion der immerhin noch jungen
anthropologischen Wissenschaften mehr und mehr, ohne daß
man sagen kann, daß ihm auch schon voll entsprochen wurde.
Musterhaftes hat für ihre Veröffentlichungen die Berliner
Anthropologische Gesellschaft geleistet, durch die Heraus-
abe zweier Generalregister, zu Band 1 bis 20 ihres Organs
1869—1888) unter der Redaktion von Rudolf Virchow und
zu Band 21 bis 34 (1889—1902) unter der Redaktion von
A. Lissauer. Sie sind mit großer Sorgfalt gearbeitet und
lassen nach keiner Richtung im Stiche — umfassen beide
zusammen nicht weniger als 1060 enggedruckte Seiten. Um
ferner den Überblick nicht zu verlieren, nehme man dazu
die Übersichten, welche Buschans „Anthropologisches Zentral-
blatt“ bringt, obwohl man hier Jahr für Jahr durchblättern
Bücherschau. 161
muß. Der so reiche Inhalt des „Archiv für Anthropologie“,
welches jetzt bis Band 36 gediehen ist, ist leider nicht so
bequem zugängig, denn nur für Band 1 bis 22 erschien bis-
her ein Generalregister und nicht immer in erwünschter Aus-
führlichkeit.
Auch die Wiener Anthropologische Gesellschaft ist be-
strebt, die Schätze, die in ihren „Mitteilungen“ seit 1871 vor-
liegen, durch Inhaltsverzeichnisse zugängig zu machen, wenn
auch nicht in so ausführlicher Weise wie die Pariser und
Berliner Zeitschriften. Mit Abschluß der ersten Serie jener
„Mitteilungen“ (1871—1881) veröffentlichte Dr. M. Much das
erste allgemeine Inhaltsverzeichnis. 1891 erschien ein General-
register zu den Bänden 11 bis 20 (1881—1890), dem 1901 ein
zweites zu Band 21 bis 30 (1891—1900) von F. von Hopf-
gartner folgte.
In England ist seit 60 Jahren eine Reihe anthropologisch-
ethnologischer Zeitschriften erschienen, die aber zumeist
wieder eingingen, bis sie in den großen Hafen des „Journal
of the Anthropological Institute“ und seiner Beihefte „Man“
mündeten. Schon 1893 erschien ein „Index to the Publica-
tions of the Anthropological Institute, 1843—1891“, welcher
dadurch wichtig wird, daß er auch die vielen wertvollen
Arbeiten systematisch verzeichnet, welche in jenen einge-
gangenen, jetzt selten gewordenen Zeitschriften enthalten
sind. Viele davon sind grundlegender Art, und bei ihrer
Kenntnis würde mancher jüngere Autor sich die Mühe er-
spart haben, gewisse Themata wieder ab ovo zu bearbeiten.
Es handelt sich hier um den Inhalt der Zeitschriften „Journal
and Transactions of the Ethnological Society“ (1843—1871),
„Journal and Memoirs of the Anthropological Society“ (1863—
1871), „The Anthropological Review“ und schließlich um
die ältere Reihe des „Journal of the Anthropological Institute“
(1871—1891). Für die neue, seitdem fortlaufende Reihe liegt
noch kein Generalregister vor. Zwar begann N. W. Thomas
eine „Bibliography of Anthropology and Folk-Lore“ — „it
deals only with works and periodicals published in the British
Empire“ —, aber sie umfaßt nur die Jahre 1906 und 1907
und ist ins Stocken geraten, seit der Verfasser eine afrika-
nische Forschungsreise antrat.
Auf dem deutschen Anthropologentage in Köln 1910 trat
an mich ein Herr aus Rußland heran, welcher es beklagte,
daß außer den Inhaltsübersichten der Bände kein General-
register für den „Globus“ vorhanden sei. Und welche Fülle
von Stoff enthält diese Zeitschrift, die im nächsten Jahre
ihren hundertsten Band veröffentlicht. Fünfzig Jahre
sind gleich seit der Begründung verflossen, und in dieser Zeit
ist sie nicht nur den Fortschritten der Geographie und Eth-
nographie gefolgt, sondern hat auch eine große Menge vor-
züglicher Originalarbeiten gebracht. Nützlich und wünschens-
wert wäre bei diesem Jubiläum gewiß auch die Herausgabe
eines Generalregisters.
Richard Andree.
Bücherschau.
Knut Stjerna, Les groupes de civilisation en Scan-
dinavie à l’&poque des sépultures à galérie. (L’An-
thropologie, Vol. XXI, 1910, p. 1.)
Ein Abschiedswort des trefflichen früh dahingeschiedenen
schwedischen Forschers. Stjerna war ein Hauptvertreter einer
Richtung, die in der gegenwärtigen schwedischen Archäologie
sich schon sehr bemerkbar gemacht hat, welche den sicheren
Boden der dort geltenden typologischen Systematik nicht
aufgibt, aber auf ihm nach Gruppierungen von kultureller
Bedeutung strebt und diese der alten Landes- und Volks-
geschichte dienstbar macht. So hat Stjerna schon früher
den Gegensatz der Svear und Götar und ihre Kämpfe archäo-
logisch festgelegt und neuerdings eine umfassende Geschichte
der Kultur- und Völkerbewegung auf Bornholm gegeben.
Im Gegensatz dazu behandelt der vorliegende Artikel eine
bestimmte Epoche über ein ausgedehntes Gebiet. Auch hier
stets mit der den Skandinaviern eigenen wohltuenden Reserve
gegenüber dem ethnischen Problem. Es ist erwünscht, daß
die Anschauungen des Verfassers in einer so allgemein ver-
breiteten Zeitschrift zur Aussprache kommen, nur stört ein
recht inkorrekter Druck ; selbst der Name des Verfassers und
die Unterschriften der Abbildungen enthalten Fehler.
Die vom Verfasser behandelte Periode ist die époque des
sépultures à galerie, eine Umschreibung für die Periode
Montelius III, welche deutschen Lesern nicht gerade glück-
lich erscheinen wird, denn die Ganggräber sind doch nur ein
Merkmal und nicht das Entscheidende: gerade in der baltisch-
westdeutschen Neolithik haben wir ein typisches Montelius IIE
ohne Ganggräber. Daß die Benennung nicht gleichgültig ist,
sondern zu direkten Mißverständnissen führt, zeigt die
kleine, sonst recht hübsche Karte, auf der die ganze jütische
Halbinsel auf Grund der „Einzelgräber“ einer schnurkerami-
schen Provinz zugeteilt ist, während diese dort doch sicher
nur eine singuläre Erscheinung inmitten dominierender Mon-
telius III-Kultur darstellen. — Die drei Kulturgruppen, welche
auf skandinavischem Gebiet in die Ganggräberperiode fallen,
sind die „arktische“ oder Schieferkultur, beide Namen von
Stjerna gemieden und, eine aussichtslose Neubildung, als
„baltische“ oder Nordostkultur bezeichnet; die Kultur der
Megalithgräber („Kattegattkultur“) und die der Einzelgräber
(„jütische“). Eine Schwierigkeit des Vergleichs liegt in der
Verschiedenheit der Bergung des Materials, da die erste
Gruppe fast ausschließlich auf Wohnstellen, die andere eben-
so auf Gräber angewiesen ist. — In der Oharakterisierung
der ersten Gruppe berührt sich Verfasser mit den bekannten
Darstellungen von Almgren, A. W. Brögger, Ailio, betont den
„epipaläolithischen“ Charakter jener Fischer- und Jägerkultur,
hält einen Zusammenhang der arktischen Plastik mit der ost-
europäischen für wahrscheinlich und läßt die Frage, ob Nach-
kommen der „Epipaläolithiker“ oder neu einwandernder Ost-
stamm, offen. — Bei der „Ganggräber“ - Gruppe scheidet Stjerna
streng zwischen den Grabformen der eigentlichen Dolmen
und der Ganggräber, für die er einen verschiedenen Ursprung
und verschiedene Urformen annimmt: Dolmen rechteckig,
frei stehend, Ganggräber rund, bedeckt auf überseeischem
Wege aus England nach Skandinavien übertragen; die
jütischen Küstenstriche, Dänemark, Westschweden, sind ihr
eigentliches Gebiet. Im Vergleich zu den voraufgehenden
Stufen (Kjökkenmödding- und Dolmenzeit) ist eine Verschiebung
landeinwärts, besonders in Schweden (Westergötland) erkenn-
bar, was mit dem Übergang zum Ackerbau zusammenhängt.
Mit der Bodenkultur tritt auch der Kampf um den Boden
ein, und in der Ausstattung der Gräber spielen jetzt Waffen
(Äxte, Lanzen, Pfeilspitzen) eine große Rolle.
Die dritte Gruppe wird durch die „Einzelgräber“ Sophus
Müllers mit ihrem feststehenden Inventar an Axten besonderer
Form und einer degenerierten Schnurkeramik bezeichnet.
Sie drängt sich in Jütland usw. zwischen die Megalithbevöl-
kerung, die aber die Küsten behauptet. Auf Grund der
Keramik erblickt Verfasser darin einen Vorstoß des mächtigen
schnurkeramischen Volkes aus Mitteldeutschland, welcher
durch das Streben, die Bernstein produzierenden Länder zu
gewinnen, hervorgerufen sein möge. Man wird den geist-
vollen Ausmalungen der Folgen, welche eine derartige Inva-
sion für die Megalithkultur haben mußte, mit Interesse folgen;
überzeugend wirken sie nicht: die Bedeutung eines supponierten
steinzeitlichen Bernsteinhandels bleibt vorläufig ebenso eine
Fiktion wie die Herleitung der Einzelgrabbevölkerung von
den Schnurkeramikern, mit denen sie nichts gemeinsam hat
als eine keramische Form. Auch bei dieser Einschränkung
bleibt der Arbeit Stjernas das Verdienst, zum ersten Male
das Problem der Ganggräberkultur, ihrer Ausbreitung wie
Einschränkung nach beiden Seiten hin (Nordost und Süd) in
größerem Zusammenhange aufgerollt zu haben.
R. Beltz-Schwerin.
Jacques Faitlovitch, Quer durch Abessinien. Meine
zweite Reise zu den Falaschas. XV u. 1888. mit 60 Abb.
u. 1 Karte. Berlin 1910. M. Poppelauer. 5 fb
Seiner ersten Reise zu den Falaschas, den abessinischen
Juden, die er in einem auch hier angezeigten Werke in
französischer Sprache beschrieb, ließ Faitlovitch im Jahre 1908
eine zweite folgen, über die er jetzt in einem deutschen Buche
berichtet. Der Zweck dieser Reisen war einmal, neues Ma-
terial zur Kenntnis dieser schwarzen Juden zu beschaffen,
dann, durch Vorstellungen bei den abessinischen Machthabern
das zumeist ziemlich traurige Los dieser Leute zu mildern, und
schließlich, die Juden der zivilisierten Welt mit werktätigem
Interesse für diese ihre Glaubensgenossen zu erfüllen, damit sie
in der Isolierung ihren Glauben und ihre Eigenart sich be-
wahren könnten. Mit seinen Bemühungen in der zuletzt ge-
nannten Richtung hatte Faitlovitch zunächst nicht überall
Erfolg, denn die mächtige Alliance Israälite schien die Fa-
laschas nicht für voll anzusehen, sandte auch einen eigenen
Beobachter, den Großrabbiner Nahum, nach Abessinien, um
sich selber zu unterrichten (vgl. Globus, Bd. 96, 8.257). Mit
dessen Ergebnissen ist nun Faitlovitch wenig einverstanden,
er zieht in dem neuen Buche gegen ihn zu Felde und appel-
liert wiederum an das Solidaritätsgefühl. Die Zahl der Fa-
laschas gibt Faitlovitch auf etwa 50000 an, während Nahum
162 Kleine Nachrichten.
nur 6000 bis 7000 annehmen zu dürfen glaubte. Faitlovitch
schlug 1908 meist andere Wege ein als 1904 und dehnte seine
Reisen diesmal auch nach Schoa aus, wo er Menelik per-
sönlich um Schutz für die Falaschas bat und von diesem
auch eine Zusage erhielt. Das Buch berichtet über die Reise-
erlebnisse, über die weiteren Beobachtungen über die Fa-
laschas und über Land und Volk von Abessinien in recht
interessanter Weise und unter Beifügung von Abbildungen.
Die Karte allerdings erscheint technisch und inhaltlich etwas
diluvial.
In unserer Zeit, wo so viel vom Naturdenkmalschutz die
Rede ist, könnte man auch für die Erhaltung menschlicher
Naturdenkmäler — und als ein solches sind die Falaschas
zu bezeichnen — etwas tun, und deshalb ist Faitlovitchs
Bemühungen Anerkennung zu zollen und Erfolg zu wünschen.
Deshalb sollte auch die christliche Mission die Falaschas
nach ihrer eigenen Fasson selig werden lassen, sie hat ander-
wärts Betätigungsfelder genug, wo sie segensreich wirken
kann. Sg.
Arnold Schultze, Das Sultanat Bornu mit besonderer
Berücksichtigung von Deutsch-Bornu. 1368. mit 2 Karten.
Essen 1910, G. D. Baedeker. 4
Das Buch scheint eine Dissertation zu sein. Der Ver-
fasser war Mitglied der Jola-Tsadsee-Grenzexpedition und hat
deshalb einen Teil des von ihm behandelten Gebietes selber
soweit kennen gelernt, als es bei einer solchen Reise, wo
die Vermessungsaufgaben im Vordergrunde stehen, überhaupt
möglich ist. Aber man kann sagen, daß das Buch so gut
wie ganz auf Literaturstudien beruht, und das ist erklärlich,
wenn man bedenkt, daß bereits Barth und Nachtigal für
die Keuntnis Bornus so viel geleistet haben, daß ihren Nach-
folgern nicht allzuviel mehr zu tun übrig geblieben ist. Die
Darstellung des Verfassers hält sich an das alte Schema:
Bodengestaltung, Klima, Fauna, Flora, Bevölkerung usw.
bietet keine neuen Gesichtspunkte und hat eigentlich nicht
viel Zweck. Aber die Zusammenstellung verrät wenigstens
Sorgfalt und Fleiß (von größeren Werken scheinen dem
Verfasser nur die A. Chevaliers und B. Alexanders entgangen
zu sein). Aus dem Verzeichnis im Anhang ergibt sich, daß
der Verfasser eine beträchtliche Anzahl Lepidopteren auf
der Grenzexpedition beobachtet hat. Singer.
Karl Baedeker, Palästina und Syrien, die Hauptrouten
Mesopotamiens und Babyloniens und die Insel Cypern.
Handbuch für Reisende. 7. Aufl., XCVIII und 432 S. mit
21 Karten, 56 Plänen und 1 Panorama. Leipzig 1910,
Karl Baedeker. 10 4.
Der Baedeker von Palästina und Syrien hat schon ein
beträchtliches Alter, denn in seiner ersten Auflage ist er vor
nun bereits 35 Jahren erschienen. Seitdem ist der Besuch
des Orients ja immer mehr erleichtert worden, Beförderungs-
möglichkeiten und -mittel, sowie Unterkunftsverhältnisse
haben sich gebessert, und so sind gelegentliche revidierte
Neuauflagen des Handbuchs gewiß am Platze. Manche
Baedeker haben wissenschaftlichen Wert und können vom
Geographen nicht entbehrt werden, und das gilt auch von
dem vorliegenden Bande, dessen Karten z. B. nicht immer
Ausschnitte aus Atlanten oder einfache Zusammenstellungen
des Inhalts anderer Karten sind, sondern meist Selbständig-
keit in der Anlage und manches Wichtige im Inhalt zeigen.
Nicht wenige Pläne sind wieder neu. Auch bringt der um-
fangreiche allgemeine Teil kleine Abhandlungen darüber, wie
sich die einzelnen Gebiete nach dem Stande der neuesten
wissenschaftlichen Forschung, der archäologischen z. B., jetzt
repräsentieren. Besondere Sorgfalt ist darauf gelegt, den
Reisenden mit der Bevölkerung bekannt zu machen (Reli-
gionen, Trachten, Gebräuche, Islam).
M. von Kimakowicz- Winnicki, Spinn- und Webewerk-
zeuge. Entwickelung und Anwendung in vorgeschicht-
licher Zeit Europas. Mit 107 Textabbildungen. Würz-
burg 1910, ©. Kabitzsch. 4,50 f.
Eine mit großer Gründlichkeit und vollster Beherrschung
der zerstreuten Literatur gearbeitete und viel Neues bietende
umfangreiche Abhandlung, die für Prähistoriker, Ethno-
graphen und Folkloristen von Wichtigkeit ist. Von der
Rekonstruktion der Pfahlbautenwebstühle durch Paur, Heierli
und andere ausgehend, welche die bekannten, am oberen
Ende durchbohrten „Webegewichte“ oder „Zettelstrecker“ in
ihrer Anwendung falsch deuteten, während andere sie gar
als Netzsteine usw. auffaßten, zeigt der Verfasser zunächst
ganz klar, daß diese Tonkegel als Tonwinden benutzt wurden,
zwischen welchen die Garnspindeln abgewickelt wurden.
Das ist der Ausgangspunkt der Arbeit, und die weitere Ent-
wickelung der Weberei, die der Verfasser selbst erlernte,
wird durch eine auch vom volkskundlichen Standpunkte aus
sehr eingehende Darstellung der teilweise noch recht primi-
tiven Webverfahren der Rumänen und Sachsen in Sieben-
bürgen unterstützt, bei denen sich mancherlei Aufklärung
für die prähistorische Weberei finden läßt. Überhaupt zieht
der Verfasser ein großes Vergleichsmaterial herbei, von den
Zäunen an, bei denen er die Entdeckung des Prinzips der
Weberei sieht, und den altägyptischen Webstühlen, dem für
unzuverlässig erklärten und durch Worsaae beschriebenen
Webstuhl der Färöer, den antiken Vasenbildern bis herab
auf die Brettchenweberei, um daraus Anhaltspunkte für die
vorgeschichtliche Weberei zu gewinnen.
Hier sind es nun die erwähnten Tonkegel, welche die
Hauptrolle spielen, da sie meist in größeren Mengen zu-
sammen vorkommen, und die zum Einstecken der Spindeln
dienten. Von letzteren wurden gleichzeitig mehrere ab-
gewickelt, um in einem „Fadensammler“ vereinigt zu werden.
Dieser ist die Entdeckung des Verfassers: es sind die durch-
bohrten Hirschgeweihstücke, die bisher ganz andere Deutungen
erfuhren und zu denen er auch die sogenannten Kommando-
stäbe zu rechnen geneigt ist, mit denen man bisher nichts
Rechtes anzufangen wußte. So wie diese Tonkegel findet
noch eine Anzahl anderer bisher nicht genügend oder falsch
gedeuteter Fundstücke ihre Aufklärung; und auch dadurch
erwächst der Prähistorie namhafter Gewinn, wofür sie dem
Verfasser zu Danke verpflichtet ist. A.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Dr. Max Schmidt, Direktorialassistent am Berliner
Museum für Völkerkunde und bekannt durch seine Reise von
1900/01 ins Schingugebiet, sein wertvolles Buch darüber
(„Indianerstudien in Zentralbrasilien“), sowie seine Arbeiten
über südamerikanische Ornamentik, hat sich im April d. J.
von neuem nach dem zentralen Südamerika zwecks
ethnographischer Studien begeben. Zunächst machte er von
Amolar, einem Orte an der Vereinigung des Rio S. Lourenzo
mit dem Alto Paraguay (etwa 18° s. Br.), eine lltägige Ex-
kursion in das recht wenig bekannte Gebiet im Westen und
zu den Guatö, die er auch schon auf seiner ersten Reise
aufgesucht hatte. Hierüber schreibt er uns in einem Briefe
aus Amolar vom 3. Juli unter anderem folgendes:
„Durch den glücklichen Zufall, daß ich gleich an der
Einmündung des Rio Caracarä in den 8. Lourenzo mit den
das Gebiet des unteren Caracar&ä bewohnenden Guatö zu-
ammentraf, gelang es mir, den streckenweise dicht mit Ge-
büsch und Wasserpflanzen verwachsenen Rio Caracarä bis zu
etwa zwei Dritteln seiner Länge aufwärts zu befahren und
zwei der im Sumpfgebiet versteckten Atterrados aufzufindep.
Auf den Karten, die den Caracar& andeuten, zweigt dieser
Fluß vom Alto Paraguay ab. Das ist aber, wie ich mit. Be-
stimmtheit feststellen konnte, nicht richtig. Der Caracara
zweigt eben unterhalb der Einmündung des Rio Cuyabä von
dem 8. Lourenzo ab und mündet am Fuße des Berges Cara-
cará in denselben 8. Lourenzo wieder ein. Die erwähnten
beiden Atterrados liegen abseits vom Flusse. Ich habe genaue
Untersuchungen über sie angestellt und photographische Auf-
nahmen gemacht. Bei meinen Grabungen stieß ich auf einen
Begräbnisplatz und grub eine größere Anzahl von Skeletten,
Scherben und Gebrauchsgegenständen aus. Auf meiner Rück-
tour erstieg ich die steile Felswand an der Rückseite des
Berges Caracar& und fand dort an mehreren Stellen in ganz
verschiedener Höhe insgesamt sechs verschiedene Felszeich-
nungen. So verlief in der kurzen Zeit, die mir für diese
Untersuchungen zur Verfügung stand, alles nach Wunsch.“
Über seine weiteren Pläne teilt Schmidt mit, daß er sich
von Amolar mit dem Dampfer den Paraguay aufwärts nach
S. Luis de Caceres begeben und dann den Sepotuba hinauf
in das Gebiet der noch unerforschten Cabixi-Indianer vor-
dringen wolle. (Geographische Kunde über diese abgelegenen
Teile Mato Grossos hat jüngst die Expedition des Obersten
Candido Rondon gebracht; vgl. Bd. 97, 8. 388.)
— Der durch seine früheren Reisen in Australien und
Nordmexiko bekannte Ethnograph Carl Lumholtz hat im
Kleine Nachrichten. 163
Frühjahr 1909 eine geographische und ethnographische
Expedition nach Arizona und Sonora unternommen,
über deren erste Ergebnisse er aus Sonoita in Sonora unter
dem 20. Mai 1910 der Pariser geographischen Gesellschaft
berichtet hat („La Géographie“, Bd. XXII, 8.56). Danach
hat er das erste Reisejahr dem Studium der ariden Gebiete
Süd-Arizonas und Nordwest-Sonoras gewidmet, in denen die
Papagos, ein intelligenter und mutiger Indianerstamm, wohnen.
Die Gegend, die von den Spaniern den Namen Papa-
guerria erhalten hat, gehört zu der großen Wüste Sonoras,
und ihr westlicher Teil, der sich bis zum Coloradofluß aus-
dehnt, war bisher auf unseren Karten ein weißer Fleck.
Lumholtz hat ihn drei Monate durchstreift und gefunden,
daß er dieselben allgemeinen Charakterzüge zeigt wie die
übrigen Teile der großen Wüste; nur sind die Sierras, die
alle eine Neigung zur Ost-West-Streichrichtung haben, hier
weniger zahlreich. In der Nähe der Küste erscheinen Dünen
paonon die sich von Puerto de Lobos fast bis zum Colorado
mit einer Unterbrechung etwa halbwegs) ausdehnen. Eine
dieser Dünenketten wird 60 m hoch.
leicht rotbraun.
Das Wasser in den Bergen rührt ausschließlich von den
atmosphärischen Niederschlägen her, die sich in natürlichen,
tinajas genannten Höhlen sammeln. In den Ebenen findet
- man Wasser in Tiefen von mindestens 12m, am Strande an
manchen Stellen in 0,60 bis 1,80 m Tiefe; es ist aber gewöhn-
lich mehr oder weniger brackig. Lumholtz mußte für sich
und seine Leute Wasser in Fässern mit sich führen; die Tiere
konnten einmal 76 Stunden lang kein Wasser erhalten.
Futtergras, besonders galetta, fand sich in genügender Menge,
auch fraßen die Packtiere die Blätter gewisser Bäume und
Sträuche, besonders gern die des pato pero (Olneya tesota).
Übrigens gingen Lumholtz alle seine Pferde ein. Der süd-
westliche Teil der Wüste von der Sonoita-Oase bis zum Rio
Colorado ist heute unbewohnt.
Die meisten der Papago-Indianer leben in Arizona, ihre
Zahl beträgt dort über 2500. Ein Glück für sie ist es, daß
hier die Verhältnisse den Weißen die Viehzucht oder den
Ackerbau nicht gestatten; daher erfreuen sich die Indianer
der Sicherheit ihres Besitzes und haben einige Brunnen er-
langt, die die Amerikaner bei ihren verunglückten Koloni-
sationsversuchen gegraben hatten. Außerdem ist den Papagos
ganz neuerdings eine sehr kräftige Hilfe gegen den gemein-
samen Feind beider Rassen, die wilden Apachen, zuteil ge-
worden, die sich in einer besseren Lage befinden als die
meisten nordamerikanischen Indianerstämme. Ebenso haben
die mexikanischen Papagos von der mexikanischen Regierung
Unterstützung gegen den kräftigen Yaquistamm erhalten;
diese Papagos, durch die Auswanderung nach der Union und
den Mißbrauch des Alkohols dezimiert, zählen heute nur noch
600 Seelen. Die Papagos waren bisher noch nicht studiert
worden. Lumholtz fand in Arizona bei ihnen noch manche
alte Sitten und Feste von altertümlichem Ursprung; aber
diese Überbleibsel werden bald verschwunden sein mit dem Ver-
schwinden der alten Leute. Im 17. Jahrhundert waren unter
den Papagos einige Missionen tätig, aber mit wenig oder gar
keinem Erfolge; es gelang den Missionaren nicht, die Ein-
geborenen in Dörfern (pueblos) zu vereinigen. Die Indianer
führen auf ihren Rancherias ein halb nomadisches Dasein;
den Winter verbringen sie bei ihren Herden mit Vorliebe in
den Sierras, wo das Wasser nicht so selten ist, im Sommer,
sobald die schwachen Regen beginnen, bestellen sie in den
Tälern kleine Mais-, Bohnen-, Kürbis- und Wassermelonen-
pflanzungen.
Der Dünensand ist
— Weil die Völkerkunde auf unseren Universitäten kein
selbständiges Lehrfach ist, auf den meisten von ihnen viel-
mehr ein Anhängsel der Geographie und von den Hochschul-
lehrern der Erdkunde sozusagen im Nebenamt behandelt wird,
kommt sie gewöhnlich auch auf unseren höheren Schulen
zu kurz. Man muß natürlich sagen: leider! und den Schaden
haben unsere kolonialen Versuche. Immerhin gibt es Schulen,
wo infolge persönlichen Interesses des Geographielehrers für
die Völkerkunde die Schüler mit dieser in ausreichender und
dankenswerter Weise bekannt gemacht werden, ja wo sie
selbständiges Unterrichtsfach ist, und zu diesen gehört die
Braunschweiger Anstalt, an der Dr. A. Wollemann tätig
ist. Wir ersehen das aus dessen kleiner Schrift „Die Völker-
kunde im Unterricht an den höheren Schulen“
(Braunschweig 1910, A. Graffs Buchhandlung; 40 Pf.), die das
wiedergibt, was dort gelehrt wird. Es kann naturgemäß nicht
viel sein, aber so ganz belanglos ist der Stoff doch nicht, und
man wäre schon zufrieden, wenn selbst jeder Kandidat der
Erdkunde und der Naturwissenschaften so viel völkerkundliche
Tatsachen von der Universität ins Lehramt mitbrächte, wie
sie hier verzeichnet werden. Das kleine Heft sei als nütz-
licher Berater allen Lehrern empfohlen, die der Völkerkunde
im Schulunterricht die ihr gebührende Beachtung schenken
wollen und können.
— Über seine Versuche, den Mount Robson zu er-
steigen, der mit seinen 4180 m heute als der höchste Gipfel
Kanadas gilt, hat Professor A. P. Coleman im „Geogr. Journ.“
(Juli 1910) berichtet. Der Mount Robson liegt an der Grenze
von Britisch-Kolumbia und Alberta, auf der Wasserscheide
zwischen Fraser River und Smoky River (zum Mackenziesystem
gehörig) in einem noch recht wenig bekannten Gebiet. Seinen
ersten Besteigungsversuch unternahm Coleman zusammen mit
seinem Bruder L. Q. Coleman und dem Reverend George
Kinney im August 1907 von Süden und Westen her, aber es
ging viel kostbare Zeit verloren, bis man die Flanken des
Berges erreichte, und als in den ersten Septembertagen der
Aufstieg an den steilen Wänden des Massivs begonnen werden
sollte, stellte sich mit starken Schneefällen der Winter ein,
und man mußte unverrichteter Sache heimkehren. Das gleiche
negative Ergebnis hatte ein von den genannten drei Alpinisten
im Jahre 1908 unternommener Versuch, bei dem die Ostseite
des Berges von Norden her erreicht wurde. Nach mehrtägigen
Anstrengungen Anfang September kamen sie bis zur Höhe
von 3450 m, vor einer tiefen Spalte. Aber der Tag neigte
sich seinem Ende zu, und ein nochmaliges Kampieren hier
im Schnee ohne Decken und Nahrung war nicht möglich;
deshalb erfolgte die Umkehr. Im Jahre 1909 machte
Kinney allein einen dritten Versuch und gewann am 13. August
glücklich den Gipfel. Näheres über dieses Unternehmen teilt
Coleman nicht mit. Seine Karte und seine Beschreibung der
beiden ersten Versuche enthält manches Neue über die Gegend
um den Mount Robson, an dessen Fuß mehrere kleine Seen
liegen. Wegen seiner Lage auf der Westseite der Rocky
Mountains, und weil hohe Gebirge zwischen ihm und dem
Pazifik fehlen, empfängt er dessen feuchte Winde, so daß
der Gipfel zeitweise ganze Tage lang von Wolken eingehüllt
ist. Diese Erfahrung machte Coleman besonders 1908.
— Kapitän Bernier, der Kommandant des kanadischen
Regierungsschiffes „Arctic“, hat „Peterm. Mitt.“ zufolge Mitte
Juli die geplante neue Polarexpedition angetreten. Dies-
mal sind die von der Sverdrupschen Expedition entdeckten
und rekognoszierten Inseln westlich vom Jonessund und von
Ellesmereland sein Ziel, auch beabsichtigt er festzustellen,
ob das 1906 von Peary gesichtete Crockerland wirklich exi-
stiert. Ohne Zweifel rechnet Bernier mit einer Überwinterung.
Bei dieser Gelegenheit darf man vielleicht die Erwartung
äußern, daß Bernier den Versuch machen wird, festzustellen,
inwieweit eigentlich Cooks Polarexpedition nicht erdichtet
ist. Daß sie einen realen Kern hat, ist sicher; man weiß
nur nicht, wie groß der wohl ist. Nach seiner Angabe hat
Cook den Winter 1908/09 in einer Höhle bei Kap Sparbo am
Südufer des Jonessundes auf Nord-Devon zugebracht, und
die Spuren dieses Winterlagers würden doch noch aufzufinden
sein. Ebenso das von Cook nach seiner Angabe am Nord-
ausgange des Nansensundes errichtete Depot, das er auf der
Rückreise nicht berührt hat.
— Der 10. internationale Geographenkongreß
findet im Jahre 1911 während der mit dem 15. Oktober
beginnenden Woche in Rom statt. Das Organisationskomitee
steht unter der Leitung des Marquis Raffaele Cappelle, des
Vorsitzenden der Italienischen geographischen Gesellschaft,
Generalsekretär des Komitees ist Giovanni Roncagli, der
Sekretär jener Gesellschaft. Die Verhandlungen des Kon-
gresses werden in folgenden acht Sektionen vor sich gehen:
Mathematische Geographie; Physikalische Geographie; Bio-
geographie; Anthr'opogeographie und Völkerkunde; Wirt-
schaftsgeographie; Chorographie; Historische Geographie und
Geschichte der Geographie; Methodik und Unterricht.
Laut Beschluß in Lübeck wird nun der für 1911 fällig
gewesene nächste deutsche Geographentag erst zu
Pfingsten 1912 stattfinden (in Innsbruck).
— Interessante Nachrichten über den Moschusochsen
gibt R.Kowarzik in der „Fauna Arctica“, Bd. V, 1910. Die
gegenwärtig lebenden Vertreter dieser Tiergattung zerfallen
in zwei Gruppen, eine östliche und eine westliche, erstere
östlich der Wasserscheide zwischen dem atlantischen und
dem pazifischen Teile von Nordamerika wohnend, letztere
westlich von jener Wasserscheide vorkommend. Die östliche
Gruppe läßt noch dazu deutlich zwei Unterabteilungen unter-
scheiden, eine mit Hornbasen, deren Länge zwischen der
164
Kleine Nachrichten.
westlichen Gruppe und den übrigen Vertretern der östlichen
steht, und eine mit ganz kurzen Hornbasen. Das Verhalten
der Hornbasen ermöglicht aber gerade einen Blick in die tier-
geographische Geschichte dieses seltsamen Tieres. Den west-
lichen Typus muß man als den ältesten der rezenten Moschus-
ochsen betrachten, der Amerika bewohnte. O. m. Wardi ist
der jüngste und stellt die Stufe der Entwickelung vor, auf
die es das Genus Ovibos bis auf unsere Zeit gebracht hat.
Schon Matschie sprach das Gesetz aus, Wasserscheiden seien
die einzigen Grenzen der Tierverbreitungsbezirke, und beim
Moschusochsen ergibt sich dies ganz deutlich. Jedes selb-
ständige größere Becken hat seinen eigenen Typus. Als
Westgrenze für das Vorkommen des Moschusochsen überhaupt
kann der Mackenzie angenommen werden, im Süden bezeichnet
der 60. Grad n. Br. sein südlichstes Vorkommen. Der Große
Sklavensee gehört nur noch mit seinem nordöstlichsten Teile
zum Verbreitungsgebiete von Ovibos, doch soll er dort nur
noch sehr selten anzutreffen sein, vielleicht ist er bereits von
da verschwunden. Im Osten ist es die Hudson-Bai, welche
seiner Weiterverbreitung in dieser Richtung ein energisches
Halt gebietet. Nach Norden zu aber steht dem Moschus-
oohsen die Welt offen, und man findet ihn auf allen Inseln
im Norden des Festlandes. Von Grantland aus geht sein
Vorkommen weiter nach Grönland über die gesamte nördliche
Küste, soweit wir sie kennen, und auf der Ostseite bis zum
Scoresby-Sund. Die genaue Nordgrenze seiner Verbreitung
bleibt natürlich unbekannt, solange jene Länder selbst noch
der Erforschung bedürfen. In die Gefangenschaft kommen
Moschusochsen nicht leicht. Erst 179 Jahre nach seiner ersten
Beschreibung gelangte im Jahre 1899 ein lebendes Exemplar
nach Europa. Meist gehen diese Tiere bald ein. Von 30 in
zoologische Gärten gelangten Tieren kamen nur zwei nach
Amerika, die übrigen nach Europa. Ende 1908 konnte man
fünf Moschusochsen auf unserem Kontinent bewundern, ein
Weibchen im Berliner Zoologischen Garten und vier in der-
selben Lage zu Kopenhagen. Eine Paarung der Tiere ver-
mochte man bisher in der Gefangenschaft nicht zu erzielen,
und es ist die Frage, ob es in unserem Klima jemals dazu
kommen wird.
— In seiner Bearbeitung der Coleopteren des arkti-
schen Gebietes betont B.Poppius („Fauna Arctica“ 1910,
Bd. V), daß der Wald im allgemeinen eine ziemlich scharfe
Grenze zieht. Dann ist der Reichtum an Arten einiger Fa-
milien auffallend, und zwar treten hier besonders hervor die
Carabiden, Dytisciden und Staphyliniden, während andere
Familien wieder nur sehr wenige Repräsentanten aufweisen.
Die Vertreter der drei genannten Gruppen sind auch zum
größten Teile carnivor oder leben auch von allerlei ver-
modernden pflanzlichen und tierischen Stoffen. Es ist da-
gegen auffallend, wie ungewöhnlich arm die rein phytophagen
Arten auf den Tundren und auf den Eismeerinseln sind, ob-
gleich wenigstens in den dem Waldgebiet angrenzenden Teilen
der Tundren die Vegetation zuweilen sogar reich und üppig
erscheinen kann. Von den phytophagen sind auch die meisten
hauptsächlich in den südlicheren Teilen vertreten, während
sie sehr stark gegen Norden abnehmen. Die Wasserformen
scheinen auffallend gegen Norden weniger aufzutreten; in
den südlicheren Tundragebieten sind sie noch zahlreich, so-
wohl betreffs der Arten wie besonders der Individuen, nehmen
aber schon auf dem eurasiatischen Festlande stark gegen die
Eismeerküsten ab. Ungewöhnlich arm ist die Wasserkäfer-
fauna auf den Eismeerinseln; von mehreren derselben sind
überhaupt keine Funde bekannt. Die Abnahme dieser Käfer
nach Norden steht offenbar im Zusammenhang mit dem
kurzen Sommer. Die meisten Landformen leben durchgehends
an feuchteren Stellen, besonders da, wo eine reichere Vege-
tation sich entfaltet, einerlei ob aus Sträuchern, Kräutern
oder Moosen bestehend. Nur sehr wenige Spezies der arkti-
schen Käfer sind an trockenen Stellen zu finden. Zahlreiche
arktische Coleopteren scheinen durchgehends Herbst- und
Frühjahrsformen zu sein. Die meisten dieser Arten besitzen
eine sehr große Verbreitung. Hierdurch wird es oft unmög-
lich, schärfer begrenzte Gebiete abzutrennen. Die große Ver-
breitung der verschiedenen Arten steht offenbar im Zusammen-
hang mit der übereinstimmenden Beschaffenheit der Tundren
in verschiedenen Gegenden, wodurch auch die Lebens-
bedingungen für die hier lebenden Käfer ziemlich gleichartig
sind. Dies gilt besonders für die rein arktischen und arktisch
borealen Elemente. Außerdem kommen besonders in den den
Wäldern angrenzenden Teilen der Tundra auch nicht wenige
Arten hinzu, die mehr als andere sich an verschiedenartige
Lebensbedingungen angepaßt haben und die in den tempe-
rierten Gebieten oft eine sehr weite Ausdehnung besitzen.
Im einzelnen kennen wir speziell aus Grönland 31 Arten, von
denen nur eine ausschließlich an der Ostküste gefunden ist.
Spitzbergen und Bäreninsel lieferten 9 Spezies. Island kann
man tiergeographisch nicht zur Arktis rechnen, es weist keine
einzige ausgeprägt arktische Art auf, nur zahlreich boreale
Elemente. Auch treffen wir in Island noch zahlreiche süd-
liche Arten, die in die Arktis nicht mehr vordringen; diese
Insel hängt betreff der Käferfauna vollständig mit dem nörd-
licheren Mitteleuropa zusammen.
— Die Betrachtung der Seichesaufzeichnungen
in Riva am Gardasee hat A. Defant zu der Frage geführt,
welche regelmäßig sich wiederholende meteorologische Er-
scheinung die periodische Schwingungen des Sees auslösende
Denivelation verursacht, und diese Frage sucht er in der in
den Sitzungsber. d. kais. Akad. d. Wissenschaften in Wien,
math.-naturw. Klasse, Bd. 118, Abt. IIa, April 1909 erschie-
nenen Abhandlung „Berg- und Talwinde in Südtirol" zu
beantworten. Er kommt zu dem Resultate, daß durch das
Abfließen der durch die Wärmezufuhr über den Tälern ge-
hobenen Luftmassen gegen die Bergabhänge hin ein perio-
disch zwischen dem Gebirge und der Niederung wirkender
Gradient entsteht, mit einer einfachen täglichen Periode mit
einem Maximum in den Morgen-, einem Minimum in den
Nachmittagsstunden. Der maximale Gradient in den Morgen-
stunden, der vom Gebirge her gegen die Pogbene gerichtet ist,
beträgt im Mittel 0,85 mm, er erzeugt den Bergwind; der
maximale Gradient am Nachmittag, der von der Niederung
gegen die Alpen wirkt, beträgt 1,00 mm und ist die Ursache
des Talwindes. Die Wendestunden sind im Mittel gegen
112 und 9P und stimmen mit den Aufzeichnungen des Limni-
graphen, wo sie sich durch plötzlich auftretende, breiter an-
setzende Linienzüge bemerklich machen und namentlich auch
den Beginn der Ora bis auf die Minute erkenntlich machen,
sehr gut überein. Defants Untersuchungen haben zum ersten
Male erfolgreich die Seicheserscheinung eines bestimmten
Sees in die gesamten atmosphärischen Erscheinungen seiner
Umgebung eingefügt.
— Über den Ursprung der Haussa, jenes rätselhaften
dunkeln Volkes des Westsudans, äußert sich Kapitän A. J.
N. Tremeerne in einem Bericht des „Journ. of the Roy.
Society of Arts“ vom 8. Juli d. J. Seine Bemerkungen mögen
hier ohne weiteren Kommentar wiedergegeben werden. Er
sagt: 1. Ihre Religion ähnelt in zu vielen Punkten der der alten
Agypter, als daß man sich vorstellen könnte, sie habe sich
ganz unabhängig herausgebildet. 2. Die Haussa haben die
Handels- und Wanderinstinkte der Semiten und sind frei-
willig und ohne äußeren Druck gewandert, während die An-
gehörigen der meisten westafrikanischen Negerstämme sich
zusammengehalten haben, bis eine Eroberung und eine Ver-
treibung aus ihrem Lande stattfand. 3. Der Schädelindex
ist derart, wie man ihn bei den Abkömmlingen einer Rassen-
mischung erwarten kann, manche haben einen größeren,
manche einen geringeren Index. Weil das arabische Element
in der Minderheit war und infolge des Einflusses der Um-
gebung steht der Schädelindex der Haussa dem der ägypti-
schen Kopten und gemischten Rassen näher, als dem der
Araber. Die heutige Haussarasse ist eine weitere Mischung
des Volkes, das ums Jahr 1000 n. Chr. mit den Eingeborenen
kam. 4. Arabisch ist einiger Einfluß bei der Bildung der
Haussagrammatik gewesen, auch hat das Arabische etwa ein
Drittel des Wortschatzes geliefert, und so müssen einige von
den Leuten, die ihn gebildet haben, das Arabische gekannt
haben. Da wiederum zwei Drittel des gegenwärtigen Wort-
schatzes keine Ähnlichkeit mit irgend einer semitischen
Sprache haben, so müssen andere Elemente vorhanden sein,
und von diesen sind einige dem Koptischen verwandt. Das
Wort Habeschi war ein von den Arabern angewendeter Aus-
druck der Verachtung für gemischte Rassen, und Haussa
(Ba-hausche) ist eine Modifikation. 5. Das Volk kam aus
dem Osten (dem alten Äthiopien) und brachte das Pferd.
Die Araber hatten Pferde um jene Zeit (1000 n. Chr.), und
das ankommende Gemisch sprach zweifellos einen gewissen
Teil Arabisch. Sie mögen Hamiten gewesen sein, viel wahr-
scheinlicher aber ist, daß sie eine Mischung von Hamiten und
Semiten waren, zusammen mit Elementen lokaler, unterwegs
angetroffener Völker und der ursprünglichen Bewohner des
Landes, das nun die Haussastaaten bildet. Wahrscheinlich ist
auch ein wenig Berberblut vorhanden und sogar eine weitere
Beimischung von arabischem. Da sie sich ihrer niedrigen
Abkunft schämten, so erfanden sie eine andere für sich und
nannten ihren mythischen Stammvater Babusche, was in
Wirklichkeit Ba-(ha-)beschi und Ba-hab(e)schi oder Ba-
hausche ist.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLO
BUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unn VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE,
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. ıı.
= BRAUNSCHWEIG.
22. September 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft
mit der Verlagshandlung gestattet.
Die neueren Ausgrabungen in der Stadt Alesia.
Von A. van Gennep. Paris.
Wie bekannt, endete der Widerstand der Gallier
gegen Cäsar mit dessen Eroberung der Burg Alesia und
der persönlichen Ergebung des Militärchefs Vereingetorix.
Über die Lage dieser Burg hatte man in Frankreich
jahrelang gestritten, indem man sie mit verschiedenen
Örtlichkeiten identifizierte!), bis Napoleon III. von 1861
bis 1865 bei dem heutigen Städtchen Alise-Sainte-Reine
Ausgrabungen vornehmen ließ?).. Es wurde damals
nicht auf dem Plateau, dem sogenannten Mont Auxois,
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[| | |
Abb.1.
geforscht, sondern nur unten in der Ebene, weil man
sich zu jener Zeit nur für die römischen Arbeiten inter-
essierte8). Man schnitt kleine Gräben auf, die tatsäch-
1) Über die früheren Anschauungen s. C. Pitollet, Alesia
dans la littérature du XVe au XVIIIe siècle, Pro Alesia I,
S. 115 ff., 139 ff.
2) Über die vor Napoleon III. ausgeführten Ausgrabungen
s. Gaston Testart, Les anciennes fouilles du Mont Auxois,
Pro Alesia I, 8. 197 ff., 230 ff., 259 ff., 290 ff., 324 ff. ; III, 8. 400 ff. ;
IV, 8.602ff., 656 ff.
®) Über die römischen Festungsanlagen s. Napoleons
Histoire de César und besser: Commandant J. Colin, Notes
sur les travaux des Romains devant Alesia, Pro Alesia I,
8.147 ff., 170 ff.; II, 8. 238 ff., 269 ff., 348 ff.
Globus XCVIII. Nr. 11,
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lich den von Cäsar erwähnten Ringwällen (circonval-
lations) quer begegneten. So ergab die Übereinstimmung
der Beschreibung, die Cäsar in seinem De Bello Gallico
von den Festungsanlagen geliefert hatte, mit den in situ
gefundenen künstlichen Arbeiten das endgültige Beweis-
mittel für die Lokalisierung der alten Alesia auf dem
Mont Auxois. Aber einige Archäologen, hauptsächlich
der berühmte Quicherat, wollten diese Schlußfolgerungen
nicht annehmen, und eine wissenschaftliche Opposition
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Plan der Burg Alesia 1909.
entstand, die übrigens auch ihre politische Seite hatte.
Seitdem hat nun freilich die alesische Frage keinen poli-
tischen Charakter mehr, obgleich andere Alesias immer
noch lokale Anhänger besitzen, so Isernore im Dep. Ain,
auch eine Alesia in der Franche-Comté u.a.m.*), und
diese Eifersucht brachte und bringt noch gute Resultate
mit sich, da die an mehreren Stätten systematisch aus-
geführten Ausgrabungen die Kenntnis der vorrömischen
und der römischen Periode in Frankreich bereicherten.
*) Dr. Simon, Discours etc., Pro Alesia II, 8.272 ff.; 8.
Déchelette, L'identification d’Alesia et les Tombelles d’Alaise,
Pro Alesia III, 8.489 ff.
22
166 van Gennep: Die neueren Ausgrabungen in der Stadt Alesia.
*Die von Napoleon III. für seine Histoire de César
befohlenen Arbeiten wurden von einem Elsässer, dem
Oberst Stoffel, geleitet; aber ohne die Hilfe einiger tüch-
tiger Mitarbeiter, wie des aus Alise stammenden und
Die drei Schichten Alesias.
Abb. 2.
heute noch sich lebhaft für die Altertümer interessieren-
den ehemaligen Maire, Victor Pernet 5), wäre Stoffel nicht
viel gelungen. Es haben sich dann seit einigen Jahren
um Prof. Louis Matruchot und um Dr. Simon, den
Präsidenten der Société des Sciences der benachbarten
Stadt Semur, viele jüngere Kräfte konzentriert, so daß
endlich auch mit systematischen Ausgrabungen auf dem
$) Siehe dessen Les fouilles de Napoleon III, Pro Alesia
1, 8.122 ff., 141, 157, 173; II, 8.205, 248, 279, 300, 352; III,
S. 418, 458, 472, 525; IV, 8.554, 580, 625 ff.
Mont Auxois begonnen werden konnte, und gleich in
dem ersten Jahre dieser Ausgrabungen (1905) kam man
zu so wichtigen Resultaten, daß eine bei Privatleuten
und bei Regierungsbehörden unternommene Propaganda
allmählich Mittel zur Erweiterung der
Forschungen verschaffte. Vor einigen
Monaten hatte die Gesamtsumme
der Ausgaben für fünf Kampagnen
etwa 40000 Franken erreicht. Ob-
gleich bei so geringen Mitteln nur
ein ganz kleiner Teil des Plateaus
bis jetzt untersucht werden konnte,
so sind doch schon die Entdeckungen
von größter Wichtigkeit, nicht nur
für die lokale Geschichte, sondern
auch für die allgemeine Geschichte
der vorrömischen Kunst, Technik und
Religion.
Anfangs wurden die Rapports
des Fouilles und die Abhand-
lungen über einzelne Fundobjekte in
dem Bulletin der Société des Sciences
de Semur und in verschiedenen ar-
chäologischen Zeitschriften veröffent-
licht. Im Jahre 1906 gründete dann
Louis Matruchot eine spezielle Zeit-
schrift unter dem Titel Pro Alesia,
wo alles, was die Burg anging, zen-
tralisiert sein sollte. Leider trennte
sich im letzten Jahre der Hauptmann
Esperandieu, einer unserer besten
Archäologen, von der Société) und
begann seinerseits mit Ausgrabungen,
über welche er in allgemeinen archäo-
logischen Zeitschriften berichtet. Man
hat lange den lokalen Archäologen
den Vorwurf gemacht, sie hätten kein
genügendes Museum, obwohl es in
Alise selbst zwei Museen gab’), aller-
dings den wissenschaftlichen Forde-
rungen nicht entsprechend. Um diesen
Vorwurf zu entkräften, erwarb vor
einigen Monaten die Société de Semur
ein großes Gebäude, wo die früheren
Sammlungen und alle neuen Fund-
objekte Unterkunft und systema-
tische Klassifizierung erhalten werden.
Aber die von Esperandieu künftig
gefundenen Gegenstände werden nach
Saint-Germain kommen.
Pro Alesia®) bringt nicht nur
Nachrichten über die neuen Funde,
sondern enthält auch höchst wert-
volle Abhandlungen von allgemeiner
Tragweite, wie ich im folgenden
zeigen möchte, da bald der vierte
Jahrgang dieser Zeitschrift zu Ende
geht, und man jetzt ein einheitliches
Bild der vorrömischen und frührömi-
schen Stadt Alesia entwerfen kann. Auch kann ich
dank der Liebenswürdigkeit von Prof. L. Matruchot
€) Siehe darüber mehrere von beiden Parteien veröffent-
lichten und in Pro Alesia angezeigten Flugschriften; über
die Flugschrift der Société de Semur s. meine Rezension in
der Revue des Études Ethnographiques 1909, 8. 220.
7) 1, Musée Napoleon III oder Musée Municipal (collection
Callabre); 2. Musée Alesia oder Musée de la Société des Sciences
de Semur.
®) Erscheint in der Librairie Armand Colin monatlich ;
Abonnementspreis fürs Ausland 10 Franken.
van Gennep: Die neueren Ausgrabungen in der Stadt Alesia.
die Resultate der Kampagnen 1909 und 1910 berück-
sichtigen.
Die auf dem Mont Auxois und in der Umgebung be-
findlichen prähistorischen Ansiedelungen, deren mehrere
während der napoleonischen Ausgrabungen gefunden
worden sind), sind seitdem nie systematisch unter-
sucht worden. Als ich unter Führung von L. Matruchot
und V. Pernet den Mont Auxois vor einigen Monaten
besuchte, wurde mir versichert, eine prähistorische Stätte
hätte man auch während der Arbeiten für die Errichtung
des riesigen Vercingetorixdenkmals entdeckt, sich darum
aber nicht weiter gekümmert. An der Stelle, wo das
eigentliche Alesia stand, scheinen keine vorhistorischen
Artefakte vorzukommen; übrigens ist man da noch nicht
überall zu der untersten Schicht vorgedrungen !°).
Heute ist Alise-Sainte-Reine immer noch ein Wall-
fahrtsort, da es dort eine heilige Quelle gibt, die der
heiligen Reine geweiht ist. Wie so oft, so hat auch hier
das Mittelalter nur frühere Gewohnheiten christianisiert,
und die neuen gut gelungenen Forschungen Esperandieus
haben nachgewiesen, daß dieselbe Quelle auch den Römern,
Gallo-Römern und früher den Kelten, vielleicht sogar
den Ligurern, als heilig und heilbringend galt!!), Er
hat beweiskräftige Ex-votos gefunden, hauptsächlich
Simulacra von Augen; und die Quelle heilt heute noch
Augenkrankheiten nach Volksmeinung.
Über die Herkunft des Namens der Stadt hat man
früher viel gestritten. Heute steht so viel fest, daß die
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1610. — =
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Abb. 3. Hipposandale (Pferdeschuh) aus Alesia.
primitivere Form Alisia war, verwandt mit dem Götter-
namen Alisa (no deo), dessen Komponenten al-is kel-
tisch sind (siehe Isar, Isère, Cremisa usw.) und Quellen
- °) V. Pernet, Alise préhistorique, Pro Alesia I, 8. 11,
29, 48 ff.
10) Es interessieren sich aber für die prähistorische Frage
des Mont Auxois einige Prähistoriker von Dijon und Um-
gebung.
n) Comptes-Rendus de PAcadémie des Inscriptions 1909.
167
oder fließendes Wasser bezeichnen !?). Sehr früh aber
begegnet man schon der von den griechischen und latei-
nischen Schriftstellern adoptierten Form Alesia, die
man griechischer Abkunft hielt; im 9. Jahrhundert leitet
der Hagiograph Heiricus Alesia vom lateinischen alere
her und verschmilzt auf diese Weise eine Volksetymologie
Abb. 4. Die sogenannte „Mutter“.
mit einer einheimischen Brottechnik (über diese siehe
weiter unten).
Unter den in Alesia gefundenen Gottheiten verdienen
eine besondere Betrachtung der Gott Ucuetis und die
Göttin Bergusia. Das Wort Ucuetis behandelt bereits
eine ansehnliche Literatur: Roger de Belloguet, Pictet,
Allmer 13), John Rhys, d’Arbois de Jubainville, Berthoud 14),
Ad. J. Reinach und andere haben die Abkunft dieses mit
merkwürdigen Endungen versehenen Götternamens unter-
sucht, und jetzt scheint man zu der Annahme gekommen
zu sein, das Wort sei völlig ligurisch. Aber von der
Persönlichkeit des Gottes weiß man noch nichts. Ligu-
risch wäre auch der Name Bergusia. Solche mit
12) A. T. Vercoutre, Le Nom d’Alesia, Pro Alesia II, 8. 193
—194; C. Jullian, Le Nom d’Alesia II, S. 241—242; A. Thomas,
Alisum, ancien français Alis, IV, 8. 625—626.
12) Wiederabgedruckte Abhandlung in Pro Alesia I,
8. 71—72.
14) L. Berthoud, Sur un vase votif en bronze avec in-
scription, Pro Alesia III, 8. 412—417; derselbe, A propos des
divinités d’Alise Ucuetis et Bergusia, IV, 8. 583—596.
22*
168
van Gennep: Die neueren Ausgrabungen in der Stadt Alesia.
Berg... anfangenden Personen- und Ortsnamen findet
man nur in Zentral- und Südfrankreich (Bourgoin, Dep.
Isere, usw.), in Norditalien (Bergamo usw.), in Spanien
(Bergida, Bergidum, Bergium, Bergula usw.), also in den
von den Ligurern eingenommenen Gebieten. Daraus
könnte man den Schluß ziehen, Alesia wäre eine heilige
Stätte der Ligurer gewesen. Es bringen also die neueren
Ausgrabungen einen interessanten Beitrag zu der schwie-
rigen Ligurerfrage.
Höchstwahrscheinlich waren die Gottheiten, von
denen man nur eine römische Nachbildung gefunden hat,
genommen wurde, sondern der Üppigkeit, und die letzte
speziell der Früchte (Abb. 4). Schöne Reliefs der Kapi-
tolinischen Triade und ein Dioskur mit Pferd wurden
1906 gefunden !6); 1907 zwei Bildnisse der Pferdegöttin
Epona, und 1909 mehrere schlechter erhaltene, noch
nicht identifizierte Götterbildnisse 17). Von späteren
Figuren hebt sich hervor ein wunderschöner Silen, dem
man die prächtige Statuette des schlafenden oder ver-
wundeten Galliers zur Seite stellen kann 28).
Soweit die Ausgrabungen bis jetzt vorgedrungen
sind, zeigen sie deutlich, daß die Stadt Alesia dreimal
wieder aufgebaut worden ist, da sich
eine vorrömische, eine frührömische und
eine spätrömische Schicht erkennen
lassen (Abb.2). Man weiß aber nicht
mit Sicherheit, welche Eroberungen die
Vernichtung und welche Ereignisse die
Wiederherstellung der Stadt hervor-
gerufen haben. Zu Cäsars Zeit war
Abb.5. Kleinere in Alesia gefundene Gegenstände: @löckchen, Löffel,
Kanne, Axt usw.
wenn nicht lokal einheimisch, allgemein in der Gegend
von Alesia und in der heutigen Bourgogne zu Hause.
Die sorgfältig von Ad. J. Reinach !5) studierten Bildnisse,
sechs an der Zahl, von sogenannten Müttern gehören
dem gemeinkeltischen Götterschatz an. Von diesen sechs
in Alesia gefundenen Müttern ist eine mit zwei männ-
lichen Göttern sitzend dargestellt; drei sitzen neben
einem Gott; eine saß vielleicht auch bei einer männlichen
Gestalt, und eine sitzt allein. Alle Mütter waren Gott-
heiten nicht des Herdes oder des Hauses, wie früher an-
1$) Ad. J. Reinach, La nouvelle Déesse -Mère d’Alesia,
Pro Alesia III, 8.425, 452, 468, 493, 508 ff. Auch Separat-
Abdruck, 23 8.
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Abb.6. Die alesische Panflöte,
Alesia eine Hauptstadt der Mandubii,
die dann während der Kaiserperiode
allmählich durch die Edui verdrängt
oder aufgesogen wurden !?). Die Blüte-
zeit Alesias dauerte ungefähr andert-
halb Jahrhundert. Im 9. Jahrhundert
sagt schon Heric (Heiricus) in seiner
Vita des heiligen Germain: „Nunc
restant veteris tantum vestigia
castri“. Im Mittelalter bildete sich das Städtchen Alise auf
einem Abhang des Mont Auxois, also nicht über der frühe-
ren Stadt, wo jedoch einige mittelalterliche Sarkophage
gefunden worden sind. Dann wurde der ganze Mont
Auxois in den Bereich der Landbebauung gezogen. Es
16) Siehe darüber Esperandieu, Pro Alesia I, 8. 39 ff., 257 ff.
17) J. Toutain, Pro Alesia IV, S. 545—546.
18) Abbildungen findet man in der Zeitschrift Pro Alesia
und auf den Ansichtspostkarten, die man in der Librairie
Colin, 5 rue de Mézières, Paris, findet; es gibt davon zwölf
Serien, jede von zehn Postkarten, zu 1 Frank die Serie. Biehe
weiter unten.
1°) Otto Hirschfeld, Alesia et les Mandubiens, Pro Alesia
II, S. 409—411.
van Gennep: Die neueren Ausgrabungen in der Stadt Alesia.
169
ist also eigentümlich, daß kein späterer Schutt die An-
siedelung übergraben hat und daß man nur Fundamente,
aber keine eingefallene Baumaterialien in situ findet.
Auch scheinen die späteren Einwohner von Alise die
Stockmaterialien nicht benutzt zu haben, wie es so oft,
z. B. in Nordafrika, vorkommt.
Unsere heutige Kenntnis der Stadt ist noch dürftig,
obwohl der allgemeine Plan und die untere Einrichtung
der Häuser festgelegt sind. Erkannt wurden bis jetzt
(alle Besitzer des Plateaus haben nicht Ausgrabungen be-
willigt), wie man aus Abb. 1 ersieht: ein Theater, ein
großes viereckiges Gebäude mit Säulengang und dahinter
ein Gebäude mit drei Chören; dann weiter hinten kel-
tische runde Hütten, auch einige Häuser; und auf der
anderen Seite der römischen Straße: ein Gebäude mit
Säulenhallen, ein anderes mit vielen Räumen, dann ein
schöner Keller, den eine kleine Innenstraße vom soge-
nannten Monument à Crypte, wo die Mater gefunden
wurde, teilt2°). Weiter kommt eine Anzahl von Häusern
und von Brunnen, aus denen man Eimer, Vasen und
allerlei Gegenstände herausgrub.
Fast jede einzelne Einrichtung wurde von den Mit-
arbeitern von Pro Alesia gründlich erforscht, so die
Halbsäulen ?!), das Deckensystem 22), die Heizungseinrich-
tungen oder Hypokausten 23). Auch die gallischen oder
keltischen Hütten gaben Henri Barbe Anlaß zu einem
Artikel, wo erfreulicherweise die ethnologische Methode
verwertet wurde 2%).
Was Alesia in der ganzen römischen Welt berühmt
gemacht hatte, das waren die besonderen, mit edlem
Metall oder Zinn überzogenen Bronzeartefakte. Plinius
berichtet über diese Arbeiten 25), aber obwohl mehrere
verzinnte, versilberte und vergoldete Metallwaren in der
Bourgogne gefunden worden waren, so zweifelte man
doch noch an Plinius’ Verläßlichkeit. Glücklicherweise
fand dann 1909 Pernet in einem von Schutt und allerlei
Sachen gefüllten Tiefbrunnen auch versilberte Eimer
und Vasen. Allmählich kamen noch hervor: Stücke von
zwei vergoldeten Kesseln, acht mit Bleiglasur übergossene
Vasen u. a.m., deren alesische Herkunft ganz sicher
ist26), Alle diese Objekte gehören der vorrömischen
Periode an; auf einem derselben erkennt man einen
Fisch, der vielleicht ein religiöses Symbol war.
Auch eine andere technische Frage haben die neueren
Ausgrabungen gelöst. Man hat die Werkstätte der
Metallarbeiter gefunden und Gußformen mit kleinen
Kanälen aufgehoben, die ganz sicher beweisen, daß die
Alesier die Gußtechnik à la cire perdue kannten (wie
die Beninneger). Die alesischen Gegenstände haben eine
gewisse Rauheit, die die Polierung nicht ganz wegzu-
nehmen vermag ?7).
20) Über die Monumente siehe besonders die Artikel des
Hauptmanns Esperandieu und die Bulletins des Fouilles.
1) Henry Barbe, Note sur des fûts de colonne partagés
en deux, Pro Alesia II, 8. 224—229. Jean Maxime, Sur les
pierres de recouvrement en forme de demi-füt, trouvés à
Alesia, Pro Alesia III, 8. 397—399.
22) B. Chaussemiche, Couverture d'une maison d’Alesia,
Pro Alesia IV, 8. 629 ff.
2) L. Matruchot, Les divers modes de chauffage des
maisons gallo-romaines d’Alesia, Pro Alesia III, 8.487 (che-
minée), 500, 520 ff (hypocaustes).
1“) H. Barbe, Les huttes gauloises d’Alesia, Pro Alesia
III, 8.505 ff., 535 ff.; IV, 8.547 ff.
23) XXXIV, 17; siehe die Kritik von Berthoud, Pro Alesia
II, 8.317—320.
2%) M. Besnier, Les Vases de metal découverts à Alesia
en 1909, Pro Alesia IV, 8. 641—649.
27) L. Matruchot, L'industrie des bronziers d’Alesia, Pro
Alesia III, 8. 435—439.
Diese beiden Entdeckungen würden endgültig die
alesische Frage lösen: die Stadt auf dem Mont Auxois
ist in der Tat die von Plinius und Cäsar erwähnte Alesia.
Sogar das eigentümliche Brot von Alesia ist wieder-
gefunden worden ?®), und die Masse von allerlei Gegen-
ständen, die gefunden wurden, bezeugt ein reiches und
wohlhabendes Leben.
Über diese Gegenstände haben einzelne Mitarbeiter
der Zeitschrift Pro Alesia berichtet. Ich selbst habe die
Nützlichkeit der gegenwärtigen Volkskunde für die Er-
klärung alesischer Gegenstände hervorgehoben, indem
ich die Schlüssel und Schloßvorrichtungen erläuterte 2°);
auch über interessante Glöckchen werde ich berichten.
Eine schöne Arbeit über das Pferdegeschirr und speziell
über Pferdeschuhe, die sogenannten Hipposandalen
(Abb. 3), hat G. Joly, Professor an der Kavallerieschule
zu Saumur, geliefert3°); er hat auch den Gebrauch des
Steigbügels für die vorrömische Periode in Alesia fest-
gestellt und damit die allgemeine Theorie der Erfindung
des Steigbügels im Mittelalter umgestürzt®!). Die schöne
Panflöte (Abb. 6), die einzige, welche uns aus dem Alter-
tum erhalten ist, hat Th. Reinach behandelt32), Unter
den anderen interessantesten Gegenständen möchte ich
noch einige samnitische Töpfereien erwähnen 3°), Frag-
mente eines Spiegels 3t), einen mit Eisenbändern be-
festigten Eimer mit Kette 35), die in Alesia massenweise
aus Knochen hergestellten Kopfnadeln 3) und andere
Dinge, deren mehrere in Abb.5 dargestellt sind.
Nicht alle in Alise und auf dem Mont Auxois im
Laufe des letzten Jahrhunderts gefundenen Objekte be-
finden sich in Alise selbst oder in Saint-Germain (Musee
des Antiquites Nationales unter Leitung von Salomon
Reinach), es werden solche auch in den Museen von
Dijon, Autun, Genf usw. aufbewahrt. Sogar im Berliner
Museum für Völkerkunde befindet sich eine nicht arme
Serie von alesischen Gegenständen, über welche H. Flem-
ming ausführlich in Pro Alesia berichtet hat 37).
Als wichtig für die Kenntnis von Alesia muß man
noch die von der Société des Sciences de Semur heraus-
gegebenen -Bulletins des Fouilles und die schon er-
wähnten Serien von Ansichtspostkarten zählen. Daß die
Postkarte ein gutes Mittel für die Verbreitung der Wissen-
schaft in ärmeren oder entlegenen Kreisen ist, wird seit
Jahren anerkannt. In Frankreich besitzen wir jetzt eine
sehr gute prähistorische Serie; auch die einheimische
Archäologie ist hier und da gut auf Postkarten reprä-
sentiert, wie aus einem neuerdings gedruckten Katalog
von J. Dechelette hervorgeht. Die alesischen Postkarten
wurden von L. Matruchot herausgegeben, und jede ist
mit einem erläuternden Text versehen. Zum Vergleich
wurden auch moderne Stiche und Abbildungen von
anderen gallischen Denkmälern herangezogen. Eine
andere Postkartenserie zeigt das heutige populäre Theater-
spiel, La Passion de Sainte-Reine. Obgleich kein Pompeji
oder Timgad, gibt Alesia doch einen guten Einblick in
die vorrömische und römische Lebensweise.
2) Ad. J. Reinach, Le pain d’Alesia, Pro Alesia II,
8. 209—223.
2°) Pro Alesia III, 8.529 ff.; IV, 8. 675—681 mit 4 Tafeln.
w Pro Alesia III, 8.450 ff. (La ferrure celtique); 476 ff.
(les hipposandales); 511, 539, 540 ff.
31) Pro Alesia III, Taf. LIX und 8. 538—539.
32) Pro Alesia I, 8. 161—169, 180—185; II, 8. 201—202.
33) Pro Alesia I, B. 81 ff., 128 ff.
3t) Pro Alesia I, S. 129 ff.
n Pro Alesia III, Taf. L und 8. 423.
3) L. Matruchot, Une industrie d’objets d’os à Alesia,
Pro Alesia IV, 8.553.
37) Pro Alesia III, 89391 ff., 430 ff., 480 ff., 514 ff.
Globus XCVIII. Nr.11.
23
170 Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen.
Die Brautwerbung der Balten und Westslawen.
Volkskundliche Streifzüge an der Ostgrenze Deutschlands.
Von Prof. Dr. Tetzner.
(Schluß.)
II. Die Werbungsbräuche knüpfen sich an fünf Ab-
schnitte des Brautlebens, an die Bekundung der Heirats-
fähigkeit, an die Brautschau, die Liebeserklärung, die
Freiwerbung und die Verlobung.
1. Der Eintritt ins reife Alter, die Anzeige der
Heiratsfähigkeit und der Heiratslust wird von Balten
und Slawen schon äußerlich kenntlich gemacht. Maletius
berichtet vom Tintinabulum, das die puellae nubiles bei
den Sudauern, Kuren, Schameiten und Litauern an einer
Schnur tragen, die vom Gürtel bis zu den Knien herab-
schwingt. Der Gebrauch war nicht allgemein und war
nur „vielerorts“ heimisch. Er erinnert an die breiten
Schürzenbänder, die heute noch die heiratslustige Sorbin
und Slowakin nach der Konfirmation anlegt, während
sie den kurzen Rock, im Unterschied zur Deutschen, bei-
behält. Die Klingel ist etwa dem im Globus erwähnten
Momtschanik (Globus 1904, Bd.86, S.88 ff.) zu vergleichen,
mit dem die serbischen Burschen ihren Eintritt ins heirats-
fähige Alter anzeigen wollen. Freilich besteht der von
mir damals gekennzeichnete Zustand noch, daß die Sache
nicht völlig aufgeklärt ist. Eine gleichlaufende Sitte
hat sich beim deutschen Soldaten ausgebildet, der bei
seinem Dienstaustritt stolz den Reservestock mit Militär-
quaste trägt; beim Eintritt ist die Schmückung der Brust
mit Stoffblumensträußen allgemein. Die Slowaken tragen
lange Bänder am Hütchen.
Natürliche Kennzeichen, wie die von Lepner erwähnte
Bärtigkeit, kommen hier nicht in Betracht. Im übrigen
trägt heute der junge Bursche, dem die Dainos als
Attribut gern die Sporen geben, wohl keine besonderen
Abzeichen als Heiratskandidat, da er durch feinere Klei-
dung und Schmuck, durch Auftreten und Gehaben sich
schon sonst bemerkbar macht. Das Mädchen aber hat,
wie in alter Zeit, bei Balten, Slawen und Deutschen noch
heute inmitten ländlicher Bevölkerung, wenn es von
jungen Burschen gesehen sein will, Blumen in der Hand,
am Kleid und im Haar. Dies letztere ist namentlich noch
bei den Litauerinnen zu bemerken. Die Blumen und
Kräuter des Kleingartens, die stark duften, Majoran,
Raute, Rosmarin, daneben Preißelbeerkraut u. dgl., werden
zu Sträußen oder Kränzen vereint oder geradeswegs ins
Haar geflochten, das Haar aber in herabhängenden
Zöpfen oder als Kopfkranz getragen. Auch die Lieder
der Polen, Masuren, Kaschuben, Tschechen, Mährer,
Slowaken erzählen davon, wie die Dainos.
Über die junge Litauerin vor 100 Jahren sagt Rhesa:
„Die Frauenzimmer kleiden sich in den verschiedenen
Gegenden abwechselnd, und es läßt sich aus ihrer Tracht
erkennen, in welchem Distrikte sie wohnen. Nur darin
kommen sie alle überein, daß die Mädchen mit bloßen, ge-
flochtenen Haaren gehen und sich von den verheirateten
Frauen unterscheiden, die ihre Haare bedecken und mit
Tüchern umschlagen. Um Tilsit und Ragnit tragen die
Mädchen das Haar in zwei Flechten oder achtteilig ge-
flochtenen Zöpfen, die ganz enge um den Kopf geschlagen
werden. Um die geflochtenen Haare legen sie ein buntes
und zur Trauerzeit ein schwarzes Band. Eine Braut aber
unterscheidet sich durch einen Kranz von grüner Raute auf
der linken Haarflechte, oder durch eine hohe, schwarz
sammetne Haube, die oben mit einem Rautenkranz eingefaßt
ist, in welchem Fall die Flechten oberwärts gebogen werden.
Letzterer Aufsatz besteht eigentlich in einem etwas über
einen halben Fuß hohen, runden ausgesteiften Turban, der
die Scheitel umgibt und an dem oberen Ende mit Rauten
und allerlei Blumen verziert ist. Von dem ihn umgebenden
Rautenkranz heißt dieser perpendikulär aufstehende, zylinder-
förmige Aufsatz Wainikkas. Unterschieden und etwas sonder-
bar ist der Kopfputz der jungen Frauen, die nach der Hochzeit
einen aus Filz oder diekem umgebogenen Draht verfertigten
Hut anlegen, der nicht so tief als der Männerhut ist. Dieser
bügelförmige Aufsatz, den sie Kykas nennen, ist mit feiner,
weißer Leinwand bezogen und oben mit Schnüren durch-
kreuzt. Einige haben an den Krempen eine gefaltete herab-
hängende Umfassung, einige Zoll lang, wodurch zum Teil
das Gesicht verdeckt wird. Vielleicht ist dieser Frauen-
aufsatz noch ein Überbleibsel von dem Kopfputz der alten
heidnischen Preußen, welcher als eine Art des Kranzes über
die Stirn beschrieben wird. Simon Grunau berichtet, wie
er 1490 das Jungfernbortlein der Pogosania, einer angeb-
lichen Tochter Widewuts, im Kloster zu Elbing gesehen
habe. Aus der kurzen Beschreibung läßt sich folgern, daß
solches eine Art gefalteten Frauenhuts gewesen, der vorne
mit einer Zierat von eingefaßten Steinen oder von Bilber
und Metall versehen war. 8. Preuß. Sammler, T.2, 8. 1241
u. Bock, Nat. Preußens I, 158 bis 163. — Rhesas Donalitius-
ausgabe, 8.151.
Die jungen Südslawinnen behängen ihre Brust mit
Goldstücken, um ihren Brautschatz anzudeuten; man
kann sie noch heutzutage auf den Jahrmärkten ihren
Reichtum zur Schau tragen sehen. Der Kopfschmuck
der Mädchen wird heutzutage nur noch in einigen
Gegenden, so bei den Litauern, Sorben und den Bam-
bergerinnen bei Posen, in alter Eigenart getragen. Bei
den Litauerinnen wird im Winter der Kranz aus Papier-
blumen hergestellt. Nach Brand u. a. trugen die Mädchen
die Jungfrauenkränze auch noch als junge Frauen, so-
lange sie keinen Sohn geboren hatten. Bei ihm ist diese
mit dem Kranz gekrönte Jungfrauenborta im unteren
Teil vier bis fünf Finger breit und auch von Samt.
Donalitius singt:
„Frauen, begehrt mit nichten das Jungfernkränzlein zu tragen,
Und ihr Mädchen verlangt mir dafür nach dem Kykas mit
nichten !“
Bei den Sorben bedeutet Kika einfach die Haarflechte.
Die Ablegung des Brautkranzes oder dessen Verkauf an
den Bräutigam, die Auflösung der Zöpfe und Neuflechtung
durch die Schwiegermutter in Frauenweise (bei den Süd-
polen geschieht’s auf dem Backtrog) bildet nebst der Auf-
setzung der Frauenhaube einen wichtigen Teil der Hochzeit.
Die Brautkrone, ein besonders wertvolles Hochzeitsstück, die
in vielen Familien als Erbstück (vgl. Litau. Liter. Mitt. 1901,
S. 168 ff.) verwandt wurde, ist noch heutigentags bei den
Südslawen in Gebrauch und war wenigstens im vorigen
Jahrhundert auch noch in Litauen zu finden. Hupel
sagt 1777 von der lettischen, sie habe vier Taler ge-
kostet, das polnische Mädchen ließ verkünden, sie habe
vier Nächte allein am Kranz geflochten, er sei 100 Du-
katen wert.
Am auffälligsten zeigt die junge Sorbin durch ihren
Kopfschmuck ihr Jungfrauenalter an. Im Sorbenlande
aber ist dieser von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit ver-
schieden. In gewissen Gegenden ähnelt er dem litauischen
und zeigt den Kranz auf einem Unterbau. Diese Jung-
frauenkrone ist hier und da nicht höher als die litauische,
zuweilen aber so hoch wie der Zylinderhut des Bräuti-
gams und dazu noch zugespitzt (vgl. Slawen in Deutsch-
land, Abbildung 123 bis 133). Die jungen Kaschubinnen
und Slowinzinnen legten um den bloßen Kopf „eine
schwarzsammetne mit schwarzen Borten besetzte und
etwas ausgestopfte Binde oder Stichel, die inwendig mit
Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen. 171
rotem Fries gefüttert ist“, doch nur wenn sie reine
Jungfrauen waren.
In Kujavien trägt das Mädchen gewöhnlich ein
schwarzes loses Kopftuch; gegenüber den Polinnen, die
heutzutage den Schleier und Myrtenkranz bei der Hoch-
zeit tragen, hält die Kujavierin daran fest, ohne Schleier,
aber mit langen seidenen Bändern am Myrtenkranz zu
erscheinen. Die tütenförmige Kopfbedeckung der Polabin
ist ganz verschwunden, und die kostbaren goldenen und
silbernen Brautkronen werden nur noch selten aus dem
Schrein hervorgeholt, um die Enkelin damit zu schmücken.
Die übrige Kleidung der jungen Mädchen, soweit sie
noch altertümlich ist, will durch helle Farbe, Buntheit
und Zierat von Knöpfen, Bändern, Besatz auffallen. Das
ärmellose Mieder, lange seidene Schleifen, bunte Schürzen
und Gürtel kehren in. reicher Abwechselung in allen
ländlichen Gegenden wieder.
Wie umständlich hier und da die Brautrüstung an-
gelegt werden muß, erhellt aus der Nachricht, daß ein-
zelne Burger Bräute bis zu 243 Nadeln zur Befestigung
des zusammengesetzteren Schmuckes bedürfen. Eine be-
nachbarte Werbenerin machte dazu die Bemerkung: „Die
Affen!“ Aber auch in Werben hält man auf einen schönen
Brautschmuck im sorbischen Sinne.
2. Haben so Jüngling und Jungfrau den natürlichen
Jugendreizen mittels Tracht und äußerer Anzeichen noch
weiter nachzuhelfen gesucht, um zu gefallen, so kann die
Brautschau beginnen. Während die alten Autoren,
wie Herberstein, Wargotsch u. a. von den Ostslawen be-
richten, Braut und Bräutigam bekämen sich vor der
Hochzeit nicht zu sehen, so ist bei den Westslawen und
Balten das gerade Gegenteil festzustellen. Seit den
ältesten Zeiten bis heute lernen sich die jungen Leute
genügend kennen, oder haben doch Gelegenheit dazu.
Bei allen Stämmen sind es gleichermaßen Kirche, Jahr-
markt, jede Familienfeierlichkeit, die die Jugend näher
bringt. Wo noch Spinnstuben vorhanden sind, wie bei
den Niedersorben und Litauern, wo Arbeitsschmäuse
nach der Düngerfuhr, der Ernte, dem Flachsbrechen ge-
halten werden, wie bei den Litauern, wo Gesangs-, Tanz-
und andere Gesellschaften sich, oft in dörferlich freund-
schaftlicher Weise, auftun, kommt alles zusammen, was
heiraten möchte. Dazu gesellen sich auch, wie häufiger
besonders bei den Kaschuben, unmittelbare Besuche
heiratslustiger Leute bei den Schwiegereltern, die unter
irgend einem Vorwand oder Bewerb gemacht werden, um
Kenntnis von den Verhältnissen zu erlangen. Im ein-
zelnen ist hervorzuheben, daß der Jahrmarkt ehemals
bei den Philipponen, Masuren, Slowinzen geradezu als
Heiratsmarkt galt, und daß in den großen Kirchspielen,
die noch heute die zerstreuten lettischen und litauischen
Dörfer einen, der Kirchgang als besonders günstige Zeit
galt, Jungfrauen und Jünglinge zusammenzuführen. Bei
den polnischen Stämmen und bei den Sorben aber ist es
der Tanz, der am meisten die Jugend lockt und eint.
Nach dem Tanz folgt die Begleitung nach Hause, das
Unterhalten vor der Tür. Zu Frenzels Zeit ging das
Paar wohl auch in die Mädchenstube, legte sich mit den
Kleidern in oder aufs Bett. Beim Weggehen sang der
Bursch vor der Tür noch ein Liebeslied.
Welche Eigenschaften muß nun die Schöne haben,
die sich der Bursche zum Lieb erkürt? Arme Völkchen
wie die Nehrungskuren und Slowinzen begehren nur eins:
Jugend und Gesundheit, Angehörigkeit zu demselben
Volk und zum Fischergewerbe. Bei gegliederten Völker-
schaften sind die Ansprüche nach Stand und Vermögen
verschieden. Bei allen aber ist Standesgemäßheit und Be-
sitz die selbstverständliche Voraussetzung jeder Werbung.
Es fällt, solange die neuzeitlichen Quellen zurückreichen,
keinem Durchschnittsburschen ein, unter Stand zu freien
oder auch nur die Augen auf eine nicht ebenbürtige Maid
zu lenken. Kommt ja eine Ausnahme vor, so führt sie
zu Familienkämpfen. Erst die neueste Zeit hat an-
gefangen, darin Wandel zu schaffen. Eine der besten
litauischen Novellen von Wileischis behandelt geradezu
diese Frage und tritt für die Liebesheirat im Gegensatz
zur herkömmlichen berechnenden Ehe ein. Wie hier
eine alte Schranke durchbrochen ist, so nicht minder in
bezug auf die Volksgenossenschaft. Die Völker, die
früher die Bräute geraubt haben, wie die Letten, sollen
nach Bielenstein die fremden Mädchen bevorzugt haben.
Die Regel war das sicher nicht. Die Fremde ist bei
Völkern mit engem Horizont schon jenseits der Sippe
gewesen und jenseits des übernächsten Dorfs. Die großen
Fahrten der Bräute ins fremde Land, ins Elend, die an-
geblich 100 Meilen weit gingen, sind Phantasie der
Dainasinger; man braucht da nur die ostpreußischen
Kirchenbücher durchzusehen. Wenn der Lettenpriester
Heinrich in der Livländischen Chronik mitteilt, die Letten
hätten neben Vieh auch Mädchen aus dem Kampf mit
den Esten mit fortgenommen, „deren allein die Heere
zu schonen pflegen“, und ein andermal, die Letten hätten
die Dörfer wie verödet stehen lassen und Weiber und
Mädchen nebst anderer Beute mit sich fortgeführt, so
glaube ich nicht, daß diese Sache mit der Ehe etwas zu
tun hat, zumal in demselben Kapitel gesagt wird, die
Letten hätten 1208 in der sakkalanischen Landschaft
erschlagen, was sie vorfanden: Männer, Weiber und
Kinder. Bei Lepner, Brand und Juschkiewitsch, und
erst recht bei den neuen Schilderern litauischer Werbung,
sehen die Werber auf Geld und Gut, in den Erzählungen
und Liedern der Sorben und Polen die Jünglinge erst
recht.
In welchen Grenzen bewegt sich der Umgang Lieben-
der vor der Werbung? Anscheinend widersprechen sich
da die Berichte recht sehr. Brand meint bei Schilderung
der Litauer: „Endlich ums 17. oder 18. Jahr, weil er
alsdann zum Ehestand tüchtig, teils wegen Geschicklich-
keit sein Weib und Kinder zu ernähren, muß er ein
Weib nehmen und steht dies zu merken, daß sie lieber
eine Hure mit zwei oder drei Hurenkindern nehmen, als
eine noch reine und unberührte Marielle, ja wann sie
eine reine Dirne nehmen sollen, zittern und beben sie,
weil sie sich befürchten, sie möge, um Kinder zu zeugen,
unbequem sein, da sie doch hingegen mit den anderen
schon berührten dieses sich nicht vermuten. So tut
auch die Marielle, so verheiratet wird; welche auch sagen:
Was soll ein Mann, der zuvoren nicht ein Mädchen
probieret habe? Oder bist du ein Kerl und hast nicht
eine Magd gehabt?“ Änliche Scherze erzählt man wohl
von mancher ländlichen Gegend. Die moralische An-
schauung ihres Volks haben aber diese litauischen Ma-
riellen hier sicherlich nicht ausgesprochen. Im Gegensatz
hierzu bekunden die Dainos, daß jedes litauische Mädchen
das Zeichen ihrer Jungfräulichkeit, den Rautenkranz,
sehr hoch achtet und stets Preise dafür angibt, die der
Jüngling nicht erschwingen kann. Ebenso verlangt das
polnische Mädchen in Oberschlesien 100 Dukaten für
ihren Brautkranz, und die Sorbin sagt, daß es mit der
Jungfräulichkeit der Braut schon nicht ganz richtig sei,
wenn die Flittermünzen an der Borta nicht ordentlich
hängen. Bei Tschechen, Mähren und Slowaken betont
man in moralischen Liedern die Keuschheit ausgiebig,
und in drastischer Weise wird in der Kaschubei das
Mädchen befragt, ob ihre Jungfrauenehre unbetastet sei;
in vielen Gegenden darf sogar die gefallene Jungfrau die
Zierden der keuschen Braut nicht tragen, besonders nicht die
erbliche Brautkrone (Litau. Liter. Mitt. 1901, 5.168). Trotz-
23*
172 Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen.
dem wäre es verkehrt, in der Weise Rhesas die ländliche
Bevölkerung, besonders die der Kuren und Litauer seiner
Zeit, für engelsreine Geschöpfe zu halten.
Wiederum weisen die gleichzeitigen Aufzeichnungen
der Lehrer und Pastoren in allen hier in Betracht kom-
menden Gebieten unwiderleglich nach, daß man zwar die
gegenseitige Keuschheit im Volk für ein Ideal hält, daß
aber die jungen Leute recht häufig in gewissen Kreisen
die Genüsse des Ehelebens vorausnahmen. Für die
Litauer genüge der Hinweis auf die entrüsteten Rand-
noten des Dichters Donalitius; bei Kaschuben und Slo-
winzen erzählen die Kirchenbücher zur Genüge. Auch
bei den Philipponen ist trotz der strengen Öhrenbeichte
nicht alles so keusch und fromm, wie Onufri Jakublew
und seine Genossen gern gewollt hätten. Für den Osten
überhaupt, besonders für Preußen hat Weiß 1878,79 die
in Betracht kommenden Verhältnisse klar dargestellt.
Eigenartig bleibt die Tatsache, daß viele junge Mädchen
in dem Verkehr mit Volks- und Standesgenossen
nichts sehen, sich dagegen nie mit Fremden einlassen
würden.
3. Nach der Brautschau, das lehrt die Herbartsche
Philosophie, folgt die Liebe die gehobene Lebens-
stimmung, die den Glanzpunkt im Leben unserer balti-
schen und slawischen Jugend ausmacht. Um sich der
Welt und der geliebten Maid angenehm zu machen, über-
nimmt der Bursche vielerlei kleine Dienste und große
Arbeit, die er in der Ehe sehr unterläßt. Dieser Minne-
dienst ist aber bei allen Völkern so gleichmäßig und von
Fall zu Fall so individuell, daß nur einiges besonders
Eigenartige hervorgekehrt werden kann. Wie Jakob um
Rahel, so wirbt auch mancher Bursche als Fischer- oder
Ackerknecht um seine Angebetete beim Schwiegervater
als Mitarbeiter. Das Anputzen von Maien vor dem Hause
der Braut, das Zutrinken des Ehrentrunkes, Tanzen des
Vorreigens mit der Geliebten und Ähnliches findet sich
bei der baltischen wie der slawischen und deutschen Be-
völkerung, ebenso aber auch das grausame Spiel von
Dorfkoketten, dem Verliebten Aufgaben zu stellen, die
er nicht lösen kann oder über deren Lösung er zugrunde
geht wie Sigunes Tschionatulander. Das polnische
Mädchen hat für die Abweisung den poetischen Ausdruck
gewählt, der Werber werde erhört, wenn er das Drei-
kraut bringe.
Den schönsten Ausdruck hat sich das Liebesleben
aber im Volkslied geschaffen. Und die litauischen und
lettischen Dainos, die sorbischen und polnischen Lieder
bieten uns unverhüllt das gesamte Sinnen und Minnen der
ledigen Jugend. Die ganze Gefühlsleiter, alle Einzel-
heiten des Liebeslebens offenbaren sie in verschiedenster
Auffassung und in gehobener Stimmung. Solange man
ledig ist und liebt, singt man. Wenn die Lieder auf
die Ehe zu sprechen kommen, wird der Ton hart, die
Ehe ist Prosa und hat enttäuscht. Leider ist fast bei
allen Völkern die volkstümliche Pflege des Liedes im
Verschwinden. Die lettischen Vierzeiler, die improvi-
sierten Dainos, die sorbischen Volkslieder werden immer
seltener, die Lebenseinrichtung ist prosaischer geworden.
Geben die Lieder reichlich über die Gefühle der Jugend
Kunde, so sind sie doch mit großer Vorsicht bei Be-
urteilung realer Verhältnisse oder gar als historische
Zeugnisse zu betrachten. Die Erfinder der Lieder sind
nicht Gelehrte, die den baltisch-slawischen Olymp kennen
oder von Kreuzrittergefechten wissen; sie singen, was ihr
Herz bewegt, und nehmen fremde Ausdrücke und Bilder auf,
über die sie sich selbst nicht immer Rechenschaft geben
können. Die ältesten erhaltenen Volksliebeslieder stammen
aus Zeiten, deren Verhältnisse und Anschauungen von
den unseren nicht wesentlich verschieden waren.
Die gefühlvollen Gesänge dürfen gleichfalls nicht als
Quellen über die tatsächlichen Verhältnisse des bürger-
lichen und ehelichen Lebens gelten. Der weiche weh-
mütige Ton einzelner Lieder steht beispielsweise im
Widerspruch mit den derben Scherzen, die gleich danach
getrieben werden. Gold und Silber, Farbe und Glanz
herrscht in den Dainas, während das Leben der singenden
Burschen sich meist in recht beschränkten Kreisen be-
wegt. Andererseits singt aber auch die Braut oder junge
Frau von Grausamkeiten und Härten des Ehelebens, die
es gar nicht gibt. Sie klagt und jammert öffentlich und
fühlt sich meist in ihrer Haut sehr wohl. Die Daina
und das polnische wie das sorbische Lied vertritt die
Anschauung, das Mädchen sei durch die Ehe betrogen
worden, als „Geraubte“ lebt es in der „Fremde“ bei einem
grausamen oder liederlichen Mann, wird geschlagen und
brutal behandelt, und die Brüder helfen nicht einmal,
sondern lachen noch darüber. Wer nun solchen Sang
für bare Münze nimmt, dem dient der Bursche mit
Gegengesängen:
Wisse, daß der Led’ge einzig glücklich ist.
Aber, wer ein Weib sich nahm, verraten ist.
Die herrlichen kleinen Lieder wollen eben als Kleinode
des Gefühlslebens in Einzelfällen betrachtet und be-
urteilt sein, und als solche haben sie höchsten Wert.
4. Hat der Jüngling nun in seinem Herzen gewählt, so
beginnt die Werbung. Sie wurde bei unseren
slawischen und baltischen Völkern ausnahmslos, wenn
die jungen Leute nicht gar zu arm waren, nicht direkt,
sondern durch den Freiwerber vollzogen. Darüber sind
sich alle Quellen einig, sogar die vom Brautraub be-
richtenden; nur daß hier wohl der Raub vom Bräutigam
ausgeführt werden kann, die nachträgliche Werbung aber
wieder von anderer Seite vollzogen wird. Der Freiwerber
ist oft der Familie, häufiger der Verwandt- oder Freund-
schaft entnommen, nicht selten hat ein geschickter Mann
das Amt wiederholt übertragen bekommen. Der Frei-
werber, den sich der Jüngling kürt, hat allein oder in
Begleitung eines anderen — vielleicht des Bräutigams
selbst — den Wortführer zu machen. Seine Kleidung,
seine Reden, seine Gänge, alles ist in verschiedenen
Gegenden verschieden, da gerade in diesem Falle aus der
Masse einmal eine Individualität auftaucht, die Ange-
lerntes und Eigenes so bieten muß, daß es Geschick hat
und Anklang findet. Der Werber hat die Aufgabe, die
Brauteltern zu besuchen, seine Werbung vorzubringen
und Bescheid zu holen. Bei Juschkiewitsch kommt der
Werber viermal; Juschkiewitsch sagt, der von ihm ge-
schilderte Brauch vor der Verlobung habe sich von alten
Zeiten her in Wielona erhalten. Werber und Freier gehen
zum Brauthaus. Der Werber fragt nach den Eltern und
spricht dann: „Dieser Jüngling verbeugt sich vor eurer
Tochter und sucht sich eine Wirtin: eine züchtige, ge-
wandte, die Feuer anmacht und schürt, spinnt, webt,
bunte Leisten ans Tuch macht, Arabesken hineinwebt,
Roggen schneidet und bindet, mahlt, knetet, Brot backt,
Schweinefraß mischt, Vieh füttert, daß sie sorge um ihren
Kreis, den Hof und die Wartung der Gänse, Enten und
Hühner, daß sie die Familie ihres zukünftigen Mannes
und ihre eigene liebe, daß sie sich am Herde und vor dem
Fremden zu benehmen verstehe, und mit einer solchen
eben will er sich vereinigen und verloben.“ Der Bräutigam
steht dabei und sagt gar nichts, das Mädchen aber ver-
steckt sich; schließlich aber lassen die Eltern beide zu-
sammen sprechen, wenn der Bräutigam angenommen
wird. Man scheidet, und die jungen Leute treffen sich
gelegentlich. — Das zweitemal reitet der Werber und
der Bräutigam zur Braut, die sofort wieder verschwindet.
Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen. 173
Der Werber breitet auf dem einen Tischende ein weißes
Tüchlein aus und stellt ein Wein- oder Metgefäß und
einen Becher darauf. Das Mädchen wird von den Eltern
geholt und gefragt, ob sie den Jüngling heiraten wolle.
Inzwischen trinken Eltern und Werber das Gefäß leer.
Mißfällt der Freier, so gießen sie das Gefäß wieder voll,
und die Freiersleute reiten ab. Zögern die Eltern mit
der Antwort, so läßt der Werber. Tuch, Flasche und
Becher zurück, daß die Eltern im ablehnenden Falle am
dritten Tage alles zurücksenden können, — gefüllt. Tritt
dies nicht ein, so kommen Werber und Bräutigam kurz
darauf zum zweitenmal zu Pferd. Es beginnt dieselbe
Auflegung des Tuches am Ehrenplatz, dem gegenüber
das Brautpaar gesetzt wird. Dabei werden die Ab-
machungen wegen Mitgift u. dgl. getroffen. Ist man
einig, so gibt die Braut dem Bräutigam, welche beide sich
am Trinken nicht beteiligen, in einem schönen Tuch oder
Leinwandstück eine Rautenblüte für ihre Schwieger-
mutter. Das ist das Zeichen der Heiratseinwilligung und
gilt als Verlobung oder Zusammentrinken. Merkwürdiger-
weise folgt aber nun ein nochmaliges ähnliches Fest. Der
Freiwerber mit dem Bräutigam kommt zum drittenmal
geritten, nachdem der Heiratskontrakt ausgefertigt
worden ist. Statt Met oder Wein kann er auch Likör
oder Fruchtschnaps im Gefäß haben. Jetzt sind die
Verwandten eingeladen. Die Braut sitzt in der Nähe
des Ehrenplatzes neben dem Bräutigam und überreicht
ihm Rautenblüten, deren Stengel in ein weißes Tuch
gewickelt sind, die Blüten steckt er sich an die Brust,
das Tuch steckt er ein. Beide wechseln die Ringe, die
sie vorher angesteckt haben, küssen sich, und der Bräu-
tigam leert das Glas halb auf das Wohl der Braut, die
in gleicher Weise Bescheid tut. Beglückwünschung,
Gesang, Jubel und Bedankung des Bräutigams bei den
Brauteltern schließen das Fest. Der Werber ist also der
Unterhändler zwischen den beiden Familien, nur am
Schluß der Werbtätigkeit treten Braut und Bräutigam
selbständig auf. So ausführlich wie Juschkiewitsch die
Werbung schildert, ist sie heute nicht mehr in Wielona.
Aber ähnlich wirkt der litauische Werber schon bei
Lepner; bei ihm, wie bei Prätorius, ist es nichts Ungewöhn-
liches, daß die Werbung auch von seiten der Braut, be-
sonders wenn sie eine Witwe ist, ausgehen kann. Der
Werber kann aber auch eine Frau sein, und der Bräutigam
braucht bei den ersten Werbebesuchen nicht mitzukommen.
Die Verhandlungen fanden zuweilen auch nach der Kirche
im Gasthause statt (Litau. Liter. Mitt. I, 415). Die von
Pohl vorhin angeführte polnische Werbung ist viel ein-
facher, geschieht aber in gleicher Weise durch den Freiers-
mann. Und in den von Düringsfeld aufgezeichneten
Werbeformen der Polen ist die Art in allen polnischen
Provinzen ähnlich. Hier bringt der Werber kein Glas
mit, sondern bittet um eines, daß er einschenken kann.
Findet man keins, so gilt dies als Ablehnung; die Frei-
werbung geschieht bei den Masuren — nach Töppens
Schilderung — so, daß der Freiwerber zu Pferd ankommt
und einen angefressenen Kohlkopf vorzeigt mit dem Be-
deuten, im Hause müsse ein Reh sein, er habe die Spur
der Kohlkopfbeschädigerin verfolgt. Haben die Eltern
Interesse an der Werbung, so wird er für über acht
Tage mit dem Bräutigam wieder bestellt; und nun wird
alles für die Verlobung vorbereitet und verhandelt. Bei
den Kaschuben (Verh. d. Berl. Anthr. Ges. 20. Juni 1896)
tritt der Bräutigam viel mehr in den Vordergrund, wie
überhaupt bei den ärmeren Ständen, wo die Eltern
materielle Werte nicht zu sichern haben. Aber auch hier hat
der Werbemann den Hauptteil der Geschäfte zu leiten
und besonders über die Mitgift zu verhandeln. Mehrmals
kommt der Werber geritten oder gegangen, bis daß die
Verlobung festgesetzt wird. Erscheint aber beim ersten
Besuch des Bräutigams und des Werbers die Braut nur
zum Gruß und läßt sich dann nicht wieder sehen, so gilt
die Werbung für abgelehnt. Im allgemeinen befinden
aber auch hier die Eltern, ob sich die jungen Leute
heiraten sollen oder nicht. Galt die Werbung für
aussichtslos, oder fanden sich Schwierigkeiten, so erfolgte
nun ehemals der Brautraub, wie ihn für Deutschland
J. Maletius, für die Ostseeprovinzen Einhorn, Hasentöter,
Brand u. a., für die Philipponen Gerß schildert. Mildere
Zeiten führten dafür den Brautkauf ein, wie Dusburg,
H. Maletius, Lukas David, Hupel berichten.
5. Nach gegenseitigem Übereinkommen aber folgte die
Verlobung. Die war natürlich zur Zeit des Brautraubs
oder -kaufs eine ganz andere als später und umfaßte
bald mehr, bald sehr wenige Gebräuche. Bei der Kauf-
ehe fand sie im Brauthause ohne Beisein des Bräuti-
gams statt und bestand in der Art, wie sie Maletius
schildert.
Als Abschluß der Werbung kommt die Verlobung
am sichersten bei den Kaschuben zum Ausdruck. Am
festgesetzten Tage finden sich Bräutigam und Werber mit
ihrem Biergefäß im Brauthaus ein. Das Einkaufen von
Ring und Gesangbuch, vielleicht auch gerichtliche Ver-
schreibung, gemeinsame Kirchfahrt sind voraufgegangen.
Mit oder ohne Scherzgebräuche wird nun an dem Ver-
lobungstage das Faß halb leer getrunken. Dann gehen
Werber, Bräutigam, Brauteltern in ein Zimmer für sich,
besprechen die letzten materiellen Fragen und geben sich
zum Zeichen des Abschlusses die Hände. Dann trinken
die erwähnten Personen mit der eingeladenen Verwandt-
schaft das Fäßchen leer. Nach Gewohnheitsrecht gilt
mit der „Handreichung“ und dem „Austrinken des Fasses“
die Werbung für abgeschlossen, das Brautpaar geht in
den nächsten Tagen zum Standesbeamten und zum
Pfarrer, daß das Aufgebot erfolgen kann. Ähnlich sind
die Bräuche bei allen westslawischen Stämmen. Bei
den Masuren erhält der Werber von der Braut ein neues
Hemd zum Geschenk; gestrickte und bestickte Handschuhe
hatte die Slowinzin, Leinwand die Sorbin, ein Schupftuch
nach Lepner die litauische Braut zu Geschenken vorrätig.
Auch bei den Polen wird in manchen Gegenden das Zu-
sammentrinken als Abschluß der Rechtsfrage angesehen,
und dies galt bei gerichtlichen Auseinandersetzungen
über Mitgiftfragen als Kennzeichen. Nik. Wargotsch
sagt aber auch in seiner Beschreibung der Reise in die
Moskau 1593 von den Russen, bei denen in alter Zeit
nach Herberstein u. a. die Heirat nur zwischen den
Familienvätern besprochen, Braut und Bräutigam kaum
gehört wurden, der Bräutigam bekäme die Braut erst am
Tag nach dem Beilager zu sehen, könne aber den Kauf,
auch wenn er ihn reue, nicht rückgängig machen, „die-
weil man den Leykauf getrunken hatt“.
Bei Juschkiewitsch ist die Verlobung eigentlich drei-
teilig, schon beim zweiten Erscheinen des berittenen
Werbers nennt er das Ende der Verhandlung Verlobung
oder Zusammentrinken. Beim dritten Erscheinen redet
er vom Zutrinkefest oder Ringwechsel, was der Über-
setzer wieder Verlobung nennt. Als Abschluß aber sieht
er die Prüfung vor dem Pfarrer und die Eintragung ins
Kirchenbuch an. Das gegenseitige Besuchen, Beschenken
und Gehöftebesehen geht voraus und folgt; das Fest-
setzen der Hochzeit bleibt der Zukunft vorbehalten. Erst
dann hat der Werber seine Aufgabe gelöst, und der
Hochzeitsbitter mit den Brautjungfern tritt jetzt in sein
Recht. Bei den Tschechen und Mährern Schlesiens feiert
man die Verlobung als eine Art Vorhochzeit, wo die
Druschben die eingeladenen Gäste unterhalten; sie gilt
vor den Gästen als Ende der Werbung.
174
In den ältesten Schilderungen der preußischen und
lettischen Werbungen galt das Fest als Verlobung, das
Juschkiewitsch schon als Vorfeier der Hochzeit ansieht
und Großabend nennt, und wobei der Bräutigam nicht
war. Hupel sagt: „Die Verlobung geschieht in Abwesen-
heit des Bräutigams, der durch seinen angenommenen
Branntwein bereits das Jawort erhalten hat.“ Da werden im
Brauthaus bei Abwesenheit des Werbers ähnliche Bräuche
geübt, wie ich sie vorhin aus der Schrift des Maletius an-
geführt habe, scherzhafte Brautkaufszenen mit Dainasang
am Schlusse. Bei den Südslawen gehören sie überall
zu den Hochzeitsgebräuchen. Meist läßt man sofort die
Hochzeit folgen, so bei den Slowinzen. Dagegen schreiben
Balthasar Russow und Hupel, daß die Letten zu ihrer
Zeit meist recht lange mit der Hochzeit gewartet hätten.
Russow fügt hinzu, wenn man sie deshalb getadelt hätte,
wäre ihre Antwort gewesen: „Es wäre eine alte livländische
Gewohnheit, so hätten ihre Väter auch getan.“
Eine der Dainas, die bei der Verlobung gesungen
wird, hat große Berühmtheit erlangt. Es ist dieselbe,
die Rubig, Lessing, Herder, Goethe in ihren Werken auf-
führen. Goethes „Fischerin“ beginnt mit ihr:
Ich hab’s gesagt schon meiner Mutter,
Schon aufgesagt vor Sommers Mitte!
Such, liebe Mutter, dir nun ein Mädchen,
Ein Spinnermädchen, ein Webermädchen. — —
Ihr meine Flechten von grüner Seide,
Ihr werdet hangen, mir Tränen machen. —
Diese und ähnliche Lieder des Abschieds vom Haus am
„Großabend*“ hat man dann meist so gedeutet, als ob
die Braut höchst unglücklich über die Heirat, und die
Wehmut der Ausfluß und Ausdruck des geknickten
Menschendaseins wäre. Nichts ist verkehrter als diese
Auffassung. Schon Maletius bezeugt, welche derbe
Scherze auf derartige Klagelieder unmittelbar folgten,
und auch Juschkiewitsch sagt nach Aufführung einer
solchen tränen- und klagereichen Daina der Braut: „An
diesem großen Festabend fährt ebenso die ganze Familie
zum großen Rat; man jauchzt laut, man singt, man
tanzt und trinkt.“ Auch Wagner und Lucanus, Prätorius
u. a. berichten von dem unglaublichen Lärm, den beide
Geschlechter bei diesen Festlichkeiten verüben.
Nicht unwesentlich scheint mir die gegenseitige
Beschenkung des Brautpaars in der Verlobungszeit. Die
Gaben sind nach den Orten, nicht nach den Völkern, ver-
schieden und bestehen meist in einem Schmuck- oder Be-
kleidungsstück.
Brand und Hasentöter haben noch einen anderen Ab-
schluß der baltischen Werbung; bei ihnen geht die Ver-
lobung in die Heirat geradeswegs über und gilt erst dann
Flechtner-Lobach: Die Volkskunst in Schweden.
als abgetane Sache, wenn die Braut mit dem Beilager zu-
frieden ist. Die Brauteinholung schließt mit der Be-
gleitung des Paares in die Klete bis zum Brautbett.
Kommen beide aus der Klete heraus, so werden sie von
den Wartenden examiniert. Mag die Braut den Bräutigam
nicht, so bleiben sie geschieden, im anderen Falle folgt
nach Brand ein großes Fest. Und nach Hasentöter gilt
die Ehe erst dann, wenn das Paar eine Nacht zusammen-
geblieben und am Morgen noch einig ist. Aber Brands
Herausgeber hat schon 1702 diese Angaben bezweifelt
und zu beweisen gesucht, daß sie nicht als allgemein
gültig anzusehen sind.
Die Werbegebräuche machen nur den kleineren Teil
der Hochzeitsgebräuche aus. Juschkiewitsch teilt seine
Wielonaer Hochzeit in 57 Abschnitte, von denen nur
acht bis zwölf auf die Werbung fallen. Die Scherz-
vorführungen, die an Krieg, Brautraub und Brautkauf
erinnern, sind von den slawischen Völkern mehr auf
den Vermählungs- und Heimführungstag verlegt worden.
Gemeinsam ist allen baltischen und westslawischen
Stämmen, soweit noch alte Gebräuche vorhanden sind,
die Brautwerbung durch den Freiwerber, die Verlobung
und Beschenkung des Brautpaars; die kirchliche Mit-
wirkung ist weder ursprünglich, noch allgemein. Be-
sondere Unterschiede finden sich nur in Äußerlichkeiten,
wie Tracht, Wahl des Tages u. dgl. Und ist die Werbung
von der deutschen verschieden? Die verneinende beste
Anwort gibt Goethe. In seiner Werbungsschilderung
findet sich nicht ein abweichender Zug.
„Hatten die Eltern die Braut für ihren Sohn sich ersehen,
Ward zuvörderst ein Freund vom Hause vertraulich gerufen;
Diesen sandte man dann als Freiersmann zu den Eltern
Der erkorenen Braut, der dann in stattlichem Putze
Sonntags etwa nach Tische den würdigen Bürger besuchte,
Freundliche Worte mit ihm im allgemeinen zuvörderst
Wechselnd, und klug das Gespräch zu lenken und wenden
verstehend.
Endlich nach langem Umschweif ward auch der Tochter
erwähnet,
Rühmlich, und rühmlich des Mannes und des Hauses, von
dem man gesandt war.
Kluge Leute merkten die Absicht; der kluge Gesandte
Merkte den Willen gar bald und konnte sich weiter erklären.
Lehnte den Antrag man ab, so war auch ein Korb nicht
verdrießlich.
Aber gelang es denn auch, so war der Freiersmann immer
In dem Hause der erste bei jedem häuslichen Feste;
Denn es erinnerte sich durchs ganze Leben das Ehpaar,
Daß die geschickte Hand den ersten Knoten geschlungen.
Jetzt ist aber das alles mit andern guten Gebräuchen
Aus der Mode gekommen, und jeder freit für sich selber.
Nehme denn jeglicher auch den Korb mit eigenen Händen,
Der ihm etwa beschert ist, und stehe beschämt vor dem
Mädchen!“
Die Volkskunst in Schweden').
Von Alice Flechtner-Lobach. Stettin.
Schweden erfreute sich noch Anfang des 19. Jahr-
hunderts einer kräftigen, weit verbreiteten Volkskunst,
die dann aber mit Beginn der Industrieepoche reißend
schnell aus dem Bereich der Städte und ihrer näheren
Umgebung verschwand.
Im Innern dagegen, vornehmlich in den weiten, dem
Verkehr nur schwer zugänglichen Landstrecken des nörd-
1) Quellenmaterial: Montelius, Kulturgeschichte Schwedens.
v. Falcke, Geschichte des deutschen Kunstgewerbes (Nord-
deutschland). Verschiedene kleinere Aufsätze über die Volks-
kunstbestrebungen in Schweden. Persönliche Studien in dem
nordischen Museum und in Skansen, Stockholm, und in den
in Betracht kommenden Heimkunstvereinen, vor allem dem
Handarbetets Vänner in Stockholm.
lichen Schwedens, konnten sich alte Kunst und Sitten
länger erhalten, und auch noch heute finden sich Dörfer,
Gehöfte und Bauernhäuser, in denen alte Kunstfertig-
keit mit alten Werkzeugen nach ererbten Mustern
geübt wird.
Wie lange noch diese Kunstfertigkeit aus eigenen
Kräften der modernen Strömung hätte widerstehen können,
wäre allerdings nur eine Frage der Zeit gewesen, hätten
sich ihr nicht schon seit Jahren Hilfskräfte zugesellt,
die ihre Produkte fördern und erhalten wollten, ‘allen
modernen Einflüssen zum Trotz.
Wohl kein anderes Land kann sich einer solchen
Pflege und Förderung seiner Volkskunst erfreuen, wie
Schweden und auch Norwegen, das, wenngleich politisch
Flechtner-Lobach: Die Volkskunst in Schweden.
175
von jenem getrennt, in den Erzeugnissen seiner Volks-
kunst mit dem Nachbar verwandt ist.
Schon 1874 hatte sich in Stockholm der Handarbetets
Vänner (Verein von Freunden der Handarbeit) gebildet,
mit dem Zwecke, die textilen Erzeugnisse des Volkes,
Weben, Sticken und Spitzenfabrikation, zu erhalten.
Ein Jahrzehnt später wurde der Heimkunstverein
(Föreningen for Svensk Hemslösd) und etwas später in
Norwegen die „Norske Husflida Vorening“ in Christiania
gegründet. Diese Vereine, die vom Staat unterstützt
werden, widmen sich mit großer Hingabe und feinem
Verständnis ihrer Aufgabe, und ihnen ist es zu verdanken,
wenn die alte Kunst wieder lebensfähig geworden ist.
Indem sie mit regem Eifer alles sammelten, was an
Mustern noch vorhanden war, die Mühe nicht scheuten,
Technik und Kunstfertigkeit, Material und Farbenzu-
sammenstellung zu studieren, schufen sie zunächst Vor-
bilder, die, vom künstlerischen Standpunkt ausgehend,
die Schönheit und Echtheit der alten Stücke wiedergaben.
In Ausstellungen und Sammlungen suchten sie das
Interesse des kaufenden Publikums zu erregen, während
andererseits in den von ihnen errichteten Schulen den
Bäuerinnen und Landmädchen Technik und Herstellungs-
weise, die sie vielfach schon verlernt, von neuem gelehrt
und ihnen durch Errichtung von Verkaufszentralen Ge-
legenheit gegeben wurde, ihre Produkte nutzbringend
abzusetzen. So schufen sie eine Heimindustrie im besten
Sinne des Wortes, die, absatzkräftig und gewinnbringend
gestaltet, gleichzeitig alle Vorzüge der alten Volkskunst
aufweist.
Die Uranfänge der nordischen Volkskunst führen bis
in das Zwielicht ältester Geschichte zurück.
Auf Gräberfunde und die Entdeckung versunkener
Pfahlbauten gestützt, haben die Gelehrten eine sehr alte
und hochentwickelte Kunst der nordischen Völker fest-
gestellt, zu denen in diesen Zeiträumen nicht nur die
Bewohner Skandinaviens, sondern auch des nördlichen
Deutschlands zu rechnen sind, wie die Übereinstimmung
in Technik und Muster der Funde beweist.
In der Tat zeigen diese Schmuckstücke, Waffen und
Geräte, die aus der Bronze- und Eisenzeit stammen, der-
artig entwickelte Formen, so fein bearbeitete Flächen, daß
die Kunstfertigkeit dieser rauhen Nordländer als er-
staunlich anzusehen wäre, wenn jene feinen Arbeiten
wirklich von ihnen hergestellt und nicht, wie von anderer `
Seite behauptet wird, eingeführt worden sind.
Denn schon damals unterhielten die Bewohner der
Ostseeküste Handelsverbindung mit südlichen Völkern,
die Bernstein, Felle und Holzarbeiten holten und Gold
und Silber, vor allem Bronze brachten; ob in verarbeiteter
Form oder in Barren, die dann erst im Norden ver-
arbeitet wurden, bleibt dahingestellt.
Viel sicherer weisen dagegen andere Spuren darauf
hin, daß die Fertigkeit der Holzbearbeitung und -ver-
zierung sehr alt ist und so recht eigentlich mit dem Volke
zusammen sich von Stufe zu Stufe verfeinert hat.
Der ungeheuer große Holzreichtum der nordischen
Länder, vor allem Skandinaviens, wies die Bewohner ja
auf dies Material hin, und die seit Urzeiten betriebene
Schiffahrt unterstützte und förderte aufs glücklichste die
Fertigkeit in der Holzbearbeitung; denn auf den Bau
ihrer Schiffe legten die Bewohner dieser Länder fast
noch größeren Wert, als auf den ihrer Blockhäuser.
Einzelne erhaltene Gallione von Wikingerschiffen zeigen
am besten, zu welch künstlerischer Höhe sich die Schnitzerei
schon um diese Zeit erhoben hatte.
Die Motive, welche diese Funde zeigen, sind der Natur
des Landes entnommen. Köpfe vom Rentier und Hirsch,
in den südlicheren Strichen von Pferden (noch heute in
Schleswig-Holstein und Niedersachsen zu finden) waren
die gebräuchlichsten Schnitzformen, zu denen sich im
Laufe der Jahrhunderte viel fremde Formen, von anderen
Völkern erlernt, gesellten.
Neben diesen massigen und groben Formen, die in
ihren Anfängen nur in klobigen Linien aus den dicken
Stämmen herausgehauen waren, war schon zur Zeit der
Wikingerzüge der Kerbschnitt bekannt, der so recht
eigentlich das ist, was man Volkskunst nennen kann.
Denn er entsprang ohne fremden Einfluß aus der Quelle,
aus der die rechte Volks- und Heimkunst immer fließt,
aus dem Wunsche, das tägliche Gerät zu schmücken, und
aus dem Zwange, sich dem vorhandenen Material anzu-
passen.
Die Faser des Holzes gab den Mustern ihre Grenze,
die einfachen Sternblumen aus Wald und Garten die
ersten Vorlagen, und so entstand eine Fülle hübscher
und mit der Zeit immer gefälligerer Muster, die in ihren
Grundmotiven, den eingekerbten Dreiecken, bis auf den
heutigen Tag die gleichen geblieben sind.
Über das ganze Hausgerät, das ja zum größten Teil
aus Holz bestand, breitete sich diese Kunst aus, und sie
zeigte in der Vielheit ihrer Anwendung, welch festes
Besitztum sie für das Volk geworden, so fest, daß sie
alle Zeiten überdauerte und noch heute geübt wird
wie einst.
Noch heute läßt der Bauer von dem Dorfhandwerker
seine Schüsseln und Humpen, seine Bottiche und das
andere Hausgerät mit geschnitzten Mustern versehen,
und an Feierabenden greift er wohl selbst zum Schnitz-
messer und schnitzt Sterne und Dreiecke nach altem
Brauch in die Kelle der Prunklöffel, auf das Mangelholz
oder an das Bordbrett und schmückt so sein Haus.
Was er aber nicht mehr kann, und was doch einst
so eng mit der Kunst des Schnitzens verbunden war,
das ist die Holzbemalung.
Es war natürlich, daß die nordischen Völker bei ihrer
Vorliebe für bunte Farben auf die Dauer an der glatt
gebeizten Holzfläche, selbst wenn sie geschnitzt war, keinen
rechten Gefallen finden konnten. Sie wollten die Stern-
blumen, die Blätter und alles, was ihr Messer sonst zu-
stande brachte, auch in den natürlichen Farben sehen,
und so leuchtet uns aus den älteren Stücken des schwe-
dischen Hausrates eine unverblaßte Fülle herrlichster
Farben entgegen, die auch Fensterläden, Schranktüren,
kurz alle Flächen, die sich irgend dazu eigneten, mit
ihrem frischen Zauber schmückten.
Von einer sinnenfreudigen Heiterkeit, die sich nicht
scheut, die Grundfarben in all ihrer Kraft unvermittelt
nebeneinander zu stellen, sind diese geschnitzten und
dann bemalten Gegenstände. Das blüht und leuchtet
frisch hervor, im besten Sinne naturalistisch, ohne jede
Spur von Schattierung und doch so plastisch wirkend.
Nur selten findet sich an Türen und Schränken
heutiger Bauernhäuser eine blasse Spur dieser einstigen
Kunst; all das aber, was in den Geschäften der Städte
als „Schwedische Holzmalerei* für Reiseandenken aus-
geboten wird, kann mit seinen in Fabrikmanier ge-
pinselten Figuren im Nationalkostüm, deren Konturen
mit dem Brennstift gezogen sind, wohl überhaupt keinen
Anspruch auf irgend welche Kunst machen. Die Ver-
suche, auch hier alte Fertigkeit wiederzubeleben, sind
bisher immer noch an dem Geheimnis der Farbe ge-
scheitert; die chemischen Farben wirken zu grell einer-
seits, andererseits fehlt es ihnen an Wärme und Leucht-
kraft, um ebenbürtig neben den alten Erzeugnissen zu
stehen.
Die letzten Reste von Muster und Zeichnung haben
sich in den Spanarbeiten erhalten, doch ist die Span-
176 Flechtner-Lobach: Die Volkskunst in Schweden.
flechterei jetzt ganz aus dem Rahmen der Hauskunst
herausgetreten. Das Flechten und auch die Bemalung
der fertigen Waren wird zwar als Hausindustrie, jedoch
nicht mehr als Hauskunst betrieben. Das System der
Arbeitsteilung, das zu Verdienstzwecken sich eingebürgert
hat, läßt eine individuelle Gestaltung der Stücke nicht
mehr aufkommen. Auch hier hat das Volk seit langem
nichts Neues zugelernt, vieles aber verlernt.
Welch schöne und eigenartige Flechtmuster bieten
die gesammelten Körbe und Taschen, vor allem die
Schuhe aus Birkenrinde geflochten, die die Museen zeigen.
Begreiflicherweise wurde diese Birkenrinde mit dem
Fortschreiten der Kultur bald durch weicheres Material
ersetzt, und die Schuhe vor allem, deren Form an den
Bundschuh des armen Konrad erinnert, bieten heute nur
ein historisches Interesse.
Vom Flechten zum Weben ist nur ein Schritt! Die
Technik ist in der Urform bei beiden dieselbe. Ein glück-
licher Fund hat in Börmerstorp, Provinz Halland, einen
Fetzen Stoff zutage gefördert, an dem die schräg laufen-
den Fäden des Flechtmusters am besten zeigen, wie die
ersten Stoffe tatsächlich durch einfaches Ineinanderflechten
grober Wollfäden mit der Hand entstanden sind.
Bald allerdings müssen auch Werkzeuge erfunden
sein, denn neben verschiedenen Spindeln, die in einem
Grabe aus der Heidenzeit lagen, haben sich auch Reste
eines primitiven Webestuhles, ein Webeschwert aus Wal-
roßzahn und eiserne Gewichte gefunden, die wohl dazu
gedient haben, den Webebaum im Gleichgewicht zu er-
halten.
Die frische, lebendige Entwickelung, die vor allem
diese Kunst im Laufe der Jahrhunderte nahm, führte
dann späterhin noch die verschiedenartigsten Hilfswerk-
zeuge und Apparate ein.
Denn in der Kunst des Webens, wie in der Stickerei
und Spitzenarbeit waren die Bewohner Skandinaviens
allen anderen europäischen Völkern überlegen. Nirgends
hat diese Volkskunst eine solche Fülle leuchtender Blüten
hervorgebracht, nirgends auch allen Anstürmungen mo-
derner Einflüsse so standgehalten, wie in diesen Ländern.
Die langen kalten Winter mit ihren Eis- und Schnee-
massen, mit ihrer erzwungenen Ruhe gaben neben dem
notwendigen Bedürfnis nach warmen Hüllen Zeit und
Muße, diese Arbeit erfreulich und schmückend zu ge-
stalten.
Das Gefühl für Farbe, der Wunsch, die dunklen
Räume lustiger zu gestalten, ließ die webenden Frauen
dazu greifen, die einzelnen Posten der gesponnenen
Garne zu färben und sie in den einfarbigen Grundstoff
als Muster zu verarbeiten.
Und ganz wundervoll war das, was die Kunst dieser
schwedischen Bäuerinnen auch hier bezüglich der Farbe
hervorbrachte. Die aus Pflanzenstoffen, aus dem Saft
der Beeren gewonnenen Farben waren von einer Leucht-
kraft, von einer Weichheit, daß noch heute nach vielen
Jahrhunderten keine bessere Art gefunden ist, Stoffe zu
färben. Noch heute färben die Bauerfrauen in der alten
Weise wie ihre Vorfahren, und der Handarbetets Vänner
in Stockholm läßt heute seine schönen Webereien haupt-
sächlich mit Garn arbeiten, das in dieser alten Art ge-
färbt ist, obwohl es bedeutend teurer kommt infolge der
mühseligen Herstellung der Farbe. Aber die künstliche
Färbung erreicht nicht diesen eigenen Farbenreiz, der
doch eine spezielle Schönheit der nordischen Weberei ist.
Und neben der Farbe das Muster. Der Ursprung
dieser Muster läßt sich nicht verfolgen; sie sind so eng
mit dem Volk verwachsen, so ängstlich als kostbares
Gut gehütet und von Generation zu Generation verbessert,
daß sie eben unverlierbares Gut des Volkes geworden sind.
Man hat in vielen Stücken, hauptsächlich in ganz
alten, orientalischen Einfluß entdecken wollen, hat ge-
funden, daß einzelne Muster ganz eigentümliche Ähnlich-
keit mit den Teppichen des Orients haben; und wirklich
zeigen manche Stücke ganz fremdartige Milieus, um die
sich dann die eckigen, oft so naiv anmutenden Formen
der nordischen Phantasie gruppieren und den Reiz dieser
Teppiche, Wandbehänge und Bankdecken nur erhöhen.
Die Blumen des Hausgartens, die Tiere des Hofes und
Waldes geben auch hier die Vorbilder, die die schaffende
Phantasie von Jahrhunderten umgeändert und be-
reichert hat.
Der Wunsch nach dekorativer Wirkung, nach lebens-
kräftiger Darstellung war so groß, daß den webenden
Frauen bald die farbige Musterung allein nicht genügte,
sie suchten die Formen plastisch hervorzuheben, und im
Laufe der Zeit entstanden so die verschiedenartigsten
Webearten, die mit untergelegtem Brett am hochstehenden
Webstuhl und auf die allerverschiedenste Webeart Stoffe
von wundervoll plastischer Wirkung hervorbrachten, die
unter den verschiedensten Namen — Rödlakan, Krabas-
nor, Dukagon (diese eine Art Gobelinweberei) — noch
heute bekannt und dank den Bemühungen der Vereine
von neuem wieder belebt worden sind.
Diese künstlerischen Abarten der Weberei setzten
natürlich eine unendliche Fertigkeit voraus, und es könnte
fast unwahrscheinlich dünken, daß Bauerfrauen diese
köstlichen Stücke hervorgebracht, wenn man nicht in
Betracht zieht, daß eben Erfahrung und Übung von
Generationen sich hier verkörperten.
Ein ebenso großes Feld wie die Weberei hatte die
Stickerei in Schweden. Ihre Blüte war zu jener Zeit, als
die Weberei noch nicht imstande war, die plastischen
und scharf konturierten Wirkungen aus sich selbst
heraus zu gestalten. So finden wir die Stickerei mit und
neben der Weberei schon in den ältesten Zeiten. Mannig-
fach waren die Muster und Zeichnungen, die haupt-
sächlich das Figürliche betonten; dagegen beschränkte
sich die Technik — und sie tut es im Gegensatz zu
anderen Ländern auch heute noch — hauptsächlich auf
den Stielstich. Ganz hervorragend schöne Wirkungen
wurden nun auch hauptsächlich mit Hilfe der Farbe in
der einfachen Strichstickerei erzielt, die auch zur Ver-
wendung großer Flächen diente.
Die Muster waren ebenfalls ganz besondere, von
Familie zu Familie vererbte, sie erscheinen denen der
Weberei sehr ähnlich, sind auch vielfach als Vorbilder
für spätere Webereien verwandt worden.
Naturgemäß sank die Stickerei von ihrer allein herr-
schenden Stellung in der plastischen Gestaltung herab,
als die Weberei diese Wirkungen selbst hervorzubringen
begann. Sie bekam mit der Zeit ein ganz bestimmtes
Feld, die Kleidung, auf dem sie wunderschöne Blüten
trieb und ganz unentbehrlich war. Die Tracht, der
Sonntagsstaat war recht geeignet zur Betätigung der
Sticknadel, und dank den Bemühungen ist diese Tracht
auch heute noch nicht ausgestorben und gibt der schwe-
dischen Stickerei Gelegenheit, sich immer mehr zu ver-
vollkommnen. rs
Neben den uralten, immer wieder gebrauchten Mustern
finden sich da manche schöne Stücke, die zeigen, daß
auch die moderne schwedische Bauerfrau noch versteht,
ihren Sonntagsputz hübsch und eigenartig zu besticken,
und es wieder gelernt hat, mit bunten Fäden lustig und
naturgetreu den Stoff zu beleben.
Diese Sonntagstracht ist überhaupt ein Stück Volks-
kunst für sich. Jedes Stück ist selbst gemacht, jedes
Stück seit Generationen in Form und Arbeit unverändert.
Und so vielgestaltig die Tracht in Schweden ist (jede der
Das Ende des Kaiserreichs Korea. 177
24 Provinzen hat eigene Tracht, und innerhalb einzelner
Dorfgemeinschaften ist sie noch wieder verschieden), so
einheitlich und unverändert hat sie sich in den einmal
gebildeten Formen erhalten.
Neben der Weberei und Stickerei, neben einigen sehr
eigenartigen Lederarbeiten ist es die Spitze, welche eine
große Rolle spielt und ebenfalls zu dem Gebiete der Volks-
kunst zählt. A
Die Kunst der Spitzenarbeit wird besonders in ein-
zelnen Teilen Schwedens, so in der Provinz Darlekarlien,
betrieben, und das Städtchen Vadsterna rühmt sich noch
heute, Muster zu besitzen, die einst von Barbara Utt-
mann geklöppelt worden sind. — Denn um die Technik
des Klöppelns handelt es sich besonders bei diesen
Spitzen, seltener finden wir die genähte Spitze; allen
aber ist eine Feinheit und Zartheit der Muster’ eigen,
die den Beschauer immer wieder staunen läßt über die
Fülle von künstlerischer Gestaltung, über die unendliche
Geduld, mit der grobe, arbeitsgewohnte Hände solch
feine Schöpfungen hervorbringen.
Die Liebe zur Sache selbst, das Interesse an der voll-
kommenen Ausgestaltung solcher Arbeit, das ist es, was
diesen Werken des Volkes den Weg zur künstlerischen
Gestaltung eröffnet hat. Und das ist es auch, was die
Erzeugnisse solch stiller Stunden mit all dem Zauber
ihrer ungebrochenen Farben, mit der naiven Auf-
fassung und Beobachtung der Natur für uns so lehr-
reich macht.
Das Ende des Kaiserreichs Korea.
Im Frieden von Portsmouth, der den russisch-japa-
nischen Krieg beendete (30. August 1905), erkannte
Rußland Japans „Vorherrschaft“ in Korea an, nachdem
Japan schon während des Krieges von Korea das Zu-
geständnis der Schutzherrschaft erzwungen hatte. In
den folgenden Jahren büßte der Kaiser von Korea nach
und nach vollends alle Selbständigkeit ein, so daß ein
Reich Korea nur noch pro forma bestand. Am 28. August
d. J. hat Japan dann, ohne die übrigen Großmächte erst
viel zu fragen, den letzten Schritt getan und Korea zu
einer Kolonie erklärt — in einem „Vertrage“ mit dem
bisherigen Kaiser. Dieser Annexionsvertrag lautet:
1. Der Kaiser von Korea tritt alle Souveränitäts-
rechte über das gesamte Reich Korea vollständig und
für immer an den Kaiser von Japan ab.
2. Der Kaiser von Korea erklärt sich mit dieser
Machtentäußerung einverstanden und gibt seine Ein-
willigung zur Annexion Koreas durch Japan.
3. Der Kaiser von Japan wird dem Kaiser von Korea,
sowie seinem Vorgänger, ebenso auch dem koreanischen
Kronprinzen und allen Verwandten des koreanischen
Kaiserhauses ihrer Würde entsprechende Residenzen auf
japanischem Gebiete anweisen und ihnen entsprechende
Jahresrenten zur Bestreitung ihres Hofhaltes gewähren.
4. Der Kaiser von Japan gewährt weiterhin die nötigen
Mittel zum Unterhalt der Beamten der koreanischen Hof-
haltung.
5. Der Kaiser von Japan wird den Koreanern, die
sich durch ihren Dienst in der Verwaltung des Reiches
einer besonderen Anerkennung würdig gezeigt haben,
eine einmalige Entschädigung, sowie dauernde Privilegien
zuweisen.
6. Die japanische Regierung übernimmt die Regierung
und Verwaltung des gesamten Kaiserreichs Korea. Sie
wird auf Grund der gegenwärtig geltenden Gesetze allen
Koreanern und ihrem Eigentum vollen Schutz angedeihen
lassen.
7. Die japanische Regierung wird, soweit es die Um-
stände erlauben, die Koreaner, die sich dem neuen Regi-
ment loyal anpassen, in ihren Staatsdienst übernehmen,
falls sie sich hierfür geeignet zeigen.
8. Dieser Vertrag, der die Zustimmung Seiner Majestät
des Kaisers von Japan, sowie Seiner Majestät des Kaisers
von Korea erhalten hat, tritt mit dem Tage der Ver-
öffentlichung in Kraft.
Korea hatte mit einer Anzahl fremder Mächte Handels-
verträge; die hören mit der Annexion auf, und an ihre
Stelle treten die Handelsverträge mit Japan. Wahr-
scheinlich wird aber Japan sich um die von den Frem-
den in Japan erworbenen Rechte nicht viel kümmern.
Masampho wird aus der Liste der offenen Häfen gestrichen,
an seine Stelle tritt Schiuwidschu.
Selbst der Name „Korea“, entstanden aus der Be-
zeichnung Korai für eines der Teilfürstentümer, in die
bis zum Jahre 1391 die Halbinsel zerfiel, wird verschwinden:
die neue Kolonie wird den Namen Chözen führen. Das
ist aber kein neuer, von den Japanern erfundener Name,
sondern ihre alte Bezeichnung für das seit dem genannten
Jahre bestehende Königreich Korea.
Der Beginn der Beziehungen Japans zu Korea ist in
Dunkel gehüllt. Zum ersten Male hören wir von ihnen
um das Jahr 30 v. Chr.; damals wurde eines der koreani-
schen Fürstentümer von Japan abhängig. Einen großen,
von Erfolg gekrönten Eroberungszug gegen Korea unter-
nahm um das Jahr 202 n. Chr. Jingo-Kogo, die Witwe
des Mikado Chuai-Tenno. Japan wurde damals der Herr
Koreas, aber auch der Empfänger seiner chinesischen
Kultur. Rein („Japan“, Bd. 1, 2. Aufl., S. 311) sagt
darüber: „Wenn auch in den folgenden Jahrhunderten
sich noch manche Expedition und viele Kämpfe an diesen
überseeischen Besitz knüpfen und das Abhängigkeits-
verhältnis der koreanischen Fürsten von Japan sich mehr
und mehr bis zur völligen Auflösung lockert, so wurden
diese jahrhundertelangen Beziehungen zum asiatischen
Festlande doch das Mittel, durch welches neues Leben
in die alten barbarischen Zustände Japans strömte. Es
ist der Strom der chinesischen Zivilisation, der sich über
Korea nach dem Lande des Sonnenaufganges ergoß.
Chinesische Staatseinrichtungen und Rechtspflege, chine-
sische Schrift und Literatur, chinesische Ethik und Heil-
kunde, chinesische Künste und Gewerbe gelangten meist
auf diesem Wege nach Japan und fanden hier eine
günstige Aufnahme. Der Träger dieser eigenartigen
Zivilisation ist, weit mehr als die einflußreiche Philosophie
der chinesischen Weisen, der Buddhismus.“
Korea war später einmal die Brücke, mit deren
Hilfe Japan das chinesische Reich erobern wollte. Von
1592 bis 1598 kämpften japanische Heere in Korea gegen
koreanische und chinesische mit wechselndem Erfolge.
Der ehrgeizige Plan gelang nicht, und ein Wechsel in
der Person des Regenten Japans veranlaßte die Zurück-
berufung des Heeres.
Japans Politik ist von jeher bis heute Korea gegen-
über selbstsüchtig, skrupellos und gewalttätig gewesen.
Aber die weiße Rasse braucht sich darüber nicht in
moralischen Betrachtungen zu ergehen; denn die Politik
ihrer Staaten läßt sich auch nur vom eigenen Vorteil
leiten.
178 Bücherschau.
Bücherschau.
Alfredo de Carvalho, Prehistoria Sul-Americana.
2448. mit 20 Tafeln und 1 Karte. Recife 1910.
Das Prof. Richard Andree gewidmete Buch, in portugie-
sischer Sprache abgefaßt, beschäftigt sich hauptsächlich mit
den in Südamerika vorkommenden Petroglyphen, deren Pro-
blem durch die Arbeit von Theodor Koch-Grünberg („Süd-
amerikanische Felszeichnungen“, Berlin 1907) so wesentlich
aufgeklärt worden ist. Verfasser trägt mit großem Fleiße
eine Menge Material aus der älteren und neueren Literatur
zusammen unter Beifügung einschlägiger Illustrationen und
schließt sich dabei eng an die Ausführungen von Koch-Grün-
berg (a. a. O.) an. In den letzten beiden Kapiteln werden
allgemeine Ansichten über den Ursprung der Bewohner
Amerikas geäußert und insbesondere die Stämme Brasiliens
in vier großen Gruppen (Tapuya, Aruak, Tupi und Karaiben)
zusammengefaßt, ein Schema, dem man jedoch ebensowenig
rückhaltslos beistimmen kann wie dem der Völkerkarte bei
8.212. Um derartig abschließende Urteile über die Völker-
komplexe Südamerikas zu fällen, bedarf es einer weit genaue-
ren Kenntnis namentlich auch der Sprachen jener Erdteils-
hälfte, als man sie bisher hat.
Dr. Walter Lehmann-München.
Paul Herrmann, Island in Vergangenheit und Gegen-
wart. Reiseerinnerungen. 3. Teil: Zweite Reise quer
durch Island. X u. 312 S. mit 30 Abb. u.1 Karte. Leipzig
1910, Wilhelm Engelmann. 7 .%
Der Verfasser hat 1908 eine neue Sagastudien gewidmete
Reise nach Island ausgeführt und die Beschreibung dieser
Reise als 3. Band seinem vor drei Jahren erschienenen zwei-
bändigen Werke über die erste Reise von 1904 (vgl. Globus,
Bd. 92, 8.209) folgen lassen. Der Schauplatz der neuen Reise,
die die Zeit von Mitte Juni bis Mitte August beanspruchte,
war der Westen der Insel. Der Verfasser wanderte von Reyk-
javik durch die westlichen Küstengebiete bis zum Skaga-
fjördur im Norden und durchkreuzte dann die Insel in einem
achttägigen Marsche über den Kjölur und den Geysir nach
Skalholt im Süden. Das Buch hat die Form einer — mit-
unter sehr ins einzelne gehenden — Reiseerzählung erhalten,
in die die eigenen Beobachtungen und die der Literatur ent-
nommenen Resultate älterer Reisender verwebt sind. Was
mit den Sagas und der Geschichte Islands zusammenhängt,
tritt dabei naturgemäß in den Vordergrund. Des Verfassers
Weg quer durch Island entsprach dem Wege, den vor ihm
zuletzt v. Knebel 1905 genommen hatte; auch von Komoro-
wicz war 1907 dort gewesen. Er führt durch ein geologisch
sehr interessantes Gebiet, in dem noch mancherlei zu tun
übrig bleibt, und der Verfasser macht da auf einige Pro-
bleme aufmerksam. Er hat sich nämlich seit der ersten Reise,
wie er sagt, auch mit Geologie beschäftigt. Ob ihn das frei-
lich schon berechtigte, ohne Beweis von „kühnen, haltlogen
Hypothesen“ eines Beobachters wie v. Knebel zu sprechen
(8. 232), darf bezweifelt werden. Des Verfassers Führer war
Ögmundur, der auch y. Knebel auf dessen beiden Islandreisen
begleitet hatte, und Ogmundur berichtete ihm manches über
den verunglückten Forscher (z. B. 8.88). Aber es ist nicht
alles richtig, und das Bild, das sich der Verfasser von ihm
macht, ist es auch nicht. Der Band liest sich ebenso an-
genehm wie die voraufgehenden und ist mit einigen guten
Abbildungen und einer Übersichtskarte mit des Verfassers
Reiserouten zweckmäßig ausgestattet, r.
0. Goebel, Volkswirtschaft des westbaikalischen
Sibirien. X u. 326 S. mit 4 Karten. (Berichte über
Landwirtschaft, herausgegeben im Reichsamte des Innern,
Heft 14.) Berlin 1910, Paul Parey. 3,25 f.
Die Darstellung, die auch Jakutsk umfaßt, gründet sich
auf der B. IX teilweise angegebenen Literatur, aber offenbar
auch auf eigenen Studienreisen des Verfassers. Für den
Geographen ist im Kap. I (Allgemeines) manches von Interesse.
8.13 sucht der Verfasser die Frage zu beantworten, wieviel
Menschen Westsibirien überhaupt zu ernähren imstande sein
dürfte; es wären unter Voraussetzung einer völligen Boden-
ausnutzung und einer entsprechenden Entwickelung von Vieh-
zucht und Fischfang im Maximum 60 Millionen (gegen
8,5 Millionen heute). Bezüglich der Güte des sibirischen
Bodens für Ackerbauzwecke urteilt der Verfasser, daß die
sibirische Schwarzerde nicht so reich und nicht so tief-
gründig zu sein scheine, wie im Europäischen Rußland, daß
sie sich auch weniger kontinuierlich ausdehne; man klage
schon jetzt an vielen Stellen über Erschöpfung des Bodens.
Gegen den Schluß dieses Teiles meint der Verfasser: „Daß
sich Sibirien nicht noch stärker entwickelt, als es unter dem
Einfluß der Bahnbauten und der Übersiedelung geschieht,
liegt an der geringen Unternehmungslust und Arbeitsfreudig-
keit sowohl der eingeborenen Sibirier, als auch der Zuwan-
derer. Von manchen Seiten sucht man den letzten Grund
in dem Überfluß an Land, den der einzelne Bauer habe, und
in der dadurch bedingten extensiven Wirtschaftsweise. Es
fehlt aber z. B. in den sibirischen Städten durchaus nicht
an Proletariat, aber trotzdem ist es schwer, Arbeiter zu finden,
da die Bevölkerung die Arbeit vielfach nur notgedrungen
tut. Unter allen diesen Verhältnissen hat sich Sibirien nicht
so lebhaft entwickelt, wie manche angenommen haben, und
es wird vermutlich auch nie eine stürmische Entwickelung
eintreten. Die Verhältnisse drängen aber zum mindesten zu
einem ständigen Fortschreiten in der Aufschließung und Aus-
nutzung des Landes.“
Die speziellen Kapitel der Arbeit enthalten eine Fülle
von wichtigen Tatsachen oder wenigstens von Tatsachen, die
einmal wichtig gewesen sind. Denn jüngeren Datums als
1907 ist nichts. Nun ist doch aber die Veröffentlichung
offenbar für den deutschen Kaufmann und Industriellen be-
stimmt, und was sollen die mit heute großenteils überholten
Angaben? Der Verfasser oder das Reichsamt des Innern hat
sich mit der Veröffentlichung dieser fleißigen Arbeit zu viel
Zeit gelassen, und so erscheint sie leider im Grunde zwecklos.
Edward Sapir, Takelma Texts. 263 8. (University of
Pennsylvania, The Museum, Anthropological Publications,
Vol. II, No.1.) Philadelphia 1909.
Die Takilmasprache ist nach Gatschet eine besondere
Sprache, die an der Oregonküste um den unteren Rogue
River gesprochen wird, früher aber sich weiter an diesem
Flusse oberhalb ausdehnte. Dorsey fand die Takilma auf
27 Individuen zusammengeschmolzen im Jahre 1884 in der
Siletzreservation, und es gelang ihm, ein Vokabular der
Sprache anzulegen.
Abgesehen von einigen kurzen Aufsätzen über die Ta-
kilma ist die Literatur hierüber bisher sehr dürftig ge-
wesen. Durch die umfangreichen Arbeiten Sapirs ist nun
ein reiches Material erschlossen worden, das sowohl dem
Sprachforscher wie dem Mythologen hochwillkommen ist.
Es schließt sich an desselben Verfassers kalifornische Yana-
texte an (Univ. of Californ. Publicat. in Am. Arch. and Ethnol.
IX, No. 1, Berkeley 1910) und gibt zu wichtigen Fragen über
die Verbreitung der Mythenmotive in den Gebieten zwischen
Britisch-Kolumbien und Kalifornien Veranlassung. Sapir be-
tont, daß trotz des kalifornischen Charakters der materiellen
Kultur der Takilma die Mythologie von der Zentralkaliforniens
wesentlich verschieden ist, namentlich in dem Fehlen eines
Schöpfungsmythus und im Vorhandensein eines scharf be-
grenzten Kulturheroenmythus. In dieser Hinsicht ergeben
sich vielmehr Beziehungen zum nordwestlichen Kalifornien.
Andererseits ist es nicht gut angängig, einen Zusammenhang
mit dem nördlichen Oregon herzustellen, da sich der Kultur-
heros nicht mit dem Coyote identifizieren läßt. Wohl tritt
der Coyote häufig genug in den Mythen auf, aber er spielt
wie in Kalifornien hauptsächlich die Rolle eines listigen
Gauners, eine Eigenschaft, die, wie ich beifügen möchte, in
Zentralamerika nach meinen Beobachtungen dem Kaninchen
zukommt, während umgekehrt der Coyote in den mittel-
amerikanischen Tiermärchen allemal der Betrogene ist.
Weiter finden sich in den Takilmamythen nicht wenige
Motive des nördlichen Kaliforniens, von Oregon, Washington
und der übrigen Umgebung wieder, so vor allem die Bären-
geschichten. Im ganzen ist jedoch der Typus der Takilma-
mythen ein eigenartiger. Zu weiteren Schlüssen wird man
gelangen, wenn erst die Mythologien der Kalapuya, Shasta
und der verschiedenen athabaskischen Stämme Oregons publi-
ziert sein werden.
Im Anschluß an diese jetzt in den Staaten mehr und
mehr zunehmenden Mythensammlungen, von denen ich noch
an die wichtigen Fox Texts der Algonkin von William Jones
(Publications of the American Ethnological Society, edited
by Franz Boas, Vol.I, Leyden 1907) erinnere, sei der soeben
als Heft 1 des 4. Bandes der Mythologischen Bibliothek er-
schienenen grundlegenden Arbeit Paul Ehrenreichs „All-
semeine Mythologie und ihre ethnologischen Grundlagen“
Leipzig 1910) gedacht. Die Gedanken, die Ehrenreich be-
reits in seinen Mythen und Legenden der südamerikanischen
Urvölker (Berlin 1905) entwickelt hat, werden in dieser seiner
letzten Arbeit mit kritischer Vorsicht ausgebaut, verallge-
meinert und vertieft. Für jeden, der es überhaupt der Mühe
für wert hält, sich mit Mythologien oder gar mit verglei-
chender Mythologie zu beschäftigen, kann dieses in seiner
Kleine Nachrichten.
179
Art bahnbrechende Werk nur auf das dringendste empfohlen
werden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß es geduldiger
und objektiver Forschungsmethode gelingen wird, zunächst
in Amerika, wie es bereits Ehrenreich in seinen Mythen und
Legenden der südamerikanischen Urvölker gezeigt hat, mytho-
logische Provinzen festzulegen, die im Zusammenhang mit
den Ergebnissen der Sprachforschung, Ethnologie, Archäologie
und Anthropologie neues Licht auf die Entwickelung und
Ausbreitung der amerikanischen Völkerstämme werfen können.
Freilich ist die Mythendeutung ein sehr gefährliches Gebiet,
namentlich wenn sie sich mit einem engeren Feld nicht be-
gnügt, sondern Parallelen aus der ganzen Welt heranzieht.
Dr. Walter Lehmann-München.
Karl Goës, Die indischen Großstädte. 93 8. mit Ta-
bellen. (Statistische und nationalökonomische Abhand-
lungen, herausgegeben von Georg v. Mayr, Heft VII.)
München 1910, Ernst Reinhardt. 3,50 f.
Die Arbeit beruht im wesentlichen auf den Veröffent-
lichungen über den indischen Zensus von 1891 und 1901.
Die Zahl der indischen Großstädte ist gering im Verhältnis
zur Gesamteinwohnerzahl; von ihr entfallen nur 2 Proz.
(etwa 6,6 Mill.) auf jene. Die alten Residenz- und Kult-
städte Indiens zeigen mitunter einen sehr bedeutenden Rück-
gang, woran verschiedene Ursachen schuld sind, u. a. die
manchmal ungünstige Lage zu den modernen Hauptverkehrs-
straßen. Der Verfasser bespricht zuerst die Großstädte als
statistische Faktoren, dann deren äußere Entwickelung auf
geschichtlicher und wirtschaftlicher Grundlage, ferner die
Bevölkerung nach ihrer natürlichen und sozialen Differen-
zierung. Aus dieser Betrachtung ergeben sich für die indi-
schen Großstädte Erscheinungen, die zum Teil denen in euro-
päischen Großstädten gerade entgegengesetzt sind. Dazu ge-
hört z.B. das starke Überwiegen des mänulichen Geschlechts
(in Kalkutta kommen auf 1000 Männer nur 507 Frauen).
Die Geburtenzahlen werden von den Sterbezahlen erheblich
übertroffen, und wo eine Bevölkerungszunahme stattfindet,
geschieht es infolge der Zuwanderung von außen her. Er-
wähnt wird auch die Bedeutung der Großstädte für die
national-indische Bewegung. .
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Besteigung des Kasbek. Am 5. August d. J. haben
zwei deutsche Hochtouristen, K. Vandewart aus Nürnberg
und E. Schmalbruch aus Berlin-Wilmersdorf, den Kasbek
von der Seite des Dewdoraki-Gletschers erstiegen. Nachdem
sie bei regnerischer Witterung in der Jermolowschutzhütte
(12000), die wegen sehr defekten Dachs sehr geringen Schutz
gewährte, übernachtet, brachen die Bergsteiger um 3 Uhr
nachts mit zwei einheimischen Führern auf. Das Wetter war
recht schlecht, Schnee wechselte mit Hagel, der eisige starke
Wind war sehr empfindlich. Stellenweise war der Schnee
so vereist, daß Stufen gehauen werden mußten. Nach sehr
beschwerlichem Anstieg wurde der Gipfel nach 3 Uhr nach-
mittags erreicht. Wegen heftigen Gewittersturms verweilte
die kleine Gesellschaft nur kurze Zeit auf dem in Wolken
gehüllten Gipfel. Nach ebenso beschwerlichem Abstieg wurde
die Jermolowhütte gegen 8 Uhr abends wieder erreicht. Die
Touristen hatten also mehr als 16 Stunden gebraucht, während
10 Tage vorher drei russische Bergsteiger bei sehr gutem
Wetter den gleichen Weg in 11 Stunden gemacht hatten,
wovon noch mehr als eine Stunde Aufenthalt auf dem Gipfel
abzurechnen war. H.
— „Wissenschaftliche Luftschiffahrten in der
Arktis“. Wie hier seinerzeit mitgeteilt wurde, besteht das
Bestreben, die Zeppelin-Luftschiffe für die Erforschung der
Polargebiete, insbesondere ihrer Luftschichten, zu verwenden,
und für die Verwirklichung dieser Idee hat sich in Deutsch-
land ein „Arbeitsausschuß“ gebildet. Zunächst hat dieser
Anfang Juli den Lloyddampfer „Mainz“, an dessen Bord sich
u. a. Graf Zeppelin selber, Prof. Hergesell und Prof. v. Dry-
galski befanden, nach Spitzbergen geschickt, damit Unter-
suchungen über die dortigen Landungsmöglichkeiten für
Luftschiffe angestellt würden. Diese Expedition ist Ende
August zurückgekehrt und stellt sich (durch das Wolffsche
Telegraphenbureau) öffentlich folgendes Zeugnis aus: „Der
Zweck der Fahrt ist vollkommen erreicht. Alle für Lan-
dungen mit Luftschiffen auf Spitzbergen in Betracht kommen-
den Plätze sind genau untersucht. Hierbei wurden durch
den Grafen Zeppelin selbst wichtige Versuche mit vorher
konstruierten Verankerungen auf dem Lande und auf dem
Polareise gemacht. Zur Feststellung der Fahrbedingungen
von Luftschiffen im Polarsommer wurde eine Reihe aero-
logischer Beobachtungen und tägliche meteorologische Messun-
gen ausgeführt. Auch wurde durch besondere Methoden zu
verschiedenen Malen die Nebelhöhe und die Nebeldicke be-
stimmt, wobei sich gleichfalls günstige Verhältnisse für den
Luftschiffahrtsbetrieb ergaben. Auch die übrigen ozeano-
graphischen, glazialen und optischen Untersuchungen konnten
zur vollsten Zufriedenheit sämtlicher beteiligten Gelehrten
ausgeführt werden, entsprechende Veröffentlichungen befinden
sich in Vorbereitung. Die Studienreise hat die Ausführ-
barkeit wissenschaftlicher Luftschiffahrten mit Zeppelin-
Luftschiffen in den arktischen Regionen ergeben. Unter den
30 auf Spitzbergen und dem Polareise verbrachten Tagen
waren nur drei, an denen das Wetter für die Fahrt mit Luft-
schiffen hinderlich gewesen wäre. Auf Spitzbergen wurden
geeignete Landungsplätze ermittelt. Nach den ausgeführten
Versuchen wird die Verankerung der Luftschiffe auf dem
Polareise leicht und in kurzer Zeit mit der Besatzung der
Luftschiffe auszuführen sein. Der Arbeitsausschuß ist hier-
nach von der Ausführbarkeit des Vorhabens, mit Zeppelin-
Luftschiffen in der Arktis wissenschaftliche Forschungsfahrten
zu unternehmen, überzeugt; er erblickt deshalb seine nächste
Aufgabe darin, für die Ausbildung von Luftschiffen zu langen
Fahrten über See von der nordischen Zentralstation Hamburg
aus zu wirken. Hier kommt in erster Linie in Betracht die
Erzielung höchster Betriebssicherheit auf maschinellem Gebiet,
sowie Schulung eines besonderen Personals und Ausbildung
einer sicheren Navigation. Mit so entwickelten Luftschiffen
wird alsdann der Arbeitsausschuß mit aller Energie an die
Verwirklichung wissenschaftlicher Luftschiffahrten in der
Arktis herantreten.“
Also die Ausführbarkeit wissenschaftlicher Fahrten
mit Zeppelin-Luftschiffen in den Polargebieten soll nach-
gewiesen sein. Man sollte aber meinen, daß doch wohl nur
die Praxis diesen Nachweis zu führen imstande sei. Übrigens
fehlt auch noch der zwingende Nachweis für den entsprechen-
den wissenschaftlichen Wert solcher kostspieliger Fahrten,
und bevor der nicht geführt ist, müßte gegen etwaige Ver-
suche, dafür Reichsunterstützung zu erlangen, nachdrücklich
Widerspruch erhoben werden. Indessen hat es damit offen-
bar noch keine große Eile, wie aus den letzten Sätzen der
zitierten Meldung hervorzugehen scheint.
— Ein Königreich Montenegro gibt es seit dem
29. August 1910. An jenem Tage hat die montenegrinische
Volksvertretung, wie verabredet war, den bisherigen Fürsten
Nikolaus I. gebeten, den Königstitel anzunehmen, und dieser
hat es getan. Die Zustimmung Europas ist natürlich nicht
zweifelhaft. Nun sind also alle die christlichen Staatengebilde
der südosteuropäischen Halbinsel Königreiche. Das König-
reich Montenegro ist 9080 qkm groß und hat eine Bevölkerung
von schätzungsweise 228000 Seelen. Seit 1905 hat Monte-
negro eine sogenannte Verfassung.
— Eine Karte des Konzessionsgebietes der Ge-
sellschaft „Süd-Kamerun“ in 1:300000 hat M. Moisel
in Heft 2 der diesjährigen „Mitt. a. d. dtsch. Schutzgeb.“ ver-
öffentlicht. Sie bedeutet einen Ausschnitt aus den vier süd-
lichen Blättern der neuen Kamerunkarte in 1:300000, die
wohl bald fertig vorliegen dürften. Die genannte Gesellschaft
hatte bekanntlich 1898 in Südkamerun ein gewaltiges Ge-
biet zur Ausbeutung überantwortet erhalten, das erst 1905,
nachdem sich allerlei Unzuträglichkeiten ergeben hatten, durch
neuen Vertrag der Regierung mit der Gesellschaft auf ein
vernünftiges Maß reduziert wurde. Hauptmann Ramsay
führte zwecks Begrenzung des neuen Konzessionsgebietes
1906/07 die nötigen Aufnahmen aus, und auf diesen sowie
seinen Breitenbestimmungen beruht die Karte in der Haupt-
sache, die im übrigen noch viele andere bisher unveröffent-
lichte Routenaufnahmen, darunter auch solche von Angestellten
der Gesellschaft, enthält. — Das heutige Hauptgebiet der
Gesellschaft, 12600 qkm groß, umfaßt im wesentlichen zwei
jener „Toten Zonen“, die man in Südkamerun vielfach an-
trifft: unbewohnte Urwälder. Es liegt etwa zwischen dem
14. und 15. Längengrad und zwischen 2°30’ und 4° n. Br
(reicht aber nördlich an einer Stelle bis zum Dume). Außer-
dem gehört dazu ein von jenem getrenntes Urwaldstück von
180
Kleine Nachrichten.
2600 qkm Größe zwischen dem Bumba und seinem westlichen
Nebenfluß Bök. Im Begleitwort zur Karte sind die benutzten
Ortsbestimmungen zusammengestellt.
— Dr. W. Dröscher berücksichtigt in einem in der Zeit-
schrift für Fischerei, XIII, 3/4, erschienenen Aufsatz „Der
Schaalsee und seine fischereiwirtschaftliche Nutzung“ auch
die allgemeinen physikalischen und geologischen Verhältnisse
dieses zweittiefsten norddeutschen Landsees. Sein Einzugs-
gebiet ist etwa siebenmal größer als sein Areal, daher stehen
such seine Wasserstandsschwankungen in keiner unmittel-
baren Beziehung zu den Niederschlägen im Einzugsgebiet.
Die stärksten Niederschläge finden in den Monaten Juni bis
Oktober, die höchsten Wasserstände dagegen im Februar bis
Mai statt, hinken also den Niederschlägen um 5 bis 8 Monate
nach. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der See in der Haupt-
sache durch Grundwasser gespeist wird, worauf auch die ver-
hältnismäßig hohe Temperatur der untersten Schichten (am
4. Juli und am 4. September wurde in je 65m 6° gemessen)
hindeutet. Die Durchsichtigkeit des Wassers übertrifft dagegen
die der meisten norddeutschen Landseen, sie stieg im Sep-
tember 1907 bis auf 8m. Der mit Laichrevieren von der
Natur gut bedachte See liefert ein gutes Erträgnis. Dröscher
schätzt den jährlichen Gesamtertrag auf 41000 fb, wovon
auf den Aalfang etwa 15000 fb kommen, durchschnittlicher
Ertrag eines Hektars war demnach 17,60 #4. Bei einheitlicher
Verpachtung an eine, höchstens zwei Genossenschaften würde
sicherlich ein noch höherer Betrag herauszuwirtschaften sein.
Der am meisten bemerkenswerte Fisch des Schaalsees ist
die Schaalseemaräne, die mit der Maräne des Madüsees in
Pommern, des Selentersees in Holstein und einiger anderen
Seen Norddeutschlands identisch ist und allein einen Ertrag
von jährlich 4000 f liefert. Dröscher schlägt die Errichtung
einer Maränenbrutanstalt an der Schaalmühle und die regel-
mäßige jährliche Gewinnung befruchteter Maräneneier wäh-
rend der Laichzeit vor. Leider stützen sich seine Ausein-
andersetzungen über den Boden des Schaalsees auf die veraltete,
bei Geinitz, Die Seen, Moore und Flußläufe Mecklenburgs,
Güstrow 1886, veröffentlichte Tiefenkarte des Sees von Peltz,
welche von den neueren in den geologischen Karten der
Preußischen Geologischen Anstalt plubizierten erheblich ab-
weicht. Halbfaß.
— M. Ebelings Beschreibung seiner Reise durch
das isländische Büdland (Zeitschr. d. Ges. f. Erdkunde
zu Berlin 1910) ist zu entnehmen, daß das heutige Island als
im Durchschnitt 600 m hohe Hochfläche aus dem Meere auf-
steigt; sie besteht zum größten Teile aus einer Basaltformation,
welche ihrerseits in eine lignitführende ältere, tertiäre und
eine moränenführende jüngere, quartäre Basaltformation
unterschieden werden kann. Sie hat unter dem Einfluß einer
oder mehrerer Eiszeiten gestanden, die, wie die überall vor-
handenen Gletscherschrammen beweisen, zu gewissen Zeiten
die ganze Insel mit ihren Eismassen bedeckt haben, und
unter deren Einfluß ein beträchtlicher Teil der Insel noch
jetzt steht. In den fluvioglazialen Bildungen kommen jüngere
vulkanische Bildungen in Gestalt von Lavaströmen und Tuffen,
und äolische Bildungen wie loser und verfestigter Flugsand
sowie Dünen hinzu. Island nimmt an der großen positiven
Wärmeanomalie Nordeuropas teil; es hat verhältnismäßig
warme Winter und kühle Sommer; nur das Nordland der
Insel ist wegen des grönländischen Eises ungünstiger gestellt,
so daß dort mitten im Sommer zuweilen Schneefälle ent-
stehen. Infolge der geringen Sommerwärme reift in Island
keinerlei Getreide, doch bauen die Bauern schlechte Kar-
toffeln, etwas Rüben und Kohl. Wiesenkultur und Viehzucht,
an der Küste der Fischfang müssen den Lebensunterhalt
bestreiten. Boden wie Arbeitskräfte werden absolut nicht
ausgenutzt, Düngen ist fast unbekannt, Drainieren kennt man
so gut wie nicht. Dem Vieh läßt der Isländer nur geringe
Sorgfalt angedeihen; Schweine sind so gut wie abgeschafft,
die Zahl der Kühe wird mehr und mehr beschränkt, da es
sonst gilt Heu zu machen. Dabei vermöchte der isländische
Boden bei nur einer geringen sorgfältigen Kultur bei weitem
mehr Menschen zu ernähren, als es jetzt der Fall ist, und
mit den drei Schlagworten: Arbeite, dünge, entwässere! ließe
sich die gesamte isländische Landwirtschaft umkrempeln, sehr
zu ihrem Vorteile. E. R.
— Dr.KarlKumm, Professor der orientalischen Sprachen
in Freiburg, durchquerte, wie hier schon kurz mitgeteilt
wurde, 1908/09 das nördliche Afrika von der Mündung
des Niger bis zum oberen Nil (Gaba Schambeh, nördlich von
Lado), hauptsächlich in der Absicht, die Missionsstationen
des mittleren Sudans zu besuchen. Ihm verdankt man einige
nicht unwesentliche Korrekturen in der Karte von Französisch-
Äquatorialafrika; auch entwarf er ausführliche topographische
Skizzen von der Umgebung von Bukuru (südwestlich von
Bautschi in Nord-Nigeria) und von Ndele, der Hauptstadt
des mohammedanischen Herrschers Senussi (ostsüddstlich von
Fort Archambault am Schari, in der französischen Aquatorial-
provinz). Das Augustheft des „Geogr. Journal“ von 1910
enthält nun Dr. Kumms Vortrag in der Londoner Geogr.
Gesellschaft nebst Kartenbeilagen und vier Abbildungen von
Land und Leuten. Von der Küste bis Fort Archambault und
von der Grenze des Bahr el Ghasal-Gebietes nach Osten sind
es meist bekannte Landschaften, die er durchzogen und be-
schreibt. Besonders erwähnenswert dürfte nur sein, daß
das Plateau von Bautschi (Nord-Nigeria) auch das Plateau
von Bukuru (1300m ü. d. M.) mit einer Bevölkerung von
120000 Seelen umschließt und daß das Reich des Senussis
Frankreich an Größe gleichkommt; dessen Hauptstadt Ndele
liegt 480m ü. d. M. und zählt an 10000 Einwohner. Die
meisten Untertanen Senussis sind seine eigenen Sklaven, die
er aus den ringsum über 100 km weit verwüsteten Grenz-
gegenden zusammengetrieben hat. Der wichtigste Handels-
artikel zum Austausch gegen europäische Zeuge und Waren
im englisch-ägyptischen Sudan besteht aus Kautschuk und
Elfenbein, welch letzteres bei den zahlreichen Elefanten-
herden in großen Massen gewonnen wird. Von Ndele nach
Osten erstreckt sich eine neun Tagemärsche weite unbewohnte
Wildnis; in stetem Wechsel folgen aufeinander felsiger Boden,
große Moräste, dichte Dschungel, endlose Savannen, bis man
bei Katwaka (9° n. Br. und 24° ö. L.) ein hügelgekröntes
Plateau (1220 m ü. d. M.) erreicht, welches die Wasserscheide
zwischen dem Schari-Kongosystem und dem Nilgebiet bildet.
Dies ist eine der bemerkenswertesten geographischen Tat-
sachen, die Dr. Kumm als Erster konstatierte. — Interessant
dürfte ebenfalls sein, was Dr. Kumm über die sudanesischen
Mekka-Pilgerfahrten und deren veränderte Route sagt.
Ehe Adamaua deutsche Kolonie ward, gingen diese von
Nord-Nigeria über Dikoa und südlich um den Tsadsee nach
Wadai, Kordofan usw. Als aber die Deutschen Zoll er-
hoben, schlugen die Pilger einen Weg nördlich um den
Tsadsee ein und dann den Schari aufwärts nach Fort Ar-
chambault und von Ndele in nördlichem Bogen nach Keffi
Genji, an der Grenze des englisch-ägyptischen Sudans. Dr.
Kumms Weg von Ndele ostwärts liegt südlicher und wird
künftig, wie er meint, wegen günstigerer örtlicher Verhältnisse
von den Pilgern vorgezogen werden. Eine Pilgerkarawane
braucht von Timbuktu bis Mekka ein ganzes Jahr. Eine
große Anzahl von alten Männern, von Weibern und Kindern
schließt sich an; doch die meisten sterben unterwegs oder
werden in Mekka verkauft. Nur wenige von der großen
Menge kehren, im elendesten Zustande, in die Heimat zurück.
Dr. Kumm traf mit einer solchen Karawane, an deren Spitze
der Sohn des Sultans von Timbuktu sich befand, in Fort
Archambault zusammen; da war sie 150 Köpfe stark, mit
500 Stück Rindern reichlich ausgestattet. Als er ihr aber
an der Grenze von Darfor wieder begegnete, war sie schon
auf ein Drittel zusammengeschmolzen und hatte all ihr Vieh
verloren. Trotzdem wanderte sie unverdrossen weiter, von
religiösem Fanatismus getrieben. Solcher Heroismus flößt
den heidnischen Negern einen derartigen verehrungsvollen
Respekt ein, daß sie sich in zahlreichen Fällen zum Islam
bekehren. B. F.
— Dr. 0. Reche von der Hamburger Südsee- Expedition
hatUntersuchungen über Wachstum und Geschlechts-
reife bei melanesischen Kindern angestellt (Korre-
spondenzblatt der Deutschen anthropologischen Gesellschaft
1910, Nr.7), auf die wir hier hinweisen wollen, weil sie mit
gewissen bisher als allgemein gültig angenommenen An-
schauungen im Widerspruch stehen, nämlich mit der Ansicht,
daß unter dem Einflusse eines heißen Klimas die Geschlechts-
reife früher eintrete als in einem kälteren. Auf Matupi
(Neu-Pommern) konnte er 58, dem Alter nach genau bestimmte
Kinder in der dortigen Mission untersuchen, wobei er mancher-
lei in anthropologischer Beziehung wichtige Ergebnisse erhielt,
die von unseren Verhältnissen abweichen, aber Übereinstimmung
(nach Baelz) mit Japanern zeigen. So z. B. ist bei jenen
Melanesiern das Wachstum um einige Jahre früher beendet
als bei europäischen Kindern. Am auffallendsten aber
zeigte sich der Unterschied beim Eintritte der Pubertät, die
bei den Matupimädchen erheblich später als bei den Mittel-
europäerinnen eintritt, nämlich erst mit dem 17. Lebensjahre,
gegen das 14. bei uns. Dr. Reche nimmt wohl mit Recht an,
daß diese Unterschiede in erster Linie mit der Rasse im Zu-
sammenhang stehen, und daß klimatische Einflüsse aus-
geschlossen sind.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. ı2.
i BRAUNSCHWEIG.
29. September 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Sind die Tapiete ein guaranisierter Chacostamm ?
(Mitteilung von der Hernmarckschen Expedition.)
Von Erland Nordenskiöld.
In Bolivia gibt es zwei Stammesnamen, die dem
Reisenden vor näherer Kenntnis der Verhältnisse große
Schwierigkeiten bereiten. Der eine ist der Name Guarayo
(Huanayo, Guärayü), der andere Tapiete (Tapii, Tapuy).
Im Grenzgebiete zwischen Bolivia und Peru nennen die
Weißen alle wilden Indianer Guarayos. Dies kommt
daher, weil mehrere Indianerstämme das Wort Huanayo
oder Guarayo in der Bedeutung Feind anwenden !). Diese
Stämme im Grenzgebiete von Peru und Bolivia sprechen
Pano oder Tacana, aber nicht Guarani. Die echten Gua-
rayo, oder richtiger Guärayü, kennen wir besonders
durch d’Orbigny. Sie leben teils in den Missionen
zwischen dem Rio S. Miguel und Rio Blanco in Ostbolivia,
teils unabhängig am Rio Paragua, einem Nebenflusse des
Rio Guaporé, wo sie Pauserna genannt werden. Diese
Guärayü in Ostbolivia sind, wie bekannt, Guarani 2).
Über die Tapiete (Tapii, Tapuy) herrscht eine ganz
besondere Unsicherheit.
In der Literatur finden wir sie mehrfach erwähnt.
Domenico del Campana?°) hat das zusammen-
gefaßt, was wir über sie wissen. In der von ihm ange-
führten Literatur werden teils die Chang, teils ein Stamm
zwischen dem Rio Pilcomayo. und dem Parapiti Tapiete
(Tapii) genannt.
Cardus#) spricht von den Tapiete, die am Rio Pilco-
mayo leben; er erwähnt auch, daß die Chané und Izozenos
von den Chiriguano Tapui genannt werden.
Campos?°) hat dadurch die Verwirrung noch ver-
größert, daß er die Aschluslay Tapiete genannt hat, und
da seine Arbeit unter den Weißen in Südostbolivia recht
bekannt ist, so ist dieser Name jetzt am Pilcomayo sehr
gebräuchlich. Den richtigen Namen der Aschluslay oder
ihren Chorotinamen Aschli kennt kein Weißer am Pilco-
mayo. Die Aschluslay gehören zur Matacogruppe.
Die übrigen Guarani sprechenden, Tapiete (Tapii,
Tapuy) genannten Indianer werden von den meisten Ver-
fassern als zu demselben Stamme wie die Chiriguano
1) Erland Nordenskiöld: Beiträge zur Kenntnis einiger
Indianerstämme des Rio Madre de Dios-Gebietes. Ymer 1905,
Heft 3.
2) Alcide d’Orbigny: L'homme américain. Paris 1839.
2) Domenico del Campana: Cenni see i Tapii ed i
Tapihete. Archivio per l’Antropologia e la Etnologia. Firenze
1902, 8. 283—289.
*) Cardus: Las Misiones Franciscanas entre los infieles
de Bolivia. Barcelona 1886.
®) Cam pos: Expedición Boliviana de 1883. Buenos Ayres-
La Plata 1888. A
Globus XCVOI. Nr. 12.
gehörend betrachtet. Giannecchini®) hält die Tapiete
und Tapii für zwei Gruppen des früher zahlreichen und
kriegerischen Chiriguanostammes. Domenico del Cam-
pana”) betont die Wichtigkeit der Ermittelung ihrer
wirklichen Stellung. Kersten‘) rechnet die von den
Weißen Tapuy genannten Chané in Bolivia zu der
Arowakgruppe, was mir auch sprachlich zu bestätigen ge-
lungen ist. Die Tapiete rechnet er”) aber zu den Tupi.
Die von den Weißen Tapuy (Tapii) genannten Chané
wohnen am Rio Itiyuro, bei Caipipendi (nicht Caipipendi
am Rio Parapiti) unweit des Pilcomayo und am Rio
Parapiti. Es ist dies ein Stamm, der kulturell auf der-
selben Höhe wie die Chiriguano steht. Sie sprechen
jetzt alle Guarani. Sie sind guaranisiert. Wie ich
schon in einem früheren Hefte des Globus betont habe 1°),
findet man noch Reste der ursprünglichen Sprache, die
eine Arowaksprache ist!!), Die Chané nennen sich
niemals untereinander Tapuy (Tapiete oder Tapii). Die
Chané sind von den Chiriguano unterworfen worden.
Kersten?) stellt die älteren Angaben zusammen,
die dieses bestätigen. Er sagt außerdem: »Das Unter-
tanenverhältnis der Chané zu den Chiriguano kam schon
dadurch zum Ausdrucke, daß der Chané diesen als „cheya“
— mein Gebieter bezeichnete, während er umgekehrt bei
den Chiriguano „tapii* — Sklave hieß.«
Die eigentümliche Verbreitung der Chané innerhalb
des Gebietes der Chiriguano beweist, daß sie Reste eines
zersprengten Stammes sind. Die Chane sind aber nicht
der einzige guaranisierte Stamm hier in Südbolivia. Der
andere sind die Tapiete.
®) R. P. Dorot&o Giannecchini: Diario de la Expe-
dición Exploradora Boliviania al alto Paraguay de 1880—1887.
S. M. de los Angelos ‘1896.
a} A. a. 0.
®) Ludwig Kersten:
Chaco usw. Internationales Archiv f. Ethnographie.
1904. 8.69.
°?) A. a. O., 8.67.
10) Erland Nordenskiöld: Meine Reise in Bolivia
Die Indianerstämme des Gran
Leiden
1908/09. Globus vom 14. April 1910.
1) Chané Chané Mojo
(Arowak) (Guarani)
Wasser. . ŭné A une
Mais. . . sopóro avuatti sepossi
Feuer yucu táta yucu
Hund tamúco yaumbä tamuco
Chicha (gut) liqui cángui itico
Ratte . . cóvo angúya cozo
12) A. a. O., 8.70.
182 Nordenskiöld: Sind die Tapiete ein guaranisierter Chacostamm?
Diese Indianer (Abb.1 u. 2), die sich selbst Tapiete
nennen oder wenigstens lieber Tapiete als Yanaygua,
wie ein Teil von ihnen ebenfalls genannt wird, heißen
lebt hatte, behauptete bestimmt, daß er sie unter sich
eine Sprache habe sprechen hören, die er nicht verstanden
habe. Diese Spur habe ich auf verschiedene Weise zu
DIE INDIANERSTÄMME
IM
BOLIVIAN.- ARGENTIN.-GRENZGEBIET.
Maßstab 1: 3000000
20 40 60 80 100 Km,
Routen des Verfassers 1908 u. 1909.
CHOROTI = Namen von ‚Indianerstämmen.
A Dörfer nicht völlig seßhafter Indianer.
o Niederlassungen der Weißen oder
seßhafter Indianer (Chiriguano und Chané).
& Missionsstationen.
wollen, wohnen zwischen dem Rio Pilcomayo und dem
Rio Parapiti. Weder die Chiriguano noch die Chand
betrachten sie als Verwandte. Sie sprechen jedoch alle
Guarani, und ihr Dialekt gleicht sehr dem der Chiri-
guano. Ein Chiriguano, der lange mit den Tapiete ge-
1 Aquarati
2 Aquaratimi.
3 Tamane
4 Coropa
5 Yovi
6 Aguaraygua
7 Hurrapembe
8 Tamachindi
9 Ihuasiriri
VE “ 5 ué
ILA Esteros
SASCHLUSLAY
verfolgen gesucht. Ein Tapietehäuptling Yaré von Yu-
quirenda am Pilcomayo, dem ich einen Dienst erwiesen
hatte, beteuerte, daß sie keine besondere Sprache hätten.
Am Rio Parapiti suchte ich einen Chané Bättcha
auf, der etwa ein Jahr mit den Tapiete gelebt hatte. Er
Nordenskiöld: Sind die Tapiete ein guaranisierter Chacostamm? 183
erklärte aber, er habe nie gehört, daß sie eine eigene
Sprache sprächen. Was die Weißen als Geheimsprache
betrachteten, sei Choroti, das einige von ihnen sprechen
könnten. Während der paar Wochen, die ich unter den
Tapiete verweilte, habe ich sie nie etwas anderes als
Guarani sprechen hören.
Wir kennen somit von den Tapiete keine andere
Sprache als Guarani.
Kulturell gehören die Tapiete aber viel mehr mit den
Mataco, Choroti und Toba zusammen als mit den Chiri-
guano. Dies gilt vor allem für die wilden Tapiete
(Yanaygua).
Die Tapiete scheinen mir auch ein vermutlich zur
Matacogruppe gehöriger Stamm zu sein, der infolge seiner
Verbindung mit den Chiriguano deren Sprache und Ge-
brauch des Tembeta angenommen hat. Wie die Chang,
sind sie guaranisiert worden, obschon sie außerdem ihre
eigene Kultur beibehalten haben.
Während, wie schon erwähnt, die Chané an drei ge-
trennten Stellen wohnen, leben die Tapiete in einem
wahrscheinlich zusammenhängenden Gebiete. Dies er-
streckt sich vom Rio Pilcomayo bis zum Rio Parapiti.
Wie weit sie in den Chaco hinein wohnen, ist unbekannt.
Am Pilcomayo sind sie ansässig, nach dem Parapiti
kommen sie nur gelegentlich. So besuchte ich sie dort
1908, fand sie aber 1909 nicht mehr da.
Abb. 1. Tapietefrau vom Rio Parapiti.
Ich habe nicht mehr als höchstens 200 Tapiete ge-
sehen, ihre Anzahl ist aber mit Sicherheit größer, ob-
schon im Verhältnis zu dem großen Gebiet wahrschein-
lich ganz gering. Das von ihnen bewohnte Land ist
auch sehr wasserarm und bietet daher keine großen
Existenzmöglichkeiten. Am Pilcomayo bin ich in einem
Dorfe gewesen, dessen Häuptling Yare heißt, und am
Rio Parapiti in zwei Dörfern. In Yares Dorf hatte man
außer runden Hütten zahlreiche viereckige vom Chiri-
guanotyp (Abb. 3 u.4). In den Dörfern am Rio Parapiti
sah ich nur runde Hütten von dem für die Choroti,
Mataco und Toba charakteristischen Typ.
Abb. 2.
Tapietemann vom Rio Pilcomayo.
Die Tapietemänner tragen, wie schon erwähnt, ein
kleines Tembeta aus Holz. Die Tapiete, die ich am
Parapiti antraf, tragen das Haar lang wie die Choroti
und Mataco. Am Pilcomayo hatte der eine oder der
andere das Haar mit einem Band um die Stirn auf
Chiriguanoweise aufgesetzt, einige von diesen hatten ein
Tembeta aus Zinn und Glasstückchen. Die Männer
waren nicht tatuiert. Dagegen sah ich mehrere tatuierte
Frauen (Abb. 5). Ihre Tatuierung gleicht der der Choroti
und Mataco. Die Tracht der Männer bestand aus einem
Stück Zeug, das die Geschlechtsteile schützte, sowie bei
Kälte dem gewöhnlichen, aus Wolle gewebten Chaco-
mantel. Die Frauen hatten einen ähnlichen, kleineren
Schurz um die Hüften.
Wie bei den Chiriguano, beginnt man auch hier
unter den Tapiete den Brauch des Tembeta abzulegen,
d. h. man bohrte den Knaben nicht mehr Löcher in die
Unterlippe.
Bei den Tapiete habe ich sehr wenig Schmucksachen
gesehen. Dies kommt daher, weil ich bei ihnen zu einer
Zeit war, wo Mangel herrschte.
Die Tapiete leben vom Einsammeln wilder Früchte,
Wurzeln und Honig, Hackbau, Jagd und Fischfang. Sie
treiben außerdem etwas Viehzucht, besonders Schafzucht.
Den Fischfang betreiben wohl nur die am Pilcomayo
wohnenden Indianer, denn die am Rio Parapiti getrauen
sich selten wirklich nach dem Flusse hinab. Die Tapiete
bauen Mais, süße Kartoffeln, Wassermelonen, Baum-
wolle, Zapallo (Cucurbita Pepo Lin.), Kalebassen und
24 *
184
Bohnen. Ihre Pflanzungen kenne ich nicht, kann sie also
nicht beschreiben.
Ihre Fischgeräte am Rio Pilcomayo sind dieselben,
wie die der Mataco, Toba und Choroti. Die Netze, die
Abb. 3.
Echte Tapietehütte.
Keulen zum Töten der Fische und die Nadeln zum Auf-
reihen derselben sind von demselben Typ. Die Taschen,
in denen sie die wilden Früchte sammeln, sind aus Cara-
guatä (einer Bromelia) und von dem uns von den Toba,
Mataco und Choroti bekannten Typ. — Die Tapiete haben
gleich den Choroti, Toba, Mataco
und im Gegensatz zu den Chiri-
guano und Chané keine Hänge-
matten. Sie verstehen es, ebenso
wie die drei ersteren, nicht, Korb-
arbeiten zu machen. Die Chiri-
guano und Chané verfertigen da-
gegen Körbe.
Wie die Mataco und Choroti,
so bewahren sie den Honig in
Beuteln aus abgehäuteten Tieren
auf. — Die Keramik der Tapiete
bietet nichts besonders Eigentüm-
liches dar. Sie weist die Formen
auf, die wir bei den Stämmen
am Pilcomayo zu sehen gewohnt
sind. Gleich ihnen haben sie die
charakteristischen, in der Mitte
eingeschnürten Wasserkrüge. Ge-
wöhnlich sind sie mit Harz bemalt.
Dieses Harz, das eine schwarz-
grüne Farbe hat, wird gleich auf
das Gefäß gestrichen, nachdem
dieses gebrannt und noch warm
ist. Auf ähnliche Weise bemalte
Gefäße sind besonders von Bog-
gianis Sammlungen aus dem para-
guayischen Chaco her bekannt. Mit der schönen Keramik
der Chiriguano haben sie nichts Gemeinsames.
Von den Caraguatätaschen ist nur ein Typ mit
rundem Boden für die Tapiete charakterisiert. Im übrigen
sind diese Erzeugnisse der Caraguatäindustrie denen der
Mataco und Choroti gleich. Die Chiriguano und die
Nordenskiöld: Sind die Tapiete ein guaranisierter Chacostamm?
Chane verfertigen dagegen niemals Taschen aus Cara-
guata.
Ihre Gewebe gleichen denen der Choroti, Toba und
Mataco. Die hübschen ornamentierten Gewebe, die man
besonders bei den Aschluslay zu sehen bekommt, sind
den Tapiete unbekannt.
An Werkzeugen sieht man Nadeln, Pfriemen und
Messer aus Knochen sowie eigentümlich geschäftete Beile
aus Eisen (Abb. 6). Die Blätter erhalten sie von den
Weißen, das Schäften ist aber original. Das Beilblatt
wird in der unentbehrlichen Caraguatätasche getragen
und erst, wenn es zur Anwendung kommen soll, ge-
schäftet.
Die Tapiete benutzen Tabakpfeifen von der uns von
den Mataco und Choroti bekannten Form. Gleich diesen
sind sie eifrige Raucher, im Gegensatz zu den Chiriguano,
die nur mäßig und außerdem selten Pfeife rauchen.
Gleich den Mataco und Choroti sind die Tapiete
schmutzig, während die Chiriguano und Chané sehr rein-
lich sind.
Die Tapiete begraben ihre Toten nicht, wie die Chiri-
guano, in Tongefäßen unter der Hütte, sondern in runden
Gruben unweit des Dorfes.
Auch die Sagen der Tapiete ähneln denen der Chiri-
guano und Chané nicht. Wie die Choroti, Mataco und
Toba, bewundern die Tapiete die Chiriguano sehr, und es
ist nichts Ungewöhnliches, daß sie als Diener bei ihnen
arbeiten. Auch für die Chané habe ich die Tapiete ar-
beiten sehen. Dies ist ein Beispiel für die hier
zwischen den Indianerstämmen vorkommende
soziale Ungleichheit.
So ist es etwas sehr Gewöhnliches, daß Tapiete sich
mit Kind und Kegel vor einem Chiriguanodorf nieder-
lassen. Sie helfen dann bei allen möglichen Arbeiten
und erhalten ihre Bezahlung in Mais. Diese Art und
Weise, mit all seinem Hab und Gut zu wandern, ist gar
Abb.4. Moderne Tapietehütte.
nicht chiriguanoartig, stimmt aber mit den Sitten und
Bräuchen der Mataco, Choroti und Toba überein.
Wenn die Tapiete in die Chiriguanodörfer kommen,
bringen sie oft Taschen aus Caraguatä, getrocknete Fische
und anderes mit, um Tauschgeschäfte zu machen. Trotz
dieser Besuche sieht man bei den Tapiete äußerst wenig
Nordenskiöld: Sind die Tapiete ein guaranisierter Chacostamm? 185
Chiriguanosachen. — Wir sehen somit, daß die Tapiete | sind ebenfalls von den Chiriguano stark beeinflußt,
kulturell viel mehr mit den Mataco, Choroti und Toba | haben ihre eigene Sprache aber doch beibehalten. Sie
zusammengehören. Es ist deshalb klar, daß sie ein ! begraben ihre Toten in großen Urnen, wie die Chiriguano.
Abb. 5.
a Chorotiweib mit Tatuierung,
Esmeralda, Rio Pilcomayo.
b Tapieteweib mit Tatuierung,
Yuquirenda, Rio Pilcomayo.
c Matacoweib mit Tatuierung,
Crevaux.
d Tapiete (Yanaygua) mit Tatulerung,
Rio Parapiti,
e Tapieteweib mit Tatuierung,
Yuquirenda, Rio Pilcomayo.
guaranisierter Stamm sind, der wahrscheinlich zur | Die Mataco Vejos vergraben die Tongefäße jedoch nicht,
Matacogruppe gehört. — Auch auf die am oberen Pilco- | sondern stellen sie auf ein Gerüst im Walde in einer
mayo wohnenden Toba haben
die Chiriguano einen großen
Einfluß. Diese verstehen fast
sämtlich etwas Guarani. Ihre
Guaranisierung hat begonnen.
Lozano!3) spricht eben-
falls von einem guaranisierten
Matacostamm. Er schreibt
nämlich 8.76: „Ay unos
Uamados Mataguayes Coro-
nados, y otros Mataguayes
Churumatas. Los Coronados
hablan la langua guarani ur Abb.6. Axt der Tapiete. '/, nat. Gr.
aunque la materna suya es
diferente.“ — Die Mataco Vejos, die längs den Anden | Grabhüttee — Lafone-Quevedo!t) meint, daß am
zwischen dem Rio Bermejo und dem Rio Itiyuro wohnen, | unteren Rio Paraguay in der. Provinz Corrientes eine so
Guarani sprechende Indianer in Südostbolivia.
Chiriguano Chané (Arowak) Tapiete von den Ava, Chané, Tapii, Tapii, Tapiete,
(Guarani) (guaranisiert) (guaranisierter Chiriguano (M)bia (am Cuüareta Yanaygua.
Chacostamm, genannt: Parapiti). (Weiber, Spott-
wahrscheinlieh name).
von der
Matacogruppe). von den Ava. Cunareta Tapiete.
ins ee ; Tapiete (Weiber, Spott-
von den Chiriguano, Chiriguano, Tapiete, genannt: name)
Weißen Camba (Spott- Tapuy, Tapii, Yanaygua, g
genannt: name in Bolivia), Isozeños, Tapii. vonden
Chavanquo Chané, Camba, ETET AR 5
(Spottname in Chavanquo. Choroti . Nyöna. ? Hueneck.
Argentinien). genannt:
von den Ava, Chané. Tapiete, von den z
Chané (plur.) Avareta Yanaygua. Aschluslay ? ? Nihuennick.
genannt: (Männer). genannt:
3) Pedro Lozano: Description chorogräphica del ter- 14) Samuel A. Lafone-Quevedo: Etnologia Argentina
reno, rios, árboles y animales etc. del gran Chaco. Cor- | (De la Universidad Nacional de la Plata en el IV° Congreso
doba 1733. científico [10 Panamericano], 8. 176—215). Buenos Aires 1909.
Globus XCVIII. Nr. 12. 25
186 Rescher: Weib und Ehe in der Spruchweisheit der Araber.
bedeutende Guaranisierung stattgefunden hat, daß die
dort Guarani sprechenden Indianer ihrem Ursprung nach
nicht Guarani sind. Auch für die dort von ihm dis-
kutierte Frage ist die Beobachtung der Guaranisierung
in Südbolivia von Interesse. — Alle die Namen, die ich
für die Guarani sprechenden Indianer im südöstlichen
Bolivia habe anwenden hören, sind auf S.185 unten
zusammengestellt.
Weib und Ehe in der Spruchweisheit der Araber.
Von Dr. O. Rescher. Leipzig.
Jung meistens schon verheiratet, mit einer Welt- und
Lebensanschauung, die dem einmal gegebenen historischen
Entwickelungsprozeß nur allzu willig sich unterordnet,
pflegt der islamische Orientale (Araber wie Perser und
Türke) Weib und Ehe weit weniger als ein individuell
zu lösendes geistiges Problem zu betrachten, als vielmehr
— fast durchgängig — lediglich unter dem Gesichts-
punkte einer aus den praktischen Bedürfnissen des Lebens
herausgeborenen Notwendigkeit — fast, um mit Cato cen-
sorius zu reden, eines unvermeidlichen Übels — anzu-
sehen. Ist auch nun in den ältesten Zeiten eine sehr
verschiedenartige Bewertung der beiden Geschlechter
(man denke an den bis auf Mohammed herrschenden,
in Arabien ganz üblichen Mädchenmord der Neugeborenen)
ganz unzweifelhaft und feststehend, so hat doch anderer-
seits die primitive Kultur der Israeliten und Araber,
obwohl ihr Schwergewicht auf der Kraft des männlichen
Arms beruhte, einen prinzipiellen Gegensatz in der Stellung
der beiden Geschlechter nie aufkommen lassen. Mag auch
das Beduinenweib, wie die ihr in manchem Punkte ähn-
liche Indianersquaw, sehr häufig des Lebens schwerste
Bürde mit nimmerrastendem Arme auf sich zu nehmen
sich gezwungen gesehen haben, oft mehr des Mannes
Magd (zumal wenn er arm war) als Genossin, so besaß
sie dennoch ein gewisses Minimum ethischer Freiheit,
das sie dann unter günstigen Bedingungen leicht fort-
entwickeln konnte; ja selbst die Führerschaft eines
Stammes, von einem Weibe ausgeübt, galt keineswegs
als etwas Befremdendes. Das ganze, von den ursprüng-
lich dem Islam zugrunde liegenden Verhältnissen so
prinzipiell verschiedene Denken des heutigen Orientalen,
dessen Kulturzustand allerdings auch in erster Linie die
städtische Entwickelung zugrunde liegt, läßt sich sicher
als ein Erbe aus der Zeit herleiten, die man — mit
Recht oder Unrecht — allgemein als die Blütezeit des
islamischen Weltgedankens zu beurteilen pflegt: der
Abbassidenherrschaft in der Kalifenresidenz Bagdad.
Und hier war es auch, wo in dem Brennpunkte des
ganzen geistigen Lebens Vorderasiens zur Zeit eines
Härün der unterworfene persische Geist, der Träger der
nie ganz erloschenen altorientalischen Weltanschauung,
eben weil er kulturell höher stand als das erobernde
Arabertum, als ein zweites Graecia victa jenen Gedanken-
strom einer vergangenen ‚Welt in das Beduinenvolk und
seinen neuen Glauben einströmen ließ, der fortan eine
unverwischbare Tngrodidhn der neuen, manchmal doch
so primitiv anmutenden Ideen bildete. Das Gemisch von
Skeptizismus und kultureller Überfeinerung, das den
Inhalt des Lebens und Treibens der oberen und wohl-
habenden Schichten der damaligen Kalifenresidenz bildete,
hat auch sein Teil zu der Deteriorierung der Frau und
ihres gesellschaftlichen und geistigen Lebens beigetragen,
wie sie im wesentlichen der heutige islamische Orient
festgehalten hat. So entstanden allmählich, durch die
der Frauenentwickelung feindlichen Tendenzen beeinflußt
und gestärkt, die angeblichen Prophetenaussprüche, die
die prinzipielle Scheidung der Geschlechter vom Stand-
punkt einer religiös-absoluten Wertschätzung schon in
den frühesten Islam hinaufzuverlegen suchen; die Frau
war und blieb fortan außerhalb des Kreises einer intellek-
tuellen und moralischen Ausbildung; selbst wenn wir die
allmählich zerfallende, in eine Art von historisch erstarrter
Halbkultur ausmündende Entwickelung der islamischen
Welt nicht zu hoch mehr einzuschätzen uns veranlaßt
fühlen, so genügte doch der völlige Ausschluß der leben-
digen Freiheit, um auch die geringsten Reste eines in-
dividuellen Lebens in die generelle Erscheinung des
Weibes als solchen auszulösen, dem gegenüber allein
noch die mehr oder weniger brutal oder galant auf-
tretende Sinnlichkeit ihren Platz fand. So weit zum
Verständnis der Genese der historisch gewordenen und
bedingten Psychologie der Sprichwörter, die natürlich
auch wieder je nach dem Stand der sozialen und intellek-
tuell erreichten Stufe bald mehr naiv, bald mehr reflek-
tiert, Anschauung und Denken widerspiegeln.
Ganz unserem Gefühl widerstrebend ist der Ausspruch:
„Die Frau ist ein Etwas, dessen Erwähnung schamrot
macht“ (17571). Und wirklich sind es gar zahlreiche
Fehler, die der Orientale an der Frau zu entdecken weiß,
manchmal ohne die Lichtseiten ihres Wesens genügend
anzuerkennen: „Keine Treue beim Weib“ (“Ali Sprüche
ed. Fleischer, Anhang 272); ferner: „Die über und von
Männern gesammelte Kenntnis ist ein Schatz, Frauen Wort
(dagegen) nur ein (leerer) Wind“ (501 Anm.); „Drei
Dinge sind auf der Welt, denen man mißtrauen muß:
Glück, Frauen und Pferde* (542). Ganz schlimme Er-
fahrungen muß der hinter sich haben, der meint: „Die
Frauen sind Teufelskühe“ oder mit einer Variante: „Stücke
des Satans“ (1876). Deshalb heißt es, erst nach reif-
lichem Nachdenken in die Ehe treten, denn: „Für eine
Ehenacht bedarf es (vorher) ein Jahr wohlbedachter
Überlegung (911), und wie schnell verfliegt wieder der
süße Wahn“. „Die erste (Eheperiode) ist wie (süßer)
Honig; die zweite wie (würzige) Butter, aber die dritte
— wie (übler) Teer“ (413). Wie lange nun eine so
glückliche erste Eheperiode (der Honigmond) und das
erste Ungestüm der Liebe währen kann, sagt unser Sprich-
wort nicht; immerhin meint ein anderes: „Nur ein Un-
verständiger mag den jungen Ehemann im ersten Jahre
tadeln (nämlich, daß er zu lange mit seiner Frau zu-
sammen verweilt)“ (2647). Dann wieder: „Unglücklich
ist der Ehemann, dessen Krankheit seine Frau ist“ (1766),
denn wie das Sprichwort vermeldet, so „manche Frau,
die ihren Charakter in der Ehe ganz und gar verändert
hat“ (natürlich nicht immer zu ihrem Vorteil. Dann
sind es weiter die Nebenfrauen, die sich gegenseitig eifer-
süchtig in den Haaren liegen und den Ehemann des Lebens
ungetrübte Freude nicht genießen lassen. Doch darf die
Frau allerdings die Eifersucht in ihrem eigenen Interesse
nicht zu arg treiben, in Hinsicht auf die Gefahr, die in
ihrem Handeln liegt, denn: „Die Eifersucht der Frau ist der
Schlüssel ihrer Scheidung“ (1292 — Burckhardt Nr. 463).
„Die Nebenfrau ist bitter, auch wenn sie von anständiger
Familie ist“ (2595) und „das Leben mit der Nebenfrau ist
bitter“ (1209 R.); natürlich bleibt auch die Rückwirkung
1) Einfache Zahlen bedeuten die betreffende Nummer
der „Proverbes de l’Alg6rie* von Mohammed ben Cheneb
(Algier 1904/07). R. bedeutet Reimform.
Rescher: Weib und Ehe in der Spruchweisheit der Araber. 187
der Unverträglichkeit zweier Frauen auf die Ruhe des
Mannes nicht aus: „Wer sich das Leben schwer machen
will, braucht sich nur in den Besitz eines Esels und einer
Ziege zu setzen; und wer Unruhe und Geschrei im Hause
will, der braucht nur mehr Frauen (in den Harem) und
Hunde (in sein Haus) aufzunehmen“ (238 R.2). Am
schlimmsten noch, wenn die neue Frau einen Stiefsohn
mitbringt; denn: „Ein Stiefsohn ist eine Krankheit, für
die es keinen Arzt gibt“ (852).
Und doch soll der Mann den Rosenketten sich nicht
entziehen: „Stets gilt ein richtiger Ehemann dem Moslem
mehr als der, der einsam durchs Leben wandert. „Jung
gefreit, hat nie gereut“; so sehr der Orientale blühende
Jugend liebt und fordert, „besser noch, eine Alte zu
heiraten, als Junggeselle zu bleiben“ (2490); scherzhaft
sagt man auch von einem jungen Mann, der die Ent-
scheidung verzögert und sich in seiner Freiheit wohl fühlt:
„(Er ist wie) der jüdische Junggeselle“ (der auch später
erst zu heiraten pflegt) (2690). Trotzdem ist die Wahl
des Freiers nicht so leicht; vor allem soll er keine Witwe
nehmen; nicht etwa aus Gründen, die Leviticus 21, 13—15
sich geltend machen, sondern um seiner lieben Ruhe
willen: „Heirate nicht die (Verstoßene oder) Verwitwete,
selbst dann nicht, wenn sie ein hübsches Äußeres hat“
(2830 R.®). Ferner muß die Wahl auch immer die Mutter
berücksichtigen: „Wählt die Töchter nach ihren Müttern“
(usw.) und: „Heirate die Tolle, Tochter einer Vernünftigen
(Frau), aber nicht die Vernünftige, Tochter einer Närrin“
(708). „Macht die Liebe auch blind“ (Liebe verbirgt
die Fehler) (611), so soll nicht bloß nach dem äußeren
Schein der entscheidende Schritt getan werden („Laß
dich nicht von der Schönheit eines Mädchens soweit ge-
fangen nehmen, um ihr Handeln ganz zu übersehen“)
(1622).
Unerläßlich ist auch eine gewisse Ebenbürtigkeit,
wenn dieser Zug auch mehr dem altarabischen Volksgeist
angehört, der einen gewissen ästhetischen Sinn und den
Rassenstolz einer edlen Abkunft nie verleugnete. — Beinahe
von Natur gegeben war im alten Arabertum (auch noch
bei den heutigen Beduinen durchaus üblich) die Ver-
bindung mit der „bint el’amm“, der Cousinet). „Vier
Torheiten gibt's: Die Cousine einem Fremdling zu über-
lassen (statt sie selbst zu nehmen), ohne Geld auf den
Markt zu gehen, ohne Hilfe in den Kampf zu ziehen,
den Löwen (allein) im Gebirge („seiner Höhle“) anzu-
greifen“ (412). „Heirate deine Cousine! kaut sie dich
(auch), so verschlingt sie dich doch nicht“ (710). „Nimm
deine Cousine, selbst wenn sie alt ist, und wieg’ dich in
Sicherheit“ (denn sie wird dir treu bleiben) (2283). Aller-
dings findet sich hierzu auch geradezu der Gegensatz in:
„Entferne dich vom verwandten Blut, auf daß es dich
nicht besudelt“ (d.h. schließe keine Verwandtenehe) (459),
entsprechend: „Such dir einen Garten in der Nähe und
eine Ehegenossin aus der Ferne“ (Var.: Gott segne die
aus der Fremde geholte Gattin und das in der Nähe be-
stellte Saatfeld) (1235°). Auf jeden Fall aber — mag
2) Vgl. Altmann: Wüstenharfe, Leipzig 1856, 8. 143: „Wenn
ich Nä’ila will kosen kommen — Schmäht sie: geh’, du bist
für Dschäsch erglommen! — Will ich Dschäsch umarmen,
spricht die wieder — Mehr ja bist du Nä’ila willkommen!
— Eines Weibes muß ich mich entschlagen, — Ach, zwei
Weiber dienen nicht zum Frommen."
®) Denn, mag sich der Ehemann auch noch so sehr ab-
plagen, immer redet sie in den höchsten Tönen des Lobes von
ihrem „Seligen“; vgl. auch „die heiße Suppe“ in Chodscha Nasr-
ed-dins Schwänken (dtsch. von Ali Nouri, Breslau 1904, 8. 83).
*) Auch bei den Juden sehr üblich; gemeinsemitisch ?
Vgl. Snouck-Hurgronje: Mekkanische Sprichw., Nr.8. Wilken:
Matriarchat bei den alten Arabern (dtsch.), 8. 59. Burck-
hardt 620.
®) Wilken, a. a. O., 8. 57/58.
das Sprichwort uns auch mit der Verwandtenheirat im un-
klaren lassen — bedarf eine Frau, die einem das Glück
ins Haus bringen soll, einer anständigen Abkunft und
der Jugendfrische, die beide zusammen sie erst dem Mann
lieb und wert machen: „Heirat’ eine Frau aus anständiger
Familie und schlaf’ auf der Strohmatte* (713) (d.h. suche
dir nur eine edle Frau zu erwerben, und wenn du [mit
dem Kaufpreis] auch den letzten Heller dranrücken
müßtest); denn: „Wer eine Frau nimmt aus anderem
(gewöhnlichem) Geschlecht, der stirbt an einer Krankheit,
die ihm eigentlich nicht bestimmt war“ (d. h. vorzeitig)
(322 R.) Ebenso: „Such’ für das Weib (= Tochter)
einen (wackeren) Mann und für den Mann (= Sohn) eine
Tochter aus angesehener Familie“ (2953). Wer nun
sucht, dem gibt das Sprichwort folgende Weisheit zum
besten: „Wer Schönheit liebt, suche eine Georgierin, wer
List, eine Jüdin, wer Ruhe, eine Christin, wer Stolz und
Phantasie, eine Türkin, wer Generosität und Adel, eine
Araberin“ (337). Und wie häufig gibt die Schönheit den
Ausschlag: „Die Schönheit des Mannes liegt in seiner
Intelligenz ; die Intelligenz des Weibes in ihrer Schönheit“
(922), und: „Das schöne Weib ist ein Glück, die Alte
ein Unglück“ (998); denn: „Drei Dinge schwärzen das
Gesicht (d. h. bringen Trauer): Die Last auf dem Nacken,
das Gehen als Barfuß, das Heiraten einer Alten“ (2329),
und: „Der, welcher seinen Kummer vervollständigen will,
mag eine heiraten, die seine Mutter sein könnte“ (2208).
Und doch, so jung auch die Frau sein mag: „Unter den
Frauen gibt’s keine Junge (— Unerfahrene), so wenig wie
im Feuer (harmlose) Funken“ (il n’y a plus des enfants!)
(2904).
Empfindet so der Mann Abneigung gegen das schöne
Geschlecht, wenn seine Blüte verwelkt ist (und wie bald
vollzieht sich das bei der frühreifenden Orientalin) —
entsprechend der „Flucht eines Mädchens vor dem grau-
haarigen Onkelchen (wie die alternden Liebesdichter
immer klagend ausrufen) gleich der des Lammes vor dem
Wolf“ (1756) —, so gilt doch auch hier keine Regel
ohne Ausnahme: „Lieber eine Alte als gar keine“ (2490)
im „Hagestolzenstolz“, oder es muß wenigstens eine edle
Abkunft die verwelkte Schönheit wieder einigermaßen
wettmachen (777); und „nimm lieber die ältliche Cousine
als ein fremdes Weib“ (2283), wobei aber, wie wir schon
oben sahen, das Sprichwort nicht ganz eindeutig konse-
quent sich erwiesen hat. Dem Bequemlichkeitsbedürfnis,
der Freude am sorglosen „Kêf“, aber aus der Seele ge-
sprochen ist das: „Lieber ein Mistkäfer®) (Scarabaeus),
der mich in Ruhe läßt, als eine Gazelle, die mich ins
Verderben führt“ (2407); denn man läßt eine schöne
Frau nicht ohne Strafe für die eigene Ruhe unter Palmen
wandeln. Ist ja nicht umsonst das ganze Geschlecht für
seine listigen Pläne bekannt: „In einer List des Weibes
stecken immer zwei Ränke“ und „sein Witz trägt immer
über den Mann den Sieg davon“ (1578), und der Gatte,
der mit dem Spruche „Leg’ hin das Geld (den Kaufpreis),
so gehört dir die Braut (660)“ sich diese errungen hat,
ist noch lange nicht auch wirklich ihrer Treue versichert;
recht merkwürdige „drei- und viereckige“ — nicht immer
entsprechende — Verhältnisse sehen wir bei der im „Harem
festgehaltenen“ Moslemin: „Ihr Mann — sagt ein ge-
flügeltes Wort — geht schonend mit ihr um, und ihr
Liebhaber zieht sie im Dreck herum“ (2479), und gar wie
eine — etwas naiv oder zynisch — meinte: „Einer fürs
Gemüt, der andere zur Zerstreuung und der dritte um
des lieben Brots willen“ (3055). So können wir ver-
stehen, daß der Mann einem wirklich herzlichen Ver-
°) Ist dem Orientalen ein sprichwörtliches Bild der Häßlich-
keit. Vgl. Burckhardt: Arab. Sprichwörter, deutsch Weimar
1834, Nr. 60 u. a.
25*
188
Rescher: Weib und Ehe in der Spruchweisheit der Araber.
hältnis nicht so leicht geneigt ist; berät er sich auch
mit seiner Frau, so mag er doch immerhin seinem eigenen
Kopfe folgen (1004 5), denn „die Folgsamkeit (gegen-
über dem Rat der Frauen) führt stets die Reue nach
sich“ (ebenda u. 11227); ja sogar mag „eine solche Nach-
giebigkeit zur Hölle führen“ (1123). Der Mann soll aber
der Frau gegenüber nicht brutal auftreten: „Nur ein
Lump schlägt seine Frau“ (2928) oder ein „Schwächling,
der auf den Markt (oder gegenüber seiner Schwieger-
mutter) den kürzeren gezogen, läßt zu Hause, an dem
unschuldigen Weibe, sein Mütchen aus“ (1289); auch
bleibt die Belohnung für ein gesittetes Betragen nicht
aus: „Wer seine Frau gut behandelt, kann sich auf die
Nachbarin (die auch gern einen so guten Mann wünscht)
Hoffnung machen“ (622): doch muß er allerdings vor-
sichtig zu Werke gehen, denn: „Nichts zersprengt Freund-
schaften (Nachbar- und Freundschaft gehen im Orient
sehr häufig Hand in Hand) so schnell wie Geld und
Weiber“ (1983°). Immerhin braucht auch der zuvor-
kommende Ehemann im ersten Jahre auch einer wackeren
Frau keinerlei Lob zu erteilen (1597 Anm.) (um nicht
durch voreilige Anerkennung sich nachher um so schmerz-
licher enttäuscht zu sehen). — Etwas widersprechend wird
das gegenseitige Verhältnis beleuchtet in folgenden Sen-
tenzen: „Das Roß hängt vom Reiter, das Weib vom
Manne ab“ (1323), dann aber heißt es wieder: „Die
Pferde gehorchen den Reitern, die Reiter den Weibern
und die Weiber wieder ihren Kindern“ (2424), denn:
„Das Kind ist wie man es erzieht und der Mann so, wie
die Frau es ihm lernt“ (!) (2585). Gibt es auch mehr
männlich veranlagte Frauen: „'Isä oder Müsä, oder sonst
eine recht männlich kräftige unter den Frauen“ (2688)
(nämlich von denen, die selbst das Schlachttier nieder-
stechen, was natürlich im allgemeinen Aufgabe der Männer
ist), so gilt doch auch immer noch: „Kräht die Henne
wie der Hahn, so muß man ihr den Hals umdrehen“.
Die Frau ist und soll im wesentlichen die Gebärerin 19)
und Aufzieherin der Kinder sein; deshalb ist „die beste
Frau die zärtliche und fruchtbare“ (natürlich an Söhnen !!)
(Ali Sprüche, ed. Fleischer, Anhang 69). Ist aber die
Familie mit Töchtern „gesegnet“, so läßt der Haus-
vater die Nase hängen (wie ein „Spitzbube*) (2967);
denn, wer viele Töchter hat, bekommt miserable Sklaven
zu Schwiegersöhnen (3001); auch ist die Behandlung der
Töchter streng, ihre Freiheit beschränkt. Sie hängen ganz
und gar vom Vater ab (2649) und müssen, bis der Freier
kommt, bei ihrem „Staub“ verbleiben (2282) und dürfen
nie die Frauentugend xar &&oyjv — die Geduld — (3025)
verlieren. Dabei darf sie der Vater mit Halfagras ab-
reiben 12), solange nur noch ein bischen von ihr übrig
7) Nasr-ed-din Chodscha, der türkische Till Eulenspiegel,
meint, alle 40 Jahre einmal solle man dem Rat seiner Frau
folgen (vgl. Die Geschichte von seiner Bettdecke, dtsch. von
Ali Nouri, Breslau 1904, 8. 161).
°) Da er seiner „Schwiegermutter nicht gewachsen war,
so band er mit seiner Frau an“. Burckhardt Nr. 628.
°) Unverständlich ist mir 1296: „Der liederlichen Frau
gegenüber mußt du dich rücksichtsvoll, der feinen dagegen
widerstrebend erzeigen.
1°) Zur Erleichterung der Konzeption usw.; vgl. die kultur-
historisch-interessante Angabe in 2753 Anm.
1) Der Glückwunsch an die Neuvermählten lautet: In
Eintracht und mit Kindern (d.h. Söhnen). Meidäuis Sprich-
wörtersammlung, Bd. II, 8.68.
12) „Striegeln“ würden wir vielleicht sagen.
bleibt (1133); nicht viel anders 2614. Ja manches Sprich-
wort treibt den Pessimismus noch weiter und sagt: „Hat
der Vater viele Töchter, so nimmt er schließlich noch die
Hunde (d. h. das Verächtlichste von allen Dingen) als
Schwiegersöhne“, und: „Das Grab ist der beste Schwieger-
sohn“ (pflegte man ehedem ja doch die Töchter lebendig
zu bestatten) (1305 Anm.). So muß die Tochter froh
sein, einen halbwegs angenehmen Mann zu kriegen, und
der Vater ist froh, sie unter die Haube zu bekommen;
da ihre jahrelange Aufziehung ihm durch das Brautgeld
nicht kompensiert wird, so dürfte auch das Sprichwort
(Weißbach, Iraq-Ar. Nr. 3): „Der Vater von Töchtern
ist wohlhabend* (nämlich infolge der ihm gezahlten
Brautgabe) kaum allgemeine Geltung haben. Zum Schluß
kommen wir noch zu der Erscheinung, die trotz des rigorosen
Gesetzes nie vollständig sich hat unterdrücken lassen, der
Prostitution; immerhin tritt diese im Vergleich zu abend-
ländischen Verhältnissen in der Öffentlichkeit außerordent-
lich zurück. „Eine Frau ohne Scham ist wie eine Speise
ohne Salz“ (383) ist zunächst noch wie: „Eine Frau
ohne Vernunft ist wie ein Salat ohne Zwiebel“ (2564),
und: „Eine Frau ohne Gürtel ist wie eine Stute ohne
Zügel“ (2951) ganz allgemeiner Natur; speziell aber auf
die demi-monde sind gemünzt: „Die Reue der Challäda:
nachdem sie ihr früheres Gewerbe verlassen, ist sie Kupp-
lerin geworden“ 13) (532 — 42); auf dieser Stufe ist das
Weib unverbesserlich (vgl. auch Burckhardt Nr. 498.)
„Der Stein schmilzt nicht im Wasser und die Dirne
findet nicht durch die Reue den geraden Weg zurück“
(629). Von einem, der sehr schnell seine vergangenen
Fehler vergißt, sagt man so wohl auch: „Einen Tag und
eine Nacht hatte sich die Dirne gebessert, da rief sie
schon: Gibt es denn unter den Leuten keine anständigen
Menschen mehr?“ (492; vgl. Burckhardt Nr. 156). Als
das Verächtlichste und Unreinste hat das Sprichwort
das Bild geprägt: „(So unrein) wie die Brust einer
Dirne“ (1583).
Verlassen wir dieses nur zur Vollständigkeit noch ange-
fügte Kapitel, so geht doch aus dem Ganzen ziemlich deut-
lich hervor, daß die absprechende Beurteilung des Weibes
im islamischen Volksgeist viel mehr hervortritt als die An-
erkennung der von ihm geleisteten Arbeit, Entbehrungen,
daß eine gewisse Voreingenommenheit gegen das ganze
psychische Leben der Frau besteht und es infolgedessen
zu einer unbefangenen Beurteilung nicht kommt, während
der allerdings tatsächlich vorhandene Mangel an Bildung '4)
irgend welcher Art doch wieder durch die absichtliche
Unterbindung des geistigen Lebens bedingt ist, so daß
die Relation des Geschlechtes überwiegend dem sinnlichen
und praktischen Bedürfnis vorbehalten bleibt, einer Do-
mäne, die dem Sprichwort nur teilweise ein fruchtbares
Feld bieten kann. Es prävaliert die Ansicht des Apostels
Paulus von dem „Gefäß der Sünde“, ohne daß der Ge-
danke klar zum Ausdruck käme, daß die absprechende
Beurteilung des Frauenwertes zugleich auch den Rück-
schluß auf das Verantwortlichkeitsgefühl des Mannes selbst,
als des Trägers der islamischen Kultur, notwendig bedingt.
13) Ein sehr realistisches Bild entrollte Schweiger-Lerchen-
feld: Frauen des Orients, 8.759, von der Entwickelung des
Weibes zur Dirne und dann zur Kupplerin. Vgl. auch
Burckhardt Nr. 111: Wenn die Hure bereut, so wird sie
zur Kupplerin.
14) Dazu die Aumerkungen zu Burckhardt Nr. 739.
Pennsylvanien zur Zeit Penns.
189
Pennsylvanien zur Zeit Penns.
Vor kurzem ist ein interessantes kleines Buch er-
schienen: „Pennsylvanien im 17. Jahrhundert und
die ausgewanderten Pfälzer in England“ 1), dessen
Bearbeiter der Sekretär des Historischen Vereins der
Pfalz, Emil Heuser, ist. Der Inhalt ist mannigfaltig.
Wir finden da mehrere Beschreibungen Pennsylvaniens
aus der Zeit Penns, darunter die des Deutschen Pastorius
vom Jahre 1700, abgedruckt und das merkwürdige Schick-
sal einer größtenteils aus Pfälzern bestehenden Auswan-
derertruppe von 16000 Leuten erzählt, die 1709 nach
Pennsylvanien und Karolina wollten, aber zumeist nur
bis England kamen, wo sie teilweise angesiedelt wurden,
während 3000 von ihnen später nach der Kolonie New
York gelangten, manche auch mit Unterstützung der
englischen Regierung den Rückweg in ihre alte Heimat
fanden. Auf diese Teile des Buches sei hiermit nur
kurz verwiesen. Aber es enthält noch etwas anderes,
nämlich eine aus dem Jahre 1683 herrührende Schil-
derung Pennsylvaniens durch William Penn, dessen Be-
gründer, selbst, und auf diese wollen wir hier ein wenig
näher eingehen.
Penn hatte seit dem Oktober 1682 in seiner Land-
konzession am Delaware, dem nach ihm benannten
späteren Staate Pennsylvanien, ein Jahr geweilt, als er
einen langen Brief nach England schickte, worin er das
Land und seine Bewohner, die Indianer, ziemlich aus-
führlich schilderte. Es war eine kleine Monographie.
Was aus dem Urtext geworden ist, ist dunkel, er mag
wohl vollständig veröffentlicht worden sein, aber es
scheint sich kein Exemplar erhalten zu haben. Bekannt
geworden waren bisher nur von anderer Seite gefertigte
kurze Auszüge aus dem Briefe in Form von Flugblättern.
Nun hat Heuser im Münchener Geheimen Staatsarchiv
eine Handschrift vorgefunden, die eine deutsche, nicht
immer ganz klare Übersetzung des vollständigen Briefes
Penns darstellt, und die hat der Herausgeber seinem
Buche vorangestellt, wobei er die Rechtschreibung und
die Satzzeichen dem heutigen Gebrauche angepaßt hat.
Die Handschrift, die im Format des Buches, Klein-Oktav,
22 Druckseiten einnimmt, hat einen langen Titel, der
mit den Worten beginnt „Ein Brief von William Penn,
Eigentumsherrn und Befehlshaber in Pennsylvania in
Amerika, zu denen Verordneten der Freien Gesellschaft
in der Handlung derselben Landschaft wohnend in
London“. Die Herausgabe ist Heuser als ein Verdienst
anzurechnen.
Penn erklärt zuerst, daß er den Gerüchten entgegen
noch am Leben sei, berichtet, daß er von den Eingebo-
renen freundlich empfangen worden sei, und geht dann
zur Schilderung des Landes über. Besprochen werden die
Bodenbeschaffenheit, die Gewässer, Witterung und Klima,
die Pflanzenwelt (wobei besonders eingehend der Rebe ge-
dacht wird), was an Feld- und Gartenfrüchten dort ge-
deiht, die Tierwelt (Bären kommen vor) und dann, ganz
besonders eingehend, die Indianer, von denen er sagt,
man sollte fast glauben, sie seien von jüdischer Abkunft,
„von dem Stamm der zehn Geschlechter“. Schließlich
werden die kolonialen Verhältnisse, Erfolge und Hoff-
nungen behandelt. Eine strenge Disposition ist dabei
nicht eingehalten, die Angaben gehen manchmal etwas
durcheinander. Es mag nun hier einiges über die da-
maligen Indianer Pennsylvaniens mitgeteilt werden,
wobei bemerkt sei, daß Penn ein großer Indianerfreund
war, gewissenhaft auf die Erfüllung der mit ihnen ge-
1) Neustadt a. d. Hardt 1910, Ludwig Witter.
1,80 Ab.
schlossenen Verträge hielt und deshalb mit den Rothäuten
stets auf bestem Fuße stand, übrigens ebenso wie der
deutsche Teil von Penns Ansiedlern. Die Indianer, die
Penn antraf, waren die Delawaren, ein Algonkinstamm;
erwähnt wird der Name von ihm aber nicht.
Nach ihrer Naturart, heißt es, sind die Indianer
schwarz, doch mit Vorsatz, gleich wie die Zigeuner in
England. Sie schmieren sich mit klargemachtem Bären-
fett ein und gebrauchen keine Hüte gegen die Sonne
und das Wetter, so daß ihre Haut notwendig schwarz
werden muß. — Dann wird das geliefert, was wir eine
anthropologische Beschreibung nennen würden, und
einiges über die Sprache (mit Angabe von ein paar Vo-
kabeln) gesagt, die „geschwind, doch kurz, fast gleich
der hebräischen, in der Bedeutung sehr voll“ ist.
Die neugeborenen Kinder werden mit Wasser ge-
waschen, später taucht man sie bei kaltem Wetter in
das Wasser der Flüsse, um sie abzuhärten. Man wickelt
‘das Kind in ein Tuch und legt es der Länge nach auf
ein Brett, wo man es festbindet, damit der Körper gerade
wird. „Derohalben haben alle die Indianer glatte (?platte?)
Häupter, und auf diese Art tragen sie sie auf dem
Rücken.“ Mit dem neunten Monat beginnen die Kinder
zu laufen. Die Knaben gehen vom 15. Jahre ab in die
Wälder auf die Jagd, „und wenn sie einige Taten ihrer
Männlichkeit bewiesen, daß sie einen guten Vorrat an
Handen zusammengebracht, dann mag er heiraten.
Anders ist es eine Schand, wenn er an ein Weib ge-
denken sollte.“ Die Mädchen bleiben bei der Mutter
und lernen die Feldarbeit, die ihnen als Ehefrauen ob-
liegt. „Denn die Weiber sind ihrer Männer treue Die-
nerinnen, dagegen sind ihnen die Männer auch sehr
wohl geneigt. Wenn die jungen Weibsleute zum Hei-
raten bequem werden, so tragen sie auf dem Haupte
etwas zur Einwickelung, doch also, daß ihre Gesichter
nicht wohl zu sehen, außer wenn es ihnen beliebig.“
Wenn die Mädchen heiraten, so sind sie 13 oder 14
Jahre alt geworden, der Bursche heiratet selten später
als mit dem 17. oder 18. Lebensjahr. Die Zuneigung
der Eltern zu den Kindern ist groß.
Die „Häuser“, so hoch wie ein Mann, bestehen aus
Matten oder Baumrinde, die an Pfählen befestigt sind.
Im Innern liegt Rohr und Gras. Sind die Indianer
unterwegs in den Wäldern, so zünden sie zur Nacht ein
Feuer an und lagern sich, in ihren Zeugmantel ge-
wickelt, herum. Die Jagd, aber auch etwas Ackerbau,
gewährt den Lebensunterhalt.
Ist ein Europäer ihr Gast, so lassen ihm die In-
dianer in der Hütte den besten Platz und beim Essen
das erste Stück zukommen. Tritt der Indianer beim
Weißen ein, so begrüßt er ihn mit dem Worte „Itah“
(= „Gutes sei zu euch“) und setzt sich auf den Boden.
Oft spricht er nicht ein Wort, gibt aber auf alles acht.
Wird dem Indianer etwas zum Essen oder Trinken an-
geboten, so ist es gut, er selber aber fordert .nichts.
Was mit Freundlichkeit angeboten wird, wird gern an-
genommen; im anderen Falle geht der Indianer schwei-
gend, wenn auch „sauer sehend“, weg. Für seinen
Freund ist dem Indianer nichts zu kostbar. Seine
Freundschaft und Zuneigung sind leicht erworben, „aber
es vergehet bald“. Mit den eigenen Absichten und Ge-
danken wird streng zurückgehalten.
Penn erzählt vom Selbstmord einer Häuptlingstochter:
„Eine Königstochter, die da gedachte, daß sie von ihrem
Manne schlecht geachtet würde, indem sie zugelassen,
daß ein ander Weibsbild zwischen ihnen beiden liegen
190
Pennsylvanien zur Zeit Penns.
möge, stand auf, ging hinaus und nahm eine Wurzel
aus der Erde, aß dieselbige, worauf sie denn alsobalden
starb. Derenthalben so übergab er vergangene Woche
ihren Freunden oder Anverwandten eine Gabe, um Ver-
söhnung und die Freiheit zu haben, wieder zu heiraten,
welches auch zween andere taten zu ihrer Weiber An-
verwandten, welche doch eines natürlichen Todes ge-
storben waren; denn bis dahin, daß die Witwer solches
getan haben, dürfen sie nicht wiederum heiraten.“ Penn
erzählt im Anschluß daran: „Es wird gesagt, daß etliche
junge Weibsleute, ehe sie noch heiraten, für Lohn un-
behörliche Freiheit gebrauchen, wenn sie aber ver-
heiratet, dann halten sie sich keusch. Wenn eine
schwanger, so schläft sie nicht mehr bei ihrem Mann,
bis sie entbunden, und wenn ihre Natur, dann rühren
sie keine Speise an. Sie essen aber mit einem Stöcklein,
damit sie sie nicht verunreinigen möchten. So haben
auch ihre Männer nichts mit ihnen zu tun, bis die Zeit
vorüber.“
Diese Indianer sind lustige Leute, die zu leben ver-
stehen. Schmausereien und Tanz sind an der Tages-
ordnung, so im Herbst bei der Getreideernte. Sie haben '
nie viel, leiden aber auch nicht viel Mangel. Was einer
hat, genießen auch die anderen, „nichtsdestoweniger
nehmen sie doch ihr Eigentum in acht“. Die Häupt-
linge teilen mit ihren Untertanen und bedenken bei
Gastmählern sich selber zuletzt und mit dem wenigsten.
Man lebt sorglos in den Tag hinein. Nur morgens und
abends wird gegessen. Nach Ankunft der Europäer
fanden die Indianer Gefallen an starken Getränken, und
für Rum gaben sie ihr Bestes an Pelzwerk und Häuten
her. „Wenn sie von so einem Trank erheitert werden,
so sind sie unruhig, bis sie so viel bekommen, daß sie
schlafen. Dann rufen sie: Noch etwas mehr, und ich
will schlafen gehen; aber wenn sie trunken sind, ist es
das närrischste Schauspiel, das zu sehen ist in der
Welt.“
Bei Krankheiten werden nur in Wasser gekochte
Wurzeln genossen oder etwas Fleisch, das von einem
weiblichen Tier herrühren muß. Stirbt jemand, sei es
ein Mann oder ein Weib, so wird er in seiner Kleidung
begraben, und die Verwandten werfen von ihren Kost-
barkeiten etwas ins Grab. Zum Zeichen der Trauer, die
ein Jahr dauert, wird das Gesicht schwarz gefärbt. Die
Gräber werden sorgfältig gepflegt, das Gras von ihnen
wird abgerupft, und die herabgefallene Erde wird wieder
aufgehäuft.
Über religiöse Vorstellungen erzählt der fromme
Penn folgendes: „Dieses arme Volk ist unter einer fin-
steren Nacht in denen Dingen, was die Religion angeht.
Um was ihr Menschenverstand sie versichern mag je-
doch, so glauben sie an einen Gott und die Unsterblich-
keit ohne die Beihilfe der Metaphysik; denn sie sagen:
Da ist ein großer König, der sie gemacht, welcher in
einem herrlichen Lande gegen Mittag wohnt, und daß
die Seele eines Frommen dahin fahre, allwo sie wiederum
leben soll. Ihr Gottesdienst besteht aus zwei Stücken:
Opfer und Gesängen. Ihr Opfer ist die erste Frucht. Der
erste und fetteste Bock oder Hirsch, den sie töten, gehet
nach dem Feuer, allwo er mit einer traurigen Gebärde
dessen, so die Zeremonie verrichtet, ganz verbrannt
wird. Und dieses tut ein solcher mit solcher seltsamen
Festigkeit und Bemühung des Leibes, daß ihm fast über-
all der Schweiß ausbricht. Das andere Stück ist der Ge-
sang, welcher mit einem Zirkeltanz geschieht, je bis-
weilen bloß in Worten, je bisweilen in Gesängen, und
dann mit einem Freudengeschrei. Zwei stehen in der Mitte
und regieren mit Singen und Trommeln auf einem Brett
den Chorum. Ihre Gebärden in dem Tanz sind sehr
anscheinend und sehr mannigfaltig, jedoch alle nehmen
ihr Maß wohl in acht. Dieses wird mit einer durch-
gehenden Ernsthaftigkeit und Arbeit verrichtet, doch er-
scheint dabei eine große Freude“.
Die Häuptlinge heißen Sachima, und ihre Würde ist
erblich, „aber alle Zeit von der Mutterseite.e Zum Ex-
empel: Die Kinder dessen, der nun König ist, können
nicht nachfolgen, sondern sein Bruder bei der Mutter,
oder die Kinder seiner Schwester; deren Söhne (und
nach solchen allen die Kinder von ihren Töchtern) re-
gieren sodann, denn kein Weib vererbet es. Die Ur-
sache, so sie für diese Art der Nachfolge beibringen, ist,
daß ihre Nachfolger nicht möchten Bastard-Art sein.“
Dem Häuptling jedes Stammes — Penn redet von
„ungefähr 200 Völkern“ — steht ein Rat zur Seite, der
sich aus den alten und klugen Leuten zusammensetzt,
und ohne den nichts Wichtiges vorgenommen werden
kann. Aber auch die jüngeren Leute werden gehört.
