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Full text of "Globus 98. Bd 1910"

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Princeton University. 


Elizabeth Foundation. 











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GLOBUS 


XCVIII. Band 


GLOBUS 


Uiustriiertë 


Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde 


Vereinigt mit den Zeitschriften „Das Ausland“ und „Aus allen Weltteilen“ 
Begründet 1862 von Karl Andree 


Herausgegeben von 


H. Singer 


Achtundneunzigster Band 


— E23 





Braunschweig 


Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn 


1910 


1000, 
345° 


2.4.19 








Inhaltsverzeichnis des XCVIII. Bandes. 


Allgemeines. 


Die Geographie auf der 82. Versamm- 
lung deutscher Naturforscher und 
Arzte 17. Der Hund im Altertum 20. 
Kühl, Antike und moderne Bronzen 
21. Militäruntauglichkeit und Groß- 
stadteinfluß 36. Steinmetz, Eine 
Berichtigung zu Eduard Hahns Auf- 
satz „Niederer Ackerbau oder Hack- 
bau“ 66. Die wirtschaftliche Bedeu- 
tung der einzelnen Erdöllagerstätten 
84. Weißenberg, Zur Besprechung 
des Buches von E. N. Adler „Von 
Ghetto zu Ghetto“ 99. Banse, 
Abflußlosigkeit und Entwässerung im 
Orient. Mit 1 Karte als Sonderbei- 
lage 117. 10. internationaler Geo- 
graphenkongreß 163. Menschenopfer 
im Altertum 194. Halbfaß, Die 
Ausnutzung der Wasserkräfte im 
Auslande 215. Bildung einer Angkor- 
Gesellschaft (Paris) 226. Luftdruck- 
schwankungen als Ursache der plötz- 
lichen Todesfälle 228. Baglioni, 
Ein Beitrag zur Kenntnis der natür- 
lichen Musik. Mit Abb. 232. 249. 
264. Die Frage der Schiffsverbin- 
dung zwischen Europa und Sibirien 
244. Das angeblich fehlende Natur- 
gefühl des frühen Mittelalters 276. 
Banse, Die geographische Bedeutung 
der Araber. Mit 1 Karte 316. Neue 
Bemühungen um die Heiligsprechung 
des Kolumbus 368. Passarge, Herr 
Geheimrat Penck und seine Urteile 
über Dr. Michaelsens Dissertation 369. 
Die Kürzung des Afrikafonds 385. 


Europa. 


Allgemeines. Nacktschneckenstudien 
in den Südalpen 52. Tetzner, Die 
Brautwerbung der Balten und West- 
slawen 154. 170. Kämpfe auf dem 
Gebiete der slawischen Altertums- 
kunde 196. Koch, Die Flüsse in 
der ersten Jahreshälfte 1910 236. Er- 
gebnisse neuerer simultaner Tem- 
peraturmessungen in einigen tiefen 
Seen Europas 260. Eine neue euro- 
päische Verkehrslinie 274. Zur 
Thermik der Alpenseen und einiger 
Seen Nordeuropas 275. Flußgeröll, 
Molasseproblem und Alpenfaltung 308. 
Täuber, Ein uralter Flußname 
(Aach-aqua-ava) 333. Die Herkunft 
des europäischen Hausrindes 356. 

Deutschland, Österreich- Ungarn u. 
Schweiz. Kurzdauernde Temperatur- 
schwankungen (Potsdam) 19, Die 





Entwickelungsgeschichte der Gera 
und ihrer Nebengewässer 19. Die 
neuen Untersuchungen über den 
unterirdischen Lauf des Timavus 20. 
Neue Forschungen in den paläolithi- 
schen Stätten im Löß von Willen- 
dorf 34. Jaeger, Tölz und die 
Isarlandschaft. Mit 1 Karte 37. 62. 
Pola eine kolchische Kolonie Bl. 
Prähistorische Entdeckungen in einer 
Karsthöhle 51. Landeskundlicher 
Grundriß von Lübeck 51. Landver- 
lust und Landgewinn auf Hiddensöe 
52. Verschwinden des Neusiedler- 
sees 52. Geographische Wanderskizze 
über Bornholm 52. Eingewöhnung 
von Pflanzen wärmerer Zonen auf 
Helgoland 68. Morphologie des kri- 
stallinen Odenwaldes 68. Die Mol- 
luskenfauna der Schwäbischen Alb 68. 
Die Temperaturen und Sauerstoff- 
mengen im Sakrower See bei Pots- 
dam 83. Quartärstudien im Gebiete 
der nordischen Vereisung Galiziens 
83. Die geologischen und hydro- 
graphischen Verhältnisse der Therme 
Stubica- Toplice 83. Verdunstungs- 
messungen am Grimnitzsee in der 
Mark 83. Die Graswirtschaft in der 
Hügelregion des nordost- und zentral- 
schweizerischen Alpenfußlandes 83. 
Stürme und Sturmwarnungen an der 
deutschen Küste 1896 bis 1905 84. 
Glazialstudien im Tölzer Diluvium 
84. Gengler, Das Schnupfen im 
Bayerischen Wald. Mit Abb. 91. 
Kugelbildungen in den Sediment- 
und Eruptivgesteinen der Rheinpfalz 
99. Das Kamel zur Römerzeit in 
der Schweiz 100. Der Sirgenstein 
und die diluvialen Kulturstätten 
Württembergs 116. Paläontologische 
Entdeckungen in einer Vorstadt von 
Triest 116. Schneemessungen in den 
Schweizer Hochalpen 146. Die deut- 
schen Weilerorte 146. Zum Schutz 
der Alpenflora (Berchtesgaden und 
Bad Reichenhall) 147. Die Tektonik 
des schweizerischen Tafeljura 148. 
Die Vegetation des Oberrheins 148. 
Junghans, Das Wiederaufleben 
des sächsischen Zinnbergbaues 159. 
Seiches und Berg- und Talwinde in 
Riva 164. Der Schaalsee 180. Kon- 
struktion eines Pfahlbaues im Atter- 
see 195. Die Eisverhältnisse in den 
südbayerischen Seen 211. Die süd- 
lichen Rheingletscherzungen von 
St. Gallen bis Aadorf 211. v. Gab- 
nay, „Sunnawend‘“ im Märamaroser 
Komitat 240. Die Gewitterfrequenz 
in der Schweiz 244. Halbfaß, Der 


585178 





Mohriner See in der Neumark. Mit 
1 Karte 257. Ein schweizerischer 
Nationalpark 259. Ergebnisse zehn- 
jähriger Gewitterbeobachtungen in 
Nord- und wMitteldeutschland 260. 
Carthaus, Die Höhlen Westfalens 
und die Ausgrabungen in der Veleda- 
Höhle 261. Neue prähistorische 
Karstfunde 274. Die Schwerkraft in 
der Umgebung des Plattensees 275. 
Steinzeitliches Dolmengrab bei Aesch 
276. Volksdichtedarstellung des Krei- 
ses Goldap 276. Geologie der Insel 
Sylt 276. Olbricht, Das Diluvium 
in der Umgebung von Hannover. 
Mit Abb. u. Karten 277. Schroeter, 
Der erste schweizerische „National- 
park“, Val Cluoza im Unter-Engadin 
282. Rasse und Kultur der jüngeren 
Steinzeit in der Rheinpfalz 292. Die 
Eishöhle bei ÖObertraun 306. Die 
ostpreußischen Straßen im 18. und 
19. Jahrhundert 306. Beobachtungen 
des niederösterreichischen Gewitter- 
stationsnetzes 1901 bis 1905 306. Die 
jüngeren Krustenbewegungen in den 
Karpathen 307. Volksdichte im Kreise 
Dirschau 308. Die kristallinische 
Zone der Kärnter Alpen 324. Der 
wirtschaftliche Wert von Wasser- 
straßen in Württemberg 340. Mor- 
phologie des Böhmerwaldes 340. 
Tertiär und Quartär des subbes- 
kidischen Vorlandes in Ostschlesien 
354. Die künstliche Veranlassung 
des Abganges von Lavinen (Schweiz) 
354. Die Frage nach der Erhebungs- 
zeit des Thüringer Waldes und des 
Harzes 354. Die Sumpfschildkröte 
in der Provinz Brandenburg 354. 
Die Bevölkerungsentwickelung in den 
Regierungsbezirken Kassel und Wies- 
baden 355. Beiträge zur Agrarge- 
schichte des Westerwaldes 356. Die 
Siedelungen im westlichen Nadrauen 
356. Die glaziale Karpathenland- 
schaft 356. Beiträge zur- Kenntnis 
der rügenschen Burgwälle 356. Der 
Erdgasbrand bei Neuengamme 371. 
Die Wallburgen auf den westlichen 
Höhen des Etschtales zwischen Meran 
und Bozen 386. 

Nordeuropa, Belgien, die Nieder- 
lande und Großbritannien. Das 
Klima in Schweden während der 
spätquaternären Periode 19. Wasser- 
standsschwankungen des Vänern 19. 
274. Der neue Wasserweg nach 
Rotterdam 146. Der Glämujökull 
kein Gletscher 147. Flechtner- 
Lobach, Die Volkskunstin Schweden 
174. Ebelings Reise durch das is- 


vI 


Inhaltsverzeichnis des XCVIII. Bandes. 





ländische Südland 180. Die lappi- 
schen Zaubertrommeln 196. Der 
See Torneträsk in Lappland 260. 
Weiteres über den Pfahlbaufund am 
Wettersee 302. Erkes, Meine vierte 
Islandreise, Sommer 1910. Mit Abb. 
309. Die Insel Texel 355. 

Frankreich, Spanien, Portugal und 
Italien. Darstellungen menschlicher 
Hände in der Höhle von Gargas 18. 
Mielert, Die Insel Korsika. Mit Abb. 
56. 69. 85. Der Stillstand in der 
Bevölkerungszunalime Frankreichs 67. 
Das Verhältnis von Alpen und Apen- 
nin zu Korsika und Sardinien 99. 
Halbfaß, Die Entwässerung des 
Val di Chiana in Toskana. Mit Karte 
108. van Gennep, Die neueren Aus- 
grabungen in der Stadt Alesia. Mit 
Abb. u. 1 Plan 165. Beimischung 
von Sklavenblut in der Bevölkerung 
Italiens 212. Die Republik Portugal 
292. Schoen, Alte Sitten in der 
Bretagne 325. 348. Schmidt, Aus 
den italienischen Marken 363. Er- 
richtung eines paläontologischen In- 
stituts in Paris 371. 

Rußland und die südosteuropäische 
Halbinsel. Erster Versuch einer 
Erklärung kaukasischer geographi- 
scher Namen 35. Die Bewohner der 
südosteuropäischen Halbinsel 35. 
Neues über die Lasen 143. Bestei- 
gung des Kasbek 179. Das König- 
reich Montenegro 179. Türkische 
Eisenbahnbauten und -projekte 191. 
v. Hahn, Ein Versuch der Erfor- 
schung des Klimas im Kaukasus 191. 
Bergbesteigungen im Kaukasus 227. 


Asien. 


Kleinasien, Vorderasien u. Arabien. 
Oman 15. Nöldeke, Zu dem Artikel 
„Die Grabesmoscheen der Schi’iten 
im Iraq“ 82. v. Schultz, Der 
„Turssuk“. Mit Abb. 105. Saad, Jafa. 
Mit 1 Plan 137. Jagd, Fischfang und 
Bienenzucht der Juden in der tannäi- 
schen Zeit 146. Rescher, Weib und 
Ehe in der Spruchweisheit der Araber 
186. Türkische Eisenbahnbauten und 
-projekte 191. Kasi, Der Kurden- 
stamm Manggur. Mit Abb. 213. 
Die Hittiterforschung 241. Ohne- 
falsch-Richter, Entdeckung des 
bei Homer erwähnten Räucheraltar- 
platzes der Aphrodite in Paphos auf 
Cypern. Mit Abb. u. 1 Karte 293. 
Goldstein, Zur Ethnographie der 
Juden 311. Butlers archäologische 
Expedition nach der Stätte von 
Sardes 322. Die persische Frau 351. 
Max Freiherr v. Oppenheims neue 
Reise nach Syrien und Mesopotamien 
385. 

Asiatisches Rußland. Der klimatische 
Einfluß des Baikalsees auf seine Um- 
gebung 36. Zweifel an Deschnews 
sibirischer Reise von 1648 195. 

Chinesisches Reich, Tibet, Japan 
mit Korea. Baron Budberg, Über 
die Bedingungen des Exporthandels 
in der Nordmandschurei 7. Der 
Nachlaß der ermordeten deutschen 
Reisenden Brunhuber und Schmitz 50. 
Scheitern der chinesischen Volks- 
zählung 67. Die Quellen und Ur- 
sachen der japanischen Auswande- 
rung 82. Frauen- und Mädchen- 
handel in China zur Zeit der Hun- 
gersnöte 99. Der japanische Kohlen- 
bergbau 100. Baron Budberg, Zur 
Charakteristik chinesischen Seelen- 
Jebens 111. Fertigstellung der Jünnan- 








bahn 116. Eiszeitliche Ablagerungen 
in der Nordwestmongolei 131. Die 
koreanische Seidenindustrie 132. De 
Lacostes Reise durch die westliche 
Mongolei 147. Das Ende des Kaiser- 
reichs Korea 177. Der chinesische 
Alligator 275. Baron Budberg, 
Bürg- und Haftpflicht im chinesischen 
Volksleben 285. Carruthers’ Reise in 
der nordwestlichen Mongolei 291. 
Eisenbahnbau in Südchina 305. 
Untersuchung des Jangtsebogens und 
Jalongkiangauf ihre Schiffbarkeit 323. 
China ein Verfassungsstaat 371. 

Vorder- und Hinterindien, Indo- 
nesien. Hosseus, Ein botanischer 
Ausflug auf den Pedrotallagala 
(Ceylon) 45. Der Zimt des Königs 
von Annam 98. Eigenartige Stoff- 
verzierung des Toradja auf Mittel- 
Celebes 116. Lonystaffs vorjährige 
Reise in das Karakoramgebirge 131. 
Die neue Ruhestätte der Reste der 
Gebeine Buddhas 195. Die indischen 
Verbrecherklassen 210. Carthaus, 
Die Insel Timor 245. 


Afrika. 


Allgemeines. Kumms Durchquerung 
des nördlichen Afrika 180. Strucks 
Übersichtskarte der Hauptsprach- 
familien in Afrika 244. 

Nordafrika und die Sahara. Cortiers 
neue Saharareise 18. Abkommen 
über die tunesisch -tripolitanische 
Grenze 19. Gentils neue Marokko- 
reise 147. Burmester, Einige Be- 
obachtungen über tropische Schutz- 
krusten und Wadibildungen (Agyp- 
ten). Mit Abb. 149. Die Steinzeit 
Agyptens 275. Ein altägyptisches 
Steingrab 307. Neuere Anschauungen 
über das Projekt der Saharabahn 
319. Die österreichische Bahara- 
Expedition 320. Tod des Scherifen 
Ma el-Ainin 372. Die Frage nach der 
Entstehung der Agypter 372. 

Westafrika mit Kamerun. Spieß, 
Verborgener Fetischdienst unter den 
Evheern. Mit Abb. 10. Das Klima 
der Niederguineaküste 20. Freiherr 
v. Steins Expedition nach der Gegend 
von Nun und Mbam 35. Das Gebiet 
der Ntum und Mwei 35. Die Kultur- 
regionen Togos 100. Bahnbau in 
Nigeria 113. Höhlenzeichnungen 
und -malereien im Senegal-Niger- 
gebiet 132. Karte des Konzessions- 
gebietes der Gesellschaft „Süd- 
Kamerun“ 179. Der Fischfang der 
Eingeborenen an der mauretanischen 
Küste 271. Bahn von Konakry nach 
Kurussa 291. Die Verhältnisse Libe- 
rias nach amerikanischer Auffassung 
297. Die spanischen Besitzungen im 
und am Golf von Guinea 307. Nsibidi, 
eine neue Negerschrift (Südnigeria) 
308. Chevaliers westafrikanische 
Mission 322. Die deutsch-englische 
Grenzexpedition in Kamerun 323. 
Der Inhalt eines Fetischtopfes von 
der Goldküste 324. Spieß, Die Jo- 
holu-Gottheit und ihr Schlangenkult 


337. 

Äquatoriales Afrika (mit Osthorn) 
und der Sudan. Das Somaliland- 
Protektorat 18. Die aerologische 
‘xpedition nach dem Viktoriasee 20. 
Die Handels- und Wirtschaftsverhält- 
nisse Angolas 36. Tordays Reisen 
im südlichen Kongobecken 130. Eine 
Riesenhöhle in Deutsch-Ostafrika 130. 
Zum Tode Boyd Alexanders 131. 292. 
Die innerpolitischen Verhältnisse 





Abessiniens 141. Die Farbestempel 
der Buschongo 146. Priebusch, 
Die Stellung des Häuptlings bei den 
Wabena 205. Mitteilungen über das 
heutige Wadai 206. Zwei hydro- 
graphische Missionen im französischen 
Westafrika 210. Gifte der Eingebo- 
renen im Uhehegebiet 211. Karte 
des Massaireservats 226. Die kongo- 
lesisch - portugiesische Grenze am 
Dilolosre 226. Tilho über das Tsad- 
seegebiet 276. Eine in Wadai ge- 
fundene Reliquie Eduard Vogels 385. 

Südafrika. Hutter, Im Gebiet der 
Etoshapfanne (Deutsch - Südwest- 
afrika). Mit Abb. 1. 24. Pearsons 
Reise an der südafrikanischen West- 
küste 36. Die Binnenkonchylien von 
Deutsch-Südwestafrika und ihre Be- 
ziehungen zur Molluskenfauna des 
Kaplandes 98. Seiner, Der Ver- 
bindungsweg zwischen Deutsch-Süd- 
westafrika und der Betschuanenland- 
Eisenbahn 122. 133. Seiners neue 
Reise nach Deutsch-Südwestafrika 195. 
Range, Steinwerkzeuge der Busch- 
leute des deutschen Namalandes. Mit 
Abb. 207. Volkskunde der Buren 212. 
Passarge, Die Kalkpfannen des 
östlichen Damaralandes. Mit Abb. 
216. Die Auin-Buschmänner 227. Die 
Buschleute der Namib 306. Michael- 
sen, Die Kalkpfannen des östlichen 
Damaralandes (Erwiderung). Mit 
Abb. 378. Schneefall in Transvaal 387. 

Afrikanische Inseln. Zur Kenntnis 
des photochemischen Klimas der 
Kanaren 84. Die Kapverdischen 
Inseln 100. Tiergeographie der 
Seychellen 194. v. Boxberger, 
Wandertage auf Mafia. Mit Abb. u. 
1 Karte 197. Die Riesenlandschild- 
kröte der Insel Aldabra 226. Die 
spanischen Besitzungen im und am 
Golf von Guinea 307. Straußenzucht 
auf Madagaskar 388. 


Amerika. 


Allgemeines. Friederici, Die Ver- 
breitung der Steinschleuder in Ame- 
rika 287. Chamberlain, Über die 
Bedeutungen von „amerikanisch“, 
„Amerikaner“ usw. 341. 

Britisch- Nordamerika und Alaska. 
Aus dem Norden Kanadas 32. Eine 
neue Expedition zur Ersteigung des 
Mount McKinley 50. Versuche, den 
Mount Robson zu ersteigen 163. 
Macmillans Reise im nordöstlichen 
Labrador 243. Leffingwells Expe- 
dition an der Nordküste Alaskas 340. 
Die Indianer von Labrador 372. 

Vereinigte Staaten. Woltereck, 
Indianer von heute 90. Woltereck, 
Aus dem Leben eines Sioux-Indianers 
129. Lumbholtz’ Expedition nach 
Arizona und Sonora 162. Pennsyl- 
vanien zur Zeit Penns 189. Eigen- 
tümlichkeiten der Bewohner der 
Hatterasinsel 212. v. Rümker, 
Naturdenkmalpflege in den Ver- 
einigten Staaten von Amerika 229. 
254. Nansen über „Vinland“ 292. 
Henning, Streifzüge in den Rocky 
Mountains. Mit Abb. 328. 343. 859. 
Woltereck, Indianererziehung auf 
der staatlichen Indianerschule Car- 
lisle. Mit Abb. 373. Reliefkarte der 
Vereinigten Staaten von Amerika 387. 
Bureau of Mines und Bureau of 
Standards 388. 

Mexiko, Zentralamerika und West- 
indien. Der Panamakanal 79. 
Massenhaftes Auftreten von Kope- 


En EEE UBER 





poden vor dem kalifornischen Meer- 
busen 82. Lumholtz’ Expedition nach 
Arizona und Sonora 162. Die Karst- 
gebiete im nördlichen Yucatan 227. 
Die Technik der Purpurfärberei in 
Zentralamerika und Mexiko 228. 
Fossile Säugetiere aus dem Pleistozän 
in den Höhlen des zentralen Cuba 387. 
Südamerika. Lehmann, Syphilis und 
Uta in Peru 13. Die kroatische 
wissenschaftliche Mission in Süd- 
amerika 18. Bahn Bahia de Cara- 
ques—Quito 18. Seljan, Die Guayrä- 
Fälle (Salto das Sete-Quedas) des 


Paraná 48. v. Buchwald, Zur 
Völkerkunde Südamerikas II 74. 
Seljan, Drei südamerikanische 


Sagen 94. Max Schmidts neue Reise 
nach dem zentralen Südamerika 162. 
Frhr. v. Nordenskiöld, Sind die 
Tapiete ein guaranisierter Chaco- 
stamm? Mit Abb. u. 1 Karte 181. 
Die Leichenbeseitigung bei den 
Macheyengas 196. Das Wunder der 
Jungfrau Maria bei der Belagerung 
von Cuzco 228. Eilerts de Haans Suri- 
nam-Expedition 1908 243. v. Buch- 
wald, Primitiver Feldbau und Ar- 
beitseinteilung (Südamerika) 269. 
Eilerts de Haans Surinam-Expedition 
1910 306. Die Eisenbahnen Colom- 
bias 324. Sievers, Die Quellen des 
Amazonenstromes 339. Reeves’ Karte 
des südlichen Peru und nördlichen 
Bolivia 388. 


Australien u. Ozeanien. 


Das Festland. Vermessung der austra- 
lischen Überlandbahn Port Augusta— 
Fremantle 80. Schmidt, Der an- 
gebliche universale Heiratstotemismus 
der südostaustralischen Stämme und 
einiges andere 238. 

Die Inseln. Pygmäenbevölkerung in 
Niederländisch-Neuguinea 50. Der 
geologische Bau von Kaiser-Wilhelms- 
Land 67. Diebstahl und Duell in 
Buin (Bougainville) 99. Die englische 
Expedition nach Holländisch - Neu- 
guinea 147. 339. Untersuchungen über 
Wachstum und Geschlechtsreife bei 
melanesischen Kindern 180. Mosz- 
kowskis Forschungsreise in Neu- 
guinea 195. Vulkanische Ausbrüche 
am Geysir von Waimangu 195. Pyg- 
mäen im Schneegebirge Nieder- 
ländisch-Neuguineas 210. Die heutige 
Lage der Gilbert-Insulaner 223. Die 
deutsch -holländische Abgrenzungs- 
kommission in Neuguinea 227. Her- 
derscheesMamberamo-Expedition 243. 
Schultz, Das Falealii 300. Neue 
holländische Expedition in das Schnee- 
gebirge Neuguineas 372. Die Fahrt 
der holländischen Grenzexpedition auf 
dem Kaiserin-Augusta-Fluß376. Roux’ 
Aufenthalt auf den Aruinseln 384. 
Abschluß der Hamburger Südsee-Ex- 
pedition 3885. Friederieis Wanderungen 
an der Küste von Kaiser -Wilhelms- 
Land 386. 


Polargebiete u. Ozeane. 


Nord- und Südpolargebiet. Aufbruch 
der neuen englischen Südpolarexpe- 
dition 14. Charcots Südpolarexpe- 
dition 36. 115. Berniers neue Polar- 
expedition 50. 163. 292. Die polaren 
Eisverhältnisse im Sommer 1909 82. 
Filchners Südpolarexpedition 131. 
273. 340. Rasmussens Expedition nach 
dem polaren Amerika 131. Die ge- 


Inhaltsverzeichnis des XCVIII. Bandes. 








plante japanische Südpolarexpedition 
131. Amundsens Nordpolarexpedition 
131. Mikkelsens Grönlandexpedition 
148. 371. Der Moschusochse 163. Die 
Coleopteren des arktischen Gebietes 
164. Wissenschaftliche Luftschiff- 
fahrten in der Arktis 179. Durch- 
querung Spitzbergens durch Filchner 
210. Die Frage der Schiffsverbindung 
zwischen Europa und Sibirien 244. 
Amundsens Südpolarexpedition 259. 
Entdeckung eines Vulkans und warmer 
Quellen auf Spitzbergen 260. Die 
Aussagen der Eskimobegleiter Cooks 
339. Die bisherigen geologischen 
Kenntnisse über die Bäreninsel, Spitz- 
bergen und das König-Karl- Land 
354. Die englische Südpolarexpedi- 
tion 385. Cooks Bekenntnis 385. 
Ozeane. Expedition des „Thor“ im 
Nordatlantischen Ozean und Mittel- 
meer 17. 305. Morphologie des süd- 
westlichen pazifischen Ozeans 19. 
Die Forschungsfahrt des „Michael 
Sars“ im Nordatlantischen Ozean 
147. 382. Der Kaiser-Wilhelms - Berg 
der Heardinsel ein Vulkan 322. 
Morphologie des Meeresbodens im 
südwestlichen pazifischen Ozean 355. 


Hydrographie, 
Meteorologie, Geophysik. 


Expedition des „Thor“ im Nordatlan- 
tischen Ozean und Mittelmeer 17. 
305.  Kurzdauernde Temperatur- 
schwankungen (Potsdam) 19. Das 
Klima in Schweden während der 
spätquarternären Periode 19. Wasser- 
standsschwankungen des Vänern 19. 
274. Die aerologische Expedition 
nach dem Viktoriasee 20. Das Klima 
der Niederguineaküste 20. Die Be- 
deutung der Seen für die Gewitter- 
bildung 35. Der klimatische Einfluß 
des Baikalsees auf seine Umgebung 
36. Grundzüge der Biologie und 
Geographie des Süßwasserplanktons 
51. Zunahme des Widerstandes, den 
Wasser von verschiedener Temperatur 
der Vermischung entgegensetzt 52. 
Aufstiege von Pilotballons auf deut- 
schen Handelsschiffen 67. Radium, 


Thorium und Aktinium in der 
Atmosphäre 68. Die polaren Eis- 
verhältnisse im Sommer 1909 82. 


Temperaturen und Sauerstoffmengen 
im Sakrower See bei Potsdam 83. 
Die geologischen und hydrographi- 
schen Verhältnisse der Therme Stu- 
bica - Toplice 83. Verdunstungs- 
messungen am Grimnitzsee in der 
Mark 83. Zur Kenntnis des photo- 
chemischen Klimas der Kanaren 84. 
Stürme und Sturmwarnungen an der 
deutschen Küste 1896 bis 1905 84. 
Der Winterhimmel des Hochgebirges 
und des Tieflandes 98. Verdunstungs- 
messungen auf dem Meere 100. Ver- 
schiebungen der Atmosphäre im 
Jahreslauf 116. Monatskarten für 
den Indischen Ozean 132. Die perio- 
dischen Schwankungen der Gletscher 
1908 146. Schneemessungen in den 
Schweizer Hochalpen 146. Die For- 
schungsfahrt des „Michael Sars“ im 
Nordatlantischen Ozean 147. 382. Sei- 
ches und Berg- und Talwinde in Riva 
164.  Wissenschaftliche Luftschiff- 
fahrten in der Arktis 179. Der 
Schaalsee 180. v. Hahn, Ein Ver- 
such der Erforschung des Klimas im 
Kaukasus 191. Menschenopfer im 
Altertum 194. Die Eisverhältnisse 








VII 
in den südbayerischen Seen 211. 
Die südlichen Rheingletscherzungen 
von St. Gallen bis Aadorf 211. Luft- 
druckschwankungen als Ursache der 
plötzlichen Todesfälle 228. Koch, 
Die Flüsse in der ersten Jahreshälfte 
1910 236. Der Begriff „Interglazial“ 
244. Die Gewitterfrequenz in der 
Schweiz 244. Halbfaß, Der Moh- 
riner See in der Neumark. Mit 
1 Karte 257. Der See Forneträsk in 
Lappland 260. Ergebnisse zehn- 
jähriger Gewitterbeobachtungen in 
Nord- und Mitteldeutschland 260. 
Ergebnisse neuerer simultaner Tem- 
peraturmessungen in einigen tieferen 
Seen Europas 260. Zur Thermik 
der Alpenseen und einiger Seen Nord- 
europas 274. Die Schwerkraft in der 
Umgebung des Plattensees 275. Be- 
obachtungen des niederösterreichi- 
schen Gewitterstationsnetzes 1901 bis 
1905 306. Ergebnisse und fernere 
Ziele der wissenschaftlichen Drachen- 
und Ballonaufstiege 307. Säkulare 
Anderungen der erdmagnetischen 
Elemente 307. Wehner über die 
Revision eines Satzes der Gravi- 
tationslehre 307. Fragen der Eiszeit 
354. Neue Kreuzfahrt des magne- 
tischen Vermessungsschiffes „Carne- 
gie“ 371. Schneefall in Transvaal 
387. 


Geologie 
u. Paläontologie. 


Die Entwickelungsgeschichte der Gera 


und ihrer Nebengewässer 19. Der 
geologische Bau von Kaiser-Wilhelms- 
Land 67. Morphologie des kristallinen 
Odenwaldes 68. Quartärstudien im 
Gebiete der nordischen Vereisung 
Galiziens 83. Die geologischen und 
hydrographischen Verhältnisse der 
Therme Stubica-Toplice 83. Glazial- 
studien im Tölzer Diluvium 84. Die 
Lebensweise des Diplodocus 98. Kugel- 
bildungen in den Sediment- und 
Eruptivgesteinen der Rheinpfalz 99. 
Das Verhältnis von Alpen und Apennin 
zu Korsika und Sardinien 99. Palä- 
ontologische Entdeckungen in einer 
Vorstadt von Triest 116. Eiszeitliche 
Ablagerungen in der Nordwest- 
monyolei 131. Der Zusammenhang 
zwischen Abplattung und Gebirgs- 
bildung 145. Die Tektonik des 
schweizerischen Tafeljura 148. Vul- 
kanische Ausbrüche am Geysir von 
Waimangu 195. Die Entstehung der 
Faltengebirge 211. Passarge, Die 
Kalkpfannen des östlichen Damara- 
landes. Mit Abb. 216. Die Karst- 
gebiete im nördlichen Yucatan 227. 
Entdeckung eines Vulkans und 
warmer Quellen auf Spitzbergen 260. 
Geologie der Insel Sylt 276. Ol- 
bricht, Das Diluvium in der Um- 
gebung von Hannover. Mit Abb. u. 
Karten 277. Die Eishöhle bei Ober- 
traun 306. Die jüngeren Krusten- 
bewegungen in den Karpathen 307. 
Flußgeröll, Molasseproblem und Alpen- 
faltung 308. Der Kaiser-Wilhelms- 
Berg der Heardinsel ein Vulkan 322. 
Die kristallinische Zone der Kärnter 
Alpen 324. Flysch und Erdöl 324. 
Morphologie des Böhmerwaldes 340. 
Fragen der Eiszeit 354. Tertiär und 
Quartär dessubbeskidischen Vorlandes 
in Ostschlesien 354. Die bisherigen 
geologischen Kenntnisse über die 
Bäreninsel, Spitzbergen und das 


VHI 


König-Karl-Land 354. Die Frage 
nach der Erhebungszeit des Thürin- 
ger Waldes und Harzes 354. Die 
glaziale Karpathenlandschaft 356. Er- 
richtung eines paläontologischen In- 
stitutes in Paris 371. Michaelsen, 
die Kalkpfannen des östlichen Da- 
maralandes (Erwiderung). Mit Abb. 
378. Fossile Säugetiere aus dem Plei- 
stozän in den Höhlen des zentralen 
Cuba 387. ' 


Botanisches 
und Zoologisches. 


Der Hund im Altertum 20. Gengler, 
Die Schwalben im Volksglauben 31. 
Hosseus, Ein botanischer Ausflug 
auf den Pedrotallagala (Ceylon) 45. 
Grundzüge der Biologie und Geo- 
graphie des Süßwasserplanktons 51. 
Nacktschneckenstudien in den Süd- 
alpen 52. Eingewöhnung von Pflanzen 
wärmerer Zonen auf Helgoland 68. 
Die Molluskenfauna der Schwäbischen 
Alb 68. Massenhaftes Auftreten von 
Kopepoden vor dem kalifornischen 
Meerbusen 82. Die Laichwanderungen 
der Fische 84. Die Binnenkonchylien 
von Deutsch-Südwestafrika und ihre 
Beziehungen zur Molluskenfauna des 
Kaplandes 98. Die Lebensweise des 
Diplodocus 98. Florengeschichtlicher 
Überblick der Farne 98. Der Zimt 
des Königs von Annam 98. Das’Kamel 
zur Römerzeit in der Schweiz 100. 
Zum Schutz der Alpenflora (Berchtes- 
gaden und Bad Reichenhall) 147. 
Die Vegetation des Oberrheins 148. 
Der Moschusochse 163. Die Coleo- 
pteren des arktischen Gebietes 164. 
Tiergeographie der Seychellen 194. 
Die Riesenlandschildkröte der Insel 
Aldabra 226. Der chinesische Alli- 
gator 275. Die Identität des post- 
glazialen Elches mit der heute noch 
lebenden Art 308. Die Sumpfschild- 
kröte in der Provinz Brandenburg 
354. Die Herkunft des europäischen 
Hausrindes 356. Fossile Säugetiere 
aus dem Pleistozän in den Höhlen 
des zentralen Cuba 387. Straußen- 
zucht auf Madagaskar 388. 


Urgeschichte. 


Darstellungen menschlicher Hände in 
der Höhle von Gargas 18. Neue For- 
schungen in den paläolithischen 
Stätten im Löß von Willendorf 34. 
Prähistorische Entdeckungen in einer 
Karsthöhle 51. Der Sirgenstein und 
die diluvialen Kulturstätten Württem- 
bergs 116. Höhlenzeichnungen und 
-malereien im Senegal-Nigergebiet 132. 
Konstruktion eines Pfahlbaues im 
Attersee 195. Carthaus, Die Höhlen 
Westfalens und die Ausgrabungen in 
der Veledahöhle 261. Neue prähisto- 
rische Karstfunde 274. Die Steinzeit 
Agyptens 275. Steinzeitliches Dolmen- 
grab bei Aesch 276. Rasse und Kultur 
der jüngeren Steinzeit in der Rhein- 
pfalz 292. Weiteres über den Pfahl- 
baufund am Wettersee 302. Prä- 
historische Fälschungen 323. Beiträge 
zur Kenntnis der rügenschen Burg- 
wälle 356. Die Herkunft des europäi- 
schen Hausrindes 356. Die Wall- 
burgen auf den westlichen Höhen 
des Etschtales zwischen Meran und 
Bozen 387. 








Anthropologie. 


Lehmann, Syphilis und Uta in Peru 
13. Militäruntauglichkeit und Groß- 
stadteinfluß 36. Der Stillstand in 
der Bevölkerungszunahme Frank- 
reichs 67. Klotz, Die „organgesetz- 
liche“ Orientierung des Organismus 
Mensch im Raume. Mit Abb. 101. 
Audree, Anthropologische Indices 
160. Der Ursprung der Haussa 164. 
Untersuchungen über Wachstum und 
Geschlechtsreife bei melanesischen 
Kindern 180. Pygmäen im Schnee- 
gebirge Niederländisch - Neuguineas 
210. Beimischung von Sklavenblut 
in der Bevölkerung Italiens 212. 
Rasse und Kultur der jüngeren Stein- 
zeit in der Rheinpfalz 292. Die Frage 
nach der Entstehung der Ägypter 372. 


Ethnographie nebst 
Volkskunde. 


Spieß, Verborgener Fetischdienst unter 
den Evheern. Mit Abb. 10. Geng- 
ler, Die Schwalben im Volkszlauben 
31. Die Bewohner der südosteuro- 
päischen Halbinsel 35. Steinmetz, 
Eine Berichtigung zu Eduard Hahns 
Aufsatz „Niederer Ackerbau oder 
Hackbau“ 66. v. Buchwald, Zur 
Völkerkunde Südamerikas II 74. 
Woltereck, Indianer von heute 90. 
Gengler, Das Schnupfen im Bayeri- 
schen Wald. Mit Abb. 91. Seljan, 
Drei südamerikanische Sagen 94. 
Frauen- und Mädchenhandel in 
China zur Zeit der Hungersnöte 99. 
Diebstahl und Duell in Buin (Bou- 
gainville) 99. Die Kulturregionen 
Togos 100. v. Schultz, Der „Turs- 
suk“. Mit Abb. 105. Baron Bud- 
berg, Zur Charakteristik chinesischen 
Seelenlebens 111. Eigenartige Stoff- 
verzierung der 'Toradja auf Mittel- 


Celebes 116. Woltereck, Aus dem 
Leben eines Sioux-Indianers 128. 
Neues über die Lasen 143. Die 
Farbestempel der Buschongo 146. 


Jagd, Fischfang und Bienenzucht in 
der tannäischen Zeit 146. Die deut- 
schen Weilerorte 146. Tetzner, 
Die Brautwerbung der Balten und 
Westslawen 154. 170. Die Völker- 
kunde im Unterricht an den höheren 
Schulen 163. van Gennep, Die 
neueren Ausgrabungen in der Stadt 
Alesia. Mit Abb. und 1 Plan 165. 
Flechtner-Lobach, Die Volks- 
kunst in Schweden 174. Frhr. von 
Nordenskiöld, Sind die Tapiete 
ein guaranisierter Ohacostamm? Mit 
Abb. und 1 Karte 181. Rescher, 
Weib und Ehe in der Spruchweisheit 
der Araber 186. Die Leichenbesei- 
tigung bei den Macheyengas 196. 
Die lappischen Zaubertrommeln 196. 
Kämpfe auf dem Gebiete der sla- 
wischen Altertumskunde 196. Prie- 
busch, Die Stellung des Häuptlings 
bei den Wabena 205. Range, Stein- 
werkzeuge der Buschleute des deut- 
schen Namalandes. Mit Abb. 207. 
Die indischen Verbrecherklassen 210. 
Tod Mihajlos, des letzten Zigeuner- 
fürsten 210. Gifte der Eingeborenen 
im Uhehegebiet 211. San Lucio, der 
Heilige für den Schweizerkäse 212. 
Volkskunde der Buren 212. Eigen- 
tümlichkeiten der Bewohner der 
Hatterasinsel 212. Kasi, Der Kurden- 
stamm Manggur. Mit Abbild. 213. 
Goldstein, Besitz und Vermögen 








bei den primitiven Völkern 222. Die 
heutige Lage der Gilbert-Insulaner 
223. Die Auin-Buschmänner 227. 
Die Technik der Purpurfärberei in 
Zentralamerika und Mexiko 228. 
Methoden der Eisengewinnung bei den 
alten Völkern 228. Das Wunder der 
Jungfrau Maria während der Be- 
lagerung von Cuzco 228. Baglioni, 
Ein Beitrag zur Kenntnis der natür- 
lichen Musik. Mit Abb. 232. 249. 
264. Schmidt, Der angebliche 
Heiratstotemismus der südaustra- 
lischen Stämme und einiges andere 
238. v. Gabnay, „Sunnawend“ im 
Märamaroser Komitat 240. Die Hit- 
titerforschung 241. v. Buchwald, 
Primitiver Feldbau und Arbeitsteilung 
(Südamerika) 269. Der Fischfang 
der Eingeborenen an der maureta- 
nischen Küste 271. Volksdichtedar- 
stellung des Kreises Goldap 276. 
Baron Budberg, Bürg- und Haft- 
pflicht im chinesischen Volksleben 
285. Friederici, Die Verbreitung 
der Steinschleuder in Amerika 287. 
Ohnefalsch-Richter, Entdeckung 
des bei Homer erwähnten Räucher- 
altarplatzes der Aphrodite in Paphos 
auf Cypern. Mit Abb. und 1 Karte 
293. Schultz, Das Falealii 300. 
Die Buschleute der Namib 306. Ein 
altägyptisches Steingrab 307. Nsibidi, 
eine neue Negerschrift (Südnigeria) 
308. Volksdichte im Kreise Dirschau 
308. Goldstein, Zur Ethnographie 
der Juden 311. Banse, Die geo- 
graphische Bedeutung der Araber. 
Mit 1 Karte 316. Butlers archäologi- 
sche Expedition nach der Stätte von 
Sardes 322. Der Inhalt eines Fetisch- 
topfes von der Goldküste 324. Schoen, 
Alte Sitten in der Bretagne 325. 348. 
Spieß, Die Joholu-Gottheit und ihr 
Schlangenkult 337. Die persische 
Frau 351. Hahn, Bemerkung zu 
der Berichtigung von Steinmetz zum 
„niedrigen Ackerbau oder Hackbau“ 
353. Danzel, Magisches und mit- 
teilendes Zeichnen 357. Die Indianer 
von Labrador 372. Woltereck, 
Indianererziehung auf der staatlichen 
Indianerschule Carlisle. Mit Abb. 373. 
Die zweistufige Bestattung der Eth- 
nologen und die Teilbestattung der 
Prähistoriker 386. DBegraben und 
Verbrennen im Lichte der Religions- 
und Kulturgeschichte 387. 


Sprachliches. 


Erster Versuch einer Erklärung kaukasi- 
scher geographischer Namen 35. 
Strucks Übersichtskarte der Haupt- 
sprachfamilien in Afrika 244, Täu- 
ber, Ein uralter Flußname (Aach- 
aqua-ava) 333 


Biographien. Nekrologe. 


Henry Harrisse f 115. Theobald Fischer 
+ 227. T. W. Saunders f 244. Hormuzd 
Rassam t 275. Eilerts de Haan + 306. 
Leon Laloy f 372. Gustav Adolf Graf 
von Götzen 7386. 


Karten und Pläne. 


Kartenskizze des oberen Isargebiets 38. 
Die Veränderungen im Val di Chiana 
seit der römischen Zeit 108. Der 
Orient. Sonderbeilage zu Nr.8. Plan 
von Jafa 138. Plan der Burg Alesia 


165. Die Indianerstämme im bolivia- 
nisch-argentinischen Grenzgebiet 182. 
Übersichtskarte der Mafia-Inselgruppe 
197. Tiefenkarte des Mohriner Sees 
257. Übersicht über das Diluvium 
Nordwest-Deutschlands 278. Geolo- 
gische Übersichtskarte der Umgebung 
von Hannover 279. Lage des ältesten 
Paphos auf Cypern nach Ohnefalsch- 


Richter 293. Die Stellung Arabiens 
und der Araber im Bereich des 
Islam 317. 


Abbildungen. 


Allgemeines. Stimmgabel nach Be- 
zold 233. Skizze zur Elementarregel 
geologischen Beobachtens 378. 


Europa. Der Monte Rotondo (2625 m) 
vom Lago dell’ Oriente (2055 m) aus 
58. Gipfelkamm des Monte Rotondo 
58. An der Bucht von Porto 59. 
Bucht von Ajaccio 59. Alte Kastanien- 
bäume auf Korsika 60. Buchenwald 
auf der Südseite des Passes von 
Vizzavona (1000 m) 60. Südlicher 
Teil von Bastia, vom Genueser Fort 
aus gesehen 70. Rückblick auf dem 
Wege nach Rivisecca in die Berg- 
welt des Restonicatales 70. Zitadelle 
von Corte 71. Hirtenkolonie Rivi- 
secca, 1500 m hoch 71. Typische 
Hütte in der Hirtenkolonie Rivisecca 
72. BRasenplateau mit dem Abfluß 
des Lago dell’ Oriente (2055 m) 72. 
Die höchste Gipfelpyramide des Monte 
Rotondo, 2625 m, von Osten her ge- 
sehen 73. Evisa (842m) mit Blick 
auf die Küstenberge 85. Motiv hinter 
Evisa beim Ponte de Tavoletta (611 m) 
86. Motiv aus den Calanches 86. 
La Piana 86. Viehhürde in Cargese 
87. Motiv aus Bocognano 87. Häuser- 
anlage in Bocognano 88. Bahnviadukt 
im Gravonetal unterhalb des Col de 
Vizzavona (900 m) 88. Einfaches 
Gschmeiglasl aus Grafenau 92. Far- 
biges Gschmeiglasl aus Grafenau 92. 
Gschmeiglasl mit Bild (farbig) aus 
Cham 92. Die drei Schichten Alesias 
166. Hipposandale (Pferdeschuh) aus 
Alesia 167. Die sogenannte „Mutter“ 
(Alesia) 167. Kleinere in Alesia ge- 
fundene Gegenstände: Glöckchen, 
Löffel, Kanne, Axt usw. 188. Die 
alesische Panflöte 168. Panflöte aus 
dem „Urteil des Paris“ 265. Sche- 
matisches Profil durch das Diluvium 
der Umgebung von Hannover 280. 
Das Val da Scarl 282. Der Hinter- 
grund des Val Cluoza von der Alp 
Murter aus gesehen 283. Piz Foral 
im Val da Scarl 283. Arvenwald im 
Val da Scarl 284. Die Lavawüste 


Odädahraun 310. Thoroddsentindur, 
höchste Spitze der Dyngjufjöll 310. 
Lava auf der Hochebene im Süd- 
westen der Dyngjufjöll 311. Knebel- 
see (Askjasee) mit Solfataren am 
Fuße des Thoroddsentindur 311. 


Asien. Steintrommel mit Inschrift, 
aus Fenghsiang, Provinz Schensi 42. 
Urne mit Bügel zum Wassertragen 
bei Opfern (China) 42. Liegender 
oder springender Hirsch aus Gold, 
gefunden 1688 in Sibirien 42. Chi- 
nesisches Opfergefäß mit Deckel, aus 
Bronze 42. Metallspiegel aus der 
Hanzeit 42. Steinrelief aus den 
Grabkammern der Familie Wu (147 
n. Chr.), Schantung 42. Tongefäß in 
Form eines Getreidespeichers. Toten- 
beigabe aus Gräbern der Hanzeit 43. 
Kochherd auf „Bären“-Füßen mit 








Feueröffnung, Rauchabzug und zwei 
Kochöffnungen, aus Gräbern der 
Hanzeit 43. Totenbeigabe aus Ton 
in Form eines Schafstalles mit Ge- 
treidemühle (China) 43. Kochgerät 
aus Bronze im Stil der Hanzeit 43. 
Häuschen aus Ton mit Ziegeldach 
43. „Tausend-Buddha-Felsen“ am 
Yaho, Provinz Szechuan 44. Bud- 
dhistische Heilige. Felsrelief bei Yong 
Kinghien 44. Assyrisches Kellek 105. 
Verschluß am Fuße eines Burdjuk 
105. Eingeborene durchqueren auf 
dem Burdjuk den Bartang 106. Zu- 
sammengestellter Turssuk auf dem 
Transport über Land 106. Der Turssuk 
unbelastet auf dem Wasser 107. Der 
Turssuk im Gebrauch. Zwei Passa- 
giere und zwei Fährleute 107. Junger 
Kaderweschi mit Dienern 214. Bürger 
vonManggurabstammung ausSaudsch- 
bulagh 215. Der Räucheraltarberg 
(Paphos) 294. Die von Prof. Meister 
im Juni 1910 publizierte Inschrift 
(Paphos) 294. Altertümliches Räucher- 
becken aus Stein mit verwitterter 
Inschrift auf dem Räucheraltarberg 
(Paphos) 295. Felsenräucherkammer 
auf dem Räucheraltarberg mit aus- 
gegrabener Inschrift (Paphos) 295. 
Ruinen von Alt-Paphos 296. Auf den 


Trümmerfeldern von Alt- Paphos 
297. 
Afrika. Ebene an der Südostecke der 


Etoshapfanne 1. Landschaftstyp an 
der Etoshapfanne 2. Wildebeest (Gnu) 
3. Junges Eland 4. Löffelhund 4. 
Ausgewitterte Kalkformationen inder 
Etoshalandschaft 5. Abzeichen des 
Boko 11. Gboniti 11. Aweli und 
Ahoneza 12. Nuhewiho 12. Wume- 
trowo 12. Kupferhaltige Kalkriffe 
bei Tsumeb 24. Der Otjikotosee 
von Süden aus 25. Kalkbergkette 
bei Otavi 26. Landschaftstyp zwi- 
schen Grootfontein-N. und Ghaub 26. 
Viehträinke und Bananenpflanzung 
auf der Missionsstation Ghaub 27. 
Schuppenartige Rindenbildung an 
Bäumen im Gebiet der Etoshapfanne 
28. Kakteen im östlichen Etosha- 
gebiet 28. Werft der Heigum-Busch- 
männer bei Namutoni 29. Saiten- 
instrument der Bali 29. Welliges 
Grauwackenland mit Strauchsteppe 
im Chansefeld 123. Die Lebvanavlei 
in der Nordplatte des Ngamirumpfes 
124. °Ai-kho& mit Ochsenfrosch in 
der Massarinjanivlei 125. Grassteppe 
mit vereinzelten Büschen auf trocken- 
gelegtem Boden des Ngamisees 126. 
Der Ngamifluß bei Komaning im 
Januar 1907 133. Der Tamalakane 
unmittelbar an seiner Mündung 134. 
Ausspannplatz Lilokwalo am Botletle 
mit den drei Briefbäumen 134. 
Wagenweg im Bette des Botletle bei 
*Namessan 135. Matete (Ohé-khoë) 
am Botletle 135. Die Ntsehokutsa- 
Salzpfanne im Makarrikarri-Becken 
136. Der Ostabfall des Mahura- 
plateaus bei Serue 136. Baustein 
bei der Cheopspyramide mit Schutz- 
rindenlappen 150. Sphinxkopf mit 
Kruste und Verwitterung am Hinter- 
kopf 150. Abschuppung in der Reil- 
schlucht 151. Blindende der Sclater- 
schlucht 151. Stufe in der Derfler- 
schlucht mit Kruste und Wasser- 
erosion 152. Erosionsschlucht im 
Wadi Dugla 152. Oberlauf des Wadi 
Dugla 153. Vegetationsstreifen im 
Unterlauf des Wadi Dugla 153. 
Kopalbäume bei Kilindoni 198. Neger- 
hütten in Marimbani mit Akadju- 
baum 198. Im Urwald von Tschun- 


Inhaltsverzeichnis des XCVIII. Bandes. 








Australien. 


IX 


Zugang zum Dorf 
Kipingwi 199. Korallenklippen auf 
Miöwi 200. Arabisches Grab auf 
Tschole 200. Einbaum ohne Aus- 
leger (Mtumbwi) 201. Aus den 
Ruinen von Kua 201. Steinwerk- 
zeuge von Rotekuppe im südlichen 
Namalande 207. Die Kalkpfanne 
Okateitei 217. Marimba vom Uelle. 
Azande 234. Marimba aus Quili- 
mane 234. Marimba der Balondo- 
stämme 235. Marimba vom Uelle. 
Azande? 236. Sansa aus Südost- 
afrika 250. Sansa der Barotse 250. 
Sansa der Mayombe 250. Sansa vom 
Ubanghi-Mobeghi 250. Sansa vom 
Sambesi 250. Sansa aus Masciona 
(Maschona) 250. Sansa vom unteren 
Kongo 250. Sansa von Alt-Calabar 
250. Sansa aus Alt-Calabar 250. 
Panflöte aus der Umgebung von 
Harrar 265. Fanflöte der Mayombe 
265. 


guruma 199. 


Amerika. Tapietefrau vom Rio Para- 


Tapietemann vom Rio 
Pilcomayo 183. Echte Tapietehütte 
184. Moderne Tapietehütte 184. 
Chorotiweib mit Tatuierung; Tapiete- 
weib mit Tatuierung; Matacoweib 
mit Tatuierung; Tapiete (Yanaygua) 
mit Tatuierung; Tapieteweib mit 
Tatuierung 185. Axt der Tapiete 
185. Panflöte vom Amazonenstrom 
265. „Castle Rock“ (South Table 
Mountain) bei Golden 329. „Hanging 
Rock“, Clear Creek Canyon 330. 
Der „Roadmaster“, Clear Creek Can- 
yon 330. Black Hawk 331. Central 
City 331. Idaho Springs 343. Stark 
gefaltete Felspartie bei Idaho Springs 
344. Silver Plume, von Osten ge- 
sehen 344. Georgetown, von Westen 
gesehen 345. Blick auf die Conti- 
nental Divide von Waldorf aus 360. 
Mount McClellan von Waldorf ge- 
sehen 361. Gray’s und Torrey’s Peak 
vom Mount Mc Clellan gesehen 361. 
Richard Kissitti (Apachen-Indianer 
374. Joe Exendine (Blonz-Indianert 
374. Jake Rocher (Hopi-Indianer) 
und Ted White (Zuäi-Indianer) 374. 
Elisabeth Penny (Nez-perc6s- India- 
nerin) 375. Estella Sky (Sehwarz- 
fuß-Indianerin) 375. 

Panflöte vom Fly River, 
Panflöte vom Fly 
Panflöte von 
Panflöte von 
Panflöte von 
Panflöte von 


piti 183. 


Neuguinea 265. 
River, Neuguinea 265. 
den Fidschiinseln 265. 
der Insel Buka 265. 
der Insel Buka 265. 
der Insel Buka 265. 


Botanisches u. Zoologisches. Wilde- 


beest (Gnu) 3. Junges Eland 4. 
Löffelhund 4. Schuppenartige Rinden- 
bildung an Bäumen im Gebiet der 
Etoshapfanne 28. Kakteen im öst- 
lichen Etoshagebiet 28. Alte Kasta- 
nienbäume auf Korsika 60. Buchen- 
wald auf der Südseite des Passes von 
Vizzavona 60. Kopalbäume bei 
Kilindoni 198. Negerhütten in Marim- 
bani mit Akadjubaum 198. Arven- 
wald im Val da Scarl 284. 


Ethnographie, Anthropologie und 


Volkskunde. Abzeichen des Boko 
11. Gboniti 11. Aweli und Aho- 
neza 12. Nuhewiho 12. Wumetrowo 
12. Werft der Heigum-Buschmänner 
bei Namutoni 29. Saiteninstrument 
der Bali 29. Steintrommel mit In- 
schrift, aus Fenghsiang, Provinz 
Schensi 42. Urne mit Bügel zum 
Wassertragen bei Opfern (China) 42. 
Liegender oder springender Hirsch 
aus Gold, gefunden 1688 in Sibirien 42. 
Chinesisches Opfergefäß mit Deckel, 


Inhaltsverzeichnis des XCVIII. Bandes. 





aus Bronze 42. Metallspiegel aus der 
Hanzeit 42. Steinrelief aus den Grab- 
kammern der Familie Wu (147 n.Chr.), 
Schantung 42. Tongefäß in Form 
eines Getreidespeichers. Totenbei- 
gabe aus Gräbern der Hanzeit 43. 
Kochherd auf „Bären“-Füßen mit 
Feueröffnung, Rauchabzug und zwei 
Kochöffnungen, aus Gräbern der 
Hanzeit 43. Totenbeigabe aus Ton 
in Form eines Schafstalles, mit Ge- 
treidemühle (China) 43. Kochgerät 
aus Bronze im Stil der Hanzeit 43. 
„Tausend-Buddha-Felsen* am Yaho, 
Provinz Szechuan 44. Buddhistische 
Heilige. Felsrelief bei Yong Kinghien 
44. Die Milchdrüse der Mammalia, 
gesehen beim menschlichen Weibe 
103. Assyrisches Kellek 105. Ver- 
schluß am Fuße eines Burdjuk 105. 
Zusammengestellter Turssuk auf dem 
Transport über Land 106. °Ai-kho& 
mit Ochsenfrosch in der Massarinja- 
nivlei 125. Matete (Ohé-khoë) am 
Botletle 135. Die drei Schichten 
Alesias 166. Hipposandale (Pferde- 
schuh) aus Alesia 167. Die sog. 
„Mutter“ 167. Kleinere in Alesia 
gefundene Gegenstände: Glöckchen, 
Löffel, Kanne, Axt usw. 168. Die 
alesische Panflöte 168. Tapietefrau 
vom Rio Parapiti 183. Tapietemann 
vom Rio Pilcomayo 183. Echte 
Tapietehütte 184. Moderne Tapiete- 
hütte 184. Chorotiweib mit Tatuie- 
rung; Tapieteweib mit Tatuierung; 
Matacoweib mit Tatuierung; Tapiete 
(Yanaygua) mit Tatuierung; Tapiete- 
weib mit Tatuierung 185. Axt der 
Tapiete 185. Einbaum ohne Aus- 
leger (Mtumbwi) 201. Steinwerk- 
zeuge von Rotekuppe im südlichen 
Namalande 207. Junger Kaderweschi 
mit Dienern 214. Bürger von 
Manggurabstammung aus Saudsch- 


bulagh 215. Marimba vom Uele. 
Azande 234. Marimba aus Quili- 
mane 234. Marimba der Balondo- 


stämme 235. Marimba vom Uelle. 
Azande? 236. Sansa aus Südostafrika 
250. Sansa der Barotse 250. Sansa 
der Mayombe 250. Sansa vom 
Ubanghi-Mobeghi 250. Sansa vom 
Sambesi 250. Sansa aus Masciona 
(Maschona) 250. Sansa vom unteren 
Kongo 250. Sansa aus Alt-Calabar 
250. Sansa aus Alt-Calabar 250. 
Panflöte vom Fly River, Neuguinea 
265. Panflöte vom Fly River, Neu- 
guinea 265. Panflöte von den Fidschi- 
inseln 265. Panflöte von der Insel 
Buka 265. Panflöte von der Insel 
Buka 265. Panflöte von der Insel 
Buka 265. Panflöte aus dem „Urteil 
des Paris“ 265. Panflöte aus der Um- 
gegend von Harrar 265. Panflöte 
der Mayombe 265. Panflöte vom 
Amazonenstrom 265. Der Räucher- 
altarberg (Paphos) 294. Die von Prof. 
Meister im Juni 1910 publizierte In- 
schrift (Paphos) 294. Altertümliches 
Räucherbecken aus Stein mit ver- 
witterter Inschrift auf dem Räucher- 
altarberz (Paphos) 295. Felsen- 
räucherkammer auf dem Räucher- 
altarberg mit ausgegrabener Inschrift 
(Paphos) 295. Ruinen von Alt-Paphos 
296. Auf den Trümmerfeldern von 
Alt-Paphos 297. Richard Kissitti 
(Apachen-Indianer) 374. Joe Exen- 
dine (Sioux-Indianer) 374. Jake 
Rocher (Hopi-Indianer) und Ted 
White (Zuni-Indianer) 374. Elisabeth 
Penny (Nez-perces-Indianerin 375. 
Estella Sky (Schwarzfuß-Indianerin) 
375. 





Bücherschau. 


Andrees Geographie des Welthandels, 
2. Aufl., Bd.I 225. 

Archaeological Survey of Nubia, Bull. 5 
338. 

Artbauer, Kreuz und quer durch Ma- 
rokko 321. 

Aubin, En Haiti 80. 

Baedeker, Südbayern, Tirol und Salz- 
burg, 34. Aufl. 97. 

Baedeker, Palästina und Syrien, 7. Aufl. 
162. 

Baeßler-Archiv, Bd.I, Heft 1 272. 

Prinzessin von Bayern, Des Prinzen 
Arnulf Jagdexpedition in den Tian- 
Schan 304. j 

Beyschlag, Krusch u. Vogt, Die Lager- 
stätten der nutzbaren Mineralien, 
Bd. I, 2 352. 

Birkner, Der diluviale Mensch in Europa 
17. 

Boas, The Kwakiutl of Vancouver Is- 
land 145. 

Bogoras, Chukchee Mythology 115. 

Bowditch, The Numeration, Calendar 
Systems and Astronomical Knowledge 
of the Mayas 273. 

British Museum, Handbook to the Ethno- 
grapbical Collections 145. 

DeCarvalho, Prehistoria Sul-Americana 
178, 

Curschmann, Die deutschen Ortsnamen 
im nordostdeutschen Kolonialgebiet 
209. 

Dähnhardt, Natursagen, Bd. III, 1 16. 

Déchelette, Manuel d’Archöologie, Bd. II 
322. 

Der Islam, Bd. I, Heft 1 193. 

Faitlovitch, Quer durch Abessinien 161. 

Flemmings Namentreue Länderkarten, 
Bl. 1 bis 3 80. 

Frazer, Totemism and Exogamy 144. 

Frobenius, Kulturtypen aus dem West- 
sudan 272. 

Gerste, Notes sur la médecine et la 
botanique des anciens Mexicains 83. 

Goebel, Volkswirtschaft des westbaikali- 
schen Sibirien 178. 

Goës, Die indischen Großstädte 179. 

Gothan, Botanisch-geologische Spazier- 
gänge in die Umgebung von Berlin 
352. 

Grube, Religion und Kultus der Chi- 
nesen 81. 

Grund, Beiträge zur Morphologie des 
Dinarischen Gebirges 114. 

Guardia, Cartas de Juan Vazquez de 
Coronado 224, 

Haberlandt, Botanische Tropenreise, 
2. Aufl. 369. 

Haddon u. Quiggin, History of Anthro- 
pology 369. 

Heilborn, Der Mensch der Urzeit, 2. Aufl. 
290. 

Herrmann, Island in Vergangenheit 
und Gegenwart, Bd. IIL 178. 

Heuser, Pennsylvanien im 17. Jahr- 
hundert 189. 

Hesse, Tierbau und Tierleben 96. 

Hoebels Karte von China 272. 

Hölzels Wandkarte der Alpen, neue 
Bearbeitung von Franz Heiderich 370. 

Hübners Geographisch - statistische Ta- 
bellen aller Länder der Erde, 59. Ausg. 
291. 

Hunziker, Das Schweizerhaus, Bd. VI 
209. 

Jahrbuch d. städt. Museums f. Völker- 
kunde Leipzig, Bd. II 303. 

Jochelson, The Yukaghir and the Yu- 
kaghirized Tungus 114. 

Johnson, Geological and Archaeological 
Notes on Orangia 208. 

Katalog des Ethnographischen Reichs- 
museums (Leiden), Bd. I, 1, IV u. V 50. 








Kayser, Lehrbuch der Geologie, 3. Aufl. 
353. 

Keller, Die antike Tierwelt, Bd.I 17. 

Kessler, Serbien 193. 

v. Kimakowicz- Winnicki, Spinn- und 
Webewerkzeuge 162. 

Koch, Beiträge zur Kenntnis der Höhen- 
grenzen der Vegetation im Mittel- 
meergebiete 224. 

Laufer, Chinese Pottery of the Han 
Dynasty 209. 

Lehmann-Nitsche, Sumarios de las Con- 
ferencias XVII Congreso Internacio- 
nal de los Americanistas 291. 

Mc Clintock, The Old North Trail 352. 

Manes, Ins Land der sozialen Wunder 
290. 

Matienzo, Gobierno del Perú, obra 
escrita en el siglo XVI 243. 

Messikomer, Aus alter Zeit 145. 

Meyer, Das deutsche Kolonialreich, 
Bd. II 33. 

Michaelsen, Die Kalkpfannen des öst- 
lichen Damaralandes 216. 

Middelberg, Geologische en Technische 
Aanteckeningen over de Goudin- 
dustrie in Suriname 353. 

Moszeik, Die Malereien der Busch- 
männer in Südafrika 370. 

Münsterberg, Chinesische 
schichte, Bd. I 40. 

Oldenberg, Aus dem alten Indien 144. 

Pawlowski, Les ports de Paris 81. 

Pietschmann, Bericht des Diego Rodri- 
guez de Figueroa über seine Ver- 
handlungen mit dem Inka Titu Cusi 
Yupanqui 291. 

Pittier, Versuch über die Nutzpflanzen 
Costa Ricas 34. 

Pringsheim, Physik der Sonne 114. 

Putnam Anniversary Volume 15. 

Rehse, Kiziba 77. 

Sapir, Takelma Texts 178. 

Schlaginhaufen, Reisen in Kaiser-Wil- 
helms-Land 304. 

Schmidt, Die Stellung der Pygmäen- 
völker in der Entwickelungsgeschichte 
des Menschen 53. 

Schuller, Kleiner spanisch-indianischer 
(araukanischer) Katechismus 15. 

Schuller, Calzadas Beichtbuch auf Spa- 
nisch und Araukanisch 15. 

Schultze, Das Sultanat Bornu 162. 

Seligmann, The Melanesians of British 
New Guinea 241. 

Solger, Studien über nordostdeutsche 
Inlanddünen 81. 

Bolger etc., Dünenbuch 224. 

Speck, Ethnology of the Yuchi Indians 
243. 

Steinhauff und Schmidt, Lehrbuch der 
Erdkunde für höhere Schulen 321. 

Stiny, Die Muren 97. 

Stjerna, Les groupes de civilisation en 
Scandinavie à l’&poque des sépultures 
à galérie 161. 

Strehlow, Die Aranda- und Loritja- 
stämme in Zentralaustralien, III. Teil 
226. 

Stuhlmann, Handwerk und Industrie 
in Ostafrika 304. 

Thonner, Vom Kongo zum Ubangi 208. 

Thurston u. Rangachari, Castes and 
Tribes of Southern India 49. 

Trebitsch, Bei den Eskimos in West- 
grönland 97. 

Trietsch, Levante-Handbuch, 2. Aufl. 193. 

Trietsch, Handbuch über die wirtschaft- 
lichen Verhältnisse Marokkos und 
Persiens 193, 

Vischer, Across the Sahara from Tripoli 
to Bornu 97. 

Wagner, Geographisches Jahrbuch, 
33. Bd. 291. 

Walther, Lehrbuch der Geologie von 
Deutschland 353. 


Kunstge- 


Wilhelm, Kungfutse, Gespräche 242. 

Wilke, Spiral-Mäander-Keramik und 
Gefäßmalerei 338. 

Zacher, Römisches 
Gegenwart 144. 


Volksleben der 


Mitarbeiter. 


Andree, R., Prof., Dr., München 15. 16. 
17. 18. 50. 97. 114. 115. 116. 144. 145. 
146. 160. 162. 180. 196. 209. 210. 212. 
226. 259. 272. 275. 276. 303. 304. 308. 
323. 356. 369. 372. 386. 

Baglioni, 8., Prof., Dr., Rom 232. 
264. 

Banse, Ewald, Braunschweig 117. 316. 

Bauer, Adolf, Kopenhagen 260. 302. 305. 

Beltz, R., Dr., Schwerin 161. 

v. Boxberger, Leo, Dr., Marburg a. L. 
197. 

v. Buchwald, Otto, Guayaquil 74. 269. 

Baron Budberg, Roger, Dr., Polizeiarzt, 
Charbin 7. 111. 285. 

Burmester, Herbert, Dr., München 149. 

Byhan, A., Dr., Hamburg 15. 243. 

Carthaus, Emil, Dr., Halensee - Berlin 
245. 261. 

Chamberlain, Alexander F., Prof., Dr., 
Worcester, Mass. 341. 

Dahms, Paul, Prof., Dr., Zoppot 96.' 

Danzel, Th. W., Leipzig 257. 

Eckert, Max, Prof., Dr., Aachen 225. 

Erkes, Heinrich, Köln 147. 309. 

Flechtner-Lobach, Alice, Stettin 174. 

Förster, B., Oberstleutnant a. D., Mün- 
chen 35. 36. 79. 130. 180. 276. 306. 
323. 

Friederici, Georg, Dr., Dorlisheim (El- 
saß) 287. 

v. Gabnay, Franz, Forstmeister, Buda- 
pest 240. 

Gengler, J., Dr., Erlangen 31. 91. 

van Gennep, Paris 4165. 

Goldstein, F., Dr., Steglitz- Berlin 193. 
222. 311. 

Graebner, Fritz, Dr., Köln 241. 

Greim, G., Prof., Dr., Darmstadt 19. 
20. 97. 99. 100. 114. 115. 116. 131. 
132. 145. 146. 276. 307. 353. 354. 

v. Hahn, C., Wirkl. Staatsrat, Tiflis 
51. 143. 179. 191. 227. 


249. 


S. 37, §p.2, Z.12 von unten lies Magnesia statt Mangan. 

l, „ 20 von oben lies Przybyllok statt Przybyllek. 

l, „ 22 von oben lies Seelheim statt Saelheim. 

4 von oben lies griechisch-cyprische Silben- 
inschriftfunde statt Silbeninschriftfunde. 

. 293, Sp.1, Z.19 von unten lies mein bereits am 23. Juni 
geschriebener Bericht statt mein Bericht. 


ll, a 
ur, %a 
Po en Page 


zn 


8.293, Sp.1, 2.17 von unten lies Juni statt Juli. 

„n 293, „ l, „ 6 von unten lies 22. August statt 27. August. 
» 295, „ 2, „» 2 von oben lies Juli statt Juni. 

» 293, „ 2, „ 19 von oben lies Juni statt Juli. 

„ 294, „ 1, „ 11 von unten lies 22. August statt 27. August. 
a 294, „ l, „ 6 von unten lies Apostolides statt Aphrostolites. 
»„ 294, „ 2, „ 6 von oben lies Auf deren westlicher Beite 

statt Auf dieser westlichen Seite. 


un 


294, » 2, a; 


Räucheraltarblockes. 


| 
| 


. 294, Sp. 2, Z. 7 von unten lies Tonschalen statt Tonschale. 
1 von unten lies 22. August statt 27. August. 
294 muß die Unterschrift der Abb. 2 heißen: 

Prof. Meister im Juli 1910 publizierte Inschrift des 


Inhaltsverzeichnis des XCVIII. Bandes. 


XI 





Halbfaß, W., Prof., Dr., Jena 36. 51. 
52. 83. 108. 164. 180. 215. 257. 260. 
275. 371. ` 

Hahn, Eduard, Dr., Privatdozent, Berlin 
353. 

Hartmann, Albert, Dr., München 338, 

Henning, Karl L., Denver, Colo. 328. 
343. 359. 387. 388. 

Hoernes, Max, Prof., Dr., Wien 322. 

Hosseus, C. 0., Dr., Bad Reichenhall 45. 
147. 274. 

Hutter, Franz, Hauptmann a. D., Mur- 
nau 1. 24. 

Jaeger, Julius, Generaldirektionsrat 
a. D., München 37. 62. 

v. Jezewski, S., Dr., Jena 67. 80. 82. 
100. 113. 116. 

Junghans, Werner, Chemnitz 159. 

Kasi, Mirsa Djewad, Berlin 213. 

Klotz, Ernst, Leipzig 101. 

Koch, L., Duderstadt 2386. 

Krause, Arthur, Dr., Oberlehrer, Leipzig 
321. 

Kühl, Hugo, Dr., Kiel 21. 

Lehmann, Walter, Dr., Kustos, München 
13. 33. 34. 178. 224. 228. 243. 273. 291. 

Maurer, F, Dr., Pfarrer, Bullenheim 
144. 146. 

Messerschmitt, J. B., München 114. 

Michaelsen, H., Dr., Hamburg 378. 

Mielert, Fritz, Sprottau 56. 69. 85. 

Moser, L. Karl, Prof., Dr., Triest 20. 
51. 82. 116. 

Moszkowski, Max, Dr., z. Zt. Nieder- 
ländisch-Neuguinea 195. 

Nöldeke, Arn., Dr., München 82. 

Frhr. v. Nordenskiöld, Erland, Stock- 
holm 181. 

Ohnefalsch-Richter, Max, Dr., z. Zt. auf 
Reisen 293. 

Olbricht, K., Dr., Hannover 277. 

Passarge, S., Prof., Dr., Wandsbek 
208. 216. 227. 369. 

Priebusch, Martin, Missionar, Ilembula 
(Deutsch-Ostafrika) 205. 

Range, P., Dr., Lübeck 207. 

Rescher, O., Dr., Stuttgart 186. 

Roth, E., Dr., Oberbibliothekar, Halle 
20. 52. 67. 68. 83. 84. 98. 100. 148. 
163. 164. 180. 193. 194. 211. 224. 228. 
244. 276. 292. 306. 807. 308. 324. 
340. 354. 355. 356. 369. 


felde. 


| 
Ä 


Berichtigungen zum XCVIII. Bande. 


v. Rümker, K., Prof., Dr., Breslau 229. 
254. 

Saad, L., Dr., Jafa 137. 

Schmidt, Max, Dr., Direktorialassistent, 
z. Zt. Brasilien 162. 

Schmidt, Everhard, Dr., Privatdozent, 
Rom 363. 

Schmidt, W., Prof., Mödling b. Wien 
238. 

Schoen, Heinrich, Prof., Dr., Cahors 
(Lot) 325. 348. 

Schroeter, C., Prof., Zürich 282. 

v. Schultz, Arved, Gießen 105. 

Schultz, Erich, Dr., Oberrichter, Apia 
300. 

Schwalbe, G., Prof., Dr., Straßburg i. E. 
53. 

Seiner, Franz, z. Zt. Deutsch-Südwest- 
afrika 122. 133. 

Seljan, Mirko u. Stevo, Santiago (Chile) 
18. 48. 94. 

Singer, H., Schöneberg - Berlin 14. 15. 
17. 18. 19. 32. 33. 34. 35. 36. 50. 67. 
77. 80. 81. 82. 97. 98. 99. 100. 130. 
131. 132. 141. 147. 148. 161. 162. 163. 
164. 177. 178. 179. 189. 191. 193. 195. 
206. 208. 210. 211. 212. 223. 226. 227. 
241. 243. 244. 259. 271. 272. 273. 275. 
290. 291. 292. 297. 304. 305. 306. 307. 
319. 320. 321. 322. 323. 324. 339. 340. 
351. 352. 368. 370. 371. 372. 376. 382. 
384. 385. 386. 387. 388. 

Spethmann, Hans, Dr., Greifswald 81. 
352. 

Spieß, C., Missionar, Ho (Togo) 10. 337. 

Steinmetz, R. S., Prof., Dr., Amster- 
dam 66. 

Stönner, Dr., 
Berlin 49. 

Stübe, R., Dr., Privatdozent, Leipzig 
40. 81. 209. 242. 

Tannhäuser, F., Prof., Dr., Berlin 352. 

Täuber, C., Prof., Dr., Zürich 333. 

Tetzner, F., Prof., Dr., Leipzig 154. 
170. 

Volz, W., Prof., Dr., Breslau 353. 

Weißenberg, 8., Dr., Elisabethgrad 99. 

Wiedemann, A., Prof., Dr., Bonn 338. 

Winternitz, M., Prof., Dr., Prag 17. 

Wolkenhauer, W., Prof., Dr., Bremen 
115. 

Woltereck, K., München 90. 128. 373. 


Direktorial - Assistent, 


8.295 muß die Unterschrift der Abb. 3 heißen: Altertümliches 
Räucherbecken aus Stein mit verwitterter Inschrift von 
dem unweit des Räucheraltarberges gelegenen Ruinen- 


S.296, Sp.2. Der Satz „Auch an dieser Stelle hat Dr. Zahn 
versuchsweise graben lassen und einige Bildwerke ge- 
funden“ schließt sich unmittelbar an den voraufgegangenen 
Absatz an. Der dann folgende Satz des neuen Abschnitts 
von „Ganz“ bis „wird“ mußlauten: Ganz anders nun hier 
in Kuklia, der Stätte der antiken Stadt Palaipaphos, 
die so zum Unterschiede von der weiter westlich bei 
dem heutigen Distriktshauptort Ktima an der Stätte 
des Dorfes Paphos gelegenen antiken Stadt Neapaphos 
genannt wird. 


S. 297, Sp.2, Z. 8 von oben lies und soll vorher statt und 


vorher. 


Die von funden. 


8.297, Sp. 2, Z.9 von oben lies gefunden haben statt ge- 


S. 297, Sp. 2, Z.7/8 von unten lies wodurch für Rantidi die 


Zeit Homers genau fixiert würde. 





GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unn VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 














Bd. XCVIII. Nr. ı. 


urn 


BRAUNSCHWEIG. 





7. Juli 1910. 





Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 


Von Hauptmann a. D. Hutter. 


Die Gneismassive und Sandsteinplateaus Südwest- 
afrikas umschließt in breitem Gürtel im Osten und 
Norden die dritte morphologische Formation des Landes: 
die Kalaharisenke. 

In ihrer Gesamtheit erstreckt sie sich vom Mittel- 
lauf des Oranje bis zu dem des Okavango !), weit nach 
Osten sich ausbreitend; im Norden bis zum Kaokofeld 
übergreifend. Ihre Südgrenze hier oben im Norden ist 


nennung: „Outjo-Sandsteinterrasse“. Er ist aber keine 
Sandsteinformation mehr — und auch keine Terrasse, 
sondern gehört bereits zur Kalksteinformation der Kala- 
haridepression. 

Diese, die Kalaharisenke, ist als das nunmehr 
trockengelegte und mit Sand überdeckte ungeheure Becken 
einer einzigen \Vasseransammlung oder eines Systems aus- 
gedehnter Binnenseen anzusprechen. Die allmähliche 








Abb.1. Ebene an der Südostecke der Etoshapfanne. Im Hintergrunde die Station Namutoni. 


die von Grootfontein über Otavi nach Outjo und in West- 

südwestrichtung darüber hinaus streichende Bergkette. 
Auf älteren Karten (u. a. im Langhansschen Kolonial- 

atlas 2) trägt dieser kettenförmige Höhenzug die Be- 


1) Einer der vielen unrichtigen Namen, von denen unsere 
Geographie bekanntlich wimmelt. Das Wort stammt von 
Andersson; es lautet, nach Schinz, richtig: „Ovankuangara*. 
Aber auch das ist nicht der Name des Flusses, sondern der 
eines an seinem Mittellaufe sitzenden Negerstammes. Die 
Ovambo nennen den Okavango: Ombuenge. — Bei dieser 
Gelegenheit sei gleich bemerkt, daß auch die Benennung 
„Kunene“ bei den Eingeborenen unbekannt ist. 

?) An Karten benutzte ich: Deutsch - Südwestafrika 
1:2000000 von P. Sprigade u. M. Moisel, 1910; die sog. 


Globus XCVIII. Nr. 1. 


Austrocknung hat eine Anzahl verschiedener kleinerer 
Senken in ihr zutage treten lassen, von denen die des 
Ngamisees der tiefste Punkt der ganzen Depressionsform 
zu sein scheint. Wenigstens ist nach Schinz „bei 
unbedeutenderen Regenperioden eine jede dieser einzelnen 
Senkungen das Sammelbecken der nächsten Umgebung; 
sowie aber der Wasserstand eine gewisse Höhe erreicht 
hat, beginnt eine Entleerung nach dem Ngamisee zu.“ 


Kriegskarte; Langhans, Deutscher Kolonialatlas; und Karte 
des Reisewerkes „Deutsch-Südwestafrika“ von Dr. Schinz 
(1884 bis 1887). — Die ziemlich geringe Genauigkeit süd- 
westafrikanischen Kartenmaterials und der Mangel an ein- 
wandfreien Höhenangaben ist leider bekannt. 


I 


2 Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 





Eine weitere Senke ist jene, deren tiefster Punkt 
die Etoshapfanne ist. Die zu ihr sich senkende und des- 
halb sowie in sonstiger Richtung zu ihr ressortierende 
Umgebung faßt Rohrbach unter dem Namen „Etosha- 
becken“ zusammen. 

Dieses Etoshabecken reicht, die Pfanne (+ 1050 m) 
als Mittelpunkt angenommen, im Westen bis zum Kaoko- 
feld (Ostrand desselben: + 1200 bis 1400 m), im Norden 
gehört dazu das ganze Amboland bis zum Kunene (On- 
kunbi am mittleren Kunene nach Schinz + 1120 m). 


Bevor ich mich der Etoshapfanne und ihrer Umgebung 
zuwende, möchte ich noch auf die unverkennbare Ähnlich- 
keit der Verhältnisse der Kalaharidepression im ganzen, 
wie des Etoshabeckens speziell mit jenen der großen 
zentralafrikanischen Senke am Südrande der Sahara auf- 
merksam machen. Dort wie hier findet sich der einstige 
Binnensee in vereinzelten größeren und kleineren Über- 
bleibseln (dort Tsad-, Fitri-, Irosee usw.). Dort wie hier be- 
stand und besteht die Unentschiedenheit über Zu- oder 
Abflußrichtung einer großen Wasserrinne (dort das Bahr 





Abb.2. Landschaftstyp an der Etoshapfanne. 


Bei Hochwasser gibt dieser Strom durch ein vielfach 
verzweigtes System von flachen Omiramben Wasser zur 
Pfanne ab; Beweis hierfür: erst jüngst in der Pfanne 
entdeckte Fische. Im Osten erstreckt es sich bis Groot- 
fontein (+ 1530 m) und einer etwa von da Nordost zur 
Einmündung des Löwen-Omuramba in den Kunene 
streichenden Linie. Im Süden deckt sich die Grenze mit 
der der Kalaharisenke (Otavi + 1410 m, Neidaus + 1430 m, 
Otjomongundi + 1239 m, Namatanga + 1270 m, Orubob 
+ 1300 m). 

Die Niveauunterschiede innerhalb dieses Becken- 
randes sind außerordentlich gering, namentlich in der öst- 
lichen Hälfte. So zeigt der Onsillakanal, der die Etosha- 
pfanne mit einer weit kleineren, nahe östlich gelegenen, 
der Onandovapfanne verbindet, regengefüllt beinahe gar 
keine Wasserbewegung. So ist auch bis zur Stunde 
noch unentschieden, ob der Omuramba u Ovambo ein 
Zu- oder Abfluß der Pfanne war oder ist. Nach der 
größeren Höhentendenz der bergigen Otavi-Grootfontein- 
Landschaft möchte ich ihn eher für einen Zufluß halten. 


Auch der — wenn auch sehr schwach — terrassen- 
förmige Abstieg von Gochab bis Grootfontein — ich 
habe drei deutlich erkennbare Stufen gefunden — sowie 


die Überhöhung Grootfonteins über die ungemessene 
Ebene bis hinüber zum Omuramba u Omatako spricht 
dafür, 


el Ghasal); dort wie hier ist der Plus- oder Minushöhen- 
unterschied der verschiedenen Senkengebiete (dort Tsad- 
becken, Egei, Bodele) zweifelhaft. An der Etoshapfanne 
und am Ngamisee finden sich die gleichen Aus- und Ein- 
buchtungen, zum Teil mit analoger Vegetation wie dort 
oben die „ridschul* und „ngaldjam“. Nur die klima- 
tischen und geologischen Verhältnisse sind verschieden; 
und demzufolge verschieden der Grad des Austrocknungs- 
prozesses. Aber die Tatsache eines interessanten Gegen- 
stückes ist unverkennbar. 

Die Etoshapfanne ist zweifellos das Überbleibsel 
eines großen Binnensees, dessen Wasserspiegel sich er- 
heblich weiter ausgedehnt hat, als das jetzige Bassin der 
Pfanne es tut. Einen ungefähren Anhalt über diese 
ehemalige Größe gibt der Salz- oder Natrongehalt („Brak“ 
ist die landesübliche Bezeichnung) der Umgebung; in- 
folge der gänzlichen Abflußlosigkeit dieser Wasseran- 
sammlung mußte, namentlich in Verbindung mit dem 
geologischen Untergrund, Versalzung eintreten. Dann 
das fast gänzliche Fehlen von Rivierbildungen. Dieses 
Fehlen von Rivierbildungen hängt übrigens außerdem 
eng zusammen mit der geologischen Unterlage der Pfanne, 
sowie eines daran sich angliedernden Gebietes, oder 
genauer ihrer lokalen Beschaffenheit und der dadurch 
möglichen mechanischen und chemischen Be- und Aus- 
arbeitung derselben zur Karstformation. 


Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 3 





An sich ist diese geologische Unterlage, der Kalk, 
der ganzen dritten morphologischen Hauptformation des 
Landes, der Kalaharisenke, gemeinsam. „Das Leitgestein 
dieser Formation“, sagt Schinz, „ist ein rezenter, weißer 
Kalkstein von bald dichtem, bald porösem Gefüge.“ Und 
eben das poröse Gefüge herrscht in einem gewissen 
Umkreis um die Etoshapfanne. 

Diese drei dem der Pfanne näherliegenden Teil des 
Etoshabeckens eigenen Faktoren — Brakgehalt des 
Bodens, Fehlen von Omirambenbildung und Karstforma- 
tion — lassen diesen Teil als landschaftliche Einheit 
aus dem Etoshabecken herausgreifen: ich nenne sie das 
Etoshagebiet. 

Unter ihm möchte ich hiermit verstanden haben: 
Die Pfanne selbst, einen Streifen ihres Westufers, ihr 
Nordufer bis zur Höhe von Osohoma. Im Osten bildet 
der Omuramba u Ovambo die Nordgrenze. Von seinem 
östlichen Ende zieht die Grenzlinie herunter nach Groot- 
fontein-N. und deckt sich von da ab im Süden mit der 
Grenze der ganzen Kalaharisenke, der alten „Outjo- 
Sandsteinterrasse“. Von deren Westende folgt sie un- 
gefähr der Pad Outjo—Okaukwejo bis zum Westufer der 
Pfanne. 

Kalk — „Otavikalk* nennt ihn Rohrbach — ist 
der Untergrund des ganzen Gebietes. In der Pfanne 
selbst ist seine obere Schicht durch die stete, periodische 
(zu jeder Regenzeit stattfindende) Einwirkung des 
Wassers chemisch bearbeitet und aufgelöst und bildet 


Konglomerat zwischen Tsumeb und Grootfontein zu 
Mittelgebirgen. 

Die Streichungstendenz all dieser kleinen und 
großen Kalkriffe und -bänke ist ausnahmslos Ost— West; 
in der gleichen Richtung zieht die Längsachse aller 
Pfannen: auch drüben in der Kalahari. Die Etosha- 
pfanne ist ja nur der mächtigste Repräsentant dieser 
einstigen Salzseen; eine ganze Reihe kleinerer ist über 
die Kalkformation hin verstreut. 

Die ostwestliche Länge der Etoshapfanne beträgt 
etwa 150 km; ihre größte (Nord—Süd) Breite erreicht sie 
im Westteil mit ungefähr 80 km. 

Es ist aber, wie gesagt, an vielen Stellen schwer, 
den Uferzug zu fixieren — abgesehen davon, daß leider 
noch keine eigentliche genaue Erforschung dieses höchst 
interessanten Naturgebildes stattgefunden hat: also auch 
hierin zeigt sich Ähnlichkeit mit dem großen Natronsee 
Zentralafrikas. Am schwierigsten ist die Fixierung am 
Südrand: dort geht das anfängliche Steilufer westlich 
von Namutoni bald in eine wellenförmige, vielgegliederte 
und ausgebuchtete Erhebung des ganzen Geländes gen 
Süden über. Erst drüben in der Südwestecke erhebt 
sich die verschwommene Randlinie wieder zu Riffen und 
Bänken. 

In der Kette kleiner Pfannen längs dem Südufer 
findet sich meist Brakwasser; doch treten in einigen auch 
süße Quellen aus dem Kalkgestein zutage; so bei Na- 
mutoni, bei Springbockfontein, bei Okaukwejo und an 





Abb.3. 


zur trockenen Zeit eine Effloreszenzschicht von salpeter- 
saurem Kalzium. Es finden sich aber auch ungelöste 
Gebilde: Kalkfelsen und Kalkinseln ragen aus dem „See“- 
grund empor. Am Nordufer legt sich bald nach Osohoma 
eine mäßige Decke geringerer Ablagerungen darüber. Im 
Süden der Pfanne tritt er unbedeckt zutage, in der in 
unmittelbarer Nähe des Ufers — soweit man von einem 
solchen sprechen kann — sich hinziehenden Reihe kleiner 
Pfannen, die durch Riffe und Bänke getrennt sind. An 
der Südgrenze des Gebietes erreichen diese Riffe über- 
raschende Höhen, 200 bis 300 m (relativ), und erheben 
sich in den Otavibergen, den Bobosbergen und in dem 
Globus XCVIII. Nr.1. 


Wildebeest (Gnu). 


anderen Orten. Ein weiteres Analogon zum Tsadsee: 
dieses unvermittelte und auf den ersten Blick über- 
raschende Vorkommen von Brak- und Süßwasser fast 
unmittelbar nebeneinander. 

Gleich unbestimmter Uferzug findet sich an der 
Westseite (nach Schinz); sowie stellenweise im Osten, 
wo die Pfanne immer schmäler wird, um sich endlich 
zu dem etwa 10km langen Onsillakanal (der Verbin- 
dung mit der Onandovapfanne) zu verjüngen, der ein- 
zigen Omurambenbildung des Gebietes. Schärfer aus- 
geprägt ist der nördliche Uferrand, sowohl durch die 
Konfiguration selbst als durch die Beschaffenheit der 


2 


4 Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 





Abb.4. Junges Eland. 


Bodenbedeckung. Terrassenförmig steigt hier das Ge- 
lände vom Seegrunde aus an und markiert auf diese 
Weise ganz deutlich die verschiedenen einstigen Ränder 
der Pfanne. „Mit der Entfernung vom Austrocknungs- 
zentrum, eben der Pfanne, steigert sich die Reichhaltig- 
keit der Vegetation im allmählichen Erobern der trocken- 
gelegten Zonen: erst spärliche Grasflur, auf der nächst 
höheren Terrasse solche von dichterem Bestand, dann 
folgt — immer in zentrifugaler Richtung — Busch-, und 
endlich Wasserwald“, wie Schinz in Anlehnung an die 
von Pechuöl-Loesche eingeführte Waldeinteilung die 
höheren Baumbestände auch hierzulande nennt. „Die 
bzw. Uferlinien werden unter diesen Umständen haar- 
scharf gekennzeichnet.“ 

Aus diesem Uferzug ergibt sich als ungefähre Grund- 
form für die Etoshapfanne ein nach Osten sich zu- 
spitzendes Dreieck (der Tsadsee war zu Nachtigals Zeiten 
gleichfalls ein langgezogenes ^; nur lag die Spitze gen 
Norden). 

Die Höhe vom Boden der Pfanne bis auf die obere 
Kante des Steilrandes westlich Namutoni schätzt Rohrbach 
auf 15 bis 25 m. 

Das, was diesem Becken — und ebenso der Onan- 
dovapfanne — ein ganz eigenartiges Gepräge gibt, sind die 
bereits genannten Salzausblühungen, die die ganze 
ungeheure, vollkommen vegetationslose Mulde über- 
decken. 

An der Peripherie ruhen sie, bis zu 10cm dick, auf 
vollkommen trockener Unterlage; je weiter nach der 
Mitte zu, desto weicher wird die ganze Masse und bildet 
schließlich unergründlichen, zähen, übelriechenden Schlick 
mit allen möglichen Salzausscheidungen übersättigt. Die 
Onandovapfanne zeigt in ihrer ganzen Ausdehnung 
festen Untergrund. 

In der Regenzeit ist die mächtige Etoshapfanne 
eine große Wasserfläche, die Onandovapfanne desgleichen 
und der Onsilla ein breiter Strom. 

Ich habe die Pfanne nur in der Trockenzeit kennen 
gelernt: und da bietet sie ein einzigartiges, unvergeß- 
liches Bild, das auf den verschiedenen Streifen von 
Namutoni aus immer wieder aufs neue zu bestaunen 
ich nicht müde ward. Man muß sich nämlich trotz oder 


vielmehr gerade wegen der ab- 
soluten Fläche des Landes ein- 
zelne Auslugpunkte aufsuchen, 
von denen man Ausblick auf die 
Pfanne hat. Also sogar in dieser 
Richtung ähnelt der Salzsee Süd- 
afrikas dem Schilfsee der Sahara. 
Auch von den Türmen der Feste 
aus, die doch hart an der Süd- 
ostecke der Pfanne liegt, sieht 
man nicht ein Stückchen von ihr. 

Reitet man frühmorgens von 
der Station nach Norden zu zum 
Onsilla oder nach Westen nach 
den Wasserstellen Hoachas und 
Hoas, so ahnt man vorerst gleich- 
falls erst recht nicht ihre so un- 
mittelbare Nähe. Plötzlich, nach 
Passieren eines der zahlreichen, 
schmalen, aber dichten Busch- 
waldstreifen, an einer Weg- 
biegung, liegt ein uferlos sich aus- 
dehnender scheinbarer Wasser- 
spiegel gen Westen. Kleine be- 
waldete Erbebungen, die wie 
Inseln in ihm liegen, erhöhen 
die Täuschung (es sind weit in 
die Pfanne hineinragende Uferteile). — Und nun be- 
ginnt mit dem Höhersteigen der Sonne ein wechsel- 
volles, reizendes Strahlungsspiel draußen auf der 
Fläche und insbesondere in den durch Landzungen 
und Buchten lebhaft gegliederten Uferpartien. Bald 
schimmert hier ein schmaler, weit ins Land hineinzün- 
gelnder, vermeintlicher Wasserarm wie eine tiefblaue 
Ader, bald leuchtet dort eine smaragdgrüne, schilfum- 
säumte Bucht — „ridschil und ngaldjam“ vermerke ich 
in meinem Tagebuch; wie ich in ihm auch „die über- 
raschende Ähnlichkeit der Einmündung des Onsilla in die 
tiefgegliederte und rasch sich weitende Ostecke der Pfanne 
mit dem Kamerunästuar“ hervorhebe — und drüben, wo 
eine bewaldete Bodenwelle sich weit in den „See“ hinein 





Abb.5. Löffelhund. 


Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 5 





vorschiebt, spiegeln sich, um die Täuschung vollkommen 
zu machen, die Bäume in der Salzpfanne wie im ruhigen, 
offenen Wasser eines wirklichen Sees. 

Ist die Sonne höher gestiegen, wandelt sich das ganze 
Bild zu einer neuen Täuschung: da glitzern und funkeln 
die weißen Salzausblühungen auf der uferlosen Fläche 
gleich frischgefallenem Schnee, und man glaubt sich nach 
nordischer Winterlandschaft versetzt. Unwillkürlich ge- 
dachte ich, so oft ich diese Salzschneedecke, die unter 
dem Tritt des Menschen oder dem Huf des Tieres und 
dem Rad der Karre leise knistert, kreuz und quer durchzog, 
der Sage vom Reiter, der ahnungslos über den zugefrorenen 
und überschneiten Bodensee gezogen. Straßen gleich durch- 


Abb. 6. 


ziehen das „Schneefeld“ nach allen Richtungen Wild- 
fährten. 

Gleichfalls an die nordische Heimat gemahnten mich 
die verschiedenen Wasserstellen am Südufer der Pfanne; 
wenigstens der eine der beiden Typen. Sie sind nämlich 
entweder sumpfige, schilf- und rieddurchsetzte und -um- 
säumte Buchten oder (die bereits oben erwähnten) Kalk- 
pfannen. In beide fließt von der Tiefe quellenartig Wasser 
ein. Auf letztere, als Gebilde der Karstformation, werde 
ich bei Besprechung dieser noch zurückkommen. 

Der erste Typ mutet, wie gesagt, ganz heimatlich an; 
namentlich wenn die Wasserstelle im Buschwalde oder 
in dessen Nähe liegt. Die Umrahmung, Ried und Schilf, 
verrät schon aus der Ferne einen solchen Platz; still 
und ruhig liegt das offene Wasser, das üppigen Gras- 
wuchs ringsum hervorgerufen hat. Ständen nicht da 
und dort, auf und zwischen den Klippen und phanta- 
stisch ausgewaschenen Kalksteinplatten der seltsam be- 





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Ausgewitterte Kalkformationen in der Etoshalandschaft. 


laubte Mopanebaum oder eine kandelaberartige Aloë — 
man glaubte sich, besonders in der Abenddämmerung, 
an einem einsamen schilfumsäumten Altwasser im baye- 
rischen Auenwald, des Einfallens eines Fluges Wildenten 
gewärtig. Und wenn nun auch gerade keine Enten kommen, 
so doch Tiere mit heimatlich schlichtem Federkleid: große 
Schwärme rebhuhnfarbiger Wasserwachteln und starke 
Ketten Perlhühner. In der Steppe schnarrt lauten Tones das 
Gackelhuhn (onomatopoetisch von den Eingeborenen, „Kar- 
rada“ genannt), und im Röhricht quakt der Ochsenfrosch, 
dieser südafrikanische Riesenvetter seiner nordischen Teich- 
verwandten. — Solche Stellen finden sich am ganzen Südufer 
der Pfanne nicht wenige; so Rietfontein, Hoas, Hoachas, 





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Klein-Namutoni und andere. Bis hinunter nach Sissekab 
und Goab kommen sie vor; Rietfontein bei Grootfontein 
zeigt den gleichen Typ. Auch Groß-Namutoni (Amutoni 
schreibt Schinz) — an welcher Wasserstelle bereits der 
erste Europäer, der bis in diese abgelegenen Gebiete hier 
vordrang, der Engländer Galton 1851 lagerte — war eine 
solche, bevor dort die stattliche Feste Namutoni sich er- 
hob. Auch jetzt noch ist dicht neben- der Station der, 
allerdings gereinigte, offene Wassertümpel. 

Dieser Platz sowie Klein-Namutoni vereinigt die 
beiden Typen. Auf der ganz flach gewölbten Kuppe einer 
unbedeutenden Erhebung liegt eine Kalkpfanne, die 
durch die Kalkausscheidung einer früher offenen Quelle 
mit einer Sinterdecke übermauert worden ist. Auf diese 
Weise erklärt sich — das sei hier von der Besprechung 
der Karstformation vorweg genommen — die auf den 
ersten Blick höchlich überraschende Tatsache, daß im 
Etoshagebiet die meisten Wasserstellen auf den — aller- 


2* 


6 Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrike). 





dings ganz minimalen — Geländeerhebungen sich vor- 
finden. Diese Wasseransammlung hat sich einen Ausweg 
gesucht und, entweder durch den Kalk sich durcharbeitend 
oder die Decke ein Stück sprengend, eben den offenen 
Wassertümpel, der nach und nach versumpfte, gebildet. 
Die dadurch ermöglichte Vegetation hat das übrige be- 
sorgt. (Auf der Langhansschen Karte, die ich wegen 
ihrer Detailangaben, die sich auf ihr noch nach der 
früher üblichen Weise der Eintragung der lokalen Tage- 
buchnotizen der ersten Forscher finden, sehr zum Studium 
empfehle — abgesehen von den verschiedenen „wasser- 
losen Wüsten“ u. dgl. —, findet sich hier in dieser 
Gegend, wo jetzt alles einhüllende Sandstürme über die 
Fläche brausen, der Eintrag: „Zur Regenzeit schwarzer 
Morast.“) 

Ich habe auch eine der oben erwähnten Kalkinseln 
besucht: „Achatinsel“ hat sie der um die Erforschung 
seines Bezirks sehr verdiente mehrjährige Stationschef 
auf Namutoni, Oberleutnant Fischer, getauft. Auch ich 
hielt, gleich ihm, anfänglich die Formation für Achat. 
Die Insel liegt am Beginn einer weit nach Nordosten sich 
erstreckenden Bucht, der sogenannten Onkandoschapfanne, 
westlich Uitsab, in der Etoshapfanne. Unvermittelt er- 
hebt sich aus dem weißlichgrauen Schlick des Pfannen- 
bodens mit teils vollkommen senkrecht, teils sägerücken- 
förmig ansteigenden Wänden ein mächtiger Kalkfels, der 
in Platten und Knollen sich abblättern läßt. Diese 
Stufen verjüngen sich nach oben, so daß die ganze etwa 
500m an der Basis im Umkreis betragende Insel wie 
eine Pyramide mit Terrassen oder fast noch ähnlicher wie 
ein riesiger Baumkuchen aussieht. Was so täuschend 
an Achat erinnert, ist die samtartige, baumschwamm- 
braune Färbung des Gesteins. Feine Linien gleich dem 
Geäder eines Blattes durchziehen die Oberfläche der wellen- 
förmig gepreßten Platten, die, ausgebrochen, bänderför- 
mige Anordnung von aufeinanderlagernden Schichten 
zeigen und an den Bruchrändern halb durchsichtig im 
helleren Braun schimmern. 

Uferlose Steppe umrahmt das Salzmeer. Keinen Ruhe- 
punkt im Gelände findet das Auge. Die oben erwähnte 
Terrassenbildung am Nordufer, die Vertikaldifferenz 
des Seebodens zum Ufer, der Ränder des Omuramba u 
Ovambo: all diese Höhenunterschiede sind so gering, 
daß sie in der ungeheuren Fläche vollkommen ver- 
schwinden; die Bergzüge im Süden ragen nicht mehr 
über den Horizont (Abb. 1). So sehr mich wochenlang 
der Reiz der Pfanne, der Steppe, gefesselt, so groß war 
die Freude für mich als berggewohnten Süddeutschen, 
als ich endlich wieder, quer durch das Buschmannsfeld 
gegen Otavi ziehend, bei Harib die dem Tafelzug des 
Uisib aufgesetzte Zacke über den Horizont langsam sich 
heraufrecken sah; unwillkürlich trieb ich mein Pferd 
zum Galopp an, um rascher den Berg wachsen zu sehen. 
In das fahle, gelbe Gras der Steppe ist im Süden und 
Osten streifenförmig langgezogener Dornbuschwald ein- 
gestreut, der aus seinem gelben Blütenknospenmeer zu 
Beginn des südafrikanischen Frühlings mit herrlichen 
Wohlgerüchen die reinen Lüfte erfüllt (Abb. 2). Laub- 
bäume, einzeln und in Gruppen, stellenweise in größeren 
Beständen, mischen sich darein, und eine, buchstäblich 
eine Palme (Hyphaene) ragt hoch als willkommene 
ÖOrientierungsmarke bei Hoas über den Busch. Nach 
Norden das gleiche Steppenbild — die Ränder des 
Omuramba sind mit vereinzelten Bäumen und Palmen 
bestanden, bis etwa Osohama. Hier beginnt ge- 
schlossener Wald (das besagt schon der Name: in der 
Ovambosprache heißt: „Ohama“ Wald; Plural Oohama; 
daraus ist „)sohama“ geworden), der sich nach Nordosten, 
ins Sandfeld hinein, als dichter Dornbusch bis zum 


Löwen-Omuramba fortsetzt. Auf der Westseite herrscht, 
unabsehbar nach Nord, West und Süd sich ausdehnend, 
sandige Steppe; Bäume und Sträucher sind fast voll- 
ständig verschwunden; hin und wieder erhebt eine Aloë 
ihre Blattrosette über das wogende Feld, da und dort 
steht eine Akazie. „Hauptmann Franke berichtet, daß 
man schon eine Reitstunde nördlich Okaukwejo keinen 
Stein mehr findet, und daß bis zum Kunene hinauf im 
ganzen Lande kein Steinchen von der Größe einer Erbse 
auf der Oberfläche des grauweißen Sandbodens liegt“ 
(Rohrbach). Schinz geriet indirekt durch diese Stein- 
armut in der Landschaft Ondonga in sehr unangenehme 
Verwickelungen mit den Eingeborenen. Er hatte von 
einem im Felde liegenden „großen Stein“ gehört, den er 
der Beschreibung nach für einen Meteoriten hielt. Kaum 
hatte er ihn besichtigt — wobei sich herausstellte, daß 
es lediglich ein Quarzstück war — und sich noch dazu 
ein Stückchen davon abgeschlagen, als er von der auf- 
geregten Menge und dem Häuptling für Verletzung 
eines heiligen Ortes und eines die Existenz des ganzen 
Stammes symbolisierenden heiligen Gegenstandes ver- 
antwortlich gemacht wurde: eine solche Seltenheit war 
im ganzen Lande ein größeres Steinstück. 

Die zahlreichen Wasserstellen mit ihrem üppigen 
Graswuchs, die von allen Tieren zeitweilig sehr begehrte 
brakhaltige Vegetation, und insbesondere die Pfanne 
selbst, die ja ein e ungeheuere Salzlecke ist, machen die 
Umgebung der Etoshapfanne zu einem wahren Tierpark; 
sowohl der Zahl als den Arten nach. Fünf und mehr 
Meter breite dunkle Streifen kreuzen allenthalben den 
Salzsee, führen zu den Riedwasserstellen: es sind die 
Heerstraßen des Wildes. Nicht nur, daß sich hier oben 
beinahe alleauch im Herero-und Namalande vorkommenden 
Gattungen finden; es weist das nähere und weitere Gebiet 
der Etoshapfanne auch mehrere diesen Landschaften eigene 
Tierweltvertreter auf. Und diese hauptsächlich möchte 
ich hier nennen. In Rudeln von 100 und mehr Stück 
schweift die nächst dem Eland größte Antilopenart, das 
Gnu — hierzulande allgemein „Wildebeest“ genannt 
(Abb. 3). Der Bur, der ihm diesen Namen gegeben hat, 
hat in diesem Falle das Richtige getroffen: es ist tat- 
sächlich mehr ein Rind, ein „Beest“, als eine Antilope. 
Merkwürdig kontrastieren mit dem schweren mächtigen 
Bau, dem Nacken, Gehörn und der Widerristmähne eines 
Büffels die zierlich schlanken Antilopenläufe Das 
Eland (Boselaphus orcas, Abb. 4) ist mit seiner rötlichen 
Decke und dem bis zu 1m langen, starken stangen- 
geraden, gewundenen Gehörn das mächtige Gegenstück 
im Ostteil des Etoshagebietes, in der Grootfonteiner 
Landschaft bis hinauf zum Omuramba u Ovambo, hin- 
über zum großen Omuramba. Der „Gemsbock* (Oryx 
beisa) scheint verhältnismäßig selten zu sein; dagegen 
ist die „Hartebeest“-Antilope (Bubalis caama) dem 
Norden eigentümlich. Die edelste und schönstgebaute 
Antilope, das Kudu, trifft man fast nur mehr hier oben 
in diesem Wilddorado. Die Giraffe ist gleichfalls nur 
mehr hier oben anzutreffen und macht sich — den 
Telegraphenleitungen sehr unangenehm bemerkbar. 
Innige Freundschaft mit dem Wildebeest scheint das 
Zebra geschlossen zu haben; wenigstens sieht man selten 
eine Herde Wildebeeste ohne begleitende und darin 
verteilte Zebrarudel über Steppe und Pfanne galoppieren; 
und als dritter im Bunde pflegt sich der Strauß, nicht 
selten zu 20 und 30 Stück auftretend, anzuschließen. 
Erdferkel habe ich bei Grootfontein mehrmals beobachtet, 
und nicht selten in den Waldstreifen östlich der Etosha- 
pfanne unseren Hasen. Ein Gürteltier (?) soll einmal 
von einem Reiter auf Namutoni im Felde totgeschlagen 
worden sein. 








Budberg: Über die Bedingungen des Exporthandels in der Nordmandschurei. 7 





Daß bei diesem außerordentlichen Wildreichtum auch 
die Raubtiere nicht fehlen, ist selbstverständlich: vom 
Leoparden und Geparden — beide nennt der Bur „Tiger“ 
— bis zur Hyäne, dem Schakal und den zierlichen, 
behenden Löffelhunden (Abb. 5). Aber auch der Löwe 
zeigt sich hier oben bisweilen; wohl auf Streifzügen von 
der Kalahari herüber. 

Nicht minder arten- und zahlreich als das Haarwild 
ist die Vogelwelt vertreten; von der Riesentrappe („Paw“ 
genannt) bis herunter zum Siedelsperling. Auffallend 
häufig an der Pfanne sind der Schlangenfresser und der 
Pfefferfresser. Turakoähnliche Vögel beobachtete ich nur 
hier oben im Norden; desgleichen ist mir aufgefallen, 
daß fast alle Vögel verschiedener Art in der Land- 
schaft zwischen der Pfanne und dem großen Omuramba 
Kopfschopf und Langschwanz (zwei bis drei bis zu Im 
lange Schwanzfedern) aufweisen. Auch die Färbungen 
sind lebhafter, vielfach stahlgrün und leuchtend dunkel- 
blau. In der Regenzeit findet vom Kunene her nach den 
wassergefüllten Pfannen Masseneinwanderung von Wasser- 
vögeln statt: Flamingos, Kronenkranichen, Ibissen, 
Reibern, Enten usw. Zur Regenzeit wimmelt es im 
ganzen Amboland (nach Schinz) von Riesenfröschen. 
Es ist der sogenannte Ochsenfrosch (Rana adspersa). 
Ich habe an und in den Riedwasserstellen ein paar 
Exemplare davon gefunden; das größte maß über 20 cm 
von der Schnauze bis zum Hinterteil. Bei dieser Gelegen- 
heit möchte ich erwähnen, daß auf einer Farm bei 
Grootfontein die Pumpe aus 10m Tiefe häufig lebende 
Frösche (rot und schwarz gezeichnet) sowie zahlreiche 
Wasserkäfer heraufbefördert. 

Der Vollständigkeit halber muß ich noch bemerken, 
daß die Termitenbauten im ganzen Etoshagebiet eine 
wesentlich andere Form zeigen als die wohlbekannte 
kuppel- und schwammförmige Zentralafrikas, die auch im 
Herero- und Namalande die gewöhnliche ist. Hier oben 
haben sie ausnahmslos obelisk- oder kegelförmige Gestalt 
und erreichen höchstens 1 bis 1,5 m Höhe. In der nähe- 
ren Umgebung der Etoshapfanne zahlreich und schnee- 
weiß, geben sie im grünen Buschwald oder der gelben 
Steppe eine eigenartige Landschaftsstaffage ab. 

Nun zu den beiden Faktoren, die dem Etoshagebiet 
nächst der Pfanne selbst das ihm eigene Landschafts- 
gepräge verleihen: der Karstformation und der durch 
die damit geschaffenen besonderen Grundwasserverhält- 
nisse mit ihr eng zusammenhängenden Vegetation. 

Wenn man von Omaruru weiter gen Norden vordringt, 
so herrscht im Westen bis Outjo, in der Mitte und öst- 
lich bis Okatupa (an der Otavibahn) und Otjenga (an 
der Waterberg — Otavi-Pad) noch vollständig der Typ 
des Hererolandes.. Dann beginnt allmählich das Bild 
sich zu verwandeln. Eine weite, schwachwellige Ebene 
nimmt ihren Anfang, fern im Norden durch scheinbar 


zusammenhängende Bergzüge mit weichen Formen be- 
grenzt: die mehrfach erwähnte (fälschlich einst so ge- 
nannte) Outjo-Sandsteinterrasse, die ihre Ostfortsetzung 
in dem Höhenkonglomerat zwischen Otavi und Groot- 
fontein hat. Der wohlbekannte Dornbusch findet sich 
zwar noch, aber er ist nicht mehr allein herrschend; 
Laubbäume, die allerdings auch nicht selten mit langen 
Stacheln bewehrt sind, mischen sich darein. Lichte 
Parklandschaft wechselt mit reiner Steppe, aus der sich 
höchstens hohe Aloön da und dort erheben, und ge- 
schlossenen Waldbeständen; feines, weiches, dichtes Gras 
mehrt sich. (Ich verweise hinsichtlich der Vegetation 
auf die Langhanssche Karte.) Näher den eben genann- 
ten Höhenzügen überrascht ihre Bewaldung — im ange- 
nehmen Gegensatz zu den kahlen Bergformen des Herero- 
landes. „Es ist kein Hochwald im deutschen Sinne“, 
schreibt Rohrbach sehr richtig, „aber ein für südafrika- 
nische Augen ganz leidlicher Baumwuchs, der die Hänge 
bedeckt und die Berge des Nordens, namentlich zur 
Regenzeit, vollkommen grün erscheinen läßt.“ 

Der Eintritt in die Hügelkette, die sich jetzt deutlich 
in mehrere Gruppen und Züge gliedert, findet allent- 
halben durch niedrige Talpässe, sogenannte „Pforten“, 
statt. Solche Pforten führen auch von einem der, aus- 
nahmslos Ost— West streichenden, Täler und Kessel in 
das nächste. Damit ist der oben gezeichnete Südrand 
des Etoshagebietes erreicht: die Karstformation. 

Diese Karstformation beginnt — ich folge hier 
nächst meinen eigenen, mehr laienhaft schildernden 
Tagebuchaufzeichnungen den Ausführungen Rohrbachs 
etwa bei Outjo. Zahlreiche, teils offene, teils 
unterirdische Einstürze, Trichter, Schlote usw. kenn- 
zeichnen sie. Seltsam ausgewitterte, da und dort stalak- 
titenförmig aufgebaute Höhlungen gähnen oft plötzlich 
im Buschwald dem überraschten Wanderer entgegen 
(Abb.6). Der Kalk, aus dem dieser Karst aufgebaut ist, 
ist so porös. und wasserdurchlässig, daß er die hier im 
Norden bereits beträchtlichen Regenmassen (durchschnitt- 
liches Jahresmittel der Niederschläge 600 mm) wie ein 
Schwamm aufsaugt und es zu gar keiner ausgesprochenen 
Omirambenbildung kommen läßt. Dagegen hat das in den 
Kalk eingedrungene Wasser unterirdisch durch seine auf- 
lösende und ausspülende Wirksamkeit ein großes Ein- 
sturz- und Höhlengebiet geschaffen. In unterirdischen 
Becken sammelt sich seeartig das Wasser gleich wie in 
den Kalkalpen Mitteleuropas, in Istrien und an anderen 
Orten. Vielfach stehen diese Becken miteinander in Ver- 
bindung, und rauschend und brausend durchziehen unter- 
irdische Ströme das Gestein. 

In dem Höhlengebiet von Awachab hört man, dem 
Eingangsstollen noch fern, mächtiges: Getöse unsichtbaren 
Wassers, und: tiefe Schächte gähnen in dem Labyrinth. 

(Schluß folgt.) 





Über die Bedingungen des Exporthandels in der Nordmandschurei. 


Von Baron Budberg. Charbin. 


Mit Recht lenkt die Mandschurei die Aufmerksamkeit 
aller handeltreibenden Nationen in immer steigendem 
Maße auf sich, denn allein an Fähigkeit, alle Arten von 
Getreide zu produzieren, übertrifft sie jetzt schon, bei 
noch lange nicht beendeter Kolonisation, die indessen 
von Jahr zu Jahr schnell fortschreitet, die reichsten 
Kornländer der Erde. Das Verlangen der Großstaaten, 
die Tore der Mandschurei müßten allen Nationen offen 
gehalten werden, hat ja noch kürzlich in dem nordameri- 
kanischen Vorschlage, die mandschurischen Bahnen zu 

Globus XCVIIL Nr.1. 


neutralisieren, beredten Ausdruck gefunden. Japan und 
Rußland haben nicht eingewilligt, die Haupttore dem 
internationalen Handel zu öffnen, neue Nebenpforten sind 
es, durch die andere Nationen immerhin lohnenden Ein- 
gang finden können. Ob aber Japan und Rußland mit 
Erfolg sich auch dem Projekt, neue Bahnen, deren das 
Land und der Handel bedürfen, mit Hilfe internationaler 
Anleihen zu bauen, werden widersetzen können, erscheint 
sehr fraglich. So lohnend nun aber auch der Markt in 
der Mandschurei ist, so verwickelt sind andererseits alle 


3 


8 Budberg: Über die Bedingungen des Exporthandels in der Nordmandschurei, 





Handelsbedingungen, mit denen der ausländische Kauf- 
mann es hier zu tun hat. 

Nur ein gründliches Studium aller hier in Betracht 
kommenden Bedingungen kann den europäischen Kauf- 
mann auf Erfolg rechnen lassen. Werfen wir einmal 
einen flüchtigen Blick auf diese Schwierigkeiten. 

1. Die chinesische Sprache gilt mit Recht als die 
schwerste aller Sprachen. Nicht allein die Schriftsprache 
mit ihren Tausenden von komplizierten Charakteren, 
sondern nicht weniger die Umgangssprache mit ihren 
verwickelten Redewendungen und Tonhöhen, an die das 
europäische Ohr sich erst im Laufe von Jahren gewöhnt, 
bietet große Hindernisse. Dazu macht es sich sehr be- 
merkenswert, daß es bis jetzt kein praktisches Sprach- 
buch zum Selbstunterricht, etwa nach der Methode von 
Toussaint-Langenscheidt, für den Deutschen gibt. Es 
wäre vielleicht empfehlenswert, daß an den deutschen 
Konsulaten in China chinesische Sprachlehrer gehalten 
würden zur praktischen Unterweisung deutscher Staats- 
angehöriger in Sprache und Handelsbedingungen des 
Landes. Der Lehrerberuf in China ist wenig lohnend, 
die Ausgaben für eme Garantie der Einnahme oder ein 
ständiges Gehalt des Lehrers würden sich aber bezahlt 
machen oder nur geringe Zuschüsse des Konsulats erfor- 
dern. Wirklich gute Sprachlehrer sind hier schwer zu 
haben, man findet sie unter den chinesischen Seminaristen 
der katholischen Missionen, die Latein lernen und deren 
Aussprache große Deutlichkeit kennzeichnet. Dringend 
zu raten ist jedem Deutschen, der in China Geschäfte 
machen will, daß er vor den Schwierigkeiten, die die 
Aneignung der chinesischen Sprache und Sitten mit sich 
bringt, nicht zurückschreckt. An Ausdauer und auch 
an Fähigkeit, sich fremden Verhältnissen anzupassen, 
fehlt es dem Deutschen ja nicht, dadurch hat er vor 
vielen anderen Nationen einen bedeutenden Vorteil 
voraus. 

2. China besitzt bis jetzt kein einheitliches Geld- 
system. Im Verkehr stehen: a) Silber in Barren von ver- 
schiedenem Gewicht und Wert. Der Silberwert, nach der 
Gewichtseinheit „Lan“ berechnet, liegt wohl allen Geld- 
werten zugrunde, nur reicht das im Lande vorhandene 
Silber bei weitem nicht aus, um die große Menge der 
kursierenden Anweisungen zu decken. b) Silbermünzen, 
wobei die verschiedenen Provinzen ihre eigene Prägung 
besitzen. c) Geprägte Kupfermünzen. d) Gegossene 
Kupfermünzen (Tschech, Cash, Sapeque), je nach dem 
Ort und der Zeit der Emission von verschiedener Legie- 
rung und verschiedenem Wert. e) Papiergeld, je nach 
der Provinz, wo es ediert wird, von sehr verschiedenem 
Kurswert. So beträgt der Wert des girinschen Djau 
etwa !/, mehr als der des zizikarschen. f) Private An- 
weisungen nicht nur einzelner Banken, sondern selbst 
kleiner Firmen, die in manchen Bezirken oder Ortschaften 
das fast allein in Verkehr stehende Geld bilden. g) Aus- 
ländische Münzen, so in der Nordmandschurei, nahe der 
Bahnlinie, russisches Geld, in der Südmandschurei ja- 
panisches. 


Nur der Silberwert hält sich ziemlich konstant, leider 
aber ist das Silber in Münze als auch in Barren in den letzten 
Jahren fast völlig verschwunden, was den Beamten zuzu- 
schreiben ist, die kein Interesse am Wohl der Bevölkerung 
hier besitzen. Die Landbauern sind Mandschuren, die Be- 
amten waren bis zum russisch-japanischen Kriege oder noch 
früher, bis zu den Boxerwirren, ebenfalls Mandschuren. Diese 
interessierten sich natürlich für das Wohl ihrer Heimat und 
Heimatsgenossen, und war auch damals Bestechlichkeit nicht 
selten, so herrschte sie doch lange nicht in dem Maße wie 
heutzutage, wo die Beamten fast ausschließlich Chinesen aus 
dem Süden sind. Die Regierung war gezwungen, als Beamte 
Südchinesen hierher zu ernennen, weil diese an Bildung den 
Mandschuren weit überlegen sind. Das Verderbliche dabei 


aber ist, daß der Zwiespalt zwischen Chinesen und Man- 
dschuren schroff ist; so fühlen sich diese chinesischen Be- 
amten hier in eine ihnen unsympatbische Gegend versetzt, 
und ihr ganzes Sinnen und Trachten richtet sich nur darauf, 
das Volk auszuplündern, sich möglichst schnell zu bereichern. 
Meist entstammen diese aus dem Süden gebürtigen Beamten 
ärmeren Familien und sind noch dazu wegen der Erlangung 
ihres Postens gründlich in Schulden geraten; die von ihnen 
beliebte Erpressung und Willkür reicht also ans Unglaub- 
liche. Sie sind es, die das Silber an sich reißen und in ihre 
Heimat befördern, auch leisten sie Vorschub der Emission 
von Assignationen durch Firmen, deren Spekulationen von 
Hause aus schwindelhaft erscheinen. Sehr wesentlich wird 
noch das Interesse der Beamten, segensreich in ihrem Bezirk 
zu wirken, durch die Bestimmung gelähmt, daß sie alle drei 
Jahre gewechselt werden sollen. Die Ernennung der Unter- 
beamten hängt meist ganz von dem Ortspräfekten ab; dieser, 
von einem Posten auf den anderen versetzt, nimmt sein Ge- 
folge aus ihm ergebenen Personen und Freunden mit sich, 
und so erscheinen alle Bedingungen für ein Arbeiten in die 
eigene Tasche erfüllt. Indessen müssen wir hier bemerken, 
daß die jetzige Regierung durch Gründung vorzüglicher Man- 
dschurenschulen alles tut, um sich einen Bestand an gut ge- 
bildeten mandschurischen Beamten zu schaffen. 


Alle die aufgezählten Werte schwanken in ihrem 
Kurse. Früh morgens versammeln sich selbst in kleinen 
Ortschaften die Vertreter der größeren Firmen und die 
Geldwechsler, um den Tageskurs zu bestimmen. 

3. Gewicht und Maß. Nur das Pfund, „Dsjin“, ist 
einheitlich, während das Getreidemaß, das „Dan“, nicht 
einheitlich ist; jeder Ort hat sein eigenes „Dan“ als Ge- 
treidemaß. 

4. Das Steuersystem ist ebensowenig einheitlich. Jede 
Provinz hat ihre speziellen Abgaben, die teils von der 
Zentralregierung, teils von dem Generalgouverneur oder 
den Gouverneuren festgesetzt werden; sie legen sich 
hauptsächlich auf den Handel in allen Zweigen. 

Es dürfte nicht ohne Interesse sein, hier eine Provinz 
als Beispiel anzuführen. Wir folgen den Angaben Bo- 
lobans in bezug auf die Provinz Zizikar. 


Jedes Handelshaus, jeder Laden ist zu genauester Buch- 
führung mit Monatsabschluß verpflichtet. Von dem Brutto- 
gewinn ist 1 Proz. in das Du-tsch-sö, das Departement der 
Finanzen, abzuführen. Solch ein Besteuerungssystem bringt 
zwar dem Fiskus Geld ein, erscheint aber höchst unrationell, 
denn die Ware, die z. B. erst durch die vierte oder fünfte 
Hand an den Konsumenten kommt, unterliegt somit einer 
vier- bis fünffachen Besteuerung. Sehr ungerecht ist hierbei 
noch die Bestimmung, daß an Orten, die dem internationalen 
Handel geöffnet sind, von Ausländern die Steuer nicht ent- 
richtet zu werden braucht. Das führt denn auch, nament- 
lich in der Südmandschurei, zur Umgehung des Gesetzes, 
indem Japaner und andere Ausländer fiktiv ihren Namen 
chinesischen Geschäften geben. 

Für den Verkauf von Pferden und Vieh sind vom Kauf- 
preise 3,53 Proz. als Steuer zu entrichten und außerdem 
0,2 Djau pro Tier für die Kaufbescheinigung. 

Für Straßenbeleuchtung in den Städten zahlt jedes Ma- 
gazin 0,1 Proz. An Grundsteuer ist im Herbst pro Schan 
0,66 Djau zu zahlen. Seit dem Januar 1909 haben die Dör- 
fer eine neue Steuer zur Erhaltung der Polizei zu entrichten 
0,4 Djau pro Schan, für jeden Ochsen und jedes Pferd 
0,4 Djau, Einkünfte, die dem Kreispräfekten zur beliebigen 
Verwendung überlassen bleiben. 

Lombardgeschäfte, Dang-pu, zahlen 1 Proz. der Rein- 
einnahme. 

Für Holzkauf sind 10 Proz., für Kohle 20 Proz. der 
Kaufsumme zu zahlen. Diese unglaublich hohe Steuer findet 
wohl nur darin ihre Erklärung, daß die Beamten durch sie 
diesen Handel in ihren eigenen Händen zu konzentrieren 
wünschen. 

Für Verkauf von Immobilien sind 6,6 Proz. einschließlich 
der Gebühren für die Ausfolge der Dokumente zu zahlen. 

Getreidesteuer: Beim Verkauf werden zwei Kategorien 
unterschieden: Si-ljang und Zu-ljang. Zu der Kategorie Si- 
ljang gehören: Sesam (sesamum orientale), Dsch-ma, Hirse 
(Panicum italicum, Panicum miliacem u. a.), Gudsa, Paidsa, 
Hun-midsa, Bai-midsa, Reis (Oryza montana), Dsjin-mi, Weizen, 
Sjau-mai. Diese Kategorie zahlt 2,4 Proz. Die Kategorie 
Zu-ljang zahlt 1,4 Proz. vom Verkaufspreis; zu ihr gehören: 
Mais, Bau-ör-mi, Gaoljang (Holeus sorghum), Hafer (Avena), 





Budberg: Über die Bedingungen des Exporthandels in der Nordmandschurei. 9 


Ling-da-mai, Gerste (Hordeum), Da-mai, Buchweizen (Poly- 
gonum), Zjau-mai. 

Für Einfuhr in die Stadt sind von allen Waren 5 Proz. 
zu zahlen, für Opium 5,5 Proz. Beim Fleischverkauf, na- 
mentlich bei dem von Schweinen, werden 0,26 Djau pro ge- 
schlachtetes Tier bezahlt. 

Lastfuhren, die in die Stadt Zizikar zur Bahn gehen 
oder aus ihr kommen, zahlen 0,1 Djau pro Arbeitstag. 

Tierhäute dürfen ohne Stempel nicht verkauft werden, 
und für den Stempel ist zu zahlen: Ochsenfell 1,5 Djau, 
Pferd 1 Djau, Maultier 0,8, Esel 0,6, Hammel 0,5, Fischotter 
0,7, Eichhorn 0,2, Fuchs 1,0, Wolf 1,0, Zobel 5,0, Biber 8,0, 
Hirsch 1,0, Elch 2,0, Tiger 2,0, Bär 4,0, Hünd 0,4, Katze 
0,2 Djau. 

Kaufleute haben außer den vorher erwähnten Steuern 
in den Städten auch noch ihre Steuern an die Kaufmanns- 
gilden zu entrichten. 

5. Nicht wenig erschwert dem ausländischen Kauf- 
mann den Handel die große Solidarität der gesamten Be- 
völkerung in weitestem Rayon im Aufrechterhalten der 
Preise, was sich ganz besonders im Getreidehandel zeigt. 
Es brauchen nur irgendwo größere Getreidekäufe mit 
Lieferungen auf die Bahn im Gange zu sein, um sofort 
die Preise im ganzen Lande proportional den Ausfuhr- 
bedingungen steigen zu machen. Das System münd- 
licher Benachrichtigung, mit dem auf ausgedehnten Ge- 
bieten Post und Telegraph nicht an Schnelligkeit wett- 
eifern können, hat durch Jahrtausende alte Gewohn- 
heiten der Chinesen eine uns Europäern ganz unverständ- 
liche Entwickelung erreicht. 

Der chinesische Aufkäufer versteht es indessen, seinen 
Feldzugsplan zu maskieren. Es genügt schon, daß die 
Lieferungen nicht an die Bahn gehen, um Alarm vorzu- 
beugen. Diese chinesischen Aufkäufer kaufen das Ge- 
treide sofort nach der Ernte, während die Kampagne der 
europäischen Mühlen und Exporteure viel später erst 
einsetzt. Ja, bereits lange, bevor die Ernte besorgt ist, 
streckt der Aufkäufer dem Bauern Geld vor oder kauft 
gar die kommende Ernte. Der Aufkäufer geht völlig 
sicher, wenn er frühzeitig das Getreide kauft, denn von 
der Ernte an steigt notwendig der Preis, fast stets ohne 
jedes Nachlassen, höchstens gegen das Neujahr der Chi- 
nesen, wo jeder Geld braucht. Der Aufkäufer stapelt 
das Getreide auf bis zur günstigen Verkaufszeit; er legt 
sein Kapital damit zu 25 bis 40 Proz. an, hat dabei die 
Möglichkeit, wenn nötig, jederzeit ohne Verlust das Ge- 
treide zu verkaufen, es kommt barem Gelde gleich. Der 
größte Vorteil indessen ist der, daß er sich rechtzeitig 
die Beförderung an die Bahn sicherstellen kann. Der 
Versuch der mandschurischen Mühlen, der bisher größten 
Ankäufer von Getreide, durch Bildung eines Syndikates 
die Preise zu drücken, ist völlig fehlgeschlagen. Die 
europäischen Exporteure und Mühlen sind bisher ge- 
zwungen, aus vierter bis fünfter Hand zu kaufen. 

6. Eine weitere große Kalamität stellt die Möglichkeit 
der Ausfuhr aus dem Innern des Landes dar. Das Ver- 
hältnis zwischen Produktionsfähigkeit des Landes und vor- 
handenem Material an Lasttieren und Wagen, bei man- 
gelhaften Straßen und klimatischen Bedingungen (Regen- 
perioden) ist äußerst ungünstig. Zur Überwindung aller 
dieser Schwierigkeiten gelangt ohne chinesische Kombi- 
nationen und Hilfe kein Europäer. 

7. Beim Abschluß von Geschäften bedient sich der 
Chinese völlig anderer Sicherstellungen als der unter 
Europäern gebräuchlichen. Für den, der das Land und 
die Verhältnisse gut kennt, sind dabei erhebliche Ver- 
einfachungen, die Ersparnis großer Formalitäten und 
Ausgaben möglich. Nach chinesischem uralten Gewohn- 
heitsrecht, das zugleich Staatsgesetz ist, spielt das Bürg- 
und Haftrecht im ganzen Volks- und Wirtschaftsleben 
eine gewaltige Rolle. Je nach der Größe des Verbrechens 
haftet z. B. die ganze Verwandtschaft für ihre Glieder. 


Nehmen wir an, ich sei von meinem chinesischen Dienst- 
boten bestohlen worden und dieser geflohen. Ist mir 
sein Vater, sein Sohn, ja auch nur sein Bruder bekannt, 
so kann ich ihn verhaften und verlangen, daß er mir 
den Verlust ersetzt oder im Kerker gehalten wird, bis 
der Schuldige sich gestellt hat oder arretiert ist. Es 
geht sogar so weit, daß für große politische Verbrechen, 
die durch eine Person begangen sind, deren ganze Fa- 
milie der Todesstrafe unterliegen kann.. Hier in diesen 
und ähnlichen Fällen haben wir es mit natürlicher Bürg- 
schaft zu tun. Zu der natürlichen Bürgschaft kommt 
die freiwillige. Ein Chinese, der in Dienst treten will, 
findet gewiß keine Stelle, wenn ihm ein Bau-thjau, eine 
geschriebene Bürgschaft fehlt. Diese auf einen Streifen 
gewöhnlichen Papiers geschriebene, wenn es ein Kauf- 
mannsgeschäft ist, mit Siegel versehene Bürgschaft sichert, 
vorausgesetzt natürlich, daß das Vermögen des Bürgen- 
den groß genug ist, den zukünftigen Dienstherrn vor 
allem Schaden, der ihm durch die in Dienst genommene 
Person verursacht werden könnte. Bei Abschluß von 
kaufmännischen Geschäften aller Art sind dieselben Prin- 
zipien im Gebrauch, was zu vorzüglichen Sicherheiten 
führt. Die Russen, denen die Fähigkeit, sich fremden 
Verhältnissen anzupassen, völlig abgeht, haben in der 
Mandschurei durch Ignorierung dieses Gewohnheitsrechtes 
sich selbst und geregelten Handelsprinzipien enormen 
Schaden bereitet. Zugleich aber führt auch die Igno- 
rierung dieses eigentümlichen Bürgschaftsrechtes zu 
schnell um sich greifender Demoralisation der Bevölke- 
rung überhaupt. Charbin und die ganze Bahnstrecke 
leidet unter der immer zunehmenden Zahl von Verbrechen 
aller Art, und wenn die Russen nicht lernen, sich nütz- 
lichen Einrichtungen zu akkommodieren, so müssen die 
Verhältnisse über kurz oder lang äußerst unerfreulich 
werden. Raube, Morde und große Diebstähle durch 
Dienstboten, Erpressungen durch Chinesen, die gar der 
Verwaltung dienen, wie sie hier zu Alltäglichkeiten ge- 
hören, wären ganz undenkbar bei Beobachtung des Bürg- 
und Haftgesetzes. Selbst hiesige Stellenvermittelungs- 
bureaus ahnen nichts von dem eigentümlichen System 
der Bürgschaft. Von Diebstählen und anderen Verbrechen, 
verübt durch Angestellte und Bediente bei Chinesen, die 
eine Bürgschaft stets verlangen, hört man kaum jemals. 
Ganz besonderen Wert erhält diese Institution an den 
Orten internationalen Handels, wo die Bevölkerung stark 
fluktuiert. Der Raum erlaubt es leider nicht, hier im 
einzelnen auf diese wichtige Einrichtung einzugehen, die 
im wirtschaftlichen Leben Chinas und der Chinesen auch 
außerhalb Chinas eine so große Rolle spielt. 

8. Die Bahnlinie, die in ihrem Hauptteil von Man- 
dschuria bis Charbin das große Gebiet durchschneidet, 
geht durch die unfruchtbarste Steppengegend, und ebenso 
führt die Strecke von Charbin über Pogranitschnaja zum 
Hafen Wladiwostok durch nicht kultiviertes Gebirgsland. 
Nur der kurze Zweig zwischen Charbin und Kuantschen- 
dsö geht, wie die ganze japanische Bahn, durch reiches 
Gebiet, und an Zufuhrbahnen fehlt es der Nordman- 
dschurei völlig. Gegen das große Projekt einer Bahn 
Dsjindschau — Taunanfu — Zizikar — Aigun mit kleinen 
Zufuhrbahnen nach Beilindsö— Hulan und ins reiche 
Tunkön-Gebiet protestiert Rußland. Die Ausführung 
dieses Projektes wäre allerdings geeignet, die Mandschu- 
rei dem internationalen Handel völlig zu erschließen, und 
würde China die Möglichkeit geben, die Kolonisation der 
Mandschurei und Mongolei durchzuführen, wodurch allen 
industriellen Staaten das reichste Absatzgebiet eröffnet 
würde. Aber damit wäre Rußland verdrängt, und sein 
Protest ist somit wohl verständlich, um so mehr, als es 
hierin auf Japans Unterstützung rechnen darf. Auf die 


5* 


10 Spieß: Verborgener Fetischdienst unter den Evheern. 





Schwierigkeiten einzugehen, mit denen der Exporteur es 
auf der russischen Bahn zu tun hat, würde hier zu weit 
führen. 

9. Neben der Bahn ist von größter Wichtigkeit das 
mächtige Zufuhrsystem der Wasserwege des Sungari mit 
seinen großen Nebenflüssen. Die Benutzung dieses 
Systems ist indessen laut Vertrag nur China und Ruß- 
land gestattet, was den Ausländer völlig von russischen 
und chinesischen Schiffsbesitzern abhängig macht. 

Wohl könnten noch eine große Reihe anderer Schwie- 
rigkeiten angeführt werden, mit denen der Ausländer 
nichtrussischer Nationalität es hier zu tun hat, aber 
das würde zu weit führen; erwähnt seien nur noch an- 
deutungsweise das Fehlen von Kreditinstitutionen, die 
den Kaufmann unterstützen könnten, und die völlig un- 
geordneten städtischen sogenannten Selbstverwaltungen. 

Aber trotz allen den angeführten Schwierigkeiten, 
mit denen es hier der deutsche Kaufmann zu tun hat, 
dürfte es dennoch sehr lohnend sein, dem Markt die 
größte Aufmerksamkeit zu schenken. 

Uns will es scheinen, daß von deutschen Pionieren 
speziell auf dem Exportgebiet ein großer Fehler dadurch 
begangen worden ist, daß sie bisher nicht versucht 
haben, durch Assoziation mit chinesischen Fir- 
men von gutem Ruf Geschäfte zu betreiben. 

Den Chinesen fehlt es an dem notwendigen Betriebs- 
kapital, nicht aber den Firmen an sicheren Garantien, 
die sie bieten können. Auf Grund peinlich genauer 
Buchführung lassen sich die Operationen jedes Handels- 
hauses genau prüfen. Durch Vorschüsse an die Bauern 
ist möglichst frühzeitig Betriebskapital auszuwerfen; euro- 
päisches Kapital trüge dabei bis 20 und mehr Prozent. Chi- 
nesische Firmen betreiben bisher noch fast gar keinen 
direkten Exporthandel von Getreide, liefern nur euro- 
päischen Exporteuren. Haben chinesische Firmen freie 
Kapitalien, so legen sie diese doch nicht frühzeitig in 
den Getreideankauf, weil das Kapital hier überhaupt 
große Prozente trägt; geliehene Kapitalien tragen selbst 
bei sicheren Garantien 30 und mehr Prozent. 

Ehe wir unsere Betrachtungen schließen, sei noch 
auf einen eventuell gut zu verwertenden Faktor hinge- 
wiesen. Die katholische Mission erfreut sich in China 
großer Sonderrechte. Sie hat das Privileg, Land und 
Immobilien zu erwerben, auch in allen dem internatio- 
nalen Handel nicht eröffneten Bezirken. 

Sie ist in der Mandschurei sehr verbreitet, namentlich 
in den Provinzen Girin und Mukden, wo jeder bedeuten- 
dere Ort einen Missionar hat. An Landbesitz fehlt es 
ihr dort nicht. Zwischen den Sitzen der einzelnen Mis- 
sionare befinden sich in kleinen, nicht allzuweit von- 
einander entfernten Ortschaften Filialen, die von den 
europäischen Missionaren oder von in hier existierenden 
Priesterseminaren erzogenen chinesischen Missionspriestern 
verwaltet werden. So ist fast das ganze Land, wenig- 


stens die kultiviertesten Strecken, von einem feinmaschi- 
gen Netz katholischer Missionen überzogen, mit Land- 
besitz und recht engem Zusammenhang untereinander. 
Die Mission trägt den Namen „Französische Mission“, 
ihre Glieder sind fast alles Franzosen, aber es sind auch 
gute Deutsche, wie der Elsässer Pater Stöffler, und meh- 
rere Belgier darunter; denn bei Anstellung von Missio- 
naren soll, wie die Vorschrift lautet, keine Rücksicht auf 
die Nationalität genommen werden. Abgeschlossen vom 
europäischen Verkehr, in inniger Verbindung mit der 
Landbevölkerung, wobei einige von ihnen 30 und mehr 
Jahre in der Mandschurei leben, haben diese Missionare 
reiche Kenntnisse der Verhältnisse, und sie alle zeichnet 
ein herzliches Entgegentreten Europäern gegenüber, un- 
abhängig von deren Nationalität, aus. Durch Vermitte- 
lung der Missionare, die selbst Land besitzen, dürfte für 
die Beschaffung notwendig erscheinender Speicherplätze 
gesorgt werden können, und auch auf manche andere 
Hilfeleistung ihrerseits wäre zu rechnen, wenngleich alles 
dieses die vorher empfohlene Assoziation mit chinesischen 
Firmen, die Einfluß auf den Geldkurs’ haben und außer 
aller europäischer Konkurrenz stehende Konjunkturen 
besitzen, nicht ausschließt. 

Eine Monopolisierung des Getreidehandels der ganzen 
Mandschurei durch große europäische Kapitalien ist wohl 
denkbar. An fast allen Zentren der Mandschurei sind 
bereits Abteilungen der Reichsbank Hu-bu-jin-hang er- 
öffnet. Sie unterliegen der direkten Administration des 
Finanzministeriums, und die Angestellten der Bank 
stehen im Staatsdienst. Alle Abteilungen stehen im 
engsten Zusammenhange, der Jahresabschluß umfaßt alle 
Abteilungen als ein Ganzes. Bildete sich nun ein euro- 
päisches Konsortium mit großem Millionenkapital, das 
mit dem Hu-bu-jin-hang kontraktierte, dann wäre eine 
fast vollständige Monopolisierung des Getreidehandels 
zum Nutzen europäischen Kapitals, des chinesischen 
Fiskus und der chinesischen Landbevölkerung erreicht. 
Dem Hu-bu-jin-hang wären die Kapitalien zum Vorschuß 
an die Landbevölkerung und zum Ankauf von Getreide 
aus erster Quelle zur Disposition zu stellen. Über die 
europäischen Marktpreise und Nachfrage nach Getreide 
würden an den Hauptzentren London, Hamburg usw. 
Agenturen des Unternehmens den Hu-bu-jin-hang in 
steter Kenntnis erhalten. Nur in dieser Weise ließe sich 
mit vollem Erfolge dem unsinnigen Steigen der Getreide- 
preise bei jeder Ankaufskampagne steuern und würden 
die europäischen Exporteure nicht den großen Schaden 
erleiden, wie es im letzten Jahre der Fall gewesen ist. 
Bei solchen Kombinationen schiene den Kapitalgebern 
die Zusage der Hälfte des Gewinnes an den Hu-bu-jin- 
hang für die geleistete Arbeit noch immerhin sehr vorteil- 
haft. Ein ganz besonderes Interesse, in solch ein Unter- 
nehmen größere Kapitalien anzulegen, dürften vorzüglich 
die deutschen Schiffahrtsgesellschaften haben. 





Verborgener Fetischdienst unter den Evheern. 
Von C. Spieß. Missionar in Togo. 


Immer näher rückt der Zeitpunkt, daß dem Heiden- 
tum der Evheer durch die europäischen Kulturströmungen 
die Lebenskraft genommen wird. Die Mission als Weg- 
bereiterin neuer religiöser Bewegungen war als erste an 
dem Niedergang der heidnischen Religion beteiligt, ihr 
folgte die Regierung. Der Götter- und Fetischdienst 
zieht sich deshalb immer mehr zurück. Die einstige 


Macht, namentlich die Möglichkeit öffentlichen Hervor- 
tretens, ist gebrochen. An geheimen Orten, in verborgenen 
Winkeln, entlegenen Hainen, einsamen Hütten macht der 
Fetischdienst seine letzten Anstrengungen. Es wird Zeit, 
zu sammeln, was noch zu erhalten, und photographisch 
aufzunehmen, was noch aufzutreiben ist. Über das Be- 
stehende kann nur der alte Eingeborene die Erklärungen 





Spieß: Verborgener Fetischdienst unter den Evheern. 11 





und Aufschlüsse geben, die man wünscht — das heran- 
wachsende Geschlecht weiß nicht mehr viel von der Väter 
Sitten und Handlungen. 

So schwer verständlich der Inhalt der heidnischen 
Religion bleibt, so unklar ist uns die Vorstellung des mit 
den religiösen Übungen verbundenen Fetischismus. Ich 
sehe, um mich kurz auszudrücken, im Fetischtum stets 
greifbare Gegenstände, die, durch Priesterhand geweiht 
und von dessen Geist angehaucht, mit überirdischer 
Kraft versehen, die Verbindung mit der größten unsicht- 
baren Macht über und um uns nicht herstellen, sondern 
fortwährend aufrecht erhalten sollen. Die folgenden 
Ausführungen scheinen es mir von neuem zu bestätigen. 


1. Die Abzeichen eines Boko (Zauberer). 


Betreten wir die Hütte eines Boko, so finden wir in 
einer Ecke derselben seine Zeichen, in diesem Falle Kraft- 
mittel, die ihm sein Ansehen erwirken: Abb. 1. Links 
auf ihr sehen wir einen Legbagbo, auch Agbonudzola 
genannt, soviel wie Wächter des Hauses oder Zaunes. 
Des öfteren hat der Legbagbo zwei oder mehrere kleine 
Stäbe vor sich, um irgend einen Unfall oder etwas Böses 
abzuwenden. Er ist aber auch gleichzeitig Beschützer 
des Afa (s. unten) selbst. Das weiße Tuch, in das er 
gehüllt ist, gilt, wie die weiße Toga der Priester, als 
Zeichen der Reinheit, Klarheit und Wahrheit. Den mit 
zwei Kauris versehenen Kopf schmücken rote Schwanz- 
federn des Klevo, eines selten vorkommenden Vogels. 
Diese Federn spielen eine große Rolle bei den heidnischen 
Zauberern. Zur Ausrüstung des Boko, der auch Afakala 
genannt wird, gehört weiter das in der Mitte sich vor- 


findende Se, über das ausführlich meine Abhandlung im 


Globus, Bd. 94, 1908, Nr. 1, berichtete. Das Afa, der 
kleine Beutel mit Kernen (von der Ölpalme oder anderen 
Früchten), ist für den Boko das wichtigste Zaubermittel. 
Aus diesen Kernen, je nachdem der Wurf derselben aus- 
fällt, deutet er Glück oder Unglück an. 





"W Dr ae Ar Hr I 


ne REIT. 


Abb. 1. Abzeichen des Boko (Zauberers). 


Unter dem Afa liegen die Afatiwo, zwei kleine Stäbe, 
die der Boko bei seinen Manipulationen in die Hand 
nimmt, aber auch als Ausweis seinen Gesandten an einen 
anderen Ort mitgibt, und das Awudza, der Schweif eines 
Rindes, das hin und wieder zu gleichen Zwecken benutzt 
wird, gewöhnlich jedoch zur Vertreibung böser Mächte dient. 

Afa, Afatiwo und Awudza befinden sich auf einem 
mit weißem Tuch bedeckten breiten Brette, der sog. Boko- 


‘Tafel (eté), mittels der der Zauberer durch bestimmte 


Zeichen auf dieser mit einem anderen Boko oder Afakala 
sich verständlich macht. Auf die Tafel streut er eine 
feingeriebene Masse aus Holz (aye genannt) oder auch 
Mehl, worin er mit zwei oder drei Fingern die Schrift- 
zeichen (Afadmoo, genau Afa-Städte) einträgt. Ein öfters 
wiederkehrendes Schriftzeichen ist das Rechteck C], 





Abb. 2. Gboniti. 


Gbosobo genannt, dessen Bedeutung ich bis jetzt nicht 
ermitteln konnte. 

In die im Vordergrunde stehenden Tassen und Gläser 
tut der Zauberer Wasser oder liha (Maisbier). Besucht 
ein Boko den anderen, so kniet der Kommende vor dem 
Afa (jenem Wahrsage-Fetisch) nieder und neigt seinen 
Kopf bis auf die Erde. Diese Afa-Begrüßung nennt der 
Evheer nudedegu. Darauf schüttet der Besucher ein 
wenig vom Wasser oder Maisbier auf die Erde — ein 
Zeichen der Ehrfurcht vor dem Gott, der alles gemacht — 
und nimmt dann selber einen Schluck, worauf die Unter- 
redung beginnen kann. 


2. Gboniti. 

Irgend ein Baumstück, in gleichmäßigen Abständen 
mit Kornmehl bestrichen, um das oben zwei Holzstäbchen, 
mit starkem Lianenstrick an den Stock gebunden, fest- 
gewickelt sind, wird etwa 30 cm tief in ein Loch, in das 
vorher ein getöteter Ziegenbock gelegt wurde, gesteckt: 
Abb. 2. Sie zeigt uns den Gboniti (Bedeutung: Heran- 
nahendes wird zerbrochen, geknickt, zurückgehalten) in 
einem Trõ-(Götter-) Haine. Wie die festgebundenen 
Stäbchen am Gboni, so sollen auch böse Geister, Unglück 
und anderes festgehalten werden. Der Ziegenbock dient 
zur Nahrung des Gboni. Der Gboniti im Trö-Gehöfte 
ist der Freistätte unter den Israeliten gleich. 

Hat jemand Unrechtes begangen oder eines der Tro- 
Gesetze übertreten, so wird er zum Gboni im Götterhofe 
flüchten, wo ihn dann Furcht und Zittern, mit verwirrten 
Reden begleitet, so gewaltig überfällt, daß ihm Blut aus 
dem Munde kommen soll. Das Schuldgefühl wird auf 


12 Spieß: 





ý Abb. 3. Aweli und Ahöneza. 


ihm lasten so lange, bis der Priester, der auf des Flücht- 
lings Geschrei hin erscheint, den die Tat Gestehenden 
mit einem aus Flakräutern hergestellten Absud durch 
Abwaschen vom Fluch befreit und damit auch vor der 
Rache seines Verfolgers. Ebenso flüchten Frauen, die 
einem Manne wider Willen folgen mußten, zur Gboni- 
Stätte, wo sie dann unter starkem Geschrei, beim Gotte 
des Priesters Schutz suchend, durch Vermittelung des 
Priesters aus ihrem erzwungenen Verhältnis erlöst werden, 
so daß der Mann kein Anrecht mehr an ihnen haben kann. 

Der Evheer nennt Schutz beim Gboni suchen : trome- 
dodo, genau: Zuflucht suchen bei einer Gottheit. 





Abb. 4. 


Nuhewiho oder Busuyiwe. 


Verborgener Fetischdienst unter den Evheern. 


Trosi ist der Name für Priester, genau: Frau (asi) 
des Gottes (trö). Es können sowohl Frauen wie Männer 
die Tro-Dienste als Vertreter der Gottheiten verrichten, 
vorausgesetzt, daß sie aus einem Priestergeschlecht stam- 
men oder als vom Trö berufen gottesdienstliche Funk- 
tionen übernehmen dürfen. 


3. Aweli und Ahoneza. 


Aweli, zur Legba-Fetisch-Gruppe gehörend, wird auf 
freien Plätzen und Gehöften errichtet, und Ahoneza, eine 
Schüssel auf dem Kopfe tragend, worin Essen für Aweli 
getan wird, ist dessen Bote (Abb. 3). Auch unter diesem 
Fetisch wird bei seiner Herstellung ein getöteter Ziegen- 
bock gelegt. Durch Hühner- und Ziegenblut sowie 
Palmöl, das der Priester über diesen Fetisch schüttet, 
sucht er sich den im Aweli wohnenden Geist willig und 
geneigt zu machen. Se, die beiden Eisenstäbe, sind als 
Abwehrmittel beigegeben, und das um Aweli gebundene 
weiße Tuch, aklala genannt, das eine große Rolle in der 





Abb. 5. Wumetröwo. 


Götter- und Fetischlehre spielt, ist als Zeichen der Rein- 
heit und Vollkommenheit anzusehen. Besitzer dieser 
Fetische glauben sich vor bösen Geistern gefeit. 


4. Nuhewiho oder Busuyiwe. 

„Hütten, um böse Geister abzuhalten“, ist die 
Bedeutung beider Namen. An Kreuzwegen oder im Ge- 
büsch außerhalb einer Stadt kann man diese aus Gras- 
büscheln errichteten, etwa lm hohen Fetischhüttchen 
sehen (Abb. 4). In und außerhalb derselben befinden 
sich eine Reihe kleiner, teils aus Lehm geformter, teils 
aus Holz geschnitzter menschenähnlicher Figuren. Erstere 
bezeichnen die Evheer mit Legbavi, „kleine Legba“, 
letztere mit Aklama kpakpewo, wörtlich: geschnitzte 
Geister. Aklama ist der dem Menschen vom ersten 
Augenblick an beigegebene unsichtbare Schutzgeist, 
der ihn stets begleitet. Was wir mit dem Worte „dabei 
habe ich Glück gehabt“ oder „da kannst du von Glück 
sagen“ ausdrücken, das bezeichnet der Evheer mit aklama 
di nam; das Aklama war mir günstig. Diese Legbaviwo 
und Aklamakpakpewo treten an die Stelle wirklicher 
Menschenopfer. Der Eingeborene sagt: „Amewo tsona 


14 Aufbruch der neuen englischen Südpolarexpedition. 





finden in den Mythen des syphilitischen Gottes Xolotl- 
Nanauatzin. 