Obwohl sich somit das Volk gewissermaßen selbst regiert,
haben die Häuptlinge eine große Gewalt. Vergehen und
Verbrechen werden durch Geldstrafen gesühnt. (Das
Geld ist „aus den Beinen aus Fischen“ gemacht. „Die
schwarzen sind bei ihnen als Gold und die weißen Silber.
Sie nennen sie alle Wampon.*) Ist ein Weib getötet,
so muß doppelt gezahlt werden, weil die Weiber „Kinder
hervorbringen, was die Mannsleute nicht tun können“.
Uneinigkeiten entstehen selten, wenn die Indianer nüch-
tern sind; in der Trunkenheit ausgesprochene Beleidi-
gungen aber werden verziehen: man sagt, es sei der Trunk,
nicht der Mann der Beleidiger gewesen. Penn erkennt
an, daß die Christen keinen Anlaß hätten, sich über die
Indianer zu „ärgern“, denn sie hätten diesen nur allerhand
Laster gebracht und sie nichts Gutes gelehrt. „So herr-
lich als ihr (d. h. der Christen) Zustand scheinet, so
haben doch die Christen mit allem ihrem Vorwand einer
höheren Offenbarung nichts mehres erlangt. Was für
Gutes sollte nun nicht ein gutes Volk (d.h. die Indianer)
ausrichten können, allwo so ein klarer Unterschied zwi-
schen dem Guten und Bösen ist?“
Wie schon erwähnt, ist Penn geneigt, die Indianer
von den Juden, vom „Stamm der zehn Geschlechter“
abzuleiten, eine kuriose Ansicht, mit der er bekanntlich
nicht allein steht. Er begründet das wie folgt: „Erst-
lich, daß sie haben müssen in ein unbekanntes und un-
gebautes Land gehen, welches sicherlich Asien und
Afrika gewesen, wonicht Europa, und einer, der das
sonderbare Urteil über dieselbige beobachtet, sollte ihre
Reise dahin nicht schwer machen, weilen es an sich
selbsten nicht unmöglich ist, von denen östlichen Teilen
in Asien nach Westen in Amerika (zu kommen), ferner
wegen der Gleichheit ihrer Gesichter und ihrer Kinder
in so einer lebendigen Gleichheit, daß einer, der sie sieht,
wohl gedenken möchte, er wäre zu London in Dukes-
place oder Berry-street. Über (wohl „aber“) dieses ist
nicht genug, sie kommen auch mit ihren Gebräuchen.
Sie rechnen nach dem Mond, sie opfern ihre ersten
Früchte, sie haben eine Art des Festes der Laubhütten,
es wird gesagt, daß sie ihren Altar auf zwölf Steine
setzen, ihre Trauer dauert ein Jahr, die Gewohnheiten
der Weiber, neben vielen anderen, so mir nun nicht
beifällt.*
Türkische Eisenbahnbauten usw. — v. Hahn: Ein Versuch der Erforschung des Klimas im Kaukasus. 191
Türkische Eisenbahnbauten und -Proiekte.
Unter dem alten Regime in der Türkei war es ziem-
lich umständlich und zeitraubend, Bahnbaukonzessionen
zu erhalten. Jetzt hat sich das geändert, und es hat den
Anschein, als wenn die Türkei auf dem Gebiet des Bahn-
baues mit Windeseile in kurzer Zeit alles das nachholen
will, was in langen Jahren versäumt worden ist. Eine
Übersicht über die Bauten und Pläne gibt ein neuerer
Bericht der österreichisch-ungarischen Handelskammer zu
Konstantinopel.
Bewilligt ist von Parlament und Regierung die 45 km
lange Linie Baba-Eski—Kirk-Kilise (östlich von
Adrianopel), die von den Orientalischen Eisenbahnen ge-
baut werden wird. Sie durchzieht ein an Getreide und
Wein reiches Gebiet. Geplant ist die Fortführung bis
Derlet-Aghatsch an der bulgarischen Grenze (35 km);
diese Linie hat mehr militärische Bedeutung.
Für Makedonien sind zwei Projekte aufgestellt,
die eine Verbindung der bulgarischen Bahnen mit den
türkischen bezwecken. Das eine betrifft eine Linie von
Demirhisar an der „Verbindungsbahn“ nach Djuma-
i-Bala an der bulgarischen Grenze (140 km), das zweite
willKüstendil in Bulgarien mit Kumanovo (nordöst-
lich von Üsküb) verbinden: 78km. Die erste Linie ginge
von Süden nach Norden durch eine ziemlich arme Gegend,
falls sie aber durch den Bau der 32km langen Strecke
Drama—Kavalla ergänzt würde, so würde sie als kürzeste
Verbindung Bulgariens mit dem Ägäischen Meer große
kommerzielle und auch politische Bedeutung gewinnen.
Dann besteht ein Projekt, das Monastier mit Janina
(172km) über Resna, Goritza und Liaskorik verbinden
will, aber wohl nur ausführbar ist, wenn die Regierung
eine Garantie gewährt; denn der Bau wäre schwierig,
und bei dem niedrigen Stande der Kultur in jenem Gebirge
wäre zunächst wohl keine Aussicht auf Erträge vor-
handen. Das Projekt einer Adriabahn bezweckt eine
Linie von Nisch über Prokolje und Kurschumlie an die
serbische Grenze bei Mirdar, dann über Pristina und
Diakova durch das Drintal nach Skutari und S. Giovanni
di Medua. Der Bau wäre teuer, das Gebiet ist zum Teil
sehr arm, der Hafen von Medua ist schlecht, und der
Weg zum Meere wäre um nur 20km kürzer als über
Ein Versuch der Erforschung des Klimas im Kaukasus.
Mitgeteilt von C. v. Hahn, Tiflis.
Der Gehilfe des Direktors des Tifliser Observatoriums,
J. W. Figurowsky, geht an die Herausgabe eines zwei-
bändigen Werkes über das Klima im Kaukasus, nachdem er
in den letzten Jahren mehrere einschlägige Artikel veröffent-
licht hat, wie z. B. Allgemeine Übersicht über das Klima
des Kaukasus, Klassifikation der kaukasischen Klimäte usw.
Jetzt teilt er einen vorläufigen Bericht über seine Studien
mit, aus welchem hervorgeht, daß der Kaukasus für die
Klimatologie in vielen Beziehungen ein großes Interesse dar-
stellt. Auf verhältnismäßig kleinem Raum treffen wir hier
eine merkwürdige Mannigfaltigkeit der naturgeschichtlichen
Bedingungen: der Topographie, der Bodenarten, der Pflanzen-
welt in ihrer Abhängigkeit von zwei Meeren und dem Konti-
nent. Das Vorhandensein zahlreicher klimatischer Typen
und Variationen läßt keinen Zweifel darüber, daß zwischen
den lokalen physikogeographischen Bedingungen und den
verschiedenen Klimaten ein bestimmter, wissenschaftlich noch
wenig erforschter Zusammenhang besteht. In den einen Ge-
bieten, nämlich in den gut geschützten Tälern und Ufer-
strecken von Transkaukasien, wird dieser Zusammenhang
nicht gestört durch die Einwirkungen der allgemeinen äußer-
lichen und zufälligen Bewegungen der Atmosphäre, während
auf anderen Gebieten, z. B. im nördlichen Kaukasus, außer
lokalen Einflüssen fremde Luftströmungen auf das Klima ein-
Salonik. Die Bedeutung dieser Bahn würde auf politischem
Gebiet liegen. Wirtschaftlich würde sie der Linie Salonik
—-Mitrovitza Abbruch tun, indem sie in dem oberen Gebiet
einen Teil der Warenbewegung an sich ziehen und zum
Adriatischen Meere leiten würde. Vorläufig ist die Trasse
noch nicht studiert.
In Kleinasien ist der Eisenbahngesellschaft Smyrna
—Kassaba die Konzession zum Bau der etwa 190 km
langen Linie Panderma (am Marmarameer) südlich
über Balikesri nach Soma erteilt worden, und zwar hat
die Regierung eine Zinsgarantie für 10 Jahre über-
nommen. Das durchzogene Gebiet ist sehr fruchtbar
und enthält auch Minen. Die Linie Samsum— Siwas,
die belgische Unternehmer bauen wollen, wird durch eine
Kommission der Regierung untersucht. Sie soll, 350 km,
mit ihren Abzweigungen 430 km lang, über Amasia und
Tokat führen. Dabei ist eine Steigung von 1300 m zu
überwinden, so daß auf hohe Baukosten zu rechnen ist.
Aber die Bahn dürfte sich trotzdem bezahlt machen, weil
die: Gegend reich und der Verkehr bedeutend ist. Tabak,
Getreide, Mehl, Obst, Trauben, Gewebe, Holz (bei Tokat
auch Kupfer) bilden die wichtigsten Ausfuhrgegenstände,
die jetzt durch Kamele zum Hafen Samsun befördert
werden müssen. Samsun zählt 14000 Einwohner,
Amasia 30000, Siwas 40000.
In Syrien ist die Linie Tripolis—Homs, die 102km
lang sein wird, der Regie generale de chemins de fer en
Orient bewilligt worden, die sie ohne Garantie bauen
wird. Homs liegt an der Bahn Damaskus— Aleppo, Tripolis
hat 18000 Einwohner und eine ungünstige Reede, aber
sein Handel (mit Geweben, Wein, Orangen, Schwämmen
usw.) nimmt zu.
Ein Amerikaner namens Chester will eine Bahn Wan
—Diarbekr—Mosulmit Abzweigungen nach dem Meere
bauen, und zwar unter Verzicht auf Regierungsgarantie,
doch gegen das ausschließliche Minenrecht auf den Land-
streifen je 20km rechts und links der Bahn. Chester
hat die Konzession bedingt erhalten, d. h. es ist ihm bis
Mitte 1911 zwecks Untersuchung der Mineralvorkommen
eine Frist gewährt worden, nach deren Ablauf er sich
erklären soll, ob er die Bahn bauen will oder nicht.
wirken und dessen Charakter und Eigentümlichkeiten be-
stimmen.
Diese Abhängigkeit der Klimate von äußeren Umständen
gibt uns die Möglichkeit einer Erklärung der Grundfragen
der Klimatologie, wie z. B. über den Ursprung der Klimate,
über die das Klima bildenden Hauptfaktoren, über den Oha-
rakter und die Verbreitung der Klimate, über den Einfluß
äußerer Umstände und die wechselseitigen Beziehungen der
Klimate zueinander.
Das Werk Figurowskys zerfällt in drei Teile. Der erste
handelt von der Temperatur der Luft, von dem Einfluß der
Meere, Wälder, Steppen, der Höhe über dem Meer, der Breite
und Länge. Für die drei letzteren wichtigen Faktoren hat
Figurowsky Temperaturkoeffizienten und Gradienten fest-
gestellt, welche einen Ausschluß dieser Faktoren ermöglichen.
Die neuberechneten Zahlen der Verminderung der Temperatur
mit der Zunahme der Höhe übertreffen dank dem reichen
zu Gebote stehenden Material und der Vervollkommnung der
Methode die Aufstellungen des Akademikers G. J. Wild aus
den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts an Genauigkeit.
Die Erforschung der Temperaturschwankungen zeigt,
daß der Einfluß äußerlicher, zufälliger Strömungen auf die
Temperatur sich am auffallendsten geltend macht an der
Nordgrenze von Ciskaukasien. Mit Annäherung an die Berge
und in diesen verschwindet dieser Einfluß mehr und mehr;
sehr gering ist er in den am Meer liegenden Gebieten und
in Transkaukasien mit Ausnahme der armenischen Hochebene,
v. Hahn: Ein Versuch der Erforschung des Klimas im Kaukasus.
wo die Schwankungen sich als ganz ungewöhnliche erweisen.
Der zuletzt genannte Umstand erklärt sich nicht durch den
Einfluß äußerlicher Faktoren, sondern durch den streng aus-
geprägten kontinentalen Charakter des Hochplateaus.
Figurowsky hat fast mit Gewißheit festgestellt, daß die
Temperatur der Luft auf jedem Gebiete, abgesehen von den
allgemeinen Faktoren, abhängt von der Intensität des Wärme-
umsatzes in den oberen Schichten der Erdrinde. In Wasser-
bassins hängt der tägliche und jährliche Wärmeumsatz haupt-
sächlich ab von der Tiefe, der Dichtigkeit, dem Salzgehalt
des Wassers und von den Meeres- und Luftströmungen. Des-
wegen finden wir die höchste mittlere Jahrestemperatur und
die geringste mittlere Jahresamplitude in jenen am Ufer des
Meeres liegenden Gebieten des Kaukasus, wo die größten
Tiefen herrschen. Die weniger tiefen Bassins erwärmen sich
ebenso rasch, wie sie sich abkühlen, und üben darum wenig
Einfluß aus auf das umliegende Land. Auf dem Festlande
unterscheiden sich die Waldgebiete durch den Wärmeumsatz
und Wärmeaustausch mit der Luft von den Steppengebieten;
in den Steppen haben die Bestandteile und die Konfiguration
des Bodens einen ungeheuren Einfluß auf den Wärmeumsatz
und Wärmeaustausch mit der Luft. Infolgedessen unter-
scheiden sich die jährlichen Temperaturen und Amplituden
der Waldgebiete von denen der Steppen, und in den Steppen
läßt sich wiederum ein großer Unterschied bemerken zwischen
den Schwarzerde- und Sandsteppen. In den Sandsteppen des
Kaukasus übersteigt die mittlere Jahresamplitude gewöhnlich
28° und geht bis auf 32°, während sie in den Schwarzerde-
steppen zwischen 26 und 28° schwankt, in den Waldgebieten
des Festlands zwischen 22 bis 24°; in den am Meer gelegenen
fällt sie auf 22 bis 18° und tiefer. Amplituden von 24 bis
26° sind der Übergangszone vom Wald zur Steppe und den
Alpenwiesen eigentümlich. Auf der Karte der Isoamplituden
sind die klimatischen Waldgebiete durch eine ziemlich breite
Übergangszone von dem Steppengebiet getrennt. Die auf
den dem Werke beigefügten Isothermenkarten angezeigte
Verteilung der Temperaturen auf Januar und Juli bestätigt
die Abhängigkeit der Temperatur von dem Charakter und
der Konfiguration der Erdoberfläche. Diese Abhängigkeit
zeigt sich auch in der Form der Isothermen, welche sich in
gesetzmäßiger Folge aneinanderreihen. In den Steppen
wachsen im Sommer die Temperaturen vom Rande zum Zen-
trum, im Winter dagegen nehmen sie ab; auf dem Meere
treffen wir das gerade Gegenteil. Die Wälder aber gleichen
in dieser Beziehung, wie in vielen anderen, mehr dem Meere.
Das jetzige Klima im Kaukasus ist allmählich entstanden.
Nach der Tertiärepoche, in welcher sich das kaukasische
Gebirge gebildet hat, sind hier in der Verteilung der Meere
und des Festlandes, der Wälder und Steppen bedeutende Ver-
änderungen vor sich gegangen. Der Einfluß der geologischen
Veränderungen hat sich am wenigsten an dem gut beschützten
kaukasischen Südufer des Schwarzen Meeres geltend gemacht, ,
wo sich aller Wahrscheinlichkeit nach das Klima vom Ende
des Tertiärs bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Ein
Vergleich mit diesem Winkel des Kaukasus gibt ein sehr
interessantes Bild der aufeinanderfolgenden Veränderungen
im Klima der einzelnen Rayons. Da, wo sich die Wälder
erhalten haben, hat sich der Einfluß der neuen Faktoren auf
die Vermehrung des Wärmeumsatzes und die Vergrößerung
der Temperaturschwankungen als verhältnismäßig schwach
erwiesen. In den anderen Gebieten dagegen ist die Inten-
sität des Wärmeumsatzes und der Amplitude gewachsen. Die
größten Abweichungen fanden in den Steppengebieten statt,
hierauf in der Waldsteppenzone und auf den Alpenwiesen.
Der zweite Teil des Werkes behandelt die Luftströmungen
im Kaukasus. Für die Klimatologie des Landes war es von
größter Bedeutung, die hauptsächlichsten Richtungen der
äußerlichen Strömungen, das Gebiet ihrer Verbreitung und
den allgemeinen Charakter derselben festzustellen. Die For-
schung ergab, daß durch die größte Regelmäßigkeit die
Winterströmungen dessibirischen Antizyklons sich auszeichnen,
deren Weg durch ein System von Isobaren im Kaukasus und
durch Linien der Isanomalen bezeichnet ist. In betreff dieser
Strömungen und der zufälligen Kältewellen gelang es fest-
zustellen, daß sie nicht von Norden über den kaukasischen
Hauptkamm dringen, sondern an ihm abprallen und sich in
zwei Zweige teilen, deren einer nach Nordwesten, nach No-
worossnisk und weiter abschweift, der andere im Terek-
gebiet am Fuße des Gebirges zum Kaspischen Meer vordringt.
Die neuberechneten Koeffizienten der Verminderung der
Temperatur mit der Höhe machten es möglich, bei der Zeich-
nung der Karten der Isobaren die Beobachtungen hoch-
gelegener Stationen zu benutzen, was den Karten mehr Präzi-
sion im Ganzen und im Detail gab, als es die früheren hatten.
Zum ersten Male tritt auf den Karten deutlich der stationäre
Winterantizyklon auf dem armenischen Hochplateau auf, wie
das bedeutende Sommerminimum auf ihm. Dagegen erwies
sich, daß auf dem Hauptkamm im Winter kein antizyklonales
Gebiet existiert, eine geringe Zunahme des Luftdrucks ist
jedoch im Sommer auf dem Hauptkamm zu bemerken. Diese
Eigentümlichkeiten in der Verteilung des Luftdrucks sind
von größtem Wert, um die Entstehung der meisten lokalen
Winde in T'ranskaukasien zu erklären. Schon lange war es
bekannt, daß aus dem Gebiet der stationären Winterzyklone
über dem Atlantischen Ozean und dem Mittelmeer hohe Luft-
strömungen hinziehen, welche im Osten bis Turkestan reichen.
Die neuesten Beobachtungen (Hildebrandt Hildebrandsohn
und Bicello) haben das Vorhandensein auch noch anderer
oberer Luftströmungen allgemeinen und lokalen Charakters
dargetan. Die Vergleichung einiger über den Kaukasus hin-
gehenden oberen Strömungen mit der Höhe der Jereo und
Gebirgsketten gab Figurowsky die Möglichkeit, den Zusammen-
hang vieler lokaler Winde mit den oberen Strömungen fest-
zustellen. Besonders deutlich zeigt sich dieser Zusammen-
hang in den Wintermonsunen am Ufer des Schwarzen Meeres
und in den Föhnen. Die lokalen Monsune und Föhne hat
Figurowsky gründlich erforscht und ihre Typen und ihre
Verbreitung festgestellt. Ebenso erforscht sind die Brisen
und die Winde der Gebirgstäler, die in vielen Gebieten großen
Einfluß ausüben auf die Übertragung der Wärme und der
Wasserdämpfe.
Das dritte Kapitel des Buches beschäftigt sich mit dem
Feuchtigkeitsgehalt der Luft und der Menge der Niederschläge.
Die Forschungen Brückners und Fritsches über den Kreis-
lauf des Wassers in der Natur haben gezeigt, daß die
Schätzung der Wassermengen, die von den Meeren auf das
Festland kommen, sehr übertrieben ist. Daher erwies sich
die allgemein verbreitete Meinung, deren Verfechter unter
anderen auch Supan ist, daß nämlich die Hauptquelle aller
Feuchtigkeit auf dem Festland das Meer sei, als nicht be-
gründet. Figurowsky hat sich bei seiner Erforschung der
Luftfeuchtigkeit und der Niederschläge im Kaukasus auf
einen ganz anderen Standpunkt gestellt und war bestrebt,
die Abhängigkeit der Luftfeuchtigkeit und der Niederschläge
auf dem Festland von dem Kreislauf des Wassers im Boden
und dem Feuchtigkeitsaustausch zwischen der Luft und der
ihr unterbreiteten Erdoberfläche klarzulegen.
Die Beobachtungen der „Versuchsstätten für Waldanlagen“
über die Feuchtigkeit des Bodens ergaben, daß die Wald-
gebiete hinsichtlich der Festhaltung und des jährlichen Um-
satzes der Feuchtigkeit sich von den Steppen sehr scharf
unterscheiden ; in beiden Beziehungen spielen wieder in den
Steppen eine große Rolle die Bestandteile und die Konfi-
guration des Bodens; besser halten die Feuchtigkeit die
Schwarzerden, dann der Löß und der Ton, an letzter Stelle
stehen die durchlässigen, sandigen Bodenarten. Diese brauchen
die Feuchtigkeit sehr rasch auf, indem sie sie entweder so-
gleich zum Verdunsten bringen oder in die tieferen Schichten
durchlassen, wo sie für den Austausch mit der Luft verloren
gehen. Im Gegensatz dazu erhält die Luft der Waldgebiete
am reichlichsten und regelmäßigsten Feuchtigkeitszufuhr aus
dem Boden. Die Sandsteppen dagegen geben an die Luft
nur ein Minimum von Feuchtigkeit ab. In der Mitte zwischen
Waldgebieten und Sandsteppen stehen die Steppen mit
Schwarzerde, Löß und Ton. Auf Grund langjähriger Beob-
achtungen ergeben sich als Jahresmittel der Niederschläge
im Kaukasus: für die Waldgebiete (gewöhnliche Wälder)
734mm, für Waldsteppen 583mm, für Schwarzerdesteppen
556 mm, für Übergangssteppen (Löß, Ton usw.) 418 mm, für
Saudsteppen im ganzen 273mm. Diese Zahlen ändern sich
mit der höheren oder tieferen Lage wenig. Größere Mengen
von Niederschlägen im Gebirge kann man hauptsächlicb da
beobachten, wo zwischen den Bergketten und der zu ihren
Füßen sich ausbreitenden Ebene ein Unterschied des Bodens
und der Pflanzen besteht.
Die Untersuchung der Skala der jährlichen Niederschläge
im Kaukasus hat das interessante Resultat ergeben, daß der
Eintritt des Maximums der Niederschläge auf dem Festland
von dem Feuchtigkeitsgehalt des Bodens abhängt. Der größte
Feuchtigkeitsvorrat in den oberen Schichten des Bodens wird
im Winter beobachtet, denn mit Zunahme der Erwärmung
der Oberfläche der Erde findet eine mehr oder weniger ener-
gische Verdunstung statt. Im Zusammenhang mit dem
Steigen der Temperatur an der Oberfläche verstärken sich
die vertikalen Luftströme, die die Feuchtigkeit in höhere
Luftschichten tragen, wo die regenbildenden Prozesse vor
sich gehen. Früher als alle anderen verlieren die sandigen
Bodenarten ihre Vorräte an Feuchtigkeit. Im Kaukasus be-
obachtet man das allerfrüheste Maximum der Niederschläge
in den östlichen, längs des Kaspischen Meeres sich ausbreitenden
Steppen 'Transkaukasiens im März, das gleiche sehen wir in
den zentralen Teilen der Sandsteppen von Transkaspien. In
Bücherschau.
193
Gegenden mit Bodenarten, die die Feuchtigkeit besser fest-
halten, besonders in solchen, die mit Vegetation bedeckt
sind, tritt das Maximum erst später, nämlich zu Ende des
Frühlings ein, in den Schwarzerdesteppen von Ciskaukasien
gar erst mit Anfang des Sommers. In den Wäldern von
Mittelrußland, wo die Feuchtigkeit sich fortwährend gut
hält, findet das Maximum bekanntlich noch später statt,
nämlich in den heißesten Monaten Juli und August.
Die Gebirgsketten unterscheiden sich durch die jährliche
Menge der Niederschläge überhaupt nicht von den anliegenden
Ebenen. Das gilt für Ciskaukasien ebenso, wie für Trans-
kaukasien.
Die am Meer gelegenen Striche von Kaukasien unter-
scheiden sich von den Binnenländern hauptsächlich durch die
Menge der jährlichen Niederschläge. Zwischen den einzelnen
Teilen der Küstenstriche herrschen aber große Unterschiede,
die abhängig sind von dem Grade der Bedeckung mit dem
Charakter des Wachstums und der anliegenden Steppen. Im
südlichen Teil des Küstenstrichs am Schwarzen Meer, der noch
mit Urwäldern mit immergrünem Unterholz bedeckt ist, hat
sich der sogenannte ostsubtropische (oder ostasiatische) Typus
der Skala der jährlichen Niederschläge erhalten mit dem
Maximum im Winter und reichlichen Regenmengen das ganze
Jahr hindurch. Im Süden des steppenartigen Küstenstrichs
am Kaspischen Meer (etwa bis Petrowsk) wiederholt sich der
mittelmeersubtropische Charakter der Niederschläge mit dem
regenarmen Sommer. Im nördlichen Teil dieses Küstenstrichs
hat die Verteilung der Niederschläge auf die einzelnen
Monate des Jahrs durchaus kontinentalen Charakter, ebenso
wie in den benachbarten Steppen; der Mittelmeertypus macht
sich auch im Norden des kaukasischen Küstenstrichs am
Schwarzen Meer (in der Nähe von Noworossnisk) geltend,
allerdings noch in der Übergangsform. Diese Form ist vom
höchsten Interesse für die Erklärung der Klimaveränderungen
nach der Tertiärzeit, die sich offenbar durch große Feuchtig-
keit und reichliche Niederschläge ausgezeichnet hat.
Die aufgezeigten Eigentümlichkeiten in der jährlichen
Verteilung und Menge der Niederschläge erweisen sich in
vielen Fällen so charakteristisch, daß man sie einer Einteilung
des Kaukasus in klimatische Gebiete und Zonen zugrunde
legen könnte. Diese Einteilung wird erleichtert durch die
Karte Figurowskys, auf der die Verteilung der Niederschläge
angezeigt und die Punkte mit gleichen Regenmengen
durch Linien verbunden sind (Isohyeten). Die Einteilung
auf dieser Karte auf Grund der Lage der Isohyeten fiel zu-
sammen mit der Einteilung auf der Karte der Isoampli-
tuden, was die Zuverlässigkeit der angenommenen Merkmale
beweist.
Seine Einteilung des Kaukasus in klimatische Gebiete
hat Figurowsky ausschließlich auf Grund klimatischer Daten
aufgestellt und sie verglichen mit der Einteilung des Kaukasus
in botanische (phytogeographische) Gebiete, wie sie Smirnow,
Radde, Medwedjew vorgenommen haben. Die Vergleichung
hat gezeigt, daß die phytogeographischen Gebiete überhaupt
in der gleichen Abhängigkeit stehen von den klimatischen
und daß umgekehrt die klimatischen wieder eng verbunden
sind mit den phytogeographischen.
Den Inhalt des 2. Bandes werden bilden: ‘eine Klassifi-
kation der kaukasischen Klimate, eine eingehende und allseitige
Beschreibung jedes Klimas, ihrer Lage, der gegenwärtigen
und vergangenen Bedingungen für die Eigentümlichkeit der
Klimate, Vergleichung mit den Klimaten anderer Länder,
Charakteristik des Klimas einzelner Orte, z. B. der Städte,
der Bäder usw.
Bücherschau.
Davis Trietsch, Levante-Handbuch. Eine Übersicht über
die wirtschaftlichen Verhältnisse der Europäischen und
Asiatischen Türkei, der christlichen Balkanstaaten, Agyp-
tens und Tripolitaniens. 2. Aufl. 4°. 244 Spalten mit
Karten. Berlin, Gea-Verlag, o. J. 4 M.
Davis Trietsch, Handbuch über die wirtschaftlichen
Verhältnisse Marokkos und Persiens sowie ihrer
Nachbargebiete: Algerien — Tunesien — Spanisch-Nord-
afrika — Afghanistan — Beludschistan. 4°. 174 Spalten
mit 3 Karten. Berlin, Gea-Verlag, o. J. 3 f.
Otto Kessler, Serbien. Wirtschaftliche Verhältnisse und
deren Entwickelung. Unter Berücksichtigung der deutschen
Interessen. 4°. 78 Spalten mit 3 Karten. Berlin, Gea-
Verlag, o. J. 2 M.
Diese drei Hefte mögen zusammen angezeigt werden, da
ihr Charakter der gleiche ist, und zumal die an zweiter und
dritter Stelle genannten Hefte eine Ergänzung des ersten
sind. Dieses erste, das „Levante-Handbuch“, ist in seiner
ersten Auflage vor Jahresfrist hier anerkennend besprochen
worden. Die zweite Auflage gleicht in der Anlage und im
Inhalt der ersten, zeigt indessen viele Nachträge und An-
derungen auf Grund neuerer Nachrichten. Derselbe Verfasser
holt dann in einem anderen Heft Marokko und Persien mit
ihren Nachbargebieten nach, auch hier unter Berücksichtigung
alles dessen, was den Kaufmann, Industriellen und Politiker,
vornehmlich den deutschen, interessieren kann. Die Marokko-
Bibliographie, Spalte 79 bis 83, ist ziemlich reichhaltig, doch
selbst mit Bezug auf die selbständigen Werke nicht voll-
ständig. So fehlen die wichtigen Bücher von de Foucauld,
Doutt@ und Harris. Die gleiche Rubrik über Persien und,
seine Nachbarn hat kaum Bedeutung. Serbien war schon
von Trietsch im „Levante-Handbuch“ kurz behandelt worden.
Eine nähere dankenswerte Darstellung von diesem Lande,
auf das die Reichsdeutschen nachdrücklich aufmerksam ge-
macht werden, hat nun Kessler geliefert. Dieses Heft hat
auch mehr detaillierte Karten, während die Kärtchen der
beiden anderen Hefte nur ganz bescheiden sind.
Emil Carthaus, Die klimatischen Verhältnisse der
geologischen Vorzeit vom Präkambrium an bis
zur Jetztzeit und ihr Einfluß auf die Entwickelung der
Haupttypen des Tier- und Pflanzenreiches. V u. 296 8.
Berlin 1910, Friedländer u. Sohn.
Die Grundanschauungen des Verfassers basieren auf der
Kant-Laplaceschen Welt- oder Eisbildungstheorie. Er kann
nicht anders denken, als daß in der organischen Welt —
ohne Eingreifen des Menschen, wie bei der Domestikation —
die Sippen und Arten nur notgedrungen oder auf Anregungen
hin, die sich vorher noch nicht geltend gemacht haben, wesent-
liche Veränderungen in ihrer Lebensweise und ihrem Organis-
mus eingehen. An ein Streben nach Vollkommenheit in dem
Sinne, wie dieser Ausdruck von verschiedenen Vertretern der
Naturwissenschaft und Naturphilosophie gebraucht ist, ver-
mag Carthaus nicht recht zu glauben, doch ist er wiederum
weit davon entfernt, der Konkurrenz ums Dasein ihren ent-
schieden zur Vervollkommnung führenden Einfluß abzu-
sprechen. Es ist eben schwer, über jenes Streben nach Voll-
kommenheit, das der Lebewelt innewohnen soll, etwas Sicheres
zu sagen.
Ein Referat über das Buch oder seinen Inhalt zu geben,
ist kaum möglich, da der Text ununterbrochen ohne jede
Gliederung fortläuft und an sehr vielen Stellen mit den
wörtlichen Anführungen anderer Gelehrter durchsetzt ist.
Wir haben es mit einer Aneinanderreihung einer großen Reihe
von Tatsachen und Beobachtungen zu tun, welche der Ver-
fasser auf langjährigen Reisen in der tropischen, gemäßigten
wie subtropischen Zone in der Natur wie in Büchern ausführte;
Verfasser sucht darzutun, daß Flora wie Fauna der einzelnen
geologischen Perioden sich nur so entwickeln konnten, wie es
tatsächlich der Fall ist, was wohl auch auf den geraumen
Zeitraum zurückzuführen ist, vor dem das Buch eigentlich
konzipiert wurde; hatte Carthaus doch bereits vor 17 Jahren eine
schriftliche Zusammenstellung der in diesem Buche ausführ-
licher entwickelten Gedanken übersandt! Hinzu kommt der
Umstand, daß der Text im Ausland niedergeschrieben wurde,
fern von der wissenschaftlichen Welt und ihren Bibliotheken.
Immerhin sollte jedes Buch eine deutliche Einteilung und
Gruppierung des Stoffes zeigen und es nicht dem Leser über-
lassen, sich eine solche notdürftig zu konstruieren.
E. Roth, Halle a. 8.
Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islami-
schen Orients. Herausgegeben von C. H. Becker. Mit
Unterstützung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stif-
tung, Bd. 1, Heft 1. Straßburg 1910, Karl J. Trübner.
Hamburg, 0. Boysen.
Weltliche Priester benutzen die Religion als Deckmantel
ihrer egoistischen Pläne, der Menge aber reden sie vor, sie
sei etwas besonders Erhabenes, und diese glaubt meistens
ihren Worten. Die Vertreter der Ethnographie haben lange
Zeit auf dem Standpunkt der Menge gestanden. Vor einiger
Zeit hat sich aber eine neue Richtung gebildet, und sie ist
in der kurzen Zeit ihres Bestehens so gut gediehen, daß, wer
beute die Bibel anders bewerten würde wie etwa den Herodot
oder Strabo, nicht mehr auf wissenschaftlichem Niveau stünde.
In der Orientalistik tritt jetzt derselbe Umschwung ein, wie
194
Kleine Nachrichten.
die neue Zeitschrift „Der Islam“ beweist. Sie wird mit einer
sehr gehaltvollen Arbeit ihres Herausgebers eingeleitet, durch
die die theologische Richtung entthront und an ihre Stelle
Politik und Wirtschaft gesetzt, ferner die arabische oder
islamische Zivilisation auf ihre wahre Grundlage zurück-
geführt wird, nämlich auf die der Byzantiner, Perser, Griechen,
die durch die Araber zwar einen Einschlag erhielt und weiter-
geführt wurde, aber doch maßgebend blieb. Letzteres wird
ausführlicher von Ernst Herzfeld in einer Arbeit „Die Genesis
der islamischen Kunst und das Mshatta-Problem“ nachgewiesen:
Der große Tempel, den Abd al-malik ibn Marwan in Jerusalem
bauen ließ, lehnte sich an alte Typen an und adaptierte sie
den neuen Verhältnissen; ein Mihräb, den Sarre und Herz-
feld in Baghdad gefunden haben, konnte kaum als Erzeugnis
islamischer Kunst erkannt werden ; die Ornamentik der Ibn-
Tülün-Moschee in Kairo ist in Ägypten bodenständig und
lebt als etwas Eingeborenes auch in den späteren islamischen
Denkmälern Agyptens fort. Ich möchte mir aber zu der
Herzfeldschen Arbeit eine Bemerkung erlauben: sie gebraucht
den Begriff Wirtschaft in einem Sinne, der von dem her-
gebrachten abweicht. Ihr Verfasser sagt, daß bei den Städte-
gründungen des Amru und des Ahmad ibn Tülün Zeit und
Arbeit gespart werden sollte, und nennt dies ein wirtschaft-
liches Motiv. Ein solches läge vor, wenn die Ersparnis aus
Geldmangel notwendig gewesen wäre, aber mit diesem hatte
man nicht zu kämpfen (8.60). Ferner rechnet er das Ar-
beiten heimischer Arbeiter mit fremdem Material und das
importierter Arbeiter mit lokalem Material zu den wirt-
schaftlichen Motiven. Natürlich wird durch dieses Bedenken
meinerseits der Wert der Arbeit in keiner Weise beeinträchtigt,
ich habe es nur vorgebracht, weil ich die neu anbrechende
Ära der Orientalistik vor Verwirrung der Begriffe schützen
möchte. Welch Unheil durch diese angerichtet werden
kann, weiß niemand besser als der Ethnograph, dem die
falschen Begriffe der Philologen und Theologen jahrzehnte-
lang jeden Fortschritt unmöglich gemacht haben. Denselben
Geist wie die Herzfeldsche Arbeit atmet die kürzere von
Georg Jacob, der nachweist, daß die islamische Kultur auf
den Gebieten der Miniatur, des Teppichs und der Fayence
von den Türken beeinflußt ist. Martin Hartmann behandelt
die Frage, wie die wirtschaftlichen und kulturellen Ver-
hältnisse der islamischen Länder im deutschnationalen Inter-
esse gehoben werden können, zwei kürzere Beiträge stammen
von Ignaz Goldziher und Enno Littmann, und dann folgt eine
höchst interessante Mitteilung aus der Feder Beckers über
das Wayfsystem (fromme Stiftungen) in Nordsyrien zur Zeit
der Mameluckenherrschaft, durch das unter dem Deckmantel
der Frömmigkeit das Volk ausgesogen und zugrunde gerichtet
wurde. Becker stützt sich auf eine Inschriftensammlung
Sobernheims. Zwei kleinere Mitteilungen und eine Biblio-
graphie beenden das Heft.
Die neue Zeitschrift ist für den Ethnographen in doppelter
Beziehung wichtig. Erstens entzieht sich ein neuer, umfang-
reicher Wissenszweig der theologischen und philologischen
Phrase und wird damit zum Bundesgenossen der neuen
Völkerkunde, zweitens lernen wir endlich das wirkliche
Leben weiter Landkomplexe kennen, über das wir bisher
mit Redensarten abgespeist wurden; denn das Leben der
Völker wurzelt nicht in theologischen Dogmen und nicht in
philologischen Finessen, sondern in materiellen Dingen.
Zum Schluß möchte ich mir die ganz unverbindliche
Frage erlauben, ob es sich nicht empfiehlt, den Begriff der
islamischen Kultur überhaupt aus der Wissenschaft auszu-
scheiden. Denn er enthält den Gedanken, daß die Religion, die
Mohammed gestiftet hat, bestimmenden Einfluß auf die Ent-
wickelung des Orients gehabt habe. Das war doch aber
nicht der Fall, wie beispielsweise aus dem Wagfsystem aufs
deutlichste hervorgeht: die Religion war der Vorwand, hinter
dem sich die wahre Absicht, das persönliche oder Familien-
interesse verbarg. Die Verhältnisse lagen dort genau so wie
bei uns, und wie man bei uns zu den wunderlichsten Schlüssen
kommen würde, wenn man die historische Entwickelung aus
den überlieferten Lehren Jesu von Nazareth herleitet, so
erweckt man mit dem Begriff „Islamische Kultur“ leicht
Vorstellungen, die mit dem „christlich-germanischen Familien-
sinn“ verwandt sind. Goldstein.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Betrachtungen über die Tiergeographie der Bey-
chellen von H. Kolbe finden sich in den Mitt. aus d. zool.
Museum in Berlin, 5. Bd., 1910. Die Fauna dieser Inseln
schließt sich größtenteils an dasindische Gebiet an, besonders
an das Vorderindiens, Ceylons wie des Malaiischen Archipels,
teilweise viel deutlicher als an Madagaskar und die Maska-
renen; zu dem afrikanischen Gebiete finden wir nur geringe
Beziehungen. Das Gebiet der Seychellen muß in früheren
Perioden wohl größer gewesen sein. Wichtig ist der En-
demismus der verhältnismäßig vielen spezialisierten Seychellen-
formen. Die Hypothese einer kontinentalen bzw. peninsularen
Verbindung dieser Inselgruppe mit Ceylon und dem südlichen
Teile Vorderindiens kongruiert gut mit den von Inselreihen
und Inselgruppen oder einzelnen Inseln gekrönten submarinen
Erhebungen des Meeresgrundes zwischen den Seychellen und
den südlich von diesen gelegenen Agalegainseln nebst den
Garayoinseln einerseits und den Tschagosinseln, den Maldiven,
Ceylon und Vorderindien andererseits. Die Inseln der Bey-
chellen sind sämtlich nur durch Flachseen voneinander ge-
trennt und erscheinen wie die Berggipfel eines submarinen
Gebirges, welches einer niedergesunkenen größeren Insel auf-
liegt; sie erheben sich auf einer gemeinsamen submarinen
Bank in 20 bis 80m Tiefe. Die Seychellen sind ganz von
Granit und Gneis aufgebaut und ragen bis zu 1000 m empor.
Sie gleichen in ihrer geologischen Bildung Madagaskar, das
in seinem ganzen zentralen Teile der Länge nach von einer
gewaltigen, hochragenden Granitmasse durchzogen wird.
Faunistisch kommen neben den indischen Elementen dann
noch Beziehungen zu Australien, Neuseeland, Südamerika
und Madagaskar in Betracht, mit welcher Insel wohl einmal
eine territoriale Gemeinschaft bestand. Die Periode dieses geo-
logischen Zusammenhanges mag aber viel weiter zurück-
liegen als die Periode ihrer peninsularen Verbindung mit
Indien. Australische Elemente, namentlich solche von Neu-
seeland, Polynesien, lassen sich mehrfach auf den Seychellen
feststellen. Wenn auch sicher ein Zusammenhang mit Mada-
gaskar festzustellen ist, so befremdet doch die Armut der
Fauna der Seychellen gegenüber der reichen Insektenfauna
jener großen Insel. Die Vegetation ist auf den Seychellen
meist sehr üppig, eine Folge der gleichmäßigen Wärme, der
großen Feuchtigkeit und des guten Bodens. Das Klima ist
als Seeklima trotz der Lage nahe dem Äquator sehr erträg-
lich; die mittlere Jahrestemperatur beträgt 27 bis 29°C, die
jährliche Schwankung umfaßt nur 10 bis 12°C, die tägliche
überschreitet nicht 6 bis 7°. Im Winter fällt kein oder nur
wenig Regen, aber im waldigen Gebirge ist die Regenmenge
ziemlich reichlich. Die zahlreichen Flüsse trocknen niemals
aus, doch dürften in früheren Zeiten die Wälder in noch
stärkerem Maße die Insel bedeckt haben. Heute treffen wir
vielfach auf Graslandschaften und Gebüsch neben den Kultur-
pflanzungen, die Kakao, Kaffee, Vanille, Bananen, Zitronen,
Zimt usw. liefern.
— Menschenopfer im Altertum. Bei keinem an-
deren Volke des klassischen Altertums sind nach E. Mader
(Diss. von Freiburg i. Schw. 1909) die Menschenopfer durch
Inschriften und anderweitige Quellen so gut dokumentiert
wie bei den Ägyptern. Das Verhältnis, in welchem Israel im
Verlaufe seiner Geschichte zu Ägypten stand, sowie besonders
mehrere Bibelstellen legen es nahe, den Ursprung des hebräi-
schen Molochdienstes in Ägypten zu suchen. Wenn auch die
assyrisch-babylonischen Keilinschriften und Reliefs, welche
auf Menschenopfer hinweisen, nicht sehr zahlreich sind,
so genügen die bisher bekannten doch vollkommen, um
die Existenz der Menschenopfer bei den Völkern des Zwei-
stromlandes sicherzustellen. Da die hebräischen Kinderopfer,
soweit wir Nachricht darüber haben, zu keiner Zeit so sehr
im Schwange waren als in der assyrischen Periode und eine
Herübernahme von Kanaan in dieser Zeit ausgeschlossen
scheint, so wird dieses Wiederaufleben des Molochdienstes
auf Rechnung assyrischen Einflusses zu setzen sein. Es ist
kein einziger Beweis dafür vorhanden, daß die Kanaanäer
ihre Menschenopfer dem Melkart gebracht haben, vielmehr
ist es meistens Kronos, dem diese Opfer galten. Weder die
Identität des Melkart von Tyrus mit dem Baal von Byblos,
noch die Entsprechung bzw. Gleichstellung beider mit dem
Menschenopfer der Hebräer ist als wahrscheinlich zu be-
trachten. Daß es ein Feuer- oder Sonnengott sei, läßt sich
weder aus seinem Namen, noch aus der Erscheinungsform
und seinen Charakterzügen folgern. Die Behauptung, daß
der Molochkult alter Jahvekult und Jahve = Moloch sei, stimmt
nicht. Die richtige Auslegung von Ezechiel 20, 25 ff. sowie
Kleine Nachrichten. 195
des Gebotes der Erstgeburt und des Kriegsbannes zeigt, daß
es ungerecht sei, die Menschenopfer als legitimen Jahvekult
auszugeben. Im Gegenteil beweisen die scharfen Pentateuch-
gesetze sowie die energische Stellung der Propheten gegenüber
dem Molochdienst, daß der orthodoxe Jahvismus die Menschen-
opfer zu allen Zeiten perhorreszierte und als heidnischen
Götzendienst ansah. Keines der biblisch bezeugten Fakta von
Menschenopfern ist derart, daß es einen Beweis für die Ver-
einbarkeit dieser Opfer mit dem echten Jahvedienst abgeben
könnte. Die definitive Abschaffung der Menschenopfer in
Israel kann nicht auf den bloßen Einfluß der persischen
Zivilisation zurückgeführt werden, sondern hat ihren tiefsten
Grund in der scharfen Polemik und in,dem unerbittlichen
Kampf, welchen die geistesmächtigen Propheten gegen den
Greuel eröffneten, und besonders in der speziellen Führung,
welche die göttliche Providenz dem ausgewählten Volke zu-
teil werden ließ. Der reine Jahvedienst der Propheten ist
sicherlich nicht ein reformierter Molochdienst gewesen, son-
dern stand bereits bei seinem ersten Erwachen in einer ganz
anderen Ideenwelt und zeigte Inhalt wie Formen, die unend-
lich verschieden von jenen sind, welche zur Versöhnung
des Schuldbewußtseins noch blutige Menschenopfer forderten.
— Der Afrikareisende Franz Seiner aus Graz
schiffte sich am 7. September d. J. in Hamburg neuerdings
nach Deutsch-Südwestafrika ein, um die größtenteils
noch unbekannten Landschaften zwischen dem Epukiro, dem
Omuramba Omatako, dem Okawango und der Ostgrenze des
Schutzgebietes geographisch und, soweit dies möglich ist,
wirtschaftlich zu erschließen. Der Reisende wird bei der
Wasserarmut des Gebietes, durch das bekanntlich der Todes-
zug der Herero ging, mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen
und wasserlose Strecken von 200 bis 300 km Länge zu
überwinden haben. Die geplanten Arbeiten werden eine
wichtige Ergänzung zu Seiners wissenschaftlichen Beob-
achtungen während seiner Reisen 1905/07 im Caprivizipfel
und in der britischen Mittelkalahari bilden.
— Im Juli v. J. wurden in einem Tumulus bei Peschawar
einige weitere Reste der Gebeine Buddhas aufgefunden,
die dort der Kuschankaiser Kanischka (im zweiten nach-
christlichen Jahrhundert) in einem prächtigen Tempel
hatte beisetzen lassen (vgl. die Notiz über den Fund Bd. 96,
8.179). Es entstand nun die Frage, wo im Bereiche der
buddhistischen Welt dieser kostbare Rest — es sind nur drei
winzige Knochenstückchen, so groß wie die Glieder des
menschlichen kleinen Fingers — seine neue Ruhestätte
finden sollte. Ein Vorschlag ging dahin, sie unter die Länder
zu verteilen, wo heute der Buddhismus am stärksten ver-
breitet ist, und auch Japan wünschte seinen Anteil zu er-
halten. Viele Hindus aber protestierten energisch dagegen,
sie erklärten es für Vandalismus, den Inhalt des Gefäßes zu
teilen und einen Teil ins Ausland zu schicken. Die Bir-
manen machten geltend, sie hätten auf die Reliquie das
größte Anrecht, denn im goldenen Mandalay herrschte Bud-
dhas Religion in ihrer ganzen Reinheit, da nur wären die
wirklich rechtgläubigen Priester. Die Birmanen haben sie
nun auch bekommen, kürzlich hat sie der indische Vizekönig
in Kalkutta einer Deputation aus Mandalay feierlichst aus-
gehändigt. Dort wird nun zur Aufnahme der Reste eine
Pagode errichtet werden. — Es war übrigens von vornherein
ausgeschlossen, daß die indische Regierung die Reliquie oder
auch nur Teile davon ins Ausland gehen lassen würde. Wo
sie ruhen, da muß natürlich für die ganze buddhistische
Welt ein richtiger Wallfahrtsort entstehen, und daraus er-
wachsen dem Lande nicht nur pekuniäre, sondern auch
politische Vorteile.
— Der Verein „Deutsche Heimat“ in Wien teilt uns mit,
daß er im Attersee einen Pfahlbau habe rekonstruieren
lassen, und daß dieser am 14. August d. J. zur Besichtigung
freigegeben worden sei. Im Attersee wie auch im benach-
barten Mondsee sind Reste von Pfahlbausiedelungen auf-
gefunden worden, die im Gegensatz zu denen der Westalpen
bereits mit dem Ende der Steinzeit aufgegeben worden sind,
also zu den ältesten gehören. Die Ortlichkeit war demnach
für die Errichtung der Rekonstruktion gut geeignet. Sie
liegt bei Kammer im sogenannten Sturmwinkel, in der Nähe
von Eisenbahn- und Schiffsstation. Der Rost, 357 qm groß,
ruht auf 190 Pfählen aus Lärchenholz und trägt fünf Hütten
in natürlicher Größe, denen man genau die Form der beiden
wissenschaftlich festgestellten Typen, des Blockbaues und des
Flechtbaues, gegeben hat. Ein 40 m langer Steg aus Knüppel-
holz verbindet das Dorf mit dem Festlande. In den Hütten
sind einige Modelle von Geräten der Pfahlbaubewohner zu
sehen, so ein Steinbohrapparat. Ferner ist von dem genannten
Verein in dem Orte Kammer ein Museum errichtet worden,
das hauptsächlich Funde aus der Pfahlbauära der jüngeren
Steinzeit enthält.
— Dr. Max Moszkowski aus Berlin hat, wie Bd. 97,
8.275, mitgeteilt wurde, im vorigen Frühjahr eine For-
schungsreise in das Mamberamogebiet (im Norden
des holländischen Teiles von Neuguinea) angetreten, um es
ethnologisch, anthropologisch und auch geographisch zu er-
forschen. Er hat dazu u. a. vom Berliner Museum für
Völkerkunde aus der Baeßler-Stiftung die Mittel erhalten.
Es war dort kurz vorher auch eine holländische Expedition
unter der Leitung von Franssen Herdersch6e tätig gewesen,
in der Absicht, schließlich quer durch die Insel das Schnee-
gebirge von Norden her zu erreichen (vgl. Globus, Bd. 97,
8.33); sie hatte aber vorzeitig umkehren müssen, mit einem
Verlust von etwa 30 Toten und 100 Erkrankten, Opfern der
Beri-Berikrankheit. Moszkowski scheint nun mehr vom Glück
begünstigt zu werden, wie aus einem Briefe hervorgeht, den
er unter dem 26.Juli von der Mamberamomündung an den
Globus gerichtet hat.
Wir entnehmen ihm, daß er in den ersten drei Monaten
seiner Tätigkeit das Gebiet zwischen der Mamberamomündung
und dem Van Rees-Gebirge durchzogen hat. Er hat überall
unter den Papuas in ihren Dörfern gewohnt und ist, obwohl
er ohne jeden militärischen Schutz war, unter diesen Leuten,
die nach ihrem eigenen Eingeständnis Menschenfresser sind,
unbehelligt geblieben. Er ist von ihnen offiziell zu ihrem
Gastfreund ernannt worden, hat an ihren Festen teilnehmen
dürfen und hat so Gelegenheit für eine reiche wissenschaft-
liche Ausbeute gehabt. Er hat bereits acht Kisten mit
500 Nummern Ethnologica und je vier Kisten Zoologica und
Botanica nach Hause geschickt, 150 Photographien, 30 Phono-
gramme und drei Papuasprachen aufgenommen. Speziell
über die religiösen Anschauungen ist viel in Erfahrung ge-
bracht worden.
Auf geographischem Gebiet hat Moszkowski die Namen
sämtlicher Dörfer und Stämme zwischen Van Rees-Gebirge
und Mamberamomündung festgestellt, auch die Namen der
meisten Nebenflüsse. Ferner hat er einen mächtigen Seiten-
arm, den der Mamberamo zur Geelvinkbai sendet, befahren
und aufgenommen. Von diesem Arme hatte man bisher
nichts gewußt, auch nichts von dem Hügelrücken, der ihn
flankiert und ihn von den Flüssen, die in die südliche Geel-
vinkbai münden, scheidet. Damit ist also ein großer weißer
Fleck von der Karte getilgt worden.
Die Moszkowskische Mamberamoexpedition hatte bis zum
Abgang des Briefes noch keinen einzigen Fall von Beri-Beri
zu verzeichnen; das schreibt Moszkowski einer von ihm aus-
gedachten Prophylaxe zu, und er meint sogar, daß nach dieser
seiner Methode ernährte Expeditionen überhaupt gegen Beri-
Beri gefeit seien.
Zum Schluß schreibt der Forscher: „Auch sonst erfreuen
wir uns alle — zwei Europäer und fünf Malaien — des
besten Wohlbefindens. Nunmehr verlege ich mein Haupt-
quartier mit Hilfe eines Dampfers, den mir die holländische
Regierung freundlichst zur Verfügung gestellt hat, ins Van
Rees-Gebirge, und dann beginnt der Marsch nach den Schnee-
bergen.“
— In der Nähe des berühmten erloschenen Geysir von
Waimangu auf Neuseeland haben Ende Juli vulkanische
Ausbrüche begonnen. Die englische Zeitschrift „Nature“
erinnert daran, daß dieser Geysir einige Jahre lang als der
mächtigste galt. Seine Tätigkeit 1903 und 1904 rief auf der
Nordinsel Neuseelands eine derartige Furcht hervor, daß eine
Auckländer Zeitung, die seine Tätigkeit dem großen Anwachsen
des benachbarten Rotomahanasees zuschrieb, den Vorschlag
machte, den See abzulassen, um den heißen Quellen der
Gegend einen freieren Ausfluß zu gewähren. Es wurde aber
nichts unternommen, und die Gefahr wurde dadurch beseitigt,
daß der Seedamm brach. Das Wasser des Rotomahana ergoß
sich in den Rotoruasee, und die Ausbrüche des Waimangu
hörten auf. Es wäre von Interesse zu erfahren, ob die Er-
neuerung der vulkanischen Tätigkeit an der Taraweraspalte
mit jenem Aufhören der Waimanguausbrüche zusammenhängt.
— Zweifel an Deschnews sibirischer Reise von
1648 werden in einem kleinen Aufsatz von F. A. Golder
im Londoner „Geogr. Journ.“ (Juli 1910) geäußert und zu
begründen gesucht. Simeon Deschnew war ein russischer
Kosak, über dessen Reise von der Kolyma zum Anadyr über
die Beringstraße vom Jahre 1648 G. P. Müller 1736 im Archiv
zu Jakutsk Nachrichten vorfand. Waren aber diese Nach-
richten authentisch, so bedeuteten sie, daß nicht erst Bering
1728 den Beweis für die Trennung Asiens von Amerika durch
196 Kleine Nachrichten.
die Umsegelung des Ostkaps erbracht hatte, sondern bereits
80 Jahre vor ihm der lange vergessene Deschnew. Der
russische Archivar N. Oglobin betonte das 1890 von neuem,
und 1898 trug die russische Regierung diesem Umstande
Rechnung, indem sie das bisherige Ostkap, die Ostspitze
Asiens, Deschnew zu Ehren „Kap Deschnew“ benannte. Die
Geographen und Kartographen folgten diesem Beispiel.
Deschnew soll nach Müller mit mehreren Gefährten am
30. Juni 1648 von der Kolyma abgesegelt, am 30. September
auf einem Kap, dem Ostkap, gelandet sein und bald darauf
an der Olutorskmündung Schiffbruch gelitten haben; dann
habe er nach mehrwöchigem Landmarsch den unteren Anadyr
erreicht. Diese Angaben sind bisher als richtig anerkannt
worden, und unter anderem wurde dafür ins Feld geführt, daß das
von Deschnew als zwischen Nord und Nordost sich erstreckend
erwähnte Kap die Richtung des Ostkaps habe, und daß die
ihm gegenüberliegenden Inseln in der Tat, wie Deschnew
weiter erwähnt, von einem Tschuktschenstamme mit durch-
bohrten Lippen bewohnt würden. Es mag hier nur angegeben
werden, was Golder auf Grund einer erheuten Prüfung des
Deschnewschen Originalmanuskriptes und „anderer Doku-
mente des 17. Jahrhunderts“ dagegen ins Feld führt: „Das
von Deschnew erwähnte Kap braucht nicht notwendiger-
weise das Ostkap zu sein, weil die angegebene Lage unklar
ist und ebensogut sich auf zahlreiche andere arktische Kaps
bezieht, und weil sich dasselbe auch von der Lage der Inseln
sagen läßt. Was das Lippenpflöcke tragende Volk angeht, so
glauben 1. Wrangel und Nordenskiöld, die längere Zeit in
jener Gegend weilten, daß in nicht ferner Vorzeit ein Eskimo-
volk die Gebiete östlich von derKolyma und dem Tschelagskoi-
Kap bewohnt habe; 2. war der Bericht erst 1655 geschrieben,
und in der Zwischenzeit hatte Deschnew reichlich Gelegen-
heit, von den Eskimos zu hören. Sarytschew, ein sibirischer
Seemann und Entdecker, meint, daß viel von dem, was sich
in dem Bericht findet, von den Eingeborenen der Anadyr-
gegend erkundet worden ist. Deschnews Kap ist nicht das
Ostkap, weil Deschnew sagt, daB man vom Kap zum Ana-
dyr drei Tage über Land oder zur See habe, „nicht länger“.
Es erhebt sich nun die Frage: Da es nur drei Tage bis zum
Anadyr sind, und da Deschnew schon das Kap auf seinem
Wege passiert hatte, warum brauchte er zehn Wochen, um
den Fluß zu erreichen?“
Ob diese und die anderen Einwände Golders ausreichen,
Deschnew sein Verdienst wieder zu entreißen, ließe sich nur
an der Hand des Originalmanuskriptes des russischen Kosaken
prüfen. Vielleicht wird das durch russische Geographen ge-
schehen.
— Über die Leichenbeseitigung bei den Machey-
engas, einem sehr primitiven Indianerstamm im östlichen
Peru zwischen Ucayali und Urubamba, unterrichtet uns
W. O. Farabee (Proc. of the Amer. Antiqu. Soc., Oktober
1909). An Ursprünglichkeit lassen diese „Wilden“ es nicht
fehlen; sie nähren sich von den Fischen der Urwaldströme
und kleinen Bananen- und Yukkapflanzungen, sind ohne jede
Stammesorganisation, ohne Streit und Krieg, in kleine Horden
geteilt mit dem beschränkten Ausblicke in die Welt, soweit
ihre Kähne sie flußauf und -ab tragen. So leben sie fried-
lich dahin, sterben und werden nicht begraben. Irgend welche
religiöse Zeremonien kennen sie nicht, und auch bei Todes-
fällen kommen religiöse Vorstellungen nicht vor. Stirbt
einer, so entledigt man sich der Leiche schnell. Auf ein
paar Stangen wird sie im einfachen Baumwollkleide zum
Flusse hinabgetragen und in diesen hinabgeworfen, wo
sie den Fischen zur Nahrung dient. Auch dem Tode nahe
alte Personen beseitigt man auf diese Weise. Wenn diese
Indianer dann ihre Hütte verlassen, so geschieht es einzig
aus dem Grunde, weil sie fürchten, von der Krankheit des
Verstorbenen angesteckt zu werden, nicht etwa, weil sie
Furcht vor dem Geiste des Toten hätten. Die Macheyengas
haben eine Art Seelenvorstellung, allein diese ist sehr eigen-
tümlicher Art und wird durch eine Überlieferung erläutert.
Einmal begrub man einen Indianer und stellte bei seinem
Grabe eine Wache auf, die sehen sollte, ob er eine Seele
habe. Acht Tage darauf sah man aus dem Grabe einen
Rothirsch springen und in den Wald laufen. In diesen war
die Seele des Toten hineingewandert, und daher verzehrt
man auch kein Hirschfleisch. Auch die Seelen der in den
Fluß geworfenen Leichen gehen in einen Hirsch ein — damit
hat aber die Sache ein Ende, denn weder der Hirsch noch
die Seele existieren oder wandern weiter. Eine genaue Vor-
stellung von der Seele, die seletce heißt, hat man nicht; sie
ist aber Tieren und Menschen gemeinsam. Unklare Vor-
stellungen bestehen bei diesem Stamm von Idioci, dem dicken
Mann im Himmel, welcher die Menschen, Sonne und Mond
schuf und Regen und Donner macht. Aber Opfer, Gebete,
Feste, Zaubermittel, heilige Tänze, Verkehr mit Geistern
kennen diese Primitiven nicht, die, unkontrolliert durch äußere
Mächte, völlig frei ohne Religion dahinleben. A.
— Die lappischen Zaubertrommeln, heute außer
Gebrauch, aber noch in ziemlicher Anzahl in europäischen
Museen erhalten, haben in der letzten Zeit wiederholt die
Aufmerksamkeit der Ethnographen erregt und zu Deutungen
der auf ihnen eingezeichneten Figuren veranlaßt. Die Zauber-
trommel, mit welcher Linné auf einem bekannten Bilde dar-
gestellt ist, wurde in Paris wieder aufgefunden, und auch zu
Meiningen entdeckte man in der Sammlung des Henne-
bergischen Altertumsvereins ein schönes Exemplar, welches
von Prof. Weinitz im Verein mit W. Lindholm in der Zeit-
schrift für Ethnologie 1910, 8. 1 abgebildet und beschrieben
wurde. An dieser Beschreibung nun, und namentlich an der
Deutung der auf dem Trommelfell dargestellten Figuren, übt
jetzt K. B. Wiklund in Upsala eine eingehende Kritik, in-
dem er zeigt, daß vieles von Weinitz und Lindholm falsch
gedeutet wurde. Er konnte dieses um so mehr, als zu Dront-
heim ein altes Manuskript vorhanden ist, welches über die
Meininger Trommel die genauesten Auskünfte gibt, selbst
deren Entstehungsort und frühere Besitzer kennt. Dadurch
erhalten viele Figuren eine ganz andere Bedeutung, die wir
aber, ohne Abbildungen, hier nicht weiter verfolgen können.
r die Trommeln, die zu Zauber- und Wahrsagediensten
von den lappischen Schamanen benutzt wurden, gibt Wik-
lund aber, unter Anführung der großen Literatur, eine be-
langreiche Zusammenfassung, aus welcher hervorgeht, daß
auf ihnen ein lappischer Mikrokosmus dargestellt ist. Mit
Hilfe der Zeichen auf dem Trommelfelle wurde die Zukunft
enthüllt, der Zauberer legte einen Ring oder dergleichen auf
das Fell, schlug dieses mit einem Hammer aus Rentierhorn,
und je nachdem der Ring an die Zeichen sprang, wahrsagte
ey daraus. Die Zeichen waren teils mythologischer Art und
stellten lappische Götter und Göttinnen oder Hilfsgeister des
Zauberers dar; zum Teil aber waren sie dem täglichen Leben
der Lappen entnommen, gaben z. B. Hütten, Schiffe, Wölfe,
Rentiere wieder. Von besonderem Werte aber sind diese
Zeichen als Quellen unserer Kenntnis der alten Religion
der Lappen, noch wichtiger aber werden sie dadurch, daß
sie Aufschlüsse über die religiösen Vorstellungen
der alten Nordgermanen geben, da sich herausgestellt
hat, daß die alte, Religion der Lappen von altnordisch-heid-
nischen Elementen ganz durchdrungen war, worauf schon
1876 Fritzner hinwies und was neuerdings von Axel Olrik
und K. Krohn näher begründet wurde. A.
— Auf dem Gebiete der slawischen Altertumskunde
spielen sich unter den Blawisten zurzeit heftige Kämpfe ab.
Prof. J. Peisker in Graz ist so eine Art Hecht im Karpfen-
teiche, der schon wiederholt durch ganz neue Ansichten unter
den übrigen Slawisten heftigen Widerspruch erregte. Er hat
kürzlich eine Schrift herausgegeben „Neue Grundlagen der
slawischen Altertumskunde“, in welcher er den Nachweis zu
führen sucht, daß die noch einheitlich beisammensitzenden
slawischen Stämme in ihrer Urheimat jenseit der Karpathen
in einer fürchterlichen Knechtschaft, gehetzt wie ruheloses
Wild, einerseits unter den Turkotataren, andererseits unter
den Germanen ein jämmerliches Dasein führten, in dem sie
zu Vegetariern wurden, Viehzucht nicht kannten usw. Die
Beweise dafür sucht er auf sprachlichem und geschichtlichem
Gebiete beizubringen.
Dieses Bild widerspricht allerdings völlig den bisherigen
idyllischen Schilderungen von den slawischen Urzuständen,
die ebenfalls sehr übertrieben sind, und veranlaßte eine An-
zahl Gelehrter, dagegen aufzutreten. Jetzt (Archiv für sla-
wische Philologie, Bd. XXXI, 8. 569—594) erwidert ihm mit
Glück der hervorragende tschechische Altertumsforscher Prof.
Lubor Niederle, welchem auch der gelehrte Wiener Slawist
V. Jagić sekundiert; Niederle, der Verfasser einer slawischen
Altertumskunde (tschechisch), war hierzu allerdings der be-
rufene Mann. Namentlich die Hypothese von der turko-
tatarischen Unterjochung wird zurückgewiesen, wobei inter-
essante Exkurse über die Skythen stattfinden, deren iranische
Sprache jetzt feststeht. Auf die vielen sprachlichen Einzel-
heiten und die Frage der Lehnwörter in der vorliegenden
Sache können wir nicht eingehen, doch scheint uns Niederle
(und mit ihm Jagić) glücklich gegen Peisker zu kämpfen.
Da die Ansichten des letzteren vielfach in der deutschen
Literatur schon Verbreitung gefunden haben, so wollen wir
auf die Gegenschrift hier hinweisen, zumal sie auch sonst
vielerlei Aufklärung zur slawischen Altertumskunde enthält.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
Abb.1. Kopalbäume bei Kilindoni.
Der Eindruck, den der Reisende beim Herannahen
des Schiffes an Kilindoni, den künftigen Sitz der Lokal-
` verwaltung, empfängt, ist auch für das an tropische
Farbenpracht und Formenfülle gewöhnte Auge überaus
anziehend. Eine wesentlicher Bestandteil der Schönheit
dieses Bildes sind die Gruppen prächtiger alter Kopal-
bäume, die den gewohnten, etwas steifen Konturen des
mit Kokospalmen gesäumten Tropenstrandes eine äußerst
wohltuende kräftigere Nuance verleihen (Abb. 1). Diese
fast an nordische Seeküsten erinnernden Formen ver-
einigen sich mit der leuchtenden Farbenglut des lasur-
blauen Meeres und des weißen Steilabfalles und mit dem
tiefen Grün der Vegetation zu einem Landschaftsbild
von ungewöhnlichem malerischen Reiz.
Die Bedeutung des Ortes Kilindoni ist vorläufig noch
lediglich in seiner schon erwähnten Bestimmung als
künftiger Sitz der Verwaltungsbehörde begründet. Auf
diese in der Zukunft liegende Bedeutung weisen zwei
weiße Häuschen in arabischer Bauart hin, die das Zoll-
amt beherbergen. Die Geschichte dieses
Zollamtes entbehrt nicht einer gewissen
tragischen Komik. Es befand sich ur-
sprünglich auf der kleinen Nachbar-
insel Tschole, die den gleichnamigen
Hauptort der gesamten Inselgruppe
trägt und auch heute noch der Sitz
der dem Bezirksamt Kilwa unterstehen-
den Bezirksnebenstelle ist. Die Ver-
legung des Zollamtes von dort nach
Kilindoni sollte der erste Schritt zu
der geplanten Verlegung der Ver-
waltung auf die Hauptinsel sein, die
aus Gründen der verschiedensten Art
geboten erschien. Die Araber jedoch,
welche das Patriziat von Tschole wie
überhaupt auf der ganzen Inselgruppe
bilden, und bei welchen die Absicht,
ihr geliebtes Tschole seines Charakters
als Hauptstadt zu entkleiden, auf ein-
mütigen Widerstand stieß, begannen
nun ihre Güter in Daressalam zu ver-
zollen und dann von dort nach Tschole
schaffen zu lassen, so daß auf diese
Weise das Zollamt in Kilindoni so-
v. Boxberger: Wandertage auf Mafia.
zusagen boykottiert wurde. Ob sie
an dieser etwas umständlichen Praxis
festgehalten haben, entzieht sich
meiner Kenntnis: jedenfalls wurde
zur Zeit meiner Anwesenheit der
Friede des mit der Zollverwaltung
beauftragten Inders durch nichts
gestört.
Weit überragt in historischer und
gegenwärtiger Bedeutung wird Kilin-
doni durch den einige Kilometer
nördlich gelegenen Ort Tireni, den
einstigen Sitz des reichen Arabers
Salim bin Said. Der Weg von Kilin-
doni nach Tireni führt an wunder-
vollen Kopalbeständen vorüber. Zu
meinem größten Leidwesen sah ich
hier, daß durch eine vandalische
Behandlung der Bäume, welche zum
Zwecke der Harzgewinnung an-
gewendet wird, dieser herrliche
Schmuck Mafias binnen kurzem rui-
niert sein wird, wie ganze Bestände
bereits vernichtet worden sind. Um
den Stamm zur Ausscheidung des
Harzes anzuregen, wird die Rinde in großen zusammen-
hängenden Flächen bis auf dasSplintholz abgehauen, welche
Behandlung der Baum einige Jahre aushält, dann aber durch
Absterben quittiert. Solche eingegangenen Stämme machen
da, wo sie in größerer Zahl beisammen stehen und ihr
weißes Geäst kahl und starr in den blauen Himmel recken,
vollkommen den Eindruck eines winterlichen Buchenwaldes
der Heimat und treten dann in wunderlichen Kontrast
zu ihrer tropisch-üppigen Umgebung.
Tireni ist heute ein Bild des Verfalles, wie die meisten
ehemaligen Herrensitze auf Mafia. Nach dem Tode des
Salim bin Said sind seine Erben nach Sansibar verzogen,
in Tireni selbst wohnt nur noch eingeborenes Sklaven-
volk (Wambwera). Das ehemals imposante Steinhaus
des Salim ist mit der schon von Baumann hervorgehobenen
Schnelligkeit, mit der sich auf Mafia der Wechsel von
Werden und Vergehen menschlicher Werke vollzieht, zu
einem Trümmerhaufen geworden. An vergangene Herr-
lichkeit erinnern neben der ungemein ausgedehnten, jetzt
Abb.2. Negerhütten in Marimbani mit Akadjubaum.
v. Boxberger: Wandertage auf Mafia.
199
dem Sultan Seyid Chalid gehörenden Kokospalmen-
pflanzung einzelne Exemplare von Zierbäumen und
Arecapalmen, die die Spuren eines nicht ohne Ver-
ständnis angelegten Parkes noch erkennen lassen. Aus
der Gegenwart verdient hervorgehoben zu werden, daß
der Jumbe von Tireni, Ali bin Barra, es sich in be-
wundernswerter Unternehmungsfreudigkeit angelegen
sein läßt, die von der Regierung gewünschte und prote-
gierte Anpflanzung von Gewürznelken in Angriff zu
nehmen. Seine „Kulturen“, die aus einem mit etwa zwei-
jährigen Sämlingen bestandenen Beet gebildet wurden,
litten offenbar unter Trockenheit, doch soll damit kein
Urteil über die Nelkenbauversuche auf Mafia überhaupt
ausgesprochen werden.
Von eigenartigen Kulturgewächsen sei schon hier der
auf ganz Mafia endemisch vorkommende Akadjubaum
(Anacardium occidentale) erwähnt (Abb. 2), dessen nach
edlen Äpfeln duftende Frucht, mbibu genannt, außen an-
gehängt einen Kern von Größe und Gestalt einer starken
Saubohne trägt (Koroscho), der angeröstet einen sehr an-
genehmen Geschmack hat (der etwa in der Mitte zwischen
gerösteten Kastanien und gebrannten Mandeln steht),
während er in rohem Zustand ebenso wie die fleischige
Frucht eine scharf ätzende Wirkung auf die Mund-
schleimhaut ausübt. Merkwürdigerweise scheint sich der
Verbrauch dieser Koroschonuß, die ein Exportartikel
ersten Ranges zu werden verdiente, im wesentlichen auf
die Insel zu beschränken, da die Frucht an der Küste
kaum bekannt ist.
Ein regelmäßiger Begleiter der Pflanzungen und An-
siedelungen ist neben dem Akadjubaum der überall auf
Mafia in großer Schönheit wachsende Mangobaum, der
ja auch an der Küste eine der gewöhnlichsten Er-
scheinungen ist. Aus der Pflanzenwelt fällt weiter eine
niedrige, in kleinen Büschen rankende oder auf dem
Boden herkriechende Leguminose mit harten, rotschwarzen
Erbsen auf, die ich in Europa zu gewissen geschmack-
losen Zieraten, wie Muschelkästchen, Bilderrahmen u. dgl.,
verwendet gesehen zu haben glaube.
An Palmen findet sich auf Mafia neben der in großen
Mengen angepflanzten Kokospalme häufig eine Phönixart
(Ukindo), die streckenweise den Pori auf das angenehmste
belebt und als Erzeugerin des zur Mattenflechterei ver-
wendeten Bastes eine wichtige Rolle spielt. Das Vor-
Abb. 4. Zugang zum Dorf Kipingwi.
Abb.3. Im Urwald von Tschunguruma.
kommen dieser wasserliebenden Palme gegenüber der an
der trockenen Küste vorherrschenden Dumpalme (Hy-
phaene crinita) deutet auf eine relativ hohe Bodenfeuchtig-
keit der Insel hin, wie sich eine solche auch durch die häu-
figen kleineren Teiche und Wasserläufe zu erkennen gibt.
Von interessanten, an der Küste von mir nicht be-
obachteten Pflanzenformen sei noch eine ganz entzückende
Selaginelle erwähnt, die man an besonders feuchten Stellen
findet und die ganz und gar ein getreues Ebenbild der
in Europa so beliebten Zimmertanne (Araucaria excelsa)
ist und bis !/,m hoch wird. Unter den Charakterpflanzen
Mafıas ist schließlich noch eine baum-
artige Ericacee hervorzuheben, die
streckenweise, so zwischen Kilindoni
und Tireni, ganze Bestände bildet,
leider aber stark gerodet wird, da sie
bei der Trockenheit ihres braunroten
Holzes ein vorzügliches Brennmaterial
liefert. Diese sandigen, trockenen, nur
wenig von anderer Vegetation durch-
setzten Baumheidebestände erwecken
einen ganz eigenartigen „unafrikani-
schen“ Eindruck, wenn man das er-
drückende Pflanzenwirrsal des Küsten-
pori gewöhnt ist.
Von Tireni aus führt der Haupt-
weg, dem auch Baumann folgte, zu-
nächst stundenlang durch ausgedehnte
Kokosschamben. An Tierleben bemerkt
man hier außer den überall auf Mafıa
gehaltenen zahlreichen Rinderherden
mitunter eine sehr vertraute Eichhorn-
art, tschindi genannt; an auffallenden
Erscheinungen aus der Vogelwelt einen
kleinen weißen Reiher (Bubulcus ibis L.),
der den melodischen Namen Nenge-
26*
200 v. Boxberger: Wandertage auf Mafia.
njange führt. Ein Charaktervogel der
Baumheidebestände ist Andropadus
flavescens Hartl., dessen feurigen, über-
hasteten Schlag man auf Mafia über-
haupt sehr viel vernimmt.
Die große Meerkatzenform der Insel
(die einzige dort vorkommende Affen-
art), die in den Eingeborenenpflanzun-
gen erheblichen Schaden anrichtet,
kann man hier wie überall bemerken;
es fiel mir auf, daß die Tiere hier viel
scheuer sind als in den entlegeneren
Teilen der Insel, wo die an sich seltenen
europäischen Besucher der Insel nie-
mals hinkommen.
Von den wenigen Tagen, welche
mir zur Verfügung standen, opferte
ich einen dem Besuch der beiden
Tschunguruma - Teiche, da Baumann
erwähnt, daß diese Teiche von hoch-
stämmigem Wald umgeben seien und
Nilpferde beherbergten. Obwohl mich
mein Entschluß nicht reute, so wurde
ich doch nach den Vorstellungen, die
ich mir infolge der Schilderung Baumanns gemacht hatte,
durch den vorgefundenen Zustand schmerzlich enttäuscht.
Von dem einstigen Hochwald findet sich nur noch kurz, ehe
` man zum ersten der beiden Tschunguruma-Teiche kommt,
eine kleine, höchstens 25 ha große Parzelle, die zum
wesentlichen aus alten Kopalbäumen besteht. Die beiden
Teiche dagegen liegen jetzt vollkommen kahl im kümmer-
lichen Buschpori da; der einst ihre Ufer umkränzende
Hochwald ist vernichtet. Soviel ich durch Befragen des
sehr intelligenten Sohnes und Stellvertreters des uralten
Jumben von Dondwe (von Baumann mit Tondwa be-
zeichnet) ermitteln konnte, bestand auch dieser Hoch-
Abb. 6.
Arabisches Grab auf Tschole,
mE
Abb.5. Korallenklippen auf Miöwi.
wald aus Kopalbäumen, die nach meiner bestimmten Ver-
mutung dem bei der Harzgewinnung betriebenen sinn-
losen Raubbau zum Opfer gefallen sind. Sieht man doch
auch an den Bäumen am Rande des noch verbliebenen
Urwaldrestes bereits dasselbe Verfahren geübt.
In dem genannten Stück alten Waldes wird das
Unterholz teilweise durch eine schlankschäftige, elegante
Dracaenaart gebildet (vgl. Abb. 3), die ich an der Küste
niemals, wohl aber in den Urwäldern Usambaras an-
getroffen habe. Es mag allerdings sein, daß es sich
dort um eine nahverwandte Art oder um eine andere
geographische Form handelt. An Tieren wird dieser
kleine Urwald belebt von den schon erwähnten Meer-
katzen, von der auf Mafia heimischen Zwergantilope,
Tschässi genannt, von einem braunen Rüsselhündchen
(Ndoro) und von einem nicht recht qualifizierbaren, von
mir weder gesehenen noch geschossenen höhlengrabenden
Tier, welches von der Größe eines Kaninchens und von
grauer Farbe sein, nächtlich leben und sich nach Ratten-
art ernähren soll und von den Eingeborenen Kubä ge-
nannt wird. An Vögeln fielen mir in diesem Walde be-
sonders auf Vinago Delalandei Bp., von denen ich eine
größere Zahl für meine Küche schoß, und Cossypha
natalensis A. Sm., die in großer Gesellschaft nach Drossel-
oder Rotkehlchenart auf der Erde und im niedrigen
Gebüsch umherhüpften und im Laube nach Erdmast
suchten.
Weit lebhafter war das Vogelleben an den beiden
Teichen, sowie an einem dritten etwas weiter nach Dondwe
zu liegenden Teich. Dort bemerkte ich Phalacrocorax
africanus Gm., Anastomus lamelligerus Temm., Bubulcus
ibis L., Ceryle rudis L., Alcedo semitorquata Sws., Eurysto-
mus afer (Lath.), Haliaötus vocifer (Daud), Parra africana
Gm. sowie zwei sehr scheue totanusartige Vögel von
schwarz-weißer Farbe, deren ich mangels jeder Deckung
nicht habhaft werden konnte, obwohl sie mich zweimal
um den einen der beiden Teiche hetzten. Aus der
Reptilienwelt zeigte sich auch hier das überall am
Wasser vorkommende Kenge (Varanus spec.), eine riesige,
bis 11/,m lange Eidechsenform. Das Krokodil, das auf
dem afrikanischen Festland jede Süßwasserstelle unsicher
macht, kommt auf Mafia nicht vor.
Die zu Baumanns Zeit noch in den meisten Teichen
sich findenden Nilpferde scheinen nun auch nahezu aus-
gerottet. Weiß gebleichte Knochenreste lagen am Ufer-
v. Boxberger: Wandertage auf Mafia.
Abb. 7.
rande des größeren Teiches; von den Tieren sonst keine
Spur mehr. Die Eingeborenen erzählten mir, der Bwana
mganga, d.i. ein Sanitätssergeant der Bezirksnebenstelle
Tschole, habe einmal sieben Stück geschossen! Ihre
Rechtfertigung gegenüber Leuten, die eine derartige
Ausübung der „Jagd“ mißbilligen, findet diese Massen-
schlächterei darin, daß die Nilpferde notorisch arge Ver-
wüster der Eingeborenenpflanzungen sind. Nachdem
aber Nilpferd und Mschenzi (wie der eitle Msuaheli den
Neger vom Lande verächtlich nennt) sich bis zum Ein-
treffen des Europäers viele Jahrtausende lang miteinander
vertragen haben, berührt es seltsam, daß auf einmal
gerade jetzt der Retter in Gestalt des Europäers kommen
muß, zumal gerade jene Klasse von Europäern im übrigen
gar nicht so sehr besorgt um das Wohl der Einge-
borenen ist.
Auch jetzt dürften noch zwei bis drei Paare von Nil-
pferden die Insel bewohnen, sie führen aber ein unstätes
Vagantenleben, das von dem wechselnden Wassergehalt
der Teiche und Tümpel und von dem Grade der je-
weiligen Verfolgung beherrscht wird.
Viel schlimmer als unter diesen letzten Sprossen eines
ehrwürdigen Dickhäutergeschlechtes haben die Einge-
borenen unter den Affen und unter den sehr häufigen
Schweinen (Potamochoerus africanus) zu leiden, die die
Schamben furchtbar verwüsten, und denen wegen ihrer
vorwiegend nächtlichen Lebensweise recht schwer beizu-
kommen ist. Die große Mehrzahl aller Eingeborenen-
pflanzungen ist zum Schutz gegen diese Borstentiere
mit einem sehr sauber aus Pfählen und Stangen her-
gestellten Zaun umgeben, der manchmal ganze Dorf-
gemarkungen umschließt (Abb. 4) und für den durch das
Dorf Reitenden ein recht unangenehmes Hindernis bildet.
Gegen die Affen hilft freilich auch der beste Zaun nichts;
ein tragikomischer Anblick ist es, wenn man in derselben
oft nur kleinen Schamba ein paar Affen und in einiger
Entfernung von ihnen friedfertig den Eigentümer auf
der Erde sitzen sieht, so daß es den Anschein hat, als
nähmen beide Parteien gar keine Notiz voneinander.
Es ist auch völlig zwecklos, die Tiere zu verscheuchen,
denn sobald sich der Eigentümer umdreht, sind sie doch
wieder da. Anders aber, wenn der Europäer mit dem
Feuergewehr erscheint; schon aus weiter Ferne enteilen
sie dann unter häufigem, besorgtem Rückwärtsschauen.
Globus XCVIII. Nr. 13.
Einbaum ohne Ausleger: (Mtumbwi).
201
An tierischen Schädlingen verdient
noch der im ganzen Schutzgebiet, ja
wohl überhaupt in ganz Afrika über-
aus häufige Schmarotzermilan, Milvus
aegyptiacus (Gm.), genannt zu werden,
der den Raub der jungen Hühnchen
systematisch betreibt, so daß man den
Hennen in der Regel nur ein oder zwei
Junge folgen sieht. Auf Bitten des
Jumben von Dondwe schoß ich zum
maßlosen Erstaunen seiner Leute nach-
einander von derselben Stelle, dem
dürren Aste eines Mangobaumes, drei
‚ Milane herab; er war der Meinung, es
sei immer ein und derselbe Räuber,
der ihm die Hühnchen holte.
In Dondwe verließ ich die Route
Baumanns, um in südöstlicher Rich-
tung zwischen dem Teichkomplex, der
sich in der Regenzeit dort vorfindet,
hindurch nach Kipingwi zu kommen.
Der Weg führt meist durch ziemlich
reizlose Buschsteppe, die mit dem
Küstenpori wesentlich übereinstimmt
und nur durch die graziösen Formen
der schlankstämmigen Phönixpalmen stellenweise ange-
nehm belebt wird. Hier sieht man auch wenige niedrige
Dumpalmen. Hier und da zeigen sich kleine Völker von
Perlhühnern (Numida Reichenowi Grant.), die sehr scheu
und schwer anzubirschen sind. Kokospalmen deuten die
Nähe von Ansiedelungen an, sind aber hier von keiner
nennenswerten Ausdehnung und fehlen in der weiteren
Umgebung der Ortschaften.
Der auch von Baumann besuchte Ort Kipingwi, der
zu dessen Zeit unter der Herrschaft der Binti Mhemedi
ein blühendes Dorf war, ist heute nur noch ein trauriges
Abb.8. Aus den Ruinen von Kua.
27
202 v. Boxberger: Wandertage auf Mafia.
Überbleibsel seiner besseren Vergangenheit, bietet aber für
den, der der Eigenart der Landschaft und dem Wesen
der Eingeborenen Verständnis entgegenbringt, manches
Anziehende Der Ort zählt heute nur noch knapp
20 Hütten und wird ausschließlich von eingeborenen
Arabersklaven bewohnt. Das von Baumann erwähnte
Haus der Binti Mhemedi, in dessen Hof ich mein Zelt
aufschlug, ist im Begriff zu zerfallen, zeigt aber noch
Spuren ehemaliger Schönheit (geschnitzte Türpfosten
u.dgl.). Die Erben der verstorbenen Besitzerin sind nach
Tschole gezogen und kümmern sich nicht mehr um
diesen Besitz. Ein alter Neger, mit dem ich ein Gespräch
anknüpfte, wußte viel von der einstigen Schönheit dieses
seines Geburtsortes zu erzählen, seine Ausführungen
endigten aber auch in der wehmutsvollen Apostrophierung:
Samani walikaa watu wengi na njumba msuri sana—sasa
wapi? . (Früher gab es viele Leute hier und schöne
Häuser, und jetzt — wo sind sie hin?)
Kipingwi zeichnet sich auch heute noch durch seine
Mattenproduktion aus; ein großer Teil der berühmten
Tscholematten erblickt hier das Licht der Welt. Die dort
lebenden Neger fertigen die Matten, zu welchen sie das
Material den Blättern der Phönixpalme entnehmen, für
ihre in Tschole lebenden Herren an, in Kipingwi selbst ist
es daher unmöglich, eine Matte zu kaufen.
Neben den Erzeugnissen der Fischerei und der Kokos-
palme ist ein Hauptnahrungsmittel der Leute von Kipingwi
die schon früher erwähnte Koroschonuß. Unmittelbar
an den Mangrovengürtel, welcher den Kriek von Kipingwi
umsäumt, anschließend zieht sich ein etwa 500 m breiter
Streifen von Buschwald hin, der vorwiegend aus Akadju-
bäumen mittleren Alters besteht. Dieser Akadjuwald
wird erfüllt von einem berauschenden Duft, der an den
des Gravensteiner Apfels erinnert, und ist von einer un-
gemein reichen Vogelwelt belebt. Da die Bäume einen
mittelhohen Stamm bilden, die Spitzen ihrer Äste aber
wieder der Erde zuneigen, so entstehen im Innern dieses
Waldes schattige hallenartige Räume, die ideale Be-
obachtungsplätze für das bunte Leben bilden, das dort
herrscht.
Die hier zugebrachten Stunden gehören zu meinen
liebsten afrikanischen Erinnerungen. Große Flüge von
prachtvoll erzschillernden Glanzstaaren, Lamprocolius
melanogaster (Sw.), tummeln sich im Gezweig und lassen
ihre pfeifenden, an die unseres heimischen Staares er-
innernden Rufe hören, Bülbüls (Pyenonotus et Phyllo-
strephus) schmettern feurige Strophen dazwischen, bunt-
gefärbte drosselartige Vögel (Cichladusa et Erythropygia)
flattern und huschen über dem Boden, kleinere Sänger
zeigen sich im Laubwerk in ständigem Wechsel der
Arten; sie alle schwelgen im Genusse der fleischigen, saft-
strotzenden Früchte des Akadjubaumes und schaden
niemandem, da von den Negern nur die Kerne, nicht die
Früchte gesammelt werden. Auf dem Boden rascheln
geschäftig die flinken Rüsselhündchen, und durch das Ge-
zweig schwingen sich kolossale feiste Meerkatzen, die den
Eindringling mehr erstaunt als furchtsam mustern; kleine
Flüge von Halsbandtauben, Turtur semitorquatus (Rüpp.)
ziehen mit klatschenden Flügelschlägen über den Busch;
überall ein vielgestaltiges, bewegtes Leben, das sich be-
quem und ohne die lästigen Begleiterscheinungen, die
sich in den Tropen so gewöhnlich einstellen, belauschen läßt.
Der hinter dem Akadjuwald liegende Mangrovengürtel
weist die gleichen Verhältnisse auf, wie sie sich an der
Küste finden, interessant sind jedoch größere Partien
von altem Mangrovenwald, wo sich Stämme von bedeuten-
der Stärke den Platz streitig machen und zusammen
mit Wurzeln und Ästen eine undurchdringliche Mauer
bilden. Von botanischem Interesse dürfte die Erwähnung
einer bei Kipingwi wachsenden kleinen Agavenform von
niedrigem Habitus mit rotgefleckten Blättern und schönen
orangeroten Blüten sein, die mit der an den Felsen von
Uluguru und Usambara vorkommenden Art vollkommen
übereinzustimmen scheint.
Den Aufenthalt in Kipingwi benutzte ich zu einem
Abstecher auf die Koralleninsel Miëwi, die meines Wissens
bisher von keinem Europäer besucht worden ist. Ein
eingeborener Fischer und „Fundi wa bahari“ (was etwa
soviel wie Fahrwasserkundiger bedeutet) wurde als Führer
angenommen, da das Fahrwasser und die Landung auf
Miöwi wegen der vielen Korallenriffe recht schwierig ist,
wie überhaupt Korallenklippen von den abenteuer-
lichsten Formen sich auf und um Miöwi vorfinden
(vgl. Abb. 5). Miöwi selbst ist eine in des Wortes ver-
wegenster Bedeutung undurchdringliche Wildnis, um-
geben von einem furchtbaren Korallengürtel, der meinem
Diener die Füße wund schnitt und meinen vorsichtigen
Führer zur Mitnahme von dicken Bastschuhen veranlaßt
hatte. Selbst für den starkbeschuhten Europäer ist die
Fortbewegung auf den zackigen, glasharten und messer-
scharfen Korallen keine leichte Aufgabe. Meine Hoffnung,
auf oder bei Miöwi einmal die sonst nirgendwo ge-
fundenen Brutplätze der so massenhaft den Meeresstrand
belebenden Lariden, Charadriiden und Ardeiden aufzu-
spüren, wurde betrogen; weder auf kahlen noch auf be-
wachsenen Korallenfelsen fanden sich Spuren von Wasser-
vogelnestern. Dagegen entdeckte ich mitten im undurch-
dringlichsten Pori, in welchen wir uns mit Hilfe des
Buschmessers einen Weg gebahnt hatten, im Gewirr der
Schlinggewächse, die einen Affenbrotbaum und die be-
nachbarten Bäume überzogen, eine Kolonie von etwa 30
natürlich leeren Nestern, die von meinem Cicerone der
Papageitaube zugeschrieben wurden (Njinga, Vinago spec.)
und auch nach Bauart und Größe sehr wahrscheinlich
von einer Taubenart herrührten. Besonders bemerkens-
werte Pflanzenformen fielen mir auf der Insel nicht auf;
die auf einer Insel bei Daressalam vorkommende pracht-
volle Orchidee Angrecum eburneum konnte ich weder
auf dieser für ihr Vorkommen geeignet erscheinenden
Insel noch sonstwo auf Mafia entdecken, obwohl ich mein
besonderes Augenmerk darauf richtete. Am Strande und
zwar da, wo dem Korallenkalk eine starke Schicht Schlick
aufgelagert ist, fiel mir eine durch ihre Form ausge-
zeichnete Alge auf, die in ihrem Aufbau durchaus einer
winzigen Opuntie gleichkommt.
Einen materiellen Irrtum Baumanns muß ich bei
dieser Gelegenheit berichtigen; er betrifft die Benennung
dieser Koralleninselchen. Nicht die auf Baumanns Karte
mit Miöwi bezeichnete, in nordsüdlicher Richtung sich
hinziehende längliche Insel trägt diesen Namen, der Name
Miöwi kommt vielınehr nur der kleineren ovalen Insel zu,
welche westlich von der Südspitze der vorgenannten
Insel liegt. Diese selbst wird Djiha genannt, ist ganz
mit Mangroven, darunter streckenweise Hochstämmen,
bestanden, die von weitem den Eindruck eines Kiefern-
waldes machen, und vollkommen unzugänglich, da sie
mit grundlosem Schlamm bedeckt ist. Über den von
Baumann berichteten Glauben der Eingeborenen, die
Inseln Miëwi oder Djiha seien von einem bösen Geiste
bewohnt (als welcher etwa der Msimu, Räwa oder viel-
leicht auch Kinjamkära in Betracht käme) und daher
von den Eingeborenen gemieden, konnte ich nichts er-
mitteln, obwohl ich meinen Führer zu Mitteilungen nach
dieser Richtung hin ermunterte. Er zögerte jedenfalls
nicht im mindesten, mich zu begleiten.
Der Weg von Miöwi und Kipingwi in die Kultur
zurück zur südöstlichen Landspitze von Mafia, der Über-
fahrtsstelle nach Tschole, führt über Kipandeni und
v. Boxberger: Wandertage auf Mafia.
Marimbani zunächst eine Strecke lang die von der
Regierung angelegte Barrabarra, die sich durch tiefen
Sand und infolgedessen eine glühende Atmosphäre aus-
zeichnet. Sodann geht der Weg fast ununterbrochen
durch Kokospalmen und Mangohaine. Beide Baumarten
gedeihen auf Mafia vorzüglich und tragen besonders
große Früchte. Welche Erträgnisse hier eine Kokos-
schamba liefert, zeigt die Tatsache, daß gegenüber einem
an der Küste gewöhnlich angenommenen Jahresreinertrag
von einer Rupie (1,33.#) für den Baum hier mit einem
solchen von 2, 3 und selbst 4 Rp. gerechnet wird. Eigen-
tümer dieser Pflanzungen, die oft mehrere tausend Stämme
enthalten, sind meist Schatiriaraber, die ziemlich hell-
häutig sind, in ihrer Erscheinung aber doch eine starke
Beimischung von Negerblut verraten.
Zwischen Marimbani und Utende (der Südostspitze)
führt der Weg wieder an größeren Baumheidebeständen her.
Die Überfahrt nach Tschole wird durch eine Dau
bewerkstelligt und erfordert bei ungünstigem Wind über
1/, Stunde. Über Tschole selbst hat Baumann so ein-
gehend berichtet, daß ich mich kurz fassen kann. Zur
Ehre des Ortes sei hervorgehoben, daß die von Baumann
an sich mit Recht gegeißelten breiten, rechtwinkligen
„trostlosen Straßenungetüme* jetzt mit dem üppigen
Grün der beiderseits angepflanzten Bäume einen ganz
anheimelnden Eindruck machen. Überhaupt verbinden
sich in Tschole die vielfachen Erinnerungen an die
Araberzeit mit dem meist wohlhabenden, mitunter fast
vornehmen Gepräge der Farbigenhäuser und der lauschigen
Stille der breiten Alleen zu einer Gesamtwirkung von
eigentümlichem Stimmungsreiz. Sehenswert ist-ein kleiner
alter Araberfriedhof mitten in der Stadt, mit einer Mauer
umschlossen und von herrlichen Baumriesen umstanden,
der neben den üblichen Formen der Grabdenkmäler
(Abb.6), in welchen die eingemauerten bunten Porzellan-
teller noch wohlerhalten sind, auch solche von abweichen-
der Architektonik, z. B. Obelisken enthält.
Wer nach Tschole kommt in der Hoffnung, hier einen
großen Markt für die bekannten feinen Bastmatten zu
finden, die überall in Ostafrika als Tscholematten ver-
handelt werden, erlebt eine Enttäuschung. Fertige Matten
kann man in Tschole überhaupt kaum bekommen, da
alles, was auf der Schamba’) von den Sklaven gearbeitet
wird, nur in Tschole zusammenfließt, von dort aber gleich
nach Sansibar oder Daressalam auf die dortigen Märkte
versandt wird. Will man an Ort und Stelle kaufen, so
muß man die Arbeit in Bestellung geben, auf welche
Weise man dann allerdings die schönsten Muster und
Formen sich aussuchen kann.
In landschaftlicher Hinsicht sehenswert sind die über
das ganze Inselchen verbreiteten Mangohaine, welche
geradezu monumentale Exemplare dieses schönen Baumes
enthalten. Das Tierleben auf Tschole ist naturgemäß
gering, da die Insel sehr belebt und zum großen Teil
auch von der Stadt eingenommen ist.
Natureindrücke imposanter und lieblicher Art und
Stimmungswerte von einer in dem nüchternen Afrika un-
gewöhnlichen Kraft birgt die südöstlich von Mafia und
Tschole gelegene Insel Djuani, deren Besuch zu dem
Lohnendsten gehört, was die Mafiagruppe zu bieten ver-
mag. Man mietet einen Einbaum (Abb. 7), am besten einen
solchen mit Auslegern (Ngalawa), die ein Umkippen un-
möglich machen, und fährt vom Südostende Tscholes aus
hinüber bis zur Küste von Djuani und an dieser ent-
lang an grotesken Korallenfelsen vorbei bis zu einem
Landeplatz, der unterhalb der berühmten Ruinen von
®) Mafia heißt bei den Einwohnern von Tschole „Tschole-
schamba“. Schamba = Pflanzung, schambani = auf dem
Lande.
203
Kua liegt. Bereits diese Fahrt, auf welcher man eine
Fülle entzückender Bilder an sich vorüberziehen sieht, ist
ein hoher ästhetischer Genuß. In einem Abstand von
Schrotschußweite gleitet der Einbaum an der Küste ent-
lang, die von freudig grünen Mangroven gesäumt wird.
In diesen Mangroven tummeln sich Brachvögel und
anderes Wasserflugwild verschiedener Art, und auf den
Zweigen der Bäume und Büsche ruhen in graziösen
Stellungen Scharen von kleinen schneeweißen und grauen
Reihern (Bubulcus ibis L. und Herodias gularis Bose.).
Die Kontraste der schlanken, hellfarbigen Leiber mit dem
satten Grün der Vegetation und dem milchigen Lasur-
blau des Wassers ergeben ein Farbenspiel von herrlicher,
unvergleichlicher Schönheit. Auf der Höhe der Insel er-
heben sich die majestätischen Gestalten wahrhaft gigan-
tischer Affenbrotbäume, die auf Djuani stellenweise in
so großer Menge wachsen, daß sie Wälder von ansehn-
licher Ausdehnung bilden; schließlich sieht man inmitten
des üppigsten Buschwaldes die Trümmer der Stadt Kua
emporragen.
Kua, eine Ansiedelung der bereits um das Jahr 1000
aus Schiras eingewanderten asiatischen Kolonisten, ist
nach seinen noch vorhandenen Resten ehemals eine aus-
gedehnte Stadt gewesen; wie Baumann vermutet, lange
Zeit die Hauptstadt der ganzen Mafiagruppe. In welche
Zeit die Gründung und Blüte der Stadt fällt, ist völlig
unbekannt; aufgegeben wurde der Platz bereits zu Beginn
des 19. Jahrhunderts anläßlich des Einfalles der mada-
gassischen Sakkalaven. Was man heute noch sieht,
sind lange Mauerzüge, mehrere Ruinen von Wohnhäusern
und Moscheen und ein verhältnismäßig gut erhaltener
Begräbnisplatz. Alles das ist von allen Seiten von
Vegetation eingeschlossen, überwachsen und durchsetzt.
Die am besten erhaltene Moschee ist buchstäblich von
Vegetation umstrickt, man möchte sagen erwürgt. In
und an den Mauern dicke Stämme, im Innern der
Moschee ein Netzwerk von Lianen, auf den Resten des
Daches ein üppig grünender Wald, eine packende Illu-
stration zu dem Worte: „Das Alte stürzt, es ändert sich
die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen!“
Eine photographische Aufnahme der Moscheeruine
zu machen, erwies sich als untunlich, da es ein Ding der
Unmöglichkeit war, in dem Wust von Vegetation einen
Standpunkt für den Apparat zu finden und bereits in
einiger Entfernung alles im Buschwald versteckt lag.
Auch die Aufnahme des von Baumann besonders er-
wähnten Wohnhauses (Abb. 8) war mit den größten
Schwierigkeiten verknüpft; ich mußte die etwas entfernt
liegende Ruine einer dünnen, hin und her schwankenden
Mauer erklettern und auf ihr für mich und meinen
Apparat einen Standort finden.
Sicherlich der wertvollste Teil der Ruinenstadt ist
neben der ebengenannten Moschee die Begräbnisstätte,
deren Auffinden im dichten Pori nicht leicht ist. Ist
schon die Moschee dem Kampfe mit der eindringenden
Vegetation unterlegen, so liegen erst die Gräber im
wahrsten Sinne des Wortes selbst unter Vegetation be-
graben. Trotzdem sind sie gut zu sehen, da nur die
Stämme der Bäume und Lianen die Gräber eingeschlossen
haben, das Laubwerk aber erst in einer gewissen Höhe
sich voll entfaltet. Obwohl die Grabdenkmäler im wesent-
lichen nach ein und derselben Grundform errichtet sind,
so findet man doch auch hier Abweichungen. Alle sind
verhältnismäßig gut erhalten. Auffallend ist der auch
schon von Baumann betonte Mangel an Schmuck und
Inschriften; der einzige Zierat, der sich bisweilen findet,
sind die schon erwähnten, an vielen arabischen Gräbern
angebrachten Porzellanteller, über deren Bedeutung man
sich nicht klar ist, sowie hier und da runde, aus Korallen-
27*
204 v. Boxberger: Wandertage auf Mafia.
kalk gemeißelte Platten, die als Aufsatz verwendet sind.
Von dieser toten Stadt mit ihren stummen Gräbern, die
keine Kunde geben von denen, die unter ihnen gebettet
ruhen, umwuchert von rücksichtslos daraufloswachsendem
Leben, geht eine ergreifende Wirkung aus, der sich kein
empfängliches Gemüt entziehen kann.
Irgendwelche Erinnerungen an die Bewohner dieser
versunkenen Stadt haben sich unter den für alles Histo-
rische gänzlich unempfänglichen Eingeborenen der Insel
nicht erhalten. Nach längeren Inquisitionen erlangte ich
schließlich den Bescheid, daß in Tschole ein Weib namens
Bibi Mlango Njuma wohne, welche noch etwas von Kua
zu berichten wisse. Natürlich war sie nicht in Tschole
anwesend, als ich nach ihr fragte.
Baumann erzählt, daß ihm auf seine Frage nach
den Erbauern dieser Stadt stets ein unqualifizierbares
Volk, die Wadebuli, als solche bezeichnet worden seien.
Diese Auskunft konnte ich nicht erhalten, auch bei Nennung
des Namens Wadebuli stieß ich auf Djuani sowohl wie auf
Tschole nur auf verständnisloses Kopfschütteln. Esscheint
demnach fast so, als ob sich selbst die Erinnerung an
den Namen der früheren Bewohner und Beherrscher der
Insel verwischt hätte. Armselige, auf der niedrigsten
Kulturstufe stehende Waschenzi wohnen heute in un-
mittelbarer Nähe der Ruinenfelder, mit keinem anderen
Interesse an diesen, als die schönen behauenen Steine
für ihre Zwecke zu verwenden!
Von der Tierwelt Djuanis habe ich außer einigen
Affen und vielen Vögeln nichts wahrgenommen. Nach
Baumann sollen auch Schweine und Zwergantilopen dort
leben, was sicher zutrifft; die von Baumann für alle
Inseln der Mafiagruppe als häufig angeführten Riesen-
schlangen sind heute jedenfalls erheblich zurück-
gegangen.
Es war mir bei der Kürze der mir zur Verfügung
stehenden Zeit nicht vergönnt, den nördlichen Teil der
Insel Mafia sowie ihre südlichsten Gebiete kennen zu
lernen. Baumann bringt hierüber einige Notizen, denen
ich nach mündlicher Auskunft des damaligen stell-
vertretenden Verwaltungschefs von Kilwa, welcher
unmittelbar vorher die Hauptorte der ganzen Insel
bereist hatte, nur weniges hinzuzufügen habe. Das
wirtschaftliche Leben der Insel nimmt nach Norden hin
schnell ab, der Wohlstand ist dementsprechend im Norden
geringer. Die Landschaftsform ist vorwiegend Pori,
während Kulturland nur in geringem Umfang vorhanden
ist. Riesige Affenbrotbäume, die man in den südlicheren
Teilen nicht eben häufig sieht, treten in größerer Zahl
auf, desgleichen im äußersten Norden geschlossene Be-
stände von Baumeuphorbien, welche Pflanzenart weiter
südlich so gut wie ganz fehlt.
Eine zoologische Spezialität des Nordens der Insel
sind Herden vollständig verwilderten Rindviehs, das über
alle Maßen scheu und heimlich sein soll. Da die Herden
mit Küstenfieber verseucht sind und die wenigen von
dieser Krankheit verschont gebliebenen zahmen Rinder,
denen sie sich in der Paarungszeit zugesellen, damit in-
fizieren, wird von der Verwaltung ihr Abschuß gewünscht.
Der Bezirksstellenverwalter von Tschole, der kurz vorher
ein solches Rind zur Strecke gebracht hatte, erzählte von
den außerordentlichen Schwierigkeiten der Birsch auf
dieses eigenartige Wild.
Auch der von Baumann recht stiefmütterlich be-
handelte Süden der Insel ist mir nicht aus eigener An-
schauung bekannt geworden. Erwähnenswert dürfte
sein, daß hier der einzige europäische Pflanzer, den die
Insel bislang aufzuweisen hatte, ansässig ist. Wie mir
erzählt wurde, beschäftigt er sich mit dem Anbau von
Baumwolle und neuerdings auch von Nelken, über welche
Kultur sein Urteil nicht ungünstig gelautet haben soll.
Bei dieser Gelegenheit will ich nicht unerwähnt lassen,
daß ich außer bei dem Jumben von Tireni auch bei Ein-
geborenen in Vunjamnasi (wenn ich nicht irre, war so der
Name des Ortes) zwischen Utende und Kilindoni Nelken-
sämlinge sah, desgleichen bei dem indischen Zollassistenten
in Kilindoni, der seine reichliche beschäftigungslose Zeit
diesem Vergnügen widmete.
Über die Aussichten, welche sich der europäischen
Plantagenwirtschaft auf Mafia eröffnen, wage ich auf
Grund einer so kurzen Orientierung, wie ich sie mir nur
verschaffen konnte, nicht, ein Urteil abzugeben. Das
aber darf unbedenklich ausgesprochen werden, daß auch
hier diejenige Kultur, welche nicht nur immer rentabel
bleiben wird, sondern sich vor allen anderen ostafrika-
nischen Kulturen sehr vorteilhaft durch die unbedingte
Sicherheit eines alljährlichen Ertrages auszeichnet, die
der Kokospalme ist. Bei der Unabhängigkeit dieses
Baumes von allen klimatischen Unregelmäßigkeiten, bei
der relativ einfachen und billigen Unterhaltung der
Pflanzungen und Aufbereitung der Ernte und bei der
fortgesetzt steigenden Nachfrage nach Kopra wird die
Kokospalmenkultur wohl immer die solideste Form der
Kapitalinvestierung für den ostafrikanischen Pflanzer
bleiben. Allerdings muß er in der Lage sein, es ab-
warten zu können, bis die jungen Pflanzen tragfähig sind,
falls er nicht einen bereits tragenden Bestand billig genug
erwerben kann. Die der Kokospalme offenbar ganz be-
sonders zusagenden klimatischen und Bodenverhältnisse
Mafias und das verhältnismäßig große Areal noch unbe-
bauten Landes lassen die Insel für diese Kultur in noch
weit größerem Umfang als bisher prädestiniert erscheinen.
Daß daneben der Anbau anderer Tropennutzpflanzen,
welche höherwertige Produkte liefern, wie Baumwolle,
Nelken u. dgl., zu günstigen Ergebnissen führen kann,
ist natürlich nicht in Abrede zu stellen.
Schließlich wäre noch einer ernsten Erwägung wert,
ob nicht der geregelte Anbau des äußerst dankbar
wachsenden und tragenden Akadjubaumes in Verbindung
mit einer methodischen Ausnutzung der vorhandenen
wilden oder halbwilden Bestände eine lohnende Kultur
werden könnte. Die höchst einfache Behandlung der
ohne jede Pflege wachsenden Koroschonuß, die nur ab-
genommen, etwas getrocknet und in Säcke gefüllt zu
werden braucht, um versandfähig zu sein, bietet meines
Dafürhaltens eine Gewähr für die Rentabilität dieser
Kultur, zumal sich auf dem europäischen Markt ohne
Zweifel vorteilhafte und dauernde Absatzmöglichkeiten
für dieses ausgezeichnete Produkt finden würden, welches
den Vorzug hat, eine Spezialität Mafias zu sein.
Endlich könnte man noch an die Zucht des bereits
in großen Mengen auf Mafıa vorhandenen Rindviehs in
einem durch europäisches Kapital und europäische Energie
gestützten Großbetriebe denken. Allein die Prognose
für ein solches Unternehmen ist meiner Überzeugung
nach keine günstige. Einmal lastet das anscheinend un-
ausrottbare Küstenfieber schwer auf der Viehzucht der
Insel, sodann aber wird von den Eingeborenen, die das
Vieh zu ihrem Lebensunterhalt insbesondere der Milch
wegen nötig haben oder zu haben glauben, so viel Rind-
vieh gehalten, daß für einen Großbetrieb nach euro-
päischem Muster kein Platz auf der Insel mehr ist. Wo
sollte auch die zu einem solchen Unternehmen erforder-
liche große zusammenhängende, mit brauchbaren Weide-
pflanzen bewachsene Fläche zu finden sein?
Betrachtet man die Insel Mafia schließlich vom Stand-
punkt des Interesses ihrer Bewohner aus, so kann man nur
der Hoffnung Ausdruck geben, daß die Insel von euro-
päischen Unternehmungen jeglicher Art verschont bleiben
Priebusch: Die Stellung des Häuptlings bei den Wabena.
205
möge. Im kontinentalen Schutzgebiet ist so viel Platz
für Pflanzungen aller Art, und die Bewohner Mafias
leben im Vergleich mit so mancher Gegend des Fest-
landes unter so glücklichen Verhältnissen, daß sie durch
eine Veränderung des bestehenden Zustandes nichts ge-
winnen, aber viel verlieren können.
Die Stellung des Häuptlings bei den Wabena.
Von Martin Priebusch, Missionar in Ilembula (Deutsch-Ostafrika).
Nachfolgende Zeilen sollen die Stellung schildern, die
ein hervorragender Häuptling der Wabena hatte, solange
noch der Stamm sich seiner Unabhängigkeit erfreute.
Heute ist durch das deutsche Regiment im Lande die
Häuptlingsmacht natürlich in mancher Hinsicht be-
schränkt. Soweit aber das alte Häuptlingsrecht nicht
mit dem deutschen Recht und der deutschen Verwaltung
in Widerstreit getreten ist, besteht es noch jetzt so, wie
es nachfolgend beschrieben wird.
Ein Häuptling der’Wabena war ehedem unum-
schränkter Herrscher seines Volkes, er hatte auch die
Gewalt über Leben und Tod seiner Untertanen. Nicht
nur, daß er Verbrecher töten oder begnadigen konnte,
er konnte auch verlangen, daß bei seinem Tode Leute
seines Stammes getötet und ihm zur Begleitung mit ins
Grab gegeben wurden. Auch sonst wurden im Lande
hin und wieder Leute getötet, deren Seelen die Aufgabe
haben sollten, sich dem Gefolge des verstorbenen Häupt-
lings auzuschließen, damit er ein seiner Würde ent-
sprechendes Gefolge mit in die Unterwelt bringen könne.
Der Häuptling hatte auch ein gewisses Recht auf
das Vermögen seiner Untertanen. Was er an Kühen,
Schafen oder Lebensmitteln verlangte, wurde ihm ge-
‘bracht. Sah er auf seinen Wegen irgendwo ein schönes
Rind, das ihm gefiel, und äußerte er den Wunsch, es zu
besitzen, so mußte der Besitzer es ihm übergeben, ohne
dafür Entschädigung verlangen zu können. Ebenso ver-
hielt es sich mit anderen Gegenständen, die ihm gefielen
und die er zu haben wünschte, sie mußten ihm ohne
Widerrede gebracht werden, nur daß er nicht ohne Grund
jemand sein gesamtes Hab und Gut nehmen durfte.
Sein Recht aber an den Frauen seiner Untertanen
ist beschränkt. Er darf keine Frau ihrem Manne fort-
nehmen und sie zu seiner Ehefrau erklären, wenn
diese Frau nicht dazu ihre Einwilligung gibt. Der Ehe-
mann kann zwar seinerseits nichts dagegen machen,
wenn der Häuptling seine Frau oder eine seiner Frauen
zu haben wünscht und diese einwilligt, sein Weib zu
werden; er muß sie ohne weiteres zum Häuptling ziehen
lassen. Aber der Häuptling ist dann verpflichtet, dem
Ehemann das Heiratsgut, das er für seine Frau gezahlt
hat, zu erstatten.
Besondere Abzeichen der Häuptlingswürde sind
folgende: Der Häuptling kleidet sich mit teuren und
guten Stoffen. Stoffe, wie der Häuptling sie trägt, dürfen
nur noch von denen getragen werden, die sie aus der
Hand des Häuptlings als besondere Zeichen seiner Huld
erhalten haben. Der Häuptling trägt als Schmuck Ottern-
felle. Diese Art von Fell darf nur von ihm selbst
und von Leuten seines Gefolges getragen werden. Er
sitzt bei öffentlichen Versammlungen oder bei Gerichts-
verhandlungen, die er leitet, auf besonders geschmücktem
Stuhl. Man ehrt ihn durch besönderen Gruß: „Adze
senga!“ Senga heißt „Rind“; aber es denkt keiner bei
dem Gruß an das liebe Vieh. Adze ist Verstümmelung
von vradze „komm“, „tritt näher“, das etwa unserem
„Willkommen“ gleich ist. Senga ist Titel geworden, ein
Ehrenname, den nur der Häuptling führen darf, wie
etwa bei uns die Bezeichnung Majestät. Daß der Grund
zu diesem Titel im Viehreichtum liegt, auf den der Ein-
geborene ja sehr viel gibt, ist wahrscheinlich.
Nieläßt man den Häuptling allein gehen; er wird auf
allen Wegen von einer Anzahl seiner Leute begleitet.
Wenn er in irgend einem Orte einen Besuch gemacht hat,
so begleitet ihn, wenn er fortgeht, immer eine Anzahl
Leute aus dieser Ortschaft so weit, bis er zu einem anderen
Dorfe gelangt. Überall, wo er hinkommt, wird er mit
Bier bewirtet, und dort, wo er über Nacht bleibt, wird
für ihn und sein Gefolge ein Mahl bereitet; dem Häupt-
ling wird extra als Zuspeise zu seinen übrigen Speisen
ein Bock geschlachtet.
Bei Kriegszügen, die unternommen wurden, um be-
nachbarte Stämme auszurauben, wurde ein bestimmter
Tag für die Gewinnung von Beute für den Häuptling
festgesetzt. Alles, was an diesem Tage seinen Leuten in
die Hände fiel, wurde dem Häuptling zu seinem Eigentum
übergeben, und niemand durfte auch nur das geringste
davon für sich unterschlagen.
Der Häuptling ist in keiner Weise für das, was er
tut, verantwortlich; es ist auch niemand unter seinen
Untertanen vorhanden, der ihn irgendwie zur Rechen-
schaft ziehen könnte. Er ist durch keine Volksver-
sammlung noch auch durch den Rat seiner Großen in
seiner Macht beschränkt.
In Gerichtssachen ist er der oberste Richter, gegen
sein Urteil gibt es keine Appellation mehr.
Wenn der Häuptling gestorben ist, werden zu seiner
Bestattung nur die Unterhäuptlinge (Avandzagila) und
die bei Hofe Vertrautesten gerufen. Das Volk erfährt
von dem Tode des Häuptlings nicht eher etwas, als bis
der Nachfolger in seine Häuptlingswürde eingesetzt ist.
Nach dem Tode des Häuptlings bis zur Wiedereinsetzung
eines neuen Häuptlings findet das Volk keinen Zutritt
zum Häuptling. Der Zutritt wird dem Volk unter der
Ausrede gesperrt, der Häuptling sei krank und könne
deshalb niemand empfangen. Die Leiche wird in Baum-
wollstoff eingehüllt, und darüber wird eine neue, aus
Gras geflochtene Matte gebreitet; danach wird sie ins
Grab gelegt mit dem Haupte nach Osten. Es werden
dann der Gürtel des Häuptlings, der aus Otternfell ge-
fertigt ist, und andere ihm gehörige Schmucksachen zu
ihm ins Grab gelegt. Zu beiden Seiten des Häuptlings
wurden früher Kinder im Säuglingsalter gelegt. Diese
Kinder wurden lebendig mit der Leiche des Häuptlings
begraben. Sollten zu diesem Zwecke gerade keine Säug-
linge vorhanden sein, so wurden größere Kinder dazu
benutzt. Solche Kinder wurden aber zuvor, ehe sie ins
Grab gelegt wurden, erstickt. Man hielt ihnen so lange
Mund und Nase zu, bis sie tot waren. Wenn kleine
Kinder, die mit der Leiche des Häuptlings zusammen
lebend ins Grab gelegt wurden, zu weinen begannen, ehe
sie mit Erde bedeckt waren, so wurden sie wieder heraus-
genommen und andere, die sich ruhiger verhielten, an
ihrer Stelle mitbegraben. Wollte sich gar kein Kind
finden, das beim Begrabenwerden stille war, so wurde
ein Kind, das gerade zur Hand war, auf oben geschilderte
Weise erst stille gemacht und dann der Leiche des
Häuptlings zur Seite gelegt. Oben auf die Leiche wurden
Mitteilungen über das heutige Wadai.
auch erwachsene Männer gelegt, die man auf gleiche
Weise getötet hatte.
Wenn nun die Bestattung so weit fortgeschritten ist,
daß man sich anschickt, das Grab mit Erde zu füllen,
treten zuvor die Angehörigen des Verstorbenen an das
Grab und rufen ihm den Abschiedsgruß zu: „hwererage“,
d. h. „lebe wohl!*, wörtlich: „ruhe aus!“ von dem Zeit-
wort hwa „den Tag zubringen“. Dem Leichnam wird
nun zuerst an allen Seiten Erde untergestopft, damit er
nirgends hohl liegt, sondern überall bequem aufliegen
kann. Auch der Kopf wird etwas erhöht gelegt. Die
Stricke, mit denen die Matte um den Leichnam fest-
geschnürt war, werden losgebunden, damit der Tote sich
frei fühle. Dann wird das Grab zugeschüttet und ein
länglich ovaler Hügel darüber aufgeschüttet. Über dem
Grab wird ein kleines Häuschen gebaut, das immer
wieder erneuert wird, wenn es baufällig geworden ist.
Nachdem das Grab geschlossen ist, wird dem Schatten
des Verstorbenen ein schwarzes Schaf geopfert. Das Blut
dieses Schafes wird über das Grab gesprengt. Ein Stück-
chen Fleisch wird aus der Achselhöhle des Opfers ge-
schnitten und aufs Grab geworfen, desgleichen ein
Stückehen Lunge und ein Stückchen Leber.
Die Opferung begleitet man mit den Worten: „Du,
der du jetzt gestorben bist, bringe dieses zu den Unserigen,
die vor dir gestorben sind, zu dem, und dem und dem!
(Dabei werden die Namen der verstorbenen Verwandten
genannt, zu denen er es bringen soll.) Wenn die
Genannten unser vergessen haben sollten, so soll sie
diese unsere Opfergabe, die du ihnen mitbringst, wieder
an uns erinnern. Diese Opfergabe bringt der Verstorbene
zu euch, um euch zu begrüßen, damit ihr ihn nicht von euch
fortjagt, sondern ihn als den eurigen unter euch aufnehmt.*
Dann wird ein kleiner flacher Topf auf dem Grabhügel
halb eingegraben, mit Bier gefüllt und zugedeckt. Es
wiederholt sich nun derselbe Sermon, wie er bei der ersten
Opferung stattgefunden hat.
Diese ganze Zeremonie wird von dem Totengeschrei
und Geheule der Leidtragenden begleitet. Diese sagen
etwa: „Er, unser Freund, unser Vater und Helfer, unser
Häuptling, hat uns verlassen. Er hatte ein mildes Herz
und gab uns stets unsere Nahrung und gab uns Fleisch
usw.“ Es werden alle Tugenden des Verstorbenen auf-
gezählt und die etwa nicht vorhanden gewesenen hinzu-
gedichtet, und man beklagt sich, daß der Spender all
der guten Gaben nun nicht mehr vorhanden ist.
Nach Beendigung der Bestattung begeben sich
sämtliche Leidtragende in das Haus des verstorbenen
Häuptlings; dort wird eine reichliche Anzahl von
Rindern geschlachtet und das Fleisch an die An-
wesenden verteilt, die es zum Andenken an den Ver-
storbenen andächtig verzehren und ihren Durst, den
sie dabei bekommen, mit Bier stillen, das ihnen ge-
reicht wird.
Die Großen des Häuptlings und die Unterhäuptlinge
beweinen nun den Toten und bleiben bis zu vier
Wochen in seinem Hause. An jedem Morgen gehen sie
hin zum Grabe des Häuptlings und begrüßen ihn dort,
als wenn er noch lebend unter ihnen weilte. Nachdem
sie ihn begrüßt haben, nehmen sie wieder Abschied von
ihm. Wenn der Trauermonat vorüber ist, begibt sich
jeder der Leidtragenden wieder an seinen Ort.
Mitteilungen über das heutige Wadai.
Bei, dem für die Kolonne Fiegenschuh so verhängnis-
vollen Überfall am Bir Tauil, Januar 1910, fand auch der
Leutnant Delacommune seinen Tod, ein junger Offizier,
der erst im Juli 1909 nach Wadai gekommen war, aber bei
der Bekämpfung der auf die Eroberung Abeschers folgenden
Unruhen an der Ostgrenze Wadais eine wichtige Rolle gespielt
hatte. Aus Privatbriefen, die er in die Heimat gesandt hat,
sind kürzlich in „L’Afrique française“ (August 1910) umfang-
reiche Auszüge erschienen, die u. a. viel Interessantes über
die bisher kaum bekannten Verhältnisse im nordöstlichen
Wadai und in den diesem Reiche tributären Sultanaten Dar-
Tama und Dar-Gimer enthalten. Einige Einzelheiten mögen
hier mitgeteilt werden,
Über Abescher, Wadais Hauptstadt selber, sagt Dela-
commune, es wäre eine „riesige, interessante, belebte Stadt,
die wahre Hauptstadt Innerafrikas“. Er erwähnt dann die
gewaltigen Mengen von Gewehren und Patronen, die nach
seiner Ankunft den Franzosen ausgeliefert wurden, und
wundert sich, wie eine an Zahl so schwache Truppe, wie die
Bourreaus, das Wadaiheer hätte vertreiben und die Haupt-
stadt nehmen können. Die Erklärung liegt darin, daß die
Wadaileute dem Bajonett nicht stand hielten, einer ihnen
unbekannten Waffe, vor der sie große Furcht hatten. Freilich
hatte die Artillerie tüchtig vorgearbeitet; sie habe den Sultan
Dudmurra zur Flucht veranlaßt, der gesagt haben solle,
Allah wolle offenbar seinen Untergang, da er ihm Kugeln
schicke. Übrigens hatte auch Dudmurra Geschütze gehabt,
aber es waren alte Kanonen, die Napoleon in Agypten zurück-
gelassen hatte. Der Sultanspalast ist eine Welt und eine
Stadt für sich, die mehrere Kilometer (?) im Umfang hat.
Sie ist sehr gut aus gebrannten Ziegeln gebaut, hat auch
Häuser mit Stockwerken. Um die eigentliche Tata (Burg)
des Sultans liegen die Tatas der Akiden (Heerführer), kleine
Festungen. Der große Marktplatz scheidet von ihnen die
Eingeborenenstadt. Diese ist in mehrere Viertel geteilt. Im
Innern liegt das Wadaiviertel. Ringsherum gruppieren sich:
das Fessanerviertel, wohin die Karawanen aus Marokko und
Tunisien kommen, das Bornuviertel, das die westlichen Kara-
wanen aufsuchen, und das Tripolitanerviertel. Überall findet
man Verkaufsläden. Der Rest der gewaltigen Senke von
Abescher wird von Dörfern ausgefüllt, und es gibt da viel
Wasser, Kulturen und Vieh. Jenseits dieser Senke erheben
sich Gebirgsmassive, deren größtes die Kalingaberge sind.
An deren Fuße stieß Delacommune in einem Felszirkus auf
ein Dorf von 2000 Einwohnern. Da Delacommune auch auf
seinem Wege nach Abescher, also im Westen Wadais, Dorf
an Dorf mit riesigen Viehherden und unabsehbaren Hirse-
feldern sah, so muß sich Wadai unter Dudmurra ganz wohl
befunden haben, obwohl ihm die Dörfer u. a. auch Kinder
(z. B. für seine Eunuchenreserve) hatten liefern müssen und
angeblich vielen sonstigen Bedrückungen ausgesetzt gewesen
waren.
Vom September 1909 ab hatte Delacommune viel zu tun.
Zunächst sollte er die Kalinga der französischen Herrschaft
zuführen, die ihn aber immer mehr als kühl empfingen.
Sonderbar, sagt er, ist in den Wadaidörfern die Teilung in
streng voneinander geschiedene Quartiere. Zuerst ist da ein
Wadaidorf, dann liegen in einiger Entfernung die vornehmen
Persönlichkeiten gehörigen Dorfteile.. So besaß die Sultans-
mutter 253 Dörfer im Reiche. Bewohner dieser Dörfer sind
Sklaven, die aber durchaus nicht zu beklagen sind. Sie haben
ihre Hütten, ihre Familien, auch ihre Schafherden, bauen
Hirse für ihre Herren und besorgen deren Herden. Traurig
war ihre Lage nur insofern, als ihnen ihre Kinder nicht
gehörten, sie konnten ihnen weggenommen und verkauft
werden. Aber ihre Elternliebe war nicht genug entwickelt,
als daß ihnen das Schmerzen bereitet hätte. Ohne Erfolg
erklärte Delacommune überall diesen Sklaven, sie wären frei
und könnten in ihre Heimat zurückkehren. Niemand wünschte
das. Bedauernswert waren nur die Sklaven, die man durch
die Wüste nach Tripolis brachte. Auch nach der Einnahme
von Abescher hatten noch einige Sklavenkarawanen nach
dem Norden entkommen können.
Ende September 1909 wurde Delacommune nach Niery,
der Hauptstadt Dar-Tamas, gesandt, um den an Stelle des
Sultans Othman von den Franzosen eingesetzten neuen Sultan
Hasen dorthin zu geleiten. Zwischen Wadai und Dar-Tama
war ein 50km breiter menschenleerer Streifen zu passieren,
der infolge der Kriege unbewohnt bleibt. In Dar-Tama waren
alle Dörfer und auch die Hauptstadt Niery verlassen worden,
die Bewohner wollten so wenig von ihrem neuen Landesherrn
und den ihm verbündeten Franzosen wissen, daß sie in die
Berge geflohen waren, wo sich auch der alte Sultan Othman
aufhielt. Mit diesem gab es dann beschwerliche Kämpfe in
den unwegsamen Gebirgen Dar-Tamas, bis er etwas an An-
hang verlor, der zum neuen Sultan überging. Ende Oktober
Range: Steinwerkzeuge der Buschleute des deutschen Namalandes.
rückte Delacommune an die Grenze des Dar-Tama im Osten
benachbarten Dar-Gimer, dessen Sultan Idris gern die franzö-
sische Oberhoheit anerkannt hätte (Dar-Gimer war ebenso
wie Dar-Tama ein Vasallenstaat Wadais gewesen), wenn er
nicht hätte fürchten müssen, daß der Sultan von Dar-For,
bei dem nach der Einnahme von Abescher viele Wadaifürsten
ein Asyl gefunden hatten, sein Land verwüsten würde. Auch
seine anderen Nachbarn, Massalit und Saaura bedrohten
ihn. Mitte November hatte Delacommune eine Zusammen-
kunft mit Idris in dessen Lande und suchte dessen bedrohte
Stellung zu befestigen. Dann wurde er nach Abescher zu-
rückbeordert, um sich Fiegenschuh auf dessen Expedition
nach Dar-Massalit anzuschließen.
Es sei noch kurz erwähnt, wie sich seitdem die Verhält-
nisse an der Ostgrenze Wadais entwickelt haben. Kaum war
die Nachricht von der Vernichtung der Kolonne Fiegenschuhs
bekannt geworden, als der neue Sultan von Dar-Tama wieder
Dasselbe Los hatte nun auch Idris von Dar-
Gimer, über den die Dar-Forer herfielen. In den folgenden
Monaten dauerten die Kämpfe mit den Dar-Forern, dem
Sultan Othman und auch dem vertriebenen Sultan von Wadai
an, bis die Franzosen im April 1910, bald nach der Er-
mordung Boyd Alexanders in Dar-Tama, einige größere Er-
folge errangen, so daß sie ihre Schützlinge wieder nach
Dar-Tama und Dar-Gimer führen konnten. Nach wie vor
aber bilden der Sultan von Dar-For und die an seinem Hofe
weilenden Anhänger Dudmurras eine stete Gefahr für die
Ruhe in Wadai. Nach der Auffassung offizieller Karten der
englisch-ägyptischen Sudanregierung sollen übrigens Dar-
Tama, Dar-Gimer und Dar-Massalit zu Dar-For, d. h. eben
zum AÄgyptischen Sudan gehören. Wie dem aber auch sei:
zum mindesten hätte Frankreich das Recht, von England
zu verlangen, es solle den Sultan Ali Dinar von Dar-For in
Schranken halten.
verjagt wurde.
=
Steinwerkzeuge der Buschleute des deutschen Namalandes.
Unter Buschmännern versteht der Ethnograph eine
von den Hottentotten wohl zu unterscheidende Menschen-
rasse, die als Jäger in den Steppen und Wüsten Süd-
afrikas ein unstätes Leben führt. Sie haben eigene
Sprachen, die dem Nama der Hottentotten ähnlich sind,
handen sein. Was mir von den diese öden Landstriche
bewohnenden Nomaden begegnet ist, waren nicht mehr
echte Buschmannfamilien, nur einzeine Individuen zeigten
noch die in einem rechten Winkel ausgezogene Ohr-
muschel, was bei den Hottentotten als charakteristisches
Steinwerkzeuge von Rotekuppe im südlichen Namalande. Nat. Gr.
aber doch so viele Unterschiede aufweisen, daß sie kaum
als Dialekte des Nama aufgefaßt werden können. Als
ich im Jahre 1906.nach Deutsch-Südwestafrika kam, war
mir von vornherein interessant festzustellen, ob sich noch
echte Buschleute im südlichen Teil unseres südwest-
afrikanischen Schutzgebietes vorfänden. Gesprochen
wurde verschiedentlich davon, besonders sollten in der
Küstenwüste südlich von Lüderitzbucht noch solche vor-
Merkmal der Buschleute gilt. Eine eigene Sprache exi-
stierte auch nicht mehr, die mich begleitenden, Nama
sprechenden Hottentotten und Bastards konnten stets
die sogenannten Buschleute verstehen, wenn sie auch
über die unbeholfene Ausdrucksweise derselben häufig
lachten. Um so interessanter war es mir, an verschie-
denen Stellen der Küstenwüste des südlichen Namalandes
gefundene Steinwerkzeuge übereinstimmend von älteren
208
Bücherschau.
Bastards und Hottentotten als Werkzeuge der Busch-
leute bezeichnet zu sehen. Ein alter Bastard, der mich
auf meinen Reisen längere Zeit begleitete, erzählte, daß
die Buschleute noch vor gar nicht langer Zeit steinerne
Pfeilspitzen verwendet hätten. Einer der interessantesten
Fundpunkte solcher Steinwerkzeuge findet sich bei Rote-
kuppe. Hier liegen in einem Talkessel auf jungen Wüsten-
sedimenten, etwa 2km südlich der Bahnstation gleichen
Namens, zahlreiche Werkzeuge verschiedener Art umher,
von denen einige nebenstehend abgebildet sind.
Erfahrungsgemäß wohnen die Buschleute niemals un-
mittelbar am Wasser, und auch hier findet sich das
nächste kleine Grabwasser etwa zwei Stunden nördlich
nahe dem Gipfel des südlichen Koviesberges. Schon
Dr. Lotz hatte von hier einige Werkzeuge gesammelt,
und ich konnte gelegentlich erneut vorgenommener
Bohrungen eine ziemliche Anzahl derselben zusammen-
bringen. Bei den öfteren Besuchen, die ich der Fund-
stelle abstattete, gelang es mir aber nie, nennenswerte
Überreste von Tierknochen, Muschelschalen und Straußen-
eiern zu entdecken, während andere mir bekannte Lager-
stellen der Nomaden diese meist massenhaft zeigen. In
solchen Lagerstätten findet man dann auch meistens
schon bearbeitete eiserne Gegenstände, Schiffsnägel u. dgl.,
und sie zeigen damit ihr relativ junges Alter an. Aus
beiden Gründen möchte ich für das Vorkommen bei
Rotekuppe größeres Alter in Anspruch nehmen. Wie
alt die Werkzeuge sein können, ist natürlich schwer zu
schätzen; mehr als einige hundert Jahre scheint mir
nicht wahrscheinlich; denn dann hätte sich bei den sehr
heftigen Sandstürmen dieser öden Wüstenlandschaft doch
stärkere Windwirkung an den Instrumenten zeigen müssen.
Das Gesteinsmaterial ist Kiesel, durch verschiedene Bei-
mengungen bunt gefärbt, einzelne Stücke sind aus wasser-
klarem Bergkristall hergestellt. Diese Gesteine kommen
etwa 20km südlich Rotekuppe und dann weiter nach
Süden reichlich vor und sind jedenfalls von dort mit-
gebracht. Viele der Werkzeuge sind hervorragend ge-
arbeitet und können sich nach dem Urteil des Herrn
Prof. v. Luschan den schönsten unserer paläolithischen
Stücke würdig an die Seite stellen. So reicht in Deutsch-
Südwestafrika die Steinzeit, welche bei uns grauer Ver-
gangenheit angehört, nahe an die Gegenwart heran.
Dr. P. Range.
Bücherschau.
Franz Thonner, Vom Kongo zum Ubangi. Meine zweite
Reise in Mittelafrika.. XI u. 1168. mit 20 Textbildern,
114 Lichtdrucktafeln u. 3 Karten. Berlin 1910, Dietrich
Reimer. 12 f.
Der Wiener Botaniker Thonner unternahm Ende 1908
eine neue Reise nach dem mittleren Kongo zum Zwecke bo-
tanischer und ethnographischer Studien. Mitte Dezember
1908 verließ er Banana, und Mitte Januar erreichte er den
am Unterlauf des Itimbiri liegenden Posten Mandungu. Nun
folgte eine einmonatige Landreise bis zum Posten Yakoma
an der Vereinigung von Mbomu und Uelle zum Ubangi und
schließlich die Talfahrt auf dem Ubangi und Kongo (bis
10. April 1909). Thonners diesmaliges eigentliches Reisegebiet
liegt also etwas östlicher als das von 1896 (Mongalla). Be-
kannt war es wenig, und so hat 'Thonner neben der Botanik
auch der Geographie und der Völkerkunde Dienste leisten
können.
Sein Buch bringt zunächst einen knappen Reisebericht
mit den allgemeinen Beobachtungen. Dann folgt ein zu-
sammenfassender Abschnitt über Land und Leute zwischen
Kongo und Ubangi und am Ubangi. Es werden darin ein
paar geographische und klimatische Daten gegeben, dann
werden die naturwissenschaftlichen und die Völkerverhältnisse
eingehender besprochen. In völkerkundlicher Beziehung ist
das Reisegebiet insofern schon recht interessant, als sich hier
Bantu- und Sudannegerelemente durcheinanderschieben. Die
Vor- und Eindringenden sind die Sudanneger gewesen, aber sie
sind von den Bantu in Sprache, Tatuierung und Hüttenbau
beeinflußt worden. Reihendörfer wechseln mit Haufendörfern,
Hütten mit rechteckigem Grundriß mit Rundhütten. Thonner
versucht nach der Sprache eine Gruppierung der Stämme und
stellt sie auf einer Karte dar. Von Einzelheiten mag nur die
abenteuerliche Haartracht mancher junger Mädchen der Sango
(Sudanneger am Ubangi) erwähnt werden. Sie tragen falsche
Haare aus Pflanzenfasern, deren untere Enden zu einem ge-
waltigen walzenförmigen Ballen zusammengerollt und von
einem Netz umschlossen auf dem Rücken getragen werden.
Die Körperhaltung wird dadurch gebückt (8. 25 u. Taf. 74/75).
Die Mode ist freilich im Abnehmen begriffen. Die Bevölkerungs-
diehte ist sehr schwach, höchstens zwei für den Quadrat-
kilometer. Die Kautschukausbeute ist erheblich, stellenweise
sogar bis auf den zehnten Teil zurückgegangen, so daß die
Anforderungen an die Eingeborenen in dieser Beziehung überall
herabgesetzt worden sind. Es sei dann noch auf die meteorolo-
gischen und Pflanzentabellen, sowie auf ebenfalls in Tabellen-
form mitgeteiltes ethnographisches und sprachliches Material
verwiesen. Manches enthalten auch noch die Erläuterungen
zu den Lichtdrucktafeln, die in überreicher Fülle beigegeben
sind. Von ihnen sind leider die Aufnahmen Eingeborener
zum großen Teil mißlungen. Die von F. Bischoff gezeichnete
und von M. Moisel redigierte Karte in 1: 500000 gibt Thonners
ansehnliches topographisches Material, enthält auch die Höhen-
messungen. Auf ihr ist uns die starke (und wohl kaum not-
wendige) Überbreiterung des Itimbiri aufgefallen, eines Flusses,
der nach Thonners eigenen Angaben und auch nach den Ab-
bildungen doch meist nicht viel breiter als 100 mist. Binger.
J. P. Johnson, Geological and Archaeological Notes
on Orangia. London 1910, Longmans, Green and Co. 10 s.
Der bekannte Geologe und Prähistoriker Johnson, dessen
Buch „The Stone Implements of South Africa“ bereits in
dieser Zeitschrift besprochen wurde, bringt in dem vor-
liegenden, 100 Seiten starken, mit Abbildungen reich aus-
gestatteten Bande ein zwar etwas heterogenes, aber des-
halb nicht weniger interessantes Material von Beobachtungen.
Auf den Seiten 1 bis 43 schildert er, nachdem er einen
kurzen Abriß der Geologie gebracht hat, die bekannten Dia-
mantminen zwischen Vaal und Oranje. Am interessantesten
ist die Vorspoedmine. Dort ist augenscheinlich zuerst ein
Schlot aus dichtem Diabas (Aphanit) entstanden und dieser
später durch die Eruption des Kimberlits herausgesprengt
worden. Indes bestehen große Teile der Mine auch aus
Diabas. Auch Gänge von Kimberlit werden in größerer Zahl
von verschiedenen Stellen beschrieben.
8. 44 bis 51 behandelt die oberflächlichen Ablagerungen,
den Kalktuff und die rötlichen Sande. Vor allem aber werden
die flachen schalenförmigen Pfannen eingehender beschrieben.
Johnson nimmt mit Allison an, daß die trinkenden Tiere im
Verein mit dem Winde bei ihrer ersten Entstehung eine
entscheidende Rolle gespielt haben. Später sei dann die
Winderosion maßgebend. Interessant sind seine Ansichten
über den Klimawechsel. Nach einer feuchten Periode habe ein
Wüstenklima mit energischer Winderosion geherrscht, und in
dieser Zeit seien die großen Pfannen und der rötliche Sand
mit seinen Dünen entstanden. Dann folgte eine neue feuchtere
Zeit, in der die Pfannen gefüllt waren. Darauf entwickelte
sich allmählich das Klima der Jetztzeit, das an Trockenheit
die frühere Zeit nicht erreicht.
Sehr lehrreich sind die archäologischen Forschungen, die
die alten Ansichten bestätigen und erweitern. Die Gesteins-
artefakte gehören einer älteren „Acheulischen Periode“ an
und bestehen ausschließlich aus mandelförmigen Handstücken.
Johnson schlägt für sie den Namen „Amygdalithe“ vor. Die
jüngeren Artefakte gehören dem Solutreen an. Die damals
mit Quellwasser gefüllten Pfannen waren die Zentrale der
damaligen Kultur, die das Rind als Haustier schon kannte,
und auch den Mahlstein, sowie durchbohrte Staußeneier-
plättchen und die bekannten Steinringe für den Grabstock.
Durch zahlreiche Abbildungen werden auf Felsen gemalte
und eingekratzte Figuren von Tieren und Menschen ver-
anschaulicht, die zum größten Teil wohl von Kaffern her-
rühren und nicht sehr alt sind. Ein Abschnitt über Aus-
sichten der Farmwirtschaft schließt diese vielseitige Schrift ab.
Passarge.
Bücherschau.
209
Berthold Laufer, Chinese Pottery of the Han Dynasty.
XVI u. 3398. (Publication of the East Asiatic Committee
of the American Museum of Natural History. The Jacob
H. Schiff Chinese Expedition.) Leiden 1909, E. J. Brill.
So eng begrenzt nach Stoff und Zeit der Gegenstand
dieses Werkes scheinen mag — es behandelt die chinesischen
'Tonwaren aus der Hanzeit, 206 v.Chr. bis 221 n. Chr. —, so
zeigt sich doch auch hier, daß eine in die Tiefe dringende
Kenntnis der Einzelheiten zugleich eine Erweiterung bedeutet.
Das Buch hat ein noch wenig bekanntes Gebiet in einer für
die antiquarische und kulturhistorische Forschung bahn-
brechenden Weise erschlossen. Zunächst schon dadurch, daß
Laufer, ein ausgezeichneter Sinologe, jahrelange Forschungen
in China unternommen und durch seine Funde aus Gräbern
der Hanzeit ein reiches, echtes Material zutage gefördert
hat. Dadurch hat er die Erforschung der altchinesischen
Kultur aus der Gebundenheit an die literarische Tradition
befreit, die er als Philologe auch in diesem Werke vortreff-
lich verwertet. Bekanntlich sind Werke altchinesischer Kunst
bisher nur in sehr geringer Anzahl bekannt. Die meisten
alten Schätze der kaiserlichen Museen in China sind in den
ungeheuren Erschütterungen, die das Land erlitt, zugrunde
gegangen, namentlich in der Mongolenzeit und beim Ansturm
der Mandschus auf Peking. Aber auch europäische Truppen
haben 1860 übel gehaust. Die geschichtliche Kenntnis der
älteren Kunst mußte sich meist auf die großen illustrierten
Kataloge der kaiserlichen Sammlungen stützen, auf das 1107
bis 1111 verfaßte Po-ku-t'u-lo des Wang Fu und das vom
Kaiser Kienlung 1749 veranstaltete Prachtwerk Si-tsing-ku-
kien, die zusammen etwa 3000 Abbildungen geben. Wie
vieles aus diesen Werken zu gewinnen ist, hat W. v. Hoer-
schelmann (Die Entwickelung der altchinesischen Orna-
mentik, Leipzig 1907) in vortrefflicher Weise gezeigt. Dem
allen gegenüber aber bedeutet Laufers großes Werk einen
gewaltigen Fortschritt; es lehrt die Fülle des älteren Kunst-
schaffens an Originalen kennen. Zugleich aber handelt es
sich bei der chinesischen Keramik nicht nur um die Ge-
schichte der Formen und der Technik, sondern um Dokumente
des chinesischen Kulturlebens und seiner oft weitreichenden
Beziehungen, die uns tiefere Einblicke und greifbare Auf-
schlüsse über das Volksleben gewähren. In dieser Beziehung
kann man sich dem Werke Laufers gegenüber nur als Ler-
nender verhalten. Es ist in jeder Hinsicht — auch in der
äußeren Ausstattung, in den Bildern, im Druck — ein glän-
zendes Werk, ein weithin sichtbares Zeichen für den Auf-
schwung, den die Sinologie zu nehmen beginnt.
Ich möchte zur Würdigung des vielfach ausgezeichneten
Werkes hier die Seite hervorheben, die mir die wichtigste
scheint und die jedenfalls auch bei solchen Beachtung zu
finden verdient, denen die speziell sinologischen Studien ferner
liegen, nämlich die kulturhistorische Bedeutung der kerami-
schen Erzeugnisse. Sie beruht auf dem Jenseitsglauben und
Totenkult.e. Auch die Chinesen teilen den weitverbreiteten
Glauben, daß der Tote im Jenseits ein dem irdischen Leben
entsprechendes Dasein führe, für das er mit den Bedürfnisssen
und Hilfsmitteln des Erdenlebens ausgerüstet werden muß.
So werden die Grabgaben ein Spiegelbild der Kultur, wie
das zuerst und besonders die ägyptologische Forschung er-
wiesen hat.
Die Chinesen sind seit alters ein Bauernvolk, und für ein
solches ist die Bewässerung des Landes eine Lebensbedingung.
So nimmt der Brunnen im Leben wie in der Kunst eine
wichtige Stellung ein. Ein Relief der Hanzeit, wie ein an-
deres aus Schantung (Chavannes, La sculpture en Chine,
8.46) stellen das Schöpfen aus einem Brunnen dar (Laufer,
Fig. 16). Daß der moderne Brunnen mit dem über ein Rad
gezogenen Eimer in alte Zeit zurückgeht, zeigt der Vergleich
von einem Brunnengehäuse (Fig. 14) mit der Nachbildung
eines Brunnens in Ton (Laufer, Tafel XIV). Der Brunnen
hat eine steinerne Umfassung, über der sich ein Gerüst er-
hebt, das die Rolle mit dem Schöpfeimer trägt, der hier auf
dem Rande der Einfassung steht. Ein kleines Dach schützt
die Anlage, in dem wir schon die charakteristische Form
des chinesischen Hausdaches mit vier abfallenden Seiten sehen.
— Die Gestalt des Brunnens wird mehrfach in Gefäßen
nachgeahmt; wie stark das Vorbild wirkt, zeigt sich darin,
daß das Brunnendach hier oben auf dem Bügel der Gefäße
sitzt (Laufer, Tafel XVI), und noch pedantischer, wenn gar
im Innern eines Gefäßes der Schöpfkrug des Brunnens
plastisch nachgebildet wird! (Laufer, 8.79). Diese Sinnlosig-
keit ist wohl aus der Neigung der Chinesen, einmal gegebene
Formen zu bewahren, zu begreifen, die aueh in der Ge-
schichte der Sitten zu manchen uns absonderlich erschei-
nenden Bräuchen geführt hat. Eine andere Gefäßform zeigt
uns den turmförmigen Getreidespeicher. Solche Anlage
als Totengabe zeigt Laufer, Fig.12: auf dem umfriedigten
Hofe erhebt sich ein runder Turm mit Treppe, die an der
Außenseite emporführt zu der Öffnung, durch die das Ge-
treide eingeschüttet wird. Dem entsprechen die turmartigen
Gefäße (Tafel IX, X, XI), bei denen das vierseitige Dach
zum Deckel geworden ist.
Interessant sind die Füße dieser Gefäße, die Laufer als
Bärenfüße erkennt, wie solche auch in Po-ku-t'u-lo genannt
werden. Das muß mit der Bedeutung des Bären für eine
ältere Kulturstufe zusammenhängen, deren letzter Nachklang
wohl noch in der religiösen Verehrung nachlebt, die der Bär
bei den Ainus und bei sibirischen Stämmen genießt.
Einen Einblick in die ältesten agrarischen Zustände
bieten Gefäße mit Schafen (Laufer, 8.45). Mehrere begriff-
liche Schriftzeichen des Chinesischen, die mit dem Zeichen
für „Schaf“ zusammengesetzt sind, beweisen, daß das Schaf
im Mittelpunkt der Wirtschaft stand (vgl. die von Conrady
gegebenen Beispiele in Ullsteins „Weltgeschichte“ III, 502).
Aus diesem Werke lernen wir zugleich die altchinesische
Mühle kennen (Laufer, Tafel IV). Von besonderem Inter-
esse, ein Denkmal uralter Seßhaftigkeit, sind die Kochherde
(Laufer, Tafel XVII u. XVIII), wie wir solche auch aus
einem Steinrelief kennen. Sicher dienten solche Ofen durch-
aus praktischen Zwecken — Laufer (S. 80) hält sie lediglich
für Totengaben —; noch die Mingzeit benutzte kleine trans-
portierbare Kochöfen von ähnlicher Anlage.
Noch eine schwierige Frage sei aus dem großen kultur-
geschichtlichen Gehalt des Werkes hervorgehoben: die Be-
ziehungen der älteren chinesischen Kultur zur mittelasiati-
schen. Auch Münsterberg hat ihr im 1. Bande seiner großen
„Chinesischen Kunstgeschichte“ besondere Aufmerksamkeit
gewidmet. Sicher hat die mittelasiatische Kunst zunächst
von Indien und China, ferner auch vom Westen mancherlei
Einwirkungen erfahren; aber die mittelasiatischen Völker
haben diese Anregungen selbständig gestaltet. (Dabei saßen
hier auch indogermanische Völker; ob Mittelasien zur Han-
zeit schon türkisch war, muß wohl noch ungewiß bleiben.)
Jene selbständig gewordene Mischkunst hat dann auf die
chinesische Kunst eingewirkt, freilich bedeutend später als
in der Hanzeit. Wir stehen hier aber erst in den Anfängen
der Erkenntnis, die erst durch die neuesten archäologischen
Forschungen in Zentralasien festen Boden gewonnen hat.
R. Stübe.
Dr. J. Hunziker, Das Schweizerhaus nach seinen land-
schaftlichen Formen und seiner geschichtlichen Entwicke-
lung. Sechster Band. Herausgegeben von Dr. C. Jecklin.
Aarau 1910, H. R. Sauerländer u. Co.
Es ist erfreulich, daß nach Hunzikers Tode sein Nach-
laß in Dr. Jecklin einen pietätvollen Herausgeber gefunden
hat, der das groß angelegte Werk weiterführt. ‚Dieser sechste
Band bringt uns zunächst eine allgemeine Übersicht über
das dreisässige Haus, welches uns durch die in den früheren
Bänden geschilderten Reisen Hunzikers von der Saane bis
zur Thur und im deutschen Jura bekannt wurde. Hier wird
eine Zusammenfassung der vielen Spielarten und verschiedenen
Mischformen geboten, welche das Ergebnis der Wanderungen
darstellen, wobei zu bewundern ist, wie der Verfasser all die
tausend Einzelheiten erforscht und mit ihren mundartlichen
Benennungen festgelegt hat. Die zweite Abteilung behandelt
das schwäbische Haus der Nordostschweiz wieder in der Form
einer Wanderung. Die immer spärlicher werdenden alten, den
Urtypus zeigenden Schwabenhäuser werden in zahlreichen
Abbildungen und Plänen noch für die Nachwelt aufbewahrt
und mit zahlreichen Einzelheiten geschildert.
F. Curschmann, Die deutschen Ortsnamen im nord-
ostdeutschen Kolonialgebiet. (Forschungen zur
deutschen Landes- und Volkskunde, Bd. XIX, Heft 2.)
Stuttgart 1910, J. Engelhorn. 5 f.
Über die slawischen Ortsnamen im nordostdeutschen
Kolonialgebiet ist genug geschrieben worden, so daß man
fast glauben konnte, es gäbe dort überhaupt keine Deutschen
mehr. Gründlich und zusammenfassend schließt nun die vor-
liegende Schrift diese Lücke, wiewohl der Verfasser be-
scheiden betont, es sei da noch vieles nachzuholen. Jeden-
falls erkennen wir aber, daß die deutschen Ortsnamen weit
zahlreicher dort sind, als man bei der Fülle der —itz, —ow,
—in usw. vermutete. Und die deutschen Ortsnamen sind
gleichzeitig wertvolle Zeugnisse der verschiedenen Koloni-
sationsperioden.
Das Gebiet, welches Curschmann behandelt, wobei er
stets das reiche Urkundenmaterial zugrunde legt, wird nach
Westen von der Elbe, Saale und den böhmischen Randgebirgen
begrenzt, so daß noch Schlesien in seine Untersuchungen
hineinfällt. Er teilt seinen Stoff nach den vier geschichtlichen
Siedelungsperioden, die sich auch in der Namengebung aus-
210
Kleine Nachrichten.
drücken. Aus der ältesten germanischen Periode (Vandalen,
Burgunder, Goten u. a.) ist sehr wenig Sicheres übrig ge-
blieben. Vollkommen richtig betont der Verfasser, daß die
auswandernden deutschen Stämme das weite Land nicht
menschenleer hinterließen, sondern daß ihre Reste von den
nachrückenden Slawen (2. bis 6. Jahrh.) aufgeschlürft wurden.
Aus jener historischen Urzeit haben sich der Name Schlesien
(von den germanischen Silingen) und eine Anzahl Flußnamen
(Havel, Elster, Ihle usw.) erhalten. Auch Brandenburg ist
ein deutscher Ortsname, das angeblich altslawische „Brannibor“
ist eine spätere Fälschung; deutsch sind Havelberg und
Mecklenburg aus jener frühen Periode. Nach der slawischen
Zeit, deren Ortsnamen hier nicht in Betracht kommen, folgt
die deutsche Kolonisationsperiode mit den zahlreichsten deut-
schen Ortsnamen vom 12. bis 14. Jahrh., die, in ihren Einzel-
heiten erforscht, den Hauptinhalt der Schrift ausmachen, ein
überreiches, gut gegliedertes Kapitel, das viele für die Siede-
lungsgeschichte wichtige Nachweise bringt. So z. B. wissen
wir, daß die Ortsnamen auf —leben den Warnen (mittleres
Elbegebiet bis Thüringen) angehören und aus der Zeit vor
531 stammen. Sie sind im Kolonisationsgebiet nur gegen
20mal vertreten, stammen aber sicher durch Übertragung aus
dem Gebiete der Warnen. Endlich die Ortsnamen der Neu-
zeit (welche Curschmann an die Spitze seiner Arbeit stellt);
sie zeigen in ihrer Mannigfaltigkeit keine besonderen Kenn-
zeichen; da treffen wir selbst Orte wie Quebeck, Sadowa,
Kaisertreu, Gneisenau und sehr viele, die einfach mit Vor-
namen zusammengesetzt sind. A.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Daß es in Indien ganze Stämme gibt, die nur ein Ver-
brecherleben führen und großenteils auch Nomaden sind, er-
fahren wir durch eine ausführliche und mit Tafeln versehene
Schrift des Generalpolizeiinspektors M. Kennedy über die
indischen Verbrecherklassen („Notes on Criminal Classes
in the Bombay Presidency“, Bombay, Government Central
Press, 1908), die sehr belangreiche Nachrichten enthält, nach
denen das indische Gaunertum dem europäischen keineswegs
nachsteht. In welchen Beziehungen diese „Klassen“ von Ver-
brechern mit den Kasten stehen, und wohin sieethnographisch zu
rechnen, bemerkt Kennedy nur ausnahmsweise. Er führt nur die
„Klassen“ an, die sich aber meistens mit Stämmen decken. Viele
sind reine Nomaden wie die Kaikadis im Dekkan, die Sansiyas,
die Beriyas und andere. Es gibt solche Stämme, die nur in
zeitweilig errichteten Rohr- oder Laubhütten wohnen; die
Mang-Garudis führen Rohrhütten auf Büffeln mit sich.
Man trifft unter diesen Stämmen alle Arten von Ver-
brechern wie in Europa: Diebe und Einbrecher, Taschendiebe,
Falschmünzer, doch werden- von einzelnen Stämmen diese
Verbrechen spezialisiert, und der erfahrene Polizeibeamte er-
kennt an den angewandten Instrumenten, der Art des Ein-
bruchs usw. leicht, um welchen Stamm es sich handelt. So
erkennt man daran, wie ein Loch in die einfachen Behausungen
der Eingeborenen zwecks Einbruchs gemacht wurde, ob es
sich um einen Koli oder Harni im Pandschab handelt. Das
europäische „Schmierestehen“ ist auch in Indien bekannt;
Husten in verschiedener Art wird als Warnungszeichen ge-
braucht. Niemals deutet der Warner mit der Hand auf die
Gegend, aus der Gefahr droht, sondern er braucht dazu ver-
schiedene Bewegungen mit dem Ellenbogen, kratzt sich auf
dem Kopfe usw. Es gibt da eine ganze Zeichensprache, die
Kennedy im einzelnen schildert. Auch das, was die deutschen
Gauner „Zinken“ nennen, Zeichen an Häusern oder Türen,
eine Art Geheimschrift, ist in Indien bekannt, und wie bei
uns verstecken diese Gauner geraubtes Geld oder Schmuck
in Körperöffnungen. Ganz so wie in Europa sind auch diese
Verbrecherklassen stark abergläubisch, und da trifft merk-
würdigerweise auch jener Aberglauben zu, daß eine Defäkation
den Dieb vor der Entdeckung bei einem Einbruche schütze,
so lang sie frisch ist! Andere werfen einige Samen von Abrus
praecatorius vor sich hin, andere versagen sich vorher gewisse
Speisen, essen nur Hammelfleisch, tragen eine getrocknete
Ziegenzunge als Schutzmittel bei sich, und die Sansiyas und
Beriyas entwenden von den Krematorien verbrannte Menschen-
knochen, mit denen sie, bei Einbrüchen, über die Schläfer
hinwedeln, im Glauben, diese würden nicht erwachen.
— Im Alter von 100 Jahren ist zu Cleveland in Ohio
Nikolaus Mihajlo, der „Kleine“ zubenannt, gestorben,
von dem wir deshalb hier Notiz nehmen, weil er wohl der letzte,
von einer Regierung anerkannte Zigeunerfürst war. Aller-
dings war es nur die ungarische provisorische Regierung des
Jahres 1848, die ihn, den Anführer der Zigeuner im Banate, zum
Zigeunerwojwoden ernannte, weil er ihr vorzügliche Spionen-
dienste gegen die Österreicher geleistet hatte. Von da ab
hieß er nur der Zigeunerkönig, nach dem nicht nur die unga-
rischen und serbischen, sondern zum Teil auch die rumänischen
Zigeuner sich richteten, und der ihnen, nach Zigeunerart
wandernd, bald hier, bald da Recht sprach. Mihajlo war als
Sohn eines Wanderzigeuners 1810 im Banate geboren. Als
geordnete Verhältnisse eintraten, litt es ihn nicht mehr in
Europa; 1880 wanderte er nach Amerika aus, wo die dortigen
Zigeuner sein Königtum anerkannten. Von ihm sagt sein
Biograph F. W. Brepohl (Journ. of the Gypsy Lore Society,
Juli 1910): „Mit ihm sank der letzte Zigeunerfürst ins Grab,
dessen Würde jemals von der Regierung eines Kulturstaats
bestätigt wurde. Mit ihm sinkt auch ein letztes Stück alter
Zigeunerherrlichkeit und -privilegien dahin. Seine Getreuen
beweinen in ihm nicht nur den großen Toten, sondern auch
den letzten Zeugen einstiger Zigeunerfreiheit und Zigeuner-
rechte.“
— Zwei hydrographische Missionen haben mit ihrer
Tätigkeit im französischen Aquatorialafrika begonnen.
Die eine, die unter Leitung des durch seine wertvollen Auf-
nahmen im Tsadseegebiet bekannten Schiffsleutnants Audoin
steht, hat sich Ende Juni nach Loango begeben. Im Hinbick auf
die geplante Bahn von der Gabonküste nach Brazzaville am
Stanley Pool hat sie folgende Aufgaben erhalten: Studien
für die Wahl eines Hafens im Gabonästuar und Ausarbeitung
eines vorläufigen Projekts für diesen Hafen; Untersuchung
des heutigen Hafens bei Kap Lopez; Studien für die Wahl
eines Hafens in den Buchten von Pointe Noire oder Pointe
Indienne und Ausarbeitung eines vorläufigen Projekts dafür.
Für diese Mission, die über einen zahlreichen Stab von
Ingenieuren verfügt, sind 450 000 Fr. ausgeworfen. — Für die
zweite Mission, die unter dem Befehl des Marine - Ingenieur-
hydrographen H. Roussilhe steht und ebenfalls zahlreiche
Mitglieder zählt, sind 650000 Fr. bewilligt. Die ersten Teil-
nehmer sind Ende August hinausgegangen. Die Aufgaben
umfassen: Studien über projektierte Häfen bei Brazzaville,
Bangi (wo die Landrouten nach dem Tsadseegebiet ab-
gehen) und Uësso, das der Endpunkt der Nordbahn vom
Ogowe und Gabon sein wird; hydrographische Untersuchung
des Sangha zwischen Uësso und Bayanga, des Ngoko zwischen
Uësso und Ngoila, des Ubangi zwischen Bangi und dem Ein-
fluß des Lobaye, sowie des Kongo zwischen Brazzaville und
Kimpoko (Stanley Pool). Die Dauer dieser Mission ist auf
1'/, Jahre veranschlagt.
— Über die Ergebnisse der Expedition von H. A. Lorentz
nach dem Schneegebirge Niederländisch - Neuguineas sind
noch immer wenig Einzelheiten bekannt geworden. Einiges
weitere wird in der „Tijdschrift v. h. Kon. Nederl. Aardrijks-
kundig Genootschap“, 1910, Nr. 4, mitgeteilt. In der Nähe
des Schneegebirges traf die Expedition auf ein Volk von
kleinem Wuchs, und es sind einige Männer gemessen
worden. Die Zahlen sind 152,5, 157, 158, 158,5, 160, 161 und
163cm. Diese Leute sind also recht klein, aber sogenannte
Pygmäen, Angehörige der Zwergrassen, sind sie nicht. Es
werden keine Kleider getragen, die Wohnungen sind kleine
Hütten, 3m über dem Erdboden errichtet. Bogen und Pfeil
sowie Steinäxte sind in Gebrauch. Es finden Körperver-
stümmelungen statt: die Frauen schneiden sich den Mittel-
finger der linken Hand ab, die Männer den oberen Teil eines
Ohres. Man baut und raucht Tabak, was an der Südküste
von Niederländisch-Neuguinea nicht geschieht, wohl aber im
Tal des Fly River und im Zentraldistrikt von Englisch-Neu-
guinea, von wo die Sitte sich nach der Küste verbreitet hat.
Daraus könnte man schließen, daß sie in Neuguinea von
Norden her Eingang gefunden hat. Auch Lorentz nimmt
für den von ihm gefundenen Bergstamm Verbindung mit
der Nordküste an, da dieser große Seemuscheln als Brust-
schmuck trägt. Viel Verläßliches war nicht zu erfahren, da
die Verständigung nur durch Zeichen möglich war.
— Wilhelm Filchner ist von seiner Übungsexpedition
nach Spitzbergen (vgl. oben 8. 141) Anfang September
nach Berlin zurückgekehrt, nachdem er die Westinsel von
der Templebai bis zur Wichebai, also auf einem etwas nörd-
Kleine Nachrichten.
licheren Wege als Conway durchkreuzt hat. Es handelte
sich für ihn darum, sich und die Mitglieder der von ihm
geplanten Südpolarexpedition mit den Eisverhältnissen ver-
traut zu machen, wie er sie in ähnlicher Weise auf seinem
künftigen antarktischen Arbeitsfelde vorzufinden erwarten
darf, auch mit der Reisetechnik; ferner auch um die Aus-
probierung verschiedener Ausrüstungsstücke und namentlich
eines Schlittenmodells, eines verbesserten Nansenschlittens.
Wie Filchner nach seiner Rückkehr den Zeitungen mitgeteilt
hat, ist er mit dem Ergebnis zufrieden, auch sein Schlitten-
modell habe sich bewährt. Das dortige Inlandeis war ziem-
lich schwierig, von zahllosen Spalten, Wasserlöchern und
Bächen durchsetzt, die Teilnehmer mußten die beiden
Schlitten größtenteils selbst ziehen — was ihnen ja wohl
auch in der Antarktis bevorstehen wird. Spitzbergen ist an
der erwähnten Stelle etwa 40 km breit. Als Mitglieder des
wissenschaftlichen Stabes der Südpolarexpedition werden bis-
her genannt: Dr. Erich Barkow vom Meteorologischen Institut
in Potsdam (Meteorologe und Luftelektriker), Dr. Hans Philipp,
Privatdozent in Greifswald (Geologe), Dr. Erich Przybyllek,
Assistent am Geodätischen Institut in Potsdam (Astronom und
Erdmagnetiker), Dr. Heinrich Saelheim aus Berlin (Geograph)
und Dr. Carl Potpeschnigg aus Graz (Arzt). Die Genannten
haben auch an dem Ausfluge nach Spitzbergen teilgenommen.
. — Die Eisverhältnisse in den südbayerischen
Seen erörtert H. Herpich (Diss. d. Techn. Hochsch. München
1910). Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, pflegen diese
Hochseen im Laufe des November zu vereisen. Im Gegensatz
zu dem Vorgang des Vereisens pflegt sich die Auftauungs-
periode im allgemeinen über den April und Mai zu erstrecken.
Je weiter ein See von der freien Hochebene gegen das Ge-
birge zu abliegt, um so eher wird er vereisen und um so
später wieder auftauen; doch gibt es hier wieder eine ganze
Reihe von Ausnahmen. Drei Faktoren beeinflussen haupt-
sächlich den Eintritt der Vereisung: die Tiefe des Seebeckens,
deren Zunahme stets eine Verzögerung des Vereisungsbeginns
bedingt — der Gang der Lufttemperatur, deren Sinken immer
eine Beschleunigung der Eisbildung, zeitlich oder räumlich
genommen, verursacht, deren Steigen dieses Datum hinaus-
schieben oder auch das Auftauen herbeizuführen vermag —
endlich der Föhn, dieses gewaltige Naturphänomen, das auch
den mächtigsten Eispanzer, dessen Entstehen mehrere Monate
beanspruchte, oft im Verlaufe weniger Stunden vernichtet.
Während Bewölkung, Niederschläge und horizontale Gestal-
tung des Seebeckens nur bedingungsweise einen nennenswerten
Einfluß ausüben können, stellen endlich Umgebung und Zu-
flüsse vor allem bei kleineren Seen nicht zu unterschätzende
Faktoren in dem so verwickelten Wechselspiele der den Ver-
eisungsgang beschleunigenden oder verzögernden Kräfte dar.
Für die Untersuchung so mancher lokalen wie meteorologi-
schen Erscheinung fehlen leider nur zu häufig die dazu un-
bedingt notwendigen Beobachtungsmaterialien. Man erkennt
nur zu bald, daß eben jeder See in gewissem Sinne als In-
dividuum eigenster Art aufgefaßt und untersucht werden
muß, sollen die innersten Zusammenhänge der seine Eis-
verhältnisse beeinflussenden Faktoren wirklich klargelegt
werden.
— Über die südlichen Rheingletscherzungen von
St. Gallen bis Aadorf schreibt C. Falkner (Jahrb. d.
St. Gall. naturw. Ges. für 1908 u. 1909). Die östlichsten vom
Bodenseebecken schweizerischerseits abzweigenden Zungen
des genannten Gletschers erstrecken sich innerhalb.des inneren
Jungmoränenkranzes zwischen der 8-Flanke des St. Galler
Hochtales und dem Tannenbergplateau, zwischen diesem und
dem Nollenplateau; zwischen letzterem und dem Immenberg-
plateau. Alle diese Zungen weisen sich ganz allgemein durch
die topographischen Verhältnisse, im speziellen durch ihre
bzw. Moränenumwallung, ihre Molasseflanken und die sie
mehr oder weniger erfüllenden Drumlins und Rundhöcker
als solche aus. Als innerer Jungmoränenkranz ergibt sich
die streckenweise von Molasseerhebungen unterbrochene End-
und teilweise Seitenmoränenumwallung in westwärts fort-
laufendem Sinne auf der Linie St. Gallen—Gossau—Flawil—
Jonswil—Wil—Eschlikon—Aadorf—Burg. Der innere Mo-
ränenkranz erweist sich als die Folge eines Vorstoßes des
Rheingletschers; die ostwärts von Winkeln im St. Galler
Hochtale gelegenen Endmoränen sind successive auf dem
Rückzug abgesetzt worden, doch sind Anzeichen einer in der
Nähe des Bodensees erfolgten kleinen Schwankung vorhanden.
Die Drumlins und Rundhöcker spiegeln in der Orientierung
ihrer Längsachsen in durchaus zuverlässiger Weise die Rich-
tungslinien der vorrückenden Eiszunge wider; sie laufen
jeweilen mit entsprechender Umbiegung über West nach Süd-
west in die entsprechende Zunge ein, um dieselbe meist
211
ganz zu erfüllen. Die Molasseflanken zeigen fast überall
Terrassierung oder Rippung; letztere ist besonders dort stark
ausgeprägt, wo der große Rheingletscher durch zeitliche Zu-
flüsse verstärkt worden ist. Das Zungenniveau liegt um so
tiefer, je weiter westwärts die Zunge gelegen ist; diese Er-
scheinung zeigt sich sogar innerhalb einer und derselben
Zunge, sofern dieselbe durch Rippen oder vorspringende Mo-
lassekeile zerlegt worden ist. Die Abflußrinnen vom inneren
Jungmoränenkranz mußten im allgemeinen in der Richtung
Ost—West verlaufen.
— Über die Entstehung der Faltengebirge ver-
öffentlicht A. Ludwig eine interessante Arbeit in den Jahr-
büchern der St. Gallenschen naturw. Ges. für 1908 und 1909,
gestützt auf das fundamentale Werk von Sueß „Das Antlitz
der Erde“, wobei er aber in Gegensatz zu den von jenem
Gelehrten und Heim veröffentlichten Sätzen tritt. Das Haupt-
merkmal der großen gefalteten Hochgebirge der Erde ist die
Vollständigkeit bzw. Lückenlosigkeit der marinen Schichtreihe.
Faltung und einstige Meeresbedeckung stehen in einem ge-
wissen Zusammenhang. Die großen Hochgebirge liegen in
den Gebieten, von welchen die großen Meerestransgressionen
ihren Ausgang nahmen, also an tiefen Stellen der früheren
Meere. Aus Geosynklinalen entstehen im Laufe geologischer
Zeiten Geoantiklinalen oder die großen Faltengebirge. Gegen
die Behauptung, daß die Hebung der Meeressynklinalen zu
Faltengebirgen durch tangential wirkende Kraft erfolgt sei,
die Hochgebirge also als zerdrückte Meere aufzufassen seien,
lassen sich viele Gründe anführen, welche für Vertikal-
erhebung mit Gleitfaltung sprechen. Die mancherorts be-
hauptete Faltung als Ausdruck erzwungener Anpassung oder
Einfügung in gegebene Verhältnisse bedarf zur Erklärung
nicht einer tangential wirkenden Kraft, sondern geht schon
aus der Auffassung der Gebirge als frühere Meeressynklinalen
hervor. Die Tendenz, die Tiefen zu überschieben, läßt sich
auch durch Gleitfaltung erklären. Gegen die Lehre von der
tangential wirkenden Kraft spricht die auf geringe Entfer-
nungen auftretende totale Verschiedenheit der Schubrichtung.
Die aus allen Beobachtungen sich ergebende Notwendigkeit,
die sogenannte horizontale Bewegung der Erdrinde als eine
mehr oberflächliche zu betrachten, ist einer der stärksten
Gründe gegen die Annahme einer tangential wirkenden Kraft
und ein Hauptargument für die Gleitfaltung. Die Tatsache,
daß die Fazies quer zur Streichrichtung viel rascher wechseln
als in der Längsrichtung des Gebirges, läßt sich nur durch
Unterschiede in der Meerestiefe zur Zeit der Sedimentation
erklären. Die Entstehung der Hochgebirge erfolgte wahr-
scheinlich in mehreren Phasen und vornehmlich zur Zeit
negativer Strandverschiebungen. Die Erhebung der Meeres-
teile zu Hochgebirgen erfolgte auf bestimmten Leitlinien
nämlich den synklinalen Tiefenlinien, die in gewissem Sinne
als Linien der Schwäche zu bezeichnen sind.
— Über Gifte der Eingeborenen im Uhehegebiet
(Deutsch-Ostafrika) macht Hauptmann Nigmann (Iringa)
im „Deutschen Kolonialblatt“ vom 15. August d. J. einige
Angaben. Ein von den Wahehe und den ihnen nahestehenden
Wabena häufig verwendetes Gift stammt von der Wurzel des
Baumes Muhewe (Abutilon indicum). Bei Erwachsenen dient
es, mäßig angewandt, als Abführmittel, bei jungen Kindern
wirkt es, in stärkeren Dosen eingegeben, tödlich. Nament-
lich die Wahehe und ihre Nachbarstämme bedienen sich
dieses Mittels bei ihren zahlreichen Kindestötungen gern,
da die erzeugte Diarrhöe den Tod des Kindes unauffällig
und natürlich erscheinen läßt. Als Pflanzengifte werden
ferner gern benutzt: Wolfsmilchsaft der Euphorbienarten
(Malangali), die Aloearten, Nachtschatten, die Liliengewächse,
endlich auch Tabak (bei Kindern). Ganze Familien der
Wahehe und der ihnen benachbarten Stämme besitzen von
einem bestimmten Gift Kenntnis, die streng geheim gehalten
wird und sich durch viele Generationen forterbt. Den einstigen
Machthabern war das wohlbekannt, und die früheren Sultane
suchten solche unheimlichen Familien dadurch unschädlich
zu machen, daß sie sie nach einer entfernten Landschaft ver-
pflanzten, aus der sie nicht herausdurften. Seit Aufrichtung
der deutschen Herrschaft sind diese Familien vielfach in
ihre alten Heimatsorte zurückgekehrt; sie wissen, daß die
deutsche Rechtsprechung Klagen gegen sie aus Mangel an
ausreichenden Beweisen fast nie zu verfolgen vermag, und
so üben diese Leute ungestraft einen oft gräßlichen Terroris-
mus aus. Es ist sehr schwer, solcher Familiengifte habhaft
zu werden. Denn zunächst werden diese Gifte nicht vor-
rätig gehalten, sondern zum bestimmten Zweck immer be-
sonders hergestellt. Außerdem geben auch überführte Gift-
mörder ihr Familiengift nicht preis, selbst wenn ihnen Straf-
erlaß oder andere Belohnung in Aussicht gestellt wird.
212
Kleine Nachrichten.
Gewöhnlich nennen sie bereitwillig eine'Anzahl Pflanzen, die
das Gift enthalten sollen, zeigen auch selbst die Pflanzen,
aber diese entpuppen sich gewöhnlich als harmlos. Gleich-
falls zu Vergiftungszwecken wird hier ein auf Gräsern ver-
kapseltes Gewebe (wohl eine Puppe) benutzt, dessen Genuß
selbst erwachsenes weidendes Großvieh sofort tötet. Dieses
Gespinst erscheint hier gegen Ende der Regenzeit, etwa im
Februar bis März. Endlich erwähnt Nigmann, daß die
Wangoni und benachbarte Stämme sich vielfach des Leichen-
giftes bedienen. Dieses wird auf Hunde übergeimpft, der
abgekratzte Schorf wird aufgelöst, und damit werden dann
Speer- und Pfeilspitzen bestrichen. Ebenso wird das schlafende
Opfer durch Impfung umgebracht.
— Das Bekanntwerden, wenn auch nicht gerade die Ent-
deckung, eines Heiligen für den Schweizerkäse, San
Lucio, verdanken wir dem um die Hagiographie vielfach
verdienten Baseler Professor E. A. Stückelberg (Arch. f.
Religionswissenschaft 1910, 8.332). Das einsame Wallfahrts-
kirchlein dieses Heiligen liegt 1545 m hoch auf einer Paßhöhe
zwischen dem Kanton Tessin und Italien, zwischen Val Colla
und Val Cavargna. Mit dem Namen Lueius, den verschiedene
Heilige führen, hat der Käseheilige nichts zu tun; er ist viel-
mehr ein Hugo bzw. Uguccio gewesen, woraus Lucio entstanden.
Als Schutzpatron der Älpler erscheint er, ähnlich wie Sankt
Wendelin, umgeben von Vieh seit dem 13. Jahrhundert, und
seit dem 15. Jahrhundert findet sich ausnahmlos auf allen
seinen vielen von Stückelberg untersuchten Bildern als Attribut
der breite, scheibenförmige Schweizerkäse. Auf 40 authen-
tischen Bildern steht er da mit dem Schweizerkäse im Arme,
den er meistens mit einem Messer anschneidet, und von dem
er ein Stück den zu ihm Bittenden spendet. So ist er Patron
der Käse erzeugenden Sennen und der Alpwirtschaft. Der
Heilige hat im 12. Jahrhundert gelebt, und an seinem Grabe
geschehen Wunder. Noch jetzt ziehen jährlich 1500 Wall-
fahrer zu seinem oben bezeichneten kleinen Heiligtum auf
sehr beschwerlichem Wege.
— Volkskunde der Buren kann man eine große Ab-
handlung betiteln, „Die Wurzeln der kapholländischen Volks-
überlieferungen“, welche als Supplement zum Internationalen
Archiv für Ethnographie (Leiden 1910, E. J. Brill) erschienen
ist. Der Verfasser, F. T. Schonken, ein Kapländer, ist leider
vor der Veröffentlichung gestorben, die jetzt Prof. E. Mogk
in Leipzig besorgt hat. Die Arbeit ist deshalb von Belang,
weil sie uns zeigt, einmal, was sich im Verlauf von einigen
Jahrhunderten unter den Ansiedlern noch von holländischen
Überlieferungen erhalten hat, dann, wie der neue Lebensraum
wirkte und was für Einflüsse die fremden Völker als Nach-
barn ausübten. Dabei ist zu beachten, daß die heutigen
Buren selbst ein stark mit deutschen, französischen und eng-
lischen Elementen versetztes Volk sind, und daß daher mehr
oder minder diese alle sich volkskundlich bemerkbar machen.
Mancherlei ist auch durch hottentottische oder buschmännische,
selbst kaffrische Erzählungen (Tierfabeln) beeinflußt, Haus-
mittel wurden von diesen übernommen, aber die Sprach-
schwierigkeiten setzten hier eine Grenze. Auch die zahlreich
ins Kapland eingewanderten malaio-portugiesischen Völker
trugen mancherlei zur Volkskunde der Buren bei, deren
Sprache etwa 100 von diesen stammende Lehnwörter, die
meist auf das häusliche Leben sich beziehen, enthält, was
sich daraus erklärt, daß die Kapmalaien als Sklaven gehalten
wurden.
Vorherrschend ist natürlich das aus der alten Heimat
Bewahrte, fast das ganze Gebiet von Sitte und Brauch, der weit-
aus größte Teil geistiger und die kleinere Hälfte der mate-
riellen Kultur. Auf dem neuen Boden, aus dem Milieu, ist
dagegen der größte Teil der materiellen Kultur (Wohnung
und Wirtschaft) erwachsen, aber weit weniger von der
geistigen Kultur (Dichtung usw.) und noch weniger von der
Sitte. Unter dem Einflusse der Mutter hat die Kinderstube
manches Alte aus der Heimat gut bewahrt, und wir hören
da Abzählweisen oder, mit der gleichen Melodie wie bei uns
in Deutschland, das Liedcehen: Taler, Taler, du mußt wandern
(Daler, daler gij moet wandlen).
— Der italienische Anthropologe Ridolfo Livi macht
(Bull. Soc. d’Anthropologie 1909, p. 438) auf einen bisher
übersehenen Faktor der Völkermischung aufmerksam, welcher
namentlich für die anthropologische Gestaltung der Be-
völkerung Italiens von Wichtigkeit ist. Gegenüber den
Mischungen, die durch Völkerwanderungen, Kolonisationen usw.
ganz offen zur Konstituierung derselben beitrugen, vollzog
sich mehr heimlich, aber sicher und langsam die Bei-
mischung von Sklavenblut in vielen Teilen Italiens.
Brachykephale Inseln inmitten einer dolichokephalen Be-
völkerung, blonde Menschen zwischen braunen, die weder
historisch noch sprachlich erklärbar sind, werden von Livi
auf Nachkommenschaft der noch durch das ganze Mittel-
alter in Italien blühenden Sklaverei zurückgeführt. Von den
Einwanderungen und Beimischungen keltischen, langobardi-
schen, normännischen, sarazenischen Bluteshat man viel geredet,
aber das von der Sklavenbevölkerung stammende übersehen.
Von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts war
die Sklaveneinfuhr in Italien sehr lebhaft, und es wurden
namentlich weibliche Sklaven eingeführt. Von den venezia-
nischen und genuesischen Besitzungen am Schwarzen Meer
und der Krimküste, von Kaffa (von dem aus jener Zeit der
Name Kaviar stammt), aber auch aus Afrika kamen sie und
in Venedig, Florenz, Lucca, Pisa, Genua waren fast durchweg
keine heimischen Dienstboten, sondern Sklaven in den
Haushaltungen beschäftigt. Nicht nur die Reichen, sondern
jede bürgerliche Familie kaufte sich namentlich weibliche
Sklaven. Die Einfuhr in Venedig allein betrug damals, wie
sich feststellen ließ, jährlich nicht weniger als 10000. Dort
war allerdings die Einfuhr am stärksten, aber auch kleine
Städte hatten Sklaven.
Die Benutzung der Sklavinnen als Kebsweiber war da-
mals eine allgemeine Sache, und aus einem Register von
Lucca aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts ist festgestellt
worden, daß ein Drittel der dortigen Kinder Sklavinnen zu
Müttern hatte. Die nach Venedig gebrachten Sklaven, vom
Schwarzen Meer, werden in den Listen als „Tartaren“ auf-
geführt, worunter man verschiedene dort ansässige mongo-
lische Völkerschaften zu verstehen hat. In einem Florentiner
Register jener Zeit werden Sklaven mit breitem, plattem
Gesicht, stumpfer Nase, gelber Gesichtsfarbe — also von
mongolischem Typus — oft erwähnt. Und die Nachkommen
dieser Sklaven haben bis heute diese Züge, namentlich im
Venetianischen, noch fortgepflanzt.
Ein anderer Herd, in welchem anthropologisch das
Sklavenblut fortbesteht, ist Sizilien, wo bis in das 17. Jahr-
hundert die Sklaverei andauerte. Noch 1812, also vor hundert
Jahren, ist ein Sklave in Palermo nachweisbar, wofür Livi
die Urkunden mitteilt! Dort gab es im Jahre 1565 noch
etwa 1300 Sklaven, die Hälfte Weiber, unter 40000 Ein-
wohnern, und da in einer Urkunde auch die Hautfarbe von
456 Sklaven angegeben wird, so erfahren wir, daß unter
diesen sich 115 olivenfarbige und 224, beinahe die Hälfte,
schwarze befanden, der Rest war weiß. Und die Schwarzen
stammten aus Bornu, waren also echte Neger. Ganz ge-
wöhnlich war es, den Sklavenkindern den Namen der Familie,
der sie gehörten, zu erteilen, wie überhaupt das Los der
Sklaven milde war.
Auf solche Beimischungen führt Livi auch die Ver-
schiedenheit der sizilianischen Typen zurück, namentlich die
nicht seltenen negroiden Schädel, die erst kürzlich von
jener Insel Giuffrida Ruggeri in L’Anthropologie beschrieb.
Auch auf ähnliche Verhältnisse in den Mittelmeerland-
schaften Frankreichs und in Spanien, wo gleichfalls starke
Sklaveneinfuhr im Mittelalter herrschte und Vermischungen
eintraten, weist Livi hin. i A.
— Ein weltverlorenes Eiland war bis vor wenigen Jahren
die Hatterasinsel, die sich mit anderen schmalen Sand-
inseln vor der Küste Nordkarolinas hinzieht, von dieser durch
den breiten Pamplicosund getrennt. Ihre Bewohner waren
von der Außenwelt unberührt geblieben und lebten noch so
ziemlich unter denselben Verhältnissen, wie ihre Voreltern
vor drei Jahrhunderten. Das gibt sich auch, wie Collier
Cobb im „University of Carolina Magazine“ ausführt, in
ihrer Umgangssprache kund, die gewisse Wörter und Aus-
drücke in dem Binne gebraucht, wie es im alten Englisch
üblich war, heute aber wohl nirgends mehr in den Ver-
einigten Staaten. So wird das Zeitwort to travel im Sinne
von „gehen“, im Gegensatz zu jeder anderen Art der Fort-
bewegung, gebraucht. Acre bedeutet furlong = Y, Meile;
country bedeutet das gegenüberliegende Festland. To travel
wird in dem angegebenen Sinne noch an einigen entlegenen
Punkten der Britischen Inseln angewendet. Alte englische
Melodien werden auch noch auf der Hatterasinsel angetroffen,
obgleich die Gesänge der Mütter und Großmütter von den
Töchtern schon fast vergessen sind. Cobb meint, daß jene
sprachlichen Überlebsel sich aus Schiffbrüchen erklären,
die hier 1558 und 1590 stattgefunden haben. Seit etwa zehn
Jahren aber wird diese Insel häufig besucht, und das Alte
verschwindet nun schnell.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unn VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. 14.
BRAUNSCHWEIG.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
13. Oktober 1910,
Der Kurdenstamm Manggur.
Von allen kurdischen Stämmen Persiens und der
Türkei ist der Stamm Manggur darum von größtem Inter-
esse — insbesondere auch für den Ethnologen — weil
er seine Eigenart, seine Sitten und Gebräuche treu be-
wahrt hat, obwohl er seit Jahrhunderten schon fremder
Herrschaft unterworfen und fremdem Einfluß ausgesetzt
gewesen ist. Die Manggur sind der tapferste Stamm. Die
Perser und Türken haben es wiederholt erfahren, aber auch
in Kurdistan selbst wird das voll anerkannt: „tapfer wie
ein Manggur“ ist ein verbreitetes Wort, und jeder damit
Bedachte ist stolz.
Die Manggur sind wohlgebaute und kräftige Ge-
stalten, von einer Hautfarbe, die heller ist als die
ihrer kurdischen Nachbarn im Süden und Norden, die
einen recht bräunlichen Teint haben. Im übrigen unter-
scheiden sie sich kaum vom allgemeinen kurdischen Typus.
Ihre Wohnsitze beginnen unmittelbar südlich von der
Stadt Saudschbulagh, die der Hauptsitz der Mukrikurden
ist, und erstrecken sich bis zum Wesneh-Gebirgszuge,
einer hohen Kette, die den weitaus größten Teil des Jahres
mit Schnee bedeckt ist. Ferner grenzt im Westen ihr
Gebiet an die Sitze des Stammes Mammasch, den Schau-
platz der persisch-türkischen Grenzstreitigkeiten. Die
Manggur sprechen einen kurdischen Dialekt, der dem der
Mukrikurden sehr nahe steht, jedoch weicher und ange-
nehmer klingt und sich von dem Einflusse der türkischen
‚und arabischen Sprache fast ganz freigehalten hat.
Einzelne Worte klingen an das Armenische an, und
darauf fußend, haben die Armenier auch die Manggur als
Verwandte in Anspruch nehmen wollen und behaupten
nun, daß die Manggur vor geraumer Zeit von dem
armenischen Hochlande ausgewandert seien und sich an
ihren jetzigen Wohnsitzen niedergelassen hätten. Das
ist indessen reine Phantasie und durch nichts zu er-
weisen. Die Manggur selbst glauben wieder, von dem
durch Firdusis Heldengesänge bekannten iranischen
Heros Rustem abzustammen. Aber auch das ist nur
eine Sage.
Vor etwa 70 Jahren bildeten alle Manggur nur
einen Stamm unter einem einzigen Kaderweschi (Häupt-
ling), Bapir Agha. Dieser hatte 21 Söhne. Noch zu
seinen Lebzeiten teilte er alle zu seiner Herrschaft ge-
hörenden Dörfer unter sie, und so ist heute der Manggur-
stamm in 21 Unterstämme geteilt, über deren jedem
ein Kaderweschi herrscht. Der Oberhäuptling, der über
diesen 21 Kaderweschis steht, führt den Titel Mezin
(Großherr). Die persische Regierung hält sich aber für ihre
Steuern nur an die 21 Kaderweschis, deren jeder, ob er
nun reich oder arm geworden ist, die gleiche Summe ab-
zuliefern hat.
Globus XCVIII. Nr. 14.
Von der Zeit der Seffawiden-Dynastie an haben die
Manggur der persischen Regierung nicht wenig zu schaffen
gemacht. Sich den Stamm mit Waffengewalt zu unter-
werfen, war die Regierung zu schwach, und so versuchte
sie mit List ihren Zweck zu erreichen. Um einen Begriff
von den angewandten Methoden zu geben, möchte ich kurz
die Geschichte des Stammes während des 19. Jahrhunderts
erzählen. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts lud, im Auf-
trage der persischen Regierung, Ahmed Khan von dem
türkischen Stamme der Mughadem den Vater des schon ge-
nannten Bapir Agha mit seiner Verwandtschaft und seinen
Reitern nach Meragha (in der Nähe des Urmiasees) zu
einer Hochzeit ein. Der Manggurhäuptling folgte der Ein-
ladung und erschien dort am festgesetzten Tage mit un-
gefähr 200 Reitern, wurde festlich aufgenommen und
mit seinen Begleitern in einer Anzahl von Familien unter-
gebracht. In der Nacht aber wurden alle Manggur über-
fallen, der Häuptling selbst sowie der größte Teil seiner
Begleiter getötet. Nur sehr wenige entrannen dem Blut-
bade und brachten die Nachricht heim. Die Manggur
waren zunächst nicht imstande, die Toten zu rächen,
so groß ihr Wunsch auch war. Erst der Sohn des Bapir
Agha, Hemseh Agha, konnte für die Ermordung seines
Großvaters Vergeltung üben. Er setzte sich mit dem
angesehenen Scheich Obaidulla in Verbindung und plante
nichts Geringeres als einen Feldzug gegen Persien. 1880
schlug er, zusammen mit dem Sohne Obaidullas, Abdul
Kadir (jetzt Mitglied des Senates in Konstantinopel), los.
Die Absicht der beiden ging dahin, Persien zu erobern
und Seid Kadir zum Schah von Persien zu machen. Mit
beispielloser Grausamkeit fielen die Manggur in die
Provinz Azerbaidschan ein, raubten, plünderten und
töteten alles, was ihnen in die Hände fiel. In kurzer
Zeit waren die Städte Mianduab und Binab in ihrer Hand
und die türkischen Stämme jener Gegend dezimiert. Es
war eine späte, aber furchtbare Rache. Persien stand
vor einem Aufstande ähnlich den Afghanenunruhen
zur Zeit der Seffawiden. Nasr-ed-din Schah schickte
schleunigst alle verfügbaren Truppen gegen die Kurden,
nicht aber diese, sondern der Unfriede im eigenen Lager
der Kurden rettete Persien. Hemseh Agha sah sich ge-
zwungen, sich in die Berge zurückzuziehen, ohne seine
Pläne jedoch völlig aufzugeben. Ein Jahr darauf ließ
der Gouverneur von Saudschbulagh, Amir Nizami Gerussi,
früher persischer Gesandter in Paris und in anderen
Hauptstädten Europas, den Manggurhäuptling zu sich
kommen, damit er mit Persien seinen Frieden schlösse.
Der Gouverneur leistete einen Eid auf den Koran, daß
nicht ein Haar auf dem Haupte Hemseh Aghas gekrümmt
werden solle, solange er, Amir Nizami Gerussi, unter den
28
214
Kasi: Der Kurdenstamm Manggur.
Menschen lebe und diese Seele im Leibe habe, wobei er
auf seine Brust (nach orientalischer Anschauung der Sitz
der Seele) zeigte. Unter seinem Rocke aber trug Amir
Nizami Gerussi einen Sperling. Nachdem daraufhin
Hemseh Agha seinerseits geschworen hatte, Frieden zu
halten, tötete Amir Nizami Gerussi aber zunächst den
Sperling, der ihm die Last des Meineides abnehmen sollte,
und gab dann den Befehl, den Häuptling und seine
Gefolgschaft im Zelte zu überfallen und niederzumachen.
So geschah es. Hemseh Aghas Kopf ward als ein Ge-
schenk für den Schah nach Teheran geschickt. In Kurdi-
stan aber lebt das Andenken an diesen Helden fort, und
sein trauriges Schicksal wird heute noch von den kurdi-
schen Sängern gesungen. „Baitti Hemseh Agha“ läßt das
Herz jedes Kurden höher schlagen.
Oberhäuptling des Stammes ist heute Bais Agha.
Während der persisch-türkischen Grenzstreitigkeiten ist
Abb.1. Junger Kaderweschi (links) mit Dienern.
er vor fünf Jahren zu den Türken übergegangen und
empfing den Titel Pascha.
Die Manggur sind bis auf den heutigen Tag Nomaden
geblieben und wandern innerhalb ihrer Grenzen ständig
umher. Den Winter über wohnen sie in Dörfern, die aus er-
bärmlichen Hütten bestehen, im Sommer in Zelten zwischen
schneebedeckten Gipfeln, wo sie über große und nahr-
hafte Weiden für ihre zahlreichen Schaf- und anderen
Herden verfügen. Ihr Gebiet ist der schönste Teil Kurdi-
stans und hält einen Vergleich mit den Alpen wohl aus,
Die herrliche Natur hält die Leute frisch und gesund, in
großer Rüstigkeit erreichen viele ein hohes Alter. Sie
treiben nur ganz ausnahmsweise Ackerbau und in sehr
geringem Umfange. Sie wären auch zu ausgedehnterer
Agrikultur kaum fähig; denn erstens gedeiht das Getreide
in diesen Lagen und auf diesem Boden nicht besonders,
und zweitens läßt ihre Viehwirtschaft ihnen auch kaum
zu solchen größeren Arbeiten Zeit. Der ganze Sommer
vergeht damit, daß die Herden auf die Weiden geführt
werden und zugleich Futter für die Tiere zum Winter
aufgestapelt wird. Im Frühling und Herbst bringen sie
Gemüse, Milch und Holzkohlen nach der Stadt und kaufen
von dem Ertrage sich Stoffe und Lebensmittel, wie
sie nur in der Stadt zu haben sind, die
etwas Abwechselung in ihr bescheidenes
Menu bringen sollen. Die Stammes-
verfassung ist noch ungelockert, jeden-
falls viel kräftiger als bei allen an-
deren kurdischen Stämmen. Wie schon
gesagt, steht über den 21 Unterhäupt-
lingen, Kaderweschis, ein Oberhäupt-
ling mit dem Titel Mezin. Dieser muß
zu den ältesten und vornehmsten Aghas
gehören. Er wird nicht gewählt, son-
dern nominell von der persischen bzw.
türkischen Regierung ernannt, hat aber
nicht die geringste Macht, wenn er
nicht von den Aghas anerkannt wird.
Als Anerkennung des neu bestimmten
Mezin gilt es, wenn die Aghas ihn be-
suchen und ihm die durch die Sitte
vorgeschriebenen Geschenke über-
bringen. Die Stellung des Häuptlings
ist ziemlich hoch und verantwortungs-
voll: er ist der Regierung für die
richtige Ablieferung der Steuern, für
die Verfolgung von Verbrechen, für die
Ruhe in seinem Gebiete verantwort-
lich. Er entscheidet für seinen Stamm
über Krieg und Frieden mit Nachbar-
stämmen, führt eventuell auch einen
Aufstand gegen die Regierung.
Der Höhepunkt des Lebens eines
Manggur ist der Kampf. Schon der
junge Knabe muß reiten und schießen
lernen. Im Alter von etwa 10 Jahren
setzt man ihn auf ein Pferd, bindet
ihn am Sattel fest und läßt das Pferd
dann laufen. Das stürmt nun davon,
jagt hierhin und dorthin, bis es schließ-
lich ermüdet stehen bleibt. Die ver-
folgenden Reiter kommen heran und
nehmen den Knaben herunter. So geht
es eine Reihe von Tagen hintereinander,
bis der Junge seine Angst verliert und
die Not ihn gelehrt hat, sich auf dem
Pferde zu halten und das Pferd zu
beherrschen. Wenn es in den Krieg
geht, fechten die Bauern, die in ihrer
Freiheit zugunsten ihres Herrn sehr beschränkt sind,
unter ihrem Agha. Ihre Bewaffnung bilden Gewehre,
meistens deutsche Mauser, Revolver und Dolche. Jeder
trägt seine Waffen immer bei sich und drei bis vier
Patronengürtel um den Leib (vgl. Abb. 1). An den
Gefechten nehmen zuweilen selbst die Frauen teil, die
Halbfaß: Die Ausnutzung der Wasserkräfte im Auslande.
überhaupt bei diesem Stamm eine viel freiere Stellung
haben, als es sonst in islamischen Ländern üblich ist,
und die auch weder im Harem
leben, noch einen Schleier tragen.
Sehr häufig kommt es bei Streitig-
keiten zwischen den Stämmen zu
Zweikämpfen hervorragender Per-
sogen. So war es bei einem Kriege
zwischen den Manggur und Mam-
masch der Fall. Beide Führer,
Häuptlinge ihrer Stämme, traten
sich gegenüber, fielen aber beide,
und der Kampf blieb für die
Stämme somit unentschieden. Wer
im Kampfe fällt, erhält ein prunk-
volles Begräbnis, das in seinen
Einzelheiten hier nicht geschildert
werden soll. Hingegen wird ein
Todesfall infolge von Krankheit
oder Alter gar nicht beachtet. Nicht
einmal die Frauen des Verstorbenen
legen die schwarze Trauerkleidung
an, und das Begräbnis verläuft
ohne Feier. Die Parallelen, die das
altgermanische Leben dazu bietet,
haben auf mich einen starken Ein-
druck gemacht.
Ihrer Religion nach sind die
Manggur sehr strenggläubige An-
hänger der sunnitischen Lehre,
haben aber auch dem Koran gegen-
über sich ihre eigenartigen Sitten
bewahrt. Erwähnt wurde schon,
daß die Frauen keinen Schleier
tragen, und auch kein Harem exi-
stier. Auch im Rechtswesen ist
die Eigenart dieses Volkes aus-
geprägter als sonst im Islam. Das
mohammedanische Gesetz, das Sche-
riat, ist hier vom Gewohnheitsrecht,
dem Urf, nahezu ganz verdrängt.
Statt zum Kadi oder Mullah zu
gehen, wählen die streitenden Par-
teien sich einen Schiedsrichter, einen
Agha oder sonst einen angesehenen
älteren Mann. Sachen, die vor ihm
nicht geschlichtet werden, kommen
vor den Häuptling, dessen Urteil
abschließend ist. Dieser ist auch
Richter in Mordprozessen. — Obwohl
Nomaden, haben die Manggur, wie die Kurden überhaupt,
ein reges Interesse für Wissenschaft und besitzen ver-
Abb. 2.
Die Ausnutzung der Wasserkräfte im Auslande.
Mehreren Vorträgen, die Direktionsrat Dr. Cassimir in
Ministerialbesprechungen desK. Bayerischen Staatsministeriums
für Verkehrsangelegenheiten jüngst gehalten hat, entnehmen
wir folgende Angaben über die Entwickelung der Ausnutzung
der Wasserkräfte im Auslande nach der technischen,
wirtschaftlichen und rechtlichen Seite.
In Frankreich, das zuerst den vielgebrauchten Aus-
druck „weiße Kohle“, la houille blanche, geprägt hat, hat sich
™mamentlich im Südosten und Süden die Ausnutzung der
Wasserkräfte bedeutend entwickelt, die treibende Kraft dieser
Entwickelung bilden große Elektrizitätsgesellschaften, deren
Verteilungsnetze vielfach zusammenhängen. Die &Société
d’Energie Electrique du Littoral Mediterraneen mit dem Sitz
in Marseille, die größte von ihnen, verfügt über ein Leitungs-
netz von 1250 km und ein Betriebskapital von 70 Mill. Fran-
ken, sie versorgte 1906 350 Gemeinden mit nahe 3 Mill. Ein-
215
schiedene gelehrte Schulen, in denen guter Unterricht
in den mohammedanischen Wissenschaften erteilt wird.
Bürger von Manggurabstammung aus Saudschbulagh.
Es ist ein frisches und unverbrauchtes Volk, das noch eine
Zukunft vorsichhat. Mirsa Mohammed Djewad Kasi.
wohnern mit Kraft, von welcher 122 500 PS Wasser- und nur
29000 Dampfkräfte sind. Für die Chemins de fer du Midi
de la France baut jetzt der Staat Wasserkraftwerke für die
Erzeugung der zum Betriebe von 400 km Bahnlänge erforder-
lichen elektrischen Energie (50000 PS). Die Paris- Lyon
Mittelmeereisenbahn beabsichtigt, ihre sämtlichen Linien an
das Leitungsnetz der oben erwähnten Mittelmeer-Elektrizitäts-
gesellschaft anzuschließen. — Im Gegensatz zu Frankreich
dienen in der Schweiz häufig Seen als Kraftspeicher für
elektrische Werke. So die Hochdruckanlage von Vouvry am
Genfersee, die in einer einzigen Stufe ein Gefälle von 935 m
ausnutzt; als Betriebswasser dient ihr der Lac Tannay, der
durch Verbauung seiner unterirdischen Abflüsse einen Stau-
weiher von 5 Mill. cbm Inhalt bildet. Das neue Stauwerk im
Kanton Glarus nutzt den Klöntaler See aus, welcher mittels
eines Staudammes um 28m gehoben wurde und dadurch
einen Stauraum von 45 Mill. cbm erhalten hat. Das Absatz-
gebiet der Werke erstreckt sich über die Kantone Aargau,
28*
216
Passarge: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes.
Zürich, Glarus, Schaffhausen, Thurgau, St. Gallen, Schwyz.
Die schweizerischen Bundesbahnen verfügen jetzt über
70000 PS, welche durch die Aufstauung des Ritomsees auf
nahezu 100000 PS gesteigert werden können. Ein inter-
essantes Bild gewerblicher Entwickelung auf dem platten
Lande bietet das Wasserkraftwerk von La Dernier bei Vallorbe
in der Nähe des Lac de Joux im Kanton Waadt dar, es ver-
sorgt über 200 sehr kleine schweizerische Gemeinden mit
Kraft und Licht. Im Kanton Wallis mit 114000 Einwohnern
betrug die Zahl der von der Industrie benutzten hydraulischen
Energie im Jahre 1895 897 PS, 1900 8433 PS, 1906 29 930 PS
und 1909 schon 61350 PS. Die Kantone Zürich und Schaff-
hausen bauen gemeinschaftlich bei Rheinfelden ein hydrau-
lisches Kraftwerk, das sämtliche Gemeinden und Kantons-
einwohner mit Licht und Kraft versorgen soll. Im all-
gemeinen ist die Schweiz auch in der Erfüllung sozialer
Aufgaben durch den staatlichen Ausbau geeigneter Wasser-
kräfte und möglichst weite Verbreitung billiger elektrischer
Energie in Europa am weitesten vorangeschritten.
In Italien besitzt die Elektrizitätsgesellschaft Edison
vier Kraftwerke bei Paderno, Zogno, Vigevano und Trezzo
zusanımen mit einer Mindestleistung von 32100 P8; da aber
der Bedarf von Mailand und Monza sich im Winter bis auf
37000 PS steigert, sind weitere Wasserkraftanlagen von
jener Gesellschaft projektiert worden. Weitere große Anlagen
sind die der Städte Mailand, Turin, Genua und Venedig, von
denen diejenige von Venedig ihre Zentrale 90km ent-
fernt an der Cellina, einem Wildbach der Friauler Alpen,
besitzt. Für die Bedürfnisse des platten Landes sorgt die
Società Lombarda per Distribuzione di Energia Elettrica in
ihren Zentralen bei Vizzola, Turbigo und Brusio. Letztere
benutzt den Poschiavo-See als Kraftspeicher, den sie bis 7,4m
unter den Normalspiegel senkt, sie erzielt eine Kraftleistung
von 96 000 PS, welche sie auf 170km Entfernung längs des
linken Ufers der Adca und des östlichen Ufers des Comer-
sees zur Versorgung des nordwestlichen Teiles der Umgegend
von Mailand fortleitet. Diese Kraftanlagen versorgen ein
Gebiet von über 2000 qkm zwischen Varese, Mailand und dem
schweizerischen Kanton Tessin. Die bedeutendste Hochdruck-
anlage Italiens dürfte das Adamellokraftwerk sein, das den
Ausfluß des bis zu 25m unter seinen Normalstand abgesenkten
Lago d’Arno benutzt, um in einer einzigen Gefällstufe von
930 m 28000 PS zu erzielen.
Auch auf der eigentlichen Halbinsel Italien sind zahl-
reiche Kraftanlagen teils schon in Betrieb, teils im Bau be-
griffen, die zum nicht geringen Teil der bevorstehenden
Elektrisierung der italienischen Staatsbahnen dienen sollen, so
daß dieses Land, das bisher jährlich etwa für 150 Mill. Mark
an England für Steinkohlen bezahlen mußte, seinem Ziele,
durch die Verwertung der in den Wasserkräften sich bietenden
natürlichen Schätze des Landes sich unabhängig von dem
Kohlenbezug aus dem Auslande zu machen, mit Riesen-
schritten entgegengeht. A
Die Flüsse und Ströme Norwegens eignen sich sehr
vorteilhaft zur Kraftausnutzung, sie sind wasserreich und
haben ein großes Gefälle, das an vielen Stellen schon von
Natur in einzelne Stufen vereinigt wird. Die zahlreich vor-
handenen Seen können zu Speicherbecken ausgenutzt werden,
um die sehr ungleichmäßige Wasserführung zu paralysieren.
Dennoch hielt sich die Ausnutzung der Wasserkraft bis vor
kurzem in sehr bescheidenen Grenzen, weil das Land äußerst
dünn bevölkert ist (auf I qkm treffen im Durchschnitt
nicht mehr als sieben Menschen). Erst seitdem man im-
stande ist, aus der atmosphärischen Luft Stickstoff zu ge-
winnen, ist die Nachfrage nach Kraft gewaltig gesteigert.
Die größten Kraftanlagen finden sich am Skienfluß, in
dessen Flußgebiet nicht weniger als 60 Seen mit einem
Flächenraum von rund 500qkm liegen. Die Kraftanlage
Svälgfos für die erste Salpeterfabrik bei Notodden verfügt
über 40000 PS; die noch im Bau begriffene an dem be-
rühmten Wasserfall Rjukanfos nutzt die Wassermasse des
Maanflusses aus, die in zwei Absätzen von 100 und 20m
herabstürzt und bei der Schneeschmelze bis zu 300 cbm/sec
anwächst. Mit der gewaltigen Kraftmenge von rund 230000 P8
wird dieses Werk bei weitem an der Spitze aller Kreft-
anlagen Europas stehen. Da das Land bei seiner geringen
Bevölkerung eine Verwertung der Wasserkraft für sich allein
nicht ausnützen kann, besteht die Gefahr, daß das aus-
ländische Kapital sich ihrer mehr und mehr bemächtigt. Der
norwegische Staat sucht durch geeignete Gesetze der Aus-
beutung der Naturkräfte durch Auswärtige möglichst ent-
gegenzuarbeiten; es ist dies aber recht schwierig, wenn
man das allgemeine Wohl des Landes dabei nicht aus den
Augen verlieren will.
Auch in Schweden, das jährlich etwa für 70 Mill.
Mark Kohlen aus England bezieht, steht das nationale Moment
bei der Behandlung der Frage über die Ausnutzung der
Wasserkräfte im Vordergrunde. Der Staat hat eine Reihe
bedeutender Wasserkräfte, vor allem die Wasserfälle von
Trollhättan, von den Privateigentümern gekauft, in erster
Linie, um sie für den elektrischen Betrieb seiner Eisenbahnen
zu verwenden, sodann, um elektrische Kraft an Gemeinden
und sonstige Interessenten zu verpachten. Die in nächster
Zeit fertige Anlage bei Trollhättan repräsentiert 80000 PS,
doch sind bedeutende Erweiterungen in Aussicht, da man
mit dem Plan umgeht, Kopenhagen mit elektrischer Energie
aus diesem Werke zu versorgen. Andere große Werke werden
demnächst im nördlichen Schweden, in Lappland, ausgebaut
werden, teils zu Beleuchtungszwecken, teils zum Betrieb auf
der Ofotenbahn von Kiruna bis zur schwedisch-norwegischen
Grenze.
In Österreich ist seit dem letzten Dezennium die Aus-
nutzung der Wasserkräfte in ein lebhafteres Stadium getreten.
Von größeren schon vollendeten Wasserkraftanlagen sind die
Sillwerke der Stadt Innsbruck, wo bei einem Gefälle von
187 m 13000 P8, die Etschwerke der Städte Meran und
Bozen, wo 6000 PS, und die Schnalstalwerke derselben Städte,
in denen 15000 PS bei 130 m Gefälle gewonnen werden, die
Brennerwerke bei Matrei, das Kraftwerk bei Andelsbuch in
Vorarlberg, das Kraftwerk Jajce an der Pliva in Bosnien zu
nennen. Weit größereWerke sind in Aussicht genommen, von
denen dasjenige am Millstättersee, das bedeutendste von ihnen,
am meisten Staub aufgewirbelt hat und auch in dieser Zeit-
schrift (Bd. 92, Nr. 21) von Prof. von Luschan einer be-
sonderen kritischen Würdigung unterzogen wurde. Dieses
und die anderen projektierten Werke sollen insbesondere der
Elektrisierung der südlich von der Donau und westlich von
Wien liegenden Staatsbahnlinien dienen, für welche seit
dem Jahre 1907 eine besondere, der Eisenbahnbaudirektion
in Wien angegliederte Studienabteilung existiert. Das erste
Landeselektrizitätswerk mit gleichzeitiger Ausnutzung von
Wasserkräften geht in Niederösterreich seiner Vollendung
entgegen, welches Kronland frei über die fließenden Gewässer
verfügen kann, während z. B. im Kronland Salzburg der
Gesamtstaat Eigentümer ist. Die rechtlichen Verhältnisse
der fließenden Gewässer sind in den einzelnen europäischen
Staaten meist äußerst verwickelt; um ihre Kraft der Industrie,
Landwirtschaft und überhaupt dem Gemeinwohl dienstbar zu
machen, ist die Schaffung moderner Wassergesetze ein drin-
gendes Bedürfnis. Halbfaß.
Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes.
Eine kritische Studie.
Von S. Passarge.
Während des Krieges mit den Hereros hat ein da-
maliger Einjährig-Freiwilliger, Herr Michaelsen, in
anerkennenswerter Weise Beobachtungen über eine An-
zahl von Kalkpfannen im östlichen Damaraland ange-
stellt trotz der sehr großen, durch Krieg und Krankheit
verursachten Schwierigkeiten. Herr Michaelsen war zwar
Student, hatte aber noch nie geologische Studien getrieben
und war im geologischen Beobachten und in der Gesteins-
kunde völlig Neuling. Um so anerkennenswerter sind
seine Bemühungen. Die Vorstellungen, die er auf Grund,
seiner Studien über die Entstehung der interessanten
Kalkpfannen an Ort und Stelle gewonnen hat, waren
etwas gewalttätiger Natur. Er hat sich einmal in einem
Vortrage in München darüber ausgelassen. Wirbel-
stürme hätten sie ausgekolkt und die Kalksteinblöcke
herausgeschleudert. Diese Tatsache ist deshalb wichtig,
Passarge:
Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes.
217
weil aus ihr hervorgeht, daß Herr Michaelsen die
in seiner jüngst erschienenen Studie!) entwickelten
Ansichten nicht an Ort und Stelle, sondern erst nach-
träglich unter dem Einflusse seiner späteren geogra-
phischen Studien gewonnen hat. Das erkennt man auch
auf Schritt und Tritt in seinen hypothetischen Betrach-
tungen. Um Herrn Michaelsens Arbeit richtig ein-
schätzen zu können, muß man dieses wissen, denn es ist
ja ganz verständlich, daß in der Erinnerung — nament-
lich bei einem Laien — unter dem Einflusse theoretischer
Studien sich die Beobachtungen verwischen, umgestaltet
und umgedeutet werden, ohne daß es einem zum Bewußt-
sein kommt. Sehen wir zu, was er beobachtet hat und
wie er es verwertet!
A. Positive Beobachtungen und Angaben.
Nach Herrn Michaelsen nennen die Ansiedler mit Sand
erfüllte Flußbetten Rivier, solche mit lehmigem Talboden
aber Omuramba. Erstere kommen in der Regenzeit zu-
weilen ab, letztere selten oder nie. Erstere sind im Süden,
letztere im Norden zu finden.
A.
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Trümmer- Zone
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im Rivier entspricht, mit glänzender, stellenweise wie
mit Lack überzogener Oberfläche. „Diese Schicht setzte
sich scheinbar unter dem Kalkrand fort.“ Am Fuße des
Steilrandes lagen Schollen von Röhrenkalktuff. „Im
Süden, Osten und Westen des Pfanneninnern trat eine
schneeweiße harte Kalkkruste zutage, die ebenfalls unter
die randlichen Ablagerungen untertauchte.“ Röhrenkalk-
tuff liegt in Schollen und am Pfannenrand, nicht im
Pfanneninnern. Zwei Brunnenlöcher zeigten unter dem
Schlick (0,60 cm) weißen harten Kalk ohne Röhren (0,30),
dann weichen feuchten Kalktuff mit kleinen Kalktrümmern
(1,00 bzw. 1,50 m), schließlich in einem Brunnen dunkeln
festen Kalksandstein, wie an der Oberfläche der Nordseite,
in dem anderen Brunnen dagegen Granit.
Zwischen dem dunkeln und hellen Kalk ist die Grenze
scharf, also sind es zwei verschieden alte Ablagerungen.
Der Pfannenrand ist ein 100 bis 150cm breiter Streif.
Am Steilrand und auf der Oberfläche des Pfannenrandes
bildet er eine zusammenhängende Schicht mit glänzend
weißer knolliger Oberfläche. Die auflösende Wirkung
des Regenwassers war mehrfach sichtbar. Nach außen hin
Trümmer-Zone
p,
Die Kalkpfanne Okateitei.
A Wie Michaelsen den Aufbau des Randes der Pfanne beschreibt. — B Wie Michaelsen den Aufbau des Randes der Pfanne zeichnet
und hypothetisch verwertet.
Die Kalkpfanne Okateitei liegt in einer Ebene
roten Sandes mit schwachen Bodenschwellen. Der Weg
erreicht ein Rivier, und beim Aufwärtsziehen treten
eckige, scharfkantige Stücke eines blendend weißen
Kalkes auf. Er war innen gelblich, außen mit Schichten
harten Kalkes von Sinterstruktur überzogen. Je weiter
Herr Michaelsen kam, um so zahlreicher wurden die
Stücke dieses sowie eines dunkeln Kalksandsteines. Das
Rivier erweiterte sich zu einer Kalkpfanne, d. h. einem
flachen, fast runden Becken von etwa 400m Durch-
messer. Im Innern liegt eine runde Vertiefung im Kalk,
von einem senkrechten Steilrand umgeben. Der Rand
fehlte nur an der Mündungsstelle des Riviers. Dort
führte eine Sandböschung hinab. Der Steilrand hat
1!/,m Höhe, das Pfanneninnere 200 m Durchmesser.
In seiner tiefsten Region liegt eine Schicht grauschwarzen
Schlickbodens voller Trockenrisse und Schlammschalen.
Zwischen dem Schlickkuchen und dem Steilrand tritt
ein etwa 100 m breiter Streif festen Gesteins zutage,
der in den verschiedenen Teilen des Pfanneninnern
eine gänzlich andere Beschaffenheit hat. Im Norden
liegen Trümmer eines dunkeln Kalksandsteins, der dem
1) H. Michaelsen, Die Kalkpfannen des östlichen Damara-
landes. Eine geomorphologische Studie. Diss. d. Phil. Fak.
d. Universität Berlin. Mitt. a. d. deutsch. Schutzgeb. 1910.
Globus XCVILL. Nr. 14.
löst sich der Kalk in eine Trümmerzone ganz auf. Auch
der Steilrand besteht aus einer 1m mächtigen Ablage-
rung von feuchtem Kalktuff mit Röhrenstruktur, der von
einer harten Oberflächenbank von Röhrenkalk bedeckt
wird. Diese muß 0,50m stark sein, da an anderer
Stelle die gesamte Ablagerung auf 1,50m angegeben
wird. Die harte Bank überragt den weichen Tuff und
bricht in Schollen in das Pfanneninnere nieder. In der
Umgebung der Pfannen findet sich weder Kalk noch Granit.
Die Pfanne Okateitei ist diejenige, die Herr Michael-
sen augenscheinlich am besten studiert hat, denn er
beschreibt sie am eingehendsten. Die übrigen Pfannen
haben im wesentlichen denselben Aufbau, alle sind
von Sand umgeben, alle besitzen die Trümmerzone, ein
Pfanneninneres und meist auch einen Steilrand aus
Pfannenkalktuff. Im einzelnen sind natürlich indivi-
duelle Verschiedenheiten nachweisbar.
Im ganzen werden noch acht Pfannen kurz beschrie-
ben, von einer, Otjikango, ein Reliefquadrant abgebildet,
wie auch von Okateitei. Bezüglich dieser Pfanne sei auf
das Original verwiesen.
B. Hypothetische Folgerungen.
Aus seinen Beobachtungen folgert Herr Michaelsen
folgendes:
29
218
Passarge: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes.
Der Aufbau der Kalkpfannen. Die Umgebung
ist roter Sand, das Grundgestein liegt anscheinend
nirgends sehr tief unter den Pfannen. Eine dichtere
Vegetation umgibt die Pfannen, die zum Teil aus hohen
frisch grünen Anabäumen besteht. Nahe Beziehungen
zwischen Kalkpfannen und Flußbetten sind oft vor-
handen. Bald liegen sie in alten Flußbetten, oder ent-
senden oder erhalten solche. Manchmal fehlt auch jede
Beziehung.
Der Pfannenrand löst sich nach außen in eine
Trümmerzone auf, die aus weißem Sande mit Kalk-
stücken besteht. Dieser Sand geht unter Abnahme der
Kalkstücke nach Zahl und Größe nach kurzer Entfer-
nung in den roten Sand über. „Daraus geht hervor,
daß der Pfannenrand, der am Abfall eine Mäch-
tigkeit von 2,0m über dem Pfannenboden hat,
sich nach außen hin auskeilt.*
Das ist die erste wichtige Hypothese Herrn Michaelsens.
Der Pfannenkalktuff (c in dem abgebildeten Profil)
besitzt Röhrenstruktur und seine 30 bis 40 cm dicke Ober-
flächenbank — eine Kalkkrustenbildung — gleichfalls.
Das Pfanneninnere bildet ein weicher, feuchter Kalk-
tuff mit harter, weißer Oberflächenbank (b), der nur in
Okateitei von dem Brunnenloch durchsunken war und etwa
1,5 m Mächtigkeit besaß. Weder der Kalktuff noch seine
Kruste besitzen Röhrenstruktur. Daraufhin stellt Herr
Michaelsen seine zweite grundlegende Hypothese auf:
Schicht b und c seien Faziesbildungen.
Der dunkle Kalksandstein (a), den er mit dem Pfannen-
sandstein des Chansefeldes vergleicht, ist nur in Owiko-
korero und Okateitei gefunden worden. Er ist älter als
der Kalktuff über ihm.
Bezüglich des Alters der Kalkpfannen ist Herr
Michaelsen auf Grund der Berichte der älteren Forscher
von Galton bis Baines zu folgender Ansicht gelangt. Bis
1850 herrschte ein regenreicheres Klima, die Kalkpfannen
waren mit Teichen gefüllt, die Riviere kamen öfters
ab und flossen tagelang. Zehn Jahre später haben
wir fertige Kalkpfannen vor uns, da Chapman sie (1861)
beschreibt. Daher stellt Herr Michaelsen seine dritte
grundlegende Hypothese auf: Die Kalkpfannen sind
in historischen Zeiten entstanden (d. h. zwischen
1850 und 1860). Und auf dieser Hypothese baut er
eine vierte auf: „Daß nämlich die Riviers unseres
Gebietes derselben Feuchtigkeitsperiode ihre
Entstehung verdanken wie die Kalkpfannen.“
Dagegen sind die Omurambabetten, die durch ihre große
Breite und lehmige Ablagerungen sich auszeichnen, älter,
nämlich diluvial. Sie sind aber einer späteren Trocken-
periode fast gänzlich zum Opfer gefallen. „Nur wenige
bevorzugte Stellen konnten ihren Charakter bis heute er-
halten.“
Daraufhin stellt Herr Michaelsen seine fünfte grund-
legende Hypothese auf: die Klima-Hypothese. Diese
besagt: Auf die diluviale feuchte „Omurambaperiode“
folgte eine „Flugsandperiode“, in der der Flugsand im
Süden alles verhüllte, während sich im Norden Reste der
alten Landoberfläche erhalten haben. Darauf kam die
feuchte „Rivierperiode“, in der sich Kalkpfannen und
Riviere bildeten; seit 1850 hat wieder eine trockene
Periode begonnen. Jetzt werden die Kalkpfannen und
die Riviere wieder zerstört. „Wie lange wird es dauern,
bis auch diese Zeugen einer einst besseren Zeit ver-
schwunden sind.“
Nunmehr wirft Herr Michaelsen einen Blick auf die
Kalkpfannen anderer Gebiete. Die des Chansefeldes seien
älter. Ob in der Ähnlichkeit zwischen ihnen und den
Pfannen des östlichen Damaralandes irgendwelche Be-
ziehungen bestehen, stellt er dahin. Die Kalkpfannen
der Südkalahari liegen im tiefen Sande, also, folgert er,
sind sie jünger als der Sand, also gleichalterig mit denen
des östlichen Damaralandes.
Schließlich bringt Herr Michaelsen eine Erklärung
des Phänomens, über die wir uns ganz kurz fassen
können. Die Kalkpfannen sind zum Teil im Sande durch
chemische Lösungen, die im Bereiche des Grundwassers
den Sand verkitteten, entstanden. — Das ist der Kalk-
sandstein a (Pfannensandstein) des Untergrundes. In
einem Teich, der durch höher tretendes Grundwasser ge-
bildet wurde, schlug sich dann über dem Sande der Kalk-
tuff (b) des Pfanneninnern und -randes nieder. Daher
keilt sich letzterer über dem Sande aus. Der Kalktuff des
Pfannenrandes (c) und der des Pfanneninnern (b) sind
Faziesbildungen in solchen Teichen der Rivierperiode; denn
die Röhrenstruktur sei auf Schilfstengel zurückzuführen.
Im Bereiche des Schilfes hätte sich der Kalk viel schneller
chemisch aus dem Wasser abgeschieden als in dem Teich.
Daher hätte sich ein hoher Rand gebildet, der mit steiler
Böschung nach dem Innern der Pfanne abfiel. So wäre
dann die Pfannenform eine primäre. Nach Trocken-
legung hätte sich — also zwischen 1850 und 1860 —
die Kalkkruste gebildet. Der Pfannenrand, der ursprüng-
lich als steile Böschung sich herabgebogen habe, sei
durch Zerstörung zurückgewichen, und zwar als senk-
rechte Wand, da die Röhrenstruktur ein senkrechtes
Abbrechen der harten Oberflächenkruste hervorruft. Die
Kalkschollen wurden durch Insolation, Zerplatzen und
Zerfall zerstört. Den Gedanken, daß der Röhrenkalktuff
einst die Pfanne ausgefüllt habe und durch zoogene
Erosion entfernt worden sei, weist er von der Hand.
Die Röhrenkalkinsel in Owingi aber sei durch eine
Quelle, wie die Tuffkegel im alten Lahontansee (Utah), ent-
standen.
C. Kritische Betrachtungen.
Es wird genügen, einige Punkte, auf die es ganz be-
sonders ankommt, herauszuheben.
1. Die'‘Angaben über die Größenverhältnisse
der Kalkpfannen beruhen nicht auf exakten
Aufzeichnungen, sondern sind unsicher.
Im allgemeinen bringt Herr Michaelsen über die
Größenverhältnisse der Kalkpfannen nur ganz allgemeine
Schätzungen, nur von Okateitei gibt er die Größenverhält-
nisse bestimmt an. Allein seine Angaben im Text und
seine Zeichnung widersprechen sich derartig, daß weder
Zeichnung noch Beschreibung einen Anspruch
auf Genauigkeit machen können.
Beweis: Der Durchmesser ist nach der Beschreibung
etwa 400 m, der Radius also 200 m.
| Zeichnung
| Beschreibung — -
| N—S-Profil | W—0-Profil
Pfannenrand .| 100—150m |32 mm Y)=160m! 18 mm = 90m
Gesteinsfläche | etwa 100m | 6mm = 30m 20 mm = 100m
Schlickkuchen |
des Pfannen- |
innern . . .| Für diesen | 44 mm = 220 m | 48 mm = 230 m
| bleibt kein
= K t Raum! a |
Radius | 200—250 m 410m | 420m
Entweder ist die Zeichnung richtig — dann ist der
Durchmesser 840 bis 860 m und nicht 400 m. Oder der
Text ist richtig und dann ist der Maßstab der Zeich-
nung 1:2500, nicht 1:5000. Hält man sich aber an
*®) Der Maßstab der Zeichnung ist angegeben als 1: 5000.
Bei Berücksichtigung der perspektivischen Verkürzung wird
die Differenz noch schlimmer.
Passarge: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes.
219
die in die Zeichnung eingetragenen Zahlen, die mit der
Beschreibung auch nicht übereinstimmen, so ist der Maß-
stab etwa 1:2000.
Nimmt man einen falschen Maßstab an, dann bleibt
immer noch die Tatsache bestehen, daß innerhalb des
Profils die Angaben für die Größenverhältnisse der einzel-
nen Schichten nicht stimmen, daß für die — der Zeich-
nung nach — größte (d. h. etwa 450 bzw. 225m be-
sitzende) Ablagerung der Beschreibung nach kein Raum
bleibt!
Noch schlimmer steht es mit der Reliefzeichnung der
Kalkpfanne Otjikango. Der Beschreibung nach hat sie
einen Durchmesser von nur 100 m, die Zeichnung (1:5000)
zeigt auf der einen Seite einen Halbmesser von 69 mm
— 345m und einen von 85mm = 425m. Der Durch-
messer wäre also 690 bzw. 850 m und nicht — 100 m!
Die rein topographischen Grundlagen der Beschrei-
bung der Kalkpfannen sind also als ganz unsicher zu
bezeichnen. Wie steht es nun mit der stratigraphischen
Darstellung?
2. Die stratigraphische Beschreibung der
Pfanne Okateitei und die Zeichnung derselben
bringen eine durch nichts bewiesene Hypothese
Herrn Michaelsens als feststehende Tatsache,
aus der weiterhin weitgehende Folgerungen ge-
zogen werden.
Gemeint ist die Auffassung, daß sich der Kalk in der
„Trümmerzone“ auskeile und eben deshalb sich in Stücke
auflöse. Die Zeichnung läßt daher mit scharf ausge-
zogenen Linien den Sand unter die Kalkschichten unter-
tauchen. Herr Michaelsen zeichnet ihn in der Tiefe bis
fast zum Steilrand gehend. Dieses Untertauchen des
Sandes ist durch nichts bewiesen, vielmehr rein
hypothetisch, ist obendrein ganz unwahrscheinlich. In
anderen Gebieten herrschen, nach Herrn Michaelsens Be-
schreibung zu urteilen, genau die gleichen Verhältnisse,
wie sonst in der Kalahari: Alle Kalkpfannen sind von
einer Zone von Kalkkrustenstücken umgeben, nämlich da,
wo der Sand sich auskeilt und unter seiner dünnen Decke
der Untergrund — nämlich die Kalkkrusten — zutage
treten. Das ist die Trümmerzone von Herrn Michaelsen.
Der weiße Sand ist durch Kalksplitter gefärbt und geht
in den roten kalkfreien Sand über. Diese Verhältnisse
lassen sich in anderen Teilen der Kalahari, wo viele gute
Aufschlüsse vorhanden sind, wo man leicht feststellen
kann, daß sich der Kalk weit über die Pfannen hinaus
unter dem Sande fortsetzt, ohne Schwierigkeit erkennen.
Der Kalk keilt sich nicht aus, sondern streicht unter
dem Sande fort, ist also älter als dieser — nicht
jünger.
Einmal müßte er, wenn er eine auf dem Sande lie-
gende und sich auskeilende Schicht wäre, an ein- und
ausfließenden „Rivieren“ bestimmte Erosionserscheinungen
hervorrufen, nämlich Stufen auf dem Boden und Steil-
rand an den Ufern. Das ist nie der Fall — auch nicht
im östlichen Damaraland.
Sodann ist Herrn Michaelsens Erklärung der „Trüm-
merzone* aus folgendem Grunde unhaltbar. Er be-
schreibt ganz richtig die Trümmerzone als eine Region
von weißem Sand mit Kalkstücken zwischen dem roten
Sand und der kahlen Gesteinsfläche. Gerade auf dieser
Übergangszone steht aber die dichte Vegetation mit den
hohen grünen Bäumen, die Herr Michaelsen ganz treffend
schildert. Nun erklärt er die Trümmerbildung als eine
Folge der Insolation. Zwar sucht sich der Kalk, so sagt
er, durch Krustenbildung zu schützen. „Aber die Sonne
besiegt bald den Widerstand dieses Panzers. Schon beim
ersten Austrocknen sind am Pfannenboden und auch auf
den randlichen Ablagerungen kreuz und quer Risse ent-
standen, welche diese oberste Kruste in zahlreiche Trüm-
mer zerteilen. Die Insolation wirkt dann so stark, daß
die Trümmer immer mehr zerkleinert und schließlich eine
Beute des Windes werden.“
Widerspruch über Widerspruch! Herr Michaelsen
beobachtet, daß die Kalkschicht des Pfannenrandes an
dem Innen- und Außenrand in Trümmer zerfallen sei,
in der Mitte aber eine geschlossene Gesteinsfläche bilde.
Später beschreibt er aber die zertrümmernde Kraft der
Austrocknung und der Insolation auf der ganzen Ge-
steinsfläche. Daß am Steilrand die überhängende Ober-
flächenbank zerbricht, ist leicht verständlich, daß da-
gegen der Außenrand durch Insolation zertrümmert
werde, im Gegensatz zur Mitte, ist nach Herrn Michael-
sens Erklärung ganz unverständlich, denn der Kalk
wird gerade im Bereiche der Trümmerzone
durch den Sand und die Vegetation gegen die
Insolation geschützt. Weder ist letztere die Ursache
der Zertrümmerung des Kalkes — soAst müßte die dem
Sonnenbrand schonungslos ausgesetzte, fast vegetations-
lose Kalkkruste in erster Linie zerfallen — noch auch
das Auskeilen der Kalkschicht. Vielmehr wirkt hier eine
viel einfachere Kraft auf den Kalk ein — nämlich die
nach Wasser suchenden Wurzeln der hohen
Bäume. Sie zertrümmern den Kalk. Bis lm hohe
Kalkplatten hatten z.B. an der Pfanne Neitso im Chanse-
feld die wachsenden Motswerebbäume (Combretum primi-
genium) aufgerichtet. Die Bäume auf der dünnen Sand-
schicht über dem Kalk sind maßgebend für das Ent-
stehen der „Trümmerzone“, nicht Auskeilen des Kalkes
und Insolation.
Die Hypothese von dem Auskeilen des Kalkes
ist also gänzlich unbegründet und ohne sie die
Entstehung der Trümmerzone viel einfacher zu
erklären.
3.DiestratigraphischeBeschreibung derKalk-
pfanne Okateitei steht in einem Punkt von ent-
scheidender Wichtigkeit im schroffen Gegensatz
zu der Zeichnung und den Hypothesen.
Herr Michaelsen schreibt, die Schicht dunklen Kalk-
sandsteins streiche unter dem Steilrand des Pfannenkalk-
tuffs weiter und werde von diesem überlagert. Von der
Kalkkruste des Pfanneninnern aber heißt es dann
gleich weiter: „die ebenfalls unter die randlichen Ab-
lagerungen untertauchte.“
Jeder Zweifel an dem, was Herr Michaelsen gemeint
hat, ist ausgeschlossen. Er hat beobachtet, daß die
Kalkkruste des Pfannenbodens unter dem weichen Tuff
des Pfannenrandes fortstreicht.
Was zeigt aber seine Reliefzeichnung? (Vgl. Abb.)
Genau das Gegenteil! Der Kalk des Innern endet vor dem
Pfannenrand, und beide sind eine Faziesbildung. Daß es
sich nicht um ein Versehen handelt, beweist die Hypothese
von der primären Pfannenform, infolge ungleichmäßiger
Ablagerung in der Schilfzone und im Teiche, ohne die seine
Hypothese von dem ganz jungen Alter der Kalkpfannen
unmöglich ist.
Augenscheinlich hat Herr Michaelsen ganz richtig
beobachtet. Dafür spricht der Umstand, daß in den
Pfannen, die ihrer Kalktuffschicht fast beraubt sind, die
harte Oberflächenbank des inneren Kalkgürtels den Boden
bildet. Wenn der weiche Kalktuff wirklich in der Außen-
zone neben der harten OÖberflächenbank läge, so müßte
ja letztere infolge der schnelleren Zerstörung des weichen
Kalktuffs durch die von Herrn Michaelsen beschriebene
Insolation sehr bald einen den äußeren Gürtel über-
ragenden Rand bilden — was nie beobachtet worden ist.
Herr Michaelsen hat sich also von nachträglichen Vor-
stellungen völlig bestechen lassen und, einer Kette ver-
29*
220
Passarge: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes.
führerischer Hypothesen folgend, seine direkten Beob-
achtungen beiseite geschoben.
4. Die stratigraphischen und petrographi-
schen Verhältnisse der Kalkpfannen sind so
schwierig und eigenartig, daß zu ihrer Er-
forschung große Übung im geologischen Be-
obachten und Spezialkenntnisse erforderlich
sind, die Herr Michaelsen, wie er selbst zugibt
(8.113), nicht besaß. Eigenartig und schwierig sind
die Verhältnisse deshalb, weil in den Kalkpfannen Ab-
lagerungen auftreten, deren Entstehung noch recht
zweifelhaft ist. Die petrographischen Verhältnisse sind
aber sehr kompliziert, weil alle Ablagerungen aus Kalken
bestehen, die zum Teil nur wenig voneinander abweichen
und trotzdem auseinandergehalten werden müssen. Ich
habe persönlich Erfahrung hierin. Ich weiß, wie lange
es gedauert hat, bis es gelang, die verschiedenen Formen
zu erkennen und auseinanderzuhalten. Es war not-
wendig, ganz neue Begriffe wie Chalzedonsandstein,
Pfannensandstein, Sandkalk, Pfannenkalktuff, Sinterkalk
einzuführen. Daß ein Laie, wie es Herr Michaelsen damals
war, in dieses Einerlei von verschiedenen Kalken ein System
bringen konnte, erscheint von vornherein sehr unwahr-
scheinlich. Herr Michaelsen hat nun zwar nachträglich
aus der „Kalahari“ Bezeichnungen, wie Pfannensandstein,
Pfannenkalktuff, Sinterkalk, Sinterstruktur, entlehnt. Ob
aber das, was er darunter versteht, dasselbe ist,
was ich gemeint habe, ist durchaus zweifelhaft,
da seine Beschreibungen überaus dürftig und
ungenau sind, und er niemals Proben aus meiner
Sammlung gesehen hat. Er unterscheidet zwei Kalk-
arten: erstens einen Kalksandstein, das heißt mit
Kalk zementierten Sand, und zweitens eine Kalktuffab-
lagerung teils mit, teils ohne Röhrenstruktur. ' Niemals
erwähnt er Sand in diesen Kalktuffen — also hat er keinen
darin bemerkt. Nach meinen persönlichen Erfahrungen
sind Kalktuffe ohne Sand sehr selten. Ich kenne sie
eigentlich.nur aus den Makarrikarribecken. Nun wird
man mir entgegnen: im östlichen Damaraland ist das eben
anders. Das bezweifle ich indes durchaus. Sind, wie
Herr Michaelsen annimmt, die Kalktuffe jünger als der
Sand und in Sandmulden zur Ablagerung gelangt, dann
können sie gar nicht sandfrei sein, dann muß Sand in
sie hineingeweht oder -geschwemmt worden sein. Es
gibt also nur zwei Möglichkeiten:
Entweder ist Herrn Michaelsens Beobachtung, daß der
Kalktuff so’ wenig Sand enthält, daß er ihn nicht er-
wähnt, richtig — dann ist seine Hypothese von der jungen
Ablagerung über dem Sand unhaltbar, oder der Kalktuff ist
in einem Teiche im Sandfelde entstanden, und dann ist
seine Beobachtung falsch, dann muß er reichlich Sand
enthalten.
Es läßt sich nun aber der Nachweis führen, daß
Herrn Michaelsens Beobachtung falsch sein muß. Nach
seiner Angabe besitzt der Kalktuff des Pfannenrandes
Röhrenstruktur. Die Beschreibung, die er entwirft, ist
folgende: „Bei einigen Schollen bemerkte ich eigenartige
Röhren, welche sie in einer Richtung parallel zueinander
durchzogen.“
„Sowohl der weiche Kalktuff, als auch die harte
Oberflächenkruste des Pfannenrandes waren von einem
eigenartigen System von parallelen Röhren senkrecht
durchzogen.“ é
Es ist mir keinen Moment zweifelhaft gewesen, daß
Herr Michaelsen typische Pfannenkalktuffe mit Röhren-
struktur, die so auffallend sind, beobachtet hat. Ebenso
unzweifelhaft ist es aber auch, daß er keine Vor-
stellung von dem Wesen dieser Struktur besitzt,
sonst könnte er sie nicht so unklar beschreiben. Er
hat nur die löcherigen, von Röhren durchsetzten, ausge-
waschenen Kalksteine gesehen. Gänzlich ist es ihm ent-
gangen, daß im ursprünglichen Kalktuff diese Röhren
mit Sand ausgefüllt sind. Es sind nämlich bleistiftdicke,
vielfach anastomosierende, mit Kalk wenig verkittete
Sandröhren, die zwar nach oben hinstreben, aber durchaus
nicht gerade und einander parallel sind. Kein Leser hätte
nach Herrn Michaelsens Beschreibung das wohl auch nur
geahnt. Wenn aber Herr Michaelsen das Wesen
der Röhrenstruktur nicht erkannt hat, dann
kann auch seine Angabe, daß diese oder jene
KalkschichtkeineRöhrenstrukturbesäße,keinen
großen Anspruch auf Gewicht erheben, dann ent-
behren auch seine Beobachtungen über den Auf-
bau der von ihm gesehenen Kalkpfannen über-
haupt einer sicheren Grundlage, dann schweben
seine weitgehenden Hypothesen erst recht in
der Luft. Man kann dieses um so bestimmter aus-
sprechen, weil im feuchten Kalktuff, namentlich an
den verschmierten Wänden eines Brunnenloches die
Röhrenstruktur auch von dem geübten Kenner oft nur
schwer festzustellen ist. Ob also der Kalktuff des
Pfanneninnern Röhrenstruktur besitzt oder nicht, ist
nicht mit Sicherheit zu sagen. Aber selbst wenn wir
annehmen, daß Herrn Michaelsens Ansicht von der Ver-
schiedenheit der Struktur der Kalke des Pfannenrandes
und des -innern richtig wären, würde seine Erklärung,
daß beide Faziesbildungen seien, kaum zutreffend sein.
Denn erstens hat er in Okateitei beobachtet, daß die
Öberflächenkruste des Pfanneninnern unter den Pfannen-
kalktuff des Steilrandes untertauche, sodann ist aber seine
Hypothese von der primären Pfannenform infolge un-
gleichmäßiger Ablagerung des Kalkes unhaltbar.
5. Die Hypothese von der primären Pfannen-
form. Einmal ist es durchaus zweifelhaft, ob die
Röhrenstruktur auf Schilfstengel zurückgeführt werden
muß. Die Schilfhypothese hat Herr Michaelsen der
„Kalahari“ entlehnt. Als ich auf dem jüngst trocken ge-
legten Boden eines Teiles des Sumpflandes im Makarri-
karribecken abgebrochene, hohle Schilfstengel unmittelbar
über dem Boden offen stehen sah, kam mir der Gedanke,
daß, wenn Sand in diese hineingeweht oder geschwemmt
würde, Sandröhren entstehen würden. Allein ich über-
legte mir damals nicht, daß dann auch Schichten von
Sand im Kalktuff auftreten müßten. Das ist aber
nicht der Fall. Damals kannte ich noch nicht die
starke selbstreinigende Kraft des in Umlagerung be-
griffenen Kalkes. Es scheint mir daher wahrscheinlicher,
daß die Röhren — die ja auch gar nicht so gerade und
einander parallel sind, wie Herr Michaelsen schreibt, viel-
mehr häufig anastomosieren — sekundär durch Fort-
drängen des Sandes entstanden sind. Es ist ja sehr
wahrscheinlich, daß Stengel und Wurzeln bei diesem
Prozeß eine Rolle gespielt haben, gerade so, wie bei der
Ausbildung des zelligen Maschenwerks im Kalksandstein
des Botletle-Ufers und auch im Laterit. Sodann aber
müßten, wenn erst seit 1850 bis 1860 die Kalkpfannen
vom Wasser entblößt und ausgetrocknet sind, nach
nur 50 Jahren unbedingt noch Reste der Schilfstengel
und Wurzeln zu sehen sein, mindestens als humose Sub-
stanz. Das ist aber nicht der Fall.
Schließlich ist, selbst wenn das Schilf bei der Aus-
bildung der Röhren eine Rolle gespielt haben sollte, die
Hypothese von der ungleichmäßigen Ablagerung des
Kalkes unhaltbar. Weder in unseren Seen mit See-
kreideablagerungen, noch auch in den Teichen der
Kalahari ist die Bildung des Kalkschlammes im Schilf-
gürtel am energischsten — bei uns ist sie sogar minimal
— sondern in dem offenen Wasser, wo die Kalk ab-
Passarge: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes.
221
scheidenden Wasserpflanzen in dichter Masse auftreten.
Daher besteht in solchen flachen Teichen 3), wie auch bei
uns die Tendenz, das Innere schnell bis zum Rande des
Schilfes auszufüllen. Eine steile Böschung kann sich aber
deshalb nicht bilden, weil der Schlamm sehr leicht gleitet.
Wenn die Sedimentbildung in der Schilfzone schneller
als im Teichinnern erfolgen würde, so könnte das nur
durch eingewehten oder -geschwemmten Sand und Schlick
geschehen, nicht aber durch Kalkschlamm der Pflanzen.
Schließlich — und das ist eine wichtige positive Beob-
achtung — entstehen in den heutigen Teichen der nörd-
lichen Sandfelder, die die Beschaffenheit besitzen, die
Herr Michaelsen den Kalkpfannenteichen zuschreibt, nur
humose Schlamme, nicht aber Kalktuffe.
Es ist mir sehr interessant zu sehen, bei Herrn Micha-
elsen zwei Gedanken zu finden, die mich lange beschäftigt
haben und die ich wiederholt an Ort und Stelle er-
wogen und geprüft habe, ich meine die Entstehung
des Kalaharikalkes im oder auf dem Sand und die
ungleichmäßige Sedimentbildung primärer Pfannenform.
Manche Probleme würden sehr vereinfacht werden,
allein zu meinem größten Bedauern mußte ich solche
Vorstellungen fallen lassen.
Der Gedanke, daß der Kalk in Vertiefungen auf dem
Sande zur Ablagerung gelangt sei oder daß der Kalksand-
stein ein sekundär verkitteter Sand sei, liegt nahe genug.
Es würden gerade die Kalkpfannen des eigentlichen Sand-
feldes und das lokale Fehlen des Sandes über dem Kalk
leicht erklärt werden. Allein als ich sah, daß in dem
ganzen großen Gebiete zwischen Gobabis, Andara und
dem Bamangwatolande niemals — aber auch niemals —
eine Auf- oder Einlagerung des Kalkes auf bzw. in dem
Sande beobachtet wurde, daß in allen vorhandenen Auf-
schlüssen der Kalk direkt auf älterem Gestein liegt, daß
niemals in dem Sande der Beginn solcher Kalkabscheidung
in‘rudimentärer Form oder in Resten zerstörter, älterer,
lokaler Auf- oder Einlagerungen zu sehen war, trotz
eifrigen Suchens, als ich sah, daß vielmehr auf un-
geheure Strecken hin, vom Ngami bis Andara (170 km)
und vom Ngami bis zum Ostrande des Makarrikarribeckens
(340 km) zusammenhängende Kalkablagerungen unter
dem Kalaharisand nachweisbar sind — als ich das sah,
gab ich den Gedanken an eine lokale sekundäre Ent-
stehung in oder über dem Sande auf.
Auch bezüglich der primären Entstehung der Kalk-
pfannenform ging es mir nicht anders. Wenn man so und
so oft Gelegenheit gehabt hat, Kalkpfannen zu beobachten,
in denen der Röhrenkalktuff noch voll und ganz die
Becken ausfüllt, wenn man gesehen hat, wie sich zwischen
diesen Pfannen und solchen, die nur noch minimale Reste
von Kalktuff enthalten, alle Übergänge finden, wenn man
obendrein in dem feuchteren Norden Sandpfannen mit
Kalktuffboden findet, die man aus triftigen Gründen als
die Urform der Kalkpfannen ansprechen kann, dann ist
doch wohl die Deutung am natürlichsten, daß der Kalk-
tuff einst die Pfannen ausgefüllt habe. Und spricht
nicht auch in der Pfanne Owingi die Insel von Röhren-
kalktuff, „die“, wie Herr Michaelsen betont, „bis zur
Höhe des Pfannenrandes reicht“(!), deutlich für
solche Auffassung? Allein seiner Hypothese zuliebe weist
er die natürliche Erklärung zurück und nimmt lieber in
einer Ebene eine Springquelle mit Kalktuffkegel à la
Lahontan-See an, obwohl er in der Pfanne Otjire das
Vorhandensein einer einfachen Quelle in der Tiefe der
») In tiefen Teichen sind die Verhältnisse anders, da
die Wasserpflanzen nur in der Tiefe von einigen Metern
(etwa 10 bis 20) gedeihen. Dort liegt das Maximum der
Sedimentbildung zwischen dem Schilfrande und 10 bis
20 m Tiefe.
Pfanne gerade wegen der Ebenheit des Geländes leugnet.
In Owingi ist die Ebenheit aber ebenso groß.
Der Hauptgrund, warum die Kalkpfannen eine primäre
Pfannenform haben sollen ist für Herrn Michaelsen der,
daß bis 1850 die Pfannen mit Wasser gefüllt gewesen
wären, aber 1860 bereits fertige Kalkpfannen vorliegen.
Die Autoren, auf die sich Herr Michaelsen bezieht, sind
Baines und Chapman, die 1861 bis 1862 von Walfisch-
bai nach dem Sambesi reisten. Die von Herrn Michaelsen
erwähnten leeren Kalkpfannen, die sie vorfanden, liegen
— was Herr Michaelsen vergessen hat zu erwähnen —
im Chansefeld. Es sind die Pfannen Chanse und Kubi.
Die Kalkpfannen des Chansefeldes sind aber,
wie Herr Michaelsen wiederholt versichert, älter
als die im östlichen Damaraland!*)
6. Die „Rivierperiode und die Omuramba-
periode“. Wenn auch die Ansiedler einen Unterschied
zwischen Rivier und Omuramba machen, so ist er in
wissenschaftlichem Sinne unhaltbar, weil im Verlauf
eines Flußbettes der Charakter desselben häufig wechselt.
Bald hat es Lehmboden — dann ist es ein Omuramba,
bald Sandboden — dann ist es ein Rivier. Leicht könnte
man zahlreiche Beispiele dafür anführen. Ganz unver-
ständlich aber ist Herrn Michaelsens Glaube, daß die
Riviere, die doch gerade im regenärmeren Süden seines
Gebietes liegen, häufig abkommen, die Omuramba aber,
die sich im regenreicheren Norden befinden, selten oder
nie. Das ist einmal unwahrscheinlich, zweitens unrichtig>).
Besonders bemerkenswert aber ist die Behauptung,
die Riviere seien ganz jung, da sie wenig in den Sand-
boden eingeschnitten sind. „Das beweist, daß sie sehr
jung sind.“ Dieser Satz ist sehr interessant, weil er
aufs deutlichste zeigt, wohin das Davissche Schema von
jungen und alten, reifen, halbreifen, unreifen Flußbetten
führt. Es kommt in jedem einzelnen Fall ganz auf die
Umstände an. Ein wenig eingeschnittenes Flußbett
kann sehr alt sein, so z. B. im Sandfelde der Kalahari.
Abnorme Regenmengen bewirken dort Abkommen mit
Erosion, allein dann folgen Monate und Jahre, wo das
langsame Abschwemmen der Regen und die nivellierende
Tätigkeit der Winde alle Spuren der Erosion verwischen.
Dann ist das Flußbett also im „Greisenalter“. Aber
eine Stunde später kommt der Fluß ab, dann ist es im
„Jugendalter“. Das ist nur ein Beispiel dafür, wohin
man mit Schlagwörtern und Schematismus gelangt.
Herrn Michaelsens Anschauung aber, daß sich das
Klima seit 1850 bis 1860 geändert habe, da seitdem
*) Bolche Gedankenfehler kommen gar nicht vereinzelt
vor. Wiederholt betont Herr Michaelsen, wie wichtig für die
Bildung von lokalen Hohlformen mit Kalkabscheidungen eine
wasserundurchlässige Schicht oder das Grundgestein in ge-
ringer Tiefe sei. Er nimmt daher an, daß das Grundgestein
unter den Kalkpfannen im allgemeinen in nicht sehr großer
Tiefe anstehend ist (8.123). Auf 8.127 heißt es aber gleich-
zeitig: „Einen Schluß auf die Kalkpfannen der südlichen
Kalahari kann man nur aus der Tatsache ziehen, daß sie im
tiefen Kalaharisand liegen sollen. Das kann allein der Fall
sein, wenn sie jünger sind als der Sand.“ Herr Michaelsen
hätte doch mindestens — seinen obigen Ausführungen ent-
sprechend — die Frage offen lassen müssen, ob das Grund-
gestein als eine wasserundurchlässige Schicht in geringer Tiefe
läge. Aber die Hypothese verlangt in dem einen Fall tiefen
Sand, also ist der Sand tief; in dem anderen flachen Sand,
also ist er flach. Die Befriedigung der Hypothese ist eben
stets die Hauptsache.
*) Eigenartig, aber unrichtig ist die Vorstellung, die
Riviere kämen ab, weil infolge von Regen im Quellgebiet
der Grundwasserspiegel sich so weit hebe, bis das Rivier ober-
tlächlich Wasser führe. „Das nennen die Farmer abkommen.“
O nein! Abkommen nennt man das oberflächliche Abfließen
des plötzlich gefallenen Regenwassers über dem trockenen
Sande der Flüsse. Selbst nach tagelangem Fließen dringt das
Wasser überraschend wenig in den Sand ein.
222
Goldstein: Besitz und Vermögen bei den primitiven Völkern.
die Kalkpfannen ausgetrocknet seien, widerspricht völlig
unseren Kenntnissen von dem Auf- und Abschwanken
der Niederschläge in Südafrika. Die von Herrn Micha-
elsen erwähnten Pfannen des Chansefeldes, die Chapman
und Baines trocken fanden, sind seitdem wiederholt
gefüllt und trocken gewesen, und andererseits haben
wir vor 1850 Nachrichten von furchtbaren Dürren aus
Südwestafrika, z. B. bereits aus den 70er Jahren des
18. Jahrhunderts zur Zeit der ersten Burenexpeditionen.
Über die von Herrn Michaelsen beschriebenen Pfannen
fehlen aber Nachrichten überhaupt.
Schlußfolgerungen.
Es sei nochmals betont, daß es gewiß in hohem Grade an-
erkennenswert ist, daß Herr Michaelsen, obwohl er keine
entsprechende Vorbildung besaß und unter den denkbar
ungünstigsten Verhältnissen reiste, doch Beobachtungen
über so schwierige Gebilde, wie es die Kalkpfannen sind,
angestellt hat. Erklärlich ist es auch, daß ein junger
Student seine Dissertation und erste wissenschaftliche
Arbeit auf eigenen, in unbekannten Landen angestellten
Beobachtungen aufzubauen wünschte, unverständlich da-
gegen, daß man ihn zu vorliegender Arbeit ermutigen
konnte. Denn hier wird auf ganz unzulänglichen Be-
obachtungen eines Laien, der zur Zeit seiner Beobach-
tungen keine Kenntnisse in Geologie und Petrographie
besaß, ein Luftschloß aus Hypothesen aufgebaut, das an
Kühnheit der Architektur nichts zu wünschen übrig läßt.
Als Dissertation eignet sich eine solche Arbeit nicht.
Hätte Herr Michaelsen sich auf seine eigenen Be-
obachtungen beschränkt, so hätte er einen beachtens-
werten Beitrag zu der Kenntnis der Kalkpfannen liefern
können ®); statt dessen hat er seine eigenen Beobach-
tungen verstümmelt, um sie in die starre Form be-
stimmter Hypothesen zwängen zu können, zu denen er
erst unter dem Einfluß seiner Studienzeit gelangt ist.
Nun gibt es noch einen Gesichtspunkt, von dem aus
betrachtet die Arbeit Herrn Michaelsens allgemeineres
€) Eine Abhandlung über die pfannenförmigen Hohl-
formen der südafrikanischen Steppengebiete wird Gelegenheit
bieten, diese Ansicht zu begründen.
Besitz und Vermögen bei den primitiven Völkern.
Herr Prof. Joseph Kohler, Berlin, hat unter diesem
Titel in Nr. 24 der „Internationalen Wochenschrift“ einen
Artikel publiziert, in dem er alle die Lehren wiederholt, die
die wissenschaftliche Ethnographie der letzten Jahre als
irrig erkannt und dementsprechend aufgegeben hat. Er
greift das Problem vom Standpunkt des modernen Rechts-
gelehrten an und übersieht dabei die grundlegende Tatsache,
daß bei primitiven Völkern das Verhältnis der Menschen
zum besessenen Boden ein ganz anderes ist wie bei Kultur-
völkern. Primitive Völker haben immer eine sehr geringe
Dichte, eine Bevölkerungspolitik, wie sie sich unter dem
Einfluß des Klerus zum großen Unglück für die Menschen
und — was heute nur wenige wissen — zum großen Unglück
für die Staaten gebildet hat, ist ihnen unbekannt. Aller-
dings wünschen primitive Familien zahlreiche Nachkommen-
schaft, aber nicht weil sie dabei an den Staat denken, dessen
Begriff ihnen ebenso unbekannt ist wie die Bevölkerungs-
politik, sondern weil zahlreiche Kinder Zeugnis für den Be-
sitz zahlreicher Weiber ablegen. Denn selten stammen in
polygamen Stämmen, was doch die meisten unzivilisierten
sind, zwei Kinder eines Mannes von derselben Mutter, in
der Regel von zwei verschiedenen, und hat ein Mann viele
Kinder, so muß er auch viele Weiber haben. Großer Weiber-
besitz ist aber gleichbedeutend mit großem Reichtum, nicht
etwa, weil ihre Unterhaltung viel Kosten verursacht, denn
jede Frau muß sich selber ernähren, kostet also dem Manne
gar nichts, auch nicht, weil eine Frau eine Arbeitskraft
darstellt, denn der primitive Mensch ist kein Warenhändler,
sondern weil sie gegen Wertobjekte eingetauscht werden
müssen, der Besitz vieler Weiber demnach den Besitz vieler
Interesse verdient, nämlich der, daß'wir uns jetzt gerade
in einer für die Entwickelung der geographischen Wissen-
schaft so kritischen Zeit befinden. Mit den nachfolgenden
Befürchtungen stehe ich keineswegs allein da. Sie werden,
wie ich bestimmt weiß, auch von anderen Fachgenossen
geteilt, und sie erklären es, warum hier auf Herrn Micha-
elsens Abhandlung so ausführlich eingegangen worden ist.
Von den res terrestres des Varenius ist nach Ab-
zweigung der Geophysik, Meteorologie und Ozeanologie
als selbständigen Wissenschaften nur noch die Geomorpho-
logie als Arbeitsgebiet für den Geographen übrig ge-
blieben. Da aber die Geologie die notwendige Grundlage
der Geomorphologie bildet, der Geologe also für die Be-
handlung geomorphologischer Fragen der gegebene Mann
ist, und da ihn obendrein das moderne geologische Kar-
tieren einfach zu geomorphologischen Studien zwingt, so
ist es ganz natürlich, daß die Geologen angefangen haben,
die Geomorphologie als ihr Arbeitsgebiet zu betrachten
und es dem Geographen ‘zu entreißen streben. Gelingt
ihnen das, so werden diesem definitiv die naturwissen-
schaftlichen Fächer als Arbeitsgebiet genommen und er
wie in früheren Zeiten wieder auf die res humanae be-
schränkt. Das würde aber den Ruin der Geographie als
Naturwissenschaft herbeiführen: Die Gefahr ist sehr groß
und nur angestrengtes, solides Arbeiten auf geologischer
Grundlage und nur eine strenge systematische geologische
Ausbildung der heranwachsenden Geographen könnte sie
abwenden. Leider muß man feststellen, daß nicht selten
Geographen ohne genügende geologische Schulung und
unter Vernachlässigung der Geologie sich geomorpho-
logischen Studien widmen. Der Mißerfolg ist nicht aus-
geblieben. Es ist kein Geheimnis, daß viele Geologen nur
noch mit mitleidigem Lächeln auf den Geographen als
Geomorphologen herabsehen. Geradezu verhängnisvoll
muß daher eine Richtung werden, der bereits die Be-
obachtungen eines Laien ohne geologische und petto-
graphische Kenntnisse über so schwierige und wenig
bekannte Gebilde, wie es die Kalkpfannen zweifellos sind,
als eine genügende Grundlage für eine in weitgehen-
den Hypothesen schwelgende geomorphologische Arbeit
erscheinen.
wertvoller Güter, etwa Kühe, anzeigt. Hat ein Mann
demnach viele Kinder, so zeigt er damit, daß er reich
ist, und an dem Renommieren mit seinem Reichtum liegt
dem Unzivilisiertten wie unseren Protzen vielleicht noch
mehr als an dem bloßen Besitz. Der Noachische Segen
„Seid fruchtbar und mehret euch“ paßt also vortrefflich
für unzivilisierte Stämme; daß dies bei europäischen Stämmen
ganz und gar nicht der Fall ist, beweist die Abnahme der
Kinderzahl bei zunehmender Wohlhabenheit (Brentano). Aber
trotz alles Sehnens nach Kindersegen bleibt die Bevölkerungs-
dichte primitiver Stämme aus Gründen, deren Erörterung tief
in demographisches Gebiet führen würde, gering, und daher
stehen so ungeheure Flächen zur Verfügung, daß der Boden
wertlos ist, ein Eigentumsrecht am Boden sich also nicht
ausbilden kann, ganz gleichgültig, ob der Boden bebaut wird
oder nicht, Viehzucht getrieben wird oder nicht. Bei den Kaffern
z.B.wird der Boden von den Weibern bebaut, aber ein Eigen-
tumsrecht am Boden bildet sich dadurch nicht aus, es kann sich
gar keins ausbilden, da es der Kaffer vermeidet, längere Zeit an
einem und demselben Ort zu bleiben. Aus den nichtigsten Ur-
sachen wird der Ort gewechselt, wahrscheinlich weil längeres
Ausharren für gemein gilt. Von den Tuareg der Sahara ist dies
erwiesen: das seßhafte, nach unseren Begriffen bequemere und
darum erstrebenswerte Leben ist für die niedrige Klasse der
Imrhad, der Asger-Edele wohnt im Lederzelt oder in einer
Felsspalte und würde sich für deklassiert halten, sobald er
seßhaft werden müßte. In noch viel höherem Grade würde
dies durch den Feldbau geschehen. Nicht jede Arbeit ist in
den Augen des primitiven Menschen eine Schande, jede aber
dem täglichen Bedürfnis dienende ist es, und ganz besonders
der Feldbau, der daher fast immer in den Händen der
Frauen und Sklaven liegt. Will man daher die Vermögens-
Die heutige Lage der Gilbert-Insulaner.
223
verhältnisse primitiver Völker untersuchen, muß man vor
allem feststellen: Was gilt bei ihnen für gemein, was für
vornehm? Wer an das Problem mit kraß materialistischen
Ideen herantritt, kommt von Irrtum zu Irrtum.
Kohler sagt ganz allgemein: „Mit der ursprünglichen
Form der Gemeinverhältnisse der Völker ist auch eine völlige
Gemeinsamkeit des Vermögens verbunden.“ Der Boden muß
hierbei ausscheiden, da er nicht zum primitiven Eigentum
gehört. Das ist er so wenig, daß in einigen Gebieten, die
Wißmann durchzog, das Untertanenverhältnis sich nicht
nach dem Lande richtete, in dem die Menschen wohnten,
sondern nach der Abstammung. Das primitive Eigentum be-
steht immer in Mobilien, und diese sind niemals in gemeinsamem
Besitz. Ob Rinder, Pferde, Kamele gezogen, oder Kupfer,
Eisen, Rinde, Elfenbein oder Menschenschädel thesauriert
werden, der Besitz haftet immer an der Person. Es kann
gar nicht anders sein, da der primitive Besitz nicht not-
wendige Bedürfnisse befriedigen soll wie der des Europäers,
sondern seinen Besitzer möglichst hoch über seine Mit-
menschen erheben soll. Der Neger zieht Rinder, melkt
seine Kühe und trinkt ihre Milch, und der Schluß liegt ge-
wiß nahe, er halte sie dieses Nutzens wegen. Aber das ist
nicht der Fall. Das Vieh wird von ihm des Besitzes wegen
gehalten, von dem er nie genug haben kann, denn je mehr
er hat, für desto reicher und vornehmer wird er von sich
selbst und seinen Landsleuten gehalten. Als Schlachttier
kommt daher das Rind für ihn kaum in Frage, und er ent-
schließt sich nur an hohen Festen, eins zu opfern, da er
sonst ja seinen Viehschatz verkleinern würde. Er trinkt die
Milch der Kühe, aber es gibt in Afrika Stämme, die ihre
Kühe nicht melken, obgleich sie es könnten, andere, die sie
nicht melken können, weil sie keine Milch geben, und in
China wird bis auf den heutigen Tag die Milch nicht zu
Nährzwecken verbraucht. Es war den Reisenden längst auf-
gefallen, daß die Viehzucht unzivilisierter Stämme einen
ganz anderen Zweck hat als unsere, sie hatten längst er-
kannt, daß das Vieh nicht seines wirtschaftlichen Nutzens
wegen gehalten, sondern seiner selbst wegen gezüchtet wird,
und bezeichneten daher die primitive Viehzucht als Luxus
oder Liebhaberei. Da hierdurch aber weder der Wertcharakter
des Viehes noch die Anstrengungen seines Besitzers, seine
Zahl nach Möglichkeit zu vergrößern, zur Genüge angedeutet
wurde, so habe ich vorgeschlagen, die Viehzucht der Natur-
völker als Viehthesaurierung zu bezeichnen. Von einer
Gemeinsamkeit dieses Viehschatzes ist aber nirgends die
Rede; im Gegenteil: wenn der Neger kann, beraubt er an-
dere Herden, um seine eigene zu vergrößern. Bei der The-
saurierung lebloser Dinge, etwa von Metallen, liegen die Ver-
hältnisse analog. Gemeinsamkeit des Besitzes ist bei diesen
schon deswegen vielfach ausgeschlossen, weil sie von den
Besitzern ständig als Schmuck getragen und nicht entfernt
werden können. Manche Eingeborene Afrikas tragen kupferne
Ringe um den Hals, die bis 7kg schwer werden können. Sie
sind fest herumgeschmiedet und können nur abgenommen
werden, wenn man ihrem Träger den Kopf abschlägt.
Ganz irrig ist auch Kohlers Meinung, daß auf primitiver
Stufe der einzelne der Gesamtheit diene. In despotisch re-
gierten Ländern könnte man den Satz eher umkehren und
sagen, die Gesamtheit diene dem einzelnen, nämlich dem
Despoten. Wer die schonungslose Gewalt kennt, mit der
beispielsweise Ngilla oder Munsa oder der Muata Jamwo oder
der Lukengo über seine Untertanen herrschte, wird dies
gewiß nicht übertrieben nennen. Man könnte indessen sagen,
dies sei ein anormaler Zustand; aber Despotien’ sind in
Afrika so häufig, daß man sie nicht zu den Ausnahmen
zählen kann, und haben sie sich gebildet, so sind sie immer
durch unmenschliche Grausamkeit, Wollust und rücksichts-
lose Unterjochung der Untergebenen gekennzeichnet. Wenden
wir uns aber zu ganz freien Stämmen, z. B. den Tuareg
der Sahara, so ist bei ihnen von einer Unterordnung des
einzelnen unter die Gesamtheit vollends keine Rede, sondern
es herrschen so freie Zustände, daß Foureau sie nicht anders
wie anarchisch nennen konnte. Jeder Asger tut, was ihm
paßt, kümmert sich niemals um seine Stammesgenossen, auch
nicht um den Häuptling. Foureau hatte vom Asgerhäuptling die
Erlaubnis erhalten, durch das Gebiet des Stammes zu ziehen,
hatte von ihr auch schon Gebrauch gemacht, aber einem Asger-
Edeln paßte es nicht, ihn weiter ziehen zu lassen, und er mußte
Die heutige Lage der Gilbert-Insulaner.
Im Südosten der deutschen Marshall-Gruppe liegen die
englischen Gilbert- und Ellice-Inseln, wie jene aus Atollen
bestehend. Die Bevölkerung der nördlichen Gruppe, der
umkehren. Nur wenn Krieg droht, ist an eine Vereinigung
aller Asgerabteilungen, oder bei Verletzung oder Tötung
eines Sippenmitgliedes durch das Glied einer anderen Sippe
an die Vereinigung aller Sippenglieder zu denken, sonst lebt
jeder für sich und fragt nicht nach dem Interesse der
übrigen. So wenig ist bei diesem freiesten Volk der Erde
das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit anderen ausgebildet,
daß ich mir schon die Frage vorgelegt habe, ob der Cha-
rakter des woy moAstıxov dem Menschen nicht durch Zwang
oder durch den Druck der Verhältnisse angewöhnt worden,
seiner eigentlichen Natur aber fremd sei, und wer die
Schwierigkeit kennt, mit der die Menschen ohne Zwang zu-
sammenzuhalten sind, etwa bei Produktivgenossenschaften,
wie oft diese nur durch Zänkereien der Mitglieder zugrunde
gehen, oder wie schwer es ist, zwei Familien auf einem
gemeinsamen Hausflur in Frieden zu halten, wird diese Frage
gewiß diskutabel finden.
Ich darf hierbei indessen nicht verschweigen, daß
Pechuöl-Lösche aus Loango Verhältnisse mitgeteilt hat, die
man Unterordnung des einzelnen unter die Gesamtheit
nennen kann. Aber es handelt sich hierbei um einen ein-
zelnen Volkssttamm, und obwohl die bei ihm herrschenden
Verhältnisse sich bei anderen, wahrscheinlich sogar bei vielen
anderen wiederfinden, so ist es dennoch unzulässig, sie auf
alle Stämme der Erde anzuwenden. Generalisationen sind
den Wissenschaften immer verhängnisvoll, und vielleicht
keine hat unter ihnen mehr zu leiden gehabt als die Eth-
nographie. Ferner bestehen die Bafioti in Loango, von denen
Pechuäl-Lösche berichtet, aus zwei Schichten, von denen die
eine als Eigentum der anderen betrachtet wird. Die leib-
eigene wird allerdings ganz den Interessen der herrschenden
aufgeopfert, aber die herrschende selbst ist wieder ganz frei,
nicht zuletzt in ihren weiblichen Gliedern, und da ferner
jedes Glied der herrschenden Klasse seine Anzahl Unter-
gebener hat, so haben wir hier die Verhältnisse Ngillas oder
des Muata Jamwo, nur in größerer Zahl nebeneinander und
nicht mit so viel Grausamkeit verdüstert, letzteres, weil in
Loango die Frau einen großen Einfluß hat, und die Natur
der Frau wenig zur Grausamkeit neigt.
Da die europäischen Völker wie alle Völker sich für
die höchstzivilisierten halten, und die Landwirtschaft ur-
sprünglich ihre Hauptbeschäftigung war und bei vielen noch
heute ist, hat man gesagt, sie sei die Mutter der Kultur,
und auch Kohler tut dies. Aber es gibt Völker, bei denen
die Landwirtschaft von alters her einen großen Umfang hat,
deren Kultur man aber schwerlich hoch nennen wird. Sind
z.B. die Chinesen ein Kulturvolk oder waren es die Japaner
vor der Meiji-Ara? Ich kann diese Fragen nicht beantworten,
weil ich den heute so viel angewandten Kulturbegriff nicht
anerkenne; aber ich glaube, die meisten werden sie ver-
neinen. Oder sind die Russen ein Kulturvolk, oder waren
es die übrigen Europäer, als die Geistlichkeit mit Hilfe von
Martern Geständnisse erpreßte, unschuldige Menschen beider-
lei Geschlechts in Scharen dem Flammentode übergab oder
für Geld begangene oder künftige Verbrechen ungeschehen
machte? Waren sie es in höherem Grade als die Mexikaner,
die unschuldigen Menschen das Herz aus dem Leibe rissen?
Aber wir haben uns aus eigener Kraft von diesen gräßlichen
Zuständen befreit, und uns verdankt es die Welt, daß, soweit
unser Arm reicht, solche Greuel nicht mehr geduldet werden.
Gewiß, aber diesen Fortschritt verdanken wir nicht der Land-
wirtschaft, sondern der Bürgerschaft in den Städten; wäre
es ihr nicht gelungen, über geistliche und weltliche Herren
auf dem Lande Macht zu gewinnen, so ständen wir vielleicht
noch heute auf dem Standpunkt, daß man Gott eine große
Ehre erweist, wenn man unschuldige Menschen lebend auf
dem Scheiterhaufen opfert, und wüßten nichts von Zivili-
sation, dem alleinigen Werk der Bürger, von denen sie ihren
Namen trägt. Die Landwirtschaft als solche hat den mensch-
lichen Fortschritt nicht gefördert, der Schluß vom post
auf das propter ist hier wie überall falsch; die wirklich
fördernde Kraft des Menschengeschlechts ist das freie Bürger-
tum in den Städten und die unter seinem Schutze gedeihende
voraussetzungslose Forschung. Solange diese besteht, brauchen
wir nicht zu verzagen, so trübe es auch um uns aussehen
mag. Erst wenn es Landwirten und Geistlichkeit gelungen
ist, die freie Wissenschaft totzuschlagen, ist alles aus.
Goldstein.
Gilbert-Inseln, wird zu den Mikronesiern gerechnet, während
die der südlicheren Ellice-Inseln den polynesischen Samoanern
sehr ähnlich ist. Arthur Mahaffy, Assistent des Oberkom-
missars für den westlichen Pazifik, hat beide Gruppen im
vorigen Jahre besucht und seine Beobachtungen jüngst in
224
Bücherschau.
einem englischen Parlamentsbericht niedergelegt. Einiges
daraus sei hier über die Gilbert-Insulaner mitgeteilt, zur Er-
gänzung dessen, was nach dem Vortrage des Oberkommissars
Sir Edward F. im Thurn S. 260 des 96. Globusbandes über die
heutige Lage der Eingeborenen gesagt wurde.
Sichere Häfen sind spärlich an diesen niedrigen Korallen-
inseln, man kann gewöhnlich nur landen, nachdem man 800
bis 1000 m weit durch das Wasser über den Korallenboden
gewatet hat. Infolge der Aquatorialströmung, die eine un-
regelmäßige, jedoch zeitweise außerordentliche Stärke zeigt,
ist der Verkehr zwischen den Inseln der Gilbert-Gruppe be-
schränkt, und die Lebensgefahr, die man bei Seereisen mit
den Kanus der Eingeborenen läuft, ist so groß, daß die Re-
gierung alle Seereisen außer mit den Handelsschiffen jetzt
verboten hat. Die früheren Kriege unter den Eingeborenen
der Gruppe haben seit Errichtung der englischen Herrschaft
aufgehört und die Verluste an Menschenleben in den Wellen
infolge des erwähnten Verbotes ebenfalls. Trotzdem aber
sterben sie aus (ihre Zahl ist auf etwa 25000 gesunken), oder
vielleicht gerade deshalb; denn neben den ihnen von der Zi-
vilisation gebrachten Krankheiten sieht Mahaffy die Ursache
dafür in den Einwirkungen der Langeweile, unter der sie
nun zu leiden haben. An die Stelle der Kämpfe mit den
Waffen sind Wortgefechte getreten: chronische Streitereien
über das Eigentumsrecht an Landfetzen und Kokospalmen
bilden jetzt die einzige Rettung der Eingeborenen vor der
tödlichen Langeweile.
In alten Zeiten waren die Kriege ebenso chronisch, sie
hörten fast niemals auf, Mordtaten waren auch häufig, und
den Gefechten folgte die Zerstörung der Ernte durch die
Sieger, so daß die Besiegten vom Hungertode bedroht waren.
Heute ist völlige Armut fast unbekannt, jeder ist im sicheren
Besitz seines Landes. Die Steuern, die die Regierung erhebt,
sind nicht drückend und dienen nahezu ausschließlich zu
Verbesserungen auf den Inseln und für Zeiten der Dürre oder
anderer Kalamitäten. Und trotz alledem werden tatsächlich
keine Kinder geboren, „aus Gründen, die die Eingeborenen
nicht erklären können oder wollen“.
Mahaffy rühmt die Zweckmäßigkeit der heutigen Haus-
form auf den’ meisten Inseln der Gilbert-Gruppe. Es hat sich
darin eine außerordentliche Gleichmäßigkeit entwickelt nach
einer Reihe von Experimenten. Die Dörfer werden in schönster
Ordnung und die Wege peinlich sauber gehalten. Auf allen
Inseln gibt es Krankenhäuser, und die Eingeborenen, die
hier so viel an unsichtbaren Leiden kranken, suchen sie
sehr gern auf und werden in vielen Fällen auch völlig
kuriert. Das steht ganz im Gegensatz zu Fiji, wo die Ein-
geborenen sich gegen die Behandlung in den Regierungs-
hospitälern sträuben.
Die tägliche Nahrung bestand früher nur aus Kokosnüssen,
Pandanusfrüchten und Fischen, jetzt werden Reis, Mais, Zucker
und Biskuits gegen Kopra eingetauscht. Die alten Künste
und Fertigkeiten sind dahin, Kleider, Stiefel und Segel
zeigen den europäischen Einfluß. Zu den Wirkungen der
ungewohnten neuen Kleidung gehört aber die weit verbreitete
Schwindsucht, die mit anderen importierten Krankheiten an
der Abnahme der Eingeborenen arbeitet. Die weiße Bevölke-
rung auf den Inseln gedeiht nicht, dagegen scheinen die
Chinesen, die zahlreich zuströmen, zu prosperieren. Der täg-
liche Verbrauch an Kokosnüssen durch die Eingeborenen be-
trägt etwa sieben pro Kopf, so daß nach ihrem Erlöschen
alle Nüsse für die Koprabereitung zur Verfügung stehen.
Nun vollzieht sich die Bevölkerungsabnahme am schnellsten
gerade auf den Inseln, die die meisten Palmen haben, so daß
bald ansehnliche Bestände für jenen Zweck frei werden
dürften.
Die schon erwähnten Streitereien haben ihren Grund in
der eigentümlichen Zersplitterung des Landbesitzes. Die jetzt
regelmäßig geführten Landregister zeigen Tausende von Stücken,
deren kleinste nur einige Quadratmeter umfassen. Diese
Stücke sind von den Eingeborenen entweder von den Vor-
fahren ererbt, oder im Kriege gewonnen, oder das Resultat
von Parteikämpfen, in manchen Fällen rührt auch der Besitz
aus der Bestrafung von Verbrechen gegen die Gemeinde her;
sie sind alle mit größter Sorgfalt abgegrenzt, liegen zwar
anscheinend unentwirrbar durcheinander, sind aber ihren
Eigentümern ganz genau bekannt. Diese Kenntnis geht, wie
Mahaffy versichert, sogar so weit, daß der Eigentümer die
Kokosnüsse seiner eigenen Palmen aus einem Haufen anderer
Nüsse zu rekognoszieren vermag. Das zeigt sich z. B. bei
Diebstählen.
Auch kurze Bemerkungen über die Ellice-Insulaner finden
sich in dem Bericht. Mit ihrer Armut soll es nicht so
schlimm bestellt sein, wie behauptet worden ist. Auf dieser
Gruppe sind noch keine weißen Händler ansässig, die Dampfer
kaufen die Kopra unmittelbar von den Eingeborenen.
Bücherschau.
Max Koch, Beiträge zur Kenntnis der Höhengrenzen
der Vegetation im Mittelmeergebiete. X u. 310 8.
Halle 1910, Kaemmerer. 6 f.
Ein interessantes Buch, das uns so recht die Einwirkung
der klimatischen Verhältnisse auf die Pflanzenwelt vorführt.
Dabei zeigt Verfasser, wie sich in dem genannten Gebiete
an einer Reihe von Beobachtungsarten ein Parallelismus in
der unteren und oberen Höhengrenze der Pflanzen konsta-
tieren läßt. Abweichungen sind wohl meist durch lokale Ein-
flüsse verursacht. Die Höhengrenzen der im Mittelmeer-
gebiete vorkommenden Pflanzen scheinen von der auf Meeres-
niveau reduzierten Januar- wie Julitemperatur beeinflußt zu
werden. Im allgemeinen wirkt erstere mehr auf die Gestal-
tung der Höhengrenze der speziell mediterranen, die Juli-
temperatur mehr auf die der mitteleuropäischen Pflanzen
ein. Als bestimmend für die Höhengrenzen der mediterranen
Vegetation muß man die 5°-Januarisotherme, als bestimmend
für die Baumgrenze die 10°-Juliisotherme betrachten. Die
Hebung dieser Isothermen bestimmt im allgemeinen auch
die Hebung der betreffenden Höhengrenzen. Die Pflanzen
des Mediterrangebietes sind in bezug auf die Temperatur
sehr anpassungsfähig, wie die großen Temperaturschwankungen
an den Höhengrenzen beweisen. Die jährliche Niederschlags-
menge hat einen positiven Einfluß auf die Höhengrenzen der
mitteleuropäischen Waldbäume, während bei den xerophilen
Vertretern der Mediterranvegetation der Einfluß meist ne-
gativ ist. Die Massenerhebung spielt auch im Mittelmeer-
gebiete eine die Höhengrenze hebende Rolle, und zwar
scheinen die Massenzentren ganzer Ländergebiete diese Be-
deutung zu haben. Die Höhengrenzen fast aller vom Ver-
fasser behandelten Pflanzen — es sind 28 — heben sich in
ihren Mittelwerten mit der Annäherung an den afrikanischen
Wüstengürtel, an den kontinentalen Teil von Asien und an
die Pyrenäenhalbinsel. Im allgemeinen ist im Mittel in der
Apennin- und Balkanhalbinsel die geringste Höhenentwicke-
lung der Pflanzen zu suchen.
Vermochten wir nur die Hauptergebnisse mitzuteilen, so
steht doch noch viel in den einzelnen Kapiteln, beispielsweise
von dem Verhältnis der Höhenkurve zur Niederschlagskurve,
so daß wir das Buch namentlich Italienfahrern empfehlen
möchten.
Halle a. 8. E. Roth.
Cartas de Juan Vázquez de Coronado, Conquistador de
Costa Rica. Neu herausgegeben von D. Ricardo Fernändez
Guardia. 4°. 688. Barcelona 1908.
Den größten Teil dieser Briefe des kühnen Eroberers von
Costa Rica aus den Jahren 1562 bis 1565 hat bereits Manuel
M. Peralta, der sie im Archivo General de Indias von Sevilla
entdeckte, in seinem selten gewordenen Werke „Costa Rica,
Nicaragua y Panamá en el siglo XVI“ (Madrid 1883) ver-
öffentlicht. Trotzdem ist die neue Ausgabe der Briefe eine
wertvolle Gabe, da ihr Text sorgfältig verbessert worden ist,
und ein Brief vom 20. Januar 1653 hinzugefügt wurde. Es
ist angenehm, dieses für die Geschichte des alten Costa Rica
und seiner Bewohner unschätzbare Quellenwerk in vornehm
ausgestatteter Form zur Hand zu haben. Den Amerikanisten
sei es hiermit auf das wärmste zum Studium empfohlen,
zumal wir hier die beinahe einzigen Nachrichten über die
Bewohner des südöstlichen Costa Rica (Coto, Quepo usw.)
aufgezeichnet finden. Dr. Walter Lehmann-München.
Dünenbuch. Werden und Wandern der Dünen. Pflanzen-
und Tierleben auf den Dünen. Dünenbau. Bearbeitet
von F. Solger, P. Graebner, J. Thienemann,
P. Speiser und F. W. O. Schulze. VIII u. 404 S. mit
3 Tafeln u. 141 Textabbildungen. Stuttgart 1910, Fer-
dinand Enke.
Es ist ein glücklicher Gedanke, gegenüber dem vor
einem Jahrzehnt erschienenen stärkeren Handbuch des deut-
schen Dünenbaues (vgl. Globus, Bd. 78, 1900, Nr. 3, 8. 48
bis 52) mehr die naturwissenschaftliche Seite zu betonen
und auf diese Weise einem größeren Leserkreis Einblicke in
diese eigenartigen Verhältnisse zu verschaffen, während da-
mals die technische Seite mehr hervortrat. Je mehr der
Aufenthalt an der See weitere Scharen anlockt, desto größer
Bücherschau.
war das Bedürfnis nach einem solchen Führer geworden,
der uns die geologische Geschichte der Dünen vorträgt, uns
die Windrichtungen erklärt, das Mitwirken der Strandpflanzen
erläutert usw. Dabei ist den einzelnen Gegenden unseres
Vaterlandes mit ihren Verschiedenheiten im Aufbau der
Dünen hinreichend Rechnung getragen; Solger beschäftigt
sich im einzelnen mit denen zwischen Swinsmünde und
Misdroy, dann der Kurischen Nehrung, der hinterpommer-
schen Küste, der Nordsee, er geht auf Stranddünen und
Wüstendünen ein und zieht die norddeutschen Inlanddünen
in den Kreis seiner Betrachtung.
Eigenartig ist das Pflanzenleben auf den Dünen, das
uns P. Graebner schildert, dem wir ja auch die fesselnden
Darstellungen über die Heide verdanken. Die natürliche
Vegetation der typischen Dünen muß geschützt sein gegen
die Gefahren der intensiven Strahlung der Sonne, gegen
Hitze und sonstige besondere Eigenheiten des Klimas. Lang-
kriechende Kräuter suchen den Einfluß des Windes gegen-
standslos zu machen, dicht rasenbildende Gewächse können
sich auf dem losen Sande halten, andere bilden zu gleichem
Zweck lange Pfahlwurzeln aus, usw.
Die Dünen sind im großen und ganzen tierarm, wie
Thienemann seine Schilderung beginnt, wozu nicht zum
mindesten die veränderte Lebensweise beiträgt. Immerhin
hat die Vogelwelt einen großen Anteil an der Zusammen-
schmelzung der Fauna, und diese typischen Bilder schildert
unser Verfasser meisterhaft.
In die Augen fallend ist dann noch der Anteil der In-
sektenwelt an der tierischen Bevölkerung der Dünen, und
für die geringen Bedürfnisse dieser Schweber genügt auch
der spärliche Blumenflor der Dünen, sagt Speiser.
Der spezielle Dünenbau bringt nun die Zweckmäßigkeit
und Ziele des Dünenbaues, Baustoffe und Mittel, Festlegung
und Bewaldung der Wanderdünen aus der Feder von F. W.
Otto Schulze.
Schon die Abbildungen allein locken zum Lesen und ge-
währen andererseits prächtige Anschauungsbilder zur Er-
läuterung des Textes.
Halle a. 8. E. Roth.
Karl Andrees Geographie des Welthandels. Eine
allgemeine Wirtschaftsgeographie, vollständig neu bearbeitet
von einer Anzahl von Fachmännern und herausgegeben
von Prof. Dr. Franz Heiderich und Prof. Dr. Robert
Sieger. I. Bd. Frankfurt a. M. 1910, Heinrich Keller.
Mit vorliegendem Werke hat die alte Geographie des
Welthandels von K. Andree eine Wiederauferstehung gefeiert.
Es ist recht, daß die Neuherausgeber den alten Titel bei-
behalten haben, um so das Andenken an den Vater einer
neueren geographischen Disziplin zu ehren, wenn auch das
neue Werk dem alten auf keiner Seite gleicht. Die Ent-
wiekelung des Weltverkehrs und der Weltwirtschaft, die Ent-
wickelung der wichtigsten europäischen und außereuropäischen
Wirtschaftsreiche stellen heute andere Anforderungen an eine
handelsgeographische Behandlung als vor nahezu einem
halben Jahrhundert. Trotz des Veraltetseins vieler Tatsachen
wird der von K. Andree selbst geschriebene Band wegen
seiner guten und inhaltsreichen Darstellung noch fernerhin
seinen Reiz auf Forscher und Leser ausüben. Indessen ist
hier ein Vergleich zwischen dem alten und neuen Werke
nicht am Platze. Die Neubearbeiter haben auch nicht
beabsichtigt, zum Vergleich herauszufordern, sondern ab ovo
etwas Modernes darzubieten, und man muß unumwunden an-
erkennen, daß unter der Führung von R. Sieger in Graz
und Fr. Heiderich in Wien uns etwas Treffliches präsentiert
wird. Ein Streben nach Bestem blickt aus der Arbeit jedes
Mitarbeiters heraus.
Zu begrüßen ist die der eigentlichen Behandlung der
Materie vorangestellte Biographie Karl Andrees aus der
Feder seines Sohnes Richard Andree. In dem umfang-
reichen einleitenden Teil behandelt Heiderich sodann die
Wirtschaftsgeographie und ihre Grundlagen, Klemens Ottel
die handelskundlichen Grundbegriffe, Fr. Graebner den
Handel bei Naturvölkern, R. Pösch die Hygiene im Welt-
verkehr. An den allgemeinen Teil schließt sich die Behand-
lung von Mittel- und Westeuropa, der skandinavischen Länder
und des russischen Reiches an. Heiderich wiederum be-
schäftigt sich mit dem Deutschen Reiche und mit Osterreich-
Ungarn, A. E. Forster mit der Schweiz, E. Hanslik mit
Frankreich und Belgien, W. R. Eckardt mit den Nieder-
landen, Großbritannien und Irland. R. Sieger selbst hat
ein ihm liebgewordenes Forschungsgebiet, die skandinavischen
Länder, wirtschaftsgeographisch beleuchtet und F. Immanuel
das europäische und asiatische Rußland.
Wir haben ein groß angelegtes Werk in dem neuen
Andree, denn drei Bände wird das gesamte Werk umfassen,
225
und mehr von einem weiteren Standpunkt aus ist es deshalb
auch zu beurteilen. All die kleinen Angaben und Zahlen
zu kontrollieren, liegt außerhalb einer immerhin kurzen Be-
sprechung. Damit würde der Sache auch nicht gedient sein.
Soweit ich mich durch Stichproben überzeugt habe, sind die
besten Statistiken geschickt verwertet worden. Daß die Statistik
in einem derartigen Werke eine große Rolle spielt und spielen
muß, ist selbstverständlich. Die Vergleichungszahlen, denen
ich schon seit Jahren das Wort rede, sind in ausgiebigem
Maße angewendet worden. Nur hier und da scheint mir die
statistische Zahl überflüssig zu sein, insonderheit bei einigen
Stellen der Behandlung des Deutschen Reiches, wo Heiderich
am Schlusse jeder Industriegruppe eigentlich weiter nichts
als eine Abschrift der Ein- und Ausfuhr der betreffenden Artikel
aus der deutschen Reichsstatistik bringt, und zwar alle Angaben
auf das Jahr 1907 bezogen. Entweder hätten diese Angaben
ganz fortfallen können, die Arbeit hätte nicht verloren, oder
wenn einmal angewendet, hätten sie mit anderen verglichen
oder überhaupt verarbeitet werden müssen. Etwas anderes
wäre es, wenn man damit rechnen könnte, daß das Werk in
wenigen Jahren in Neuauflage erscheinen würde, was wohl
bei dem Umfang und dem Preise (rund 50.#% für drei Bände)
ausgeschlossen erscheint. Bei Produktionszahlen kann man
sich unter Umständen die Einzelzahl gefallen lassen, da sich
die Produktionsziffer von Urprodukten nicht so schnell ändert
wie die Import- und Exportziffer der meisten Warengruppen;
zu empfehlen ist die Einzelzahl niemals.
Neben der ausgiebigen und in der Hauptsache gut ver-
wendeten Statistik ist ein anderer Punkt lobenswert hervor-
zuheben, nämlich die Herausarbeitung der wirtschaftlichen
Charakterzüge der verschiedenen Wirtschaftsreiche aus dem
von der Natur zugewiesenen Boden. Damit soll das gene-
tische Verständnis der wirtschaftlichen Eigenheit der Wirt-
schaftsgebiete angebahnt werden. Den Verfassern ist dies fast
durchweg gelungen. Ganz auffällig tritt diese methodische
Behandlung bei Frankreich und Belgien hervor. Hier spricht
geradezu eine gewisse Wärme aus jeder Zeile der Abhand-
lung; nur mit Hansliks Einteilung in Landwirtschaft (Natur-
produktion) und Stadtwirtschaft (Kulturproduktion) wird
man sich kaum einverstanden erklären. Unter Stadtwirt-
schaft behandelt Hanslik Bergbau und Hüttenwesen, Gewerbe
und Industrie und zuletzt als Kulturbewegung Verkehr und
Handel. Warum nicht einfach Produkte der Pflanzen- und
Tierwelt, des Mineralreiches und Gewerbe und Handel?
Die Landwirtschaft als Naturproduktion der Stadtwirtschaft
als Kulturproduktion gegenüberzustellen, ist doch nicht an-
gängig; gerade die Landwirtschaft gebraucht zuweilen mehr
Kultur und kulturelles Verständnis als die Stadtwirtschaft,
als mancher Bergbau (der primitive Tagbergbau!). Ebenso
wohl durchdacht wie die Abhandlung von Hanslik sind die
der anderen, wie von W. Eckardt, Forster und Sieger.
Von den einleitenden Abschnitten würde ich die über
den Handel der Naturvölker und über die Hygiene im Welt-
verkehr dem letzten Bande zugewiesen haben. Zuletzt ist ja
dies Geschmacksache. Da aber der dritte Band für allgemein
umfassende wirtschaftsgeographische Themata vorgesehen ist,
würden die besagten Kapitel besser dahinein gepaßt haben.
Die handelskundlichen Grundbegriffe sind klar und allgemein-
verständlich von Ottel entwickelt und dürften vielen, denen
die Dinge etwas fern liegen, zur Orientierung willkommen
sein, wenn auch viele der erläuterten Begriffe in den folgenden
Abschnitten weiter keine Erwähnung finden. In einem
längeren Kapitel spricht Heiderich über die Wirtschafts-
geographie und ihre Grundlagen. Neue Probleme werden
hier nicht aufgerollt. Indessen kann man dem Verfasser die
Anerkennung für den großen Fleiß, der in diesem Abschnitt
steckt, nicht versagen. Vielfach geht die Behandlung ins
rein Volkswirtschaftliche über, besonders bei dem Abschnitt
über Handel und Verkehr, und wie viele geographische Momente
bietet doch der Verkehr! Bei diesem einleitenden Abschnitt
hätte Heiderich viel mehr Literatur verarbeiten müssen, hierin
hat er seinen großen Vorgänger Karl Andree nicht erreicht.
Es sei nur an die Arbeiten von Chisholm und Kraus erinnert.
Auch wenn sich Heiderich eingehender mit meinen handels-
geographischen Arbeiten beschäftigt hätte, dürfte vielleicht
seine Abhandlung hier und da gewonnen haben; oder sollte
Heiderich sie dennoch gekannt haben? Wie dem auch sei,
ich will hier nicht weiter richten, sondern lieber meiner
Freude Ausdruck geben, daß Karl Andrees Wirtschafts-
geographie eine im großen und ganzen so vortreffliche Neu-
bearbeitung gefunden hat. Wir haben damit in Deutschland
wieder ein wirtschaftsgeographisches Werk auf den Bücher-
markt gebracht, mit dessen Umfang und Gründlichkeit
sich gegenwärtig kein ähnliches ausländisches Werk messen
kann.
Max Eckert.
226
Kleine Nachrichten.
C. Strehlow, Die Aranda- und Loritjastämme in
Zentralaustralien. III. Teil. (Veröffentlichungen aus
dem Städtischen Völkermuseum Frankfurt a. M.) Frank-
furt a. M. 1910, Joseph Baer u. Co. 13 M.
Die tief uns in das Geistesleben der Australier einführenden
Forschungen des Missionars Strehlow, auf das vortrefflichste
und sachkundigste herausgegeben von M. v. Leonhardi, erfahren
hier die dritte Fortsetzung, welche über die totemistischen
Kulte der Aranda Auskunft gibt. Das so ungemein schwie-
rige und von verschiedenen Beurteilern oft so verschieden
beurteilte Kapitel vom Totemismus erhält hier eine wesent-
liche Vertiefung, was schon daraus zu entnehmen ist, daß
Strehlow nicht weniger als 59 verschiedene totemistische
Kulthandlungen der Aranda nebst den dabei gesungenen
Liedern anzuführen weiß. Spencer und Gillen, denen wir
bisher das Beste über die Aranda verdankten, waren in einer
Beziehung vor Strehlow im Nachteile, indem sie nur sehr
unvollständig diese Sprache beherrschten, während Strehlow
hierin Meister ist und damit tiefere Einblicke in das Denken
der Schwarzen gewann, ihre Kultgesänge übersetzen und
erklären konnte, was Spencer und Gillen nicht gelang. Aber
auch abgesehen hiervon bleiben zwischen dem deutschen
Missionar und den beiden englischen Forschern noch ver-
schiedene Differenzen, über welche erst die Zukunft Auf-
klärung bringen wird. Im ganzen haben wir aber jetzt ein
gutes Bild der Aranda erhalten, das uns in das tiefste Fühlen
und Denken dieses Volkes einführt. j
Die totemistischen Kulte der Aranda und der Loritja
(zwischen 24 und 27° südl. Br. und 131 und 136° östl. L.)
gleichen sich in allen Einzelheiten vollständig, und nur die
Benennungen sind verschieden. Nicht leicht ist es, den sehr
genauen Beschreibungen des Werkes zu folgen, da sie stark
mit den Arandawörtern durchsetzt sind, welche im Gedächtnis
nicht haften und stets wieder, zum Teil in den vorhergehenden
Bänden, aufgesucht werden müssen. Es ist dieses wohl nicht
leicht zu umgehen, erschwert aber das Verständnis und die
Lektüre ungemein.
Merkwürdige Zeremonien und die Tjurungagesänge bilden
einen Hauptinhalt der totemistischen Kulthandlungen, welche
auf die Altjirangamitjina zurückgehen, in der Urzeit lebende
göttliche Wesen, deren Name „die ewigen Unerschaffenen“
bedeutet. Sie lehrten ihren Novizen die religiösen Gebräuche
und wie man die betreffenden Totemtiere und Totempflanzen
mehren und stark machen könne. Darauf gehen also die
Kulthandlungen zurück, die mit einem außerordentlich
komplizierten Zeremoniell durchgeführt werden.
Diese Lieder „bieten in ihrer Gesamtheit den ohne Unter-
richt aufgewachsenen Schwarzen ein gutes Stück populärer
Naturgeschichte dar“, da sie das Leben der Tiere, in welchen
die Altjirangamitjina einst umherwanderten, schildern, und
über die Totemtiere und Totempflanzen wird darin berichtet.
Zum Teil stammen die Tjurungalieder aus alter Zeit und
sind darum nicht mehr den Jüngeren verständlich; andere
in der jetzigen Umgangssprache abgefaßte sind jünger.
Diese Lieder nun, die alle in der Ursprache und in der Über-
setzung mitgeteilt werden, bilden den Hauptinhalt des vor-
liegenden Bandes, wobei stets die damit verknüpften, mannig-
fachen Zeremonien beschrieben und in ihrer Bedeutung
geschildert werden. Eigentliche Lieder in unserem Sinne
sind es freilich nicht, vielmehr „ein näselndes Skandieren“.
Ohne Erläuterungen sind sie nicht verständlich, da die ein-
zelnen Verse scheinbar ohne logischen Zusammenhang an-
einandergereiht sind, und diese Erläuterungen Strehlows sind
es, welche es uns ermöglichen, die Lieder zu verstehen und
damit in das Geistesleben der Australier und ihre totemistischen
Anschauungen einzudringen.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Die Kraft des einst so gefürchteten Massaivolkes ist
gebrochen, an Zahl und Viehbesitz hat es seit dem Beginn
der 9er Jahre des vorigen Jahrhunderts gewaltig verloren.
Soweit die Massai auf deutschem Gebiet leben, haben sie nun
eine Reservation von etwa 5800 qkm in der Steppe südlich
vom Kilimandscharo. Uns liegt eine von R. Schultze und
M. Moisel bearbeitete Karte des Massai-Reservats in
1:200000 vor, die in Bd.23 (1910) der „Mitt. a. d. dtsch.
Schutzgeb.“ erschienen ist und viel Interessantes enthält. Sie
greift überdies weit über die Grenzen des Reservats hinaus,
nach Süden bis 4°40' s. Br. Verarbeitet sind alle älteren und
viele neueren Aufnahmen, unter denen die des Majors v.
Prittwitz und Gaffron als die umfangreichsten und wichtig-
sten hervorzuheben sind. Deutlich sind die Wasserstellen
der Massaisteppe bezeichnet. Das Reservat hat im Norden
auch etwas fließendes Wasser: die Bäche, die am Kilima-
ndscharo ihren Ursprung nehmen und entweder in der Steppe
versiegen oder zum Pangani gehen, der die Ostgrenze des
Reservats bildet.
— Die kongolesisch-portugiesische Grenze in der
Gegend des Dilolosees war bisher noch festzulegen. Es
hatte sich herausgestellt, daß es unmöglich wäre, die Grenze
hier nach den geographischen Angaben der diplomatischen
Abmachungen zu ziehen. Deshalb haben nun Portugal und
Belgien folgendes vereinbart: Die Grenze bildet der Lotembwe
von seiner Mündung in den Kassai bis zu seiner Quelle,
weiter östlich die Kongo -Sambesi- Wasserscheide. — Neuere
Beobachtungen, so bemerkt dazu das Brüsseler „Mouv. geogr.“,
haben übrigens ergeben, daß der Dilologee, der seit langen
Jahren nur noch ein weiter Sumpf war, mehr und mehr
zum Austrocknen neigt und hydrographisch zum Sambesi
gehört.
— Über die Riesenlandschildkröte der Insel
Aldabra (Testudo elephantina) macht J. ©. F. Fryer, ein
Mitglied der bekannten ,„Sealark“ -Expedition J. Stanley
Gardiners, in seinem Aufsatz „The South-west Indian Ocean“
(Geogr. Journ. September 1910) Angaben. Danach kommt
sie in ziemlicher Anzahl im Osten der Hauptinsel vor, findet
sich aber, wenn auch nicht oft, überall in den übrigen Teilen
des Atolls. Vielleicht scheint sie seltener, als sie wirklich
ist; denn sie ist so scheu und hält sich so versteckt, daß
man wohl jahrelang auf Aldabra leben kann, ohne ein
Exemplar zu Gesicht zu bekommen. Tagsüber verbirgt sie
sich im dichtesten Gebüsch, in der Nacht verläßt sie es und
geht auf die Suche nach Nahrung, die in der nassen Jahres-
zeit aus Blättern und Gras besteht, in der trockenen angeb-
lich aus Baumrinde; doch frißt sie auch gierig eine Sukku-
lente, die das ganze Jahr über in der Nähe von Brack wasser-
pfützen wächst. Das Brutgeschäft findet im Februar und
März statt. Die Schildkröte gräbt sich dann in einer mit
Guano gefüllten Felshöhle ein Loch und legt dort ihre hart-
schaligen Eier. Nach 60 Tagen sollen die Jungen auskriechen.
Es ist der Vorschlag gemacht worden, man solle den ganzen
Bestand an Riesenschildkröten von Aldabra nach den Sey-
chellen bringen, um ihr Aussterben zu verhindern. Fryer
hält aber diese Vorsichtsmaßregel für überflüssig, weil es
auf den Seychellen schon einige Herden gibt und weil dieser
Schildkröte auf Aldabra keine besondere Gefahr droht, so-
lange die grüne Schildkröte der Ansiedelung reichliche und
leicht zu bekommende Nahrung liefert. Der einzige Feind
der Riesenschildkröte ist gegenwärtig die Ratte, die, durch
at hierher verschleppt, für das Atoll eine Landplage
bildet.
Dann. bemerkt Fryer über die Verbreitung der Land-
schildkröten über den Indischen Ozean: Vorgekommen sind
sie auf den Seychellen, 8t.-Pierre, Cosmoledo, Assumption
(wo er ihre Knochen gefunden hat), Aldabra, den Maskarenen
und Madagaskar. Man könnte annehmen, daß sie kontinen-
tale Inseln, wie die Seychellen, zu Lande erreicht haben.
Das könne aber nicht für die Inseln rein ozeanischer Bildung,
wie Aldabra, zutreffen, das nach seiner Struktur niemals
Kontinentalverbindung gehabt habe. Sie gehörten nicht zu
den Tierarten, die passiv, von der See, verbreitet werden,
und deshalb habe es den Anschein, daß menschliche Tätig-
keit mitgewirkt habe. Die auf Assumption und Cosmoledo
gefundenen fossilen Schildkröten und ebenso die im Gestein
auf Aldabra eingebetteten Knochen nötigten zu dem Schluß,
daß jene Überführung durch menschliche Einwirkung in
sehr frühen Zeiten stattgefunden haben müsse. Aber wir
wüßten eben nichts über die Art, auf die so viele von den
Inseln des südlichen Indischen Ozeans mit Riesenlandschild-
kröten bevölkert worden seien.
— Eine „Angkor-Gesellschaft“ für die Erhaltung
und das Studium der alten Denkmäler Indochinas (Société
d’Angkor pour la conservation des monuments anciens de
l’Indo-Chine) hat sich „La Géographie“ zufolge in Paris ge-
bildet. Präsident ist Emile Senart, Mitglied des Instituts,
Schriftführer und Schatzmeister P. Guesde (Avenue Élisée-
Reclus 15), der jährliche Mitgliedsbeitrag ist wenigstens 5 Fr.
Kleine’Nachrichten.
Erklärt wird die Begründung dieser neuen Gesellschaft damit,
daß Frankreich durch den Vertrag mit Siam vom 28. März
1907 auch in den Besitz der Denkmäler der Provinzen Bat-
tambang, Siemreap und Sisophon gelangt sei, nachdem es
die von Kambodja und Annam bereits besessen habe, und
daß es seine Pflicht sei, für diese Altertümer zu sorgen.
-- Theobald Fischer, Professor der Erdkunde an der
Universität Marburg, der ausgezeichnete Kenner der Mittel-
meerländer, denen seine wissenschaftliche Lebensarbeit ge-
golten hat, ist am 17. September in Marburg gestorben.
Fischer, der am 31. Januar 1846 zu Kirchsteitz im preußi-
schen Sachsen geboren ist, studierte unter anderem in Bonn
und Heidelberg Geschichte, wandte sich aber bald geo-
graphischen Studien zu und besuchte nach Abschluß seiner
Universitätsjahre Südeuropa (1868 bis 1876), später, 1886,
Tunisien und Ostalgerien und, 1888, Westalgerien und einige
Punkte Nordmarokkos. 1899 und 1901 folgten zwei For-
schungsreisen im nordwestmarokkanischen Atlasvorlande.
Auf diesen kleineren und größeren Reisen machte Fischer
sich persönlich mit den Gegenden bekannt, denen auch seine
literarischen Studien galten, und er hatte dabei viel Gelegen-
heit, Lücken unserer geographischen Kenntnis auszufüllen.
Seine akademische Lehrtätigkeit begann in Bonn, wo er sich
1876 als Privatdozent für Geographie habilitierte, 1879 erhielt
er die Kieler erdkundliche Professur und 1883 die Marburger.
Fischer hat bis in die jüngste Zeit eine rege schriftstellerische
Tätigkeit entfaltet, und in Zeitschriften der verschiedensten
Art begegnet man seinen Arbeiten und Gelegenheitsaufsätzen,
die er wenige Jahre vor seinem Tode in den „Mittelmeer-
bildern“ (Leipzig 1906, neue Folge 1908) gesammelt heraus-
gegeben hat. Andere wichtigere Veröffentlichungen sind:
„Beiträge zur physischen Geographie der Mittelmeerländer,
besonders Siziliens“ (1876, Habilitationsschrift); „Studien über
das Klima der Mittelmeerländer*, Ergänzungsheft 58 zu
„Peterm. Mitt.“ (Gotha 1879); „Die Dattelpalme“ , Ergänzungs-
heft 64 zu „Peterm. Mitt.“ (Gotha 1881); „Beiträge zur
Geschichte der Erdkunde und Kartographie in Italien im
Mittelalter“ (1886); „Wissenschaftliche Ergebnisse einer Reise
im Atlasvorlande von Marokko“, Ergänzungsheft 133 zu
„Peterm. Mitt.“ (Gotha 1901); „Meine dritte Forschungsreise
im Atlas-Vorlande von Marokko“ in den „Mitt. geogr. Ges.
Hamburg“ 1902; „La Penisola italiana“ (Turin 1902); „Der
Ölbaum“, Ergänzungsheft 147 zu „Peterm. Mitt.“ (Gotha 1904).
Eine geschlossene Darstellung des ganzen Mittelmeergebietes,
das man ja als eine geographische Provinz für sich be-
trachten kann, hat Fischer zwar vorgehabt, aber nicht mehr
geliefert, dagegen eine wissenschaftliche Landeskunde der
drei südeuropäischen Halbinseln für Kirchhoffs „Länderkunde
von Europa“. Fischer interessierte schlechtweg alles, was
das Mittelmeergebiet anging, auch die politischen Vorgänge,
so zuletzt die marokkanische Frage, und auch über diese
Dinge hat er manches geschrieben. Innerhalb seines engeren
Studienfeldes war er von der denkbar größten Vielseitigkeit,
ohne indessen im geringsten die allgemeinen Aufgaben zu
vernachlässigen, die ihm aus seiner Stellung als Hochschul-
lehrer der Erdkunde erwuchsen.
— Bergbesteigungen im Kaukasus. Neben mehreren
Besteigungen des Kasbek (unter anderem auch durch zwei
Russinnen) sind in diesem Sommer auch mehrere Besteigungen
des Ararat und des Elbrus zu verzeichnen. Der am 12.
und 13. August (n. St.) vollzogene Aufstieg auf den Ararat
hatte den Zweck, die vor einigen Jahren auf dem Gipfel in
einer Kiste eingelegten Instrumente abzulesen bzw. zu kon-
trollieren. Dem damit beauftragten Beamten des Tifliser
Observatoriums, Dr. Rosenthal, schlossen sich mehrere Aus-
länder an. Als Führer dienten zwei Kurden. Eine Partie
war um 5 Uhr früh von Sardar-Bulach (im Sattel zwischen
dem großen und kleinen Ararat) aufgebrochen, erreichte den
Gipfel um 4 Uhr nachmittags und war um 9 Uhr abends
schon wieder auf dem Ausgangspunkt. Die zweite Partie
nächtigte beim Aufstieg zweimal in 3600 m und 4400 m Höhe
und einmal beim Abstieg, so daß sie erst zu Mittag des
vierten Tages nach Sardar-Bulach zurückkehrte. Leider war
die Kiste mit den Meßinstrumenten nicht mehr auf ihrem
Platze, sondern während eines Sturmes von der Stelle gerückt
und an den Felsen zerschellt worden, wobei alle Instrumente
zerbrochen waren.
Am 23. August (n. St.) wareu zwei Partien kurz nach-
einander auf dem Elbrus. Näheres ist nur von der zweiten
Partie bekannt, welche aus dem wirklichen Mitglied der
kaiserl. russischen geographischen Gesellschaft W. W. Dub-
janski und dem Professor an dem Polytechnikum zu Warschau
W. J. Isaew nebst einem einheimischen Führer bestand.
Diese übernachtete auf dem Terskol-Pik (3625 m), erreichte
von dort den Ostgipfel (5593 m), nach 14 Stunden, trat den
Rückweg um 4 Uhr nachmittags an, ruhte auf einem Firn-
feld in Erwartung des Mondes (in 4100 m) zwei Stunden und
erreichte obengenannten Pik wieder um 11 Uhr nachts. Die
Temperatur auf dem Gipfel betrug —5° C, der Luftdruck
375mm. Bei sehr klarem Wetter sah man die beiden Meere
im Westen und Osten sowie nach Südsüdosten die gewaltigen
Umrisse des Ararat. Auf dem Gipfel fand man in einem
Steinhaufen die Visitenkarten der Herren Hug und de Rhamm
aus Lausanne, welche einige Stunden früher dagewesen
waren und sich nach dem Westgipfel begeben hatten. Sie
waren auch vom Terskol aufgestiegen. Es erweist sich, daß
dieser Weg der bequemste und bei gutem Wetter für geübte
Bergsteiger nicht schwer ist. H.
— Die deutsch-holländische Abgrenzungs-Kom-
mission in Neuguinea, die von der Nordküste aus in der
Gegend des 141. Meridians ö. L. nach Süden vordringen
sollte, ist, wie ja schon von vornherein zu befürchten war,
nicht weit landeinwärts gekommen. Schwierigkeiten der Ver-
pflegung, auch hier eine Folge des scheuen oder feindseligen
Verhaltens der Eingeborenen, zwangen die Expedition unter
3° 20' s. Br., also von einem von der Küste nur etwa 75km
entfernten Punkte, zur Umkehr. Wie der deutsche Leiter
Prof. L. Schultze berichtet (vgl. „Kolonialblatt“ vom 15. Sep-
tember), erfolgte der Abmarsch von der Küste am 12. Juni
dieses Jahres, doch erkrankte bald einer der deutschen Teil-
nehmer, Oberleutnant Findeis, so schwer, daß er sofort die
Rückreise antreten mußte. Die deutsche und die holländische
Abteilung marschierten getrennt voneinander, hielten aber
stete Fühlung. Nachdem in 1600m Höhe ein der Küste
parallel laufender Gebirgszug überschritten worden war, ge-
langte man in eine weite Ebene, in der ein westwärts
strömender wasserreicher Fluß aufgefunden wurde, der ver-
mutlich zum weit im Westen mündenden Mareberamo ge-
hören wird. Die Ebene war bewohnt, die Eingeborenen aber
zogen sich vor der Expedition überall zurück oder zeigten
sich räuberisch und feindselig, so daß ein Verkehr mit ihnen
unmöglich war. Hierdurch entstanden Verpflegungsschwierig-
keiten, und da es in jener wasserreichen Ebene überdies an
Wegen mangelte, so mußte die Kommission sich am 15. Juli,
also nach fünfwöchiger Reise, zur Rückkehr an die Küste
entschließen. Nunmehr beschloß sie, den Kaiserin-Augusta-
Fluß hinaufzufahren und mit dessen Hilfe den Grenzmeridian
an einem südlicheren Punkte zu erreichen. Dieser Fluß
kommt höchstwahrscheinlich aus dem holländischen Gebiete.
Die Fahrt wurde Ende Juli auf einem flachgehenden hollän-
dischen Flußkanonenboot angetreten.
— Im Heft 3 der diesjährigen „Mitteilungen aus deutschen
Schutzgebieten“ veröffentlicht Leutnant Hans Kaufmann
sehr interessante Aufzeichnungen über die Auin-Busch-
männer (= 'Aukwe), die er auf Veranlassung des Schutz-
truppenkommandos nach Fragebogen des Berliner Museums
für Völkerkunde in Rietfontein-Nord gemacht hat. Seine
Arbeit enthält eine Fülle der interessantesten Notizen, die
neben schon bekannten Dingen sehr viel neues Material ent-
halten. Es freut mich festzustellen, daß speziell meine eigenen
Beobachtungen über das Nachbarvolk der !Aikwe im Chanse-
feld hierdurch ganz bedeutend erweitert und vertieft wurden,
namentlich unsere Kenntnisse der Spiele, Rechtspflege, Religion,
Ehe, sozialen Verhältnisse. Daß die Buschmänner auch Frauen-
und Junggesellenhäuser — oder vielmehr -Windschirme —
haben, ist gewiß überraschend. Es sei auf diesen Aufsatz
ausdrücklich aufmerksam gemacht. Passarge.
— Die merkwürdigen Karstgebiete im nördlichen
Yucatan und die durch die Art der Wasserversorgung her-
vorgerufenen Veränderungen in den Lebensbedingungen der
Eingeborenen hat Dr. Cole im „Bull. American Geogr. Soc.“
(Mai 1910) behandelt. Das Gebiet, so führt Cole aus, liegt
zwar in den Tropen, hat aber keineswegs eine üppige Vege-
tation; die Wälder sind nur spärliches Strauchwerk, und die
Gegend ist eine halbaride Ebene. Der Grund dafür liegt
aber weniger im Regenmangel als in dem porösen Kalkgestein,
das das Wasser wie ein Schwamm aufsaugt und nur eine
dürftige Bedeckung mit Erde zeigt. Von Flüssen gibt es nur
einige wenige kurze Wasserläufe an der Ostküste; sie sind
wahrscheinlich unterirdische Flüsse gewesen, deren Dach ein-
gestürzt ist. Es sind indessen Vertiefungen, wie sie überall
in Kalksteingebieten vorkommen, vorhanden, und die enthalten
Wasser, das mit dem in den unterirdischen Höhlen auf
gleichem Niveau zu stehen scheint. Die Nordküste entlang
strömt das Wasser in Quellen auf dem Meeresboden aus, und
das macht man sich manchmal zunutze: man sammelt dieses
süße Wasser, indem man ausgehöhlte Baumstämme über die
228
Kleine Nachrichten.
Quellen im Meeresboden stellt, so daß es sich nicht mit dem
Salzwasser mischen kann, und so gewinnen die Bewohner
einzelner Küstendörfer ihr Trinkwasser dadurch, daß sie mit
ihren Kanus in die See hinausfahren. Das ist aber nur bei
schönem Wetter möglich; herrscht Sturm, so müssen sie sich
Wasser aus dem Innern des Landes holen. Die Küstenquellen
sind die Ausmündungen der unterirdischen Flüsse, und die
Binnendörfer sind auf deren Linie errichtet, überall dort, wo
sich Löcher finden. Trotz dieser offenbar ungünstigen Ver-
hältnisse herrschte dort ehemals die hohe Mayakultur. Ihre
Städte legten die Mayas alle in der Nähe von großen Benk-
löchern an; denn sie gruben keine Brunnen. Heute findet
man überall Brunnen, deren Wasser durch Windmühlen ameri-
kanischen Systems emporgehoben wird; sie verleihen der
Landschaft ein eigentümliches Gepräge.
— Die verdienstvolle Amerikanistin Zelia Nuttall be-
schäftigt sich in ihrer Abhandlung „A Curious Survival in
Mexico of the Use of the Purpura Shell-fish for Dyeing“
(Putnam Anniversary Volume, p. 368—384) mit der Tech-
nik der Purpurfärberei in Zentralamerika und
Mexiko. Diese ist heute noch unter den Indianern von
Tehuantepec im Schwange. Aus älteren Quellen (Thomas
Gage, Ulloa) geht ihre Ausübung auch für den Golf von
Nicoya in der. Republik Costa Rica hervor. Nach meinen
Studien in Costa Rica kann ich hinzufügen, daß die Purpur-
färberei mit Purpura patula Linn. auch am Golfo Dulce bei
den Terraba- und Borucaindianern heute noch sich erhalten
hat. Verschiedene Gewebe mit purpurgefärbten Streifen be-
finden sich in meinen Sammlungen im Berliner Museum für
Völkerkunde. Pablo Biolley (Elementos de Historia Natural,
8.123/24, San Jose 1899) erwähnt von der pazifischen Küste,
auf die übrigens die Purpurmuschel nicht beschränkt ist, die
Purpura melones Duclos (caracol de tinte morado) als zum
Färben von Baumwollfäden verwandt. Carl Scherzer (Die
Republik Costa Rica in Zentralamerika, S. 462/63, Leipzig
1856) macht nähere Angaben über die Purpurschnecken des
Golfs von Nicoya. Er nennt sie Caracolla albilatris und
fügt hinzu, daß es auch noch andere Schaltiere im Golfe
gibt, die zu Färbezwecken ‚Verwendung finden. Vom Golfo
de Nicoya und Golfo Dulce wird das Vorkommen der Pur-
purschnecke von Joaquin Bernardo Calvo (The Republic of
Costa Rica, S. 119, Chicago und New York 1880) bezeugt.
Die gelehrte Verfasserin knüpft an die Purpurfärberei
in Amerika Betrachtungen über die Purpurindustrie der
Alten Welt. Sie schließt aus dem Vorhandensein der Pur-
purfärberei, der tetrarchischen Regierungsform, des zykli-
schen Kalenders, des Gebrauchs von Perlen und Muschel-
trompeten, dem Reichtum an Edelmetallen an bestimmten
Gegenden der Neuen und Alten Welt, daß Beeinflus-
sungen der letzteren auf die erstere in präkolumbischer Zeit
stattgefunden haben könnten, die sich in indianischen Her-
kunftssagen dunkel widerspiegelten. Die Verfasserin glaubt,
daß es sehr unwahrscheinlich sei, daß die Eingeborenen
Amerikas aus sich selbst heraus die Güter ihrer Kultur ent-
wickelt hätten, da namentlich das entnervende Klima Mexi-
kos und Zentralamerikas wenig dazu geeignet sei, geistige
und körperliche Kräfte zu entfalten.
Ich kann mich dieser Ansicht nicht anschließen, vor
allem, weil die Kulturen des alten Amerika einen durchaus
eigenartigen Stil und Charakter besitzen, und weil es nicht
einzusehen ist, warum nicht auch die Indianer unabhängig
von altweltlichen Kulturen sich entwickelt haben sollen.
Die Zentren dieser Kulturen befanden sich in den klimatisch
günstigen Hochländern, wo von einer Entnervung überhaupt
weniger die Rede sein kann, einer Entnervung, die übrigens
weit mehr den Europäer und Mischling als den reinen In-
dianer in Mitleidenschaft zieht. Endlich vermag ich eine
Parallele zwischen griechischen Tetrarchien und tetrarchischen
Regierungsformen in Mexiko nicht zu erblicken, da die Ver-
hältnisse in Mexiko doch ganz anders liegen. Was das Kalender-
system anlangt, so ist auch zwischen den „Elementen“ des
Empedokles und den Zeichen der vier Jahre in Mexiko ein
sehr großer Unterschied. Die zyklischen Zahlensysteme der
Mexikaner beruhen auf Kombinationen, in denen die Zahl
13 eine Rolle spielt, die durchaus nur für Amerika typisch
ist. Der Gebrauch der Purpurmuschel an der pazifischen
Küste Amerikas kann sehr wohl unabhängig von Mittelmeer-
kulturen entstanden sein, da man einfach empirisch benutzte,
was die Natur von selbst darbot.
Ganz ähnlich liegt es mit den Muscheltrompeten. Die
Vorliebe für Perlen, da, wo Purpurfärberei ausgeübt wurde,
hängt vielleicht, falls es wirklich eine besondere Vorliebe ist,
damit zusammen, daß mit den Purpurmuscheln gleichzeitig
auch, Perlmuscheln gefunden und verwendet wurden. Perlen
und Purpur sind jedenfalls überall auf der Welt geschätzte
Kostbarkeiten gewesen, und so konnte sich an den Plätzen,
wo sie gefunden wurden, schnell ein reger Handelsverkehr
entwickeln, der leicht auch Gold, Silber und Kupfer im Ge-
folge hatte.
Ich vermag nicht einzusehen, warum alle diese Beob-
achtungen in Amerika nicht ebensogut und unabhängig ge-
macht worden sein konnten als wie am Mittelmeer.
Ich stimme der Verfasserin bei, wenn sie selbst zum
Schlusse bekennt, daß zur Lösung der Frage eines Kontaktes
zwischen der Neuen und der Alten Welt in präkolumbischer
Zeit es noch vieler Zeit und weiterer Entdeckungen bedarf.
München. Dr. Walter Lehmann.
— In seiner chemischen Untersuchung einiger Bronze-
und Eisenfunde der La Tene-Zeit betont H. Rupe (Verhdlgn.
der naturf. Gesellsch. zu Basel, 21. Bd., 1910), daß wir noch
sehr wenig über die Methoden der Eisengewinnung
bei den alten Völkern wissen, da die Angaben der
Schriftsteller meist sehr dürftig sind. Zwar ist man ziemlich
gut orientiert, wie zur römischen Kaiserzeit Eisen gemacht
wurde; dafür begegnet man genaueren Angaben über die
Eisenbereitung im Norden der Alpen erst im späteren Mittel-
alter. Bis dahin ist man auf die spärlichen Ergebnisse von
Ausgrabungen und zufälligen Funden angewiesen. Wohl
die genauesten Angaben über prähistorische Eisenschmelzen
im Norden der Alpen machte der weiland Berner Minen-
und Hütteningenieur A. Quiqurez 1871, der auch die Ab-
bildung eines von ihm im Modell hergestellten antiken
Schmelzofens veröffentlichte. Freilich reichten die in diesem
prähistorischen, wohl sogar die in den Öfen des früheren
Mittelalters erreichten Hitzegrade zum Schmelzen des Eisens
kaum hin. Es mußte also damals der Kunst des Schmiedes
vorbehalten bleiben, dieses rohe Eisen durch wiederholtes
Glühendmachen und fleißiges, oft wiederholtes Aushämmern
mehr oder weniger homogen zu gestalten. Die Atzfiguren
zeigen denn auch, in welchem Maße das dem prähistorischen
Schmiede gelungen ist: Je mehr Spalten und Schlacken-
einschlüsse vorhanden sind, um so mehr dunkle und helle
Stellen gibt es, um so weniger gut ist dem Schmied von
anno dazumal also seine Arbeit geraten.
"— In einem Kloster entdeckte Ed. A. Holmberg jr. zwei
bemalte, arg beschädigte Lienzos, die Juan B. Ambrosetti
erhielt und restaurieren ließ. Das eine derselben — vgl.
Ambrosettis Abhandlung „Un documento gräfico de etno-
grafia peruana de la época colonial“ (Buenos Aires 1910) —
aus dem 16. Jahrhundert behandelt ein Wunder der
Jungfrau Maria während der Belagerung von Cuzco
durch den Inka Manco. Man sieht die Festung Bacsahuaman,
brennende Häuser, Gruppen bewaffneter Indianer, im ganzen
einige 90 Figuren, deren Tracht und Bewaffnung ethno-
graphisch von Interesse ist. Vermutlich entspricht dieses Bild
der von P. Acosta aufgezeichneten Legende und einer von den
Indianern hergestellten „gewebten“ Darstellung, die aus der Ca-
pilla del Triunfo von einem Geistlichen vor langer Zeit ent-
wendet wurde und später nach Argentinien gelangte, wobei
Ambrosetti allerdings voraussetzt, daß jene „Darstellung“
kein indianisches Gewebe, sondern das Werk eines indiani-
schen Malers gewesen ist. Inwieweit diese Annahme richtig
ist, sei dahingestellt, da es sehr wohl möglich ist, daß außer
diesem Bilde auch noch eine gewebte bildliche Darstellung
des erwähnten „Wunders“ existiert hat.
München. Dr. Walter Lehmann.
— Radestock geht (Zeitschr. f. soz. Med., 5. Bd., 1910)
auf die Luftdruckschwankungen als Ursache der
plötzlichen Todesfälle ein. Früher glaubte man, daß
der sogenannte Schlag sich ganz besonders zur Zeit der
Aquinoktialstürme, d. h. im letzten Drittel der Monate März
und September einstelle. Die Todesursachenstatistik zeigt
aber, daß die meisten derartigen Sterbefälle der Reihe nach
in den Monaten Januar, März, Dezember eintreten, die
wenigsten in die Monate September, August, Oktober, Juni
und Juli fallen. Nun haben jene drei erstgenannten Monate
zweifellos die meisten Tage mit raschen und starken Luft-
druckschwankungen aufzuweisen, bei denen sich das Fallen
des Barometers innerhalb von 24 Stunden um mehr als 5mm
feststellen läßt. Diese Schwankungen erheblicher Natur gehen
zweifellos Hand in Hand mit den plötzlichen Todesfällen an
Herzschlag, Gehirnschlag oder Altersschwäche, kurz betreffen
Leute mit Herzerkrankungen oder Leidende mit Gefäß-
erkrankungen. Jedenfalls sollten sich diese Individuen bei
starken Barometerschwankungen möglichst ruhig verhalten,
keine körperlichen Anstrengungen auf sich laden, ja nach
Möglichkeit das Ausgehen überhaupt vermeiden.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schüneberg-Berlin, Hauptstraße 655. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE. i
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
BRAUNSCHWEIG.
20. Oktober 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika ').
Von Prof. Dr. K. von Rümker.
Die Naturdenkmalpflege hat in den letzten Jahr-
zehnten auch in Deutschland Wurzel geschlagen. Man
ist allmählich durch die wiederholten Hinweise von Prof.
Dr. Conwentz und anderen dahin gekommen, Seltenheiten
des Pflanzenwachstums, besondere Schönheiten der Na-
tur usw. vor Zerstörung durch Mutwillen, Roheit, Ge-
schmacklosigkeit, oder Unverstand, oder auch durch die
Einwirkungen der Kultur zu bewahren. In früheren
Zeiten „sammelte“ man Gegenstände aus der Natur,
welche transportabel waren, und stellte sie wohl etiket-
tiert in naturhistorischen Museen auf. Dieses Verfahren
hat selbstverständlich auch heute noch in vielen Fällen
seine volle Berechtigung, soweit dadurch ein Nutzen für
die Allgemeinheit gestiftet wird, welcher den der schonen-
den Erhaltung an Ort und Stelle aus irgend welchen
Gründen übertrifft. Andererseits ist aber ohne Frage
ein Fortschritt darin zu erblicken, daß man versucht,
auch transportable Schönheiten oder Merkwürdigkeiten
der Natur an dem Orte ihres Vorkommens zu erhalten
und durch Beschreibung, Abbildungen usw. auf sie hinzu-
weisen und zu ihrer Besichtigung anzuregen. Die Wahr-
scheinlichkeit, daß sie auf diese Weise einer größeren
Zahl von Beschauern zugute kommen und durch ihren
Besuch in der Natur zur aufmerksamen und verständnis-
vollen Naturbetrachtung anregen, das Volk also gewisser-
maßen zur Liebe der Natur erziehen, ist jedenfalls größer
als der Nutzen durch ihre Speicherung in Museen, welche
durch Anhäufung derartiger Gegenstände mitunter den
Charakter naturhistorischer Raritätenkabinette annehmen.
Diese Kleinarbeit der Naturdenkmalpflege hat schon ihre
große ethische und pädagogische Bedeutung, wieviel mehr
aber erst die Naturdenkmalpflege großen Stils, die es
sich zur Aufgabe macht, die Schönheit oder Eigenart
ganzer Gegenden und größerer Gebiete vor den schabloni-
sierenden Einflüssen der Kultur zu bewahren und in ihrer
Ursprünglichkeit und Unberührtheit möglichst zu erhalten.
Der neuerdings in Stuttgart gegründete „Verein
Naturschutzpark“ verfolgt diese großen Zwecke nunmehr
auch in Deutschland, und es wäre im Interesse der geistigen
und körperlichen Gesundheit unseres Volkes wohl zu
wünschen, daß seine Bestrebungen von einem entsprechen-
den Erfolge gekrönt sein möchten. `
Die in den rasch anwachsenden Großstädten sich
immer mehr zusammenballenden Bevölkerungsmassen
suchen, soweitihre Mittel es erlauben, Erholung und Er-
frischung von der nervenzerrüttenden Tätigkeit und den
!) Unter Benutzung der einschlägigen Literatur auf
Grund eigener Anschauung behandelt.
Globus XCVIII. Nr. 16.
Breslau.
oft gesundheitsgefährdenden Einflüssen der Wohnungen
dieser Städte in Sommerfrischen und Kurorten aller Art,
deren Zahl schon sehr groß ist, aber immer noch weiter-
wächst, indem immer neue, für diese Zwecke geeignete
Plätze „entdeckt“ werden. Zuerst abgelegen, ländlich ein-
fach, still, billig und ohne jeden Komfort, entwickeln sie
sich nach Herstellung einer Eisenbahn- oder Dampfboot-
verbindung mitunter in fabelhafter Geschwindigkeit, und
mit dieser Entwickelung ziehen nicht nur die Vorteile,
sondern auch die Nachteile der Kultur ein. Es dauert nicht
lange, so tummeln sich große Menschenhaufen, mit den un-
vermeidlichen Konzerten, Feuerwerken usw. Staub, Lärm
und schlechte Luft verbreitend, an diesen Orten umher
und erreichen für vieles Geld nichts weiter als eine Ab-
wechselung, selbstverständlich aber nicht Ruhe, Erholung,
Erfrischung und Abspannung der Nerven. Der richtige
Großstädter glaubt vielfach ohne diesen ganzen Groß-
stadtzauber nicht bestehen zu können und langweilt sich,
wenn er ihn für einige Wochen vollkommen entbehren
soll; es genügt ihm oft schon, wenigstens den Schein
davon um sich zu haben, wenn dieser Abglanz groß-
städtischer Überkultur in:mehr oder weniger dörfischer
Nachahmung mitunter auch fadenscheinig und abge-
schmackt genug erscheint.
Die großstädtische Entwickelung, welche hier nicht
selten als Karikatur in die Kur- und Erholungsstätten _
verpflanzt wird und welche das heiß erstrebte Ziel der
betreffenden Kommunalverwaltungen zu sein pflegt, ist
zweifellos eine Folge der Geschmacksrichtung des Publi-
kums; indem man ihr folgt, nutzt man sie aus, zieht
Gäste und mit ihnen Geld an, und das ist der Zweck
der Übung. Daß diese Geschmacksrichtung verfehlt ist,
kann keinem Zweifel unterliegen, denn das, was der
Großstädter an einem Erholungsaufenthalt braucht, kann
er dadurch, daß er seine Großstadtatmosphäre mitnimmt
oder mit Vorliebe dahin geht, wo er šie mit einiger
Wahrscheinlichkeit anzutreffen hoffen darf, natürlich
nicht finden.
Wieviel gesünder, erfrischender und ethisch heilsamer
ist im Vergleiche zu diesem Treiben moderner Kurorte
und Sommerfrischen mit großstädtischer Politur der Be-
such eines Stückes unberührter Natur und der Aufenthalt
in derselben. Amerika hat uns in dieser Richtung seit
mehreren Jahrzehnten das Vorbild geliefert, und erst
jetzt schicken wir uns an, ähnliche Wege zu beschreiten.
Die Vereinigten Staaten besitzen mehrere sogenannte
„Nationalparks“, von denen ich hier einen, und wohl den
größten, nämlich den „Yellowstone-Park“ näher be-
schreiben will, da ich ihn im Sommer 1909 selbst zu
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230
von Rümker: Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika.
besuchen das Glück hatte. Andere Nationalparks sind
der „Yosemite- Nationalpark“ in Kalifornien und der
„Sequoia-Nationalpark“ südlich davon, beide in der Sierra
Nevada gelegen. Diese sogenannten „Nationalparks“
sind mitunter sehr bedeutende Territorien und nichts
weniger als Parks in unserem Sinne, in denen mit Kunst
und mehr oder weniger Geschmack Landschaftsbilder
konstruiert werden, die ursprünglich nicht vorhanden
waren, sondern sie sind ein Stück Natur, welches mit
größter Schonung in seiner ganzen natürlichen Schönheit
und Wildheit dem Beschauer unter strenger, gesetzmäßiger
Anweisung für seinen Besuch und Genuß zugänglich
gemacht ist, in dem Maße und Sinne, daß die Natur in
ihrem Zustande nur die möglichst geringste Änderung
erfährt. Es ist daher vielleicht nicht ohne Interesse und
Nutzen, die Entwickelung eines solchen Gebietes zu einem
nationalen Naturheiligtum kennen zu lernen.
Der Yellowstone-Park.
1. Vergangenheit und Gegenwart. Das Gebiet
des Yellowstone-Parkes gehörte ursprünglich zum größten
Teile in seiner nördlichen Hälfte bis zum Yellowstonesee
zu Louisiana und damit zu Frankreich, der kleinere
südliche Teil zu Mexiko. Ersterer wurde von den Ver-
einigten Staaten 1803 unter dem Präsidenten Jefferson
mit Louisiana käuflich von Frankreich erworben für die
Summe von 15000000 Dollar. Der kleinere südliche
Teil wurde 1847 unter dem Präsidenten Tyler nebst allen
Besitzungen, welche nördlich des Rio Grande del Norte,
also, kurz gesagt, nördlich der jetzigen mexikanischen
Grenze liegen, an die Vereinigten Staaten abgetreten
gegen eine Summe von ebenfalls 15000000 Dollar.
Heute gehört der überwiegend größte Teil des Yellow-
stonegebietes zum Staate Wyoming, ein schmaler Nord-
rand und die Nordhälfte eines schmalen Westrandes zum
Staate Montana und die südliche Hälfte eines schmalen
Westrandes zum Staate Idaho. Das Yellowstonegebiet
liegt also im Nordwesten der Union, im Herzen des Felsen-
gebirges. Seine Ausdehnung beträgt von Ost nach West
ungefähr 80, von Nord nach Süd ungefähr 100 km, seine
Fläche ist genau 8671 qkm groß, also größer als das
Großherzogtum Hessen, das nur 7682 qkm umfaßt. Dieses
Parkgebiet wird aber weiter begrenzt von riesigen Wald-
reserven, welche ebenfalls Eigentum der Zentralregierung
der Vereinigten Staaten sind, so von der 33850 qkm
. großen Yellowstone- und der 3290 qkm großen Madison-
Waldreserve, welche beide nicht zur Parkverwaltung
gehören, aber vorläufig ebenfalls vollkommen unberührte
Wildnis enthalten.
Der Yellowstone-Park im engeren Sinne liegt auf
einem etwa 2400 m hohen Plateau (der Große St. Bern-
hardpaß in der Schweiz hat eine Höhe von 2472 m), er
befindet sich also in vollkommener Hochgebirgslage.
Dieses Plateau ist zwischen die Parallelketten des Felsen-
gebirges eingebettet und durchschnitten von tiefen
Schluchten, in welchen meistens Gebirgsflüsse hinrauschen,
der Yellowstonefluß, der Gardinerfluß, der Lamarfluß und
andere. Die Bergketten, welche das Plateau überragen,
steigen bis zu Höhen von 3000 bis 3600 m auf und sind
zum Teil mit ewigem Schnee bedeckt. Die wundervolle
Geyserwelt dieses Gebietes wurde erst spät bekannt. Den
Indianern sind diese heißen Quellen sicher nicht fremd
gewesen, aber wie es natürlich erscheint, war dieses aber-
gläubische Naturvolk mit scheuer Furcht davor erfüllt
und hat an Weiße nichts darüber verraten. Die erste
Kunde von den Merkwürdigkeiten der dortigen Natur
stammt von französischen und englischen Pelzhändlern
und Trappern, welche dieses Gebiet schon am Ende des
18. Jahrhunderts durchstreiften, denn 1797 taucht der
Name „Roche jaune“ und „Yellowstone“ dafür auf, der
offenbar von der Farbe der hier vorherrschenden Felsarten
herrührte. Auch dieIndianer hatten den Namen „Mi tsia
da zi“ dafür, was auf deutsch etwa Gelbfelsenfluß heißt
und dem englischen „Yellowstone“ entsprechen würde.
Nachdem dieses Gebiet 1803 für die Vereinigten
Staaten erworben war, schickte Präsident Jefferson eine
Expedition unter der Führung von Lewis und Clark aus,
um einen Weg durch den neuen Nordwesten der Union
nach dem Großen Ozean zu suchen. An dieser Expedition
nahm auch der Amerikaner John Colter teil. Er kam
im Jahre 1806/07, also zehn Jahre nach dem Auftauchen
der ersten Nachrichten über diese Gegend, in das Yellow-
stonegebiet. Er entdeckte einige „heiße Quellen mit
stinkendem Wasser“ und fühlte sich von der Großartig-
keit und Absonderlichkeit der Naturschönheit dieser
Gegend derartig angezogen, daß er die Expedition Lewis
und Clark verließ, sich den Indianern anschloß und unter
deren Führung das Gebiet weiter durchstreifte Er kam
erst nach zwei Jahren, auf einem Kanu den Mississippi
allein herabfahrend, nach St. Louis zurück, wo er zu Hause
war. Der romantische Reiz des Yellowstonegebietes ver-
anlaßte ihn bald darauf, eine zweite Erkundungsfahrt
dorthin zu unternehmen, auf welcher er wiederum mit
seinen indianischen Freunden jene Gebirge durchstreifte.
Als er von dieser zweiten Fahrt im Jahre 1809 nach
St. Louis heimkehrte, hatte er immer noch nicht alles
gesehen. Seine Erzählungen klangen so abenteuerlich,
daß man sie für grobe Lügen hielt und ihnen keinen
Glauben schenkte.
Nach diesen ersten mündlichen Überlieferungen durch
John Colter blieb für lange Zeit alles still, und die
Schwarzfußindianer beherrschten das Gebiet ungestört,
wenn sie auch hin und wieder Zusammenstöße mit weißen
Pelzhändlern und Trappern hatten, so z. B. mit den beiden
bekanntesten aus jener Gegend, mit James Bridger und
Josef Meek, die um 1830 herum, von ihren Streifzügen
heimkehrend, die ersten Nachrichten von den großen
Geyserbecken, von versteinerten Bäumen und großen
Obsidianfelsen mitbrachten. Aber auch diese Berichte
fanden keinen Glauben, obgleich sie die inzwischen aller-
dings vergessenen älteren Nachrichten Colters teilweise
bestätigten.
Die erste literarische Veröffentlichung über das
Yellowstonegebiet stammt von Warren Angus Ferris
(von anderen auch Fergus genannt), einem Beamten der
amerikanischen Pelzgesellschaft, welcher im Jahre 1834
das Yellowstonegebiet von Süden her betreten und mit
zwei indianischen Führern durchstreift hatte. Ferris
sah ebenso wie bereits Meek einige Geyserbecken und
veröffentlichte seinen Reisebericht im Western Literary
Messenger von Buffalo in New York und im Mormon
Wasp of Nauvov Illinois im Jahre 1842 in zwei sehr
interessanten Aufsätzen mit zahlreichen Details, die heute
noch wertvoll sind.
Wiederum verstrich ein Jahrzehnt, bis die geogra-
phische Länge und Breite dieses Gebietes von einem
katholischen Geistlichen, Pater De Smet, im Jahre 1851
festgestellt und im Jahre 1852 veröffentlicht wurde, wobei
er die Nachrichten von Colter und Ferris bestätigte.
Abgesehen von der 1804 vom Präsidenten Jefferson
ausgeschickten Expedition, welche, wie oben erwähnt,
nicht die Aufgabe gehabt, das Yellowstonegebiet, von
dem man damals offiziell noch gar nichts wußte, zu er-
forschen, waren dieses alles während der ganzen ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts Privatunternehmungen ge-
wesen. Die erste offizielle Regierungsexpedition zur
Erforschung dieses Gebietes wurde im Jahre 1859 unter
Führung von Kapitän Raynolds ausgeschickt. Zu dieser
von Rümker: Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Expedition gehörten noch der Geologe F. Hayden, Leut-
nant Maynardier und der damals schon ziemlich betagte,
bereits oben als einer der ersten weißen Besucher dieses
Gebietes genannte Trapper James Bridger als Führer.
Das Ergebnis dieser Expedition war eine Karte, die von
der Regierung veröffentlicht wurde.
Ein Jahr darauf brach der amerikanische Bürgerkrieg
aus, wodurch alle weiteren Unternehmungen zur Er-
forschung des Yellowstonegebietes zunächst wieder lahm-
gelegt wurden.
Erst im Jahre 1863 kommt neue Kunde von dort,
indem Kapitän Walter W. de Lacy in großer Eile auf
der Suche nach Gold das Yellowstonegebiet durchstreifte.
Er zog etwa eine Wegstunde entfernt am unteren Geyser-
becken vorüber, kreuzte einen Strom heißen Wassers,
ohne ihn zu untersuchen, und ließ sich nicht Zeit, die
nahen Geyser zu besichtigen. Seinen Bericht über diesen
Marsch veröffentlichte er auch erst 1876. Dieser Bericht
enthielt daher auch nichts über die großen Geyser.
Nunmehr folgten Expeditionen auf Expeditionen:
1866 George Huston, 1867 verschiedene Reporter vom
Omaha Herald und anderen Zeitungen, 1869 David
E. Folsom, C. W. Cook und William Peterson. Folsom
veröffentlichte seinen Reisebericht im Western Monthly
von Chicago im Juli 1871 usw. Die wichtigste von
diesen neueren Expeditionen war aber die des Generals
H. D. Washburn, der im Jahre 1870 das Yellowstone-
gebiet mit etwa 12 Reisegenossen von Norden her, von
Gardiner kommend, betrat. Washburn entdeckte die
schönsten, größten Geyser, und als die Expedition am
Abend des 19. September 1870 um ihre Lagerfeuer saß
und die überstandenen Gefahren und Ereignisse des Tages
besprach, sagte Cornelius Hedges, eines ihrer Mit-
glieder: „Nein, dieses Land muß so bleiben zum
Nutzen und zur Erholung und Freude für das
Volk“, und damit war die Idee, das Yellowstonegebiet
zu einem nationalen Reservat zu machen, gewissermaßen
geboren. Die anderen Mitglieder der Expedition nahmen
diesen Gedanken begeistert auf und gingen nach ihrer
Heimkehr daran, ihn in das Volk zu tragen. Cornelius
Hedges schrieb den ersten Aufsatz darüber in der Zeit-
schrift Helena Record vom 9. November 1870, und Wash-
burn und die anderen Mitglieder der Expedition schlugen
in anderen, rasch einander folgenden Aufsätzen in die-
selbe Kerbe.
Diese Agitation blieb nicht ohne Erfolg, denn schon
am 1. März 1872 faßte der Kongreß unter dem Präsi-
denten Grant den Beschluß, einen gewissen Teil dieses
Yellowstonegebietes als Staatsreservat zu einem „Natio-
nalpark“ zu machen und seine Naturwunder vor Zer-
störung durch Kultureinflüsse möglichst sicherzustellen:
„zum Nutzen und zur Freude für das Volk“,
welcher Wahlspruch heute auf dem großen, steinernen
Eingangstore zum Yellowstone-Park in Gardiner als
Devise prangt.
Dieser Beschluß des amerikanischen Kongresses war
aber zunächst nur eine theoretische Eroberung, denn die
Indianer waren noch tatsächlich Herren des Landes; am
24. August 1877 fand in-diesem Gebiete der letzte india-
nische, blutige Überfall auf Weiße statt, und noch 1878
werden die letzten indianischen Pferdediebstähle ver-
zeichnet.
Die Einführung einer festen Verwaltung, die Statio-
nierung einer Polizeitruppe von mehreren 100 Mann
Kavallerie, der Bau von Straßen usw. haben dann bald
mit den Rothäuten aufgeräumt und Sicherheit hergestellt.
Der Bau der Northern-Pacificbahn im Jahre 1882 und
der Ausbau ihres Anschlußzweiges von der Station Li-
vingstone nach Gardiner im Jahre 1892 haben den Yellow-
“Gardiner in zwei Stunden
231
stone-Park nunmehr vollkommen in den Verkehr hinein-
gezogen, und man kann ihn heute im Schlafwagen auf
bequemste Weise von überallher erreichen. Für aus dem
Osten kommende Besucher ist der bequemste und beste
Zugang über Chicago — Minneapolis — St. Paul, von wo
aus man in 36 Stunden am Yellowstone-Park anlangt.
Seit 1886 ist eine geordnete Militärverwaltung ein-
geführt zum Schutze der Reisenden, wie zum Schutze des
Wildes vor den Reisenden, denn in dem ganzen Gebiete
des Yellowstone-Parkes darf nichts geschossen werden,
es darf keine Bahn hindurchgebaut werden, es wird auch
kein Auto hineingelassen, um das Wild nicht zu beun-
ruhigen; nur auf Wagen darf man es durchstreifen, und
diese Wagen sowie ihre Bespannung sind gut.
Im Jahre 1884 bildete sich eine Yellowstone-Park-
Transportgesellschaft, welche vorzügliche und geschmack-
volle Straßen durch den Yellowstone-Park baute und an
ihnen eine Anzahl großer, sehr komfortabler Hotels in
solcher Verteilung errichtete, daß man von Hotel zu
Hotel eine bestimmte Tour zurücklegt, die entweder mit
einer Mahlzeit im Laufe des Tages oder mit einem Nacht-
quartier endet. Diese Straßen zeigen alle Schönheiten
der Gegend in vorteilhaftestem Lichte. Unberührtes
Urwalddickicht, in welchem mitunter drei oder mehr
Generationen von Baumstämmen in den verschiedensten
Stadien der Verwesung den Grund bedecken, aus welchem
die letzte noch grünende Generation von Bäumen,
Sträuchern und Kräutern hervorsprießt, wechselt mit
weiten Hochblicken in das Land, über tiefe Täler mit
schäumenden Bergflüssen, über weite Seenspiegel hinweg,
umrahmt von prächtigen, schneebedeckten Hochgipfeln
des Felsengebirges; sie führen durch liebliche Täler und
enge Schluchten an steil aufragenden Felsen und Ab-
gründen vorüber, ein dauernd abwechselungsvolles Land-
schaftsbild darbietend.
Die Hotels, besonders die an den Nachtquartier-
stationen befindlichen, sind meist sehr groß, da der täg-
liche Aus- und Eingang von Reisenden in der kurzen
Saison vom 5. Juni bis 25. September 300 bis 400 Per-
sonen betragen soll, und recht komfortabel und teilweise
schön und originell eingerichtet. Besonders reizvoll ist
Old Faithfull Inn, ein aus unbehauenen Stämmen errich-
tetes, reich gegliedertes Blockhaus, welches mit großem
Geschmack in die Gegend des oberen Geyserbeckens
hineinkomponiert worden ist; aber auch das Seehotel
oder die älteren Bauten, wie das Canyon-Hotel, das Foun-
tain-Hotel, das Hotel in Mammoth Hot Springs, haben
ihre Reize. Man ist in diesen Hotels mit Quartier und
Beköstigung vortrefflich aufgehoben, was um so mehr an-
erkannt werden muß, wenn man bedenkt, daß jede Kleinig-
keit, die man dort zum Leben braucht, Hunderte von
Meilen weit mit Spannfuhren durch die Wildnis trans-
portiert wird.
Diese Touren von Hotel zu Hotel sind so gelegt, daß
sich die Eindrücke von Tag zu Tag steigern: „Jeder Tag
ist der schönste gewesen“, so lautet das allgemeine Urteil
der Reisenden, wenn sie am Abend in den großen Hallen
der Hotels bei prasselndem Kaminfeuer und oft lustiger
Musik zusammentreffen.
Von Mammoth Hot Springs gehen diese Touren aus.
Mit sechsspännigen Coaches fährt man vom Bahnhof
im romantischen Gardiner
Canyon, an steilen Felsentürmen mit Adlernestern darauf
vorüber, den schäumenden Gardinerfluß entlang, in teil-
weise starker Steigung nach Mammoth Hot Springs. Dort
empfängt einen zuerst das sogenannte Fort Yellowstone,
d. h. die Militärkolonie, in welcher die etwa 400 Mann
starke Polizeitruppe mit Mannschaften und Offizieren in
einer Anzahl hübscher, größeren Familienhäusern ähneln-
30*
232
Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
der Baulichkeiten in Garnison liegt und ihr Hauptstand-
quartier hat. Im Hotel Mammoth Hot Springs hat man
zunächst einen halben Tag Aufenthalt, sowohl um die
dort befindlichen herrlichen Sinterterrassen zu bewundern,
als auch, um sich die Reisegesellschaft auszusuchen, mit
der man die 5!/, Tage dauernde Wagenfahrt durch den
Park zusammen machen will. Jeder Reisegenossenschaft,
wie sie sich dort zusammenfindet, wird ein ihrer Kopf-
zahl entsprechendes Gefährt gestellt, in und mit welchem
die Teilnehmer für die ganze Tour zusammenbleiben, und
es ist klar, daß man sich mit Rücksicht hierauf seine
Reisegenossen vorher einigermaßen genau ansieht, was
mitunter zu sehr amüsanten Situationen führt. Diese
Wagen, „Stages“ genannt, sind meist offene oder nur
mit einem leichten Schattendach versehene, vier- bis
sechs- oder mehrsitzige kremserartig gebaute, mit zwei
bis vier oder sechs guten Pferden bespannte Wagen.
Man kann zurzeit den Yellowstone-Park auf dreierlei
Art durchstreifen.
Erstens mit der eben geschilderten Hoteltour, welche
für Transport, Wohnung und Beköstigung für 5!/, Tage
von Gardiner bis Gardiner 51 Dollar kostet, ein Preis,
den man für das, was und unter welchen erschwerenden
Umständen es geboten wird, für sehr mäßig halten muß.
Wem aber auch dieses noch zu teuer ist, der hat noch
zwei billigere Möglichkeiten durch die Lagertouren, die
Wylie Camp-Tour und die Powell Camp-Tour. Erstere fährt
von einem fest aufgeschlagenen Zeltlager zum anderen,
letztere führt die Zelte auf ihren Wagen mit und schlägt
sie auf, wo es der Reisegesellschaft behagt. Für diese
Wanderlager ist insofern sehr gut gesorgt, als an zahl-
reichen Stellen im Walde neben den Straßen Tafeln an-
gebracht sind, die anzeigen, wo ein guter Lagerplatz ist,
wo aus irgend welchen Gründen kein Lager aufgeschlagen
werden darf, wo gutes Wasser zu finden ist usw. Die
Powell Camp-Tour bietet den geringsten Komfort und ist
mit 36 Dollar die billigste, während die Wylie Camp-Tour
in den für die ganze Saison fest aufgeschlagenen Zelt-
lagern etwas mehr Komfort und wahrscheinlich auch
besseres Essen bietet und etwa 41 Dollar kostet. Jede
der drei Gesellschaften hat ihre eigenen Wagen und
Einrichtungen, holt ihre Gäste von Gardiner ab und führt
sie wieder dorthin zurück. Wer es wünscht, kann auch
hier und da längeren Aufenthalt nehmen oder auch
andere Touren machen, wenn er diese Absicht in Mammoth
Hot Springs vor Antritt seines Aufenthalts im Yellow-
stone-Park bekannt gibt. Für derartige Spezialtouren
und -aufenthalte gelten andere Tarife wie für die glatt
durchführenden Touren.
Die beste Jahreszeit für den Besuch des Yellowstone-
Parkes ist auf die Zeit etwa vom 5. Juni bis 25. September
beschränkt, weil die Hochgebirgslage wegen des dort
herrschenden langen und rauhen Winters mit großen
Schneemassen weder einen früheren, noch späteren Ver-
kehr auf den Straßen gestattet. Die Straßen selbst sind
unbefestigte, aber gut gehaltene Landwege und werden
bei der starken Frequenz, die täglich Hunderte von
Wagen auf ihnen hin und her passieren läßt, vorsorg-
licherweise mit Sprengwagen gesprengt, trotzdem aber
ist der Staub, besonders wenn sich zwei größere Wagen-
züge begegnen, mitunter fast erstickend.
Im großen ganzen, so muß man aber sagen, ist alles
vorzüglich eingerichtet und klappt aufs beste; nirgend
begegnet dem Reisenden Prellerei oder Geldschneiderei,
so daß man den Eindruck gewinnt, daß die Devise des
Yellowstone-Parkes: „Zum Nutzen und zur Freude für
das Volk“ ernsthaft festgehalten wird. An den Straßen
verteilt liegen Zwischenstationen für die Polizeitruppe,
welche auf den Straßen einen berittenen Patrouillendienst
dauernd unterhält; diese Relaisposten werden von dem
Hauptstandquartier in Mammoth Hot Springs aus
abgelöst.
Die Verwaltung und Organisation ist, den Verhält-
nissen entsprechend, praktisch und zweckmäßig, und wir
sehen in der Einrichtung der Camp-Touren, wie der Ameri-
kaner, der bei anderen Nationen in dem Rufe nüchternsten
Erwerbssinnes steht, daneben doch einen ganz respek-
tablen Rest romantischer Neigungen und Sinn für un-
verfälschten Naturgenuß besitzt, denn das Beziehen eines
Zeltlagers als Sommerfrische soll in Amerika eine sehr
beliebte und verbreitete Sitte sein.
(Schluß tolgt.)
Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
Analytisch-akustische Untersuchungen über einige Instrumente von Naturvölkern.
Von S. Baglioni.
1. Zweck und Methodik der Untersuchung.
Der Zweck, der mir bei den vorliegenden akustischen
Untersuchungen über einige musikalischen Instrumente
von Naturvölkern (hauptsächlich Afrikas) vorschwebte,
war nicht bloß der Wunsch, unmittelbare wissenschaft-
liche Kenntnisse über die Elemente einer wahren natür-
lichen Musik zu gewinnen, sondern auch die Hoffnung,
vielleicht einen neuen Beitrag zur Lösung der so sehr
umstrittenen Frage nach der Herkunft unserer musi-
kalischen Tonleiter liefern zu können. Dabei war ich
von dem wohlberechtigten Gedanken geleitet, daß der
Kulturzustand der lebenden Naturvölker entsprechende‘
Vorstufen unserer eigenen Kultur darstellt.
Der Freundlichkeit des Herrn Professor Pigorini,
des Direktors des ethnographischen Museums zu Rom,
sowie des Herrn Dr. Pettazzoni, Inspektors im selben
Museum, verdanke ich die Möglichkeit der Ausführung
dieser Untersuchungen, weshalb es mir eine angenehme
Pflicht ist, ihnen auch hier meinen Dank auszusprechen.
Rom.
Bei der Auswahl der zu analysierenden Instrumente
aus der reichlichen Sammlung des genannten Museums
ging ich vom Gedanken aus, nur die Instrumente zu ver-
wenden, deren Töne weder durch die Zeit noch durch
andere äußere Umstände alteriert sind. Aus diesem
Grunde beschränkte ich meine Analyse auf die Instru-
mente, die mit festen Tönen bestanden, und deshalb wurden
die zahlreichen Streichinstrumente und zum Teil auch
die Blasinstrumente außer acht. gelassen.
Da es sich schließlich darum handelte, vornehmlich
die harmonischen Verhältnisse zwischen den verschiedenen
Tönen eines und desselben Instrumentes festzustellen, so
wurde auch die andere, ebenfalls sehr zahlreiche Reihe
von Instrumenten nicht berücksichtigt, die gewöhnlich
nur einen Ton bzw. die Oktave desselben zu erzeugen
vermögen (Hörner und Trommeln).
Die von mir untersuchten Instrumente zerfallen also
in drei Reihen: die Marimbas, die Sansas und die
Pansflöten. Die zwei ersten Reihen stammen ausschließ-
Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
lich von afrikanischen Naturvölkern her, die dritte aus
allen Gegenden der Erdoberfläche.
Die Methode zur Feststellung der Höhe der Einzel-
töne der verschiedenen Instrumente war eine zweifache.
Erstens bediente ich mich der Edelmannschen Resona-
torenreihe!) und zweitens der Bezoldschen kontinuier-
lichen Tonreihe (geeichte Stimmgabeln und Pfeifen 2), die
ebenfalls vom physikalisch -mechanischen Institut von
Prof. Edelmann (München) geliefert wird. Da, wie zu
erwarten war, die die verschiedenen untersuchten Instru-
mente zusammensetzenden Einzeltöne mit den 72 Halb-
tönen unserer chromatischen (temperierten) "Tonleiter
nicht immer übereinstimmten, für die eben die genannten
Resonatoren wohl akkordiert sind, so ist es klar, daß
dieses Untersuchungsmittel die jeweiligen Werte der Ton-
höhe nur annähernd zu bestimmen vermochte. Ge-
nauere Bestimmung geschah dann in allen Fällen unter
Anwendung der Stimmgabeln bzw. der Pfeifen der Be-
zoldschen Tonreihe. Dabei kam es nur darauf an, den
Ton herauszufinden, der mit dem untersuchten im vollen
Einklang (ohne Schwebungen) stand.
In der Regel waren es Instrumente, deren Einzeltöne
(mit Ausnahme der Pansflöten) sich nicht allzu hoch er-
streckten; infolgedessen genügten für
deren Analyse schon die Stimmgabeln,
ohne Hilfe der zwei geeichten Pfeifen
der genannten Tonreihe. Im allgemeinen
war es ziemlich leicht, durch geeignete
Verlegung der zwei Belastungsgewichte
(vgl. Abb.1) den entsprechenden Ton
herauszufinden. Die übrigens leicht zu
erkennende Identität der Töne (Ein-
klang) wurde sowohl mittels meines
(musikalisch geübten) Ohres wie des
Ohres eines ebenfalls musikalischen
Assistenten ermittelt. Ferner wurde
hierzu bei der Analyse der aus leicht
schwingenden Eisen- oder Holzzungen
bestehenden Sansas der Umstand be-
nutzt, daß, wenn man den Stiel der
betreffenden vibrierenden Stimmgabel
Abb.1. Stimm- auf den Resonanzboden aufsetzte, sofort
gabel gerade die Zunge stark mitzuschwingen
nach Bezold. begann, deren Tonhöhe mit der der
Gabel übereinstimmte. Die Mitschwin-
gung konnte man sehr leicht mit den Augen wahrnehmen.
— Die Feststellung der Tonhöhe fand leicht statt durch
Ablesung der an der Zinke der Stimmgabeln angegebenen
Halbtonwerte. Hierzu ist jedoch zu bemerken, daß, wie
gesagt, die Einzeltöne meiner Instrumente mit einem von
der Graduierung der Zinke angezeigten Halbton der chro-
matischen (temperierten) Tonleiter, für welche die Be-
zoldsche Tonreihe abgestimmt ist, nicht immer genau
übereinstimmten. Oft kam es vor, daß ich den Ton, der
mit dem meines Instrumentes im Einklang stand, dadurch
erhielt, daß ich beide Belastungsgewichte auf einem Niveau
festschraubte, welches sich eben innerhalb des von einem
Halbton eingenommenen Umfangs befand, wie aus der
Abb. 1 ersichtlich ist. Um auch in diesen Fällen die
Tonhöhe angeben zu können, bediente ich mich des Hilfs-
mittels, den Abstand in Millimetern abzumessen, um wel-
chen das betreffende Niveau vom nächsten Grad in plus
1) M. Th. Edelmann, Kontinuierliche Tonreihe aus Re-
servatoren mit Resonanzböden, Physik. Zeitschr., Jahrg. 7,
og), Nr. 14, 8.510—511.
2) Kontinuierliche Tonreihe nach Prof. Dr. Bezold,
München, zur Untersuchung der Tonempfindlichkeit des Ohres.
Mitt. Nr. 3 aus d. physik.-mech. Inst. von Prof. M. Th. Edel-
mann, München (s8).
Globus XCVIII. Nr. 15. $
233
oder in minus sich entfernte. Wenn also zum Zweck
des Einklangs mit einem gegebenen Ton z. B. (wie in
der Abb. 1 der Fall war) beide Belastungsgewichte auf
einem Niveau fixiert werden mußten, das sich 4 mm ober-
halb des dem f entsprechenden Grades befand, so be-
zeichnete ich die betreffende Tonhöhe als f — 4, was eben
einen Ton bedeutet, der um 4mm tiefer liegt als f.
Da der Zwischenabstand unter zwei benachbarten
Graden, also unter zwei aufeinanderfolgenden Halbtönen,
bei der Stimmgabel c! etwa 8,5 bis 9 mm, bei den übrigen
Stimmgabeln (g!, c?, g?, c3) etwa 7 mm beträgt, so war
der genannte Ton ein viertel Tonintervall niedriger als f.
Aus dem gleichen Grunde — daß nämlich die üb-
liche Notierung der musikalischen Töne ausschließlich
auf dem Prinzip der chromatischen (temperierten) Ton-
leiter beruht, weshalb sie sich nicht ohne weiteres dazu
eignet, von den 72 Halbtönen der genannten Tonleiter
abweichende Tonwerte anzugeben — war ich bei der
Notierung der genannten Töne dazu gezwungen, oberhalb
der entsprechenden Note die +-Millimeter anzugeben,
die sie vom nächsten in der Notenschrift angeführten
Halbton trennten.
Da diese Fälle, bei denen also die die verschiedenen
Musikinstrumente der Naturvölker zusammensetzenden
Einzeltöne von den Halbtönen unserer temperierten Ton-
leiter mehr oder minder abweichen, wohl ziemlich oft vor-
kommen, so sind alle Versuche, mittels unserer musikali-
schen Notierung die verschiedenen musikalischen Produk-
tionen (Gesänge, Melodien usw.) dieser Naturvölker ohne
weiteres wiederzugeben, meistens für unzutreffend zu
halten.
Vielleicht ist ferner von Interesse zu wissen, daß, so-
weit ich in der wohl reichlichen bezüglichen Literatur
sehen konnte, derartige Untersuchungen bisher nicht aus-
geführt worden sind?) Ankermann, dem wir eine
sorgfältige Aufzählung und Beschreibung der besonders
im Berliner Museum für Völkerkunde befindlichen afri-
kanischen Musikinstrumente verdanken +4), hat diese Seite
der Untersuchung völlig vernachlässigt. Und doch liegt
es auf der Hand, daß, wenn wir die Musikinstrumente
eines Volkes wirklich kennen lernen wollen, wir vor allem
nicht so sehr die äußere Gestalt wie ihren wesent-
lichen Inhalt, d. h. ihre musikalischen Eigenschaften,
kennen lernen müssen.
2. Ergebnisse der Untersuchung.
2 `a) Marimba.
Diese wichtigste Art von Musikinstrumenten der Zen-
tralafrikaner konnte ich in den vier schönen Exemplaren
des römischen Museums analysieren.
Bekanntlich besteht dieses Instrument aus einem mei-
stens bogenförmigen Holzgestell, auf dem der aus meh-
reren schön und stark klingenden, frei schwingenden
Stäbchen aus Hartholz bestehende Klangkörper mittels
Schnüren befestigt ist, während auf der Unterseite der
*) Eine Ausnahme würde in dieser Hinsicht bezüglich
einer von Delhaise (Les Warega, Brüssel 1909) unter-
suchten Sansa (Kansambi) bestehen (doch s. u.). Wallaschek
(Primitive Music, London 1893, 8. 154 ff.) erwähnt ferner
einige Forscher, die namentlich Gesänge von Australiern und
Arabern zwar musikalisch-akustisch analysierten, jedoch unter
Anwendung keiner genaueren modernen Untersuchungsmittel,
soweit ich aus den Angaben Wallascheks beurteilen kann.
— Vgl. auch die wichtige Abhandlung O. Abrahams und
E. v. Hornbostels (Über die Bedeutung des Phonographen
für vergleichende Musikwissenschaft, Zeitschrift f. Ethnol.,
36. Jahrg., 1904, 8. 222—236), die unter Verwendung des
Appunnschen 'Tonmessers siamesische Instrumente unter-
suchten.
*) Ethnologisches Notizblatt, Bd. III, Heft I, 8. 1—134.
Berlin 1901.
31
234 Baglioni:
Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
aus einer Reihe trockener, meist zweckmäßig geordneter
Kürbisse verschiedener Größe und Gestalt bestehende Re-
sonanzkörper sich befindet. Das Instrument wird durch
zwei hölzerne Hämmerchen mit Gummiköpfen gespielt.
Sein Klang hat eine angenehme Farbe, ist harmonisch
und erinnert stark an unser Klavier. Unter Anwendung
der zwei Hämmerchen können offenbar auf einem und
demselben Instrumente sowohl melodische Tonfolgen, wie
auch symphonische, aus zwei verschiedenen zusammen-
klingenden Tönen bestehende Akkorde leicht ausgeführt
Abb.2. Marimba vom Uelle.
werden. — Bei der folgenden Beschreibung der Instru-
mente erfolgt die Bezeichnung der Einzelstäbchen stets
von links nach rechts der Reihe nach.
1. Die Marimba der Abb.2 trägt im Inventarregister
des Museums mit der Nr. 76008 u. a. folgende Notizen:
Länge 80 cm, größte Breite 35cm. Herkunft: Kongo-
becken, Fluß Uelle-Azande.
Aus der Analyse der Einzeltöne ergab sich, daß die
Anordnung der Töne dieses Instrumentes recht eigentüm-
lich ist. Wie aus der beigegebenen
Notierung ersichtlich ist, deren erste
linke Note dem ersten linken Stäb-
chen usw. gehört, erfolgt die Tonaus-
wahl und Tonanordnung nach dem Prin-
zip von Paaren von mitunter genauen,
mitunter alterierten (vermehrten) Oktav-
intervallen. Der tiefere Ton wird zwar
nicht vom ersten, sondern vom dritten
Stäbchen geliefert, von dem aus jedoch
die Tonhöhe nach rechts zu regelmäßig
zunimmt. Der höchste Ton wird somit
vom Br Stäbchen geliefert.
— 5,5 er. 0,5
VI vu VII IX
Werden die Einzeltöne ihrer Tonhöhe nach geordnet,
so ergibt sich die Tabelle I, in der ferner der Wert der
Tabelle I.
Intervalle
fa Pees3 III. Stäbchen > 1 Ton
s vrs V. ;
1. Skala} gis! RE z Po (vermindert)
ee I a ae
h'(— 5,5) . I. H K 2
2 2°/, Töne
Bund, sh IV. z SıTon
Am. 5 Si
2: Skala 0.2.0 4 u“ II. = 4 $3
k ASEN ee
cis? II S »
Azande.
zwischen den benachbarten Einzeltönen bestehenden Inter-
valle angegeben ist.
Aus dieser Tabelle ergibt sich, daß die Mehrzahl der
Intervalle dem Werte eines Ganztones gleich ist. Nur
zwischen dem IX. und I. Stäbchen besteht ein Intervall,
welches sich einem Halbtonintervalle nähert. Höhere Inter-
valle bestehen zwischen I. und IV. Stäbchen (eine Quart)
und zwischen VI. und VIII. Stäbchen (eine kleine Terz).
Sehr wichtig ist, die große Zahl der konsonanten
Intervalle hervorzuheben, die sich in dem Instrumente
verwirklichen. Abgesehen von
den fünf Oktavintervallen (von
denen jedoch bloß zwei genau
sind, während die anderen alte-
riert, und zwar vermehrt sind),
bestehen drei genaue Quintinter-
valle (nämlich zwischen III. und
I. Stäbchen; zwischen IV und X
und zwischen VI und II) außer
dem oben erwähnten zwischen
VI und VIII bestehenden Quart-
intervall (das bekanntlich als ein
Quintintervall aufgefaßt werden
kann, wenn als Tonika, d.h.Prime,
die niedere Oktave von IV an-
genommen wird). Es gibt ferner
drei Intervalle großer Terz (zwi-
schen III und VII, V und IX,
VII und I) und zwei Intervalle
kleiner Terz (zwischen VI und VIII, VII und I). Im ganzen
gibt es also auf 10 Einzeltöne 14 konsonante Intervalle.
2. Die zweite Marimba (Abb. 3) trägt im Inventar
mit der Zahl 31 007 u. a. folgende Notizen: Länge 0,76 m,
Breite 0,30 m. Herkunft: Ostafrika, Quilimane.
Sie besteht aus zehn Stäbchen (Tasten), deren Größe
von links nach rechts allmählich zunimmt. Der Reso-
nanzkörper ist von zehn oben geöffneten kugeligen Kür-
bissen (deren erster abhanden gegangen ist) gebildet,
Abb.3. Marimba aus Quilimane.
deren Größe ebenfalls von links nach rechts allmählich
zunimmt, und welche an ebensovielen Löchern des Stütz-
brettes durch Harz befestigt sind. Im allgemeinen er-
scheint die Konstruktion vorliegender Marimba sorgfältiger
als die der vorangehenden.
Die Analyse der Einzeltöne zeigt, daß sich hier Ton-
auswahl und Tonanordnung mit unserer üblichen diato-
nischen, von links nach rechts abnehmenden Tonleiter
beinahe auf die genaueste Weise decken (vgl. folgende
Notierung).
— 1,5
er Feier ERS
VI VM IX
Werden die Einzeltöne ihrer Tonreihe nach geordnet und
die Intervalle angegeben, so ergibt sich folgende Tabelle:
Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
235
l Tabelle II. Intervalle
ein (—2) . = Stäbchen > 4, Ton (vermehrt)
RR ES . n > 1 ,„ (vermindert)
e (—3) . . VII. n >1
1. Skala | fis' (— 2,5). VIL „ >! (vermehrt)
ee Y ee
= Ga wa vV. n > 1 =
N .CH08 . IV. 5, ? (vermindert)
= (—15). IL n > a „ (vermehrt)
2. Skala 5 I vi n » >1 „ (vermindert)
Die Tonleiter dieses Instrumentes ist also eine wahre
klassische diatonische Tonleiter mit Ganzton- und Halb-
tonintervallen (D-dur). Für die ersten sieben Töne gibt
es also alle konsonante Intervalle der diatonischen Skala.
Die drei letzten Töne stellen drei genaueste Oktavinter-
valle der ersten drei dar, weil sie fast gleiche Alterationen
aufweisen (dem cis!—2 von X entspricht cis®—1,5 von
III; dem d! von IX: d? von II; dem e!—3 von VII:
e?—3 von I). Das Instrument zeigt ferner fünf Quint-
intervalle (IX—V, VIMI—IV, VO—II, VI-O, V—J);
drei große Terzen (IX— VII, VI—IV, V—IIN) und fünf
kleine Terzen (X—VIH, VII—VI, VI—V, IV—IJ,
II—I). Im ganzen zeigt es also auf 10 Einzeltönen
16 konsonante Intervalle.
3. Von der dritten Marimba (Abb. 4) bringt das In-
ventar unter der Zahl 23607 u. a. folgende Nach-
richten: Länge 0,95 m, Maximal-
breite 0,26m. Herkunft: Ba-
londo- oder Balondestämme,
Undset Inguald.
Diese Marimba unterschei-
det sich wegen mehrerer Bau-
eigenschaften von den übrigen.
Namentlich ist ihr Holzgestelle
anders gebaut, indem hier der
Holzbogen nicht vorkommt.
Der Klangkörper besteht aus è
20 Brettchen (Tasten), deren
Größe von links nach rechts
regelmäßig zunimmt. Der Reso-
nanzkörper ergibt sich aus
16 Kürbissen, die, in zwei Reihen eingeteilt, einfach an
Schnüren befestigt, unterhalb des Klangkörpers frei hängen.
fi
4 t3 +16 — 2,5 —2
He s
I u
+
XI XI XM XIV XV XVI XVH XVII XIX XX
Die Analyse der Einzeltöne zeigt, daß diese Marimba
aus 20 Tönen besteht, die wesentlich nach unserem üb-
lichen diatonischen System ausgewählt und geordnet sind
(vgl. Notierung). Tabelle IN gibt die nach zunehmen-
der Tonreihe geordneten Einzeltöne sowie deren Inter-
valle an.
Der Tonumfang dieser Marimba umfaßt also drei an-
nähernd genau abgestufte diatonische Skalen (gis—fis';
g'—f?; gis—dis?), von denen nur die letzte unvoll-
kommen ist. Somit erweisen die Einzelintervalle im all-
gemeinen den Wert eines Ganztones bzw. eines Halb-
tones, mit der einzigen Ausnahme des Intervalles zwischen
VI und VI, das den Wert einer freilich recht vermin-
derten kleinen Terz hat, was das Intervall dem Wert
eines Ganztones stark nähert. Von den zehn Ganzton-
TU WG
Tabelle III. ER
is (—5). XX. Stäbchen Tece
gis (—5) . f £
ae a re /a Ton ES
h (— 1,5) . XVIII. 2 A a (vermindert)
cisì (— 1,5) XVIL , Zi”
dis' (—1,5) XVL „a Za”
e (—25). X. a S "a » zA
2. Skala $ fis? ... XIV. 3 Lia (vermehrt)
ct). XI , z A» ;
n
m (E A = rs > 1 „ (vermindert)
e* BER X. = > » (vermehrt)
d? _e) IX. A > 1 „ (vermindert)
1 ‚ vV. , = ⁄ » (vermehrt)
ARSAN ee E 2 5) YE > > aM (vermindert)
a i v. z > l „ (vermehrt)
ht (+15). V. 5 ZL» .
ë (+3) . IM. > an a
4.Skalat d? (+2) . I. Z > 1 » (vermindert)
dis? Bin I. E > /2 » a
intervallen sind jedoch nur vier genau; von den übrigen
alterierten sind vier vermindert und zwei vermehrt. Von
den acht Halbtonintervallen ist andererseits keines genau,
denn es sind wohl sechs vermehrt und zwei vermindert.
Die Tatsache, daß die Mehrheit der Halbtonintervalle ver-
mehrt, während wohl eine große Anzahl der Ganzton-
intervalle vermindert ist, würde dafür sprechen, daß das
Ohr des Spielers dieser Marimba zu einem gleichen kon-
Abb. 4. Marimba der Balondostämme.
stanten Intervallenwert strebte, der zwischen dem eines
Ganztones und dem eines Halbtones schwankte, was sehr
oft, wie wir sehen werden, bei den übrigen Musikinstru-
menten dieser Naturvölker erfolgt. 5
Die konsonanten Intervalle dieser Marimba sind recht
zahlreich. Es gibt 13 mehr oder minder genaue Oktav-
intervalle (XX— XII, XIX— XI usw., dann XIII—VI,
XTH—V usw.); 13 Quintintervalle (XX—XVI, XIX—
XV, XVII—XIV, XV—XI, XIOT—IX, alle genau;
dann X—VI, VI—II, VI—I, alle etwas vermehrt;
schließlich XVH—XIH, XVI—XI, XI—VO, IX—V,
VI—II, alle etwas vermindert); drei große Terzen (XIX
--XVO, XHI—XI, VI—V); und wohl 14 mehr oder
weniger genaue kleine Terzen (XX— XVII, XVII—XV,
XVI—XIV, XV—XOI, XIV—XO, XIX, XI—IX,
X—VIOI, IX— VO, VO—VI, VI—-IV, V—II, IV—I,
II—I). Im ganzen gibt es also auf 20 Tasten wohl
43 mehr oder minder genaue konsonante Intervalle.
Es ist wichtig hervorzuheben, daß, wenn es sich um
20 genau nach der klassischen diatonischen Tonleiter ab-
gestufte Töne gehandelt hätte, es im ganzen wohl 44 ge-
naue konsonante Intervalle, und zwar 13 Oktaven, 13
Quinten, 8 große Terzen und 10 kleine Terzen gegeben
hätte. Die Unterschiede zwischen dem Toninhalt dieser
Marimba und dem eines unserer Instrumente gleichen
Umfanges bestehen also darin, daß der erstere ein kon-
sonantes Intervall weniger aufweist, vorwiegend ärmer
an großen, dafür reicher an kleinen Terzen ist. Außer-
31*
236
Koch: Die Flüsse in der ersten Jahreshälfte 1910.
dem sind in der Marimba viele konsonante Intervalle mehr
oder weniger alteriert. — 4. Die vierte Marimba (Abb. 5)
trägt mit der Zahl 76882 u.a. folgende Notizen: Länge
Azande?
Abb. 5. Marimba vom Uelle.
0,72m, Breite 0,46m.
Uelle-Azande (?).
Die Konstruktion dieser Marimba gleicht der der zwei
ersten. Sie besteht nur aus fünf Klangbrettchen und
Herkunft: Kongobecken, Fluß
fünf Resonanzkürbissen. Die akustische Analyse zeigt,
daß der tiefste Ton vom Brettchen V, der höchste von
IV gegeben wird (vgl. die entsprechende Notierung).
(en
I u
In der folgenden Tabelle IV wurden die Einzeltöne
ihrer Tonhöhe nach eingereiht und zugleich die Werte
der Intervalle angegeben.
Tabelle IV.
Intervalle
a. + BON Erua V. Stäbchen > Y,Ton (vermindert
AR i Raa 5 > 2 "Töne ma : I
e(—1 5) TR I. ” > 1 Ton (vermehrt)
(= 4) AR N 5 > 1% „ (vermindert)
Der Tonumfang dieser Marimba erstreckt sich also
nicht einmal auf eine volle Oktave. Die Zahl der kon-
sonanten Intervalle ist trotzdem recht beträchtlich. Denn
sie zeigt drei Quinten (V—HI, IV—II, wenn I als höhere
Oktave angenommen wird; es ist nämlich ein sog. Quart-
intervall; II—V, ebenfalls V als höhere Oktave an-
genommen, also wieder ein Quartintervall); zwei große
Terzen (I—U, stark vermindert; V—II, schwach ver-
mehrt); zwei kleine Terzen (II—IV, IV—I, wenn I als
höhere Oktave aufgefaßt wird). Im ganzen gibt es also
auf fünf Einzeltöne wohl sieben konsonante Intervalle.
(Fortsetzung folgt.)
Die Flüsse in der ersten Jahreshälfte 1910.
Der eisarme Winter von 1910 brachte wie schon im
Dezember 1909 so auch im Januar 1910 beträchtliche
Durchschnittshöhen der Gewässer. Das ist um so be-
merkenswerter, als sie vielfach, wie z. B. im Westen und
zwar im Rheingebiete, das höchste aller Januarmittel
in den acht Jahren seit 1903 erreichten. Noch mehr als
in Deutschland traten diese Januarhochwässer im Aus-
lande verheerend auf. Gleich zu Jahresanfang hatten
ein Teil des südöstlichen Europa, insbesondere Bulgarien
und die Türkei, sowie Vorderasien Überschwemmungen,
während nach Monatsmitte wiederholte Überflutungen in
den französischen Stromgebieten auftraten, die ihren
Höhepunkt in der zeitweilig durch die hochgehende Seine
veranlaßten Isolierung der französischen Hauptstadt von
der Außenwelt fanden. Bezeichnend für die Intensität
und Mächtigkeit der Pariser Hochflut war es, daß sich
dieser Zustand über einen Monat hinaus, bis gegen Ende
der ersten Februarhälfte, erhalten konnte. Im deutschen
Alpenvorlande wurden durch wechselweises Auftreten von
Schneestürmen und Föhnwinden die Flüsse in ständig
übernormaler Höhe erhalten und überfluteten nach be-
sonders intensiver Schneeschmelze vielfach die Ufer.
Besonders auffällig trat das auch bei einer zu Beginn des
letzten Januardrittels aus dem Schwarzwald und den
Vogesen sich ergießenden Hochflut in die Erscheinung.
Der Februar zeigte zunächst ein Abflauen der Hoch-
wasserwellen, worauf sich aber mit dem 8. im Westen
bereits wieder eine neue Flutwelle in die Flüsse ergoß,
die an den folgenden Tagen auch in den Zuflüssen der
Weser und Elbe auftrat und sich in gleicher Weise in
den Flußgebieten der Warthe, Oder und Weichsel sowie
in den nordöstlichen Gewässern zeigte. Nachdem sie um
Monatsmitte nur wenig abgeflacht war, setzte sie etwas
vor Monatsende um den 24. neuerdings wieder ein, und
es erreichte diesmal ihr Scheitel noch höhere Stände
als bei der ersten Hochflut um den 9. Februar herum.
Während somit die Wintermonate infolge der wieder-
holten Hochfluten, die im Februar nach Zeit und Aus-
dehnung ihren Höhepunkt erreichten, zu den wasser-
reichsten Monaten einer langen Reihe von Jahren gezählt
werden können, trat im Laufe des März ein auffällig
schneller Rückgang der Hochwässer ein, und zwar in so
beschleunigtem Maße, daß nach Mitte des Monats die
Flüsse bereits allseitig unter ihre Normalhöhen, die für
den März festgestellt sind, gesunken waren, teilweise zu
dieser Zeit auch bereits Klagen über Wassermangel laut
wurden, die besonders aus den östlicher gelegenen Ge-
bieten zunehmend dringlicher auftraten und im folgenden
April an Umfang zunahmen. In gleicher Weise gingen
auch die östlichen Flüsse in der zweiten Märzhälfte stark
zurück, so daß während dieser Zeit vielfach die kleinsten
Märzwasserstände einer langen Reihe von Jahren erreicht
wurden, mithin der Kontrast gegenüber den übernormalen
Zuflußhöhen im Februar besonders ausnehmend sich be-
merkbar machte. Den Grund für dieses auffallende Ver-
halten der Wasserverhältnisse hat man in dem Mangel
jeglicher größerer Frostperioden während der Winter-
monate zu suchen, die den Niederschlag der Winter-
monate in Form von Schnee in den höheren Lagen auf-
speichern und in der Folgezeit mit zunehmender Erwär-
mung langsam abfließen lassen. Da nun im verflossenen
Winter solche Frostperioden und demgemäß auch eine
den Abfluß verzögernde Einwirkung fehlten, so floß alles
Wasser im Februar ab, wodurch dieser Monat den vorhin
geschilderten Wasserreichtum erzielen konnte, aber keine
Reserven für März zurückzuhalten vermochte. Dieses
und der nur gering bleibende Niederschlag des Monats
bewirkten, daß sich die vom Februar überkommenen
Koch: Die Flüsse in der ersten Jahreshälfte 1910.
237
Hochwässer schnell verliefen und, da der Nachschub
fehlte, in der zweiten Märzhälfte bei fortgesetztem Rück-
gang der Gewässer die vorhin erwähnten ungewöhnlich
niedrigen Stände der Gewässer am Monatsschluß auftraten.
Im April kam diese auf ernstlichen Wassermangel ab-
zielende Entwickelung der Zuflußmengen zunächst wieder
in ein langsameres Tempo, bis dann nach Monatsmitte
die Gewässer verschiedentlich bei einsetzenden Gewitter-
zügen wieder neue Wasserzufuhr erhielten, die insbeson-
dere in den Alpenflüssen, unterstützt durch die dort ein-
setzende allseitige Schneeschmelze, vielfach Hochwasser
veranlaßte.
Im darauffolgenden Mai hielt sich der Zufluß in den
Gewässern noch auf der Höhe wie im Laufe des April,
wobei die östlichen Gewässer vielfach noch durch Gewitter-
züge, die als Ausläufer gleichartiger Erscheinungen des
Alpengebietes ihren Wirkungskreis weithin ins östliche
Mitteleuropa ausdehnten, größere Zuflußmengen erhielten,
die im Bereich der Oder, Weichsel und Warthe zu teil-
weisen Überflutungen führten, die außerdem das Alpen-
gebiet in ausgedehntem Maße betrafen und sich über die
osteuropäischen Länder bis nach Kleinasien hinein er-
streckten. Im letzten Drittel des Mai wiederholten sich
diese Überflutungen wiederum in einzelnen Alpengebieten,
ohne in größerem Umfange auf das reichsdeutsche Gebiet
überzugreifen. Dieses hatte vielmehr unter Wirkung der seit
Monatsmitte eingetretenen großen Temperatursteigerung
stark rückgängige Zuflußhöhen aufzuweisen, die das öst-
liche Reichsgebiet in größerem Umfange als das westliche
betrafen. Mit dem fortschreitenden Rückgange trat in
den östlichen Flüssen erheblicher Wassermangel ein, so
daß es nicht allein bei den städtischen Wasserleitungen
an Trink- und Gebrauchswasser mangelte, sondern auch
die meisten östlichen Wasserläufe, soweit sie zur Elbe,
Warthe, Oder und Weichsel gerichtet sind, außerdem
auch die märkischen Gewässer Wassermangel auf-
wiesen.
Während die Gewitterzüge und die von ihnen hervor-
gerufenen Hochwässer im Spätfrühjahr, und zwar in
zweiter Aprilhälfte und im Mai, mehr das östliche
gebirgige Mitteleuropa erfaßten, traten im Juni, bald
nach dessen Beginn, von Westen her neue Gewitterzüge
auf, die sich durch bedeutend erweiterten Wirkungs-
bereich und auch durch viel größere den betroffenen Ge-
bietsteilen zugedrängte Wassermassen sehr wesentlich
von den Gewitterzügen des östlichen gebirgigen Mittel-
europa im Spätfrühjahr unterschieden. Diese Gewitter-
züge hatten ihre Vorboten bereits in ausgedehnten
Überschwemmungen, die sich zu Beginn des Juni über
das ganze westliche Mitteleuropa ausdehnten und zeit-
weise noch über die Elbe hinweg ins östliche Mitteleuropa
übergriffen. Die hervorstechendsten Ereignisse dieser von
Westen anrückenden Gewitterzüge waren die Hochfluten
im Ahrtal am 13. Juni und in den Bayerischen und
Tiroler Alpen vom 13. bis 17. Juni. Bei letzterem wurden
hauptsächlich der Ammerwald, das Werdenfelser Land
und viele Teile des Loisach- und Isargebietes betroffen,
während sich die Überschwemmungen etwas abgeschwächt
noch weiter über das ganze bayerische Oberland aus-
dehnten. Einige Tage später wurden das obere Rhein-
gebiet von einer Hochflut heimgesucht, gleichzeitig auch
die österreichischen Kronländer und das ungarische Tief-
land, wo die Überschwemmungen teilweise ähnliche Höhe
wie nach Monatsmitte im bayerischen Hochlande er-
reichten. Kurz vor Schluß des Juni traten im links-
seitigen Rheingebiet neue Hochwässer auf.
Da nun diese Hochwässer in der Hauptsache an den
Gebirgsrändern der nördlichen Alpenhänge zur Ent-
wickelung kamen, so wurde das übrige mitteleuropäische
Gebiet vorerst weniger von ihnen betroffen, und es setzte
sich in diesem der vom Maischluß her bestandene Wasser-
mangel zunächst noch fort und zeitigte insbesondere in
den östlichen Gewässern bedenkliche Tiefstände, die erst
im Juli etwas behoben wurden.
Im Juli wurde auch das reichsdeutsche Mitteleuropa
bis ziemlich weit nach Osten in den Bereich der Über-
schwemmungen einbezogen, die zu Beginn des Monats
die Schweiz und den Schwarzwald heimsuchten, darauf
gegen Schluß des ersten Julidrittels auf die Zuflüsse der
Werra und der Saale aus Thüringen und dem Harz über-
griffen, gegen Schluß des zweiten Julidrittels wiederum
im Rheingebiet auftraten und im letzten Julidrittel die
Zuflüsse der Elbe und der märkischen Gewässer be-
trafen. Den vorläufigen Schluß der Hochwasserüber-
flutungen bildeten sodann neue zu Anfang August auf-
getretene Überschwemmungen im Bereiche Thüringens,
Sachsens, Süddeutschlands und der Schweiz.
Hiernach ist die erste Jahreshälfte von 1910 als er-
heblich zu wasserreich zu bezeichnen, wobei die ver-
schiedentlich im Frühjahr aufgetretenen Anfänge von
Wassermangel das Gesamtbild nicht wesentlich zu stören
vermögen. Zur Illustration des Ganzen mögen nach-
folgend noch die Ergebnisse der mittleren Zuflußhöhen
einer Reihe Flüsse des Westens aus dem Schwarzwald,
Hessen und dem schweizerischen Voralpengebiet angefügt
sein, in denen die Entwickelung des Zuflusses von Monat
zu Monat veranschaulicht wird.
Wutach | Kinzig |Murg bei| Nidda | Lahn | Rhein
Oberlauch-! 3 bei Weisen- bei bei bei
| ringen Wolfach bach Vibel Gießen | Waldshut
m m m m m m
Januar 0,91 0,94 0,% 1,35 1,64 2,77
Februar 0,93 0,96 0,94 1,88 2,18 2,91
März 0,85 0,69 0,81 1,02 1,02 2,50
April 0,74 0,65 0,79 0,39 0,44 2,60
Mai .. | 0,74 0,68 0,79 0,58 0,86 3,23
Juni. . 0,84 0,69 0,79 0,47 0,42 4,27
Hiernach zeigt in den Mittelgebirgsflüssen durch-
gehend der Februar das Maximum und der April das
Minimum der Monatsmitte. Bemerkenswert ist dabei
der verhältnismäßig starke Abfall der Mittelwerte vom
Februar zum März, während von da zum April die Ab-
nahme wieder erheblich kleiner wird. In den folgenden
Monaten hebt sich sodann das Monatsmittel wieder
etwas, so daß die niedrigen Sommermittel des Vorjahres
1909 nicht erreicht werden. In den acht Jahrgängen bis
rücklaufend 1903 hatten Januar, Februar und Juni 1910
zumeist das höchste Mittel der betreffenden Monate auf-
zuweisen, dagegen entfiel auf den April 1910 das
niedrigste Mittel. Im Rhein zeigten ebenfalls der Januar,
Februar und Juni das höchste Monatsmittel der be-
‚treffenden Monate aus den acht Jahren, während ein aus-
gesprochenes Minimum nicht auftrat.
L. Koch. Duderstadt.
238
Schmidt: Der angebliche universale Heiratstotemismus usw.
Der angebliche universale Heiratstotemismus der süd-
ostaustralischen Stämme und einiges andere.
Von P. W. Schmidt.
Ob Dr. Graebners Entgegnung') auf meinen Artikel?)
wirklich in der „Liebenswürdigkeit des Tones“ nicht, und
zwar erfolgreich, konkurriert, möchte ich einfach dem
Urteil der Leser überlassen. Daß er es in der Ausführlich-
keit nicht getan, gebe ich ohne weiteres zu; ob das aber ein
Vorzug ist, möchte ich wiederum dahingestellt sein lassen.
Dagegen sehe ich für diesmal kein Hindernis darin, seinem
Mangel an Ausführlichkeit zu folgen. Von zwei Punkten
abgesehen, auf die ich hier kurz eingehen will, glaube ich
nämlich die Leser einfach einladen zu können, Graebners
Bemerkungen mit meinen vorherigen Ausführungen zu ver-
gleichen, um zu sehen, wie viel davon berücksichtigt und
entkräftet worden ist?).
Graebner hält dafür, „daß die Logik und Methodik die
beste ist, die zu den richtigsten Ergebnissen führt“. Das ist
meines Erachtens eine durchaus nicht einwandfreie Auf-
fassung: man kann auch von unrichtigen Prämissen aus und
mit unrichtiger Logik und Methodik — per accidens — zu
ganz richtigen Ergebnissen gelangen, wenn man nur das
Glück hat, beim Ziehen der letzten Schlußfolgerung eine
entsprechende neue Unrichtigkeit zu begehen. So könnte,
selbst wenn auch Graebners Satz von dem universalen Heirats-
totemismus der Südostaustralier richtig wäre, doch seine
ganze bisherige Beweisführung für diesen Satz sehr wohl
falsch sein. Als wenn Graebner selbst diese Beweisführung
mindestens für verstärkungsbedürftig hielte, führt er nun
mit ziemlichem Nachdruck einen ganz neuen Beweis an,
dem er einen peremptorischen Charakter beimißt *). Ich be-
dauere, auch diesen Beweis als einen durchaus verfehlten
bezeichnen zu müssen.
Graebner entnimmt ihn einer Darlegung von R. H. Mathews.
Er fühlt selbst das Bedenkliche heraus, diesen Mann als aus-
schlaggebenden Zeugen in einer so wichtigen Sache anführen
zu müssen. Denn über die Unzuverlässigkeit dieses merk-
würdigen Mannes in so mancher Hinsicht hat sich Graebner
selbst sehr verständig ausgesprochen, und wer Einsicht nimmt
in das, was er im „Zentralblatt für Anthropologie“ (Bd. XII,
8. 338 bis 339) darüber geschrieben, wird kaum den Ab-
schwächungen beistimmen, die er hier versucht. Er zieht
denn auch selbst zur Verstärkung jetzt das „zweifellos richtige
Prinzip der historischen Quellenkritik“ heran, „daß gleiche,
voneinander unabhängige und nicht aus gleichem subjektiven
Vorurteil hervorgegangene Quellen ... auch dann als zu-
verlässig zu gelten haben, wenn die Einzelquellen nicht immer
einwandfrei sind“°). Indes dieses schöne quellenkritische
Prinzip verfängt hier nicht, wenn positiv die Unzuverlässig-
1) Globus, Bd. 97, S. 362 ff.
») A. a. O., S.157 f., 173 f., 186 ff.
®) Zu dem Vorwurf des schwarzen Undanks, den mir Graebner
zu machen scheint (a. a. O., S.362, Anm. 3), folgende Richtig-
stellungen: 1. das erwähnte Gespräch war allerdings sehr „aus-
fübrlich“, von nachmittags etwa 4 bis abends '/,10 Uhr, ich wüßte
aber nicht, daß gerade ich diese Ausführlichkeit veranlaßt hätte;
als „eigentliche Anregung“ habe ich nicht die zu meinen mytho-
logischen Arbeiten (s. darüber Anthropos, Bd. IH, S. 1118) erhalten,
sondern nur den Antrieb, dem Kulturkreisgedanken näherzutreten;
2. auf mein Befragen teilt mir Graebner mit, daß er mir zweimal
Manuskripte geschickt — also gerade eben genug, daß er den
vieldeutigen Ausdruck „mehrfach“ gebrauchen konnte; daß von
einer inneren Abhängigkeit dabei nicht die Rede sein kann, muß
auch Graebner zugeben, da er den „geringen Erfolg“ bedauernd
konstatiert. — Hier sei auch kurz die Bemerkung Graebners ge-
streift, daß ich ihm einmal geschrieben, er werde mir das Zeugnis
eines gewissen Fleißes nicht vorenthalten können (S. 365, Anm. 42).
Das sieht so aus, als hätte ich beiihm, als dem strengen überlegenen
Richter, gebettelt, er möge mir doch wenigstens ein Fleißzeugnis
nicht versagen, eine Rolle, die ja für Graebner des Erhebenden
nicht entbehrt hätte. In Wirklichkeit schrieb ich Graebner, daß
meine Arbeit über die austronesischen Religionen und Mythologien
nach anderen als den Kulturkreisgesichtspunkten ausgeführt sei,
daß er aber genug wertvolle Resultate durin finden könne, die auch’
ihm für seinen Kulturkreisgedanken nützlich sein würden, und daß
er mir also für den Fleiß, den ich dabei aufgewendet, zu Dank
und Anerkennung verpflichtet se. Wenn sich Graebner dann
herbeiläßt, den wegwerfend-beleidigenden Vorwurf der „Schnell-
produktion“ weiter zu geben, so wird niemand das als besonders
nobel betrachten können, angesichts der Tatsache, daß er ziemlich
gut wußte, bis zu welchem Grade ich meine Zeit auszunutzen pflege
und welche schwere Erkrankung ich mir dadurch zugezogen.
*) Graebner, a. a. O., S. 363,
®) Graebner, a. a. O., Anm. 15.
keit gerade des hier in Frage stehenden Zeugnisses Mathews’
dargetan werden kann. Und das läßt sich, wie ich denke,
in überzeugender Weise bewerkstelligen.
An sich ist Mathews überhaupt in solchen allgemeinen
Angaben, wie die von „all the tribes of the eastern half of
Victoria“, in erhöhtem Grade verdächtig, weil er sehr zu un-
zulässigen Verallgemeinerungen hinneigt, die als solche auch
in mehreren Fällen positiv dargetan werden können. So
hatte ihm schon Graebner selbst in der oben zitierten
Stelle Vorhaltungen dieser Art gemacht; ein anderes Beispiel
habe ich Graebner in meinem Artikel entgegengehalten ‘);
weitere Fälle werde ich in meiner lingnistischen Arbeit über
die Sprachen Australiens beibringen. Man hat also schon
deshalb das Recht, auch diesem neuen Zeugnis Mathews’
mit erhöhtem Mißtrauen entgegenzutreten — und bei einiger
Untersuchung wird man dieses auch vollauf gerechtfertigt
finden.
Graebner hebt die „genaue Abgrenzung des Gebietes“
— all the tribes of the eastern half of Victoria — hervor.
Mathews gibt diese wie folgt: „If we assume a line drawn
from Geelong through Castlemain and Pyramid Hill until it
meets the Murray River; thence up that river to its source
in Forest Hill; thence from Forest Hill to Cape Howe; and
thence along the sea-coast back to Geelong“’). Es ist also
zweifellos, daß Mathews zu den „tribes of the eastern half
of Victoria“ auch die Bangerang -Stämme rechnet®). Von
diesen Stämmen nun behauptet Mathews anderswo?) selbst
ausdrücklich, gegen Howitt, daß sie nicht männliche, sondern
weibliche Erbfolge des Totems hätten. Das ist der erste
Widerspruch, in den Mathews mit sich selbst gerät, da er
in dem von Graebner angezogenen Zeugnisse allen Stämmen
der östlichen Hälfte von Victoria die männliche Erbfolge
zuspricht.
Einen anderen Widerspruch nicht mit sich selbst, sondern
mit Howitt läßt sich Mathews zuschulden kommen, wenn er
in seinem von Graebner benutzten Zeugnis ganz allgemein
für die Stämme des östlichen Victoria die Lokalisierung der
Totems nicht nur als Theorie, wie auch Graebner hervor-
hebt, sondern als Tatsache hinstellt.e. Denn Howitt berichtet
ausdrücklich, daß bei den genannten Bangerang die beiden
Heiratsklassen, und damit auch die Totems, nicht lokalisiert,
sondern wie im westlichen Victoria über das Land hin zer-
streut gewesen seien !°). Diese konkrete Einzelangabe Howitts
ist schon deshalb als die zuverlässigere anzusehen gegenüber
der allgemeinen Behauptung Mathews’, weil letzterer hier nicht
einmal physisch in der Lage war, nach Howitt noch weitere
Forschungen anzustellen.
Ich habe von einer Nichtlokalisierung der Totems (Plural!)
bei den Bangerang gesprochen. Richtig muß ich sagen: des
Totems (Singular!); denn nicht nur bei den Bangerang, son-
dern auch bei den sämtlichen Kulinstämmen war es selbst
Howitt, trotz aller Mühe, die er sich gab, nicht möglich,
mehr als ein Totem zu entdecken, Thara den Sumpffalken,
welcher der Bundjil-Klasse zugehörte, während die Waang-
Klasse überhaupt keinerlei Totems besaß '')., Wenn nun von
diesen Kulinstämmen, die doch den bei weitem größten Teil
der „eastern half of Victoria“ ausmachen, ein Teil überhaupt
keinerlei Totem, ein anderer nur ein einziges besitzt, so sieht
©) Globus, Bd. 97, 8.187, Anm. 44. Graebner heftet sich in
seiner Entgegnung allein an die Stelle über Howitt, während doch
die über Mathews viel mehr ins Gewicht fällt.
7) R. H. Mathews, Ethnological Notes on the Aboriginal Tribes
of New South Wales and Victoria, Sydney 1905, S. 95—96. 7
8) Ich hebe das hervor, weil er sie früher einmal (American
Anthropologist, Bd. XI [1898], S. 843) den „Tribes of central Vic-
toria“ zuzählt.
P) American Anthropologist, a. a. O.,. S. 327. Der Grund, den
er für seine Angabe anführt, ist zwar durchaus nicht ausschlag-
gebend, aber es kommt eben hier nur darauf an, seine Unzuver-
lässigkeit durch seine beständigen Selbstwidersprüche darzutun.
10) Howitt, Native Tribes of South-East Australia, S. 127.
1) Howitt, a. a. O., S. 126 f. Mathews kennt diese Tatsachen
ebenfalls aus Howitt und berichtet sie an einem anderen Orte
(American Anthropologist, Bd. XI, S. 326) in gleicher Weise. Wenn
er dann ebendort meint „the Bangerang were divided into two inter-
marrying groups called Bunjil and Wah, and probably had aggre-
gates of totems attached to each, like their neighbors on the north
and west“, so kopiert er auch darin nur die Bestrebungen Howitts,
um jeden Preis auch hier mehrere Totems zu finden, Bestrebungen,
die auch Graebner selbst nicht glücklich findet. Ubrigens beweist
dieses Kopieren auch, daß Mathews’ Urteil „aus gleichem, subjektivem
Vorurteil hervorgegangen“ ist, viele Totems zu finden, und daß
also auch aus diesem Grunde das von Graebner zu Hilfe gerufene
„zweifellos richtige Prinzip der historischen Quellenkritik“ gar keine
Veranlassung hat, hier in Aktion zu treten,
240 v. Gabnay: „Sunnawend“ im Märamaroser Komitat.
nesischen Kultur“ *), also der allerjüngsten Kultur der Süd-
see, wird er rektifizieren müssen, diese Art der Feuerberei-
tung kommt, wie dargelegt, schon, und wahrscheinlich als
einzige, der allerältesten Kulturschicht zu.
In einem nicht recht erkennbaren Zusammenhang mit
dem Thema seines Artikels steht es, wenn Graebner am
Schluß desselben, wohl ungerufen, eine Besprechung meines
Pygmäenwerkes zu bringen sich beeilte und so der eigentlichen
Besprechung durch Prof. Dr. Schwalbe ®*) um ein gutes Stück
zuvorkam. Dr.Graebner wird es mir nicht verübeln können,
wenn mir Prof. Schwalbes Besprechung, obwohl hier be-
deutend mehr sachliche Gegensätze zutage treten, in mancher
Hinsicht sehr viel besser gefällt; bei Graebner wirkt die
„Liebenswürdigkeit des Tones“ ersichtlicherweise doch etwas
zu sehr, und gewiß nicht zum Vorteil der Objektivität, auch
in diesen Teil hinüber. Ich habe nicht die Absicht, jetzt
auf irgend eine der schon vorliegenden Kritiken meines Pyg-
mäenwerkes einzugehen”), sondern ich werde abwarten,
25) Graebner, a. a. O., S. 365, Anm. 34.
26) Globus, Bd. 98, S. 53 f.
27) Nur weise ich sehr nachdrücklich die Insinuation Graebners
zurück, daß ich in meinen religionswissenschaftlichen Arbeiten „eine
Beweisführung für ein von vornherein feststehendes Ergebnis“ unter-
nehme. Ich bin mir noch nicht. vollkommen darüber klar, in welchem
Sinne Graebner das versteht; ich hoffe es aber zu seinem Vorteil
zunächst noch nicht nach der Richtung hin auslegen zu müssen,
daß er, um der Schwäche seiner Argumente zu Hilfe zu kommen,
bis so ziemlich alle zu erwartenden Besprechungen einge-
laufen sind und sie dann zusammen beantworten. Dr. Graebner
wollte ich hierfür nur bitten, doch die Belege anzugeben für
das umfassende Urteil, das er über „fast sämtliche Bogen-
typen der Erde“ abzugeben sich getraut. Monographien über
die Bögen gibt es doch erst in sehr beschränkter Anzahl und
nur über einige Teile der Erde; was in den Reisebeschrei-
bungen usw. vorliegt, genügt nur in den seltensten Fällen
wirklich wissenschaftlichen Anforderungen; die verschiedenen
ethnologischen Museen haben bisher nur zum allerkleinsten
Teil ihr diesbezügliches Besitztum veröffentlicht; bei dieser
Sachlage wäre es natürlich von besonderem Interesse zu er-
fahren, welches seine Belege sind für das oben berührte
umfassende und apodiktische Urteil über „fast sämtliche
Bogentypen der Erde“.
Anmerkung der Redaktion. Nachdem die Herren
Graebner und Schmidt in dieser Angelegenheit je zweimal
zu Worte gekommen sind, muß die Debatte darüber im Globus
geschlossen werden. .
Mittel heranziehen will, durch die man sich in gewissen Kreisen
allerdings leicht sehr „populär“ machen kann, die aber in ernster
wissenschaftlicher Erörterung ihre Wirkung völlig verfehlen. Jedenfalls
möge Graebner getrost meinen sogenannten „Standpunkt“ beiseite
lassen und sich an die ethnologischen Tatsachen halten, mit denen
allein ich operiere, wo ich ethnologische Thesen aufstelle; er wird
daran vorläufig noch Arbeit genug haben.
„Sunnawend‘“ im Märamaroser Komitat.
Um die ärarischen Forstgebiete im nordöstlichen Teile
Ungarns, besonders im Komitate Märamaros, fachgemäß
ausnutzen zu können, wurden zur Zeit Maria Theresias,
also in den Jahren 1740 bis 1780, Holzknechte aus Ober-
österreich, besonders aus Ischl, Gmunden, Ebensee, Rinn-
bach usw., als konventionierte Forstarbeiter in der Má-
ramaros angesiedelt.
Der Grund und Boden ihrer Ortschaften, als da sind
Kirälymezö (Königsfeld), Német Mokra (Deutsch-Mokra),
Rahó, Körösmezö usw., blieb ärarisch, nur die darauf er-
bauten, reinen und bezimmerten Holzhäuser bilden ihr
Eigentum. Sie sind die Intelligenz jener Gegend und
die Lehrmeister der dort ansässigen Ruthenen im Bau
der Klausen, Buhnen, Sporen, im Regulieren der Flüsse
sowohl als im Flößen der Langhölzer und im Triften der
Klötze. Die Leute haben sich so ziemlich stammesrein
erhalten, sind hoch und stämmig gewachsen, haben aber
in ihre Sprache genug fremde Idiome eingemengt. Daß
sie den Hügel „Piachl“ nennen, mag ja noch ihrer Er-
innerung an Büchl oder Bügel zuzuschreiben sein, daß
sie aber statt Busen „Pasoch“ und statt Gehirn gar
„Mosog“ sagen, läßt schon keine germanische Ableitung
mehr vermuten.
Die unverfälschtesten sind die Mokraner, diese haben
auch noch die meisten Gebräuche ihrer früheren Heimat
sich am besten bewahrt. Der schönste dieser Gebräuche
ist die Feier der „Sunnawend“, der Sonnenwende. Die
Sonne hat bekanntlich am 21. Juni ihren Höhepunkt er-
reicht und bleibt dort bis zum 28. Juni, was als Sonnen-
stillstand, Solstitium, bezeichnet wird. In diese Zeit fällt
der Johannistag, nämlich auf den 24. Juni. Der Gebrauch
wird am Vorabend bei eintretender Dunkelheit ausgeführt
und auch Scheifelschlag oder Scheibenschlag ge-
nannt. Man gebraucht dazu Scheibchen von 8 bis 9 cm
im Quadrat und 1 cm Dicke, die in der Mitte durchbohrt
und aus ganz frischem, feuchtem Buchenholz gespalten
sind, damit sie ja nicht brennen, sondern nur glühen oder,
wie die Mokraner sagen: klosen.
Nun machen die Burschen am genannten Abend an
einer oder zwei Stellen der Berglehne ein größeres Feuer
an und errichten daneben einen Schlagbock, auch Schlag-
brett genannt. Dieser besteht aus zwei in die Erde ge-
rammten Holzpflöcken, diein Brusthöhemit einem schmalen,
gespaltenen Brett verbunden sind. Nun legen sie die
Scheibehen der Reihe nach ins Feuer, damit sie erglühen,
und wenn um 8 Uhr abends zum Gebet geläutet wird,
nimmt der Anführer das erste Scheibehen mittels eines
meterlangen und zentimeterstarken Stabes aus dem Feuer,
indem er dessen Ende in das Loch des Scheibchens steckt,
schwenkt es einigemal hin und her, damit es an der Luft
besser erglühe, und schlägt den Stock von unten in die
Höhe stark an das Schlagbrett an, so daß das Scheibchen
im weiten Kreise vom Stock wegfliegt. Diese Scheibe
wird die Gebetscheibe, der Schlag aber Gebet Sonn’'wend
Scheifelschlag genannt. Nach diesem folgen dann die
übrigen Schläge, aber abwechselndimmer von einemanderen
Burschen, der während des Hin- und Herschwenkens
„Sunnawend, Sunnawend!“, während des Schlages aber
seinen eigenen Namen in das Dorf hinunterschreit.
Die Dorfschönen bleiben bis Mitternacht auf, um sich
an den kleinen glühenden Sonnen zu ergötzen und zu
sehen, wessen Schlag wohl der gelungenste sei, welcher
Bursche wohl den größten Bogen erreicht habe.
Das Spiel wird oft auch noch an den folgenden zwei
oder drei Abenden fortgesetzt, da es doch gar zu schön
ist, um nur eine einzige Nacht zu dauern, und da man
in diesen Gegenden sonst nur sehr wenig Zerstreuung
hat, so daßauch die kleinen Kinder ein bis zwei Wochen vor-
her und nachher noch mit solchen Scheibehen auf der
Gasse spielen, aber natürlich ohne Feuer.
Daß dieser Brauch heidnischer, altgermanischer Ab-
stammung ist, steht fest, ob er aber noch in der früheren
Heimat dieser Leute vorkommt, ist zweifelhaft. Ich schrieb
zwar dem Herrn Bürgermeister von Ischl deswegen, der
aber scheint aller Rücksichten bar geworden zu sein und
hat nicht geantwortet.
Die alten Germanen sollen zu dieser Zeit im Walde
Freudenfeuer entzündet und dann unter gewissen Zere-
monien über sie hinweggesprungen sein.
Franz von Gabnay.
Die Hittiterforschung. — Bücherschau.
241
Die Hittiterforschung.
Über Hittiterforschung sprach D. G. Hogarth auf der
diesjährigen, in Sheffield stattgefundenen Versammlung der
British Association. Auszugsweise ist über den Vortrag in
der Zeitschrift „Nature“ vom 8. September 1910 berichtet
worden; danach hat Hogarth über die Entdeckung der Tat-
sache, daß die Hittiter ein herrschendes Volk gewesen sind,
und über ihre Stellung in der Weltgeschichte folgendes aus-
geführt.
Jene Entdeckung datiert von der 1834 bis 1845 erfolgten
Auffindung zweier prähistorischen Städte bei Boghas Kjöi
und Ujuk im nordwestlichen Kappadozien. Sayce ermittelte
später, daß die dortigen Skulpturen und Inschriften derselben
Völkerfamilie angehört haben, wie gewisse nach 1870 bei
Hamath und sonst in Syrien aufgefundene Skulpturen und
Inschriften und wie einige andere Denkmäler Kleinasiens bei
Ibris und in der Nähe von Smyrna. Jene syrischen Denk-
mäler waren schon früher einem Volke zugeschrieben worden,
das unter dem Namen Kheta oder Khatti in den syrischen
Beziehungen der Pharaos der 18. bis 20. Dynastie eine große
Rolle gespielt hatte, und auch in denen der Assyrerkönige,
und man nahm allgemein an, daß dieses Volk mit den „Kindern
Heths“ oder den Hittitern des Alten Testaments identisch
wäre. Wenn aber diesen Hittitern die syrischen Monumente
zuzuschreiben waren, so waren sie in gewissem Sinne auch
für die kleinasiatischen Denkmäler verantwortlich, und es
war jedenfalls klar, daß eine sehr eigenartige und wichtige
Zivilisation, die im zweiten vorchristlichen Jahrtausend und
im Beginn des ersten ein großes Gebiet des nahen Ostens um-
faßt hatte, von der Geschichte vergessen worden war.
Durch Studien und Grabungen bemühte man sich nun
während des nächsten Vierteljahrhunderts, diese Zivilisation
zu erhellen, und man gelangte so weit, ihren Ursprung nach
Kleinasien zu verlegen und durch die Entdeckung zahlreicher
neuer Denkmäler geographisch die zwischen den zuerst auf-
gefundenen klaffenden Lücken mehr oder weniger auszu-
füllen. Es ergab sich daraus, daß diese Denkmäler an Ver-
kehrslinien, die von Nordwest-Kappadozien nach Süden und
Westen führten, lagen, und ferner, daß nicht nur Nordsyrien,
sondern auch das westliche innere Kleinasien solche Denk-
mäler in fast allen ihren Teilen enthielten. Aber grundlegende
Fragen blieben noch offen: Wer waren die Gründer dieser
Zivilisation, welches war die genaue Lage ihres Brennpunktes
und wer hatte an ihrer Entwickelung Anteil? Sie konnten
erstbeantwortet werden, als Boghas Kjöi 1906/07 durchWinckler
und seine Gefährten ausgegraben wurde.
Auf der Stätte von Boghas Kjöi, von der man seit einigen
Jahren wußte, daß sie Keilschrifttafeln teils in babylonischen,
teils in einer unbekannten Sprache bot, legten die Forscher
eine große megalithische Ruinengruppe in der unteren Stadt,
sowie Befestigungen und gewisse andere Bauwerke in der
oberen Stadt frei; auch klärten und untersuchten sie von
neuem die schon lange bekannten religiösen Felsreliefs von
Jasily Kaja. Außer auf mehrere Mauerskulpturen, von denen
die interessanteste eine bewaffnete Amazone zeigt, ‚stießen
die Forscher auf eine Anzahl von Keilschrifttafeln, besonders
in den Ruinen älterer Teile des unteren megalithischen Bau-
werks, das offenbar ein Palast war. Diese Tafeln erwiesen
sich in der Hauptsache als Archive des „Auswärtigen Amts“
von sechs Königsgenerationen, die über die „Hatti“ von Boghas
Kjöi im 14. und 13. vorchristlichen Jahrhundert geherrscht
hatten, und sie erwiesen ferner, daß die Hatti Kappadoziens
die Ketha waren, die mit den Agyptern bei Kadesch kämpften
und den berühmten Vertrag mit Ramses dem Großen schlossen.
Das erste bedeutende Königtum war das des Subbiluliuma,
eines Zeitgenossen des ägyptischen Amenhotep IV.; das letzte
war das des Hattusil II., des „Khetasar“, der den Vertrag mit
Ramses schloß. Wir wissen aber aus babylonischen, assyrischen
und ägyptischen Berichten, daß vor wie nach jenen Königen
die Hatti eine Macht in Westasien waren, und daß wir ihnen
eine wenigstens tausendjährige Geschichte zuzubilligen haben.
Die Tafeln zeigen, daß Subbiluliuma die kappadozische Macht
über Nordsyrien und sogar über einen großen Teil Mesopo-
tamiens ausgedehnt hat, wo die Mitanni vormals herrschend
gewesen waren, und daß dieser weite sich sogar bis an die
Grenze Babylons erstreckende Besitz durch seine bedeutendsten
Nachfolger Mursil und Mutalla erhalten und erst nach Hattusil II.
verloren ging, der mit Agypten wie mit Babylon auf dem
Fuße der Gleichberechtigung verhandelte. Überraschend wie
diese Enthüllung ist, sehen wir nun, daß ohne die Existenz
einer solchen hittitischen Macht die weite Zerstreuung der
hittitischen Baudenkmäler und Zivilisation und des physischen
Typus unerklärlich gewesen wäre, und wir erkennen in Boghas
Kjöi den natürlichen Brennpunkt, von dem alles das über
Kleinasien und Syrien ausstrahlte. Wir erkennen aber auch,
daß viele jener Monumente und viel von der hittitischen Zi-
vilisation das Werk anderer Völker als der kappadozischen
Hatti war — von Völkern, die von diesen gelernt und sie in
vielen Fällen überdauert haben. Auch andere Erscheinungen
haben durch die Funde in Boghas Kjöi ihre Erklärung ge-
funden, besonders der Mißerfolg der ägäischen Macht Kretas,
in Kleinasien festen Fuß zu fassen, und die lange Dauer des
hittitischen Namens und Rufes in Syrien. Sie zeugen ferner
so klar, wie nichts anderes, für den orientalischen Einfluß auf
die früheste hellenische Zivilisation, besonders auf die ionische
Kunst und Religion. Denn selbst die frühe Berührung zwischen
den Muski-Phrygiern und Assyrien scheint eine für die Er-
klärung des griechischen Phänomens ausreichende Orientali-
sierung Phrygiens und Lydiens nicht ergeben zu haben. Die
wahre orientalisierende Kraft war in Kappadozien, dessen
Kunst und Religion den dazu erforderlichen Typus zeigten.
Ohne Zweifel hat dann eine große, wenn auch vergessene
Rolle in den Beziehungen zwischen Ost und West die Zivili-
sation gespielt, die so lange die ganze Landbrücke zwischen
Asien und Europa einnahm. Das lange erdauern und die
große Ausdehnung des hittitischen Einflusses in Syrien erhellt
aus den Ausgrabungen in Sendschirli und Sakje Gösi und
aus neueren Entdeckungen im Becken des mittleren Euphrats
zu beiden Seiten des Flusses. Aber ein gewaltiges Feld bleibt
noch zu erforschen, und es müssen noch andere wichtige
Stätten genau untersucht werden, namentlich Kartschemisch,
Marasch und Malatia. Wenn auch nur eine von ihnen nach
den besten neuen Methoden gründlich ausgegraben sein wird,
dann wird sich eine Flut von Licht auf die hittitische Alter-
tumskunde ergießen; und mit der Hilfe, die die Entzifferung
der nichtbabylonischen Tafeln von Boghas Kjöi für die Ent-
zifferung der phonetisch schon in erheblichem Maße durch
Sayce interpretierten hittitischen Inschriften gewähren wird,
wird das Studium der hittitischen Zivilisation ihre Stelle auf
dem Felde der wissenschaftlichen Geschichtsforschung ein-
nehmen.
Bücherschau.
C. 6. Seligmann, The Melanesians of British New
Guinea. With a Chapter by F. R. Barton and an
Appendix by E. L. Giblin. Cambridge 1910, University
Press. 21s.
Der Inhalt des Buches verteilt sich in ziemlich gleicher
Weise auf zwei der ethnographischen Bezirke von Britisch-
Neuguinea, den Zentral- und den Massimdistrikt, beide, wie
der Titel andeutet, von Stämmen melanesischer, d. h. malaio-
polynesischer Sprachzugehörigkeit bewohnt oder wenigstens
kulturell beherrscht. Doch wird vom Zentralbezirk nur die
westliche Hälfte, die Stämme der Koita, Roro und Mekeo,
behandelt. Da die Koita zuden Motu in engster, nicht nur geo-
graphischer, sondern auch kultureller Beziehung stehen, fällt
auch manches Streiflicht auf die Gebräuche der Motu; die von
Barton behandelten jährlichen Handelsfahrten nach dem
Papuagolf sind sogar ursprünglich eine ausschließliche Motu-
sitte, an der nur sekundär auch Koita teilnehmen. Die sozialen
Verhältnisse des westlichen Zentralbezirkes gewinnen durch
die Auffindung eines ausgebildeten Totemsystems bei den
Mekeo bedeutend an Klarheit. Dessen Existenz war übrigens
nach den übrigen kulturellen Verhältnissen nicht ganz un-
erwartet, nicht nur wegen der Nähe des Papuagolfs, sondern
weil aus dem Mekeobezirk selbst Kegeldachhütten, von Delena
(Roro) die Speerschleuder in der Form des Schleuderstricks
belegt war. Der Totemismus der Mekeo ist vaterrechtlich
exogam, mit starker Tendenz zur Lokalisierung, indem ent-
weder in jedem Dorfe nur eine Totemgruppe vorhanden oder
herrschend ist, oder, wo ein Dorf mehrere Gruppen umfaßt,
deren Häuser innerhalb des Ganzen lokale Gruppen bilden.
Das Totem ist meist gespalten; jede Gruppe besitzt außer
dem eigentlichen Totemtier oder der Totempflanze noch ein
Gruppenabzeichen, ebenfalls ein Tier, eine Pflanze oder seltener
auch ein lebloses Objekt, und zwar ist es das Urbild dieses
Abzeichens, das, wenn eßbar, nicht gegessen wird, während
für die eigentlichen Totemobjekte ein solches Verbot nicht
besteht. Allem Anschein nach handelt es sich, da die eigent-
lichen Totems oft mehreren Gruppen gemeinsam sind, bei den
Gruppenabzeichen um ursprüngliche Subtotems. Außer dem
Recht auf ihr Abzeichen hat jede Gruppe noch das Recht
auf Errichtung eines oder mehrerer Klubhäuser. Dies ganze
242
System scheint nun von den Mekeo nach Süden und Osten
allmählich auszuklingen. Weder Roro noch Koita kennen
eigentlichen Totemismus, und die Gruppenabzeichen, die bei
beiden kaum mehr figürlich6 Bedeutung haben, treten bei den
Koita überhaupt nur noch schwach hervor, wie denn dort auch
die Exogamie weniger ausgeprägt ist. An Stelle der Klub-
häuser treten bei den Koita die bekannten Zeremonialplatt-
formen, oft mit prächtig geschnitzten Pfosten, deren Er-
richtun& und Instandhaltung bestimmten Familien innerhalb
der Gruppe zusteht und ganz bestimmten sozialen Rang verleiht.
Wesentlich gleichförmiger sind die sozialen Verhältnisse im
Massimdistrikt: Überall derselbe mutterrechtliche Totemismus
mit „linked totems“, den der Verfasser schon früher in
mehreren Aufsätzen geschildert hat. Als Reste der ursprüng-
lich vaterrechtlichen Form dürfen der größere Respekt gegen-
über dem väterlichen Totem und die auch hier vorhandene
Tendenz zur Lokalisierung gelten. Im Südwesten des Be-
zirks, auf dem Festlande von Neuguinea, macht sich stellen-
weise eine Teilung der Totems in zwei Gruppen bemerkbar,
die auch im Zentraldistrikt nicht ganz zu fehlen scheint,
und in der wahrscheinlich der Einfluß eines Zweiklassen-
systems zu sehen ist. Die Bedeutung des Häuptlingstums,
' besonders die Stellung der Oberhäuptlinge im nördlichen
Massimbezirk, erscheint nach Seligmann nicht mehr so groß,
wie früher berichtet, läßt aber doch den Einfluß polynesi-
scher Anschauungen noch deutlich genug hervortreten. Nicht
so zusammenhängend und übersichtlich wie die Darstellung
der sozialen Gruppierungen ist das, was über Familienleben,
Werbung und Ehe, Geburt, Eigentums- und Erbrecht, Handel,
Krieg, Tabu, Feste und Tänze, Bestattungsgebräuche, Zauberei
und Religion gesagt wird. Doch enthalten auch diese Ab-
schnitte eine Fülle von Material, dessen genaue Durch-
arbeitung sicher noch wichtige Gesichtspunkte für die Kultur-
geschichte der Gebiete erschließen wird. Ich verweise etwa
nur noch auf die Ausführungen über das Häuptlingswesen
und das Amulettwesen des Zentraldistrikts, über den Kanni-
balismus, die damit in Zusammenhang stehenden eigentüm-
lichen Zeremonial-Steinkreise und den im Norden zum Extrem
entwickelten Skelettkult des Massimdistrikts. Für die mate-
rielle Kultur ist der Abschnitt über den Handel des Massim-
distrikts mit Bemerkungen über die großen Steinbeile und
die knöchernen Zeremonial-Kalkspatel als Geld und Wert-
objekte, über Bootformen und anderes von besonderem Inter-
esse. Aus dem südlichen Massimbezirk wird eine Anzahl
Sagen teilweise naturmythischen Inhaltg gegeben. Zahlreiche
gute Abbildungen tragen zur Veranschaulichung der mit-
geteilten Tatsachen bei. F. Graebner.
Kungfutse, Gespräche (Lun-yü). Aus dem Chinesischen
verdeutscht und erläutert von Bichard Wilhelm.
XXXII u. 2468. Jena 1910, Eugen Diederichs. 5 %.
Der Eugen Diederichsche Verlag in Jena hat sich durch
manche seiner Veröffentlichungen unbestreitbare Verdienste
um die Pflege der Geistesgeschichte und -kultur erworben.
Er fügt ihnen ein neues hinzu mit einem groß angelegten
Unternehmen, das die Hauptwerke der chinesischen Philo-
sophie und Religion in deutschen Übersetzungen (10 Bände)
dem allgemeinen Verständnis erschließen soll. Der Wert,
sogar die dringende Notwendigkeit solches Werkes liegt auf
der Hand. Kein großes Kulturvolk steht uns so fern, ist so
vielfach verkannt und falsch beurteilt worden und ist auch
so schwer verständlich wie die Chinesen. Durch die prak-
tischen Beziehungen des modernen Weltlebens tritt uns dieses
Volk in der festen Geschlossenheit seines Wesens, mit seinem
ganzen Besitz an Kultur nahe. Der Völkerverkehr erfordert,
um Mißgriffe zu vermeiden, vor allem ein Verständnis dieser
eigenartigen Welt. China ist in hohem Maße bereit, von
Europa Belehrung anzunehmen; es ist aber seines Wesens
auch bewußt und will dafür Anerkennung finden, es will
nicht zu europäischem Sinn bekehrt sein. Wenn man sich
klar macht, wie die Grundlagen der europäischen Gesittung
geschaffen sind, so kann man gar nicht erwarten, daß China,
dem diese Grundlagen — vor allem die griechische Kultur —
fehlen, unmittelbar in europäisch- christliches Wesen hinein-
wachse. Vielmehr gilt es, auch den geistigen und sittlichen
Gütern Chinas gegenüber ein unbefangenes historisches Urteil
zu gewinnen. Das heißt natürlich nicht, daß wir nun Kon-
fuzius auch zu unserem Heiligen erheben müßten, wie das von
Dilettanten gelegentlich geschehen ist. Er gehört nicht der
Menschheit an, so groß er ist, sondern lediglich dem Kultur-
kreise Chinas, in dem er mit allen Fasern seines Wesens
wurzelt, den er in einem persönlichen Typus verkörpert.
Indem uns heute China nahe tritt, greift aber auch sein Geist
nach Europa über; und eine Auseinandersetzung mit den
religiös-ethischen Gedanken des Ostens wird für die Zukunft
ebenso nötig werden, wie sie dem Buddhismus gegenüber
Bücherschau.
längst unvermeidlich geworden ist und heute lebhaft er-
örtert wird.
Wer China kennen lernen will, muß Konfuzius und die
von ihm ausgehende Wirkung verstehen. Von Konfuzius
selbst ist nur ein Werk verfaßt, das ihn als praktischen
Staatsmann zeigt, der Tso-tschuan betitelte Kommentar zu
der Chronik seines Heimatstaates Lu über die Jahre 721 bis
481 v. Chr. Diese Chronik selbst ist ein altes, in rein annali-
stisch aufzählendem Stil gehaltenes Geschichtswerk, während
der Kommentar ebenso sehr den sprachgewaltigen Meister
wie den offenherzigen Mut des Konfuzius zeigt. Dieanderen
Werke, aus denen wir Konfuzius kennen lernen, sind erst in
seinem Schülerkreise entstanden, die „Gespräche“ (Lun-yü),
die „Große Lehre“ (Ta-hioh) und die „Unwandelbarkeit
der Mitte“ (Tschung-jung)
Das uns vorliegende Werk, das Lun-yü, die Gespräche
des Konfuzius, die in einer lehrhaften, politischen oder ethi-
schen Weisung gipfeln, ist in seinen intimen Zügen und der
lebensvollen Anschaulichkeit zweifellos die beste Quelle für
die Kenntnis des eigenartigen Mannes. An seiner Echtheit
zu zweifeln ist lediglich Hyperkritik. Wer nicht das Gefühl
für das Unerfindbare der Persönlichkeit hat, die aus allen
diesen Worten spricht, wer hier nicht individuelles Leben
spürt, der ist freilich für historische Forschung — wenigstens
auf geistesgeschichtlichem Gebiete — nicht zu brauchen.
Vor allem möchte ich auch den Wert des 10. Buches,
das das Privatleben und das äußere Gebahren des Konfuzius
bei verschiedensten Anlässen schildert, nicht gering an-
schlagen. Die uns befremdende Detailschilderung entspricht
ganz dem chinesischen Sinn für das Einzelne und für den
symbolischen Wert der Formen. Mag dieser Teil auch anderer
Herkunft sein wie die Hauptmasse, er stammt sicher aus der
nächsten Umgebung des Meisters.
Was die Sversetrang und Erklärung anbelangt, so ist
hier nicht der Ort für weit ausholende philologische Streit-
fragen. Jedenfalls ist die rsetzung dadurch sehr wert-
voll, daß sie neben eine möglichst wörtliche Ubersetzung
eine oft auch die sachliche Erklärung in sich aufnehmende
Umschreibung stellt. Wer mit chinesischer Grammatik
bekannt ist, weiß, daß eine rein wörtliche ersetzung aus
dem Chinesischen kaum möglich ist, jedenfalls für uns meist
unverständlich bleibt. Die Ausdrucksformen und Mittel der
Sprachen sind zu tief verschieden. Man muß einen chinesi-
schen Text in unsere Formen zu denken umsetzen. Auch
dann ist er oft noch dunkel genug; die Umschreibung ist oft
unentbehrlich. Hier freilich ist das Subjektive der Auf-
fassung nicht zu.vermeiden; es geht eben ein uns wesens-
fremdes Geistesleben nicht ohne innere Umgestaltung in die
Denkweise über, in der wir infolge unserer Kulturvoraus-
setzungen leben. Ob z. B. des Konfuzius Lehre von der
„Gradheit“ (Aufrichtigkeit, Buch VI, 17) so vergeistigt werden
darf, wie es schon durch einen chinesischen Kommentator
und danach vom Bearbeiter geschieht: „das Leben des
Menschen beruht auf der ihm von Gott verliehenen Kraft des
Geistes“ — das möchte fraglich sein. Ebenso mag Buch IX, 5
die Interpretation durch den „Willen Gottes“ und die „Bache
Gottes“ für den schlichten Pflichtenbegriff des Konfuzius eine
Steigerung mit sich bringen. Ähnliche Fragen der Auffassung
ließen sich noch mehrfach geltend machen. — Recht wert-
voll sind die Anmerkungen; sie lassen durch Hinweise auf
Goethe, Kant und andere europäische Denker oft ein inter-
essantes Licht auf den chinesischen Weisen fallen. Aber
auch an kulturhistorischem Material bringen sie vieles zur
Erklärung des Konfuzius herbei. Wenn trotzdem noch manche
Stelle dunkel bleibt oder mehrdeutig ist, so teilt die europäi-
sche Wissenschaft solche Verlegenheiten mit den chinesischen
Gelehrten. Derartige Schwierigkeiten mögen zum Teil in
zerstörter Textüberlieferung begründet sein; jedenfalls werden
stets solche Schwierigkeiten bleiben.
Sie können indes keinen Einfluß auf die Auffassung und
Würdigung des Konfuzius haben, den wir historisch und als
Menschen so gut kennen lernen, wie wenige Größen der Ver-
gangenheit. Eine voraufgehende Einleitung schildert die
allgemeinen Vorraussetzungen seines Wirkens, die Geschichte
seines Lebens und stellt seine Lehre systematisch dar, um
mit einer hohen, aber durchaus berechtigten Würdigung des
Meisters zu schließen. Der Verfasser berührt auch das Problem
der Entstehung der chinesischen Zivilisation; sie habe sich
nicht rein autochthon entwickelt, sondern die Chinesen seien
aus Hochasien in das Tiefland eingewandert durch den Paß
von Lantschou, wo der Gelbe Fluß die Gebirge durchbricht.
Indes wird man die Bildung der ältesten Kultur in China
durchaus für bodenständig halten müssen. Die Entstehung
des chinesischen Staates hat zuerst W. P. Wassiljew in
genialer Weise erkannt (Die Erschließung Chinas, Leipzig 1909,
8.3), und unabhängig von ihm ist A. Conrady zu den
Kleine Nachrichten.
243
gleichen Ergebnissen gekommen (im Anhang zu Wassiljews
Buch, 8.157 bis 164), Stellen, die niemand unbeachtet lassen
darf, der die Anfänge Chinas verstehen will. R. Stübe.
G. Frank Speck, Ethnology of the Yuchi Indians.
Diss. University of Pennsylvania. Anthropological Publi-
cations of the University Museum, Vol.I, No.1. Phila-
delphia 1909.
Die Jutschi oder Tsojahá waren einst ein volkreicher
Stamm am Savannah; von den Muskogi bedrängt, wanderten
sie nach dem Cross Timber-Land in Oklahama und schlossen
sich dem Krikbunde an; sie zählen jetzt kaum 500 Köpfe. —
Verfasser, der sie in den Sommern 1904 und 1905 und im Winter
1908 studierte, berührt zunächst kurz die Umwelt und die
Nachbarstämme der Jutschi und die charakteristischen Er-
scheinungen in ihrer Sprache und beschreibt dann ihre
materielle Kultur: Ackerbau (heute europäisiert), Jagd mit
Bogen und Pfeilen, Fischfang mit Gift, Pfeilen, Reusen und
Angeln; Töpferei (Gefäße, Pfeifenköpfe, Figuren); Korbflechten,
Anfertigung der alten Lederkleider, Metall- und Perlenarbeiten.
Häuser und Kleidung sind in Form und Material jetzt meist
modern. Die figürlichen und geometrischen Ornamente an
Trachtenstücken und Gefäßen haben meist religiöse Bedeutung,
ebenso die Musikinstrumente, außer der Flöte. — Die Jutschi
zerfallen in 20 totemistisch-exogame Sippen, von denen vier
als höherstehend gelten und die Stammesführer liefern. Diese
auch bei anderen Indianern bestehende Zweiteilung, die mit
einer Verschiedenheit in Rechten und Pflichten verknüpft ist,
ist nach Bedeutung und Ursprung nicht klar. Die oberste
Instanz ist die Gemeindeversammlung, sie entscheidet unter
Vorsitz von 8 Leitern politische Angelegenheiten und führt
die religiösen Zeremonien aus. — Weiterhin schildert Speck
die Gebräuche bei der Geburt (Verscharren der Nabelschnur
zusammen mit Bogen und Pfeilen bei Knaben, mit Stampfer,
Mörser und Rührlöffel bei Mädchen; gewisse Verbote für den
Vater), Namengebung, Eheschließung, Initiation der Burschen,
Menstruation, Kindererziehung, Begräbnis (früher in der Hütte).
Am eingehendsten aber behandelt er die Religion der Jutschi,
welche Ahnen- und Naturgeister, zoo- und anthropomorphe
Gottheiten, als höchste die Sonne hat, und dabei besonders
die verschiedenen Zeremonien, die beim Jahresfest auf dem
den Regenbogen symbolisierenden Gemeindeplatz stattfinden:
Fasten, mannigfache Tänze, Verbote, Gewinnung des heiligen
Feuers durch Schlagen, Skarifikation, Nehmen eines Brech-
mittels usw. Etwas kurz ausgefallen ist das Kapitel über
Schamanismus; immerhin sind die Mitteilungen über Krank-
heiten, die danach durch Tiergeister verursacht werden, und
über ihre Heilung durch Zaubersprüche und gewisse Kräuter
psychologisch interessant. Das Schlußkapitel enthält eine
vergleichende Untersuchung über die Mythologie der Jutschi
unter Beifügung einer großen Reihe von Erzählungen in
wörtlicher Übersetzung. — Ausgestattet ist diese gründliche
und sorgfältige Arbeit mit 42 Abbildungen im Text und zahl-
reichen weiteren, zum Teil bunten auf 16 Tafeln. Aby.
Don Juan Matienzo, Gobierno del Perü, obra escrita
en el siglo XVI. 219 8. Herausgegeben von José
Nicolas Matienzo. Buenos Aires 1910.
‘Von den ursprünglich vier Büchern der Handschrift
haben sich nur die ersten beiden erhalten, die jetzt das
Britische Museum in London unter Nr. 5469 besitzt. Matienzo
verfaßte sein Werk als Oidor de la audiencia de Charcas
jedenfalls noch vor dem Jahre 1573.
Obgleich das Werk die Politik der Spanier sehr beschönigt,
so ist es doch sowohl geschichtlich als auch kulturhistorisch
und ethnographisch in amerikanistischem Sinne wertvoll als
neues Quellenwerk über Peru.
Interessant sind die Angaben über die Chirrguanaes in
Buch II, Kap. 9, die als wilde Menschenfresser geschildert
werden, die Ortsangaben nebst Entfernungen in Buch II,
Kap. 15, die Nachrichten über die Provinzen Chuquito (II,
Kap. 14), Tucuman (II, Kap. 16), Paraguay (II, Kap. 17).
Wertvoll sind auch die Bemerkungen über Coca (Buch V,
Kap. 44—51). Dr. Walter Lehmann-München.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Eilerts de Haans Surinam-Expedition 1908. In
der Übersicht über das Forschungswerk der Holländer in
ihrer Kolonie Surinam, die van Manen im 95. Bande des
Globus (Nr. 7 und 8) gab, war zuletzt kurz der Expedition
des Marineleutnants J. G. W. J. Eilerts de Haan gedacht
worden, deren Zweck es war, das noch unbekannte Quellen-
gebiet des Surinamflusses aufzuhellen. Inzwischen hat Eilerts
de Haan in der „Tijdschr. Kon. Ned. Aaardrijksk. Genoot-
schap“, 1910, Nr. 3 und 4 einen Bericht über den Verlauf
jener Expedition veröffentlicht, dem u. a. eine große Karte
über das obere Stromgebiet des Surinam beigefügt ist. Wie
die meisten dieser holländischen Expeditionen, so mußte sich
auch diese darauf beschränken, die von Stromschnellen durch-
setzten Flüsse soweit als möglich im Boot aufwärts zu ver-
folgen und einige aus dem Urwaldmeer aufragende Kuppen
zu ersteigen, von wo Umschau gehalten werden konnte.
Indianersiedelungen hat auch diese Expedition nicht an-
getroffen.
Mitglieder waren der Marineleutnant R. H. Wijmans und
der Arzt J. H, A. T. Tresling, der auch das zoologische und
botanische Gebiet zu bearbeiten hatte. Mitte Juli 1908 stand
die Expedition an der Schwelle des Unbekannten, nämlich
in dem Buschnegerdorf Goddo, wo sich der Gran Rio und der
Pikien Rio zum Surinamfluß vereinigen. Zunächst wurde bis
Anfang August der Pikienfluß aufgenommen und unter 3° 30’
umgekehrt. Ferner unternahm de Haan allein einen Abstecher
nach dem schon von einer früheren Expedition gesichteten
Ananasberge. Hierauf wurde von Mitte August ab der Gran
Rio befahren und hier der fernste Punkt, etwa 3° 20’ nördl. Br.,
56° 15’ westl. L., Ende September erreicht. Auch vom Gran
Rio wurden Abstecher in den Urwald unternommen, so nach
dem Franssen Herderschee-Pik im Süden und nach einer
anderen, 820 m hohen Hügelgruppe im Westen. Die Peilungen
von diesen Gipfeln reichten weit nach Norden, Osten und
Süden und stellten die Verbindung mit den Messungen früherer
Expeditionen her. Auch wurde ein schon zum Korantin
gehender Fluß, „Lucie Rivier“, überschritten. Ende Oktober
wurde der Rückweg angetreten, am 11. November Goddo
und eine Woche später Paramaribo erreicht.
Es bleibt nun noch der äußerste Westen Surinams am
Korantin in gleicher Weise zu rekognoszieren. Damit ist wieder
Eilerts de Haan beauftragt worden, den diesmal der Marine-
leutnant C. C. Kayser und der Marinearzt J. Fr. Hulk begleiten.
Diese Expedition hat am 18. Juli d. J. Paramaribo verlassen.
— Eine Reise im nordöstlichen Labrador hat im
Sommer 1910 Professor Macmillan, ein Teilnehmer an der
letzten Pearyschen Nordpolfahrt, ausgeführt. Er begab sich
vom Davis Inlet (an der Ostküste von Labrador, 56° nördl. Br.)
zum George River, der in süd-nördlichem Laufe der Ungava-
bucht zufließt. Auf diesem Wege wurden drei unbekannte
Seen aufgefunden, deren größter der 40km lange Misternipi
ist. Macmillan kam Mit den Naskopie-Indianern in Berührung.
— Herderschees Mamberamo-Expedition. Daß es
der holländischen Expedition unter Franssen Herderschee in-
folge großer Verluste unter ihrer Begleitmannschaft nicht
gelungen ist, unter Benutzung des Mamberamo von Norden
her das zentrale Schneegebirge Neuguineas zu erreichen,
wurde bereits in der Notiz über Moszkowskis Mamberamo-
reise mitgeteilt (oben 8.195). Wir finden nun Auszüge aus
Herderschees Aufzeichnungen aus der Zeit vom 7. Februar
bis 4. April in Nr. 5 des laufenden Jahrgangs der „Tijdschrift
K. Nederl. Aardrijksk. Gen.“ abgedruckt, aus denen hervor-
geht, daß die Expedition den westlichen Quellarm des Mambe-
ramo doch ein recht ansehnliches Stück ins Innere hat ver-
folgen können und gerade dort hat umkehren müssen, wo
einem Landmarsch ins Schneegebirge keine sonderlichen
Schwierigkeiten mehr entgegenzustehen schienen. Herderschee
fuhr den Mamberamo aufwärts und fand, daß er sich etwa
unter 3° südl. Br. aus einem West- und einem Ostarm ver-
einigte. Der Ostarm ist möglicherweise mit dem bedeutenden
Flusse identisch, den die deutsch-niederländische Grenzexpedi-
tion fern im Osten, im Süden der Küstenketten angetroffen
hat (vgl. oben 8.227). Herderschee befuhr den im allgemeinen
südwest-nordöstlich verlaufenden Westarm und gelangte am
19. März bis zu einer Stelle, wo die vom Gebirge kommenden
Quellarme des Flusses sich zu vereinigen schienen, und deren
Lage auf 137° 29’ östl. L. und 3° 24’ südl. Br. bestimmt wurde.
Man war deshalb nur noch etwa 75km in gerader Linie von
Kleine Nachrichten.
der auf 5500 m Höhe geschätzten Carstensz-Spitze des zentralen
Schneegebirges entfernt. Man untersuchte nun bis Anfang
April die einzelnen Quellarme, sah sich aber infolge der
zahlreichen Todesfälle und Erkrankungen an Beri-Beri und
Malaria gezwungen, die Rückfahrt anzutreten. Vorher wurde
ein Hügel in den Vorbergen der Zentralkette bestiegen, doch
war die Carstensz-Spitze von da nicht sichtbar, da andere
Erhebungen sie verdeckten. Ende Mai langte die Expedition
wieder in Surabaja an. (Vgl. Karte 21 in dem erwähnten
Heft der Zeitschrift, wo der Mamberamo nach der Aufnahme
Herderschees skizziert ist.)
Ob die indische Kolonialregierung dem Vorschlage
Herderschees folgen und noch einen zweiten Versuch auf
dem Mamberamo machen lassen wird, ist bisher nicht bekannt.
Inzwischen hat uns ja Moszkowski mitgeteilt, daß er im
Begriff sei, sich vom Van Rees-Gebirge, also vom Mamberamo
her, dem Schneegebirge zuzuwenden.
— Zur Frage der Schiffsverbindung zwischen
Europa und Sibirien. Man erinnert sich, daß es im Jahre
1905 einer vom russischen Verkehrsministerium ausgerüsteten
Expedition von mehreren Dampfern und anderen Fahrzeugen
gelang, durch das Karische Meer bis zur Mündung des Jenissei
und diesen aufwärts bis Jenisseisk zu gelangen, und daß sich
hieran weitgehende Verkehrshoffnungen geknüpft haben. So
heißt es auch in dem offiziellen Regierungswerk über jene
Expedition, es sei wieder einmal die Ungefährlichkeit jenes
Weges und die Möglichkeit erwiesen worden, ihn in den Dienst
des Handelsverkehrs zu stellen. Eine Wiederholung scheint
jener Versuch aber nicht erfahren zu haben, und Alex. Si-
biriakoff legt in einem Artikel „Über die Fahrten der
Novgoroder durchs Karische Meer und über den Weg
durch die Halbinsel Jalmal zum Ob“ dar, daß der Weg
durch das Karische Meer trotz der Erfahrungen von 1905
doch zu viel Risiko biete. Daß das Karische Meer zeitweise
ohne besondere Mühe und Gefahr durchfahren werden könne,
habe man schon längst gewußt, aber auch, daß die guten
Erfahrungen eines Jahres nichts auf die Eisverhältnisse im
nächsten schließen ließen. Das hätten auch schon die alten
Novgoroder gewußt, die sich zwar manchmal durch das Ka-
rische Meer zum Tas begaben, dann aber, wenn dort viel
Eis vorhanden war, einen anderen Weg gewählt hätten: Sie
segelten bis zur Mündung der Mutnaja auf Jalmal, fuhren
diesen Fluß noch 6 bis 8 Tage stromauf, zogen dann ihre
Schiffe über die 400 m breite Landstrecke zwischen der Mut-
naja und dem Selenojesee und fuhren auf dem aus diesem
See herauskommenden Selenajafluß in den Obbusen und weiter
zum Tas. Sibiriakoff meint nun, man könne wohl versuchen,
ob jener Weg noch heute benutzbar sei, und gegebenenfalls
die Landenge durchstechen. Weiterhin könnte man den Tas-
busen und die bequem herzustellende Verbindung zwischen
den Flüssen Tas und Turuchan benutzen, um auch einer
Seefahrt zur Jenisseimündung enthoben zu sein. Im übrigen
ist Sibiriakoff der Ansicht, daß „als die besten und gefahr-
losesten Häfen für die äußeren Beziehungen Sibiriens mit
Europa die Petschoramündung und Archangelsk zu betrachten
sind“.
— Der englische Geograph T. W.Saunders ist, wie wir
einem ihm gewidmeten Nachruf im Septemberheft des „Geogr.
Journ.“ entnehmen, am 22. Juli 1910 in Newton Abbot, De-
vonshire, gestorben. Geboren war Saunders am 16. April
1821 in Plymouth. Er kam als ganz junger Mensch nach
London und eröffnete hier 1846 eine Kartenhandlung; 1851
gab er eine Wetterkarte der Britischen Inseln heraus, die er
täglich auf der großen Ausstellung im Hyde-Park aushing.
Später war er Leiter der geographischen Abteilung des Ed-
ward Stanfordschen Verlages und machte sich durch die
Herausgabe einer Reihe wissenschaftlicher und Schulkarten
verdient. 1868 wurde Saunders als Assistant Geographer to
the Indian Office bestellt, um die zahllosen Karten, Pläne
und Berichte dieses Amtes zu sichten und zu katalogisieren.
In dieser Stellung blieb er bis zum Jahre 1885, dann lebte
er im Ruhestand. Von Saunders’ Veröffentlichungen mögen
hier folgende besonders genannt werden: 1853 publizierte er
das Buch „The Asiatic Mediterranean and its Australian
Port“, in dem er für die Errichtung einer Ansiedelung am
Golf von Carpentaria durch die englische Regierung eintrat.
1870 veröffentlichte er eine „Sketch of the Mountains and
Rivers of India“, die damals und später viel Beachtung fand,
und deren Angaben zum Teil durch die spätere Forschung be-
stätigt wurden; auf sie geht die „Gangrikette“. 1878 erschien
der umfangreiche „Catalogue of Manuscript and Printed Re-
ports: Field Books, Memoirs, Maps, etc., of the Indian Sur-
vey“, 1881 eine „Introduction to the Survey of Western Pale-
stine“, die der Palestine Exploration Fund drucken ließ. Zwölf
kritische Karten Indiens, die er mit Hilfe von Clements
Markham entworfen hatte, erläuterten den „Decennial Report“
von 1882/83 und erschienen 1885 selbständig als Atlas.
— Eine Übersichtskarteder Hauptsprachfamilien
in Afrika (Maßstab 1:35000000) nebst einem kurzen Be-
gleittext hat Bernhard Struck in Form eines besonderen
Heftes veröffentlicht. Auf dem Gebiet der afrikanischen
Sprachforschung, die ja auch der Ethnographie gute Dienste
geleistet hat, ist in neuerer Zeit manches geschehen, und so ist
der hier gebotene Ersatz für Ravensteins vielfach veraltete
Sprachenkarte von 1883 gewiß willkommen. Auf Einzelheiten
und Schlüsse, die zum Teil recht interessant sind, kann hier
nicht eingegangen werden; es sei nur bemerkt, daß auf dieser
Karte auch die Verbreitung der Pidginsprachen zum ersten
Male darzustellen versucht ist. Zu ihnen rechnet der Verfasser
auch das Haussa. Ihrer Existenz nach weniger allgemein
bekannt, als etwa das Negerenglisch des Westens, das Ban-
gala des Zentrums und das Suaheli des Ostens, sind von
diesen Sprachen das Isikula im Südosten, das weit von Westen
her ins Innere greifende Negerportugiesisch und das Neger-
französisch oder Kreolisch der Maskarenen. Erwähnt sei
dann noch die Berechnung der Zahl der heutigen afrikanischen
Sprachen und Dialekte. Zum Semitischen rechnet Struck
10 Sprachen und 12 Dialekte; für die hamitische Sprachfamilie
sind die Zahlen 47 und 71, für das Bantu 182 und 119, für
die Sudansprachfamilie 264 und 114, für die Buschmannfamilie
11 und 3.
— L. Siegert schlägt in seiner Arbeit zur Kritik des
Interglazialbegriffs (Jahrb. d. Kgl. preuß. Geol. Landesanst.
1909, Bd. 29, I. Teil) vor, den Begriff „Interglazial“ zu
dem Umfange zu erweitern, welchen man mit Intermoränal
bezeichnet. Unter Interglazial würden demnach alle Ab-
lagerungen zu verstehen sein, die nicht unmittelbar dem
Eise ihre Entstehung verdanken, sondern geologischen Pro-
zessen, die sich in eisfreiem Gebiet zwischen einer Rückzugs-
und einer Invasionsperiode abspielten. Als Glazial würden
dagegen alle Ablagerungen zu bezeichnen sein, die unmittel-
bar dem Eis ihre Entstehung verdanken, also Grundmoränen
und Schmelzwasserabsätze. Diese Definition für Interglazial
läßt sich natürlich auch sinngemäß auf prä- und postglaziale
Ablagerungen übertragen. Die Interglazialablagerungen glie-
dern sich wieder in ein unteres (kaltes) Interglazial, ein
mittleres (warmes) und oberes (kaltes), von denen das mittlere
Interglazial der jetzt üblichen engeren Definition für Inter-
glazial entspricht. Die unteren und oberen Interglazial-
ablagerungen werden dagegen jetzt vielfach als Ablagerungen
vor dem Eisrand usw. bezeichnet. Ist später einmal die
Kenntnis der diluvialen Fauna weiter vorgeschritten, dann
wird man auch die hier vorgeschlagenen Namen verlassen
und faunistische Benennungen für die einzelnen Interglazial-
stufen einführen können, wie dies für die postglazialen ja
bereits üblich ist.
— Mitteilungen über die Gewitterfrequenz in der
Schweiz gibt J. Maurer in der Zeitschrift für Balneologie,
3. Jahrg., 1910. Das Land besitzt vier ausgesprochene Ge-
witterstraßen, von denen die eine über den Jura, die zweite
durch die Mitte des Mittellandes, die dritte dem Ostrande
des Mittellandes und dem Westrande des Voralpenrandes
und die vierte, allerdings weit schwächer besuchte, die Hoch-
alpen entlang führt. Im einzelnen weist die Jurakette vor-
nehmlich drei ausgesprochene dichte Maxima auf. Am Züricher
Obersee und dessen Umgebung liegt das zweite Dichtemaximum
der ganzen Schweiz. Im ganzen ergibt sich, daß alle Gebiete
mit solchen Dichtemaxima sich durch ihren Wasserreichtum
auszeichnen, der entweder durch Seen und Sümpfe oder die
durchfließenden Flüsse geschaffen wird. Dagegen stehen die
Dichtemaxima der Endpunkte der Gewitterzüge vor kleineren
und größeren Bodenerhebungen still, die den Gewitterzügen
hemmend im Wege stehen. Es gibt eben eine Klasse sehr
tiefgehender Gewitter, die gewissermaßen nur dem Boden
nachziehen und nicht imstande sind, querstehende Boden-
erhebungen zu überschreiten; es sind Tiefgewitter im wahren
Sinne des Wortes. Wahrscheinlich begünstigen ausgedehnte
Moorgebiete durch die Speisung der Luft mit Wasserdampf
die Gewitterbildung, wie denn auch große Hagelfrequenz mit
ausgedehnten Moorbezirken zusammenzufallen pflegt; diese
begünstigen sicher Hagelschlag.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schüneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- und VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr.16.