Über die Uta ist von Ricardo Palma (Sohn) eine be- 
sondere Arbeit erschienen: La Uta del Peru, Lima, im- 
prenta de „El Lucero“ 1908. 8°. 1048. Die S. 15 
bis 21 geschilderten klinischen Bilder werden durch Ab- 
bildungen von 8 Fällen illustriert. Es wird (S. 18) betont, 
daß die Krankheit nur sehr selten große Deformationen 
des Gesichtes mit Verstümmelung der Nase herbeiführt. 
Eine Verstümmelung von Gliedern wird nicht beobachtet 
(S.19). Die Krankheit soll meist schon in sehr jungen 
Jahren die Individuen befallen. Was die Ätiologie an- 
langt, so wird S. 22 ff. der Volksglaube, daß die Übertragung 
durch eine Fliege oder einen Moskito hervorgerufen werde, 
argumentiert. Jedenfalls hat die Uta nichts mit einem 
tuberkulösen Lupus zu tun (S. 27). Die pathologisch- 
anatomische Untersuchung zeigt Proliferationen des Corpus 
mucosum Malpighis einerseits nach der des Stratum corne- 
um beraubten Oberfläche der Haut und andererseits nach 
der Tiefe in die Dermalschicht, die mit Embryonalgewebe 
infiltriert wird, das zentral verhornte Nester malpighischer 
Zellen aufweist. Hiermit gehen Veränderungen der Gefäße 
(Peri- und Endarteritis obliterans) einher. Im 5. Kapitel 
wird die Differentialdiagnose besonders zwischen Uta und 
Lupus tuberculosus durchgeführt. 

Der für Amerikanisten interessanteste Teil beginnt 
mit Kapitel V, wo eine Reihe altperuanischer Tongefäße 
mit Darstellungen pathologisch verunstalteter Personen 
beschrieben und durch Photographien erläutert wird. 

Palma hebt hervor, daß in den Fällen, wo auch Glied- 
maßen verstümmelt sind, an Uta nicht gedacht werden 
kann (8.66). Nach Resumierung der verschiedenen 
Möglichkeiten, die Mutilationen durch Kulthandlungen, 
Bestrafungen usw. zu erklären, kommt Palma (S. 83) zu 


dem Schluß, daß nur ein pathologischer Prozeß dar- 
gestellt sein kann, und daß da in erster Linie Syphilis 
in Frage kommt mit Resultaten chirurgischer Eingriffe 
(S. 87). 

Wie man sieht, ist das Ergebnis der beiden hier er- 
wähnten Arbeiten von Tello und Palma für die Lösung 
der Frage der peruanischen Darstellungen von Krank- 
heiten destruktiven Charakters ein ziemlich mageres. 
Um überhaupt hier jemals Licht verbreiten zu können, 
wird es nötig sein, eine große Zahl von solchen peru- 
anischen Tongefäßen in öffentlichen und privaten Samm- 
lungen systematisch zu untersuchen und nach Typen zu 
ordnen. Es wird dabei die Möglichkeit nicht außer Augen 
zu lassen sein, daß außer Syphilis auch Lepra in Betracht 
gezogen werden muß. Es scheint mir, daß in vielen 
Fällen eine scharfe Trennung dieser beiden Krankheiten 
an plastischen Darstellungen nicht durchführbar sein 
wird. Das gesamte Material, das bereits eine umfang- 
reiche Literatur gezeitigt hat, aus der namentlich die 
Abhandlungen von R. Lehmann-Nitsche hervorzuheben 
sind, müßte kritisch gesichtet werden. Dringend zu 
wünschen ist die Herbeischaffung einwandfreier Knochen 
(nicht bloß von Schädeln), deren syphilitische Verände- 
rung ebenso zweifellos wie ihr präkolumbianisches Alter 
anerkannt wäre. 

Rassenpathologische Probleme sind geeignet, auch in 
Amerika neue und weite Gesichtspunkte zu eröffnen. 
Die Lepraforschung müßte sich hier mit den wenig be- 
kannten leichteren Formen von Lepra, die sich in eigen- 
tümlichen Fleckenkrankheiten äußern, Elephantiasis und 
anderem mehr, beschäftigen. 

Es wäre auch lohnend, zu ermitteln, inwieweit hier 
ein Zusammenhang mit Nahrungsmitteln besteht. 

Dr. Walter Lehmann, München. 


Aufbruch der neuen englischen Südpolarexpedition. 


Die „Terra Nova“, das Schiff der neuen englischen 
Südpolarexpedition, hat in den ersten Tagen des Juni 
England verlassen und soll in Lyttelton (Neuseeland) gegen 
die Mitte des Oktobers eintreffen. Im Gegensatz zu früheren 
Südpolarexpeditionen, die die Reise gen Süden gewöhnlich 
erst in der zweiten Hälfte des Dezembers angetreten haben, 
soll die „Terra Nova“ bereits Ende November von Neu- 
seeland aufbrechen, so daß sie gegen Ende Dezember den 
Mc Murdosund erreichen dürfte. Dort wird die „West- 
abteilung“ gelandet werden, die sogleich an den Bau der 
Winterstation gehen und dann, möglichst von Mitte Januar 
1911 ab, eine Anzahl von Depots gegen Süden vor- 
schieben soll. Inzwischen soll das Schiff die Küste von 
Edwardland rekognoszieren und dort, wenn möglich, eine 
kleinere „Ostabteilung“ mit ausreichenden Vorräten und 
einigen Transportmitteln absetzen. Hierauf wird es nach 
dem MeMurdosund und von da, etwa Mitte Februar, nach 
Norden zurückkehren. Sollten die Kohlenvorräte es ge- 
statten, so soll die „Terra Nova“ auf der Rückreise das 
Packeis bei den Ballenyinseln untersuchen und zu diesem 
Zweck nach Westen oder Süden vordringen. Mit Ablauf 
des März geht sie dann nach Neuseeland. 

Die Westabteilung dürfte im April mit dem Hausbau 
und dem Errichten von Depots am Südrand des großen 
Eisfeldes fertig sein, und der Winter wird nun mit der 
Vorbereitung des großen Vorstoßes polwärts verbracht 
werden. Dieser soll im Oktober 1911 beginnen. Den 
Oktober und November wird die Reise über das Eisfeld 


und der Anstieg auf dem Beardmoregletscher in Anspruch 
nehmen, so daß Scott das südpolare Hochland Anfang 
Dezember erreicht haben wird. Etwa drei Wochen dürfte 
schließlich der Zug über dieses Plateau bis zum Südpol 
beanspruchen. 

Dieses ist das endgültige Operationsprogramm Scotts. 
Aus ihm geht hervor, daß er die Absicht, vom Edward- 
lande aus den Südpol zu bezwingen, aufgegeben hat und 
sich an die bekannte Route Shackletons halten wird. Es 
ist das Richtigste, was Scott, dessen vornehmstes Ziel 
eben der Südpol ist, tun konnte. Selbst wenn eine Lan- 
dung auf Edwardland möglich sein sollte — was im übrigen 
sehr zweifelhaft ist —, so würde Scott nicht darauf rechnen 
können, auf diesem gänzlich unbekannten Wege in einer 
Kraftanstrengung zum Südpol zu gelangen. Die Unter- 
suchung von Edwardland bleibt also die Aufgabe einer 
Nebenabteilung. 

Als Teilnehmer an der Expedition werden genannt: 
Marineleutnant E. R.G.R. Evans als Zweitkommandieren- 
der; Dr. E. A. Wilson als Chef des wissenschaftlichen 
Stabes; Marineleutnant H. L. L. Pennell als Physiker und 
Meteorologe der „Terra Nova“; G. M. Levick als Arzt 
und Zoologe; E. L. Atkinson als Arzt und Bakteriologe 
(beide von der Kriegsmarine); Dr. G. L. Simpson als 
Physiker; T. Griffith Taylor und W. G. Thompson als 
Geologen; E. W. Nelson und D. G. Lillie als Biologen; 
C. S. Wright als Chemiker. — Die Heimkehr der Expe- 
dition ist für März 1912 zu erwarten. 





Oman. — Bücherschau. 15 





Oman. 


Über Oman, das von der Türkei so gut wie unabhängige, 
um so mehr aber heute unter englischem Einfluß stehende 
arabische Sultanat, hat der französische Marinearzt L. Moreau 
auf Grund eines mehrmonatigen Aufenthalts im Persischen 
Golf in den „Archives de médecine navale“, ausgehend von 
hygienischen Bemerkungen, auch einige allgemeine Angaben 
gemacht. 

Im Gegensatz zum Klima des übrigen Arabien, das heiß 
und trocken ist, ist das allerdings ebenfalls heiße Klima von 
Oman durch seine Feuchtigkeit bemerkenswert. Diese Eigen- 
tümlichkeit wird gewöhnlich darauf zurückgeführt, daß, 
während die arabische Küste am Roten Meer infolge der 
verhältnismäßig geringen Verdunstungsfläche desselben trocken 
bleibt, die Küste von Oman der beständigen Verdunstung der 
Wasser des Indischen Ozeans ausgesetzt ist. Moreau zweifelt 
aber an der Richtigkeit dieser Annahme und fragt: Warum 
hält nicht der an der Straße von Ormuz endigende Gebirgs- 
zug diese Feuchtigkeit auf, und warum sollte andererseits 
das Rote Meer trotz seiner angeblich unzureichenden Fläche 
nicht Verdunstungserscheinungen zeigen, während doch der 
etwa ebenso beschränkte Persische Golf in der heißen Jahres- 
zeit sie im beträchtlichen Maße auslöst? Moreau ist im Monat 
Januar während seines Aufenthalts in,mehreren kleinen Häfen 
der afrikanischen Küste des Roten Meeres über den Feuchtig- 
keitsgehalt der Luft erstaunt gewesen. 

Das Klima von Oman ist bald trocken, bald feucht. Der 
Winter, der von Dezember bis Februar dauert, zeichnet sich 
durch das Auftreten einiger Regenfälle aus. In Maskat 
übersteigen die Niederschläge niemals 160 bis 180 mm jähr- 
lich, und die Temperatur sinkt im Winter nicht unter 20°C. 
Folgende Tatsache zeigt, wie selten und unergiebig die Regen 
dort sind: Die auf der Reede von Maskat ankernden Kriegs- 
schiffe lassen als Andenken an ihre Anwesenheit zur großen 
Freude des Sultans ihre in riesigen Lettern mit weißer Farbe 
geschriebenen Namen auf den Abhängen der die Reede um- 
gebenden Granitberge zurück, und diese Inschriften sind dank 
der Trockenheit des Klimas so unverlöschbar, daß manche 
noch nach einem halben Jahrhundert zu lesen sind. 

Mit Beginn des April steigt die Temperatur und erreicht 
schnell 39 bis 40°. Vom Mai bis Juli steigt sie auf 45 und 
sogar 48°, um im August bis auf 33 und 30° zu fallen. Wäh- 
rend der heißesten Monate weht im Golf von Oman fast un- 
aufhörlich ein besonderer Wind, ein von den Eingeborenen 
„Gharbi“ genannter Wüstenwind, und man muß mehr in den 
Persischen Golf hinausfahren, um hier den „Schemal“ oder 
Nordwestwind anzutreffen. Im allgemeinen ist die Tempe- 
ratur in Oman weniger launenhaft, als an den Küsten des 
übrigen Arabiens und Persiens. Für die Europäer aber ist das 
‚Klima schwer erträglich, und sie können nicht einmal auf 
die beuachbarten kühleren Höhen flüchten, um sich vor der 
Hitze zu retten; denn die 3020 und 2360 m Höhe erreichen- 
den Dschebels Akhdar und Nakhl sind ihnen infolge der 
dort ständig herrschenden Stammesfehden und der Räuber- 


banden nicht zugänglich. Deshalb suchen sie zur Zeit der 
größten Hitze Karachi in Indien auf. 

Die Bevölkerung fluktuiert stark und setzt sich aus sehr 
verschiedenen Elementen zusammen. Die Araber (etwa 300 000) 
dominieren allerdings stark. Die eingewanderten Beludschen 
zählen 60000 und die ostafrikanischen Neger, die Suaheli, 


etwa 40000. Die handeltreibenden Inder sind durch die Ban- 
janen (1000) und die Luwatja (700) vertreten. Dann kommen 
noch 500 goanesische Perser und 400 Parsen hinzu. Diese 
Zahlen sind die des französischen Konsulats und ergeben im 
ganzen 402600 Einwohner für das Sultanat, während man 
sonst Schätzungen von 1 Million findet. Moreau sagt, Oman 
sei zum größeren Teil Wüste; ehemals war die Lage günsti- 
ger, und damals mag die Bewohnerzahl 1 Million und mehr 
betragen haben. Aber die schlechten hygienischen Verhält- 
nisse, in denen die Bevölkerung lebt, haben die Sterblichkeit 
in beträchtlichem Maße vermehrt. Die 'Tuberkulose richtet 
große Verheerungen an, und man sieht keinen Weg, wie ihr 
zu steuern sei: zu einem Araber kann man nicht über Hy- 
giene sprechen. Namentlich unter den Neugeborenen fordert 
die Tuberkulose in allen Formen schwere Opfer. Außerdem 
sind die inneren Kämpfe ein wesentlicher Faktor für die Be- 
völkerungsabnahme bei den verschiedenen räuberischen oder 
rauflustigen Stämmen. Ohne die Beludschen und Suaheli, 
deren Zahl allein sich dauernd zu vermehren scheint, würde 
Maskat selbst, das mit seinen Vorstädten und Matra 30 000 Ein- 
wohner hat, nur die Hälfte davon zählen. 

Für die Araber ist Vegetieren das wahre Leben; Fata- 
listen und resignierte Pessimisten, verachten sie das diessei- 
tige Leben und gelangen zur Beschaulichkeit, der Schwester 
der Trägheit. Die meisten sind Fischer; abgesehen aber von 
den Morgenstunden, die genügen müssen, ihnen die Mittel 
für die dürftige Existenz zu schaffen, verzichten sie auf jede 
Arbeit, und das lebhafte Treiben des Basars ist nur eine den 
Fremden verführende Täuschung, verbirgt ihm die Indolenz. 
Die Inder, die den Kleinhandel beherrschen, sind die Aristo- 
kraten der Bevölkerung, manche haben sich ein kleines Ver- 
mögen erworben, das ihnen ein gewisses Wohlleben gestattet. 
Sie wie die Omanaraber huldigen dem Opiumgenuß, und die 
Araber haben es verstanden, den Opiumgenuß mit den harten 
Pflichten des Ramadan in Einklang zu bringen: sie nehmen 
vor Anbruch des Tages einige Pillen und stehen dann wäh- 
rend dessen ganzer Dauer unter dem Einfluß des Giftes. Sie 
sind übrigens recht fanatisch. Die meisten Inder sind gleich- 
falls Mohammedaner. Die Beludschen und Neger verrichten 
die schweren Arbeiten, sie tragen Lasten und spannen sich 
vor die Karren; Zugtiere fehlen nämlich in Oman, nur der 
Sultan besitzt etwa 40 Pferde. Das Kamel dient nur als 
Tragtier bei den Karawanen, die größtenteils von Matra auf- 
zubrechen pflegen. 

Die Hauptstadt Maskat verdankt ihre Bedeutung ihrer 
Lage an der Vereinigung der arabischen, indischen und per- 
sischen Seewege. Der Hafen ist im Grunde eines Einschnitts 
gelegen, sozusagen in einem natürlichen Bett zwischen Bergen, 
aber schlecht geschützt vor den Nordost- und Nordwestwinden. 


Bücherschau. 


Kleiner spanisch-indianischer (araukanischer) Ka- 
techismus. Neue Ausgabe durch Rudolf R. Schuller. 
438. Santiago de Chile 1907, Druckerei Cervantes. 

Beichtbuch in Fragen und Lehrpredigten auf Spa- 
nisch und Araukanisch nach dem unveröffentlichten 
Manuskript des Franziskanermissionars P. Antonio Her- 
nández Calzada (1843). Mit biographischen Notizen 
von P. Antonio Pavez O. F. M., hsg. von Rudolf 
R. Schuller. In 200 Ex. 125 S. Santiago 1907, F. Becerra M. 

In diesen beiden Publikationen (in spanischer Sprache) 
liefert der bekannte Verfasser, der schon 1907 eine außer- 
ordentlich verdienstliche und umfangreiche araukanische 
Bibliographie veröffentlichte, neues, wertvolles Material zum 
Studium des Mapuche. Die erste Schrift ist ein Abdruck 
des 1879 in Buenos Aires anonym erschienenen kleinen 
Katechismus, der in Frage und Antwort spanisch und arau- 
kanisch die Hauptlehren der katholischen Kirche behandelt 
und am Schlusse die Gebote und die drei gebräuchlichsten 
Gebete wiedergibt. 

Das Beichtbuch, dessen Manuskript in der National- 
bibliothek zufällig gefunden wurde, ist größer und reicher 
ausgestattet. Schuller schickt ihm einige bibliographische 
Angaben über das Manuskript und die anderen Arbeiten des 
P. Hernändez voraus, während P. Antonio Pavez einen Abriß 
von dessen Leben, Missions- und literarischer Tätigkeit gibt. 


Das Buch enthält in zwei Spalten — rechts Mapuche, links 
spanisch — zahlreiche, auf Grund der zehn Gebote gebildete 
Fragen, die der Priester an den Beichtenden richten soll, vor- 
her eine kürzere und am Schluß eine lange Ermahnung für 
den Beichtenden. Auf 8.61 bis 68 folgen noch zwei bisher 
unveröffentlichte Lehrpredigten über Tod und Hölle und das 
ewige Leben. Aby. 


Putnam Anniversary Volume. Anthropological Essays 
Presented to Frederic Ward Putnam in Honor of his seven- 
tieth Birthday, April 16, 1909, by his Friends and Asso- 
ciates. New York 1909, G. E. Stechert and Co. 

Die zahlreichen „Festschriften“, welche im letzten Jahr- 
zehnt zu Ehren verdienter Gelehrter auf geographischem und 
ethnographischem Gebiete erschienen (Bastian, Ratzel, Boas, 
E. B. Tylor und anderer), enthalten eine Fülle wertvollen 
Stoffes, da die Mitarbeiter eine Ehre darein setzten, nur 
Tüchtiges dem Meister als Huldigung darzubringen. Der 
vorliegende Anniversary Volume ist unter allen der umfang- 
reichste mit über 600 Seiten und prächtig ausgestattet; Re- 
dakteur war der unermüdliche Franz Boas, Mitarbeiter sind 
die hervorragendsten amerikanischen Anthropologen, Ethno- 
graphen und Kulturhistoriker. Putnam, dessen große Ver- 
dienste als Leiter des Peabody-Museums die allgemeinste An- 
erkennung genießen, begann seine wissenschaftliche Arbeit 


16 Bücherschau. 





mit Studien über Fische, ging dann zu anthropologischen 
und archäologischen Forschungen über und schloß daran die 
ethnologischen. Das der Festschrift angehängte Verzeichnis 
seiner Veröffentlichungen umfaßt von 1855 bis 1909 über 
400 Nummern. 

Die Zahl der Abhandlungen in der vorliegenden Fest- 
schrift beträgt 26, unter denen sich einige sehr umfangreiche 
befinden. Fast alle bewegen sich auf einer gewissen Höhe, 
manche bringen Neues und sichern dem Bande dauernden 
Wert. Sie alle nach Gebühr zu würdigen, ist leider hier 
nicht möglich, doch wollen wir einzelnes herausgreifen, was 
zur Kennzeichnung des Ganzen dienlich erscheint. 

Kroeber, der auf kalifornischem Gebiete so gründlich 
Erfahrene, beschäftigt sich mit der Frage des ersten Auf- 
tretens des Menschen in Kalifornien und mit der Entwicke- 
lung der dortigen Kultur, wobei er in bezug auf ersteres zu 
dem Ergebnisse gelangt: Altogether it may be said that the 
problem of the antiquity of man in California still awaits 
its anwer, während die fleißig betriebenen archäologischen 
Forschungen uns die allmähliche Kulturentwickelung der 
Nordwestamerikaner erkennen lassen. Mit der alten Töpferei 
der Zußi-Indianer befaßt sich eingehend Walter Fewkes. 
Während die moderne Töpferei mit ihren vielen kennzeich- 
nenden Ornamenten sehr gut erforscht ist, hat man die 
ältere, ursprüngliche ganz vernachlässigt, da bis jetzt sorgfältige 
Ausgrabungen, namentlich in Heshotauthla, bewiesen haben, 
daß sich wesentliche Unterschiede zeigen. Es liegen keinerlei 
Übergänge zwischen alt und neu vor, der Symbolismus der 
dargestellten Ornamente usw. ist bei beiden durchaus ver- 
schieden, so daß Fewkes für die neue Töpferei einen extra- 
cultural origin annimmt. 

Großen Umfang erreicht die Abhandlung von W. J. 
Mills über die sehr sorgfältig durchgeführte Ausgrabung 
des Seip Mound in Ohio, der einer der größten bisher un- 
berührten seiner Art ist und seinen Namen nach den Be- 
sitzern (Seip) trägt. Wiewohl mancher wichtige Fund darin 
gemacht wurde, können wir doch nicht weiter darauf ein- 
gehen, da die Ergebnisse mit der Moundforschung im all- 
gemeinen stimmen. — Schon längst war es aufgefallen, daß 
in der peruanischen Kunst der Fisch eine hervorragende 
Rolle spielt. Zahlreich sind die Holz- und Tongefäße in 
Fischform, als Dekoration auf Vasen und Bechern ist sie 
vielfach verwendet, und von der naturwahrsten Form, welche 
die verschiedenen Arten mit Sicherheit erkennen läßt, geht 
der Fisch allmählich in stilisierte Ornamentformen über, von 
denen niemand den Ursprung ahnen wird, der nicht die 
Übergänge kennt. Dieses wird unter Beifügung zahlreicher 
Abbildungen von Charles W. Mead gezeigt 

Wie man auch in Europa nur allmählich dazu gelangt 
ist, für die Urzeiten verschiedene Kulturperioden zu erkennen, 
und jetzt selbst die Steinzeit höchst subtil nach französischem 
Vorbilde je nach den gröber oder feiner bearbeiteten Stein- 
geräten in eine Anzahl Epochen zerlegt wird, so beginnt 
man auch für die prähistorische Zeit der Vereinigten Staaten 
mit der Zerlegung. Warren Moorehead versucht dieses 
zunächst für Ohio; für ihn ist es safe to assume that three 
cultures have clearly established, wobei auch ein kurzköpfiges 
südliches und ein langköpfiges nördliches Volk in Betracht 
komme. — Die Ruinen von Mitla in Mexiko, welche schon 
eine große Literatur hervorgerufen haben, darunter das 
Prachtwerk unseres Landsmanns Seler über die dortigen 
Wandmalereien, haben einen amerikanischen Gelehrten von 
Verdienst, Marshall H. Saville, zu weiteren Forschungen 
veranlaßt. Sie liegen hier, von vielen Abbildungen begleitet, 
in der Abhandlung „Über die kreuzförmigen Bauten von 
Mitla“ vor. Diese zeigen sich als die großartigsten Grab- 
kammern der ganzen Neuen Welt, nicht nur durch ihre 
Größe, sondern auch durch die meisterhafte Durchführung 
der Steinhauerei und die Ausschmückung ausgezeichnet. 
Was die Kreuzform betrifft, die ja in Amerika keineswegs 
ungewöhnlich ist, so scheint sie religiöse Bedeutung zu haben 
und mit dem Tlaloc- oder Quetzalcoatl-Kultus in Verbindung 
zu stehen. — Eine Spezialität aus der Mayadekoration be- 
handelt G. Byron Gordon. Man hat dort in langschnäbe- 
ligen, rüsselbesetzten Köpfen altweltliche Elefanten gesehen, 
und Hartogh van Zouteveen (Arch. f. Anthrop., VII) hat im 
Jahre 1874 mit Hilfe solcher Elefantenrüssel phönizische 
Kultur zu den Mayavölkern gelangen lassen. Gordon zeigt 
in seiner Abhandlung, daß es sich hier um die Köpfe von 
großschnäbeligen Papageien handelt, deren lang stilisierte 
Schnäbel zu Rüsseln phantasiert wurden. — Ausgrabungen 
in den Totenräumen des Pueblo Bonito (New Mexico) hat 
G. Pepper unternommen, die eine große Ausbeute lieferten. 
Besonders erwähnenswert sind die reichen Türkisbeisaben 
(Schnitzereien in Gestalt von Fröschen) und die Türkis- 
mosaiken, die an die altmexikanische Mosaikkunst erinnern, 


von der nur wenige Exemplare sich in europäischen Museen 
erhalten haben. 

Ein eingehendes Verständnis mit den Mayahieroglyphen 
und den Schriften von Förstemann und Seler verlangt eine 
Abhandlung von Ch.Bowditch über die Daten und Zahlen 
auf den Seiten 24 und 46 bis 50 des Dresdener Mayakodex, 


die wir nur dem Titel nach anführen können. Ergän- 
zungen zu den bisher bekannt gewordenen so farbenreichen 
und eigentümlichen religiösen Zeremonien (namentlich den 
Sandmalereien) der Navaho-Indianer bietet A. M. Tozzer. 
Diese eigentümlichen Sandmalereien, die zum Teil farbige 
Darstellungen von Regengöttern, Wirbelwinden u. dgl bringen, 
sind hier am ausführlichsten unter Beigabe guter Abbil- 
dungen behandelt, so daß wir erst jetzt voll über ihre Be- 
deutung klar werden. 

Ganz überrascht sind wir, mitten unter all den ameri- 
kanistischen Abhandlungen plötzlich auf eine solche aus der 
europäischen Volkskunde zu stoßen, die auch mit guter Be- 
herrschung unseres folkloristischen Materials verfaßt ist. 
„Certain Quests and Doles“ betitelt sich die Arbeit von 
Charles Peabody. Also Bitten, Verlangen und Gewähren, 
Schenken. Er faßt darunter die meist auf religiösem Hinter- 
grunde beruhenden gabenheischenden Umzüge zusammen, 
welche bei den meisten europäischen Völkern an kirchlichen 
Festen gewöhnlich von Knaben ausgeführt werden, ‘wobei 
verschiedene Sitten, Lieder herrschen. Englische, deutsche, 
italienische, französische usw. werden vergleichend angeführt 
und dabei die große Übereinstimmung nachgewiesen. Bo finde 
ich z. B., daß die schottischen Kinder am 31. Dezember um- 
herziehen und Haferbrot erbitten, wobei sie singen: 


My feet’s cauld, my shoons thin 
Gie’s my cake and let me rin, 


wobei mir sofort aus einem Martinigesang meiner nieder- 
deutschen Heimat die schlagende Parallele einfiel: 


Ik sta up kölem steine 
Mik freiset mine beine, 
Gif mik wat, ik mot en hüs noch wider gän. 


Eine hochverdiente Amerikanistin, Frau Zelia Nuttall, 
fehlt auch nicht mit einem Beitrag, welcher das Überleben 
der echten Purpurfärberei in Mexiko betrifft. Sie fand in 
Tehuantepec, daß die dortigen Frauen schön purpurfarbige 
Baumwollgewänder trugen, und berichtet dann, wie die 
Fischer bei dem Orte Huamelula mit dem Baumwollgarn in 
das Meer fahren, dort die Purpurschnecken (Caracol genannt, 
Purpura patula) sammeln und ihren färbenden Saft auf das 
Garn ausdrücken. Dieses wird dann weiter behandelt und 
erhält später erst seine schöne Farbe. Der vorher beschriebene 
Prozeß dient auch zur Aufklärung der antiken Purpurfärberei 
im Mittelmeer. Frau Nuttall unterläßt nicht, Auszüge aus 
der Abhandlung des Berliner Zoologen v. Martens (Zeitschr. 
f. Ethnol. 1898) und den Schriften von Eduard und Cäcilie 
Seler zu geben, welche vor ihr über diesen Gegenstand ge- 
schrieben haben. Zum Schlusse wirft die Verfasserin die 
brennende Frage auf, ob dieses Überbleibsel der Purpur- 
färberei bodenständig und ursprünglich oder entlehnt sei, 
durch „schiffbrüchige mittelmeerische Seefahrer nach Ame- 
rika gelangte“, und ihre Ansicht neigt sich der letzteren 
Auffassung zu. Warum aber jene schiffbrüchigen Mittel- 
meerleute wichtigere Kulturelemente nach Amerika zu 
bringen unterließen, sagt die Verfasserin nicht, 

Rein anthropologischer Art ist der Beitrag über die Mes- 
sungen, welche Alexander Hrdlicka an Indianern des 
südwestlichen und nördlichen Mexiko ausführte, nach denen 
die Otomi die kleinsten sind (Männer 159 cm im Durchschnitt), 
während die Maricopa (Männer 175cm) als die größten er- 
scheinen. Einige sprachliche Beiträge: über die Sprache der 
Irokesen von Franz Boas, über die Wintungrammatik von 
Roland Dixon und über einen neuen Siouxdialekt von 
J. Swanton entziehen sich meiner Beurteilung. Zum 
Schlusse erhalten wir noch eine flott geschriebene Skizze von 
George Dorsey, der im Jahre 1908 die deutschen Salo- 
monsinseln besuchte; sie bietet aber für uns nichts Neues. 

R. A. 


Oskar Dähnhardt, Natursagen. Eine Sammlung natur- 
deutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden. Bd.IIl: 
gie Erster Teil. Leipzig 1910, B. G. Teubner. 
15 

Den allseits mit großem Beifall aufgenommenen beiden 
ersten Bänden der Natursagen folgt hier der dritte, Tier- 
sagen behandelnde. In der Einleitung nimmt Dähnhardt 
grundsätzliche Stellung zu der jetzt vielfach die Ethnologen 
wieder beschäftigenden Frage nach der Entlehnung oder 

Wanderung der verschiedenen Sagen usw., und bei der 


Kleine Nachrichten. 17 





großen Fülle des zu verzleichenden Stoffes und dessen Durch- 
arbeitung konnte Dähnhardt wohl zu einem Ergebnisse ge- 
langen, wenigstens soweit es sich um die hier in Betracht 
kommenden Materien handelt. Er geht aus von den bei 
Bastian, R. Andree u. a. für den Völkergedanken sprechen- 
den Beweisen, gibt aber auch den Wanderungen ihr Recht. 
„Im allgemeinen darf man wohl annehmen, daß Sagen und 
Märchen, die nur in einem Motiv übsreinstimmen, ohne 
Wanderung überall in gleichen oder ähnlichen Formen ent- 
stehen können, besonders Natursagen, denn die Natur ist 
überall das gleiche Objekt, an dem sich die beobachtende 
und dichtende Volksphantasie in gleicher Weise versucht. 
Doch ist auch hier die Wanderung nicht ausgeschlossen. 
Gleichheit mehrerer Motive deutet dagegen wohl immer 
auf Wanderung hin.“ 

Für beides nun bietet die vorliegende Sammlung ein 
überreiches Material. Nicht nur, daß der Verfasser unter 
Beihilfe einer Anzahl hervorragender Forscher im In- und 
Auslande seine gewaltige Sammlung zusammenbrachte, er 
hat sie auch so geordnet, daß man mit Leichtigkeit über- 
sehen und auffinden kann, was die Natursagen nicht nur 
der europäischen, sondern auch amerikanischer, afrikanischer 
und anderer Völker bieten. Das Übereinstimmende wird 
sofort klar. Es ist ein entschiedenes Verdienst von Dähn- 
hardt, daß er nicht, wie es bei ähnlichen Untersuchungen 
meist der Fall ist, an der europäischen Scholle kleben blieb, 
sondern nach Möglichkeit die Völker der Erde zusammen- 
faßt°. Die 18 Kapitel, in welche er seinen überreichen Stoff 
gliedert, zerfallen wieder in viele Unterabteilungen. Wir 
können sie nicht alle hier registrieren, heben aber die Ab- 
schnitte über Gestalt und Eigenart der Tiere, das Entstehen 
des Ungeziefers, Tierstimmen, die Namen, Gewohnheiten 
(Geruch, Diebstahl), Nahrung, Verwandlungen der Tiere 
hervor. Auch greifen einzelne Untersuchungen, wie jene 
über die Gewinnung des Feuers und die Seelenvögel, über 
den engeren Rahmen hinaus. Der noch ausstehende Schluß- 
band des Werkes soll sich mit der Geschichte und Psycho- 
logie der Sagen beschäftigen. 


F. Birkner, Der diluviale Mensch 

München 1910, Isaria-Verlag. 1,75 f. 3 

Die neuerdings sich häufenden Funde von Überresten 
des diluvialen Menschen in Europa haben schon verschiedene 
zusammenfassende Schriften veranlaßt. Unter diesen ist die 
vorliegende die wissenschaftlich am besten begründete, die 
klar einen größeren Leserkreis unterrichtet. Zwar bringt sie 
uns in Wort und Bild nichts Selbständiges und Neues, aber 
sie zeichnet sich aus durch eine recht objektive Zusammen- 
fassung und stellt bei abweichenden Ansichten und Hypo- 
thesen (z. B.in der Eolithenfrage) das Für und Wider gegen- 
einander. Etwa 100 Abbildungen, alle nach guten, neuen 
Vorlagen, schmücken die Schrift. Den vom Verfasser selbst 
angezweifelten „Neandertaler nach Kupka“, Fig. 53, hätte 
man vielleicht besser durch eine der traditionellen Abbil- 
dungen Adams ersetzen können, die wenigstens biblische 
Autorität hinter sich haben. 


in Europa. 


Otto Keller, Die antike Tierwelt. 1. Bd.: Säugetiere. 
XII u..434 S. m. 145 Abbild. im Text u. 3 Lichtdruck- 
tafeln. Leipzig 1909, Wilhelm Engelmann. 

Otto Keller gehörte als einer der ersten zu jenen auch 
jetzt noch keineswegs zahlreichen klassischen Philologen, 
welche die klassische Altertumswissenschaft nur als einen 


Teil der allgemeinen Wissenschaft vom Menschen ansehen 
und daher auch einen weiten und geschärften Blick für all- 
gemeine ethnologische Beziehungen haben. Eine Autori- 
tät ersten Ranges ist Keller für die kulturgeschichtliche Be- 
deutung der Tiere im klassischen Altertum, und sein 1887 
zu Innsbruck erschienenes Buch „Tiere des klassischen Alter- 
tums in kulturgeschichtlicher Beziehung“ gehört zu den 
Büchern, die der Philologe ebenso wie der Kulturforscher zu 
schätzen weiß. Es ist erfreulich, daß zu diesem Werk nun 
— mit Unterstützung der kaiserl. Akademie der Wissen- 
schaften in Wien — eine groß angelegte, auf zwei Bände 
berechnete Fortsetzung und Erweiterung erscheint. Der vor- 
liegende erste Band behandelt die Säugetiere und bietet ein 
außerordentlich reichliches, durch wertvolle Illustrationen noch 
vermehrtes kulturgeschichtliches Material. Der Verfasser be- 
schränkt sich hierbei keineswegs nur auf die Griechen und 
Römer, sondern zieht auch die orientalischen Völker (nament- 
lich Inder und Agypter) in Betracht, soweit uns antike 
Schriftsteller über sie berichten. Auch mit den prähistori- 
schen Forschungen über die Verbreitung der Tiere und die 
Anfänge der Zähmung und Züchtung von Haustieren zeizt 
sich Keller wohlvertraut. 

Das Werk ist ferner ein wichtiger Beitrag sowohl zur 
Geschichte der materiellen als auch der geistigen Kultur der 
Völker des Altertums. Denn wir erfahren aus ihm nicht 
nur, was die Alten von den Tieren wußten bzw. fabelten, 
welche Tiere sie kannten, zähmten und züchteten, welche 
Bedeutung die Tierwelt für die Volkswirtschaft und den 
Sport hatte, sondern auch was die Alten von den Tieren 
glaubten, welche Rolle sie im Mythos, im Volksglauben, im 
Kultus und in der: Volksmedizin spielen, ferner was die 
Dichter von den Tieren erzählen und wie die Künstler sie 
darstellen. Manche wichtige Beiträge zur vergleichenden 
Fabel- und Märchenforschung wird man in den Ab- 
schnitten über die Affen, den Löwen, die Hauskatze, die 
Maus, das Wiesel, das Eichhörnchen, den Esel, das Maultier 
und andere finden. Insbesondere aber sei hier das Schluß- 
kapitel über das mythische Einhorn erwähnt, welches in 
Sage und Dichtung östlicher und westlicher Völker eine so 
große Rolle spielt. Wertvolle religionsgeschichtliche 
Beziehungen werden in allen Abschnitten, namentlich aber 
in denen über den Hund, die Hyäne, die Ziege, das Schaf, 
das Pferd, das Rind und das Schwein nachgewiesen. Für 
die Wirtschaftsgeschichte sind von größter Wichtigkeit 
die Abschnitte über die Hundezucht — es ist erstaunlich, 
welche Mengen von Hunderassen die Alten gezüchtet hatten! 
— sowie über die Pferde-, Ziegen-, Schaf-, Rinder- und 
Schweinezucht. 

Die gründlichsten Monographien sind dem Pferd und 
dem Rind gewidmet. Ich verweise nur auf die eingehen- 
den Untersuchungen über die Verbreitung des Pferdes im 
Altertum, über die Pflege und Zucht des Pferdes bei den alten 
Griechen, über Reiten und Fahren, über das Wettrennen mit 
Wagen, über das Roß in Mythologie und Kult, insbesondere 
das bei den indogermanischen Völkern so bedeutsame Roß- 
opfer, über die Rinderzucht im Altertum, über den Apis- 
kult der Agypter, über den Minotaurus, über das antike Hirten- 
leben, über die Milchwirtschaft bei den Alten usw. Diese 
bloße Aufzählung genügt, um zu zeigen, daß das Werk nicht 
nur für den klassischen Philologen, sondern auch für den 
Ethnologen viel wertvolles und dankenswertes Material 
enthält. Möge dem vorliegenden ersten Bande recht bald 
der zweite nachfolgen. 


Prag. M. Winternitz. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Anfang Juni hat eine dänische Expedition Kopen- 
hagen verlassen, die im Nordatlantischen Ozean und 
im Mittelmeer ozeanographische Studien ausführen 
wird. Ihr Leiter ist Dr. Johs. Schmidt, bekannt durch 
seine früheren Forschungen im Atlantik, besonders über den 
Aal. Seine Begleiter sind J. W. Nielsen als Hydrograph, 
C. H. Ostenfeld und O. Paulsen als Planktonspezialisten, Sven 
Palitsch vom Carlsberg-Laboratorium als Chemiker und ein 
Biologe. Während des ersten Teiles der Fahrt in den Ge- 
wässern von Island und den Färöer, Juni über, sollen die 
Forschungen einen mehr offiziellen Charakter haben, weil 
sie auf Kosten der dänischen Regierung geschehen und einen 
Teil des internationalen Schemas der Meeresforschung bilden. 
Der zweite Reiseabschnitt wird mit Beginn des Juli in einem 
englischen Hafen seinen Anfang nehmen, und die Kosten 


hierfür tragen teils der Carlsbergfonds, teils Privatleute. Auf 
die atlantischen Gewässer südlich von Irland wird nicht viel 
Zeit verwendet werden, es soll dann gleich nach dem Mittel- 
meer gehen. Expeditionsschiff ist der bekannte Forschungs- 
dampfer „Thor*. 





— Die Geographie auf der 82. Versammlung deut- 
scher Naturforscher und Ärzte (Königsberg i. Pr., 18. 
bis 23. September 1910). Aus Königsberg wird uns berichtet: 
Die Geographie ist zunächst an der sogenannten gemein- 
schaftlichen Sitzung der Hauptgruppen am Donnerstag, dem 
22. September, vormittags beteiligt. Es ist gelungen, den 
Führer der nächstjährigen deutschen Südpolarexpedition, 
Oberleutnant Filchner, für diese Sitzung zu einem Vortrage 
über sein Unternehmen zu gewinnen. Damit knüpft die 


18 Kleine Nachrichten. 





Tagung wieder an die Traditionen der Zeit Neumayers an. 
Dem Herkommen der letzten Jahre entsprechend, ist auch 
wieder eine geographische Sektion eingerichtet worden, deren 
Einführende Professor Hahn und Professor Lullies sind. Der 
Praxis der Geographentage folgend, haben sie eine Anzahl 
Gegenstände ausgewählt, die das Rückgrat der Diskussion 


bilden sollen. Solche Gegenstände sind: Die Rolle der Erd- 
beschreibung auf der Naturforscherversammlung (Hahn- 
Königsberg); die Geologie im Schulunterricht (Lullies-Königs- 
berg); die Zerstörung der Steilküsten in der Gegenwart 
(Brückmann-Königsberg); die großen Straßen des Weltver- 
kehrs (Hennig-Berlin und andere); Landeskunde des nord- 
östlichen Deutschland, besonders auch Posens (voraussichtlich 
Schütze-Posen und andere); Ethnographische Probleme aus 
dem südöstlichen Asien (Oberlehrer Bork-Königsberg und 
andere). 


— Das Somaliland-Protektorat gehört zu den 
Schmerzenskindern der englischen Regierung, weil dort der 
sogenannte „Tolle Mullah“ sein Wesen trieb und die Engländer 
zu kostspieligen und doch nutzlosen Feldzügen zwang. Die 
englische Regierung hat sich daher entschlossen, das Innere 
der Kolonie aufzugeben und künftig nur einige Punkte an 
der Küste, darunter Berbera, besetzt zu halten. Die der Re- 
gierung freundlich gesinnten Stämme sollen mit Waffen ver- 
sehen werden, damit sie sich der Angriffe des „Tollen Mullah“ 
selbst erwehren können, und dann soll mit der Zurück- 
ziehungder Truppen begonnen werden. Das Somaliland-Protek- 
torat ist ein Glied in der Kette jener Stationen, die England 
den Weg nach Indien sichern sollen, und darin beruht allein 
die Bedeutung der Kolonie; wirtschaftliche Vorteile bietet 
sie wenig oder gar nicht. Jener Zweck aber kann durch die 
Besetzung der Küste genügend erreicht werden. Kürzlich 
wurde nun wieder berichtet, der „Tolle Mullah“ sei gestorben, 
und wenn diese Nachricht sich diesmal bestätigen sollte, 
so würde die englische Regierung in ihrem Entschlusse doch 
vielleicht wankend werden, zumal dieser im Parlament durch- 
aus nicht allgemeine Billigung gefunden hat. Die Opposi- 
tion wandte ein, daß durch das Aufgeben des Protektorats 
das englische Ansehen nicht nur dort, sondern auch in 
Abessinien leiden würde. 


— In Südamerika ist seit dem Jahre 1903 eine von 
Agram ausgesandte „kroatische wissenschaftliche 
Mission“ tätig, an deren Spitze die Herren Mirko und 
Stevo8eljan stehen. Über ihre bisherigen Unternehmungen 
mag folgendes mitgeteilt werden: Die Mission landete 
im genannten Jahre in Rio de Janeiro und begab sich nach 
S8. Paulo, um über Land die Stromschnellen des Rio Paraná- 
panema zu erreichen. Talabwärts an diesem Flusse und den 
Rio Ivinheima hinauf kamen die Forscher in die Campos de 
Vaccaria, überschritten die Höhenzüge Dorados-Brillante zum 
Rio Miranda und erreichten Corumbä, die am Rio Paraguay 
gelegene Handelsstadt von Matto Grosso. Diese Reise dauerte 
ein Jahr, und die Mission hatte beschlossen, die Rückkehr 
zu den Gestaden des Atlantischen Ozeans quer durch Para- 
guay und den brasilianischen Staat Paraná zu bewerkstelligen. 
Bei dieser Gelegenheit wurden die großartigen Wasserfälle 
El Salto del Guayrä des Rio Paraná und der am gleich- 
namigen Flusse gelegene Salto del Jguaztı besucht. Das 
letzte Projekt der Mission, das zwischen den Flüssen Xingü 
und Paranätinga - Tapajoz liegende und bis heute auf allen 
Karten als unbekannt bezeichnete Landgebiet zu erforschen, 
scheiterte an der Revolution, die im Jahre 1906 in Matto 
Grosso (Cuyabä) herrschte. Die Regierung dieses brasiliani- 
schen Staates bemächtigte sich mit Gewalt der der Mission 
gehörigen Reit- und Tragtiere, des Proviants und der 
Munition und verhinderte dadurch die geplante Expedition, 
für die die Mittel in Chile aufgebracht waren. Ihre letzte 
Forschungsreise richtete die Mission im Jahre 1908 nach dem 
linken Ufer des unteren Amazonenstromes und ins Amapä- 
gebiet. (Erwähnt sei, daß seit 1889 die beiden Reisenden 
drei Jahre in Abessinien weilten, dort mit geographischen 
und ethnographischen Studien beschäftigt waren. Sie kamen 
bis zum Omo, Rudolf- und Stefaniesee. Die ethnographische 
Sammlunz wurde dem Kroatischen Landesmuseum in Agram 
übergeben, die Resultate sind in kroatischen Zeitschriften 
veröffentlicht worden und deshalb ziemlich unbekannt ge- 
blieben.) 

— Die französischen Prähistoriker E. Cartailhac und 
Abbe Breuil setzen ihre Beschreibungen der Malereien 
und Figurenritzungen in den Höhlen der Pyrenäen fort. Jetzt 
(L’Anthropologie 1910, 8.129) sind sie bei der Höhle von 
Gargas in der Gegend von Bagneres-de-Luchon angelangt, 
wo zu den bekannten Büffel- und Pferdebildern sich etwas 


Neues gesellt: das sind die massenhaften Darstel- 
lungen menschlicher Hände, auf die allerdings 1906 
schon Felix Regnault hingewiesen hatte. Bei den Analogien, 
welche diese Handbilder in der heutigen Ethnographie bieten, 
erscheint ihr Vorkommen in der Höhle von Gargas besonders 
belangreich. Die Handdarstellungen sind durch die ganze 
Höhle verteilt, und die Forscher konnten mehr als 150 zählen; 
sie müssen aber ursprünglich viel zahlreicher gewesen sein, 
da in der sehr feuchten Höhle die Sickerwasser viele fort- 
gewaschen haben, andere durch spätere Kalkablagerungen 
verdeckt wurden. Die Darstellung der Hände erfolgte in 
sehr einfacher Art. Die Hand wurde mit ausgebreiteten 
Fingern auf die feuchte Höhlenwand gelegt und dann rote 
oder schwarze Farbe ringsum aufgetragen, so daß beim Fort- 
ziehen der Hand deren Abbild rot oder schwarz umrahmt 
zurückblieb. In überwiegender Menge handelt es sich um 
linke Hände, woraus hervorgeht, daß der Darsteller die rechte 
Hand zum Auftragen der Farbe benutzte, was auf Rechts- 
händigkeit der prähistorischen Höhlenbewohner schließen 
läßt. Noch etwas fällt bei den abgebildeten Händen auf: 
bei vielen fehlen an einem oder mehreren Fingern einige 
Glieder, was, bei der Häufigkeit des Vorkommens, nicht auf 
Zufall beruhen kann. In Frankreich ist die Höhle von Gar- 
gas die erste, in welcher man solche Handbilder beobachtet 
hat, während ganz gleiche und in der gleichen Art her- 
gestellt in den Höhlen von Santander in Spanien 1906 ge- 
funden wurden. 

Mit Recht haben Cartailhac und Breuil die Ethnographie 
zur Erklärung der von ihnen beschriebenen Handbilder heran- 
gezogen. Wir kennen ganz ähnliche Handbilder aus sehr 
verschiedenen Kulturepochen bei Nord- und Südamerikanern, 
Nordafrikanern, Phöniziern, besonders aber aus Australien, 
wo sie auf den Felsmalereien der Eingeborenen in der gleichen 
Technik wie in der Höhle von Gargas dargestellt sind (Ma- 
thews im Journ. Anthropol. Institute, Bd. 25, Tafel 14). Was 
die Beschreiber der Handbilder nicht erklären, ist das Fehlen 
einzelner Fingerglieder bei den Händen der Gargashöhle. 
Auch hierfür kann eine ethnographische Parallele angeführt 
werden, nämlich das sehr verbreitete Ablösen eines Finger- 
gliedes als Zeichen der Trauer bei verschiedenen amerikani- 
schen, afrikanischen und polynesischen Völkerschaften. R. A. 

— Seit dem Juli 1909 wird — durch eine französische 
Gesellschaft — eine neue Eisenbahn gebaut, die von dem 
ecuadorianischen Hafenort Bahia de Oaraques nach Quito 
führen soll. Sie wird etwa 300 km lang sein und daher die 
Hauptstadt Ecuadors weit schneller mit dem Meere verbinden, 
als die schon bestehende von Guayaquil ausgehende Bahn. 
Auch hat Bahia de Oaraques, das gegenwärtig erst 4000 Ein- 
wohner zählt, vor Guayaquil den Vorteileines viel gesünderen 
Klimas und einer geringeren Regenmenge voraus. Bisher 
sind von Bahia de Caraques ausfreilich erst 5km im Betrieb. 
Die Linie folgt dem Rio Chone (oder Calceta) aufwärts ins 
Gebirge, überschreitet dieses in 400m Höhe und erreicht die 
Stadt Balzar. Dort wird sich die Bahn gabeln, der nördliche 
Ast nach Quito, der südliche nach Guayaquil führen. Bis 
Balzar sind alle Vorarbeiten vollendet. Ein großer Übelstand 
ist beim Bau der Mangel an süßem Wasser. Die Gezeiten 
machen sich bis 30km den Choné hinauf bemerkbar, und 
die Einwohner sind soweit auf das Regenwasser angewiesen. 
Die Bahnbaugesellschaft hat daher die Anlage einer Wasser- 
leitung beschlossen. Anfangs erschien die Frage der Be- 
schaffung von Arbeitskräften bedenklich; sie scheint nun 
aber durch die Herbeiziehung von solchen aus Colombia und 
Jamaika gelöst zu sein. 

— Kapitän Üortier dürfte seine neue Saharareise, 
über die hier einige Male berichtet worden ist, inzwischen 
beendet haben und nach Frankreich zurückgekehrt sein. Sie 
hatte namentlich topographische Zwecke, und es sollte den 
zahlreichen neueren französischen Routen in der westlichen 
Sahara durch astronomische Ortsbestimmungen ein festes 
Gefüge gegeben werden. Deshalb reiste er nicht mit bis an 
die Zähne bewaffneten Meharistenkompagnien, sondern mit 
nur wenigen Reitern, wurde somit freilich auch manchmal 
durch räuberische Unternehmungen der Wüstenstämme in 
seiner Bewegungsfreiheit behindert. Aber er bringt doch 
ein schönes, umfassendes Material heim und erhöht damit 
die großen Verdienste, die er sich bereits um die Kenntnis 
von der Sahara erworben hatte. 

Wie zuletzt (Bd. 97, 8.18) mitgeteilt wurde, hatte Cortier 
von Ahaggar aus im März 1909 Agades erreicht. Von da 
begab er sich nach Beendigung seiner Arbeiten in der Oase 
Air direkt nach Gao am Niger. Sein zuletzt bekannt ge- 
wordener Brief datiert aus Timbuktu vom 7. Februar d. J. 
(„La Géographie“, Mai 1910, mit Kartenskizze). Danach ver- 





Kleine Nachrichten. 19 





ließ Cortier am 8. November 1909 Gao und zog in nördlicher 


Richtung bis Teleya, das er 10 Tage später erreichte. Von 
da wollte er sich westwärts nach Mabruk begeben, hörte 
aber, daß dort eine starke Räuberschar der Uled-Djerir an- 
wesend war; er benutzte also die nächste Zeit zu einem Vor- 
stoß nach dem unbekannten Osten, über Inkufi nach Arli. 
Am 10. Dezember war Cortier wieder in Teleya und fand 
nun den Weg nach Westen frei, da die Uled - Djerir inzwischen 
durch Truppen aus Timbuktu zerstreut worden waren. Sein 
Marsch führte ihn über In-Emsel, durch Tilemsi über In- 
Schiker nach In-Beriem in Timetrin. Dieses, das 200 km 
westlich von Adrar liegt, ist ein isoliertes Massiv von der- 
selben Art wie Adrar, aber von geringerer Bedeutung. Auch 
in der Gegend von In-Beriem sollte sich eine Räuberschar 
befinden, und da Cortier mit seinen wenigen Leuten nicht 
daran denken konnte, sie anzugreifen, so beschleunigte er 
seine Reise bis Bu-Djebiha (östlich von Arauan) und kam 
auch nicht mit ihr in Berührung. Sein Weg führte ihn 
über Mabruk, die heilige Stadt der Kunta (an der alten 
Karawanenstraße Tuat—Timbuktu), die aber heute nur noch 
ein Ruinenhaufen ist, aus dem sich die Kasbah des verehrten 
Marabuts Sidi-Amar erhebt. In Bu-Djebiha erreichte 
Cortier seine Route von 1906. Nachdem er dann u. a. die 
Lage von Arauan astronomisch bestimmt hatte, begab er 
sich auf dem nächsten Wege, der jetzt von neuem mit 
Brunnen besetzt ist, nach Timbuktu. Er gedachte sich von 
da nach Bamba und Gao zu begeben, um noch einige Er- 
gänzungsarbeiten auszuführen, und über Niamey in Cotonou 
die Küste zu erreichen. 


— Ein Abkommen über die tunesisch-tripolita- 
nische Grenze ist am 19. Mai zwischen Frankreich und 
der Pforte geschlossen worden. Es war in diesem Grenz- 
gebiet nicht selten zu Mißhelligkeiten gekommen, und erst 
jüngst hatten türkische Truppen aus Wassen (oder Uessen) 
auf eine tunesisch-französische Militärabteilung aus Dehibat 
geschossen. Man kam deshalb überein, durch eine gemischte 
Kommission, die im April in Tripolis zusammentrat, die Un- 
sicherheit der Verhältnisse zu beseitigen. Das Abkommen 
berücksichtigt die Interessen der Grenzstämme von Ras Adjir 
an der Küste bis Djenneien und bestimmt im übrigen, daß 
Dehibat bei Tunesien, Wassen mit Umgebung bei Tripolitanien 
verbleibt. Im Süden von Djenneien sichert die Grenzlinie 
Tunesien den vollen Besitz eines Karawanenweges, der vor 
Ghadames endet, ebenso das Eigentumsrecht auf die Brunnen 
von Monteser, Kreschem el-Hauja und Tiaret, sowie der 
Hälfte der Brunnen von Zar und Meschigig. 

Damit sind freilich noch nicht alle Quellen für Unzu- 
träglichkeiten in den französisch-türkischen Grenzgebieten 
in Nordafrika und der Sahara verstopft, und es fehlt nament- 
lich an einer Einigung für die Strecke Ghadames—Ghat und 
an einer Regelung der Frage des Karawanenschutzes. Mit 
den Vorbereitungen dazu war kürzlich schon der Kommandant 
Colonna de Leca beauftragt worden, der sich mit den 
türkischen Behörden in Fessan und Ghat ins Einvernehmen 
setzen sollte; er wurde aber infolge des Einspruchs der 
Türken wieder zurückberufen, nach dem Zwischenfall von 
Yat (zwischen Bilma und Gatron), wo Tibbus aus Tibesti, 
denen die Kamele einer von Türken begleiteten Karawane 
gehörten, von einer französischen Abteilung aus Agades an- 
gegriffen worden waren. Es waren dabei zahlreiche Tibbus 
getötet worden. 


— K. Knoch hat an der Turmstation des Meteorologi- 
schen Observatoriums zu Potsdam lebhafte kurzdauernde 
Temperaturschwankungen gefunden, die er nach 
ihrer Größe, Häufigkeit des Auftretens usw. untersucht hat. 
Nach seinen Ergebnissen hängen sie mit den Inversionen der 
Temperatur in den erdbodennahen Luftschichten zusammen. 
(Bericht des Preußischen Meteorologischen Instituts zu Berlin 
für 1909.) Gr. 


— Auf die Tagesordnung des internationalen Geologen- 
kongresses, der in diesem Jahre zu Stockholm stattfindet, ist 
als eine der zu behandelnden Hauptfragen die über die 
Klimaschwankungen nach dem Maximum der letzten Eiszeit 
gesetzt worden. Um die Diskussion der Frage auf dem 
Kongreß selbst vorzubereiten, sind von den schwedischen 
Geologen eine Anzahl Arbeiten über den Gegenstand ver- 
faßt worden, unter denen hier auf die Gunnar Anders- 
sons hingewiesen werden soll. (Sveriges Geologiska Under- 
sökning, Ser. ©. Nr. 218, Stockholm 1909. Preis 1 Kr.) Unter 
dem Titel: Das Klima in Schweden in der spätquar- 
ternären Periode gibt er eine ausführliche auf die vor- 
handene sehr reiche Literatur und eigene Untersuchungen 
gestützte kritische Darstellung der bisher angewandten Me- 


thoden zur Erkennung der Entwickelung des Klimas, sowie 
der mit ihnen erhaltenen Resultate über die klimatischen 
Verhältnisse der spätglazialen und der postglazialen Zeit. 
Auf Einzelheiten einzugehen, verbietet hier der Mangel an 
Raum, es sei nur erwähnt, daß dem Referenten eine ziem- 
liche Vollständigkeit erreicht scheint und die Kritik der ein- 
zelnen Ansichten und Tatsachen sicher geeignet ist, die Dis- 
kussion des Themas ein gutes Stück vorwärts zu bringen. 
Gr. 
— Als erste Veröffentlichung des neu errichteten Schwe- 
dischen Hydrographischen Bureaus ist eine Untersuchung 
der Wasserstandsschwankungen des Vänern von dem 
Direktor des Bureaus, Axel Wallén, erschienen (Stockholm 
1910, in schwedischer Sprache mit Resume in französischer 
Sprache). Die ersten Pegelbeobachtungen am See wurden 
schon 1807 angestellt, und die vorliegende Arbeit sucht aus 
den über hundertjährigen Beobachtungen die mittleren und 
andere charakteristische Wasserstände der Seeoberfläche zu 
berechnen und einen Beitrag zum Problem der Periodizität . 
der Seespiegelschwankungen zu liefern, soweit dabei der 
Vänern in Betracht kommt. Die Diskussion der Zahlentabellen 
ergibt, daß außer der jährlichen auch eine oder wahrschein- 
lich mehrere Perioden von längerer Dauer vorhanden sind, 
von denen besonders deutlich eine 11jährige Periode heraus- 
tritt, die in sehr genauer Übereinstimmung mit dem Gang 
der Sonnenflecken und der Periode der meteorologischen Fak- 
toren steht. Gr. 


— Die Entwickelungsgeschichte der Gera und 
ihrer Nebengewässer hat A. Reichardt zum Gegenstand 
einer Studie gemacht, die sich hauptsächlich mit der Unter- 
suchung der Ausbildung und Veränderung des Geralaufs im 
Thüringer Becken seit der Eiszeit beschäftigt. (Ztschr. f. 
Naturwissenschaften, Halle a. 8., Bd.81, Heft 5/6.) Infolge- 
dessen werden besonders ausführlich die Schotterablagerun- 
gen präglazialen, glazialen und postglazialen Alters unter- 
sucht und beschrieben und dabei teilweise auch wesentliche 
Ergänzungen und Berichtigungen unserer Kenntnis der gla- 
zialen Ablagerungen geliefert. Die Schlüsse, die der Ver- 
fasser in dieser Richtung zieht, sind die, daß die Südgrenze 
der glazialen Geschiebe den Thüringer Wald nicht erreicht, 
daß diese Grenze aber auch nicht überall mit der Grenze 
des Inlandeises zusammenfällt. Vor dem Eis war ein Stau- 
see, der zum Teil Blöcke noch südlicher, als der Eisrand lag, 
verfrachten konnte. Das Gebiet war nur einmal vereist und 
zwar zur Zeit der zweiten oder Haupteiszeit. Eine Karte zeigt 
die Verbreitung der festgestellten Schotter und der südlichen 
Eisgrenze, eine andere in größerem Maßstabe den vom Ver- 
fasser angenommenen Stausee nebst Umgebung; außerdem 
finden sich eine Anzahl erläuternde Profile im Text. Gr. 


— Den am besten ausgeloteten Teil des süd- 
westlichen pazifischen Ozeans und zwar das Gebiet 
zwischen der Ostküste Australiens, der Nordspitze Neu - See- 
lands und den Tongainseln hat Fr. Henjes einer Bearbeitung 
in morphologischer Hinsicht unterzogen. (Aus d. Archiv d. 
deutschen Seewarte, XXXII. Jahrg. 1909, Nr. 3.) Nach einer 
kurzen Übersicht des zugrunde liegenden Lotungsmaterials 
werden auf einer sehr detaillierten Tiefenkarte basierend die 
Böschungswinkel der verschiedenen auftretenden Formen — 
Schelf, Kontinentalabhang, submarine Berge, Rücken und 
Gräben — und die mittlere Tiefe der Eingrad- und Fünf- 
gradfelder berechnet. Zur zahlenmäßigen Ermittelung der 
Unebenheit des Meeresbodens schlägt Henjes eine neue Me- 
thode vor, die durch zwei Zahlenausdrücke die Oberflächen- 
form charakterisieren soll. Der eine ist der Wechsel zwischen 
Hebung und Senkung, die „Undulation“, welche die Uneben- 
heit in horizontaler Richtung untersucht. Im Gegensatz zu 
Krümmel, der zur Ermittelung Profile benutzt, schlägt Henjes 
vor, in dem zu untersuchenden Gebiet sämtliche Erhebungen 
auszuzählen und auf die Flächeneinheit zu reduzieren. In 
vertikalem Sinn wird die Unebenheit durch die Größe der 
relativen Niveauunterschiede, die „Amplitude“, bestimmt, die 
Henjes als Mittel aus den Niveauunterschieden der höchsten 
Stelle nach den tiefsten Punkten der Umgebung feststellt. 
Die Methode wird an einigen Beispielen für den Meeres- 
boden und die Landoberfläche in verschiedenen Gegenden 
durchgeführt und außerdem der Versuch einer kartographi- 
schen Darstellung der erhaltenen Zahlenwerte gemacht. Außer 
der Tiefenkarte in Buntdruck sind noch eine Karte der Schiffs- 
routen, die das Lotungsmaterial lieferten, eine Anzahl Profile 
und Kärtchen besonders interessanter Stellen und Formen in 
größerem Maßstab beigegeben. Gr, 


20 


Kleine Nachrichten. 





— Über den Verlauf und die Resultate der aerologi- 
schen Expedition, welche vom Aeronautischen Observa- 
torium zu Lindenberg nach dem Viktoriasee in Afrika 
geschickt worden war, liegt jetzt ein ausführlicher, mit vielen 
Tafeln geschmückter Bericht vor. Die Erörterungen über 
Vorgeschichte und Verlauf der Expedition zeigen hinreichend, 
mit welchen sachlichen Schwierigkeiten die Expedition, die 
erste derartige Landexpedition in den Tropen, fortwährend 
zu kämpfen hatte, sie geben aber auch Zeugnis von der 
Zähigkeit, mit der die beiden Meteorologen Berson und Elias 
trotz aller Widerwärtigkeiten ihre Pläne verfolgten und durch- 
zusetzen suchten. So konnten sie trotz der Ungunst der Ver- 
hältnisse nicht nur eine reiche Summe von Erfahrungen, die 
künftigen ähnlichen Expeditionen sehr zugute kommen wer- 
den, mit nach Hause bringen, sondern auch eine relativ reich- 
liche Menge positiver Resultate in dem Beobachtungsmaterial, 
das ausführlich mitgeteilt wird, liefern. Eine zusammenfas- 
sende Besprechung derselben am Schluß ergab denn auch 
neue und überraschende Aufschlüsse hauptsächlich über Wind- 
und Temperaturverteilung, über Land- und Seewinde am 
Viktoria-Nyanza, und über die Monsune und Passate der 
Küstenregion Ostafrikas. 


— Das Klima der Nieder-Guinea-Küste und ihres 
Hinterlandes beschäftigte R. Sieglerschmidt in seiner Ber- 
liner Doktorarbeit 1910 (auch in den „Mitt. a. d. deutschen 
Schutzgeb., 1910, Heft 1, erschienen). So ist die Luftbewe- 
gung an der Küste jenes Gebietes durch den täglichen 
Wechsel von Land- und Seewinden charakterisiert. Die ozea- 
nische Luftströmung, welche sich von Juni bis September 
vom nördlichen Angola bis einschließlich Kamerun weit in 
das Innere des Kontinents hinein erstreckt, gibt dem jähr- 
lichen Gange der anderen meteorologischen Elemente (Tem- 
peratur, Niederschlag, Bewölkung und Feuchtigkeit) seine 
charakteristischen Eigenheiten, während im Hinterlande des 
nördlichsten und südlichsten Teiles jenes Gebietes schon 
der Wechsel sommerlicher Erwärmung und winterlicher Ab- 
kühlung höberer Breiten den jährlichen Gang der meteoro- 
logischen Elemente bestimmt. Der Festsetzung der Rolle, 
welche die Periode Juni bis September (Oktober) an der 
Nieder-Guinea-Küste und im größten Teile ihres Hinterlandes 
in dem jährlichen Gange des Luftdrucks, des Windes, der 
Temperatur und des Niederschlages spielt, kommt eine be- 
sondere Wichtigkeit zu. 


— Über die Resultate der neuen Untersuchungen 
über den unterirdischen Lauf des Timavus und die 
unterirdischen Gewässer der küstenländischen Region er- 
fahren wir aus dem Triester „Piccolo“ folgendes: Die Unter- 
suchungen wurden im Dezember 1907 vom Chemiker G. Timeus 
unter Mithilfe von Prof. Vortmann und des Direktors des 
Hydrotechnischen Triester Gemeindeamtes, Ingenieur Piac- 
centini, begonnen und dauern noch an. Durch die letzten 
Untersuchungen sollte ermittelt werden, ob eine Beziehung 
zwischen der Wippach (fluvius frigidus der Alten), den Seen 
von Doberdö und Pietrarossa und den Quellmündungen des 
klassischen Timavus stattfinde Man schüttete eine Lösung 
von 10kg Lithiumchlorür bei Vertotsche, nächst Biglia, in 
die Mitte des Flusses Wippach. Die spektroskopischen Unter- 
suchungen haben erwiesen, daß die Meinungen, die man sich 
auf Grund der Tradition und der Hypothesen früherer Hydro- 
logen und Geologen (ÜOzoernig) gebildet hatte, durch die an- 
gestellten Versuche tatsächlich sich bestätigen. Der Wippach- 
fluß steht durch unterirdische Kanäle mit den genannten Seen 
in Verbindung und entsendet einen Teil seines Wassers auch 
in den unterirdisch fließenden Timavus, d.h. in alle drei bei 
der Kirche 8. Giovanni in Tuba ausmündenden Arme. Dies 
Resultat enthüllt uns den Umfang des Zuflusses des unteren 
Timavus, erklärt uns seine Mächtigkeit und chemisch - physi- 
kalische Beschaffenheit und bildet deshalb eine neue Er- 
rungenschaft in der Kenntnis des interessanten Flusses. Die 
bisher ausgeführten Versuche haben endlich die Identität der 
oberen Reka und des Timavus festgestellt. Die Reka (slaw.: 
Fluß), die bei 8. Kanzian in die Tiefe stürzt, erscheint bei 
S. Giovanni di Duino (8. Johann am Tybein); der unter- 
irdische Timavus gibt einen Teil seines Wassers an die 
Quellen von S. Giovanni bei Triest, Cedassamare und Aure- 
sina am Gestade. Auch das wurde mittels Lithiumchlorür 
und Anwendung der Radioaktivität durch Pechblende nach- 
gewiesen. 

Das Resultat löst nun eine große historische und wissen- 
schaftliche Frage: die der Abhängigkeit des 'Timavus von 


der Wippach und den genannten Seen. Mehr aber noch ent- 
hält es die Beziehung zwischen den großen Schächten, die 
sich in der Nähe des Timavus befinden. Das Taubenloch 
nordöstlich von S. Giovanni di Tuba steht in Verbindung mit 
dem Laufe, welcher die hervorbrechenden Quellen des Timavus 
nährt, und mit diesem selbst; im zweiten Schachte jedoch, 
48 m tief (der sich unter dem Damme der Südbahnlinie öffnet, 
500m von den Timavoquellen und an 700m von der Mühle 
Sardotsch) fließt ein Wasserfaden, der die untermeerisch 
hervorbrechenden Quellen im Becken des Hervorbruches der 
genannten Mühle nährt; er steht aber nicht in Verbindung 
mit dem Timavus. Nachdem dieser letzte Umstand nach 
einem großen Wasser zur Gewißheit wurde, ist es logisch, 
anzunehmen, daß bei anormalem Stande des Wasserspiegels 
eine Verbindung zwischen dem hydrographischen System des 
unterirdischen Timavus und den bei der Mühle Sardotsch 
hervorbrechenden Quellen besteht. 

Die Erscheinung der sogenannten Anastomose des unter- 
irdischen Deltas wird nun klar. Der unterirdische Timavus 
richtet seinen Lauf dem Meere zu in Form eines Ausführungs- 
gefäßes mit einem ausgedehnten Netze von unterirdischen 
Kanälen; diese Kanäle durchkreuzen sicher die Schächte, 
Höhlen und ausgehöhlten Gräben der ehemaligen hydro- 
statischen Systeme, von denen einige jetzt nur bei bestimmtem 
Wasserstande benutzt werden. 

Die weiteren Untersuchungen des unterirdischen Flusses 
in der Lindner Höhle bei Trebich im Triester Territorium 
sollen nur die früheren Untersuchungen, daß dieser unter- 
irdische Fluß die Reka oder wenigstens ein Teil der Reka 
ist, erhärten. Das Projekt einer zweiten Wasserleitung für 
die sich zusehends vergrößernde Hafenstadt Triest wird diese 
Untersuchungen beschleunigen. Dr. L. Karl Moser. 


— Den Hund im Altertum nimmt Ferdinand Orth 
zum Vorwurf seiner Programmabhandlung (Schleusingen 1910). 
Die Urgeschichte ergab das für die Phylogenie zahmer Hunde 
beachtenswerte Ergebnis, daß die ältesten Urbewohner Europas 
den Haushund noch nicht besaßen und ihn am Ende der 
paläolithischen Periode offenbar von außen her bezogen haben. 
In diluvialen ungestörten Schichten kommt der Haushund 
noch nicht vor; er erscheint erst in der neolithischen Zeit 
mit dem Beginn der Pfahlbauperiode. Immerhin scheint 
festzustehen, daß vor 4000 bis 5000 Jahren bereits Spitzhunde, 
Schäferhunde, Pariahunde, Windhunde, Jagdhunde, Dachs- 
hunde, Doggen und kleine Hunde als Rassen existierten, die 
unseren heutigen Hunden sehr ähnlich waren; immerhin ist 
aber bisher noch kein Beweis dafür erbracht worden, daß 
eine dieser Rassen völlig mit einer noch heute lebenden 
übereingestimmt hätte. Wenden wir uns den einzelnen Erd- 
teilen zu, so erwähnt für Asien wohl eine Keilschrift etwa 
um 4000 v. Chr. den Hund. Doggen scheinen die ältesten 
Hundebilder darzustellen; diese Art wurde auch für die 
Hunderassen Europas von größter Bedeutung. Von Afrika 
haben wir die Windhunde und die aus ihnen gezüchteten 
Jagdhunde entlehnt. Wenn auch die europäischen Rassen 
an Größe und Wildheit den asiatischen Vettern nachstehen, 
sind sie ihnen an Mut doch mindestens ebenbürtig, wenn 
nicht überlegen. Wie kein anderes Tier paßt sich der Hund 
den Menschen an; die Hunde eines gebildeten Volkes sind 
klug und gelehrig, Eigentümlichkeiten des Charakters ihrer 
Herren spiegeln sich in ihnen vielfach wider. Die Farbe 
ist durch Zucht und Kreuzung vielfach kunstvoll verändert. 
Als Haushund der Urzeit in Europa haben wir uns wohl den 
Spitz zu denken, dessen Überreste zahlreiche Pfahlbauten 
aufweisen. Der Hirtenhund hält dann etwa die Mitte zwi- 
schen Hof- und Jagdhund. Auch von Kriegshunden weiß 
Plinius bereits zu berichten, welche die besten Hilfstruppen. 
darstellen; man entnahm sie hauptsächlich den starken Doggen- 
rassen. Polizeihunde scheinen erst eine Errungenschaft der 
Neuzeit zu sein. Welche Bedeutung der Hund im Gedanken- 
kreise des griechischen und römischen Volkes einnahm, zeigen 
die zahlreichen Sprichwörter, Bilder und Redewendungen, 
welche an den Hund anknüpfend in den Sprachschatz beider 
Völker übergegangen sind, wofür Verfasser eine reichliche 
Menge von Beispielen anführt. Der Hund spielt auch eine 
große Rolle im Kultus und in der Mythologie, vielfach sind 
namentlich seine Beziehungen zur griechischen und römischen 
Mythologie. Doch nicht nur in die dunkeln Tiefen der 
Unterwelt hat die Phantasie des Menschen seinen vierbeinigen 
Begleiter versetzt, auch in die Höhen des Himmels hat sie 
ihn seit vielen Jahrtausenden erhoben; der strahlendste Fix- 
stern am Firmament, dessen Aufgang und Untergang für die 
Landwirtschaft und die Seefahrt des Altertums von größter 
Wichtigkeit war, ist der Hund des Orion, ist der Hundstern. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr, Vieweg & Sohn, Braunschweig. 





GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- UND VÖLKERKUNDE. 
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 








Bd. XCVIII. Nr. 2. 


14. Juli 1910. 








BRAUNSCHWEIG. 





Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


Antike und moderne Bronzen. 


Von Dr. Hugo Kühl. 


Das Szepter des etwa 4000 Jahre vor Christus re- 
gierenden Ägypterkönigs Pepo I. bestand aus Kupfer. 
Der eigentlichen Bronzezeit ging ein kupfernes Zeitalter 
voraus. Manche Ausgrabungen bestätigen es; so fand 
Schliemann in dem alten Troja Kupfergeräte, welche 
98,7 Proz. metallisches Kupfer, aber kein Zinn, ge- 
schweige denn das viel später verarbeitete Zink ent- 
hielten. Daneben fand der genannte Archäologe auch 
Streitäxte, welche einen nicht mehr zufälligen, d. h. als 
Verunreinigung des Metalles anzusehenden Zinngehalt, 
nämlich 3,8 bis 5,7 Proz. aufwiesen. Durch die Aus- 
grabungen von Mykenä wurden Waffen an das Tages- 
licht gefördert, welche schon durch einen hohen, 10 bis 
14 Proz. Zinn betragenden Gehalt, wie wir ihn in den 
klassischen Bronzen der griechischen Blütezeit finden, 
ausgezeichnet waren. Zink tritt in allen diesen Bronzen 
nur als Verunreinigung des Kupfers auf. 

Wie die griechischen und makedonischen Bronzen, 
enthalten auch die ältesten römischen und keltischen 
kein Blei. Dieses Metall wurde etwa 425 bis 450 v.Chr. 
der Bronze einverleibt; das Zink dagegen nach Angabe 
des bekannten Geschichtsforschers Mommsen zur Zeit der 
römischen Kaiser. Aluminium, Mangan und Phosphor 
finden wir erst in den modernen Bronzen als beabsich- 
tigten Zusatz. 

Der Name Bronze leitet sich für die bekannten 
Kupferlegierungen her von der Stadt Brindisi, dem alten 
Brundusium (griechisch Brentaesion), wo in späterer Zeit 
eine großartige Bronzeindustrie bestand. Zur Herstellung 
der damals „Brundusinische Metallkomposition“ genann- 
ten Bronze empfahl Muratori folgende Mischungen: 


Kupfer. . 2 Teile Blei. . 1 Teil Zinn . . 1, Teil 


a $ ET Te un Ta are 


Auf der Grundlage eines umfangreichen Analysen- 
materials will ich die antiken und modernen Bronzen 
einer kurzen Betrachtung unterziehen. 

Die Bronze hat ihre Geschichte. Das graue Alter- 
tum kannte nicht die Legierungen, welche wir heute so 
nennen. Ich erwähnte schon das aus Rohkupfer be- 
stehende Szepter aus dem Jahre 4000 v. Chr. Aus 
etwas späterer Zeit stammt ein Haken, welcher eben- 
falls dem Nillande angehört und 3,48 Proz. Eisen ent- 
hält. Wenn man, was mir zweifelhaft zu sein scheint, 
hier auch noch annimmt, daß der Eisengehalt ein zu- 
fälliger ist, so finden wir in dieser Zeit doch schon aus- 
gesprochene Legierungen von Kupfer und Eisen. Die 
Erfahrung war Lehrmeister, man beobachtete, wahr- 
scheinlich zufällig, daß das Kupfer härter und wider- 
standsfähiger wurde, wenn beim Verhütten im Meiler 

Globus XCVIII. Nr. 2. 


Kiel. 


gewisse eisenhaltige Erze mit ausgeschmolzen wurden. 
Als Beispiel führe ich die Zusammensetzung einer alten Bud- 
dhastatue aus Hindostan an, die Legierung bestand aus 
91,50 Teilen Kupfer und 7,95 Teilen Eisen. Außerdem 
wurden Spuren von Silber, Gold, Arsen und Schwefel 
gefunden. Diese Stoffe sind als Verunreinigungen an- 
zusehen; die schon erwähnte primitive Art der Metall- 
gewinnung ermöglichte natürlich auch nicht annähernd 
eine Reingewinnung. 

Einen interessanten Beleg hierfür bieten uns unter 
anderem alte cyprische Bronzen: Speerenden und Dolch. 


Speerenden Dolch 
1. 2. 3 4. Metalle 

97,226 Proz. 98,398 Proz. 99,470 Proz. 88,771 Proz. Kupfer 
1,322 „ 0729 „ 0384 „ 0,476 „ Eisen 

_ 0,153 „ 0,084 , Spuren Nickel 
0,279 „ 0,305 „ — — Gold 
0,076 , = — 1,504 „ Blei 
Spuren — — 8,508 „ Zinn 

— — — 0,304 „ Kobalt 
1,348 „ Spuren Spuren — Arsen 

— 0,305 „ = = Schwefel 
Spuren Spuren Spuren —_ Phosphor 


Man sieht sofort, daß die Speerenden aus’ Rohkupfer 
bestehen, alle anderen Stoffe sind zufällige Beimen- 
gungen; der Dolch stellt dagegen eine ausgesprochene 
Zinnbronze dar mit einem entschieden beabsichtigten 
Bleizusatz. 

Beachtenswert ist, daß die Speerenden Spuren von 
Phosphor enthalten; wir dürfen aus den Analysen schlie- 
Ben, daß phosphorhaltige Erze zur Verhüttung gelangten. 
Wir haben natürliche Phosphorbronzen vor uns; die 
künstlichen, mit beabsichtigtem Phosphorgehalt, wurden 
erst viel später von Künzel und Montefiori geschaffen und 
hatten folgende Zusammensetzung: Kupfer 90,34 Proz., 
Zinn 8,90 Proz., Phosphor 0,76 Proz. 

Noch einige charakteristische Beispiele seien ange- 
führt, die uns zeigen, daß die Bronzen in ältester Zeit 
durch gemeinsames Verhütten der Erze, nicht etwa 
durch Zusammenschmelzen der Metalle erhalten wurden. 
Es handelt sich um verschiedene, in Brandenburg und 
Posen gefundene antike Bronzen. Die Proben, welche 
zur Analyse dienten, wurden entnommen 1. von einem 
kleinen, 20cm hohen und oben 22cm weiten eimerför- 
migen Schmuckbehälter aus der Nähe von Primentdorf 
(Posen), 2. von einem dort gefundenen Ohrringe, 3. von 
einem verzierten Bronzeeimer von Meyenburg (Priegnitz), 
4. von einem im Gräberfeld von Zaborowo gefundenen 
Messer, 5. von einer dort ausgegrabenen Ampel, 6. von 
einer Pincette, 7. von einem bei Belitz (Brandenburg) in 


+ 


22 Kühl: Antike und moderne Bronzen. 





einer Graburne gefundenen Halsringe, 8. von einem 
Kessel aus dem Pfahlbau am Dabersee (Brandenburg). 


5 yi r Eisenhalt. Eisenhalt. 

Nr. Kupfer Zinn Blei Kobalt Nickel 

1 87,90 Proz. 11,25 Proz. Spuren 0,32 Proz. — 

2 87,74 „ 11,37 „ 0,10 Proz. 0,50 „ _ 

3 86,63 „ 12,98 „ 016 „ — Spuren 

4 93,66 „ 6,14 „ Spuren 0,40 , 0,31 Proz. 
5 8985 „ 815 „ 09 , — — 

6 84,84 „ 13,80 „ 0,59 0,35 „ = 

7 8526 „ 1387 „ 0,39 0,36 5 $s 

8 10012 „ 0,20 „ Spuren Spur. v. Eis. — 


Die geringen Mengen von Blei, Kobalt, Eisen und 
Nickel sind Verunreinigungen, die aus den Kupfer- bzw. 
Zinnerzen stammen, in Nr. 1 bis 7 liegen Zinnbronzen 
vor, und zwar gehören sie einer älteren Zeit an als die 
keltischen, welche mindestens 13 Proz., meistens 14 bis 
15 Proz. Zinn enthalten. Das älteste Stück ist Nr. 8, 
ein Rohkupfer. 

Einen beabsichtigten Zusatz von Kobalt und Nickel 
finden wir bei einer von Liebreich analysierten dunkel- 
stahlgrauen, gußstahlharten Bronze von Zaborowo. Ko- 
balt und Nickel waren als solche im Altertum nicht 
bekannt, doch liegt die Annahme nahe, daß man die 
Beobachtung in der Praxis machte, daß gewisse Erze, 
die Kobalt und Nickel enthielten, die Metalle härten. 
Dieselbe Beobachtung führte weit später zur Herstellung 
des Nickelstahles. Die soeben erwähnte Bronze von Za- 
borowo enthielt 56 Proz. Kupfer, 1,5 Proz. Zinn, 4 Proz. 
Kobalt, 14 Proz. Nickel, 0,4 Proz. Eisen, 12 Proz. Arsen, 
1,5 Proz. Antimon, 0,75 Proz. Schwefel. 

Ähnliche Beispiele für antike Bronzen aus der älte- 
sten Zeit ließen sich noch viele anführen, aber diese ge- 
nügen zum Verständnis. 

Als man das Kupfer reiner darzustellen lernte und 
das Zinn ein ergiebiger Handelsartikel wurde, vervoll- 
kommnete sich auch die Bronzetechnik. Die Phönizier 
beherrschten die Meere des Abendlandes, sie brachten 
ihre Bronzemischungen in den Handel. In Griechenland 
fiel die Blütezeit der Bronzetechnik zusammen mit dem 
Zeitalter der Kunst, das zu ihrer Entwickelung natür- 
lich wesentlich beitrug. Der Künstler stellte an die Zu- 
sammensetzung der Legierung ganz bestimmte Anforde- 
rungen, denen die Metalltechnik genügen mußte. Herr- 
liche Bronzen mit wundervoller Patina sind uns aus der 
großen hellenischen Zeit erhalten. 

In Rom entwickelte sich die Bronzetechnik anfangs 
unter hellenischem Einfluß, später wohl selbständig, doch 
läßt sich der ursprüngliche Einfluß der Kulturmacht 
Hellas nicht leugnen. Welche Bedeutung die Bronze 
bald gewann, geht daraus hervor, daß zu Beginn unserer 
Zeitrechnung in den Kulturländern eine krankhafte 
Sucht nach Bronzestatuen vorhanden war. Noch zur 
Zeit des großen Geschichtschreibers Plinius standen in 
Rhodos 3000 Bildsäulen. Der ob seiner opulenten Gast- 
mähler berühmte Lucullus brachte einen 45 Fuß hohen 
Apollo von Apollonia nach Rom. Im Tempel des Augu- 
stus stand ein 50 Fuß hoher tuskanischer Apollo. Der 
von Lysippos gegossene, in Tarent aufgestellte Jupiter 
war 60 Fuß hoch, der von Chares gegossene Koloß von 
Rhodos maß 70 Fuß. Weit überboten wurden diese 
Monumente noch von dem 110 Fuß hohen Standbilde 
des Nero. Leider ist von all dieser Herrlichkeit nichts 
geblieben. Und wie kommt das? Nicht der Vandalis- 
mus der Barbarenvölker allein schuf diesen Riesenstatuen 
ein frühes Grab. Die Masse, welche in damaliger Zeit 
zum Guß verwendet wurde, war schlecht, reich an Zink 
und Blei. Die Denkmäler wurden unansehnlich und in 
einer kunstärmeren Zeit wahrscheinlich zum großen Teil 
zu Waffen und anderen Gerätschaften eingeschmolzen. 


Über die Zusammensetzung der Bronzen damaliger Zeit 
orientieren uns Münzen, die das Gepräge der römischen 
Kaiser tragen, auch sind uns Gerätschaften erhalten, die 
entschieden aus dieser Zeit stammen. 

Daß zinkische Denkmäler leicht unansehnlich werden, 
beweist die Statue Friedrichs des Großen in Berlin, welche 
längst ihre Feinheiten einbüßte. Freilich spielt die Zu- 
sammensetzung der Atmosphäre eine Rolle. So sind z.B. 
die Bronzedenkmäler der Stadt London zum großen Teil 
infolge der Einwirkung von Schwefelwasserstoff, schwef- 
liger Säure und anderen Rauchgasen korrodiert und mit 
einer unansehnlichen Patina bedeckt, während die in Gärten 
der Vorstädte Londons aufgestellten Bronzen vorzüglich 
erhalten sind. Für die oberflächliche Zerstörung des 
Friedrich-Denkmals sind die Atmosphärilien nicht verant- 
wortlich zu machen, denn die Bronze eines Geschützrohrs 
vor dem Zeughaus, das in unmittelbarer Nähe steht, hat 
sich wunderschön gehalten. Das Friedrich-Denkmal hat 
laut Analyse folgende Zusammensetzung: Kupfer 87,44 
Proz., Zinn 3,20 Proz., Zink 8,89 Proz., Blei 0,65 Proz. 

Aus dem Altertum sind uns einige Zink- und Blei- 
kompositionen überliefert. Das Gewerbemuseum in Nürn- 
berg besitzt z. B. fünf römische und eine griechische 
Bronze folgender Zusammensetzung: 


1. Römisches 2. Römischer 3. Römischer 
Pferdegebiß Löffel Henkel 
Kupfer 44,41 Proz. Kupfer 81,33 Proz. Kupfer 66,88 Proz. 
Zinn 5,18 „ Zinn 1,83 „ Zinn 6,81 „ 
Blei 44,17 „ Blei 3,16 „ Blei 10,03 „ 
Zink 6,00 „ Zink 13,02 „ Zink 15,80 „ 
Eisen 0,26 „ Eisen 0,65 „ Eisen 0,34 „ 
4. Silberfarbige 5. Dunklere röm. 6. Griechische 
röm. Kunstbronze Kunstbronze Gefäßbronze 
Kupfer 73,96 Proz. Kupfer 84,87 Proz. Kupfer 76,11 Proz. 
Blei 24,17 „ Blei 13,82 „ Blei — 
Zinn 237 „ Zion 18 „ Zink 823 „ 
Zinn 15,65 „ 
Eisen — 


Die griechische Bronze besitzt einen normalen Zinn- 
gehalt, wenn wir die Metallmischungen der Blütezeit zu- 
grunde legen, sie unterscheidet sich von letzteren durch 
den Zusatz von etwa 8 Proz. Zink. Die Komposition 
verrät, daß es sich um eine jüngere Bronze handelt. ; 

Ein scharfer Unterschied zwischen Kunstbronze und 
zu Gebrauchsgegenständen verarbeiteten Legierungen be- 
stand natürlich nicht. Die verschiedene Zusammen- 
setzung rührt einfach daher, daß die Gegenstände ver- 
schiedenen Zeiten oder verschiedenen Gegenden angehören. 
Es wurde schon erwähnt, daß lange Zeit hindurch die 
Phönizier einen großen Teil der alten Welt mit Bronze- 
metall versorgten. Ihre Schiffe brachten von Cypern 
wertvolle Kupfererze von Großbritannien das Zinn. Sie 
versorgten Kleinasien, Griechenland, Ägypten, ihre Han- 
delsschiffe kamen nach Gallien und Spanien. Die Ger- 
manen kamen damals noch nicht in Betracht. Neben 
diesem großen Bronzereich müssen wir noch zweier an- 
derer Zentren gedenken. Der gewaltige asiatische Kon- 
tinent bildete eine Welt für sich, Persien und China 
sind niemals durch die Phönizier in der Bronzetechnik 
beeinflußt worden. Die reichen Länder waren völlig in 
sich abgeschlossen, mithin auch ihre Kultur. Im fernen 
Westen lag das dritte große Bronzereich, das heutige 
Zentralamerika. Das Abendland und der Orient wußten 
nichts von der Kultur dieser in sich abgeschlossenen Welt. 

Alle alten griechischen, ägyptischen und keltischen 
Bronzen haben gemeinsam, daß sie keinen Zusatz von 
Blei oder doch nur geringe Spuren dieses Metalles auf- 
weisen. Hierdurch unterscheiden sie sich scharf von den 
römischen Bronzen der Cäsarenzeit, welche durch einen 
oft recht bedeutenden Bleigehalt charakterisiert sind. 


Kühl: 


Antike und moderne Bronzen. 23 





Ich verweise auf die oben mitgeteilten Analysen. End- 
lich sei auch an dieser Stelle nochmals darauf hinge- 
wiesen, daß Zink haltende, dem Messing nahestehende 
Legierungen als die jüngsten römischen Bronzen anzu- 
sehen sind. 

Um meine Ausführungen zu beleben, will ich die 
Analysen einiger Legierungen, welche verschiedener Her- 
kunft sind, anführen. Es handelt sich 

l. um eine im Herzogtum Anhalt ausgegrabene an- 
tike Bronze, 2. um eine im Taunus gefundene jüngere 
römische Bronze, 3. um zwei schon einmal erwähnte 
römische Bronzen [a) silberfarbig, b) dunkler], 4. um 
japanische und chinesische Bronzen. 


Zinnbronze Zinkbronze Bleibronze 
1. 2. 3a. 
Kupfer 90,00 Proz. Kupfer 66,00 Proz. Kupfer 73,96 Proz. 
Zion 10,00 „ Zink 26,55 „ Blei 24,17 „ 
Arsen, Antimon, Zion . 3,89 „ Zinn 2,37 , 
Blei, Zink, Eisen, Blei 2,64 „ 
Nickel in Spuren Eisen 0,93 „ 3b. 
Gold 0,06 „ Kupfer 84,87 Proz. 
Blei 13,82 „ 
Zinn 1582" - 
4. 
a) b) c) 
Kupfer ..».... 82,72 Proz. 82,90 Proz. 81,30 Proz. 
A Rena 4,36 , 2,64 „ 397 „ 
BIER»... ran: 9,20 , 10,47 , 11,05 , 
Gold o 050 — Spuren — 
Eisen seseo 2,55 „ 0,64 , 0,67 5 
Nickel . 2...» — Spuren — 
Zink s seis sye 1,86 , 274 5 327 „ 
Arsen . sassa’ Spuren 0,25 Spuren 
Schwefel ..... Spuren — — 
d) e) 
Kupfer eeso 83,09 Proz. 72,09 Proz. 
Zinn te e ons 0% 3,23 „ 5,52 „ 
Blei. >85 5-03 11,50 „ 20,31 , 
Gold el. et — — 
Eisen ao iaa 022 „ 178, 7% 
Nickel, i s 4... — — 
Zink O NE A 0,50 0,67 „ 
Aron e i aLa oieta 0,25 „ Spuren 
Schwefel ..... — Spuren 


Diese japanischen und chinesischen Bronzen sind 
auch Blei-Kupferlegierungen wie die oben angeführten 
römischen. Ganz außerordentlich interessant sind sie 
infolge ihrer mattschwarzen Patina. Man liest sehr oft, 
daß „Patina“ basisch kohlensaures Kupfer ist. Soweit 
der schöne, blaßgrüne Belag in Frage kommt, welcher 
den Kupferdächern altehrwürdiger Gebäude ein so war- 
mes, freundliches Aussehen verleiht, ist die Erklärung 
richtig, völlig unzureichend aber, wenn es sich um den 
Edelrost antiker Bronzen handelt. Bronzen, die dem 
Meeresboden entrungen wurden, wie die kürzlich bei Ma- 
hédia gefundenen, enthalten in der Patinaschicht Chlor- 
und Bromverbindungen des Kupfers, weil die im Meer- 
wasser enthaltenen Salze sich mit der Oberfläche der 
Bronzen chemisch umsetzten. Es treten elektrolytische 
Vorgänge ein; ich erinnere daran, daß ein in Kupfer- 
vitriollösung getauchter Eisennagel sich mit Kupfer be- 
deckt. Bronzen, die lange Zeit im Erdboden lagen, er- 
leiden aus gleicher Ursache ähnliche Veränderungen. 
Die mattschwarze Farbe des Edelrostes der japanischen 
und chinesischen Bronzen wurde durch Bleiverbindungen 1) 
bedingt, und zwar durch Schwefelblei und Bleisuboxyd. 
Nicht immer besitzen bleireiche Bronzen eine schwarze 
Patina, wenn sie auch stets dunkler ist als sonst. Natur- 
gemäß wird das Metall sich am meisten an der Patina- 
bildung beteiligen, welches an der Oberfläche der Bronze 


1) Aus der Natur: Die Bildung der Patina. Von Dr. Kühl. 


vorherrscht. 


Ein ungleichmäßiges Erstarren des Gusses 
kann eine reiche Ausscheidung des einen Metalles an der 


Oberfläche zur Folge haben. Wir können an dieser 
Stelle nicht auf alle Einzelheiten eingehen, glauben aber 
dargetan zu haben, daß die Edelrostbildung durch die 
verschiedensten Einflüsse bedingt wird. 

Nachden wir die Bronzen der Antike, ihre Zusammen- 
setzung und Bedeutung genügend gewürdigt haben, über- 
springen wir einen großen Zeitraum. Im Mittelalter 
werden nur selten Gerätschaften, die praktischen Zwecken 
dienen, aus Bronze gefertigt. Zur Hauptsache kommen 
Prunkstücke in Betracht, Taufbecken, Leuchter und 
Glocken. Ein mittelalterlicher Leuchter aus der Prager 
Domkirche hat eine an Bronzen der römischen Kaiserzeit 
erinnernde Zusammensetzung, nämlich Kupfer 86,04 Proz., 
Zink 10,38 Proz., Zinn 2,17 Proz., Blei 1,41 Proz. In 
einer alten Dorfkirche Eiderstedts befindet sich ein herr- 
liches Taufbecken aus Bronze, nach Analyse des Verfassers 
eine Zinnbronze, die aus früher erwähnten Gründen einen 
kleinen Zusatz von Eisen erhielt. Die Analyse gab fol- 
gende Werte: Kupfer 78,25 Proz., Zinn 16,75 Proz. 
Blei 1,85 Proz., Zink 2,13 Proz., Eisen 1,20. Noch aus- 
gesprochener Zinnbronze ist das von Himly früher unter- 
suchte Taufbecken von Hemmingstedt; es enthält 
76,43 Proz. Kupfer, 25 Proz. Zinn, 2,05 Proz. Blei, 
0,02 Proz. Eisen und Spuren von Arsen. 

Das kirchliche Mittelalter mit seiner Freude an 
schönen Gotteshäusern verwandte naturgemäß die größte 
Sorgfalt auf den Glockenguß. Der Glockengießer war 
Künstler. Eine durch wundervollen Klang ausgezeich- 
nete Glocke meiner Heimat hat folgende Zusammen- 
setzung: Kupfer 72,85 Proz., Zinn 18,15 Proz., Zink 
1,75 Proz., Blei 1,50 Proz., Nickel 4,65 Proz., Eisen 
1,10 Proz. 

Großartiges ist im Mittelalter geleistet worden, wir 
müssen es um so mehr bewundern, als die Kenntnis der 
Aluminium-, Phosphor- und Manganbronzen fehlte. Diese 
Legierungen sind Errungenschaften des vergangenen 
Jahrhunderts, das in der zweiten Hälfte völlig unter dem 
Zeichen der mächtig sich entfaltenden Technik stand. 

Die Naturwissenschaften, die Chemie und Physik, 
leiteten die Bronzeindustrie in ganz andere Bahnen. 
Man untersuchte den Charakter der Legierung, bestimmte 
die Festigkeit, die Elastizität und andere Eigenschaften, 
schuf auf diese Weise Gesetze, nach denen neue Metall- 
kompositionen, die dem jedesmaligen Zweck entsprachen, 
geschaffen werden konnten. Man darf sagen, an Stelle 
der Kunst der Antike tritt die Wissenschaft. Der Musik- 
instrumentenfabrikant kam ebenso auf seine Rechnung 
wie der Kanonen- und Kunstbronzegießer, jeder Zweig 
der Metallindustrie sah seine Wünsche befriedigt. 

Ein ungeheures Aufsehen erregte seinerzeit in ar- 
tilleristischen Kreisen die von Montefiori und Künzel 
entdeckte Phosphorbronze. Die Bedeutung wird am 
besten charakterisiert durch einen Ausspruch Dumas in 
den Comptes rendus: „Bei der Prüfung verschiedener 
Legierungen zu Geschützbronzen fand sich, daß der 
Grund des geringen Widerstandes gewöhnlicher Bronze 
in dem konstanten Gehalt dieser Legierung an Spuren 
von Zinn in oxydiertem Zustande besteht. Dieses Oxyd 
(Zinnasche) wirkte in mechanischer Weise, indem es die 
Molekel, d. h. die kleinsten Teile der Legierung, durch 
Zwischenlagerung einer Substanz, welche an sich gar 
keine Zähigkeit besitzt, voneinander trennt.“ Man 
wußte schon längst, daß die beim Schmelzen der Metalle 
stattfindende Oxydation die Qualität der Bronze nach- 
teilig beeinflußt. Bezeichnen wir das oxydierte Metall 
mit einem Kreuz, das sauerstofffreie mit einem Strich, 
so ergibt sich folgendes Schema: — + — + —. 


4* 


24 Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika.) 





Während man früher diesen Übelstand notdürftig 
durch Umrühren der flüssigen Metallmasse mit Stangen 
aus grünem Holz zu beseitigen suchte, setzte man jetzt 
der Speise Phosphor als Phosphorkupfer oder seltener 
als Phosphorzinn zu. Es genügen die kleinsten Mengen; 
so wurden in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts 
folgende Mischungen empfohlen: 


I. II. 
Phosphorkupfer mit 9 Proz. Phos- 
phor ..... A S aS a 2,20 Proz. 1,10 Proz. 
KUplar nn E 75,80 „ 76,90 „ 
RI a E ae te lee 22,00 „ 22,00 „ 


Wie das Phosphor wirken, wenn auch nicht in so 
hervorragender Weise, Mangan und Aluminium. Alu- 
miniumbronzen werden meistens mit 5 bis 10 Proz. Alu- 
minium hergestellt, sie haben sich in der Bijouterie und 
Feinschmiedetechnik einen dauernden Platz erobert. Alu- 
miniumbronzen mit 5 bis 7,5 Proz. Aluminium sind durch 
einen schönen, weichen, lange anhaltenden Ton ausge- 
zeichnet und eignen sich daher vorzüglich zur Herstellung 


von Harmoniumstimmen. Die Manganbronze wird in 
der Technik zur Herstellung von Preßzylindern, Wasser- 
leitungshähnen, Pumpen vornehmlich benutzt. Der Ge- 
halt an Mangan schwankt zwischen 0,5 und 5 Proz. 

Wir haben ein Stück Kulturgeschichte vor uns, 
einen Abschnitt aus der Geschichte der Menschheit, 
wenn wir die Bronzetechnik in ihrer Entwickelung 
betrachten. 

Der Strom fließt bald rauschend durch schöne Ge- 
filde, bald droht sein Wasser im Sande zu versickern; 
dann sammeln sich wieder die Tropfen zu Bächen, die 
Bäche zum gewaltigen Strom. Die Kunst des Bronze- 
gusses stand nicht zu jeder Zeit auf gleicher Höhe, auch 
kann man nicht von einer stetig fortschreitenden Ent- 
wickelung sprechen. Herrlich sind die Werke der phö- 
nizischen Zeitepoche, minderwertig verglichen mit ihnen 
die Schöpfungen des reichen römischen Cäsarenreiches. 
Gutes und Schlechtes schufen das Mittelalter und die 
Renaissance, neu belebt und befruchtet wurde die Kunst 
durch die Arbeit der exakten Wissenschaften. 





Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 


Von Hauptmann a. D. Hutter. 
(Schluß.) 


In einzelne dieser unterirdischen Reservoirs gestattet 
die Natur einen Einblick, indem sie die darüber lagernde 
Kalkdecke entfernt hat, d.h. diese ist eingestürzt und 
hat so den Spiegel des Grundwassersees freigelegt. Der 


von dichtem, grauem Busch: all das macht ihn zu einem 
herrlichen, unvergeßlichen Bilde. Er ist annähernd kreis- 
rund; etwa 100 und 150m betragen die Durchmesser. 
Sein Niveau schwankt; in der einen Nacht, die ich dort 





Abb. 7. 


schönste und größte dieser Einbruchseen ist der Otji- 
kotosee westlich Tsumeb (Abb. 8). Die 15 bis 20 m 
hohen Kalkwände fallen beinahe senkrecht zum Wasser- 
spiegel ab. Die tiefblaue Wasserfläche, der weiße Fels, 
die an ihm hinkletternden Feigenbäume, die Kandelaber- 
euphorbien und leuchtenden Aloön, das Ganze umrahmt 





Kupferhaltige Kalkriffe bei Tsumeb. 


T 


zubrachte (es war Trockenzeit), stieg er um 1,3cm. Durch 
ein bisweilen zutage tretendes Felsloch kommuniziert er 
mit dem unterirdischen Wassersystem; dorthin zieht auch 
stets starke Strömung beim Tränken verunglückende Tiere. 
Seine Freilegung scheint vor noch gar nicht so sehr 
langer Zeit erfolgt zu sein; Ovamboleute erzählten mir, 


Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 35 





„ihre Großeltern wüßten noch, daß sie von dem Wasser 
nichts gesehen hätten, weil es von Klippen bedeckt ge- 
wesen sei, gerade so wie das Wasser bei Hoais jetzt 
noch.“ 

Dieser „See von Hoais“, 50km westlich des Otjikoto- 
sees, ist ein typisches Bild für die noch geschlossenen 
Wasserbecken. 

In dichtem Buschwald, auf einem mit Klippen über- 
säten und aus Klippen aufgebauten schwachen Höhen- 
rücken reitend, sieht man plötzlich zur einen Seite tief 
unten eine vollkommen ebene, grüne, kreisrunde Fläche 
von vielleicht 500m Durchmesser, gleich einer großen 
Arena, ringsum von hohem Rand umschlossen. Schon 


Solche geschlossene unterirdische Becken, groß und 
klein, finden sich mehrenorts in weitem Umkreis um die 
Pfanne. Im Norden von ihr scheint das von Schinz er- 
wähnte Okasima ka Namutenja, nordwestlich Osohoma, 
das einzige zu sein; westlich und südwestlich des eben 
geschilderten Hoaissees dagegen liegen: Guinas, Awachab, 
Gamkarob und andere; und noch mehr sind wahr- 
scheinlich noch unbekannt. Kleinere unterirdische Becken 
passiert man auf Ritten seitab der Wege geradezu häufig; 
das dumpfe Dröhnen des Hufschlages zeigt den Hohl- 
raum an. Sind solche offen, so bilden sie den oben an- 


gedeuteten zweiten Typ der Wasserstellen des Etosha- 
gebietes, die sogenannten „Kalkpfannen“. 





Abb. 8. 


diese Einsenkung muß durch Einsturz entstanden sein. 
Aber unter der nunmehrigen Decke liegt ein weiterer, 
mit Wasser gefüllter Hohlraum. Klettertt man den 
steilen Steig, der zu dieser Decke hinunterführt, hinab, 
so sieht man in dem dichten, weichen Grasteppich der- 
selben ein tiefes Loch. Ein langer, vielfach geknickter, 
bald enger, bald weiterer Schlot führt senkrecht in die 
Tiefe, in der man wie in einem Brunnenschacht eine 
glitzernde Wasserfläche erblickt: offenbar den Spiegel 
eines unterirdischen Sees. Die Buschleute holen hier 
Wasser, und ihre Behauptung, „daß 40 Mann hinterein- 
ander in den Schacht hinunter müßten, um zum Wasser 
zu gelangen“, erschien mir durchaus glaublich. Auch das 
Niveau dieses Sees soll sich in den verschiedenen Jahres- 
zeiten heben und senken. 
Globus XCVIII. Nr.2. 


Der Otjikotosee von Süden aus. 


Bei diesen kleineren Kalkpfannen dürfte sich der 
Bildungsprozeß in einer gewissen Reihenfolge vollzogen 
haben; zuerst ging in offener Kalkeinsenkung eine Quelle 
zutage, dann bildete sich durch die Kalkausscheidung 
eine Sinterdecke. Unter ihr betätigte das Wasser seine 
Aushöhlungskraft, und nun brach infolge mechanischer 
oder chemischer Einwirkung die Decke: die offene Kalk- 
pfanne war geschaffen (vgl. oben bei Namutoni). 

Von hohem geologischen, zoologischen (ich erinnere 
an die herausgepumpten Frösche usw.), paläontologischen 
und ethnographischen (weiter unten davon) Interesse 
wäre eine eingehende Erforschung des ganzen Höhlen- 
gebietes in der an eigenartigen Naturerscheinungen 
reichen Etoshalandschaft. Von den Höhlen bei Awachab, 
bei Nosib (nordöstlich Otavi), Gorogoab (nordwestlich 


5 


26 Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 





Abb. 9. 


Grootfontein) und verschiedenen anderen wissen die 
‚Buschleute und Bergdamara, die einzigen Bewohner 
dieser fast noch gänzlich unbekannten Teile des Landes, 
Seltsames zu berichten. So soll der Ekuma-Omuramba 
an der Nordwestecke der Etoshapfanne — die, nebenbei 
bemerkt, im Idiom der Buschleute „Chum“, d. i. Sand, 
heißt — in eine in einem dort sich erhebenden Kalkfels 
befindliche Höhle münden und von da unterirdisch bis 
zum Otjikotosee weiterlaufen; so sollen in diesem und im 
Gamkarobsee (einem nordöstlich Outjo gelegenen, gleich 


Kalkbergkette bei Otavi. 


dem Hoaissee geschlossenen unterirdischen Becken) ge- 
legentlich Wasserschöpfens Ertrunkene sofort in die Tiefe 
gezogen werden und noch nie wieder an die Oberfläche 
gekommen sein, usw. Aus diesen Erzählungen geht her- 
vor, daß die Eingeborenen von dem unterirdischen, System 
von Höhlen und Gängen in dem Karstgebiete wohl 
wissen. 

Diese Karstformation setzt sich nach Osten fort. In 
dem Dreieck Otavi — Tsumeb — Grootfontein erheben 
sich, wie ich eingangs bereits erwähnte, die diese For- 




















Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 29 





Hier liegt „als vorgeschobene Insel der großen Palmen- 
region im Ambolande ein lichter Hain von ihnen, der 
etwa 50km lang und 20km breit ist“ (Rohrbach). Es 
sind kümmerliche Pflanzenindividuen, die schon sehr 
„licht“ stehen. In dieser Landschaft beobachtete ich 
auch nicht selten die unschönen Kakteengebilde (Abb. 13), 
die bis zu 2 und 3m Höhe erreichen. 

Reizvoll stets aufs neue ist das Bild der Aristida- 
steppe: diese ist es, die hier dicht den Boden überkleidet. 


Die geschilderte, gegenüber den übrigen Teilen des 
Landes wesentlich anders. geartete Vegetation ist natür- . 
lich noch weit mehr als durch die dem Etoshagebiet 
eigenen Boden- und Grundwasserverhältnisse durch das 
Klima veranlaßt; ist ja doch einer dieser beiden Faktoren 
selbst, der Grundwasserreichtum, eine Folge des letzteren. 

Ich beschränke mich bei der Betrachtung des Klimas 
auf die Aufführung der wesentlichsten Verschiedenheiten 
und einiger weniger meteorologischer Eigentümlichkeiten?). 





Abb. 14. Werft der Heigum-Buschmänner bei Namutoni. 


Schinz hat ganz recht, wenn er sagt: „Ich weiß mir 
nichts Schöneres, als solch eine Grasflur. Kühl weht der 
Seewind von Westen weit insLand hinein, kosend überfährt 
er die glitzernden langen Federschweife der Aristida; sich 
langsam wiegend, folgen sie der Richtung des Windes, 
und nun erglänzt die wogende Fläche wie eitel Silber.“ 
Brennend rote Blumendolden mischen sich darein, und 
leuchtend rot oder gelb ragt eine Aloe, eine Kandelaber- 
euphorbie über die schwankenden Halme. 

Dieses reizvolle Vegetationskleid, in herrlicher Park- 
landschaft zusammengefaßt, im Verein mit den weichen 
Formen der bewaldeten Kalkberge 
läßt vielerorts im Etoshagebiet voll- 
ständig vergessen, daß man inmitten 
des südafrikanischen Sandfeldes sich 
befindet, so nahe dem pflanzenlosen, 
ungeheuren Salzsee. Im Tale von 
Ghaub, im Waldgebirge der Bobos- 
berge (dem „Harz Südwestafrikas“), 
bei Harib, zwischen Sissekab und 
Goab, im Bett des Omuramba Ugab 
nahe der Uisibpforte bin ich stunden- 
lang durch solche paradiesische Land- 
schaften geritten. Nur eines fehlt 
— das Wasser. Auch in diesen herr- 
lichen Naturparken rauscht nirgends 
ein Bach, sprudelt nirgends eineQuelle. 
— Je mehr man sich dem Bannkreis 
des Zentrums des ganzen Gebietes, der Etoshapfanne, nähert, 
desto — „südafrikanischer“ wird Gelände und Bedeckung. 
Das macht sich in einem Umkreise von beinahe 50 km be- 
merkbar. Die vollkommene Ebene beginnt, der Laubwald 
dominiert nicht mehr; immer mehr Dornbusch mengt sich 
darein; und dichter und niedriger werden die weithin 
den Boden deckenden Waldbestände. Gesteinübersäte 
Ödlandstrecken wechseln mit Kalkklippen und Sandinseln 
ab. Erst in der nächsten Umgebung der Pfanne wird 
das Steppengras, untermischt mit häufigem Brakbusch, 
wieder dichter, der Busch wird lichter und ist mit Laub- 
bäumen, namentlich dem Omutati, untermischt: die uns 
bereits bekannte Landschaft an der Pfanne. 


Da ist vor allem die weit größere Niederschlagsmenge 
zu nennen. Jahreszeitlich sind allerdings auch hier 
Trocken- und Regenzeit streng voneinander geschieden, 
aber die Regenzeit währt bedeutend länger — außerdem 
geht ihr im September und Oktober eine sogenannte 
erste kleine Frühregenzeit voraus — und dann ist die 
Intensität der Regen selbst eine beträchtlich größere. 
Oberleutnant Fischer beobachtete auf seiner jüngsten 
Expedition nach dem Löwen-Omuramba (Dezember) an 
26 Regentagen zusammen 305 mm Niederschlagsmenge. 
Die Jahresmittel sind: Otavi 591, Grootfontein 691, 





Abb. 15. 


Saiteninstrument der Bali. 


(Aus Hutter: Wand. u. Forsch. im Nordhinterland von Kamerun.) 


Ghaub 691, Namutoni 558 mm. — Die Temperaturen sind 
bereits wesentlich tropischer. Die Morgentemperaturen 
gehen nie unter 0° herunter. Mittags herrscht oft eine 
recht drückende Hitze, die besonders unerträglich wird, 
wenn ein heißer Ostwind als Vorbote eines Sandsturmes 
stoßweise einsetzt. 


3) Eine eingehende Darstellung der Niederschlagsver- 
hältnisse Südwestafrikas findet sich in einem Aufsatz von 
Dr. Ottweiler in den „Mitteilungen aus den deutschen 
Schutzgebieten usw.“, Jahrgang 1907. — Hinsichtlich einer 
großzügigen Überschau über die gesamten klimati- 
schen Verhältnisse sind wir immer noch auf Schinz an- 
gewiesen. 


30 Hutter: Im Gebiet der Etoshapfanne (Deutsch-Südwestafrika). 





Diese Sandstürme sind hier oben weit häufiger als 
.im übrigen Lande. Ich finde in meinem Tagebuch für 
die Monate August und September 1907, die ich an der 
Pfanne zubrachte, nur wenige Tage, an welchen ich nicht 
bald mehr, bald minder starke verzeichnete. Die rasende 
Schnelligkeit, mit der sie, nicht selten Sandhosen bildend, 
über die unermeßlichen Flächen dahintoben, erbarmungs- 
los Busch und Strauch entlaubend, ist ja wohl die gleiche 
wie im Süden; aber der feine Kalkmehlstaub der, Etosha- 
landschaft macht sie weit lästiger und empfindlicher 
als dort. 

Die — allerdings wenigen — Gewitter, die ich hier 
erlebte, hatten geringere Heftigkeit als in den Tropen 
Kameruns. 

Endlich erwähne ich noch eine eigenartige im August 
1907 an der Pfanne beobachtete Wolkenformation: „Die 
am Morgen dicht geballten Haufenwolken verdünnten und 
lockerten sich mit zunehmender Sonnenbestrahlung, so 
daß sie endlich täuschend großen Eistafeln glichen, die 
durch große Sprünge zwar zerteilt sind, aber dicht neben- 
einander gelagert blieben (weder in Deutschland noch in 
Kamerun je beobachtet).“ 

Die einzigen eingeborenen Bewohner dieses 
Etoshagebietes sind im westlichen Teil Buschmänner, 
im östlichen ebensolche und — in den Otavibergen sowie 
nordöstlich Outjo — Bergdamara (auch Klippkaffern 
genannt). 

Die Bergdamara haben eine Art Stammeszusammen- 
gehörigkeit unter einem patriarchalischen Oberhaupt, 
dem im Lande wohlbekannten Kapitän Krüger, der 
früher in Neidaus saß: nunmehr hat er sich in Ghaub 
niedergelassen, wo ich ihm einen kurzen Besuch abstattete. 
Im ganzen Gebirge verstreut haust der Stamm, der 
hinsichtlich seiner Mitgliederzahl bedeutend unterschätzt 
wird. In ihrem Gebiet sah ich übrigens, auf Rietfontein, 
die erste und einzige Hütte in Betschuanenbauart: großer 
rechteckiger Lehmhauskasten mit Giebel und Firstdach 
aus Gras; eine runde Lehmhütte mit Kegelgrasdach 
beobachtete ich, ebenfalls im Bergdamaragebiet, bei 
Uitkomst. 

Der interessanteste volkliche Bestandteil ist zweifels- 
ohne der auf dem ethnischen Aussterbeetat stehende Busch- 
mann. Schinz, Passarge, von Luschan und Schultze 
haben über dieses dem Untergang geweihte Volk vor- 
züglich und eingehend berichtet; ich aber war viel zu 
kurz und vorübergehend in den von ihnen bewohnten 
oder, richtiger, durchstreiften Gebieten, als daß ich es 
wagen möchte, gleichfalls mich eingehender über sie 
zu verbreiten. Ich gebe lediglich meine Beobachtungen 
und eingezogenen Erkundungen aphoristisch wieder — 
in volklicher Hinsicht ist oft die kleinste Angabe nicht 
unwichtig; und gerade auf diesem Felde ändert sich 
in einer kurzen Spanne nicht selten manches. 

Ich bin nur mit Vertretern des Stammes oder der 
Horde der Heigum in flüchtige Berührung gekommen. 
Oberleutnant Fischer ist es gelungen, eine ganze Anzahl 
dieser scheuen, unsteten Menschen nahe der Station 
Namutoni anzusiedeln. Ihre dort angelegte Werft 
(Abb.14) mit bienenkorbartig, aus dünnen Baum- 
stämmen und Zweigen aufgebauten, mit Holzstücken 
(zugleich Brennholz) und alten Zeugfetzen eingedeckten 
Pontoks ist für Buschmannsbegriffe bereits ein großer 
Luxus und ein großes Zugeständnis an Zivilisation. 
Ganz anders sehen ihre im „Feld“ errichteten, eigent- 
lichen Hütten oder, besser gesagt, erbärmlichen Unter- 
schlupfe aus. Nur einmal gelang es mir auf meinem 
Ritt von Namutoni weit seitab der gewöhnlichen Straße 
nach Otavi solche zu Gesicht zu bekommen. Beobachtet 
wurde und fühlte ich mich stets von den scheuen Ge- 


sellen auf der ganzen Strecke; da und dort zuckte nachts 
im Dornbusch Feuerschein auf: Buschmannlager. 

Schon der Zugang zu einem solchen, im dichtesten 
Dornbusch liegend, ist ohne Führung absolut nicht zu 
finden. Im Zickzack, in Schleifen, manchmal wieder ein 
Stück zurück, führte mich ein paar Stunden seitab Goab 
ein Buschmann zum Lagerplatz seiner etwa 15 köpfigen 
Horde. Auf einer etwas lichteren Stelle des Busches 
standen unregelmäßig 10 flüchtig und erbärmlich aus 
Zweigen und Gras errichtete Windschirme etwa von der 
Form des schräg aufgeklappten Daches eines Kinder- 
wagens. Die „Einrichtung“ eines solchen Windschirmes 
bildeten schmutziges Graslager, primitivste Bogen und 
Pfeile mit abnehmbaren vergifteten Holzspitzen in Fell- 
köchern (Haare nach innen), ein paar Kirri, eine Holz- 
zunderdose, einige verbeulte leere Konservenbüchsen, 
schmutzige Tierdärme als Wassersäcke und — über- 
raschend — ein Musikinstrument von genau der gleichen 
Form, sogar Saitenzahl, wie ich es in Kamerun bei den 
Bali getroffen habe (Abb. 15). Während ich das Lager 
musterte, kamen einige Weiber mit auf dem Kopf ge- 
tragenen Kalabassen mit Feldkost, darunter kleine braun- 
rote Beeren von nicht unangenehmem Geschmack; eines 
der Weiber rauchte aus einer Pfeife, die aus einer halben 
Tschamaschale und einer leeren Patronenhülse (Boden 
durchlocht) als Pfeifenrohr bestand. 

Die mir zu Gesicht gekommenen Exemplare sind 
wohl klein (Männer 1,50 bis 1,60 m; Weiber 1,40 bis 1,50 m), 
aber durchaus keine Zwerge; sehr mager, jedoch wohl- 
proportioniert und manche mit entschieden intelligentem 
Gesichtsausdruck. Dem auf Namutoni befindlichen 
Dolmetscher namens „Obey“, der auch ganz erträglich 
deutsch radebrechte, hätte niemand den Buschmann an- 
gesehen. Die Form der Eheschließung ist, nach Ober- 
leutnant Fischer, die denkbar einfachste: der Mann bringt 
Wild, das Mädchen Feldkost; das wird gemeinschaftlich 
verzehrt — und das Band ist geschlossen. Also die 
altrömische „confarreatio“. Der gleiche Gewährsmann 
rühmt ihre Sittenreinheit. 

Diese Heigum hausen südlich und nördlich (bis bei- 
nahe zum Löwen -Omuramba) des Ostteils der Etosha- 
pfanne; Fischer schätzt ihre Gesamtzahl auf höchstens 
1000 Köpfe. „Weit höher stehen (nach ihm) die nörd- 


lich davon lebenden“ — und damit allerdings eigentlich 
nicht mehr in das von mir umzirkte Etoshagebiet ge- 
hörenden — „Kung, deren ‚Feld‘ bis zum Okavango 


und nach Osten bis zum großen Omuramba reicht. Sie 
sind scheu wie wilde Tiere, von ebenmäßigem Körperbau 
und gelten für vorzügliche Bogen- und Speerschützen. 
Sie sollen sogar eine straffe Organisation haben, mit ab- 
geteilten Familiendistrikten für Kostsuche und Jagd und 
mit einem, alle Kung beherrschenden Kapitän. Ihre 
Zahl soll die der Heigum weit übertreffen. Mit diesen 
leben sie in Feindschaft. Noch jetzt ereignen sich zwi- 
schen beiden blutige, im Dunkel der Nacht und des 
Busches sich vollziehende Kämpfe, bei denen Weiber und 
Kinder nicht geschont werden. Die Sprache beider 
Stämme ist verschieden. Die Heigum sprechen Namaqua, 
die Kung ein völlig anderes Idiom“. 

Man hat die Buschmänner mit den schon viel be- 
schriebenen, rätselhaften, sogenannten Buschmannzeich- 
nungen, diesen wenigen vorgeschichtlichen Spuren, die 
bisher im Lande gefunden worden sind, in Verbindung 
gebracht. Mit wie viel oder wie wenig Recht, vermag 
ich nicht zu sagen. Aus dem Etoshagebiet sind bisher 
lediglich künstlich in den Stein gehauene Tierspuren 
(von Kudus, Gemsböcken, Giraffen, Elefanten, Pavianen), 
auch einige Menschenspuren bekannt. Nur ein „Bild“, 
das eines Flußpferdes, etwa 15cm lang, fand Rohrbach 





Gengler: Die Schwalben im Volksglauben. 


3 





nahe bei Ghaub in einer Felsenschlucht eingemeißelt. 
Diese Spurenzeichnungen befinden sich auf dem betrete- 
nen Pfade und sind zum Teil bereits wieder, offenbar 
durch die Füße der Darüberwandernden, abgeschliffen. 

Außerdem fand Rohrbach noch eine andere prä- 
historische Spur („prähistorisch“ im afrikanischen 
Sinne) an zwei Stellen der Ötaviberglandschaft: rohe 
Wälle von zusammengetragenen Steinen. Die eine Stelle 
habe ich ebenfalls gesehen; es ist der sogenannte Busch- 
mannpaß, eine Pforte in den Bobosbergen auf dem Wege 
von Ghaub nach dem Otjikotosee, ganz nahe der Otavi- 
bahn. Unverkennbar war damit die Sperrung des Passes 
beabsichtigt. Und Bohrbach hat sicher recht, wenn er 
„die jetzt in dieser Landschaft familien- und hordenweise 


lebenden Buschmänner und Klippkaffern als für der- 
gleichen Arbeit nicht in Betracht kommend“ bezeichnet. 

Also müssen einmal Stämme mit einer anderen 
Organisation, menschenreicher, und auf einer verhältnis- 
mäßig höheren Kulturstufe stehend und mit anderen in 
Fehde liegend hier gelebt haben? Darf man, auf Grund 
der Buschmannszeichnungen, an den hochentwickelten 
europäischen Vorzeitmenschen der Cro-Magnon-Rasse 
denken ? 

Ob das Dunkel, das wie über ganz Afrikas. Ur- 
geschichte, so auch über der des Etoshagebietes liegt, wohl 
je gelichtet wird? Vielleicht; wenn geographische und 
paläontologische Forschung den Schleier von seinen unter- 
irdischen Naturgeheimnissen hebt. 





Die Schwalben im Volksglauben. 


Von Dr. J. 


Von einem Vogel, der so ganz zum Haustier ge- 
worden ist, wie unsere Schwalbe, ist es nicht zu ver- 
wundern, wenn sich Bauern und Bürger, Gelehrte und 
Dichter fast aller Länder mit seinem Tun und Treiben, 
mit seinem Kommen und Gehen eingehend beschäftigt 
haben. Und alle haben die Schwalbe, die Bringerin des 
Frühlings, lieb und bieten ihr gern Schutz und Obdach, 
so der Lappe auf der Kolahalbinsel, der deutsche Bauer 
im Gebirge, der Ungar in der Steppe, und selbst der Ost- 
jake in Westsibirien nagelt ihr ein Brettchen unter 
das Nest. 

So ziemlich überall gilt sie für heilig und unantastbar, 
selbst der sonst keinen Vogel schonende Spanier hat ein 
Sprichwort: „Wer eine Schwalbe umbringt, tötet seine 
Mutter“, was ihn übrigens nicht abhalten soll, die im 
Netz gefangenen Schwälbchen sich vortrefflich schmecken 
zu lassen. In Süddeutschland sagt der Volksmund: 
„Glücklich der Mann, unter dessen Dach die Schwalbe 
ihr Nest geklebt, denn kein Blitz vermag ihm zu schaden; 
der Bube aber, der ein Schwalbennest zerstört, ist ver- 
flucht, seine Eltern werden Kummer und Schande an 
ihm erleben.“ Auch in England galt und gilt sie als 
ein Vogel des Segens. Schon Shakespeare preist sie in 
einem schönen Gedicht, dessen Ende sagt: 

„Und wo sie gerne nisten, fand ich immer 

Die reinste Luft.“ 
Und in Irland scheint sie ebenso beliebt zu sein, denn 
Ussher und Warren beginnen ihre Schwalbenschilderung 
mit den Worten: „This welcome bird“. Auch in Griechen- 
land ist sie bei der Bevölkerung gern gesehen, und beim 
bulgarischen Volke herrscht die Meinung, daß demjenigen, 
der den Schwalben oder deren Eiern etwas zu leide tut, 
gelbe Sprossen im Gesichte wachsen. 

Daß die Schwalbe als Glücksbringerin früher noch viel 
mehr in Ansehen stand als jetzt, zeigt folgende, zurzeit 
völlig in Vergessenheit geratene Geschichte. „Wer die erste 
Schwalbe im Frühjahr sieht, darf nur unter seinem linken 
Fuß nachgraben, er wird dort eine Kohle finden, die ihm, 
solange er sie bei sich trägt, stets Glück bringt.“ 

In Franken und Thüringen muß den in den Kuh- 
ställen nistenden Schwalben stets die größte Schonung 
zu teil werden. Denn erstens bringen die Vögel Glück 
und zweitens würden sie, wenn sie Störungen erführen, 
die Kühe mit ihren aus spitzen Stacheln bestehenden 
Schwanzfedern in die Euter stechen, so daß diese nur 
Blutmilch geben. Um diese Krankheit zu vertreiben, gibt 
es nur ein Mittel. Man setzt einen Scherben voll solcher 
Blutmilch auf das Dach des Stalles oder der Scheune, 


Gengler. 


über welches viele Schwalben hin und her fliegen, und in 
kurzer Zeit geben die Kühe wieder normale Milch. 

Ein eigentümlicher Brauch ist heute noch in Thrakien 
und Mazedonien im Schwang. Am 13. März werden den 
kleinen Kindern rote und weiße Leinen, sogenannte 
martenica, über Finger und Hände gewickelt. Diese 
Leinen werden dann am Tage des Erscheinens der ersten 
Schwalbe unter Steine gelegt. Am 13. April wird 
Nachschau gehalten. Sind Ameisen an den Leinen, so 
ist eine Seuche unter den Schafen in diesem Jahre zu 
befürchten, sind Käfer dabei, so kommt ein anderer 
Vermögensschaden, liegen die Leinen aber allein, so ist 
nur Glück im Jahre zu erwarten. 

In Oberbayern, in der Freisinger Gegend, wird die 
Schwalbe wohl ebenso verehrt wie wo anders, doch sieht 
man nur sehr ungern, wenn ein solcher Vogel durch das 
Fenster in ein Zimmer fliegt, denn dies bedeutet, daß es 
in diesem Hause bald eine Leiche gibt. 

Auch allerlei Medizinen wurden in früheren Jahr- 
hunderten von den alten Ärzten oder, besser gesagt, 
Kurpfuschern aus den Schwalben bereitet. Es wurde ein 
Wasser gebrannt aus zerhackten jungen Schwälbchen, 
das vorzüglich gegen die Fallende Sucht und alle mög- 
lichen Gehirnkrankheiten zu gebrauchen war. Ein gutes 
Mittel gegen Lähmungen der Muskeln und Verhärtungen 
der Sehnen wurde hergestellt, indem man zwölf Schwalben 
mit den Federn zerstieß und diesen Brei mit Fett, 
am besten Eberfett, zu einer Salbe verrieb. Gegen alle 
Arten von Augenleiden wurde das Schell- oder Schwalben- 
kraut, Hirundinaria, angewendet, weil die Schwalben mit 
diesem Kraut ihre blinden Jungen durch Berühren sehend 
machten. . 

Der Gesang, eigentlich mehr ein munteres Geschwätz, 
des Schwalbenmännchens wird in den verschiedenen Land- 
strichen verschieden mit Ausnahme des zerrenden Strophen- 
endes in Worte gebracht. So übersetzt man den Sang 
in Mitteldeutschland: 


„Ich wollte meinen Kittel flicken 
Und hatte keinen Zwerrrn, 
Hatte nur ein kurzes Endchen, 
Da mußt’ ich lange zerrrn.“ 


In Mittelschwaben wird das Lied so verdeutscht: 


„Die vorwitzigen und geschwätzigen Weiber 
Gehen immer in Heimgarten'), 

Wär’ gescheider sie täten spinnen, 

Dann hätt’ man Zwirn, hätt’ man Zwirn.“ 








1) Auf Besuch. 


33 Aus dem Norden Kanadas. 





Geradezu klassisch hat unser Rückert das Schwalben- 
liedchen übersetzt in seinem 


„Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit 
Klingt ein Lied mir immerdar . . .“, 


wovon besonders die Strophe: 


„Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm 
War’n Kisten und Kasten schwer, 
Als ich wiederkam, als ich wiederkam 
War alles leer“ 
so volkstümlich geworden ist, daß sie in vielen Gegenden 
als Übersetzung des Schwalbengesanges gilt. So sagt 
man in Franken: 
„Als ich fortzog 
War’n Kisten und Kästen schwerrr, 


Als ich wiederkam 
War’n alle leerrr“, 


oder in Siebenbürgen bei den Sachsen: 


„Dën ech geng, den ech geng, 
Less’ ech Scheuer uch Kasten völ; 
Als ech köm, als ech köm, 

Fänt ech näst mië als gespärrr“, 


oder in der Mark: 


„As iek futt trock, as iek futt trock, 

Was Hus un Huof voll; 

Nu iek wi’er kuem, nu iek wi’er kuem, 

Es Alles verrieten, verslieten, verdrieten, versplieten.“ 


Über das Kommen und Gehen der Schwalben im 
Frühjahr und Herbst ist viel geschrieben, gestritten und 
auch gesungen worden. 

Aristoteles sagt von den Schwalben, die er yeAıdav 
nennt, sie ziehen mit den Ringeltauben fort, es sind aber 
auch schon viele in Verstecken ganz ohne Gefieder ge- 
sehen worden. Anakreon besingt sogar ihren Zug: 


„Du, meine Freundin Schwalbe, 
Kommst hergezogen jährlich 
Und baust dein Nest im Sommer; 
Doch Winters gehst du ledig 
Den Nil hinauf nach Memphis.“ 


Auch Julius Sturm hat ein schönes Gedicht über den 
Zug der Schwalbe gemacht. 

In Deutschland waren noch bis in das 19. Jahrhundert 
herein ganz tolle Geschichten über das Verschwinden 
der Schwalben zur Winterszeit bekannt: „Die Schwalben 
verlieren zu Beginn des Winters ihre Federn und liegen 
nackt zu großen Klumpen geballt in Höhlen beisammen; 
bei Beginn der Frühlingswärme wachsen ihnen rasch 
wieder die Federn und sie fliegen davon.“ — „Die 
Schwalben verwandeln sich im Herbst in Fische, die aber 
an keine Angel anbeißen; im Frühjahr werden sie wieder 
Vögel.“ — „Alle Schwalben fallen im Herbst in das 
Wasser und sterben dort; ihre nicht verwesten Körper 
werden im Frühling an das Ufer geworfen, und daraus 
wachsen wieder neue Schwalben hervor.“ — Am weitesten 
verbreitet war die Ansicht, daß die Schwalben im 
Schlamme der Flüsse und der Teiche erstarrt den Winter 
verbrächten. Auch in Rußland und Ungarn war dieser 
Glaube an einen Winterschlaf der Schwalben beim Land- 
volk verbreitet. Schon der russische Naturforscher Pallas 
eiferte gegen solchen Unsinn, und Johann August Donn- 


dorf versuchte 1795 den Wegzug der Schwalben nach 
südlicheren Gegenden nachzuweisen; dennoch glauben 
heute noch so manche Leute lieber an das Märchen vom 
Winterschlaf als an den Wegzug. Die Bulgaren sind 
wohl der Ansicht, daß die Schwalbe im Herbst nach 
Afrika zieht, aber sie trauen dem kleinen Vogel nicht 
die Kraft zu, das Meer zu überfliegen. Sie glauben, daß 
die Schwalben auf den Flügeln der Störche sitzend über 
das Meer befördert würden. 

All das in vorstehenden Zeilen Gesagte bezieht sich 
nur auf die Rauch- oder Stachelschwalbe (Hirundo 
rustica L.). Diese heißt in den meisten Gegenden schlecht- 
weg Schwalbe, in Bayern und Franken Hausschwalm, 
Gabelschwälble, Gäbeleinsschwälble, in Nordfranken und 
Hessen Schmalb, Schmabel, Schmalemche. In folgenden 
Zeilen möchte ich noch etwas von der Mehlschwalbe 
(Chelidon urbica L.) bringen, welche in Franken und 
Bayern gewöhnlich Steuerling genannt wird. 

In vielen, sonst ganz guten Naturgeschichten findet 
man heute noch mehr oder weniger ausführlich beschrieben 
„Der Schwalben Rache“. Es sollen Schwalben einen 
Haussperling, der ein Schwalbennest in Besitz genommen, 
eingemauert und so getötet haben. Der Urheber dieses 
Märchens, denn es ist tatsächlich ein solches, ist P. Bougeant, 
der es in seinem 1739 erschienenen, 1783 wieder ge- 
druckten Amusement philosophique sur le langage des 
Bêtes erzählt. Dort lautet die Geschichte: „Ein Sperling 
fand einmal ein eben fertiges Schwalbennest, welches 
ihm sehr wohl gefiel, so daß er sich da einquartierte. Sobald 
die Schwalbe den unrechtmäßigen Besitzer erblickte, 
erhob sie ein Geschrei und rief ihre Artgenossen zu Hilfe, 
um den Eindringling wieder herauszujagen. Wie der 
Blitz waren eine Menge Schwalben da und griffen den 
Sperling an. Dieser aber, in seinem Neste sicher und von 
allen Seiten gedeckt, steckte aus der kleinen Öffnung Kopf 
und Schnabel heraus und biß um sich, was einige, die ihm 
zu nahe kamen, zu ihrem Nachteil erfuhren. Der Streit 
hatte kaum eine Viertelstunde gedauert, da zogen die 
Schwalben ab. Der Sperling triumphierte in seinem 
Neste und die Zuschauer waren der Meinung, daß die 
Schwalben die Belagerung aufgegeben hätten. Plötzlich 
kamen sie alle zurück. Jede trug ein Klümpchen Kot, 
woraus sie ihr Nest machen, und nun stürzten sie alle 
auf den Sperling zu und vermauerten ihn dergestalt, 
daß er ersticken mußte.“ Professor Beckmann sagt 
darüber in seiner Phys. ökon. Bibl. XIV: „Ich finde das 
ganze Ding sehr unrichtig“ und Donndorf meint schon 
1795: „Billig sollte man nach gerade diese so oft auf- 
gewärmte Geschichte aus der Naturgeschichte ganz 
relegieren“. Aber das Geschichtchen ist eben zu schön 
und findet immer wieder gläubige Leser. 

Schließen möchte ich diese Zeilen mit einer kleinen, 
ebenfalls viel erzählten und oft geglaubten Anekdote. 
Ein ehrsamer und äußerst wißbegieriger Schuster in 
Basel hing im Herbst dem vor seinem Fenster wohnenden 
Mehlschwälbchen ein Halsband um mit der Inschrift: 
„Schwalbe, die du so schön bist, sage mir, wohin ziehst 
du im Winter?“ Im Frühling kam der Vogel wieder; 
er hatte ein anderes Halsband um, auf dem stand: „Nach 
Athen, zum Anton. Warum fragst du danach?* 





Aus dem Norden Kanadas. 


Im Jahre 1908 bereiste eine Dame, Frl. Agnes Deans 
Cameron, sechs Monate lang Nordkanada, wobei sie, unter- 
stützt durch die Hudsonbai-Kompagnie, viele wenig oder 
gar nicht bekannte Gegenden durchstreifen konnte. Frl. Cameron 
verließ Edmonton und erreichte nach einem 150 km langen 
Ritt Anfang Juni Athabasca Landing. Von hier bis zur 


Küste des Eismeeres benutzte sie meist das Boot und die 
Wasserwege: Athabascafluß, Athabascasee, Sklavenfluß, 
Großen Sklavensee und Mackenzie. Die Rückreise ging den 
Peace River aufwärts und über den Kleinen Sklavensee. Die 
Beobachtungen der Reisenden bezogen sich auf die all- 
gemeinen geographischen Verhältnisse und auch auf die im 
Delta des Mackenzie angetroffenen Eskimostämme und 
gefielen der kanadischen Regierung so, daß sie sie beauftragte, 





Bücherschau. 33 





in England Vorträge zur Verbreitung von Kenntnissen über 
Kanada zu halten. Auch die Londoner geographische Gesell- 
schaft veranstaltete im Februar d. J. einen Vortragsabend, 
und im „Geogr. Journ.“ für Juni ist einiges über Frl. Camerons 
Ausführungen mitgeteilt worden. 

Von Interesse für die Geschichte der Geographie ist ein 
Besuch, den Frl. Cameron der Stätte des heute aufgegebenen 
und vergessenen Fort McLeod am Peace River abgestattet 
hat. Von diesem Punkte brach nämlich im Frühling 1793 
Alexander Mackenzie zu seiner denkwürdigen Reise nach der 
Eismeerküste auf, die ihn nachher veranlaßte, auf dem 
schwarzen Gestein der Küste Britisch-Columbias mit roter 
Farbe die Inschrift „Alexander Mackenzie from Canada by 
Land, 1793 anzubringen. Mackenzie ist nämlich der erste 
Mensch, der den amerikanischen Kontinent nördlich von 
Mexiko von Meer zu Meer durchkreuzt hat. Die Hudsonbai- 
Kompagnie hat jetzt jenen Punkt durch eine Tafel bezeichnen 
lassen. Ferner stöberte Frl. Cameron die Archive mehrerer 
Posten der Hudsonbai-Kompagnie durch, in denen sich un- 
veröffentlichte Berichte der alten Pelzhändler finden, und 
machte Auszüge daraus. Besonders reiche Ausbeute gewährte 
in dieser Beziehung das Fort Simpson. Unter anderm fanden 
sich Nachrichten, die über die Zeit der Reisen John Franklins 
neues Licht verbreiten sollen. 

Sehr optimistisch lauten Frl. Camerons Berichte über 
das Großwild des subantarktischen Kanada. Sie erzählt, daß 
die 350 bis 500 Köpfe starke Herde von Waldbisons am 
Sklavensee sich auf ihrem Bestand erhält, indem sie durch 
eine besondere Abteilung der berittenen Nordwest-Polizei 
vor ihren einzigen Feinden, dem Wolf und den Fort Smith- 
Indianern, geschützt wird. Auch von einer Verminderung 
des Caribou, des Rentieres der Barren Lands, soll keine 
Rede sein. Ferner hält sich noch der Moschusochse auf dem 
Landstrich nördlich und östlich vom Großen Bären- und 
Großen Sklavensee, einem Gebiet, das mit Gras bedeckt und 
„barren“ nur in dem Sinne genannt werden kann, als es 
baumlos ist. Am Peace River schoß Frl. Cameron einen Elch. 

Vor der Mackenziemündung hat Balaena mysticetus noch 
seinen Stand, er wird aber, wenn nicht Maßregeln zu seinem 
Schutze getroffen werden, bald aus dem arktischen Leben 
verschwunden sein. Jeder gefangene Wal dieser Art bringt 
2000 Pfd. Sterl. und darüber. Die Walindustrie im Mackenzie- 
delta ist heute ganz in den Händen unternehmender Amerikaner, 


die ihr Hauptquartier in San Francisco haben. Von 1891 
bis 1908 sind in diesen Gewässern 1345 Wale gefangen 
worden, die einen Wert von mindestens 2'/, Millionen Pfd. 
Sterl. (ganz abgesehen vom Tran) repräsentieren. Fräulein 
Cameron bedauert, daß diese Summe Kanada verloren 
gegangen ist. Auch Pelze finden mit den Walfischfänger- 
schiffen ihren Weg zu den Amerikanern; es mögen jährlich 
für 300000 Pfd. Sterl. sein. 

Die Aussichten, die die Landwirtschaft in jenen einsamen 
Teilen Nordkanadas hätte, werden von Frl. Cameron als 
höchst günstig bezeichnet. In Fort Good Hope unter dem 
Polarkreise werden Kartoffeln, Rüben und Karotten angebaut, 
und der Weizen der 1876 auf der Centenar -Ausstellung in 
Philadelphia den höchsten Preis errang, war in dem 
kleinen Garten am Kloster der Grauen Nonnen bei Fort 
Chipewyan am Athabascasee unter 58° 40’ nördl. Br. ge- 
wachsen. Es ist bekannt, daß zwischen den großen Seen 
und den Felsengebirgen, nördlich von der Grenze mit der 
Union bis zum Saskatchewan-Fluß sich eine 1600km lange 
Weizenebene erstreckt, sie wurde durch den Bau der 
kanadischen Pazifikbahn zur Wohlhabenheit geführt. Das 
Lockmittel der freien Weizenfarmen, die die kanadische 
Regierung in diesen Prärieprovinzen anbietet, führte im 
vorigen Jahre nicht weniger als 100000 amerikanische Farmer 
nach Kanada, und ebenso viele aus dem Mutterlande und 
Nordeuropa. Dieser Teil Westkanadas birgt an 80 Mill. Hektar 
anbaufähigen Landes, aber erst der 20. Teil steht unter dem 
Pfluge. Weniger bekannt ist, daß nördlich von Saskatchewan, 
in den Tälern des Athabasca-, Sklaven- und Peaceflusses ein 
unbenutztes Hinterland von weiteren 40 Mill. Hektar liegt, 
das sich für erstklassigen Weizen eignet. Vertrauen auf den 
Weizen zog die Eisenbahn nach Edmonton am Saskatchewan; 
Vertrauen auf Weizen und Holz, Pelze, Fische und Ol, Salz 
und Kohle wird sie zum Athabasca und Peace führen. 
Vermilion am Peace unter 58° 30° nördl. Br. ist das Herz 
einer welligen Ebene, in der Prärie und Busch miteinander 
abwechseln, von größerer Ausdehnung als Belgien. In Ver- 
milion ist Weizen in dreißig aufeinander folgenden Jahren 
gediehen, kürzlich wurden 30000 Bushels von einer besäten 
Fläche von 400 ha geerntet. Der Weizen reift von der Aus- 
saat bis zum Speicher in 90 Tagen, eine Folge täglichen 
18 ständigen Sonnenschein. So rühmt der weibliche 
Regierungsagent Kanada. 


Bücherschau. 


Das Deutsche Kolonialreich. Eine Länderkunde der 
deutschen Schutzgebiete. Unter Mitarbeit von Prof. Dr. 
Siegfried Passarge, Prof. Dr. Leonhard Schultze, Prof. Dr. 
Wilhelm Sievers und Dr. Georg Wegener herausgegeben 
von Prof. Dr. Hans Meyer. 2. Band: Togo, Südwest- 
afrika, Schutzgebiete in der Südsee und Kiautschougebiet. 
XIV u. 575 8. mit Karten, Abbildungen usw. Leipzig 
1910, Bibliographisches Institut. 15 %. 

Im Abstand von einem halben Jahre ist dem ersten der 
zweite Band gefolgt; damit liegt das Werk abgeschlossen 
vor. Im Vorwort bemerkt der Herausgeber, eine neue Auf- 
lage werde sich auf drei Bände herauswachsen, da in ihr 
mehr Zitate aus den Reiseberichten Aufnahme finden würden. 
Diese Absicht ist zu billigen. 

Im allgemeinen kann man von dem zweiten Bande sagen, 
daß gerade die Kolonien die beste Darstellung gefunden haben, 
deren Bearbeiter nicht „dort gewesen“ sind; es ist das eine 
Erscheinung, die auch sonst nicht selten hervortritt. Passarges 
Landeskunde von Togo läßt nichts zu wünschen übrig und 
berücksichtigt auch sehr eingehend die ja äußerst verworrenen 
ethnographischen Verhältnisse. Dabei greift die Darstellung, 
weil Togo ja nur eine politisch geschlossene Einheit, keines- 
wegs aber eine geographische ist, weit über die Grenzen der 
Kolonie hinaus, indem sie auch, wo es zum Verständnis nötig 
ist, ganz Oberguinea und den Westsudan heranzieht. In der 
Auffassung der Völkergeschichte des Westsudan folgt Passarge 
Desplagnes, und er sieht in den merkwürdigen Tamberma- 
burgen die alte Garamantenkultur. 8.89 ist Passarge die 
Helme der Kabrevölker als „Masken“ aufzufassen geneigt; 
es sind aber wohl Schmuckhelme. Nicht einleuchtend er- 
scheint uns die 8. 107 ausgesprochene Vermutung, daß die 
völlige Nacktheit und das Tragen von Penisfutteralen ge- 
wisser Völker Nordtogos ein Zeichen bestimmter religiöser 
Vorstellungen, vielleicht des Phalluskults sei. Abweichend 
von Passarge hat L. Schultze seinen Stoff über Südwestafrika 
gegliedert, indem er diese Kolonie in sieben Landschaften 
zerteilt und bei jeder gesondert die geographischen und 


ethnographischen Verhältnisse behandelt hat. Vorauf geht 
diesem Abschnitt ein allgemeiner Überblick, und ein Abschnitt 
„Kolonialwirtschaft“ folgt als dritter am Schluß. Dies ist 
wohl die vom Herausgeber vorgezeichnete Disposition, die 
dieser selber für Ostafrika eingehalten hatte. In gleicher 
Weise hat Sievers seinen Stoff gegliedert. Im Verhältnis zur 
wirtschaftlichen Bedeutung ist sein Abschnitt über die Süd- 
seekolonien der umfangreichste des Buches. Es hat eben 
jede Inselgruppe eine gesonderte Behandlung gefunden, wobei 
eine hervorragende Beherrschung der Literatur zutage tritt. 
Schließlich folgt noch Kiautschou. 

Andere Mitarbeiter haben dann im Anschluß an ent- 
sprechende Karten auf Einschaltblättern, so wie im ersten 
Bande, gewisse Punkte noch besonders behandelt, z. B. die 
Geologie, Pflanzen- und Säugetierverbreitung, die Völker und 
Sprachen. Mit Kärtchen, Diagrammen, Autotypien und 
Farbendrucken ist der Band reichlich ausgestattet, so daß er 
ein schönes und lehrreiches Anschauungsmaterial enthält. 
(In der Besprechung des ersten Bandes war bei der Erwäh- 
nung der Abbildungen bemerkt worden, es müsse befremden, 
daß die photographischen Aufnahmen der landeskundlichen 
Expeditionen dem Herausgeber, auf dessen Veranlassung sie 
vom Kolonialamt ausgesandt wären, zur Verfügung ständen, 
während die Mitglieder dieser Expeditionen selber in der 
Benutzung ihrer Ergebnisse beschränkt seien. Hierzu ist uns 
inzwischen mitgeteilt worden, daß der Herausgeber jene Auf- 
nahmen vom Kolonialamt, dessen Eigentum sie wären, für 
sein Buch gekauft habe. Ihn trifft daher ein Vorwurf nicht.) 

H. Singer. 


A. Gerste S. J., Notes sur la Médecine et la Botanique 
des anciens Mexicains. 161 8. Rom 1909, Imprimerie 
Polyglotte Vaticane. 

Diese mit dem Loubat-Preise gekrönte Abhandlung ist 
eine Überarbeitung einer Reihe von Aufsätzen, die in der 
Revue des Questions scientifiques von demselben Autor in 
den Jahren 1887 bis 1888 erschienen sind. Es ist ein großes 


34 Kleine Nachrichten. 





Verdienst des Herzogs von Loubat, durch Drucklegung dieses 
bedeutenden Werkes die mexikanistische Forschung aufs neue 


gefördert zu haben. Die Nachrichten über die Medizin und 
Botanik der alten Mexikaner in spanischen Quellen fließen 
so reichlich, daß es möglich ist, ein ziemlich erschöpfendes 
Bild der nicht unerheblichen Kenntnisse der Mexikaner auf 
beiden Gebieten, die ja stets und überall Hand in Hand 
gehen, zu geben. Besonders bemerkenswert ist aber die 
Wechselbeziehung dieser Kenntnisse mit religiösen Ideen und 
magischen Vorstellungen, die P. Gerste an der Hand einer 
reichen Literatur dem Leser darlegt, wobei er sich nicht 
bloß auf die Mexikaner beschränkt, sondern auch auf die 
benachbarten Völker zu sprechen kommt. Die schon von 
del Paso y Troncoso behandelte Frage der botanischen 
Gärten im alten Mexiko wird 8.62 bis 73 untersucht. Von 
linguistischem Standpunkte aus ist es sehr interessant zu 
sehen , wie die mexikanische Sprache durch reiche Synonyma 
eine Nomenklatur für die Botanik geschaffen hat, die, von 
scharfer Beobachtung geleitet, einer modern wissenschaftlichen 
Namengebung zustrebt. Die unerschöpfliche Quelle für 
diese Studien ist, abgesehen von dem Werke Sahaguns, das 
großartige naturwissenschaftliche Opus des Arztes Franciscus 
Hernandez, dessen Original uns leider beim Brande des 
Escurial 1671 verloren ging, das aber durch eine Kopie er- 
halten blieb und 1790 in Madrid herausgegeben wurde, nach- 
dem schon vorher Nardo Angelo Recchi und Eusebius 
Nieremberg und nach letzterem Franc. Ximenez die Manuskripte 
und Zeichnungen des Hernandez ausgiebig benutzt hatten. 
Die Darstellung von Pflanzen und Pflanzenteilen in 
mexikanischen Bilderschriften gibt dem Autor im 7. Kapitel Ge- 
legenheit,aufdieEntwickelung des Schriftsystemsder Mexikaner 
einzugehen, das die Tolteken in Mexiko eingeführt haben 
sollen; 8. 82 wird gesagt, daß die Mexikaner über den 
Ideographismus hinaus zu einem phonetischen System und 
schließlich zum Syllabismus gelangt wären. Es ist dies aber 
doch nur in sehr wenigen Fällen nachweisbar. Die mexikanische 
Hieroglyphenschrift, wie sie in den uns erhaltenen Doku- 
menten vorliegt, ist über eine Rebusschrift im wesentlichen nicht 
hinausgegangen. Erst die Missionare haben in ihren Ver- 
suchen, das Paternoster und andere religiöse Texte in 
Hieroglyphenschrift zu fixieren, das phonetische System ein- 
geführt, das jedoch niemals eine weitere Entwickelung 
genommen hat. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, daß 
die Mexikaner im Laufe der Zeit ihr Hieroglyphensystem in 
diesem Sinne selbst ausgebaut haben würden. Hierin wurden 
sie aber bei der Eroberung des Landes durch die Spanier 
und insbesondere durch Vernichtung ihrer Bilderschriften 
und Unterdrückung ihrer Traditionen mit einen Schlage 
gewaltsam unterbrochen. Es ist unwahrscheinlich, daß das 
mythische Teoamoxli und das astrologischen Zwecken dienende 
Tonalamatl (8. 84) in anderen Zeichen als konventionellen 
Symbolen ohne streng phonetischen Wert abgefaßt waren. 
Wenn die Priester davon das Geheimnis bewahrten, so muß 
eben berücksichtigt werden, daß neben den Hieroglyphen- 
aufzeichnungen mnemonischer Art die mündliche Tradition 
bestand, daß das Geheimnis des Inhalts des Tonalamatls 
durch Interpretation von einer Generation auf die andere 
lebendig erhalten wurde. Bei aller Hochachtung vor der 


Gelehrsamkeit des Autors muß dies nachdrücklich hervor- 
gehoben werden. Verhältnisse wie in Agypten (8. 85) 
können nicht auf Mexiko angewandt werden, wo, wenn man 
es so nennen will, die hieratische Schrift sich nicht zu einer 
demotischen zu entwickeln Zeit gehabt hat. 