_ BRAUNSCHWEIG.
27. Oktober 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Die Insel Timor.
Wenn man nicht nur durch Schrift und Wort mit
dem herrlichen Reiche von Insulinde, das sich, wie ein
niederländischer Schriftsteller sagt, „um den Erdgleicher
schlingt wie ein Geschmeide von Smaragden“, bekannt
geworden ist, sondern auch die meisten von jenen malai-
ischen Eilanden, auf welchen die Pflanzenwelt eine Fülle
und Üppigkeit wie nur in wenigen Winkeln der Welt
entfaltet, mit eigenen Augen gesehen hat, dann blickt
man mit nicht geringer Verwunderung auf die Wüsten-
insel Timor, zumal wenn man sich von den in ewigem
Grün gekleideten Inseln Bali und Lombok oder aus dem
großen, blühenden Garten, der Java geheißen, kommend,
zur Zeit unseres Sommers deren Gestaden nähert. Die
Insel Timor liegt zwischen 8040’ und 10940’ südl. Br.
und 123° 30’ und 127° östl. L. Wie sie schon ihrer
Lage nach aus der Südostasien in weitem Bogen um-
ziehenden gewaltigen vulkanischen Bruchzone, die über
Sumatra, Java, die Kleinen Sundainseln sowie durch die
Molukken und über die japanischen Inseln verläuft, um
erst in dem nordischen Eise in den Aleuten und Kurilen
zu endigen, herausgerückt erscheint, so weicht sie auch
in ihrem ganzen Aufbau von den meisten malaiischen
Eilanden gänzlich ab. Man sucht auf Timor vergebens
nach den grandiosen Vulkankegeln, die bis zu ansehn-
licher Höhe, ja selbst bis an ihre Gipfel mit üppigem
Pflanzenwuchs bedeckt erscheinen. Dort findet man
nicht die Piks und die schönen Bergkuppen, wie man
ihnen auf den anderen Sundainseln, wo sie mitunter ein
ganzes Labyrinth von steilen Bergen formen, begegnet;
anstatt dessen ziehen sich auf Timor parallele Bergketten
über die ganze Insel hin, wovon die niedrigsten auch
seitlich bis zur Küste reichen. Ebenen, selbst von
mäßigem Umfange, und breite Täler fehlen auf ihr, und
wenn man auf die zahllosen, durch Erosion gänzlich um-
gestalteten, dabei teilweise senkrecht abfallenden, turm-
und zinnenförmigen Felsenmassen in ihrem Innern hin-
blickt, dann könnte man schier glauben, riesenhafte, in
Trümmern liegende Ritterburgen in unabsehbarer Reihen-
folge vor sich zu sehen. So zeigt sich dieses malaiische
Eiland dem Auge des Beschauers sowohl vom Meere, als
auch von einer hochliegenden Stelle in seinem Innern
aus gesehen, und dabei ist es mit einem Flächeninhalt
von 32617 qkm die größte der Kleinen Sundainseln.
Seine Haupterstreckung ist von Südwesten nach Nord-
osten gerichtet, in jener Richtung im Kap Usina, in dieser
im Kap Pakula endigend. Die Insel besitzt eine läng-
liche, zugespitzte Form und zeigt nach Norden hin, ab-
gesehen von einigen Buchten von nicht besonders großem
Umfange, eine mehr ausgebauchte Gestalt. Nach Süden
Globug XCVIII. Nr. 16.
hin erscheint die Küste in Wirklichkeit viel mehr
landeinwärts gekrümmt, als auf den geographischen
Karten zu sehen ist. Infolgedessen ist nach den Berech-
nungen des Kapitäns der holländischen Siboga-Expe-
dition die Insel etwa 4140 qkm kleiner, als man früher
annahm. A
Nachdem die Portugiesen schon im Jahre 1520 von
Pulu Timor, was im Malaiischen soviel wie die „Ostinsel“
bedeutet, Besitz ergriffen hatten, nistete sich die Nieder-
ländisch-Ostindische Kompagnie seit 1613 immer mehr
auf ihr ein, und es hat dieses nach vielfachen Reibe-
reien schließlich dahin geführt, daß in dem Traktat von
Lissabon vom Jahre 1854 die portugiesisch-holländische
Grenze in der Weise festgesetzt wurde, daß sie sich im
Norden mit der zwischen den kleinen Staaten Djenilu
(Silawang) und Kowa und im Süden mit der zwischen
Lakekun und Suhai deckt. Eine Grenzregulierungs-
kommission änderte dann 1898 und 1899 noch dadurch
die Besitzgrenzen, daß die Enklaven in dem holländischen
und in dem portugiesischen Gebiete gegenseitig ausge-
tauscht wurden, so daß die Niederlande heute den größeren
westlichen Teil der Insel und die Portugiesen ihren öst-
lichen Teil innehaben. Hier ist Dilly oder Deli, wie sich
meistens auf den Karten angegeben findet, die Regierungs-
hauptstadt, dort Kupang. Dieser Ort, unansehnlich und
ungesund, liegt an einer ziemlich weiten Bai und ist
durch einen kleinen Fluß in zwei Teile geteilt. In
nautischer Hinsicht liegt Kupang ungünstig, so daß die
holländische Kohlenstation hinter die kleine Insel Alor
(Reede von Hansisi) verlegt werden mußte. Im nord-
östlichen Teile ist die Bai so flach, daß hier die Ein-
geborenen Salzgärten zur Gewinnung von Kochsalz aus
dem Seewasser anlegen konnten. Weiter nach Osten
liegt der Hafenort Pariti, welcher der Sitz eines hol-
ländischen Regierungsbeamten ist, und noch weiter die
Bai von Barate. Hierauf, in ziemlich gerader Linie
nach Nordosten verlaufend, biegt sich die Küste erst bei
Kap Batu Putih (d. i. dem Kap der weißen Steine)
wieder ein und bildet dann die an Klippen reiche Bai
von Atapupu. Von hier sich in mehr östlicher Richtung
fortsetzend, bildet die Küste verschiedene Buchten, von
welchen die von Dilly, die einen sehr guten Ankerplatz
bietet, die wichtigste ist. In etwa 37,5km Entfernung
von ihr liegt, ebenfalls als portugiesischer Besitz, die
Ziegeninsel oder Pulu Kambing, ein kleines hügeliges
Eiland mit steilen Küsten, wie solche auch die Insel Timor
in ihrem Norden besitzt. Der östlichste Punkt von Timor
wird durch den Noord-Oostpunt der holländischen See-
karten und das kleine Eiland Nusa Besi (d. i. Eiseninsel)
32
246 Carthaus:
gebildet. Die zum Teil flache Südküste wird westlich
von Nenometan steil und felsig und zeigt hier, abge-
sehen von der Bai von Noi Mina, auch keine nennens-
werte Einbuchtungen. `
Was die Bodenform von Timor angeht, so ist es nicht,
wie die geographischen Karten zeigen, ein hoher Gebirgs-
grat, welcher die Insel durchzieht, sondern es sind mehrere
parallele Gebirgsketten, denen nach der Küste hin niedrige
Berg- und Hügelketten vorgelagert sind. Im westlichen,
holländischen Teile von Timor steigt das Gebirge nur bis
zu etwa 1700m an, im portugiesischen aber bis zu
2000m. Als größte Bodenerhebungen sind im Westen
zu nennen der 1580m hohe Lakan in der Landschaft
Fialaran, ferner der Miamaffo, der Mutis, der Kauniki
und der Mollo, alle ungefähr 1700m hoch. Der Bulu
Hulu an der portugiesischen Grenze erreicht eine Höhe
von 1039m und der Pik von Solamu nur eine solche
von etwa 600m. Im Osten der Insel liegen der Lakus
und der Leo Hitu in der Landschaft Lomak Hitu, beide
ungefähr 2000m hoch; ferner der Taroman (1747 m)
und der Foho Mesak (1448 m) in der Landschaft Koba
Lima.
Die Eingeborenen unterscheiden auf Timor zwei Arten
von Bergformen, die Fatus (malaiisch batu — Stein) und
die Netens. Jene, zumeist in grauen oder rötlichen
Farben spielend, bilden turm- und zinnenförmige Fels-
massen, zerrissen durch oft tief eingeschnittene und teil-
weise breite Pässe, dabei umgeben von Trümmerfeldern,
die zum Teil aus gewaltigen Felsblöcken bestehen. Die
Netens, welche in ihren Gesteinsmassen durch Eisen-
verbindungen mehr gelb oder gelbbraun gefärbt er-
scheinen, bilden nicht so steile und mehr abgerundete
Formen, steigen aber ebenfalls zuweilen zu bedeutender
Höhe an. Sie sind mit Gras und Krüppelholz bewachsen,
so daß bei ihnen das nackte Gestein bei weitem nicht in
dem Maße hervortritt, wie bei den Fatus, die auf ihren
Gipfeln kein Baum schmückt und an ihren Wänden keine
einzige Pflanze, so daß sie mit ihren grotesken Formen
Landschaftsbilder von trostloser Starrheit, die nur durch
das Ungewohnte das Auge des Beschauers eine Zeitlang
fesseln, hervorrufen. Ihr Anblick erinnert an gewisse
Felspartien an den Küsten des Roten Meeres bei Aden
und an der Sinai-Halbinsel.
Bevor ich hier einiges über die geologischen Ver-
hältnisse von Timor sage, möchte ich eines fast ver-
gessenen deutschen Mannes rühmend gedenken, der, leider
nur ein Autodidakt auf dem Gebiete der Geologie, ein
außerordentliches Interesse an der Erforschung des Malai-
ischen Archipels bekundet und auch über Timor ge-
schrieben hat, nämlich des praktischen Arztes Dr. Schneider,
von dem sich namentlich in österreichischen Zeitschriften
Veröffentlichungen finden. Ferner haben sich um die geo-
logische Erforschung Timors verdient gemacht: Schwaner,
Martin, Wichmann, Beyrich, Verbeck und einige andere).
Wiewohl namentlich das Innere der Insel noch wenig
erforscht ist, so wissen wir doch, daß an ihrem Aufbau,
wenn auch nicht in großem Umfange zutage tretend,
einige sehr alte Gesteinsarten wie Serpentin und kri-
stallinischer Schiefer teilnehmen, daneben Peridotit,
schieferiger Hornblende-Gabbro, Diabas und Melaphyr.
Diese Gesteine werden hauptsächlich im Westen des Ei-
landes, in den Landschaften Kupang, Atapupu, Djenilu,
Fialaran, Lamaknen und Takai, gefunden. Von nutz-
baren Mineralien im Bereiche dieser Gesteine nenne ich
neben Gold und Chromeisenstein als eines, das wohl
1) Nach neueren niederländisch -indischen Zeitungs-
nachrichten werden sich Prof. Dr. Molengraaf und Berg-
ingenieur Weckherlin de Marez Oyens demnächst zwecks
geologischer Untersuchungen nach Timor begeben.
Die Insel Timor.
Aussicht auf eine rentierende bergmännische Aus-
beutung bietet, den Asbest, der mit Serpentin zu-
sammen z..B. am Südfuße des Berges Maimaffo in
Adern und Schnüren vorkommt. Unter den jüngeren
Eruptivgesteinen, die nach Martin vor der Miozänperiode
zum Ausbruch kamen, ist Basalt zu nennen. Von paläo-
zoischen Schichtengesteinen kommt Kohlenkalk vor;
ebenso ist die Triasformation vertreten und vielleicht
auch die Kreide. Eine nicht unbedeutende Rolle scheinen
altmiozäne Ablagerungen bei dem Aufbau des Gebirges
von Timor zu spielen. Beachtenswert ist es, daß der
jüngere Korallenkalk in den der Küste genäherten Ge-
bieten teilweise bis zu beträchtlicher Höhe aufge-
hoben erscheint, an der Bai von Kupang z. B. bis zu
460 m.
Als eineirrtümliche Angabe muß es bezeichnet werden,
wenn man so vielfach in geographischen Werken und
Reisebeschreibungen liest, daß Timor keine Vulkane be-
sitze. Fand doch auf der mitunter selbst von heftigen
Erdbeben heimgesuchten Insel, und zwar in ihrem Westen,
im Dezember 1856 noch ein Ausbruch des Feuerberges
Dun Bano und im April des darauffolgenden Jahres
auch eine Eruption auf portugiesischem Gebiete statt,
am Vulkane Bibiluto. Freilich sind die alten Berichte
von Aragon und Hoff über den Vulkanismus auf der
Insel übertrieben, da diese selbst von Lavamassen an der
Küste sprechen.
Bezüglich der hydrographischen Verhältnisse von
Timor ist leicht einzusehen, daß sich bei der eigentüm-
lichen Konfiguration des Bodens, bei seinem Reichtum
an Kalkgesteinen und vor allem bei der Regenarmut
der Insel während der einen Hälfte des Jahres keine
größeren Flüsse bilden konnten, und das umsoweniger,
als die aus dem gebirgigen Innern des Eilandes kommenden
Wasserläufe ohne große Umwege dem Meere zueilen.
Während der Regenzeit oft zu reißenden Strömen an-
schwellend, trocknen die meisten Flüsse auf Timor
während des trocknen Ostmonsuns geradezu ein, nur hier
und da kleine Wassergerinne und Tümpel hinterlassend.
Für den Transport kommen die Flüsse auf der Insel
überhaupt nicht in Betracht. An der Nordküste sind
der Tramanu und Bebai die größten Flußläufe, und an
der Südküste begegnet man, von Westen nach Osten
fortschreitend, dem Noi Mina, dem Noi Benoin, dem
Noi Buti, dem Bebulu (Mota) Massi und an der Grenze
von Holländisch- und Portugiesisch-Timor dem Suhai
und dem Tafara-Flusse.
Was nun das Klima der Insel betrifft, so fällt die
trockene Jahreszeit in die Monate Mai bis November. In
dieser Zeit kommt auf Timor sozusagen kein Tropfen
Regen zur Erde; der Boden ist dann wie versengt, und
die Bergabhänge erscheinen kahl und verbrannt. Selbst
die Eucalyptusbäume stehen mit ihren weißen Stämmen
kahl und blätterlos da. In dieser Zeit steigt das Thermo-
meter im Schatten bis auf 34° ja 360C. Im Beginne des
Ostmonsuns sind die Nächte noch etwas abgekühlt, später
aber ist es bei Tag und bei Nacht gleich heiß, und das
macht sich um so mehr fühlbar, als dann der Südostwind,
der anfänglich in der trockenen Jahreszeit stark weht
— übrigens als fiebererzeugend gilt — fast in Wind-
stille übergeht. Verlangend sieht man daher der Regen-
zeit, die mit schweren Gewittern und Platzregen einzu-
setzen pflegt und die Natur wie umgewandelt erscheinen
läßt, entgegen. Die scheinbar unbedeutenden Bäche
werden zu Strömen, die Bergabhänge schmücken sich
mit in üppigem Grün prangendem Savannengrase, mit
Blumen und Sträuchern, und bei einer beträcht-
lichen Abkühlung der Luft atmen die Menschen wie-
der auf.
Carthaus:
Die Insel Timor.
247
In der Hauptstadt Timors, in Kupang, ist während
des Ostmonsuns die mittlere Temperatur morgens früh
24,5°C, um 12 Uhr 330C (steigend bis 35°C im
Schatten und 51,5°C in der Sonne) und bei Sonnen-
untergang 30°C. Dagegen beträgt die Wärme in der
Regenzeit morgens früh 22,5°C, mittags 31°C und bei
Sonnenuntergang 27°C. Was dieser scheinbar nicht so
große Wärmeunterschied zu bedeuten hat, weiß am
besten der, der die Hitze der Tropen nach allen Seiten
hin kennen gelernt hat.
Wenn nun bei diesem Klima so viele Beamte, Missionare
und Naturforscher nach kurzem Aufenthalte auf Timor
durch Tropenkrankheiten dahingerafft wurden, so ist
dieses mehr dem \Wohnen in den Küstenorten Kupang,
Dilly und Atapupu zuzuschreiben, wo Korallenriffe zur
Zeit der Ebbe eine wahrhaft mephitische Luft erzeugen,
und daneben auch dem bis heute fühlbaren Mangel an
gutem Trinkwasser. In seinem Innern kann Timor nicht
so ungesund sein; dort aber wurden die reisenden
Europäer meistens durch Entbehrungen erschöpft. Was
die Eingeborenen, deren Zahl wohl kaum eine halbe
Million erreicht, hier mehr als das Klima dezimiert, das
sind oder waren die ewigen Fehden unter den lächerlich
kleinen Staaten der Insel. Sicher fühlen sich. die farbigen
Menschen dort eigentlich nur in ihren Felsennestern an
den genannten Fatus, an deren steilen Gehängen man
ihre kleinen Siedelungen wie angeklebt sieht.
Obgleich ein während der Hälfte des Jahres durch-
aus trockenes Klima wie das von Timor eine Waldvege-
tation nur schwer aufkommen läßt, und von einem fast
undurchdringlichen Urwalde, wie z. B. auf Sumatra, nicht
die Rede sein kann, so glaube ich doch aus Gründen, die
hier auseinanderzusetzen zu weit führen würde, wohl an-
nehmen zu können, daß die Ausdehnung des bewaldeten
Gebietes auf der Insel vordem entschieden größer war,
und daß dieses schon seit dem Hinduzeitalter des Archipels,
u. a. auch durch anhaltende Ausbeutung der Sandelholz-
bestände, immer mehr eingeengt wurde. Heute findet
man nur noch hier und da im Gebirge größere Wälder
mit echt tropischen Baumformen, die in ihrem Charakter
manches mit der malaiischen Flora, manches aber auch
mit der australischen gemein haben. Als charakteristische
Typen der australischen Flora sind die häufig mit Black-
wellia tomentosa vergesellten Eucalyptus- (besonders
Eucalyptus alba) und Casuarina - Bäume hervorzuheben,
welche, nicht so dicht zusammenstehend wie die malai-
ischen Waldbäume und dazu eine nur geringe Laubent-
faltung zeigend, die Wälder von Timor nur wenig schatten-
reich und weniger in sich geschlossen erscheinen lassen.
Allerdings fehlt es nicht ganz an den prächtigen malai-
ischen Baumgestalten mit einem weitausgebreiteten,
schattigen Blätterdach, wie z. B. den indischen Ficus-
Arten, im Indischen Archipel unter dem Namen der Wa-
ringins so wohlbekannt; allein sie sind verhältnismäßig
selten. Entschieden häufiger sind dagegen die blattarmen
und vielfach dornenreichen Pflanzen, wie man ihnen auf
dem trockenen Kalkboden der Sundainseln ebenfalls be-
gegnet, z. B. Acacia- und Zizyphus-Arten, Capparideen
usw. Farne und Orchideen fehlen auf Timor fast gänzlich.
Fast völlig übereinstimmend mit der malaiischen zeigt
sich, wie auch nicht anders zu erwarten, die Strandflora
mit ihren Rhizophorenwäldern, worin Rhizophora-, Bru-
guiera- und Sonneratia-Arten eine große Rolle spielen,
außerdem aber auch Aegiceras-, Acanthus-, Rottlera-,
Pongamia- und andere Arten vertreten sind. Dazu kommen
auch krautartige Pflanzen aus den Familien der Convol-
vulaceen, Malvaceen usw. Unter den Palmen ist natürlich
die Kokospalme vorhanden; typisch für Timor sind aber
die Gebangpalme (Corypha gebanga) und die so nützliche
Lontarpalme (Borassus flabelliformis). Neben ihnen ver-
dient auch noch die Zuckerpalme, Arenga saccharifera,
Erwähnung. Außer Savannengräsern (Imperatum- und
Saccharum-Arten) sieht man auch zuweilen Bambus-
wäldchen die Höhen weithin bedecken. Der am meisten
typische Baum für Timor ist zweifelsohne der Sandelholz-
baum (Santalus alba), welcher in der Landschaft Manu-
bang seine größte Höhe bei einem Umfange des Stammes
von 4 bis 5m erreicht. (Ich sah von dort eine aus einem
Stück bestehende Tischplatte von 2 m Durchmesser.)
Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß in der Hindu-
zeit des Archipels eine künstliche Verpflanzung des
Sandelholzbaumes wie auch der Lontarpalme aus dem
kontinentalen Indien (vielleicht durch Vermittelung von
Java) nach Timor stattgefunden hat. Jedenfalls aber hat
diese Insel im Laufe von mehreren Jahrhunderten sehr
große Mengen von dem so geschätzten Sandelholze an
China und Europa abgegeben, und dadurch ist der Be-
stand an diesen schmucken Bäumen auf ihr außerordentlich
zusammengeschmolzen.. Während im Jahre 1849 die
Ausfuhr von Sandelholz noch auf 6000 Pikul (1 Pikul
—60,5 kg) geschätzt wurde, hatte sie sich im Jahre
1861 schon bis zu 1219 Pikul verringert. Das Einsammeln
dieses kostbaren Holzes gehört auf Timor zu den Rega-
lien der Fürsten, die zum Teil altjavanische Titel führen
(Datu, Tumengong).
Eigentümlich ist es nun, daß, während im Ostmonsun
in der Küstenregion eine derartige Trockenheit herrscht,
daß die Eingeborenen gezwungen sind, mit ihrem Vieh
dem Gebirge zuzuziehen, damit es nicht verhungere, man
in diesem sogar im August noch Täler antrifft, die im
frischen Grün prangen. Es ist das nur dadurch zu erklären,
daß im Berglande während der trockenen Jahreszeit nachts
ein sehr starker Tau fällt. Auch läßt sich nicht leugnen,
daß die Insel trotz der zeitweiligen großen Dürre viele
recht fruchtbare Landstriche besitzt, in welchen neben
dem Mais, dem Hauptnahrungsmittel der dunkeln Bevölke-
rung, auch Hirse und besonders Weizen, der namentlich
in dem portugiesischen Teile ausgezeichnet gedeiht, häufiger
angebaut wird. Erdfrüchte und Gemüse wachsen stellen-
weise sehr gut, und selbst der Weinstock, auf dessen
Kultur jedoch auf holländischem Boden kein Wert gelegt
wird, liefert recht gute Erträge, ebenso auch verschiedene,
mehr tropische Fruchtbäume. Tabak wird von den Ein-
geborenen nur für den eigenen Bedarf gezogen, hingegen
haben die Portugiesen auf ihrem Gebiete nicht ohne Er-
folg die Kaffeekultur eingeführt, und zwar als eine Art
Zwangskultur, ohne indessen die Eingeborenen dabei so
rücksichtslos auszubeuten, wie es die Holländer jahrzehnte-
lang auf Grund des so berüchtigt gewordenen „Cultur-
stelsel“ getan haben.
Die Fauna von Timor schließt neben australischen
bzw. papuanischen viele indische Elemente in sich ein.
Außer der seltenen Wildkatzenart Felis megalotis S. Müll.
sind auf der Insel nur vier Säugetierarten heimisch, und
zwar ein Beuteltier, der Kuskus, ein Palmenmarder, eine
Spitzmaus sowie ein Schwein. Aller Wahrscheinlichkeit
nach eingeführt ist der kleine graue Java-Affe, Cercopi-
thecus cynomolgus, sowie auch eine kleine Hirschform,
wohl zu Cervus equinus zu rechnen. Auch die Vogelwelt
von Timor ist mit allerdings über 100 Arten für die
Sundainseln arm zu nennen, und dasselbe gilt von der
Insektenfauna, welche zwar verschiedene schöne und
seltsame Formen in sich schließt, jedoch, wie das bei
einem zeitweilig so trockenen Klima nicht anders zu er-
warten ist, nicht nur arm an Arten, sondern auch an
Individuen ist. Unter den Haustieren der Eingeborenen
sind in erster Linie die Pferde zu erwähnen. Fast jeder
Timorese besitzt ein solches, das bei dem Fehlen von be-
32*
248 Carthaus:
Die Insel Timor.
fahrbaren Straßen auch als Lasttier Dienste tut. In dem
portugiesischen Teile der Insel ist die Regierung sehr
auf die Hebung der Pferdezucht bedacht, nicht so die
holländische, obgleich auch aus ihrem Gebiete Pferde
über See ausgeführt werden. Von Haustieren sind ferner
die sehr schweren und kräftigen Büffel zu erwähnen, da-
zu auch Schweine, Ziegen und Hühner. Das Meer um
Timor herum ist reich an Fischen.
Hinsichtlich der Bevölkerung, welche neben einigen
hundert Europäern und vielleicht 2000 Chinesen nach
den besten Schätzungen, wie schon erwähnt, aus unge-
fähr einer halben Million Eingeborenen besteht, will ich
nur bemerken, daß die letzteren zwei Volksstämmen an-
gehören, von denen der eine, die eigentlichen Timoresen,
den südwestlichen, der andere aber, die Belonesen, den
mittleren und östlichen Teil der Insel bewohnen. Die
zuletzt genannten Inselregionen bildeten vordem die Reiche
Sonnebait und Waiwiku Wahale, von denen das erste
in sich zerfallen ist, obgleich seine Fürsten noch immer
den stolzen Titel Keser, d. i. Kaiser führen. Es ist nicht
schwer zu erkennen, daß die Belonesen eigentlich zur
Papuarasse gehören, wogegen in den Timoresen viel
Malaienblut fließt. Im holländischen Teile der Insel stehen
die im ganzen sehr unreinlichen farbigen Bewohner noch
auf einer sehr niedrigen Bildungsstufe, da es nur in dem
kleinen Gouvernementsgebiete einzelne Schulen gibt und
die katholischen Missionen in Atapupu und Lahuras so-
wie auch die evangelische Missionsschule nur eine sehr
beschränkte Tätigkeit entfalten können. Entschieden
besser steht es in Portugiesisch- Timor mit der Volks-
bildung, wozu die katholischen Missionen nicht wenig
beigetragen haben. Bis vor einigen Jahren taten die
kleinen Fürsten auf Timor, deren Zahl eigentlich Legion
ist, im ganzen noch, was sie wollten, und besonders die
holländische Regierung kümmerte sich nur wenig um sie.
Nunmehr hat diese es wenigstens unter den erschlafften
Eingeborenen soweit gebracht, daß sie als Oberherrin an-
erkannt wird, und demnächst will sie sogar von ihnen
Steuern einziehen, obgleich von den braunen Leuten wenig
zu holen sein wird.
In.ethnographischer Hinsicht ist über die Eingeborenen
hauptsächlich folgendes zu bemerken: Das religiöse
Denken der Timoresen erstreckt sich abgesehen von ge-
wissen Formen des Phallusdienstes auf die Verehrung der
Nitus, der Wald- und Berggeister, zu denen auch die Seelen
der Abgestorbenen fahren. Die Orte, wo sie hausen, gelten
als heilig und unschändbar (Lulik, Pomali); es werden
dort durch eigene Priester (Tobor und Aote Nahu) Opfer
gebracht. Bei den Belonesen besitzen die Fürsten als
Radja Pomali oft priesterliche Würde. Weissagen aus
den Eingeweiden von Hunden, Hühnern usw. ist sehr in
Gebrauch. — Die meisten Christen findet man auf portu-
giesischem Gebiete.
Niemals endende Fehden, Unsicherheit des Besitzes,
Sklaverei, Menschenraub verbunden mit Sklavenhandel,
daneben auch die sogenannten Kopfjagden („Sneltochten“,
wie die Holländer sie nennen), veranstaltet, um frisch
abgeschnittene Menschenköpfe zu abergläubischen Zwecken
zu gewinnen, ließen bis jetzt die Eingeborenen auf Timor
gar nicht zur Ruhe kommen. Meistens nur in kleinen
Ansiedelungen zusammenwohnend, suchen sie, wie gesagt,
vielfach Schutz in den von der Natur gebildeten Felsen-
nestern an den oben besprochenen Fatus und in dem
Gewirr ihrer Felstrümmer. Die kleinen Wohnungen der
Eingeborenen ruhen auf vier Pfählen. Die runde Form
ist noch vorherrschend, bei einem weit überragenden
Dache und niedrigen Seitenwänden. Bei allen Eingeborenen,
Frauen so gut wie Männern, ist heute noch das Tätowieren
in Gebrauch, ja, es erstreckt sich dieses soweit, daß jede
Familie samt den in ihrem Besitz befindlichen Pferden
durch Tätowierungszeichen ihre Zusammengehörigkeit
verrät.
Die Verwaltung des holländischen Gebietes von Timor
liegt in den Händen eines in Kupang wohnenden Resi-
denten, dem zugleich auch die benachbarten kleinen Sunda-
inseln untergeordnet sind. Von europäischen Beamten
sind ihm einige Kontrolleure und sogenannte Posthalter
(Posthouder) unterstellt; im übrigen liegt die Verwaltung
noch in den Händen der zahlreichen farbigen Duodez-
fürsten. Für das portugiesische Gebiet ist in Dilly (Deli),
das mit seinem Fort, seinen Kasernen und anderen in
europäischem Stile errichteten Gebäuden, worunter auch
ein Nonnenkloster, einen bei weitem besseren Eindruck
als Kupang macht, ein Gouverneur angestellt, dem im
Innern der Insel wohnende europäische Beamte mit mili-
tärischen Titeln zur Seite stehen. Es läßt sich nicht
leugnen, daß im großen und ganzen die Verhältnisse in
dem portugiesischen Timor mehr geordnet erscheinen
als in dem holländischen Gebiete, wenngleich sie auch
dort sehr viel zu wünschen übrig lassen, wobei indessen
wegen der geringen Finanzkraft von Portugal manches
zu entschuldigen ist.
So trostlos es zurzeit auch mit Timor und seinen
Bewohnern, mehr noch im Westen der Insel als in ihrem
Osten, bestellt ist, so glaube ich dennoch sagen zu können,
daß es mit Land und Leuten dort viel besser stehen wird,
wenn das trotz seines teilweise sehr trockenen Klimas
nicht unfruchtbare Eiland einmal längere Zeit unter die
Herrschaft eines Staates gekommen sein wird, der finan-
ziell stark genug und auch dazu bereit ist, zunächst die
nötigen Millionen für dieHebung der Insel und ihrer Be-
wohner hinzugeben. Dazu würde in erster Linie ein
weitgehender Schutz des Waldes und eine Wiederauf-
forstung desselben mit passenden und nützlichen Forst-
bäumen, z. B. dem Sandelholz-, dem Kussambi- (Schleichera
trijuba) und vielleicht dem Teakbaume, gehören, sodann
neben der Weizenkultur auch die Einführung nützlicher
Kulturpflanzen, wie des Weinstocks und der Baumwolle.
Vor allem hätte man auch sein Augenmerk auf die etwaigen
Mineralreichtümer der Insel zu richten, was womöglich
zu ungeahnten Erfolgen führen würde. Es ist schon
viel darüber gestritten worden, ob der Boden Timors
nicht große Mengen von Kupfererzen in sich schließt,
und es dünkt mich nicht unwahrscheinlich, daß diese
Insel einmal ein gar nicht gering zu schätzender Lieferant
von dem roten Metalle für den Weltmarkt wird. Wer
weiß auch, ob nicht der östliche Teil der Insel, aus welchem
schon jetzt eine englische Aktiengesellschaft Petroleum
ausführt, einmal durch seine Petroleumindustrie mehr
Bedeutung erlangen wird? In früheren Jahren hat auch
die Perlenfischerei an der Küste von Timor eine reiche
Ausbeute geliefert, und das würde vielleicht auch später
wieder der Fall sein, wenn an dieser eine Flagge wehte,
vor der namentlich auch die australischen Perlenfischer
mehr Respekt haben als vor der niederländischen.
Dr. Emil Carthaus.
Baglioni:
Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
249
Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
Analytisch-akustische Untersuchungen über einige Instrumente von Naturvölkern.
Von S. Baglioni.
Rom.
(Fortsetzung.)
b) Sansa.
Dieses ebenfalls eigenartige Instrument Zentralafrikas,
das vielleicht noch stärker verbreitet ist als die Marimba 5),
besteht wesentlich aus einem Klangkörper, welcher von
einer Reihe frei vibrierender Metall- oder Holzzungen
gebildet ist, und aus einem Resonanzkörper, der meist
aus einem Holzkasten, mitunter aber aus einem hinzu-
gefügten hohlen Kürbis besteht. Oft gibt es ferner
klappernde Anhängsel (in einer Spalte des Resonanz-
kastens sich befindende frei schwingende Eisenringe,
oder auf die Zungen selbst gesteckte Glasperlen), die
durch das Schwingen der Zungen in Bewegung gesetzt
werden und so ein eintöniges begleitendes, nicht unan-
genehmes Klirren erzeugen.
Beim Spielen wird das Instrument mit beiden Händen
erfaßt, frei gehalten oder an den Leib gelehnt. Die
freien Enden der Stäbchen werden dann mit dem Daumen
hinabgedrückt und losgelassen. Somit können an dem-
selben Instrument, wie es bei der Marimba der Fall war,
sowohl melodische Tonfolgen, wie symphonische von zwei
zugleich ertönenden Klängen zusammengesetzte Akkorde
ausgeführt werden. „Hauptsächlich mit den Daumen ge-
zwickt (schrieb neulich E. Pechuäl-Loesche®), geben
die Zungen ansprechende, an die einer Spieldose erinnernde
Töne. Genau abgestimmt sind sie nicht, können aber
häufig, um den Klang auszugleichen, hin und her ge-
schoben werden. In der Stille der Nacht, am Lagerfeuer,
klingt das Geklimper recht anheimelnd, namentlich wenn
die Nssänsa gut und der Spieler geschickt ist.“
Der klassische Name für dieses Instrument ist bei
den deutschen und englischen Forschern: Sansa bzw.
Sansi. Mit diesem Namen wird es von Ankermann
(a. a. O. S.32—36), von Ratzel”?), von H.Johnston®),
von A.Werner?) und anderen beschrieben und abge-
bildet. Die Namen, mit denen die Eingeborenen das In-
strument belegen, scheinen jedoch recht verschieden zu
sein, offenbar je nach den Stämmen. So fand ich im
Inventar (wie wir sehen werden) die einzelnen Instru-
mente dieser Art oft mit verschiedenen Namen angeführt.
Auch in der Sammlung der von C. v. Overbegh (10) pu-
blizierten Monographien über den belgischen Kongo haben
diese Instrumente verschiedene Namen: Kisachi bei den
Basonge, Kansambi bei den Warega. Es mögen hier
einige Angaben Delhaises über dieses Instrument mit-
geteilt werden; er sagt: Les extrémités des baguettes,
ainsi relevees, forment une espece de clavier sur lequel
$) Vgl. Ankermann, a. a. O.
®) Pechuöl- Loesche, Volkskunde von Loango (Stutt-
gart 1907), 8. 120—121.
7) Auf 8. 62 der italienischen Ausgabe des Bandes über
Afrika ist ein Exemplar (des Stockholmer Museums) aus 17
Zungen wiedergegeben.
) H. Johnston, British Central Africa, 3. Aufl. (Lon-
don 1897) enthält die Abbildung eines solchen Instrumentes
mit 24 Zungen und anhängenden Ringen S. 467.
?) A. Werner, The Natives of British Central Africa
(London 1906). Auf 8. 222 wird ein solches Instrument be-
schrieben und abgebildet, welches als klappernde Anhängsel
zwei Reihen aus dem Gehäuse einer großen Schnecke (Acha-
tina) ausgeschnittener Scheiben trägt.
10) Q.v.Overbegh, Congo Belge: Les Mayombes; Les
Basonge; Les Warega (par le Commandant Delhaise).
Brüssel 1907—1909.
Globus XCVII. Nr. 16.
on joue avec les deux pouces en tenant l'instrument à
deux mains. Une calebasse maintenue par une ficelle
fait l'office de caisse de résonnance. Le kansambi s’ac-
corde en allongeant ou en diminuant les tiges de fer.
L’accord est obtenu quand il donne une gamme naturelle
complete. Pas de dieses ni de bemols. Je note ci-dessous
en allant de gauche à droite, les sons donnés par les
tiges dun instrument à onze notes:
HERRREEEHA
i a Be kè x w
Demnach würde es sich um eine diatonisch genau ab-
gestufte Tonleiter handeln. Wir werden aber sehen, daß
für gewöhnlich diese Instrumente, obwohl sie im großen
ganzen dem Schema Delhaises entsprechen, niemals eine
derartige genaue Tonauswahl und Tonanordnung erweisen.
Delhaise, der dabei offenbar nur sein musikalisches Ge-
hör zur Verfügung hatte, war vielleicht nicht imstande,
eine sorgfältigere Analyse der Einzeltöne auszuführen. ,
Im ethnographischen Museum zu Rom stand mir eine
recht reiche Anzahl dieser afrikanischen Instrumente zur
Verfügung. Neun davon, die mir wegen ihrer Festigkeit
ausreichende Garantie dafür lieferten, daß sie keinerlei
Änderung in dem Toninhalt, etwa durch ‘nachträgliche
Zungenverschiebung, erlitten hätten, wählte ich für meine
Untersuchungen aus. Alle von mir untersuchten Sansas
hatten ihre Zungen stark und unverschiebbar befestigt.
1. Die Sansa der Abb. 6 (S. 250) trägt im Inventar die
Nr. 53649 und u. a. folgende Notizen: Benennung: Sy-
limba. Größe: 15x10cm. Herkunft: Südostafrika,
Sambesi. Sie besteht aus zwölf Eisenzungen, deren freie
Enden, offenbar infolge des Gebrauches, glatt poliert er-
scheinen. In der ausgehöhlten Vorderseite des Resonanz-
brettchens ist ein Eisendraht eingelassen, an den elf
Eisenringe gesteckt sind, die mit den Zungen mitschwin-
gen und deren Klang mit einem typischen Klirren be-
gleiten. Die folgende Notierung zeigt die Tonhöhe der
verschiedenen Einzelstäbchen.
—25 —2 —2
—45 +15 —2 —2 —3
I u MD IV V VI VI VM IX X XI Xu
Werden die Einzeltöne ihrer Tonhöhe nach geordnet
und deren Intervalle ausgerechnet, so ergibt sich folgende
Tabelle V.
Tabelle V. I u
) S Züngs ntervalle
FEN... ;
TA I BEIN aee Wile A ET ne
ala! S, > „ (vermehrt)
gis o earr WVE „ S i!
EEE RN ae
Ba te X. f y
al 2) XL > = 1 » (vermindert)
— 2 G V. s» E K
2. Skala? g! (— 2) . Me ECAV "
g' (+ 1,5 II. n > ir i
gis (— 2 I. „ Ra
EP zu. , a Teck indert)
d? ( — 4,5) D N
33
250
Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
Toninhalt und Tonanordnung dieser Sansa bieten
manche Eigentümlichkeiten. Zunächst ergibt sich das
sonst von den übrigen Exemplaren dieser Art (mit ein
paar Ausnahmen) überhaupt gezeigte Merkmal, daß die
Ein anderes spezifisches Merkmal dieser Sansa in der
Tonauswahl besteht darin, daß die Gesamtheit der Einzel-
töne in vier Untergruppen zerfällt, von denen die erste
von den Zungen VI, VII und VIII, die zweite von IX, X
o
Abb. 6. Sansa aus Südostafrika.
Abb.7. Sansa der Barotse.
Abb.11. Sansa aus Masciona (Maschona).
Abb.8. Sansa der Mayombe.
tieferen Töne die mittlere Gegend der Zungenreihe ein-
nehmen, von der aus die darauffolgenden Töne in ihrer
Tonhöhe nach beiden Seiten hin zunehmen. Diese Eigen-
schaft entspricht wohl am besten den Anforderungen der
Handhabung des Instrumentes beim Spielen, das, wie ge-
sagt, von beiden Daumen besorgt wird.
Sansa vom Sambesi.
Abb. 12. Sansa vom unteren
Kongo.
Abb.9. Sansa vom Ubanghi-Mobeghi.
Abb. 14. Sansa aus
Alt-Calabar.
Abb. 13.
Sansa aus
Alt-Calabar.
und XI, die dritte von II, IV und V, die vierte von I,
II und XVI gebildet sind. Die Einteilung ergibt sich
übrigens auch aus der Länge (vgl. Abb.) der betreffenden
Zungen. Es ist nun eine Tatsache, daß die einzelnen
Gruppen (namentlich die drei ersten) aus Tönen gebildet
sind, die sehr nahe untereinander stehen, indem sie nur
Baglioni:
innerhalb des Umfanges je einer vermehrten kleinen Terz
sich bewegen.
Die Mehrzahl der zwischen den benachbarten Tönen
bestehenden Intervalle beträgt auch hier den Wert eines
Ganztones (sechs Fälle), der häufig aber (in drei Fällen)
etwas vermindert ist. Es gibt ferner zwei Halbtoninter-
valle, von denen das eine vermehrt ist, sowie ein Inter-
vall, das bedeutend geringer ist als ein Halbtonintervall.
Von den konsonanten Intervallen gibt es hier schließ-
lich drei Oktaven (VII—V, VO—IV, VI—NI); vier
Quinten (VI—IX, X—II, XI—XII, IV—I); fünf große
Terzen (VH—IX, vermehrt; IX—XI; X— V; XI—-IV;
XI—I, vermindert); fünf kleine Terzen (VII—VI; VI
—IX; V—II, vermindert; V—III, vermehrt, H— XI).
Im ganzen kommen also auf 12 Einzeltöne 17 konso-
nante Intervalle. Würde es sich dagegen um 12 genau
diatonisch abgestufte Einzeltöne handeln, so wären im
ganzen 22 konsonante Intervalle (d. h. fünf Oktaven,
sieben Quinten, vier große Terzen und sechs kleine Terzen)
gewesen.
2. Die Sansa der Abb. 7 wird in dem Register mit
der Nr.74756, als „Kangombio“ bezeichnet. Länge des
Brettchens 14cm, Maximalbreite 10,5 cm, Minimalbreite
8cm. Herkunft: Zentralafrika, Barotse des westlichen
Rhodesia, am Sambesi. Der Klangkörper ergibt sich aus
neun Eisenzungen. Als Resonanzkörper fungiert ein
Kürbis. Die Analyse ihrer Einzeltöne lieferte die in der
Notierung angegebenen Werte.
=å —1,5 zi SS
+< 4
I U mw v vi vW va X
Die folgende Tabelle VI zeigt die Leiter der nach ihrer
Tonhöhe geordneten einzelnen Töne, sowie den ausgerech-
neten Wert der betreffenden Intervalle.
Tabelle VI.
Intervalle
ci (— 1,5) IV. Zunge — > y Ton
7 TERET. AA -t Sg 25, Töne
1. Skala fit idea KL £ 2 A Ton ER
(4)... VL a Sy’ >
Be E O, TIE „ > Y n
ar 3,5) N. a OSa A
e ea. 1x. ” > 1 (vermehrt)
Es gibt also zwei Intervalle eines Ganztones, ein Inter-
vall eines Halbtones, sowie zwei Intervalle unterhalb des
Wertes eines Halbtones und drei Intervalle oberhalb des
Wertes eines Ganztones. Auch hier besteht aber eine
große Zahl konsonanter Intervalle. Denn es gibt eine
verminderte Oktave (V—I); sechs Quinten (IV—II, ver-
mindert; V—VI, vermehrt; III—V, eigentlich Quarte;
II—I; VO—IX, vermehrt; IX— VII, eigentlich Quarte);
fünf kleine Terzen (IIT—VI, vermindert; IT—VI; VI—
VMA; VII— VII, vermindert; I—IX, vermindert). Im
ganzen sind also auf neun Einzeltöne wohl 12 konso-
nante Intervalle gegen 14 (d. h. zwei Oktaven, fünf
Quinten, drei große Terzen und vier kleine Terzen, aller-
dings außer den Quarten), die sich in der genau diatoni-
schen Tonfolge von neun Tönen beobachten lassen.
3. Das schöne Exemplar (Abb.8) trägt die Nr.63 929
und u. a. folgende Notizen: Länge 28 cm, Breite 11 cm.
Herkunft: Afrika, Unterkongo, Mayombeneger. Es sind
elf Eisenstäbchen, die auf dem verzierten kahnförmigen
Resonanzkasten nach ihrer regelmäßig von links nach
rechts abnehmenden Länge eingereiht und solide befestigt
sind. Der fortgesetzte Gebrauch ergibt sich sowohl aus
den glatt polierten Zungenenden, wie ays einer auch aus
Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 251
der Abbildung ersichtlichen, den Enden der Zungen direkt
entsprechenden Furche im Resonanzkasten. Die Notie-
rung zeigt die Werte der Einzeltöne.
ee
vV VI VN
u mM IV VII IX X XI
Ihre zunehmende Tonleiter sowie deren Intervalle
wurden in der Tabelle VII zusammengestellt.
Tabelle VII. italie
te ee I; u
1. Skala { gis 2.2... Ii. > ye
E A Wr IH. > er š
e (+1) IV... Zu (vermehrt)
Fa . Gr Zy ,
n
2. Skala! f. RR ” >l „ (vermindert)
(+1)... x: z i » (vermehrt)
ai 253 x. ? Z D/s» (vermindert)
è (—4) XI. PAs a
Auch die Klänge, aus denen diese Sansa besteht, sind
also vorwiegend, ja in einem noch genaueren Maße als
die vorangehenden, nach dem diatonischen Prinzip aus-
gewählt und geordnet. Es gibt nämlich vier Intervalle
des Wertes eines Ganztones, von denen zwei genau, eins
vermindert und eins vermehrt sind; vier Intervalle eines
Halbtones, von denen wiederum zwei genau, eins vermehrt
und eins vermindert. Es bestehen aber noch zwei volle
Intervalle des Wertes einer kleinen Terz, von denen eins
vermindert ist.
Von konsonanten Intervallen existieren: vier Oktaven
(I—VIH; I—IX, schwach vermehrt; II—X; IV—XI,
beide vermindert); sieben Quinten (I—IV, vermindert;
I—V, etwas vermehrt; II—VI, etwas vermehrt; III—
VINH; V—IX; VI—X; VO—XI, vermindert); drei große
Terzen (II—VI; V—VII; IX—XI, vermindert); vier
kleine Terzen (IT—IU; IV—VI; VH—IX; IX—X, ver-
mindert). Also im ganzen auf elf Einzeltöne wohl 18
konsonante Intervalle, gegen nur 19 (d. h. vier Oktaven,
sechs Quinten, vier große Terzen und fünf kleine Terzen),
wenn es sich um eine genaue diatonische Tonfolge von
elf Zungen gehandelt hätte.
4. Die aus mehreren Gründen bemerkenswerte völlig
aus Holz verfertigte Sansa der Abb. 9 bringt im Register
unter Nr. 76010 u. a. folgende Notizen: Länge 25 cm,
größte Breite 14 cm. Herkunft‘ Kongobecken, Fluß
Ubanghi-Mobeghi. Die neun Zungen aus Bambus (dem
wir hier zum ersten Male begegnen) sind auf dem Brett-
chen solide befestigt, welches den als Resonanzboden
dienenden hohlen Halbzylinder aus zweckmäßig einge-
rollter und durch Holznägel zusammengehaltener Baum-
rinde deckt. Die Analyse der Einzeltöne lieferte die in
der folgenden Notierung Ks
Ger m Se > mE
Die folgende Tabelle VIII enthält die ihrer Tonhöhe
nach geordneten Einzeltöne, sowie deren Intervalle.
Die Tonanordnung dieser wohl primitiveren Sansa
gleicht den drei ersten Sansas mit den tieferen Tönen in
der mittleren Gegend der Zungenreihe. Zum ersten Male
finden wir hier zwei Fälle von Wiederholung eines und
desselben Tones (d. h. Einklang, zwischen IM und VI,
I und IX), was notwendigerweise die Mannigfaltigkeit
33*
252 Baglioni:
Tabelle VIII. Intervalle
EN V. Zunge — | Ton
g' EPEY V G >ı
1.8kalayalı 2.2... IL » 5 Einklang
S r EE en -»- >ı Ton
EEE ©oa >, „ (vermehrt)
[: ( 2) . VII. n > v
2 Va
2. Skala a‘ 45) VL» > 2), Töne (vermin-
EEE DR L ” D> Einklang [dert)
und den Reichtum des Toninhaltes sehr beschränkt. Die
Einzelintervalle schwanken zwischen dem Werte eines
Fünftels vom Ganztone und dem einer vermehrten großen
Terz. Die Mehrzahl entspricht jedoch dem Werte eines
Ganztones.. Von konsonanten Intervallen gibt es eine
genaue Oktave (V—IX bzw. V—]); drei Quinten (V—
VII, vermehrt; V— VIII, noch mehr vermehrt; II—IX bzw.
II—I, um einen Halbton vermindert); vier große Terzen
(V—II bzw. V—VI, IV—U, M—VM bzw. II— VI,
VIII—IX bzw. VIII—I, vermehrt); eine kleine Terz (III
bzw. VI—VII, vermehrt). Also im ganzen auf neun
Einzeltöne neun konsonante Intervalle, gegen 14 (vgl.
oben) einer Tonfolge von neun genau diatonisch abge-
stuften Einzeltönen.
5.Die Sansa der Abb. 10(a.S.250)ist aus mehreren Grün-
den der zweiten oben erwähnten ähnlich. Unter Nr.47916
trägt sie im Inventar u.a. folgende Notizen: Benennung:
Kagombio. Länge des Brettchens 0,16 m, größte Breite
0,10m, Dicke 0,015m. Herkunft: Afrika, Schwarze
des Sambesi. Der Klangkörper besteht aus zehn Eisen-
stäbchen, deren Enden abgenutzt erscheinen. Als Resonanz-
boden dient außer dem Brettchen, auf dem die Zungen
fixiert sind, eine aus Holz verfertigte hohle, abgeplattete
Halbkugel, die mit dem Brettchen durch eine Schnur ver-
bunden ist. Die ausgehöhlte vordere Seite des Brettchens
birgt ferner eine Reihe Eisenringe, die, in einen Eisendraht
gesteckt, den Klang der Zungen mit einem charakteristi-
schen harmonischen Klirren begleiten. Das Ergebnis der
Analyse der Einzeltöne ist in der Notierung ersichtlich:
4-15 —3 —4 —35 —15 —2
IV Yy- VI vu
VII 1X X
Tabelle IX zeigt diese Töne ihrer Tonhöhe nach ge-
ordnet, sowie deren Intervallenwerte.
Tabelle IX. Intervalle
Lee
Ir a Fe = Zunge — 1/⁄, Ton (vermehrt)
1. Skala? g' (—1,5) .. WM, Zl” „
"an! N OE 1'/⁄s» (vermindert)
M(-15) a VE . Sir ® »
e(—2)... RR. „ S a n
gr Yun IL a S 3 Töne (vermehrt)
2. Skala fae are m » Š Einklang
gi EEE Er © = Sy, Ton
TE re E Kr. :;
Die Tonanordnung dieser Sansa ist demnach die üb-
liche. Die Werte der Einzelintervalle schwanken auch
hier innerhalb sehr weiter Grenzen, zwischen dem Ein-
klang (II—I) und einer vermehrten großen Terz (III—II).
Die Mehrzahl entspricht jedoch dem Wert eines mehr oder
minder alterierten Halbtones. Von konsonanten Inter-
X, etwas vermindert);
fünf Quinten (VI—VII, vermindert; V—IX; IV—II,
vermindert; VIII—II bzw. I; IX—X, vermindert): drei
große Terzen (IV—VI; VI—IO; HI—I bzw. I, ver-
mehrt); drei kleine Terzen (VI—IV, vermehrt; IV—VI,
vermindert; VIII—III, vermindert), also im ganzen 12
konsonante Intervalle auf zehn Einzeltöne, gegen 15 (d.h.
Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
drei Oktaven, fünf Quinten, drei große Terzen und vier
kleine Terzen) einer diatonischen Tonfolge gleichen Um-
fanges.
6. Die merkwürdige Sansa der Abb.11 (a.S. 250) bringt
im Register die Nr. 40553 und u.a. folgende Notizen: Be-
nennung: Sephela. Größe des viereckigen Holzresonanz-
kastens 0,19 X 0,14m. Herkunft: Stamm Masciona (?)
am Sambesi. Es sind 16 Eisenzungen von abwechseln-
der Länge, in zwei Gruppen eingeteilt, von denen die
linke aus neun Stäbchen, die rechte aus acht Stäbchen
besteht. In der folgenden Notierung sind die durch die
Analyse festgestellten akustischen Werte der Einzeltöne
zusammengestellt.
-2 —35 —-3 —15 —2 —2 —85 +15
I u ul IV Vv VI VI VJI IX
sie &
Die entsprechende Tabelle X enthält die Einzeltöne
nach ihrer zunehmenden Tonhöhe eingereiht, sowie deren
Intervalle.
e
xm XIV XV XVI
Tabelle X.
Intervalle
1. Skala A = 2 er af Zunge > 1 Ton (vermindert)
; N u IE at gS a » (vermehrt)
è (—2 Y a i
1 a
a e av a Se B » >> f "Töne
ze ae el Ton „
fis' (+ 1,5) 5 ” >", „ (vermindert)
2. Skala A (— 1,5) >11 (vermehrt)
a! (+1,5 Fi rk > Y, 2
h! (— 3,5 n.: Ge > Einklan
BAR... KW. a Sea T
h (—15) .. X. Si) x
nk! 24,
eis" (— 2, Par . n uvm i
3. Skala ı fis? (— 3,5). . VIL „ = gi 9
fis? ERS XV. „ SiYi g (vermehrt)
g' (F25) .. XV. „
Die Tonanordnung dieser Sansa unterscheidet sich
wesentlich von der üblichen. Sie ist keine genau regel-
mäßige; man erkennt jedoch in ihr leicht die Tendenz,
dem Prinzip der von links nach rechts zunehmenden
Tonleiter zu folgen. Eigentümlich ist hier ferner der
Umstand, daß hohe Töne mit tieferen abwechseln, oft
von konsonanten Intervallen getrennt (z. B. bildet die
Zunge II die um einen Halbton verminderte höhere Ok-
tave von I und zugleich die genaue höhere Oktave von
HI, VI ist die höhere Oktave von V, VIII die von IX,
während ein Intervall einer Quint zwischen V und IV
sowie zwischen XI und XII, ein Intervall einer kleinen
Terz zwischen IX und X besteht). Deshalb erinnert
zum Teil die Anordnung dieser Sansa an die der ersten
Marimba.
Der Wert der Einzelintervalle schwankt innerhalb
sehr weiter Grenzen, zwischen !/, von einem Ganztone
und etwas mehr als zwei Ganztönen. In ihrer Mehrzahl
(sechs) betragen sie den Wert eines Halbtones, von denen
drei genau, zwei vermehrt und einer vermindert sind.
Ferner gibt es drei Intervalle geringer als einen Halb-
ton, einen Einklang, drei Intervalle des Wertes je eines
Ganztones (zwei vermehrt und eines vermindert), und
schließlich zwei große Terzen. Von mehr oder minder
genau konsonanten Intervallen bestehen zehn Oktaven
(außer den vier oben erwähnten: I—X, vermehrt; II—
XIV; HI—XIH, vermehrt; V—XTII, vermehrt; IX—XV,
Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
253
vermindert; I’—XVI, vermehrt); elf Quinten (I—XI,
vermehrt; IIT—IX, vermehrt; VII—IV; V—IV, vermin-
dert; XI—I bzw. XIV, vermindert; XI—XII, vermin-
dert; IX—XII, vermindert; II bzw. XIV—VIH; XI—
XV, vermindert; VI—XV]J, vermindert; XIN— XVI, ver-
mehrt); sechs große Terzen (I—V, vermindert; IV—XII;
V—XI; IX—I bzw. XIV, vermehrt; IV—III bzw. XIV,
vermindert; XITI— VII, vermehrt); fünf kleine Terzen
(I—VDO; XI—XV, vermindert; IX—X; X— VI, vermin-
dert; X— XII, vermehrt). Im ganzen gibt es also auf
16 Zungen 32 konsonante Intervalle (deren Mehrheit
freilich mehr oder minder alteriert ist), gegenüber 34
konsonanten Intervallen (d. h. neun Oktaven, elf Quinten,
sechs großen und acht kleinen Terzen), die sich verwirk-
licht hätten, wenn die 16 Einzeltöne genau nach dem
Prinzip der diatonischen Tonleiter abgestimmt worden
wären.
7. Die Sansa der Abb. 12 (a.S.250) trägt mit Nr. 41078
u.a. folgende Notizen: Größe des Resonanzkastens 0,17 X
0,095 m. Herkunft: Westafrika, unterer Kongo. Es
sind zehn Eisenzungen, von denen vier (I„ VI, VII. und
X.) in ihrem unteren Teile je zwei Glasperlen eingesteckt
tragen, die beim Spielen mitschwingen, also dieselbe Be-
gleitaufgabe haben wie die Eisenringe der ersten und
der fünften Sansa. Die Analyse der Einzeltöne liefert
die in der Notierung angegebenen Werte:
— 2,5
+2 +1 —25 +15 —15 +3
I u IH IV vu Vu
VII IX X
Die folgende Tabelle XI zeigt ihrerseits die nach ihrer
Tonhöhe geordneten Einzeltöne, sowie deren Intervalle.
Tabelle XI.
Intervalle
ci (+1)... VL Zunge > Y, Ton
el A 5) AN Be: " > lIVa„ (vermindert)
LEE... VE | Z 1'/, „ (vermehrt)
1. Skala | Ê 5) ee, 5
Nein Re
Use a IV. la n» .
a! (— 1,5) IX. ” >s n» (vermindert)
2 ~” >Y „ (vermehrt)
aiat a G a aia AL... ©,
2. Skala ist ( x 2,5) Ye E A > Ya „ (vermindert)
Die Tonanordnung entspricht also der üblichen, mit
den tieferen Tönen in der mittleren Gegend. Der Wert
der Einzelintervalle schwankt auch hier innerhalb sehr
weiter Grenzen, d. h. von einem Minimum, das !/, eines
Ganztones gleich ist, bis zu einem Maximum einer ver-
mehrten kleinen Terz. Ihre Mehrzahl entspricht aber
dem Wert eines Halbtonintervalles (fünf Fälle, von denen
zwei vermehrt und drei vermindert sind). Nur ein Inter-
vall hat den Wert eines Ganztones, während zwei den
einer kleinen Terz erweisen, von denen das eine vermehrt,
das andere vermindert ist. Von den zwar meist alte-
rierten konsonanten Intervallen gibt es zwei Oktaven
(VI—DO, V— I); fünf Quinten (VI—IV, vermehrt; V—X,
etwas genauer; V—IV, vermehrt; VIT—II; VII—I, ver-
mindert); vier große Terzen (VII—X, vermehrt; VIII—
wW; IV—U; IX—I); sieben kleine Terzen (VI—VII;
V—VII, beide vermindert; VI—VII, vermehrt; VIII—
IX, vermindert; X—III, vermindert; IX—II, vermehrt;
III—I, vermindert): also im ganzen 18, zwar meist alte-
rierte konsonante Intervalle auf zehn Einzeltöne, gegen
15 (drei Oktaven, fünf Quinten, drei große Terzen, vier
kleine Terzen), die sich in einer genau diatonischen Ton-
folge gleichen Umfanges ergeben würden.
Aus dem Obigen ergibt sich ferner, daß alle mehr
oder weniger alterierten Einzeltöne dieser Sansa sich in
dem Umfang der zwei fundamentalen Drei-Klang-Akkorde
bewegen: c!—g!—c¢? und dis!—fis!—ais! (Prim, Quint,
Oktave, bzw. Prim, Terz, Quint). Die Tonika (Prim) des
letzten Akkordes steht dann in konsonantem Verhältnis
(kleine Terz) zu der Tonika des ersten.
8. Die zierliche Sansa der Abb.13 (a.S.250) gehört zu
einer Gruppe von vier Sansas gleicher Konstruktion und
gleicher Herkunft, von denen noch die folgende untersucht
werden konnte, da die zwei übrigen keine so ausreichende
Garantie veränderten Toninhaltes boten. Die vorliegende
hat im Register unter Nr. 20 778 u. a. folgende Notizen:
Größe des viereckigen Resonanzkastens 0,32 X 0,10 m.
Herkunft: Westafrika, Ostguinea, Alt-Calabar. Es sind
acht Zungen aus Bambusrohr, von denen die allerletzte
rechts die längste der Reihe ist, während die übrigen nach
der üblichen Art der Sansas geordnet sind. Die Werte
der Einzeltöne werden von der folgenden Notierung gezeigt.
RT +1
EA FF A
J $ jt av j F
1 1 vv vI
m Vv VII VII
In der Tabelle XII wurden die Einzeltöne ihrer zu-
nehmenden Tonhöhe nach geordnet, sowie der Wert der
Einzelintervalle angegeben.
Tabelle XII.
Intervalle
ECFA OEE RR nr Zunge — j1, Ton (vermindert)
ais (—35).....-. Wg z 1 » »
U ee, der EL, 2.0
eis (58) ei er VL. „ Inn »
ARS oN NTE ENS II. Za >»
DE ER viL °? ZMA.»
f en I 3 > "e =
Die Tonanordnung vorliegender Sansa ist sicher recht
merkwürdig. Denn wir haben hier außer der gewöhn-
lichen Anordnung der Sansas (mit den tieferen Tönen
in der mittleren Gegend) die Tatsache, daß der tiefste
Ton den allerletzten, d. h. den am leichtesten beim Spielen
auszufindenden Platz der Reihe einnimmt. Auch hier
schwanken übrigens die Werte der Einzelintervalle inner-
halb sehr weiter Grenzen, und zwar von einem Minimal-
wert, der !/, Ganzton (in zwei Fällen) gleich ist, bis zu
dem Maximalwert einer kleinen Terz (der wohl dreimal
vorkommt).
Von freilich oft alterierten konsonanten Intervallen
haben wir eine beinahe genaue Oktave (VIII—I); vier
Quinten (VIL—VI; VII—I, vermehrt; V—VI, vermin-
dert; II—IV, eigentlich Quarte); fünf große Terzen
(VIII—V; IV—VI, vermehrt; V—II, vermindert; VI—
VII, vermindert; II—I); fünf kleine Terzen (VIII—IV,
vermindert; V--VI; IH—VI, vermindert; III—I; H—
VII); also im ganzen 15 meist mehr oder minder alterierte
Konsonanzen auf acht Einzeltönen, gegenüber elf (aller-
dings außer den Quarten, d. h. also einer Oktave, vier
Quinten, drei großen und drei kleinen Terzen), die in der
diatonischen Tonfolge gleichen Umfanges auftreten.
Aus dem Öbigen ergibt sich ferner, daß sich die ge-
samten Einzeltöne, die den Inhalt dieser Sansa bilden,
um die zwei fundamentalen Drei-Klang-Akkorde vereini-
gen: —a—c! (Prim, Terz, Quint) und c!—e!—g (Prim,
Terz, untere Quint). Die Tonika des letzten Akkordes
steht in konsonantem Verhältnis mit der Tonika des ersten.
Es fehlt also bloß der dritte fundamentale Drei-Klang-
Akkord der Dominante (d.h. g—h—d) zur völligen Ver-
wirklichung unserer klassischen diatonischen Tonleiter !!).
...') Vgl. H. Riemann, Die Elemente der musikalischen
Asthetik, Berlin und Stuttgart, 8. 121 ff.
254 von Rümker:
Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika.
9. Die Sansa in Abb. 14 (a.8.250) gehört, wie gesagt, der
Gruppe der vorangehenden an. Im Inventar trägt sie die
Nr. 40780 und folgende Angaben betreffs der Größe des Re-
sonanzbodens: 0,33 X 0,10 m. Sonst decken sich ihre
Angaben mit denen der vorangehenden. Die Werte der
Einzeltöne ergeben sich aus der Notierung:
+1, —1 +25 +15
Be
VII f
Tabelle XIII enthält die nach ihrer Tonhöhe geord-
neten Einzeltöne, sowie deren Einzelintervalle.
Tavse FUN Intervalle
fis oy PET vu Zunge — 1, Ton (serie
5 G BEI Ae aoa v. nba 1 1/4 »„ (vermehrt)
Pah AEE I Beet N
aA aa g ar 2 x = A » (vermindert)
dis! 1 RER ER ER
(2) 6 2 5 4 I > r n
ECHTE ar VI. , z RA (vermehrt)
OCES NASE EC er Le n n
Auch hier findet also wesentlich dieselbe Tonanord-
nung wie bei der vorangehenden statt. Der Toninhalt
bietet jedoch manche Unterschiede. Denn die Werte der
Einzelintervalle schwanken zwar auch innerhalb weiter
Grenzen (von einem Halbton zu einer vermehrten kleinen
Terz), ergeben jedoch in der Mehrzahl den Wert eines
Ganztones. Während nämlich in der vorangehenden
Sansa aus dem Umfang einer Oktave sieben verschiedene
Einzeltöne ausgewählt waren (es verwirklichte sich also
eine Art heptatonischer Tonleiter), erreichen hier bloß
fünf Einzeltöne fast denselben Umfang einer Oktave
(von Zunge VIN bis VI, es würde sich also hier dagegen
um eine Art pentatonischer Tonleiter handeln).
Von zwar auch hier oft alterierten Konsonanzen gibt
es drei Oktaven (VIH—II, vermindert; VI—VII, ver-
mehrt; IV—I, vermehrt); fünf Quinten (VI—V, vermin-
dert; VIO—II; IV—VI; V—VI; VI—I, vermindert);
vier große Terzen (IV—III, vermehrt; II—II, vermin-
dert; VI—VII; II—I, vermehrt); drei kleine Terzen (VIII
—IV, vermindert; IV—V, vermehrt; V—VI, vermindert):
also im ganzen auch hier 15 mehr oder minder genaue
konsonante Intervalle auf acht Einzeltönen.
Der fundamentale Dreiklang-Akkord, um den sich
die verschiedenen Einzeltöne vereinigen, ist —a—c!. Die
zwei übrigen Töne d—g stehen in konsonantem Ver-
hältnis einer Quint mit den beiden letzten Tönen des
fundamentalen Akkordes, der andererseits dem der voran-
gehenden Sansa gleich ist.
(Schluß folgt.)
Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Von Prof. Dr. K. von Rümker.
Breslau.
(Schluß.)
2. Naturgeschichtliches. Das Yellowstonegebiet
besteht in gewissen Teilen aus andesitischer und rhyo-
lithischer Lava, welche mitunter 600 m hoch, stellenweise
auch noch mächtiger auf Kalkschichten lagert. Die
Bergketten, welche das Hochplateau überragen, bestehen
teils aus Kalk, teils aus Sandstein; auch Porphyr, Basalt
und Obsidian kommen in größeren Massen vor. Das
ganze Gebiet ist in der Tertiärzeit der Schauplatz ge-
waltiger vulkanischer Tätigkeit gewesen, deren Spuren
und Nachklänge uns auf Schritt und Tritt in reicher
Abwechselung begegnen, so z. B. in Schwefelhügeln, den
Sinterterrassen, Kraterbildungen, Geysern, Schlammvul-
kanen, versteinerten Bäumen, Obsidianfelsen, in dem Vor-
kommen von Basalt und allerlei Kristalldrusen von Achat,
Chalcedon, Onyx, Jaspis, Amethyst usw.
Die letzte Eiszeit überflutete dieses Gebiet von Osten
und Süden her mit Gletschern und hinterließ in ihren
Moränenresten und Ablagerungen von Geschiebelehm mit
erratischen Blöcken durchsetzt eine mächtige Decke über
den teils sedimentären, teils vulkanischen Formationen.
Geradezu typisch für das Yellowstonegebiet sind die
größeren und kleineren vegetationslosen Kalksinterplatten,
aus denen durch ungezählte Ritze und Spalten heiße,
zum Teil übelriechende Dämpfe herauszischen und diese
Platten fast zur Temperatur des kochenden Wassers
erhitzen. Diese Spalten sind von sehr verschiedener
Größe, vom kleinsten Riß bis zur Ausdehnung gewaltiger
Kratertrichter. Die weiteren Spalten sind meistens mit
kochend heißem, kalkhaltigem Wasser gefüllt, das ent-
weder darin still steht, oder aber auch von Zeit zu Zeit
kochend aufschäumt, oder auch periodisch fontänenartig
zu sehr verschiedener Höhe emporgeschleudert wird. Diese
springenden heißen Quellen werden Geyser genannt.
„Geysier“ ist ein isländisches Wort und heißt zu deutsch
„Tobender Sprudel“. Ihre Entstehung erklärt Bunsen
in folgender Art: Das Wasser, welches von oben durch
meteorische Niederschläge oder aus Seen, Bächen und
Flüssen versickernd durch die die Lavamassen und dar-
unterliegenden Kalkschichten durchsetzenden Spalten in
die Erde dringt, wird von der aus dem Erdinnern nach
oben strebenden Hitze sehr stark erwärmt und beginnt
in der oberen Hälfte dieser Wassersäulen dort zu sieden,
wo der Druck der darauf ruhenden Wassersäule es gerade
noch gestattet. Durch diesen Verdampfungsprozeß wird
zunächst der ganze obere Teil der Wassersäule aus dem
Rohre herausgeschleudert, und dieses Hinauswerfen des
Wassers hält so lange an, bis der Siedeprozeß den Grund
des Rohres erreicht hat. Sobald das geschehen, tritt
äußerlich so lange Ruhe ein, bis das Rohr wieder voll
Wasser gelaufen ist, und bis diese Wassersäule durch
die aufsteigende Wärme wieder so weit erhitzt ist, daß -
der vorher geschilderte Kochprozeß sich wiederholt. Diese
periodische Wiederkehr des Sprudelaufkochens ist je nach
der Tiefe und Weite des Rohres, je nach der Masse des
darin sich ansammelnden Wassers und je nach der Wärme-
zufuhr aus dem Erdinnern sehr verschieden. Manche
dieser Geyser springen alle ö oder 10 Minuten, andere
alle 12 bis 24 Stunden, manche nach ein bis vier Tagen,
noch andere alle zwei bis drei Wochen, vereinzelte auch
unregelmäßig. Im allgemeinen springen die größeren,
bedeutenderen Geyser weniger oft als die kleinen, was
nach der Art ihrer Entstehung auch selbstverständlich
erscheint. Die Springhöhe und die Springdauer der Geyser
wechselt ebenfalls beträchtlich; es gibt einzelne, wie den
Giant, die Giantess, oder den Grand Geyser, welche bis
80m hoch springen. Die größten Geyser, die man auf
dieser Tour zu sehen bekommt, zeigt das obere Geyser-
becken bei Old Faithfull Inn, das mittlere und untere
von Rümker: Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika.
255
Geyserbecken hat auch einige recht ansehnliche Geyser,
während das Norris-Geyserbecken sich durch eine sehr
große Zahl kleinerer Geyser auszeichnet.
Neben den springenden Geysern sind auch die nicht-
springenden, die sogenannten „Pools“ oder „Springs“
von großem Reiz, und zwar infolge der Farbenpracht
der in ihren Kratern befindlichen Wassermassen. In
dem Morning Glory Spring sieht man etwa 20 bis 30 m
tief in eine kristallklare, intensiv dunkelhimmelblaue
Wassermasse hinab, in deren tiefdunkelsaphirblauem
Grunde große Gasblasen flottieren, welche den Anschein
züngelnder hellblauer Flammen erwecken, als welche sie
dem staunenden Publikum von dem Führer auch vor-
gestellt werden.
Ein anderer, der Emerald Spring, ebenfalls im oberen
Geyserbecken gelegen, ist wiederum mit kristallklarem,
smaragdgrünem Wasser gefüllt, und so hat jede von
diesen nichtspringenden heißen Quellen ihre besondere
Schönheit und ihren Farbenreiz.
Eine ganz merkwürdige Art von heißen Quellen sind
auch die „Paint Pots“, die Farbentöpfe Die Krater
dieser Quellen sind mit einem dicken Kalksinterbrei ge-
füllt, der an den arbeitenden Stellen mit glucksendem
Geräusch Breiklümpchen emporschleudert, die dann
schließlich kleine, über den Breispiegel hervorragende
Breikegel aufbauen, während der zurzeit nicht arbeitende
Teil eines solchen Paint Pots die getrocknete Breimasse
in bunten Farben von vielen Rissen durchfurcht zeigt
mit konkaven Flächen, wie ein eingetrockneter Lehm-
oder Kleistertopf. Diese Breimasse der Paint Pots wird
zum Anstreichen von Holz- und Mauerteilen benutzt und
stellt mit etwas Leimzusatz eine von der Natur gelieferte
billige Anstreichmasse dar. Die Farben sind blau, grün,
rot, gelblich, orange, bräunlich, kurz in etwas matteren
Nuancen die Farben der rhyolithischen Lava, wie sie uns
an den Wänden des Grand Canyon vom Yellowstonefluß,
an den Sinterterrassen und anderen Überlaufstellen dieser
heißen Quellen im Yellowstone-Park begegnen.
Es gibt auch einige periodisch springende Geyser,
die stinkendes Schmutzwasser auswerfen, z.B. im Norris-
becken und an anderen Stellen, die sogenannten Schmutz-
geyser.
Kurz, die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit dieser
zahlreichen Geyser ist überraschend groß, und man wird
nicht müde, dieses Phänomen in seinem Abwechselungs-
reichtum zu beobachten.
Auch die Formen und Farben der Kalksinterablage-
rungen dieser Geyserbecken sind oft von großartiger
Schönheit. Ganz besonders imposant sind die riesigen
Sinterterrassen bei Mammoth Hot Springs, sowohl durch
ihre Größe, wie die Farbenpracht der in frischem Überlauf
befindlichen Partien. Hoch oben auf einem Berge brechen
die heißen Quellen hervor und haben an den Abhängen
durch ihren Ablauf die merkwürdigsten Terrassen gebildet.
Sehr interessant ist es auch, zu sehen, wie einzelne Geyser
an der Stelle ihres Austritts einen Kegel aufgebaut haben,
der mitunter nur klein ist, mitunter aber auch sehr be-
deutende Dimensionen annimmt, wie bei dem Schloß-
geyser, dem Grottengeyser, dem Riesengeyser und beson-
ders bei dem Liberty Cap, dem riesigen Kegel eines längst
erloschenen Geysers in der Nähe von Mammoth Hot
Springs am Fuße der dortigen Sinterterrassen.
Sehr schön sehen auch die Kalksinterbildungen aus,
welche die Farbe und Gestalt eines neuen gelben Bade-
schwammes besitzen. Die Abflüsse sämtlicher heißen
Quellen sind bunt in allen Farben, und nur die nicht
mehr überlaufenden Partien sind blendend weißer Kalk.
Die Schwefeldämpfe, welche diese heißen Quellen aus-
hauchen, schädigen die Vegetation, indem sie die Bäume,
die sie berühren, zum Absterben bringen und mit einer
weißen Kalksinterkruste überziehen. Die Lage dieser
Ausströmungen scheint im Laufe der Zeit zu wechseln,
denn man sieht an manchen Stellen die Waldränder um
die Geyserplatten neuerdings im Absterben begriffen,
während wieder in anderen Teilen, wo die Dampfaus-
ströomung zur Ruhe gekommen ist, der Wald wieder
erobernd in eine solche erkaltete Geyserplatte vordringt.
Eine ganz unvergleichliche Farbenpracht zeigt der
Grand Canyon des Yellowstoneflusses. Hier hat der Ab-
fluß des Yellowstonesees eine mächtige Schicht rhyolithi-
scher Lava durchbrochen, und die Abhänge dieser Erosions-
schlucht strahlen in einer Farbenpracht von Weiß, Gelb,
Orange, Purpur, Violett usw., die jeder Beschreibung
spottet. Selbst wenn man es in der Natur sieht, kann
man kaum glauben, daß dieser Farbenexzeß Wirklichkeit
ist. Wenn der Grand Canyon des Coloradoflusses in
Arizona durch seine riesenhaften Dimensionen und die
dunkelroten Töne seines Gesteins, die sich durch die
Fernen in Blau und Tiefviolett verwandeln, infernalisch
großartig wirkt, so ist das Bild des Grand Canyon im
Yellowstone-Park an Majestät und Gewaltigkeit zwar
nicht mit jenem zu vergleichen, dafür aber so heiter und
farbenübermütig, daß er den Beschauer nicht weniger
anzieht und in seiner Art einen 'ebenfalls unvergeßlichen
Eindruck hinterläßt. Das intensiv grüne, von weißen
Schaumkämmen bedeckte Wasser des Yellowstoneflusses,
das diesen Canyon durchrauscht, trägt nicht wenig dazu
bei, den Reiz dieses Landschaftsbildes zu erhöhen, und
steht in einem sehr vorteilhaften Gegensatz zu den lehmig
trüben Fluten des Coloradoflusses, der sich durch die
abgrundtiefen Schluchten des Grand Canyon in Arizona
hindurchwindet. In zwei prächtigen Wasserfällen, von
denen der eine 34m hoch ist, stürzt der Yellowstonefluß
in den Grand Canyon hinein, und Treppenanlagen mit
Aussichtspunkten, sowie Fahrstraßen und Promenaden-
wege lassen vom Canyon-Hotel aus diese herrlichen Bilder
mühelos genießen. Der braungefiederte weißköpfige ameri-
kanische Weißkopfseeadler, der sich an großen Flüssen
und Seen bis tief ins Land hinein verbreitet, nistet auf
den turmartigen Zinnen nnd Klippen dieser leicht ver-
witternden Lavamassen des Canyons in so großer Zahl,
daß man ohne Mühe von den Aussichtspunkten aus der
Höhe in der Schlucht 20 bis 30 und mehr Adlerhorste
zählen kann.
Die Tierwelt des Yellowstone-Parkes gehört überhaupt
mit zu seinen größten Reizen. Während man in den
ganzen Vereinigten Staaten von Amerika, wenn man sie
mit der Eisenbahn durchfährt, nirgend mehr ein wild
lebendes Tier sieht, kaum in den Wüsten Arizonas einen
Hasen oder Präriewolf, scheinen die Waldreserven und
Nationalparks alles aufgenommen zu haben, was noch
von wild lebenden Tieren übrig geblieben ist, und hier,
wo nichts geschossen werden darf und niemand die Tiere
stört, beunruhigt oder gar verfolgt, scheinen sie zu para-
diesischer Harmlosigkeit zurückgekehrt zu sein und auch
dem Menschen nichts mehr zu leide zu tun.
Die Büffel sind in mehreren Herden hinter Hegezäunen
interniert und machen auf den Beschauer, abgesehen von
ihrer größeren Zahl, keinen wesentlich anderen Eindruck
als in einem großen zoologischen Garten.
Von Bären gibt es im Yellowstone-Park braune,
schwarze und graue Bären, aber nicht die gefürchteten
Grizzlibären. Im Anfange des Sommers, Ende Mai, An-
fang Juni, fischen sie in den Bächen des Gebirges Fo-
rellen, und ist diese Zeit vorüber, dann ziehen sie sich
nach den Hotels hin, wo sie auf den Kehrichthaufen ihre
Abendmahlzeit zu suchen pflegen. Dort kann man sie
sehr bequem beobachten; sogar Bänke sind in der Nähe
256
von Rümker: Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika.
dieser Müllhaufen für das Publikum aufgestellt, und es
gehört zu den Vergnügungen des Parkgenusses, nach
dem Dinner in dieses „Bärentheater* zu gehen und die
munteren und oft imponierenden Gesellen bei dem Sinken
des Tages aus dem Walde kommen und dort wühlen zu
sehen. Mitunter steht zum Schutze des Publikums ein
Soldat ‘mit geladenem Gewehr dabei, um durch einen
Schuß zu scheuchen, falls einer der Bären ein intimeres
Interesse für seine Bewunderer zeigen sollte, was aber
kaum jemals vorgekommen sein soll. Gewöhnlich küm-
mern sich die Tiere sehr wenig oder gar nicht um den
Menschenhaufen, der ihnen neugierig zuschaut.
Auch die Präriewölfe (Coyotes), die nicht selten den
Weg der Reisenden kreuzen, scheinen harmlos zu sein
und den Wagen wenigstens nichts zu tun. Da nun aber
die Wagen selten einzeln fahren, diese Coyotes dagegen
im Sommer einzeln herumzustreifen pflegen, wagen sie
wohl keinen Angriff. Ferner sieht man im Yellowstone-
Park eine ungeheure Menge von Hirschen, hauptsächlich
Virginiahirsche, seltener Wapiti, in gewissen Teilen Anti-
lopen, in den höchsten Gebirgen Wildschafe, ferner
Skunkse, Luchse, Füchse, zahllose Eichhörnchenarten,
Hermeline, Marder, Biber, Kaninchen, Wildschweine usw.
Von Vögeln: Schwäne, Pelikane, Kraniche, Adler, Geier,
zahlreiche Entenarten, Raben, wilde Gänse, Krähen,
Drosseln usw.
Von größeren Reptilien sollen in einzelnen Teilen
Klapperschlangen vorkommen.
Auffallend ist, wie schon bemerkt, an allen Tieren,
die man dort sieht, ihre vollkommene Harmlosigkeit und
Zutraulichkeit. Die Hirsche gehen niemandem aus dem
Wege und laufen in nächster Nähe der Hotels mitten
durch die promenierenden Hotelgäste hindurch.
Die Flora des Yellowstone-Parkes ist weniger ab-
wechselungsreich. Die Hochgebirgslage schränkt hier die
Zahl der noch lebensfähigen Gattungen und Arten sehr
ein. Der Wald besteht hauptsächlich aus Schwarzfichte,
Rotfichte, Balsamfichte, Weißtanne, roten Zedern, Espen,
Zuckerahorn und Weiden. Von Büschen gibt es einige
beerentragende, und von Gräsern herrschen Büffelgras,
Raygras und Timothee vor.
Die Vegetation macht daher einen etwas eintönigen
und stellenweise düsteren Eindruck.
Die Seen, Flüsse und Bäche sind, soweit sie kalt sind,
sehr forellenreich. Das Fischen ist gestattet und bildet
an den Seen, besonders am Yellowstonesee vom Seehotel
aus, ein sehr beliebtes Vergnügen. Dort ist mit Ruder-
und anderen Booten, mit Angel- und sonstigem Fischerei-
gerät alles aufs bequemste für das Publikum eingerichtet,
so daß es in der Tat verlockend genug ist, einen solchen
Angelausflug nach dem Ausflusse des Yellowstoneflusses
aus dem See zu unternehmen. Die Seen selbst mit ihrer
Bergwaldumrahmung und den fernher herüberleuchtenden
Schneehäuptern der Anden bieten an sich schon einen
hohen landschaftlichen Genuß, auch wenn man dem
Fischereisport nicht huldigen will. Sogar Motorboote
findet man am Seehotel zu Exkursionen auf der viele
Quadratmeilen großen Wasserfläche.
Keine Schilderung kann aber den Eindrücken gerecht
werden, welche der Reisende im Yellowstonegebiet emp-
fängt; es ist von unvergleichlich eigenartiger Schönheit,
herb, streng und doch wieder wunderbar großartig und
anziehend.
Der Besuch des Yellowstone-Parkes ist allein eine
Reise nach Amerika wert, und es war ein großartiger
Gedanke, ihn zu einem nationalen Reservat zu machen °
und diese Eigenart seiner Natur, die auf dem ganzen
Erdenrund wohl einzig dastehen dürfte, vor jeglicher
Verletzung und Zerstörung zu bewahren. Es ist ein
Naturdenkmal größten Stiles, welches man dort erhält,
und ebenso großartig und genial ist die Art, wie man
dieses tut. Auch ist es geradezu erstaunlich, wie dieser
ideale Zweck des reinen Naturgenusses festgehalten wird
und nicht einmal die vielleicht in diesen heißen Quellen
schlummernden Heilkräfte zu verwerten gestattet. Sollte
dieser letztere Gesichtspunkt einmal den Sieg davontragen,
dann allerdings wäre die keusche Jungfräulichkeit dieses
Wunderlandes dahin, und das Badeleben mit all seinen
Konsequenzen würde die Gesunden, für welche allein
heute dieser Naturgenuß möglich ist, hinausdrängen und
mit ihnen die interessante Tierwelt und heilige Stille des
Bergwaldes. Hoffen wir, daß der Erwerbssinn sich nicht
auch dieser Stätte reinster Naturschönheit bemächtigt.
Würde dadurch vielleicht manches gewonnen werden, es
würde aber unendlich viel und Unersetzliches darüber
verloren gehen.
Andere Nationalparks.
Ein anderer Naturpark großen Stiles ist das Yose-
mitetal, welches man in der Regel von San Francisco
aus über Berenda und Raymond erreicht. Es wurde
1864 mit seiner Umgebung im Umkreise von 3km durch
Kongreßbeschluß dem Staate Kalifornien geschenkt unter
der Bedingung, daß es als öffentlicher Park erhalten
bleiben sollte. Die gewöhnliche Rundfahrt, zu der die
Yosemite Stage and Turnpike Co. in San Francisco die
Fahrkarten ausgibt, kostet 38 Dollar ausschließlich Hotel-
unterkunft. Andere Zugänge sind von San Francisco
über Stockton und über Merced.
Im Yosemitetale selbst gibt es nur ein Gasthaus, das
Sentinel-Hotel; man kann auch hier ähnlich wie im
Yellowstone-Park Camp-Touren machen und ein Lager-
leben führen mit der Curry’s Camp Co., oder auch mit
der Yosemite Camp Co.
Das Yosemitetal bietet herrliche Hochgebirgsland-
schaften, schöne Wasserfälle und eine abwechselungs-
reiche Vegetation, da es nicht so hoch liegt wie der
Yellowstone-Park. Die Saison dauert hier vom 1. April
bis 1. November, und Mitte Mai ist wohl die angenehmste
und beste Zeit zum Besuche dieser Gegend. Für Lager-
liebhaber ist das allerdings zu früh der Kälte wegen;
Juni bis August ist dafür die beste Zeit.
Die Naturschönheiten des Yosemitetales sind groß-
artig, vielfach an die Schweiz erinnernd, aber nicht so
eigenartig und absonderlich wie die des Yellowstone-
Parkes. Auch ist das ganze Gebiet viel kleiner.
Der Sequoia-National-Park oder Giant Forest
(1890 von den Vereinigten Staaten käuflich erworben)
liegt im hohen Teil der Sierra Nevada in Kalifornien an
der Linie zwischen Exeter und Tulare. Das Sehenswerte
hier wie im General-Grant-Park bei Millwood oder
im Calaveras-Hain bei Stockton, oder im Mariposa-
Hain bei Wawona und an anderen Orten sind die „Big
Trees“, die riesenhaften Sequoien, die einen Umfang von
über 30m und gegen 100m Höhe und ein Alter von
3000 bis 5000 Jahren erreichen können. Die Sequoien
oder Redwood (Sequoia sempervirens) sind Nadelhölzer,
welche vorwiegend am Westabhange der Sierra Nevada
und in den Wäldern der kalifornischen Küstengebirge
vorkommen. Die Sequoia oder Wellingtonia oder Wash-
ingtonia gigantea wird noch größer und ist nur auf
die Westabhänge der Sierra Nevada beschränkt.
Diese uralten Riesen zu erhalten, ist in der Tat eine
Pflicht der Naturdenkmalpflege, und so ist es sehr er-
freulich, daß die amerikanische Zentralregierung mehrere
dieser Sequoienreste, die den furchtbaren Verwüstungen
der amerikanischen Wälder durch Feuer und der Gewinn-
sucht der Holzschlächter bisher entgangen waren, an-
Halbfaß: Der Mohriner See in der Neumark.
257
gekauft hat und vor Vernichtung schützt. Daß man
diese herrlichen Waldriesen oft nur gegen Entree zu
sehen bekommt, wie z. B. bei Santa Cruz in Kalifornien,
berührt zunächst etwas befremdend; wenn man aber die
Geschichte dieser Reservate kennt, erstaunt man nicht
darüber.
Die Sequoien haben die Eigentümlichkeit, sich durch
Ausschlag aus den Wurzeln ringförmig um den Haupt-
stamm zu verbreiten und mitunter mit diesem zu ver-
wachsen. So kommen ganz gewaltige Gruppen von
diesen Riesen zustande, die durch ihre ringförmige Stel-
lung, wenn der ursprüngliche Mutterbaum nicht, mehr
vorhanden ist, in Erstaunen setzen.
Mögen diese Beispiele genügen, zu zeigen, wie der
Amerikaner, dem meist die größte Nüchternheit und Ge-
winnsucht nachgesagt wird, doch auch Sinn für die Natur
und ihre Schönheiten besitzt und wie er diese Liebe zur
Natur und die Achtung vor ihr in großem Stile zu be-
tätigen weiß. Man ist sich in Amerika der großen und
eigenartigen Schönheiten des Landes bewußt und seit
einigen Jahrzehnten in einer Weise und in einem Um-
fange bemüht, sie zu erhalten und zur Geltung zu bringen,
die auch für andere Völker vorbildlich sein könnte.
Möchte es uns auch in Deutschland gelingen, Sinn
und Verständnis für die Pflege der Naturdenkmäler so
weit zu erwecken, daß auch wir über die Kleinarbeit
hinaus an wirklich große Aufgaben herantreten könnten!
Die darauf verwendeten Gelder wären gut angelegt und
würden zur geistigen und körperlichen Gesunderhaltung
unseres Volkes mehr beitragen als manche verweich-
lichende Einrichtung der Großstädte, Badeorte und High
Life - Sommerfrischen. k
Der Mohriner See in der Neumark.
Von Prof. Dr. W. Halbfaß. Jena.
Mit einer Karte.
Es ist eine unter den Geographen und Geologen satt-
sam bekannte Tatsache, daß das stehende Wasser die
Formen der Erdoberfläche konserviert. Die Wellen reichen
Tiefenkarte des Mohriner Sees
; nach Lotungen
von Prof, Dr, W. Halbfaß.
Maßstab 1:25000
in ihrer Wirkung selbst in günstigsten Ausnahmefällen
nur einige Meter unter die Oberfläche des Wassers; vor
den auflösenden und sammelnden Wirkungen der Atmo-
sphäre bleibt der Grund der stehenden Gewässer dauernd
geschützt; vor allem ist der Einfluß des Sauerstoffs
weitaus geringer. Die konservierende Eigenschaft des
Wassers macht sich vor allen Dingen bei unseren Land-
seen geltend, und die Ansicht, die Ule einmal aussprach,
daß die Konturen des Bodens der Landseen die des um-
gebenden Landes unter allen Umständen widerspiegeln,
entspricht in sehr vielen Fällen durchaus nicht den Tat-
sachen, wie ich dies bereits früher an mehreren Beispielen
zeigen konnte. Ein weiteres sehr treffendes Beispiel
258
Halbfaß: Der Mohriner See in der Neumark.
bietet der Mohriner See in der Neumark. Dieser durch
Kopisch hübsches weitverbreitetes Gedicht „Der große
Krebs im Mohriner See“ populär gewordene See liegt in
einem überwiegend dem „Sandr“ zugehörigen Terrain, das
größerer Unebenheiten fast überall entbehrt. Auf dem
Meßtischblatt Mohrin liegt der höchste Punkt 39 m über
dem Spiegel des Sees, über 3km von seinem Ufer ent-
fernt; im großen und ganzen gehen aber die Höhen-
unterschiede nicht wesentlich über 20 m hinaus. Die
nächsten Ufer des Sees ragen nur bis 10 m über ihn empor
mit alleiniger Ausnahme des Schloßwalles, welcher den
westlichen Teil des Sees zu einem besonderen Zipfel,
Butterfelder See genannt, zusammenschnürt, aber auch
dieser erhebt sich nur 15 bis 16m über den Seespiegel.
Völlig im Gegensatz zu seinen flachen Ufern erscheint
die Bodenkonfiguration seines Untergrundes, wie die hier
beigegebene Tiefenkarte zeigt. Sie wurde gezeichnet auf
Grund von 396 Lotungen vom Boot aus mittels der be-
kannten Uleschen Lotmaschine unter Zählung der Ruder-
schläge zwischen zwei benachbarten Lotungen !). Selbst-
verständlich läßt der Maßstab 1:25000 nicht zu, die
geloteten Punkte zur Darstellung zu bringen. Das Er-
gebnis der Lotungen findet sich daher am Schluß dieses Auf-
satzes tabellarisch zusammengestellt. Die morphome-
trischen Berechnungen wurden an der Hand einer Karte im
Maßstab 1:12500 gemacht, auf die ich die Konturen des
Meßtischblattes vergrößert hatte. Es ergibt sich, daß das
Relief des Seebodens im Gegensatz zu dem umgebenden
Land sehr verwickelt ist und die Tiefenkarte sich noch
unregelmäßiger gestalten würde, wenn man die Zahl der
Profile durch den See noch vermehrt hätte, wozu es mir
aber an Zeit gebrach.
Die tiefste Stelle mit 58,5 m befindet sich ungefähr
in der Mitte des Sees, doch näher dem Südwest- als dem
Nordostufer; sie liegt innerhalb der kleinen Fläche, welche
die 50 m-Isobathe umspannt. Auch die 40 m-Isobathe,
welche langgestreckt dem Nordufer bis auf etwa 350 m sich
nähert, umfaßt nur 10 ha, das sind nur etwa 3 Proz. des
Gesamtareals, und nur dreimal größer ist die Fläche
innerhalb der 30 m-Isobathe. Ob die kleineren 30 m-Iso-
bathen nördlich und südlich von der Hauptfläche mit ihr
in Zusammenhang stehen oder durch Höhenrücken ge-
trennt sind, wage ich nicht mit völliger Sicherheit zu
entscheiden, ich habe sie zunächst als isolierte Tiefen-
zonen innerhalb flacheren Gebietes gezeichnet. Die
10 m-Isobathe erstreckt sich noch ziemlich weit in den
südlichsten schmalen Zipfel des Sees, südlich von der Stadt
Mohrin, hinein, reicht dagegen nicht in den westlichsten
Teil des Sees, der wegen gesonderter Besitzverhältnisse
auch einen besonderen Namen, Butterfelder See, erhalten
hat, wenigstens, soweit meine Lotungen ergaben, die sich
nicht ganz bis in das letzte Ende des Sees erstreckt haben.
Die mich begleitenden Fischer versicherten mir bestimmt,
daß größere Tiefen in dem nicht ausgeloteten Teil des
Sees nicht vorkämen, was ich auch durchaus für wahr-
scheinlich halte. Am nächsten dem Ufer hält sich die 10 m-
Isobathe bei dem Vorsprung am Mohriner Schützenhaus
(A der Karte), während sie weiter nördlich bis auf 500 m
!) Wie ich erst bei meinem Aufenthalt in Mohrin erfuhr,
hat Herr Dr. Samter Lotungen im See vom Eis aus unter-
nommen, das Resultat seiner Arbeiten bisher aber noch nicht
publiziert. Vor längeren Jahren soll der Landesgeologe Professor
Dr. Müller gleichfalls Lotungen im Mohriner See unter-
nommen haben. Auch diese Tatsache erfuhr ich erst später,
da Recherchen nach früheren Lotungen im See meinerseits
nur das Resultat ergeben hatten, daß Tiefen bis zu 60 bzw.
58,5 m gefunden worden seien, ohne Angabe von Namen.
Diese bedeutende Tiefe veranlaßte mich in erster Linie,
eine Auslotung des Sees vorzunehmen und eine Tiefenkarte
zu publizieren.
vom Ufer entfernt bleibt. Innerhalb der 10 und 20 m-
Isobathen finden sich nicht wenige Stellen mit Untiefen
bis zu 3m Tiefe; ihre Zahl ist jedenfalls in Wirklichkeit
weit größer, als sie die Tiefenkarte angibt. Die Ein-
schnürung zwischen dem eigentlichen See und dem Butter-
felder Winkel ist ungefähr 3 m tief, so daß eine 5 m-Tiefen-
kurve in ihm eine geschlossene Linie darstellen würde.
Was die Wasserstandshöhe während meiner Lotungs-
arbeiten (2. Hälfte des Juli d. J.) angeht, so behaupteten
zwar die Fischer, daß der Wasserstand niedrig gewesen
und der Hochwasserstand über 1 m höher sei. Die Be-
schaffenheit der Ufer widerspricht aber dieser Behauptung
durchaus, so daß ein ganz ungewöhnlich hoher Wasser-
stand des Sees dazu gehört, um sein Niveau 60m über seinen
tiefsten Punkt zu erheben. Auch der Umstand, daß sowohl
Zu- wie Abfluß (Schibbe) im Verhältnis zur Ausdehnung
des Sees nur sehr gering zu nennen sind, spricht.
gegen große Schwankungen seines Wasserstandes. Die
Hauptspeisung des Sees dürfte durch Grundwasserströme
erfolgen; Tiefentemperaturmessungen, zu denen die Zeit
fehlte, hätten darüber sicheren Aufschluß geben können.
Beobachtungen mittels des bekannten Endrösschen Index-
limnographen ergaben eine Seiche von ungefähr 5 Minuten
Dauer. Der See ist nach dem großen Stechlinsee (64,5 m)
der tiefste der Provinz Brandenburg.
Was endlich die Entstehung des Mohriner Sees an-
geht, so darf ich an die Arbeit von Geh. Rat Professor
Dr. Keilhack über „Die baltische Endmoräne in der Neu-
mark und im südlichen Hinterpommern“ erinnern, welche
1895 im Jahrbuch der Königl. Preußischen Geologischen
Landesanstalt für 1893 erschien. Die baltische End-
moräne in der Neumark findet sich danach unmittelbar
südlich von dem Mohriner See, und zwar sowohl im
Westen wie im Osten des Südzipfels, aber, wie ich mich
persönlich durch Begehung überzeugen konnte, nur
schwach ausgeprägt und ist keineswegs mit den bekannten
prachtvollen Aufschlüssen nördlich und südlich von Nören-
berg zu vergleichen. Ich glaube daher, daß der See nur
teilweise durch Stauung in diesem Endmoränenzug ent-
standen ist; sein verwickeltes Relief trägt vielmehr in
der Hauptsache den Typus eines Grundmoränensees, wobei
der verhältnismäßig geringe Teil des Sees, welcher eine
bedeutende Tiefe besitzt, durch Evorsion entstanden sein
mag, etwa in ähnlicher Weise wie dies für den Hauptteil
des tiefsten norddeutschen Sees, des Dratzigsees, sehr
wahrscheinlich erscheint.
Durch den See gelegte Profile: A’D. Nach je
20 Schlägen: 9, 12, 12, 11, 8, 7!,m. DE. Nach je
15 Schlägen: 2, 4, 12, 12!/,, 12, 11, 10, 81/,, 4!/am.
EF. Nach je 15 Schlägen: 21/3 11, 131/,, 131/,, 12, 81/,,
7'/ım. FG. Nach je 15 Schlägen: 7, 91/,, 12, 14, 14,
131/2 Y!/a 4!'/am. GH. Nach je 15 Schlägen: 5, 131/,,
13, 12, 9, 4m. IA”. Nach je 20 Schlägen: 9, 11, 121/,,
131/3, 13, 101/,, 10, 111/3, 111/,, 6m. AB. Nach je
20 Schlägen: 11!/,, 12, 171/3, 19, 181/3, 16, 161/,, 20,
21, 18, 16, 91/,, 2!/gm. CA’. Nach je 20 Schlägen: 3, 3,
111/2, 141/g, 151/2, 17, 18, 181/,, 17, 101/,, 2m. AK.
Nach je 20 Schlägen: 11, 16, 18, 20, 26, 25, 23, 23, 13,
6, 5, 31/4, 3, 2, 2, 1m. KL. Nach je 15 Schlägen: 3,
4, 5, 5, 3, 3, 4, 8, 16m; nach je 20 Schlägen: 20, 20,
20, 24, 30, 32, 32, 28, 21, 20, 17, 18, 4, 2m. LN.
Nach je 20 Schlägen: 2, 9, 11, 18, 20, 20, 22, 25, 24,
23, 29, 34, 35, 36, 32, 27, 22, 151/3, 10, 8, 10, 7, 4, 3,
21/3, 1/gm. NM. Nach je 20 Schlägen: 2, 4, 7, 6,
11, 14, 5, 14, 22, 31, 34, 40, 41, 40, 54, 561',, 38, 20,
14, 12, 8, 10, 8, 6, 6, 21/, 2m. AO. Nach je 30 Schlägen:
19, 22, 20, 15, 18, 26, 29, 27, 19, 24, 34, 40, 40, 38,
32, 25, 17, 16, 14, 16, 8, 2m. OS. Nach je 20 Schlägen:
2, 16, 17, 14, 16, 27, 31, 30, 29, 29, 35, 45m; nach 10
Amundsens Südpolarexpedition. — Kleine Nachrichten.
259
Schlägen: 45 m; nach je 20 Schlägen: 28, 20, 14, 9,
3, 3, 21/9, 1!/m. SR. Nach je 20 Schlägen: 2, 2, 7,
11, 13, 7, 14, 12, 13, 27, 42, 55m; nach je
5 Schlägen: 56!/,, 54, 58l/, m. Von diesem Punkt
aus direkt nördlich nach je 5 Schlägen: 54, 48, 44,
43, 44m. Zurück zum Ausgangspunkt und nach je
20 Schlägen: 42, 43, 44, 39, 32, 24, 20, 15, 9, 13, 12,
8,5, 2m. AN. Nach je 20 Schlägen: 12, 19, 22, 21,
14, 13, 151/2, 21, 22, 22, 20, 14, 18, 20%/,, 21, 25, 23,
18, 17, 11, 10, 6, 3, 2m. NS. Nach je 20 Schlägen:
2, 3, 3, 6, 4, 8, 12, 7, 5, 16, 23!/„ 29, 28, 30, 291/,,
30, 35, 32, 30, 33, 46, 42, 26, 20, 17, 151/2, 91/3, 9, 3,
2m. SQ. Nach je 15 Schlägen: 2, 2, 14, 18, 14, 3, 12,
11, 9, 2m. QC. Nach je 20 Schlägen: 2, 19, 30, 31,
28, 26, 22, 24, 31, 31, 40, 43, 42, 47, 46, 32, 24, 22,
28, 29, '22, 13, 9, 19, 25, 24, 24, 20, 15, 9, 8, 6, 2m.
LP. Nach je 15 Schlägen: 2, 5, 9, 5, 8, 12, 14, 15, 18,
24, 33, 42, 44, 41, 37, 31, 24, 21, 20!/3, 241/3, 15!/a
41/2, 21/3, 2m. OL. Nach je 15 Schlägen: 2, 8, 171/3
17, 15, 11, 17, 241/,, 291/,, 30, 32, 33, 28, 40, 40, 491/3,
40, 27, 26, 20, 7, 14, 13, 7, 2, 2m.
Zusammenstellung der wichtigsten morphometrischen
Daten:
=
Meeres- Umfangs- | Größte | Mittl. ;
höhe i Umfáng nern] Tiefe | Tiefe Volumen Bean
m ha ung m m |Mill. cbm
51,4 I 330 | 10500 | 1,63 | 58,5 | 15,1 | 50 | 4,5°
Amundsens Südpolarexpedition.
Amundsen hatte nach Erledigung der geplanten
Fahrten im Nordatlantischen Ozean am 9. August end-
gültig mit dem „Fram“ Norwegen verlassen und Anfang
September Madeira angelaufen. Von hier hat er am
9. September die Weiterreise angetreten, aber Nachrichten
nach Norwegen gesandt, die von einer unerwarteten
Änderung oder Erweiterung des Expeditions-
planes Kunde geben. Er schreibt nämlich, er wolle sich,
bevor er zur Beringstraße gehe, um die Driftfahrt durch
das Nordpolarbecken anzutreten, am „Kampfe um den
Südpol“ beteiligen. In welcher Weise dieses geschehen
werde, könne er noch nicht sagen. Er wolle an einer
geeigneten Stelle der Antarktis sich mit einem Teile der
Expeditionsmitglieder absetzen lassen und dort den Winter
1911 zubringen. Das Schiff solle, wenn es nicht am
Winterquartier festgehalten werde, noch vor Eintritt des
Winters nach Punta Arenas und Buenos Aires zurück-
kehren (wo die Ankunft im Juni 1911 zu erwarten sei),
den Südwinter 1911 über Meeresforschungen ausführen
und Ende 1911 die Landungsabteilung wieder an Bord
nehmen. Damit wäre dann der März 1912 heran-
gekommen, und nun erst solle es durch den Großen Ozean
nach der Beringstraße gehen, zum Ausgangspunkt für
die Drift durch das Polarbecken. — Damit würde sich
also der Beginn der eigentlichen Polarfahrt um ein volles
Jahr hinausschieben — wenn sie überhaupt gleich im
Anschluß an die Südpolarfahrt stattfindet, woran wir nicht
recht glauben können.
Amundsen motiviert diesen Planwechsel mit dem Hin-
weis darauf, daß es ihm bis zu seinem Aufbruch von
Norwegen nicht gelungen sei, dort die ganze für die Fahrt
durch das Nordpolarbecken erforderliche Summe aufzu-
bringen !) und daß er hoffe, sie werde ihm zufließen,
nachdem er mit einem erfolgreichen Vorstoß gegen den
Südpol seine Landsleute erfreut haben werde. Er erklärt,
er habe von Anfang an nicht die Jagd auf den Nordpol,
sondern eine streng wissenschaftliche Expedition durch
das Nordpolarbecken im Auge gehabt und für eine solche
1) Es sollen daran noch 150000 Kr. gefehlt haben, die
zur Löhnung für die Mannschaft und zur Verproviantierung
nötig sind.
um Unterstützung geworben. Nachdem aber während
seiner Vorbereitungen der Nordpol erreicht worden sei,
hätte sich in Norwegen das Interesse für seine Nord-
polarfahrt stark abgekühlt, und er habe einsehen müssen,
daß die privaten Beiträge nicht die erforderliche und
anfangs erhoffte Höhe erreichen würden. Deshalb habe
er schon in Norwegen beschlossen, sich am Kampfe um
den Südpol zu beteiligen und damit das Interesse für sich
und seinen wissenschaftlichen Nordpolarplan zu beleben.
Wo Amundsen in der Antarktis landen, wo er mithin
seine Operationsbasis errichten wird, hat er also vorläufig
offen gelassen, und wir werden das wohl erst erfahren,
wenn etwa im März nächsten Jahres der „Fram“ in Punta
Arenas auftaucht. Man kann allerdings vermuten,
wohin Amundsen will. Sein Bruder, der ihn bis Madeira
begleitet hatte, hat nämlich in Christiania erwähnt, jener
werde seine Vorstoßlinie zum Südpol so wählen, daß sie
weder mit derjenigen Scotts, noch mit der geplanten
Route Filchners kollidiere, und er werde vom „Fram“,
nachdem er ihn wieder abgeholt habe, im März 1912
nach Lyttelton (Neuseeland) gebracht werden. Erinnert
man sich nun daran, daß Amundsen zu den Teilnehmern
der belgischen Südpolarexpedition gehörte, die im öst-
lichsten Teile des Südpazifik tätig war, dort also .persön-
lich Bescheid weiß, so liegt die Vermutung sehr nahe,
daß er sich dorthin wenden und westlich von Graham-
land zu landen versuchen wird. Freilich ist das weder
der belgischen Expedition noch nachmals den beiden
französischen Expeditionen gelungen, und so dürften
auch Amundsens Aussichten dort nicht gar zu günstig
stehen. Wenn ihm das aber auch glücken sollte, so
bleibt es noch recht unwahrscheinlich, daß gerade von
da aus, wo jeder Schritt südwärts in völlig unbekanntes
Gebiet führt, in einem einzigen Sommer mit Hundeschlitten
der Südpol erreicht werden kann; die Entfernung beträgt
z. B. von der Peterinsel aus in der Luftlinie 2300 km!
Wenn Amundsen nur schließlich nicht doch das Weddell-
meer wählt und damit der Filchnerschen Expedition
manchen Erfolg vorwegnimmt. Der Zweck — hier die
Sensationsmacherei — heiligt schließlich auch bei der
Südpolarforschung die Mittel!
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Der vierte Jahresbericht der schweizerischen Natur-
schutzkommission hat einige erfreuliche Erfolge ihrer regen
Tätigkeit zu verzeichnen. Hervorzuheben ist, daß mit dem
Schweizerischen Nationalpark ein Anfang gemacht ist,
welcher als Kristallisationspunkt für den groß geplanten Park
dienen wird. Es handelt sich um einen Gebirgsdistrikt des
Unterengadins, der durch das Viereck Piz Quatrevals, Piz
Nuna, Piz Lischanna und Piz Nair östlich vom Inn um-
260
Kleine Nachrichten.
grenzt wird. Der Anfang zu diesem’ von 2600 bis 3100 m
hohen Gipfeln überragten zukünftigen Nationalpark wurde
mit der Erwerbung des wilden Cluozatales gemacht, das end-
gültig von der Gemeinde Zernez für 25 Jahre erworben wurde.
Dort hört jetzt jede wirtschaftliche Benutzung auf, Holzbe-
trieb, Jagd, Weidgang und Bauten sind verboten, Schutz-
maßregeln für anzusiedelnde Steinböcke sind vereinbart, und
selbst Ersatz für durch Bären angerichteten Schaden ist vor-
gesehen. Die jährliche Pachtsumme an die Gemeinde Zer-
nez beträgt 1400 Frank. Das Schutzgebiet umfaßt 25 qkm,
und ein Parkwächter ist angestellt worden.
— Entdeckung eines Vulkans und warmer Quellen
auf Spitzbergen. Major Gunnar Isachsen, der auch
im vorigen Sommer auf Spitzbergen tätig war, hat dort einen
Vulkan und mehrere warme Quellen gefunden. Wie diese
Entdeckung gemacht wurde, darüber berichtet er jetzt fol-
gendes:
Im August letzten Sommers lagen wir in einem kleinen
neuentdeckten, sehr guten Hafen an der östlichen Seite der
Bockbai. Schon als wir dort angekommen waren, war es mir
aufgefallen, daß die Oberflächentemperatur im Innern der
Bucht etwas höher war als außerhalb derselben. Ich sprach
davon mit einem der Geologen, Dr. Hoel, und mit dem Eislotsen
Sören Svendsen, und der letztere erzählte dann, daß er auf
der Jagd nach Rentieren den Tag vorher Wasser getroffen
hätte, welches sehr warm war. Wir beschlossen dann, daß
die Sache näher untersucht werden sollte, und Hoel begab
sich auf eine Expedition. Am Abend kam er zurück und
warf vergnügt ein schweres Paket auf den Tisch, indem er
rief: „Vulkanische Asche!“ Das Wasser war wirklich „sehr
warm“, d.h.24°C. In den folgenden Tagen untersuchte Hoel
die Gegend näher und fand außer den zuerst entdeckten
zwei warmen Quellen noch sechs andere. Der Vulkan und
die Quellen werden von Dr. Hoel folgendermaßen beschrieben:
Der von ausgeworfenen Lapilli und Bomben gebildete
Vulkan liegt an der westlichen Seite der Bockbai unter
79°28’n.Br. und 13° 28'ö. L. Die warmen Quellen, zusammen
acht, liegen in gerader Linie; zwei von ihnen nordnordwest-
lich, die anderen sechs südsüdöstlich vom Vulkan, aber in
etwas größerer Entfernung von ihm. Dieser selbst bildet
einen sehr regelmäßigen Kegel, und die Besteigung desselben
erinnert an eine Wanderung nach den Kegeln des Vesuv oder
Atna. Der Unterschied besteht darin, daß das lose Gestein
der italienischen Vulkane schlackenartig ist, während man
auf Spitzbergen große Stücke Olivin trifft, und das kleine
Gestein in Struktur, Form und Größe an die Lapilli, welche
Pompeji bedecken, erinnert. Der Vulkan liegt an der einen
Seite eines Meerbusens, und seine Eruptionen dürften in der
quarternären Zeit stattgefunden haben. Jetzt ist er untätig.
Der von den ausgeworfenen Gesteinen gebildete Krater,
der von Lavagängen durchzogen ist, liegt isoliert. Der Kegel
bildet eine Erhebung von 500 m über dem Meere, und
auf der östlichen Seite ist eine pferdeschuhförmige Vertie-
fung, die Isachsen als die Reste eines Kraters auffaßt.
Die warmen Quellen haben nur eine geringe Höhe über
dem Meere. In den zwei nördlichen ist die Temperatur des
Wassers etwas über 24°C, und es fließt reichlich aus dem
von den Quellen selber abgesetzter Kalktuff. Dieser hat die
Form eines Kegels, ist ziemlich breit, aber nicht hoch. Die
sechs anderen Quellen am Endpunkte der Bucht fließen aus
einer Reihe von Kalktuff-Becken, welche sich treppenförmig
aufeinander auftürmen. Isachsen sagt, daß sie ihn an die
Abbildungen der Quellen auf Neuseeland oder im Yellow-
stoneparke erinnern. Die Becken sind nicht so breit wie
die der erstgenannten zwei Quellen, sind mit Tropfstein-
bildungen bekleidet, und die Temperatur des Wassers kann
bis 28°C steigen. Die Quellen sind nach Isachsens und Hoels
Ansicht vulkanischer Entstehung, und daß die unterirdische
Tätigkeit noch nicht erloschen ist, geht aus dem Getöse her-
vor, welches ab und zu in der Quellenregion gehört wird.
Auch in der Gegend der Woodbai hat Hoel vulkanische
Bildungen gefunden; auf den Höhen der Felsen östlich von
der Bucht fand er Lava, und an der westlichen Seite der
Woodbai wurden Vulkanreste entdeckt. B.
— Der schwedische Geologe O. Sjögren liefert in den
Sveriges Geologiska Undersökning No. 219 (Arsbok 3,
1909, No. 2) unter dem Titel „Geografiska och Glacialgeologiska
Studier vid Torneträsk“ eine mit 5 Karten, 6 Tafeln und
72 Textabbildungen geschmückte Arbeit über den großen
lappländischen See Torneträsk, an dessen Südufer sich
die bekannte Lofotenbahn Gellivare—Narvik hinzieht. Der
bis 164m tiefe See besteht aus drei größeren und einigen
kleineren Becken, die durch Schwellen voneinander getrennt
sind und sowohl in ihrer Gesamtheit wie im einzelnen durch
glaziale Erosion in einem präglazialen Flußtal entstanden
sind. Weder Verwerfungen noch glaziale Abdämmungen, die
bei den sonstigen Seen im südlichen Lappland die hauptsäch-
lichste Ursache ihrer Entstehung gewesen sein mögen, kamen
beim Torneträsk in Betracht; auch die Schwellen zwischen
den Teilbecken dürften überwiegend aus festem Gestein be-
stehen. Eine andere schöne Felswanne in der Nähe des
Torneträsk ist der Bildviksvattnet nahe der Station Sildvik,
er ist nach unten zu durch eine quer über die Talsohle sich
erstreckende reingespülte Felsbarriere abgegrenzt. Auf Grund
der von Sjögren mitgeteilten Tiefenkarte beider Seen im
Maßstab von 1:100000 bzw. 1:25000 habe ich ihre hauptsäch-
lichsten morphometrischen Werte berechnet und in folgender
Tabelle zusammengestellt:
Eu Moeros- Areal | Größte | Miktl- | Yolumen [Umfang Mittl.
des Sees | wa anl S m aan. cbm] km EEE
Torneträsk | 342 | 350 | 164 | 48 | 18800 | 250 2,6°
suam f 634 | 15 | 87 | 41 62 | 7,3 | 13,50
Halbfaß.
— Prof. Th. Arndt stellt in den „Veröffentlichungen des
Kgl. Preuß. Met. Instituts“, Nr. 205, Abh. Bd. II, Nr. 2 die
Ergebnisse zehnjähriger Gewitterbeobachtungen
in Nord- und Mitteldeutschland (1887 bis 1896) zu-
sammen, denen wir folgende Einzelheiten entnehmen. Durch-
schnittlich ist der Juli der gewitterreichste Monat, in welchen
Monat im westdeutschen Tiefland und im schlesischen Ge-
birgsland 6 Gewittertage fallen; in Schleswig-Holstein sinkt
diese Zahl auf 4,42 im Durchschnitt herab. Im mittel-
deutschen und im schlesischen Bergland treffen auf den
Juni fast ebensoviel Gewittertage wie auf den Juli, in
Schleswig-Holstein konkurriert mit dem Juli der August.
Das Maximum der Gewitterhäufigkeit scheint das Glatzer
Gebirge (26 Tage im Jahr) zu besitzen, das Minimum
Schleswig-Holstein und die Rhön (18 Tage). In Westdeutsch-
land kamen die Gewitter vornehmlich aus dem Südwesten
bis Nordwesten, im Osten aus dem Osten bis Süden; im
schlesischen Gebirgsland ergab sich ein Maximalwert auf-
fälligerweise sowohl für Nordwesten wie für Südosten; Jahre,
in denen gleichzeitig aus fast allen Richtungen Gewitter in
besonders großer Zahl auftreten, sind selten. Die meisten
Gewitter treten durchschnittlich zwischen 4 und 5 Uhr nach-
mittags auf; diese Regel gilt mehr oder weniger von allen
Gegenden Nord- und Mitteldeutschlands. Im Sommer dauert
1/, bis '/, aller Gewitter weniger als eine halbe Stunde, über
2 Stunden nur Yo bis '/, aller; im Herbst ist die Zahl der
Gewitter, die mehr als eine halbe Stunde dauern, noch ge-
ringer. In dem Zeitraum 1862 bis 1897 scheint die Gewitter-
häufigkeit im ganzen zugenommen zu haben, und zwar um
etwa 25 Proz. Der größte Betrag fällt in den meisten
Gegenden auf den Zeitraum 1892/94, während nur in West-
deutschland die Jahre 1895/97 eine noch größere Zunahm
aufweisen. H.
— In einer in „Peterm. Mitt.“ 1910, II, Heft 2, er-
schienenen Abhandlung Ergebnisse neuerer simultaner
Temperaturmessungen in einigen tiefen Seen
Europas veröffentlicht Prof. Halbfaß die Resultate der im
Wettern, Bodensee, Genfersee, Vierwaldstättersee, Zürichersee,
Zugersee, Gmunder- und PBolsenasee durch ihn in den
Jahren 1906 und 1907, teilweise auch 1908 veranlaßten
simultanen Temperaturmessungen, welche im ganzen achtmal
im Jahre unternommen wurden. Nimmt man auch einige
andere von anderer Seite aus gemachte Serien von Tempe-
raturmessungen in Norwegen und Schottland zur Hilfe, so
zeigt sich, daß der Anschauung Forels, daß der Wärmeumsatz
nordischer Seen ein größerer ist als derjenige zentraleuro-
päischer, unter gewissen Umständen eine Berechtigung nicht
abzusprechen ist. Dies zeigt sich besonders bei einer Gegen-
überstellung des Comer- und des Mjösensees sowie des
Thunersees mit dem Loch Neß. Dagegen beweisen die
Messungen im Loch Morer und Gmundersee, der Hallstätter-
see und Loch Katrine u. a., daß unter sonst vergleichbaren
morphometrischen Verhältnissen die Annahme Forels mindestens
nicht allgemein gültig ist, und daß es erneuter mehrere
Jahre hindurch fortgesetzter Untersuchungen bedürfe, ehe
wir zu einer vollständigen Klarheit über diesen Punkt
kommen können. Zum Schluß werden einige Tiefentempe-
raturen tiefer Seen mitgeteilt, um zu zeigen, daß dieselben
keineswegs, wie man vielfach annimmt, konstant seien.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“,
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.,
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. 17.
BRAUNSCHWEIG.
3. November 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Die Höhlen Westfalens und die Ausgrabungen in der Veleda-Höhle.
Von Dr. Emil Carthaus.
Der nicht schichtenförmig, in Platten oder Bänken,
sondern mehr als ein Massengestein abgelagerte Stringo-
kephalenkalk, auch Eifel- oder Elberfelderkalk von den
älteren Geologen genannt, bildet im rheinisch-westfälischen
Schiefergebirge die obere Stufe des Mitteldevons und zieht
sich dabei in den Kreisen Meschede und Brilon als ein
langes, schmales Band südlich dem oberen Ruhrtal ent-
lang bis zum Plateau von Brilon hin, wo er eine breite
Insel, umgeben von Oberdevon und Karbon, bildet. Dieser
` licht- bis bläulichgraue devonische Massenkalk, welcher
sich durch seine Versteinerungen an den meisten Orten
seines Vorkommens im westfälischen Sauerlande als aus
Korallenbildungen hervorgegangen erweist, bildet nun
einen ganz vortrefflichen Baustein für Höhlenbildungen,
wie denn solche auch, sozusagen überall, wo er zutage
tritt, in ihm eingeschlossen erscheinen. Einige von diesen
Höhlen zeichnen sich durch ihren geradezu wundervollen
Tropfsteinschmuck aus, was ja auch in Kalkhöhlen, von
deren Decke aus zahlreichen dünnen Klüftchen beständig
mit doppelkohlensaurem Kalk beladenes Wasser in Tropfen
herabfällt, recht begreiflich erscheint. Immer sind es
ungefähr dieselben, bald mit zahllosen Kalkspat-
kriställchen schneeig schimmernden, bald durch erdige
bzw. lehmige Überzüge mehr grau, gelblich oder bräun-
lich erscheinenden Tropfsteingebilde, die entweder in Form
von Stalaktiten von der Höhlendecke herabhängen oder
als Stalagmiten vom Boden aufragen, oder auch als
sogenannte Orgeln, Kanzeln, Gardinen usw. die Höhlen-
wände bekleiden; indessen besitzt jede Tropfsteinhöhle
ihr eigenes Gepräge, ihre eigene urweltliche Architektur.
: Das Gebirge des südlichen Westfalen ist nun ganz
besonders reich an solchen höchst sehenswerten Höhlen,
von denen die Atta-Höhle bei Attendorn, die Bilstein-
Höhlen bei Warstein, die Dechen-Höhle bei Iserlohn und
die Recken-Höhle im Hönnetale alljährlich Tausende von
Besuchern haben. Andere Höhlen im rheinisch-west-
fälischen Schiefergebirge, deren Felsendecke so dicht
geschlossen erscheint, daß an ihr nur hier und da
Tropfsteingebilde durch herabsickerndes Wasser ent-
stehen konnten, haben nun vornehmlich für die Er-
forschung der Vorgeschichte unseres Landes entschiedene
Wichtigkeit erlangt, da sie sowohl in der Stein- als
auch in der Bronze- und Eisenperiode Menschen zu
vorübergehendem oder auch längerem Aufenthaltsorte
gedient haben, und da diese nicht selten in Höhlenerde
eingebettete oder auch wohl offen an der Oberfläche
liegende deutbare Spuren ihre Tätigkeit hinterlassen
haben, sei es in der Form von mehr oder weniger
primitiven Artefakten oder in der von Tierknochen,
Globus XCVII. Nr. 17.
welche zu irgend einem Zwecke durch Menschenhände
umgestaltet erscheinen — nicht selten mit Hilfe des
Feuers durch Kochen oder Braten. Diese unscheinbaren
Relikte aus grauer Vorzeit erzählen uns über die einstigen
Bewohner unseres Landes viel mehr, als man gemeiniglich
glaubt, und darum ist es sehr zu bedauern, daß gerade
in Westfalen, dessen Gebirge so reich an Höhlen war, die
solche alten Kulturreste in sich bargen, oder in denen sich
selbst noch Knochenreste von den ehemaligen Bewohnern
unseres Landes vorfanden, so überaus wenig von alle
diesem für die Wissenschaft erhalten geblieben ist. Ich
will hier nicht von den diluvialen Tierresten reden, von
denen sich z. B. in der im Hönnetale gelegenen, weit °
gewölbten Balver-Höhle ganze Wagenladungen fanden,
die, in Stücke geschlagen oder zerfallend, zum Düngen
der Äcker verwandt wurden 1); weit mehr noch ist die
Wissenschaft dadurch beeinträchtigt, daß die in den
Erdschichten so mancher westfälischen Höhle liegenden
Artefakte, vor allem aber auch die zahlreichen Knochen-
reste von Menschen, welche Westfalen in frühester Zeit
bewohnt haben, durch Unkundige aus der Höhlenerde
herausgerissen und verzettelt worden sind. Reste von
so verloren gegangenen menschlichen Gebeinen fanden
sich z. B. in der Räuberhöhle und in der Martinshöhle
bei Letmathe, in der Rösenbecker- und auch in der Balver-
Höhle.
Wenn nun wenigstens ein kleiner Teil jener für die
Wissenschaft so wertvollen Höhlenfunde erhalten geblieben
ist, so hat man dieses zum Teil dem Naturhistorischen
Verein von Rheinland und Westfalen, dem Oberbergamte
in Bonn, sowie auch der Deutschen Anthropologischen
Gesellschaft, zum Teil dem Westfälischen Provinzialverein
für Wissenschaft und Kunst zu verdanken, und im
übrigen dem Interesse, welches Privatpersonen an der
Erforschung jener so interessanten uralten Kulturstätten
von Westfalen genommen haben. So sehr die für der-
artige Untersuchungen verfügbaren Gelder der Provinz
Westfalen auch immer in Anspruch genommen werden
mögen, so sollte diese meiner Ansicht nach im Interesse
der Wissenschaft doch die Mittel gewähren, um von der
Nachlese der Funde aus den westfälischen Kalkstein-
höhlen, von denen schon verschiedene dem Hochofen-
betriebe und der Kalkindustrie zum Opfer gefallen sind,
wenigstens das zu retten, was überhaupt noch zu retten ist.
Sie sollte das um so mehr tun, als sie eine Universität
1) In der gewaltigen, 12m hohen, 18m breiten und 87m
langen Halle dieser Höhle wird alljährlich das Schützenfest
der Stadt Balve, woran viele Hunderte von Menschen teil-
nehmen, mit Musik und Tanz gefeiert.
34
262
besitzt und deren Sammlungen gewiß nicht reich an
Fundstücken aus westfälischen Höhlen zu nennen sind.
Nachdem ich im Jahre 1887 die Aufschließung und
wissenschaftliche Erforschung der Bilstein-Höhlen bei
Warstein geleitet, habe ich vor 15 bis 20 Jahren nicht
ohne Unterstützung des Westfälischen Provinzialvereins
für Kunst und Wissenschaft verschiedene Höhlen des
Hönnetales untersucht und dabei, abgesehen von Tier-
knochen, auch Reste von menschlichen Gebeinen (darunter
einen Schädel und zahlreiche Fragmente von Schädeln)
aus verschiedenen Kulturperioden zutage gefördert,
sowie auch zahlreiche Erzeugnisse einer mehr oder weniger
primitiven Kultur aus Stein, Bronze, Eisen, Knochen,
Bernstein usw. Ebenso habe ich sehr alte verkohlte
Getreidereste gefunden. Diese reichen Funde — deren
Alter von der frühen Eisenperiode Norddeutschlands
bis in die Steinzeit hinabreicht — haben mich nach lang-
jähriger Abwesenheit von Europa denn auch veranlaßt,
im Anfange dieses Jahres an das Kuratorium der zur
Ehrung unseres großen Rudolf Virchow errichteten und
mit seinem Namen belegten Stiftung, welche der anthropo-
logischen Forschung so große Dienste zu leisten berufen
ist, ein Gesuch zu richten, worin ich um finanzielle Bei-
hilfe zur wissenschaftlichen Untersuchung einer Höhle
im oberen Ruhrtale bat, die mir aus mehr als einem
Grunde interessante Funde versprach. Es ist dieses die
Veleda-Höhle, im Osten des Kreises Meschede, etwa
lkm südlich von dem freundlichen Dörfchen Velmede
gelegen, 150 bis 200m über dem Bette der Ruhr.
Die Veleda-Höhle befindet sich an der Nordseite und
in halber Höhe eines langgestreckten Kalksteinhügels,
dessen westlicher Teil bereits zur Gewinnung von Mörtel
` und Dungkalk abgetragen ist. Drei breitgewölbte Ein-
gänge, eingeschnitten in eine steile Felswand, führen in
das Innere der Höhle, doch ist nur der westlichste ohne
Mühe zu durchschreiten. Der Sauerländische Gebirgs-
verein hat diesen Zugang zur Höhle durch ein Gittertor
verschließen und in ihrem Innern mehrere Eisentreppen
anbringen lassen, so daß man jetzt ohne Gefahr über den
abschüssigen Boden durch die beiden großen und hohen
Haupthallen der Höhle hin zu den zwei unterirdischen
Wasserbecken gelangen kann, die etwa 50m tiefer als
die Eingänge liegen. Die stellenweise über 12m hohe
und 10m breite obere Halle, in die man zuerst eintritt,
verengt sich nach hinten bis auf etwa 3m an Höhe und
Breite, um dann in die zweite sehr hohe, daneben aber
auch 10 bis 15m breite Haupthalle überzugehen. Der
unter einem Winkel von 20 bis 25° abfallende Boden
in ersterer war von einer Ablagerung von Erde bzw.
Lehm und eckigen Kalksteinstücken (worunter sich Blöcke
von mehr als lcbm Inhalt befanden) bedeckt. Diese
Erdschicht besaß stellenweise eine Mächtigkeit von 4,5 m.
Den Boden der unteren großen Halle bedeckt ein höchst
eigentümliches loses Haufenwerk von scharfkantigen,
mittelgroßen Kalksteinstücken, worin nur hier und da
kleinere Erdmassen eingeschlossen sind. Wie groß die
Mächtigkeit dieser Steinlage ist, konnte ich noch nicht
ermitteln, jedenfalls ist sie aber namentlich in ihrer
Mitte und in ihren oberen Teilen nicht gering (mehr als
5 bis 6m). Wie diese Anhäufung von losen Kalkstein-
stücken, zu deren Transport das Wasser zweifellos nicht
beigetragen hat, hierhergekommen ist, kann ich mir nicht
erklären, und wer weiß, was sie in sich birgt? Ich kann
nicht glauben, daß diese zahllosen, nicht abgerundeten
und fast alle gleich großen Kalksteinbrocken im Laufe
der Zeit von der Decke der Halle herabgefallen sind. Ich
habe nur hier und da, mehr an der Oberfläche, in diesem
Steinhaufenwerke suchen lassen können, wobei zahl-
reiche Tierknochen, verschiedene Tonscherben von sehr
Carthaus: Die Höhlen Westfalens und die Ausgrabungen in der Veleda-Höbhle.
primitiver Arbeit, sowie auch ein Bruchstück von einem
Gegenstand aus Bronze gefunden wurden.
Ungefähr in der halben Höhe der oberen Halle zweigt
sich von ihr ein etwa 100m langer Seitengang in öst-
licher Richtung ab, dessen Boden nur an einer Stelle ein
wenig ansteigt. Dieser Gang stellt in seinem vorderen
Teile ein flaches, 2 bis 4m hohes und 3 bis 5m breites
Gewölbe, in seinem hinteren Teile mehr einen Spalt von
5 bis 8m Höhe und 1 bis 2m Breite dar; überall aber
verrät dieser Höhlenarm deutlich seine Bildung durch
Auswaschung des Kalkgesteins. Sein Boden ist an den
meisten Stellen nur mit einer dünnen Lehmlage, die an
vielen Stellen durch Tropfstein verkittet erscheint, bedeckt,
stellenweise aber mit einer Tropfstein- oder Kalktuff-
schicht, welche durchschnittlich nur sehr dünn, in einem
Teile des Ganges jedoch über 0,5 m mächtig ist. Nach
Osten hin ist dieser Gang durch Tropfsteinbildungen
geschlossen, doch zweifle ich nicht, daß er sich noch
weiter in dieser Richtung fortsetzt.
Da das Kuratorium der Rudolf-Virchow-Stiftung in
liberaler Weise die Geldmittel zu den Ausgrabungen in
der Veleda-Höhle bewilligte, so konnten sie Ende April
dieses Jahres bereits begonnen und bis Ende Juni fort-
gesetzt werden. Genau untersucht wurde der größte
Teil der Erdablagerungen in der oberen Halle und in
dem soeben beschriebenen Nebengange.
Die Erdmassen der oberen Halle waren in den oberen
Lagen mehr humusreich, gingen nach unten aber in den
gelben Diluviallehm über, wie man ihn in so vielen
deutschen Höhlen zusammen mit Knochenresten von
Höhlenbär, Mammut, Rentier und anderen Tieren der
Eiszeit vorfindet. Tierknochen lagen in der Veleda-
Höhle überall in den Erdablagerungen, doch wurden sie
in einer Tiefe von 2,5 bis 3m seltener. Am Grunde der
Erdschicht wurden Zähne vom Höhlenbären bzw. Ursus
arctos gefunden. Die anderen in großer Zahl, namentlich aus
den höheren Lagen, zutage geförderten Knochenreste,
worunter sich solche von Tieren finden, welche in der
dortigen Gegend völlig ausgestorben sind, werden, von
einem Spezialisten untersucht, hoffentlich einen wert-
vollen Beitrag zur Kenntnis der einstigen Säugetierfauna,
besonders aber auch der ältesten Haustiere des Landes
der roten Erde liefern. Von noch größerem Interesse
für die Wissenschaft dürften aber die in so großer Menge
gefundenen Menschenknochen sein, welche sowohl in der
Haupthalle als auch besonders in dem Nebengange der
Höhle lagen. Soviel ich ersehen konnte, gehören sie
wenigstens 12 bis 15 Individuen, sowohl Erwachsenen
wie Kindern, an. Genauere Resultate wird erst eine ein-
gehende Untersuchung ergeben, wie sie selbstverständlich
nur von einem tüchtigen Fachmanne auf dem Gebiete
der somatischen Anthropologie ausgeführt werden kann.
Soviel ich indessen bereits von maßgebender Seite er-
fahren habe, scheinen die zutage geförderten mensch-
lichen Gebeine und Schädelreste, von somatisch-anthropo-
logischem Standpunkte aus allein betrachtet, weniger
Merkwürdiges zu bieten — abgesehen freilich davon, daß
sie bei ihrer großen Zahl in ihrer Gesamtheit wertvolle
Rückschlüsse ermöglichen auf die körperliche Beschaffen-
heit jener Menschenrasse, die ehedem das Gebirge von
Westfalen bewohnte. Nach einigen Extremitätenknochen
und Schädelbruchstücken zu urteilen, scheinen diese Ur-
Sauerländer gerade keine kleinen Leute gewesen zu sein.
Was aber nun jenen menschlichen Knochenresten ein
erhöhtes Interesse verleiht, sind ihre Lagerungsverhält-
nisse im Zusammenhange mit Artefakten und anderen
Spuren einer vor Deutschlands geschichtlicher Zeit
liegenden Kultur, dieich auf Grund der gemachten Funde
als gewiß nicht anheimelnd bezeichnen möchte. Zwar
Carthaus: Die Höhlen Westfalens und die Ausgrabungen in der Veleda-Höhle.
263
wurden sozusagen überall in der Erdablagerung der
oberen Halle, sowie in dem Nebengange Menschenknochen
gefunden, worunter namentlich Schädelreste und Unter-
kiefer durch ihre Häufigkeit hervortraten; allein die
meisten von ihnen lagen doch um alte Feuerstellen herum.
(Es wurden von diesen letzteren nicht weniger als zehn
in verschiedener Tiefe in der Erdschicht der oberen
Halle und auch in dem Nebenraum aufgedeckt.) Andere
von diesen Knochenresten lagen auch unmittelbar über
der Kohlen- bzw. Aschenschicht der Feuerstellen. Aus-
drücklich muß aber hierbei hervorgehoben werden, daß
nur zwei Hirnschalen, wovon die eine einer erwachsenen
Person, die andere einem Kinde angehört hat, Brand-
spuren zeigen, außerdem allerdings auch einige wenige
Zähne, welche auf einer Feuerstelle in dem Nebenarme
der Höhle gefunden wurden. Die genannten beiden
Schädelstücke lagen dicht aneinandergeschoben unmittel-
bar am Rande einer Herdstelle, so daß sie, wenn sie dort
lose lagen, durch Zufall leicht angebrannt sein könnten.
Von Leichenverbrennung uf den verschiedenen Feuer-
stellen, an welche man sonst leicht denken könnte, kann
daher wohl nicht die Rede sein. In Anbetracht dessen,
daß wohl zahlreiche Menschenknochen in der Nähe der
Feuerstellen zusammenliegend gefunden wurden, daß
diese aber verschiedenen Individuen angehörten, und
daß die Knochen, vor allem die Schädelstücke so vielfach
arg zerstückelt in die Erdablagerung hineingeraten sein
müssen, könnte man geneigt sein, an Anthropophagie zu
denken, jedoch müßten dann meiner Ansicht nach mehr
Knochenreste vorhanden sein, an denen man Feuer-
spuren, hervorgebracht durch Braten oder Kochen des
Fleisches, erkennen könnte. — Von einer Beerdigung
menschlicher Leichen über vorher angelegten Feuer-
stellen kann wohl deshalb nicht die Rede sein, weil an
keiner Stelle zahlreiche zusammenhängende Stücke von
ein und demselben Individuum zum Vorschein kamen.
Es bliebe also nur noch die eine Möglichkeit übrig, daß
in der Höhle, nachdem Feuer in ihr abgebrannt waren,
Leichen offen beigesetzt und ihre Gebeine durch Tiere
verschleppt wären. Wie erklärt es sich bei dieser An-
nahme aber, daß auf einer Feuerstelle in dem Seitengange
der Höhle zahlreiche Zähne von wenigstens drei mensch-
lichen Individuen lagen, aber keine anderen Menschen-
knochen wie ein einziges kleines Schädelfragment? Eine
derartig weitgehende und seltsame Verschleppung
der Skeletteile ist wohl kaum anzunehmen, auch
wenn Leichen über der betreffenden Brandschicht offen
beigesetzt wurden. — Als Beigaben für die Toten wären
vielleicht die Artefakte aus Knochen, Bronze und Eisen,
sowie die überaus zahlreichen Tonscherben zu deuten,
von denen sich die meisten zusammen mit den Menschen-
knochen an den Feuerstellen fanden. Namentlich Ton-
scherben, bearbeitete Knochen und Fragmente von Arte-
fakten aus Eisen lagen aber auch weiter entfernt von
den Feuerstellen sozusagen überall in der Höhle bzw. in
deren Erdschichten, hier und da selbst an der Oberfläche.
Was die Topfscherben angeht, so stellen diese mit
einer Ausnahme sämtlich ein höchst primitives Mach-
werk dar. Die Gefäße, zu denen sie gehört haben, waren
offenbar sehr dickwandig und sind sichtlich noch ohne
Zuhilfenahme der Töpferscheibe hergestellt, wobei in die
Töpfermasse Kalkspat- und Quarzkörnchen in Menge ein-
geknetet erscheinen. Verschiedene der Tonscherben
tragen rohe Verzierungen, sogenannte Fingertupfen-
und verschieden gestaltete Strichornamente.
Als eine recht interessante Tatsache ist mir bei
meinen Ausgrabungen in verschiedenen westfälischen
Höhlen die aufgefallen, daß sich die gefundenen Ton-
scherben in ihrem ganzen Habitus auffallend gleich-
bleiben, mögen sie aus Kulturschichten der Steinzeit oder
der Bronze- bzw. der frühen Eisenperiode herrühren.
Dabei will ich erwähnen, daß ich sowohl auf der Mandar-
küste von West-Celebes, als auch im Innern der Resident-
schaft Tapanuli (Sumatra) die Eingeborenen vor meinen
Augen Tongefäße ohne Töpferscheibe und durch Brennen
(sogenanntes Schmauchen) in einem offenen Stroh- bzw.
Reisigfeuer habe anfertigen sehen, welche den in den
westfälischen Höhlen gefundenen täuschend ähnlich
sind. — Ein überraschender Fund war für mich der
von verschiedenen Tonscherben, die ohne weiteres als
von altrömischem Ursprunge zu erkennen waren. Auf
zwei Feuerstellen in dem Seitengange der Höhle wurden
auch zahlreiche verkohlte Getreidekörner entdeckt, wo-
runter sich bezeichnenderweise nur solche von Weizen
und Gerste fanden, obschon die Kultur von Weizen in
dem rauhen Klima des Sauerlandes wenig angebracht
erscheint. Wir wissen indessen, daß Roggen und Hafer,
die so recht für das deutsche Gebirge geschaffenen
Cerealien, nicht früher als in den ersten Jahrhunderten
n. Chr. in unserem Vaterlande bekannt wurden. Gerste
und dieselbe kleine Weizenart, daneben auch Hirse,
Erbsen und eine kleine Bohnenart, hatte ich übrigens
schon früher in verkohltem Zustande in zwei Höhlen
des Hönnetales gefunden. Neu in seiner Art aber war
für mich der Fund eines — leider nur sehr kleinen —
verkohlten Geweberestes, der in einer engen, ziemlich
trockenen Felsennische des Nebenarmes gemacht wurde.
Was die übrigen zutage geförderten Artefakte be-
trifft, so wurden auch Spinnwirtel aus Ton gefunden
und neben verschiedenen von Menschenhand bearbeiteten
und geglätteten Knochenstücken auch Beinnadeln und
-pfrieme. Von den ausgegrabenen Bronzegegenständen
waren die meisten zu sehr verwittert, als daß man noch
hätte ersehen können, wozu sie ehedem gedient hatten.
Verhältnismäßig gut erhalten zeigten sich nur ein ziem-
lich massives Kinderarmband, zwei oder drei Bruch-
stücke von Fibeln und zwei kleine Ringe. Unter
den gefundenen, gänzlich durch Rost zerfressenen
Eisenstücken glaube ich allein einige Köpfe von Nägeln
erkennen zu können. — In einer Brandschicht hinten
in dem Nebenarme der Höhle lagen zwei Glasperlen aus
blauem Kobaltfluß.
Während die gefundenen Menschenknochen und Arte-
fakte in dem Seitengange der Veleda-Höhle fast alle nur
von einer dünnen Erd- oder Tropfsteinschicht bedeckt
waren, zeigten sich in der Erdschicht der oberen Halle
Holzkohlenstückchen und einzelne Tonscherben noch in
einer Tiefe von 3 bis 3,5 m, Bronzereste dagegen nicht
tiefer als etwa 1,5m. Daß dabei diese Erdschicht seit
ihrer Ablagerung ziemlich unberührt geblieben ist —
abgesehen natürlich von ihrer Oberfläche —, dürfte wohl
daraus hervorgehen, daß die fünf Brandschichten, welche
sich, wie gesagt, in ihr in verschiedener Tiefe vorfanden,
nicht aus ihrer ursprünglichen Lage gebracht sind. Sie
sind vielmehr allmählich unter der vom Höhleneingange
her herabrollenden Erde begraben worden, teilweise so
tief, daß die eine Feuerstelle erst in 1,75 bis 1,80 m an-
geschnitten wurde.
Mir will es nun scheinen, als ob die menschlichen
Knochenreste nicht aus ein und derselben, sondern aus
zwei verschiedenen Zeitperioden herrührten, die meisten
aus der frühesten Eisenperiode Norddeutschlands, einige
andere aber auch aus älterer Zeit. Dieser letzteren scheinen
mir vor allem die Schädelstücke und andere mensch-
liche Knochenreste anzugehören, welche ganz am Ende
des Nebenganges unter einer Lehm- bzw. Kalktuff-
bedeckung von etwa 30cm Dicke ausgehoben wurden.
In ihrer Nähe wurden nur Tierknochen sowie einige
34*
264
Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
Stückchen Holzkohle gefunden, und ebenfalls nicht weit
von ihnen in nahezu 1 m Tiefe auch zwei Höhlenbären-
zähne. Genaueres über das Alter dieser menschlichen
Überbleibsel wird sich wohl schwer sagen lassen, es sei
denn, daß ihre genaue anatomische Untersuchung dem-
nächst oder später durch Vergleichung dafür einige An-
haltspunkte an die Hand geben wird.
Sprachen, wie gesagt, verschiedene sich an die Funde
anknüpfende Tatsachen dafür, daß in der Veleda-Höhle
ehedem eine Anzahl von Leichen offen beigesetzt worden
ist, so erklärt sich bei dieser Annahme vielleicht auch
ein sehr alter, bei den Umwohnern der Höhle bestehender
Gebrauch, von dem schon im Anfange des vorigen Jahr-
hunderts ein Pfarrer des Dorfes Velmede in dem dortigen
Kirchenbuche berichtet. In diesem wird gesagt, daß die
Bewohner des Ortes schon seit undenklicher Zeit am
ersten Ostertage zu der Höhle am „Hohlestein* oder
der Veleda-Höhle wallfahrteten, daß sie dort in ihrer Weise
beteten und zurückzukehren pflegten, wenn die Kirchen-
glocken in Velmede zur Vesper zusammenschlugen. Be-
kanntlich hat sich nun das christliche Osterfest an die
altgermanische Frühlingsfeier angelehnt, wie schon sein
Name (abgeleitet von der altdeutschen Göttin Ostara)
sagt. Könnte es da nicht leicht möglich sein, daß der
uralte Begräbnisplatz der Veleda-Höhle, worin m einer
früheren Zeit vielleicht zahlreiche offen umherliegende
Totengebeine ernstes Denken und heilige Schauer wach-
riefen, allmählich zu einem Wallfahrtsorte wurde?
So ganz von der Hand zu weisen ist jedenfalls auch der
Gedanke des genannten Pfarrers nicht, welcher den
Namen der Veleda-Höhle und den des Ortes Velmede mit
der vielgenannten germanischen Seherin oder Priesterin
Veleda in Verbindung bringt. Wir wissen zwar durch
Tacitus, daß diese ihren eigentlichen Sitz an dem der
Ruhr benachbarten Nebenflusse des Rheins, an der Lippe
hatte, indessen muß sich ihr Einfluß einst sehr weit im
Lande der roten Erde erstreckt haben, und es konnten
diese weithin berühmte Germanenfrau ihre Wege auch
sehr leicht in das südlich von der Lippe liegende Ge-
birge des Sauerlandes führen. Auffallend ist dabei nun,
daß in der Veleda-Höhle Scherben von altrömischen Ton-
gefäßen gefunden wurden, und daß in dem erwähnten
Kirchenbuche auch die Rede von einer kunstvollen
kleinen römischen Statue ist, welche im Beginne des
vorigen Jahrhunderts in dem Dorfe Velmede ausgegraben
wurde. Außerdem sind es aueh noch andere Umstände
und Funde, deren nähere Besprechung hier zu weit
führen würde, welche darauf hinweisen, daß nicht fern
von den unterirdischen Hallen der Veleda-Höhle Römer
und Germanen zusammengetroffen sind, und daß sich
dort vielleicht ein wichtiges Stück altdeutscher Geschichte
abgespielt hat.
Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
Analytisch-akustische Untersuchungen über einige Instrumente von Naturvölkern.
Von S. Baglioni.
Rom.
(Schluß.)
c) Panflöten.
Im Gegensatz zu sämtlichen vorangehenden afrikani-
schen Instrumenten stammen die folgenden analysierten
neun Panflöten aus verschiedenen Gegenden der Erde her,
da sie, wie neulich D. del Campana!?) in einer freilich
bloß die äußeren Gestaltsmerkmale berücksichtigenden
Abhandlung hervorgehoben hat, bei allen Völkern ver-
breitet sind.
1. Die Panflöte der Abb.15 trägt im Register unter
Nr. 2585 u.a. folgende Notizen: Länge der Einzelröhren
von 0,09 bis 0,15m. Herkunft: Neuguinea, Fly River.
Von den sechs Röhren konnte die V., gebrochen, nicht
analysiert werden. Die Werte der Einzeltöne sind in
der folgenden Notierung ersichtlich.
ih —8 +2
6 tee
I I m IV Vv VI
Die Tabelle XIV zeigt die nach ihrer zunehmenden
Tonhöhe geordneten Einzeltöne, sowie deren Intervalle.
Tabelle XIV. Intervalle
EGR ua Re VI. Röhre
er een a Von > 3 Töne (vermindert)
Be re, ar Ar IVs ;
> 1 Ton
me (58) Sehe = a Eh, (vermehrt)
MalSLLIILIIIE 2 DU m (vermindern)
Die noch wahrzunehmenden Konsonanzen zwischen
den fünf noch erhaltenen Tönen sind im ganzen vier, d.h.
12) D.delCampana, Notizieintorno all’ uso della „siringa“
o „flauto di Pane“. Arch. p. l’Antropol. e la Etnol., Vol. 39
(1909), 8. 46.
zwei Quinten (VI—IH, I—IV, eigentlich Quart), zwei
kleine Terzen (IV—II; II—I). Zu bemerken ist noch,
daß sich die sechs Einzeltöne sämtlich innerhalb des Um-
fanges einer verminderten Oktave befinden.
2. Die zweite Panflöte (Abb. 16) gehört zu derselben
Gruppe wie die erste, indem sie dieselbe Herkunft und
die gleiche Konstruktion hat. Wegen Verletzung des
I. und VI. Rohres konnten nur die Klänge der vier
übrigen Röhren analysiert werden, deren Werte in der
folgenden Notierung angegeben sind.
is
=k
eg
l Il m V VI
Die Tabelle XV bringt die gewöhnlichen Daten.
Tabelle XV.
Intervalle
E EELE EEE, VI. Röhre _ ,
Sy ?
asg ausy aie Eye Taa V. > 3'⁄ Töne (vermindert)
f = 2 TAES I. » S i Ton ,
Va SC ) E EE A 5 -
Va o r a ai II. 5 > Ik "5 (vermehrt)
RE Ai ie oraaa Deej
Die unter den vier Einzelklängen noch wahrzunehmen-
den Konsonanzen sind im ganzen drei: und zwar eine
Oktave (V—I), eine Quint (V—IV) und eine kleine Terz
(II—T). Zu bemerken ist noch, daß hier im Gegensatz
zu der vorangehenden Flöte die sechs Einzelklänge dem
Umfang zweier Oktaven gehören: denn von einem und
demselben Oktavumfang gibt es nur vier Einzeltöne.
3. Bezüglich der Panflöte Abb. 17 wird im Register
unter Nr. 1471 u. a. folgendes angegeben: Länge der
Röhren von 0,16 bis 0,44 m. Herkunft: Fidschiinseln. Von
Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 265
den 16 in zwei parallel verlaufenden Reihen angeord- sammenhalten der Flöte diente. Die Werte der Einzeltöne
neten Röhren sind nur die acht der vorderen Reihe zum | ergeben sich aus der untenstehenden Notierung. — Die
Blasen fähig, da die andere Reihe aus oben und unten ! Tabelle XVI (a.S.266) zeigt die nach ihrer zunehmen-
; 20
Abb. 20. Panflöte von der Insel Buka.
16
Abb. 16. Panflöte
vom Fly River,
Neuguinea.
15
Abb. 15. Panflöte
vom Fly River,
Neuguinea.
Abb. 19. Panflöte von der
Insel Buka.
Abb. 18. Panflöte
23 von der Insel
Buka.
Abb. 23. Panflöte der
Abb. 21. Panflöte aus dem Mayombe, unterer Kongo.
„Urteil des Paris“.
22
Abb. 17. Panflöte von den Abb. 22. Panflöte aus der Umgegend Abb. 24. Panflöte vom Amazonen-
Fidschiinseln. von Harrar. strom.
geöffneten Röhren besteht und wohl entweder als Reso- | den Tonhöhe geordneten Einzeltöne, sowie deren Inter-
nator oder als ein Mittel zum besseren und solideren Zu- | valle. — Der Toninhalt dieser Panflöte, die mit den voran-
I 18: ui _2 gehenden und den drei nächstfolgenden einem der primi-
4 4
= ze er tivsten Völker (Australiern) gehört, ist sicher durchaus
& 4 [S | EEE: == wichtig. Denn hier erweisen die Werte der Einzel.
+ 5
I u IV v
intervalle deutlich die Tendenz, sich einem konstanten
ul VI vu VIII Wert eines vermehrten Ganztones (also einer ver-
Globus XCVIII. Nr.17. 35
266 Baglioni:
Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
Tabelle XVI. Intervalle
g ee vT Röhre — | Ton (vermehrt)
e (2s... III] vL ? ZZ 14a» (vermindert)
e' (— 4) . E E e S E Y: ” es A a 5
PIPIO: e ers w. en x
s, (S re U ” >1 ,„ (vermehrt)
® Ra 5 nn aa GAl L ” >I%» (vermindert)
Ma pe:
minderten kleinen Terz) zu nähern. Es gibt kein Intervall
vom Werte eines Halbtones. Der Umfang einer Oktave
wird von fünf Tönen dargestellt; es verwirklicht sich
also hier eine wahre pentatonische Tonleiter. Auf acht
Einzeltönen finden wir dann im ganzen wohl 13 mehr
oder minder genaue konsonante Intervalle, und zwar drei
Oktaven (VIIL-—II; VO—II; VI—I, vermindert); drei
Quinten (VII—V, vermindert; VI—IH; IV—I, vermin-
dert); zwei große Terzen (VI—V, vermindert; IV—II,
vermindert); vier kleine Terzen (VIII—VI, vermindert;
VH-—-VI, vermindert; V—III, vermehrt; II—I, vermin-
dert). Die zwei fundamentalen Dreiklang- Akkorde
(Prim, Terz, Quint), die dem Toninhalt dieser Panflöte
zugrunde liegen, sind offenbar —a—c und c—e—g. Es
fehlt also auch hier der dritte Akkord der Dominante
(9—h—d) zur völligen Verwirklichung der klassischen
heptatonischen Tonleiter.
4. Die Panflöte Abb. 18 (a.S. 265) gehört zu einer Gruppe
von fünf Panflöten gleicher Herkunft (Salomonen, Insel
Buka), welche im Register die Nr. 48 599 bis 48 603 tragen.
Alle zeigen Spuren längeren Gebrauches. Drei hiervon be-
stehen aus einem Bündel von je sieben verschieden langen
Röhren, von denen aber nur zwei zum Blasen fähig sind,
da die übrigen an beiden Enden offen sind. Von diesen
drei wurde nur die hier abgebildete eine analysiert (vgl.
die folgende Notierung).
+15
ge
Das Intervall beider Einzeltöne hat wohl den Wert
einer fast genauen Quint (vgl. Tabelle XVII).
— 1,5
Tabelle XVII. Intervall
Ka 3 Da AK I. Röh
g + w a AET N IL. =” > 3", Töne (vermindert)
5. Die zwei übrigen Panflöten, die der obigen Gruppe
der Salomoninseln gehören, erweisen die klassische Kon-
struktion dieses musikalischen Blasinstrumentes. Die Pan-
flöte der Abb. 19 (a. S. 265) besteht aus zwölf Röhren, von
denen acht nach ihrer Länge regelmäßig geordnet sind,
während die vier übrigen längeren nicht genau nach ihrer
Länge eingereiht sind, wie es übrigens deutlich aus der
Abbildung hervorgeht. Folgende Notierung zeigt die
gefundenen Werte der Einzeltöne.
Te +2 —2 —3 -35 —4 —5 —4 +1 —i
EEE FeR
I u mıIVv V VI VI VID IX X XI
Werden die Einzeltöne ihrer Tonhöhe nach geordnet
und deren Intervalle ausgerechnet, so ergibt sich Ta-
belle XVII.
Tonanordnung und Tonauswahl vorliegender Panflöte
erweisen durchaus wichtige Eigenschaften. Zunächst ist
leicht zu erkennen, daß die Gesamtheit der Einzeltöne in
zwei Abteilungen zerfällt, die voneinander durch ein
Tabelle XVIII.
Intervalle
a(—4 IX. Röhre 4 Ton (vermehrt)
Bl 9- SE
Te (=I) rna XL py Sy i
KA . i
AU ER vn. ” > 3 Töne (vermindert)
! ` ` > 1 Ton (vermehrt)
h (—4) vL Zy
Eaha W a ar?
(= ”
ous ; = 2 1v ” >1 „ (vermehrt)
f (+2) m. == Z i (vermindert)
ahnen Wo e S s
a? (+0,5) Dra F
Intervall von drei Ganztönen (etwas vermindert, X— VII)
getrennt sind. Die Werte aller übrigen Einzelintervalle
neigen dann deutlich zum konstanten Wert eines Ganz-
tones. Denn es sind hiervon wohl neun, von denen fünf
vermehrt, drei genau und eine vermindert. Es gibt nur
ein Intervall vom Werte eines Halbtones. Die sich hier
verwirklichenden, mehr oder minder genauen konsonanten
Intervalle sind im ganzen 21, d. h. sechs Oktaven (IX—
VIII; XH—VU; XI—VI, vermindert; XI—V, vermehrt;
X— IV, vermehrt; VIII—I, vermehrt); sieben Quinten
(IX—X; XI— VII, vermehrt; X—VJ, vermehrt; VII—
IV; VO—II; VI—H, vermindert; V—IJ, vermehrt); fünf
große Terzen (IX—XI, vermehrt; XII—X, vermehrt;
VI—IV, vermehrt; V—IIL; III—I, vermindert); drei kleine
Terzen (VII—VI, vermehrt; VI—V, vermehrt; IV—III,
vermehrt). In dieser Flöte verwirklicht sich also eine
fast genau abgestufte diatonische a-moll-Tonleiter, die
von der ersten Gruppe (VII—I) der acht Röhren dar-
gestellt ist, und deren erste vier Töne eine Oktave nie-
driger von den vier Röhren der zweiten Gruppe wieder-
holt werden. Der Moll-Sinn dieser Tonleiter zeigt an-
dererseits keine scharfe Bestimmtheit, da sie infolge der
angebrachten Alterationen der Einzeltöne nach dem Dur-
Sinn hinneigt. Denn die Abteilung der vier tieferen Töne
gehört entschieden zu einer Dur-Tonleiter, während die
kleine Terz der Tonika (VIII—VI) wohl eine vermehrte ist.
6. Die Panflöte Abb. 20 (a.S.265), die ebenfalls zur
Gruppe der zwei vorangehenden gehört, besteht aus 14
regelmäßig nach ihrer Länge geordneten Röhren. In der
folgenden Notierung wurden die gefundenen Werte der
Einzeltöne zusammengestellt.
ie a -3 +4
F& —FZr&R
I u E UI 1 IV v VI VIE VE IX
+35 —15 —35
-15 +2
XIV
Tabelle XIX zeigt ihrerseits die gewöhnlichen Daten.
x XI XU xm
Tabelle XIX.
e Intervalle
| aisi E. . XN Fe , Ton (vermindert)
Viral! £ 16 Eh
1. Skala et É = n >ı 2 (vermehrt)
f* Aap 5) Kor > e 1!/%, „ (vermindert)
(+ De A A E
a? Ba 3 ; Wes Zn z
cis? (+1) VIL >" „ (vermehrt)
3 vi ” >l „ (vermindert)
2. Skala ee ee >
WR ara T 2 I ”’
Bet aSa N Le
Mn et uU, = fo’
PAE wa. S
gis’ = 1) I. 5 2» n
Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik.
Toninhalt und Tonanordnung auch dieser Flöte zeigen
wichtige Merkmale. Hier schwanken die Werte der
Einzelintervalle innerhalb weiterer Grenzen, obwohl auch
hier ihre Mehrzahl den Wert eines Ganztones zeigt. Denn
es gibt sechs Intervalle des Wertes eines Ganztones, von
denen eins vermehrt, eins genau und vier vermindert.
Die übrigen zerfallen in vier Halbtöne (einer vermehrt
und drei genau) und in drei verminderte kleine Terzen.
Von mehr oder minder genauen Konsonanzen gibt es im
ganzen wohl 32, d. h. neun Oktaven (XIV—IX; XII—
VII; XH—VI, vermindert; XII—V, vermehrt; XI—IV,
vermindert; XI—III, vermehrt; X— II, vermindert; IX—I,
vermehrt; VIII—I, vermindert); zwölf Quinten (XIV—XI,
vermindert; XIII—X, vermehrt; XII—X; XI—VII; X—
VI, vermindert; X—V, vermehrt; IX—IV, vermindert;
IX—III, vermehrt; VII—II, vermindert; VII—II;
VI—I, vermehrt; V—I, vermindert); drei große Terzen
(XIV—XU, vermehrt; X—VII, vermindert; VII—IV);
acht kleine Terzen (XMI—XII, vermindert; XI—X, ver-
mindert; IX— VII; VII—VI, vermehrt; VI—V; VI—
II; IV—III; H—I, vermindert).
Der Toninhalt vorliegender Panflöte wurde demnach
aus dem Umfang zweier aufeinanderfolgender Oktaven
gewählt, von denen die erste (untere) durch fünf Einzel-
töne (XIV—X) repräsentiert ist, mithin eine Art penta-
tonischer Tonleiter wäre, während die zweite (obere)
acht Einzeltöne bietet, indem sie zugleich diatonische und
semichromatische Intervalle aufweist. In dieser Panflöte
würden sich also die wesentlichen Elemente der drei
klassischen pentatonischen, heptatonischen (diatonischen)
und semichromatischen Tonleitersysteme vermischt be-
finden.
Bemerkenswert ist schließlich der Umstand, daß die
Zusammensetzung vorliegender Flöte mit derjenigen der
eben vorangehenden im allgemeinen übereinstimmt. Hier
wie dort zerfällt die Gesamtheit des Toninhaltes in zwei
Abteilungen, von denen die tiefere aus einer geringeren
Anzahl Töne besteht; hier wie dort liegt endlich der höchste
Einzelton zwei Oktaven höher als der tiefste. Wie aus
der hier wiedergegebenen photographischen Aufnahme
(Abb.21a.S.265) eines im römischen Museum Terme (Lu-
dovisis Sammlung) sich befindlichen Hochreliefs (Urteil
des Paris) hellenistischer Herkunft hervorgeht, scheint
es eigentümlicherweise, daß auch die griechisch-römischen
Panflöten nach einem Prinzip gebaut waren, das mit dem
der zwei hier in Rede stehenden übereinstimmt, indem
auch sie aus zwei Hauptgruppen Röhren bestehen.
7. Die Panflöte der Abb. 22 (a. S. 265), die aus 20 glatten,
neuen Röhren besteht und im Register die Zahl 42279
trägt, stammt aus Ostafrika (Umgegend von Harrar).
Die Notierung zeigt den Wert der Einzeltöne.
+2 +05 +1
+05 -1 —05 -15 —15
VIE IX X
1 Oktave
XI XI XIM XIV
höher
Tabelle XX zeigt die gewöhnlichen Daten.
Der Toninhalt dieser Flöte ist also der Umfang dreier
unvollständigen Oktaven. Die Werte der Einzelinter-
valle schwanken innerhalb eines Fünftels und eines ver-
mehrten ganzen Tones, indem jedoch die Zahl der Halb-
267
Tabelle XX. Intervalle
RT XX. Röhre 13 m
fi 2) XIX. „ = dr hok eresishrt)
1. Skala! 9, (+3)... XV „ > 1 „ (vermindert)
a (—2).. XVIL , S y
i? (— 2,5). XVL ? on
E a EV „ Z a » (vermehrt)
e® (— 1,5) XIV. , S Ya s
ei (58) u XOL a
d* (—2) Ib 295,00
3 A 2 ” n
2.8kala] 48 - - oo. I G i » (vermindert)
(-15) . > AS
NIE SR, a
a° (— 0.5) vi. ? = } » (vermehrt)
h? (— 1) VIL. „ S n
cist (+ 0,5). Fika S ® x
pr | »
He HD. PL " > 1 „ (vermindert)
8.8kala? e a AA a ES | A
WO aaa Saa If. „ Sg
« (+ 0,5) IL. ; Ne:
a (+2) L „ m
töne in den ersten tieferen neun Röhren, und die der
Ganztöne in den übrigen weit überwiegt.
Ich halte es für überflüssig, näher in die Tonanord-
nung vorliegender Flöte einzugehen, da sie, aller Wahr-
scheinlichkeit nach, für Handelszwecke und nicht zum
wahren musikalischen Genuß fabriziert wurde.
8. Die Flöte der Abb. 23 (a. S. 265), die aus vier Röhren
besteht, trägt im Register unter Nr. 63 925 folgende Angabe
bezüglich der Herkunft: Afrika, unterer Kongo, Mayombe-
neger. Zum Unterschied von der größten Mehrzahl der
anderen Panflöten sind hier die vier Röhren ihrer Länge
nach abwechselnd geordnet. Die Notierung zeigt die
gefundenen Werte ihrer Töne.
+2 —15 +2 —3
I I II IV
Tabelle XXI zeigt die üblichen Daten.
Tabelle XXI.
Intervalle
Z %
dis En ARETAS = Röhre >ı Ton (vermindert)
fs (HY. -oee m. 2 = eo (erment)
gis (F2) è 5 e.s i i N £
Die vier Klänge bilden zwei konsonante Intervalle,
deren Werte zwischen der großen und der kleinen Terz
schwanken (IV—III ist eine sehr vermehrte kleine Terz,
und II—I ist ebenfalls, freilich nicht so sehr, eine ver-
mehrte kleine Terz).
9. Die Flöte der Abb. 24 (a. S. 265) trägt im Register die
Nr.3383 und folgende Notizen: 13 Röhren, deren Länge
von 0,03 bis 0,14m schwankt. Herkunft: Amerika, Ein-
geborene Brasiliens vom Amazonenstrom. Die zwei längsten
Röhren konnten nicht zum Ertönen gebracht werden.
Folgende Notierung zeigt die Werte der elf übrigen Röhren.
—1 —1,25 —1 +0,5 +4
A o
—0,5 — 0,5
vÆ az
E u m IV ]|V VI VO VM|IX X XIXI XIMI
2 Oktaven höher 1 Oktave höher
In der Tabelle XXII wurden dann die Einzeltöne ihrer
Tonhöhe nach geordnet, sowie deren Intervalle angegeben.
Die den Toninhalt vorliegender Flöte zusammensetzen-
den Einzeltöne stammen also aus dem Umfang von drei
Oktaven her. Die Werte ihrer Intervalle schwanken
innerhalb eines Minimums eines verminderten Ganztones
und eines Maximums einer vermehrten großen Terz. Es
überwiegen wohl die Intervalle eines Ganztones, deren
35 *
von Buchwald: Primitiver Feldbau und Arbeitsteilung.
269
Primitiver Feldbau und Arbeitsteilung.
Von Otto von Buchwald. Guayaquil.
Angeregt durch die interessanten Aufsätze des Herrn
K. Sapper in den Heften 1 und 22 des 97. Globusbandes
möchte ich mir erlauben, hier einige Beobachtungen aus
dem mittleren Südamerika mitzuteilen.
Die kleinen Horden der Jäger, die sich in den un-
endlichen Wäldern auf beiden Seiten der Anden ver-
teilten, hatten anfangs reichliche Fleischnahrung, zu der
erst in zweiter Linie einige Früchte kamen. Affen,
Schweine, Rehe, Nagetiere, Rebhühner, Truthähne und
Fasanen gab es in großer Menge, und mit Leichtigkeit
konnten sie erlegt werden. Das Material war zur Hand,
Bogen, Wurfbrett und Blasrohr wurden aus Palmenholz
gefertigt, und ein kleines Arsenal lag stets unter dem
Dach der Hütte.
Während die Frau die Speisen zubereitete, arbeitete
der Mann an seinen Pfeilen, die er der Jagd entsprechend
ganz verschieden ausarbeitete, gerade so wie zwischen
Entenschrot und Kugel ein großer Unterschied ist. Der
Pfeil für Bären und Affen mußte Widerhaken haben, damit
die Tiere ihn nicht aus der Wunde herausrissen ; ebenso
die Fischpfeile, um die Beute ans Land oder ins Kanu
ziehen zu können. Um Papageien lebendig zu fangen,
setzte man dem Pfeil eine umwundene Kugel auf, und
Taubenpfeile hatten drei kleine Spitzen.
Jagen und Fischen gehört zusammen, aber es hat
natürlich je nach der Örtlichkeit der eine oder andere
Zweig dieser Beschäftigungen die Hauptrolle gespielt.
Dabei muß aber bemerkt werden, daß sich die Frauen
am Fischfang beteiligten. Besonders wo es sich um
Absperren des Flußarmes handelte, mußte die ganze
Familie aufgeboten werden, um die mit Barbasco be-
täubten Fische zu sammeln.
So wie ich es an den oberen Flußläufen des Napo
und Ucayali gesehen, war es schon in Urzeiten, und
man findet dieses Jägerleben noch überall in Blüte, wo
die Stämme weit genug auseinander wohnen, um sich
nicht zu beeinträchtigen.
Wo sich aber fremde feindliche Stämme eindrängten,
wurde das Revier verkleinert, und wenn der Mann nicht
genügend Tiere erlegen konnte, brachte er in seiner
Tasche auch Früchte mit, um den Bedarf zu decken.
Die Lebensmittel finden sich auch nicht überall in den
Wäldern in gleicher Fülle, und es gibt Stellen, wo man
verhungern kann, wenn man nichts mitnimmt. So wurden
denn die Menschen erfinderisch, und der Küchenzettel
vermehrte sich durch vegetabilische Stoffe, wobei man
auch von den Nachbarn lernte und Erfahrungen zu-
sammentrug.
Wenn ich mir nun eine solche Hütte ohne Feldbau
vorstelle, so muß rings umher der Küchenabfall gelegen
haben, also auch die Kerne der Früchte und die Wurzeln
und Zweige der anderen Vegetabilien.
In der kleinen Lichtung keimte es bei dem heißen
und feuchten Klima überall, und rings um die Wohnung
fanden sich bald eßbare Früchte und Pflanzen.
Als Guayaquil im Jahre 1896 abbrannte, waren die
Ruinen nach dem Regen mit kleinen Obstbäumen, Kür-
bissen, Wassermelonen und anderen Vegetabilien bedeckt,
und die schnell umzäunten Hausplätze glichen wilden
Gärten. So kann man auch oft im Walde den Platz
erkennen, wo eine Hütte gestanden hat, denn aus zu
Boden gefallenen Kernen entwickeln sich Orangen- und
Mangobäume.
So ist es auch schon früher gewesen, und die Be-
wohner der primitiven Hütte werden wohl oft die ein-
wandernde Vegetation beseitigt haben, um in der Wohnung
Luft und Licht zu erhalten. Dabei ist es aber sehr natür-
lich, daß sie auf die Bequemlichkeit aufmerksam wurden,
die sich ihnen durch die Nähe der Lebensmittel bot, sei
es nun infolge der Sorge der Frau oder des Spieles der
Kinder; wer will sagen, wie in Tausenden von Anfängen
das bebaute Feld im Walde entstanden ist! Soviel ist aber
gewiß, daß auch der Mann darauf aufmerksam wurde,
denn es war bequemer, die Lebensmittel in der Nähe
des Hauses zu haben, als sie von weither durch den
Wald heranzuschleppen. Darum habe ich auf dieser Seite
Südamerikas auch fast nur Männer bei der Feldarbeit
getroffen; daß aber der Frau das Dasein leicht gemacht
wurde, soll durchaus nicht gesagt sein. Sie holte das
Wasser in einem Stück Bambus, in einer Kalabasse oder
einem Topf; sie suchte das Holz zum Kochen, was in
dem feuchten Walde mitunter gar keine leichte Arbeit
ist; sie holte die Vegetabilien aus dem Felde, das sie
mit den Kindern von Unkraut säuberte. Das konnte ja
auch nicht anders sein, denn die Hauptsache blieb die Jagd,
und der Mann streifte im Walde umher. Kam er dann
ermüdet nach Hause, so verlangte er das Essen, dann
ruhte er aus und fing wieder an, seine Pfeilspitzen aus
Rohr zu schnitzen. War die Jagd aber nicht ergiebig
genug, mußte er Bäume fällen und die Pflanzung vor-
bereiten. Das Abholzen war mit Stein- oder Kupferaxt
eine mühevolle Arbeit, denn die Bäume mußten geringelt
und mit Hilfe des Feuers einzeln oder in Gruppen gefällt
werden. Im ersten Jahre war im Urwald wohl selten
an ein Abbrennen der Rodung zu denken, und erst im
zweiten Jahre konnte, mit Hilfe des abgehauenen Nach-
wuchses, Feuer angelegt werden. Dabei blieben die
dicken Stämme immer noch liegen, und zwischen ihnen
begann die Pflanzung.
Das erste Werkzeug war der Pflanzstock, wie er
noch jetzt an der Küste von Ecuador und in den Wäldern
von Peru angetroffen wird. Der hiesige Arbeiter,
welcher Rassenmischung er auch angehöre, kennt nur
Pflanzstock, Waldmesser und Axt. Allen Neuerungen
setzt er passiven Widerstand entgegen, und das geht
so weit, daß zum Ausheben von Entwässerungsgräben
Leute aus dem Hochlande genommen werden, die mit
der Schaufel umzugehen wissen. Mit dem Pflanzstock
pflanzt er Mais, Reis, Bohnen usw.
Der Grabstock existiert nicht, denn um Yuca, Zucker-
rohr oder Kakao zu pflanzen, bedient der Arbeiter sich
des Waldmessers, mit dem er kleine Löcher macht, um
den Samen in die aufgelockerte Erde zu stecken. Erst
vor wenigen Jahren wurde der Pflug in den Zuckerrohr-
plantagen, unter vielfachem Widerspruch der Eigentümer,
eingeführt.
Ich kann den Hackbau durchaus nicht für primitiv
erklären, denn unendlich lange Zeiträume und viele
Errungenschaften müssen zwischen dem Pflanzstock-
und dem Hackbau liegen.
Sowohl im Reiche der Inkas wie in dem der Chimus
war Hackbau allgemein. Wo die Chimus an der Küste
vorgedrungen sind, finden wir in den Gräbern kupferne
Hacken, deren Gebrauch bei den heutigen Bewohnern in
Vergessenheit geraten ist. Es wird sich also wohl um
eine Unterbrechung der Einwanderung zur Zeit der
letzten Inkas handeln.
Da aber, wo die Herren von Tahuantinsuyu ihre
Kolonisten festsetzten, finden wir noch heute den Hack-
bau neben dem modernen Pfluge, der allerdings nur aus
270
einem krummen Holz, Deichsel und Keil besteht, um den
Tiefgang der angebundenen Spitze zu bestimmen. Dabei
möchte ich bemerken, daß die Baumstümpfe in der Rodung
keineswegs entfernt zu werden brauchen. Man hebt den
Pflug darüber hinweg, und wenn die Spitze an einer
Wurzel hängen bleibt, so wird sie mit Axt oder Wald-
messer abgehauen. Nur in Zuckerrohrplantagen wird
regelrecht gerodet, weil man mit schweren Pflügen
arbeitet.
Die Hacken der Kolonisten des Inkareiches waren
aus Kupfer. doch findet man daneben auch Stein, wo
es an Metall fehlte. Diese Steinhacken werden viel-
fach mit den Steinäxten verwechselt, weil sie ihnen
ähnlich sind und an den Hakenstock (Kuti = um-
wenden) angebunden wurden, um Kartoffeln und Mais zu
häufen. .
Ob die höher stehenden Völker diese Errungenschaften
bei ihrer Einwanderung mitgebracht haben, wird wohl
erst durch weitere Untersuchungen nachgewiesen werden
können, und ich möchte hier vorläufig nur auf die längst
bekannten großen Kulturunterschiede hinweisen.
Wenn wir nun von den Waldbewohnern zum Strande
des Meeres gehen, so finden wir statt der Jäger eine
Fischerbevölkerung. Das Haus besteht aus Schilfmatten
und steht auf trockenem Sande. Die ganze Nahrung
liefert ursprünglich das Meer mit seinen Fischen, Krebsen,
Muscheln usw., und dazu kommt als einzige vegetabilische
Nahrung der Seetang (Kóchay-yúyu) Ein breiter
Streifen unfruchtbaren Dünenlandes trennt die Fischer
von dem fruchtbaren Alluvialboden.
Die Fischerei auf hohem Meer war Sache der Männer,
die auf ihren Schilfbooten hinausfuhren, während Frauen
und Kinder alles übrige am Strande sammelten, um
selbst bei schlechtem Fange auf See Lebensmittel zu
haben. Kam der Mann nach Hause, so schleppten Frau
und Kinder die Beute nach der Hütte, wo sie aus-
genommen, gesalzen und getrocknet wurde.
Aus den Burgen aus Luftziegeln im Lande der
Yungas sehen wir aber, daß der Aufenthalt am Strande
oft durch Piraten gefährdet wurde. Die Fischer mußten
sich also zeitweise vom Strande zurückziehen und fanden
dann in den halb ausgetrockneten Flüssen nicht die
nötige Nahrung. Anderenteils war die Jagd auf Land-
tiere gering und die Fähigkeit als Jäger weniger aus-
gebildet. So genügten ihnen die Tauben und Rehe
nicht, und sie waren dann auf den Ackerbau angewiesen.
Zu welcher Vollkommenbheit es aber dieses Volk mit seinem
Hackbau gebracht, beweisen die alten Bewässerungs-
gräben und Furchen auf längst ausgedörrten Feldern.
Die Hauptfrucht war der Mais, der nicht gemahlen,
sondern geschält ganz gekocht wurde (mote) und neben
dem Fisch noch heute die Hauptnahrung dieser Indianer
ausmacht. Da aber die Felder zu weit vom Strande des
Meeres entfernt lagen, so muß sich schon früher eine
Teilung der Arbeit gebildet haben und damit ein
Handel mit Mais und Fischen.
Wenn wir uns nun das Besitztum einer primitiven
Familie vorstellen, so müssen wir vor allem bedenken,
daß es Gemeingut war, in dem dem Manne als Haupt
der Familie der Löwenanteil gehörte. Ein Reservat der
Frau habe ich nicht gefunden und ebensowenig ein
Gärtchen, das schon auf höheren Grad der Kultur und
vielleicht Rassenneigung schließen läßt. Der Platz des
Hauses war auch häufig für Pflanzungen nicht geeignet,
weil bei der Auswahl ganz andere Rücksichten genommen
werden mußten als bei dem Felde.
Die Feldarbeit an dieser und jener Seite der Cordillere
war Männerarbeit, doch half die Frau beim Reinigen
und Ernten,
von Buchwald: Primitiver Feldbau und Arbeitsteilung.
Wenn auch stellenweise die |Feldarbeit die Haupt-
sache wurde, so pflegte man die'Jagd doch nicht ganz
zu vergessen.
Bei den Yumbos am oberen Napo fand ich, daß sie
drei Häuser und ebensoviele Felder (Karu-Tambo =
Karu, fern, und Tambo, Wohnung) haben, die voneinander
entfernt liegen. Die Jagd ist ebenso geringfügig ge-
worden, daß man alles Getier als Lebensmittel betrachtet.
Ratten, Raubvögel, Faultiere und die kleinsten Vögel
werden gegessen, und man verläßt die Wohnung während
mehrerer Monate, damit sich wieder neue Tiere dort an-
sammeln. Alle vier Monate wird gewechselt, und ein
Fest mit berauschenden Getränken bezeichnet den Ein-
tritt in die neue Wohnung. Chontaruro (Guillema sp?)
und weißen Kakao (Theobroma bicolor) läßt man in der
Rodung stehen, weil sie Nahrung bieten, das übrige wird
mit Mais und Yuca (Manihot aipi) bepflanzt, ehe man die
Wohnung verläßt.
Bei fortschreitender Kultur wurde die Jagd aber mit-
unter fast ganz vergessen, und es steigerten sich die
Bedürfnisse der vegetabilischen Nahrung. Sowohl bei
den Inkas als auch bei den Yungas mit ihrem Hackbau
trat eine veränderte Lebensweise ein. Das Haus blieb
natürlich dort, wo die Beschaffung des Wassers am
leichtesten war, aber die Felder entfernten sich je nach der
Qualität des Bodens. Der Mann arbeitete draußen, und
die Frau brachte ihm Essen und Chicha nach dem Felde;
wie noch heute, so vor langen Jahren, wie die Krüge
und Schalen in den Begräbnissen beweisen.
Die Lasten in der Nähe des Hauses, an das sie schon
die Familie band, trug die Frau, nach auswärts aber
der Mann. So sah ich die Frauen von Papallacta (auf
dem Wege zwischen Quito und dem Napo) mit Körben
voll Bohnen und Arracacha zwischen dem Dorf und den
Feldern im Tale verkehren. Die hölzernen Schalen und
Löffel aber zum Verkauf in Quito trugen die Männer,
die es nicht gern sehen, daß ihre Frauen die spanische
Sprache erlernen.
Bei den von den Yungas abstammenden Stämmen ist
der Ackerbau so intensiv, daß zweimal je nach der
Jahreszeit verschiedene Arten Mais gesät werden. Ja
bei einigen tritt sogar ein sechsmonatlicher Wohnungs-
wechsel mit verschiedener Kultur im Hoch- und Tief-
lande ein.
Wir finden also, daß bei den Völkern der Cordillere
der Ackerbau von den Männern besorgt wird und die
Frau höchstens bei der Ernte hilft. Töpfe habe ich
ebenfalls nur von den Männern anfertigen sehen. Dagegen
ist Kochen, Spinnen und Weben Frauenarbeit.
So komme ich denn zu der sozialen Stellung der
Frau, die ich unter Bezugnahme auf einen kleinen
Artikel in Nr. 22 des 97. Globusbandes besprechen möchte.
Ich glaube, daß die karaibischen Stämme von denen
der Westseite strenge getrennt werden müssen. Wenn
die Frauen, besonders bei den Nordkaraiben, so ver-
schieden von den Männern waren, so kommt das doch
wohl nur daher, daß sie zu anderen, höher entwickelten
Stämmen gehörten. Die Karaiben töteten eben die
Männer und behielten die Frauen, die natürlich ihre
Sprache bewahrten. Daher die häuslichen Kenntnisse
der Frauen und ihre niedrige Stellung den Männern
gegenüber. Sie waren eben kriegsgefangene Sklavinnen.
Bei den andinischen Stämmen war die Stellung der
Frau weit besser, und die Mutter und Großmutter wurden
hoch geehrt. Ja, die Frauen konnten mitunter einfluß-
reiche Stellungen einnehmen, wie aus der Sage von Manko
Kapak und seinen vier Schwestern zu ersehen ist.
Die Frau hat im allgemeinen eine passivere Stellung
als der Mann, allein wenn man bedenkt, daß sie im
Der Fischfang der Eingeborenen an der mauretanischen Küste.
Walde, wenn der Mann auf der Jagd war, ihre Kinder
zu verteidigen hatte, so kann man sich die Entwickelung
des entschlossenen Kampfes wohl vorstellen. Eine der
Schwestern von Manko Kopak jagte mit ihrer brutalen
Kampfweise den Feinden blinden Schrecken ein, und
eine andere Frau verteidigte Cuzco gegen die Chankas.
Von einer Frau vom Maranon, die einem Panther das
Rückgrat mit dem Ruder zerschlug, nachdem er ihrem
Manne das Bein zerbissen hatte, hörte ich ebenfalls
erzählen.
Solcher Beispiele ließen sich wohl noch mehr auf-
zählen, und ich glaube, daß die indianische Frau sich
unter Umständen wohl am Kampfe beteiligen kann, wie
Orellana berichtet, zumal wenn sie Mann und Kinder
bedroht glaubt.
Trotzdem zweifle ich an dem historischen Grunde
der Amazonensage. Es gehörte eben zu dem Charakter
der Spanier jener Zeit, profane und religiöse Sagen der
Alten Welt auf Amerika zu übertragen, das ja nur die
Atlantis war, die einst bis nach Spanien gereicht haben
sollte. Auf andere Weise konnten sie sich die Ver-
breitung des Menschengeschlechtes seit Noah nicht er-
klären.
Wer die ersten Kapitel zur Geschichte des Inka-
reiches von Pedro Sarmiento de Gamboa (ed. R. Pietsch-
mann) liest, kann sich einen Begriff davon machen, wie
man damals Geschichte schrieb und mit der Genealogie
der Völker umging.
Was nun gar die Verbindung der Sonnenjungfrauen
mit der Amazonensage betrifft, so scheint mir das doch
recht bedenklich. Die Sonnenjungfrauen waren keines-
wegs Nonnen nach europäischen Begriffen. Sie hießen
271
Aklla, d. h. Auserwählte, die allerdings im Sonnendienst
tätig waren, aber nur so lange, bis der Inka sie in
seinen Harem aufnahm oder sie als Preis an seine Heer-
führer verteilte. Das wurde beiderseits als hohe Ehre
angesehen.
Nun wird allerdings berichtet, daß Anko Ayllo, Heer-
führer der Chankas, der unter Pachakutek focht, mit
seiner Mannschaft in die Wälder nach Rupa-rupa (rupa
— heiß) entflohen sei, und daß man nicht wieder von
ihm gehört habe. Wie aber Sonnenjungfrauen in jene
Gegenden zwischen Chachapoyas und Guanuco gekommen
sein sollen, ist mir nicht klar. Wie gesagt, Orellana
wird wohl kämpfende Frauen gesehen haben, und die
üppige spanische Phantasie jener Zeit hat das übrige
hinzugedacht.
Was aber die Sonnenjungfrauen betrifft, so haben
sie jedenfalls Bedeutung für die soziale Stellung der
indianischen Frau im Reiche der Inkas.
Wenn ich die durch die spanischen Encomindas ver-
tierten Indianer des Hochlandes ausnehme und die
Frauen der andinischen Stämme betrachte, wie ich sie in
langen Jahren auf Reisen beobachtet habe, so finde ich,
daß die Arbeitsteilung und soziale Stellung eine durch-
aus angemessene ist.
Mit dem Ackerbau hob sich die Stellung der Frau.
Am Maranon erinnere ich mich, die Tochter des letzten
Kaziken gesehen zu haben, die mit souveräner Würde
ein Dutzend Männer beherrschte, und an der Küste
wurde ich nicht den Männern, sondern den Frauen vor-
gestellt, deren jede die Spezialität einer Fischspeise
kannte und von der Küche aus ihr kleines Reich
regierte.
Der Fischfang der Eingeborenen an der mauretanischen
Küste.
Die Küsten Mauretaniens sind reich an Fischen, und
neuerdings werden sie auch von französischen Fischereidampfern
viel aufgesueht, nachdem dort bei Kap Blanco der Hafenort
Port-fitienne begründet worden ist. Die französische Regie-
rung hatte außerdem im Jahre 1908 den Dozenten A.Gruvel
und den bekannten Saharaforscher R. Chudeau nach jenen
Küstengebieten entsandt, damit sie sie wissenschaftlich und
wirtschaftlich untersuchten, auch das Meer im Interesse der
französischen Fischerei. Gruvel und Chudeau veröffentlichen
jetzt über ihre Mission ein Werk „A travers la Mauritanie
Occidentale“ (Paris, bei Émile Larose), dessen erster Band
„Parties générale et économique“ erschienen ist, und es sei
hier daraus einiges von dem mitgeteilt, was sie über die
Fischerei der Eingeborenen berichten.
Die eingeborenen Fischer, die dort am Meere ihre Lager-
plätze haben, heißen Imragen, was eigentlich „Muschel-
sammler“ bedeutet. Es sind zum größeren Teil keine reinen
Mauren, sondern Mischlinge aus Mauren und schwarzen
Frauen. Der Beschreibung ist ein bestimmtes Fischerlager
zugrunde gelegt, dessen Bewohner aus Haratines des Mauren-
stammes EI-Bu-Abueni und Senaga der Uled-Hamed-Ben
Daman') bestehen. Das Lager selbst liegt am Abhang einer
Küstendüne nahe dem Meere. Die Hütten sind aus Straüch-
werk, Euphorbienstengeln und ähnlichem Material errichtet
und mit einem langen Grase bedeckt.
Die Männer geben auf das Meeresufer acht. Haben sie
einen Fischschwarm bemerkt, so versehen sie sich mit ihren
Netzen, entledigen sich ihrer Baumwollenkleider und legen
eine Art Badehose aus dickem Leder (Asefa) an, die den
untersten Teil des Leibes gegen die Haifische schützen soll.
Die Fischnetze sind an 2m langen Stöcken befestigt, die ihrer-
seits wieder auf im Boden vor den Hütten steckenden Gabeln
ruhen, damit sie trocknen. Der Fischer nimmt also den
1) Haratines (= „Freigelassene“) sind Mauren, die einem Krieger-
stamme eine Abgabe entrichten und sich dafür ungehindert mit
Viehzucht, Ackerbau und Handel beschäftigen dürfen. Die Senaga
sind wahrscheinlich die Urbewohner, doch stark gemischt, und wenig
mehr als Sklaven der Krieger- und Marabutstämme Mauretaniens.
(Gruvel und Chudeau, $.162 u. 163.) :
Stock mit dem Netz und wirft sich in die Brandung, um
watend und schwimmend in den Fischschwarm zu gelangen.
Den Stock hält der Fischer in der einen Hand, während er
mit der anderen das Netz ausbreitet und so viel Fisehe wie
möglich darin einzuschließen versucht. Er geht dann mit
seiner Beute ans Ufer und schüttet sie auf den Sand, um
von neuem sich ins Meer hinein zu begeben und das Ma-
növer zu wiederholen, bis der Schwarm verschwunden ist.
Ist das Netz lang genug, so wird es auch an zwei
Stöcken befestigt, und es arbeiten dann zwei Mann gemein-
sam. Auch die Kinder fischen mit kleinen Netzen zusammen
mit den Erwachsenen. Es sind äußerst geschickte Schwimmer,
die sich in der Brandung nur mit den Füßen oben zu halten
wissen, so daß sie mit den Händen frei zu agieren vermögen.
Die maurischen Netze sind zum Teil aus in &St.- Louis
gekauftem Hanfgarn, zum Teil aus einem Faden geknüpft,
der aus einer dort sehr häufigen Asklepiadee („Titarek*, Le
tadenia pyrotechnica) gewonnen wird. Die Schwimmer (Kita),
2 bis 3cm breit und 6 bis 7 cm lang, sind aus gut getrockneten
Calotropis-Stengeln geschnitten. Als Netzbeschwerer (Ida)
benutzt man in der Gegend von Nuakschott Bruchstücke von
Ziegeln aus dem alten Fort Marsa (dem früheren Portendick),
anderwärts Kugeln aus gebranntem Ton. Diese ziehen den
unteren Teil des Netzes zu Boden, während der obere Teil
auf der Oberfläche des Wassers gehalten wird.
Die primitive Methode gestattet den Imragen den Fang
nur weniger Fischarten; es sind in der Hauptsache Meeräschen
oder Seebarben: Mugil cephalus, von den Eingeborenen Asaula
genannt, und Mugil auratus, dessen maurischer Name Agmila
ist. Diese Arten kommen an der Küste in gewaltigen Massen
vor und bilden mehr als drei Viertel des maurischen Fisch-
fangs. Manchmal gehen auch Seezungen ins Netz, aber sie
haben für die Mauren keinen Wert und werden am Strande
liegen gelassen. Diese Abneigung gegen Plattfische findet
sich bei allen mohammedanischen Schwarzen. Man hat das
auf irgend welche religiöse Verbote zurückführen wollen,
aber, wie Gruvel und Chudeau meinen, mit Unrecht. Der
Plattfisch behagt den Mauren und Schwärzen einfach deshalb
nicht, weil er im Verhältnis zum eßbaren Fleisch zu viel
Gräten enthält, besonders wenn er — was ja meistens der
Fall — getrocknet genossen wird.
Ist der Fang wenig ergiebig gewesen, so werden alle
Fische gleich zubereitet und im Lager verzehrt. War er
272
Bücherschau.
reichlich, so trocknet man die Fische und steckt sie in be-
sondere Säcke aus Titarekfasern. Die Frauen nehmen diese
Säcke auf den Rücken und verkaufen oder vertauschen sie
in benachbarten Lagern oder bei durchpassierenden Karawanen.
Die Zubereitung der Fische ist folgende: Man entfernt
den Kopf, öffnet den Fisch auf der Mitte und am Rücken,
nimmt die Wirbelsäule und die Eingeweide heraus und läßt
ihn von der Sonne auf dem Hüttendach oder auf Gesträuch
trocknen. Salz wird dabei nicht verwendet. Solange der
Fisch noch feucht ist, legen die Fliegen ihre Eier dort nieder;
aber die Sonne, der Wind und die trockene Luft dörren ihn
so schnell, daß die Maden nicht zum Auskriechen kommen.
Diese getrockneten Fische sind bei den Mauren sehr beliebt
und werden von ihnen so wie sie sind verzehrt. Sie rösten
sie aber auch auf Kohlen oder kochen sie mit etwas Hirse
oder Reis. Es findet an der Küste ein ziemlich lebhafter
Handel mit ihnen statt. Von den Marabutstämmen sind es
besonders die El-Bu-Abueni, die EI-Barrikallah und die
Tendgha, die Fischlasten ziemlich überall im Innern und bis
nach Adrar gegen Guineakorn, Hirse usw. verkaufen.
Bücherschau.
Leo Frobenius, Kulturtypen aus dem Westsudan. Aus-
züge aus den Ergebnissen der zweiten deutschen inner-
afrikanischen Forschungsexpedition nebst einem Anhang
über Kulturzonen und Kulturforschung in Afrika. 125 8.
mit 1 Karte u. 7 Textfiguren. (Ergänzungsheft Nr. 166
zu „Petermanns Mitteilungen“.) Gotha 1910, Justus Per-
thes. 8,40 M.
Der Verfasser hat zwei Reisen nach Afrika unternommen,
die eine vor ein paar Jahren nach dem südlichen Kongobecken,
die zweite jüngst nach dem Französischen Sudan und Togo.
Zwischen diesen beiden Reisegebieten klafft ein weiter Raum,
den der Verfasser noch nicht kennt, und dem er jetzt eine
besondere Reise, die dritte, widmen will. Nachdem er auch
diese hinter sich hat, will er dann endlich sein ganzes Material
verarbeiten und herausgeben. Um aber schon jetzt eine Vor-
stellung von dem zu liefern, was er auf der Westsudanreise
quantitativ und qualitativ gesammelt und wie er gearbeitet
hat, ist er dem Rat wohlmeinender Freunde gefolgt und hat
hier sozusagen einen Ausschnitt aus seinem Material vor-
gelegt und auf gewisse seiner Schlußfolgerungen schon jetzt
aufmerksam gemacht.
Sicherlich hat der Verfasser, wie auch schon früher, die
Museen, für die er sammeln durfte, um viele und interessante
Stücke bereichert. Ob er aber auch die Völkerkunde selbst
um so viel Tatsachen bereichert hat, wie er kühnen Mutes an-
nimmt, darüber dürften die Meinungen auseinandergehen.
Die Sucht zu überraschen, die Ethnologen durch neuartige
Spekulationen zu verblüffen, äußert sich auch in dieser Arbeit
des Verfassers. Freilich soll nicht verkannt werden, daß aus
ihr eine gewaltige Beobachtungsfreudigkeit spricht, die auch
keineswegs vergeblich gewesen, wenn vielleicht auch nicht
immer richtig verwendet worden ist. Um wenigstens einen
kleinen Begriff von des Verfassers weitreichenden Ideen zu
geben, sei erwähnt, daß ihm eine gewisse, nicht zufällige
Verwandtschaft des mittelalterlichen europäischen mit dem
westsudanischen Rittertum der dortigen Epen aufstößt. Dieses
afrikanische Rittertum stamme fraglos aus dem Libyer- und
Berbertum; nun seien aber jene maurischen Stämme, mit
denen seinerzeit die Krieger Karls des Großen in Spanien
fochten, und die dem Rolandslied bekannt sind, ebenfalls
Berber gewesen. „Es darf ferner darauf hingewiesen werden,
daß gerade nach dem Verkehr zwischen den maurischen
Berbern in Spanien mit den Stämmen Südfrankreichs jene
Periode des Rittersanges und des Epos neu belebt und die Form
ins Leben gerufen wurde, der wir den Parsival und das Ga-
vanlied verdanken.“ Aber noch mehr: Späterer Zeit, so meint
dann der Verfasser, mag es vorbehalten sein, darauf hinzu-
weisen, und zu beweisen, daß die ältere Kultur Westeuropas
und Nordwestafrikas sich auf gleicher Grundlage erhoben
hat. — Man kann dazu nur wünschen, daß der Verfasser
selbst noch Zeit und Gelegenheit finden möge, diesen Beweis
zu führen; denn ihm wird er wohl am besten gelingen.
Hoebels Karte von China. Maßstab 1:4500000. Berlin,
Kommissionsverlag der Simon Schroppschen Landkarten-
handlung. 6%. 3
Diese Karte, deren Verfasser Dolmetscher des Chinesischen
im Chinafeldzuge gewesen ist, räumt mit den bisherigen
Transskriptionen der chinesischen Namen auf unseren China-
karten auf. Ihnen lag der eine Dialekt von Peking zugrunde.
Hier aber sind für die verschiedenen zahlreichen Dialekt-
gebiete besondere Transskriptionen geschaffen worden, und da
lag die Schwierigkeit darin, deren Geltungsbereich festzu-
stellen. Demnach begegnen uns auf der Hoebelschen Karte für
bekannte Orte Namen, die ganz anders wie die seither üblichen
lauten, z. B. Hök tschiu hu statt Futschau. Der Verfasser
hat denn auch gefühlt, daß diese Umwälzung in der Namen-
schreibung die praktische Verwendbarkeit seiner Karte beein-
trächtigen könnte, und deshalb häufig die pekinesischen Namen
in grüner Schrift neben die neuen gesetzt. Ob die neue Me-
thode Nachahmung verdient, ist vielleicht fraglich; ob der
an sich durchaus anerkennenswerte Versuch überall gelungen
ist, mögen Binologen entscheiden. An dieser Stelle kann die
Karte nur vom geographischen Standpunkt aus beurteilt
werden, und da wäre folgendes zu sagen.
Das Gelände, braune Schummerung, läßt eine ausreichend
durchgearbeitete Plastik vermissen, die gewaltigen Hochgebirge
des Westens sehen ebenso aus, wie die Mittelgebirge oder
Hügel des Ostens. Das ist um so mißlicher, als die Karte
keine Höhenzahlen angibt; wir haben nur ein paar auf For-
mosa entdecken können. Bei der Zeichnung des Flußnetzes
ist des Guten zu viel getan. Die zahllosen kleinen Flüßchen
verwirren das Auge und können im übrigen den ganz falschen
Eindruck erwecken, als seien sie wirklich bekannt. Nirgends
begegnet man einem gestrichelten Flußlauf, und doch sind ja
die wenigstens aufgenommen. Andererseits ist es sehr schwer,
auf der Karte gerade die großen Flußläufe zu verfolgen, weil
sie zu dünn und undeutlich gezeichnet sind. Bei der Dar-
stellung des größten Teils von China hat der Verfasser im
wesentlichen andere, ältere Kartenkompilationen zugrunde
gelegt; einige Gebiete, so die Mongolei und auch Teile von
Szetschwan, hat er selber nach den Originalquellen bearbeitet,
wobei ihm freilich doch manches entgangen ist und auch
Fehler vorgekommen sind. Bo ist z. B. der doppelte obere
Hoanghobogen nach Futterer richtig eingetragen, aber der
Name Baa-Gol kommt einem südlicheren Zufluß zu. Im übrigen
muß anerkannt werden, daß die neue Chinakarte einen sehr
reichlichen Inhalt und viele nützliche Angaben aufweist. 8.
Baeßler-Archiv. Beiträge zur Völkerkunde, herausge-
geben aus Mitteln des Baeßler-Instituts. Unter Mitwirkung
der Direktoren der ethnologischen Abteilungen des Königl.
Museums für Völkerkunde in Berlin redigiert vonP.Ehren-
reich. Bd.I, Heft 1 mit 4 Tafeln und 49 Abbildungen
im Text. Leipzig 1910, B. G. Teubner. Preis des Bandes
von 36 Bogen 20 f.
Es ist dieses die erste Frucht, die der Ethnographie aus
den reichen Mitteln erwächst, welche der vor zwei Jahren
verstorbene Reisende und Ethnograph Prof. Baeßler dem
Museum für Völkerkunde hinterließ. Unter der Redaktion
eines bewährten Fachmannes liegt der Anfang des Archivs
in vornehmster Ausstattung hier vor, und es ist zu hoffen,
daß die Fortsetzung von eben so gediegenem Inhalt wie dieses
erste Heft sein wird, das eine einzige Abhandlung, von
Dr. Max Schmidt „Über altperuanische Gewebe mit
szenenhaften Darstellungen“, bringt. Im wesentlichen
benutzt sie die überreiohen Schätze, welche im Jahre 1907
durch eine Schenkung der Gretzerschen Sammlung in das
Berliner Museum gelangten.
So viel auch über die merkwürdigen peruanischen Ge-
webe schon gearbeitet wurde, die in wunderbarer Erhaltung
aus Gräbern ans Tageslicht gelangten, so bekommen wir doch
hier zum ersten Male reinliche Scheidungen nach der chrono-
logischen Seite und den Stilarten, die bisher meistens über-
sehen wurden. Auch in den Deutungen der Szenen ist
Schmidt glücklich gewesen, und in der schwierigen Frage,
ob ein neuer von ihm nachgewiesener Kulturkreis etwa von
außen her zu einer unbestimmten Zeit an die Küste Perus
gelangt sei, verhält er sich vorsichtig. Ob zu Lande oder zu
Wasser, von Westen oder Norden kann er nicht sagen. Aber
er schaut mit Ephraim und dem Webstuhl nach Westen.
Das große Fragezeichen für das Eindringen einer außerameri-
kanischen Kultur nach Amerika besteht aber fort, und am
auffallendsten bleibt, daß bei etwaiger Übernahme einer
hohen Webekultur so wichtige Kulturwerte wie Haustiere
und Eisen nicht auch übernommen wurden, die doch eher
als nützlich ins Auge fallen mußten, wie schöne Gewebe.
Dem Verfasser in manche Einzelheiten seiner sorgfältigen
Studien zu folgen, ist leider ohne Beigabe von Abbildungen
nicht möglich, da diese erst das Verständnis bringen. Die
Kleine Nachrichten.
273
technische Seite der Arbeit kann also ohne solche hier nicht
erörtert werden. Schmidt faßt zunächst die figürlichen Dar-
stellungen von Pachacamac ins Auge, bei denen von einem
Einflusse der Inkakultur noch keine Rede ist, neben oder
vielmehr vor welchen sich deutlich noch eine ältere Art von
Szenen nachweisen läßt, welche mit der alten Kultur von
Tiahuanaco übereinstimmt und auch in ihren Geweben eine
durchaus andere Technik zeigt. Das beweisen die erhaltenen
Stücke und auch die vorhandenen, teilweise rekonstruierten
Webapparate. Diese ältere, schon durch Uhle betonte Tiahu-
anacokultur zeigt als besonders typisches Kennzeichen eine
quadratische Anordnung der einzelnen Teile der Figuren nicht
nur in den Geweben, sondern auch auf Baumwollstoffmalereien.
Und weiter hat Schmidt nachgewiesen, daß diese Webereien
von Tiahuanaco nicht nur in der Technik mit jenen von Ica
übereinstimmen, sondern daß auch die Flächenornamentik
beider nahe verwandt ist. Dadurch ist festgestellt, daß in Ica
und Tiahuanaco zwei alte Schwesterkulturen vorhanden waren.
Die figürlichen Bilder der jüngeren Pachacamaczeit aber
zeigen gegenüber dem eben erwähnten quadratischen ganz
anderen Charakter und sind oft schwierig zu deuten. Da
haben wir wahrscheinlich geschichtliche Darstellungen, Mythen,
Szenen aus dem Alltagsleben vor uns, z. B. Bootfahrten (auf
den heute noch üblichen Balsas), Fischerei, Gewebedar-
stellungen, welche als altperuanische Bilderschrift (?) gedeutet
werden, von der bisher kaum etwas bekannt war, wiewohl
schon Acosta darauf hinwies. Allein die Deutungen sind
schwierig, und Schmidt muß sich damit begnügen, die Frage
angeschnitten zu haben. Ganz neu sind seine Nachweise von
Bildern von Kulturpflanzen, die schematisch, aber zum Teil
gut erkennbar, als Malerei auf Geweben vorkommen. Wir
erkennen den Mais, die Mandioka mit den bekannten Wurzeln,
Bohnen und anderes. Diese Pflanzungen zeigen gewöhnlich
auch die Figuren von Feldhütern (Pariana), welche die Felder
vor Diebstahl und Vogelschaden schützten und deren Amt
mit einer Art von religiöser Würde verbunden war. Mit
ihnen sind auch Mythen verknüpft, welche auf den Bildern
zur Darstellung gelangen.
Durch die Scheidung der verschiedenen Stile und der
durch sie gekennzeichneten altperuanischen Kulturperioden,
die Max Schmidt hier in die Wege geleitet hat — viel ist
noch zu tun — sind wir in der Deutung dieser Textile um
ein gutes Stück weiter gekommen, und die ganze Arbeit ist
als eine glückliche Einleitung des neuen Baeßler-Archivs zu
bewillkommnen.
Charles P. Bowditch, The Numeration, Calendar
Systems and Astronomical Knowledge of the
Mayas. 340 S. mit 19 Taf. Cambridge 1910.
Seit dem- Tode des Nestors der Mayaforschung, Ernst
Förstemanns, schien dieser Zweig der Amerikanistik etwas
vernachlässigt zu sein, da sich das Interesse der Forscher
anderen, im Augenblicke wichtigeren Aufgaben zugewandt
hat. So sehr sich auch in den letzten Jahren der Kreis der
Amerikanisten vermehrt hat, so sind doch diejenigen, die
sich ernsthaft mit dem Problem der Entzifferung der Maya-
hieroglyphen beschäftigen, nur wenige. Ihre Anzahl scheint
eher ab-, als zuzunehmen, ein Umstand, der selbst wieder
nur dazu beiträgt, das Interesse an diesem Wissenszweig er-
lahmen zu lassen, das nur durch die Mitarbeit mehrerer
Forscher wach erhalten und gefördert werden kann. Seit
dem „Primer of Mayan Hieroglyphics“ von Daniel G. Brinton
ist etwas Zusammenfassendes über die Mayahieroglyphen
nicht mehr veröffentlicht worden, obwohl durch die Arbeiten
von Seler, Förstemann, Schellhas, Bowditch, Goodman,
Tozzer, C. Thomas manche Probleme in vielen Einzelheiten
sogar gelöst worden sind. Freilich macht sich eine gewisse
Stagnation der Forschung fühlbar, weil das Vergleichsmaterial
beinahe erschöpft ist, wenigstens was die drei Mayahand-
schriften in Dresden, Paris und Madrid anlangt, Zu denen
keine weitere sich auffinden lassen will.
Andererseits ist das Studium der Steininschriften noch
über die chronologische Entzifferung der Initial Series kaum
hinausgekommen; ein Vergleich zwischen diesen und den
Handschriften stößt auf außerordentliche Schwierigkeiten
und ist in vielen Fällen ergebnislos.. Dinge nur aus diesen
selbst heraus erklären zu wollen, ist meist eine Unmöglich-
keit. So liegt es mit den Hieroglyphen der Mayahandschriften,
obwohl uns ihr bildlicher und rechnerischer Inhalt im wesent-
lichen geläufig ist.
Die absurden Entzifferungen Brasseur de Bourbourgs
sind inzwischen so gut wie vergessen worden, seitdem Förste-
mann seine Kommentare zu den genannten drei Hand-
schriften am Abend seines hochbetagten Lebens geschrieben
hat. Die praktischen Amerikaner haben im 28. Band der
Bulletins des Bmithsonian Institution 24 Aufsätze verschiedener
deutscher Autoren unter der Aufsicht von Oharles P. Bow-
ditch in englischer Übersetzung, Washington 1904, gesammelt,
die zumeist Mayaforschungen betreffen.
Es lag das Bedürfnis vor, den jetzigen Stand der Maya-
hieroglyphenforschung zu schildern, und es ist unstreitig ein
großes Verdienst, das sich der Verfasser erworben hat, in-
dem er einen Teil dieser Aufgabe erschöpfend behandelt
hat in einem Werke, das hoffentlich neue Jünger dieser
jungen Wissenschaft zuführen wird. Es ist ganz unmöglich,
hier auf alle Einzelheiten einzugehen, da das ganze Werk
eine Summe unzähliger Einzeltatsachen ist, die mit großem
Fleiß und in wohltuender Übersichtlichkeit angeordnet sind.
Was die Planeten (8.225 ff.) anlangt, so sind die von
Förstemann eruierten Zeichen dafür bis auf die Venus zweifel-
haft. Vielmehr scheinen sie zusammenzuhängen mit gewissen
Hieroglyphen aus Chichen Itza, die nach Seler (Verhdlg. XVI.
Int. Am.-Kgr. Wien 1909, S. 158 ff.) Konjunktionen des
Planeten Venus mit verschiedenen Sternbildern darstellen.
Ich stimme auch dem Verfasser bei, wenn er (8.227) die
Deutung des Förstemannschen Saturn im Cod. Dresd. ab-
lehnt. Verfasser verwirft auch (8. 212) die Merkurperiode,
aber, wie ich glaube, mit Unrecht. Die synodische Umlaufs-
zeit dieses Planeten, die von den Astronomen mit 115 Tagen
21 Stunden berechnet wird, kommt den 115 Tagen des Codex
Dresdensis Bl. 51 und 52 immerhin nahe. Man darf daher
an einer mit 12 lamat beginnenden Merkurperiode wohl
noch vorläufig festhalten.
Was den Planeten Mars anlangt (8.229 und 8.235), so
müßte namentlich die wichtige und merkwürdige Reihe auf
Bl. 43 und 44 des Codex Dresd. herangezogen werden, die
mit 3 lamat 6 zo’tz beginnt und die Differenz 780 aufweist.
An der Richtigkeit der Hieroglyphen der vier Himmels-
richtungen und der vier entsprechenden Farben (S. 249) kann
füglich nicht mehr gezweifelt werden.
Im Appendix I, 8. 263 werden die Bedeutungen der
20 Mayatageszeichen nach verschiedenen Autoren gegeben,
die aber meist unrichtige Vermutungen enthalten. Seler hat
diesen Gegenstand jedoch ganz ausführlich (Ges. Abhdig
Bd. I, 1902, 8. 449 bis 500) behandelt und namentlich die
Etymologien grundlegend festgestellt. Es ist zu verwundern,
daß Brasseur de Bourbourg, Brinton uud Schellhas hier als
Autoren zitiert werden und Seler mit Stillschweigen über-
gangen wird.
Auch die Bedeutungen der 18 Monate sind vielfach
falsch oder ungenau. So ist, um einiges richtig zu stellen,
yaxkin („die grüne Sonne“) „das erste Fest“, nämlich nach
dem vorhergehenden Monat xul „Schluß“, in den früher das
Jahresende fiel. Mac bedeutet „Grenze, Absperrung“. Moan
ist ein Wolkendämon, was aus dem Ackersegen von Xconcha-
kan bei Brasseur hervorgeht (vgl. oxlahun taz muyal „die
13 Schichten der Wolken“). Aus der Vorstellung des Ver-
hüllten, Dunkeln entwickelte sich vermutlich die Idee des
Todes und des mit Todessymbolen ausgerüsteten Moan-Vogels.
Kayab bedeutet ursprünglich „womit man singt“, cumku
enthält etymologisch vielleicht cum „Topf“; die Hieroglyphe
scheint jedenfalls Lebensmittel in einem Topf anzudeuten.
Auf den beigefügten Tafeln werden die Varianten der
bekannteren Hieroglyphen, wie der 20 Tageszeichen, der
18 Monate, der Zyklen, katun, tun, uinal und kin, der Zahlen
in Balken und Punkten sowie in Köpfen usw. nach den Hand-
schriften und Steinmonumenten abgebildet.
Dr. Walter Lehmann-München.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Auf der diesjährigen Versammlung deutscher Natur-
forscher und Ärzte, im September in Königsberg i. Pr., sprach
Filchner über seine geplante Südpolarexpedition. Seine
Mitteilungen hat er der Zeitschrift der Berliner Gesellschaft
für Erdkunde übergeben, wo wir sie in Nr. 7 abgedruckt
finden. Das Neue darin sei hier kurz verzeichnet und mit
ein paar Bemerkungen begleitet.
Dadurch, daß Filchner und Scott sich möglichst in die
Hände arbeiten wollen, ist die anfangs ins Auge gefaßte Ent-
sendung eines zweiten Schiffes überflüssig geworden, so daß
274
Kleine Nachrichten.
die Kosten des Filchnerschen Unternehmens sich auf 1200000 f
ermäßigen. Die Hälfte davon ist durch Zeichnungen bereits
gedeckt. Filchner hat auch schon das Expeditionsschiff an-
gekauft, nämlich den Sandefjorder Walfänger „Björn“, und
es in Christiania ins Dock gebracht. Das Schiff, das künftig
den Namen „Deutschland“ führen wird, ist 56m lang und
10'/,m breit, hat einen Gehalt von 527t brutto und 277t
netto und eine Segelfläche von 7000 Quadratfuß. Die Maschine
hat 400 Pferdekräfte, und das Schiff kann bei voller Fahrt
7 Knoten laufen. Zurzeit wird das Innere den Zwecken
der Expedition entsprechend umgebaut, im Dezember wird
das Schiff in Hamburg zur Verfügung stehen. Als Kapitän
ist der Norweger Jörgensen gewonnen worden, sämtliche
anderen Teilnehmer — im ganzen etwa 25 Mann Besatzung
und 10 Mann wissenschaftlicher Stab — werden Deutsche sein.
Die Ausreise soll „im Frühjahr“ 1911 erfolgen, wohl des-
halb so früh, damit für die geplanten Meeresforschungen auf
der südamerikanischen Seite des Atlantischen Ozeans etwas
Zeit bleibt. Man wird dann Buenos Aires und Südgeorgien
anlaufen und über die Sandwichinseln in das Weddellmeer
vorstoßen, dessen Tiefenverhältnisse weiter untersucht werden
sollen. Die Landung wird südlich von Coatsland angestrebt
werden, wo Filchner seine Basisstation entweder auf dem
Lande oder aber auch, wenn solches nicht erreicht werden
kann, auf dem Eise errichten will. Bezüglich des Schlitten-
vorstoßes zur Entscheidung der Frage des Zusammenhanges
zwischen Ost- und Westantarktika sagt Filchner: „Über die
Richtung des Schlittenvorstoßes ergeben sich zwei Möglich-
keiten: Entweder wir finden Anhaltspunkte für den an-
genommenen Meeresarm zwischen Ost- und Westantarktika,
so verfolgen wir diesen, und ein Zusammentreffen mit Scott
gewinnt an Möglichkeit, da wir naturgemäß in derselben
Jahreszeit vorgehen werden. Oder aber es ergibt sich, daß
Coatsland mit Grahamland in Verbindung steht, so unter-
suchen wir diese und stellen diese fest, indem wir jedoch
unter allen Umständen weit nach Süden vorzustoßen trachten,
um den Anstieg des Binneneises festzustellen.“
In dieser Außerung fällt auf, daß Filchner und Scott
„naturgemäß in derselben Jahreszeit“ vorgehen werden. Auf
ein solch gleichzeitiges Vorgehen verweist auch eine andere
Bemerkung Filchners: „Scott dringt von der Roßsee, ich von
der Weddellsee aus vor. Begegnen wir uns dabei, so gehen
Leute von Scott mit mir nach der Roßsee und Leute von
mir mit Scott nach der Weddellsee. So entwickelt sich ein
Durchstoß beider Expeditionen ganz von selbst.“ Dieses Über-
einkommen im Falle einer Begegnung ist deshalb getroffen
worden, damit jede Schlittenexpedition die Depots der anderen
benutzen kann. Da nun Scott seinen Schlittenvorstoß pol-
wärts im Oktober 1911, jedesfalls mit Beginn des Südsommers
jenes Jahres, antritt, so müßte Filchner bei einem „natur-
gemäß gleichzeitigen“ Vorgehen das ebenfalls tun, er müßte
also sofort nach der Landung auch mit seinem großen Schlitten-
vorstoß beginnen. Dergleichen ist bei antarktischen Expe-
ditionen noch nicht vorgekommen, und es will uns sehr fraglich
erscheinen, ob Filchner so früh im Südwinter 1911/12 landen
kann, daß er noch für seine große Schlittenreise die nötigen
Vorbereitungen treffen und sie durchführen kann. Sollte es
möglich sein und dieses Programm wirklich zur Ausführung
kommen, so würde die Filchnersche Expedition wahrschein-
lich keine Überwinterung in den Antarktis durchmachen und
schon Anfang 1912 zurückkehren. Auf jeden Fall wird
Filchner sein Schiff bei der Basisstation zurückhalten müssen,
denn die dort eventuell eintreffenden Mitglieder der Scott-
schen Schlittenexpedition werden doch wohl gleich heimkehren
wollen. Über diese Angelegenheit wird vielleicht später noch
einiges zu sagen sein.
Aus Filchners Vortrag sei schließlich noch erwähnt, daß
er außer Hunden auch mandschurische Ponies und drei Eis-
kraftwagen, diese besonders zum Legen rückwärtiger Ver-
bindungen, mit sich nehmen will.
— Eine neue europäische Verkehrslinie. Eine
Frage von wirtschaftsgeographisch höchster Bedeutung wurde
am 9. Oktober zu St.’ Johann i. T. wiederum angeschnitten.
Unter dem Vorsitz des Präsidenten des österreich-ungarischen
Abgeordnetenhauses, Dr. Pattay, in Gegenwart der Vertreter
aller österreichischen Kronländer und der Handelskammern
wurde der Beschluß gefaßt, nachdrücklichst darauf zu dringen,
daß dieSaalachtalbahn gebaut werde. Sie bedeutet für den
Verkehr Wien—Innsbruck eine Abkürzung von 97 km oder
zwei Stunden Fahrtzewinn, die zu gleicher Zeit auch dem
internationalen Verkehr Konstantinopel—Paris, Warschau—
Paris, Wien—Italien und Wien—Lindau zugute kommen.
Diese Parallelbahn zur Giselabahn, die bekanntlich eingleisig
und technisch auf die Dauer für den Weltverkehr unzulänglich
sein wird, berührt die Orte Salzburg, Bad Reichenhall in
Bayern, Lofer und St. Johann einerseits, Bad Reichenhall,
Lofer und Saalfelden mit Anschluß an die Tauernbahn
andererseits. Die Strecke beträgt 53 + 22km und würde
bei zweigleisigem Bau einen Kostenaufwand von 283450000
Kronen erfordern, im Gegensatz zu den 42 Millionen Kronen,
die die sonst notwendige Herstellung eines zweiten Gleises
der Giselabahn kosten würde. Infolge der Fahrtabkürzung
wäre die Strecke Wien—Innsbruck in 9 Stunden, Wien—
Zürich in 17'/, Stunden zurückzulegen.
Strategisch würde die Bahn insofern eine wertvolle Hilfe
bedeuten, als im Falle eines Krieges die Reichenhaller Bahn
den internationalen Personenverkehr aufrecht erhalten könnte,
während die Giselabahn ausschließlich zu militärischen
Zwecken Verwendung finden könnte. Von Interesse ist des
weiteren der Umstand, daß die ueue Bahnlinie der uralten
Reichsstraße Wien—Bad Reichenhall— Innsbruck folgen würde,
auf der auch, als dem kürzesten Wege, das Automobilwett-
rennen von 1905 Paris—Wien stattfand.
Außer für den internationalen Verkehr gewänne die
Linie auch für Österreich durch den engen Anschluß der
Kronländer Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Böhmen
und Tirol, Vorarlberg an immenser Bedeutung. Für Bayern
bedeutet die Erschließung des Saalachtales, an dem der welt-
berühmte Luftkurort Bad Reichenhall liegt, insofern einen
großen Vorteil, als bei Reichenhall ein großer Stausee zur
Ausnutzung der Wasserkräfte der Saalach errichtet wird und
damit neue Abnehmer für die Elektrizität gewonnen werden.
. Dr. C. C. Hosseus.
— Neue prähistorische Karstfunde. Vor einigen
Monaten gaben wir Nachricht von den wichtigen Entdeckungen
auf prähistorischem Gebiete, die Herr Peter Savini in der
„Fliegen -Grotte“ unweit 8. Kantian gemacht hatte. Unter
vielen anderen Objekten wurde damals ein vollständig er-
haltener Helm mit italo-etruskischer Inschrift gefunden, der
die Aufmerksamkeit der Archäologen erregte. Vor kurzem
setzte Herr Savini die Arbeiten in der tiefen Grotte fort und
seine Mühen wurden durch die Ausgrabung eines reichen
prähistorischen Depotfundes belohnt. Der Fund ist so groß-
artig, daß in drei Wochen Arbeit 4000 Stücke ans Licht
gefördert werden konnten.
Unter diesen sind in großer Zahl Waffen aus Bronze;
Lanzenspitzen, Paalstab, Kelte, Axtmesser, halbmondförmige
Sicheln, Bronzeschwerter, Dolche, kurze Schwerter wurden an
die hundert gefunden. Die Lanzenspitzen mit Hohlrinne sind
am zahlreichsten und sehr verschieden in der Form und
Ornamentierung. Nicht weniger häufig sind Schmuckgegen-
stände. Die Armbänder sind meist einfach spiralig oder schnur-
artig; einige sind verziert und von sehr schwerfälliger Arbeit,
ihre Rundung kann sich nur an sehr dünne Hände schmiegen.
Die Ringe sind meist zylindrisch und geschlossen. Es fehlen
auch nicht Fibeln, Haarnadeln und Stecknadeln. Einige
Schwertblätter wurden im rohen Zustande oder in der ersten
Bearbeitung gefunden, was zur Annahme führen würde, daß
diese tiefe Höhle eine Werkstatt war, in der die Bronze
geschmolzen und verarbeitet wurde. Unter den vielen
gefundenen Gegenständen gibt es auch einige von Eisen:
wie Lanzenspitzen und Nägel. Von Artefakten aus Knochen
ist nur ein einziges Stück gefunden, gearbeitet nach Art
eines Pfriemens. Ebenso selten sind Gefäßreste aus Ton,
bestehend in einigen Bruchstücken von aus freier Hand
gearbeiteten Gefäßen, deren Ton mit wenigen Quarz- und
Kalkspatkörnchen gemischt ist, unvollständig gebrannt oder
an der Sonne getrocknet. Die Verzierung solcher Gefäße ist
sehr einfach, entweder auf einfache erhabene Wülste beschränkt,
oder auf umlaufende Finger- oder Fingernageleindrücke, oder
mit einem spitzen Werkzeuge herbeigeführte Eindrücke. Die
Prüfung der Funde durch den Finder ergab nach seinem
Dafürhalten, daß sie aus der Übergangsperiode der vor-
geschichtlichen zur geschichtlichen Zeit stammen dürften.
Sämtliche Funde werden der prähistorischen Abteilung des
k. k. Naturhistorischen Hofmuseums einverleibt.
Triest, im September 1910. Dr. L. K. Moser.
— In den „Meddelanden frän Hydrografiska
Byrån“, No. I, hat A. Wallén, der Vorstand des Schwedi-
schen Hydrographischen Amtes, wie schon (oben 8. 19) kurz
mitgeteilt, die Wasserstandsschwankungen des Wener-
sees in dem verflossenen Jahrhundert untersucht (Väners
Vattenständsvariationer, Stockholm 1910). Die Wasserstände
am Wenersee wurden zuerst 1807 in Frugärden nahe Veners-
borg gemessen, seit 1810 in Sjötorp am Ostufer, da, wo der
Götakanal den See verläßt, um den Wettersee zu erreichen.
In den 100 Jahren von 1809 bis 1910 betrug die Differenz
zwischen Höchst- und Niedrigstwasserstand nur 2,80 m, eine
geringe Zahl, wenn man sie mit den Wasserstandsschwan-
Kleine Nachrichten.
275
kungen von Alpenseen vergleicht; freilich übertrifft der
Wenersee an Areal den größten innerhalb der Alpen ge-
legenen See, den Genfersee, um das Zehnfache. Die Diffe-
renz der Mittel der jährlichen Maxima und Minima betrug
nur 80cm. Der stärkste Zuwuchs erfolgte vom 5. Mai bis
5. Juni 1836, nämlich durchschnittlich 3,5 cm pro Tag, was
einer Zunahme von 2250cbm pro Sekunde entspricht. Die
stärkste Abnahme fand vom 26. Juli bis 3. August 1811 statt
und betrug 1,6cm pro Tag, entsprechend einer Abnahme von
1000cbm pro Sekunde. Die höchsten Wasserstände treten
im Juni, Juli, die tiefsten im März ein, die Differenzen
dieser Wasserstände betragen jährlich im Durchschnitt
0,37 m. Sehr eingehend sind die Wasserstandsschwankungen
auf ihre Periodizität untersucht worden durch immer weiter-
gehende Mittelbildungen der Wasserhöhen, namentlich der
durchschnittlichen Monatshöhen. Es zeigten sich vier ver-
schiedene Perioden: eine jährliche, eine Periode von ungefähr
33 Monaten, eine solche von 11 Jahren und eine solche von
noch längerer Dauer, wobei es aber gänzlich zweifelhaft
bleibt, ob die letztere mit der Brücknerschen 35 jährigen
übereinstimmt oder nicht. Wallén konstatiert nämlich ein
Minimum um 1810, um 1859 und um 1890, ein Maximum
um 1828 und um 1865 bzw. 1869. Der Zwischenraum
zwischen den drei Minima ist also 49 bzw. 31 Jahre, zwischen
den beiden Maxima 37 bzw. 41 Jahre. Der Übergang von
einem Minimum zu einem Maximum erfolgt weit energischer
als umgekehrt. Mit vollem Recht sagt Wallén, im Gegen-
satz zu Sieger, dessen Schlüsse auf falschen Rechnungen
fußten, daß die Beobachtungszeit am Wenersee nicht aus-
reicht, um sich für oder gegen die Brücknersche Periode zu
erklären. Von den zuerst genannten drei Perioden besitzt
die jährliche eine mittlere Amplitude von 37cm, die 33-
monatliche von 76, die von 11 Jahren eine solche von 90 cm.
Letztere steht in genauestem Zusammenhang mit der Sonnen-
fleckenperiode, mit der sie auch in den einzelnen Phasen
vortrefflich übereinstimmt. Das sehr bedeutende Retentions-
vermögen des Wenersees gegenüber den Niederschlägen in
seinem gewaltigen Einzugsgebiet (48540 qkm = Rheinland +
Westfalen) wird graphisch sehr schön durch Gegenüberstellen
der Regenhöhen und Seespiegelhöhen dargestellt; aus der
Größe des Einzugsgebietes erhellt zugleich, daß Kurven der
Temperatur- und Seespiegelschwankungen unmöglich kon-
form gehen können. Mit dem bisherigen Beobachtungs-
material ist es dem Verfasser geglückt, die künftigen Wasser-
standsschwankungen des Sees auf ein Jahr vorauszubestimmen.
Halbfaß.
— W. Halbfaß polemisiert in einem Aufsatz „Zur
Thermik der Alpenseen und einiger Seen Nord-
Europas“ (Zeitschr. f. Gewässerkunde, IX, 4) gegen die von
Brückner in der Geogr. Zeitschr. XV, 6, aufgestellte Be-
hauptung, daß für die Temperatur der Alpenseen und
einiger nordischer Seen die größere oder geringere Durch-
flutung die Hauptrolle spiele. Halbfaß zeigt an mehreren
prägnanten Beispielen, daß der entscheidende Faktor für die
Wärmebildung und Bilanz eines Sees stets seine morpho-
metrische Beschaffenheit ist, und daß nur unter sonst
gleichen Verhältnissen starke Durchflutung die Ampli-
tude der Schwankungen der Oberflächentemperatur und
etwas auch die des gesamten Wärmeumsatzes verringere.
Das von Brückner beigebrachte Zahlenmaterial beruht zum
größten Teil auf Messungen am Ufer und ist demnach nicht
beweiskräftig, es steht in vielen Fällen in Widerspruch mit
den Temperaturmessungen in dem eigentlich pelagischen Teil
des Sees. Auch der Einfluß des Windes, der Höhenlage und
der topographischen Umgebung des Sees wird von Brückner
nicht gebührend berücksichtigt.
— Dr. R. v. Sterneck hat die Schwerkraft in der
Umgebung des Plattensees untersucht und seine Resul-
tate in dem großen Balatonwerk, Bd. I, Teil I, geophys. An-
hang, dargelegt. Die nähere Umgebung des Sees gehört
einem Gebiet mit zu großer Schwere an, denn während
südlich des Sees 10 Stationen im Mittel + 0,021 cm zu viel geben,
finden wir im Nordosten des Sees aus 12 Stationen im Mittel
+ 0,033, im Nordwesten aus 11 Stationen + 0,048 cm. 4 Sta-
tionen in der Umgebung von Tihany, umgeben von Gegenden
mit zu großer Schwere (+ 0,037 nn gehören einem Gebiet
mit normaler Schwere (+ 0,004 cm) an. In weiterer Ent-
fernung vom See finden wir im Nordwesten ein Gebiet mit
zu kleiner, im Norden, Süden und Osten mit normaler
Schwere. Das Gebiet der größten Schwere deckt sich so
ziemlich mit dem Vorkommen der schweren Gesteine der
Basaltfamilie, während die normale Schwere in den jüngeren
und jüngsten Formationen zu finden ist. Unter den vielen
Schwerebestimmungen, welche v. Sterneck ausgeführt hat,
ist die Gegend am Plattensee einer der wenigen Fälle, in
denen die Schwere mit der Dichte der anstehenden Gesteine
in einem engen Zusammenhang zu stehen scheint. Halbfaß.
— Alligatorenarten gibt es nicht nur in Amerika, sondern
(nach Fonck) auch im Tanganikasee und in China. Dem
chinesischen Alligator, der in den Museen erst in etwa
einem Dutzend Exemplaren vertreten ist, hat T. Barbour
in den „Proc. Philadelph. Acad.“ eine Abhandlung gewidmet,
worin er nachzuweisen sucht, daß dieser Alligator nur im
Jangtsetal vorkommt und auch dort nur eine enge begrenzte
Verbreitung hat. Die meisten der bisher bekannten Exem-
plare sind bei Wuhu und Tschinkiang erbeutet worden, andere
sollen aus dem Poyangsee und der Gegend von Nanking her-
rühren.
— Über die Steinzeit Ägyptens besitzen wir, seit sie
1870 zuerst betont wurde, eine sehr reiche Literatur. Zu-
sammenfassend kritisch und auch auf eigene Beobachtungen
gestützt, behandelt sie neuerdings Dr. Paul Sarasin in den
Verhandlungen der naturforschenden Gesellschaft in Basel,
Band XXI, 1910. Zwar läßt er den Ausdruck Steinzeit nicht
mehr gelten und setzt dafür Lithochromie, wie Chalkochromie
und Siderochromie für Bronze- und Eisenzeit, indessen es
scheint doch sehr fraglich, ob die seit alters eingebürgerten
Ausdrücke dadurch verdrängt werden. Es ist sehr zeitgemäß,
daß Sarasin wieder einmal auffrischt, wie die zünftigen Ägyp-
tologen sich dem Vorhandensein der ägyptischen Steinzeit
gegenüber ablehnend verhielten, und man traut seinen Augen
kaum, wenn man nachliest, was so hervorragende Gelehrte
wie Lepsius, Dümichen, Ebers und andere im Beginne der
siebziger Jahre noch schrieben und eine prähistorische Zeit in
Agypten leugneten. Sarasin schreibt dem kürzlich verstorbenen
Anthropologen E. Hamy das Verdienst zu, die Steinzeit Ägyptens
entdeckt zu haben, und erwähnt nur nebenbei eine Notiz Arcelins
(nicht Arcellin), welcher kurz vor Hamy die ägyptische
Steinzeit „gemeldet“ haben sollte. Allein die Sache verhält
sich umgekehrt und die Priorität kommt A. Arcelin zu.
Dieser bereiste 1869 bis 1870 im Auftrage des französischen
Unterrichtsministeriums Agypten. Bei Abu Mangar, oberhalb
der bekannten Steinbrüche von Silsilis, fand er auf einer
Schicht von Kies und Sand Feuersteingeräte und auch eine
geschliffene Axt von Porphyr; ferner bei El-Kab behauene
Feuersteine, endlich am Eingange des Tales von Bab el-Melik
bei Theben große Mengen künstlich geschlagener Feuersteine,
Messer, Sägen, Schaber usw. Er sprach in seinem Berichte
an den Unterrichtsminister vom 26. Juni 1869 von einer In-
dustrie primitive en Égypte, probablement préhistorique,
welche wahrscheinlich verschiedenen Epochen angehöre, bei
Abu Mangar aber mit dem Kennzeichen de l’âge dit de la
pierre polie versehen sei. (Matériaux pour Phistoire de
l’homme, Févr. et Sept. 1869, L’Industrie primitive en Égypte.
Macon 1870.) Damit kommt in dieser Sache Arcelin die
Priorität zu.
In Sarasins Schrift ist von besonderem Belang, was er
nach eigenen Forschungen über die Steinwerkzeuge in den
pleistozänen Schottern des Nils berichtet. Sehr bekannt sind
die Steinwerkzeuge auf den Anhöhen über Theben, die schon
durch ihre Färbung jedem Vorübergehenden auffallen und
leicht aufgelesen werden können. Sie zeigen den Acheuléen-
typus, und Sarasin weist nun nach, daß die in den Nilschottern
vorkommenden Artefakte ganz genau den gleichen Typus
zeigen. Beide gehören zusammen. Wie kommt das nun:
oben auf den Höhen über den Königsgräbern und unten in
den Schottern am Nil die gleichen Geräte? „Die Ansiedelungen
der ägyptischen Acheul&enmenschen befanden sich auf den über
dem Ufer eines ungeheuren Stromes, des diluvialen Nils, ge-
legenen Plateaus und Bergkuppen“, und in den Pluvialfluten,
welche in jener Zeit eines sehr feuchten ägyptischen Klimas
herrschten, entsprechend der europäischen Eiszeit, wurden
jene Schottergeräte von den Kalksteinwänden über den
Königsgräbern herabgeschwemmt. R. A.
— Der Assyriologe Hormuzd Rassam, der Mitarbeiter
und Nachfolger Layards auf den Ruinenstätten Assyriens,
ist am 16. September d. J. in Brighton gestorben. Rassam,
der aus einer chaldäischen Familie stammte und 1826 in
Mosul geboren war, begleitete Layard auf dessen beiden
Grabungszügen nach Ninive, 1845 und 1849, und leitete später
selber die weiteren Forschungen für das Britische Museum,
das ihm eine Menge schöner und wertvoller assyrischer Alter-
tümer verdankt. Er trat dann in den englischen Konsulats-
dienst und wurde 1864 von der englischen Regierung zu
Theodor von Abessinien gesandt, um von diesem die Frei-
lassung der von ihm gefangen gesetzten Engländer zu er-
wirken. Aber Rassam wurde selber von Theodor als Ge-
276
fangener nach Magdala gebracht, und erst der Napiersche
Feldzug verschaffte ihm die Freiheit wieder. Später nahm
Rassam als Kustos des Britischen Museums auf Veranlassung
Layards, der mittlerweile Botschafter in Konstantinopel ge-
worden war, seine Grabungen in Assyrien und Babylonien
wieder auf, und zwar auch auf einigen neuen Ruinenstätten,
wie Balawat und Sippar (Abu Habba bei Babylon), denen er
zahlreiche weitere Schätze entnehmen konnte. In Sippar
fand er auch ein großes Tontafelarchiv. Diese Forschungen
endeten 1882, er hat über sie in den „Transactions of the
Society of Biblical Archaeologie“ berichtet, auch hat diese
Gesellschaft einen Teil der Funde von Balawat in dem Werke
„The Bronze Ornaments of the Palace Gates of Balawat“
(London 1880/81) herausgegeben. Seine Erfahrungen in
Abessinien hat Rassam 1869 in dem zweibändigen Werke
„A British Mission to Theodore“ veröffentlicht.
— In der Nähe von Basel beim Dorfe Aesch hat Dr.
Fritz Sarasin ein steinzeitliches Dolmengrab aus-
gegraben, welches schon deshalb von Belang ist, weil es die
östlichste Verbreitung der ganz ähnlichen Dolmengräber
Frankreichs darstellt und in der Schweiz vereinzelt dasteht.
Es handelt sich um eine etwa 4m lange und 2'/,m breite,
mit Pflasterboden versehene Grabkammer aus Kalksteinplatten,
die, wie Sarasin annimmt, ehemals auch mit Decksteinen
versehen war. Die Grabanlage ist mit einem niedrigen Tu-
mulus umgeben. Eine Überraschung bereitete die Ausgrabung,
da sie eine Unmenge menschlicher Skelettreste zutage
förderte, alle in Trümmer aufgelöst, so daß kein Knochen
oder Schädel vollständig war. Bunt durcheinander lagen die
zerstörten Reste von Kindern und Erwachsenen, deren An-
zahl Sarasin nach den gut erhaltenen Zähnen auf etwa 40
berechnet. Jedenfalls handelt es sich um allmähliche Nach-
bestattungen und, wie gezeigt wurde, nicht um frische Leichen,
sondern um Beisetzung von Skeletten (zweistufige Bestattung),
die ja auch anderweitig bekannt ist. Die Grabbeigaben
waren gering: Messer aus Silex und Jaspis, Tonscherben,
durchbohrte Zähne und ein „Schädelamulett“ mit Trepanations-
marke (Brocas „Rondelle*).
— Kapitän J. Thilo hielt im Februar d. J. einen Vortrag
über seine Forschungsreisen im Tsadsee-Gebiet, welcher
unter Beifügung einer rsichtskarte (1:2000000) und
12 Abbildungen im Septemberheft 1910 des „Geographical
Journal“ publiziert wurde. Er enthält eine Anzahl sehr bemer-
kenswerter Beobachtungen mehr, als der Bericht desselben
Autors, den das Märzheft von „La Géographie“ gebracht hat und
worüber bereits in Nr. 17 des 97. Bandes des „Globus“ (8. 269)
referiert worden ist. Thilo bestätigt nicht nur die Erfahrungen
des Leutnants Freydenberg über die gegenwärtige Beschaffen-
heit des nördlichen Teiles des Tsad (vgl. Globus, Band 91,
8.369), sondern er geht noch mehr ins Detail ein und hat die
deutlich erkennbaren Grenzen von vier verschiedenen Zonen
des Grenzgebietes herausgefunden und beschrieben, nämlich
eine völlig ausgetrocknete, eine morastige, eine schiffbare und
eine lagunenhafte Zone. Die ausgetrocknete Zone liegt nörd-
lich vom Parallel der Mündung des Komadugu-Yobe und ist
im Westen von 30 bis 40 Fuß hohen Dünen eingefaßt. Es ist
eine trostloge, monotone, leicht gewellte Fläche, teils mit nie-
derem Gesträuch oder mit Sand bedeckt, hier und da von 3
bis 6 Fuß tiefen zerklüfteten Depressionen von geringem Um-
fang unterbrochen, deren von dem erst kürzlich zurückge-
tretenen Wasser durchfeuchteter Boden unter den Tritten von
Menschen und Tieren auf und nieder schwankt. Was früher
deutlich eine Insel war, ragt jetzt nur ein klein wenig her-
vor und ist übersät mit Muschelschalen und umgrenzt von
Tausenden von Fischleichen. Und auf diesen winzigen Er-
hebungen hausen noch immer Eingeborene in den elendesten
Hütten! Weiter nach Osten, gegen Kanem zu, nehmen die
inselartigen Wohnstätten an Höhe und Größe zu. — Die mo-
rastige Zone beginnt im Osten, zwei Stunden von Bosso ent-
fernt; folgt man dem Lauf des Komadugu, welcher nach und
nach in eine Reihe von Wasserlöchern versickert, und dessen
Bett schließlich ganz verschwindet, so tritt man in eine weit
ausgedehnte Schilffläche ein, deren Horizont ein Wald von
Ambatschbäumen (Herminiera elaphroxylon) umschließt. Diese
Fläche ist mit einer Unzahl von tiefen und breiten Wasser-
rinnen durchsetzt und geht streckenweise in ein trockenes
Plateau von schwarzem Lehm über; sie nimmt den dritten
Teil des ganzen Seengebietes ein.
Die erste und schiffbare Seefläche, welche im südlichen
Abschnitt von dem Gestade von Kuka gegen Osten sich er-
streckt, beträgt nur 60 bis 77 qkm. Fast undurchdringliche
Ambatschwaldungen bilden die Umrandung; durch diese erst
gelangt man auf wenigen engen Kanälen zur zweiten und
Kleine Nachrichten.
größten Ausdehnung des offenen Wassers, welches sich vor
der Mündung des Schari nach allen Seiten ausbreitet. Hier
hat die Beefläche einen Umfang von nahezu 1800 qkm, re-
präsentiert jedoch nur den 50. Teil des gesamten Beegebiets.
— Die Lagunenzone, eine wirr untereinander verschlungene
Masse von engen und seichten Rinnen, durch welche drei
befahrbare Wasserstraßen führen, ist hauptsächlich der Küste
von Kanem vorgelagert. In ihr befinden sich einige größere
und bewohnte Inseln mit einer Erhebung von 35 bis 50 Fuß;
die meisten, welche mit 15 bis 25 Fuß über dem Wasser her-
vorragen oder in der Regenzeit ganz untertauchen, dienen
gelegentlich als Weideplätze oder als temporäre Zufluchts-
stätten. — Der Archipel ist bevölkert von zwei verschiedenen
Arten von Buduma. Die im Südosten seßhaften, als Kuri
bekannt, treiben Ackerbau und verkehren friedlich mit den
Eingeborenen des Festlandes. Die im Nordosten hausenden
dagegen, ungefähr 45000 an der Zahl, beschäftigen sich neben
der Viehzucht am liebsten mit Raubzügen in die nähere und
fernere Umgebung. Sie sind ein gefürchtetes, kriegslustiges
Volk, welches selbst ein Rabeh nicht unterwerfen konnte,
das aber doch vor den Dampfern und Schußwaffen der Weißen
in unzugängliche Schlupfwinkel scheu sich verkriecht. B. F.
— Eine Volksdichtedarstellung des Kreises Gol-
dap gibt H. Steinroeck in seiner Königsberger Dissertation
1910. 726,69 qkm werden, nach Abzug der Holzungen und
Wasserstücke, welche 26,9 Proz. der Gesamtfläche ausmachen,
bei der Berechnung der Dichte zugrunde gelegt, so daß
59 Einwohner auf 1 qkm kommen. Dabei ist der Süden des
Kreises bedeutend dünner bewohnt als der Osten und Norden.
Während dort die höheren Dichtestufen fast gänzlich fehlen
und Dichtegrade von 20 bis 40 Einwohnern auf den Quadratkilo-
meter bei weitem vorherrschen, treten im Osten und Norden
deutlich Bezirke mit stärkerer Verdichtung auf. Während
nur 36,3 Proz. der Bevölkerung auf die Dichtestufen unter
das Mittel von 50 bis 75 Einwohnern kommen, gehören 42,9 Proz.
den über dem Mittel an. Mit anderen Gegenden Deutsch-
lands verglichen verfügt aber der Kreis Goldap über eine
sehr dünne Bevölkerung, und selbst in der ohnehin schon so
dünn bevölkerten Provinz Ostpreußen nimmt der Kreis eine
der niedrigsten Dichtestufen ein.
— Die Meinung von dem fehlenden Naturgefühl
des frühen Mittelalters ist nach den Ausführungen von
Gertrud Stockmayer (Diss. von Tübingen 1910) entschie-
den unhaltbar; es gibt tatsächlich ein Naturgefühl zu
jener Zeit, wenn es auch nicht so mannigfaltig und fein ab-
gestuft aus den Quellen hervorgeht wie das moderne Man
sieht, wie den Gestirnen Bewunderung entgegengebracht wird,
das Meer wird nach seiner stürmischen Seite erwähnt; die
schauerliche Dunkelheit kam den Leuten zum Bewußtsein,
und Irrlichter wie Wunder sind nicht zu selten. Von den
Bergen kannte man die Gefährlichkeit, und der Wald wird
in seiner Wildheit und Düsternheit gefürchtet, andererseits
aber schon als Schmuck einer Gegend angesehen. Am Lenz
und seinem Kommen erfreute man sich bereits, und Blumen
müssen zu allerlei Vergleichen herhalten. Dann wurde da-
mals bereits die Natur in Beziehung zum menschlichen Leben
gesetzt, wie ihr auch persönliches Leben verliehen worden ist.
Nicht -mit Unrecht bemerkt auch die Verfasserin, daß die
leidenschaftliche Sehnsucht nach der Natur wohl bei den
modernen Menschen am meisten vorhanden ist, die in die
großen Städte gebannt sind; solche Steinkolosse kannte man
aber im frühen Mittelalter noch nicht.
— Eine sehr ansprechende kleine Geologie der Insel
Sylt hat Dr. W. Wolf geschrieben. (Verlag v. Pfennigsdorf,
Halle a. S. u. Westerland auf Sylt.) Unter steter Bezugnahme
auf die den Badegästen bekannten oder leicht von ihnen auf-
zusuchenden Aufschlüsse schildert er die geologische Geschichte
und Entstehung der Insel und der heute dort vorhandenen
Landformen, sowie die noch auf der Insel tätigen umgestaltenden
Naturkräfte. Interessant ist hierbei, daß er eine fortschrei-
tende Landsenkung in der allerletzten geologischen Zeit ab-
lehnt und die in historischen Zeiten vorgekommenen Verände-
rungen auf andere noch tätige Kräfte: Wind, Meereserosion
und Einwirkung des Menschen zurückführt. Das leichtver-
ständliche, in fließender Sprache geschriebene und mit 16
gut gelungenen und gewählten Abbildungen versehene Büchlein
ist bei seinem billigen Preis (1,25 .46) wohl wert, daß es recht
viel von Interessenten, besonders Badegästen gekauft wird,
und auch fähig, bei ihnen nicht nur Verständnis für die Insel
und ihre geologischen Verhältnisse, sondern auch Interesse
für geologische Fragen im allgemeinen zu erwecken. Gr.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Suhn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- UND VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.,
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr.18.
BRAUNSCHWEIG.
10. November 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Das Diluvium in der Umgebung von Hannover.
Von K. Olbricht.
Meine Arbeiten in der Lüneburger Heide hatten mich
— zum Teil in Übereinstimmung mit Stoller — zu dem
Ergebnis geführt, daß die Heide aus zwei ganz verschiedenen
Teilstücken besteht. Das reich zertalte Hügelland im Norden
besteht überwiegend aus Schichten der Würmeiszeit,
d. h. der letzten Eiszeit der Beamten der Landesanstalt;
erst in den tiefeingeschnittenen Tälern kommt das
ältere Diluvium zum Vorschein. Dieses besteht aus rot-
eisenschüssig verwitterten Sanden und Grundmoränen,
die wahrscheinlich eine recht unebene Oberfläche mit
zahlreichen Senken gebildet haben, in denen als Seeablage-
rungen die bekannten Kieselgur- und Süßwasserkalklager
(Riß-Würm-Interglazial) entstanden.
Im Süden der Heide nimmt die Mächtigkeit der jung-
glazialen Schichten stark ab, und die großen plumpen,
wenig zertalten Hochflächen der Südheide werden nur
mit einer dünnen Decke des jüngeren Diluviums überzogen,
und stellenweise steht sogar das ältere Diluvium auf
weiten Strecken an, so beim Falkenberg, großen Teilen
der Lüßhochfläche und den Wierener Bergen.
Dieser eigentümliche Aufbau der Südheide hatte mich
schon früher (I, s. Literatur am Schluß) veranlaßt, aus-
zusprechen, daß der Rand des Würmeises nicht allzuweit
im Süden gelegen haben muß, und im folgenden will ich
über die Ergebnisse meiner jüngsten Begehungen in der
Umgebung von Hannover kurz berichten, da diese sicher
manches Interesse haben. Mein Arbeitsfeld läßt sich auf
der beigefügten Karte 2 leicht überblicken. Es deckt
sich in manchen Punkten mit demjenigen Spethmanns (II),
dessen Arbeit ich im folgenden häufig erwähnen werde.
Zweck meiner Studien war einmal die Betrachtung
des Aufbaues der Endmoränen, die ich nicht nur morpho-
logisch aufgefaßt habe, dann die Untersuchung der Lösse,
endlich die Begrenzung der jungdiluvialen Schichten auf
Grund der verschiedenen Arten der Verwitterung, da sich
— wenn Lösse zurücktreten — nur auf diesem Wege
einwandfreie Grenzen von Gletschern verschiedener Eis-
zeiten nachweisen lassen. Auch über die Verbreitung
und Einteilung der Leineschotter habe ich viel Material
gesammelt, wenngleich dieses zu einer genaueren Würdi-
gung der Probleme noch längst nicht ausreicht. Daher
komme ich nur kurz auf diese zu sprechen. Am Ende
des Aufsatzes werde ich meine Ergebnisse mit denen
anderer Forscher vergleichen und dann auf die wichtigen
Probleme hinweisen, diein Westhannover einer eingehenden
Würdigung noch harren, die sich aber nur durch regio-
nales Arbeiten einer Lösung näher bringen lassen.
A. Der vordiluviale Untergrund. Dieser bildet
eine Fastebene, die Schichten der Trias, des Jura und
Globus XCVIII. Nr. 18,
der Kreide abschneidet. Über diese welligen Flächen der
Fastebene erheben sich als Monadnocks mehrere Hügel,
von denen besonders der Kronsberg, der Benther Berg,
der Stemmer Berg und die Gehrdehner Berge genannt
seien. Das sicher einmal über diesen Höhen ausgebreitete
Diluvium ist überall wieder abgetragen. Aber auch in
den übrigen Gebieten ist die diluviale Decke nur gering,
und die Nähe des alten wasserundurchlässigen Gebirges
bedingt einen hohen Grundwasserstand und dadurch
üppige Wiesen und fruchtbare Felder, wodurch Teile der
Gegend parkartig erscheinen. So kann an den meisten
Stellen nach Abdeckung der jüngeren Schichten das ältere
Gestein erreicht und wirtschaftlich verwandt werden. Im
Süden von Hannover überwiegen Kalkgruben mit Zement-
industrie (obere Kreide), im Norden ist die obere Kreide
wohl überall denudiert, und die dunkeln an Eisenkon-
kretionen reichen Tone der unteren Kreide werden in
großen Ziegeleien abgebaut, Berenbostel, Mellendorf,
Langenhagen, Warmbüchen. Eine Ausnahme machen
nur die Ziegeleien im Leinetal, welche Anlehm abbauen.
Über das genaue Alter dieser Fastebenen lassen sich für
die Gegend von Hannover keine Angaben machen, da das
Tertiär ganz fehlt.
B. Die diluvialen Deckschichten. Wie ich schon
bemerkte, bilden die diluvialen Schichten eine hin und
wieder unterbrochene Decke, die ihre größten Mächtig-
keiten in den mehrfach vorhandenen Endmoränen erreicht.
Die Endmoränauszüge, die schon teilweise Spethmann
beschrieben hat — die große Engelbosteler Endmoräne
erwähnt er nicht — ‚lassen sich auf der beigegebenen
Übersichtskarte sehr gut erkennen. Die Endmoränen
bilden zwei Gruppen. Eine nördliche wesentlich frischer
aussehende und auch mehr zusammenhängende mit teilweise
vorgelagerten großen Sandrebenen und eine südliche, die
in wenigen rudimentären Spuren westlich von Peine be-
ginnt, bei Hohenhameln am schönsten ausgebildet ist und
westlich der Leine verschwindet. Ich vermute aber, daß
die Moränenreste, welche Spethmann nördlich der Weser
von Rinteln bis Hameln beschreibt, auch bei dem Gletscher-
vorstoß entstanden, der die Hohenhameler Endmoräne
schuf, welcher ein deutlich ausgeprägtes Urstromtal
vorgelagert ist. Siedelungsgeographisch sind die Endmo-
ränen, die nicht nur wegen ihrer Höhe Schutz, sondern
auch wegen ihrer sandigen Beschaffenheit Trockenheit
gewähren, von großer Bedeutung. So finden wir im Norden
von Hannover die Orte Horst, Meyenfeld, Berenbostel,
Engelbostel und das 5km lange Isernhagen mit seiner
malerischen Kirche auf der Engelbosteler Endmoräne.
Im Süden weist Hohenhameln eine ähnliche Lage auf
36
278
Olbricht: Das Diluvium in der Umgebung von Hannover.
und beherrscht mit seiner schönen zweitürmigen Kirche
die Umgebung. Die Engelbosteler Endmoräne weist nörd-
lich der Stadt Hannover eine große Lücke auf, die heute
von der Eisenbahn nach Soltau benutzt wird.
Der Aufbau dieser Endmoränen läßt sich an mehreren
tiefen Aufschlüssen — deren Lage die Karte andeutet
— gut ersehen. Die Mellendorfer Moränen bestehen nach
den dortigen tiefen Aufschlüssen (1, vgl. Karte 2) —
nördlich Mellendorf an der Straße nach Walsrode — aus
weißen stark gestörten Sanden, über denen Reste von
Grundmoränen in Gestalt von Kiesen und Geschiebesanden
liegen. Am Aufbau der Engelbosteler Endmoräne um-
hüllen, wie die großen Aufschlüsse (2) bei Engelbostel
zeigen, diese Sande mit ihrer Kies- und Geschiebesanddecke
stark aufgepreßte eisenschüssig verwitterte Sande, die in
verwickelter Weise mit verwitterten entkalkten Grund-
moränen, in denen tiefrot patinierte Feuersteine und
völlig zersetzte Gebiete vorkommen, wechsellagern. Diese
Moräne erweist sich also deutlich als eine Aufpressung.
Wasserscheide.
— Endmoräne,
Würmeises.
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Maßstab 1:4000000
o 10 20 40 60 80 Km.
Karte 1.
Kleinere Aufschlüsse bei Horst (3) und Isernhagen (4)
zeigen nicht mehr die jüngeren Sande, sondern nur noch
eisenschüssig verwitterte. Falls hjer nicht Umlagerungs-
produkte vorliegen, kann man annehmen, daß die
jüngeren Deckschichten schon abgetragen sind.
Im Süden dieser Endmoräne lagern große ausgedehnte
Sandrebenen, in denen sich lokale Reste von verwischten
Vorstaffeln erkennen lassen (Weg von Engelbostel nach
Stöcken). Die Sandrebenen sind leider nur an sehr wenigen
Stellen aufgeschlossen, so im Norden von Bothfeld (5)
auf der rechten Seite der Landstraße nach Isernhagen
und im Ahltener Walde an der Straße von Ahlten (6)
nach Kolshorn. Nur an wenigen Stellen reichen diese
Sandr über die Leine und sind bei Letter (7) und Ahlem (8)
in großen Sandgruben über interglazialen roteisenschüssig
verwitterten Leineschottern und Grundmoränen (8) er-
schlossen, etwa 5m mächtig. Bei Bothfeld sind diese
Sandr etwa 4m tief aufgeschlossen, enthalten oft Bänke
mit Kies und Lagen von Kieselschiefern und werden
(nach Baggerproben) unterlagert von eisenschüssig ver-
witterten lehmig bis sandigen Schichten, die große zersetzte
nordische Gesteine enthalten. Im Ahltener Walde sind
im Vermutliche Grenze des
Übersicht über das Diluvium Nordwest-Deutschlands.
diese liegenden verwitterten Schichten, die auch in allen
erwähnten Aufschlüssen Manganausscheidungen und über-
wiegend rotgelb gefärbte Feuersteine enthalten, sehr gut
erschlossen. Die hangenden Sande haben viel älteres
Material umgearbeitet, darunter sogar Kieselgurbruch-
stücke, die nur aus der Heide kommen können. Dazu
passen sehr gut die Beobachtungen, die wir in den Kiesel-
gurlagern bei Breloh und Oberohe machen können, wo
die Kieselgur durch Eisdruck stark gefaltet und ihre
obersten Partien vielleicht teilweise vom Eise abgehobelt
sind. Die meist weißen Sande dieser Sandr sind nun an
vielen Stellen — besonders nördlich der Leine bei Garbsen
— zu hohen Dünen aufgeweht, die darum wichtig sind,
weil sie in der Vorzeit dicht besiedelt waren, wie zahl-
reiche Funde von Feuersteinwaffen beweisen. Auffallender-
weise verengt sich dieser Sandr im Osten immer mehr
und scheint nördlich von Burgdorf ganz zu fehlen, wenn
er nicht unter dem Oldborster Moor liegt. Dieses ist
eines der vielen Moore, die südlich in großem Bogen
j den besprochenen Endmoränen vorgelagert sind
und südwestlich von Celle mit dem großen
Moor beginnen.
Überschauen wir die bisher mitgeteilten
Tatsachen, so sehen wir, daß in dem bisher
besprochenen Gebiete das Diluvium eine Zwei-
teilung erfährt, in einen oberen Horizont mit
überwiegend weißen Sanden und Resten einer
Grundmöräne darüber, und einen unteren Hori-
zont, der nur meist aus eisenschüssig ver-
witterten Schichten besteht und so schon durch
die Farbe deutlich mit den hangenden Schichten
kontrastiert. Da genau dieselbe Zweiteilung
auch von mir in der Lüneburger Heide beob-
achtet ist, hege ich keinen Zweifel, die liegen-
den Glieder mit dem Rißdiluvium (unteren Dilu-
vium der Heide), die hangenden mit dem Würm-
diluvium zu identifizieren. Dazu paßt nicht
nur die Lage der umgelagerten Kieselgur-
schollen, sondern daß auch, wie ich gleich
mitteilen werde, die Schichten des südlichen
Vorlandes unmittelbar in das verwitterte Riß-
diluvium der Lüneburger Heide übergehen.
Entstand nun diese große Endmoräne aus
einem lokalen (I. S. 522—526) oder einem
größeren selbständigen Vorstoße? Für letzteres
würde (vgl. hierzu I. S. 520—522, wo diese
ganzen Probleme formuliert sind) schon die
Tatsache sprechen, daß vor ihr eine große aufgeschüttete
Sandrfläche liegt. Jedoch genügt uns diese Feststellung
noch nicht. Auch die Lösse können wir nicht verwenden,
weil sie erst viel weiter südlich beginnen. Viel wichtiger
ist hier die Erforschung des südlichen Vorlandes, zu dessen
Analyse die vorhandenen Aufschlüsse ausreichen. Da
sehen wir denn, daß sich im Süden das Bild verändert.
Die roteisenschüssig verwitterten Schichten, die bis-
her das Liegende jüngerer Deckschichten bildeten, stehen
in allen Aufschlüssen oberflächlich an, die ich als rote
Kreuze und rote Punkte eingetragen habe, und zwar ist
die Lagerung derart, daß an den Stellen, wo Grundmo-
ränen vorhanden sind, diese immer über den Sanden
lagen. Die ganze Gegend stellt also eine im Süden von
Löß überdeckte Grundmoränenlandschaft dar, über die
sich hin und wieder das ältere Gestein erhebt. Den Ha-
bitus dieser Grundmoränen erkennen wir am besten in
den großen Aufschlüssen bei Hohenhameln (8), Burgdorf
(9) und Altenhagen bei Celle (10). Die Grundmoränen
sind überall entkalkt, weit roteisenschüssig verwittert und
führen an zahlreichen Stellen die charakteristischen zer-
setzten, lokal sogar (Altenhagen) kaolinisierten, Geschiebe
Olbricht: Das Diluvium in der Umgebung von Hannover.
279
und gelbrote Feuersteine. Nur zwischen Burgdorf und
Celle ist diese Moränendecke bei der Bildung des Allertales
abgetragen, aber die im Allertal vereinzelt (Westercelle
11) angelegten Sandgruben erschließen Sande, die von
den Sanden, die überall im Süden das Liegende der
Grundmoränen bilden, nicht zu unterscheiden und daher
wohl identisch mit ihnen sind. So lagern also vor den großen
umkleiden zugleich mantelartig einen aufgestauchten Kern
der liegenden Sande.
Diese Beobachtungen ermöglichen es uns also, auf
große Strecken den Rand des Würmeises genauer festzu-
legen und damit einen wichtigen Fixpunkt zu schaffen,
den wir nachher im Rahmen der weiteren Umgebung be-
trachten wollen. Der Rand des Würmeises bei Hannover
Maßstab 1:500000
10
z
ur)
md, é
N I,
4
In,
9,18
© Burgdorf
Karte 2. Geologische Übersichtskarte der Umgebung von Hannover.
Die roten Linien sind Endmoränen. Der Sandr des Würmeises ist punktiert. Die Aufschlüsse, in denen eisenschüssig verwitterte Schichten
anstehen, sind als rote Punkte eingezeichnet und durch ein Kreuz eine Lößbedeckung angedeutet.
gestrichelt. Die Monadnocks und Gebirge sind schraffiert.
Die Südgrenze des Würmeises ist
Die Zahlen an den Punkten und Kreuzen bezeichnen die Nummer des Auf-
schlusses in dem Aufsatze, so daß diese sofort auf der Karte aufzufinden sind. Berücksichtigt sind nur die größeren grundlegenden Aufschlüsse.
zuerst betrachteten Endmoränen ausgedehnte ältere Grund-
moränenlandschaften, die im Nordosten sich weit in die
Heide hinein verfolgen lassen. Unter diesen Grundmoränen
finden wir auch Lokalmoränen aus umgelagerten älteren
Leineschottern (Bemerode 12, Kreide: Hohenhameln,
Limmer 13, Muschelkalk: Benther Berg 14 und Ronnen-
berg 15). In der Endmoräne von Hohenhameln finden
wir dieselben Lagerungsverhältnisse, die Grundmoränen
erscheint auffallend beeinflußt vom interglazialen Relief
der südlichen Lüneburger Heide (Karte in II). Wir
sehen, wie das tiefe Örzetal dem Eise einen Weg wies
und es ihm ermöglichte, weit nach Süden vorzudringen,
während es die hohe Hochfläche des Lüß nicht mehr zu
überschreiten vermochte, so daß hier auf weiten Strecken
— genauere Grenzen habe ich wegen mangelnder Auf-
schlüsse nicht feststellen können, hoffentlich erbringt die
36*
280 Olbricht: Das Diluvium in der Umgebung von Hannover.
staatliche Kartierung der Landesanstalt solche — die
älteren verwitterten Schichten anstehen. Es wird die
Aufgabe derUntersuchungen zwischen Peine, Braunschweig
und Gifhorn sein, festzustellen, wie weit auch das tiefe
Isetal wieder ein weiteres Vordringen des Eises nach
Süden gestattete, so daß sich infolge der eigentümlichen
Höhenverhältnisse ein schmaler unvereister Zipfel im Osten
und Westen von Eis umgeben weit hinein über Celle in
die Heide erstreckte.
Mehrere Andeutungen sprechen dafür, daß auch in
unserer Gegend das ältere Diluvium noch eine Teilung
in mehrere Glieder erfahren kann. So lagern in den großen
Aufschlüssen bei Garßen (16) unter verwitterten Sanden
mit einer Deckschicht von zersetzten Geschieben und
Resten sandiger Grundmoränen bis 6 m mächtige schwarz-
blaue Tone, die keine Schichtung aufweisen und hin und
wieder kleine nordische Steinchen enthalten. Fossilien
aus diesen Tonen sind mir nicht bekannt. Unter ihnen
lagern nach Bohrungen und Aufschlüssen nordische Sandr
zum Teil mit humosen Streifen. Sollten es spätere For-
schungen ergeben, daß diese Tone — die nichts mit
glazialen Bändertonen zu tun haben — identisch mit
dem Lauenburger Ton (VI) sind, so wäre damit die
wichtige Tatsache festgestellt, daß auch dieser keine ein-
heitliche Bildung ist, sondern zum Teil dem Mindel-Riß-
Interglazial zuzurechnen ist. Ebenso sind in den großen
deutschlands eine ganz bestimmte Stellung im Diluvial-
profil zukommt.
Wir haben bisher einfach von im Süden der Würm-
vereisung zum Vorschein kommenden älteren Grundmo-
ränenlandschaften gesprochen. Die Oberfläche derselben
hängt im Süden von Hannover derartig vom älteren
Untergrund ab und ist auch derart von einer Lößdecke
überkleidet, daß wir eine genaue Analyse derselben nicht
geben können. Anders bei Burgdorf, wo das Diluvium
größere Mächtigkeiten erhält und die Lößdecke fehlt.
Hier liegen keine Grundmoränenebenen vor, sondern die
Landschaft löst sich — man betrachte die Meßtischblätter
für Burgwedel und Burgdorf — in eine Fülle von rund-
lichen, oft langgestreckten Hügeln auf, die senkrecht zu
der in unserer Gegend festgestellten Eisrandlage der
Hohenhameler Endmoräne und des südlich derselben vor-
gelagerten Urstromtales streichen. Hier liegt die Ver-
mutung nahe, daß wir es mit einer älteren, darum schon
gemilderten Exarationslandschaft (V) zu tun haben.
Ich habe schon erwähnt, daß nach meinen Beobach-
tungen die Lößdecke erst im Süden von Hannover mit
der von mir eingezeichneten Linie beginnt, also nicht mit
der Grenze der Würmeiszeit zusammenfällt. Sollte hier-
aus die Möglichkeit hervorgehen, daß die Lößbildung im
regenreicheren norwestdeutschen Flachlande allmählich
ausgesetzt hat?
TRUKRITEUERTENTEIFECHIKEERFIRTEITE,
EEEE EREEREER EEEIEE
Schematisches Profil durch das Diluvium der Umgebung von Hannover.
Die beigesetzten Zahlen bezeichnen die Nummern der Aufschlüsse, wo die betreffende Schichtenfolge am besten zu beobachten ist.
Die Schotter sind nicht berücksichtigt.
z SAN Alteres Gebirge. Z
Schottergruben von Ahrbergen (17) Grundmoränen von
derartig hochgradiger Zersetzung der Geschiebe aufge-
schlossen, daß hier möglicherweise auch ältere Bildungen
vorliegen. Ebenso lagern in den großen Sandgruben
nördlich von Burgdorf (18) — an der Bahnstrecke nach
Celle — unter verwitterten Grundmoränen mit liegenden
mehrere Meter mächtigen Sanden Reste noch älterer
Grundmoränen mit dunkelrot verfärbten Feuersteinen
und anderen Geschieben, die möglicherweise Reste von
Mindelmoränen sind. Es wird Aufgabe weiterer For-
schungen im Süden sein, diese Fragen zu klären.
Fassen wir die bisherigen Ergebnisse zusammen, so er-
gibt sich das Bild, welches stetig in Norddeutschland
wiederzukehren scheint. Über Sanden der Rißeiszeit
breiten sich die Grundmoränen dieser Eiszeit aus, die
hochgradig eisenschüssig verwittert sind und nicht mehr
von Rißsanden bedeckt werden. Nördlich von Hannover
lagert am Südrande der Engelbosteler Endmoräne der
Würmsandr, und auch dieser verschwindet im Norden —
in der Heide besonders — unter immer mächtiger werden-
den Grundmoränen, die wiederum südlich der Elbe von
jüngeren Sanden nicht mehr bedeckt werden. Beim Vor-
rücken der Gletscher werden also mächtige Sande auf-
geschüttet, über diese breitet der Gletscher seine Grund-
moräne, die aber nicht mehr von Sanden bedeckt wird.
Wieder eine Bestätigung der von mir (I. S. 521) zum
ersten Male erwähnten Tatsache, daß das Abschmelzen
der Gletscher offenbar unter ganz anderen Verhältnissen
als das Vorrücken erfolgt, und daß den Sandr Nord-
7: Grundmoränen und Sande der
—= jüngeren Eiszeit (Würm).
Grundmoränen und Sande der
älteren Eiszeit (Riß). Lös.
Eine Gliederung der Lösse — die im allgemeinen sehr
unrein und verlehmt erscheinen — ist bisher nicht zu
geben, ebenso ist ihre Altersbestimmung zum Teil un-
möglich. Vielleicht ergibt sich diese durch die Verknüpfung
der Lösse mit Gehängeschutt und Schottern, die wir weiter
im Süden finden. Da mir hier nur Stichproben vorliegen,
beschränke ich mich darauf, kurz die wichtigsten der
Lösung harrenden Probleme hier zu erörtern.
Gehängeschuttdecken, welche meine Arbeiten in der
Lüneburger Heide in großem Umfange ergeben haben,
fehlen in der Umgebung von Hannover wohl wegen der
geringen Höhenunterschiede und treten erst im Bereich
der Mittelgebirge wieder in größerem Umfange auf, zum
Teil hier mehr als 4m mächtig werdend.
Wie meinemit Herrn Professor Hauthal unternommenen
Begehungen im Gebiete des Hildesheimer Waldes ergeben
haben, sind diese Gehängeschuttdecken in großartigem
Maße entwickelt und liegen teilweise in 4m Mächtigkeit
über diluvialen Grundmoränen: Zeche Hildesia (21). In
den großen Kiesgruben bei Eitzum (19), wo das glaziale
Diluvium zumeist aus stark eisenschüssig verwitterten
Sanden mit hangenden Grundmoränen besteht, liegt über
diesen diluvialen Schichten — aber durch eine große Ero-
sionsdiskordanz von ihnen getrennt — ein etwa 2m
mächtiger Gehängeschutt, der durch eine eingeschaltete
Lößdecke in zwei Unterabteilungen zerfällt, von denen
die untere lokal fehlt. Hier liegen also zwei Perioden
der Gehängeschuttbildung getrennt durch eine der Löß-
bildung vor. Am Wege von Eitzum nach Diekholzen (20)
Olbricht: Das Diluvium in der Umgebung von Hannover. 281
wiederum liegen Lösse über Hängeschutt. — Aus diesen
wenigen Beobachtungen geht hervor, daß nach Ab-
lagerungen der diluvialen Schichten — die wahrschein-
lich bei Eitzum der Rißeiszeit angehören, sicher aber
präwürm sind — diese erst stark abgetragen wurden und
dann erst Zeiten von Gehängeschuttbildung und Zeiten
der Lößbildung folgten. Wer heute sieht, wie die dichte
Walddecke den Boden schützt, zweifelt auch keinen Augen-
blick, daß diese Gehängeschuttdecken in trockenen, vege-
tationsarmen Zeiten entstanden sind.
Zur Beurteilung des Alters der Lösse ist wichtig, daß
Lößkindel nirgends beobachtet wurden, obwohl sie sich
durch ihre Verlehmung und Mächtigkeit stark von den
jüngsten Lössen (V1) unterscheiden. Die oft rötliche
Farbe der Lösse beruht zum Teil — nicht überall! — wohl
darauf, daß sie aus Buntsandsteinstaub abzuleiten sind,
da Buntsandstein den größten Teil des Hildesheimer Waldes
aufbaut.
Auch die Frage der Schottersysteme ist für unser
Gebiet noch nicht spruchreif. Im Norden von Hildesheim
sind in großen Sandgruben zwischen Steuerwald und
Drispenstedt (22) mächtige, aus einheimischem Material
— darunter Kieselschiefer aus dem Harz! — aufgebaute
Schotter erschlossen, die sich offenbar weit nach Norden
ausdehnen und von glazialen, zum Teil eisenschüssig ver-
witterten Sanden in zwei Abteilungen zerlegt werden,
derart, daß die obere mit einer Erosionsdiskordanz über
den Sanden lagert. Weiter im Norden verschmälern sich
die Schotter und beschränken sich im wesentlichen auf
das Leinetal. Schöne Aufschlüsse bieten sich besonders
in den großen Kiesgruben von Barnten (23), Ahrbergen
(17) und Heisede (24). Bei Ahrbergen sind diese Schotter
durch Eisdruck gestaucht und liegen unter völlig zersetzten
— zum Teil aus umgelagertem Schotter aufgebauten —
Grundmoränen, denen eisenschüssige Sandschlieren ein-
gelagert sind. Darüber folgen 3 m verlehmter Löß.
Bei Barnten stehen diese Schotter unter einer dünnen
Lößdecke an und lagern über Grundmoränen mit stark
zersetzten Geschieben, die wiederum eine zum Teil zer-
störte dünne Decke über Keupermergeln bilden, die als
Liegendes zum Vorschein kommen. Zwischen der Ablage-
rung der Schotter und der liegenden Grundmoräne liegt
also eine Zeit, in der die letztere stark abgetragen wurde.
` Ich bemerke noch, daß die Schotter bei Ahrbergen stark
eisenschüssig verwittert sind, während diejenigen bei
Hildesheim und Barnten viel frischer aussehen. Die offen-
bar älteren eisenschüssigen Schotter entfernen sich nun
auch mehr von der Leine. Am Wege von Sarstedt und
Gödringen (23) sind sie in sehr schlechten verfallenen
Gruben erschlossen und stark gestört. Hinter Bemerode
— Weg nach Kirchrode — bilden sie das Liegende der
verwitterten Rißmoränen und sind zum Teil in diese ein-
gefaltet. Während sich bei Hannover die heutige Leine
nach Westen wendet, lassen sich diese alten Schotter
nordwärts verfolgen und sind südlich von Mellendorf in
den großen Tongruben (26) zwischen zwei Grundmoränen,
von denen die Liegende verwitterte Geschiebe aufweist,
aufgeschlossen. Auch bei Letter sind diese roteisenschüssi-
gen Schotter als Liegendes der dortigen Würmsandr er-
schlossen.
Es sind also in der Gegend um Hannover Andeutungen
eines älteren Schottersystems vorhanden, das nach den
Lagerungsverhältnissen wahrscheinlich in der Zeit zwischen
der Riß- und der Mindeleiszeit gebildet ist, zum Teil aber
(Letter, Mellendorf) auch jünger sein kann. Charakteristisch
für dieseSchotter sind besonders Buntsandsteine und Kiesel-
schiefergerölle. Die Leine floß früher nördlich von Han-
nover direkt nach Norden durch die auffallende Senke,
die heute zum Teil von der Eilenriede eingenommen wird
Globus XCVIII. Nr. 18,
und weiter im Norden von dem Wietzetal, welches auch
die Eisenbahn nach Walsrode benutzt. Das heutige Leine-
tal zwischen Hannover und Wunstorf ist vielleicht erst
jüngeren Datums und hängt genetisch mit der Südgrenze
des Würmeises eng zusammen.
Auf die Bildung der älteren Schotter, die zum Teil
15 m über die Leine sich erheben, folgt offenbar eine
Zeit starker Erosion und dann die Bildung der jüngeren
Schotter, die nicht mehr eisenschüssig verwittert sind,
wesentlich weniger zementiert erscheinen — oft ganz locker
— und wohl auch wieder verschieden alt sind, indem
ältere grobkörnige Schotter sich von jüngeren feinkörnigen
unterscheiden lassen. Für das Alter der jüngsten Schotter
ist es wichtig, daß bei Hemmingen (27) nach den Mit-
teilungen von Dr. Hahne unter 3 m Talton und 2 m
feinem Schotter Hirschhornwaffen gefunden wurden, die
wahrscheinlich neolithisch sind. Ich beschränke mich auf
diese wenigen Mitteilungen, aus denen hervorgeht, was
für eine Fülle von Problemen im Leinetal zu lösen ist.
Ausblick. Es liegt nahe, die bisher gebrachten
Ergebnisse mit denen aus benachbarten Gebieten zu ver-
gleichen, um so der hier einsetzenden Forschung die
Wege zu weisen. Auf der kleinen Übersichtskarte habe
ich angedeutet, wo der Rand des Würmeises zu suchen
ist. Als Fixpunkte kommen in Betracht die Saale
nördlich von Halle (Nordgrenze des jüngeren Löß!), die
Gegend nördlich von Halberstadt (dasselbe), das von uns
behandelte Gebiet nördlich der Stadt Hannover und
vielleicht die Insel Sylt (VII). Dazwischen klaffen große
unerforschte Lücken. Nehmen wir aber dielanggestreckten,
Endmoränen repräsentierenden Wälle westlich der Weser
und die mit ihnen zum Teil zusammenfallenden Wasser-
scheiden zu Hilfe, so ergibt sich das auf der Karte ein-
gezeichnete Bild. Hierfür ist es wichtig, daß Behrmann
(VIII) bei Oldenburg Landschaften beschreibt, die mit den
von mir bei Burgdorf beschriebenen große Ähnlichkeit
aufweisen. Hier kommt möglicherweise außerhalb der
Grenzen der Würmvereisung eine ältere welligeExarations-
landschaft zum Vorschein, die auffallenderweise auch
unter den von Würmmoränen bedeckten Landschaften
vorhanden ist und in ihren Mulden die bekannten
limnischen interglazialen Ablagerungen der Heide ent-
hält. Wie weit die Rißeiszeit nach Süden reichte, wissen
wir auch noch nicht, doch vermute ich, daß ihre Grenze
mit der großen Wasserscheide — auf der Karte zum
Teil durch wallförmige, endmoränenartige Hügel ange-
deutet — im Westen der Ems zusammenfällt, die meine
kleine Skizze auch verzeichnet ').
Werfen wir zum Schluß noch einen Blick auf die
Nacheiszeit. Diese war im wesentlichen eine Zeit der
Abtragung. Das Klima wurde offenbar nicht allmählich
wärmer, sondern trockene und feuchte Zeiten wechselten
miteinander ab. Aus diesen trockenen Zeiten kennen
wir bei Halle verlehmte Schuttkegel, ich stelle in die-
selben die Bildung der niederen Terrassen des Ilmenau-
tales und der Schuttkegel, die sich hier, wie in den
anderen Heidetälern, ins Vorland geschoben haben.
Wichtig sind hierfür besonders die von den meisten
Glazialgeologen aus begreiflichen Gründen systematisch
totgeschwiegenen Arbeiten von Professor Schulz in
Halle, deren Quintessenz er kürzlich im 2. Hefte des
Jahrganges 1910 der Zeitschrift der deutschen geolo-
gischen Gesellschaft gegeben hat. Ich möchte alle kri-
tisch denkenden Glazialgeologen bitten, diese Arbeiten
mit in den Kreis ihrer Betrachtung zu ziehen.
1) Eine genauere Begründung, auf Grund einer großen
zum Teil in Arbeit befindlichen Übersichtskarte Nordwest-
deutschlands behalte ich mir vor.
37
282
Sehröter: Der erste schweizerische „Nationalpark“, Val Cluoza im Unter-Engadin.
Auch bei Hannover finden wir Andeutungen post-
glazialer Klimaschwankungen. In den Gruben der Ze-
mentfabrik in Lehrte — genauere Profile dieser höchst
wichtigen Stelle werde ich demnächst mit Herrn Dr. Hahne
gemeinsam veröffentlichen — liegen zwei Torfbänke ge-
trennt durch einen Schneckenriet mit gerollten Steinen.
Darunter lagen direkt über der Kreide behauene Knochen
aus der Litorinazeit. Die heute von Mooren erfüllte
Mulde muß also eine Zeitlang ausgetrocknet sein.
Die Fragen, die sich uns aufgedrängt haben, lassen
sich nur durch regionales Arbeiten lösen, und so ist es
bezeichnend, daß die bisherigen Untersuchungen dieser
Gebiete eine Klärung nicht gebracht haben.
Literaturverweis.
I. K. Olbricht, Grundlinien einer Landeskunde der
Lüneburger Heide (Stuttgart 1910), 8. 597. — K. Olbricht,
Über einige ältere Verwitterungserscheinungen in der Lüne-
burger Heide.. Centralblatt für Min. usw. 1909, Nr. 22.
II. Spethmann, Glaziale Stillstandslagen im Gebiet der
mittleren Weser. Geogr. Mitt., Lübeck 1908, 2. Reihe, Heft 22.
III. K. Olbricht, Bemerkungen an der Höhenschichten-
karte der Lüneburger Heide. Petermanns Mitteilungen 1910,
2. Halbbd., Heft 2.
IV. Schucht, Der Lüneburger Ton als leitender Horizont
usw. Jahrb. d. Kgl. Preuß. Landesanstalt 1908, 8. 131—150.
V. K. Olbricht, Die Exarationslandschaft. Geologische
Rundschau 1910, Heft 4.
VI. E. Wüst, Gliederung und Altersbestimmung der Löß-
ablagerungen Thüringens usw. Centralblatt f. Min. usw.
1909, 8. 385-392. — Vgl. dazu die Bemerkungen der
Herren L. Siegert usw., Centralblatt 1910, 8. 99—112, und die
Antwort von Wüst im Centralblatt 1910, 8. 369—371 und
407—417. $
VII. Gagel, Uber einen Grenzpunkt der letzten Vereisung.
Jahrb. d. Landesanstalt 1907, 8.581 usw.
VII. Behrmann, Zur Frage der Urstromtäler im Westen
der Unterweser. Verhandlungen des 17. deutschen Geographen-
tages 1910, 8. 49—66. — Zu ähnlichen Ergebnissen wie ich
kommt Stoller: Landschaftsformen der südlichen Lüneburger
Heide. 2. Jahresbericht des niedersächsischen geologischen
Vereins, 1909, S. 126—131.
Der erste schweizerische „Nationalpark“, Val Cluoza im Unter- Engadin.
Von Prof. C. Schröter.
Mächtig hat in den letzten Jahren die ideale Be-
wegung eingesetzt, deren Streben nach Erhaltung der
spärlichen Reste ursprünglicher Natur in unseren alten
Kulturländern ging. „Schutz den Naturdenkmälern“
Zürich !).
Danzig, besonders lebhaft gefördert, immer weitere Kreise
ergriff.
In der Schweiz wurden die früheren zerstreuten Be-
strebungen im Jahre 1906 zentralisiertt durch die
— s i
Abb. 1.
lautete ihr Wahlspruch, dessen suggestive Wirkung, von
dem unermüdlichen deutschen Vorkämpfer, Prof.Conwentz-
') Wir entnehmen diesen Aufsatz mit seinen Abbildungen
unter freundlicher Erlaubnis des Vereins Naturschutz-
park in Stuttgart dessen kürzlich erschienener Broschüre
„Naturschutzparke in Deutschland und Österreich,
Ein Mahnwort an das deutsche und österreichische Volk“ (Preis
1 #). Der genannte Verein ist bestrebt, auch in Deutsch-
land und Österreich-Ungarn einen Gedanken zu verbreiten,
Das Val da Scarl.
Schaffung einer „Kommission zur Erhaltung von Natur-
denkmälern und prähistorischer Stätten“ oder kürzer
der in anderen Ländern, wie in der Schweiz, in Amerika
und Schweden, bereits Wurzel gefaßt hat und in die Tat
umgesetzt worden ist: den Gedanken, Reservate zu schaffen,
in denen ein Stück deutscher Natur in unverändertem Zustand
fernen Geschlechtern überliefert wird. Diesem schönen Ge-
danken dient auch die erwähnte Broschüre, die eine Reihe
zweckdienlicher illustrierter Aufsätze enthält (außer dem vor-
Schröter: Der erste schweizerische „Nationalpark“, Val Cluoza im Unter-Engadin. 283
Abb.2. Der Hintergrund des Val Cluoza von der Alp Murter aus
gesehen (rechts Piz Quatrevals und die Valetta, links das Val del Diavel und
der Piz dell’ Acqua).
gefaßt „Schweizerischen Naturschutz-
kommission“. Im Schoße der Schweizeri-
schen naturforschenden Gesellschaft, die
in unserem Lande die Rolle einer Aka-
demie der Wissenschaften spielt, war
von ihrem Zentralpräsidenten, Dr. Fritz
Sarasin-Basel, der mit Begeisterung auf-
genommene Antrag zur Gründung einer
solchen Kommission gestellt worden. Sie
besteht aus Geologen, Botanikern, Zoolo-
gen und Prähistorikern unter dem ener-
gischen Präsidium von Dr. Paul Sarasin-:
Basel. Sie veranlaßte in jedem Kanton
die Bildung einer Subkommission, so daß
jetzt über das ganze Land verteilt eine
große Zahl von „Naturschutzmännern“
an dem großen Ziel arbeitet. Es werden
überall die Naturdenkmäler inventari-
siert, erratische Blöcke und schöne Bäume
zu schützen gesucht, und es wurde eine
Verordnung zum Pflanzenschutz an-
stehenden u. a.: Max Kemmerich, Natur-
schutzparke; Kurt Floericke, Entwicklung,
Stand und Aussichten der Naturschutz-
parkbewegung; A. Metzroth, zur Geschichte
der Naturschutzparke; Hans Sammereyer,
Die Errichtung des Alpennaturschutzparkes;
Konrad Günther, Das Leben der deutschen
Wasserlandschaft, sein Rückgang und die
Abhilfe dagegen; Floericke, Die Aussichten
für einen Naturschutzpark in Norddeutsch-
land; F. Schleichert, Eine Wanderung im
Urwald am Kubani; Wolfgang von Garvens-
Garvensburg, Wild im Yellowstonepark;; Der-
selbe, Der Mariposahain von Riesenbäumen).
Über den schweizerischen Nationalpark
wurde bereits oben 8.259 in einer kurzen
Notiz berichtet; hier findet sich Näheres
über ihn. — Die Mitgliedschaft des Vereins
Naturschutzpark (Geschäftsstelle Stuttgart,
Pfizerstr. 5) wird für einen jährlichen Mindest-
beitrag von 2.4 erworben. Neue Mitglieder
erhalten die Broschüre kostenlos. Der Bei-
tritt muß wärmstens empfohlen werden.
Die Red.
gestrebt, die jetzt schon in den Kantonen
Aargau, Appenzell-Außerrhoden, Glarus, Grau-
bünden, Luzern, Solothurn, St. Gallen, Uri,
Wallis, Zürich und Zug durch die Regierungen
für rechtskräftig erklärt ist und namentlich die
gefährdete Alpenflora vor der drohenden Ver-
armung retten soll und wird.
Als eine Hauptaufgabe betrachtete aber die
Naturschutzkommission die Schaffung von zu-
sammenhängenden Erhaltungsgebieten (Reser-
vationen, Naturparken, Tier- und Pflanzen-
asylen). Das sind möglichst ursprünglich ge-
bliebene Gelände, auf denen in Zukunft jede
menschliche Einwirkung ausgeschaltet werden
soll, um den unberührten Naturzustand für
alle Zeiten .zu erhalten: Es sollten so mit der
Zeit die Haupttypen natürlicher Gelände der
Schweiz der Nachwelt überliefert und vor der
drohenden Vernichtung durch die Kultur ge-
rettet werden. Der Naturschutz arbeitet hier
Hand in Hand mit dem „Heimatschutz“ und
dem schweizerischen Forstverein, der die Schaf-
fung von Waldreservationen in die Hand ge-
nommen hat.
Zunächst handelte es sich darum, im
schweizerischen Hochgebirge einen Naturpark
37*
Schröter: Der erste schweizerische „Nationalpark“, Val Cluoza im Unter-Engadin.
zu schaffen. Hier schien von vornherein das Ofen-
gebiet, in der Südostecke unseres Landes gelegen, in
vielen Hinsichten am geeignetsten. Es gehört einer
Massenerhebung mit hochgelegenen oberen Grenzen
an; zahlreiche gewaltige Schneegipfel und Dolomit-
stöcke über 3000 m krönen das Ganze. Der große Reich-
tum der Flora und Fauna ist durch die Lage an der
Grenze der Zentral- und Ostalpen und durch den reichen
Gesteinswechsel bedingt. Es ist ein wenig vom Verkehr
und der Kultur berührtes Gebiet von wilder Ursprüng-
lichkeit und erhabener Einsamkeit. Stundenweit be-
decken urwaldartige Bergföhrenwälder die Gehänge, über
denen zackig zerrissene Dolomitgipfel leuchten; in tief
eingerissenen wilden Schluchten brausen der Spöl und
Ofenbach dahin. Von Zernez im Unter-Engadin, der
waldreichsten Gemeinde der Schweiz (sie besitzt 8000 ha
Wald), führt die schön angelegte hochromantische Ofen-
bergstraße nach Münster mitten durch dieses Gebiet, das
also trotz seiner ursprünglichen Wildheit doch den Vor-
zug leichter Zugänglichkeit besitzt.
sette ihre leuchtendroten Rasen; es schimmern die manns-
hohen Rispen des Wiesenhafers im Glanze der Engadiner
Sonne, und der Schlangenwegerich schüttet den Blüten-
staub in ganzen Wolken aus seinen hellgelben Ähren.
So breiten sich an den Pforten unseres Naturparkes
blumenreiche Fluren.
Der Anstieg zur Wasserscheide ist ein herrlicher
Waldspaziergang, zwischen Fichten, Arven, Lärchen und
Engadiner Föhren (einer alpinen Abart der Waldföhre),
auf rötlich schimmernden Teppichen der Schneeheide und
durch weißbestreute Silberwurzelspaliere.
Das Tal selbst, in das man auf holprigem Geißpfad
nun hinabsteigt, führt an seinen steilen, tausendfach
durchfurchten Kalkhängen, wie auf den weniger ebenen
Stellen des Talbodens einen ‘urwaldähnlichen lockeren
Baumbestand aus aufrechten Bergföhren, Arven und
Lärchen, abwechselnd mit Legföhrendickichten und baum-
losen Schutthalden, auf denen eine reiche und mannig-
faltige Schuttflora sich angesiedelt hat. Dem Grunde
des moosigen Urwalds entsteigt die bleiche Korallenwurz
(Coralliorrhiza) und der seltene Gift-
>O
t
Arvenwald im Val da Scarl.
Abb. 4.
Hier gelang es nun, den ersten schweizerischen
Nationalpark zu schaffen. Es ist das Val Cluoza, ein
wildes, bis jetzt schwer zugängliches Hochgebirgstal, in
das gewaltige Dolomitmassiv des Piz Quatrevals tief ein-
gerissen, südlich von Zernez im Unter-Engadin, am rechten
Innufer (Abb. 2). Es läuft vom Piz Quatrevals (3150 m)
gerade nach Norden; die Einmündung des Cluozabachs
in den ungestümen Spölfluß liegt etwa 1520m hoch.
Das Tal hat eine Länge von 10km, eine maximale Breite
von 4km und einen Flächeninhalt von 28qkm. Nach
oben gabelt es sich in die drei schreckhaft öden Fels- und
Trümmertäler Valetta, Val Sassa und Val del Diavel.
Gegen Süden, an der italienischen Grenze, ist es durch
einen teilweise vergletscherten, schwer begehbaren Grenz-
kamm abgeschlossen.
Der Zugang von Zernez aus umgeht die wilde, felsige
Mündungsschlucht des Cluozabachs, zieht sich zur links-
seitigen Wasserscheide hinauf und von da ins Tal hinab.
Haben wir von Zernez ausgehend den Spöl über-
schritten, so wandern wir zwischen blühenden Sträuchern
der rostroten Heckenrose, unter denen in großen Raketen
die üppigen duftenden Stauden der blauen Himmelsleiter
(Polemonium) emporschießen, während die schlingende
Alpenrebe ihre blauen Glocken zwischen die blühenden
Rosen hängt. Auf den Wiesen breitet die wilde Espar-
hahnenfuß (Ranunculus Thora).
Das Endstück des Tales, das Val del
Diavel, führt zum beschwerlichen Teufels-
paß empor, über den man ins italienische
Livigno gelangt. Es ist von furchtbarer
Wildheit „ein weites Felsengrab, wohin
du blickst, ausgefüllt mit grauen Blöcken
von Geröll ...“ (Otto v. Bülow.)
Auf der rechten, etwas milderen Tal-
seite liegt die Alp Murtèr, an dem dom-
artig gerundeten Rücken, der das Val
Cluoza vom Spöltal trennt. Es ist eine
Schafalp, bisher an Bergamasker ver-
mietet, die aber laut einer neuerlichen
Verfügung des Bundesrates ihre Tiere
überhaupt nicht mehr in der Schweiz
weiden lassen dürfen; eine Vorschrift,
die die Ablösung des Pachtvertrags den
Zernezern sehr erleichtert. Ein üppiger,
blumenreicher Rasen erfreut uns hier:
in reichen Büscheln lagern die sammet-
blauen Alpenveilchen auf dem Grase; die
ganzblätterige Primel streut herdenweise
ihre roten Sterne über den Boden, und das seltene
Callianthemum öffnet seine weißen Blüten. Auf dem
steinigen Grat, der im Piz Murter gipfelt, schmückt eine
reiche Polsterflora den Felsschutt: der leuchtend orange-
gelbe Mohn, der parnassiablätterige Hahnenfuß, zahl-
reiche Hungerblümcehen und Saxifragen glänzen uns
entgegen.
So bietet das Tal die ganze Skala alpiner Vegetations-
typen: den Alpenwald, den Strauchgürtel, die Hochstauden-
flur, die Schuttfluren, die blumigen Matten, Quell- und
Gesteinsfluren in reicher,‘ bunter Mischung. Auch an
Gemsen und Murmeltieren fehlt es nicht, und, was dem
Tal einen besonderen Reiz verleiht: es ist eine der
letzten Zufluchtsstätten des Bären!
Vom 1. Januar 1910 an hat sich die Gemeinde Zernez
verpflichtet, im Val Cluoza keine wirtschaftliche Benutzung
mehr zuzulassen, es darf in Zukunft „keine Axt und
kein Schuß“ mehr erklingen, kein weidendes Haustier
darf das Tal betreten. Die Naturschutzkommission der
Schweizerischen naturforschenden Gesellschaft, mit der
der Vertrag abgeschlossen wurde, hat das Recht, Wege,
Hütten, Abgrenzungen und dergleichen zu erstellen und
Wächter anzustellen. Es ist beabsichtigt, einen besseren
Zugang zu schaffen, eine einfache Klubhütte zu bauen
und einen ständigen Wächter anzustellen, sowie für
Budberg: Bürg- und Haftpflicht im chinesischen Volksleben.
die genaueste wissenschaftliche Durchforschung besorgt
zu sein.
Es ist ja keine Frage, daß die gesamte Flora der
Alpweiden durch den Einfluß der Düngung und des Be-
weidens in ihrem Pflanzenbestand ganz wesentlich be-.
einflußt ist. Alles, was das stetige Abgebissenwerden
und die Düngung nicht erträgt, das ist unter dieser Jahr-
hunderte dauernden Selektion verschwunden. Es wird
eine besonders interessante Aufgabe sein, in den Reser-
vationen die allmähliche Wiederherstellung der ursprüng-
lichen Flora zu verfolgen.
Mit dem Naturpark des Val Cluoza ist im Ofengebiet
ein erstes Zentrum geschaffen, an das sich weitere Teile
dieses Gebietes angliedern sollen, teils Totalreservationen,
wie Cluoza, teils hochalpine Partialreservationen, die erst
oberhalb der Wald- oder Almengrenze beginnen sollen.
Schon sind Unterhandlungen mit mehreren Gemeinden
angeknüpft, die die Aussicht haben, zu einem guten
Ende zu führen. So mit Schuls wegen der Tal- und Kamm-
gebiete östlich und westlich des einsamen, waldreichen
Val da Scarl (vgl. Abb. 1, 3 u. 4), mit Tarasp wegen des
Plafnatales und mit Scanfs wegen der südlichen Täler
des Quatrevalsmassivv.. Damit taucht das schöne Bild
eines weiten Schutz- und Schongebiets unzerstörten
Naturlebens vor uns auf, das der Nachwelt überliefert
werden soll.
Bürg- und Haftpflicht im
Von Dr. R. Baron Budberg.
Einer der wesentlichsten Charakterzüge des Chinesen
ist, daß er die Welt und was ihn umgibt, nicht von sich
aus beurteilt, sondern sich als ein sehr unwesentliches
Atom der großen Welt, der er sich anzupassen hat, fühlt.
Der Ausdruck „Fehlende Individualität“ ist indessen für
diese Eigentümlichkeit des Chinesen nicht die richtige
Bezeichnung. Jedem Chinesen wohnt dieFähigkeit inne, sich
Personen und Verhältnissen zu akkommodieren. Die vor-
züglichsten Beispiele dafür finden wir in der Sprache.
Ganz zu schweigen von charakteristischen Bezeich-
nungen des eigenen „Ich“, die zum Teil Ausdruck größter
Bescheidenheit sind, gibt es viel bedeutsamere, die wirk-
lich als Ausdruck eines uns fremden Vorstellungs-
vermögens zu gelten haben. Die Begriffe „rechts“
und „links“ werden vom Chinesen wohl nur da gebraucht,
wo es sich ausschließlich um seinen eigenen Körper
handelt; um die Bezeichnung zur Umwelt auszudrücken,
ersetzt er aber die uns geläufigen Begriffe links, rechts, vor
und hinter durch Norden, Süden, Osten, Westen. Es
berührt darum den Europäer, der erst kurze Zeit unter
Chinesen weilt, höchst eigentümlich, wenn er selbst von
kleinen Kindern hört: der Gegenstand befindet sich nördlich
oder nordöstlich usw. auf dem Tische. Die Notwendig-
keit, zur eigenen befriedigenden Existenz sich beständig
der Welt und Gesellschaft in Sitten und Anschauungen
anpassen zu müssen, leuchtet auch dem weniger begabten
Chinesen ein. Gegen die elementarsten Grundgesetze
der Moral darf er nicht verstoßen, denn tut er das, so
„verliert er sein Gesicht“, d.h.er geht der Achtung, ohne
die kein Mensch im Kreise seiner Mitmenschen leben
kann, verlustig. Wer „das Gesicht verloren“ hat, der ist
völlig isoliert und kann auf ein gedeihliches Fortkommen
nicht mehr rechnen. Ein solcher Mensch findet dann
nur noch Aufnahme in der Gesellschaft von Dieben,
Räubern, Menschenhändlern usw., die alle kein Gesicht
mehr besitzen.
Chinas gesamter Staatsbau nun gründet sich auf den-
selben Prinzipien, auf denen das Leben einer geordneten
Familie beruht. An der Spitze einer jeden Familie stehen
die Eltern. Daß diese ihre Kinder lieben, ist ein Natur-
gesetz, das ja selbst die ganze Tierwelt kennzeichnet;
daß umgekehrt die Kinder ihre Eltern lieben und achten,
ist eine Notwendigkeit. Wohl können einmal die Eltern
schlechte Leute sein (denken wir nur an das verbreitete
Opiumlaster, das unzählige, selbst die reichsten Familien
ruinieren kann), dann können die Kinder wohl auch den
Eltern Vorstellungen machen und eine ganze Reihe
anderer Mittel anwenden, um dem Unglück vorzubeugen;
nie dürfen aber dabei die Grundbedingungen, die Liebe
und Achtung den Eltern gegenüber fordern, vernachlässigt
chinesischen Volksleben.
Charbin.
werden. Geschähe so etwas, so würden die Kinder un-
vermeidlich alle Achtung bei ihren Mitmenschen verlieren
und hätten zu fürchten, daß das Gesetz, das streng über
die guten Sitten wacht, sie sehr hart straft. Das
patriarchalische Familienleben der Chinesen schließt die
Glieder der Familie unvergleichlich fester zusammen, als
wir Europäer es uns vorstellen können. Einen rechten
Einblick ins chinesische Familienleben erhält ein Europäer
selten, es sei denn, daßihn verwandtschaftliche Bande mit
chinesischen Familien verknüpfen oder er als helfender
Arzt gerufen wird und man seiner Gesinnung vollstes
Vertrauen schenkt; nur dann wird ihm ein Platz an
gutem chinesischen Familienherde gestattet. In Europa
kennt man ja, was Familienleben und Volkspsychologie
betrifft, China meist nur aus der Feder der Missionare.
Ihnen schreibt der Beruf Feindseligkeit gegen die kon-
fuzianischen Lebensprinzipien vor, und dazu kommt
dann häufig eine gewisse Gereiztheit, weil ihnen, die ja
meist ihr lebelang inmitten chinesischer Bevölkerung
weilen, das Übertreten der Schwelle zum häuslichen
Herde guter Familien versagt wird. Sitten und mora-
lische Anschauungen in christlich-chinesischen und kon-
fuzianischen Kreisen sind sehr voneinander verschieden.
Es kommt selten vor, daß sich eine Familie trennt, am
häufigsten sehen wir Familien, selbst mehrere Generationen
hindurch, beisammen bleiben unter einem Haupte, dem
ältesten Mitgliede, dem sich die jüngeren Glieder unweiger-
lich zu fügen haben. Leben die Großeltern oder die Eltern
nicht mehr, so tritt an ihre Stelle der älteste Sohn, dem
sich die jüngeren Brüder wie einem Vater fügen. Aus
praktischen Gründen, wegen Krankheit oder schwachen
Charakters des älteren, kann die Stelle des Familien-
hauptes auch ein jüngeres Glied einnehmen. Die Heirat
eines der Söhne bringt keinen Anlaß zur Trennung.
Dem Sohne wählen die Eltern die Frau; wo nur Mittel
vorhanden sind, sichern sich die Eltern möglichst früh-
zeitig eine Braut für ihren Sohn, als Kinder werden
viele verlobt, ohne bis zur Hochzeit einander zu kennen.
Das durch Vertrag verlobte Mädchen ist wie durch die Ehe
selbst gebunden. Es ist deshalb eigentlich zutreffender,
statt von Verlobung von der Adoption eines Mädchens
in eine andere Familie zu sprechen. Die junge Frau
wird gleichsam in die Familie ihrer Schwiegereltern
adoptiert und dem eigenen Sohn als Frau zugewiesen;
aus ihrer Elternfamilie scheidet sie völlig aus. Weitaus
in den meisten Fällen sehen wir die junge Frau sich
innig an ihre Schwiegereltern, die sie ja selbst zu ihrer
Tochter gewählt haben, anschließen. Die Kasse der
Familie ist gemeinsam, das einzelne Glied arbeitet für
die ganze Familie. Durch seine Ehe ist der chinesische
286
Budberg: Bürg- und Haftpflicht im chinesischen Volksleben.
Mann in seiner Freiheit nicht beschränkt. Er kann in
die Ferne ziehen, um mehr zu erwerben, für die Frau
ist ja im Elternhause gesorgt; denn auf sie und ihre
Kinder sieht man so wie auf die leiblichen. Es würde hier
zu weit führen, noch andere Bedingungen, wie etwa den
Ahnenkultus, zu erwähnen, die die Glieder der Familie
so gewaltig fest verknüpfen.
Die logische Folge aller dieser Bedingungen aber ist
die Verantwortlichkeit der einzelnen Glieder für einander,
die Haftpflicht in weiten Grenzen. Für Vergehen aller Art
hält sich das Gesetz, hält sich der Geschädigte, im Falle
der Schuldige sich geflüchtet hat, an die Verwandten.
Nehmen wir ein Beispiel: Ein Dienender hat seinen
Herrn bestohlen und sich geflüchtet, der Geschädigte reist
dahin, wo der Vater, Bruder oder Sohn des Diebes lebt,
und auf sein Verlangen wird der Verwandte des Diebes
ins Gefängnis getan, bis der Schuldige sich gestellt hat
oder festgenommen worden ist; ja es kann schließlich
sogar der Haftpflichtige die Strafe des Diebes erleiden.
Bei sehr großen, unerhörten moralischen Verbrechen
eines Verwandten unterliegt die ganze Familie, Aszen-
denten wie Deszendenten, die beisammen lebten, der Aus-
rottung. Das Gesetz sagt in solchen Fällen, daß eben das
ganze Geschlecht völlig degeneriert sein, und daß deshalb
im Interesse der Mitmenschen, des Staates dem weiteren
Keimen so schlechter Saat durch Ausrottung vorgebeugt
werden müsse. Gewisse Verbrechen, die am Schuldigen mit
dem Tode bestraft werden, zogen früher Kastration für
die männliche Nachkommenschaft nach sich, um fort-
schreitender Degeneration vorzubeugen. Man sollte diese
Prinzipien nicht schlechtweg grausam nennen; ihr logischer,
praktischer Sinn ist erstaunlich tief. Stets halte man sich
vor, daß das chinesische Gesetz, die Volkspsychologie
‚kennend, zum Wohle des Staates oder großer Kreise
gegen das Einzelindividuum oft grausam, um nicht zu
sagen ungerecht ist. Besonders rücksichtslos ist das
Gesetz gegen Vergehen, die die Moral verletzen, wie Miß-
achtung der Eltern, Unkeuschheiten mannigfaltiger Art,
die zum Teil vom europäischen Gesetz, als das intimste
Familienleben betreffend, gar nicht verfolgt werden.
Sympathisch berührt uns dabei, daß das Gesetz nicht nur’
exemplarisch bestraft, sondern auch große Tugenden
freigebig belohnt, und daß die Regierung den Tugend-
haften selbst nach dem Tode schöne Denkmäler setzt,
z. B. häufig tugendhaften Witwen. Alle diese und viele
andere erziehende Prinzipien im chinesischen Gesetz, in
angeborener und anerzogener Lebensmoral lassen die
größte Verantwortlichkeit der einzelnen Familienglieder
für einander ganz natürlich erscheinen. Die Anerkennung
von Autorität überhaupt wird von jedem Gliede der
Gesellschaft auf Grund der elementarsten Tugend, der
Achtung vor den Eltern, gefordert; deshalb ist auch den
Eltern, die verantwortlich für ihre Kinder sind, vom
Gesetz die größte Machtbefugnis diesen gegenüber ein-
geräumt. Wer in China die elementarsten Tugenden miß-
achtet, wird unbarmherzig von der ganzen Gesellschaft
verstoßen, er findet kein Brot in der Heimat und keine
Bürgen, deren er in fernen Gegenden bedarf; zu
Tausenden sterben alljährlich solche der Barmherzigkeit
unwürdige Leute Hungers auf den Straßen. Barmherzig-
keit einem Unwürdigen gegenüber wird von der Gesell-
schaft nie anerkannt, vielmehr gerügt. Neben der natür-
lichen Haftpflicht der Verwandten spielt im sozialen Leben
Chinas und der Chinesen in fremden Ländern die frei-
willige Bürgschaft die wichtigste Rolle. Das Band der
geschworenen Freundschaft ist heilig und kommt der
Blutsverwandtschaft gleich.
Die Haftpflicht der Verwandtschaft geht der Verant-
wortlichkeit auf Grund freiwilliger Bürgschaft voran.
Dem Chinesen, der innig seine Heimat und sein Heim
liebt, wohnt indessen stets ein Zug in die Ferne inne.
Es ist nicht allein die große Armut in einzelnen Provinzen,
die das Volk arbeitsuchend den häuslichen Herd verlassen
‚läßt, sondern oft reine Wanderlust. Wohl keiner aber
begibt sich allein oder ohne alle empfehlenden Ver-
bindungen in weite Ferne, ihn begleitet wenigstens ein
Brief, eine Empfehlung bis zum nächsten Orte. Annahme
von Dienstboten, ohne daß eine Bürgschaft geboten wird,
erscheint als sträflicher Leichtsinn. Je nach der Verant-
wortlichkeit, die der Dienstbote übernimmt, wird eine
größere oder geringere Bürgschaft verlangt. Die Form
bildet ein schmaler Streifen Papier, auf dem das Geschäft
oder eine einzelne Person bescheinigt, daß sie dem zu-
künftigen Dienstherrn für den Empfohlenen bürgt, ein
Stempel der Firma fehlt dabei nicht. Solch eine Bürg-
schaft, „bau-thjau“, sichert vor allem Schaden, den der
Dienstherr durch den verbürgten Dienstboten erleiden
könnte, sie besitzt vollste Rechtskraft. Man hört eigent-
lich nie davon, daß ein durch einen wahren „bau-thjau“
empfohlener Dienstbote sich des ihm geschenkten Ver-
trauens unwürdig gezeigt habe; denn dadurch wäre nicht
allein er verloren, seine ganze Familie wäre blamiert
und vielleicht ruiniert durch Beitreibung des Vielfachen
von dem Schaden, den er verschuldet hat. Es ist durch-
aus nicht notwendig, daß der Bürgende den Empfohlenen
selbst kennt; es genügt, daß er von einer anderen Person
oder Firma um die Bürgschaft gebeten wird, letztere
kennt die Familie des Empfohlenen, weiß, an welche
Personen sie sich mit der Haftpflicht zu halten hat. So
können diese Bürgschaften häufig eine lange Kette
bilden, was indessen häufig zum Vorteil der gegenseitigen
kommerziellen Beziehungen dient. Den Schaden hat zu-
nächst derjenige zu tilgen, der den „bau-thjau“ gegeben
hat. Wir stehen hier vor einem erstaunlich organisierten
System bester Garantien und geschäftlicher Beziehungen.
Die nämlichen Prinzipien spielen im Handel dieselbe
Rolle, schaffen dazu einen billigen Kredit und festen
Konnex. Das Kaufmannsgeschäft beruht ja in China
auf anderen Prinzipien als bei uns, die Kontrolle ist ver-
einfacht. Selbst der kleinste Kaufladen hat zu Teil-
nehmern am Geschäft meist mehrere Personen; denn dieses
schafft schon mehr Beziehungen und verlangt nicht
zu große Kapitalien vom einzelnen. In den internationalen
Kolonien Chinas ist es etwas sehr Gewöhnliches, daß die
Dienstboten der Europäer stille Teilnehmer an solchen
kleinen Geschäften sind. Die Buchführung eines jeden
Geschäftes ist sehr genau und läßt eine vorzügliche
Kontrolle zu. Der Kassenabschluß des Tages wird nach
Schluß des Geschäftes alltäglich durch alle Angestellten
geprüft, wobei jeder sein Rechenbrett, auf dem er meister-
haft schnell zählen kann, vor sich hat, die einzelnen
Posten werden von der ganzen Gesellschaft rhythmisch
singend addiert usw. und unterliegen so der ausgiebigsten
Aufsicht. Zu welch einer Routine in kaufmännischen
Interessen die Chinesen gelangen, mag ein Bild aus dem
Leben in großen Restaurants illustrieren. Irgend ein
Herr hat Gäste oder Freunde ins Restaurant geladen,
die Mahlzeit ist zu Ende, der Kellner trägt die Rechnung
rhythmisch singend vor, ihm antwortet zur Kontrolle der
Koch aus der Küche, während der Kassierer seinerseits
die Posten bucht. Der Chinese liebt überhaupt das
Rechnen, und man sieht auch alle anderen Gäste mit
Interesse dem schnellen Gesange und dem summarischen
Resultat folgen. Der Wirt hat nebenbei den Vorteil,
daß infolge dieser Methode so mancher Gast mehr be-
stellt, allein um vor dem Publikum ein wenig zu protzen.
Im Dienste größerer Firmen finden junge Leute nur
mit guten Bürgschaften Aufnahme. Als Laufbursche
Friederici: Die Verbreitung der Steinschleuder in Amerika.
287
eingetreten, tüchtig und zuverlässig, rückt der junge
Mensch im Laufe einiger Jahre vor und erhält einen
Anteil an dem Unternehmen, der mit den weiteren
Jahren wächst. Die Stellung der Glieder eines chinesischen
Kaufmannshauses zueinander gleicht den Beziehungen
der Glieder einer Familie untereinander.
Selbst die staatlichen Behörden bedienen sich bei
Anstellung von niederen Beamten, Soldaten und Polizisten,
die als Volontäre in den Dienst genommen werden, des
Bürgschaftssystems.
Wer in China lebt, nicht nur der Kaufmann,
sondern auch jeder andere, muß, wenn er sich nicht
großen Unannehmlichkeiten und Enttäuschungen aus-
setzen will, sich an dieses tief eingebürgerte rationelle
System der Bürgschaft halten. 99 Proz. von denen, die
sich über Unehrlichkeit und -Schlechtigkeit der Chinesen
zu beklagen haben, verschulden sie selbst, weil sie diese
Grundbedingungen im Verkehr mit den Chinesen nicht
gekannt oder vernachlässigt haben. Solche Europäer
müssen sich dazu ins Gewissen schreiben, daß sie
demoralisierend auf die von ihnen beschäftigten Chinesen
gewirkt haben. Darin, daß der Dienstherr von seinem
Untergebenen keine Garantie verlangt, sieht der Chinese
geradezu eine Verleitung zu Unehrlichkeiten, und in
jedem Fall ist eine Nichtbeachtung dieser für den
Chinesen selbstverständlichen Vorsichtsmaßregel eine
herausfordernde Versuchung, die Tausende junger Chinesen
in europäischen Diensten verdorben hat. F
Erschreckende Bilder weitestgreifender Demoralisation
unter der chinesischen Bevölkerung infolge Ignorierens
genannter Bedingungen bietet das Gebiet der Ost-
Chinesischen Bahn. Diebstähle und Verbrechen aller
Art nehmen in diesem Gebiet von Jahr zu Jahr in er-
schreckender Zahl zu. Es vergeht kein Jahr mehr, wo
nicht Ermordungen ganzer Familien durch chinesische
Dienstboten zu verzeichnen sind. Dieentflohenen Verbrecher
bleiben dabei, weil Heimat und Name unbekannt sind,
ohne Strafe. Man nimmt sich ja nicht einmal die Mühe,
den Namen seines chinesischen Bedienten, auch wenn er
jahrelang im Hause ist, kennen zu lernen, man gibt ihm
den Namen Iwan, Andrei usw. und kümmert sich
sonst nicht darum, woher er stammt und welche
Beziehungen er unterhält. Es werden Stellenvermittelungs-
bureaus speziell für Annahme chinesischer Dienstboten
konzessioniert, diese kennen aber nicht das System der
Garantien, sondern halten sich an die Regeln, wie sie
in den inneren russischen Gouvernements gebräuchlich
sind. Die Verwaltung sieht nun wohl allmählich ein,
daß die Verhältnisse immer kritischer werden; die
Zahl der Verbrechen wächst sichtlich, und es werden neue
Maßnahmen getroffen oder geplant, immer aber wird an
den Grundsätzen festgehalten, die das Gesetz für die
inneren russischen Gouvernements vorschreibt. Letzthin
ist beim Polizeibureau in Charbin ein offizielles Kontor
zur Annahme chinesischer Dienstboten eröffnet worden,
und als Garantie sollen zwei Photographien dienen, von
denen die eine der Dienstherr, die andere die Polizei
behält. Dadurch meint man im Falle eines Verbrechens
den Flüchtling wiederfinden zu können. Durch den
amtlichen Charakter, den solch ein Kontor besitzt, wird
die Annahme von Dienstboten nur noch leichtsinniger.
Das Verderblichste für die hiesigen russischen Interessen
ist, daß die ganze Presse, die das Publikum über die
Grundbedingungen einer befriedigenden Existenz im
fremden Lande und unter völlig fremder Bevölkerung
aufklären könnte und sollte, nicht gebildete Kräfte besitzt
und dabei den Gegensatz zwischen den -einzelnen
Nationalitäten zu schüren bestrebt ist.
China kommt infolge der rapid zunehmenden Ver-
derbnis des ab- und zuwandernden Volkes auf einem so
großen Gebiet, das dazu noch zu frisch sich erschließen-
den Kolonisationsgegenden führt, in eine kritische
Lage. Hier will es jetzt schon nicht recht Herr werden
können über die stets zunehmenden großen Räuber-
banden.
Rußland, dem hier alle Vorbedingungen, seinen
Handel und geine Machtstellung zu festigen, geboten
waren, geht infolge seiner Unfähigkeit, sich großen
kulturellen Grundsätzen anzubequemen, zurück, und die
Zeit dürfte nicht fern sein, wo auch russisches Grenz-
gebiet heimgegucht wird von den überhandnehmenden
Chunchudzenbanden. Wird China es verstehen, in seinem
großen Reformwerk sich neu zu beleben, ohne sein
altes rationelles Staatssystem zu zerbrechen, auf be-
währtem Fundament weiterzubauen, dann dürfte es im
Erwerben der Errungenschaften auf wissenschaftlichen
und technischen Gebieten, ein Schüler der modernen
Welt, bald diese seine Rolle mit dem des Lehrmeisters in
staatserhaltenden Prinzipien vertauschen. Zeigt uns doch
schon die Geschichte des chinesischen Staates, daß er in
kurzer Zeit dank seiner alten Kultur zahllose ver-
schiedene Völker zu einer Nation und einer Lebens-
auffassung so harmonisch vereinigt hat, wie es keinem
anderen Staatswesen gelungen ist.
Die Verbreitung der Steinschleuder in Amerika.
Von Dr. Georg Friederici.
Die im folgenden gegebene kurze Übersicht über die
Verbreitung der Schleuder in Amerika ist das Ergebnis
einer Untersuchung, die als Vorarbeit für eine größere
Abhandlung über die Südseeinseln notwendig wurde.
Um im Norden zu beginnen, so wissen wir zunächst,
daß die Eskimos auf der ganzen Linie, von Grönland
über die Baffin-Bai und Mündung des Mackenzie bis nach
Alaska, gewandte und gefährliche Schleuderer waren.
Frobisher und Luke Fox haben im Gefecht mit ihnen
Bekanntschaft gemacht, Alexander Mackenzie und Admiral
v. Wrangell konnten sie beobachten 1). An der Ostküste
1) „A Collection of Documents on Spitzbergen and
Greenland“, p. 216, 217 (London 1855, Hakl. Soc.). — „The
Voyages of Captain Luke Fox of Hull, and Captain Thomas James
of Bristol, in Search of a North-West Passage, in 1681 — 1632“,
I, 49, 67, 88 (London 1894, Hakl. Soc.). — „Voyages d’Alex-
von Nordamerika traf Sebastian Cabot die Schleuder bei
den Beothuks von New Foundland im Gebrauch ?), Le-
derer bei einem Stamme von Nordkarolina 3).
Während den Indianern der Golfstaaten ihr mächtiger
Bogen die Hauptangriffswaffe war, hatten sie doch offenbar
noch als Nebenwaffe die Schleuder im Gebrauch. Cabeza
andre Mackenzie dans l'Intérieur de l’Amerique Septentrionale
etc.“ Trad. Castera. II, 61 (Paris 1802). — v. Wrangell:
„Statistische und etlınographische Nachrichten über die
russischen Besitzungen an der Nordküste von Amerika.“
Herausg. K. E. v. Baer, 8. 90 (St. Petersburg 1839).
2) Harrisse: „Découverte et Évolution Cartographique de
Terre-Neuve et des Pays Circonvoisins 1497—1501—1769“,
p. 164 (Paris et London 1900).
3) „The Discoveries of John Lederer, in three Several
Marches from Virginia, to the West of Carolina“, p. 18
(London 1672).
Friederici: Die Verbreitung der Steinschleuder in Amerika.
de Vaca sagt dies ganz ausdrücklich, während Garcilaso
de la Vega bei Beschreibung der Schlacht von Mauvila
es offen läßt, ob der gewaltige Steinhagel aus den Händen
der Indianer stammte oder aus Schleudern. Moore hat
zahlreiche in Mounds der Küste von Nordwestflorida ge-
fundene runde oder zylindrische Steine als indianische
Schleudersteine gedeutet ®).
Im Museum von Nassau, New Providence, Bahama-
inseln, befindet sich eine Anzahl harter, eigroßer Kugeln
aus einer tonigen Erde, die man in einer Höhle gefunden
hat. Es sind sicherlich Erzeugnisse der ehemaligen Be-
wohner, der Lucayos, aber ob man in ihnen Schleuder-
steine vor sich habe oder Kochsteine, hat man nicht zu
entscheiden vermocht. Vielleicht sind sie keines von
beiden gewesen.
Die Lucayos waren nahe Verwandte der Tainos von
Haiti, von deren Sprache die ihrige nur dialektisch ver-
schieden war. Die Tainos nun haben nach dem aus-
drücklichen Zeugnis von Las Casas niemals Schleudern
gekannt und verwandt. Aber den Schluß hieraus zu
ziehen, daß nun auch den Lucayos die Schleuder fremd
gewesen sei, würde voreilig sein. Dann müßte man
auch folgern, daß die Lucayos auch im Besitz der tiradera,
des Wurfholzes der Tainos von Haiti, gewesen seien.
Nichts wird hiervon in den spanischen Berichten erwähnt.
Dazu kommt, daß für Trinidad der Gebrauch der Schleuder
belegt ist; zwar ist nicht ersichtlich, ob es sich in diesem
Falle um Karaiben oder um Aruaks handelt, die beide
damals auf dieser Insel wohnten, an der Tatsache selbst
aber scheint angesichts der ausdrücklichen Angabe von
Thevet nicht zu zweifeln zu sein 5).
Das Verschwinden der Schleuder kann bei den Twana
im heutigen Staate Washington verfolgt werden. Eells
konnte noch feststellen, daß in früherer Zeit die jungen
Leute mit Schleudern auf die Entenjagd gingen; er
selbst fand diese ehemalige Kriegswaffe zum Knabenspiel-
zeug entartet 6).
In Ober- und Unterkalifornia hat man noch die
Schleuder im Gebrauch vorgefunden, aber sie war schon
sichtlich vom Bogen zurückgedrängt, war auf dem Aus-
sterbeetat. In Unterkalifornia scheint sie sich etwas
länger als Kriegswaffe gehalten zu haben 7).
Bei den Pueblo-Indianern war die Schleuder zum
Knabenspielzeug herabgesunken °), aber in Mexiko konnten
die Spanier noch ihre volle Wirkung im Kriege verspüren.
Vom Gran Rio del Norte bis nach Guatemala hinein ist
t) Cabeza de Vaca: „Relación de los Naufragios y
Comentarios“, I, 40—41 (Madrid 1906). — Garcilaso de la
Vega: „La Florida del Inca“, p. 150 II (Madrid 1723). —
C. B. Moore: „Certain Aboriginal Remains of the Northwest
Florida Coast“, II, 160—161 (Philadelphia 1902). — Jones:
„Antiquities of the Southern Indians“, p. 372 (New York 1873).
*) „The American Naturalist“, IX, 183—184 (Salem,
Mass., 1875). — Las Casas: „Historia de las Indias“, III, 90
(Madrid 1875—1876). — Bernaldez: „Historia de los Reyes
Católicos D. Fernando y Da. Isabel“, I, 296 (Granada 1856).
— Thevet: „Les Singularités de la France Antarctique“,
p. 322 (Paris 1878). — „The Voyage of Robert Dudley, etc.
to the West Indies, 1594—1595“, p. 65/66, 78/78 (London 1899,
Hakl. 8oc.).
6) Eells: „The Twana Indians etc.“ in „Bull. U. 8.
Geolog. a. Geogr. Survey of the Territories“, III, 78 (Wash-
ington, D. C., 1877).
7) Powers: „Tribes of California“, p. 404 (Washington
1877). — Mason in „Smithsonian Report“, July 1893, p. 633
(Washington 1894). — Mason in „American Anthropologist“,
N. S., I, 61 (New York 1899). — Wheeler: „Report upon U.
S. Geogr. Surveys West of the One Hundredth Meridian“,
VII, 28, 205 (Washington, D. C., 1879). — Ramusio: „Delle
Navigationi et Viaggi Raccolte“, III, 288 D., 290 B., 292 A.
(Venetia 1606). — P. Juan Bravo in Stöcklein: „Der Neue
Welt-Bott“, I. Bund, VII, 73 [Numerus 171] (Augspurg und
Grätz 1728).
°) F. Krause: „Die Pueblo-Indianer“, 8. 36, 60 (Halle 1907).
hier dieSchleuder belegt. Besonders über die sogenannten
Chichimeken nördlich von Mexiko, über die Azteken und
ihre Feinde, die Tlaxcalteken, über die Gegenden von
Catoche, Campeche, Tabasco, Chiapas und Jalisco haben
wir bestimmte Nachrichten. Merkwürdigerweise läßt
Landa bei Aufzählung der Waffen der Maya die Schleuder
aus und sagt dann, daß sie andere Waffen als die ge-
nannten nicht besäßen. Die Schleuder war eine etats-
mäßige Waffe in der Heeresorganisation der Azteken.
Neben den anderen Waffen und Ausrüstungsstücken
waren auch die Schleudern mit Munition in den Arsenalen
aufgehäuft. Bei einer Mobilmachung wurden sie an die
Krieger ausgegeben. Die Treffsicherheit der Azteken
mit der Schleuder wird gerühmt, sie erzielten eine erheb-
liche Fernwirkung und gefährliche Durchschlagskraft.
Das Gefecht begann gewöhnlich mit einem aus Pfeilen
und Steinen gemischten Geschoßhagel. Gomara sagt,
daß die Azteken während der Straßenkämpfe in Mexiko
mit keiner Waffe so viel Schaden angerichtet hätten als
mit den geschleuderten Steinen, wobei hier allerdings
auch wohl noch Handsteine mit darunter zu verstehen
sind. Der Chronist Diaz del Castillo erhielt im Gefecht
einen nicht ungefährlichen Schleuderschuß; Motecuhzoma
wurde bekanntlich durch drei Schleudersteine seiner
erbitterten Untergebenen verwundet °).
Wir finden diese Waffe dann weiterhin im übrigen
Zentralamerika !0), im Anschluß hieran im Caucatal 1!)
°?) Abert: „A Report and Map of the Examination of New
Mexico“, Senate Doc., p. 48 (Washington 1848). — Diaz del
Castillo: „Historia Verdadera de la Conquista de la Nueva
España“, I, 12, 14, 16, 17, 31, 88, 92, 93, 182, 187, 188, 226,
282, 417, 418, 420 (bis), 422, 423, 424, 426 (bis), 431, 432,
433, 434, 438, 491, 493; II, 11, 14, 26, 40, 70, 71, 129, 214,
215 (Mexico 1904). — Motolinia: „Historia de los Indios de
Nueva Espana“, I, 188 [trat. III, cap. VII] (Mexico 1858).
Tomo II, Juan de Sämano: „Relación“, p. 269 (Mexico 1866.)
— „Colección de Documentos Inéditos para la Historia de
Espana“, tomo LII, p. 515 (Madrid 1869). — Gomara:
„Historia de Mexico“, p. 26a, 28a, 32a, 36a—37, 110, 153,
153a, 154, 154a, 156 (Anvers 1554). — Duran: „Historia de
las Indias de Nueva Espana etc.“, I, 259, 260 (Mexico 1867).
— Torquemada: „Los Veinte y Un Rituales, y Monarquia
Indiana“, lib. XIV, cap. III [tom. II, p. 588 II—539 1I) (Madrid
1723) — Ramusio, l. c. III, 251a, 254a. — Herrera:
„Historia General“, Déc. II, 165I, 186 II (Madrid 1726—1730).
— Solis: „Historia de la Conquista de Mexico“, I, 131 (Bar-
celona 1789). — Clavigero: „Storia Antica del Messico“, lib.
VII, $ 23 [II, 143] (Cesena 1780). — Landa: „Relación de las
Cosas de Yucatán“, in „Colección de Documentos Inéditos
del Archivo de Indias“, Seg. ser., vol. XIII, 341 (Madrid 1900).
— Stoll: „Die Ethnologie der Indianerstämme von Guate-
mala“, Suppl. zu Bd. I d. „Intern. Arch. f. Ethnogr.“, S. 74
(Leiden 1889).
10) Herrera: „Historia General“, Dec. I, 228I. — Las
Casas V, 518.
11) The Travels of Pedro de Cieza de Leon, A. D. 1532
— 1550“, edit. Clements R. Markham, p. 49, 71, 81—82
(London 1864, Hakl. Soc. No. 33). — Zu Seite 49 sagt der
Herausgeber in Note 1: „the slings seem to me likely to be
throwing-sticks with cords“. Diese Bemerkung ist unzu-
treffend; auch wenn der in der englischen Ausgabe ganz
mangelhaft übersetzte spanische Originaltext nicht so deut-
lich spräche, wäre kein Kommentar für die Schleuder nötig,
denn ihr Vorkommen ist in dieser ganzen Gegend Amerikas
belegt. Der spanische Text lautet folgendermaßen: „Las
armas con que (p. 28a) pelean, son dardos, y lanças largas
dela palma negra que arriba dixe, tiraderas, hondas, y vnos
bastones largos como espadas de a dos manos, a quien
llamä Macanas“. Pedro Cieca de Leon: „La Chronica del
Perv“, p. 28—28a [cap. XII] (Anvers 1554). Die eng-
lische Übersetzung der Hakluyt-Edit. lautet wie folgt: „Their
arms are darts, long lances of black palm, slings and two-
handed clubs, called Macanas“. Jeder Kommentar ist für
einen Ethnologen überfiüssig. Die Ausgaben der Hakluyt
Society von Cieza de Leön und Garcilaso de la Vega sind
wegen ihrer häufigen Lücken und stellenweise schlechten
Übersetzung mit Vorsicht zu benutzen. Für einige Arten wissen-
schaftlicher Untersuchungen sind sie völlig unzureichend.
Friederici: Die Verbreitung der Steinschleuder in Amerika.
289
und bei den Stämmen der Hochlande von Bogotá 12),
Überall hier scheint die Schleuder aber nur eine unter-
geordnete Rolle gespielt zu haben; die Hauptfernwaffe
war die tiradera, das Wurfbrett oder Wurfholz.
Weiter nach Süden kommen wir nun in das wichtigste
Verbreitungsgebiet der Schleuder, in das Inkareich.
Hier war sie zunächst die Waffe des Donnergottes;
man muß den scharfen, peitschenknallähnlichen Schuß
eines gewandten Schleuderers gehört haben, um sofort
zu verstehen, wie eine solche Auffassung bei einem Ge-
birgsvolke entstehen mußte, deren einzige Fernwaffe die
Schleuder war. Sie spielt dann weiter ihre Rolle in der
Gründungssage des Inkastaates und war noch bis zuletzt
eine Art göttlichen Donnerkeils in der Hand des regieren-
den Inka. Cinchi Roca gab mit einem Schleuderschuß,
dessen Geschoß eine Kristallkugel war, in einer Schlacht
das Zeichen zum Angriff. Huayna Capac soll mit einer
angeblich von seinem Vater, der Sonne, erhaltenen
Schleuder nebst drei Kristallgeschossen in einer Schlacht
gegen die Kazika Quilago Wunder verrichtet haben.
Garcilaso sagt an einer Stelle, daß die Schleuder im Inka-
heer zu den wenig geachteten Waffen gehört habe. Das
scheint mir aber nicht so ohne weiteres zuzutreffen und
stimmt auch nicht zu den Angaben anderer Gewährs-
männer. Sie war recht eigentlich die Waffe der Völker
der Berge, die zu den Kerntruppen des Inkaheeres ge-
hörten, und war in ihren Händen von gewaltiger Wir-
kung. Möglich, daß die mit anderen Fernwaffen aus-
gerüsteten Völker der Wälder und Ebenen mit einer
gewissen, sicherlich auf Gegenseitigkeit beruhenden Ge-
ringschätzung auf die Schleuderer hinabsahen, wie ja
auch in den modernen Armeen bis zum heutigen Tage
Eifersucht unter den verschiedenen Truppengattungen
gegeneinander zu herrschen pflegt, bis zu einer gewissen
Grenze ein sehr wertvoller soldatischer Charakterzug. Im
Gegensatz zu Garcilaso wird die Schleuder verschiedent-
lich an erster Stelle unter den aufgezählten Waffen ge-
nannt; die Kunst des Schleuderns war ein Prüfungszweig
des Examens, dem sich die Inkajünglinge unterziehen
mußten, bevor sie vom Herrscher zu „Rittern“ ernannt
wurden. Bei den militärischen Übungen mit Schleudern
bediente man sich statt der Steine der Frucht des Quizco
(Cereus peruvianus). Ihre Durchschlagskraft war so
gewaltig, daß es selbst mit diesen Geschossen nicht selten
Tote gab.
Wir finden die Schleuder (waraka) über das ganze
Inkareich hin verbreitet, von den Cara und Purüa im
Norden bis zu den Grenzen Chiles. Sie wurde zum Teil aus
Wolle verfertigt und hieß dann auch washka, zum anderen
Teil aus Agavefasern und Rohr. Alle Schleudern für
die Militärverwaltung wurden in bestimmten Gegenden
des Reiches hergestellt, wo die Bedingungen für gute
und billige Fabrikation am günstigsten waren. Auch
die Schleudergeschosse — Kieselsteine, das will sagen
„harte Steine“, genannt — wurden in einer gewissen
glatten eiförmigen Form fabrikmäßig hergestellt. Schleuder
und Steine wurden in großen Massen in die Arsenale
des Reichs gebracht und hier vermittelst Quipus registriert
und verwaltet. Selbst die Steine hatten die Kammer-
unteroffiziere des Inka auf diese Weise zu buchen. Bei
einer Mobilmachung wurden dann Waffen und Muni-
tion an die Soldaten ausgegeben. Die Chachapuya trugen
ihre Nationalwaffe, eine Schleuder von ganz besonderer
Machart, um die Stirn gewickelt, wie man das noch heute
in derselben Art bei den Baining und Tumuip von Neu-
Pommern in der Südsee sehen kann. Im Kriege gegen
12) Oviedo y Valdés: „Historia General y Natural de las
Indias“, II, 392II (Madrid 1851—1855). — Herrera, l. c.
VI, 11511.
Cayambe zog Huayna Capac angeblich 40 000 mit Schleu-
dern und anderen Fernwaffen ausgerüstete Krieger zu-
sammen. In der Schlachtlinie marschierten die Schleuderer
mit ihren Holzschilden und gepolsterten Baumwollen-
wämsern vorne weg; sie waren die Artillerie, sagt Las
Casas, die das Gefecht einleitet. Die Wirkung der
Schleudergeschosse wird als ganz gewaltig geschildert.
„Ihre Hauptwaffe ist die Schleuder“, sagt Henriquez de
Guzmän. „Mit ihr schleudern sie einen großen Stein
mit solcher Gewalt, daß er ein Pferd tötet; ihre Wirkung
ist tatsächlich nur wenig geringer als die einer Arkebuse;
ich habe gesehen, wie ein so geschleuderter Stein auf
eine Entfernung von 30 Schritt ein Schwert in zwei
Teile zerbrach, das ein Mann in der Hand hielt“ 13),
Auch die Araukanier und Pehuenche besaßen die
Schleuder als Waffe; im Verlaufe ihrer Kämpfe gegen
die Spanier ist sie aber wohl sehr bald gegen wirksamere
Kriegswerkzeuge gänzlich zurückgetreten 14). Ercilla
führt in seiner Aufzählung der Waffen der Araukanier
auch „trabucos“ auf; Toribio Medina sagt in einer An-
merkung hierzu, daß ein trabuco ein Apparat zum Steine-
schleudern sei. Mir fehlen im Augenblick die Unterlagen,
um feststellen zu können, wie dieser Apparat eigentlich
aussah, auch weiß ich nicht einmal, ob dieses Instrument
schon in befriedigender Weise untersucht worden ist 25).
Während Yahgans auf Feuerland ihre Fellschleudern
wie die Baining um den Kopf gewunden trugen, sind
Anwohner der Magelhaensstraße beobachtet worden, denen
ihre aus Fell und getrocknetem Fischdarm zusammen-
gestellte Schleuder auch zugleich als Gürtel diente In
diesem ganzen Südteile von Amerika ist die Schleuder
als Jagd- und Kriegswaffe vertreten. Mit der Leistungs-
fähigkeit dieser Leute als Schleuderer scheint es in der
zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts schnell
bergab gegangen zu sein; während Kapitän FitzRoy
und noch Bove voller Bewunderung sind, ist Hyades
sehr enttäuscht 16). Wenden wir uns wieder nach Norden,
t») Xerez: „Verdadera Relacion de la Conquista del
Perú“, p. 99 (Madrid 1891). — Cieza de León (Hakl. Edit.)
p. 299, 355. — Garcilaso de la Vega: „Primera Parte de los
Comentarios Reales“, p. 181 II, 196I, 201, 202 und lib. V,
cap. 6 [die Seitenzahl fehlt mir hier: s. Ausg. d. Hakluyt
Soc. II, 18—19) (Madrid 1727). — Derselbe: (Ausgabe Lisboa
1609), p. 197 [lib. VIII, cap. 1]. — Las Casas: „De las Anti-
guas Gentes del Perú“, p. 38—39, 40, 42, 108, 194, 197
(Madrid 1892). — Montesinos: „Memorias Antiguas Histo-
riales y Políticas del Perú“, p. 124, 161—162, 164—166
(Madrid 1882). — „The Life and Acts of Don Alonzo Henri-
quez de Guzman“, p. 101 (London 1862, Hakl. Soc.). —
Acosta: „Historia Natural y Moral de las Indias“, II, 11
(Madrid 1894). — Herrera, l. c, V, 61lI. — Sarmiento
de Gamboa: „Geschichte des Inkareiches“, herausg. von
R. Pietschmann, 8.35, 36, 65, 74 (Berlin 1906). — v. Tschudi:
„Culturhistorische und sprachliche Beiträge zur Kenntniss
des alten Perú“, S. 165 (Wien 1891). — „The Journal of
the Anthrop. Inst. Gr. Britain a. Ireland“, IV, 322 (London
1875). — Payne: „History ofthe New World called America“,
I, 372, Note; 478, 543 (Oxford 1892).
14) Toribio Medina: „Los Aborijines de Chile“, p. 139
(Santiago 1882). — Molina: „Saggio sulla Storia Civile del
Chili“, p. 67—68 (Bologna 1787). — Luis de La Cruz: „De-
scripcion de la Naturaleza de los Terrenos etc. poseidos por los
Peguenches“ in „Colección de Angelis“, I, 46 (Buenos Aires
1835). — Frezier: „Relation du Voyage de la Mer du Sud
aux Côtes du Chili ete.“, lib. 21, chap. 1 (Amsterdam 1717).
15) Ercilla: „La Araucana“, I, 6 [canto I, éstr. 19]
(Madrid 1776). — Toribio Medina, l. c., p. 139.
16) [Córdoba]: „Relacion del Ultimo Viage al Estrecho
de Magallanes“, p. 341, 346—347 (Madrid 1787). — „Apéndice
a la Relacion del Viage al Magallanes“, p. 25—26 (Madrid
1793). — De Laet: „Nieuwe Wereldt ofte Beschrijvinghe
van West-Indien“, XII, 9 [p. 464]; XII, 12 [p. 472] (Leyden
1630, Elzevier). — Weddell: „A Voyage towards the South
Pole, Performed in the Years 1822—1824*, 2nd edit., p. 164
— 165 (London 1827). — Wilkes: „Narrative of the United
States Exploring Expedition“, I, 124 (Philadelphia 1845). —
290
Bücherschau.
so finden wir die Schleuder noch bei den Guaranivölkern 17)
und auch noch — wenigstens nach dem Vokabularium
von Marbän zu schließen — bei den Moxos £28). Hier
aber scheint die Verbreitung der Schleuder nach Norden
und Osten von Südamerika ihr Ende zu finden. Dieser
ganze Teil von Brasilien, der Osten von Venezuela und
die Guayanas scheinen im allgemeinen von der Schleuder
frei gewesen zu sein.
Ich bin mir wohl bewußt, in dieser kurzen Abhand-
lung das Quellenmaterial zur Sache nicht erschöpft zu
haben; aber ich glaube in großen Zügen ein im all-
gemeinen richtiges Bild der Verbreitung der Schleuder über
den amerikanischen Kontinent gegeben zu haben. In
Einzelheiten wird es verbesserungsbedürftig sein.
Man ersieht aus dem Vorhergehenden, daß die Schleuder
vom Norden bis zum Süden Amerikas zu finden war,
daß frei von ihr im allgemeinen nur die großen Alluvial-
gebiete des Mississippi, des Orinoko und des Amazonas
waren und dazu die Gebiete der Völker, die einmal aus
diesen Gegenden abgewandert sind. Es sind das an-
nähernd genau dieselben Länder, auf die ich schon in
einem anderen Zusammenhang hingewiesen habe 19). Da-
mals habe ich nachgewiesen, daß für diese Gegenden der
Mangel an steinernen Schneide- und Stechwerkzeugen
und Waffen oder das völlige Fehlen von ihnen charak-
teristisch ist, und ich habe diese Erscheinung durch den
absoluten Steinmangel ungeheurer Gebiete des Kontinents
zu erklären versucht. Dasselbe trifft nun auch für die
Schleuder zu. Die Schleuder ist in Amerika annähernd
überall da vertreten gewesen, wo es Steine gab; wo
diese aufhörten, hört auch die Schleuder auf. Schon
Oscar Peschel hat auf diesen Zusammenhang hin-
Hyades in „Revue d’Ethnographie“, IV, 542—546 (Paris 1885).
— Bove: „Expedicion Austral Argentina“, p. 132 (Buenos
Aires 1883).
17) v, Ihering: „A Civilisação Prehistorica do Brazil
Meridional“, p. 129 (São Paulo 1895). — Stöcklein, l. c.,
I, II, 52 (num. 48); I, VIII, 62 (num. 169). — Ruiz de
Montoya: „Bocabulario de la Lengoa Gvarani“, II, 38, unter
honda (Leipzig 1876).
18) Marban: „Arte de la Lengua Moxa“, p.253 (Leipzig 1894).
1°) „Skalpieren und ähnliche Kriegsgebräuche in Amerika“,
8. 40—41 (Braunschweig 1906).
gewiesen 2%). Nicht zutreffend istdagegen die andere Behaup-
tung von Peschel, die auch Payne vertritt ?!), daß nämlich
im tropischen Urwald die Schleuder nicht verwendbar sei.
Ein Volk, dessen einzigste Fernwaffe die Schleuder ist,
die Baining, lebt in einem nahezu lückenlosen Urwald.
Im recht eigentlichen tropischen Urwald kann man über-
haupt mit keiner Fernwaffe kämpfen, manchmal kaum
mit dem Messer. Man kämpft auf den schmalen Pfaden,
an Flußübergängen, an den Rändern der Taropflanzungen,
in den Lichtungen bei den Dörfern, am Strand. Ledig-
lich vom Standpunkte der Verwendung betrachtet, hat
in einem solchen Gelände der Bogen sicherlich Vorzüge
vor der Schleuder, das Wurfbrett aberkaum. Der Wurf-
brettschütze braucht mehr Ellenbogenfreiheit als der
Schleuderer; die mangelhafte Rasanz des Wurfbretts ist
ein erheblicher Nachteil. Auch ist es nicht ganz zu-
treffend, wie gesagt worden ist, daß die Schleuder nur
in wenig bewohnten Gebieten gefunden worden ist.
Nirgends hat die Schleuder in Amerika eine so große
Rolle gespielt wie in den Halbkulturländern Mexiko und
Peru mit ihrer verhältnismäßig dichten Bevölkerung.
Wenn man die weite Verbreitung der Schleuder über
Melanesien, Mikronesien und Polynesien würdigt, so drängt
sich die Frage auf, ob nicht vielleicht auch diese Waffe
zu den Erscheinungen gehört, welche die Südsee dem
amerikanischen Kontinent ethnologisch näher zu bringen
scheinen. Aber die Untersuchung zeigt, daß dem nicht
so ist. Die Schleuder ist in Amerika offenbar überall
da, wo sie überhaupt nur sein kann; während sie gestern
ein Jäger bei der Llamajagd am Titicaca erfunden hat,
ist vielleicht vorgestern in Neu-Mexiko beim Spiel einem
Pueblo-Indianer derselbe glückliche Gedanke gekommen.
Genau so verhält es sich mit dem Kind der Schleuder,
der Bola; wir finden sie in ihren verschiedenen Formen,
als bola perdida und als zwei- oder dreisträhnige Bola
in Nord- und in Südamerika. Hier wie dort hat sie sich
selbständig entwickelt. Doch das überschreitet den
Rahmen dieses Aufsatzes.
2) „Völkerkunde“, 5. Aufl., herausg. v. Alfred Kirchhoff,
8. 191 (Leipzig 1881).
21) ]. c., I, 269, Note.
Bücherschau.
Adolf Heilborn, Der Mensch der Urzeit. Vier Vor-
lesungen aus der Entwickelungsgeschichte des Menschen-
geschlechts. Zweite Auflage. VIII und 104 8. mit zahl-
reichen Abbildungen. (Aus Natur und Geisteswelt, 62. Bd.)
Leipzig 1910, B. G. Teubner. 1,25 f.
Auf dem Gebiete der Urgeschichte des Menschen ist ja
in den allerletzten Jahren viel neues Material zusammen-
gebracht worden. Es sind überaus wichtige Funde (z. B.
durch Schoetensack und Hauser) geglückt, und die Forschung
ist auf Grund dieser Funde zu neuen — ob auch immer
richtigen, sei dahingestellt — Anschauungen über den euro-
päischen Urmenschen gekommen. So war eine Neubearbeitung
dieses Bandes der bekannten Sammlung wohl geboten. An-
gesichts aber der Fülle des neuen Stoffs ließ der Verfasser
diesmal eine Beschränkung insofern eintreten, als er sich im
wesentlichen nur mit der Paläanthropologie beschäftigte und
die Prähistorie, die Urgeschichte der Kultur, nur soweit be-
rührte, als es um des Verständnisses willen nicht zu umgehen
war. So behandelt der Verfasser mit guter Beherrschung
des Stoffes in für weite Kreise berechneter Form und Aus-
dehnung folgende Dinge: Das gegenwärtige Wissen vom
Ursprung des Menschen; den tertiären Menschen; die Ne-
andertalrasse; die Aurignacmenschheit und die Mischrassen
des ausgehenden Diluviums. Die Abbildungen sind zweck-
mäßig gewählt, man findet da z. B. viel aus der Fundstätte
von Le Moustier, den Schädel von La Chapelle - aux - Saint,
den Unterkiefer von Mauer (H. Heidelbergensis) und Skizzen,
die dem Leser unmittelbar das Verfolgen der Schädelentwicke-
lung gestatten.
Alfred Manes, Ins Land der sozialen Wunder. Eine
Studienfahrt durch Japan und die Südsee, nach Australien
und Neuseeland. XII u. 312 8. mit 125 Abb. und 1 Karte.
Berlin 1911, E.8. Mittler u. Sohn. 6 M.
Die eigentümlichen, von den unseren so verschiedenen
sozialpolitischen Verhältnisse Australiens und Neuseelands
lockten den Verfasser im Jahre 1909 zu einer Studienreise
dorthin. Sein Weg führte ihn dabei auch über Japan, Ma-
nila und über verschiedene Südseegruppen. Sein Buch soll
den Leser mit den Erfahrungen, Urteilen, Nutzanwendungen,
Eindrücken und Erlebnissen des Autors in leichter Form be-
kannt machen, und das wird denn auch dank seiner vollendeten
und fesselnden Darstellungskunst in vollkommener Weise er-
reicht. Das Buch zerfällt in eine Beschreibung der Reise
und in einen „Soziale Studien“ überschriebenen Teil, der des
Autors Beobachtungen zusammenfaßt. Ohne einer Über-
tragung der australischen und neuseeländischen sozialen Ge-
setzgebung auf deutsche Verhältnisse ohne weiteres das Wort
zu reden, ist er doch mit Recht von hoher Bewunderung für
die Sozialpolitik der Antipoden und das durch sie Erreichte
erfüllt. Der Hauptunterschied zwischen der deutschen und
z. B. der neuseeländischen Sozialgesetzgebung und ihrer
Wirkung liegt wohl in ihren Motiven: bei uns war sie ein
Produkt der Angst, dort ein Ausfluß wahrer Humanität.
Übrigens gibt der Weg nach Australien dem Autor oft Ge-
legenheit zu kolonialpoljtischen Betrachtungen. Im Bismarck-
archipel weilend, fragt er: Warum verwendet man im Kolonial-
dienst draußen einseitig juristisch gebildete Leute, denen
volkswirtschaftliche, ethnologische und Sprachkenntnisse ganz
Kleine. Nachrichten.
291
fehlen? Vielleicht hat er einmal Gelegenheit, diese Frage
an den „großen Kaufmann“ Dernburg zu richten. Wir
wollen sie mit dem Hinweis zu beantworten versuchen, daß
ja auch die ganze Verwaltung (und zum Teil auch die Recht-
sprechung) daheim infolge ihrer Erziehung und juristischen
Vorbildung meist weltfremd gewordenen Leuten konsequent
ausgeliefert wird. — Dem empfehlenswerten Buche sind viele
sehr hübsche Abbildungen beigefügt, die allerdings nicht
immer ausreichende Beziehung zum Text erkennen lassen.
Hermann Wagner, Geographisches Jahrbuch. 33. Bd.,
1910. X u. 4728. Gotha 1910, Justus Perthes. 15 f.
Der Band ist diesmal als Ganzes herausgekommen, er
enthält ausschließlich Berichte über mathematisch - natur-
wissenschaftliche Gebiete der Erdkunde, und zwar zumeist
solche über längere Zeitperioden, während deren eine Bericht-
erstattung ‚bisher ausgeblieben war. Das erklärt zum Teil
auch die Änderungen in der Person der Berichterstatter.
W. Gerbing in Leipzig behandelt die Fortschritte der geo-
graphischen Meteorologie von 1906 bis 1908; E. Tams in
Hamburg die Fortschritte in der Dynamik der festen Erd-
rinde für die Jahre 1903 und 1904. Tams ist an die Stelle
von E. Rudolph getreten und soll auch den ausstehenden
Bericht über die folgenden Jahre zusammenstellen. Hermann
Haack in Gotha berichtet für die Jahre 1906 bis 1908 über
Kartenprojektion, -zeichnung und -messung; das Kapitel über
die Kartenreproduktion fehlt diesmal. Zu den regelmäßiger
wiederkehrenden Berichten gehört der von Franz Toula in
Wien über neuere Erfahrungen über den geognostischen Auf-
bau der Erdoberfläche, 1907 bis 1909. Leider hat Drude,
einer der ältesten Mitarbeiter am Jahrbuch, die Bericht-
erstattung über die Geographie der Pflanzen niedergelegt; an
seine Stelle ist L. Diels in Marburg getreten, der in dem
Bande mit einer Übersicht über die Jahre 1905 bis 1909 er-
scheint. Ebenso hat O. Krümmel, dessen letzter ozeano-
graphischer Bericht im Jahrbuch für 1903 erschien, die Mit-
arbeiterschaft eingestellt; dieser hat mit dem vorliegenden
Bande in dem Göttinger Privatdozenten L. Mecking einen
jüngeren Nachfolger (Zeitraum 1903 bis 1909) gefunden.
Otto Hübners Geographisch -statistische Tabellen
aller Länder der Erde. Fortgeführt und ausgestaltet
von Franz Juraschek f. 59. Ausgabe für das Jahr 1910.
IX u. 103 8. Frankfurt a. M., Heinrich Keller. 1,50 f.
Schon zwei Menschenalter hindurch erscheint nun dieses
von Hübner begründete, seit 1884 von Juraschek fortgeführte
und ständig ausgebaute Nachschlagewerk. Juraschek starb
im Februar 1910, und dieser 59. Jahrgang ist der letzte, den
er noch — zum Teil wenigstens — bearbeitet hat; zu Ende
geführt hat ihn Jurascheks Witwe und Mitarbeiterin, die in
einer Einleitung auf die wichtigsten statistischen Verände-
rungen seit dem Vorjahre hinweist. Voraufgeschickt ist ein
von Robert Meyer dem Verstorbenen gewidmeter Nachruf.
Die Hübner-Juraschekschen Tabellen füllen ein nur ver-
hältnismäßig dünnes Heft; trotzdem ist hier eine ganz er-
staunliche Fülle von Angaben zusammengedrängt, und wer
das Werk ständig benutzt, wird in ihm nicht leicht vergebens
suchen. Dazu vermehrt sich von Jahrgang zu Jahrgang der
gebotene Inhalt um neue Stoffarten und Nachweise, und auch
der vorliegende macht da keine Ausnahme. Es ist klar,
welche Mühe in dem Werke steckt, und die verwendete Sorg-
falt und Gewissenhaftigkeit ist höchsten Lobes würdig. Jeder
Geograph, Kaufmann, Volkswirtschaftler, Verwaltungsbeamte,
Politiker, eigentlich jeder Gebildete, der das staatliche Ent-
wieckelungsleben verfolgt, findet da Auskunft über alle mög-
lichen Fragen der Zahl, und wer sich an den verläßlichen,
kurz und schnell orientierenden Berater gewöhnt hat, wird
ihn nicht mehr entbehren wollen.
Richard Pietschmann, Bericht des Diego Rodriguez de
Figueroa über seine Verhandlungen mit dem Inka
Titu Cusi Yupanqui in den Anden vonVillcapampa.
(Aus den Nachrichten der Kgl. Gesellsch. der Wissensch.
Göttingen, Philol.-hist. Kl. 1910, 8. 79—122.)
Der verdienstvolle Herausgeber der „Geschichte des Inka-
reiches von Pedro Sarmiento de Gamboa’ veröffentlicht hier
ein Manuskript aus dem Nachlasse Alexander von Humboldts
in der Kgl. Bibliothek zu Berlin (Ms. hispan. qu. 64), eine
Kopie des französischen Orientalisten Eugene Jacquet von
spanischen Dokumenten, die er bei seinen Studien über die
Schriftarten der Philippinen in einem Sammelbande spanischer
Aktenstücke in der damals Kgl. Bibliothek zu Paris unter
der Signatur Saint Germain, frang., No. 1588 vorfand. Es
ist die Handschrift Esp. 325 der jetzigen Bibliothèque Natio-
nale in Paris, die auf dem Einbandrücken den Aufdruck
„Relation des Philippines“ trägt.
Diese Bemerkung ist wichtig, da die Hoffnung besteht,
daß in den Archiven der Philippinen oder in anderen auf diese
Inseln bezüglichen Dokumenten sich noch weitere wertvolle
Nachrichten über Peru und Mexiko in Form von spanischen
Manuskripten werden auffinden lassen, eine Annahme, zu der
ich längst auf Grund des lebhaften Handelsverkehrs und Aus-
tausches von Missionaren zwischen Amerika und den Philip-
pinen namentlich im 16. und 17. Jahrhundert gekommen bin.
Der bisher unveröffentlichte Bericht des Diego Rodriguez (de
Figueroa) behandelt seine Reise in die „tierra de guerra de
Mango Ynga“, das Andengebiet von Villcapampa, in dem
Rodriguez den Titu Cusi Yupanqui, einen Bruder des in
Yucay gestorbenen Sayri Tupac, aufsucht, um ihn durch
Friedensverhandlungen zu einem Vertrage zu veranlassen, und
zwar, wie sich rechnerisch feststellen läßt, im Jahre 1565.
In der Schilderung der Reise des Hofstaates des Titu Cusi
Yupanqui und der mit ihm gepflogenen Unterhandlungen findet
sich eine Menge Nachrichten, die wertvoll sind nicht nur für
die Geschichte Perus, sondern auch für die Kenntnis der
Kultur und der Sitten der alten Bewohner des Landes.
Dr. Walter Lehmann, München.
Robert Lehmann-Nitsche, Sumarios de las Conferencias
. y memorias presentadas al XVII Congreso Inter-
nacional de los Americanistas. Buenos Aires 1910.
Während sonst die Berichte der Amerikanistenkongresse
immer erst geraume Zeit nach stattgehabter Tagung erscheinen,
übergibt diesmal der verdienstvolle General-Sekretär des Kon-
gresses von Buenos Aires die Extrakte der einzelnen Vorträge
gleich nach Beendigung des Kongresses der Öffentlichkeit.
Damit ist allen Amerikanisten, namentlich denen, die nicht
in Buenos Aires anwesend sein konnten, ein großer Dienst
erwiesen worden. Die Vorträge und Arbeiten verteilen sich
über die Paläanthropologie, physische Anthropologie, Lin-
guistik, Ethnologie und Archäologie, allgemeine Ethnologie
und Kolonialgeschichte. Ein Eingehen auf Einzelheiten wird
besser erst dann geschehen, wenn der Kongreßbericht selbst
in extenso vorliegen wird. W. L.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Die Bahn von Konakry nach Kurussa am oberen
Niger, in Plan und Bau ein Werk des Hauptmanns Salesses,
ist Mitte September 1910 fertig geworden. Salesses studierte
die Linie bereits 1896, drei Jahre später beschloß die fran-
zösische Regierung den Bau, und 1900 wurde mit ihm be-
gonnen. Am 1. Januar 1904 war der Bau der ersten Teil-
strecke von 148km beendet. Dann folgte in weiteren drei
Jahren der Bau der zweiten Teilstrecke, vom km 148 bis
km 301 (Kumipaß), und seit 1908 der des Schlußstückes bis
km 599 (Kurussa). Die Baukosten beliefen sich auf rund
56'/, Mill. Fr., so daß der Kilometer auf 93750 Fr. zu stehen
kam. Am teuersten stellte sich der Bau, der Gebirge wegen,
auf der zweiten Teilstrecke, wo der Kilometer rund 111000 Fr.
kostete. Am billigsten, nämlich für etwa 83000 Fr. den Kilo-
meter, baute man das dritte Teilstück, Kumipaß —Kurussa,
und da hierfür 30 Mill. Fr. bewilligt waren, sind an 5 Mil-
lionen erspart worden, die nun wohl dazu dienen werden,
Kurussa mit der 73km entfernten, reichen und dicht bevöl-
kerten Landschaft Kankan im Südosten von Kurussa durch
einen Schienenweg zu verbinden. Die Bahn Konakry—Ku-
russa wird in der Entwickelung des westlichen Französischen
Sudan eine wichtige Rolle spielen, zumal sie für gewisse
Teile des Sudan eine viel kürzere Verbindung mit der Küste
darstellt, als die nördlichere aus dem Wasserweg des Senegal
und der Bahnstrecke Kayes—Bammako zusammengesetzte
ältere Verkehrsstraße. Schon vor Beendigung des letzten
Teilstücks warf die Konakry—Kurussabahn einen Nettogewinn
von 1 Mill. Fr. jährlich ab; er wird sich jetzt gewiß erheb-
lich steigern.
— Der englische Zoologe Douglas Carruthers hat im
März d.J. mit J.H. Miller und M.P. Price eine Reise zwecks
naturwissenschaftlicher und geographischer Studien in der
nordwestlichen Mongolei, insbesondere im Becken des
292
Kleine Nachrichten.
oberen Jenissei, angetreten.
1910 werden Mitteilungen über den bisherigen Verlauf der
Reise, die von Ende Juli aus Tschakul am oberen Jenissei
Im „Geogr. Journ.“ für Oktober
datiert sind, gegeben. Danach verließ Carruthers im Mai
Minussinsk am Jenissei (südlich von Krassnojarsk) und durch-
zog den Sajan- und Beikemdistrikt, worauf er auf einem
Floß den Beikem, den nördlichen Quellfluß des Jenissei im
chinesischen Gebiet, über 450 km weit hinaufging. Nach
Carruthers ist das auf unseren Karten auf der russisch-
chinesischen Grenze als Kette verzeichnete Sajanische Ge-
birge in dieser Form nicht vorhanden, sondern nur in der
Form isolierter Gruppen von sehr rauhen Bergen; sie scheinen
infolge einer Reihe voneinander getrennter Aufrichtungen,
die nach verschiedenen Richtungen und in verschiedenen
Zeiträumen stattgefunden haben, entstanden zu sein. Die
Flußsysteme sind durch kaum wahrnehmbare Wasserscheiden
getrennt. Es wurden viele auf unsereu Karten nicht ver-
merkte Glazialseen, darunter solche von erheblicher Größe,
angetroffen. Überraschend ist, daß dieses Gebiet eine enge
Verwandtschaft mit Sibirien, nicht mit der Mongolei, auf-
weist. Klima, Landschaft, Volk, Flora und Fauna — alles
ist sibirisch. Dichter Wald bedeckt den größeren Teil des
Landes, die dürre mongolische Flora beginnt erst in den
Talböden und an den Südabhängen der Hügel um Tschakul
zu erscheinen. Bewohnt wird es von einer kleinen Anzahl
Uriantschais, die auch mehr Verwandtschaft mit den süd-
sibirischen Stämmen als mit den Mongolen zeigen. Im Herzen
der Wälder der abgelegenen oberen Täler wurden Nomaden
angetroffen, die in Birkenrindenzelten wohnten und in ihrer
Existenz gänzlich auf ihre gezähmten Rentierherden an-
gewiesen waren. Das Vorhandensein dieses Tieres innerhalb
des chinesischen Reiches ist sehr interessant, um so mehr,
als sich Beweise dafür ergaben, daß es dort einheimisch ist,
nämlich auch wild vorkommt. Weil die bisherigen Karten
sich als sehr unzuverlässig erwiesen, machten Carruthers und
Miller überall Aufnahmen. Ferner ist viel zoologisches Ma-
terial gesammelt worden, und Price hat geologisch und bota-
nisch gearbeitet. — Die Weiterreise sollte nach Westen gehen,
im Tale des Kemtschik, des aus dem Südwesten kommenden
großen chinesischen Jenisseizuflusses, aufwärts, wobei das
Tannu-ola-Gebirge untersucht werden sollte; dann über den
Altai nach Tschugutschak und Kuldscha, wo die Expedition
inzwischen eingetroffen sein wird. Den Winter gedachte
Carruthers im Tarimbecken und den Frühling in Kansu und
Alaschan zuzubringen.
— Die Republik Portugal. Seit dem 5. Oktober gibt
es in Europa eine Republik mehr: in Lisssbon erfolgte eine
Revolution unter Mitwirkung von Teilen des Heeres und der
Marine, der König Manuel U. suchte das Weite, seine Dynastie,
das Haus Braganza, ist abgesetzt und die Republik erklärt
worden, zu der sich alsbald auch die übrigen Landesteile
und Truppen bekannt haben. Portugal, 92575 qkm groß mit
annähernd 5!/, Millionen Einwohnern und einem noch sehr
ansehnlichen Kolonialbesitz (etwa 2090000 qkm), lag seit
langem wirtschaftlich und kulturell arg darnieder, und die
Zukunft muß lehren, ob die neue Staatsform imstande sein
wird, da mit mehr Erfolg zu arbeiten, als es das Königtum
getan und vermocht hat. Sehr wertvoll, aber bisher wenig
entwickelt sind die großen afrikanischen Kolonien Portugals;
auch hier harrt der Republik eine große Aufgabe, wenn sie sie
vor dem Appetit anderer Kolonialmächte dauernd sichern will.
— Über Boyd Alexanders Ermordung in Dar-
Tama (vgl. oben 8. 131) haben die französischen Behörden
in Wadai eine Untersuchung veranstaltet, die folgendes er-
geben hat: Nachdem der englische Reisende am 30. Dezember
1909 Fort Lamy am Schari verlassen hatte, zog er über Moito,
Yao, Birni und Birket el-Fatma nach Abescher, wo er am
4. März 1910 anlangte. Der französische Resident in Abescher
untersagte ihm die Fortsetzung der Reise, doch trat Alexander
mit dem Sultan von Dar-For in Verbindung und teilte ihm
mit, daß er sein Land durchziehen wolle. Nachdem er dann
erfahren hatte, daß in das von den Franzosen für Wadai
reklamierte Dar-Tama Dar-For-Truppen einen Einfall gemacht
hatten, erhielt er von dem französischen Offizier die Erlaubnis
zu einem Erkundungsritt in der Richtung auf Dar - Tama
unter der Voraussetzung, daß Alexander gleich nach Abescher
zurückkehren würde. Dieser Ritt wurde am 28. März an-
getreten und fand in einem kleinen Dorfe bei Nyeri durch
den Tod Alexanders sein Ende. Der Zusammenstoß wurde
dadurch hervorgerufen, daß Alexander sich dem Versuch,
ihn gewaltsam zum Sultan von Dar-Tama zu bringen, wider-
setzte. Einer seiner Leute, der ebenfalls niedergeschlagen
wurde, kam nach dem Abzuge der Angreifer zu sich, über-
zeugte sich vom Tode Alexanders und entkam dann. Alexan-
ders Leiche ist den Behörden von Englisch-Bornu übergeben
und dort auf dem Europäerfriedhof in Maifoni beigesetzt
worden, wo jetzt auch unser Landsmann Overweg ruht.
— Berniers neue Nordpolarfahrt. Es scheint, daß
Kapitän Bernier, der im Juli d. J. mit dem Schiffe „Arctic“
von neuem nach den Gewässern im Norden Kanadas ab-
gesegelt ist, auf die Absicht, durch den Jonessund nach
Norden vorzudringen und die Frage nach der Existenz von
Pearys Crockerland zu entscheiden, verzichtet hat. Es heißt
jetzt, Bernier habe sich wiederum zum Lancastersund ge-
wendet und wolle eine Nordwestdurchfahrt auszuführen ver-
suchen.
— Nansen über „Vinland“. Vinland = Weinland
gilt als der südlichste Küstenteil des nordamerikanischen
Festlandes, der ums Jahr 1000 n. Chr. von den isländischen
Normannen entdeckt und auch Schauplatz ihrer späteren
Kolonisationsversuche gewesen sein soll; Vinlandfahrten sollen
noch während dreier Jahrhunderte nach der Entdeckung
ausgeführt worden sein. Für diese Fahrten haben wir
literarische Quellen, Spuren solcher Kolonisierung haben sich
nicht gefunden; denn die amerikanischen „Runensteine“
haben der Kritik schlecht standgehalten. Da indessen in
Neuschottland, in Massachusetts, auf Rhode Island und auch
in New Jersey die wilde Rebe mit ihren wohlschmeckenden
Beeren vorkommt, so konnte man annehmen, daß hier
irgendwo das „Vinland“ zu suchen sei.
Neuerdings hat sich Fridtjof Nansen mit den amerika-
nischen Fahrten der Normänner beschäftigt und dafür die
isländischen Berichte, aus denen wir von jenen wissen, zu
Rate gezogen, sich dafür auch der Hilfe des norwegischen
Historikers Mol und des Sprachforschers Torp versichert.
Und da will er denn gefunden haben, daß jene Vinland be-
treffenden Reiseberichte Romangebilde, Sagen seien, die einen
nur kleinen Tatsachenkern einhüllten. Die älteren, mit den
angeblichen Fahrten nach Vinland gleichzeitigen altisländi-
schen Chroniken wüßten nichts von ihnen, erst viel spätere, und
da lasse sich nachweisen, daß diese sie irischen Sagen (z. B.
Insulae fortunatae), ja teilweise auch der Odyssee entlehnt
hätten. Die „Skrälinger“, die feindseligen Eingeborenen, mit
denen die Vinlandfahrer zu kämpfen hatten, sind nach Torp
die altdeutschen „Schräheller“, d. h. Elfen und Spukwesen.
Nur so viel will Nansen der bisher gültigen Ansicht zugestehen,
daß die Isländer mit dem nördlichsten Amerika Tauschhandel
getrieben, nach „Markland“ gekommen seien und mit den
Indianern gekämpft hätten; denn in der Beschreibung dieser
Dinge hätte die Rande-Chronik eine ganz andere Prosa als
in der Schilderung von Vinland.
Nansen hat das Anfang Oktober in einem Vortrage vor
der Videnskabs-Selskabet (Wissenschaftlichen Gesellschaft) in
Christiania ausgeführt und zu begründen versucht, und die
Zeitungen berichten darüber. Man kann sich vorläufig darauf
beschränken, auf diese Hypothese aufmerksam zu machen
und im übrigen zu bemerken, daß, wenn, wie Nansen zugibt,
die Normannen bis Neufundland gekommen sind, nicht recht
einzusehen ist, warum sie nicht auch noch ein Stück südlicher,
bis „Vinland“, gelangt sein sollen.
— Über Rasse und Kultur der jüngeren Steinzeit
in der Rheinpfalz, speziell der neolithischen Rasse, macht
Fr. Sprater interessante Angaben (Mitt. d. hist. Ver. d. Pfalz,
1910, Heft 31, und Münch. Diss. 1910). Eine Zusammen-
stellung einer größeren Anzahl neolithischer Schädel ergab
beispielsweise die Haltlosigkeit der mehrfach vertretenen An-
sicht, daß die Neolithiker ausschließlich dolichokephal waren.
Auch die Annahme, daß in den verschiedenen Stufen ver-
schiedene Rassen zu erkennen sind, erscheint Verfasser nicht
gerechtfertigt. Wahrscheinlich haben wir vielmehr bereits
in der Steinzeit dieselbe Verbreitung des dolicho- und brachy-
kephalen Typus wie heute. Im Norden wiegt der erstere
vor, im Süden der zweite vermischt mit ersterem. Irgend
welche Abweichungen von den heutigen Schädelformen ver-
mochte Sprater nicht zu finden. Was die Kulturzustände
anlangt, so waren Schnurkeramik und Hinkelsteintypus nur
mit zweifelhaften Funden zu belegen. So manches Material
ist bereits in Aufsätzen veröffentlicht, doch vermochte Ver-
fasser eine große Anzahl falscher Datierungen zu korrigieren,
falsche Fundortsangaben richtig zu stellen und das bisher
bekannte Material beträchtlich zu vermehren. Das steinzeit-
liche Material wurde von neuem geordnet und eine vollständig
neue neolithische Stufe, der Egersheimer Typus, nachgewiesen,
welcher insbesondere durch seine Beziehungen zu nordischen
Kulturen von Interesse ist.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE,
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. 19.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
BRAUNSCHWEIG.
17. November 1910.
Entdeckung des bei Homer erwähnten Räucheraltarplatzes der Aphrodite
in Paphos auf Cypern.
Von Dr. Max Ohnefalsch-Richter.
Kuklia (Cypern), 30. September 1910.
Als mir Ende Februar d.J. in der cyprischen Hafen-
stadt Limassol der Großkaufmann Kleanthis Pierides die
ersten Mitteilungen über Silbeninschriftfunde machte und
mir sie zeigte, fuhr es mir durch den Kopf: „Du hast
dort in Rantidi, wo sie gefunden wurden, nur in 2!/, eng-
lischen Meilen Luftlinienentfernung von Kuklia- Palai-
paphos, die homerische Altarstätte der Aphrodite und die
älteste Stadt Paphos vor dir.“ Und mit den Abklatschen
und Photographien der ersten Rantidi-Inschriften schrieb
ich das sofort an
den Herausgeber des
cyprischen Silbenin-
schriftwerkes (Corpus
Inscriptionum Cypria-
carum), Prof. Dr.
Richard Meister in
Leipzig.
Erst am 8. Mai
d. J. konnten die an-
tiken Ruinenfelder in
Rantidi selbst be-
sichtigt werden, und
weitere zwei Monate
später erschien dann
in den Londoner
„Times“ am 27. Juli
mein Bericht über
diese Besichtigung. 1 3 3
Was ich am 23. Juni, ohne die Inschriftlesungen zu
kennen, nach London schrieb, ist in Meisters am 25. Juni
in Leipzig erschienener Abhandlung in glänzender Weise
bestätigt und erweitert worden. Ich gebe hier den Wort-
laut der an den Anfang gesetzten Schlußfolgerungen aus
der Abhandlung, die im August in meine Hand gelangte.
Meister, der die eingesandten Abklatsche und Photo-
graphien von den zuerst gefundenen Inschriften ent-
zifferte, schreibt: „Die folgenden Steininschriften sind
in der Gegend von Rantidi, ungefähr 5 km südöstlich von
Kuklia, jenseits des
Flusses Cha-Potani
(englische Schreib-
weise Randi und Kha-
Potani), nicht weit
vom Meere gefunden
und von Herrn Pie-
rides in Limassol im
Juli 1910 dem Cyprus-
Museum geschenkt
worden. Die ersten
Mitteilungen über sie
erhielt ich durch
Herrn Dr. Max Ohne-
falsch-Richter, der
mehrere bei Herrn
Pierides in Limassol
gesehen hatte. Die Er-
mächtigung zur Publi-
Denn erst am 16. Juli
war es mir gelungen,
Herrn Pierides zu be-
wegen, die von ihm aufgekauften, aus geheimen, ver-
botenen Ausgrabungen stammenden zehn Rantidi-In-
schriftsteine dem Cyprus-Museum zu schenken, wodurch
ich meines Schweigegelöbnisses entbunden wurde. Auf
der hier beigedruckten Kartenskizze (der die große Karte
Kitcheners zugrunde liegt) ist bereits damals im Juli unter
Vorbehalt die ungefähre Lage des Altarplatzes durch
ein eingezeichnetes Viereck angedeutet worden, wäh-
rend ich jetzt, nach meiner Entdeckung vom 27. August
d. J., in der Lage bin, durch einen eingezeichneten kleinen
Kreis die genaue Lage gerade am 86. englischen Meilen-
steine unmittelbar an der Fahrstraße Nicosia— Limassol—
Paphos auf einem etwa 20 bis 30m über ihr liegenden
Hügel (Abb. 1) festzustellen.
Globus XCVII. Nr. 19.
Lage des ältesten Paphos auf Cypern nach Ohnefalsch-Richter.
kation der Inschriften
verdanke ich den
Herren Kleanthis Pie-
rides und Dr. Ohnefalsch-Richter. Ohnefalsch - Richters
Vermutung, daß in der Gegend von Rantidi das älteste, später
verlassene Paphos gelegen habe, konnte ich insoweit bestäti-
gen, als alle dort gefundenen Syllabar-Inschriften sehr alter-
tümlichen paphischen Schriftcharakter zeigen, während
Alphabetinschriften, soviel ich erfahren habe, dort über-
haupt nicht gefunden worden sind. Schon die wenigen
Inschriften, die bis jetzt aufgelesen wurden, bezeugen,
daß dort Aphrodite mit mannigfachen Beinamen (die
»Unbesiegbare«, Nr. 2, die Göttin, die den Frühling
sendet, Nr. 6), Apollon (Nr. 3) und eine mit »Philos
Theos« bezeichnete Gottheit (Nr. 4) einen Kult gehabt
haben, daß sich dort ein ganz altertümlicher Räu-
cheraltar befunden hat (Nr. 5) und daß dort neben
38
294 Ohnefalsch-Richter: Entdeckung des bei Homer erwähnten Räucheraltarplatzes der Aphrodite usw.
den Kultplätzen auch Grabanlagen (Nr.1) waren. Also
ist in Rantidi nicht etwa nur ein einzelnes »The-
menos«, sondern ein großer Kulturplatz entdeckt
worden, der sich vielleicht als das älteste Paphos
erweisen wird.“
hergeschenkten Inschrifträucherbecken aufgestellt waren,
von denen wieder bisher Meister fünf entziffert und ver-
öffentlicht hat.
Abb. 4 zeigt den nach Süden zu gelegenen Eingang
zu dieser eigenartigen, etwa 20 m unter der höchsten
Abb. 1. Der Räucheraltarberg.
Und die wichtigste Inschrift, die hier nach der Pu-
blikation der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissen-
schaften in Leipzig (die ihrerseits ihre Photographien von
mir erhielt) wiedergegeben ist (Abb. 2), ergänzt Meister:
„Der Paphia wurden von jeher hier die zum Räuchern
bestimmten Ehren-
gaben verbrannt.“
Auch fügt er hinzu:
„Der Block gehört
danach zu einem
Räucheraltar.“ Und
ferner sagter: „Der
Räucheraltar
der Aphrodite zu
Paphos (Homer
VIII, 362, Home-
rische Hymnen IV,
59) war seit älte-
ster Zeit be-
rühmt.“
Am 27. August
d. J. gelang es mir
nun, geführt von
dem geheimen Aus-
gräber Jangos Adgi Savas, dem Gärtner der Gebrüder
Aphrostolites, der Pächter des am Cha-Potani-Flusse
liegenden Berg Sinai-Klostergutes, welche die ge-
fundenen Inschriftsteine Herrn Pierides abgetreten
hatten, den einen Teil des Aphrodite-Räucheraltarplatzes,
eine halb unterirdische, halb oberirdische Seitenfelskammer
nachzuweisen, in welcher acht oder neun von den zehn
Abb.2. Die von Prof. Meister im Juni 1910 publizierte Inschrift.
Links Oberseite, rechts Vorderseite.
Spitze gelegenen Seitenräucherkammer. Auf dieser west-
lichen Seite ist oben in die senkrechte Felswand eine
Stufe horizontal eingehauen, und auf dieser standen in
einer Reihe aneinander sechs bis sieben steinerne Räucher-
becken, darunter die fünf mit den von Meister publi-
i zierten hieratischen
Inschriften, während
der sechste Stein
Meisters mit der
Grabinschrift schon
früher irgendwo in
Rantidi gefunden
war. Auf jeder der
steinernen Räucher-
schalen stand eine
große tönerne Weih-
rauchopferschale,
bis zum Rande mit
Asche und Kohle
angefüllt. Ich sehe
noch die Spuren der
Verbrennung im Bo-
den und auf den her-
umliegenden Scher-
ben der rohen Tonschale, von denen ich eine Anzahl
sammelte und vorn vor die Inschriftschwelle legte, als
das Bild aufgenommen wurde.
Alle diese fünf von Meister publizierten Inschrift-
räucherbecken waren ursprünglich unversehrt und sind
erst in Limassol zerschnitten worden. Es gelang mir
aber noch am Abend jenes 27. August, als bereits die
Ohnefalsch-Richter: Entdeckung des bei Homer erwähnten Räucheraltarplatzes der Aphrodite usw. 295
Purpurkugel der Sonne bei dem fern vor uns liegenden | Inschrift in denselben altertümlichen Silbenzeichen auf-
Neapaphos ins Meer getaucht war, auf einem von dem | zulesen. Nur die Inschriftenseite ist etwas verwittert,
größten Ruinenfelde (das offenbar die Stadtanlage des ! da sie seit vielleicht 2900 Jahren den atmosphärischen
Abb.3. Altertümliches Räucherbecken aus Stein mit verwitterter Inschrift auf dem Räucheraltarberg.
ältesten Paphos ist, während unser Inschriften- und | Einflüssen ausgesetzt war. — So konnte ich denn gleich
Weihrauchaltarhügel der Aphrodite deren Akropolis ge- | darauf nach Deutschland berichten, daß ich den ganz
bildet haben wird) entfernten anderen Ruinenfelde nach | altertümlichen Weihrauchaltarplatz der Meisterschen In-
Westen zu ein ganz unversehrtes Räucherbecken mit | schriftenpublikation tatsächlich entdeckt hatte.
Abb.4. Felsenräucherkammer auf dem Räucheraltarberg mit ausgegrabener Inschrift.
i53
296 Ohnefalsch-Richter: Entdeckung des bei Homer erwähnten Räucheraltarplatzes der Aphrodite usw.
Um diese Zeit kam der von der Königl. Akademie
der Wissenschaften auf meine Veranlassung nach Cypern
geschickte Dr. Zahn an, der nun fast einen Monat lang
mit gegen 15 Mann gearbeitet und äußerst bedeutsame
Erfolge erzielt hat. Dr. Zahn hat, in der von mir oben
beschriebenen Räucheraltarkammer weiter hinein grabend,
fünf oder sechs weitere Inschriftsteine (Abb. 3), alle mit
denselben altertümlichen paphischen Inschriftzeichen ver-
sehen, gefunden. Dann ist er weiter den Hügel hinab-
gegangen und hat im ganzen über 100 mehr oder weniger
große cyprische Silbeninschriftsteine gefunden. Auch ist
er auf klare Mauerwerke gestoßen, die den Hügel um-
geben oder flankieren, und deren Spuren ich auf der
Erdoberfläche bereits deutlich mit eigenen Augen gesehen
hatte. Unter den Inschriftfunden ist hervorzuheben ein
dem Weihrauchopferhügel; dort steht ein mit Bildwerken
angefüllter Weihgeschenkraum von der Art an, wie sie
für die cyprischen Heiligtümer vom Ende des 7. Jahr-
hunderts an typisch ist. Es sind die Plätze, die den
Ausgräbern von jeher die große Masse aller Bildwerke
lieferten. Hier opferten die vorüberkommeırden Wanderer
ihre Bildwerke, riesengroße, große, mittelgroße, kleine
oder winzige, jeder nach seinen Verhältnissen.
Ganz anders nun hier in Kuklia, in Palaipaphos, das
zum Unterschiede von Neapaphos, der weiter westlich
gelegenen antiken Stadt, das Dorf Paphos bei Ktima
(dem Distrikthauptort) genannt wird. Auch an dieser
Stelle hat Dr. Zahn versuchsweise graben lassen und einige
Bildwerke gefunden. Hier sind wir nicht mehr in früh-
griechischer, zu Homer und über Homer in die Mykenä-
mit Inschriften förmlich überladenes großes tönernes
Weihrauchbecken. Man hat auch unter anderem einen
sehr merkwürdigen, realistisch vollendet aus Ton model-
lierten Phallus ausgegraben, der wiederum im cyprischen
Aphroditedienst eine große Rolle gespielt hat. Überhaupt
sind eine ganze Anzahl Phalli gefunden worden. In der
Hauptsache ist der von Dr. Zahn weiter nachgewiesene
Götterdienst amikonisch, bilderlos. Der Kultus auf diesem
Aphroditehügel bestand im Darbringen von Weihrauch-
opfern, wie er bei Homer beschrieben wird.
Aber andererseits sind die Übergänge zum Bilder-
dienst da. Denn in der Mitte der beschriebenen Räucher-
altarkammer mit der Inschrift am als vorhanden inschrift-
lich nachgewiesenen Altar hat Jangos eine zerbrochene
etwa lebensgroße Tonstatue gefunden. Der Stil ist sehr
altertümlich und das Bildwerk um 600 v.Chr. anzusetzen.
Auch führte mich Jangos zu einer Ausgrabestelle
jenseits der Fahrstraße nach Norden zu, direkt unter
epoche hinaufreichender Zeit, hier sind wir nie in dieser
frühen, von phönizischen Einflüssen noch unberührten
urgriechischen, für den Rantidi-Hügel charakteristischen
Zeit gewesen. Hier künden megalithische Reste, Riesen-
blöcke, die aber auf einer Untermauerung aus kleinen
Steinwürfeln stehen, grundverschieden von der -mykeni-
schen Bauweise in Tiryns und Mykenä, den Einfluß der
Phönizier einer nicht sehr alten Zeit an, die auch von
den alten Schriftstellern als die Gründer von Palaipaphos
bezeichnet werden. Diese Riesenblockmauern (Abb. 5)
umgeben den Haupttempelhof, den hauptsächlich die Eng-
länder 1888 bloßlegten. Hier fanden sie die zahllosen
Marmorbasen, aber, von drei Ausnahmen abgesehen, aus-
schließlich mit griechischen Inschriften hellenistischer
und römischer Zeit beschrieben. Sie trugen viele große
Bildsäulen, darunter sicher solche von hohem Kunstwert,
die Cato für seinen Triumphzug 56 v. Chr. nach Rom
schleppte, als er im Namen der Republik von der Insel
Die Verhältnisse Liberias nach amerikanischer Auffassung.
297
Besitz ergriffen hatte. — Neuerdings sind nun auch
in etwa 180 Schritt Entfernung von den Aus-
grabungen der Engländer und in nordöstlicher Rich-
tung von ihnen an der Nordostecke des heutigen
Dorfes Kuklia, bei den letzten Häusern am Ab-
hange des dort schluchtartig abfallenden Geländes, das
den Namen Xylino führt, zwei Weihinschriften ge-
funden worden. Auf der einen Säulentrommel mit hel-
lenistischer gemeingriechischer Inschrift (Abb. 6) sitze
ich im Vordergrunde. Mein photographischer Apparat
Kuklia in der Tschira-Philippa genannten Gegend ge-
funden worden. Nicht nur, daß diese Steine kalligraphisch
himmelweit von den sehr altertümlichen Rantidi-Inschriften
entfernt sind und ins vierte vorchristliche Jahrhundert
gehören, es sind auch phönizische Inschriften darunter.
Übrigens hat gestern, am 29. September, der auf
meine Veranlassung hergesandte Dr. Zahn seine Arbeit
beendet und vorher noch ein in den Felsen gehauenes
Kuppelgrab gefunden, wie ich deren bereits zwei 1885
bei Soloi ausgegraben und in meinem Werke „Kypros,
Abb. 6.
wurde zur Aufnahme fast genau auf die Fundstelle der
` zweiten im vorigen Jahre entdeckten spätphönizischen
Inschrift gestellt. Sie lag in einer Mauer verbaut, die
die heutigen Dörfler aus lose aufgehäuften Steinen er-
richtet hatten, um, wie hier überall, ihre Grundstücke
voneinander zu trennen. Beide Inschriften waren offenbar
in der byzantinischen Kirche, die hier in Ruinen liegt,
verbaut und sind vor Jahrhunderten von benachbarten
Tempeln hingebracht worden. Denn bis zur Ausgrabungs-
stelle der Engländer beträgt die Entfernung, wie gesagt, nur
etwa 180 Schritt, und das Ende des Tempels liegt in nächster
Nähe. — Endlich sind noch 37 Inschriftsteine südlich von
Auf den Trümmerfeldern von Alt-Paphos.
Liuks Steintrommel.
die Bibel und Homer“ veröffentlicht habe. Diese Nach-
bildungen mykenischer Kuppelgräber fallen in die Zeit
von 1200 bis 1000 v. Chr., und ich habe auch in einem
derselben eine spätmykenische Vase mit Firnismalerei
ausgegraben, wodurch die Rantidi-Zeit und die Zeit Homers
genau fixiert werden.
Wir müssen nun abwarten, was Prof. Meister aus diesen
mehr als 100 gefundenen Inschriften herauslesen wird.
Bis jetzt spricht alles für meine Vermutung, daß in Rantidi
auf dem Räucheraltarhügel nicht nur ein Räucheraltar der
Aphrodite Paphia stand, sondern der berühmteste Räucher-
altar der Aphrodite von Paphos, der homerische.
Die Verhältnisse Liberias nach amerikanischer Auffassung.
Vor nicht langer Zeit wurde man wieder einmal auf
die Negerrepublik Liberia aufmerksam. Die Vereinigten
Staaten, die die Republik ja gegründet haben, äußerten
für sie ein die europäischen Kolonialmächte etwas beun-
ruhigendes Interesse; sie wollten die ewig schlechten
Finanzen des Freistaates sanieren, ihm überhaupt auf
die Beine helfen, und da bekannt ist, daß ein Staat dem
anderen diesen Freundschaftsdienst nicht umsonst und
Globus XCVIH. Nr. 19.
ohne Nebenabsichten leistet, so wurden namentlich Eng-
land und Frankreich etwas bedenklich. Denn Frankreich
und England sind mit ihren afrikanischen Besitzungen
die Nachbarn Liberias, haben dort mannigfache Interessen,
und rechnen stark damit, daß es ihnen einmal zufallen
wird. Interessen hat dort übrigens auch Deutschland,
und ihm muß an der Unabhängigkeit Liberias gelegen
sein, aber England und Frankreich kennen die Schüchtern-
39
298 Die Verhältnisse Liberias nach amerikanischer Auffassung.
heit des deutschen Auswärtigen Amtes, das in manchmal
komisch wirkender Ängstlichkeit bestrebt ist, bezüglich
Liberias den Engländern und Franzosen nur ja keinen
Anlaß zu dem „Verdacht“ zu geben, es wolle dort etwas
für sich. So ist ihnen da das Deutsche Reich eine
quantité négligeable. Aber mit den von Rücksicht und
Zartheit nicht behafteten Yankees ist das ganz anders;
daher eine gewisse Sorge.
Aber die Sorge war, wenn nicht überflüssig, so doch
vielleicht verfrüht, und Amerika hat beruhigende Er-
klärungen vom Stapel gelassen. Immerhin hatte es sich
mit den Verhältnissen der Republik sehr eingehend be-
schäftigt und eine aus den Herren Roland P. Folkner,
George Sale und Emmet J. Scott gebildete Kommission
zum Studium jener Verhältnisse hingeschickt. Diese
haben natürlich einen Bericht erstattet, und aus dem soll
hier einiges mitgeteilt werden. Bemerkenswert ist an
ihm, daß er Liberias Zustände zum Teil mit ziemlich
rosigen Farben malt, während englische und französische
Beobachter alles rabenschwarz darzustellen belieben, und
auch Deutsche in diese Kerbe zu hauen pflegen. Es mag
dahingestellt bleiben, wer recht hat. Sicher wird man
nicht alles unterschreiben dürfen, was die Amerikaner
über das heutige Liberia sagen, aber viele ihrer Gedanken
sind doch beachtenswert. Vor allem erkennt man auch
aus dem Bericht, was die Amerikaner mit ihrem Interesse
für Liberia im letzten Grunde bezwecken.
Die Kommission berichtet nun, die Würde und die
Intelligenz der liberianischen Regierungsvertreter, mit
denen sie zu tun hatte, habe auf sie einen tiefen Ein-
druck gemacht. Obwohl ihre Zahl nur verhältnismäßig
klein gewesen, hätten sie den besten Teil der Bürgerschaft
Liberias repräsentiert, und schon die Tatsache, daß eben
die besten Leute ihren Weg in die Staatsämter fänden,
sei ein günstiger Umstand. Es heißt dann u.a. weiter:
Die Liberianer sind kein revolutionär veranlagtes
Volk und haben während der ganzen bisherigen Dauer
ihres Staatswesens geordnete Regierungsformen aufrecht
erhalten. In 62 Jahren haben sie 13 Präsidenten gehabt,
von denen die meisten ein oder mehrere Male für die
zweijährige Amtsperiode wiedergewählt worden sind;
wenn sie aber Veränderungen in der Verwaltung herbei-
zuführen gesucht haben, so ist es durch konstitutionelle
Mittel geschehen. Wenn unter dem Druck der öffent-
lichen Meinung ein oder mehrere Präsidenten ihr Amt
vorzeitig niedergelegt haben, so ist es zu gewaltsamen
Umwälzungen nicht gekommen.
Es wird häufig versichert, Liberia sei bankerott, aber
das ist falsch. Allerdings fanden sich viel Ungeschicklich-
keiten in seiner Finanzverwaltung vor, und die Regierung
hat Verlegenheiten wegen ihrer Schulden und der daraus
sich ergebenden Lasten; aber die Staatsschuld von kaum
1300000 Doll. ist nicht zu groß, selbst wenn man sie
mit den gegenwärtigen Einkünften vergleicht; sie ist im
Gegensatz zum natürlichen Reichtum des Landes sehr
klein. Richtig ist, daß die tatsächliche Regierungsgewalt
sich nur auf die Küstenstädte und die Niederlassungen
am St. Paul- und St. Johnsflusse erstreckt, aber hier
herrschen auch Gesetz und Ordnung, Leben und Eigen-
tum sind angemessen gesichert, und Verbrechen werden
sofort bestraft. Frieden, guter Wille und freundschaft-
liche Gefühle herrschen zwischen diesen Städten und
Ansiedelungen und den unmittelbar angrenzenden Ein-
geborenendörfern.
So unfertig in vieler Beziehung die Zivilisation
Liberias sein mag, es hat darin Fortschritte, nicht Rück-
schritte gemacht. Will man den Fortschritt des liberia-
nischen Volkes richtig einschätzen, so muß man seine
Entstehung nicht vergessen. Es besteht aus drei ur-
sprünglichen Elementen: Von der Kolonisationsgesellschaft
hinausgesandten freien Negern, Afrikanern, die während
der Zeit der Unterdrückung der Sklavenausfuhr von den
amerikanischen Kriegsschiffen den Sklavenhändlern ab-
genommen worden sind, und aus Befreiten, die während
des Sezessionskrieges nach Liberia ausgewandert sind,
Aus diesem Material nun und geleitet von den amerika-
nischen Lebensüberlieferungen, hat das liberianische
Volk eine Zivilisation entwickelt, die von der des besseren
Negerelementes in den Vereinigten Staaten nicht unvor-
teilhaft absticht. Die Kommission hat die Überzeugung,
daß die Liberianer die sie umgebende Eingeborenen-
bevölkerung weit mehr beeinflußt haben, als jene von
dieser beeinflußt worden sind. Jener großen Masse un-
kultivierter Völker gegenüber haben sie sich auf einer
verhältnismäßig hohen Stufe der Zivilisation gehalten,
für die das wohlgeordnete Vaterland, der Respekt vor
Gesetz und Ordnung, die Sonntagsruhe und die gut
gehaltenen Häuser deutlich Zeugnis ablegen.
Zu schwer für sich findet nun Liberia die größeren
und schwierigeren Regierungsaufgaben, die ihm haupt-
sächlich infolge der Aufteilung Afrikas unter die euro-
päischen Mächte während der jüngsten Zeit entgegen-
getreten sind. Sie sind erwachsen aus der zunehmenden
Bedeutung seiner Beziehungen zu den Nachbarländern
und aus der dringenden Notwendigkeit einer mehr wirk-
lichen Kontrolle und Regierung der Eingeborenenstämme
innerhalb seiner Grenzen. Infolge dieser Aufgaben und
Probleme fühlt Liberia den Bedarf nach Hilfe durch eine
starke Macht. Im einzelnen sind diese Probleme: 1. Der
Schutz der Grenzen gegen Angriffsversuche der Nach-
barn, deren Macht Liberia nur die Gerechtigkeit seiner
Ansprüche entgegenzustellen hat. 2. Die tatsächliche
Aufsicht über die Eingeborenenstämme, besonders an
den Grenzen, damit für die Besetzung liberianischen Ge-
bietes durch die Nachbarn jeder Vorwand entfällt. 3. Die
Ordnung der Staatsfinanzen, damit es allen Verpflich-
tungen gegen das Ausland nachkommen kann und der
Staatskredit auf eine feste Grundlage gestellt wird. 4. Die
Entwickelung des Hinterlandes in der Weise, daß der
Umfang des Handels wächst, so daß er die wachsenden
Bedürfnisse einer auf den Fortschritt bedachten Regierung
deckt und sie gleichzeitig in den Stand setzt, die
wünschenswerte Einwanderung aus den Vereinigten
Staaten zu beleben. — Weil es Liberia bis dahin nicht
gelungen ist, diese Aufgaben befriedigend zu lösen, so -
hat es sich in Meinungsverschiedenheiten mit fremden
Mächten verwickelt gesehen; sie haben eine Unruhe ge-
schaffen, die die innere Entwickelung Liberias hemmt und
ihm das Gefühl erweckt, seine nationale Existenz werde
von außen durch mächtige Nachbarn und im Innern
durch Schwäche bedroht.
Im Norden und Osten hat Liberia Frankreich zum
Nachbar. Indem Frankreich seine auf den Aufbau eines
großen westafrikanischen Reiches gerichtete Politik ver-
folgte, war es ein Dorn in der Seite Liberias. Die Fran-
zosen haben sich beständig und hartnäckig um die Ver-
besserung ihrer Grenzen bemüht. Durch Verträge haben
sie Liberia allmählich um Gebiete beraubt, die es lange
beansprucht hat. Seine Eingriffe begründet Frankreich
mit der Ausrede, daß die Gebiete, die es annektiert und
dann durch Vertrag von Liberia abgetreten erhalten
hatte, nicht im tatsächlichen Besitz der Liberianer ge-
wesen wären und daher von jeder anderen Macht hätten
erworben werden können.
Im Westen grenzt Liberia an die englische Kolonie
Sierra Leone. Sogar schon, als Liberia noch eine Kolonie
war, die unter von der Kolonisationsgesellschaft ernannten
Gouverneuren stand, hatte es mit Sierra Leone Streit.
Die Verhältnisse Liberias nach amerikanischer Auffassung.
299
Britische Kaufleute bestritten ihm das Recht, Zölle zu
erheben, und weigerten sich, in dieser Beziehung seine
Autorität anzuerkennen. Die so entstandene Frage war
einer der Hauptgründe, die zur Errichtung der Republik
führten. Seitdem ist Liberia verschiedene Male gezwungen
worden, den ehrgeizigen Absichten seines Nachbars Kon-
zessionen zu machen. Ein langer Streit um die West-
grenze Liberias ist durch den Vertrag von 1885 beendet
worden; er kostete ihm ein beträchtliches Stück Küsten-
linie, auf das es einen gerechten Anspruch hatte.
Das britische Auswärtige Amt hat bestritten, daß es
Absichten auf liberianisches Gebiet habe; aber diese
Behauptung läßt sich schwer mit den Handlungen und
der Haltung seiner Beamten in Sierra Leone und Liberia
vereinigen. Unschwer ist doch Englands Erklärung ver-
ständlich: Wenn es Frankreich gestattet sei, erfolgreiche
Vorstöße auf liberianisches Gebiet zu machen, dann
werde England im eigenen Interesse gezwungen sein,
auch seinen Anteil zu beanspruchen. Es macht wenig
Unterschied, ob England der obere oder der untere
Mühlstein ist: Liberia ist zwischen beiden und wird,
wenn es nicht die Unterstützung einer England oder
Frankreich an Stärke ebenbürtigen Macht erhält, als un-
abhängiger Staat schnell von der Karte verschwinden.
Das öffentliche Schulwesen Liberias besteht aus dem
Liberia College in Monrovia für den höheren Unterricht,
vier Mittelschulen und den Volksschulen. Dem College
fehlt es am Notwendigsten in der Ausrüstung, seine
Studienkurse kommen denen einer höheren Schule schwer-
lich gleich. Die Mittel- und Volksschulen haben unter
dem Mangel an Schulgebäuden und ausgebildeten Lehrern
zu leiden. Die jährlichen Mittel für den Unterhalt der
Schulen sind sehr gering und werden sehr unregelmäßig
gezahlt. Eine völlige Rekonstruktion der Schulen ist
eines von Liberias größten Bedürfnissen. Solange aber
die Geldmittel so gering bleiben, wie sie sind, solange
ist für die Entwickelung eines wirklichen öffentlichen
Unterrichtes nichts zu erhoffen, und solange die Ein-
künfte des Staates sich nicht materiell vermehren, so-
lange besteht wenig Aussicht, daß der Staat jene Mittel
erhöht. Die beste Unterrichtsarbeit in Liberia wird
gegenwärtig unter der Aufsicht der Kirche geleistet, und
manche von religiösen Vereinigungen unterhaltenen
Schulen sind auch lobenswert.
Liberias große Quelle des Wohlstandes sind seine
Wälder, die Palmöl, Palmkerne, Piassavafaser und Gummi
liefern. Diese Produkte werden von Eingeborenen ge-
wonnen, die manchmal unter Leitung eines Liberianers,
meistens aber selbständig arbeiten und den Ertrag
an die Liberianer oder unmittelbar an die fremden
‚Kaufleute verhandeln. Das, was es exportiert, vermag
Liberia nicht zum vollen Werte auszunutzen infolge der
primitiven und verwüstenden Methoden bei der Gewinnung
der Produkte und bei deren Vorbereitung für den Ex-
port, die sie teilweise ihres Wertes berauben. Von An-
bauprodukten, die zur Ausfuhr kommen, ist der ameri-
kanisch-liberianische Kaffee das wichtigste Einmal
stand diese Kaffeeindustrie in Blüte, jetzt aber steht sie
still oder geht zurück. Der Wettbewerb anderer Länder,
besonders Brasiliens, das billigeren und besser zube-
reiteten Kaffee auf den Weltmarkt gebracht hat, hat den
liberianischen Pflanzer entmutigt, weil seine kleine
Ernte ihm nicht mehr die früheren schönen Preise ein-
trägt. Er ist gleichgültig und nachlässig geworden, er
hat nicht gelernt, sich den neuen Bedingungen anzupassen,
und baut und erntet nach alter Art.
Liberia hat seinen Boden bisher nur oberflächlich berührt
und das auch nur in einem kleinen Teile seines Gebietes.
Infolge des Mangels an Verkehrsmitteln ist es recht un-
zugänglich. Die Flüsse sind nur auf eine kurze Ent-
fernung von der Küste schiffbar, bis an die Schnellen.
Primitive Straßen in den zivilisierten Siedelungen und
Waldpfade im Innern des Landes sind die einzigen Ver-
kehrswege. Wagen sind fast unbekannt, und die gesamte
Handelsware, die aus dem Innern kommt, findet, abge-
sehen von den küstennahen Flußstrecken, auf den Schul-
tern und Köpfen der eingeborenen Träger ihren Weg
zum Meere. Dieser traurige Mangel an Verkehrsmitteln
beschränkt natürlich sehr die Fläche, wo der Handel
festen Fuß fassen kann; er drückt auch den Einfluß
Monrovias im Innern auf ein Minimum herunter und be-
reitet der wirklichen Kontrolle von Punkten im Innern
große Hindernisse.
Die Schuld an diesen Verkehrsschwierigkeiten trägt
nicht die Bodenbeschaffenheit Liberias; es fehlt eben an
Straßen durch das Waldland. Deshalb ist das Innere
den Liberianern ebenso wenig bekannt, wie der übrigen
Welt. Was ihre ausgedehnten Wälder produzieren
können, welche Quellen des Reichtums da liegen, welchen
Wert das gerodete Land für Anbauzwecke haben könnte,
wissen die Liberianer einfach nicht. Vor allem muß
also das Land genau durchforscht werden.
Ein weiteres Hindernis für den liberianischen Handel
ist der Mangel an Häfen und als Folge davon die
Schwierigkeit, die Güter einzuschiffen. Das ist wegen
des flachen Wassers über den Barren an den Flußmün-
dungen eine kostspielige und oft gefährliche Aufgabe.
Dazu kommt der Mangel an Interesse für Industrie
und Handwerk bei den Liberianern. Sie beschäftigen
sich ganz mit Regierungs- und Handelsangelegenheiten.
Fast alleManufakturwaren sind importiert. Da nun aber
Liberia vielleicht niemals ein gewerbetreibendes Land wer-
den wird, so müßte der Entwickelung von Handel und In-
dustrie erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt werden, wenn
eine höhere Stufe rationalen Gedeihens erreicht werden soll.
Unter den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen
Liberias kann einer zahlreichen Auswanderung der Neger
der Vereinigten Staaten dorthin nicht das Wort geredet
werden. Wahrscheinlich ist dort ein Feld für eine große
Menge zivilisierter Neger; ebenso sicher ist es aber, daß
der Einwanderer, der nur seine physische Kraft und
seine Arbeitslust mitbringt, heute in Liberia wenig Aus-
sicht hätte, sich und seiner Familie eine Existenz zu
gründen.
Die Liberianer wissen zu wenig von ihrem eigenen
Lande und zu wenig davon, wie sie dessen Hilfsquellen ent-
wickeln können, als daß sie der Einwanderung Vorschub
leisten dürften. Ein systematisches Studium jener Hilfs-
quellen, die Kenntnis der Produkte des Landes und der
besten Methoden, sie zu gewinnen, die Kenntnis der
Möglichkeiten des Landes und wie dieses am besten unter
Kultur gebracht werden kann, der Bau wenigstens einer
guten Straßeins Innere, wo besseres Land und gesunderes
Klima für Menschen und Tiere zu finden wäre — all
das ist notwendig, bevor Liberia daran denken kann,
Einwanderer heranzuziehen. Da nun die Liberianer
selbst weder über die Mittel noch über die Kenntnisse
für ein solches Studium verfügen, so könnte ihnen kein
größerer Dienst erwiesen werden, als wenn man für sie
diese Untersuchungen ausführt, damit sie ihre eigene
Erbschaft antreten und gastlich der wünschenswerten
Einwanderung aus den Vereinigten Staaten die Tore
öffnen können. Die Kommission schlägt deshalb unter
anderem vor, daß die Vereinigten Staaten in Liberia eine
Forschungsstation errichten und unterhalten.
Die Aufgabe einer solchen Station sollte in der Er-
forschung der Natur des Landes bestehen, der Entwicke-
lung und Erhaltung der Quellen seines Wohlstandes, der
39*
Schultz:
Das Falealii.
Wirkungen des Klimas auf die Gesundheit und der Ur-
sachen, Behandlung und Heilung der Tropenkrankheiten.
Auch rein wissenschaftliche Vorteile in diesem so wenig
erforschten Teile Afrikas würden sich ergeben, und die
Vereinigten Staaten würden sich damit ein Verdienst
erwerben.
Soweit der Bericht der Kommission. Den Ver-
einigten Staaten macht ihre schnell wachsende Neger-
bevölkerung Sorge, und sie möchten sie gern los werden
oder beschränken. Da wirft man nun sein Auge auf
Liberia und will es für die Aufnahme der Afrikaner
vorbereiten. Dies scheint einer der Hauptgedanken zu
sein, der die Amerikaner in ihrer neuen Liberiapolitik
leitet. Ob sie einschlagen wird, muß die Zukunft lehren.
England und Frankreich kann die Nachbarschaft eines
starken Negerstaates in Westafrika, hinter dem noch
dazu die nordamerikanische Union schützend steht,
schwerlich angenehm sein, weil im Laufe der Zeit die
Farbigen in ihren Besitzungen Lust gewinnen dürften,
sich ihm anzuschließen oder es gleichfalls mit der Unab-
hängigkeit zu versuchen. Es wird eben wohl ohnehin
einmal dazu kommen, daß im Schwarzen Erdteil sich der
Ruf erhebt: Afrika den Afrikanern, trotz der immerfort
betonten angeblichen Inferiorität der Negerrassen.
Das Falealii.
Von Öberrichter Dr. Erich Schultz.
Obwohl Samoa ethnologisch vielfach und eingehend
bearbeitet worden ist, bleibt doch noch reichlich zu tun
übrig, um in intensiverer Tätigkeit Lücken auszufüllen
und Irrtümer zu berichtigen. So ist z. B. ein anmutiges
Stück samoanischen Volkstums, das Falealii, ein perio-
disch stattfindendes Wettfischen mit der Angel, der For-
schung bisher so gut wie völlig entgangen.
Das Wort falealii ist in dem anerkannt besten Wörter-
buch, Pratt’s Grammar and Dictionary of the Samoan
Language (3. Aufl., London 1893), folgendermaßen er-
klärt: 1. a feast at the time of getting palolo, 2. games
on a large scale.
Die erste Bedeutung ist so allgemein ausgedrückt,
daß sie den Begriff kaum erkennen läßt; auch ist die
Zeitangabe ungenau. Die zweite ist sicher unrichtig,
da sich nach meinen Ermittelungen das Wort nur auf die
hier besprochene Einrichtung bezieht. Falealii, zusammen-
gezogen aus fale o alii, Haus der Häuptlinge, bedeutet
eigentlich das Haus, in dem die an dem Wettfischen
teilnehmenden Personen sich versammeln, dann über-
tragen: die Gesamtheit der Teilnehmer, und schließlich
den ganzen Brauch des festlichen gemeinsamen Wett-
angelns überhaupt.
Turner sagt in seinem Buche Samoa a Hundred Years
ago (London 1884), S. 127, summarisch:
Fishing matches were in vogue at particular sea-
sons. The party who took the most fish won, and were
treated with cooked pigs and other viands by those
who lost.
Im übrigen habe ich in der Samoaliteratur nur noch
eine kurze Bemerkung in Krämers Monographie: Die Sa-
moainseln II, S. 405 (Stuttgart 1902/03) gefunden, wo
anscheinend in Anlehnung an Pratt fälschlich der Palolo-
Fang zum Anlaß des Festes erhoben ist.
Das Falealii ist einer näheren Betrachtung wohl wert,
weil es einige charakteristische Züge samoanischen
` Wesens veranschaulicht. Strengen Regeln unterworfen,
wie sie das Bedürfnis der Samoaner nach Form und
Etikette nun einmal fordert, läßt es dennoch Raum zur
Betätigung gesunden Humors, und dem Tüchtigsten wird
die verdiente Anerkennung zuteil, ohne daß die bewährte
soziale Gliederung des Volkes darunter litte. Das so oft
geäußerte berechtigte Bedauern, daß gute, alte samoa-
nische Sitten der europäischen Zivilisation weichen, ist
auch hier am Platze. Nur selten noch findet ein Fa-
lealii statt; bald dürfte es ganz der Vergangenheit an-
gehören.
Nachstehend eine aus berufener samoanischer Feder
stammende Beschreibung des Festes nebst eigener Über-
setzung; zur Erleichterung des Satzes ist im samoani-
Apia.
schen Text der als diakritisches Zeichen für den Kehl-
laut dienende Apostroph durchgehends weggelassen.
O le mea lea e masani
ai alii ma tulafale talu mai
anamua. E mafai foi ona
auai i ai ni taulelea pe afai
ua faia ni o latou momoli
e taua o le fau.
Dieser Brauch ist bei
Häuptlingen und Sprechern
von alters her in Übung.
Auch junge Männer können
daran teilnehmen, wenn sie
eine Essensgabe, fau ge-
nannt, entrichten.
E faia lava i tausaga
uma e amata i le masina o
Taumafamua !) e oo iaLö?),
a e na o Taumafamua ma
Toelaumafa °) e faasilia auā
e fai ai mea taumafa ma-
tuä tele +).
Na o e ua fau e mafai
ona auai i le Falealii e ui
lava i se matai), a e afai
e lei fau e le mafai lava
ona alu, ane i le Falealii.
E pule lava Täuava®)
ma Faimea7) i le Falealii,
o ia i latou le tonu mo
mea uma e faia auā o i
latou e tapuaiina le Fale-
alii ina ia manuia. E taua
tagata uma o alii ala, pe
se matai pe se taulealea
e tutusa lava.
Es geschieht alljährlich
vom Monat Oktober!) bis
zum März), aber am mei-
sten im Oktober und No-
vember 8), weil da Überfluß
an Nahrung herrscht ®).
Nur die, die ihr fau ge-
leistet haben, dürfen am
Falealii teilnehmen; mag
jemand auch matai’) sein,
— hat er noch nie ein fau
geleistet, so ist er vom Fa-
lealii ausgeschlossen.
Die Täuava‘) und die
Faimea ?) haben die Leitung
und treffen Bestimmung
über alle Einzelheiten, weil
sie es sind, „durch deren
Vermittelung dem Falealii
Erfolg zuteil wird“. Die
Teilnehmer heißt man unter-
schiedslos, ob sie matai oder
1), °), °) Die alten samoanischen Monatsnamen sind heute
nicht mehr gebräuchlich.
*) Die im Oktober einsetzende Regenzeit bringt die Pflan-
zungen zur Reife.
*) Familienhaupt (Häuptling oder Sprecher).
°), 7) Die Täuava und die Faimea gehören zur Klasse
der tautai, der in Fischfang und Schiffahrt erfahrenen Leute,
die ihre Kenntnisse in den Dienst der Häuptlinge zu stellen
haben. Die Faimea beschäftigen sich mit der Herstellung
der weiter unten beschriebenen Angeln. Den Amtsbereich
der Täusva bilden die Riffeinfahrten — ava —, die nicht
nur für den Schiffsverkehr wichtig sind, sondern auch den
von der hohen See in die Larune kommenden Fischen als
Eingangstor dienen. Jede Riffeinfahrt untersteht einer Gott-
heit — aitu —, mit der der täu-ava im Interesse seines
Häuptlings gute Beziehungen zu unterhalten hat — tapuai.
Das Wort tau ist Abkürzung für täula (etwa = Priester).
Die gleiche Etymologie hat das Wort täulaitu, das früher
häufig, auch noch bei Krämer, a. a. O., I, 8. 23, Anm. 9,
fälschlich von täula (Anker) abgeleitet worden ist. Ent-
sprechend täumalae. 6
Schultz: Das Falealii.
301
E fai le Falealii i le
aso e tuaoi ma le matofitele
o le masina auā o le aso
lea e amata ai alafaga, ona
fai pea lea seia pē le ma-
sina ona tuu lea.
O le aso muamua lava
e fai ai faigāai e taua o
pā), o alii ala uma e tofu
ma le mea fono o le a fai
ai ni mea ia tele lava auā
e tauleleia le tagata ua tele
ana mea. O le a tufatufa
na mea ina ia aai ai le
nuu uma atoa ma ni tagata
ese o i ai. A uma ia mea
ona faasaga lea ile faiva
o alafaga e fai i pā. E
gaosia pā?) i mea nei o tifa
matapoto, pule, tio!°), e
maua ai ituaiga eseese o
pā, ona fai lea le maga i
se fasi una o se laumei a
e teuteu i fulu papae o le
tavae. O le taeao o le aso
lea e matofitele ai le ma-
sina o le a amata ai ala-
faga, o e ua auai i le Fa-
lealii o le a ala uma e sa
lava se alii ala e nofo i
uta, e sa foi se tagata e
lei fau e alu i alafaga, o
le itulā e tolu po e le fa
i le taeao e amata ai seia
oo i le fitu po o le valu.
E taua le taeao muamua o
le fuigāumu !!), o le a tai-
tasi le tagata ma alu i lona
paopao e toso ai ana pā ina
ia maua sana ia, ona ae
lea e uta ma faapotopoto
alii ala uma i le fale tele 12)
e fai ai le Falealii sei fai
aile ava ona o le tapuaiga
o le Falealii 1*), e taua lea
ava o le ava o le mafua !4),
ma o le a sao foi le ma-
fua 1) ina ia iloa pe fia ni
ia na maua, po o ai na
jungeMänner sind, angelnde
Häuptlinge.
Das Falealii tritt in Tä-
tigkeit am Tage vor dem
letzten Mondviertel, weil
mit diesem das Angeln be-
ginnt, und dauert bis zum
Neumond; dann hört es auf.
Am ersten Tage findet
ein Schmaus statt, pä°)
genannt; alle angelnden
Häuptlinge tragen dazu
bei, damit es viel werde,
denn wer viel bringt, wird
gelobt. Das Essen wird
verteilt, auf daß das ganze
Dorf davon genieße, des-
gleichen Fremde, die gerade
anwesend sind. Wenn das
vorüber ist, beginnt man
mit dem Fischen. Die An-
geln, die man dazu ver-
wendet, bestehen aus einem
Schaft?), der aus der Schale
der Perlmutter-, der Conus-,
der Cypraea- oder der Ver-
metus-Muschel !0) geschnit-
ten wird; es gibt also
verschiedene Arten von
Schäften. Daran befestigt
man einen Haken aus Schild-
patt und versieht das Ganze
mit weißen Federn vom Tro-
pikvogel. Am Morgen des
Tages, an dem der Mond
im letzten Viertel steht,
fängt das Angeln an, alle
müssen hinaus, keiner darf
dahinten bleiben, anderer-
seits darf niemand mit-
machen, der noch kein fau
dargebracht hat; um 3 oder
4 Uhr morgens geht es los
und dauert bis 7 oder 8 Uhr
morgens. Dieser erste Mor-
gen heißt „das [erste] Ein-
tauchen der Angeln“ 11);
jeder fährt in seinem Kanu
und schleppt seine Angeln
[durchs Wasser], um einen
Fisch zu bekommen, dann
®) Eigentlich der Schaft der Angel (vgl. Anm. 9), hier
bildlich gebraucht.
°) Dieser von v. Bülow vorgeschlagene Ausdruck ist
meines Erachtens der Übersetzung Krämers „Blänker“ vor-
zuziehen.
1%) Die wissenschaftlichen Namen sind nach Krämer,
a. a. O., II, 8. 407 ff. angegeben.
11) Fufui, eintauchen, naß machen, umu, eigentlich die
Kochgrube, hier bildlich für die Angeln, weil das Falealii
zu so vielen Schmausereien Anlaß bietet, daß die Kochgruben
ebenso häufig gebraucht werden wie die Angeln.
12) Irgend eines der großen (Rund-) Häuser des Dorfes
futi ia, po o ai foi na logo
(o e na fufuti ni ia a ua
le maua)!6, A tufa le
ava o le a muamua le ua
futi ia, e ui lava i se alii
tele afai ua le futi ia e le
muamua lava sana ava, a
uma ona inu e na futi ia
ona pitu lea i ai o e na
logo. A o le alii ala na
futi ia o le a faasaga e fai
ni mea taumafa e ave i le
Falealii e taua lea o le
sami ia!) E matuā viia
lava le tagata ua futi ia,
e tofu le nuu ma a latou
tu e faasino i lea mea.
A oo i le afiafi ona toe
potopoto lea o le Falealii
sei fai se ava ona e taua
o le ava o le taumuli 18),
o le tapuaiga lea mo le
aso a taeao, a tufa lea ava
ua muamua le Täuava ma
le Faimea.
I le o le a faia pea
lava faapea i aso uma seia
oo ina pē le masina ona
tuu lea. A e le tuu fua
le Falealii, a e faia foi ni
mea taumafa e faailoga ai
lea aso, ma ua taua foi
o le salāga o le ama auā
e le toe ala seia oo i le
matofitele o le isi ma-
sina !®).
O le fale e fai ai le
Falealii e sa lava ona mo-
moe ai le aiga po o ni
malō pe a amata le Fa-
steigt man wieder an Land
und versammelt sich im
großen Hause!2), um auf
gutes Gelingen Kawa zu
trinken 3), diese Kawa
heißt „die Kawa der Lock-
fische“ 14). Auch werden
dann die gefangenen Fische
herbeigebracht!5), damit die
ganze Beute übersehen und
festgestellt werden kann,
wer etwas gefangen und
bei wem es nur an der
Schnur gezuckt hat!“). Beim
Austeilen der Kawa trinkt
zuerst, wer einen Fisch ge-
fangen hat, selbst ein hoher
Häuptling muß warten,wenn
er nichts gefangen hat; nach
denen, die etwas gefangen
haben, kommen die, bei de-
nen es an der Schnur ge-
zuckt hat. Aber die, die
etwas gefangen haben, rü-
sten nunmehr für das Fa-
lealii ein Mahl her, das „der
Dank für die Fische“ 17)
genannt wird. Sie ernten
großes Lob ein, doch hat
jedes Dorf in dieser Hin-
sicht seine eigenen Ge-
bräuche.
Am Nachmittag tritt das
Falealii wieder zusammen,
um Kawa zu trinken; diese
Kawa heißt „die Kawa des
Achterteils“18)und bedeutet,
daß man für den folgenden
Tag Erfolg erhofft. Hierbei
bekommen der Täuava und
der Faimea zuerst.
Und so geht es alle Tage
weiter, bis der Mond zu Ende
ist, dann hört man auf. Je-
doch löst sich das Falealii
nicht einfach auf, sondern
man feiert den Schlußtag
mit einem Festmahl, dies
heißt „das Abnehmen der
Ausleger“, weil man nicht
wieder angelt bis zum letz-
ten Viertel des nächsten
Mondes ??).
In dem Hause, wo das Fa-
lealii sich versammelt, darf
von Anfang an bis zum Ab-
nehmen der Ausleger kein
16) D. h. ein Fisch hat angebissen, ist aber entkommen,
weil die Angel nicht gehörig gefaßt hatte, oder durch Reißen
der Schnur.
17) Sami (= putu), Dank abstatten (durch Darbringung
wird gewählt und die daselbst wohnende Familie derweile
ausquartiert (vgl. Anm. 20).
13) Beim Kawatrinken läßt man aus dem Becher zu-
nächst einige Tropfen auf die Erde fallen, als Libation.
14) Mafua, verschiedene Arten kleiner Fische, die in der
Regenzeit erscheinen und den größeren als Nahrung dienen.
Die Schäfte der Angeln sind in ihrer Gestalt den mafua-
Fischen nachgebildet.
1$) Mafua, hier bildlich für die gefangenen Fische.
von Essen) für eine Gunst, die man erfahren (hier das Glück,
das die Götter durch Vermitteluug der Täuava und Faimea
dem Fischer gewährt haben).
w) Weil die Angeln hinten nachschleppen.
1°) Die beim Falealii verwendeten Kanu durften in frü-
herer Zeit, als man die altsamoanische Sitte noch streng
beobachtete, zu keinem anderen Zwecke benutzt werden,
wurden also jedesmal nach Beendigung des Festes durch
Abnehmen der Ausleger „außer Dienst gestellt“.
Weiteres über den Pfahlbaufund am Wettersee.
lealii seia oo ina sasala le
ama ona faatagaina lea 20).
E sa lava se alii ala
e faatamala ma ua le ala
i se aso e tasi po ua le i
ai i le Falealii i le taeao
ma le afiafi o aso uma o
alafaga.
E lua lava ituaiga o
ia e faasaga i ai le ala-
faga, o malauli?1) ma ta-
oto??), a o nisi ia e le
amanina lava, a e faaoo-
gaina foi le sapatū?3) i
nisi nuu o Upolu.
E tolu pā e toso e le
alii ala pe a fai le alafaga:
1. E nonoa i le vae
taumatau ma toso i le itū
i matau o le vaa, e taua
lea o le pā tautino 24).
2. E nonoa i le vae
tauagavale ma toso i le
va o le vaa ma le ama, e
taua lea o le pā taulalo-
vasa 25),
3. E nonoa i le lima
tauagavale ma toso i tala
atu o le ama, e taua lea o
le pā taufaatā 26),
E i ai le isi pā e taua
o le tauofe e nonoa i le
2) Vgl. Anm. 12.
2?
23
Familienmitglied und kein
Gast schlafen 2°).
Kein Teilnehmer darf
während der ganzen Zeit an
irgend einem Tage das
Angeln versäumen oder am
Vor- oder Nachmittag bei
den Versammlungen des Fa-
lealii fehlen.
Zwei Fischarten sind es,
denen man auf diese Art
nachstellt, der malauli 2!)
und der taoto 22), um andere
Fische kümmert man sich
dabei nicht; doch nehmen
manche Dörfer in Upolu
noch den sapatü 23).
Der angelnde Häuptling
schleppt drei Angeln:
1. Eine wird am rechten
Bein festgebunden und an
der rechten (Steuerbord-)
Seite des Kanus geschleppt;
sie heißt die zum Leibe ge-
hörige Angel **).
2. Eine andere wird am
linken Bein festgebunden
und zwischen Kanu und
Ausleger geschleppt; sie
heißt die lalovasa 25)-Angel.
3. Die dritte wird am
linken Arm festgebunden
und hinter dem Ausleger
geschleppt; sie heißt die hin
und her gehende Angel +8).
Es gibt noch eine an-
dere, die Angelstockangel,
Ein kleiner Hai, ebenda.
3 Caranx hippos L., nach Krämer, a. a. O., II, 8. 414 ff.
Belone ferox Gthr., ebenda.
*) Weil sie der rechten, d. h. der stärkeren und ge-
schickteren Hand, also dem wichtigsten Gliede des Leibes,
am nächsten ist.
ofe, a e seāseā se tasi ei
ai lea pā auā e gata i Tāu-
ava le tauofe vaganā ua
loto le Tāuava e fai se
igaga o se alii po o se fai-
lauga ia fai sana tauofe
ona faatoa fai lea.
O le masani o alafaga
e fai ni itutaua e lua ona
fai lea o le tauaiga ina ia
iloa po o ai e manumalö,
a tele ia a le itutaua o le
manumalö lea, a itiiti ia
a le au o le toilalo lea, o
le au toilalo o le a faapo-
logaina lava i feau o le
Falealii e uiga i ava ma
vai e utu pe valaauina nisi
e fai ni siva ma lagi ni
pese, o le au toilalo foi e
fai sa latou faaai i ni mea
taumafa ?7).
E faasalaina le alii ala
ua le ala ina ua moeloa
vaganā se faalavelave ua
tatau 28), o le tagata foi
ua le futi ia o le a faasa-
laina o ia na te tufaina
ava ?9).
O le au ua toilalo e
le filemū lava, a e toe tau-
mafai ona laga o le toi-
lalo pe a oo i se isi
masina.
sein.
sie wird an einem Bambus-
stock befestigt, aber sie
kommt selten vor; denn
nur der Tāuava darf sie
haben, es sei denn, daß er
einem Häuptling oder Spre-
cher vergünstigungsweise
erlauben will, eine Angel-
stockangel zu führen, erst
dann darf es geschehen.
Das Herkommen erfor-
dert, daß zwei Parteien ge-
bildet werden. Die [gefan-
genen] Fische werden ge-
zählt, damit man wisse,
welche Partei gewonnen hat;
viel Fische fangen heißt ge-
winnen, wenige fangen ver-
lieren. Die Verlierer müssen
das Falealii bedienen mit
Kawabereiten und Wasser-
schöpfen, odereinige müssen
etwas vortanzen oder ein
Lied vortragen, ferner müs-
sen sie eine Strafe in Essen
entrichten ?7).
Der Langschläfer, der
beim Angeln fehlt, wird be-
straft, ausgenommen wenn
er sich genügend zu ent-
schuldigen vermag?’). Auch
wer keinen Fisch gefangen
hat, wird bestraft, er muß
die Kawa verteilen 2°).
Den Verlierern läßt es
keine Ruhe, sie versuchen
im folgenden Monat ihre
Niederlage wieder gut zu
machen.
7) Auch gröbere Späße mögen mitunter vorgekommen
Ich habe mehrmals dem Falealii beigewohnt und an
dieser Stelle stets Eindrücke gehabt, die mich an akademi-
sche Biersitten erinnerten.
2) Z. B. mit Krankheit.
s Tufa heißt neben der Kawaschüssel sitzen und jedes-
2) Lalovasa, der Raum zwischen Kanu und Ausleger.
2) Weil die Schnur den Bewegungen des rudernden
Armes folgt.
mal den Namen dessen ausrufen, dem der gefüllte Becher
gebracht werden soll; das Hin- und Hertragen des Bechers
zwischen der Kawaschüssel und dem Trinkenden heißt tautü.
Weiteres über den Pfahlbaufund am Wettersee.
Über die Entdeckung des interessanten Pfahlbaues
bei Alvastra in Schweden, dicht an dem großen Binnen-
see Wettern, ist im „Globus“ schon früher berichtet worden
(Bd. 96, S. 275, u. Bd. 97, S. 51). Man wird sich er-
innern, daß dieser Pfahlbau einzig in ganz Nordeuropa
dasteht, und daß er sowohl durch seine Größe wie durch
seine Lage sich von den schweizerischen und südeuropäi-
schen Pfahlbauten stark unterscheidet. Während die
letzteren in offenen Seen auf Pfählen gebaut sind, ruht
der schwedische Pfahlbau teilweise auf der Moorerde, in
welche er hineingebaut ist, teilweise auf dem schwach
sich neigenden Ufer des Sees und wurde mit Hilfe einer
kleinen Brücke, deren Überreste man auch gefunden hat,
von den Bewohnern erreicht. Weiter besteht der Pfahl-
bau von Alvastra nicht wie die schweizerischen aus einem
Einzelhause, sondern er hat eine Raumfläche von unge-
fähr 400 qm, und die verschiedenen Öfen aus Kalkstein,
sowie die Reste von verbranntem Holze und Töpfer-
gefäßen zeigen deutlich, daß die Behausung einer größeren
Anzahl Personen als Heim gedient hat.
Die Entdeckung des Pfahlbaues geschah im Jahre
1908 durch den Eigentümer des Moores, der zwar die
Wichtigkeit seines Fundes nicht erkannte, aber doch die
Aufmerksamkeit der schwedischen Akademie der Wissen-
schaften darauf lenkte. Die eigentliche Untersuchung
begann im Jahre 1909 und wurde durch den von dem
genannten wissenschaftlichen Institut beauftragten Ama-
nuensis Otto Frödin und seine Assistenten ausgeführt.
Diese erkannten die Bedeutung des Fundes, und obschon
es ihnen in jenem Jahre nur gelang, etwa 50qm der
großen Anlage zu untersuchen, stellten sie doch fest, daß
hier ein Pfahlbau ackerbautreibender Menschen aus der
jüngeren Steinzeit vorlag, einer Bevölkerung, die Getreide
und Früchte (Äpfel) baute, die Haustiere, wie Schweine,
Bücherschau.
303
Ziegen, Schafe, Kühe und Hunde, besaß, die Jagd auf die
wilden Tiere des Waldes machte, und deren Geräte aus
Stein, Flint, Bein und Horn verfertigt waren.
Nun ist die Untersuchung dieses wichtigen Fundes
im letzten Sommer (1910) fortgesetzt worden, wobei
Frödin durch den OÖsteologen L. Hedell aus Upsala unter-
stützt wurde. Es gelang, das Gebiet der Untersuchungen
um etwa 125 qm auszudehnen, so daß jetzt im ganzen un-
gefähr 175 qm der großen Bodenfläche des Pfahlbaues
bloßgelegt und durchforscht sind — eine schwierige und
langsame Arbeit, wenn man bedenkt, wie minutiös man
verfahren mußte, damit auch nicht der geringste Gegen-
stand, den die Moorerde verbarg, übergangen würde.
Die gefundenen Sachen sind, wie es sich von selbst
versteht, hauptsächlich von demselben Charakter wie die
1909 geborgenen, doch befanden sich unter den etwa
1000 untersuchten Gegenständen — Tierknochen, Korn,
Kohlen, Nußschalen und eingeschrumpfte Äpfel nicht mit-
gerechnet — zahlreiche Varianten und eine nicht un-
bedeutende Anzahl von Neuigkeiten. Die steinernen
Geräte sind Äxte mit und ohne Öhr, Flintsteinsplitter,
Bohrer und Pfeilspitzen aus Flint, sowie ungefähr zehn
„Klopfsteine* zur Bearbeitung der steinernen Geräte,
und endlich unzählbare kleinere Stücke geschliffener
Steine. Weiter fand man in diesem Sommer etwa 300
Quarzstücke und ebenfalls zahlreiche Kugeln aus Schwefel-
kies; diese zwei Arten von Gegenständen sind zum Feuer-
schlagen benutzt worden. Eine der eigentümlichsten
von diesen Kugeln aus Schwefelkies, deren Ent-
deckung dicht bei einer Feuerstätte von großem wissen-
schaftlichen Interesse war, wurde leider während der zu-
fälligen Abwesenheit Frödins von einem der vielen
Touristen, die den Platz besuchten, gestohlen — ein Fall,
der zu sehr scharfen Maßregeln gegen den Touristen-
strom im kommenden Sommer Veranlassung geben wird.
Von Geräten aus Knochen und Horn hat man zahl-
reiche Meißel, Pfriemen und Dolche gefunden; die Dolche
gehören zu den Neuigkeiten des letzten Jahres, ebenso
wie zwei hölzerne Fischhaken. Ebenfalls neu ist auch
ein Gegenstand aus Hirschhorn, über dessen Zweck man
nicht ganz im reinen ist, von dem man aber vermutet,
daß er dazu diente, den geschlachteten Tieren die Haut
abzuziehen. Auch hat man neue Typen von Messern
aus Wildschweinknochen und anderen Geräten aus Horn
und Knochen gefunden.
Die Flora ist dieselbe wie die im Jahre 1909 ge-
fundene: Körner, Äpfel und Haselnüsse, doch um eine
neue Art von Samen vermehrt, nämlich Hirse, welche
in verkohlten zusammenhängenden Klumpen angetroffen
wurde. Man wußte schon früher, daß Hirse der Steinzeit-
bevölkerung des skandinavischen Nordens bekannt war,
und daß diese verstand, ein Getränk daraus zu brauen,
aber in Schweden ist Hirse früher nicht gefunden.
Die Tierwelt weist die oben genannten Haustiere und
wilde Tiere auf, doch auch hier sind neue Funde ge-
macht: Knochen von Biber, Fischotter, wilder Katze
und Igel. Besonders sind die Knochen der wilden Katze
von Interesse, da man sie bisher nicht so weit nördlich
gefunden hat. Auch Knochen von Vögeln wurden aus-
gegraben, die Arten sind aber noch nicht bestimmt. Was
die Fischgräten betrifft, so hat man wie im vorigen
Jahre solche vom Hecht getroffen und als neue solche
vom Brassen. Die Fischerei scheint von den Bewohnern
nicht stark betrieben worden zu sein, wenigstens hat
man nur sehr wenige Fischhaken entdeckt, und Fisch-
netze sind überhaupt nicht gefunden worden. Die Mög-
lichkeit ist aber doch vorhanden, daß solche benutzt
worden sind, weil man kleine Rollen von Birkenrinde
entdeckt hat, die vielleicht als Schwimmer gedient
haben.
Selbstverständlich werden die Arbeiten im kommen-
den Sommer und überhaupt so lange fortgesetzt werden,
bis die ganze Bodenfläche aufgedeckt sein wird, was
wahrscheinlich mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird.
Über die Hälfte des Bodens, welcher von einer 1,5 m hohen
Moorschicht bedeckt ist, ist noch auszugraben. Aber
auch nachdem dies geschehen ist, sind die Arbeiten noch
lange nicht als beendet zu betrachten. Durch zahlreiche
Probebohrungen hat man die Existenz von Abfallshügeln
(„Kjökkenmöddings“) konstatiert, durch welche das Gebiet
der Untersuchungen bis auf 2000 qm erweitert wird, und
von deren Untersuchung man sich viele Überraschungen
verspricht. Und wenn auch dieses ausgeführt ist, steht
die interessante Untersuchung der Skelettgräber noch
bevor, von denen man weiß, daß sie sich unter dem
Boden befinden, mit deren Ausgrabung man aber noch
nicht angefangen hat. Wie man sieht, liegt noch eine
lange und interessante Reihe von Aufgaben vor, welche
der Pfahlbau von Alvastra darbietet. Wenn aber endlich
einmal das große Werk beendet sein wird, dann wird
man auch einen wichtigen Beitrag zur Beurteilung der
großen Kultur- und Rassenfrage erhalten haben, die nach
Frödins Ansicht durch diesen Fund aufgeworfen worden
ist. Die Bewohner dieses Pfahlbaues sind nämlich, wie
er meint, unzweifelhaft Skandinavier germanischen Ur-
sprungs und wahrscheinlich von Südwesten, wohl über
den Wettern, in die Provinz Östergötland, wo der Pfahl-
bau liegt, eingedrungen. Aber zur gleichen Zeit lebte
in derselben Provinz, der Küste der Ostsee entlang,
eine nicht skandinavische Bevölkerung, die nicht Acker-
bau trieb und nicht seßhaft war, sondern sich von
Jagd und Fischerei ernährte. Die Existenz dieser Be-
wohner kennt man aus mehreren Bauplätzen, welche
zeigen, daß sie eine mehrere Meilen breite Küstenstrecke
von Östergötland im Besitze hatten. Der Abstand zwischen
den Sitzen dieser beiden Völkerstämme ist wahrscheinlich
nur ungefähr zehn Meilen, vielleicht noch weniger ge-
wesen. Diese nahe Nachbarschaft des wilden, jagdtreiben-
den Volkes zur friedlichen, ackerbautreibenden Germanen-
bevölkerung ist nach Frödins Meinung die eigentliche
Veranlassung für die eigentümliche Anlage des Pfahl-
baues von Alvastra gewesen. Damit die kriegerischen
Nachbarn sie nicht allzu leicht überfallen könnten,
mußten die Germanen ihre Behausung so isoliert und
schwer erreichbar wie nur möglich anlegen, und dies
geschah am besten durch einen Pfahlbau auf schwanken-
dem Grunde. Wir befänden uns überhaupt hier auf dem
Grenzgebiet zweier Kulturen. Dies erkläre denn auch
die eigentümliche Erscheinung, daß eine Siedelung wie
der Pfahlbau von Alvastra nur hier und nicht innerhalb
des eigentlichen Gebietes der südskandinavischen Kultur,
Dänemark und Schonen, gefunden worden ist. B.
Bücherschau.
städtischen Museums für Völker-
1908 bis 1909. Leipzig
Jahrbuch des
kunde zu Leipzig. Bd. III:
1910, R. Voigtländer. 5,60 4b.
Unter den Veröffentlichungen der deutschen ethnographi-
schen Museen nehmen jene des Leipziger Museums unter
K. Weules Direktion einen ehrenvollen Platz ein, was durch
den vorliegenden dritten Band wiederum bestätigt wird.
Rüstig hat sich das Museum weiter entwickelt, über dessen
Ziele der Direktor Auskunft gibt, und da springen die Vor-
lesungen ins Auge, die zur besseren Nutzbarmachung des
304
Bücherschau.
Museums für weite Kreise im Museum gehalten werden und
großen Anklang finden.
Die wissenschaftlichen Abhandlungen im vorliegenden
Bande sind mannigfaltiger Art und kennzeichnen die vom
Museum gepflegten Disziplinen. Die prähistorische Abteilung
hat sich gut entwickelt, und zwei Arbeiten von Dr. Jacob
machen uns mit Funden aus der Stein- und Bronzezeit und
einem Römerfund von Schladiz bekannt, der um deswillen
von Belang erscheint, weil e3 ein so weit nach Osten vor-
geschobener römischer Depotfund ist, in einem von Römern
nicht betretenen Gebiete. Es sind zusammen zehn Stücke,
Schüsseln, Kasserolle, Schöpflöffel, Messer, die etwa aus dem
Jahre 200 n. Chr. stammen.
Auch das Gebiet der Volkskunde ist durch eine reich-
haltige Sagensammlung aus der Leipziger Umgegend von
J. Bernhardt vertreten, die überraschend reich ausgefallen ist
und sich dadurch auszeichnet, daß dabei, oft Licht verbreitend,
auch die prähistorischen Forschungsergebnisse mit verwertet
sind. Das Ganze, 77 Seiten umfassend, ist ein wertvoller
Beitrag zur Sagenkunde des ehemals wendischen, aber gründ-
lich germanisierten Leipziger Bodens.
Rein ethnographischer Art sind zwei Abhandlungen des
Jahrbuches. Bescheiden nennt G. Antze seine Arbeit „Einige
Bemerkungen zu den Kugelbogen*, welche ein bisher ver-
nachlässigtes Thema fördert. Diese Bogen, die eine ganz
andere Sehne als die gewöhnlichen Bogen besitzen, dienen
dazu, kleine Tonkugeln oder Steinchen auf Vögel zu schleudern,
deren Gefieder nicht verletzt werden soll. Das Verbreitungs-
gebiet dieses Jagdgerätes ist beschränkt und räumlich weit
zersplittert. Es kommt einmal in Südamerika (Brasilien,
Paraguay, Argentinien und Bolivia) vor und dann im süd-
lichen, mittleren und östlichen Asien. Konstruktionsverschie-
denheiten sind dabei vorhanden, aber das Prinzip ist stets
das gleiche. Noch ist Material über diese Bogen nicht ge-
nügend vorhanden, als daß man das Verbreitungsgebiet genau
übersehen könnte, aber Dr. Antze verspricht auf die Kultur-
probleme zurückzukommen, die sich an den Kugelbogen
knüpfen.
Eine Frucht seiner zentralbrasilianischen Reise 1908 teilt
Dr. Fritz Krause mit. Es handelt sich um Nachbildungen
von Tanzmasken vom mittleren Araguaya. Immer noch er-
fahren wir hier Neues über die so vielfach behandelten
Masken und Maskentänze. Neue Typen werden erschlossen
und die technische Seite der Masken wird eingehend erläutert.
Es wird gezeigt, wie die Indianer (Karaja und Schawaje) die
Aufgabe lösten, dieselbe Maske im verschiedensten Stoffe, in
Blättern, Federn, Wachs und als Zeichnungen auf Papier
oder im Sande, darzustellen.
Franz Stuhlmann, Handwerk und Industrie in Ost-
afrika. Kulturgeschichtliche Betrachtungen. Nebst einem
Anhang: Die Gewinnung des Eisens bei den -Nyamwezi
von R. Stern. XIV u. 163 8..mit 77 Abbild., 4 Kärtchen
im Text und 2 Tafeln. (Abhandlungen des Hamburgischen
Kolonialinstituts, Bd. I.) Hamburg 1910, L. Friederichsen
u. Co. 8%
Auch das Hamburgische Kolonialinstitut hat nun mit
der Veröff:ntlichung eigener wissenschaftlicher Abhandlungen
begonnen. Sie sollen dem ganzen Gebiete der kolonialen
Interessen entnommen sein und in zwangloser Folge erscheinen.
Stuhlmann hat mit der vorliegenden Abhandlung den Reigen
begonnen.
Die Arbeit zerfällt in zwei Hauptteile.. Der erste be-
handelt Handwerk und Industrie der Afrikaner (also nicht
ausschließlich der Ostafrikaner) vor den neueren Fremd-
einflüssen, d. h. den Urbesitz. In den Unterkapiteln werden
besprochen : Wohnungsbau, Steinarbeiten, Tonindustrie, Holz-
technik, Rindenstoffbereitung, Weberei, Flechterei, Fell-
industrie, Salzgewinnung, Eisenindustrie (diese im Hinblick
auf die schroffen Meinungsverschiedenheiten unter den Ethno-
logen bezüglich der Frage, ob die afrikanische Eisentechnik
bodenständig ist, besonders eingehend), andere Metallindu-
strien. Im zweiten Hauptteil werden nach ungefähr der-
selben Disposition Handwerk und Industrie in neuerer Be-
einflussung durch Fremde vorgeführt. Zu diesen neueren
Beeinflussungen werden besonders die durch den indo-malaii-
schen und die durch den erythräischen Kulturkreis gerechnet,
dann natürlich auch die ganz modernen europäischen.
Man kann im Zweifel sein, ob der eigentliche Wert der
Arbeit in dem angeführten Tatsachenmaterial oder in den
eingestreuten und angehängten Ausführungen ihres Verfassers
über die Herkunft der Afrikaner und ihrer Kultur besteht.
Über die zusammengefügten und gruppierten Einzelbeobach-
tungen, eigene und fremde, kann nur gesagt werden, daß sie
willkommen sind. Vom zweiten Punkt, den Ausführungen,
die ja viele interessante Gedanken entbalten, die großen
Fragen der afrikanischen Völkerkunde aufrollen, gilt, daß
— wie auch Stuhlmann zum Teil selbst zugibt — hier die
Hypothese, die persönliche Anschauung herrscht. Stuhlmann
steht auf dem Standpunkt, daß der Neger weder anthropo-
logisch noch kulturell sozusagen auf eigenen Füßen steht.
Entstanden sei er aus einer Mischung von (zwerghaften) Ur-
einwohnern mit einer Reihe von vier großen Kulturströmen
aus dem südlichen und aus dem westlichen Asien, und kul-
turell bleibe nach Abzug aller fremden Elemente wenig übrig,
was er selbst hervorgebracht („Geistige Unproduktivität der
Afrikaner“). Andererseits aber hätten diesen Neger die
fremden Einflüsse wenig verändert. Daraus seien auch ge-
wisse Schlüsse für die koloniale Arbeit zu ziehen: sie mahnten
zur Geduld und Bescheidenheit bei unseren eigenen Koloni-
sierungsbestrebungen. — Das sind Gedanken, die sich mit
denen nicht weniger jüngeren Ethnologen berühren, aber der
sicheren Stütze noch vielfach entbehren und deshalb mit
großer Vorsicht aufzunehmen sind. Zustimmen aber darf
man dem Verfasser bei seinem hier von neuem geäußerten
dringenden Wunsch, es möchte Arabien und besonders die
Gegend am Persischen Golf einer gründlichen vorgeschicht-
lichen Durchforschung unterzogen werden; denn wenn alles
Afrikanische aus dem südlichen Asien gekommen ist, so läge
hier die Brücke, auf der sich vielleicht noch einige Spuren
finden möchten.
Angefügt ist der interessanten Abhandlung ein Beitrag
des Missionssuperintendenten R. Stern über Überlieferungen
der Waniamwesi über die Gewinnung des Eisens (in Urtext
und Übersetzung). Die Ausstattung des Heftes ist muster-
gültig. 8.
Des Prinzen Arnulf von Bayern Jagdexpedition in
den Tian-Schan. Nach Tagebuch und Briefen zu-
sammengestellt von Therese Prinzessin von Bayern.
X u. 305 8. mit 126 Abbildungen und 2 Karten. München
1910, R. Oldenbourg. 10 f.
Prinz Arnulf von Bayern weilte 1907 zu Jagdzwecken
im mittleren Tian-Schan, gleichzeitig mit der auch geo-
graphische Zwecke verfolgenden Expedition eines Münchener
Alpinisten. Bald nach seiner Heimkehr starb der Prinz. Er
hatte während der Reise ein Tagebuch geführt und zahlreiche
Briefe an seine Familie geschrieben, und dieses Material —
ein großer Teil der Tagebuchaufzeichnungen ist übrigens
verloren gegangen — hat Prinz Arnulfs Schwester, die als
Naturforscherin und Reisende rühmlichst bekannte Prinzessin
Therese von Bayern, zu dem vorliegenden Buche verarbeitet.
Aus den Aufzeichnungen geht hervor, daß Prinz Arnulf sich
in ihnen keineswegs nur auf die Beschreibung seiner jagd-
lichen Abenteuer beschränkt, sondern ihnen alles Bemerkens-
werte, was er gesehen und erlebt, anvertraut hat. Es spricht
aus ihnen die Freude an der Natur und am Beobachten ihrer
Schönheiten und Eigenarten. Der „Nimrod“ tritt gar nicht
so dominierend hervor, wie der Titel vermuten läßt. Prin-
zessin Therese hat ‚sich ihrer Aufgabe mit der gewohnten
Gründlichkeit und Sorgfalt entledigt und sich in die sonstige
Literatur über die von ihrem Bruder besuchten Teile Asiens
eingearbeitet, um in Fußnoten unter dem Text Erläuterungen
geben zu können. Sie sind hauptsächlich zoologischer und
botanischer Art, passen in ihrer wissenschaftlichen Schwere
freilich nicht recht zu dem immerhiu doch leichten Inhalt
des Buches, verleihen ihm aber sicherlich einen größeren
Wert. Beigefügt sind zwei gute Karten zur Übersicht der
ganzen Reise und zum Verfolgen der Wege im Tian-Schan,
sowie zahlreiche sehr schöne und zum Teil auch charak-
teristische Abbildungen (z. B. Landschaftliches), die nach
von dem Verstorbenen aufgenommenen Photographien her-
gestellt sind.
Dr. 0. Schlaginhaufen, Reisen in Kaiser- Wilhelms-
Land (Neuguinea). Mit 3 Tafeln und 21 Textfiguren.
(Abhandlungen des Kgl. zoologischen und ethnographi-
schen Museums zu Dresden, Band XII.) Leipzig 1910,
B. G. Teubner. 6,50 M.
Diese Reise wurde im Jahre 1909 zu Sammel- und For-
schungszwecken unternommen und beschränkte sich wesentlich
auf eine Befahrung des Kaiserin-Augusta-Flusses, auf eine Be-
steigung des Toricelligebirges und verschiedene Ausflüge im
Küstengebiete des nördlichen Kaiser-Wilhelms-Landes, wobei
der Verfasser, ein guter Beobachter, viele ethnographische
Gegenstände erbeutete und in guten Abbildungen festlegte.
Hervorzuheben sind auch die Tafeln in Lichtdruck, welche
Typen und namentlich die Pfahlbauten der Eingeborenen zur
Darstellung bringen.
Die Fahrt auf dem Kaiserin-Augusta-Fluß, dessen Breite
auch dem Verfasser imponierte, führte 187 Seemeilen auf-
wärts. Ein Rückblick, der auf die früheren Befahrungen
Kleine Nachrichten.
geworfen wird, zeigt, daß seit 1885 (Finsch) etwa ein Dutzend
deutscher Dampfer den Strom aufwärts gelangten ; am weitesten
Reche mit 416 km. (Ganz neuerdings ist dann auf dem Flusse
die deutsch - niederländische Grenzkommission sogar bis über
den Grenzmeridian hinausgekommen.) Neu ist des Verfassers
Beobachtung einer Brücke der Eingeborenen über einen La-
gunenarm des Flusses. Von Belang erscheinen auch die nicht
näher beschriebenen, aus dem Lehm des Ufers herausgeformten
plastischen Darstellungen von weiblichen Figuren und Schild-
kröten. Die künstlerischen Leistungen der Eingeborenen, die
Schnitzereien, bemalten Rinden standen auch hier auf der
anderweitig in Neuguinea beobachteten Höhe. Nachdem der
Verfasser am Flusse Rieujamur aufwärts marschiert war,
erfolgte Ende August die Besteigung des Toricelligebirges,
Schon in 600m
auf schmalen Pfaden im dichten Urwalde.
Höhe machte sich die Temperatur empfindlich bei Weißen
und Schwarzen bemerkbar und doch zeigte das Thermometer
noch + 23°C! Erreicht wurde eine Höhe von 1000 m, in
welcher die Araukarien einen starken Gegensatz zu der tropi-
schen Vegetation an der Küste boten. Der Verkehr mit den
Eingeborenen verlief friedlich; sie waren durchweg klein-
wüchsig, die äußere Kultur machte einen ärmlichen Eindruck.
Hervorzuheben sind die Penishüllen aus Geflecht. Es folgen
zum Schlusse noch die sehr kurz und mehr skizzenhaft ge-
haltenen verschiedenen Ausflüge an der Nordküste, wobei
namentlich die Hausbauten und Dorfanlagen beachtet wurden.
Die ganze, nur 17 Folioseiten umfassende Arbeit macht den
Eindruck eines vorläufigen Berichts.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Im Sommer d. J. hat Dr. Joh. Schmidt, der Leiter
der dänischen Meeresuntersuchungen, mit dem Dampfer „Thor“
eine zweimonatige Forschungsfahrt im Mittelmeer auf
Kosten des Carlsberglaboratoriums ausgeführt. Er hat hier-
über in ‚einer Sitzung des Komitees für die Internationale
Meeresforschung, Ende September in Kopenhagen, die ersten
Mitteilungen gemacht, aus denen hier folgendes wieder-
gegeben sei:
Die hydrographischen Beobachtungen im östlichen Becken
des Mittelmeeres, besonders auf einer Linie von der Küste
Agyptens bis an die Insel Rhodos, boten größtes Interesse
dar, weil sie sozusagen den Schlüssel geben zum Verständnis
der Strömungen im Mittelmeere. Auf dieser ganzen Strecke
war im Oberflächenwasser sowohl die Temperatur wie der
Salzgehalt des Wassers ziemlich konstant (als Folge des
starken Verdampfens war auch der Salzgehalt recht hoch);
aber etwas unter der Oberfläche wurde eine Wasserschicht
gefunden, deren Salzgehalt im südlichen Teile der untersuchten
Strecke weit niedriger war als im nördlichen Teile, also
nächst der Insel Rhodos. Dieser niedrige Salzgehalt rührt
notwendigerweise vom atlantischen Wasser her, das der nord-
afrikanischen Küste entlang aus dem Ozean einströmt, was
noch deutlicher an den Küsten von Tunis und Algier sich
nachweisen läßt. %
Entfernt man sich von der Küste Agyptens, so ver-
schwindet allmählich das atlantische Wasser, und wenn man
Rhodos erreicht, trifft man den größten Salzgebalt, welcher
überhaupt gefunden wurde. Da keine nennenswerte Zufuhr
von weichem Wasser hier stattfindet, so steigt die Salzmenge
des Oberflächenwassers infolge der Verdampfung gradweise
im Laufe des Sommers. Hierdurch entsteht eine ganz dünne,
aber sehr salzreiche Oberflächenschicht, die vermittelst der
hohen Sommertemperatur sich, ohne zu sinken, an der Ober-
fläche über dem darunterliegenden, weniger salzreichen
Wasser halten kann. Wenn aber die Abkühlung im Herbst
eintritt, dann sinkt dieses Wasser und mischt sich mit den
tieferen Wasserschichten. Wenn dies den ganzen Winter hin-
durch sich fortsetzt, so kann der gesteigerte Salzgehalt sich
bis in einer Tiefe von mehreren hundert Metern geltend
machen, und die dadurch entstandene salzige Mittelschicht
breitet sich nun gegen Westen aus, wo der Dampfer „Thor“
sie schon auf seiner vorjährigen Reise im Ionischen Meere
sowie im ganzen westlichen Becken in Tiefen von 200 bis
500m gefunden hat.
Überhaupt sind die eigentümlichen hydrographischen
Verhältnisse des Mittelmeeres durch die in den regenlosen
Sommern stattfindende Verdampfung bedingt. Dadurch wird
das stetige Einströmen von atlantischem Meerwasser hervor-
gerufen, ohne die das Oberflächenniveau des Mittelmeeres
sinken würde. Die einströmenden Wassermengen führen aber
dem Mittelmeere eine gewisse Salzmenge zu, welche wieder
abgegeben werden muß, wenn das Meerwasser nicht im Laufe
der Zeit mit Salz gesättigt oder übersättigt werden soll. Die
notwendige Gegenwirkung geschieht durch die Ausströmung,
die in der Tiefe der Straße von Gibraltar stattfindet, und die
man im Atlantischen Meere den Küsten von Portugal ent-
lang, in der Spanischen See, ja noch an der südwestlichen
Küstenstrecke von Irland verfolgen kann. Das durch die
Straße von Gibraltar eindringende Wasser hat einen Salz-
gehalt von etwa 36 Promille, während das ausströmende Wasser
etwa 38 Promille hat; folglich müssen die ausgehenden Wasser-
mengen unter der Voraussetzung, daß der Salzgehalt im
Mittelmeere konstant ist, °°/,, der einströmenden betragen,
und nur *%/,, werden verdampft. Man weiß aber, daß die Ver-
dampfung sehr bedeutend ist, und man bekommt hierdurch
eine Vorstellung von den riesigen Wassermengen, welche
durch die Straße von Gibraltar ein- und ausströmen, was
wieder zur Erklärung der dort herrschenden reißenden Strö-
mung dient.
Die biologischen Untersuchungen des „Thor“ haben ein
sehr bedeutendes Material ergeben, das nun nach der Heim-
kehr näher untersucht und bestimmt werden soll. Dazu wird
wegen der Mannigfaltigkeit der eingesammelten Organismen
die Hilfe einer Menge zoologischer Spezialisten nötig sein,
und es läßt sich voraussehen, daß erst nach Jahren die Be-
arbeitung der einzelnen Tiergruppen beendet sein wird. Das
Hauptziel der Untersuchung ist, eine allgemeine Übersicht
über die Verbreitung der Organismen zu gewinnen, um daraus
einen Vergleich zwischen der Fauna des Mittelmeeres und
der des Atlantischen Ozeans ziehen zu können. Aber schon
jetzt meint die Expedition eine einzelne Beobachtung hervor-
heben zu können: daß man im Mittelmeere nirgends eine
solche Menge von Organismen wie im Atlantischen Ozean
findet. Weiter schien es, daß sowohl die Menge der Arten
wie der Individuen im Mittelmeere, je östlicher man kam,
abnahm. Dies gilt besonders in den oberen Schichten des
Wassers, doch auch teilweise von den tieferen. In den oberen
Schichten wurde eine weit größere Menge von Arten sowie
auch von Individuen gefunden, als in einer Tiefe von 800 bis
3000 m. Die verhältnismäßig wenigen Arten der tieferen
Schichten waren beinahe immer dieselben, welche im Atlan-
tischen Meere aus den gleichen Tiefen hervorgeholt wurden,
aber im zuletzt genannten Meere wurde außerdem, wenn
man eine Tiefe von einigen tausend Metern erreichte, noch
eine Reihe von anderen Arten gefunden, welche im Mittel-
meere nicht angetroffen worden sind. Die pelagische Tief-
wasserfauna des Mittelmeeres scheint danach im ganzen
Areal so ziemlich gleich zu sein, doch ärmer im östlichen
Teile. Überhaupt ist sie arm an Arten und kann als eine
Verdünnung der atlantischen Tiefwasserfauna von 1000 bis
2000 m Tiefe aufgefaßt werden. Und es scheint auch, daß
für das Mittelmeer eigentümliche Tiefwasserarten fehlen oder
wenigstens sehr selten sind.