Richtig ist, daß die Mexikaner in der Darstellung von 
Pflanzen generische Typen verwandten (S. 89), wobei die 
Farben eine wichtige Rolle spielen (8. 91). Sicherlich ist 
P. Gerste auf dem rechten Wege, wenn er in diesem Zu- 
sammenhange auch auf Wampums und Quipos hinweist. 

Im 9. und 10. Kapitel geht Verfasser näher auf die 
botanische Nomenklatur ein, deren ausdrucksreichere, aus 
einer und derselben Sprache genommenen Worte einen Vor- 
zug vor der Nomenklatur Linnés haben (S. 117). Synonyma 
dienten in vielen Fällen zur Determination doppelsinniger 
Worte (8. 119). Die Klassifizierung innerhalb natürlicher 
Gruppen wird an Vertretern der Cucurbitacese (ayötli) be- 
leuchtet (S. 125 ff.) Die scharfe Naturbeobachtung und die 
Erfassung der botanischen Physiognomien verschiedener 
Landesteile durch die Mexikaner spiegelt sich in ihren Orts- 
namen und deren Hieroglyphen wieder (S. 132), worauf 
übrigens bereits Sapper (Indianische Ortsnamen im nördlichen 
Mittelamerika. Das nördliche Mittelamerika, Braunschweig 
1897, 8. 334 bis 353, besonders S. 344) hingewiesen hat. 

Im 12. Kapitel spricht Verfasser von den Blumen in 
der mexikanischen Poesie und gibt (S. 142 bis 144) Uber- 
setzungsproben von mexikanischen Hymnen, die Peñafiel 
unter dem Titel „Cantares en idioma Mexicano“ (Mexiko 1904) 
faksimiliert herausgegeben hat. 

Anhangsweise wird die neuere Literatur über den vom 
Verfasser behandelten Stoff hinzugefügt. 

Dr. Walter Lehmann, München. 


H. Pittier, Versuch über die Nutzpflanzen Costa 

Ricas (spanisch). 176 S. mit 31 Tafeln. Washington 1908. 

Der ehemalige Direktor des Instituto fisico-geogräfico 
von Costa Rica, der jetztim Landwirtschaftlichen Departement 
der Vereinigten Staaten tätig ist, hat mit dieser mühevollen 
Arbeit der Forschung, weit über die botanischen Sonder- 
interessen hinaus, einen Dienst erwiesen. Die wissenschaft- 
liche Bestimmung so vieler Gewächse, deren Vulgärnamen 
alphabetisch angeordnet sind, gibt eine wertvolle Grundlage 
für allgemeine ethno-botanische Studien, bei denen ja gerade 
Nutzpflanzen eine hervorragende Rolle spielen. Die Nomina 
vernacula sind von Wichtigkeit, da sie zum Teil verschiedenen 
indianischen Sprachen entlehnt sind. Es ist merkwürdig, wie 
sehr Bezeichnungen ein und desselben Gewächses in ver- 
schiedenen Landesteilen wechseln. Ich habe auf meinen 
Reisen eine Menge solcher Namen durch ganz Mittelamerika 
verfolgt und erblicke in ihnen ein nicht zu unterschätzendes 
Hilfsmittel zur Lösung ethnologischer und linguistischer 
Probleme. Wertvoller sind aber noch die 8. 159 bis 169 
aufgeführten, wissenschaftlich bestimmten Gewächse mit 
den indianischen Namen in den Sprachen der Talamanca, 
Terraba, Boruca und Guatuso. Allen Amerikanisten sei 
diese Arbeit Pittiers bestens empfohlen. 

Dr. Walter Lehmann, München. 





Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Auf dem vorjährigen Anthropologentage in Posen be- 
richtete J. Szombathi über neue Forschungen in den 
paläolithischen Stätten im Löß von Willendorf in 
der Wachau. Dem jetzt im „Korr.-Bl. d. deutsch. Ges. f. 
Anthropologie“ erschienenen Bericht über jene Tagung ent- 
nehmen wir darüber folgendes: Zwei jener Fundstätten kannte 
man bereits seit langem, eine neue wurde 1908 beim Bau der 
Bahn Krems—Grein entblößt und dann durch Szombathy, 
Obermaier und Bayer untersucht. Es ergaben sich neun 
übereinanderliegende Kulturschichten, von denen die oberste 
das reichste und schönste Material an Steinwerkzeugen ent- 
hielt, durchweg Formen, die in Frankreich dem oberen 
Aurignacien zugeschrieben werden. Von der Fauna sind 
zu erwähnen: in der 1. (untersten) Schicht: Rentier und 
Bison; in Schicht 2: Rentier, Bison, Wolf; in Schicht 4: 
Mammut, Rentier, Hirsch; in Schicht 5: Mammut, Rentier, 
Riesenhirsch; in Schicht 6: Mammut und Pferd; in Schicht 7: 
Pferd, Mammut, Rentier, Wolf, Höhlenlöwe; in Schicht 8: 
Pferd, Mammut, Rentier, Bison, Wolf, Höhlenlöwe; in 
Schicht 9: Mammut, Pferd, Rentier, Riesenhirsch, Fuchs. 
Auch diese Tierwelt entspricht vollkommen dem französi- 


schen Aurignaeien. Die obersten Schichten lassen natur- 
gemäß Übergänge zum Solutr6een erkennen. Gräber oder 
zusammenhängende Skelette sind nicht aufgedeckt worden. 

Von besonderem Interesse ist ein in Schicht 9 gefundenes 
Figürchen aus Stein (im Bericht abgebildet), die „Venus 
von Willendorf“. Die vollkommen erhaltene Figur ist 
11cm hoch, aus Kalkstein gearbeitet und zeigt Spuren von 
roter Bemalung. Sie stellt eine dicke Frau dar mit großen 
Brüsten, ansehnlichem Spitzbauch, vollen Hüften und Ober- 
schenkeln, doch ohne eigentliche Steatopygie. Es sind die 
gleichen Formen, wie sie die stark beschädigte „Venus von 
Brassempouy“ zeigt. Das Kopfhaar ist durch einen spiralig 
um den größten Teil des Kopfes gelegten Wulst ausgedrückt, 
das Gesicht völlig vernachlässigt: es findet sich keine An- 
deutung von Augen, Nase, Mund, Ohren und Kinn. Die 
Arme sind reduziert, die Unterarme und die Hände nur in 
flachen, über die Brüste gelegten Reliefstreifen ausgedrückt. 
Die Unterschenkel sind zwar mit Waden versehen, aber stark 
verkürzt; die Füße weggelassen. Der Künstler hat die Ge- 
stalt des menschlichen Körpers sehr gut beherrscht, es ist 
ihm aber offenbar nur darauf angekommen, die der Frucht- 


36 Kleine Nachrichten. 





auf 5, ja auf 8 Millionen angegeben wird, und daß der An- 
spruch der Rumänen auf ihr „Römertum“ wenig Berechtigung 
hat. Die Völker der Halbinsel werden kurz charakterisiert, 
und es werden auch ihre nationalen und politischen Be- 
strebungen skizziert. Erläutert werden die Ausführungen 
durch 18 Abbildungen. 

— Uber dieHandels- und Wirtschaftsverhältnisse 
Angolas im Jahre 1908 äußert sich ein englischer Konsulats- 
bericht. Es ist dort von der Heranziehung von Botanikern 
für die Entwickelung der Kautschukindustrie, der Bildung 
eines Syndikats für die Ausbreitung des Baumwollanbaues 
und von der gesteigerten Ausnutzung der schiffbaren Flüsse 
die Rede. Man ist mit der Beseitigung der Hindernisse am 
Loje, 30km von Ambriz, beschäftigt und gewinnt damit die 
Aussicht, daß dort Barken mit 2t Ladung 200 km weit ver- 
kehren können. Nach Beendigung dieser Arbeiten soll der 
Sitz der Verwaltung nach Sanda verlegt werden, wo die 
Handelshäuser von Ambriz nach Errichtung von Läden mit 
den Eingeborenen der Kaffeedistrikte verkehren könnten. 
Weitere Vorschläge beziehen sich auf die Nutzbarmachung 
des oberen Sambesi, des Luena, Lungue-Bungo, Kuando, 
Kuito und Kubango. Die Loandabahn, die bis zum Kassai 
fortgeführt werden soll, deren Bau aber seit 1908 unter- 
brochen war, reicht gegenwärtig bis Ambaca, 360 km von der 
Küste. Der Bau der ihr parallelen Lobitobahn, die in Katanga 
enden soll, war ebenfalls seit 1908 unterbrochen und soll in 
diesem Jahre wieder aufgenommen werden. Kaffee ist noch 
der Hauptausfuhrartikel Angolas. Millionen von Kaffeebäumen 
nehmen den schattigen Bergstreifen ein, der in 500 bis 700 m 
Höhe vom Kuanza bis zum unteren Kongo parallel der Küste 
sich hinzieht. Die Kakaokulturen von São Thomé nehmen 
gegenwärtig über 243000 ha ein. 


— H. H. W. Pearson, Professor der Botanik in Kap- 
stadt, gibt im Maiheft des „Geogr. Journal“ von 1910 einen 
zusammenfassenden wissenschaftlichen Bericht über die 
hier schon erwähnte Expedition, die er von Ende 
November 1908 bis Ende Mai 1909 von der Kapstadt aus 
durch das der afrikanischen Westküste nahe gelegene 
Binnenland bis in den südlichen Teil von Angola unternommen 
hat, um die Flora dieser meist sterilen Regionen gründlich 
zu erforschen. Seine Beobachtungen sind natürlich vornehm- 
lich für Botaniker von Interesse. Von besonderem Werte 
für den Geographen, allgemein gesprochen, ist die beigefügte, 
mit erfreulicher Deutlichkeit bearbeitete Karte, die den 
westlichen Teil der Kapkolonie von der Kapstadt bis zum 
unteren Lauf des Oranjeflusses umfaßt. Vergleicht man 
damit die 9. Sektion der 10-Blätterkarte von Perthes, so 
springt vor allem die Klarheit der Darstellung der Gebirgs- 
züge und der kleineren Flußläufe wohltuend in das Auge. 
Pearson verließ die große Kaplandbahn bei der Station 
Ceres Road und durchzog die nach Norden sich erstreckende 


Gebirgsgegend mittels Ochsenwagen über Calvinia nach 


Okiep und Klein-Namaqualand bis Pella am Oranjefluß. 
Von der Trostlosigkeit der Ufer dieses Flusses an der deutsch- 
südwestafrikanischen Grenze gibt seine Beschreibung einen 
richtigen Begriff: „Die Ufer des tief eingeschnittenen Fluß- 
bettes werden tagsüber von einer intensiven Gluthitze aus- 
gedörrt, die selbst in der Nacht jede Spur von Feuchtigkeit 
aufsaugt. Wolken und Regen gibt es höchst selten, selbst 
wenn auf den Plateaus in der näheren Umgebung ein 
Gewittersturm ausbricht. Gegen Abend durchsausen heftige 
Winde das schluchtartige Flußbett und erfüllen die Luft mit 
so dichtem Sandstaub, daß man vom diesseitigen Ufer nicht 
das jenseitige sehen kann; und da dabei alle nur etwas 
lockeren Erdteilchen an den Hängen fortgewirbelt werden, 
so kann kein Pflänzchen hier sich halten, höchstens ver- 
kümmert in den Rissen und Spalten von festem Gestein.“ — 
Pearsons Weg führte vom Oranjefluß über Warmbad und 
Keetmanshoop nach Lüderitzbucht und Swakopmund, in 
Gegenden, die uns zur Genüge bekannt sind und über die 
er auch nicht allgemein bemerkenswert Neues bringt. Zu- 
letzt machte er von Mossamedes aus einen Abstecher über 
Humpata längs des Kakulovar zum Fort Rosadas (dicht 
beim Fort Humbe) am Kunene. Humpata (1860 m ü. d. M.) 
besitzt für den Europäer das herrlichste Klima im ganzen 
tropischen Afrika; der Winter ist trocken; der stets sonnigen 
Tageszeit folgen Nächte mit Abkühlung bis unter den 
Gefrierpunkt. Gutes Trinkwasser ist immer vorhanden ; hier 
gibt es keine Moskitoplage und deshalb auch kein Fieber. 
In Humpata und Lubango bestand bis jetzt eine Kolonie von 
mehr als 1000 Buren; sie waren der portugiesischen 
Regierung von großem Nutzen, denn sie hielten die rebel- 


lischen Eingeborenen bis hinab zum Kunene im Zaum. Da 
sie aber selbst von der portugiesischen Verwaltung wenig 
berücksichtigt wurden und außerdem durch die Fortführung 
der Bahn von Mossamedes nach dem Innern sich in ihrem 
Verdienst als Ochsenfuhrwerksbesitzer geschädigt fühlen, so 
beginnen sie jetzt truppenweise nach ihrer Heimat Transvaal 
zurückzuwandern. — Am Schluß dieses kurzen Abrisses sei noch 
auf die 10 vortrefflichen Abbildungen Pearsons vom Busch- 
mann- und Damaraland, von der Umgebung des Oranje- 
flusses und von Landschaften aus Angola aufmerksam 
gemacht. B. F. 


— Dr. Laloy gibt nach einem russisch geschriebenen 
Aufsatz von Wosznenski in den Denkschriften der Akademie 
der Wissenschaften zu St. Petersburg 1907 ein kurzes Résumé 
über den klimatischen Einfluß des Baikalsees auf 
seine Umgebung (La Géographie, 15. Februar 1910). In 
einer Tiefe von 250 m und mehr scheint sich die Temperatur 
des Sees stets gleich zu bleiben; oberhalb dieser Tiefe ist in 
den Monaten Dezember bis Juli der See unten wärmer als 
oben, während in den übrigen Monaten das Gegenteil der 
Fall ist. Die jährlichen Anderungen erreichen an der Ober- 
fläche 9°, in 20m Tiefe nur 7°, in 50m Tiefe 5°, in 100m 
Tiefe nur 3°. Anfang Dezember und Mitte Juli ist die Tem- 
peratur des ganzen Sees annähernd diejenige, die seiner 
größten Dichte entspricht, also 4°. Die mittlere Temperatur 
der Luft in größerer Entfernung vom See ist im Dezember 
— 23,3°, im Juni und Juli + 17°, dagegen über dem See 
— 12°, 4° bzw. + 12°. Der See erwärmt also seine Umgebung 
sehr bedeutend, seiner Größe und gewaltigen Tiefe ent- 
sprechend weit stärker, als dies bis jetzt von irgend einem 
See der Erde bekannt war. Gleichzeitig vermindert er aber 
auch die Niederschläge, denn während des Zeitraumes 
1896/1903 betrugen dieselben im Durchschnitt in der Um- 
gebung des Sees jährlich 546 mm, auf der Insel Olkhon da- 
gegen nur 140 mm; die untere Station auf dieser Insel zählte 
im Durchschnitt 62 Regentage, die Umgebung des Sees da- 
gegen 159. Auch hier ist also der klimatische Einfluß des 
Sees auf seine Umgebung ein ganz gewaltiger. Halbfaß. 


— Über Militäruntauglichkeit und Großstadt- 
einfluß handelt eine Arbeit von Moritz Alsberg 
(Leipzig 1909). Der Verfasser bespricht die Wechselwirkung 
dieser beiden Erscheinungen besonders im Deutschen Reich 
und bekennt sich mit vielen anderen zu der Anschauung, 
daß die durch die industrielle Entwickelung der Kultur- 
staaten hervorgerufenen Zustände, besonders aber die An- 
häufung großer Menschenmengen in den industriellen Zentren, 
für die körperliche und geistige Gesundheit der Menschheit, 
sowie für ihr sittliches Wohl bedeutende Gefahren mit sich 
bringen. Es trete eine Entartung ein, die sich in allerlei 
Krankheitserscheinungen, Schwächezuständen, einer Abnahme 
der Geburtenzahl und in Abnormitäten zeige und natürlich 
die Wehrhaftigkeit der Völker herabsetze. Um diesem Übel 
entgegenzutreten, sei der allzu großen Anhäufung der 
Menschen in den Großstädten zu steuern (Verfasser denkt 
da u. a.an die ja auch von gewissen politischen Parteien bei 
uns aus rein egoistischen Gründen verlangte Erschwerung der 
Freizügigkeit), es solle zu Luft, Licht und Sonne und zu 
einer den gesundheitlichen Anforderungen entsprechenden 
Lebensweise zurückgekehrt werden. Wie letzteres wohl zu 
erreichen sei, darüber werden einige Andeutungen gemacht. 


— Einzelheiten über Charcots Südpolarexpedition, 
die im Juni nach Frankreich heimgekehrt ist, sind noch 
wenig bekannt geworden. Es wird berichtet, daß zahlreiche 
Lotungen ausgeführt worden sind, und daß man hierbei in 
den meisten Fällen die Wassertemperatur an der Oberfläche 
und am Meeresboden gemessen hat, ebenso die Dichte des 
Wassers. In einigen Fällen sind auch Serientemperaturen in 
Abständen von 100 zu 100m gemessen worden. Diese Lo- 
tungen, die eine Fortsetzung der Arbeiten der belgischen und 
der schwedischen Südpolarexpedition bedeuten, ergaben als 
wichtigste Resultate folgendes: das Kontinentalplateau (Schelf) 
hat in der Nähe des Grahamlandes eine sehr unregelmäßige 
Oberfläche, während Peters I.-Land offenbar ganz unvermittelt 
aus ozeanischer Tiefe ansteigt. Eine Flachsee unter 70° südl. Br. 
und 119° westl. L. deutet vielleicht auf die Nähe von Land 
(also nordöstlich von Edwardland), während sich aus einer 
Lotung von über 5000 m unter 66° südl. Br. und 118° westl. L. 
auf eine tiefe Einsenkung im Meeresboden schließen läßt. 
Es sind etwa 20 Schleppnetzzüge ausgeführt worden, die aber 
über 500 m Tiefe nicht binabreichen. 








Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr, Vieweg & Sohn, Braunschweig. 





GEOBUS 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- UND VÖLKERKUNDE 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 





Bd. XCVIII. Nr. 3. 





BRAUNSCHWEIG. 


21. Juli 1910. 





Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


Tölz und die Isarlandschaft. 


Von Julius Jaeger. 


Der nordwestlich von der Speckkarspitze in Tirol 
entspringende Isarstrom fließt zunächst in westlicher 
Richtung durch das Hinterautal nach Scharnitz, schlägt 
dort die Nordrichtung ein und durchbricht in einer Enge 
den vorderen Karwendel, setzt diesen Weg bei Mitten- 
wald zwischen diesem Gebirge und dem des Wettersteins 
fort bis in die Gegend von Wallgau, wo er eine nord- 
östliche Richtung bis Fall einschlägt, am linken Ufer von 
den Bergen des Isarwinkels, am rechten von den sog. 
Rißbergen (Vorder- und Hinterriß) begleitet, um dann 
wieder einen wesentlich nördlichen Weg zu nehmen bis 
Tölz und München und sich endlich in Nordostrichtung 
über Freising und Landshut nach einem Gesamtlaufe von 
352 km unweit von Deggendorf in die Donau zu er- 
gießen. Seine hauptsächlichsten Nebenflüsse in un- 
serer Landschaft sind rechtsseitig der Rißbach bei Vor- 
derriß, die Dürrach und der Walchenbach (aus dem 
Achensee) bei Fall mündend, der Steinbach oberhalb Rain, 
der Gaisacher Bach bei Gaisach und der Ellbach bei 
Tölz mündend; linksseitig die Leutasch bei Mittenwald, 
die Jachen (aus dem Walchensee und der Jachenau) zwi- 
schen Anger und Winkel und als größter Nebenfluß die 
Loisach, unterhalb Wolfratshausen in die Isar sich er- 
gießend. 

Von Kalkalpen sind außer obengenannten links 
der Isar noch die Benedietenwand bei Wegscheid und 
Anger, rechts der Isar Fockenstein, Kampen und Roß- 
stein, dann bei Lenggries der Geierstein zu erwähnen. 
Gegen Norden folgt dann das höhere Vorgebirge des 
Flysches mit Zwieselstock, Blomberg, Rechel- und Sulz- 
kopf (zwischen Lenggries und Tölz) und endlich das 
niedere Vorgebirge mit Buchberg und Kalvarienberg 
bei Tölz. Nördlich von dort die Hügelregion der 
Moränen bis zur südlichen Grenze der Münchener 
Hochebene. 

Die genannten Kalkalpen, insbesondere Karwendel, 
Wetterstein-, Riß-, Isarwinkelgebirge und Benedictenwand 
bestehen zumeist aus Dolomit und Wettersteinkalk, denen 
stellenweise Platten- und Dachsteinkalk, rhätische und 
Raibler Schichten, Lias, Jura und Kreide beigesellt worden 
sind. Sie gehören daher ihrem Hauptbestande nach der 
Keuperstufe der Alpentrias an. Alle ihre Gesteine sind 
sog. Sedimente, d. h. ursprünglich horizontale Nieder- 
schläge aus Gewässern, deren ehemalige Gebiete sich nur 
mutmaßlich bestimmen und begrenzen lassen. Teils 
haben sich jüngere Meere auf den Ablagerungen älterer 
Gewässer ausgebreitet, teils haben sie näher oder ferner 
von diesen Ablagerungen gebrandet. Wenn also keine 
Störungen dazu gekommen wären, würden wir regel- 

Globus XCVIII. Nr. 3. 


München. 


mäßige Schichtenkomplexe und ein nahezu ebenes Land 
vor uns haben, wie es z. B. bei der großen russischen 
Platte der Fall ist. Nun sind aber im Alpenlande einige 
Umwälzungen der heftigsten Art hinzugetreten, welche 
die Lager der Sedimente verstürzt und ein formenreiches 
Gebirgsland geschaffen haben. Hatten schon in den der 
Trias vorausgehenden Epochen Gebirgserhebungen statt- 
gefunden, z. B.in den karbonischen Zeiten, so ist nun aber 
im mittleren Tertiär bekanntlich die großartige Alpen- 
erhebung eingetreten, die unseren südlichen Gauen ein ab- 
wechslungsreiches Gepräge gab, indem sie Gebirge der ver- 
schiedensten Höhen und Gestalten aus jenen Ablagerungen 
emporpreßte und übereinanderschob, wohl infolge eines 
enormen Seitendruckes von Süden her. Diese Rücken, 
Pyramiden, Spitzen und Gewölbe bilden heute den er- 
habenen Gebirgshintergrund unserer Tölzer Landschaft. 
Wie in einer Linie erscheinen vermöge der Perspektive 
die in verschiedenen Entfernungen sich erhebenden 
Spitzen des Seekars (2050 m), Juifen (1985 m), Bettel- 
mannskars (2273 m), Demeljoches (1906 m), Gamsjoches 
(2455 m), Thorjoches (2004 m), Grubenkars (2662 m), 
der etwas näher herantretenden Benedictenwand (1802 m) 
und vieler anderer. 

Von ihren hauptsächlichsten Bestandteilen istder Haupt- 
dolomit fast ohne Versteinerungen, während der Wetter- 
steinkalk Gyroporellen (Kalkalgen) und vereinzelte Cri- 
noiden, Spongien, Korallen und Mollusken enthält !). 
Diese Gebirge wären vegetationslos, wenn sich ihnen 
nicht, wenigstens in untergeordneter Weise, die Mergel 
der Raibler und rhätischen Schichten zugesellt haben 
würden, die ebenfalls zum Alpenkeuper gehörig nicht 
bloß einen Reichtum von Versteinerungen bieten — die 
Verwandtschaft dieser Gebirgsstufe mit dem mitteldeut- 
schen Keuper nahelegend —, sondern auch vermöge 


') Da die Gebirgszgruppen Karwendel, Rißgebirge und 
Wettersteingebirge sich benachbart sind und auf allen drei 
sich Hauptdolomit und Wettersteinkalk in größerer oder klei- 
nerer Ausdehnung finden, ja der Dolomit nach oben manch- 
mal von reinem Kalk, dem sog. Dachsteinkalk, überlagert 
wird, so ist bei der Frage nach der Herkunft des Mangan 
im Dolomit zunächst daran zu denken, daß auch der kohlen- 
saure Kalk mehr oder weniger kohlensaure Magnesia ent- 
hält und daß bei der Lösung des Kalkes durch kohlensaures 
Wasser kohlensaure Magnesia — Dolomit — unter Volumens- 
minderung zurückbleibt. Die frühere Hypothese einer vul- 
kanischen oder plutonischen Entstehung des Dolomits aus 
Kalkgestein durch Einwirkung von Magnesiadämpfen (L. von 
Buch) mußte aufgegeben werden. Dagegen gibt es heiße 
Quellen mit direkt dolomitartigen Niederschlägen, und es 
kann daher auch an eine unmittelbare Entstehung von Dolo- 
mitgestein besonders bei gangartigem Dolomit gedacht werden, 


6 


Jaeger: Tölz und die Isarlandschaft. 





ihrer Fruchtbarkeit die Berge mit dem grünen Pflanzen- 
kleide, mit Wiesen und Wäldern zu schmücken ver- 
stehen. — Wie diese Gebirge dem Buntsandstein und 
Muschelkalk wie teilweise auch 
Partnachschichten aufliegen, so 
werden sie andererseits außer von 
jenen rhätischen Schichten auch 


lich in den Westalpen große Probleme einfach erklären 
lassen, so wird etwa auch das Auftreten einzelner Bänder, 
insbesondere des Jura und der Kreide, in den Bergen 





| Kartenskizze des oberen Isargebiets r 
MUNCHEN 


von Dachstein- und Plattenkalk, 
Lias und Aptychen-Jura wie von 
Neocomschichten in untergeord- 
neter Weise überlagert bzw. be- 
gleitet. An diese Kalkalpen schließt 
sich nördlich eine Reihe ansehn- 
licher, mit Wald bedeckter Berg- 
kuppen des Flysches an, so auf 


nach Penck, Ammon, Wied und anderen. 
Maßstab 1:450000. 


10 


e Grenze der Jungmoränen. 
„Grenze der Altmoränen. 
Alluviale Flusstäler, 
Baierörunnoy 


dem linken Ufer der Isar besonders 
Blomberg (1197 m) und Zwiesel 
(1349 m), auf dem rechten Rechel- 
und Sulzkopf (1328 und 1280 m). 
Sie liegen auf kretazeischen und 
alttertiären Schichten und sind bei 
der Alpenerhebung mit aufgerichtet 
worden. Das gleiche Schicksal er- 
griff die noch weiter nördlich ge- 
breitete ältere Molasse des Buch- 
berges (858m) und des Kalvarien- 
berges (680 m) bei Tölz, während 
die obere Süßwassermolasse, der 
Untergrund der nördlich von Tölz 
sich anreihenden Hügelregion und 
Hochebene, ungestört blieb, da ihr 
Niederschlag der Alpenerhebung 
wohl erst nachfolgtee Während 
schon Suess die Unmöglichkeit 
hervorhob, im Vorlande der Alpen 
und Karpathen die Uferbildungen 
des ehemaligen alpin-karpathischen 
Meeres aufzufinden, das uns das 
Material für die Flyschberge ge- 
liefert haben sollte, rechnet die in 
neuester Zeit sich immer mehr gel- 
tend machende Deckentheorie 
mit der Annahme, daß die Helve- 
tischen Decken unter Überschrei- 
tung des Rheines und sich nach 
Osten senkend in der Tiefe unter 
die ostalpinen Gesteine gedrungen 
seien und nun am Nordrande der 
ostalpinen Kalkzone in dem 
schmalen Saume der Sandsteinzone 
bzw. des Flysches mit steilem Ein- 
fallen nach Süden zutage kämen, 
also nicht aus einem schmalen 
Meeresarm an Ort und Stelle nieder- 
geschlagen sich an die ältere Kalk- 
zone angelagert hätten?). Falls 
diese Theorie der Deckenüberschie- 
bung eine allgemeinere Anwendung 
finden sollte, durch die sich nament- 


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Hirtenkirchen 


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Scharnitz 
2?) Vortrag in der Naturforscher- 
versammlung von Salzburg, 23. Sep- 





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i u. Moose. 


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4° 


Grubenkar 


Speckkar 





tember 1909, von V. Uhlig-Wien 
über „Die Tektonik der Ostalpen“, 
abgedruckt in der „Naturw. Rund- 
schau“, XXIV. Jahrg., Nr. 49 u. 50 vom 9. u. 16. Dezember 
1909. Auch die vereinzelten Kalkberge auf einem Funda- 
mente vom Schiefergebirge in Tirol, wie z. B. die Saile und 
Serlesspitze, werden die Deckentheorie unterstützen, wenn 
man nicht die Ansicht einer früher bestandenen allgemeinen 
Kalküberdeckung des Schiefergebirges festhalten will. 








der Ostalpen nicht mehr der Annahme eingedrungener 
schmaler Meeresbuchten bedürfen, sondern sich durch 
Deckenüberschiebung erklären lassen. 

Die Jodquellen von Krankenheil entstammen dem 
Blomberg, wobei neben den Flyschmergeln auch der dar- 





Jaeger: Tölz und die Isarlandschaft. 39 





unterliegende Gault-Grünsandstein und nebst Schwefel- 
kiesputzen auch Nummulitenschichten ihre Rolle spielen, 
welch letzteren die Quellen ihren Kochsalzgehalt zu ver- 
danken scheinen. Dasselbe gilt auch von der Jodquelle 
in dem bei Bichl gelegenen Bade Heilbrunn, die neben 
der Kirche entspringt. — Den Mangel an Tierversteine- 
rungen im Flysch neben Reichtum an fossilen Meeres- 
algen rechnet Gümbel zu den denkwürdigen Tatsachen 
und vermutet Gasexhalationen oder giftige Metallsalze 
als Zerstörer des Tierlebens. 

Aber die Alpenerhebung schuf keine stationären Ge- 
bilde, sondern sofort machte sich gegen sie ein Faktor 
geltend, der ruhelos an dem Bestande und der Gestalt 
unserer Gebirge zehrt, die Verwitterung. Nieder- 
schläge und Winde, Frost und Hitze, Humus- und Koh- 
lensäure, Bergstürze und Wasserfälle arbeiten an der 
Umformung und Erniedrigung der Berge, und aus stehen- 
gebliebenen Resten abgetragener Gewölbebögen läßt sich 
berechnen, daß unsere Alpen seit der Erhebung zum 
Teil um weit mehr als die halbe Höhe durch Erosion er- 
niedrigt wurden, wobei sie in ihren Formen teils be- 
reichert, teils verkürzt worden sind. Zu diesen gewöhn- 
lichen Faktoren der Abtragung trat nun aber am Ende der 
Tertiärzeit noch ein Moment der eingreifendsten Art in 
der anrückenden, das Diluvium beherrschenden Eiszeit. 
In ihrer vollen Entwickelung überzogen die Gletscher in 


einer Weise das Alpenland, daß nur dessen höhere Spitzen ` 


eisfrei blieben, ähnlich den sog. Nunatakkers in Grön- 
land. Obwohl schon vor dieser Zeit sicherlich zahlreiche 
Flüsse und Bäche den Alpen entquollen, geeignet Täler 
zu schaffen oder doch anzulegen, zu vertiefen und um- 
zugestalten, so ist doch erst durch die Gletscher der Eis- 
zeit die Ausräumung und Modellierung der Talsenken 
und zahlreicher Seebecken in und vor dem Gebirge er- 
folgt. Man darf annehmen, daß in den Östalpen nicht etwa 
eine einmalige Eiszeit mit verschiedenen Schwankungen, 
sondern ausweislich ihrer verschiedenen Ablagerungen 
wenigstens drei Eiszeiten mit längeren und wärmeren 
Interglazialzeiten geherrscht und daran noch drei kürzere 
Vorstöße sich angeschlossen haben 3). Diese Vergletsche- 
rung, welche sich insbesondere auch im Isargebiet gel- 
tend machte, hat aber trotz ihrer Dauer und Stärke doch 
wohl in der Hauptsache das Isartal mit seinen Win- 
dungen und Nebenflüssen wenigstens bis Krün oder Fall 
so belassen, wie es nach der Alpenerhebung zur Ableitung 
der Niederschläge sich nach Norden entwickelt hatte, 
wenn auch der Gletscher, bei seiner Höhenlage die Hin- 
dernisse und Engen bei Riß, Fall und am Sylvenstein 
leicht überschreitend, wohl imstande war, außer den Ab- 
zweigungen über Walchen- und Kochelsee, wie über Klais 
und Kaltenbrunn nach Partenkirchen zum Loisach- 
gletscher noch die direkte Route nach Norden einzu- 
schlagen t). Immerhin mußten die enormen Schmelzwasser 
nach den verschiedenen Eiszeiten den entschiedensten 
Beitrag zur Gestaltung des Isarbettes liefern und konnten 
die Bucht zwischen Winkel, Lenggries und Tölz zu 
einem großen See erweitern, dessen Terrassen an letzte- 
rem Orte heute noch sichtbar sind. Seine nördliche Auf- 
dämmung fand dieser See am Buchberg und Kalvarien- 


®) Penck u. Brückner, „Die Alpen im Eiszeitalter“. 
I. Buch, 8. 110 und an anderen Stellen. 

t) v. Klessin, „Moränenlandschaft der bayerischen 
Hochebene“ in der „Zeitschr. d. deutsch. n. österr. Alpen- 
vereins“ 1883, Bd. XIV, 8. 193 ff. Klessin nimmt übrigens 
an, daß die Isar ihr jetziges Bett erst nach dem Rückzuge 
der Gletscher und nach geschehenem Durchbruch bei Fall 
errungen habe. Rothpletz („Ein geologisch. Querschnitt durch 
die Ostalpen“, 1894, S. 126) hebt das Dasein einer Verwer- 
fungsrinne von Fall über den Barmsee nach Partenkirchen 
bis Eibsee hervor. 


berg, aber seine gespannten Wasser ruhten nicht, bis sie 
ihre Schotterdämme und die Gebirgsbarre bis zum Ni- 
veau des Gletscherbodens durchsägt und sich einen aus- 
giebigen Abfluß nach der Ebene verschafft hatten. So 
schwand wohl einer der schönsten Alpenseen dahin, das 
Schicksal des vormaligen Rosenheimer, Salzburger Sees u. a. 
teilend. Der frühere Ablauf des Sees etwa in der Rich- 
tung der Greilinger Ötz oder des Ellbaches wird in der 
Gegend von Schaftlach vermutet, wo über 80 m tiefe 
Schotter sich finden ’). Die heutige Isar erleidet dagegen 
bald schon nach ihrem Austritt aus dem Tölzer Becken 
in dem Wolfratshäuser Filze, verstärkt durch die dort 
einmündende Loisach, eine zweite seeartige Ausbuchtung, 
worauf sie dann als gesammelter Fluß ihren Weg durch 
die reizenden, an Canons erinnernden Engen der Mo- 
ränenlandschaft nach der Landeshauptstadt und weiter 
bis zur Donau fortsetzen konnte. 

Ältere tertiäre Schichten finden sich kurz oberhalb 
Tölz in den Gaisacher und Wackersberger Höhen, und 
ist am Kalvarienberge und am Fuße des Buchberges die 
untere oligozäne, versteinerungsreiche Meeresmolasse ver- 
treten. Cyrenenschichten treten nördlich vom Kalvarien- 
berge und am Zollhause zutage. Die Faltung der Mo- 
lasse wird zu Ende des Miozän oder im Pliozän ver- 
mutet®). Tölz steht zumeist auf Tuff. 

Der diluviale Isargletscher hat im Norden von Tölz eine 
Reihenfolge von sieben bis acht nordostwärts konzentrisch 
gelagerten Endmoränen auf beiden Seiten des Flusses hinter- 
lassen, von denen die aus der Würmeiszeit stammenden bis 
nach Hohen-Schäftlarn reichen, während diejenigen der gro- 
Ben Rißeiszeit bis in die Gegend von Baierbrunn und Grün- 
wald gedrungen sind. Vom Öberinntale bis in die Ge- 
gend von Wackersberg bei Tölz finden sich auch Grund- 
moränen. Giletscherschliffe und geglättete erratische 
Blöcke trifft man z. B. in Wallgau, dann in der Zone 
der Endmoränen, z. B. in Schäftlarn. Findlingsblöcke 
aus Ur- und Kalkstein liegen häufig bei Hechenberg, 
Sachsenkam, Rimselrain und am Buchberge. Nagelfluh 
tritt insbesondere bei Wolfratshausen, Schäftlarn und im 
Gleißental zutage. 

Zur Nagelfluh gehörige verfestigte Moränen finden 
sich bei Wolfratshausen an der Schwarzen Wand und in 
Happerg, wodurch die Annahme einer eiszeitlichen Ent- 
stehung der Nagelfluh ihre Bekräftigung erhält”). 

Zwei Abzweigungstäler, von der Moränenlandschaft 
nach Nordosten in die Ebene führend, der Teufelsgraben 
und das Gleißental, die heute trocken liegen, werden ihre 
Entstehung den Schmelzwässern zu verdanken haben, 
die von dem Isargletscher bei seinem Rückzuge abflossen, 
oder einer Zerfaserung des Gletschers im Vorlande, ähn- 
lich dem Mündungsdelta großer Flüsse 8). 

Das Erratikum der Tölzer Gegend enthält nicht nur 
die Steine der nördlichen Kalkalpenkette und der Vor- 
berge als Buntsandstein, Dolomit, Wettersteinkalk, Lias, 
Jura, Kreide, Flysch, Seekreide, Molasse und Tuff, sondern 
auch verschiedene Gesteine der Zentralalpen, da sich eine 
mächtige Zunge des diluvialen Inntalgletschers von der 
Gegend des heutigen Zirl aus über den 1176m hohen 
Seefelder Paß geschoben und in der Richtung des heu- 
tigen Isartales und unter Aufnahme verschiedener Lokal- 
gletscher aus dem Kalkalpengebiete zur Ebene fort- 
gewälzt hatte, so daß der Isargletscher gewissermaßen 


°) Nach Rothpletz, „Mitteilungen der Münchener geo- 
graphischen Gesellschaft“, IV. Bd., 2. Heft, 1909, S. 251. 
z Rothpletz, „Querdurchschnitt“, 8. 98 ff. 
7) Penck, „Eiszeitalter“, 8. 176, 182 u. 195; Höfler, 
„Isarwinkel“, 8. 16 f. u. 28. 

) v. Ammon, „Die Gegend von München“, 8. 256 ff. u. 
304; Geistbeck, „Die Seen der deutschen Alpen“, 8. 332. 


6* 


40 Stübe: Oskar Münsterbergs „Chinesische Kunstgeschichte“. 





aus dem Inngletscher zu gutem Teile entstanden ist. Wir 
treffen darum in der Tölzer Gegend, dann in dem Schotter 
der Endmoränen wie der Münchener Ebene auch Gerölle aus 
dem Urgebirge der Alpen, insbesondere Granite, Diorite, 
Hornblende, auch Quarzite, Phyllite und Glimmerschiefer, 
aber seltener als im Innbogen ®). Noch ist zu bemerken, 
daß unter dem Flußschotter bei Tölz feiner, geschichteter 
Kalkschlamm aus Schalen von Muscheln und Schnecken, 
die sog. Seekreide, gefunden wird, welche an die einstige 


°?) Penck, „Vergletscherung der deutschen Alpen“, X. 


Meeresbedeckung erinnert. — Sieht man heute von der 
unvergleichlichen Aussichtswarte des Kalvarienberges auf 
die Endergebnisse dieser erdgeschichtlichen Ereignisse, 
so ‚präsentiert sich im Süden das Bild einer erhabenen 
Alpenlandschaft als Hintergrund, der sich ein ansehn- 
licher Fluß entwindet, flankiert von den Flyschbergen 
und Vorhöhen und zu unterst geschmückt durch das 
freundliche Städtebild von Tölz mit Bad Krankenheil. 
Im Norden dehnen sich vor unseren Blicken die wald- 
bedeckten Höhen der Moränen links und rechts des Flusses 
bis in die Breite des Taubenberges. (Schluß folgt.) 


Oskar Münsterbergs „Chinesische Kunstgeschichte“. 


Von Dr. R. Stübe. 


Bis vor kurzem war es weiteren Kreisen kaum mög- 
lich, sich vom Kunstleben des Orients und seinen Schöp- 
fungen eine zutreffende Vorstellung zu bilden. Unsere 
Museen weisen den Kunstwerken der großen orientalischen 
Kulturvölker ihren Platz nicht in den der Kunst ge- 
weihten Hallen an, sondern ordnen sie in die Bestände 
der völkerkundlichen Sammlungen ein und stellen sie 
dadurch in die herabdrückende Nähe der technischen 
Produktion von Völkern ärmerer oder primitiver Kultur. 
Schon dadurch fällt ein falsches Licht auf die Kunst des 
Orients. Sie kommt nicht zu ihrem Rechte, wenn sie 
lediglich als ethnographisches Material, als Darstellung 
einer Volkskultur angesehen wird. Mindestens gebührt 
ihr die gleiche kunstgeschichtliche Schätzung, wie der 
mittelalterlichen Kunst Europas, und in vielem ragt sie 
weit über diese hinaus. In neuester Zeit haben Aus- 
stellungen orientalischer Kunstwerke in oft überraschender 
Weise uns den hohen künstlerischen Wert der orienta- 
lischen Schöpfungen anschaulich nahe gebracht, wie jetzt 
die islamische Ausstellung in München. Ferner ist ge- 
rade in diesen Tagen in Paris vom Musée Guimet eine 
Ausstellung der chinesischen Malerei veranstaltet worden, 
die auch mit Gemälden aus dem Besitz des chinesischen 
Kaiserhauses ausgestattet ist. Darin bekundet sich eine 
Würdigung der ostasiatischen Werke, die ihrem künst- 
lerischen Wert gerecht wird. Bisher hatte nur die 
japanische Malerei, zumal der Farbenholzschnitt, in 
Europa die Beachtung kunstliebender Kreise gefunden, 
und die hohe Schätzung der japanischen Kunst ist ja 
durchaus berechtigt. China trat dem gegenüber bisher 
sehr zurück, hauptsächlich weil man von den besten 
Werken seiner Kunst bisher nur an wenigen seltenen 
Stücken eine lebendige Anschauung gewinnen konnte. 
Durch Hirths Arbeiten zumal war ja manches über die 
Geschichte der chinesischen Kunst bekannt; aber das 
Studium kunstgeschichtlicher Beziehungen vermag die 
Anschauung der Werke nicht zu ersetzen. Eine solche 
in reichem, oft überraschendem Maße zu gewähren, ist 
das größte Verdienst von Oskar Münsterbergs „Chine- 
sischer Kunstgeschichte“, deren I. Band (Eßlingen a. N. 
1910, Paul Neff) die altertümliche Kunst der vorbuddhi- 
stischen Zeit und von der hohen Kunst die Malerei und 
Bildhauerei vom 3. Jahrhundert bis zur Gegenwart dar- 
stellt. Der zweite Teil wird die Entwickelung der Archi- 
tektur und das Kunstgewerbe in seinen verschiedenen 
Zweigen darstellen. 

Was an dem vorliegenden Bande das Interesse und 
die Bewunderung weiterer Kreise finden wird, sind die 
zahlreichen Proben der chinesischen Malerei aus späterer 
Zeit. Werke, die neben Fremdartigem eine feine Natur- 
beobachtung und eine überraschend lebensvolle Darstellung 
geben, treten seit der Tangdynastie (618 bis 960) hervor. 


Leipzig. 


Ein Werk graziöser Zeichnung ist die Frauengestalt auf 
einem Bilde vom Jahre 752 n.Chr. (Nr. 134), und unter 
den Naturstudien sind zahlreiche von wunderbarer Fein- 
heit (Nr.139, 146), so daß die Kunst der Tangzeit, die 
freilich nur aus Kopien erkennbar ist, durchaus moderne 
Züge trägt und als die Vorbereitung der klassischen 
Kunst unter den Sung (960 bis 1280) erscheint. Auf 
allen Gebieten malerischer Darstellung finden wir aus 
dieser Zeit Werke, die oft an moderne Technik erinnern 
(Tafel IV, Abb. 171, 178, 200). Vor allem tritt klar 
hervor, wie sehr die Japaner in ihren feinsten künst- 
lerischen Schöpfungen von China abhängig sind. 

Es mag indes genügen, den ästhetischen Wert des 
Werkes nur durch einige Hinweise anzudeuten. Wesent- 
licher ist der ganze Standpunkt, den das Werk der ost- 
asiatischen Kunstwelt gegenüber einnimmt. Aus lang- 
jähriger Arbeit erwachsen, verwertet es nicht nur in 
zusammenfassender Darstellung die bisher geleisteten 
Vorarbeiten von Hirth, Giles, Bushell und Binyon, sowie 
die Schätze der großen Museen. Es führt in mehreren 
Punkten auch weiter oder weist die Bahnen einer erst 
auszubauenden Forschung. Wie die älteren Bestände 
an Werken ostasiatischer Kunst in unseren Museen auf 
das Kunstgewerbe beschränkt waren, die der Handel als 
Merkwürdigkeiten aus einer fremdartigen Welt nach 
Europa führte, so sind auch noch neuere, an sich gute 
Darstellungen der chinesischen Kunst, wie die von Paleo- 
logue (1887) und Bushell (1904), in der Hauptsache der 
Keramik und dem Bronzeguß gewidmet; die Werke der 
großen Malerei und Skulptur fehlten bis vor kurzem in 
den Sammlungen wie in der Literatur. Lediglich der Reiz 
des Fremdartigen und Seltenen bestimmte das Interesse 
für die ostasiatische Kunst. Vollends dachte niemand 
an eine Archäologie Chinas, die jetzt für die Kultur- 
geschichte Chinas von entscheidender Bedeutung geworden 
ist. Hier hat Chavannes bahnbrechend gewirkt durch 
seine Bearbeitung der Schantungskulpturen; ebenso hat 
Laufers Werk über die Keramik der Hanzeit (Chinese 
Pottery of the Han Dynasty. Leiden 1909) ganz neue 
Aufschlüsse zur Geschichte der Kunstformen gebracht. 
Für die Malerei hat bekanntlich Friedr. Hirth als 
Sammler und Forscher die Aufmerksamkeit auf die Ge- 
schichte der großen Kunstwerke gelenkt, um deren ästhe- 
tische Würdigung sich Binyon das größte Verdienst 
erworben hat. Endlich darf Woermann nicht vergessen 
werden; ohne hier Spezialforscher zu sein, hat seine um- 
fassende Kenntnis des gesamten Kunstlebens und sein 
feiner Blick ihn befähigt, auch die Besonderheit der 
chinesischen Kunst geistvoll zu erfassen und ihr eine 
achtbare Stelle im Zusammenhang der allgemeinen Kunst- 
geschichte zu verleihen. Münsterberg hat nun versucht, 
eine in sich gegründete Geschichte des chinesischen Kunst- 


Stübe: Oskar Münsterbergs „Chinesische Kunstgeschichte“. \ 41 





schaffens im Zusammenhange mit der geschichtlichen 
Gesamtentwickelung Chinas und den bestimmenden 
Wesenszügen der chinesischen Kultur zu geben. Dem- 
entsprechend tritt nicht die Geschichte der Künstler und 
ihrer Werke, sondern die Wandlung der Stile und die 
historische und psychologische Analyse der Formen in 
den Vordergrund. Daß sich ein uns so fremdartiges 
Wesen wie das chinesische, das wir erst beginnen kennen 
zu lernen, sogleich völlig enthülle, ist nicht zu erwarten. 
Und vielleicht hat A. Conrady recht, wenn er urteilt 
(Wassiljew, Die Erschließung Chinas. Deutsche Ausg., 
Leipzig 1910, 8.233), daß es dem Europäer vielleicht 
niemals gelingen werde, das innere Wesen des chinesischen 
Geistes völlig zu erfassen. So wird auch Münsterbergs 
psychologische Analyse, so anregend sie ist, vielleicht 
nicht von jedem in gleicher Weise angesehen und geteilt 
werden, und die Zukunft mag manches in anderem Lichte 
erscheinen lassen. Auch über manche seiner historischen 
Aufstellungen, die über das tatsächlich Vorliegende hin- 
aus Zusammenhänge der Entwickelung zu erschließen 
suchen, wird man zurückhaltender und oft skeptisch 
denken. 

Das Gebiet, das historisch von entscheidender Be- 
deutung ist, bildet die altchinesische Kunst der vorbud- 
dhistischen Zeit. In ihr sind die Grundlagen der chine- 
sischen Kultur zu ihrer vollen, alle fernere Zeit beherr- 
schenden Wesensart durchgebildet, in ihr hat auch die 
chinesische Kunst ihre elementaren Charakterzüge ge- 


wonnen. Es ist die Kunst, die ihren Abschluß unter 
der Handynastie (206 v. Chr. bis 221 n. Chr.) 
findet. 


Das ganze Werk Münsterbergs ist von dem Gedanken 
einerdieganze Menschheit seit altersumfassenden Kultur- 
gemeinschaft beherrscht, es sucht demnach in der Kunst 
Chinas überall die Spuren weitreichender Zusammenhänge 
mit anderen Kulturgebieten. Die strenge Absonderung 
großer, in sich geschlossener und selbständiger Geschichts- 
gebiete, wie sie bisher gewonnen ist, trennte China bis- 
her von dem westasiatischen Kulturbereich, der in Baby- 
lonien wurzelt und sich zum Mittelmeerkreise erweitert hat. 
Zwischen beiden schien Indien ein isoliertes Dasein zu 
führen. Die geographischen Verhältnisse schienen nament- 
lich in den Hochgebirgen und Wüsten Asiens unüber- 
windliche Scheiden zwischen den großen Kulturgebieten 
errichtet zu haben. In der Tat sind sie stark genug 
gewesen, um Kulturen von stark ausgeprägter Eigenart 
und innerer Geschlossenheit erwachsen zu lassen. Aber 
in der Strenge, wie man früher meinte, bestand zwischen 
den großen Kulturgebieten diese Abgrenzung doch nicht. 
Gerade die sinologische Forschung hat in der letzten 
Zeit immer sicherer feststellen können, daß Chinas 
Kulturentwickelung nicht ohne ein tiefgreifendes Wirken 
fremder Mächte verständlich ist; und damit ist das 
letzte, bisher isolierte Geschichtsgebiet in die universal- 
geschichtlichen Zusammenhänge hineingezogen worden. 
Conrady hat den Zusammenhang Chinas mit Indien 
bis in das 4. Jahrh. v. Chr. zurückverfolgt (Zeitschr. 


d. Deutsch. Morgenländ. Gesellsch. 1906) und die 
Zusammenhänge Chinas mit dem Westen und mit 
Zentralasien mehrfach beleuchtet (Wassiljew, Er- 


schließung Chinas, S. 204 bis 215, und im 3. Bande der 
Ullsteinschen „Weltgeschichte“). Auch die vorliegende 
Kunstgeschichte Münsterbergs enthält einen wertvollen 
Beitrag Conradys (S. 78 bis 89), in dem das in alt- 
chinesischen literarischen Quellen vorliegende Material 
für die Geschichte der figürlichen Darstellungen zum 
ersten Male erschlossen wird. Diese Nachweise hätten 
noch tiefer auf Münsterbergs Aufstellungen wirken 
müssen, mancher Mißgriff wäre dadurch vermieden. 
Globus XCVIIT. Nr. 3. 


So berechtigt es also auch ist, die chinesische Kunst 
nicht nur im Zusammenhang der Kulturentwickelung 
Chinas zu erfassen, sondern auch stets auf mögliche 
Einwirkungen fremder Kulturen Obacht zu geben, so 
schwierig ist es noch, hier die Grenzen zwischen eigenem, 
bodenständigem Schaffen und Entlehnungen fest zu 
ziehen. Lediglich die Formen der Kunstsprache sind es, 
die hier als Zeugnisse dienen. Welche Beweiskraft ihnen 
eigen ist, das wird noch nicht in jedem Falle zu bestimmen 
sein. Zumal in primitiven Formen der Kunst werden 
ähnliche Erscheinungen leicht wiederkehren. 

Münsterberg vertritt mit großer Bestimmtheit die 
These vom Zusammenhang der chinesischen Kunst mit 
dem Westen. Schon für die sogenannte Steinzeit (3. Jahrt. 
v. Chr.) nimmt er diesen Einfluß an; von einem kauka- 
soiden Volk sei die erste Kultur in China eingeführt 
worden. Die Ornamentik der prämykenischen Bronge- 
zeit sei hier in Ton nachgebildet worden. Das Volk, 
das als Träger und Vermittler dieser Kultur wirksam 
war, seien die ehemals weitverbrerteten Ainos gewesen, 
die aus dem Westen einen gewissen Kulturbesitz mit- 
brachten. Neben anthropologischen Erscheinungen soll 
die Ornamentik der Tongefäße den Zusammenhang mit 
dem sogenannten mykenischen Kulturkreise erweisen. 
Diese Hypothese ist von Münsterberg in interessanter 
Weise entwickelt worden; aber trotz einiger Vorsicht, die 
dabei zu Worte kommt, rechnet sie doch mit mehreren un- 
bekannten Größen. Wir werden reichere Funde von der 
Zukunft abwarten müssen — vielleicht erschließt solche 
der beginnende Bahnbau in China —, ehe hier sichere 
Erkenntnisse möglich sind. Auch die Bronzezeit des 2. vor- 
christlichen Jahrtausends wird als eine Ausstrahlung der. 
mykenischen Kultur aufgefaßt. Ihre Formen aber seien 
in nationalem Stile umgestaltet worden. Die Kunst 
dieser Zeit bleibt rein dekorativ, sie ist auf lineare Orna- 
mentik und Tierstilisierung beschränkt, unbekannt bleibt 
noch die menschliche Gestalt. Auch hier sind die Pro- 
bleme schwierig; originale Werke sind nicht erhalten. 
Die chinesischen Annalen erzählen zwar eine Kaiser- 
geschichte seit 2852 v. Chr., sie ist aber für die älteste 
Zeit durchaus mythisch und noch auf lange hinaus halb- 
geschichtlich. Wertvoll sind zwar die Abbildungen in 
chinesischen Kunstwerken, deren älteste Stücke der 
Schangzeit (1766 bis 1122 v. Chr.) angehören; aber 
diese Kunstverzeichnisse sind erst im 12. Jahrh. n. Chr. 
angelegt. Diese Abbildungen entsprechen zweifellos 
nicht den primitiven Formen, sondern setzen sie um in den 
durchgebildeten Stil ihrer eigenen Zeit. Die primitiven 
Formen treten uns am ehesten noch in den mit Inschriften 


` versehenen sogenannten „Steintrommeln“ entgegen, in 


denen vielleicht die alten Bronzekessel nachgebildet sind 
(Abb. 121). Wahrscheinlich sind diese Geräte Opfer- 
gefäße, die im Ahnenkultus eine Rolle spielten. Derartige 
Gefäße sind es, auf denen sich eine reiche Ornamentik 
entwickelt (Abb. 2). Daß diese Ornamente häufig an 
entlegenen Stellen wiederkehren, ist begreiflich. Leicht 
werden sich ähnliche Linienführungen einstellen; wir 
finden ähnliche Formen etwain den Tätowierungen der Süd- 
seeinsulaner wie auf mexikanischen Tongefäßen. Viel- 
leicht ist die Art, wie eine Fläche mit Ornamenten be- 
deckt wird, charakteristischer als die einzelnen Formen. 
Danach scheint mir, daß die chinesische Ornamentik 
völlig selbständig gebildet ist. Auch die Annahme einer 
Entlehnung des „Wolkenornaments“ aus einem wie 
immer auch bestimmten „mykenischen* Kreise scheint 


1) Der Verleger des Münsterbergschen Werkes war so 
freundlich, die beigegebenen Abbildungen daraus für diese 
Besprechung zur Verfügung zu stellen. 


7 


42 Stübe: Oskar Münsterbergs „Chinesische Kunstgeschichte“. 


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Abb.1. Steintrommel mit Inschrift, aus Fenghsiang, Provinz Schensi 
(zugeschrieben dem 11. oder 9. Jahrh. v. Chr., jedenfalls vor 770 v. Chr., jetzt im Confucius-Tempel zu Peking). Aus Bushell, Chinese Art, Bd. 


— 





Abb. 2. Urne mit Bügel zum Wassertragen bei Opfern, Abb. 5. Metallspiegel aus der Hanzeit. 


mit Ornamenten aus Tierköpfen, Spiral- und Mäanderlinien. 


Rankenornamente mit Löwen, Vögeln und Trauben. 





Abb. 3. Liegender oder springender Hirsch aus Gold, 
gefunden 1688 in Sibirien. 





2 CAT w 2 “1 I oh `o iy 
Abb.4. Chinesisches Opfergefäß mit Deckel, aus Bronze. Abb.6. Steinrelief aus den Grabkammern der Familie Wu 
Stilisierter Hirfch (?), reich mit Ornamenten verziert. Um 1000 n.Chr. (147 n. Chr.), Schantung. (Chavannes, La sculpture en Chine.) 


Stübe: Oskar Münsterbergs „Chinesische Kunstgeschichte“. 43 





mir nicht erweislich. Auch in den Grabbauten will | zwischen Mensch und Tier verkünden. Abb. 3 zeigt 
Münsterberg eine Einheit des europäischen und ost- | eine solche Darstellung, die eines springenden Hirsches 
asiatischen Kulturkreises erkennen. Wiederum läßt ! aus dem sibirischen Kunstgebiet. Eine Nachbildung 
sich nicht leugnen, daß 
manche Anlagen sehr 
ähnlich sind; aber schließ- 
lich hat eine Grabanlage 
überall eine ähnliche Be- 
deutung, wie auch der 
Totenkult, aus dem sie 
hervorgeht, natürlich 
überall ähnliche, allge- 
mein menschliche Züge 
aufweist. Die Möglich- 
keit einer weitreichen- 
den Kulturverbindung 
zwischen Ostasien und 
einem westlichen, auch 
nach Europa hinüber- 
greifenden Kulturgebiet 
können wir kaum erken- 
nen; man würde vielmehr, 
wo so früh ein ausge- 
prägter, nationaler Stil 
auftritt, doch auch mit 
der Fähigkeit selbstän- 
digen Schaffens rechnen 
dürfen. 

Interessant ist die Be- 
handlung der Zeit seit 
dem 6. Jahrhundert v. 
Chr. China hatte bereits 
einen durchaus eigen- 
artigen, geistigen Kultur- 
besitz geschaffen in seiner 

Geschichtsschreibung 
und Poesie, deren Reste 
in den vier „klassischen 
Büchern“ (king) erhalten 
sind. Das sich in sym- 
bolische Formen klei- 
dende Denken der Chi- 
nesen, ihr Staatsleben, 7 
ihre Moral und Poesie Abb. 8. Kochherd auf „Bären“-Füßen mit Feueröffnung, Rauchabzug 





Abb.7. Tongefäß in Form eines Getreide- Abb. 11. Häuschen aus Ton mit Ziegel- 
speichers. Totenbeigabe aus Gräbern der Han- dach, im Innern ein Kornstampfer. Nach 
zeit. Nach Laufer, Chinese Pottery of the Han Dynasty. Laufer, Chinese Pottery of the Han Dynasty. 





sind ganz aus dem eigen- und zwei Kochöffnungen, aus Gräbern der Hanzeit. Nach Laufer, Chinese 
sten Wesen der Nation Pottery of the Han Dynasty. 


erwachsen. Damit ist 
nun nicht gesagt, daß 
es in der Kunst auch so 
sein müßte. Wenn man 
auch einem so selbstän- 
digen Kulturvolke eige- 
nes künstlerisches Schaf- 
fen wird zutrauen dür- 
fen, so können doch 
fremde Anregungen ge- 
wirkt haben. Münster- 
berg findet solche zu- 
nächst für das 5. bis 
3. vorchristliche Jahr- RE 
hundert in den Skythen- ` 
völkern, die in Sibirien ` - 

und Südrußland eine Abb.9. Totenbeigabe aus Ton in Form Abb. 10. Kochgerät aus Bronze im Stil 


a nn. 





materiell reiche Kultur eines Schafstalles mit Getreidemühle. der Hanzeit. Nach Laufer, Chinese Pottery of 
hatten. Künstlerisch sind Nach Laufer, -Chinese Pottery of the Han Dynasty. the Han Dynasty. 

für sie — wie für prä- 

historische Menschen und heute etwa für manche sibiri- | dieses echten Jäger- oder Nomadenwerkes findet Münster- 
schen und polaren Stämme — die Tierdarstellungen be- | berg in Opfergefäßen wie Abb. 4, einer völlig sinnlos ge- 


zeichnend, die einen intimen Zusammenhang des Lebens | wordenen Stilisierung. Ob es damit wirklich so steht? An 
7+ 


4 Stübe: Oskar Münsterbergs „Chinesische Kunstgeschichte“. 





Abb. 12. 
Nach Beltz, Eine Reise in Szechuan. 


sich sind Umbiegungen naturalistischer Formen in kaum 
erkennbare stilisierte Gebilde in aller primitiven Kunst 
wahrnehmbar. Aber mit einer Formel sind schwerlich alle 
Erscheinungen zu erklären. Man muß auch damit 


rechnen, daß durch rein praktische Zwecke bedingte. 


Formen, z. B. Geräte, mit einem Schmuckwerk umhüllt 
und in Formen umgebildet werden, die aus der Phantasie 
dem Dinge anwachsen. — In den Zusammenhang mit 
den Skythen will Münsterberg auch die berühmten 
Traubenspiegel einordnen, in denen man meist Denkmäler 
hellenistischen Einflusses sieht (Hirth), und es scheint 
zweifellos, daß griechisches Formgefühl die Trauben- 
und Vogelornamente beherrscht (Abb. 5). Ob diese 
Formen dann aus dem sibirischen Völkerkreise oder aus 
Baktrien nach China kamen, muß wohl noch dahin- 
gestellt bleiben. 

Ein wesentlich bereicher- 
tes Bild bietet die chinesi- 
sche Kunst seit 200 v. Chr.; 
sie gewinnt an figürlichem 
Gehalt, Menschen und Tiere 
treten nicht nur in großer 
Fülle hervor, sie erscheinen 
auch in natürlicher Bewe- 
gung. Eine realistische Auf- 
fassung der Natur bricht 
sich Bahn und verleiht der 
Darstellung Leben und Be- 
wegung. Die von Chavannes 
gefundenen Skulpturen (Re- 
liefs) in Schantung (1. und 
2. Jahrhundert n. Chr.) re- 
präsentieren eine weit ältere, 
figurenreiche Darstellungs- 
weise, das historische Ge- 
mälde. Erhalten ist zwar 
nichts davon; Conrady aber 
hat in einem Gedicht des 
4. Jahrhunderts v. Chr., den 
„Elegien von Ts’u* des K’üh 
Yüan (Ff 293 v. Chr.), die 
Beschreibung von Wand- 
gemälden in alten Tempeln 
erwiesen, die in Form und 
Stoffen den Schantung- 
skulpturen sehr nahe stehen. 
Ähnliche Werke lassen sich 
auch anderweit in der litera- 
rischen Tradition bis ins 
2. vorchristliche ‚Jahrhun- 


Abb. 13. 





„Tausend-Buddha-Felsen“* am Yaho, Provinz Szechuan. 


Buddhistische Heilige. 


Nach Mission d’Ollone. 


dert zurückverfolgen.— Zur Ver- 
anschaulichung der Schantung- 
skulpturen mag Abb. 6 dienen, 
eine Darstellung aus den 
Grabkammern der Familie Wu 
(147 n.Chr.). Wir sehen neben 
dem stilisierten Baum zwei zwei- 
rädrige Wagen mit Pferden, oben 
einen Diener mit Hund und einen 
schießenden Bogenschützen. Tat- 
sächlich erreichen diese Darstel- 
lungen eine Wiedergabe des ge- 
samten Lebens. Sie berühren sich 
vor allem darin mit den Elegien 
aus Ts’u, daß sie in Welt und 
Leben die Mächte des Guten und 
Bösen darstellen, wie Conrady 
sehr feinsinnig betont. — Hier 
erhebt sich nun die Frage, wie 
diese Kunst in China erwachsen ist. Überraschend ist 
die lebenswahre Darstellung namentlich in den Pferden. 
Münsterberg nimmt die Ausbildung eines zentralasiatischen 
Mischstiles an, der seinerseits von der mykenischen Kunst 
beeinflußt war und nach China gelangte. Bei den starken 
Völkerbewegungen wäre auch ein solcher bedeutender Ein- 
fluß Zentralasiens auf China denkbar. — Ein reicheres Bild 
des chinesischen Lebens gewähren die erst von Laufer 
erschlossenen Töpferarbeiten der Hanzeit. Merkwürdig 
ist Abb.7. Hier — wie an vielen Stellen der Erde — 
bilden die Tonwerke das wirkliche Leben nach. Den 
häufigen Hungersnöten suchte man durch Anlage von 
Speichern zu begegnen. Der Speicher wird dann auch 
in den Totenkult eingeführt, indem man die Verstorbenen 
durch kleine Getreidespeicher vor Not zu schützen sucht. 
Auch den altchinesischen Kochherd lernen wir aus den 





Felsrelief bei Yong Kinghien. 


Hosseus: Ein botanischer Ausflug auf den Pedrotallagala (Ceylon). 45 





Requisiten des Totenkults kennen (Abb. 8). Vorn 
sehen wir die Feueröffnung, hinten den Rauchabzug, 
auf der Oberfläche kreisförmige Öffnungen für die Gefäße. 
Kulturgeschichtlich sehr interessant ist Abb. 9. Zu dem 
ältesten wirtschaftlichen Besitz Chinas gehört das Schaf; 
das Schriftzeichen für „Schaf“ gehört zum ältesten 
Bestande der chinesischen Bilderschrift. Eine Schafherde, 
die dem Toten mitgegeben wird, stellt diese Abbildung 
dar. Vor den Schafen steht eine Mühle, wie sie in 
China noch heute in Gebrauch ist. Die untere kreis- 
förmige Platte bildet einen vertieften Rand zur Aufnahme 
des Mehls, während sich der Mahlstein um einen Zapfen 
in der Mitte dreht. Das Kochgerät (Abb. 10) zeigt 
gegenüber den ursprünglichen Tonwerken durch die 
Feinheit dieser Formen zweifellos seinen Ursprung in 
der Bronzetechnik, und man möchte hier angesichts der 
meist plumpen Tongeräte der Hanzeit doch an westliche 
Vorbilder denken. 

In der Tat greift in der Hanzeit seit dem 3. Jahr- 
hundert der hellenistische Einfluß nach China hinüber, 
zunächst durch Baktrien und Indien vermittelt, später 
durch einen direkten Verkehr mit Rom erheblich gesteigert. 
Es ist eine der interessantesten Erscheinungen der 
gesamten Kulturgeschichte, wie der die Formen be- 
zwingende und beseelende, den Gestalten unmittelbar 
fühlbaren, menschlichen Lebensgehalt verleihende 
griechische Geist in Indien und China eine künstlerische 
Revolution hervorruft. Nichts ist dafür bezeichnender 
als die Neubildung der Göttergestalten, deren altertüm- 
liche Starrheit — das Kulturbild bewahrt archaische 
Form weit länger als andere Werke — gemildert wird, 
die von den verzerrenden Attributen, mit denen sie die 
indische Spekulation ausgestattet hat, von den zahlreichen 
Köpfen, Beinen und Armen, erlöst werden, um als rein 
menschliche Größen menschlichem Empfinden nahe zu 
treten. In der Entwickelung des Avalokitesvara zur 
Kuanyin vom Typus der Madonna tritt dieser Prozeß 
vielleicht am klarsten und zugleich schönsten hervor. 
Aber der hellenistische Einfluß hat auch tief in das 
Leben eingegriffen. Wir spüren ihn im Kunstgewerbe, 
ohne ihn sind die oben erwähnten Metallspiegel kaum zu 
erklären. Er befreit die Menschengestalt vor allem aus 
ihrer Gebundenheit an andere Raumkünste. Jetzt er- 
scheinen freistehende plastische Darstellungen der 
Menschen wie auch des Tierkörpers, die als Schmuck- 
stücke von Bauten und Gärten dienen, häufiger in China. 
Freilich ergeben auch hier die literarischen Quellen, daß 
in vereinzelten Fällen schon früher Menschengestalten 
und Tiere plastisch dargestellt sind. Um Werke von 


eigentlich künstlerischer Tendenz aber scheint es sich 
hier noch nicht zu handeln. Seit dem 4. Jahrhundert 
erst erlebt die künstlerische Produktion ihre große 
Befreiung. Nach Münsterbergs Anschauung sind die 
Völker Zentralasiens die Vermittler dieser Kunst 
gewesen, sogar Indien sollen sie vielleicht angeregt haben. 
Die Türkvölker seien damals hochkultiviert gewesen, sie 
hätten Kultureinflüsse des Westens selbständig ver- 
arbeitet, und der so entstandene Mischstil habe die Kunst 
der Hanzeit schaffen helfen. — Ob sich diese Auf- 
stellungen als haltbar erweisen werden, erscheint mir 
zweifelhaft. Mir scheint vielmehr, daß außer ältestem 
Kulturbesitz babylonischen Ursprungs die größen An- 
regungen auf Zentralasien von Indien und China aus- 
gehen und hier erst eine Mischkultur erzeugt haben. 
Ein wesentlicher Zug in der Kunst Chinas dieser Zeit 
ist die Entwickelung des Hausbaues (Abb. 11) in festem 
Material mit Ziegeldach, das wohl von Griechenland aus 
beeinflußt ist. Zum Teil auf fremde Anregungen gehen 
vor allem auch die phantastischen Tiergestalten der 
chinesischen Kunst zurück, wie Drache und Phönix, 
Löwe und Tiger. Sie haben in der Hanzeit ihre typischen 
Formen gewonnen. 

Wir haben damit die schwierigen und weitausgreifen- 
den Probleme der ältesten chinesischen Kunst- und 
Kulturgeschichte nur berührt. Die Darstellung der 
hohen Kunst bleibt durchaus in den weiten kultur- 
geschichtlichen Zusammenhängen; aber immer stärker 
tritt in ihr das rein Künstlerische hervor. Nur auf eine 
große Bewegung sei noch hingewiesen, die dem chinesischen 
Geistesleben und Kunstschaffen die stärksten Anregungen 
gegeben hat, auf die buddhistische Mission. Mit ihr ge- 
langt die gedankenreiche und phantastische Wesensart des 
indischen Geistes, ihre Großartigkeit und Schrankenlosig- 
keit nach China. Vor allem die Baukunst (Abb. 12) und 
die Skulptur werden aus der Gestaltenfülle des indischen 
Glaubens bereichert. Eine Gruppendarstellung, wie die 
buddhistischen Heiligenreliefs in Abb. 13, wäre schwer- 
lich je aus dem chinesischen Wesen hervorgegangen. 
Hier denkt man an die Stupas von Santschi, von 
Amaravati und an die gewaltige steinerne Erzählung der 
buddhistischen Mythologie von Boro-Budur. 

Münsterbergs Buch faßt die Probleme mit großem 
Kennen an und nimmt zu ihnen entschiedene Stellung. 
Vielleicht muß man historisch über vieles anders 
urteilen. Das darf das Verdienst des Buches nicht 
verringern, das einen reichen Stoff in glänzender Weise 
anschaulich vorlegt und ein umfangreiches gelehrtes 
Material zur Prüfung der Fragen mitteilt. 





Ein botanischer Ausflug auf den Pedrotallagala (Ceylon). 


Von D. C. C. Hosseus. 


Der ausgezeichnete Nachtzug — für einen Zuschlag 
von 2 Rupies 50 (also etwa 3.X) erhalt man einen Platz 
im Schlafwagen — brachte mich von Colombo, der 


Handelszentrale Ceylons, nach Nuwara Eliya. Interessant 
war die Reisebegleitung, zumeist Freiwillige eines eng- 
lischen Regiments, die sich zu einer Manöverübung ins 
Gebirge begaben. Da mir für meinen botanischen Aus- 
flug von Direktor Willis in Peradeniya der Sammler des 
dortigen Gartens zur Verfügung gestellt war, wurde 
meine Nachtruhe dort gestört — leider vergeblich, da 
jener nicht erschienen war. 

Als ich am nächsten Morgen erwachte, befand ich 
mich in herrlichster Gegend. Draußen lag eine Tee- 
plantage neben der anderen; zwischen den Ständen waren 


Bad Reichenhall. 


Eukalyptusbäume als Luftreiniger für die Fiebergegenden 
gepflanzt. Verstohlen blickten Bungalows, die Land- 
häuser der Pflanzer, aus dem saftigen Grün hervor. 
Bananen und Pharmium tenax vervollständigten das fried- 
liche Bild. 

Hinter Nuovo mußten wir den bequemen Wagen ver- 
lassen und in eine kleine schmalspurige Bahn umsteigen, 
bei der je ein Wagen nur zwei Abteilungen enthält. Den 
mangelhaften Komfort vergaß man in dem Augenblick, 
da man die Station hinter sich hatte, um bergauf durch 
den Urwald zu fahren. Zum ersten Male treten hier die 
Farrenbäume vermischt mit tiefrotem Rhododendron 
(arboreum) und anderen Ericaceen formationsbildend auf. 
Im dichten Dschungel verbinden Lianen die einzelnen 


46 Hosseus: Ein botanischer Ausflug auf den Pedrotallagala (Ceylon). 





Urwaldstämme; diese sind nicht mehr so hoch wie im 
Tale, je mehr die Bahn sich aufwärts bewegt, desto 
niedriger werden vor allem die Rhododendren. Die Tee- 
plantagen verschwinden mehr und mehr. Endlich sind 
wir auf einer Hochebene angelangt. Vor uns liegt Nu- 
wara Eliya, der erste Höhenkurort Ceylons. Lieblich 
heben sich aus frischem Grün die einzelnen Villen ab, 
im Hintergrunde stürzt von ziemlicher Höhe ein Wasser- 
fall von den die Ortschaft umrahmenden Hügeln. 

Nach mannigfachen Irrfahrten auf der Suche nach 
meinem Präparator landete ich im Grand Hotel und 
wurde von dem deutschen Betriebsleiter empfangen. Auf 
sein Anraten hin nahm ich mir einen Wagen nach Hack- 
gala, dem Höhengarten von Peradeniya. Oben in Nu- 
wara Eliya, das 1700 m ü. d. M. liegt, wehte der Süd- 
westmonsun und riß es ständig Nebel. Nach 200m 
Höhenverlust ist der Garten, dem Wind wie Nebel fehlen, 
erreicht. Sein Vorstand, Herr Nock, übernimmt gern 
die Führung, so daß es möglich ist, alles Wissenswerte 
aus bester Quelle zu erfahren. Ein abwechselungsreiches 
Bild: Hier blühen unter Alsophilen unsere heimischen 
Veilchen, dort späht aus üppigem Grün der Tradescan- 
tien ein Margaretchen hervor. Der Vater von Herrn 
Nock hat den Garten auf die jetzige Höhe gebracht, heute 
ist es die Aufgabe des Sohnes, ihn zu erweitern und vor 
allem die Versuche mit Anpflanzungen von Kampfer- 
bäumen fortzuführen. Von größtem Interesse sind die 
zur Reife gelangten Pfirsiche und Kirschen. Viele 
sonstige in Europa zum Teil heimische, zum Teil akkli- 
matisierte Pflanzen werden ebenfalls in Hackgala mit 
Erfolg kultiviert. Nelken, Rosen und Veilchen blühen üppig 
am Wegesrand; Geisblatt schlingt sich um ein lauschiges 
Laubengestell. Dazwischen wachsen in herrlicher Farben- 
pracht allenthalben frei die Orchideen. Die Höhe der 
Station ist, wie bereits angedeutet, 1500 m, sie hat 
aber nicht unter den Einflüssen des Monsuns zu leiden, 
so daß ein blauer Himmel an der Tagesordnung ist. 
Ein herrlicher Ausblick ist uns von einem gemütlichen 
Gartenhaus, das oft von den Sommerfrischlern aus Nu- 
wara Eliya benutzt wird, beschieden. Wir sehen hinaus 
auf die Berge der Uva-Provinz; in weitem Bogen heben 
sich die grünen Grashügel im Vordergrund von den Tee- 
pflanzungen und dem Urwalde ab. Ein unvergleichliches 
Panorama, mit dem sich wohl kein europäisches Mittel- 
gebirge messen kann! Fehlt es doch auch nicht an einem 
herrlichen Wasserfall uns zur Rechten, der von hoch oben, 
vorbei an üppigen Farrenbäumen, in den dichten Urwald 
stürzt. Zuletzt zeigte mir Herr Nock noch mit großem 
Stolze sein kleines Treibhaus. Darin waren herrliche Chry- 
santhemen in allen Farben in Blüte. Außerdem enthält die 
kleine Sammlung viele empfindliche Orchideen und Farne 
neben Geranien und Begonien. Ein in der Nähe gelegenes 
Laboratorium mit dem Blicke auf die Berge gibt neben 
seinem Hauptzweck, wissenschaftlichen Untersuchungen 
zu dienen, auch Botanikern Raum zum Wohnen. Zwei 
gemütliche Stübchen und eine Kücheneinrichtung laden 
zum freundlichen Aufenthalte ein. Nach englischer Sitte 
bittet mich Herr Nock noch zum „Five o'clock tea“; 
während der Erfrischungspause läßt eine Spieluhr ihre 
trauten deutschen Weisen ertönen. Nur zu schnell 
mahnte die Ungeduld des Kutschers zum Aufbruch. Mein 
liebenswürdiger Wirt gab mir noch ein Stück das Geleite. 
Auf dem Rückwege hatte ich noch Gelegenheit, eine ty- 
pische singhalesische Strohhäuservereinigung zu besich- 
tigen. Um 5 Uhr kam dann auch endlich mein Präparator 
De Silva an, und wir machten uns gleich auf den Weg, um 
wenigstens noch einige Pflanzen aus dem Moore in der 
Nähe einzulegen. Hier tritt uns die Calla palustris mit 
ihren schönen weißen Blüten zwischen Juncus Leschenaul- 


tii überall entgegen. Besonders häufig sind Eriocaulon- 
Arten (collinum, subcaulescens, Brownianum) zwischen 
Coelachne perpusilla, Anaphalis brevifolia und zeylanica, 
Senecio ludens und Galium asperifolium. Außerdem 
sind drei unseren fast gleiche Arten von Polygonum 
überall anzutreffen, ebenso ein Verbascum. In großen 
Mengen finden wir Emilia sonchifolia, eine Komposite, die 
zum Unterschiede von den in Peradeniya gesammelten 
infolge des Höhenunterschiedes bedeutend tiefer rot ge- 
färbt ist. Neben Rhododendron arboreum mit seinen 
herrlichen dunkelroten Blüten fällt besonders der allent- 
halben wachsende, gelbblühende, dornige Ulex europaeus 
auf. Von botanischem Interesse ist die häufig an- 
gepflanzte Leguminose Acacia melanoxylon, welche sich 
durch ihre Heterophyllie, d. h. die doppelte Entwickelungs- 
form ihrer Blätter auszeichnet. Diese Erscheinung ist 
uns z. B. ja auch von unserem heimischen Efeu bekannt, 
der an den blütentragenden Ästen andere fast ganz- 
randige Blätter als am unteren Stamme aufweist, wo wir 
die charakteristisch gezackte Blattform antreffen, oder 
von Ranunculus fluvialis, dem Wasser-Hahnenfuß. 

Am nächsten Tage ging ich auf Zuraten des Wirtes 
trotz der schlechten Witterungsverhältnisse auf den Pedro- 
tallagala, den höchsten Berg Ceylons (2538 m). Die Be- 
steigung ist natürlich keine touristische Leistung. Auch 
die Unannehmlichkeiten der sonstigen Tropentouren fallen 
weg, wenn man das Glück hat, bei der Regenzeit fast 
ohne Regen davonzukommen. Um 6 Uhr 40, verhältnis- 
mäßig spät, brachen wir auf, mein Sammler, ein Kuli 
und ich. Entsetzt schaute mich ersterer an, als ich er- 
klärte, meinen Rucksack selbst tragen zu wollen. „Dafür 
ist doch der Kuli da.“ Es dauerte lange, bis ich ihm 
auseinandergesetzt hatte, daß ich mich nur ungern von 
diesem Begleiter trennen würde. 

Die erste Zeit hatten wir noch Rhododendronbestände, 
dann änderte sich mit einem Mal das Bild. Bei guter 
Straße nahm uns der Urwald auf. Viel sehen konnten 
wir freilich nicht, da es nebelte und leicht regnete. 
Leider war bei der ganzen Tour die Blütenfülle anderer 
Jahreszeiten zu vermissen. Der Weg ist floristisch ziem- 
lich interessant, um so mehr, als in der gewöhnlichen 
Dschungelflora mit Baumorchideen und Moos sich in un- 
gefähr 2100 m ein Moor befindet. Eugenien, Knoxien, 
Gordonien (darunter E. sclerophylla, woran sich Loran- 
thus suborbicularis als Liane emporschlingt, K. platycarpa 
und K. pl. var. foliosa, G. zeylanica) bilden u. a. den Ur- 
wald, in dem an lichten Stellen Osbeckia rubicunda fast 
formationsbildend auftritt. Unter einem mächtigen 
Baume von Lasianthus varians finden wir ein kleines 
Veilchen, Viola serpens (das ich auch später auf den 
Höhen Siams wiederfand) und Polygala arillata. Da- 
neben wachsen die rosablühende Rhodomyrtus tomentosa 
und Alloephania decipiens, Disporum leschenaultianum 
und Moonia heterophylla. 

Das vorhin erwähnte Moor umrahmen unter anderem 
Symplocos cordifolia, Eugenieen und Hedyotis- Arten 
(coprosmoides und quinquenervia). In ihm treffen wir in 
Blüte Gentiana quadrifaria, Exacum zeylanicum, Anotis 
nummularia, Drosera peltata, zwischen dem tropischen 
Schilf Fimbristylis complanata, Carex Walkeri und die 
allenthalben im Moore kriechende Selaginellacee Lyco- 
podium Carolinianum. Von 2500m ab tritt der Wald 
zurück, und wir betreten dann Grasland, mit Rhodo- 
dendron arboreum, das, dem Standorte entsprechend, be- 
deutend an Stammhöhe abgenommen hat, und mit kleineren 
Sträuchern bestanden ist. Der Gipfel selbst, 2538 m ü. d. M., 
ein kleines steiniges Hochplateau, beherbergt neben 
Knoxien (platycarpa var. foliosa), Rosaceen (Rubus maero- 
carpus und lasiocarpus) nur Gräser und eine geringe 


Hosseus: Ein botanischer Ausflug auf den Pedrotallagala (Ceylon). 47 





Anzahl Phanerogamen, wie Leucas biflora, Crepis japonica, 
Plantago asiatica, Anaphalis zeylanica, Emilia sonchifolia, 
und Polygonum. Äußerst interessant für den Unter- 
schied im Habitus der gleichen Art in verschiedenen 
Höhenzonen ist das in Menge gedeihende Disporum 
leschenaultianum. In dem Rasenpolster hat es hier näm- 
lich eine Zwergform angenommen, mit reduzierten Blättern 
und größeren Blüten. Auch einen Fall von Verderben 
bringendem Zusammenleben treffen wir an. Auf einer 
niederen Oleacee, Olea polygama Wight, schmarotzt eine 
Mispelart Viscum japonicum Blume, die der Wirtspflanze 
bereits fast alle Kraft und allen Saft aus den Zweigen 
gesogen hat. So sehen wir denn auch hier wieder, daß 
selbst auf den Gipfeln der Berge die Natur ihre Ge- 
schöpfe zu einem ständigen Kampfe ums Dasein zwingt. 

Am frühen Nachmittage waren wir wieder unten im 
Hotel angelangt. Die projektierte Tour auf den Adams 
Peak mußte unterbleiben, da es infolge der Regenzeit 
völlig aussichtslos war, ohne die größten Schwierigkeiten 
in seine Nähe zu gelangen. So besichtigte ich denn am 
Spätnachmittag noch den im europäischen Stile angelegten 
Gemüsegarten des Herrn Lösch und den kleinen Versuchs- 
garten der englischen Regierung. In ersterem lassen sich 
sehr interessante Studien über das Gedeihen der Gemüse- 
und Obstarten und ihre Anpassung an den stark lehm- 
haltigen Boden machen. So seien die Pflanzen angeführt, 
die immer geerntet werden können: Sellerie, Radieschen 
(am besten stehen die roten), Petersilie, französischer 
Spinat (der bei uns vor allem in Baden und im Elsaß 
gepflanzt wird) und Erdbeeren. Eine zwei- bis drei- 
malige gute Jahresernte haben die Kartoffeln. Ebenfalls 
sehr gut gedeihen und tragen Rotrüben, Bohnen (alle 
Sorten werden gepflanzt, am besten rentieren sich die 
gelben Wachsbohnen), weiße Rüben, Lauch, Kopfsalat, 
Rosenkohl, Sauerampfer, Artischoken. Dagegen machen 
Rotkohl und die anderen Kohlarten, außer Rosenkohl, 
aus doppelten Gründen Schwierigkeiten. Entweder leiden 
die Pflanzen unter der Wurzelkrankheit, oder die in der 
Regenzeit plötzlich mit tropischer Macht hervorbrechende 
Sonne bewirkt ein zu schnelles Schießen, das durch keine 
Ruheperiode ausgeglichen werden kann. Der Haupt- 
kampf ist hier oben ebenso wie bei uns gegen Engerlinge 
und Weißlinge zu führen. Auch das Wild, speziell Hir- 
sche, soll manchmal schaden. 

Mit Obstbäumen sind ebenfalls eine Reihe Versuche 
im Gang; die Pfirsiche und Kirschen gedeihen zwar, doch 
lassen die Früchte viel von dem Aroma, das sie bei uns 
haben, zu wünschen übrig. Außerdem werden Versuche 
mit Weinreben, Apfelsinen und Pflaumen angestellt. 

Neben diesen Anlagen ist auch noch eine Blumen- 
zucht zu Schnittzwecken vorhanden. Hunderte von 
weißen Nelken, Veilchen und Rosen wandern zu allen 
Zeiten des Jahres hinunter in die Hotels und in die 
Paläste Colombos. Nebenbei sei erwähnt, daß auch Fisch- 
bassins unter den größten Schwierigkeiten, da das Wasser 
vor dem Austrocknen in der heißen Zeit geschützt werden 
muß, angelegt wurden. Karpfen und Forellen treiben 
sich vergnügt in einem gegen ihren Feind, die hier hau- 
sende Fischotter, gesicherten Teiche herum. 

Auch der Regierungs-Versuchsgarten bietet ein nütz- 
liches Beobachtungsfeld. Der Habitus seiner Pflanzen 
gleicht z. B. dem derjenigen in München in jeder Weise. 
Mitte Juli waren in Blüte: Kornblumen, Dahlien, Tabak, 
Margareten, Fuchsien, weißer und roter Fingerhut (im 
Habitus der wild aufwachsenden in der Sächsischen 
Schweiz), Begonien, Iris (Kaempferi), Rosen, Nelken, Veil- 
chen, Semperviren, Kapuzinerkresse, Glockenblumen. 
Außerdem zieren eine Menge Koniferen den Garten, dar- 
unter zwei Legföhren. 


Am folgenden Morgen heißt es von dem idyllisch ge- 
legenen Nuwara Eliya Abschied nehmen. Malerisch liegen 
auf der Rückfahrt die einzelnen Bungalows in den Tee- 
pflanzungen. Sobald wir einige Meter unter dem Hoch- 
plateau sind, beginnt das für ihren Bau geeignete Klima, 
die großen weiten Hänge sind mit Tee bedeckt. Ein- 
geborenenhäuser, gegen den Wind durch Bambusstauden, 
Strohmatten und Kokosgeflecht geschützt, gewöhnlich 
beschattet von Musabäumen, vollenden das harmonische 
Ganze. 

Im allgemeinen ist das Bild infolge des hügeligen 
Terrains von einer imposanten Mannigfaltigkeit, auch 
fehlt selten dazwischen undurchdringlicher Urwald. 

An der Bahn lassen sich überall an Phormium tenax 
Bulbillen beobachten. Wie selten bei einer Pflanze sieht 
man hier, wie alle Kräfte aufgespeichert werden, um 
möglichst viele, im Kampf ums Dasein lebensfähige Nach- 
kommen zu erzeugen. Der Mensch hat sich seinerseits 
das wieder zu nutze gemacht, indem er Phormium 
tenax als natürlichen Zaun benutzt, der schon nach kurzer 
Zeit zu einer undurchdringlichen Mauer zusammenwächst. 

In kühn geschwungenen Kurven, die sich erst bei 
der Talfahrt dem Auge deutlich und schön zeigen, geht 
es an Wiesen, die den unseren gleichen, und an dichten 
Wäldern vorbei. Durch den Regen sind die Wasserfälle 
von einer in den Tropen seltenen Fülle und Pracht, die 
der Weltenbummler niemals schaut; vermeidet er doch 
gewöhnlich, in der ungemütlichen Regenzeit zu reisen, 
um diese Schönheiten für Mühe und Ärger in Kauf zu 
nehmen. Der Bach, der sich durch all diese Naturschön- 
heiten hindurchschlängelt, kann kaum die Wassermenge 
der Fälle in seinem granitenen Bette aufnehmen. Auf 
der Straße, die sich an der Bahn talwärts hinzieht, sieht 
man Singhalesen fröstelnd ihres Weges ziehen, die Buckel- 
ochsen mit der dem degenerierten Teil der Buddhisten 
eigenen Roheit gegen Tiere zu rascherem Gange an- 
treibend. Sie empfinden nur eine Scheu davor, ein Tier 
zu töten; aber das Quälen des Tieres ist auch bei ihnen 
keine Sünde. 

Die Ausblicke hinunter in das Tal können sich mit 
nur wenigen von mir in den Alpen gesehenen Vorgebirgs- 
landschaften messen. Im Tropensommer ändert sich das 
Bild. Alles ist dann im reichsten Blütenschmuck. Aber 
mit dem Erscheinen der Blütenpracht verschwindet das 
belebende Element, das Wasser, oft monatelang. So 
raffiniert wie in der Sächsischen Schweiz, um Geld einen 
künstlichen, wenige Sekunden tätigen Wasserfall zu 
zeigen, ist man hier oben noch nicht. 

Je mehr wir uns Nuovo nahen, desto ausgedehnter 
wird der Teebau. Überall sehen wir arbeitende Ein- 
geborene, den Kopf gegen Regen und Sonne mit einem 
Sack geschützt, sonst ziemlich wenig bekleidet. So an- 
ziehend das Bild einer grünen Teepflanzung ist, so ab- 
stoßend wirken die Stoppeln der nicht mehr tragfähigen 
oder der ihrer Blätter beraubten Teestauden. Dann sind 
die Stauden, die, was man noch aus den daneben- 
liegenden geschnittenen Exemplaren ersehen kann, zu 
sehr ins Holz gegangen, und deren Blätter infolgedessen 
minderwertig geworden waren, völlig zugestutzt. Im näch- 
sten Jahre werden diese zurzeit kahlen Stauden eine 
gute, vollwertige Ernte geben. 

Bei der Weiterfahrt nach Kandy können wir einen 
Doppelbau von Tee und Cinchona, dem Lieferer der 
Chinarinde, sehen. Die Cinchona-Bäume erheben sich in 
systematischer Anordnung bis zu 20 m Höhe. An den un- 
bebauten Grashängen haben sich Adlerfarne formations- 
bildend angesiedelt. 

Auch ein richtiger Tropenregen war mir noch auf 
der Fahrt beschieden. In Walagala begann es wie auf 


48 Seljan: Die Guayraä-Fälle (Salto das Sete-Wuedas) des Paraná. 





Kommando zu gießen; in wenigen Augenblicken war alles 
durchnäßt, die Menschen trieften; ein Mann mit Bananen 
trug in die Restauration „Wasserbananen“ zurück. Die 
Rinne neben dem Zuge reichte nicht aus, in einer Minute 
floß alles durcheinander in und über ihr talwärts. In 
10 Minuten lachte wieder die Sonne fröhlich auf die von 
Wasser strotzenden Gefilde Gleich hinter Walagala 
birgt zwischen zwei Tunneln die kurze freie Strecke einen 
herrlichen Wasserfall, hinter dem zweiten Tunnel ist 
abermals ein solcher. Äußerst ausgeprägte Erosionen 
sind bei beiden zu bemerken, auch sehr gut ausge- 
waschene Strudeltöpfe. 

Ungefähr 200 Fuß oberhalb Nawala Pitiya (583 m 
ü. d. M.) beginnen wieder die Mimosen (pudica) ihre roten, 
runden Köpfchen aus dem Grase herauszustecken. Gleich 
oberhalb der Station sind die ersten Betelnuß- und Reis- 
pflanzungen. 

Hier oben sind die Häuser der Eingeborenen aus 
Stein gebaut, die Dächer sind zum Teil mit Gras, zum 
Teil mit Ziegelsteinen bedeckt. Überall sieht man bei 
den Dörfern Brennereien. Die Palmen treten wieder in 
den Vordergrund; in Höhe von etwa 550 m beginnt der 
systematische Anbau von Kokosnüssen. Eine sehr schöne 
alte Ravenala-Fächerpalme fiel mir um so mehr auf, als 
sie die einzige ihrer Art weit und breit war. Etwas 
tiefer treffen wir Zweibau von Betelpalmen und Tee, 
unterbrochen von Reisfeldern und ausgedehnten Bananen- 
anpflanzungen. Von Gompola ab überwiegt die Kokos- 
nuß. Carica Papaya, die bei den Eingeborenen am 
meisten geschätzte Frucht mit saftigem, gelbem Fleische, 
ist hier nur wenig angebaut. 

Immer mehr nähern wir uns Kandy, der liebge- 
wonnenen Stätte, die wir denn auch bald erreichen. Ge- 
schäftig eilt der Portier herbei, sich nach dem Verlaufe 
der Reise erkundigend. 


Bei dem schönen Ausflug hatte ich Gelegenheit, einen 
großen Fehler im Verkehrswesen Ceylons kennen zu lernen. 
Es existiert kein auch nur einigermaßen moderner Auf- 
fassung genügender gedruckter Führer, noch viel weniger 
aber ein kurzer wissenschaftlicher Ratgeber. So ist man 
denn auf ein langwieriges Quellenstudium für den klein- 
sten Ausflug angewiesen. Es ist dies vielleicht dadurch 
zu erklären, daß unter der englischen Herrschaft — und 
zwar mit vollem Rechte — zuerst auf die wirtschaftliche 
Ausnutzung der Kolonie Gewicht gelegt wurde. So ver- 
danken denn auch die Botanischen Gärten in erster 
Linie den mit ihnen verbundenen Versuchsgärten ihre 
Bedeutung. Nachdem vor allem durch die unglückselige 
Kaffeekrankheit, die Kaffeepest, hervorgerufen durch den 
Pilz Hemileia vastatrix, der die ganzen Bäume überzieht, 
dem Lande großer wirtschaftlicher Verlust entstanden 
war, mußten die Leiter der Gärten wieder für eine neue 
Bodenverwertung Sorge tragen. Man ging deshalb vor 
allem zum Teebau sowie zur Anpflanzung von Hevea 
brasiliensis, dem Kautschuklieferer, und von Cinchona 
über. Wieviel Gutes diese Anlagen geschaffen haben, 
kann man überall von den Pflanzern hören, die gern die 
Direktoren besuchen, um bei ihnen Unterstützung mit 
Rat und Tat zu suchen. 

In Kandy hielt ich mich noch einige Tage auf, um 
mich in erster Linie mit dem Studium verschiedener, 
unterwegs gesammelter Pflanzen zu beschäftigen. So- 
dann wurden von dem Präparator und mir eine Anzahl 
Früchte nach der Schweinfurthschen Methode für das 
Museum in Hamburg in Alkohol gesetzt. Die freien 
Stunden durfte ich dieses Mal wieder im alten Königs- 
palaste bei dem gastfreundlichen Gouvernementsagenten 
und seiner liebenswürdigen Familie zubringen. Schweren 
Herzens nahm ich von Ceylon, der Perle der indischen 
Inseln, Abschied. 





Die Guayrá -Fälle (Salto das Sete- Quedas) des Paraná. 


Unter den bekannten Wasserfällen der Erde nimmt der 
„Salto del Guayrá“ mit seinen enormen Wassermassen einen 
der ersten Plätze ein. 

Die von den Höhenzügen von Minas Geraes und Goyaz 
kommenden Bäche bilden die Flüsse Rio Grande und 
Paranáhyba, die sich an der nordwestlichen Grenze des 
Staates 8. Paulo vereinigen und den Namen Paraná 
annehmen. Zahlreiche Stromschnellen und Kaskaden unter- 
brechen den nach Süden gerichteten Lauf dieses Flusses 
(Alto Paraná), der nach Empfang zahlreicher links- und 
rechtsseitiger Nebenflüsse die Gestalt eines mächtigen 
Stromes angenommen hat. Als Zuflüsse von rechts sind zu 
erwähnen: Rio Pardo, Ivinheima, Amambay, Igatimi; von 
links: Tiete, Paranipanema, Ivahy und Piquiry, an dessen 
linkem Ufer die Ruinen der im 15. Jahrhundert gegründeten 
Niederlassung Guayrä zu finden sind. 

Unerwartet wird nun dem etwa 4km breiten Strome 
an der Grenze von Paraguay mit Brasilien Halt geboten. 
Die Ausläufer der Serra de Maracayıı hatten ihm den Weg 
verlegt, und der Paraná war genötigt, durch die Basalt- und 
Kalkfelsen sich den Durchgang zu erzwingen. Hart muß 
der Kampf der Naturelemente gewesen sein! Das Wasser 
blieb Sieger, durchbrach die Felsmasse und tobt nun in 
wilden Sprüngen und unter donnerähnlichem Rollen abwärts. 

Um ein Bild von den Guayrä-Fällen zu bekommen, 
nehme man den Bleistift zur Hand und ziehe im beliebigen 
Maßstabe eine Senkrechte, die mit einer Abweichung von 
5°N.S. und 4600 m Länge das Paraguay- (rechte) Ufer dar- 
stellen soll. Auf den Endpunkt dieser Linie trage man 
einen Winkel von 42° 36’ auf, dann ergibt die Verlängerung 
der zweiten Linie die Richtung der brasilianischen Seite (des 
linken Ufers) und zugleich die Form eines Trichters, dessen 
oberer Rand mit 4200m und dessen Endpunkt (Scheitel- 
punkt) mit 80 bis 100m Weite bemessen werden soll. Eine 
mit dem Paraguayufer (in 80 bis 120m Abstand) laufende 
Parallele bildet den Hauptkanal, den die erste Wasserfall- 
gruppe in der Gestalt eines senkrechten Sturzes von 285m 


Höhe und einer schiefen Ebene mit 87m Gefälle erzeugt hat. 
Es entfällt hiermit auf die Länge von 4600 m eine Niveau- 
differenz von 115m=23m pro Kilometer. Die rechte 
Seite des von 35 bis 45m hohen Felsen begrenzten Haupt- 
kanales besitzt eine Anzahl reizender Kaskaden, die durch 
die Einmündung des toten Armes entstanden sind, während 
der Rest der gewaltigen Wassermassen durch sechs Seiten- 
kanäle dessen linke Seite durchbrach und infolgedessen 
eine gleiche Anzahl Wasserfallgruppen verursachte, daher 
der u Name „Salto das Sete-Quedas“ (Siebenfacher 
Fall). 

Die erste Barre liegt nach den Berechnungen des Barons 
Maracayıı 317,5 m über dem Meere, unter 54° 16’ 27’ westl. L. 
von Greenwich und 24° 4’ 5” südl. Br. Wir fanden 54° 16’ 25” L. 
und 24° 4' 29” südl. B. 

Der Zusammenstoß der verschiedenen Strömungen ver- 
ursachte zahlreiche Wirbel und Strudel; im wilden Durch- 
einander jagen mit rasender Geschwindigkeit die schaum- 
bedeckten Wozen dahin, weiße Nebel und hohe Wassersäulen 
steigen aus den dunkeln Tiefen empor und erglänzen unter 
den goldenen Strahlen der Königin des Tages in allen 
Regenbogenfarben, um kurz darauf gleich einer Vision in 
Nichts zu zergehen. Ringsherum ein infernalischer Lärm, 
ein Tosen und Brausen. Bald gleicht es dem Sturmgeläute, 
bald dem Kanonendonner, und doch liegt im Ganzen eine 
unbeschreibliche Harmonie. ` 

Das großartige Naturschauspiel hat schon in den ersten 
Zeiten nach der Entdeckung dieser Länder die Aufmerksam- 
keit der Forscher erweckt. So meldet der paraguaysche 
Geschichtschreiber Padre Lozano im Jahre 1755: 

„Guayrá nannte man einen ziemlich großen Teil 
Paraguays, der sich ungefähr 150 Meilen von Asunción 
entfernt über 100 Meilen erstreckte, im Osten von Brasilien, 
im Süden von Uruguay begrenzt war und sich nach Norden 
weit in die unermeßlichen Urwälder verlor; die Westgrenze 
bildete das Amtsgebiet von Asuneiön. Der Name „Guayrä“ 
stammt von dem vielgenannten Häuptling „Guayracä“, dem 
Führer der zahllosen Indianerscharen, die dieses wasserreiche 
Waldgebiet bevölkerten.“ 


Bücherschau. 49 





Ruiz Diaz de Guzmän, einer der ersten Geschicht- 
schreiber Argentiniens, sagt in seinem 1635 veröffentlichten 
Werk: „Infolge der furchtbaren Wucht und Schnelligkeit, 
mit der die gesamte Wassermasse über eine von zwei 
Felsen begrenzte Barre stürzt, erreicht die Stromschnelle 
eine Länge von zwei Meilen. In Pfeilform verengt sich das 
Sturzbett, und von oben schäumen, wirbeln und rasen nun 
die Wasser in 11 Kanälen hinab dergestalt, daß kein Menschen- 
auge lange zusehen kann, sondern sich zeitweilen schließen 
muß, um dem Schwindel zu wehren.“ 

Felix Azara, Führer des einstigen spanischen Grenz- 
ausschusses, schildert die Guayrä-Fälle in seiner „Natürlichen 
Beschreibung der Gebiete von Paraguay und Misiones“ wie 
folgt: „Alle Flüsse dieser Gegend mit Ausnahme des Paraguay 
und seiner westlichen Seitengewässer haben Stromschnellen 


und Felsbänke. 
südl. Br. gelegen, wird durch eine Felsrutsche ge- 
bildet, die sich 60 Fuß tief unter einem Winkel von 50 bis 
60° neigt. Das Eigentümliche dieses Falles ist die kolossale 
Wassermenge; denn während der Paraná weiter oben 
2100 Klafter hat, verengt er sich in der Schnelle auf 30 
und erreicht erst nach zwei Meilen wieder 50 Klafter.“ 

Das herrliche Naturwunder, das zwischen brasilianischem 
und paraguayschem Gebiete eingebettet ist, hat Angehörige 
beider Staaten auch in späterer Zeit zu Schilderungen ver- 
anlaßt. Wir nennen vor allen den Hauptmann Nestor Borba, 
der 1875 die Fälle besuchte und in den letzten Jahren den 
Conde Antonelli, den belgischen Konsul Arnoldo Schoch und 
andere zu Nachfolgern hatte. 

Santiago (Chile), Mai 1910. Mirko u.Stevo Seljan. 


Der große Fall des Paraná, auf 24”4’27” 


Bücherschau. 


Edgar Thurston und K. Rangachari, Castes and Tribes 
of Southern India. 7 Bände. Madras 1909, Govern- 
ment Press. 

Jeder, der sich mit der Ethnographie Südindiens be- 
schäftigt, weiß, wie schwer es ist, auf diesem Gebiete zu 
arbeiten, da das einschlägige gedruckte Material gering ist 
und man infolgedessen selbst bei Kleinigkeiten sehr bald mit 
seinen Arbeiten ins Stocken kommt oder aber so und soviel 
in suspenso lassen muß. Dieser ungeheure Landkomplex mit 
seiner zahlreichen Bevölkerung, die sich aus den verschieden- 
artigsten Teilen zusammensetzt, harrte und harrt noch jetzt 
der intensiven Bearbeitung. Hierbei ist nun das vorliegende 
Werk ein großer Fortschritt auf diesem so wenig angebauten 
Gelände. Hoffentlich ist es der Beginn einer neuen Zeit für 
Südindien. Notwendig ist uns dafür das Arbeiten im Lande 
selbst, das Sammeln und Sichten an Ort und Stelle durch 
gut vorbereitete Europäer, sei es nun durch indische Beamte, 
oder sei es durch Forschungsreisende aus Europa. Vergessen 
wir nicht, daß die europäische Zivilisation, nicht zuletzt der 
europäische Kaufmann, sicher und schnell dazu beitragen, 
daß die ursprünglichen Sitten und Gewohnheiten mitsamt 
ihrem Gerät usw. vom Erdboden verschwinden. Auch hier 
bei den kultivierteren Völkern bringt jedes Jahr ebenso wie 
bei den Wildvölkern neue Verluste an wissenschaftlichem 
Material. Darum möge man in Europa sein Auge auch ein- 
mal hierhin wenden, um die Mittel aufzubringen, um jüngere 
vorgebildete und vor allem sprachlich geschulte Kräfte hin- 
auszusenden, um noch zu retten, was zu retten ist. Ein 
typisches Beispiel für die Vernichtung der ursprünglichen 
Kultur bietet der Siegeslauf der Petroleumtins, die als 
Wasserbehälter an Stelle von Bambusgefäßen oder gefloch- 
tenen und mit Harz gedichteten Gefäßen im tiefsten Urwald 
gefunden werden. 

Bereits im Jahre 1906 hat Thurston ein Buch desselben 
Inhalts erscheinen lassen unter dem Titel: Ethnographic 
Notes in Southern India, Madras, das in den beteiligten 
Kreisen den Wunsch nach einer Erweiterung entstehen ließ. 
Diese wird in dem uns vorliegenden Werk geboten. In sieben 
Bänden zu je etwa 450 bis 500 Seiten läßt sich eine ganze 
Menge mitteilen. Der Druck ist allerdings groß, um so be- 
quemer ist das Lesen. Die Anordnung des Materials ist eine 
rein lexikalische, was einesteils dem Werk und seinen ein- 
zelnen Artikeln zum Vorteil gereicht, da das Material in sich 
dazu drängt, diese Art der Behandlung zu wählen, anderer- 
seits hat es aber auch seine Schattenseiten, so z. B. darin, 
daß der Zusammenhang zueinandergehöriger Dinge unnötig 
auseinandergerissen wird. Um diesem Übelstande zu be- 
gegnen, sind einzelne Artikel zu kleinen Abhandlungen für 
sich geworden. 169 Tafeln vervollständigen das Werk und 
lassen uns nur bedauern, daß es nicht doppelt so viel sind. 
Daß die Tafeln in Europa vielleicht besser hergestellt worden 
wären, will ich nebenbei nur kurz erwähnen, zumal der Preis 
der sieben Bände, die in Ganzleinen gebunden sind, derartig 
lächerlich gering ist (1£ 7 s.), daß das Buch in die weite- 
sten Kreise dringen kann. Man muß der anglo-indischen 
Regierung Dank wissen, daß sie ihre Publikationen so billig 
auf den Markt bringt. Möglich ist das natürlich auch nur in 
einem Lande, das eingeborene Arbeiter zu billigem Preise 
stellt. 

Inhaltlich bringt das Werk nicht nur die Tribes and 
Castes, sondern auch was drum und dran hängt oder dazu 
gehört. Nicht ganz Südindien umfaßt des Verfassers und 
seiner Assistenten und Mitarbeiter Arbeit. Das bearbeitete Ge- 
biet ist folgendes: Die Madraspräsidentschaft, ferner die drei 
kleinen Eingeborenenstaaten Puduköttai, Banganapalle und 
Sandur sowie die beiden großen Eingeborenenstaaten Tra- 


vancore und Cochin, ein Gebiet von rund 150000 Quadrat- 
meilen mit einer Bevölkerung von über 40 Millionen Men- 
schen. Daß bei einem derartig großen Gebiete noch manches 
nachzuholen ist, ist selbstverständlich. Nicht überflüssig ist 
daher in der Einleitung die Aufforderung Thurstons an all« 
Interessenten, mitzuarbeiten an dem Werk, und vor allem 
näher einzugehen auf die einzelnen Völkerschaften und Kasten. 
In der Einleitung behandelt Thurston fast ausschließlich das 
anthropologische Material, das er mit großem Eifer gesammelt 
hat. Am Schluß derselben bespricht er kurz die Sprachen. 
Es würde meines Erachtens nur vorteilhaft für das 
Werk gewesen sein, wenn die sprachliche Seite etwas mehr 
gepflegt worden wäre. Für Indien ist es keine Unmöglich- 
keit, in allen betreffenden Alphabeten zu drucken, und dem 
sich mit diesen Dingen Beschäftigenden kann die genaue 
Orthographie eines Wortes manchen Fingerzeig geben, zumal 
die englische Transkription alles andere, nur nicht gut ist. 
Die Originaletikettierung, wenn man so sagen darf, ist für 
das Studium im einzelnen bei einem großen, ja bei dem 
größten Teil unentbehrlich, da dadurch Hinweise gegeben 
werden, die sich unter der englischen Transkription nur zu 
leicht verstecken und dadurch Anlaß zu den größten Irr- 
tümern geben können. Sämtliche einheimische Namen sowohl 
der Kasten und Völkerschaften als auch der ihnen zugehöri- 
gen Gegenstände und Gebräuche müßten daher außer in Trans- 
skription auch in dem betreffenden einheimischen Alphabet 
gedruckt werden. Das würde den Wert dieses an und für 
sich dankbarst zu begrüßenden Werkes noch ganz außer- 
ordentlich steigern. Ein Zweites, was zur Wertsteigerung 
noch beitragen würde, wäre das nähere Eingehen auf Reli- 
gion und Kultus. Denn gerade von den ursprünglichen Reli- 
gionsformen und der Lokalmythologie ist uns wenig genug 
bekannt. Wie notwendig dies wäre, erkennt man auch, wenn 
man bedenkt, daß doch alles dieses beim Zusammenprallen 
mit dem Hindukultus auf diesen abgefärbt und ihn beein- 
flußt hat und ebenso auch umgekehrt. Manche modernen 
Gebräuche sind nur aus der vorhinduistischen Zeit erklärbar, 
und da sich der Lokalkultus neben dem offiziellen Brahmanis- 
mus erhalten hat, liegt noch mehr die Möglichkeit vor, Er- 
klärungen und Zusammenhänge zu finden, die wieder zur 
Aufklärung der dortigen Hindumythologie dienen könnten. 
Alles dieses ist aber wichtig, spielt doch die Religion, einerlei 
ob primitiv oder hochentwickelt, die hervorragendste Rolle 
bei der Entwickelung der Völker. 

Als die Arier (Hindu) aus dem Norden Indiens in das 
Dekkan einbrachen und erobernd bis Ceylon gelangten, fanden 
sie eine fremdsprachige, dunkelfarbige Bevölkerung vor, die 
sie unterjochten und ihrem wohlgegliederten Staatswesen ein- 
verleibten oder anfügten. Und während auch hier das Bans- 
krit als Kultussprache seinen Einzug hielt, erhielten sich die 
Volkssprachen in ihrer Ursprünglichkeit. Die für uns wich- 
tigste ist das Tamil (Tamulisch), das im Südosten die herr- 
schende Sprache ist. Sie zeigt uns, daß wir in den sogenannten 
Dravidavölkern alte Kulturträger vor uns haben, da sie bereits 
die Schrift kannten. Dies geht daraus hervor, daß sie ein 
eigenes Wort, kein Lehnwort für „schreiben“ haben. Diese 
und die zugehörigen Dravidavölker bilden einen großen Teil 
des Materials unseres Werkes. Einen zweiten ebenfalls großen 
Anteil haben Völker, die wir als sogenannte Wildvölker an- 
sprechen, von dunkler Hautfarbe und schwarzem wolligen 
Haar. Sprachlich ziehen sie sich vom Süden Indiens über 
Assam und die Mon-Khmervölker bis nach Malakka und den 
Inseln des Indischen Archipels hin. Sie bilden eine der inter- 
essantesten Partien aus dem großen indischen Völkerleben. 

Die südindische Kulturwelt ist aber trotz des Zusammen- 
hanges mit dem Norden eine Welt für sich geblieben. Die 


50 Kleine Nachrichten. 





Einwirkung, die von den Eroberern ausging, war sehr groß, 
aber nicht so groß, um nicht zu gestatten, daß die Lokal- 


färbung beibehalten wurde. Und diese hat dem Lande bis 
heute ihren Stempel aufgedrückt. Von Südindien aus gingen 
dann Kulturstrahlen nach allen Richtungen. Den schönsten 
Ableger seiner Kultur aber finden wir in Hinterindien, in den 
prächtigen brahmanischen Tempel- und Palastbauten, deren 
herrlichstes und schönstes der Tempel von Angkor ist. Süd- 
indien ist der Schlüssel zur näheren Kenntnis Hinterindiens. 
Wie wichtig daher für uns die Kenntnis Südindiens ist, er- 
hellt wiederum aus dieser Tatsache. 

Wir können daher das Buch jedem empfehlen, voraus- 
gesetzt, daß er nicht zu viel verlangt, denn wie gesagt, viel 
ist noch zu leisten. Hoffen wir, daß bei einer zweiten Auf- 
lage, die sicher bald folgen wird, Sprache und Religion recht 
kräftig berücksichtigt werden, dann wird es an Abnehmern 
wiederum nicht fehlen. St. 
Katalog des Ethnographischen Reichsmuseums. 

Bd. I: Borneo. Erste Abteilung von Dr. H. H. Juyn- 

boll. XXXIII und 353 8. Mit vielen Abbildungen und 

14 Tafeln. Bd. IV: Die Inseln rings um Sumatra 

von H. W. Fischer. XL und 246 S. Mit Abbildungen 

und 11 Tafeln. Bd.V: Javanische Altertümer von 
Dr. H. H. Juynboll. XXIII und 265 8. Mit vielen 

Textabbildungen und 15 Tafeln. Leiden 1909/10, E. J. Brill. 

Mit diesem Kataloge stellt sich das Leidener Ethnogra- 
phische Reichsmuseum an die Spitze aller ähnlichen An- 
stalten, was die Beschreibung seines reichen Inhalts betrifft. 
Kein anderes verwandtes Museum hat seine Schätze der 
wissenschaftlichen Welt in gleicher Weise zugänglich gemacht, 
und besonderen Dank verdient die Museumsleitung, daß sie, 
von der Muttersprache absehend, eine weiter verbreitete 
Sprache für die Veröffentlichung wählte. Dabei können wir 
aber die Bemerkung nicht unterdrücken, daß das Vorwort 
des verstorbenen Museumsdirektors J. E. D. Schmeltz, eines 
geborenen Hamburgers, von groben Sprachfehlern wimmelt, 
während die Holländer unsere Sprache viel besser handhaben. 
Schmeltz kommt das Verdienst zu, den Katalog angeregt zu 
haben, und auch die Methode, nach der er verfaßt ist, 
geht auf ihn zurück, denn er war der erste, welcher, schon 
1881, mit dem Katalog des Museums Godeffroy die ethno- 
graphischen Gegenstände nach naturwissenschaftlicher Art 
unter Beifügung der Literatur beschrieb. 

Die drei vorliegenden Bände umfassen einen Teil des 
ostasiatischen Kolonialbesitzes der Niederlande, und hier ist 
keine Sammlung so reich und schön vertreten wie die Lei- 


dener, die aber immer noch nicht die ihr gebührenden Räum- 
lichkeiten aufweist. Dafür steht aber nach dem Tode von 
Schmeltz einer der ersten Kenner der indischen Inselwelt, 
Dr. Juynboll, jetzt an der Spitze, und sein Einfluß, seine 
große Gelehrsamkeit und Sprachkenntnisse sind im Kataloge 
überall zu spüren, der den Fachleuten zu einem sicheren 
Führer wird und ihnen auch die überaus zerstreute Lite- 
ratur zugänglich macht, 

Auf die vielen Tausende im Kleindruck verzeichneten 
Einzelgegenstände können wir hier natürlich nicht eingehen, 
da sie uns, abgesehen vom Geistesleben, so ziemlich alles 
vorführen, was das materielle Leben der Eingeborenen be- 
trifft. Während im ersten Bande, dem eine zweite Hälfte 
folgen soll, Juynboll uns alles genau vorführt, was Speise 
und Trank, Schmuck, Kleidung, Häuser und Einrichtung, 
Jagd, Fischerei, Acker- und Gartenbau, Geräte und Fahr- 
zeuge der Dajaks betrifft, umfaßt der fünfte, von demselben 
Verfasser, die wichtigen Altertümer Javas. Wir lernen dar- 
aus auch die Steinzeit der Insel, den alten Hinduglauben und 
folgenden Buddhismus nebst den zum Kultus gehörenden 
Gegenständen kennen. Von Belang ist, daß hier den europäi- 
schen Trudensteinen ganz ähnliche natürlich durchlochte, mit 
Aberglauben verknüpfte Steine auch auf Borneo nachgewiesen 
werden. Aber nicht genug mit der Beschreibung der Sta- 
tuen und sonstigen Gegenstände aus Stein und Metall — es 
sind auch die altjavanischen Münzen und Inschriften im 
Kataloge beschrieben. 

Nur äußere Rücksichten veranlaßten es, daß die im 
vierten Bande des Katalogs beschriebenen Gegenstände von 
den Sumatra umlagernden Inseln in einem Bande von Kon- 
servator Fischer behandelt werden, wobei aber deren große 
Verschiedenheiten betont werden. Es handelt sich um die 
ethnographisch so hochinteressanten Inseln Nias, die Men- 
taweigruppe, Engano, Banka, Biliton und die Riouwgruppe 
mit zum Teil ganz eigentümlichen Kulturen, die aber noch 
nicht überall genügend erforscht sind. Das gilt namentlich 
von den westlichen Eilanden. Hier ist die vergleichende 
Übersicht, die Fischer in der Einleitung gibt, als besonders 
lehrreich hervorzuheben. 

Es fehlt in diesen sorgfältigen Katalogen auch nicht an 
einzelnen zusammenfassenden Hinweisen, an der einschlägigen 
vergleichenden Literatur, die mit erstaunlicher Vielseitigkeit 
beherrscht ist, stets gründlich und mit guter Kritik, wobei 
nur Sicheres geboten wird. Wer irgendwie mit der Völker- 
kunde des ostasiatischen Archipels sich in Zukunft befassen 
will, dem wird der Katalog von Leiden als eine der zuver- 
lässigsten Originalquellen unschätzbare Dienste leisten. R.A. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— EineneueExpedition zurErsteigung desMount 
McKinley. Der Mount McKinley in Alaska ist der höchste 
Berg Nordamerikas; seine Höhe war 1898 durch eine 
trigonometrische, aus ziemlich großer Entfernung von der 
U. S. Geological Survey ausgeführte Messung auf 6237 m 
ermittelt worden. 1906 waren mehrere Bergsteiger, darunter 
H. C. Parker von der Columbia - Universität, mit dem be- 
kannten Dr. Frederick Cook zum McKinley gegangen, um 
ihn zu erklimmen, und Cook, der zuletzt allein übrig ge- 
blieben war, behauptete dann, ihn auch wirklich erstiegen 
zu haben. Diese Behauptung war für unglaubwürdig erklärt 
worden, neuerdings wieder von Parker selbst, als die Cooksche 
Nordpolaffäre von sich reden machte. Damals, im Dezember 
1909, sollen sich mehrere amerikanische Alpinisten nach dem 
McKinley begeben und seinen Gipfel unter verhältnismäßig 
geringen Schwierigkeiten Anfang April d. J. erreicht haben. 
Beweise von Cooks Anwesenheit auf dem Gipfel sollen dabei 
nicht gefunden worden sein. Sonderbarerweise ist über diese 
Besteigung nichts Näheres bekannt geworden, so daß der 
Verdacht nicht abzuweisen ist, es handle sich auch hier um 
eine amerikanische Ente. Nun ist Ende April d. J. eine 
neue amerikanische Gesellschaft, zu der auch Parker gehört, 
nach dem Berge aufgebrochen, um die Besteigung auszuführen. 
— Unterdessen sind die Resultate einer neuen trigonometri- 
schen Messung des McKinley durch eine Abteilung der 
U. S. Geological Survey bekannt geworden. Auch sie ist aus 
großen Entfernungen (200 bzw. 300 km) vorgenommen worden 
und hat einen Wert von 20300 Fuß (6200 m) ergeben. 





— Kapitän J. E. Bernier wird im Auftrage der kana- 
dischen Regierung in diesem Sommer seine Fahrten in den 
Meeresteilen des arktischen Amerika fortsetzen, und zwar 
kommt es ihm vor allem darauf an zu ermitteln, ob das von 


Peary 1906 im Nordwesten von Grantland gesichtete Crocker- 
land in der Tat existiert. Auch Cook wollte 1908 bei seinem 
angeblichen Vordringen zum Nordpol in jener Gegend eine 
lange Küste gesehen haben, die er Bradleyland benannte. 
Vermutlich wird Bernier versuchen, durch den Parryarchipel 
und westlich von Ellesmereland dorthin vorzudringen; ob 
ihm das aber gelingen wird, ist fraglich. Ferner will Bernier 
nach dem Smithsunde gehen und feststellen, was an der Be- 
hauptung Cooks, seine Instrumente und Originalaufzeich- 
nungen seien auf einem Felsen bei Etah zurückgelassen 
worden, Wahres ist. 


— Eine Pygmäenbevölkerung hat die Expedition 
der Britischen Ornithologen-Vereinigung in Niederländisch- 
Neuguinea angetroffen. Vorläufig ist darüber allerdings nur 
folgendes bekannt geworden: Die Expedition war den Mimika- 
fluß hinaufgezogen und fand in einer Höhe von etwa 600 m 
den Pygmäenstamm. Die größten Individuen sind etwa 4 Fuß 
6 Zoll (137 cm) groß; die Durchschnittshöhe beträgt 4 Fuß 
3 Zoll (128,5cm). Der Stamm ist „außerordentlich wild“. 
Auch aus anderen Gegenden Neuguineas sind Nachrichten 
über kleinwüchsige Leute bekannt. So fand Rudolf Pöch 
solche, die einem Gebirgsstamme angehörten, unter dem Kai 
an der Ostküste der Insel. O. Reche erwähnt ferner in seinem 
Bericht über die Befahrung des Kaiserin- Augusta -Flusses 
(Globus, Bd. 97, S. 286), daß binnenwärts vom Oberlaufe eine 
Pygmäenbevölkerung zu existieren scheine, den „ganz auf- 
fallend kleinen Schädeln von besonderem Typus“ nach zu 
urteilen, die dort in den Dörfern am Flusse gesehen wurden. 


— Der Nachlaß der um die Jahreswende 1908/09 am 
Salwin von den Lissu ermordeten deutschen Reisenden 
Brunhuber und Schmitz ist von der chinesischen Re- 





Kleine Nachrichten. 51 





gierung dem deutschen Auswärtigen Amt und von diesem 
im Juni d. J. deren Angehörigen ausgehändigt worden. Von 
Interesse ist, daß von den schriftlichen Aufzeichnungen, den 
Photographien und den Routenaufnahmen Brunhubers einiges 
hat gerettet werden können. Freilich ist das wissenschaft- 
liche Material an Messungen und Beobachtungen selbst ver- 
loren gegangen; es hat sich aber ein vollständig ausgearbeitetes, 
offenbar schon für die Veröffentlichung bestimmtes Tagebuch 
vorgefunden, das, wie wir uns bei einer Durchsicht über- 
zeugen konnten, neben den Reiseabenteuern auch viele geo- 
graphische und ethnographische Bemerkungen enthält. Es 
beginnt mit dem Aufbruch von Tengjueh, in den ersten Tagen 
des Dezember 1908, und schließt mit der Ankunft in dem 
Orte Tschengte, Mitte Dezember. Da es sich dort als un- 
möglich erwies, mit der großen Karawane weiter dem Salwin 
aufwärts zu folgen, sandte sie Brunhuber, wie er am Schlusse 
seiner Eintragungen bemerkt, zum Mekong hinüber, und 
zwar auf dem in Tschengte ausmündenden Pfade, den 1895 
der Prinz Heinrich v. Orleans gleichfalls bis zum Mekong be- 
nutzt hatte. Demnach liegt Tschengte etwa unter 27°57’n.Br., 
und die Reisenden standen damit an der Schwelle des Un- 
bekannten. Allerdings hatten sie auch schon vorher, gleich 
zu Beginn der Reise, unbekanntes Gebiet erschlossen; denn 
aus den Aufzeichnungen geht hervor, daß sie von Tengjueh 
in im allgemeinen nordöstlicher Richtung über den Schweli 
zum Salwin vordrangen und diesen bis Orleans’ südlichsten 
Punkt abwärts verfolgten. Sie haben also einen anderen 
Weg eingeschlagen als 1905 Litton und Forrest. Brunhuber 
hörte am Salwin, daß dort drei Jahre vor ihm mehrere 
Europäer durchgekommen waren, und war sehr überrascht 
darüber. Daraus geht hervor, daß Brunhuber Forrests Be- 
richt und Karte über die Reise mit Litton nicht mehr kennen 
gelernt hat, was sehr zu bedauern ist, da sich dort vieles zur 
Charakteristik der Lissu findet. Jener Bericht erschien An- 
fang September 1908 im „Geogr. Journ.“, und in demselben 
Monat traten Brunhuber und Schmitz die Ausreise an. 


— Pola eine kolchische Kolonie. Zu der in Nr. 12 
des Globus vom 31. März d. J. veröffentlichten Abhandlung 
von E. Frauer „Das österreichische Küstenland an 
der Schwelle der Geschichte“ möchte ich eine kleine 
Bemerkung hinzufügen. Wenn Pola von Kolchiern gegründet 
ist, so kann der Name im Zusammenhang stehen mit dem 
noch jetzt im Grusinischen gebräuchlichen 8o- oder Sa- 
peli. So- oder Sa- ist Präfix und zeigt den Ort von etwas 
an, z. B. Sa-mtredi Ort der Tauben, Taubenheim. So- oder 
Sa-peli aber bedeutet Dorf, Niederlassung, z. B. Acha-Sopeli 
= Neudorf. So würde also Pola zu übersetzen sein nicht 
mit „Stadt der Flüchtlinge“, „Zufluchtsort“, sondern einfach 
mit Niederlassung. E. v. Hahn, Tiflis. 

— In einem Aufsatz, „Grundzüge der Biologie und 
Geographie des Süßwasserplanktons, nebst Bemer- 
kungen über Hauptprobleme zukünftiger limnolo- 
gischer Forschungen“, abgedruckt in der Internat. Revue 
der gesamten Hydrobiologie und Hydrogeographie (1910), 
plädiert der bekannte dänische Planktonforscher Wesen- 
berg-Lund für eine gründliche Untersuchung eines der 
großen tropischen Seen im besonderen und für eine inter- 
nationale Süßwasseruntersuchung im allgemeinen, analog den 
„internationalen Meeresuntersuchungen“. Einige wissenschaft- 
lich geschulte Beobachter müßten während eines oder zweier 
Jahre an sechs oder sieben Seen stationiert werden, ‚die un- 
gefähr auf demselben Längengrad von Norden bis zum Aquator 
liegen, etwa an einem grönländischen See oder im Enare, 
einem der großen schwedischen Seen, einem der baltischen 
Seen, einem hochalpinen See, am Genfersee und an einem 
der großen afrikanischen Seen. Zur Durchführung dieses 
Planes seien weder Kongresse noch Komitees noch große 
Summen nötig, sondern nur wenige Forscher und relativ recht 
bescheidene Mittel. Referent kann diesen allzu optimistischen 
Standpunkt nicht teilen. Die gesamte Süßwasserfauna faßt 
Verfasser als eine „Emigrationsfauna“ auf, deren Formen 
teils vom Meer, teils vom Festland eingewandert sind; für 
ihre Lebensgeschichte hat die Eiszeit allerdings eine sehr 
wichtige, aber doch nur vorübergehende Bedeutung gehabt, 
die vielfach übertrieben wird. H. 


— Prähistorische Entdeckungen in einer Karst- 
höhle. Wenig mehr als 1km vom Dorfe 8. Kanzian ent- 
fernt, am Gipfel eines mit Kalktrümmern bedeckten Hügels 
zur Rechten des Weges, der zu den Häusern nach Dane führt, 
öffnet sich unvermittelt ein Schlund, versteckt unter einem 
riesigen Kalkblock, der gleichsam über der Mündung drohend 
lastet und nur drei Löcher frei läßt. Dort ist der Eingang 
in die „Fliegengrotte“, bezeichnet mit Nr. 115 auf der 


von Boegan veröffentlichten Höhlenkarte, die zweimal in den 
letzten Jahren von den Mitgliedern des Vereins „Alpe Giulie“ 
untersucht wurde. Zur Befahrung eignet sich das von den 
drei Löchern gegen Süd gelegene kleinste am besten. Zum 
Abstiege bedient man sich einer Strickleiter längs einer verti- 
kalen Wand, die 60m herabzieht in einen Saal von 30 m 
Durchmesser, dessen Boden mit Pilzen und Moosen bedeckt 
ist, jetzt nur von der Wildtaube bewohnt. Von hier gelangt 
man in zwei geräumige Galerien in zwei verschiedenen Rich- 
tungen. Die höhere von ihnen ist die großartigere und führt 
in einen unterirdischen Saal mit kristallinischen Sinterbil- 
dungen, die gleichsam eine Moschee aufbauen, mit Wasser- 
becken und Sinterkaskaden, die auf einen gewaltsamen 
Wassereinbruch schließen lassen. Dann verlängert sich die 
Grotte in ein Labyrinth von Gängen, Kaminen und Seiten- 
hallen, die sich zu Triumphpforten erweitern, bis zu einem 
gewissen Punkte, wo sich der felsige Boden erhebt und dem 
weiteren Vordringen Halt gebietet. Nach der Schilderung 
des beherzten Grottenfahrers Savini, der mit einigen Mit- 
gliedern der genannten Gesellschaft diesen Schlot zweimal 
befahren hatte, hatten sie das Unglück, sämtliches Beleuch- 
tungsmaterial und die aufgesammelten Tropfsteine infolge 
schlechter Befestigung am Seile zu verlieren, indem alles in 
die Tiefe zurückfiel. Bei einer dritten Fahrt durchsuchte 
Savini den Boden des Schlotes und stieß hierbei auf einen 
Bronzehelm mit seitlich eingedrückter Kalotte und gespaltenem 
Federbuschknopfe, den der Direktor des Triester städtischen 
Antiquitäten- Museums dem kelto-etruskischen Zeitalter zu- 
sprach und als wertvolles Kleinod prähistorischer Zeit erkannte. 
Auf dem Nackenschilde befindet sich eine Inschrift mit ge- 
punzten Buchstaben in altitalischer Schrift mit etruskischem 
Einschlag. In der Annahme, daß dieser Helm nicht bloß 
zufällig in die Tiefe herabgefallen sei und daß der Boden 
dieses Schlotes einst bewohnt gewesen sei, pachtete Savini 
diese Grotte und nahm eine methodische Ausgrabung vor. 
In der Tat enthielt die Erde des Höhlenbodens einen Depot- 
fund aus Bronze, der noch älter als der Helmfund ist, der 
eigentlichen Bronzeperiode angehört und bezeugt, daß diese 
Höhle als Zufluchtsort und menschliche Wohnung vielen 
Generationen vorgeschichtlicher Zeit gedient hat. Der Depot- 
fund besteht aus zwei Lanzenspitzen, zwei Kelten, von denen 
einer leicht verziert ist, und aus einem primitiven Messer. 
Die Gegenstände lagen in einer Aschenschicht, die von 
Kohlenpulver durchsetzt war. Die anderen Bronzegegen- 
stände sind entstellt und durch das Feuer unkenntlich ge- 
macht, darunter eine schön verzierte Lanze, ein Kelt, und 
ein Deckel, wahrscheinlich von einer Ciste, mit bezüglichem 
Henkel, herrührend, Funde, die mit den bei S. Kanzian schon 
gemachten Funden stets rivalisieren können. 
Prof. Dr. L. Karl Moser (Triest). 


— Hans Spethmann gibt in den Mitteilungen der 
Geographischen Gesellschaft und des Naturhistorischen 
Museums in Lübeck, 2. Reihe, Heft 24, 1910 einen landes- 
kundlichen Grundriß von Lübeck. Verfasser faßt die 
Lübecker Bucht als ein Seitenstück zu alpinen Zungenbecken 
auf, von dem die Lübecker Mulde nur ein Zweigbecken ist. 
Von den 297,7 qkm, die der lübische Staat, der zweitkleinste 


unter den deutschen Bundesstaaten, einnimmt, liegen 
245,4qkm mindestens 20m über dem Meere. Die Trave, 
der Hauptfluß Lübecks, wird 124km lang, ihr Fluß- 


gebiet ist 2683qkm groß. Da das Niveau der 
Lübecker Bucht, das im Durchschnitt unter NN steht, 
sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ständig 
gehoben zu haben scheint, so ist eine langsame Senkung 
des Travemünder Küstenlandes noch in jüngster Zeit als sehr 
wahrscheinlich anzunehmen. Da der Westwind über 
große Wasserflächen mit gemäßigten Temperaturschwankungen 
in Lübeck der herrschende ist, ist auch der Unterschied 
zwischen dem kältesten und wärmsten Monatsmittel (in den 
Jahren 1888 bis 1907) nur 17° gewesen, während die größte 
absolute Schwankung im gleichen Zeitraum 58,3" betrug. 
Die größte Hitze stellt sich durchschnittlich im August ein, auf 
die Travestrecke Travemünde—Lübeck entfallen 25 Eistage, 
während z.B. auf Warnemünde— Rostock 39, aufSwinemünde— 
Stettin 72, auf Frisches Haff—Königsberg 107 Eistage kommen. 
Die jährlichen Niederschlagsmengen (630 mm) stehen gegen 
Hamburg um etwa 70mm zurück. Die Sonnenscheindauer 
betrug im Winter nur 2, im Sommer dagegen 4,55 Stunden 
(in Hamburg nur 1,6 bzw. 3,5 Stunden). Zur Verbesserung 
seiner Wasserwege hat der Staat Lübeck in den letzten 
50 Jahren nicht weniger als 44,5 Millionen Mark ausgegeben, 
bei einer Bevölkerungsziffer von wenig über 100000 gewiß 
eine sehr stattliche Summe. Die Einwohnerzahl der Stadt 
ist auch zur Zeit der höchsten Blüte der Hansa sicher nicht 
höher als jetzt gewesen. Im Seegüterverkehr der Ostsee 


52 Kleine Nachrichten. 





nimmt Lübeck hinter Stettin, Danzig und Königsberg die 
vierte Stelle ein; der regste Austausch findet mit Schweden 
statt, esfolgen Großbritannien, Finnland, Deutschland, Rußland 
und Dänemark; für die Einfuhr kommen in erster Linie 
Holz, Erze und Steine in Betracht, für die Ausfuhr ver- 
arbeitetes und unverarbeitetes Eisen, Steinkohlen, Dünge- 
mittel, Salz und Gips. Der Gesamtwert des lübischen Handels 
wird leider nicht mitgeteilt. An größerer Industrie fehlt es 
bislang, dagegen ist der Ertrag der Landwirtschaft relativ 
sehr bedeutend. H. 





— Über Landverlust und Landgewinn auf 
Hiddensöe bei Rügen berichtet E. W. Schmidt im 
Neuen Jahrb. f. Min., Geol. und Paläontol., Beilagebd. 29, 
Stuttgart 1910. Der Landverlust der Insel Hiddensöe betrifft 
pro Jahr durchschnittlich einen Streifen von 1,5 m Breite an 
seinen Rändern, da, wo überhaupt Abbrüche erfolgen, näm- 
lich am Nordwestufer, so daß nach etwa 800 Jahren das 
Meer den gegenüberliegenden Strand bei Grieben erreichen 
würde, wahrscheinlich aber noch früher. Die Hauptursache liegt 
in dem überall zutage tretenden Grundwasser, sodann darin, 
daß die Schichten sehr schräg zum Strand einfallen. 
Meist hat das Grundwasser den Abbruch schon so weit vor- 
bereitet, daß ein Abrutsch stattfindet, schon ehe das Meer 
das vorliegende und stützende Material fortgeräumt hat. Als 
einzig wirksame Schutzmaßregel schlägt Verfasser das Ab- 
fangen des Grundwassers durch Windmühlen vor, dagegen 
hat das Bepflanzen des Ufers, selbst an gleichmäßig vor sich 
gehendem Bandabrutschen, wenig Zweck. Der Brandung selbst 
kann natürlich nur mit einer kostspieligen Mauer entgegen- 
getreten werden, namentlich an den gefährdetsten Stellen. Die 
Landansätze finden am nordöstlichen, besonders aber am süd- 
westlichen Ende des Iuselkerns statt, sie sind aber quantitativ 
erheblich geringer als die Landverluste. Ein einziger starker 
Sturm vernichtet die Anlandungen während vieler Jahre. 

Halbfaß. 
— Der Neusiedlersee in Ungarn, ein bekanntes Bei- 
spiel von Seen mit periodischem, stark veränderlichem 
Wasserstand, wird noch in diesem Jahre endgültig von der 
Erdoberfläche verschwunden sein. Die Raabregulierungs- 
gesellschaft, die seine Trockenlegung schon seit Jahren be- 
treibt, hat in jüngster Zeit den Kanal fertiggestellt, der das 
Wasser des Sees der Raab und durch diese der Donau zu- 
führen wird. Mit der landwirtschaftlichen Ausnutzung des 
trockengelegten Seegebietes soll schon im Spätherbst dieses 

Jahres begonnen werden. Halbfaß. 





— Der bekannte amerikanische Limnologe Birge lenkt 
in einem Aufsatz „An Unregarded Factor in Lake Tempe- 
ratures“ (Transactions of the Wisconsin Acad. of Sciences, Arts 
and Letters, Bd. XVI, Teil II, Madison 1910) die Aufmerksam- 
keit der Seenforscher auf die bereits früher einmal von 
Groll (Der Oeschinensee, 1905) erwähnte Zunahme des 
Widerstandes, den Wasser von verschiedener Tempe- 
ratur der Vermischung entgegensetzt, je weiter sich 
seine Temperatur von 4° unterscheidet. Er erklärt damit 
die Intensität der Sprungschicht und die Beharrlichkeit, mit 
welcher innerhalb derselben die gleiche Temperatur immer in 
derselben Tiefe wiederkehrt, vorausgesetzt nur, daß sie von 
4° recht verschieden ist. In einer an derselben Stelle er- 
schienenen Abhandlung „On the Evidence for Tempe- 
rature Seiches“ polemisiert Birge gegen die von Watson 
zuerst eingeführte und dann von Wedderburn beträchtlich er- 
weiterte Theorie der Temperaturseiches, welche, wenn sicher 
begründet, ein ganz neues Licht auf die thermischen Er- 
scheinungen eines Sees werfen und wichtige Analogien für 
verwandte Erscheinungen im Meer bieten würde. Birge ist 
geneigt, die periodisch erscheinenden Temperaturschwankungen 
in derselben Tiefe im allgemeinen den in regelmäßiger 
Folge herrschenden Winden zuzuschreiben und nicht etwa 
Schwingungen von Wassermassen, die nur einmal von einer 
Windrichtung ausgelöst zu werden brauchen, da die Ampli- 
tude der Schwankungen meist viel zu groß ist, als daß 
sie durch einfache Umlagerung oder Vermischung im 
Sinne der zuerst genannten Abhandlung erklärt werden 
könnte. Dagegen ist er der Ansicht, daß Temperaturseiches 
in kleineren Seen mit geringeren Temperaturschwankungen, 
als sie im Loch Ness beobachtet wurden, sehr wahrscheinlich 
vorkommen. Wedderburns Beobachtungen im Loch Garry 
hat Birge offenbar noch nicht gekannt. Halbfaß. 


— Nacktschneckenstudien in den Südalpen geben 
H. Simroth (Festschr. zum 70. Geburtstage von W. Kobelt, 


1910) Veranlassung, der Geltung eines Gesetzes betreffs Ver- 
haltens dieser Tiere zur Pflanzenwelt zu gedenken, 
in welcher an und für sich der Charakter der Mediterran- 
länder den klarsten Ausdruck findet. Das Gesetz läßt sich 
so formulieren: Je weiter eine Gattung über die Erde ver- 
breitet ist als freie Form (nicht Speicherschnecke), desto mehr 
dringt sie in die eigentliche Xerophytenregion vor; je mehr 
sie sich dagegen auf das paläarktische oder paläoboreale Ge- 
biet beschränkt, um so enger hält sie sich an die mittel- 
europäischen Laub- und Nadelwälder. Dabei erweisen sich 
die piemontesischen Alpen nach ihrem Nacktschneckenbestand 
gewissermaßen als rückständig; sie haben eine nördliche 
Fauna, da sie am längsten in der Eiszeit verharrten. Sie in 
eine Parallele mit dem Menschen bringend, versucht Sim- 
roth die Pigmentierung zur historischen Entwickelung her- 
anzuziehen. Auf den Neandertaltypus soll bei uns eine feinere 
Rasse folgen, die nach Klaatsch jetzt in den Australnegern 
erhalten, also nach dem Südosten ausgewichen ist. Sie soll 
zugleich negroiden und mongoloiden Einschlag zeigen. 
Man weiß nicht, woher sie stammt. Da wäre zu vermuten, 
daß auch ihr Herd am Büdrande der Alpen lag. Hier könnte 
die Scheidung in Dunkle und Gelbe eingetreten sein, also in 
Neger und Mongolen, wobei die ersten nach Süden, die letzten 
in der frühesten Eiszeit nach Osten ausweichen, mit euro- 
päischen Resten in Ungarn, Finnland, Lappland. Weiter 
macht sich an der eigentlichen europäischen Rasse, welche 
die Kulturentwickelung unmittelbar weiterführt, eine neue 
Scheidung bemerkbar im Auftreten der Langköpfe. Darf 
man auch die Entstehung des blonden, germanischen Zweiges 
in die Südalpen verlegen, von wo er zugleich mit dem blonden 
Limax tenellus während der Eiszeit weiter nach Norden 
verlegt wäre, wo man zumeist seinen Herd sucht? Man 
stellt diesen Germanen jetzt noch dunkelhaarige Dolicho- 
kephale gegenüber, eine alpine Rasse, die sich nach Südosten 
zum Balkan hinziehen soll. Da drängt sich der Vergleich 
mit den dunkeln südostalpinen Antalien und Limax geradezu 
auf. So verbinden sich mit dem Studium der oberitalieni- 
schen Nacktschneckenfauna noch weitgehende Frageu mancher- 
lei Art. 

— Eine geographische Wanderskizze über Born- 
holm veröffentlicht W. Ule in der „Geograph. Zeitschrift“ 
(16. Jahrg., 1910). Diese Insel zeigt deutlich zwei Bruch- 
bildungen: eine ältere, durch die West- wie Ostküste, und 
eine jüngere, durch welche die beiden anderen nordwestlich— 
südöstlich verlaufenden Küsten entstanden sind. Durch die 
zweifachen Spaltensysteme wurde die Insel ein echter Horst, 
eine stehengebliebene oder gehobene Scholle inmitten ringsum 
abgesunkener Gesteinsmassen. Geologisch besteht Bornholm 
überwiegend aus Granit, wie das benachbarte Schweden 
auch. Nur der Südosten der Insel wird von Sedimentär- 
gesteinen verschiedenen Alters gebildet. Im Bereich des 
ersteren herrschen Formen, die an Südschweden, zuweilen 
auch an Partien aus mitteldeutschen Gebirgen erinnern; 
innerhalb der Sedimentärgesteine trifft man ein im all- 
gemeinen eintöniges Flachland. Morphologisch ist Born- 
holm ein Hochland, das sich allseitig steil aus dem Wasser 
erhebt. Die landschaftliche Schönheit der in wilde Klippen 
aufgelösten Steilküste des Granitgebietes der Insel ist be- 
kannt. Die steilen Ufergehänge sind echte Kliffküsten, ge- 
schaffen durch das Meer. Soweit der Granit reicht, haben 
wir im kleinen eine stark zackige Küstenlinie; im Bereich 
der Sedimentärgesteine trägt die Küste den Charakter einer 
glatten oder Ausgleichsküste. Im Süden gibt es dann noch 
eine ausgedehnte Dünenlandschaft. Auffallend geradlinig 
und gleichmäßig verlaufen die Bäche innerhalb des Granits. 
Sowie sie in die Sedimentärzone treten, wird ihre Richtung 
unbestimmt, die sich fortwährend dann ändert. Die Feuch- 
tigkeit ist auf der ganzen Insel als Folge der ozeanischen 
Lage recht beträchtlich. Die Niederschlagshöhe beträgt etwa 
500 bis 600mm; das Maximum des Regens fällt auf den 
September und Oktober. Die Jahrestemperatur liegt zwischen 
7 und 8°; besonders milde Winter zeitigen diese relative 
Höhe. Ursprünglich ist Bornholm wahrscheinlich ein reines 
Waldland gewesen, heutzutage zeigen die größeren Forsten 
hauptsächlich Nadelwald, namentlich Kiefern. Die Heide 
nimmt weite Flächen ein, welche auf der inneren Hochfläche 
vielfach in Moorvegetation übergeht. Floristisch erinnert 
die Insel durchaus an das mitteleuropäische Florengebiet. 
Auch die Tierwelt schließt sich in dieser Beziehung an, 
wenn auch scheinbar der Storch fehlt und man den Maul- 
wurf nicht kennt. Hinter der Landwirtschaft und der prächtig 
gedeihenden Seefischerei treten alle anderen Erwerbsquellen 
zurück. Der Reichtum an prähistorischen Fundstücken mag 
wohl in der Inselnatur Bornholms mit begründet sein. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: 


„DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 


HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 








Bd. XCVIII. Nr. 4. 


BRAUNSCHWEIG. 


28. Juli 1910. 








Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


P. W. Schmidts Arbeit „Die Stellung der Pygmäenvölker in der 
Entwickelungsgeschichte des Menschen‘“'). 


Eine Besprechung von G. Schwalbe. 


Die vorliegende Abhandlung von W. Schmidt stellt 
sich die Aufgabe, eine möglichst vollständige Übersicht 
über die Anthropologie und Ethnologie der Pygmäen- 
stämme zu geben. Sie ist vortrefflich und klar geschrieben; 
in anziehender fesselnder Darstellung entwickelt der 
Verfasser seine Anschauungen mit der Bestimmtheit, 
welche geeignet ist, seine Leser zu denselben zu bekehren. 

In einem ersten Hauptabschnitt werden die anthro- 
pologischen Merkmale der Pygmäenvölker beschrieben 
und werden dabei Kollmanns und des Referenten An- 
sichten kritisch besprochen. Mit E. Schmidt (Globus, 
Bd.87, 1905) und dem Referenten weist P. W. Schmidt 
die Ansicht Kollmanns zurück, daß in Amerika sich 
Zwergvölker finden, daß es in Europa Zwerge gegeben 
habe (sogenannte neolithische Zwerge). Es sind dies 
nur kleine Individuen derselben größeren Rasse; sie be- 
finden sich innerhalb der Variationsbreite der betreffen- 
den größeren Rasse. Den Begriff der Pygmäen beschränkt 
der Verfasser ausschließlich auf kraushaarige Stämme 
von geringer Körpergröße (unter 150 cm) in ähnlicher 
Weise, wie es auch Referent getan hatte. Wellhaarige 
Völker von nur wenig größerer Körperhöhe, wie die 
Wedda, Senoi, Toala, Kubu, rechnet W. Schmidt nicht 
zu den Pygmäen; er schlägt vor, jene als Pygmoide zu 
bezeichnen. Als kraushaarige echte Pygmäen bleiben 
dann nach dem Verfasser übrig 1. in Asien die Negrito, 
Andamanesen und Semang, 2. in Afrika die zerstreuten 
zentralafrikanischen Pygmäenstämme und die Busch- 
männer. Diese Pygmäen sind aber nach der Meinung 
des Verfassers auch noch ganz allgamein durch Brachy- 
cephalie charakterisiert, während die Pygmoiden dolicho- 
cephal sind. W. Schmidt hält es aber für wahrscheinlich, 
daß diese Pygmoiden gemischt sind, daß z.B. die Wedda 
das Resultat der Mischung mit einem echten Pygmäen- 
volk sind, obwohl er nicht zu sagen weiß, mit welchem. 

Wie steht es nun mit der Behauptung Schmidts, daß 
auch Brachycephalie zu den charakteristischen Merk- 
malen der echten kraushaarigen Pygmäen gehört? Ihm 
ist wohl bekannt, daß zwar die Andamanesen und Negrito 
brachycephal sind, diese in höherem Maße als jene, daß 
aber die Buschmänner und zentralafrikanischen Pygmäen 
mehr oder weniger dolichocephale Schädel besitzen. Ich 
bemerke noch, daß auch die Semang nach Martin und 
Annandale durchaus nicht als brachycephal bezeichnet 


3) Studien und Forschungen zur Menschen- und Völker- 
kunde unter wissenschaftlicher Leitung von Georg Buschan. 
VI/VII. 309 8. Stuttgart 1910, Strecker & Schröder. 

Globus XCVIII. Nr. 4. 


Straßburg i. E. 


werden können, wie Schmidt meint. Vielmehr ergibt sich 
aus der von Schlaginhaufen, auf den sich Schmidt selbst 
bezieht, gegebenen Zusammenstellung der Schädelformen 
der zehn bisher untersuchten Semangschädel, daß von 
ihnen zwei dolichocephal, vier mesocephal und vier 
brachycephal sind, daß der mittlere Schädelindex 78,4 
ist. Man kann also nicht, wie Schmidt, davon reden, 


- daß die Brachycephalie ein durchgehendes Merkmal der 


Pygmäenstämme sei; Verfasser sucht allerdings die Doli- 
chocephalie der afrikanischen Pygmäen dadurch zu er- 
klären, daß sie dieselbe durch Mischung mit Nachbar- 
stämmen erworben haben, wofür gar kein Beweis vor- 
liegt! Die Tatsache bleibt bestehen, daß die afrikanischen 
Pygmäen nicht brachycephal sind, sondern mesocephal 
oder dolichocephal. Man wird also wohl für die Pyg- 
mäen als allgemein gültigen Charakter die Brachycephalie 
streichen müssen, was ja auch schon sich von selbst ver- 
steht, wenn man — und mit Recht — die dolicho- 
oophalen Buschmänner mit zu den Pygmäen rechnet. 

Schmidt verteidigt trotz der zahlreichen anthropolo- 
gischen und ethnologischen Verschiedenheiten die Einheit 
der Pygmäenstämme. Er sagt, „daß die sämtlichen jetzt 
noch existierenden Pygmäenstämme in ganz deutlicher 
Weise nur versprengte und abseits in äußerste Rand- 
und Waldgebiete gedrängte Völkerreste sind, die früher 
ganz gewiß einmal größere Länderstriche eingenommen 
haben. Dann aber kann auch durch die Wedda (und 
vielleicht einige südindische Stämme) als Mischvolk der 
weite Zwischenraum zwischen den afrikanischen und den 
asiatischen Pygmäen zu einem guten Maß verringert 
werden“ (S. 26). Hier figurieren die Wedda, deren 
Mischvolknatur zunächst nur vermutet wurde, schon als 
tatsächlich anerkanntes Mischvolk, wofür die ausgezeich- 
neten Untersuchungen der Herren Fr. und P. Sarasin 
wohl kaum irgendwelche Handhabe bieten. 