Kopenhagen, im Oktober. Adolf Bauer.
— Eisenbahnbau in Südchina. Nach einem neueren
Bericht des britischen Konsuls in Kanton ist der Bau der
Eisenbabn Kanton—Kaulun (bei Hongkong), der nach den
Grundsätzen bei den europäischen Linien erster Ordnung vor
sich geht, in letzter Zeit sehr schnell gefördert worden, so
daß die ersten 45 bis 50km auf chinesischem Gebiete in-
zwischen bereits dem Verkehr übergeben sein dürften. Es
sind große teehnische Schwierigkeiten zu überwinden gewesen,
vor allem bei den zahlreichen Brücken. Die Fundamentierung
der Hauptbrücke, die über den Ostfluß bei Schiklung, ist fast
vollendet, und man hat mit der Errichtung der Stahlgerüste
für die gewaltigen Brückenträger begonnen. Die englische
Teilstrecke nähert sich schnell ihrer Vollendung und wird
Mitte 1911 Verbindung mit Hongkong haben. — Erhebliche
Fortschritte sind dann beim Bau der Linie Kanton—Hankou
zu verzeichnen gewesen. Die Züge von Kanton aus ver-
kehren hier etwa 85km weit, bis Wöngschek am Nordfluß,
aber der Bau ist schon bis Yingtak, 140 km nördlich von
Kanton, fertig. Yingtak ist eine Bezirksstadt von einiger
Bedeutung, und die Errichtung einer Station hier würde die
Orte weiter aufwärts am Nordflusse Kanton um drei Tage
näher bringen. Schnellzüge verkehren auf dieser Strecke
gegenwärtig nicht, aber die Lokalzüge erreichen 60 bis 70 km (?)
in der Stunde. Während der letzten Unruhen in Südchina,
1909/10, hat die Eisenbahngesellschaft auf dieser Linie
Kleine Nachrichten.
1456466 Reisende befördert und eine Einnahme von 294391
Dollar gehabt (monatlich im Durchschnitt 24500 Dollar), was
beweist, daß auch hier die Chinesen schnell die Vorteile der
Eisenbahnen für den Personen- und Güterverkehr begriffen
haben und sie sich zunutze machen.
— Die neue Surinam-Expedition unter J. G. W. J.
Eilerts de Haan, die Mitte Juli d. J. von Paramaribo ins
Innere aufgebrochen war (vgl. oben, 8. 243) hat leider mit
dem Tode ihres Leiters geendet. Er scheint Ende August
erfolgt zu sein, da die Nachricht Ende September durch
Buschneger nach Paramaribo gebracht wurde. Bald darauf
wurde die Nachricht durch die Rückkehr von de Haans
beiden Begleitern bestätigt. Inwieweit die Expedition ihre
Aufgabe, die Erforschung des Lucieflusses und der Gegend
am mittleren Korantin, trotzdem hat erfüllen können, weiß
man noch nicht.
— Professor Alois Musil ist kürzlich von einer neuen
Reise nach dem nördlichen Arabien zurückgekehrt,
die er zu Anfang dieses Jahres auf Veranlassung der türki-
schen Regierung angetreten hatte. Diese hatte ihn beauf-
tragt, im Bereich der Hedschasbahn einen geeigneten Ort
zur Errichtung eines Lazarettes ausfindig zu machen. Er hat
sich aber auch mit geographischen, archäologischen, ethno-
logischen und naturwissenschaftlichen Forschungen beschäf-
tigt, im Edomiterland, im Gebirge El-Hisma, im südlichen
Tihamagebirge und in den Bergen Midians, also in den
Gegenden westlich von der Hedschasbahn. Trotz der Ge-
fahren, die ihm aus der fanatischen Gesinnung der Ein-
geborenen erwachsen sind, hat Musil gute Erfolge erzielt,
und er läßt geheimnisvoll andeuten, daß er den „wahren“
Berg Sinai der Bibel entdeckt habe.
— Bei Obertraun am Südostende des Hallstätter Sees
ist kürzlich eine Eishöhle aufgefunden worden, über die
einer der Entdecker, Prof. E. Fugger in Salzburg, in der
englischen Zeitschrift „Nature“ vom 13. Oktober berichtet.
Die Öffnung, die von Obertraun aus sichtbar ist, liegt 1600 m
über dem See in der Rückwand eines Zirkus zwischen Mittag-
kogl und Hirschberg. Ein niedriger, enger Gang führt in
eine 10m hohe Halle, deren Boden mit ganz reinem und
spiegelklarem Eise bedeckt ist. Eine Eissäule steigt nahezu
bis zur Decke empor. Nach einem steilen Abstieg von 25 m
gelangt man dann in einen von Eis umgebenen Dom von
40m Höhe. Hier ist der Boden mit 4 bis 7m hohen Eis-
blöcken bedeckt, die Wände sind dick mit Eis bekleidet, und
eine Eispyramide ragt auch hier fast bis zur Decke empor.
Ein Eisrücken, der diesen Raum in der Längsrichtung durch-
zieht, führt von ihm in eine Rieseneisgrotte, die prächtige
Gruppen von nadelartigen Eiskristallen birgt. Von einer be-
sonders in die Augen fallenden Gruppe, „Monte Cristallo“,
erstreckt sich ein klarer Eisstrom über 100 m weit nach Osten
empor bis zu einer Wegteilung. Der Gang rechts ist eisfrei,
in ihm wurde ein Zahn des Höhlenbären (Ursus spelaeus)
gefunden. Man kann diesen Gang bis in eine zweite große
Halle von 100m Länge, 50m Breite und 25m Höhe ver-
folgen, in der sich eine burgförmige Eismasse erhebt. Hierauf
muß man in einer Eisspalte abwärts klettern und kommt
dann an ein prachtvolles Eistor, von dem ein sehr enger,
20 m langer Gang in eine 200 m lange und mindestens 30 m
hohe Halle führt, die eisfrei ist und sich in eine Reihe von
Tunnels auflöst, in deren einigen vom Wasser bearbeitete
Kiesel den Lauf eines ehemaligen Stromes andeuten. Die
Gesamtlänge aller dieser Höhlen ist 2000m. Wo Eis vor-
herrscht, beträgt die Temperatur 0 bis 1°C; in den eisfreien
Teilen steigt sie auf 5°.
— Die ostpreußischen Straßen im 18. und 19. Jahr-
hundert unterzieht R. Grabe einer näheren Betrachtung
(Königsberger Dissert. 1910). In früheren Zeiten waren, wo
nicht See- oder Binnenschiffahrt in Frage kam, die Land-
straßen die eigentlichen Träger des Verkehrs. Bei der Ent-
stehung dieses Wegenetzes spielen die physische Beschaffen-
heit des Bodens wie der Kulturzustand seiner Bewohner wohl
die Hauptrolle. Über die ersten früheren Straßenverbin-
dungen sind wir nur schlecht unterrichtet. Jedenfalls hatte
aber Ende des 17. Jahrhunderts das Aussehen der großen
Landstraßen den Zustand äußerster Verwahrlosung erreicht,
sie waren vollständig ausgefahren, und tiefe Löcher befanden
sich in den Wegen. Brücken fehlten entweder gänzlich oder
waren mangelhaft im Stande. Friedrich III. suchte dann
die schlechten Verkehrsverhältnisse seines Landes mit größerem
Nachdruck, als es bisher geschehen war, zu bessern, und das
Wegeedikt von 1698 hat manches gebessert, zumal die Knüppel-
brücken vielfach zur Anwendung gelangten. Die Fahrpost
bedeutete dann eine weitere Etappe in der Wegebesserung,
durch sie rückte die Verbindung gewissermaßen in eine
höhere Stufe und blieb darin, bis die Entwickelung der Eisen-
bahnen den alten Poststraßen allmählich ihre Würde nahm.
Friedrich Wilhelm I. ist dann als mächtiger Förderer der
Wege zu nennen, seine „neuen fahrenden Posten“ brauchten
gutgehaltene Wege zu ihrem relativ schnellen Fortkommen.
Durch seine Kolonisation in Litauen und Masuren schuf er
daselbst auch überall gute Verkehrsbedingungen. Friedrich
der Große soll dem Straßenbau abhold gewesen sein, doch
war es wohl nur aus Sparsamkeitsrücksichten, und als die
Kriegsjahre vorbei waren, erschien 1764 ein umfangreiches
Wegereglement, das erste seiner Zeit. Die letzte Periode des
alten Straßenbaues ist dann gegen Ende des 18. Jahrhunderts
zu setzen, dann begann die Periode der Chausseen, die zuerst
als Staatschausseen angelegt wurden und an Chausseegeld
etwas zu ihren Kosten beitragen mußten. Später setzten
dann die Privat-, Aktien- und Gemeindechausseen ein, welchen
als Kunststraßen immerhin eine bedeutende Mitwirkung zur
Bewältigung des Verkehrs zuzuschreiben ist. Als dann in
den meisten Teilen der Provinz gute Wege dem großen
Hauptverkehr dienten, aber der Mittel- und Kleinverkehr
noch vollkommen darniederlag, traten die Kreischausseen in
ihre Rechte; der Hauptteil an dieser allgemeinen Vergröße-
rung des Chausseenetzes fiel den einzelnen Kreisen zu. Doch
erst von 1860 ab können wir von einem wirklich intensiven
Kreischausseebau reden.
— Den Ergebnissen der Beobachtungen des nieder-
österreichischen Gewitterstatiomsnetzes inden Jahren
1901 bis 1905 von A. Defant (Meteorol. Zeitschr. 1910, 27. Bd.)
entnehmen wir, daß alle größeren Erhebungen, besonders
alle dominierenden, günstige Verhältnisse für die Bildung
von Gewittern geben, sie fördern geradezu auffallend die
Entwickelung des Gewitterprozesses. Die ebeneren Gebiete
lassen nur äußerst wenige Gewitter entstehen; sie sind die
Auflösungsstätten der Gewitter, die von auswärts kommen
und den ebeneren Gegenden zuziehen; sie hemmen die Ent-
wickelung des Gewitterprozesses. Ein Gebiet bevorzugt stets
Gewitter einer bestimmten Richtung; es läßt hauptsächlich
nur Gewitter dieser bestimmten Richtung entstehen und ver-
nichtet mit Vorliebe Gewitter der entgegengesetzten Richtung.
Dabei folgen die Gewitter der gewittererzeugenden Gebiete
dem abfallenden Terrain, ziehen längs der Bergabhänge den
ebeneren Gegenden zu und erlöschen vollständig, wenn sie
sich in der Ebene ausbreiten können. Je breiter das Gewitter
ist, desto länger hält der Gewitterprozeß an, einen desto
längeren Weg legt das Gewitter zurück. Der tägliche Gang
der Gewitterbildung weist drei gut ausgedrückte Maxima
auf; das erste liegt in den Vormittagsstunden, das zweite
fällt auf die wärmste Tageszeit, das dritte auf die Abend-
stunden. Diese Dreiteilung ist in jedem Jahr deutlich und
klar ersichtlich. Zwei Gruppen von Gewittern vermag man
zu unterscheiden, die auf verschiedene Ursachen zurückzu-
führen sind. Solche, die auf die allgemeine Zirkulation der
Berg- und Talwinde zurückzuführen sind; sie gehören zum
Typus der Wärmegewitter, die an der Grenze von einem
kalten und warmen Gebiete entstehen und sich gegen das
warme fortpflanzen, die anderen beruhen auf Überhitzung
der bodennahen Luftschichten auf labilem Gleichgewicht.
Die kälteren Luftmassen lagern oberhalb der warmen, in der
ersten Gruppe aber neben den warmen.
— In einer vortrefflichen, kurzgefaßten Schilderung der
Buschleute der Namib von Oberleutnant Trenk (3. Heft
der Mitteilungen aus den deutschen Schutzgebieten, 1910,
8.166 ff.) sind Beobachtungen enthalten, welche wegen ihrer
Neuheit besonderes Interesse erwecken. Die Buschmänner
Deutsch-Südwestafrikas, indem Bergland zwischen dem Swakop
und dem Oranjefluß, unterscheiden sich von jenen der Kala-
hari und von den Hottentotten namentlich durch ihr dichtes,
nicht pfefferkornartiges Haupthaar; doch besitzen sie keine
eigene Sprache, sondern sprechen reines Nama. Sie führen
ein nomadenhaftes Jügerleben; von den Hottentotten werden
sie verachtet und wegen ihrer gelegentlich verübten Vieh-
räubereien unablässig verfolgt, so daß sie in den verborgen-
sten Klüften und Höhlen der Tafelberge ihre Wohnsitze haben.
Sie mögen im ganzen nicht mehr als 900 bis 1000 Köpfe
zählen. Sie gliedern sich nach Familienclans, welche, je von
einem Kapitän beherrscht, unabhängig voneinander sind, ihre
eigenen Wasserstellen und Jagdbezirke haben und sich ge-
gebenenfalls unter strenger Beachtung kriegsrechtlicher For-
malitäten gegenseitig bekämpfen. Einen Großkapitän gibt es
nicht mehr unter ihnen. In ihren Sitten weichen sie in
vieler Beziehung von denen der übrigen Naturvölker ab:
Monogamie ist allein üblich; Mädchen und Burschen heiraten
Kleine Nachrichten.
307
sich sofort bei beginnender Geschlechtsreife und ohne Ent-
richtung eines Kaufpreises an die Eltern der Braut; Prosti-
tuierte kommen nicht vor; die Ehe gilt für das ganze Leben;
Ehebrecher werden durch den Geschädigten von Rechts wegen
ermordet; nach dem Tode des Familienhauptes erbt zuerst
die Frau und dann der Sohn; Kinder dürfen von den Eltern
nie verkauft, höchstens gegen Bezahlung zeitweilig verborgt
werden; auch ist es nicht erlaubt, ein Familienmitglied in
die Fremde zu verjagen; Diebstahl und Ehebruch sind unter
den Volksgenossen eine große Seltenheit; den Gestorbenen
gibt man unter großen Feierlichkeiten den verdickten Saft
eines Strauches mit in das Grab, damit sie im Jenseits reich-
liche Kost finden; ihre ursprüngliche Religion besteht nur in
dem Glauben an einen bösen Geist und an eine Manifestierung
der abgeschiedenen Seelen in gespensterhaftem Getier; hier
und da hat das Christentum Eingang gefunden und mit ihm
die Überzeugung, daß es einen Himmel gibt, wo es einem gut
geht. Ist ein Verbrechen begangen und der Verbrecher nicht
entdeckt worden, so hilft man sich mit einem sonst in Afrika
nicht üblichen Gottesgericht: Die im Verdacht Stehenden
werden vor ein Feuer gesetzt; wendet sich die emporsteigende
Rauchsäule abwärts gegen eine Person oder mehrere, so sind
diese die Schuldigen, wirbelt sie gerade und ungeteilt nach
oben, so ist der Bann des Verdachtes aufgehoben. — Zur
Erlegung des Wildes bedienen sich die Buschmänner des
giftigen Saftes der Kandelaber - Euphorbia, indem sie damit
entweder die Pfeilspitzen beschmieren oder, um namentlich
Zebras zu töten, in Wasserstellen es spritzen, wodurch das
Wasser eine rötliche Färbung erhält.
An die Trommelsprache der Kameruner erinnert der Ge-
brauch einer Signalpfeife. Ihr Ton ist schrill, daß er bei
Windstille 2 bis 3km weit zu hören ist. Eine bestimmte An-
zahl von Pfiffen mit größeren und geringeren Pausen be-
deuten: „Der Feind ist da“ oder „Wasser gefunden“ usw.
Am Schluß seiner Schilderung bemerkt Oberleutnant
Trenk, daß die Buschleute Südwestafrikas wohl kaum trotz
aller Bemühungen zu dauernder kultureller Tätigkeit heran-
gezogen werden können; denn wenn sie auch in der Trocken-
zeit in kleinen Trupps auf Farmen sich verdingen, so machen
sie sieh doch plötzlich und heimlich wieder aus dem Staube,
nehmen auch überdies einige Rinder mit fort. Sie sind im
höchsten Grade unzuverlässig. Lieber ertragen sie im Drang
nach vollkommenster Unabhängigkeit Armut, Entbehrungen
und Strapazen, als daß sie sich an stetige, geordnete Arbeit
gewöhnen. B. F.
— Über die Entdeckung eines interessanten altägyp-
tischen Steingrabes in der Nähe der Sneferu-Pyramide
(4600 v. Chr.) berichtet Flinders Petrie im „Man“ vom
September d. J. Es datiert aus einer Zeit vor der Erbauung
der Pyramide, ist das früheste Privatgrab in Ägypten, dessen
Alter bestimmt werden kann, und ist namentlich deshalb
wichtig, weil es zeigt, daß der Leichnam gänzlich des Fleisches
beraubt wurde, bevor man ihn in Tücher hüllte. Die Leiche
liegt in einem Sarge aus rotem Granit; er ist der älteste
bekannte Steinsarkophag. Man weiß seit langem, daß bei
prähistorischen Begräbnissen das Fleisch vom Körper entfernt
wurde, und daß man sogar die Knochen zerbrach, um das
Mark herauszuziehen. Im vorliegenden Falle war jeder
Knochen besonders in Leinen gehüllt, und der Fund beweist,
daß die Zerstückelung des Skeletts unter den höheren Be-
völkerungsklassen am Beginn der Pyramidenperiode üblich war.
— Über die spanischen Besitzungen im und am
Golf von Guinea ist einem neueren englischen Konsular-
bericht folgendes zu entnehmen: Die Bevölkerung der Insel
Fernando Pöo wird auf 20000 geschätzt, von denen 2500 bis
3000 Europäer sind. Wieviel Menschen auf der Insel Elobey
und auf dem Festlande, das ja noch ziemlich unerforscht ist,
leben, weiß man nicht. Von hier — aus Bata — kommen
die Plantagenarbeiter, ebenso aus Liberia und den englischen
Kolonien. Die sanitären Verhältnisse sind nicht sehr günstig.
Der Hafen von Sta. Isabel auf Fernando Pöo ist eine Station
der europäischen Dampferlinien, hat aber in kultureller Hin-
sicht davon wenig Nutzen gehabt. Die Regenmenge betrug
hier im Jahre 1908 2130 mm, im Jahre 1909 2470 mm; sie
verteilt sich über das ganze Jahr, mit zwei Maximalperioden im
Mai/Juni und August/September von einem Monatsmittel von
330 mm. — Erst seit 1907 veröffentlicht die spanische Regie-
rung Handelsstatistiken, sie sind aber, außer für Fernando
Pöo, sehr unvollständig. 1908 hatte der Import für diese
Insel einen Wert von 2832156 Pes. (Baumwollwaren, Tabak,
Petroleum, Transportmaterial, Salz, Wein), der der Ausfuhr
einen solchen von 2737236 Pes. (Kakao, Palmöl und -nüsse,
Kautschuk, Gummi, Holz, Pfeffer, Piassava, Kopra und Elfen-
bein). Auf Fernando Pöo ist die Hauptkultur der Kakao,
und die Kakaoausfuhr ist von 1902 bis 1909 von 1499050 kg
auf 2799264 kg gestiegen (1908: 2813675 kg). Dieser gesamte
Kakao geht nach Barcelona und Alicante infolge des hohen
Ausfuhrzolls von 94,5 Pes. die Tonne, wenn er fürs Ausland
bestimmt ist. In Spanisch-Guinea, also auf dem Festlande,
gibt es viel Kautschuk, den mehrere Landolphiaarten liefern,
aber der Handel damit stockt infolge des Preisrückganges in
Europa und des Verbots, den Eingeborenen Flinten und Pulver
zu verkaufen. Andererseits versucht man die Hevea auf
Fernando P6o einzubürgern, dessen Boden und Klima ihr
günstig sind; man zählt schon zwei Pflanzungen mit 3000 und
500 Bäumen, deren Samen teilweise aus Ceylon herrührt.
Der Gehalt soll den der in Viktoria (Kamerun) gezogenen
Hevea übertreffen. Der Benitodistrikt auf dem Festlande
liefert Mahagoni, Ebenholz und Rotlıolz, aber die Höhe des
Ausfuhrzolls lähmt den Handel. Die Eingeborenen des Bata-
distrikts bauen viel Mais von freilich mäßiger Qualität. Die
Elefanten werden immer seltener.
— In der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift (N. F.,
IX Bd., 1910, S. 369) verbreitet sich Dr. H. Rudolph über
die Ergebnisse und ferneren Ziele der wissenschaft-
lichen Drachen- und Ballonaufstiege. Er gibt zuerst
eine historische Übersicht der hauptsächlichsten Aufstiegserien,
welche bis jetzt stattgefunden haben, und der dabei erreichten
höchsten Höhen. Darauf folgt eine kurze Aufzählung der
bei den Aufstiegen benutzten Methoden, während unter den
erreichten Ergebnissen auf die aufgefundenen Isothermien und
Inversionen genauer eingegangen wird. Besonders beschäftigt
sich der Verfasser mit der sogenannten oberen Inversion,
ihrer Erklärung und ihrer Bedeutung für die Meteorologie.
Ausführlich werden dann die Beziehungen der oberen Inver-
sion zur Luftelektrizität besprochen und Vorschläge zu ihrer
experimentellen Untersuchung gemacht. Gr.
— Dr.H.Fritsche hat seine Berechnungen über den Erd-
magnetismus durch eine siebente Arbeit fortgesetzt, in der
er sich hauptsächlich mit einer kritischen "Besprechung der
säkularen Anderungen der erdmagnetischen Ele-
mente befaßt und im Anschluß daran die Verteilung der-
selben für das Mittelmeergebiet und die Epochen 1200, 1300,
1400 und 1500 n. Chr. berechnet. Die Resultate sind in vier bei-
gegebenen Isogonenkarten graphisch dargestellt und befinden
sich nach den Darlegungen des Verfassers in befriedigender
Übereinstimmung mit den Kompaßkarten, Portolanen und
anderen historischen Überlieferungen der damaligen Zeit. Gr.
— H. Wehner hat auf der Kölner Versammlung Deutscher
Naturforscher und Arzte einen Vortrag über die Revision
eines Satzes der Gravitationslehre gehalten, dessen
Referat von der Redaktionskommission nicht in den Versamm-
lungsbericht aufgenommen wurde. Er veröffentlicht deshalb
das Referat in der Zeitschrift „Neue Weltanschauung“ (1910,
Heft8). Es handelt sich um "den Satz, daß kleine Körper,
die im Innern von Massenhohlkugeln schweben, nach keiner
Seite hingezogen würden. g Gr.
— Die jüngeren KrustoAbawogUngon in den Kar-
pathen bespricht L. Sawicki (Lemberg. Kosmos, 34. Bd.).
Sie finden sich nach der Hauptfaltung vorwiegend im jüngeren
Tertiär, in viel geringerem Maße auch im Quartär. Die
Form dieser jungen Bewegungen ist in dem Gebirge selbst
die der Hebung en bloque und der Schiefstellung, so daß
wir noch die alten Formen zu erkennen vermögen; nur deren
Höhenlage und Gefälle steht im Widerspruch zur Form und
zur heutigen Entwickelung. Gleichzeitig fanden in den sub-
karpathischen Geosynklinalen leichte Faltungen der weichen
jungtertiären Schichten statt, selbst Überschiebungen lassen
sich nachweisen. Manchmal haben such die gehobenen
Blöcke des Gebirges wellenartige, unregelmäßige Faltungen
erfahren, wobei Einbiegungen von flachen Becken mitspielten,
so in Westgalizien und dem Eisernen Tore. Zur selben Zeit,
da die Gebirge gehoben, die Geosynklinalen gefaltet wurden,
sanken auch die großen zentralen und randlichen Becken
Rumäniens, Ungarns, das wiener-moravische Becken usw.
Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß diese posi-
tiven und negativen Bewegungen in einem isostatischen Ver-
hältnis zueinander stehen. Ein wichtiges Ergebnis ist, daß
die Krustenbewegungen desto jünger zu sein scheinen, je
mehr wir uns dem Osten nähern. Von intensiven Krusten-
bewegungen im Pliozän wissen wir in den Westkarpathen
überhaupt nichts, sowie auch von den quartären Dislokationen,
ähnlich denen in Rumänien. Das Wandern der Krusten-
bewegungen gegen Osten äfft nur die gleichnamige Verschie-
bung des Faltungsprozesses nach, der im Westen älter als im
Osten ist; in Mähren oder Westgalizien ist nur das ältere
308
Kleine Nachrichten.
Miozän gefaltet, das jüngere liegt transgressiv auf dem schon
gefalteten Gebirge und wurde durch die späteren Hebungen
nur schwach disloziert. In Ostgalizien ist noch das jüngere
Miozän überfaltet, und in Rumänien unterlag nicht nur das
Sarmaticum, sondern auch das Pliozän einer gelinden Faltung.
Die gewaltigen Vulkanausbrüche, welche die Westkarpathen
im Süden umgürten, stehen nicht mit der Hauptfaltung, wohl
aber mit den jüngeren miozänen Krustenbewegungen in Zu-
sammenhang. Erst den jüngeren Krustenbewegungen ver-
danken die Karpathen ihr heutiges Aussehen, vergebens
suchen wir den Einfluß der Hauptfaltungen und der Über-
faltungen in der Formengestalt der heutigen Oberfläche; nur
im Verlauf der mehr oder minder widerstandsfähigen
Schichten spiegelt sich die Struktur. Ja, es ist wahrschein-
lich, daß diese intensiven Bewegungen sich tief in der Erd-
kruste unter einer mächtigen Deckschicht abspielten. Erst
die jüngeren Hebungen lieferten die Karpathen den die Ober-
fläche modulierenden Prozessen aus. Das Karpathenrelief
ist überwiegend jungtertiär und fand in einem miozänen,
pliozänen und quartären Zyklus statt.
— Nsibidi, eine neue Negerschrift, wird durch den
Missionar J. K. Macgregor im „Journal Anthropological
Institute“ Bd. 39, 8.209 (1909) beschrieben. Sie ist verbreitet
im Calabardistrikt der englischen Kolonie Südnigeria, mehr
noch am Cross River und diesen aufwärts und entstand unter
dem großen 4 Millionen zählenden Ibovolke. Unter diesem
sind es wieder die Schmiede, die bei allen Negern zauber-
kundigen, welche die beste Kenntnis des Nsibidi besitzen, das
als eine Art Geheimschrift gilt und unter dem eigenen Volke
den meisten unbekannt ist, namentlich aber vor den Europäern
streng gehütet wird. Erst im Jahre 1904 wurde der britische
Distriktskommissar Maxwell damit bekannt. Gleichzeitig
wurde Macgregor durch einen seiner Missionsschüler auf das
Nsibidi aufmerksam gemacht, und seinen Nachforschungen
gelang es nun, Klarheit über diese „Schrift“ zu gewinnen.
Sie ist nach ihm ureigenes Negererzeugnis, entstanden ohne
fremde Einflüsse, aber fern davon, alphabetischer Natur zu
sein; sie ist vielmehr eine Art Zeichenschrift, die ich mit
unseren „Bettlerzinken“ oder den Zeichen auf Bauernkalendern
vergleichen möchte. Die Deutungen für die Zeichen, die
Macgregor von verschiedenen Eingeborenen erhielt, waren
keineswegs übereinstimmend. So stand das gleiche Zeichen
zuweilen für ganz verschiedene Dinge, z. B. einmal für ein
Haus, dann für einen Baum. Oder die gleiche Sache wurde
durch verschiedene Zeichen ausgedrückt, und eine bestimmte
Ordnung war bei den Zeichen auch nicht vorhanden, sie
stehen bald wage-, bald senkrecht. Alle 98, die Macgregor
mitteilt, zeigen ziemlich gleichen Charakter, welcher aus
nachstehenden Beispielen erhellt:
1 2 3 4 5 6
1. Zeichen für Reichtum. 2. Haus, in welchem drei Weiber und
ein Mann. 3. Drei Männer dringen in ein Haus und verlangen ein
Frauenzimmer. 4. Zeichen für Feuer. 5. Mann im Gefängnis.
6. Ein einsamer Mann, welcher keine Freunde hat.
Mit dieser „Schrift“ werden auch ganze Geschichten ge-
schrieben. Macgregor berichtet von einer Gerichtssitzung,
die so dargestellt ist und in welcher die Parteien, die Zeugen,
der Richter usw. vorkommen. Weitgehenden Gebrauch macht
man vom Nsibidi zu Bekanntmachungen und Warnungen,
z. B. Verbot, gewisse Straßen zu gehen. Diese Zeichen werden
dann in den Boden eingeschrieben oder mit Kalk an die
Hauswände angemalt.
Nsibidi ist nach der Überlieferung schon sehr alt; es soll
seinen Ursprung bei dem Uguakimastamme der Ibo haben.
Diese selbst erzählen folgende Geschichte über die Entstehung:
In ihren Wäldern lebten die Idiokpaviane in großen Mengen.
Wenn dort ein Neger des Nachts Feuer anzündete, um sich
zu wärmen oder vor wilden Tieren zu schützen, kamen die
Idiok heran und setzten sich wie Menschen rings um das
Feuer und ritzten allerlei Zeichen in den Grund, welche die
Neger natürlich nicht verstanden, bis die Idiok dazu eine
Geste oder Pantomime machten, welche dem betreffenden Zeichen
entsprechen sollte. Diese Zeichen nannten die Uguakimaneger
nsibidi, vom Iboworte sibidi, spielen, da sie durch die Spielerei
der Idiok damit bekannt wurden. Außer dieser Schrift
lernten die Neger von den Idiok vielerlei‘ Heilmittel, denn
diese sind die weisesten Zauberdoktoren im Lande. 7
— In seiner Doktorarbeit über die Volksdichte im
Kreise Dirschau sagt W. Poerschke (Königsberg 1910),
daß vornehmlich die Höhenlandschaft von dem Weichseldelta
zu unterscheiden ist. Die verhältnismäßig hohe Volksdichte
ist nur einigen größeren Ortschaften zuzuschreiben. Außerst
auffällig ist die geringe Dichte im Weichseldelta, wo doch
der beste Kulturboden sich findet. Hauptsächlich drei Momente
drücken die Volksdichte eines Gebietes herunter: wenig
ertragreicher Boden, große Waldbestände, die Besitzverhält-
nisse, namentlich große Gutkomplexe und Herrschaften. Einen
direkten Zusammenhang zwischen Bodenertrag und Volksdichte
vermochte Verfasser nur für die niederen Dichtestufen fest-
zustellen. Was die Lage der Siedelungen anlangt, so be-
beschäftigt sich Poerschke nur mit Dirschau und wenig mit
Pelplin. Ersteres beherrscht gewissermaßen den Zugang zum
ganzen Weichseldelta und ist besonders geeignet, als Über-
gang über den Fluß zu dienen. Aber erst durch den Bau
der Ostbahn werde Dirschau eine wichtige Brückenstadt.
— Betrachtungen über Flußgeröll, Molasseproblem
und Alpenfaltung lassen A. Ludwig (Jahrb. d. Schweiz.
Alpenklub, 45. Jahrg., 1910) zu folgenden Sätzen gelangen:
Die Vergleichung der Geröllgrößen des heutigen Rheinkieses
mit denjenigen der miozänen Nagelfluh ergibt den sicheren
Beweis für die lokale Herkunft der Nagelfluh. Damit ist die
Existenz eines dem Nordrande der Alpen entlang laufenden,
als Archipel dem Meere entragenden Stammgebirges mit
fremdartigen Graniten und mit ostalpiner Sedimentfazies
bewiesen. Von diesem Stammgebirge sind auch die Klippen
und die erratischen Blöcke herzuleiten. Damit wird die von
der modernen Überschiebungstheorie behauptete Herkunft
der höheren Decken aus dem oberitalischen Gebiet abgelehnt.
Die Wurzellosigkeit zahlreicher und ausgedehnter Alpen-
gebiete ist Tatsache, aber die Deckenschollen stammen aus
der Nähe und lagern oft beinahe darauf, wo sie einst in der
Tiefe ruhten. Die Alpen sind nicht durch Horizontalschub
aufgestaut worden, sondern durch vertikale Erhebung auf
tektonischen Leitlinien, mit intensiver Gleitfaltung als Folge-
erscheinung. Die großen antiklinalen Faltenzüge waren einst
Synklinalen, die heutigen Synklinalen waren einst Antiklinalen,
oder die heutigen großen Alpenketten waren einst Täler, die
heutigen großen tektonischen Alpentäler sind zurückgesunkene
Gebirge. Die ursprünglichen Verhältnisse, wie sie unmittelbar
nach vollendeter Faltung vorlagen, sind im heutigen Alpen-
gebäude noch deutlich erkennbar. Die übertrieben hoch an-
genommenen Denudationsbeträge sind stark zu reduzieren.
Die alpinen Randseen sind weder durch Flußerosion, noch
durch glaziale Erosion entstanden, sondern bilden die letzten
Reste des ausgesüßten Molassemeeres. Pliozäne Sedimente
waren einst auch auf der Nordseite der Alpen vorhanden,
wurden aber von den eiszeitlichen Gletschern erfaßt, um-
gearbeitet und ausgeräumt, wie auch der pliozäne Schutt-
mantel des Gebirges. Die Existenz einer präglazialen Rumpf-
ebene und die Vierzahl der Eiszeiten sind nicht genügend
bewiesen.
— In seinem Beitrag über einige Funde des Elentieres in
dem Kanton Thurgau entscheidet sich E. Bächler (Mitt. d.
thurg. naturf. Ges. 1910, 19. Heft) betreffend die Identität
des postglazialen Elches mit der heute noch leben-
den Art dahin, daß eine Trennung der beiden in verschie-
dene Arten keinerlei Berechtigung besitzt. Das Ergebnis
deckt sich mit den Ansichten Rütimeyers, welcher zuerst die
in der Schweiz, namentlich in den Pfahlbauten entdeckten
Elchreste als gleichwertig und übereinstimmend mit der re-
zenten Art gefunden hat, namentlich aber auch mit den
umfangreichen Untersuchungen von J. F. Brandt, der keinerlei
spezifische Unterschiede zwischen fossilem und rezentem Elch
festzustellen vermochte und nur bloße individuelle Abweichun-
gen kennt. Lassen sich nun am Skelett des ostschweizeri-
schen fossilen Elentieres und seinen einzelnen Knochen
keinerlei tiefergreifende Unterscheidungsmerkmale feststellen,
so gilt das letztere noch viel mehr von dem nicht unansehn-
lichen Material von fossilen Elchgeweihen und Einzelschaufeln.
Man kann nur immer wieder auf die schon genügend be-
leuchtete enorme Variationsfähigkeit des betreffenden Körper-
teiles hinweisen, so daß die beiden Geweihschaufelhälften in
ihrer Flächenausdehnung und Form selten kongruent sind,
sondern Ungleichheiten die Regel bilden, wobei die größten
Variationen in der Zahl der beiderseitigen Sprossen eintreten.
Daß aber sonst starkgebaute fossile Elche ab und zu kleinere,
schmächtigere Geweihe tragen können, steht in direkter
bereinstimmung mit der experimentell gemachten Erfah-
rung, daß Nahrungsverhältnisse und Asung einen entschie-
denen Einfluß auf Größe, Stärke und Ausladung des Geweihes
ausüben.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 56. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- UND VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“,
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE,
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
1. Dezember 1910.
Bd. XCVIII. Nr. 20.
- BRAUNSCHWEIG.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Meine vierte Islandreise, Sommer 1910.
Von Heinrich Erkes.
Köln.
Mit 4 Abbildungen nach Aufnahmen des Verfassers.
Im Sommer 1910 suchte ich mit meinem Sohne einige
bisher wenig oder gar nicht bekannte Gegenden Nord-
und Innerislands auf.
Wir landeten am 8. Juni im Reydarfjord im östlichen
Island, von wo wir nach Norden durchs Inland ziehen
wollten; der ungünstigen Schneeverhältnisse wegen mußten
wir jedoch den Plan ändern und fuhren mit dem Dampfer
weiter zum Eyjafjord, den wir am 12. Juni bei leichtem
Schneegestöber erreichten. Nach einem Ausflug zum
Hörgärdalur, an dessen Mündung Daniel Bruun und
Finnur Jönsson vor einigen Jahren die Ruinen der mittel-
alterlichen Handelsniederlassung Gaesir aufgedeckt hatten,
zogen wir den bekannten Weg über die Vadlaheidi nach
Grenjadarstadir; hier liegt eine der wenigen auf Island
noch vorkommenden alten Runensäulen. Dann besuchten
wir die intermittierenden heißen Springquellen beim
Uxahver; der Uxahver selbst sprang nicht, während er
vor zwei Jahren alle 5 bis 7 Minuten einen Ausbruch
hatte. Da der Geldingadalur verschneit war, zogen wir
durch teilweise sehr unangenehm mooriges Terrain über
‚den Jönspaß im Norden der Lambafjöll, untersuchten
die Stirn des im 18. Jahrhundert von der Kraterreihe
beim Leirhnükur nach Norden geflossenen großen Lava-
stromes und kamen zu den Schwefelfeldern von Theista-
reykir. Wir fanden sie beim Vergleich mit Thoroddsens
Beschreibung von 1895 ziemlich unverändert; nur hat
die von ihm erwähnte Erdwärme abgenommen. Vom
Gipfel des Ketilfjall photographierten wir den Schild-
vulkan Theistareykjabunga, dessen Krater wir unter
dem Schnee leider nicht auffanden. Über die stark ver-
schneite Reykjaheidi zogen wir sodann zur Jökulsä, über-
schritten diesen reißenden Gletscherfluß auf der Brücke
beim Ásbyrgi und befanden uns in der Landschaft Axar-
fjördur, die jenseits der Grenze liegt, bis wohin der
Touristenstrom kommt.
Weiter nördlich bilden die Landschaften Núpasveit
und Melrakkasljetta die nördlichste Halbinsel Islands,
die von Fremden sehr selten besucht und außer von
Thoroddsen nach seiner Reise 1895 niemals beschrieben
wurde. Wir untersuchten zunächst die im Landinnern
südöstlich des Kálfafell liegende Vulkangruppe Raud-
hólar. Von ihr zieht sich ein großer Lavastrom nach
Nordwesten, umfließt die Hügelkette Katastadafjöll,
die wir bestiegen, und erreicht die Axarbucht beim Pfarr-
hofe Presthólar. Ein zweiter Lavastroın fließt nordnord-
östlich bis zur Ormarsä, deren Mündung die Ostgrenze
der Melrakkasljetta bildet. Unweit der Raudhölar sahen
Globus XCVIII. Nr, 20.
wir mehrere verödete Gehöfte. Bei Presthölar liegt eine
flache Bucht Magnavik, deren Name auf Magni, einen
der Söhne des Gottes Thor, hinweist. Ein nahe der
Bucht liegender Basalthügel wird Godhüssteinn ge-
nannt; es ist nicht unwahrscheinlich, daß hier oder in
der Nähe einst ein heidnischer Tempel stand, doch sind
außer den erwähnten Namen keine Überlieferungen da-
von erhalten. Am steilen Abhang des Axargnüpur, der
Südgrenze der Nüpasveit, fanden wir etwa 100m ü.d.M.
die aus Basaltsäulen roh aufgeschichtete Grettishütte,
die dem zu Anfang des 11. Jahrhunderts lebenden Saga-
helden Grettir zugeschrieben wird.
Von Presthölar führte uns der sogenannte Hölsstig
zum Südende des Blikalönsdalur ins Herz der Mel-
rakkasljetta.. Dieser „dalur“ ist eine etwa 25km lange
und 500 bis 800 m breite Einsenkung, Spalte oder Bruch-
linie, die sich im Norden der Vulkane Raudhölar in fast ge-
rader Linie durch dieganze Sljetta bis ins Nördliche Eismeer
beim Hofe Blikalön hinzieht und mutmaßlich mit den
Raudhölar ursächlich zusammenhängt. Die Melrakka-
sljetta, d. h. Polarfuchs-Ebene, wegen der vielen dort
vorkommenden Polarfüchse so genannt, zeigt sich als
eine über 1000 qkm umfassende Glaziallandschaft auf
einer Unterlage von geschrammter Doleritlava. Zahllose
niedrige Höhenzüge (ásar) dürften sich großenteils als
Moränenschutt erweisen; zwischen ihnen schimmern
mindestens 60, wahrscheinlich noch mehr, kleine und
größere Teiche und Seen. Einige sind vermoort, doch
bemerkten wir keine eigentlichen Sümpfe. Außer weißen
Schwänen und einer einzigen, sehr großen grönländischen
Schneeeule nahmen wir im einsamen Innern der Sljetta
wenig Tierleben wahr, woran allerdings die Frühe der
Jahreszeit bei kaum + 3°C Durchschnittstemperatur
mitschuldig sein mochte. Vom Hofe Blikalöon, wo wir
drei Tage blieben, besuchten wir die nahegelegene nörd-
lichste Spitze Islands, die über den Polarkreis hinaus
als ein niedriges Basaltriff in die See ragt und Rifs-
tangi heißt. Eine Steinwarte bezeichnet die Stelle,
wo ein Leuchtturm für diese gefährliche niedrige
Küste errichtet werden soll. In der Nähe liegt der kleine
Hof Rif, das nördlichste Gehöft Islands, weiter östlich
der aus isländischen Sögur (Sagas) bekannte steinige
Hafen Hraunhöfn mit dem aus frostzersprengter Dolerit-
lava bestehenden Kap Hraunhafnartangi, auf dem
sich die Thorgeirsdys erhebt, ein hoher Haufen loser
Steine, der angebliche Grabhügel des hier im Jahre 1024
in einem Kampfe erschlagenen Skalden Thorgeirr. Von
40
310
Erkes: Meine vierte Islandreise, Sommer 1910.
Abb. 1. Die Lavawüste Ödädahraun. Im Hintergrunde die Dyngjufjöll mit folgenden
Erhebungen (von links nach rechts): Fjärborg, Likkista, Kollur u. Häihnükur.
hier sahen wir den stillen Hof Hardbakr, während ich
den weiter südöstlich liegenden Hafen Raufarhöfn und
Umgegend schon im Jahre 1907 besucht hatte Im
Innern der Sljetta liegt ein einziger bewohnter Hof:
Grashöll. Zwischen ihm und dem Blikalönsdalur be-
suchten wir die Graenur, die aus einem Komplex von
Seen, grünen Mooren und kargem Weideland bestehen.
Nach Beendigung unserer Streifen durch das Innere
der Sljetta zogen wir an der Nordküste entlang nach
Westen. Die Nordküste besteht aus mächtigen Geröll-
wällen, gegen die seewärts das Eismeer brandet, während
landwärts eine Anzahl Haffs sich hinzieht, die vortreff-
liche Brutstellen für Eiderenten usw. sind. Treibholz
und Walknochen bedecken weite Strecken des Strand-
gerölls. Der nordwestlichste Hof der Sljetta heißt N úps-
katla; hier wurde am 7. Juni 1905 eine der Bojen ge-
funden, die am 13. September 1899 im Auftrag der geo-
graphischen Gesellschaft von Philadelphia bei Point
Barrow an der Küste von Alaska ausgesetzt wurden und
wahrscheinlich über den Nordpol trieben. Der Auffinder
der Boje teilte uns alle Einzelheiten ausführlich mit. Die
äußerste Nordwestecke der Melrakkasljetta erscheint von
der See aus als eine etwa 75m hohe, steile, rote Fels-
wand und heißt Raudinüpur; sie
ist, wie Thoroddsen feststellte, ein
von dem Meere zerstückelter Vulkan.
Außer dem großen bekannten Krater
fanden wir einen zweiten kleineren
Krater und außerdem in den zer-
bröckelnden Schlackenfelsen an-
scheinend noch die Trümmer eines
Vulkanschlotes.. Dem als Vogel-
felsen vor dem Raudinüpur im
Meere stehengebliebenen Rest des
Vulkanmantels, der eine steile, einem
massigen runden Turm ähnliche
Klippe bildet, gaben wir auf islän-
dische Anregung den Namen Jön
Trausti, zu Ehren des zu Rif ge-
borenen Dichters Gudmundur Mag-
nüsson, der unter dem Pseudonym
Jón Trausti schreibt. Im Süden
des Raudinüpur liegt der schönste
und reichste Hof der Sljetta, Grjöt-
nes. Weiter südlich zieht sich, die
Sljetta im Westen begrenzend, das
Tuffgebirge Leirhafnarfjöll mit
der höchsten Erhebung Gefla, die
wir erstiegen und auf etwa 210m
Meereshöhe maßen. In den steilen
Wänden eines Hochtales der Gefla
horstete der isländische Falke. Am
Ostfuße des Gebirges erstreckt sich
eine Schuttwüste, der sogenannte
Geflusandur. Wir überschritten
. die Leirhafnarfjöll an drei Stellen,
zuletzt im Süden durch den niedri-
* gen Paß Leirhafnarskörd, wo
wir am oberen Ende des Geitay-
sandur den Krater auffanden, aus
dem, wie schon Thoroddsen erzählen
hörte, im Jahre 1823 ein Ausbruch
stattgefunden haben soll.
Von der Melrakkasljetta kehrten
wir zur Jökulsa zurück, zogen an
ihrem Westufer bis zum Villardsfoss
oberhalb des weltbekannten Detti-
foss, und dann über Krafla und
Leirhnükur, wo wir gegen meine
Beobachtungen von 1907 eine starke Steigerung der vulka-
nischen Tätigkeit in den Kratern und Solfataren wahr-
nahmen, bis zum Mückensee. Hier begann der zweite Haupt-
abschnitt unserer Expedition, nämlich die genauere Durch-
forschung der Lavawüste Odädahraun (Abb.1) im Anschluß
an meine Reisen von 1907 und 1908. Wir stiegen zunächst
zum etwa 650 m ü.d.M. liegenden Heilagsdalur, durch
dieses Tal zur Ketildyngja, die von Johnstrup und
anderen besucht worden ist, und dann zur nie zuvor
bestiegenen Kerlingardyngja. Ihre Höhe bildet ein
ausgedehntes Plateau mit vielen Ausbruchstellen und
Schlackenhügeln. Auf der Ostseite des Plateaus erhebt
sich ein 90m hoher, an 300 m breiter Brecciefelsen;
nördlich unterhalb dieser Spitze, die Sighvatur heißt,
sind zwei kleine Krater. Die Südwestseite der Kerling-
ardyngja fällt steil zu dem mehrere 100 m tiefer liegen-
den unteren Odädahraun ab, welches wir hier als erste
bis zu dem am Rande der Lavawüste liegenden Gehöft
Svartärkot durchzogen. Von hier aus unternahmen
wir einige Ausgrabungen in den Ruinen der seit vielen.
Jahrhunderten verlassenen Ansiedelungen Hrauntunga
und Sandmüli. Etwa 25 Funde aus Stein, Knochen,
Eisen und Kupfer schickten wir dem Altertumsmuseum
Abb. 2. Thoroddsenstindur, höchste Spitze der Dyngjufjöll.
Goldstein: Zur Ethnographie der Juden.
311
in Reykjavík. Durch den Öxnadalur
zogen wir zum inneren Hoch-
land zwischen dem oberen Skjálf-
andafljöt und Vatnajökull, be-
stiegen den großen Schildvulkan
Trölladyngja und hatten bei
vorzüglich heller Witterung einen
außergewöhnlich guten Überblick
über das weite Gebiet vom Hofs-
jökull zum Vonarskard und den
Nordrand des Inlandeises Vatna-
jökull bis zu den Kverkfjöll. Nach
Rückkehr nach Svartárkot zogen
wir zu den Dyngjufjöll mit dem
über 50 qkm umfassenden Riesen-
kessel Askja. Wir durchforschten
zunächst den bisher ganz un-
bekannten Dyngjufjalladalur,
der etwa 300m zwischen Tuff-
wänden ansteigt und von einem
Lavastrom durchflossen wird. Von
der oberen Talmündung kletterten
wir über eine Paßhöhe, die wir
Sudurskörd nannten, von Süden in die Askja. Un-
weit unseres Zeltplatzes, genau im Süden des Knebelsees,
erhebt sich die höchste Bergspitze der Dyngjufjöll, die
wir zu Ehren des größten aller Islandforscher Thorodd-
senstindur nannten (Abb. 2). Im Südwesten des Ge-
birgsstockes fanden wir eine große Hochebene mit vielen
Kratern, großen Lavaströmen und mit ausgedehnten er-
loschenen Schwefelfeldern an den Randhöhen (Abb. 3).
Der Knebelsee (Abb. 4) hat seit 1908 sein Niveau nicht
Abb. 4. Knebelsee (Askjasee) mit Solfataren am Fuße des Thoroddsenstindur.
Abb.3. Lava auf der Hochebene im Südwesten der Dyngjufjöll.
verändert, doch sind große Stücke des Steilrandes ab-
gesunken. Die Solfataren im Süden sind unverändert
tätig. Der Wasserspiegel im Rudloffkrater hat sich be-
deutend erhöht.
Wir blieben vom 12. bis 19. Juli in der Askja,
durchforschten besonders ihren Westen und Süden
und einen Teil ihres Nordrandes, zogen auch nach
Süden weit über den Fuß der Dyngjufjöll hinaus in die
Wüste von Schlacken und vulkanischem Sande und
machten u. a. die ersten photo-
graphischen Aufnahmen vom Dyng-
juvatn, der Vadalda usw. Beim
Abstieg aus der Askja über den
Jönspaß entdeckten wir einen neuen
Paß, der von der Ebene im Norden
der Askja zum Lockstindur führt,
und nannten ihn Sigurdarskard.
Der höchsten Spitze der nördlichen
Dyngjufjöll, die von Svartärkot ge-
sehen als höchster Gipfel des Ge-
birges überhaupt erscheint, da von
dort der Thoroddsenstindur nicht
sichtbar ist, gaben wir den Namen
Häihnükur.
Am 25. Juli traf Dr. H. Speth-
mann in Akureyri mit uns zu-
sammen und zog sofort mit meinem
Sohne wieder ins innere Hochland;
ich verließ Island am 2. August,
während die beiden nach weiteren
erfolgreichen Unterguchungen am
Vatnajökull und im Odädahraun am
3. September ihre Heimreise an-
traten.
Zur Ethnographie der Juden.
Von Ferdinand Goldstein.
Robert Hartmann sagte: Wenn nichts hilft, wird das
Semitentum herbeigezogen, sei es auch mit den Haaren,
oder: Wo Begriffe fehlen, da stellen Semiten zur rechten
Zeit sich ein; und an einer anderen Stelle nennt er die
semitische Rasse einen alten Schwindel. Das ist ganz
richtig. Semiten und semitische Rasse sind Worte ohne
Inhalt; da aber die Menschen glaubten, den Worten
müßten auch die Sachen, in diesem Fall also die Völker
entsprechen, sind sie auf verhängnisvolle Irrwege ge-
raten. Heute sind die Worte spurlos aus der Völker-
kunde verschwunden wie einst das Phlogiston aus der
Chemie, und nur in der Politisch- Anthropologischen
40*
312
Goldstein: Zur Ethnographie der Juden.
Revue und ähnlichen Organen mögen sie sich ihres alten
Ansehens erfreuen, weil ohne ihr Dasein die Dogmen
nicht „stimmen“. Außerdem herrschen sie natürlich in
der Theologie, die ja ganz auf inhaltleeren Worten beruht.
Es hatten sich viele vortreffliche Männer bemüht, die
Wissenschaft von der „semitischen Rasse“ zu befreien.
Hartmann habe ich schon zitiert, Bastian nannte sie ein
Nebelgebilde unserer Denkoperationen, Pott und Stein-
thal haben die Sprachrassen niemals anerkannt, Barth
erklärte es für abgeschmackt, von semitischen und ku-
schitischen Völkern ohne Berücksichtigung der Haussa
zu sprechen, und Ratzel nannte die semitische Rasse wie
andere Sprachrassen nicht nur wertlos, sondern verwerf-
lich; aber sie hatten keinen Erfolg, da ihre Lehren gegen
die Mode verstießen, und diese in inexakten Wissen-
schaften weit mächtiger ist als die Vernunft. Erst nachdem
ich den Beweis erbracht hatte, daß man in dem Begriff
der semitischen Rasse zwei verschiedene Sinneseindrücke
vereint hatte, daß sie also dem gesunden Menschen-
verstande widersprach — kein Wunder, war ihre Mutter
doch die Theologie —, mußte man wohl oder übel den
falschen Begriff aufgeben !).
Man hat dem ehemals so teuren Requisit zünftleri-
scher Völkerkunde kein ehrenvolles Begräbnis zuteil
werden lassen, im Gegenteil, man hat es sang- und
klanglos verscharrt wie den Leichnam eines Verbrechers.
Daß es aber verscharrt ist, beweisen unwiderleglich die
beiden Antipoden Andree und Weißenberg, die sich
früher bei den Juden leicht in die Haare kamen, jetzt
aber auf demselben Boden stehen. Andree ist seit kurzem
zu der Überzeugung gekommen, daß die Juden somatisch
nahe Verwandte der Armenier sind; er meint, v. Luschan
sei der erste gewesen, der auf ihre große Ähnlichkeit
hingewiesen hat, erkennt ihm also die Priorität zu).
Das ist nun allerdings ein Irrtum, denn v. Luschan hat
seine Forschungsergebnisse auf der Anthropologenver-
sammlung zu Ulm im Jahre 1892 vorgetragen, während
v.Erckert in seinem bereits im Jahre 1888 erschienenen
Buche „Der Kaukasus und seine Völker“ auf die Ähn-
lichkeit der Juden mit den Völkern des Kaukasus auf-
merksam gemacht hat.
Es haben aber weder v. Erckert noch v. Luschan mit
ihren Lehren Eindruck machen können, weil ihnen die
semitische Rasse entgegenstand. v. Erckerts Buch ist
vor 22 Jahren erschienen, v. Luschan hat seinen Vortrag
vor 18 Jahren gehalten, dennoch wurden nach wie vor
die Juden zur semitischen Rasse gezählt, und auch An-
dree kann sich erst jetzt vorstellen, daß Juden und Ar-
menier verwandt sind3). Weißenberg hat durch ver-
schiedene Arbeiten bekundet, daß er auch in der wissen-
schaftlichen Ethnographie auf zionistischem Boden steht),
nach dem Sturz der semitischen Rasse durch mich
folgte er aber ohne ein Wort der Erklärung der neuen
Richtung, für die der Zionismus eine wunderliche Ver-
irrung ist, indem er die nahe somatische Verwandtschaft
der Juden mit den Kaukasiern „bewies“5). Ich muß
1) Siehe des Verfassers Arbeiten: „Politik, Staatswissen-
schaften und Ethnographie“ (Globus, Bd. 90) und „Die Her-
kunft der Juden“ (Globus, Bd. 91).
p, Globus, Bd. 92, 8. 147.
3) Ich muß hierzu noch bemerken, daß v. Luschan als
Kraniologe dem Schädel in seiner Beweisführung eine große
Rolle zuerteilt. Dieser hat aber schon lange seine Beweis-
kraft verloren, und durch die Boassche Publikation ist ihm
jede Bedeutung geraubt worden; indessen zur Zeit der Ulmer
Versammlung stand er noch in hohem Ansehen. Selbst wenn
daher v. Luschan der erste gewesen wäre, der die Verwandt-
schaft der Juden mit den kaukasischen Stämmen nachge-
wiesen hat, stände seine Beweisführung auf schwachen Füßen.
*) Globus, Bd. 92, 8. 261 ff.; Bd. 93, 8. 85 ff.
*) Globus, Bd. 97, S. 309 ff., S. 328 ff,
gestehen, daß mich diese stillschweigende Aufgabe eines
wichtigen wissenschaftlichen Grundsatzes höchlichst be-
fremdet hat, zumal Weißenberg von anderen peinlichste
Angabe von Quellen fordert.
Mir scheint jetzt das Wichtigste zu sein, das Gelehrten-
und Laienpublikum für die neue oder, wenn man will,
alte Erckertsche Lehre empfänglich zu machen. Daß
hier noch so viel zu leisten bleibt, liegt hauptsächlich
an den priesterlichen Irrlehren, die den Menschen in
früher Jugend beigebracht werden und dadurch so fest
mitihnen verwachsen, daß sie sich in reifen Jahren schwer
von ihnen losmachen können. Das zehnte Kapitel der
Genesis enthält die Völkertafel, eines der merkwürdigsten
und wertvollsten Dokumente längst versunkener Ver-
gangenheit. Sie ist so fein ausgearbeitet, daß Kiepert
der gewiß richtigen Meinung war, ihrem oder ihren Ver-
fassern müßten Karten vorgelegen haben £). Die Völker-
tafel sagt nun, Noahs drei Söhne Sem, Ham und Japhet
hätten nach der großen Flut Söhne gezeugt — von
Töchtern spricht sie nicht. Es unterliegt aber keiner
Frage, und auch der beschränkteste Theologe oder Phi-
lologe hat noch nicht bestritten, daß es sich hierbei
lediglich um biblische Sprechweise handelt, daß mit
den Söhnen Völker gemeint sind. Nach welchem Prinzip
sind aber die Gruppen zusammengestellt?
Ich darf hierbei wohl die naive Lehre, jeder der drei
Noachiden hätte ganze Völkerschaften in die Welt ge-
setzt, mit Stillschweigen übergehen. Damit wird aber
die philologische und anthropologische Zusammenfassung
schon stark erschüttert, und sie kommt in Wegfall durch
die Tatsache, daß der Bibel sprachliche oder somatische
Einteilungen unbekannt sind, daß sie dagegen ganz von
Religion und Religionspolitik beherrscht wird, diese sich
aber noch niemals um Sprache oder Körper gekümmert
hat. Für sie sind ganz andere Erwägungen maßgebend.
Mit sprachlicher Einteilung stimmt ja auch die Völker-
tafel gar nicht überein, und den Philologen, die ihre
Dogmen nicht aufgeben wollten, blieb nichts anderes
übrig, als sie stimmend zu machen. Die Völkertafel
zählt Kanaan zu den Söhnen Hams, die Philologen aber
brauchten Sem, also erklärten sie nach dem Grundsatz
interdum dormitat bonus Homerus: Hier liegt ein Irr-
tum vor; wir wissen es besser, Kanaan gehört zu Sem.
Lud (die Lyder) wird von der Völkertafel zu Sem ge-
zählt, die Philologen aber brauchten Japhet, also hat der
Verfasser der Völkertafel wieder geschlafen. Doch genug
hiervon; ich bin überzeugt, daß eine nahe Zukunft über
die Philologenrassen in unehrerbietiges Gelächter aus-
brechen wird. Aber ist es nicht auch sehr ernst, daß
für solch wertlose Gelehrsamkeit so viel Zeit und Geld
aufgewandt worden ist?
Der hohe Wert der Völkertafel wird jedenfalls erst
voll in Erscheinung treten, wenn sie den Händen der
Theologen und Philologen entrissen sein wird, denn ihre
Verfasser haben nicht geschlafen, sondern die Völker so
zusammengefaßt, wie sie zusammen gehörten, und ihr
Einteilungsprinzip war die Religion. Da diese in der
Bibel eine so große Rolle spielt, so ist es von vornherein
sehr wahrscheinlich, daß sie auch die Grundlage für die
Völkertafel abgegeben hat. Es läßt sich dafür aber auch
der positive Beweis erbringen 7).
¢) Alte Geographie, 8. 2. n
7) Im folgenden schöpfe ich aus meinem Vortrag: „Über
die Einteilung der mittelländischen Rasse in Semiten, Ha-
miten und Japhetiten“, den ich am 16. November 1901 in der
Berliner Anthropologischen Gesellschaft gehalten habe. Nach
seiner Beendigung erhob sich Herr v. Luschan und sagte,
daß über die Hamiten und Semiten ein so großes sprach-
liches und anatomisches Material vorliege, daß man meine
vagen Spekulationen (sic!) nicht brauche, und bezweifelte,
Goldstein: Zur Ethnographie der Juden.
313
Unter Religion verstand das Altertum die staatliche
Anerkennung eines bestimmten Gottes oder, richtiger,
Öbergottes und seine zwangsweise oder freiwillige Ver-
ehrung durch das Volk. Darin besteht auch bei uns
das Wesen der Religion. Jesus, Moses, Mohammed,
Brahma, Buddha sind moderne Götter, während das
höchste Wesen selber niemals verehrt wird, ja seine Ver-
ehrer, z. B. die Sozinianer, zwar nicht mehr heute, aber
doch vor verhältnismäßig kurzer Zeit mit den grausam-
sten Strafen bedroht wurden. Das muß zur Erleichte-
rung des Verständnisses besonders hervorgehoben werden,
da bei uns mit der Religion solch arger Mißbrauch ge-
trieben wird.
Sem, Ham und Japhet sind Götter gewesen. Von Ja-
phet ist dies längst bekannt, denn man hat seine Identität
mit dem griechischen Japetos erkannt. Die Titanen,
zu denen Japetos gehörte, versuchten die Götter
zu stürzen, d. h. sie waren religiöse Revolutionäre, und
sie müssen mit ihren Neuerungen auch zunächst Erfolge
gehabt haben, denn erst durch die Hilfe der Athene
konnten die alten Götter gerettet werden. Daher spricht
Horaz von dem audax Japeti genus. Japetos Sohn war Pro-
metheus, also wieder ein Halbgott und religiöser Neuerer,
der für seine Sünden an den Kaukasus geschmiedet
wurde. Die Länder um den Kaukasus sind aber die
Heimat der Japhetvölker. Worin ihr Kult bestand, wissen
wir nicht; da aber die der beiden anderen zu den sexu-
ellen gehörten, so werden wir schwerlich mit der An-
nahme fehlgehen, daß auch der Japhetkult mit geschlecht-
lichen Ausschweifungen verbunden gewesen ist.
Die Hamvölker, soweit sie identifiziert sind, hatten
eine religiöse Grundvorschrift, an der sie noch bis zu
dieser Stunde festhalten; das war die Beschneidung. Der
Grund, der zu dieser seltsamen Operation geführt hat,
ist uns unbekannt, wir wissen aber, daß sie eine priester-
liche Vorschrift war und ist. Man nimmt vielfach an,
und auch Herodot berichtet so, daß die Kanaanäer die
Beschneidung von den Ägyptern gelernt hätten. Ist das
richtig, so muß es in sehr früher Zeit, lange vor Moses
Kriegszügen geschehen sein, denn schon die Genesis er-
wähnt sie (Kap. XXXIV). Dort wird erzählt, daß Sche-
chem, der Sohn des Chiwiterfürsten Chamor, Jakobs
Tochter Dinah zum Weibe begehrte, daß man sie ihm
aber verweigerte, da er unbeschnitten war, daß sie ihm
jedoch unter der Bedingung zugesagt wurde, daß er sich
und seine männlichen Untertanen beschneiden ließe.
Außer Kanaan werden als Hamvölker noch Ägypten und
Äthiopien aufgeführt, ferner Put, das nicht mit Sicher-
heit identifiziert ist. Daß die Ägypter seit den ältesten
Zeiten die Beschneidung üben, ist bekannt, und von den
Äthiopen berichtet es Herodot: „Die Kolcher scheinen
mir Ägypter zu sein, und zwar wußte ich das, bevor ich
es von anderen gehört hatte. Da ich aber einmal dar-
über nachdachte, fragte ich beide, und dabei zeigte es
sich, daß sich die Kolcher besser an die Ägypter er-
innern als die Ägypter an die Kolcher. Die Ägypter
sagten, daß sie die Kolcher für Nachkommen der Armee
des Sesostris halten, und ich stimme ihnen bei, da sie
schwarze Haut und wolliges Haar haben. Das aber
will nichts bedeuten, denn auch andere sind so beschaffen.
Das aber ist von größerer Bedeutung, daß sich Kolcher,
Ägypter und Äthiopen seit alter Zeit die Schamglieder
daß mein Vortrag druckwürdig sei. Heute blicke ich mit
Stolz auf ihn, da er der erste exakt wissenschaftliche Ver-
such gewesen ist, die Ethnographie von dem Semitenschwindel
zu befreien, der allerdings erst mehrere Jahre später zum
vollen Erfolg geführt hat. Herr v. Luschan aber erklärt
jetzt selber Sprachrassen für ein Unding, freilich ohne zu
sagen, woher ihm diese Erkenntnis gekommen ist!
Globus XCVIII. Nr. 20:
beschneiden. Die Phöniker aber und die Syrer in Pa-
lästina stimmen darin überein, daß sie die Beschneidung
von den Ägyptern gelernt haben; die Syrer aber am
Thermodon und am Flusse Parthenios und die Makroner,
die diesen benachbart sind, behaupten, daß sie sie erst
vor kurzem von den Kolchern gelernt haben. Das sind
die einzigen Menschen, die die Beschneidung haben, und
diese scheinen sie den Ägyptern nachgemacht zu haben.
Ob aber die Ägypter oder die Äthiopen zuerst die Be-
schneidung gehabt haben, vermag ich nicht zu sagen,
denn sie scheint aus alter Zeit zu stammen“ (II, 104).
Alle Hamvölker hatten also eine gemeinsame religiöse
Grundvorschrift. Eine Gottheit Ham (hebr. Cham) kennt
die Überlieferung aber auch, nämlich die phallische Gott-
heit Chem, die namentlich in Oberägypten verehrt worden
ist. Von ihr wurde Ägypten auch Chemia genannt,
hiernach heißt die schwarze Kunst (die Kunst der
Schwarzen) Chemie ë), und an Chem muß die Völkertafel
denken, wenn sie die beschnittenen Völker unter Cham
zusammenfaßt.
Die Beschneidung ist viel weiter verbreitet, als die
Bibel weiß, selbst wenn man die „Enkelvölker“ Hams
mit berücksichtigt, von denen indessen viele nicht identi-
fiziert sind. Die Semvölker dagegen waren unbeschnitten,
und dies allein hätte den Gelehrten Bedenken verursachen
sollen, die Kanaanäer zu ihnen zu zählen. Sie können
als Entschuldigung nicht unsere geringen Kenntnisse
von diesen Ländern vor der großen Entfaltung der As-
syriologie anführen, denn aus der Bibel konnten sie sehen,
daß Abram°), der aus dem Lande der Semvölker (Ur-
Kasdim) stammte, bei seinem Einmarsch in Kanaan un-
beschnitten gewesen ist und sich erst nach langjährigem
Aufenthalte daselbst mit seinem Anhange beschneiden
ließ (1. Mos., Kap. XVII). Diese positive Nachricht ist
wichtiger als das Fehlen jeglicher Spur der Beschneidung
bei den Babyloniern und Assyrern, denn ex silentio non
concluditur. Eine Gottheit namens Sem (hebr. Schem)
war im Euphrat-Tigrisgebiet wohlbekannt, es war der
Gott Samas (hebr. Schemesch). Die Philologen behaupten,
die semitischen Sprachwurzeln seien triliteral, die ari-
schen diliteral. Aber diese Lehre ist von Delitzsch längst
erschüttert worden, und die uralten hebräischen Wörter
2x, Ð$, Ex, 72 sind diliteral. Aber gesetzt, die Lehre
wäre richtig, so müßte aus ihr gefolgert werden, daß
Sem (ow) und natürlich auch Ham (on) fremde Namen,
die entsprechenden Götter also aus anderen Ländern ein-
geführt worden sind. Da nun der Sonnengott der Ba-
bylonier, Samas, in den hebräischen Sprach- und Kult-
schatz übergegangen ist, so hat man die Frage zu stellen,
ob Schemesch zu Schem verkürzt werden kann. Sie ist
zu bejahen, denn der Perserkönig Kyros (hebr. Koresch)
hatte seinen Namen vom Flusse Kyros, und dieser er-
scheint in der Bibel als Kir 2°), heute Kur. Aber man
braucht solche Kunstgriffe gar nicht anzuwenden, denn
das hebräische Schemesch ist aus einer Verdoppelung von
Schem entstanden, hieß also ursprünglich Schemschem
und steht demnach mit Schem in innigstem Zu-
sammenhange 11). Als Sem- oder Samasvölker nennt die
Völkertafel Elam, Assur, Arpachsad, Lud (Lyder) und
Aram. Von diesen kennen wir die Elamiten, Assyrer
und Lyder, Arpachsad ist unsicher, und aus Aram hat
man das Volk der Aramäer konstruiert. Aber noch nie-
®) Ladenburgs Handwörterbuch der Chemie, Artikel
Chemie.
°) So ist ursprünglich sein Name gewesen, erst nach
langjährigem Aufenthalt in Kanaan wurde er zu Abraham
korrumpiert. À
10) Jesajas XXII, 6; Amos IX, 7.
11) Fürst, Hebräisches Lexikon WY.
41
314
Goldstein: Zur Ethnographie der Juden.
mand hat ihr Gebiet angegeben oder etwas von ihrer Ge-
schichte erzählt, sie sind ein Wort wie die „semitische
Rasse“. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß
mit Aram die Armenier gemeint sind, denn Strabo sagt,
daß die Armenier auch Aramäer heißen 12), und Moses
von Chorene, der Geschichtschreiber Armeniens, sagt,
daß, da König Aram mächtig und berühmt geworden
war, alle Völker um uns herum unser Gebiet, wie allen
bekannt ist, nach seinem Namen nennen bis auf diesen
Tag 13). Ob das geschichtlich wahr ist, ist ohne Bedeu-
tung, wesentlich ist dagegen, daß man damals allgemein
Aram und Armenien identifizierte. Bei den Assyrern
und Babyloniern herrschte die Sitte, daß sich die Frauen
zu Ehren der Gottheit prostituieren mußten, und bei
den Armeniern (Strab., p. 532) und Lydern (Herod. I,
93) war es ebenso. Hierin muß also das Wesen des
Sem- oder Samaskults bestanden haben. Allerdings ist
überliefert, daß sich die Babylonierinnen zu Ehren einer
weiblichen Gottheit preisgaben, aber welcher Ethnograph
weiß es nicht, daß beim Import eines neuen Gottes fast
immer nur der Name wechselt, der Inhalt des Kults aber
derselbe bleibt. Die priesterlichen Lehren bestehen eben
immer in inhaltleeren Worten. Die Prostitution der Frauen
des Volkes werden die Sempriester sicher nicht aufgegeben
haben, denn sie lieferte ihnen selbst erstens soviel Weib-
lichkeit, wie sie nur haben wollten, und zweitens mußte
das einlaufende Geld an die Tempelkasse abgeliefert
werden, bildete also eine reich fließende Einnahmequelle.
Und auf etwas Anderes wie auf Weiber und Geld sind
die tatsächlichen, hinter den inhaltleeren Worten sich
verbergenden Absichten priesterlicher Regierungen nie-
mals gerichtet.
So ruht also die Völkertafel auf religionspolitischer
Einteilung. Aus der Gemeinsamkeit der Religion darf
nun aber nicht ohne weiteres auf gemeinsame Natur ge-
schlossen werden. Wenn aber gemeinsame religiöse Vor-
schriften so fest im inneren Wesen politisch getrennter
Völker wurzeln, daß sie sich jahrtausendelang erhalten,
ja unausrottbar sind, so liegt doch die Vermutung nahe,
daß hier anthropologische Gründe vorliegen müssen, und
da Ägypter und Äthiopen zu den dunkelfarbigen Rassen
gehören, so werde ich im folgenden untersuchen, ob die
Urbevölkerung Palästinas ebenfalls dunkelfarbig ge-
wesen ist 14).
Ich könnte mich als Beweis dafür gleich auf die
Adamsage berufen, unterlasse es aber, da sie sicher nicht
in Palästina heimisch ist. Ich will indessen, um das
Verständnis für das Folgende zu erleichtern, erwähnen,
daß man in Babylonien zwei verschiedene Rassen unter-
schied, von denen die Adamu dunkelfarbig, die Sarku
hellfarbig waren. George Smith sagt darüber: „Schon
Sir Henry Rawlinson hat darauf aufmerksam gemacht,
daß die Babylonier zwei Hauptrassen unterschieden: die
Adamu oder die dunkle Rasse und die Sarku oder die
helle Rasse, wahrscheinlich in gleicher Weise wie auch
die Genesis zwei Rassen erwähnt, die Söhne Adams und
die Söhne Gottes (6, 1—4). Aus den Fragmenten der
Inschriften geht beiläufig hervor, daß die Rasse Adam,
die dunkle Rasse, für die gefallene galt; welche Stellung
18) Übersetzung von Lauer, 8. 29.
“) Die Kanaanäer hatten allerdings Herodot gesagt,
sie hätten die Beschneidung von den Agyptern empfangen,
aber es ist ja leicht erklärlich, wie sie dazu gekommen
waren. Zur Zeit von Herodots Reisen herrschte in Palästina
das mosaische Gesetz, und alle geltenden Sitten und Vor-
schriften wurden auf Moses zurückgeführt, der aus Ägypten
stammte. Von Moses aber stammte die Beschneidung in
Kanaan sicher nicht, wie ich vorher nachgewiesen habe.
n Edit. Casaub, p. 41 f.
dagegen die andere im babylonischen System eingenommen
habe, dafür fehlen uns zurzeit noch die Anhaltspunkte.
Aus der Genesis (Kap. 6) erfahren wir, daß, als die Welt
verderbt ward, die Söhne Gottes und die Rasse Adams
sich untereinander verheirateten, und daß sich so das
Sittenverderben verbreitete, welches bei den Adamiten
seinen Anfang genommen hatte“ 15),
Muß ich auf der einen Seite auf die Benutzung der
Adamsage, so verlockend sie für mich ist, verzichten, so
kennt die biblische Überlieferung auf der anderen Seite
den Volksstamm Edom, der sicher historisch ist und das
genaue Analogon zu den Adamu der Babylonier bildet.
Die Namen Adam und Edom werden mit denselben Ra-
dikalen geschrieben (27x), und erwägt man, daß die äl-
teste hebräische Schrift nur die Konsonanten schrieb, so
kann man gar nicht unterscheiden, ob von Edom oder
Adam die Rede ist; der verschiedenen Vokalisation haben
wahrscheinlich dialektische Verschiedenheiten zugrunde
gelegen. Edom bedeutet rot, ist also gleichwertig mit
gomë der Griechen, und Adam bedeutet auch rot. Das
wissen wir einmal von der babylonischen Überlieferung,
dann aber auch von Josephus (Antiq. I, 1, 2). Noch
heute trägt das Rote Meer seinen Namen von einem
roten Volksstamm 16). Spuren einer alten Edomiterherr-
schaft in Kanaan haben sich bis in historische Zeit er-
halten. Am östlichen Jordanufer, westlich von Zortau,
lag eine Stadt Adam ox. (Jos. III, 16), Maaleh Adum-
mim (ogg m5sn) lag gegenüber von Gilgal (Jos. XV, 7),
und Adami Hannekeb (2pm a8) war Grenzstadt Na-
phtalis (Jos. XIX, 33). Noch heute lebt bei Riha (Jericho)
ein besonderer Stamm, der dunklere Hautfarbe hat, als
man sonst bei den Beduinen oder Fellachen aus der
höher gelegenen Landschaft bemerkt. Sie sind die ein-
zigen Menschen, welche während des ganzen Jahres im
Jordantale leben und sich dem erschlaffenden Einfluß
des heißen Klimas aussetzen. Denn die Fellachen des
Gebirges kommen nur im Herbst und Winter herab, um
das Land anzubauen, und die Beduinen ziehen nur im
Frühling hierher, um ihre Herden auf die Weide zu
führen 17). Nach Burckhardt gibt es nicht nur einen
einzelnen dunkeln Stamm, sondern ist ganz Westpalästina
den Ägyptern ähnlicher als den nördlichen Syrern 18).
Von großer Wichtigkeit ist, daß König David, der
nicht aus der Priesterklasse, sondern aus dem Volk
stammte, rot gewesen ist (1. Sam. XVII, 42). Man hat
dem christlichen und jüdischen Europa diese „Schande“
ersparen wollen und daher behauptet, die Bibel spreche
von roten Haaren. Aber der hebräische Urtext schreibt
os, das mit oN zusammenhängt, die Septuaginta mvg-
6axns und die Vulgata rufus, nirgends ist also von
Haaren die Rede. Tacitus meldet, daß die Juden von
den meisten für Nachkommen der Äthiopen gehalten
werden, die von König Kepheus vertrieben worden sind
(Hist. V, 2), mit dem Begriff Äthiopien aber verband
das Altertum regelmäßig die dunkle Hautfarbe wie wir
mit dem des Mohren.
1$) George Smiths Chaldäische Genesis. Deutsch von
Hermann Delitzsch. 8. 81 f.
16) So Niebuhr, Reisen in Arabien, 8.417 f.; Knobel, Die
Völkertafel der Genesis, 8.135. Das Rote Meer mag an der
Küste infolge von Algen etwas rötliches Wasser haben, aber
in anderen Meeresteilen ist das ebenso, ohne daß sie des-
wegen rote Meere genannt werden. Noch niemand aber hat
gesehen, daß der gesamte Meeresteil zwischen Afrika und
Arabien rotes Wasser hat. Seine Name bedeutet vielmehr
Meer der Roten, und analog Schwarzes Meer Meer der
Schwarzen, Gelbes Meer Meer der Gelben.
17) Ebers und Guthe, Palästina in Bild und Wort, Bd. I,
8. 186.
18) Reisen in Syrien, Palästina und der Gegend des
Berges Sinai, Bd. II, 8. 588.
Goldstein: Zur Ethnographie der Juden.
Bei diesen zahlreichen Zeugnissen tritt die bekannte
Überlieferung der Falascha, sie seien die nächsten Ver-
wandten der antiken Juden, in ein neues Licht, ebenso
Merkers Meinung, die Massai seien Verwandte der Juden.
Aber nicht nur diese zwei, viele Stämme Afrikas werden
sich bei objektiver Prüfung als Rasseverwandte der pa-
lästinensischen Urbevölkerung erweisen, und hätte man
sich nicht von allen möglichen Rücksichten leiten lassen,
sondern wäre der treuen Überlieferung der Bibel gefolgt,
so wäre man darüber schon lange im klaren, denn sie
stellt die Kanaanäer mit den Ägyptern und Äthiopen zu-
sammen, zwei notorisch dunkelfarbigen Stämmen.
Außer dunkelfarbigen Stämmen gab es in Kanaan
auch gelbe, denn Bochart, auf den Talmud gestützt, sagt,
die Juden wären nicht schwarz und nicht weiß, sondern
buchsbaumfarben (gelb) gewesen !?). Man täte unrecht,
dieser Überlieferung zu mißtrauen, denn noch heute
leben in Arabien gelbliche Sabäer neben dunkelfarbigen
Himjaren 2°).
Der Anthropologe legt auf den Unterschied des gelben
und dunkeln Kolorits wenig Gewicht, da beide inein-
ander übergehen können; für den Ethnographen aber
liegen die Dinge anders. Denn da das Kolorit von dem
Einfluß des Lichtes und der Sonne abhängt, deren Wir-
kung aber größer oder kleiner ist, je nachdem der Mensch
mehr oder weniger im Freien lebt, also ihrer Wirkung
ausgesetzt ist, so enthält die Hautfarbe wichtige Finger-
zeige für die Beschäftigung und soziale Stellung der
verschiedenfarbigen Menschen, die für den Ethnographen
von großer Bedeutung sind. In überzeugender Weise
hat Virchow dies am weiblichen und männlichen Ge-
schlecht in Ägypten nachgewiesen, von denen ersteres,
da mehr im Hause lebend und dem Einfluß der Sonne
daher mehr entzogen, auf den Malereien zart gelb er-
scheint, während der mehr im Freien lebende Mann
dunkel ist.
Auf diese farbige Grundbevölkerung hat sich eine
zweite aufgepfropft, die aus dem Euphrat-Tigrisgebiet
stammte. Die Bibel knüpft dieses Ereignis an den
Namen Abrams. Es ist mir allerdings zweifelhaft, ob
dies die erste Eroberung Palästinas von Norden her ge-
wesen ist, sicher aber ist es die erste historisch beglaubigte.
Die Mythologen allerdings, die sich den Theologen und
Philologen zur Verdunkelung des Altertums würdig an-
geschlossen haben, behaupten, Abraham sei eine mythi-
sche Figur. Gewiß, die Sage hat ihren Schleier um ihn
gesponnen wie um viele andere große Männer der Ge-
schichte; daß seinem Heereszuge aber eine Tatsache zu-
grunde liegt, beweist unwiderleglich das 14. Kapitel der
Genesis, in dem sein erfolgreicher Krieg gegen Kedor-
laomer, König von Elam, erzählt wird, dessen Dynastie
durch die Inschriften festgestellt ist. Fraglich bleibt es
indessen, ob die Bibel von einem einzelnen Menschen
namens Abram spricht, oder von einem Volksstamm oder
doch einem Volkshaufen. Wir haben zuvor gesehen, daß
die Völkertafel von Stämmen wie von einzelnen Menschen
spricht, und etwas Ähnliches kann bei Abram vorgelegen
haben. Indessen ist dies von viel geringerer Bedeutung,
als es auf den ersten Blick scheinen möchte; denn es
handelt sich bei der Abramüberlieferung nicht um die
Taten eines einzelnen Menschen, sondern um die eines
geschlossenen Volkshaufens.
Die Bibel, die für alles ein göttliches Geschichtchen
haben muß, erzählt, Abram habe vom Ewigen die Wei-
sung erhalten, mit seinem ganzen Hause sein Geburts-
land zu verlassen, und habe darauf das ganze Land bis
19) Bei Knobel, Die Völkertafel der Genesis, S. 136.
2) v. Maltzahn, Zeitschrift für Ethnologie, Bd. V, 8. 60f.
315
Schechem (Sichem in Kanaan) durchzogen. Diese Über-
lieferung mag ja recht gut für die Kinderstube passen,
in der Wirklichkeit aber verlaufen historische Ereig-
nisse anders. Für den einzelnen hat die Weltgeschichte
keinen Raum; er mag vortreffliche Ideen haben; wenn
es ihm aber nicht gelingt, Anhang zu gewinnen, geht er
mit seinen Ideen spurlos zugrunde. Abram hatte seinen
Anhang, und zwar bestand er in einer gewaltigen Armee;
wie hätte er sonst die mächtigsten Fürsten jener Zeit
schlagen können! Die Bibel spricht allerdings nur von
318 Waffengeübten, den Eingeborenen seines Hauses
(1. Mos. XIV, 14), nehmen wir aber Josephus zu Hilfe,
so erfahren wir, daß mit den 318 Waffengeübten Ober-
befehlshaber gemeint sind, von denen jeder eine große
Schar unter sich hatte (Bell. jud. 5, 9, 4). Es mag da-
hingestellt bleiben, ob die Zahl stimmt, es ist auch gleich-
gültig, ob seine Armee gleich beim Auszug aus Urkasdim
so groß war wie in Kanaan, hier war sie jedenfalls so
bedeutend, daß er die Fürstenliga schlagen konnte,
und konnte er das, konnte er auch das Land unter-
jochen.
Das tat er aber zunächst nicht; denn als der König
von Sodom ihm Besitz anbot, lehnte er diesen ab. Später
aber wurde ‘er heimisch, erwarb Grundbesitz, nahm die
Beschneidung an und wandelte seinen Namen in Abra-
ham um. Das ist indessen alles nicht so wörtlich zu
nehmen, es ist ja auch für die Politik ganz gleichgültig,
ob er eine Vorhaut hatte oder nicht, Abram hieß oder
Abraham, wesentlich ist dagegen, daß aus dem Bericht
hervorgeht, daß die Auswanderer aus Ur-Kasdim in
Kanaan festen Fuß faßten.
Der Grund, der sie aus ihrem Heimatlande fort-
getrieben hatte, war religionspolitischer Natur. Josephus
erzählt darüber: Abraham lehrte zuerst, daß es nur einen
Weltschöpfer gäbe, und daß, wenn einer von den übrigen
etwas zur Glückseligkeit beitrage, es auf seine An-
ordnung und nicht aus eigener Kraft geschähe. Er ver-
glich dies mit den Unglücksfällen zu Wasser und zu
Lande und dem Lauf der Sonne, des Mondes und der
Gestirne. Da ihnen Kraft innewohne, so sorgten sie für
ihre eigene Ordnung; es sei aber offenbar, daß ihre Kraft
gering sei, und daß sie nicht sowohl aus eigenem Willen
zu unserem Glücke beitrügen als vielmehr auf Befehl
des Höchsten, den man daher allein verehren müsse. Da
deswegen die Chaldäer einen Aufstand gegen ihn machten,
hätte er das Land verlassen müssen (Antiq. 1, 7, 1).
Im ganzen hat die Geschichte Abrams die größte Ähn-
lichkeit mit der Mosis. Hier wie dort Volksbeunruhigung,
hier wie dort bewaffneter Auszug, Eroberungen und zu-
letzt Herrschaft in Kanaan. Ob Abram oder Moses histo-
rische Persönlichkeiten gewesen sind, ist ohne jede
Bedeutung. Sie sind welche gewesen, ich kenne wenig-
stens keinen Grund, der dagegen spricht; aber gesetzt,
sie hätten nicht gelebt, oder sie wären kurz nach ihrem
ersten politischen Auftreten gestorben oder umgebracht
worden, so hätte die Weltgeschichte doch denselben
Lauf genommen. Unsere Zeit legt so großen Wert auf
Personen und vergißt vollständig, daß eine neue Volks-
bewegung nur ins Leben treten kann, wenn die Bevölke-
rung für die neuen Ideen aufnahmefähig ist. Ist dies
der Fall, so mag ihr Schöpfer sehr bald verschwinden,
es treten dann andere an seine Stelle und unterhalten
die Bewegung; ist das Volk dagegen nicht aufnahme-
fähig, so verschwinden die neuen Gedanken sehr bald,
auch wenn ihr Schöpfer am Leben bleibt. Es ist also
eine ganz müßige Frage, ob Abram gelebt hat oder nicht;
denn Tatsache ist, daß ein bewaffneter Haufe, der sich
Abram nannte, aus Ur-Kasdim ausgezogen ist und be-
stimmend in die damalige Politik eingegriffen hat.
4l*
316
Banse: Die geographische Bedeutung der Araber.
Der Weg, den der Eroberungszug aus dem fernen
Osten nahm, muß, um nach Kanaan zu gelangen, durch
das heutige Armenien gegangen sein; es gibt keinen an-
deren, da die Wüste für ein Heer oder einen Volkshaufen
unpassierbar ist. Armenien muß daher unterworfen oder
verbündet gewesen und geblieben sein. Wäre es anders
gewesen, so wären die Verbindungen mit dem Osten
unterbrochen gewesen, die aber tatsächlich fortbestanden,
wie die Brautwerbung um Rebekka beweist. Welches
die Heimat der schönen Erzählung sein mag, ist für die
vorliegende Darstellung ohne Bedeutung, wesentlich ist
aber, daß aus ihr hervorgeht, daß erstens die Vornehmen
unter den Eroberern keine ehelichen Verbindungen mit
den Eingeborenen eingegangen sind, und zweitens, daß
von Kanaan aus ungehindert eine große offizielle Ge-
sandtschaft nach dem Osten geschickt werden konnte.
Dies war aber nur möglich, wenn die Eroberer in freund-
schaftlichen Beziehungen zu Armenien und seinen Nach-
barstaaten standen, und wenn dies der Fall war, so
konnten auch umgekehrt die Armenier in Beziehungen
zu den Kanaanäern treten. Und dies haben sie nicht
nur oberflächlich getan, sondern sie haben sogar im
Norden ihres Landes politisch festen Fuß gefaßt, wie
unwiderleglich die Bezeichnung von Damaskus als Aram
Damaskus beweist?!). Wie stark sie von hier aus die
farbige kanaanäische Grundbevölkerung beeinflußt haben,
geht aus der Mythologie der Genesis hervor, die von der
des Nordens untrennbar ist. Da auf diesem Gebiet aber
ein fürchterlicher Wirrwarr herrscht, würde ich meine
eigenen Forschungen nur gefährden, wenn ich mich hierher
begäbe. Ich erwähne daher nur, daß für die Noahsage
der Bibel, auf deren eigentlichen Ursprungsort ich nicht
eingehe, Armenien das unmittelbare Stammland gewesen
sein muß; denn die Bibel sagt selbst, daß der Kasten auf
den Bergen des Landes Ararat hangengeblieben sei.
Das Fazit meiner Untersuchung ist also, daß Ka-
naan von einer farbigen Urbevölkerung bewohnt gewesen
ist, und daß diese von einer direkt vom Norden, indirekt
vom Osten stammenden Bevölkerung unterjocht worden
ist. Das ist an sich so wahrscheinlich, daß es der ganzen
religiösen Befangenheit bedurft hat, um es zu ver-
kennen. Denn die Verwandtschaft der Araber mit den
Einwohnern Kanaans ist noch niemals bestritten worden,
und die Himjaren Arabiens sind dunkel, zum Teil sogar
sehr dunkel, und die Sabäer sind gelb. ‚Daß ferner von
Osten her das Land erobert worden ist, beweist die Über-
lieferung von Abram, und daß die Armenier hingekommen
sind, zeigt der Name Aram Damaskus. Endlich spielen
die Hethiter (Cheta) unter den Völkern Kanaans eine
21) Ich vermute sogar, daß Abram nichts anderes wie
Aram bedeutet, daß also der Abramzug der Eroberungszug
der Armenier gewesen ist. Denn Abram wird mit denselben
Radikalen geschrieben wie Aram, enthält nur ein 2 mehr;
der Ausfall eines solchen ist aber nicht ohne Beispiel: "W35N
(4. Mos. XXVI, 30) heißt auch “t?"2x (Jos. XVII, 2).
große Rolle, und dieses große Eroberervolk des fernen
Altertums war den Armeniern somatisch nahe verwandt.
Da es demnach erwiesen ist, daß Armenier und ar-
menische Völker in Kanaan eingedrungen sind, und daß
andererseits die heutigen Juden nahe Verwandte dieser
Völker sind, so begreift sich auch, warum die Lehre, die
heutigen Juden stammten aus Kanaan, so viel Wahr-
scheinlichkeit für sich hatte: die Juden sind mit einem
Teil der alten Bevölkerung Kanaans verwandt, nur
stammen sie nicht aus ihrem Lande, sondern haben
ein gemeinsames Stammland mit dem einen Teil der
antiken Kanaanäer. Aber gleichzeitig sieht man dar-
aus auch, wie gefährlich es in der Ethnographie ist,
mit politischen Begriffen zu operieren. Es gibt kein
Volk, das nur aus einem einzigen Stamm zusammen-
gesetzt ist, alle bestehen aus einem Konglomerat von
vielen, und daher kann es der exakten Wissenschaft
nicht genügen, daß, um die Verwandtschaft zweier Völker
nachzuweisen, diese oder jene Übereinstimmung hervor-
gehoben wird, sondern der Stamm muß aufgesucht und
mit seiner Hilfe die Verwandtschaft ermittelt werden.
Die Stämme sind die Individuen, mit denen die Ethno-
graphie zu arbeiten hat, während die Bedeutung der Per-
sonen in dem Einfluß besteht, den sie auf die Stämme
oder Volksabteilungen gewinnen.
Erwägt man nun aber, daß die Juden Verwandte der
Armenier sind, und daß Aram von der Völkertafel zu
Sem gerechnet wird, so behalten lächerlicherweise die
Fanatiker, die immer behaupten, die Juden seien Se-
miten, doch recht; nur darf man nicht so töricht sein,
dem Sohne Noahs eine solche Zeugungskraft zuzuschreiben,
daß er vielen Millionen Menschen das Leben gab, oder
den Verfassern der Völkertafel anthropologische oder
ethnographische Kenntnisse zuzumuten. Vielmehr muß sich
in unserem Volk die Erinnerung erhalten haben, daß die
Armenoiden in Europa, die die Beschneidung angenommen
hatten und sich Juden nannten, ursprünglich den Sa-
maskult gehabt haben, und sie wurden daher mit Fug
und Recht Semiten genannt. Dann aber bemächtigte
sich die Demagogie der Sache, machte aus der Religion
eine Rasse, und diese fand später Eingang in die Wissen-
schaft. Bei den polnischen und russischen Juden wird
man sich vermutlich am besten Aufschluß über noch
vorhandene Reste des alten Samaskultes holen können,
denn sie wohnen von allen Juden den Armeniern am
nächsten, haben die Tradition am reinsten erhalten und
beweisen schon durch ihre Zahl, daß die übrigen Juden
Europas von ihnen herzuleiten sind. Bei manchen kau-
kasischen Stämmen, auch bei den Armeniern, hat sich
der alte Sonnenkult erhalten, und bei den Tscherkessen
findet man sogar Spuren der heiligen Prostitution; denn
bei Leichenbegängnissen vornehmer Herren wird ein junges
Mädchen von den männlichen Leidtragenden defloriert 22).
2) v. Klaproth, Reise in den Kaukasus und Georgien,
Bd. I, 8. 603.
Die geographische Bedeutung der Araber.
Von Ewald Banse. Braunschweig.
Mit einer Karte.
Zeichnet man eine Karte der Verbreitung des Isläm,
so ergibt sich als das Mittelstück der so enstandenen
westöstlich gestreckten unregelmäßigen Ellipse das Halb-
inselland Arabien, eben die Wiege dieser Religion. Es
liegt nahe der Scheide der beiden innerislämschen Gesell-
schaftskreise, ‘des orientalischen und indomalaiischen,
doch aber völlig jenem angehörend, was sich schon durch
das Fehlen seiner Bewohner in dem letzten Bezirk dar-
tut. Deshalb beschränken sich die Einflüsse der Araber
jenseits der orientalischen Ostgrenze auf die Lieferung
Banse: Die geographische Bedeutung der Araber.
317
(nicht einmal die Einführung!) ihrer Gottesidee, von
anthropologischer Beeinflussung aber ist keine Rede.
Vielmehr klafft eine tiefe Cäsur zwischen dem islämschen
Westen und Osten. Der indoislämschen Baukunst z. B.
fehlt jeder Zusammenhang mit der orientalischen. Die
Sunni und Schii Indiens haben nicht wenige religiöse
Anschauungen und Bräuche der sie in sechsfacher Über-
macht umgebenden Hindu übernommen, während die
Mohammedaner des Orients, im Schutz ihrer weit über-
ragenden Mehrzahl, von den unter ihnen geduldeten Un-
gläubigen nicht im geringsten sich berühren ließen. So
ist der Isläm im Westen seines Bereichs der ausschlag-
gebende Faktor, der Alleinherrscher, im Osten aber nur
ein Bruchteil!
bewaldeten Flecke3) treten vor der anderen Vegetations-
form völlig in den Hintergrund, sie entsprechen pflanzen-
physiologisch genau den Oasen der ebeneren Regionen.
Beweist nun die Tatsache der Verbreitung an sich (der
handgreiflichste, der geographischste aller geographischen
Faktoren) nicht am besten die genetische Gebundenheit
des Isläm an die Steppe!! Denn auch in Indien, Nord-
china, ja selbst auf den Malaieninseln hausen die
Mohammedaner vorwiegend auf Grasfluren +4).
Andererseits hat bezeichnenderweise das Meer die
Verbreitung des grünen Banners wenig gefördert. In
der Hauptsache kam sein Wellenrücken ihm zugute nur
nach der Küste Ostafrikas und nach den südasiatischen
Inseln, also nach Gegenden, die für die Gesamtausbildung
Die Stellung Arabiens und der Araber im Bereich des Islâm. Von Ewald Banse.
IE Vorwiegend Mosslmin.
\W\ Vorwiegend Semiten.
Es ist klar, daß die Lage Arabiens die Ausbreitung
des Islâm und deren Richtung in erster Linie bestimmt
hat. Als Kind der Steppe — auf Steppenwegen er-
sonnen, von Steppensöhnen zuerst übernommen und in
die Fremde getragen — wanderte dieser Glaube mit
Kamel und Pferd über die Landschaft der dürftigen
Krautnarbe, wie er heute noch vorwiegend auf sie be-
schränkt ist. Denn die breite Nordhalbe Afrikas bis
über den 10. Parallel hinaus (im Osten viel weiter) ist
ein ungeheurer Steppenraum ?), wie auch der allergrößte
Teil des Asiatischen Orients und die beiden Turkestan.
Sind doch gleichfalls der Atlas, Anatolien, Armenien und
Iran durchaus Steppen- und nicht Waldgebiete, d.h. die
1) Die in Vorderasien erst der Türke Mahmüd von
Rasna bewirkte (1000 u. Z.).
) Die Wüsten rechnen hierbei nicht, da sie ja völlig
unbewohnt sind.
rn - Landgrenzen des Orients.
.gation.
USW Die altorientalischen Kulturzentren.
und den Gesamtbestand der mosslimschen Kulturgruppe
nur von geringem Wert sind. Dieser kontinentale
Charakter ist ferner der schwerstwiegende Grund für
2) Wälder in unserem Sinne gar kann man fast zählen.
4) Der Historiker C. H. Becker im Hamburg glaubt
diesen naturbedingten Schluß als „geographisches Schlagwort“
abtun zu können und begreift als Hauptfaktoren des isläm-
schen Einheitbegriffs einheitliches Bekenntnis, einheitliches
politisches Ideal und in der Hauptsache einheitliche Zivili-
Nun, mit dem einheitlichen politischen Ideal sieht
es (und sah es immer) mehr wie windig aus, da für einen
derartigen Faktor zweiter Ordnung der Schauplatz denn doch
zu mannigfaltig differenziert ist, und die in der Hauptsache
einheitliche Zivilisation ist doch selber nur Folge und nicht
Ursache. Und zwar geographische Folge, die außerdem
nicht einmal durchweg zutrifft, denn zwischen einem Marok-
kaner oder Targi und einem Insulaner von sagen wir Timor
dürfte eine himmelweite Kluft gähnen. Ach nein, der Boden
läßt sich noch immer nicht beiseite schieben. Er, der Magen
und der Geschlechtstrieb beherrschen nun mal die Welt.
318
Banse: Die geographische Bedeutung der Araber.
die geringe Kulturhöhe, es fehlt eben Freiheit des Horizonts,
und deshalb hat der Isläm nicht in Übersee Fuß gefaßt,
wird es voraussichtlich niemals, was wieder innig mit
der steppenhaften Genesis zusammenhängt. Man denke
nur daran, daß die Mosslmîn mit der prächtigen Renn-
bahn des Mittelmeerrs auch gar nichts haben an-
fangen können, und mit der Roten und Persischen See
nicht viel mehr. Nein, solch eine Religion war, ist und
bleibt kontinental.
Dieses im Innersten Festländische geht mit der
Zentrallage Arabiens Hand in Hand. Die aggressive
Wirkung der letzten aber wurde ungemein gereizt durch
eine Peripherie umgebender Kulturzentren. Der
südarabische Kulturzirkel, der ägyptische, der syrisch-
hethitische und der babylonisch-persische umgürten die
Mekka—Medina-Landschaft in tunlichem Kreisrund. Sie
alle hatten Gelegenheit, auf der Mittelaraber Sein und
Werden reichlich und in unterschiedlichster Art abzu-
färben. Daraus ergab sich ein fördersames Gemisch von
Kulturatomen, in dem die moralisch minderwertigen
durchaus nicht brauchen überwogen zu haben. Nicht
der geringste der kulturellen Anreize war die Aussicht
auf Beute, der die fast absolute Sicherheit der weiten,
wasserarmen und deshalb heerfeinden Steppen zum
Fliehen sich paarte. Deshalb haben von jeher die
arabischen Beduinen einträgliche Räsu gegen die Boll-
werke der Kultur unternommen und zwar, ohne daß
jemals dieser Zustand aufgehört hat, war doch der casus
belli konstant. Daß aber diese Raubzüge mit Retour-
billet — man verzeihe das geschmacklose, aber hier sehr
bezeichnende Wort — größere politische Wirkungen
ergeben haben, das ist ganz entschieden zu bestreiten.
Denn von einer führenden geistigen Idee, die allein solche
hätte erzeugen können, ist vor Mohämmed nicht das
geringste bekannt. Die Bedu fielen in die Ackerbau-
gebiete ein, plünderten und raubten soviel sie konnten
und kehrten dann befriedigt zu ihren Weiden zurück.
Daß sie eine Mischung mit den Bodensassen eingingen
und selber seßhaft wurden, wird im allgemeinen nur in
zwei Fällen geschehen sein, nämlich entweder dann, wenn
die Kulturträger übermächtig waren, so daß nichts oder
nur wenig zu holen blieb, oder aber, wenn sie selber so
überraschende Resultate erzielten, daß es lohnte, sich
niederzulassen, um zu herrschen. Das erste ist in der
Gegenwart an der Euphrat- und Tigrislinie und seit
Mehemed Ali am Nil der Fall, das andere war der Zu-
stand nach Mohämmed.
Es herrscht augenblicklich eine Neigung, den Ursprung
der arabischen Bewegung zu überschätzen. Hugo
Winckler glaubt nach Analogie der in der Ausbreitung
des Isläm gipfelnden arabischen Bewegung drei ältere
Völkerwanderungen aus Arabien nach Norden ableiten
zu können. C. H. Becker folgt in einem in den
meisten Beziehungen überaus lichtvollen und Gedanken
erregenden, in seiner einseitighistorischen Tendenz unseren
geographischen Anschauungen aber doch stark zuwider-
laufenden Aufsatz dieser Hypothese („denn sie wird
durch den historischen Tatbestand überreichlich be-
gründet!!“5). Martin Hartmann®), dem ich’) mich
hierin schon früher anschloß, hat den Gedanken als
erster bezweifelt. Um Völkerwanderungen aus der
®) Der Isläm als Problem. In Heft 1 von: Der Islâm.
Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients.
Straßburg 1910. Ich nehme hier Gelegenheit zu erklären,
daß diese Arbeit (mit einigen Ausnahmen) hervorragend ist
und dem Problem zweifellos weitergeholfen hat.
°) Der islamische Orient, Bd. II. Die arabische Frage,
S. 93 ff., Leipzig 1909.
7) Der arabische Orient (Orient II), 8.72, Leipzig 1910.
dreiseitig meerverschlossenen, großenteils total unbewohn-
baren arabischen Halbinsel heraus kann es sich gar nicht
handeln, sie hat keinen Völkerrückhalt hinter sich, wie
die Steppen Innerasiens. Beide Gebiete hierin mit ein-
ander zu vergleichen, ist naiv. In der ganzen nord-
arabischen Bewegung kann ich nichts anderes
sehen als die vergrößerte Ausgabe des Überfalles
eines Nomadenstammes auf eine seßhaft be-
wohnte Kulturlandschaft, einen Räsu, einen Aus-
schnitt aus dem Kern der gesamtorientalischen Geschichte,
die besteht aus dem klimatischen und anthropogeographi-
schen Kampf der Steppe gegen die Ackerkrume, der Barbarei
gegen die Kultur. Statt dessen greift man zu vier
(größtenteils ja nur durch Analogie vermuteten!)
Völkerwanderungen, ja sogar zu „einem sich über Jahr-
tausende hinziehenden Klimawechsel und allgemeiner
Austrocknung des Landes“. Der Historiker will geo-
graphischer sein als der Geograph!
Zufällig und wenig imposant wie der Ur-
sprung der arabischen Bewegung ist im eigent-
lich Innersten auch ihr Verlauf geblieben! Denn
dem Geistigen, in das sich ihr körperliches Überhand-
gefühl unter Mohämmpd umgesetzt hatte, vermochten die
einfachen Steppenkinder auf die Dauer nicht gerecht zu
werden. Diese Araber der ersten Chalifzeit sind in ihrem
Aussturm genial, ganz vergleichbar einem jungen Genie,
das meteorgleich in kurzen Jahren eine Unsumme von
Geist produziert, um bald darauf eben durch die Über-
anstrengung der Gehirnnerven zusammenzufallen. Das
nördlichste Afrika, Syrien, Mesopotamien und Westpersien
wurden hauptsächlich von Arabern dem Isläm gewonnen.
Es sind noch heute die Kernlande der Minäre und
der halben Monde. Bei der Eroberung der übrigen
Gebiete aber traten die eigentlichen Araber sehr in den
Hintergrund und Neubekehrte nahmen ihre Stellung ein,
zähere, vergleichbar mehr dem beständigen Talent als
dem ungleichen Genie.
Die alten Araber waren so die besten, leiden-
schaftlichsten Vertreter des ÖOrientgedankens,
d. h. der Ausbreitung einer gewissen Halbkultureinheit
gegenüber der Vollkultur. Ihre Vorgänger, die Neuperser
und noch früher die Parther, hatten weniger Glück in
der Verfechtung dieser Idee, hauptsächlich weil ihr
damals noch die packende geistige Verbrämung fehlte,
die den Arabern der Mekkaner schuf. Auf der arabi-
schen Grundlage fortzubauen, war später keine so große
Schwierigkeit, da der Steppencharakter und die Uni-
formität des Bodens das ungemein erleichterten oder besser
überhaupt erst ermöglichten! Als Illustration diene die
Erwägung, daß der Isläm, wenn im südlichen, ebenfalls
steppenhaften Rußland geboren, sich weniger nach Westen
als nach Osten ausgedehnt haben würde. Er wäre kaum
über die Wiener Gegend hinausgekommen oder doch
bald wieder zurückgeflutet. Wie nun bei dem weitaus
größten Teil der reinen Araber die unausbleibliche
Reaktion in Form versagender Ermattung eintrat, so daß
sie heute nicht mehr die Träger des Örientgedankens
sind, ebenso brennt die orientalische Pechpfanne ruhig,
wenn auch kräftig, in anderen Volkselementen weiter.
In erster Linie in den Libuberbern Nordafrikas, und den
Hethitern Kleinasiens und des westlichsten Armeniens,
beide starrköpfig, geistig nicht hervorragend, aber doch
normal, brave Biedermänner. Neben sie treten die
iranschen Indogermanen, deren höheren geistigen An-
sprüchen die gebotene Religion nicht genügte, weshalb
sie sie besonders’ sich zuschnitten, wobei entsprechend
ihrer Neigung zur Lüge und Verschlagenheit denn auch
was ganz Besonderes herausgekommen ist (Schia).
Eigene Stellungen beanspruchen die Neger und die
Neuere Anschauungen über das Projekt der Transsaharabahn.
319
Türken, die beiden islämschen Gegenpole. Jene sind
anthropologisch die niedrigsten Bekenner des Korän und
deshalb die fanatischsten. Daraus folgt aber nicht, daß
sie auch seine dauerhaftesten Anhänger sind. Vielmehr
glaube ich, die Neger lassen sich eben wegen ihrer
minderen Gehirnqualität leichter vom Isläm abziehen
als die andern Orientalen, wobei ich jedoch eine
Ausnahme mache. Das sind die Türken, unter denen
ich nicht das weit überwiegende Gros der (ziemlich) rein
hethitischen Land- und auch meist Stadtbevölkerung
Anatoliens verstehe, sondern jenes vorwiegend in mili-
tärischen und zivilen Beamtenstellungen untergebrachte
Mischmasch von alten mongoloiden Türken-, Griechen-,
Kaukasier- und Negerelementen, das die leitende und
verderbende Clique der Türkei ist. Die Klasse ist von
Grund aus verseucht, ihr Gehirn beschränkt, ihre morali-
schen Qualitäten noch unter jedem anderen Tiefstand,
verseucht durch einen alles in den Hintergrund stellen-
den Hang zu Hochmut und Quälerei, Ehebruch und
Päderastie, besonders aber zur Verstellung und Lüge °).
®) Jeder, der größere Inlandreisen in der Türkei gemacht
hat, wird Stückchen erzählen können von der schamlosen
Verlogenheit der Beamten, besonders der höheren. Ohne
Zucken und Zögern wird die frechste Lüge ausgesprochen
und bei der Ertappung anstandslos zugegeben. Von den
Dutzenden von Beispielen, die mich persönlich betroffen
haben, greife ich ein beliebiges heraus. Als ich im Begriff
Diese Türken nun hängen innerlich sehr wenig am Isläm,
so daß sie vielleicht die ersten wären, die das grüne
Banner zerrissen, wenn ihr Vorteil es erheischte?).
Es zeigt sich also, daß die Araber im ganzen
nur AÄnreger, trovatori, waren, nicht aber
Vollender! Wo sollten diese Hintersteppler auch
die Gelegenheit dazu hernehmen. Daß ihre Rolle als
Erfinder noch durchaus nicht beendet zu sein braucht,
zeigt der Vorstoß der Uahäbi des Nedschd, der nichts
weiter ist als eine kräftige Unterstreichung des Orient-
gedankens, der Kulturfeindlichkeit! Die hat er erreicht,
sonst nichts, er hat (außer noch Beutemachen) allerdings
wohl auch nicht mehr beabsichtigt. Er ist aber die beste
Illustration zur gegenwärtigen Bedeutung der
Araber, die eben darin.liegt, das Feuer der Orient-
idee, das andere ständig schüren, von Zeit zu Zeit
grell emporflackern zu lassen, den Freunden ein
Ansporn, den Feinden eine Drohung.
stand, mit einer einen der höchsten deutschen Titel führen-
den Persönlichkeit von Damaskus nach Der es sör zu gehen,
war uns vom Uäli eine Eskorte von einem Offizier und fünf
Mann versprochen. Die Leute stellten sich auch am Morgen
der Abreise uns vor. Der Offizier erklärte, er wolle nur noch
schnell etwas Vergessenes von Hause holen, verschwand und
ließ sich nie wieder blicken. Die fünf Soldaten ritten mit
uns bis zum Euphrat.
°) Das zeigt auch die Ungeniertheit, mit der sie öffent-
lich Bier und Schnaps trinken.
Neuere Anschauungen über das Projekt der Transsaharabahn.
Von der Transsaharabahn — d. h. von dem Projekt
einer Bahn durch die Sahara von Nord nach Süd — war
einst in Frankreich viel die Rede. Die von den Kolonial-
politikern angestrebte Verwirklichung dieses großen Planes
rückte aber in immer weitere Fernen, je genauer man
die Sahara kennen lernte; denn es ergab sich immer
deutlicher, daß weder in ihr selber Reichtümer zu holen
seien, noch daß die Bahn Produkte des Sudan in nennens-
wertem Umfange zur Nordküste zu transportieren haben
würde. Allerdings konnten nach wie vor militärische
und allgemein-politische Gründe für einen solchen Bahn-
bau ins Feld geführt werden, und das geschieht auch
heute noch durch die Anhänger des Projektes. Tot und
begraben ist es keineswegs, derartige Pläne sterben nie.
Neuerdings hat sich R.Chudeau, der große Teile der
mittleren und westlichen Sahara aus eigener Anschauung
kennt, über die große Wüstenbahn ausgesprochen, in
einem in „L’Afrique française“ (1910, S. 305 bis 307) ver-
öffentlichten Artikel, und die Bedeutung des Autors mag
es rechtfertigen, wenn wir hier aus seinen bemerkens-
werten Ausführungen einiges mitteilen. Den Anhängern
des Projektes schweben im allgemeinen zwei verschiedene
Linien vor: eine östliche, die bei Sinder oder am Tsad-
see endigen soll, und eine westliche, die ihren südlichen
Endpunkt irgendwo am Niger hätte.
Die Ostlinie hätte im südlichen Tunisien oder im süd-
lichen Constantine ihren Ausgang zu nehmen. Sie ginge
zunächst 700km weit durch das große östliche Erg,
dessen Meereshöhe bis 300 m ansteigt, und dann 800 km
weit, bis In-Asua, über eine Reihe von Plateaus (Tinghert
600 m, Tassili der Asger 1000 m), wobei die Höhen stark
wechseln. Hierauf könnte sie das Gebirgsland Air west-
lich umziehen, d. h. etwa der Talakebene folgen, und in
Sinder endigen. Die Entfernung In-Asua—Sinder be-
trägt auf diesem Wege 800 km, von denen die letzten
300km, von Agades in Air bis Sinder, nennenswerte
technische Schwierigkeiten nicht mehr bieten würden.
Um so größer wären sie nach Chudeau im Norden; viele
Kunstbauten wären dort nötig, so daß die im ganzen
2300km lange Linie sehr kostspielig werden würde.
Es fragt sich nun, ob diese Ostlinie der Transsahara-
bahn wirtschaftlich ihre Rechtfertigung finden kann. Da
wäre vielleicht etwas Lokalhandel im Oasengebiet von
Tuggurt. Aber dann, bis Air, „gibt es nichts mehr“.
Die Zahl der Tuareg des Nordens zusammen mit der
der Bewohnerschaft von Tidikelt wird 10000 erreichen.
Nutzbare oder gar wertvolle Mineralien kennt man aus
diesem Gebiet nicht, und nichts läßt vermuten, daß man
solche noch finden wird. „Ihres Klimas halber wird die
Sahara immer arm sein und ihre Verbesserungmöglich-
keiten werden beschränkt bleiben.“ Der Satz, daß eine
Eisenbahn sich auch Verkehr schafft, trifft für die Sahara
nicht zu. Air hat ungefähr 20000 Einwohner und 5000
bis 6000 Dattelpalmen; die Viehzucht ist gering und die
Zerealien genügen so wenig für den eigenen Bedarf der
Bewohner, daß sie noch jährlich 1000 t Hirse aus Damer-
ghu kaufen müssen. Zu diesen ziemlich mageren Hilfs-
quellen kommt in Air noch der Karawanenhandel und
das Vermieten von Kamelen. Es ist behauptet worden,
daß es in Air wahrscheinlich Kupfererze gebe, aber die
Lagerstätten sind noch immer unbekannt. Tatsache ist
jedenfalls, daß allesKupfer, was die einheimischen Schmiede
verarbeiten, aus Europa kommt; hätten sie jemals in Air
welches gefunden, so hätten sie es sicherlich benutzt.
Im Süden von Air streifen die Kelgress in einer Zahl
von 20000; sie sind Viehzüchter. Im Becken von Kauar
(Bilma) und des Tsad sind die seßhaften Bewohner wenig
zahlreich — Kauar hat 2500 Einwohner und 100000
Palmen — und die Nomaden, die Tibbu und die Uled-
Sliman, sehr arm. Diese Gegenden lägen überdies von
der Bahn weit ab. Im Westen von Air ist den Tuareg-
stämmen der Ifogas und Aulimmiden der Niger zu nahe,
als daß sie für den Transport ihrer Erzeugnisse einen
anderen Weg suchen sollten, als diesen Fluß. In Tegama,
320
Die österreichische Sahara-Expedition.
wie in allen seinen westlichen, östlichen und südlichen
Nachbargebieten sind die Regen für den Anbau unge-
nügend, von einigen bewässerbaren Stellen abgesehen;
es ist also falsch, wenn man für die da herrschende
Öde Verwüstungen durch Nomaden verantwortlich macht,
allein das Klima trägt die Schuld.
Südlich von Damerghu sind die Regen reichlicher,
und es könnte da überall besonders Hirse in großem
Maße angebaut werden. Aber von diesen Gegenden ge-
hört nicht viel den Franzosen, sie sind englisch und
gravitieren nach Kano. Und Kano ist nur 800 km vom
Atlantischen Ozean entfernt, die englische Bahn wird es
bald erreicht haben und den ganzen Handel an sich
ziehen.
Also bliebe die Ostlinie noch vom politisch-militärischen
Standpunkte aus zu betrachten, und da meint Chudeau:
Im Falle eines Konfliktes in Europa oder in Algerien
würde Frankreich in jenen Ländern nur geringe und
schlechte Reserven finden; sollten aber etwa im Gebiet
von Sinder Schwierigkeiten entstehen, so wäre eine ge-
meinsame Aktion des schwarzen und des hellen Bevölke-
rungselements nie zu befürchten; das eine oder das andere
würde immer auf Seite der Franzosen zu finden sein.
Sollten aber wirklich jemals ernste Schwierigkeiten sich
erheben, so dürften die Engländer lieber ihre Nigeria-
bahn den Franzosen zur Verfügung stellen, als den Krieg,
der dann ja nicht auf französisches oder auf englisches
Kolonialgebiet beschränkt bliebe, auf eigene Rechnung
führen.
Von welchem Gesichtspunkt man also auch die Ost-
linie betrachten mag, sie würde zu teuer sein und zu
nichts dienen. Ganz anders aber denkt Chudeau von
der Westlinie.
Diese Westlinie müßte die Figigbahn fortsetzen, durch
das Susfana und Saura bis Tuat (Taurirt): 700 km.
Technische Hindernisse sieht Chudeau hier nicht. Von
Taurirt oder Reggan ginge die Linie weiter nach Aschu-
rat: 700km. Aus diesem Gebiet gibt es bisher nur
Rekognoszierungen, die über die Beschaffenheit des Ge-
ländes, Wasserverhältnisse und dgl. wenig Bestimmtes
erkennen lassen; es scheint aber, daß besondere Schwierig-
keiten für den Bahnbau nicht angetroffen werden würden.
Einigermaßen bekannt ist das Land von Aschurat bis
zum Niger: 400 km. Die übrigens niedrigen und wenig
ausgedehnten Plateaus des Timetrin könnte man wahr-
scheinlich im Westen umgehen, und die Landschaft Asauad
ist im Meridian von Timbuktu eine horizontale Ebene,
deren 5 bis 6m hohe Dünen durch Vegetation fest ge-
worden sind. Von Djenan ed-Dar bei Figig (810 m) bis
zum Parallel von Taudeni (100 m), Entfernung 1000 km,
ist das Gefälle sehr regelmäßig, weniger als 1:1000 im
Durchschnitt, auf der größten Strecke aber, von Igli ab,
nur 1:4000. Ebenso unbedeutend ist der Aufstieg vom
Parallel von Taudeni (100m) bis zum Niger (250 m),
auf einer Entfernung von 800km. Da ferner größere
Kunstbauten hier nirgends nötig sind und die Zahl der
Stationen naturgemäß beschränkt wäre, so würde der
Kilometer sich hier auf etwa 100000Fr. stellen, der
ganze Bau auf 180 bis 200 Millionen Fr.
Die österreichische Sahara - Expedition.
Diese Bezeichnung führt ein wissenschaftliches Unter-
nehmen, das nichts mehr und nichts weniger als die Er-
forschung von Tibesti bezweckt. Leiter ist der Wiener
Afrikareisende Otto Cesar Artbauer, der die ethnographi-
schen und linguistischen Arbeiten ausführen wird; sein Be-
gleiter ist der österreichische Oberleutnant Kraft v. Helm-
hacker, dem die geographischen und geologischen Studien
Es fragt sich nun, was die Bahn zu transportieren
hätte. Gurara, Tuat und Tidikelt hatten nach der
Statistik im Jahre 1905 — einem Durchschnittsjahre —
eine Getreideernte von 8000 t, die knapp für den eigenen
Bedarf der Bewohner (49100) zureichte; ferner ergaben
die 1429650 Palmen 21280 t Datteln, von denen 2000 t
exportiert wurden. Aber im allgemeinen ist der Waren-
austausch der südalgerischen Oasen wenig bedeutend und
übersteigt nicht einige tausend Tonnen, und die Produktion
müßte eine ganz gewaltige Steigerung erfahren, wenn hier
eine Bahn ihre Rechnung finden soll.
Von Taurirt bis Aschurat herrscht Tanesruft, die Hilfs-
quellen sind gleich Null. Das Ahnet z. B. ernährt auf
15000 qkm kaum 1300 Kamele, 3000 Schafe und etwa
100 Krieger. Nicht viel besser steht es mit der Land-
schaft Asauad, die sonst etwa dieselben Verhältnisse
zeigt, wie das oben erwähnte Tegama.
Erst mit der Ankunft am Niger wird es anders, wenn
Wert und Fruchtbarkeit des Landes auch recht ver-
schieden sind. Aber es ist unwahrscheinlich, daß von
seinen Produkten die Transsaharabahn viel zum Mittelmeer
zu befördern haben wird, dazu haben sie zu wenig Wert.
Die wertvollen Erzeugnisse des Nigergebietes, wie der Kaut-
schuk, wachsen erst weiter südlich und finden auf den zur
atlantischen Küste führenden Bahnen ihren Weg in die
Außenwelt. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus erscheint
also auch die Westlinie von recht fraglicher Bedeutung.
Nun aber die militärisch-politischen Erwägungen.
Es ist bekannt, sagt Chudeau, daß unter den Schwarzen
des Sudan sich die Elemente für eine brauchbare zahlreiche
Infanterie fänden. Ihre Verwendung in Europa werde be-
sonders durch die Entfernung erschwert. Man habe daran
gedacht, Senegaltruppen nach Algerien zu legen, und es
jetzt auch im kleinen Umfange versucht. Aber man wisse
auch schon, daß das Klima Algeriens ebenso wie das der
Sahara den Schwarzen schlecht bekomme: selbst in den
Oasen hätten die Neger wenig Kinder und stürben jung;
seit der Unterdrückung des Sklavenhandels verminderten
sich die Arbeitskräfte im Tuat in auffälliger Weise. Es
sei also eine übergroße Sterblichkeit zu befürchten. Auch
sei ja die Berührung der Zivilisation für die Primitiven
immer verhängnisvoll. Deshalb wären Schwierigkeiten
in Algerien möglich, wo es schon zu viel Rassenfragen
gebe, und den Sudan könnte man nicht immer, wie jetzt,
mit ein paar Kompagnien halten. Die Beförderung über
See von Dakar nach Frankreich im Kriegsfalle wäre zu
zeitraubend; eine Transsaharabahn würde dagegen ge-
statten, daß die schwarzen Truppen daheim blieben, bis
sie gebraucht würden, und doch diese Unzuträglichkeiten
beheben. Deshalb müsse Frankreich zu seiner eigenen
Sicherheit diese Transsaharabahn haben.
Der Gedanke, afrikanische Truppen in Europa zu
verwenden, ist in Frankreich, dessen Einwohnerzahl sich
nicht vermehrt, nicht selten schon verfochten worden.
Der staatlichen Selbsterhaltung müssen natürlich alle
Opfer gebracht werden, auch das Opfer der namentlich
in Frankreich sehr verbreiteten Überzeugung, daß man
dort an der Spitze der Zivilisation marschiere! Wir
Deutsche aber können uns dann gratulieren!
obliegen sollen. Der Aufbruch der Expedition sollte im Laufe
des November erfolgen, Ausgangspunkt Tripolis sein. Art-
bauer schwebt eine Durchkreuzung Tibestis von Gatrun oder
von Kufra aus vor mit Wadai oder dem Tsadsee als Schlußziel.
Jeder, der auch nur einigermaßen mit der Geschichte
der Afrikaforschung vertraut ist, weiß, was ein solches Unter-
nehmen bedeutet, welche Gefahren es einschließt. Nur ein
Forscher, Gustav Nachtigal, hat — 1869 — nach Tibesti ge-
langen können, von Gatrun aus. Die bösartigen, räuberischen
Bücherschau.
321
Tibbu-Reschade, die Bewohner des Gebirgslandes, bedrohten
dort sein Leben, und er konnte sich nur durch schleunige
Flucht aus Bardai und Gewaltmärsche retten. Rohlfs wollte
1879 über Kufra und den Osten Tibestis nach Wadai ziehen,
wurde aber bereits in Kufra beraubt und zur Umkehr ge-
zwungen. Heute sind die Voraussetzungen für eine Reise
nach Tibesti noch viel schlimmer als damals, weil jetzt fast
alle Tibbustämme unter dem Einflusse der Senussi stehen,
deren Oberhaupt eine Reihe von Jahren in Borku wohnte,
und die Senussi durch das Vorgehen der Franzosen in der
östlichen Sahara und in Wadai aufs heftigste gereizt sein
müssen — nicht nur gegen die Franzosen selbst, mit denen
sie in Borku blutige Zusammenstöße hatten, sondern ver-
mutlich gegen alle Europäer '). Das Oberhaupt der Benussi
residiert wieder in Kufra. Diese Dinge sind im Globus mehr-
fach besprochen worden. Man hatte sich somit an den Ge-
danken gewöhnt, daß ein Eindringen in Tibesti heute wohl
nur an der Spitze bis an die Zähne bewaffneter Meharisten-
kompagnien möglich sein würde, und dieser Wunsch ist auch
neuerdings von Offizieren der französischen Kolonialtruppen
im Tsadseegebiet verfochten worden, weil die Tibbu angeb-
lich die Karawanenstraße Fessan—Bornu beunruhigen. Und
trotz alledem will Artbauer das Wagnis unternehmen, er
schreibt dem Globus unter anderem:
„Wie ich das Rif bezwang (Artbauer hat mehrere Reisen
in Marokko ausgeführt; vgl. hier unten die Besprechung
seines Buches darüber), so hoffe ich, gelingt mir auch Tibesti.
Nicht umsonst habe ich jahrelang als Araber unter Arabern
gelebt, fließend schreibe ich deren Sprache. Nicht erst seit
gestern oder seit vorigem Jahr befasse ich mich mit dem
!) Manche Beobachter, so zuletzt Hanns Vischer („Across the
Sahara“ an verschiedenen Stellen) bestreiten den Christeuhaß der
Senussi; Vischer behauptet sogar, er habe durch sie sehr wirksam
Hilfe erfahren. i
Problem. Nubien und Kordofan, Tripolitanien und den
äußersten Süden Algeriens habe ich aufgesucht, um alles
nur irgend in Betracht kommende selbst zu erkunden. Seit
1906 schwebt mir das Problem vor. Wenn irgend es in
Menschenkraft steht, so werden wir, oder ich allein, Tibesti
durchziehen. Ich glaube wohl vorbereitet zu sein.“
Es mag noch hinzugefügt werden, daß Artbauer die
Länder des nordafrikanischen Islam gut kennt und mehrere
arabische Mundarten spricht. In Österreich bringt man seinem
Unternehmen größtes Interesse entgegen, in weiteren Kreisen
sowohl wie in wissenschaftlichen (akademie der Wissen-
schaften, Geographische Gesellschaft); an der Aufbringung
der Kosten haben sich unter anderen der Kaiser und das
Unterrichtsministerium beteiligt. Wie also auch der Ausgang
des gefahrvollen Wagestücks sein mag, wir haben es mit
einem durchaus ernsthaft aufzufassenden Forschungsunter-
nehmen zu tun. Welchen Weg es einschlagen wird, wird
sich erst in Tripolitanien ergeben.
Bei der offiziellen Türkei scheint Artbauer vorläufig kein
Entgegenkommen zu finden. Das ist erklärlich. Zwar gehört
Tibesti auf Grund des englisch -französischen Vertrages vom
31. März 1899 zum französischen Kolonialbesitz und Kufra
zu Agypten. Aber die Türkei hat diesen Vertrag nicht an-
erkannt und beansprucht sowohl Kufra wie Tibesti, sogar
die Oase Kauar an der Bornustraße (wo heute ein französi-
scher Militärposten besteht), obwohl sie dort schwerlich jemals
etwas zu sagen gehabt hat. Allerdings berichtet Hanns Vischer
(„Across the Sahara“, S. 130) aus dem Jahre 1906, von Mursuk
aus sei ein türkischer Kaimakam in Bardai, dem Hauptort
von Tibesti, eingesetzt worden, aber man weiß nicht recht,
was es damit auf sich hat. Jedenfalls behauptet die Pforte,
Tibesti gehöre zu Tripolitanien, und sie fürchtet offenbar,
man könnte sie auf Grund solchen Anspruches zur Verant-
wortung ziehen, falls dort der österreichischen Expedition
etwas zustoßen sollte. Man kann da aber auch an noch
andere politische Erwägungen denken.
Bücherschau.
Otto C. Artbauer, Kreuz und quer durch Marokko.
Kultur- und Sittenbilder aus dem Sultanat des Westens.
X u. 233 8. mit 164 Abbildungen und 1 Übersichtskarte.
Stuttgart 1911, Strecker u. Schröder.
Aus der Übersichtskarte bei S. 96 des Buches sind die
Reisewege des Verfassers in Marokko und Westalgerien zu
erkennen. Sie verteilen sich über die Jahre 1906, 1908 und
1909 und über weite Gebiete des Scherifenreiches, von Mogador
bis zum Rif, dessen Durchwanderung in einem besonderen,
jetzt in der Presse befindlichen Buche geschildert werden
soll. Wer so weit in Marokko herumgekommen ist, von dem
darf man wohl annehmen, daß er viel gesehen und viel zu
berichten hat; und diese Annahme wird durch den Inhalt
des Buches auch vollauf bestätigt. Es ist keine Reisebeschrei-
-bung, sondern besteht aus geschlossenen Kapiteln, die dem
Leser die Bewohner Marokkos vorführen. In diesen Kultur-
und Sittenbildern werden die mannigfaltigsten Seiten der
Bevölkerung und ihres ja nun der Unabhängigkeit beraubten
Staates behandelt, und man erhält ein interessantes und
verläßliches Gemälde von den dortigen Zuständen. Da werden
wir unter anderem bekannt gemacht: mit den Elementen der
Bevölkerung, die zu vier Fünfteln aus reinen Berbern besteht,
mit den marokkanischen Juden, deren Lage sich in neuerer
Zeit sehr gebessert hat, mit den Wegen und dem Reisen, mit
dem Leben und Treiben in den Dörfern und in den großen
Städten, mit Militär und dem modernen, recht zwecklosen
Polizeikorps, mit der Sklaverei, dem Heiligenunwesen, meh-
reren religiösen Festen, Frauen und Frauenleben, mit dem
heutigen Sultan, dem gewalttätigen Treiben der Franzosen,
mit Raisuli, Buhamara und anderen merkwürdigen Persönlich-
keiten, darunter auch dem alten Scheik Ma el Ainin, dem
glühenden Franzosenhasser, der ja jetzt gestorben sein soll.
Franzosenhasser sind heute, wie der Verfasser an Beispielen
zeigt, übrigens alle Marokkaner, und an anderen Beispielen
weist er nach, daß sie das mit vollem Recht sind. Es werden
eben auch politische Fragen gestreift. Die Frage, warum
denn eigentlich Frankreich so auf den Besitz Marokkos dringt,
beantwortet der Verfasser mit der Auskunft: Frankreich
braucht Soldaten, Verstärkung seiner Armeen durch schwarze
Truppen für die Aktion in Europa. Daß solche Hoffnungen
bestehen, weiß man (vgl. oben 8.320 den Schluß des Artikels
über die Transsaharabahn); der Verfasser wird also wohl
recht haben. Aber er zweifelt an einer Stelle (S. 20), daß
es Frankreich je gelingen werde, die Berberbevölkerung zu
unterwerfen, und verweist am Schluß auf die Gefahr einer
solchen neuen Waffe für Frankreich selbst. — Das mit guter
Kenntnis der Dinge und mit überzeugendem Urteil geschrie-
bene kleine Buch wird dem deutschen Publikum ein weit
zuverlässigeres Bild von Marokko vermitteln, als die meisten
Reisebeschreibungen deutscher Autoren, die mit der Bevölke-
rung doch nur wenig in Berührung gekommen sind.
A. Steinhauff und M. 6. Schmidt, Lehrbuch der Erd-
kunde für höhere Schulen. Ausgabe R (für Real-
anstalten). 6 Teile. Leipzig 1910, B. G. Teubner.
Das vorliegende Lehrbuch zeigt viele Vorzüge. Es will mit
der bisherigen Methode brechen, nach der dem Schüler von
jedem Lande erst Grenzen, Gebirge, Ströme, Siedelungen,
Produkte einzeln dargeboten werden, so daß sie nur der
Name eines bestimmten Landes zusammenhält. Dieses Nach-
einander wird in ein Nebeneinander umgewandelt, indem
räumlich zusammengehörige Gebiete nach drei Gesichtspunkten
behandelt werden. Im Geländebild wird die Bodenform
und deren Charakter beschrieben. Hierauf kann entwickelt
werden, wie der Mensch die vorhandene Natur benutzt hat,
um sie seinerseits für sich zu verwerten. Dieser zweite Ab-
schnitt heißt Natur und Menschenwerk. Ihm folgt an
dritter Stelle Völkerleben umd Siedelungen. Hier erst
sieht der Schüler, wie die Entwickelung eines Volkes ganz
von den durch die Natur gegebenen Bedingungen abhängt,
wie besonders die Ansiedelungen nicht ohne Grund gerade
an den gewählten Stellen entstanden sind.
Auf diese Weise entstehen durch drei verschiedene Be-
trachtungsweisen drei Bilder jeder Landschaft, die sich in
ihrem Gesamteindruck sozusagen zu einem psychischen
Dreifarbendruck zusammenfügen.
Jede Betrachtung zerfällt in eine Gesamt- und Einzel-
betrachtung. Dadurch wird es ermöglicht, daß der Schüler
erst einen ganz allgemeinen Haupteindruck des besprochenen
Landes erhält. Erst dann kommen weitere Einzelheiten, die
sich dem Gesamtbild unterordnen, so daß sich das Oharakte-
ristische an jedem Lande auf den ersten Blick einprägt.
Letzteres wird noch unterstützt durch die sorgfältig aus-
gewählten fett gedruckten Überschriften jedes kleineren Ab-
schnittes, die, fortlaufend gelesen, sozusagen in Schlag-
worten ein Allgemeinbild jedes Landes geben. Das ist be-
322
Kleine Nachrichten.
sonders für die häusliche Repetition äußerst wichtig, um
den Schüler immer und immer wieder auf die Hauptmerk-
male hinzuweisen.
Außerst geschickt sind die zahlreichen Illustrationen
ausgewählt. Sie zeigen nicht nur die tote Natur, sondern
führen diese immer wieder in ihrer Beziehung zur mensch-
lichen Tätigkeit vor Augen. Dadurch wirken sie lebendig.
Sie veranschaulichen u. a. besonders den Anbau und die
Ernte der jedem Kinde geläufigen Kolonialprodukte. Auch
unsere deutschen Kolonien werden entsprechend ihrer mehr
und mehr steigenden Wertschätzung auf verhältnismäßig
breitem Raume in Wort und Bild geschildert. Deutscher
Verkehr und deutscher Handel werden vor allem gewürdigt.
Die Ausführung der Bilder ist geradezu vorbildlich.
Ein großer Teil ist von so malerischer Wirkung, daß man
glaubt, die Wirklichkeit vor sich zu haben. Der Verlag hat
keine Kosten gescheut, ein erstklassiges Lehrbuch herzustellen.
Namen und Zalılen sind auf ein Mindestmaß beschränkt.
Die wenigen Tabellen sind vorzüglich ausgesucht und tragen
viel zur Veranschaulichung vergleichender Größenverhältnisse
bei. Zu wünschen wäre nur eins, daß das Lehrbuch in recht
vielen Anstalten Eingang fände, damit seine Brauchbarkeit
auch praktisch erprobt würde. K.
Joseph Déchelette, Manuel d'Archéologie pr6histo-
rique, celtique et gallo-romaine. II. Archéologie
celtique ou protohistorique. Première partie: Age du
bronze. XVIII und 5128. mit 212 Abbildungen, 5 Tafeln
und I Karte. — Dazu: Appendices. VII und 1908. Paris
1910, Alphonse Picard et Fils. 20 Fr.
Zwei Jahre nach dem die beiden Steinzeiten behandeln-
den Bande (vgl. „Globus“ Bd. 94, 8.369 f.) erschien kürzlich
der erste Abschnitt des zweiten Teiles dieser groß angelegten
zusammenfassenden Darstellung der vor- und frühgeschicht-
lichen Altertümer Europas, namentlich des keltischen Westens.
Als „keltische und frühgeschichtliche Zeiten“ betrachtet der
Verfasser die Bronzezeit, die Hallstatt- und die La Tene-Periode,
von welchen in dem neuen Bande hauptsächlich die erste
geschildert wird. Den beiden anderen, nämlich den beiden
vorgeschichtlichen Eisenzeiten, wird wieder ein Band von
gleicher Stärke gewidmet sein, welcher gegen Ende des
nächsten Jahres erscheinen soll. Dann erst wird der dritte
Teil folgen, der die gallorömische Archäologie enthalten und
das verdienstliche Werk zum Abschluß bringen soll. So
nähert sich der Verfasser auf einem langen Wege dem Haupt-
gebiete seiner Spezialstudien, dem letzten vorrömischen Zeit-
raum und den Jahrhunderten der Kaiserzeit.
Infolge der überaus günstigen Aufnahme, die der erste Band
durch die Kritik gefunden, hat sich Déchelette zu einer
nach Möglichkeit noch gesteigerten Gründlichkeit und
Korrektheit seiner durchwegs genau belegten Ausführungen
anspornen lassen. Mit einem Fleiß und einem Eifer, den
nur der zu würdigen weiß, der den Zustand unserer Quellen
kennt und mit ihren Schwierigkeiten selbst gerungen hat,
leistet er wirklich alles, was billigerweise erwartet werden
darf. Seine Kenntnis der Literatur, vermutlich lückenlos
für die französische und fast ebenso für die fremden Sprachen,
verschafft ihm einen weiten Vorsprung vor den meisten
anderen Prähistorikern, die gewöhnlich nur Kenner einzelner
Fundgebiete und der darauf bezüglichen Publikationen sind.
Nun muß man aber diese Literatur kennen und wissen, wie
wenig Vorarbeit für eine großzügige synthetische Darstellung
damit geleistet ist. Andererseits genügt es, zu erinnern, daß
von älteren zusammenfassenden Schilderungen der Bronzezeit
nur Ernst Chantres Studien im Rhonebecken („Bronzezeit.
Untersuchungen über den Ursprung der Metallurgie in Frank-
reich“, 1875 f.) John Evans’ Buch über diese Periode in
Großbritannien und Irland (1872) und namentlich G. u. A. de
Mortillets „Musée préhistorique“ (1881) für Westeuropa in
Betracht kommen, während gerade diese Zeit für Nordeuropa
(und teilweise auch für den Süden: Italien, Griechenland)
von skandinavischen und anderen Forschern unermüdlich
studiert und ihre weitreichenden Beziehungen gründlich
untersucht worden sind. Der große Systematiker Oskar
Montelius, dessen Name hier vor allen zu nennen ist,
kennt und berücksichtigt wohl auch mittel- und westeuropä-
ische Funde und bedient sich ihrer zur Stütze seiner Lehren;
aber er geht doch nur mehr gelegentlich und beiläufig auf jene
ein und greift lieber, um der Wurzeln der Erscheinungen
habhaft zu werden, nach dem Orient hinüber, ans östliche
Mittelmeer oder nach Agypten und Susiana.
Unter diesen Umständen ist D&chelettes Bronzezeitband,
dessen 212 Abbildungen meist Figurengruppen von bis 10 und
15 Einzelbildern sind und somit auch ein sehr reiches Illu-
strationsmaterial bringen, eine mächtige Förderung für alle,
welche die europäische Bronzezeit nicht nur aus Skan-
dinavien und den klassischen Ländern Südeuropas kennen
lernen wollen. Obgleich er vorzugsweise Frankreich berück-
sichtigt und sich in den „Appendices“ (äußerst genauen Ver-
zeichnissen der bronzezeitlichen Depotfunde und Gußformen,
sowie der — allerdings erst zum nächsten Band gehörigen
— eisernen Schwerter und Dolche der Hallstattperiode) ganz
auf dieses Land beschränkt, geht seine Darstellung doch auf
die älteste Metallzeit ganz Europas ein und greift sogar
darüber hinaus. Die einzelnen Kapitel behandeln: 1. die
ältesten geschichtlich bekannten Einwohner Galliens: Ligurer
und Iberer; 2. die Bronzezeit im Orient und in Griechenland
mit Ausblicken auf Kaukasien, Indien, den fernen Osten und
Amerika; 3. die europäischen Bronzezeitgebiete, der Ursprung
der Metallurgie und die chronologische Einteilung des ge-
samten Bronzealters (in vier Stufen für Westeuropa); 4. die
Siedelungen (Pfahlbauten, Terramaren, Landdörfer, Wall-
bauten); 5. die Grabformen der vier Stufen, brandlose Be-
stattung und Verbrennung der Leichen; 6. Depots und Guß-
stätten, metallurgische Prozesse und Behelfe; 7. Angriffs- und
Schutzwaffen; 8. Werkzeug und Gerät; 9. Kleidung und
Schmuck; 10. Arbeiten aus Gold, Silber, Blei und Glas;
11. die Töpferei; 12. den Handel; 13. die Religion; 14. die
bildende Kunst. Man wird nicht erwarten, über die vielen
Gegenstände durchaus oder auch nur vorwiegend neue An-
sichten zu hören: genug, daß ein so umfassendes Bild dieser
hauptsächlich in das zweite Jahrtausend vor Christus fallen-
den Kulturperiode streng nach dem heutigen Stande unseres
Wissens geboten wird. In der Verfolgung mancher Formen-
reihen gerät der Verfasser wissentlich und nicht zum Schaden
seiner Arbeit stark in die älteste Eisenzeit hinein. Die Grund-
lagen der letzteren ruhen ja fast ganz in der Bronzezeit,
und jene ist mehr eine bereicherte Entwickelungsstufe dieser,
als eine völlig neue Kulturperiode der nordischen Länder.
M. Hoernes- Wien.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Von einer archäologischen Expedition nach der
Stätte von Sardes ist „Nature“ zufolze Professor Howard
C. Butler von der Princeton -Universität heimgekehrt. Die
Entdeckungen bestehen in einem Teile des Pflasters der ehe-
maligen Stadt und dem Unterbau eines großen Tempels aus
dem 4. vorchristlichen Jahrhundert. In der Nekropole auf
dem der Stadt gegenüberliegenden Flußufer hat man Frag-
mente von Bildhauerarbeit und viel Goldschmuck von hoher
Schönheit gefunden.
— Wie Kapitän Dast& vom Schiffe „Mangoro“ aus Durban
der Pariser geographischen Gesellschaft mitteilt, ist der
Kaiser-Wilhelms-Berg der Heardinsel ein Vulkan,
der sich im März d. J. in voller Tätigkeit befand; Dasté
sah Dampf am Berge hinunterziehen („G6ographie*, Oktober
1910). Die Heardinsel liegt südlich von der Kerguelengruppe
unter 53° s. Br. Daß der Kaiser-Wilhelms-Berg, die höchste
Erhebung der Heardinsel, ein Vulkan sei, war bisher nicht
bekannt. Als sie im Februar 1902 die deutsche Südpolar-
expedition anlief, stellte sich der Berg als ein runder vereister
Gipfel dar, der nach allen Seiten Gletscher über stufenförmig
abfallende Felsen ins Meer entsandte. Indessen waren jung-
vulkanische Bildungen (Lava) bei Rogers Head im Nordwesten
der Insel vorhanden, man fand da sechs Kraterstellen mit
jungen Schlacken. (v. Drygalski, Zum Kontinent des eisigen
Südens, 8. 213/214.)
— Auguste Chevalier hat der Pariser geographischen
Gesellschaft aus Nioro (Ober-Dahomey) über den Fortgang
seiner westafrikanischen Mission (vgl. zuletzt Globus,
Bd. 97, 8.36) berichtet. Er war, nachdem er das Hinterland
der Elfenbeinküste verlassen hatte, zunächst fünf Monate in
Mittel-Dahomey, worauf er sich dem Norden der Kolonie
zuwendete, der ihm wissenschaftlich viel interessanter erschien
als das übrige Dahomey. Die Oberläufe der Flüsse, auch
der größten, wie des Son und Uöme, sind mehrere Monate
hindurch völlig ausgetrocknet, mit nur ein paar Lachen auf
weiten Entfernungen. Die Flüsse erinnerten Chevalier mit
Kleine Nachrichten. n
323
dieser Erscheinung lebhaft an die Minia von Dar-Fertit und
vom oberen Schari (die Khors Schweinfurths). Aber auch
in der Flora und Vegetation waren sehr große Analogien mit
der jener Länder zu erkennen. Beide Vegetationsgebiete
gehören zur Sudanzone, in Ober-Dahomey aber scheinen mehr
vom Nil und Schari gekommene Arten vorhanden zu sein,
als dem Niger-senegalesischen Sudan eigentümliche Arten.
Einige Charakterpflanzen des oberen Schari, wie die zuerst
von Schweinfurth im Bahr el-Ghasal entdeckte prächtige
Cycadee Encephalartos septentrionalis, findet sich noch
inselchenweise in Ober-Dahomey, reicht aber nicht gegen
Westen nach Togo hinüber. Die am Schari die Zone zwi-
schen dem 6. und 8. Parallel charakterisierenden Pflanzen
erscheinen in Dahomey erst nördlich vom 9. oder selbst
10. Breitengrad. Djugu, wo Chevalier sich einige Zeit auf-
hielt, ist ein wichtiges Handelszentrum, ein Transitpunkt für
die Haussakarawanen, die Kola aus Aschanti holen, um sie
nach Kano, Sokoto, Bornu, ja sogar bis nach Wadai zu
bringen. Der Karawanenhandel vollzieht sich noch genau
so wie zu Barths Zeiten. Djugu passieren jährlich etwa
15000 Lasten (zu 30 kg) Kolanüsse. Die Haussa bringen ge-
gerbtes Leder, eingeborene Baumwollengewebe, Zwiebeln,
Matten, Strohhüte usw. Einige Kilogramm Leinsamen aus
den Haussaländern wurden auf dem Markte von Djugu als
Arznei verkauft! — Durch Gurma und Mossi wollte sich
Chevalier nach Bammako am Niger begeben, um von da die
Heimreise anzutreten. („La Géographie“, Oktober 1910.)
— Eine Untersuchung des Jangtsebogens und des
in ihn von Norden her mündenden Jalongkiang auf ihre
Schiffbarkeit haben im letzten Winter und Frühjahr Graf
Charles de Polignac, Jacques Faure und der Fregatten-
kapitän Audemard ausgeführt. Die Reise wurde von
Schanghai aus angetreten, und Audemard hatte zunächst den
Auftrag, das Kanonenboot „Doudart de Lagree“ über die
Schnellen oberhalb Itschang nach Tschungking am mittleren
Jangtse zu bringen. Das gelang in kürzerer Zeit, als die
früheren Unternehmungen gleicher Art, und ohne jeden Un-
fall. Mitte Dezember begaben sich dann die drei Reisenden
von Tschungking unter einem Besuch der merkwürdigen
Salzbrunnen von Tseliutsin nach Tschengtu, von wo sie den
Minfluß aufwärts bis Wöntschwan verfolgten, und am 11. Fe-
bruar verließen sie Tschengtu aufs neue, um an die Lösung
ihrer Hauptaufgabe zu gehen. Sie fuhren auf dem Min bis
Kiating und erreichten über Jatscheu auf der Kientschang-
straße am 15. März Ningjuenfu am Nganning, einem östlichen
Nebenfluß des Jalong. Von da kreuzten sie die nordsüdlich
verlaufende Gebirgskette zwischen dem Nganning und Jalong,
gewannen diesen Fluß am 27. März bei Telipu und begannen
nun, ihn mit zwei Barken von 8m Länge hinaufzufahren.
Aber schon vier Tage später wurden die Reisenden durch
einen unüberwindlichen Katarakt aufgehalten, und sie fuhren
ihn nun abwärts bis zur Einmündung in den Jangtse, der
dort Petschuikiang heißt (10. April). Diese Fahrt gestaltete
sich recht schwierig infolge der zahlreichen Stromschnellen
und der Unerfahrenheit der Bootsleute, die diese Flußreise
noch nicht gemacht hatten. Nachdem Fahrzeuge und Mann-
schaft in Matschang gewechselt worden waren, trat man am
14. April mit drei 10m langen Barken die Bergfahrt auf dem
Jangtse an und kam bis zum 1. Mai bis zur Brücke von
Tselikiang, die in gleicher Breite mit dem westlicheren Li-
kiang liegt. Dort kehrte man um und erreichte in 1'/, Tagen
wieder Matschang. Während sich dann Graf Polignac und
Faure von Lungkai nach Jünnanhsien und weiter nach Tonkin
begaben, setzte Audemard die Talfahrt auf dem Jangtse mit
denselben Barken fort und kam einen Monat später in Suifu
oberhalb Tschungking an. Daraus geht zwar, wie Graf Po-
lignac sagt, noch nicht hervor, daß der Jangtse bis Suifu
schiffbar ist, aber die Fahrt beweist wenigstens, daß es trotz
der übereinstimmenden Versicherung der Chinesen dort kein
unüberwindliches Hindernis gibt. Im ganzen sind zwischen
der Brücke von Tselikiang bis Suifu 810 Schnellen von ver-
schiedener Stärke mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von
5'/⁄ Knoten angetroffen worden. Die Reiseroute ist von
Tschengtu ab vollständig aufgenommen worden.
— Prähistorische Fälschungen sind allerdings nicht
so häufig wie die jetzt so beliebten Fälschungen mittelalter-
licher Gegenstände, welche die Verkaufsräume unserer Anti-
quare in den Großstädten füllen, sie haben aber auch schon
ihre Geschichte. Die ältere Generation erinnert sich noch
an das mit Lachen verknüpfte Aufsehen, als Ludwig Linden-
schmit 1876 (Arch. f. Anthropol. XI, 8. 173) die unter die
Thayinger Höhlenfunde geratenen beiden Tierfiguren ver-
öffentlichte, „den Schwermutsbären“ und den Fuchs „Aller-
wege ein Duckmäuser“, welche der „prähistorische Künstler“
aus einem Spamerschen Kinderbuche kopiert hatte. Damit
fiel Verdacht auf die gesamten Thayinger Funde, aber der
Entdecker konnte nachweisen, daß nur jene beiden Tier-
figuren unter die echten Stücke eingeschmuggelt waren.
Jetzt liegt wieder ein neuer Fall vor, der namentlich in
der Wiener Anthropologischen Gesellschaft (8itzungsbericht
1910, 8.34) zu lebhaften Auseinandersetzungen geführt hat,
zwischen Prof. Moser in Triest einerseits und den hervor-
ragenden Wiener Anthropologen Szombathy, Hoernes, R. Much
und anderen, welche die Fälschungen nachwiesen. Da essich
hierbei auch teilweise um die im Globus, Bd. 97, 8. 375 von
Prof. Moser wiederholt abgebildeten Fig. 7, 8 und 9 handelt
(sie erschienen auch schon in Bd. 69, 8. 305), so halten wir
es für geboten, auf die Ausführungen der genannten Herren
einzugehen. Dabei bemerken wir, daß niemand Herrn Prof.
Moser selbst als Fälscher betrachtet, nach wie vor sieht er
in den Zeichnungen echte prähistorische Stücke, und er hat
auch den Vorschlag, sie einer Prüfung von Sachverständigen
zu unterbreiten, abgelehnt, da er selbst genug Fachmann sei,
um die echten und unechten Stücke zu unterscheiden. Am
strengsten urteilt Szombathy über die Stücke aus der Vlasca
jama. Nach ihm ist eine ganze Reihe von Speerspitzen,
Harpunen usw. aus alten Knochen in neuer Zeit gearbeitet,
als ganz absichtliche Fälschungen erklärt er die auch im
Globus zweimal wiedergegebenen Zeichnungen: das eckige
Schwein, den Schildkrötenkopf, die Menschenfigur. Hier sei
sträfliche Absicht der Täuschung unverkennbar. Der Wiener
Prähistoriker Prof. M. Hoernes schloß sich dem entschieden
an und bemerkte, daß schon früher der ältere Much und
Montelius Zweifel an der Korrektheit der Ausgrabungen ge-
äußert hätten. Auch Prof. R. Much pflichtete in allem Szom-
bathy bei und erklärte, daß alle Kriterien von Fälschungen
vorlägen, daß schon aus der Entfernung sich dieses Urteil
aufdränge.
— Über die Deutsch-englische Grenzexpedition
in Kamerun, die zwischen Yola und den Cross-Schnellen
vermessen hat, bringt Major G. F. A. Whitlock einen aus-
führlichen Bericht im Oktoberheft 1910 des „Geographical
Journal“, unter Beifügung einer Karte (1:2000000) und
einiger Abbildungen, der in kartographischer und geographi-
scher Beziehung sehr viel mehr enthält, als der hauptsächlich
technische Bericht des deutschen Expeditionsführers Ober-
leutnant v. Stephani im „Deutschen Kolonialblatt* vom
15. Dezember 1909 (mitgeteilt im Globus, 97. Band, 8. 51).
Es ist das um so dankenswerter, da gerade das Gebiet des
Grenzstreifens wenig erforscht und nur an einzelnen Stellen
von Strümpell, Flegel, Zintgraff und Moseley quer durch-
zogen worden ist. Whitlocks kartographische Bruchstücke
ergeben freilich kein vollständiges Kartenbild, aber sie dienen
doch wesentlich zur Ergänzung und wichtigen Korrektur des
bereits publizierten Materials, wie nicht nur von der soeben
vorerstin zwei Blättern erschienenen und vom Reichskolonial-
amt herausgegebenen großen Kamerunkarte Max Moisels zu er-
warten, sondern auch aus dem „Deutschen Kolonialatlas“®
von 1910 (vgl. den Lauf des Taraba-Flusses) zu ersehen
ist. Es sei mir gestattet, das im einzelnen durch Vergleich
mit den letzten deutschen kartographischen Darstellungen nach-
zuweisen. Oberleutnant Strümpells Kartenskizze (Kolonialbl.
1907, Nr.23) deckt sich in bezug auf den Mao Bulo und Ine
und den Gebirgsstock südwestlich von Farang nahezu voll-
kommen mit der englischen Aufnahme, nur ist diese detail-
lierter. Dagegen zeigt sich, daß es nicht der Taraba ist,
welcher in ost-westlicher Richtung gegen Beli fließt, wie auf
Moisels Karte vom mittleren Teil von Kamerun („Mitteil.
aus d. D. Schutzgebieten“ 1903), wenn auch nur punktiert,
eingezeichnet ist, sondern der Kam, und daß nicht der Kam,
sondern der Taraba von Süden kommt. Auch liegt die
Mündung der beiden Flüsse nicht bei Beli, sondern etwa
60km weiter nordwestlich davon. Auf Hauptmann Glaunings
„Provisorischer* Karte von Nordwest-Kamerun (Mitt. aus d.
D. Schutzgebieten“ 1907). hat der Gamana einen weit mehr
nach Norden gewundenen Lauf als auf Whitlocks Karte,
auch liegt der Ort Toso nördlich vom 7. Grad, statt südlich
davon. Wichtiger aber ist hier der Unterschied in betreff
des Katsena und seiner drei südlichen Nebenflüsse. Der
Katsena fließt ein gutes Stück weiter südlich vom 7. Grad,
und die drei Nebenflüsse, näher nach 9° 30’ östl. L. gerückt,
strömen ganz parallel zueinander in gerader süd-nördlicher
Richtung. Endlich erstreckt sich die Wasserscheide des
Katsena und Cross über 9° 30’ östl. L., und zwar einen halben
Grad nach Osten weiter hinaus und reicht hier hinab bis
6° 20’ südl. Br.
Aus Major Whitlocks Beobachtungen und Messungen
von geographischer Bedeutung sei folgendes hervorgehoben.
Der Ausgangspunkt seiner Expedition, Bayare, südlich von
324 x
Yola, liegt in einer Ebene, 420m ü. d. M. Von hier aus
nach Südwesten geht die Grenzlinie durch ein schroffes, zer-
klüftetes Gebirgsland, welches in der Vogelspitze, nahe dem
Ursprung des Kam, eine Höhe von 2040m, auf der Wasser-
scheide des Bulo und Kam und dann auf jener zwischen
dem Katsena und Crossfluß je eine solche von 1520m er-
reicht. Der fortlaufende Gebirgskamm wird zweimal be-
deutend unterbrochen; erstens durch eine 1290 qkm große
Ebene südlich des Zusammenflusses des Kam und Taraba
und zweitens durch ein auf 518qkm ausgedehntes Plateau
südwestlich von Beli und dem Gazabu (dem Abaschirschir
Glaunings). Die ganze Grenzgegend, in den Tälern sowohl,
wie auch bis zu den Gipfeln empor, ist mit dichtem Strauch-
werk bedeckt, in manchen Partien nahezu unpassierbar und
äußerst dürftig bevölkert. Olpalmenbestände befinden sich
nur zwischen Toso und Takum und hochstämmige Wald-
stücke mit massenhaften Gummilianen allein auf der Süd-
seite der Cross-Katsena-Wasserscheide. Reichlicheren Kulturen
begegnet man auf beiden Seiten des Katsena und in dem
dichtbevölkerten Distrikt zwischen Bascho und den Aus-
läufern des Gebirges nach Süden (in dem Winkel zwischen
6° 30’ nördl. Br. und 7° 30’ östl. L.) Am gangbarsten sind
im südlichen Teil von Nordwest-Kamerun zwei Wege, die
nach Takum führen. Der eine geht von Toso, der
andere von Ossidinge aus, und zwar letzterer den Oji auf-
wärts bis Akongo und zuletzt durch das Tal von Sonkwala
und über Kisimbila. B. F.
— Den Inhalt eines Fetischtopfes von der Gold-
küste bespricht R. Zeller im Jahresber. über d. Ethnogr.
Sammig. Bern f. 1909. Der Topf mit dem Inhalt wurde von
dem Missionar Jost der Berner Sammlung geschenkt; er ist
aus rötlichgelbem Hartholz roh geschnitzt, im Gegensatz zu
den sonst dort verbreiteten Fetischgefäßen, die alte euro-
päische Messingpfannen sind. Diese Fetischtöpfe sind schwer
zu erwerben, und wenn das doch gelingt, so unterläßt man
es im Museum lieber, den Inhalt zu untersuchen, weil er
nachher kaum wieder richtig angeordnet werden kann. Bei
dem Berner Topf war das indessen möglich. Er ist napf-
förmig, oben 13cm im Durchmesser, 8cm hoch. Jost hatte
darauf aufmerksam gemacht, daß der Topf 11 Kinderknochen
enthalte, und bei oberflächlicher Betrachtung erschien das
auch so. Groß aber war dann das Erstaunen, als sich diese
Knöchelchen als harmlose Holzstäbehen erwiesen, an deren
einem Ende eine Verdickung aus rötlichweißer Masse einen
Gelenkkopf vortäuschte. Kinderknochen müssen ja in einem
solchen Topf als etwas Absonderliches erscheinen und in dem
Neger den Glauben an den Zauber und die Macht eines
solchen Fetisches erwecken. Ferner wurden gefunden: Ein
Stäbchen mit einem Haken ebenfalls aus Holz und mit un-
bekannter Bedeutung; zwei mit weißer Masse beschmierte
getrocknete Früchte mit den klappernden Kernen; verschiedene
Dinge europäischer Herkunft, wie zwei eiserne Schließkolben,
zwei eiserne Stäbchen von dem Stützstäbehen eines europäischen
Regenschirmes abgezwickt, eine alte am Rohr abgebrochene
Tabakspfeife aus ehemals weißem Ton ; dann zwei einheimische
Bruchstücke von Halsketten, wie sie heute nicht mehr an-
gefertigt werden (aus ringförmigen Perlen aus Schnecken-
schalen); ein Reisstrohband, in das ein Stückchen rostigen
Eisenblechs und zwei aus einer Ancillariaschnecke geschliffene
Ringe eingeflochten sind; ein in der Mitte geknüpfter Streifen
braunen, schwarz bedruckten Baumwollenzeuges; endlich
eine steinerne Beilklinge. Solche werden dort nicht selten
auf den AÄckern gefunden, es sind Zeugen einer primi-
tiveren Kultur, als sie dort die heutige ist. Der Neger
hat für sie keine Erklärung, sie werden also mit den Geistern
in Verbindung gebracht und passen mithin recht gut in den
Fetischtopf. Als Füllmaterial war noch ein rötliches Faser-
gewirr vorhanden. Zeller bemerkt noch sehr richtig: Wenn
auch der Inhalt des Topfes uns ein Lächeln abnötige, so
dürften wir nicht vergessen, wie viele Reste ähnlichen Aber-
glaubens auch bei uns noch fortbestünden, und daß, wenn
man einmal an Zaubermittel glaube, es ziemlich gleichgültig
sei, an was der Zauber gebunden werde.
— Über die Eisenbahnen Colombias finden sich
in einem neueren englischen Konsularbericht (von V. Huckin)
Angaben. Die älteste Eisenbahn innerhalb der Grenzen des
heutigen Colombia ist die seit 1867 bestehende Verbindung
von Barranquilla mit dem Meere. Sie hat dadurch, daß sie
dem Handel der atlantischen Küste jenen Ort zugänglich
machte, eine bedeutende Rolle gespielt; diese wird aber jetzt
in Frage gestellt durch den 1909 vom Kongreß gebilligten
Kleine Nachrichten.
Plan einer Durchstechung der gefährlichen Barre an der
Mündung des Rio Magdalena, wodurch aus dem Flußhafen
Barranquilla ein Seehafen gemacht würde. 1874 wurde
die Antioquiabahn vollendet. Die Caucalinie, die bereits
1878 begonnen wurde, war bis Ende 1908 erst 75km weit
gediehen, macht aber seitdem schnelle Fortschritte. 1879
wurde mit der Cucutabahn begonnen; der Bau hat dann
geruht, doch wird ihn nun wahrscheinlich die Wiedereröffnung
des Rio Zulia beschleunigen. Aus dem Jahre 1881 datiert
der Beginn des Baues der Girardot-, Dorada-, Nord- und Sabana-
linien. Von 1892 bis 1894 wurde die Cartagena-Eisenbahn
gebaut, 1905 bis 1907 die Doradafortsetzung. Es ist dann
auch neuerdings der Anfang zum Bau einer Linie zur Ver-
bindung von Bucaramanga mit dem Rio Magdalena gemacht
worden. Die jetzt im Betrieb befindlichen 12 Eisenbahn-
linien Colombias sind zusammen rund 900 km lang.
— Die kristallinische Zone der Kärnter Alpen
ehört nach P. Egenter: „Die Marmorlagerstätten Kärntens“
Münch. Dissert. von 1909) einer ursprünglich sedimentären
Formation an und verdankt ihre Umwandlung metamorphi-
schen Prozessen. Die kristallinische Beschaffenheit der Ge-
steine dieser Zone ist um so deutlicher hervortretend, je
näher, sie am Zentralgranit liegen. Mit der Entfernung
davon gehen hochkristallinische Glimmerschiefer in Phyllite
über und aus dem in der Zone des ersteren grobkristallini-
schen Marmor werden immer feiner kristallinische Bildungen.
Scheinbare Ausnahmen von dieser Regel, namentlich das
Auftreten dichter Varietäten in der Zone der injizierten
Schiefer, lassen sich als Ergebnisse der Zermalmung durch
Gebirgsdruck erkennen. In der nächsten Nachbarschaft der
granitischen Massen sind Schiefer wie Marmor von verschie-
denartigen Gängen durchsetzt, welche nur als Ausläufer der
Intrusion des Zentralgranits angesehen werden können. Es
haben gleichzeitig in demselben sich typische Mineralien der
pneumatolytischen Agenzien entwickelt, wie der Turmalin und
Apatit, die dem ursprünglichen Gesteinsbestande fremd sind.
Auch in den am wenigsten kristallinisch entwickelten Ge-
steinen fehlt eine Imprägnation mit Turmalin nicht. Die
Struktur der durch Kontaktmetamorphose umkristallisierten
Kalksteine zeigt bald die innige Verzahnung der einzelnen
Körner, bald ausgesprochene Pflasterstruktur, ohne daßirgend
ein Zusammenhang dieser entgegengesetzten Formen mit den
Prozessen der Umwandlung selbst konstatiert werden könnte.
Die hin und wieder vorhandene Kataklasstruktur dagegen
weist deutlich auf Bewegungen in dem schon umkristalli-
sierten Gestein hin, als die Temperatur nicht mehr hoch
genug war, um eine plastische Verschiebung der einzelnen
Körner zu gestatten. Die den unangenehmen Geruch des
Stinkmarmors hervorbringende Substanz besteht zum Teil
aus nachweisbarem Schwefelwasserstoff. Daneben ist aber
höchstwahrscheinlich eine noch stärker übelriechende orga-
nische Substanz vorhanden, welche einer Gruppe angehören
muß, die eine große Widerstandsfähigkeit gegen hohe Tem-
peraturen besitzt. Selbst Marmore der höchstkristallinischen
Zone, die einst stark erhitzt waren, enthalten diese in unver-
ändertem Zustande. Erst die direkte Berührung mit den
späteren Nachschüben der granitischen Intrusion hat in
schmalen Zonen ihre Veränderung bewirkt und wahrschein-
lich die eigenartigen zarten Farben auf ihre Kosten entstehen
lassen, welche auf den direkten Kontakt mit diesen Gängen
beschränkt sind.
— Flysch und Erdöl lautet der Titel einer Arbeit von
R. Zuber (Kosmos, 35. Bd.), worin er darauf hinweist, daß
alle erdölführenden Formationen fast ausschließlich und un-
abhängig vom geologischen Alter in der Flyschfazies aus-
gebildet sind, was den Schluß über den genetischen Zusammen-
hang zwischen dieser Fazies und dem Erdölbildungsprozesse
berechtigt. Da nun dort, wo flyschartige Sedimente sich
bilden, fast keine tierische oder fettartige organische Substanz
in diese Sedimente hineinkommt, dagegen fast nur vegetabi-
lischer Detritus (Zellulose) in bedeutenderem Maße darin zur
Ablagerung gelangt, so erscheint es gerechtfertigt, die Rad-
ziszewskische Hypothese, welche eine eigentümliche Gärung
der Zellulose als Grund der Erdölbildung annimmt, zum
Ausgangspunkte einer befriedigenden Erklärung des Olbil-
dungsprozesses sowohl vom chemischen wie vom geologischen
Standpunkte aus zu nehmen, was natürlich nicht ausschließt,
daß lokal auch andere Faktoren und Prozesse mitwirken
können Verfasser verspricht eine besondere ausführliche
Arbeit über diesen Punkt, der bekanntlich so oft schon zur
Diskussion stand.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
326
Schoen: Alte Sitten in der Bretagne.
Hauptgedanken wir in mehreren Liedern der bardi-
schen Sänger wiederfinden:
Marzin, Marzin! zurücke kehr!
Denn Zauberer ist nur Gott der Herr!
Marzin, Marzin! distroet endrou!
Ne deuz divinour nemed Dou’)!
Ein anderes Fragment, dessen Heldin eine Wahr-
sagerin ist, wirkt noch bedeutungsvoller. Loïza (Heloïse)
hat mit ihrer Zauberkraft irdische Schätze in Fülle er-
worben. In ihrem wahnsinnigen Hochmut hat sie eben
die furchtbaren Worte ausgesprochen: „Wenn ich» noch
ein Jahr auf Erden bliebe, so würde ich das Weltall
umwälzen“. Da wird eine himmlische Stimme ver-
nommen:
„Mädchen, Mädchen, nimm Dich in acht!
Denke an Deine unsterbliche Seele;
Wenn Dir diese Welt gehört,
So gehört die andere Gott allein!“
So kommt es in den ältesten Legenden oft vor, daß der
Himmel selbst den christlichen Sängern und den Heiligen
gegen die heidnischen Mächte zu Hilfe kommt *).
Die alten Druidensteine, Menhirs und Dolmen, sowie
die heiligen Quellen, spielen noch heutzutage eine wichtige
Rolle in den Anschauungen der Bauern. Zahlreiche
Mädchen, die bald heiraten möchten, bringen dem nächsten
Druidenstein eine kleine Gabe (farbige Bänder, seidene
Stoffe u. dgl.); andere werfen Stecknadeln in eine heilige
Quelle. Eheleute, die bald Kinder und besonders Knaben
haben möchten, unternehmen eine Pilgerfahrt nach einem
berühmten Dolmen und reiben sich an die Oberfläche des
Steines 5).
Ebenso ist der alte Glaube an Zwerge und Feen nicht
völlig verschwunden. Die ersten sind Kinder der Feen,
nur sind sie häßlicher, roher, dämonischer. Wie in den
nordischen Sagen besitzen sie große Schätze, aber sie
gelten für berüchtigte Falschmünzer. Die Feen heißen
Korriganen, von korr, klein, und gwen oder gann,
Geist. Sie gelten für die Geister großer Fürstinnen oder
Priesterinnen, die Gottes Fluch getroffen, weil sie sich
nicht zum Christentum bekehren wollten. Ihr Aufent-
haltsort ist gewöhnlich eine Grotte oder ein Druidenstein,
besonders in der Nähe von Quellen. Dort kämmen sie ihr
blondes Haar vor Sonnenaufgang.
Unweit der Quelle saß die Fei;
Ihr blondes Haar sie kämmte frei.
Mit gold’nem Kamm sie kämmt es schön ...
lesen wir in einem Volkslied der westlichen Bretagne.
Doch wehe dem Mann, der sie stört. Er ist dem Tode
geweiht, wenn er sie nicht heiratet. So ruft in einer
alten Ballade die Korrigane dem ungerufenen Gast
wütend zu:
Wie hast die große Frechheit Du,
Daß Du die Quell’ mir trübst im Nu!
Willst Du nicht augenblicks midh frein,
Am dritten Tag wirst tot Du sein®)!
Und tatsächlich hört man am dritten Tage die Glocken
zum Begräbnis des jungen Mannes läuten.
®) Dieselbe Stimme ertönt mehrmals in der gallischen
Poesie. Namen Diou, ned euz devin oder Namyn Duw
nid oes devin (Mskpt. von Herghest), außer Gott gibt
es keinen Wahrsager, heißt es in zwei Liedern von
Liwarch Henn.
*) Barzaz Breiz, Loiza, von Hersart de la Ville-
marqué, 7. Auflage, Paris 1867.
5) Daher der Name solcher Steine: pierre &criante (d.h.
Frottiersteine).
°) Aus der alten Ballade Junker Nann und die Fee
(eigene, ungedruckte Übersetzung).
IH.
Besonders in den lyrischen Gedichten (soniou)
hat sich die keltische Volksseele auf herrliche Weise
kundgegeben. Liebe und Freundschaft, Vaterlandsliebe
und religiöser Glaube haben sich in den alten Weisen
des Volkes ausgedrückt. Die Frau spielt in der Volks-
poesie der Bretagne eine Hauptrolle. „Sie thront in unsern
Liedern“, ruft Prof. Le Braz aus, „sie thront im Herzen
des Kelten, wie eine mystische Herrscherin! Ja, gewiß,
die Bewohner der Bretagne sind Idealisten“ 7).
Die keltische Seele hat für die Geliebte den hübschen
Ausdruck „ma douce“, meine Süße, erfunden, der sonst
in der französischen Dichtung kaum vorkommt.
Schön ist meine Süße.
Meine Süße ist schön wie der Mondschein,
Der bei Nacht unsre Erde erhellt.
Meine Süße ist schön wie ein Sternlein
Und erleuchtet mir meine Welt.
Meine Süße ist schön wie die Sonne
Und strahlt meinem Pfad für und für.
Meine Süße ist mir eine Wonne,
Und nichts möcht ich haben dafür").
Um seine „Süße“ zu besuchen oder sogar um sie von
weitem zu sehen, wird der junge Hirte drei, vier Paar
Holzschuhe abnutzen. Glücklich ist er, wenn es ihm
vergönnt ist, sie auf den Bergen oder auf der Heide
singen zu hören, auch ohne zu wissen, ob seine Liebe
jemals belohnt sein wird.
Der junge Hirte.
Holzschuh’ hab’ ich verloren, die Füße riß ich wund,
Der Süßen nachzufolgen durch Wald und Wiesengrund;
Nicht Nebel, nicht der Regen, auch starres Eis nicht kann
Die heiße Glut ‘der Liebe hemmen in ihrer Bahn).
Wie poetisch aber, wenn des Jünglings Leidenschaft
Gegenliebe erfährt:
Der arme Scholar.
Ich hab’ verbraucht an drei Paar Schuh’,
Um Dich zu sehen, mein Herz;
Nun sage mir aber, und schaff’ mir Ruh’,
Was sagt Dir Dein kleines Herz?
Das Mädchen.
Mein kleines Herze leise sagt:
Ich will den, der mich gefragt '°).
Das Schönste, was der junge Bauer kennt, könnte kaum
einen schwachen Begriff von der Schönheit des geliebten
Mädchens geben:
Ihr Aug’, so hell und rein ist das,
Wie klares Wasser blinkt im Glas;
Die Zähne sind so weiß und rein
Und glänzender als Perlen fein.
Die Händ’ und Wangen weißer sind
Als Milch aus schwarzem Topfe rinnt.
O könntet Ihr, mein Freund, sie schaun,
Euch reizte sie zur Liebe traun "!)!
Manche alte Volkslieder aus der Bretagne sind heutzutage
so frisch und unveraltet als vor Jahrhunderten, am
Tage, wo sie ein junger Hirte oder ein armer „cloaröc“
(Student) dichtete:
7) A.Le Braz, Einleitung zu Luzels Soniou Breiz-
Izel, Paris 1890, 8. XXXV.
®) Altes, Volkslied aus der westlichen Bretagne. Un-
gedruckte Übersetzung von Fräulein Lina Friedländer
und H. Schoen.
o} Eigene ungedruckte Übersetzung.
10) Ungedruckte Ubersetzung von Fräulein Lina Fried-
länder,
11) Übersetzung von Prof. Keller.
Schoen: Alte Sitten in der Bretagne.
327
Womit mein süßes Liebchen ich wohl vergleichen könnt’?
Die schönste Rose, die man Marienrose nennt,
Der Mädchen Perl, die Lilie im Blumenflor sie ist,
Die früh dem Licht sich öffnet und abends sich verschließt. !*)
Weder Gold noch Silber können in Betracht kommen,
wenn es sich um die Geliebte handelt.
Mehr gilt mir die Liebe, die süß und weich,
Als Reichtum, der nur eine Last.
Wer heute arm, war noch gestern reich,
Der Reichtum macht nimmer Rast.
Reichtum vergeht wie die Frucht am Baum,
Die Liebe grünet immerdar;
Sogar ein flücht’ger Liebestraum
Gilt mir weit mehr als Gold fürwahr ë).
Seltener werden die lyrischen Verse in den Mund des
Mädchens gelegt. Geschieht dies aber, so durchzieht oft
ein melancholischer Zug die leidenschaftlichsten Strophen,
denn die armorikanische Seele hat fast immer etwas
Trauriges an sich.
Ach, die Bretagner faßt so schnell doch Kummer an!
So lesen wir in einem hochpoetischen Lied, das von zwei
Schwestern aus der niederen Bretagne verfaßt worden
ist und wie ein herrliches Seitenstück zu dem Lied des
armen „cloarëc“ klingt:
O wär’ ein Weißdornblümehen ich!
Mit zarter Hand er pflückte mich.
O wär’ ein Weißdornblümchen ich!
Dann an die Brust er steckte mich.
Es ist, als ob die düstere Melancholie der Gegend tief
in die Seele der Bewohner eingedrungen wäre. Deshalb
fällt die Trennung und die Entfernung vom Vaterlande
dem Bretagner so schwer. Manche Söhne der Halbinsel
wurden auf Schiffen von Heimweh so befallen, daß man
sie schon bei La Rochelle oder bei Bordeaux auf dem
Strand zurücklassen mußte.
Warum kann fliegen nicht, nicht fliegen ich wie ihr!
Weit übers Meer ich flög’ ins Heimatland von hier!
singt ein Priester, Abbé Neurri, den die Verweigerung
des Schwurs auf die bürgerliche Verfassung der Geistlich-
keit in die Ferne verbannen ließ, und ein vertriebener
Dichter ruft aus dem Exil der Geliebten zu:
Wie wenn ein säugend Lamm der Mutter Brust entbehrt,
So stöhn’ ich immerfort, seit unsre Trennung währt,
Und immer muß mein Blick dorthin gerichtet sein,
Wo Du geblieben bist, o süße Liebe mein '*).
m.
Wie die ältesten Volkslieder und Sagen, stammen
manche Volksfeste aus der Zeit der alten Druiden. So
das Junifest.
Um ein altes keltisches Steindenkmal versammelt sich
die Jugend an einem Samstagnachmittag. Die Jüng-
linge tragen an ihren Hüten grüne Ähren, die Mädchen
haben auf dem Busen himmelblaue Leinblüten, die sie
bei ihrer Ankunft auf einen großen Druidenstein nieder-
legen. Diese Blumen sollen sich so lange frisch erhalten,
als sich die Liebenden treu bleiben. Nach zahlreichen
symbolischen und geheimnisvollen Zeremonien wird
um den Druidenstein getanzt und das Junifestlied
gesungen:
Da kommt der Juni wieder, bald wird es Sommer sein,
Da überall mit Knaben lustwandeln Mägdelein.
Nach Sonnenuntergang ziehen dann Jünglinge und
Mädchen durch Wald und Wiesen heim, indem sie
12) Übersetzung von Prof. Keller. z
13) Alte keltische Sprichwörter. (Ungedruckte Übersetzung
von Fränlein Friedländer.)
4) Übersetzung von Prof. Keller.
sich, nach altem Gebrauch, bei den Fingerspitzen halten
und die letzten Strophen des Juniliedes singen:
Komm mit, Du süßes Liebchen, lustwandelnd sei belauscht
Von uns des Windes Wehen, der durch die Wipfel rauscht ...
Ein jeder singt sein Liedchen, so wie er ist begabt,
Das freuet unsre Seele, und unser Herz es labt.
IV.
In der Bretagne werden die meisten Herden von
Kindern geweidet. Das erklärt vielleicht, warum auch
jetzt noch der Schulzwang in manchen Kreisen so schwer
durchzuführen ist.
Diese Jungen haben ihr eigenes Fest, das sogenannte
Hirtenfest (föte des pätres), das gegen Ende des
'Herbstes fällt.
Man führt die Knaben und Mädchen von acht bis
dreizehn Jahren auf die schönste Weide des Kirchspiels.
Wenn sie nach Herzenslust gespielt und getanzt haben,
erhalten sie Kuchen, Obst und andere Lieblingsspeisen,
und darauf wird ihnen auf der Weide ein reichliches
Abendbrot aufgetragen. Am Ende des Mahles steht ein
Greis auf, um den Kindern eine Art Katechismus in
Versen vorzutragen. Das ausführliche Gedicht ist in der
Bretagne sehr beliebt; Jahrhunderte haben daran ge-
arbeitet, und manche Strophen werden den kleinen
Kindern eingeübt. Leider sind sie zu lang, um hier an-
geführt zu werden.
Darauf tanzen Knaben und Mädchen,
Augen der Eltern, bis nach Sonnenuntergang.
Hinziehen singen die ältesten Kinder das
Hirtenlied:
Sonntag morgens, als ich aufstand und hinaus die Kühe trieb,
Hört ich — gleich die Stimme kannt’ ich — singen schön
mein trautes Lieb.
Ich vernahm den Sang der Süßen, der vom Berge klang
unter den
Beim
geliebte
so hell.
Und sogleich zu ihrem Preise macht’ ich dieses Liedchen
schnell.
usw.
V.
Wenn ein reicher Bauer den Boden seiner Tenne
nicht mehr eben genug findet, so läßt er ein Fest der
neuen Tenne verkündigen. Am Abend vor dem fest-
gesetzten Tage fahren mehrere Karren mit Tonerde und
Wasserfässern ganz in der Stille nach dem betreffen-
den Hofe und suchen hinter den Gebüschen eine solche
Stellung zu gewinnen, daß sie Schlag Mitternacht auf die
Tenne loseilen und die farbigen Bänder gewinnen können,
die den zuerst angekommenen als Preis erteilt werden. Bei
Sonnenaufgang werfen dann die Landleute, jeder nach
der Reihe, die Erde aus ihren Karren auf die Tenne; so-
dann wird Wasser darauf gegossen, und auf diese
Mischung läßt man Pferde mit farbigen Bändern in der
Mähne herumstampfen.
Acht Tage später, wenn die Tenne trocken ist, tanzt
man darauf, um sie völlig zu ebnen. Diesen Tanz er-
öffnen die Mädchen zuweilen mit einem kunstreichen
Reigen. Gegen Abend findet ein großes Wettringen statt,
ein Sport, in dem sich die Bewohner der Bretagne von
jeher ausgezeichnet haben.
Zuerst singen Knaben von zwölf bis fünfzehn Jahren;
darauf lassen sich Jünglinge hören; endlich stimmen die
Männer ein.
Wer ringen will, ergreift einen Preis, trägt ihn im
Kreise herum, und wenn ihn niemand streitig macht,
behält er ihn. Zeigt sich jemand, so geben sich beide
Ringer die Hand zum Zeichen der Freundschaft; sie
sprechen leise miteinander und ergreifen sich gegenseitig.
Nur wenn einer den anderen auf den Rücken geworfen hat,
42*
328
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains.
wird er als Sieger betrachtet. Dann nimmt einer der
Preisrichter den Sieger in die Arme und zeigt ihn dem
Volk, das Beifall ruft. ‘Nach dem Ringen singt und tanzt
man wieder bis spät in die Nacht.
Lied am Tennenfest.
All’ waren schon beim Feste dort,
Zum Tennenfest auch ging ich fort!
Mir hüpft das Herz vor Lust empor,
Sobald die Spielleut’ hört’ mein Ohr.
Ein Mägdlein schön ich tanzen sah,
So munter wie ein Täubchen da.
Und als wir tanzten, drückt’ ich leis’
Die liebe Hand so klein und weiß;
Und sie, sie lächelte so süß,
Wie’s Engel tun im Paradies.
Und ich, ich lächelte ihr zu;
„Nur eine lieb’ ich, das bist Du“ $)!
ae (Schluß folgt.)
1$) Etwas veränderte Übersetzung von Keller.
Streifzüge in den Rocky Mountains').
Von Charles L. Henning. Denver.
V. Der Clear Creek-Distrikt: Golden — Clear Creek Canyon — Black Hawk und Central City — Idaho
Springs — Georgetown — Silver Plume — Mount McClellan.
Mit 12 Abbildungen.
I
Das Denver-Becken (Denver Basin) oder, richtiger, die
Denver-Ebene, wird in ihrer westlichen Begrenzung von
den Foothills abgeschlossen, die ihrerseits das Verbindungs-
glied zwischen diesen und dem Hochgebirge der Colorado
Front Range darstellen. An den Foathills, eine Seehöhe
von 1890 m erreichend, dehnt sich die Denver-Ebene bis
zum Mississippi aus, dort nur noch 100 bis 150 m See-
höhe aufweisend, so daß sich vom 105. bis 90. Längen-
grad ein Gefälle von über 1700 m ergibt. In ihrem öst-
lichen Teil nur wenig besiedelt und angebaut, ist die
Ebene im Westen, besonders nördlich und südlich von
Denver, ein reichen Ertrag lieferndes Kulturland, das
besonders in den letzten Jahren, seitdem die hier nur
spärlich fallenden Niederschläge ein ausgedehntes künst-
liches Bewässerungssystem nötig machten, dessen Kosten
von mehreren Millionen Dollar hauptsächlich aus öst-
lichem Kapital bestritten wurden, zu einem Eldorado für
Farmer geworden ist. Die Bedingungen für die Frucht-
barkeit des Landes sind in der’ Zusammensetzung des
Bodens, bzw. in seiner geologischen Beschaffenheit
gegeben.
Die der Stadt Denver und Umgebung unmittelbar
unterliegenden Formationen bilden Süßwasserablagerungen
der Kreidezeit, die sogenannten Denver Beds, deren Kon-
glomerate und Sandsteine ein besonderes Charakteristikum
der ganzen Gegend ausmachen, und denen fast ausschließ-
lich vulkanische Gesteine mit verschiedenen Varietäten
von Andesit unterliegen. Unter den „Denver Beds“ folgen
die „Aropahoe Beds“, ein von vulkanischem Material
freies Konglomerat, aber Gerölle sedimentärer Gesteine
enthaltend, die in bezug auf ihr geologisches Alter von
der Laramie-Fazies bis zu den roten Sandsteinen der
Trias reichen. Unter den „Arapahoe Beds“ endlich
liegen die Laramie-Kreidetone und kohleführende Sand-
steine. Diskordanzen kommen zwischen den Laramie
und Arapahoe und zwischen den letzteren und den
Denver Beds vor.
Die Denver-Ebene hat ihre gegenwärtige Gestalt nach
dem Zurücktreten des Kreidemeeres, besonders in der
folgenden Tertiär- und Diluvialzeit erhalten, wie sich in
jenen großen erdgeschichtlichen Zeitabschnitten denn
auch die Topographie der gesamten Foothill-Region end-
gültig gebildet hat. Vornehmlich haben um diese Zeit
auch die zahlreichen, in west-östlicher Richtung streichen-
!) Vgl. Globus, Bd. 92, Nr. 2, 3, 7; Bd.98, Nr.20; Bd. 96,
Nr. 22.
den Canyons sich gebildet, die für die Foothill-Region
so überaus charakteristisch sind und in die gewisse Ein-
tönigkeit des landschaftlichen Bildes vielfache Abwechs-
lung bringen. Wäre es uns vergönnt, aus der Vogel-
perspektive das Gebiet der Foothills zu überschauen,
dann würden wir gewahr werden, wie vom Longs Peak
im Norden bis zum Pikes Peak im Süden tiefe, fast
sämtlich einander parallel laufende, von West nach Ost
streichende tiefe Quertäler das Gebirge durchschneiden
— eben jene vorerwähnten Canyons — und wie den
zahlreichen von der Front Range herabkommenden Creeks
durch sie ein Ausweg nach der Ebene hin gewiesen ist.
Jeder der vielen Canyons bildet ein echtes Durchbruchs-
tal, hat seine besonderen Eigentümlichkeiten und weicht
in vieler Beziehung hinsichtlich seiner geologischen
Beschaffenheit von seinem Nachbar im Norden oder
Süden ab.
Gegenstand dieser Schilderung soll der Clear Creek
Canyon und dessen Fortsetzung in die Hochebene von
Idaho Springs, Georgetown und Silver Plume sein, sowie
sein Seitental mit den Minenorten Black Hawk, Central
City und Russell. Während einer Reise, die ich in der
zweiten Hälfte des Juni dieses Jahres dahin unternahm,
durchwanderte ich fast das ganze Gebiet zu Fuß, da es
mir vornehmlich darum zu tun war, dessen morpholo-
gische und geologische Beschaffenheit eingehend zu
studieren und zugleich Material für eine Studie zu
sammeln, die sich mit sämtlichen Canyons des Staates
Colorado, der in dieser Hinsicht geradezu ein klassisches
Feld ist, befassen wird.
An der Stelle, wo der Clear Creek aus dem Gebirge
heraustritt, um nach einem Lauf von 15 km nördlich
von Denver sich mit dem South Platte River zu vereinigen,
liegt Golden (1717 m Seehöhe). Der etwa 3000 Ein-
wohner zählende Ort bietet an sich wenig von Bedeutung;
eine große Bierbrauerei (von Adolph Coors, einem ge-
borenen Kölner) und ein Erzschmelzer sind neben der
„Colorado State School of Mines“ zu nennen, die, wenn
auch nicht mit unseren deutschen Bergakademien ver-
gleichbar, dennoch als eine vortreffliche Lehranstalt zur
Heranbildung junger Leute für den praktischen Bergbau-
betrieb bezeichnet werden muß.
Die geographische Lage Goldens entspricht der von
Morrison, ausgenommen, daß die für den Ort charakte-
ristischen Erhebungen, die beiden Table Mountains, einen
anderen Charakter aufweisen als die Dakota Ridges bei
Morrison; der Dakotasandstein verschwindet hier, und
an seine Stelle treten die säulenförmig angeordneten
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 329
Kuppen des North und South Table Mountain, die auf
den kretazeischen Denver Beds aufruhen.
Die beiden Table Mountains erheben sich über 500 m
über die Talsohle und sind durch eine weite Schlucht
voneinander getrennt, durch die sich der Clear Creek
seinen Weg gebahnt hat. Beide Berge haben eine Längen-
ausdehnung von 2!/, bis 3km und zeigen die Form
einer Mesa. Der North Table’Mountain hat an seinem
Nordabhang eine größere Höhe als an seinem Südabfall
gegen den Clear Creek hin. Eine Landmarke des South
Table Mountain bildet der weithin sichtbare Castle Rock
(Abb. 1), auf den ein Fußpfad hinaufführt und auf
dessen Spitze ein Aussichtshäuschen einen Rundblick auf
die ganze Umgebung gestattet. Die die beiden Berge be-
deckende Basaltschicht hat eine Mächtigkeit von 90
bis 95m und wird von zahlreichen größeren und kleineren
Spalten und Klüften durchzogen, wodurch die Berge das
Ansehen einer wohlbewehrten Festung gewinnen. Der
North Table Mountain wird zur
Basaltgewinnung für Straßen-
bauzwecke abgebaut, und es
finden sich hier in den Drusen
des Basalts auch jene pracht-
vollen Zeolithe, von denen die
geologische Sammlung der State
School of Mines eine größere Zahl
besitzt. Die verschiedenen Spezies
dieser in der amygdaloiden Zone
des Table Mountain-Basalt vor-
kommenden Zeolithe sind von
W. F. Hillebrand und W. Cross 2)
beschrieben worden und um-
fassen Analcit, Apophyllit, Cha-
bazit, Laumontit, Mesolit, Na-
trolit, Scolecit, Stilbit, Thom-
sonit, Calcit und Bol. Die meisten
Spezies, mit Ausnahme des Bol,
kommen in weißen oder farb-
losen Kristallen in Höhlungen
des Gesteins vor, während einige
eine durch Eisenoxyd verur-
sachte braungelbe Färbung zei-
gen. Ihrer chemischen Zu-
sammensetzung nach sind die
Zeolithe Kalzium - Aluminium-
Silikate, und ihr Ursprung dürfte
auf Auskristallisierung solcher
Silikatlösungen in den amygdaloiden Höhlungen des
Basalt zurückzuführen sein.
Was nun die Entstehungszeit der Table Mountains
anbelangt, so steht auf Grund der eingehenden Studien
von George H. Eldridge 3) fest, daß die Eruption des
Table Mountain-Basalt während der Zeit der Bildung
der Denver Beds, also während der Kreidezeit, statt-
hatte, und zwar bevor die Schichten den steilen Neigungs-
winkel erreichten, den sie heute zeigen. Die Spalten,
durch welche die Lava aus dem Innern der Erde
empordrang, waren offenbar das Resultat beständig
vor sich gehender Biegungen des Gesteins, und das
Empordringen der Lava an die Oberfläche wird
das letzte Ereignis in der sehr komplizierten Ge-
schichte einer Region zum Abschluß gebracht haben,
die mehr als eine andere durch weitgreifende dynamische
Bewegungen gekennzeichnet ist. Die nachfolgende,
starke Erosion mag die die Basaltdecke umgebenden
Denver Beds zum Teil abgetragen haben, so daß schließlich
?) Monograph 27, U. 8. Geological Survey: Geology of
the Denver Basin. 8. 292—296.
*) Ebenda, 8. 304 ff.
Globus XCVIII. Nr. 21.
Abb.1. „Castle Rock“ (South Table Mountain) bei Golden.
das Bild entstand, das bis in die Gegenwart ungeändert
fortbesteht. Auf Einzelheiten der mit der Entstehung
der Table Mountains in Verbindung stehenden geolo-
gischen Probleme kann hier nicht eingegangen werden.
In den Denver Beds wurde eine reiche versteinerte
Flora gefunden, deren Hauptvertreter Farne, Eichen,
Rhamnus und 15 verschiedene Feigenspezies bilden.
Koniferen waren selten. Über die Funde von Resten
der Tierwelt habe ich bereits in meinem letzten Aufsatz
über Morrison Näheres erwähnt.
Nördlich und südlich von Golden wird aus den
Hogbacks des Gebiets feuerfester Ton gewonnen, dessen
Industrie allerdings während der letzten Jahre stark
zurückgegangen ist, so daß sie heute kaum noch von
nennenswerter Bedeutung ist.
Unmittelbar westlich von den Table Mountains dehnt
sich zwischen diesen und den eigentlichen Foothills eine
Talmulde aus mit zahlreichen ausgetrockneten kleinen
Aufn. d. Verf.
Flußbetten, die gute Beispiele des Zutagetretens der aus
Mergeln und Sandstein bestehenden Schichten zeigen.
Südlich von dem etwas höher als Golden selbst lie-
genden Gebäudekomplex der State School of Mines führt
eine Fahrstraße nach dem etwa 600 m über der Talsohle
sich erhebenden Lookout Mountain, der ein beliebtes
Ausflugsziel der Bewohner sowohl von Golden, als auch
von Denver bildet, und über den die Straße weiter nach
Idaho Springs führt. Ein in diesem Jahre eröffnetes
Sommerhotel bietet alle Bequemlichkeiten nach den
Strapazen der Besteigung des Berges, von dem man
einen vortrefflichen Blick in die Talniederung genießt
und die Gestaltung der Foothills, die im allgemeinen ein
beständiges Auf und Nieder ist, gut beobachten kann.
Südlich Golden führt eine gute Landstraße, an der eine
Reformschule für Knaben liegt, nach Morrison, während
nach Norden Verbindungswege nach dem Kohlenminen-
ort Leyden gebaut sind.
Golden verlassend, lenken wir unsere Schritte
westwärts, dem Bahngeleise der Colorado and Southern R. R.
folgend, das uns schon nach einer knappen halben Stunde
in den Bereich einer durchaus anders gearteten Land-
43
330
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains.
Abb.2. „Hanging Rock“, Clear Creek Canyon.
schaft versetzt. Aus dem meist aus dürftigem Pflanzen-
wuchs bestehenden Kleid der abgestumpften Kegeln ver-
gleichbaren Rundhügel treten Granitfelsen von dunkel-
roter Farbe hervor, uns belehrend, daß das „Altertum“
der Erde in seinen Resten vor uns steht. Gleich einer
Wache erhebt sich rechts vom Bahnbett, zur Höhe von
etwa 20m ansteigend, ein domförmiger Granitblock,
dessen fast senkrecht gegen seine
Unterlage gerichtete Zerklüf-
tungsspalten die noch stetig fort-
wirkende Tätigkeit der Erosion
deutlich illustrieren. Noch etwa
150m weiter, und wir sind am
Eingang des Clear Creek Canyon
angelangt.
Der Clear Creek Canyon.
Der Clear Creek Canyon er-
streckt sich in einer Länge von
25km von Golden bis Floyd
Hill, von wo an das Tal bis Idaho
Springs sich beständig erweitert
und deshalb nicht mehr Canyon
genannt werden kann. In Serpen-
tinen fließt der Creek durch das
stellenweise nur wenige Meter
breite Tal, einen echten „Box
Canyon“ schaffend (mit diesem
Ausdruck bezeichnet die ameri-
kanische Terminologie sehr enge
Schluchten mit hohen Seiten-
wänden, unserer deutschen
„Klamm“ entsprechend). Stellen-
weise rücken die Canyonwände
0,25km weit auseinander, die
Aufn. d. Verf.
Breite des Flußbettes aber nur um ein Geringes
ändernd, das im allgemeinen eine Breite von
14 bis 16m aufweist. Die Bahn, eine sogenannte
„Narrow Gauge“ (Schmalspur), folgt dem Fluß-
bett in seinen zahllosen Windungen, wodurch
sich ein rascher Wechsel der Landschaftsbilder
von selbst ergibt, der auf die Dauer das Auge
sehr ermüdet, dä ein kaum festgehaltenes Bild
sofort von einem anderen ersetzt wird. Ein ge-
naueres Studium der großartigen Landschaft ist
deshalb bei einer Bahnfahrt unmöglich, und so
zog ich vor, den Canyon seiner ganzen Länge
nach zu Fuß zu durchwandern. Bei dieser Ge-
legenheit wäre ich übrigens beinahe von einem
hinter mir hersausenden Zug überrannt worden.
Das Brausen des Flusses übertönt das Rasseln
des Zuges vollständig, und obwohl es Vorschrift
ist, daß die Züge beim Passieren von Kurven
die Dampfpfeife tönen lassen sollen, geschieht
dies keineswegs. Als ich dieserhalb am Nach-
mittag des 21. Juni in Forks Creek einen Lokomo-
tivführer zur Rede stellte, meinte er sehr naiv,
es geschehe deshalb nicht, weil sie den „Steam“
beim Bergauffahren nötig hätten und also nicht
alle Augenblick „pfeifen“ könnten. Er fuhr
dann fort, daß soweit noch niemand überfahren
worden sei, nur vor „einigen Wochen“ hätten
sie eine Frauensperson zermalmt, die auf den
Schienen gegangen sei, und da man später eine
Flasche in der Nähe einiger zerstückelter Leichen-
teile gefunden habe, sei sie wahrscheinlich —
betrunken gewesen.
Eine Fußwanderung durch den Canyon ist
ein die Mühen einer stetig aufwärts gerichteten
Bewegung reichlich aufwiegender Genuß. Schon
etwa lkm von Golden entfernt machen die stark mit
Detritus bedeckten hogbackartigen Hügel gewaltigen
Szenerien Platz, die an Großartigkeit zunehmen, je mehr
man in das eigentliche „Herz“ des Canyon eintritt, der
seine mächtigste Entwickelung zwischen den Haltestellen
Guy Gulch und Forks Creek hat, wo die Wände bis zu
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains.
331
500m und darüber über das Fluß-
bett sich erheben. Mit jeder neuen
Kurve des besonders im Frühjahr
stark angeschwollenen Creeks, dessen
Bett an zahlreichen Stellen durch
abgestürzte Felsblöcke von der
Größe mittelgroßer Häuser noch
mehr eingeengt ist, ändert sich das
Landschaftsbild, für das die häufig
abenteuerliche Formen aufweisenden
Felsgebilde eine der Phantasie reichen
Spielraum liefernde Staffage bilden
(vgl. Abb.2: „Hanging Rock“ und
Abb.3: „Roadmaster“). In EIk
Creek fand ich nach angestrengtem
Marsch von über 5 Stunden gast-
liche Aufnahme bei einem Ameri-
kaner von deutscher Abstammung,
George Young, der da Strecken-
wärter ist und seiner Freude, daß
ein deutscher Gelehrter sich in diese
Gegend verirrte, nicht genug Aus-
druck geben konnte. „Wenn De
widder kommschst, kannste so lang
bleiwe als De wilsschst, es kost nix,
un esse hawwe mer plenty“ meinte
der freundliche „Landsmann“, als er mir nach ein-
genommenem Mittagsmahl auf einige Kilometer das
Geleite gab und mir erzählte, wie reich an Gold der
Canyon sei, „denn — hier wies er mit der Hand auf
einige die Felsen herablaufenden Quarzadern — dort
gibt's »leaders« (so heißen in den Vereinigten Staaten
goldführende Quarzgänge), und ich selbst hab’ schon
Gold in meiner pan gefunne“. Gewiß hatte der Mann
nicht unrecht; aber wer wollte es wohl unternehmen, an
den 1000 Fuß in die Tiefe abfallenden Steilabhängen
nach Gold zu suchen!
Etwa 3,5km oberhalb Elk Creek weitet sich der
Canyon wieder, und bei Roscoe trifft man auf eine ver-
lassene Mine, die gleich so vielen anderen des Distrikts
langsam in Trümmer fällt.
Abb. 5.
Central City.
Aufn. d. Verf.
Abb.4. Black Hawk. Aufn. d. Verf.
Bei Forks Creek, wo es ein Stationshaus und einen
„Lunchroom“ gibt, mündet der North Clear Creek in den
eigentlichen Clear Creek, der hier besonders charakte-
ristische Felsbildungen aufweist. Da der westwärts
über Floyd Hill nach Idaho Springs sich fortsetzende
Canyon allmählich an Großartigkeit abnimmt und keine
bemerkenswerten Einzelheiten mehr darbietet, will ich,
dem Lauf des North Clear Creek folgend, mich Black
Hawk und Central City zuwenden, die beide den End-
punkt des Seitenzweigs der Colorado and Southern R.R.
bezeichnen, die den ganzen Canyon von Golden bis Idaho
Springs durchfährt und dann weiter nach Georgetown
und Silver Plume geht.
Das Tal des North Clear Creek ist von dem eigent-
lichen Clear Creek Canyon durchaus verschieden; die
Talwände sind weiter ausein-
andergerückt und die mit De-
tritus bedeckten Hogbacks lassen
nur an vereinzelten Stellen das
massige Gestein anstehen. Das
Tal weist infolgedessen nicht im
entferntesten die Großartigkeit
der Szenerie des Canyon auf.
11,5km von Forks Creek
entfernt liegt das in 40 Minuten
Fahrzeit erreichbare Black Hawk
(2510 m Seehöhe) nebst der
Schwesterstadt Central City
(2657 m), Amtssitz von Gilpin
County.
Black Hawk und Central
City.
Black Hawk (Abb. 4) bildet
mit Central City (Abb.5) ein
Ganzes, d. h. beide Orte sind
unmittelbar aneinander angebaut.
Der Name des ersten Ortes geht
auf ein Firmenschild in Gestalt
eines Habichts (Black Hawk)
zurück, das einer der ersten
Minenbesitzer dort über seinem
Besitztum anbrachte, während
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332
der Name von Central City das „Zentrum“ der umliegenden
Minen bedeutet. Irgend etwas Besonderes ist von den
beiden Orten nicht zu berichten; beide sind sogenannte
Mining Camps mit einer aus verschiedenen Nationalitäten
zusammengesetzten Bevölkerung.
Die Gründung der beiden Camps fällt in das Jahr 1858,
als dieGebrüder Russell (nach denen der Ort Russell be-
nannt ist) aus Georgia nach den Rocky Mountains kamen,
um nach Gold zu suchen. Im Juni des genannten Jahres
fanden sie in der Tat Erz etwa 10 km oberhalb Denvers
und nannten die Stelle „Montana Diggins“. Als sie
nach dem Missouri zurückgekehrt waren, um Mundvor-
räte zu holen, verbreitete sich die Kunde von Erzfunden
in den Rockies derart schnell, daß eine ganze Gesell-
schaft nach dem vermeintlichen Goldland aufbrach,
unter ihnen ein gewisser John H. Gregory, dem es im
April 1859 in der Tat gelang, Seifengold im Clear Creek
zu finden. Im Mai 1859 hatte Gregory die nach ihm
benannte „Lode“ entdeckt, und bald herrschte reges
Leben. Das Gold wurde ausschließlich durch Waschen
gewonnen. Bis Ende September 1859 arbeiteten gegen
900 Mann in dem Distrikt bei einer wöchentlichen Aus-
beute von 50 000 Doll. in Gold. In den 8 Monaten des
Jahres belief sich die Gesamtausbeute auf 1 Million
Dollar.
In Verbindung mit der ersten Besiedelung des Minen-
distrikts ist hier auch noch eine andere Persönlichkeit
zu nennen, Patrick D. Casey, kurzweg „Pat“ genannt,
der in den sogenannten Gründerjahren und auch noch
später eine Rolle spielte. Ein irländischer Landstreicher
(tramp), der weder lesen noch schreiben konnte, arbeitete
er zuerst mit Gregorys Leuten, dann als Arbeiter in der
(jetzt eingegangenen) Burroughs Mine an Quartz Hill bei
Central City für einen Tagelohn von 2,50 Doll. Das
Glück war ihm günstig, und nachdem er in Chase Gulch
einen sehr ergiebigen Erzgang entdeckt hatte, der ihm
große Summen einbrachte, begann er auf großem Fuß
zu leben, warf das Geld mit vollen Händen weg und
bildete bald die Hauptfigur in den Straßen Central Citys,
jedem etwas abkaufend, der etwas zu verkaufen hatte,
auch wenn es das wertloseste Zeug war. Dabei führte
er stets ein großes Notizbuch und eine Menge Bleistifte
bei sich und gefiel sich besonders darin, das Heft mit
allerhand Kritzeleien zu verzieren. Seine gewöhnliche
Redensart dabei war, daß er „used up ten lead pencils
a day and then didn’t half do his business“. Als „Pat“
auf der Höhe seines Ruhmes stand, hatte er über
100 Leute in seiner Mine beschäftigt, die für ihn durchs
Feuer gingen. Eines Tages sank aber auch sein Stern!
Es war während des Bürgerkrieges, als Pat, total be-
trunken, auf einem Pferde wie rasend durch Central
City galoppierte. Der Provostmarschall, der damals als
Bürgermeister von Central City fungierte, versuchte ihn
hinter Schloß und Riegel zu bringen, worüber aber Pat
derart in Harnisch geriet, daß er seine sämtlichen Leute
zu seiner Befreiung aufbot, um den Marschall nebst seiner
ganzen Bande aus Central City zu verjagen. Nichts-
destoweniger mußte Pat dennoch ins Gefängsnis wandern,
aber nun war erst recht der Teufel los. Während der
Nacht glich die Stadt einer Szene des wildesten Aufruhrs,
die Miliztruppen wurden herausgerufen, und erst nach-
dem der damalige Gouverneur von Colorado, John Evans,
sich ins Mittel gelegt, trat etwas Ruhe unter den auf-
geregten (iemütern ein. Pat wurde nach einigen Tagen
wieder in Freiheit gesetzt, blieb auch fürderhin nüchtern,
verschwendete aber ebenso rasch sein Geld, wie er es ge-
wonnen hatte. Nachdem auch seine Minen allmählich
an Wert abgenommen hatten, verkaufte er eines Tages sein
Besitztum und verschwand. Niemand konnte mir in
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains.
Central City oder Black Hawk sagen, was aus ihm
geworden, nur soviel hörte ich, daß er einen Zigarren-
laden in New York noch betrieben habe und dann wahr-
scheinlich ungekannt und unbetrauert gestorben sei.
Ich habe die Geschichte Pat Caseys deshalb etwas
ausführlicher hier erzählt, weil sie geradezu charakte-
ristisch für hundert andere, ähnlich verlaufene Schick-
sale von Abenteurern ist, die aus der Hefe des Volkes
hervorgegangen, ohne einen Cent Geld und ohne jegliche
Bildung, in kurzer Zeit zu kolossalen Reichtümern ge-
langten, dann aber ebenso starben wie sie lebten.
Auch der im April dieses Jahres verstorbene Multi-
millionär Thomas F. Walsh war als mittelloser „Tramp“
aus Irland nach ('olorado gekommen, hatte, gleich Pat
Casey, in Central City und Black Hawk als Prospektor
und Bergmann hart gearbeitet, bis er in Leadville und
im San Juan-Distrikt zum mehrfachen Millionär ge-
worden war. Aber Tom Walsh war ein ehrenhafter
Charakter im vollsten Sinne des Wortes, und seine Rede,
die er am 22. Mai 1908 vor den Studenten der State
School of Mines in Golden hielt (abgedruckt im „Quarterly
of the Colorado School of Mines“, Vol. 3, Nr. 1), muß
unbedingte Hochachtung für ihn erwecken, wie auch
Walsh während seines Lebens ernstlich bestrebt war,
durch eifriges Lernen nachzuholen, was ihm eine harte
und entbehrungsreiche Jugend versagt hatte. Er hat
einen unbefleckten Namen mit ins Grab genommen.
Black Hawk sowohl als Central City, die noch vor
etwa 10 Jahren eine Einwohnerzahl von 1500 bzw. 3000
hatten, weisen heute kaum die Hälfte der Bewohner auf
und bieten in ihrer äußeren Erscheinung ein überaus
trauriges Bild des Herunterkommens und Verfalls. Ich
gewann geradezu den Eindruck, als ob der „böse Feind“
über das Land gezogen sei: verfallene Häuser, zer-
schlagene oder vernagelte Türen und Fenster, verlassene
Minen mit davorliegenden Abfallhaufen (Dump Hills),
Schilder mit den Aufschriften: „House for rent“ oder
„House for sale“ legen beredtes Zeugnis davon ab, daß
die „goldenen Tage“, die diese Orte einst sahen und wo
das Geld „wie Heu“ gemacht wurde, wohl nicht mehr
wiederkommen werden, wenn nicht unvorausgesehene Ver-
hältnisse die Lage ändern. In Massen verlassen die
Einwohner die Orte, um teils in Denver, teils in Nevada,
teils in Alaska wieder neue Reichtümer zu erwerben.
Pater Mayer von der katholischen Aloysiusschule in
Central City, ein geborener Westfale, erklärte mir, daß
23 Familien im Mai und Juni Central City verlassen
hätten, und daß, wenn die Dinge so weiter gingen, auch
er sich wahrscheinlich entschließen müsse, sein Bündel
zu schnüren, da er unter den obwaltenden Um-
ständen seine Schule wohl nicht aufrecht halten
könne. Die herrschende Depression äußert sich in aus-
gesprochener Weise schon in den Mienen der Leute;
niedergeschlagen und kaum zum Sprechen aufgelegt,
gehen sie ihrem kärglichen Verdienst nach und murren
über die „schlechten Zeiten“.
In Russell, wo fast ausschließlich Tiroler und Nord-
italiener wohnen, sind die Verhältnisse auch nicht besser,
und da auch dort die wenigen noch im Betrieb befind-
lichen Minen im Lease-System bearbeitet werden, müssen
die Leute oft ein paar Monate völlig umsonst arbeiten
und erhalten auch dann nur einen mageren Lohn, nach
Abzug der Kosten, die für die Versendung des Erzes
nach den Schmelzern entstehen.
Ebenso ungünstig lautende Berichte über Niedergang
bzw. völligen Stillstand der Minen liegen aus Leadville,
aus dem einst so blühenden Aspen und selbst aus Cripple
Creek vor, desgleichen aus dem San Juan-Distrikt.
Was ist nun der Grund dieser Erscheinung?
Täuber: Ein uralter Flußname (Aach-aqua-ava).
333
Zunächst kommt hier die Tatsache in Betracht, daß
die Erze von Gilpin- und Clear Creek County im all-
gemeinen „low grade ore“, d. h. niedergradiges Erz dar-
stellen und zur Aufbereitung sehr kostspielige Prozesse
durchzumachen haben, bevor sie technisch verwendbar
sind. Solange in Black Hawk die Erze an Ort und
Stelle eingeschmolzen werden konnten, ging die Sache
noch sehr gut von statten, als aber der Schmelzer vor
mehreren Jahren einging, mußte das Erz — wie auch
heute noch — nach Golden bzw. Denver zum Ein-
schmelzen geschafft werden, wodurch naturgemäß sehr
beträchtliche Transportkosten erwuchsen. Des weiteren
ist die Art der Aufbereitung nicht auf der Höhe der
Zeit, da kein Kapital vorhanden ist zur Aufstellung mo-
derner Aufbereitungsapparate, und weil ferner noch kein
Mittel gefunden ist, niedergradiges Erz auf billige Weise
zu verarbeiten. Der Hauptgrund für das Darniederliegen
der Minen ist aber der völlige Mangel an dem nötigen
Betriebskapital. Der Staat Colorado ist hinsichtlich des
Zuflusses von Kapital zur Bewirtschaftung seiner Minen
ausschließlich auf den Osten der Vereinigten Staaten
oder, noch genauer gesprochen, auf Wall Street,- New
York City, angewiesen. In den letzten Jahren hat nun
das Emporwuchern zahlloser Schwindelminen (Fake
Mines) einen derartigen Umfang angenommen, daß das
östliche Kapital — und auch mit voller Berechtigung —
die Hände auf die Taschen hält und weniger liberal im
Geldspenden ist als zuvor. Gewissenlose Individuen
haben, ohne auch nur die elementarsten Kenntnisse von
Erz oder Mine zu besitzen, das ganze Bergbauwesen
nicht nur Colorados, sondern der ganzen Vereinigten
Staaten dadurch aufs schwerste geschädigt, daß sie
irgendwo einen „Claim“ aufnahmen, dem Gesetz gemäß
auch ein 10 Fuß tiefes Loch in die Erde bohrten, ein
paar wertlose Steine herausnahmen und sie dann denen,
„die nie alle werden“, als „reiches Golderz“ vorzeigten.
Dann wurde eine „N. N. Milling and Mining Co.“ ins
Leben gerufen, Anteilscheine (Shares) verkauft und
unter Zuhilfenahme sonstiger Fälschungen das Geld den
Leuten aus der Tasche gelockt, bis sie dann — natür-
lich zu spät — einsahen, daß sie zum so und sovielten
Male betrogen waren.
Ein besonders bezeichnender Fall, der mir persön-
lich in allen Einzelheiten bekannt wurde, sei hier mit-
geteilt. Ein Metzger (!) — leider ein Deutscher — der
von Erz- oder Minenwesen soviel verstand wie die Katze
vom Sonntag, fungierte bis zu dem Tage, an welchem
seine Schwindeleien zu arg wurden, als „Manager“ einer
solchen „Milling and Mining Co.“ bei Dumont (bei Idaho
Springs), verkaufte massenhaft „Shares“, besonders an
ärmere Leute, und benutzte als Kapermittel pyrithaltiges
Erz, das er, damit es mehr nach „Gold“ aussehe, vorher
mit Blattgold überrieben hatte, welches er sich in Idaho
Springs verschafft hatte.
Gelingt es nun diesen Betrügern, genügend Geld
zusammenzubringen, dann wird auch eine Mühle auf-
gestellt, „Erz“ wird herausgeschafft, auf einem großen
Haufen angesammelt, um die „Ergiebigkeit“ der Mine
zu zeigen, Photographien dieses Haufens werden ge-
macht usw., bis endlich die ganze Herrlichkeit eines
Tages ein Ende hat. Dem Arbeiter in den Minen ist es
sehr gleichgültig, ob er wertvolles Erz oder einfach wert-
lose Steine herausfördert, solange er nur bezahlt be-
kommt. Gibt es kein Geld mehr, dann geht er
irgendwo anders hin, um dasselbe Spiel von neuem
aufzunehmen. Kein Wunder daher, wenn, wie ich
vorher bemerkte, der Osten dem Westen mit ge-
schlossenen Taschen gegenübersteht, so lange die ge-
schilderten Zustände, „wild cat mining“ genannt, un-
gestraft bestehen; denn leider hört man nur sehr selten
vom Eingreifen der Justiz in diese jeder Zivilisation
hohnsprechenden Zustände, und die Betrogenen wollen
nicht auch noch obendrein Geld für Prozesse ausgeben,
die in der Regel doch verlaufen wie das Hornberger
Schießen.
Was Colorado und jeder bergbautreibende
Staat der Union in erster Linie braucht, sind
geschulte Bergleute. Solange die „Bergleute“
sich aus ungebildeten Fleischern, Schmieden,
Maurernusw.allermöglichen Nationenzusammen-
setzen, kann von einem Bergmann im deutschen
Sinne des Wortes keine Rede sein. Des weiteren
ist eine staatliche Überwachung des Bergbaues
durch kompetente und wissenschaftlich gründ-
lich gebildete Organe eine dringende Notwendig-
keit. Erst nach Erfüllung dieser Bedingungen
wird es möglich sein, das geschwundene Ver-
trauen wieder zu gewinnen und werden auch
Mittel und Wege gegeben sein, die in der Tat
vorhandenen überreichen Schätze des Bodens
so zu heben und nutzbringend auszubeuten, daß
das Gemeinwohl für gespendete Mühe und Arbeit
auf seine Rechnung kommt.
Allerdings hängt die ganze Reform der gegenwär-
tigen Art des Bergbauwesens eng mit dem herrschenden
Erziehungssystem der Vereinigten Staaten zusammen.
Solange hier nicht Wandel geschaffen wird, solange
die Erziehung der Jugend — wenn hierzulande über-
haupt von einer solchen gesprochen werden kann —
nahezu ausschließlich in den Händen ungebildeter und
für ihr Amt völlig unfähiger Lehrerinnen ist, von denen
man gewiß kein Interesse für Naturwissenschaften, wie(teo-
logieund verwandte Zweige, verlangen kann, solange werden
sich die des großen Landes unwürdigen Zustände auch
nicht ändern. Die in den meisten Fällen äußerst mangel-
hafte Bildung der jungen Leute im Bergingenieurfach
ist für das Gesagte ein sprechender Beweis, und der
treffliche Präsident der Colorado State School of Mines,
Victor C. Alderson, hatte nur allzu recht, als er kürzlich
in nicht mißzuverstehenden Worten die ungenügende
Bildung der jungen Leute für ihren Beruf rügte.
(Fortsetzung folgt.)
Ein uralter Flußname (Aach-aqua-ava).
Von Dr. C. Täuber.
Es wäre interessant, eine einigermaßen vollständige
Zusammenstellung der geographischen Namen zu besitzen,.
die sich auf althochdeutsches aha — gotisches ahva,
„fließendes Wasser“, „Fluß“ zurückführen lassen. Kluge
(in seinem Deutschen etymologischen Wörterbuch) weist
hin auf die vielen Ach, Aach, Ache, Achen in Süddeutsch-
land und Österreich, Aa in der Schweiz und Westfalen,
Zürich.
Ohe in Hessen. Als zweiten Bestandteil von zusammen-
gesetzten Wörtern (Kluge nennt es Suffix) finden wir
-ach (im ganzen mehr oberdeutsch) und -a (mehr mittel-
und niederdeutsch) z. B.in Urach, Steinach, Salzach, Rotach,
Schwarzach, Fulda (aus Fuldaha), Werra, Schwarza; als
ersten Bestandteil in Achleiten (vom Wasser durchrieselte
Grashalden), wovon der Personenname Achleitner. Die
334
Täuber: Ein uralter Flußname (Aach-aqua-ava).
Schweden haben ihre À und die Dänen ihre Aa. Man be-
achte hier schon, daß Aa, Aach usw. oft ohne weiteres
auch für den an einem Bach oder Fluß liegenden Ort
verwendet werden, wie z.B. das Städtchen Aach in Baden,
das Dorf Steinach bei Arbon am Bodensee zeigen; oder
daß der Fluß zwar inzwischen anders getauft wurde, der
Ort aber immer noch den früheren generellen Wasser-
namen trägt, wie z. B. Aadorf an der Lützel- (der
„kleinen“) Murg (Kt. Thurgau).
Zum gleichen Stamm, den wir in indogermanischem
akwä, lateinisch aqua, haben, gehört auch Au. Kluge
sagt, das vorauszusetzende agwjö sei ein substantiviertes
Adjektiv und bedeute „die wässerige“ (Wasserland, d. h.
Inseloder Wiese); agwjö wurde zu awjö (awiä), aujö, althoch-
deutsch ouwa, mittelhochdeutsch ouwe: Aue. Die Angel-
sachsen haben ég, ig „die Insel“; in Verbindung mit land
erhalten wir niederländisch eiland, englisch i(s)land, „die
Insel“ (s aus Vermengung mit isle von insula). Die alte
Form awia hat sich latinisiert bewahrt in Bat-avia
(niederländisch Betouwe), Scadin-avia (angelsächsisch
Sceden-ig, altnordisch Skäney). — Ein näheres Studium
hierhergehöriger Ortsnamen wäre im höchsten Grade
lohnend. Das heute fast unbekannte „Ege“ scheint weit
verbreitet gewesen zu sein. Wir haben es mit regelrechter
Walliser Pluralbildung (vgl. die Laui, „Lawine“: Lauenen,
Zenlauenen, „zu den Lawinen“; die Rüfi, „Erdrutsch“:
Zenrüfenen; Seew, „der See“: Seewinen usw.)in Eginen,
dem Namen eines von vielen Bächen durchzogenen ein-
samen Tales im Oberwallis bei Ulrichen, und dem einer
von den Abflüssen des mächtigen Allalin-Gletschers ge-
speisten Gegend Eginen im Saastal, die zwar auf der
Karte nicht benannt ist, von der aber der anliegende
Berg Eginer seinen Namen trägt, auf der Karte fälsch-
lich geschrieben Egginer im Anklang an Egg, das Eck
(= die Ecke) im Sinne von Bergkante, währenddem
die Bewohner Eginer oder sogar Eiginer sprechen. (Ver-
mutlich findet damit auch der noch ungedeutete Name
des Berges Eiger im Berner Oberland seine Erklärung,
der im Jahre 1252 mons Egere und später Egerhorn
heißt; ferner Egeri oder Aegeri am gleichnamigen Schwei-
zersee, und der Egel, ahd. ögala, „Blut-egel“, nebst
dem Egelsee ob Bremgarten.) Eger heißen sowohl ein
Fluß im Württembergischen, ein Nebenfluß der Elbe, als
ein Nebenfluß der Theiß; Egersund und Egerö, d. i.
Eger-Insel, finden sich in Norwegen; ein Ort Egelsbach
liegt im Kreis Offenbach und eine Stadt Egeln an der
Bode in Preußen. Und ist es bloßer Zufall, daß die Göttin
der alten Latiner, aus deren Quell die Vestalinnen das
Wasser schöpften, Egeria hieß? Haben wir doch auf
italienischem Sprachgebiet auch eine wasserreiche Alp
(nebst Colle, „Paß“, namens Eigua) südlich von Ceppo-
morelli in der Val Anzasca. Ich verweise noch auf den
nordischen Gott der Fluten, den „Wassermann“ Ägir;
auf Ägina, die Tochter des Flußgottes Asopos, geboren
auf der nach ihr benannten Insel; auf Ägeus, den
mythischen König von Athen, und das ägäische Meer.
Eine an einem kleinen Flüßchen gelegene Ortschaft
Egnach findet sich neben Salmsach bei Romanshorn.
Agger ist ein Nebenfluß der Sieg (Köln), Ager der Ab-
fluß des Attersees, in die Traun mündend.
Häufiger als Ege ist die Form Ei, Eien. Wir haben
wasserreiche Wiesen und Alpen dieses Namens u. a. am
Fuß des vorhin genannten Eginer Berges, im urnerischen
Erstfelder Tal, bei Engelberg; dieEikehle („Wasserrinne“)
an der Schächentaler Windgelle. Andere Dialektformen sind
Oey und Öeyen im Simmental, Aeuje (-je Walser, bzw.
Walliser Diminutiv-Endung, wie Plattje, „kleine Platte“,
Triftje, „kleine Trift“, Stockje, „kleiner Stock“ usw.) an
der Landquart bei Klosters im Prätigau, und entsprechend,
mit üblichem schweizerdeutschen Diminutiv -li (-lein)
Üli, Alp im Linth-Tal beim Tödi, Eu: Euloch, eine Wasser-
rinne am ÖOrtstock ob Linthal, der Eubach und das Eutal
an der Sihl zwischen dem Aubrig („Au-berg“) und Ein-
siedeln.
Kluges etymologisches Wörterbuch macht uns schließ-
lich noch auf eine in deutschen Gebieten erhaltene, aber
weniger leicht erkennbare Gruppe von Bachnamen auf-
merksam, die auf ein vorauszusetzendes keltisches apa
— lateinisch aqua, gotisch ahwa, zurückgehen: Erlaff,
ahd. Eril-affa, Aschaff, ahd. Asc-affa; ferner Ortsnamen
im fränkisch-hessischen: Honeff, und niederdeutsch, auch
westfälisch, nicht zu f verschoben, -ep in Lennep.
Betrachten wir kurz den Einfluß des lateinischen
aqua auf die Fluß- und Ortsnamenbildung in den roma-
nischen Gegenden. Aus aqua entsteht italienisch acqua,
spanisch agua, provengalisch aigua, altfranzösisch aigue,
aiwe, ewe, eawe, eaue, neufranzösisch eau. In den spa-
nischen Pyrenäen, wo z. B. der aragonesische Dialekt dem
provengalischen sehr nahe verwandt ist, heißt der Bach
oft aigueta, „Wässerlein“, z. B. die Aigueta de Eriste,
der südliche Abfluß des Posets- („Seen“-) Gebirges. In
der Provence befinden sich die Aigues Mortes oder Mar-
tigues (= tote, „stagnierende“ Wasser, „Etangs“), auch
ein Ort Eyguieres usw. In der dem franko-provengalischen
Sprachgebiet zugehörenden Westschweiz bietet sich
uns eine reiche Musterkarte von Formen, die (nach
H. Jaccard, Essai de Toponymie, Lausanne 1906) alle teils
auf lateinisch aqua, teils auf keltisches &ve, ive (vgl. oben
apa) zurückgehen: aigue, eigue, igue, ivoue, ivue, invoue,
ive, ève, euve. Beispiele: Aiguerousse („eau rouge“) bei
Gryon; Aigue-Saussaz (lateinisch salsus, „eau salée“) bei
Salins ob Aigle; Autraigue („au delà de l'eau“) bei Or-
mont-dessous; Ballaigue („belle eau“, Urkunde von 1117
aqua bella, 1228 Ballewi, 1354 Balleigue), Fraidaigue
(„eau froide“) bei St. Prex; Raraigue („eau rare“)
bei Aigle; Longeaigue („longue eau“) bei Avenches,
Longive bei Oron, Longeau bei Biel, deutsch Lengnau
(Urkunde von 990 Lengenach, 1181 Lengowe, 1228
Longiewa), Longivue bei Autigny; Mortaigue und Mortigue
(„eau morte“) in der Waadt, Mortive oder Mortivue
in Freiburg; Noiraigue (Urkunde von 998 nigra
aqua) in Neuchâtel, Neiraigue bei Ballens, Neirigue oder
Neirivue („eau noire“) in Freiburg; Aiguette („petite
eau“) bei Saubraz; Corne à l’Egaz bei Villeneuve; L’Egasse
bei St. Imier; in Ygouasse („aux eaux“) bei Grimentz,
Wallis; Albeuve (Urkunde von 1019 alba aqua, 1117
Erbiwi und Albewi, 1620 Albegue) und Erbivue („eau
blanche“), Freiburg; Clarivue („eau claire“), Wallis;
Marivue (nach Jaccard „mar“ keltisch: „groß“ (?); wohl
mar „Stein“, also „Steinach“) bei Albeuve; Rougève, Rogive
(in einer Urkunde von 1237 Rogiaivui, rubea aqua),
Rogivue, Rozaigue („eau rouge“) bei Orbe; Saussivue
(1296 salsa aqua) bei Gruyère; Ivette oder Ivouette
(„petite eau“) bei Bex; Evouettes, Wallis; Evuettes bei
Sépey; ès Yvoettes bei Ollon; ès Invouettes, kleine Quellen
bei Charmey; Entrèves, Etrèves, Etrives („entre les eaux“)
bei Ollon; l’Evi, Fluß von Albeuve; Invoua bei Marly,
Invou6 bei Sales, l’Invoö bei Thierrens, l’Invuex bei
Granges, Linvuex (mit verschmolzenem Artikel) bei Sales,
Livoez bei Assens, Ivuex bei Prahins, Yvoex bei Prangins;
Evuez bei Roche (-ez und -ex sind Kollektiv-Suffixe, -asse
augmentative Endung) usw.
Die angeführten westschweizerischen Namen bereiten
die eine große Schwierigkeit: zu unterscheiden
zwischen dem aus lateinischem aqua hervorgegangenen
altfranzösischen ewe, woraus französisch évier, „der
Rinnstein* (lateinisch aquarium, „Wasserbehälter“),
englisch ewer, „die Wasserkanne“ (vgl. Ewer in Ham-
uns
Täuber: Ein uralter Flußname (Aach-aqua-ava).
335
burg, „Flußfahrzeug“),französisch evolage, „Bewässerung“
usw. entstanden sind, und dem auf französischem Boden
aus keltischem apa entstandenen ève, ive. Die Formen
fließen hier ineinander; man hat deutlich vor Augen das
Aufeinanderprallen von romanischen und keltischen
Kulturelementen.
Anders gestaltet sich die Sache, wenn wir uns in ein
anderes Sprachgebiet, das räto-romanische begeben.
Die Bündner Karte zeigt uns da zunächst einige wenige
romanische Namen, die unschwierig zu deuten sind:
so eine Alp Suracqua („ob dem Wasser“) am Julia-Fluß
östlich von Stalla und die Lokalitäten Suracqua westlich
und östlich von Casaccia im Bergell; daneben aber eine
Menge von unstreitig rätischen Bachbezeichnungen a va,
ova usw.
Bei der Leichtigkeit des Überganges von p zu v in
verschiedenen Sprachen (vgl. z. B. auch oben ève, ive
auf französischem Boden aus keltischem apa) müssen wir
zum mindesten intime Verwandtschaft zwischen keltischem
apa und rätischem ava ansetzen. — Ich führe zunächst
eine Anzahl gesammelter Beispiele an: Ava da Nandrö,
Fluß bei Savognin; Surava, Dorf über der Albula; ava
lungia bei il crap (Bergüner Stein); ava da Mulix, südlich
von Preda am Albula-Paß; ava dil Fadalux, Bach bei
Molins; ava dellas tigias, Bach bei Sur (Molins); riva
d’ava, an der Julia bei Marmorera; ava di Soreno; ava
caeda, westlich von Stalla; Aua da Laiders, Fluß bei
Cierfs (Münstertal); Val dell’ aua bei Scarl; laua da
Saglains, l’aua da Fless, l’aua da Lavinuoz usw. im Unter-
Engadin; Ova del Lejet („Seelein-Bach“) in der Val
d’Eschia (Engadin); ova del mulin („Mühlenbach“), ova
della Roda, ova da Fex, ova del Crot (alle in den Silser-
see mündend); ova del vallun, bei Silvaplana; ova del
Fuorn, am Ofenpaß; ova d’spin, Nebenfluß des Spöl bei
Zernetz; suot lova, zwischen Silser- und Silvaplaner-
See; ova da Sanaspans, Bach auf der Lenzerheide. Auch
die Verkleinerung Ovel („Bächlein“) kommt vor: Ovel
d’Urmina, westlich von Bergün; die Alp Sur ovel, über
dem Rosegbach. Sogar die Form eva findet sich: saneva
(„gesundes Wasser“) im Gegensatz zu lava marcha
(„faules Wasser“ — Schwefelquelle) im Val Tuors ob
Bergün. Eine Lokalität südöstlich von Tinzen, wo eine
Unmasse von Bächen entspringt, heißt PA vagna.
Die genannten Formen des tief in die Romanenzeit
erhaltenen „rätischen* ova, ava bleiben indessen nicht
auf „alt fry Rätien“ beschränkt; sie begegnen uns wieder
im Tessin. Freilich heißt dort das Wasser längst acqua,
und als vor einiger Zeit am „Wasser“ par excellence,
am Tessin ob Airolo, ein paar Häuser entstanden, nannte
man die Ortschaft einfach All’acqua. Aber von den vor
alters getauften Bächen und Flüssen heißt keiner „acqua“.
Die Maiensässe ob den Bächen bei Peccia heißen die Monti
dell’ Ovio; Oviga nennt sich ein Seitenbächlein der
Melezza im Centovalli bei Palagnedra, und gleichfalls
Oviga ist der Name eines Bächleins südlich von Avegno
(vgl. obiges Avagna bei Tinzen) im unteren Maggiatal.
Ovesca ist der große Fluß des Antronatales (Ossola).
Weiterbildungen des offenbar uralten ava im
Sinne von Wasser, Fluß mit üblichem Suffix (Vergröße-
rungen, Verkleinerungen usw.) lassen sich nicht nur in
Rätien und im Tessin nachweisen, sondern zeigen sich
uns in einem großen Teile Europas. Ich verweise auf
folgende geographischen Namen: Val Avers in Grau-
bünden (die Bewohner werden „Avner“ genannt; vgl.
Jahrbuch des Schweizer Alpenklubs XXX, S. 114), in
welcher sich eine Aua da Vidurs, eine Aua granda
(„großer Bach“), eine Aua pintga („kleiner Bach“) und
eine Aua da mulin („Mühlenbach“) mit dem Hauptfluß
(der „Ava“) vereinigen. Avero heißen Alphütten
zwischen zwei Flüssen bei Campodolcino (Splügenroute).
Dem berühmten Lago d’'Averno bei Neapel stellt sich
die Lokalität Averne südlich vom Kleinen St. Bernhard
an die Seite. Avrona werden Alphütten ob Vulpera
genannt, die an einem Seitenbach der Clemgia liegen,
und Aurona heißt der von den Gletschermassen des
Monte Leone gespeiste Sammelbach, der ostwärts ab-
fließt, Auressio ein Dorf bei vielen Bächen im tessi-
nischen Onsernone-Tal (vgl. oben das augmentative Suffix
-asse in Egasse, Westschweiz); Aurigeno, Dorf und Tal
in der Valle Maggia, Val d’Auriglia, bei Selma im
Calanca-Tal. — Wieder andere Ableitungen von ava:
Avio, See, und A violo, Berg östlich von Edolo im Veltlin;
südlich davon ein Monte Avello. Avila (bei den
Römern Ovila) und Aviles sind spanische Flußstädte;
Aulella ist ein Flüßchen in den Apuanischen Alpen
(Massa-Carrara). Bei der Beschreibung des Paßweges
von Aviasco (Val Seriana) heißt es im Jahrbuch des
S. A. C. XLII, S. 154: „Eine ganze Reihe jener ernsten,
dunkeln Bergseen folgt sich hier...“ Avino, über
der Tunnelachse des Simplons, ist ein Seebecken, gespeist
von Bächen des Monte Leone, Aveno ein am Monte
Legnone (Comersee) entspringender Bach, Avegno ein
Dörfchen bei der Einmündung des Rial grandein die Maggia
nördlich von Ponte Brolla; Avigna, Tal bei Münster-
Taufers; Avignon, das lateinische Avennio, die päpstliche
Stadt an der Rhone; Avenone, westlich von Lavenone
(vgl. Laveno am Langensee) am Idrosee; Avenza, ein
Fluß in den Apuanischen Alpen im Marmorgebiet von Car-
rara; Rio d’Avedo, Bachgebiet am Lago Negro, Valle Ver-
molera, nordöstlich von Poschiavo; Avise, an der Dora,
westlich von Aosta; Ausone, Alp in bachreicher Gegend
am Devero, südlich des Albrun-Passes; Avisio, der
Fluß des südtirolischen Tales Fleims (wie die Orte Flims,
Graubünden; Flums, St. Galler Oberland, und Flon, Fluß
von Lausanne, verwandt mit lateinischem flumen, Fluß).
— Avon ist der Name mehrerer Flüsse in England; be-
rühmt ist der, an welchem Shakespeares Geburtsstadt
und auch der Ort Evesham („Wasserheim“) liegen. —
Man möchte auch an Aventicum (jetzt Avenches)
denken, die Helveterstadt am Murtnersee, welcher früher
sich noch über die nunmehrige Sumpflandschaft erstreckte.
Avent (urkundlich 1100 Avainz, 1250 Aveyn), Dorf an
einem Seitenflüßchen der Rhone, westlich von Sitten.
Ave ist ein portugiesischer Fluß nördlich von Porto,
und Aveiro eine Stadt südlich davon an einem großen
Meeresteich. „Aven“, mit Diminutiven avenca, aven-
quet nennt man in Südfrankreich (nach dem Zeugnis
der „Montagne“, C.A.F.1910, No. 4, avril, p. 230) einen
gouffre, einen Strudel oder Abgrund.
Häufig sind die Flußnamen A vançon oder Avengon
im unteren Rhonetal bei Bex, Vionnaz, Colombey, nebst
einem Diminutiv Avanconnet, bei Morcles. Diesen
an die Seite zu stellen sind die Flüsse Evangon im
Aosta-Tal, und die Avangon, Avance im Dauphing,
unter Apokope des a auch Vangon, Vance, und Van-
zone im Anzasca-Tal; als Diminutiv wieder das Flüßchen
Avanchet bei Genf.
Höchst beachtenswert ist, daß die Form eva sich
auch in jetzt vollständig deutschem Sprachgebiet vor-
findet, so im Kanton Uri der wilde Evi-bach, welcher
von der Seewli-Alp herunterkommt und sich bei Silenen
in die Reuß ergießt; die bachreiche Eveli-Alp im Hinter-
grund des Maderaner-Tales; die bachreiche Lokalität
„im Evel“ neben Eie (Eisten, im Walliser Saas-Tal).
Aus französischem Sprachgebiet nenne ich Entreves
(„zwischen den Bächen“) ob Courmayeur am Südfuß des
Mont Blanc, in welcher Gegend der Wildbach sonst
durchweg nant, nantillon genannt wird; die Lokalität
336
„Entre les Eves“ nördlich vom Mont Buet, den Col
des Evettes bei Bonneval in der Maurienne; dieGrand
Eyvia,den Fluß von Cogne am Gran Paradiso; Evole, ein
jetzt zugedeckter Bach in Neuchätel; Evolena (urkund-
lich 1250 Ewelina, 1255 Eweleina, 1449 Evolenaz), Fluß
und Dorf im Val d’Herens; Evian (urkundlich aqui-
anum), Badeort am Genfersee; Evionnaz (1020 Evunna,
1263 Eviona), an der Rhone bei St. Maurice.
Aus altem Evurnum ist Yvorne, Ort im unteren
Rhonetal, aus Eburo-dunum Yverdon, Stadt am Neuen-
burgersee, entstanden.
Es besteht die Möglichkeit, daß O yace, Ort in bach-
reicher Gegend in der Val Pelline, neben Fontana und
Bagnera, einem italienischen oviaccio (vgl. oben Ovio),
Ayas, auch Aiazza, das Tal des Evancon, italienischem
aviaccia (vgl.oben Avia) entspricht, wobei dann wiederum
Ajaccio, die korsische Hauptstadt am Meere, ihre
Deutung fände.
Aber auch die Eulach, der Fluß von Winterthur
(in Urkunden von 760 und 761 wird der Ort Elgg, wo
die Eulach ihren Ursprung nimmt, genannt: Ailagh-oga
oder Ailihec-auge, später Elegauge, Eilicouwe, Eilcoue,
also „Au an der Ailach“ ; vgl. A. Ziegler, Die geographischen
und topographischen Namen von Winterthur), gehört
hierher. Ailach scheint eine Weiterbildung von Avil
(vgl. oben Avila usw.) oder Evil zu sein. Daß v zwischen
zwei Vokalen öfters ausfällt, zeigt nicht nur das italienische
avea statt aveva usw., sondern auch das Wort Aöla, nach
welchem der Graubündner Berg bei Bergün benannt ist.
Um diesen Namen richtig zu verstehen, muß man im
Auge behalten, daß an der Nordostseite des Berghanges
die Grasplanken, wo mehrere Bäche, vom Gletscher ge-
speist, entspringen, „tranter Aela“ heißen. (Sehr klar
zeigt die Situation eine Photographie im Jahrbuch des
S. A. C. XXXII, S. 32.) Das romanische tranter, auch
tanter, verwandt mit italienischem dentro, bedeutet
„zwischen“; so haben wir den Engadiner Piz Trenter
ovas („zwischen den Bächen“) im Quellgebiet des Beverin
ob Bevers; die Lokalität Tanter auas bei Lavin im
Unter-Engadin; ferner Tanter ils Craps („zwischen den
Felsen“) westlich der Stammerspitze, Tanter mozza im
Val Fless, Tanter Portas bei Sta. Maria, Tanter Ruinas
im Münstertal usw. Aëla (avela) ist offensichtlich Dimi-
nutiv zu ava. Die Lokalität, nach welcher der Berg
benannt ist, heißt also „zwischen den Bächen“ und es
ist falsch, wenn die deutsch sprechenden Touristen und
ihnen nach nun allmählich die ortsansässigen Gebirgs-
leute (Führer usw.) die Aussprache äla gebrauchen. —
Übrigens nennen die Deutschschweizer Älen auch den
waadtländischen Ort Aigle. Dieser heißt urkundlich
1138 Allium, 1204 Aile. Jaccard (a. a. 0.) denkt an
Herleitung von lateinischem aquila, „Adler“. Könnte es
nicht aquula oder aquila, Diminutiv von aqua, „Wasser“
sein? Haben wir doch auch eine Aile froide, ein „kaltes
(Gletscher-) \Wässerchen“ beim Pelvoux im Dauphiné.
Herbeizuziehen wären noch Aquila, die Flußstadt nord-
östlich von Rom, und Aquila am Fluß Brenno im tessi-
nischen Blegnotal; Aquileja, die Wasserstadt, Vor-
gängerin Venedigs; das „Wasserland“ Aquitania; das
Gehöft Aquino an Fluß und Bächen im tessinischen
Verzasca-Tal; die Aguagliouls, Gletscherbach-Gegend
am Zusammenstoß von Tschierva- und Roseg-Gletscher
(aguagliöl, Diminutiv von aguagl, lateinisch aquale,
„Wasserrinne*) und Equilina, Hütten an einem Neben-
flüßchen der Dora, westlich des obengenannten Avise
im Aosta-Tal.
Formen wie Equilina, Allium (Aigle), Aile helfen uns
auch die Frage nach der Benennung des mächtigen
Gletschers lösen, der von einer wasserreichen Lokalität
Täuber: Ein uralter Flußname (Aach-aqua-ava).
Allalin seinen Namen erhielt. Man dachte an aquilina
als von aquila, „Adler“ kommend, weil ja auch der am
oberen Gletscherende liegende Übergang „Adlerpaß*“
heißt. Doch letzterer soll erst 1853 bei der erstmaligen
Überschreitung von Pfarrer Imseng und dem Engländer
Wills wegen dortigen Fundes einer Adlerfeder so getauft
worden sein. Nun heißt das oben besprochene Ober-
walliser Eginen-Tal urkundlich latinisiert Ayguelina.
Wie, wenn Eginen, von dem der bereits erwähnte Eginer
Berg seinen Namen hat, auch Ayguelina hieß? Wenn
aus aquila (aquilum?) Allium wurde, kann aus aquilina
(aquulina) bzw. einem barbarisch latinisierten allulina
wohl Allalin werden.
Ohne das Thema erschöpft zu haben — hierzu be-
dürfte es wegen der Fülle des vorhandenen Materials
einer umfangreichen Dissertation —, will ich noch kurz
nach fernerer Verwandtschaft zu gothisch-lateinischem
ahva-aqua und keltisch-„rätischem“ apa-ava-eva forschen.
In Waldes Latein. etymologischen Wörterbuch findet sich
unter aveo, „begierig sein, heftiges Verlangen tragen“,
die Erwähnung des Avens (eines in den Tiber münden-
den, den Circus maximius durchfließenden Baches), wovon
der Mons Aventinus (vgl. oben Aventicum) seinen
Namen trägt. Hierbei wird verwiesen auf die Fluß-
namen: gallisch Avos, Avara; bretonisch Ava; auf
altindisch aväni- „Strom“, „Fluß“ und avatä-s,
„Brunnen“, lettisch awuts, „Quelle“ (sowie den
Averner See; siehe oben). — Das lateinische amnis,
„Fluß“ wird auf zweierlei Art erklärt:
„ 1. Aus einem vorauszusetzenden ap-ni: altindisch
äp-, „Wasser“ und apa-vant-, „wässerig*, altpreußisch
ape „Fluß“, apus, „Quelle“, „Brunnen“, litauisch
und lettisch upe, „Wasser“, wobei verwiesen wird auf
lateinisch opimus, fruchtbar , fett, wohlgenährt“ (ops,
„Fülle, Reichtum, Macht“ usw.); ferner auf die griechi-
sche Bezeichnung des Peloponnes (der „Pelops-Insel“)
Apia und auf dieApuli, die „Wasseranwohner“ Unter-
italiens (wovon Apulien); den illyrischen Fluß Apsos,
und den apium, „Sumpf-eppich“, und den Namen
der Volskerstadt Apiolae. Ich möchte hier noch heran-
ziehen die Apuanischen Alpen bei Massa-Carrara
(vgl. dort die Flüßchen Avenza und Aulella) und
vielleicht den Apennin (aus Apenna; Wortbildung
wie Ravenna usw.) als „Brunni-* oder „Brünneli-
stöcke*.
2. Aus altirischem abann, „Fluß“ (eymrisch afon,
cornisch- bretonisch auon, „Fluß“, gallisch-britisch
A bona), wobei auf die Flußnamen Apidón in Arkadien,
und Apidanós in Thessalien hingewiesen wird, auch auf
altindisches ábda-s, „Wolke“. — „Im letzten Grunde
stehen indogermanisch ap- und ab- wohl im Zu-
sammenhang.“
Chronologisch denke ich mir die Sache so: Da
sich v wohl ungemein viel seltener zu b und p verhärtet,
als umgekehrt sich p zu b und später zu v abschwächt,
so sind die Formen auf ap- die ursprünglichsten; ab-
und av- gehören späteren Sprachperioden an und wurden
zu den notwendig gewordenen Ableitungen vom Grund-
begriff „Wasser“ benutzt. — Das Lateinische nimmt
mit seinem (lautgesetzlich korrekten) qu an Stelle des p
im Gegensatz zu den älteren italischen Idiomen, welche
den p-Laut beibehalten, eine Sonderstellung ein, ähnlich
wie das Germanische. — Das verschafft uns die Leichtig-
keit, die germanischen und lateinischen, bzw. davon ab-
geleiteten romanischen Fluß- und Ortsnamen ziemlich
klar zu erkennen: Ach, Aa, Au usw. einerseits, aqua,
aigue usw. andererseits; in der Form Ege treffen sich
beide. Dagegen sind weder germanisch noch lateinisch
apa, ava, ova, eva usw.; ap kann altindisch, preußisch,
Spieß: Die Joholü-Gottheit und ihr Schlangenkult.
337
griechisch, illyrisch, italisch, keltisch sein, ab irisch
britisch, gallisch, av altindisch, westkeltisch und, wie wir
an den vielen vorgebrachten Flußnamen gesehen haben,
rätisch-italisch.
Wie dem auch sei, Tatsache ist, daß eine große Menge
von Flüssen und Orten schon vor der Weltherr-
schaft der Römer getauft worden waren und den
Eroberungszug der lateinischen Sprache durch Süd- und
Westeuropa nicht mitgemacht haben, sondern konser-
vativ in ihrem alten Gewande verharrten. Übrigens
haben sich wohl das alte ava usw. in der lebendigen
Volkssprache, besonders im abgelegenen Gebirge,
nöch lange erhalten, bis endlich auch da das lateinische
aqua einzudringen vermochte.
Die Joholu-Gottheit und ihr Schlangenkult.
Von Missionar C. Spieß, Togo, zurzeit Bremen.
Auf einer meiner Reisen in Togo hielt ich mich längere
Zeit in der Stadt Klewe, ®/, Stunden von Ho entfernt,
auf. Dort, versteckt im Talesgrunde, abseits vom Ge-
triebe der Städte, kann der ethnographische Sammler
noch Gebräuchen begegnen, die anderswo schon dem
Untergange geweiht gewesen sind. Aber nicht allzu lange
mehr, und die europäische Kultur hat auch hier die letzten
Reste heidnischer Sitten, die uns tiefe Blicke in die Religion
der Eingeborenen Togos geben, verschlungen.
In Klewe begegnete ich zum erstenmal einem einzig-
artigen Schlangenkult, dem in erster Linie ein göttlicher
Begriff, eine Gottheit selbst zugrunde liegt. Diese trägt
den Namen Joholu.
Joholü wohnt dort in einer Steinkluft und läßt sich
des öfteren sehen an dem großen Wasserloch, aus dem
Frauen und Kinder Wasser für den täglichen Bedarf
schöpfen. Hier entspringt ein kleiner Fluß, der nach
dem Gotte Joholü den gleichen Namen trägt. Joholu
führt uns auf wo (ho) = Riesenschlange, die dort am
Wasserloch (lu) sich aufhält. Er wird von der ganzen
Stadt Klewe gefürchtet, gilt als der Lebenserhalter, wird
mit Eifer verehrt und soll als die größte Gottheit zugleich
die älteste aller Gottheiten Klewes sein. Joholu nimmt
die Kinder aus den Händen der höchsten Gottheit Mawu
und überbringt sie der Klewe-Stadt, bevor sie von Men-
“schen geboren werden. Er kann, wenn er will, die Stadt
auch vor schwerem Schaden u. dgl. beschützen.
An seine Verehrungen knüpfen sich Verordnungen,
die aufs strengste gehalten werden müssen. Diese lauten:
1. Am Feiertage Joholüs, dem sog. asigbe oder
awenogbe, darf niemand auf seinem Felde arbeiten.
2. Niemand darf eine wo töten, denn sie gilt als ein
Kind des Joholu.
Tötet dennoch jemand eine Riesenschlange, so hat er
weißen Baumwollstoff, aklala genannt, eine große Kale-
basse Palmwein, 4,50 .#. in bar, sowie einen Ziegenbock
zu bringen. Das weiße Zeug wird der Schlange als
Leichentuch umgewickelt, worauf sie dann, anderen
(menschlichen) Beerdigungen entsprechend, begraben wird.
Palmwein, Geld und Ziegenbock werden nach dem üb-
lichen Jowe-Gebrauch unter die Menge verteilt. Sollte
jemand, der eine wo getötet hat, die Gabe nicht bringen
wollen, so wird er sterben. Besonderes Interesse an der
Erfüllung der Joholu-Pflichten haben die Priester, da sie
sich dann ihrem Gotte gegenüber beruhigt fühlen.
Nicht jedermann hat zu der Quelle in der Felskluft,
in der Joholu seine Wohnung hat, Zutritt, um Wasser
zu schöpfen. Das zeigen folgende Priestergesetze:
1. Ne nyonu ade le gbe la made tro la we nowe o.
Hat eine Frau ihre Menstruation, darf sie den Götter-
platz nicht betreten.
2. Ahosi medea egbo o. Witwen dürfen nicht hierher
kommen.
3. Akadi medea egbo le zame o. Mit einem Lichte
darf keiner hier in der Nacht erscheinen.
4. Amesi we asi enye asiande la medea gbo o. Wer
sechs Finger hat, darf nicht den Ort betreten.
5. Nudaze medea egbo ne adzudzo alo dzofe le nu o.
Ein Eßtopf, der noch raucht oder an dem sich Asche
befindet, darf nicht an diesen Platz getragen werden.
6. Gayibogba, si nyonuwo tsona la medea gbo o.
Die von Frauen getragenen eisernen Schalen darf man
nicht auf diese Götterstätte bringen.
Interessant war für mich folgendes Erlebnis. Beim
Photographieren des Joholu-Platzes rief ich einer jungen
Frau mit ihren Kindern, die vorbei gingen, zu: sie möchte
sich doch auch mit hinstellen, worauf die dort anwesenden
jungen Negerinnen mir sofort sagten, daß die Frau nicht
kommen dürfe, da sie ihre „Tage“ habe. Namentlich
der Ausruf dieser Eingeborenen brachte mich darauf,
über die Joholu-Gottheit genauere Forschungen anzu-
stellen.
Übertreter irgend eines der sechs genannten Gebote
werden bestraft mit 4,50 «#, einer großen Kalebasse
Palmwein und einem Ziegenbock. Ist die Strafe ent-
richtet, so wird der Bock, nachdem das Fleisch gekocht,
unter Erwachsene und Kinder verteilt. Vom Palmwein
wird die Hefe dem Trö Joholü unter Nennung des Über-
treters mit folgendem Gebete dargereicht: „Gott, nimm
hinweg des Übertreters böse Tat, weil ein Kind nicht
Fehler gegen den Vater begehen, ihn auch nicht mit dem
Tode schlagen darf.“ Am Trö-Feiertage hat der Priester
das Recht, jedes Huhn, das er antrifft, zu töten. Er selber
bringt von den seinigen zwei zu den eingefangenen
Hühnern, geht zum Götterplatz und kocht dort die
Hühner, worauf jeder Anwesende vom Essen nehmen
kann.
Nach der Feier richtet der Priester an Joholu zum
Wohlergehen der Stadt folgendes Gebet: „O unser großer
Mann Joholu, wir danken dir für deine Aufsicht über
uns und bitten dich wieder, sei mit uns, daß unsere Stadt
sich vergrößere; siehe auf die Kindermutter, laß ihr Haus
voll werden und die Stadt sich vermehren; sei mit ihr
im Kriege, daß sie siege!“ Nach Verrichtung des Gebetes
wäscht jeder sein Angesicht in einer mit Arzneikräutern
versehenen Schale und geht nach Haus.
Dieser einzigartige Schlangenkult in Klewe brachte
mich weiter darauf, in der 1!/, Stunden davon ent-
fernten Stadt Akrofu nach einem gleichartigen Kult zu
suchen.
Hier lautet ein erstes Gesetz: Während des Busch-
brandes ist es niemandem erlaubt, einen Leoparden oder
eine wo-Schlange zu töten. Leoparden werden sonst
jederzeit getötet, aber auch beim Buschbrande, durch den
gerade viele Schlangen getötet werden, muß die Riesen-
schlange am Leben bleiben. Wer dieses Gesetz nicht
befolgt, wird schwer bestraft und darf nicht eher in den
„Busch“, bis er bezahlt hat.
Nach dem Buschbrande, wenn die wo-Schlangen nichts
mehr im Busche zu fressen haben, kommen sie bis an
338
Bücherschau.
die Hütten der Eingeborenen und können verzehren, was
sie erfassen, seien es Schafe oder Ziegen, was sich die
Besitzer ruhig gefallen lassen müssen. Während eine
Riesenschlange ihre Beute vor den Augen der Eingeborenen
verschlingt, treten diese zu ihr heran und begrüßen sie
mit den Worten: „Amegä, miedekuku na wö, megawo
o he, megawo o hē!“ („Großer Mann, wir bitten dich,
tue es nicht wieder, tue es nicht wieder!“)
Die Priester der wo, die von dem Vorgang wissen,
versammeln sich in der Stadt und schicken jemanden
zum König mit den Worten: einer unter ihnen in der
Stadt habe die Göttergebote übertreten, daher der Zorn
der Götter, daher das Verschlingen der Tiere.
Nun kommt darauf die ganze Bewohnerschaft zu-
sammen und richtet die Angelegenheit, bis dennoch am
Schlusse die Priester die ganze Stadt für schuldig be-
finden, sogar den König und seine Partei tadeln und sich
nicht eher zufrieden geben, bis der König und die Ältesten
eine Strafe bezahlen, die von den Priestern zum Götter-
platz getragen wird, als Versöhnungsgabe für die erzürnte
Gottheit dient, bald darauf aber im Besitze der Priester
sich befindet.
Bücherschau.
The Archaeological Survey of Nubia. (Ministry of
Finance, Egypt. Survey Department.) Bulletin No. 5
Dealing with the Work from November 1 to December
31, 1909. 25 S. Cairo, National Printing Department,
1910.
Die dankenswerte Erforschung der zahlreichen dem
Untergange geweihten Grabstätten Nubiens wurde, wie das
vorliegende Heft zeigt, in gewohnter sorgsamer Weise fort-
gesetzt. Die Gräber in der Umgegend von Dakke, dem
Pselchis der Griechen, welche Firth untersuchte, ergaben
nur wenige archäologisch interessantere Überreste. Sie
waren so gut wie alle in verhältnismäßig früher Zeit
durch die Bauern, welche den Nekropolen die als Dünger
dienende Sabacherde entnahmen, umgegraben und mit dem
Wesentlichen ihres Inhaltes vernichtet worden. Zeitlich er-
streckten sie sich von der Nagadazeit bis zum Mittelalter
herab, doch überwog die ältere Zeit. Außer Gräbern unter-
suchte man in der Nähe des Nils Reste eines Hauses aus
der Römerzeit, das als Magazin gedient zu haben scheint,
und bei dem großen Tempel von Dakke ziemlich ausgedehnte
Teile eines römischen Lagers. An einem Felsen, 4km vom
Nile entfernt, waren, wie Bates feststellte, von frommen
Wanderern im Altertume Inschriften eingegraben worden.
Die meisten derselben sind griechisch abgefaßt, doch finden
sich daneben einige lateinische und meroitische und eine,
die in hieratischer Schrift den Namen eines ägyptischen
Königs Antef verzeichnet, der vor 2000 v. Chr. gelebt haben
würde. Der Herrschername ist aber so fehlerhaft geschrieben,
daß die Einzeichnung sicher nicht zeitgenössisch sein kann,
sondern von einem weit späteren, des Agyptischen unkundigen
Besucher herrühren wird.
Unter den Knochenresten aus den nubischen Nekropolen,
welche anatomisch genau von Elliot Smith und Derry unter-
sucht wurden, fand sich eine Reihe von Negerschädeln aus
der Zeit zwischen 200 und 400 n. Chr., welche zahlreiche
schwere Verletzungen aufweisen und wohl von einer feind-
lich in das Land eindringenden Schar herrühren. Bei
einigen anderen Negerschädeln aus der hellenistischen Zeit
traten umfangreiche künstliche Zahndeformationen auf; man
hatte Zähne abgefeilt, in bestimmte Formen zurechtgeschnitten
oder auch Schneidezähne absichtlich ausgezogen. Bei
einigen Leichen aus einer Nekropole des Alten Reiches
wurden Knochenveränderungen, besonders an den Rücken-
wirbeln festgestellt, die auf Knochentuberkulose hinzuweisen
scheinen.
Bonn. A. Wiedemann.
Georg Wilke, Spiral-Mäander-Keramik und Gefäß-
malerei. Hellenen und Thraker. 848. mit 99 Text-
abbildungen und 1 Tafel. (Darstellungen über früh- und
vorgeschichtliche Kultur-, Kunst- und Völkerentwickelung,
herausgegeben von G. Kossinna. 1. Heft.) Würzburg 1910,
Curt Kabitzsch. 4,50 fé.
Wie die Überschrift zeigt, beschäftigt sich Wilke in
dieser Schrift — wie schon in früheren Arbeiten — vor allem
mit Fragen der prähistorischen Ornamentik und mit den
ältesten ethnographischen Verhältnissen der Balkanhalbinsel.
Aber der Gang seiner Beweisführung ist viel verwickelter
und greift den Grundlagen wie den Ergebnissen nach sehr
viel weiter aus, als der Titel erwarten läßt. Wilke geht von
der zuerst von Alphons Stübel (Festschrift zur Jubelfeier des
25jährigen Bestehens des Vereins für Erdkunde zu Dresden
1888) ausgesprochenen „Verschiebungstheorie“, d. h. von der
Beobachtung aus, daß eine Menge geometrischer Muster,
deren Zustandekommen an sich zunächst unbegreiflich er-
scheint, aus einfachen Grundfiguren sich gewinnen lasse,
wenn man diese in zwei gleiche Teile zerschneidet und den
einen Teil gegen den anderen in der Richtung der Schnitt-
linie verschiebt. Er zeigt, daß nach diesem Konstruktions-
prinzip alle in der neolithischen Keramik vorkommenden
Spiral-Mäander-Ornamente sich leicht herstellen lassen, und
schließt daraus, daß die Künstler jener Epoche „dieses Kon-
struktionsprinzip . . . vollständig beherrschten und zur Auf-
suchung neuer Verzierungsmotive ganz methodisch verwen-
deten“. Ist dies aber richtig, schließt der Verfasser weiter,
dann ist die Heimat dieses Dekorationsstiles da zu suchen,
wo die Verschiebungsmuster besonders reichlich und rein sich
finden, und wo andererseits auch ihre Grundelemente vorher
bereits vorhanden sind. Dies aber ist nur im nördlichen
Balkan, besonders in Bosnien der Fall. Denn die anderen
Gebiete, die auch Spiralmäander aufweisen, wie die Megalith-
keramik und einige Fundstätten Mitteldeutschlands, zeigen
sie erst in späteren Perioden und dann entweder ohne Ver-
ständnis für das Konstruktionsprinzip oder in sprunghafter
Auswahl ohne jede Spur einer Entwickelung von einfachen
zu komplizierten Formen. Nun hat Kossinna seine Beobach-
tung, daß „sich schon in der jüngeren Steinzeit etwa in der
Höhe von Magdeburg eine scharfe Kulturscheide bemerkbar
macht“, damit erklärt, es bezeichne diese Scheidelinie die
ursprüngliche Grenze zwischen West-(Nord-) und Ost- (Süd-)
Indogermanen, und es seien schon früh die Nordindogermanen
über diese Linie nach Süden vorgegangen und hätten die
Südindogermanen im Westen nordindogermanisiert (Band-
keramik), während die östlichen Südindogermanen ihre ethno-
graphische Eigenart und ihre bemalte Keramik beibehielten.
Diese Aufstellungen müssen, wenn sie zutreffen, in den archäo-
logischen Tatsachen ihre Bestätigung finden. „Das Kultur-,
gebiet mit monochromer Spiral-Mäander-Keramik muß zu dem
ihm sprachlich (?) nahestehenden nordischeu Gebiete mehr
oder weniger enge Kulturbeziehungen, gegenüber dem in
sprachlicher Hinsicht (?) so sehr verschiedenen Gebiete mit
Gefäßmalerei aber tief einschneidende Kulturunterschiede auf-
weisen.“ Einige gemeinsame Elemente beider Kreise erklären
sich leicht durch Entlehnung und den gemeinsamen Ursprung
beider Kulturen. Es bleibt dabei: „Beide Kulturformen sind
durch eine tiefe Kluft voneinander getrennt, eine Erscheinung,
die eben nur durch die Annahme tiefer ethnischer Gegen-
sätze eine befriedigende Erklärung findet.“ „Ist die mono-
chrome Spiral-Mäander-Keramik Bosniens und der Nachbar-
gebiete den Vorfahren der Hellenen zuzuweisen, ... so
gewinnen die im Süden der Balkanhalbinsel gelegenen Sta-
tionen mit verwandter Tonware noch insofern eine besondere
Bedeutung, als sie uns über Zeit und Weg der ersten helleni-
schen Wanderungen Aufschluß geben.“ Wo sich hier Schichten
sondern lassen, erkennt man von unten nach oben aufeinander-
folgend zuerst rein geometrische monochrome Keramik, dann
lineare Gefäßmalerei, hierauf monochrome Spiral- Mäander-
Keramik und endlich wieder Gefäßmalerei mit übernommenen
Spiral-Mäander-Formen, was auf einander ablösende Besiede-
lungen durch 1. Indogermanen (vielleicht Pelasger), 2. Ost-
indogermanen (vielleicht Thrako-Phryger), 3. Hellenen,
4. neue Ostindogermanen, nämlich Thraker, schließen läßt.
Dies ist der Gedankengang des Verfassers; es soll aber
durch diesen kurzen Überblick nicht der Eindruck erweckt
werden, als sei nur Behauptung an Behauptung gereiht;
Wilke hat vielmehr seine Aufstellungen auf genaueste Einzel-
beobachtung eines reichen Materiales gestützt und auch die
verschiedensten anderen Möglichkeiten zu erwägen nie unter-
lassen. Man muß sich aber doch fragen, ob aus archäologi-
schen Befunden in der Weise auf ethnographische Verhält-
nisse geschlossen werden darf, wie der Verfasser es tut, ob
man wirklich unbedingt Kulturscheiden auf Völkerscheiden
und gar Sprachgrenzen zurückführen, in der Folge der
Kulturschichten ein Wechseln verschiedener Bevölkerungen
Kleine Nachrichten.
339
sehen und umgekehrt auch erwarten darf, ethnische Ver-
hältnisse stets archäologisch bestätigt zu sehen. Aus dem
Vorkommen von Spiral-Mäander-Kultur in Stationen der Bal-
kanhalbinsel darf zunächst doch nur auf ein Wandern der
Kunstübung, der Herstellungsweise, der Ornamentik, nicht
des Volkes geschlossen werden. Nicht einmal die Hocker-
bestattung im Hause — so eigentümlich sie ist — kann einen
Zusammenhang der Orte, an denen sie vorkommt, zwingend
beweisen, da sie auch sonst noch in der Welt sich findet.
Man sieht, es geht auf eine Prinzipienfrage hinaus, wieviel
Tragkraft man dem Hypothesenbau Wilkes zugestehen will,
und es mag gern zugegeben sein, daß auch er für sein Vor-
gehen gute Gründe ins Feld führen kann. Jedenfalls ist der
beste Weg, die methodische Frage zu lösen, der, daß eben
für einen bestimmten Fall Hypothesen dieser Art aufgestellt
und erprobt werden. Und von diesem Gesichtspunkte aus
betrachtet ist auch das in der vorliegenden Arbeit zu begrüßen,
was nicht bei allen Billigung findet.
Zum Schlusse seien noch einige Irrtümer auf dem Gebiete
der klassischen Altertumskunde berichtigt, aus denen man
freilich dem Verfasser keinen Verwurf machen darf, da er
von ganz anderer Seite an die Sache herankommt. Er zitiert
8. 69 die somatische Schilderung — die zitierte Stelle steht
Adamant. IIc, 32 (Scriptores Physiognomiei ed. Rich. Förster,
Vol. I, p. 385) — der Griechen in der „Beschreibung des
griechischen Arztes Adamantios, die freilich erst einer ziem-
lich späten Zeit, dem 5. Jahrhundert v. Chr. entstammt“.
Hier ist wohl ein Druckversehen zu korrigieren: der Verfasser
scheint der Meinung des Fabricius zu folgen, der den Ada-
mantios mit einem gleichnamigen Arzt des 5. Jahrhunderts
nach Chr. identifizierte. Diese Ansicht ist jetzt aufgegeben;
man setzt den Autor in das 3. Jahrhundert n. Chr. und
weiß, daß seine Schrift gar kein Originalwerk, sondern nur
ein Auszug aus dem Buche des Physiognomikers Polemo
(3. Jahrhundert n. Chr.) ist (vgl. Scriptores Physiognomiei
rec. Rich. Förster, Bd. I, 8. LXXV ff., C ff.) — Die „Pelasger“
sollte man jetzt doch endlich aus dem Spiele lassen, nachdem
so sehr wahrscheinlich gemacht ist, daß dieses Volk eine
Konstruktion primitiver griechischer Geschichtsforschung ist,
ein Name, wie Autochthonen, Aborigines usw. Und der
„Ppelasgische Mauerbau“ ist vollends als Erfindung der mo-
dernen Archäologen erwiesen, die davon ausging, daß in
einigen antiken Autoren vom „Pelasgikon teichos“ zu Athen
die Rede ist. Inzwischen aber hat man aus einer attischen
Inschrift gelernt, daß dieser — jetzt auch wieder aufgedeckte
— Mauerbau gar nicht Pelasgikon hieß, sondern Pelargikon,
was wohl „Storchenbau“ bedeutet, und daß dieser letztere
Name auch in den guten Handschriften der erwähnten Au-
toren steht (vgl. Ed. Meyer, Forschungen z. alten Gesch. I).
München. Albert Hartmann.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Die englische Neuguinea- Expedition (vgl. oben
8. 147) hat fortgesetzt mit den größten Schwierigkeiten zu
kämpfen, so daß es sehr fraglich erscheint, daß sie von der
gewählten Basis, dem Wakatimiflusse aus, das Schneegebirge
erreichen wird. Das Gelände gestattet nicht die geringste
Aussicht zum Zweck der Orientierung, außer hin und wieder
vom Flußbett aus; unglücklicherweise führt keiner der Flüsse
nach der gewünschten Richtung. Dr. Marshall kam von
Tapue vier Tagemärsche nach Osten und dann in die Vor-
hügel, aber die Eingeborenen verließen ihn nun, und er
mußte sich allein mit den drei Gurkhasoldaten mühsam den
Rückweg erkämpfen. Dann brachen er und Kapitän Rawling
von neuem auf, sie schlugen sich einen anderen Weg durch
den Busch und errichteten ein Lager an dem großen Flusse
Wataikwa. Dieser sollte nach Angabe einiger Eingeborener
aus der gewünschten Richtung, d. h. aus Osten kommen,
und so versuchten die Reisenden, ihn aufwärts zu verfolgen,
indem sie beim Kreuzen und Wiederkreuzen des Flusses
häufig bis an die Achsel einsanken. Aber schließlich stellte
es sich heraus, daß er aus dem Norden kam, und so kehrte
man um. Nur mit knapper Not waren dabei die Reisenden
dem Untergange entkommen; denn vier Stunden, nachdem
das schützende Lager wieder erreicht war, sandte der Fluß
Wasserfluten herab. Der nächste Schneeberg lag in einem
Abstand von 45km, und um zu ihm zu gelangen, hätte man
noch weiter östlich vorstoßen müssen; aber das Klima machte
sich für alle fühlbar, und die Nahrungsmittel nahmen be-
ständig ab, so daß nur wenig Aussicht war, weiter als 25
bis 30km vorzudringen. Der Leiter der Expedition, Good-
fellow, lag am Fieber danieder, Rawling, Marshall und
Wollaston befinden sich verhältnismäßig wohl. Diese Nach-
richten Rawlings datieren vom 19. Juli. Die Karte, so sagt
er („Geogr. Journ.“, November), wuchs allmählich, erschien
aber nur als geringer Lohn für siebenmonatige Bemühungen.
— Die Quellen des Amazonenstromes. Professor
Wilhelm Sievers (Gießen) bereiste von April bis November
1909 das nördliche Peru und das südliche Ecuador, um seine
früheren Cordillerenstudien fortzuführen und über die heutige
und einstige Vergletscherung des dortigen Hochgebirges Unter-
suchungen anzustellen. Dabei hat er auch das Quellgebiet
des Marañon aufgesucht, der als der Hauptquellarm des
Amazonenstromes gilt. Mit diesem Quellgebiet und der Quellen-
frage beschäftigt Sievers sich in seinem vorläufigen Reise-
bericht in der Zeitschrift der Berliner Gesellschaft für Erd-
kunde, wobeier ganz zutreffend bemerkt, daß die Geographen
und Reisenden jene Frage weit weniger interessiert habe,
als z. B. die Nilquellenfrage. i
Als Quelle des Marañon galt bisher allgemein der See
Lauricocha in Peru (Lage etwa 10°10 s. Br. und 76°30’
w. L), dem der Rio de Lauricocha entfließt. Mit diesem ver-
einigt sich unter 9°50’ s. Br. bei Huangrin der westlichere
Rio Nupe, dem von links wiederum der Rio Queropalca zu-
fließt. Lauricocha, Nupe und Queropalca, die alle aus der
Cordillera de Huayhuasch kommen, sind als die drei obersten
Quellflüsse des Maranon anzusehen, und esfragt sich, welches
der wasserreichste ist. Eine Abschätzung der Wasserführung
war bisher nur von Raimondi vorgenommen worden, der
den Rio Nupe für den hauptsächlichsten erklärt hatte. Trotz-
dem galt, wie erwähnt, ziemlich allgemein der Lauricocha
als der Hauptquellarm und der Lauricochasee als die
Quelle des Marañon. Sievers hat die Oberläufe aller drei
Flüsse besucht und kommt zu dem Ergebnis, daß der
bedeutendste und wasserreichste in der Tat der Lauricocha
ist. Aber dieser hat auch eine längere Laufentwickelung
als dieanderen, wenn man den größten Zufluß des Lauricocha-
sees hinzunimmt, und Sievers hat dessen Ursprung genau
studiert. Danach entspringt dieser Zufluß, also der Maranon,
auf einem Schneeberge namens San Lorenzo in der Cordillera
de Huayhuasch, etwa unter 10°30’ s. Br. und gegen 45km
südlich vom Lauricochasee. Nach kurzem Lauf tritt er dann
nacheinander in die Seen („Lagunen“) Santa Ana, Caballo-
Cocha, Anca-Cocha und Tinki-Cocha, um sich nordwärts dem
Lauricocha zuzuwenden. Über den Tinki-COocha ist Sievers
nach Norden hin nicht hinausgekommen, doch sagte ihm
der Verwalter der nahen Mine Raura, daß der Fluß unter-
wegs noch eine Lagune namens Huascar-Cocha durchzieht.
Diese Quellengegend ist auf den peruanischen Karten, z. B.
auf dem südwestlichen Blatte der neuen Ausgabe der Loreto-
karte, ungenau und unzutreffend dargestellt, Sievers ver-
mochte diese Ungenauigkeiten zu beheben.
Der Lauricochasee ist über 4km lang, aber wohl nicht
über '/, km breit. Die Ufer sind mäßig hoch, das Wasser
ist grün und klar und stand offenbar ehemals höher (60 bis
70m). Die Temperatur betrug am 23. Mai 1909 um 9 Uhr
früh 11°. Der Marañon tritt aus dem Nordostende als ein
grünlicher, klarer, viele Wasserpflanzen führender, rasch
strömender und wasserreicher Bach aus, der fast schon die
Bezeichnung Fluß verdient. Etwa 250 m unterhalb der Aus-
flußstelle hat er eine unbedeutende Stromschnelle, 250 m
weiter überschreitet ihn eine niedrige Brücke aus 10 Stein-
jochen, die aus frühspanischer Zeit stammen dürfte.
— Die beiden Smithsundeskimos, die Cook nach seiner
Behauptung zum Nordpol begleitet haben sollen, sind von
dem Pfarrer Gustav Olsen — ebenfalls einem Eskimo — ver-
nommen worden, und Rasmussen hat von Kap York die
Aussagen nach dem dänischen Westgrönland geschickt,
von wo sie Anfang November d. J. nach Kopenhagen gelangt
sind. ber die Ausreise quer durch das Ellesmereland
bis zu dem Punkte nördlich von Kap Thomas Hubbard, wo
Cook alle seine anderen Begleiter zurückschickte, deckt sich
die Aussage der Eskimos mit den Angaben Cooks. Sie sagen
dann weiter, daß sie auf ausgezeichnetem Eise nur sehr
kurze Tagemärsche gemacht und dann, nach Zurücklassung
der Vorräte an getrocknetem Fleisch, auf westlicherer Route
wieder „das Land“, wahrscheinlich wieder die Heiberginsel,
erreicht hätten. Wie lange diese Reise gedauert hat, wissen
Kleine Nachrichten.
die Eskimos nicht mehr, aber sie berichten: „Eines Tages
nahe dem Lande zeichnete Cook eine Karte. Apilak (der
eine der beiden Eskimos) fragte: Wessen Route zeichnest du?
Cook antwortete: Meine eigene. Das war eine Lüge. Die
Route war weit über das Meer gelegt, wo wir nie gewesen
waren.“ Während der Überwinterung bei Kap Sparbo schrieb
Cook „fast unausgesetzt“ — offenbar sein Tagebuch über die
Reise nach dem Nordpol. Während der Heimreise Anfang
1909 die Eiskante von Ellesmereland entlang wurde auf
Seehunde geschossen, so daß bei der Wiederankunft in
Anortok nur noch vier Patronen vorhanden waren. Diese
Einzelheit ist deshalb von Interesse, weil Cook erzählt hatte,
er hätte sich bei Kap Sparbo, da der Schießbedarf aus-
gegangen wäre, Speere, Bogen und Pfeil anfertigen müssen,
um Jagd auf Polartiere zu machen und dadurch das Leben
zu fristen! Rasmussen, der bisher noch Cook geglaubt hatte,
muß diese Aussagen der Eskimos als durchaus zuverlässig
bezeichnen.
Olsen hat auch zwei Eskimos, die Mitglieder der Expedition
Pearys waren, ausgefragt. Unter ihnen war der Eskimo
indessen nicht, der mit Peary und seinem schwarzen Diener
am Nordpol war; sie waren vor Beginn des letzten Ansturmes
zurückgeblieben.
Übrigens hat der Jäger Harry Withney, dem Cook 1909
seine Originalaufzeichnungen bei Etah übergeben hatte, und
der sie dann dort zurückließ, da Peary ihn mit diesen Papieren
nicht an Bord nehmen wollte, im Sommer 1910 Cooks
Winterlager bei Kap Sparbo besucht und dort Cooks leere
Hütte gefunden — was allerdings nichts Überraschendes ist.
Dagegen sind jene angeblichen Originalaufzeichnungen und
Instrumente Cooks noch immer verschollen.
— Wie Bd. 95, 8. 387 mitgeteilt wurde, gedachte der
Amerikaner E. de Koven Leffingwell, ein Mitglied der
Mikkelsenschen Expedition ins Beaufortmeer, im Mai 1909
eine auf drei Jahre berechnete Expedition zwecks topo-
graphischer und geologischer Arbeiten an der Nordküste
Alaskas anzutreten. Das ist geschehen, und Leffingwell
hat unter dem 21. Juli 1910 von Flaxman Island der Londoner
geographischen Gesellschaft über seine bisherige Tätigkeit
einen kurzen Bericht erstattet („Geogr. Journ.“, November
1910). Er langte im Mai 1909 mit seinem kleinen Kutter
am Bestimmungsort an und setzte seine früheren Aufnahmen
zwischen Point Barrow nnd Herschel Island fort. Land-
einwärts kartierte er etwa 80km des bei Flaxman Island
mündenden Canning River und vervollständigte seine früheren
geologischen Forschungen in der Gegend; aus vier Horizonten,
darunter zwei neuen, sammelte er viele Versteinerungen.
Während des Winters bestimmte er vier Längen. Künftig
will er sich mit der Küste zwischen Demarcation Point und
dem Colville River beschäftigen. Seine älteren Gezeiten- und
sonstigen Beobachtungen hat Leffingwell den Behörden der
Vereinigten Staaten übergeben, die geologischen Ergebnisse
dürften von der U. 8. Geolog. Survey veröffentlicht werden.
— Die Kosten der Filchnerschen Büdpolarexpedi-
tion werden auf 1200000 „%# veranschlagt. Davon ist etwa die
Hälfte durch freiwillige Zeichnungen gedeckt. Um nun
auch den Rest zu sichern, ist zu einem neuen Mittel gegriffen,
nämlich zu einer Geldlotterie. Die bayerische Regierung
— Filchner ist Bayer — hat die Lotterie genehmigt und der
Vertrieb der Lose ist auch in Preußen und anderen Bundes-
staaten gestattet worden. Es werden 600000 Lose zu 3 %
ausgegeben, und der dritte Teil ist der Reingewinn: 600000 f.
Das wäre die zweite Hälfte.
— Den wirtschaftlichen Wert von Wasserstraßen
in Württemberg beleuchtet A.Marquard (Tübing. Inaug.-
Dissert. 1909), wobei er hervorhebt: Ein nicht an die großen
Verkehrsstraßen angeschlossenes Land geht erfahrungsgemäß
zurück; eine Entwickelung, die sich in der Jetztzeit rasch
vollzieht. Dabei kommt die Schiffbarmachung des Neckars
in Frage, das Neckar -Donau-Kanalprojekt, wie das Donau-
Bodenseeprojekt. Das erste württembergische Oberamt, das
für das Neckarprojekt interessiert ist, finden wir in Neckars-
ulm, wo die Industrie bis jetzt noch teilweise der Entwicke-
lung harrt. Wichtig wäre der Wasserweg für das vielfache
Vorkommen von Salz, dann kämen Zuckerrüben, Zichorie
und Tabak in Frage. Für das Oberamt Heilbronn hat man
etwa mit denselben Frachtgegenständen zu rechnen, wozu
noch Kalksteine und Bausandsteine hinzutreten, eventuell
auch der Weinbau, wie Papier-, Pianoforte-, Maschinen-
industrie usw., wobei die chemische Großindustrie nicht zu
vergessen ist. Oberamt Besigheim ist bis vor kurzem vor-
wiegend landwirtschaftlich gewesen, doch regt sich jetzt dort
auch die Industrie. Im Oberamt Marbach geht die Bevöl-
kerung zurück, da bisher dort keine Industrie aufzukommen
vermochte usw. — Was die Schiffahrtstrecke Mannheim —
Heilbroun—Cannstatt—Eßlingen anlangt, so wird sie wahr-
scheinlich in zwei großen Abständen herzustellen sein. Der
Großschiffahrtsweg nach Württemberg wird erst durch die
Fortsetzung zur Donau als die kürzeste Ost-West-Verbindung
eine volle Bedeutung erlangen, Württemberg wird dadurch
erst vollständig an den großen Verkehr angeschlossen, ein
weit größerer Teil des Landes und auch Baden wäre erheb-
licher an der Schiffahrtsstrecke beteiligt. Eine große Durch-
gangsstraße von West nach Ost und umgekehrt wird stetig
größere Bedeutung gewinnen, zumal England zur See stets
die Oberhand behält und Zufuhren abzuschneiden in der Lage
ist. Der Donau-Bodensee-Kanal endlich würde bei Ulm von
der Donau abzweigen, dann dem Zuge der württembergischen
Südbahn folgen, bei Erbach sie wieder kreuzen und in gerader
Linie bis Biberach weitergeführt werden. Es unterliegt aber
keinem Zweifel, daß die Verwirklichung dieser großgedachten
und weit in die Zukunft blickenden Pläne für Handel, Ge-
werbe und Landwirtschaft in Württemberg und darüber
hinaus gewaltige Kräfte freimachen würde.
— Eine Morphologie des Böhmerwaldes gibt Max
Mayer in seiner Münchener Doktorarbeit (Erlangen 1910).
Er unterscheidet für sein Gebiet sechs Landschaften. Die
Furth-Neumarker Senke, ein peneplainartiges Gebiet, be-
stehend aus Tonschiefern und Hornblendegesteinen; flacher
Erosionstaltypus, gut besiedelt und angebaut, weitestes Vor-
dringen der Tschechen nach Westen. Ein zweites bilden die
Regen-Angelzüge zwischen Chambach und dem Quertal des
Schwarzen Regens, südwestlich bis zum Längstal desselben ;
drei ausgeprägte Gebirgszüge, unterbrochen durch das Quertal
des Weißen Regens, bestehend im Südwesten aus Gneis, im
Nordosten aus Glimmerschiefer, Phyllit und Hornblende-
schiefer; die größte absolute Erhebung des Böhmerwaldes
finden wir hier im Arber mit 1457 m, sonst sind charak-
teristisch große tektonische Längs- und enge Quertäler; reiche
Bewaldung auf den Höhen wechselt mit relativ guter Be-
siedelung und Bebauung in den tektonischen Tälern. Der
nördliche Teil des Pfahlgebirges umfaßt dann das Gebiet
zwischen Regen und Pfahl, weiterhin zwischen den höheren
Grenzzügen und dem Pfahl bis südöstlich Grafenau; er ist
aufgelöst in Kuppen und kurze Rücken, besteht vorwiegend
aus Gneis, weniger aus Granit; mit Ausnahme des schluchten-
artig eingeschnittenen Regentales stoßen wir auf kleinere
Bäche in relativ breiten Tälern; der Wald tritt mehr zurück,
die Besiedelung ist als mittelmäßig güt anzusprechen, die
Kultur als gut. Eine vierte Landschaft tritt uns im Plateau
von Mader mit der nordwestlich davon gelegenen Gruppe
des Lukkaberges entgegen, bestehend aus Granit, Gneis und
wenig Glimmerschiefer; hier ist die größte Massenentwicke-
lung des Gebirges; hochgelegene, meist flache Täler tragen
eine fast ununterbrochene Bedeckung mit Wald und Sumpf;
das rauhe Klima rechtfettigt die geringste Bevölkerungsdichte,
wofür wir mit dem Zentrum der Holzwirtschaft zu rechnen
haben. Das Ilz-Moldau-Bergland umfaßt den östlichen Teil
der Ilzquellflüsse und das Bruchtal der Oberen Moldau; es
stellt ein stark erniedrigtes und in einzelne flache Kuppen
aufgelöstes, aus Granit und Gneis bestehendes Gebiet dar;
auch hier treten uns flache, versumpfte Täler entgegen, der
Wald findet sich vorwiegend im Nordosten, die Hänge der
größeren Täler erweisen sich als mittelmäßig gut besiedelt,
aber die Wirtschaft ist im allgemeinen schlecht infolge der
klimatischen Ungunst. Das Plöckensteingebirge schließlich
besteht aus einem granitischen Höhenzug, der sich außerhalb
des Gebietes gegen Osten fortsetzt; von ihm sind dichte Be-
waldung, geringe Besiedelung und starke Holzwirtschaft
hervorzuheben. Was das mutmaßliche Klima früherer geo-
logischer Perioden anlangt, so herrschte nach der Miozänzeit
wohl dasselbe Klima wie heute. Im Diluvium tritt ein mehr-
maliger Wechsel von kaltem, feuchtem : und wärmerem,
trockenem Klima ein, entsprechend dem Vorstoßen und Rück-
wärtsschreiten der nordischen und alpinen Gletschermassen.
Während der Eiszeit herrschten im Böhmerwald wohl haupt-
sächlich südwestliche Winde, hervorgerufen von der über
den Eismassen der Alpen lagernden Antizyklone. So wird
im allgemeinen im Diluvium, vielleicht auch schon früher,
der reichlichere Niederschlag auf der Südwestseite des Ge-
birges gewesen sein und dadurch hier die stärkere Erosion
hervorgerufen haben.
Verantwortlicher Redakteur: H., Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
| GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE.
. VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE,
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. 22.
BRAUNSCHWEIG.
15. Dezember 1910,
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung "gestattet.
Über die Bedeutungen von „amerikanisch“, „Amerikaner“ usw.
Von Dr. Alexander F. Chamberlain,
Professor der Anthropologie an der Clark-Universität zu Worcester, Massachusetts.
Als der berühmte Ethnolog Dr. Daniel G. Brinton
im Jahre 1891 sein Werk über die primitiven Völker
der Neuen Welt veröffentlichte, nannte er sie „The
American Race“ (die amerikanische Rasse). Darin folgte
er vielen europäischen Vorgängern, z. B. Lafiteau mit
seinen „Moeurs des Sauvages Ameriquains“ (1724),
worin die Indianer ganz kurz als „Américains“, d. h.
Amerikaner, bezeichnet werden. Die ersten „Ameri-
kaner“ sind zwar die „Uramerikaner“, die Rothäute, die
das Land Jahrtausende vor der Ankunft der Weißen
besaßen. Der Engländer aber und sein „strenuöser*
Sohn, der Yankee, welcher sich allmählich zum Meister
des nördlichen Teiles des Kontinents gemacht hat, wollen
hier keine sprachliche Rivalität dulden. Also muß es
nur eine wahre „amerikanische Rasse“ geben, und da
die rothäutigen Eingeborenen natürlich keine Angel-
sachsen sind, so müssen sie „Indianer“ u. dgl. heißen.
Die Weißen der Vereinigten Staaten von Nordamerika
haben nun, obgleich die Kanadier, die Mexikaner und
die Bürger der Republiken von Zentral- und Südamerika
sich mit gleichem Rechte Amerikaner nennen können,
die Ansicht, sie seien „die Amerikaner“ im Gegensatz
zu allen anderen Leuten, welche in der Neuen Welt
wohnen. Dazu hat auch der Europäer beigetragen, indem
er so oft die Ausdrücke „Amerika“ und „Die Vereinigten
Staaten“ als gleichbedeutend gebraucht hat und noch
braucht. So spricht auch der Engländer, welcher im
tiefen Herzen die Kanadier als „bloße Kolonisten“ ver-
achtet, gewöhnlich von „Amerika“, wenn er „The United
States“ oder ganz kurz „The States“ sagen soll. Gewiß
wollen die Kanadier nicht, daß man sie auf diese Weise
zu „Amerikanern“ mache. Dieselbe Meinung haben auch
die Millionen von Amerikanern, welche den südlichen Teil
des Kontinents bewohnen. Man kann sich hier der Tat-
sache erinnern, daß es heutzutage an den Ufern des
St. Lorenzstromes französisch -kanadische „habitants“
(wie dort die Bauern heißen) gibt, deren Vorfahren eine
recht lange Zeit vor der Landung der „Pilgerväter“ in
Massachusetts-Bai als Amerikaner hätten gelten können;
und der große Präsident von Mexiko, P. Diaz, ist zwei-
fach Amerikaner, da in seinen Adern nicht nur das Blut
der alten Azteken, sondern auch das der spanischen
Konquistadoren fließt. Und alle Amerikaner finden sich
noch nicht auf gemeinverständlichem Grunde, sind noch
nicht zusammengewachsen. Zur Erläuterung der Sache
erzählt ein bereister Freund von mir folgende kleine
Geschichte: „Eines Tages, als ich auf meiner europäi-
schen Reise war, stürzte sich in mein Zimmer ein deut-
Globus XOVIH. Nr. 22.
scher Bekannter mit der fröhlichen Ankündigung: »Herr
Professor, ich habe einen Landsmann von Ihnen gefunden,
einen Amerikaner! Sehen Sie, er kommt.« Der Ameri-
kaner war in Wirklichkeit ein Portugiesisch sprechender
Herr aus Brasilien, der nur ein paar Worte Deutsch ver-
stand und gar kein Englisch. Glücklicherweise sprachen
wir beide ein wenig Französisch; und da saßen wir zwei
Amerikaner und unterhielten uns mit unserem sehr
schlimmen Französisch. Wo war der Angelsachse ?*
Die Portugiesisch- Amerikaner haben aber Mitbürger
aus anderen Rassen. In Worcester (Massachusetts), einer
Stadt von rund 150000 Einwohnern, z. B. haben wir
Afro - Amerikaner, Finnisch - Amerikaner, Armenisch-
Amerikaner, Skandinavisch-Amerikaner, Deutsch-Ameri-
kaner, Französisch - Amerikaner, Englisch - Amerikaner,
Schottisch - Amerikaner, Irisch- Amerikaner (ja sogar
Schottisch - Irisch - Amerikaner), Italienisch - Amerikaner,
Polnisch-Amerikaner, Dänisch-Amerikaner und noch mehr
dergleichen. Der wahre zusammengesetzte „Amerikanisch-
Amerikaner“ schwebt noch in der Luft.
Auch amtlich ist die Frage: Was ist amerikanisch?
betrachtet worden. Im Juni 1904 hat der Staatssekretär
John Hay, Leiter des Kabinetts von Me Kinley, den amt-
lichen Gebrauch von Ausdrücken wie „Ambassador of
the United States“, „Legation of the United States“ usw. _
verboten; von nun an soll man „American Ambassador“,
„American Legation“ usw. sagen und schreiben. Hierin
folgen die Regierungsgewalten dem Beispiele des Volkes,
welches lange diese Ausdrücke gebraucht hatte.
Historisch ist hier von Interesse, daß der Name
„Amerika“ anfänglich nicht Nord-, sondern nur Süd:
amerika bezeichnete, zuerst die Ufer Brasiliens, später
das östliche Südamerika usw., bis Mercator im Jahre
1541 (vielleicht mehr aus in der Form des Globus liegen-
der Notwendigkeit als aus rein geographischer Absicht)
das Wort America über die ganze Neue Welt ausbreitete.
Darum hat der Brasilianer von allen Amerikanern euro-
päischer Abkunft das beste Recht, sich „amerikanisch“
zu nennen.
Die Pflanzen- und Tierwelt des neuentdeckten Amerika
lieferte vieles, was der Alten Welt ganz fremd war, und
bald begann man solche Dinge amerikanisch zu nennen.
Nachher wurden auch die Tiere, Pflanzen usw. von
Amerika, welche neue, oftmals den europäischen nur
ähnelnde Arten und Varietäten waren, amerikanisch
genannt; auch bezeichnete man mit dem Ausdruck ameri-
kanisch etwas ganz Unbekanntes, dem Europäischen weit
Entferntes oder in seinen Eigenschaften davon merk-
44
342
würdig Verschiedenes. Die Ausdehnung dieser Bedeutung
des Wortes americanus, americana (amerikanisch)
wurde aber dadurch verhindert, daß man auch bereits
mit demselben Sinne die Ausdrücke canadensis (d. h.
kanadisch oder kanadianisch) und virginiensis (d. h.
virginisch) gebraucht hatte. In den ersten Jahrhunderten
nach der Entdeckung Nordamerikas nannte man gewöhn-
lich neue oder mehr oder minder unbekannte Pflanzen
canadensis oder virginiensis (bzw. virginianus,
virginicus), z.B. Cornus canadensis, Lilium canadense,
Maianthemum canadense, Sanguinaria canadensis, Viola
canadensis u. dgl. m.; Anemone virginiana, Clematis vir-
giniana, Fragraria virginiensis, Saxifraga virginiensis usw.
Von mit americanus (bzw. americana) zusammen-
gesetzten Namen haben wir: Larix americana, Tilia
americana, Ilex americana, Ceanothus americanus und
viele andere. Aus patriotischen Gründen haben die Eng-
lisch sprechenden Bewohner Nordamerikas die Zahl der
amerikanischen Dinge vielfach vermehrt. In den Ver-
zeichnissen von Gartenkräutern z.B. findet man folgende
Namen: American bean, American beet, American cabbage,
American carrot, American cauliflower, American celery,
American corn, American cress, American kale, American
leek, American lettuce, American muskmelon, American
onion, American peas, American rhubarb, American squash,
American tomato, American turnip, American water-
melon usw. Unter amerikanisch benannten Pflanzen und
Bäumen sind zu erwähnen: American alder, American
aloe, American arbor-vitae, American ash, American bee-
balm, American beech, American birch, American centaury,
American cowslip, American crab, American cress, Ameri-
can dittany, American dodder, American dogwood, Ameri-
can elder, American elm, American feverfew, American
fringe, American gromwell, American hellebore, American
hemp, American holly, American horse-chestnut, American
ice-plant, American ipecac, American ivy, American jute,
American larch, American laurel, American linden, Ameri-
can liquorice, American meadow-sweet, American mint,
American mountain-ash, American nettle-tree, American
nightshade, American panicum, American pennyroyal,
American plane-tree, American poplar, American rowan-
tree, American senna, American service-tree, American
silver-fir, American smoke-tree, American spikenard,
American sumac, American valerian, American vervain,
American vetch, American wistaria, American woodbine,
American yellowwood, American yew. In der englischen
Mundart von Oxford nennt man eine Art von Kartoffeln
„American breezers“; in der Mundart der Grafschaft
Devon findet man „American creeper“ (Kanarienvogel-
blume), „American lilac“ u.a. In einigen englischen
Mundarten bedeutet „American weed“ (d. h. amerikani-
öches Unkraut) das lästige Teichgewächs Anacharsis.
Als „American weed“ wurde früher die Tabakspflanze
(Nicotiana) bezeichnet.
Von Tieren haben wir: American lion, auch „puma“
oder „cougar“ genannt, American tiger (d. h. Jaguar),
American ostrich (Rhea), American camel (das Llama),
American elk, American bison (Büffel), American hare
(Lepus amer.), American robin usw. Besonders zu er-
wähnen sind zwei andere Namen: „American beauty rose“
(d.h. Rose der amerikanischen Schönheit) und „American
eagle“ (wie bekannt, der „Nationalvogel“ der Nord-
amerikaner).
Wie ich anderswo !) gezeigt habe, sind sehr viele
Dinge, welche „amerikanisch“ hätten heißen können,
„indianisch“ genannt worden. Beispiele davon sind
1) Handbook of Amer. Inds. N. of Mexico (Bull. Bur.
Ethnol. 30), Vol. I, Washington 1907, p. 605—607.
Chamberlain: Über die Bedeutungen von „amerikanisch“, „Amerikaner“ usw.
folgende Namen: Indian corn (d.h. Mais), Indian pitcher
(die Pflanze Sarracenia purpurea), Indian rice (der „wilde“
Reis, Zizania aquatica), Indian weed (ein veralteter Name
der Tabakspflanze), Indian sugar (heutzutage „maple-
sugar“ genannt), Indian summer (dem europäischen
Altweibersommer, Sommer von St. Martha u. dgl. ent-
sprechend). Die Franzosen Kanadas haben auch einige
Dinge nach dem Indianer benannt, z. B. traine sauvage
(d. i. Tobagane, ein Schlitten, von den Rothäuten ent-
lehnt), botte sauvage (oder Mokassin), thé sauvage (vgl.
den englischen Namen „Indian tea“), und in Spanisch-
Amerika finden wir noch viele andere Dinge, welche nach
dem Indio benannt worden sind. Man kann hier die
Tatsache erwähnen, daß ein bekannter Häuptling der
Sioux-Indianer den Namen „American Horse“ trug.
Es sind aber noch andere Dinge als Pflanzen, Tiere
u. dgl. nach Amerika benannt worden, und zwar oftmals
nicht aus Höflichkeits- oder ähnlichen Gründen. Es ist
nicht alles gut, was aus der Neuen Welt kommt. Der
Engländer spricht von „American shoulders“ (das sind
nicht die physischen Schultern des amerikanischen Mannes,
sondern die ausgestopften „Schultern“ des Rockes à la
mode); American leather (ein gewisses künstliches Leder,
welches man für das Überziehen von Hausgeräten braucht);
American organ; American bowls (eine Art von Kugel-
spiel); American system (das amerikanische Tarifsystem);
American rake (eine mit Pferden gebrauchte Heuharke) usw.
Weit bekannt ist „the American plan“ der Gasthäuser,
welches System im Gegensatz zu dem „European
plan“ steht.
In den verschiedenen europäischen Sprachen findet
man viele Ausdrücke, welche die sogenannten Volkseigen-
schaften der Nordamerikaner bezeichnen. Der Franzose
z.B. sagt à l'américaine (auf amerikanische Weise), indem
er auf die unbegrenzte Freiheit und Kühnheit der Yankees
hinweist. Das Schwindeln allerlei Art, welches man in
der englischen Sprache mit den Ausdrücken „gold brick“,
„green goods“ usw. bezeichnet, nannte der Gamin, und
nach ihm auch die gebildete Sprache von Paris, vol
à l’americaine, d.h. „Diebstahl auf amerikanische Weise“.
Dem Genossen eines solchen Schwindlers legte man den
Namen un américain bei. Die englische Volkssprache
kennt den Ausdruck „American tweezers“, womit man
die Drahtzange der Gasthausdiebe bezeichnet. In seinem
im Jahre 1905 veröffentlichten „Dizionario moderno“
erwähnt Panzini das Wort americanata, für das er fol-
gende Erklärung gibt: „Eine übertriebene, überraschende,
kühne Handlung oder Unternehmung, deren charakte-
ristische Heimat Nordamerika ist“. Ein anderer italieni-
scher Ausdruck ist roba americana, der die für die
Touristen gefertigten Gegenstände, Reliquien usw. be-
zeichnet. Und mit „ganz amerikanisch“ kann der Deutsche
viel Interessantes meinen und sagen.
Im neuen Larousseschen Wörterbuch findet man den
Ausdruck „avoir l’oeil américain“ (das amerikanische
Auge haben) mit der Erklärung: „Kein Narr sein, nicht
leicht betrogen“. Der Ausdruck ist aus dem Argot von
Paris aufgenommen worden, worin „avoir l’oeil américain “
auch den Sinn hat: „Ein guter Schwindler sein“. In der
französischen Sprache findet man weiter solche Aus-
drücke, wie „faire l’oeil americain“, d.h. „schief sehen“;
noeillade américaine“, d. h. „Liebesblicke“.
Den Pferdebahnwagen nannte man in Paris erst
„omnibus sur rails“; aber das war ein etwas ungeschickter
Name, den das Volk bald verwarf, indem es einen ganz
neuen, „l'américain“, für sich schuf. Das weibliche Wort
„lamericaine* bedeutet ein leichtes Fuhrwerk, das um
1860 gewöhnlich war; auch eine Art von Schriftzeichen,
auf englisch „script“ genannt. In dem spanischen
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains.
Wörterbuch findet man das Wort americana, welches
einen einst sehr beliebten Rock bezeichnet. Der Portu-
giese nennt americina (d.h. „kleine Amerikanerin“) eine
gewisse kleine Eidechse. In Ägypten bedeutet malakano
or manakano (d. h. „amerikanisch“) eine gewisse graue
Farbe (dem ägyptischen asmar nahe verwandt). In den
Vereinigten Staaten von Nordamerika findet man das
Wort „American“ sogar als Personennamen. Eine be-
kannte Dame jüdischer Abkunft trägt z. B. den Namen
„Sadie American“.
Es gibt auch einige Krankheiten, welche amerikanisch
heißen. Einer der ersten Namen für die Weltpest der
Zivilisation, die Syphilis, war „Morbus Americanus“, d. h.
„die Amerikanische Krankheit“, ein Name, welcher den
Gedanken (zu unserer Zeit die wissenschaftliche Theorie
von Bloch, Suzuki, Ashmead und anderen Forschern) in
sich trägt, daß diese schreckliche Krankheit aus der Neuen
Welt herstamme. Wie bekannt, hat man sie auch Morbus
Gallicus oder „Französische Krankheit“ genannt. In den
ersten Jahren des 18. Jahrhunderts wollte der berühmte
Arzt Astruc den Kinderblattern eine amerikanische Her-
kunft zuschreiben und nannte sie daher „la maladie
americaine“, die „Amerikanische Krankheit“ (seine Theorie
ist seit langem erschüttert). Ein deutscher Name für
das Gelbe Fieber ist „Die amerikanische Pest“. Als im
Jahre 1869 Dr. Beard aus New York zum erstenmal die
Neurasthenie beschrieb, legten ihr die europäischen Ärzte
unter anderen Bezeichnungen den Namen „La maladie
américaine“ bei. Heutzutage nennt man die konstitutio-
nelle Nervosität (individuell und national) der Be-
wohner der Vereinigten Staaten von Nordamerika
„Americanitis“.
Streifzüge in den Rocky Mountains.
Von Charles L. Henning. Denver.
V. Der Clear Creek-Distrikt: Golden — Clear Creek Canyon — Black Hawk und Central City — Idaho
Springs — Georgetown — Silver Plume — Mount McClellan.
Mit 12 Abbildungen.
(Fortsetzung.)
I.
Von Black Hawk aus führt eine Schmalspurbahn
durch Chase Gulch in zahlreichen Windungen "nach
Nevadaville (2910 m) und weiter nach Russell Gulch
(2940 m) zum Zwecke der Kohlenbeförderung für die in
und um die genannten Plätze liegenden Minen. Personen-
beförderung findet auf dieser Bahn, der Gilpin County
Railway, nicht statt, doch wird die Erlaubnis des Mit-
g
a-a
an. è
nE S Ai n SA
P,
nur sehr spärlich mit Fichten und Zitterpappel bestanden
und macht infolgedessen nur geringen Eindruck auf den
Beschauer. Das Gestein ist der Hauptsache nach ein
weißer Porphyr.
Nach Abladung seiner Kohlenfracht geht der Zug
mit dem Erz der Minen beladen nach Black Hawk zurück.
Von Russell Gulch aus hat man zum erstenmal Ge-
legenheit, einen Blick auf die im Westen sich ausdehnende
Abb. 6. Idaho Springs. Nach Photographie.
fahrens gern gewährt. Die auf der Bahn verwendeten
Lokomotiven sind nach dem Shaysystem gebaut und
werden ausschließlich in Lima, Ohio, hergestellt. Ein
kompliziertes, ineinandergreifendes Räderwerk setzt die
mit mäßiger Geschwindigkeit sich bewegende Maschine
in den Stand, auch die schärfsten Kurven zu überwinden.
Die Fahrt selbst bietet vortreffliche Gelegenheit, die
Topographie des Landes zu studieren und sich im Geist
in jene Zeit zu versetzen, in der Brüche und Verwerfungen
die uns heute entgegentretende Gestalt des Gebirges ge-
schaffen haben. Nevadaville und Russell Gulch liegen
auf der Höhe des Quartz Hill, eines domförmigen Berges,
der zugleich der höchste des ganzen Distriks ist; er ist
Continental Divide zu genießen, deren mit Schnee be-
deckte Häupter einen wundervollen Kontrast zu dem
Blau des Himmels bilden. Ich verließ den Zug in Russell
Gulch, um von hier aus zu Fuß nach Idaho Springs zu
wandern, das südlich von Russell liegt. Der Weg dahin
führt in einem steilen Abfall durch Virginia Canyon,
eine Schlucht von etwa 6 km Länge, die ihren höchsten
Punkt, 3020 m, bei den letzten Häusern von Russell er-
reicht. Das Panorama ist von hieraus großartig: im
Norden erheben sich gewaltige Berggruppen, im Osten
thront der bis zu 3300 m ansteigende und noch dicht
bewaldete Pewabic Mountain, während im Westen das
Massiv des Bellevue Mountain (3250 m) den Blick in die
44*
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains.
Abb. 7.
Ferne einschränkt. Auch an den beiden zuletzt-
genannten Bergen liegen verschiedene Minen in stiller
Ruhe, darauf wartend, bis wieder ein unternehmender
Geist sich findet, sie zu neuer Tätigkeit zu beleben.
Auch die Natur schien offenbar an der hier oben
herrschenden Ruhe teilzunehmen; nur hier und da ließ sich
ein Gebirgshäher (Mountain Jay) vernehmen, andeutend,
daß doch nicht alles leblose Öde ist. Zahlreiche Erd-
eichhörnchen (Chipmunks) kreuzten meinen Pfad, in
Windeseile hinter diesem oder jenem Felsen verschwindend
oder neugierig stille haltend. Der Weg durch die Schlucht
ist infolge seiner Steilheit und der vielen scharfen Steine,
von denen der Fuß beständig abrutscht, kein besonderes
Eldorado für Fußgänger und macht öfters Ausruhen nötig.
Als ich an einer Wegbiegung Halt
machte, kamen zwei von je vier
mageren Pferden gezogene, mit
altem Hausrat bis zur äußersten
Fassungskraft beladene Wagen
an mir vorbei, deren Insassen
offenbar auch aus Russell weg-
gezogen waren, um, mit ihren
Habseligkeiten weiter wandernd,
anderswo das Glück zu suchen,
das ihnen das einst berühmte
„Goldland* versagt hatte Es
überkam mich ein eigenartig weh-
mütiges Gefühl, als ich diese
„Auswanderer“ mit bleichen Ge-
sichtern und dürftiger Kleidung
an mir vorüberziehen sah, und
noch lange war das Klappern der
alten Ofen- und Herdröhren, die
die Wagen bekrönten, zu ver-
nehmen, als diese im dichten
Staub der Straße talwärts ihren
Weg weiter nahmen.
In Idaho Springs traf ich
nachmittags kurz nach 4 Uhr
nach dreistündiger Wanderung
ein (Abb. 6). Abb. 8.
Stark gefaltete Felspartie bei Idaho Springs. Aufn. d. Verf.
Silver Plume, von Osten gesehen.
In 2435 m Seehöhe gelegen,
erstreckt sich die 3500 Einwohner
zählende Stadt in einer langen,
von Ost nach West laufenden
Straßenzeile.e Im Vergleich zu
Central City und Black Hawk
herrscht hier ein regeres Leben,
das sich noch lebhafter gestalten
dürfte, wenn die größte Mine des
Ortes, der Argo-Tunnel, früher
Newhouse-Tunnel genannt, der
bis jetzt 8 km in den nördlich
von Idaho Springs belegenen Seton
Mountain gebaut ist, jene Stelle
erreicht, von wo man von einer
am Pewabic Mountain belegenen
Mine einen 760 m tiefen Schacht
gebohrt hat. Im Argo-Tunnel,
der von einem Konsortium ver-
schiedener Kapitalisten — dar-
unter auch englisches Kapital —
abgebaut wird, arbeiten zurzeit
etwa 75 Mann in Tag- und Nacht-
schicht. Außer dem Argo-Tunnel
sind noch etwa 6 kleinere Minen
im Betrieb.
Idaho Springs macht einen
freundlichen Eindruck mit seinen
meist weiß angestrichenen Häusern und wohlgepflegten
kleinen Gärten, die einen gewissen Wohlstand der
Bewohner verraten. Mehrere gute Hotels und Logier-
häuser liefern für mäßige Preise Unterkunft und Ver-
köstigung; das Bellevue-Hotel wird von einem Elsässer
geführt. Im Süden und Norden des Ortes erheben sich
bis nahe an 3000 m hohe, teilweise noch dicht bewaldete
Berge, unter denen Flirtation Peak vielfach als Ausflugs-
ziel gewählt wird.
Die Hauptbedeutung des Ortes liegt neben seinen
Mineralschätzen aber vornehmlich in seinen heißen und
kalten Schwefelquellen, die denn auch der Stadt ihren
Namen gegeben haben. Sämtliche Quellen liegen im
östlichen Teile des Ortes gegen den Cleer Creek Canyon
Aufn. d. Verf.
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains.
345
zu und werden in drei Gruppen eingeteilt: Hot Springs,
Blue Ribbon Springs und Cold Sulphur Springs. Neben
den noch heute tätigen Quellen sind an vielen Stellen
Beweise für das Vorhandensein von früheren aktiven
Quellen in gelblichweißen Travertin- oder Kalksintern
gegeben. Die Hot Springs treten an die Oberfläche
nahe dem Kontakt eines Alkalisyenits mit präkam-
brischem Gneis, während die Blue Ribbon Springs am
Kontakt eines kleineren Körpers desselben intrusiven
Gesteins sich finden; die Cold Sulphur Springs kommen
aus dem Gerölle des Talbodens.. Die Temperatur der
heißen Quellen schwankt von 37 bis 42°C und darüber.
Behufs Benutzung für Heilzwecke sind die Quellen in
Abb. 9.
komfortabel ausgestatteten Badehäusern eingeschlossen,
die besonders während der Sommermonate viele Kur-
gäste aus dem Osten oder selbst aus Europa beher-
bergen. Ihrer chemischen Zusammensetzung nach be-
stehen die Quellen im wesentlichen aus Natrium-, Eisen-,
Magnesiumkarbonat und aus Natrium- und Magnesium-
sulfat mit geringen Mengen von Kalziumsulfat, Kalzium-
karbonat, Kochsalz und Schwefelwasserstoff.
Das Wasser der Blue Ribbon Springs bildet einen
Haupterwerbszweig von Idaho Springs und wird in
großen Mengen nach dem Osten als Tafelwasser versandt.
Was den Ursprung der Quellen anbelangt, so geht
die Ansicht der amerikanischen Geologen in Überein-
stimmung mit der von Ed. Suess aufgestellten Theorie
dahin, daß die in den Wässern enthaltenen Basen das
Globus XCVIII. Nr. 22.
Resultat'der Auslaugung des Gesteins sind, und daß die
Säuren bzw. Säurereste aus den Emanationen eines sich
abkühlenden vulkanischen Magmas herrühren. Von dem
eigentlichen Wasser (H,O) der heißen Quellen glaubt
man annehmen zu sollen, daß es das gleiche ist, welches
auch den Erzgängen zugrunde liegt, und das als Exhala-
tionen des in größerer Tiefe vorhandenen Magmas all-
mählich nach oben steigt; man vermutet, daß in einer
gewissen Tiefe von etlichen tausend Fuß unter der
Oberfläche die den heißen Quellen entstammenden Wasser
auch noch heute mineralbildend wirken.
Von Idaho Springs uns westwärts- -wendend, folgen
wir mit dem Geleise der Colorado and Southern R. R.
Georgetown, von Westen gesehen. Nach Aufn. von L.C.McClure.
zugleich dem Clear Creek stromaufwärts und passieren
nacheinander die Orte Fall River, Dumont und Empire
Station, um schließlich den Amtssitz von Clear Creek
County, Georgetown, mit 2735 m Seehöhe, zu erreichen.
Die Gegend von Idaho Springs bis Georgetown zeigt
einen durchaus anderen Landschaftscharakter, als jene
des Canyon. Das Flußtal ist breiter, zu beiden Seiten
von immer höher ansteigenden Berggruppen, von denen
die meisten abgestumpften Pyramiden gleichen, eingefaßt
und, schon bei oberflächlicher Betrachtung, sehr deutlich
ausgesprochene Faltungen zeigend (Abb.7). Die kühlere
Luftströmung belehrt uns, daß wir uns der Region des
Hochgebirges nähern.
Kurz vor Georgetown rücken die Bergriesen näher
aneinander und zeigen im Republican und Democrat
45
346
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains.
Mountain zur Rechten (Norden) und Saxon und Griffith
Mountain zur Linken (Süden) ihre mächtigste Ent-
faltung.
Georgetown (Abb. 9)*) hat heute eine Einwohner-
zahl von etwa 1500 und ist nach George Griffith, dem
heute noch lebenden County Clerk von Clear Creek
County, benannt, der in der Nähe des ‘Ortes am
1. August 1859 Erz entdeckte. Vor dieser Zeit waren
dort nur einige Häuser unter dem Namen „Elizabeth-
town“ bekannt. Die Lage des gleich Idaho Springs
von peinlichster Sauberkeit Zeugnis ablegenden Ortes
ist malerisch schön; nahe bei der Bahnstation ist ein
wohlgepflegter kleiner Stadtpark angelegt. Zwei Hotels,
St. James Hotel und The Barton House, das letzte von
einem Deutschen, Hugo Lendecke, geführt, sind vorzüg-
lich. Das Trinkwasser des Ortes ist gleich dem von
Idaho Springs vortrefflich.
Von den bei Georgetown belegenen Minen sind vor
allem die Capitol-"und Griffith-Mine zu nennen.
Eine besondere Berühmtheit hat Georgetown durch
den sogenannten Loop gewonnen, der alljährlich, be-
sonders aber während des Sommers, Tausende von
Touristen und Ausflüglern hierher bringt. In Serpen-
tinenwindungen führt der Zug im Tal des Clear Creek,
höher und höher steigend, über eine 25m über dem
Flußbett erbaute eiserne Brücke, von der man das ganze
Panorama übersehen kann, bald das rechte, bald das
linke Ufer des Creek berührend, nach Silver Plume
(2960 m Seehöhe), das er nach 25 Minuten Fahrzeit er-
reicht. Ein viel lohnenderer Genuß indessen ist es, von
Georgetown auf der allgemeinen Landstraße, die am
Fuße des Republican Mountain hinzieht, nach Silver
Plume zu wandern. Schon etwa 15 Minuten nach dem
Verlassen Georgetowns ist man bei 30m über der Stadt,
hat den ganzen Loop zu seinen Füßen und kann so das
herrliche Panorama viel besser überschauen, als von
einem Eisenbahnwagen. Überdies ist der Weg viel
kürzer; ich brauchte nur 40 Minuten, um die 2,5 km
zwischen Georgetown und Silver Plume zurückzulegen,
während der Zug auf seinem Schienenweg 6,5km zu
fahren hat.
Silver Plume (Abb. 8) hat 2960 m Seehöhe und liegt
gleich Georgetown in einem U-förmigen Talkessel, dessen
westlicher Hintergrund durch die Schneegipfel der Divide
abgegrenzt ist. Der von Silver Plume sichtbare Pik ist
der „Big Professor“. Silver Plume ist der Endpunkt
der Colorado and Southern R. R., die die Entfernung
von 86,5 km von Denver nach Silver Plume in 3 Stunden
und 40 Minuten zurücklegt.
Silver Plume ist ein Mining Camp schlechthin und
zählt zurzeit etwa 500 Einwohner; auch hier sind von
den zahlreichen umliegenden Minen nur wenige im Be-
trieb. Der Ort hat ein Hotel, das New Windsor, mit
guter Verpflegung. Gleich seinem Nachbar Georgetown
ist der Ort rings von mächtigen Bergriesen eingeschlossen:
im Norden schließt sich an den bis hierher reichenden
Republican Mountain der Brown Mountain, während die
südliche Begrenzung durch den Sunrise Peak und Mount
Leavenworth gebildet wird. Von Silver Plume führt eine
westlich ziehende Straße, allmählich in einen schmäler
und schmäler werdenden Fußpfad übergehend, nach dem
Gray’s Peak, während von dem sogenannten Pavillon aus
*) Infolge eines Versehens bei der Entwickelung meiner
Aufnahmen wurde das von mir genommene Bild von George-
town leider zerstört. Ich bin deshalb Herrn Hartman von
der Colorado and Southern R. R. für die gütige Überlassung
der von dem Landschaftsphotographen McClure gemachten
Aufnahme von Georgetown zu besonderem Dank ver-
pflichtet.
die Argentine Central R. R. ihren Aufstieg nach dem
Mount Mc Clellan unternimmt.
Bevor ich jedoch diesen Teil der von mir ausgeführten
Reise schildere, seien Bemerkungen über Klima, Geologie
und Erzlagerstätten von Gilpin County und Clear Creek
County eingeschaltet.
Das Klima.
Da weder in Gilpin County noch auch in Clear Creek
County Stationen des U.S. Weather Bureau vorhanden sind,
und demnach keine auf mehrere Jahre sich erstreckenden
Temperatur- und Wetterbeobachtungen vorliegen, kann
das Klima nur auf Grund allgemeiner Wahrnehmungen
geschildert werden. Im großen und ganzen läßt sich
sagen, daß das Klima gleichmäßiger und weniger Schwan-
kungen unterworfen ist, als jenes des Denver-Beckens.
Temperaturstürze von 25 und 30°C, wie sie beispiels-
weise in Denver innerhalb einer oder weniger Stunden
beobachtet wurden, kommen in den beiden Counties nicht
vor. Die Schutzwand der Continental Divide und die
die beiden Counties gegen die Denver-Ebene abgrenzen-
den Höhenzüge bewirken eine gleichmäßigere Tempera-
tur, die im Durchschnitt etwa 8 bis 10°C im Jahre be-
trägt. Im Sommer steigt das Thermometer selten bis
auf 26°C, und im Winter sinkt sie selten auf — 20° C.
In den höheren Lagen, z. B. in Silver Plume oder auf
dem Mount Mc Clellan, sind naturgemäß die Temperatur-
unterschiede beträchtlicher.
Die in den Tälern gelegenen Orte haben eine durch-
schnittliche Niederschlagsmenge von 485 mm. Von April
bis August fallen die meisten Niederschläge, während
Januar die geringste Niederschlagsmenge aufweist. In
den Sommermonaten sind kurze Regenschauer oder Ge-
witter, besonders während der ersten Nachmittagsstunden,
eine fast tägliche Erscheinung. Der stärkste Schneefall
tritt gewöhnlich Mitte Oktober ein, doch sind George-
town und besonders Idaho Springs während des Winters
fast schneefrei zu nennen.
Einem jeden fällt, auch wenn er nur wenige Stunden
sich in diesem Gebiet aufhält, die überaus reine, trockene
und leicht atembare Luft auf, die selbst in einer Höhe
wie Mount Mc Clellan (4516 m) keineswegs die Atmungs-
organe beeinflußt, es sei denn, daß man schon hoch-
gradig schwindsüchtig oder mit einem Herzfehler be-
haftet ist. Es ist deshalb augenblicklich eine Bewegung
im Gange, Georgetown zu einem Kurort für Asthma-
leidende zu machen. Dr. R. B. Dexter, der sich vor
kurzem in Georgetown niedergelassen hat, nimmt sich
der Sache aufs eifrigste an und steht im Begriff, ein Sa-
natorium zu diesem Zwecke zu errichten; sein Vorhaben
dürfte um so mehr zu begrüßen sein, als wir in der Tat
nur wenige Plätze in den Vereinigten Staaten haben
(und diese liegen alle in einer niederen Lage), wo mit
Asthma behaftete Personen Heilung ihres Leidens finden
können. Wie mir Dr. Dexter erklärte, sollen an Tuber-
kulose Leidende von Georgetown entschieden ferngehalten
werden, damit Übertragung der „White Plague“ auf
andere vermieden wird. Es soll in weitestgehendem Maße
die Aufmerksamkeit der Außenwelt auf Georgetown ge-
lenkt werden, da in genannter Beziehung hierüber noch
nichts bekannt geworden ist.
Auch in Idaho Springs ist augenblicklich eine Be-
wegung im Gange, die, von der „Commercial Association“
des Ostens ausgehend, die Stadt als „Health Resort“ wei-
teren Kreisen bekannt zu machen sich bemühte; die
heißen und kalten Schwefelquellen, die große Ähnlichkeit
mit jenen von Karlsbad haben — weshalb Idaho Springs
auch das amerikanische Karlsbad genannt wird — sind
für alle an Magen oder Nieren Leidende zu empfehlen.
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains.
347
Geologie von Clear Creek- und Gilpin County 5).
Das Gestein des Clear Creek Canyon besteht in der
Hauptsache aus Gneis und Glimmerschiefer. Stellen-
weise stark hervortretende Faltungen und das an vielen
Stellen des Canyon wahrnehmbare Auftreten von breiten
Quarzbändern haben früher als Beweise eines sedimentären
Ursprunges dieser Gesteine gegolten, indessen verliert
diese Annahme immer mehr an Boden, und heute geht
die Ansicht der meisten amerikanischen Geologen dahin,
daß wir es im Canyon mit metamorphosierten Eruptiv-
gesteinen des Präkambriums zu tun haben, in welche
sich, jedenfalls während des Tertiärs, porphyritische
Gänge (Dikes) eingeschoben haben. Zu den ältesten
Eruptivgesteinen des Gebietes gehören die bis nach
Georgetown und Silver Plume hinauf vorkommenden kiesel-
säurereichen Pegmatite und Hornblendegneise, von denen
die ersten in größerer Mächtigkeit als die letzten auf-
treten; später folgten Intrusionen von Quarzmonzonit,
der durch starke Pressung in Gneis überging. Am Mount
Rosalie und in dessen Umgebung findet sich Biotitgneis
in Form von Batholithen, Stöcken und Gängen. Man
glaubt annehmen zu sollen, daß die Pegmatite aus flüs-
sigem Magma auskristallisierten, durch Auslaugung aus
dem Nebengestein aber wesentlich modifiziert wurden,
so daß charakteristische Mineralien in der Kontaktzone
des Pegmatits mit dem Nebengestein entstanden. James
Underhill’) glaubt die metamorphosierten Eruptivgesteine
als „bestimmt präjurassisch-triassisch“ ansprechen zu
sollen. „Daß gewisse Teile (des unteren Clear Creek-
Areals) von späteruptivem Ursprung sind, kann bewiesen
werden, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird eines
Tages die ganze Gegend, gleich dem Green Mountain-
Areal in Massachusetts, als dem Devon zugehörig be-
zeichnet werden müssen.“
Ein anderer Biotitgranit von bestimmtem Typus
findet sich bei Silver Plume (Silver Plume Granite).
Besonders erwähnenswert ist das starke Vorkommen
von Magnetit im Pegmatit neben anderen Mineralien, wie
Muskovit, Zirkon, Quarz, Turmalin, Feldspat, Granat,
Apatit und Beryll.
Zu den ältesten präkambrischen Gesteinen des Clear
Creek-Distrikts gehört ferner die in großer Verbreitung
auftretende Idaho Springs-Formation, der man — wenn
auch unter Vorbehalt — sedimentären Ursprung zuge-
schrieben hat. Ihren Namen erhielt die Formation nach
ihrem besonders ausgeprägten Vorkommen bei Idaho
Springs. Die stark gefaltete Formation bildet den Grund-
stock des Gesteins des ganzen Distrikts und erstreckt
sich über ungefähr 137 qkm; sie tritt ferner zutage von
der Spitze des Griffith Mountain (bei Georgetown) südwärts
bis zur Divide zwischen South Clear- und East Geneva
Creek und besteht aus Biotit-Sillimanitschiefer, Biotit-
schiefer, Quarzgneis und Kalksilikaten. Sie zeigt überall
Spuren tiefgreifenden Metamorphismus, sowie Intrusionen
von Serien holokristallinischer Eruptivgesteine. „Diese
Formation“, sagt Ball (a. a. O., S. 37), „obgleich tief
unter anderen vergraben, war gebirgsbildenden Kräften
®) Das grundlegende Werk ist: Professional Paper 63 der
U. 8. Geol. Survey: Economic Geology of the George-
town Quadrangle, Colo., by Jos. E. Spurr and George H.
Garrey, with General Geology by Sydney H. Ball. 1908.
422 Seiten mit 155 Abb., 87 Tafeln u. Karten. Das Werk ist
bei der Survey vergriffen, kann aber durch den Superintendent
of Documents, Government Printing Office, Washington D. O.,
noch zum Preise von 1,75 Doll. bezogen werden.
°) James Underhill: „Areal Geology of Lower Clear
Creek“, University of Colorado Studies, Vol. 3, No.4 (August
1906). — Für Überlassung dieser Schrift möchte ich Dr.
Underhill, Idaho Springs, auch an dieser Stelle besten Dank
sagen.
unterworfen, die sie in einer komplizierten Weise fal-
teten und in ihr eine regionale Schistosität (Schieferung)
erzeugten. Später, aber ohne Zweifel noch in präkam-
brischer Zeit, wurde sie mit einer Serie holokristallini-
scher Eruptivgesteine imprägniert. Nach den verschie-
denen Graden der Schieferung, die sich in den verschie-
denen präkambrischen Gesteinen zeigt, muß die Zeit
zwischen der Ablagerung der Idaho Springs-Formation
und der Intrusion des spätesten präkambrischen Granits
sehr groß gewesen sein, und während der langen Periode
der Intrusion, wie aus dem granitoiden Habitus der
Eruptivgesteine zu ersehen ist, muß die Oberfläche der
Formation in der Gestalt, wie wir sie heute sehen, unter
einer mächtigen Decke des darüberliegenden Gesteins
begraben gewesen sein.“ Die Freilegung der Formation
erfolgte offenbar in der nachkambrischen Zeit bzw. in
jener Periode, die das Gebirgsbild von heute ge-
schaffen hat.
Die Geologie von Gilpin County ist im wesentlichen
die gleiche wie die von Clear Creek County. Präkam-
brische Gesteine, mit Imprägnationen von Quarz-Porphyr-
gängen, sind auch hier vorherrschend. Offenbar hat dieser
Distrikt aber eine weniger „bewegte Vergangenheit“
durchgemacht als der vorher beschriebene. Das Gebirge
zeigt fast noch überall domförmige Bildungen mit nur
stellenweisen Bloßlegungen oder Zerklüftungen des Ge-
steins. Eine besondere Eigentümlichkeit des Gebiets, vör-
nehmlich in dem vom North Clear Creek durchflossenen
Teil gegen die Station Forks Creek zu und dann weiter
am Eingang von Russell Gulch, ist die bankförmige Ab-
sonderung des Granits: eine Eigentümlichkeit, die nur
bei Eruptivgesteinen auftritt und auf Spannungsunter-
schiede zurückzuführen ist, die sich in der allmählich er-
starrenden eruptiven Masse senkrecht zur Abkühlungs-
fläche äußerten.
Das Werk der Erosion ist in dem gesamten geschil-
derten Distrikt auch noch heute tätig; die ausfeilende
Kraft des Windes löst größere oder kleinere Teile des
Gesteins, sie als Schutthalde abwärts oder zu Tal tragend,
und erzeugt da, wo weichere Partien der Luft geringeren
Widerstand entgegensetzen, Klüfte und Schluchten, die
das tiefer liegende Gestein aufschließen. Des weiteren
richten Wolkenbrüche, die besonders, in den Hoch-
sommermonaten keine seltene Erscheinung in den Canyons
sind, gewaltige Zerstörungen an und schleudern haus-
hohe Felsblöcke in die Tiefe, deren Wegschaffung oft auf
lange hinaus den Verkehr hemmt. Durch Erosion bloß-
gelegte, säulenförmige Bildungen konnte ich in der Nähe
von Elk Creek beobachten.
Was nun die eigentliche Bildung des Clear Creek
Canyon, der ein echtes Durchbruchstal zwischen der Hoch-
ebene von Idaho Springs und den Foothills der Denver-
Ebene darstellt, was die Ausfeilung der Canyonwände
und, im direkten Zusammenhang damit, die Bildung der
zahlreichen pittoresken Formen innerhalb des Canyon
betrifft, so haben wir es hier einfach mit den Wirkungen
der Eiszeit zu tun, die vom Gray’s- und Torrey’s Peak
bis Zum Canyon ihre deutlich erkennbaren Spuren zurück-
gelassen hat. Von den beiden genannten Hochgipfeln,
dann weiter vom Mount Evans und Rosalie erstreckten
sich mächtige Gletscher in westlicher und östlicher Rich-
tung über das gebirgige Hochland, dessen domförmige
Gipfel — wie noch heute deutlich am Mount Mc Clellan
und seinen Nachbarbergen zu sehen ist — überhaupt
erst durch die darüber hinziehenden Gletscher ihre jetzige
Gestalt erhielten, wenn sie nicht schon im späteren
Tertiir — wie von einzelnen behauptet wird — ihre
jetzige Form angenommen haben dürften. Die Täler
waren vor der Eiszeit breiter als heute.
45*
348
Schoen: Alte Sitten in der Bretagne.
In der Eiszeit bildeten sich dann jene charakteristi-
schen V-förmigen Täler jenes Hochlandes, während gla-
ziale Zirkusse (so an Gray’s- und Torrey’s Peak) sich an
dem Ursprung der Ströme bildeten, die in tieferen Lagen
(Georgetown und Silver Plume) in U-förmige Täler über-
gehen. Die gewaltigen, vom Hochgebirge herabkommen-
den Wassermassen durchbrachen dann, einen Ausweg in
ihrer ostwärts gerichteten Bewegung suchend, das ver-
mutlich im Tertiär durch Hebung gebildete Gebirge und
schufen so neben dem Clear Creek Canyon auch die benach-
barten Canyons, den Bear Creek Canyon, den Turkey Creek
Canyon u. a. Die Bewegung der Wassermassen war
nicht streng west-östlich; die verschiedene Härte des Ge-
steins führte zur Bildung von Kreuz- und Querwegen
des Wassers, die da und dort Blöcke abrissen und sie
weiterführten. Noch heute geht dieses Werk der Zer-
störung innerhalb der Canyons, wenn auch in geringerem
Maße, ungestört seinen Weg. (Schluß folgt.)
Alte Sitten in der Bretagne.
Volkslieder und Hochzeitsfeste.
Von Prof. Dr. Heinrich Schoen.
Cahors (Lot).
(Schluß.)
VL
Noch interessanter sind die Hochzeitsfeste und Hoch-
zeitslieder in der westlichen Bretagne. Wenn ein reicher
Bauernsohn heiratet, werden öfters sechs- bis achthundert
Gäste eingeladen, und manchmal mehr. Da werden un-
geheure Kessel im Freien aufgestellt; ganze Ochsen
werden, wie in alter Zeit, vor einem riesigen Feuer ge-
braten; Hühner- und Gänsebraten werden dutzendweise
aufgetischt, und der Apfelwein muß stromweise aus den
Fässern fließen. Wenn es an Tischen fehlt, werden auf
der nächsten Wiese zwei parallele Gräben in einer Ent-
fernung von einem Meter gegraben; die aufgeworfene
Erde bildet den Tisch; die Gäste sitzen auf der äußeren
Seite eines jeden Grabens und stellen die Beine gemüt-
lich in denselben.
Solche Hochzeiten dauern manchmal drei Tage. Das
Mittagessen findet gewöhnlich von zwölf bis vier Uhr
statt. Darauf folgt Musik und Tanz, bis um sieben Uhr
das Essen und Trinken von neuem beginnt. Und am
folgenden Tage fängt das Fest wieder an.
Das alles sind aber sozusagen nur die äußeren Kund-
gebungen der Feier, die jedem Touristen zugänglich
sind. Viel eigentümlicher sind die alten Zeremonien
und Lieder, die nur den Eingeweihten verständlich sind
und die ich besonders im „Pays de Cornouailles“ studieren
konnte.
Dort muß der junge Bauer, der ein Mädchen zu
seiner Braut gewählt hat, einen Bazwalan oder
Brautwerber als Vertreter haben. Dieser ist gewöhn-
lich ein älterer, mit allen Volkssitten vertrauter Dichter
oder Barde, der alle Leute der Gegend kennt. Wenn er
seinen Vermittlerdienst ausrichten will, trägt er einen
blühenden Ginsterzweig, ein uraltes Zeichen des Friedens
und der Unverletzlichkeit des Liebesgesandten. Daher
der Name, der aus baz, Rute, und walan, Ginster, ent-
standen ist.
Dieser Bazwalan begibt sich nun in den Hof der
Eltern des betreffenden Mädchens, um die Sache seines
Schützlings zu verteidigen. In der Brusttasche trägt
er das geheimnisvolle „Louzou ar garantez“, die kleine
Pflanze der Liebe, die, der Sage zufolge, wie ein Talisman
bei jungen Leuten gegenseitige Leidenschaft entstehen läßt.
Sollte es vorkommen, daß beim Eintreten des Baz-
walan die Feuerbrände im Kamin aufrecht stehen, und
die Hausfrau, ohne auf ihn zu achten, einen Kuchen
nimmt und ihn mit den Fingerspitzen über das Feuer
hält, so ist dies ein schlechtes Zeichen: der Gesandte ver-
steht, daß er seinen Plan aufgeben muß, und geht weiter.
Wenn ihn aber bei seiner Ankunft ein Freudenschrei
zum Eintritt einladet, wenn die Kuchen vor ihm auf den
Tisch gestellt werden und im Kamin die Feuerbrände
wie gewöhnlich fortbrennen, so ist das ein Zeichen, daß
alles gut geht.
Hoffnungsvoll spricht der so aufgenommene Ver-
mittler einige Worte mit der Mutter und geht mit ihr
hinaus; bald kommt diese zurück und setzt ihrer Tochter
alles auseinander. Stimmt diese bei, so wird einige Tage
darauf der Vertrag von den Vätern abgeschlossen, und
von nun an gilt er den beiden Verlobten als unantastbar.
In der Bretagne ist nämlich die Verlobung ebenso heilig,
wie in den meisten anderen französischen Provinzen die
Heirat selbst.
Schon vier bis sechs Wochen darauf findet die Hoch-
zeit statt. Am festgesetzten Tage füllt, kurz nach Sonnen-
aufgang, ein jubelnder Haufe das Haus der Braut, um
sie zur Kirche abzuholen. Wenn es sich um reiche Bauern
handelt, sind die Leute zu Pferde. Voran erblickt man
Bräutigam und Brautführer. Auf ein gegebenes Zeichen
steigt der Brautwerber langsam vom Pferde ab. Majestä-
tisch geht er die Treppe vor dem Hause hinauf; er
singt aus dem Stegreife ein Lied, in dem er Gottes, des
Sohnes und des heiligen Geistes Segen über Haus und
Hof erfleht:
„Bonheur et joie en ce logis!
Voici le messager des noces.“
Ihm muß ein anderer Stegreifdichter aus dem Hause, der
„Bräutaör“ oder Brautgeber, im Namen der Familie
der Braut antworten.
Sodann entspinnt sich ein merkwürdiges Zwiegespräch,
das allerdings je nach Gelegenheit verlängert oder geändert
werden kann, dessen Hauptgedanken aber meist folgende
sind: Der Bazwalan.
Gott gebe diesem Hause Lust
Weit mehr als wohnt in meiner Brust.
Der Bräutaör.
Was liegt Dir, Freund, in Deiner Brust
Daß Dir im Herzen fehlt die Lust?
Der Bazwalan.
Es flog mir aus dem Taubenhaus,
Vom Tauber weg ein Täubchen aus.
Da kam herbei ein Sperber groß,
Gar plötzlich wie des Windes Stoß,
Der hat mein Täubchen so erschreckt,
Daß ich nicht weiß, wo sich’s versteckt,
Der Bräutaör.
Doch gar herausgeputzt Du bist
Für einen, der so traurig ist.
Du hast gekämmt Dein langes Haar,
Als gingst Du heut’ zum Tanz, fürwahr!
Der Bazwalan.
Mein Freund, o laß das Spotten gehn!
Hast Du mein Täubchen nicht gesehn?
Mir gilt kein Glück auf dieser Welt,
Bis sich mein Täubchen eingestellt.
Schoen: Alte Sitten in der Bretagne. 349
Der Bräutaör.
Kein Täubchen kam mir zu Gesicht,
Und auch Dein weißer Tauber nicht.
Der Bazwalan.
Tot find’ ich wohl den Tauber mein,
Kehrt nicht zurück das Weibchen sein.
Drum, lieber Freund, laß mich doch gehn,
Um selbst im Haus herumzusehn.
Der Bräutaer.
Halt! Freund! Du darfst hinein nicht gehn!
Ich will danach schon selber sehn.
Bei diesen Worten kehrt der Brautgeber ins Eltern-
haus zurück und erscheint einige Augenblicke später
wieder vor dem Haus, ein kleines Mädchen an der Hand
führend. Er bietet dasselbe dem Werber an; doch dieser
antwortet mit einer Verneigung:
Der Bazwalan.
Die Blum’ ist zart und artig so,
Daß manches Herz drob würde froh...
Er preist des Mädchens Schönheit und Anmut; doch,
fügt er hinzu, müssen erst zehn Jahre vorübergehen,
bis es dem verlorenen Täubchen gleiche.
Darauf entfernt sich der Brautführer wieder
kehrt mit der Hausfrau zurück.
und
Der Bräutaer.
Ich stieg hinauf, doch kam mir nicht
Dein weißes Täubchen zu Gesicht;
Die Ahre fand ich nur, vergib,
Die von der Ernte liegen blieb.
Doch auch sie kann der Bazwalan nicht annehmen. Da
führt der Brautgeber die Großmutter herbei:
Der Bräutaör.
Von keiner Art ich Täubchen sah,
Nur diesen Apfel fand ich da;
Der Apfel längst schon runzelt gar,
Am Baum er unter Blättern war.
Der Bazwalan.
Ich danke Dir, mein guter Freund,
Wenn auch ein Apfel runzlig scheint,
Der Wohlgeschmack ihm bleiben kann '*).
Doch was geht mich der Apfel an?...
Mein Täubchen möcht’ ich wiedersehn;
Ich will es selber suchen gehn!
Endlich ergibt sich der Brautführer und spricht:
Herr Gott! was ist doch der so fein!
So komm, mein Freund, komm mit hinein!
Du nicht verlorst Dein Täubchen zart,
Ich selber hab’ Dir’s aufbewahrt;
Von Elfenbein sein Käfig war,
Die Sparren Gold und Silber gar.
Da ist sie nun, von Lieb entzückt,
So artig schön und wohlgeschmückt"”).
Da wird der Brautwerber feierlich ins Haus eingeführt.
Er holt den Bräutigam herbei, der in der Nähe den
Schluß des poetischen Streites erwartete, und die ganze
Familie setzt sich im großen Wohnzimmer des Hauses,
um der folgenden Zeremonie, der sogenannten Gürtel-
szene, beizuwohnen.
VII.
Sobald der Bräutigam erscheint, übergibt ihm der
Hausvater einen Pferdegurt, und während jener seine
junge Braut damit umgürtet und den Gürtel wieder löst,
singt der Brautgeber das folgende Lied:
Das Gürtellied.
Auf einer Wiese hab’ gesehn
Ich eine junge Stute gehn.
18) Sprichwort in der, Bretagne.
Y) Etwas geänderte Übersetzung von Keller.
Es war ihr vor nichts Schlimmem bang,
Sie lustig auf der Wiese sprang.
Da mußte dieses Weges gehn
Ein edler Reiter, jung und schön.
So wohlgewachsen, schön und hold,
Sein Kleid von Silber glänzt, und Gold...
Als nun die Stute den gesehn,
Da blieb sie starr vor Staunen stehn.
Der Schrank’ sie naht’ mit leisem Gang,
Und drüber streckt’ den Hals sie lang... .
Der Reiter drauf gar schön ihr tat,
Und seinen Kopf dem ihren naht’.
Er gab darauf ihr einen Kuß;
Das macht der Stute nicht Verdruß.
Nun legt’ er einen Zaum ihr an,
Und einen Sattelgurt sodann.
Auf ihren Rücken er sich schwang,
Sie heimzuführen ihm gelang '*).
Hat diese naive Szene, in ihrer Einfachheit, nicht eine
tiefe symbolische Bedeutung!
VII.
Nach der Gürtelzeremonie erfleht der Barde Gottes
Segen für die junge Braut, sowie auch für ihre Eltern und
Großeltern. Lebt der Großvater noch, so kniet die Braut
vor ihm nieder. Nachdem ihr der Greis seinen Segen
erteilt hat, hebt sie die Brautjungfer auf. Der Braut-
geber legt ihre Hand in die Rechte des Bräutigams; die
Ringe werden vertauscht; Braut und Bräutigam schwören
einander, daß sie auf Erden so eng vereint sein wollen,
wie der Ring mit dem Finger, auf daß sie es auch im
Himmel seien. Endlich beten alle mit lauter Stimme ein
pater, ein ave und ein de profundis.
Nach dieser tief ernsten Feierlichkeit erscheinen die
Verwandten, um sich der Familie anzuschließen. Der
Bazwalan nimmt das Pferd des Bräutigams, führt es vor
die Haupttreppe und hält es am Zaume, während der junge
Mann aufsteigt. Der Brautgeber nimmt die junge Braut
in seine Arme und setzt sie hinter den Bräutigam. Jeder
anderen Person oder jedem Paar vom Zug führen die
Knechte das Pferd nach der Reihe vor. Es öffnet sich
die Schranke, und im Galopp geht es nach der Dorf-
kirche oder zuerst nach dem Rathaus, wenn die Zivil-
ehe noch nicht stattgefunden hat. Der erste Reiter, der
an einem bestimmten Platz vor der Kirche oder vor dem
Stadthaus ankommt, gewinnt einen Hammel, der zweite
einige Bänder.
Da bei diesem Ritt manche Unfälle vorgekommen
sind, wird der letzte Konkursritt heutzutage meist auf-
gehoben.
In manchen Dörfern begibt sich der Priester vom
Altar in die Sakristei, wohin ihm die neuen Gatten und
ihre Verwandten folgen. Der Brautführer bringt einen
Korb, der mit einem schneeweißen Handtuch bedeckt ist,
und legt ihn vor den Priester nieder. Dieser zieht ein
weißes Brot heraus und macht darauf mit einem Messer
das Zeichen des Kreuzes; er schneidet ein Stück heraus
und reicht es dem Brautpaar. Darauf nimmt er aus dem-
selben Korb eine Flasche Wein und füllt eine silberne
Schale. Der junge Mann trinkt zuerst daraus und reicht
seiner jungen Frau die Schale. Dann empfangen beide
nochmals den Segen des Priesters.
Beim Heraustreten aus der Kirche wird der Zug von
Schüssen und Musik empfangen. Das Hochzeitsmahl
wird im Hofe der Braut eingenommen, wo alles festlich
18) Übersetzung von Keller und Seckendorf; das Lied ist,
wie das vorhergehende, sehr abgekürzt worden.
350
Schoen: Alte Sitten in der Bretagne.
geschmückt ist. Der Sitz der jungen Frau ist am Ende
des einen Tisches bereitet und gleich einer blühenden
Laube geziert.
Ehe man sich zu Tische setzt, spricht ein Greis das
benedicite. Jedes Gericht wird von einem Musikstück
begleitet, denn „Biniou- und Bombardespieler“ !9) wohnen
dem Feste bei. Von Zeit zu Zeit stimmt die ganze Ver-
sammlung irgend ein nationales Volkslied an. Bald
heiter und leidenschaftlich, bald traurig und melancholisch,
sind diese Lieder ein treues Bild des Landes, mit seinen
herrlichen Landschaften und seiner öden Heide.
Dein muß ich doch auf immer sein,
Und Tag und Nacht gedenk ich Dein!
Drei Paar Holzschuh’ verbraucht ich schier,
O Süße, Dir zu folgen hier.
Wohl fünfzig Nächte harrt ich hier,
Du weißt es nicht, vor Deiner Tür;
Mich Wind und Wetter nicht verdroß,
Ob’s Wasser auch vom Kleide floß.
(Aus einem alten ungedruckten Hochzeitstischlied.)
Nach dem Essen wird fröhlich getanzt. Die Tänze
sind aber nicht die kurzen, lustigen Walzer und Polkas
der meisten französischen Provinzen. Ihrem Charakter
gemäß, haben die Bewohner der Bretagne langsame, feier-
liche Tänze, die oft zwanzig bis dreißig Minuten dauern,
ohne den in rhythmischen Schwingungen bewegten Körper
zu erschöpfen.
IX.
Nach Mitternacht wurde früher die Neuvermählte
von allen Anwesenden entkleidet und zu Bette gelegt.
Ihr Mann nahm neben ihr im großen, schrankartigen
Brautbette Platz. Man trug ihnen dann noch eine
Milchsuppe auf, die zu neuen symbolischen Zeremonien
und Liedern Anlaß gab. Das Auskleiden ist heutzutage
nicht mehr gebräuchlich, doch die Milchsuppe ist in
manchen Dörfern geblieben. Sie wird dem jungen Ehe-
paar vom Brautführer und von drei Freunden auf einer
Tragbahre feierlich vorgeführt, und beide junge Leute
müssen, ob gern oder ungern, eine Schüssel leeren,
während die Gäste vor dem Ehebett das Milchsuppen-
lied (Chanson de la soupe au lait) singen:
Läute, Glöckner, läute!
Läute immerzu!
Die Suppe steht für uns bereit,
Nach Arbeit kommt die Ruhezeit.
Läute, Glöckner, läute!
Läute immerzu!
Die Suppe steht jetzt auf der Bank,
Zur Arbeit kommt Ihr frisch und frank ®").
Häufig legt man den Neuvermählten noch einige kleine
Kinder oder Puppen auf die Decke des Bettes.
Der Bazwalan und der Bräutaör bekommen als
Hochzeitsgeschenk ein Paar lange weiße Strümpfe mit
gelbem Zwickel und einen schönen, breiten Gürtel aus
roter Wolle.
Das Volk hält außerordentlich an diesen Volkssitten,
die vielleicht aus den ersten Jahrhunderten nach Christi
Geburt stammen. Denn schon die ältesten Barden der
Bretagne feierten die Hochzeiten auf ähnliche Weise mit
Tänzen und Festgesängen, und bis ins 14. Jahrhundert
hatten sie nach neu entdeckten Dokumenten das Recht,
Ehen gültig einzusegnen.
1°) Biniou ist eine Art Dudelsack mit weitem Bauche;
Bombarde eine Art Hoboe, die gewöhnlich in der Bretagne
den Biniou begleitet.
®) Vgl. Brizeux’ Lied: Chantons la soupe blanche, amis,
chantons encore — Le lait et son bassin plus jaune que
de lor.
X.
Doch mit der Milchsuppenzeremonie ist nicht alles
vollendet.
Am folgenden Morgen früh erscheinen die Armen,
die Überreste des Gastmahles zu verzehren. Das Ehe-
paar sieht es als eine heilige Pflicht an, die Gäste selbst
zu empfangen. Der Mann bedient die Männer, die junge
Brauť die Frauen. Darauf tanzt die Frau mit dem ehr-
würdigsten der Armen, der oft ein Dichter ist; der junge
Mann bietet der ältesten Bettlerin seinen Arm. Schließ-
lich bringen die Armen ihre Glückwünsche dar und
singen Loblieder auf die Neuvermählten, die in wört-
licher, ungebundener Übersetzung etwa folgendermaßen
lauten:
Neue Herrin ist gewählt, — Von ihr zu singen unsere Freud; —
Bie wollen wir lieben, verehren. — Glücklich sei sie, das
wünschen wir.
Ja, von vielen Pfarreien — Ist sie die schönste, die beste. —
Des Armen Qual weiß sie zu lindern, — Mit Freud sagt
man ihr schönen Dank.
Ihre Füße sind klein, rot ihre Lippen, — Blau ihre Augen,
wie des Leines Blüte! — Sind wir müde, traurig, mürrisch,
— Bei ihrer Stimme entflieht die Trauer").
XI.
In gewissen Ortschaften, besonders im Léongebiet,
wo die Sitten noch heutzutage außerordentlich ernst
sind, ist der fröhlichste Hochzeitstag der dritte. Da
wird der große, nach alter Sitte schön gezierte Schrank
der jungen Braut in das Haus des Gatten gebracht.
Aus Eiche oder Nußbaumholz, glänzend poliert, mit
schönen kupfernen oder eisernen, künstlich verfertigten
Schlössern verziert, wird dieser auf einem Wagen von
zwei schönen Pferden gezogen, deren Mähne geflochten
und mit Bändern geschmückt ist. An den vier Ecken
des Schrankes sind große Sträuße befestigt worden.
Wenn nun die Verwandten der Frau diesen ehrwür-
digen Hausrat in die Wohnung des Mannes tragen wollen,
so finden sie Tür und Fenster geschlossen. Sie müssen
das Haus geradezu belagern. Ein langer Kampf ent-
spinnt sich. Als endlich die Leute mit Balken und
Stangen Tür und Fenster bedrohen, öffnet sich das Haus.
Es ertönt auf beiden Seiten das bekannte Schranklied
(la chanson de l'armoire).
Die tüchtige Hausfrau deckt ein weißes Tischtuch
über den Schrank und stellt zwei Teller Gebackenes,
eine Flasche Wein und einen großen Becher darauf.
Der angesehenste Verwandte des Mannes füllt den
Becher, reicht ihn dem ältesten Verwandten der Frau
und bittet ihn, Gebackenes zu essen. Dieser trinkt aus
dem Becher, reicht ihn zurück und bietet ebenfalls
gebackene Kuchen an. Jeder der Verwandten ahmt den
beiden Greisen nach, und der Schrank wird unter
Beifallrufen und Gesängen an den ihm bestimmten Platz
im Wohnzimmer gestellt.
Somit sind die Grundlagen eines neuen Herdes und
eines traulichen Heimes gelegt.
* *
*
Es wäre leicht, zahlreichere Beispiele alter Sitten und
Volkslieder zu geben. In der Pariser Nationalbibliothek
liegt eine umfangreiche Sammlung noch ungedruckter
Volkslieder, die einem jungen Philologen eine vorzügliche
Gelegenheit zu einer Doktordissertation bieten könnte.
Hier wollte ich aber nur, ohne Philologie zu treiben,
andeuten, was für alle Gebildete besonders interessant ist.
2) Das alte Volkslied, das in keltischer Sprache sehr
melodisch klingt, ist von einem blinden Bettler Jann-ar-
Guen (Johann der Weise) gedichtet worden.
Die persische Frau.
351
Vorhergehende Gebräuche und Volkslieder genügen,
um zu zeigen, wieviel echte Poesie noch heutzutage in
den ältesten Sitten der Bretagne zu finden ist. Zwar
sind manche Lieder etwas realistisch. Die Bauern kennen
überhaupt nicht die Kunst, ihre Gedanken in einer ver-
blümten Sprache auszudrücken. Die echten Volkslieder
der Bretagne sind aber selten roh. Man fühlt, sie haben
auf den Lippen der alten Mütterchen die ursprüngliche
Roheit verloren.
Auch hier haben sich zahlreiche Spuren der be-
deutendsten religiösen und politischen Umwälzungen des
Landes gleichsam schichtenweise niedergelegt. Alt-
keltischer Aberglaube, vorchristliche Mythen, mittelalter-
liche Sagen, christlicher Glaube und Lebenspflicht, entfernte
Töne englischer Balladen und französischer Trouvères,
das alles ist in den Volksliedern der Bretagne wieder-
zufinden. Und doch sind diese aus so verschiedenen
Quellen entsprungenen Bestandteile zu einem lebendigen
Ganzen verschmolzen, so daß diese alten Lieder und
volkstümlichen Balladen, mit ihren moralischen Sentenzen
und ihrem hohen Begriff von Verlobung, Hochzeit und
Herd, mit ihren frischen Naturschilderungen, mit ihrem
Meeresrauschen und Wellenschlag, mit dem Pfeifen der
Winde durch die düstere Heide und in den verödeten
Burgen, uns in ihrer Art ebenso anziehen, wie die
frischen und fröhlichen Volkslieder der Provence oder
der Gascogne.
Zwar dringt die moderne Zivilisation nach und nach
auch in die Bretagne. Zwar werden manche Legenden
und Gebräuche vergessen; manche alte Sitten ver-
schwinden mit der Zeit. Und doch werden die Volks-
lieder nicht leicht in Vergessenheit geraten, denn sie
haben im Herzen des keltischen Volkes feste Wurzeln
geschlagen. Wie es ein junger Dichter beim Begräbnis
des nationalen Sängers der Bretagne, des durch seine
volkstümlichen Dichtungen bekannten Brizeux, ausrief:
Die Bretagne wird ihre Vergangenheit in Ehren halten
und ihre alten Balladen und Hochzeitslieder treu bewahren.
. . . Die Bretagne in Ehren!
Sie öffnet die Arme der Zukunft weit,
Doch rühmt sie auch stolz sich vergangener Zeit,
Und Schutz wird sie heimischen Sitten gewähren *?).
®) LudwigTiercelin,ineinem „LamortdeBrizeux“
betitelten Gedicht, das er am 9. September 1888 vortrug.
Ungedruckte, wort- und formgetreue Übersetzung von Fräulein
Lina Friedländer.
Die persische Frau.
Persien hat begonnen, sich ebenso wie die Türkei west-
europäischen Einrichtungen und Anschauungen anzupassen,
aber es findet auf diesem Wege recht viel Dornen. Es hat
sich eine Konstitution zugelegt und ein Parlament, aber
diese Konzession an die Zivilisation und den Fortschritt
findet selbst da wenig Anerkennung, wo man es am ehesten
erwarten sollte: im freiheitlichen England, das nicht minder
wie die Russen dem jungpersischen Reich Schwierigkeiten
macht und wie jene seine Unabhängigkeit bedroht, neuer-
dings unter dem Vorgeben, die Handelsstraßen in Südpersien
wären unsicher. Es versteht sich im übrigen von selbst,
daß ein orientalisches, seit vielen Jahrhunderten despotisch
regiertes Reich, wo noch dazu der Islam alles beeinflußt, nicht
einfach dadurch zum Kulturstaat wird, daß es sich mit ein
wenig westlichem Firnis überzieht; dazu bedürfte es erst
einer Umwälzung der sozialen Grundanschauungen der Be-
völkerung, und damit hat es gute Wege. Ein Maßstab für
die Kulturhöhe eines Volkes ist wohl die Stellung, die es der
Frau gewährt, und wie es damit steht, darüber hat Ella C.
Sykes, eine mit den persischen Verhältnissen infolge eigener
Reisen bekannte Dame, kürzlich im „Nat. Geogr. Mag.“
(1910, 8. 847 bis 866) ein recht trübes Bild entworfen, dessen
Grundton etwa der Satz anzeigt: „Von dem Augenblick
seines Eintritts in die Welt, während seines ganzen Lebens
und selbst im Jenseits hat der persische Mann durchaus das
Beste von allem und die Frau das Schlechteste“. Wo der
Islam herrscht, ist es auch sonst nicht anders.
Von frühester Jugend an wird dem Perser gelehrt, daß
der Rat einer Frau ganz belanglos sei, und die Priester
sagen ihm, daß er immer am besten fahre, gerade das Gegen-
teil von dem zu tun, wozu ihm eine Frau rate. Deshalb ist
es verständlich, daß er gerade keine übertrieben hohe Meinung
von seiner Frau oder seinen Frauen hat. Und im Paradiese,
da stehen auch dem ärmsten Gläubigen 72 Huris zur Ver-
fügung, jene engelgleichen Wesen, die ihm den leisesten
Wunsch erfüllen und ihn alle die Frauen vergessen machen,
die er auf Erden gekannt hat.
Die Frau kommt oft schon ganz unerwünscht zur Welt
und findet wenig Willkommen. Und ihr ganzes Leben lang
wird sie gewöhnlich vernachlässigt und wenig gezählt. Das
Mädchen wird manchmal zusammen mit den Brüdern bis
zum achten Lebensjahre erzogen, dann aber wird es mehr
oder weniger streng von ihnen geschieden und dem Anderun,
dem für die Frauen bestimmten Teil des Hauses, zugewiesen.
Selten findet man eine Perserin, die lesen oder schreiben
kann; das Mädchen verbringt seine Zeit mit der Anfertigung
von Stickereien, der Bereitung süßer Speisen und Getränke
und im Geschwätz mit seinen Freundinnen und Dienerinnen.
Das Hausgewand besteht im Sommer aus einer Jacke aus
Gaze und kurzen, das Knie nicht erreichenden Hosen. Diese
soll Nasr-ed-Din Schah aus Europa eingeführt haben, wo
ihm das Kostüm der Pariser Balletteusen sehr imponiert hatte.
Eine persische Dame schneidet ihr Haar zu geraden Fransen
quer über der Stirn und durchflicht es, wenn auch nicht
übermäßig, mit Pferdehaaren. Immer aber verdeckt sie das
Haupt mit dem Tschargat, einem Tuche aus feinem Muslin,
das Tag und Nacht getragen wird, und dessen Entfernung
höchst unschicklich wäre.
Die Perserin hat schöne Augen und angenehme Gesichts-
züge, kleine Hände und Füße, doch einen für europäischen
Geschmack zu gedrungenen Wuchs, während sie infolge
ihrer abgeschlossenen Lebensweise oft blöde und unintelligent
aussieht. Ihre Vorliebe für die Kosmetik verleitet sie, ihr
Gesicht in höchst unkünstlerischer Weise zu schminken und zu
pudern, und sie gebraucht Kohle, um den Augen einen
schmachtenden Blick zu verleihen und die Weite ihrer
Augenbrauen zu verdoppeln, derart, daß sie manchmal an
der Nasenwurzel zusammenstoßen. Verläßt sie das Frauen-
gemach, so verhüllt sie sich vollkommen. Ihre Haupt-
zerstreuung bildet das öffentliche Bad; hier trifft sie ihre
Freundinnen, mit denen sie viele Stunden in der heißen,
dampferfüllten Luft verbringt, während ihre Dienerinnen
ihr Haar mit Henna und Indigo und ihre Fingerspitzen und
Zehen mit dem scharlachroten Saft der Hennapflanze färben.
Am Freitag geht sie wohl zur Moschee, aber da darf sie
nur in einem dicht vergitterten Käfig Platz nehmen, von
dem aus sie nur wenig von den Vorgängen sehen und
hören kann.
Die Heirat bedeutet auch im Leben des persischen
Mädchens das größte Ereignis, aber es hat da ebensowenig
wie sonst eine Wahl. Die Eltern kommen oft gar nicht auf
den Gedanken, nach dem Geschmack ihrer Tochter zu fragen,
und die Mädchen werden manchmal Männern ausgeliefert,
die alt genug sind, um ihre Väter oder gar Großväter zu
sein. Ist das Mädchen einmal verheiratet, so ist es der
jungen Frau sehnlichster Wunsch, einen Sohn zu bekommen;
denn sie weiß, daß davon ihres Mannes Zuneigung, ja ihre
ganze Stellung abhängt. Wird dem Manne nämlich kein
Sohn geboren, so pflegt er, wenn er sich vielleicht nicht
scheiden läßt, eine zweite Frau zu nehmen, und man kann
sich leicht vorstellen, was für eine Eifersucht entsteht, wenn
miteinander rivalisierende Frauen in ein und demselben
Haushalt sind.
In keinem Falle kann ein Weib dort die wirkliche Ge-
fährtin des Mannes sein. Die Etikette erlaubt es ihm nicht,
mit ihr in der Öffentlichkeit sich zu zeigen. Er darf sie
nicht grüßen, wenn er sie auf der Straße erkennen sollte.
Ihr abgeschlossenes Leben verhindert, daß sie etwas von den
Vorgängen in der Außenwelt weiß, sie kennt keinen von
den Freunden ihres Mannes, und er keine ihrer Freundinnen.
Er verbringt seine Tage getrennt von ihr und ißt gewöhnlich
mit seinen Freunden, und die Frauen des Hauses können
verzehren, was er übrig lassen sollte. Der Frauen größter
Trost liegt in ihren Kindern, und es gibt in Persien viel
kindliche Liebe; aber des Sohnes Liebe zu seiner Mutter hat
offenbar keinen Einfluß auf sein Benehmen gegen seine Gattin.
352
Bücherschau.
Wenn eine Frau alt wird, so wenden sich ihre Gedanken
oft der anderen Welt zu, und sie faßt wohl den Entschluß,
eine Pilgerfahrt zu unternehmen. Als dem Propheten, so
wird erzählt, ein Blick in die Hölle gestattet ward, fand
er, daß die weitaus meisten Opfer, die sich dort in Qualen
wanden, Frauen waren. Darum würde keine Frau noch so
große Mühe scheuen, um solchen Schrecken zu entgehen.
Nur durch ein Leben von vorwurfsfreier Tugend kann sie
das Paradies gewinnen, in das anscheinend jeder Mann mit
verhältnismäßig leichter Mühe zu gelangen vermag. Die
Frau aber weiß nun, daß eine Pilgerreise nach Mekka,
Kerbela oder Mesched sie von der schrecklichen mohamme-
danischen Hölle rettet, und sie schmeichelt ihrem Manne
dazu soviel Geld ab, wie sie kann, und verkauft auch ihre
Edelsteine, und dann macht sie sich mit Freundinnen und
Dienerinnen auf die für Frauen höchst beschwerliche Reise.
Stirbt die Perserin an jenen heiligen Orten, so kann sie sich
natürlich glücklich schätzen; macht sie sich dagegen auf
den Weg nach Hause, so wünscht sie im Geruch der Heilig-
keit zu sterben. Bei ihrem Tode kommen die gemieteten
Trauerleute, um zu weinen und zu wehklagen. Alles Wasser
im Hause wird fortgegossen, damit die Bewohner nicht die
Kolik bekommen. Ein Priester rezitiert aus dem Koran,
und der Leichnam wird, einen Stock unter jeder Achselhöhle,
in den Sarg gelegt. Dieses geschieht, damit die tote Frau
sich erheben kann, wenn die blauäugigen Engel kommen,
um sie über ihre Rechtgläubigkeit zu befragen. Kann sie
zu deren Zufriedenheit antworten, so wird ihr Sarg sich
zur Größe eines Zimmers ausdehnen; anderenfalls wird
ihre letzte Ruhestätte sich über ihr schließen, und alle Tiere
können dann ihre Angstschreie hören, da sie so gequält
wird. Aber wenn auch alles soweit gut geht, so hat sie'
noch die Siratbrücke zu überschreiten, die „dünner ist als
ein Haar und schärfer denn ein Schwert“ und über das
Höllenfeuer hinwegführt. Und nur die Minderheit der
Frauen kann sie sicher passieren und in die Gebiete der
Seligen gelangen. Aber sie haben ein eigenes Paradies mit
engelhafter Dienerschaft; ihren Gatten treffen sie dort nicht.
Bücherschau.
Walter McClintock, The Old North Trail, or Life,
Legends and Religion of the Blackfeet Indians. XXVI
und 539 8. mit zahlreichen Abbildungen und 1 Karte.
London 1910, Macmillan and Co. 15 s.
Die Schwarzfußindianer, ein Algonkinstamm, waren ehe-
mals eine mächtige Konföderation, die das weite Gebiet
zwischen den Rocky Mountains im Westen bis etwa zum
105. Längengrad im Osten und vom North Saskatchewan
im Norden bis zum Yellowstone River im Büden durchstreifte,
und deren oft über Jahre ausgedehnte Raubzüge vom fernen
Norden („The old North trail“) bis hinunter nach Neumexiko
reichten. Heute sitzen die Reste des Stammes, noch etwa
3500 Reinblütige, in einer Unionsreservation in Nordwest-
Montana an den Abhängen der Rocky Mountains und in drei
kanadischen Reservationen in Alberta, von denen zwei den
Unterstämmen der Blut- und Peiganindianer zugewiesen sind.
Das Buch McClintocks beschäftigt sich mit ihnen, mit ihrem
heutigen Leben, ihrer Religion nebst den dazugehörigen
Festen und Kulten und mit ihren Sagen, wobei die Art be-
merkenswert ist, auf die der Verfasser sein Material ge-
sammelt hat: er hat sich nämlich in der Montanareservation
von einem angesehenen Indianer adoptieren lassen und als
Indianer unter Indianern seine Beobachtungen machen
können. Wann, wie oft und wie lange der Verfasser eigent-
lich unter den Schwarzfüßen geweilt hat, ist dem Buche
nicht mit Sicherheit zu entnehmen; es scheint, daß er das
erste Mal Mitte der 90er Jahre zu ihnen gekommen ist und
sie dann in der Folgezeit bis 1905 wiederholt besucht hat.
Dabei scheinen zwar systematische ethnologische Studien
nicht ausgeführt zu sein, aber es hat sich doch ein recht
reichhaltiges und vielseitiges Material angesammelt, von dem
hier das mitgeteilt wird, was für zartbesaitete Ohren nicht
shocking ist. Der Verfasser hat sein Buch nämlich für einen
weiten Leserkreis einzurichten gesucht. Er erzählt, wie er
zu den Montana-Schwarzfüßen kam, mit ihnen bekannt und
adoptiert wurde — was mit einer komplizierten „Biber-
Medizin - Zeremonie“ verbunden war; und dann berichtet
er von einem Besuch in der Reservation der Blutindianer,
wo er anfangs auf Zurückhaltung stieß, schließlich aber
auch offene Arme fand. Dies der Rahmen des Buches, den
geschlossene Kapitel über Folklore, Sagen, Religion, Kulte (be-
sonders den Sonnentanz) ausfüllen. Daneben wird das Leben und
Treiben in den Lagern und auf der Jagd recht anschaulich
und fesselnd geschildert. Die alte Zeit ist ja nun dahin,
und die sogenannte Zivilisation dringt auch in die Reserva-
tionen ein und verdirbt die Indianer und verschlechtert ihre
Lage, die weißen, von der Regierung bestellten Indianer-
agenten machen sich den Rothäuten lästig und untersagen
ihnen sogar den harmlosen Sonnentanz; so steht die jüngere
Generation den Stammesgewohnheiten schon gleichgültig
gegenüber. Aber die alten Häuptlinge und Medizinmänner
hängen um so fester an ihnen, und aus ihrem reichen Schatz
an Wissen und Erinnerungen teilten sie dem Autor gern
mit. Er konnte an intimen Zeremonien teilnehmen und
dabei auch zeichnen und photographieren. Viele interessante
Abbildungen und Aquarelle schmücken darum das Buch.
Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden, doch
sei wenigstens erwähnt, daß die „Religion“ der Schwarzfüße
in der Verehrung von Sonne und Mond besteht, besonders
der Sonne, von der alle Kraft und Macht über die Tiere zu
den Menschen überging; so dient denn auch der an kom-
pliziertem ZeremonieH überaus reiche Sonnentanz dem Kulte
dieses Gestirmes. <
Das hübsche Buch verdiente wohl eine deutsche Uber-
setzung. Übrigens: Einem Dichter von Indianergeschichten
eröffnet sich hier eine ergiebige und dazu verläßliche
Fundgrube.
Die Lagerstätten der nutzbaren Mineralien und
Gesteine nach Form, Inhalt und Entstehung.
Dargestellt von Prof. Dr. F. Beyschlag, Prof. Dr. P.
Krusch und Prof. J. H. L. Vogt. I. Bd., 2. Hälfte.
Mit se Abbildungen. Stuttgart 1910, Ferdinand Enke.
8,60
Während in der ersten Hälfte des von uns an dieser
Stelle besprochenen I. Bandes (vgl. Bd. 96, 8. 177) der all-
gemeine Teil der Erzlagerstätten behandelt wurde, bringt
die 2. Hälfte des I. Bandes die spezielle Beschreibung der
einzelnen Lagerstätten unter gleichzeitiger Würdigung ihrer
wirtschaftlichen Bedeutung.
Die von drei Autoren aufgestellte Systematik der Erz-
lagerstätten ergab vier Hauptgruppen: 1. Magmatische Aus-
scheidungen, 2. Kontaktlagerstätten, 3. Gänge, unregelmäßige
Hohlraumausfüllungen und metasomatische Lagerstätten,
4. Erzlager. Von diesen vier Hauptgruppen enthält der vor-
liegende Teil ie beiden ersten vollständig und von der
dritten die Zinnsteinganggruppe, die Apatitganggruppe und
die Quecksilberganggruppe.
Den einzelnen Hauptgruppen sowohl als auch deren
Unterabteilungen werden ausführliche Literaturangaben vor-
ausgeschickt. Ferner dienen zur Erläuterung der einzelnen
Kapitel zahlreiche, sauber ausgeführte Profile, Risse, Situations-
pläne u.a. m.
Es liegt in der Natur der Sache, daß bei der speziellen
Beschreibung der Lagerstätten, deren Details teils aus den
zahlreichen Originalarbeiten, teils aus anderen Lehrbüchern
der Lagerstättenlehre sattsam bekannt sind, viel Neues nicht
geboten werden kann. So bleibt z. B. auch hier das Problem
der Entstehung der wichtigen mittelschwedischen oxydischen
Eisene'zvorkommen nach wie vor ungelöst, „namentlich be-
züglich der Genesis des Nebengesteines, so daß man ihre
Bildung mit großer Vorsicht behandeln muß“. Im übrigen
aber machen Darstellung, die zahlreichen, sorgfältig auf-
gestellten statistischen Daten, sowie die Gesamtausstattung
den gleich günstigen Eindruck, wie in der ersten Hälfte des
Bandes. F. Tannhäuser.
W. Gothan, Botanisch-geologische Spaziergänge in
die Umgebung von Berlin. 110 8. mit 23 Textabb.
Leipzig 1910, B. G. Teubner. 2,40 fé.
Das Buch soll an der Hand einer Reihe von Exkursionen
in die Umgebung Berlins eine Einführung in das Verständ-
nis der Pflanzenbiologie bringen. Dieser Plan ist auf das
glücklichste durchgeführt. Vom Einfachsten wird aus-
gegangen und zum Schwierigeren fortgeschritten, mit steter
Berücksichtigung der Bodenverhältnisse. Die Ausflüge sind
auf das minutiögeste ausgearbeitet, und in allgemein ver-
ständlicher Sprache wird der Wanderer auf alles, was er
botanisch und geologisch wahrnimmt, hingewiesen. Die zu-
sammenfassenden Seitenüberschriften ermöglichen auch einen
Gebrauch des Führers in anderen Teilen Norddeutschlands.
Findet man doch in dem Buche auf engem Raume das zu-
Kleine Nachrichten.
353
sammengefaßt, was sich sonst gar mancher Naturfreund
mühsam aus einer Reihe von Fachschriften zusammensuchen
mußte. Spethmann.
E. Kayser, Lehrbuch der allgemeinen Geologie.
(Lehrbuch der Geologie Teil I.) Dritte Auflage. XII u.
825 8. Mit.598 Textfiguren. Stuttgart 1909, Ferdinand Enke.
Da die zweite Auflage des vorzüglichen Buches (s. Globus,
Jahrg. 1906, Bd. 89, S. 114) eine ausführliche Besprechung ge-
funden hat, dürfte dieses Mal eine etwas kürzere Erwähnung.
der neuen Auflage genügen. Auch bei dieser Auflage ist
der Umfang wieder um genau 100 Seiten angewachsen, was
vor allem durch eine Anzahl wesentlicher Änderungen, Er-
weiterungen und Neubearbeitungen einzelner Abschnitte
veranlaßt wurde Am meisten umgestaltet und fast neu
gefaßt sind die Abschnitte über die Erdbeben und Gebirgs-
bildung, aber auch die Pendulationstheorie, die Verhältnisse
des Erdinnern, die Ursachen der Eiszeit, die Dünen, die
‚Pseudomorphosenbildung, die Rolle der Organismen bei der
Verwitterung, die Glazialerosion und die dadurch entstehen-
den Formen, die Tiefseeablagerungen, die Vulkane usw. haben
Zusätze erhalten oder sind wesentlich, zum Teil durch Ver-
mehrung instruktiver Beispiele, erweitert worden. Auch die
Textabbildungen sind um rund 100 gewachsen. Die großen
Vorzüge, die in der vorigen Besprechung an dem Buch gerühmt
wurden, sind ihm erhalten geblieben, so daß auch die neue
Auflage auf das wärmste empfohlen werden muß. Zu den
kleinen Ausstellungen, die bei der vorigen Auflage gemacht
wurden und bis auf eine in der neuen unberücksichtigt ge-
blieben sind, treten zwei hinzu, indem beim Vesuv noch die
alten, seit dem Ausbruch 1906 nicht mehr stimmenden Maße
angeführt sind, und daß unter dem Felsenmeer vom Oden-
wald als Gestein „Syenit“ angegeben ist, während die hessi-
schen Geologen das Vorkommen echten Syenits im Oden-
wald verneinen und das Gestein als Hornblendegranit be-
zeichnen. Gr.
Johannes Walther, Lehrbuch der Geologie von
Deutschland. Eine Einführung in die erklärende Land-
schaftskunde für Lehrende und Lernende. XV u. 358 8.
mit 93 Landschaftsbildern, 88 Profilen, 10 kleineren Karten
im Text und 1 farbigen geologischen Strukturkarte. Leipzig
1910, Quelle u. Meyer. 7,60 M.
Der Verfasser hat schon in früheren Schriften, besonders
in seiner Vorschule der Geologie, Beweise seines pädagogischen
Taktes gegeben, der auch im vorliegenden Werke überall
wieder hervortritt. Durchweg auf streng wissenschaftlicher
Grundlage gehalten, aber allgemeinverständlich und leicht
lesbar, wenig voraussetzend und immer vom Beispiel oder
der exakten Beobachtung ausgehend, ist es vorzüglich ge-
eignet, der Geologie Freunde zu werben und breitere Schichten
in die Geologie unseres Heimatlandes einzuführen. Aber auch
vielen Fachleuten und den Geographen besonders wird die
Zusammenfassung des weit zerstreuten Materials willkommen
sein, die, ohne in die Breite zu gehen, interessante Fragen,
wie Eiszeit, erste Menschen usw., ausführlicher behandelt,
aber auch sonst sehr viel Detail bringt. Das Buch besteht
aus drei Teilen: der erste bringt einen kurzen Abriß der
allgemeinen Geologie, deren für die folgende Darstellung in
Betracht kommende Hauptfragen hier behandelt werden; der
zweite gibt eine Übersicht über die Entwickelung der ein-
zelnen Formationen in Deutschland und die daraus zu ziehen-
den Schlüsse über die geologische Geschichte und Entwicke-
lung Deutschlands; der dritte behandelt die einzelnen deutschen
Landschaften.
Sehr unterstützt wird die Darstellung durch
die gut ausgeführten Bilder, Profile und Kärtchen, sowie
die sehr übersichtliche Strukturkarte. Auf dieser sind die
obertertiären Kohlen westlich der Linie Darmstadt— Frankfurt,
sowie die reichliche Angabe von Tuff im Vogelsberg auf-
gefallen; bei dem Profil S. 167 ist der Autor versehentlich
falsch angegeben. — Ein solches Buch fehlte schon lange,
und es wird ihm hoffentlich weiteste Verbreitung zuteil
werden. Gr.
E. Middelberg, Geologische en Technische Aanteeke-
ningen over de Goudindustrie in Suriname. Mit
einer geologischen Karte und vielen Tafeln. Amsterdam,
J.H. de Bussy.
Schon seit mehreren Jahrzehnten wurde in Suriname
Gold gewonnen, doch ohne daß die Produktion bedeutend
war. Zwecks Hebung der Goldindustrie und Schaffung ge-
eigneter Grundlagen für sie wurden im Auftrage des Gou-
vernements von 1904 bis 1907 planmäßige Untersuchungen
ausgeführt, über deren Resultate der Leiter derselben in der
vorliegenden Schrift berichtet. 3
Er gibt zunächst eine kurze Übersicht über den geo-
logischen Bau der holländischen Kolonie und die Abhängigkeit
des Goldvorkommens von ihm. Hierdurch sind die nötigen
Fingerzeige für das Aufspüren goldhaltiger Gebiete gegeben:
ungestörte mehr oder weniger flache Granitgebiete kommen
nicht in Frage; die besten Aussichten bieten die (womöglich
mehrfachen) Durchbrüche jüngerer Eruptivgesteine an ihren
Kontaktflächen, infolge sekundärer Konzentration; am günstig-
sten scheinen wiederum die Strecken zu sein, in welchen
Aplite auftreten.
Dementsprechend wird der Prospektor beim Aufsuchen
von Lagerstätten seine Aufmerksamkeit in erster Linie auf
abwechselungsreicheres Hügelgelände von kompliziertem geo-
logischen Bau zu richten haben und hierbei den kompli-
ziertesten Gebieten den Vorzug geben, also solchen mit einem
unregelmäßigen Gewirr kleiner Hügel. Es folgt eine kurze
Darstellung der besten Prospektierungsmethoden; hier ver-
weilt Middelberg besonders bei dem in Bangka gebräuchlichen
Bohrzeug, dessen große Vorteile für Bohrungen von 20 bis
30 m Tiefe er auseinandersetzt und dessen Gebrauch er genau
‚erläutert.
Das letzte Kapitel der ausgezeichneten Abhandlung bildet
eine Darstellung der Goldproduktion. In überaus klarer, über-
sichtlicher Weise kommen die verschiedenen Sorten von Lager-
stätten und die hierbei möglichen und brauchbaren Arten der
Gewinnung zur Besprechung: alluviale sowie eluviale Lager-
stätten, sogenannte Imprägnationen in zersetztem Gestein und
schließlich Quarzriffe. Ebenso wie die vorgenannten Ab-
schnitte wird auch dieses Kapitel durch eine große Zahl
ebenso instruktiver wie hervorragend schöner Photographien
erläutert.
Die Resultate faßt Middelberg folgendermaßen zusammen:
Die abbauwürdigen Lagerstätten sind ohne Ausnahme sekun-
därer Entstehung (Konzentration vor allem auf chemischem,
nur untergeordnet auf mechanischem Wege). So gibt es zwar
lokal reiche Lagerstätten, aber ihr Auftreten ist unregelmäßig,
auch sind sie meist nur wenig ausgebreitet; darum ist wohl
auch kaum an einen intensiven stationären Abbau zu denken,
und rationeller Abbau wird sich in seinen Methoden auf
Grund sorgfältigster Voruntersuchung nach Möglichkeit den
lokalen Verhältnissen anzupassen haben.
Große Hoffnung setzt der Verfasser auf die bisher noch
wenig studierten Imprägnationen. W. Volz.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— In Nr. 4 dieses Globus-Bandes bringt Herr Dr. 8. R.
Steinmetz eine „Berichtigung zu Ed. Hahns niedrigem
Ackerbau oder Hackbau“, auf die ich selbst doch noch
antworten muß, nachdem nicht, wie ich gehofft, andere ge-
wichtige Stimmen sich zur Diskussion gemeldet.
Ich finde nicht, daß diese „Berichtigung“ irgend eine Be-
rechtigung hat, weder nach der formellen, noch nach der
sachlichen Seite hin.
Um das Sachliche zuerst zu nehmen: Mein Aufsatz im
Globus befaßte sich durchaus nicht mit der historischen
Entwickelung der Rolle der Frau in der Ethnologie. Alle
die Zitate, die „mit Ausnahme von Herrn Hahn“ bekannt
sind, wie die aus Friedrich von Hellwald, Starke, Dargun
und Bachofen, sind infolgedessen hier durchaus nicht an-
gebracht. Noch viel weniger der Hinweis darauf, daß die
Soziologen, z. B. Herbert Spencer, dies oder jenes hier
oder dazu bemerkt hätten, und daß ich das nicht angeführt
hätte. Meine Arbeiten gehören ja wesentlich dem Gebiet
der Wirtschaftsgeographie an. Hätte Herr Dr. 8.
was ja schließlich nicht viel verlangt wäre, meine Entstehung
der wirtschaftlichen Arbeit 8.63 und 64 daraufhin angesehen,
so hätte er Otis T. Mason in der Anmerkung zitiert ge-
funden und noch einen andern modernen amerikanischen
Forscher dazu: Payne (History of the New World America);
die von Herrn Dr. 8. so stark gewünschte Vollständigkeit
der Zitate erreicht er selbst also auch keineswegs.
Das Material, das Herr Dr. 8. zitiert hat, leidet aber
auch noch an dem grundlegenden Fehler, der auch auf sein
Zitat v. d. Steinens zutrifft, daß er Forscher für die Grund-
anschauung, die wir jetzt gewonnen haben, zitiert, die
354
Kleine Nachrichten.
doch damals nur Einzelbeobachtungen machten, wie Herr
v. d. Steinen für seinen persönlichen Anteil das neulich noch
mit großer Energie aussprach. Es handelte sich ihm um die
Beteiligung von Frauen an der Arbeit oder auch von den
Frauen der Bakairi z. B., aber es handelte sich nicht um
den Anteil der Frau an der Bodenwirtschaft.
Was aber das Formale angeht, so trifft die „Berichtigung“
insofern ganz daneben, als Herr Dr. S. merkwürdigerweise
glaubt, Grundanschauung und Hypothese gleichsetzen zu
können. Wir können aber in diesem Falle ganz davon ab-
sehen, wie groß mein Anteil an der Hypothese ist, daß der
Pflanzenanbau in der Hauptsache auf die Tätigkeit und An-
regung der Frau zurückgeht; die „Grundanschauung“ erhebt
ja einen solchen Anspruch gar nicht, es ist nur die Ansicht,
die ich meiner Hypothese des Hackbaus, den ich doch wohl
mit Recht für mich in Anspruch nehmen kann, zu-
grunde lege. Hahn.
— Fragen der Eiszeit. Prof. Dr. Frech-Breslau hat
dem Internationalen Geologen-Kongreß zu Stockholm eine
vorläufige Mitteilung übergeben, in der er die Frage unter-
sucht, ob aus der Tier- und Pflanzenwelt der interglazialen
Schichten wirklich ein Rückschluß auf ein wärmeres Klima
der interglazialen Perioden oder Stadien berechtigt ist, und
ob die geologischen und sonstigen Befunde wirklich für eine
so große Mächtigkeit der Binneneisdecke an ihrem Rande
sprechen, wie man sie seither annahm. Letztere Frage ist
besonders deshalb von Wichtigkeit, weil eine Eislage von
800 bis 1000m Mächtigkeit, wie sie seither angenommen
wurde, zu ihrem Abschmelzen längere Zeit und erhebliche
Wärmemengen braucht. Eine Eisdecke geringerer Mächtig-
keit schreitet dagegen rascher vor und zurück und bietet
daher für das ganze Problem viel geringere Schwierigkeiten.
Frech führt nun Beweise dafür an, daß die vereinzelten
höheren Gipfel Schlesiens nach ihrer heutigen Beschaffenheit
als Nunataker über das Eis hervorgeragt haben müssen,
wonach die Eismächtigkeit sehr erheblich kleiner als seither
(etwa 200m) angenommen werden muß. Für die geringe
Eishöhe spricht nach ihm auch der geringe Abtrag der Tone
in Schlesien. Daß trotzdem erratische Blöcke in den schle-
sischen Randgebirgen bis zu mehr als 500 m Höhe vorkommen,
erklärt er unter Berufung auf Drygalskis Beobachtungen in
Grönland durch Aufwärtsfließen des Eises. Für die Inter-
glazialzeiten sind besonders wichtig biologische Beobachtungen
an Pflanzen und Tieren, die Frech nach zum Teil neuen Ge-
sichtspunkten betrachtet, und für die ein auf dem Kongreß
durch Woeikow mündlich mitgeteilter Fund lebender Rhodo-
dendron praticum außerhalb der ozeanisch wärmeren Klimate,
für die es seither als beweisend galt, besonderes Interesse
hat; außerdem wird der interglaziale Löß behandelt, den
Frech nicht unter allen Umständen als Beweis für ein aus-
gedehntes Steppenklima gelten läßt. Gr.
— Über weitere Beobachtungen im Tertiär und Quartär
des subbeskidischen Vorlandes in Ostschlesien ver-
öffentlicht Dr. G. Götzinger in den Verhandlungen der
k. k. geol. Reichsanstalt zu Wien (1910, Nr. 3) vorläufige
Mitteilungen. Er ist nördlich von Teschen den Zusammen-
hängen zwischen den heutigen Grenzen von Diluvium und
Tertiär und den Talbildungen durch Einschneiden der Flüsse,
sowie den Quellhorizonten und der Taldichte nachgegangen,
wie sie sich beim Kampf um die Wasserscheide zwischen
der oberen Weichsel und der Olsa entwickelt haben. Durch
Verfolgung der Schotter versuchte er eine Rekonstruktion
des karpathischen diluvialen Flußsystems in die Ebene hin-
aus und fand dabei eine wesentliche Divergenz zwischen
ihm und den heutigen Flußläufen, die in den Durchbrüchen
durch das Teschener Hügelland nicht mehr besteht. Aus
den so erhaltenen hydrographischen Verhältnissen der dilu-
vialen Flüsse konnte dann die Lage des Eisrandes da zu
konstruieren versucht werden, wo geologische Ablagerungen
zu Seiner genaueren Bestimmung fehlen. Gr.
— In der Schweizer Zeitschrift für Forstwesen 1910 hat
der bekannte Lawinenspezialist F. W. Sprecher-St. Gallen
darauf aufmerksam gemacht, daß sich unter Umständen eine
künstliche Veranlassung desAbganges von Lawinen
durch Menschenhand empfehlen dürfte. Vorausgehen müßte
natürlich eine exakte, mehrjährige, allseitige Beobachtung
der Lawinen und der Natur ihrer Entstehungsgebiete, ein
Ziel, das ja aus vielen praktischen und wissenschaftlichen
Gründen äußerst erstrebenswert wäre. Es zu erreichen ist
nicht leicht und auch mit unmittelbaren Gefahren ver-
bunden, deshalb schlägt Sprecher vor, daß sich alle daran
Interessierten und Beteiligten, Behörden und Private, zu-
nächst in der Schweiz, die er in erster Linie im Auge hat,
zu einer großen Organisation verbinden sollten, die sich die
regelmäßige winterliche Beobachtung und die Aufzeichnung
und Sammlung der dabei gewonnenen Resultate, besonders
in Form graphischer Darstellung (Karten, Photographien usw.)
zur Aufgabe macht. Dann könnte man dazu kommen,
manche Lawinen in zweckmäßiger Weise dadurch zu beein-
flussen, daß man sie absichtlich und zu bestimmter Zeit zum
Abgehen brächte. Damit im Zusammenhang bespricht er
die Entstehung der Lawinen, die begünstigenden und ver-
.hindernden Faktoren der Lawinenbildung, die Grundsätze
für künstliche Veranlassung des Abganges von Lawinen, die
Zwecke der künstlichen Lawinenbeeinflussung und die Grenzen
der Gebiete, innerhalb deren sie überhaupt möglich ist. Gr.
— Das, was wir bis jetzt von geologischenKenntnissen
über die Bären-Insel, Spitzbergen und das König-
Karl-Land wissen, hatNathorst auf Grund seiner eigenen
Anschauung in einer kritischen Bearbeitung zusammen-
gestellt. (Bull. of the Geol. Instit. of Upsala, Vol. X, 1910.)
Bie ist sehr reich mit Karten, Reproduktionen, photographi-
schen Aufnahmen und Profilen ausgestattet, unter denen vor
allem zwei farbige Beilagen, geologische Karte von Spitz-
bergen in 1:2000000 und geologische Kartenskizze des
König - Karl -Landes in 1:500000, hervorgehoben werden
müssen. Die Arbeit ist hauptsächlich topographisch-geolo-
gischer und stratigraphischer Natur, die Tektonik und die
Morphologie werden nur kurz behandelt oder gestreift,-auch
sind die rezenten Verhältnisse der Vereisung von der Be-
sprechung ausgeschieden. Trotzdem besitzt sie auch für den
Geographen die größte Wichtigkeit, da sie alles bis jetzt
vorhandene Material in bequemer Form und kritisch gesichtet
darbietet und eine außerordentliche Zahl vortrefflicher und
instruktiver Bilder und Profile enthält. Die Arbeit war
eine der Darbietungen zum Stockholmer Geologenkongreß.
— Die Frage nach der Erhebungszeit des Thü-
ringer Waldes und Harzes. Man hatte bisher ziemlich
allgemein angenommen, sagt E. Philippi in seinem Aufsatz
über die präoligozäne Landoberfläche in Thüringen (Zeitschr.
d. deutsch. geol. Ges. 1910, Bd. 62), daß die Erhebung des
Thüringer Waldes und Harzes, wie die Bildung des Thüringer
Beckens ausschließlich in die Tertiärzeit fallen. Daran an-
schließend galten die Störungen, welche die älteren Gebirgs-
kerne begrenzen, und die, welche die Triasgebiete Thüringens
durchziehen, als tertiär. Diese Auffassung glaubt Verfasser
durch eine andere ersetzen zu sollen. Er möchte annehmen,
daß der größere Teil der thüringischen Dislokationen in die
Zeit vor Ablagerung des Oligozäns fällt und daß nur an
einigen Spalten sich auch postoligozäne Verschiebungen voll-
zogen, deren Sprunghöhe aber die der präoligozänen nirgends
erreicht hat. Beobachtungen in den Nachbargebieten und
die Lagerung des Cenomans im Ohmgebirge machen es wahr-
scheinlich, daß die präoligozänen Krustenbewegungen sich
großenteils schon am Ende der Juraperiode vollzogen, daß
aber in der oberen Kreide oder im Eozän eine zweite Dislo-
kationsperiode erfolgte. Die präoligozänen Krustenbewegungen
verursachten Gesteinsabtragungen größten Maßstabes. Bo
wurde Thüringen bis zur Oligozänzeit zu einer Peneplain
abgeschliffen, deren Untergrund Gesteine sehr verschiedenen
Alters bildeten. Schon vor dem Oligozän traten Schiefer im
östlichen Thüringer Wald und Harz, Buntsandstein und Muschel-
kalk an den Rändern, Keuper im Innern des Thüringer
Beckens zutage. Die Hochfläche, welche sich oft sehr gut
im Schiefergebirge, in größeren Partien aber auch im Trias-
gebiete erhalten hat, ist nichts anderes als die präoligozäne.
Infolge von postoligozänen Störungen hoben sich Thüringer
Wald, Harz und Kyffhäuser in ihrer heutigen Gestalt heraus.
Das Thüringer Triasgebiet zwischen den beiden Horsten bildete
zunächst eine schiefe Ebene, deren tiefster Teil dem Harz
stark genähert lag.
— Die Sumpfschildkröte dürfte nachK. Friederichs
(Mitt. d. Fischerei-Ver.d. Prov. Brandenburg 1910, N. F., Bd. 2)
in der Provinz Brandenburg ursprünglich allgemein ver-
breitet gewesen sein, wenn auch merkwürdigerweise Nach-
richten über ihr Vorkommen im Spreewald gänzlich fehlen,
während man doch gerade dort am ersten dieses Tier ver-
muten sollte. Ein allmähliches Zurückdrängen und Ver-
schwinden der Sumpfschildkröte in der Mark ist unverkenn-
bar und beruht wohl hauptsächlich auf dem Entwässern und
Räumen, das beides etwa seit dem Beginn der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts stark einsetzte. Als Aufenthaltsort
geeignet scheint in erster Linie das Schwimmfenn zu sein.
Und da dem Zuwachsen der Gewässer durch die schwimmende
Pflanzendecke bisher nur an wenigen Stellen Einhalt getan
wird, so sind die Aussichten für eine Erhaltung der Schild-
Kleine Nachrichten.
355
kröten an solchen Stellen fürs erste nicht ganz ungünstig.
Immerhin mag es jetzt noch manche Stellen in der Mark
geben, wo die Sumpfschildkröte in größerer Zahl vorkommt.
Im allgemeinen ist allem Anschein nach ihre Anzahl nur
gering, und das Wegfangen der wenigen noch vorhandenen
oder eines Teils davon wird sicher an vielen Stellen ver-
hängnisvoll für den weiteren Bestand der Art daselbst. Man
schütze also den Bestand auf alle Weise.
— In seinem Beitrag zur Morphographie des
Meeresbodens im südwestlichen pazifischen Ozean
führt F. Heufes (Diss. phil. von Münster 1910) aus, daß
dieser eine so wechselvolle Bodengestaltung aufweist, wie sie
anderswo in den Ozeanen selten zu finden ist. Unruhiges
Relief ist der Charakterzug der ganzen westlichen Südsee,
er kommt auch in der großen Zahl der Inseln und Riffe zum
Ausdruck. Das charakteristische Gepräge erbält das Bild
jener Gegend durch verschiedene unterseeische Rücken
und flache Schwellen, welche das Gebiet in meridionaler
Richtung durchziehen. Zwischen diesen einzelnen Anschwel-
lungen, welche an einigen Stellen in submarinen Vulkan-
bergen mit Bänken oft bis nahe an die Meeresoberfläche
ansteigen, finden sich Gebiete, in denen der Boden bis in
große Tiefen abfällt. Von der mittleren Westküste der Neu-
seelandgruppe aus erstreckt sich ein Rücken, der gewöhnlich
als neukaledonischer bezeichnet wird, vom Verfasser aber
lieber als Neuseelandplateau des Segelhandbuches mit Neusee-
landrücken benannt ist. Er zeigt auf seiner ganzen Aus-
dehnung nur Tiefen von 1100 bis 1200 m, steigt aber sogar
auf wenig über 800m an mehreren Stellen empor. Zwischen
diesem Nueseelandrücken und dem australischen Festlande
treffen wir auf eine tiefe Depression, die sich in Nordsüd-
richtung erstreckt. Im Norden eine grabenartige Einmuldung
von ungefähr 3200 m Tiefe bildend, erweitert sich diese Ver-
tiefung nach Süden hin zum ostaustralischen Becken, das
Tiefen von über 5000 bis 5944m erreicht. Ein zweiter
Rücken, von dem ersteren durch eine Einmuldung von 3200
bis 3600 m getrennt, läuft von der Nordinsel Neuseelands
nach Nordnordwest; auf seinem Kamme trägt er die Norfolk-
inseln; mit mehr Berechtigung als Neukaledonischer Rücken
bezeichnet, fällt diese Erhebung im Osten allmählich zu dem
sehr ausgedehnten Fidjibecken ab, das Tiefen über 4700 m
aufweist. Noch weiter im Osten treffen wir auf ein Gebiet
von gewaltigen relativen Niveauunterschieden. Von der Nord-
ostspitze der Nordinsel Neuseelands aus nach Nordnordost
erstreckt sich ein Rücken mit oft noch nicht 2000 m erreichen-
den Tiefen. Dieser Tongarücken trägt zahlreiche Vulkane,
deren Vorhandensein auf Neuseeland und den Tongainseln
deutlich zutage tritt, aber auch auf submarinen Inselbergen
und Bänken zu vermuten ist. Unmittelbar am Ostrande des
Tongarückens zieht sich eine Rinne von sehr großer Tiefe
hin. Bei Neuseeland beginnend, nehmen die Tiefen nach
Norden rasch zu. Diese tiefen Einmuldungen werden dann
nach Norden durch eine Schwellung begrenzt; der Boden
steigt unter dem 26. Breitengrade parallel fast bis auf 4000 m
an, um in 23° 39’ nochmals zu 9184 m abzufallen. Trotzdem
man verhältnismäßig zahlreiche Lotungen im Bereiche dieser
starken Depression ausgeführt hat, die sich in einer Ge-
samtausdehnung von rund 3000 km bis zum 15. Grad südl.
Breite erstrecken, reichen die Angaben doch nicht aus, um
ein genaueres Bild von der Gestalt des Ostrandes dieses
Grabens zu geben. Ob die Herde der großen Weltbeben in
diesen Gräben zu suchen sind, darüber weiß man noch nichts
Bestimmtes.
— Eine Monographie über die Insel Texel, das erste
Glied des westfriesischen Inselbogens, bearbeitete H. Klein-
kemm (Diss. von Gießen 1910). Während im allgemeinen
die Wattenzone die Eilande von der Küste trennt, ist Texel
nach zwei Richtungen hin abgetrennt, im Süden durch das
Seegat von der Nordspitze Nordhollands und im Osten durch
die Wattenzone. Im allgemeinen streicht die Außenküste von
Texel mit nur geringen Abweichungen im Büdwesten und im
äußersten Norden in gerader Linie von Südwest zu Süd nach
Nordost zu Nord. Texel ist dabei die größte der friesischen
Inseln mit 18355ha. Wann die Abtrennung vom Fest-
lande erfolgte, darüber liegen uns keine Nachrichten vor.
Durch Dünenwanderung und Benagung der See ändern sich
die Verhältnisse stetig. Ein Vergleich der Messungsergebnisse
von 1850 und 1906 ergibt im Mittel eine Verlegung des
Dünenfußes von 338,35 m seewärts, der Hochwasserlinie von
133,11 m seewärts, der Niedrigwasserlinie von 119,57 m see-
wärts. An dem geologischen Bau der friesischen Inseln nehmen
mit Ausnahme von Sylt nur Diluvium und Alluvium teil.
Den weitaus wesentlichsten Bestandteil des niederländischen
Dünensandes bildet der Quarz, wenn auch Ursprung und
lokale Umstände, wie Einflüsse in der prozentualischen Zu-
sammensetzung, immerhin eine gewisse Rolle spielen. Der
Oberflächengestaltung nach unterscheidet man das Dünen-
gebiet und dessen Hinterland, das in Geest und Marsch zer-
fällt. Was Ebbe und Flut anlangt, so beträgt die größte
Schwankung 4989 mm; das Maximum der Fluthöhe liegt im
Jahresmittel ausschließlich bei der zweiten Flut, der tiefste
Wasserstand bei der ersten Ebbe. Die südwestlichen Winde
weisen die stärkste Frequenz auf, der Südost die geringste.
Das Minimum der Lufttemperatur stellt sich durchschnittlich
im Februar ein, das Maximum im August. Als äußerste
Grenzen wurden + 31,0°C im August und — 19,9°C im Januar
gemessen; die größte Jahresschwankung brachte 1893 mit
42,6°C, die kleinste wurde 1898 mit 30,9°C beobachtet. An
Niederschlägen maß man als Maximum 880,5 mm im Jahre
1903, denen 576mm in 1905 gegenüberstanden. Der jähr-
liche Durchschnitt aus 20 Beobachtungsjahren mit 668,8 mm
dürfte sich wohl als nicht ganz richtig entpuppen. Schnee-
tage hat der Winter durchschnittlich nur acht, der Frühling
noch drei bis vier. Pflanzengeographisch stehen natürlich
die Dünen dem übrigen Land ganz gesondert gegenüber,
wenn es auch wohl keine Pflanze gibt, die nur auf ersteren
gedeiht und nicht auch in anderen sandigen Heide- oder
Gebirgsgegenden gefunden wird. Klima und Boden modifi-
zieren nur den Aufbau der Gewächse in charakteristischer
Weise, denen als dritte Gewalt der Wind sich beigesellt. Die
diluviale Geest stellt sich als ein ausgesprochenes Heidegebiet
dar, nur einen kleinen Bruchteil bedeckt der Wald da, ein-
zelne wenig umfangreiche Laubholzbestände im Gegensatz
zu dem für die niederländisch - norddeutsche Geest so typi-
schen Kiefernheidewald. Die Marsch ist ein ausgesprochenes
Gebiet der pflanzengeographischen Kleinform: offene wald-
lose Wiesen und Flächen mit Cerealien wie sonstigen Kultur-
pflanzen bebaut. Im Gegensatz zur Flora läßt unsere Kenntnis
von der Fauna der Insel noch viel zu wünschen übrig.
Schwimmvögel und Sperlingsvögel sind häufig, von Raub-
vögeln kennen wir Sperber, Eulen, wenige Falken. Das Schaf
ist allgemein verbreitet, dann finden sich Hasen und Ka-
ninchen zahlreich. Das Vorkommen des Igels darf als ein
untrügliches Zeichen für den einstigen vollständigen Zu-
sammenhang mit dem Festlande angesehen werden. Haus-
maus, Feldmaus, Haus- wie Wanderratte sind verbreitet.
Fledermaus, Seehund, Iltis und Hermelin vervollständigen
den Reigen. Die gemeine Eidechse ist das einzige bekannte
Reptil; die Insektenwelt ist noch zu wenig erforscht, das
offene Meer wie die Watten beherbergen einen wundervollen
Fischreichtum neben einer Unmenge sonstiger Meerestiere.
— Die Bevölkerungsentwickelung in den Regie-
rungsbezirken Cassel und Wiesbaden zwischen 1885
und 1905 zeigt nach A. Fricke (Diss. von Gießen 1910) eine
verschiedene Stärke der Seelenzunahme. Der Bezirk Wies-
baden, damals um 9999 Personen geringer bevölkert, übertraf
1905 den Bezirk Cassel um 159586 Einwohner. Eine Haupt-
quote des Zuwachses entfällt in beiden Landesteilen auf die
Stadtkreise; ohne diese vermindern sich die Relativzahlen,
16,8 bzw. 13,5 Proz. Von 14 nassauischen Kreisen , weisen
Kreis Westerburg und Oberlahn eine Abnahme der Bevölke-
rung auf, von 24 hessischen nur Hünfeld. Ein ungefähr
gleichmäßig wachsender Geburtenüberschuß ist in Cassel um
durchschnittlich 0,1 bis 0,2 Proz. größer. Durch die Wande-
rungen hat der Reg.-Bez. Wiesbaden in dem 20 jährigen Zeit-
raum ein Plus von 96118 Personen = 12 Proz., Cassel ein
Minus von 70661 = 8,80 Proz. zu verzeichnen, wobei die An-
zahl der weiblichen Personen hinter der der männlichen
zurückbleibt. Wanderungsverlust zeigen namentlich mehr oder
weniger diejenigen Kreise, deren Bevölkerung vorwiegend
landwirtschaftlich beschäftigt ist, Wanderungsgewinn aber
diejenigen, in welchen die industriell Tätigen überwiegen.
Ein erhöhtes Maß der Einwanderung in ländliche Industrie-
gebiete ist durch den gewerblichen Großbetrieb bedingt. Die
Hausindustrie in ländlichen Gegenden verstärkt als er-
gänzendes Gewerbe zur Landwirtschaft und infolge ihrer
Bodenständigkeit die Seßhaftigkeit. Ausgedehntes Allmende-
und sonstiges Gemeindeland kann ebenfalls den Abzug vom
platten Lande hemmen. In agrarischen Distrikten, in denen
der Groß- oder großbäuerliche Betrieb hervortritt, ist die Seß-
haftigkeit geringer als in solchen mit vorherrschend klein-
bäuerlichem und Parzellenbetrieb, was aus der größeren Be-
teiligung am Eigenbesitz in letzteren zu erklären ist. Der
fideikommissarisch gebundene Großgrundbesitz wirkt teils
zur Abwanderung mit, indem er ein Hindernis für den Er-
werb von Grundeigentum bildet, teils reduziert er den
Wanderverlust, wenn mit dem Fideikommiß umfangreicher
Waldbesitz verbunden ist, da hier landwirtschaftlichen Ar-
beitern im Winter eine ergänzende Beschäftigung geboten
356
Kleine Nachrichten.
wird. So können ausgedehnte Forsten die Seßhaftigkeit be-
günstigen. Im übrigen sei daran erinnert, daß das weithin
sich erstreckende hessische Bergland vielfach dank den un-
günstigen Bodenverhältnissen eine noch weit schwächere
Dichtigkeit der Bevölkerung aufweist als die geringst be-
völkerten Distrikte Wiesbadens. Man hat alle Ursache, die
unerwünschte Einwanderung in die Großstädte durch Unter-
bindung des Fortzuges vom Lande zu hemmen; bessere Ent-
lohnung der Arbeiter, Ansiedelung ihrer Familien und Aus-
dehnung der Krankenversicherung auf die Landwirtschaft
dürften am ehesten hier helfend eingreifen.
— Beiträge zur Agrargeschichte des Wester-
waldes gibt J. Zingel (phil. Diss. von Tübingen 1909). Die
früher auf der ganzen Feldmark ausgeübte geregelte Feld-
graswirtschaft, die ihren Weg meist durch die getrennte
Bebauung hindurch genommen hatte, vermögen wir am An-
fang des 19. Jahrhunderts nur noch auf ganz wenigen Feld-
marken nachzuweisen. Ein großer Teil des hohen Wester-
waldes war wieder in den alten Fehler des übertriebenen
einseitigen Sommergetreidebaues zurückverfallen. Wir finden
daher vielfach eine neunfelderige Körnerwirtschaft vor, doch
lassen sich bereits Übergänge aus der Körner- zur Frucht-
wechselwirtschaft wahrnehmen. Der traurige Zustand des
hohen Westerwaldes jener Zeit beruht wohl hauptsächlich
auf dem Verlassen der Feldgraswirtschaft. Erst die freiheit-
liche Agrargesetzgebung des 19. Jahrhunderts schuf hier
hauptsächlich Wandel, wenn sich auch noch Reste alter
Übergangsstufen zu neuen und neuesten Bewirtschaftungs-
formen dem Auge des Beobachters bieten.
— Den Siedelungen im westlichen Nadrauen, im
Westen des preußischen Litauen, widmet Johannes Kuck
seine Promotionsschrift (Königsberg i. Pr. 1909). Zwei Motive
erweisen sich für die topographische Lage der Siedelungen
im genannten Gebiete als wirksam: Das Bedürfnis nach dem
fließenden Wasser und das Streben nach einer möglichst vor
Überschwemmung und Versumpfung gesicherten Lage. Fast
alle Orte schließen sich an einen Fluß oder einen Bach an,
und zwar werden die kleineren Flüsse vor den großen
Strömen bevorzugt, welche geradezu gemieden werden. Zum
Ausdruck kommt diese Erscheinung sehr drastisch auf der
beigegebenen Volksdichtekarte. Der Grund für das Meiden
der Ströme liegt an dem häufigen Auftreten von Sand und
anderem wenig fruchtbaren Boden in ihrer Nähe. Auf dem
Diluvium treten die Siedelungen nicht direkt an den Fluß
heran, sondern halten sich an den Abfall der diluvialen Höhe,
gezwungen dazu durch die alljährliche Überschwemmung des
Tales. Im Moosbruch finden wir dasselbe Verhältnis, während
in der Niederung die Siedelungen direkt an das Wasser
herangehen. Ist in der Gemarkung ein Fluß überhaupt
nicht vorhanden, so nimmt die Siedelung gewöhnlich die
höchste Spitze derselben ein, aus Furcht vor der Versumpfung.
Neben der topographischen Lage ist die geographische zu
berücksichtigen, d. h. das Verhältnis znr näheren oder wei-
teren Umgebung. Nur diejenigen Ordensburgen haben Städte
ins Leben rufen können, die eine wichtige geographische
Lage besitzen, d. h. solche, welche an einem wichtigen Ver-
kehrsplatze liegen; so sind beispielsweise Laukischken und
Taplacken über Dorfsiedelungen nicht herausgewachsen. Die
Dörfer der Gebiete sind ihrer Grundrißform nach in der
überwiegenden Mehrzahl als Straßendörfer zu bezeichnen.
Daneben tritt vereinzelt ein unregelmäßiger Grundriß auf.
Unter den Straßendörfern läßt sich eine Reihe von Typen
unterscheiden, so das ostdeutsche Kolonialdorf als zweiseitiges
Straßendorf, in der Mitte der Anger mit der Kirche; das
preußische Dorf unterscheidet sich von den deutschen wesent-
lich durch seine geringere Größe hinsichtlich des Dorfberinges
wie der Einwohnerzahl. Das litauische Dorf des 17. und
18. Jahrhunderts ist zwar auch ein Straßendorf, zeichnet sich
aber meistens durch eine Anzahl von Ausbauten aus. Eine
charakteristische Form zeigen dann die Moorkolonien, die
sich eng an einen Fluß anschließen und ihm in allen seinen
Windungen folgen.
fortlaufende Reihe, jedes einzelne besitzt seinen besonderen
Wasserweg nach dem Flusse, der großen Verkehrsstraße, der
namentlich bei den älteren Kolonien die eigentliche Dorf-
straße darstellt. Zum Fahrweg, der gemeiniglich erst später
angelegt ist, stehen sie in keinem Verhältnis.
— E. Romer teilt im Lemberger Kosmos (39. Bd.) einiges
über die glaziale Karpathenlandschaft und deren Ent-
stehung mit. An den Beispielen der Formen der glazialen
Täler in den Karpathen zeigt er, daß vieles in ihnen erst
durch die Annahme der Erosion von subglazialen Gewässern
Die einzelnen Gehöfte bilden selten eine
klar wird. Die außerordentlich frisch erhaltenen Formen
von Swidowiec im Theißquellengebiet werden als charak-
teristisches Beispiel angeführt. Die Täler sind da durchaus
von mindestens zwei kaum Wasser führenden, doch gut ent-
wickelten und an den beiden Rändern des glazialen Trogs
angelehnten Talrinnen entwässert. Diese Rinnenanordnung
muß noch während der Vergletscherung und subglazial sich
entwickelt haben, im Postglazial würden ja die Erosions-
und Unterwaschungsprodukte der Ufer die Entwässerungs-
stromrinne vom Rande gegen die Achse oder gar gegen den
anderen Trogbodenrand drängen müssen, es mußte also jeden-
falls eine einheitliche symmetrische oder serpentinierende
Entwässerung sich entfalten, nie aber eine doppelte randliche
Entwässerung. Diese Erscheinung kommt noch prägnanter
in den Tälern der nördlichen Gehänge der Czornahora im
Pruth-Quellengebiet zutage. Die glazialen Beobachtungen in
den Alpen bekräftigen nur noch den Gedankengang des Ver-
fassers. Nichtsdestoweniger leugnet er die erosive Tätigkeit
der Gletscher nicht, betont insbesondere die Rolle derselben
in der Ausbildung der Kare wie der oberen Seenbassins. Die
morphologische Hauptaufgabe üben aber nach seiner Ansicht
die Gletscher nicht direkt aus, sondern indirekt, erstens durch
die Regulierung und Richtungsänderung der fluvialen Tätig-
keit, zweitens durch die Konservierung der durch Wasser-
erosion erzeugten Formen durch den Schutz vor Verschüttung
und drittens durch den enormen Transport. Zuletzt gedenkt
Romer der großen Stufen im Längsprofil der Haupttäler, bei
deren Bildung die fluviatile Erosion ausgeschlossen erscheint,
die Annahme der glazialen aber ebenfalls mit ganz bedeuten-
den Hindernissen verbunden ist. Ob mindestens nicht ein
Teil der Stufen die Folge einer epirogenetischen Verjüngung
der Landschaft sei, spricht er in Form einer Vermutung
aus, welche er später eventuell näher zu begründen ver-
suchen wird.
— Prof. A. Haas in Stettin hat seit Jahren die Insel
Rügen zu einem Spezialgebiet seiner Forschungen gemacht,
namentlich in Beziehung auf deren Sagen, Sitten und Ge-
schichte. Seine neueste Arbeit bietetBeiträge zur Kenntnis
der rügenschen Burgwälle (Baltische Studien, XIV).
Eigene Ausgrabungen hat Haas nicht veranstaltet, aber diese
kritische, die gesamte Literatur berücksichtigende Zusammen-
stellung der teilweise noch in geschichtlicher Zeit (Arkona)
benutzten Burgwälle ist in dieser Vollständigkeit sehr will-
kommen. Im ganzen zählt Haas 25 rügensche Burgwälle
auf, Küstenburgen und Binnenlandsburgen, über deren Ent-
stehungszeit nicht viel Sicheres sich ermitteln ließ. Gehen
sie, oder einzelne, auch in die frübgermanische Zeit zurück,
so fällt ihre Hauptbedeutung doch in die slawische Zeit.
Von neun Burgwällen weist Haas nach, daß sie Zwecken der
Landesverwaltung dienten, während die meisten militärische
Befestigungen waren. Acht Abbildungen sind der Schrift
beigegeben, unter denen wir die slawische Götzenfigur im
Fundament der Marienkirche zu Bergen und den über 11 m
hohen wilden Birnbaum beim Burgwall von Charenza hervor-
heben, wohl eines der größten Exemplare dieses immer
seltener werdenden Baumes. Karten zeigen die Lage der
einzelnen Burgwälle.
— Sehr gut erhaltene prähistorische Rinderschädel
befinden sich im Museum zu Schwerin. Sie stammen aus
den mecklenburgischen Pfahlbauten und werden in die Stein-
zeit, genauer in den Schlußabschnitt der nordischen Stein-
zeit versetzt. Diese Schädel hat nun Walter Zengel einer
eingehenden Untersuchung unterzogen, über welche er im
„Archiv für Anthropologie“ (Band IX, 1910, 8.159) ausführlich
berichtet, wobei er zugleich die Frage der Domestikation
behandelt und sehr richtig ausführt, daß hierbei nicht ein-
seitig vorgegangen werden dürfe, sondern Kulturgeschichte,
Paläontologie, Linguistik, Ethnologie, Physiologieund Anatomie
berücksichtigt werden müßten. Aus seinen Untersuchungen
geht im Gegensatze zu der bis heute gültigen Feststellung
Rütimeyers hervor, daß unser europäisches Hausrind
nicht von dem europäischen Ur (Bos primigenius) ab-
stamme. Er verlegt in Übereinstimmung mit Prof. Duerst
die Domestikation nach Asien, wo in den frühesten Zeiten
die Symbiose zwischen Mensch und Tier stattfand. Zur
Unterstützung seiner Anschauungen führt er die 1904 von
dem Geologen Pumpelly zu Anau in Turkestan vorgenommenen
Ausgrabungen an. Die Tierknochenfunde von dort, die
Duerst untersuchte, sollen unzweifelhaft dartun, „daß das
Rind aus diesem Kulturgebiete nach allen Himmelsrichtungen
durch Völkerzüge verbreitet ist und der Ursprungsort des
Rindes in Asien liegt, wo aus der Symbiose zwischen Mensch
und Tier nach einwandfreier Feststellung schon um 8000 vor
Christus das Haustierverhältnis entstanden war“.
Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 65. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FOR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“.
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. 23.
BRAUNSCHWEIG.
22. Dezember 1910.
x |
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Magisches und mitteilendes Zeichnen.
Von Th. W. Danzel.
Dem spielmäßigen Zeichnen der Naturvölker ist von
Wundt 1) das mitteilende gegenübergestellt worden, und
nach der Annahme dieses Autors „liegt die Anwendung
der zeichnenden Kunst in mitteilendem Sinne so nahe,
daß man wohl zweifeln darf, ob hier überhaupt von einer
zeitlichen Aufeinanderfolge die Rede sein kann. Denn
sicherlich wird der Mensch eine zeichnende Kunst auf
Steinen oder auf Baumrinde nicht früher geübt haben,
als er auch schon in Horden lebte, die gelegentlich in
Wechselverkehr mit anderen Horden stehen mochten, so
daß daraus das Bedürfnis nach Mitteilung an Abwesende
erwuchs; und für diese bot sich das die Vorstellung
fixierende Bild als das nächste überall bereitstehende
Hilfsmittel.“ Das ethnographische Material zeigt nun aber
an einer Fülle von Beispielen, daß wohl Hinweise für
abwesende Personen vorkommen vermittelst markierender
Steinhaufen, Eigentumszeichen usw. in der Nähe von
Wasserplätzen, Vorratsverstecken, die gewissermaßen als
Dauerformen der hinweisenden Gebärde aufzufassen sind,
dagegen die bildliche Darstellung nur von wenigen, erst.
auf einer kulturellen Mittelstufe stehenden Völkern in
den Dienst der Mitteilung gestellt wird.
Das spielmäßige Zeichnen findet sich schon bei den
uns bekannten primitivsten Völkern (Australiern). Hier
soll nicht näher auf die Frage nach seiner Entstehung
eingegangen werden. Die Annahme Vierkandts und Koch-
Grünbergs ?), daß in die durch spielmäßiges Wiederholen
von beim Schleifen der Steinwerkzeuge an Felswänden
entstandenen Linienkombinationen Gestalten hinein-
gesehen werden, die, der Lust an Betätigung folgend,
vervollständigt, selbst Objekt spielender Nachahmung
werden, ist auch für die folgenden Ausführungen gültig
gewesen.
Von dem spielmäßigen Zeichnen sondert sich das
magische, zauberhafte. Es entspringt der allgemeinen
Neigung des primitiven Menschen, seinen Vorstellungen
sichtbaren Ausdruck zu geben, sie zu vergegenständlichen.
Man darf dieser Erscheinung indes nicht den rationalen
Wunsch unterlegen, sich dadurch verständlicher zu machen,
vielmehr handelt es sich hier ursprünglich um die Nieder-
schläge ungewollter motorischer Entladungen von Gefühls-
spannungen. Auch wenn der Primitive den Gegenstand
einer Unterhaltung durch eine Frucht oder gar durch
ein flüchtig in den Sand gezeichnetes Bild 3) markiert,
1) Wundt, Völkerpsychologie, I. Teil, Bd. 1, 8. 233.
2?) Theodor Koch-Grünberg, Südamerikanische Felszeich-
nungen; Alfred Vierkandt, Stetigkeit im Kulturwandel, 8.47.
) Karl v. d. Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral-
brasiliens, 8. 231.
Globus XCVIII. Nr. 23.
Leipzig.
so entspringt das nicht so sehr dem Bestreben, die Er-
zählung zu verdeutlichen, wie wir, rational denkend, an-
nehmen möchten, als dem Triebe aller inneren Gefühle,
Zustände, Vorstellungen in das konkret Sichtbare
umzusetzen, unbewußt zu symbolisieren. Es ist
natürlich, daß sich diese Neigung bei der Bedeutung,
die magisch-zauberhafte Vorstellungen im Leben des
Primitiven spielen, auch hier geltend macht. Ist
die Technik des Zeichnens auf dem Boden, auf Baum-
rinde, an Felswänden spielmäßig geläufig geworden, so
wird sie als geeignetes Ausdrucksmittel insbesondere
magischer Vorstellungen mannigfaltig Anwendung er-
fahren. Während nun aber die spielmäßigen Zeich-
nungen relativ naturalistisch, in sehr vielen Fällen auch
dem Europäer bis zu einem gewissen Grade ohne Kom-
mentar verständlich sind, zeigen die magischen Dar-
stellungen, wie sie die Australier +) zum Zwecke kultisch-
zauberhafter Handlungen auf dem Erdboden ausführen
oder auf Hölzern (Churingas) oder auch an Felswänden
einritzen, ausnahmslos Formen, deren Bedeutung wir nie
erraten würden. Auf der einen Seite profane Zeich-
nungen von Mensch, Känguruh, australischem Strauß in
so naturalistischer Darstellung, daß man das Geschlecht
erkennen kann, auf der anderen Seite Systeme von kon-
zentrischen Kreisen, Schlangenlinien, parallelen Linien
von wechselnder Bedeutung. Einmal stellen z. B. kon-
zentrische Kreise auf den Churingas Menschen, ein an-
deres Mal Gummibäume dar.
Der Grund für die überaus merkwürdige Verschieden-
heit zwischen den magischen und spielmäßigen Bildern
mag in den Motiven liegen, denen sie ihre Entstehung
verdanken. Bei den spielmäßigen naturalistischen Zeich-
nungen ist die Anfertigung das Wesentliche. Ein Tier,
ein Mensch, die einmal im Leben des Zeichners eine Rolle
gespielt, einen unauslöschlichen Eindruck gemacht haben,
werden in charakterisierenden Linien festgehalten. Bei
den magischen Zeichnungen sucht der Primitive gleichsam
tastend erst ein Ausdrucksmittel. Der Wunsch zu cha-
rakterisieren tritt in den Hintergrund, und das Bild ist
lediglich eine mehr oder weniger einer bestimmten Ab-
sicht entsprungene Anwendung, eine Vergegenständ-
lichung, vergleichbar einer Anzahl Körner, die bei eifriger
Unterhaltung ergriffen werden und Menschen bedeuten,
oder den einfachen Einschnitten eines Kerbholzes, die
vollständig genügen, um die Phantasietätigkeit in be-
stimmter Weise anzuregen.
*) Spencer und Gillen, The Northern Tribes of Central
Australia, 8. 716, 737, 741.
46
358
Danzel: Magisches und mitteilendes Zeichnen.
Analoge Erscheinungen zeigt das Leben des Kindes 5).
Dem Kinde wird im Verlaufe eifrigen Spielens ein rohes
Holzstück zur Puppe; besteht aber das Spiel gerade im
Anfertigen einer Puppe, so wird etwas wesentlich Voll-
kommeneres zustande kommen, als das rohe Holzstück
es war, und es werden Gesicht, Arme und Beine ange-
deutet werden.
Auf höheren Stufen, wo alle Äußerungen des
Menschen sich stärker differenziert haben, wird das
gezeichnete Bild, das magische sowohl wie das spielmäßige,
in Einzelheiten genauer charakterisieren; beispielsweise
lassen die dämonischen Figuren auf afrikanischen Holz-
trommeln deutlich erkennen, welches Tier Vorbild ge-
wesen ist ©).
Der Grund, weswegen die naturalistischen, spiel-
mäßigen Zeichnungen nicht gleich anfangs zur Mitteilung
an Abwesende im Sinne einer Bilderschrift verwandt
werden, liegt wohl darin, daß der Primitive bei Betrach-
tung eines Bildes, das in viel stärkerer Weise Anlaß zur
Reproduktion von Erinnerungsvorstellungen ist als das
Wort oder die Gebärde, da es eben selbst seiner Be-
schaffenheit nach Gegenstand ist, noch nicht genügend
Selbstzucht gegenüber den auftauchenden Vorstellungen
übt, noch keiner Auswahl bestimmter Vorstellungen aus
einem Vorstellungskomplex und deren Verselbständigung
fähig ist, sondern sich von dem Strom unwillkürlich
reproduzierter Vorstellungen fortreißen läßt ?), noch keine
Abstraktion im Bilde ausführt. Die primitive Darstellung
eines Tieres, so typisch sie uns auch erscheinen mag,
ruft in dem primitiven Betrachter Vorstellungen ganz
bestimmter individueller Ereignisse, in denen einmal ein
solches Tier eine hervorragende Rolle spielte, wach, deren
sich zu erwehren er nicht gelernt hat. Wenn nun auch
die Anschauungsweise der einzelnen Individuen in hohem
Grade gleichartig ist, so verhindert doch das Überwuchern
spezieller, individueller Vorstellungen die Bildung einer
gleichartigen, allen Individuen geläufigen Bildbedeutung,
wie sie eine noch so primitive Bilderschrift erfordert.
Auch hier dieselbe Erscheinung im Leben des Kindes °).
Das Kind neigt stets dazu, beim Anblick eines für Er-
wachsene völlig unähnlichen Bildes auszurufen: „Das
ist der Vater“ oder: „Das ist der Onkel“, auch wenn
ihm die Ausdrücke „Mensch“ und „Mann“ mündlich
geläufig sind.
Man darf dem primitiven Menschen überhaupt nicht
von vornherein so rationale Beweggründe zumuten wie
ein Bedürfnis der Mitteilung. Sogar die sprachlichen
Äußerungen tragen noch in hohem Grade den Charakter
der Gefühlsentladungen, der Selbstdarstellungen, Mit-
bewegungen.
Auch bei den Botschaften handelt es sich ursprüng-
lich nicht um die Übermittelung von Tatsachen, die vom
Nützlichkeitsstandpunkte wissenswert sind; die ganze
Botschaftsüberreichung ist vielmehr eine symbolische
Handlung. Lehrreich sind in dieser Beziehung wieder die
Australier ?). Nähert sich der Bote mit magischen Zeichen
bedeckt, bestimmte zeremonielle Regeln befolgend, dem
Lager, so bringt er vielleicht nur die Aufforderung zu
einem nächtlichen Tanz, einer kultischen Handlung und
zählt den Zuhörern an Hand der Kerben seines Boten-
stabes die verschiedenen Akte der beabsichtigten Festlich-
keit mit Genauigkeit und Umständlichkeit auf, die
J Eigene Beobachtung.
°) Weule, Das Eidechsenornament in Afrika. Bastian-
Festschrift, 8. 183. — Totemzeichen der Torresinsulaner,
Globus, Bd. 86/87 ; Bd. 75, 8. 14: (Hoffmann).
7) W. Stern, Die Analogie im volkstümlichen Denken.
°) Eigene Beobachtung.
°) Spencer und Gillen, a. a. O.
den Zuhörern längst bekannt sind. Auch viele so-
genannte symbolische Briefe, wie sie die Jebuneger 10)
durch Boten übermitteln, zeigen dasselbe. Wohl ver-
knüpfen sich hier schon ganz bestimmte Zwecke mit der
Botschaft. Durch verschiedene Gegenstände (z. B. Kauris)
wird irgend eine Forderung ausgedrückt und es werden
verschiedene Bedingungen von deren Erfüllung abhängig
gemacht, aber an und für sich würde bei derartig ein-
fachen, Gedächtnishilfen nicht erheischenden Nachrichten
eine nur mündliche Übermittelung demselben Zweck völlig
genügen. Die Bilderschriften der Indianer !!) der Ver-
einigten Staaten sind in der Mehrzahl von demselben
Charakter. Es kommt aber schon eine Anzahl prak-
tischen Bedürfnissen gerecht werdender Mitteilungen vor
(bei Nahrungsmangel, plötzlichem Fortzug usw.), dagegen
müssen die bilderschriftlichen Rechnungen und Tausch-
angebote wohl als Reflexe europäischen Einflusses an-
gesehen werden.
Es darf uns nicht wundern, daß bei der überragenden
Bedeutung religiöser Vorstellungen in primitiven Stufen
die Veranschaulichung dieser durch das Bild besonders
gepflegt werden wird, gibt doch der Besitz magischer
Bilder dem Eigentümer das Gefühl der Macht, die Ge-
währ des Schutzes. In derselben Weise, wie es möglich
ist, einem Feinde im Bilde zu schaden 12), bieten einem
auch die Bilder dämonischer Mächte eine Handhabe zu
ihrer Beeinflussung. Es ist schon ein Fortschritt, wenn
der Mensch das Bild nicht nur ausführt in dem trieb-
haften Drang, seine Vorstellungen und Gefühle in das
Greifbare, Sichtbare umzusetzen, sondern in der mehr
oder weniger bestimmten Absicht, sich dadurch eines
Schutzes zu versichern.
Alle zauberischen Bilder und Gegenstände werden
nun aber mit peinlicher Genauigkeit stets in derselben
Weise angewandt, in derselben Form ausgeführt, und
diese Beharrungstendenz !3), die das wichtigste erziehe-
rische Moment primitiver Religion ist, weil dadurch ein
Zwang ausgeübt wird, von der physischen Natur nicht
gegebene Regeln inne zu halten, wird dazu beitragen,
die Bedeutung des magischen Bildes zu festigen. Da
letztere beim Kultus, also einer sozialen Handlung, eine
große Rolle spielen, so ist dadurch die Gewähr gegeben,
daß bei allen Individuen derselben Gruppe mit den Sym-
bolen im wesentlichen gleichartige Vorstellungen ver-
knüpft werden.
Es ist somit ein Mittel entstanden, welches in hervor-
ragender Weise geeignet ist, einer vollkommeneren Fixie-
rung der Vorstellung zu dienen. Erst allmählich, wenn
das Denken ein Schimmer von Rationalisierung erhellt,
wird die Aufzeichnung zur beabsichtigten Festhaltung
bestimmter Tatsachen oder ein Mittel zur Mitteilung.
Das ethnographische Material zeigt an dem starken Über-
wiegen der Aufzeichnungen religiösen Inhaltes, daß diese
für den Menschen ursprünglich am bedeutsamsten sind.
Die Bilderschriften der Mexikaner und Maya — also von
Völkern einer stark differenzierten Halbkultur — scheinen
beinahe ausschließlich historisch-religiösen Zwecken, in
verschwindender Menge rationalen, gedient zu haben !#),
Auch den alten Ägyptern war die Schrift in hervor-
ragender Weise Aufzeichnungsmittel religiöser Materialien.
Lehrreich ist auch, daß die Cherokee !), als ein Stammes-
10) ©. A. Gollmer im Journal of the Anthr. Inst. of Gr.
Br.a.I. XIV, 8. 169. — Ebendort, Gloxam 1887, 8. 291, 295, 298.
1) Mallery: 4. und 10. Annual Report of the American
Bur. of Ethnology.
12) Vierkandt im Globus, Bd. 92 (Anfänge der Religion).
12) Zuerst von Andree in ihrer Bedeutung erkannt.
14) Seler, Gesammelte Abhandlungen, Bd. I.
'®) Mooney, 7. Ann. Rep. Bur. Am. Ethn. 8. 307. — Vgl.
auch Tschudi, Reisen in Südamerika, Bd. V, S. 314 bis 316
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains.
359
angehöriger ihnen ein Alphabet schuf, dieses in aus-
gedehntem Maße dazu benutzten, um Zauberformeln
aufzuschreiben.
Fassen wir das Resultat der vorliegenden Unter-
suchungen zusammen: Magisch-zauberhafte Handlungen
und 8. 282 bis 284. Ein christlicher südamerikanischer
Indianer erfand eine Bilderschrift, um die Lehren der katho-
lischen Kirche aufschreiben zu können. — Auch die Bibel
(NB! „Biblos“ und „Heilige Schrift“) ist noch heute nach
den Berechnungen der Bibelgesellschaft das verbreitetste
Buch der Erde.
sind auch hier, wie in vielen anderen Fällen, gleichsam
das Experiment für rationale gewesen !6). Aus dem magi-
schen Zeichnen geht bei entsprechendem Zweckwandel in
Zeiten rationalerer Denkweise das mitteilende Zeichnen 17),
eines der wichtigsten Hilfsmittel höherer Kulturformen,
hervor.
16) Preuß, Anfänge von Kunst und Religion. Globus, Bd. 87.
— Vierkandt, Anfänge der Religion. Globus, Bd. 92.
'7) Die Entwickelung der Schrift wird in ausführlicheren
Darstellungen vom Verfasser behandelt werden.
Streifzüge in den Rocky Mountains.
Von Charles L. Henning. Denver.
V. Der Clear Creek-Distrikt: Golden — Clear Creek Canyon — Black Hawk und Central City — Idaho
Springs — Georgetown — Silver Plume — Mount McClellan.
Mit 12 Abbildungen,
(Schluß.)
II.
Die Erzlagerstätten 7).
Die Erzlagerstätten von Gilpin County und Clear
Creek County bilden einen Zweig jenes großen Erzgürtels,
der das Gesamtgebiet der Rocky Mountains in Colorado
von Süd nach Ost durchzieht, und ihre im großen und
ganzen zu beobachtende Übereinstimmung in ihrer mi-
neralogischen Zusammensetzung läßt die Behauptung ge-
rechtfertigt erscheinen, daß die Erze gemeinsamen Ur-
sachen ihre Entstehung verdanken.
Die Erzgänge beider Counties finden sich in präkam-
brischen Gneisen und Schiefern, vergesellschaftet mit
gangähnlichen Massen von Pegmatit und mit Gängen
aus Porphyr-Andesit. Es sind sogenannte echte Gänge
(True Fissure Veins).
Der Erzdistrikt von Gilpin County umfaßt eine gold-
und eine silberhaltige Zone; die Silberzone findet sich
in der östlichen Begrenzung der Region, ungefähr an
der Stelle von Black Hawk und unmittelbar östlich von
North Clear Creek, und es ist das durchschnittliche Ver-
hältnis von Silber zu Gold im ganzen Gebiet ungefähr
5 Unzen Silber auf 1 Unze Gold. Die Erze des Silber-
gürtels enthalten kein Gold, während in dem goldhaltigen
Gürtel beide Mineralien im Verhältnis von 5:1 vertreten
sind. Es lassen sich in dem Distrikt zwei Serien von
Gängen unterscheiden, ein ungefähr ost-westlich und ein
ungefähr nordöstlich-südwestlich streichender Gang,
welche von zahlreichen kleineren Seitengängen gekreuzt
werden. Die Reichhaltigkeit der Gänge an Erz schwankt
beträchtlich; während an manchen Stellen die Gänge nur
eine Mächtigkeit von 12m zeigen, weisen sie an anderen
eine solche von 120 bis 150 m auf.
Die Erze kommen in der Form von Sulfiden vor, und
der weitestverbreitete Pyrit, wegen seines glänzenden Aus-
sehens „Fool’s Gold“ genannt, ist in Verbindung mit
Kalkopyrit, Zinkblende und Fahlerz der hauptsäch-
lichste Träger von Gold. Telluride finden sich in
einigen Minen, während Wismut und Arsen ziemlich
häufig vorkommen. Der seltene Uraninit (Pechblende)
kommt in der Wood Mine vor. Im Silbergürtel finden
sich Polybasit, Stephanit und Hornsilber neben Galena,
7) Ich gestatte mir, hier zu bemerken, daß anfangs 1911
bei Ferdinand Enke in Stuttgart ein Werk aus meiner Feder er-
scheinen wird, welches die Erzlagerstätten der Vereinigten
Staaten in ihrer Gesamtheit behandelt.
Zinkblende und Pyrit. Goldinkrustationen in Blattform
auf Pyrit sind vielfach in den Gilpin-Minen gefunden
worden, während Kupfer-Pyrit das meiste Gold enthält;
die Blei-, Zink- und Antimonsulfide enthalten Silber.
Der Georgetown-Distrikt enthält an Erzen Silber,
Gold, Blei, Zink und Kupfer. Silber findet sich im freien
Zustand als sogenanntes „Wire Silver“, vornehmlich aber
in Vergesellschaftung mit Galena und Zinkblende; bei den
niedergradigen Erzen liegt der Hauptwert in Galena und
Zinkblende, so daß sich, besonders bei den augenblicklich
herrschenden niedrigen Marktpreisen des Silbers, eine
hüttenmännische Gewinnung dieses Metalls nicht lohnt.
Das hellbraune oder gelbe „Resin Zinc“ scheint sich
besser zur Silbergewinnung zu eignen als der dunkel-
braune oder schwarze Sphalerit; bei hochgradigen Sulfid-
erzen liegen die Silberwerte hauptsächlich im Tetraedrit
und Polybasit, auch das sogenannte „Ruby Silver“ und
Tennanit kommen im Distrikt vor. In der bergmänni-
schen Sprache werden Tetraedit, Polybasit und Tennanit
als „Gray Copper“ bezeichnet.
Die Silbererze enthalten oft 2 Dollar an Gold die
Tonne, besonders wenn Pyrit gegenwärtig ist.
Gold wurde vor vielen Jahren im freien Zustande
als „Seifengold“ aus Goldseifen (Placer Deposits) und im
Anstehenden in der Nähe von Empire (bei Georgetown)
gewonnen, doch wird das Metall heute ausschließlich aus
Pyrit-Kalkopyrit aufbereitet. Sorgfältige Analysen von
reinem Kalkopyrit ergaben bis zu 25 Unzen die Tonne.
Bemerkenswert ist auch ein reiches Silber-Gold-Tel-
luriderz, das sich in der Griffith-Mine findet, aber Ga-
lena und Sphalerit sind stets die Haupterze des George-
town-Distrikts. Buntkupfererz kommt vereinzelt vor.
Das hauptsächlichste Gangmineral des Georgetown-Di-
strikts ist Quarz; Siderit, Barit, Calcit, Rhodochrosit und
Magnesit können nur als untergeordnete Gangmineralien
in Betracht kommen.
Die Erze des Idaho Springs-Distrikts sind die gleichen
wie jene des Georgetown-Distrikts, nur ist vielleicht er-
wähnenswert, daß nördlich von Idaho Springs die Erze
vornehmlich kupferhaltiger Pyrit und Quarz sind, während
südlich und westlich von der Stadt Galena und Sphalerit
den Pyrit und Quarz in den goldhaltigen Erzen begleiten.
In der Nachbarschaft der Lamartine-Mine, die etwa
halbwegs zwischen Idaho Springs und Georgetown liegt,
sind die Erze vornehmlich silberhaltig, unter Vorherrschen
von Galena und Sphalerit.
46*
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains.
Produktion an Gold; Silber usw. in Clear Creek County, Colo.
1905 bis 1908.
1905 1906 1907 1908
Wert in Wert in Wert in Wert in
Menge Dollar Menge Dollar Menge Dollar Menge Dollar
Gold. Unzen fein ..... 24 366,42 | 503698|| 25 626,81 529 753 | 25 295,09 522 896 | 31 884,74 | 659116
EFT A 692,487 | 418232 | 652,796 | 437373 518,364 | 342120 508,551 | 266882
Kupfer. Pfund ...... 235,669 | 36764 235,375 45497 171340 | 34268) 264,994 | 34979
Bis, Plunder ah 3270211 | 153700| 3307001 | 188499| 2804172 | 148621| 2015,010 | 84630
Zink. Pfand ....... 1869995 | 110330 | 1755,805 | 107104| 1406,187 | 82965 836,411 39 311
5 2 ei a ge
Summa 1 222724 | 1 308 156 || 1 130 870 | 1084 918
Die Erze des Silver Plume-Distrikts produzieren nur
Silber und Blei, kein Gold, während die Erze des Argen-
tine-Distrikts, einschließlich Mount McClellan, ebenfalls
Silber und Blei in abbauwürdiger Weise enthalten. Die
erzführende Zone des Argentine-Distrikts setzt sich über
die Continental Divide nach dem Tenmile-Distrikt fort,
Abb. 10.
wo der kleine Ort Breckenridge infolge des Auftretens
von freiem Gold in den Mergeln des Farncombe Hill be-
rühmt ist. Bemerkenswert ist im Argentine-Distrikt das
Vorkommen von Fluorit als Gangmineral.
Auf die wichtige, aber äußerst schwierige Frage nach
der Entstehung der Erze und Mineralien der behandelten
Distrikte kann ich hier nicht eingehen, ich verweise viel-
Blick auf die Continental Divide von Waldorf aus. Aufn. d. Verf.
mehr auf das angeführte große Werk der U. S. Geological
Survey über den Georgetown-Distrikt. Nur so viel sei
anzuführen gestattet, daß die Erze von Gilpin County
und Clear Creek County ihre Existenz eruptivem, mon-
zonitischem Magma verdanken und in aufwärts steigenden
Lösungen sich abgesetzt haben. Aber auch abwärts
gehende Lösungen, also solche, die
„von oben her“ in die Tiefe
drangen, haben ihren großen An-
teil an der Bildung der Erzlager-
stätten gehabt, so daß wir sowohl
von primären, als auch von sekun-
dären Lagerstätten reden können.
Über die Menge und den Wert
der Produktion an Gold, Silber usw.
in den beiden Counties geben die
beistehenden, nach den „Mineral
Resources* der U. S. Geological
Survey erstellten Tabellen Aus-
kunft. Für das Jahr 1909 liegen
noch keine verläßlichen Angaben
vor. Seit 1905 wird in Gilpin
County kein Zink mehr hütten-
männisch gewonnen.
Mount McClellan.
Das Haupt- und Endziel aller
Touristen, die von Denver aus die
in einem Tage zu machende Rund-
fahrt nach Georgetown und Silver
Plume antreten, bildet der Mount
Mc Clellan, der erst näher bekannt
geworden ist, seitdem im Jahre 1903
von dem Reverend E. J. Wilcox aus Denver, einem
mehrfachen Millionär, mit einem Kostenaufwand von
800000 Dollar eine Schmalspurbahn, System Shay, auf
ihn gebaut wurde. Der Bahnbau nahm zwei Jahre in
Anspruch, und im Sommer 1905 konnte die Bahn dem
Personenverkehr übergeben werden. Die Bahn selbst ist
als „Argentine Central R. R.“ inkorporiert und von
Produktion an Gold, Silber usw. in Gilpin County, Colo.
1905 bis 1908.
1905 1906 1907 | 1908
Wert in | Wert in | Wert in Wert in
Menge Dollar Menge Dollar Menge Dollar Menge Dollar
ur = == I z z 1 a5- 7 E A | 1 r |
Gold. Unzen fein . .... 70 145,33 | 1450 033 | 53 981,74 1115 902 , 45 399,36 | 938 488 | 52 042,21 1 075 808
Silber. te a 340,901 | 205 904 242,478 162 460 | 209,347 138 169 | 187,030 99 126
Kupfer. Pfund ...... I 512,276 | 79915, 638,002 123 134 874,060 174 812| 636,371 84 001
Blei "Pfund > 2... ar 519,841 | 24 433| 510,791 29 115 i 611,060 32 386 538,143 22 602
E — n - = 11 7
Summa 1 760 285 | 1430611 | 1 283 855 1 281 537
l i | Il |
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 361
der Colorado and Southern R. R.
völlig unabhängig.
Wie im allgemeinen sämt-
liche Bahnen in Colorado, die
eintägige Rundtouren in das Ge-
birge machen, die Fahrt als „the
most ideal one-day trip in the
world“ — „a lifetime in a day“
aus leicht begreiflichen Gründen
anpreisen, so macht auch die
Argentine Central keine Aus-
nahme von dieser Regel. Man
mag nun über diese Art der
Reklame denken wie man will,
das muß man sagen, daß die
gesamte Fahrt von Denver aus
durch den Clear Creek Canyon
nach Georgetown und über den
„Loop“ nach dem Mount
McClellan in der Tat ein „most
ideal one-day trip“ genannt
werden muß. Die landschaft-
lichen Bilder, die in rasch wech-
selnder Folge an dem Auge vor-
überziehen, der Übergang aus
der Ebene mit brennender
Sonnenhitze in eine alpine Land-
schaft mit Bergriesen, die 1000 m
über der Baumgrenze liegen, sind in der Tat auf dem
weiten Erdenrund, abgesehen von der Schweiz, wohl
nicht wiederzufinden, und der Eindruck einer derartigen
Fahrt auf den Beschauer ist ein nachhaltiger. Da ich
das Glück hatte, an drei aufeinander folgenden Tagen,
sowohl bei herrlichstem Sonnenwetter, als auch bei Schnee
und Gewitter, den Bergriesen befahren zu können, und
außerdem einen Vormittag darauf verwandte, die nahe an
der Baumgrenze liegenden Minen zu studieren, so konnte
ich mich eingehender mit dem Gebiet vertraut machen,
als dies bei dem nur knapp halbstündigen Aufenthalt des
Zuges auf dem Gipfel des Berges möglich ist. Die Fahrt
von Silver Plume nach dem Gipfel des Mount Mc Clellan
Aufn. d. Verf.
und zurück nimmt 4 Stunden, einschließlich eines Aufent-
haltes von 20 Minuten in Waldorf zwecks Einnahme des
Mittagsmahls, in Anspruch.
Sofort nach dem Verlassen von Silver Plume steigt
die Bahn in einer sogenannten 6-Proz.-Grade (6 m Stei-
gung auf 100m Entfernung) in einer Zickzacklinie, die
durch „Switch Backs“ die Lokomotive den Zug bald
schieben, bald ziehen läßt, den Mount Leavenworth hin-
auf. Silver Plume, der Loop und Georgetown erscheinen,
höher steigend, gleich einer Ansammlung von Kinder-
häuschen, bis die Bahn, sich rechts wendend und dem
Leavenworth Creek folgend, eine westliche Richtung
nimmt. Dem Leavenworth Creek folgt unten im Tal.
die Argentine Pass Road, die,
bevor die Bahn nach Leadville
gebaut war, die Hauptverkehrs-
straße von Georgetown nach
Leadville und Summit County
bildete. Heute ist der Paß, der
einige hundert Meter von Wal-
dorf aus nach der Continental
Divide und von da nach Monte-
zuma und Keystone führt, nur
noch von historischer Bedeutung
und wird wenig begangen oder
befahren. Ein weiteres histori-
sches Interesse dürfte der Paß
aber auch deshalb haben, weil
über ihn Ende der fünfziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts
eine große Schar von Mormonen
mit ihren ÖOchsenwagen nach
dem „Gelobten Land“ zogen, ja,
es soll auch, wie mir mitgeteilt
wurde, der Prophet Brigham
Young selbst diesen Pfad ge-
zogen sein, was aber von denen
angezweifelt wird, diebehaupten,
daß Brigham über Wyoming
nach Utah zog. — Mount Leaven-
Abb. 12. Gray’s und Torrey’s Peak vom Mount Mc Clellan aus gesehen. Aufn. d. Verf. worth ist noch verhältnismäßig
Globus XCVIII. Nr. 28,
47
362
Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains.
dicht bewaldet mit Rottanne, Kiefer und im Tal mit Cotton-
woodbäumen, den stetigen Begleitern der Flußläufe in
Colorado.
(Lodge Pole) an Stelle der Rottanne. Um 12 Uhr er-
reicht der Zug Waldorf, 3753m über der See, einen
kleinen Ort von etwa 30 Einwohnern; hier befindet sich
eine Poststation, die, wie erklärt wird, die „höchste Post-
station der Welt“ sein soll. Da mir Poststationslexika
der Welt leider nicht zur Verfügung stehen, muß ich es
anderen überlassen, über diesen Punkt das letzte
Wort zu sprechen. Mehrere Minen sind in Waldorf
in Betrieb, eine gegen den Argentine-Paß zu liegende
ist verlassen infolge schwindelhafter Berichte, 'die
über sie ausgegeben wurden, bei welcher Gelegenheit
eine englische Kompagnie gehörig „hereingelegt“ wurde.
Am bedeutendsten ist die dem Reverend Wilcox ge-
hörige Tobinmine. Das Arbeitermaterial besteht aus-
schließlich aus Schweden.
Von Waldorf aus genießt man zum erstenmal einen
Blick auf die Continental Divide (Abb. 10) und auf den
einem abgerundeten Kegel ähnlich sehenden Mount
McClellan (Abb. 11). Im Süden ragen Mount Cunning-
ham, Mount Rosalie, Mount Evans als gewaltige Land-
marken in die Lüfte, während direkt westlich von Wal-
dorf die Divide einen mächtigen Talzirkus zeigt, dessen
gegen Osten offener Teil sich in die Hochebene fortsetzt.
In 4000 m wird die Baumgrenze erreicht — sie liegt
also hier beträchtlich höher als z. B. auf der Moffat
Road — dagegen geht die an 60 verschiedene Arten
zählende alpine Flora bis zum Gipfel des Mount McClellan.
Unter den Pflanzen verdient die prächtige Columbine
(Aquilegia coerulea James), die Staatsblume Colorados,
die allerdings nur bis zur Baumgrenze vorkommt, be-
sondere Erwähnung. Im Juni und Juli steht die Pflanze
in voller Blüte und gewährt durch ihre hellblau- und
weißen Blüten einen prächtigen Anblick. Höher hinauf
ist die Vegetation nur kümmerlich, aber nichtsdesto-
weniger von nicht minderem Reiz. Die Tierwelt ist hier
oben nur in einigen Alpenmurmeltieren, dem Mountain
Jay und dem Robin vertreten; die Tatsache, daß der
Robin (Turdus migrat.), unsere bekannte Colorado-
Wanderdrossel, bis zur Baumgrenze vorkommt, dürfte
ornithologisches Interesse beanspruchen. Bären soll es
nicht mehr geben, dagegen Hochwild, wenn auch nur
noch sehr vereinzelt; noch seltener ist das Bergschaf
(Mountain Sheep).
Wenige Schritte unterhalb des Gipfels des Mount
Mc Clellan hält der Zug, und nun beeilt sich die ganze
Reisegesellschaft, die höchste Spitze zu erklimmen. Wie
mit einem Zauberschlage öffnet sich ein Panorama von
überwältigender Großartigkeit: Gerade vor sich hat man
im Westen die charakteristischen Hochgipfel des Gray’s
(2510 m) und Torrey’s Peak (2506 m), die vom Mount Mc-
Clellan nur etwa 250 m in der Luftlinie getrennt sind und mit
diesem einen gewaltigen Talkessel bilden, dessen süd-
licher Abschluß mit dem Mount Mc Clellan ursprünglich zu-
sammenhing, aber jetzt durch einen großen Bruch von
ihm getrennt ist. Mount McClellan selbst fällt gegen
Westen über 1000m steil ab. In der Tiefe sieht
man den Fußpfad (Trail) nach dem Gray’s Peak sehr
deutlich, während das Hinaufklettern auf Torrey’s Peak
eine höchst halsbrecherische Sache ist infolge der fast
senkrechten Steilheit des spitz zulaufenden Berges.
Im Norden ragen in der Ferne Long's Peak, Ara-
pahoe- und James Peak auf, an die sich eine fast end-
lose Kette von Hochgebirgsgipfeln anschließt, der sich
die Utah Range in ihrer Gesamtausdehnung beigesellt.
Alles was eine Kamera bei sich führt, nimmt jetzt
Gray’s- und Torrey’s Peak aufs Korn, und auch ich
Von 3000 bis 4000 m tritt die Schwarztanne.
wollte nicht in diesem Wettkampf zurückstehen und
biete hier eine wohlgelungene Aufnahme (Abb. 12). Der
jeden Exkursionszug mitmachende Photograph nimmt
von „erhöhtem Standpunkt“ dann ein Gruppenbild der
Exkursionsteilnehmer, und nun geht es im Gänsemarsch
herunter nach dem „Eispalast*, der sich etwa 15 m
unterhalb des Gipfels befindet. Der „Eispalast“ ist nichts
weiter als eine verlassene Silbermine, die 1875 von
Thomas Cunningham, der noch heute als Sheriff von
Clear Creek County fungiert, entdeckt und ausgebeutet
wurde; sie ist zugleich die älteste Silbermine des Staates
Colorado. Das Gestein besteht hauptsächlich aus Quarz
und Granit. Daß Seitenwände und Decke der Mine
dicht mit Eis bedeckt sind, stellenweise Stalagmiten
bildend, gründet sich auf den Umstand, daß das ein-
dringende Sickerwasser jede Nacht gefriert und nur zum
geringen Teile während des Tages — und dann auch
nur während der Sommermonate — wieder auftaut.
Verschiedenfarbige elektrische Lämpchen, die von Waldorf
aus betrieben werden, erzeugen wunderbare Farbeneffekte.
In dem kleinen Vorraum zur Mine liegt ein
Fremdenbuch auf, in dem jeder Tourist sich selbst-
verständlich „verewigt“. Nach Erfüllung dieser Förm-
lichkeit geht die ganze Reisegesellschaft zum Zuge
zurück, um die Rückfahrt anzutreten; unterwegs hält
der Zug nochmals für kurze Zeit an, um den Passagieren
Gelegenheit zu geben, einen Strauß Blumen zu pflücken.
Der Mount McClellan ist auf seiner Ostseite bis
zum Gipfel mit Detritus und Humus bedeckt, so daß
man das anstehende Gestein nicht erkennen kann; nur
die steil abfallende Westseite und der im Süden vor-
handene Bruch legen das Gestein bloß. Es ist ein dunkel
grau-brauner feinkörniger Granit-Biotit 8). Mount
McClellan bildete offenbar mit seinem Nachbar im Süden
und damit zugleich mit Gray’s- und Torrey’s Peak ur-
sprünglich ein Ganzes, wie überhaupt die gesamte Kon-
figuration des Gebirgssystems für gewaltige, in früheren
erdgeschichtlichen Epochen hier vorgegangene Ver-
änderungen ein beredtes Zeugnis ablegt, worüber ich
oben Näheres ausführte.e Am Schlusse meiner Schilde-
rung angelangt, darf ich ohne Übertreibung wohl be-
haupten, daß das Gebiet der Rocky Mountains von
Golden bis Silver Plume und hinauf zum Mount Mc Clellan
in jeder Beziehung ein überaus reiches Studienfeld bietet,
sei es für den Geologen und Mineralogen, sei es für den
Botaniker, der hier die ganze Flora Colorados studieren
kann, sei es endlich für den Naturfreund im allgemeinen,
der nur zu dem Zwecke hinauszieht, die Natur in ihrer
gewaltigen Großartigkeit auf sein Gemüt wirken zu lassen.
Für viele mir erwiesene Gefälligkeiten und freund-
schaftlich erteilte Auskünfte möchte ich endlich Dank sagen
den Herren Hartman von der Colorado and Southern R. R.,
Postmeister Tingle von Waldorf, Collins vom Argotunnel
in Idaho Springs für bewilligte Erlaubnis der Besichtigung
der Mine und der Entnahme von Erzproben, Superintendent
Beaverley von der Argentine Central R. R., sowie nicht zum
mindesten der U. S. Geological Survey für Überlassung
des kostbaren Werkes über den Georgetown-Distrikt.
®) Über den Mount Mc Clellan, Gray’s- und Torrey’s Peak,
sowie über den ganzen Clear Creek-Distrikt sind eine Menge
von farbigen Ansichtspostkarten im Umlauf, die, insoweit die
Kolorierung in Betracht kommt, nur willkürliche Farben-
klexereien sind. Außer einer Karte mit graubraunem Kolorit
(richtig) liegen mir Karten vor, auf denen der Mount
Mc Clellan gelb, rot und grün angestrichen ist. Die dunkel-
grauen Gray’s und Torrey’s Peaks müssen es sich gefallen
lassen, ebenfalls alle Farben des Regenbogens zur Schau zu
tragen, ebenso wie der Georgetown Loop ein unmögliches
Farbengemisch aufweist, nicht zu reden von anderen Ansichts-
karten in farbiger Ausführung, die, durchaus willkürlich be-
malt, ein völlig falsches Bild des Objektes ergeben.
Schmidt: Aus den italienischen Marken.
Aus den italienischen Marken.
Von Dr. phil. Everhard Schmidt.
Marken, italienisch Marche, ist der Name des Land-
striches, der vom Mittelapennin ostwärts bis an die Adria
reicht. Als Sammelname umfaßt er zugleich die Pro-
vinzen Pesaro-Urbino, Ancona, Macerata und Ascoli-
Piceno. In diesen politischen Grenzen bedecken die
Marken ein Gebiet von annähernd 10000 qkm mit 1 bis
1!/⁄, Million Einwohnern. Der Sprachgebrauch in Italien
selbst faßt den Begriff Marken bald enger, bald weiter,
indem er einerseits das Gebiet von Ancona bis Pesaro
mit der nördlichen Emilia verschmelzen läßt, andererseits
ihre Südgrenze vom Tronto südlich bis an die Pescara,
in die Provinz Chieti hinein, hinabrückt. Diese letztere
Abgrenzung ist auch die geographisch brauchbarste, da
sie ein einheitliches, individuelles Landstück zwischen
Monte Cunero bei Ancona und der Pescaramündung ein-
schließt.