Man muß also trotz der Erörterungen von W. Schmidt 
an der anthropologischen Verschiedenheit der afrikani- 
schen und asiatischen Pygmäen festhalten. Für die 
zentralafrikanischen Pygmäen aber sind Ähnlichkeiten 
mit den größerwüchsigen Nachbarn oft nicht zu ver- 
kennen, wie aus Bemerkungen von Czekanowski (Z. f. 
Ethnologie, 41. Jahrg. 1909, S. 594) hervorgeht, so daß 
man hier von lokalen Größenvariationen innerhalb der- 
selben Rasse sprechen könnte. In meiner von W. Schmidt 
bekämpften Arbeit (Zur Frage der Abstammung des 
Menschen, 1906) habe ich diese Ansicht an verschiedenen 
Stellen ausgesprochen (z. B. S. 49) und als natürlichste 


8 


54 Schwalbe: P. W. Schmidts Arbeit „Die Stellung der Pygmäenvölker usw.“. 





und einfachste Auffassung der Pygmäen bezeichnet, sie 
seien lokale Größenvarietäten des rezenten Menschen. 
Ich führte auch die Meinung eines Kenners der zentral- 
afrikanischen Pygmäen, Elliot Smith, an (Lancet 1905), 
welcher sagt, es sei kein Grund vorhanden, sie als etwas 
anderes als nur kleine Neger anzusehen. Smiths Arbeit 
scheint W.Schmidt entgangen zu sein. Auch die helle 
Hautfarbe der afrikanischen Urwaldpygmäen ist nicht 
dagegen anzuführen, da viele im Innern des zentralafri- 
kanischen Urwalds lebenden größeren Stämme ebenso 
hell erscheinen. 

Bei der weiteren Aufzählung der anthropologischen 
Merkmale der Pygmäen erwähnt Schmidt unter anderem 
die unverhältnismäßige Größe des Rumpfes gegenüber 
den Extremitäten, die durch die hohe vertikal ansteigende 
Stirn charakterisierte gute Schädelbildung bei schnauzen- 
artiger Bildung des Mundes und zurücktretendem Kinn. 
Auch die geringe Körpergröße, die Bildung des Schädels 
und die Körperproportionen der Pygmäen vergleicht 
Schmidt geradezu mit denen eines Kindes und gewinnt 
daraus die Vorstellung, daß die Pygmäen schon körper- 
lich als die Kindheitsformen der Menschheit zu be- 
trachten seien. Er vergißt dabei aber, daß die von ihm 
selbst hervorgehobene starke alveolare Prognathie der 
Pygmäen nichts weniger wie kindlich ist! Wenn 
er ferner aber auch die Brachycephalie ganz allgemein 
zu den kindlichen Merkmalen rechnet, so dürfte dies 
wohl nicht ohne berechtigten Widerspruch bleiben. — 
Da die großwüchsigen Rassen das Stadium der klein- 
wüchsigen bei ihrer Entwickelung durchlaufen, so stellt 
Schmidt die kleinwüchsigen infantilen Rassen an den An- 
fang der Menschheitsentwickelung. Er nimmt also hier 
das biogenetische Grundgesetz an und zwar in strengster 
Observanz, allerdings in sehr eigentümlicher Einschrän- 
kung, indem er sagt: „Man muß aber zugeben, daß es 
viel von seinem problematischen Charakter verliert, wenn 
man sein Geltungsbereich auf die Spezies Mensch und 
das Verhältnis der einzelnen Rassen zum Kindheitsstadium 
beschränkt.“ Schmidt vermeidet also, das biogenetische 
Grundgesetz auf die übrigen Primaten und überhaupt 
auf die Entwickelungsreihen der Organismen auszudehnen. 
Für ihn scheinen zwischen Menschen und übrigen Säuge- 
tieren hier keine genetischen Zusammenhänge zu existieren. 
In der Streitfrage zwischen mir und Kollmann handelt 
es sich gerade darum, Kollmann gegenüber darauf hin- 
gewiesen zu haben, daß keineswegs alle Stadien der 
Ontogenie und in derselben zeitlichen Reihenfolge in 
der Phylogenie rekapituliert werden. Dies ist keines- 
wegs eine unklare Haltung, wie Schmidt mir vorwirft, 
sondern ein von allen Zoologen, die sonst auf dem 
Boden des biogenetischen Grundgesetzes stehen, all- 
gemein anerkannter Standpunkt. Ich habe dies in 
meiner Arbeit genau erörtert, auch hervorgehoben, wie 
die Annahme einer genauen Rekapitulation ontogene- 
tischer Verhältnisse in der Phylogenie oft ad absurdum 
führt. Er hat dies unter anderem an dem Beispiel der 
aus der Mundöffnung hervorragenden Zunge vieler Säuge- 
tierembryonen gezeigt, für welchen Zustand erwachsene 
Formen nie gefunden werden. — Nach W. Schmidt sollen 
also die Pygmäen an der Wurzel des Menschenstammes 
stehen, und von einem ursprünglich weit verbreiteten 
Pygmäenstamme sollen alle großwüchsigen Rassen ent- 
standen sein. Die jetzt lebenden Pygmäen aber sind nach 
ihm „nur in äußerste Rand- oder Waldgebiete versprengte 
Völkerreste“. Schmidt setzt die Pygmäen auch für älter 
an als die Australier und die Neandertalspezies und sucht 
die Bedeutung der letzteren für die Stammesentwickelung 
der Menschenrassen abzuschwächen, geht auch leicht über 
das unbestreitbare höhere geologische Alter der Neander- 


talspezies hinweg. Er spricht dabei wieder irrtümlich 
davon, daß „die durchgehende Brachycephalie der Pyg- 
mäen etwas ganz ausgesprochen Kindliches ist“, während 
die dolichocephale Form der Neandertaler und Austral- 
neger gewiß nichts Jugendliches sei, vergißt dabei aber, 
daß die jungen Individuen der Neandertaler (Krapina, 
Le Moustier) und der Australneger auch noch sehr milde 
Schädelformen zeigen, noch nicht die als bestial bezeich- 
nete Schädelbildung der erwachsenen erkennen lassen. 
Man kann überhaupt nur erwachsene Schädel mit erwach- 
senen, kindliche Schädel mit kindlichen vergleichen. 
Letztere gleichen sich, wie bekannt, überall mehr; erstere 
zeigen erst die charakteristischen Verschiedenheiten der 
betreffenden Menschenrassen. Das höhere geologische 
Alter der Neandertalspezies und ihre ungleich mehr der 
der Affen näher stehende Form berechtigen dazu, dieser 
Form, welche Referent als Homo primigenius bezeichnet 
hat, -eine tiefere Stellung in der Entwickelungsreihe der 
Menschen zuzuweisen, als den mit wohlgebildeten Schädeln 
versehenen Pygmäen. Welche spezielle phylogenetische 
Stellung die Pygmäen einnehmen — und Referent hat 
mit Sarasin und Martin eine tiefe Stellung nie geleug- 
net — ist zurzeit nicht genauer zu bestimmen. So sind 
die Einwände, welche der Verfasser gegen die bisher be- 
sprochenen Anschauungen des Referenten erhebt, nicht 
gerechtfertigt. Aus diesen Einwänden soll auch unzweifel- 
haft hervorgehen, daß es unmöglich sei, die Pygmäen als 
kleine Menschenvarietäten, die neben großen sich ent- 
wickelt haben, zu bezeichnen, wie dies Referent ausführ- 
lich erörtert hat. Daß der von Schmidt gebrauchte Aus- 
druck „Kümmerformen* sich nicht mit den Anschau- 
ungen des Referenten deckt, sei noch besonders betont. 
Referent sagt vielmehr (S. 58, l. c.): „Die geringe Körper- 
größe der Pygmäen ist keine Erscheinung physi- 
scher Degeneration, sondern das Resultat einer Auslese 
unter fortwährender Einwirkung äußerer Verhältnisse, 
nämlich relativ geringer Ernährung bei gleichzeitiger 
Isolierung.“ Es wurde dabei vom Referenten betont, daß 
die geringe Ernährung durchaus nicht mehr für die jetzt 
lebenden Pygmäen zu gelten brauche. Merkwürdiger- 
weise erkennt Schmidt meine Angaben (nach Europaeus) 
über den Einfluß der Ernährung auf Körpergröße bei 
den Lappen an, während er meine Anschauungen sonst 
zurückweist. Daß die Körpergröße bei Tieren durch 
äußere Verhältnisse sehr beeinflußt werden kann, dafür 
hat Referent zahlreiche Beispiele angeführt. 

Damit soll der kritische Bericht über den ersten Teil 
des Schmidtschen Werkes abgeschlossen sein; der Mangel 
an Raum gestattet es nicht, eingehender die Einwände 
Schmidts gegen meine Auffassung zu besprechen. 

Für die Beurteilung des zweiten Teiles ist es 
wichtig, noch einmal zu betonen, daß Schmidt nach- 
gewiesen zu haben glaubt, die Pygmäen seien anthro- 
pologisch die primitivsten aller jetzt lebenden und aus- 
gestorbenen Menschenformen. Sie stehen nach ihm an 
der Basis der Menschheitsentwickelung. Wenn man aber 
daran nach seinen Ausführungen im anthropologischen 
Teile noch zweifeln könne, so sei kein Zweifel mehr er- 
laubt, wenn man die ethnologischen Verhältnisse 
der Pygmäen berücksichtige. 

Dieser Abschnitt, „Die ethnologischen Verhältnisse der 
Pygmäen“, ist, da hier W.Schmidt als selbständiger For- 
scher auftritt, von ihm weit ausführlicher behandelt. In 
einem ersten Kapitel bespricht er die materielle Kul- 
tur der Pygmäen, Kleidung, Körperschmuck, Lebensweise, 
Art der Ernährung, Wohnung und Siedelung, Bereitung 
des Feuers, Waffen und Stoff der Werkzeuge und Waffen, 
jedesmal gesondert für die einzelnen Pygmäenstämme und 
dann wieder zusammenfassend. Ich will aus diesem Ge- 


Schwalbe: P. W. Schmidts Arbeit „Die Stellung der Pygmäenvölker usw.“. 55 





biet nur auf einiges hinweisen. Da Verfasser den anthro- 
pologischen Beweis geliefert zu haben glaubt, daß die 
Pygmäen die primitivsten Menschen sind, so muß ihre 
Kultur auch als die primitivste anzusehen sein. Diese 
Meinung wird vom Verfasser auch überall da aufrecht 
erhalten, wo tatsächlich bei anderen Rassen primitivere 
Zustände als bei den Pygmäen vorkommen, z. B. in der 
Kleidung. Das Primitivste ist hier offenbar die voll- 
ständige Nacktheit, wie sie unter anderem bei den Tas- 
maniern gefunden wurde. Bei den Pygmäen dagegen 
kommt nach Verfasser „vollständiges Nacktgehen unend- 
lich viel seltener vor als bei großwüchsigen Stämmen“. 
Nur bei den männlichen Akka und Andamanesen konnte 
vollständiges Nacktsein festgestellt werden. Bei dieser 
Gelegenheit spricht sich Schmidt über das Schamgefühl 
aus und meint, daß die Kleidung mit dem Schamgefühl 
in irgend einer Verbindung stehen müsse, während For- 
scher, wie von den Steinen (Unter den Naturvölkern Zentral- 
Brasiliens, 1894, S. 190), Stuhlmann (Mit Emin Pascha 
ins Herz von Afrika, 1894, S.765), uns andere Tatsachen 
mitteilen, aus denen hervorgeht, „daß die Kleidung — 
ursprünglich wenigstens — mit dem Schamgefühl nichts 
zu tun hat“. Auch die verschiedenartigen Wohnungen 
der Pygmäen werden für die primitive ethnologische 
Kultur derselben angeführt, darunter sehr primitive, die 
Höhlenwohnungen, Windschirme, andererseits aber be- 
reits Hütten. Die Meinung Panckows, daß diese 
weitverbreiteten kugeligen und halbkugeligen Hütten 
nicht ihr primitives Eigentum, sondern von ihren 
großwüchsigen Nachbarn entlehnt seien, wird vom Ver- 
fasser zurückgewiesen. Die Tatsache aber, daß bei den 
Pygmäen schon kleinere oder größere Hüttenkomplexe und 
eine größere soziale Einheit bestehen, entfernt sie wohl 
auch schon von den primitivsten Kulturzuständen. Höchst 
primitiv ist zweifellos die Tatsache, daß die Andamanesen 
die Feuerbereitung nicht verstanden, sondern das früher 
einmal gewonnene Feuer mühsam erhalten mußten, wäh- 
rend die übrigen Pygmäen sich verschiedener Methoden 
der Feuerbereitung bedienen. Dagegen zeigen die An- 
damanesen in der Herstellung von Töpfen und ihrer Ver- 
zierung mit mancherlei geometrischen Ornamenten wieder 
eine höhere Stellung, die sich überdies bei ihnen offen- 
bart in der Herstellung ihrer für den Fischfang benutzten 
Böte. Auch in ihren übrigen kulturellen Leistungen, in 
der Anfertigung von Körben, Fischnetzen und Stricken, 
in der Herstellung von Waffen stehen die Andamanesen 
durchaus nicht auf einer niedersten Kulturstufe. Bogen 
und Pfeil sind nach W. Schmidt allen Pygmäenstämmen 
eigen, vielfach aber finden sich auch Speer und Schild 
daneben. Aber nach Schmidts langen gelehrten Ausein- 
andersetzungen finden sich bei den Pygmäen „die ältesten 
Formen von Bogen und Pfeil, diese stehen der Urform 
von Bogen und Pfeil am nächsten, und es scheint, daß 
die Pygmäen die Erfinder dieser Fernwaffe gewesen sind“. 
Auf diesem Gebiet bewanderte Ethnologen mögen hier 
entscheiden. Wenn aber W. Schmidt als Resultat der 
Übersicht über die materielle Kultur der Pygmäen (be- 
sonders der Andamanesen) es ausspricht, „daß die 
Pygmäenstämme als Ganzes genommen eine Entwicke- 
lungsstufe sozusagen bis auf unsere Tage fortgeführt 
haben, die noch vor der paläolithischen liegt“, die also 
der viel „umstrittenen eolithischen Periode“ entsprechen 
würde, so kann diese Auffassung nicht ohne Widerspruch 
hingenommen werden. Die Tatsache, daß der Werkzeug- 
bestand der Andamanesen nur aus rohem Steinmaterial 
(Hammer und Amboß aus Dolerit oder Basalt, Schleif- 
steine aus Sandstein, Stücke zum Schaben und Tätowieren 
aus Quarz, Kochsteine) oder aus scharfen Muscheln be- 
steht, ihr Waffenmaterial aus Bambus, Holz und Fisch- 


knochen, ist doch kein Beweis dafür, daß sie einer prä- 


eolithischen Periode angehören. Da das auf den Anda- 
manen vorhandene eben genannte Steinmaterial der 
Qualität nach zur Herstellung von Pfeil- und Lanzen- 
spitzen und von Steinmessern nicht verwendbar war, 
so müssen Muscheln, Holz und Knochen als Ersatz dienen. 
Die Waffen aber, die mit diesem Material angefertigt 
wurden, sprechen unbedingt für höhere Kunstfertigkeit, 
für eine weit höhere Kultur, als sie die Wesen, welche 
Eolithen und Archäolithen gebrauchten, besitzen konnten. 
Ein solches „Holz- und Knochenalter“ wird sich unter 
ähnlichen Verhältnissen in ähnlicher Weise entwickeln. 
Hat doch v. d. Steinen ein solches bei den Schingu- 
Indianern nachgewiesen und ausdrücklich (l. c., S. 205) 
zurückgeführt „auf die Abhängigkeit des Menschen von 
seinem Wohnorte“. Nur bei der durch nichts bewiesenen 
Annahme Schmidts, daß die Pygmäen geologisch älter 
seien als die ältesten Paläolithiker, würde eine solche 
Behauptung zu verstehen sein; man müßte dann aber 
den hohen Kulturzustand der Andamanesen bei An- 
erkennung der Eolithen Wesen zuschreiben, die noch 
nicht als Menschen zu bezeichnen wären. 

Wenn wir schließlich unbefangen den materiellen 
Kulturbesitz der Andamanesen überblicken, so ist dieser so 
unhomogen wie möglich: einerseits nahezu vollständige 
Nacktheit, das Fehlen der Feuerbereitung, andererseits hohe 
Kulturentwickelung in den Dingen, welche für ein Leben 
auf den abgeschlossenen Inseln oder in Wäldern verlangt 
wurden (zweckmäßigste Ausrüstung zur Jagd und zum 
Fischfang). Der Mangel an Raum verbietet es mir, noch 
weiter auf diese interessante Frage einzugehen. 

Ich komme nun zu dem letzten, umfangreichsten und 
interessantesten Abschnitt des Schmidtschen Buches, zu 
dem Kapitel, welches die geistige Kultur behandelt. Daß 
die Pygmäen durchaus nicht auf einer niederen Stufe 
der Intelligenz stehen, darüber sind wohl alle Kenner 
der Pygmäen einig. Wichtig ist aber für die Beurteilung 
ihrer Stellung die weitere Tatsache, daß die Pygmäen- 
stämme Zentralafrikas, ferner die Negrito und Semang 
keine eigene Sprache besitzen, sondern die Sprache der 
ihnen benachbarten großwüchsigen Rassen reden. Auch 
die Sprache der Buschmänner ist mit der der Hotten- 
totten verwandt; die Sprache der Andamanesen aber in- 
folge der insularen Lage selbständig. Ich glaube, daß 
die Beziehungen der Pygmäensprachen zu denen benach- 
barter großwüchsiger Rassen doch wohl auf einen anthro- 
pologischen Zusammenhang beider hinweisen, daß nicht 
eine nicht bewiesene unbekannte eigene Sprache, wie 
Schmidt meint, vorausgegangen ist, die dann infolge des 
Verkehrs mit den großwüchsigen Nachbarn durch der 
letzteren Sprache ersetzt wurde. Ich meine, die erstere 
Auffassung ist die natürlichere. In betreff des Zählens 
und der Zahlwörter sind die Verhältnisse bei den Pyg- 
mäen sehr primitiv. Bei der Besprechung der Kunst- 
übung der Pygmäen wird auf den Unterschied aufmerk- 
sam gemacht, der hier zwischen afrikanischen und asia- 
tischen Pygmäen besteht, das verbreitete Vorkommen von 
Tänzen bei den ersteren, das Fehlen derselben bei letzteren; 
Musikinstrumente sind so gut wie gar nicht bei den Pyg- 
mäen vorhanden. Geometrische Zeichnungen werden von 
den Andamanesen, besonders aber von den Semang, und 
zwar bei diesen auf den Kämmen der Frauen und 
Köchern der Männer ausgeführt. Ganz hervorragend 
dokumentieren sich aber die Kunstleistungen der Busch- 
männer in ihren Fels- und Höhlenzeichnungen und Skulp- 
turen. Eine eingehendere Besprechung der nun folgenden 
interessanten Kapitel, welchedieethische Veranlagung der 
Pygmäen (Familie, Stammesverhältnisse, Eigentum, Wahr- 
heitsliebe, geschlechtliche Sittlichkeit, Ehe, Totemismus) 

8*+ 


56 Mielert: Die Insel Korsika. 


behandeln, muß ich mir versagen. Es genügt, auf 
einige Gesamtverhältnisse der hierauf bezüglichen Unter- 
suchungen hinzuweisen, so auf Feststellung der Mono- 
gamie bei den Pygmäen, ferner auf die Angabe des Ver- 
fassers, „daß wohl bei allen Pygmäenstämmen die soziale 
Entwickelung so weit fortgeschritten ist, daß sie dieGrenzen 
der Einzelfamilie überschritten und zur Bildung von 
kleineren Familienverbänden mit einem Oberhaupt an der 
Spitze vorgedrungen sind“. Dagegen möchte ich auf die 
Kapitel „Religion und Seelenlehre“ noch mit wenigen 
Worten eingehen. 

Aus dem hier vorliegenden Beobachtungsmaterial sucht 
W. Schmidt nachzuweisen, daß bei den Pygmäen überall 
die Anerkennung und Verehrung eines höchsten Wesens 
vorhanden sei; man könne bei ihnen, den Kindheits- 
stämmen der Menschheit, von einem Monotheismus reden; 
ja sogar ein gewisser Kultus, der in Verehrung jenes 
höchsten Wesens, Dankbarkeit gegen dasselbe, Gebet und 
Darbringung von Primitialopfern bestehe, sei bei ihnen 
vorhanden. Besonders eingehend sucht Schmidt dies, 
namentlich auf Grundlage der Berichte von Man (und 
Portman), für die Andamanesen nachzuweisen. Puluga 
stellt hier nach der Meinung von Schmidt ein höchstes 
Wesen dar, während Brown (vgl. auch Man, Bd. X, 1910, 
S. 33—37), der neueste Erforscher der „Religion“ der 
Andamanesen, die gegenteilige Behauptung aufstellte, daß 
es sich hier um kein höchstes Wesen handle, sondern 
daß Puluga eine Personifikation des Nordostmonsuns sei, 
daß überhaupt die jetzt lebenden Andamanesen „sicher 
nicht an ein höchstes Wesen glauben“ (l. c. S. 36). 
Ich selbst vermag aus Mans Mitteilungen, die ich im 
Original eingesehen habe, nicht die weitgehenden Folge- 
rungen von Schmidt zu ziehen. Ich möchte hier auch 
auf einen Widerspruch hinweisen. Schmidt (S. 199) be- 
zweifelt, „ob unsere Kenntnis der Andamanesen schon bis 
zu einer solchen Intimität vorgedrungen sei, daß wir allen 
unter ihnen definitiv jegliche Art von Liebe und Dank- 
barkeit gegen Puluga absprechen könnten“. Und weiter 
(S. 244) sagt Schmidt: „Ich habe oben schon dargelegt, 
wie es eine psychologische Unmöglichkeit zu sein scheint, 
daß die Eingeborenen dieses Wesen .als den Ursprung 
des Guten erkennen und dabei nicht irgendwie Dankbar- 
keit und Liebe gegen dasselbe empfinden sollen.“ Damit 
steht im Widerspruch, was Schmidt (S. 151) nach 
Portman über den Charakter der Andamanesen berichtet. 
Da heißt es unter anderem: „Sie haben ein kurzes Ge- 
dächtnis sowohl für Gutes als Böses, schlagen schnell 
um und haben einen geringen oder gar keinen Begriff 
von Dankbarkeit.“ Ich halte es also nach allem für 
durchaus nicht bewiesen, daß diese Pygmäen den Begriff 
eines höchsten Wesens haben. Schmidt war es aber 
darum zu tun, nachzuweisen, daß schon die primitivsten 
Menschenrassen eine solche Vorstellung besitzen. Ich 
würde umgekehrt, wenn dies wirklich für die Pygmäen 
nachzuweisen wäre, daraus schließen, daß dann die mit so 
ansehnlicher Intelligenz begabten Pygmäen nicht die 
Kindheitsformen der Menschheit veranschaulichen. 

In dem letzten Abschnitt des Werkes bespricht Schmidt 
die Begräbnisgebräuche bei den Pygmäen und auch die 
Jenseitsanschauungen. Er sagt hier: „daß die sämtlichen 


Pygmäenvölker an ein Fortleben nach dem Tode glauben, 
könnte schon aus der Sorgfalt, mit der sie die Bestattung 
vornehmen, insbesondere aus der Hinsetzung von Speise 
und Trank an das Grab, entnommen werden“ (S. 261). 
Ich überlasse es Fachleuten auf diesem Gebiet, zu ent- 
scheiden, ob dadurch ein Beweis für einen Unsterblich- 
keitsglauben der Pygmäen geliefert ist. 

In anziehender fließender Darstellung faßt Schmidt in 
drei Schlußkapiteln seine Resultate, über die im wesent- 
lichen schon im Vorstehenden berichtet wurde, zusammen. 
Nur kristallisieren sich seine Anschauungen hier aus 
früheren vorsichtigeren Aussprüchen nun zu bestimmter 
festerer Form. Es steht für Schmidt unzweifelhaft fest 
(S. 299), daß wir in den Pygmäen „unter allen jetzt 
lebenden Menschenrassen noch die treuesten Abbilder 
unserer ersten Vorfahren, unserer ersten Eltern erblicken 
müssen“. S. 300: „Die spezifischen Merkmale der Pyg- 
mäen sind die der anfangshaften Kindheit, die der euro- 
päischen Quartärmenschen und der Australier sind die 
Kennzeichen des Greisenalters.“ Dieses Anfangsstadium 
der Menschheit soll mit einem Male durch Mutation „aus 
vorhergehenden Formen“ entstanden sein. Ein Beweis 
für diese Anschauung wird nicht gebracht. Auch bedenkt 
wohl Schmidt nicht, daß auch Mutationen doch immer 
nur relativ geringe Veränderungen, aber nie größere 
Sprünge darstellen. Für den Geist des Menschen aber 
soll das Hervorgehen „aus früher bestehenden Formen 
in jeder Weise“ ausgeschlossen sein. Den Schlußsatz der 
ganzen Abhandlung kennzeichnet am besten die Stellung 
des Verfassers zur Entwickelungslehre, die er durch sein 
Werk für erschüttert hält. Er sagt: „Fassen wir zu- 
sammen, so sprechen die bei den Pygmäen ersichtlichen 
Tatsachen für einen sehr klar unterscheidbaren Dualis- 
mus ihres ganzen Wesens, indem sie eine Entstehung aus 
vorhergehenden Formen für den Körper nur in plötzlicher 
sprunghafter Form, für den Geist aber in gar keiner 
Weise als zulässig erscheinen lassen.“ 

Ich glaube, bei meiner in den vorstehenden Zeilen 
erfolgten Besprechung des Schmidtschen Werkes gezeigt 
zu haben, daß durchaus nicht alle Grundlagen der An- 
schauungen und die daraus gezogenen Schlußfolgerungen 
des gelehrten Verfassers sicher sind. Eine oft sehr 
niedere, aber bei den einzelnen Pygmäenrassen in vielen 
Dingen sehr verschiedene Kultur ist wohl zuzugeben, 
nicht aber der von Schmidt gefolgerte hohe religiöse 
Standpunkt der Pygmäen. Es ist ferner zu betonen, daß 
die mehrfach vorkommenden, den Pygmäen scheinbar 
fremden Kulturelemente durchaus nicht notwendig aus 
späterer Berührung mit großwüchsigen Nachbarn her- 
vorgegangen zu sein brauchen, sondern ebenso verständ- 
lich erscheinen aus der Annahme einer früheren Kultur- 
stufe, welche ihnen noch bei ihrer ehemaligen weiteren 
Verbreitung mit ihren Nachbarn zum Teil gemeinsam 
war, von der sich dann aber bei der Zurückdrängung 
der Pygmäen in Wälder und auf Inseln Reste erhalten 
haben. 

Sehr zu begrüßen ist die in einem Schlußwort des 
Werkes enthaltene Aufforderung an die wissenschaft- 
lichen Kreise aller Länder, sich zu vereinigen zu einer 
umfassenden Untersuchung der Zwergvölker. 





Die Insel 
Von Fritz Mielert. 


Korsika. 
Sprottau. 


Mit 21 Abbildungen nach ÖOriginalaufnahmen des Verfassers. 


Einem einzigen ungeheuren Felskoloß ähnlich erscheint 
die Insel Korsika, wenn man sich ihr mit dem Schiffe 
nähert, ein stolzer Fels, schmäler, wenn man von der 


französischen Riviera her an die Insel herankommt, wall- 
artig, mit sehr imposant in den Äther hinaufgezückten 
Spitzen, wenn man von Italien naht. Und tatsächlich 


Mielert: Die Insel Korsika. 57 





ist im westlichen Mittelmeerbecken keine einzige unter 
den größeren Inseln derart von alpinen Gebirgen erfüllt 
wie Korsika. Das weitaus größere Sardinien, das ge- 
wöhnlich als das Hauptland betrachtet wird, zu dem 
Korsika das abgelöste Supplement darstellt, weist eines- 
teils nicht so hohe Gebirge auf, andernteils sind diese 
auch nicht so kompakt und lassen breiten Ebenen und 
Hügelgeländen Raum. 

Nach Fischer gehörten Sardinien, Korsika und die 
östlich davon liegende Insel Elba nebst ihren kleinen 
Trabanten wahrscheinlich zu einem großen Festlands- 
gebiet, das, westlich vom heutigen Apennin gelegen, 
sich diesem parallel erstreckte und wohl als Urapennin 
bezeichnet werden kann. Die Meerestiefe zwischen Korsika 
und dem festländischen Italien wie zwischen Korsika und 
Sardinien ist gering. Sie beträgt an den tiefsten Stellen 
400 bis 500m, während sich zwischen Korsika und der 
Provence Tiefen von 2000m und darüber vorfinden. 
Geologisch ähnelt Korsika im Aufbau vollständig den Inseln 
Elba und Sardinien, gehört also mitin ihre Reihe und somit 
auch zu dem italienischen Inselbogen. 

Bis in die äußersten Winkel der Insel ziehen sich 
die Bergmassen, für den ersten Blick ein wirres Durch- 
einander, ein dem Touristen hoch willkommenes Berg- 
labyrinth bildend, das größte Abwechselung verspricht. 
Bei genauerer Betrachtung aber doch ein — wenn auch 
ziemlich lose — zusammenhängendes System. Man kann 
nämlich in der Meridianrichtung eine Reihe von Höhen- 
linien erkennen, die im Innern des Landes sich aufbauen 
und es in zwei Längshälften scheiden. Es bildet aber dieser 
Gipfelzug keineswegs eine gerade Linie, sondern ein 
schwach gebogenes lateinisches S. In ihren Umrissen kann 
die etwa 8750 qkm große Insel mit denen einer Weintraube 
verglichen werden. An der Nordostecke dieser im ganzen 
etwa 183km langen und bis zu 85km breiten „Wein- 
traube“ erstreckt sich eine etwa 40 km lange und durch- 
schnittlich 12 bis 14km breite Landzunge in genau 
meridionaler Richtung nach Norden, der „Stiel“ der 
Weintraube. Selbst diese Landzunge wird bis in die 
äußerste Nordspitze, das Kap Corse, hinein von einem 
Bergzuge erfüllt, der sich in ganz respektablen Höhen 
hält. Seine bedeutendste Erhebung ist der ungefähr in 
der Mitte der Längenausdehnung gelegene Monte Stello, 
1305 m. Von diesem Höhenzuge zweigen nach beiden 
Seiten zu den Küsten Bergrücken ab, die zwischen sich 
wundervolle Täler bergen. 

Wenn man will, kann man schon diesen Höhen- 
rücken als Beginn der die Insel durchziehenden Gipfel- 
reihe betrachten, denn er hängt ebenso lose mit den 
übrigen Höhen zusammen, wie diese unter sich. Der 
südlich der Landzunge, also in der großen Landmasse der 
Insel sich erhebende erste größere Gipfel ist der® des 
Monte Asto (1533 m), der sich in der Hauptsache nord- 
südlich erstreckt und nördlich mit dem Monte Ambrica 
(1040 m), südlich mit dem Monte Reggi Pozzo (1470 m) 
abbricht. Es sei gleich hier bemerkt, daß diese wie auch 
alle übrigen noch zu nennenden Hochgebirgsmassen 
Korsikas verwirrend viele Seiten- und Parallelzüge 
besitzen, die ihrerseits sich wieder zu besonderen Gebirgs- 
systemen vereinigen und in denkbar größter Mannig- 
faltigkeit nach allen Himmelsrichtungen hin sich ver- 
zweigen. Es seien darum nur die hauptsächlichsten 
Erhebungen der zentralen Gipfelreihe angeführt. Südwest- 
lich vom Bergsystem des Monte Asto folgt der Monte 
Padro (2393m), die nördlichste der über 2000 m 
Gipfelhöhe besitzenden bedeutenderen Gipfelmassen 
Korsikas. Ihr Zusammenhang mit der südwestlich von 
ihr sich erhebenden Zentralmasse des Monte Cinto 
(2710 m) ist sehr locker. Von dem Gebirgsmassiv des 

Globus XCVIII. Nr. 4. 


Monte Cinto, der höchsten Erhebung Korsikas, schwenkt 
ein Seitenzweig in einem nach Westen ausbiegenden, 
ziemlich deutlich zu verfolgenden Höhenzug mit mehreren 
bedeutenderen Erhebungen über 2000m ab. Er 
bildet eine markante Wasserscheide zwischen Westen 
und Osten und wird nur von einem bis auf 1464 m sich 
herabsenkenden flachen Einschnitt durchquert, dem Paß' 
(Col) von Vergio. Mit dem Cimatelli (2100 m) bricht diese 
Wasserscheide in das Tal des Tavignano ab und hängt 
durch einen Seitenzweig lose zusammen mit dem zweit- 
höchsten Bergmassiv Korsikas, dem Monte Rotondo 
(2625 m, Abb. 1 und 2 a.f.S.). Dieser ist wiederum durch 
niedrigere Felsgrate undeutlich verbunden mit dem 
Monte d’Oro (2391 m), dessen Gipfel in Luftlinie etwa 
10km von dem des Monte Rotondo entfernt ist. Es 
sind die beiden einander am meisten genäherten Hoch- 
gipfel Korsikas. Zwischen diesem und dem nächst- 
südlicheren Alpengipfel, dem Monte Renoso (2327 m) 
besteht eine markantere Verbindung, die aber im Paß 
oder Col de Vizzavona (auch La Foce genannt) bis auf 
1162 m herabsinkt. Die nun folgende höhere Erhebung, 
der Monte Incudine (2136 m), übrigens der südlichste 
der Hochgipfel über 2000 m, liegt in Luftlinie bereits 
25km südlicher und ist von ihrem nördlichen Nachbarn 
durch das Tal des Taravo getrennt. Die noch südlicher 
gelegenen Erhebungen hängen ihrerseits ebenfalls nicht 
mit dem Monte Incudine zusammen, können aber gleich- 
falls noch als das Rückgrat Korsikas angesehen werden. 
Es sind Monti, die nur im äußersten Süden einen be- 
stimmten Namen führen. Hier, wo sie am niedrigsten 
sind, nämlich 1200 bis 1300 m, heißen sieMontideCagna. 

Westlich von dieser Gipfelreihe treten die Berge in 
ungebrochener Wildheit, jedoch mit immer niedrigeren 
Gipfelhöhen bis hart ans Meer heran, in dessen Nähe 
sie aber doch noch Höhen von 800 bis 1000m 
behaupten. Hier ist darum die Küste auch außerordent- 
lich zerklüftet und reich an Buchten. Von der Landzunge 
des Kap Corse an zählt die Westküste sechs größere 
Buchten: jene von St. Florent, Calvi, Porto (Abb. 3 a. S. 59), 
Sagone, Ajaccio (Abb. 4 a. S. 59) und Valinco, ungerechnet 
die nach Hunderten zählenden kleinen Buchten, deren Reihe 
sich bis zur Südspitze fortsetzt. Auch im südlichen Teil 
der Osthälfte Korsikas treten die Berge vollständig an 
das Meer heran, weshalb es auch hier nicht an Buchten 
mangelt. Von diesen sind die beiden Golfe von Manza 
und Porto Vecchio zu nennen. Zwei Drittel der Ostküste 
aber sind flach. An zwei Stellen füllen Lagunen die 
flachen Gestade, so im Norden, unmittelbar südlich von 
Bastia der Etang di Biguglia, 1500 ha groß, und in der 
Mitte der Ostküste die kleineren Strandseen von Diane, 
Urbino, Ghisonaccia und Palo. Die östliche Hälfte Nord- 
korsikas zeigt nicht minder hohe Bergmassen als die 
westliche, doch gehen hier die Abdachungen weniger schroff 
von statten. Die Ostseite der Insel besteht vorwiegend 
aus Kreidegesteinen, meist Kalk, während der weit 
größere westliche Teil aus altkristallinischen Gesteinen, 
vornehmlich Granit, sich aufbaut. 

Bei der mäßigen Ausdehnung der Insel sind die Flüsse 
nur kurz und nicht schiffbar. Ausnahmslos entspringen 
sie im Innern des Landes an den hier aufgetürmten 
Hochgebirgsmassiven, durcheilen als reißende Gießbäche 
mächtige Schluchten und fließen nur zum Teil vor ihrer 
Mündung durch flacheres Gelände. Zur Ostküste gehen 
der Golo und der Tavignano, nebst einer Anzahl kleinerer 
bachartiger von ganz kurzem Lauf. Der Golo, etwa 
80 bis 85km lang, entspringt an dem vom Monte Cinto 
südlich abschwenkenden Bogen, nimmt die Abflüsse 
der Ostseiten des Monte Cinto und Monte Padro, sowie 
einiger Gebirgsmassen der Osthälfte Korsikas auf und 


9 


58 Mielert: 


mündet südlich vom Etang di Biguglia 
ins Meer. Der Tavignano, von dem 
Monte Cimatelli kommend und alle öst- 
lichen Abflüsse des Monte Rotondo und 
Monte d’Oro in sich vereinend, ist von 
ungefähr derselben Länge wie der Golo 
‘und mündet zwischen den Strandseen 
Diane und Urbino ins Meer. Von den 
Flüßchen der Ostseite wären dann noch 
zu nennen der Fiumorbo, der die Ab- 
flüsse des Monte Renoso, und der Travo, 
welcher jene des Monte Incudine sammelt. 
Nach der Westküste hin gehen außer 
unzähligen kleinen der Liamone, auf 
dem Monte d’Oro entspringend und in 
den Golf von Sagone ausmündend, der 
Gravone und Prunelli, die vom Monte 
Renoso kommen, einander parallel fließen 
und sich kurz vor ihrem Ausmünden in 
den Golf von Ajaccio vereinen. Be- 
deutender als die genannten, die einen 
Lauf von etwa 40km haben, ist der 
Taravo, der am Monte Renoso seinen 
Ursprung hat und nach etwa 53km 
langem Lauf in dem Golf von Valinco 
endet. Außer den genannten Strandseen an der Ostküste 
und einer Anzahl kleiner Bergseen besitzt Korsika keine 
stehenden Gewässer. 

In einem derartigen Berglande, das mit wenigen Aus- 
nahmen bis an den Rand mit steilwandigen Bergmassen 
angefülltist, und in dessen Innern, dazu noch in der Richtung 
der Längsachse, sich die Hauptgebirge wie ein Riesen- 
wall erheben, sind die Wegeverbindungen naturgemäß 
sehr schwierig herzustellen und nichts weniger als bequem. 
Doch sind ungeachtet der Verhältnisse unter dem fran- 
zösischen Regime eine Reihe guter fahrbarer Straßen an- 
gelegt worden, die zu den wichtigsten Orten des Landes 
führen. Die bedeutendste dieser Straßen ist die, welche 
die beiden Hauptorte der Insel, Bastia und Ajaccio, mit- 
einander verbindet. Wie auch sonst in Bergländern folgt 
die Straße, wo es irgend angängig ist, den Flußtälern, 
hat aber doch zwei Wasserscheiden zu überwinden. Sie 
geht, nachdem sie von Bastia aus am Fuß der Berge ent- 





Abb. 2. Gipfelkamm des Monte Rotondo. Nordöstliche Seite, östlich von den 


höchsten Spitzen, 2350,m. 


Standhöhe des Photographen etwa 2200 m. 


Die Insel Korsika. 





Abb.1. Der Monte Rotondo (2625 m) vom Lago dell’ Oriente (2058 m) aus. 


lang den Unterlauf des Golo erreicht hat, in dessen Tal 
bis zu seinem Mittellauf, übersteigt dann den Col de 
S. Quilico (560 m) und senkt sich in das Tal von Corte 
hinab, wo sie den Tavignano quert. Von hier geht sie 
durch außerordentlich wilde Bergwelten zum Col de 
Vizzavona (1162 m) hinan und steigt in das Gravonetal 
hinab, in dem sie bis Ajaccio sich hinzieht. Sie ist eine 
der wundervollsten Straßen Korsikas, doch besitzt sie 
eine stattliche Zahl nicht weniger pittoresker Rivalinnen. 
So zweigt von Corte ab eine großartige Straße über den 
Col d’Ominanda (657 m) in das Golotal hinein, überquert 
den Col di Vergio (1464m) und erreicht, durch wilde 
Schluchten führend, den Golf von Porto. Eine andere 
geht von Corte, der bedeutendsten Binnenstadt der Insel, 
im Tavignanotal zur Ostküste. Doch gibt es — und 
auch die Straße Bastia— Ajaccio gehört teilweise dazu — 
viele Straßen in Korsika, die wegen der Schwierigkeit, 
welche die tief eingerissenen, vielbuchtigen Schluchten 
den Straßenanlagen bereiten, quer 
über Berge hinweg und durch Ein- 
schnitte der Bergkämme führen und 
auf diese Weise die wundervollsten 
Einblicke in die grandiosen Berg- 
welten gestatten, wie es anderwärts 
nur Gemsensteige zu tun imstande 
sind. Außer diesen fahrbaren Straßen, 
die das Land in allen Richtungen 
durchschneiden und an Steigungen 
und Windungen das Möglichste leisten, 
gibt es noch eine Anzahl Fußsteige, 
die als Wegeverbindungen zu den 
abseits der Straße gelegenen Dörfern 
dienen. Es sind durchweg Saum- 
pfade, die an Schroffheit und Ungang- 
barkeit nichts zu wünschen übrig 
lassen. So schwer auf große Strecken 
hin die Westküste wegen ihrer kap- 
artig vorspringenden, durchweg sehr 
steilen Bergmassen zu begehen ist, so 
hat man doch selbst hier Landstraßen 
angelegt, die insgesamt einen einzigen, 
beispiellos herrlichen Strandweg rund 
um die Insel herum bilden. Nur dort, 
wo wenig und gar nicht bewohnte 








Mielert: Die Insel Korsika. 


59 





Vorgebirge ins Meer hinaustreten, schwenkt die Straße, um 
zu kürzen, quer ins Land hinein, desgleichen hält sie 
sich an der Ostküste von den sumpfigen Strandseen fern 
und ähnelt auch zwischen Bonifaccio und Ajaccio mehr 
einer Binnenstraße, da sie das Meer auf dieser Strecke 
nur an einigen Punkten berührt. 

Natürlich begegnet die Anlage von Bahnen, mit Aus- 
nahme jener an der flachen Ostküste, noch größeren 
Schwierigkeiten. Insbesondere bedeutet die Korsika durch- 
querende Strecke Bastia—Corte—Ajaccio ein Bravour- 
stück moderner Ingenieurkunst. Von dieser Hauptlinie 
(158km lang) zweigt in Casamozzo am Golo die Ostküsten- 
bahn (64 km) nach Ghisonaccia und in Ponte alla Leccia am 
Golo die Westbahn (74km) nach Ile Rousse und Calvi 
ab. Schon die auffallend große Zahl von Tunneln und 
Viadukten der Haupt- und der Westbahn (etwa 35 Tunnel 
und nicht viel weniger Viadukte) gibt, wenn nichts 
anderes, über die Schwierigkeit der Bahnanlage, aber 
auch über die ungeheure Wildheit und Pracht dieser 
korsischen Bergwelt Aufschluß. Von den Tunneln ist der 
von Vizzavona seiner Länge wegen, 3916 m, erwähnens- 
wert, desgleichen auch ein Viadukt bei der Station 
Vecchio, dessen Höhe 74m beträgt. 

Bei der verhältnismäßig noch geringen Zahl und Aus- 
dehnung der Schienenstränge ist der Verkehr noch auf 
das Fuhrwesen angewiesen. Wie in der Provence und an 
der Riviera trifft man hier schwere zwei- und vierrädrige 
Lastkarren, denen mehr oder weniger zahlreich Maultier- 
paare vorgespannt werden. Auch Maultier- und Esel- 
karawanen sieht man vielfach, besonders solche, die das 
Holz der Bergwälder zu Tale schaffen. Den Personen- 
verkehr vermitteln Personenposten und eine Anzahl Miet- 
wagen, welch letztere in den größeren Ortschaften zu 
haben sind. Vielfach reist man aber zu Pferde und zu 
Fuß. Da die Ortschaften oft weit auseinander liegen, so 
sind die Landstraßen hinreichend mit Wegebrunnen ver- 
sehen, die, von Quellen gespeist, durchweg gutes Wasser 
liefern. Für die Tiere findet sich stets ein Trog vor, in den 
das Wasser der Quelle erst fällt, ehe es seinen Lauf fortsetzt. 
Auch Straßenwirtshäuser finden sich, jedoch sehr spärlich 
und nur für den Fuhrmannsbedarf ausreichend. Auf gute 
Beköstigung und bequemes Nachtlager kann man nur in 
den Städten und größeren Dörfern rechnen. 

Das Klima ist herrlich. Wegen seiner Lage zwischen 
dem europäischen Kontinent und Afrika vereinigt Korsika 
beider Eigentümlichkeiten und erzeugt in den tiefer 





Abb.3. An der Bucht von Porto. 
Rechts oben die Fahrstraße nach dem Orte Porto. 


gelegenen Teilen dank seinem vorwiegend guten Boden 
sämtliche Gewächse der Mittelmeerküsten in prächtigster 
Entfaltung. Mit Ausnahme der Ostküste, deren Strandseen 
im Sommer Fieber erzeugen, ist die Luft überall gesund. 
Die Korsen genießen den seltenen Vorzug, zugleich Hoch- 
gebirgs-und Seeluft atmen zu können. In kaum zwei bis drei 
Stunden Bahnfahrt von der Küste befindet man sich in- 
mitten herrlicher Hochgebirgswälder, die ideale Sommer- 
frischen bieten; die Orte der Westküste, insbesondere 
Ajaccio aber, besitzen die klimatischen Vorzüge der be- 
günstigsten Winteraufenthalte der Riviera. Die Mittel- 
temperatur im Jahre beträgt an der Küste 17,7°C, im 

Sommer etwa 25°, im Winter 11,2%. Tem- 








Abb. 4. 


Bucht von Ajaccio. 


peraturen unter 0° kommen zuweilen 
vor, dauern aber nicht an, ebenso ist in 
den Niederungen und an den Küsten 
Schnee selten und ohne Bestand. Die 
Berge sind freilich im Winter mit 
Schnee bedeckt, im Sommer jedoch bis 
auf 2100 m Höhe schneefrei. Auch über 
dieser Höhenlage hält sich der Schnee 
nur an geschützteren Stellen. Der 
Sommer ist regenarm, die übrigen 
Jahreszeiten dagegen bringen reichlich 
Niederschläge, die, auf das Jahresmittel 
berechnet, etwa 630 mm ergeben. 
Wegen der geringen Größe des Lan- 
des sind die Vegetationsbilder im Norden 
dieselben wie im Süden. Wir können 
also nur Höhenzonen der Vegetation 
unterscheiden, diese aber sind sehr aus- 
geprägt und eine jede für sich sehr 
mannigfaltig an Arten. Vom Meeres- 
niveau bis hinauf zu etwa 550m ge- 
deihen die subtropischen Gewächse 


9* 


60 Mielert: 


Die Insel Korsika. 








Abb.5. 


Afrikas sowie die der Niederungen Spaniens und Ita- 
liens. Von 550 bis 1800 m zeigt das Land das Vege- 
tationsgepräge von Mittelfrankreich und Süddeutsch- 
land. Über 1800 m herrscht der Charakter der nor- 
wegischen Pflanzenwelt der Berge. Die untere Zone 
bringt alle bekannten südlichen Gewächse hervor, und 
selbst die Dattelpalmen gedeihen hier auf das üppigste. 
Sie sind aber nur als Zierbäume angepflanzt. Dagegen pflegt 
man in dieser Zone den Anbau der Orangen, Agrumen, 
vor allem aber der Olive, die der eigentliche Charakter- 
baum dieser Zone ist. In einzelnen Gegenden, wie in der 
Balagna, den zwischen den Monte Cinto, Monte Padro 
und dem westlichen Meere gelegenen Tälern, bildet er 
sehr große Waldungen. Er kommt auch in der zweiten 
Höhenzone noch vor, jedoch nur bis etwa 850m. Rund 
12000 ha des Landes sind seiner Kultur gewidmet, die 
bis 300000hl Oliven, bzw. 400000kg Öl liefert. 
Die korsischen Ölbäume tragen bessere Früchte 
als jene der Provence und Italiens, doch ist die Kunst 
der Ölbereitung noch sehr primitiv. Den korsischen Öl- 
bäumen rühmt man auch nach, daß 
sie unter allen Ölbäumen der Welt 
den Witterungsverhältnissen am 
besten trotzen. Dieses Lob hat ihnen 
der große Humboldt gespendet. Sie 
bedürfen weniger Pflege. Man schnei- 
det, um sie zu kräftigen, ihre ältesten 
Äste ab, gräbt die Erde rings um 
den Baum auf oder breitet etwas 
trockenen Dünger um den Stamm. 
Auch Maulbeerbäume, Feigen- und 
Mandelbäume gedeihen bei dem ewig 
heiteren Himmel, dem guten Boden 
und der hinreichenden Bewässerung, 
vor allem aber wegen der geschützten 
sonnigen Lagen in den von hohen 
Bergen umschlossenen Tälern kräf- 
tiger und besser als in Südfrankreich 
und an der Riviera. In ebensolcher 
Güte wie diese Baumfrüchte gedeiht 
hier der Wein, der kräftig und wür- 
zig ist und dessen Kultur eine fort- 
schreitende Steigerung erfährt. Der 
Jahresertrag beziffert sich auf reich- 


lich 300000 hl. Abb. 6. 


Alte Kastanienbäume auf Korsika. 


Aber fast noch typischer als Olive 
und Wein erscheinen die mächtigen 
Bestände von Edelkastanien, die 
große Wälder bilden und etwa 
27000 ha Boden bedecken. Sie finden 
sich in allen Teilen des Landes 
und kommen bis 900m Höhe vor. 
Ihre Früchte bilden das wesentlichste 
Nahrungsmittel der Landbevölkerung, 
die sie in mehr als zwanzig ver- 
schiedenen Formen zuzubereiten weiß. 
Die Ergiebigkeit der meist kolossal 
starken, zuweilen gigantischen Bäume 
(Abb.5) ist so groß, daß sie der 
Bevölkerung mühelosen Unterhalt ge- 
währt und diese vielfach von ander- 
weitiger Bestellung des Landes und 
besonders von der Feldarbeit abhält. 
Starke Bäume liefern jährlich gegen 
300 Liter Früchte. Noch heute, wenn 
auch nicht mehr in dem Maße wie 
früher, läßt man zur Bestellung der 
Wein- und Getreidefelder sich Arbeits- 
leute und Gärtner aus Italien (be- 
sonders Luccesen) kommen, deren Zahl sich früher auf 
etwa 12000 belief. Jetzt, wo auch rühmlicherweise 
die bebaute Fläche sich bedeutend vergrößert hat, ist 
die Zahl der italienischen „Sachsengänger“ auf etwa 
die Hälfte zusammengeschrumpft, da die Korsen nun 
selber etwas mehr Unternehmungs- und Arbeitslust an 
den Tag legen. Für den Getreidebau eignen sich 
besonders die sehr fruchtbare Balagna sowie die flachen 
östlichen Gestade und die Gegend am Kap Corse. Die 
übrigen Gebiete, also der Süden und Westen, sind wegen 
der Abschüssigkeit ihrer Hänge und deren felsiger Natur 
fast ausschließlich nur für die Baumkulturen geeignet. 
Angebaut wird in erster Linie Weizen, daneben in weit 
geringerem Maße Gerste, Mais, Roggen, Hanf und Flachs. 
Von sonstigen in der unteren bzw. warmen Zone vor- 
kommenden pflanzlichen Charakterformen seien noch 
erwähnt die an ihren intensiv roten oder gelben Beeren- 
früchten kenntlichen großen Erdbeerbäume (Arbutus 
Unedo), die im Februar schon wieder in ihrer immer- 
grünen glänzenden Blattfülle neben den Fruchtbüscheln 





Buchenwald auf der Südseite des Passes von Vizzavona (1000 m). 





Mielert: 


Die Insel Korsika. 61 





des letzten Sommers frische Blütenbündel zeigen, ferner die 
außerordentlich üppig gedeihenden Opuntien und Agaven. 

In der mittleren Höhenzone interessieren besonders 
die noch ansehnlichen Reste der großen, durch Brände 
dezimierten Waldbestände, in welchen dieLaricio-Kiefer, 
aber auch Lärchen, Eichen und Buchen (Abb.6) die 
Charakterbäume bilden. Sie mögen heute etwa den 11. bis 
12. Teil der Insel ausmachen. Beiden Zonen gemeinsam 
sind die Buschwälder mit ihrem Durcheinander eng- 
gedrängter immergrüner Sträucher, die sog. Macchien, 
die große Strecken der Berglehnen bedecken und schwer 
zu durchdringende Dickichte bilden. Für Naturfreunde 
sind diese Macchien das Entzückendste, was man sich 
denken kann. In einer Höhe von !/„bis 4m wachsen 
hier in frischfröhlichem Verein weißüberblühte Myrten, 
Efeu, Brombeersträucher, Klematis, Rosmarin, wilder 
Spargel, bläulich blühende Erika, gelbblütige Heli- 
anthemum, Lawendel, Cistus- und Lorbeerrosen, Tama- 
rinden, Ginster, Zwergeichen, Karuben usw. Sie hauchen 
insgesamt einen warmen würzigen Duft aus, der in 
seiner berauschenden Stärke und Wohligkeit schon allein 
imstande ist, einem das Scheiden von Korsika schwer 
zumachen. An ihren Duft sich erinnernd, brach Napoleon 
auf St. Helena in die. bezeichnenden Worte aus: „A l'odeur 
seule je devinerais la Corse les yeux fermés.“ Wo die 
Macchien Platz lassen, auch als Unterholz in den Wäldern, 
besonders aber in den Ebenen der Ostküste, decken dichte 
Felder von hervorragenden Adlerfarnen das Land; sie 
sind dem Korsen das verhaßteste Unkraut, da sie sowohl 
den Ackerbau wie die Viehzucht schädigen. 

Die Viehzucht steht ebenfalls noch auf sehr geringer 
Stufe, am wenigsten aber ist die Rinderzucht gepflegt. 
Dagegen gibt es etwa 250000 Schafe und 186000 Ziegen. 
Auch die Industrie ist unbedeutend und sorgt nur für 
die einheimischen Bedürfnisse. 

Merkwürdigerweise ist der Korse, im Gegensatz zu 
dem Griechen, ein ausgesprochener Bergbewohner, kein 
Seefahrer. Er liebt, wie schon bemerkt, den Ackerbau 
und andere anstrengendere Arbeit nicht, sondern ist der 
müheloseren Viehzucht zugetan. Fast sprichwörtlich ist 
der Korse wegen seines Gerechtigkeitssinnes, seiner 
Vaterlandsliebe, Tapferkeit, Ehr- und — Rachsucht! 
Letztere zeitigte in Gemeinschaft mit der außerordent- 
lich ausgeprägten Familien- und Verwandtenliebe die 
fürchterliche Sitte der Blutrache. In den frühesten Zeiten 
bildete jede Familie dieses Bergvolkes gleichsam einen 
kleinen Staat für sich, dessen einzelne Glieder fest zu- 
sammenhielten. Wurde eins derselben verletzt, so fühlte 
sich der kleine Staat in seiner Gesamtheit beleidigt. So 
erklärt man sich die Entstehung der korsischen Blutrache, 
welche die verderbliche Eigentümlichkeit besitzt, daß der 
sich beleidigt fühlenden Familie nichts daran liegt, den 
eigentlichen Mörder zu richten, sondern daß es ihr 
genügt, irgend ein Glied aus der Familie des Mörders 
umzubringen. War dies geschehen, so rächte sich die 
andere Familie durch einen neuen Mord, und so zogen 
sich die Feindseligkeiten ohne Aufhören durch Jahrzehnte 
und Jahrhunderte. Der Wohlstand des Landes siechte 
dahin, die Kultur hob sich nicht, die Bevölkerung ver- 
minderte sich infolge dieser rohen Selbsthilfe. In den Jahren 
1820 bis 1852 waren bei den etwa 240000 Einwohnern 
des Landes ungefähr 4300 Morde vorgekommen. Um 
dieser Unsitte ein entschiedenes Ende zu bereiten, hat 
man in den Jahren 1853,54 zwei drakonische Gesetze 
erlassen, die, so hart sie vielleicht scheinen, das einzige 
Mittel waren, dem Unwesen ein für allemal ein Ende zu 
machen. Das eine Gesetz betraf das Verbot, ohne 
Erlaubnis der Behörde Waffen zu tragen. Übertretungen 
wurden unerbittlich durch Konfiskation der Waffe und 


Geld- oder Gefängnisstrafe geahndet. Auf Grund des 
anderen wurden, sobald jemand die Blutrache ausgeübt 
hatte und ins Gebirge entflohen war, des Mörders nächste 
Verwandten so lange gefänglich eingezogen, bis man des 
Täters habhaft wurde oder er sich von selbst stellte. 
Durch dieses Gesetz traf man den Korsen in seinem 


Heiligsten, seiner Eltern- und Verwandtenliebe. Ehe er 
es über sich brachte, seine Eltern oder Geschwister im 
Gefängnis zu wissen, litt er die entehrendste Strafe. Auf 
diese Weise wurde die Blutrache in kürzester Zeit fast 
ganz unterdrückt. Heute aber ist dieses ohne Zweifel not- 
wendige Gesetz wieder aufgehoben worden, und damit 
ist die Vendetta, wie der Korse die Blutrache nennt, 
wieder lebensfähig geworden. Der Mörder, der vor seiner 
Gegenpartei und den Behörden in die Schluchten und 
Macchien der Berge flieht, wird Bandit genannt. Erwird von 
seinen Freunden und Verwandten heimlich mit Nahrungs- 
mitteln unterstützt, fristet aber natürlich ein ziemlich 
klägliches Dasein. Dessenungeachtet genießen solche 
Männer, besonders wenn sie sich durch Geschicklichkeit, 
Schlauheit und Kühnheit auszeichnen, große Bewunderung, 
allerdings in der Hauptsache bei der auf tiefer Kultur- 
stufe stehenden Masse des Volks und dem Abschaum der 
Städtebewohner. Man feiert die Banditen in Erzählungen 
und Liedern, ja auch die Ansichtskartenindustrie be- 
mächtigt sich ihrer und macht durch ihre wohlgelungenen 
Portraits gute Geschäfte, bezeichenderweise nicht zuletzt 
bei den das Land besuchenden Touristen. Eben jetzt 
sieht man in allen Ansichtskartenhandlungen eine Karte 
mit dem Portrait eines Roi des bandits, Königs der Banditen. 
Meist beschließen diese Leute ihr Leben durch dieKugelihres 
Widersachers oder der sie verfolgenden Gendarmen, die 
ihrerseits ebenfalls mit ihrer Geschicklichkeit, zähen 
Ausdauer in der Verfolgung und Todesverachtung eine 
berühmte Spezialität Korsikas bilden, ein Gegenstück zu 
den braven spanischen Guardias. Selten fristet ein Bandit 
ein derartig langes Leben in der Wildnis wie Antonio 
Bellacoscia (f 1893), der fünfzig Jahre in den Schlupf- 
winkeln einer Seitenschlucht des Gravone lebte. Schon 
in früheren Zeiten, so im 18. Jahrhundert, eiferten neben 
der Geistlichkeit einsichtige Männer gegen diese das 
Land entvölkernde Unsitte, freilich ohne den erwünschten 
Erfolg. In ganz Korsika gibt es außer den großen 
Städten nur zwei Orte, deren Einwohner friedlich, ohne 
Vendetta leben, es sind dies Bastelica am Monte Renoso 
und der herrlich gelegene Flecken Vivario (2800 Ein- 
wohner) an der Eisenbahnlinie Corte—Ajaccio. Vor der 
Schwelle der kleinen Kirche dieses Ortes befindet sich 
ein Grabstein, auf dem der Bibelvers (lateinisch) steht: 
Verflucht sei, wer seinen Nächsten heimlich erschlägt 
und alles Volk wird sagen Amen (5. Mos., Kap. 27). 
Der aus dem 17. Jahrhundert herrührende Stein deckt 
den letzten Einwohner des Dorfes, der die Vendetta 
ausübte. Dieser Stein, von dem damaligen Pfarrer des 
Ortes in anerkennenswerter Energie mit jener Inschrift 
versehen, ist der Talisman von Vivario. 

Wie in allen der Kultur noch wenig erschlossenen 
Bergländern blühen auch hier noch die strengen Sitten 
der Berge, Gastfreundschaft und Sittenreinheit. Die 
Stellung des Weibes ist niedrig. Das Volk selbst ist 
zersplittert in etwa 30 große Familienschaften oder 
Familienringe, die einander befeinden und überwachen 
und eifersüchtig gegen jede Bevorzugung anderer an- 
kämpfen. Die Sprache der Korsen ist eine italienische 
Mundart. Musik und Gesang hört man wenig, doch 
wird Poesie gepflegt. Bekannt sind ja die Totenklagen 
der Korsen, die bei Todesfällen, besonders wenn sie durch 
die Vendetta verursacht wurden, eine große Rolle spielen. 
— Die Statur der ländlichen Korsen, unter denen es 


62 Jaeger: Tölz und die Isarlandschaft. 





‘auch blondhaarige und blauäugige gibt, ist fast ausnahms- 
los gedrungen, breitschulterig und mittelgroß. Ihre heutige 
Tracht — die frühere ist nirgends mehr auf der Insel 
zu finden — erhöht noch das Martialische, ja Athletische 
ihrer Erscheinungen. Sie tragen nämlich Manchester- 
anzüge, breitkrempige schwarze Filzhüte und schweres 
nägelbeschlagenes Schuhwerk. Über die samtnen Westen 
binden sie eine breite rote Schärpe. Stolz und Freiheits- 
liebe sprechen aus ihren gesunden kraftstrotzenden 
Gesichtern. Die Frauen der Landkorsen geben sich um 
vieles bescheidener. Schöne Gesichter findet man 
selten unter ihnen. Auch ihre Kleidung ist anspruchslos. 
Daß man viele von ihnen in schwarzen Gewändern sieht, 
erklärt sich durch die lange Trauer, die man um Ver- 
wandte trägt. Um die Eltern trauert man vier bis sieben 
Jahre, um den Gatten trauert die Witwe bis zu ihrer 
Wiederverheiratung oder, wenn sie sich nicht mehr ver- 
heiratet, bis an ihren Tod. 


Die Kost des Korsen ist sehr einfach. Kastanien in 
verschiedenen Zubereitungen, Milch, Brot, Käse, Früchte 
und Wein bilden die tägliche Nahrung. Fleisch gibt es 
gewöhnlich nur an den Festtagen. Der ganzen Lebens- 
weise entspricht auch die bedürfnislose Art zu wohnen. 
Die Häuser bestehen vielfach nur aus vier rohen Wänden 
und einem wenig schrägen Dach. Im Innern, in das man un- 
mittelbar durch die Tür des Hauses tritt, finden sich nur 
die allernotwendigsten Möbel, wie ein Bettgestell, Truhen, 
Wandbretter und allenfalls ein altes Kanapee. Sauber- 
keit kann man den \Vohnungen der Korsen nicht gerade 
nachrühmen. Bei größeren Häusern werden die Räume 
im Erdgeschoß als Stallung, Ölpresse und Vorratskammern 
benutzt, und nur das Obergeschoß dient zur Bewohnung. 
Keller mit gemauerten Wänden sind bei solchen Häusern 
ebenfalls vorhanden. 


(Fortsetzung folgt.) 


Tölz und die Isarlandschaft. 


Von Julius Jaeger. 


München. 


(Schluß.) 


Sind wir hiermit im wesentlichen zu dem Bilde der 
Landschaft gelangt, wie es seit Schluß der Eiszeit den 
Generationen der Menschheit entgegentritt, so lassen die 
Überbleibsel des Tier- und Pflanzenreichs aus früheren 
Zeitaltern und insbesondere aus dem Tertiär keinen 
Zweifel darüber zu, daß das organische Leben schon 
lange vor der Eiszeit sich auch in unseren Breiten ent- 
wickelt hatte, während in dieser kalten Erdperiode, ab- 
gesehen von den Interglazialzeiten, verschiedene Formen 
des Tier- und Pflanzenreichs untergingen oder auswan- 
derten und durch andere Organismen ausdauernder Art 
ersetzt wurden. Anders verhält es sich mit dem 
Menschen, dessen Existenz selbst in der Eiszeit oder 
gar in dem vorausgehenden Tertiär für unsere Ge- 
genden bis heute in keiner Weise dargetan werden 
konnte. Funde in nicht sehr entfernten Landschaften 
haben es allerdings wahrscheinlich gemacht, daß der 
Mensch schon in den Interglazialzeiten der Eiszeit, wie 
in Taubach bei Weimar, oder wenn nicht noch in der 
letzten Eiszeit, so doch früh nacheiszeitlich an der 
Schussenquelle, oder am Rande der Endmoränen wie im 
Keßlerloch bei Thaingen und am Schweizersbilde, oder 
in Höhlen gelebt und gehaust habe, so in der sog. Ofnet 
bei Nördlingen, Waltenhoferhöhle bei Regensburg, Tisch- 
oferhöhle bei Kufstein, Wildkirchli am Säntis in alt- 
oder jungpaläolithischen bzw. neolithischen Zeiten. Aber 
hiervon finden sich bis heute keine Analoga in dem 
bayerischen Alpenlande, überhaupt keine Funde aus dem 
älteren Steinzeitalter der Menschheit, bezüglich 
dessen angenommen wird, daß es dem französischen Mou- 
sterien entsprechend schon vor der Würmeiszeit zu Ende 
ging, während das jüngere Paläolithikum die Würm- 
eiszeit umfassen, das Neolithikum aber erst nach 
dem Gschnitz- und Daunstadium in der Postglazialzeit 
begonnen haben soll!0). Selbst vom Neolithikum fand 
sich bis jetzt in unserem Bezirke nichts, und in anderen 
Teilen unseres Alpenlandes stieß man nur hier und dort 
auf ganz vereinzelte Artefakte, insbesondere Jagdwaffen, 
die nicht auf eine seßhafte Bevölkerung, sondern nur auf 
einzelne Wanderer z. B. zur Aufsuchung bearbeitungs- 
werten Steinmaterials in den Bergen oder streifende 


1%) Penck, „Das Alter des Menschengeschlechts“ in der 
„Zeitschr. für Ethnologie“, 40. Jahrg., 1908, 8. 390 ff. 


Jäger schließen lassen. Auf der Roseninsel im 
Würmsee fand sich jedoch in den Pfahlbauüberresten 
das Neolithikum durch Werkzeuge aus Stein und Band- 
keramik vertreten. Eine regelmäßige Besiedelung trat 
im Alpenvorlande wie im Tölzer Lande erst in den Me- 
tallzeiten ein, besonders in der Bronze- und Hall- 
stattzeit, welche durch Einzelfunde und Hügelgräber 
vertreten sind. 

Hierfür kommen namentlich in Betracht das untere 
Isartal mit Grünwald und Pullach, dann aber auch ein- 
zelne Funde in Tölz, Ellbach, bei Königsdorf und Hügel- 
gräber bei Attenloh, Höhenrain, Münsing und Umgebung 
wie in Walchstadt. Im Hochgebiete wurde ein einziger 
Fund auf der Rauhalpe am Silberkopfe in einer Bronze- 
lanze gemacht, wobei man an einen Verkehr nach der 
Gegend des Achensees denken kann (Höfler). Die sog. 
Birg bei Hohen-Schäftlarn, eine große Befestigung mit 
mehrfachen Wällen und Gräben (Erdwerk), hatte wohl 
die Bewohner bei Gefahren zu bergen und wird der La 
Tene-Zeit zugeschrieben !!). 

Die Abstammung dieser prähistorischen Völker ist 
immer noch dunkel; nur über den letzten Jahrhunderten 
vor Beginn der Römerherrschaft beginnt es einigermaßen 
zu dämmern, indem angenommen wird, daß die aus 
Italien aufgebrochenen Rhätier und später die Kelten 
aus Gallien mit ihrer La Tene-Kultur in unseren Alpen- 
ländern aufgetreten sind. Für beide Völkerschaften 
werden auch eine Reihe von Berg-, Fluß- und Ortsnamen 
in Anspruch genommen wie Scharnitz (Scarbia), Tölz 
(Tullenza, Tollenz), Isar (Isara) usw. Man darf aber darauf 
hinweisen, daß auch längst Germanen diese Gegend heim- 
gesucht haben mußten, wie sogar historisch sicher die 
Cimbern und Teutonen mit den Ambronen bei ihrem 


!!) Eine sorgfältige Feststellung der vorgeschichtlichen 
und römischen Funde des Landes ist nunmehr begonnen 
worden durch das Werk „Die vorgeschichtlichen Denkmale 
des Königreichs Bayern“. I. Bd.: Oberbayern von Dr. Franz 
Weber, mit 5 Karten (München 1909, Selbstverlag des Ge- 
neralkonservatoriums der Kunstdenkmale und Altertümer 
Bayerns), dem eine genaue Inventarisierung in den Jahren 
1903 bis 1908 vorausging. Dabei wurde natürlich eine strenge 
Musterung gehalten und wurden eine Reihe von unsicheren 
Angaben über Einzelfüunde oder Bodenaltertümer, welche die 
Nachprüfung nicht bestanden, ausgeschieden und als unhalt- 
bar bezeichnet. 


Jaeger: Tölz und die Isarlandschaft. 





Zuge über die Alpen in die oberitalienischen Gefilde, und 
daß man es nicht als unberechtigt ansehen kann, wenn 
verschiedene Schriftsteller dem deutschen Elemente 
gegenüber Rhätiern, Kelten und Römern einen größeren 
Einfluß auf das Alpenland und seine örtlichen Namen 
einräumen wollen, wobei jedoch die Gefahr einer Über- 
treibung zu bekämpfen wäre 12). 

Eine unzweifelhaft historische Bedeutung hat nun 
aber dieRömerherrschaft in den Alpen- und nördlichen 
Voralpenländern während der ersten fünf christlichen 
Jahrhunderte mit ihren Provinzen Rhätien, Vindelicien und 
Norikum, sie hat dort zahlreiche Spuren ihrer Anwesen- 
heit in Straßenführungen, Befestigungen, Lagern, Schanzen, 
Landhäusern und in Einzelfunden hinterlassen. Speziell 
in unserer Landschaft sollen auch verschiedene Örtlich- 
keiten, wie z. B. Rappinalpe und Rappinbach (von ro- 
vina), Silvenstein (von silva), Blomberg bzw. Planberg 
(mons planus — nach Sepp jedoch Blumenberg), Juifen 
(jugum Joch), Krün (carina), Klais (clausa oder clusa), 
Spiegel bei Tölz (spicula, specula), Speckberg (auch von 
specula — Wartberg), Vereins-Alpe (verrines alpes), Na- 
derhäusl (von nautarius — Überfuhrhäusl bei Tölz und 
Hoheneck), Straß am Buchberg (strata via) ihre Namen 
vom Römischen herleiten. An Straßen, gutenteils wohl 
Verbesserungen von Keltenstraßen, ist die Isarstraße von 
Tölz über Bairawies, Grünwald (Kreuzung der Konsular- 
straße), Oberföhring bis Neufahrn und Birkeneck; dann 
die Querstraße Waakirchen, Wörnern (Stück der großen 
Straße Salzburg— Kempten, ursprünglich wohl keltische 
Saumstraße zur Salzverfrachtung von Traunstein an den 
Lech) über die zweifelsohne in Tölz errichtete Isarbrücke 
(Fund römischer Bronzemünzen, auch glaubte man Mauer- 
reste auf beiden Seiten der Brücke aus dieser Zeit ge- 
funden zu haben), dann Ortsstraßen von Tölz nach 
Königsdorf und Ellbach, Greiling und Reigersbeurn, wie 
das „Römerstraßl“ hoch am Dürrenbergerjoche, südlich 
des Demeljoches, welches zu Rothwandalpe und Juifen 
und weiter wohl zur Pertisau führte (dessen römischer 
Ursprung übrigens bezweifelt wird), zu nennen. Außer- 
dem sind Einzelfunde zu erwähnen von Bairawies, Reigers- 
beurn (wohl römische Turmstelle), Achmühle, Baierbrunn, 
viereckige Umwallungen mit Graben im Hachinger Holz, 
dann in Oberbiberg, bei Deinig und Riedhof, Bronze- 
münzen in Unter-Schäftlarn, ein Silberdenar in Tegerndorf 
bei Münsing. 

Insbesondere war nach der ganzen strategischen Lage 
von Tölz als Flußübergangsstätte am Ausgang des Ge- 
birges dort eine auch durch den Fund römischer Münzen 
angedeutete römische Ansiedelung. Die bei Baierbrunn, 
Schäftlarn, Baierrain, Reigersbeurn, Hechenberg, Icking, 
Walchstadt und besonders in Münsing und Umgebung 
sich findenden Hochäcker, welche auf Gemeinschaftlich- 
keit an Grund und Boden, große Viehweiden, ausgedehnte 
Rodungen deuten, müssen wohl schon der keltischen Zeit 
zugeschrieben werden, wurden aber dann von den Römern 
respektiert bzw. weiter benutzt. Man trifft sie vorzugs- 
weise noch in Waldungen verbreiteter an, indem diese 
nach Verfall des Hochackerbetriebes wieder einen größe- 


12) So z. B. August Prinzinger der Ältere in Salz- 
burg, auch Dr. A. Peez, „Die Stammsitze der Bayern und 
Österreicher“ in Beil. zur „Allg. Ztg.“ vom 18. Novbr. 1899, 
Nr. 264, 8.1ff. und A. Wessinger in „Zeitschr. des deutsch. 
u. österr. Alpenvereins“, 1885, Bd. XVI, 8. 159 ff. und von 
1888, 8. 118; dann „Ortsnamen des Bezirksamtes Miesbach“ 
in „Beiträgen zur Anthropologie Bayerns“, 1886, 8. 33 ff.; 
weiter V. Hintner, „Über einige Talnamen Deutsch-Tirols“ 
in der Zeitschrift des Ferdinandeums von 1900, 8.59 ff. Ihr 
Eintreten für deutschen Ursprung der Namen ist um so be- 
merkenswerter, als die zumeist berücksichtigten Länder Salz- 
burg und Tirol weit mehr Namen von romanischem Klange 
enthalten als z. B. unser bayerisches Alpenland. 


ren Umfang annehmen konnten, während die außerhalb 
gebliebenen Hochäcker wohl vielfach dem verbesserten 
Ackerbetriebe werden haben weichen müssen. Die Be- 
setzung der Gegend von Münsing mit Hügelgräbern und 
Hochäckern und Einzelfunde dortselbst geben zu 
erkennen, daß die Prähistoriker sowohl als auch die 
Römer diesen Übergang zwischen Isartal und Würmsee 
wohl zu benutzen wußten. 

Unter dem Ansturm germanischer Völkerschaften zur 
Völkerwanderungszeit fand schließlich die Herrschaft der 
Römer in den deutschen Gauen ihr Ende. Bei Rück- 
wanderung dieses mächtigen Elementes blieben aber 
immerhin zahlreiche Kolonen, die sich hier angesiedelt 
hatten, im Lande zurück und behaupteten sich in ein- 
zelnen Ortschaften, die man Walchenorte nennt, indem 
die römischen Ansiedler von den deutschen Bewohnern 
überhaupt die Walchen, d. h. die Welschen, genannt 
wurden. Dergleichen Ortschaften sind in unserer Land- 
schaft z. B. Rimselrain (915 Rimistirain, Rain der Röm- 
linge, vgl. Rimsting am Chiemsee), Rummelsburg (Ruminis- 
perch, Berg der Römer), Wackersberg (urk. Walchonis- 
perg), W.allgau (765 Walhogoi), die Walchen (Bach bei 
Fall mündend — Abfluß des Achensees), Walchstadt (bei 
Wolfratshausen), Rappin- und Walchenalpe bei Krinner 
am Berge in der Jachenau. 

Die dauernde Verdrängung der Römer aus den Donau- 
provinzen war zumeist durch die Einwanderung der Ba- 
juvaren von Nordosten her verursacht, welche zunächst 
das ebene Getreideland und später erst das Gebirge in 
Besitz nahmen. Dieser Invasion und nachfolgenden An- 
siedelung werden bekanntlich die auf die Endung -ing 
ausgehenden Namen südbayerischer Ortschaften, 
dann die Anlage der sog. Reihengräber zugeschrieben. 
Auch in unserem Bezirke fehlt es, wenigstens in den 
nördlichen zur Landwirtschaft geeigneten Teilen, nicht 
an solchen Ortsnamen, wie das bei Tölz gelegene Greiling, 
dann weiter nördlich Leutzing, Gelting, Ascholding, Har- 
mating, Egling, Münsing, Icking, Deining, Thanning be- 
zeugen. Reihengräber haben sich mit Sicherheit bis 
jetzt erst in Greiling und Beigarten, Gde. Straßlach, ge- 
funden, und verschwinden dieselben überhaupt gegen 
Sümpfe, große Forsten und Gebirge (Fr. Weber). Ver- 
schieden von den Walchenorten und solchen mit Namen auf 
-ing sind eine Reihe Ortsnamen vom Wasser (ach, bach) 
hergenommen, woran sie liegen wie Gaisach, Steinbach, 
Fischbach, Arzbach, Ellbach (Elehenbach), dann vom 
Walde (lach, lohe) wie Schaftlach (Scaftlohe), von der 
Baumart, wie Ober- und Unterbuchen, von der Boden- 
beschaffenheit und Lage wie Moosen, Anger und Leng- 
gries (Sand), Wackersberg, Untermberg, Huppenberg, 
Rothenrain, Schönrain, Ramsau, Enzenau, Kirchbichl 
(Bühel, Hügel), Holzwang (Grasboden im Holz). Auf 
Siedelung in Dörfern deuten die Namen Rigers- und 
Benedictbeurn, Königsdorf, Dorfen, während die 
Namen von Einzelsiedelungen auf -ham, -kam, -heim, 
-hofen ausgehen, wie Niederam, Sachsenkam, Piesenkam, 
Mosham, Höfen, Beuerhof, Gilgenhöfe, Osterhofen, 
Manhardshofen. Auf die Bayern wird Bairawies, Baier- 
brunn, Baierrain und Feggenbaiern zu deuten sein, auf 
christliche Zeiten Kirchbichl, Kirchsee, Dietramszoll. Be- 
merkenswert erscheint, daß in unserer Landschaft der 
Waldgürtel vom eigentlichen Gebirge durch das Allgäu 
(818 Alpagowi — Alpengau) und durch den Warngau 
(995 Waringouwa) getrennt war. Früher baumreicher als 
jetzt hießen die Höfe hier noch „In den Linden, in den 
Buchen, in der Eich“, Ornet (Ahorn), Attenloh (Eschen- 
wald), Haslach, Staudach, Reisach, Buchberg. Auch auf 
den Moränen hießen die Höfe nach der Lage „Feller, 
Angerer, Holzer, Lettner, Haslauer, Mooser“ usw. Feld, 


Friesengut am Buchberg. 


64 Jaeger: Tölz und die Isarlandschaft. 





Wald und Weide liegen um den Hof herum, und die vor- 
herrschende Arbeit zielt auf Holz, Weide und Streu, 
während der Getreidebau auch bei Hechenberg, Sachsen- 
kam, Bairawies noch spärlich ist 13). 

Außer den Bajuwaren und dem Einflusse von Ale- 
mannen, wie er im westlichen Vorlande schon im Dia- 
lekte von Kochel und Benedicetbeurn hervortritt, waren 
auch noch Slawen an der Mischung des Volkstums be- 
teiligt, insbesondere Wenden, aber nur in untergeord- 
neter Weise und zumeist wohl infolge von Kriegsgefangen- 
schaft. So wurden solche zur Bearbeitung der Moorgründe 
zwischen Königsdorf und Beuerberg in der sog. Winidau 
oder Wendenau (palus magna Wynidouwa) verwendet, 
und werden die Namen slawischer Hörigen bei Walch- 
stadt, Deining und Icking (800 n.Chr., nach Hundt) er- 
wähnt; aber daß auch der Name Tölz, wie Sepp will, 
slawischen Ursprungs sei, wird zu bezweifeln sein. 
Allerdings machten sich slawische Eigentümlichkeiten 
auch in religiösen Anschauungen, Ortsbenennungen und in 
der Tracht geltend. So brachten sie ihre Regengöttin 
Dodola mit, und die Namen Dudel, Dudelhausen, Dudel- 
alm sind im Isarwinkel zu Hause, wie man auch von 
einer windischen Tracht spricht 14). 

Ein nicht seltener Hausname ist auch Beham, der 
Böhm. 

Nach den Sachsenkriegen verpflanzte Karl der Große 
auch Sachsenkrieger in den Bezirk, wovon die Ort- 
schaften Sachsenkam, Sachsenpiesenkam, auch Sachsen- 
hausen bei Wolfratshausen Zeugnis geben. Die Auf- 
nahme von Hessen deuten die Ortschaften Hessenthal, 
Hessenbühel, Hessenmühle an, von Wäringern die alte 
Bezeichnung Waringouwa (Warngau), von Friesen das 
Bei all diesen fremden 
Stammesangehörigen ist mehr an einzelne Versprengte, 
Kriegsgefangene oder Flüchtlinge (30 jähriger Krieg usw.) 
zu denken, als an eine regelmäßige Einwanderung. 
Übrigens siedelten im 17. Jahrhundert Tiroler Berg- 
werksleute in die Gegend von Tölz über (früheres Erz- 
bergwerk bei Arzbach und einzelne Kohlenfunde) und 
sorker schon Bewohner des oberen Isartales (Floß- 
leute usw.) 

Alle diese so verschiedenen Elemente wie Rhäter, 
Kelten, Römer, Slawen und Germanen verschiedener 
Stämme haben durch Vermischung natürlich ihren Ein- 
fluß auf die Rasse, besonders bezüglich der Schädelbil- 
dung und Ausprägung des Gesichtstypus, ausgeübt und 
auch bewirkt, daß in Tölz z. B. 20 Proz. Brünette gegen- 
über 11,63 Proz. in Preußen gezählt worden sind. Im 
übrigen gehört schon besondere Anlage, Geübtheit und 
Aufmerksamkeit dazu, um in Volksangehörigen ein oder 
das andere fremde Element zu ermitteln oder auch nur 
zu vermuten, und es hat erst die wissenschaftliche soma- 
tische Untersuchung einiges Licht gebracht, wie denn 
das verhältnismäßig häufige Vorkommen von Rundköpfen 
(genauer schmalgesichtigen Kurzköpfen) mit dunklen 
Augen und Haaren in Südbayern auf romanische Ein- 
flüsse zu deuten scheint 15). 

Die ferneren Schicksale unserer Landschaft sind im 
allgemeinen dieselben wie in Bayern südlich der Donau 


13) Höfler, „Der Isarwinkel*, S. 35 ff. u. 57 ff., führt 
die Beschaffenheit und Bedeutung dieses landwirtschaftlichen 
Bezirkes des näheren in interessanter Weise aus. 

14) Auch Umzüge mit dem Bilde der Dodola mit der 
Bitte um Regen sind zu erwähnen; vgl.J.Sepp, „Die Grün- 
dung von Tölz 763“ in der Beil.zur „Allg. Ztg.“ vom 5. März 
1907, Nr. 54, 8. 427 f. 

1$) Die grundlegenden Untersuchungen sind in der Arbeit 
von Dr. J. Ranke, „Die Schädel der altbayerischen Land- 
bevölkerung“, in den „Beiträgen zur Anthropologie Bayerns“, 
Bd. V, Heft 2 u. 3, 1883, 8. 53 ff. enthalten. 


überhaupt. So die Christianisierung durch den heil. 
Severin (t 480). Eine Kirche in Heilbrunn soll schon unter 
Konstantin d.Gr.erbaut worden sein. Vom heil. Valentin 
in Passau (435 bis 460) datieren 12 Valentinkirchen der 
Isar entlang, wie auch der heil. Rupert v. Salzburg (etwa 
600), der den Herzog mit seinem Volke taufte, bedeuten- 
den Einfluß äußerte 16). Die ältesten Kirchen sollen sich 
über heidnischen Tempeln erhoben haben, und Spuren 
des Nornendienstes zeigen sich in Schlehdorf, Sachsen- 
kam, auf dem Frauenberg bei Hartpenning usw. Klöster 
wurden gegründet in Schäftlarn, Dietramszell und Reut- 
berg, und es waren die Benediktiner vom 6. Jahrhundert an 
tätig (Benedietbeurn).. Die von den Hunnen unab- 
sichtlich verschonte Hauptkirche in Königsdorf (Kumiz- 
dorf) galt als Mutterkirche des ganzen Isartales von 
Ascholding bis zum Rißbach, und Tölz war eine Filiale 
von jener. 

Politisch gehörte der Isarwinkel zum Sundergau, und 
saß der frühest bekannte Gaugraf Cundhart zu Huckins- 
perg (Huppenberg), wo auch wie in Tölz und später in 
Lenggries eine Dingstätte bestand 17). 

An Burgen ist Hohinspurch (oberhalb des heutigen 
Hohenburg), Schellenburg, Burg Tollenz, Hohenegge, 
Hochenperch (jetzt Hechenberg) zu erwähnen, wie auch 
am Eglsee bei Sachsenkam („am Burggraben“) Spuren 
ehemaliger Befestigung sich gefunden haben sollen. 
Das Gebiet zwischen Loisach und Isar befand sich 
dazumal in bischöflichem, gräflichem oder klöster- 
lichem Besitz. Von Kriegsstürmen hatte der Bezirk 
viel zu leiden. So insbesondere schon bei den Ver- 
wüstungen der Ungarn (907 bis 955). Der Hauptort 
Tollenz entstand nach München 1158 und Landshut 
1180 18), und waren seine ersten Bewohner Holzarbeiter, 
Flößer, Steinhauer und Kalkbrenner, die sich auf dem 
Ried und Gries ansiedelten. Um 1180 erscheint ur- 
kundlich ein Hainricus de Tolnze, dem die Erbauung der 
Burg in Tölz zugeschrieben wird (dicht an der jetzigen 
Pfarrkirche), welche Ende des 17. Jahrhunderts bis auf 
die Gruftkapelle abgebrochen worden sein soll. Das 
jüngere fürstliche Schloß ward erst 1460 (östlich vom 
heutigen Garten des Bürgerbräu) erbaut. Die ober- 





16) Westermeyer, „Chronik der Burg und des Marktes 
Tölz“ 1891, 8. 14/15. An den Walchenorten wurde das Vor- 
handensein römisch-christlicher Kirchengemeinden schon zur 
Zeit der Völkerwanderung vermutet, so z. B. in Groß-Ding- 
harting, Walchstatt bei Icking. „Vorgeschichtl. Denkmale 
im Gebiete von München“ von Fr. Kroff in einer Beilage 
der „Münch. N. Nachr.“ vom Oktober 1909. 

l7) Der südliche Teil des Tölzer Bezirkes gehörte jedoch 
noch zum Walchengau. Später bildete das Tölzer Land einen 
Teil der Grafschaft Wolfratshausen, während Tölz nachmals 
ein herzogliches Pflegegericht Rentamts München wurde, als 
es vom Bistum Freising, an das es von den Herren von 
Tolnze überging, 1265 zu Lehen an Herzog Ludwig II. abge- 
treten worden war. Götz, Handbuch der Geographie von 
Bayern. Bd. I: Oberbayern. 

18) Nach Sepp wäre Tölz schon 763 entstanden, der 
Name (Tollenz) aber vom slawischen dole (Talgrund) abzu- 
leiten, nach anderen vom keltischen tuille oder tol = Hügel 
oder tollenz (wie das keltische Bregenz, Bludenz usw.) oder 
aber aus dem Rhätischen oder Etruskischen (tulunusa). 
Wessinger denkt an das ahd. dola = Abzugsgraben, Dole. 
Ehedem hieß Tölz übrigens tolet (Ortlef de Tolet), tolnze 
(Heinrich de Tolnze), tölnz, tholansa, Tollense Tollenz, Tol- 
lezn, Tolnse, Tulnz, Tolnz, Tol, Tolhe, 1392 zum ersten Male 
Töltz, dann wieder abwechselnd Tolisz, Tollezt, Tultz und 
Tolntz, während man ausschließlich Tölzt oder Tölz erst seit 
300 Jahren schreibt. Die Römeransiedelung mag Tollentum 
oder Tollusium geheißen haben. Siehe Westermayer, a.a. 0., 
8. 1. u. 2; Götz, a. a. O., 8. 411 usw. Offenbar scheint der 
Name von den Römern nur übernommen worden zu sein, 
und wird das ungemeine Schwanken in der Namensbezeich- 
nung von Tölz auf die Unsicherheit des deutschen Schreib- 
wesens im Mittelalter und den fremdländischen Klang des 
Namens zurückzuführen sein. 


Jaeger: Tölz und die Isarlandschaft. 





ländische Salzstraße von Reichenhall ging über die Brücke 
bei Tölz, durch das in besseren Zeiten 800 bis 1000 
Saumpferde passierten. Seit 1588 bildeten auch die 
Sämer (Salzführer) eine eigene Körperschaft zu Tölz. 
Die Salzstraße führte weiter über den Buchberg, Sindels- 
dorf, Murnau, Füssen, Schongau nach Schwaben und in 
die Schweiz. Die ersten Bürger von Tölz waren Schmiede 
und Wagner. Als Markt erscheint Tölz urkundlich 1281. 
Sein Wappen ist ein halber goldener Löwe im schwarzen 
Felde. Auch war dort vom gleichen Jahre an ein her- 
zogliches Kastenamt; erster Pfleger Conrad v. Eglinger. 
Als Gericht (comitatus) erscheint Tölz in den späteren 
Jahren Kaiser Ludwigs des Bayern 1343; erster Richter 
Ingram v. Sachsenkam. Bannmarkt mit Magistrat, Markt- 
recht, freier Bürgeraufnahme und Jurisdiktion 1331. 
Blüte im 16. Jahrhundert, wo es sogar Vertreter zu 
Fürstenversammlungen abordnen konnte. Heute hat 
Tölz, das bis dahin als schönster bayerischer Markt galt. 
städtische Verfassung und zählt über 5000 Einwohner. 
Bei den inneren Fehden der bayerischen Herzöge hatte 
Tölz viel zu leiden. Ein großer Brand von 1453 zer- 
störte die Frauenkirche und die anstoßende herzogliche 
Burg. Wiederaufbau von Markt, Pfarrkirche und Schloß 
unter Albrecht III. (Gemahl der Agnes Bernauer). Jaco- 
baea, Gemahlin Herzog Wilhelms IV., nahm mit Vorliebe 
Aufenthalt in Tölz und badete auch schon in Heilbrunn. 
Einsturz des Schlosses 1770, Abbruch 1777. Während 
früher, wie überhaupt in Bayern, auch in Tölz dem Wein 
gehuldigt wurde, kam Ende des 16. Jahrhunderts die 
Bierbrauerei in Aufschwung, und bis ins 19. Jahrhundert 
war das Tölzer Bier in München das beliebteste. Neben 
der Brauerei spielte auch die Flößerei auf der Isar eine 
Hauptrolle in der gewerblichen Betätigung. Waren und 
Geld kamen aus Welschland auf dem Wasserwege zu 
den Hauptorten des Isarwinkels durch die Hilfe des 
Schöffmanns (verdorbene Form: „Schomer“ bis heute ge- 
bräuchlich) und Floßmanns. Die Isar ist nämlich von 
Mittenwald an flößbar und wurde früher auch mit 
Schiffen befahren. So fuhr der griechische Kaiser Pa- 
laeologus 1424 aus Italien kommend auf fünf Schiffen 
die Isar hinab und weiter nach Ungarn. Bei sinkendem 
Wasserstande wurden Felssprengungen am Fall 1404 
und später 1790, in der Riß 1531, oberhalb Tölz 1535, 
am Sulver- oder Sylverstein 1531, bei Ascholding 1537 
nötig. Ein brauchbarer Fahrweg neben der Isar soll 
etwa 1469 entstanden und damals die heutige Straße 
durch die Stallau nach Benedictbeurn anstatt des frü- 
heren Weges über den Buchberg hergestellt worden sein. 
Im Jahre 1893 verkehrten noch gegen 6000 Flöße 
mit Brennholz, Brettern, Kalk, Kohlen und Gips auf der 
Isar. Längere Zeit bestand auch eine regelmäßige 
Personenbeförderung in der sog. Ordinarifloßfahrt von 
Tölz isarabwärts, die aber seit Verbesserung der Verkehrs- 
mittel eingestellt wurde. 

Die älteren Häuser des Marktes Tölz sind durch Fresko- 
malereien und Inschriften, wodurch in den oberbayerischen 
Märkten eine plastische Verzierung ersetzt werden sollte, 
vielfach geschmückt und geben dem Orte ein recht 
freundliches Ansehen. Tölz hatte auch ein Tanzhaus 
(zu ebener Erde Brothaus), wo namentlich bei Hochzeiten 
Ehrentänze aufgeführt und worin seit 1640 auch Theater 
gespielt wurde. Religiöse Schauspiele gab es hier wohl 
schon im Mittelalter und durch etwa 200 Jahre alljährlich 
am Karfreitag ein Passionsspiel, dann eine Prozession der 
vermummten Geißler vom Kalvarienberge.e Auch wurde 
der von München aus der Pestzeit 1517 überkommene 
Gebrauch des Metzgersprunges zur Faschingszeit geübt. 


Die verdientesten Pfleger in Tölz mit dem Sitze im neuen 
Schlosse waren in drei Generationen die Edlen von 
Winzerer. Kaspar von Winzerer, der dritte Pfleger, war 
mehrmals Feldhauptmann neben Georg von Frundsberg 
und anderen und nahm 1525 an der siegreichen Schlacht 
von Pavia gegen Franzosen und Schweizer teil, dann an 
den Bauernkriegen 1525/26 usw., wie an den Türken- 
kriegen. Im Jahre 1632 legten die Schweden, welche 
Tölz vom Ölberge aus in Brand schossen, dem Markte 
schwere Brandschatzungen auf, und 1633 wurde derselbe 
durch einheimische und spanische Soldateska beunruhigt; 
1634 herrschte dort und besonders in Wackersberg die 
Pest. Bei Anteilnahme Max Emanuels am Türkenkriege 
mußten die Flößer von Tölz Vorräte ins Lager bei Ofen 
verbringen. Im Spanischen Erbfolgekrieg 1703/04 litt 
Tölz an den Raub- und Rachezügen der Tiroler ins Isar- 
tal. Im Sendlinger Bauernkriege 1705 war Tölz und 
der Isarwinkel !?) der Hauptherd der Bewegung. Im 
Österreichischen Erbfolgekriege hausten die Panduren 
im Isarwinkel und brandschatzten Tölz im Jahre 1742 2°). 
— Außer der spätgotischen Pfarrkirche im Orte, Maria 
Hilfskirche auf dem Mühlfelde, Dreifaltigkeitskirche der 
Franziskaner am linken Isarufer interessiert uns die im 
Zopfstil erbaute Kalvarienkirche (mit zwei Etagen: Ober- 
und Unterkapelle), von Fr. v. Nockher um 1720 errichtet. 
Im Mittelalter war die Anhöhe eine Schwaige von Tölz 
des Namens „die Hechenbergerin“, größtenteils Gemeinde- 
weide. Westlich von der Kirche wurde 1718 die Leon- 
hardskapelle errichtet, wo alljährlich am 6. November 
noch heute die Leonhardsfahrt für den Patron der Haus- 
tiere, besonders der Pferde, mit geschmückten Bauern- 
wagen in großem Stile abgehalten wird. Kreuzweg- 
stationen führen zu einem Ölberge am östlichen Abhang. 
Weit bekannt ist, wie oben schon angedeutet, der Kal- 
varienberg wegen seiner Aus- und Rundsicht auf die 
reizende Umgebung von Tölz und die stolze Kette der 
nördlichen Kalkalpen. — Das Mineralbad Kranken- 
heil (über der Brücke) verdankt seine Entstehung den 
Forschungen des Botanikers Prof. Otto Sendtner 1846. 
Dr. Rohatsch aus Sachsen faßte drei Mineralquellen und 
nannte den Brunnen Krankenheil (Brunnenschrift 1849, in 
5. Aufl. mit Beiträgen von Dr. Petz und Höfler). Bäder 
wurden zunächst in den Bauernhäusern des Sauerbergs 
und im Zollhause 1849 eingerichtet; 1857 wurde die 
sog. Annaquelle nach Krankenheil hereingeleitet unter 
Aufhebung der Bäder im Markte und Zollhause. 

Bemerkenswert ist auch die starke Jodquelle in dem 
benachbarten Bade Heilbrunn bei Bichl, welche seit 
den Ungareinfällen bereits bekannt und — nach Schil- 
derung eines Mönches — vom Stifte Benedictbeurn 
wieder aufgefunden worden sein soll 21). 





19) Der Isarwinkel, bezeichnet durch das Knie, das 
die Isar zwischen Wallgau, Fall und Tölz beschreibt, ist ge- 
wissermaßen ein anthropogeographischer Gau mit einem durch 
den Volksschlag, seine Kraft und Ursprünglichkeit, seine 
Sitten und Gebräuche bedingten gemeinsamen Gepräge. 

2) Im Jahre der Tiroler Erhebung fand nur ein kurzes 
Gefecht zwischen Tirolern und bayerischem Militär und 
Bürgerwehr im Juli 1809 bei Lenggries statt, wobei ein Ti- 
roler fiel. Siehe „Über die Rückwirkung der Erhebung Tirols 
1809 auf den Isarwinkel“ Carl Pfund in der „Monatsschrift 
des historischen Vereins Oberbayern“, Jahrg. 9, Heft 3 u. 4, 
S. 41. 

”) Für die geschichtlichen und besonders kirchlichen 
Verhältnisse ist bemerkenswert G. Westermayer, „Chronik 
der Burg und des Marktes Tölz“ 1891, dann aber Dr. M. 
Höfler, „Der Isarwinkel“ 1891, und „Der Führer durch 
Bad Tölz und Umgebung“ 1901 (7. Aufl.), welche auch in 
einer Reihe der verschiedensten anderen Beziehungen wich- 
tige Aufschlüsse gewähren. 


66 Steinmetz: Eine Berichtigung zu Eduard Hahns Aufsatz „Niederer Ackerbau oder Hackbau“. 


Eine Berichtigung 
zu Eduard Hahns Aufsatz „Niederer Ackerbau oder Hackbau“. 


Ich bin der Überzeugung, daß es für den praktischen 
Betrieb der Wissenschaft von großem Werte ist, auf den 
Prioritätsanspruch bei Hypothesen, Theorien und An- 
schauungen genau achtzugeben. So geschieht es auch in 
allen Wissenschaften, ‘die schnell und positiv vorwärts- 
schreiten. Es befremdete mich daher, als ich in der Globus- 
nummer vom 7.April dieses Jahres in Hahns Aufsatz 
„Niederer Ackerbau oder Hackbau“ auf S.203, zweite 
Spalte, zweiter Absatz von oben die Worte las: „es ist... 
nicht nötig, daß ich von meiner!) Grundanschauung, 
daß die Bodenkultur im großen und ganzen auf die Ini- 
tiative.der Frau zurückgeht, absehe.“ Die Ansicht oder 
die Hypothese, daß die Frau die Bodenkultur entdeckt 
habe, nimmt Herr Hahn hier also für sich in Anspruch. 
Ob mit Recht? 

In seinem Werke „Das Alter der wirtschaftlichen Kul- 
tur“ von 1905 nennt er als „gewichtigen Vorgänger“ in 
diesem seinen Gedanken Heinrich Schurtz, der in seiner 
„Urgeschichte der Kultur“ 1900 denselben Gedanken 
ausgesprochen hat, S.241, wie mir vorkommt, ohne Be- 
deutendes hinzuzufügen. Und weiter nennt Hahn allein 
noch von den Steinen, aber diesen nur, als ob er bloß auf 
die Bedeutung vom Wegfangen fremder Weiber in diesem 
Zusammenhange gesprochen hätte. Wie jeder weiß, und 
wie ich kaum ins Gedächtnis zurückzurufen brauche, 
spricht von den Steinen sich aber sehr deutlich in diesen 
Worten aus: „Der Mann hat die Jagd betrieben und 
währenddes die Frau den Feldbau erfunden“, auf S. 214 
seines bekannten Werkes „Unter den Naturvölkern Zentral- 
Brasiliens“ von 1894, und er fügt sehr schöne Bemer- 
kungen daran. Im Jahre 1895 spricht Otis Tufton Mason 
in seinem Buche „Woman’s Share in Primitive Culture“ 
über die große nützliche Arbeit der Frau als Sammlerin 
von wilden Vegetabilien und fährt dann folgenderweise 
fort: „It was the genius of the women that invoked the 
aid of the fire fiend to devour the forests; it was they 
that cleaned up the fields, planted the seeds, gave to the 
growing crops of maize and pumpkins all the cultivation 
they got, without the help of horse or dog or any other 
creature“ (S.147). Er beruft sich hierbei auf eine Ar- 
beit von Lucien Carr in „Ky. Geol. Survey, no date“, die 
ich nicht kenne, und von der Mason auf derselben Seite 
sagt: „The greatest tribute paid to savage women as 
tillers of the soil is by Lucien Carr. This author has 
noted down, after an extended reading of many years, 
the testimony of all the ancient discoverers and explorers 
of North America concerning the Indian women as far- 
mers.“ Auch Mason, auf 5.18 und 19 des genannten 
Buches, bespricht die sonstigen hiermit zusammenhängen- 
den Erfindungen, die wir seiner Meinung nach den Frauen 
verdanken. 

Hahn behandelt in seinem inhaltsreichen Werke über 
„Die Haustiere“ von 1896 das Sammeln von wilden Ve- 
getabilien und den sehr bedeutenden Anteil der Frauen 
daran nicht gesondert, oder vielmehr das letztere mit 
keinem Worte und das erste nur mit sehr wenigen auf 
S. 385. Jagd und Fischfang sind ihm die erste Kultur- 
stufe, das Sammeln ein bloß hypothetischer Urzustand. 
Auch bei seiner Besprechung des Hackbaues S. 388 bis 396 
erwähnt er die Frauenarbeit mit keinem Worte, und 
ebensowenig bei seiner Behandlung der Anfänge des 
Ackerbaues; S. 538 führt er nur ganz nebenbei aus Catlin 
an, wie die Squaws die Zizania Aquatica pflegen. 


1) Die Sperrung ist von mir. 


Schurtz war also nicht der einzige Vorgänger Hahns 
in der Hypothese über die Erfindung des Landbaues durch 
die Frauen. Mason und von den Steinen hätte er eben- 
falls nennen müssen, besonders da er dem Gedanken 
selbst einen so großen Wert beimißt, worin er meines 
Erachtens vollständig recht hat. 

Aber der erste von diesen drei Vorgängern Hahns 
hatte schon einen Vorgänger, der den Gedanken bedeu- 
tend früher aussprach, Julius Lippert, der in seiner 
„Kulturgeschichte der Menschheit“ von 1886 im ersten 
Bande sich mit großer Bestimmtheit wie folgt ausläßt: 
„...es müßte die Frau sein, welche die Fürsorge zur 
ersten Stufe des Landbaues lenkte“ (S. 446), „dieser An- 
bau war überall Sache der Frau“, und „... Erfindung des 
Landbaues durch die sorgenvolle Arbeit der Frau“ (S. 447). 

Diese wenigen Worte genügen, um Julius Lippert die 
Ehre zu sichern, die ihm zukommt: den Gedanken von 
der unendlich folgenschweren Erfindung der Landkultur 
durch die Frauen zuerst erfaßt und klar ausgesprochen 
zu haben. Schurtz hatte das Vorangehen von Lippert 
und von den Steinens sofort erkannt. 

In seinem „Alter der wirtschaftlichen Kultur“ 1905, 
S.31 wirft Hahn der Ethnologie vor, die ganze Arbeits- 
teilung zwischen Mann und Frau und besonders ihre Er- 
findung und Besorgung des primitiven Landbaues bei der 
Darstellung der Anfänge des Ehe- und Güterrechts nicht 
berücksichtigt zu haben. Wir wollen sehen, ob er hier- 
mit im Rechte ist. Schon Friedrich von Hellwald betont 
im Jahre 1889 in seinem Buche „Die menschliche Familie“, 
S. 202 bis 203 den Kern der Sache, indem er sagt: „Im 
Kreise der feldbauenden Bevölkerungen (war) die Frau 
als Mutter bloß der anerkannte Mittelpunkt der Familie“, 
und hieraus entwickelte sich das eigentliche Matriarchat, 
das „hauptsächlich bei pflugführenden Völkerschaften an- 
getroffen wird.“ Und kein Geringerer als Herbert Spencer 
hat in der ersten Auflage von 1876 der „Principles of 
Sociology“ im ersten Bande den Zusammenhang zwischen 
der Arbeitsteilung der Geschlechter und der Stellung der 
Frauen erörtert: S.717 ff. Noch deutlicher wies Lippert 
in seiner „Geschichte der Familie“ von 1884, S. 30, auf 
den Zusammenhang zwischen der Eigentumsstellung der 
Frau, Folge ihres Landbaues, und dem Mutterrechte hin. 
Genau so äußert sich Starcke in „Die primitive Familie“, 
1888, S.71 bis 72. 

von Dargun, „Mutterrecht und Vaterrecht*, 1892, 
S. 63 ff., beruft sich eben auf alle die genannten Forscher, 
welche als wichtige Ursache des Mutterrechts „die Stellung 
des Weibes als Ackerbauerin und seßhafte Herrin des 
Feldes hervorgehoben“ haben! Bachofen in seinem 
„Mutterrechte* von 1861 wies schon auf die Ehe als ein 
Agrarverhältnis hin und meinte, daß die ganze eheliche 
Terminologie von den Ackerbauverhältnissen entlehnt sei. 

Als allgemein, mit Ausnahme von Herrn Hahn, bekannt 
dürfte ich voraussetzen, daß die neuere Ethnologie die 
ganze Familiengeschichte im engsten Anschlusse an die 
Entwickelung der Wirtschaftsformen erforscht. Brentano, 
der bekannte Volkswirtschaftler, machte in seinem inter- 
essanten Aufsatze über „Die Volkswirtschaft und ihre 
konkreten Grundbedingungen“, im ersten Bande der Zeit- 
schrift f. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von 1893, 
S. 140, gewissermaßen den Anfang hiermit; die Bestellung 
des Feldes durch die Frauen ist sein Ausgangspunkt. 
Hildebrand und Grosse befolgten das gute Beispiel 1896, 
indem der letztere sogar eine ganze Geschichte der Fa- 
milie auf dieser Grundlage lieferte, und endlich hat Cunow 


Kleine Nachrichten. 67 





in der „Neuen Zeit* von 1898 das Mutterrecht aus der 
Feldarbeit der Frau abzuleiten versucht. Ich selbst habe 
in der Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1899 den Wert 
der soziologischen Methode im Gegensatze zur folkloristi- 
schen darzulegen versucht, welch erstere die Zusammen- 
hänge zwischen den sonstigen Seiten des sozialen Lebensund 
der Familienentwickelung zum Ausgangspunkte nimmt, 
während die zweite Methode zufällige Reste alter Sitten 
in Gebräuchen und Sagen mit der Kraft von Hypothesen 
zu deuten unternimmt und die alte Geschichte aus ihnen 
ableitet. Ich prophezeite damals, daß auf ersterem Wege, 
mit besonderer Berücksichtigung der ökonomischen Grund- 
lage jeder Gesellschaftsform, die besten Resultate erzielt 
werden könnten (S. 824). 

Aber weit eher als alle Ethnolegen haben zwei aus- 
gezeichnete Ethnographen und Forschungsreisende den 
richtigen Gedanken erfaßt. 


Lewis und Clarke in ihrer - 


„Expedition to the Sources of the Missouri“ von 1814 
(Neuabdruck von 1902, Bd. 2, 5. 334) sagen schon ganz 
deutlich: „The importance of the females in savage life 
... is regulated wholly by their capacity to be useful. 
... Where the women can aid in procuring subsistence 
for the tribe, they are treated with more equality and 
their importance is proportioned to the share which they 
take in that labour.“ 

Ich glaube hiermit bewiesen zu haben, einerseits, daß 
Herr Hahn keinen Grund hatte, von seiner Hypothese 
von der Entdeckung des Feldbaues durch die Frauen zu 
sprechen, sondern daß alle Ehre hier dem viel verkannten 
Julius Lippert zukommt, und andererseits, daß ebenso- 
wenig Grund vorliegt, der Ethnologie einen Vorwurf zu 
machen aus der Nichtbeachtung der Arbeitsteilung der 
Geschlechter bei der Erklärung der Familienformen. 

Amsterdam, im Mai 1910. S. R. Steinmetz. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Scheitern der chinesischen Volkszählung. Der 
Versuch der Zentralregierung in Peking, im 1. Jahre Hsuan- 
Tung eine Volkszählung zu veranstalten, ist vollständig miß- 
glückt. Wie der „Östasiatische Lloyd“ mitteilt, fürchtete das 
Volk vor allem, daß die Ergebnisse der Zählung der Regierung 
die Grundlagen zu einer neuen Besteuerung liefern sollten, 
und verweigerte jede Auskunft. Aber auch eine daraufhin 
angeordnete Zählung der Haushalte konnte nur in sehr 
mangelhafter Weise durchgeführt werden. Läßt schon die 
Größe der chinesischen Haushalte, in denen der Familienvater 
häufig mit zahlreichen verheirateten Söhnen und Schwieger- 
töchtern, Enkeln und Urenkeln zusammenlebt, keine sicheren 
Schlüsse auf die Zahl der Bevölkerung zu, so ist selbst die 
Familienzählung in einer ganzen Reihe von Provinzen nur 
in den Hauptstädten der Regierungsbezirke und in den ge- 
öffneten Handelsplätzen vorgenommen worden, während vier 
Provinzen überhaupt keinen Bericht über die Zählungsergeb- 
nisse erstattet haben. Ebenso fehlt die Bevölkerung ohne 
festen Wohnsitz, wie die gesamte ungeheuer zahlreiche Boots- 
bevölkerung, die Kulis und Karrentreiber, die Bettler usw., 
in den Berichten über die Zählung vollständig. Unter diesen 
Umständen erscheint es zwecklos, die von der Regierung ver- 
öffentlichten Zahlen weiter zu verbreiten. J. 


— Den geologischen Bau von Kaiser-Wilhelms- 
Land schildert Steph. Richarz nach dem heutigen Stand 
unseres Wissens (Neues Jahrb. f. Mineral. 1910, 29. Beil.-Bd.). 
Die weiter von der Küste entfernten Gebirge bestehen zum 
größten Teil aus körnigen Gesteinen von mittlerem Kiesel- 
säuregehalt, kristallinische Schiefer kommen vor, deren 
Alter jedenfalls größer als die der oberen Kreide sein dürfte. 
Nach Norden schließt sich ein aus Kalken, Mergeln, Sand- 
steinen und Andesiten bestehendes Gebirge an, das im Torri- 
celligebirge als der oberen Kreide angehörig bestimmt wurde. 
Die Küste selbst wird vielfach von älteren oder jüngeren 
Korallenriffen gebildet; erstere sind oft hoch über dem 
Meeresspiegel gelegen. Die Korallenriffe sitzen vulkanischem 
Gestein, meist Andesit, auf oder werden auch von solchen 
Gesteinen bedeckt. Tektonische Störungen lassen sich bis in 
die jüngste Zeit hinein verfolgen, doch scheinen die eigent- 
lichen Faltungsprozesse einer ferneren Vergangenheit an- 
zugehören und in der letzten Zeit nur Hebungen statt- 
gefunden zu haben. Die genannten jüngeren moränen Ton- 
und Kalkablagerungen liegen in der Nähe der Küste zwar 
hoch über dem Meeresspiegel, aber horizontal, während die 
weiter von der Küste entfernten und noch höher über den 
Meeresspiegel gehobenen Bildungen von ganz ähnlicher Zu- 
sammensetzung aufgerichtete Schichten zeigen. Wann die 
Faltung ihr Ende erreichte, ließe sich erst bestimmen, wenn 
das Alter dieser jungen Ablagerungen festgestellt wäre, wo- 
durch eine der wichtigsten Aufgaben für die Geologie in 
Kaiser-Wilhelms-Land gekennzeichnet ist. Das Alter der 
Korallenriffe ist auch zu erforschen, dann das der jungen 
andesitischen Eruptivgesteine.e An praktisch verwertbaren 
Bodenschätzen wären vor allem Kohlen, und zwar Braunkohlen 
zu nennen, die einen Heizwert wie die Brüxer aufweisen; 
ihr Heizwert ist also nicht gerade bedeutend, doch sind sie 
immerhin zu verwerten. Daneben ist Kupfer in einem Basaltroll- 


stück nachgewiesen, Platin von derselben Stelle und Seifengold 
in fast allen deutschen Flüssen unseres Schutzgebietes. Das 
Gold erscheint vornehmlich in Blättchenform bis '/, gem 
Größe. Das Muttergestein besteht aus den anstehenden alt- 
eruptiven diabasischen und dioxitischen Gesteinen, die stellen- 
weise einem Granit auflagern und wohl durch dessen Kontakt- 
metamorphose vielfach von kleinen, oft nur Millimeter breiten 
Klüften durchsetzt werden, die mit Brauneisenerz und 
Blättchen von Freigold erfüllt sind oder auch mit gold- 
haltigen schwefligen Erzen angereichert auftreten. Leider 
achten die Goldsucher zu wenig auf die geologische Be- 
schaffenheit des Gebietes, dessen Erforschung dabei so leicht 
gefördert werden könnte. 


— Der Stillstand in der Bevölkerungszunahme 
Frankreichs, der in absehbarer Zeit sich in einen Rück- 
gang zu verwandeln droht, beschäftigt andauernd die fran- 
zösischen Politiker und Gelehrten. Man weiß, daß der Haupt- 
grund für jene Erscheinung in gewissen sozialen, teilweise 
sogar durch das Gesetz sanktionierten Eigentümlichkeiten 
des französischen Volkes liegt, hat aber auch wohl an- 
genommen, daß für die Abnahme der Geburtenzahl außer- 
dem physiologische Gründe in Frage kämen. Gründe dieser 
Art will indessen Prof. Lannelongue vom Institut de France 
nicht gelten lassen, er hat in einer neuerlichen Denkschrift 
für den französischen Senat ausgeführt, daß die absolute Un- 
fruchtbarkeit in Frankreich seit 50 Jahren dieselbe geblieben, 
17 oder 18 Proz. betragen habe. Lannelongue ist Mitglied 
des Senats und verlangt, daß dieser ein energisches Ein- 
schreiten der Gesetzgebung zur Bekämpfung des Übels 
veranlasse. Als dessen Hauptursachen werden unter anderem 
bezeichnet: die immer mehr um sich greifende Scheu vor 
der Ehe in Verbindung mit spätem Heiraten, die gesetzliche 
Beschränkung bei letztwilligen Verfügungen, die Massen- 
abwanderung vom platten Lande in die Städte. Zur Be- 
kämpfung werden unter anderem empfohlen: Wer mit 29 Jahren 
noch Junggeselle sei, habe erhöhten Militärpflichten zu ge- 
nügen. Alle Staatsbeamten müßten mit 25 Jahren verheiratet 
sein, und um das zu ermöglichen, wären Gehaltserhöhungen 
und pekuniäre Bevorzugungen für Beamte mit wenigstens 
drei Kindern einzuführen. Die Bestimmungen des Bürger- 
lichen Gesetzbuches, die bisher die Verfügungsfreiheit der 
Eltern darin beschränkten, daß deren Vermögen unter alle 
Kinder zerstückelt wird, wären zu ändern. Zum Teil sind 
diese Forderungen derart, daß sie tief in die individuelle 
Freiheit der Staatsbürger eingreifen; aber zu ihrer Recht- 
fertigung wird eben ins Feld geführt, daß es sich um eine 
Existenzfrage für den Staat handle. 

— Das wichtigste Ergebnis der Aufstiege von Pilot- 
ballons auf deutschen Handelsschiffen von 1906 bis 
1908 ist nach W. Köppen (Annal. d. Hydrogr. 1910, 38. Jahrg.) 
der Nachweis, daß auf dem Atlantischen Ozean, wo doch die 
Passatwinde am regelmäßigsten entwickelt sind, in einer 
Höhe von etwa 3000 m das Gebiet der veränderlichen Winde 
nicht etwa nur die gemäßigten Zonen einnimmt, sondern 
auch die ganze heiße Zone mit umfaßt. Die große Stetig- 
keit, welche die Winde dieser Zone ebenso wie deren Tempe- 


68 Kleine Nachrichten. 





ratur und Luftdruck von denjenigen der gemäßigten Zonen 
unterscheidet, ist bei den Winden in 2 bis 4km und viel- 
leicht auch höher hinauf nicht mehr zu finden; diese Ver- 


änderlichkeit der oberen Winde besteht aber nicht etwa 
darin, daß die Grenze zwischen einer oberen und unteren 
Luftströmung, beide von stetiger, aber verschiedener Richtung, 
ihre Höhe wechselt, sondern es treten neben Ost- und West- 
winden auch fast rein polare oder äquatoriale Winde und 
Windstillen in der Höhe auf. Die Fehlergrenzen, innerhalb 
deren die Ergebnisse der Aufstiege unsicher sind, gehen 
nicht weit genug, um an dirsem Hauptresultat einen Zweifel 
zu lassen. Zusammengehalten mit dem, was wir von höheren 
Breiten wissen, läßt sich der Tatbestand folgendermaßen dar- 
stellen: Die Tendenz zu Westwinden nimmt allgemein mit 
der Höhe zu; wo daher unten alle Windrichtungen gleich 
häufig sind oder bereits westliche Winde das Übergewicht 
haben, nimmt ihr Übergewicht mit der Höhe zu, also die 
Veränderlichkeit der Windrichtung nach oben ab; wo dagegen 
unten die östlichen Winde die Vorherrschaft besitzen, wird 
diese nach oben geringer, die Windrichtung also zunächst 
veränderlicher, bis in noch größeren Höhen die Vorherrschaft 
der westlichen Winde beginnt und nach oben mehr und 
mehr zunimmt. Die Höhe, in der sich dieses vollzieht, ist 
verschieden; am Aquator, nach den Erfahrungen beim Kra- 
katau-Ausbruch zu urteilen, scheinen die Ostwinde bis zu 
den Grenzen der Atmosphäre zu gehen. Da der Grund dieser 
Zunahme der Westwinde — oder Abnahme der Ostwinde — 
mit wachsender Höhe in der Abnahme der Temperatur der 
Atmosphäre mit zunehmender Breite liegt, so kann man 
nicht erwarten, daß sie überall und in allen Höhen zutreffe. 


— Eine interessante Mitteilung über die Eingewöhnung 
von Pflanzen wärmerer Zonen auf Helgoland ver- 
öffentlicht P. Kuckuck in der Botan. Ztg. 1910, 68. Jahrg. 
Eine ganze Reihe von Pflanzen, die auf dem Festlande ent- 
weder erfrieren oder im Winter gedeckt werden müssen, 
überwintern daselbst ohne Deckung. Während beispielsweise 
die jüngeren aus Samen gezogenen Pflanzen von Pinus 
insignis und Cupressus macrocarpa in Erfurt dem Frost er- 
lagen, kamen sie in Helgoland gut durch. Ebenso hält sich 
Arum italicum ohne Decke. Yucca filamentosa kam zu 
schöner Blüte und bildete neue Blattschopfe aus der Erde. 
Yucca trecubina hielt sich wenigstens geraume Zeit. Danae 
racemosa hat sich vollständig eingewöhnt. Quercus Ilex 
leistete mehrere Winter hindurch Widerstand und gibt gute 
Aussichten auf dauernden Erfolg. Feigen gibt es mehrfach 
auf der Insel usw. Es ist anzunehmen, daß noch bessere 
Erfolge erzielt worden wären, wenn gerade dem Boden des 
Akklimatisationsrundells bei der Einrichtung des Gartens die 
genügende Aufmerksamkeit zugewandt worden wäre. Bei 
allen Versuchen, die teilweise natürlich auch Mißerfolge 
brachten, kann man beachten, daß die Pflanzen wärmerer 
Zonen bei der Überführung in ein ungünstigeres Klima sich 
recht verschieden erhalten. Die Fähigkeit, die Kardinal- 
punkte ihres Gedeihens zu verschieben, ist bei den verschie- 
denen Arten eben sehr ungleich. Jedenfalls ermutigen die 
Versuche zu ihrer Fortsetzung, wenn auch die Verheerungen 
durch den Wind recht beträchtlich genannt werden müssen. 
Die Verluste durch Frost brauchen nicht zu entmutigen, da 
auch im Mittelmeergebiet zuweilen ganze Plantagen von 
Apfelsinen- und Zitronenbäumen erfrieren. Dafür ist beson- 
ders günstig in Helgoland der Umstand, daß die tiefen 
Temperaturen daselbst immer nur für sehr kurze Zeit er- 
reicht werden. Eine Aufeinanderfolge von Frosttagen ist 
selten und kurz. Günstig ist auch das Fehlen der Nacht- 
fröste im Frühjahr. 


— In seiner Arbeit über die Morphologie des 
kristallinen Odenwaldes (Verhlgn. d. naturh.-med. Ver. 
zu Heidelberg 1910, N. F., 10. Bd.) kommt Fr. Planck zu 
dem Resultat: Die heutige Gestalt verdankt er namentlich 
den gebirgsbildenden Kräften der Tertiärzeit, -durch welche 
die große Höhendifferenz im Westen geschaffen wurde, wo- 
durch das Gebirge eigentlich erst als solches auftritt. Der 
gehobene Teil wurde Denudationsgebiet, im gesunkenen Teil 
lagerten sich die Schuttmassen ab, welche die Bäche aus dem 
Gebirge heranschafften. Im kristallinen Odenwald ist die 
Abtragung der gehobenen Scholle bereits so weit fort- 
geschritten, daß die Auflagerungsfläche der Sedimente, die 
paläozoische Rumpffläche, freigelegt ist. Die Anlage des 
Fiußnetzes im kristallinen Gebirge ließ einen bestimmten 
Einfluß des Steilabbruchs im Westen und der Beschaffenheit 
der Rumpffläche nicht verkennen. Bei der weiteren Aus- 
gestaltung des Grundrisses der Bäche gelangten namentlich 
Kluftrichtungen zu maßgebendem Einfluß; geringere Bedeu- 


tung hat im kristallinen Odenwald die epigenetische Tal- 
bildung. In bezug auf die Ausbildung der Oberfläche im 
kristallinen Odenwald ist wesentlich, daß sich die verschie- 
dene Gesteinsnatur mehr in den Klein- als in den Groß- 
formen ausspricht. Die schroffsten und für ihre Eigenart 
bezeichnendsten Formen weisen der Biotitgranit, der Porphyr 
und der Basalt auf. Die auffallenden Veränderungen im 
Aussehen der zur Rheinebene sich öffnenden Täler kurz vor 
ihrer Ausmündung in diese sind wahrscheinlich auf fort- 
dauernd längs der Rheintalspalte sich vollziehende vertikale 
Bodenbewegungen zurückzuführen. Kein Tal und Weinberg 
im ganzen Odenwald weisen Spuren einer Bearbeitung durch 
Gletscher auf; beide verdanken ihre Form denselben Kräften 
der Abtragung, die auch heute noch tätig sind. Nirgends 
sind gekritzte Geschiebe oder geschrammte anstehende Felsen 
zu finden. Der Blocklehm findet seine natürliche Erklärung 
in den Kriechbewegungen der Schotter, auf die die großen 
Schneeschmelzwasser beschleunigend und der Druck einer 
gewaltigen Schneedecke verfestigend eingewirkt haben. Die 
Lage vieler dieser Bildungen schließt die Mitwirkung eines 
Gletschers von vornherein aus. Auch die Umbiegungen von 
Schichten, das Hakenwerfen, ist auf Gehängedruck leicht 
zurückführbar. Ziehen wir endlich noch die Unwahrschein- 
lichkeit in Betracht, daß die Schneegrenze so weit herab- 
gereicht hat, wie sie eine derartige Vergletscherung des 
Odenwaldes bedingte, so müssen wir den Gedanken einer 
Vergletscherung des Odenwaldes unbedingt zurückweisen. 


— D. Geyer kommt (Festschr. zum 70. Geburtstage von 
W. Kobelt, 1910) zu dem Resultat, daß die Mollusken- 
fauna der Schwäbischen Alb zu der borealen Zone ge- 
hört, wenn man für die Weichtiere Europas mit Kobelt drei 
in westlicher Richtung sich erstreckende annehmen will, die 
er als boreale, alpine und mediterrane angibt. Es überwiegen 
in der Alb die Arten, deren Verbreitungszentrum in der 
Nordhälfte unseres Erdteiles liegt. Aber gerade die hervor- 
ragendsten Züge im faunistischen Bilde sind fremden Ein- 
flüssen zuzuschreiben. Die Alpen und die Mittelmeerländer 
sind nahe genug, um ein Übergreifen ihrer Fauna ins 
Schwabenland vermuten zu lassen. So gehören von den 
97 Landschneckenarten der Alb 76 der borealen, 7 der al- 
pinen und 12 der mediterranen an. Diese letzten Zuwanderer 
sind mit drei Ausnahmen dicht und gleichmäßig über die 
ganze Alb verbreitet und besetzen in größerer Individuen- 
zahl die sonnigen Felsen und Heiden. Mit den Wald- 
bewohnern zusammen bilden sie den Grundstock der Albfauna. 
Sie übertreffen die alpine Spezies nach Artenzahl, Häufigkeit 
des Vorkommens und nach der Ausdehnung des besetzten 
Gebietes. Für die Verbreitung der Landschnecken kommen 
örtliche Entfernungen nicht in Betracht, sie hängt weder 
vom Klima noch von dem geologischen Untergrund, der Be- 
wässerung oder der Vegetation ab, sondern wird von dem 
Grade geregelt, in welchem die klimatischen Verhältnisse 
auf der geologischen Unterlage im Zusammenhang mit der 
Bewässerung und der Vegetation zur Entfaltung kommen. 
Kalk erweist sich als die günstigste Formation. 


— Radium, Thorium und Aktinium in der Atmo- 
sphäre und ihre Bedeutung für die atmosphärische Elektri- 
zität betrachtet K. Kurz (Abhandlgn. der Königl. Bayer. 
Akad. der Wissensch., 25. Bd., 1909). Da eine restlose Zer- 
legung der Abklingungskurven nach den Gesetzen der Zer- 
fallstheorie möglich ist, befinden sich in der Atmosphäre 
keine weiteren als diese radioaktiven Stoffe. Als Durch- 
schnittsverhältnis der Beweglichkeiten der Thor- und Ra- 
diumzerfallsprodukte wird 1:2,9 gefunden. Fassen wir die 
drei Wirkungen der radioaktiven Stoffe, die Wirkung der in 
der Atmosphäre suspendierten Zerfallsprodukte von Radium, 
Thorium, Aktinium, die Wirkung der f- und y-Strahlung, 
die von den in den obersten Schichten der Erdkruste ver- 
teilten Stoffen Uran, Radium, Thorium, Aktinium herrührt, 
die Wirkung der durch diese Stoffe in hohem Grade ionisierten 
Bodenluft zusammen, so sehen wir, daß eine Gesamtwirkung 
resultiert, die in der Größenordnung an die für den Elektri- 
zitätshaushalt zu leistende Gesamtarbeit heranreicht. Wie 
weit die Gesamtionisation der Atmosphäre von den radio- 
aktiven Stoffen tatsächlich bewirkt wird, kann erst ent- 
schieden werden, wenn erstens über die Wirkung der durch- 
dringenden Strecken und der Bodenatmung ein größeres Be- 
obachtungsmaterial zur Verfügung steht, und wenn zweitens 
einwandfreiere Bestimmungen des Wiedervereinigungskoeffi- 
zienten und der Ionenzahlen in der Atmosphäre und damit 
der Zahl der pro Sekunde in Kubikzentimetern neu zu erzeu- 
genden Ionen vorliegen. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


GLOBUS 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- und VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. : 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 











Bd. XCVIII. Nr. 5. 


BRAUNSCHWEIG. 


4. August 1910. 











Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


Die Insel Korsika. 
Von Fritz Mielert. Sprottau. 
Mit 21 Abbildungen nach Originalaufnahmen des Verfassers. 


(Fortsetzung.) 


Betrachten wir nun im Anschluß an das allgemein 
Gesagte die einzelnen Landschaften der Insel genauer 
und zwar zuerst die Halbinsel des Kap Corse. Botaniker 
und Naturfreunde können hier schier „von Sinnen 
kommen“, so üppig und mannigfaltig ist die Natur, die 
diese kleine Halbinsel und die Umgebung von Bastia, 
das an deren Fuße liegt, erfüllt. In die dichten Gruppen 
von Palmen mischen sich mächtig aufgeschossene Cypressen, 
Pinien und ein ganzes Heer der entzückendsten Sträucher, 
stellenweise erinnern diese Vegetationsbilder im Verein 
mit den herrlichen Bergkolossen, an die sie gelehnt sind, 
direkt an westindische Landschaftsszenerien. An derartig 
paradiesischen Fruchtgärten entlang, in denen die besten 
Weine Korsikas gedeihen, und an einigen schimmernd 
weiß im dunkeln Grün gelagerten Dörfchen vorbei 
gelangen wir nach einer Meile Weges von Bastia aus 
nördlich zu der Grotte von Brando, einer Stalaktitenhöhle, 
deren Gebilde sich durch schneeige Weiße auszeichnen. 
Weiterhin nordwärts treffen wir auf das Kloster der 
hl. Katharina, dessen Krypta mehrere originelle Reliquien 
aufbewahrt, z. B. Mandeln aus dem Paradiese, Erde, aus 
der Adam gemacht wurde, der Stab, womit Moses das 
Rote Meer teilte, u. a. m. Die Korsen sind ebenso aber- 
gläubisch wie unwissend, die geistlichen Behörden aber 
müßten derartigen Unfug, wie er auch sonst noch viel- 
fach in romanischen Ländern sich vorfindet, entschieden 
beseitigen. Der Glanzpunkt der Halbinsel ist das etwa 
30km von Bastia entfernte Luri, eine wunderbare Tal- 
landschaft, ein einziges herrliches Gartenland, in 
welchem sich auch Getreidefelder finden. In ähnlich 
gearteter Paradieseslandschaft geht es weiter bis Rogliano 
(41km von Bastia), das eine aus 7 Weilern bestehende 
Gemeinde inmitten eines großartigen Tales bildet. Oliven, 
Weinplantagen und Opuntien sind die Charakterpflanzen 
dieses Tales, das von schroffen Felsen umschlossen ist. 
Über den Col de la Serra (361m) führt die Landstraße 
nach der Westseite hernieder, die einen ganz anderen 
Charakter als die Ostseite hat. Unterwegs eröffnen sich 
die berauschendsten Ausblicke auf das Kap Corse, dem 
vorgelagert eine kleine Insel den Leuchtturm trägt. Die 
Halbinsel bildet ein Korsika im Kleinen. Wie bei der 
Insel, so liegen auch hier die mächtigen Erhebungen, 
einen geschwungenen Bergrücken bildend, im Innern, 
und wie dort, so ist auch hier die Ostküste sanfter 
gestaltet als die Westküste, die außerordentlich buchten- 
reich und wild zerklüftet ist. Großartige Bergpanoramen 
umringen uns an dieser Küste, und aus der Ferne 

Globus XCVIII. Nr. 6. 


leuchten die schneetragenden Grate des Monte Cinto. 
In den Ortschaften dieser Seite wie auch im Lurital wird 
viel der Cedratbaum angebaut, dessen Fruchtschalen das 
Citronat liefern. Von St. Florent, das an dem pracht- 
vollen gleichnamigen Golf liegt, führt die Straße eines- 
teils südwestlich ins Land hinein nach den Küstenstädtchen 
Ile-Rousse und Calvi, andererseits kann man über den 
541m hohen Col di Teghime quer durch die Halbinsel 
(23km) nach Bastia zurückkehren. Grandiose Ausblicke 
auf beide Meere, auf die Halbinsel und die malerischesten 
Landschaftsszenerien im Engpaß des Ficajolatals und die 
denkbar reichste Vegetation verschönen diesen Beschluß 
der Umwanderung der Halbinsel. 

Bastia ist mit etwa 30000 Einwohnern die größte 
Stadt der Insel und in kommerzieller Beziehung auch 
die erste. Ihrer Lage nach ist sie wichtiger als Ajaccio, 
da sie dem Festlande, insbesondere dem regen italienischen 
Handelshafen Livorno, nahe gegenüberliegt (85km nur!) 
Von Marseille liegt es nur 55km weiter entfernt als 
Ajaccio (330 km). Bastia ist nicht alt. Es wurde 1383 
von dem genuesischen Gouverneur Lomellino angelegt, 
und zwar auf dem Felsen oberhalb des heutigen alten 
Hafens, wo sich bereits ein Kastell mit dem Namen 
„Bastei“ (Bastia) vorfand (Abb. 7). In der genuesischen 
Zeit war Bastia die Hauptstadt der Insel und 
sie blieb es auch,. als die Franzosen es über- 
nahmen, bis 1811 auf Betreiben Lätitias, der Mutter 
Napoleons, und des Kardinals Fesch Ajaccio, in dessen 
Nähe sich auch antike Stadtreste befinden, Hauptstadt 
wurde. ‚Ihre Lage am Fuße wundervoller, hoher, blaugrün 
schimmernder Berge ist ebenso schön, als ihre Umgebung 
fruchtbar ist. Die Stadt selbst aber macht vielfach 
keinen guten Eindruck. Der Hafen ist belebter als 
jener von Ajaccio, die ihm zunächst liegenden Stadtteile 
aber sind ziemlich wüst und unordentlich. Angenehm 
wirken nur sehr wenige Straßen der inneren hochgelegenen 
Neustadt, die mit sog. Jaspismarmorplatten gepflastert 
sind. Malerisch im höchsten Grade nimmt sich das nach 
genuesisch-neapolitanischem Muster an steilem Felshang 
aufgebaute Gassenlabyrinth der Altstadt aus, das den 
kleinen gut umschlossenen Althafen einschließt, der 
aber heute nur noch von wenigen gebrechlichen Fischer- 
barken, Seglern und kleinen Dampfbooten belebt wird. 
Der Schmutz und Gestank in der Altstadt ist nicht minder 
groß als in den übelberüchtigtsten Quartieren Genuas 
und Neapels. Die Leute leben hier aber auch zusammen- 
gepfercht wie selten sonst. Der Fischmarkt der Alt- 


10 


70 Mielert: 


Die Insel Korsika. 








Abb.7. Südlicher Teil von Bastia, vom Genueser Fort 


aus gesehen. 


stadt ist interessant. In einem Winkel des Marktplatzes 
haben die Teichfischer ihren Stand, die von dem Fisch- 
reichtum besonders des Etang di Biguglia hier feilbieten. 
Außer Aalen, die sehr reichlich vertreten sind, sieht man 
bei diesen Fischern die nach ihrer Färbung und Form 
schlangenähnliche Muräne, ferner sog. mugini, soglie, 
ragni usw. 

Die korsischen Bahnen sind Schmalspurbahnen, ihre 
Wagen sind klein, unbequem und verwahrlost. Für diese 
Mängel, die sehr der Abstellung bedürftig 
sind, entschädigen die großartigen Natur- 
eindrücke, welche die Fahrt auf diesen Bahnen 
vermittelt. Sofort hinter Bastia fährt der Zug 
durch einen 1422 m langen Tunnel. Die als- 
dann folgende 22 km lange Strecke bis Casa- 
mozza, während der die Bahn zwischen dem 
Etang di Biguglia und den Bergen hinfährt, 
gehört zu den landschaftlich schönsten, aber 
auch fruchtbarsten der Insel. Über riesen- 
große Eukalyptusbäume und urwüchsige Schilf- 
hütten hin schweift der Blick auf die wellige 
Gegend, die beispiellos dicht mit gigantischen 
Kräutern und Buschvegetation bewachsen ist, 
und auf den 1500 ha großen Bigugliasee, den 
eine grüne Nehrung von dem weißschäumigen, 
tiefblauen Meere trennt. Hohes Schilf, mäch- 
tige Agaven, Oliven, Eukalyptus wachsen wirr 


durcheinander und umsäumen urwaldartig 
den Strandsee. Bei Furiana sieht man lange 
Gemüsebeete, die ihre Bewässerung durch 


Schöpfräder erhalten. Die massenweise An- 
pflanzung der Eukalyptusbäume zeigt zur Ge- 
nüge, daß wir uns in einer der Fiebergegen- 
den Korsikas befinden. Die Berge, an deren 
Fuße die Bahn entlangfährt, sind bis oben 


Abb. 9. 


hin dicht von Vegetation überzogen und dolomitenartig 
steil. Oben starren ihre Grate wie grobzinkige Sägen. 
An ihren Hängen erblickt man im bunten Verein 
Olivenwälder, unter denen stellenweise etwas Getreide 
angebaut ist, und herrliche Korkeichen. Ich habe nur 
in Südandalusien ebenso schöne Exemplare wie hier 
gesehen. Viele hatten auffallende Kandelaberformen. 
Vom Hauptstamm zweigen horizontal einige Hauptäste 
ab, die am Ende schräg nach oben wachsen, und 
ebenso symmetrisch entsprießen die Nebenäste. Die 
Bahndämme sind von Akazien und mannshohem Erika- 
gebüsch, sowie einer Fülle südlicher Blumen umringt. 
Im großen und ganzen aber trägt dieses große fruchtbare 
und doch so wenig rationell bebaute Gebiet das Gepräge 
einer Wildnis. 

Casamozza liegt herrlich zwischen kleinen, aber schön 
gestalteten und durch die reichste Pflanzenwelt ver- 
schönten Bergen. Von hier zweigt in bisheriger Richtung 
ein Seitenstrang der Bahn nach dem von Casamozza aus 
64 km entfernten Ghisonaccia an der Ostküste ab. Diese 
Linie führt durch ähnliche, wie bisher skizzierte Land- 
schaften und an durchweg kleinen Orten vorüber. 
Erwähnenswert sind auf dieser Bahnstrecke die See- 
bäder an der Station Prunete-Cervione und Aleria, 
das einst eine phönizische Kolonistenstadt war. Noch heute 
sieht man Reste des antiken Quais. In dem Etang de 
Diane liegt eine Insel aus Austerschalen, die 400 m im 
Umfange hat, 25m hoch und mit Vegetation bedeckt ist. 
Wenige Kilometer weiter folgt das kleine Sch wefelbad 
Puzzichello (zwei kalte Quellen von 14°), und eine 
Meile südlicher, ziemlich weit im Lande und unweit 
des Fiumorbo, endet die Bahn in der kleinen Station 
Ghisonaccia. 

Die Hauptbahn führt von Casamozza, wo sie den 
Golo erreicht, in dessen Tal aufwärts und bietet bald 
Hochgebirgsbilder in immer mehr gesteigerter Schönheit. 
Insbesondere reißen hier die wie ein wunderbares bläu- 
liches Feuer zum Himmel hinaufflammenden senkrechten 
Zinnen des Monte Cinto und weiterhin der schneebedeckte 
Monte Rotondo zur Bewunderung hin. Die die Gegenden 
mit ihrem Duft erfüllenden Macchien entfalten hier in 
restlosester Schönheit ihre Pracht, und Tunnels und 
Viadukte, das großartige Defilee des Golo sorgen für 





Rückblick auf dem Wege nach Rivisecca in die Bergwelt 
des Restonica-Tales. 


Mielert: 


Die Insel Korsika. 71 





angenehme Abwechselung in der Nähe. So erreicht man 
Ponte alla Leccia (47km von Bastia), wo der vom 
Monto Cinto kommende Asco in den Golo mündet und sich 
in der Nähe Kupferminen befinden. Von Ponte alla Leccia 
führt südöstlich eine Fahrstraße nach den 30km ent- 
fernten, inmitten wundervoller Berge gelegenen Stahl- 
quellen von Orezza, die auch von Ausländern besucht 
werden. Das Wasser (11°C) enthält kohlensaures 
Eisenoxydul und viel freie Kohlensäure. Leider ist der Ort 
im Sommer nicht fieberfrei. Die Hauptsaison ist Mai— Juni. 
Die Straße nach Orezza, die berückend schöne Ausblicke auf 
den Monte Rotondo und Monte Cinto bietet, steigt im 
Col del Prato bis auf nahezu 1000 m und durchquert dann 
die Castagniccia, eine durch ihren Kastanienreichtum 
berühmte Gegend der Insel. Von Orezza läuft die Straße 
weiter nach den oben erwähnten Seebädern von Prunete- 
Cervione. 

Von Ponte alla Leccia zweigt nach Westen hin ein 
an Tunneln sehr reicher Strang ab zur Westküste, die er 
in Ile-Rousse erreicht. In ihrem letzten Teil durchquert 
diese Bahn die Balagna, wie erwähnt, eine der frucht- 
barsten und am meisten kultivierten Gegenden Korsikas, 
deren Hauptorte Ile-Rousse und Calvi, bis wohin die 
Bahn zieht, sind, beides Orte, die nur wenig über 
2000 Einwohner haben. Die Hauptbahn verfolgt den 
Golo aufwärts bis zu seiner Biegung nach Westen und 
gewinnt, durch Tunnels gehend und nach Überquerung 
mehrerer Talschluchten, die Stadt Corte, die größte 
Binnenstadt des nördlichen Landes mit etwa 5500 Ein- 
wohnern. Corte hat eine unvergleichlich herrliche Lage. 
Dort, wo der Tavignano aus seiner Riesenschlucht heraus- 
tritt, erhebt sich ein ungemein schroff zum Tale des 
Tavignano abfallender Felshügel von etwa 150m Höhe 
über dem Flußbett. An diesem, besonders an der Ost- 
und Südseite, bauen sich amphitheatralisch die Häuser 
und Hütten des Ortes auf, überragt von einer kühn auf 
dem gratartigen Plateau errichteten Zitadelle (Abb. 8). 
Der Ort besteht nur aus einer leidlich ebenen Haupt- 
straße, die sich am unteren Hang des Stadthügels 
hinzieht, alles andere ist ein über diese Straße sich 
breitendes, beispiellos malerisches Gewirr von steilen Gassen. 
Die Hütten sind zum größten Teil ruinenhaft, rauch- 
geschwärzt und wenig einladend. Charakteristisch an 
ihnen wie auch an den Häusern der Unterstadt, die oft 





Abb. 10. 


Hirtenkolonie Rivisecca, 1500 m hoch. 





Abb.8. Zitadelle von Corte. 

fünf Stockwerke hoch sind, erscheinen die eigenartigen 
Rauchabzüge. Von den Küchen aus wird der Rauch 
durch ein Rohr sofort nach außen geleitet und an der 
Außenwand bis zur Höhe des Hauses. In ähnlicher 
Weise sind die Wasserausgüsse nach außen gelegt. 
Abzweigungen des Hauptrohres reichen bis unter die 
Simse der Fenster. Das Klima von Corte, das 400 bis 
500 m hoch liegt, ist gesund, aber im Sommer doch noch 
immer viel zu heiß, als daß die Stadt als Sommerfrische 
geeignet erschiene. Das Gros der Bewohner von Corte 
sind echte Bergkorsen, die in ihrem Äußern etwas 
Banditenhaftes haben. Man denke sich 
mittelgroße, breitschulterige Männer 
mit starkblickenden Augen, etwas un- 
gepflegten Schnurr- oder Backenbärten 
und die breite, gedrungene Gestalt in 
Manchesterkleidung. Die Jacke ist stets 
offen, so daß das bunte Hemd zu sehen 
ist, die Hüften sind von einem breiten 
roten Schal umschlungen. Die weiten 
Hosen sind etwas aufgekrempt, die 
Beine stecken in faltenreichen niedrigen 
Stiefeln. Den Kopf deckt ein ver- 
wegener schwarzer Schlapphut. Der 
Gang der Männer von Corte (wie auch 
anderwärts), die gern, die Hände in 
die Hosentaschen versenkt, die Haupt- 
straße auf und ab promenieren, ist 
kerzengerade und seemännisch breit. 
Von den Bergen wird Corte nur durch 
den Tavignano getrennt, erstere wirken 
daher durch ihre unmittelbare Riesen- 
höhe von 1200 bis 1600 m großartig 
und übermächtig. Von Cortes Altstadt 
sieht man geradenwegs hinein in die 
ungeheure romantische Talschlucht des 


10* 


72 


WET. ei 


Abb. 11. 
Rechts der verschließbare, links der offene Raum. 


Tavignano, und nur durch einen massigen Bergklotz 
davon getrennt, öffnet sich südlich die ebenso wunder- 
volle Restonicaschlucht, die zum Monte Rotondo hinleitet, 
dessen Schneefelder und Felszinnen man von Corte aus 
sehen kann. 

Um die Natur der korsischen Hochlandswelt näher 
kennen zu lehren, sei kurz eine Tour auf den Monte 
Rotondo skizziert. Das Restonicatal, das bald hinter 
Corte einen grandiosen Schluchtcharakter annimmt, ist 
verschönt durch eine unbeschreiblich üppige Pflanzen- 
wildnis. Der brausende Bach, der bald nach seinem 
Austritt aus der Schlucht am Fuße des Stadthügels von 
Corte in den Tavignano mündet, ist von smaragdner 
Färbung und eilt kaskadenreich und wild brandend über 
riesige Felsblöcke, die, obwohl Granit, von dem scharfen 
Wasser zu blendend schneeiger Weiße gewaschen sind, 
so daß man bei flüchtigem Hinsehen weißen Marmor zu 
sehen glaubt. Das Wasser soll rostiges Eisen spiegel- 
blank reinigen, und Boswell erzählt, daß die alten Korsen 
ihre rostigen Flintenläufe zur Reinigung in das Wasser 
der Restonica steckten! Im unteren Teil 
der Restonicaschlucht bilden neben einer 
Fülle von Büschen, Farren und Blumen 
mächtige, uralte Kastanien- und Nuß- 
bäume die Bedeckung der Schluchttiefe 
und der Bergwände, von denen im Vor- 
blick insbesondere die Prachtgestalt des 
Monte Finelio Bewunderung erregt. 
Weiter oben treten an Stelle der Kasta- 
nien Buchen, vor allem aber Bergkiefern, 
die in ideal schönen riesigen Exemplaren 
die steilen Hänge bekleiden. In das Tal 
führt ein Fahrweg, der aber nach etwa 
einer Marschstunde als außerordentlich 
schlecht zu begehender Schotterweg sich 
fortsetzt. 

Ungemein schön ist die nach etwa 
drei Stunden südlich abbiegende Seiten- 
schlucht des Rivisecca, einesteils infolge 
ihres herrlichen Schluchtcharakters, an- 
dernteils infolge ihrer unbeschreiblich 
schönen Bewaldung. Die Wände der 
Schlucht sind fast senkrecht und tragen 








Typische Hütte in der Hirtenkolonie Rivisecca. 


Mielert: Die Insel Korsika. 


Dolomitengepräge. Von der Sonne 
beschienen leuchten sie in allen er- 
denklichen Nuancen von Orange, 
Bläulich und Brandrot. Rückwärts 
gewendet sieht man die bizarren, 
senkrecht gegliederten Schroffen des 
Monte Finelio und anderer Berg- 
kulissen dieser Gegend (Abb. 9), und 
nach etwa fünfstündigem Marsch 
von Corte aus tritt man in etwa 
1500 m Höhe aus dem Urwalde heraus 
auf eine von Felsblöcken übersäte 
Alm, hinter der ein kahler Riesen- . 
berg mit sanft gerundeter Kuppe, in 
feinem Grün-Gelb-Rot strahlend, 
herabgrüßt. Eine kleine schräge 
Schneerinne blinkt an ihm, uns 
kündend, daß wir den höchsten 
Regionen nun schon nahe gekommen 
sind. Nach Osten hin setzen die 
Schluchtwände ihren bizarren Cha- 
rakter fort, im Westen aber tritt 
kulissenartig ein Berggrat an die 
Alm heran, der wie eine phanta- 
stische Theaterdekoration anmutet. 
.  — Aus dem Felsblockchaos der stark- 
böschigen Alm sieht man Rauchsäulen aufsteigen und er- 
kennt nun Bauwerke von Menschenhand, die Hirtenhütten 
(Kabann, Cabanne) von Rivisecca (Abb. 10). Sie sind das 
Ursprünglichste, was man an Steinhäusern zu sehen be- 
kommen kann. Es sind für gewöhnlich etwa 1,20 bis 1,60 m 
hohe Mauervierecke, die einfach durch aufeinandergeschich- 
tete Steinfindlinge errichtet sind, ohne Kalk oder ein son- 
stiges Bindemittel, und kaum, daß man sich besonders Mühe 
gegeben hat, die Fugen durch Farrenkrautbüschel zu 
verstopfen. Fensterlöcher besitzt eine solche Hütte nicht, 
nur eine aus Latten gefertigte mehr oder weniger rohe 
Tür. Das Dach besteht aus Stücken von Hochstämmen 
oder Latten, die mit Steinplatten beschwert sind. Das 
Innere ist absolut kahl, der Boden festgestampfte Erde. 
Dem Gast wird höchstens eine Pferdedecke gereicht, auf 
der er sich ausstreckt; als Kopfstütze während der Nacht 
dient ein Balken. Tische, Bettgestelle, Sessel u. dgl. 


sind nicht vorhanden, An diese geschlossene Behausung 
ist in der Regel ein auf einer Seite offener, ebenfalls 
überdachter Raum (Abb. 11) angebaut, den Steinsimse 





Mielert: 


Die Insel Korsika. 73 





an den Wänden umziehen, und der auf Wandbrettern 
die Produkte der Milchwirtschaft, Käse in verschiedenen 
Zubereitungen birgt. Vor diesen beiden Räumen liegt 
ein von Felsblöcken umfriedetes nur wenige Quadrat- 
meter großes Höfchen, in dessen einer Ecke gewöhnlich 
das Feuer zum Abkochen der Milch und zur Bereitung 
der frugalen Mahlzeiten angezündet wird. Holzscheite, 
in eine Ritze der Mauer gesteckt, dienen als alleinige 
Beleuchtung während der Nacht. Neben der Hütte steht 
ein dürrer kleiner Baumstamm mit Aststümpfen, der 
Palo, an welchen ähnlich wie in griechischen Gebirgen 
Töpfe, Kessel und anderes Gerät aufgehängt werden. In 
dieser Hirtenkolonie, die etwa 5 oder 6 Hütten aufwies, 
wohnten ungefähr 10 bis 12 Leute, durchweg Männer. 
Die älteren bleiben tagsüber zu Haus, kochen die Milch 
ab, bereiten die Mahlzeiten und auch den Käse, der von 
einem der Männer, zuweilen 
auch von wöchentlich einmal 
heraufkommenden Frauen 
der Männer zu Tale und 
in die größeren Orte zum 
Verkauf geschafft wird. 
Die „Blume“ der Milch- 
und Käsewirtschaft ist der 
Broccio, einer der größten 
Leckerbissen der ländlichen 
Korsen. Es ist eine Art ge- 
ronnener süßer Ziegenmilch, 
schneeweiß, und wird mit 
Rum- und Zuckerzutat ge- 
gessen. Die jungen Männer 
und Burschen müssen das 
Vieh auf die Weideplätze 
treiben und kehren abends 
gegen sieben Uhr mit den 
Herden heim. Diese, die 
durchweg nur aus zierlichen 
schwärzlichen und gefleckten 
Ziegen und Schafen bestehen, 
werden dann in steinerne 
runde Umfriedigungen ge- 
trieben und dort von cen 
Männern gemolken. Der Er- 
trag ist sehr gering, etwa 
20 Ziegen geben kaum einen 
kleinen Eimer Milch. Die 
Herden beziffern sich für 
jeden Besitzer auf 100 Stück 
und darüber. Im Mai ziehen 
die Hirten in die Regionen der Sommerweiden, im 
September, bei Beginn der Regengüsse und des Schnee- 
falls, treiben sie ihre Herden ins Tal, wo sie während 
des Sommers auch meist ihre Frauen und Kinder lassen. 