Die Lage dieser Landschaft im Rücken Italiens, im
Schatten des Apennin und an wenig zugänglicher hafen-
armer Küste hat es verhindert, ihr den Zuzug von Reisen-
den und Forschern zuzuführen, den andere Teile Italiens
so reichlich aufweisen. Und doch hätte auch sie ihn ver-
dient, vermöge der reichen historischen wie natürlichen
Schätze, die sie aufweist, und wer von Loreto, gemeinhin
dem Endziel des von Norden kommenden Reisestroms,
eine Fahrt nach Süden ins Innere des Landes unter-
nommen hat, hat es gewiß nicht bereut! Fehlt den Marken
auch der landschaftliche Reiz Süditaliens, die reiche
historische und künstlerische Fülle der Campagna und
Toskanas, die intensive Kultur der Poebene, so vereinigen
sich doch alle Beobachtungen in ihnen zu dem harmoni-
schen Gesamtbilde einer alten, gut bewohnten und gut
genutzten Kulturlandschaft, die einen nachhaltigen Ein-
druck hinterläßt. Dieses Bild zu zeichnen, ist nicht der
Zweck der folgenden Zeilen, sie sollen vielmehr nur mit
einigen geographischen und kulturellen Tatsachen dieses
wenig erforschten Gebietes bekannt machen.
Die Küstenlandschaft.
Die reizlose, in sanftem Bogen geschwungene Küste
vom Monte Cunero bis zur Pescara erschwert durch ihre
Hafenarmut die Zugänglichkeit und ist dadurch eine der
verkehrsärmsten und wenigst befahrenen Italiens. Doch
beruht der geringe Verkehr nicht allein auf der Ungunst
der topographischen Konfiguration, sondern auch auf dem
Fehlen eines nutzbaren Gegengestades. Andererseits
bietet die durch kaum ein Vorgebirge oder Felsenriff
gemilderte Schutzlosigkeit der Küste eine ernste Gefahr
im strategischen Sinn; und man erwägt in Italien ernst-
haft das Unheil, das eine feindliche Flotte (gemeint ist
im allgemeinen Österreich) durch eine Beschießung, zumal
der Straße und Bahn, die sich beide in nächster Nähe
des Strandes hinziehen, anrichten könnte. Vom Meere
gesehen, macht die Küste durchaus den Eindruck der
Steilküste. Die Ausläufer des Apennin treten in parallelen
Hügelzügen senkrecht an das Meer heran und brechen
von etwa 200m Höhe in sandgelbem Steilhang scharf
zu diesem ab. Die Küstenebene, die zwischen Strand
und Hügelfuß eingelagert ist, ist zu schmal, um den
Charakter der Steilküste abschwächen zu können; ihre
Mittelbreite liegt zwischen 300 und 500 m, doch steigt
sie gelegentlich auf 1km und mehr. Sie verbreitert sich
an den Flußmündungen und im allgemeinen nach Norden
zu. Oft verschwindet sie ganz und läßt den Nagelfluh-
und Kalkwänden unmittelbaren Zutritt zum Meer. Das
Freiburg i. Br.
stattlichste Beispiel dieser Art ist der Monte Cunero, an
dessen ausgebuchteten Steilabfall der Hafen Ancona, der
einzige bedeutende an der ganzen Küste, gebunden ist.
Ähnlich hart und steil treten südlicher bei Pedaso die
Felsen an das Meer heran, wo ein stattlicher Leuchtturm
vor den Klippen warnt.
Der wechselnden Distanz des Hügelabfalls vom Meere
entspricht auch die Zusammensetzung des Strandes. Er
ist weicher Sandstrand dort, wo die Küstenebene in mäßiger
Breite und ohne größere Wasserläufe vorhanden ist.
Hier bietet sich somit ein guter Badestrand, den auch
einige Ortschaften, San Benedetto del Tronto, Grottam-
more u. a., als Badeorte ausnutzen. Die reine Seeluft,
die durch das Meer etwas gemilderte Hitze tragen dazu
bei, die Erholung suchenden Italiener anzulocken !).
Kiesstrand finden wir an der Ausmündung der Flüsse
und da, wo Nagelfluhfelsen sich dem Meere nähern; hier
haben das Meerwasser und das der herabrinnenden Bäche
den Kies der Felsbänke gelöst und hart am Meere ab-
gelagert; stellenweise sind ganze Blöcke in das Meer
hinabgespült, die die Einförmigkeit des Küstenbildes
malerisch unterbrechen. Ganz gewaltig sind die Kies-
ablagerungen an den Flußmündungen; sie nehmen ent-
sprechend der starken Geschiebeführung der Apennin-
flüsse alljährlich noch an Ausdehnung zu und lassen sich
noch weit im Umkreis der Mündung feststellen. An der
Mündung des Tronto, des Tesino und der vieler kleinerer
Bäche findet man den Kies durch einen blauschwarzen,
zähen Lehm zu kopfgroßem Geröll fest verkittet, das
gleich Kanonenkugeln zahllos den Strand bedeckt und
die rudimentären Anfänge eines neuen breccienartigen
Gesteins andeutet.
Im Gegensatz zu den Küsten der nördlichen Adria,
längs denen man eine positive Niveauverschiebung den
Flußablagerungen entgegenarbeitend annimmt, glaubt
man für die Küsten der Marken eine Hebung feststellen
zu können. Zwar auf die Erzählungen der Bewohner,
daß vor vielen Jahren das Meer noch weit ins Land
hineingereicht habe und eine Führung von Straße und
Bahn, wie sie heute besteht, unmöglich gewesen sei, läßt
sich weniger geben, als auf die natürlichen Zeugen dieser
säkularen Schwankung. So stößt man gelegentlich längs
der Küste wenige Meter landeinwärts innerhalb des Acker-
landes auf große Steinblöcke, meist Breceien, mit tisch-
artig ebener, glatt gewaschener Oberfläche und stark
unterhöhltem Sockel. Sie scheinen Zeugen früherer
Meerestätigkeit, der sie heute gänzlich entrückt sind. In
der Regel ist ja der Wellenschlag längs der Küste sehr
gering. Doch sind die Gezeiten in meßbarem Horizontal-
wie Vertikalausmaß vorhanden, und die Flutwelle erreicht
bisweilen eine Höhe, die ihr starke Stoßkraft verleiht und
Erosionswirkungen wie die geschilderten verständlich
macht. An den aus dem Meere noch herausragenden
Blöcken vollzieht sich ihr schäumendes Zerstörungswerk
vor unseren Augen. Auch eine alte Strandböschung ist
deutlich sichtbar ausgebildet zwischen Senigallia und
Fano, im Norden der Marken. Sie verläuft, eine auf-
fällige topographische Erscheinung, 40 bis 50 m land-
einwärts dem heutigen Strande parallel. Auf dem Neuland
zwischen ihr und dem Strande laufen die Bahn und zum
!) Vgl. über das Klima der Adria: K. Grund, Das Adria-
tische Meer und sein Einfluß auf das Klima seiner Küsten.
(Zeitschrift für Balneologie, Klimatologie und Kurorthygiene,
2. Jahrg., 1909/10.)
47*
364 Sehmidt:
Aus den italienischen Marken.
Teil die Straße nebeneinander her, während man Reste
der Römerstraße landeinwärts jenseits der alten Strand-
linie aufgedeckt hat. Das gäbe einen gewissen Anhalt
für die Datierung der Küstenhebung.
Die Küstenebene ist in ihrer ganzen Ausdehnung
intensiv bearbeitetes Kulturland und ernährt eine an-
sehnliche Bevölkerung, so daß das Gebiet größter Volks-
dichte (etwa 150 bis 160) als schmaler Saum das Meer
begleitet. Der Anbau ist hier denkbar vielseitig und
vereinigt die meisten Typen der italienischen Frucht-
pflanzen. Die Hauptbrotfrucht ist der Weizen, dessen
rechteckige Breiten der Wein umsäumt, der sich in leichten
Bögen von Ulme zu Ulme, von Weide zu Weide schwingt.
Die zahlreich dazwischengestreuten Oliven, Kirschen und
anderen Obstbäume, die Eichen, die bald in Buschform
die schmalen Fahrwege überdachen, bald in stattlicher
Größe an Wegbiegungen und Vorsprüngen auftauchen,
verleihen der Landschaft etwas Gartenartiges und wohl-
tuenden Schatten. Die Hügelhänge hinauf zieht sich,
wo es das Gefälle nur irgend erlaubt, der Wein in der
ertragreicheren Stockpflanzung; ihm gesellt sich, zumal
an sonnendurchglühten Ausbuchtungen, der Ölbaum in
zahllosen Exemplaren. In die gelben Sandwände der
Runsen und Schluchten haben sich vielerorts als einziges
Zeichen von Vegetation bläuliche Aloön in üppiger
Wildheit eingenistet.
Da die Küstenebene durch den Landbau ihren Be-
wohnern so reichlich Unterhalt bietet, ist die Fischerei
an der Küste nur verhältnismäßig gering ausgebildet.
Sie wird vor allem nicht im Großen, nicht für den Export
betrieben, sondern fast allein zum Unterhalt der Fischer,
die allmorgendlich und allabendlich ihre Tagesmahlzeiten
einfangen. Auch hier liegt der Grund wieder in dem
Mangel an Hafen- und Stapelplätzen, dem erschwerten
Handel und dem Fehlen von Absatzgebieten. In der primi-
tiven Art ihrer Mittel macht die Fischerei den Eindruck,
als ob sie sich seit Jahrhunderten nicht entwickelt hätte.
Sie vollzieht sich ausschließlich der Küste entlang, selten
nur wagt sich einer der kleinen Einsegler außer Sicht
des Landes. Verbreitet ist der Fischzug unmittelbar am
Strande in der Weise, daß ein großes, einer ganzen An-
zahl von Fischern oder der gesamten Dorfschaft gehöriges
Netz halbkreisförmig in die See hinausgelegt und durch
langsames Ziehen vom Strande her mühsam wieder ein-
geholt wird. Dieser Fischzug erfordert Anstrengungen,
die der spärliche Ertrag des Fanges kaum lohnt. Er
wird täglich drei- bis viermal wiederholt unter Assistenz
einer großen Anzahl mittätiger und zuschauender Men-
schen. Die nur kleinen Fische, die wenigen Krebse und
Muscheln, die er einbringt, die sog. Frutte di mare, bilden,
in großen Massen gebacken, die alleinige Nahrung zahl-
reicher Fischer. Ganz allgemein und weit lohnender ist
der Fischfang von Segelbooten aus, die allmorgendlich mit
malerisch und individuell gezierten gelben Riesensegeln
ein Stück weit in die See hinausfahren, um abends in
der Regel mit reicher Beute heimzukehren. Am häufigsten
fängt man die Sepia, den Tintenfisch, der die Haupt-
nahrung bildet, während seine Farbenblasen sorgfältig
zu Farbzwecken gesammelt werden. Andere, zumal
edlere Fischsorten sind seltener, wie überhaupt die Meeres-
fauna dieses Küstenstriches an Zahl der Arten nicht
übermäßig reich ist ?). Zahllose Delphine tummeln sich
in den blauen, warmen Wellen, selbst nahe am Strande.
Der Fischer betrachtet sie als gutes Zeichen und tut
ihnen kein Leid an. Auch paarweise wird der Fischfang
ausgeübt von zwei Segelbooten aus, die, nebeneinander
2) Hierüber orientiert das neu erschienene Werk von
Karl J. Cori: Der Naturfreund am Strande der Adria und
des Mittelmeergebietes. Leipzig 1910.
fahrend, das Netz zwischen sich ausspannen. Diese
Fangart, die paranzi genannt, eignet speziell den Fischern
von San Benedetto del Tronto, dem kleinen Städtchen
nördlich der Trontomündung. In der Intensität des
Fischereibetriebes läßt sich eine Abnahme von Norden
nach Süden hin feststellen, entsprechend der wachsenden
Bedeutungslosigkeit der südlicheren Küstenorte. Ein
deutliches äußeres Anzeichen hierfür ist die ungleich
stärkere Belebtheit der nördlichen Küstengewässer mit
Segeln; hier auch finden sich stattliche, zweimastige
Barken, von Ancona südlich aber sieht man in der Regel
nur die bescheidenen Einmaster.
Da die Bewohner der Küstenorte teils vom Land-
bau, teils vom Meere leben, so scheiden sich auch ihre
Ortschaften entsprechend in zwei Teile, das Fischerdorf
und das am Hange der Hügel sich hinaufziehende Bauern-
dorf. Das letztere ist allgemein das ältere. Es zeigt
durch die in Terrassen aufsteigende Gruppierung seiner
Häuser in engen, kaum fahrbaren Gäßchen, durch die
meist beträchtlichen Reste alter Mauern, Tore und Zinnen,
daß die Rücksicht auf Schutz für seine Anlage in erster
Linie maßgebend gewesen ist. Hierfür ist ein weiteres
sichtbares Wahrzeichen das Castello, das über der Mehr-
zahl dieser Orte die Hügelkuppe krönt und mit seinen
zerborstenen Firsten und Turmresten weithin wirkungsvoll
die Küste überragt. Dagegen liegt das Fischerdorf ohne
topographischen Schutz flach in der Küstenebene, nur
selten an den älteren Ort lückenlos sich anschließend.
Von der wichtigen Küstenstraße, dem Rückgrate der Ort-
schaften, ziehen die kleinen Viali gegen den Strand hin
und zerlegen mit ihren Querstraßen das Dorf in regel-'
mäßige, nüchterne Rechtecke mit armseligen, niedrigen,
schlecht gebäuten und schlecht gepflegten Häusern.
Prunknamen wie Corso Vittorio Emmanuele und Corso
Garibaldi, ohne die es das schmutzigste Nest in Italien
nicht tut, wirken an diesen dürftigen Gassen leicht
lächerlich. Eine grenzenlose Armut und intensiver Fisch-
geruch geben diesen Orten eine traurige Originalität.
Nur einmal im Jahre haben auch sie ihren großen Tag,
wenn in den Sommermonaten die fahrenden Händler hier
ihren alljährlichen Markt abhalten. Dann strömen die
Landleute aus dem Hinterland zahlreich zur Küste und
versorgen sich für ein ganzes Jahr mit den Gegenständen,
die sie in ihrer noch abgelegeneren Heimat nicht finden
können. Die Lage der Küstenorte an Bahn und Straße
macht sich hierbei vorteilhaft geltend.
An dem an sich nur geringfügigen Handel der Marken
hat auch nur die Küste einigen Anteil. Die Ausfuhr
beschränkt sich, dem wirtschaftlichen Charakter der
Landschaft entsprechend, auf die Erzeugnisse des Land-
baues. Deren Hauptabnehmer sind die Länder jenseits
der Alpen. So benutzt denn der Handel ganz überwiegend
den Landweg, was in den Marken gleichbedeutend ist
mit der peripherischen Hauptbahn längs der Küste. Auf
ihr rollen denn auch endlose Güterzüge mit den „Derratte
Alimentari“ dem Zentrum des italienischen Handels,
Mailand, zu. Die Marken sind an diesen Lieferungen
wesentlich schwächer beteiligt als die südlicheren Pro-
vinzen Foggia und Bari; hier ist bei weniger dichter
Bevölkerung die Überproduktion größer und findet in
der genannten Weise Absatz. Der Seehandel ist daneben
geringfügig, lebhafter im Norden, ganz gering im Süden.
Hier ist das Erscheinen größerer Segler schon eine Selten-
heit, ja fast ein Ereignis. Sie kommen zumeist von der
dalmatischen Küste und bringen Holz, den notwendigsten
Bedarfsartikel des waldarmen Hinterlandes. Die Seicht-
heit der Küste zwingt sie noch weit seeeinwärts zu ankern;
die Löschung der Ladung kann so nur unter Schwierig-
keiten und in primitivster Weise erfolgen. Man überläßt
Schmidt: Aus den italienischen Marken.
365
es den Fluten, die Holzbalken an Land zu treiben, wo
sie dann aufgefischt und auf den Köpfen der Bewohner
zum Stapelplatz, oft auch zur Bahn zu weiterer Ver-
schickung gebracht werden. Auf diese Weise dauert
das Ausladen selbst kleiner Schiffe tagelang. Zur Rück-
fracht nach Dalmatien laden die Schiffe Gemüse und Obst
der Küstenbauern. Diese vereinigen ihre Waren nicht an
einem einzigen Stapelplatze, sondern jeder bringt das Seine
an den Strand, wo er ihm am nächsten erreichbar ist. In
langsamer Küstenfahrt sammelt dann das Schiff die auf-
gehäuften Stapel ein. So sah ich längs der Küste von
der Trontomündung bis nördlich gegen Fermo, in einer
Erstreckung von ungefähr 30 km, riesige Zwiebellager,
die gesamte Ernte der Küsten, in gewissen Abständen
voneinander aufgeschichtet. Sie wurden von einem süd-
nördlich fahrenden Schiffe durch Boote eingeholt, eine
Arbeit, die Tage beanspruchte.
Aus dem Gesagten läßt sich ersehen, wie wenig tief
das Meer auf die Marken einwirkt, wie gering selbst zu
den Küstenbewohnern seine Beziehungen sind. Seine
Einflußsphäre folgt schmalbegrenzt saumartig der Küste
und weist nur an den größeren Tälern wenig tiefe Ein-
buchtungen in das Hinterland auf. Außerhalb dieser hat
das Meer im Wirken und Denken der Bevölkerung nur
wenige Spuren hinterlassen. Man fühlt das schon in der
Berghälfte der Küstenorte. Von hier ab stößt man auf
eine rein landbauende Bevölkerung, die für und vom
Boden lebt. Ihr Verkehr mit dem Fischerdorf am Strande
ist erstaunlich gering, die große Mehrzahl der Bewohner
hat mit dem Meere nichts zu tun und steigt nur selten
zu ihm hinab. Auch hierin findet man wieder eine Be-
stärkung der von Nissen 3) so treffend gekennzeichneten
Beobachtung, daß der Italiener von Natur weder seelustig
noch seetüchtig ist. Seeschiffahrt, für den Krieg wie
für den Handel, nötigte ihm von jeher und auch heute
noch der Wettbewerb mit anderen Völkern auf. Ihre
Einflüsse sind nur oberflächlich geblieben und haben die
Bewohner nie so durchsetzt wie im nahen Griechenland.
Am wenigsten an der Adriaküste, wofür natürliche Mo-
mente, die hafenlose Ungunst der Küste, in erster Linie
maßgebend sind.
Das Innere der Marken.
Die Steilküste wiederum ist es, die auch das Ein-
dringen in das Hinterland, ins Innere der Marken, er-
schwert. Die gegebenen Eingangspforten sind daher die
Flußtäler. Und doch sind sie es im allgemeinen nicht,
die der praktische, wirkliche Verkehr aufsucht. Denn ihre
gleich zu besprechende Eigenart ist der Besiedelung wenig
günstig, die Ortschaften meiden sie und liegen auf den
Höhen, für den Verkehr nicht leicht erreichbar. Äußer-
lich sieht man das daran, daß die Stichbahnen, die von
der Küstenbahn ins Innere abzweigen, nur in zwei Fällen
(im Tronto- und Tordinotale) dem Talboden folgen, im
übrigen aber in zeitraubender Steigung die Höhen er-
klimmen müssen; und in noch größerem Maße gilt das
von den Straßen.
Immerhin sind die Flußtäler als natürliche Einlässe
und als gliedernde Adern im Hügelgewirr der Marken
wichtig genug. Man ist leicht geneigt, die Apenninflüsse
der Adriaabdachung zu unterschätzen. Ihre Länge ist
allerdings nicht bedeutend und übersteigt nur einmal
(Pescara) 150 km. Aber man übersieht, wie sehr diese
Flüsse durch die Breite ihrer Überschwemmungsbetten,
ihre ausgedehnten Mündungskegel, durch ihre steilwan-
digen Erosionsfurchen im Oberlaufe das Landschaftsbild
beherrschen. Selbst die kleiner Flüsse, wie des Tesino, des
*) Italische Landeskunde, Bd. I, 8.133. Berlin 1883.
Tordino, des Vornano, deren breite Kiesbetten in der Regel
nur ein träger Faden trüben Wassers durchschleicht,
stellen bemerkenswerte topographische Formen dar; auch
haben sie an der Ausmodellierung der Landschaft ihren
kräftigen Anteil gehabt. Heute ist die Tätigkeit der
Flüsse in Veränderung und Schaffung topographischer
Formen naturgemäß eingeengt. An der Küste äußert
sich, wie wir sahen, ihr Einfluß in der Ablagerung ge-
waltiger Kiesmassen, durch die hindurch das Wasser in
zahllosen Rinnsalen seinen Weg ins Meer findet. Ver-
sumpfte Distrikte sind im Mündungsbereich der größeren
Flüsse oft recht beträchtlich, doch nirgend so ausgedehnt,
um auf das Klima nachteilig zu wirken. Die Marken sind
daher völlig fieberfrei; erst die Mündung der stattlichen
Pescara an der Südgrenze der Marken bildet einen aus-
gedehnten Fieberherd.. In der Küstenebene liegt das
Flußbett, zumal bei den kleineren, mehr Schlamm als
Kies führenden Bächen, in der Regel höher als das um-
liegende Land, selbsttätig erhöht durch die reichen mit-
geführten Sinkstoffe. Ihre Wände sind dann, um
Wasserausbrüchen vorzubeugen, künstlich erhöht und
befestigt, so daß die Flüsse wallartig durch die Ebene
ziehen und die Küstenstraße zu ihrer Überbrückung fast
hügelartig ansteigen muß.
Die Flußbetten im Innern haben das typische
Aussehen der Fiumare: Kiesbetten, viel zu breit für die
gewöhnliche Wasserführung, zahllose Verästelungen mit
eingeschlossenen Inselchen, in deren zähem Schlamm
üppiges Buschwerk wuchert. Wie breite, silberglänzende
Straßen durchschneiden sie die Landschaft, malerisch
abgeschlossen durch die schneebedeckten Flanken der
Monte Sibellini und des Gran Sasso-Massivs. Den größten
Teil des Jahres hindurch benötigt das Wasser kaum ein
Drittel seines weiten Bettes; im August und September
versiegt es in kleineren Flüssen vollständig, in den
größeren, wie Tronto und Pescara, deren Quellen in den
Hochapennin hinaufreichen, sickert es in schmächtigen
Adern zum Meere durch. Im Frühjahr bei Regenwetter
und Schneeschmelze treten die Wasser weit über den Rand
der Kiesbetten hinaus, mit oft verheerender Wirkung,
die übrigens auch ein wolkenbruchartiges Gewitter im
‚Sommer hervorzurufen vermag. Die Ursachen dieser
Schwankungen des Wasserstandes, der beim Tronto z.B.
zwischen den Extremen von 1118 und 15 cbm in der Se-
kunde liegt, beruhen allgemein auf dem mediterranen
Klima, sie werden in den Marken wie überall in Italien
durch die Waldarmut verstärkt. Überbrückungen oder
auch nur Eindämmungen der Flüsse stoßen somit auf
große Schwierigkeiten. Korrektionen sind nur selten
versucht, allgemein in der Küstenebene, um Bahn und
Straße vor Überflutung zu sichern. Brücken sind, mit
Ausnahme der Bahn- und Straßenbrücke hart oberhalb
der Mündung, selten; natürliche Einengungen des Fluß-
bettes und Furten daher von um so höherem Wert. Die
Eindämmung der Flüsse im Unterlaufe würde der Ver-
sumpfung vorbeugen und den heute fast gar nicht be-
wohnten Tälern neue Siedelungsmöglichkeiten schaffen.
Dazu käme überall ein beträchtlicher Landgewinn, um
den die schmalen Streifen Kulturlandes auf den Terrassen
zu beiden Seiten vermehrt werden könnten. Von einer
Schiffbarkeit auch nur in primitivster Weise kann bei
keinem der Markenflüsse gesprochen werden. Ebenso-
wenig war im Tallaufe industrielle Ausbeutung von Be-
stand; verödete Fabrikmauern und stillstehende, zer-
fallende Mühlen sind dessen traurige Zeugen.
Der Oberlauf der Mehrzahl der Flüsse liegt schon
im Apennin, ausgezeichnet durch starkes Gefälle und
markante Erosionsformen. Die Wasserführung ist hier,
durch Einsickerung und Verdunstung weniger geschwächt,
366
Schmidt: Aus den italienischen Marken.
konstanter und das ganze Jahr hindurch beträchtlich.
Sie erklärt uns die Wildheit und Großartigkeit der stark
zerklüfteten und tief eingenagten Schluchten. Auch die
von allen Seiten herabrinnenden Nebenbäche haben in
den nackten Berghängen geradezu gewütet und Erosions-
formen geschaffen, wie man sie eindrucksvoller und an-
schaulicher selten beobachten kann. Zu Hilfe kam ihnen
neben dem fast völligen Mangel an Vegetation und Wald
auch die Beschaffenheit des Gesteins, die Weichheit und
leichte Verwaschbarkeit der tertiären Kalke. Zwischen-
lagen härteren Gesteins und bloßgelegte Jurabänke sind
dann als wuchtig getürmte und pittoreske Felsgruppen
stehen geblieben. Aber auch sie sind mit Vernichtung be-
droht durch Unterspülungen und Erdrutsche und bilden
eine stetige Gefahr für ihre Umgebung. Ich selbst hatte
Gelegenheit, im Gebiete des oberen Tronto nahe der Stadt
Ascoli die Wirkungen einer solchen, ganz kürzlich statt-
gehabten „Frana“ zu betrachten, die neben einem ge-
waltigen Felssturze auch die Abrutschung einer großen
Fläche tiefer gelegenen Kulturlandes verursacht hatte.
Es war eine Fläche von 1 bis 2 qkm mit etwa 41/, km
rundlichem Umfange in Mitleidenschaft gezogen worden.
Die primäre Ursache war die Unterspülung des Geländes
durch den Talbach; der Druck der von oben nachstürzen-
den Felsmassen wirkte dann besonders verheerend, so
daß die kleine Talschaft das Aussehen eines schwer heim-
gesuchten Erdbebengebietes hatte. Solche „Frane“ sind
wie im ganzen Apennin so auch in den Marken nichts
Seltenes +); die Bewohner tragen diese Katastrophen mit
der gleichgültigen Ruhe der Gewöhntheit, nur daß sie
durch eifrigeres Beten die vermeinte Strafe des Himmels
wieder gut zu machen suchen.
Die Weichheit der Apenningesteine erklärt auch die
starke Geschiebeführung selbst der kleinen Markenflüsse
und die Möglichkeit der Ablagerung so gewaltiger Kies-
massen. Der Beginn dieser Ablagerungen bezeichnet
den Übergang von Berg- und Tallauf. Bemerkt sei noch,
daß Wasserführung und Gefälle der oberen Flußläufe
Industrieanlagen größeren Stiles ermöglicht haben; deren
bedeutendste ist das Elektrizitätswerk am Durchbruche
der Pescara durch das Felsentor kurz unterhalb der
Stadt Sulmona.
Trotz des sommerlichen Versiegens der Flüsse ist
Wassermangel in den Marken doch selten. Dagegen
arbeiten die zahlreichen Quellen, die an ihrem Ursprungs-
ort gefaßt und ausgenutzt werden, ohne daß es zur Bach-
bildung kommt. Sie sind überwiegend Schichtenquellen,
ihr Austritt aus den Bergen ist durch Schichtenwechsel
veranlaßt. Daher finden sie sich am häufigsten an den
Abrutschflächen der Hügelketten längs der Küste und
längs den Tälern. Sehr hüsch ist oft die Form, in der
sie zutage treten. Unvermittelt öffnen sich kleine, busch-
werkumwachsene Grotten, die tief in den Berg hinein-
führen. Aus ihrer stalaktitenreichen, mit zahllosen grünen
Frauenhaarblättehen geschmückten Wölbung tropft das
Wasser als ewiger Regen in das künstlich gestaute kri-
stallklare Becken am Boden. Einige der schönsten dieser
Grotten finden sich am Meere oberhalb Grottammare, das
den Namen nach ihnen trägt; manche auch sind das Ziel
wundergläubiger Wallfahrer. Die Häufigkeit der Quellen,
ihre Wasserfülle und ihr Vorhandensein selbst in größerer
Höhe haben nicht zum wenigsten den dichten Anbau des
Landes und die zahlreich verstreuten Einzelhöfe be-
günstigt. In geologisch quellarmen Gegenden tritt der
alte Ziehbrunnen als Wasserspender an ihre Stelle; er
findet sich besonders in der Küstenebene, wo er schwach
*) Ein einheimischer Forscher, R. Amalgiä aus Aquila,
hat in der Geogr. Zeitschrift 1910, Heft 5, eine Systematik
der von ihm beobachteten Frane gegeben.
brackiges, wenig gesundes Wasser liefert, so daß die
Fischerdörfer ihr Trinkwasser auch von den Hügelquellen
beziehen müssen; vereinzelt trifft man ihn auch auf den
steileren Hochflächen. Seine seit Urzeiten bewahrte Form
ist ein prägnantes Zeugnis für alte Ansiedelung und Be-
bauung; der wuchtige Hebebaum, der Schöpfeimer an
unförmlicher, rostiger Kette waren zur Römerzeit in
gleichem Gebrauche wie heute.
Das Innere des Landes zwischen Apenninfuß und
Küste ist von einer endlos welligen Hügellandschaft ein-
genommen. Das Hinter- und Nebeneinander zahlloser
Hügelwellen legt den Vergleich nahe mit versteinerten,
zur Starrheit verdammten Meereswogen. Erst erscheint
es schwer, in das Gewirre der sich voreinander schieben-
den, bald parallel, bald kreuz und. quer streichenden
Hügelreihen ein System hineinzubringen. Doch helfen
die Flußläufe, die Hügellandschaft in ein organisches
Gerippe aufzulösen. Die Flüsse ziehen ausnahmslos vom
Apennin senkrecht zur Küste, parallel zueinander und
in annähernd gleichen Abständen. Ihre Täler sind die
auffallenden Hohlformen des Landes und durchziehen es
wie breite Furchen. Sie sind naturnotwendig einander
sehr ähnlich, ohne irgend welche originelle Verschieden-
heiten, nur daß nach Norden hin ihre Breite im all-
gemeinen wächst. Gleichzeitig verringert sich hier die
Höhe der Hügelketten, die Niveauunterschiede werden
geringer, so daß der Norden eher den Eindruck eines
sanft bewegten Flachlandes macht, wozu auch die hier
bedeutendere Breite der Küstenebene beiträgt. In der
Mitte und im Süden der Marken dagegen schließen die
Flüsse ausgesprochene Hügelketten zwischen sich ein,
langgestreckte parallele Rücken, die sich allmählich von
etwa 500m auf 200 m verflachen. Von dieser Höhe
stürzen sie zur Küste ab, oft so steil, daß, von oben ge-
sehen, das Meer unmittelbar zu den Füßen zu liegen
scheint und die schmale Küstenebene fast verschwindet.
Doch findet sich nicht überall ein so lückenloser Steil-
hang. Vielerorts und vorwiegend im Bereich der Nagel-
fluh ist den zum Meere abfallenden Hängen eine Vor-
hügelzone vorgelagert, die das Gefälle in ein langsameres,
stufenförmiges verwandelt. Sie scheint entstanden durch
Abrutschungen von Erd- und Gesteinsmassen, denen das
große Gefälle und die Weichheit des Gesteins fördernd
entgegenkamen. Über sie hinaus ragen die Steilhänge,
durch den nackten, gelben, vegetationslosen Fels als Ab-
rutschflächen gekennzeichnet, ein wirkungsvoller Hinter-
grund des Küstenbildes.. Die gleichen Vorhügelketten
begleiten die Flanken der größeren Täler, auch sie sind
genetisch durch Erdrutsche zu erklären. Solch umfassende
Erdbewegungen als bildendes Element im Antlitz der
Marken anzunehmen, ist uns gestattet im Hinblick auf
die auch heute sehr häufigen und oft beträchtlich um-
gestaltenden Frane, deren eine ich erwähnt habe. Außer
dem belebenden Zug, den diese Vorhügelketten in das
sonst einförmige topographische Bild der Marken hinein-
bringen, haben sie auch praktischen Wert für Anbau
und Siedelung; weniger an der Küste als in den Tälern,
deren sumpfige Niederungen unbewohnbar sind. Hier
zeigen gerade die Vorhügel den reichsten und vielseitigsten
Anbau, auf ihnen reiht sich Dorf an Dorf, und von be-
sonders hervorstechenden Plätzen grüßen Trümmer alter
Schlösser oder neue Palazzi und Villegiaturen; eine Fahrt
das Trontotal hinauf zur Stadt Ascoli zeigt das am
schönsten.
In die Hauptflüsse hinab entströmen den Talwänden
des Hügelgebietes zahlreiche Nebenbäche. Ihre oft
canonartigen, im Sommer wasserlosen Erosionsfurchen
zerlegen den Haupthügelkamm in vielgestaltige Quer-
rippen, die in ursprünglich symmetrischer Anordnung
Schmidt:
Aus den italienischen Marken.
367
durch weitere Erosionstälchen und Bergrutsche eine aber-
malige weitverzweigte Gliederung erfahren haben. Jede
dieser bald länglich, bald mehr rundlich gestalteten Höhen
ist von der anderen scharf isoliert durch die eingerissenen
Wasserrinnen, die, wenn auch schmal, doch durch ihre
steilwandige Tiefe ein Überschreiten erschweren. Das
erklärt uns die Führung der Straßen von der Küste ins
Innere. Soweit sie nicht Talstraßen sind, erklimmen
diese in scharfen Kehren den Abhang und ziehen dann
auf dem schmalen, wasserscheidenden Hauptkamm der
Hügelrippe weiter mit weiten Ausbuchtungen um das
Quellgebiet der seitwärts enteilenden Bäche. Ferner boten
diese selbständig isolierten Hügel natürlich gesicherte
und abgegrenzte Wohnplätze für Einzelhöfe, die wir
denn auch zahlreich auf ihnen antreffen, während für
einen größeren Wohnplatz die engumrissene Fläche im
allgemeinen nicht ausreicht. An ihrem oberen Ende
hängen diese seitlichen Hügel wie durch eine schmale
Brücke mit dem Hauptkamm zusammen. Wo sich mehrere
solcher Hügelbrücken zu einem höheren Hügelknoten
vereinigen, von dem als hydrographischem Zentrum die
einzelnen Bäche strahlenförmig ausgehen, liegt im all-
gemeinen mit überraschender Übereinstimmung eine
größere Ortschaft. Fast die gesamte küstennahe Städte-
reihe hat diese Lage. Von ihrer dominierenden Höhe
weithin sichtbar, krönen diese Orte mit ihren Campanilen
und Festungszinnen malerisch die einförmige Land-
schaft.
Denn gerade durch die ständige Wiederholung der
gleichen Figurationen sind die Oberflächenformen
im Hügelland, zumal für den hochstehenden Beschauer,
von ernüchternder Einförmigkeit. Die Niveauunterschiede
sind nirgend bedeutend, die höchsten Höhenzahlen tragen
in der Regel bezeichnenderweise die Siedelungen. Nur
selten sind die ewig gleichförmig gerundeten Kuppen
und Rücken durch herausgewitterte höbere Felskuppen
von meist quadratischer Tafelbergform unterbrochen.
Hin und wieder zeugen Schutthalden und klaffende
Erosionsrinnen im bloßgelegten grauen Fels von der
nivellierenden Arbeit des Wassers. Auch findet sich
gelegentlich der anstehende Kalkstein durch die Erosion
in rostartig gelagerte Steinrippen zerrissen mit oft messer-
scharfen Rücken. Das sind die einzigen lebhafteren For-
men, und auch diese sind selten genug. Da ferner die
Bewässerung nur an den Talhängen und am Fuße der
Hügel einen Anbau von echt italienischer Üppigkeit
erlaubt, finden wir oben auf der den Fels nur notdürftig
deckenden Verwitterungskrume nichts als Wiese und
Weide. Ihr fahles, von der Sommersonne erzeugtes
Graugelb gibt den Grundton der gesamten Färbung der
Landschaft. Sie wirkt doppelt eintönig durch die so
überaus dürftige heutige Bewaldung. Für die Ver-
gangenheit eine dichtere Walddecke anzunehmen und ihr
Verschwinden dem Raubbau der Bewohner zuzuschreiben,
gibt es ein gewisses Bedenken. Wenigstens schließt oben
auf den Hügelflächen die dünne Humusschicht hoch-
stämmige Waldungen aus. Immerhin hat es an den an
Verwitterungserde reicheren Talhängen in größerer Aus-
dehnung Wald gegeben als heute; der häufige Gewann-
name „Selva“ deutet unter anderem darauf hin. Anderer-
seits zeigen hier und da hoffnungsvolle Aufforstungen,
daß eine Waldmöglichkeit da und dort vorhanden ist.
Anders steht es mit den grau und nackt emporsteigenden
Apenninhängen, die man auch hier, der herrschenden
Ansicht folgend, als dauernd waldlos annehmen kann.
Vielerorts ersetzen kümmerliche Strauchgruppen den
Wald, ohne aber den Eindruck des Trostlosen, Kultur-
feindlichen abschwächen zu können. Die blaue Adria
im Osten, die grünen Matten des Apennin und seine
schneegekrönten Gipfel im Westen wirken, von der Hügel-
landschaft aus gesehen, wie lockende Oasen.
Ein Blick auf die Siedelungen im Innern der Marken
läßt an ihnen die gleiche Geschlossenheit erkennen, wie
sie Italien allgemein zeigt. Von ganz wenigen Taldörfern
abgesehen, liegen sie alle sehr hoch; die Flucht vor dem
Wasser mit seinen Verheerungen und seiner Fiebergefahr
und das Bedürfnis nach Schutz waren maßgebend für
ihre Anlage. Für letzteres spricht beredt die heute noch
wohlerhaltene Ummauerung, die zumeist aus dem späteren
Mittelalter, dem 13. und 14. Jahrhundert, stammt und
bei den Städten Recanati, Fermo und Ripatransone am
eindrucksvollsten zu sehen ist. Auch heute noch reichen
die Mauern hin, die Städte jeweils ganz zu umspannen.
Daraus läßt sich ersehen, daß man seinerzeit den zur
Anlage gewählten Hügel in seiner ganzen Ausdehnung
zu ummauern pflegte, abwartend, daß die Städte allmäh-
lich in diesen Ring hineinwuchsen. Somit hat der einmal
gegebene natürliche Wohnplatz keine Vergrößerung er-
fahren. War der Platz ausgefüllt, so erfolgte das weitere
Anwachsen der Gemeinden durch Einzelhöfe, die sich im
„Paese“ ihres Ortes, seiner Gemarkung, an den geeig-
netsten Stellen anbauten. Sie sind infolgedessen als
jünger anzusprechen als die geschlossenen Siedelungen
und sind kein ursprünglicher Siedelungstyp der Marken-
bewohner; auch ihre heute noch im Lande geläufige
Benennung, Casa colonica, weist darauf hin, daß die
Zuwanderer, die Kolonisten, die in der Stadt keinen
Platz mehr fanden, sich außerhalb ihr Heim bauen mußten.
Nur größere Talstädte, wie Ascoli-Piceno und Teramo,
haben ihren Festungsring durchbrochen und ihrem alten
Kern neue Stadtviertel mit fahrbaren, modernen Straßen
angegliedert. Die übrigen haben den einmal erreichten
Umfang bewahrt, womit sich bezeichnenderweise eine
fortdauernd konstante Einwohnerzahl, für die Wohnplätze
wenigstens, deckt, nicht aber für die Gemeinden mit
Einschluß des Paese; diese haben auch in den Marken
an der starken Volkszunahme Italiens ihren kräftigen
Anteil gehabt. Eine solche Unterscheidung zwischen
Wohnplatz und Gemeinde, die wir in Spanien am auf-
fallendsten treffen, bedarf auch bei Verwertung der ita-
lienischen Bevölkerungsstatistik der Berücksichtigung.
Die kleinen Städte und die alten Stadtkerne der
größeren machen auf den Beschauer einen eigentümlichen
Eindruck. Die Hauswände, gelbgetüncht oder aus un-
verstrichenen, von der Sommersonne verbrannten und
zerborstenen Ziegeln, türmen sich mit unregelmäßigen
Fenstern über- und nebeneinander und steigern sich
terrassenförmig hinauf zur Höhe, die wirkungsvoll von
der Hauptkirche mit ihrem Campanile im Barockstil
gekrönt wird; alles eingefaßt in das schöne Oval der
wohlerhaltenen Ummauerung. Um den Platz möglichst
auszunutzen, baute man die Häuser sehr nahe aneinander.
Die Straßen sind daher im allgemeinen kaum wagenbreit,
nur eine fahrbare Straße und die Piazetta, um die sich
die öffentlichen Gebäude und Kirchen gruppieren, pflegen
das entsetzliche Gewirr von winzigen, schlüpfrigen und
ungleich gepflasterten Gäßchen zu unterbrechen. Man
glaubt es kaum, daß Menschen in diesen übelriechenden
Gassen, deren ragende Wände die Sonnenstrahlen ängst-
lich aussperren, zu leben vermögen; aber es hilft den
Leuten, daß sie möglichst das ganze Jahr hindurch alle
Beschäftigungen im Freien zu besorgen streben, auf der
Straße, der Piazza oder draußen auf dem Felde. Die
Handwerker arbeiten auf der Gasse vor ihrer Türe, in
eigens errichteten Holzgestellen werden Pferde und Ochsen
schnell beschlagen; die Händler entfalten ihre Waren
auf der Straße auf mehr oder weniger unsauberen Tischen,
dazwischen schlendern die Bewohner, die so zahlreich
368
Neue Bemühungen um die Heiligsprechung des Kolumbus.
und so oft nichts zu tun zu haben scheinen. So ist das
Straßenbild, falls nicht die sengende Sonne die Leute in
ihre Höhlen zurücktreibt, recht anziehend. `
Bei der Betrachtung der regionalen Verteilung der
Städte wird es nicht auffallen, an der Küste südlich von
Ancona nicht eine einzige bedeutendere Stadt zu finden;
die schmutzigen Fischerorte San Benedetto del Tronto,
Giulianova, Pescara können auf diese Bezeichnung keinen
Anspruch "machen. Es fehlt eben an dieser einförmig
geschweiften Küste jeder topographische wie auch wirt-
schafts- oder verkehrsgeographische Zwang zur Aus-
bildung eines ansehnlicheren Wohnplatzes. Die Städte
haben sich vielmehr der schutz- und hafenlosen Küste,
von der sie keine Förderung erwarten konnten, entzogen
und landeinwärts auf sicheren Hügelkuppen angebaut.
Eine ganze Städtereihe zieht so in mäßigem Abstande,
auf hohen und wenig zugänglichen Kuppen gelegen, der
Küste entlang. Überragend und unnahbar schauen sie
auf diese hinab und unterhalten mit ihr nur geringe,
durch die schwierige Erreichbarkeit noch erschwerte Be-
ziehungen. Die Reihe beginnt mit den ferner gerückten
San Marino und Urbino und setzt sich fort über Loreto,
das der Küste die schmucklos nüchterne Kehrseite seiner
prächtigen Kathedrale zuweist, über Recanati, Macerata
nach Fermo, dieses wundervoll aufgebaut auf einem
prächtig geformten Bergkegel. Weiter folgen das kleine,
aber in ursprünglichster Eigenart erhaltene Ripatransone,
dann Mosciano, Atri, Citta S. Angeli und endlich schon
jenseits der Pescara als würdigster Schlußstein der Reihe
das große und bedeutende Chieti.
Dieser äußeren hochgelegenen Städtereihe entspricht
eine zweite im Innern der Marken. Sie enthält unter
anderem von Nord nach Süd die Städte Fossombrone,
Pergola, Tolentino, Amandola, Ascoli-Piceno und Teramo.
Ihre Lage unterscheidet diese Orte scharf von den erst-
genannten; es sind keine Berg-, sondern ausnahmslos
Talsiedelungen. Und zwar liegen sie alle an der er-
wähnten Übergangsstelle vom Oberlauf zum Unterlauf
der Flüsse, an ihrem Austritt aus dem hohen Apennin,
in der Regel an der Einmündung eines oder mehrerer
Nebenflüsse. Ein solcher und der Hauptfluß schließen
mit ihren tiefen Erosionsschluchten ein steil abfallendes
Plateau oder Schuttflächen ein, auf denen die Stadt sich
ausdehnt. Der wunderbare natürliche Schutz bedurfte hier
nur geringfügiger künstlicher Verstärkung. Am schönsten
erkennt man diese Lage bei den größten der genannten
Städte, Ascoli und Teramo, ersteres zwischen den jähen
Schluchten des tiefgrünen Tronto und des brausenden wei-
Ben Castellano; letzteres drückt schon in seinem Namen (Te-
ramo aus Interamnes) die natürliche Gunst seiner Lage aus.
Neue Bemühungen um die Heiligsprechung des Kolumbus.
Kolumbus schenkte Spanien eine neue Welt und wurde
dafür belohnt: zunächst mit allerlei Titeln, Würden und
Einkünften, später mit Undank. Aber seine Zeitgenossen
waren nicht der Meinung, er sei ein von der Vorsehung
auserwählter Mann, ein Instrument des Himmels, das nur
die Interessen der katholischen Kirche als Leitstern gehabt
habe und auf die Westfahrt gegangen sei, um den Heiden
der neuen Länder das Christentum zu bringen; sie wußten,
daß der Entdecker materielle Beweggründe hatte und ver-
standen sie. Und man kam nicht auf den Gedanken, Ko-
lumbus müsse noch anders als materiell belohnt werden.
Diese Vorstellung ist vielmehr modern und gehört erst
dem 19. Jahrhundert an, noch dazu dessen zweiter Hälfte.
Damals traten Leute mit der Forderung auf, Kolumbus
müsse heilig oder wenigstens selig gesprochen werden. Der
erste war ein Graf Roselly, der mit seinem Buche „La croix
dans les deux Mondes“ (Paris 1844) für Kolumbus’ Selig-
sprechung eintrat und damit das Interesse des Papstes
Pius IX. erregte. Auch Leo XIII. war der Gedanke nicht
unsympathisch. Aber niemand kann so ohne weiteres selig
gesprochen werden; es wird da die Erfüllung verschiedener
Vorbedingungen verlangt: der Kandidat muß ein heiliges,
nach den Anschauungen der Kirche vorwurfsfreies Leben
geführt und Wunder vollbracht haben, und es müssen für
ihn wenigstens Anfänge eines Kultus nachgewiesen sein.
Damit sah es aber bei Kolumbus windig aus. So hatte er
keineswegs das erforderliche heilige Leben geführt; hatte er
doch ein „Verhältnis“ mit Beatriz Enriquez, einer Dame
aus Cordova, gehabt, dem ein unehelicher Sohn, Fernando,
entsprossen war, und es war nicht bekannt, daß er etwa
heimlich die Mutter dieses Sohnes, so sehr er stets für sie
besorgt gewesen, geheiratet hatte. Darum erhoben sich ge-
wichtige geistliche Stimmen gegen den Plan, und da dessen
Anhänger zähe an ihm festhielten und die Einwände hin-
wegzudisputieren suchten, so setzte sich der Kampf um
die Heilig- oder Seligsprechung bis zur Vierhundertjahrfeier
der Entdeckung Amerikas fort.
Eine Skizze dieses interessanten Kampfes, der so heftig
war, daß einmal ein Gegner der Kanonisation von einem
Verfechter derselben als „Satan“ bezeichnet wurde, hat eben
im „Journal de la Société des Americanistes de Paris“ (N. 8.,
Bd. VI, Heft 1/2) der Vorsitzende dieser Gesellschaft, Henry
Vignaud, gegeben, und zwar deshalb, weil neuerdings wieder-
um die Kanonisation des Kolumbus energisch verlangt wird.
Es geschieht dies namentlich durch eine in den Vereinigten
Staaten sehr einflußreiche Gesellschaft „Knights of Columbus“,
die sich aus dortigen katholischen Irländern und Italienern zu-
sammensetzt. Eshat drüben eine Agitation stattgefunden, und
der Erzbischof von Philadelphia hat in Rom ein formelles, mit
zahlreichen Unterschriften versehenes Gesuch überreicht. —
Vignaud meint — das ist das Ergebnis seiner Unter-
suchung —, daß Kolumbus die Heiligsprechung nicht verdiene.
Zunächst wegen seiner Beziehungen zu Beatriz. Über die
Art dieser Beziehungen könne gar kein Zweifel obwalten,
nachdem inzwischen Schriftstücke aufgefunden seien, die sie
eben als im Sinne der Kirche „unkeusche” bewiesen.
So führt ein von ihr selbst zehn Jahre nach des Entdeckers
Tode unterzeichnetes Dokument Namen und Vornamen auf
(veröffentlicht 1902 von Arellano in den Schriften der spani-
schen Akademie der Wissenschaften): Sie lauten „Beatriz
Euriquez de Arana, Tochter des verstorbenen Pedro de
Torquemada“; jede Anspielung darauf, daß sie Witwe und
gar Witwe des Kolumbus sei, fehlt darin, und das Fehlen
einer solchen Angabe in einem notariellen Dokument — ein
solches ist es — beweise, daß Beatriz nicht Kolumbus’ Witwe
im Sinne der Kirche sei, wie so oft behauptet worden.
Vignaud schließt: Die Bedingungen für den höchst um-
ständlichen Prozeß der Kanonisierung sind so streng, daß es
nicht möglich erscheint, daß sie im Falle des Kolumbus zu-
treffen. Wenn man das Leben des Entdeckers der Neuen
Welt der Kritik unterwirft, so kommen so viele Schwächen
ans Tageslicht, daß die Bedenken nicht beseitigt werden
können, die selbst zwei dem Plane so geneigte Päpste wie
Pius IX. und Leo XIII. stutzig gemacht haben. Wir wissen
heute, daß, wenn Kolumbus heroisch in seinem Haß war, er
es keineswegs in der Ausübung der christlichen Tugenden
gewesen ist. Wir wissen, daß er nicht keusch gelebt hat.
Wir wissen weiter, daß er zwar den Glauben und die Hoff-
nung hatte, daß er aber nicht mildtätig war; denn er war
habgierig und rachsüchtig. Endlich wissen wir, daß er zwar
eine große Tat vollbracht, aber keine große Seele gehabt
hat; denn mag er den Plan der Westfahrt Toscanelli oder
einem unbekannten Seemann verdankt haben, er hat es
jedenfalls für sich behalten, was er dem einen oder dem
anderen schuldig war. Kolumbus’ Frömmigkeit war gewiß
groß, aber er hat sie nicht heroischer bewiesen, als alle Welt
zu jener Zeit. Bescheidenheit gehört sicherlich zu einem
heiligen Leben, und Kolumbus war hochmütig und eitel.
Er hat sich ein Wappenschild geschmiedet, hat sich Ahnen
und adelige Eltern zugelegt, hat sich Taten gerühmt, die er
nicht vollbracht hat. Die Heiligen weihen sich ausschließlich
Gott. Gott ist für sie der Anfang und das Ende aller Dinge,
auf ihn führen sie alles zurück, ihm weihen sie Leben und
Werke. Kolumbus hat nichts dem Ähnliches getan. Er
dachte zunächst an sich, und die erstaunlichen Vorschriften
des außergewöhnlichen Aktes, durch den ein Majorat in
seiner Familie geschaffen wurde, hatten nur die Verherrlichung
seines Namens und die Schaffung einer Art Dynastie Kolum-
bus zum Ziel. Diese Tatsachen machen es höchst unwahr-
scheinlich, daß der Plan einer Heiligsprechung oder auch
Passarge: Herr Geheimrat Penck und seine Urteile über Dr. Michaelsens Dissertation. — Bücherschau.
369
nur Seligsprechung des Entdeckers der Neuen Welt mit
einiger Aussicht auf Erfolg wiederaufgenommen werden kann.
Man kann im Gegensatz zu Vignaud der Meinung sein,
daß es recht gleichgültig ist, ob dieses Ziel für Kolumbus
Aber sein Name ist eben in
so hervorragender Weise mit der Geschichte der Erdkunde
verknüpft, daß man diese Bestrebungen und Gegenbestrebungen
registrieren muß,
je erreicht wird oder nicht.
Herr Geheimrat Penck und seine Urteile über
Dr. Michaelsens Dissertation.
Herrn Pencks Stellungnahme zu der unter seiner Ägide
erschienenen Dissertation von Dr. Michaelsen, die in Nr. 14
dieses Globusbandes ausführlich besprochen wurde, ist so cha-
rakteristisch und ungewöhnlich, daß sie es verdient, in wei-
teren Kreisen bekannt zu werden, zumal bestimmte Befürch-
tungen durch sie immer greifbarere Gestalt annehmen.
Seit mindestens vier bis fünf Semestern hat Herr Micha-
elsen unter Herrn Pencks Leitung an seiner Dissertation
gearbeitet und vor mindestens vier Semestern bereits in dem
Geographischen Seminar in einem Vortrag seine Ansichten
über die Entstehung der Kalkpfannen in Gegenwart Herrn
Peneks dargelegt. Also ist dieser seit mindestens zwei Jahren
über das Beobachtungsmaterial Herrn Michaelsens genau
informiert und konnte rechtzeitig, wenn er zu der Über-
zeuzung kam, daß nach Person und Material für eine Disser-
tation die geeigneten Grundlagen fehlten, den jungen Dokto-
randen auf ein geeigneteres Gebiet hinweisen.
Was hat Herr Penck aber getan? Er hat die Arbeit,
die er seit mindestens vier Semestern in der Entstehung be-
obachten konnte, der Philosophischen Fakultät der Universität
Berlin vorgelegt, und zwar mit dem amtlichen Gutachten,
daß er schwere Bedenken gegen die Arbeit hege,
und sie nur mit Rücksicht auf Herrn Michaelsens
eigenartige Laufbahn — gemeint ist die um vier Jahre
zurückliegende Anteilnahme an dem Kriege in Afrika! —
als Dissertation annehmen könne. Demgemäß gab er
der Arbeit die denkbar geringste Note: idoneum.
Aus diesem Gutachten geht meines Erachtens klar und
deutlich hervor, daß Herr Penck über die wissenschaftliche
Bedeutung der Arbeit im Zweifel ist und nur persönliche
Momente ihn überhaupt zu ihrer Annahme als Dissertation
bestimmt haben. Bestätigt wird diese Auffassung dadurch,
daß Herr Penck, aus seiner Ansicht über Herrn Michaelsens
Arbeit kein Geheimnis machend, sich auch privatim in
gleichem Sinne geäußert hat, wie er sich der Fakultät gegen-
über schriftlich festgelegt hatte.
Trotz solcher scharf ausgesprochener Überzeugung hat
nun Herr Penck in andern Fällen Ansichten geäußert, die
seinem amtlichen Gutachten direkt widersprechen.
Einmal hat er der Redaktion der Mitteilungen aus den
Deutschen Schutzgebieten die Arbeit zur Aufnahme warm
empfohlen. Lediglich seiner Empfehlung verdankt die
Arbeit die Aufnahme in der genannten Zeitschrift. Die aus-
drückliche Empfehlung beweist doch wohl, daß Herr Penck
die Dissertation wissenschaftlich schätzt, denn eine verun-
glückte Dissertation wird bekanntlich auf Kosten des glück-
lichen neuen Doktors gedruckt und versinkt dann lautlos im
Strome der Vergessenheit. Zweitens hat Herr Penck in der Zeit-
schrift der Gesellschaft für Erdkunde Berlin ein ausführliches,
günstiges Referat erstattet. Es umfaßt fast eine volle Seite, und
bedeutet seine Aufnahme in der Zeitschrift unserer größten
geographischen Gesellschaft eine Auszeichnung, die weit über
den Rahmen einer gewöhnlichen günstigen literarischen Be-
sprechung hinausgeht. Denn das Referat ist gerade in dem
Abschnitt erschienen, den Herr Penck persönlich redigiert,
den er zum größten Teil selbst schreibt, in den nichts ge-
langt, was er nicht billigt, nämlich in dem Abschnitt über
wichtige neue Forschungsergebnisse und Vorgänge
auf geographischem Gebiet! Demgemäß muß Herr
Penck die Ergebnisse der Dissertation von Dr. Michaelsen
für wissenschaftlich bedeutsam und mitteilenswert halten.
Zu diesem Schluß ist man um so mehr berechtigt, als Herr
Penck Herrn Michaelsens Hypothese von dem Einsetzen einer
neuen Trockenperiode in dem Zeitraum zwischen 1850 bis
1860 durch den Hinweis auf die gleichzeitige Abnahme der
alpinen Gletscher zu stützen sucht. Er schätzt also Herrn
Michaelsens Hypothese so hoch ein, daß er seinerseits eine
neue Hypothese darauf aufbaut.
So sehen wir denn, daß Herr Penck über ein und den-
selben Gegenstand zwei einander schroff gegenüberstehende
Anschauungen geäußert hat, die sich meines Erachtens gleich-
zeitig nicht vertragen, zwischen denen es keine harmonische
Vereinigung gibt. Man könnte versucht sein, über Herrn
Penck zu lächeln, wenn die Angelegenheit nicht eine gar so
ernste Seite hätte, wenn nicbt in den von Herrn Penck geleiteten
Instituten gerade durch die im „Fall Michaelsen“ klar hervor-
tretenden Eigenschaften die bedauerlichsten Verhältnisse ge-
schaffen worden wären — Eigenschaften, die schließlich notwen-
digerweise jedes Vertrauen erschüttern und auf die Ent-
wickelung der geographischen Wissenschaft in Deutschland
einen unheilvollen Einfluß ausüben müssen. Die Gefahr ist
so groß, daß ich es für meine Pflicht halte, rücksichtslos
jedes persönliche Interesse beiseite zu stellen und offen auf
die schweren Schäden hinzuweisen, die von Herrn Penck
drohen und die bereits zu wirken beginnen — meinerseits
bereit, die volle Verantwortung für diesen Schritt
zu tragen.
Was nun Herrn Dr. Michaelsens Dissertation betrifft, so
kann für mich nur Herrn Pencks amtliche Überzeugung
maßgebend sein, und ich betrachte sie hiermit als wissen-
schaftlich erledigt. Passarge.
Bücherschau.
G. Haberlandt, Botanische Tropenreise. Indomalaiische
Vegetationsbilder und Reiseskizzen. 2. Aufl. VIII u. 296 8.
mit 98 Abbildungen im Text, 9 Tafeln in Autotypie und
3 Aquarelltafeln. Leipzig 1910, W. Engelmann. 12,85 f.
Wenn auch die erste Auflage bereits 1893 erschien, und
die zweite, abgesehen von geringfügigen Anderungen im Text,
hauptsächlich eine Vermehrung in dem Bildmaterial aufweist,
so hat das Buch nichts von seiner Frische und Nützlichkeit
verloren.
Da heutzutage eine Reise nach den indischen Inseln so
gar nichts Seltenes mehr ist, dürften die begeisterten Schilde-
rungen des berühmten Botanikers wohl auch in den weitesten
Kreisen willkommen sein. Die Beobachtungen fußen haupt-
sächlich auf den im botanischen Garten zu Buitenzorg auf
Java empfangenen Eindrücken, doch sind auch die der Reise
mit verwendet worden.
Da bei dem Entwurfe eines Vegetationsgemäldes, wie es
Haberlandt vorschwebte, neben den wissenschaftlichen auch
künstlerische Gesichtspunkte maßgebend sind, so durften darin
als Staffage auch verschiedene Tier- und Menschenfiguren
nicht fehlen, und meisterhaft sind sie dem eindrucksvollen
Bilde eingefügt. Die Abbildungen gingen durchweg nicht
aus Photographien, sondern aus Zeichnungen und Aquarellen
Haberlandts hervor; von den letzteren schmücken drei neue
diese zweite Auflage, von denen man beispielsweise die mit
Rhizophora naucronata geradezu an die Wand hängen möchte.
Wer einen Einblick in die ostasiatische Tropenwelt haben
will, greife zu dem Werke Haberlandts, das mit seinen Zeich-
nungen einen anschaulicheren Eindruck hinterläßt, als viele
andere Reisewerke gleicher Art. E. Roth (Halle a. 8.).
Alfred Haddon u. Hingston Quiggin, History of Anthro-
pology. IX und 158 S. mit 9 Abb., London 1910, Watts
and Co., 18. £
Professor Haddon sagt in der Vorrede, daß dieser, so-
viel er weiß, erste Versuch einer Geschichte der Anthropologie
mit großen Schwierigkeiten verknüpft war. „Ein kleines Buch,
das mit einem so weit ausgedehnten Gegenstande, so ver-
schiedenen Studien sich beschäftigt, kann die Spezialisten
der verschiedenen Gebiete nicht befriedigen. In manchen
Zweigen sind die Untersuchungen noch so neu, daß man hier
von einer Geschichte kaum reden kann, und die schaffenden
Männer sind noch am Leben. Gewiß werden viele den
gewissen Verfassern gewidmeten größeren Raum beanstanden
und sich darüber wundern, daß andere ganz fehlen oder
nur in geringem Maße beachtet wurden.“ Zudem sei das
Büchlein zunächst für Briten berechnet.
370
Bücherschau.
Diese Selbstkritik trifft ja zu, aber trotzdem muß man
sagen, daß auf 158 Seiten klein Oktav ganz außerordentlich
viel geleistet ist. Dazu erhalten wir noch eine Anzahl
Bildnisse hervorragender Anthropologen, ein kleines Literatur-
verzeichnis für den geringen Preis. Ich skizziere hier das
Schema, nach dem das nützliche Werk entworfen ist, welches
nur weiter ausgebaut zu werden braucht, um die Grundlage
für ein auch den Anthropologen und Ethnologen vom Fach
befriedigendes Handbuch zu liefern.
Mit der eigentlichen, physischen Anthropologie, mit
Hippokrates und Aristoteles, beginnt das Werk, und hier
werden der Reihe nach die somatologischen und kraniolo-
gischen Anschauungen im Laufe der Jahrtausende und die
Stellung des Menschen in der Natur und zu den Anthro-
poiden besprochen. Es folgt der paläontologische Abschnitt,
der im wesentlichen den nur kurzen Zeitraum betrifft, welcher
das halbe Jahrhundert von der Auffindung des Neandertal-
schädels bis zu den neuesten Skelettfunden Frankreichs um-
faßt. Daran schließen sich die Klassifikationsversuche nach
Rassen von Linné und Blumenbach bis auf Haeckel und
Deniker. Zum kulturanthropologischen Teile übergehend,
geben die Verfasser einen Überblick über ethnologische An-
schauungen von Lukrez bis auf die neuesten herab, die ihre
Bedeutung für die politischen Wissenschaften betonen. Ein-
geschoben ist an dieser Stelle ein Abschnitt über Prähistorie
von den nordischen Forschern und den Pfahlbauten an bis
zu der Frage über den tertiären Menschen und die strittigen
Eolithen. Mit den bei aller Kürze doch klar das Wichtigste
betonenden Abschnitten über die Technologie, Soziologie,
Religion, Sprache und den Einfluß des Lebensraumes schließt
das Werk. Beherzigenswert ist das Schlußwort, in dem
Haddon ausspricht, daß noch jetzt die Anthropologie eine
organisierte und einheitliche Wissenschaft zu werden beginnt.
„Gleich der Geschichte anderer Wissenschaften ist auch jene
der Anthropologie voller Beispiele von Widersachern, die
mehr auf Vorurteile, Bigotterie und Tradition geben, als
auf die Ergebnisse der Untersuchungen und der daraus ge-
folgerten logischen Deduktionen. Aber die Reaktionäre sind
allezeit unterlegen.“
Es wäre unbillig, von dem Büchlein mehr zu verlangen,
als es auf dem geringen Raum leisten kann. Daß man
über die Bedeutung des einen oder anderen der aufgeführten
Gelehrten streiten kann, gibt auch Haddon zu, und wenn
wir manchen vermissen, der aufgeführt hätte werden sollen,
so ist das bei dem „ersten“ Versuch auf dem vorliegenden
Gebiete natürlich. Mit Nutzen kann die an Tatsachen reiche,
leider auch in Bastians krauser Art verfaßte Schrift „Die
Vorgeschichte der Ethnologie, Deutschlands Denkfreunden
gewidmet für eine Mußestunde“ (Berlin 1881) herangezogen
werden, in der Bastian sich nur in der Vorrede, nicht auf
dem Titel nennt. Wenn er auch auf die ältesten Zeiten
darin Bezug nimmt, so will er doch, und wie ich glaube
mit Recht, eine Geschichte der Ethnologie erst mit dem
Zeitalter der Entdeckungen beginnen lassen, da erst seitdem
das Material dafür vorliege. Aufmerksam will ich hier auch
machen auf das Werk eines dänischen Gelehrten, des Pro-
fessors der Philosophie an der Ritterakademie zu Soröe,
Jens Kraft, in welchem zum ersten Male die Naturvölker in
ihrer Gesamtheit herangezogen werden, um die Geschichte
der Menschheit aufzuklären (Jens Kraft, Die Sitten der
Wilden. Zur Aufklärung des Ursprungs der Menschheit.
Aus dem Dänischen, Kopenhagen 1766). Vergleichend zeigt
er hier, was allen oder doch den meisten gemeinsam
und wie die Entwickelung vor sich gegangen ist. Stützt er
sich auch in vielem auf Lafiteau, so geht er doch eigene
Wege. Als eine Lücke des Buches von Haddon betrachte
ich es, daß die beiden Forster, Cooks Reisebegleiter, mit
keiner Silbe erwähnt sind. Johann Reinhold Forsters
„Bemerkungen auf seiner Reise um die Welt“ erschienen zu-
erst in englischer Sprache und wurden dann erst von seinem
Sohne Georg ins Deutsche übersetzt (Berlin 1783). Sehr
vieles, was für die Geschichte der Anthropologie und Ethno-
logie von Wichtigkeit ist, wird hier zum ersten Male gesagt
und bildet die Grundlage für künftige Forschungen und
wissenschaftliche Fortschritte. Noch will ich eines deutschen
Philosophieprofessors hier gedenken und ihn zur Beachtung für
eine künftige Auflage empfehlen: Christoph Meiners (1747
bis 1816), dessen Werke „Grundriß der Geschichte der Mensch-
heit“, Lemgo 1785, und „Untersuchungen über die verschie-
denen Menschennaturen (die verschiedenen Menschenarten)*,
Tübingen 1811, entschieden in einer Geschichte der Anthro-
pologie ihren Platz finden müssen. Das Wort Kulturgeschichte
kannte Meiners noch nicht; zur Geschichte der menschlichen
Nahrung, Wohnung, Kleidung, der Regierungsformen, des
Eigentums, der Sklaverei, der Sitten usw. stellte er ein ge-
waltiges Material zusammen, so einer vergleichenden Ethno-
logie die Wege weisend. Auch hundert Jahre vor Gobineau,
der auch bei Haddon fehlt, hob Meiners in der schärfsten
Weise den Wert der reinen Rasse hervor, wobei er, da er
nur einer solchen weltgeschichtliche Bedeutung zuerkannte,
auch auf Abwege geriet. Richard Andree.
Hölzels Wandkarte der Alpen. Auf Grundlage der
V. von Haardtschen Karte vollständig neu bearbeitet von
Franz Heiderich. 6 Blätter in 13fachem Farbendruck.
Maßstab 1:600000. Wien, Eduard Hölzel. 86 K.
Rein historisch ist diese Karte zwar als die Nachfolgerin
der zum ersten Mal 1883 erschienenen Alpenkarte Vincenz
von Haardts zu bezeichnen; aber viel Ähnlichkeit hat sie
nicht mehr mit ihr, innerlich und äußerlich ist sie unter
der sachkundiger Hand Heiderichs etwas ganz Neues ge-
worden. Vollständig neu bearbeitet und gezeichnet ist das
südöstlichste Blatt mit dem Karstgebiet, und für nicht wenige
andere, kleinere Gebiete gilt dasselbe. Gelände, Straßen,
Eisenbahnen, Siedelungen, Schrift sind entweder neuge-
stochen oder geändert, wo es nötig war. Das Gelände, auf
dessen plastische Durcharbeitung besonders Gewicht gelegt
wurde, verrät die Anwendung verschiedener Mittel, um diese
Plastik zu erreichen. Zugrunde liegt Schraffur mit Isohypsen,
dann hat es in Anlehnung an die schweizerische Darstellungs-
weise mehrere (fünf) Stufenfarben erhalten, nämlich ein
stumpfes Graugrün für die Stufe bis 200 m, ein lichtes Grau-
grün bis 500m, Lichtgelb bis 1000 m, Braungelb bis 1500 m
und schwach Rosarot für den Rest, wobei die Ferner weiß
ausgespart sind. So ist in der Tat ein recht eindrucksvolles
Relief erzielt worden, worauf es ja bei einer Alpenwand-
karte vor allem ankommt. Die Eisenbahnlinien — es scheinen
alle eingetragen zu sein, auch die elektrischen, sowie die
Bergbahnen — sind rot verzeichnet. Im übrigen mußte, um die
Karte nicht zu überladen, und ihr den Charakter der Wand-
karte nicht zu rauben, bei Aufnabme sonstiger Objekte eine
Auswahl Platz greifen. Von den Siedelungen finden wir in
den österreichischen Alpenländern nur die Städte und einige
Märkte, von den Straßen nur die wichtigsten. Ob da in der
Auswahl freilich überall das Richtige getroffen ist, darüber
kann man verschiedener Meinung sein. Aber dieser Punkt
ist von sekundärer Bedeutung. Die ebenso schöne wie
wissenschaftlich durchgearbeitete Karte stellt dem Autor
und dem geographischen Institut des Verlages ein neues
ehrendes Zeugnis aus.
Otto Moszeik, Die Malereien der Buschmänner in
Südafrika. 100 8. mit 173 Abb. im Text und 3farbigen
Tafeln. Berlin 1910, Dietrich Reimer. 10%. .
Über die Buschmannszeichnungen ist in den letzten
Jahren viel veröffentlicht worden, ebenso sind Sammlungen
der Zeichnungen selbst erschienen. Zu diesen Veröffent-
lichungen gehört auch eine von Otto Moszeik im „Inter-
nationalen Archiv für Ethnographie“, und diese Arbeit wird
hier von neuem in Buchform geboten. Sie ist aber bezüglich
der Menge der gebotenen Abbildungen ganz erheblich er-
gänzt worden, nachdem der Verfasser auf Reisen sein Ma-
terial hatte vermehren können. Weniger ist der Text ver-
ändert und erweitert worden, indessen wird doch auf manches
neu eingegangen. So auf die Frage, ob die Buschmänner
wirklich die Maler und Zeichner gewesen seien (S. 10ff.).
Namentlich waren es neuerdings Bemerkungen der Frau von
Eckenbrecher (in ihrem Buche „Was Afrika mir gab und
nahm“), die Zweifel berechtigt erscheinen ließen. Ihr Gatte
hätte mit Kalahari-Buschmännern einen praktischen Versuch
gemacht, aber die hätten nicht die einfachste Figur zeichnen
können. An die Buschmänner gerichtete Fragen hätten
nichts darüber ergeben. Niemand habe auch jemals einen
Buschmann zeichnen und malen sehen. Der Verfasser sucht
diese Zweifel zu widerlegen, verweist auf entgegenstehende
Beobachtungen und meint im übrigen, daß infolge der Ver-
änderungen in den Lebensbedingungen der Buschleute ihnen
heute jene Kunstfertigkeit zumeist verloren gegangen sein
werde. Am Schluß des Buches, wo die afrikanische Pyg-
mäenfrage gestreift wird, wird auf in jüngster Zeit in der
Sahara und auch im westlichen Sudan neugefundene, den
Buschmannszeichnungen ähnliche Darstellungen verwiesen,
die Frage aber eines Zusammenhanges aller Zwerge Afrikas
nach wie vor als ungelöst bezeichnet.
Kleine Nachrichten. °
371
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Der Erdgasbrand bei Neuengamme. Die Depu-
tation für die Stadtwasserkunst der Stadt Hamburg nahm
Anfang November zum Zweck der Wasserversorgung Tief-
bohrungen zwischen der Elbe und Bergedorf vor. Das erste
Bohrloch war in der Nacht vom 3. zum 4. November auf
245m Tiefe gebracht, hatte die Schichten des Alluviums,
dann die des Diluviums und schließlich die des Miozäns
durchbohrt, und zuletzt vorwiegend sandige und tonige
Mergel vorgefunden. In das Bohrloch waren eiserne Röhren
niedergebracht, die in ihrer ganzen Länge gleich weit waren
und 273mm lichten Durchmesser hatten. Am 3. November
abends 11 Uhr schleuderte das unter einem Druck von
mindestens 25, vielleicht aber bis zu 50 Atmosphären stehende
Gas das im Bohrloche befindliche Wasser, Sand und Stein-
material heraus und strömte mit unerhörter Heftigkeit aus
den Öffnungen des Bohrkopfes heraus, von denen die beiden
seitlichen eine lichte Weite von je 60mm besitzen, während
die dritte obere Öffnung nur klein ist. Nachdem das Gas
aus den Rohröffnungen und aus dem hölzernen Bohrturm
längere Zeit in ungeheuren Garben und unter intensivem
Zischen und Donnern ins Freie geströmt war, entzündete es
sich plötzlich am 4. November nachmittags 4 Uhr an der
zum Bohrbetriebe benutzten Lokomobile, deren Feuer noch
brannte, zu ungeheuren Stichflammen, von denen die seit-
lichen etwa 10 bis 15 m lang waren. Alle brennbaren Holz-
teile insbesondere der Bohrtürme sind natürlich zerstört.
Die Hitze war so groß, daß man über 100m von der Stelle
entfernt bleiben mußte; das Rauschen der Flammen, das in
der Nähe fast unerträglich auf das Gehör wirkte, war zwei
Tage darauf bei der Mündung der Dovenelbe 12km weit
deutlich vernehmbar. Fortwährend donnerten Explosionen,
die die Erde erzittern machten. Die Zusammensetzung des
ausströmenden Gases ist die folgende: Methan 91,5 Proz.,
schwere Kohlenwasserstoffe 2,1 Proz., Stickstoff 5,6 Proz.,
Sauerstoff 1,5 Proz., Kohlensäure 0,3 Proz. Solche Gase
kommen im Zusammenhange sowohl mit Petroleum wie mit
Steinsalzlagern vor. Wahrscheinlich ist hier das letztere der
Fall, da das Flußgebiet der Elbe — es sei nur an Staßfurt,
Lüneburg, Stade erinnert — an Salzlagern reich ist. Möglicher-
weise sieht dieser Landstrich einer ungeahnten großen Zu-
kunft entgegen. In außereuropäischen Gebieten, z. B. iu
Baku, am Erie-See, sind ähnliche Feuerquellen ja bekannt,
auch in abgeschwächtem Maße in Italien, z. B. zwischen
Modena und Pistoja und zwischen Bologna und Florenz, aber
in unserer norddeutschen Tiefebene war diese Erscheinung
bisher noch nicht beobachtet worden.
Gegen alle Vermutungen dauerte der Erdgasbrand in un-
verminderter Stärke fort; man wird eben den Brand weiter-
brennen lassen müssen, bis er erlischt. Man kann sich
denken, daß ein so außergewöhnliches Naturereignis, zumal
in der Nähe einer Großstadt wie Hamburg es ist, eine un-
geheure Menschenmenge heranlockt; am 12. November sollen
nicht weniger als 44 Sonderzüge zwischen Hamburg und
Bergedorf eingelegt worden sein, um dem Andrang der Be-
sucher einigermaßen genügen zu können.
Der kondensierte Dampf der Quelle ist inzwischen im
Hygienischen Institut in Hamburg analysiert worden. Die
Abdampfrückstände betrugen 2732 mg auf das Liter, davon
Kalk 162; Magnesia 88,9; Ammoniak 2,3; Chlor 1420; Schwefel-
säure 25,7; Kohlensäure 94,6; Eisenoxyd 0,8; 'Tonerde und
Eisenoxyd 2,0; Kieselsäure 16,0; Natrium 1078,8 entsprechend
2035 Chlornatrium und 17,7 mg entsprechend 28 g Chlorkalium.
Der Salzgehalt ist also 40mal, der Kalkgehalt4mal so groß wie
beim gewöhnlichen Trinkwasser. Prof. Dr. Gürich, der Geologe
der Hamburger Staatsanstalten, glaubt, daßdiedurchgesunkenen
Schichten vorzugsweise dem oberen Miozän angehören. Be-
merkenswert ist der Umstand, daß eine ideelle Verlängerung
der Linie Peine—Hänigsen—Wietze genau auf das Bohrloch
von Neuengamme stößt, womit natürlich nicht gesagt ist,
daß Tiefbohrungen auf Petroleum, die man etwa in der
Nähe des Bohrloches ausführte, sicher Erfolg haben würden.
Inzwischen ist bekanntlich der Gasbrand gelöscht worden. H.
— Für die Errichtung eines paläontologischen
Instituts in Paris, dessen Leitung den Urgeschichts-
forschern und Anthropologen Salomon Reinach, Boule und
Verneau übertragen werden soll, hat Fürst Albert von Monaco
dem französischen Unterrichtsministerium 1'/, Millionen Fr. zur
Verfügung gestellt. Das Institut wird u. a. die Ausgrabungen
in der Dordogne übernehmen, die bisher von dem Schweizer
Hauser ausgeführt worden sind und bekanntlich das be-
rühmte Skelett des Homo mousteriensis Hauseri zutage ge-
fördert haben. Hauser hatte jenes noch viele wichtige
Funde versprechende Höhlengebiet für seine Ausgrabungen
käuflich erworben, und es werden nun von französischer
Seite Versuche gemacht, Hauser zum Verkauf seines Besitz-
tums zu veranlassen. Mag das nun gelingen oder nicht: in
Zukunft werden Funde dieser Art in Frankreich verbleiben
müssen; denn die französische Regierung hat einen ent-
sprechenden Gesetzentwurf dem Parlament bereits vorgelegt.
Veranlaßt worden ist sie dazu wohl in erster Reihe durch
den Verkauf des kostbaren Homo mousteriensis durch Hauser
an das Berliner Museum für Völkerkunde.
— Auch China hat das Bedürfnis gefühlt, sich in einen
Verfassungsstaat zu verwandeln. Das wird aber nicht
über Nacht geschehen, wie in der Türkei, in Persien oder
Montenegro; sondern die chinesische Regierung, deren ent-
sprechendes Dekret aus dem Jahre 1908 stammt, will ver-
nünftigerweise schrittweise vorgehen und hat das Inkrafttreten
der nun inder Vorbereitung befindlichen eigentlichen Konstitu-
tion erst für das Jahr 1917 angekündigt. Vorläufig hat sienur
eine Art Oberhausgebildet, das ungefähr mit dem preußischen
Herrenhause auf einer Höhe steht, also eine Volksvertretung
nicht ist, sondern nur reden und im übrigen nur tun darf,
was die Regierung befiehlt. Das kaiserliche Dekret, das die
Einrichtung dieses Senats anordnet, ist vom 9. Mai d. J.
datiert; er ist inzwischen zusammengetreten, debattiert und
läßt die auch bei der weißen Rasse üblichen parlamenta-
rischen Meinungsverschiedenheiten hervortreten. Er besteht
aus 91 vom Kaiser ernannten Mitgliedern und 91 Vertretern
sechs verschiedener Stände. In der letzten Kategorie ent-
fallen 14 Mitglieder auf die Prinzen der kaiserlichen Familie,
12 auf den Mandschu- und Chinesenadel, 17 auf Fürsten
und Adel der Nebenländer, 6 auf andere Angehörige der
Kaiserfamilie, 32 auf die Beamten- und 10 auf die Gelehrten-
welt. Die Zahl der Mandschumitglieder übersteigt die der
Chinesen, so daß die Beschlüsse nur das Echo der Regierungs-
politik sein können. Dazu fallen die Finanzangelegenheiten
nicht in den Bereich der — übrigens öffentlichen — Be-
ratungen dieses Senats. Das erste Budget soll erst 1914 vor-
gelegt werden.
— Das für magnetische Aufnahmen erbaute Schiff
„Carnegie“ hat im Juni d.J. von Brooklyn aus unter dem
Befehl von W. J. Peters eine neue auf drei Jahre berech-
nete Kreuzfahrt durch den Atlantischen, Indischen und
Großen Ozean angetreten. Am 15. Oktober verließ es Para,
mit Rio als nächstem Ziel. Die Fahrten zwischen Brooklyn
und Para haben eine Länge von etwa 7000 Seemeilen, dabei
wurde mehrere Male durch Ausführung von Schleifen die
erste Route des Schiffes gekreuzt. Die auf der neuen Kreuz-
fahrt bis zum Eintreffen in Para gewonnenen Resultate be-
stätigten die Irrtümer, die die erste Fahrt für die bisherigen
magnetischen Karten des Nordatlantischen Ozeans aufgedeckt
hatte. Von Rio soll der „Carnegie“ über Montevideo und
Buenos Aires nach Kapstadt gehen, wo sein Eintreffen für
Ende März 1911 erwartet wird. Dort will sich der Leiter
des magnetischen Vermessungswesens Dr. Bauer einfinden,
um an den Fahrten im Indischen Ozean teilzunehmen. Auf
dem Wege nach Kapstadt will Bauer mehrere der magne-
tischen Institute Europas aufsuchen, um da Vereinbarungen
über ein Zusammenwirken mit den Beobachtungen des
„Carnegie“ zu treffen.
— Der Herbst ist vergangen, ohne daß aus Westgrönland
die Nachricht gekommen wäre, daß dort E. Mikkelsen,
der Leiter der letzten dänischen Ostgrönland-Expe-
dition, angelangt sei. Wie oben 8. 148 mitgeteilt wurde,
war Mikkelsen mit seinem Begleiter Iversen von seiner
Schlittenreise nach Nordgrönland bis Anfang August nach
der Shannoninsel nicht zurückgekehrt, worauf die übrigen
Expeditionsteilnehmer, deren Schiff vom Eise im vorauf-
gegangenen Winter zerstört worden war, mit einer anderen
Schiffsgelegenheit die Heimreise nach Kopenhagen angetreten
hatten. Mikkelsen hatte ihnen diese Weisung hinterlassen,
da er mit der Absicht umging, nach Erledigung seiner
Untersuchungen über Nordgrönland die Westküste entlang
— also etwa an der Ostseite des Kanebeckens — nach den
Eskimoansiedelungen am Smithsunde und weiter nach den
dänischen Kolonien des Westens zu gehen. Man konnte
mithin mit der Möglichkeit rechnen, daß er dort noch in
372 °
diesem Herbst eintreffen würde. Das ist nun also nicht ge-
schehen, und es ist zweifelhaft, was aus den beiden Reisenden
geworden ist. Die Wahrscheinlichkeit sprioht dafür, daß sie
sich doch nach der Ostküste zurückgezogen haben, auf der
Shannoninsel verspätet eingetroffen sind und in dem dort
für sie errichteten, reichlich mit Vorräten ausgestatteten
Hause den Winter zubringen. In diesem Falle wären sie ja
in Sicherheit. Aber es ist Jeider immerhin auch möglich,
daß sie irgendwo anderwärts unter viel ungünstigeren Ver-
hältnissen überwintern müssen. Wenn im nächsten Frühjahr
aus Westgrönland keine Nachricht über Mikkelsen kommt,
wird man ihn im Sommer in Ostgrönland suchen müssen.
— Für eine neue holländische Expedition in das
Schneegebirge Neuguineas zur Vervollständigung der
Ergebnisse der beiden Lorentzschen Unternehmungen von
1907 und 1909 sind für das Jahr 1911 20000 Fr. von der
Kolonialregierung ausgeworfen. Die Führung wird wahr-
scheinlich J. W. van Nouhuys, dem Topographen, der
zweiten Lorentzschen Expedition übertragen werden. — Übri-
gens ist in Heft 6 der „Tijdschrift K. Nederl. Aardrijksk.
Gen.“ für 1910, dem wir diese Mitteilung entnehmen, eine
von Nouhuys bearbeitete topographische Übersichtskarte
(ohne Routen) in 1:200000 über das Reisegebiet der beiden
Expeditionen von Lorentz erschienen. Auf ihr ist die Höhe
der Wilhelminaspitze mit 4700 m, die des nördlich von ihr
liegenden Habbemasees, des fernsten 1909 erreichten Punktes,
mit + 3600m angegeben.
— In Tisnit im südwestlichen Marokko an der Kara-
wanenstraße Marakkesch—Timbuktu ist im Oktober eine in-
teressante Persönlichkeit gestorben, der Sherif Ma el-Aïnin,
der eine nicht unbedeutende Rolle in der neuesten Geschichte
Nordwestafrikas gespielt hat. Ma el-Aïnin war ein weit über
seinen Wohnsitz, Smara im Segiet el-Hamra bei Kap Juby,
hinaus verehrter, höchst einflußreicher und mächtiger Mann,
ein unversöhnlicher Feind der französischen Ausdehnungs-
gelüste und Absichten auf Marokko, denen er seit Jahren
offen und noch mehr versteckt entgegengewirkt hat. Er
war eine Stütze des verflossenen Sultans Abd el-Asis, den
er einige Male persönlich aufsuchte, und sein Name wurde
schon auf der Algeciras-Konferenz genannt. Er selber bezog
durch einen regen Küstenschmuggel Gewehre, um seine An-
hänger in Mauretanien bis nach Adrar hinunter zu be-
waffnen. Gerne wären ihm die Franzosen an den Kragen
gegangen, aber er war in seinem Wüstensitz ziemlich unan-
greifbar und unerreichbar. Als Frankreich vor zwei Jahren
an die Eroberung Mauretaniens ging, stieß es auch hier auf
seinen alten Feind Ma el-Ainin, und wenn er auch nicht
selber gegen die französischen Truppen im Felde stand, so
organisierte er doch aus der Ferne den Widerstand und
sandte seinen Sohn Hassana den Maurenstämmen zu Hilfe.
Hassana mußte allerdings schließlich das Weite suchen, und
Oberst Gouraud eroberte nach einem langen, beschwerlichen
und verlustreichen Kampfe das südliche Mauret: nien. Auch
mit dem neuen Sultan Muley Hafid stand Ma el-Ainin in
enger Beziehung. Nach dem französisch -marokkanischen
Übereinkommen vom 4. März d. J. hatte sich der Magsen
verpflichtet, Ma el-Ainin und seinen Anhang hinfort in
keiner Weise zu ermutigen oder mit Geld und Waffen zu
unterstützen, und man meint, daß Mael-Ainin seinen Frieden
mit Frankreich habe machen wollen, als er a€ der Reise
starb. Wahrscheinlich ist das aber nicht. Sein 8 hn Hassana
hat bei weitem nicht das Ansehen, das der a.te Marabut
hatte, und so ist es möglich, daß diese Quelle der französi-
schen Kolonialsorgen bald versiegen wird.
— Mit den Franzosen können auch wir Deutschen den
allzufrühen vor kurzem zu Paris erfolgten Tod des Anthro-
pologen Dr. Léon Laloy beklagen, der vor allem die Schätze
der deutschen anthropologischen und ethnologischen Literatur
den Franzosen in mustergültigen Analysen vermittelte und
ebensogut die deutsche, wie die französische Sprache be-
meistert hat. Dr. Laloy war am 30. April 1867 in Weißen-
burg im Elsaß geboren, er studierte Medizin in Paris, wo er
1892 mit einer Dissertation über die therapeutische Anwen-
dung des Hypnotismus promovierte, aber bald sich unter
dem Einflusse Topinards und Hamys der Anthropologie zu-
wendete. Im Jahre 1901 wurde er Bibliothekar in Bordeaux
und 1905 Bibliothekar der Académie de médecine in Paris.
Seine Berichte über die deutschen anthropologischen Arbeiten
in der angesehenen Zeitschrift L’Anthropologie, von denen
noch die letzte, Nummer eine ganze Anzahl bringt, werden
- Rothäute; sie haben sich auch ihre alten
Kleine Nachrichten.
schwer zu ersetzen sein, da immer noch die deutsche Sprache
unter den französischen Gelehrten nicht genügend verbreitet
ist. Selbständige Werke von Dr. Laloy sind „L’&volution de
la vie“ (1902) und „Parasitisme et mutualisme dans la
nature“ (1906).
— Die Indianer von Labrador. In Labrador gibt
es noch zwei Indianerstämme, die zur Algonkinfamilie ge-
hörigen sog. Montagnais und die Naskopie, deren beider
Seelenzahl auf zusammen etwa 3000 geschätzt wird. Die
Montagnais wohnen im Süden und haben seit der Ankunft
der Europäer ziemlich enge Beziehungen mit den weißen
Pelzhändlern und „Waldläufern“. Sie sind auch zum Christen-
tum bekehrt und eigentlich keine Rothäute mehr, sondern
Mischlinge, in deren Adern viel französisches und englisches
Blut kreist. Ihre Nomadensitten haben sie fast ganz auf-
gegeben; sie wohnen in Holzhäusern und haben sich mit
einem gewissen Komfort umgeben. Immerhin schlummern
unter dieser Zivilisationstünche noch die alten wilden Instinkte.
Wie Clifford E. Easton im „Canadian Magazine“ erzählt,
tötete unlängst ein junger Montagnais seinen Vater, um den
Forderungen eines alten, allgemein unter den Indianern ver-
breiteten Aberglaubens zu entsprechen: wenn ein Greis
närrisch wird, so müssen ihn seine Kinder schleunigst töten,
wenn sie nicht Kannibalen werden wollen. Dagegen sind
die Naskopie, die im Innern leben und viel weniger Be-
rührung mit den Weißen gehabt haben, noch reinblütige
rlieferungen
und Sitten bewahrt. Nur einmal im Jahre begeben sie sich
nach der Faktorei der Weißen und tauschen hier 14 Tage
hindurch ' ihr Pelzwerk gegen Gewehre, Munition, Tabak
und Tee aus; wenn aber das Schiff der Kompagnie am
Horizont auftaucht, so verschwinden sie schleunigst. Schlechte
Behandlung hat der sie besuchende Weiße nicht zu befürchten,
aber sie lehnen es ab, ihm Führerdienste zu leisten, und
zwingen ihn dadurch bald zur Umkehr. Easton fragte, warum
die Naskopie so schnell das Weite suchten, wenn ein Schiff
sich nahe, und erhielt zur Antwort, sie fürchteten, daß ein
Missionar an Bord sein könnte. Vor einigen Jahren hatte
nämlich der Pater Le Moine die Rothäute, die sich im Fort
Chimo befanden, zu bekehren versucht. Sie schienen anfangs
dafür Neigung zu haben, als aber der Missionar die Frage
der Einehe anschnitt, war es vorbei mit dieser Neigung.
Ein guter und erfolgreicher Naskopie-Jäger hat nämlich das
Recht, sich zwei, auch drei Frauen zu nehmen. Kulturell
stehen die Naskopie nicht ganz niedrig; denn die Männer
machen sich selber ihre Steinpfeifen und die Frauen kunst-
volle Arbeiten mit der Nadel, die nach Easton mit persischen
Stickereien rivalisieren sollen. Leider sind die Naskopie im
Gegensatz zu den höchst ehrlichen Montagnais große Diebe
und zeigen sich als solche in den Faktoreien. Auf der Tat
abgefaßt, lachen sie nur.
— Elliot Smith, der Anthropologe der Archaeological
Survey of Nubia, äußerte sich über die Frage nach der
Entstehung der Agypter von neuem in der diesjährigen
Versammlung der British Association. Nach dem Bericht
der „Nature“ führte er aus, daß es unmöglich sei, ein Bild
von der Geschichte des Menschen in Agypten zu gewinnen,
wenn man sich nicht auf das Studium des physischen Cha-
rakters genau datierbarer menschlicher Reste aus den drei
großen Hauptteilen des Niltales, Unter- und Oberägypten
und Unternubien, stütze. Alles, was man heute über den
Ursprung der prädynastischen Ägypter mit Sicherheit sagen
könne, sei, daß sie sowohl mit der Mittelmeerrasse wie mit
den Arabern Verwandtschaft zeigten. Kurz vor dem Ende
der prädynastischen Zeit mache sich eine gewisse leichte
Änderung im physischen Aussehen bemerkbar, deutlich
spreche sie sich aber erst in der dritten Dynastie aus., Mit
diesem Datum wurde es klar, daß jene drei Hauptteile Ägyp-
tens voneinander verschiedene Bevölkerungen hätten: Unter-
nubien ein mit dem prädynastischen identisches Volk, das
aber mit Negerblut gemischt sei; Unterägypten die Abkömm-
linge der prädynastischen Bevölkerung, aber stark mit
weißen Einwanderern durchmischt, die durch das Delta ge-
kommen seien; Oberägypten eine Bevölkerung, die von diesen
beiden fremden Elementen zwar nicht unmittelbar beeinflußt
gewesen sei, aber indirekt infolge der Durchmischung des
Volkes mit dem der beiden anderen genannten Hauptteile
des Nillandes. Im mittleren Reich wurden die schwarze nubische
und die weiße mittelländische Beeinflussung deutlicher in
Theben, und so. begann die noch heute andauernde all-
mähliche Abstufung des physischen Charakters vom Schwarz
Nubiens bis zum Weiß der levantinischen Bewohnerschaft
des Nordens.
Verantwortlicher Redakteur:
H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55.
— Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.
GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“,
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE.
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. XCVIII. Nr. 24.
_ BRAUNSCHWEIG.
29. Dezember 1910.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Indianererziehung auf der staatlichen Indianerschule Carlisle.
Von K. Woltereck.
*"Carlisle im Staate Pennsylvania soll von Franklin als
militärische Befestigung gegründet sein. Während der
ame ıkanischen Revolutionskriege wurde ein Kriegs-
gefängnis daraus gemacht, das General Lee im Bürger-
kriege teilweise niederbrannte. Im Jahre 1879 erhielt
Kapitän Pratt die Erlaubnis, den nun verlassenen Platz
zu benutzen, und er richtete dort eine Schule für Indianer-
kinder ein, die er 25 Jahre, bis 1904, selbst leitete. Jetzt
steht ein Regierungsbeamter der inzwischen verstaat-
lichten Anstalt vor, die aber im Sinne des Gründers
weitergeführt wird.
Pratt hatte während eines Kommandos in Florida,
als er auf einsamen militärischen Posten inmitten der
Seminolenstämme den indianischen Charakter kennen
und verstehen lernte, eingesehen, daß vor allen Dingen
die jüngere indianische Generation die Weißen als
Menschen, als Freunde kennen lernen müsse, die sie
jahrhundertelang als ihren schlimmsten Feind und als
ganz anders geartete Wesen angesehen hatte. Deshalb
sollten die Kinder nicht nur eine bessere Erziehung, die
sie für das moderne Leben tauglicher machte, erhalten,
sondern auch mit dem Familienleben der weißen Ameri-
kaner vertraut werden.
Aus diesem Grunde schickt die Schule noch immer
einen Teil ihrer Schüler als Pflegekinder in amerikanische
Familien, wo sie sich ihren Unterhalt durch kleine Dienst-
leistungen erwerben können, aber mindestens 100 Tage
im Jahre daneben am regelmäßigen Unterricht der Orts-
schulen teilnehmen müssen. In den’ Ferien geleistete
Dienste werden extra bezahlt und die Hälfte dieses Ver-
dienstes direkt nach Carlisle gesandt, wo das Geld für
den Indianer festgelegt wird, das er erst’nach dem
Examen am Ende der Schulzeit ausgezahlt erhält. Die
andere Hälfte wird dem Pflegling zu eigener Verwaltung
überlassen, damit auf diese Weise die kleinen Rothäute
auch das Geld besser kennen und gebrauchen lernen.
Einige 100 Schüler und Schülerinnen können die Ferien
im Sommer in Carlisle selbst zubringen und sich dort
durch Arbeit auf der großen Farm oder in den Schul-
gebäuden, Wäschereien usw. Taschengeld verdienen,
während die kleinen täglichen Dienstleistungen in der
Schulzeit als Entgelt für freien Unterhalt und Unterricht
aufgefaßt werden.
Eine besonders angestellte Dame hat die Aufgabe,
die Wahl zwischen den vielen Anerbietungen für diese
„outing-kinder* zu treffen, wobei gern Farmerfamilien
aus der Umgebung berücksichtigt werden, die .die
Carlisleindianer sehr lieben. Im letzten Jahre hatten sich
1400 Familien gemeldet, die bereit waren, Kinder bei
Globus XOVIL. Nr. 24.
sich aufzunehmen, aber von den etwa 1300 Schülern
sind zurzeit nie mehr als 500 „out“; die anderen bleiben
auf der Schule in Carlisle selbst. Länger als bis zwei
Jahre vor dem Endexamen darf auch kein Schüler den
regelmäßigen Unterricht dort versäumen, denn der ganze
Durchschnittskursus umfaßt nur fünf Jahre. Wenn die
Kinder sich in den Familien nicht wohl fühlen, dürfen
sie auch früher zurückkommen, und um immer mit den
Pfleglingen in Fühlung zu bleiben, werden die Familien
häufig durch Beamte besucht und regelmäßige Berichte
von Pflegern und Schülern verlangt.
In der Schule in Carlisle ist das Leben äußerlich
militärisch eingerichtet; die Knaben tragen uniform-
artige Anzüge und die Mädchen gleichmäßig blaue
Kleider mit weißen Schürzen. Der Arbeitstag beginnt
pünktlich um 6!/, Uhr, auf den Glockenschlag geht es
zum Frühstück, das im großen gemeinsamen Eßsaal nach
kurzer Andacht eingenommen wird. Eine Stunde später
fängt der Unterricht in den praktischen Fächern für die
eine Hälfte der Schüler an, für die anderen beginnt erst
um !/,9 der wissenschaftliche Unterricht, der sich auf
Lesen, Schreiben, Rechnen, Englisch, Anschauungsunter-
richt und Heimatkunde‘beschränkt. Nur besonders Be-
fähigte erhalten weitere Ausbildung nach Wunsch und
Anlagen.
Um 1/,12 kommt die Mittagspause, und um 1 Uhr
wandern die Studenten der Wissenschaften vom Morgen
in die Handwerkstätten und umgekehrt. Und auch nach-
mittags dauert die praktische Unterweisung eine Stunde
länger.
Im Winter kommt noch eine Arbeitsstunde nach dem
Abendessen hinzu, aber im Frühjahr und Herbst gibt
man diese Abendstunden Knaben und Mädchen zum
fröhlichen Spiel draußen frei. Um 9 Uhr heißt es jeden
Tag „Licht aus“ für die Kleinen, eine halbe Stunde
später schlägt die Stunde für die Großen, und dann
herrscht überall eine wundervolle Ruhe nach dem ge-
schäftigen Treiben am Tage.
Natürlich gibt es auch regelmäßigen Turnunterricht
für die Carlisleindianer, da das veränderte Leben immer
nöch die an unbeschränkte Freiheit in frischer Luft ge-
wöhnte Konstitution bedroht. Hals und Lunge der
Kinder werden häufig untersucht, damit dem schlimmen
Feinde der roten Stämme, seit sie auf Reservationen
leben müssen, der Schwindsucht, möglichst vorgebeugt
werden kann. Oft werden auch Schüler aus solchen
Gesundheitsrücksichten wieder in die Heimat zurück-
geschickt, und da soll es jetzt häufig schwer sein, die
Eltern zu überzeugen, daß das Schulleben tödlich sein
48
374 Woltereck: Indianererziehung auf der staatlichen Indianerschule Carlisle.
könne. Denn bei vielen Stämmen wünscht jetzt die
ältere Generation geradezu die Ausbildung des weißen
Mannes für die indianische Jugend, während diese selbst
oft erst durch große Liebe und Diplomatie dafür ge-
wonnen werden kann.
Die Schule in Carlisle hatte im letzten Jahre Schüler
aus 77 verschiedenen Stämmen, und die deshalb ver-
schiedenartigen und oft einander feindlichen Anschauungen
und Überlieferungen bieten eine andere Schwierigkeit für
die Lehrer. Auch die religiöse Frage war anfangs schwer
zu lösen; man behandelt sie aber im allgemeinen dort
möglichst einfach und dogmafrei. Die Sonntagspredigt
müssen alle hören, am Nachmittage dürfen sie, wenn sie
wollen, noch andere Kirchen der verschiedenen Sekten
besuchen.
Etwa 40 Gebäude für Wohn- und Lehrzwecke ge-
hören jetzt der Anstalt, meist zweistöckige, von breiten
Veranden umgebene Holzbauten. Das Hauptgebäude
enthält die Kapelle, eine Bibliothek und Bureauräume für
die Verwaltung. An beiden Seiten schließen sich Flügel
Abb. 1. Richard Kissitti (Apachen-Indianer).
mit großen, hellen Klassenzimmern an. Dem Haupt-
gebäude gegenüber, durch einen breiten Rasenplatz von
ihm getrennt, liegt das alte Schulhaus, das nur Schul-
zimmer enthält, die von Knaben und Mädchen zu gleicher
Zeit besucht werden; denn auch hier herrscht, wie in
fast allen öffentlichen Schulen Amerikas, das Koeduka-
tionssystem. An der einen Breitseite stehen die Wohn- |
häuser der Mädchen, an der anderen die für die Knaben.
In jedem derselben wohnen außer der Jugend einige
Lehrer oder Lehrerinnen und Hausmütter; aber man hat
unter den jungen Indianern eine Art Selbstregierung
eingeführt, wie sie auf vielen der östlichen Hochschulen
mit Erfolg schon lange herrscht.
Hinter den Knabenhäusern liegen die Gebäude der
Industrieschulen; hier können die Schüler schneidern,
drucken, malen, schmieden, tischlern, schreinern oder
noch andere Handwerke erlernen, und hier wird auch
alles für den eigenen Gebrauch der Schule hergestellt
und, wenn Zeit dazu vorhanden, für auswärtige Be-
stellung gearbeitet. Sehr geschickte Arbeiter kann man
da sehen und hübsche Tischler- und Schmiedearbeiten
bewundern. Außerdem bieten die Ställe und das der
Schule gehörige Land ein weiteres Gebiet der praktischen
Tätigkeit für die Knaben, während sich die Mädchen in
der Küche, Wasch- und Plättstube, in Schneidern oder
Putzmachen, in der Kinder- und Krankenpflege usw.
auch nach eigener Wahl für das Leben vorbereiten können.
Abb.2. Joe Exendine (Sioux-Indianer),
Assistent des Turnlehrers.
Aber es gibt auch literarische Gebiete für die jungen
Rothäute. Zeitungen werden verfaßt und eigenhändig
gedruckt; in Klubs werden Vorträge gehalten; es wird
Theater gespielt und man gibt Konzerte; und vor allem
Abb.3. Jake Rocher, der Photograph (links, Hopi-Indianer),
und Ted White, sein Gehilfe (Zuäi-Indianer).
werden auch die einzelnen Stämmen seit Jahrhunderten
eigenen künstlerischen Handfertigkeiten, Weben, Korb-
flechten, Tonmalerei, Silberschmiedekunst usw., weiter
ausgebildet.
Der Durchschnittskursus umfaßt, wie gesagt, fünf
Jahre, und das Durchschnittsalter der Schüler ist das
ur
Woltereck: Indianererziehung auf der staatlichen Indianerschule Carlisle. 375
12. bis 20. Lebensjahr. Meist haben die Kinder schon
vor dem Eintritt in Carlisle Vorbereitungsunterricht auf
Reservationsschulen gehabt; aber es gibt auch Aus-
nahmen, wie die Aufnahme des jüngsten Schülers Richard
Kissitti (Abb. 1), der als vierjähriger Junge in die Schule
kam und durch seine große Begabung viel verspricht.
Seine beiden früh verstorbenen Eltern waren alte Carlisle-
schüler aus einem Häuptlingsgeschlecht der Apachen. Oder
aber es verirrt sich ein außergewöhnlich alter Schüler
nach dort, der mit 18 Jahren noch nicht Schreiben und
Lesen gelernt hat, und da bedarf es geschickter Lehr-
kräfte, um dieses verschiedenartige Material richtig ein-
zufügen. Unter den fast 100 Angestellten bilden mehr
als die Hälfte das Lehrerkollegium der akademischen
und praktischen Fächer, die anderen gehören der Ver-
waltung an. Auch einige Vollblutindianer sind darunter,
die erst in Carlisle selbst und dann zum Teil auf den
Universitäten dazu ausgebildet sind (vgl. die Abb. 2 bis 5).
Angel de Cora — ihr alter indianischer Name ist
„Ai nom m kti li n kte“, d. h. „Die auf den Wolken in
Pracht thronende* — ist eine besonders begabte Zeichen-
lehrerin, die die alten symbolischen Muster ihres Volkes
vor der drohenden Vergessenheit zu bewahren versucht.
Elisabeth Penny (Nez-perces-Indianerin).
Abb. 4.
Sie lehrt dort zeichnen, malen, weben und flechten und
bemüht sich auch, die Bedeutung und seltsame Schönheit
der symbolischen Farben und Zeichen ihren Schülern
klar zu machen; denn jetzt schon findet man diese einst
hochentwickelte Kunst in künstlerischer, echt indianischer
Weise nur noch bei wenigen Stämmen der weit von der
Zivilisation lebenden Puebloindianer. Angel de Cora
ist auch literarisch für die Sache ihres Volkes tätig, und
ihre Aufsätze und Erzählungen sind meist mit eigenen
Illustrationen geschmückt. Sie ist schon eine ganz be-
kannte Persönlichkeit auf diesem Gebiet, und ihre Arbeiten
sind bei den amerikanischen Ethnologen sehr geschätzt.
Abb.5. Estella Sky (Schwarzfuß-Indianerin),
Stütze der Vorsteherin im Fremdenhause.
Auch Elisabeth Penny, eine junge Nez-Perces-
indianerin (Abb. 4), verspricht für. die Sache ihres Volkes
viel zu tun. Dieses eigenartige und sehr anziehende
Mädchen ist besonders für Musik begabt. Sie hat im
letzten Jahre ihre Bildung in Carlisle abgeschlossen und
studiert jetzt Musik in Boston, weiß aber noch nicht, ob
sie nach Abschluß ihrer Studien auf die Reservation
zurückkehren soll, um dort eventuell als Organistin zu
wirken, oder ob sie sich der Sammlung und Nieder-
schreibung alter indianischer Melodien widmen will.
Als ich die Indianerschule in Carlisle zum ersten
Male besuchte, war es Frühling, und es herrschte dort
ein festliches Treiben. Denn schon im April finden in
Carlisle die Abgangsprüfungen und die damit verbundenen
Festlichkeiten (commencements) statt. Und auch hier er-
halten die Schüler nach bestandenem Endexamen feierlich
ein Diplom überreicht, das ihre Tüchtigkeit beweisen und
ihnen helfen soll, im Leben weiter zu kommen.
Einer freundlichen Einladung folgend wohnten wir
auch der Hauptfeier bei, die in dem großen geschmückten
Turnsaal vor sich ging. Eine Ouvertüre des Schul-
orchesters leitete den Festakt ein. Dann folgte die Rede
des Direktors, der darauf die Diplome verteilte und beim
Verlesen derselben die Berufswahl verkündete. Es gab
dieses Mal darunter 2 Bäcker, 3 Kürschner, 3 Schneider,
4 Schmiede, 4 Klempner, 4 Drucker, 4 Schuhmacher,
7 Milchwirtschaftler, 10 Tischler; die anderen 22 hatten
sich für die Landwirtschaft im allgemeinen vor-
bereitet.
Auf die Zeugnisverteilung folgte eine Begrüßung und
Ansprache des Regierungsvertreters aus Washington, der
den jungen Leuten die Bedeutung ihrer Ausbildung für
das Leben ihres Volkes auf den Reservationen ans Herz
legte, und hierauf begann der interessanteste Teil dieser
48*
376
Die Fahrt der holländischen Grenzexpedition auf dem Kaiserin-Augusta-Fluß.
eigenartigen Feier: Reden und Aufführungen der ab-
gehenden Indianer.
Eine junge Oneidaindianerin begann mit den Vor-
führungen kleinerer Schülerinnen, an denen sie die er-
lernte Krankenpflege zeigte und erläuterte. Dann sprach
ein Sioux über seine landwirtschaftlichen Pläne für das
ihm von der Regierung überwiesene Land. Eine Alaska-
indianerin folgte mit einem Reigen kleiner Mädchen, der
die Hausarbeit: Fegen, Scheuern, Staubwischen usw., ver-
sinnbildlichen sollte. Und nach einer interessanten, frei
und leicht gesprochenen Rede über alte Sitten ihres
Volkes von Elisabeth Penny kam ein von ihr einstudierter
Hochzeits- und Kriegstanz der Nez Perces-Indianer, zu
denen sie gehört. Andere Nez Perces-Freunde halfen ihr
dabei und sahen in echten Kostümen von Eltern und
Großeltern sehr malerisch aus. Mit großer Würde und
Andacht wurden die streng rhythmischen Bewegungen
ausgeführt; Nez Perces-Sänger und -Musikanten saßen
dabei regungslos im Hintergrunde und begleiteten die
Tanzenden durch seltsames Singen und Spielen auf alten
Instrumenten. Diese Vorführung war entschieden der
Höhepunkt, so daß die noch folgenden Reden, Musik-
vorträge und Deklamationen nicht mehr mit demselben
Interesse verfolgt wurden. Elisabeth Penny schien sich
auch besonderer Beliebtheit zu erfreuen, was man an
dem starken Beifall merken konnte, der dem offiziellen
Teile der Klassenrede folgte, die man ihr ebenfalls über-
tragen hatte.
Ein letzter Orchestervortrag und ein Schlußgebet
beendeten die hübsche Feier in der Turnhalle, wo sich
außer dem gesamten Schulkörper ein großes Publikum
eingefunden hatte: indianische Eltern und alte Freunde
aus der oft fernen Heimat, neue Freunde und Pflege-
eltern aus der Umgegend, frühere Schüler und alte
Lehrer und einzelne fremde Gäste, wie wir.
Am Abend fand noch eine andere Feier statt, aber
rein indianischer Natur, wie man mir sagte, wozu nie
Weiße geladen würden. Die neu Graduierten und die
Alumnae, die alten Schüler der Anstalt, versammelten
sich dabei, und nach feierlichem Mahle wurden Reden
gehalten, wozu im voraus Redner bestimmt waren, die
besonders über Erfahrungen nach der Schulzeit sprechen
sollten. Ich hatte gar nicht versucht, davon etwas zu
hören, bedauerte es aber später, als Elisabeth Penny mir
sagte, man würde gewiß für mich als Ausländer eine
Ausnahme gemacht haben und mich trotz meiner weißen
Haut eingeladen haben.
Am nächsten Tage fand dann auf dem schönen Sport-
platze ein öffentliches „Baseballspiel* statt, und dabei
gab es noch einmal ein schönes indianisches Bild zu
sehen. Es war ein sehr kalter Tag, so daß ich dankbar
einen Pelz über meinen Winterrock zog, als wir früh
hinausgingen, um gute Plätze zu finden und den feier-
lichen Aufzug von Spielern und ihren Schulgenossen
nicht zu versäumen. Die Knaben und Mädchen, groß
und klein, kamen in schmucken Uniformen und blauen
Kleidern; aber dieses Mal hatten sie darüber noch eine
leuchtend rote Decke geschlagen, die sie nach Art ihrer
Altvordern bei der Kälte über die Schultern lang herab-
hängend trugen. Dann ließen sie sich nieder in dichten
Reihen und blieben statuenhaft still und unbeweglich
während der ganzen Dauer des Wettkampfes auf dem-
selben Platze sitzen. Nur die lebhaften Augen unter
den dunkeln Haarschöpfen verrieten, daß sie mit der ge-
spanntesten Aufmerksamkeit das Spiel der beiden Parteien
verfolgten, das die besten Spieler von Carlisle gegen weiße
Schüler aus Philadelphia spielten.
Ich habe später auch einmal die berühmten „Fuß-
ballspieler“ von Carlisle gegen Harvards bekannte „Sieben“
spielen und gewinnen sehen und muß gestehen, daß ich
niemals ein solches Laufen, Rennen, nein Fliegen von
einem Menschen, nicht einmal einem Indianer, für
möglich gehalten hätte, wie es damals Fr. Mount Pleasant,
ein Pueblo, fertig brachte, der einer der Carlislespieler
war. Er zeigte sich an jenem Tage als echter Abkömm-
ling jener kühnen Jäger, die das Wild am liebsten im
Fluge erbeuteten. Aber für uns, für alle, die es sahen,
erschim es wie ein Wunder, das merkte man an der
atemlosen Spannung der vieltausendköpfigen Menge und
dem wilden Beifallssturm nachher, obwohl das Spiel
Carlisle gegen Harvard den Sieg brachte, was bis dahin
noch nie vorgekommen war.
Auch dieses Mal siegten die roten Spieler, und der
triumphierende Schrei der Indianer erscholl wie in alten
Zeiten der Warhoop, den übrigens in den verschiedensten
Variationen alle amerikanischen Universitäten, selbst die
Frauenhochschulen übernommen haben, und dessen frene-
tische Wildheit und Echtheit bei der Wiedergabe zumal
durch weiße Amerikanerinnen schon oft europäische Be-
sucher in Schrecken und gerechtes Erstaunen versetzt hat.
Die Fahrt der holländischen Grenzexpedition auf dem Kaiserin-Augusta-Fluß.
Wie oben (8.227) mitgeteilt, wurde dem Vordringen
sowohl der deutschen wie der niederländischen Abteilung
der Grenzkommission auf Neuguinea von der Humboldt-
bai landeinwärts etwa unter 30 20’ s. Br. ein Ziel gesetzt),
worauf sie den Versuch zu machen beschloß, auf dem
‚Kaiserin-Augusta-Fluß nach Westen das Grenzgebiet am
141.Meridian zu erreichen. An jenem südlichsten Punkte,
bei Kerom, war man auf ein Gebirge gestoßen, das für
die Wasserscheide zwischen den Küstenflüssen und den
großen Flüssen des Innern gelten konnte, und ebenso
auf einen von jenem Gebirge kommenden Fluß, der nach
Südosten zog und möglicherweise — das war wenigstens
die Ansicht der Holländer — zum Augustafluß gehörte,
und deshalb lag die Vermutung nahe, daß man unter
Benutzung des Augustaflusses bequemer ins Grenzgebiet
!) Eine Kartenskizze der Routen während dieser Land-
expedition hat mit anerkennenswerter Schnelligkeit die
„Tijdschr. Nederl. Aardrijksk. Gen.“ (1910, Karte XXII) ge-
bracht.
gelangen könnte, als auf dem höchst beschwerlichen
Landwege.
Die Fahrt ist nun im Juli d. J. durch die hollän-
dische Abteilung ausgeführt worden, und sie ist dabei
in der Tat über den Grenzmeridian hinausgelangt. Es
liegen darüber bereits Berichte in den niederländisch-
indischen Zeitungen vor, die zeigen, daß unser Wissen
vom Augustafluß über den bis dahin erreichten fernsten
Punkt hinaus erheblich erweitert worden ist.
Ausgeführt wurde die Reise durch holländische Marine-
mannschaften unter dem Befehl des Leutnants zur See
F. L. Rambonnet, des Kommandanten des holländischen
Kanonenbootes „Edi“, und zwar mit dem kleinen Dampfer
„Pionier“, den eine Dampfschaluppe und einige Prauen
mit 20 Papuas aus Manokwari begleiteten. Der „Edi“
blieb vor der Mündung des Augustaflusses liegen. Am
2. Juli begann die Stromfahrt.
Am 8. Juli, also am sechsten Tage, begannen
Schwierigkeiten. Der Fluß verteilte sich in eine Anzahl
Die Fahrt der holländischen Grenzexpedition auf dem Kaiserin-Augusta-Fluß.
377
von Armen, die sich weiter oberhalb wieder vereinigten,
und deren niedriger Wasserstand die Fahrt für den
Dampfer erschwerte. Sie wurde auch durch Baumstämme
im Flusse behindert, und schließlich geriet der Dampfer
auf Grund. Diese Stelle lag nach der Berechnung unter
141° 51’ ö. L. und 4°20’ s. Br., also an dem fernsten
bisher auf dem Flusse erreichten Punkt. Hier blieb der
„Pionier“ zurück, und die Fahrt wurde nur mit der Scha-
luppe und den Prauen fortgesetzt.
Am ersten Tage ward wenig von der Bevölkerung
wahrgenommen, am zweiten schnell an einigen Dörfern
vorbeigefahren. Die Häuser waren groß und hatten ebenso
wie jene am oberen Digul (im südlichen Holländisch-
Neuguinea) zwei Stockwerke, von denen das obere als
Wohnung, das untere als Vorratskammer diente. Die mit
Bogen und Pfeil bewaffneten Eingeborenen versteckten
sich beim Vorbeifahren der Schaluppe hinter Bäumen und
bewahrten offenbar eine abwartende Haltung. Ein eigen-
artiger Zufall wollte es dann, daß man infolge einer
riesigen Schleife des Flusses am Abend wieder vor dem-
selben Dorfe — das also auf einer Art Halbinsel lag —
sich befand. Hier wurde die Nacht verbracht. Am folgen-
den Morgen erschien eine stets sich vermehrende Menge,
die einen drohenden Kriegstanz auf der Sandbank voll-
führte, auf der biwakiert worden war. Ein paar Schreck-
schüsse aber bewirkten, daß die kampflustigen Schwarzen
das Hasenpanier ergriffen.
Anderen Tages erreichte man ein Dorf, dessen Be-
wohnerschaft zuerst ebenfalls eine abwartende bewaffnete
Haltung einnahm, am Abend aber nach einigem Schwanken
Pfeil und Bogen ablegte und ins Biwak kam, wo sich
dann ein Tauschhandel entwickelte. Die hier vorhandenen
großen Flußschleifen bewirkten, daß die Expedition nur
langsam gegen Westen vorrückte. Einige Male bot sich
eine prächtige Aussicht auf das Hochgebirge, das sich
schätzungsweise bis zu 3000 m erhob. Von ihm kam
eine Anzahl von Bächen herunter, die das Volumen des
Flusses merkbar vermehrten. Am sechsten Tage nach
dem Verlassen des „Pionier“ (14. Juli) stieß man auf
ein stark bevölkertes Dorf, wo auch alles die Waffen
ergriffen hatte. Enge aneinander, sechs bis sieben Glieder
tief, standen hier die Männer vor dem größten Hause,
um die auf dem Flusse fahrenden Fremdlinge zu beob-
achten. In den Händen hielten sie große Pfeilbündel,
schienen aber nicht angriffslustig zu sein. Indessen
waren doch Frauen und Kinder bemüht, ihre wenigen
Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen. Sobald die
Papuas aber bemerkten, daß die Fremden rasch vorüber-
fuhren, liefen sie ihnen nach und bestürmten sie mit
Fragen, die diese weder verstehen noch beantworten
konnten. Nicht überall jedoch nahm die Bevölkerung
eine solche Haltung ein. Höher aufwärts kam es vor,
daß sie beim Passieren ihrer Dörfer sich sofort feindselig
zeigte und sich anschickte, die Reisenden mit Pfeilen
zu beschießen. Dann ward gewöhnlich ein Schuß auf
einen Baum abgegeben, der sogleich die gewünschte Wir-
kung tat. In einem anderen Falle wiederum war die
Bevölkerung ausgesprochen freundlich gestimmt und
zeigte sich über die Ankunft der Fremdlinge sehr erfreut.
Schnellen behinderten die Reise nicht; der Fluß schien
eine geringere Kraft zu haben ‚als der Mamberamo im
Nordwesten von Holländisch-Neuguinea, wo der „Pionier“
vorher der Herderscheeschen Expedition gedient hatte.
Nur hatte man viel Mühe und Aufenthalt mit den in der
Fahrtrinne liegenden Baumstämmen. Höher flußaufwärts
wurde die Strömung merklich stärker, auch Stromschnellen
traten auf. Das Fahrwasser blieb indessen 6 bis 7 Fuß
tief. Am achten Tage nach dem Verlassen des „Pionier“
(16. Juli) war es schon sehr schwer, die Schaluppe noch
Globus XCVIII. Nr. 24. a
ein Stück weiter zu bekommen, und am folgenden Morgen
ergab die Untersuchung, daß das Wasser für dieses Fahr-
zeug zu flach wurde. Es stellte sich später heraus, daß
man am Tage vorher den Grenzmeridian überschritten
hatte. Da man damals aber dessen noch nicht sicher
war, beschloß Rambonnet, den Fluß noch mit den Prauen
ein paar Tage weiter zu verfolgen, und ließ die Schaluppe
unter Bewachung zurück. In den Prauen befanden sich
außer dem Führer der Seekadett Willemstijn, noch zwei
Europäer und 13 Papuas. Der Fluß hatte hier, auf
holländischem Gebiet, eine zwischen 50 und 80 m schwan-
kende Breite. Am zweiten Tage der Praufahrt wurden
wieder Flußschleifen angetroffen; auch sah man einige
Wohnhäuser, die aber leer zu sein schienen. Die Ein-
geborenen beschossen aus ihren Verstecken die Prauen
mit Pfeilen, während die Trommeln geschlagen wurden.
Während des Aufenthalts auf einer Sandbank entwickelte
sich sogar ein kleines Gefecht, bei dem die Weißen eine
Salve abgeben mußten.
Tags darauf (19. Juli) wurde die Rückreise angetreten.
Als man an den am vorigen Tage anscheinend unbewohnt
angetroffenen Hütten wieder vorbeikam, waren sie besetzt,
und es näherte sich nun den Reisenden im langsamen
Leichenträgerschritt eine Gruppe mit Bogen und Pfeil
bewaffneter Eingeborener und legte die Waffen vor sich
nieder. Keine Spur von Feindseligkeit war mehr zu be-
merken; auch Frauen und Kinder kamen zum Vorschein.
Es wurde mit den Feinden von gestern Tauschhandel
getrieben und mit ihnen auf dem besten Fuße verkehrt.
Ein Schwarzer wies auf die Gewehre und gab durch eine
Geste seinen Abscheu davor zu erkennen. Die Talfahrt,
auch mit der Dampfschaluppe, verlief glücklich, und die
Bevölkerung begrüßte die Weißen nun überall freundlich.
Der „Pionier“ und später der „Edi“ wurden sicher er-
reicht, und die Dampfer langten am 5. August wieder
in der Humboldtbai an.
Durch diese Fahrt war bewiesen worden, daß der
Augustafluß sich zum Erreichen der Grenze gut eignet.
Allerdings hat es sich herausgestellt, daß der bei Kerom
gefundene Fluß nicht zum Augustafluß gehört. Wie
nämlich der Leutnant zur See Luymes von Ende August
berichtet, hat er jenseits Kerom eine gleichmäßig bis auf
200m sich senkende Hochfläche erreicht und durch die
Verfolgung des Keromflusses auf einer Strecke von 96 km
ermittelt, daß dieser zum Schluß eine westliche Richtung
anzunehmen schien; er wird also vielleicht zum Mam-
beramosystem gehören, was auch schon die deutschen
Kommissionsmitglieder vermutet hatten (vgl. Bd. 98,
S. 227 die Notiz über die Grenzexpedition).
Der Schnittpunkt des Augustaflusses mit dem Grenz-
meridian ist vermarkt und kann als Ausgangspunkt für
künftige Landreisen dienen. Über die geographische
Breite dieses Punktes ist bisher nichts Genaues bekannt
geworden, nur die Angabe, er läge 100 km von der eng-
lischen Grenze; er wird also etwas südlich vom 4. Breiten-
grad zu suchen sein. Die gemischte Kommission wollte
Mitte August von neuem die Bergfahrt auf dem Augusta-
fluß antreten, aber Mitte November zurückkehren, da
die Regenzeit dann doch weitere Arbeiten unmöglich
machen würde („Deutsches Kolonialbl.“ 1910, S. 836).
Zunächst sollte von jenem Schnittpunkte aus die Grenze
südwärts bis zum 5. Breitengrad, also bis zur englischen
Grenze, bereist werden. Die Eingeborenen am obersten
Lauf des Augustaflusses hatten noch keinen Weißen ge-
sehen und müssen darum noch ganz ursprüngliche Zu-
stände zeigen, deren Studium von großem Interesse wäre.
Da sie sich freundlich zeigten, müßte wohl dieses Studium
möglich sein; aber es ist sehr fraglich, ob die Grenz-
expedition sich ihm widmen wird und kann.
49
378
Michaelsen: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes.
Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes.
Eine Erwiderung von Dr. H. Michaelsen.
Meine Studie über die Kalkpfannen des östlichen
Damaralandes!) hat durch Herrn Prof. Dr. S. Passarge,
Professor der Geographie am Hamburgischen Kolonial-
institut, eine so eingehende kritische Würdigung?) er-
fahren, daß ich mir nicht versagen darf, dazu Stellung
zu nehmen.
Vorher seien mir einige orientierende Bemerkungen
gestattet.
Herr Passarge kennt das Damaraland nicht.
Er hat es nur an seinen Grenzen flüchtig, z. B. bei Go-
babis und Rietfontein, berührt. Dennoch schreibt er in
seinem groß angelegten Kalahariwerke3), daß die Kalk-
pfannen des Damaralandes anders sind, als die des
Chansefeldes, die er besonders studiert hat, da sie einem
Typus angehören, der dort „nur einmal angetroffen
wurde“. Herr Passarge stützt sich hierbei nicht auf
eigene Beobachtungen, sondern auf Mitteilungen
von Ärzten und Offizieren. Trotzdem baut er auf
diesen Grundlagen ein ganzes Gebäude von Hypothesen
auf („Kalahari“, S. 371). Männer aber, die nicht direkt
zum Fache gehören, pflegt Herr Passarge als „Laien“
Auflösung des Kalks
| in Trümmer
Sands
Kalk
Skizze zur Elementarregel geologischen Beobachtens.
zu bezeichnen. Im Schlußworte zu seiner kritischen
Studie sagt er über die Mitarbeit solcher „Laien“ in
der Geomorphologie: „Geradezu verhängnisvoll muß
daher eine Richtung werden, der bereits die Beobach-
tungen eines Laien ohne geologische und petrogra-
phische Kenntnisse über so schwierige und wenig be-
kannte Gebilde, wie es die Kalkpfannen zweifellos sind,
als eine genügende Grundlage für eine in weitgehenden
Hypothesen schwelgende geomorphologische Arbeit er-
scheinen.“ Diese Bemerkung richtet Herr Passarge
offenbar an meine Lehrer, die mich ermutigt haben,
meine Feldzugsbeobachtungen zu publizieren. Er macht
ihnen einen Fehler zum Vorwurf, den er selbst begangen
hat. Das ist um so peinlicher, da Herr Passarge falsch
unterrichtet ist, wenn man ihm mitteilte, daß die Kalk-
pfannen des Damaralandes keine „Krater“ haben,
wie er sie allgemein im Chansefelde angetroffen hat.
Ich habe in meiner Arbeit zeigen können, daß auch hier
solche „Krater“ vorhanden sind. Damit aber werden
alle Erörterungen, die Herr Passarge an ihr vermeint-
1!) Dr. H. Michaelsen, Die Kalkpfannen des östlichen
Damaralandes. Mitteilungen aus den deutschen Schutz-
gebieten, Bd. XXIII (1910), Heft 3, 8. 111—134.
*) Prof. Dr. 8. Passarge, Die Kalkpfannen des östlichen
Damaralandes. Eine kritische Studie. Globus, Bd. XCVIII
(1910), Heft 14, 8. 216—222.
*) Prof. Dr. 8. Passarge, Die Kalahari. Versuch einer
physisch-geographischen Darstellung der Sandfelder des süd-
afrikanischen Beckens. Berlin 1904,
Hamburg.
liches Fehlen knüpft, hinfällig. Zugleich habe ich ge-
zeigt, daß Herrn Passarges Erklärung von dem zoogenen
Ursprung der Pfannenkrater für die Kalkpfannen des
Damaralandes nicht zutrifft. Das muß man wissen, um
die kritische Studie von Herrn Passarge „richtig ein-
schätzen zu können“, denn hieraus mag sich der sonst
kaum übliche Ton, in dem sie gehalten ist, erklären.
Herr Passarge macht mir zunächst den Vorwurf, daß
ich meine Anschauungen über die Kalkpfannen „erst
nachträglich unter dem Einflusse“ meiner „späteren geo-
graphischen Studien“ gewonnen habe. Ich soll mich
früher einmal anders über die Entstehung der Kalk-
pfannen geäußert haben, als heute: Wirbelstürme hätten
die Pfannen ausgekolkt und die „Kalksteinblöcke
herausgeschleudert“. Herr Passarge spielt hier
offenbar auf einen nicht öffentlichen Vortrag
an, den ich 1906, als ich meine geomorphologischen
Studien begann, im geographischen Colloquium des
Herrn Prof. E. v. Drygalski in München gehalten habe.
Ich muß auf das nachdrücklichste betonen, daß meine
an Ort und Stelle gewonnenen Vorstellungen nie-
mals so „gewalttätiger Natur“ (vgl.
Globus, S. 212) gewesen sind, wie Herr
Passarge glauben machen will. Herr
Passarge, der nicht bei dem Vortrage
zugegen war, ist auch hier offenbar
wieder nicht ganz richtig orientiert,
so daß die Voraussetzungen, mit denen
er an die Besprechung meiner Arbeit
gegangen ist, hinfällig sind. Die
Fundamente meiner Anschauungen
über die Entstehung der Kalkpfannen
sind in Afrika gelegt worden. Ich
habe bereits an Ort und Stelle erkannt,
daß es sich um lokale Kalkablage-
rungen handelt, durch welche das ur-
sprüngliche Wasserbecken nicht ganz aufgefüllt worden
ist. Spätere Studien haben diese Vorstellungen selbst-
verständlich erweitert und begründet. Es gereicht
mir zur Genugtuung, gleiches auch bei Herrn Passarge
feststellen zu können. Auch er hat seine Anschau-
ungen seit seiner Rückkehr aus Afrika, ja selbst seit
Herausgabe seines Kalahariwerkes weiter ausgebaut.
Er gibt in seiner kritischen Studie eine Erklärung der
Trümmerzone, die er früher nicht hatte, und ist zur Er-
klärung der Röhrenstruktur des Kalktuffes geneigt, eine
„starke selbstreinigende Kraft des in Umlagerung be-
griffenen Kalkes“ anzunehmen, die er nach seiner eigenen
Aussage früher nicht gekannt hat.
Nun zu den Einwürfen, die Herr Passarge mir gegen-
über geltend macht. Ich werde sie, soweit sie sachlich
sind, in der Reihenfolge besprechen, deren er sich be-
dient hat.
I. Die Unsicherheit in der Angabe der Größen-
verhältnisse.
Herr Passarge findet Unstimmigkeiten zwischen
meinen Zeichnungen und meinen Angaben über die
Größenverhältnisse der Kalkpfannen, die ich absichtlich
in keinem einzigen Falle „bestimmt“ gemacht habe, wie
er angibt.
In einer Tabelle stellt er die Angaben meines
Textes den Werten gegenüber, die er mit dem Milli-
metermaß aus meinen schematischen Blockdiagram-
Michaelsen: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes.
379
men) herleitet. Diese Differenzen bestehen tatsächlich; sie
erklären sich in sehr einfacher Weise dadurch, daß ich auf
meinen Öriginalzeichnungen bereits den Maßstab an-
gegeben hatte, den das Klischee nach der Reduktion haben
sollte. Der Photograph hat meine Angaben geändert,
und ich habe dies leider bei der Korrektur übersehen.
Auch ein anderer offensichtlicher Druckfehler ist von
mir übersehen. Nachdem ich bei der Beschreibung des
Pfanneninneren von Okateitei seinen Durchmesser zu
„etwa 200 m“ angebe, sage ich einige Zeilen weiter:
„Zwischen dem Schlickkuchen und dem Fuße des senk-
rechten Kalkabfalles trat ein etwa 100 m breiter Streifen
festen Gesteins zutage.“ Es muß natürlich heißen: „ein
etwa 10m breiter Streifen“. Ich bedauere lebhaft, daß
ich diesen Druckfehler, der einem aufmerksamen Leser
wohl leicht als solcher auffallen dürfte, bei der eiligen
Korrektur, welche damals nötig war, nicht bemerkt habe.
Eine kleine Bemerkung möchte ich mir noch ge-
statten. Herr Passarge stellt meine Blockdiagramme
mit Nachdruck als „topographische Grundlagen“ hin.
Das ist ein Irrtum. Sie sind weiter nichts als ein
Hilfsmittel, dem Leser die tatsächlichen Verhältnisse
möglichst augenfällig klar zu machen und seine Vor-
stellungen wirksam zu unterstützen. Nur zu diesem
Zwecke und nur in diesem Sinne habe ich meiner Arbeit
einige Blockdiagramme beigegeben, welche ich nach
einigen flüchtigen Skizzen in ganz schematischer Weise
gezeichnet habe. (Michaelsen, Kalkpfannen, Fig. 1.)
I. Die Hypothese von dem Auskeilen des Kalkes.
In diesem Abschnitt erörtert Herr Passarge unsere
verschiedenen Auffassungen von dem Verhältnis des
Kalkes der Pfannen zu dem umgebenden Sande. Nach
meinen Beobachtungen keilt sich der Kalk am Saume
der Pfannen aus. Herr Passarge hat dagegen heute
die Überzeugung, daß der Kalk sich im Chansefelde
nicht auskeilt, sondern unter dem Sande fort-
streicht. Herr Passarge überträgt nun diese Auf-
fassung ohne weiteres auf die Kalkpfannen des Damara-
landes, die er nie gesehen hat.
Meine Auffassung stützt sich im wesentlichen darauf,
daß der Kalk sich am Rande der Pfannen in Trümmer
auflöst. Eine Elementarregel der Aufnahmegeologie sagt
nämlich: Wenn von zwei flach übereinander ge-
schichteten Ablagerungen sich die eine an der
Grenze gegen die andere in Bruchstücke auflöst,
so ist diese als das Hangende anzusehen (vgl. die
Figur). Daher war ich nie im Zweifel, daß die Kalk-
ablagerungen das Hangende des Sandes bilden und sich
auskeilen. Ich darf hier vielleicht daran erinnern, daß
es auch im Damaralande Fälle gibt, wo der Sand tat-
sächlich über den Kalk hinweglappt. Es handelt sich
dabei um Verwehungen des Sandes, die ich in meiner
Arbeit beschrieben habe (Michaelsen, Kalkpfannen, S.119,
120). Diese Angaben dürften klar genug zeigen, daß
ich von Fall zu Fall zu entscheiden gesucht habe, was
das Hangende ist, ob Sand oder Kalk.
Herr Passarge glaubt die eben angeführte Elementar-
regel des geologischen Beobachtens nicht beachten zu
dürfen. Er sucht die Trümmerzone am Saume aller
Kalkpfannen daher mit der Annahme zu erklären, daß
die nach Wasser suchenden Wurzeln der hohen Bäume
in der Umgebung der Pfannen den Kalk unter der dünnen
Sandschicht zerbrechen.
Diese Erklärung erscheint mir um so weniger plau-
sibel, als Herr Passarge uns den Beweis für seine Auf-
+) Herr Passarge nennt sie „Reliefquadranten“, obgleich
das Davissche Wort „Blockdiagramm“ sich bereits in unserer
Wissenschaft eingebürgert hat.
fassung schuldig bleibt. Ich kann nicht glauben, daß
die hohen Bäume gerade da Wurzeln fassen sollen, wo
die Sandschichten nach Herrn Passarge ihre geringste
Mächtigkeit haben. Ebensowenig vermag ich eine Vor-
stellung darüber zu gewinnen, warum die hohen Bäume
nicht auch an anderen Stellen die harte Sinterkalkschicht
durchbrechen, wo ihre Wurzeln dank der mächtigeren
Sandauflagerung bereits kräftiger entwickelt sein könnten,
zumal Herr Passarge in seiner „Kalahari“ (S. 287) selbst
sagt: „Es ist nun sehr wohl möglich, daß ein Teil des
»harten Sinterkalks« eine solche Oberflächenbildung ist,
unter der vielleicht noch Tuff liegt.“
Viel wahrscheinlicher kommt es mir aber vor, daß
die hohen Bäume in dem tiefen Sande der Pfannen-
umgebung, wie ich ihn annehme, gedeihen und daß sie
deshalb in möglichster Nähe der Pfanne und oft auch
innerhalb ihrer Trümmerzone Wurzel fassen, weil sie
hier dem Grundwasser am nächsten sind. Dabei ist es
ganz selbstverständlich, daß der wachsende Baum größere
oder kleinere Kalkplatten „aufrichtet“, wie Herr Passarge
es im Chansefeld beobachtet hat.
Herr’ Passarge erwartet auch bestimmte Erosions-
erscheinungen am Pfannenrand durch etwaige Riviere.
Diese Auffassung vermag ich durchaus nicht zu teilen.
Das Rivier, das in eine Pfanne mündet, erreicht in ihr
seine Erosionsbasis, wo bekanntlich keine Erosion mehr
stattfinden kann. Damit entfällt die Möglichkeit, aus
Erosionserscheinungen auf die Lagerungsverhältnisse von
Kalk und Sand zu schließen. In der Tat habe ich auch
niemals Einschlägiges beobachten können.
Herrn Passarges Ausführungen entkräften also
meine Auffassung von der Lagerung des Kalkes auf
dem Sande nicht, und gänzlich haltlos sind seine Schluß-
worte zu diesem Punkte (Globus, S. 219): „Die Hypothese
von dem Auskeilen des Kalkes ist also gänzlich un-
begründet und ohne sie die Entstehung der Trümmer-
zone viel einfacher zu erklären.“
II. Der Gegensatz zwischen der Beschreibung
und der Zeichnung derKalkpfanne von Okateitei.
Herr Passarge sagt: „Die stratigraphische Beschreibung
der Kalkpfanne Okateitei steht in einem Punkte von ent-
scheidender Wichtigkeit im schroffen Gegensatz zu der
Zeichnung und den Hypothesen.“ Hier muß ich Herrn
Passarge beipflichten. Meine Bemerkung auf Seite 116,
daß die schneeweiße harte Kalkkruste des Pfannen-
innern ebenfalls unter die randlichen Ablagerungen
untertaucht, steht tatsächlich in vollem Gegensatz nicht
nur zu meiner Zeichnung und meiner Hypothese, son-
dern auch — und das vergißt Herr Passarge in
seiner kritischen Studie zu sagen — zu meinen
Beobachtungen und den Beschreibungen, die ich von
anderen Pfannen gegeben habe. Hier liegt ein Lapsus vor,
der bei der immer wieder kürzenden Umarbeitung meiner
Studie entstanden sein muß. Es dürfte aus dem ganzen
Zusammenhang klar hervorgehen, daß es an der betreffen-
den Stelle heißen muß, daß die schneeweiße Kalkkruste
keinenfalls unter die randlichen Ablagerungen unter-
taucht. In der ursprünglichen Niederschrift, welche der
Philosophischen Fakultät der Universität Berlin als
Dissertation vorgelegen hat, findet sich dieser sinn-
entstellende Lapsus selbstverständlich nicht. In meinen
Originalaufzeichnungen lautet diese Stelle wie folgt:
„Pfanneninneres zum Teil ausgefüllt mit Schlickkuchen.
Am Fuße des fast senkrechten Abfalles kommt festes
Gestein, etwa 10 m, zutage. Im Norden dunkel ge-
färbt, die randlichen Ablagerungen der Pfanne lagern
darauf. Sonst überall glänzend weiß gefärbt. Aus
Brunnenloch ist Profil ersichtlich. Danach geht weicher
49*
380
Michaelsen: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes.
Tuff in harte Kruste über. Oberflächenkruste Zu
unterst liegt der harte dunkle Kalksandstein, der im
Norden zutage tritt; scheint also. überall unter dem
Tuff zu liegen. Randliche Tuffablagerung unterscheidet
sich vom zentralen nur durch Auftreten zahlreicher senk-
rechter Röhren, die offenbar ein senkrechtes Abbrechen
begünstigen. Am Rand ebenfalls allmähliches Übergehen
des weichen Tuffs in harte Oberflächenkruste von 40 bis
50cm Dicke. In den Röhren manchmal Schilfreste, die
ein Bild von der Entstehung des Ganzen geben“ usw.
Es geht daraus klar hervor, daß ich die weiße harte
Kalkkruste bereits in Afrika als Oberflächenbildung auf-
gefaßt habe. Von einem Untertauchen derselben ist
nirgends die Rede. Es handelt sich also, wie ich noch-
mals betone, und wie es auch aus dem ganzen Zusammen-
hang hervorgeht, um einen Lapsus.
IV. Die Ablagerungen der Kalkpfannen.
Bevor ich mich den Einwürfen zuwende, welche Herr
Passarge zu diesem Punkte macht, möchte ich zunächst
auf eine andere mehr formale Frage zu sprechen kommen.
Herr Passarge sagt: „Herr Michaelsen hat nun zwar
nachträglich aus der »Kalahari« Bezeichnungen, wie
Pfannensandstein, Pfannenkalktuff, Sinterkalk und Sinter-
struktur entlehnt“. Von einem „Entlehnen“ — der Aus-
druck hat eine nicht mißzuverstehende Spitze — kann
aber durchaus nicht die Rede sein.
Ich darf vielleicht bemerken, daß ich die Bezeichnung
„Pfannenkalktuff*“ in meiner Arbeit nur ein einziges
Mal (S. 122) gebraucht habe. Aber ich brauchte mich,
glaube ich, gar nicht zu scheuen, den typischen Kalktuff
meiner Pfannen auch „Pfannenkalktuff“ zu nennen,
selbst, wenn es nicht dasselbe sein sollte, was Herr Pas-
sarge im Chansefeld „Pfannenkalktuff“ genannt hat, und
obgleich ich keine Proben aus seiner Sammlung) ge-
sehen habe, worauf Herr Passarge aufmerksam
macht.
Den Ausdruck „Pfannensandstein* aber habe ich mit
ausdrücklicher Quellenangabe übernommen, weil
es „nicht unwahrscheinlich“ ist, daß die von mir so be-
nannte Ablagerung mit der Bildung identisch ist, welche
Herr Passarge aus dem Chansefelde beschrieben hat
(s. Michaelsen, Kalkpfannen, S. 124).
Ich halte es wirklich für besser, gute und brauch-
bare Bezeichnungen älterer Forscher mit ausdrücklicher
Quellenangabe zu übernehmen, als den bereits fast un-
durchdringlichen Wust der geographisch-geologischen
Nomenklatur mit neuen Ausdrücken zu bereichern. Dazu
ist man aber in dem Fall berechtigt, wenn die bisher ge-
bräuchlichen Bezeichnungen schlecht oder falsch sind.
Dies gilt von den von Herrn Passarge in seinem Kalahari-
werke geprägten Wörtern „Pfannenkrater“, „Geröllzone“,
„Pfannenboden“ usw. Sie erfüllen nicht die Forderungen,
die man in der Wissenschaft an die Einsinnigkeit der
Begriffe stellen muß. Daher hielt ich mich für ver-
pflichtet, diese Bezeichnungen richt nur nicht zu „ent-
lehnen“, sondern durch bessere zu ersetzen.
„Pfannenkrater“ z. B. ist eine Verbindung zweier
— ich möchte fast sagen — paradoxer Begriffe. Das Wort
„Krater“ löst stets beim Geologen die Vorstellung von
irgend einem Eruptionsvorgang aus, so daß man sich
über die Eindeutigkeit des Begriffes freuen und ihn nicht
durch andere Vorstellungen verschleiern sollte. Ich habe
daher an Stelle von „Pfannenkrater“ den Ausdruck
*) Im übrigen ersehe ich aus der „Kalahari“, daß alle
Handstücke aus dem Ühansefelde verloren ge-
gangen sind („Kalahari‘, 8.281, 282). Es wäre mir also
kaum möglich gewesen, Proben aus Herrn Passarges Samm-
lung zu sehen, die für mich in Betracht kamen.
„Pfanneninneres“ gewählt und glaube damit keinerlei
falsche Vorstellungen erweckt zu haben.
Ebenso habe ich den von Herrn Passarge geprägten
Ausdruck „Geröllzone“ geprüft und verworfen. Ge-
röll ist stets etwas, was gerollt ist. Die Kalk-
brocken der Trümmerzone sind aber nicht gerollt; sie
sind stets eckig. Es sind daher typische Trümmer.
So scheint es auch im Chansefeld zu sein; wenigstens
beschreibt Herr Passarge hier die Dinge nicht anders, als
ich sie im Damaraland gesehen habe. Es erfüllt mich
daher mit Genugtuung, daß Herr Passarge die sinn-
störende Bezeichnung „Geröllzone“ in seiner kritischen
Studie vermieden hat. Ich habe diesen Ausdruck durch
„Trümmerzone“ ersetzt.
Endlich habe ich den Ausdruck „Pfannenboden*
durch „Pfannenuntergrund“ ersetzt. Herr Passarge be-
zeichnet mit „Pfannenboden“ in der Regel den Boden der
Hohlform, in die sich die Kalkablagerungen der Pfanne
niedergeschlagen haben. Wenn wir aber die heutige
Form „Kalkpfanne“ nennen, wie es Herr Passarge auch
tut, so empfinde ich dies als logischen Fehler. Der
„Pfannenboden“ von Herrn Passarge ist das, was ich
„Pfannenuntergrund“ nenne, und mein „Pfannenboden“
ist das, was der Name sagt: der Boden der heutigen
Pfanne.
Was aber schließlich die Ausdrücke „Sinterkalk* und
„Sinterstruktur“ anbelangt, die ich gleichfalls von Herrn
Passarge „entlehnt“ haben soll, so brauche ich nur dar-
auf aufmerksam zu machen, daß dies alte und fest-
stehende Begriffe sind. Man findet sie in jedem Lehr-
buch der Geologie.
Der eigentliche Differenzpunkt dieses Abschnittes
zwischen Herrn Passarge und mir liegt aber in dem Vor-
wurf, daß ich das Wesen der Röhrenstruktur des Kalk-
tuffs nicht richtig erkannt haben soll. Herr Passarge be-
anstandet zunächst, daß ich von einem Parallelismus der
Röhren spreche. Da er aber in seinem Kalahariwerke
häufig genug sagt, daß die Röhren „senkrecht“ und „ver-
tikal“, also auch parallel zueinander verlaufen, so darf
ich wohl sagen, daß ich ebensowenig mathematisch
parallel gemeint habe, wie Herr Passarge mathematisch
„senkrecht“ und „vertikal“.
Dann legt Herr Passarge Gewicht darauf, daß die
Röhren .primär von Sand erfüllt gewesen seien,
während sie nach meiner Anschauung von Schilfstengeln
herrühren. Ich kann es aus dem Damaralande nicht
bestätigen, daß die Sanderfüllung für die Röhrenbildung
im Kalktuff maßgebend ist. Vielmehr habe ich mehrfach
gesehen, daß Schilfreste in den Röhren erhalten sind.
Daher glaube ich, daß die Entstehung der Röhrenstruktur
sich viel ungezwungener durch die Annahme erklären
läßt, daß der Kalk sich um die Schilfstengel und Wurzeln
abgelagert hat, als durch die „starke selbstreinigende
Kraft des in Umlagerung begriffenen Kalkes“, von der
Passarge jetzt redet, ohne diese eigenartige Theorie durch
Tatsachen zu belegen. Meine Beobachtungen dagegen
werden von dem Regierungsgeologen Dr. P. Hermann £)
bestätigt. Er sagt mehrfach bei der Beschreibung von
Kalkpfannen des Damaralandes: „Harter Kalktuff, basal
mitSchilfwurzelresten“. Ich glaube daher an meiner „Schilf-
theorie“, wie Herr Passarge sagt, festhalten zu müssen.
V. Die Hypothese von der primären Pfannenform.
In diesem Abschnitte erörtert Herr Passarge den
springenden Punkt. Während ich auf Grund meiner Unter-
°) Dr. P. Hermann, Beiträge zur Geologie von Deutsch-
Südwestafrika. I. Die geologische Beschaffenheit des mitt-
leren und nördlichen Teiles der deutschen Kalahari. Zeit-
schrift für praktische Geologie, Bd. XIII (1909), Heft 9, S. 386.
Michaelsen:
Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes. 381
suchungen im Damaralande die Auffassung vertrete, daß
das Pfanneninnere eine primäre Hohlform darstellt, welche
durch spätere Verwitterungsvorgänge modifiziert worden
ist, hat Herr Passarge sich in Chansefelde die Anschauung
gebildet, daß das Pfanneninnere (Krater) eine sekundäre
Hohlform ist, welche durch zoogene Erosion, nämlich
durch Austreten und Auswühlen von Tieren, aus einer
zusammenhängenden, geschlossenen Kalkablagerung her-
ausgearbeitet sei.
Herr Passarge wendet sich gegen meine Auffassung,
indem er ausführt, daß die Bildung des Kalkschlammes
im offenen Wasser stets energischer vor sich geht als am
Rande der Seen (Globus, S.220, 221). Es bestehe die
Tendenz, die flachen Teiche, dank den Kalk abscheiden-
den Wasserpflanzen, welche im offenen Wasser in dichter
Menge auftreten, schnell von innen heraus bis zum Schilf-
rand aufzufüllen. Allerdings schränkt er diese Bemer-
kung durch seine Fußnote wesentlich ein, wenn er dort
sagt, daß „das Maximum der Sedimentbildung zwischen
dem Schilfrande und 10 bis 20 m Tiefe“ liegt.
Angesichts dieser Bemerkung muß ich mich fragen,
ob Herr Passarge die dem Geologen wohlbekannten Kalk-
tuffseen kennt, welche namentlich in den Karstländern
weit verbreitet sind. Hier gibt es eine ganze Reihe von
Seen, welche aus Flüssen dadurch hervorgegangen sind,
daß dank den zahlreichen Aufragungen im Flußbett
wahre Riffe von Kalktuff quer über die Flußbetten
wuchsen und sie aufstauten. Solcher Art ist der See
von Jajce und der Plittwitzer See in Hochkroatien; da-
hin gehören auch die Seen an der Una in Bosnien und
die Seen an der Kerka in Dalmatien. In allen diesen
Seen ist die Kalktuffbildung am Rande unter dem Einfluß
der Vegetation viel stärker als in der Mitte, und daher
kommt es überall zur Entstehung von „Sinterschüsseln*“.
Krebs und Lex?) sagen, daß der Sinter ganz von
Pflanzenresten durchzogen ist.. Hier liegen meines Er-
achtens Gegenstücke, mit welchen wir die Kalkablagerung
der Pfannen in Südafrika besser vergleichen können, als
beispielsweise mit den Seen von Lychen, wie Herr Pas-
sarge es getan hat. Wie die Ablagerung des Kalkes manch-
mal ganz lokal erfolgen kann, habe ich durch ein Beispiel
aus Nordamerika belegt. Hier beschreibt Russell, daß
in Seen mit kalkreichem Wasser die Kalkabscheidung
gern um eine beliebige Aufragung, einen „nucleus“, statt-
findet, so daß inselartige Aufragungen entstehen. Mit Hin-
weis auf diese Hypothese Russells habe ich eine kleine
Kalkerhebung am Boden der Pfanne von Owingi erklärt
(Michaelsen, Kalkpfannen, 8.131). Dies Zitat hat Herrn
Passarge zu der Äußerung veranlaßt, daß ich diese Er-
scheinung mit einer „Springquelle mit Kalktuffkegel à la
Lahontansee“ deute. Davon ist mit keinem Worte die
Rede. Offenbar kennt Herr Passarge von den beiden Er-
klärungsmöglichkeiten (vgl. Russell, Lake Lahontan.
Monogr. U.S. Geol. Surv., XI, S. 222), die Russell für der-
artige Erscheinungen gegeben hat, nur die eine, während
ich ausdrücklich die andere zitiere. Herr Passarge
erklärt bekanntlich diese inselartigen Aufragungen des
Pfannenbodens wie folgt ( „Kalahari“, S. 313): „Indem nun
die Füße der Tiere bekanntlich lokal verschieden auf den
Kalktuff einwirken, wird derselbe an einigen Stellen zer-
stört, an andern nicht. So kommt es denn, daß am Rande
der Pfanne vereinzelte Tuffinseln stehen geblieben sind.“
Ich überlasse dem Leser die Entscheidung darüber, welche
von diesen beiden Erklärungen die natürlichere sei.
7) Krebs und Lex, Reisebericht über die Exkursion
der Mitglieder des geographischen Instituts nach Bosnien,
der Herzegowina und Dalmatien. XXV. Bericht des Ver-
eins der Geographen an der Universität Wien (Wien 1899),
8. 88.
Um seine Theorie von der zusammenhängenden, ge-
schlossenen Kalktuffmasse, welche die Kalkpfannen aus-
gefüllt haben soll, noch mehr zu stützen, ‘sagt Herr
Passarge, daß er „so und so oft Gelegenheit gehabt hat,
Kalkpfannen zu beobachten, in denen der Röhrenkalktuff
noch voll und ganz die Becken ausfüllt*. Dann sagt er
weiter: „Wenn man gesehen hat, wie sich zwischen diesen
Pfannen und solchen, die nur noch minimale Reste von
Kalktuff enthalten, alle Übergänge finden, wenn man
obendrein in dem feuchteren Norden Sandpfannen
mit Kalktuffboden findet, die man aus triftigen
Gründen als die Urform der Kalkpfannen an-
sprechen kann, dann ist doch wohl die Deutung am
natürlichsten, daß der Kalktuff einst die Pfannen aus-
gefüllt habe.“
Das ist kein Beweis, denn alle diese Erscheinungen
lassen sich mit meiner Theorie mindestens ebensogut
erklären. Ich kann mir sehr gut flache Teiche vor-
stellen, die sowohl ganz als auch zum größten Teil mit
Schilf bewachsen sind. Dabei ist es selbstverständlich,
daß in den einen „der Röhrenkalktuff noch voll und
ganz die Becken ausfüllt“ und daß wir im übrigen
„zwischen diesen Pfannen und solchen, die nur noch
minimale Reste von Kalktuff enthalten, alle Übergänge
finden“. Dagegen kommt es mir viel unwahrscheinlicher
vor, daß die Elefanten usw., die nach Herrn Passarge
die „Krater“ herausgearbeitet ‘haben sollen („Kalahari“,
S.309 ff.), einige wenige Kalkpfannen verschont haben,
während alle anderen Pfannen rings umher ihnen und
ihrer Wühlarbeit usw. ihre heutige Gestalt verdanken sollen.
Die eben erwähnte Stelle, daß ich zur Erklärung der
Kalktuffinseln am Pfannenboden eine „Springquelle mit
Kalktuffkegel a la Lahontansee* herangezogen habe, ist
nicht die einzige sinnstörende, falsche Wiedergabe des
Inhalts meiner Arbeit, die mir in Herrn Passarges „kri-
tischer Studie“ aufgefallen ist. Es sei hier nur noch ein
Fall berichtigt, da dieser eine falsche Ansicht über meine
Auffassung verbreitet. Herr Passarge behauptet näm-
lich, daß ich „wiederholt“ versichere, die Kalkpfannen
des Chansefeldes seien älter als die des Damaralandes.
Das ist gar nicht der Fall. Ein derartiges Urteil habe
ich mir damals gar nicht angemaßt, da ich die Kalk-
pfannen des Chansefeldes gar nicht gesehen habe. Herrn
Passarge ist es nämlich entgangen, daß ich ihn in dem
betreffenden Abschnitte zitiere (Michaelsen, Kalkpfannen,
S.127). Daher kann von einer Versicherung meinerseits
gar keine Rede sein.
VI. Die „Rivier- und Omurambaperiode*.
Die trockenen Sandbetten Südafrikas werden all-
gemein „Riviere“ genannt. Diese Bezeichnung ist zu
einem Begriff geworden, der als solcher eindeutig in der
geographischen Literatur gebraucht wird. Ich habe im
Damaralande aber noch eine andere Art von Flußbetten
beobachtet, die mit den „Rivieren“ nichts gemein haben
und die von den Einheimischen „Omuramba“ genannt
werden. Es sind zwei ganz verschiedene charak-
teristische Formen, die ich in meiner Arbeit be-
schrieben und stets scharf auseinandergehalten habe.
Ich habe daher vorgeschlagen, die letzteren, dem ein-
gebürgerten Sprachgebrauch folgend, „Omuramba“ zu
nennen. Herr Passarge sagt dagegen (Globus, S. 221):
„Wenn auch die Ansiedler einen Unterschied zwischen
Rivier und Omuramba machen, so ist er im wissenschaft-
lichen Sinne unhaltbar, weil im Verlauf eines Flußbettes
der Charakter desselben häufig wechselt. Bald ist er
Lehmboden — dann ist es ein Omuramba, bald Sand-
boden — dann ist es ein Rivier.“ Dieses letztere kann
ich aus dem Damaralande nicht bestätigen.. Vielmehr
382
Die Forschungsfahrt des „Michael Sars“ im Nordatlantischen Ozean.
habe ich wiederholt gesehen, daß ein typisches „Rivier“
sich in die weite flache Mulde eines „Omuramba“ ein-
geschnitten hat. Ich betone also nochmals: nicht die
Erfüllung mit Lehm oder Sand, sondern der Unter-
schied des relativen Alters ist für mich das Wesentliche
bei der Unterscheidung von „Rivier“ und „Omuramba“.
Im übrigen darf ich darauf aufmerksam machen,
daß auch der Regierungsgeologe Dr. P. Hermann voll-
kommen mit mir darin übereinstimmt. Es sagt („Bei-
träge“, S. 393): „Omuramben sind vorzugsweise nur
breite muldenförmige Täler, in welchen eigentliche Fluß-
betten meist fehlen. Sie pflegen selbst nach großen
Niederschlägen keine zusammenhängende Wasserader zu
bilden, sondern nur zusammenhanglose Wasserflächen
(Vleye). Riviere sind scharf eingeschnittene, meist mit
lockeren Flußsanden ausgefüllte periodische Flußläufe,
die nach anhaltenden Regenzeiten große Wassermengen
als reißende Flüsse talab führen.“
Endlich beobachtete auch Hermann („Beiträge“,
S..380): „Mitten durch die Omurambamulde schlängelt
sich ein scharf eingeschnittenes Rivierbett, das mit weißem
Sand angefüllt ist.“
Herr Passarge bezweifelt ferner meine Angabe, daß
die Omuramben im Gegensatz zu den Rivieren selten oder
nie Wasser führen. Wie wir oben gesehen haben, hat
Hermann dieselbe Erfahrung gemacht. Er erwähnt es
nochmals besonders beim Omuramba-u-Omatako, den auch
ich gut kennen gelernt habe („Beiträge“, S.394): „In
diesem Gebiete fließt der Omuramba auch zur Regen-
zeit nicht mehr.“
Endlich nimmt Herr Passarge in diesem Abschnitte
Anstoß daran, daß ich unter dem Einfluß meines hoch-
verehrten Lehrers Prof. Dr. W. M. Davis, Cambridge
Mass., die Riviere nach ihrer gegenwärtigen Form für
„jung“ erkläre. Diese Bemerkungen lassen klar erkennen,
daß Herr Passarge das Wesen der Davisschen Anschau-
ung nicht erkannt hat. Für ihn sind daher die Worte:
„jung“, „alt“, „reif“, „halbreif* und „unreif“ 8) bloße
„Schlagworte“. Für andere aber sind es fest-
stehende, scharf begründete Begriffe, die Davis
mit genialem Blick in der Natur erkannt und mit pein-
licher Sorgfalt geprägt hat. Das beweist unter anderem
auch die Tatsache, daß sie sich bereits in weitestem Maße
in unserer Wissenschaft eingebürgert haben.
Schluß.
Im vorstehenden habe ich zunächst gezeigt, daß Herr
Passarge seine „kritische Studie“ auf falschen Voraus-
setzungen aufgebaut hat. Dann habe ich seine sechs
Angriffspunkte einzeln gewürdigt. Sie beruhen, wie wir
gesehen haben, einmal in der Auffindung zweier Druck-
fehler und eines offenbaren Lapsus. Daß ich mich in
meiner Entgegnung auch gegen fälschliche Unterschie-
®) Die Worte „halbreif“ und „unreif“ sind von Herrn
Passarge frei erfunden.
Die Forschungsfahrt des „Michael
Über die Forschungsfahrt des norwegischen Schiffes
„Michael Sars“ im Nordatlantischen Ozean hat der Globus
zwei Notizen gebracht (zuletzt Bd. 98, S.147). Nachdem
nun die Fahrt beendet ist, hat deren Leiter, Johan Hjort,
in der englischen Zeitschrift „Nature“ vom 10. November
über sie einen zusammenhängenden vorläufigen Be-
richt veröffentlicht, aus dem hier einiges Nähere mit-
geteilt sei.
bungen zu verteidigen hatte, sei hier nur nochmals ge-
streift. Dann aber beruhen Herrn Passarges Angriffe vor
allem darauf, daß er die Deutungen, die er für das Chanse-
feld aufgestellt hat, ohne weiteres auf das Damaraland
überträgt, dessen Kalkpfannen ihm nicht bekannt sind.
Er geht darin sogar so weit, daß er daraufhin die Richtig-
keit meiner Beobachtungen anzweifelt. Seine Erklärungen
erscheinen ihm immer als die „natürlichen“. Aber den
notwendigen Beweis ist er uns in allen Stücken
schuldig geblieben.
Es wäre nun eine verlockende Aufgabe, Herrn Passarge
in sein eigenes Arbeitsgebiet, das Chansefeld, zu folgen
und einmal an Hand seines Kalahariwerkes streng sach-
lich, aber eingehend und ohne persönliche Spitzen zu
prüfen, wie seine Beobachtungen mit seinen Hypothesen
und kartographischen Darstellungen übereinstimmen.
Doch würde man mir dann den Vorwurf machen können,
daß ich über Dinge urteile, die ich nicht gesehen habe.
Ein kurzes Wort sei mir aber noch zu den „Schluß-
folgerungen“ gestattet, zu denen meine Arbeit Herrn
Passarge scheinbar willkommenen Anlaß bot. Sie sind
keine Zusammenfassung seiner Schlüsse in ein einheit-
liches System, wie man es erwarten sollte. Mit keinem
einzigen Worte kommt Herr Passarge darin auf die Sache
zurück, die er angegriffen hat, vielmehr beschäftigt er
sich darin mit dem, der mich dazu ermutigt hat, meine
Feldzugsbeobachtungen zu veröffentlichen, und der sie
als Dissertation der Berliner Fakultät empfohlen hat,
nämlich mit Albrecht Penck.
Es ist nicht das erste Mal, daß Herr Passarge meinen
hochverehrten Lehrer angreift, und er weiß sehr wohl,
daß er von ihm keine Antwort auf derartige persönliche
Angriffe zu erwarten hat. Daher würde ich auch nicht
im Sinne meines hochverehrten Lehrers handeln, wenn
ich auch nur ein Wort zu seiner Verteidigung sagen wollte.
Ich möchte hier nur das eine betonen, daß die Auf-
fassung, welche Herr Passarge über das gegenseitige
Verhältnis von Geologie und Geographie äußert, sich
durchaus mit dem deckt, was mein Lehrer Herr Geheim-
rat Prof. Dr. A. Penck wiederholt in seinen Vorlesungen
und seinen Colloquien ausgesprochen hat. Auch ist es
ihm, der doch selbst anerkannter Geologe ist, wohl
„kein Geheimnis, daß viele Geologen nur noch mit mit-
leidigem Lächeln auf den Geographen als Geomorphologen
herabsehen“, wie Herr Passarge sagt (Globus, S. 222).
Unter solchen Umständen ist es mir aber eine freudige
Genugtuung, feststellen zu dürfen, daß meine von dem
Geographen Passarge angegriffenen Beobachtungen sich
in allen wesentlichen Punkten mit denen des deutschen
Regierungsgeologen Dr. P. Hermann (s. oben) vollkommen
decken. Ebenso erhalte ich von anderen Geologen
spontane Zustimmungen, so vor allem von dem Kap-
geologen Prof. Rogers, zweifellos dem besten Kenner
südafrikanischer Geologie. Er schreibt mir unter anderem:
„I think, there are many pans in the Kaap plateau, which
will support your conclusions.“
Sars“ im Nordatlantischen Ozean.
Die Expedition verließ Ende März Bergen, lief Ply-
mouth an und folgte dann der Westküste Spaniens und
Nordafrikas bis Kap Bogador, wobei in der Bucht von
Biscaya, der Bucht von .Cadiz und den Gewässern zwi-
schen den Kanarischen Inseln und Afrika spezielle Unter-
suchungen ausgeführt wurden. Darauf unternahm sie
einen Vorstoß in das Sargassomeer, berührte die Azoren
und fuhr nach St. John’s (Neufundland). Von da segelte
Die Forschungsfahrt des „Michael Sars“ im Nordatlantischen Ozean. 383
sie nach der Südküste von Irland hinüber und beschloß
die Forschungen durch eine Untersuchung der Gewässer
zwischen Schottland und Rockall und zwischen Schottland
und den Färöer — d.h. der Gegend nördlich und südlich
von dem Wyville Thomson-Rücken — um den Einfluß
des Atlantik auf die Norwegische See zu studieren.
Auf 110Stationen wurden hydrographische Unter-
suchungen ausgeführt, und zwar mit einer Reihe von
modernen Instrumenten. Außer den Temperaturmessungen
wurden dabei Wasserproben aus allen Tiefen gewonnen
zur Bestimmung des Salzgehaltes und des spezifischen
Gewichts, ferner weitere 100 große Wasserproben zur
Ermittelung des quantitativen Vorkommens_ stickstoff-
haltiger Substanzen, besonders von Ammoniak. Die Be-
stimmungen aus den tiefsten Schichten (bis hinunter zu
4950 m) ergaben sehr gleichmäßige Resultate mit einer
Temperatur von 2,48°C. Es findet eine sehr schwache
Zunahme der Temperatur in der Nähe des Bodens in
großen Tiefen statt, was möglicherweise durch die Zu-
führung von Wärme aus dem Innern der Erde oder durch
Radiumeinwirkung zu erklären ist. In den oberen Schichten
wechselten die Verhältnisse zeitweise beträchtlich, be-
sonders in der Nähe des Golfstromgebiets und im west-
lichen Teile des Nordatlantik. Hier ergab sich manches
Neue und Interessante, worüber sich Hjort aber erst nach
gründlicher Untersuchung der Wasserproben äußern will.
Mit Ekmans Propellerstrommesser sind mehrere Reihen
von direkten Strömungsmessungen ausgeführt worden.
In der Straße von Gibraltar war die Strömung so stark,
daß man nicht geringe Schwierigkeiten beim Ankern
hatte. Es konnten indessen im Laufe eines Tages 70 gute
Messungen aus acht verschiedenen Tiefen zwischen Ober-
fläche und Meeresboden gewonnen werden. Es waren
beträchtliche Gezeitenschwankungen sowohl in der west-
lich gehenden Oberflächenströmung wie in der östlich
gerichteten Tiefenströmung zu bemerken. Zusammen
mit den Schwankungen in der Stärke der Strömung
schwankte auch die Grenze zwischen den beiden Strö-
mungen auf- und niederwärts, und zwar lag diese Grenze
zwischen 50 und 100 Faden unter der Oberfläche. Ge-
schwindigkeiten von vier Knoten oder mehr wurden
mehrfach in der oberen wie in der Tiefenströmung er-
mittelt; meistens aber hielt sich die Geschwindigkeit
zwischen 1 und 21/, Knoten. (Vgl. die Beobachtungen
des „Thor“ in der Straße von Gibralter, Globus, Bd. 98,
S. 305.)
Auf dem Abfall südlich von den Azoren ankerte man
in 500 Faden Tiefe, und hier wurden etwa 90 Strömungs-
messungen ausgeführt. In der Tiefsee zwischen den
Azoren und den Kanaren gelang eine Reihe solcher
Messungen bis 2000 m abwärts, während das Schiff leicht
und gleichmäßig trieb und ein großes Taunetz als Drift-
anker diente. Auch diese Messungen zeigten beträcht-
liche Schwankungen, die offenbar mit den Gezeiten zu-
sammenhängen. Ähnliche Forschungen mit modernen
Mitteln sind vorher weder im tiefen Wasser noch in der
Straße von Gibraltar vorgenommen worden. Auch Licht-
messungen sind im Meere südlich und westlich von den
Azoren ausgeführt worden, und zwar von Helland Hansen
mit einem von ihm konstruierten neuen Photometer. Es er-
gab sich ein großer Einfluß der Lichtstrahlen in 100 m Tiefe,
wobei die roten die schwächeren, die blauen und ultra-
violetten die stärkeren waren. In 500m Tiefe wurden
noch blaue und ultraviolette Strahlen gefunden, und
selbst bei 1000m war der Einfluß der ultravioletten
Strahlen noch deutlich wahrnehmbar. Bei 1700 m zeigten
die panchromatischen Platten nach einer Exposition von
zwei Stunden um Mittag bei klarem Himmel keine Licht-
spur mehr.
Phytoplankton. Man war besonders bestrebt,
Material für einen Vergleich des Planktons der Küsten-
bänke mit dem des reinen ozeanischen Wassers, sowie
für den Vergleich der subtropischen mit den borealen
Existenzbedingungen zu gewinnen. Die Küstenbänke
vor Irland, die Bucht von Cadiz, die Westküste Afrikas
und die Neufundlandbänke haben eine charakteristische
Flora, die sich scharf von der ozeanischen abhebt, die in
den mittleren Teilen des Atlantik, besonders im Sargasso-
meer südlich von den Azoren, angetroffen wird und reich
an Arten, aber arm an Individuen ist. Die Coccolitho-
phoriden und Nacktflagellaten, die sogar durch das feinste
Seidennetz hindurchgehen, wurden zum Teil durch Filtern
von Seewasser durch Sandfilter, zum Teil durch Ver-
wendung einer von einer kleinen Dampfwinde getriebenen
großen Zentrifuge gewonnen. Die Untersuchung ergab
eine große Zahl neuer Formen, die zum Teil zu ganz
neuen Typen gehören. In den mittleren ozeanischen
Teilen des Atlantik kamen diese kleinen Organismen in
zahlreichen Formen und in so großen Mengen vor, daß
sie an Volumen die mit Hilfe der Seidennetze erbeuteten
Pflanzen übertrafen. In der Nachbarschaft der europäi-
schen Küstenbänke war die Spezieszahl geringer, die In-
dividuenmenge aber ganz besonders groß. So fanden
sich in einer einzigen Probe im Liter über 200 000 In-
dividuen allein von einer Art. Im ganzen zeigen die
Proben aus den nördlicheren Gewässern eine größere
Menge von Pflanzen, als der subtropische Teil des Ozeans.
Dort ist ferner das Phytoplankton auf eine dünnere,
weniger tief herabreichende Schicht beschränkt, als in
den südlichen Teilen des Forschungsgebietes.
Für das gleichzeitige Bergen des Zooplanktons
aus bestimmten verschiedenen Tiefen bediente man sich
einer neu ausgedachten Vorrichtung, die im wesentlichen
aus zwei vom Schiffe geschleppten Drahttauen mit daran
befestigten Netzen bestand. Dadurch erhielt man Proben
gleichzeitig aus Tiefen von 100, 200, 300, 600, 1000,
1500, 2000, 2500 und 3000 m. Auf 30 Stationen wurde
mit dieser Vorrichtung gearbeitet, und das so erlangte
Material war sehr umfangreich: Hunderte von pelagischen
Tiefseefischen und Liter von großen Dekapoden, Me-
dusen usw. von ein und derselben Station. Weil an so
vielen Stationen und in sehr verschiedenen Gewässern
und zu verschiedenen Tages- und Nachtstunden gefischt
wurde, so ist von einem Vergleich der Fänge unterein-
ander viel Neues über die geographische Verteilung der
Arten, über die Tiefen, in denen sie bei Tage und bei
Nacht vorkommen, usw. zu erwarten. Überall im Atlanti-
schen Ozean, vom Wyville Thomson-Rücken bis zum Sar-
gassomeere, scheint es in Tiefen über 400 m eine be-
ständig gleichartige Fauna kleiner schwarzer pelagischer
Fische, großer roter Crustaceen, zahlreicher Medusen usw.
zu geben, die wahrscheinlich, soweit die Fische in Frage
kommen, auch in anderen Ozeanen vorhanden ist und
dieselben Formverschiedenheiten aufweist, die z. B. die
„Valdivia“-Expedition im Indischen Ozean und die „Chal-
lenger“-Expedition im Großen Ozean gefunden hat. In
den oberen Wasserschichten, in Tiefen von weniger als
400 m, sihd dagegen zahlreiche jüngere Fischstadien von
meist durchscheinender farbloser Form, z. B. Leptocephali,
angetroffen worden.
Mit dem Grundnetz ist nur insoweit gearbeitet worden,
als es dem Expeditionsleiter darauf ankam, von der
Zusammensetzung der Fauna in Tiefen von 500 bis
1600 Faden dem Kontinentalabfall entlang von dem
Wyville Thomson-Rücken südwärts bis zum tropischen
Westafrika ein Bild zu gewinnen. Aber auch außerhalb
der Küstenbänke wurden einige Grundnetzzüge in Tiefen
bis zu 3000 Faden ausgeführt. Wesentlich neue Typen
Roux’ Aufenthalt auf den Aruinseln.
von Fischen ergaben sich dabei nicht. Die wenigen
Züge aus den großen Tiefen stimmten im Resultat
untereinander und mit denen früherer Expeditionen, so
besonders des „Challenger“, des „Travailleur“ und des
„Talisman“ überein, zeigten also, daß die gegenwärtige
östliche Tiefseeebene des Atlantik besonders arm an
allen Arten von höheren Organismen und vor allem an
Fischen ist.
Roux’ Aufenthalt auf den Aruinseln.
Es ist hier früher einmal (Bd. 96, 8. 244) kurz von den
Forschungen Dr. Jean Roux’, Konservators am natur-
historischen Museum in Basel, auf den Aruinseln die Rede
gewesen — jener namentlich durch Alfred Russel Wallaces
Beschreibung bekannt gewordenen Inselgruppe, die deshalb
von besonderem Interesse ist — geographisch und ethno-
graphisch ebenso wie faunistisch und floristisch —, weil sie
im Grenz- und Übergangsgebiet zwischen Asien und Australien
liegt. Jetzt ist in der Zeitschrift „Le Globe“, dem Organ
der geographischen Gesellschaft zu Genf, ein von Roux vor
dieser Gesellschaft gehaltener Vortrag erschienen, der sich
ausführlicher mit der Aru-, kürzer mit der benachbarten
Keigruppe beschäftigt, und es seien ihm einige Mitteilungen
über die Aruinseln entnommen.
Die Reise, an der außer Roux Dr. Hugo Merton teilnahm,
war im Jahre 1908 durch die Frankfurter Senckenbergische
Gesellschaft zum Zweck naturwissenschaftlicher Forschungen
ausgerüstet worden, und der Aufenthalt auf den Aruinseln
nahm vier Monate, vom Januar bis Mai, in Anspruch. Trotz
Wallace ist die Gruppe naturwissenschaftlich noch wenig be-
kannt, und geographisch ist sie es erst recht nicht. Sie be-
steht in der Hauptsache aus fünf großen Inseln, die aber
nur durch eigentümliche kanalartige Meeresstraßen vonein-
ander getrennt sind, und mehreren im Osten vorgelagerten
kleinen Eilanden. Roux landete in Dobbo, dem Sitz der
holländischen Verwaltung, arbeitete zunächst auf der süd-
lichsten Insel Terangan und später auf den übrigen. Die
geographische Arbeit hat sich anscheinend auf Tiefen- und
Strömungsmessungen in den Kanälen beschränkt.
Diese Kanäle heißen Sungi, haben eine ungefähr west-
östliche Richtung und sind von stark wechselnder Tiefe und
Breite (diese kann bei ein und demselben Kanal zwischen
25 und 800m schwanken). Sie sehen manchmal wie breite
Flüsse, manchmal wie von Inselchen übersäte Seen aus,
verästeln sich und verzweigen sich mehr oder weniger tief
landeinwärts. Deshalb sind längere Landmärsche auf den
Inseln selten möglich, aber das Boot bietet dafür die Gelegen-
heit, überall hin zu gelangen. Die von Wallace begründete
Ansicht, daß diese Kanäle die Unterläufe der Flüsse Neu-
guineas seien (deren Mittelläufe bei der Lostrennung der
Arugruppe von jener Insel versunken seien: vgl. „Der Mal.
Archipel“, Bd. II, 8. 266), teilt Roux — wie auch schon
andere vor ihm — nicht; diese Dislokation der großen den
Archipel bildenden Kalkplatte sei die Folge einer Erhebungs-
bewegung gewesen. Man finde auch auf der Südinsel Spuren
ehemaliger Kanalbetten, was beweisen würde, daß die Er-
hebung noch andauere. Das Land ist durchweg flach; nur
hier und da sind einige Geländewellen und im Süden ein
paar 50 m hohe Hügel vorhanden. Die Kanalufer sind bald
niedrig und sumpfig, bald fällt das Kalkgestein 15 bis 20m
tief zum Wasser ab. Die Gezeiten verursachen in den Haupt-
sungi Strömungen, die sich auch bis in die äußersten Spitzen
der Seitenarme zn erkennen geben, und deshalb bilden sich
mit Mangroven bewachsene Salzwasserlachen von großer
Ausdehnung in den niedrigen Teilen der Inseln. Im übrigen
bedecken Wälder und sehr hochgrasige Wiesen das Land.
Diese Wiesen herrschen auf Terangan vor, das weniger
Kanäle aufweist; auf den mittleren Inseln dominiert der
Wald. In die Nebenkanäle münden kleine Flüsse, die aber
in der Regenzeit viel Wasser führen, und diese Mischung
süßen Wassers mit dem salzigen der Kanäle gestattet
interessante Beobachtungen über das Anpassungsvermögen
der Tiere. .
Zu der verhältnismäßig armen Fauna gehören das
Känguruh, das Wildschwein und der Hirsch. Reich ist in-
dessen die Vogelwelt, deren schönster, aber infolge der rück-
sichtslosen Ausmordung immer spärlicher werdende Reprä-
sentant der Paradiesvogel ist. Die Eingeborenen stellen ihm
in der schon von Wallace beschriebenen Weise (a. a. O.,
Titelbild des II. Bandes) nach, indem sie sich auf den
unteren Baumästen ein Versteck einrichten und von hier
die Vögel des Morgens, wenn sie „tanzen“, mit stumpfen
Pfeilen erlegen. In Makassar hat Roux zu vielen Hunderten
die für Paris oder New York bestimmten Bälge der Vögel
gesehen, und er meint mit Recht, es wäre an der Zeit, daß
die holländische Regierung der sinnlosen Abschlachtung
dieser Vögel für Modezwecke Einhalt täte.
der Aruinseln sind nicht giftig.
Dobbo liegt auf einer kleinen Insel namens Wammer.
Es hat etwa 1000 Bewohner: australische, chinesische, ja-
panische und arabische Händler, die außer Paradiesvogel-
bälgen Perlmuscheln und Kopra aufkaufen. Ferner gibt es
dort Malaien, die Eingeborenen aber sind da wenig anzu-
treffen. Die größte Zeit des Jahres über ist Dobbo verödet,
nur im April und Mai stellen sich die Händler ein.
Mit der friedlichen Bevölkerung, über die die Regierung
durch die von ihr bestätigten Dorfhäuptlinge eine gewisse
Aufsicht ausübt, und von der sie eine Steuer einzieht, kam
Roux häufig in Berührung. Sie mag mit den Papuas von
Neuguinea oder, wie einige behaupten, mit den Stämmen
Nordqueenslands verwandt sein, anthropologisch ist das aber
noch nicht sicher nachgewiesen. Die Größe der Männer
übersteigt nicht 1,60 m, die der Frauen nicht 1,48m. Die
Stirn ist fliehend, die Nase platt, der Prognathismus ziemlich
ausgeprägt. Die Hautfarbe ist ein tiefes Braun. Eine Haut-
krankheit und in den sumpfigen Gebieten die Malaria
fordern zahlreiche Opfer. Ebenso der Alkohol, den die
Chinesen einschmuggeln. Vor einigen Jahren herrschten
auch Cholera und Pocken. Daher hat sich die Bevölkerungs-
zahl stark gemindert und ist in den letzten 25 Jahren von
25000 auf 8000 gesunken. Die Rasse ist schlecht geworden,
die fortschreitende Degeneration unter dem Einfluß des
leidenschaftlich vom männlichen wie vom weiblichen Ge-
schlecht geliebten Arraks und Schnapses unverkennbar. In
der Trunkenheit sind die sonst so sanften Aruinsulaner gar
nicht wiederzuerkennen; sie werden dann grausam und
schamlos, und die geringste Meinungsverschiedenheit kann
zu Blutvergießen führen. Die Degeneration zeigt sich auch
darin, daß die alten Kunstfertigkeiten vergessen sind. Die
Häuser stehen auf schön geschnitzten Pfählen, aber die
stammen aus der alten Zeit; heute gibt man sich mit solchen
Arbeiten nicht mehr ab, die Pfähle neuerbauter Häuser sind
schmucklos, und die Eingeborenen gestehen, sie beherrschten
solche Fertigkeiten nicht mehr. Heute hat auch das euro-
päische Geld überall Eingang gefunden, und Tauschhandel
wird wenig mehr geübt. Roux belohnte die Eingeborenen
für ihre kleinen Dienste durch Tabak, rote Stoffe oder Spiegel;
aber gemünztes Geld war ihnen viel lieber. Das Vermögen
der reichen Leute besteht indessen in Elefantenzähnen,
großen chinesischen Gongs und ebenfalls importierten irdenen
Tellern, auch alten von den Chinesen gekauften Lafetten
von Bronzekanonen. Aus diesen Dingen besteht auch die
Ausstattung der Bräute.
Der Oberhäuptling des Dorfes ist der reichste Mann
(Orang kaja). Ihn bestallt die holländische Regierung mit
einem Stab und einem großen Diplom. Das geschieht mit
folgender Zeremonie: Man gibt ihm ein wenig Arrak mit
etwas Sand gemischt, und dies verschluckt er, indem er von
der Seite die Sonne ansieht. Neben diesem Würdenträger
hat auch der älteste Mann (Orang tua) einigen Einfluß. Die
ursprüngliche soziale Gliederung bestand aus drei Haupt-
klanen: dem Adel, dem Bürgertum und den Sklaven. Die
Sklaven wurden für Elefantenzähne aus Neuguinea ge-
kauft. Heute ist diese Gliederung infolge Vermischung ver-
schwunden.
Die Sprache zerfällt in eine Anzahl von Dialekten, die
so voneinander abweichen, daß der Bewohner der Ostküste
den der westlichen Inseln nicht versteht. Die sehr kompli-
zierten Familiennamen sind wenig in Gebrauch, man bedient
sich gewöhnlich der Vornamen. Häufiger als die Polygamie
ist Einehe, Frauen kosten eben Geld, nämlich 800 bis 2400 f.
Wer nicht gleielı bezahlen kann, zieht zu seinem Schwieger-
vater und arbeitet die Summe ab, was ihm freilich manch-
mal sein ganzes Leben lang nicht gelingt. Kranke behandelt
der Zauberer. Die Toten werden in eine Art aus Brettern
oder einem hohlen Baumstamm gebildeten Sarg gelegt,
und der Sarg ruht dann einige Zeit unter dem Hause oder
auf vier .Pfählen in der Nähe des Dorfes am Waldrande.
Erst viel später beerdigt man die Gebeine. Die Ahnen
werden verehrt und ihre Geister durch Opfergaben an Eß-
waren bei guter Laune erhalten; denn sonst könnten sie
den Lebenden Böses zufügen. Schlimme Geister, an die man
glaubt, hausen in Bäumen, Felsen und im Meere. Um sie
fern zu halten, legt man wohl auf einem Platze im Dorfe
Die Reptilien
Kleine Nachrichten.
nicht mehr verwendbare Teller und Gongs nieder. Die Holz-
idole, von denen ältere Reisende berichten, hat Roux nirgends
mehr vorgefunden, und er meint, sie wären wahrscheinlich
aus Neuguinea von eingewanderten Papuas importiert worden
und verschwunden, nachdem jene in der Arubevölkerung
aufgegangen wären. Die großen Kähne, deren sich die Aru-
insulaner bedienen, sind von den Keiinsulanern gekauft, die
in der Herstellung solcher Fahrzeuge Meister sind. Die
Aruinsulaner selbst machen nur kleine Kähne durch Aus-
höhlung von Baumstämmen, auf denen sie stundenlang unter
monotonem Gesang die Kanäle durchrudern. Ein Gong-
schläger oder Trommelschläger begleitet diesen Gesang.
Kleine Nachrichten.
Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
— Der Afrikafonds zur Förderung der wissenschaft-
lichen Erforschung der deutschen Kolonien, hervorgegangen
aus dem ehemals der Afrikanischen Gesellschaft alljährlich
gewährten Reichszuschuß, hatte 25 Jahre hindurch eine
Höhe von 200000 %#. Der „glorreichen“ Ära Dernburg erst
blieb die Kürzung auf 150000 J6 vorbehalten — eine
eigentümliche Illustrierung der Versicherungen jenes Staats-
sekretärs, daß er die wissenschaftliche Arbeit in den Kolonien
als Grundlage der praktischen hochschätze. Diese Kürzung
war für das gegenwärtige Etatsjahr (1910/11) eingetreten.
In den Etatsentwurf waren allerdings auch damals 200000 #6
eingestellt, aber die Budgetkommission des Reichstages
strich 50000 Mark ab, und zwar wesentlich auf Betreiben
eines uns ‘dem Namen nach bekannten Abgeordneten, der
sonderbarerweise einer Partei angehört, die doch sonst für
Kulturaufgaben immer zu haben ist und den Mangel an
Neigung für sie bei anderen Parteien oder bei der Regierung
oft genug und nicht immer mit Unrecht rügt. Es wäre
aber verfehlt, nun den Reichstag oder die Budgetkommission
für die Kürzung des Afrikafonds verantwortlich zu machen.
Die Verantwortung trägt der damalige Chef der Kolonial-
verwaltung, die es in der Vertretung jener Position eben an
dem nötigen Nachdruck oder der erforderlichen Geschick-
lichkeit hat fehlen lassen, und so muß ihr nahegelegt
werden, die Position in der alten Höhe wiederherzustellen;
wenn es nicht im Etat für 1911/12 geschehen sein sollte, so
müßte es im nächsten geschehen.
Es sind ja in der Verwendung des Afrikafonds im ein-
zelnen Fehler und Mißgriffe vorgekommen, an denen zum
Teil die Kolonialverwaltung selbst, zum Teil ihre Beraterin,
die landeskundliche Kommission für die Schutzgebiete, die
Schuld trägt. Das soll aber kein schwerer Vorwurf sein.
Fehler können überall vorkommen. Es ist ja auch Kritik
geübt worden, und sie wird nicht vergebens gewesen sein.
Wahrscheinlich hat diese Kritik den Erfolg jener Bestrebungen,
den Afrikafonds herabzusetzen, mit veranlaßt; aber das war
keineswegs der Zweck der Kritik, und es wäre ein Irrtum,
wenn er so mißverstanden sein sollte. Tatsache ist, daß für
die landeskundliche Forschung in den deutschen Kolonien
noch unermeßlich viel zu tun bleibt, und ebenso, daß sie in-
folge der Minderung des Fonds nicht in dem geplanten und
erforderlichen Maße in letzter Zeit hat fortgeführt werden
können. So ist z. B. aus der so dringend nötigen Neuguinea-
Expedition nichts geworden, und es ist kein ausreichender
Ersatz für sie, daß ein geographisch und ethnographisch
vorgebildeter Zoologe an der deutsch-holländischen Grenz-
vermessung auf jener Insel teilnimmt, deren Aufgabe doch
eine ganz andere ist. Aus diesem Grunde würde es mit An-
erkennung begrüßt werden, wenn die beteiligten Faktoren
ihren Fehler sobald als möglich durch Vermehrung des Fonds
auf die alte Höhe wieder gut machen würden.
— Die Hamburger Südsee-Expedition, über die im
Globus fortlaufend Bericht erstattet worden ist, hat ihren
Abschluß gefunden, und ihr Leiter, Professor A. Krämer,
ist im Oktober wieder in Europa eingetroffen. Die letzte
Arbeitszeit, über die ein orientierender Bericht leider noch
nicht erschienen ist, galt mehreren Inseln der Karolinen,
auf denen die Expedition das Material für eingehende Dar-
stellung sammeln konnte.
— Eine in Wadai gefundene Reliquie Eduard
Vogels. Im 97. Bande, 8. 194, nahmen wir von einer Mit-
teilung des in Wadai gefallenen Kapitäns Fiegenschuh Notiz,
wonach Leutnant Bourreau bei der Eroberung von Abescher,
im Juni 1909, dort ein „Notiz- oder Tagebuch Nachtigals“
gefunden hätte. Wir begleiteten jene Mitteilung mit der
Bemerkung, es handle sich schwerlich um Aufzeichnungen
Nachtigals, der doch gar keine Veranlassung gehabt hätte,
in Wadai irgend etwas zurückzulassen, sondern vielleicht
um solche Eduard Vogels, der dort 1856 ein gewaltsames
Ende gefunden hat. Nun ist das Buch nach Paris gekommen,
und es hat sich in der Tat ergeben, daß es Vogel gehört
hat. Aber es ist kein Buch mit Aufzeichnungen von seiner
Hand, sondern das Bruchstück eines gedruckten Werkes mit
astronomischen Hilfstafeln, wahrscheinlich der 1850 erschie-
nenen 5. Auflage von C. Rümkers „Handbuch der Schiffahrts-
kunde“. Im übrigen muß man nun die Hoffnung aufgeben,
daß sich aus Vogels schriftlichem Nachlaß noch etwas in
Abescher erhalten hat. Es ist wohl im Laufe der Zeit alles
der Vernichtung anheimgefallen, sonst wäre doch den
Franzosen dort etwas zu Gesicht gekommen.
— Die englische Südpolarexpedition hat an Bord
der „Terra Nova“ am 29. November Neuseeland (Port
Chalmers) verlassen, nachdem sie sich dort mit dem Leiter,
Kapitän Scott, vereinigt hatte. Die Route hatte um das
Kap und über Melbourne geführt. Die australische Bundes-
regierung gewährte Scott eine Unterstützung von 2500 £.
Da der Geologe Thompson erkrankt war, trat an seine
Stelle in Neuseeland R. E. Priestley, ein Mitglied der Expedition
Shackletons, in den Stab ein. Man wird nun frühestens erst
wieder im März 1911 etwas von der Expedition hören, wenn
nämlich die „Terra Nova“ nach Neuseeland zurückgekehrt
sein wird, und wir werden dann erfahren, ob es Scott ge-
lungen ist, auf Edwardland seine Winterstation aufzuschlagen.
Es ist freilich auch möglich, daß das Schiff an der Rück-
kehr gehindert oder von Scott zurückbehalten wird. In
diesem Falle müßte man ein weiteres Jahr auf Nachricht
warten.
— Legationsrat Dr. Max Frhr. v. Oppenheim tritt
im Januar 1911 eine neue Reise nach Syrien und Meso-
potamien an, deren Zweck neben geographischen und
ethnographischen Studien in archäologischen Forschungen
und Grabungen besteht. Namentlich soll der Tell Halaf im
Tale des Chabur, des südlich von Der von Norden her in
den Euphrat mündenden Flusses, ausgegraben werden; Frhr.
v. Oppenheim hat jenen Tell auf seiner Reise von 1893 auf-
gefunden, er soll eine Hittiterstadt bergen. Andere Studien-
gebiete sollen sein: Das westliche obere Mesopotamien, das
ehemals ein blühendes Kulturland war, heute aber eine
traurige Wüste ist, die Gegend östlich von Bagdad, die frei-
lich möglicherweise keine archäologischen Funde verspricht,
und schließlich vielleicht auch die syrisch-arabische Wüste.
Die Reise wird zwei, vielleicht auch drei Jahre in Anspruch
nehmen.
— Dr. Frederick Cook, seit Jahresfrist verschollen,
hat zu allgemeiner Überraschung Ende November selbst noch
das Wort ergriffen, anscheinend dazu veranlaßt durch
die jüngst bekannt gewordenen, ihn Lügen strafenden Aus-
sagen seiner beiden Eskimobegleiter: er hat in der amerika-
nischen Zeitschrift „Hampton’s Magazine“ erklärt, er müsse
nach reiflicher Überlegung bekennen, daß er nicht wisse,
ob er den Nordpol erreicht habe oder nicht; wahr-
scheinlich habe sein Geisteszustand infolge der Strapazen
seiner Polarreise gelitten.
Es wäre verkehrt, daraus zu entnehmen, Cook habe da-
mit eingestanden, daß er die Welt zu beschwindeln ver-
sucht hätte. Denn jene Erklärung — vorausgesetzt, daß sie
in authentischer Form nach Europa gekabelt worden ist — be-
sagt doch nur zweierlei: erstens, daß Cook zwar nicht mehr
mit Bestimmtheit behaupten will, daß er den Nordpol er-
reicht habe, daß er es aber für möglich hält; und zweitens,
die Polreise habe ihn derartig mitgenommen, daß seine
Geisteskräfte nicht mehr ausgereicht hätten, zu erkennen,
wie weit er gekommen sei. Das sind faule Ausreden. Wenn
es nicht schon ohnehin festgestanden hätte, so haben die
Aussagen der Eskimos es gezeigt, daß Cook von der Nord-
spitze von Axel Heibergland nur wenige Tagereisen pol-
wärts vorgedrungen und dann trotz guter Eisverhältnisse
urplötzlich umgekehrt ist. Wo waren da die Strapazen, die
Cooks Geisteskräfte hätten schmälern können? Es ist möglich,
daß sie dann später während des vielleicht aufreibenden
Rückzuges durch den Sverdruparchipel nach Kap Sparbo ge-
386
Kleine Nachrichten.
litten und den Reisebericht, an dem Cook dort den Winter
über schrieb, beeinflußt haben. Aber Cook ist dann ja ganz
gesund in Kopenhagen angekommen und hätte den unter
geistiger Erkrankung des Autors entstandenen Reisebericht
der Wahrheit gemäß leicht umformen können. Aber das ist
ihm nicht eingefallen, und er heimste viel Geld und viel
Ehren ein. Es hilft da kein Beschönigen und kein ver-
steckter Anspruch, vielleicht dennoch als erster am Nordpol
gewesen zu sein: Cook hat von Anfang an gar nicht die Absicht
gehabt, einen ernstlichen Vorstoß gegen den Pol zu unter-
nehmen, sondern nur die Absicht, einen großen Schwindel
in Szene zu setzen, und das Bestreben, dessen Erfolg durch
gewisses Beiwerk (z. B. durch die Überwinterung bei Kap
Sparbo) nach allen Seiten hin zu sichern. Es gelang ihm
das ja auch anfangs recht gut, und sogar mehrere erfahrene
Polarforscher wurden getäuscht.
— Gustav Adolf Graf von Götzen, um die Afrika-
forschung verdient, zuletzt preußischer Gesandter in Hamburg,
ist in einer Berliner Klinik am 1. Dezember nach kurzem
Krankenlager gestorben. Geboren war Graf Götzen am
12. Mai 1866 auf Schloß Scharfeneck in Schlesien (Kreis
Neurode). Seine Laufbahn war zum Teil militärisch, im
wesentlichen aber diplomatisch. Nachdem er im Jahre 1891
das Kilimandscharogebiet besucht hatte, begab er sich im
September 1893 mit zwei europäischen Begleitern von neuem
nach Ostafrika, wanderte bis zum oberen Kongo und er-
reichte dessen Mündung im Dezember 1894. Es war das
die letzte Durchquerung Aquatorialafrikas, der noch große
geographische Entdeckererfolge beschieden waren. Als erster
drang Graf Götzen in das sagenhafte Land Ruanda ein, er-
weiterte unsere Kenntnis über das Quellgebiet des Kagera,
der vielfach für den Quellfluß des Nils gehalten wurde,
fand den auf den Karten schon seit Spekes Zeiten im Norden
des Tanganikasees nach Erkundigungen verzeichneten Kiwu-
see auf, dessen nördlichen Teil er befuhr, entdeckte die
höchst interessanten, teilweise noch tätigen Vulkane, die
sich nördlich von dem See quer über die Sohle des Zentral-
afrikanischen Grabens legen (Namlagira und Niragongo
wurden bestiegen) und zog auf einem neuen Wege zum
Kongo. Es war eine überaus wichtige Pionierreise, deren
Ergebnisse — so die wertvollen Aufnahmen — im wesent-
lichen allein dem Grafen Götzen zu verdanken sind. Er be-
schrieb sie in dem 1895 in Berlin erschienenen interessanten
Buche „Durch Afrika von Ost nach West“, das fünf Jahre
später eine zweite Auflage erlebte. Von 1901 bis 1906 war
Graf Götzen Gouverneur von Deutsch-Ostafrika; er versah
sein Amt mit großem Verständnis und mit dem besten Willen.
Aus Gesundheitsrücksichten trat er im Frühjahr 1906 zurück
und schied damit auch aus dem Kolonialdienst. In seine
Amtszeit fiel der ostafrikanische Aufstand, der der deutschen
Herrschaft zwar nicht gefährlich wurde, aber viele Opfer unter
den Eingeborenen forderte, auch Hungersnöte im Gefolge
hatte. 1909 erschien aus Graf Götzens Feder eine Darstellung
jenes ihm völlig überraschend gekommenen Aufstandes:
„Deutsch-Ostafrika im Aufstand 1905/06“. Seine stets schwan-
kende und schwache Gesundheit hat den Grafen Götzen leider
kein hohes Alter erreichen lassen.
— Die zweistufige Bestattung der Ethnologen
erscheint gleichwertig der Teilbestattung der Prähisto-
riker und zeigt wieder einmal, mit wie großem Vorteil die
Ethnograpbie zur Erklärung prähistorischer Tatsachen benutzt
werden kann. Unabhängig voneinander sind darüber neuer-
dings zwei verschiedene Mitteilungen erschienen. F. v. Lu-
schan teilt aus Westafrika einige erläuternde Fälle mit
(Berichte aus den Königl. Kunstsammlungen, Berlin, 1. Ok-
tober 1910). Besonders bei den Fanstämmen im südlichen
Kamerun werden die Schädel von Verstorbenen oft jahrzehnte-
lang nach ihrem Tode noch besonders verwahrt, bei Erinne-
rungsfeierlichkeiten in pietätvoller Weise hervorgeholt und
zum Gegenstande mannigfacher Kultgebräuche gemacht. In
der Zwischenzeit werden sie in großen, aus Baumrinde her-
gestellten Gefäßen verwahrt. Im nördlichen Adamaua dienen
statt solcher große Tontöpfe, in denen Schädel liegen, wie
ein kürzlich in das Berliner Museum für Völkerkunde ge-
langtes Exemplar zeigt. Erhalten wir hier schon Erklärungen
für die prähistorische Teilbestattung, bei der Schädel in an-
scheinend ungestörter Schicht gefunden werden, unter Um-
ständen, die eine isolierte Bestattung wahrscheinlich machen,
so wird dieses noch augenscheinlicher durch eine Abhandlung
von L. Rütimeyer „Über Totenmasken aus Celebes und die
Gebräuche bei zweistufiger Bestattung“ (Verhandl. d. Naturf.
Ges. in Basel, Bd. 21, 8. 290). Er stützt sich auf einen an
wenig zugängiger Stelle befindlichen Bericht des holländischen
Missionars Kruijt, der sich auf die T'oradjas auf Celebes be-
zieht. Bei den mit Festlichkeiten und Opfern verbundenen
Tengkegebräuchen dieses Volkes werden alle Leichen von
Freien und Sklaven, die seit dem letzten Totenfeste begraben
wurden, ausgegraben, die verfaulten Weichteile von den
Knochen gestreift und diese von den Priesterinnen in Rinden-
stoff gewickelt. Der Kopf wird besonders behandelt und mit
einer Totenmaske versehen. Das Volk nimmt Abschied von
den Skejetteilen und deren Seelen und die Wiederbeisetzung
erfolgt in kleinen Kistchen, die unter Felsvorsprünge gesetzt
oder auch begraben werden. Die belangreichen Einzelheiten
gibt Kruijts Bericht. ”
Von den Kajan Borneos berichtet Nieuwenhuis Ähnliches;
hier findet die Beisetzung der gereinigten, wieder ausgegra-
benen Knochen in Töpfen statt; ausführlich behandelt die
gleiche Sitte Svoboda (Intern. Archiv f. Ethnographie VI)
von den Nikobaren. Auf Celebes, Borneo, den Nikobaren
finden wir also auf vorhergehende provisorische Bestattung
nach Jahren die endgültige Beisetzung der Knochen mit
Festlichkeiten verknüpft. Aus der Südsee wird Ahnliches
berichtet.
Daß die Sitte der zweistufigen Bestattung in Amerika
bekannt war, dafür will ich statt vieler Beispiele nur auf die
Choctaws hinweisen. In den auf diese zurückgehenden Be-
stattungen in den Feriday Mounds, Louisiana, fand man die
Knochen gut sortiert wie in einem Beinhause zusammen:
lange Knochen, Schulterblätter, Rippen usw. und obenauf die
Schädel (Free Museum of Science and Art, Bulletin Vol. II,
p- 131). Und Ahnliches wiederholt sich in anderen indiani-
schen Mounds.
brigens brauchen wir zur Erläuterung der prähistori-
schen Teilbestattungen weder nach Afrika noch nach Asien
oder Amerika zu gehen. Wir haben sie noch heute bei uns,
in den Alpenländern, und wer über das Ausgraben der Leichen,
das Reinigen und Bemalen der Schädel, deren pietätvolle
Wiederaufstellung genau unterrichtet sein will, der braucht
nur den Abschnitt „Schädelkultus in den Alpenländern“ in
dem Werke von Maria Andree-Eysn „Volkskundliches“ (Braun-
schweig 1910) nachzulesen. Da steht die Parallele zu den
westafrikanischen Fan, den Toradja von Celebes, den Choctaws
von Louisiana. R. A.
— Vor seiner Heimkehr aus der Südsee nach Europa
wünschte G. Friederici von der Station Eitap& an der Nord-
küste von Deutsch-Neuguinea einen Vorstoß über das Toricelli-
gebirge zum Kaiserin-Augusta-Fluß zu machen, dieser Plan
wurde aber durch die gewaltigen Regen vereitelt, die im
Dezember 1909 in jener Gegend niedergingen. So beschränkte
sich Friederici auf Wanderungen an der Küste von Kaiser-
Wilhelms-Land oder in ihrer Nähe zwischen der Landschaft
Yakomul im Osten und dem holländischen Grenzposten
Hollandia im Westen. Berichtet hat er hierüber in „Peter-
manns Mitteilungen“ 1910, II, Heft4 unter Beigabe von zwei
Karten in 1:300000 und 1:50000. Von Yakomul bis zum
Angriffshafen gibt es einen Korallenkalkstrandriff, der hohle
Strand fällt zumeist mit starkem Neigungswinkel tief ins
Meer hinab, woraus sich die gefährliche Brandung auf der
ganzen Küstenstrecke erklärt. Der Strand selbst besteht
überall aus weißgrauem Sand oder feinkörnigem Kies erup-
tiver Natur, mehr oder weniger untermischt mit Kalk. Die
Strandvegetation besteht hauptsächlich aus Crinium, das den
vorderen Dünenkamm wie eine Hecke einfaßt, und der Strand-
winde; Charakterbäume sind Kasuarinen, Cycas und — bei
den Ansiedelungen — Kokospalmen. Die Küste zwischen
Yakomul und Angriffshafen unterliegt offenbar häufigen Ver-
änderungen, für die der Reisende Beobachtungen mitteilt.
Mehrfach dringt das Meer vor, die Küste ist da also im
Sinken begriffen; deshalb haben z. B. die Warupüleute ihre
Hütten am Meere aufgeben und sich mehr landeinwärts neue
errichten müssen. Dagegen sind bei Sissano, nicht weit
westlich von der Warupülagune, Spuren einer Küstenhebung
zu beobachten. Bei der Makehalbinsel, die den Angriffshafen
im Osten abschließt, befindet sich ein merkwürdiges Riff, ein
zum Strandriff gewordenes Sandsteinriff. Infolge der Bran-
dung sind in ihm wie mit dem Meißel tiefe und breite Spalten
in schnurgerader Richtung ausgehauen, das Gestein scheint
in Platten und Würfel zersägt worden zu sein, und durch
diese Rinnen saust das Wasser beim Anstürmen und Zurück-
fluten mit großer Gewalt. — Der unlängst gegründete hollän-
dische Posten Hollandia hat eine starke Besatzung und hat
sich zu einer Art von malaiischer Kolonie ausgewachsen
(430 Einwohner). Er ist auch ein Stützpunkt für die geo-
graphischen Forschungen der Niederländer.
— In den „Mitt. Anthrop. Ges. Wien“ 1910, Heft 5/6 be-
richtet Oswald Menghin über das Ergebnis seiner Nach-
forschungen nach Wallburgen auf den westlichen Höhen des
Kleine Nachrichten.
387
Etschtales zwischen Meran und Bozen, im Sommer
1909. Er hat im ganzen an fünf Stellen Reste solcher prä-
historischen Befestigungswerke neu gefunden oder näher
untersucht. Die von beiden Talseiten von früher her be-
kannten Gerätefunde gingen über den Schluß der Hallstatt-
zeit nicht zurück, die meisten gehörten der unmittelbar der
römischen Zeit voraufgehenden Epoche an. Auf der West-
seite aber, in der Nähe der Hippolitkapelle bei Tisens, liegt
neben mehreren Kulturstätten jüngerer vorgeschichtlicher
Perioden auch eine neolithische Siedelung, die älteste jener
ganzen Etschtalstrecke und schon 1892 von Franz Tappeiner
als solche erkannt. Menghin fand dann auch hier noch
Reste einer künstlichen Befestigung. Die übrigen von ihm
untersuchten Anlagen sind die von St. Vigil, das Burgstalleck
bei Gaid, der Kasatschberg bei Nals und der Kobaltbühel bei
Völlan, der ein recht ausgedehntes, kompliziertes und seltsames
System von Wallresten aufweist, darunter einen wirklich
kreisrunden Ringwall aus Steinen, den Menghin als einen
Viehpferch anspricht. Auf dieser Stätte fand sich auch allein
noch eine Kulturschicht mit Gefäßfragmenten und Bronze-
stückchen. Menghin behandelt zum Schluß die Chronologie
dieser „Castellieri“ im Zusammenhang mit den übrigen Süd-
tirols auf grund geographischer, archäologischer und Traditions-
merkmale und kommt zu folgendem Ergebnis: Die untere
Wallburg zu St. Hippolit gehört, was Funde genügend er-
weisen, der ersten Eisenzeit an. Die oberen dortigen Be-
festigungen sind, wie erwähnt, neolithisch. Die Wallanlagen
von Völlan am Kobaltbühel dürften der ausgehenden Bronze-
und der beginnenden Eisenzeit angehören; dazu passen auch
die dortigen Bronze-, Eisen- und Scherbenfunde. Dasselbe
gilt für die Ringwälle von Vigil und Burgstalleck, deren
Eigentümlichkeiten — Türme, Mittelbauten, Zisternen — in
den für jene Zeit anderwärts gesicherten Befestigungen immer
wiederkehren. Dagegen weichen Anlage und Ortswahl der
Ruinen von Kasatsch von den übrigen hier besprochenen
Befestigungen des Etschtales zwischen Bozen und Meran ab,
und hier wäre vielleicht frühmittelalterlicher Ursprung nicht
ganz von der Hand zu weisen.
— Auf dem letzten internationalen Geologenkongreß, in
Stockholm, machte Prof. De la Torre von der Universität
Havana Mitteilungen über die Entdeckung zahlreicher
fossiler Säugetiere aus dem Pleistozän in den Höhlen
des zentralen Cuba. J. Winthrop Spencer begleitet diese
Mitteilung in „La Geographie“ vom Oktober 1910 u. a. mit
folgenden Bemerkungen: Nach E. D. Copes Forschungen
umfaßte Cubas Säugetierfauna, soweit bekannt, nur fünf
Nagerarten, vier lebende und eine ausgestorbene. De la
Torres Sammlung umfaßt nun zahlreiche pleistozäne Nager,
Edentata und andere Wirbeltiere, auch sehr schöne jurassische
Fossilien. Diese pleistozänen Säugetiere oder ihre unmittel-
baren Vorgänger können nach Cuba nur auf Landbrücken
gelangt sein, die die Insel mit dem Festlande verbunden
haben. Diese Landbrücken, die heute unter dem Meere
liegen, finden sich in einer Tiefe von 1900 m; nur die, die
von Florida ausgeht und sich heute in der großen Antillen-
insel fortsetzt, liegt in 700m Tiefe. Die Canons, die diese
versunkenen Landbrücken zerschneiden, zeugen für eine alte
subaerische Erosion und erweisen dadurch das junge Alter
der Senkung, die die ganze Antillengegend betroffen hat.
Die Wanderungen der pleistozänen Fauna zeigen, daß in
einer wenig zurückliegenden Epoche eine große kontinentale
Senkung stattgefunden hat, und das ist eine Tatsache, die
keine Theorie über den Ursprung der Glazialzeit außer acht
lassen kann. Auch vom biologischen Gesichtspunkt aus hat
die Entdeckung dieser Fossilien großes Interesse. Spencer
verweist dann darauf, daß er auf der Antilleninsel St. Martin
(östlich von St. Thomas) in einer Höhle an der französisch-
holländischen Grenze die Reste einer Amblyrhiza, eines
Nagers von Hirschgröße, entdeckt habe. Dieser Nager ist
nach Cope aus Südamerika in die nordöstlichen Antillen
über Landzungen gekommen, die die Inseln mit dem Fest-
lande verbanden und heute unter dem Meere liegen, an einer
Stelle bis zu 1200m. „Edward Hull und Fridtjof Nansen
haben gezeigt, daß auch Europa in jüngerer Zeit eine große
Erhebung durchgemacht hat, indem sie sich ebenfalls auf
das Vorhandensein heute vom Meere bedeckter Oanons stützten.“
— Gegenwärtig, wo in verschiedenen deutschen Bundes-
staaten um die Zulassung der Feuerbestattung gekämpft
wird, wird ein Vortrag von Otto Schrader von der Bres-
lauer Universität über „Begraben und Verbrennen im
Lichte der Religiong- und Kulturgeschichte“ von
allgemeinem Interesse sein, der jetzt im Druck erschienen
ist (Breslau 1910, M. u. H. Marcus, 0,60 %6). Die Darstellung,
‘die sich auf Europa und das’ Kulturgebiet des östlichen
Mittelmeeres sowie Indien beschränkt, skizziert die Erd-
bestattung, die als die ältere Bestattungsart angesehen wird,
mit ihren verschiedenen Gebräuchen und dann die Feuer-
bestattung und erörtert die Fragen, wann diese aufkam,
woher sie stammt und was sie zu bedeuten hat. Die home-
rischen Gedichte seien die Stätte, wo für den europäischen
Kulturkreis die Sitte des Leichenbrandes zuerst einigermaßen
chronologisch fixierbar sei und in ihrer Bedeutung von gleich-
zeitigen Menschen erläutert werde. Im kleinasiatischen
Küstenlande müsse der ionische Stamm zur Sitte der
Leichenverbrennung übergegangen sein. Die Seele fliege in
das Haus des Hades, das ihr nur, wenn der Leib verbrannt
sei, offen stünde. In Indien herrschte ein ähnlicher Gedanke,
und deshalb sei es zweifellos, daß der ursprüngliche Sinn
der Feuerbestattung der gewesen sei, die auch nach dem
Tode am Körper haftende Seele aus dieser Haft zu befreien,
damit sie ins Totenreich gelangen könne. Wo dieser „neue“
Glaube zuerst aufgekommen sei, welches die Zeit und der
Weg seiner Verbreitung durch Europa gewesen, sei noch un-
bestimmt; die Prähistorie werde hier wohl noch die Erkennt-
nis fördern. Zu diesem Gedanken trete ein zweiter, der
Wunsch, sich selbst durch das Verbrennen der Leiche von
dem Toten zu befreien und seine Wiederkehr zu verhindern.
Dann wird darauf verwiesen, daß der Leichenbrand im alten
Europa zu keiner Zeit und vielleicht bei keinem Volke aus-
schließlicher Brauch gewesen sei, sondern das Verbrennen
und Begraben nebeneinander bestanden hätten. So im
klassischen Griechenland und in Rom. Aber auch in prä-
historischer Zeit bei Hallstatt. „Ob dem freilich eine Zeit
des Kampfes vorausgegangen ist, ob es, wie noch vor kurzem
in meiner Vaterstadt Weimar, Verwandte zu Begrabender ge-
geben hat, die es sogar verabscheuten, mit den Verwandten
zu Verbrennender eine Grabkapelle gemeinsam zu haben, und
ob das Hallstätter Ministerium, wie zu Weimar geschehen,
infolgedessen das Vorhandensein gesonderter Räume zur Voll-
ziehung der Totengebräuche für beide anordnete, können
wir nicht wissen.“ Höchst seltsam sei die auf dem Gräber-
felde am Hallstätter Salzberg bemerkbare Verquickung von
Begraben und Verbrennen bei einer und derselben Leiche:
der Tote sei halbiert, die eine Hälfte begraben, die andere
verbrannt worden. In den nordischen Ländern sei das Ver-
brennen der Leichen oft mit dem Verbrennen von lebenden
Menschen, der Hunde, des Pferdes verbunden gewesen, das
Christentum habe dem ein Ende gemacht. Wenn dieses aber,
an die Erdbestattung des Judentums und der semitischen Völker
überhaupt gewöhnt, jede Feuerbestattung bekämpfte (und
ja noch bekämpft), so sei dies weniger geschehen, weil man
die Verbrennung der Leiche dem christlichen Dogma, be-
sonders von der Auferstehung des Fleisches, für zuwider-
laufend erachtet habe, als weil eben der Leichenbrand als ein
Kriterium des Heidentums erschienen sei. — Deshalb mag
der Kirche wohl auch die Verbrennung der „Ketzer“ —
nicht nur der Hexen, wie Verfasser meint — als diesen
allein angemessene Todes- und Bestattungsart erschienen sein!
— Schneefall in Transvaal. Ein heftiger Schnee-
sturm wurde in den Tagen vom 16. bis 18. August 1909 in
Johannesburg und Umgebung beobachtet. Mit besonderer
Berücksichtigung dieses Ereignisses hat H. E. Wood vom
Transvaal Meteorological Service in der Septembernummer
des „South African Journal of Science“ eine Arbeit über
Schneefall in Transvaal veröffentlicht. Schneefälle gehören
dort ziemlich zu den Ausnahmen; denn es sind in der Zeit
von 1853 bis 1909, soweit das festgestellt werden konnte,
solche nur in elf Jahren beobachtet worden. In zwei Jahren,
1903 und 1904, waren die Schneefälle sehr leicht, und in
den Jahren 1905 bis einschließlich 1908 kamen überhaupt
keine vor. Obwohl im Mai 1892 in Johannesburg ein ziemlich
heftiger Schneefall zu verzeichnen war, war der Umstand,
daß am Morgen des 17. August 1909 die Stadt von einer
einige Zoll dicken Schneedecke überzogen war, ein so un-
gewöhnliches Ereignis besonders für die jüngere Generation,
daß der Tag als allgemeiner Feiertag begangen wurde. Die
Karten über die Verteilung des Luftdrucks zeigen, daß jener
Schneefall verbunden war mitder rapiden Annäherung eines
Hochdrucksystemsan ein Gebiet mit bis dahin niedrigem Druck.
— Reliefkarte der Vereinigten Staaten von
Amerika. Von der U. S. Geological Survey wurde kürzlich
eine neue Reliefkarte der Vereinigten Staaten — Blattgröße
70x45cm — herausgegeben, die in sauberster Ausführung
und mehrfachem Farbendruck die mittlere Erhöhung des
Landes vom Meeresspiegel bis über 11000 Fuß zur Anschauung
bringt. Die Karte ist von dem Topographen der Survey,
Henry Gannett, bearbeitet und bildet eine verbesserte Aus-
gabe der im 13. Ann. Report der Survey enthaltenen Relief-
N
388 32101 017830
Kleine Nachrichten.
Der Preis des besonders zu Unterrichtszwecken vor-
züglich geeigneten Blattes ist 10cents; bei Annahme von
100 oder mehr Exemplaren ermäßigt sich der Preis auf
karte.
6 cents. Sie kann durch den Director of the U. 8. Geological
Survey, Washington D. C., bezogen werden. Hg.
— Eine Karte des südlichen Peru und nördlichen
Bolivia in 1:2000000 hat E. A. Reeves im Oktoberheft
des „Geogr. Journ.“ veröffentlicht. In einem Begleitwort
bespricht er das Material, auf dem sie sich aufbaut. Es ist
begreiflicherweise sehr verschiedenartig und verschieden-
wertig. Es gehören dazu die zahlreichen neueren peruanischen
Arbeiten, auch die Originalaufnahmen und Ortsbestimmungen
des bolivianischen Grenzkommissars P. H. Fawcett, die u. a.
den Rio Abuna, den Unterlauf des Rio Beni und den oberen
Aquiry (Acre) betreffen. Für das Hochland standen u.a. zur
Verfügung der „Intercontinental Railway Commission Report“
(Bd. 3, 1891/92), Conways Triangulation der Cordillera Real
von 1898, J. Evans’ und Watneys „Route Surveys in Cau-
polican“ von 1902 und Neveu-Lemaires bathymetrische Auf-
nahme des Titicacasees. Für die Tacnaprovinz Chiles sind
die neuen Aufnahmen der chilenischen Grenzkommission be-
nutzt worden. Für die Hochländer waren in den meisten
Fällen J. B. Pentlands astronomische Ortbestimmungen und
Triangulationen von 1827—1838 noch immer die verläßlichsten.
Für die Position von Cuzco wurde das Mittel aus Gibbons,
Markhams, Squiers und Pentlands Bestimmungen genommen.
Wichtiges Material hat die Geographische Gesellschaft in
Lima geliefert (die eben erst wieder im Bd. 23 ihres „Boletin“
die drei südlichen Blätter einer neuen Karte des Departamento
Loreto veröffentlicht hat) und Raimondis Karte von Peru in
1:500000. Für das Hochland von Bolivia bildete vielfach
die französische Karte der Mission Cr&qui-Montfort von 1903
(1:750000) die Grundlage. Der Grad der Verläßlichkeit der
eingeschriebenen Höhenzahlen schwankt sehr. Am Schluß
gibt Reeves eine Liste der Ortsbestimmungen und von 33 be-
nutzten kartographischen Veröffentlichungen.
— Bureau of Mines und Bureau of Standards.
Die furchtbaren Katastrophen, die sich inden amerikanischen
Kohlen- und Erzgruben in der letzten Zeit ereigneten und
in den meisten Fällen auf den vollständigen Mangel an
Schutz- und Sicherheitsvorrichtungen für die Arbeiter zurück-
zuführen sind, scheinen die Behörden in Washington doch
endlich einmal aus ihrer Gleichgültigkeit gegen das in den
Vereinigten Staaten überaus gering bewertete Menschenleben
aufgerüttelt und zur Inangriffnahme von Schutzmäßregeln
veranlaßt zu haben. Nach statistischen Aufzeichnungen der
Geological Survey sind von 1890 bis 1907, also in 17 Jahren,
in den Kohlengruben allein 25415 Menschen durch schlagende
Wetter getötet worden und diese Hekatombe schließt nicht
einmal alle Kohlengruben betreibende Staaten ein; aus
California, Georgia, Oregon, Texas und Virginia waren keine
Statistiken erhältlich. Rechnet man zu dieser Zahl die von
1908 bis 1910 stattgehabten Katastrophen, dann dürfte die
Zahl 30000 weit überschritten werden. Die Zahl der Ver-
letzten dürfte zum mindesten den dreifachen Betrag dieser
Summe ergeben. Über die in den Erzgruben vorkommenden
Unfälle mit tödlichem Ausgang liegen ebenfalls "keine
Statistiken vor, doch glaube ich in keiner Weise zu über-
treiben, wenn ich die Zahl der in den Kohlen- und Erz-
gruben von 1890 bis 1910 ums Leben Gekommenen auf
100000 schätze. Entschädigungen für den Verlust des Er-
nährers erhalten die Familien der Getöteten im allgemeinen
nicht; nur in seltenen Fällen kann die Familie noch von
Glück sagen, wenn sie eine einmalige Abfindungssumme von
150 bis 200 Dollar erhält. Der Nationalität nach sind es
meistens Italiener, Slowaken, Griechen und Japaner, die in
den Kohlengruben arbeiten, und mit diesen „Foreigners“
wird ohnedies in den Vereinigten Staaten nicht viel Auf-
hebens gemacht.
Durch Kongreßakte vom 16. Mai 1910 wurde nun als
Unterabteilung des Department of the Interior ein „Bureau
of Mines“ ins Leben gerufen, welches am 1. Juli d. Js.
in Wirksamkeit trat. Dieses Bureau, aus der Geological
Survey hervorgegangen, übernahm den gesamten techno-
logischen Zweig derselben, einschließlich der Untersuchungen
der Grubenunfälle und der Prüfung der Kohlen in bezug
auf Explosionsfähigkeit (schlagende Wetter u. dgl... Der
Kongreß hat dem Bureau of Mines eine Appropriation von
410000 Doll. zu diesem Zweck vorläufig zur Verfügung ge-
stellt, wovon auf die Untersuchung der Minenunfälle allein
310000 Doll. entfallen. 120000 Doll. sind für Rettungs-
stationen, 40000 Doll. für Untersuchung der Explosivstoffe,
14000 Doll. für Untersuchung der elektrischen Anlagen in
den Minen, 8000 Doll. für Verhinderung von Unfällen,
5000 Doll. für Prüfung und Kodifizierung der bergrechtlichen
Gesetze und Vorschriften vorgesehen. Die in Pittsburg seit
1908 bestehende Versuchsstation (Mine Experiment Station),
die sich bisher mit der Untersuchung der Explosivstoffe,
Grubengas, Staub, Elektrizität usw., befaßte, bleibt als solche
unter dem neuen Bureau bestehen. Insbesondere sind die
Fabrikanten von Sprengstoffen aufgefordert worden, ihre
Fabrikate zur Prüfung nach Pittsburg zu senden, damit
dort entschieden wird, welche als geeignet verwendet werden
dürfen und welche nicht.
Dem Bureau of Mines fällt die weitere Aufgabe der
Herausgabe von Bulletins oder Flugschriften zu, die auf die
erwähnten Versuche Bezug haben. Vorläufig sind folgende
Publikationen in Bearbeitung: Volatile matter of coal von
H. C. Porter und F. K. Opitz; Coal analyses von H. W. Lord
und J. J. Burrows; Regarding steam tests von L.P. Brecken-
ridge; Lignite as a boiler fuel von D. T. Randall und Henry
Kreisinger; Producer gas tests 1905—1907 von R. H. Fernald;
The coke industry as related to the foundry von Rich.
Moldenke; Coals for illuminating gas von A. H. White
und Perry Barker; Petroleum for combustion under steam
boilers von J. ©. Allen. — Zwei Bulletins, Nr. 423: „A primer
on explosives for coal miners“ von Monroe und Hall und
Nr. 425: „Explosibility of coal dust“ von G. 8. Rice, hat die
Geol. Survey kürzlich herausgegeben, und es ist besonders
das letzte deshalb von hohem Interesse, weil es auch die in
europäischen Ländern angestellten ähnlichen Versuche be-
rücksichtigt.
Eine weitere Neuschöpfung der Regierung ist das dem
Department of Commerce and Labor unterstellte, ebenfalls
am 1. Juli 1910 in Wirksamkeit getretene Bureau of
Standards, dessen Aufgabe in der Prüfung und Unter-
suchung aller in den Gruben zur Verwendung kommenden
Baumaterialien besteht.
Es bleibt nun abzuwarten, welchen Einfluß die beiden
Körperschaften auf die zurzeit bestehenden Zustände in
den Gruben haben werden und ob die Zahl der Unfälle sich
vermindern wird oder nicht. Eine sehr nötige Sache wäre
es ferner, wenn das Bureau of Mines seine Aufmerksamkeit
nicht nur auf die Kohlengruben allein, sondern auch auf
die Erzgruben im allgemeinen ausdehnen würde, denn in
diesen sind Vorsichtsmaßregeln zum Schutze der Arbeiter
ebenso dringend nötig wie in den Kohlengruben.
Denver, Colo. Charles L. Henning.
— Straußenzucht auf Madagaskar. Angesichts der
vorzüglichen Resultate, die in Süd-Madagaskar mit der
Straußenzucht erzielt worden sind, versuchen nun auch, wie
wir in „A travers le Monde“ lesen, die Kolonisten der Gegend
von Majunga im Norden dieser Insel den Vogel zu akkli-
matisieren, und auf ihr Ersuchen legt die Verwaltung auf
der Ackerbaustation Marovoay eine Straußenzucht an, deren
Erfolge abgewartet werden müssen. Große Straußenfarmen,
wie man sie im Kapland hat, scheinen sich für Madagaskar
nicht zu eignen infolge der Landesnatur und des zweifel-
haften Wertes der eingeborenen Arbeiter. Im Somalilande
und auch in Teilen des Sudan (Timbuktu) sieht man häufig
zahme Strauße zusammen mit dem Vieh auf der Weide, und
man verfährt auf Madagaskar ähnlich, weil die Gegenwart
von Schafen die Wirkung hat, die Strauße beisammen zu
halten. Das gibt ihnen außerdem ein gewisses Gefühl der
Sicherheit und läßt unter den Vögeln jene Anfälle wahn-
sinnigen Schreckens nicht aufkommen, die die Ursache vieler
Unglücksfälle und Verluste sind. Junge Strauße von etwa
sechs Monaten aus Tulear, die man in einem großen Park
freiließ, haben sich allmählich an die Gegenwart von Schafen
gewöhnt, die man dort gleichfalls eingeschlossen hatte. Nach
Verlauf einer gewissen Zeit verlor sich die Furcht der
Vögel, und die anfängliche Feindschaft machte der Gleich-
gültigkeit Platz. Mit diesem Zeitpunkt begann der gemein-
same Austrieb, wobei die Strauße zuerst an den Beinen ge-
fesselt, später nur an ein Auslaufseil gebunden wurden.
Jedes Tier wurde außerdem von einem Wärter überwacht.
Nach und nach nahm die Wildheit der Vögel ab, sie ver-
suchten nicht mehr zu entkommen und folgten auf der
Weide dem Zuge der Schafherde. Die Zahl der Wärter
wurde darauf vermindert. Diese Erfahrung dürfte für die
Zukunft der madagassischen Straußenzucht von größter Be-
deutung sein. Sie würde es gestatten, daß man einem zur
Führung einer Schafherde geeigneten Eingeborenen einige
darunter gemischte Strauße anvertraut, was keinen über-
mäßigen Kostenaufwand verursachen würde.
Verantwortlicher Redakteur:
H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55.
— Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.