Die Ersteigung des Monte Rotondo ist eine der inter- 
essantesten, die korsische Berge bieten. Von den Hirten- 
hütten von Rivisecca wendet man sich südwestlich in 
eine mächtige, von titanischen Trümmern erfüllte Schlucht 
hinein, deren Blöcke mit Macchien überwachsen sind. 
Zwischen diesem dichten Gestrüpp geht es von Fels zu 
Fels in einer Schräge von etwa 70° zur Höhe. Rück- 
blicke sind bei dieser Partie schwindelerregend. In 
etwa 2100 m Höhe hat man den Grat erreicht und sieht 
nun die Nordseite des Gipfels des Monte Rotondo in 
nächster Nähe vor sich aufragen. Eine gewaltiges Bild! 
Eine steile Felsmauer, oben mit vielzackigen vertikal ab- 
fallenden Felsmassen, unten mehr plattig und terrassiert, 
in ihren Klüften und Löchern noch im Hochsommer 
ziemlich viel Schnee bergend, senkt sich zu einem finster 
hingegossen liegenden kleinen See, dem Lago dell’ Oriente 

Globus XCVIII. Nr. 5. 


Abb. 13. 





Die höchste 6ipfelpyramide 
des Monte Rotondo, 2625 m, von Osten her gesehen. 
Standpunkt des Photographen ca. 2500 m. 


(Abb. 1), der von üppigen schwellenden Grasmatten und 
marmorweiß gewaschenen plattigen Felsblöcken um- 
lagert ist. Dem See entfließt ein eiskalter Bach (Abb. 12), 
der über eine ungeheure etwa 200 m hohe Felsbarre fall- 
artig zu Tale schießt, es ist die Hauptquelle der Restonica. 
Natürlich wird kaum ein Besucher dieses hehren Alpen- 
bildes es versäumen, zu dem im 2058m Höhe liegenden See 
hinabzusteigen und ihn zu umwandern. Die Ziegen der 
verschiedenen umliegenden Hirtenkolonien verirren sich 
zuweilen selbst bis zu diesen saftigen Graspolstern, in 
denen wir, wie auch noch weiter oben an den Schnee- 
feldern, unsere schönsten deutschen Wiesenblumen wieder- 
finden, z. B. Vergißmeinnicht, Gänseblümchen (Tausend- 
schön), Kamille, Ranunkel, Veilchen und andere. Die 
Hauptmasse des Rotondogipfels zieht sich halbkreisförmig 
um den See herum, nach Norden geöffnet. Wegen dieser 
Rotundenform hat der Gipfel 
auch den Namen erhalten. 
Vom See aus nordwärts sieht 
man den Bach zwischen üppi- 
gen Graspolstern etwa 40 bis 
50m dahinlaufen, worauf er 
unvermittelt seine Riesen- 
stürze über die erwähnte Fels- 
barrenwand beginnt. Dar- 
über hinaus sieht das Auge 
auf die nördlichen Ein- 
rahmungen des Restonica- 
tals, Ausläufer des Monte 
Rotondo-Massivs. 

Mein Führer, ein Hirt aus 
Rivisecca, leitete mich auf 
etwas umständlichem Wege 
zum Gipfel. Wir umwander- 
ten den See an seinem Süd- 
ufer und stiegen über die 
Felsblöecke an dem von 
kleinem Steingeschiebe be- 
deckten Felskamm, von dem 
wir vorher herabgestiegen 
waren, hinauf und auf der 
anderen Seite westlich hinab, 
um die Südseite des Monte 
Rotondo zu gewinnen. Es 
war mir dies ganz lieb, da 
ich auf diese Weise beide 
Gipfelseiten kennen lernte. 
Die Nordseite ist wohl wegen 
der senkrechten, etwa 100 
bis 150 m hohen oberen Schroffen sehr schwer ersteigbar. 
Der Grat, den wir vom See aus erklommen hatten, konnte 
etwa 2250 m Höhe haben. Er zeigte ein gegen Süden ge- 
breitetes sehr großes Schneefeld und dahinter im Westen den 
allmählich immer höher ansteigenden östlichen Gipfelkamm 
mit stetig schroffer abfallenden schneegezierten Wänden 
(Abb.2). Die nun folgendeKletterei zurSüdfront der Haupt- 
gipfel war sehr mühsam. An Schneeflözen vorbei ging es,mit 
dem Blick in ein ungeheures schluchtartiges, nach Osten 
sich öffnendes Tal, über gewaltige Felstrümmer und in 
oft ziemlich exponierter Lage an überhängenden Fels- 
wänden vorbei. Die zertrümmerten scharfkantigen 
Blöcke lagen roh aufeinander, so daß man zwischen ihnen 
hindurch in schwarze tiefe Hohlräume blicken konnte. 
Fehltritte können hier verhängnisvoll werden, doch 
erleichtert meist das auch in dieser Höhe noch anzu- 
treffende Gestrüpp das Weiterkommen. Die Südseite 
der Hauptgipfelwände ist ziemlich schneefrei, in den 
obersten Teilen aber fast ebenso schroff wie die Nord- 
front. Nur bieten hier Geröllkanäle eine wenn auch 


11 


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74 Buchwald: Zur Völkerkunde Südamerikas. 





mühevolle, so doch verhältnismäßig leichte und ungefähr- 
liche Gelegenheit zur Erklimmung der obersten Spitzen, 
die völlig vegetationslos sind. Die höchste Zinne bildet 
eine Art zackige, sehr schlanke Pyramide mit 90° 
steilen Wänden (Abb. 13). Das Plateau ist äußerst be- 
schränkt; für den Ersteiger ist es bei dem meist herr- 
schenden starken Winde keine Kleinigkeit, sich in dieser 
luftigen Höhe zu behaupten, wenn er nicht „fliegen“ 
will. Der Ausblick ist naturgemäß großartig und in 
gewisser Hinsicht auch interessanter als der mancher 
Alpengipfel, da er eine Schau über Land und Meer ge- 
stattet. Korsikas Felsgebirge liegen schründenreich unter 
und um uns. Im Norden ragt der Monte Cinto als un- 
geheurer Wall in den Äther, in der Tiefe glasten noch 
einige dunkle Bergseen des Monte Rotondo, weit draußen 
aber verschwimmen hell leuchtende Felsgebirge mit den 
grünlichen Ebenen und dem dunstigen Meer, das in den 
Himmel hinaufzuwachsen scheint. 

Den Abstieg bewerkstelligten wir auf demselben 
Wege, auf dem wir gekommen waren. Vom Lago 
dell’ Oriente aus stiegen wir über die sehr steilen, vielfach 
völlig senkrechten Felsbarren im Zickzack hinab, begleitet 
von der tosenden jungen Restonica, und fanden uns in 
etwa 1800 m Höhe bereits wieder von den üppigsten 
etwa 2m hohen Macchien und Buschwäldern umschlossen, 
am Rande einer nahezu senkrecht abfallenden Wand, 
unter der die Hütten der Hirtenkolonie Timozzo in etwa 
1500m Höhe lagen. Östlich, zur Seite, verlor sich die 
Restonica in einer wilden caüonartigen Schlucht. Über 
den Hütten von Timozzo bricht sie dann fallartig über 
eine Geröllhalde herab. In diese Schlucht hinabzusteigen 
war unmöglich. Wir wählten darum den Abstieg an 
der steilen, aber dicht von Buschwald übersponnenen 
Wand und ließen uns, mehr. als wir stiegen, an dem 


harten Gestrüpp hinab. Die Hütten von Timozzo erfreuen 
sich keiner so aussichtsreichen Lage wie die von Rivisecca. 
Hinter ihnen, im Süden, entzieht die nahezu 300 m hohe 
bebuschte Felswand ihnen den Blick auf die Gipfel des 
Rotondo, abwärts dagegen öffnet sich eine wildromantische 
Schlucht voll der schönsten Kiefern und Tannen. Östlich 
stürzt die Restonica über Geröll herab, um in wilder 
Hast über die Wand der jäh in die Schlucht abbrechenden 
Alm von Timozzo hinunterzurasen. Im ganzen voll- 
zieht sich also der Nordabfall des Rotondo in vier 
schmalen Terrassen mit gewaltigen nahezu senkrechten 
Wänden. Der Abstieg von Timozzo, das aus etwa 6 bis 
8 Hütten besteht und etwas stärker bevölkert ist als 
Rivisecca (auch einige Frauen und Kinder sah ich hier), ge- 
staltet sich gleich unter denHütten,wo man auf abschüssigem 
glatten Pfade die steile Abschlußwand der Schlucht 
quert, sehr unbehaglich. Dann gehtes stetig im grünen 
Dämmer des herrlichen Hochwaldes auf schlechtem Schotter- 
pfade abwärts, und nach einer Stunde über eine malerische 
halbzerfallene Bogenbrücke, den Ponte del Dragone. Diese, 
ähnlich wie die Brücke im griechischen Epirus aus 
rohen Steinen und in einem einzigen kühnen und dünnen 
Bogen errichtet, entbehrt trotz der verhältnismäßig 
geringen Breite von etwa 1,50m jeglichen Geländers. 
Man steigt auf ihr über Blöcke und Platten im Bogen 
steil hinauf bis zur Mitte, von wo aus man in ähnlicher 
Weise zur anderen Seite absteigt; bei der Höhe, in der 
die Brücke über das Felsbett der wildschäumenden 
Restonica sich schwingt, für nicht ganz Schwindelfreie 
kein gerade angenehmes Intermezzo der Talwanderung. 
Was das Restonicatal in seinem unteren Teile auch 
besonders auszeichnet, ist der Reichtum an Quellen und 
Bächen, die überall an den Bergwänden niederstürzen. 
(Schluß folgt.) 





Zur Völkerkunde Südamerikas. 


Von Otto von Buchwald. Guayaquil. 


In der Zeitschrift „Süd- und Mittelamerika“, 1910, II, 
finde ich einen G. St. unterzeichneten Bericht über den 
in der Anthropologischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag 
von Dr. Max Schmidt über peruanische Webereien, der 
mich sehr interessiert hat, und zu dem ich einige Be- 
merkungen hinzufügen möchte. 

Der Verfasser spricht über die verdienstlichen Aus- 
grabungen Dr. Max Uhles und sagt folgendes: 

„Wir kennen geometrische Ornamente und Flecht- 
muster aus altperuanischen Geweben, die aus der Gegend 
von Ica stammen; die Gewebe aus Pachacamac dagegen 
zeigen neben dieser geometrischen Ornamentik eine ganz 
andere Art von bildlichen Darstellungen, die Szenen aus 
dem täglichen Leben und andere szenische Bilder wieder- 
geben. 

Dank der Ergebnisse der systematischen Ausgrabungen 
von Uhle wissen wir, daß diese szenischen Darstel- 
lungen zwar aus sehr alter Zeit, die weit vor der Inka- 
kultur zurückliegt, stammen, daß sich aber doch deutlich 
eine noch frühere Zeitperiode unterschelden läßt, deren 
Kulturerzeugnisse sich aufs engste an die alte Kultur 
von Tiahuanaco anschließen. Die Gewebe dieser letzteren, 
der zeitlich früheren Kulturperiode sind ohne Webstuhl 
gewebt und stimmen in ihrer Technik durchaus mit den 
entsprechenden Geweben von Ica überein. Nur die Ge- 


1) Vgl. Bd. 96, 8. 317. 


II). 


webe der späteren Periode mit den szenenhaften Dar- 
stellungen sind mit dem Webstuhl gearbeitet, der seinem 
Wesen nach genau mit den entsprechenden Formen der 
Südsee und Ostasiens übereinstimmt. Auf den sich der 
alten Tiahuanacokultur anschließenden Geweben haben 
wir es zumeist mit der Darstellung szeptertragender 
Figuren zu tun, die entweder als Muster eingewebt oder 
auf einfaches Baumwollengewebe aufgemalt sind 2). Auf 
den Geweben der späteren Periode mit den szenenhaften 
Darstellungen finden wir insbesondere Bootsszenen dar- 
gestellt, bei denen hochgeschnäbelte Binsenboote zur Ver- 
wendung kommen, wie sie heute noch auf dem Titicaca- 
see in Gebrauch sind ...“ 

Ehe ich mich in dem weiteren Teile des Berichtes 
umsehe, möchte ich auf die Landkarte verweisen, wo 
Ica und Pachacamac verzeichnet sind. Am ersten Orte, 
im Süden, finden wir Ähnlichkeiten nur mit Tiahuanaco. 
Am zweiten, dicht bei Lima, dieselbe Kultur und eine 
neuere sehr verschiedene. Trotz einer wahrscheinlichen 
Urverwandtschaft finden wir zwei Völkerschaften (nicht 
nur Epochen), die scharf unterschieden werden können 
und nach meiner Ansicht auch noch im heutigen Peru 
gefunden werden. Daß beide Völker aus Ostasien gekom- 
men sind, scheint auch mir wahrscheinlich, wie ich bereits 
anderwärts bemerkt habe. 


?) Vgl. Sarmiento de Gamboa, ed. Richard Pietschmann 
1906. Bilder als Gegenstücke zu dem Geschichtswerke 1572. 


Buchwald: Zur Völkerkunde Südamerikas. 75 





Wie aus den Forschungen Dr. Uhles zu ersehen ist, 
findet sich die ältere Kultur an der Küste und im Gebirge, 
die jüngere aber nur an der See. 

Letztere könnte also sehr wohl die erstere zeitweilig 
in das Gebirge zurückgedrängt haben, wo sich das Reich 
der Inkas und auch schon ihrer Vorgänger ausbildete. 

Daraus würde sich der alte Kampf mit den Küsten- 
indianern erklären, die erst von einem der letzten Inkas 
endgültig unterworfen wurden. 

Die wenigen in dem kurzen Bericht gegebenen Daten 
über die spätere Kulturperiode glaube ich nun noch heute 
an der Nordküste von Peru zu finden — in dem alten 
Reich der Chimus, denen noch nicht die ner are 
gewidmet wird, die sie verdienen. 

Die Binsenboote finden sich noch heute in dk Häfen 
von Eten und Pimentel und werden wohl erst von der 
Küste nach dem Titicaca gekommen sein. Es ist aber nicht 
wahrscheinlich, daß die ersten Einwanderer auf diesen 
kleinen Fahrzeugen angekommen sind, denn sie sind zwar 
sehr sicher, aber natürlich nicht dauerhaft. Man muß da 
wohl hölzerne Fahrzeuge annehmen, die erst bei späterem 
Mangel an geeignetem Holz an der nackten Küste durch 
Binsenboote ersetzt wurden, bis man bei späterer Besetzung 
des Guayas im Norden wieder besseres Material fand 
(vgl. Globus, Bd. 95, Nr. 10). 

Nun komme ich zu den Geweben, bei denen ich, nach 
der Beschreibung, eine große Ähnlichkeit zwischen den 
alten und heutigen finde. 

Der noch jetzt gebräuchliche Webstuhl ist der mög- 
lichst einfache. Die Fäden werden zwischen zwei Hölzern 
ausgespannt, und es hat jede Bahn (pano) ungefähr 35 bis 
40 cm. Das obere Holz wird an einen Balken gebunden, 
und das untere befestigt die webende Indianerin mit 
einem breiten Gürtel um ihre Hüften. Das Weberschiff 
wird mit der Hand durch die Fäden geworfen, mit einem 
Querstock gewechselt und mit einem Lineal angedrückt. 
Der fertige Stoff wird am unteren Ende aufgerollt. 

Die 'altindianischen, außerordentlich festen Farben 
sind erst seit wenigen Jahren durch deutsche Anilin- 
farben verdrängt. Benutzt wurden für: 

Schwarz: Die Schoten verschiedener Akazien und 
Eisenvitriol (aleaparrosa). 

Rot: Cochenilla, die an den Abhängen der Berge überall 
an der Opuntia (Feigenkaktus, tuna, higo chumbo) ge- 
funden wird. 

Grün: Blätter eines Strauches, Chilca genannt. 

Blau: Ich habe nur importierten Indigo gesehen, doch 
wächst die Indigofera Anil überall an der Küste. 

Gelb: Verschiedene Wurzeln und Blumen, die als „Aza- 
fran“ bezeichnet werden. 

Braun: Die natürliche Farbe einer Varietät der Baum- 
wolle (Algodon pardo). 

Heutzutage werden auf diese Weise Ponchos und 
Satteltaschen (alforjas) gewebt; erstere nur in Streifen 
gemustert, letztere aber oft mit Zeichnungen aller mög- 
lichen Gegenstände, wie Schiffe, Menschen, Tiere und 
Pflanzen. Ich kannte eine Indianerin, die, ohne selbst 
lesen zu können, ganze Verse in die Satteltaschen ein- 
webte, sobald man ihr nur die Buchstaben angab. 

Ferner berichtet G. St. von der Zeichnung eines Blas- 
rohres, von der er sagt, daß es die einzige Darstellung 
dieser Waffe sei, die man in Peru gefunden habe. Ich 
habe das Blasrohr in Jaen de Bracamoros, also in dem’! 
Hinterland der Provinz Lambayeque, angetroffen, wo es 
zur Jagd auf Rehe benutzt wurde, um mehrere in einem 
Rudel zu erlegen. Man benutzte einen kleinen, mit Baum- 
wolle umwickelten Pfeil oder Pflock, der vor dem Schuß 
in Gift eingetaucht wurde. An der Küste muß das Blas- 
rohr aber immer selten gewesen sein, weil das geeignete 


Holz (Palme) dort nicht vorkommt. Auch in Ecuador 
wird diese Waffe, wie schon früher bemerkt, benutzt; sie 
ist wohl schon auf derWanderung von Süden mitgebracht. 

Auch von einem Vogel, der am Mais sitzt, und Män- 
nern mit Schleudern auf den Geweben wird.erzählt. 

Ersterer ist wohl der grüne Sittig oder Papagei mit 
rotem Gesicht, der den Pflanzungen viel Schaden tut. 
Zum Schutze werden die reifen Maispflanzen nach unten 
geknickt, oder man stellt Knaben auf, um die Vögel zu 
verscheuchen. Ich habe oft die Schleuder wie eine Peitsche 
knallen hören, und hie und da gelingt der Wurf und ein 
Vogel fällt aus dem Schwarm zur Erde, während die 
anderen ihn mit lautem Geschrei umkreisen. 

Da die Entwickelung der andinischen Völker durch 
die spanische Eroberung schroff unterbrochen wurde, 
kann man die räumliche Verteilung jener Zeit noch deut- 
lich an den Ortsnamen unterscheiden. Die Kraft der 
Inkas war gebrochen und damit auch großenteils das 
Vordringen ihrer Sprache. Nur im Gebirge und be- 
sonders im Norden förderten die Missionare die weitere 
Ausdehnung des Kichua, weil sie fanden, daß die Indianer 
diese Sprache besser begriffen als das Spanische. Anderen- 
teils muß man bedenken, daß diese hochentwickelte Sprache 
die Übersetzung außerordentlich erleichterte. Aber auch 
diese Bewegung ging zurück, nachdem man von den 
Priestern auch die Kenntnis der übrigen Sprachen ver- 
langte. Von dieser Zeit an sehen wir nur noch ein Vor- 
dringen der spanischen Namen gegen die indianischen. 
Da aber die Priester meistens nur dem alten Namen den 
eines Heiligen hinzufügten, so hat sich die ältere Form 
noch vielfach erhalten. 

Wenn ich nun die Namen der Umgegend von Lima 
ansehe, so finde ich, daß sie dem Kichua angehören. So 
auch der Name Pachacamac (pacha + kamak oder camac 
= Schöpfer und Erhalter der Welt), der sehr alt ist und 
an die Sagen von Kami und Keri = Sonne und Mond 3) 
erinnert, von denen uns Dr. v. d. Steinen (Unter den 
Naturvölkern Zentralbrasiliens, S.319) erzählt. 

Dr. Tschudi erwähnt in seinen Sprachproben einen 
Vers, von dem er sagt, daß er aus der Zeit der Inkas 
stammt: Es handelt sich um eine Prinzessin (üusta), die 
mit einem Krug voll Wasser in den Himmel versetzt ist. 
Ihr Bruder zerschlägt das Gefäß, das Wasser fließt her- 
aus und fällt zur Erde als Regen, Schnee und Hagel. 
Darin heißt es: Pachacamac (der Schöpfer der Welt), 
Pacharurac (der Erbauer der Welt) hat dich zu diesem 
Zweck dort hingesetzt und erhält dich. 

Der Name Pachacamac ist also für einen Ort des 
religiösen Kults durchaus passend, und doch wäre es 
möglich, daß die Kichuas ihn einem früheren, nicht ver- 
standenen Wortlaut angepaßt haben. 

So heißt das Schlachtfeld, wo im Norden von Quito 
einst die Karankis besiegt wurden, heute Hatuntaki *) 
(hatun, groß + takani, schlagen, ein Name, der aus Tun- 
taki [Schlafstelle] entstanden ist). So bedeutet der Name 
des Hafens Pacasmayo Pacayfluß (pacay = inga edulis) 
in Kichua, während in der Mochicasprache der Name 
Pakatnamu lautet und wahrscheinlich Eintritt der Fische 
bedeutet. 

Wenn ich auch kein großes Gewicht darauf lege, so 
möchte ich doch auf den Namen der Stadt Lima aufmerk- 
sam machen, die von dem Fluß Rimac durchflossen wird 
(d.h. wenn er Wasser hat). Man sieht sofort, daß Fluß- 
und Stadtname dasselbe Wort sind. Rimac bedeutet „der 


3) Ich möchte auch Keri mit Mond in Kichua: killa oder 
quilla vergleichen, denn für „e“ kann ich „i“ und für „r“ 
ebensogut „l“ setzen. 

*) Hatuntaki könnte auch heißen: 


Biegesfest. 


Großer Tanz, also 


11* 


76 Buchwald: Zur Völkerkunde Südamerikas. 





Sprecher“ oder „der, welcher spricht“, es ist ein Partizip 
des Verbums rima = sprechen und soll auf ein Orakel 
deuten. Die Verwechselung der Buchstaben R und L ist 
allerdings häufig, aber auffällig ist das Vorkommen beider 
Formen nebeneinander. Außerdem sprechen die Gebirgs- 
indianer das i oft wie e aus — sie sagen Lema statt 
Lima. Nun sehen wir, daß der Cura Carrera in seiner 
Mochica-Grammatik die Stadt „Limac“ nennt; es wäre 
also doch wohl möglich, daß der Name den Stamm „läm“ 
= sterben enthält. 

Obwohl gemäßigt, ist das Klima von Lima doch für 
die Gebirgsindianer nicht gesund, und ich mache noch 
besonders auf die Quebrada de Berruyas oberhalb Lima 
mit ihrer Beulenkrankheit aufmerksam. 

Auf alle Fälle sehen wir aus den Ortsnamen, daß die 
Kichuas sich dort festgesetzt haben, und erst im Norden, 
wo es heißer wird, finden wir die Namen der Mochica. 

Ein anderes Wort scheint mir größere geschichtliche 
Bedeutung zu haben, es ist das Wort Jaku — Wasser. 

Ich habe bereits früher erwähnt, daß das Wort Jaku 
in der ganzen Kichua sprechenden Bevölkerung nördlich 
von Apurimak gefunden wird. In Cuzco aber, dem Zen- 
trum der Inkas, heißt das Wasser Unu, ähnlich wie bei 
den verwandten Stämmen des Ostens. Ebenso finde ich 
im Norden von Ecuador bei den Atakames oder Esme- 
raldas: uve = Wasser, una — Regen. Es muß also 
eine einst unterbrochene Verbindung gegeben haben. 

Wenn ich nun das Wort Jaku in anderen Sprachen 
suche, so finde ich nur bei den Küstenindianern, den 
Mochica, des Wort Jä, augenscheinlich dem Jaku ähnlich. 

Allmählich tauchen die alten, bisher verworfenen 
Sagen wieder auf, man hört von Verbindungen mit dem 
Norden, Landungen an der Küste, Befestigungen am 
Apurimak (Limatambo) zum Schutze gegen Fremdlinge, 
die von der See kamen; bis wir zu der geschichtlichen 
Zeit kommen, in der die Inkas den Chimu besiegten. 

Wenn wir also die Ausgrabungen des Herrn Dr. Uhle 
betrachten, so finden wir in Pachacamac eine ältere und 
eine neuere Schicht; die ältere gleich der von Ica, lehnt 
sich an die Funde von Tiahuanaco an, gehört also doch 
wohl zur Vorgeschichte der Inkas, während die neuere 
Schicht den Küstenindianern zugeschrieben werden muß. 
Diese letztere wird also wohl mit Zurückdrängung der 
älteren Bewohner bis tief in die Gebirge eingedrungen 
sein, wie wir das im Norden (Cajamarca, Cachapoyas und 
Canar) sehen. Zu Anfang der geschichtlichen Zeit finden 
wir die Kichuas bereits wieder im Besitz der Küste bis 
zum 10. Grad südl. Br., wie die geographischen Namen 
beweisen. 

Auf dem 12. Grad südl. Br. finden wir die ersten 
Spuren der neueren Schicht, die sich dann bis zum 
Äquator ausgebreitet haben wird. Dort im Norden 
grenzen sie an den jetzt ausgestorbenen Stamm der Ata- 
kames, die Sprachähnlichkeiten mit Cuzco haben, und 
hinter ihnen die Colorados-Cayapas mit Annäherungen an 
Kichua und Aimaraä. 

Wie schon früher bemerkt, finden sich Spuren der 
Atakames bis zum 3. Grad südl. Br., und weiter nach 
Osten die letzten Spuren des Colorados bis zum 5. Grad 
südl. Br. 

Es ist also anzunehmen, daß die ganze Küste von 
Südkolumbien bis zur Wüste von Atakama weit im Süden 
von verwandten Völkern besetzt war, die, wenn auch un- 
gleich entwickelt, einst auf einer gleichmäßigen Kultur- 
stufe gestanden haben. 

Leider habe ich bis jetzt die Provinz Esmeraldas noch 
nicht selbst untersuchen können, beziehe mich aber auf 


Prof. E.Seler, der in seinen „Gesammelten Abhandlungen 
zur amerikanischen Sprach- und Altertumskunde“ sagt: 
„Nach Theodor Wolf soll es namentlich in Atakames 
(westlich von Esmeraldas) und in der Gegend von „La 
Tola“5) zahlreiche „Huacas“ geben, in denen man Ton- 
gefäße und Tierfiguren aus Ton oder Stein, selten aus 
Metall gefunden hätte, den Hausrat einer armen, aber 
künstlerisch nicht ganz ungebildeten Bevölkerung.“ 

Welchen weiten Einblick in die amerikanische Ver- 
gangenheit uns die Unterscheidungen Dr. Uhles gewähren, 
möchte ich noch mit einem Beispiel beleuchten: Nehmen 
wir das Wort „Wasser“ als Leitwort an, so finden wir 
Völker mit Unu-pi und Jä-Jaku. Daß die Bezeichnung 
pi, die in Ecuador und Kolumbien vorkommt, auf die 
Völker mit „Unu“ zurückzuführen ist, habe ich bereits 
früher dargelegt. Diese Gruppe finden wir also vom 
4.Grad nördl. Br. bis zum 22.Grad südl. Br. an der Küste 
des Stillen Meeres. Aber die Verbindung geht noch viel 
weiter, wenn wir nach Osten blicken. Es sei mir gestattet, 
aus Dr. Emil A. Göldis „Excavagöes archeologicas em 
1895“ eine Liste nach Martius’ Glossarium zu entnehmen. 
Darin finden wir für Unu = Wasser 


Ini Indios Tariana 


uni-weni„ Baniva 

uni $ Mariatí, Baré, Moxos, Uirina 

oenoe y„ı Orejones 

une’ „ Maypure 

oni 5 Jucuna, Uainumbi, Guianau, Palicur 
(Tupi) 

ain n„ Pebas 

wuni  „  Aruak (Surinam) 

ueni Tamanaco. 


Wir finden also das Leitwort Unu bis nach Guayana 
und das Pronomen nu (Nu-Aruak) — nokka der Kichua. 
Ja noch mehr: Wenn ich die ethnographischen Reste be- 
trachte, so finde ich, daß die Zeichnungen der Gefäße, die 
Dr. Göldi in Brasilianisch-Guayana fand, dieselben For- 
men haben, wie meine Krüge aus dem Lande der Puruhá 
(Riobamba) und die Ketten von den Ufern des Guayas. 
Alle diese Völker scheinen also einen eigenartigen Kultur- 
grad gehabt zu haben, aus dem sich später die andinischen 
Stämme weiter entwickelten, während sich im Urwald der 
Urzustand erhielt. Zwischen diese Völker schiebt sich 
wie ein Keil eine neue Einwanderung. Es sind die 
Stämme mit „Ja“-„Jacu“, die wohl schon ihre eigene 
Kultur mitgebracht haben. 

Die andinischen Völker hatten bereits gelernt, ihre 
Bauten aus behauenen Steinen auszuführen, die wir in 
Tiahuanaco, Cuzco und Ollantaytambo bewundern, wäh- 
rend wir die neueren Einwanderer in dem Übergang vom 
Luftziegel zum Steinbau antreffen. Sie verstanden aber 
schon den Stein zu Skulpturen zu benutzen, deren Vor- 
bilder sie der Natur des Landes, das sie besetzten, ent- 
nahmen. Wenn ich nun diesen Keil neuerer Einwande- 
rung zwischen den andinischen Stämmen als ein Dreieck 
betrachte, so liegt die Basis am Stillen Meer. Weder im 
Norden noch im Süden habe ich Verbindungen getroffen. 
Ziehe ich daneben die Meeresströmungen und die noch 
fortdauernde Senkung der Küste in Betracht, so scheint 
eine Einwanderung von Osten an irgend einem Punkte 


, der gegebenen Basis nicht unmöglich zu sein. 


®) Bei „La Tola“ ist es allerdings fraglich, ob man die 
vorgefundenen Altertümer den Esmeraldas oder den Kayapas 
(Cayapa) zuschreiben darf, da der Ort bereits in dem Gebiet 
der letzteren liegt. 


Die Wasiba. 


Die Wasiba. 


Kisiba heißt die Landschaft im Westen des Viktoria- 
sees, zwischen diesem See und dem unteren Kagera. Sie 
gehört zum Bezirk Bukoba und ist mit ihren Bewohnern, 
den Wasiba oder Basiba, schon 1894 von Herrmann 
geschildert worden. Fünf Jahre später behandelte sie 
Richter in seiner Arbeit über den Bezirk Bukoba. Kürzere 
Notizen finden sich natürlich bei 
Reisenden, die in älterer oder neuerer Zeit das Land 
durchwandert haben. Jetzt ist nun — nachdem sie schon 
seit mehreren Jahren angekündigt war — eine neue, 
umfangreichere Monographie über die Wasiba erschienen, 
als deren Verfasser der noch im Lande tätige Missionar 
Hermann Rehse sich ein großes Verdienst erworben hat !). 
Rehse hat vieles sehen und sammeln können, was seinen 
Vorgängern nicht bekannt geworden war, und es ist erfreu- 
lich, daß ihm Gelegenheit geboten war, es in voller Aus- 
führlichkeit zu veröffentlichen. Sein Buch berücksichtigt 
die ganze materielle und geistige Kultur des Volkes und 
bringt schließlich auch (im 18. Kapitel) eine Geschichte 
der Wasiba, deren Verfasser der des Lesens und 
Schreibens kundige Neffe des jetzigen Königs von Kisiba 
ist. Mitgeteilt wird diese historische Abhandlung des 
einheimischen Schriftstellers im Urtext mit Interlinear- 
übersetzung. Zur Ausstattung des Buches mit Abbil- 
dungen sind die in Kollmanns Buch vorhandenen in großem 
Umfange herangezogen worden; das übrige hat der 
Verfasser geliefert. Einige Einzelheiten aus dem reichen 
Beobachtungsmaterial des Verfassers mögen hier mit- 
geteilt werden. 

Wie fast überall im Zwischenseegebiet, so besteht 
auch die Bevölkerung Kisibas aus zwei verschiedenen 
Rassenelementen: den ursprünglichen Bewohnern, die hier 
Wairu oder Bairu genannt werden, und den Bahima oder 
Wahima, aus dem Norden eingewanderten Hamiten (Rehse 
selber nennt sie irrtümlich ein semitisches Volk). Die 
Wahima sind auch hier, trotz ihrer numerischen Schwäche, 
das herrschende Volk, zu ihm gehören der König und 
die Verwaltungsbeamten. 

Neben der Königsfamilie gibt es 27 Familien oder 
Stämme, von denen Rehse sagt, daß alle zu einer Familie 
gehörenden Mitglieder dieselbe „Musiro“ hätten. „Musiro* 
lasse sich am besten mit „Eigentümlichkeit“ oder auch 
„Verbotene Speise“ übersetzen. In der Regel sei „Musiro“ 
ein eßbares Tier, zuweilen aber werde damit auch irgend 
ein anderes verbotenes Ding bezeichnet. Wenn jemand 
die diesem Dinge zugeschriebene Eigentümlichkeit ver- 
letze oder eine seiner Familie verbotene Speise esse, so 
bekomme er einen Ausschlag an Armen und Händen. 
Es handelt sich hier offenbar, wie v. Luschan in seinem 
Vorwort bemerkt, um totemistische Anschauungen. Aus 
den weiteren Bemerkungen Rehses über „Musiro“ und 
die damit verbundenen Gebräuche geht das auch sehr 
deutlich hervor. Die Mitglieder derselben Familie, 
Ruganda, dürfen untereinander nicht heiraten. Die 
Kinder gehören immer zur Ruganda des Vaters. Die 
Familie Abaruani darf das Fleisch von schwarz und 
weiß gestreiften Kühen nicht essen und deren Milch 
nicht trinken; sie hat von jeher die Henker und die 
Polizisten für den König gestellt, und ihre Angehörigen 
dürfen daher bis heute nicht vor ihm erscheinen. Man 


1) Kiziba, Land und Leute. Eine Monographie von 
Hermann Rehse. Mit einem Vorwort von Prof. 
Dr.v. Luschan. Herausgegeben mit Unterstützung des Reichs- 
Kolonialamts. XI und 394 8. mit 131 Abb. im Text, I Licht- 
r age und 1 Karte. Stuttgart 1910, Strecker & Schröder. 
24 M. 


den verschiedenen " 


weiß in jedem Falle, warum diese oder jene Familie das 
Fleisch dieses oder jenes Tieres nicht essen darf; meist 
deshalb nicht, weil das Tier der Familie einmal einen 
Schaden zugefügt oder sie aus schwerer Not gerettet hat. 
Die Königsfamilie steht in besonderer Beziehung zu den 
Schlangen. 

Aus der Ausstattung der Wohnung mag erwähnt 
werden, daß zu ihr — hier unter dem Äquator — Öfen 
aus Ton gehören. Allerdings kann sie nur der Wohl- 
habende sich leisten. So ein Ofen besteht aus einer 
Schale, die die Kohlen enthält. Die Schale ist mit Löchern 
versehen, die innerhalb ihres Fußes münden. Der Fuß 
ist eine Tonröhre von etwas geringerem Durchmesser als 
die Schale und hat vier Löcher, die den Luftdurchzug 
vermitteln. Man stellt diesen Ofen meist im Vorraum auf, 
um diesen, in dem es abends kühl wird, zu erwärmen. 

Außer den Speiseverboten für Familien bestehen auch 
solche für Frauen. Diese dürfen eine bestimmte Fisch- 
art, Heuschrecken — die als Leckerbissen gelten — und 
Ziegen nicht genießen, schwangere Frauen außerdem nicht 
das aus dem Süden stammende Salz. Die Priester der 
Geister essen keine Fische und kein Ziegenfleisch. Der 
König genießt nur Ochsenfleisch, Bananen, eine gewisse 
Gemüseart, Milch und Bananenbier. Sämtliche Wahima 
essen keine Fische und alle Erwachsenen, Wahima wie 
Wairu, auch kein Geflügel. Eine Erklärung für diese 
Speiseverbote und -beschränkungen hat man nicht. 

Tätowierung, Ziernarben, sowie sonstige Körper- 
verunstaltungen kommen nicht vor, dagegen scheint es 
eine Art Deformierung des Kopfes zu geben; wenigstens 
sagt Rehse: „Bei neugeborenen Kindern hat die Hebamme 
die Pflicht, dem Kopf durch Drücken mit den Handflächen, 
die vorher mit Fett beschmiert und an dem Herdfeuer 
angewärmt werden, eine angenehme Form zu geben. 
Man nennt dieses Drücken der Köpfe neugeborener Kinder 
töpfern, kubumba.“ 

Die Jagd erstreckt sich auf alles, was kreucht und fleugt, 
selbst auf die Mücken, aus denen man sich eine Delikatesse 
bereitet. Nur Schlangen tötet man nicht; denn sie 
gehören zu den Lebewesen, über die der Erdgeist 
Irungu herrscht. Jede Schlange hat ihren besonderen 
Geist in sich, d. h. sie ist die Verkörperung eines Geistes, 
der einem menschlichen Körper entwichen ist. Allerdings 
hat man ein Instrument zum Fangen von Schlangen, das 
aus einem an einem Ende gespaltenen Stocke besteht; 
aber es dient nur dazu, in der Hütte angetroffene Schlangen 
daraus zu entfernen, man tötet sie nicht, sondern schleudert 
sie damit in den nächsten Busch. 

Eine große Rolle spielt die Rindviehzucht, aber haupt- 
sächlich nur der Milch wegen. Geschlachtet werden nur 
männliche Kälber und Rinder, das Schlachten von Kühen ist 
dagegen Sünde; man bequemt sich dazu erst jetzt aus- 
nahmsweise, nachdem Europäer ins Land gekommen sind. 
Von jedem geschlachteten Rinde muß dem Landesgeiste 
ein Bein geopfert werden. Gebuttert wird in einem 
größeren Flaschenkürbis. Indessen dient die Butter nicht 
zum Essen — man hält das für ekelhaft —, sondern nur 
zum Einschmieren der Körperhaut und der Kleidungs- 
stücke, auch zum Behandeln der Felle durch die Gerber. 
Die Buttermilch bleibt unbenutzt. 

Zu den Genußmittel gehören u. a. Bier, Hanf und 
Tabak. Das Bier ist das bekannte Bananenbier. Neu 
ist aber, daß man daraus neuerdings einen „Kognak“ 
destilliert. Das Verdienst für diese Errungenschaft 
gebührt wohl irgend einem weißen „Kulturträger“. Wer 
an diesen „Kognak“ nicht gewöhnt ist, verfällt in einen 


78 Die Wasiba. 





höchst bösartigen Rausch mit Unzurechnungsfähigkeit 
und Wahnsinn, der oft 3 bis 4 Tage dauert und dem 
Hanfrausch an Kraft nichts nachgibt. Der Tabak 
wächst sozusagen wild, die Bearbeitung ist Sache der 
Frau, und die Wahimaweiber rauchen auch fast alle. 
Der König aber darf nicht Pfeife rauchen. Unter 
„Spielen und Tanz“ erwähnt Rehse den Hofnarren des 
Königs, einen Mann, der sich durch seine überaus große 
Belustigungsgabe auszeichnet, selber aber stets ernst 
bleibt. 

Die Töpferei wird von Männern ausgeübt und gilt hier 
für ebenso ansehnlich wie jeder andere Beruf. Die Dreh- 
scheibe ist nicht bekannt. Ebenso nimmt das Schmiede- 
handwerk keine Ausnahmestellung ein, wie sonst vielfach 
in Afrika. Die Eisentechnik ist recht gut ausgebildet. 
Die Herstellung des Roheisens geschieht aus Eisenstein 
mit Hilfe von Holzkohle, die beide in einem Haufen über- 
einandergeschichtet werden, wobei eine größere Anzahl 
von Blasebälgen zur Bedienung dieses Eisenschmelzofens 
verwendet wird. Es sind ebensoviel Leute wie Blase- 
bälge vorhanden. In der Unterschrift zu einer Abbildung 
(115) bemerkt Rehse, daß die Blasebälge „unter tanz- 
artigen Bewegungen“ bedient würden. Im Text findet 
sich darüber nichts Näheres. 

Zu den gesetzlich anerkannten Gründen für die Ehe- 
scheidung gehört u. a. Irrsinn, der in Kisiba sehr häufig 
vorkommt. Kindermord ist unbekannt. Nur der neu- 
geborenen Krüppel entledigt man sich, indem man sie 
am jenseitigen Ufer des Kagera, d. h. außerhalb des 
Landes, aussetzt. Aber die Eltern behaupten, das wäre 
ihnen sehr schmerzlich, und sie täten es nur dem Kinde 
zuliebe, das sonst ein elendes Leben führen würde. 
Zwillinge müssen stets ganz gleich behandelt werden. 
So darf ein Zwilling nicht allein geschlagen werden, der 
andere muß zugleich sein Teil bekommen. Ist dieser zu- 
fällig nicht anwesend, so schlägt man symbolisch die 
Erde. Pubertätsfeiern sind nicht bekannt, ebenso- 
wenig Geheimbünde. Wie schon aus dem oben Erwähnten 
hervorgeht, nehmen der Scharfrichter und seine Familie 
eine verachtete Stellung ein. Die Todesstrafe wird ge- 
wöhnlich durch einen Genickschlag mit dem Beilmesser 
vollstreckt; verschärfte Todesstrafen gibt es nicht. Der 
König hat das Begnadigungsrecht und übt es z. B. aus 
Anlaß besonderer Ereignisse, wie Geburten oder Hoch- 
zeiten, aus. Er verleiht ferner eine Art Orden, nämlich 
sein Königsgewand (ein verziertes Ochsenfell) und einen 
mit schwarzen Mustern bemalten Rindenstoff. 

Es besteht ein Priestertum, das den Verkehr zwischen 
Menschen und Geistern zu vermitteln hat. Nur die 
Geister haben Priester, die Gottheit nicht; ihr wird auch 
nicht geopfert. Man denkt sich den Priester als von 
dem Geist, dem er dient, „ergriffen“ = besessen. 
Die Seele des Königs wird ein regierender Geist, die 
Seele des Untertanen ein dienender, also ein Diener 
der regierenden Geister. Alle Geister können aus dem 
Jenseits zurückkehren und in den Kopf eines Lebenden 
fahren. Ein „regierender“ Geist „erleuchtet“ den Menschen, 
in den er fährt, und dieser wird dadurch zum Priester 
gemacht. Der Priester gibt vor, seinen Geist im Halb- 
traum zu sehen, nimmt Opfer für ihn entgegen und ver- 
braucht sie für sich selber. Die Leiche eines Priesters 
wird in Rindenstoffe gewickelt und auf einem Balken 
sitzend in den Wald getragen. Hier setzt man die Leiche 
auf einen Stuhl, bekleidet sie mit Rindenstoff oder einem 
Leopardenfell, steckt ihr eine Tabakspfeife in den Mund 
und stellt ihr einen Flaschenkürbis nebst Saugrohr zur 
Seite. Man meint, daß dann die wilden Tiere die Leiche 
nicht angreifen. Die Leichen anderer Menschen, auch des 
Königs, werden dagegen begraben. 


Der Kuß zwischen Erwachsenen ist nicht bekannt, die 


Mutter küßt jedoch ihr kleines Kind. Die Töchter des 
Königs dürfen sich bei Lebzeiten ihres Vaters nicht ver- 
heiraten, damit der König nicht in Versuchung kommt, 
seine Schwiegersöhne zu bevorzugen. 

Es gibt ein höchstes Wesen, Rubaga, d. i. Gnaden- 
spender, genannt, der als Schöpfer des Menschen und 
des Rindes gilt. Opfer werden ihm nicht gebracht. Der 
Mensch steht, solange er lebt, in Rubagas Gewalt, seine 
Seele kehrt aber nach dem Tode nicht zu ihm zurück, 
sondern geht zu dem Geist der Seelen, zu Wamara. 
Was Rehse über die „Geister“ mitteilt (vgl. auch oben), 
ist ziemlich verworren und widerspruchsvoll; es liegt das 
wohl zum Teil an seinen Gewährsmännern. Es ist von einem 
Erdgeist, einem Sonnengeist, einem Seegeist und anderen 
die Rede. Naturerscheinungen werden ihrem Wirken 
zugeschrieben. So denkt man sich das Gewitter als eine 
Anzahl kleiner roter Vögel, die in irgend einem Felsen im 
Nyansa hausen, und die der Gewittergott, der Sohn des 
Seegeistes, über das Land schickt, wenn es ihm paßt. 
Der Donner entsteht durch das Rauschen der Flügel 
jener Vögel, der Blitz durch die im Sonnenlicht glänzende 
rote Farbe des Gefieders. Übrigens hat der Seegeist 
nur ein Bein. 

Unter den ärztlichen Instrumenten ist auch aus 
Kisiba der Schröpfkopf zu erwähnen; er kommt von allen 
Instrumenten am meisten zur Verwendung. Das Instrument 
besteht aus der etwa 15cm langen Spitze eines Kuh- 
oder Ziegenhornes, das nahe an der Spitze mit einer 
kleinen Seitenöffnung versehen ist. Man ritzt mit einem 
scharfen Rohrhalm, manchmal auch mit einem Messer, 
die Haut an der zu schröpfenden Stelle, setzt das Horn 
darauf und saugt es mit Hilfe der oberen Öffnung luft- 
leer. Dann verklebt man das Loch mit Darm- oder 
Hautteilen, heute meist schon mit Papier, öffnet es nach 
einer Weile und nimmt das Horn ab. 

Die Zeitrechnung ist sehr ungenau. Man zählt nach 
Monaten oder Tagen. Wieviel Tage der Monat hat, ist 
unbekannt; man teilt ihn nach Mondphasen ein. Die 
astronomischen Kenntnisse sind auchrecht mangelhaft, man 
kennt nicht einmal den Großen Bären. Kometen ge- 
sehen zu haben, wollen sich die ältesten Leute nicht 
erinnern. Von Sonne und Mond heißt es, daß der 
Sonnengott Kasoba jeden Tag ein neues Exemplar im 
Osten aufsteigen lasse, das dann im Westen verschwinde. 
Aus dem Erscheinen großer heller Sternschnuppen folgert 
man eine der Erde vom Sterngeiste Hangi drohende Gefahr. 
Auf Sonnen- und Mondfinsternisse will man merkwürdiger- 
weise nie aufmerksam geworden sein. Bezüglich des 
Rechnens der Wasiba sei bemerkt, daß die Multiplikation 
durch Addition und die Division durch Substraktion ersetzt 
wird. Folgendes Beispiel für diese Division führt Rehse 
an: Der König gibt drei Leuten eine Rinderherde von 
65 Stück mit der Bestimmung, sie untereinander gleich- 
mäßig zu verteilen. Dann würde sich zunächst jeder so 
lange immer ein Rind fortnehmen, als die Herde es ge- 
stattet. Schließlich würden noch zwei Rinder übrig 
bleiben. Zwei Rinder haben acht Beine, jeder würde 
also noch zwei Beine bekommen. Dann wären noch zwei 
Beine übrig, von denen der erste und zweite je eines 
erhält. Der dritte würde von dem ersten Kalb, das 
von den so verteilten zwei Kühen geboren würde, 
ein Bein zuerst für sich erhalten, und von den drei 
anderen Beinen des Kalbes gehörte jedem der drei 
Männer eines. Die Rinderherde wäre also wie folgt 
verteilt: 

Der erste: 21 Rinder, 3 Beine, Aussicht auf 1 Bein. 
Der zweite: 21 Rinder, 3 Beine, Aussicht auf 1 Bein. 
Der dritte: 21 Rinder, 2 Beine, Aussicht auf 2 Beine. 








Der Panamakanal. 79 





Die Rinder, deren Beine man so verteilt hat, dürfen 
aber nicht geschlachtet werden, sondern bleiben so lange 
gemeinschaftliches Besitztum, bis sie zusammen mit den 


von ihnen geborenen Kälbern sich durch 3 teilen lassen. 


Kälber und erwachsene Rinder zählen gleich. Es wird 


nur nach der Anzahl der Beine gerechnet. 





Der Panamakanal. 


Bekanntlich sind nach dem gegenwärtigen und end- 
gültigen Plan bei der Ausführung des Panamakanals vor 
allem drei großartige Werke zu vollenden: erstens die 
Durchstechung der 8km langen und 102 m hohen Wasser- 
scheide von Culebra bis auf ein Niveau von 26m ü.d.M,, 
zweitens die Aufstauung der Flüsse Chagres und Grande 
zu Binnenseen im Norden und Süden, und drittens die 
Herstellung von Schleusenwerken von Gatun bis zur 
Limonbai und von Pedro Miguel bis zum Stillen Ozean. 
Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika hat 
1902 den Kanalbau von den verkrachten französischen 
Kompagnien übernommen und seit 1905 die Arbeiten 
mit eiserner Energie und unter Anwendung aller Hilfs- 
mittel und Erfindungen, welche die modernste Technik 
bietet, begonnen. Der Kostenpunkt, an dem die früheren 
Untersuchungen hauptsächlich gescheitert waren, spielt 
jetzt absolut keine Rolle. War Lesseps’ Kostenvoranschlag 
von 1875 674 Mill. Mark und steigerte er sich 10 Jahre 
später bis zu 960 Mill. Mark, und hatten die Amerikaner 
1905 nur 559 Mill. Mark berechnet, so hat man gegen- 
wärtig vor den wahrscheinlich sich ergebenden Gesamt- 
kosten von über 1500 Mill. Mark nicht die geringste Scheu, 
obwohl in dieser Summe noch nicht der Betrag von 
160 Mill. Mark für die in Aussicht genommene Befestigung 
des Hafens von Colon einbegriffen ist. 

Die Leitung des Kanalbaues ist dem Obersten Goet- 
hals übertragen, unter dem die Oberstleutnants Hodges 
und Sibert stehen; sämtlich Offiziere vom Ingenieur- 
korps der Vereinigten Staaten. 

Wie weit das Werk gegenwärtig gediehen und in 
welcher Weise es durchgeführt wird, darüber gibt ein 
Korrespondent des Londoner „Standard“ in den Nummern 
vom 21. Mai und 2. Juni d. J. ausführlichen und an- 
schaulichen Bericht. 

Die Durchstechung des Höhenrückens von Culebra 
stellt sich jetzt als ein keilförmiger, 100m tiefer Ein- 
schnitt dar, oben in der Breite von 1600 m. Maschinen 
mit 300 bis 400 Bohrern lockern das Erdreich; 75 bis 
100 Dampfschaufeln heben es aus und laden es in bereit- 
stehende Karren. Jede dieser Maschinen fördert täglich 
1300 bis 1400cbm und wird nur von 2 oder 3 
Mann bedient. Die Karren, je 18 von einer Lokomotive 
gezogen und in einem Abstand von ein paar hundert 
Metern, laufen in sechs Etagen übereinander längs der 
beiden Böschungen hin. Das so verfrachtete Erdreich 
wird entweder nach Panama zur Herstellung eines Wellen- 
brechers oder nach Gatun zum Bau des Dammes geschafft. 

Ist der Durchstich zu Ende geführt, so wird der 
Fluß Chagres in die tiefer liegende Ebene von Pedro 
Miguel bis Gatun geleitet, um als „Gatun Lake“ das 
bisher trockene und angebaute Land in einem Umfang 
von 424 qkm zu überschwemmen, wobei der Kanal selbst 
300 m Breite und eine Wasserhöhe von über 12 m haben 
wird. Man erwartet, daß innerhalb von zwei Jahren 
dieser 48km lange Binnensee sich anstaut. Um die An- 
stauung zu bewirken, arbeitet man jetzt an dem Damm 
von Gatun, der 3km lang, 45m hoch, und 800m breit 
werden soll, wozu man eine Erdmasse von 2!/, Mill. cbm 
braucht. Um ihn undurchlässig gegen das heran- 
strömende Wasser zu machen, gibt man ihm die außer- 
ordentliche Breite und eine sehr mäßig ansteigende 
Böschung. Da aber auch für etwa überschüssiges Wasser 


Vorsorge getragen werden muß, erhält der Damm ein 
kleines Schleusenwerk („Spillway“), und dieses wird dann 
die elektrische Kraft für die Anlagen längs des ganzen 
Kanals liefern. 

Wie der Chagres im Norden zur Bildung des einen, 
so wird der Rio Grande im Süden zur Bildung des 
zweiten Binnensees verwendet; der beim Josahügel (in 
der Nähe von Panama) zu errichtende Damm hat die 
Wasser des Rio Grande aufzustauen. Da das für die 
Dammbildung bestimmte Land gegenwärtig von Farmern 
bewohnt ist, so sollen diese eine Entschädigung im Be- 
trage von 2 Mill. Mark erhalten. 

Um das Funktionieren der Schleusenwerke für alle 
nur denkbaren. Fälle sicherzustellen, hat man ein 
Modell derselben und ein Modell des größten Ozean- 
dampfers, des „Olympic“ (der in Belfast gebaut wird), 
angefertigt und mit diesem alle nur möglichen Proben 
angestellt. Durch ein sinnreiches System von Leitungs- 
röhren innerhalb der Schleusen gedenkt man es fertig 
zu bringen, daß die Wassermasse nur ganz allmählich 
steigt; auch hat man die Schleusentore derart konstruiert, 
daß sie den etwaigen Anprall selbst des größten Dampfers 
unschädlich machen. Die Schleusen sind 33m breit 
und 304m lang und haben eine Wassertiefe von 121/4 m. 
Zwischen Colon und Panama werden sechs Paar neben- 
einderlaufende Schleusen gebaut, so daß zu gleicher Zeit 
Schiffe von Nord nach Süd und umgekehrt befördert 
werden können. Außerdem besteht jede Schleuse aus 
einer größeren und einer kleineren Abteilung für den 
gleichzeitigen Transport von Schiffen mächtigeren und 
geringeren Umfanges. Vierzig Dampfer werden einst 
die 80km lange Strecke des Kanals täglich in zehn 
Stunden zurücklegen. Gegenwärtig sind die Aus- 
grabungen der Schleusen vollendet, und mit dem 21m 
hohen Mauerwerk ist man ebenfalls nahezu fertig ge- 
worden. Mit dem Bau des 3000 m langen Wellenbrechers 
in der Limonbai sollte im Juli d. J. begonnen werden. 

Am Kanalbau sind 44000 Arbeiter beschäftigt, eine 
bunte Menge von Engländern und Amerikanern, von 
Italienern und Spaniern, von Chinesen und Japanern. 
Zur Aufrechthaltung der Ordnung dienen 500 Marine- 
soldaten und 245 Polizisten. Sie haben wenig zu tun; denn 
die Verwaltung sorgt ausgezeichnet für die Verpflegung 
der Arbeiter und für ihr Unterkommen in Blockhäusern, 
deren Fenster mit feinmaschigen Netzen von Kupfer- 
draht überzogen sind zum Schutz gegen die Moskitos, die 
Verbreiter der Malaria. Der Gesundheitszustand ist deshalb 
weitaus besser als zur Zeit Lesseps’. Für die Beamten und 
höheren Angestellten, meist Amerikaner, die mit Frauen 
und Kindern 7929 Personen zählen, gibt es nicht nur 
hygienisch und bequem eingerichtete Wohnungen, sondern 
auch Gasthöfe, Klubhäuser und Sportplätze. Um sich 
bei Kräften und in voller Gesundheit zu erhalten, sind 
sie auf das strengste verpflichtet, jedes Jahr auf sechs 
Wochen nach Jamaika oder nach den Vereinigten Staaten 
in Urlaub zu gehen. Nie dürfen sie ein Jahr über- 
springen, um etwa im folgenden drei Monate Erholung 
sich zu verschaffen. — Für die Vollendung des Kanals 
wurde seinerzeit im Kongreß das Jahr 1915 fest- 
gesetzt. Oberst Goethals aber setzt alles daran und 
hegt die sichere Erwartung, daß schon im Jahre 1913 
das Werk zu Ende geführt sein wird. B. F. 





80 Vermessung der australischen Überlandbahn Port Augusta— Fremantle. — Bücherschau. 





Vermessung der australischen Überlandbahn Port 
Augusta—Fremantle. 


Die schon seit einer Reihe von Jahren projektierten Über- 
landbahnen, die den australischen Kontinent von Nord nach 
Süd und von Ost nach West durchqueren sollen, dürften nun- 
mehr in nicht zu ferner Zeit zur Ausführung gelangen. Die 
Entscheidung über den Bau der Nordsüdbahn Port Darwin— 
Port Augusta wird demnächst getroffen werden, gleichzeitig 
soll die gr der Übernahme des sogenannten Nordterrito- 
riums von Südaustralien durch den Bund ihre endgültige 
Lösung finden. Nach dem ursprünglichen Entwurfe wird die 
Linie dem Laufe des Überlandtelegraphen folgen, und in 
diesem Falle würde die Länge der noch zu erbauenden Teil- 
strecke Oodnadatta—Pine Creek 1063 engl. Meilen oder 1710 km 
betragen; es ist aber nicht unmöglich, daß man es noch in letzter 
Stunde vorzieht, eine weiter östlich verlaufende, durch leichter 
zu erschließende Gebiete führende Trasse zu wählen '). 

Auch der Plan der ostwestlichen Querbahn, die gleich- 
falls von Port Augusta ausgehen und bei Coolgardie das west- 
australische Bahnnetz erreichen soll, ist in der letzten Zeit 
wesentlich gefördert worden. In den beiden letzten Jahren 
ist eine Vermessung dieser Linie ausgeführt worden, über 
deren Ergebnisse soeben ein eingehender Bericht erschienen 
ist). Die Vorarbeiten wurden unter der Leitung der Ver- 
waltung der süd- und der westaustralischen Staatsbahnen 
vorgenommen. Auf westaustralischem Gebiet liegen 730 km, 
auf südaustralischem Boden 980 km der Linie; ihre Gesamt- 
länge ist also zufälligerweise ebenso groß wie das fehlende 
Glied der Nordsüdbahn. In Westaustralien bot das Gelände 
im allgemeinen keine Schwierigkeiten, so daß hier werktäglich 
rund 10 km bearbeitet werden konnten. Zur Beförderung 
der Geräte und des Gepäcks dienten 91 Kamele. Wesentlich 








1) United Empire (Monthly Journal of the Royal Colonial In- 
stitute) 1910, Nr.1 u. 2. 

*) Zeitung des Vereins deutscher Eisenbahnverwaltungen 1910, 
Nr. 34. 


niedriger, auf nur 5km pro Tag, stellten sich die Fortschritte 
auf der südaustralischen Seite, wo, abgesehen von der Gelände- 
beschaffenheit, besonders die Wasserversorgung große Mühe 
machte. 

Die maßgebende Steigung der Linie beträgt 1:80 und 
kommt auf einer Gesamtlänge von 7km vor, der kleinste 
Krümmungsradius ist 360 m. Die Nivellements trafen bei 
einer Entfernung von 2300 km von Meeresspiegel zu Meeres- 
spiegel mit einem Fehler von 85 cm zusammen. Die Kosten 
des Bahnbaues werden auf 3 988 000 Pfd. Sterl. geschätzt, wo- 
von nur 5000 Pfd. Sterl. auf Grunderwerb, aber 609 000 Pfd. Sterl. 
auf die Wasserbeschaffung entfallen. Der Verkehr soll zu- 
nächst durch einen Personenzug und zwei Güterzüge in jeder 
Richtung bedient werden. Die Wahl der Spurweite für die 
neue Bahn war bei der in Australien herrschenden Spurweiten- 
verwirrung nicht leicht. Während die Linien von Westaustralien 
und Queensland mit der sogenannten Kapspur von 1,067 m 
gebaut sind, die von Neusüdwales mit der europäischen Nor- 
malspur von 1,435m, haben die Bahnen von Victoria und 
Südaustralien teils die Breitspur von 1,60 m, teils Schmalspur- 
weiten von 1,067 und 0,76 m. Da man nun für die Überland- 
bahn die Normalspur gewählt hat, wird der Reisende, der 
von Perth nach Queensland gelangen will, nicht weniger als 
fünfmal umzusteigen haben. Aufgewogen wird dieser Nach- 
teil aber vor allem durch die höheren Zuggeschwindigkeiten, 
die im Vergleich mit einer schmalspurigen Ausführung er- 
zielt werden können, was bei der Aufgabe der Bahn, die 
Fahrzeit gegenüber dem Seewege herabzusetzen, besonders 
ins Gewicht fällt. 

Der Bau der Überlandbahn wird neuerdings auch aus 
strategischen Gründen u. a. von Lord Kitchener stark befür- 
wortet. Die Verkürzung der Reisedauer zwischen Europa 
und den Großstädten an der Süd- und Ostküste Australiens 
wird 2 bis 3 Tage betragen. Außerdem wird die Linie aus- 
gedehnte Flächen erschließen, die sich als Weideland nutzbar 
machen lassen, ferner auch Landstriche mit reichen minera- 
lischen Schätzen, wie z. B. das aufblühende Bergwerksgebiet 
von Tarcoola in Südaustralien. J. 


Bücherschau. 


Flemmings Namentreue (idiomatographische) Län- 
derkarten. Herausgegeben von A. Bludau und Otto 
Herkt. Blatt 1 bis 3. Berlin und Glogau, Carl Flem- 
ming, o. J. Je 3,50 %. 

Von diesen Karten sind bisher Rußland, Frankreich und 
Italien erschienen, die letzten beiden, in 1:1500000, im 
Juni d. J. Als besonders wichtig und neu wird an diesen 
Karten die Eigenschaft der Namentreue hervorgehoben, d. b. 
es handelte sich bei ihnen „um die konsequente Durchfüh- 
rung der Aufgabe, jedes geographische Objekt der Karte, das 
einen Namen trägt, der in der Karte verzeichnet werden soll, 
mit dem Namen zu versehen, den es an Ort und Stelle trägt, 
und nicht mit demjenigen , der ihm in entstellter oder über- 
setzter Form in Lehrbüchern beigelegt ist und der sich in- 
folgedessen auch auf Karten unberechtigterweise dann ein- 
gebürgert hat“. Für die Karten der Länder, die eine be- 
sondere Schrift besitzen, ist eine besondere Transkription 
angewendet worden. Man kann sie auf der Karte von Ruß- 
land ‚sehen. 

Außerlich repräsentieren sich die lithographierten Karten 
in sehr gefälligem Gewande in vielen Farben ; alles ist sauber 
und deutlich, und was überhaupt aufgenommen ist, das ist 
auch gut zu erkennen. Aufgenommen worden aber ist viel, 
sehr viel, ohne daß der Eindruck der Überladenheit entstanden 
ist. Die Bahnen sind rot eingetragen, solche mit Schnellzugs- 
verkehr in breiteren Linien. Auch das Kunststraßennetz (in 
braunen Doppellinien) hat Aufnahme gefunden, so wird in 
der Ankündigung gesagt. Man sieht, wo Garnisonen liegen, 
wo Bischofsitze sind, wo deutsche und Österreich -ungarische 
Konsulate sich befinden, wo Flußschiffahrt beginnt und noch 
viele andere Dinge. Aber so manches auf den Karten scheint 
doch noch nicht im Lot zu sein, und die Bearbeiter werden 
für künftige Auflagen noch tüchtig revidieren müssen. Wir 
haben uns das nördliche Stück des Blattes Italien etwas ge- 
nauer angesehen und bemerken unter anderem folgendes: 
Die Montreux—Berner Oberland-Bahn fehlt. Ebenso — und 
das ist eigentlich schon sehr bedenklich — die seit mindestens 
vier Jahren fertige Vintsghgaubahn (Mals—Meran). Ferner 
die Berninabahn und die Bahn ins Val Camonica. Die Sim- 
plonbahn ist so gezeichnet, als gehe sie nicht etwa, wie es 
in der Tat der Fall, geradesweges von Iselle nach Brig durch 
einen Tunnel, sondern als folge sie der großen südwestlichen 
Ausbiegung der Simplonstraße und führe über den Simplon. 


Es fehlt ja nicht der große Tunnel der benachbarten Gott- 
hardbahn, beim Simplon aber der Schnitzer! Das Kunst- 
straßennetz ist doch wohl nicht so vollständig eingetragen, 
als es die Ankündigung verheißt. Das ist ja auch bei Karten 
dieses Maßstabes nicht zu verlangen; wo solche Straßen aber 
gezeichnet sind, da müssen sie auch stimmen. Da ist z. B. 
die große Dolomitenstraße erst bis Buchenstein (Pieve) ge- 
zeichnet, während sie bis Falzarego schon lange fertig war 
und im vorigen Sommer auch ihr Endziel Cortina erreicht 
hat. Da zweigt sich ferner auf dieser Karte kurz östlich 
von Campitello (etwa bei Canazei) eine Kunststraße zur 
Marmolata ab; die gibt es in Wirklichkeit nicht. Wahr- 
scheinlich gibt es in Wirklichkeit auch nicht die schöne 
Chaussee, die die Karte von Zermatt über die italienische 
Grenze nach Breuil zeichnet. Beschwören können wir ihre 
Nichtexistenz zwar nicht; daß aber urplötzlich, ohne daß 
man etwas davon gehört hätte, eine Kunststraße, die doch 
das Stilfser Joch in den Schatten stellen würde, durch die 
gewaltigen Gletscher des Matterhorngebietes über den über 
3300 m (!) hohen Theodulpaß gebaut worden sei, will uns 
nicht recht plausibel erscheinen. H. Singer. 


Eugene Aubin, En Haiti. Planteurs d’autrefois, nègers 
d’aujourd’hui. XXXV u. 345 8. mit 64 Abbildungen und 

2 Karten. Paris 1910, Armand Colin. 5 Fr. 

Der weitgereiste Verfasser, dessen frühere Berichte über 
Marokko und Persien wohlverdiente Beachtung gefunden 
haben, hat sich in den Jahren 1904 bis 1906 in Port-au-Prince 
aufgehalten, mehrere Reisen durch Haiti gemacht und dar- 
über in Briefen an das „Journal des Débats“ berichtet. Bie 
sind in dem vorliegenden Bande vereinigt. Allerdings sind 
nicht alle Reisen des Verfassers, deren Routen auf einer der 
Karten angegeben sind, behandelt, sondern nur die in der 
Umgebung der Hauptstadt und zum Etang Saumätre (diese 
am ausführlichsten), ein Besuch von St. Marc und den Oahos 
und ein Zug von Gonaives nach Cap Haitien. Bas Buch, 
dessen Verfasser sowohl aus der Fülle seiner eigenen Beob- 
achtungen wie aus der ihm wohlbekannten Literatur schöpfen 
konnte, liefert einen schätzenswerten Beitrag zur Kenntnis 
der Republik und ihrer Bewohner, wobei auch viel auf die 
geschichtlichen Ereignisse eingegangen wird. Der Wodukult 
wird im zweiten Kapitel im Zusammenhange besprochen. 
Die ursprüngliche Negerbevölkerung setzte sich aus den ver- 


Bücherschau. 81 





schiedensten Elementen Westafrikas zusammen; aber infolge 
der allmählichen Durchmischung dieser Elemente, des Klimas, 
der Einführung des Christentums und der Berührung mit 
den Weißen bildete sich ein einheitlicher, neuer und „ge- 
milderter“ Negertyp heraus. Erwähnt mag werden, dal es 
in Haiti heute etwa 3000 Syrer gibt, von denen zwei Drittel 
in der Hauptstadt wohnen. 8. XXI finden wir eine Notiz 
über das deutsche Element: „Die ersten Deutschen waren 
1764 in die Kolonie gekommen; Reste einer verunglückten 
Kolonisation in Cayenne, wurden sie in Bombardopolis bei 
Möle Saint-Nicolas untergebracht, und hier wurden sie durch 
Kaffeekultur wohlhabend; zur Zeit der Revolution waren es 
etwa 1000. Das unabhängig gewordene Haiti unterschied sie 
von den französischen Weißen, gab ihnen das Bürgerrecht 
und die Familiennamen von Schwarzen. Sie bemühten sich 
übrigens, das zu verdienen und verschwanden unter den Negern. 
Ein neuer Zustrom von Deutschen, aus den Hansestädten, 
kam um 1860. Mehrere traten als Angestellte in die Dienste 
französischer Geschäftsleute, heirateten deren Töchter und 
wurden ihre Nachfolger. Seitdem fand ein beständiges Ein- 
strömen statt, und der deutsche Handel spielt heute in den 
haitischen Häfen, besonders in Port-au-Prince, eine ansehn- 
liche Rolle.“ 

Dem Buche sind zahlreiche kleine Lichtdrucke beigegeben ; 
von den Karten ist die eine ein ganz gutes Übersichtsblatt 
mit den Routen des Verfassers, die zweite stellt in 1: 250000 
die Gegenden im Osten und Süden von Port-au-Prince dar. 


Auguste Pawlowski, Les ports de Paris. X und 150 8. 

mit 27 Abbildungen. Paris 1910, Berger-Levrault et Cie. 

Paris ist nach Wert und Menge der Güter der größte 
Hafen Frankreichs; dank einem weitverzweigten Kanal- 
system, das die Seine mit den übrigen Stromsystemen des 
Landes verbindet, das Zentrum von dessen Binnenschiffahrt. 
Im eigentlichen Sinne aber hat Paris nicht einen Hafen, 
sondern eine ganze Anzahl, vor und innerhalb der Stadt, und 
sie betrachtet der Verfasser des vorliegenden kleinen Werkes 
in historischer, technischer und Verkehrs- und Handels- 
beziehung unter Heranziehung eines umfangreichen statisti- 
schen Materials. Handelswelt und Schiffahrt aber haben 
natürlich mit Bezug auf die Hafenanlagen noch mancherlei 
Wünsche und Vorschläge, und auch auf diese wird ein- 
gegangen. Die Abbildungen stellen Hafenanlagen, Kanäle, 
Flußteile dar. Vielleicht wäre die Beifügung einiger Pläne 
und Kartenskizzen von Vorteil gewesen. 


F. Solger, Studien über nordostdeutsche Inland- 
dünen. (Forschungen zur deutschen Landes- und Volks- 
kunde, Bd. 19, Heft 1.) 89 8. mit 4 Taf. und 11 Text- 
abbild. Stuttgart 1910, J. Engelhorn. 5,60 .#. 

Solger liefert als Einleitung einen kurz gefaßten Abriß 
über die Stranddünen. Ihre Entstehung wurzelt in dem 
Küstenwall, von dem man aprioristisch anzunehmen hat, daß 
er von Vegetation entblößt wurde. Alsdann setzt er sich in 
Bewegung, wobei er von dem Bestreben geleitet wird, die 
Form eines Bogens anzunehmen. Entweder eilen die Flanken 
einem trägeren Mittelstück voraus, wodurch die Sichel- 
düne entsteht, oder die Flanken werden durch Vegetation 
festgelegt, die Mitte wandert und läuft sich tot: Parabel- 
düne. Ist die Küstendüne ein fremdes Element in dem Ge- 
biete, in dem sie getroffen wird, so ist die Wüstendüne hei- 
misch in den Gegenden, in denen sie auftritt. An der Hand 
der Forschungen Hedins im Tarimbecken wird für die 
Wüstendüne als charakteristisch die Walldüne angesehen, 
die im großen Maßstabe die Erscheinung der Wellenfurchen 
wiederholt. 

Nach diesen allgemeinen Bemerkungen wendet sich Solger 
speziell den norddeutschen Inlanddünen zu, dabei aber viel- 
fach auf andere Teile Norddeutschlands übergreifend. Mit 
Hilfe eines reichen Beobachtungsschatzes werden zwei Gruppen 
unterschieden: Bögen, deren äußere Krümmung nach Osten 
gerichtet ist, und langgestreckte Wälle, Strichdünen, mit einer 
Orientierung O—W oder OSO—WNW. Beide Gebilde sind 
tote Formen und setzen für ihre Entstehung ein anderes Klima 
als das gegenwärtige voraus. Es muß trocken gewesen sein und 
im Gebiet vorherrschender Ostwinde gelegen haben, die eine 
Folge einer Antizyklone waren, die sich über dem nordischen 
Inlandeise entwickelt hatte. Die nach dem Rückzug des 
Eises einsetzenden Westwinde vermochten den Grundriß dieser 
Dünenformen nicht umzugestalten, sondern nur geringe Va- 
riastionen herbeizuführen. Hans Spethmann. 


Wilhelm Grube, Religion und Kultus der Chinesen. 
VII u. 220 8. Leipzig 1910, Rudolf Haupt. 3 f 
Grubes Schilderung der chinesischen Religion und ihres 

Kultus ist die einzige für weitere Kreise bestimmte Dar- 


stellung, die dieses schwierige Gebiet wissenschaftlich mit 
vollendeter Meisterschaft behandelt und die uns äußerst 
fremdartigen Gedanken und Institutionen unserem Ver- 
ständnis wirklich erschließt. Es ist ein aus dem Nachlaß 
Grubes herausgegebenes Werk, das den Verlust dieses aus- 
gezeichneten Mannes, der seiner Wissenschaft allzu früh ent- 


rissen ist, schmerzlich fühlbar macht. Denn die Notwendig- 
keit, die ostasiatische Kulturwelt zu erschließen, ist für die 
Wissenschaft wie für das praktische Leben gleich dringend. 
Und dafür hatte Grube alle Fähigkeiten in hohem Maße: 
intime, auf reicher Anschauung beruhende Kenntnis des 
chinesischen Wesens, ausgedehnte Quellenkenntnis und eine 
seltene Gabe lichtvoller Darstellung, die auch die schwieri- 
gen Probleme der chinesischen Geistesgeschichte wie der 
Sprache und des Denkens einfach zu gestalten und klar zu 
machen weiß. Grubes Buch ist nicht nur gegenüber den 
vielen schlechten Büchern, die über China produziert werden, 
eine Wohltat, es nimmt auch im Kreise der sinologischen 
Literatur eine beachtenswerte Stellung ein. Denn wir haben 
hier wenig, worauf man weitere Kreise mit gutem Gewissen 
verweisen könnte. Oonradys schöne Vorträge „Chinas 
Kultur und Literatur“ (Leipzig 1909) betonen die Literatur, 
die Religion wird in ihnen wesentlich als eine im Kultur- 
leben Chinas mitwirkende Macht erfaßt. An erster Stelle 
ist gewiß J. J. M. de Groots „The Religious System of 
China“ als Standardwerk zu nennen. Es ist ein gewaltiges 
Werk, von den sieben „Büchern“, auf die es angelegt, sind 
erst zwei in fünf starken Quartbänden erschienen. Das ist 
eine Masse, die in unserer Zeit bei dem Andrängen stets 
neuer Stoffe schwer zu bewältigen ist. Andererseits ist die 
Darstellung des chinesischen Religionswesens, die de Groot 
in Chantepie de la Saussayes „Lehrbuch der Religions- 
geschichte“ (3. Aufl., Tübingen 1905, Bd. 1) gegeben hat, 
keineswegs leicht geschrieben. Sie enthält vieles nicht, was 
unentbehrlich ist und doch nicht überall als bekannt und 
verstanden vorausgesetzt werden darf. Knapp, aber sehr ge- 
haltvoll ist die Skizze von de Groot in der „Kultur der 
Gegenwart“ (Leipzig 1906, Teil I, Abt. III, 1), aber, wie viele 
Teile dieses glänzenden Sammelwerkes, nicht gerade als Ein- 
führung für solche, die den Dingen fernstehen, zu brauchen. 
Gerade darin liegt der Wert von Grubes Buch: es ergänzt 
die bisherigen guten Werke durch eine elementarere Gestal- 
tung, es baut das Verständnis des chinesischen Religions- 
wesens von Grund aus auf, indem es die einzelnen Baustücke, 
wie sie vom chinesischen Denken und der Kultur Chinas ge- 
bildet sind, kennen lehrt. Vor allem ist die Klarlegung der 
Begriffe, die das Chinesische anstatt unseres Religionsbegriffes 
braucht, von entscheidender Bedeutung für das Verständnis 
des gesamten chinesischen Religionswesens. Auch das ist 
ein wichtiger Schritt zum richtigen Verständnis, daß die 
Darstellung nicht von den klassischen Schriften ausgeht, son- 
dern von den volkstümlichen kultischen Bräuchen. In ihnen 
haben wir das wirkliche Leben, nicht die systematische 
„Lehre“. Von hier aus erst ist das Werk des Konfuzius 
historisch richtig zu erfassen. Zweifellos gehört Konfuzius 
nicht zu den Religionsstiftern, so tief auch seine Wirku 
auf das Chinesentum ist. Der Konfuzianismus ist „Lehre 
etwa im Sinne eines philosophisch-politischen Systems. Kon- 
fuzius hat gewirkt, einmal weil er der typische Exponent 
aller tüchtigen chinesischen Wesenszüge ist und damit seinem 
Volke faßbar war, sodann weil er die primitiven Elemente 
des Volksglaubens schonend behandelte und sie durch ihre 
Verbindung mit seiner Pflichten- und Staatslehre ethisch er- 
höhte. Grube hat hier in weiterem Zusammenhange dar- 
gestellt, was sein schöner Aufsatz „Der Konfuzianismus und 
das Chinesentum“ („Deutsche Rundschau“ 1900) begonnen 
hatte. — Weit größere Schwierigkeiten als der nüchterne, 
klare Konfuzius machte der ungleich tiefere Denker, der 
Mystiker Lao-tse. Auch er ist kein Religionsstifter, sondern 
Philosoph von hohem, prophetischem Geist, unfraglich die 
interessanteste Geistesgröße Chinas. Stark hervorheben muß 
man den sozialistischen Zug in Lao-tse, der die Menschen 
aus einer verderbten, unheilsvollen Zeit in die Paradieseszeit 
und das Kinderland der Menschheit zurückführen möchte, 
in ein Leben, wo die Kultur den Menschen noch nicht ver- 
dorben hatte. Bei alledem ist Lao-tse ein tief religiöser, 
metaphysisch denkender Geist, so daß immer wieder Ver- 
suche gemacht sind, sein Denken mit der indischen Philo- 
sophie in Verbindung zu setzen. Die kritische Umsicht und 
das eindringende Verständnis, mit dem Grube dem Leben 
und Denken dieses großen Geistes gerecht wird, ist eine 
Meisterleistung. Mit der volkstümlichen Religion, die durch 
den Namen „Taoismus“ an Lao-tses Lehre ankuüpft, hat 
der große Philosoph freilich nichts zu tun. Hier sind Elemente 
primitiven Glaubens und alchemistische Geheimlehren zu 
einer Form der Volksreligion verwachsen. Dieses Empor- 


82 Kleine Nachrichten. 





steigen volkstümlichen Glaubens und Aberglaubens gestaltet 
auch den chinesischen Buddhismus, der gegenüber der Lehre 


Buddhas etwas völlig Neues ist. Eine besondere Stellung 
aber gebührt dem Buddhismus als einer Kulturmacht, die 
in China auf Denken, Kunst und Literatur den tiefsten Ein- 
fluß geübt hat, was Grube vortrefflich schildert. Besonders 
dankenswert ist der letzte Abschnitt in Grubes Buch, die 
Darstellung der verwirrenden, heutigen synkretistischen Volks- 
religion und eines besonderen Gebietes, des geomantischen 
Systems, des mit den Totenbräuchen verknüpften Zauber- 
wesens. Der Islam in China ist nicht berücksichtigt, obwohl 
er recht stark ist; er hat indes auf Chinas Denken keinen 
Einfluß geübt und ist auch seinerseits in seinem starren 
Dogmengefüge nicht durch chinesische Züge umgebildet wor- 


den. Ob er politisch und kulturell eine größere Zukunft 
in China haben wird, ist eine mehrfach in entgegengesetztem 
Sinne beantwortete Frage (Wassiljew, Dabry de Thiersant, 
de Groot, Conrady). Eine Reihe von guten Bildern — Ori- 
ginalaufnahmen der Gattin Grubes — liefern wertvolles An- 
schauungsmaterial zum Kultus. 

Wer China kennen zu lernen genötigt ist — durch prak- 
tische oder wissenschaftliche Interessen —, kann Grubes Buch 
nicht entbehren. China ist nicht ohne ein Zurückgehen in 
seine ältere Geschichte verständlich. Denn das heutige China 
ist in seinem innersten Wesen ein Altertumsstaat, das einzige 
Gebilde, in dem ein uraltes Staatswesen und seine Grundlagen 
bis heute ohne wesentliche Neubildungen Zehen 

R. Stübe. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— MassenhaftesAuftretenvonKopepoden vordem 
kalifornischen Meerbusen. Der Kapitän des Dampfers 
„Hermine“ der Triester Österreichisch-amerikanischen Schiff- 
fahrtsgesellschaft berichtet, daß er am 29. Mai d. J. während 
des Tages von Kap Corrientes bis zum Kap 8. Lucas, d. h. 
während der Überquerung der breiten Einfahrt in den kali- 
fornischen Meerbusen, durch eine förmliche schwimmende Bank 
lebender Krebse, Kopepoden, aufgehalten worden ist. Die 
Meeresoberfläche war mit einer Schicht dieser Tiere so dicht 
bedeckt, daß durch sie die Schraube in ihren Bewegungen 
gehindert war und der Dampfer infolgedessen längere Zeit 
aufgehalten wurde. — An diese Krebsart schließen sich die 
Jugendformen des amerikanischen Hummers an, der eben- 
falls in unglaublichen Mengen an den kalifornischen Küsten 
erscheint. 


— Die polaren Eisverhältnisse im Sommer 1909. 
Das dänische meteorologische Institut hat seinen Bericht über 
die polaren Eisverhältnisse des Sommers 1909 veröffentlicht; 
er beruht auf sämtlichem dem Institut zugänglich gewordenen 
Material von originalen oder gedruckten Beobachtungen. Das 
Gesamtresultat läßt sich wie folgt zusammenfassen: Ungünstig 
für die Schiffahrt waren die Eisverhältnisse im Barentsmeer 
um Spitzbergen, während im Grönlandmeer und in der Däne- 
markstraße die Eisgrenze viel weiter westlich als gewöhnlich 
lag. Die isländischen Küsten waren fast ganz frei von Eis, 
viel Eis aber wurde vor Neufundland und auf den trans- 
atlantischen Dampferwegen gesehen. Recht günstig waren die 
Verhältnisse im Südosten von Grönland und im Archipel im 
Norden von Amerika. In der Beringstraße waren sie etwa 
normal und im Beaufortmeer, besonders gegen die Mitte des 
Sommers, ziemlich günstig. Es wird in dem Bericht vermutet, 
daß in diesem Sommer (1910) die Eismassen längs der Süd- 
ostküste Grönlands ziemlich gering sein und daß sich für die 
Südwestküste ebenfalls günstige Bedingungen ergeben werden. 


— DieQuellenund Ursachender japanischen Aus- 
wanderung erörtert Yosaburo Yoshida in den „Annals 
of the American Academy of Political and Social Science“ 
(Band 34, 8. 377 bis 387). Als Hauptbeweggründe für die 
Auswanderung erscheinen die Bevölkerungszunahme, der auf 
den unteren Volksschichten lastende wirtschaftliche Druck 
und das Streben nach Wohlstand oder Bildung. Japan ist 
eines der dichtest besiedelten Länder der Erde. In den Jahren 
1872 bis 1903 hat sich seine Volksdichte von 87 auf 122 Ein- 
wohner pro Quadratkilometer erhöht. Die Auswanderung er- 
reicht indessen ihren Höhepunkt nicht in den am dichtesten be- 
siedelten Distrikten überhaupt, sondern in jenen, die den größten 
Prozentsatz kleinbäuerlicher Familien aufzuweisen haben, vor 
allem in den südwestlichen Bezirken Hiroshima, Yamaguchi, 
Wakayama und Fukuoka. In den Jahren 1899 bis 1903 betrug 
die Zahl der japanischen Auswanderer (ausschl. der nach China 
und Korea gehenden) insgesamt 84576; davon entfielen 56 687 
auf die genannten vier Distrikte und den Bezirk Kumamoto. 
Der Strom dieser Auswanderer richtet sich zum weitaus über- 
wiegenden Teil (über 80 Proz.) nach den Vereinigten Staaten 
und Hawaii. Nach den ersteren gingen im Jahre 1906 8466, 
nach Hawaii 30093 Japaner. Die Mehrzahl von ihnen sind 
Landwirte, die entweder selbst Land pachten oder sich als 
Farmarbeiter verdingen. Einen starken Anreiz zur Auswande- 
rung bilden für diese Klasse von Leuten vor allem die Er- 
folge, die einzelne ihrer Landsleute in Amerika errungen 
haben. Das Glück des kalifornischen „Kartoffelkönigs“ Kin- 
ya Ushizima z. B., das oftmals in den Zeitungen geschildert 
worden ist, hat viele seiner engeren Landsleute aus dem Di- 


strikt Fukuoka angelockt. Die zweitgrößte, an Zahl aller- 
dings schon weit schwächere Gruppe der Auswanderer bilden 
die Studenten. Unter den 9544 im Jahre 1908 nach den fest- 
ländischen Vereinigten Staaten zugelassenen Japanern befanden 
sich 2252 Studenten. Die Zahl der Studierenden, die seit den 
70er Jahren nach der Union gegangen sind, beläuft sich auf 
viele Tausende. In früherer Zeit erhielten diese Leute bei 
ihrer Rückkehr in die Heimat häufig gute Stellungen als 
Beamte. Heute erfährt die Mehrzahl der japanischen Stu- 
denten, die nach Amerika auswandern, bittere Enttäuschungen 
und fristet schließlich als Dienstboten oder als Feldarbeiter 
ihr Dasein. J. 


— Im Globus, Bd. 97, Nr.15 ist ein Artikel von Dr. ing. 
Felix Langenegger abgedruckt mit dem Titel „Die 
Grabesmoscheen der Schi’iten im Iraq“. Der Ver- 
fasser läßt darin eine Angabe vermissen, zu welcher Zeit sein 
Besuch in Kerbelä, um welche Stadt es sich besonders han- 
delt, stattfand. Seine Beobachtungen stammen nun aus dem 
Jahre 1905 und sind heute keineswegs das Allerneueste auf 
ihrem Gebiete, wie man vielleicht annehmen könnte (vgl. 
Türkische Bibliothek, Bd. XI: Das Heiligtum al-Husains zu 
Kerbelä. Berlin 1909. Besprochen im Globus, Bd. 97, Nr. 5). 
Die ausführlicheren Angaben über die Grabesmoscheen der 
Schi’iten beschränken sich auf Kerbelä, weil, wie der Verfasser 
sagt, es ihm gelungen ist, sich dort verkleidet einzuschleichen, 
und er so authentisch berichten kann. In weiteren Kreisen 
ist nun wohl bekannt, daß ein Europäer sich nicht zu ver- 
kleiden braucht, um nach Kerbelä hineinzugelangen. Es 
scheint aber aus dem letzten Absatze auf 8. 235 hervor- 
gehen zu sollen, daß es das Husainheiligtum ist — in das 
allerdings ein Ungläubiger nur, wenn er nicht erkannt wird, 
eindringen kann —, welches authentisch beschrieben wird. 

Meine eigenen Beobachtungen über das Innere des al- 
Husainheiligtumes, die ich mit zeichnerischen Aufnahmen 
belegen konnte, stammen aus dem Jahre 1907 und weichen 
teils von den Langeneggerschen ab, teils sind sie vielleicht 
geeignet, jene zu ergänzen. In der Mitte des Raumes unter 
der Kuppel steht quer zu dem von Süden her Eintretenden 
eine riesige Sandüqa aus silbernem Gitterwerk nach Art der 
Maschrebijen. Was sich darunter befindet, ist sowohl bei 
der natürlichen Tagesbeleuchtung als auch bei der üblichen 
künstlichen Beleuchtung des Kuppelraumes durch das Gitter- 
werk hindurch schwer zu erkennen. Der Sarg al-Husains 
selber steht in einem unterirdischen Gewölbe, welches durch 
einen engen Gang so mühsam zu erreichen ist, daß man dem 
Schäh Näsir ed-din bei seiner Wallfahrt abriet, es zu be- 
sichtigen. An das Ostende der großen Sandüga schließt sich 
eine kleinere aus ebensolchem silbernen Maschrebijenwerk 
an; es soll die des 'Ali Ekber sein, eines Sohnes al-Husains, 
der auch bei Kerbelä fiel. Die Wallfahrt vollzieht sich um 
diese beiden Sandügen herum im Drehungsinne der arabischen 
Handmühle, also von rechts nach links (T. B. XI, 8.20, steht 
leider infolge Druckfehlers „von links nach rechts“). Daß 
Opfergaben durch das Gitterwerk geworfen werden, habe ich 
nicht beobachtet; es ist aber nicht unwahrscheinlich. Zu 
meiner Zeit lag ein Geisteskranker, die Hände hoch an das 
silberne Gitter gefesselt, hart an die Sandüqa gepreßt, auf 
den Steinplatten des Fußbodens. Man hatte ihn dem Heiligen 
zum Opfer gebracht, in der Hoffnung, daß dieser den guten 
Willen anerkennen und die Krankheit von dem Unglücklichen 
nehmen würde. Ein großer, runder Kronleuchter aus Glas 
hängt aus dem Mittelpunkte der Kuppel herab; er ist von 
moderner, vielleicht europäischer Arbeit und wird eine Stif- 
tung aus den ersten Jahrzehnten nach dem Wahhäbiten- 





Kleine Nachrichten. 83 





überfall (1801) sein. Die gläsernen Armleuchter an den 
Wänden sind drei- und mehrarmig und ebenfalls moderner 


Arbeit. Waffen und Uhren sind im Husain an den Wänden 
nicht aufgehängt. (Im Heiligtum des ’Ahbäs zu Kerbelä 
sollen dagegen Waffen in großer Zahl vorhanden und einige 
an der Decke aufgehängt sein. Uber der Sandüqa des ’Ali 
in Nedschef muß ein riesiger krummer Säbel angebracht sein, 
wohl eine Erinnerung an den dhu’l-fiqär, das berühmte 
Schwert ’Alis. Auf den im Lande käuflichen Bilderbogen 
tritt er an dieser Stelle wenigstens immer auf.) Auch elek- 
trische Bogenlampen gibt es im Heiligtume natürlich nicht. 
(Betreffs der Ausschmückung des Innern verweise ich auf 
T. B. XI.) Photographische Aufnahmen aus dem Innern 
sind der ungenügenden Beleuchtung wegen meist mißlungen; 
auch wünscht die Geistlichkeit deren Bestehen nicht. Es gibt 
aber Abzüge nach einer Platte, die so stark retuschiert ist, 
daß die Kopie wie nach einer Handzeichnung gemacht aus- 
sieht (veröffentlicht in Grothe, Geogr. Charakterbilder, Taf. 79, 
Abb. 138). Diese Aufnahme, die wohl 1904 schon bestand, 
kann zur Unterstützung meiner Angaben herangezogen werden. 
Einige Irrtümer geschichtlicher Art oder in der Auf- 
fassung von al-Husains Charakter, die dem Verfasser des 
Globusartikels untergelaufen sind, will ich nicht weiter be- 
richtigen. Die dritte der Abbildungen nach Aufnahmen des 
Verfassers — d. h. nach aus seinem Besitze stammenden 
Photographien — trägt ihre Bezeichnung „Goldene Kuppel 
des Heiligtums des Mahdi in Samarra“ zu Unrecht: sie stellt 
das Stadtbild von Nedschef mit der Goldkuppel ’Alis von 
Westen gesehen vor. „Ohaimüke“ (richtig chaime-gäh) ist 
nicht „Begräbnisplatz“, sondern ein (heiliger) Ort (zäh) in der 
Weststadt von Kerbelä, wo der Sage nach al-Husains Zelt 
(chaime) gestanden hat. Er trägt einen kleinen oktogonalen 
Zentralbau (vgl. Grothe, Geogr. Charakterbilder, Taf. 84, 
Abb. 145. Ein Grundriß ist in T. B. XI, Taf. 7, gegeben), 
der sehr hübsch liegt. Arn. Nöldeke. 


— Über Temperaturen und Sauerstoffmengen im 
Sakrower See bei Potsdam, die auf Veranlassung des 
Instituts für Meereskunde in Berlin von G. Schickendantz 
beobachtet wurden, berichtet dieser in der „Intern. Revue der 
ges. Hydrobiologie und Hydrographie“, Bd. III, 1910. : Er 
findet, daß namentlich im Herbst die Kurven für Temperatur 
und Sauerstoff parallel gehen und daß die Sprungschicht 
einen Abschluß für die Durchlüftung des Wassers bildet 
Die Temperaturschwankungen am Grunde des Sees erklärt 
er durch Erwärmung vom Boden aus. Im September und 
November trat daselbst freier Schwefelwasserstoff auf. Die 


Untersuchungen sollen fortgesetzt werden. Halbfaß. 


- Quartärstudien im Gebiete der nordischen 
Vereisung Galiziens lassen Walery Ritter v. Lozinski 
(Jahrb. d. k. k. geol. Reichsanstalt 1910, 60. Bd.) zu folgenden 
Schlüssen gelangen. Die Wasserläufe im nordgalizischen 
Tieflande sind ungleichen Alters. So ist die Entstehung des 
heutigen Sanlaufes wie des ursprünglichen Wisloklaufes noch 
in die präglaziale Zeit zu versetzen. In postglazialer Zeit 
müssen aber Bewegungen der Erdoberfläche in vertikaler 
Richtung stattgefunden haben, wobei Senkungen am Kar- 
pathenrande, wie Hebungen im nordgalizischen Tieflande in 
Betracht kommen. Die erstere Eventualität ist nicht gut 
annehmbar; gegen die Möglichkeit postglazialer Senkungen 
am Karpathenrand spricht schon der Umstand, daß in den 
erweiterten Talausgängen die terrassierte Bodenausfüllung 
vielfach bis zur älteren Unterlage durchschnitten ist und die 
Flüsse über nackten Schichtköpfen dahinfließen. Am nächsten 
liegt wohl der Gedanke, die postglaziale Hebung im nord- 
galizischen Tieflande als eine Folge der Senkung der Erd- 
oberfläche unter dem diluvialen Inlandeise und der darauf- 
folgenden Entlastung zu betrachten. Der westgalizische 
Karpathenrand, wo das diluviale Inlandeis in Eiszungen auf- 
gelöst war, ist seit dieser Zeit vollkommen stabil geblieben ; 
es hat weder eine merkliche Hebung noch eine Senkung 
erfahren. Angesichts der Stabilität des westgalizischen Kar- 
pathenrandes kann die postglaziale Hebung des Tieflandes 
nur als eine Aufwölbung von sehr großer Spannweite und 
relativ kleiner Amplitude aufgefaßt werden. Höchstwahr- 
scheinlich war die Amplitude lokalen Schwankungen von 0 bis 
zum Maximalwerte von etwa 50m unterworfen. Es hat den 
Anschein, als wenn die durch das Abschmelzen des diluvialen 
Inlandeises entstandene Spannung in der Erdkruste nicht 
überall, sondern nur in gewissen Krustenteilen zur Auslösung 
gekommen wäre. Denn in der nordwestlichen Umrandung 
des Tieflandes, im östlichen Teile des polnischen Mittelgebirges, 
ist kein Anzeichen von postglazialen Krustenbewegungen 
vorhanden, vielmehr muß eine Stabilität seit der Diluvialzeit 
angenommen werden. Dieses könnte zum Teil dadurch be- 


gründet werden, daß das genannte Gebiet infolge seiner 
höheren Lage von einem weniger mächtigen Inlandeise be- 
lastet und zum Teil ganz eisfrei war. Außerdem muß noch 
der Umstand in Betracht gezogen werden, daß der östliche 
Teil des polnischen Mittelgebirges unmittelbar nach dem 
Verschwinden des Inlandeises einen bedeutenden Massen- 
zuwachs durch die Bildung einer mächtigen Lößdecke aus 
von Winden importiertem Staubmaterial und infolgedessen 
eine dauernde Belastung erfuhr. 








— Die geologischen und hydrographischen Ver- 
hältnisse der Therme Stubica-Toplice in Kroatien 
erörtern Gorjanovic-Kramberger, Chr. Steeb und 
M. Melkmus im Jahrb. d. k. k. geol. Reichsanstalt 1910, 
60. Bd. Bereits 1205 werden diese heißen Quellen urkundlich 
erwähnt. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts bestand kein 
Badeetablissement, man badete in hölzernen Kisten im Freien. 
Erst 1820 baute man Badehäuser, die 1895 vergrößert wurden. 
Die geotektonischen Untersuchungen zeigen, daß das Thermen- 
gebiet von Stubica an eine von Südwesten nach Nordosten 
streichende Spalte gebunden ist und daß die in Rede stehen- 
den Thermen aus der Tiefe aufsteigende Spaltquellen dar- 
stellen und eine Ausdehnung von etwas über 300m zeigen. 
Dabei war das Thermalgebiet seinerzeit noch umfangreicher. 
Die Therme von Stubica gehört .zu den heißesten von Kroa- 
tien und muß als sogenannte juvenile bezeichnet werden, die 
postvulkanischen Ursprungs ist. Chemische Eigenschaften 
wie Temperatur dieser Quelle dürften stets unverändert ge- 
blieben sein, die Ergiebigkeit aber abgenommen haben. Die 
Quellenwasserstäinde bewegen sich meistens im entgegen- 
gesetzten Sinne wie das Barometer, wenn auch oft mit 1 bis 
2 Tagen Verspätung, wobei Schnee und Frost die Quellen 
träge machen. Wahrscheinlich hängen die größeren Schwan- 
kungen im Niveau der Thermen, welche sich auf längere 
Perioden wie Monate und Jahre erstrecken, hauptsächlich 
mit der Bewegung des Grundwassers zusammen, während die 
kleineren Oszillationen des Wasserspiegels der Quellen durch 
den Luftdruck und die Niederschläge hervorgerufen werden. 
Die Stubicaer Thermen sind auch radioaktiv; bei den käl- 
teren Quellen tritt diese Eigenschaft, wie meistens, stärker 
hervor. Im Thermalwasser ist radioaktive Emanation auf- 
gelöst. Der Thermalschlamm aus dem Antonia-Schlammbade 
zeigte eine Radioaktivität von 0,6 Mache-Einheiten. 


— Um die Verdunstungshöhe im offenen Wasser- 
becken zu messen, hat die Preußische Landesanstalt für 
Gewässerkunde am Grimnitzsee in der Mark und am 
Ufer desselben in den Jahren 1908 und 1909 von Mitte Juli 
bis Ende Oktober Verdunstungsmesser aufgestellt, von 
denen der auf dem Wasser befindliche von einem 14,5 m im 
Durchmesser haltenden floßartigen Gerüst umgeben war, um 
störende Wellenbewegungen möglichst zu vermeiden. Das 
Verdunstungsgefäß, das mit dem in größerer Entfernung vom 
Ufer auf dem See verankerten Floße starr verbunden war, 
hatte eine Verdunstungsfläche von 2000 qcm. Die beiden am 
Ufer aufgestellten Messer von ähnlichen Dimensionen wurden 
auf verschiedenem Wasserstand gehalten, um den Einfluß, 
den der Abstand des Wasserspiegels vom Gefäßrande auf die 
Verdunstung hat, festzustellen. Alle drei Gefäße waren der 
vollen Einwirkung der Luft und der Sonne ausgesetzt und 
mit Regenmessern versehen. Wie wir dem Führer durch 
die Sammelausstellung auf dem Gebiete des Wasser- 
baues auf der Weltausstellung in Brüssel, die das 
Preußische Ministerium der öffentlichen Arbeiten veranstaltet 
hat, entnehmen, zeigen die drei offenen Gefäße eine ziemlich 
gute Übereinstimmung in der Verdunstungshöhe; die Ver- 
schiedenheiten, welche auftreten, sind meist auf die ver- 
schieden große Erwärmung des Wassers zurückzuführen. Im 
Mittel betrug die tägliche Verdunstungshöhe in dem an- 
gegebenen Zeitraum 3,5 mm, am größten war sie natürlich 
zur Zeit der größten Wärme, die 1908 im Juli, 1909 im August 
eintrat, sie stieg bis auf 5,8 mm im Mittel des Zeitraumes 
von Mitte Juli bis Mitte August 1908 und sank auf 1,52 m 
im Oktober 1909. Auf die weiteren Resultate darf man ge- 
spannt sein, wenngleich in Betracht gezogen werden muß, 
daß der Grimnitzseee ein räumlich recht unbedeutendes 
Wasserbecken ist. Halbfaß. 

— Eine Betrachtung der reinen Graswirtschaft in 
der Hügelregion des nordost- und zentralschwei- 
zerischen Alpenfußlandes führt J. Suter (Münch. Diss. 
der Techn. Hochschule 1910) zu der Ansicht, daß dieselbe 
im Hügelland heute vielfach auch über solche Gebiete ver- 
breitet ist, wo andere mehrseitige Betriebssysteme am Platze 
wären, die zwar ebenfalls die Graswüchsigkeit des Bodens 
ausnutzen, aber dabei die Ackerkultur nicht ganz vernach- 


84 Kleine Nachrichten. 





lässigen. Überall im angegebenen Gebiete, wo heute die reine 
Graswirtschaft betrieben wird, wäre sie, sofern die Nieder- 
schlagsmenge 120 bis 130 cm pro Jahr nicht übersteigt, ferner, 
wo die Lage und Beschaffenheit des kleefähigen Bodens die 
Pflugarbeit gestatten und wo die Sommerstallfütterung an- 
gezeigt ist, durch Kleegraswirtschaft zu ersetzen. Ausgenom- 
men sind die Graswirtschaften in besten Obstlagen. In Gegen- 
den mit etwa 130cm ev. auch etwas weniger Regenmenge, 
wo ein großer Teil des Kulturlandes infolge starker Neigung, 
großer Steinigkeit oder Bündigkeit dem Pfluge große Hinder- 
nisse in den Weg legt, oder wo die Zusammensetzung des 
Bodens den kleeartigen Pflanzen nicht entspricht, dürfte die 
Graswirtschaft mit etwas Ackerbau in Frage kommen. Dem 
Ackerbau ist eine um so größere Ausdehnung zu geben, je 
leichter der Boden pflügbar ist und je weniger allzu reich- 
liche Niederschläge und Temperaturdepressionen usw. die 
Entwickelung und Reife des Getreides, der Hackfrüchte usw. 
hemmen. Die Gras-Weidewirtschaft ist um so eher am Platze, 
je niedriger das Bodenkapital ist, je schwieriger die Arbeits- 
kräfte zu beschaffen sind, je mehr der arrondierte Grund- 
besitz vorherrscht und je schattiger seine Lage ist, je mehr 
reichliche Niederschläge den Graswuchs begünstigen und 
andererseits dem Anbau von Getreide, Hackfrüchten und 
Feldfutterpflanzen hindernd in den Weg treten. Je geringer 
ferner das Streuareal für die Stallhaltung ist und je schwie- 
riger sich seine Beschaffung stellt; je mehr Gewicht auf 
Aufzucht gesunder wie leistungsfähiger Tiere gelegt wird 
und je höher die Anforderungen an Milch- und Molkerei- 
produkte sich stellen. Die den Obstbau namentlich an den 
Ufern der Seen begünstigenden klimatischen Verhältnisse 
verlangen eine ziemlich dichte Pflanzung der Obstbäume 
zum Zwecke möglichster Ausnutzung genannter natürlicher 
Produktionsfaktoren, erschweren aber den Ackerbau. 

— V. Franz kommt in seiner Arbeit über die Laich- 
wanderungen der Fische (Arch. f. Rassen- u. Ges.-Biol., 
Jahrg. 7, 1910) zu der Schlußfolgerung, daß diese Wanderungen, 
die größten aller durch die Fortpflanzung bedingten Phänomene 
im Tierreich, ohne eine Spur sexueller oder erotischer Instinkte 
zustande kommen. Männchen und Weibchen reagieren nicht 
aufeinander, sondern reagieren gemeinsam auf ein Drittes, 
das sind die optimalen Entwickelungs- und Lebensbedingungen 
für die junge Brut, die in den hydrographischen Bedingungen 
der Laichgebiete gegeben sind. Diesmal behält also nicht 
der Dichter recht, sondern der nüchterne Naturforscher. 
Nicht Hunger und Liebe, wohl aber das Prinzip der Erhaltung 
der Art regiert hier das Getriebe. 


— In den Beiträgen zur Kenntnis des photochemi- 
schen Klimas der Canaren und des Ozeans zeigt 
E. Rübel (Vierteljahrsschr. der naturf. Gesellsch. in Zürich, 
54. Jahrg., 1909), daß in der Beobachtungszeit auf dem Meere 
1400 die höchste gemessene Gesamtlichtstärke war, 830 die 
höchste diffuse, 900 die höchste direkte betrug. Auf dem 
Meere erreicht das direkte Sonnenlicht nur vereinzelt den 
doppelten Wert des diffusen; auf dem Meere ist das diffuse 
Licht aber stärker als auf dem Lande. Hohe Sonnenstände 
haben auf die Lichtintensitäten eine ausgleichende Wirkung. 
Die Lichtsummen steigen auf dem Meere höher als in Wien. 
Auf dem Pik herrschten nicht die großen erwarteten 
Lichtstärken. Die Zahlen vom 6. bis 8. April 1908 blieben 
unter dem Mittel derjenigen des Berninahospizes bei gleicher 
Sonnenhöhe und Sonnenbedeckung. Das direkte Sonnenlicht 
erreichte in größter Seehöhe den sechsfachen Wert des diffusen. 
In der Wolkenregion herrscht "/ı,s bis '/, des Tageslichtes, 
im Lorbeerwald im Mittel Y, bis 4o- 








— Die wirtschaftliche Bedeutung der einzelnen 
Erdöllagerstätten. Für den Weltmarkt kommen nach 
F.W. Moeller, der Wirtschaftsbetrieb des Erdöls (Techn. u. 
Wirtsch., 3. Jahrg., 1910), nur die Vereinigten Staaten, 
Rußland, Niederländisch-Indien, Galizien, Rumänien und 
allenfalls Britisch-Indien und Japan in Betracht. Wegen der 
verhältnismäßig sehr geringen Erschließung dieser Fundstätten 
ist es unmöglich, die Vorräte zu schätzen, die noch zu 
gewinnen sind. Dabei wird der flüssige Brennstoff in der 
künftigen Gestaltung unserer Verkehrsverhältnisse eine immer 
größere Rolle spielen. Zudem ist das Lichtbedürfnis der 
Menschheit noch immer im Steigen begriffen. Dabei zeigen 
die Vereinigten Staaten, wie ununterbrochen seit 1903, immer 
noch weitaus die größte Produktion, sie sind mit über 
63 Proz. an der Weltproduktion beteiligt. Rußland, das von 
1898 bis 1901 an der Spitze stand, folgt jetzt in weitem 
Abstande mit etwa 23 Proz. Im ganzen zeigt sich, daß die 


Weltproduktion nach einem zeitweiligen Rückgang in den 
Jahren 1905/06 wieder schnell gestiegen ist (um mehr als 
25 Proz.) An dieser Steigerung ist absolut genommen 
Amerika am meisten beteiligt, prozentualiter, abgesehen von 
den anderen Ländern, Galizien. In Amerika ist die Steigerung 
auf die zunehmende Erschließung neuer Olgebiete zurück- 
zuführen, nicht etwa auf eine ausgedehntere Bohrtätigkeit 
in den bekannten Feldern. Das Versiegen von Quellen in 
Pennsylvanien, New York, Ohio usw. gehört zu den alltäg- 
lichen Erscheinungen. Dafür bringt jetzt Kalifornien allein 
40 Millionen Barr. hervor. Die in den erschlossenen Ollagern 
von der United States Geological Survey vorgenommene 
Abschätzung hat ergeben, daß diese Felder bei einer Ver- 
größerung der Förderung in ihrem jetzigen Umfange ungefähr 
bis 1935 ausreichen, falls der Gebrauch in demselben Maße 
zunimmt wie bisher. 

— Die Stürme und Sturmwarnungen an der deut- 
schen Küste in den Jahren 1896 bis 1905 stellt L. Groß- 
mann (Aus dem Archiv der deutschen Seewarte, 32. Jahrg., 
1909) zusammen. Gegenüber früheren Jahren hatte nicht 
Rügen und Umgebung, sondern die preußische Küste die 
meisten Stürme. Sieht man von den leichtesten Sturm- 
erscheinungen ab, so nimmt die Sturmhäufigkeit von der 
Nordsee nach Osten hin zu; dabei hat Rügen als das weit 
nach Norden vorgeschobene Gebiet verhältnismäßig viele 
Stürme und bedingt hierdurch eine für die westliche Ostsee- 
und die hinterpommersche Küste gefundene Unstetigkeit in 
der west-ostwärts gerichteten Zunahme, die jedoch bei einer 
Vermehrung der Stationen über diesen Gebieten gewiß auch 
erheblich abnehmen würde. Von Rügen ostwärts treffen wir 
dabei von den schweren Sturmerscheinungen prozentisch etwa 
dreimal so viel wie an der Nordsee an. Die Verteilung der 
Stürme über unserer Küste wird besonders hervorgerufen 
durch die beiden Haupttypen unserer Stürme aus westlichen 
Richtungen, diejenigen, die sich von Westen nach Osten 
ausbreiten, und die, welche in Verbindung mit Depressionen 
über Nordosteuropa auftreten und sich westwärts ausdehnen. 
Von 100 Sturmphänomenen der Nordsee berühren durchschnitt- 
lich 70 die preußische Küste, während unter 100 Sturm- 
phänomenen der preußischen Küste nur 47 auch an der Nord- 
see auftreten. Dies ist besonders darauf zurückzuführen, daß 
jene zweite Kategorie von westlichen Stürmen in hohem 
Grade auf die östliche Ostsee beschränkt ist; sie ist es, welcher 
wir den Sturmreichtum im Osten und besonders im Sommer 
zuzuschreiben haben. Wie für das vorangehende Jahrzehnt 
ist das Ergebnis der Sturmwarnungen für die stürmischen 
Winde aus östlichen Richtungen wenig zufriedenstellend und 
der Erfolg in den Monaten Mai bis August erheblich un- 
günstiger als für die Monate September bis April; zum 
größten Teile ist dieses gewiß der Einrichtung des Abend- 
dienstes auf der Seewarte während der letzteren Zeit zuzu- 
schreiben. Das Ergebnis für die Stürme aus westlichen Rich- 
tungen und besonders in den kalten Monaten ist ganz er- 
heblich besser. Der Nutzen der jetzigen Sturmwarnungen 
könnte sicher eine bedeutende Steigerung erfahren, wenn 
die von der Seewarte ausgegebenen Warnungen durch Funken- 
spruch über die gesamte deutsche Küste ausgebreitet würden, 
so daß jeder mit Funkensprechapparat ausgerüstete Dampfer 
die Telegramme auffangen und womöglich durch Signale be- 
kannt geben könnte. Namentlich für die Fischdampfer 
würde diese Einrichtung von großem Segen sein. 


' 


— Die Resultate über Glazialstudien im Tölzer 
Diluvium teilt P. Aigner mit (Mitt. d. geogr. Gesellsch. in 
München, 5. Bd., 1910). In Übereinstimmung mit der gegen- 
wärtigen geologischen Anschauung stellt er den Decken- 
schotter zum Quartär und faßt ihn als dessen untersten Hori- 
zont in der dortigen Gegend auf; er nimmt ihn jedoch aus 
der Reihe der glazialen Faziesbildungen heraus und be- 
trachtet ihn in seiner Hauptmasse als eine präglaziale Ab- 
lagerung. Er vertritt dabei die Ansicht, daß die eigentliche 
volle Eiszeit erst eintrat, als der Deckenschotter bereits ver- 
festigt und oberflächlich stark verwittert war. Da nun für 
dieselbe nur mehr die letzte und vorletzte Eiszeit nach 
Penckscher Zählung übrig bleibt, er aber diese beiden aus 
den angeführten Gründen in eine einzige zusammenlegt, so 
gelangt Aigner vollständig auf den Standpunkt von Geinitz. 
Wir haben im Quartär nur eine einzige Eiszeit gehabt, und 
alle Unregelmäßigkeiten in ihrem Verlaufe, sowie alle schein- 
baren Wiederholungen sind auf lokale Schwankungen und 
Unterbrechungen wie auf verschiedenartige gegenseitige Be- 
einflussung der einzelnen Gletscher während der Entwicke- 
lungsperiode der Eiszeit zurückzuführen. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schüneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 





GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- UND VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 








Bd. XCVIII. Nr. 6. 


BRAUNSCHWEIG. 








11. August 1910. 











Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 








Die Insel Korsika. 


Von Fritz Mielert. 


Sprottau. 


Mit 21 Abbildungen nach ÖOriginalaufnahmen des Verfassers. 
(Schluß.) 


Ganz anderen Charakter als das vegetationsreiche 
Restonicatal besitzt die nördlich mit dem Tavignanotal 
parallel laufende Talschlucht des Golo, die Scala Santa 
Regina genannt. Es ist eine Felsschlucht von so 
imposanter Gestaltung, wie man solche auch außerhalb 
Korsikas selten antrifft, ein wahrer Jubelschrei des 
Finster-Schönen. Vegetation ist so spärlich, daß sie in 


dem Chaos der vertikal gezackten, gigantischen Fels- 
In der Tiefe rauscht der 


wände ganz verschwindet. 





Abb. 14. Evisa (S42 m) mit dem Blick auf die Küstenberge. 


Golo in majestätischer Ruhe gleichmäßig dahin. Am 
Ausgange dieser Schlucht tritt man in das Hochtal von 
Niolo, dessen Hauptort Calacuccia (850 m hoch gelegen) 
ist. Im Norden steigen hinter einer schluchtartigen 
Senkung die Graunitmauer des Monte Cinto und seine 
westlichen, wunderlich gezackten Trabanten auf, die zum 
Col di Vergio hinleiten und die höchsten Erhebungen 
des südlich abschwenkenden Bogens des Monte Cinto 
sind. Man sagt, daß das Niolobecken den Kern des 
Korsenvolks, die stärksten Männer beherberge. Ich habe 
sie nicht anders gefunden wie in irgend einem anderen 
Tale. Die sanften Berglehnen sind hier vielfach mit 
Globus XCVIIL Nr. 6. 


Getreide bestellt, auch sieht man außerordentlich starke 
Steineichen, deren Früchte der hier anscheinend viel be- 
triebenen Schwarzviehzucht zugute kommen. Der Monte 
Cinto ist von Calacuccia aus in etwa sieben Stunden 
leicht zu ersteigen. Sein Gipfel, eine abgestumpfte 
Pyramide, bildet unten eine lange Geröllhalde, oben eine 
mäßig steile Granitmasse. 

Etwa eine Fahrtstunde hinter Calacuccia tritt man 
in den größten Forst Korsikas, den 4638 ha umfassenden 





Kiefernforst von Valdoniello.. Er ist ein ungemein 
köstliches Einschaltbild in der Serie der imposanten 
Bergpanoramen Korsikas. Man kann sich in einen 
großen Schwarzwaldforst versetzt glauben, so wogt es 
vor uns in blaugrünen Tönen an den Berglehnen und 
in der Schlucht. Die Stämme sind zum größten Teil 
sehr alt und darum von beträchtlichem Stammesumfang. 
Solche von 1!/, bis 2m Umfang sind sehr häufig, doch 
gibt es auch eine Kiefer, die 5m Umfang hat und daher 
den ehrenden Beinamen le roi führt. Ein prächtiger 
Blumenflor und hohe Farrenkräuter bilden die Bedeckung 
des Bodens dieses Waldes, der sich bis etwa 1300 m 


12 


86 


Höhe hinaufzieht. Der Auf- 
stieg zum Paß von Vergio 
geht auf einigen weit- 
geschwungenen Serpen- 
tinen völlig mühelos vor 
sich. Einige wild zerzauste 
Gruppen von Kiefern 
schmücken die Kammhöhe 
(1464 m), von der man auf 
den eben durchfahrenen 
Forst von Valdoniello und 
zu den Bergwällen des 
Monte Cinto und seiner 
Partner im Süden, des Ci- 
matelli und Monte Rotondo, 
blickt. 

Gen Westen hin senkt 
sich die Straße sehr steil 
und schnell in kurzen Ser- 
pentinen und erschließt die 
wunderbare, dolomiten- 
artig aufgebaute Bergwelt 
von Evisa und Porto, Berg- 
gebilde, die auffallend an 
jene des Monte Christallo 
usw. in den Tiroler Dolo- 
miten erinnern. Die Straße 
zieht sich am oberen Hange 
einer sehr tiefen Schlucht 
hin, die nebst den Hängen 
von dem 1708ha großen, 
unvergleichlich schönen 
Kiefern- und Buchenwald 
von .Aitone bekleidet ist. 


Er ist noch üppiger als der jenseits des Passes gelegene 
Forst, die Farrenkräuter erreichen hier Höhen bis zu 


Mielert: Die Insel Korsika. 








an 


Abb. 15. Motiv hinter Evisa beim Ponte de Tavoletta (611m). 
Im Hintergrund die Monti alla Polmenascia (1715 m). 





2m und darüber. Bald 
nach dem Austritt aus die- 
sem Walde gelangt man 
nach Evisa (Abb. 14), das 
etwa 1000 Einwohner 
hat. Der Ort, 850 m hoch, 
liegt außerordentlich wage- 
mutig an dem oberen Teile 
eines steilen Berghanges 
und ist von mächtigen 
Schluchten umgeben, in 
welche die Häuser von 


- Evisa von dem etwa 60° 


geneigten Hange kühn hin- 
abschauen. Im Osten lockt 
der herrliche Bergwald, im 
Westen steigen, scheinbar 
in den Himmel hinauf- 
gewachsen, die Berg- 
schroffen des Küstengebir- 
ges empor. Die Straße vom 
Paß Vergio über Evisa nach 
dem Meer ist bewunderns- 
wert in ihrer Kühnheit und 
Meisterhaftigkeit der An- 
lage durch dieses Labyrinth 
von steilen Hängen und 
Schluchten. Evisa ist von 
reichen Oliven- und Ka- 
stanienkulturen umgeben, 
weiterhin breiten sich die 
herrlichsten Macchien. In 
etwa einer Stunde Fahrt 
hoch über Schwindel er- 


regenden Abgründen hin lenkt die Straße in die grandiose 
Schlucht von Porto ein, deren nördliche Bergwand brandrot 





Abb. 16. 


Motiv aus den Calanches. 


Abb. 17. 


La Piana. 


Mielert: Die Insel Korsika. 





leuchtet. 1200 bis 1500 m hohe 
Steilwände schließen einen in der 
Tiefe brausenden Gießbach ein, dessen 
Wasser von dem harten Geklipp zu 
milchigem Schaum zerschlagen ist. 
An den roten Hängen glänzt eine 
tropenartige Vegetation, und oft ge- 
statten, wie bei dem Ponte de Tavo- 
letta (611m über der Schluchttiefe, 
Abb. 15), Einschnitte und Seiten- 
schluchten entzückende Ein- und 
Aufblicke, wo dann wie ein Land 
der Verheißung samtgrüne Matten 
und bläulich dunstige Felszinnen 
hoch, hoch oben uns entgegen- 
leuchten. 

Das Mündungsland des Schlucht- 
baches ist gleichfalls von überwälti- 
gender Schönbeit. Zu beiden Seiten 
ragen gleich Riesenpylonen die fels- 
gepanzerten Bergwände, unten brei- 
tet sich eine von dem nun ruhigen 
spiegelklaren Bach durchzogene tro- 
pische Ebene, bedeckt mit hohem 
Schilf, grünen Wiesen und riesen- 
großen Eukalyptusbäumen, und mitten im Mündungsgebiet, 
von majestätischen Wogen umbrandet, erhebt sich ein pitto- 
resker kantiger Hügel, aus dessen Kuppe ein altes Genueser 
Fort wächst (Abb. 3). Nach Norden hin sucht die Straße in 
vielen Windungen ihren Weg zu dem ganz unbedeutenden 
Hafenörtchen Porto und von dort wie vorher an schroffen 
Bergklötzen nordwärts nach Calvi. Südlich zieht ein 
anderer Strang der Straße in vielen kurzen Serpentinen 
hinauf zu der Wunderwelt der Calanches. Man hat 
diese ein großes Areal bedeckenden Porphyrfelsen, welche 
die Straße auf etwa 2km Länge durchläuft, eine zu 
Stein gewordene Märchenwelt genannt, und in der Tat 
suchen die Felsen an phantastischen Formen ihresgleichen. 
Teils sind es aus schwarzen Tiefen, in die nie ein Sonnen- 
strahl dringt, aufragende Felsnadeln und Felsgrate, 
deren oberste Zinnen so grotesk verwittert sind, daß 
man alle möglichen Tier- und Märchengestalten zu er- 
blicken vermeint (Abb. 16), hier Bären und dort Ko- 
bolde, Könige mit Kronen, Prinzessinnen mit wallendem 





Abb. 19. 


Motiv aus Bocognano. 





Abb.18. Viehhürde in Cargese. 


Haar usw. An anderen Bergwänden sieht die Porphyr- 
masse aus wie im Herabfließen erstarrte Teigmassen, deren 
Ränder die verschiedenartigsten Fratzen- und Tiergesichter 
vorgaukeln. Zwerg Nase, Einhörner, Ungetüme mit 
Schweineschnauzen, Tiere mit Elefantenrüsseln usw. 
erblickt man ohne besondere Hinzunahme von Phantasie. 
Besonders schön und märchenhaft wirkt diese eigenartige 
Schöpfung der Natur kurz vor Sonnenuntergang. Das 
Felsgebiet ist wegen der senkrechten kraterartigen Klüfte 
und Schründe außerordentlich schwer zu begehen; das 
Meer erglänzt 300 bis 400m tief unter diesen Felsen, 
dem phantastischsten Winkel, den Korsika aufzu- 
weisen hat. ; 

Eine halbe Stunde südlich von diesem Labyrinth der 
Porphyrfelsen erreicht die Straße das 450m steil 
über dem Meere thronende Örtchen La Piana (Abb. 17), 
das in seiner sehr üppigen Umrahmung durch schöne 
Gärten und Haine ein wahres Paradies genannt werden 
muß. Die landschaftliche Stimmung der Umgebung 

Pianas ist eine der herrlichsten, die 

Korsika besitzt. 
Von Piana aus zieht die Straße 
weiter am Meeresufer nach Ajaccio. 
Der nächste Ort auf dieser Etappe, 
Cargese, zwischen zwei sanft gewölbten 
Hügeln 50 m über dem Meere gelegen, 
ist ethnographisch bemerkenswert. Hier 
siedelten sich nämlich 1676 etwa 750 
Griechen an, die aus Morea vor dem 
Joch der Türken entflohen waren. Sie 
hatten Hilfe bei dem Schutzstaate 
Genua gesucht, der ihnen Cargese als 
Niederlassung anwies. In der Folge- 
zeit hatten sie aber viel von den be- 
nachbart wohnenden Korsen zu leiden, 
vor denen sie 1731 nach Ajaccio fliehen 
mußten. Als Korsika französisch ge- 
worden war, siedelte Gouverneur Mar- 
beuf die Griechen wieder in Cargese 
an (1774), wo sie trotz der An- 
feindungen, die noch lange anhielten, 
sich bis heute behaupten. Es sind 110 
Familien, die ihre Religion, Sprache 
und Sitten treu bewahrt haben. Neben 
12* 


88 Mielert: Die Insel Korsika. 








Abb. 20. Häuseranlage in Bocognano. 


der griechisch-orthodoxen Kirche des Ortes steht heute 
auch eine römische. Das Einvernehmen mit den Korsen, 
mit denen sie sich vermischten, ist heute gut. Die 
Physiognomie der Straßen ähnelt der der neugriechischen. 
Die Häuser sind stattlicher als in anderen korsischen 
Orten, die Kultur des Landes (Wein, Maulbeer, Feigen 
und Feigenkaktus, letztere für die Schweinezucht) ist 
sorgfältig. Eigenartig erscheinen einzelne Viehhürden 
(Abb.18), welche, da das Gelände im Gegensatz zu 
Piana und anderen Orten der Küste sehr schattenarm ist, 
eine Art Schuppen bilden, dessen eine Langseite offen ist. 
Die Hürden sind von rohen Mauern aus aufeinander- 
gehäuften Steinblöcken gebildet, die Dächer aus Baum- 
stämmen und Reisern. 

Zwischen Cargese und Calcatoggio hält sich die Straße 
meist in unmittelbarer Nähe der Meeresküste, die hier 
flacher ist, ihre felsige Natur aber stets beibehält. Die 
Buchten haben aber einen so köstlich feinkiesigen Strand 
und eine derartig prachtvolle Brandung, daß sie die 
schönsten Seebäder abgeben könnten. 


gegen Nordwinde geschützt durch die 
hinter der Stadt bis 790 m aufsteigen- 
den Berge der Halbinsel. Unmittel- 
bar im Norden der Stadt ragt der 
Monte Salario 242 m auf. Die Stadt 
selbst wird durch eine Landzunge, 
deren Spitze die Zitadelle ausfüllt, 
in zwei Teile gegliedert. Die Straßen 
und Plätze der Neustadt Ajaccios 
machen einen schöneren Eindruck als 
jene von Bastia, sind aber im all- 
gemeinen weniger geräuschvoll. Die 
Altstadt ist etwas luftiger, ihr Gassen- 
netz, das von der Zitadelle und der 
Neustadt eingezwängt wird und eben 
ist, besitzt aber doch noch manchen 
„Auftigen“ Winkel. In einer kleinen 
reineren Gasse der Altstadt befindet 
sich das Geburtshaus Napoleons, 
übrigens nicht mehr der ursprüng- 
liche Bau. Dieser wurde nämlich 
1793 von den Feinden der Partei 
Bonaparte ganz niedergerissen. Schön 
ist in der Neustadt der breite Cours 
Napoleon, der belebteste Straßenzug 
der Stadt mit teilweise elegant zu nennendem Gepräge. Die 
nach Osten hin sich senkende Straße ist dort mit Ulmen, Pla- 
tanen und Akazien, weiter oben aber mit Orangenbäumen 
bestanden. Die Place des Palmiers ist wie die in sie 
einmündende Avenue du premier Consul mit tropischen 
Bäumen, vor allem aber mit außerordentlich schönen 
starken Dattelpalmen bepflanzt. Der Cours Napoleon 
ist fast ganz aus den Felsen herausgehauen, die Steil- 
wände des Monte Salario treten an einer Stelle bis fast 
zur Straßenfront vor. 

Ajaccio ist infolge seiner außerordentlich geschützten 
Lage und der herrlichen Umgebung vorzüglich zum 
Winteraufenthalt für Kranke geeignet. Das Klima hat 
eine große Gleichmäßigkeit, einen hohen Grad 
relativer Feuchtigkeit und ist sehr mild. Gegen die 
Riviera zeichnet sich Ajaccio durch eine um etwa 
1!/,° höhere Temperatur aus, und es ist auch zum 
Unterschied von manchen renommierten Riviera- Winter- 
aufenthalten völlig staubfrei. Die Schwankungen der 





Leider ist die Gegend so gut wie ganz 
unbewohnt. Sagona, einst Stadt und 
Bischofssitz, besteht heute aus 3 bis 
4 ärmlichen Häusern. Der Liamone, 
der hier mündet, fließt inmitten 
eines sumpfigen Schwemmlandes, das 
von großartiger Vegetation (Sumpf- 
pflanzen und Eukalyptusbäume und 
Macchien) überwuchert ist. Nord- 
östlich von Sagona liegt die Sommer- 
frische Vico und ein paar Stunden 
weiter das kleine Bad Guagno mit 
zwei jodhaltigen Schwefelthermen (52 
und 37°C). Calcatoggio, an der Straße 
nach Ajaccio, liegt bereits wieder hoch 
über dem Meere, 330 m, inmitten eines 
herrlichen Waldes voller Nuß-, Ka- 
stanien- und Feigenbäume. Vom Col 
die San Sebastiano, 415m, wendet 
sich die Straße vom Meere ab und 
erreicht geradenwegs das schöne 
Ajaccio. 

Ajaccio liegt an der Nordkante 
einer naturschönen Bucht (Abb. 4), 





Abb. 21. Bahnyladukt im Gravonetal unterhalb des Col de Vizzavona (900 m). 


Mielert: Die Insel Korsika. 89 


Tagestemperatur sind unbedeutend, da sie selbst im 
Winter höchstens 6° betragen. Sogar in den kältesten 
Monaten zeigt die Mittagstemperatur sommerliche Wärme, 
doch können selbst die späteren Abendstunden in der 
kühlen Jahreszeit im Freien zugebracht werden. Tau 
fällt reichlich, Nebel aber ist äußerst selten. Durch das 
herrliche Kolosseum von Bergen im Nordwesten, Norden 
und Osten ist Ajaccio vor den kalten Luftströmungen 
aus diesen Himmelsrichtungen völlig geschützt, während 
die Südwest- und Südwinde über den Golf her freien 
Zutritt haben. Gegen die rauhere Seeluft schützt den 
Ort die Lage an dem Innenrande des tief eingebuchteten 
Golfes. Ajaccio wird daher schon jetzt, wenn auch nicht 
in dem Maße wie Biskra, Heluan, Luxor und andere 
renommierte Winterkurorte, von Kranken aufgesucht. 
Sehr günstig wirkt das Klima gegen phthisische Anlage 
und das erste Stadium der Phthisis, bei trockenen 
Katarrhen, Kehlkopf- und Nervenleiden. 

Die Umgebung ist ideal schön, und würdig, als land- 
schaftlicher Rahmen einer großen Weltstadt zu dienen. Die 
Höhen hinter der Stadt sind aufs dichteste mit Macchien 
und Obstgärten sowie Hainen bedeckt, aus denen ver- 
einzelte Granitfelsblöcke und Felsgruppen herausragen. 
Von alten Cypressen, Kastanienbäumen, Platanen, Nuß- 
bäumen, Oliven und Orangen umhütet, leuchten hier und 
da die für Korsika so typischen Grabkapellen im grellen 
Weiß, umflammt von den wild wuchernden Purpurblüten 
der Oleander, Granaten und Pelargonien und flankiert 
von den bläulichen Blattschwertern der großen Agaven- 
buketts. Der wohlhabendere Korse bestattet seine Toten 
in kleinen Grufthäuschen, die er inmitten seiner Gärten 
und Landgüter an irgend einem stimmungsvollen Plätzchen 
der Landschaft errichten läßt. Nach patriarchalischer 
Sitte ruhen hier also die Toten auf ihrem eigenen Grund 
und Boden. Diese Sitte findet sich in ganz Korsika 
verbreitet. Nach Südwesten hin breitet sich das wellen- 
förmige, von staunenswerter Pflanzenfülle überzogene 
Mündungsland des Gravone und Prunelli. Dahinter und 
im Osten ragt das Amphitheater der korsischen Alpen 
und der ihnen vorgelagerten steilen Berglabyrinthe. 

Das Gravonetal ist eines der imposantesten der ganzen 
Insel. Insbesondere erschließt es die Bergwelten der 
alpin gestalteten, südlich vom Monte d’Oro abzweigenden 
Seitenketten dieses Bergriesen, sowie die prächtige Hoch- 
landwelt des Monte Renoso. Einer der schönstgelegenen 
Orte dieses an Macchien und Kastanienwäldchen reichen, 
vielschluchtigen Riesentales ist Bocognano (Abb. 19 und 
20), neuerdings als Sommerfrische aufkommend. Wie 
Evisa ist es an steilem Hange erbaut; in der Tiefe 
darunter rauscht der Gravone, gegenüber aber baut sich 
eine hehre Alpenwelt auf, ein südlicher Zweig des Monte 
d’Oro von etwa 2000m Höhe. Wundervolle Idyllen von 
Bauernhäuschen sieht man hier in Bocognano. Sie haben 
in diesem üppigen Tal einen etwas kultivierteren, 
behäbigeren Anstrich als die rohen Mauervierecke anderer 
korsischer Bergwinkel.e. An die von Obsthainen (hier 
auch Äpfel und Birnen) umgebenen Hütten lehnt sich 
gewöhnlich eine aus Reisergeflecht errichtete luftige 
Laube; ringsum blüht und duftet das Meer der Mac- 
chien, in die man unmittelbar aus den kleinen Gärten 
hineintritt. 

Die Straße Ajaccio—Corte zieht sich in dem Gravone- 
tal bis zum Oberlauf des reißenden Gebirgsbaches. Dort, 
wo er nach Süden umbiegt und zu den Halden des 
Renoso leitet, überschreitet ihn die Straße und erklimmt 
die Höhe der Wasserscheide, den Col de Vizzavona. Die 
Fahrstraße wie die Bahn erforderten im Gravonetal viele 
Kunstbauten. Gießbäche stürzen durch die Seiten- 
schluchten in den Gravone hinab und müssen durch 

Globus XCVIII. Nr. 6, 


Viadukte (Abb. 21) überbrückt werden, die massigen 
Ausläufer des Monte Renoso, die sich ins Gravonetal 
drängen, machten viele Durchstiche und Tunnels not- 
wendig. Unterhalb der Paßhöhe (bei etwa 1000 m Höhe) 
durchwandert man einen prächtigen Wald, der fast nur 
aus Buchen besteht, in Korsika in solcher Massen- 
haftigkeit eine große Seltenheit (Abb. 6). Die kahle, 
nur von Macchien überwachsene Paßhöhe (1169 m) 
leitet nach Norden hin in sanfter Neigung in einen 
anderen Wald, einen außerordentlich großartigen und 
wilden Kiefernforst (1382 ha) hinein, der die Schlucht- 
tiefe von Vizzavona ausfüllt und sich an der großen 
breiten Lehne des sehr steilen Monte d’Oro noch hoch 
hinaufzieht. Die Luft in dieser Waldregion ist im Hoch- 
sommer unvergleichlich stärkend. Mitten im Forst an 
der staublosen schönen Waldstraße liegt im Schatten der 
Bäume ein großes Hotel, desgleichen, ebenfalls rings von 
Wald umschlossen, eines in der Tiefe der Schlucht bei 
der Station Vizzavona. Beide Hotels angesichts der 
unmittelbar davor aufragenden Riesenfelswände des 
Monte d’Oro erbaut, sind die bekanntesten und besuchtesten 
Sommerfrischen Korsikas, die internationalen Charakter 
haben. Für Naturfreunde, Bergsteiger, Botaniker, 
Geologen usw. sind diese guten Hotels geeignete Stand- 
orte, von denen man nach allen Himmelsrichtungen un- 
zählige lohnende Touren unternehmen kann. Von höchster 
Romantik ist auch die weitere Fortsetzung der Bahn 
und der Fahrstraße nach Corte. Sie erschließt die 
gewaltigsten Ausblicke auf den Monte d'Oro und später 
auf den Monte Rotondo und führt durch die überaus 
großartigen Schluchten von Vecchio und Venaco. 

Prachtvolle Touren bieten sich auch in der südlichen 
Hälfte der Insel Korsika. Der Kürze wegen seien nur erwähnt 
eine Wanderung über St. Maria Siche auf den aussichts- 
reichen Col Foce d’Istria (327 m), an dem hochmalerischen 
Corrano und dem Thermalbad Guitera (44° C, schwefel- 
saures Natrium) vorbei nach dem oberhalb einer Fels- 
schlucht 727m hoch gelegenen Zicavo. Dieses ist von 
bewaldeten Bergen umgeben und bietet eine gute Gelegen- 
heit zur Ersteigung des Monte Incudine. Eine andere 
ebenfalls sehr lohnende Exkursion ist jene durch die von 
wunderschöner Vegetation (Steineichen, weißen Eichen, 
Lärchen usw.) erfüllte Landschaft nach Bastelica (800 m), 
von wo aus sich der Monte Renoso am besten besteigen 
läßt. Bastelica ist eines der größten Dörfer Korsikas 
(3400 Einwohner). Unter seinen Bewohnern gibt es 
viele Blonde mit blauen Augen und großer Statur. Wie 
schon bemerkt, hat Bastelica wie Vivario keine Vendetta. 

Die Straße von Ajaccio. nach Bonifaccio fällt im ersten 
Teile mit jenen nach Bastelica und Zicavo zusammen 
und ist bis zu dem malerisch gelegenen Sartene, der 
Binnenhauptstadt des südlichen Korsika (6100 Ein- 
wohner), sehr interessant. Von Sartene aus ist die 
Gegend weniger kultiviert und öder, jedoch stets groß- 
artigen Gepräges. Bei etwa 160 km von Ajaccio trifft man 
auf den 700 ha umfassenden großen Weinberg, den 1884 
eine Pariser Gesellschaft hier angelegt hat. Bonifaccio 
(140 km von Ajaccio, 4000 Einwohner) lagert auf einer 
langen weißen Kalkbank, 64m über dem Meere. Trink- 
wasser erhält die Stadt durch eine einzige Quelle, die am 
Hafen liegt. Dieser, durch einen 1000 m ins Land ein- 
schneidenden Meeresarm gebildet, gehört zu den sichersten 
Korsikas und ist Torpedostation der französischen 
Kriegsmarine, die Stadt selbst Festung dritten Ranges. 
Unterhalb der Stadtfelsen befinden sich einige Grotten, 
unter denen besonders eine (Sdragonato) wunderbare 
Lichteffekte aufweist. 

Von Bonifaecio, von wo aus die Küste Sardiniens 
nur 10 km entfernt liegt, führt an der Ostküste der Insel 


13 


90 Woltereck: 


Indianer von heute. 





eine landschaftlich weniger interessante Straße nach dem 
pittoresken Städtchen Porto Vecchio (3000 Einwohner), 
in dessen Umgebung viel Korkeichen und Eukalyptus- 
bäume angepflanzt sind. Bis zur nächsten Bahnstation 
der Insel, Ghisonaccia, sind von hier aus noch 64 km. 


Der Plan, Bonifaccio und Porto Vecchio durch eine 
Weiterführung der Bahn mit Ghisonaccia zu verbinden, 
ist noch nicht verwirklicht worden. Auch scheint keine 
Aussicht vorhanden zu sein, daß dies in absehbarer Zeit 
geschehen wird. 


Indianer von heute. 
Von K. Woltereck. 


Die Indianerfrage ist noch immer ein vielumstrittenes 
Problem in Amerika. Erst kürzlich sprach sich wieder 
der Indian Commissioner dahin aus, daß nur zweierlei 
mit den Indianern zu machen sei, sie auszurotten oder 
sie zu wirklichen Staatsbürgern zu erziehen. Dazu aber 
seien Gesetze des Kongresses nötig, damit ihre Gesundheit, 
ihre Schulen und ihre Industrien mehr gehoben und ge- 
schützt würden (s. Outlook vom 30. Okt. 1909: The 
Mohonk Conference). 

Wer auf östlichen Reservationen und in der Nähe 
großer Städte die Überbleibsel der Ureinwohner Amerikas 
zuerst sieht, wird leicht das Interesse für die Rothäute 
verlieren und sich schnell für die Ausrottung oder doch 
wenigstens für das wünschenswerte und unausbleibliche 
Aussterben erklären, so degeneriert und ungesund sehen 
dort die Nachkommen stolzer Stämme aus, die auf be- 
schränkten Reservationen und infolge zu schneller Ver- 
mischung mit den Weißen ihre eigenen starken Charakter- 
eigenschaften verloren und nur die Laster der Weißen 
angenommen haben. 

Wenn man sie aber im Mittelwesten, z. B. in Dakota 
die Sioux, in Montana die Blackfeet, besucht oder die 
Pueblos und Navahoes auf den großen Reservationen des 
Südwestens in Arizona und Neu-Mexiko kennen lernt, die 
weit entfernt von Eisenbahn und Zivilisation leben, so 
muß man bedauern, daß sie zu modernen Staatsbürgern 
gemacht werden sollen. Aber an ihre Lebensberechtigung 
wird man wieder glauben; und solange es ihnen ermög- 
licht wird, die Lebensweise ähnlich fortzusetzen, wie zu- 
erst darüber von den Spaniern im 16. Jahrhundert berichtet 
wurde (von Coronados Entdeckungszug 1540), ist auch für 
die Lebensfähigkeit der dort lebenden Stämme gesorgt, 
die bis jetzt durch alle Kämpfe und Versuche von Mission 
und Zivilisation zähe an ihrer alten Eigenart festgehalten 
haben. 

Man muß einmal bei den Pueblostämmen, den Hopis 
und Akomas z. B., die Gastfreundschaft genossen haben, 
um diese hübschen, liebenswürdigen Naturkinder zu ver- 
stehen, oder durch die Einsamkeit der riesigen Navaho- 
reservation reiten, wo wir tagelang keinen Weißen, oft 
keinen Menschen sahen und allein auf die Führung der 
früher berüchtigten, wilden Navahoes angewiesen waren, 
um sie lieb zu gewinnen und ihnen zu vertrauen. Die 
dort lebenden wenigen Amerikaner behaupten sogar, man 
könne den Indianern mehr vertrauen als weißen Führern, 
die es da übrigens gar nicht gibt. 

Die Navahoes (28.000) sind außer den Cherokees 
(32 000) und Sioux (21 000) jetzt noch der stärkste Stamm 
des indianischen Volkes, dasman auf 291581 Seelen schätzt 
und dem 55831436 Acres Land als Reservationen be- 
lassen sind. Sie sind einer der wenigen Stämme, die, wie 
man annimmt, stetig nicht abnehmen, sondern wieder zu- 
nehmen, obwohl eine genaue Zählung bei ihrem Nomaden- 
leben fast unmöglich ist, und daher die Zahlen auch 
schwanken. Aber nach ihrer Gefangenschaft in den Jahren 
1860 bis 1863, als !/, ihres Stammes zugrunde ging, 
zählten sie nur etwa 12000, und wenn es auch damals 
den amerikanischen Truppen nicht gelungen sein mag, 


sich aller Navahoes zu bemächtigen, so sprechen doch die 
Zahlen entschieden für eine Zunahme, während andere 
Stämme, wie z. B. die Cowcreek-Indianer in Oregon und 
die Humptulip im Staate Washington, auf je 23 Personen 
zusammengeschrumpft sind. 

Im Gegensatz zu den einst so starken Sioux, die nach 
den Kriegen durch Tuberkulose schwer gelitten haben, 
machen die Navahoes einen sehr gesunden, kräftigen 
Eindruck. .Man sieht prachtvolle, sehnige Gestalten unter 
ihnen mit kühnen, oft schön geschnittenen Zügen und 
stolzer Haltung. Sie fühlen sich anscheinend ganz unab- 
hängig, da sie durch Schafzucht und Pferdezucht, Webe- 
reien und Silberschmiedekunst genug verdienen, um sich 
selbst zu erhalten, und außer den Schulen, die sie nicht 
wünschen, der Regierung nichts zu verdanken glauben; 
denn die weiten’ Steppen und großen Wälder ihrer Reser- 
vation betrachten sie als ihr rechtmäßiges Eigentum. 

Ebenso ist es mit den Hopis, die seit undenklichen 
Zeiten auf den kahlen Tafelbergen (Mesas) in der Sonnen- 
herrlichkeit der „Gemalten Wüste“ ihr friedliches, glück- 
liches Dasein führen und sich auch selbständig durch eigene 
Industrien ernähren; die Männer besorgen im Sommer die 
mühsame Feldarbeit unten am Fuße der Mesas, und im 
Winter weben sie für ihren und andere Stämme die Ge- 
wänder, während die Frauen Felsenhäuser bauen und in- 
stand halten müssen und die kunstvollen Tongefäße ihres 
Haushalts formen, brennen und mit seltsamen, symbolischen 
Figuren bemalen. Die Hopis haben ganz besonders starr 
an ihrem alten Glauben und ihren eigenartigen Sitten fest- 
gehalten. Aber wer mit ihnen in erster Morgenstunde 
oder bei flammendem Sonnenuntergang hoch oben von 
den flachen Dächern schweigsam und regungslos wie sie 
in den Himmel geschaut, der sich weit, weit über sie aus- 
spannt in der geheimnisvollen Welt der Wüste, der wird 
ihren Sonnenkultus ehren und verstehen. 

Noch vor drei Jahren kam es dort zu einem Zusammen- 
stoß der alten und neuen Kultur wegen des jetzt überall 
streng durchgeführten Schulzwanges für die jüngere in- 
dianische Generation, und nur mit Hilfe einiger Truppen 
aus dem Fort Wingate in Neu-Mexiko wurde die Sache, 
übrigens unblutig, beigelegt. Die Opfer dieses Streites 
sah ich im vorigen Sommer beim Besuche der Regierungs- 
schule in Keams Cannon, wo in den Ferien etwa 30 Kinder 
zurückgehalten wurden als Strafe für die widerspenstigen 
Eltern, worunter die fröhliche Schar aber nicht zu leiden 
schien. Auch erinnere ich mich sehr gut an zehn schöne 
wilde Hopiknaben in der größten östlichen Indianerschule, 
der von Carlisle in Pennsylvanien, die gerade angekommen 
waren, als ich sie vor zwei Jahren besuchte, und die durch 
ihre langen Haare und scheues Wesen auffielen. 

Erst seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, 
nachdem die großen Aufstände der sich immer wieder 
empörenden mächtigen Siouxstämme niedergeworfen waren, 
hatte man von amerikanischer Seite angefangen, durch 
bessere Erziehung die jüngere Generation der Indianer 
für die Zivilisation zu gewinnen, um dadurch die bisher 
rassefeindlichen Beziehungen günstiger zu gestalten. So 
entstanden neben Missionsschulen und Privatunternehmen, 


Gengler: Das Schnupfen im Bayerischen Wald. 91 





wie die durch Kapitän Pratt gegründete Industrieschule 
in Carlisle, die erst später verstaatlicht wurde, nach und 
nach staatliche Anstalten, die versuchen, den jungen In- 
dianer für das heutige moderne Leben praktisch vorzu- 
bereiten und ihm größere Möglichkeiten zur eigenen Ent- 
wickelung und zur Hebung seines Stammes aufzuschließen. 

Wie drüben bei manchen neuen Bestrebungen, die nichts 
mit der Frauenfrage als solcher zu tun haben, so haben 
auch die amerikanischen Frauen tatkräftig mitgeholfen. 
Im Jahre 1878 schon bildete sich ein Frauenbund „Women’s 
National Indian Association“, der die trostlose Rechtslage 
der Indianer zu heben versuchte. Denn in den amerika- 
nischen Gesetzen war dazumal z. B. nicht vorgesehen, daß 
die Ermordung eines Indianers durch einen Weißen als 
Mord strafbar war, wie natürlich umgekehrt, und so war 
der rote Mann lange Zeit rechtlos. Erst 1887 wurde den 
Indianern das amerikanische Bürgerrecht zuerkannt, und 
damit ward ihnen selbst und ihrer Habe rechtlicher 
Schutz. 

In den 80er Jahren erlangte der obengenannte Frauen- 
bund ferner, daß die Regierung private Industrieschulen, 
wie Carlisle, Pa, Hampton, Vir., und andere verstaatlichte 
und dadurch deren größeres Wachstum ermöglichte. Ein 
besonderes Erziehungskomitee wurde gebildet, das mehr 
Schulen einrichten sollte, und ein gewisser Schulzwang, 
der jetzt überall so energisch durchgeführt wird, sollte 
damit verbunden sein. Damit fing eigentlich eine ernste 
Erziehungsreform für die Indianer erst an, die erreicht 
hat, daß jetzt von 50000 Kindern 29000 die Schule be- 
suchen, die sich auf etwa 400 Anstalten verteilen, die 
der Regierung fast 4 Millionen Dollar kosten, während 
man 1877 nur 20000 Dollar dafür verwandte. (Die 
Statistischen Angaben sind amtlichen Mitteilungen der 
indianischen Abteilung in Washington, D. C., entnommen.) 

Diese Schulen sind teils Tagschulen, teils Internate; 
dazu kommen noch Missionsschulen und Distriktschulen, 
wo rote und weiße Amerikaner zusammen auf der Schul- 
bank sitzen. 25 von den Internaten liegen außerhalb der 
Reservationen, meist im Osten, und man hat berechnet, 
daß dort jeder Schüler der Regierung etwa 167 Dollar kostet, 
da aller Unterricht, Unterhalt, Kleidung usw. von der Re- 
gierung bestritten wird und viele Beamte gehalten werden 
müssen. Carlisle hat z. B. 82 staatlich besoldete Ange- 
stellte bei 1034 Schülern und Schülerinnen; denn auch 
hier herrscht das in Amerika allgemein übliche Koedu- 
kationssystem. 

Nun ist letzthin die Frage viel besprochen worden: 
Soll man die Zivilisation zu den Indianern bringen oder 


soll man die Indianer zu ihr bringen? Schon der vorige 
Indian Commissioner F. Leupp und der jetzige so tat- 
kräftige Valentine scheinen sich für das erste zu erklären, 
was das allmähliche Eingehen der auswärtigen Internate 
bedeuten würde. Und dann gibt es noch die Frage: Sind 
Tagschulen wichtiger als Internate? 

Dank der Liebenswürdigkeit der Herren Leupp und 
Valentine hatte ich Gelegenheit, alle Arten von Indianer- 
schulen zu besuchen. Tagschulen bei den Sitka-Indianern 
oben in Alaska, große Internatschulen auf den Reserva- 
tionen in Arizona (Keams Cannon, Fort Defiance), Distrikt- 
schulen in Kalifornien (Mesa Grande), Missionsschulen in 
Neu-Mexiko (St. Michals, Gallup) und, wie schon erwähnt, 
auch die berühmte Regierungsschule in Garlisle, das größte 
Internat fern von der Reservation. Überall habe ich die 
Fürsorge und Arbeit für die kleinen Rothäute bewundern 
müssen, im angenehmen Gegensatz zu der sonst üblichen 
Gleichgültigkeit oder Verachtung in der amerikanischen 
Gesellschaft, die noch barbarische Siegergefühle hegt. 
Aber welche Schätze an alter, wenn auch primitiver Kultur 
verachten sie damit in ihrem eigenen Lande, die sie oft 
unter großen Mühen in Asien und Europa suchen, welche 
Schätze an alten Sagen und Gesängen, Sitten und Ge- 
bräuchen sind in den Staaten noch zu heben, trotz der 
langen, erfolgreichen Arbeit von bekannten amerikanischen 
Ethnologen, Prof. Holmes, Dr. Hough, J. W.Fewkes und 
anderen, die schon viel wertvolles Material zusammen- 
gebracht haben; wie bei den kürzlich vollendeten Aus- 
grabungen von Ruinen aus prähistorischer Zeit in Arizona 
und Colorado, die das hohe Alter einzelner Stämme, der 
Hopis z. B., genauer festlegen lassen. Auch über die sehr 
entwickelte musikalische Begabung der Indianer sind in 
letzter Zeit interessante Studien veröffentlicht worden, 
doch darauf werde ich an anderer Stelle näher eingehen. 

Um noch einmal auf die Schulfrage einzugehen, so 
möchte ich noch hinzufügen, daß auch ich nach allen 
Beobachtungen glaube, daß es sich empfiehlt, zunächst 
die Zivilisation auf die Reservationen zu tragen, und zwar 
am besten durch Tagschulen, damit die jüngere Generation 
der älteren nicht durch zu schnell veränderte Lebens- 
weise entfremdet wird. Denn es wird immer noch beob- 
achtet, daß auf fernliegenden Internaten erzogene Schüler 
oft gar nicht zu ihrem Stamme zurückkehren wollen, ihr 
Volk und ihre Sitten verachten lernen und sich dort unter 
den Weißen einzeln nur schwer eine Existenz erkämpfen 
können; oder aber sie streifen nach der Rückkehr in die 
Heimat schnell alles Neue wieder ab und fallen indolenter 
als vorher in die alte Lebensweise zurück. 





Das Schnupfen im Bayerischen Wald. 


Von Dr. J. Gengler. 


Der Bayerische Wald erstreckt sich an der Ostseite 
Bayerns längs der böhmischen Grenze hin und wird un- 
gefähr abgeschlossen im Norden von der Schwarzach, 
im Westen und Süden von der Donau und im Osten, 
wie schon gesagt, von der Grenze des Königreichs 
Böhmen. Obwohl „der Wald“ — so wird allgemein 
das Gebiet genannt, und seine Bewohner „die Waldler“ 
— in seiner größeren Hälfte dem Regierungsbezirke 
Niederbayern angehört, so hängen seine Geschichte, 
Landesbeschaffenheit und Volksart doch viel mehr mit 
dem Regierungsbezirk Oberpfalz zusammen. Seine 
Bewohner gelten in Bayern noch als ganz „Wilde“. 
Sie haben aber auch, infolge ihrer geographischen Lage 
abgeschlossen von der Welt wie auf einer meerumspülten 
Insel lebend, alte Art und Sitte behalten und bieten in 


ihren Gebräuchen, an denen sie zäh festhalten, und Über- 
lieferungen so viel Eigentümliches und uralt Her- 
gebrachtes, daß dem den Wald Bereisenden eine Fülle 
des Interessanten entgegentritt. 

Durch meinen Beruf gezwungen, hielt ich mich 
mehrere Jahre hintereinander im Frühjahr und Herbst 
in verschiedenen Gegenden des Waldes auf und machte 
hier, dem Volke näher tretend, manch eigenartige Be- 
obachtung. Eine ganz besondere Eigenheit der Waldler 
ist ihre außerordentlich große Vorliebe für das Tabak- 
schnupfen. Geschnupft wird ja wohl so ziemlich in 
allen Ländern der Erde, aber in solchem Grade wie hier 
ist diese Sitte oder Unsitte sicher nirgends zu finden. 

Schon früh im Leben fängt der Waldler zu schnupfen 
an. In der Volksschule wird bereits der dem Vater 


13* 


92 Gengler: Das Schnupfen im Bayerischen Wald. 





oder älteren Bruder heimlich „gekrallte* Tabak im Ver- 
borgenen von vielen Knaben verbraucht. Wenn die 
Burschen dann die Feiertagsschule besuchen, setzen sie 
natürlich eine Ehre darein, sich wie erwachsene Männer 
zu gebärden, infolgedessen gilt es bei ihnen als zum 
guten Ton gehörig, so bald als möglich nach der Schul- 
entlassung ihren eigenen Schnupftabak zu führen. Hat 
sich aber einmal einer an den Tabak gewöhnt, so ist es 
ihm in der Regel unmöglich, wieder davon loszukommen; 
also wird wieder flott weitergeschnupft. Späterhin 
wirkt das Abgewöhnen geradezu schädlich auf den 
Menschen ein; er wird unruhig, zur Arbeit unlustig und 
ganz apathisch, sodaß selbst in den südbayerischen Straf- 
anstalten und Irrenpflegeanstalten den dort internierten 
Männern der Schnupftabak nicht ganz entzogen werden 
darf. So,wurde mir auch von einem alten geistlichen 
Herrn erzählt, der ein so leidenschaftlicher Schnupfer 
war, daß er auf das Altartuch kleine Häufchen Tabak 
legte, die er dann während des Gottesdienstes, indem er 
seinen Kopf auf den Altar herabbeugte, rasch mit der 





Abb. 1. Einfaches G@schmeiglasl 


aus Grafenau. °/, n. Gr. aus Grafenau. 





Abb. 2. Farbiges Gschmeiglasl 


Gelb, grün, schwarz. 


Zu diesem Bresil, der in beliebiger Menge bei jedem 
Dorfkramer zu haben ist, kommt nun je nach dem Ge- 
schmack des Konsumenten eine mehr oder weniger große 
Portion Rindsschmalz, das meist ein ganz graugrün- 
liches Aussehen und einen abscheulichen Geruch hat, 
dann etwas Kalk und eine kleine Menge fein pulverisierter 
Glasscherben. Mit einer höchst einfachen, in den meisten 
Fällen selbst angefertigten Maschinerie wird dann der 
Tabak gebrauchsfertig gemacht. Im Zimmer steht auf 
einem Holzblock befestigt eine hölzerne Schüssel; in 
diese hängt von der Decke herab ein Holzstempel, der 
im Kreis herum bewegt werden kann. In diese Schüssel 
wird nun die Schmalzlermischung gebracht und mit dem 
beweglichen Holzstempel so lange verrieben, bis die 
nötige Feinheit und Feuchtigkeit erreicht ist. Der Ver- 
fertiger überzeugt sich von dem Grade der Beschaffen- 
heit von Zeit zu Zeit selbst mit eigener Nase. Ist der 
Schmalzler fertig, so wird er in Schweinsblasen oder 
Holzschachteln aufbewahrt. Besondere Feinschmecker 
reiben auch noch Tannennadelspitzen und noch geheimnis- 





Abb.3. @schmeiglasl mit Bild (farbig) 
aus Cham. °/, nat. Gr. 


3/; nat. Gr. 


Nase einsog. Ohne dieses Labsal wäre es ihm unmög- 
lich gewesen, seinen Amtspflichten zu genügen. 

Schnupfen sah ich nur Burschen und Männer, niemals 
Frauen und Mädchen. Bei diesen scheint der Tabak- 
genuß auch gar nicht in Ansehen zu stehen, denn alle 
jungen Mädchen versicherten, sie würden niemals einem 
Burschen, der schnupfte, die Hand zum Ehebund reichen. 
Es wird aber wohl jedes schöne Waldlerskind späterhin 
seine Meinung darüber geändert haben oder ledig ge- 
blieben sein, denn ein nicht schnupfender Waldler gehört 
in das Reich der Fabel. 

Was schnupfen nun die Waldbewohner ? Ihr National- 
tabak ist „der Schmalzler“, im Walde „Gschmei“ oder 
„Schmai“ genannt. Die echten alten Waldler bereiten 
sich ihren Gschmei nach eigenen Rezepten auch heute 
noch selbst zu Hause. Der Hauptbestandteil ist Fresko- 
Brasil-Tabak, kurzweg Bresil, Presil oder auch Brisil 
genannt. Dieser besteht aus entstielten und zerstampften 
Tabakblättern, die mit einer eigenen Brühe gebeizt, zu 
dicken Stricken gedreht um einen Holzpfahl gewunden 
in festen Ballen, Häuten oder Palmblättern verpackt in 
den Handel kommen. Von einem Geruch kann man bei 
diesem Tabak schon nicht mehr reden, er stinkt geradezu. 


vollere Dinge darunter, ja es wird von den Waldlern 
sogar behauptet, von alten raffinierten Schnupfern würde 
mit Vorliebe trockener Menschenkot daruntergemischt. 
Jetzt kaufen besonders die jungen Leute ihren Tabak 
vielfach schon fertig im Laden. Mit der Zeit sind große 
Fabriken in Landshut und Regensburg entstanden sowie 
an verschiedenen kleineren Orten, die nach geheim 
gehaltenen Rezepten ihren Schmalzler fabrizieren. Die 
Zentrale für den ganzen Handelszweig ist Landshut. 
In hübsch rot und weiß verzierten Holzschächtelchen, 
in kleinen Zehnpfennigzinnbüchsen und Zehnpfennig- 
blechdosen, in Staniol und Schweinsblasenpackung kann 
man jetzt beim Kramer seinen Schmalzler einkaufen. 
Im Laufe der Jahre sind natürlich eine ganze Menge Sorten 
von Schnupftabaken entstanden, wie der Pariser, Saar- 
brücker, Straßburger, einige auch mit großartig klingenden 
Namen, wie Pariser finissimo, Robillard, Grand Cardinal, 
Doppelmops, Natchitotches usw. Der Lieblingstabak ist 
und bleibt aber stets der althergebrachte Schmalzler. 
Ganz eigentümlich mutet es einen an, wenn man so eine 
Schmalzlerreklame liest, und man kann daraus sehen, 
welchen Wert die Waldler auf ihren Tabak legen. So 
beginnt z. B. eine Anpreisung der Marke „Schmalzler- 


Gengler: Das Schnupfen im Bayerischen Wald. 93 





franzl“ mit folgenden Worten: „Der beispiellose Erfolg, 
welchen wir mit unserem Echtbayerischen Schmalzler 
in ganz Deutschland und dem Ausland erzielt haben, 
gibt uns Veranlassung ...“ 

Wenn man so hört und sieht, was der Tabak kostet 
und wie viel täglich davon verbraucht wird, so muß man 
zu der Ansicht kommen, daß das Schmalzlerschnupfen 
ein teures Vergnügen sei. Und dies ist es auch in 
Wahrheit. Außerdem braucht der Schnupfer fast doppelt 
so viel Schmalzler, als er wirklich schnupft, denn eine Menge 
Tabak fällt nebenhin. So kann man mit Recht sagen, daß 
im Wald ein großes Vermögen geradezu nutzlos ver- 
schleudert wird. Dazu kommen noch die Kosten für 
den Rauchtabak; denn das Schnupfen schließt das 
Rauchen keineswegs aus, und der größte Teil der Waldler 
hat von früh bis spät auch noch seine Pfeife im Mund. 

Als Behälter für seinen Schmalzler hat der Waldler 
fast ausschließlich das Schmalzlerglasl im Gebrauch. 
Es sind dies kleine flachgedrückte Fläschchen mit halb- 
langem Hals, meist in bunten Farben schillernd und 
mit dem Schwanze eines Eichkatzls zugestöpselt (vgl. die 
Abbildungen). Dieses Glas wird in der Brusttasche der 
Joppe getragen. Einzelne Vereine besitzen auch Vereins- 
Gschmei-Gläser von dem Umfang eines kleineren Tellers, 
die ein ganzes Paket Schnupftabak auf einmal fassen 
und bei den abendlichen Zusammenkünften unter den 
Vereinsmitgliedern fleißig die Runde machen. Vielfach 
sieht man ferner Horndosen mit Nickelbeschlägen, seltener 
große viereckige Dosen aus Birkenrinde, ähnlich den 
schwedischen Zündholzschachteln, auch kleine Krüglein 
aus Steingut. In der Stadt ist die Dose mehr im 
Gebrauch, von der gewöhnlichen hölzernen bis zu der 
silbernen, auch kann man kostbare alte Familienerbstücke 
aus edlem Metall und mit schöner Verzierung in den 
Händen reicher Bauern und Bürger sehen. 

Geschnupft wird je nach dem Tabakbehälter auf 
verschiedene Art. Wer das Glasl führt, schüttet sich 
die nötige Portion Tabak mit eigentümlich ruckweise 
stoßender Bewegung auf die Stelle der Hand, die man 
auch anatomisch Tabatiere nennt, und führt dann den 
in kunstgerechten Häufchen oder langer Linie aufgelegten 
Schmalzler bedächtig zur Nase, mit dem Handrücken 
diese und die Oberlippe von den nebenhin fallenden 
Tabakresten reinigend. Diese Art des Schnupfens ist 
im Lande am weitesten verbreitet. Im allbekannten 
Waldlerlied, das früher auch viel von bayerischen 
Studenten gesungen wurde, heißt es in der Eingangs- 
strophe in bezug auf diese Schnupfart: 


„Grüeß di Good, Wäldlersbua, 
Vallerallerie 

Wo kimmst denn heer, ober a? 
Häst a an gueten Schmälzlertobak ? 
Vallerallerie 

Hau a Prieß heer!“ 


Aus den Dosen wird meist mit den Fingern geschnupft, 
doch sah ich auch des öfteren, daß Leute mittels kleiner 
Hornlöffelchen oder aus Birkenholz geschnitzter Schiffehen 
den Tabak zur Nase brachten. Daß die Waldler, wie 
es Bibra von den Bewohnern von Island, den Hochschotten 
und Nordschweden beschreibt, den Tabak bei zurück- 
gebeugtem Kopf direkt aus dem Glasl in die Nase 
schütteten, konnte ich niemals bemerken. Reinlicher 
und hygienischer ist ohne Zweifel der Gebrauch des 
Glasls, denn wenn man bedenkt, was alles mit den Finger- 
spitzen bei der im Wald noch vollkommen unbekannten 
Nagelpflege in die Dose hineingebracht und dann mit in 
die Nase geführt wird, so kann man wohl annehmen, 
daß so manche Infektionskrankheit durch das Schnupfen 
verschleppt wird. 


Sowie zwei Waldler zusammenkommen, ist es das 
erste, nachdem „Grüeß Good“ gesagt ist, daß sie sich ihre 
Schmalzlerglasl zum Gebrauch hinreichen oder die Dose 
anbieten. Ein Ablehnen würde in jedem Falle, auch 
wenn man versichert, kein Schnupfer zu sein, übel- 
genommen werden. Es bleibt also dem Fremden nichts 
anderes übrig, als eine Prise zu nehmen und sie, nachdem 
er die Bewegungen des Schnupfens gemacht hat, heimlich 
wegzuwerfen. Ich habe dabei stets noch ein heftiges 


. Niesen markiert und so jedesmal die Sache zu beider- 


seitiger Zufriedenheit erledigt. 

Wie oft ein Schnupfer seine Nase mit Schmalzler 
füllt, ist nicht ganz leicht zu sagen. Die einen füllen 
jedesmal beide Nasenlöcher, andere nur abwechselnd 
bald das rechte, bald das linke, ja einzelne habe ich 
gefunden, die überhaupt nur ein Nasenloch mit Tabak 
bedachten. Eines Sonntags beobachtete ich einen Wirt, der 
durchschnittlich alle zwei Minuten seine beiden Nasenlöcher 
mittels eines Löffels mit Schmalzler füllte. Andere 
schnupften ganz unregelmäßig; sowie ihnen aber von 
einem Bekannten das Glasl geboten wurde, bedienten sie 
sich dessen sofort ausgiebigst, auch wenn sie unmittelbar 
zuvor beide Nasenlöcher reichlich gefüllt hatten. 
Pflügende Bauern hielten plötzlich mitten in der Arbeit 
ihr Gespann an, schnupften und pflügten dann weiter. 
Sogar während des Essens sieht man häufig die Leute 
eine Prise nehmen. Bei Bauern bemerkte ich höchst 
selten den Besitz eines Taschentuches, Bürger aber be- 
dienten sich meist eines außerordentlich großen, farbigen, 
in der Regel dunkelblauen Schnupftuches. Jeder 
Schmalzlerschnupfer verbreitet um sich einen höchst un- 
angenehmen Geruch nach scharfem Tabak und verdorbenem 
Schmalz. Kommt man in ein Wirtslokal, wo eine Anzahl 
Schnupfer oder Waldler, was eigentlich gleichbedeutend 
ist, beisammen sitzen, riecht das ganze Zimmer nach 
dem reichlich verschütteten Schmalzler, und es gehört 
manchmal eine wirkliche Überwindung dazu, in solchem 
Lokal etwas zu genießen. 

Nicht nur Bauern und Bürger schnupfen im Wald, 
sondern auch die Lehrer und Geistlichen, und die in die 
Waldorte versetzten Beamten gewöhnen sich regelmäßig 
in kurzer Zeit diese unschöne Sitte an. Alle Schnupfer 
erklären natürlich das Schmalzlerschnupfen für einen 
sehr großen Genuß und für äußerst gesund; besonders 
die erste Morgenprise sei geradezu eine Delikatesse. 
Worin aber der eigentliche Genuß besteht, kann keiner 
beschreiben. „Schö is und guet is, dös glabst“ — mehr 
bringt man aus den Leuten nicht heraus. Die Gebildeten 
behaupten, das Schnupfen bewahre vor Katarrh oder 
vertreibe einen solchen sehr rasch; der Tabak mache die 
Nase und dadurch das Gehirn rein, so daß man geeigneter 
zu geistiger Arbeit sei, auch vertreibe eine Prise rasch 
den sich zur Unzeit einstellenden Schlaf. Es mag ja 
manches wahr sein, wenn man aber einen leidenschaft- 
lichen Schmalzlerschnupfer mit gedunsener Nase, rot ent- 
zündeten Nasenlöchern und ebensolcher Oberlippe an- 
schaut und dazu dessen Ausdünstung riecht, so kommt 
man rasch zu der Ansicht, daß diese Sitte weder ästhetisch 
wirkt noch für den Organismus gesund sein kann. 

Wie und wann mag nun das Schnupfen in den 
Bayerischen Wald gekommen sein? Darüber an Ort und 
Stelle selbst Genaues zu erfahren, war mir nicht möglich. 
Was ich gehört habe, führe ich in den folgenden Zeilen 
an. Das Schnupfen soll schon zu Ende des Dreißig- 
jährigen Krieges aufgekommen und von Frankreich oder 
dem Elsaß aus eingeführt worden sein. Leute, die in 
verschiedenen Heeren gedient, hätten die Sitte mit- 
gebracht, andere gelehrt, und so sei das Schnupfen ziem- 
lich rasch im Volke verbreitet worden. Die Beimischung des 


94 Seljan: Drei südamerikanische Sagen. 





Schmalzes sei zuerst erfolgt, um den in der Tasche rasch 
trocknenden Tabak feucht zu erhalten. Die übrigen 
reizenden Beigaben seien Originalerfindungen der Waldler 
selbst, denen bei längerem Gebrauche und dadurch er- 
folgter Abstumpfung der Nerven der Tabak allein zu 
mild geworden sei. Deshalb hätten sie Kalk, Glas u. dgl. 
zugesetzt, um den prickelnden Reiz in der Nasenschleim- 
haut zu erhöhen. 

Alle Schnupfer behaupten, der Schmalzler übe eine 


ganz vorzügliche Wirkung auf die Geruchsnerven der. 


Konsumenten aus, so daß die Nase des Schnupfers auch 
die feinsten Unterschiede in Geruchssachen sofort 
bemerke. Dies ist jedoch nur Einbildung, es findet 
gerade das Gegenteil statt. Zum Beweis dafür möchte 
ich zum Schluß noch folgende selbsterlebte Geschichte 
anführen. Ein alter Förster, der mit Geistesgaben nicht 


allzu reich gesegnet war, plagte seine Stammtischgenossen 
sehr häufig mit Bitten um Samen seltener Blumen. Da 
gab ihm eines Tages einer dieser Herren ein Schächtelchen 
mit den kugelförmigen Exkrementen von Kaninchen mit 
der Bemerkung, das sei der seltenste Blumensamen, 
den es gebe. Zu Hause merkte aber die Frau Förster, 
daß man ihren Mann nur uzen wolle, und verrieb diesen 
„Samen“ mit Schmalzler und schüttete die Mischung 
in die Dose ihres Gemahls, diesen genau instruierend. 
Der Stammtischabend kam, der Förster ließ zum Willkomm 
seine silberne Dose kreisen, und nachdem alle reichlich 
geschnupft, fragte einer der Herren: „Nun, Herr Förster, 
was ist denn aus dem seltenen Blumensamen geworden ?“ 
Genau der Weisung seiner Gattin antwortetete dieser 
mit der größten Gelassenheit: „Den haben die Herren 
soeben geschnupft.* 


Drei südamerikanische Sagen. 


I. Los Penitentes. 


Zwischen den Stationen Punta de Vacas (Kühe- 
station) und Puente del Inca (Schwefelkalkquellen) 
hat die im Talwege des Rio Mendoza gebaute Trans- 
andinische Bahn eine Höhe von 2780 m über dem 
Meeresspiegel erreicht. Steile, zerklüftete imposante Ge- 
birgsketten begleiten die Bette der oft sehr launenhaften 
Bäche der argentinischen Anden. Besondere Beachtung 
verdienen die nach dem Bächlein Tupungato genannten 
Berggruppen, die bei La Cumbre (Gipfel) mit dem Kul- 
minationspunkt von 3990 m über dem Meeresspiegel die 
Grenzlinie zwischen Argentinien und Chile darstellen. 
„Los Penitentes“ (Die Büßen) heißt der Mittel- 
punkt dieser natürlichen Scheidewand zweier mächtigen 
Schwesternationen des südamerikanischen Kontinents: 
Knieende Riesengestalten, die Hände zum Himmel 
emporgestreckt, hat hier die Natur aus den Felsen 
gebildet. Ein greiser Andenführer erzählte uns dar- 
über: 

Dies geschah in den Zeiten, als die Wege nur wenigen 
in den Bergen bekannt gewesen waren. In dem Tale, 
das man heute Punta de Vacas nennt, herrschte der 
mächtige Kazike Zoli. Er hatte eme sehr zahlreiche Fa- 
milie. Zwanzig Söhne gebar sein Weib. Die Jagd des 
Guanaco, Kräuterwurzeln und die Forellen des kristall- 
hellen Gebirgswassers befriedigten im vollen Maße die 
bescheidenen Ansprüche dieser Naturkinder. Das Volk 
war glücklich. Die Söhne Zolis wuchsen heran, im ganzen 
Lande hätte man keine herrlicheren Jünglingsgestalten 
finden können. Beim Steinwerfen, Ringen und Pfeil- 
schießen blieben sie unübertroffen, ihr tödlicher Lanzen- 
wurf war sehr gefürchtet, und sie benannten sich „Abaré“ 
(Aba-re = außergewöhnlicher Mensch), die tapfersten des 
Stammes. Geblendet von der außergewöhnlichen Kraft 
und den körperlichen Vorzügen gewährten Zolis Spröß- 
linge dem Laster des Hochmutes eine willige Aufnahme. 
„Abaré“ wurden zum Schrecken der Nebenmenschen und 
entblödeten sich nicht, sogar den großen Geist in die 
Schranken zu fordern. 

„Mond und Sterne, neiget euch in Ehrfurcht vor uns, 
denn wir sind mächtiger als der große Geist, welcher 
euch geschaffen hat!“ riefen die Entarteten nachts dem 
Gewaltigen zu. Da geschah, was vorauszusehen war: 
die Erde erzitterte gar heftig, Feuersäulen stiegen rings- 
um empor, und das im tausendfachen Echo widerhallende 
Donnerrollen verkündete den Tag der Vergeltung. Das 
Tal wurde verschüttet, darin die Menschheit vernichtet 


und die Frevler in Steinfiguren verwandelt, in „Los Pe- 
nitentes“, welche die Nachwelt vor dem Hochmut warnen 
sollen 2). 

U. Der Ipacaraysee. 


Die Eisenbahn von Asunción nach Villa Rica und 
Pirapö hat historische Bedeutung: Die Teilstrecke Asun- 
cion—Paraguari ist nämlich der älteste Schienenweg von 
ganz Südamerika; er wurde unter der Selbstherrschaft 
Lopez’ angelegt. Die Bahn führt durch Wald und Weide- 
land. Rein und erfrischend weht die Luft von den Bergen 
und ist durchtränkt von dem Duft der ausgedehnten Apfel- 
sinengärten und der herrlichsten Blumenwelt. In Tri- 
nidad, das man in wenigen Minuten erreicht, bietet man 
dem Reisenden ein Glas Milch frisch von der Kuh weg. 
Dann kommt Luque mit seinem Strohhutgewerbe; Frauen 
erscheinen am Zug und tragen auf dem Kopf übereinander- 
gestülpt eine ganze Anzahl breitrandiger Schattenspender, 
sie schalkhaft zum Kauf anbietend. An Areguä vorüber 
gelangt man nach Patino-cue, beides malerisch gelegene 
Ortschaften. Hier zweigt eine Straßenbahn auf Holz- 
schienen ab und führt nach dem Ipacaraysee. 

Wir machten den Abstecher, bestiegen den kleinen, 
qualmenden Dampfer „Flecha“ und fuhren in nordöstlicher 
Richtung hinüber nach San Bernardino, dem „Nizza Pa- 
raguays“. Weiß blinkende Landhäuser, am Seegestade wie 
an den baumüberrauschten Berghängen verstreut, laden den 
Wanderer zur Einkehr. Hier kann man nach Herzenslust 
jagen, fischen, kühlende Bäder nehmen in dem klaren 
Wasser; hinten im Walde winkt die Bismarckschlucht dem 
Freunde unberührter Naturschönheit. Der See hat 20 km 
Länge, 4km Breite und eine Tiefe von 1 bis 4m; er wird 
von dem Pirayufluß gespeist, der die Wasser des Löwen- und 
Tomasgebirges sammelt. Sein Abfluß im Nordwesten, der 
Salado, geht zum Rio Paraguay. An diesen See knüpft 
sich folgende Sage: 

Wo jetzt der See seine Wellen kräuselt, lagen einst 
weite Jagdgründe, fruchtbare, honigreiche Gefilde und 
Ansiedelungen der Menschen, Da brach eine große Dürre 
herein, so daß alle Brunnen vertrockneten bis auf einen; 
dieser wurde mit Schildwachen umstellt, damit er nicht 
verzeitig erschöpft werde. Eines Tages erschienen zwei 
weißgekleidete Frauen, Mutter und Tochter, alt und weiß- 
haarig die eine, jung und goldhaarig die andere, und 


1) „Penitentes“ nennt man in den Anden bekanntlich 
auch die Schneefiguren, die unter dem Einflusse der Sonnen- 
strahlen Menschengestalt angenommen haben. Von weitem 
gleichen sie weißgekleideten Mönchen (Monjes penitentes). 


Seljan: Drei südamerikanische Sagen. 95 





baten um der Barmherzigkeit Gottes willen, ihren Durst 
stillen zu dürfen. Aber alles Bitten war umsonst; die 
Wachen stießen sie zurück, und in der Nacht erlag das 
Mädchen den Qualen des brennenden Durstes. Da ver- 
fluchte die verzweifelte Mutter am Leichnam des Kindes 
diese Stätte der Herzlosigkeit und schrie zu Gott, er solle 
dem grausamen Volke Wasser schicken, so viel, daß man 
es nicht bewältigen könne. Kaum war das Wort gesprochen, 
rauschte es hohl auf in dem Born, und Wassermassen 
brachen hervor so gewaltig, daß bald das ganze Tal über- 
schwemmt war; zuletzt stieg die Flut bis zum Gipfel der 
Berge und vernichtete das ganze Geschlecht der bösen 
Anwohner. 


II. Jandira. 


Der Itarare, ein Grenzfluß zwischen den Staaten 
S. Paulo und Paranä, ist der interessanteste Zufluß des 
Stromes Paranäpanema, weil dessen unterirdischer 
Lauf zu den seltensten Naturschönheiten Brasiliens gezählt 
werden darf. Das Wort „Itararé“ gehört der Tupi-Guarani- 
sprache an und bedeutet: „Der Felsen, in dessen Innern 
das Wasser rauscht“ (ita-rare). 

Der Itararé befindet sich 1 km südlich des Städtchens 
S. Pedro, seine Wassermassen stürzen in einen 20 m tiefen 
Abgrund und verschwinden plötzlich in einer unter- 
irdischen Galerie, um erst nach 30 km wieder an das 
Tageslicht zu treten. Der Abstieg in die Unterwelt dieses 
„Styx“ von Südamerika, so darf man mit Recht diese 
Stelle nennen, ist beschwerlich und gefährlich, aber man 
wird durch den Genuß eines wahrhaft grauenvoll-schönen 
Schauspieles entschädigt. Eine Sage berichtet uns, wie 
dieses Naturwunder entstanden ist; wir geben sie 
wieder: 

„Itararé? — wissen Sie was dies bedeutet?“ fragte 
uns ein alter Caboclo (so nennt man die Eingeborenen 
im Innern von Brasilien). „Ein Stein, in dessen Innern 
das Wasser rauscht“, war die Gegenantwort. — „Nein! 
Der Stein des Fluches heißt er. Dies ist der ehemalige 
Fluß Mandü, er war einst groß und reich an Fischen. 
Die Ufer waren von dichtem Urwalde bedeckt und an 
Jagd mangelte es nicht. Alles ist nun dahin, weil...“ — 

„Weil...?* fragten wir neugierig. — 

„Ja, dies ist eine andere Geschichte, doch wenn sie 
wollen, so werde ich erzählen.“ — 

Der Alte begann: 

Viele Jahre sind dahin, ich war noch ein Kind, als 
diese Geschichte von einem graubärtigen Häuptling er- 
zählt wurde. Ich lasse das Wort dem Kaziken: 

Die Indianerstämme zogen sich von den Ufern des 
Paranäpanema in dieses Tal zurück, weil ihre Existenz 
von den Bleichgesichtern bedroht war. Die Urwälder 
wurden ausgerodet, das trockene Holz in Brand gesteckt 
und Mais angebaut. Sobald die Ernte vorüber war, zogen 
die Eindringlinge weiter. Die Vernichtung unserer Wälder 
wurde fortgesetzt. Öde Heide nahmen die Stellen unserer 
trauten Wohnstätten (Aldejas) ein, und wir waren ge- 
zwungen, gleich einem gehetzten Wild, verfolgt von den 
Weißen, ins Innere zu fliehen. 

Eine Nacht wurden wir trotz unserer Wachsamkeit 
überrascht. Unsere mit Curare vergifteten Pfeile konnten 
den mit Panzerhemden geschützten Angreifern nicht 
schaden. Ein Teil der Krieger blieb tot auf dem Schlacht- 
felde liegen, während die anderen zu Gefangenen gemacht 
wurden. 

Das Unglück wäre nicht so groß gewesen, wenn nicht 
Jandira, die Tochter des großen Häuptlings, dem Sieger 
in die Hände gefallen wäre. 

Alle Stämme des Südens wurden zu dem großen Rate 
eingeladen und beschlossen, Jandira, die Perle unserer 


Aldejas, um jeden Preis zu befreien. Die Männer schnitzten 
Pfeile, während eine Hexe den Auftrag erhielt, ein be- 
sonderes Gift zuzubereiten. Mit Federn geschmückt ging 
die Alte in den Wald, sie lauschte dem Geplapper der 
Papageien die Geheimnisse der Natur ab und kam beladen 
mit verschiedenen Pflanzen zurück. Abseits des Lagers 
kochte die Hexe das Gift; blaue Dünste stiegen in die 
Luft, und plötzlich fiel die Alte um, sie war tot. Niemand 
aber wagte sich der Stelle zu nahen. Man wartete die 
Gärung ab, erst dann wurde die Zauberin begraben, 
während wir unsere Pfeile in die Giftmasse eingetaucht 
hatten, um den Kriegspfad zu betreten. 

Da gebot der greise Priester unseres Stammes: „Halt, 
Toren! wollt ihr ins Verderben ? Gegen die Bleichgesichter, 
die nur mit Feuerwaffen kämpfen, ist euch der Tod sicher.“ 
— „Was sollen wir tun?“ fragten wir den Alten. 

„Sendet einen Krieger in das Lager der Feinde, er 
soll die Rolle des Angebers spielen. Man wird ihm glauben, 
und er wird Gelegenheit haben, Jandira zu sprechen. 
Der Hauptmann der Bleichgesichter ist wahnsinnig ver- 
liebt in den Stolz unseres Stammes, es wird Jandira nicht 
schwer fallen, ihm nebst seinen Genossen gelegentlich 
eines Festes den Arirú (Schlaftrunk) zu kredenzen. 
Sobald dann eine Nacht der dreimalige Ruf des Ma- 
cucú das Gelingen unseres Planes verkünden wird, hat 
die Stunde der Vergeltung geschlagen; kein Bleichgesicht 
darf uns entkommen, und deren Köpfe werden die Pforten 
unserer Tapuis schmücken.“ 

Allgemeiner Jubel hieß die Worte des Priesters will- 
kommen. Aber es vergingen Tage auf Tage, man wartete 
vergeblich auf den Ruf des Macucü. Die Liebe des weißen 
Heerführers fand Gegenliebe bei der schönen Jandira. 
Der abgesandte Krieger mußte ohne Erfolg zurückkehren, 
an Rache war nicht zu denken. Jandira wurde vom Stamme 
verflucht, und wir flohen an die Ufer des Ivahy. Arme 
Jandira! Der Himmel ließ sie schwer den Verrat büßen. 
Eines Tages kam eine weiße Frau mit vielen Pagen und 
Gefolge unverhofft ins Lager. Hart stritten die beiden 
Frauen um den Besitz des Geliebten, da sagte Jandira 
zu dem Hauptmann Antonio: „Ich ziehe mich zurück an 
die Ufer des Mandü; wenn du mich liebst, so wirst du 
kommen, ehe der Mond hinter den blauen Bergen ver- 
schwunden ist. Wenn nicht, so nimm meinen Abschied 
entgegen, denn ich werde meine Füße mit Cipo (Schling- 
pflanze) fesseln und in dem kühlen Grunde des Stromes 
mit mir mein Leid begraben.“ 

Sie ging leichtfüßig wie eine Gazelle, langsam ent- 
schwand ihr helles Gewand im Dunkel der eintretenden 
Abenddämmerung. Da umschlangen zwei üppige Arme 
den ihr nachblickenden Heerführer. „Bleibe Antonio!“ 
sprach die weiße Sirene, und Antonio blieb. 

Der Mond war im Entschwinden, dessen Silberstrahlen 
liebkosten eine weiße Gestalt, deren Umriß sich scharf 
von dem dunkeln Hintergrunde des Waldes abhob, und 
die vergeblich auf den Geliebten wartete. „Antonio!“ 
gellte ein Schrei durch die stille Nacht. Jandira hatte 
ihre Sünde gebüßt. 

Am frühen Morgen begab sich Antonio, vom Gewissen 
getrieben, auf den ihm von der Indianermaid bezeichneten 
Platz. „Jandira! Jandira!“ rief er verzweifelt. „Jandira! 
Jandira!“ antwortete höhnisch das Echo. Jandira blieb 
unsichtbar; knapp neben dem Felsenufer lag ein aus Wald- 
rosen geflochtener Blumenkranz. Antonio stürzte zum 
Felsenufer und gewahrte, in die Tiefe blickend, den von 
den Wellen umspülten Leichnam der Geliebten. Der 
Schmerz machte ihn wahnsinnig, er sprang mit dem Rufe 
„Jandira!“ in den Abgrund gerade in dem Augenblick, 
als die weiße Frau mit dem Gefolge herangesprengt kam, 
um ihn vor der Verzweifelungstat zu retten. „Verflucht 


96 Dahms: Tierbau und Tierleben, im Zusammenhang betrachtet. 





sei das Wasser, verflucht sei das Mädchen, das mir meinen 
Herzallerliebsten geraubt hat!“ Dreimal tönten diese schau- 
erlichen Worte aus dem kleinen Munde der zornigen Frau. 


Da fielen Blitze vom heiteren Himmel, und unter Donner- 
rollen verschwanden der Fluß, die Frau und das Gefolge. 
Santiago (Chile), April 1910. Mirko u.Stevo Seljan. 





Tierbau und Tierleben, im Zusammenhang betrachtet. 
Von Prof. Dr. Paul Dahms. 


Die moderne Tierbiologie erstrebt das Ziel, in das Innere 
des Lebens einzudringen und seine Beziehungen und Vor- 
gänge zu verstehen. Aus bescheidenen Anfängen heraus hat 
sie immer mehr und mehr an Boden und Bedeutung ge- 
wonnen; sie zeigt keine Einzeltiere mehr, keine Geschöpfe 
„an sich“, sondern Glieder des gewaltigen Naturreiches, die 
mit dem Ganzen leben und von ihm abhängen. Diese 
Wechselbeziehung zwischen Lebewesen und Umgebung zeigt 
uns die Tierwelt in einem ganz anderen Lichte als die früher 
übliche Zoologie. Die trockene Beschreibung ist vor einer 
überlegten und planvollen Betrachtung‘ zurückgewichen, und 
vielfach sind die Kenntnisse, die uns die Wissenschaft erst 
übermitteln mußte, um das Leben der Tiere in der freien 
Natur mit- und nebeneinander verstehen zu können. 

Da findet man ein jedes Lebewesen regsam und tätig, 
im Kampfe um sein Dasein und in Sorge um die Erwerbung 
seiner Nahrung, verfolgend und verfolgt, hineingesetzt als 
Mitspieler in das Theater des täglichen Lebens. Zu dem 
bloßen äußerlichen Leben, das man dereinst als Hauptmerk- 
zeichen eines Tieres ansah, tritt für die Biologie noch das 
geistige Leben hinzu. Da kommen bestimmte Kräfte zum 
Ausdruck, wie wir sie kaum erwarten. Sie arbeiten nach 
eigener Weise und bringen dem Tiere besonderen Vorteil und 
Nutzen. Auch in anderer Hinsicht entfalten sich wirksame 
Kräfte. Sie gaben der Tierwelt, wie wir sie heute um uns 
sehen, ihr eigenartiges Gepräge. In den verschiedenen Or- 
ganen und Einrichtungen der Tierwelt erkennen wir Apparate, 
die ihre ganz besondere Aufgabe zu erfüllen haben. Sie 
wirken als originelle Waffen und Werkzeuge und rufen in 
uns den Wunsch wach, das Tier mit ihnen in Tätigkeit zu 
sehen. Das führt uns hinein in die Behandlung einer Reihe 
von Fragen, durch die man ohne kundigen Führer und Er- 
klärer kaum oder nur ungenügend hindurch findet. Gerade 
diese Kapitel bieten aber überaus viel Neues und Interessantes. 
Sie sind noch lange nicht abgeschlossen, und was wir in 
ihnen finden, zeigt steten Wechsel und volles, üppiges Leben. 
Abstammung und Vererbung, Anpassung und Mimikry, 
Selbstverstümmelung und Regeneration, Zusammenleben 
gleichartiger Tiere in Staaten oder in bloßem Nebeneinander 
bieten so viel Stoff und so viel verschiedenartige Auffassungen 
des Beobachteten, daß man dieses gewaltige Gebiet unmöglich 
allein beschreiten kann und darf, will man nicht falsche 
Vorstellungen von dem Wirken des Naturganzen in sich auf- 
nehmen. 

Gerade diese Themen locken immer wieder zum Studium 
an, und die Literatur nutzt vielfach dieses Streben aus und 
bringt eine Menge von Werken und Werkchen auf den 
Markt, um unter dem Deckmantel der wohlwollenden Be- 
lehrung in geräuschvoller Weise ein vorteilhaftes Geschäft 
zu betreiben. An sachgemäßer Hand eingeführt zu werden 
in dieses Reich, wo man die Kräfte der Natur in gemein- 
samer Arbeit sich betätigen sehen kann, ist die Aufgabe eines 
Werkes, von dem uns der regsame Verlag von B.G. Teubner 
in Leipzig vor kurzem den ersten Band geboten hat. „Tier- 
bau und Tierleben, in ihrem Zusammenhang be- 
trachtet“ ist der Titel des Gesamtwerkes, dessen erster 
Teil Richard Hesse, Professor der Zoologie an der Land- 
wirtschaftlichen Hochsehule in Berlin, zum Verfasser hat '). 
Er behandelt den Tierkörper als selbständigen Organismus 
auf 789 Seiten. 

Die Aufgabe, die sich der Verfasser stellt, ist in muster- 
gültiger Weise gelöst. In verständlicher Sprache, ohne jedes 
Beiwerk, führt er in einer Reihe größerer Kapitel, deren 
Stoff in Abschnitten noch besonders sichtbar geordnet ist, 
glatt sein Thema durch. Am Kopfe jeder Seite finden wir 
kurz angegeben, was unten behandelt wird, so daß man beim 
bloßen Blättern bereits erkennen kann, wovon gerade die 
Rede ist. Falls man eine ganz bestimmte Frage beantwortet 
haben möchte, führt ein ausführliches Register zu dem ge- 


Zoppot. 


1) Preis 20 4. 


wünschten Bescheid. Durch die Verwendung zweifachen 
Druckes ist in diesem eine übersichtliche Anordnung der 
Stichwörter erzielt, während eine Reihe von Fußnoten die 
Bedeutung und Herkunft der fachmännischen Ausdrücke 
erläutert. 

Selbstverständlich ist die Darstellung in dem Bande bei 
der Vielseitigkeit des Materials kurz gefaßt, und manchem 
Leser mag wohl der Wunsch auftauchen, noch mehr über den 
einen oder anderen Gegenstand zu erfahren. Auch für ihn ist 
gesorgt. In einem besonderen Literaturverzeichnis wird auf- 
geführt, woher die benutzten Untersuchungen nebst ihren 
Ergebnissen stammen, und wo man an der Quelle selbst 
schöpfen kann. ` 

Der gesamte Inhalt wird in vier Büchern gegeben, denen 
noch eine Einleitung und ein Schluß, „das Ganze und seine 
Teile“, beigegeben iste Das erste Buch behandelt die „Statik 
und Mechanik des Tierkörpers“, das zweite das Thema „Der 
Stoffwechsel und seine Organe“. „Fortpflanzung und Ver- 
erbung“, sowie ferner „Nervensystem und Sinnesorgane“ 
werden im dritten und vierten Buche besprochen. Das erste 
Buch zerfällt z. B. in zwei Hauptabschnitte, nämlich die 
Körperform und Bewegung einmal bei den Einzelligen und 
dann bei den Vielzelligen, den Metazoen. Aus dem zweiten 
Teile seien die Abschnitte genannt, um einen Überblick über 
die Art zu bieten, wie der Verfasser seinen Stoff behandelt. 
Nach allgemeinen Bemerkungen über das Stützgerüst des 
Metazoenkörpers und Besonderheiten des Stützgerüstes bei 
den Wirbellosen behandelt er die Besonderheiten des Wirbel- 
tierskeletts. Allgemeine Bemerkungen über die Bewegungen 
der Metazoen und eine Besprechung der Bedingungen des 
passiven Schwebens im Wasser und in der Luft schließen 
sich daran. Die Ortsbewegung der Metazoen durch Flim- 
merung und die der Metazoen durch Muskeltätigkeit werden 
des weiteren behandelt. In letzterem Falle wird eine Reihe 
von Unterabschnitten geboten: die schrittweise Ortsbewegung, 
die Ortsbewegung durch Schlängelung und die Bewegung 
mit Hilfe von Hebelgliedmaßen. Auch dieses letzte Kapitel 
ist wieder in eine Reihe von Abschnitten zerlegt. Wir er- 
fahren, wie das Schwimmen mit Hebelgliedmaßen vor sich 
geht, wie Springen, Laufen, Klettern und der Flug erfolgt, 
wie ferner das Flugvermögen sich entwickelte und auch 
heute noch entwickelt, und schließlich Genaueres über den 
Flug der Insekten, über den der Fledermäuse und über den 
Vogelflug. 

Schlägt man die betreffenden Seiten auf, so wird — wie 
bereits erwähnt wurde — eine weitere Teilung geboten und 
durch kurze Angaben am Kopfe der Seiten weiteres an- 
gegeben. Da heute gerade der Flug und die Flugmaschinen 
viel Entgegenkommen finden, ist eg wohl von Interesse, Ge- 
naueres über die Behandlung des Vogelfluges zu erfahren. 
Hierbei werden nacheinander behandelt: Ruder- und Segel- 
flug, Bau des Flügels, Anordnung und Bau der Schwungfedern, 
Flügelhaltung, Flugmuskeln, Flugarbeit, Erzeugung des not- 
wendigen Luftwiderstandes, Zahl der Flügelschläge, Abflug, 
Rütteln, Flug in Schwärmen, Steuerung, Fluggeschwindigkeit, 
Flughöfe, Flugleistungen, Flugbild, Schwebe- und Segelflug, 
Flugfähigkeit und Bau des Vogelkörpers. 

Die gleiche Sorgfalt und genaue Bearbeitung haben auch 
die anderen Kapitel erfahren. Die feine und sorgfältige 
Durchführung wird durch die ruhig dahinfließende Dar- 
stellungsweise in würdiger Weise gehoben. Wesentlich zur 
Erklärung des Gebotenen tragen die vielen Abbildungen bei, 
von denen 480 im Texte verteilt sind; 12 von ihnen illu- 
strieren allein das über den Vogelflug Gesagte. Neben diesen 
Bildern sind dem Bande noch 15 Tafeln in Schwarz-, Bunt- 
und Lichtdruck nach Originalen von Künstlern beigegeben, 
die dem Buche zur besonderen Zierde gereichen. 

Nochmals sei darauf hingewiesen, daß die Behandlung 
des ganzen Materials durchaus dem Stande der heutigen 
Wissenschaft entspricht. Die ruhige, sachliche und klare 
Darstellung des gewaltigen Materials und die eigene Meinung 
des Verfassers, die vermittelnd, berichtigend und erläuternd 
überall hervortritt, stellen das Werk als ein fest in sich ab- 
geschlossenes Ganzes hin. 


Bücherschau. 97 





Bücherschau. 


Hanns Vischer, Across the Sahara from Tripoli to 
Bornu. XIV u. 308 S. mit Abb. u. 1 Karte. London 
1910, Edward Arnold. 12s. 6d. 

In diesem anschaulich geschriebenen Buche schildert der 
Verfasser, ein in England naturalisierter Schweizer und Kolo- 
nialbeamter in Nord-Nigeria, seine auch im Globus erwähnte 
Reise von Tripolis über Mursuk und Kauar nach Bornu, Juli 
bis Dezember 1906. Seine Route, wie sie auf der dem Buche 
beigegebenen Kartenskizze in 1:4000000 (vorher im „Geogr. 
Journ.“ veröffentlicht) dargestellt ist, entspricht zwischen 
Tripolis und Mursuk dem Richardson-Barthschen Reisewege 
von 1850 und folgt weiter südlich bis zum Tschadsee (Ngigmi) 
der bekannten alten, heute verödeten Karawanenstraße nach 
Kuka, die ja schon von mehreren Forschern begangen worden 
ist. Der letzte von ihnen ist Monteil, 1892, von dem wir 
auch — von dem neuerdings einige Male von französischen 
Offizieren geschilderten südlichsten Stück Kauar-Ngigmi ab- 
gesehen — die jüngste Beschreibung der Straße besitzen. 
Konnte Vischer somit geographische Entdeckungen dort nicht 
mehr machen, so war er doch eben seit 15 Jahren wieder 
der erste Europäer, der jenen auf den ruhmreichsten Blättern 
der Erforschungsgeschichte Afrikas verzeichneten Wüstenweg 
verfolgen konnte, und da sich in seinem Bereiche, wie wir 
hier erfahren, mancherlei geändert hat, so darf die Erzählung 
Vischers Interesse beanspruchen. 

Die heutige Saharaforschung liegt in den Händen des 
französischen Militärs, der gelegentlich auch von Gelehrten 
begleiteten Offiziere der Kamelreiterkompagnien, für die 
weder die Natur der Wüste, noch deren Bewohner ernstliche 
Hindernisse mehr bieten. Die Vischersche Expedition er- 
innert mehr an die alte Zeit: er befehligte keine Kolonial- 
truppe, die es mit dem Teufel aufnimmt, sondern stand an 
der Spitze einer kleinen Karawane furchtsamer Mekkapilger 
aus dem Sudan und befreiter Sklaven aus Tripolitanien, die 
mit Weib und Kind in ihre alte innerafrikanische Heimat 
zurückzukehren wünschten. Kein Wunder also, wenn sich 
außerhalb, ja auch innerhalb des Machtbereichs der türkischen 
Garnisonen alle die Schwierigkeiten wiederholten, von denen 
uns Rohlfs oder Nachtigal erzählen. So machen Tibbu und 
Asger-Tuareg gemeinsame Sache, um den großer Goldschätze 
verdächtigen Reisenden bei Tedscheri zu ermorden und zu 
berauben, und es setzt einen — anscheinend unblutigen — 
Kampf, in dem es ihm gelingt, die Tuareg zu verjagen und 
die Tibbu einzuschüchtern. In diesen Fährlichkeiten erweist 
ihm eine alte Tibbufrau, eine mit ihm reisende Mekkapilgerin, 
mit ihrem Mut, ihrer Energie, ihrem Rat und ihrer Mund- 
fertigkeit wertvolle Dienste, bis er in Bilma in der Oase 
Kauar die französische Truppenabteilung antrifft, die sie 
kurz vorher besetzt hatte, und in derem Schutze er nun be- 
quem Bornu erreicht. 

Auf seinem ganzen Marsche hatte Vischer wiederholt 
Gelegenheit zu beobachten, wie die Wüste immer 'mehr auf 
die Oasen eindringt und ihre Gärten und Palmenhaine mindert. 
Gleich das noch zur Zeit Barths blühende Misda, wo es seit 
12 Jahren nicht geregnet hatte und die Brunnen austrockneten, 
war in traurigem Zustande. Im Wadi Schiati war dasselbe 
der Fall. Mursuk mit seinen 3000 Einwohnern (nach Nachti- 
gal noch 6500) sah auch schon recht ruinenhaft aus. In 
Gatrun, Kauar und weiter südlich drohte die Wüste ebenfalls. 
Aber Vischer glaubt mit Recht nicht an Klimaverschlechterung, 
sondern sieht die Gründe für die Erscheinung in der Ab- 
nahme der Menschen, die vor der schlechten Verwaltung (in 
Fessan) oder der Unsicherheit (in der Wüste) das Feld räumen. 
Einen Fall, daß eine Gewitterwolke sich entlud, der herab- 
strömende Regen aber nicht den Boden erreichte, beobachtete 
Vischer im Oktober bei Yat (S. 244). 8.262 kommt er auf 
Grund von Beobachtungen in Bilma zu der Anschauung, daß 
eine regelmäßig benutzte Zugvogelstraße aus Innerafrika 
durch die Wüste nach Norden führt. 8.266 berichtet er von 
dem „singenden“ oder „sprechenden“ Berg Jetko in Kauar, 
der durch sein Geräusch nach Ansicht der Eingeborenen das 
Nahen der Karawanen ankündigt. An dem Wege südlich 
von Bilma hat Vischer in heute verlassenen Oasen die Spuren 
prähistorischer Bewohner, einige neolithische Steinbeile ge- 
funden, die Stücken aus der Gegend zwischen Bilma und 
Air und aus dem Haussalande gleichen. P. Sarasin be- 
schreibt sie kurz (ohne Abbildung) im Anhang. 

Als Vischer in Tripolitanien und Fessan war, waren diese 
türkischen Gebiete Verbannungsorte für türkische Beamte 
und Offiziere mit liberalen, fortschrittlichen Anschauungen — 
Jungtürken. Diese, hochgebildete Leute, lebten dort in teil- 
weise recht elenden Verhältnissen, hielten aber am Vertrauen 
in die Zukunft ihres Vaterlandes fest, klagten nicht, sondern 


bewiesen sich dort als Kulturträger, indem sie z. B. Schulen 
einrichteten. Es war das vor der türkischen Revolution. 
Von den Mitgliedern der als so fanatisch verschrieenen 
Senussisekte erfuhr Vischer viel Freundlichkeit und Unter- 
stützung. Vischer glaubt nicht an den ihr zugeschriebenen 
wilden Fanatismus, obwohl sich ja die — unseres Erachtens 
durchaus verständliche und berechtigte — Feindschaft gegen 
die Franzosen nicht ableugnen läßt. Vischer meint, das 
heutige Oberhaupt der Sekte werde sicherlich nicht den 
heiligen Krieg predigen; das wäre wohl auch zwecklos an- 
gesichts der Rassen- und Interessengegensätze unter ihren 
Anhängern. Wir erfahren, daß dank den Senussi heute der 
Teegenuß die Saharavölker beherrscht, und das schon in 
einem Maße, daß eine Einschränkung eine Wohltat für sie 
wäre. — Wie aus diesen Andeutungen hervorgehen dürfte, 
enthält das Buch Vischers manches Interessante und auch 
Neue. Einige nach Photographien und Skizzen hergestellte 
Abbildungen sind ihm beigegeben. Singer. 


Karl Baedeker, Südbayern, Tirol und Salzburg, Ober- 
und Nieder-Österreich, Steiermark, Kärnten und Krain. 
Handbuch für Reisende. 34. Aufl., XXVIII u. 6768. mit 
73 Karten, 16 Plänen und 11 Panoramen. Leipzig 1910, Karl 
Baedeker, 8 fb. 

Die 34. Auflage, die der vorigen gegenüber stellenweise 
ein wenig gekürzt, an anderen Stellen etwas erweitert ist, 
zeigt wieder mancherlei Neues. So hat sich die Zahl der 
beschriebenen Routen um einige vermehrt. Das Kartenmaterial 
ist ebenfalls von neuem vermehrt worden. Man sieht es gleich 
am Abschnitt über München. Enthielt die 33. Auflage einen 
Plan von München in 1: 13250, der aber nicht die ganze Stadt 
umfaßte, so begegnen wir diesmal einem Plane von ganz München 
in 1:30000 (mit Übersicht von Nymphenburg) und außer- 
dem einem kleineren Ausschnitt aus jenem älteren Plan, das 
Stadtinnere darstellend. Es sind ferner mehrere Spezialkarten 
hinzugekommen, oder es sind ältere Blätter durch neuere er- 
setzt (z. B. Umgebung von Innsbruck, Umgebung von Brixen, 
Bozen, Meran, Ischl, Gastein, Bregenz). Daß endlich auch 
der Schlern ein Panorama erhalten hat, ist ebenso zu billigen 
wie die Beigabe eines Panoramas der Aussicht vom Pfänder. 
Das dritte neue Panorama betrifft den Monte Pian bei Schluder- 
bach. Daß im Text in den Einzelangaben überall geändert 
und gebessert worden ist, versteht sich von selbst. Da hat 
das eine Gasthaus ein Lob erhalten, einem anderen ist es 
gestrichen worden, oder es hat eine Berichtigung der Preise 
stattgefunden. So waren im vorigen Jahre z. B. in gewissen 
Orten der Dolomiten dank einer gewaltigen Reklame mit diesem 
Alpengebiet und der Einrichtung von ein paar mangelhaften 
Automobillinien die Preise recht ansehnlich in die Höhe ge- 
gangen, so daß der Baedeker von 1908 hier gar nicht mehr 
stimmte. Jetzt ist nun auch in dieser Beziehung anscheinend 
alles up to date. 


Dr. R. Trebitsch, Bei den Eskimos in Westgrönland. 
Mit ethnologischem Anhang von Dr. M. Haberlandt. Mit 
62 Abbildungen und 1 Karte. Berlin 1910, Dietrich 
Reimer. 8 wA 
Schon der Titel sagt, daß wir wesentlich Neues hier 
nicht erwarten können, denn Grönlands Westküste, die von 
Frederikshaab bis Upernivik der Verfasser auf einer Sommer- 
reise kennen lernte, ist geographisch wie ethnographisch vor- 
züglich erforscht. Aber trotzdem wird man die frischen 
lebendigen Schilderungen gern lesen und sich an den wohl- 
gelungenen photographischen Aufnahmen erfreuen, die uns 
die Grönländer in den verschiedensten Lebenslagen vorführen. 
Dr. Trebitsch hat es verstanden, obwohl längst europäische 
Kultur über Westgrönland hinging, vorzüglich ethnographisch 
zu sammeln. Seine Ausbeute, darunter manches alte Stück, hat 
im Kustos des Wiener ethnographischen Museums, Dr. Haber- 
landt, einen sachkundigen Bearbeiter gefunden. Von Wert 
sind auch die phonographischen Aufnahmen des Verfassers 
und die von ihm mitgeteilten Lieder und Gesänge der Grön- 
länder. 


J. Stiny, Die Muren. Versuch einer Monographie mit be- 
sonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in den Tiroler 
Alpen. Mit 34 Abbildungen. Innsbruck 1910, Wagnersche 
Universitätsbuchhandlung. ` 

Der Verfasser versucht auf Grund eigener Untersuchungen 
und eines Teils der großen Literatur über die Muren ein 
zusammenfassendes Bild der wissenschaftlichen Seite des 

Phänomens zu geben, während die technische (Murenver- 


98 Kleine Nachrichten. 





bauung) höchstens gestreift wird. In systematischer Behand- 
lung der Erscheinung nach allen Gesichtspunkten wird den 
Bedingungen ihrer Bildung im einzelnen nachgegangen. 
Verfasser hat eine große Menge eigener Beobachtungen und 
Messungen hinein verarbeitet, wie auch die Bilder meist nach 
eigenen Aufnahmen des Verfassers hergestellt sind. Das Buch 
gibt eine recht anschauliche übersichtliche Schilderung und 


ist zur Einführung in die Fragen wohl geeignet. Aufgefallen 
ist uns, daß die Profile 8. 115 und 116 verkehrt gedruckt 
scheinen, sowie daß die Profile ohne Längenmaßstäbe sind. 
Ein umfängliches Literaturverzeichnis schließt das Buch ab. 
Vollständigkeit ist bei der Zersplitterung der Literatur über 
die Muren natürlich gänzlich unmöglich; vor allem sind, wie 
der Titel angibt, die Tiroler Verhältnisse berücksichtigt. Gr. 





Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— In seinem Beitrag über die Binnenkonchylien von 
Deutsch-Südwestafrika und ihre Beziehungen zur 
Molluskenfauna des Kaplandes schreibt O. Boettger 
(Festschr. zum 70. Geburtstage von W. Kobelt, 1910), daß 
die xerophilen Landschnecken in unserer dortigen Kolonie 
fast alle den mittleren und südlichen Gebieten, während 
die an größere Feuchtigkeit gebundenen Landschnecken 
dem Norden des Gebietes angehören. Ein Zug der Ge- 
meinsamkeit, ja der Übereinstimmung mit dem portugiesi- 
schen Gebiet im Norden der Kunene ist unverkennbar; um 
so schroffer trennt sich die Fauna von der der britischen 
Gebiete im Osten und Süden, wenn man von Klein-Nama- 
land absieht, das in seiner Schneckenfauna noch ganz mit 
Groß-Namaland übereinstimmt. Eine ganze Reihe wichtiger 
Familien vom Kapland wie von Natal fehlen unserer Kolonie. 
Geradezu frappierend ist der Mangel jeder Art der Fleisch- 
fressergattung Ennea, während als gemeinsame Züge das 
Fehlen der Vivipariden und das auffallende Zurücktreten der 
Ampulariiden und Melaniiden zu gelten haben. 








— Über die Lebensweise des Diplodocus schreibt 
O. Abel (Abhandlgn. der k. k. zool.-botan. Gesellsch. in 
Wien, 5. Bd., 1910), daß er sich vorwiegend in Wasser auf- 
hielt und sich zweifellos von flottierenden Süßwasserpflanzen, 
wahrscheinlich hauptsächlich Algen, nährte. Diese Tiere 
waren Bewohner einer Gegend, in welcher sich weite, seichte 
versumpfte Seen und langsam dahinfließende Ströme be- 
fanden, wo sich Sümpfe weithin ausbreiteten. Dann kann 
man als feststehend erachten, daß Diplodocus kein kriechendes 
oder sich fortschiebendes, sondern ein schreitendes Tier war, 
wobei der Schwanz nicht in freier Balance getragen, sondern 
auf dem Boden nachgeschleift wurde; er diente zusammen 
mit den säulenförmigen Hinterbeinen als wichtige Stütze der 
schweren Beckenregion. Der Gang dieses Tieres war zwei- 
fellos sehr langsam und sehr schwerfällig; es ist kaum an- 
zunehmen, daß es ein so schnelles Tempo wie die Elefanten 
einzuschlagen vermochte. Wahrscheinlich hielt sich der 
einzelne Diplodocus ruhig so lange an einer Stelle im Wasser 
auf, bis er daselbst keine Nahrung mehr fand. Beim Schrei- 
ten dürfte diese Art den Hals in ähnlicher Weise auf- und 
abwärts bewegt haben, wie es die großen straußartigen Vögel 
zu tun pflegen. 

— In seinem Werke über die Geographie der Farne 
(Jena 1910) gibt H. Christ auch einen florengeschicht- 
lichen Überblick. Die Selbständigkeit dieser Familie be- 
steht einmal in ihrer tief in ältere Erdperioden zurück- 
reichenden systematischen Stellung und Abstammung, dann in 
ihrer mesotherm hygrophytischen, aus den Klimaverhältnissen 
der alten Perioden ihnen anhaftenden Natur. Das große 
Sammel- und Reservegebiet der tertiären Farne ist die tro- 
pische Waldflora der Alten und Neuen Welt. Hier haben 
sich die tertiären und noch viel ältere Typen erhalten, 
wenn auch im Laufe der Zeiten durch Variation, Mutation 
und Hybridation vielfach abgeändert. Gleichwertig tritt 
diesem Gebiet die chinesische Flora zur Seite, ein Refugium, 
um der durch die Eiszeit verödeten gemäßigten Zone der 
beiden nördlichen Hemisphären den Hauptstock ihrer Farne 
durch Rückströmung wieder zuzuführen. Denn daß zur 
Tertiärzeit der Norden so gut die Farne wie die übrige Wald- 
flora des mesotherm feuchten Klimas besaß, scheint außer 
Zweifel zu stehen. Dann zerstörte diesen tertiären Wald mit 
seinen Farnkräutern die Vereisung; dabei ist unserer Familie 
diese Rückwanderung dank der strengen Auswahl geschützter 
Standorte in relativ stärkerem Umfang gelungen als den 
Blütenpflanzen. Als Relikt der Eiszeit und als endemisches 
Produkt des Hochgebirzes findet sich dann eine kleine Gruppe 
arktisch-alpiner Farne, die genau mit dem arktisch-alpinen 
Element der Phanerogamenflora parallel gehen. Von den 
Gebieten, meist Hochländern, welche schon während, jeden- 
falls aber nach der Tertiärzeit austrockneten, versteppten 
oder sich mit Hartlaubgewächsen bedeckten, nahmen die 


xerophytischen Farne Besitz, welche die heutige mediterrane, 
altafrikanische, mexikanisch-kalifornische und brasilische 
Camposflora charakterisieren. Die großen desertischen und 
Steppenebenen der Alten und Neuen Welt haben keine Farn- 
flora. In der Südhemisphäre ist die farnreiche Waldflora 
Neuseelands und Ostaustraliens von entschieden tertiärem 
Gepräge: durch zirkumpolare Ausstrahlungen weist sie nach 
dem Süden von Amerika und Afrika auf ein altes Zentrum, 
dessen Lage heute noch nicht ermittelt ist. Die Hochgebirge 
der Tropen haben, außer den Anden, eine spezielle Farn- 
flora nicht hervorgebracht. 


— In betreff des Winterhimmels des Hochgebirges 
und des Tieflandes kommt H. Bach (Zeitschr. f. Balneol., 
3. Jahrg., 1910) zu dem Resultat, daß ersterer in jeder Be- 
ziehung vor dem des Tieflandes begünstigt ist. Wolken, 
Nebel und Feuchtigkeit beeinträchtigen nur sehr wenig die 
strahlende Kraft des Sonnenlichtes, das in reichster Fülle 
auf die vom Schnee bedeckte Landschaft herniederflutet. Und 
selbst wenn auch der Alpenhimmel von Wolken bedeckt ist, ist 
doch die allgemeine Helligkeit des Lichtes immer noch weit 
stärker alsin der Ebene. Unter diesen Umständen darf es nicht 
verwundern, daß auch die Zahl der Gesunden, die im Winter 
das Gebirge, und sei es auch nur für wenige Wochen, zur 
Erholung aufsuchen, von Jahr zu Jahr zunimmt. Es gibt 
heute bereits eine stattliche Anzahl von im Berufe Befind- 
lichen, die zu diesem Zwecke ihre Ferien in den Winter 
verlegen. Ganz abgesehen von dem nicht zu unterschätzenden 
physischen Einfluß der Sonne auf den Menschen ist eben der 
rein psychische Faktor des Sonnenscheins für Gesunde und 
Kranke nicht hoch genug zu veranschlagen. 


— Der Zimt des Königs von Annam. Der zur 
Gattung der Lauraceen gehörige Zimtbaum ist über ganz 
Indochina verbreitet, er wächst wild in Kambodscha und 
Kotschintschina, im Süden der hinterindischen Halbinsel wie 
in Tonkin. Angepflanzt wird er dagegen nur wenig, von 
einigen Mois, Pasis und Ssedangs auf Veranlassung der Missio- 
nare. Wild kommt er u. a. im ganzen Bereich der anami- 
tischen Gebirgskette vor, wo er vor allem in zwei Gebieten 
ausgebeutet wird: 1. in Quang-Nam und Quang-Nai und 2. 
in Thanh-Hoa. In den beiden zuerst genannten Gebieten 
erfolgt die Ernte durch Mois, die mit ihren Zimtlasten 
jährlich zu bestimmter Zeit in die Ebene hinabsteigen und 
sie da an die Anamiten verkaufen, die wiederum Agenten der 
Chinesen sind. à 

Der Thanh-Hoa- oder „Königszimt“ hat infolge der ihm 
zugeschriebenen Heilkräfte bei den Chinesen einen derartigen 
Ruf, daß er mit Gold aufgewogen wird. Er ist kein Kultur- 
produkt, sondern kommt allein von wilden Bäumen her. 
Seinen Namen hat er daher, daß allein ihn der König ver- 
braucht; er ist Eigentum der Distriktshäuptlinge. Wenn 
ein solcher Zimtbaum — so berichten Perrot und Eberhardt — 
in den Bergen von den dort Holz fällenden Eingeborenen 
gefunden wird, so versehen sie ihn mit einem Merkzeichen 
und benachrichtigen sofort den Distriktschef. Dieser setzt 
davon den Residenten der Provinz in Kenntnis und ersucht 
um Entsendung von Beamten, die der Entrindung des Baumes 
beiwohnen sollen. Es genügt eben nicht, daß der Zimt nur 
aus Thanh-Hoa zu kommen braucht, um „Königszimt“ zu 
sein; es ist auch erforderlich, daß die französischen und ein- 
heimischen Behörden den stehenden Baum in Augenschein 
nehmen und ihre Gegenwart beim Fällen dadurch bezeugen, 
daß sie auf die geernteten Zimtstücke das Siegel der Resi- 
dentur und der Provinzialmandarinen drücken; diese beiden 
Zeichen sind notwendig, um die echte Herkunft zu be- 
scheinigen. 

Der Baum, wird mit Hilfe von Gerüsten von oben ab 
völlig seiner Aste beraubt, dann erst schneidet man den 
Stamm unmittelbar über dem Boden ab. Alle Aste werden 
abgeschält, und die Rinde wird in gleichmäßig 30 bis 40 cm 
lange und 7 bis 8em breite Stücke geschnitten. Danach 


Kleine Nachrichten. 99 





wird jedes Zimtstück mit den offiziellen Stempeln versehen. 
Der Distriktschef darf den Zimt erst, nachdem der königliche 
Hof seine Auswahl getroffen hat, verkaufen. Die Rinden- 
stücke werden gezählt und nun an Ort und Stelle präpariert. 
Dieses geschieht dadurch, daß man die Innenseite der Rinden- 
stücke mit einem Schaber aus Knochen oder Holz bearbeitet, 
um die noch anhaftenden Faserreste zu beseitigen. Auch 
die äußere Seite wird von allen Fremdkörpern, wie Flechten 
und Moosen, befreit. Die Stücke werden dann in der Sonne 
getrocknet, wobei man das Zusammenrollen der Rinde durch 
ein Bambusbrettchen verhindert. 

Darauf scheiden die Provinzialmandarinen die so zu- 
gerichteten Zimtstücke in drei Sorten, nach ihrer Dicke und 
der Heimat des Baumes. Sie setzen auch die Preise fest, die 
in der Regel 5, 8 und 15 Piaster (je 2,25 Fr.) betragen, und 
kaufen zu diesen Preisen die verschiedenen Stücke, die sie 
an den königlichen Hof schicken. Dieser sendet die weniger 
guten zurück, und dann kann der Distriktschef über den 
übrigen Zimt verfügen. Er verkauft ihn an die Chinesen 
für den doppelten oder dreifachen Preis, den der Hof bezahlt 
hat, und die Chinesen ihrerseits verkaufen ihn weiter mit 
einem gehörigen Aufschlag, woraus sich der hohe Preis der 
Ware erklärt. Stücke, die der Hof mit 15 Piaster bezahlt 
hat, kosten im Handel 40 bis 50 Piaster und mehr. So bringt 
ein Baum von 15 bis 16m Höhe in der Regel eine Einnahme 
von 5000 bis 6000 Piaster oder 12000 bis 15000 Fr. 


— Frauen- und Mädchenhandel in China zur Zeit 
der Hungersnöte. In seinem Aufsatze „Prostitution in 
China“ (Bd. 97, 8.317) hat Baron Budberg den chinesischen 
Mädchenhandel erwähnt, der in Zeiten von Hungersnöten 
herrscht. Es mag hier noch einiges von dem nachgetragen 
werden, was P. Johann Jesacher aus Poschan in einem 
Briefe über die letzte Hungersnot in Ost-Schantung über 
jenen Handel mitteilt („Die Kathol. Missionen“, Juli 1910). 
Er blüht in solchen Zeiten der Not. Vom Gesetz ist er frei- 
lich verboten, aber man weiß es zu umgehen. Die Opfer 
werden auf die Märkte für den Frauenhandel gebracht, die 
teils ständiger, teils wechselnder Art sind, und da feilgeboten; 
der gewöhnliche Marktpreis ist 200 bis 300 #. Es gibt ferner 
Handelsreisende, die entweder auf eigene Rechnung oder als 
Agenten einer Firma umherreisen, Bräute suchen und ab- 
geben, kaufen und verkaufen. Der Handel, den der Ver- 
mittler direkt mit den Eltern abschließt, gilt in China nicht 
einmal als etwas Schlechtes. Die Mädchen bringen den 
Eltern durch ihren Verkaufspreis das Geld, mit dem sie ihre 
Schulden zahlen oder Getreide zum Essen kaufen können. 
Oft wünschen die Mädchen sich selber dieses Los, weil sie 
hoffen, im Hause des Käufers keine Not leiden zu müssen; 
der ist ja in der Regel sehr reich und wohl imstande, sich 
eine Nebenfrau halten zu können — so wird kalkuliert. Es 
kommt dann allerdings manchmal anders, aber man tröstet 
sich mit dem Gedanken: Die Eltern haben es so gewollt; 
gegen das ihr von den Eltern bestimmte Los wagt eben keine 
chinesische Tochter zu murren. 

Aber auch Frauen kommen in den Handel. Witwen 
ohne Knaben werden fast immer aus dem Hause entfernt, 
besonders wenn die Familie arm ist; sie werden einem anderen 
Manne zugewiesen und ihre etwa vorhandenen kleinen Mäd- 
chen an andere Leute abgegeben oder verkauft. In den 
chinesischen Moralbüchern spielen die treuen Witwen, die 
nicht mehr heiraten, eine große Rolle; sie erhalten mit dem 
50. Lebensjahre eine behördliche Auszeichnung, und ihnen 
zu Ehren werden Triumphpforten und Tafeln aus Stein auf- 
gestellt. In Wirklichkeit aber kommt es selten vor, daß eine 
Witwe ledig bleibt; denn das ist zu teuer. erdies ist sie 
gewöhnlich nicht Herrin ihrer Entschließungen, sondern dem 
Willen ihrer Schwiegereltern unterworfen. Aber nicht nur 
Witwen, sondern auch verheiratete junge Frauen kommen 
manchmal auf den Markt, wenn sie keine Knaben haben. 
In diesem Falle verkauft sie der eigene Mann in der Zeit 
der Not an einen anderen; die Kinder, die als Last betrachtet 
werden, fallen für weniges Geld an Liebhaber von Kindern. 
Oft wünschen die Frauen selbst wegen Hunger und Not von 
ihren Männern getrennt und an andere verheiratet zu werden, 
und manchmal geht ein solcher Handel in aller Kälte vor 
sich; aber es kommt natürlich auch das Gegenteil vor, und 
man sieht dann, daß es in der Tat nur die bittere Not ist, 
die zur Trennung geführt hat. 

Mehr als gegen den Verkauf selbst richten sich die 
Gesetze gegen gewisse dabei übliche Mißbräuche. So gilt es 
als schweres Verbrechen, wenn der Unterhändler die Eltern 
oder den Mann übervorteilt, d. h. weniger zahlt, als der Auf- 
traggeber ihm zur Verfügung gestellt hat. Es kommt aber 
selten zu einer Klage. Daß Hunger und Not zahlreiche 


Frauen und Mädchen veranlassen, sich freiwillig preiszugeben, 
kommt ebenfalls vor, aber das ist ja keine Eigentümlichkeit 
Chinas allein. 


— Diebstahl und Duell in Buin (Bougainville). 
In der „Zeitschr. f. vergleichende Rechtswissenschaft“ teilt 
Richard Thurnwald seine Ermittelungen über Einge- 
borenenrechte der Südsee mit, zunächst, Bd. XXIII, Heft 3, 
über die Rechte in der Landschaft Buin auf Bougainville, 
die er näher kennen gelernt hat. Der Diebstahl spielt dort 
eine nur geringe Rolle. Es kommt wohl vor, daß sich jemand 
Sago, Kokosnüsse, Betelnüsse oder einen Speer aneignet. Ist 
der Wert der Sache aber gering, so macht der Bestohlene 
nur eine Bemerkung darüber zu den Angehörigen des Diebes, 
nimmt ihm gelegentlich, ohne zu fragen, dasselbe weg oder 
verbietet ihm, seinen Ort wieder zu besuchen. Man spricht 
dann von dem Diebe wie von einem Menschen, der geistig 
nicht normal ist. Handelt es sich aber um Wertvolleres, 
wurden z. B. Armringe, Muschelgeld, Schweine, größere 
Mengen Kokosnüsse, Sagolaub (das zum Bedecken der Dächer 
verwendet wird) „gestohlen“, d. h. ohne Erlaubnis des Eigen- 
tümers weggenommen, so beginnen Feindseligkeiten. Diese 
bestehen anfangs oft darin, daß einer dem anderen mit dem 
Speer auflauert oder ihn jagt, ohne daß er aber den Speer 
auf den Überraschten wirklich abschleudert. Die Folge ist 
dann, daß der andere Angst bekommt und ebenfalls nur 
bewaffnet sein Haus verläßt. Diese Feindseligkeiten können 


dann durch Zahlung von Äbuta-Muschelgeld beigelegt werden, 


oder es kommt zum Duell (Unegu), wie das auch beim Ehe- 
bruch mitunter geschieht. Dabei funktioniert ein Häuptling 
als Unparteiischer und die Verwandten der beiden Paukanten 
als deren Sekundanten. Ist eine erhebliche Verwundung, 
und zwar des Übeltäters, zustande gekommen, so gebietet 
der Unparteiische Einhalt. Die Sekundanten haben in diesem 
Falle darauf zu achten, daß ihr Mann nicht zu schlimm zu- 
gerichtet wird, namentlich würden sie, wenn es zum Tot- 
schlag käme, diesen sofort an den Angehörigen der Gegen- 
partei durch Blutrache vergelten. Auf diese Weise wird 
auch der Eifer der Kämpfer etwas niedergehalten. 





— Die Besprechung des Buches von E. N. Adler „Von 
Ghetto zu Ghetto“ (Globus, Bd. 97, 8.321) endet mit dem 
Satz: „Eine Menge wertvoller Illustrationen erhöht den Wert 
des Buches“. Nun sind die Illustrationen wirklich muster- 
gültig, ich behaupte aber, daß nur die wenigsten von ihnen 
Adler gehören. So sind die kaukasischen Juden auf den 
Seiten 120, 121 und 123 mein Eigentum, und es ist mir ganz 
unbegreiflich, auf welche Weise Adler zu ihnen gelangt ist, 
da ich sie nur Dr. Fishberg in New York zur Verfügung 
gestellt habe. Ein gewissenhafter Autor soll den Ursprung 
der Illustrationen wie auch anderer Entlehnungen nennen, 
und da Adler dies nicht tut, so protestiere ich energisch da- 
gegen. Dr. 8. Weissenberg. 


— Eine umfassende, doch kurz geformte Zusammenstellung 
über das Vorkommen von Kugelbildungen in den ver- 
schiedenen Sediment- und Eruptivgesteinen der 
Rheinpfalz hat Dr. Häberle geliefert. Insbesondere die 
Pfälzer Buntsandsteine sind reich daran, wie die Aufzählung 
der Fundorte zeigt, doch werden auch außerpfälzer Vor- 
kommnisse in den Kreis der Betrachtung gezogen. Die Kugel- 
bildungen in den Sedimentgesteinen werden als Konkretionen 
erklärt, die der Eruptivgesteine als Produkte der Verwitterung 
und Absonderung angesprochen. (Pfälzische Heimatkunde, 
VI. Jahrg., 1910, 8. 2. Gr. 


— In der neu gegründeten „Geologischen Rundschau“ 
(1910, Heft 1, 8.1) gibt Tornquist auf Grund der neueren 
Arbeiten eine sehr interessante zusammenfassende Schilderung 
des Verhältnisses von Alpen und Apennin zu Korsika 
und Sardinen. Danach ist die Granitzone im Westen Kor- 
sikas und der Osthälfte Sardiniens als südliche Fortsetzung 
der helvetischen Grundscholle, d. h. der äußeren alpinen 
Zentralzone aufzufassen; sie unterscheidet sich jedoch von 
ihr dadurch, daß die in den Alpen vorhandenen, auf den 
nördlichen Alpenrand geschobenen Decken hier auf der 
Granitzone vollständig fehlen. Die westlich von der Granit- 
zone in Sardinien liegenden mesozoischen Gesteine, die von 
dem Granit durch einen großen, S— N laufenden Einbruch ge- 
schieden und gefaltet sind, entsprechen den subalpinen Zügen 
im Westen der Alpen; die im Osten Korsikas auftretenden 
mesozoischen Kalkzüge, die nach Osten gerichtete Über- 
schiebungen mehrerer Decken und des Granits zeigen, würden 
danach zum Apennin gehören. Die Alpen klingen demnach 
in der sardisch-korsischen Granitzone aus, sind aber hier 


100 Kleine Nachrichten. 





auch tektonisch wieder eng mit dem Apennin verwachsen, 
so daß eine einfache Abtrennung durch eine quer zum Gebirge 
gerichtete Linie nicht durchführbar ist. Das Ausklingen der 
alpinen Tektonik zeigt sich deutlich in der allmählichen Ab- 
nahme der Deckenüberschiebungen von den Ost- durch die 
Westalpen bis Sardinien, während in gleicher Richtung die 
nach Osten gerichteten, apenninen Überschiebungen zunehmen. 
Gr. 

— Über die Kulturregionen Togosäußert sich 8. Pas- 
sarge im „Deutschen Kolonialreich“, 2.Bd. (vgl. die Be- 
sprechung oben, 8. 33). Vergleichen wir die Kulturverhält- 
nisse Togos mit den großen Kulturschichten des Westsudan 
und Oberguineas, so ergibt sich nach Passarge ein sehr auf- 
fallender Gegensatz zwischen Nordtogo einerseits und Mittel- 
und Südtogo andererseits. Im Norden tritt uns eine primitive 
Kultur entgegen, die als „primitive Sudannegerkultur“ zu- 
sammengefaßt sei. Sie ist höchst wahrscheinlich nicht ein- 
heitlich, sondern setzt sich aus mehreren uralten Kulturschichten 
zusammen, z. B. aus der nigritischen, der westpapuanischen 
und der melanesischen Kultur. Jedenfalls wird sie charakteri- 
siert durch das Kegeldachhaus, primitive Bekleidung — wie 
Nacktheit, Penisfutterale, Blätterbüschel, Rückenfell, Scham- 
tücher aus Fell und Leder — ferner durch Musikbogen, 
Flöten, Beile mit eingelassener Klinge, Bogen mit Eicharpe- 
Besehnung; dazu kommen Lippendurchbohrung und Zahn- 
feilung. In politischer Beziehung ist Kleinstaaterei charakte- 
ristisch. Jede Familie wohnt für sich in Einzelhöfen. Auf 
viel höherer Stufe steht die Kultur des westafrikanischen 
Kreises. Von den für ihn am meisten charakteristischen Ele- 
menten sind in Südtogo zu finden: Giebeldachhaus, Holztrommel, 
Valiha, Rindenstoffe, Fasergeflechte, mit dem Webstuhl her- 
gestellte Pflanzenfasergewebe, die Trommelsprache und viel- 
leicht auch das ausgebildete Fetischwesen mit Giftordal, 
Gottesurteilen, Menschenfiguren, Maskentänzen und Geheim- 
bünden. Die Staatswesen sind im allgemeinen nicht groß, 
wohl aber sind aus Giebeldachhäusern bestehende große Dörfer 
mit Straßen, in denen mehrere Sippen wohnen, häufig oder 
die Regel. Im mittleren Togo stoßen beide Kulturzonen zu- 
sammen, namentlich im Bereich ‚der mittleren Zone, wo die 
von der Küste ins Hinterland gedrängten Völker, gegen die 
aus Norden andrängenden prallend, herumgewirbelt wurden. 
Das quadratische Haus mit Kegel- oder Pyramidendach und 
Mischung der oben genannten Kulturelemente sind für diese 
Region bezeichnend. Später ist das ganze Gebiet durch die 
vom oberen Niger stammende Garamantenkultur beeinflußt 
worden, und zwar sowohl im Bereich der hochstehenden west- 
afrikanischen Kultur, als auch namentlich bei den primitiven 
Sudannegern. Bei diesen Sudannegern sind wahrscheinlich 
die Tambermaburgen, die Spannringe und Spannmesser in 
Nordtogo und eine Streitaxt mit aufgesteckter und oben mit 
Eisenbolzen verkeilter Klinge in Mossi, Gurma und wohl auch 
Nordtogo als Bestandteile der Garamantenkultur zu erklären. 
Der Bogen mit frontaler und davon abgeleiteter temporaler 
Besehnung ist im Sudan bei den Völkern, die von den „Roten“ 
— d. h. Völkern, die den Nubiern und roten Berbern des 
Atlas, sowie den heutigen Fulbe nahegestanden haben — ab- 
stammen, und in Togo in Tschaudjo sowie Atakpame und 
den Waldstädten, in Tamberma und Dagomba zu finden. Hier- 
her gehören auch die Armschienen und Helme der Tamberma 
und Kabure, sowie deren Altersklassen. Aber auch in das 
Gebiet der westafrikanischen Kultur scheint der Einfluß der 
„Roten“ gedrungen zu sein. Das beweist das Auftreten des 
Lehmkastenhauses in Buem, und ferner zeigen dies in reli- 
giöser Beziehung der ausgebildete Götterkreis, der dem der 
antiken Welt ähnelt, die Gottheit Mia-no, die dem Ammo und 
der thebanischen Götterdreiheit in vieler Beziehung gleicht, 
die kegelförmigen Lehmaltäre des Odente und vielleicht auch 
die aus drei Kegeln bestehenden Lehmherde in Baika. Auf 
die Garamantenkultur des Debo-Sumpflandes weist außerdem 
der Reisbau hin, der gerade im Gebiet der Lehmkastenhäuser 
so intensiv betrieben wird, und der Messingguß mit Hilfe von 
Wachsmodellen in derselben Gegend. Auch die Baumwoll- 
weberei mag auf sie zurückgehen. Schließlich hat sich der 
Islam kulturell bemerkbar gemacht, und zuletzt auch der 
Europäer mit seinem Handel und seiner Kolonisation. 

— Wenig hört man im allgemeinen über die Kapver- 
dischen Inseln, die den Portugiesen gehören. Deshalb 
mögen hier über sie ein paar Einzelheiten mitgeteilt werden 
nach einer Veröffentlichung Francisco Manteros, der sich 
allerdings vorzugsweise mit den wirtschaftlichen Verhältnissen 
der portugiesischen Inseln Westafrikas beschäftigt. Mit we- 
nigen Ausnahmen sind die Inseln stark gebirgig, auch ist 
das Wasser meist spärlich und schlecht. Regen fällt in manchen 





Jahren selten, so daß der Boden wenig ergiebig ist, obwohl 
es ihm an Fruchtbarkeit unter normalen Verhältnissen nicht 
fehlt. Die Hauptinsel ist S. Thiago, den lebhaftesten Verkehr 
aber hat S. Vicente mit seinem Hafen Porto Grande. Sie be- 
rühren viele Dampferlinien, ihr Hafen ist der beste der Gruppe, 
gegen Wind gut geschützt und mit bedeutenden Kohlenvor- 
räten versehen. Infolge des Regenmangels gibt es auf den 
Kapverden wenig Wald, spärliche Vegetation und wenig 
Bodenbau; manche der Inseln sind überhaupt völlig nackt, 
nachdem sie ihre ehemals dichten Wälder infolge vulkanischer 
Ausbrüche und der verwüstenden Tätigkeit der unwissenden 
Bewohnerschaft verloren haben. Sa. Luzia ist weder bevölkert 
noch angebaut, Boa-Vista zeigt wenig Anbau, Sal und Maio 
sind unfruchtbar, nur blüht hier die Salzgewinnung. Am 
besten ist der Anbau auf 8. Thiago, Santo Antão, S. Nicoläo, 
Fogo und Brava entwickelt. Die wertvollsten Produkte sind 
Kaffee, Zucker, Branntwein und Rizinusöl, aber nur dieses 
wird in erheblicher Menge gewonnen. Was von Zerealien, 
Gemüsen und Früchten produziert wird, hat wenig Wert und 
dient nur für den eigenen Bedarf der Bevölkerung; der Wasser- 
und Regenmangel läßt einen umfangreicheren Anbau nicht 
lohnend erscheinen. Die ärmere Bevölkerung lebt im all- 
gemeinen von den dürftigen Landeserzeugnissen, vom Handel 
mit Rizinus, der Fischerei und der Hafenarbeit. Eine große 
Plage sind die schweren, von Regengüssen begleiteten Stürme, 
die alles verwüsten. Andererseits herrscht manchmal, wie 
angedeutet, Jahre hindurch Dürre, so daß Hungersnot sich 
einstellt und einen gefährlichen Umfang annimmt. 


— Das Kamel zur Römerzeit in der Schweiz ist 
jetzt nachgewiesen. Natürlich handelt es sich dabei um ein 
zahmes. In dem von Dr. Jakob Heierli vortrefflich redigierten 
Jahresberichte der Schweizer Gesellschaft für Urgeschichte 
(Zürich 1910) sind wieder zahlreiche neue Funde aus der 
überreichen Römerstation Vindonissa (Windisch) verzeichnet, 
und dort berichtet der Zoologe Prof. Konrad Keller auch über 
ein Oberkieferbruchstück mit Zähnen, das durch fremdartigen 
Charakter unter den übrigen Haustierresten auffiel. Das wilde 
Kamel ist seit der Diluvialzeit aus Europa verschwunden, der 
vorliegende Kieferrest muß daher von einem als Kuriosität 
in die römisch -helvetische Kolonie eingeführten Exemplare 
stammen. Keller bemerkt dazu: „Die tierfreundlichen Römer 
haben sicher noch andere seltsame Geschöpfe eingeführt. 
Haben wir doch schon früher erfahren, daß sie den prächtigen 
Pfau zuerst in unser Land gebracht haben, ebenso die hoch- 
geschätzten großen Windhunde, die vorher unbekannt waren.“ 


— Der japanische Kohlenbergbau. Als ein gutes 
Beispiel für die industrielle Entwickelung Japans kann der 
Aufschwung des japanischen Kohlenbergbaues angesehen wer- 
den. Während die Förderung im Jahre 1888 erst 2022968 t 
betrug, erreichte sie 1898 bereits eine Höhe von 6749600t 
und ist bis zum Jahre 1908 auf 14825362t gestiegen. Der 
Wert des gesamten Abbaues des letzteren Jahres betrug über 
63000000 Yen. An der Kohlenproduktion sind beteiligt die 
Regierungsbezirke Fukuoka, Saga und Nagasaki auf Kyushu, 
Yamaguchi im anstoßenden Teil der Hauptinsel, Ibaragi nord- 
östlich von Tokyo und die Gruben der Nordinsel Hokkaido. 
Der Regierungsbezirk Fukuoka mit Moji lieferte allein 60 Proz. 
der Gesamtausbeute. Die Kohlenausfuhr Japans bewegte 
sich bis zum Jahre 1903, in welchem 3433460 t exportiert 
wurden, in aufsteigender Linie. Seitdem ist, hauptsächlich 
infolge des wachsenden Inlandverbrauches, eine Abnahme 
der Ausfuhr zu verzeichnen gewesen: 1908 wurden 2863110 t 
ausgeführt. Die japanische Kohle geht vorwiegend nach 
Korea, China, Hongkong und den Straits Settlements, ihre 
Hauptkonkurrenten sind die indische und die australische Kohle, 
die aber beide der japanischen Ausfuhr keinen besonderen 
Abbruch tun. („Ostasiat. Lloyd.*) J. 


— Über weitere in neuerer Zeit angestellte Verdunstungs- 
messungen auf dem Meere berichtet Dr. R. Lütgens 
(Annal. d. Hydrogr. 1910, 8. 267). Sie umfassen Messungen 
auf Dampfern und Segelschiffen bei Reisen von der ge- 
mäßigten Zone nach Häfen der Tropen und eine Beobach- 
tungsreihe de Quervains auf der Fahrt von Grönland nach 
Skagen. Diese Beobachtungen haben nicht nur wertvolle 
Fingerzeige für die Methodik der Messungen geliefert, son- 
dern auch im allgemeinen gut stimmende Resultate ergeben, 
so daß man hoffen darf, demnächst über diese außerordent- 
lich wichtige Frage der Einverleibung des Wassers der Meere 
in den Kreislauf der Atmosphäre sicheres, vergleichbares 
Zahlenmaterial zu erhalten, während seither so gut wie nichts 
Sicheres darüber bekannt war. Gr. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 65. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unp VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTT “ 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 








Bd. XCVIII. Nr. 7. 


BRAUNSCHWEIG. 


25. August 1910. 








Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


Die „organgesetzliche‘“ Orientierung des Organismus Mensch im Raume. 


Von Ernst Klotz. 


Das Phänomen der geordneten Orientierung des körper- 
lichen Menschen im Raume nach Maßgabe seiner orga- 
nischen Achse haben ältere wie neuere Denker berührt. 
Ich begründete wissenschaftlich — exakt anatomisch — 
die wagerechte Orientierung des menschlichen Körpers, 
wobei nach unten die Ventralseite gerichtet ist, als „organ- 
gesetzliche“. Wenn Platon definiert: Der Mensch ist ein 
zweibeiniges Tier ohne Federn, so hatte er dabei die 
senkrechte Orientierung der Hauptachse dieses tierischen 
Organismus im Sinne, wie er es erfahrungsgemäß sah. 
Tiefere anatomische Einsicht lag der platonischen Defi- 
nition ja nicht zugrunde. Die bekannte Glossierung 
jener Definition des Platon durch Diogenes, der einen 
gerupften Hahn im Hörsaal der Platonischen Akademie 
laufen ließ, den Schülern zurufend: „Seht da! das ist der 
Mensch des Platon!“ ließ Uas wesentliche Moment — die 
Orientierung der Achse des Wirbeltierkörpers, die beim 
Hahn eine wagerechte ist — völlig aus dem Auge. Beweis, 
daß jener scharfsinnige Glossator der Antike das Phä- 
nomen der „organgesetzlichen“ Orientierung des Wirbel- 
tierkörpers im Raume nicht erfaßt hatte. 

Zur Erdbeschreibung, beziehentlich in die spezielle 
Geographie, gehört die Beschreibung der „organgesetz- 
lichen“ Orientierung der vital-strukturell an die Erde, in 
deren Kreis gebundenen pflanzlichen wie tierischen Orga- 
nismen. 

Das Grundgesetz der vital-mechanischen — „organ- 
gesetzlichen“ — Orientierung des Organismus Mensch im 
Raume ist bislang nicht erkannt und nachgewiesen worden. 
Nicht die geologische Bedingtheit der Flora und Fauna, 
diese Bindung im engeren Rahmen des Biochemischen, 
galt es zu erörtern, nein, die kosmische Orientierung des 
Menschen als Organismus, das Grundgesetz seines vital- 
mechanischen Seins war festzustellen durch anatomische 
Begründung. Friedrich Ratzel in seiner „Anthropogeo- 
graphie“ rang mit diesem Phänomen — dem vital be- 
deutsamsten des Menschen: der organischen Haltung seines 
Körpers im Raume. Auch gibt Ratzel scheinbar eine 
„anatomische“ Lösung jener Aufgabe, d. h. er beruft sich 
dabei auf einen Anatomen; mangels eigener tiefer schürfen- 
der anatomischer Studien wiederholt er vielfach nachge- 
sprochene Devisen Blumenbachs, des alten Göttinger Ana- 
tomen. Dieser anatomische Autor ist indessen als nicht 
voraussetzungslos bekannt, ja mehr noch: man weiß auch, 
daß ihm die erkannte Wahrheit, jene greif- und sichtbare, 
die ein Forscher wie Goethe — zum Erweis der morpho- 
logischen Einheit der Animalia — vorlegte: das Os inter- 
maxillare nicht heilig war. — Ratzel ließ sich ‚fesseln 
durch jenes Gelehrten bekannte „Gattungsbeschreibung“ 

Globus XCVIII. Nr. 7. 


Leipzig. 


des Menschen und versuchte seinerseits die Forschung 
festzulegen auf diese: „Der Mensch, aufrechtgehender 
Zweihänder mit etwas vorstehendem Kinn und in gleich- 
engen Abständen aneinandergereihten Zähnen, von denen 
die unteren Schneidezähne senkrecht aufragen“ 1). 

Es ist das große Streben Friedrich Ratzels, das Weben 
und Leben des Riesenkomplexes „Welt“ im wissenschaft- 
lichen Denken zu umspannen; „die räumliche und stoffliche 
Einheit des Lebens“ im Lehrsatz zu fassen: „Unsere Erde 
ist in sich ein Ganzes durch die alle Einzelkörper und 
Einzelwesen beherrschende Schwerkraft.“ Dieser Gelehrte 
hatte aber das Unglück, sich jenem „Anatomen des Men- 
schen“ anzuvertrauen, welcher den „Menschen“ prinzi- 
piell herausriß aus der Ordnung der Animalia, in die 
ein Linné ihn noch richtig gestellt: unter die „Qua- 
drupedia“ (Systema naturae 1735). Mit jener tendenzi- 
ösen Propagierung des „Homo erectus bimanus“ Blumen- 
bachs, welchem der Anthropogeograph — ohne zureichende 
Prüfung der organischen Verhältnisse am realen Objekt — 
Nachfolge leistete, geschah es, daß in dieser „Anthropo- 
geographie“ der Homo gerade entgegen der „organgesetz- 
lichen“ Schwerrichtung der Animalia von Quadrupeden- 
bildung hingestellt wird — vor den Sinn des Denkers 2). 
Jene „alle Einzelwesen beherrschende Schwerkraft“ wirkt 
somit bei dieser theoretischen Orientierung des mensch- 
lichen Organismus nach Blumenbach-Ratzel in organ- 
widriger Richtung. In praxi, als Dauerhaltung des 
Menschen, bewirkt jene Lastung in organwidriger Rich- 
tung nicht selten Deformationen, wodurch dieselbe als 
„organwidrige“ gekennzeichnet wird. In der Regel werden 
beim rezenten Menschen durch die aufrechte Haltung so- 
gar organische Erkrankungen nachweisbar verursacht. 
Hier sei zunächst verwiesen auf eine auf Grund exakter 
Beobachtungen veröffentlichte Abhandlung aus der König]. 
chirurgischen Klinik zu Berlin: „Der Erwerb der aufrechten 
Körperhaltung und seine Bedeutung für die Entstehung 
orthogenetischer Erkrankungen“ von Rudolf Klapp °). 
Daß ältere Autoren solche bereits in allen Epochen wohl, 
doch ohne ausreichende anatomische Begründung verlaut- 
barten Erklärungen über organische Erkrankungen in- 
folge aufrechter Haltung— als „extreme“ Ansichten — aus 
ihrem Denken abzuschieben sich bemüht haben, sei hier 


1) Blumenbachs lateinischer Text lautet: „Homo, erectus 
bimanus, mentum prominulum, dentes aequaliter approxi- 
mati, incisores inferiores erecti.“ 

2) Vgl. hierzu Klotz, „Der Mensch organgesetzlich hin- 
gestellt“, — sowie die weiteren meiner neuen Tafeln und 
Werke betreffend neue anatomische Entdeckungen am bisher 
falsch gesehenen Organismus Mensch, die demnächst erscheinen. 

») Münchener Medizin. Wochenschrift 1910, Nr. 11 bis 12. 


14 


102 Klotz: Die „organgesetzliche“ Orientierung des Organismus Mensch im Raume. 





gleichfalls lediglich festgestellt, und es sei verwiesen z. B. 
auf des älteren Züricher Anatomen Hermann Meyers 
Arbeit „Die richtige Gestalt des menschlichen Körpers“. 
Dieser Ältere, Hermann Meyer, haftet mit seinem Sinn 
noch völlig an der äußeren Erscheinung des Menschen. 
Obgleich Anatom: diese „Erscheinungsweise“ dieses Or- 
ganismus paralysierte den Forscher in ihm. — Der Dichter 
zeigt uns den „Forscher“ mehrfach so. Einmal paraly- 
siert Helena, ein anderes Mal ruft er, den Organismus 
Weib im Zauberspiegel erblickend, paralysiert: „So etwas 
findet sich auf Erden ?...* 

Im Zauberspiegel sah die Forschung, die „exakte“, 
den Organismus Mensch bislang generell. Als ein Zauber- 
spruch ward nun auch erkannt der Orientierungssatz 
einer modernsten „Normal“-Anatomie, welcher so lautet: 
„Zur Beschreibung der einzelnen Organe des menschlichen 
Körpers ist man gezwungen, an denselben drei Richtungen 
oder Achsen anzunehmen, welche man sich in der auf- 
rechten, natürlichen Haltung des Menschen durch den 
Körper desselben gelegt denkt“ 4). 

Es ist ersichtlich, daß hier der „Erectus bimanus“ 
das naturwissenschaftliche Denken über den Menschen 
als Organismus noch im Bann hält. Der „Glaube“ an 
die „aufrechte* Haltung verführte sogar zu logischem 
Irrtum; man setzte „aufrecht“ gleich „natürlich“. Die 
„aufrechte“ Orientierung der Hauptachse des menschlichen 
Körpers ist keineswegs allein schlechthin die „natürliche“, 
jede andere Orientierung der Achse ist gleichfalls „natür- 
lich“. Jener Satz besagt außerdem, absolut irreführend: 
„zur Beschreibung der einzelnen Organe“ sei „man ge- 
zwungen“, nach Maßgabe der „aufrechten“ Haltung das 
morphologische Denken zu orientieren. Dieser Zwang 
besteht, außer in jener Methode, nicht. Diese Methode 
aber ist falsch; sie enthält keinerlei Bezwingendes vor 
einem exakt fundierten naturwissenschaftlichen Denken, 
dem die „organgesetzliche“ Orientierung des Organismus 
Mensch im Raume aufgegangen ist. Dieser Beweis ist von 
mir anatomisch evident erbracht: u. a. durch Vorlegung 
meiner neuen „organgesetzlichen“ Demonstration des 
menschlichen Darmkanals 5) vor Kapazitäten der Anatomie, 
der Heilkunde und der Chirurgie. Gerade am für die 
Allgemeinexistenz des Organismus wesentlichsten Organ- 
komplex, dem Verdauungskanal, konnte unwiderlegbar 
erwiesen und durch Erfahrung erhärtet werden, daß die 
derzeitige „normale“ Anatomie falsch beschreibender Me- 
thode sich bedient, die behindert hat, den Organismus 
Mensch in seiner „organgesetzlichen“ Orientierung im 
Raume sehen zu lernen. Die Lehre, die bislang gültig, 
war solchem Lernen entgegen. 

In jenem logisch und morphologisch fehlerhaft fun- 
dierten Örientierungssatze der „Normal“-Anatomie sind 
die letzten Ausläufer jener anthropozentrischen Denk- 
richtung auszurotten gewesen, welche ein äußeres, struk- 
turell spezifisches Mal für den Unterschied zwischen „tie- 
rischem“ und „menschlichem“ Organismus zu halten 
suchten. Ein „Organ“ war als spezifisch menschliches 
nicht zu halten. Auf diesem Plan hat Goethe durch Fort- 
nahme des Os intermaxillare als eines Unterscheidungs- 
males des „Tieres“ vom „Menschen“ tabula rasa gemacht. 
So krampfte man sich endlich allein noch an die „auf- 
rechte Haltung“. — Daß ein wissenschaftliches Denken 
nach dem Resultat der Goetheschen Forschungen noch 
suchen und diskutieren konnte ein äußeres Mal, das „eigen- 
tümlich“ der Menschengestalt sei, das beweist, daß die 
Qualität auch dieses Denkens keine konstante ist. So 








*) „Lehrbuch der normalen Anatomie“ von Gust. Broe- 
sike, 7. Aufl. 1904. 

$) Klotz, „Neue anatomische Entdeckungen am sogenannten 
Blinddarm usw.“ (Noch nicht publiziert.) 





schrieb 1874 zum Erweis der „richtigen Gestalt des 
menschlichen Körpers“ Herm. Meyer diesen Satz: „Sucht 
man nun nach einem solchen Merkmale, welches ein 
entschieden charakteristisches, fürden menschlichen Körper 
sogleich auffälliges ist, so drängt sich vor allem als ein 
solches die aufrechte Haltung auf“ (S.1). Daran hielt 
nun nicht allein das Denken derer, fest, welche den Menschen 
„von der Tierwelt zu emanzipieren“ trachteten (Meyer), 
sondern selbst die Naturforscher und Denker der nach- 
darwinschen Epoche, fälschlich auf Lamarck sich berufend: 
„Der Mensch kann — infolge seiner Gewohnheiten — die 
bei den Individuen seiner Art seit einer langen Reihe 
von Generationen ununterbrochen beibehalten worden 
sind, nur aufrecht gehen; nichtsdestoweniger ist diese 
Stellung für ihn sehr ermüdend und er kann in diesem 
Zustand nur während einer beschränkten Zeit und nur 
mit Hilfe der Kontraktion mehrerer Muskeln verharren. 
Wenn die Wirbelsäule des menschlichen Körpers die Körper- 
achse bildete und den Kopf sowie die anderen Teile im 
Gleichgewicht hielte, so könnte die aufrechte Haltung für 
ihn ein Ruhezustand sein. Wer wüßte nun aber nicht, 
daß dem nicht so ist, daß der Kopf nicht in seinem Schwer- 
punkte eingefügt ist; daß die Brust und der Bauch sowie 
die Eingeweide, welche die Höhlen enthalten, beinahe voll- 
ständig auf der Vorderseite der Wirbelsäule hängen; daß 
diese auf einer schiefen Grundlage ruht? usw.“ (Lamarck, 
Philosophische Zoologie, S.89 bis 90; in der von Haeckel 
eingeleiteten Ausgabe.) Soviel hier für jene, welche ihrer 
„Überzeugung“ wissenschaftlich, vielmehr pseudowissen- 
schaftlich dahin Ausdruck gaben: „Der Mensch ist an die 
aufrechte Haltung angepaßt“, dabei auf Jean Lamarck 
obendrein verweisend. Der Philosoph Lamarck ist, wie 
angeführt, der Ansicht, 1. daß diese „Anpassung“ nicht 
vollzogen ist, 2. daß die aufrechte Haltung der Anordnung 
der Innenorgane nicht gemäß ist, ebensowenig der senk- 
rechten Orientierung der Wirbelsäule, welche dabei auf 
einer schiefen Basis (Kreuzbein) balanciert. 

So erweist sich der von Ratzel zitierte „Erectus bi- 
manus“ als ein Phantom, dessen Erscheinung der Forschung 
eine Gestalt von „eigentümlicher“ Bildung vorgetäuscht 
hat, bei dessen „organgesetzlicher“ Orientierung im Raume 
jedoch prägnant die Quadrupedenmale, das Gebundensein 
der physiologischen Funktionen — deren „organgemäßer“, 
ungehemmter Verlauf — in die Erscheinung treten. Jene, 
nach Blumenbach angeführten „Gattungsmale“ erweisen 
sich nicht als stichhaltig, vielmehr als eine willkürliche 
Häufung inkonstanter Male. Vor den Funden der Palä- 
ontologie, im Anblick des fossilen Menschen, des Homo 
mousteriensis Hauseri etwa, sind weder das „etwas vor- 
stehende Kinn“, noch die „in gleichengen Abständen an- 


"einandergereihten Zähne“ und ebensowenig die „senkrecht 


aufragenden“ unteren Schneidezähne zu halten. Diese 
unteren Schneidezähne ragen selbst bei den domestizierten 
menschlichen Organismen der Zivilisation — nur diese 
„Varianten“ kannte Blumenbach — in der Regel nicht 
senkrecht auf. — Hervorgehoben sei hierbei noch ausdrück- 
lich, daß diese Blumenbachsche „Gattungsbeschreibung“ 
es sich mit einer nur äußeren Beschreibung des Menschen 
genügen läßt. Ein Linné jedoch, dessen Einordnung des 
Menschen unter die „Quadrupedia“ er bekämpfte, forderte 
schon ein gründlicheres Verfahren vom Forscher: „Die 
Anatomie des Körpers soll nach Linnes Forschungs- 
programme studiert werden“ 6). Im „I. Systema naturae“ 
von 1735 fordert der 28 jährige Student Linné auch 
Angaben bzw. Studium der „Begattung und Geburt“. 
Daß über diese physiologischen Funktionen die Forschung 





°) Vgl. Lönnberg, „C. v. Linné und die Lehre von den 
Wirbeltieren.* 





Klotz: Die „organgesetzliche“ Orientierung des Organismus Mensch im Raume. 103 





gerade hinsichtlich der Gattung Mensch sich bislang nicht 
auf dem Boden exakten Wissens bewegte, habe ich 1907 
anatomisch und physiologisch nachgewiesen 7). Auch in 
bezug auf diese urphänomenale physiologische Funktion 
zur Erhaltung der Gattung habe ich nachgewiesen, daß 
der Kopulationskontakt „organgemäß“ nur in „Quadru- 
peden“ -Stellung der Femina vollzogen werden kann. 
‚ Mit Bezug auf diesen „organgesetzlichen“ erhobenen Be- 
fund an den Generationsorganen des Menschen erweist 
sich dieser charakterisiert als konstanter „Quadru- 
pede.“ Den später von Linne für „Quadrupedia“ ge- 
prägten und wissenschaftlich eingeführten Namen „Mam- 
malia“, der einesteils gewählt ward, weil er die Wale mit 
in die Klasse der Säugetiere (Ordnung „Cete“) aufnahm, 
verwerfeich, denn anderenteils erweist sich die Bedeutung 
der Funktion des Säugens irrig bewertet. Sie ist erstens 
von minderer urphänomenaler Bedeutung als die Fort- 
pflanzung, zum anderen aber zwingt — und dieses mor- 
phologisch und physiologisch Wesentliche übersah Linné 
bei jenem Wechsel der Namen — auch die „organgesetz- 
liche“ Bildung der Milchdrüse aller „Mammalia“ zur mo- 
difiziert wagerechten Haltung der Wirbelsäule. Streng 
genommen, ist allein die reine Quadrupedenstellung der 
Säugetiere als gemäß der Struktur der Milchdrüse usw. 
als „organgemäß“ anzusprechen, deren natürliche Gestalt 
jenes proportionale Gebild ist, das beim menschlichen 
Weibe ebenso wie bei allen „Quadrupedia“ mit der größten 
Kreisfläche an der Brust ansetzt und in immer kleineren 
Kreisen bis zur Mammilla sich verjüngt (Abb. 1). An- 


er 


1. 


Die Milchdrüse der Mammalia, gesehen 
beim menschlichen Weibe. 
1. In Proportion (bei wagrecht-typischer Körper- 
haltung). 2. Disproportioniert (bei senkrecht- 2 
atypischer Körperhaltung des Weibes). i 


thropologischer Erfahrung gemäß ist diese Drüse aber 
beim menschlichen Weibe auf der ganzen Erde mehr oder 
minder, zumal in späteren Jahren des Individuums und 
nach Mutterschaftsperioden, disproportioniert zu finden: 
verlagert in der entgegengesetzten Richtung der Aufrich- 
tung des „Erectus bimanus“ (Abb.2). Die Gestalt 2 der 
Milchdrüse, der regelmäßige Typus der menschlichen 
„Mutter“-Brust, darf als „Mißbildung“, als „unnatürlich“ 
angesprochen werden, insofern, als von dem „gestaltenden“ 
Prinzip jene Form nicht, wohl aber die Form 1 geschaffen 
worden ist. Form 1 zeigt die natürliche Gestalt der Mamma, 
wie solche allein erhalten bleibt bei „organgesetzlicher“ 
Orientierung des Organismus, die folglich auch seine 
„organgemäße“ Stellung im Raume ist, d. i. zur Erde als 
wagerechter Ebene. 

Da keine Vererbung der erworbenen Anomalie statt- 
hat, vielmehr Funktionsstörungen des Organs durch Ent- 
zündung in der Falte bei b die Regel ist, die dessen Zer- 
störung zur Folge haben kann, so liegt Abweichung von 
der „morphologischen und physiologischen Variations- 
breite“ oder „Funktionsbreite“ vor. Vgl. hierzu Schwalbe, 
„Mißbildung und Variationslehre“. Dieser Zustand der 
mechanischen Deformation durch organwidrige Verlage- 
rung der organischen Schwerrichtung infolge aufrechter 
Haltung erweist sich keineswegs als „naturgewollt“. Die 
aufrechte Haltung also zeigt sich hiernach als Anomalien 


7) „Der Mensch ein Vierfüßler. 
deckung usw.“ 


Eine anatomische Ent- 


setzend im lebenden Gewebe, als „krank“machend. Sie 
ist folglich nicht als die „natürlich-normale“ diskutabel. 
Hieraus folgt, daß jene nur hypothetischen, jeder exakten 
Begründung entbehrenden Versuche, den Organismus 
Mensch im Raume zu orientieren (Blumenbach-Ratzel), zu 
verneinen sind, weil absolut hinfällig. Jene Autoren haben 
bezüglich des Organismus Mensch eine „Art von Inter- 
pretation der Natur“ gewagt, die der nach Wundt zu 
berücksichtigenden Behandlung unter doppelten Gesichts- 
punkten — dem empirischen und erkenntnistheoretischen 
— nicht entspricht, sonach unwissenschaftlich ist. 

Eine genugsam bekannte „Eigenart“ hat der „Mensch“: 
was er nicht beweisen kann, das suggeriert er. So sugge- 
rierte Blumenbach seinen „Schülern“: Der Mensch ist 
kein Vierfüßler! — Neuere Naturforscher bekunden eine 
Variante dieser Eigenart: in objektiv gelten sollender 
Lehre und Polemik postulieren sie: Es sei gewesen, 
daß der Mensch an die Vierfüßlerstruktur vital gebunden 
war. Hier ist als Klassiker dieser Irrlehre zu nennen 
Wiedersheim mit seiner Arbeit „Der Mensch als Zeuge 
seiner Vergangenheit“. Man erkannte nicht, ahnte aber 
bisweilen, daß bei modifizierter Vierfüßlerstellung manche 
Funktionen besser sich abwickeln; daß alle wesentlichen 
physiologischen Funktionen gebunden sind beim Organis- 
mus Mensch an die Gesetze, die bündig sind für die 
Quadrupeden-Bildung, dieses sah und diskutierte man 
nicht. So ergab sich, daß auch jene Lehre und Polemik, 
welche davon ausgeht, der Mensch sei Quadrupede ge- 
wesen, der Kriterien strenger Wissenschaftlichkeit ent- 
behren, auch sie erweisen sich als nur hypothetisch, als 
nicht kontrolliert am Objekt. 

Der „Naturforscher“ und „Philosophen“, deren Be- 
mühen es war, ist oder sein wird, dem „Menschen“ wenig- 
stens ein wichtigeres körperliches Kennzeichen anzu- 
dichten, das ihn vom „Wirbeltier“ unterscheidet, braucht 
hier nicht gedacht zu werden. Wohl aber sei gedacht 
jener Sentenz von Goethe: „Die Götter haben im mensch- 
lichen Körper eine unmögliche Synthese geleistet: das 
Tier mit dem Menschen zu verbinden. Die Eingeweide 
kommen alle übereinander zu stehen, da sie bei den 
Tieren hängen, in der Wampe.“ Und nach Wundt stehe 
hier noch die folgende erkenntnistheoretische Erwägung 
zur präziseren Klärung der Begriffe der natürlichen 
(physischen) Verwandlung bei verwandlungsfähigen Be- 
standteilen und der natürlichen Gebundenheit als des 
Kriteriums der Abgeschlossenheit eines organisierten Sy- 
stems. Bei den Erörterungen über „Energieverwandlung“ 8) 
heißt es unter anderem: „Hieraus ergibt sich, daß in jedem 
in sich abgeschlossenen System und demnach auch in dem 
Universum, sofern es als ein solches gedacht wird, die 
Summe der gebundenen, nicht mehr verwandlungsfähigen 
Energie fortwährend auf Kosten der verwandlungsfähigen 
zunehmen muß, bis ein Zustand erreicht wird, in dem 
überhaupt alle Energie in die gebundene Form über- 
gegangen und demnach absolute Stabilität eingetreten ist.“ 

Als ein abgeschlossenes morphologisches System, 
dessen vitales Sein gebunden ist an eine organgesetzliche 
Orientierung seiner Hauptachse zur Erde, spreche ich 
den Menschen an. Jene Synthesis von Mensch und Erde, 
wobei des ersteren Hauptachse wagerecht orientiert ist 
und senkrecht zum Mittelpunkt der Erde an der so 
orientierten Wirbelsäule die Eingeweide pendeln, spreche 
ich an als der „Götter“ Werk. Und als des „Menschen“, 
nicht der „Götter“ Werk schätze ich jene „unmögliche 
Synthese“, die schon ein Goethe als solche grüßte. 

Es ist der Organismus Mensch, soweit er objektiv er- 
kennbar vorliegt — der rezente wie auch ‚der fossile, 

°) „Naturwissenschaft und Psychologie“, 1903, 8.43 bis 44. 

14* 


104 Klotz: Die „organgesetzliche“ Orientierung des Organismus Mensch im Raume. 


der neugeborene wie auch der erwachsene —, ein Wesen 
von solcher morphologischer und physiologischer Bildung, 
daß es systematisch — zur Vermeidung organischer De- 
formation, zur Vermeidung physiologischer Hemmungen 
— gebunden erscheint, überwiegend wagerecht seine 
Hauptachse eingestellt zu tragen, dergestalt, daß nach 
unten die Bauchseite orientiert ist; allein bei dieser 
Orientierung des Gesamtorganismus sind die Innenorgane 
dergestalt geordnet, daß ein Pendeln und Ruhen inner- 
halb der organischen, morphologischen und physiolo- 
gischen Variationsbreite statthaben kann. : 

Beweis dessen ist folgende positiv und real erkenn- 
bare urphänomenale Bildung auch des menschlichen 


Körpers: 
1. Alle weichen, leicht verletzbaren Organe — Magen, 
Blase, Uterus, Brüste usw. — liegen mitsamt der Bauch- 


seite wie beim Wirbeltierorganismus, d. h. sie sind allein 
bei wagerechter Orientierung der Wirbelsäule im Raume 
unter Wendung der Bauchseite nach unten geschützt und 
gedeckt; eben von der Wirbelsäule als knöchernem Dach. 

2. Allein bei solcher Orientierung des Körpers hängen 
Magen, Herz, Lunge usw. und verlaufen Schlund, Darm 
und Blutkreislauf usw. anatomisch erkennbar in „organ- 
gemäßer“ Weise, und die Gefahren der morphologischen 
Bildung von Anomalien und der biochemischen Auto- 
intoxikation infolge Hemmung auszuscheidender Exkrete 
bestehen nicht, d.h. bei „organgemäßer“ Körperbewegung. 

3. Beim Prozeß der Fortpflanzung, beim Mutter- 
schaftsprozeß und beim Gebären des menschlichen Weibes 
ist — anatomisch erkennbar — die Quadrupedenstellung 
oder sind die ihr entsprechenden Orientierungen des 
weiblichen Körpers die morphologisch und physiologisch 
einwandfreien. Nur bei Quadrupedenstellung der Femina 
passen männliches und weibliches Fortpflanzungsorgan 
zusammen wie Patrize und Matrize. Nur bei reiner 
Quadrupedenstellung vermag die Gravida Blase und Rek- 
tum ohne Hemmung zu entleeren. Nur die mehr oder 
minder echte Quadrupedenhaltung als Gebärlage — von 
der hockenden Haltung bis zur tiefsten Nachvornbeugung 
des Körpers — ist anatomisch und physiologisch als 
„organgemäß* wissenschaftlich diskutabel und sie ist 
von den Frauen der „Urvölker“ überwiegend, auf Grund 
guter Erfahrung, bevorzugt °). 

Die systematisch gebunden organisierte Architektur 
der menschlichen Gestalt schließt — soweit einer exakten 
Forschung objektiv erkennbar — andere Baumöglich- 
keiten aus als das „organgesetzliche“ Gefüge des Nebenein- 
ander der Wirbelknochen samt der mehr oder minder 
rechtwinkelig zur wagerechten Wirbelsäule teils hängend 
(Eingeweide, Rippen), teils stützend (Extremitäten) 
gebildeten Organlagerung im Raume. Es ist das Ge- 
schichte des Übereinander — bei aufrechter Haltung der 
Menschengestalt — nicht im Bauplan zu dieser organi- 
sierten Architektur gelegen. 

Die Lehrsätze der Entwickelungsmechanik, welche 
die Entstehung dieser Architektur — der „organgesetz- 
lichen“, lebendigen — unter dem ausschlaggebenden 
gestaltenden Einfluß der Funktion behaupten, sind irrig 
fundiert. Eine solche „funktionelle Anpassung“ (Roux) 
ist im Hinblick auf den Organismus Mensch gerade als 
nicht bewiesen anatomisch erkannt. Trotz überwiegend 
atypischer Funktion, bei senkrechter Haltung dieses 
Organismus in der Zivilisation, blieb für seine vitale 
Architektur konstant die geschilderte wagerechte Orien- 
tierung seiner Hauptachse: die physiologisch typische; 





°) Vgl. hierzu G. J. Engelmann, „Die Geburt bei den 
Urvölkern“. Für die Bekanntschaft mit diesem Werke sage 
ich Herrn Prof. Dr. v. Luschan, Direktor am Museum f. 
Völkerkunde Berlin, besonderen Dank. 


kein „funktioneller* Umbau, keine Neugestaltung fand 
statt. 

Mit diesem gegebenen urphänomenalen Faktor ist 
fortan zu rechnen. 

Als irrig und irreführend werden hiernach erkennbar 
auch jene auf der 77. Versammlung Deutscher Natur- 
forscher und Ärzte vorgetragenen Lehren von Ingenieur 
Joseph Wimmer: „Mechanik der Entwickelung der tieri- , 
schen Lebewesen“, wo „eine Mechanik der Entwickelung 
der tierischen Lebewesen“ vom „niedersten* bis zum 
„höchstorganisierten“, dem atypisch aufrecht hinge- 
stellten Menschen, vorgeführt wurde. ` Dieser „höchst- 
organisierte“ „Aufrechte“* ist gerade „organisiert“ nicht 
nachweisbar. 

Gebhard hat z. B. 1910 — 9. Kongreß für orthopä- 
dische Chirurgie — auf die „mangelhafte Anpassung“ 
der unteren Extremitätenknochen beim Dauer- Aufrecht- 
geher Mensch hingewiesen. Ein Fortschreiten dieser 
„funktionellen Anpassung“ ist trotz Mehrgebrauch in 
der Zivilisation nicht zu konstatieren; im Gegenteil: die 
Zunahme der pathologischen Deformation gerade an 
diesem Teile des Baues — der Plattfuß — wird fest- 
gestellt. 

Den im naturwissenschaftlichen Denken eingebürger- 
ten Begriffen „Aktivitätshypertrophie“ und „Inaktivitäts- 
atrophie* (Roux) sind bezüglich des atypisch den Bau 
seiner vitalen Architektur tragenden Menschen, zwecks 
klarer Beschreibung seiner „organgesetzlichen“ Bildung, 
die präziser orientierenden Begriffsworte „organgemäß“ 
und „organwidrig“ voranzustellen oder beizufügen. 

Als Beweisgruppe 2 — zum negativen Erweis der 
wagerechten Orientierung als „organgesetzlicher* und 
„organgemäßer* — führe ich das Phänomen der Er- 
krankung der Organe infolge andauernd organwidriger 
Umstülpung der geordneten vitalen Architektur des 
menschlichen Körpers an. Durch die Aufrichtung der 
Längsachse des menschlichen Körpers erfolgen, und 
zwar überwiegend in umgekehrter Richtung zur Auf- 
richtung, a) Verlagerungen und Senkungen (Magen, Ge- 
bärmutter), b) „organwidrige* Aktivitätshypertrophien 
oder Dilatationen, vital intakte Organe von physiolo- 
gischem Tonus in atonischen, pathologischen Zustand 
verwandelnd (Blindsack, Venen am Anus, Hämorrhoiden), 
c) Organknickungen und Verwachsungen am Skelett und 
an Weichteilen (am Thorax sind die immobilen Rippen, 
am Darm die Knickung zwischen Pylorus und Duodenum, 
sowie am Colon transversum die Flexuren Coli dextra 
und Duodeno jejunalis, ferner am Uterus die Bänder, die 
Eileiter, der Beckenboden gefährdete Organe). Alle diese 
Erkrankungen erfolgen wesentlich aus mechanischer Ur- 
sache: infolge Verlagerung der organischen Richtung der 
Achsen jener Organkomplexe, welche — organwidrig — 
aus der Richtung des „organgesetzlichen* Untenventral- 
wärts verlagert wurden in ein Untenkaudalwärts. — Mehr- 
jährige, ärztlich bestätigte Kontrolle hat ergeben, daß 
bei Absolvierung der regenerativen Ruhe — Schlaf — 
unter Einhaltung — während selbst relativ kurzer Zeit — 
der „organgemäßen“ Lage — Bauchlage — die Erholung, 
die Wiederherstellung der körperlichen und geistigen 
Spannkraft eine intensivere ist. Sogenannte Schlaf- 
trunkenheit, Hirndruck infolge Liegens oder gar der in 
der Volkskunde und Ethnologie bekannte schreckhafte 
Traum, das „Albdrücken“, verfolgen den Menschen, 
welcher unter „organgesetzlicher* Orientierung seines 
Körpers ruht, nicht. Jene temporären Trübungen des 
Geistesleben treten besonders bei Lagerung des Organis- 
mus in Rückenlage auf. Der Experimentator paralysiert, 
wie bekannt, durch temporäre Fixierung in jener Lage 
das Wirbeltier. Ich spreche hiernach, gestützt auf gute 


v. Schultz: 


Der „Turssuk“. 


Y 


105 





Gründe, sowohl jene aufrechten Orientierungen des Or- 
ganismus Mensch im Raume als auch jene in „Rücken- 
lage“ weder als typisch-natürliche noch als organische 
an. Als „organgesetzliche“ wie auch anatomisch und 
physiologisch „organgemäße“ und „typisch - natürliche“ 
sind allein jene beschriebenen modifizierten Orientierungen 
des Organismus anzusprechen, wobei nach unten die 
Ventralseite orientiert ist. Es ist das Problem unserer 
Epoche, das Phänomen der Aufrichtung des Menschen 
leidenschaftslos, tendenzfrei und von neuem zu disku- 
tieren. 

Als Leistung ist dieses Phänomen von einer mangel- 
haft am Organismus Mensch unterrichteten Naturkunde 
völlig überschätzt, fehl gedeutet worden &ls „Gattungs- 
mal“ des „Menschen“, des „Erectus bimanus“. Die Funde 
der Paläontologie dulden keinen Zweifel darüber, daß 
diese Leistung bereits unter den fossilen Reptilien ge- 
läufig war. Retrospektiv sehen wir schon unter den 
Sauriern eine sich aufrichtende Art auftreten und „auf 
den Hinterfüßen schreiten“: die Camptosaurier !°). 

Lamarck übrigens spricht, wie oben angeführt, dieses 
Phänomen der „Aufrichtung“ lediglich als „Gewohnheit“ 
an. Lamarck konstatiert demnach in dieser Beziehung: 
Keine erfolgte „Anpassung“ im Sinne des morphologischen 
Fortschrittes.. Der Proanthropus machte von dieser 
„Gewohnheit“ im Stadium des Naturlebens einen seinen 
vitalen Bedürfnissen gemäßen Gebrauch. Den rezenten 
Menschen — in der Zivilisation — sehen wir diese „Ge- 
wohnheit“ überspannen; was seine Vita minder günstig 
beeinflußt: organische Deformation, Erkrankung war als 
ursächliche Folge nachzuweisen möglich. 

So führen von dem gesicherten Boden dieser Fest- 
stellungen neue Wege zu einer organgesetzlichen Menschen- 
kunde, und neue Ausblicke eröffnen sich der Völkerkunde, 
neue Richtpunkte entstehen der Soziologie — der Wissen- 
schaft von den gesellschaftlichen Verbänden der Völker 


10) Vgl. R. 8. Lull, „Die Ausbreitung der Dinosaurier“ 
(The Arserionn Journal of Science 1910, Bd.29, 8. 1—39). 





sowie der Lebenskunst — dieser angewandten vitalen 
Ästhetik. 

Es ist seit meinen Studien am Organismus Mensch 
dessen Natur mehr aus dem Dunkel, das alle Dinge des 
Seins umgibt, herausgetreten, und es zeigen z. B. jene 
von Elias Metschnikoff dargebotenen „Studien über die 
Natur des Menschen“, daß dieser Autor gerade die 
„Natur“ dieses Organismus total verkennt, indem er an 
ihm „Disharmonien“, Mängel der organisierenden Natur 
nachweisen zu dürfen glaubte. Dergleichen Postulate 
sind abzulehnen. Sie wurden erweisbar als betrübende 
Mängel der Methode einer Naturforschung, welche den 
Organismus Mensch verkehrt, selbst zum Studium seiner 
Natur, vor sich hinzustellen, organwidrig im Raume zu 
orientieren pflegte. Bei. solcher, so vielfach und tief in 
alle Gebiete der Menschenkunde, der Völkerkunde, der 
Kunde vom Leben des Organismus Mensch einschneidenden 
Wirkung derartiger Studien habe ich die wissenschaft- 
liche Verpflichtung, die Resultate solcher Forschungen 
führenden Kapazitäten der Forschung vorzulegen oder 
zu berichten, nicht außer acht gelassen. Ich darf Dank 
sagen für entgegenkommendes und förderndes Interesse 
an der Sache, für offene Zustimmung, für Belehrung, für 
Erteilung weiterer Anregungen durch Gewährung von 
Einblicknahme in Sammlungen und Hinweise auf Lite- 
raturquellen für die Sache u. a. den folgenden ersten 
Forschern und Gelehrten Deutschlands: Wilh. Waldeyer 
und Ernst Haeckel als Anatomen und vergleichenden 
Anatomen; Bernh. Schultze als Gynäkologen; Herm. Sena- 
tor als Kliniker; E. Sonnenburg als Spezialforscher auf 
dem Gebiete des Blinddarms; A. Bier als Kliniker; 
Wilh. Ostwald, ferner dem Biologen R. France, dem 
Zoologen L. Plate und dem Philosophen Wilh. Wundt, 
dem ich über jene Befunde der Nichtanpassung der 
Organe an eine als atypisch erkannte Körperbewegung 
des Menschen ebenfalls berichten durfte. Mit diesem 
Umriß sei über die „organgesetzliche Orientierung des 
Menschen im Raume“ einleitend berichtet. 


| Der „Turssuk“. 
Verkehrsgeographische Betrachtungen aus dem westlichen Pamir. 


Von Arved v. Schultz. 


v. Moltke, Huntington, Grothe, Rohrbach und 
neuerdings Lehmann-Haupt!) geben uns aus Armenien 
und Mesopotamien Schilderungen und Abbildungen des 





Abb. 1. Assyrisches Kellek. 


1) v. Moltke: Briefe über Zustände und Begebenheiten 
in der Türkei in den Jahren 1835 bis 1839. Berlin 1882. — 
Huntington: Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 33. Berlin 1901. — 

Globus XCVIII. Nr. 7. 





Nach Layard. 


Gießen. 


„Kellek“, dieses eigenartigen, aus aufgeblasenen Schafs- 
häuten zusammengesetzten Floßes. Eine Reihe von Reliefs 
aus den altassyrischen Königsgräbern lassen das hohe 


Abb.2. Verschluß 
am Fuße eines 
Burdjuk. 





Grothe: . Geographische Charakterbilder aus der asiatischen 
Türkei und den südlichen mesopotamisch - -iranischen Rand- 
gebirgen (Puscht-i-kuh). Leipzig 1909, Tafel 54, Abb. 92. — 


15 


106 v. Schultz: Der „Turssuk“. 








Abb.3. Eingeborene durchqueren auf dem Burdjuk den Bartang. 


Alter dieser Fahrzeuge erkennen, ebenso ist der Gebrauch, 
breitere Ströme auf einzelnen aufgeblasenen Häuten zu 
überschwimmen, auf einigen Reliefs dargestellt?): Abb. 1. 
Die Abbildungen des „Kellek“, die Huntington, Grothe 
und Rohrbach geben, zeigen eine größere Anzahl an ein 
leichtes Holzgerüst gebundener aufgeblasener Schafs- 
häute, auf denen Passagiere und Fährleute Platz 
finden. Auf den größeren mehr oder weniger ruhig 
dahinströmenden Wassern der vorderasiatischen Flüsse 
können eben Fahrzeuge von solchen Dimensionen be- 
triebsfähig sein. Auf kleineren Gebirgsflüssen mit 
schlecht ausgeglichenem Gefälle gestalten sich die Ver- 
hältnisse anders, und so weichen die Darstellungen, die 
hier vom „Turssuk“ genannten Fahrzeug von den Quell- 
flüssen des Amu-Darja im westlichen Pamir gegeben 
werden sollen, in einigen Punkten 
wesentlich von den Schilderungen 
der oben genannten Autoren ab. 

Die beiden Quellflüsse des Amu- 
Darja, Pändsch und Murgab, ent- 
springen auf einer etwa 4000 m 
hoch gelegenen, vegetationsarmen, 
schutterfüllten Mulde des zen- 
tralen Pamir und fließen in ent- 
gegengesetzter Richtung ausein- 
ander. Der Pändsch beschreibt, 
sich erst dem Hindukusch parallel 
haltend, einen großen Südbogen, 
der Murgab (im Oberlauf Ak-su, 
im Unterlauf Bartang genannt) 
einen Nordbogen, und beide ver- 
einigen sich nach etwa 450 km 
Lauflänge unter 72° Länge und 
38° Breite in weniger als 2000 m 





Rohrbach: Im Vorderen Asien. Berlin 
1901. — Lehmann-Haupt: Armenien 
einst und jetzt. Berlin 1910. Siehe 
auch A. v. Schultz: Volks- und wirt- 
schaftliche Studien im Pamir. Peter- 
manns Mitteilungen 1910, Heft 5. 

*) Vgl. Lehmann - Haupt, auch 
C. Bezold: Ninive und Babylonien. 


Monographien zur Weltgeschichte. Abb. 4. 


Seehöhe. Beide Flüsse bilden anfangs 
unbedeutende Wasserläufe in den 
flachen Hochtälern des zentralen Pamir, 
graben sich aber von 721/,0 Länge 
an tief in ihre Betten ein und schaffen 
mit zunehmender Wassermenge eine 
echte alpine Landschaft. Die schutt- 
erfüllten Hochtäler mit den spärlich 
nomadisierenden Kirgisen werden von 
engen tiefen Tälern, auf deren Ter- 
rassen und Schuttkegeln die Dörfer 
und Felder der Tadschick liegen, ab- 
gelöst. In der Ausbildung ihrer Fluß- 
betten weichen die beiden Ströme 
Pändsch und Bartang wesentlich von- 
einander ab. Der Pändsch folgt vor- 
wiegend dem Streichen der einzelnen 
Bergzüge des westlichen Pamir, sein 
Lauf ist bei der starken Zerstörung 
des Gesteins aber mehr der Ver- 
schüttung durch Schutthalden und 
Bergstürze ausgesetzt, während der 
Bartang in seinen engen Korridoren 
oft ein auf längere Strecken hin aus- 
geglichenes Gefälle zeigt. Das Tal des 
Pändsch bietet eine gute Verkehrs- 
straße in den Pamirprovinzen Wachan, 
Schugnan, Roschan dar, der Fluß selber kann aber nur 
auf einer kurzen Strecke von etwa 20km, bei der Ver- 
einigung mit dem Bartang, auf dem Turssuk befahren 
werden. Weiter unterhalb durchbricht der Pändsch die 
vorgelagerten, mehr meridional streichenden Ketten und 
setzt seine im Oberlauf begonnene Westrichtung wieder- 
um fort. Der Durchbruch des Pändsch ist auf dem 
Fluß wie im Tale nur mit ganz gewaltigen Schwierigkeiten 
passierbar. Der Bartang bildet eine im ganzen Lande 
berüchtigte Engschlucht, die auch nur mit sehr erheb- 
lichen Mühen durchwandert werden kann, es ist aber 
doch möglich, auf etwa 100 km des Unterlaufes strom- 
abwärts von einem der auf winzigen, fächerförmigen 
Schuttkegeln gelegenen Dörfer zum anderen mit Hilfe 
des Turssuk zu gelangen. 





Zusammengestellter Turssuk auf dem Transport über Land. 





v. Schultz: Der „Turssuk“. j 107 





Zum Überschreiten der Flüsse 
benutzen die Tadschick im ganzen 
westlichen Pamir meistens eine 
einzige aufgeblasene Ziegenhaut, 
während die Nomaden im zentralen 
Pamir überall reitend durch Furten 
die Flüsse passieren können. Der 
„Burdjuk“, die sorgfältig zu- 
genähte und aufgeblasene Ziegen- 
haut (nicht Schafshaut, wie in den 
Schilderungen aus Vorderasien), 
besitzt an einem Bein einen rohen 
Verschluß (Abb. 2), der zum Auf- 
blasen und Herauslassen der Luft 
dient. Durch eine am Halse des 
Tieres angebrachte Schlinge wird 
die linke Hand gesteckt, der Mann 
liegt auf dem Bauch und rudert 
mit seinen Beinen und dem freien 
rechten Arm. Es erfordert natür- 
lich ziemliche Gewandtheit, sich 
auf dem runden, glitschrigen Burd- 
juk halten zu können, und so wird 
den Kindern der Tadschick diese 
Kunst schon früh gelehrt. Im 
Sommer versammeln sich in den 
größeren Dörfern alle Knaben, um 
unter Leitung einiger Erwachsener das Burdjukfahren zu 
üben. Unglücksfälle kommen selten vor und ereignen 
sich meist dadurch, daß der Mann vom Burdjuk abgleitet 
und unter ihn gerät. 

Eine ganz besondere Bedeutung gewinnt dieses pri- 
mitive Fahrzeug auch am Bartang. Es sind nicht zu 
unterschätzende Schwierigkeiten, mit denen man in dieser 
Engschlucht stromaufwärts vorwärtsdringt, während 
stromabwärts im Sommer eine vielleicht etwas waghalsige, 
aber doch bequeme Turssukfahrt dem Reisenden keine 
besonderen Strapazen auferlegt. Auf den 150 km des 
Unterlaufes des Bartang sind drei übereinanderliegende 
Pfade vorhanden, von denen bald der eine, bald der 
andere, wie es gerade die Verhältnisse gestatten, be- 


E s r A EEE 


Abb. 6. 


Abb. 5. 


Der Turssuk im Gebrauch. Zwei Passagiere und zwei Fährleute. 





> r = F = Aa E 
Der Turssuk unbelastet auf dem Wasser. 





schritten werden muß. Der eine Pfad führt hart am 
Fluß entlang und ist vorwiegend im Herbst bei niedrigem 
Wasserstand zu benutzen. Alle Augenblick muß hier der 
Bartang auf dem Burdjuk überschwommen werden, damit 
man an den oft vertikal abfallenden Wänden der Felsen 
vorbei kann (Abb. 3). Pferde können mit einigem Risiko 
durchgeführt werden. Der zweite Pfad ist der kürzeste, 
nur für Fußgänger, und wird am meisten von den Ein- 
geborenen benutzt. Er führt an den Felsen entlang 
über die „Owryngen“ — Treppen und Leitern, die die Tad- 
schick roh aus Pappelstämmen zusammenzimmern. Es 
gehört schon einige Übung dazu, um oft in schwindelnder 
Höhe über dem Wasser auf den schwankenden Stangen 
seinen Führern und Trägern folgen zu können. Pack- 
pferde sind nur auf dem dritten 
höchstgelegenen Pfad, der sich 
mit gewaltigen Umwegen auf 
den Kämmen der Berge dahin- 
schlängelt, durchzuführen — wohl 
immer mit Verlust an Zeit und 
auch an Tieren. 

Für die Fahrten stromabwärts 
wird auf dem Bartang und vor 
dessen Mündung auf dem Pändsch 
zum bequemeren Vorwärtskommen 
der Turssuk benutzt. Der Turssuk 
der Tadschick im westlichen Pamir 
ist bedeutend kleiner als der vor- 
derasiatische. Während der vorder- 
asiatische oft aus 30 Häuten zu- 
sammengestellt wird, erlauben hier 
die Verhältnisse kaum mehr als 
ein Dutzend Ziegenbälge zu- 
sammenzubinden — so daß auch 
nicht mehr als zwei Personen auf 
dem leichten Stangengestell Platz 

“ finden können (Abb.4 u. 5). Die 
Fährleute, etwa zwei oder drei, bei 
schwierigem Fahrwasser auch vier 
für ein Floß, haben jeder einen 
eigenen Burdjuk unter sich, klam- 
mern sich an den Turssuk an und 


15* 


108 


Halbfaß: Die Entwässerung des Val di Chiana in Toskana. 





steuern ihn, selbst im Wasser liegend, mit den 
Füßen (Abb.6). Im Sommer auf den ruhigen Fluten 
des Pändsch halten es die Fährleute leicht eine halbe 
Stunde und mehr im Wasser aus. Auf dem Bartang, 
besonders in vorgeschrittener Jahreszeit, müssen die 
Fährleute alle Viertelstunde aus dem Wasser, um 
sich von den Anstrengungen zu erholen und vor allen 
Dingen sich zu erwärmen. Der Beruf dieser Leute vererbt 
sich meist von Generation zu Generation, und es ist 
staunenswert, was die tüchtigsten von ihnen leisten. 
Ich habe beim Hinaufdringen in die Bartangschlucht im 
Oktober Leute gesehen, die über eine Stunde im eisigen 
Wasser arbeiteten, um mich und meinen Diener um eine 
schwer passierbare Felsecke zu bringen. Wir machten 
uns ein Feuer an, während unsere Führer aus nur zwei 
Burdjuks ein Floß bauten, uns einzeln darauf banden 
und selber nackt, bis an die Brust im Wasser stehend, 
uns von einem vereisten Felsblock zum anderen zogen 
oder auf dem steinigen Boden durch das schnellströmende 
Wasser auf ihren Schultern trugen. 


Die unumgänglichen Rasten, die der Fährleute wegen 
aber doch gemacht werden müssen, verzögern im all- 
gemeinen weitere Turssukfahrten recht beträchtlich. Zu 
Wasser kann man auf dem Bartang schon 10 bis 15 km 
in der Stunde zurücklegen, während auf den breiten Fluten 
des Pändsch man oft ganz auf das Rudern der Leute 
angewiesen ist, da die Strömung oft vollständig versagt. 

In ständigem Gebrauch ist der Turssuk nur den 
Sommer über an der Mündung des Bartang in den 
Pändsch. Die Eingeborenen, welche aus dem westlichen 
Pamir nach Buchara ziehen, können nicht anders die 
zahlreichen, oft über 100m breiten Arme des Bartang 
passieren. Sonst ist der Turssuk weniger im Gebrauch, 
da doch immer mehrere Fährleute nötig sind. Er wird 
mehr Verkehrsmittel der Wohlhabenderen, während der 
einfache Burdjuk, allgemein verbreitet, von größter Wich- 
tigkeit ist. Brücken fehlen am Pändsch und Bartang fast 
vollständig, und trotzdem findet ein reger Verkehr mit Hilfe 
des Burdjuk oder kleiner Turssuk, die nur aus wenigen 
Ziegenhäuten bestehen, von einem Ufer zum anderen statt. 


Die Entwässerung des Val di Chiana in Toskana. 


Eine kulturgeographische Betrachtung. 


Von Prof. Dr. W. Halbfaß. Neuhaldensleben. 
Mit einer Karte. 


Wer von Rom kommend die Schnellzugsstation Chiusi 
passiert, hat zur Fortsetzung seiner Reise in nördlicher 
Richtung zwei Eisenbahnwege zur Verfügung: die auch 
von den internationalen Zügen Berlin—Rom und Paris— 
Rom benutzte Linie über Terontola, Arezzo nach Florenz, 


PERIODO ROMANO SECOLO XIX ANNO 1502 


(LEONARDO DA VINCI) 





Scala di % 


; On foeu PIEvE 


ANNO 1551 


den Höhen wächst, sicher zur Freude aller, welche 
diesen feurigen Wein zu schätzen wissen. Wirft man 
vom Eisenbahnfenster etwa bei der letzten Eisenbahn- 
station vor Arezzo, bei Frassineto, einen Blick auf dieses 
Tal, so sieht man leicht, daß es auch sonst sehr frucht- 





CITTA t RB Argine di 


N 


ANNO 1600 


CÄRNAIOLA 
ANNO 1599 


(GIANFILIAZZI) 


(RICASOLI) ANND 1780 





me — me — 5° Chilometri 


Die Veränderungen im Val di Chiana seit der römischen Zeit. 


und die Linie über Siena nach Empoli, wo sie wieder in 
die Bahn von Florenz nach Pisa einmündet. Zwischen 
beiden Linien, sich erst der zuletzt genannten, dann der 
ersten nähernd und sie beinahe erreichend, erstreckt 
sich ein über 50km langes Tal von wechselnder Breite, 
das Val di Chiana, das durch seinen Namen an den allen 
Italienreisenden wohlbekannten Chiantiwein erinnert, der 
in der Tat in dieser Ebene und auf den nördlich angrenzen- 


bar und wohlangebaut ist; in der Tat gehört es heute 
zu den gesegnetsten und blühendsten Gefilden des ehe- 
maligen Großherzogtums Toskana. 

Es war nicht immer so; viele Jahrhunderte hindurch 
war das herrliche Val di Chiana völlig versumpft und 
daher ganz unbewohnbar, bis es menschlicher Tatkraft 
im langen Kampf mit der Natur gelang, es wieder in 
einen Zustand zurückzuversetzen, den es schon einmal 


Halbfaß: Die Entwässerung des Val di Chiana in Toskana. 109 





im Altertum eingenommen hatte. Die Geschichte dieser 
Kulturtat, die übrigens auch heute noch nicht gänzlich 
abgeschlossen ist, ist auch von geographischem Stand- 
punkt so interessant, daß sie wohl wert erscheint, hier 
einem deutschen Leserkreis etwas ausführlicher dar- 
gestellt zu werden ?). 

Das heutige ValdiChiana liegt genau in einer Linie 
mit der obersten Strecke des Arnotales auf der Nord- 
und dem Mittellauf des Tiber auf der Südseite. Es ist 
von den italienischen Geologen Cocchi, De Stefani, Verri, 
Ristovi, Pantanelli längst als sicher nachgewiesen, daß 
im oberen Pliozän und im Postpliozän der Arno bei 
Arezzo nicht westwärts abbog, sondern geradeaus durch 
das Längstal der Chiana nach Süden weiterfloß und so 
dem Tiber tributär war. Die Alluvialmassen im oberen 
Arnotal und in den alten Alluvionen des Chianatals be- 
stehen durchweg aus denselben Geschieben, die zudem 
zu groß sind, als daß sie durch den späteren kleinen Zu- 
fluß des Arno, den die Römer den Clanis nannten, hätten 
transportiert werden können. Durch eine Senkung bei 
Pontassieve oder eine Hebung des Bodens bei Arezzo — 
darüber gehen die Ansichten der Geologen auseinander 
— floß dann in späterer Zeit der Arno nach Florenz 
weiter, während in seinem ehemaligen Unterlauf die 
Chiana dem Tiber zuströmte; ihr nicht unbedeutendes 
Gefälle wurde durch Schleusen zur Schiffahrt ausgenutzt, 
die sich auch auf den damals viel größeren Lago di 
Montepulciano und Lago di Chiusi ausdehnte, welche 
noch einen einzigen. stattlichen Binnensee bildeten. So 
war es noch zu Zeiten der Etrusker und Römer, und das 
heutige Chiusi, römisch Clusium, erinnert noch deutlich 
an jenes Schleusenwerk. Merkwürdigerweise ging der 
römische Senat schon damals mit dem Gedanken um, die 
Chiana in den Arno abzuleiten, um Überschwemmungen 
des Tiber hintanzuhalten. Die Bewohner von Florenz 
aber wehrten sich mit Erfolg dagegen, da sie ihrerseits 
Überschwemmungen des Arno durch Zuleitung des Chiana- 
flusses fürchteten. Daß das Chianatal noch im Beginn 
des Mittelalters fruchtbar und zum mindesten nicht un- 
gesund war, geht schon aus der Tatsache hervor, daß die 
Via Cassia, eine Hauptverkehrsader zwischen Mittel- und 
Süditalien, mitten durch dasselbe hindurchführte. 

Dann erfolgte aber eine allmähliche Versumpfung des 
Tales, die etwa um das Jahr 1000 ihren Höhepunkt er- 
reichte, aber noch Jahrhunderte hindurch anhielt, so daß 
noch die Karten des 15. und 16. Jahrhunderts, wie man 
sie z.B. auch in den Landkarten der Galleria Geografica 
des Vatikan in Rom, die unter Gregor XIII. im Jahre 1580 
ausgeführt wurden, sehen kann, einen ausgedehnten 
Sumpf bzw. eine ganze Reihe einzelner Sümpfe zeigen, 
da, wo sich jetzt das lachende Gefilde des Val di Chiana be- 
findet. Die Ursache dieser höchst unerfreulichen Er- 
scheinung ist ohne Zweifel darin zu suchen, daß bei dem 
mäßigen Gefälle des Tales schon verhältnismäßig geringe 
Veränderungen der Talsohle genügten, um die Abfluß- 
verhältnisse zu verschieben. Auch haben jedenfalls die 
durch die Seitenbäche des Tales zugeführten Sand- und 
Schlammassen erheblich dazu beigetragen, den Abfluß 
des Tales nach Süden allmählich so zu verringern, bis 
er schließlich gänzlich versiegte. Es erhellt aber, daß 
dieser Zustand nicht eingetreten wäre, wenn die Bewohner 


1) Die neueste kurze Darstellung auf Grund der vorhan- 
denen Quellen findet sich in einem Abschnitt der vortreff- 
lichen Arbeit von Canestrelli: Le regioni a spartiacque in- 
certo ed interminato dei bacini dell’ Arno e del Serchio, 
Memorie geografiche, pubbl. come supplemento alla Rivista 
geogr. ital. dal Dott. Giotto Dainelli, No. 7, Firenze 1909. 
Dieser Arbeit (8. 27) entstammt auch die hier beigegebene 
Karte, für deren Überlassung ich dem Autor bestens danke. 


des Tales rechtzeitig Vorkehrungen gegen die drohende 
Versumpfung getroffen hätten; war doch zu den Römer- 
zeiten das Tal noch kein Sumpf! Man muß eben noch 
Ursachen zu Hilfe nehmen, die nicht in den natürlichen 
Verhältnissen des Landes liegen, sondern in seinen poli- 
tischen und sozialen Umwälzungen, in die es seit der 
Besitzergreifung durch die Deutschen und durch die 
langen Kriege geriet, wodurch, wie Iginia Abeniacar in 
seinem Buche: „Il lavoro dell’ uomo sul suolo toscano* 
(Torino 1907, S.31f.) ganz richtig ausführt, die Bevöl- 
kerung in die Städte getrieben und das Land größten- 
teils entvölkert wurde, so daß es sich selbst überlassen 
blieb und nun in den Zustand geriet, der notwendig zur 
Verödung des einst so blühenden Tales führte. 

Nachdem schon vom 14. Jahrhundert ab durch mensch- 
liche Nachhilfe der schon von jeher vorhandene, aber nur 
sehr unbedeutende Abfluß des Sumpfgebietes gegen das 
Arnotal allmählich vertieft und in einen Kanal verwandelt 
worden war, der im Jahre 1436 noch wesentlich tiefer 
gelegt wurde, während die Versumpfung des oberen 
Chianatales immer noch zunahm, brachte erst das 
16. Jahrhundert eine wesentliche Besserung dadurch, daß 
die Gemeinden jenen südlichen Teil des Chianatales an 
die Medicäer abtraten, die nun ihrerseits mit Eifer daran 
gingen, das ganze Chianatal wieder trocken zu legen. 
Antonio di Ricasoli, der von Cosimo I. bestellte Bau- 
meister, verlangte vor allem die Beseitigung einer Schleuse, 
welche die Mönche von Arezzo im Bette der Chiana unter- 
halb der Stelle, wo heute der Vingone in die Chiana 
mündet, da wo jetzt die Bahn von Arezzo nach Florenz 
über die Chiana führt, angelegt hatten. Diese sogenannte 
Chiusa dei Monaci, die man von der Bahn aus sehr gut 
übersehen kann, da sie noch heutigentags existiert, 
bildete offenbar damals ein Hindernis gegen die geplante 
Entsumpfung. Sie ist unzählige Male teils von Menschen- 
hand, teils von Hochwasser zerstört, aber immer wieder 
aufgebaut worden und bietet insofern ein besonderes 
Interesse dar, als zwei der größten Physiker ihrer und 
aller Zeit, Torricelli und Galilei, zur Begutachtung, ob sie 
dauernd zu entfernen sei oder nicht, aufgefordert wur- 
den. Beide Gelehrte scheinen nicht zu einem abschließen- 
den Urteil gekommen zu sein, aber bei dieser Gelegen- 
heit kam ein Vorschlag zur Sprache, der sich für die 
Folge als außerordentlich bedeutsam für die Veränderung 
des Bodens auch in Italien durch den Menschen erwies. 
Torricelli erwähnt nämlich die Idee, durch Abdämmung der 
Geröll- und Sandmassen, welche die Flüsse bei Hochwasser 
mit sich führen, allmählich das Flußbett zu erhöhen und 
dadurch ein besseres Gefälle zu erzielen. Erst viel später, 
im Jahre 1702, führten die Ingenieure Franchi und Tosi 
diese Idee in der Praxis aus und wurden dadurch die 
Begründer der Kolmaten, welche zuerst in Toskana, 
später aber auch in anderen Landesteilen und über Italien 
hinaus eine Entsumpfung des Bodens auf eine recht 
einfache und nicht sehr kostspielige Manier herbeigeführt 
haben. Die Methode, die man dabei einschlägt, ist die 
folgende: Man baut zunächst einen Damm, der das Ge- 
biet absperrt, das erhöht werden soll, leitet das Hoch- 
wasser hinein, läßt es dann stehen, bis sich die trüben 
Bestandteile gesetzt haben, dann öffnet man eine Schleuse 
und läßt das klare Wasser abfließen. Der Boden des 
Flußbettes wird dann entsprechend den zugeführten Se- 
dimenten höher. Bei einer Wanderung durch das Chiana- 
tal, bei der man sich übrigens im Frühjahr wenigstens 
mit Wasserstiefeln versehen muß, begegnet man noch 
heute allenthalben diesem Manöver in seinen verschie- 
denen Stadien, wobei es einem passieren kann, daß man 
in dem erst frisch angeschwemmten Erdreich gehörig 
stecken bleibt. 


110 





Wir sind dem Gang der Ereignisse etwas vorangeeilt 
und müssen noch einmal ins 16. Jahrhundert zurück- 
kehren. In der Mitte dieses Jahrhunderts begann man 
den Canale Maestro zu bauen, der in einer Länge von 
50km von Lago di Montepulciano im Süden bis zur schon 
erwähnten Chiusa dei Monaci reicht, wo er in die heutige 
Chiana mündet, welche sich wenige Kilometer weiter 
unterhalb bei dem Ponte a Buriano in den Arno ergießt. 
Natürlich wurde dieser Kanal nicht auf einmal fertig, 
man hat ihn von unten auch angebaut im toskanischen 
Gebiet; im römischen Gebiet des Chianatals wurde am 
Ende jenes Jahrhunderts durch den Papst Clemens VIII. ein 
Damm aufgeführt, der das Wasser des obersten Chianatales 
vom Tiber abschneiden sollte und natürlich erheblich mit 
dazu beitrug, es dem toskanischen Chianatal zuzuführen; 
andere Dämme, die denselben Zweck hatten, folgten im 
17. Jahrhundert. Indessen machte die Entsumpfung des 
Tales nur langsame Fortschritte, zum Teil infolge der 
Grenzstreitigkeiten und gegenseitigen Eifersüchteleien des 
Kirchenstaates und des Großherzogtums Toskana, deren 
politische Grenzen an dieser Stelle mit der Wasserscheide 
zwischen Arno und Tiber zusammenfielen. In jener Zeit 
wog im Kirchenstaat im allgemeinen die Besorgnis 
vor, es möchte durch die Wasser des Chianatales eine 
Überschwemmung des Tibergebietes eintreten — eine Be- 
sorgnis, die im ganzen gewiß unbegründet ist —, und 
daher trugen die Päpste selbst dazu bei, die ursprüng- 
liche Abdachung des Chianatales nach Süden immer mehr 
in ihr Gegenteil zu verkehren zum Vorteil des Arno- 
gebietes. So wurden 1782 die berühmten Argine di 
separazione (Staudämme) angelegt, die seit diesem 
Jahre die Wasserscheide zwischen Arno und Tiber bilden 
und damit zugleich die Südgrenze die Chianatales be- 
zeichnen. Man erreicht sie von der Station Chiusi sehr 
leicht, wenn man gleich hinter dem Stationsgebäude in 
die Straße einbiegt, die über die Schienen in östlicher 
Richtung in wenigen Minuten hinführt. Es sind dies von 
außen nur unscheinbare Dämme, die etwa 1,60 m hoch 
und 2,20 m breit sind; sie sind inzwischen durch neuer- 
dings aufgeführte Dämme überholt worden, heben sich 
aber noch immer deutlich von ihrer Umgebung ab, wenn 
man sie eben ganz in der Nähe betrachtet. 

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts waren etwa 90 qkm 
Land im unteren Chianatal entsumpft worden, während 
der obere Teil des Tales hauptsächlich aus politischen 
Gründen, wie oben auseinandergesetzt wurde, versumpft 
blieb. Erst dem genialen Wasserbaumeister Grafen 
Fossombroni, einem geborenen Arentiner — sein Denk- 
mal steht in Arezzo auf der kleinen Piazza Umberto I. —, 
gelang es, durch gütliche Vereinbarungen mit den Päpsten 
und deren technischen Beratern eine gemeinsame Ent- 
wässerung des gesamten Chianatales durchzusetzen, und 
zwar einerseits durch Kanalisierung der von links und 
rechts in den Canale Maestro einmündenden Bäche — das 
Kanalnetz erreicht eine Länge von mehr als 150km —, 
andererseits durch wiederholte Tieferlegung der Chiusa 
dei Monaci, die allmählich im Laufe von drei Jahrhun- 
derten eine Senkung von mehr als 26m erfahren hat, 
der aber wahrscheinlich noch größere Senkungen bevor- 
stehen. Durch Fossombroni und seine Nachfolger sind bis 
zum Jahre 1877 im ganzen etwa 150 qkm entwässert 
und bewohnbar gemacht worden, mit einem Kostenauf- 
wand von etwa 12 Millionen Lire. Die so gewonnenen 
Ländereien hat aber der italienische Staat nach und nach 
wieder an die Umwohner für 20 Millionen Lire verkauft, 
also noch ein recht gutes Geschäft gemacht, ähnlich wie 
der Fürst von Torlonia bei der Senkung des Trasimeni- 
schen und des Fuciner Sees. Ob freilich diese Veräuße- 
rung durch den Staat für die Zukunft von Vorteil ge- 


Halbfaß: Die Entwässerung des Val di Chiana in Toskana. 


wesen ist, muß dahingestellt bleiben, denn der Besitz 
verpflichtet natürlich auch zur Instandhaltung der mannig- 
fachen wasserbautechnischen Anlagen, besonders der 
Dämme, Kanäle, Abzugsgräben, Brücken usw., die in 
diesem Gebiet geschaffen wurden, und hierin wird schwer- 
lich — es liegt dies ja in der menschlichen Natur — eine 
so gleichmäßige und großzügige Arbeit geleistet, wenn sie 
sich auf viele Besitzer erstreckt, als wenn alles in einer 
Hand liegt. Nach meiner persönlichen Erfahrung scheint 
nach dieser Richtung hin wenigstens im oberen Teile des 
Gebietes vieles recht im argen zu liegen. 

Zu diesen Bedenken, die immerhin verhältnismäßig 
leicht zu heben wären, etwa durch eine genossenschaft- 
liche Bewirtschaftung und staatliche Beaufsichtigung des 
Chianatales, treten aber noch zwei Umstände hinzu, die 
wohl geeignet sind, die Fortsetzung und glückliche Be- 
endigung dieses schönen Kulturwerkes ernstlich zu ge- 
fährden; sie liegen in der Natur und Beschaffenheit des 
Landes selbst und sind daher um so gewichtiger. Auf 
das eine störende Moment hat schon der bekannte Wiener 
Geologe Professor Dr. Reyer in seinem ausgezeichneten 
Buch „Aus Toskana, geologisch -technische und kultur- 
historische Studien“ (Wien 1884), dem ich manche Daten 
entnommen habe, aufmerksam gemacht. Die fortgesetzte 
Vertiefung der Chiusa dei Monaci, durch die doch zum 
größten Teil die Entwässerung des Chianatales möglich 
gemacht ist, muß notwendig einmal ein Ende nehmen, 
weil schließlich sonst der Abfluß der Chiana zum Arno 
nicht mehr möglich wird und sich ein See im Ausmün- 
dungsgebiet der Chiana bilden muß. Es wird sich dann, 
wie Reyer mit Recht hervorhebt, rächen, daß man den 
natürlichen Lauf der Gewässer gewaltsam geändert hat, 
zumal in einem Gebiet mit einem so weichen Grund und 
so starker Erosionsfähigkeit, die diesem Teil von Toskana 
eignet. Das andere Bedenken, auf das ich etwas aus- 
führlicher eingehen muß, betrifft die Existenz der beiden 
Seenbecken im obersten Chianatal, der Seen von Monte- 
puleiano und Chiusi. Nach der von Perrone heraus- 
gegebenen „Carta Idrografica Italiana, Arno, Val di 
Chiana e Serchio (Roma 1902) hatte der größere See 
von Chiusi im Jahre 1895 ein Areal von 3,60, 1899 nur 
noch von 3,1 qkm, der kleinere See von Montepulciano 
1895 ein solches von 1,77 qkm. Beide Seen haben seit- 
dem noch beträchtlich an Umfang, aber auch an Tiefe 
verloren infolge der vielen Sand- und Schlammassen, 
welche die in die Seen -einfließenden Bäche ihnen zu- 
führen. Nach Reyer soll die größte Tiefe des Lago di 
Chiusi 1823 10m, 1848 8m, 1879 4m betragen haben, 
die des Lago di Montepulciano 8 bzw. 6, bzw. 3m. Mögen 
nun auch diese Angaben nicht ganz exakt sein, so kann 
an einer in absehbarer Zeit vollzogenen Ausfüllung der 
Seen — falls die äußeren Verhältnisse so bleiben — nicht 
gezweifelt werden. Als ich den See von Montepuleiano 
mit einem Fischer befuhr, war die südliche schmälere 
Hälfte vollständig verkrautet, die größere Nordhälfte im 
Durchschnitt 1!/, bis 2m tief, doch versicherte mir der 
Fischer, daß es noch einzelne Stellen bis zu 4m Tiefe 
gäbe. Perrone hat berechnet (a. a. O., S. 247), daß der 
See von Montepuleiano in 16 Jahren, also etwa 1918, 
der See zu Chiusi erst in 68 Jahren, also erst im Jahre 
1970 aufgefüllt ist. Dieser wird also noch bedeutend 
länger sein Leben fristen als jener. Was wird nun die 
natürliche Folge davon sein? Existiert der See von Monte- 
puleiano nicht mehr, so muß bei dem so außerordentlich 
geringen Gefälle von dem See abwärts, bei jedesmaligem 
Anschwellen der in den früheren See einmündenden Bäche, 
eine Überschwemmung des Gebietes eintreten, die nur 
sehr langsam wieder verschwinden und daher beträcht- 
lichen Schaden anrichten wird, weil dann das Aus- 


Budberg: Zur Charakteristik chinesischen Seelenlebens. 111 





gleichungsbecken fehlt. Vermehrt wird diese Gefahr noch 
durch die gleichzeitige Existenz des Sees von Chiusi, der 
ja voraussichtlich noch mehr als ein halbes Jahrhundert 
den kleineren See überdauern wird, da der Überschuß 
dieses Sees das Überschwemmungsgebiet notwendig ver- 
größern muß. Man hat, um diesen Schwierigkeiten mit 
Erfolg zu begegnen, einmal vorgeschlagen, die Ausfüllung 
beider Seen künstlich nach Möglichkeit zu beschleunigen, 
ein radikales Mittel, das aber in seinen Folgen vorläufig 
noch nicht zu berechnen ist, andererseits aber auch an 
eine Teilung der Chiana gedacht in der Weise, daß der 
Lago di Chiusi fortan nicht mehr ins Chianatal, sondern 
durch die Tresa ins Tibertal abwässert. Dieser Zustand 
kann durch Änderung der Argine di separazione leicht 
erreicht werden, da ja das Gefälle der ganzen Gegend 
überaus minimal ist. Dadurch würde man zunächst den 
Folgen der ungleichen Ausfüllung beider Seen begegnen 
und zugleich wenigstens zu einem kleinen Teil der natür- 
liche hydrographische Zustand des Landes wieder her- 


gestellt. Da die Länderschranken innerhalb des König- 
reichs ja längst gefallen sind, so würde auch der Gegen- 
satz zwischen dem toskanischen Arno und dem römischen 
Tiber wegfallen, und der Tiber könnte eine kleine Ver- 
mehrung seiner Wasserzufuhr gut vertragen. 

Nach den Erfahrungen, die man anderswo mit der 
beschleunigten Ausfüllung von Seen gemacht hat, möchte 
ich dringend davor warnen, dieses Experiment bei den 
beiden Seen des oberen Chianatales zu wiederholen. Im 
Gegenteil würde ich alles daran setzen, die Ausfüllung 
der beiden Seen möglichst hintanzuhalten, damit sie 
möglichst lange den Lauf der Gewässer im Chianatal 
retardieren. Ob das technisch möglich ist, mögen die 
Wasserbauingenieure im Verein mit den Geologen ent- 
scheiden; jedenfalls hängt diese Frage sehr eng mit der 
bereits oben berührten Kernfrage zusammen: Wird sich 
die künstliche Verlegung des Abflusses des Chianatales 
nach Norden ins Arnogebiet dauernd aufrecht erhalten 
lassen? Ich möchte diese Frage mit Reyer verneinen. 





Zur Charakteristik chinesischen Seelenlebens. 
Von Dr. med. Roger Baron Budberg. Charbin. 


Man dürfte wohl kaum ein anderes Volk finden, das 
so wenig wie das chinesische das Bedürfnis spürt, seine 
Blicke über die Grenzen der realen Welt und die in ihr 
wirkenden Kräfte hinauszulenken. Sich ein ganzes System 
über das Weiterleben der Seele nach dem Tode auszubauen 
und es zu fester Überzeugung in sich erstarken zu lassen, 
erscheint selbst dem nichtgebildeten Chinesen wenn nicht 
unmoralisch, so doch sehr einfältig. Sagte doch der größte 
Gelehrte des Ostens, Konfuzius, über seine Ansicht gefragt, 
was er vom Tode halte: wie solle er das wissen, da er ja 
nicht einmal das Leben kenne. Und nach seiner Ansicht 
über das Sein oder Nichtsein nach dem Tode gefragt, 
wurde er sogar gereizt; denn zu albern erschien ihm solch 
eine Frage. 

Bei anderen Völkern finden wir das Bedürfnis, sich 
zur Erhaltung ihres Seelengleichgewichts, zu ihrer inneren 
Befriedigung, an irgend ein religiöses System zu klammern. 
Nicht so bei den Chinesen. Das ihnen seit Hunderten 
von Generationen überlieferte und zu logischem Emp- 
finden gewordene Moralsystem befriedigt jedes Einzel- 
individuum wie die Gesellschaft. Dieses Moralsystem ist 
so leicht verständlich, weil es ja völlig auf Gesetzen sich 
gründet, die aus der sichtbaren Welt, dem Tier- und 
Pflanzenleben genommen sind. Aus der Liebe und Ach- 
tung zu den Eltern entspringt notwendig Liebe zur Familie, 
zu Heimatsgenossen usw., dann weiter natürlich auch 
Achtung vor dem Alter, Anerkennung der Autorität Vor- 
gesetzter und Ähnliches. Das Gesetz selbst ruht auf 
diesem Moralsystem, es bestraft Verstöße dagegen hart, 
das Staatsgesetz ist Wächter der guten Sitten, bestraft die 
Sündigenden, belohnt oft die Tugendhaften, selbst nach 
ihrem Tode noch, alles das zu gutem Beispiel und zur 
Förderung eines befriedigenden Zusammenlebens. Das 
sind Prinzipien, wie wir sie, wenn wir Details betrachten, 
in europäischen Staatsgesetzen nicht kennen. Dank alle 
diesem ist es auch nur erklärbar, daß das fast vollkommene 
Moralsystem im Laufe von vielen Jahrhunderten oder, 
richtiger gesagt, Jahrtausenden so tief im Denk- und 
Empfindungsleben des Volkes sich eingeprägt hat. 

Unter Christen und Anhängern anderer religiöser 
Systeme gehören die Fälle, wo kleine Verbrecher und auch 
sehr große sich ihrer Schlechtigkeit gar nicht bewußt 
werden, nicht zu Ausnahmen, während der Chinese wohl 
stets sich seiner Schuld bewußt ist. Das jedem Individuum 


leicht verständliche Moralsystem des Konfuzius läßt dem 
Gewissen und Verstande gar zu wenig rettende Neben- 
pförtchen, wie sie in den verschiedenen anderen Religions- 
systemen leichter zu finden sind. 

Aus dem Gesagten folgt, daß der Chinese sich häufiger, 
ja in Wirklichkeit zumeist, mit vollem Bewußtsein auf 
den Weg des Verbrechens begibt. Motive sind da meistens 
Not, Trägheit, Enttäuschungen und nicht an letzter Stelle 
Haß gegen andere. Schwere seelische Kämpfe macht so 
mancher junge Chinese durch, ehe er sich entschließt, 
schlechte Wege zu betreten; hauptsächlich sind es die 
Liebe und Rücksicht für die Seinigen, die ihm den Kampf 
schwer machen, üble Folgen und Gefahren, denen er seine 
eigene Person aussetzt, treten dabei ganz in den Hinter- 
grund. Ist der böse Entschluß gefaßt, so flieht der Chi- 
nese möglichst weit von seiner Heimat. Foltern unmensch- 
lichster Art sind wohl imstande, dem Verbrecher das Ein- 
geständnis abzunötigen, nicht aber, ihn auch zum Verrat 
der Seinigen zu bewegen, denn das wäre der schwerste 
Verstoß gegen das eigene Gewissen, das auch der größte 
chinesische Verbrecher nie ganz verliert. Richtige in Ge- 
nossenschaft stehende Räuber, Chunchudzen, sie bauen 
sich gar ein neues Moralsystem auf, indem sie zu ihren 
Opfern nur schlechte Menschen wählen, ja selbst die Fälle, 
wo solche Räuber Arme und Bedrückte unterstützen, sind 
nicht selten, und diesen ihren Moralsystemen liegen die 
Gesetze allgemeiner chinesischer Moral zugrunde, wie die 
nötige Achtung vor den Eltern, Treue zu Freunden, mit 
denen sie sich eidlich verbrüdert haben. 

Das Fehlen jeden Bedürfnisses nach einem tröstenden 
Glaubenssystem macht auch den christlichen Missionen 
die Verbreitung ihrer Lehre in China so unendlich schwer. 
Wohl kommen den Missionaren schwere Verhältnisse zu 
Hilfe, unter denen das unglückliche Volk zu leben hat, 
die grenzenlose Ungerechtigkeit bestechlicher Beamten, 
Bedrückungen aller Art, neben noch existierenden großen 
Privilegien der Missionen, wodurch diese ihre Angehörigen 
vor Verfolgungen, selbst gerechten, zu schützen vermögen. 
Aber aus Überzeugung läßt sich wohl niemals ein er- 
wachsener Chinese taufen. In keinem Fall ist es seelisches 
Bedürfnis, sondern bloß der Wunsch nach Schutz, der zur 
Konvertierung führt, wobei der Bekehrte sowohl, wie der 
auf den Weg des Verbrechens sich begebende Chinese 
sich dessen bewußt ist, daß er sich des ihm durch seine 


112 Budberg: Zur Charakteristik chinesischen Seelenlebens. 


Vorfahren überlieferten Moralsystems begibt. Alle diese 
Schwierigkeiten hat die katholische Kirche bereits seit 
Jahrhunderten in China klar erkannt, und sie hat sich 
deshalb dort zum Zweck erfolgreicherer Propaganda mit 
Billigung des Papstes völlig umgestaltet, nicht nur äußer- 
lich, sondern auch innerlich. Priester tragen hier statt 
ihrer Amtstracht chinesische Kleider, ja die Jesuiten 
tragen statt der Tonsur echte Zöpfe; von allen den ver- 
schiedensten Orden wird ein langer Bart peinlichst her- 
angezogen, denn er schafft ehrwürdiges Aussehen. Vielen 
tief eingebürgerten Sitten und Gebräuchen, die eigentlich 
völlig im Widerspruch stehen mit dem Wesen der katho- 
lischen Lehre, wird Rechnung getragen, sie werden nicht 
nur geduldet, sondern, wo es nötig erscheint, sanktioniert. 
Bei Kindern scheint es notwendig, von früher Jugend 
auf durchdachte Mittel anzuwenden, um die ihnen an- 
geborene Denk- und Empfindungsweise zu paralysieren. 
Um die Jugend in den katholischen Missionsschulen zu 
lehren, bedarf es keineswegs immer des Missionars selbst, 
ein einziger Missionar genügt für ein großes Gebiet und 
viele Schulen, über die er die oberste Aufsicht übt. Die 
Kinder werden ja gar nicht durch Überzeugung zum 
Glauben gebracht, und deswegen kann der Unterricht in 
den Schulen christlich völlig ungebildeten, häüfig sogar 
heidnischen Lehrern und kaum etwas gebildeten chine- 
sischen Nonnen überlassen werden. In den Kindern muß 
der freie Geist paralysiert werden, und das geschieht in 
folgender Weise: Gelehrt werden den Kindern einige 
hundert Hieroglyphen, nur solche, die in Katechismus und 
Gebetbüchern in Gebrauch sind. 

Einen gar zu wehmütigen Eindruck machen diese 
Schulen auf mitfühlende Seelen. Vom frühen Morgen bis 
zum Abend hocken die Kinder auf dem chinesischen Kan, 
einer Art liegendem Ofen, der durch den ganzen Wohn- 
raum längs den Wänden sich hinzieht und zum Schlafen 
wie auch zum Tagesaufenthalt dient; mechanisch plappern 
sie so ihre Gebete und Hieroglyphen, es wird ihnen kein 
Augenblick zur Entfaltung wirklich denkender Arbeit 
gestattet. In dieser Weise ein oder ein paar Jahre be- 
handelt, verkrüppelt natürlich der Verstand völlig, und 
die Unglücklichen können geistig in nichts mehr wider- 
sprechen, sie folgen blindlings ihren Seelsorgern. Ein 
Trost ist es den Missionaren, daß in weiteren Generationen 
christliche Gemeinden wieder fähig werden zu denken 
und wohl auch überzeugte Christen sind. Da nimmt man 
es denn schon mit in den Kauf, zuerst sich mit dem Aus- 
wurf chinesischer Gesellschaft zu begnügen und in den 
Schulen die Kinder geistig zu verkrüppeln. Etwas Mit- 
leid scheinen bei den Missionaren nur die chinesischen 
Nonnen zu erwecken, die ohne Ausnahme an schweren 
oder leichteren Formen der Neurasthenie und Hysterie 
erkranken. Häufig hört man die Bemerkung, daß, so ab- 
stoßend neue Christen sind, um so sympathischer Familien 
erscheinen, die bereits in dritter oder vierter Generation 
Christen sind. Angenehm berührt bei ihnen die größere 
Freiheit und Ungezwungenheit der weiblichen Personen. 
Der Eingeweihte indessen weiß, daß diese scheinbaren 
Fortschritte fraglich sind und ein tieferer Blick hinter 
die Kulissen den Europäer erröten lassen müßte. 

In Glaubenssachen ist das chinesische Volk das tole- 
ranteste von allen Völkern; hält es sich fern von seinen 
christlichen Landsleuten und kommt es gar zu offenem 
Kampf, so liegt das nicht an dem Glauben, sondern an 
wohlbegreiflichen Ursachen, deren Betrachtung über den 
Rahmen unseres Themas hinausreicht. 

Den intelligenten Chinesen widert, wie wir es immer 
wieder hören, der christliche Standpunkt ganz gewaltig 
an, wonach der Mensch zur Tugend im irdischen Leben 
angehalten wird durch die Aussicht auf Strafe und Ver- 


geltung im Jenseits. Dieser Standpunkt steht mit kon- 
fuzianischer Lehre in direktem Widerspruch und erscheint 
deswegen dem Chinesen geradezu unmoralisch. Trotz 
aller Logik ist nicht nur der ungebildete, sondern auch 
der gut gebildete Chinese voll. Aberglaubens. Die Auf- 
fassung, daß der Chinese Götzendiener im wahren Sinne 
des Wortes sei, ist falsch. Er weiß, daß es in der Welt 
eine unendliche Menge von Naturkräften gibt, die der 
menschliche Geist nicht erforscht hat und vielleicht nie 
erforschen wird. Zu solchen Kräften gehören die Elektri- 
zität, der Magnetismus, Somnambulismus und viele andere, 
die auf und um uns wirken können, ohne daß wir auch 
nur einigermaßen ihr Wesen uns zu erklären vermögen. 
Seine Gottheiten stellen nichts anderes dar als eine Kom- 
bination verschiedener Kräfte, denen nicht notwendig 
persönliches Denken zugeschrieben wird. So hat nicht 
allein jedes Flüßchen, jeder Berg, nein, sogar die einzelne 
Pflanze ihre Gottheit oder nennen wir sie Seele, das heißt 
Kräfte, die ihr innewohnen. Götzen in Tempeln stellen 
nicht nur Symbole solcher Kräfte dar, sondern ihnen lassen 
sich Kräfte einimpfen. 

Der Mensch besitzt mehrere tierische Seelen, die nach 
dem Tode zum Himmel streben, und eine Anzahl Seelen- 
kräfte, die in die Erde gehen. Die Seelen Verstorbener 
lassen sich einfängen und sich in Götzenbilder, wohl auch 
in die Ahnentafeln sperren. Gräber sind Wohnungen 
der Seelen. Der Lebensstoff der Seele hat seinen Sitz im 
Blute des Menschen, wobei einzelne Organe und Teile des 
Körpers ihn in größerer oder geringerer Konzentration 
besitzen. Auch die Tiere haben eine Seele, deren Kräfte 
um so stärker sind, je größer oder je menschenähnlicher 
das Tier ist. Hierauf gründet sich ein großes medizinisches 
System, das vor Jahren noch als gar zu barbarisch und 
abergläubisch der europäischen Medizin erscheinen mußte; 
jetzt allerdings, wo neben Bibergeil Spermine, Ovariol, 
Thyreoidea und andere Organpräparate auch in Europa 
mehr und mehr Verbreitung finden, lacht man weniger 
über den chinesischen Aberglauben. Ganz besonders ge- 
schätzt sind seit den ältesten Zeiten die Genitalorgane ver- 
schiedener Tiere, nachdem sie eine sachverständige Prä- 
paration erfahren haben. Gegen Skrofulose wird der 
Speichel des Orang-Utan gerühmt, als sehr giftig gilt da- 
gegen der Speichel der Missionare. Teuer bezahlt werden 
zu medizinischen Zwecken die Frühlingssprossen des Hirsch- 
geweihes. Aber nicht nur körperliche Leiden lassen sich 
durch diese Mittel, denen seelische Kräfte innewohnen, 
bekämpfen, auch der Charakter des Menschen und geistige 
Fähigkeiten lassen sich dadurch, wie man sagt, unzweifel- 
haft stärken. Da ist vor allen Dingen das Herz des Menschen 
sofort nach seinem Tode voll großer Kräfte. Bei Hin- 
richtung sehr tapferer Räuber sieht man häufig, daß so- 
fort nach dem Tode der Scharfrichter dem Leichnam das 
Herz aus der Brust reißt, und daß er selber, wenn er 
Soldat ist, oder ein anderer Militär in das noch pulsierende 
warme Herz beißt; das soll von der Tapferkeit des Ver- 
storbenen solche auf den das Blut und Fleisch Genießen- 
den übergehen lassen. Daß die Erfahrung wirklich diese 
Wahrheit begründet, ist dem, der die chinesische Fähigkeit 
der Autosuggestion kennt, verständlich. Der Eindruck 
auf den Soldaten und seine Kameraden ist gewaltig und 
wird dem Gedächtnis tief eingeprägt, und er wird in 
Augenblicken, wo er Gefahren ins Gesicht schaut, unwill- 
kürlich an die von ihm übernommene Kraft erinnert. 
Bei dem Genusse des pulsierenden Herzens besorgt der 
Soldat nicht, daß mit der Tapferkeit auch andere üble 
Eigenschaften des Hingerichteten auf ihn übergehen. 
Das Volk fürchtet sonst in hohem Grade, mit dem Blut 
oder den Körpern der Hingerichteten in Berührung zu 
kommen, weil üble Kräfte es infizieren könnten. 


Bahnbau in Nigeria. 


113 





Sind Personen von tollen Hunden gebissen worden, 
so sollen sie das tollwütige Tier unter allen Umständen 
zu töten suchen, um sich in den Besitz der Leber desselben 
zu setzen; denn deren Genuß schützt vor Infektion. Es 
mag ja wohl sein, daß etwas Wahres darin steckt, impft 
man doch bei uns zum Schutz vor Tollwut mit infiziertem 
Rückenmark der Kaninchen. 

Fest überzeugt scheint jeder Chinese davon zu sein, 
daß die Seele des Menschen nicht unlöslich mit dem Körper 
verbunden ist; das zeigen ihm die Traumbilder, die er 
sich durch Wanderungen der Seele erklärt. Somnambu- 
lismus kennt man auch in China, es ist die Fähigkeit, 
seine Seele in gewünschte Fernen zu schicken, und da 
die Wanderungen der Seele kaum Zeit kennen, so ist die 
Wechselbeziehung zwischen Körper, Seelen und Seelen- 
kräften ein nicht berechenbar kleiner Zeitraum. 

Liebhaber des Spiritismus, die Geister oder Kräfte 
schreiben lassen, gibt es überall. 

Auch an Materialisierung von Geistern, Teufeln aller 
Art glaubt wohl jeder Chinese; er ist indessen nicht über- 
zeugt, daß diese Geister ein Denkvermögen wie wir besitzen, 
es schwebt ihm vielmehr auch hier vor, als seien es be- 
sondere Kräfte, die jedoch große Einflüsse auf das Leben 
der Menschen gewinnen können. Lärm von Trommeln, 
Feuerwerk aller Art usw. vermögen solche Kräfte zu ver- 
scheuchen. Feuerwerk wird daher zu Neujahr, wo ein 
besonders reges Leben unter diesen Kräften herrscht, 
reichlich abgebrannt; ebenso muß zu Hochzeiten, Ein- 
weihungen neuer Wohnstätten und bei Todesfällen gründ- 
lich gelärmt werden, um böse Geister zu verscheuchen. 

Sind die Eltern oder ein geliebtes Kind schwer krank, 
so versucht man das Leben zu retten, indem man aus 
Metall ein Abbild formen läßt, mit eingraviertem Namens- 
zuge der kranken Person; das soll die bösen störenden 
Kräfte veranlassen, den kranken Organismus, aus dem 
die Seele zu fliehen droht, zu verlassen. 

Sind Kinder in schwerer Krankheit, ist das Bewußtsein 
getrübt und fürchtet man den Tod, dann bereitet man 
Speisen, holt Blumen, Spielzeuge, Kleider usw., die das 
Kind liebte, zusammen, man bittet und lockt die Seele, 
in den zeitweilig gequälten Körper wieder zurückzukehren. 


Aus all dem Gesagten ersehen wir, daß es kein festes 
Vorstellungssystem über die Seele, den Tod und das Fort- 
leben nach dem Tode bei den Chinesen gibt, und auch 
kein seelisches Bedürfnis danach, wohl aber, namentlich 
bei Gebildeten, ein wissenschaftliches. Spiritismus und 
Experimentieren in anderen geheimen Kräften sind in China 
sehr verbreitet. Ohne Wahrsager kann man sich in China 
keine noch so kleine Stadt vorstellen, ja man darf sogar 
behaupten, daß die Wahrsagekunst in China zu einer 
großen Wissenschaft geworden ist. Da aber der Laie 
keine Kontrolle über das Verständnis und Talent des 
Wahrsagers und Kenners geheimer Kräfte besitzt, so üben 
die größten Betrüger und Ignoranten ein einträgliches 
Geschäft unter Vorgeben der Gelehrsamkeit. Hierdurch 
wird das arme Volk, ebenso wie durch seine völlig un- 
kontrollierten Ärzte, in gewissenlosester Weise betrogen. 

Zum Schluß dürfen wir den Ahnenkultus nicht uner- 
wähnt lassen, an dem die Chinesen noch bis zur Stunde 
so festhalten. Die Vorstellung, daß den Ahnen dabei 
eine göttliche Verehrung gezollt wird, ist durchaus un- 
richtig. Forscht man nach den eigentlichen Motiven und 
Vorstellungen bei intelligenten Chinesen, so bekommt man 
zur Antwort: „Die Liebe und Achtung zu den Eltern, 
die stufenweise zu den Vorfahren emporsteigt, kann mit 
dem Tode nicht aufhören; gar zu unmoralisch wäre es, 
die einmal aus ältester Zeit hergebrachte Form dieser 
Verehrung zu vernachlässigen; wer sich selbst liebt, wird 
den Kultus üben, weil die Gesellschaft sich von ihm los- 
sagen würde, wenn er die Achtung und Dankbarkeit seinen 
Eltern, seinen Vorfahren gegenüber, denen er seine Exi- 
stenz und Gutes in sich verdankt, vergessen würde. Ob 
die Seelen fortexistieren, das kann niemand wissen, das 
ist auch gleichgültig, wenn man nur die erforderliche 
Pietät übt.“ 

Konfuzius selbst übte gern religiösen Kultus, ohne 
indessen etwas von seinen persönlichen Anschauungen 
mitzuteilen; jedem sei überlassen, sich seine eigenen An- 
sichten zu bilden, nicht aber, sie zu propagieren; wahre 
Moral könne sich nach seiner Auffassung eben nur auf 
einem natürlichen Sittengesetz aufbauen, nicht auf reli- 
giösen Dogmen. 


Bahnbau in Nigeria. 


Die britischen Schutzgebiete am unteren Niger, Süd- 
und Nordnigeria und die mit ersterem seit 1906 ver- 
einigte Kolonie Lagos, sind heute in einer vielversprechenden 
Entwickelung begriffen. Um die Fortschritte, die diese 
Länder schon gemacht haben, richtig zu würdigen, muß 
man in Erwägung ziehen, daß selbst küstennahe Teile 
Südnigerias noch vor sehr wenigen Jahren auf der Karte 
nur einen großen weißen Fleck bildeten, während Nord- 
nigeria erst vor zehn Jahren in Verwaltung genommen 
wurde und die Besetzung der Nordprovinzen sogar erst 
im Jahre 1903 erfolgte. Zur weiteren Erschließung der 
Schutzgebiete sind in den letzten Jahren zwei umfang- 
reiche Bahnbauten in Angriff genommen worden, nach 
deren Vollendung im Jahre 1912 die Nigerländer ein 
Eisenbahnnetz von etwa 1400 km Länge besitzen werden. 
Die eine dieser Linien, bisweilen auch als „Südbahn“ 
bezeichnet, bildet eine Verlängerung der schon 1901 
eröffneten Strecke Lagos—Ibadan; sie verläuft über 
Ilorin und Jebba, wo der Niger gekreuzt wird, nach 
Sungeru, dem Sitze der Regierung von Nordnigerien. 
Die zweite Linie, die „Nordbahn“, beginnt bei Baro am 
linken Nigerufer und führt von da, dem Bako- und dem 
Kadunatale folgend, über Saria nach Kano, dem Mittel- 


punkt der Haussastaaten. Etwa 200km nördlich von 
Baro vereinigt sich mit ihr die von Sungeru kommende 
Anschlußstrecke. der Lagoseisenbahn. Die Arbeiten an 
diesen Bahnbauten schreiten, wie den letzten Jahres- 
berichten über Süd- und Nordnigeria (Colonial Reports 
Annual Nr. 630 und 633) zu entnehmen ist, schnell vor- 
wärts. Die Verlängerung der Lagoslinie ist bereits bis 
zum Nigerübergang bei Jebba (494km von Lagos) in 
Betrieb; die dortige Brücke ist im Bau. Den Verkehr 
zwischen beiden Ufern wird bis zur Vollendung der 
Brücke eine Dampffähre vermitteln. Auf der Linie 
Baro—Kano ist der erste 130 englische Meilen lange 
Abschnitt Baro—Minna fertiggestellt, die zweite Teil- 
strecke von Minna bis zum Kadunafluß (85 englische 
Meilen) soll bis Ende 1910, der letzte Abschnitt bis 
Kano (210 Meilen) bis zum Schluß des Jahres 1911 
vollendet sein!). Den Eingeborenen ist bereits die Be- 
nutzung der Bauzüge erlaubt worden. Während die 
Südbahn teilweise ein sehr zerrissenes, von Dickicht er- 
fülltes Gelände durchschneidet, sind auf der Nordbahn 
verhältnismäßig wenig Schwierigkeiten zu überwinden. 


1) Vgl. auch Export 1910, Nr. 23. 


114 Bücherschau. 





Baro liegt 107m, Saria 790m, der Endpunkt Kano 
553m hoch. Dagegen werden die Arbeiten vielfach 
durch die Unerfahrenheit der Eingeborenen im Gebrauch 
der Werkzeuge und beim Gleislegen und den ungünstigen 
Gesundheitsstand des weißen Personals verzögert. Die 
Baukosten betragen etwa 37 500 .% für das Kilometer. 
Der Verkehr auf der Lagoslinie hat sich trotz des 
schleppenden Geschäftsganges und einer schlechten 
Baumwollernte im DBerichtsjahre (1908) weiter 
gehoben. Es wurden 212748 Personen befördert, dar- 
unter 204381 Fahrgäste III. Klasse, und Güter im 
Gewicht von 109356t, was gegen das Vorjahr eine 
Zunahme um 24329 Personen und 26456t bedeutet. 
Die Gesamteinnahmen stiegen von 139747 Pfd. Sterl. 
auf 146382 Pfd. Sterl, dagegen blieben die Reinein- 
nahmen mit 42957 Pfd. Sterl. um 22355 Pfd. Sterl. 
hinter denen des Jahres 1907 zurück; diese Abnahme ist 
zum großen Teil eine Folgeerscheinung der Eröffnung 
der nördlichen Teilstrecken, deren Betrieb auch noch 


während der nächsten Jahre wenig Gewinn abwerfen 
dürfte. 

Von der Vollendung der Eisenbahn bis Kano er- 
wartet man einen großen Aufschwung der Produktion 
und des Handels. Die Haussaländer zeichnen sich durch 


einen sehr hohen Kulturstand aus. Ackerbau und Vieh- 
zucht blühen, die Industrie ist wohlentwickelt, der Außen- 
handel vortrefflich organisiert. Die Stadt Kano bildet 
den Schnittpunkt von elf großen Handelsstraßen, in einem 
Umkreis von 50km ist eine Fläche von 400000 ha 
ständig angebaut. Die Baumwollpflanzungen der Haussa 
liefern schon heute für 1 bis 2 Millionen Menschen 
Kleidung. Die Eingeborenen, auch die arabischen 
Händler in Kano beginnen schon die Vorzüge der 
modernen Verkehrsmittel zu schätzen, und es erscheint 
z. B. als nahezu sicher, daß durch die Eröffnung der 
Eisenbahn jener Teil des Handels, der heute noch von 
Karawanen quer durch die Sahara mit Tripolis vermittelt 
wird, eine Ablenkung nach dem Niger erfahren wird. J. 


Bücherschau. 


E. Pringsheim, Physik der Sonne. VII und 435 8. mit 
7 Taf. Leipzig 1910, B. G. Teubner. 16 fb. 

Das vorliegende Buch, das zwar einen rein physikalischen 
Charakter trägt, enthält doch eine Anzahl Kapitel, die für 
die Geophysik und Meteorologie und damit auch für die Geo- 
graphie von Bedeutung sind. In der Einleitung kommen 
auch diese Punkte sofort zum Ausdruck, indem der Einfluß 
der Sonne auf das irdische Leben und als Quelle irdischer 
Energie dargestellt wird, wobei besonders auf die Bewegung 
der Atmosphäre, der Meere, auf den Kreislauf des Wassers 
und anderes Bezug genommen wird. Von den anderen 
Kapiteln ist das über die Periodizität der Sonnentätigkeit 
besonders zu nennen, die sich am reinsten in den Perioden 
des Erdmagnetismus und der Polarlichter wiederspiegelt, aber 
auch für die Klimatologie von Bedeutung ist. Da das Buch 
alle neueren Ergebnisse der Sonnenforschung, wie Zeemaneffekt 
u. a. enthält und auch sonst gut geschrieben ist, wird es 
wohl auch in weiteren Kreisen mit Nutzen gelesen werden. 
Eine große Anzahl guter Abbildungen und Tafeln trägt viel 
zum leichteren Verständnis bei. 

J. B. Messerschmitt-München. 


A. Grund, Beiträge zur Morphologie des Dinarischen 
Gebirges. Mit 12 Abbildungen im Text, einer Tafel und 
drei Karten. Geographische Abhandlungen, herausgegeben 
von A. Penck, Band IX, Heft3. Leipzig 1910, B. G. Teub- 
ner. 8%. 

Die Beiträge sind eine Fortsetzung zu des Verfassers 
„Karsthydrographie“ und sollen in drei großen Abschnitten 
den Einfluß der jungtertiären „posthumen Störungen“ und 
die Wirkungen der quartären Vergletscherung und Senkung 
auf das Oberflächenbild der Herzegowina zeigen. Diese drei 
Abschnitte enthalten eine Unmenge einzelner Daten und 
Beobachtungen, deren Zusammenfassung zum Teil nochmals 
in einem Schlußkapitel gegeben ist, in dem aber außerdem 
eine Vergleichung des im Dinarischen Gebirge Gewonnenen 
mit den Beobachtungen aus Westbosnien und Istrien durch- 
geführt wird. Danach stammen, wie in dem „Zur Mor- 
phologie des Dinarischen Gebirges“ überschriebenen Schluß- 
kapitel genauer ausgeführt wird, die Formen des Dinarischen 
Gebirges aus zwei Zyklen, von denen der erste die der Ab- 
lagerung des Oligozäns nachfolgende Abtragungsphase dar- 
stellt, welche die Einebnung der Narentakarstebene bewirkte. 
In diesen Zyklus haben junge „posthume Störungen“ ein- 
gegriffen; dadurch entstand ein Stufenland, wodurch wieder 
ein neuer Zyklus eingeleitet wurde. Ein Vergleich zwischen 
den Poljen und Narentaterrassen ermöglichte es, deren gegen- 
seitiges Alter festzustellen, das sich auch in der Morphologie 
der Poljen verrät. Die zwei genannten Erosionszyklen lassen 
sich nur innerhalb weiter Grenzen in die geologische Zeit- 
rechnung eingliedern; sie werden vom Verfasser mit dem 
Miozän und Pliozän gleichgestellt. Auf den letzten Erosions- 
zyklus folgte im Narentatal eine Zuschüttung mit glazialen 
Schottern und eine Senkung der Küstenpartien, während die 
zentralen Teile des Gebirges noch in Hebung verharrten. 
Das Dinarische Gebirge ist aber während der Zyklen nicht 
zu einer einheitlichen Rumpffläche geworden, sondern neben 


ihr finden sich noch Mosorbergländer, die nach ihrem mor- 
phologischen Charakter nicht Teile der Rumpffläche gewesen 
sein können. Der Karstzyklus ist übrigens in räumlichem 
Nebeneinander mit einem fluviatilen Zyklus. — In dem Ab- 
schnitt über die Vergletscherung des Dinarischen Gebirges 
werden die Glazialspuren, fluvioglazialen Ablagerungen usw. 
der einzelnen Teile geschildert und auf Grund dieser Schilde- 
rungen der Versuch gemacht, eine Karte der eiszeitlichen 
Schneegrenze im einzelnen zu zeichnen. Die Gletscherspuren 
stammen nach den Angaben des Verfassers aus der Riß- und 
Würmzeit. In einem Kapitel „Zur Karsthydrographie“ findet 
sich hauptsächlich eine kritische Besprechung der Einwände, 
die gegen die Theorie Grunds von anderen Seiten vorgebracht 
worden sind, daneben aber auch Ergänzungen und Berich- 
tigungen zu seinen früheren Ausführungen auf Grund eigener 
Beobachtungen und der Literatur.. Im ganzen hält er aber 
seine Theorie gegenüber den Ansichten Katzers usw. in ihren 
Grundzügen aufrecht, ebenso wie im Schlußkapitel seine An- 
sicht von der tektonischen Natur der Poljen. Gr. 


Waldemar Jochelson, The Yukaghir and the Yukaghi- 
rized Tungus. Teil I. (The Jesup North Pacific 
Expedition, Bd. IX, Teil 1.) Leiden 1910, E. J. Brill. 

Es ist eine große und verdienstvolle Leistung des russischen 

Ethnographen, die wir hier dankbar anzeigen. Sie bringt 

uns Kunde von einem einst zahlreichen sibirischen Volke, 

das heute auf wenige hundert Köpfe zusammengeschmolzen 
über einen Raum zerstreut lebt, größer als das Deutsche 

Reich. Und wie hat der Verfasser in einem eisigen Klima, 

begleitet von seiner Frau, dort studiert! Jeder Ethnograph 

muß seine Freude daran haben, wie er, aufs beste vorbereitet, 
bei dem untergehenden Völkchen noch alles Wesentliche zu 
erforschen weiß, so daß er für alle Zeiten dieses Volk 
noch festgelegt hat. Zweimal war Jochelson in dem un- 
wirtlichen Lande, dem kältesten der Erde, wo im Winter 

Temperaturen bis — 68°C erreicht werden und wo zuweilen 

das Jahr nur 37 frostfreie Tage zählt. 1895 war der Ver- 

fasser mit einer russischen Expedition dort, 1902 mit der 

Jesupexpedition. Das Ergebnis aus beiden Forschungsreisen 

liegt jetzt, in der ersten Hälfte, hier vor. Es bildet nunmehr 

die beste und zuverlässigste Quelle über die Jukagiren, die 
in diesem Jahrhundert noch völlig verschwunden sein werden. 

Zur Zeit, als die Russen nach Ostsibirien kamen, reichten 
die Jukagiren noch von der Lena bis zur Kolyma und von 

der Eismeerküste bis zum Werchojanskischen Gebirge im 

Süden. Heute sind davon noch kleine isolierte Gruppen auf 

diesem gewaltigen Gebiete übrig, inmitten von Jakuten, Tun- 

gusen und Tschuktschen, in denen sie teilweise aufgehen; 
nur an der Jassatschna und am Korkodon, Nebenflüssen der 

Kolyma, wohnen sie etwas dichter zusammen, auf der weithin 

ausgedehnten Tundra an den großen Flußläufen nomadisierend. 
Der Name Jukagiren, mit dem die Russen das Volk 

bezeichneten, ist wahrscheinlich tungusischen Ursprungs. Sie 
selbst nennen sich Odul, was einen Starken (Krieger) be- 
deutet; zu ihnen gehören auch die jetzt stark russifizierten 

Tschuwantschen. Die Typen des Volkes, die Jochelson auf 

mehreren wohlgelungenen Tafeln mitteilt, kann ich nicht von 


Kleine”Nachrichten. 


115 





denen anderer ostsibirischer Völker unterscheiden; ich habe 
daneben Abbildungen aus Schrenck und aus Middendorff 
gelegt und dort die gleichen Gesichter gefunden, wie denn 
auch der Verfasser sagt, daß die bedeutende tungusische Bei- 
mischung sich sehr stark bemerkbar mache. Das Aussterben 
steht sicher bevor. Jochelson teilt eine Anzahl Daten über 
die Geburtenzahl mit, die sehr gering ist; viele Kinder sterben 
im frühesten Alter, viele Ehen sind unfruchtbar. Ein 
besonderer Völkergeruch der Jukagiren wird festgestellt, 
und statt des Kusses herrscht eine Art Nasengruß. 

Sehr gelobt wird, im Gegensatz zu den Nachbarvölkern, 
die Reinlichkeit der Jukagiren, die sich oft waschen und 
die Seife schätzen, was aber nicht hindert, daß sie stark 
verlaust sind. Unter den Krankheiten sind Masern, Pocken 
und Syphilis die verheerendsten, und diese verdanken sie den 
Russen. Merkwürdig ist, daß sie verhältnismäßig ausgedehnte 
anatomische Kenntnisse besitzen, aber das wird erklärlich, 
wenn man weiß, daß sie das Fleisch von den Knochen ihrer 
toten Schamanen lösen. Sie kennen den Unterschied zwischen 
Arterien und Venen, haben für den Puls einen besonderen 
Namen und geben Erklärungen für die Funktionen der 
Organe. Ein besonderes Kapitel ist einer merkwürdigen 
Nervenkrankheit, „der arktischen Hysterie“, gewidmet, die 
auch bei den Nachbaryölkern vorkommt. 

Was die Zählart betrifft, so spielen dabei die Finger und 
die Zahl 5 ihre Rolle, wie bei so vielen Völkern, daneben 
ist aber auch ein auf die 3 begründetes System in Ge- 
brauch. Kerben in Stöcken dienen zur Unterstützung des 
Gedächtnisses, z. B. der Bezeichnung der Wochentage, da 
sie den christlichen Kalender angenommen haben. Längen- 
maße werden durch Spannen, Handbreiten usw. bezeichnet, 
doch gilt schon die russische Arschine. Aber Entfernungen 
zu bestimmen ist nicht Sache der Jukagiren; sie sagen 
„Midol“ für die Tageswanderung vom Aufbruch des Lagers 
bis zum Wiederaufschlagen, und für die Zeit, die man 
gebraucht, um zu einem näheren Ziele zu gelangen, sagen sie: 
„so lange bis ein Kessel Wasser kocht“ — was an das süd- 
deutsche „der Weg ist eine Pfeife Tabak weit“ erinnert. Die 
Zeiteinteilung des Jahres, beginnend etwa mit unserem Juli, 
geschieht nach zwölf Mondmonaten, für welche sie Namen 
haben. 

Gelobt wird der treuherzige Charakter des Volkes, der 
aber unter dem Einflusse der Russen, von denen es wie 
Sklaven behandelt wird, sehr gelitten hat. „Wer Nahrungs- 
mittel besitzt, muß sie mit jenem, der keine besitzt, teilen“ 
gilt bei den Jukagiren. Über die Sprache wird Jochelson 
eine besondere Arbeit veröffentlichen; er sagt jetzt nur so 
viel, daß sie nach Grammatik und Wortschatz eine durchaus 
isolierte Stellung einnimmt. 

Daß das untergehende Völkchen zumeist aus Rentier- 
nomaden besteht, ist bekannt; außer diesen gibt es auch 
Sippen, bei denen der Hund das Zugtier ist, doch sind diese 
in der Minderheit. Im Jahre 1897 veranstalteten die Russen 
eine Zählung, und da zeigte sich, daß die Kopfzahl der 
Jukagiren, die Tschuwantschen eingerechnet, schon auf 1455 
herabgesunken war, während sie in der Mitte des 18. Jahr- 
hunderts, ehe die Russen ihnen Seuchen brachten, noch 5000 
betrug. Dafür gehören sie aber auch der orthodoxen Kirche 
an, über deren Priester der Verfasser sehr ungünstig urteilt. 

Sehr ausführlich sind die Familien- und Verwandt- 
schaftsverhältnisse behandelt, welche zum Teil recht ver- 


wickelter Art sind, und bei denen die alten Theorien von 
Promiskuität, Gruppenehe, Matriarchat, Brautraub usw. nur 


stellenweise noch Anwendung finden. Jochelson baut darum 
nur an der Hand der Tatsachen von Grund aus neu auf — 
es ist aber ein so weites und oft verwickeltes Gebiet, daß 
wir hier auf das Original verweisen müssen und nur weniges 
andeuten wollen. Da ist zunächst der ungemein freie geschlecht- 
liche Verkehr der jungen Leute, der sehr früh beginnt. Das 
mannbare Mädchen erhält eine eigene Hütte, wo es nach Be- 
lieben die verschiedensten Besucher empfängt. Wiederholt hat 
Jochelson Entbindungen beigewohnt, von denen er interessante, 
ins einzelne gehende Beschreibungen gibt. Der reiche Band, 
dem ein weiterer folgen wird, schließt mit der Schilderung 
der sozialen Verhältnisse, wobei noch erwähnt werden mag, 
daß Spuren eines ehemaligen Totemismus vorhanden sind 
(Tiernamen von Sippen), und berichtet über die Spiele und 
die Blutrache, die heute sehr milde Formen angenommen hat. 
R. A. 


Waldemar Bogoras, Chukchee Mythology. (The Jesup 
North Pacific Expedition, Bd. VII, Teil 1.) Leiden 
1910, E. J. Brill. 

Die allgemeine Schilderung der Tschuktschen hat 
Bogoras in Band 7 der Jesup-Expedition schon früher ver- 
öffentlicht, jetzt folgt als wesentliche Ergänzung die Samm- 
lung der Mythen, Erzählungen, Schamanengesänge, Sprich- 
wörter und Rätsel, welche uns tiefe Einblicke in das religiöse 
und Geistesleben des Volkes eröffnen. Die Texte wurden 
vom Verfasser aus dem Munde der Tschuktschen in deren 
Sprache mit ‚philologischer Genauigkeit aufgeschrieben, mit 
interlinealer Übersetzung versehen und dann frei umschrieben, 
so daß sie ein höchst wichtiges Material nicht nur für den 
Sprach-, sondern auf für den Mythenforscher bilden. Als eine 
Eigentümlichkeit in bezug auf die Sprache hebt Bogoras 
hervor, daß die Aussprache der Frauen von jener der Männer 
abweicht, daß sie z. B. č sprechen, wo die Männer š sagen 
und statt r nach weichen Vokalen 3. Die Buchstaben & und r 
sind aber sehr häufig in der Tschuktschensprache, so daß die 
Rede der Weiber mit ihren gehäuften & und r gegenüber 
jener der Männer einen ganz eigenen Klang erhält. Weiber- 
gesänge der Rentiertschuktschen, die mitgeteilt sind, zeigen 
diese Häufung in hervorragender Weise. Auch bei diesem 
fernen Volke zeigt sich schon der Einfluß der Russen, da in 
den wenigen Sprichwörtern und auch sonst in den. Mythen 
und Erzählungen russische Elemente sichtbar werden. Es 
war auch hier die höchste Zeit, das Ursprüngliche nieder- 
zuschreiben. 

Daß in den Mythen der Rabe Kuurkil, die Riesen, aller- 
hand Geister, Heiraten irdischer Weiber mit dem Monde, 
wunderbare Abenteuer eine große Rolle spielen, ließ sich 
nach dem, was bisher über dieses Thema bei den Paläarktikern 
bekannt wurde, voraussehen, und hier liegt reicher neuer 
Stoff zur Vergleichung mit den Mythen der Nachbarvölker 
und selbst der Nordwestamerikaner vor. Die Schamanen- 
gesänge behandeln vorzugsweise die Beschwörungen, welche bei 
Kranken und zur Herbeilockung von Wild und Fischen ge- 
sungen werden. Die Schöpfungssagen, die in verschiedenen 
Formen erzählt werden, drehen sich meistens um den Raben. 
Auch Kriegsgeschichten wissen die Tschuktschen zu erzählen, 
die von ihren den Russen gegenüber angewendeten Listen 
berichten oder von ihren Streitigkeiten mit den Tannit. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Henry Harrisse.$ Der berühmte französische Ge- 
lehrte Henry Harisse, der hochverdiente Altmeister der ameri- 
kanischen Entdeckungsgeschichte und unermüdliche Forscher 
auf dem Gebiete der Geschichte der Kartographie, ist am 
13. Mai d. J. in Paris im hohen Alter von 80 Jahren gestorben. 
Ein großer Sonderling, der seine letzten Lebensjahre in ab- 
soluter Einsamkeit verbrachte, hatte er auch bestimmt, daß 
sein Tod nicht bekannt gegeben werde und sein Begräbnis 
in allergrößter Stille geschehen solle. H. Harrisse, wahr- 
scheinlich von russisch-jüdischer Abstammung und um 1830 
in Paris geboren, kam früh nach den Vereinigten Staaten 
und wurde dort Advokat am Obergericht in New York. Er 
wandte sich aber bald geschichtlichen Studien, insbesondere 
der amerikanischen Entdeckungsgeschichte zu und wurde auf 
diesem Gebiete ein ausgezeichneter Nachfolger Al. von Hum- 
boldts und d’Avezacs. Unter seinen zahlreichen wertvollen 
Schriften seien zunächst genannt: „Fernand Colomb, sa vie 
et ses oeuvres“ (1872); „Christophe Colomb, son origine, sa vie, 


ses voyages, sa famille“ (Paris 1884, 2Bände); „Jean et Sébastien 
Cabot, leurs origines et leurs voyages au nouveau monde“ 
(1883). Seine Hauptwerke sind: „History of the Discovery 
of North America. A critical and documentary Investigation, 
with a Cartographia Americana Vetustissima“ (Paris 1892, 
ein Quartband von 804 Seiten); „Découverte et évolution carto- 
graphique de Terre-Neuve et des régions circonvoisines (1497, 
1501, 1769)“, Paris 1900; „Excerpta Colombiniana“ (Paris 
1887). Harrisses Werke haben ganz besonders in Deutsch- 
land durch Hermann Wagner, Sophus Ruge und andere An- 
erkennung gefunden, wie der Verfasser denn auch zum korre- 
spondierenden Mitgliede der Göttingenschen Gelehrten Gesell- 
schaft ernannt wurde. W.W. 


— Mitwirklich staunenswerter Schnelligkeit ist jetzt schon 
ein vorläufiger Bericht über die Arbeiten und Resultate der 
von Dr. Charcot geführten antarktischen Expedition 
auf der „Pourquoi pas?“ erschienen, der von dem Stab der 


116 


Kleine Nachrichten. 





Expedition auf der Heimreise von Montevideo bis zu der am 
5. Juni erfolgten Landung in Frankreich vorbereitet wurde. 
(Institut de France, Académie des Sciences, Rapport prelimi- 
naire sur les travaux exécutés dans l’Antarctique par la mission 
commandée par Mr. le Dr. Charcot de 1908 à 1910.) Es ge- 
nüge hier, darauf hinzuweisen, daß die Expedition mehr als 
2000 Meilen neuen Landes entdeckt hat und von den Süd- 
Shetlandinseln weit nach SW und W fuhr, hier an der Eis- 
mauer bis zum 126.Grad östlicher Länge vordringend, daß 
große Küstenstrecken neu kartiert wurden, geologische und 
glazialogische Beobachtungen angestellt wurden, meteorolo- 
gisch gearbeitet, an verschiedenen Stellen Schwerkraftsbe- 
stimmungen durchgeführt, die Gezeiten studiert wurden, daß 
man ungefähr 100 Tiefenlotungen im Meer ausführte, von 
denen 13 über 1000 m hinabreichten, daß außerdem Zoologie 
und Botanik und viele andere Aufgaben gefördert wurden. 
Man sieht daraus, wie vielseitig die Expedition ihre Zeit aus- 
nutzte. Wegen der Resultate selbst muß auf den Bericht 
verwiesen werden, da auch für ihre einfache Aufzählung hier 
der Platz nicht zur Verfügung steht. Gr 


— Die Jünnanbahn. Nach mehr als achtjähriger 
Bauzeit ist am 1. April d. J. die Eisenbahnlinie, welche die 
französische Kolonie Tonkin mit der chinesischen Nachbar- 
provinz Jünnan verbindet, vollendet worden (Annales de Géo- 
graphie 1910, 8. 279/80). Ihre Gesamtlänge von dem Hafen 
Haiphong bis zur Endstation Jünnanfu beträgt 855 km, wovon 
388 km auf das französische Gebiet entfallen. Bis zur Grenz- 
station Laokay, die in 90m Höhe gelegen ist, folgt die Bahn 
dem Laufe des Roten Flusses oder Songkoi; jenseits dieses 
Ortes beginnt der Anstieg nach den Hochflächen von Jünnan, 
die Linie biegt in das Namtital ein und überschreitet in 
1710m Seehöhe die Wasserscheide zwischen dem Songkoi- 
und dem Sikiangsystem. Sie fällt nun wieder bis auf 1960 m 
und endet, nachdem sie kurz zuvor mit 2030 m ihren Scheitel- 
punkt erreicht hat, in Jünnanfu in einer Höhe von 1900 m. 
Die Maximalsteigungen der Linie betragen 25 pro Mille, die 
kleinsten Krümmungsradien 100 m (Bulletin de la Société des 
Ingénieurs coloniaux 1908, 8. 487 bis 517). Der Bau dieser 
Gebirgsbahn bot ganz außerordentliche Schwierigkeiten; die 
Ausführung der ursprünglich vorgesehenen Trasse über 
Mongtse und Linganfu mußte aufgegeben und an ihrer Stelle 
eine völlig neue Linie östlich der alten gewählt werden. 
Das mörderische Klima des Namtitales raffte eine erschreckend 
hohe Zahl von Arbeitern und Beamten hinweg. Die Bau- 
kosten stellten sich auf etwa 162000000 Fr. oder 70000000 Fr. 
mehr als veranschlagt. 

Die Konzession für die Linie wurde von der chinesischen 
Regierung im Jahre 1898 erteilt, die Gründung der Jünnan- 
bahngesellschaft erfolgte im Jahre 1901. Die erste 102 km 
lange Teilstrecke Haiphong—Hanoi, auf der sich alsbald ein 
äußerst lebhafter Lokalverkehr entwickelt hat, wurde im 
Jahre 1902 vollendet; die Eröffnung der Linie bis Laokay 
erfolgte im März 1906. 

Der Bau der Jünnanbahn stellt eine hervorragende 
Leistung der französischen Technik dar, die überall die ver- 
diente Anerkennung finden wird. Die Dauer der Reise zwi- 
schen Haiphong und Jünnanfu, die früher bergab zwei, 
bergauf mehr als vier Wochen erforderte, ist heute auf zwei 
Tage Eisenbahnfahrt verkürzt. Sehr geteilt sind dagegen 
die Ansichten über den wirtschaftlichen Wert des neuen 
Schienenweges. Allerdings sichert die Bahn den Franzosen 
bei ihrem Vordringen in Südchina einen großen Vorsprung 
gegenüber England, das den Bau einer Eisenbahnlinie von 
Burma nach Jünnan noch nicht durchsetzen konnte. Aber die 
natürlichen Reichtümer Jünnans, das von französischer Beite 
als ein Land geschildert wurde, in dem Milch und Honig 
fließt, sind noch recht wenig entwickelt. Weder der Bergbau 
noch die Landwirtschaft vermag zur Stunde ein für den 
Eisenbahntransport lohnendes Massenprodukt zu liefern. Auch 
die früher recht bedeutende Opiumausfuhr Jünnans droht 
aufzuhören, seitdem die chinesische Regierung den Mohnbau 
verboten hat. Da aber die Bauern zum Ersatz den Maisbau 
aufgenommen haben, erscheint es nicht ausgeschlossen, daß 
der Mais den ersten wichtigen Ausfuhrartikel der Eisenbahn 
abgeben wird. Auf jeden Fall dürfte aber noch eine Reihe 
von Jahren vergehen, bevor Frankreich von der Bahnlinie 
den erhofften Nutzen ziehen wird. 


— Wenn man noch darüber im Zweifel sein konnte, daß 
die neuere Forschungsart auf prähistorischem Gebiete der 
älteren weit überlegen ist und hier unter dem Einflusse der 
Geologie eine ganz andere, mehr wissenschaftliche Methode 
Platz gegriffen hat, so benimmt die von dem Tübinger Prä- 


historiker Dr. Robert Rudolf Schmidt herausgegebene 
vorläufige Schrift: Der Sirgenstein und die diluvialen 
Kulturstätten Württembergs (Stuttgart 1910) die letzten 
Zweifel. Frankreich war uns in dieser Beziehung methodisch 
vorangegangen; hier aber liegt eine ebenbürtige Arbeit vor 
und findet eine scharfe Klassifikation der Chronologie der 
verschiedenen Kulturen des Eiszeitalters statt, nicht mehr, 
wie bisher meistens geschah, einer einzigen Diluvialepoche, 
wobei Geologie und Paläontologie hilfreiche Hand leisten. 
Der Sirgenstein ist ein Fels des Weißen Jura in der Gegend 
von Blaubeuren, seine Höhle bewahrt die Jahrtausende alten 
unberührten Überbleibsel der Urzeit, die Dr. R. R. Schmidt 
heben konnte, wobei sich als ganz sicher ergab, daß es sich 
hier um eine untere, mittlere und obere Diluvialschichtung 
handelte, die durch klimatische Faktoren veranlaßt war. Die 
untere Stufe, in welcher der Höhlenbär mit 90 Proz. der 
Tierreste als Jagdtier vertreten ist, zeigt die sogenannte 
Moust6rienkultur samt der La Quina-Kultur, so genannt nach 
einer besonderen Art von Feuersteinschabern. Die mittlere 
Diluvialschicht ist vertreten durch die (nach französischem 
Vorbilde) sogenannte Aurignacien- und Solutreenkultur, wäh- 
rend die obere Diluvialstufe durch die Magdaleniengeräte 
vertreten ist. Im ganzen hat der Verfasser etwa 5000 Feuer- 
steingeräte aufgefunden. Aber abgesehen von der erwähnten 
Dreiteilung konnte Schmidt als wichtigstes Ergebnis seiner 
Forschungen den Nachweis von acht eiszeitlichen Kultur- 
epochen am Sirgenstein führen, eine so reiche Kulturenfolge, 
wie wir sie wohl aus Westeuropa kennen, die aber zum 
ersten Male hier auf deutschem Boden nachgewiesen wird. 

— Eine ganz eigenartige Weise der Stoffverzierung 
ist von den Toradja auf Mittel-Celebes bekannt ge- 
worden, über die wir jetzt durch den Jahresbericht 1909 des 
völkerkundlichen Museums „Maritiem Museum Prins Hendrik“ 
zu Rotterdam unterrichtet werden. Die Überkleider dieses 
Volkes sind nämlich mit Figuren versehen, die durch fein 
pulverisierten Glimmer (Batoe Banggai) hergestellt werden. 
Das Kleidungsstück selbst besteht aus geklopftem Baumbast. 
Es zeigt die Naturfarbe und ist nur an der sichtbaren Außen- 
kante schwarz gefärbt, und auf diesem schwarzen Unter- 
grunde heben sich die silberglänzenden weißen Figuren ab. 
Während man nun auf Sumatra Glimmerplättchen aufnäht 
und auf Bali Blattgold mit Eiweiß aufklebt, klebt man bei 
den Toradjas den fein pulverisierten Glimmer auf, der so 
glänzende Figuren bildet. Das erinnert an ein: Verfahren, 
das die Afridis im nordwestlichen Indien (Gegend von Kabul) 
anwenden. Sie bemalen ihr Gewebe mit einem klebrigen 
Saffloröle (nicht mit Wachs, wie zuweilen gesagt wird) und 
bestreuen dann die so hergestellten Figuren mit dem pulveri- 
sierten Glimmer, der nach dem Trocknen des Oles fest auf 
dem Stoffe haftet. 


— Paläontologische Entdeckungen in einer Vor- 
stadt von Triest. Dem städtischen Museum für Natur- 
geschichte in Triest wurden einige sehr interessante Tierreste 
übermittelt, die gelegentlich einer Erdaushebung längs des 
Wildbaches Sette Fontane auf einem Landgute gemacht 
wurden. Es sind Rhinozeroszähne, also Reste, die von einem 
Tiere stammen, das in der quaternären Zeitepoche unsere 
Gegenden bewohnte. Dann wurden noch Geweihe vom Ur- 
hirsch, vollständig kalziniert zwischen zwei Sandschichten 
gebettet, die diese Reste einschließen, gefunden. Die voll- 
ständige Kalzinierung des Geweihstückes gestattet die An- 
nahme, daß dieser Prozeß Hunderttausende von Jahren ge- 
dauert hat. Dr. L. K. Moser. 

— In einem Aufsatz über die Verschiebungen der Atmo- 
sphäre im Jahreslauf (Annalen der Hydrographie 1910, 
S. 349) bespricht W. Köppen in gedrängter Form die Entwicke- 
lung unserer Kenntnis von dem jährlichen Transport großer 
Luftmassen, der dadurch angezeigt wird, daß im Nordwinter 
der Luftdruck über den Kontinenten, im Südwinter über den 
Ozeanen stark steigt. Für den bisher unbekannten Teil der 
Südhalbkugel ließen sich der jährliche Gang und die Größe 
des Drucküberschusses aus den numerischen Auswertungen 
für die bekannten Teile der Erde ableiten; die Beobachtungen 
der letzten antarktischen Expeditionen wiesen aber diesen 
Überschuß nicht auf, so daß dadurch ein neues Rätsel ent- 
stand. Die Lösung sucht Meinardus, auf den Köppen verweist, 
in einer mutmaßlichen großen Höhe des antarktischen Kon- 
tinents, die aus dem erwähnten meteorologischen Material 
auf 2000 + 200m geschätzt wird. Um die Größe dieser Zahl 
zu fassen, vergleiche man mit ihr die mittlere Höhe der ein- 
zelnen Erdteile oder die der gesamten Landflächen der Erde, 
die nur 700 m beträgt. Gr. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 655. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


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Sonderbeilage zum Globus, Bd. XCVIII, Nr. 8. 








GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- UND VÖLKERKUNDE. 
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN«. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 





Bd. XCVIII. Nr. 8. 


BRAUNSCHWEIG. 


1. September 1910. 


Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


Abflußlosigkeit und Entwässerung im Orient. 


Von Ewald Banse. 


Braunschweig. 


Mit einer Originalkarte und 5 Tabellen. 


Der Orient ist der größte Trockenraum unseres 
Planeten, nur das Binnengebiet Innerasiens kommt ihm 
ungefähr gleich. 

Zwischen dem 17.und 36.Grad nördl. Br., dem 17.Grad 
westl.und dem 74.Grad östl. L.!) dehnt sich ein Abschnitt 
der Erdoberfläche, der weniger als 200 mm Niederschlag im 
Jahre empfängt. Ihn säumt ein in der südlichen Sahara 
und dem nördlichen Vorderasien sehr breiter Gürtel mit 
Niederschlägen unter 600 mm. Davon sind wohl zwei 
Fünftelin einer für spontane Landwirtschaft ungenügenden 
Menge benetzt, so daß sie, gerade in der Gegenwart durch 
eine kulturfeindliche Religion und stupide Regierungen ver- 
nachlässigt, in wirtschaftlicher Beziehung tatsächlich dem 
natürlichen Dürreraum gleich zu rechnen sind. 

Die Verteilung der Temperatur und durch sie des 
Luftdrucks ergibt im Winter im allgemeinen süd- 
wärts gerichtete Luftströmungen, die, aus kühleren in 
wärmere Breiten übergehend, von vornherein der Konden- 
sation abgeneigt sind. Bloß örtliche Eigenheiten, 
insbesondere in kalte Schichten aufragende Gebirge, 
erwirken höhere Regenziffern, die jedoch im Verhältnis 
zum Körper des ganzen Orients wenig ausgedehnt sind. 
Der Atlas, der Dschebel Tripolitaniens und Barkas, die 
Horste Syriens, die Faltenketten Kleinasiens, Armeniens 
und Nordirans gehören dahin. Im Sommer erhitzt sich 
die ganze Region intensiv und bildet den heißesten Teil 
der Erdoberfläche. Die 30°-Isotherme hält sich ungefähr 
in der Nähe der Grenzen des Orients. Diese Erwärmung 
und Luftauflockerung bedeutet die Anziehung der um- 
gebenden Teile der Atmosphäre. Am polaren Rand also 
wieder nordsüdliches, mithin kondensationfeindliches Ge- 
fälle. Am äquatorialen Rahmen südnördliche Winde: der 
Süden der Sahara und Arabiens haben dann Sommerregen. 

Der riesige Trockenraum wird biologisch in tausend- 
fältiger Beziehung wirksam. Er trennt Pflanzen- und 
Tierprovinzen gerade wie Rassen, nur spärlich läßt er 
manche ihrer Vertreter sich begegnen. Doch wäre es 
unnatürlich, ihm eigene aktive Kraft abzusprechen. 
Einen arabischen Volksschlag hat bloß der Orient ge- 
züchtet, das einhöckerige Kamel, die Dattelpalme sind in 
der Hauptsache auf sein Bereich beschränkt. 

In jedem Gebiet kann man mindestens zwei (mehr 
oder weniger feine bzw. grobe) Gegensätze hervorheben, 


1) Der Westpunkt des Orients ist 17°5’ westl, L., der Ost- 
punkt 71° 35’ östl. L. Das Nordende bezeichnet 42° 9’ nördl. Br., 
das südliche 12°38’ nördl. Br. Der Länderkomplex erstreckt 
sich also über 88 Grade und 40 Minuten in westöstlicher 
und 30 Grade und 11 Minuten in nordsüdlicher Richtung. 


Globus XCVIII. Nr. 8. 


die der Ränder und der Mitte. Jene werden stets 
komplizierter organisiert sein, da die Nachbarschaft sie 
beeinflußt. Es ist klar, daß in einem so großen und 
von der Natur so eigenartig ausgestatteten Länder- 
komplex, wie der Orient es ist, die Unterschiede ganz 
besondersinteressante Ursachen und Wechselerscheinungen 
darbieten werden. Da die Charakteristika des Klimas 
im Morgenlande ganz ausschließlich hervortreten und 
sämtliche Verhältnisse vielleicht mehr oder, besser, auf- 
fälliger beherrschen als anderswo, so lassen die Differenzen 
ausschließlich auf klimatische Gründe sich zurückführen. 

Diese aber finden ihren augenfälligsten Ausdruck in 
der Umreißung und Hervorhebung des Begriffs der Ab- 
flußlosigkeit. 

Die Unterscheidung von abflußlosen oder zentralen 
und zum Meer entwässerten oder peripherischen Teilen 
bildet die erste Aufgabe der Öberflächenkenntnis des 
Morgenlandes. In ihr bergen sich die Geheimnisse der 
orientalischen Länderkunde, soweit man absieht von dem 
Innern des Bodens. 

Deshalb will ich im folgenden bestimmen und zahlen- 
mäßig fixieren sowohl die zum Meer entwässerten, als 
die abflußlosen Gebiete. Dabei ergibt sich eine Fülle 
interessanter Tatsachen, deren Erscheinungen ich an 
dieser Stelle allerdings nur zum allerkleinsten Teil nach- 
gehen kann. 

Die Messung führte ich in gleicher Weise aus, wie es 
skizziert wurde in der Arbeit „Der Orient, Begriff, 
Areal und Volksdichte“ 2). Doch sei bemerkt, daß es 
bei einem solchen ersten Versuch weniger ankommt auf 
exakte Zahlen — die die Karten uns meist noch nicht 
gewähren — als auf die Möglichkeit, die betreffenden 
Verhältnisse der einzelnen Länder untereinander ver- 
gleichen zu können. Deshalb sind die Ziffern ab- 
gerundet auf die Tausender. 


Überblickt man die beigegebene Karte, so fallen drei 
größte Gebiete der Abflußlosigkeit auf: das saharische 
(7807000 qkm = 46,4%/, des Orients), das arabisch- 
syrische (2568000 = 15,3°/,) und das iranisch-armenische 
(2072000 —12,3%/,)., Es mag zunächst seltsam er- 
scheinen, daß ihre Größe wächst mit der Annäherung an 
das regenspendende Atlantische Meer, doch erklärt die 
Zerteilung des Asiatischen Orients die Mehrzahl und die 
relative Kleinheit seiner zentralen Partien, wie auch 
im Verein mit der differenzierten Faltengebirgsnatur das 





2) Peterm. Mitt. 1909, Heft 11 und 12. 
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Banse: Abflußlosigkeit und Entwässerung im Orient. 





Vorkommen einer Anzahl kleinerer abflußloser Flecke. 
Kann man in der afrikanischen Orienthälfte bloß zwei 
wichtigste Zentralexklaven aussondern, so sind es in der 
asiatischen sechs. Und auch die arabisch-syrische 
Provinz zerfällt ziemlich scharf in drei Unterabtei- 
lungen. 

Der Verlauf der Grenzlinien der Abflußlosigkeit ahmt 
im allgemeinen die Bildung der entsprechenden Küsten 
nach, die einzige größere Ausnahme bewirkt in Nordost- 
afrika der Nil, der die Östgrenze der saharischen Zentral- 
region weit abdrängt vom Erythräer-Ufer, dem sie bei 
Fehlen des Stromes konform laufen würde. Die merk- 
würdige Einbauchung in Nordostarabien ist mehr theo- 
retischer Natur. 

Ich unterscheide zwei Arten abflußloser Gebiete. 
Solche im vollen Umfange des Wortes, also Zentral- 
regionen höherer Ordnung, und solche, die selb- 
ständige Teile jener darstellen, Zentralprovinzen 
niederen Grades. Zu den ersten gehören sämtliche 
meerabgeneigten Stücke der Oberfläche, ohne Rücksicht 
auf die Größe, allein in Hinblick auf ihre Selbständigkeit. 
So ist der kleine Zentralklex Nordwestmesopotamiens 
ebensogut ersten Ranges wie die nordafrikanische 
Zentralregion, die zwischen Senegal und Niger und 
zwischen ihm und dem System des oberen Nil beträcht- 
lich über die Orientgrenzen hinausgreift. Andererseits ist 
der große abflußlose Raum Irans nur ein Bruchteil der 
riesigen Zentralweiten Asiens und deshalb in hydro- 
graphischem Sinne ein Element zweiter Ordnung. Im 
Verein mit dem kaspischen Zubehör Armeniens müssen 
wir ihn aber im Rahmen der Orientgeographie als 
Individuum höheren Sinnes ansehen. 

Es finden sich demnach acht abflußlose 
Regionen erster Ordnung. Die saharische, die west- 
(57 000 qkm) und die ostnubische (62000), die arabisch- 
syrische, die beiden mesopotamischen (zwischen Belich 
und Chabur 9000; zwischen Chabur und Tigris 29 000), 
die kleinasiatische (77000), die iranisch-armenische. Sie 
umfassen zusammen 12949000 qkm, d. h. nicht weniger 
als 77°/ des Orients! 

Um die Bedeutung dieser Zahl zu verstehen, muß 
man sich klar werden über die Wirkungen der Ab- 
flußlosigkeit. 

Der hervorstechendste Charakterzug im Antlitz der 
Zentralgebiete ist der Mangel einer hydrographischen 
Verbindung mit dem Weltmeer. Daraus folgt morpho- 
logisch der schärfste Unterschied gegenüber peripherischen, 
meerverbundenen Landen: während hier die Abtragung 
das letzte Ziel der exogenen Erdumbildner ist, fehlt sie 
doch wenigstens in absolutem Sinne, denn der Erosion hält 
die Wage die Akkumulation, die nichts weiter ist als der 
kategorische Imperativ der Schwerkraft und des lücken- 
los umzirkenden und in sich zurücklaufenden Wasser- 
scheidegürtels. Die Erschaffung einer flachen Ebene ist 
die Tendenz des Begriffs der Abflußlosigkeit, die natür- 
lich durch endogene Vorgänge mannigfach gestört wird. 
Eine Verbindung mit der See ist also einzig auf dem 
Luftwege möglich, durch den Wind. Schon darin zeigt 
sich, eine wie große Rolle ihm in Zentralregionen 
zukommt. 

Da die Ausebnung überhaupt das Endziel der Erd- 
oberflächenkräfte ist (auch die erdinnerlichen steuern 
doch schließlich darauf los), so erweisen sich die Zentral- 
gebiete als verkleinerte Abbilder des Gemäldes der 
Planetenrinde. Da sie aber die flächenhafte Ausdehnung 
des allgemeinen geographischen Zyklus beeinträchtigen 
und schädigen, so weichen sie von der Norm ab: sie 
sind ungesunde Ausnahmen, morphologische Krank- 
heitserscheinungen der Erdoberfläche. 


Versteht man also die Zentralherde, wie ich sie 
nennen möchte, als unnormale Auswüchse, so wird man 
viel leichter sehen, daß sie in jeglicher geographischer 
Beziehung schädigend wirken. Die Erscheinungen 
auch nurzu streifen, würdezu weit führen. Siesind ja eben der 
Gegenstand der länderkundlichen Behandlung überhaupt. 
Nur das sei unterstrichen, daß die drei abflußlosen Vierteile 
des Orients seine Menschenarmut erklären und seine kultu- 
relle Rückständigkeit erklären helfen. Der Zentralgürtel 
ohne Ende wirkt wie eine Mauer, den Blick der Bewohner von 
den Außenlanden nachinnen wendend, wodoch kein blinken- 
des Ziel, seine Grenzzone ist schwerer und kostspieliger zu 
passieren, denn hohe Gebirgspässe, kurz er bezeichnet 
einen Saum, an dem tatsächlich die Welt mit Brettern 
zugenagelt scheint. Die 77°/, abflußlosen Landes, 
verstärktdurch 13%, nurperiodischentwässerten 
Bodens: sie sind die festeste Klammer des Orient- 
verbandes und der innerste Wesensgrund seiner 
Rückständigkeit! 

Im Gegensatz zu den Zentralherden nehmen die durch 
Abfluß mit dem offenen Meer verbundenen Länder- 
strecken peripherische Lagen ein. Manchmal sind 
sie so schmal, daß sie nur aus dem Bereich der vom 
Küstensteilrand meerab gesenkten kurzen Rinnen 
bestehen. Nirgends entwickeln sie sich zu bedeutender 
Breite. Im Afrikanischen Orient bloß in Südmarokko, 
Südtripolitanien und Südnubien; im Asiatischen sind Ost- 
anatolien und Westarmenien, das Ursprungsland der 
hethitischen Kultur, von Meer zu Meer durchgehendes 
Randgebiet, ja südöstlich bis zum 30. Parallel zieht ein 
ausgesprochenes Band abflußreicher Landschaften. In 
dieser anatolisch-kurdischen Zone ist überhaupt die 
Entwässerung innerhalb der Orientgrenzen am regsten 
entwickelt und am folgenreichsten, hier ist der größte 
zusammenhängende Komplex peripherischer Gebiete (und 
zu seinen Füßen stand die Wiege der sumerischen 
Kultur). Da aber eben hier drei Meere (vom binnen- 
ländischen Kaspischen Meer abgesehen) einander sich 
nähern: Schwarzes, Mittelländisches Meer und Persergolf, so 
ist auch das anatolisch-kurdische Band als randlich zu 
betrachten. Deshalb nenne ich die Abfluß zur See 
genießenden Teile des Orients Randländer. Sie umfassen 
3874000 qkm, also nur 23°/, des Orients. Doch sind 
sie der Schauplatz dessen, was das Morgenland bisher 
an wertvolleren Kulturgütern hervorgebracht hat. Die 
ehemals oder jetzt höheren Kulturkreise 'konzentrieren 
sich aber auf noch kleinere Gebiete, nämlich diejenigen, 
welchen fließendes Wasser das ganze Jahr hindurch die 
Unterlagen bietet zu reger Wirtschaft. Der größere 
Teil jener 23°/, steht nämlich nur in Zwischenräumen, 
während und nach?) der Regenzeit mit dem Ozean in 
hydrographischem Konnex. So haben also nachweisbar 
periodisch Abfluß 2207000 qkm, d. s. 57°/, der 
Randländer, ständig aber 1667000 qkm, nur 33%, 
derselben. 

Von den einzelnen Meeren hat am meisten Anteil 
am orientalischen Länderraum#) das Atlanter- 
meer, nämlich 11,90/, (1993000 qkm). Davon kommen 
auf den eigentlichen Ozean (westlich der Gibraltarstraße) 
aber nur 478000 qkm, während das Mittelmeer (im 
weitesten Sinne) 1515000 qkm näher beeinflußt. Mediterran 
sind also nur 9°/, des Morgenlandes. Sie verteilen sich 
auf zwei Hauptherde, den anatolisch-syrischen und den 
atlassisch-tripolitanischen. Zwischen beiden klafft die 
kyrenisch-marmarikanische Lücke, die somit in kultureller 
Hinsicht viel beiträgt zur Selbständigkeit des Rarb. Im 
3 Ganz selten und bloß vorübergehend auch vorher. 


4) Ich verstehe darunter die perennierend und periodisch 
zu dem betreffenden Meere abfließenden Gebiete. 


Banse: Abflußlosigkeit und Entwässerung im Orient. 


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einzelnen betragen die Anteile des Ägäischen Meeres 
(mit Marmara) 106000 qkm, des Schwarzen 243000 und 
des Mittelmeeres ohne jene beiden 1036000. 

Nicht viel geringer als das atlantische Bereich ist 
das des Inderozeans: 1971000 qkm = 11,7%/, des 
Orientareals. In erster Linie gehören das süd- und 
westiranische, das südwestarmenische und das mesopo- 
tamische Gebiet hierher, und zwar nicht allein in hydro- 
graphischer Beziehung, sondern ganz besonders auch in 
wirtschaftlicher. So beansprucht auch der Persergolf 
nicht weniger als 882000 qkm oder 5,2°/, des Orients, 
also immerhin etwas mehr als die Hälfte des mediterranen 
Prozentsatzes. Beider Gebiete berühren sich in Nord- 
und Westarmenien sowie in Südostanatolien, und in den 
letzten beiden Landschaften stiegen ja auch die alten 
Königsstraßen über die taurischen Höhen. Dem Indischem 
Ozean im besonderen (also außerhalb des Persergolfs und 
des Roten Meeres) gehen die Abflüsse von 687000 qkm 
zu, dem Roten Meer 402000 (2,4%, des Orients; 
Abessiniens Anteil also nicht gerechnet). Dem Kaspischen 
Meer gehören 268000 qkm (1,6°%/,), dem Aral 
116000 (0,7%). 

Die vier orientalischen Regionen: 


IL Die Atlasländer. 


1. Die Grenze dauernd entwässerten Gebiets 
fällt im Rarb nur auf einer einzigen Strecke deutlich 
sichtbar mit einem Hauptkamm zusammen (von 7 bis 
fast 5° westl. L.), sonst verläuft sie häufig über mehr 
oder minder ebene Flächen, ja in Ostmarokko und 
Algerien deckt sie sich im großen Ganzen mit dem Süd- 
rand des Tellatlas. Auch in Tunisien geht sie ungefähr 
konform mit der Nordgrenze Mitteltunisiens. Das zeigt, 
daß der nördliche Atlaszug wohl genug meteorologische 
Energien besitzt, in seinem eigenen Bezirk der Dauer- 
erosion der Wässer eine hervorragende Stellung zu sichern, 
nicht aber, den im Regenschatten schmachtenden und 
darum steppigen Binnenraum zu erobern. Das Gegenteil 
erblicken wir in Marokko. Hier ist das Atlasvorland nicht 
hoch genug, die atlantischen Westwolken zu kondensieren, 
und deshalb sehen wir die meernahen Teile südlich des 
34. bis 33. Parallels ohne dauernde Eigenentwässerung. 
Das Gebiet der ständigen hebt erst an jenseits einer 
etwa 50km vor dem Fuß des Hohen Atlas beginnenden 
Zone. Mit den Tälern der Umm er rebia, des Tensift 
und des Sus durchschneidet sie das periodische Vorland in 
drei Stücke, Schauja, Abda und Haha. 

In dem Umstand, daß die Randzone dauernd ent- 
. wässerten Bodens in Marokko (30°15’) um 5° 15’ süd- 
licher reicht als in Tunisien (35°30'), zeigt sich ganz 
klar die wichtige Rolle des Atlantermeers als Regen- 
machers und die Bedeutung des Gebirgssystems als 
Regenvertreibers. 

Das ganz perennierend zum Meer abfließende Areal 
umfaßt 259000 qkm, d. s. 34, 5”/, der ganzen Berberei, 
ein im Orient nur in der Region des gefalteten Vorder- 
asiens etwas übertroffener Prozentsatz. In Marokko 
beträgt es 141000 qkm=35,7%/, des Landes, in 
Algerien 90000 qkm—=32,5°%/,5) und in Tunisien 
28000 qkm = 35,9°/, des tunisischen Bodens. 

2.Dielnnengrenze desnurperiodischentwässerten 
Raumes illustriert fast noch augenscheinlicher die Be- 
deutung der maßgebenden Naturfaktoren, namentlich der 
See. Sie scheint sich durchaus nicht um den Saharaatlas 
zu kümmern, denn dessen Bereich berührt sie nur an 
zwei Stellen, der Gegend des 2. Meridians, dort wo der 


®) Im Oranschen Anteil 31000 qkm, in dem von Alger 
29000 und in dem von Constantine 30000. 


Scheliff seine fernsten Winterwasser sammelt, und im 
östlichsten Algerien unter dem 8. Längenkreis, wo die 
feuchtende Wirkung der Kleinen Syrte sich bemerkbar 
macht. Daß die Südgrenze nicht weiter äquatorwärts 
verläuft, liegt offenbar erstens daran, daß die Flüsse des 
Tellatlas®), d. h. seine kondensatorische Energie, nicht 
stark genug sind, das algerische Binnenplateau anzu- 
zapfen, und zweitens an den niedrigen Niveauverhältnissen 
desselben. 

In Tunisien also drängt die Kleine Syrte dort, wo 
Gebirge sind (deren Stellung den Seewinden offene Tore 
bietet), die perennierende Grenze im Hinterland zurück, 
in Algerien und Ostmarokko springt sie im Regenschatten 
des Tellatlas weit nordwärts vor, in Mittelmarokko läuft 
sie eine Strecke sogar mit auf dem Hauptkamm (vom 
Ajaschin gen Südwesten). Sofort aber, wo ähnliche 
Verhältnisse eintreten, wie in Tunisien, da wo der Hohe 
und der Antiatlas das Land zum Meer öffnen, senkrecht 
gegen die Küste ausstreichen, da im Südmarokkanischen 
springt die Grenze weit ins Binnenland zurück. Dazu die 
drei genannten Exklaven des Atlasvorlandes. 

Das ganze, nur periodisch mit dem Meer korrespon- 
dierende Areal des Rarb umgreift 222000 qkm = 29,7°/,. 
In Marokko beträgt es 152000 qkm = 38,6°/, des 
Landes’), in Algerien 37000 qkm = 13,4°/8) und in 
Tunisien 33000. 

3. Die Nordgrenze des ständig abflußlosen Gebietes 
unterliegt den Gesetzen des Südrandes des periodisch ab- 
fließenden Teils, mit dem sie ja gleichläuft. Ich beschränke 
mich deshalb auf die Anführung der Zahlen. 

In Marokko sind gänzlich ohne Abfluß 101000 qkm 
—25,7%/, des Landes, in Algerien sogar 150000 qkm 
—=540/, (!), in Tunisien?) 17000 qkm = 21,8°/,. Im 
Bereich des Rarb überhaupt 286000 qkm = 35,8°/,10). 

Lehrreich ist eine Zusammenstellung der einzelnen 
Verhältnisse zu einer Tabelle (I) und ihr Vergleich mit 
den Volksdichten. Es zeigt sich, daß zwischen ihnen 
sehr intime Fäden laufen, zumal zwischen den Prozent- 
sätzen abflußlosen Areals und den Volksdichten. Sind 
jene hoch, sinken die letzten, verringern sich die ersten, 
steigen diese. 

Die Anteile der Meere. Die Wasserscheide 
zwischen dem Atlantischen Ozean im engeren Sinne | 
(westlich der Gibraltarstraße) und dem Mittelmeer ver- 
läuft anfangs auf dem nördlich gerichteten Aste und dem 
ostsüdöstlich orientierten Teile des Rif (und zwar der 
inneren Mauer), biegt unter dem 4. Meridian westlicher 
Länge gen Mittag um und erreicht in südwestlichem 
Sinne den Hohen Atlas dort, wo die Nordgrenze des 
abflußlosen Gebietes ihn nach Süden verläßt. Die Muluja 
erobert hier der mediterranen Einzugssphäre einen langen 
Sporn. 

Zum Atlantermeer werden nun ständig entwässert 
89000 qkm, periodisch aber 138000, so daß die atlantische 
Zone des Atlas 227000 qkm umfaßt, d. s. 30,3%/, 
des Gesamtareals. Nach dem Mittelmeer fließen ab 
perennierend 169000 qkm, zur Regenzeit 84000, zu- 
sammen also 254000 qkm = 33,9°/0 der Berberei. Das 
mediterrane Bereich ist also eine Kleinigkeit größer als 


¢) Mit der erwähnten Ausnahme natürlich, den Systemen 
des Scheliff und des Medscherda. 

7) Südmarokko (Bereich des Antiatlas) 76000 qkm; Ost- 
marokko (Ed Dahra) 15000 qkm; Westmarokko (Haha, Abda 
und Schauja) 61000 qkm. 

®) Im Oranschen 20000 qkm, im Algerischen nur 8000, 
im Coustantineschen 9000. 

°) Ich halte es nicht für überflüssig, zu bemerken, daß 
es sich nicht um die politischen Begriffe handelt, sondern 
um natürlich umgrenzte, geographische. 

1°) Davon gehören der Sphäre der Schott 47000 qkm. 


16* 


120 


das atlantische, es ist länger, aber auch schmaler, während 
das letzte, ausschließlich auf marokkanischem Boden 
befindlich, gedrungener ist und daher in seinen 
geographischen Wirkungen offenbar kräftiger. Diese 
klimatische und hydrographische Hinneigung des 
Westens zum Atlantermeer ist ja eben, verstärkt durch 
morphologische Tatsachen, die biologisch und anthropo- 
geographisch wichtigste Note im Leben der Atlasländer. 


I. Die Saharische Region. 


1. Ständigen, ihm von Geburt eigenen Abflusses 
entbehrt die Saharatafel völlig! Einzig im fremden 
Lande entquollenes Wasser durcheilt sie, doch ist dabei 
zu beachten, daß es nicht sowohl ent- als bewässert. 
Und außerdem beschränkt sich dieses Gebiet auf die 
schmale Schraubenlinie des gelbflutenden Nil, der in 
steilwandigem Tale die ganze Quere der Region durch- 
strömt, abgewandt der roten, ihn beiderseits begleitenden 
Zinnenreihe ungefalteter Palisaden, kaum in der Regen- 
zeit in feuchtem Konnex mit ihren Furchen. Die 
Schwemmlandstreifen am Nil und seine blinkende Flur 
selber kann man auf 2500 qkm schätzen, zusammen mit 
dem Deltaboden (und allerdings einschließlich der bitteren 
Haffe) auf 27000 qkm = 0,3°/, der Sahara. Nun muß 
aber gesagt werden, daß dieses Alluvialbändchen min- 
destens 10 Millionen Menschen trägt und ernährt, mehr 
als 80°/ aller Saharier! Ohne den Nil würde die weite, 
weite Sahararegion nicht mehr als anderthalb Millionen 
Menschen besitzen, während sie in Wirklichkeit deren 
121/, Mill. zählt. 

2.Auch die nur periodisch entwässerten Räume 
nehmen nicht allzu viel Platz ein. In Tripolitanien drängt 
der stufenförmige, den Seewinden Feuchtigkeit entlockende 
Nordabfall des Landes die Todesmauer des Zentral- 
gebietes weit nach Süden zurück, bis in die Gegend des 
28. Parallels. Wo jedoch wie in der Kyrenaika eine 
Gebirgsstirn dicht am Meere aufragt, nach dem 
Innern zu aber abflacht, da ahmt die Grenzzone den 
Verlauf der Küste in unweiter Entfernung nach. Die 
Marmarika gar erreicht kaum ein Viertel von Barkas 
Höhenspitzen, und erst in der Nilsphäre erwirkt das bis 
2280 m hohe Erythräer-Gebirge eine Verbreiterung der 
periodischen Zone, deren Innenrand unmerklich westlich 
des libyschen Nilufers verläuft. Im südwestlichsten 
Nubien drängt das System des Uädi Malik die Grenze 
gen Abend. Weiter westlich greift die abflußlose Zone 
mächtig über das Gebiet des Afrikanischen Orients hinaus, 
und erst in der Sphäre des Nigers schiebt das Uädi 
Telemsi eine periodische Zunge polwärts. Die kühle 
nordwestafrikanische Küstenströmung äußert ihr regen- 
minderndes Wirken vornehmlich in dem niedrigen Land 
südlich des 27. Breitekreises. Das Landeinrücken weiter 
nordöstlich kommt zustande durch die eigenen höheren 
Niveauverhältnisse, die größere Nordbreite und die Nähe 
der gebirgigen Kanaren und des Atlas. 

Die Anteile der Meere. Zum Atlantischen 
Ozean fließen in der Regenzeit ab an der Westküste 
189000 qkm (= 2,1°/, der Sahara), innerhalb des Niger- 
systems 62000, zusammen also 251000 qkm = nur 2,8°%/, 
des Saharaareals. 

Zum Mittelmeer neigen in Tripolitanien 263000 qkm 
(78,6°/, Tripolitaniens!), in der Kyrenaika 37000 qkm 
(46,8°/, dieses Landes), in Ägypten 139000 qkm (26,3°/,), 
in Nubien sogar 270000 qkm (50,7°/,), zusammen also 
709000 qkm = 8°/, der Sahara. 

Die Wasserscheide gegen das Erythräer-Meer 
deckt sich im großen Ganzen mit der Firstseite des 
erythräischen Gebirges, nur etwas nördlich von 28° Nord- 
breite an zieht sie sich weiter gen Abend vom Suesgolf 


Banse: Abflußlosigkeit und Entwässerung im Orient. 


zurück, um südlich von Ismailije auf den Kanal zu 
treffen. Da das Gebirge gen Morgen steiler abfällt als 
zu Abend, so kann das Einzugsgebiet des Roten Meeres 
auf der afrikanischen Seite nicht groß sein. In Ägypten 
umfaßt es nicht mehr als 48000 qkm (9°%,, der Landes- 
fläche) und in Nubien auch nur 55000 qkm (10,3°;,). 
Im ganzen korrespondieren also im Afrikanischen Orient 
mit dem Schilfmeer bloß 103000 gkm=1,2°/, des 
saharischen Areals. 

Zusammengenommen besitzen in der Sahararegion 
zeitweisen Abfluß zum Meer 1063000 qkm, d. s. 12%, 
der Gesamtfläche. 

3. Abflußlose Zentralherde sind alles übrige, 
nämlich 7926000 qkm !!), 88°, der Sahara! Eine 
furchtbare Zahl. Denn sie drückt aus die für alle jetzt- 
klimatischen Zeiten stabilierte biologische und anthropo- 
geographische Unfähigkeit der Gesamtheit, namentlich 
in Fragen der Kultur!2). Diese Zahl ist das festeste 
Bollwerk des Isläm in Afrika. Übrigens ist das so um- 
rahmte Gebiet als die eigentliche Sahara zu betrachten, 
„die“ Wüste schlechthin! 

Nebenbei bemerke ich noch, daß zwei in sich wieder 
abgeschlossene Sphären sich herausschälen lassen, die der 
Schott mit 657000 qkm (dazu kommen 47000 auf 
atlassischem Boden, macht also zusammen 704000 qkm) 
und die des Bachr el Rasäl mit 327000 qkm (natür- 
lich nur innerhalb der Örientgrenze gerechnet). Vgl. 
Tabelle II a. S.121. 


III. Südwestasien. 


1. Das mit dauerndem Abflußzum Meer beschenkte 
Gebiet beschränkt sich auf Teile Syriens und Mesopo- 
tamiens. In jenem ist die einzige Ursache hierfür zu 
suchen in der den feuchten Mittelmeerwinden ausgesetzten 
Gebirgsnatur. Im Doppelstromland aber entstammt 
weitaus das meiste nie versiegende Wasser den iranisch- 
armenischen Nachbargebirgen, einzig die Systeme des 
Chabur und des Belich sind ständig fließende Flußkinder 
mesopotamischen Bodens, da ihre kalkigen und basaltischen 
Geburtsstätten hoch genug ragen, die Wolken des Perser- 
golfs zu Regen zu kondensieren. So ist die Ausstattung 
des euphrattigrischen Raumes unvergleichlich günstiger 
als die des nilotischen, und dieser größeren geogra- 
phischen Vielseitigkeit entspricht die der sumerischen 
Kultur. 

Das Gebiet dauernden Abflusses beschränkt sich also 
in Südwestasien auf die nordwestliche oder Meer- und 
die nordöstliche oder Gebirgsseite der Landbegrenzung. 
Es umfaßt innerhalb Syriens 64000qkm (34°), . 
Syriens); davon gehen zum Mittelmeer 56000 qkm (29,9°/, 
des Landes), zum Euphrat 8000 qkm. In Mesopotamien 
90000 (= 26,3°/, des Landes; alles zum Persergolf). 

Im ganzen beläuft sich die Summe abflußreicher 
Länderstrecken in Südwestasien auf 154000 qkm, d. s. 
doch nur 4,1°/, der vorderasiatischen Horizontaltafel! 

2. Der periodische Abfluß spielt demgegenüber 
eine weit umfassendere Rolle. Sein Umfang steigt auf 
960000 qkm, also schon 25,6°/, der Region. Er fehlt 
so gut wie ganz in Syrien oder, präziser ausgedrückt, 
er läßt sich hier schlecht ermitteln auf Karten nicht sehr 
großen Maßstabes. In Sinai bedeutet er den weitaus 





1) Davon entfallen auf die beiden nubischen Herde 
119000 qkm, auf die Sahara im engeren Sinne 7807000 qkm. 

12) Ich weise darauf hin, daß zum richtigen Verständnis 
dieser Arbeit der stete Vergleich meiner Karte mit P. Lang- 
hans’ trefflicher „Wandkarte von Afrika zur Darstellung 
der Bodenbedeckung“ in 1:7,5 Mill. erforderlich ist. Wollte 
ich die Parallelen hier selber ziehen, würde einneuer Aufsatz 
daraus. 


Banse: Abflußlosigkeit und Entwässerung im Orient. 121 





größten Teil des Ländchens (ausgenommen die Mitte des 


2628000 qkm, also nicht weniger als 70,2°/, der Tafel- 


Ostens, nordwestlich des Akabagolfs), nämlich 54000 qkm | region! Immerhin nicht so viel wie im saharischen 
= 84°/, Sinais. Davon gehören dem Roten Meere | Schwesterbezirk. Davon kommen allein auf Arabien 
22000 qkm, dem Mittelmeer 29000 und dem Nildelta | 92,7°/,! Hier sind 2435000 qkm gänzlich ohne Ver- 


3000 qkm. In Mesopotamien 200000 qkm = 57,1°/, des 
Landes. Davon entfallen auf die Striche westlich des 
Belich 4500 qkm, zwischen ihm und dem Chabur 13000, 
zwischen diesem und dem Tigris 94000, zwischen Tigris 
und Adem 13000, östlich des unteren Tigris 17000, 
westlich des unteren: Frat 17500 und zwischen Euphrat 
und Tigris innerhalb Babyloniens 41000. Alles neigt 
zum Persergolf. In Arabien 707000 qkm = 22,7°/, 
arabischen Bodens. Hiervon liegen im Bereiche des 
Roten Meeres 277000 qkm (= 8,8°/, Arabiens), auf der 
Süd- und omanschen Ostküste 240000 und im Einzugs- 
gebiet des Persergolfs 186000, wovon auf Ost- und 
Mittelarabien 99000 entfallen und auf die Euphratzone 
87000 qkm. 

3. Der Umfang dauernder Abflußlosigkeit ist 


bindung mit dem Meere (77,5°/, des Landes). Aus ihnen 
lassen sich herausschälen 47000 qkm in Nordarabien, 
die das System des Uädi Hauran vom übrigen Lande 
abtrennt, in die Sphäre des Toten Meeres entfallen bei- 
nahe 6000 qkm, und der Umkreis der Großen Nefud 
beläuft sich auf 571000 qkm. Der Zug des Uädi Ermek 
begrenzt sie in Mittag. Im Hinterlande Syriens entbehren 
Abfluß 123000 qkm (66°/, des Landes); hiervon rechnen 
36000 zum Toten Meer, und 1800 liegen im äußersten 


- Süden, zwischen den beiden Flügeln, mit denen die Sphäre 


jenes gen Mittag greift. In Sinai beträgt die Zahl 
des Abflußlosen 10000 qkm (16°/,) und in Mesopotamien 
60000 qkm (17,1°/, der Fläche), und zwar im Ober- 
land 37000 qkm (= 10,7°/, des Landes) und im Süd- 
osten 23000. 


auch in Südwestasien am größten. Er begreift in sich Zur Übersicht vgl. die Tabelle II. 


I. Die Atlasländer. 








Algerien 

























































































| Marokko Tunisien | Atlasländer 
Ares) in gime een een 394 000 278 000 77000 749 000 
Ständiger Abfluß in 2 s e ore e es ess 35,7 32,5 35,9 34,5 
Periodischer Abfluß in % © 2.22... 38,6 13,4 42,3 29,7 
ADAUBlON In Sr le de A N a 25,7 54! 21,8 | 35,8 
Volksdichte. Ea u ra eak of TA a a nee eh 15,2 18 23,4 | 17,1 
II. Aus der Sahara. 
Tripolitanien | Barka Fesän Ägypten Nubien Sahara 
Areal.in-akm ul net 335 000 79 000 394 000 529 000 533 000 | 8 897 000 
RIP IE si kx = Ta f  Winziger \ 
Ständiger Abfluß in °% 2.2.20. 4,9 \ Bruchteil von 1 f 0,3 
Periodischer Abfluß in %/p . 2.2... 78,6 46,8 — 9 10,3 12 
AbAuBlos. =. ooy m aaa, REN 21,4 53,4 100 68,4 49,3 R8 
Volksdichts:, wir: so. a a an a A 1,1 1,6 0,1 21 1 1,4 
II. Südwestasien. 
| Sinai Syrien Mesopotamien Arabien | Südwestasien 
Areal in a 2,6. aaa ae ts 64 000 188 000 350 000 3 142 000 3 743 000 
Ständiger Abtluß in g > > 222200. — 34 26,3 — 4,1 
Periodischer Abfluß in Y, . . . - 84 57,1 22,7 25,6 
Ablußlos in Y 2 onen 16 66 17,1 77,5 70,2 
Yolkadichte rn) Sue st N Te 1,6 12,8 6,5 0,7 1,84 
IV. Nord-Vorderasien. 
| Kleinasien Armenien Iran Nord-Vorderasien 
Areal in Ak e a ee a DE 525 000 381 000 2 529 000 3 435 000 
e l A NA re EE R T T T E 85,3 49 26,6 35 
Adiublos-iniY;, e e ma een ana ar 14,7 51 73,5 61,7 
Volkadichte a Non la ee A 16,9 11 5,1 7,6 
V. Der Orient. 
j z Nord- Afrikanischer Asiatischer y 
| Atlas | Sahara Südwestasien Vorderasien | Orient Orient Orient 
Areal in qkm . 2.2... | 749 000 8 897 000 3 743 000 3 435 000 9 646 00 7 203 000 16 824 000 
Ständiger Abfluß in Y%, >- 34, 0,3 4,1 1,6 \ 5 23.8 
Periodischer Abfluß in /, . 297 12 25,6 85 13,3 f_ 8 25 
Abflußlos in p >... 35,8 88 70,2 61,7 85,1 66,3 76,2 
Volksdichte >... ... | m 1,4 1,84 7,6 2,6 46 | 3,5 

















Globus XCVIII. Nr.8. 17 


122 Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn. 





IV. Nordvorderasien. 


In dieser Region des Asiatischen Orients greifen die 
Gebiete ständigen und periodischen Abflusses so innig in- 
einander, daß es nur mit Hilfe großmaßiger Karten 
möglich wäre, sie zu sondern. Der Gebirgsbau ist so 
hochragend und gleichzeitig in horizontalem Sinne derart 
kompliziert, daß die Unterscheidung gar nicht recht zur 
Geltung kommt und ausgesprochen periodische Striche 
(wenigstens größeren und geographisch entscheidend 
tätig werdenden Umfangs) tatsächlich fehlen. Deshalb 
sei hier nur die Rede von peripherischen, d. h. abfluß- 
begabten Teilen schlechthin, und zentralen. 

1. Das Gesamtareal des zum Ozean abfließenden 
Raumes stellt sich .auf 1308000 qkm = 35°/ọ der 
Region. Und zwar sind es in Kleinasien 447000 qkm 
— 85,3°/, dieses Landes, wovon zum Levantischen Becken 
des Mittelmeers abfließen 89000 qkm (= 16,9%/, des 
Ganzen, 19,8°/ der peripherischen Teile), zum Ägäer- 
meer 70000 (13,4 bzw. 15,7°/,), zur Marmarasee 35 000 
(6,7 bzw. 7,9°/,) [die wichtige Westabdachung Kleinasiens 
ist hydrographisch also 106000 qkm groß (20,1 bzw. 
23,6°%,)!) zum Schwarzen Meer 243000 (46,3 bzw. 
54,3°/,) und zum Persergolf durch den Euphrat 10000 qkm 
(2 bzw. 2,3°/,). Diese Zahlen illustrieren die Haupt- 
abdachungen Anatoliens sowohl in morphologischer wie 
biologischer und kultureller Richtung. — In Armenien 
sind peripherisch nur 188000 qkm = 49°/, des Bodens. 
Der pontische Anteil beläuft sich auf 26000 qkm (6,73°/,), 
der des Persischen Golfs auf 162000 (42,4°/,). — In Iran 
zählen wir hierher 673000 qkm = 26,6°/, des Raumes, 
und zwar gehören zum Indusbereich 1?) 204000 qkm, 
zum Tigris und Schatt el arab 77000 (Dijala 18000, 
Karun 58000), zum Persergolf (direkt!) 149000, zum 
Indischen Ozean in engerem Sinne (also außerhalb des 
Persergolfs und ohne die Indussphäre) 243000 qkm. 

2. Die abflußlosen Zentralräume sind weit 
größer, denn sie umgreifen 2127000 qkm = 61,7°/, der 
Region. In Anatolien sind ohne Verbindung mit dem 
Meere 77000 qkm (10000 und 67000), also 14,7°/, des 








t+) Manche Wasseradern erreichen übrigens den Strom 
nicht ganz oder wenigstens nicht immer. 


Landes. — In Armenien 194000 qkm —=51°/, seines 
Bodens. Hiervon entfallen auf den Wanbezirk 16000, 
auf den des Urmia 50000, die Umkreise dieser beiden 
Seebecken machen mithin 66000 qkm oder 17,3°/, des 
Landes aus. Der kaspische Anteil ist 128000 qkm groß 
(33,6°/, Armeniens). — In Iran fließt über die Nordgrenze, 
aber in abflußloses Gebiet, das Wasser von 405000 qkm, 
nämlich in den Kaspischen See von 140000 qkm, in die 
Turansche Wüste von 149000, in den Aral von 116000. 
Im Westen ist das System des Kercha ebenfalls ohne 
Verbindung mit dem Meer: 65000 qkm. Und schließlich 
ist das abflußlose innere Zentralgebiet, das eigentliche 
Binneniran, 1385000 qkm groß und bedeutet nicht 
weniger als 54,8°', der iranschen Ländertrias (westliche 
oder persische Halbe 807 000 qkm = 58,3°/, des Binnen- 
raumes, östliche oder afganisch-beludschische 578000 = 
41,7°,,). Im ganzen sind also 1856000 qkm in Iran 
ohne Abfluß zum Ozean, d. s. 73,5°/, Irans. 

Das irano-armenische Zentralgebiet I. Ordnung um- 
faßt 2072000 qkm. 

Zur Veranschaulichung vgl. die Tabelle IV a. S. 121, 
die ebenfalls zeigt, daß Schwinden abflußreichen und 
Wachsen abflußlosen Bodens Verminderung der Volks- 
dichte zeitigt, und daß dieses Verhältnis gen Osten 
statthat. 

Zum Schluß gebe ich in Tabelle V eine Übersicht der 
geschilderten Beziehungen und Verhältnisse sowohl der 
vier orientalischen Regionen, als des Afrikanischen und 
Asiatischen Orients, wie des Orients überhaupt. 

Da zeigt sich klipp und klar, daß die natürliche 
Entwässerung am günstigsten entwickelt ist im Atlas, 
die Abflußlosigkeit am stärksten ausgeprägt in der 
Sahara. Dem entsprechen die Volksdichten, die dort 
am stärksten, hier am schwächsten sind. Andererseits 
steht der Asiatische Orient in der Entwässerung 
zum Ozean und der Mitteldichte besser da als der 
Afrikanische, der dafür mehr abflußlose Räume aufweist. 
Im ganzen Orient übertrifft die Zahl der abflußlosen 
Gebiete die der peripherischen um mehr als das Dreifache. 

Diese Formeln sind der zahlenmäßige 
kürzeste Ausdruck der geographischen Aus- 
stattung der orientalischen Länderräume. 


Der Verbindungsweg 
zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn. 


Von Franz Seiner. 


Zurzeit Südwestafrika. 


Mit 11 Abbildungen nach Aufnahmen des Verfassers. 


Über die Kalahari herrscht trotz Passarges grund- 
legenden Arbeiten noch in weiten Kreisen eine erstaun- 
liche Unklarheit und Unkenntnis. Darüber kann man 
sich aber nicht wundern, wenn man sieht, daß einzelne 
Reisende in zahlreichen Berichten, Zeitungsnotizen und 
Vorträgen die Kalahari noch immer als eine Wüste be- 
zeichnen. Auch in Deutsch-Südwestafrika ist es den 
wenigsten bekannt, daß mehr als zwei Fünftel des Schutz- 
gebietes der Kalahari angehören, nämlich der Nord- 
Kalahari das Amboland, Öschimpolofeld, Gabfeld (von 
der Etosapfanne bis zum Omuramba Omatako), ?Kung- 
feld !) (vom Omuramba Omatako bis zum Ärmelland des 
ÖOkawango) und der Caprivizipfel; zur Mittel-Kalahari 
gehört die Omaheke sowie das westliche Kaukaufeld und 
zur Süd-Kalahari die Trockensteppe östlich der Linie 


t) "= dentaler, *= palataler, ®= cerebraler, *= late- 
raler Schnalzlaut. 


Seeis—Hoächanas—Auobbett—Rietfontein-Süd. Irrtüm- 
lich benennt man im Schutzgebiete als Kalahari gewöhn- 
lich nur die Steppe östlich des weißen Nosob, während 
man die Omaheke gemeinhin als Sandfeld bezeichnet. 
Zur Unsicherheit des Begriffes „Kalahari“ trägt noch der 
Umstand bei, daß die Eingeborenen selbst nur die innere 
Süd-Kalahari mit dem Namen Kalahari belegen und die 
Ausdehnung dieser Bezeichnung auf die nördlich an- 
grenzenden Sandfelder bis zur südäquatorialen Wasser- 
scheide, die durch das Vorherrschen tiefer Sandablage- 
rungen und durch ihre Entwickelungsgeschichte mit der 
Süd-Kalahari eine geographisch-geologische Einheit bilden, 
erst von Passarge vorgenommen wurde. Andererseits 
wird die Unklarheit selbst in gebildeten Laienkreisen 
noch dadurch erhöht, daß, entsprechend den Niederschlags- 
verhältnissen, die Süd- und Mittel-Kalahari von der bota- 
nischen Kalahariformation bedeckt wird, einer subtropi- 
schen xerophilen Buschsteppe mit Grasflächen und zum 


Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn. 123 





Teil dürftigster Vegetation; diese Formation geht all- 
mählich in die tropische, von Flußsümpfen durchzogene 
Trockenwaldsteppe der Nord-Kalahari über. Der Flächen- 
inhalt der Kalahari läßt sich nach der allerdings noch 
sehr unsicheren Kenntnis ihrer Grenzlinien mit annähernd 
1400000 qkm berechnen, wovon ein großer Teil, nämlich 
600000 qkm, auf die Nord-Kalahari entfällt, während 
die Mittel- und Süd-Kalahari rund je 400000 qkm be- 
sitzen. Deutsch-Südwestafrika wäre längs der Östgrenze 
durch die Trockensteppen der Süd- und Mittel-Kalahari 
von dem südostafrikanischen Wirtschaftsgebiete völlig 
abgeschnitten, wenn nicht die Sümpfe und Kanäle des 
aus der Nord-Kalahari kommenden Okawango eine Ver- 
bindung durch die zentrale Niederung der Mittel-Kalahari 
ermöglichen würden. 

Der erste regelmäßige Geschäftsverkehr zwischen dem 
nunmehrigen deutschen Schutzgebiete und dem britischen 
Südafrika fand mit Umgehung der Kalahari am Oranje statt. 
Es ist nun wohl schon mehr als 60 Jahre her, daß englische 
Händler den Oranje überschritten und als die ersten 


eine direkte Handelsverbindung ihrer Geschäftsfreunde 
mit den Herero (mit Ausnahme von Kriegsmaterial); die 
nach dem Damaraland ziehenden Händlerwagen wurden 
von den Hottentotten genau durchsucht und vorgefundene 
Kriegsmaterialien ohne weiteres beschlagnahmt. Da das 
Hauptgeschäft mit den Herero aber eben im Waffen- und 
Munitionshandel lag — ein Ochse war für wenige Patronen 
und eine Herde von 20 bis 30 Stück für ein Gewehr 
erhältlich — und die Herero sich gegen Händler, die kein 
Kriegsmaterial in das Land brachten und der deutschen 
Missions-Handelsaktiengesellschaft nicht angehörten, oft 
harte Bedrückungen erlaubten, indem sie jene zwangen, 
die Waren zu Schleuderpreisen abzugeben, so suchte bald 
der größte Teil der Händler auf dem Wege längs des 
Östrandes der Süd-Kalahari und über den Ngamisee quer 
durch die Mittel-Kalahari das viehreiche Damaraland zu 
erreichen. War diese Route auch länger und beschwer- 
licher als der Oranjeweg, so führte er doch größtenteils 
durch die Gebiete der englandfreundlichen Betschuanen, 
und nur im Chansefelde waren die diebischen Buschleute 





Abb.ı1. Welliges Grauwackenland mit Strauchsteppe im Chansefeld. 


Weißen ständige Niederlassungen im Namalande errich- 
teten. Die Hottentotten behandelten ihre Geschäfts- 
freunde sehr gut und tauschten von ihnen gegen ge- 
raubtes Hererovieh hauptsächlich Pferde, Waffen, Muni- 
tion, Branntwein, Kleidungsstücke, daneben auch andere 
Waren ein. Da das eingehandelte Vieh in der Kapkolonie 
zu hohen Preisen abgesetzt werden konnte, so warf dieses 
Geschäft für die Händler großen Gewinn ab. Allmählich 
erstarkten aber die Herero, indem sie von den aus der 
Walfischbai kommenden Händlern und Jägern gegen Elfen- 
bein, Felle, Straußenfedern und Gehörne Kriegsmaterial 
und Pferde eintauschten, und brachten den Hottentotten 
große Verluste bei, so daß im Jahre 1870 zwischen beiden 
Teilen zu Okahandja Frieden geschlossen wurde. Zwei 
Jahre später wurden am Vaal nahe dem Südostrande der 
Süd-Kalahari, im heutigen Griqualand-West, große Dia- 
mantenfelder entdeckt, und es konnte der Fleischbedarf 
der dort sich rasch entwickelnden Minenstadt Kimberley 
weder aus dem britischen Südafrika noch aus den Buren- 
staaten gedeckt werden, so daß sich bald ein lebhafter 
Handelsverkehr mit dem Namalande entwickelte. Allein 
die kriegsmüden Hottentotten konnten der steigenden 
Nachfrage nicht mehr genügen und gestatteten daher 


und an der Grenze des Hererogebietes die räuberischen 
Khauas-Hottentotten zu fürchten. Der Handelsverkehr 
auf dieser Linie wurde bald sehr rege, denn die Geschäfte 
waren glänzend; viele Tausende von Rindern wurden auf 
diesem Wege in die Minenbezirke geschafft und dort mit 
großem Gewinn abgesetzt, und andererseits erhielten die 
Herero solche Mengen an Kriegsmaterial, daß sie große 
Munitionsdepots anlegen konnten. Schließlich hob sich 
aber die Viehzucht im britischen Gebiete und in den 
Burenstaaten, so daß der Handel mit dem Damaraland 
zurückging, und zwar besonders rasch, als im Jahre 1880 
zwischen Hottentotten und Herero wieder blutige Wirren 
ausbrachen, und 1889 der verdienstvolle Landeshaupt- 
mann Kurt v. Frangois für das Schutzgebiet das uner- 
läßliche Einfuhrverbot für Waffen, Munition und geistige 
Getränke erließ. Zwar konnte die schwache Schutztruppe 
dem nun namentlich an der Ostgrenze der Omaheke auf 
dem Ngamiweg beginnenden Schmuggel nicht steuern, 
jedoch der Masseneinfuhr von Kriegsmaterial war vor- 
gebeugt. Die Hauptstationen der englischen Schmuggler 
waren im Osten Olifantskloof, im Süden die Furten am 
Oranje und im Westen die Walfischbai. Mehrmals wurden 
englische Schmuggler mitten im Nama- und Damaraland, 


17* 


124 Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn. 





sowie bei Olifantskloof aufgegriffen, so daß die Herero 
sich allmählich aus dem Norden mit Munition zu versorgen 
begannen. So zog im Januar und Februar 1896 Trau- 
gott, ein Sohn des Owambandjeruhäuptlings 'Tjetjo, mit 
einer vielhundertköpfigen Rinderherde durch das Ambo- 
land nach dem Kunene, wo sich portugiesische Munitions- 
händler befanden, und die Hererohäuptlinge bezogen nun 
auf diesem Wege regelmäßig durch Owambo Munition. 
Die Viehausfuhr auf dem Ngamiwege wäre während des 
Matabeleaufstandes in Süd-Rhodesia 1896 zweifellos wie- 
der emporgeblüht, wenn nicht gleichzeitig die Rinderpest 
im Schutzgebiete wie im übrigen Südafrika verheerend 
aufgetreten wäre und eine strenge Grenzsperre durch die 
deutschen und britischen Behörden erfordert hätte. Bis 
zum Ausbruch des Hereroaufstandes 1904 fand fast nur 
nach dem Oranje ein schwacher Viehexport statt. Die 
südwestafrikanischen Eingeborenenunruhen 1904 bis 1907 
brachten eine abermalige Belebung des Ngamiweges, in- 


Osten abfallend, am 20. Längengrad allmählich in das 
Kaukaufeld übergeht, das sich an der Ostgrenze des 
Schutzgebietes nächst den !Kai’kaihügeln auf 1070 m 
und bei Rietfontein-Nord auf 1170 m senkt, sowie die 
Westseite des Okawangobeckens begrenzt. Letzteres be- 
ginnt an der deutschen Grenze bei 20° 30’ s. Br. mit 
1030 m Höhe (Blaubuschpfanne) und ist vom Ngami- 
land und Tauche bis zum Nordostende am Sambesi und 
Linjanti eine Ebene von durchschnittlich 950 m Meeres- 
höhe. Südöstlich des Okawangobeckens und von ihm 
durch das Haina- und Madenassafeld geschieden befindet 
sich das Makarrikarribecken mit 900 m Meereshöhe. Die 
östliche Randzone der Mittel-Kalahari endet am Matabele- 
land mit 1200m ü. d. M., während ihre südöstlichste 
Landschaft, das Mahurafeld, vom Südrande des Makarri- 
karribeckens nach Südosten um 400 m ansteigt und bei 
Loale-Serue mit 300 bis 400 m hohem zerklüfteten Hange 
am Bamangwatohügelland endet. 





Abb. 2. 


dem zahlreiche Hererowerften mit großen Rinderherden 
durch das Chansefeld in das Ngamiland flüchteten, und 
die Mehrheit des geflüchteten Hereroproletariats in die 
britischen Minengebiete zog, während andererseits aus 
dem Ngamiland bedeutende Mengen von Betschuanenvieh 
in das Schutzgebiet eingeführt wurden. Es ist wohl 
zweifellos, daß diese Verbindung mit der Betschuanen- 
land-Eisenbahn bei den unausbleiblichen großen Ein- 
geborenenaufständen im britischen Südafrika als Vieh- 
ausfuhrstraße für das Schutzgebiet wieder große Bedeu- 
tung erlangen wird, falls dessen Viehstand sich bis dahin 
genügend hebt. 

Der sogenannte Ngamiweg, d.h. der Wagenpfad von 
Rietfontein-Nord an der ÖOstgrenze des Schutzgebietes 
bis Palapye Road an der Betschuanenland - Eisenbahn, 
besitzt eine Länge von 930 km und liegt bis auf die öst- 
lichsten 50km in der Mittel-Kalahari. Diese wird an- 
nähernd durch den 19. Breitengrad von der Nord- und 
durch den 23. Breitengrad von der Süd-Kalahari getrennt. 
Die westlichste Landschaft der Mittel-Kalahari bildet die 
Omaheke, die mit 1500 bis 1600 m am Damaralande be- 
ginnt und als wenig gewellte Fläche, allmählich nach 


Die Leboanavlei in der Nordplatte des Ngamirumpfes. 


Breitkronige Bäume der Acacia horrida Willd. 


Die Flußbetten, die vom Damaraland zum Okawango- 
becken streichen und natürliche Verbindungswege dar- 
stellen, kommen für den regelmäßigen Verkehr wegen 
ihres Wassermangels nicht in Betracht. Die Ngamistraße 
führt daher von Rietfontein-Nord über die Kalkpfannen 
des Chansefeldes zum Ngamisee, läuft dann längs des 
Ngamiflusses und Botletle in das Makarrikarribecken, 
geht aber nicht weiter durch die Maklautsipforte an die 
Betschuanenlandbahn in der Bamangwatoebene, sondern 
führt vom südwestlichen Rande des Makarrikarribeckens 
über die Kalkpfannen des Mahurafeldes hinan zum Ost- 
abfall des Kalahariplateaus bei Serue und schlängelt sich 
erst hier zur Bamangwatoebene hinab. Den beschwer- 
lichsten Teil des ganzen Ngamiweges bildet die Strecke 
von den Salzsümpfen des Kumadau im Makarrikarri- 
becken bis zum Ostabfall des Kalahariplateaus. 

Der ganze 930 km lange Ngamiweg zerfällt in folgende 
Teilstrecken: Chansefeld 190 km, Hainafeld 20 km, Ngami- 
rumpf 40km, Südrand des Ngamisees 50 km, am Ngami- 
fluß 60 km, längs des Botletle 190 km, südwestliches Ma- 
karrikarribecken 90 km, Mahurafeld 190 km, Osthang des 
Kalahariplateaus 50km und vom Fuße des letzteren bis 


Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn. 


125 





Serue 50km. Auf die Trockensteppen entfallen 500 km, 
auf die Flußlandschaften 430 km. — Der Wagenweg von 
Windhuk bis Rietfontein besitzt eine Länge von 500 km, 
von denen sich 435 km bereits in der Kalahari, und zwar 
in der Omaheke befinden; nur die 65km lange Strecke 
von Windhuk bis Seeis liegt im Damaraland. Der übrige 
Weg gliedert sich in die Teilstrecken Seeis — Gobabis 
163 km, Gobabis—Oas 52 km, Oas—Olifantskloof 110 km 
und Olifantskloof — Rietfontein 110km. Auf der Weg- 
linie Windhuk—Gobabis können die Rinder meist täglich 
getränkt werden, während von Gobabis bis Oas sich in 
der Trockenzeit kein Wasser vorfindet. Von der Weg- 
strecke Oas— Rietfontein liegen 
die ersten 56 km und die letzten 
40km auf deutschem, die übrigen 
124km mit Olifantskloof auf 
britischem Gebiete; außer am 
zuletzt genannten Platze ist auf 
der ganzen 220 km langen Linie 
nur nach starken Regenfällen 
Wasser für das Vieh zu finden, 
diesem sind aber in der Regen- 
zeit die wasserhaltigen Sand- 
pfannen durch gifthaltige Gräser 
gefährlich. Der von der Schutz- 
truppe mit Umgehung von Oli- 
fantskloof innerhalb der deut- 
schen Grenze angelegte Kamel- 
pfad von Oas nach Rietfontein 
ist infolge Wassermangels für 
Rinder meist unpassierbar. 

In Rietfontein beginnt der 
eigentliche Ngamiweg. Bezüglich 
des Rietfonteiner Riviers herrscht 
in der Kartographie noch eine 
erstaunliche Unkenntnis, indem 
der Epukiro über Rietfontein und 
weiter als Letjahau in den Bot- 
letle geführt wird und somit als 
800 km langes Bett im weißen 
Fleck der Mittel-Kalahari para- 
diert; andererseits wird der Epu- 
kiro durch eine Gabelung ober- 
halb von Rietfontein auch mit 
der Grootlagte in Verbindung 
gebracht. Meine Erkundungen 
im Januar 1907 ergaben nun, 
daß der Letjahau von der Ba- 
kalaharischwelle zum Botletle 
führt und mit dem Rietfonteiner 
Rivier, das gleich anderen Betten 
sich im Hainafelde verläuft, in 
keiner Verbindung steht, wäh- 
rend der Epukiro nach der Fest- 
stellung (Januar und Juli 1907) der Kommandanten der 
deutschen Truppenstationen in Epukiro und Rietfontein, 
Oberleutnant Rechtern und Leutnant Bullrich, von 
Otjiamangombe aus in nordöstlicher Richtung zum Oka- 
wangobecken streicht, als 3km breites Bett die deutsche 
Grenze 100 km nördlich von Rietfontein schneidet und zum 


Rietfonteiner Rivier keinen Arm sendet. Ebenso konnte: 


Dr. Pöch keine Einmündung eines Epukirobettes in das 
Rietfonteiner Rivier, wie es heute noch die meisten Karten 
zeigen, bemerken, und auch die Eingeborenen versichern, 
daß eine derartige Verbindung nicht bestehe. Zudem 
erklärt Oberleutnant Rechtern, daß zwischen dem Riet- 
fonteiner Rivier und dem Epukiro mehrere zum Oka- 
wangobecken streichende kleine Betten liegen. Bei Riet- 
fontein ist die Talsohle des Riviers 70 bis 100 m breit 





Abb. 3. ®Ai-kho® (154 cm hoch) 
mit Ochsenfrosch in der Massarinjanivlei. 


und von zahlreichen Grauwackenwällen durchzogen, die 
Uferböschungen sind sanft und 30 bis 40m hoch, und 
das Flußbett ist in die rötlichen und grauen Grauwacken 
eingeschnitten. Die Kaserne am Talrande steht un- 
mittelbar auf den Felsen, in denen ein tiefer, gedeckter, 
wasserreicher Brunnenschacht ausgesprengt wurde. Außer- 
dem finden sich hier zwei Quellen vor: die Südquelle 
400 m nordnordöstlich der Kaserne auf dem rechten Ufer, 
die Nordqueile 300m talaufwärts auf der gleichen Ufer- . 
böschung. In den Quellöchern zeigt sich das Gestein 
mit weißen Kalktuffschichten überzogen, die namentlich 
an der südlichen, stärkeren Quelle ausgedehnt sind. Nach 
Passarge verdankt der Kalktuff 
sein Dasein einer Zeit, als zahl- 
reiche starke Quellen aus dem 
Gestein der Uferböschungen her- 
vorbrachen und die Hänge zum 
Bette hinabrieselten. Die heu- 
tigen Quellen sind also nur ein 
Rest eines ehemals ausgedehnten 
Quellensystems, und mit diesem 
geologischen Befund stimmen 
auch die Berichte der Händler 
und Buschmänner überein, die 
von einer erheblichen Abnahme 
der Quellen seit den letzten Jahr- 
zehnten erzählen. Das Quell- 
wasser dämmt sich im Bette an 
den bis 2m hohen und 2 bis 4m 
breiten, stark zerklüfteten Fels- 
bänken zu kleinen Teichen mit 
dichter Schilfvegetation auf, in 
der namentlich das Orugras der 
Herero (Phragmites vulgaris 
Lam. Crep.) dichte, 11/;m hohe 
Bestände bildet. Perlhühner und 
Namakwafeldhühner finden sich 
regelmäßig morgens und abends 
in Scharen ein, und in der Regen- 
zeit sind auch häufig Enten an- 
zutreffen. Größeres Wild ist 
aber durch den verhältnismäßig 
starken Verkehr schon längst 
aus der Umgebung gescheucht. 
Der Boden des Bettes wird meist 
von Sand und Lehm, stellen- 
weise auch von Grauwacken- 
gerölle und Kalkbrocken ge- 
bildet. Zur Regenzeit macht sich 
auf dem Verwitterungsgrund 
reicher Pflanzenwuchs bemerk- 
bar, und zeigen sich die Rasen- 
flächen des Bettes von zahl- 
reichen Bäumchen sowie niedri- 
gem Strauchwerk durchsetzt. Das Gelände bei Rietfontein 
umfaßt große, vorzügliche Viehweiden und eignet sich zur 
Anlage einer großen Farm; jedoch leidet die Gegend unter 
häufigen Einfällen von Heuschrecken. Die Buschmänner der 
Umgebung sind deutschfreundlich und leisteten der Sta- 
tionsbesatzung wiederholt wirksame Hilfe gegen durch- 
ziehende Herero und Owambandjeru. Zur Zeit meines Auf- 
enthalts im Januar und Februar 1907 lag eine kleine Werft 
der *Au-nin, die zu Passarges Kaukauvolk gehören, 1 km 
nördlich der Kaserne und eine Werft der 3Ai-khoe, die 
Passarge zum Ngamivolk rechnet, 1!/;km südwestlich 
der Station. Die Buschmänner der zuletzt erwähnten 
Werft waren den *Au-nin dienstbar und wurden von 
ihnen als Naru (Untergebene, Sklaven) bezeichnet. Da 
Dr. Pöch im Juni 1908 nur *Au-nin in Rietfontein vor- 


126 Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn. 





fand, so scheinen die 3Ai-kho& mittlerweile ausgewandert 
oder von jenen vertrieben worden zu sein. Gegenwärtig 
liegt in Rietfontein eine Abteilung der Schutztruppe mit 
Reitkamelen. Annähernd 20 km oberhalb von Rietfontein 
sind zwei schwache, aus den Grauwacken im Bette ent- 
springende und zeitweilig versiegende Quellen namens 
Ob und Sandpits, und 15 bis 20km unterhalb der Ka- 
serne befindet sich im Flußbett eine andere wasserarme 
Quelle, Butsivango. Das Tal wird an beiden Rändern 
von einem 5 bis 8km breiten, dichten Buschwald auf 
braunem Sande flankiert. 

Chansefeld. Auf der weiten grausandigen Ebene 
mit Kalksteinuntergrund, die sich von der Zone tiefen, 
braunen Sandes am Nordufer des Rietfonteiner Riviers 
bis in die Nähe des 50km entfernten Wasserplatzes 
Gwachanei hinzieht, herrscht eine Grassteppe mit vor- 
wiegend Aristidagräsern und eingestreutem Strauchwerk 
vor; stellenweise wird diese Ebene in Nordwest-Südost- 
richtung von Streifen braunen Sandes mit lichten Busch- 
beständen durchzogen. Annähernd 10 km westlich von 
Gwachanei beginnt Kalkgerölle im grauen oder braunen 


dern täglich zu tränken vermag. Das Land zwischen 
beiden Pfannen ist meist von brauner, sandiger Roterde 
mit reichlichen Grauwackenstücken und wenigen Kalk- 
schollen bedeckt und trägt eine eintönige Strauchsteppe. 
Von Sseribes his zu der 13 km entfernten Pfanne 2Kchautsa- 
West ist das Gelände von flachen Grauwackenwällen 
durchzogen, flache kesselförmige Senkungen und Mulden 
sind nicht selten. Brauner, lehmiger Sand, der teils 
Verwitterungsprodukt aus Grauwacken, teils Decksand 
ist, herrscht vor, und es treten in ihm Kalkschollen nur 
stellenweise auf. Die Strauchsteppe dieses Grauwacken- 
landes ist die artenärmste des Chansefeldes und erhält 
ihr charakteristisches Gepräge durch das massenhafte Auf- 
treten des Bignoniaceenstrauches Catophractes Alexandri 
G. Dom. mit grauweißen, wolligen Blättern, großen weißen 
Blüten zur Regenzeit und grauweißen Schoten. Die 
Pfanne von ?Kchautsa-West ist 6m tief und hat einen 
Durchmesser von 80m. Der Boden ist mürber, sandiger 
Kalktuff, der stellenweise durch vegetabilische Substanzen 
dunkelgrau gefärbt und von Kalkblöcken bedeckt ist; er 
enthält vier wasserreiche, schlanımige Tümpel, die mehrere 





Abb.4. 6Grassteppe mit vereinzelten Büschen auf trockengelegtem Boden des Ngamisees 
zwischen dem Alluvialwald im Hintergrunde und der Schilfmasse. 


Sande mit gestrüppartigem Gehölz aufzutreten. Die Pfanne 
von Gwachanei ist 6 bis 10 m tief in Grauwacke ein- 
gesenkt und besitzt eine nordsüdliche Längenachse von 
1100 m, sowie eine Breite von 500m. Die Böschungen 
sind am Nord- und Südende völlig flach, sonst aber steil. 
Am nordwestlichen Ende finden sich im Grauwackenboden 
zwei sekundäre Kessel vor, von denen der östliche einen 
Durchmesser von 50 bis 60m, Kalktuffrand und kalk- 
haltigen Sandboden besitzt, in dem eine 4 m tiefe Brunnen- 
grube aufgeschlossen ist, zu der nur von Osten her eine 
flache Böschung den Zugang für das Vieh gestattet. Der 
Kessel ist von dem charakteristischen Kalktuff ausgefüllt, 
dessen oberste, 0,5 m dicke ausgetrocknete Schicht hart 
und gesteinartig ist, während die unterliegende, 3 m 
dicke feuchte Masse weiche, erdige Beschaffenheit auf- 
weist. Der Platz ist der Sitz eines englischen Polizei- 
sergeanten und einiger Basutopolizisten, weshalb hier 
das Tränken fremder Rinder nicht gestattet wird. Das 
Vieh muß daher nach der nordöstlich von Gwachanei 
gelegenen und 15km entfernten Pfanne von Sseribes 
getrieben werden, in deren Grauwackenboden ein flaches 
Brunnenloch eingesenkt ist, das am Ende der Trockenzeit 
eines normalen Regenjahres noch eine Herde von 30 Rin- 





hundert Stück Großvieh während der ganzen Trockenzeit 
zu tränken vermögen. Auf dersüdlichen Pfannenböschung 
findet sich ein enges, 1,5 m tiefes Brunnenloch mit vor- 
züglichem Trinkwasser vor. Da in regenarmen Jahren 
die Pfanne von Sseribes bald nach Beendigung der Regen- 
zeit austrocknet, so ist ?Kchautsa-West die erste Pfanne, 
an der Vieh, das von dem 80 km entfernten Riet- 
fontein kommt, getränkt werden kann. Die westliche 
Weghälfte zwischen ?Kchautsa- West und dem 22km 
östlicher gelegenen Chanse führt durch ein Grauwacken- 
land mit kilometerlangen Tälern und Mulden von ver- 
schiedener Breite (Abb.1); in der östlichen Hälfte des 
Weges weist das Gelände flache Wälle, Rücken und Platten 
von Grauwacke mit Kalkhauben auf. Die Strauchsteppe 
gehört zu den ödesten Gegenden der Kalahari, und der 
Wagen poltert fortwährend über braunen Schottersand 
mit Kalkschollen und Grauwackenstücken. Die Pfanne 
von Chanse hat einen Durchmesser von 500 bis 800 m; 
sanfte Böschungen führen von Süd, West und Ost zum 
eigentlichen kalkigen Pfannenboden hinab, der teilweise 
von einem schlammigen, an Wasserpflanzen reichen Teich 
bedeckt ist. Am Steilrand der Nordseite befindet sich 
die teichbildende Quelle, die für große Rinderherden 


Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn. 127 





während der ganzen Trockenzeit ausreicht. Der Boden 
der schwach gewellten Busch- und Strauchsteppe zwischen 
Chanse und der 12km nordöstlicher gelegenen Pfanne 
2Kchautsa-Ost besteht hauptsächlich aus einer Mischung 
von braunem Schottersand und Verwitterungsprodukten 
und ist stellenweise infolge Kalkreichtums hellgrau. Die 
Kalkpfanne ?Kchautsa-Ost enthält im Sandstein des 
Pfannenbodens zwei Brunnen, die aber am Ende der 
Trockenzeit nur wenig Wasser geben, ebenso wie die 
verschlammte Quelle am südlichen Kalktuffrand, die nach 
starken Regengüssen einen Teich bildet. Bei dieser Pfanne 
beginnt das Land, das bis Rietfontein-Nord eine ebene 
Fläche von durchschnittlich 1200 m Meereshöhe darstellt, 
allmählich nach Norden abzufallen. Die 26km lange 
Wegstrecke von ?Kchautsa-Ost nach Gautsirra führt meist 
über braunsandigen, wenig gewellten Verwitterungsboden 
auf Chalzedonsandstein und Grauwacken. Die Vegetation 
zeigt den Charakter einer Decksandbuschsteppe mit vor- 
wiegend Akazien-, Tiliaceen- und Combretaceenarten. 
Die Pfanne von Gautsirra hat einen Durchmesser von 
200m und eine Tiefe von 3m; in den teilweise ver- 
kieselten Sandstein des Pfannenbodens sind drei Brunnen- 
löcher gebrochen, deren Wasser für eine große Rinder- 
herde stets ausreicht. Südlich bzw. östlich der Weglinie 
Gwachanei—Gautsirra liegen zwar zahlreiche Kalkpfannen, 
von denen jedoch keine am Ende der Trockenzeit zuver- 
lässig das zur Tränkung einer großen Rinderherde nötige 
Wasser besitzt. Zwischen Gautsirra und der 38km 
nordnordöstlich gelegenen Kalkpfanne Kubi (1090 m ü. 
d. M.) herrschen auf grauem kalkreichen Sande weite 
Grasebenen mit eingestreuten Bäumen und Buschgehölz 
aus Giraffenakazien auf tiefem braunen Sande vor. Die 
Brunnenlöcher von Kubi enthalten zu Beginn der Regen- 
zeit gewöhnlich noch täglich für ein Ochsengespann 
Wasser. Von Kubi führt ein Wagenpfad direkt nördlich 
nach der 116 km entfernten Batauanastadt Tsau im 
Tauchesumpfland des Okawangobeckens; dieser Weg läuft 
durch die Steppe westlich des Ngamisees und ist nach 
Dr. Pöch zu Anfang der Regenperiode bis Makakun, 
16km südlich von Tsau, wasserlos. Der Weg von Kubi, 
wo sich ein Posten von Basutopolizisten befindet, nach 
dem 11 km nordöstlicher gelegenen Kuke wird, je nach 
der Tiefe des grauen bis braunen Sandes, von einer mehr 
oder minder lichten Buschsteppe eingenommen, die um 
die häufig auftretenden kleinen Gesteinsflächen und Kalk- 
pfannen sich zu einem gestrüppartigen Gehölz verdichtet. 
Die Kalkpfanne Kuke hat ein Brunnenloch von 10 bis 12 m 
Durchmesser und ist 3m tief; aus dem weichen Kalktuff 
des Bodens quillt das erfrischend kalte Wasser hervor, 
bildet einen Tümpel und kann täglich Hunderte von Rin- 
dern tränken. Annähernd 4km östlich von Kuke steht 
ein mächtiger Baobab (Adansonia digitata L.) als äußerster 
Vorposten seiner südlichen Verbreitungsgrenze. Die 
Weideverhältnisse im Chansefelde sind in der Trocken- 
zeit nur stellenweise einem großen Viehdurchtrieb 
günstig. 

Von Kuke schlängelt sich der Weg 20 km durch die 
meist tiefsandige Strauchsteppe des Hainafeldes und er- 
reicht an den Mabäle a pudi-Hügeln den Ngamirumpf, 
mit welchem Namen Passarge das südlich des Ngamisees 
gelegene Gebiet, in dem sich das Grundgestein in den 
Öberflächenverhältnissen und der petrographischen Be- 
schaffenheit des Landes geltend macht, bezeichnet. Es 
wird durch die Zentralsenke, einen 8 bis 10km breiten 
und am Wagenwege bis 30 m tiefen Graben in eine 
Nord- und Südplatte geteilt (Abb.2). Der Südplatte ist 
südlich der dichtbewaldete Porphyrzug der bis 300m 
hohen Mabäle a pudi-Hügel vorgelagert. Der größte Teil 
des Landes wird von braunem Steppensand bedeckt, aus 


dem das feste Gestein nur lokal aufragt. Der Wagenweg 
führt in einer Länge von 40 km und in Südwest-Nordost- 
richtung durch dieses in der Trockenzeit wasserlose, in 
der Regenzeit infolge der Dichte des namentlich in der 
Zentralsenke oft waldartigen Buschgehölzes schwer zu 
passierende Gebiet. Die Nordplatte fällt mit 50m hohem 
sanften Hange zum Südrande des Ngamisees ab. 

Der Ngamisee (950 m ü. d. M.) bildet annähernd ein 
spitzes Dreieck, dessen Scheitel im Osten bei Toting liegt 
und dessen kürzeste Seite der 17 km lange Westrand ist; 
die beiden übrigen Seiten sind nach Passarge geradlinig 
je 45km lang, so daß der Flächeninhalt 650 qkm beträgt. 
Passarge berechnete dabei als See nur die Schilfmasse, 
die der letzten Wassermenge und ihrer Begrenzung ent- 
sprach. Der mit Schilf bestandene, meist erhärtete See- 
schlamm ist meterhoch mit lockeren Aschenablagerungen, 
die durch jahrhundertelanges Abbrennen des Schilfes 
entstanden, bedeckt, so daß man bei unvorsichtigem Ein- 
dringen in die Phragmiteswände bald bis an die Hüften 
in der lockeren Asche und den faulenden Vegetabilien 
versinkt. Die Eingeborenen, namentlich die 3Ai-khoe, 
deren Haupttummelplatz das Chansefeld ist, bahnten sich 
zahlreiche schmale Pfade durch die Schilfmassen, um den 
Seeboden nach eßbaren, miehlliefernden Wurzelknollen 
zu durchsuchen (Abb.3). Der schwärzlichgraue See- 
schlamm geht oberflächlich wenige hundert Meter vom 
Schilfrande in den kalkreichen, weißen, losen Flußsand 
über, der das Seebecken in einer Zone von verschiedener 
Breite umrahmt und am Nordrande des Sees mit dichtem, 
am Südrande mit lichtem Buschwald bestanden ist. Die 
mehrere hundert Meter breite Zone zwischen dem Alluvial- 
sand und dem Beckenschlamm trägt nach meinen botani- 
schen Beobachtungen und Sammlungen saure niedrige 
Gräser, also schlechtes Viehfutter und ebensolche Kräuter, 
sowie einzelne vom Waldrande vordringende Büsche, da- 
gegen finden sich hier stellenweise Cucurbitaceen in 
enormen Mengen vor und begründen den Wildreichtum 
der Gegend (Abb. 4). Auf lokalen Gesteinsflächen steht 
undurchdringlich dichter Busch. Wo jetzt der Alluvial- 
wald steht und Rinderherden weiden, tummelten sich noch 
vor einem Jahrhundert badende Flußpferde herum. Living- 
stone, der am 1. August 1849 den Ngamisee entdeckte, 
bemerkte, daß der See früher bedeutend größer gewesen 
sei, und die Eingeborenen erzählten, der Tauche, der 
Hauptzufluß, habe in früheren Jahren viel mehr Wasser 
besessen und sei bei Hochstand so reißend gewesen, daß 
er Baumstämme, Antilopen und selbst Flußpferde mit 
sich fortwirbelte. Chapman stellte 1853 die Maximaltiefe 
des Sees mit 12 Fuß fest, 1861 war er schon viel flacher; 
der Reisende erwähnt, daß die Wassermenge enorm zurück- 
gegangen sei, und die Eingeborenen erinnerten sich noch 
der Zeit, in der sie bei Hochwasser mit ihren Kanus 
zwischen den Kronen der Uferbäume fuhren und die 
sturmgepeitschten Wellen so stark waren, daß sie wie 
Donner rasten und Flußpferde an das Ufer warfen. 
Fleck fand 1891 als die größte Tiefe des stark reduzierten 
Sees 5 Fuß. Vier Jahre später hörte der Zufluß vom 
Tauche auf, und im nächsten Jahre war vom See nur 
mehr eine trockene braune Schilffläche mit grauem Aschen- 
boden übrig. Im Jahre 1899 wurde nach Passarges 
Beobachtung der See infolge einer abnormen Okawango- 
flut von Osten her durch den Ssiroökanal teilweise ge- 
füllt, um aber gleich wieder auszutrocknen. In den letzten 
Jahren wurde nur der östlichste Zipfel des Sees bei To- 
ting von den im Bette des Ssiroö vordringenden Über- 
schwemmungsfluten des Okawango erreicht; so mußte 
ich im Januar 1907 bei Toting die Sumpftümpel des 
Ssiro@ im Boote passieren, während mein Wagen mehr- 
mals im Schlammboden stecken blieb. Dr. Pöch fand 


128 


Woltereck: Aus dem Leben eines Sioux-Indianers. 





aber bereits im Oktober des nächsten Jahres auch den 
Ssiroö versiegt und den ganzen See trocken gelegt. Da 
es nicht sicher ist, ob auf dem 50 km langen Wege längs 
des Südrandes des Sees von Bolibing bis Toting in der 
Trockenzeit sich genügend Wasser für eine Rinderherde 
vorfindet, so muß man mit einer 110 km langen Durst- 


strecke von Kuke bis Toting rechnen. Bei einer Reise 
von Toting nach dem 70 km entfernten Tsau (42km 
lange Durststrecke, tiefer, lockerer Sand) passiert man 
unzählige alte Kanäle des Okawango bzw. Tauche, die 
noch vor 10 bis 20 Jahren Wasser führten, heute aber 
verödet, versandet und verfallen daliegen und das traurige 
Bild eines absterbenden Flußsystems bieten. 


Die Batauanastadt Tsau an den südlichsten Tauche- 
sümpfen wird von 2000 Eingeborenen unter dem Ba- 
tauanahäuptling Muntibi, der in einer Missionsschule der 
Kapkolonie eine gute Erziehung genoß, bewohnt. Die 
englische Regierung ist vertreten durch einen Magistrat 
mit einer Polizeiabteilung aus britischen Unteroffizieren, 
einem Sanitätssergeanten und berittenen Basuto. Unter 
den sechs Handelsniederlagen sind die bedeutendsten jene 
der den Handel beherrschenden Bechuanaland Trad- 
ing Association Limited, kurzweg Bi-Ti-E genannt, und 
des Engländers Weatherilt. In Toting hält ein verarmter 
englischer Minenbesitzer namens Priest einen Kaufladen. 

(Schluß folgt.) 





Aus dem Leben eines Sioux-Indianers. 


Vor den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts 
war eine Schulerziehung bei den Indianern eine große 
Seltenheit, die nur durch schwere Kämpfe der wenigen 
Schulen und auch der Schüler erkauft werden konnte. 
Daher dürfte es von Interesse sein, von der Entwickelung 
des Siouxknaben Ohiyesa, des jetzigen Dr. Charles 
A. Eastman, zu hören, der als einer der begabtesten 
zivilisierten Indianer in den Vereinigten Staaten gilt und 
dort noch heute als angesehener Beamter und Schrift- 
steller lebt!). 

Ohiyesa (the winner, der Sieger) ist im Jahre 1858 
in Minnesota, der alten Heimat der Sioux, geboren und 
hat dort bis zu seinem 15. Jahre das freie Nomadenleben 
seines Volkes gelebt. Während dieser Zeit hat er nie 
das Haus eines Weißen gesehen, hat niemals die englische 
Sprache gehört, ward aber gelehrt, den weißen Feind zu 
hassen und zu verachten. Sein Vater „Many Lightnings“ 
war der Abkömmling einflußreicher Häuptlinge, und auch die 
junge schöne Mutter, die bei Öhiyesas Geburt starb, stammte 
aus altem Geschlechte. Das Kind erhielt zuerst den Namen 
„Hakadah“ (the pitiful last, der jämmerliche Letzte) und 
hatte von seinen älteren Brüdern und Gespielen dieses 
Namens wegen erst viel auszustehen, bis er sich den 
stolzeren Namen Ohiyesa durch eigene Tüchtigkeit er- 
warb. Er wuchs unter der Pflege von Uncheedah, seiner 
Großmutter, einer stolzen, alten Indianerin, auf, die die 
ruhmreichen Traditionen ihres Geschlechtes in seine 
junge Seele pflanzte. 

Sie wickelte ihn in die praktische Wiege aus Eichenholz; 
sie schnitzte für ihn das erste Spielzeug aus Hirschhufen 
und Rehknochen und bereitete die indianische Säuglings- 
speise aus Wildbrühe, wildem Reis und Mais für Hakadah. 
Die Wiege begleitete die alte Frau überall; wenn die 
Arbeit sie vor das Zelt rief, wurde das Kind auf seinem 
Holzbrett gegen den Zeltpfosten gelehnt, ging es zu 
Pferde weiter fort, so hing Hakadah am Sattelknopf, und 
im Walde ließ sich das praktische Kinderbett leicht in 
den Zweigen aufhängen. Und die Großmutter sang ihm 
auch zuerst das alte Wiegenlied der Sioux: 

„Schlaf, schlaf, mein Kind, die Chippewas 

Sind noch nicht da, sind noch nicht da — 

Schlaf, schlaf, mein Kind, und werde stark, 

Der Kampf dein harrt, der Kampf dein harrt....“ 

Der Siouxaufstand in Minnesota fand statt, als Ohiyesa 
erst gegen sechs Jahre alt war, aber er hat ziemlich klare Er- 
innerungen an alle Schrecken und Entbehrungen behalten, 
die sich an die Flucht der Sioux aus der alten Heimat nach 
Kanada knüpfen. Ohiyesa bekam dabei zum ersten Male die 

1) Diese kurze Skizze habe ich aus mündlichen und 


schriftlichen Mitteilungen des mir persönlich bekannten 
Dr. Eastman (Ohiyesa) zusammengestellt. K. W. 


„Washehus“ (Bleichgesichter) zu sehen; aber seiner Groß- 
mutter gelang es mit dem Kinde zu einem Onkel zu ent- 
kommen, während der Vater und die Brüder nach er- 
bittertem Widerstande durch Verrat eines Halbbluts in 
Gefangenschaft gerieten. 

Bei diesem Onkel in Kanada verblieb Ohiyesa bis zu 
seinem 15. Jahre und wurde dort den alten Sitten seines 
Volkes getreu erzogen. Wie aus dem Wiegenliede ersichtlich 
ist, werden indianische Knaben schon früh an ihre spätere 
Bestimmung als Krieger und Schützer ihres Stammes 
gewöhnt. Die Großmutter sang und erzählte weiter von 
den Heldentaten der Sioux; sie lehrte ihn die Natur 
um sie her verstehen und kennen, den Gesang der 
Shechoka-Rotkehlchen und der Oopehanska-Drossel zu 
lieben und dem Schrei der Hinakaga (Eule) zu mißtrauen, 
den die Ojibway, ihre Feinde, so täuschend nachahmten. 

Der Onkel half weiter mit seiner Erziehung und 
suchte vor allem die stoischen Eigenschaften der Indianer 
in seinem jungen Neffen früh zu entwickeln, denn 
Dr. Eastman sagt, daß die allgemeine Ansicht, die diese 
Eigenschaften aus Instinkt oder Vererbung bei den 
Indianern erklärt, falsch sei, und daß aller Stoizismus, alle 
Geduld und Ausdauer anerzogen und durch fortwährende 
praktische Übungen erworben werden müßten. Er er- 
zählt von den häufigen und langen Fasten, die er schon 
als Kind durchzumachen hatte, von den gefürchteten, 
aber häufigen Aufträgen, die er in der Dunkelheit im 
Walde für den Onkel auszuführen hatte, wobei er auch 
das Fürchten verlernte, und von den frühen Weckrufen 
durch das Abschießen einer Flinte über seinem Kopfe 
oder dem nachgeahmten Kriegsruf von Feinden. Und 
wehe, wenn der geweckte Knabe nicht schnell und furcht- 
los aufsprang und nach seiner Waffe griff, die immer 
bereit liegen mußte. 

Körperliche Strafen zwar drohten nicht, wenn das 
kindische Herz sich verriet, aber Spott und Verachtung 
wären die mehr gefürchteten Folgen gewesen. Auch 
von langen Jagdzügen weiß Dr. Eastman zu erzählen, 
auf denen er als Knabe seinen Onkel begleiten durfte, auf 
Büffel und Grizzlies, die es damals noch in großer Zahl 
gab, und wobei Ohiyesa alle Freuden des freien Lebens 
in und mit der Natur kennen und lieben lernte. 

Mit acht Jahren lehrte ihn Uncheedah, dem großen 
Gotte sein erstes Opfer zu bringen. Und das bedeutete 
für Ohiyesa viel, denn er mußte sich von dem liebsten, 
was er hatte, trennen, um es dem großen Geiste zu 
schenken, und das war ÖOhitika, der Hund. Als der 
kleine tapfere Krieger alle Vorbereitungen dazu durch- 
gemacht hatte und sich dann mit der Großmutter in 
Waldeseinsamkeit allein dem großen Geheimnis (the great 
mystery) gegenüber fühlte, sprach die alte Frau folgende 


Woltereck: Aus dem Leben eines Sioux-Indianers. 


Worte: „O großer Geist, wir hören deine Stimme in den 
brausenden Wassern unter uns. Wir hören dein Ge- 
flüster in den Eichbäumen über uns. Unsere Seele ist 
gestärkt durch den Hauch deiner Nähe. O höre unser 
Gebet. Sieh herab auf diesen Knaben und segne ihn. 
Und mache ihn zu einem tüchtigen Krieger und Jäger, 
wozu du seinem Vater und Großvater geholfen hast.“ 

Aber die Zukunft Ohiyesas gestaltete sich anders. 
Sein Vater Many Lightnings, von dem das Kind jahrelang 
nichts gehört hatte, nicht einmal wußte, ob er die blutigen 
Indianeraufstände überlebt hatte, war während seiner 
Gefangenschaft unter christlichen Einfluß gekommen; 
er hatte sich taufen lassen und seinen stolzen Indianer- 
namen als Christ mit dem einfachen Namen Jakob East- 
man vertauscht. Als die Familie dann wieder vereinigt 
war, wünschte der Vater alle seine Kinder für die neue 
Lehre und Zivilisation zu gewinnen, was ihm auch mehr 
oder weniger schnell bei seinen älteren Söhnen gelang. Nur 
Öhiyesa versuchte sich länger dagegen zu wehren. 

Nach dem freien Leben beim Onkel konnte er sich 
erst gar nicht an die neue Lebensweise und die anderen 
Lebensanschauungen des ihm fremd gewordenen Vaters 
gewöhnen. Er mußte nun in einem Blockhause schlafen, 
anstatt in einem Zelte aus Büffelhaut, und auch die 
geliebte Jagd und den Fischfang hatte der Vater mit 
Ackerbau und Viehzucht vertauscht. Seine Großmutter, 
die mit ihm zurückgekommen war, war in dieser Zeit die 
einzige, die den armen Jungen verstand. Aber auch sie 
mußte sich äußerlich fügen, obwohl sie nach wie vor die 
Weise ihres Volkes für die beste hielt. 

Bald kam nun das erste Schuljahr in einer kleinen 
benachbarten Stationsschule, wohin Ohiyesa täglich sein 
flinkes Pony tragen mußte. Vergeblich waren die 
inneren Kämpfe um die Rettung alter Indianerideale, 
Gehorsam und Ehrfurcht gegen das Alter, andere 
Indianertugenden, die der Knabe bei seinem Onkel ge- 
lernt hatte, blieben schließlich Sieger. Er mußte sich 
fügen und auf die Schulbank. 

Ergötzlich und rührend sind die ersten Eindrücke, die 
der schon 15jährige von dem Leben des weißen Mannes 
erhielt, und wovon Dr. Eastman auch so fesselnd zu er- 
zählen weiß. Weitere Jahre auf der Missionsschule von 
Dr. Riggs, einem Vorkämpfer auf dem Gebiete sozialer 
und rechtlicher Reform für die Indianer, folgten, und hier 
erst begann der eigentliche Unterricht in der verhaßten 
Sprache der Weißen. Aber der persönliche Einfluß 
des tüchtigen Lehrers, der sich bald für den be- 
gabten Sioux interessierte, half dabei, und durch ihn 
lernte Ohiyesa nach und nach an die Berechtigung der 
Zivilisation glauben. 

Durch das Fürwort von Dr. Riggs wurde dem viel- 
versprechenden jungen Indianer eine weitere College- 
erziehung zuteil, zunächst auf dem Beloit College, dann 
im Dartmouth College, das er 1887 nach Erlangung des 
Grades als Bachelor of Arts (B. A.) verließ, um nun mit 
der Berechtigung zu einem Spezialstudium in Boston 
Medizin zu studieren. Und auch hier bestand er seine 
Examina mit Auszeichnung. 

Nach Abschluß der Universitätsjahre wurde dem jungen 
Eastman sofort von der Regierung die Stelle eines staat- 
lich besoldeten Arztes auf der Pine Ridge Agency 
(Dakota) inmitten wichtiger Indianer - Reservationen 
angeboten, wo er besser als ein Weißer helfen konnte. 
Denn ärztliche Hilfe war damals wie auch noch heute 
dringend nötig, da seit der Veränderung der Lebens- 
bedingungen der tückische Feind des roten Volkes, die 
Tuberkulose, ganze Stämme auszurotten droht. Drei 
Jahre füllte er dies Amt aus, dann wurde er zum Sekretär 
des Bundes christlicher junger Männer (Y. M. C. A.) er- 


129 


nannt und hatte als solcher bis 1894 einen großen Teil 
der indianischen männlichen Jugend unter seinem Einfluß. 
In dieser Stellung mußte er viel reisen und Vorträge 
halten, deshalb vertauschte er nach einigen Jahren die 
anstrengende Tätigkeit mit der eines staatlichen 
Anwalts der Santee-Sioux in Washington. 

Seit 1900 ist er im Archiv der indianischen Abteilung 
in Washington beschäftigt und hat das ganze ungeheure 
Gebiet der Siouxstämme zu bearbeiten. Er verlegte aber 
bald unter Beibehaltung seines Amtes den Wohnsitz 
nach der kleinen Universitätstadt Amherst, Mass., und 
lebt dort jetzt noch als angesehener Beamter und Schrift- 
steller. 

Aber erst in den letzten Jahren hat er Zeit gefunden, 
sich auch literarisch zu beschäftigen und von dem eigen- 
artigen Leben seines Volkes zu berichten, mit dem seine 
Jugenderinnerungen so eng verknüpft sind. Diese Kennt- 
nisse hat er häufig durch längeren Aufenthalt auf den 
Reservationen amtlich und nicht amtlich aufgefrischt; 
er kennt viele der berühmtesten Häuptlinge und besten 
„Geschichtenerzähler“ (story-tellers) persönlich?) und hat 
durch sie erfahren, was niemals ein Weißer hören würde. 
Deshalb gilt er als der „bei weitem beste und fähigste“ 
Darsteller der Sioux, ihres Charakters und ihres Lebens. 
Außerdem kennt er viele andere Stämme, denn die Zivili- 
sation hat bei ihm nicht die Liebe und Sympathie für 
sein Volk verdrängt. Noch jetzt kehrt er alljährlich auf 
einige Wochen in die Freiheit der Wälder zurück, be- 
sucht seine alten Freunde und läßt sich von ihnen aus 
der ruhmreichen Vergangenheit ihrer Stämme erzählen. 

Dr. Eastmans erstes Buch: „Aus den Kinderjahren 
eines Indianers“ (Indian Boyhood) erschien im Jahre 
1902 und hat seitdem schon verschiedene Auflagen er- 
lebt. Zwei Jahre später veröffentlichte er: „Rote Jäger 
und das Volk der Tiere“ (Red Hunters and the Animal 
People), Skizzen in Buchform, die ebenfalls sehr günstig 
aufgenommen sind. 

Auch als Redner hat sich Dr. Eastman während der 
letzten Jahre in vielen Städten Freunde erworben, die mit 
Interesse seinen Vorträgen über indianische Eigenart 
und Gebräuche folgen. 

Seit 1891 ist er mit Miss Elaine Goodale verheiratet, 
einer talentvollen Amerikanerin aus alter, neuenglischer 
Familie, die sich schon vor der Heirat einen literarischen 
Namen gemacht hatte. Als 15jähriges Mädchen hatte 
sie ihren ersten Band Gedichte herausgegeben und von 
sich reden gemacht. Dann war sie für soziale Arbeit 
auf dem damals noch sehr öden Felde der Indianer- 
erziehung gewonnen. Sie unterrichtete einige Jahre auf 
einer Reservationsschule, lebte eine Zeitlang ganz unter 
den Indianern, um Sitten und Charaktereigentümlich- 
keiten zu studieren, und wußte sich in solchem Maße ihr 
Vertrauen zu erwerben, daß sie einst auf einen längeren 
Jagdzug mitgenommen wurde, was selten Weißen, noch 
seltener weißen Frauen zuteil geworden ist. Sie hat 
darauf vielerlei über ihre Erfahrungen veröffentlicht und 
mit dazu beigetragen, den Haß und die Verachtung der 
Weißen gegen ihre überwundenen Feinde zu mildern und 
bei manchen ein werktätiges Interesse zu erwecken. 
Seit ihrer Heirat mit Dr. Eastman führt sie als Gattin 
und Mutter ein nicht minder tätiges Leben, da sie neben 
häuslichen Verpflichtungen nach wie vor, jetzt in gemein- 
samer Arbeit mit ihrem Manne, die Erziehung und da- 
durch die Zukunft des indianischen Volkes zu heben 
versucht. Von beiden erhofft man noch manche 


2?) Der Geschichtenerzähler hat bei den Indianern so wie 
bei vielen orientalischen Völkern eine besonders geachtete 
Stellung. 


130 


Tordays Reisen im südlichen Kongobecken. — Kleine Nachrichten. 





literarische Arbeit, die gewiß zu einer immer besseren 
Lösung der Indianerfrage in den Vereinigten Staaten 
beitragen wird. 

Aus einem Gespräch mit Dr. Eastman könnten viel- 
leicht folgende seiner Bemerkungen von allgemeinem 
Interesse sein. Er sagte u. a. über die heutige Indianer- 
frage: Der Indianer muß notwendigerweise in dem 
Amerikaner aufgehen, aber es wäregut, wenn die starken 
Charakteranlagen und Eigentümlichkeiten der roten 


Rasse in dem neuen Leben bewahrt und weiter entwickelt 
werden könnten. Der Indianer ist heute nicht mehr der- 
selbe wie vor 30, und noch weniger wie vor 100 Jahren. 
Scheinbar allerdings entwickelt er sich langsam durch 
die Zivilisierung, aber er verändert sich doch stetig. 
Das ist dem Indianer selbst ganz klar; denn seine 
religiösen Ideen und auch seine Lebensanschauungen 
haben sich ganz bedeutend verändert, seitdem er auf 
den Reservationen lebt. K. Woltereck. 





Tordays Reisen im südlichen Kongobecken. 


Schon mehrfach ist hier von den Reisen die Rede gewesen, 
die E. Torday in Begleitung von Hilton Simpson und Norman 
H. Hardy vom Oktober 1907 bis September 1909 in den 
Ländern am Unterlauf von Kasai, Sankurru und Kwilu 
ausgeführt hat, und deren Ergebnisse sowohl auf geographi- 
schem, als auch, und hauptsächlich, auf ethnologischem 
Gebiete liegen. Jetzt finden wir einen Bericht Tordays nebst 
einer übersichtlichen Kartenskizze und 14 Abbildungen im 
Juliheft des Geogr. Journals von 1910 (8.26—53), der uns 
Veranlassung gibt, auf die Reise nochmals zurückzukommen. 

Der Charakter der Landschaften an jenen Flüssen ist 
ziemlich einförmig: welliges Grasland mit Gallerie- Wäldern 
an den Flüssen, über große Flächen hin gut kultiviert, im 
Nordosten begrenzt und streckenweise durchzogen vom Kongo- 
Urwald; nur im Westen, am Oberlauf des Kwilu, erhebt sich 
ein über 600m hohes Plateau, das weiter im Süden in ein 
anmutiges Hügelgelände übergeht. Im Vergleich mit den 
bisherigen Karten sind die Gegenden zwischen dem Sankurru 
und dem Lukenje von ungemein zahlreichen Rinnsalen durch- 
schnitten (bis zum 3. Grad südl. Br.); auch erstreckt sich der 
Oberlauf des Lukenje viel weiter nach Osten, nämlich bis über 
den 29. Grad östl. L. Von den Niederlassungen der Eingebore- 
nen erscheint besonders die Stadt Lusambo am Sankurru be- 
merkenswert; sie zählt an 40000 Einwohner und ist ein 
Sammelplatz der verschiedensten innerafrikanischen Stämme, 


überdies ein Zufluchtsort von allem möglichen schwarzen 


Gesindel. 

Eine der interessantesten unter den ziemlich gleichartigen 
Völkerschaften sind die (sonst als Bakuba bekannten) Bu- 
schongo, seßhaft zwischen dem Kasai und Sankurru, welche 
sich mit den Basongo Meno und Baluba zu einer nationalen 
Einheit verschmolzen haben. Sie sind sich einer auf mehrere 
Jahrhunderte zurückreichenden Vergangenheit bewußt und 
rühmen sich, weit vom Norden her, wahrscheinlich aus dem 
Quellgebiet des Schari, eingewandert zu sein; sie vermögen 
eine ununterbrochene Reihenfolge von 121 Herrschern anzu- 
geben. Im 16. Jahrhundert standen sie auf dem Gipfel ihrer 
Macht und kulturellen Entwickelung. Ein weiser König 
thronte über dem Volk, beraten und geleitet von einer Art 
Parlament, in welchem die höchsten Militärs und Staats- 
beamten, selbst Frauen und Sklaven Sitz und Stimme hatten. 
Nirgends, außer in Ägypten, bestand in Afrika ein so voll- 
kommen organisiertes Reich, und nirgends erreichten die 
Sittengesetze eine solche ideale Ausbildung. Ist auch jetzt 
die ehemalige Herrlichkeit und Macht ziemlich in Verfall 
geraten, so besteht doch noch unter dem gegenwärtigen Häupt- 
ling ein wohlgeordnetes Staatswesen. Die Bevölkerung beweist 
ein besonderes künstlerisches Geschick in allerlei Handwerk, in 
Stickerei und Holzschnitzerei. Weder europäische Gewänder 
noch Waffen haben Eingang gefunden. Die Hütten sind 
rechteckig gebaut, die Wände mit hübschen Malereien ver- 
ziert. Die Religion der Buschongo enthält eine durchdachte 
Kosmogonie; sie glauben an einen Gott als Weltschöpfer, der 
vornehmlich auch ihre Könige geschaffen hat. Bezeichnender- 


weise wird er als übernatürliches Wesen von weißer Hautfarbe 
gedacht. Man bringt ihm weder Opfer noch betet man ihn 
an. Bei einzelnen Stämmen existiert auch der Glaube an 
Seelenwanderung. Überall aber herrscht ein hoher Grad von 
Sittlichkeitsgefühl, welches selbst den gebildetsten Europäer 
in Erstaunen versetzt. 

Unter den Buschongo lebt ein fremdartiges Zwergvolk, 
das in zwei merklich verschiedene Gruppen zerfällt. Es bleibt 
pygmäenhaft, solange es im Verfolgen der jagdbaren Tiere 
zeitlebens in den Urwäldern sich herumtreibt; dagegen nähert 
es sich schon in der zweiten Generation dem hohen Wuchs 
der Buschongo, sobald es seßhaft wird und mit dem Acker- 
bau sich beschäftigt. Eine etwaige Vermischung mit jenen 
ist ausgeschlossen, wie man Torday versicherte. Dieser zieht 
daher sofort den wohl etwas gewagten Schluß, daß die Haupt- 
faktoren der körperlichen Veränderung bei dieser Zwergvolk- 
gattung in dem zu neuer und stetiger Gewohnheit gewordenen 
Aufenthalt in freier, sonniger Luft und in der Regelmäßigkeit 
der Lebensweise gesucht werden müssen. Jedenfalls hat man 
die Pygmäen als die Ureinwohner zu betrachten; denn die 
Lichtung der Wälder zum Zweck des Ackerbaues haben ein- 
wandernde Stämme besorgt, wie die Akela, nördlich vom 
Lukenje, die südlich angrenzenden Bankutu und die zwischen 
dem Lukenje und dem oberen Sankurru wohnenden Batetela. 
Noch in neuester Zeit drängen auch von Süden her in das 
Gebiet zwischen dem Kwilu und Loange die rührigen Badjok 
(die Kioko Angolas). Der europäische Einfluß hat sich, jedoch 
nur in bezug auf Bekleidung und nur vereinzelt längs der 
Ufer des Kasai und des Sankurru geltend gemacht; Feuer- 
gewehre sind allein bei den Badjok im Gebrauch. Alle übrigen 
Stämme erhalten sich ihre Ursprünglichkeit; selbst dem Kanni- 
balismus sind noch die Bankutu im Nordosten und (bis vor 
kurzem) die Batetela im Osten und die Bambala und Bapende im 
Südwesten (zwischen dem Kwilu und Loange) ergeben. Den 
zähesten Widerstand gegen das Eindringen der Weißen leisten 
die kriegerischen Stämme der Bakongo und Baschitele (südlich 
von der Mündung des Sankurru in den Kasai) und die Bankutu 
(nördlich vom Oberlauf des Lukenje). 

Torday macht im Schlußwort zu seinen ethnographischen 
Schilderungen und Betrachtungen folgende immerhin beachtens- 
werte Bemerkung, hauptsächlich mit Rücksicht auf den einst 
merkwürdig hochentwickelten Kulturzustand der Buschongo. 

„Wie kam es, daß ein ohne fremde Einwirkung zu ver- 
ständiger politischer Bildung aufwärts strebendes Volk in dem 
erreichten hohen Kulturzustand nicht nur nicht verharrte, 
sondern sogar ihn allmählich ganz verkümmern ließ? Die von 
Europa nach Afrika einfiltrierte Zivilisation stiftet nur lücken- 
haften Nutzen. Der Neger muß, will er neben der weißen 
Rasse seinen Platz in der Welt behaupten, aus eigener Kraft 
eine ihm eigentümliche Kultur sich erringen. Wäre es da 
nicht unsere Pflicht als Europäer, ihm über die Schwierig- 
keiten der Zivilisierung mit Verständnis und Nachsicht hin- 
wegzuhelfen? Aber das können wir nur, wenn wir sowohl 
seine früheren als auch seine gegenwärtigen materiellen und 
psychologischen Verhältnisse sorgfältig und gewissenhaft er- 
forschen.“ B. F. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Eine Riesenhöhle ist in Deutsch-Ostafrika im 
Berge Nangoma (Matumbiberge im Bezirk Kilwa, eine Stunde 
südlich von Nandembo) im August 1909 durch den Polizei- 
wachtmeister Weckauf entdeckt worden. Im Februar 1910 
hat sie der Missionar Ambros Mayer zusammen mit Weck- 
auf von neuem besucht und einer vorläufigen Untersuchung 
unterzogen, worüber im „Kolonialblatt“ vom 1. August d. J. 
berichtet wird. Der Zugang hat eine Weite von 43 und eine 
Höhe von 21m und die ganze Höhle eine Gesamtlänge von 


329 m. Bornhardt charakterisiert sie als eine „Schlauchhöhle 
im Kalkgebirge mit Einsturztrichter am oberen Ende, die 
durch Wasserwirkung entstanden ist“. Der Zugang liegt im 
Urwald versteckt, und die Eingeborenen, die Matumbi, waren 
bemüht, die Existenz der Höhle vor den Weißen geheim zu 
halten. Weckauf hat sie denn auch nur zufällig gefunden. 
Die Höhle kann mehreren tausend Menschen ein Versteck 
bieten und hat als solches auch im Aufstand von 1905/06 
eine Rolle gespielt. Ahnungslos marschierten die Truppen 


Kleine Nachrichten. 131 





damals durch das menschenleere Land, dessen Bewohner sich 


dort in Sicherheit gebracht hatten. Hierin waren sie be- 
günstigt worden durch einen in der Höhle befindlichen 
Brunnen mit reichlichem Wasser. Die ganze Höhlensohle 
war mit dem seit undenklichen Zeiten angesammelten Unrat 
der zahllosen dort hausenden Fledermäuse bedeckt, und als 
Zeichen der Anwesenheit von Menschen in neuerer Zeit, näm- 
lich während jenes Aufstandes, fanden sich im mittleren Teil 
überall Spuren von Feuerstellen und Speiseabfälle. Mayer 
meint nicht mit Unrecht, daß eine gründliche Untersuchung 
des Bodens wohl auch Reste aus der Vorzeit, prähistorische 
Funde, zutage fördern möchte, und so wäre eine solche 
Untersuchung — etwa mit pekuniärer Unterstützung des 
Kolonialamts — wohl geboten. — Die Höhle heißt wie der 
Berg Nangoma. 





— Über die von W. Filchner geplante Südpolar- 
expedition ist weiterhin folgendes zu berichten: Filchner 
ist im Juli in England und Schottland gewesen und hat sich 
mit den Leitern des jetzigen englischen und künftigen 
schottischen Unternehmens, Scott und Bruce, persönlich von 
neuem ins Benehmen gesetzt. Ein Einverständnis ist um so 
leichter erzielt worden, als der Südpol, den sowohl die Eng- 
länder wie dieSchotten erstreben, nicht zu Filchners Forschungs- 
programm gehört. Mit Bruce ist ein Übereinkommen dahin 
getroffen worden, daß der 20. Grad w. L., der Coatsland 
schneidet, die ungefähre Scheidegrenze der deutschen und 
der schottischen Expedition bilden soll: was westlich liegt, 
soll Filchners, was östlich liegt, Bruces Arbeitsfeld sein. Auf- 
gegeben hat Filchner seinen Erweiterungsplan, der dahin 
ging, ein zweites Schiff nach dem Roßmeer zu entsenden, 
von dem aus für die vom Weddellmeer kommende Haupt- 
abteilung Vorratsdepots landeinwärts vorgeschoben werden 
sollten. Im Juli und August hat Filchner eine „Ubungsfahrt“ 
nach Spitzbergen ausgeführt. 


— Knud Rasmussen hat Mitte Juli seine große, für 
mehrere Jahre berechnete Expedition nach dem polaren 
Amerika zum Studium der Eskimostämme angetreten, und 
zwar auf einem eigenen Schiffe. Es begleitet ihn der Arzt 
P. Freuchen, der sich auch den naturwissenschaftlichen 
Fächern widmen soll. Zunächst will Rasmussen bei Kap 
York an der Melvillebucht eine Handelsstation begründen, 
die den schwer um ihre Existenz kämpfenden Smithsund- 
Eskimos Gelegenheit geben soll, für ihre Waren (Felle) zweck- 
mäßige moderne Fanggeräte einzutauschen. Es heißt, daß 
Rasmussen auf dieser Station drei Jahre bleiben und dann 
erst die westlichen Eskimos aufsuchen will. 

— Auch die Japaner wollen sich an der Südpolar- 
forschung beteiligen, und zwar als Konkurrenten der eng- 
lischen Expedition unter Scott; denn sie wollen versuchen, 
eher den Südpol zu erreichen als dieser. So liest man 
wenigstens in den Meldungen der Tagespresse aus Yokohama. 
Es heißt dort weiter, daß der Leiter des Unternehmens der 
Leutnant Schirase, der Führer des Schiffes Kapitän 
Nomura sei; die Bemapnung des Schiffes werde 15 Personen 
betragen, der wissenschaftliche Stab 10 Mitglieder zählen; 
am McMurdosund werde überwintert werden, dieser werde 
also auch der Ausgangspunkt für die Schlittenreise zum Süd- 
pol sein; das Expeditionsschiff sei ein Schoner von 200; der 
Aufbruch solle am 1. August d. J. erfolgen, die Ankunft 
am MeMurdosund um den 1. November; die auf 41000 Yen 
(etwa 110000 ) berechneten Kosten seien vom Parlament 
bewilligt worden; zur Ausrüstung gehörten unter anderem 
auch mandschurische Pferde. 

Wir nehmen von diesen Nachrichten hier Notiz, glauben 
aber vorläufig, daß diese japanische Suppe wohl nicht so 
heiß gegessen werden wird, wie sie gekocht erscheint. Aus 
den angegebenen Daten und aus der Absicht, den Engländern 
zuvorzukommen, dürfte hervorgehen, daß Schirase gleich 
nach seiner Ankunft auf Victorialand, Anfang November d. J., 
den Schlittenvorstoß zum Südpol wagen will, also ein Jahr 
vor Scott. Ob das aber möglich sein wird, ist recht fraglich. 
Überdies ist nichts davon zu hören gewesen, daß die Expedition 
am 1. August auch wirklich aufgebrochen ist. Die Summe 
von 110000 46 erscheint sehr klein, selbst für das ja sehr 
billig arbeitende Japan. In Widerspruch mit der Meldung, 
daß diese für genügend gehaltenen Mittel bereits bewilligt, 
also vorhanden seien, steht übrigens eine andere, daß sich 
ein Komitee zur „Unterstützung“ der Expedition gebildet habe. 





— Als das Datum des Beginns der großen Nordpolar- 
expedition R. Amundsens kann man wohl den 13. Juni 
auffassen; denn an diesem Tage verließ sein Schiff „Fram“ 
Christiania. Freilich wird die eigentliche Polarreise, die Treib- 


fahrt durch das Polarbecken von Point Barrow aus, erst ein 
Jahr später, im Juli oder August 1911, beginnen; denn vor- 
auf geht ihr die lange Fahrt um die Südspitze Südamerikas 
und durch den Großen Ozean nach San Francisco, die ozeano- 
graphischen und magnetischen Studien gewidmet sein wird. 
Außerdem ist zunächst eine Kreuzfahrt durch den nord- 
atlantischen Ozean unternommen worden, gleichzeitig mit 
Nansen, der im Juli mit dem norwegischen Kanonenboot 
„Frithjof“ zwecks Golfstrom - Forschungen eine Fahrt von 
Nordirland nach Grönland und über Ostisland nach Norwegen 
zurück ausgeführt hat. Die gleichzeitige Rout® Amundsens 
war Ohristiania—Kanal—Südirland—Orkneys—Bergen—Chri- 
stiansand. Hier in Christiansand war Amundsen in der 
ersten Augusthälfte eingetroffen, und er nahm hier seine Vor- 
räte and Hunde an Bord. Dann sollte die Reise um Amerika an- 
getreten werden. Die Drift durch das Polarbecken, deren wissen- 
schaftlicher Zweck vorwiegend in ozeanographischen Arbeiten 
aller Art besteht, ist auf vier bis fünf Jahre veranschlagt, 
das Schiff ist indessen auf sieben Jahre ausgerüstet. Die 
Zahl der Teilnehmer an der Driftfahrt ist auf 14 bemessen, 
die übrigen werden vor deren Beginn heimkehren. 

Der „Fram“ ist vorher einem gründlichen Umbau unter- 
zogen worden, und es ist da auf seine Aufgaben sowohl wie 
auf die Sicherung der Bequemlichkeit und des Wohlbefindens 
der Teilnehmer das größtmögliche Gewicht gelegt worden. 
An die Stelle der bisherigen Dampfmaschine ist ein Petro- 
leummotor von 180 Pferdekräften getreten. 


— Der am 2. April bei Niery in Dar-Tama ermordete 
englische Afrikareisende Boyd Alexander (vgl. Bd. 97, 
8.370) ist ein Opfer seines Wagemutes gewesen. Bekanntlich 
sind die Franzosen noch heute nicht völlig Herren in dem 
vor Jahresfrist besetzten Wadai, und zur Zeit, als Alexander 
in Abescher weilte, waren sie es erst recht nicht. Dar-Tama 
gehörte zu den Gebieten Wadais, wo sich der Bevölkerung 
seit dem für die französischen -Truppen so verhängnisvollen 
Kampfe am Bir-Tauil eine große europäerfeindliche Bewegung 
bemächtigt hatte. Der französische Resident in Abescher, 
wo Alexander Mitte März angelangt war, wußte das und 
widersetzte sich deshalb Alexanders Plänen, der durch Dar- 
Tama nach Dar-For zu reisen vorhatte. Alexander aber — 
so lautet die französische Darstellung — setzte sich über 
diesen Widerstand hinweg und brach auf, ohne dem Residenten 
Nachricht zu geben. Er bezahlte das mit dem Tode. 


— Von T. G. Longstaffs vorjähriger Reise in das 
Karakoramgebirge ist im Globus mehrfach die Rede ge- 
wesen. Es sei nun noch erwähnt, daß sein ausführlicher 
Bericht mit der zum völligen Verständnis notwendigen Karte 
im diesjährigen Juniheft des Londoner „Geogr. Journ.“ er- 
schienen ist, und daß er als die Hauptresultate seiner Reise 
die folgenden betrachtet: Die Entdeckung des Saltoropasses, 
die Festlegung der Wasserscheide im östlichen Karakoram, 
die Entdeckung des größten asiatischen Gletschers, des Siachen, 
und die des Piks Teram Kangri, dessen Höhe er trigonome- 
trisch auf 27500 Fuß ermittelt hat. 27500 engl. Fuß sind 
8390 m. Longstaff meint, daß seine Messung schwerlich ganz 
genau sei, und hält es nicht für unmöglich, daß der Teram 
Kangri der höchste Berg der Erde sei. Als solcher gilt 
heute der Mount Everest mit 8840 m. Sollte also Longstaffs 
Vermutung sich in der Tat als richtig erweisen, so wäre seine 
Messung freilich höchst ungenau. 


— J. G. Granö hat in den Jahren 1905 bis 1909 vier Reisen 
in die Nordwestmongolei und nach den südsibiri- 
schen Grenzgebirgen unternommen, hauptsächlich um die 
eiszeitlichen Ablagerungen dort zu studieren, und be- 
richtet nun in einem umfangreichen Band, der mit einer 
größeren Anzahl von Abbildungen, Profilen und Kartenskizzen 
ausgestattet ist, über die Ergebnisse (Fennia 28, Nr. 5, Helsing- 
fors 1910). Gegenüber den heute noch in der wissenschaft- 
lichen Literatur bisweilen vertretenen Ansichten, es sei in den 
Grenzgebirgen der zentralasiatischen Wüsten nie eine größere 
Ausdehnung der Gletscher vorhanden gewesen, oder es seien 
in jenen Berggegenden nur unbedeutende, örtlich sehr be- 
schränkte Gletscher von größerem Umfang vorgekommen, 
führt er den Nachweis, daß in allen Berggegenden Zentral- 
asiens in geologisch junger Zeit eine Eiszeit eingetreten ist, 
die in bezug auf das Aussehen der heutigen Gegend und auf 
die entstandenen glazialen und fluvioglazialen Ablagerungen 
dieselben Folgen gehabt hat, wie die Vereisungen Europas 
und Nordamerikas. Das Firngebiet erreichte seine größte 
Ausdehnung an der Grenze der Nordwestmongolei und 
Sibiriens, hier bildeten die Eisfelder, wie der Verfasser zeigen 
konnte, eine mehrere 100km lange und wenigstens stellen- 
weise etwa 100km breite zusammenhängende Decke. Die 


132 Kleine Nachrichten. 





Grenze der Vereisung lag damals, wie unzweifelhafte End- 


moränen bezeugen, 1000 bis 1500 m tiefer als heute. Im Russi- 
schen Altai konnten außerdem noch zwei Endmoränenhori- 
zonte festgestellt werden, die Stillstandslagen bei dem 
Rückgang der Vereisung entsprechen; sie liegen 1000 m und 
400 m unterhalb der heutigen Gletschergrenze. Gr. 


— Die koreanische Seidenindustrie. Die Zucht der 
Seidenraupe war in Japan zu Beginn seiner Geschichte nicht 
bekannt, die ersten Versuche damit scheinen dort vielmehr 
erst im 4. nachchristlichen Jahrhundert, zur Zeit des 16. Mi- 
kado Nintoku (311 bis 399), gemacht worden zu sein, und zwar 
infolge der Beziehungen zu Korea. Man geht also wohl nicht 
fehl in der Annahme, daß die Seidenraupenzucht damals in 
Korea geblüht hat, und muß sich darüber wundern, daß sie 
nachmals fast ganz in Vergessenheit und in neuerer Zeit ganz 
in Verfall geraten war. Die Frage wird von M. Le Boulanger 


in „A travers le Monde“ vom 18. Juni d. J. besprochen, und 
es finden sich da auch Mitteilungen über die neuen Bestrebungen, 
die alte Industrie wieder zu beleben. 

Das Klima Koreas ist sehr trocken, und dieser Umstand 
müßte die Seidenraupenzucht bezünstigen. Diese Trockenheit 
begünstigt allerdings auch das Auftreten zahlreicher Para- 
siten, die für die Seidenzüchter eine Geißel sind. Aber diese 
bilden auch die Verzweiflung der Seidenzüchter in Japan, 
denen infolgedessen ein jährlicher Schaden von 15 Millionen 
Yen zu erwachsen pflegt, und trotzdem ist Japan nicht weniger 
ein Seidenland geblieben. In Korea wie in Japan ließen sich 
solche Verluste überdies durch eine sorgfältige Kultur aus- 
gleichen. Man hat dann gemeint, daß an dem Verfall der 
koreanischen Seidenzucht die unwissende, indolente und aber- 
gläubische Bevölkerung die Schuld haben könnte. Wie vor 1'/, 
oder 2 Jahrtausenden, so zieht der Koreaner noch heute die 
Seidenraupe in elenden, schlecht erleuchteten und ventilierten 
Häusern, und trotzdem sind die Kokons, die er erhält, von 
verhältnismäßig guter Qualität, wenn auch sehr wenig zahl- 
reich. Wenn also die verbesserten Methoden des Westens 
und Japans in Korea Eingang fänden, so würde sich hier 
der Ertrag auf das Fünffache oder gar Zehnfache steigern lassen. 

Jetzt scheint man dem Verfall ernstlich Einhalt zu tun. 
Seit 1906 ist in der Produktion der Beginn eines Fortschritts 
zu bemerken; denn in den letzten vier Jahren ist die Ausbeute 
von 5 auf 11 Millionen Liter Kokons gestiegen. Aber das ist 
nicht das Verdienst der Koreaner, sondern der japanischen 
Regierung und der japanischen Einwanderer. Der japanische 
Direktor des Kulturbureaus in Korea, Nakamura, hat jüngst 
versichert, daß Japan die Pflege der Seidenzucht auf der Halb- 
insel sich ganz besonders werde angelegen sein lassen, und 
so sind denn auch in diesem Jahre Maßnahmen getroffen 
worden, für die Kultur des Maulbeerbaumes im Großen ge- 
eignete Landstriche zu bepflanzen. Die Bodenpreise sind ge- 
ringfügig, und die Arbeitskräfte kosten fast nichts. So nimmt 
die Einwanderung praktisch wohlerfahrener japanischer Seiden- 
züchter immer mehr zu. Die japanische Regierung will sie 
in jeder Weise, auch pekuniär, unterstützen und hat auch 
jüngst in Söul eine Musteranstalt errichtet, die in vollem Be- 
triebe steht und von einer Gruppe japanischer und koreanischer 
Damen geleitet wird. Ihr Zweck ist, auch die Eingeborenen 
an moderne Seidenzuchtmethoden zu gewöhnen. Die Japaner 
rechnen darauf, in kurzer Zeit mehr als 100 Millionen Yen 
aus der koreanischen Seidenzucht zu ziehen und eine beträcht- 
liche Masse Rohseide auf den internationalen Seidenmarkt 
werfen zu können. Eine neue Art „gelber Gefahr“, meint 
Le Boulanger, die speziell die französischen Seidenbauer be- 
droht. 

— Überdievonihmentdeckten Höhlenzeichnungen und 
-malereien im Senegal-Nigergebiet (vgl. Bd. 97, S. 386) 
sendet uns Fr. de Zeltner nähere Mitteilungen (aus den Sit- 
zungsberichten der Pariser Akademie der Wissenschaften). Es 
handelt sich um fünf Höhlen, deren Zeichnungen in mehreren 
Einzelheiten mit denen der französischen und spanischen Höhlen 
übereinstimmen oder sich von diesen unterscheiden. Während 
prähistorische Fundstätten sonst am Ufer und auf dem Niveau 
von Wasserläufen liegen, finden sich diese immer in einer 
gewissen Höhe über dem heutigen Stand der Gewässer. Stets 
sind ferner die Zeichnungen usw. im vorderen Teil der Höhlen 
angebracht, dort, wo sie weit offen und hell sind, so daß die 
Künstler keine künstliche Beleuchtung brauchten. Dann finden 
sie sich regelmäßig an leicht mit der Hand zu erreichenden 
Stellen. Diese niedrige Lage ist den Zeichnungen mitunter 
sogar schädlich gewesen, sie sind dadurch abgenutzt, daß sich 
offenbar Leute an die Wand gelehnt haben. Als Färbemittel 
sind verwendet: Roter Ocker, Indigoblau, Schwarz und — selten 
— eine weiße Farbe unbekannter Herkunft. 


Höhle 1 liegt am Wege Bamako—Kuluba in halber Höhe 
einer Felsklippe. Ihre Zeichnungen, sämtlich geometrisch, 
sind mit rotem Ocker hergestellt, in gleicher Größe; es sind 
Menschen, Pferde und Reiter. Große Flächen sind punktiert. 
Man sieht auch von Dreieckszeichnungen gekreuzte Kreise. 
Bestimmte Anordnung oder Beziehungen der gezeichneten 
Gruppen zueinander sind nicht zu erkennen. Diejenigen Be- 
wohner von Bamako, die von den Figuren wissen, halten sie 
für „alt“, aber bedeutungslos, Grabungen in der Höhle förderten 
nichts von Bedeutung zutage. 

Höhle 2 findet sich bei dem kleinen Dorfe Boko in der 
Nähe von Kita. Der rosafarbene Sandstein, in dem sie liegt, 
hat ein sehr feines Korn, was die Herstellung sehr sauberer 
mit Ocker gezeichneter Figuren ermöglicht hat. Die meisten 
sind über die fast horizontale Decke verteilt; sie stellen Zeichen 
von alphabetischer Art, auch einige Männer und Tiere dar. 
Die eingeborenen Malinke nennen sie Sebe, d.h. Schrift, und 
schreiben sie den Niamara, den ersten Menschen, heute ver- 
schwundenen Riesen zu. 

Die Zeichnungen der Höhle 3, aus rotem Ocker, zeigen 
neben tierähnlichen Darstellungen verschiedene andere Figuren, 
deren Inneres in Abteilungen geteilt zu sein scheint und eine 
darin eingeschlossene Punktierung zeigt. Die Ähnlichkeit mit 
gewissen Zeichnungen vom Lac des Merveilles ist groß. 

Höhle 4 bei dem Dorfe Bondonfo ist die interessanteste, 
infolge der Verschiedenheit und Sonderbarkeit der Figuren 
und der verwendeten Farben. Da sieht man vor allem eine 
Gruppe von sechs Vierfüßlern in Weiß, Maul und Ohren spitz, 
der Schwanz lang. Die Größe wechselt zwischen '/ und Im, 
die Darstellung ist sehr realistisch. Zwei gleiche, doch kleinere 
und rote Tiergestalten finden sich auf der Rückwand. Weiter- 
hin sieht man zwei Zeichnungen aus einem breiten weißen, 
rot getüpfelten Strich; die eine von der Form eines großen 
lateinischen B, die zweite oval mit Strichen im Innern un- 
regelmäßig geteilt; ein birnförmiges weißes Zeichen scheint 
die Verlängerung zu bilden. Höchst eigentümlich ist eine 
Zeichnung am Eingang einer versperrten Seitenhöhle; sie be- 
steht aus zwei weißen gekrümmten parallelen Linien von 
30cm Länge mit roten und weißen Punkten dazwischen, ober- 
und unterhalb. Daneben sieht man einen Handumriß, iden- 
tisch mit denen von Gargas und auch mit denen, die die 
Schwarzen heute noch machen, indem sie die linke Hand 
gegen eine Mauer legen und mit der anderen mit Hirsebrei 
herumfahren. Schließlich sind hier etwa hundert, Decken und 
Wände durcheinander überdeckende weiße Zeichnungen merk- 
würdig, die man am besten mit dem Schwanze eines Fisch- 
skeletts vergleichen könnte. Eine Anzahl davon wird von 
einer weißen, rot punktierten Linie umschlossen, die nicht in 
sie eingreift. An manchen Stellen, auf dunkelm Grunde, hat 
man für diese Fizuren ein helles Rosa verwendet. 

Höhle 5 liegt ebendort, hat, wie Höhle 4, zwei Ausgänge 
und durchbricht einen 50 m hohen isolierten Felsblock. Beide 
Enden des so entstandenen Ganges sind mitroten oder schwarzen 
Zeichnungen geschmückt. Die roten stellen stilisierte Tiere 
dar, die schwarzen die aus Höhle 4 erwähnten im Innern ab- 
geteilten Figuren. Unter den Tierfiguren finden sich mehrere, 
die offenbar nur einen Tausendfuß darstellen können, und 
andere, die bei der Kürze des Schwanzes und der Länge von 
Beinen und Hals nur als Kamele zu deuten sind. Eine Figur 
erinnert auch an einen beladenen Ochsen. Vor einem der 
Eingänge liegt eine horizontale Sandsteinplatte, die mit 35 regel- 
mäßig verteilten Näpfchen versehen ist: das erste aus West- 
afrika bekannte Vorkommen dieser Art. 

Die Kunst dieser Höhlen, so bemerkt De Zeltner am Schluß, 
befand sich anscheinend in Verfall oder war ein Überlebsel. 
Sie ist heute, nahezu ohne Spuren hinterlassen zu haben, ver- 
schwunden. Ausführlich, mit Abbildungen, will De Zeltner 
über seinen Fund in „L’Anthropologie“ berichten. 


— Auf den von der Deutschen Seewarte herausgegebenen 
„Monatskarten für den Indischen Ozean“ waren auf 
der Rückseite Darstellungen der mittleren Luft- und Wasser- 
temperatur und des mittleren Luftdrucks für die einzelnen 
Monate gegeben. Da diese Monatskarten hauptsächlich in 
die Hände der schiffahrttreibenden Bevölkerung gelangt sind 
und die anderen ähnlichen Darstellungen, soweit sie leichter 
erreichbar sind, sich nur auf die extremen Monate beziehen, 
hat die Seewarte in sehr dankenswerter Weise die Karten, 
wenn auch in etwas verkleinertem Maßstab, in den Annalen 
der Hydrographie (1910, Tafel 21 bis 23) zum Abdruck ge- 
bracht. Die Karten umfassen nicht nur den Indischen Ozean 
selbst, sondern auch die ihn umschließenden Festlandsgebiete 
von Afrika, Südasien und Australien; ein erläuternder Text 
(8. 145 ff.) erörtert das der Darstellung zugrunde liegende 
Material und hebt die Hauptzüge in dem Vergleich der Iso- 
baren und Isothermen hervor. Gr. 








Verantwortlicher Redakteur: 


H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. 


— Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


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GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 


VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 


Bd. XCVIII. Nr.og. 


BRAUNSCHWEIG. 


8. September 1910. 








Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 





Der Verbindungsweg 
zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn. 


Von Franz Seiner. 


Zurzeit Südwestafrika. 


Mit 11 Abbildungen nach Aufnahmen des Verfassers. 
(Schluß.) 


Vom Ostzipfel- des Ngamisees führt ein 60 km langes 
Bett, der sogenannte Ngamifluß, zur Tamalakanemündung. 
Das Bett hat meist eine 200 m breite Sohle, die Gehänge 
sind flach und mit grauem Sande überschüttet, die Fluß- 
rinne ist 5 bis 10m breit und löst sich häufig in ovale 
Pfannen und Mulden, von denen viele stets Wasser führen, 
auf (Abb. 5). Annähernd 10km vor der Einmündung 
des Tamalakane werden die Ufer scharf ausgeprägt, und 
ist das 400 bis 500 m breite Bett von zusammenhängenden 


im Botletle nach Osten ab (Abb. 6). Ungefähr 2km 
oberhalb der Einmündung des Tamalakane befindet sich 
an einer Furt der Kaufladen eines früher im nördlichen 
Damaralande seßhaften schwedischen Händlers, der hier 
eifrigst der Herstellung von Stricken aus Sansevierien- 
bast obliegt. Die gleiche Hausindustrie ist auch 
im Schutzgebiete bei Grootfontein-Nord möglich. Der 
vom Tamalakane gespeiste Botletle durchfließt die 
zwischen dem Okawango und Makarrikarribecken ge- 





Abb. 5. 


Phragmitessümpfen erfüllt, dieihr Wasser aus dem letzten 
ständig fließenden Abzugskanal des Okawangobeckens, 
dem Tamalakane, erhalten. Seit zehn Jahren erreicht das 
im Ngamibette südwestwärts dringende Hochwasser den 
See nicht mehr, sondern ging nach meiner Beobachtung 
nur bis Lekala (20 km nordöstlich des Sees) und zur Zeit 
Dr. Pöchs gar nur bis Ma3gnaisa (35 km vom See ent- 
fernt). Das grasige Bett wird von den Ochsenwagen 
als Fahrstraße benutzt. Der Tamalakane ist an seiner 
Einmündung 100m breit und war im Januar 1907, also 
bei Mittelstand, 4m tief; sein Wasser füllt zum kleineren 
Teil die nächsten 10 km des Ngamibettes und fließt sonst 
Globus XCVIIL Nr. 9. 


Der Ngamifluß bei Komaning im Januar 1907. 


legene Kalaharisteppe in einem 190 km langen, gewun- 
denen Laufe, bildet auf dem sandbedeckten Chalze- 
donsandstein bis Makala mabele ein Bett mit 1 bis 6km 
breiter Talsohle, sowie seichter, flacher Flußrinne; von 
Makala mabele an zeigt sich an den sandüberschütteten 
Ufergehängen mürber Kalkstein, gleichzeitig verengt sich 
das Bett bedeutend, bildet aber erst von Maholi an einen 
10 bis 15m tiefen und bis 200m breiten Graben, der 
in Sand und Kalk eingegraben ist und in dem sich eine 
30 bis 60 m breite Flußrinne dahinwindet. Der Wagen- 
weg führt teils im Bette, teils an den Talrändern und in 
der angrenzenden Steppe dahin (Abb.8). Die Weide- 


18 


134 Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn. 


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Abb.6. Der Tamalakane unmittelbar an seiner Mündung. 
Rechts im Hintergrunde die Abgangsstelle des Ngamiflusses, links jene des Botletle. 


verhältnisse im Bette sind schlecht, indem auf dem san- 
digen Schlamm saure, zuweilen in der Regenzeit gifthaltige 








Abb 7. Ausspannplatz Lilokwalo am Botletle mit den 
drei Briefbäumen. 


Gräser wachsen. So verlor ich hier anfangs Januar 1907 
durch derartige Gräser vier Zugochsen. Das Gefälle von 


der Tamalakanemündung (950 m) bis zum 
Makarrikarribecken bei Rakops (910 m) be- 
trägt 40m. Zur Zeit meiner Bereisung 
glich der Fluß auf manchen Strecken einem 
schmalen, seichten Wiesenbach mit schwach 
strömendem oder stagnierendem Wasser, 
während Dr. Pöch ein Jahr später (November 
1908) östlich von Tschanocha eine Furt pas- 
sierte, die völlig trocken dalag, so daß eine 
Verbindung des oberen und unteren Fluß- 
laufes fehlte. Am Flusse befindet sich ein 
buntes Gemisch von Völkerschaften. Die ur- 
sprünglichen Bewohner sind nach Dr. Pöch 
Buschmänner, Matete oder Ohé-khoë genannt. 
Sehr zahlreich sind die Makuba, die mit den 
Majei des Caprivizipfels identisch sind. Die 
wichtigste Niederlassung ist das Dorf Tscha- 
nocha des bekannten Barolong Peter Sebigo, 
der Pflugkultur und sogar Straußenzucht be- 
treibt. Außerdem befinden sich am Botletle 
als Viehhirten der Betschuanen zahlreiche 
Herero; unter diesen mittellosen Viehwächtern 
findet man manchen früher wohlhabenden 
Kapitän und Grootmann. Als nämlich die 
Herero nach dem Entscheidungskampfe am 
Waterberg über die britische Grenze geflohen 
waren, hatte der Magistrat von Tsau, an- 
geblich um allen Eigentumsstreitigkeiten zu 
entgehen, angeordnet, daß jeder Herero als 
Besitzer des Viehes, das er persönlich über die 
Grenze geschafft habe, betrachtet werden 
solle. Durch diese Verordnung wurden die 
alten Stammesorganisationen, soweit sie noch 
bestanden hatten, aufgelöst. Die Kapitäne 
waren bei der Flucht ihren Herden weit vor- 
ausgeeilt, so daß infolge der Verordnung die 
mit dem Vieh nachfolgenden Wächter zu Be- 
sitzern der Herden ihrer Häuptlinge wurden, 
während diese nun als Viehwächter bei den 


135 











Abb.8. Wagenweg im Bette des Botletle bei ”Namessan. 
Links die von Phragmitesbeständen eingefaßte Flußrinne, in der Mitte ein ausgespannter Wagen. 


Betschuanen in Dienst traten oder sich als Arbeiter für die 
Transvaalminen anwerben lassen mußten. Der einzige wohl- 
habende Hererokapitän, Samuel Selo (von Pöch Zeppert ge- 
nannt), wohnt in Komani am Botletle und wanderte bereits 
vor dem Aufstande über Rietfontein-Nord aus. Makala mabele 
bildet die Grenze zwischen Muntibis und Khamas Reich. Ein 
sehr bekannter Ausspannplatz am Flusse wird im Sitschuana 
Lilokwalo = Letter trees oder Briefbäume nach einer Gruppe 
schöner Motsiarabäume (Terminalia prunioides) genannt, in 
deren Stämme zahlreiche Weiße, namentlich Buren, ihre Namen 
einschnitten (Abb.7). Flußpferde sind im oberen Botletle nur 
bei Hochwasser zu finden, hielten sich im Januar 1907 aber 
am unteren Tamalakane noch in derart großer Zahl auf, daß 
sie meinem Boote, wie es mir der dortige schwedische Händler 
vorhergesagt hatte, eines Abends nach Sonnenuntergang den 
Flußweg vollkommen verlegten und mich zur raschen Landung 
zwangen. 

Bei Rakops, einem großen Bakrutsedorf mit einer Polizei- 
station und dem Kaufladen eines Engländers, tritt der Fahr- 
weg in das Makarrikarribecken ein und führt in einer 
Länge von 90km durch dessen südwestlichen Teil. Anfangs 
hält er sich auf der weiten grasigen Kalksteinfläche dicht am 
Botletle, dessen Bett 80 bis 100 m breit und 8 bis 10 m tief 
ist, sowie eine sumpfige Flußrinne von 20 bis 40m Breite 
besitzt; der Fluß erreicht die große Soasalzpfanne nicht mehr. 
Bei Massinja verläßt der Wagenpfad den Botletle und führt 
entweder längs der von letzterem bei Hochflut gespeisten Sümpfe 
des einstigen Kumadausees oder je nach dem Grade ihrer Aus- 
troeknung quer durch das Sumpfland zum östlicher gelegenen 
Salzpfannengebiet; diese Kumadausümpfe sind wegen ihres meist 
brackigen Wassers und ihres Moskitoreichtums berüchtigt. Die 
ganze Botletlelandschaft samt dem Kumadaugebiet ist wegen 
ihrer guten Weide- und Ackerbauverhältnisse dicht bewohnt. 
Vorherrschend unter den Eingeborenen sind Makalaka, Ba- 
krutse und Matete (Ohé-khoë). Die Matete betrachtet Dr. Pöch 
als einen stark mit Buschmannsblut vermischten Bantustamm. 
Sie sind jedenfalls ein den !'Tannekwe (Sumpfbuschmännern) 
des Okawangogebietes der Nord-Kalahari entsprechendes 
Bastardvolk, nur überwiegt bei ihnen bereits das Negerelement 
(Abb. 9). Die gesamten Flußlandschaften und Überschwemmungs- 
gebiete vom Ngamisee bis zur Soasalzpfanne werden von den 
zahlreichen Löwen beunruhigt, weshalb nachts Rinderherden 
scharf zu bewachen sind und die Zugochsen an die Joche 
gebunden bleiben müssen. In der Gemarkung Mopipi, wo der 


Abb. 9. Matete (Ohé-khoë) am Botletle. 
18* 





136 Seiner: Der Verbindungsweg zwischen Deutsch-Südwestafrika und der Betschuanenland-Eisenbahn. 





Kaufladen eines Engländers steht, betritt man das Gebiet 
der großen Salzpfannen. Zur Regenzeit gibt es hier vor- 
zügliche wasserreiche Viehweiden. Bei Moschanin zwischen 
den Salzpfannen Karrikarri und Ntschokutsa traf ich im 
Dezember 1906 sämtliche überlebenden Herero aus Oma- 


den Betschuanen als Viehhirten verdingten. Die Salz- 
pfanne Ntschokutsa besitzt einen Durchmesser von 8 bis 
10km und ist von dichtem schönen Wald umrahmt; 
über der blendend weißen inneren Pfannenfläche, die aus 
hellem Kalkmergel sowie ausblühendem kalkreichen Salz 





e Abb. 10. Die Ntschokutsa-Salzpfanne im Makarrikarri-Becken. 


ruru (mit Ausnahme des Kapitäns Michael) an, die nach 
dem siegreichen Gefecht Frankes auf den Rat eines in 
Omaruru ansässigen englischen Händlers nach der Wal- 
fischbai geflohen waren, sich dort für die Diamanten- 
minen in Kimberley hatten anwerben lassen und nach 


besteht und bei jedem Tritt wie gefrorener Schnee 
knistert, liegt bei Dämmerung oder bedecktem Himmel 
ein bläulicher Schein und gibt ihr das Aussehen eines 
Wasserspiegels (Abb. 10). Die Brunnenlöcher enthalten 
nur in der Regenzeit reichlich Wasser. 





Abb. 11. Der Ostabfall des Mahuraplateaus bei Serue. Tiefsandiger Wagenweg. 


Ablauf ihrer Arbeitszeit in geschlossenem Haufen zur 
Fortsetzung des Kampfes über die Mittel-Kalahari nach 
Damaraland zurückzukehren suchten, im Salzpfannen- 
gebiete aber wegen Ausbrechens der Pocken gleich einer 
anderen direkt aus dem Damaraland nach den Transvaal- 
minen ziehenden Hereroschar ein isoliertes Lager be- 
ziehen mußten und sich schließlich an Ort und Stelle bei 


Der 190 km lange Weg durch das Mahurafeld ist 
die beschwerlichste Strecke der ganzen Ngamiroute. Er 
steigt vom Makarrikarri-Becken (900 m ü.d.M.) bis zum 
Östabfall (1300 m ü. d. M.) des Mahuraplateaus um 400 m 
an, ist stellenweise tiefsandig und enthält nur vier stets 
wasserhaltige Kalkpfannen, nämlich Lotlakani (1000 m 
ü. d. M.) im Makokobett, Litauani (1030 m), Kolokama 


Saad: 


Jafa. 


137 





und Mohissa (1140 m). An diesen wasserreichen Pfannen 
befinden sich unter der Aufsicht von Buschmännern, 
deren Sprache nach Dr. Pöch dem Sitete sehr nahe zu 


stehen scheint, Viehposten der Bamangwato. Mit einem 
leicht beladenen Ochsenwagen legte ich die Strecke, zu 
deren Passierung schwer beladene Frachtwagen oft zwei 
bis drei Monate gebrauchen, in neun Tagen, nämlich in 
der Zeit vom 5. bis 14. Dezember 1906, zurück, wobei 
ich allerdings durch zufällige Regenwasservorräte in eini- 
gen Sandpfannen begünstigt wurde. Das Landschaftsbild 
wechselt häufig. Waldartiges Gehölz und Buschsteppe 
mit Copaifera mopane und Acacia Passargei sind vor- 
herrschend, aber auch die Strauch- und Krautsteppe 
nimmt einen großen Raum ein und gehört zu den ödesten 
Gegenden der Kalahari. Eine südlichere Route führt 
von Lotlakani parallel zum Makokobett über ein Kalk- 
pfannengebiet mit einigen stets wasserhaltigen Brunnen 
und dann 40 km durch das tiefsandige, wasserlose Pupu- 
feld, mit dem die Mahurasteppe am Östabfall des Plateaus 
endet; auf dieser von Passarge aufgenommenen Route 
erlitten im Jahre 1879 schlecht organisierte Trekburen 
enorme Verluste, indem ganze Wagenzüge im Sande 
stecken blieben und Hunderte von Menschen und Zug- 
ochsen an den erschöpften Brunnen verdursteten. Der 
nördliche Wagenweg umgeht das Pupufeld, indem er in 
die Makweebene, eine Übergangslandschaft zwischen Ma- 
hurafeld und Maklautsipforte mit meist festem Sand- 


boden, einbiegt und dann südwärts 50 km lang auf dem 
zerklüfteten Ostabfall (Abb. 11) des Plateaus über Rücken 
und durch Täler nach Khamas Hauptstadt Serue, die 
noch auf den Gehängen liegt (1200 m ü. d. M.), führt. In 
Serue befinden sich ein Magistrat mit einer Polizeiabtei- 
lung, ein kleines Spital, eine Missionsstation, Schmiede, 
Wagenbauer und acht Kaufläden. Unter den 30 000 Ein- 
wohnern, meist Bamangwato, sind einige hundert Herero. 
Der weitere Weg, bereits außerhalb der Kalahari, geht 
über Masintila (975m ü. d. M.) durch das Bamangwato- 
hügelland nach dem 50 km von Serue entfernten Palapye 
Road an der Betschuanenlandbahn. — Im Juni 1906 
reiste der Resident Commissioner des Betschuanenland- 
Protektorates, Ralph Williams, nach Tsau und zog dann 
von dort, wie später der unermüdliche Hauptmann 
Streitwolf auf seiner Reise nach dem Caprivizipfel und 
zurück nach Gobabis, längs des Tamalakane und 
durch das Mababefeld an den Linjanti-Sambesi und nach 
der Bahnlinie an den Viktoriafällen; Williams schlägt 
nun in seinem Reiseberichte vor, die Route Tsau— Vik- 
toriafälle zur ständigen Verbindung des Ngamilandes mit 
dem Bahnnetz zu machen und den ungemein beschwer- 
lichen und wasserarmen Wagenweg durch das Mahurafeld 
gänzlich aufzulassen ; allein diesem Vorschlag widerstreben 
die Batauana von Tsau und die Bamangwato von Serue, die 
feste Beziehungen zueinander unterhalten und nach Ver- 
drängung der Buren den Wagenverkehr in Händen haben. 


Jafa. 


Von Dr. L. Saad. 


Jafa. 


Mit einem Plan. 


Jafa — französische Schreibweise Jaffa, das neu- 
testamentliche Joppe, ist von alters her der Haupthafen 
von Jerusalem bzw. Palästina. Es ist heute ein kosmo- 
politischer Platz, wo die verschiedensten Rassen vertreten 
sind. Den größten Teil der Bevölkerung bilden Araber, 
sie sind aber gemischt. Das alte Jafa ist auf einem 
Hügel von etwa 46m Höhe amphitheatralisch und stufen- 
weise aufsteigend aufgebaut. Die ehemalige Festung ist 
eine offene Stadt geworden. 

Die Stadt gehört administrativy zum Mutesariflik 
Jerusalem und ist Sitz eines Kaimakams. Seit Jahren 
ist davon die Rede, Jafa zum Mutesariflik und Jerusalem 
zum Vilayet zu erheben, in Anbetracht seiner immer zu- 
nehmenden Ausdehnung und Wichtigkeit. Militärisch 
gehört es zum fünften Armeekorps (Damaskus). 

Die Stadt liegt unmittelbar am Meere, frei nach allen 
Seiten, von Orangengärten umgeben. In den Gärten 
finden sich außerdem Zitronen, Ölbäume, Feigen, Granat- 
äpfel und an Gemüsen Bohnen, Erbsen, Kohl, Blumen- 
kohl, Spinat, Kürbis, Batlindjan, Wurzeln, dicke Rüben, 
Gurken, Zwiebeln u. a. m. Außerhalb der Stadt werden 
Wein, Weizen, Gerste, Hafer, Durra, Sesam, Wasser- und 
Zuckermelonen, Kartoffeln usw. angebaut. Der Boden 
ist meistens Sandboden, auch hier und da schwarzer 
Alluvialboden, besonders außerhalb der Stadt. 

Die Altstadt besteht aus einem Gewirre kleiner 
Gäßchen mit engen und finsteren Häusern. Es ist un- 
möglich, sich eine annähernde Vorstellung davon zu 
machen, ohne selbst diese Gäßchen gesehen zu haben. 
In manche Wohnung dringt kein Sonnenlicht, hier wie 
überall in der Stadt fehlen Kanäle, sämtliche Abfallstoffe 
und Unrat werden vor das Haustor geworfen, und deren 
Beseitigung ist nur unvollkommen; vieles davon wird 
von den herrenlosen Hunden verzehrt. Ein Wunder, 
daß in diesen dunkeln Gäßchen nieht mehr Miasmen und 

Globus XCVIII. Nr. 9. 


Keime verheerender Seuchen sich entwickeln. Außer 
der Altstadt sind die Stadtviertel Maslach und Menschie 
am schmutzigsten und ungesundesten, dagegen gelten 
das Stadtviertel Adjami und die angrenzenden Teile, wie 
die deutsche Kolonie, für gesünder. 

Im Innern der Stadt sind die Straßen meistens 1,70 
bis 2,50 m breit. Die Häuserhöhe schwankt durchweg 
zwischen 5 bis 10 und 20m. In der Außenstadt sind 
die Hauptstraßen meistens 12m breit, an einzelnen 
Stellen etwas mehr. Die Häuserzahl beträgt nach un- 
gefährer Schätzung 6800. 

Die schon erwähnte deutsche Kolonie bildet einen 
besonderen Stadtteil und wird von den Eingeborenen 
„Meleken“ genannt; sie liegt 1km von der Stadt ab. 
Im Jahre 1866 ließ sich hier eine amerikanische Kolonie 
nieder, sie konnte sich jedoch nicht halten, daher der 
verstümmelte Name „Meleken*. Einige der Kolonisten 
starben, andere verloren ihr Vermögen, der Rest kehrte 
in die Heimat zurück. Zwei Jahre später (1868) traten 
württembergische Kolonisten an ihre Stelle und gründeten 
eine freie, religiöse Gemeinde, die „Tempelgemeinde“. 
Heute wohnen nur noch wenige Deutsche in der Kolonie, 
sie haben sich meistens an anderer Stelle, am Meere oder 
etwas weiter in „Walhalla“ ein Haus gebaut. Die 
Schwesterkolonie Sarona ist 40 Minuten und Wilhelma 
drei Stunden von hier entfernt. Es gibt mehrere Hotels 
in der Stadt. 

Die Einwohnerzahl dürfte 35 000 bis 40000 betragen; 
davon sind 21896 Muselmänner, 1011 Moghrebi, 
300 Neger, 600 Ägypter, 4008 orthodoxe Griechen, 
587 Lateiner, 498 katholische Griechen, 100 Armenier, 
193 Maroniten, 62 Protestanten, 14 Syrier, 12 Kopten 
und 6000 Juden. Deutsche gibt es im ganzen Bezirke 
Jafa, Ramle und Gaza 680, nämlich 505 Reichsangehörige 
und 175 Schutzgenossen. Engländer 60 Erwachsene, 


19 











III I ITIO TI 
II IAT 
II IOTI IR: 
| INH) | iN IIIN 
| | I || III) | II] | 


IN 














300 Meter. 





PLAN von JAFFA 
von 
Dr. med. L. Saad. 
Maßstab etwa 1:6750 


iij 


AAAA 








1. Paßbureau. — 2. Quarantänebureau. — 3. Hafenamt. — 
4. Deutsche Palästina-Bank. — 5. Crédit Lyonnais. — 6. Deutsche 
Post. — 7. Österreichische Post. — 8. Türkische Post und Tele- 
graphenamt (Bustrusstraße). — 9. Österreichische Lloyd-Agentur. — 
10. Agentur der Messageries Maritimes. — 11. Französische Post. — 
12. Agentur der Khedivial Mail Line. — 13. Agentur der Bell Asia 
Steam Ship Cie. Ltd. — 14. Agentur der Prince Line. — 15. Leucht- 
turm und Haus Simons des Gerbers. — 16. Bureau des Leuchtturms 
(Agence des Phares). — 17. Griechisches Kloster und Kirche. — 
18. Franziskanerkloster (Casa Nova) und Hospiz. — 19. Neues Fran- 
ziskanerkloster und Kirche. — 20. Russische Agentur und Post. — 
21. Armenisches Kloster und Kirche. — 22. Deutsche Levantelinie 
und Agentur der Nordischen Dampfschiflahrtsgesellschaft (russische). — 
23. Englisches Konsulat (Howardstraße). — 24. Französisches Kon- 
sulat (Bustrusstraße). — 25. Serail (Lokalbehörde). — 26. Munizi- 
palität. — 27. Stadtgarten. — 28. Turmuhr. — 29. Französisches 
Krankenhaus. — 30. Mädchenschule von Miss Arnott. — 31. Schule 











der Frères des écoles chrétiennes. — 32. Mädchenpensionat der 
Schwestern v. h. Joseph. — 33. Dschami el-Mahmudie. — 34. Dschami 
el-Bahr. — 35. Dschami es-Serai. — 36. Bir el Hadsch‘ Ali (Brunnen). — 
37. Bir el Mahmudie (Brunnen). — 38. Bir es Siksik (Brunnen). — 
40. Hammäm es-Serir (türkisches Bad). — 41. Hammäm er-Rumele 
(türkisches Bad). — 42. Hammäm el-Beg (türkisches Bad). — 
43. Gemüse-, Fisch- und Fruchtmarkt. — 44. Hötel Kaminitz. — 
45. Griechische Kirche „St. Georg“. — 46. Hardeggs Hôtel Jeru- 
salem (Deutsche Kolonie). — 47. Hötel du Parc (Deutsche Kolonie). — 
48. Franks Restaurant „Deutsches Gasthaus“. Deutscher Verein 
(parterre). Dr. J. Benzingers Reisebureauu. — 49. Deutsche 
protestantische Kirche. — 50. Deutsches Hospital. — 51. Deutsche 
Schule der Tempelgemeinde. — 52. Deutsche protestantische 
Schule. — 53. Cooks Bureau. — 54. Bureau der Eisenbahn 
Jafa—Jerusalem. — 55. Reisebureau der Hamburg- Amerika-Linie 
(vis-à-vis vom Zollhaus. — 56. Agence Lubin (Reisebureau) im 
Hötel du Parc. 


Saad: 


Jafa. 139 





mit Frauen und Kindern 240. Franzosen: europäische 
Untertanen 138, Schutzgenossen 450 (bestehend aus 
Juden, Marokkanern usw.); Italiener 60; Spanier (mit 
den umliegenden Kolonien 150 Familien) im ganzen un- 
gefähr 750 Personen; Österreicher 108; Rumänen 20 
Familien mit ungefähr 100 Personen, fast alle Israeliten; 
Amerikaner 82 mit den in den zwei jüdischen Kolonien 
Rischon (15) und Mulebes (27) wohnenden; Griechen 210. 

Bei dieser Liste ist in Betracht zu ziehen, daß es 
sehr vie® Einwohner gibt, die nicht eingetragen sind, 
besonders von auswärts eingewanderte türkische Unter- 
tanen und Juden fremder Nationalität. 

Von den Juden, die ins Land kommen, sind 50 Proz. 
Einwanderer, die hier arbeiten wollen, die anderen 
50 Proz. kommen, um in Palästina zu sterben. Unter 
ihnen gibt es Jemeniten aus Südarabien, die zumeist 
arabisch sprechen, aber auch gut hebräisch verstehen, 
ausgezeichnete Arbeiter (Steinhauer, Lastträger, Diener 
usw.) sind und sehr anspruchslos leben. Dann Juden 
aus Buchara, meist vermögend; die meisten von ihnen 
besitzen Häuser in Jerusalem und kehren zeitweilig nach 
Buchara zurück. 

Die Wohnhäuser sind meistens aus Sandstein, hier 
und da auch aus Cäsareasteinen errichtet, diemit Mahonen 
(Leichtern) von den Ruinen Cäsareas geholt werden. 
Sie haben selten mehr als zwei Stockwerke und flache 
Dächer mit Ziegeln bedeckt. Die innere Einrichtung 
ist durchweg primitiv, nach den Bedürfnissen und 
Gewohnheiten der verschiedenen Nationalitäten. 

Die Wohnungspreise sind in den letzten Jahren 
infolge der Judeneinwanderung sehr in die Höhe gegangen. 
Die Fremden im allgemeinen und besonders die Europäer 
wohnen am bequemsten, dann kommen die wohlhabenden 
eingeborenen Christen. Die Hauptmasse der Bevölkerung 
aber, d.h.diemuselmännischeund hauptsächlich diejüdische, 
wohnt in der Regel eng zusammen. Bei den Juden ist 
z. B. oft Sitte, daß mehrere Familien zusammen ein Haus 
mieten, alsdann nimmt jede Familie ein Stube, in welcher 
vier bis fünf Personen schlafen. Die Betten werden bei Tage 
zusammengelegt und in der Stubenecke übereinander 
aufgeschichtet. In den Vororten von Jafa wohnen mit 
der Familie die Haustiere (Esel, Kamele, Maultiere, Pferde, 
Ochsen, Schafe) zusammen. 

Die Kleidung gewinnt von Tag zu Tag mehr 
europäischen Anstrich. Den europäischen Hut sieht man 
aber jetzt nach der Erklärung der neuen Verfassung, 
hierzulande „hurie“ (Freiheit) genannt, weniger als 
früher. Viele Eingeborenen, die früher einen solchen 
trugen, tragen jetzt den Fez oder, da dieser infolge des 
türkisch-österreichischen Konflikts verpönt ist (Öster- 
reich stellt sie meistens her), einen Kalpak mit dem 
kleinen türkischen Stern vorn. 

Die Sterblichkeit betrug im Jahre 1908 unter den 
Einheimischen: im Januar 31 Fälle, Februar 22, März 30, 
April 26, Mai 37, Juni 22, Juli 18, August 25, 
September 11, Oktober 12, November 20, Dezember 20. 
Die französischen Schutzgenossen, meistens Juden oder 
Moslim, wenden sich in Sterbefällen nicht ans Konsulat, 
sondern an ihre religiösen Chefs. Bei den Juden, die 
russische Untertanen sind, ist ebenfalls eine genaue 
Statistik nicht möglich, da diese ihre Todesfälle nicht 
anmelden. Jede religiöse Gemeinde hat ihren eigenen 
Begräbnisplatz, und die meisten befinden sich zurzeit 
infolge der Ausbreitung der Stadt mitten zwischen den 
Wohnhäusern, mit Ausnahme des deutschen, der un- 
gefähr 3km außerhalb in der Nähe der deutschen Kolonie 
Sarona liegt. 

Das deutsche Hospital hat 23 Betten, das englische 46, 
das französische 50, das jüdische 20, das Militärhospital 14. 


nicht vollendet. 
Das deutsche Hospital ist das älteste; es genügt be- 
scheidenen Ansprüchen, hat von der Heimat keine Unter- 
stützung und wird von den deutschen Kolonisten unter- 


Das städtische Krankenhaus ist noch 


halten. Das englische und französische sind für hiesige 
Verhältnisse gut gebaut und zweckentsprechend aus- 
gestattet. Das jüdische und das Militärhospital dagegen 
sind ärmlich und in einem Mietshause untergebracht. 

Ein Hauptfeind jedes Fremden, wie auch der Ein- 
geborenen, ist die Malaria. Die Malariafieber sind 
endemisch, sie treten manche Jahre gleich Epidemien 
auf, verheerend durch ihren perniziösen Charakter. Vor 
mehreren Jahren hatten wir in Jafa eine solche, eine 
remittierende Form, es starben damals 40 bis 50 Personen 
täglich daran. Viele Fälle waren mit Gelbsucht ver- 
bunden, die hierzulande das „Gelbe Fieber“ genannt wird, 
aber mit dem „Gelben Fieber“ Amerikas nichts zu tun 
hat; sie ist eine der schwersten Fieberformen (febris 
remittens biliosa melanurica). Im Spätsommer vorigen 
Jahres wurde Jafa, wie ganz Palästina, von einer schweren 
Dengunepidemie heimgesucht; das Dengunfieber tritt so 
ziemlich alle 11 Jahre seuchenartig auf. Mitte Oktober 
war Jafa ein allgemeines Hospital, nur wenige wurden 
verschont, Komplikationen mit Herzaffektionen und 
Erythema nodosum waren nicht selten. In Jerusalem 
war die Seuche sehr gelinde aufgetreten. 

Impfung und Wiederimpfung sind obligatorisch. 
Um eine Anstellung zu bekommen, um zu reisen, um zu 
heiraten und überall, wo man den Geburtsschein braucht, 
muß man den Impfschein zeigen. Vom Stadtarzt und 
einem dazu abgerichteten Impfbeamten wird die Impfung 
unentgeltlich ausgeführt. Es wird auch von vielen Un- 
berufenen geimpft, ohne daß eine gesetzliche Strafe 
darauf steht. Die Leichenschau ist seit fünf Jahren 
eingeführt, obligatorisch ist sie aber nur für türkische 
Untertanen. Der Totenschein muß von einem von der 
türkischen Regierung anerkannten Arzte ausgestellt sein 
und dann bei der Quarantänebehörde vorgezeigt werden, die 
ihrerseits daraufhin durch einen zweiten Schein die 
Erlaubnis zur Beerdigung gibt. Die vorgeschriebene 
Anmeldung von Geburten von Fremden geschieht bei 
deren Konsulaten, von türkischen Untertanen, die Christen 
sind, bei ihren Kirchengeistlichen, von denMohammedanern 
bei der Stadtbehörde, von den Juden beim Rabbiner. 

Das Wasser (Brunnenwasser, Grundwasser) ist trink- 
bar, doch tut man gut, es zu filtrieren. Es ist vorwiegend 
salzig schmeckend und von 18 bis 20° Härte. Die 
Brunnen in den Gärten sind ausgemauert. Das Wasser 
wird durch Schöpfräder und durch Zieheimer herauf- 
befördert. Gewöhnlich ist das Wasser in den Orangen- 
gärten am besten, da es, besonders wenn in den Gärten 
bewässert wird, sich durch das Schöpfen erneuert. Eine 
Stunde von Jafa entfernt ist der Nahr el Andsche (d. h. 
Fluß der Krümmung), und man denkt daran, die Stadt und 
die Örangengärten von ihm aus mit Wasser zu versorgen. 
Der Fluß entspringt vier Stunden von Jafa am Gebirge 
Juda und hat 11 Quellen. Den ganzen Fluß entlang 
bis zu seiner Mündung ins Meer befinden sich zu beiden 
Seiten, mit geringer Unterbrechung, Sümpfe. Am Andsche 
herum gibt es Wildschweine, Hasen, Rebhühner, Schnepfen, 
Wachteln, und im nahen Gebirge Wölfe, Hyänen, Schakale, 
Füchse, Stachelschweine und mitunter Steinböcke. Saladin, 
der im Norden bei Arsuf dem König Richard Löwenherz 
eine große, blutige Schlacht geliefert hatte, ohne ihn 
besiegen zu können, schlug sein Lager bei der Andsche- 
Brücke am linken Flußufer auf, während Richard mit 
seiner Armee die Nacht an demselben Fluß am Meeres- 
ufer zubrachte. Heute besteht diese Brücke nur in 
einem einzigen Bogen von wenig sorgfältigem Mauerwerk, 


19* 


140 


Saad: 


Jafa. 





aber in ziemlich gutem Zustande. Man bemerkt da 
noch einige Reste einer früheren Brücke und in der 
Nähe am rechten Flußufer Trümmer einer Wasserleitung. 
Das Wasser des Flusses ist gut und könnte auf eine 
große Strecke hin das Land fruchtbar machen, wenn es 
gut geleitet würde. 

Das Klima ist subtropisch und hauptsächlich durch 
eine ausgesprochene Regenzeit charakterisiert. Das Jahr 
zerfällt in eine winterliche Regenzeit und eine sommer- 
liche Trockenzeit. Der Winter ist gesund und angenehm, 
wird aber dem Bewohner durch die große Feuchtigkeit 
der Häuser, die meist aus einem porösen Sandstein er- 
baut sind und gleich einem Schwamm den Regen ein- 
saugen, verleidet; der Sommer dagegen wird durch die 
Malaria gefährlich. Mit Ende April beginnt die Zeit der 
großen Hitze, die erst Ende Oktober schließt. Der 
angenehmste, kühle Wind ist der Ostwind, der Südwind 
ist der heißeste, der im Winter wehende Westwind 
bringt Regen, während der Nordwestwind immer schönes 
Wetter im Gefolge hat. Der Nordwind ist ebenso selten 
wie der Ostwind. Am lästigsten empfindet man die 
große Hitze im Sommer, infolge der reichlichen Schweiß- 
erzeugung. Sie wird durch die heißen trockenen Ost- 
und Südostwinde (Sirocco) noch gesteigert. Der Sirocco 
dauert im Sommer oft 8 bis 10 Tage an; im Winter 
kommt er selten vor und hält dann nur ein paar Tage 
an. Die höchste durch Sirocco erzeugte Temperatur ist 
440C, die gewöhnliche Siroccotemperatur 30 bis 35°C. 
Eine wahre Erquickung während des Sommers ist eine 
angenehme Seebrise (von Westen kommend), die zwischen 
8 und 9 Uhr vormittags beginnt, gegen Abend allmählich 
nachläßt und in der Nacht in den Landwind übergeht. 
Es ist daher begreiflich, wenn der Fremde während des 
Sommers nicht die Arbeitsfähigkeit wie in der Heimat 
besitzt; nur durch langsame Akklimatisation lernt er die 
höhere Temperatur ertragen. In der Regel werden die 
Nächte von Mitte September an kühler, so daß man 
besser schlafen kann. 

Die Regenzeit dauert ungefähr von Mitte Oktober 
bis Anfang Mai, die Monate April und Oktober kann 
man als Übergangsmonate betrachten. Das Regenwetter 
wird häufig einen oder mehrere Tage durch heiteren 
Himmel unterbrochen. Schnee und Hagel sind eine 
Seltenheit und zerfließen bald, Eis kennt man nicht. 
Der kälteste Monat ist der Januar, der wärmste Monat 
der August, ausnahmsweise kommt ihm der Juli fast 
gleich. Erst im November ist eine entschiedene Ab- 
kühlung da. Selten hat Jafa eine Temperatur unter Null. 
Die Seestürme beginnen in der Regel Ende der ersten 
Woche des November mit Regen. Der letzte Sturm ist 
der „des 9. März“ alten Stils (d.h. 22. März), hierzulande 
„dokus mart“ genannt. Es können nach dieser Zeit in 
der ersten Hälfte des April noch ein oder zwei Tage 
stürmisch sein, das ist aber ohne Bedeutung. Von jetzt 
ab beginnen die Segler zu fahren. Der Nebel ist gering; 
gewöhnlich werden im Jahre 10 bis 12 Nebeltage be- 
obachtet, besonders im Frühjahr und Herbst, im Winter 
selten. 

Jeder Europäer lebt hier nach heimatlichen Gewohn- 
heiten, angepaßt den hiesigen Produkten. Die Ein- 
geborenen genießen viel Reis, Weizenbrot, auch wohl 
Durrabrot, wenig Fleisch, dagegen Öl, Grünzeug in 
größeren Quantitäten, Oliven, Schaf- und Ziegenkäse, 
dicke Milch, Eier, Rettig, gesalzene Fische, „fsih“ 
genannt (eine besonders aus Ägypten und von der Gegend 
von EI-Arisch importierte Fischart), und viele Früchte, 
wie es die Jahreszeit mit sich bringt, auch viele Zucker- 
speisen. An geistigen Getränken werden Mastic 
(eine Art Schnaps), Kognak geringster Sorte, dann Wein 


und Bier konsumiert. Der Wein wird hauptsächlich in 
den deutschen und jüdischen Kolonien Palästinas bereitet, 
vielfach auch exportiert. Bier wird auch in Jafa gebraut, 
aber in sehr geringer Qualität, die besseren Sorten sind 
eingeführt, besonders bayerisches und Bomonti- Bier. 

Das Gewerbe steckt noch in den Kinderschuhen. Es 
gibt 11 Seifensiedereien, alle in der Altstadt, in jeder 
werden vier oder fünf Leute beschäftigt. Das Öl kommt 
meistens aus der Umgegend von Nablus und Jerusalem, 
dann aus der Umgegend von Jafa, speziell von Lydda; 
wenn die Ernte schlecht ist, aus Mitylene und Marseille. 
Die hiesige Seife wird nach Ägypten, hauptsächlich nach 
Kairo exportiert, von dortins Innere. Die Seifensiedereien 
sind ganz primitiv eingerichtet. Die Arbeit geschieht 
mit geschmolzener kaustischer Soda, die aus Belgien oder 
England bezogen wird. Außer den Seifensiedereien sind 
die Gerbereien erwähnenswert. Es gibt deren neun, 
1 deutsche, 2 jüdische, 3 griechische und 3 Muselmännern 
gehörig. Siesind auch sehr primitiv, jeder hat vier bis fünf 
Arbeiter. In den Gerbereien werden alle Sorten Häute 
für den Lokalgebrauch und den Export verarbeitet. 
Büffelfelle kommen besonders aus Singapore und Rangoon, 
aus Ägypten wird Kamel- und Rindleder eingeführt. 
aus Europa feineres Rindleder. 

Dann gibt es eine bedeutende Eisengießerei, den 
Deutschen Gebr. Wagner gehörend, und eine deutsche 
Eisfabrik der Familie Murad, die 3000 kg Eis täglich 
liefern kann. 

Der Handel Jafas nimmt jährlich zu. Besonders ein- 
geführt werden Wollwaren, Mehl, Reis, Zucker, Petroleum, 
Kaffee, Maschinenöl, Kohlen, Zink, Kupfer, Blechplatten, 
Kleidung, Eisen und Eisenwaren, Eisenbettgestelle, 
Bauholz, Wein, Spiritus, Maschinerien und Tabak. Die 
Ausfuhr besteht in Orangen, Sesam, Seife, Melonen, Wein, 
Spirituosen, Kognak, Häuten, Koloquinten, Wolle, Oliven- 
öl, Rosinen. 

Die ÖOrangenausfuhr, meist nach Liverpool, umfaßt 
den größten Teil des ganzen Ausfuhrhandels; fast drei 
Viertel der Einwohner leben davon, und von dem Ausfall 
des Orangengeschäfts hängen auch viele andere Geschäfte 
ab. Wein und Spirituosen werden nach Hamburg, in 
kleinen Quantitäten nach England und Amerika aus- 
geführt, Wolle nach Amerika und Europa, Häute nach 
Frankreich. Rosinen nach Italien für Weinfabrikation 
kommen hauptsächlich aus Salt über Jerusalem. Es 
sind Anpflanzungsversuche mit verschiedenen Sorten 
Baumwolle gemacht worden, und zwar mit gutem Erfolge. 
Man hegt große Hoffnung. 

Im Export nimmt England den ersten Rang ein, 
dann folgen Ägypten, Deutschland, Frankreich, die 
Türkei, Österreich, Rußland und Italien. Im Import 
dagegen hat die Türkei den ersten Platz, den zweiten 
England. Von Banken bestehen die Deutsche Palästina- 
Bank, die Banque Otoman, der Crédit Lyonnais und die 
Anglo-Palestine Bank. 

Am Schiffsverkehr sind beteiligt: Deutschland mit 
23 Dampfern (davon 6 Touristendampfern), England mit 
232, Frankreich mit 76, Österreich mit 210, Rußland 
mit 190, Italien mit 89 Dampfern und 4 Seglern, die 
Türkei mit 33 Dampfern und 1057 Seglern, Griechen- 
land ist mit 22 Dampfern und 4 Seglern, Belgien mit 
7 Dampfern, Holland mit 11, Norwegen mit 2 
und Amerika mit 11 beteiligt. 

Jafa hat keinen Hafen. Die Schiffe müssen auf der 
Reede Anker werfen, und diese ist sehr gefürchtet. Nach 
den Navigationsvorschriften müssen die Schiffe vor Jafa 
stets unter Dampf stehen, dagegen Handelnde haben es 
oft büßen müssen. Für die kleinen Segler nnd Leichter 
ist ein von den Felsen eingeschlossener kleiner Hafen 


Die innerpolitischen Verhältnisse Abessiniens. 141 





vorhanden, bei starkem Sturm ist er aber auch nicht 
sicher. Ägyptische Segler (skif genannt) und sonstige 
Küstenfahrer kommen von Juni bis September. 

Die Direktion der Bahn Jafa—Jerusalem plant seit 
Jahren umfassende Kaianlagen, aber es ist nicht zum 
Bau gekommen. Auch Hafenprojekte tauchten in der 
letzten Zeit mehrmals auf. Ebenso ist die Rede von 
einer Bahn Port Said—Jafa. 

Der Quarantänedienst untersteht der internationalen 
Sanitätsverwaltung in Konstantinopel.. Delegierte sämt- 
licher Mächte bilden den Sanitätsrat, der die Quarantäne- 
maßregeln anordnet, die Beamten ernennt und absetzt. 

Von Jafa fährt eine Bahn nach Jerusalem. Der 
Bahnverkehr geschieht neuerdings zweimal täglich. Zeit- 
dauer hinauf 4 Stunden, herunter 3°/, Stunden. Die 
Bahn ist 87km lang und schmalspurig und schaukelt 
sehr, da der Untergrund Sand ist und die Schwellen 
keine solide Unterlage haben, besonders auf der Strecke 
Jafa—Deir aban. 

Jafa hat ein türkisches und internationales Telegraphen- 
bureau und Post. 

Pilger, hauptsächlich Russen und Griechen, kommen 
um die Osterzeit herum, die Russen bilden die Mehrzahl. 
Die Touristenzeit beginnt Ende Februar und dauert bis 
Ende Mai. Gewöhnlich landen ungefähr 4000 Touristen 
jährlich und 9000 bis 10000 Pilger, meistens Russen. 

Als Sehenswürdigkeit gilt der sogenannte „Russenbau“, 
ein russisches Kloster mit Kirchein einem schön angelegten 
großen Garten, in dem sich das Grab der Tabita befindet. 
Diese Grabhöhle bildet alljährlich am vierten Sonntage nach 
Ostern den Gegenstand hoher Verehrung. Es strömen 
die Leute aus Jafa in Massen hierher, und auch ebenso 
zum Brunnen Abu Nabut, der auf dem Wege zum 
Russenbau an der Jerusalemer Chaussee liegt, um das 
Andenken der Tugenden der heiligen Tabita und ihres 
Wunders zu feiern. Es gibt sechs Moscheen. Die 
Moschee Dschami el Kebir, vom Volke auch Dschami 
Abu Nabut Pascha genannt, wurde von Nabut Pascha, 
der seinerzeit Gouverneur von Jafa war, in großem Maß- 
stabe restauriert, auch sorgte er in freigebigster Weise 
für die Erhaltung. Ein einfacher, geweißter viereckiger 
Raum ist die Moschee Dschami el Tabie (Eingang zum 
Leuchtturm); hier soll das Haus Simons des Gerbers ge- 
standen haben. Die Imame der Moscheen bekommen 
meisten 100 bis 130 Piaster Gehalt, der Muezzin 40 Piaster. 
Daneben haben sie viele Nebeneinnahmen z. B. am 
Beiram, bei Begräbnissen, bei Geburten usw. Die fremden 
Bekenntnisse sind mit Kirchen vertreten. 


Wenige Schritte vom Landungsplatze liegt das Kloster 
der Franziskaner. Im Jahre 1252 besaßen die Franzis- 
kaner eine von Ludwig IX., König von Frankreich, er- 
baute Kirche mit Kloster. 1267 zerstörte sie Sultan 
Bibars und verjagte die Eigentümer, diese konnten bis 
zum 16. Jahrhundert nicht mehr zurück und ließen sich 
erst wieder um die Mitte des 17. Jahrhunderts hier 
nieder. 1654 wurden Kirche, Kloster und Hospiz wieder 
erbaut mit Erlaubnis des Gouverneurs von Gaza. Im Laufe 
der Jahrzehnte wurden sie während der herrschenden 
Unruhen und Kriege wieder zerstört und die Inhaber 
vertrieben. 1830 wurden Kirche, Kloster und Pilgerhaus 
am Meere von neuem erbaut, und 1839 bis 1890 wurde 
der neue Kirchen- und Klosterbau vorgenommen. In 
ihrem Hospiz gewähren die Franziskanerväter jedermann 
Unterkunft. 

Das griechische Kloster existiert seit 1645; zurzeit 
befindet es sich in den Händen der orthodoxen Araber, 
die griechischen Geistlichen sind daraus vertrieben. Das 
armenische Kloster liegt am Meere neben dem Franzis- 
kanerkloster. Wann die erste Gründung war, ist un- 
bekannt. Man weiß nur, daß im Jahre 1725 der 
Patriarch Gregoire von Jerusalem die erste Etage des 
Klosters bauen ließ und die Einweihung des Platzes 
der Kirche St. Nicolas vornahm. Erst von dieser 
Zeit an hatte das Kloster Geistliche und nahm Pilger 
auf. Die unteren Magazine dienten früher den Pilgern 
als Depot für ihrGepäck, da sie oft 1 bis 3 Wochen auf 
eine Karawane nach Jerusalem warten mußten. Napoleon 
hatte hier während der syrischen Expedition seine kranken 
Offiziere. Dann gibt es noch ein Kopten- und ein 
Maronitenkloster, die kein hohes Alter haben. Das 
Maronitenkloster zum heiligen Antonius wurde erst vor 
zehn Jahren gebaut aus den Mitteln der Gemeinde und 
des Patriarchats Jerusalem, von dem es auch abhängt. 
Die Mönche kommen vom Libanon. 

Die Schulen Jafas sind: die deutsch-evangelische 
Schule nebst Pfarrhaus auf der deutschen Kolonie, 
gegründet vor zehn Jahren und mit einer Schülerzahl 
von 22; die deutsche Schule der Tempelgemeinde, eben- 
falls auf der deutschen Kolonie; die Ecole des Frères 
des écoles chrétiennes; die neugebaute große griechische 
Schule und Handelsschule, die zurzeit infolge des Streites 
zwischen den Griechen und orthodoxen Arabern ge- 
schlossen ist; die Schule der französischen Josephs- 
schwestern; die italienische Schule der Schwestern; die 
englische Schule der Miss Arnott und die amerikanische 


Schule. 


+ 


Die innerpolitischen Verhältnisse Abessiniens. 


Das heutige Abessinien ist eine Schöpfung Meneliks II., 
der es geeint, ihm in den Kämpfen mit Italien die Un- 
abhängigkeit wiedergegeben und den inneren Ausbau 
bis zu einem gewissen Grade vollendet hat. Menelik war 
eine alle seine Landsleute an Klugheit und Energie weit 
überragende Persönlichkeit, der sich alle beugten, und 
weil dem so war, erhob sich häufig die Frage, was wohl 
aus seiner Reichsschöpfung werden würde, nachdem er 
vom Schauplatz abgetreten wäre. Würde sie nicht bald 
aus den Fugen gehen, würde das Reich sich unter inneren 
Kämpfen nicht wieder in seine Einzelbestandteile und 
Teilfürstentümer auflösen, wie in früheren Zeiten schon 
oft? Und würde Abessinien damit nicht eine Beute 
seiner europäischen Nachbarn, Englands, Frankreichs 
und Italiens, werden?. Denn daß diese Mächte sich als 
die schließlichen Erben Meneliks betrachtet haben, kann 
keinem ernstlichen Zweifel unterliegen. 


Sie betrachten sich sicherlich auch heute noch als die 
Erben, und sie werden es wohl auch einmal werden. 
Vorläufig freilich erscheinen ihre Aussichten nicht so 
günstig, als sie selber und auch der unbeteiligte Zu- 
schauer erwartet haben werden. Menelik entglitten im 
vorigen Jahre die Zügel der Regierung, er wurde ein 
geistig toter Mann. Er ist damals und später ja auch 
körperlich tot gesagt worden. Jedenfalls war damit der 
Augenblick gekommen, wo das Geschick des Reiches sich 
entscheiden, wo sich herausstellen mußte, ob Menelik 
zur Genüge die Stellung seines Erben, seines noch un- 
mündigen Enkels Lidj Jeassu, zu sichern vermocht hatte. 
Wohl schien es so; aber die Lage war deshalb so kom- 
pliziert und gefahrdrohend, weil Meneliks Gemahlin, die 
ehrgeizige und fremdenfeindliche Kaiserin Taitu, die 
Regentschaft, wenn nicht die Kaiserkrone selbst, an- 
strebte. Andererseits war es ein Glück, daß Menelik 


142 


noch lebte; denn seine Existenz war ein genügend mäch- 
tiger Faktor, die Großen des Reiches in seinem Sinne 
handeln und an seinem politischen Vermächtnis fest- 
halten zu lassen. Hinter ihm stand das Volk. Es kamen 
wohl Unruhen vor, so in Tigre, aber sie wurden sehr 
schnell unterdrückt. Die Sicherheit der Europäer konnte 
gewährleistet und damit fremden Mächten der Vorwand 
für eine ihnen vielleicht nicht ganz unwillkommene Ein- 
mischung genommen werden. Schließlich gelang es sogar, 
die Kaiserin Taitu unschädlich zu machen, durch eine 
kleine und ganz unblutige, aber sehr tatkräftig durch- 
geführte Revolution, den Staatsstreich vom 21. März 
dieses Jahres. 

Die deutsche Tagespresse, die sich ja seit einigen 
Jahren — seit dem Beginn des nicht gerade sehr impo- 
nierenden deutschen Auftretens in Abessinien — dauernd 
und eingehend mit den dortigen Verhältnissen beschäf- 
tigt, hat auch über jene Zeit berichtet. Hier wollen wir 
aus einem interessanten Briefe des Mgr. Jarosseau, des 
apostolischen Vikars der Galla (abgedruckt in den „Mis- 
sions catholiques“ vom 1. Juli), einiges über den Staats- 
streich und die Ereignisse, die zu ihm geführt haben, 
mitteilen. 

Zum Verständnis erinnert Jarosseau an einige Tat- 
sachen aus der Geschichte der Laufbahn Meneliks. Im 
Jahre 1886, als dieser erst einfacher König von Schoa 
war, starben ihm schnell hintereinander seine beiden 
noch ganz jungen Söhne. Obwohl sie nicht von Woisero 
Bafana, der damaligen Königin, geboren waren, ihre 
Mutter Gite-Näsche, eine Galla, vielmehr von sogenannter 
niedriger Herkunft war, so hatte Menelik den einen oder 
anderen als seinen Nachfolger betrachtet. Nach dem 
Tode der beiden Söhne wäre Meneliks Linie erloschen 
gewesen, wenn er nicht aus der Zeit, als er Geisel des 
Kaisers Theodorus in Magdala war (1855 bis 1865), von 
der Wollo-Galla-Prinzessin Woisero Desseta eine Tochter 
gehabt hätte. Diese, Schoa-Regga mit Namen, hatte den 
Dedjas Wadadjo, den Sohn des Ras Gobana, geheiratet, 
und aus dieser Ehe war um 1888 ein Sohn namens 
Wossen Seged entsprossen. Als kurz darauf \Wadadjo 
gestorben war, gab Menelik Schoa-Reggas Hand dem 
ehemals mohammedanischen König der Wollo Mohammed 
Ali, der Christ wurde und heute unter dem Namen Ras 
Wolde Mikaël bekannt ist. Beider Sohn ist der um 1895 
geborene Lidj Jeassu, der seit dem im März 1908 er- 
folgten Tode seines Stiefbruders Wossen Seged der ein- 
zige legitime Thronanwärter wurde und nun in der Tat 
Meneliks Nachfolger sein wird. 

Als nämlich vor jetzt mehr als zwei Jahren Menelik 
seine bis dahin so kräftige Gesundheit wanken und seine 
geistige Kraft abnehmen fühlte, beschäftigte er sich leb- 
haft mit der Frage seiner Nachfolgerschaft. Mehr als 
sonst jemand mit dem ehrgeizigen Intrigenspiel in seiner 
Umgebung vertraut, wünschte er vor seinem Abtreten 
vom Schauplatz diese für die Ruhe und Unabhängigkeit 
des von ihm geschaffenen Reiches höchst gefährlichen 
Umtriebe gründlich zu ersticken. Er glaubte auch zu 
wissen, daß, bei der Gewalt seines Willens über das Volk, 
die Art, wie er den Knoten durchhauen würde, die 
Frage der Thronfolge endgültig und unbestritten regeln 
würde. Deshalb gab er am 30. Oktober 1909 der äthio- 
pischen Nation durch ein amtliches Dokument seinen Willen 
kund. Es ist eine höchst bemerkenswerte Kundgebung, 
und sie mag deshalb im Wortlaut hier mitgeteilt werden. 

Der siegreiche Löwe von Juda, Menelik IL, durch den 
Willen Gottes König der Könige Äthiopiens. 

Kinder, Brüder, Freunde! 

Bis heute regierte ich dank der Gnade Gottes mein 
Land, ohne dab ich mich über euch zu beklagen hatte, 


Die innerpolitischen Verhältnisse Abessiniens. 


was der beste Beweis dafür ist, daß ihr mich wirklich 
liebt. Ich freue mich, auch feststellen zu können, daß 
dank eurer vollkommenen Einigkeit sich keinerlei Feind- 
seligkeit gegen das Land geäußert hat. 

Und jetzt erkläre ich in Übereinstimmung mit dem, 
was ich schon früher euch habe wissen lassen, daß der 
Erbe meines Thrones mein Enkel Jeassu ist, Sohn der 
Woisero Schoa-Regga und des Ras Mikaël. 

Ich habe den Ras Bitoddede Tessama zu seinem Vor- 
mund eingesetzt ‘und stelle ihn euch als solchen vor. 
Ihm vertraue ich den Schutz meines Thrones an. Außer 
Jeassu habe ich keinen anderen Sohn. 

Indem ich diese Maßregeln traf, habe ich euch die 
Unruhe ersparen wollen, die ihr empfinden könntet, wenn 
ich infolge meines unsicheren Gesundheitszustandes künf- 
tig meinen Palast hüten muß. Wie dem auch sei: wenn 
sich jemand finden sollte, der es wagen würde, zu meinen 
Lebzeiten zu sagen: ‚Nehmen wir das Kind und stürzen 


| wir das Reich in Unordnung“, den verfluche ich. Möge die 


Verwünschung, die Judas sich zugezogen hat, und der 
gegen Arius geschleuderte Fluch auf ihn fallen! Möge 
die Erde selber den verleugnen, der meine Worte ver- 
leugnen wird, und möge ihm als Sohn ein schwarzer 
Hund geboren werden! 

Ihr alle, die ich groß gemacht und zu Würden er- 
hoben habe, ihr alle, Fürsten und Soldaten, Große und 
Kleine, wisset es: wer meinen Befehl verletzt, den ver- 
fluche ich; und wer nach meinem Tode nicht meinem 
Sohne folgt, den verfluche ich. Endlich, um die Besorgnis 
zu vermeiden, daß mein Sohn Jeassu sich von eurem 
Willen trennt, von euch, die ihr seine Väter und Brüder 
seid, und daß er oder der Ras Bitoddede Tessama, sein 
Vormund, dem ich ihn anvertraut habe, böse handeln, 
überliefere ich den einen wie den anderen, falls sie 
ihre Pflicht verraten sollten, denselben Verwünschungen. 

Geschrieben in der Stadt Adis-Abeba, am 20. Tage 
des Teqemt, im Jahre des Heils 1902 (= 30. Oktober 1909). 

Dies die Proklamation, um die die Partei der „Jung- 
Äthiopier“ sich scharte, auf die sie alle Kräfte der Nation 
zu vereinigen hoffte. Indessen neben dem Meneliks 
Willen ergebenen Jung-Äthiopien gab es eine mächtige 
Partei, die dem erklärten Nachfolger des Kaisers in heim- 
licher Feindschaft gegenüberstand. Die Seele dieser 
Partei war die Kaiserin Taitu, und sie war bemüht, den 
Lidj Jeassu als einen Abkömmling der Galla und eines 
Mohammedaners hinzustellen, was in den Augen der 
Abessinier als ein Mangel von schwerwiegender Be- 
deutung angesehen werden konnte. Bald ergriff auch 
die Kaiserin plötzlich eigenmächtig die Regierung, um 
ihre ehrgeizigen Ziele leichter erreichen zu können, und 
der ziemlich charakterschwache Ras Tessama ließ sich 
allmählich der Vorrechte berauben, die er von Menelik er- 
halten hatte. So sah man schon den Tag kommen, da 
Taitu, obwohl vom Volke gehaßt, entgegen dem klar aus- 
gesprochenen Willen Meneliks ihre eigene Herrschaft 
aufrichten würde. 

Aber die Jung-Äthiopier waren nicht untätig und 
warteten nur auf eine passende Gelegenheit, dem Willen 
Meneliks der Taitu gegenüber Geltung zu verschaffen. Sie 
bot sich bald. Der Dedjas Abata, der Statthalter von Tigre, 
war des dort zugunsten der Kaiserin angezettelten Auf- 
standes Herr geworden, deshalb arbeitete sie an der 
Schwächung seines Einflusses und setzte ihn schließlich 
ab, um ihrem Bruder Wolie die Würde eines Wag-Schum 
von Tigre zu verschaffen. Dadurch hoffte sie Tigre für 
ihre Sache zu gewinnen. Dann stellte sie einen anderen 
ihrer eifrigen Parteigänger, den Ras Mangascha Tigem, 
an die Spitze der wichtigen Provinz Walaga. Diese 
beiden Schritte der Kaiserin brachten ihr Maß zum Über- 


Neues über die Lasen. 


143 





laufen, und am 21. März begaben sich in Adis- Abeba 
die Führer der Jung-Äthiopier, gefolgt von mehr als 
60000 Menschen, zum Abuma Matheos, dem obersten 
Geistlichen der Stadt, und verlangten von ihm folgendes: 
Die Kaiserin Taitu verachte den Willen des Kaisers und 
sei auf dem Wege, die Einheit und den nationalen Bestand 


Abessiniens zu zerstören. Er solle ihr den Willen des 
abessinischen Volkes mitteilen, wonach sie sich jeder 
Regierungshandlung zu enthalten und sich künftig nur 
ihren Gattenpflichten gegen den erhabenen kranken Kaiser 
zu widmen habe. 

Der Abuna mufte gehorchen. Er begab sich in den 
kaiserlichen Palast, den die Menschenmenge einschloß, 
und teilte Taitu mit, was ihm aufgetragen war. Es blieb 
ihr nichts anderes übrig, als sich, wenigstens äußerlich, 
zu fügen. Dann marschierte die Volksmenge nach der 
Wohnung des Regenten Tessama, wo sich auch der Thron- 
folger Jeassu befand. Der Regent war nicht anwesend, 
sondern bei dem kranken Kriegsminister Apte-Giorgis. 
Man verlangte deshalb nach dem Prinzen. Dieser er- 
schien und wurde, von einer Eskorte umgeben, zur 
Wohnung des Apte-Giorgis geleitet. Dieser sowie 
Tessama, schon betagt und ruhebedürftig, hatten sich 
ziemlich leicht unter das Joch der Kaiserin gebeugt. 
Aber die ungestüme Beredsamkeit der beiden Haupt- 
wortführer der Jung - Äthiopier, des Dedjas Gebra-Sellassie 


und des Regnas Matsche-Merrede, rissen sie nun doch 
aus ihrer Indolenz empor, und sie ergaben sich den be- 
geisterten Patrioten. Im Grunde wünschte sich der Regent 
nichts Besseres, als seine Person gedeckt zu sehen und 
sein hohes Amt auch wirklich wahrzunehmen; er hat 
denn auch, sagt Jarosseau, seit diesem Tage seine Tat- 
kraft wiedergewonnen und zeigt sich seinen Regenten- 
pflichten gewachsen. 

Die Kaiserin hatte indessen geschworen, ihre Rache zu 
nehmen; sie wandte sich um Hilfe an ihre Verwandten in 
Semien und erbat auch bei mehreren europäischen Gesandt- 
schaften in Adis-Abeba Unterstützung gegen das neue 
Regime. Ja sie, deren Fremdenhaß zur Genüge bekannt 
war, soll sogar einer europäischen Macht versprochen 
haben, ihr nach ihrem Tode Abessinien abzutreten, wenn 
man ihr helfen würde, sich zur Kaiserin von Äthiopien 
krönen zu lassen. Das mußte natürlich als Hochverrat 
aufgefaßt werden und beschleunigte ihren völligen Sturz, 
nämlich ihre Verweisung aus Adis-Abeba. 

Ob die Rolle der ehrgeizigen und energischen Frau 
damit endgültig ausgespielt ist, steht dahin, und man 
weiß nicht, was kommen wird, wenn Menelik wirklich 
gestorben sein wird. Vorläufig hat Abessinien die Ruhe 
im Innern und damit seine Unabhängigkeit sich gerettet: 
deshalb war der 21. März 1910 für das Reich sicherlich 
ein bedeutsamer Tag. 





Neues über die Lasen. 


Prof. Dr. Marr hat im September vorigen Jahres eine 
Studienreise nach Lasistan gemacht und in den „Nachrichten 
der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg“ seine 
Reiseeindrücke veröffentlicht. Wir geben hier einen Auszug 
aus seiner Arbeit. 

Die Lasen sprechen einen grusinischen Dialekt, der dem 
Karthwelischen, Mingrelischen und Swanetischen nahe ver- 
wandt ist. Jedoch ist ihre Sprache, wie das Volk selbst und 
sein Land wissenschaftlich nicht erforscht worden. Das ist 
um so mehr zu bedauern, als diese Erforschung für die Auf- 
klärung über den Ursprung und die Entwickelung der grusi- 
nischen Kultur sehr große Dienste leisten könnte. Denn der 
gelehrte Professor stellt die interessante, allerdings sehr ge- 
wagte Hypothese ') auf, daß das alte Kolchis nicht im Bassin 
des Rion, sondern in dem des Tschoroch zu suchen wäre. 
Denn die Form Tschoroch gleicht nach der Phonetik der ja- 

hetischen Sprachen der Form Koroch, was wieder aus „Kolch“ 
fr geht über in 1) entstanden sein mag. 

Weiter ist folgender Umstand sehr interessant: Die Gru- 
siner (Georgier) nennen die Lasen Tschani; den alten Arme- 
niern waren sie bekannt unter dem Namen Tschein, der mit 
dem biblischen Tubalkain, dem Erfinder des Kupfers und 
Eisens, verwandt ist. Endlich hat die Erforschung der alt- 
grusinischen Kirchensprache in dieser das Vorhandensein 
einiger lasischer und mingrelischer Wörter dargetan. 

Lasisch kann man auch im russischen Reich, nämlich im 
Gebiet von Batum hören, in drei Stunden Entfernung von 
der Stadt nach Westen, am Meeresufer und höher in der 
Murgulschlucht; jedoch ist hier die Sprache stark mit grusi- 
nischen und mingrelischen Elementen gemischt. in Batum 
selbst sieht man viele Lasen, aber sie sind alle zugereist. Am 
reinsten hat sich die lasische Sprache im Westen von Tür- 
kisch-Lasistan erhalten, obgleich sie auch hier zuerst von 
der griechischen, dann von der türkischen Sprache beeinflußt 
wurde. Gebildete Lasen schämen sich ihrer Sprache und ziehen 
die türkische vor. Von Batum nach Türkisch-Lasistan zu ge- 
langen, ist einerseits leicht, weil man in wenigen Stunden 
mit dem Dampfer dahin kommen kann, andererseits schwer, 
weil die dortigen Behörden den ausländischen (wohl nur den 
russischen?) Touristen und Forschern keineswegs freundlich 
entgegenkommen. Prof. Marr erzählt, daß man ihn be- 
ständig beobachtet und ihn für einen Spion gehalten habe. 
In Archava wurde er sogar von der Polizei arretiert und von 


!) Es wäre ungemein interessant zu erfahren, wie Prof. Marr 
die Einzelheiten der Argonautensage dem Tschoroch und seinem Bassin 
anpaßt. Jedenfalls konnte bei der ungemein starken Strömung dieses 
Flusses von einem Einlaufen und Aufwärtsfahren in seinem Wasser 
nicht die Rede sein, v. H. 


dem Mudir tüchtig angeschrien. Die mit dem Gelehrten 
sehr sympathisierende Menge befreite ihn aus der Haft. 

Prof. Marr besuchte das Städtchen Atina und die Schlucht 
des gleichnamigen Flusses, Wizeh, Archava und Chope. Die 
linguistischen Resultate dieser Reise sind zusammengefaßt in 
dem Werke, welches eben jetzt gedruckt wird unter dem Titel: 
„Grammatik der tschanischen (lasischen) Sprache mit Chre- 
stomathie und Wörterbuch“. 

Früher erstreckte sich das Gebiet der Lasen wahrscheinlich 
weiter nach Westen bis zum Kisil-Irmak, dessen griechische 
Benennung Halys man aus dem lasischen Wort, das Wasser 
bedeutet, ableiten kann (vgl. grusinisch Zchali). In der Gegen- 
wart sind die südlichen Grenznachbarn der Lasen die Chemschi- 
nen, im Südwesten und Westen die Türken, besser gesagt ver- 
türkte Lasen, im Osten und Südosten mohammedanische Grusiner. 
Das Gebiet der Lasen gehört zum Sandschak Ris im Vilajet 
von Trapezunt. 

Weideland gibt es in Lasistan wenig, die Bevölkerung 
beschäftigt sich hauptsächlich mit Acker- und Gartenbau; 
ausgeführt werden Haselnüsse und Apfel, auch Zitronen und 
Apfelsinen, jedoch sind letztere nicht sehr gut. Mais wird 
zwar gebaut, aber nicht in genügender Menge, weshalb solcher 
aus Rußland eingeführt wird. Die Lasen beschäftigen sich 
auch mit Fischfang; besonders geliebt wird die „Chamsa“ d. i. ` 
Anschowe. Die meisten Lasen suchen aber ihren Erwerb 
außerhalb ihres Landes; berühmt sind im Süden von Ruß- 
land die lasischen Holzsäger und Bäcker. Letztere kommen 
meist aus der Schlucht von Atina und beherrschen die russische 
und polnische Sprache. 

Russisches Geld ist in Lasistan mehr als anderes im Um- 
lauf, sogar russisches Kupfergeld wird gern angenommen. 
Auch im Verkehr untereinander rechnen die Lasen meist 
nach Rubeln und Kopeken. Russisches Papiergeld wird fran- 
zösischem und türkischem Gold vorgezogen. 

Die nach Rußland auf Erwerb gehenden Lasen bringen 
sich sehr oft von dort Frauen mit; man behauptet, daß sie 
sich für Christen ausgeben und sagen, daß sie mit den Frauen, 
wenn auch in die Türkei, jedoch in ein Gebiet mit christlicher 
Bevölkerung ziehen. Die Frauen nehmen dann den Islam an. 

Das Klima von Lasistan ist im allgemeinen gesund; Ma- 
laria herrscht nur in Atina. Neben Fieber sind venerische 
und Augenkrankheiten nicht selten, ebenso Tuberkulose. Ve- 
nerische und tuberkulöse Krankheiten werden aus Rußland 
eingeschleppt. Arztliche Hilfe fehlt fast allenthalben; am 
besten steht er in dieser Beziehung noch in Atina, wo ein grie- 
chischer Arzt mit einem Diplom der Universität Athen lebt, 
auch wohnen dort ein armenischer Feldscher aus Jekatheri- 
nodar und ein türkischer Sanitätsbeamter. 

Der politischen Gesinnung nach sind die Lasen alle Jung- 
türken, und keiner von ihnen hat an der Gegenrevolution 
vom Frühjahr 1909 teilgenommen. Nationalistisch-partikula- 


144 Bücherschau. 





ristische Bestrebungen sind nicht zu bemerken; die Lasen 
sind türkische Patrioten aus Überzeugung. Diesen Patriotis- 
mus bringen sie aus der unteren, mittleren und hohen Schule 
mit. Türkische Zeitungen werden fleißig gelesen. 

Als Umgangssprache brauchen die Männer die türkische 
und überlassen die Muttersprache den „Weibern“. Übrigens 
lebt in Chope ein gewisser Faik-Effendi, der den Versuch ge- 
macht hat, ein lasisches Alphabet aufzustellen; unter der 
Regierung Abdul Hamids wurde er deshalb verfolgt, sein 
Haus wurde durchsucht, seine Arbeiten und Bücher verbrannt, 
der Verfasser selbst ins Gefängnis geworfen und später ver- 
bannt. Die nationalen lasischen Überlieferungen gehen durch 
den Islam verloren. Das Volk selbst legt seine Anfänge um 
drei Jahrhunderte zurück und schreibt die christlichen Bauten 
im Lande den Mingreliern zu. Es waren aber nachgewiesener- 
maßen die Lasen vom 6. bis 16. oder 17. Jahrhundert Christen. 


Lasistan 
versieht damit das westliche Transkaukasien und sogar die 


In die Augen fällt die große Anzahl von Mullas. 


türkischen Provinzen. Jetzt sind die alten muselmännischen 
Redensarten aus der Mode gekommen, wie diese: „Unter den 
Tieren ist das dümmste Geschöpf die Gans, unter den Menschen 
der Lase“ oder „Lasischen Brei kann kein Muselman essen“. 
Da die Lasen ganz und gar vertürkt sind, so ist es ver- 
ständlich, daß sie ihr Volksepos nicht beibehalten haben. Spuren 
des Heidentums haben sich in den Namen der Wochentage 
erhalten. So heißt der Sonntag bei den Lasen Tag der Sonne, 
dann folgt der Tag des Mondes, hierauf der Tag des Himmels. 
Der Donnerstag hat den griechisch-christlichen Namen Parae. 
Dem Heidentum und dem Christentum entstammt ein all- 
mählich aussterbender Feiertag „Litrop“. An diesem Tag ver- 
sammeln sich die Lasen aus allen Dörfern am Meer und 
baden. v. H. 


Bücherschau. 


Hermann Oldenberg, Aus dem alten Indien. Drei Auf- 
sätze über den Buddhismus, altindische Dichtung und 
Geschichtschreibung. VII und 110 8. Berlin 1910, Gebr. 
Paetel. 2%. 

Das vorliegende Buch enthält drei Abhandlungen. In der 
ersten untersucht Oldenberg die christliche und buddhistische 
Liebe, die, wie schon oft behauptet, im Buddhismus aus- 
geprägter und größer sei als im Christentum. Aber der be- 
deutendste Indologe muß die Frage verneinen. Denn im 
Buddhismus ist sie die Felge des Gleichmuts, der Friedlich- 
keit und Freundlichkeit, des allgemeinen Wohlwollens, aber 
niemals tatkräftige, zielbewußte, reine Hingabe des Menschen 
an seinen Nächsten. Das lehrt uns ein Vergleich des Sankt 
Franziskus mit Sariputta oder Ananda: bei dem einen auf- 
opferndes Wirken, bei dem anderen die zur Ruhe des Nirwana 
führende Kontemplation. In der zweiten Abhandlung be- 
spricht Oldenberg altbuddhistische Dichtungen, in der dritten 
die Geschichtschreibung im alten Indien. „Eine eigentliche 
Wissenschaft war die Geschichte der Inder nicht.“ Sie blieb 
mit der nichtgeschichtlichen, dichterischen Erzählung ver- 
einigt, ein Singen und Sagen von alten Zeiten. Der Inder 
hat eben mehr Sinn für phantastische Spekulationen als für 
historische Realitäten. Denn für diese Volksseele sind andere 
als die geschichtlichen Werte entscheidend. Mr. 


Albert Zacher, Römisches Volksleben der Gegenwart. 

294 8. Stuttgart 1910, Julius Hoffmann. 3 .% 

Roms Kunststätten, wie oft werden sie besucht und an- 
gestaunt! Doch am Volk geht man achtlos vorbei. Wer 
aber Roms Vergangenheit und Gegenwart verstehen will, 
muß Roms Bevölkerung kennen. Einen Beitrag hierzu will 
Zacher liefern, er will die proteusartige Volkspsyche vor 
unseren Augen entfalten. In kurzen Abschnitten schildert 
er Wohnung und Kleidung, Wein und Osteria, aber auch 
römisches Christentum und Aberglauben, Frauenleben und 
Liebe, Volksbildung und Geselligkeit. Auch die weniger er- 
freulichen Seiten, wie die Vendetta und Mala Vita, vergißt 
er nicht. Das Ganze hat etwas Mosaikartiges an sich, aber 
die lebendige Schilderung, die treffliche Zeichnung einzelner 
Personen und Charaktere, die Verwertung des Selbsterlebten 
und Beobachteten machen das Buch zu einer wertvollen Gabe. 
Nicht ein Nachschlagewerk oder Reisehandbuch soll es sein, 
sondern ein Weihgeschenk für alle, die in der spröden römi- 
schen Volksseele zu lesen sich erkühnt haben und dieser 
glücklichen Stunden sich freuen. Mr. 


J. G. Frazer, Totemism and Exogamy. A Treatise on 
Certain Early Forms of Superstition and Society. 4 Bde. 
London 1910, Macmillan and Co. 50s. 

Der Verfasser des hochgeschätzten „Golden Bough“, von 
dem wohl eine französische, aber noch keine deutsche Über- 
setzung vorhanden ist, beschenkt uns hier wieder mit einem 
Kapitalwerk, das, man kann wohl sagen, eine kleine Bi- 
bliothek vertritt. Die vier stattlichen Bände umfassen zusammen 
nicht weniger als 2180 Seiten, und beigefügt sind 8 Karten, 
welche die Verbreitung des Totemismus in, den verschiedenen 
Ländern zeigt. Lehrreich ist besonders die Ubersichtsweltkarte, 
die mit einem Blicke die so verschiedenartige Verteilung des 
'Totemismus zeigt: Nordamerika von der Ostküste bis hinauf 
nach Alaska mit Ausschluß der pazifischen Stämme; spärliche 
Vertretung in Südamerika, unregelmäßige Verteilung bei den 
Afrikanern, Mischung mit nicht totemistischen Völkern in 
Indien, Allgemeinherrschaft in Australien und Melanesien. 
Die sieben Spezialkarten zeigen das dann im einzelnen. 


Schon im Jahre 1887 war Frazer mit einem kleinen 
Werk über Totemismus hervorgetreten, welches das Wissen 
davon erst begründete oder wesentlich erweiterte und da- 
mals berechtigtes Aufsehen erregte. Trotz der 23 Jahre, die 
seitdem vergangen sind, hatte Frazer das neue wichtige Pro- 
blem der Ethnologie damals in seinen Grundzügen richtig er- 
kannt, und so konnte er denn die kleine, alles allgemein er- 
örternde Schrift jetzt wieder als Einleitung seinem, großen 
Werke voransetzen. Als „Entdecker“ des Totemismns muß 
freilich, vor Frazer, der Schotte John Ferguson Me Lennen 
gelten, aber unser Autor gab die erste bündige Definition, 
erläuterte die Etymologie leni der Ojibwaysprache), zeigte 
den Unterschied von Totem und Fetisch und schied klar die 
verschiedenen Arten, den Sippen-, Geschlechts- und persönlichen 
Totem, dabei die religiösen und sozialen Seiten dieser meık- 
würdigen Einrichtung erörternd. 

Der gewaltige Stoff, welcher seitdem namentlich aus 
Australien angewachsen ist, seit einmal die Aufmerksamkeit 
aller ethnologischen Forscher darauf hingelenkt war, lieg‘ 
jetzt in durchgearbeiteter und methodisch vorzüglicher Weise 
hier vor. Es ist ein schweres Stück Arbeit gewesen, und 
nur ein so mit den verschiedenen Literaturen vertrauter 
Gelehrter, wie Frazer, konnte die gewaltige Arbeit bemeistern. 
Noch sei vieles einzuernten, und trotz vorgerückten Alters 
ist er fleißig bei der Arbeit. My sun is westering and the 
lengthening shadows remind me to work while it is day, 
sagt er. 

Was die Exogamie betrifft, so erscheint sie in dem Werke 
nur so weit berücksichtigt, als sie in Verbindung mit dem 
Totemismus steht; beide Institutionen werden auch isoliert 
für sich gefunden; sie sind ja auch nach Ursprung und Natur 
gänzlich verschieden, wiewohl bei einzelnen Völkern Mischun- 
gen vorkommen. Dagegen behandelt Frazer die Verwandt- 
schaftssysteme, deren Entdecker der Amerikaner Morgan war. 
Statt der angenommenen so verwickelten Systeme zeigt 
Frazer, daß der Ursprung sehr einfach war. Eine Gemeinschaft 
war in zwei exogame und untereinander heiratende Gruppen 
getrennt, und alle Männer und Frauen wurden nach ihrer Ab- 
kunft und nach der Gruppe, zu der sie gehörten, klassifiziert. 
Das Prinzip der Klassifikation war Heiratsfähigkeit, nicht das 
Blut. Die maßgebende Frage war nicht: Woher stamme ich?, 
sondern: Wen kann ich heiraten? Allerdings umschloß jede 
Klasse Blutsverwandtschaften, aber sie gehörte nicht auf Grund 
ihrer Blutsverwandtschaft zusammen, sondern wegen ihrer 
sozialen Verwandtschaft als mögliche oder unmögliche Gatten. 
Als der Brauch der Gruppenehe durch die individuelle Heirat 
ersetzt wurde, blieben noch die klassifikatorischen Verwandt- 
schaftsbezeichnungen im Gebrauch, doch als die alten Gruppen- 
rechte in Abgang kamen, wurden ihre einstigen Bezeichnungen 
allmählich zu Ausdrücken, welche die Blut- und Verwandt- 
schaftsbande in unserem Sinne bedeuteten. Daher lebt das 
klassifikatorische Verwandtschaftssystem heute noch als ein 
soziales Fossil, welches den ehemaligen Zustand der Exogamie 
und Gruppenehe bezeugt, der längst verschwunden ist. 

Die gewaltige kritische Verarbeitung des angeschwollenen 
Stoffes über Totemismus, Exogamie und Verwandtschaftssysteme 
umfaßt, nach Erdteilen geordnet, den größten Teil des ersten 
und den ganzen zweiten und dritten Band, während der Schluß- 
band sich mit der Stellung dieser Institutionen in der Sozial- 
geschichte und den Theorien über deren Ursprung befaßt. 
So tief Frazer hier auch eingedrungen ist, er bescheidet sich 
zu bekennen, daß er nicht glaube, hierdurch alle Fragen end- 
gültig gelöst zu haben; er selbst habe ja seine Ansichten dar- 
über wiederholt geändert. Die Frage nach dem Totemismus 


Kleine Nachrichten. 


145 





in der klassischen Zeit und im alten Orient hat er dabei 
ausgeschlossen. 

Frazer kommt in 
Schlusse, daß man den Totemismus als Faktor von primärer 
Wichtigkeit in der religiösen und ökonomischen Entwickelung 


seiner Zusammenfassung zu dem 


der Menschheit überschätzt habe, namentlich in letzterer 
Beziehung, während ein Einfluß auf die Religion allerdings vor- 
handen sei; dieser Einfluß sei aber unbedeutend im Vergleich 
mit jenem, den Ahnenverehrung und Naturdienst ausüben. 
Das Hauptinteresse aber, das wir am Totemismus nehmen, 
bestebe darin, daß wir dadurch einen Blick in das kindliche 
Gemüt der Wilden erlangen; er eröffne uns ein Fenster in 
eine längst entschwundene Vergangenheit. Was die Exogamie 
betrifft, so ist sie auch ein Produkt wilder Urzeit, doch ist 
das geschichtliche Interesse daran weit tiefer als am Tote- 
mismus. Während dieser, falls er je unter den Vorfahren der 
zivilisierten Rassen vorhanden war, ohne eine Spur bei deren 
Nachkommen zu hinterlassen verschwand, hat uns die Exo- 
gamie die noch vorhandenen, für die Heirat verbotenen Ver- 
wandtschaftsgrade hinterlassen. 

Wie viel oder wenig auch beide Institutionen den heutigen 
Kulturvölkern hinterlassen haben mögen, sie wurzeln beide 
in wildester Urzeit, und daher ist auch ihr Studium so 
wichtig für uns. Sie stellen den letzten Akt eines Dramas 
dar; jetzt fällt, vor unserem oder dem nächsten Geschlecht, 
der Vorhang für immer. Und nun erhebt Frazer einen Warn- 
und Weheruf, der uns an die gleichen Rufe Adolf Bastians 
erinnert: „Der Gang der Kultur hat sich so beschleunigt, 
ihre Ausdehnung ist so gewaltig geworden, daß viele Natur- 
völker, die vor hundert Jahren ihr altes Leben noch ungestört 
in den Tiefen der Urwälder oder auf entfernten Inseln lebten, 
jetzt aus ihrem Dasein rauh hinausgeworfen und zu Kari- 
katuren ihrer Überwinder gemacht werden. Mit ihrem 
Schwinden oder ihrer Umänderung geht ein Element von Ruhe, 
von Abwechslung und pittoresker Erscheinung aus der Welt. 
Vielleicht wird dadurch die Gesellschaft als Ganzes glück- 
licher, aber sie wird nüchterner und einförmiger in der Farbe 
werden. Für die kommenden Geschlechter aber, die durch 
lange Zeiträume von den heute untergehenden Naturvölkern 
getrennt sein werden, werden sie ein Gegenstand der Neugier 
und Bewunderung sein. Die Schattenseiten schwinden und 
die guten glänzen in hellem Lichte. Was wir an Grausam- 
keit und Elend bei ihnen noch kennen, wird dann zurücktreten 
vor dem Schönen und Guten, was heute noch von ihnen er- 
forscht wurde; der Reiz, der bei uns ausgebreitet ist über das 
Zeitalter der Patriarchen, über Genesis und Odyssee, über 
die frühesten Strahlen der aufgehenden Sonne der Geschichte, 
wird dann auch ihnen zuteil werden.“ 


Franz Boas, The Kwakiutl of Vancouver Island. 
(The Jesup North Pacific Expedition, Bd. V, Teil II.) 
Leiden 1909, E. J. Brill. 

Man kann wohl sagen, daß die Kwakiutl ein Spezial- 
forschungsgebiet von Franz Boas sind, auf dem es ihm kein 
anderer gleichtut. Merkwürdigerweise empfing er die An- 
regungen zur Erforschung dieser Nordwestamerikaner in 
Berlin, wo schon vor bald 30 Jahren Material von ihnen 
zusammenströmte. Wiederholt ist Boas bei ihnen gewesen, 
und ehe er die Arbeit abschließen konnte, die jetzt vor uns 
liegt, hat er in den letzten 20 Jahren schon eine Reihe 
sehr wichtiger Abhandlungen über sie veröffentlicht. Vieles 
ist enthalten in den von der British Association heraus- 
gegebenen Berichten über die Nordweststämme von Kanada; 
über die Häuser handelte er besonders in den Berichten des 
Nationalmuseums 1888; wiederholt und eingehend war die 
Sprache Gegenstand seiner Untersuchungen; die Mythologie 
wurde in den Verhandlungen der Berliner anthropologischen 
Gesellschaft behandelt und die merkwürdigen Geheimbünde 
und sozialen Verhältnisse in der Bustianfestschrift und 1906 
auf dem Amerikanistenkongreß. 


Man erkennt aus dieser Aufzählung, die sich vermehren 
ließe, wie Boas mit den Kwakiutl! gleichsam verwachsen ist. 
Das große vorliegende, mit vielen vorzüglichen Abbildungen 
versehene Werk ist nun ein zusammenfassendes, aber nur 
einen Teil des Ganzen behandelndes, da das gesamte geistige 
Leben, die Religion, Mythen, Sagen und sozialen Verhält- 
nisse ausgeschlossen sind, wohl weil in den früheren Veröffent- 
lichungen erschöpfend dargestellt. Seit dem Jahre 1900 hat 
Boas die Kwakiutl nicht wieder besucht, aber Ersatz für 
vieles, was er nicht persönlich erforschen konnte, hat er 
durch die Mitteilungen seines Mitarbeiters Hunt erhalten, 
der die Sprache vollständig beherrscht. Und mit dessen 
Hilfe gelang etwas sehr Wichtiges: die Indianer diktierten 
ihm in ihrer Sprache genaue Beschreibungen ihrer Gebräuche, 
Sitten, ihrer technischen Verfahren, welche nun, in der Ur- 
sprache und englischen Übersetzung vorliezend, ein zuver- 
lässigeres Bild darbieten, als es der gelegentliche Reisende zu 
geben vermag. Der Band bringt uns so alles, was sich auf 
die Industrie dieser Indianer bezieht, ihre Steinarbeiten (Zer- 
schlagen, Durchbohren, Schleifen der Geräte), die Holzarbeiten 
(das Material, namentlich Zedern, Flechtwerk, Kähne), das 
Spinnen und Weben, das Färben und Malen, Feuermachen. 
Die Maße für Raum und Zeit, das Haus und seine Einrichtung, 
die Mahlzeiten, die Kleidung, die Fischerei und Jagd nebst 
den dazu gehörigen Fallen, Netzen und Bogen werden auf 
das genaueste erörtert. 


British Museum. Handbook to the Ethnographical 
Collections. With 15 Plates, 275 Illustrations and 
3 Maps. Printed by Order of the Trustees. 1910. 
Unerreicht stehen die Führer und HandbücherdesBritischen 
Museums durch ihre Gediegenheit und erstaunliche Billigkeit 
bei prachtvollster Ausstattung da. Die mit 100 bis 200 vor- 
züglichen Abbildungen versehenen Führer durch die Stein-, 
Bronze- und Eisenzeit kosten nur je eine Mark, und das 
vorliegende Handbuch von 300 Seiten mit einer Fülle ganz 
vorzüglicher Abbildungen, welches die Typen der ethno- 
graphischen Gegenstände aller Völker bringt, ist für zwei 
Mark fast geschenkt zu nennen. Die Auswahl aus den Samm- 
lungen des reichen Museums ist sehr verständig, und der vom 
bewährten Konservator Charles H. Read herrührende Text 
ist ein Kunststück eigener Art, daß auf einem beschränkten 
Raume außerordentlich viel in fachmännisch sicherer Weise 
beibringt. Soweit das Handbuch sachliche Dinge der Natur- 
völker behandelt, ersetzt es teure, große Werke. Aus- 
geschlossen sind noch die Sammlungen, welche die alt- 
amerikanischen Kulturvölker und orientalischen Religionen 
betreffen, die in besonderen Handbüchern behandelt werden 
sollen. R. A. 


Volksleben, Gesang und 
Ein Beitrag zur 


H. Messikomer, Aus alter Zeit. 
Humor im zürcherischen Oberland. 
Volkskunde. Zürich 1910, Orell Füssli. 4,20 é. 

Diese zweite Sammlung ist für jeden, der mit der 
zürcherischen Mundart vertraut ist, ebenso lehrreich und 
unterhaltend zu lesen, wie die früher im Globus besprochene. 
Der Dialektforscher findet in den Erzählungen nicht nur Er- 
gänzungen zum Schweizer Idiotikon, sondern auch eine Menge 
alter volkstümlicher Bräuche geschildert. Es folgen dann, 
hochdeutsch erläutert, die namentlich im vorigen Jahrhundert 
viel gesungenen Gitarrenlieder. Es ist aber wenig Volks- 
tümliches dabei, und allgemein bekannte Kunstlieder, darunter 
H. Heines „Du hast Diamanten und Perlen“, gehören nicht 
in das Buch. Dagegen sind die „Spruchbrieflein“, auf die 
man jetzt erst aufmerksam wird, echte Volkskinder. Sie 
decken sich mit dem, was Marie Andree-Eysn erst kürzlich 
in ihrem Buche „Volkskundliches® über Versbriefe veröffent- 
licht hat. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Den Zusammenhang zwischen „Abplattung und 
Gebirgsbildung“ untersucht A. v. Böhm in seinem so be- 
titelten Buche (Wien 1910, Franz Deuticke) und zeigt dabei, 
daß mit der durch die Gezeitenreibung veranlaßten Gestalts- 
änderung der Erde Massenbewegungen verknüpft sind, die 
ausreichen, um die größten und wichtigsten geologisch-dyna- 
mischen Vorgänge zu erklären, denen man in der Geschichte 
der Erde begegnet: die Verschiebungen der Strandlinie und 
die Gebirgsbildung. Das inhaltreiche Buch zerfällt in drei 


Abschnitte, von denen der erste eine kurze Einleitung gibt, 
die Formeln entwickelt, die für die Berechnung von Rotations- 
ausschnitten aus einem Sphäroid gelten, und graphisch die 
Bewegungen beliebiger Oberflächenpunkte eines Sphäroids 
beim Übergang in inhaltsgleiche Sphäroide von anderer Ab- 
plattung oder in die inhaltsgleiche Kugel verfolgt. Der 
wichtigste Satz, der sich dabei ergibt, ist der, daß ähnlich 
gelegene Punkte auf den Oberflächen inhaltsgleicher Sphäroide 
dieselbe reduzierte Breite haben; geht aber das Sphäroid in 


146 


die inhaltsgleiche Kugel über, so fallen geographische und 
geozentrische Breite mit der reduzierten zusammen. Der 
zweite Abschnitt wertet auf Grund der im ersten entwickelten 
Formeln die Größen für verschiedene Abplattungen von der 
inhaltsgleichen Kugel (Abplattung 0) bis zur zehnfachen Ab- 
plattung der Erde numerisch aus, der dritte Abschnitt zieht 
daraus die geologischen Folgerungen. Er gibt eine Dar- 
stellung der Mechanik des Vorgangs beim Übergang der Erde 
in ein Sphäroid von geringerer Abplattung, weist die Rich- 
tung und Größe der entstehenden Druckkräfte nach und zeigt 
wie sich aus dabei auftretenden Vorgängen notwendigerweise 
Schwankungen des Meeresspiegels bis zu recht bedeutendem 
Ausmaß und Bildung von Gebirgsfalten entwickeln müssen. 
Besonders interessant ist dabei, daß nach v. Böhms Ablei- 
tungen, seit die Abplattung der Erde zehnmal so groß war 
wie jetzt, bei der Verringerung der Abplattung die Zone von 
34 bis 55° Breite immer der Schauplatz des größten tangen- 
tialen Drucks war, dessen Maximum bei etwa 45° lag. Das 
ist aber die Zone der Erde, welche auch im allgemeinen den 
Schauplatz der meisten und größten gebirgsbildenden Vor- 
gänge darstellt. Gr. 
— In der gewohnten Weise ist auch für das Jahr 1908 
der Bericht über die periodischen Schwankungen 
der Gletscher, von Brückner und Muret verfaßt, erschienen 
(Zeitschr. f. Gletscherkunde 1910, Bd. IV, 8.161). Als Gesamt- 
resultat ergibt sich, daß der Gletscherrückgang auf der ge- 
samten Erde auch im Jahre 1908 fortgedauert hat. Einzelne 
Ausnahmen werden sich ja immer zeigen, indem vereinzelte 
Gletscher unter dem Einfluß der Witterung, auf die sie je 
nach Länge, topographischen Verhältnissen usw. verschieden 
stark reagieren, einmal in einem Jahre stationär werden oder 
auch geringes Vorschreiten aufweisen. Im folgenden Jahre 
schließen auch diese sich jedesmal wieder dem allgemein 
herrschenden Rückgang an, so daß ein Vorschreiten in größerer 
regionaler Verbreitung, welches allein für bedeutendere An- 
derungen der klimatischen Verhältnisse beweisend wäre, nicht 
eingetreten ist. Auch das im vorigen Bericht angezeigte 
Vorrücken der norwegischen Gletscher, das sich auch bei den 
schwedischen Gletschern fühlbar macht, hat sich wieder 
etwas vermindert. Da keine weiteren Anzeichen des Gletscher- 
wachsens gemeldet werden und die für Skandinavien fest- 
gestellte Ausnahme das allgemeine Bild nicht wesentlich 
ändern kann, muß man also sagen, der Gletscherrückgang 
ist immer noch eine allgemeine Erscheinung auf der ganzen 
Erde. Gr. 





— Durch die Regulierung der Neuen Maas und Durch- 
stechung der Dünenkette bei Hoek van Holland ist ein neuer 
Zugang vom Meer nach Rotterdam für Seeschiffe in 
einer Länge von 33km und einer durchgehenden Tiefe von 
8m bei Niedrigwasser geschaffen worden, der sogenannte 
„Neue Wasserweg nach Rotterdam“ Es hat sich nun 
herausgestellt, daß er seit seiner Eröffnung im Jahre 1879 
zugleich mit der fortschreitenden Vertiefung einen größeren 
Einfluß auf die Gezeiten erhalten hat, indem dadurch das 
Fortschreiten der Flutwelle nach Rotterdam um 40 Minuten 
beschleunigt wurde und damit auch ein bedeutendes An- 
wachsen der Flutgröße gleichen Schritt gehalten hat. (Ann. 
d. Hydr. 1910, 8. 271.) Gr. 


— Einige Ergebnisse aus Schneemessungen in den 
Schweizer Hochalpen und ihre Beziehungen zu den 
Schwankungen der Firnlinie teilt der Direktor des Schweize- 
rischen Meteorologischen Instituts zu Zürich, Dr. J. Maurer 
mit (Meteorol. Zeitschr. 1910, 8. 289), die von großer Wichtig- 
keit für das Verhalten und besonders die Ernährung der 
Gletscher sind. An Zahlenmaterial, besonders vom Säntis und 
der neuen meteorologischen Station Eigergletscher, wird der 
Zusammenhang zwischen dem Schneefall, den Schneehöhen 
und ihrem jährlichen Gang, sowie der Lage der Firngrenze 
und ihrer Verschiebung betrachtet und kritische Bemerkungen 
über die Versuche, alle diese Größen rechnerisch zu ermitteln, 
angeschlossen. Interessant ist es, dabei zu hören, daß sich 
in den letzten Jahren fast durchweg ein bedeutendes Über- 
wiegen der jährlichen Abschmelzung über den Anfall an 
Schnee herausgestellt hat, ein Ergebnis, das auch durch die 
Beobachtungen an dem Nivometer von Orny (Glacier de 
Trient) wesentlich gestützt wird. Gleiches ergaben die Beob- 
achtungen an der Firndecke des Titlis, der, wie man hierbei 
mit Interesse vernimmt, dauernd von der Meteorologischen 
Zentralstation in Zürich aus unter Beobachtung gehalten wird. 
Hierzu werden starke Fernrohre, zum Teil die Refraktoren der 
benachbarten Sternwarte benutzt und damit nicht nur quali- 
tative Beobachtungen, sondern auch Messungen vorgenommen, 
so daß hier eine Reihe auch aus Tagen gewonnen werden 


Kleine Nachrichten. 


konnte, wenn der Gipfel nur sichtbar, aber das Hochgebirge 
nicht zugänglich ist. Auch hierbei wurde ein dauerndes 
starkes Überwiegen der Abschmelzung über die Ernährung 
durch Schnee in den letzten Jahren festgestellt, was durch 
einige beigegebene Bilder des Titlisgipfels in vorzüglicher 
Weise belegt wird. Den Schluß machen einige kritische Be- 
merkungen über den Zusammenhang zwischen dem Verhalten 
der Gletscher und den Brücknerschen Perioden der Klima- 
schwankung, der nach den von Maurer mitgeteilten Zahlen 
bei weitem nicht so ausgesprochen und viel verwickelter ist, 
als man seither meinte. Gr. 


— Kulturgeschichtlich betrachtet stehen unsere einfachen, 
erhaben in Holz geschnitzten alten Tapetendruckplatten kaum 
höher (sobald wir bloß auf die Technik achten), als manche 
ähnliche Platten, welche Naturvölker zum Aufdrucken von 
Mustern auf ihre Haut benutzen. Von den alten Karaiben 
hat man die dazu dienenden Druckwalzen gefunden, und die 
Guanchen der Kanarischen Inseln haben uns die Pintaderas 
hinterlassen, Stempel, mit denen sie sich Verzierungen auf 
die Haut farbig aufdruckten. Jetzt lernen wir durch Joyce 
(Man, Juni 1910) die Farbestempel der Buschongo im 
Kasaidistrikt der belgischen Kongokolonie kennen, die in 
recht gefälligen Mustern und Formen aus Holz geschnitzt 
sind und in der Gestalt von Frauenköpfen, Beilen, Rudern 
usw. erscheinen. Sie heißen tukula, und die auf ihnen ent- 
haltenen Muster werden mit einer roten Farbe auf den Körper 
bei festlichen Gelegenheiten, aber auch auf Geflecht aus 
Palmblättern aufgedruckt. Die rote Farbe wird von den 
Frauen durch Zerreiben des an sich roten Tukulaholzes in 
Wasser erhalten; so entsteht eine Paste, die verhärtet auf- 
bewahrt und vor dem Gebrauch wieder angefeuchtet wird. 
Noch ist zu erwähnen, daß diese oft zu Figuren gestalteten 
Tukulapasten beim Tode ihres Besitzers zum Andenken an 
diesen an die trauernden Freunde verteilt werden. 


— Moritz Mainzer berichtet in seiner Schrift über 
Jagd, Fischfang und Bienenzucht der Juden in der 
tannäischen Zeit (Frankfurt a. M. 1910, J. Kauffmann). Ob- 
wohl iın Alten Testament wenig hiervon die Rede ist, zeigt 
doch’ die talmudische Literatur, daß Jagd und Fischfang aus- 
geübt wurden. Mit Pfeil, Schleuder, Netzen, Fanggruben und 
Käfig, mit Leimrute und Lockvogel betrieb man die Jagd 
auf Vierfüßler und Federwild. Auch Jagdhütten von Rohr 
und Schilf geflochten errichtete man im Dickicht des Jordan- 
tales. König Herodes versuchte sogar nach römischer Sitte 
Hetzjagden einzuführen, aber ohne Erfolg. Zum Fischfang 
benutzte man Netze, Harpunen, Angelhaken, Reusen und 
Schleusen. Besonders fischreich war der See Genezareth, 
an dessen Ufer einst Jesus seine Jünger berief. Hier lagen 
größere Fischerdörfer, wie Bethsaida, deren Bevölkerung sich 
ganz der Fischerei widmete. ‚Die Bienenzucht lieferte Wachs 
und Honig, der, wie bei den Agyptern und Römern, zu Heil- 
zwecken Verwendung fand. Wunden wurden mit Honig be- 
handelt; Sommerhonig, bei Konjunktion von Venus, Jupiter 
und Mars gesammelt, galt als Mittel gegen den Tod. Nach 
der Überlieferung wurde der Leichnam der Hasmonäerin 
Mariamne mit Honig einbalsamiert. In der talmudischen 
Literatur finden sich ferner Ansätze zur Bildung eines Jagd- 
und Fischereirechtes. Vornehmlich das Bienenrecht weist zahl- 
reiche Parallelen mit den deutschen und römischen Rechts- 
grundsätzen auf, wenn auch die Bestimmungen über die 
Sabbatruhe genuin jüdisch waren. 


— Die deutschen Weilerorte betitelt sich eine Ab- 
handlung von O. Behaghel in „Wörter und Sachen“, II, 
S.42, in welcher er den Ursprung der im deutschen Süd- 
westen so häufigen Ortsnamen Weil und Weiler nachweist. 
Es herrschten darüber bisher sehr verschiedene Ansichten. 
Arnold hatte sie den Alemannen zugewiesen, Heeger den 
Franken, Hans Witte den Keltoromanen, Cramer (für das 
Gebiet von Aachen) den Römern. Und dahin gelangt auch 
die gründliche Untersuchung von Behaghel, der die Ableitung 
von villa, villarium oder villare nachweist, zumal Weil und 
Weiler von Haus aus keine germanischen Wörter sind. Wenn 
beide mit deutschen Besitzernamen verbunden sind, so zeigt 
er, daß deren Namen nicht die ursprünglichen, sondern die- 
jenigen späterer Besitzer sind. Der Hauptnachweis gelingt 
Behaghel aber dadurch, daß er die Weilernamen überall 
geographisch verfolgt und zeigt, wie sie sich an den alten 
Römerstraßen und besonders bei den alten Römerkastellen 
gruppieren. Je weiter nach Norden und Osten, je näher dem 
römerfeindlichen Gebiete Germaniens, desto spärlicher wird 
die Verbreitung der Weilerorte, deren (wenige versprengte 
Orte abgerechnet) Hauptverbreitung in der deutschen Schweiz, 


Kleine Nachrichten. 147 





Elsaß- Lothringen, der Rheinpfalz, Württemberg, Teilen Alt- 
bayerns, Baden, Hessen, der Rheinprovinz liegt, also in Land- 
schaften, die einst von den Römern besetzt waren. 

— Von Herrn Heinrich Erkes wird uns aus Mjóifjördur 
(Island) unter dem 1. August geschrieben: Der Glämujökull 
im Nordwesten Islands, der mit dem Drangajökull auf allen 
Karten Islands als ein großes Firngebiet der nordwestlichen 
Halbinsel verzeichnet steht, ist kein Jökull, d. h. kein Gletscher 
oder Firnfeld; so behauptete der Botaniker Stefán Stefánsson, 
Direktor der Realschule zu Akureyri, in Heft 1 der isländi- 
schen Zeitschrift „Skírnir“ von 1910. Im kürzlich erschie- 
nenen Heft 2 dieser Zeitschrift äußert sich Prof. Th. Thoroddsen 
dahin, daß die Beschaffenheit der Gläma für eine endgültige 
Lösung der Streitfrage wohl noch nicht genügend untersucht 
sei. Demzegenüber mag es von Interesse sein, daß nach 
meinen Erkundigungen tatsächlich die Bauern aus dem 
Mjöifjördur — dieser Fjord erstreckt sich von Norden aus 
dem Isafjardardjúp zur Gläma hin — manches Mal über den 
„Gletscher“ gestiegen sind, ohne über Eis oder Firn zu kommen, 
vielmehr auf dieser Höhe nur Gestein, und zwar die überall 
im Nordwesten Islands vorkommende, vom Frost zersprengte 
Basaltdecke vorfanden. Nur nach strengen Wintern und in 
kalten Sommern bleibt der Schnee auf der Gläma das ganze 
Jahr hindurch liegen. Diese in der Umgegend der Gläma 
allgemein bekannte Feststellung scheint allerdings die Ansicht 
Stefän Stefänssons zu bestätigen, daß die Gläma kein Jökull 
ist und nicht länger als Gletscher oder Firnkuppe auf den 
Karten Islands verzeichnet bleiben darf. 


— Über die von der British Ornithologist? Union aus- 
gesandte englischeExpedition nach Holländisch-Neu- 
guinea (vgl. zuletzt Bd. 98, 8.50) werden im „Geogr. Journ.“ 
für Juli und August einige weitere Angaben gemacht. Trans- 
portschwierigkeiten scheinen das Vorwärtskommen verzögert 
zu haben. Kapitän Rawling, der Topograph, berichtet, daß er 
mit Goodfellow und Shortridge am 16. Januar in von den 
Eingeborenen gekauften Kähnen den Mimikafluß hinaufge- 
fahren sei und am obersten erreichbaren Punkt, sieben Tage- 
reisen von der Küste bei dem Dorfe Tipue ein Basislager 
errichtet habe. Hierher wurden dann alle erreichbaren Vor- 
räte gebracht. Inzwischen fand Rawling 13km westlich vom 
Lager einen breiten Fluß, den Obota, der sich, wie sich er- 
gab, unterhalb Wakatimi in den Mimika ergoß. Dr. Marshall 
befuhr ihn fünf Tage lang und nahm ihn auf, konnte aber 
der Stromschnellen wegen Rawlings Lager nicht erreichen. 
Am 17. Februar glückte es Rawling unter großen Schwierig- 
keiten, die Berge zu erreichen, und er legte dort in einigen 
hundert Fuß Höhe ein Lager an, in dem er einige Zeit allein 
mit drei Gurkhas verblieb. Nachdem Dr. Wollaston ange- 
kommen war, machten beide einen erfolglosen Versuch, eine 
Lichtung auf einem der Berge zu gewinnen; dafür erhielten 
sie von einer anderen Stelle in 520 m Höhe eine Rundsicht, 
die sie belehrte, daß der Busch sich ununterbrochen, soweit 
das Auge reichte, ausdehnte. Deshalb mußte jeder Schritt seit- 
wärts vom Flusse mit dem Buschmesser erkämpft werden. 
Während jenes Aufstiegs traf man auf die früher erwähnten 
Pygmäen. Für das Vorwärtskommen konnte von den Ein- 
geborenen keinerlei Hilfe erlangt werden, auch fanden sich 
keine Kulturen: die Leute leben ganz von dem, was wild 
wächst, und einigen wenigen Fischen. Die letzten Nach- 
richten über die Expedition datieren vom 1. Juni und wissen 
von neuen Schwierigkeiten und schlechtem Wetter zu be- 
richten. Man will nun versuchen, von einem östlich von 
Tipue liegenden Punkt in das Hochgebirge zu gelangen, und 
zwar ist das Ziel die Carstenszspitze, die für höher gehalten 
wird, als die von der Lorentzschen Expedition erreichte 
Wilhelminaspitze. 

— Die Forsehungsfahrt des „Michael Sars“ im 
Nordatlantischen Ozean (vgl. Bd. 96, S. 370) begann mit 
der Abreise von Plymouth am 7. April d. J. Die Arbeiten 
standen unter der Leitung von John Hjort, die übrigen wissen- 
schaftlichen Teilnehmer waren Prof. Gran, Helland-Hansen 
und Kapitän Iversen; auch befand sich Sir John Murray an 
Bord, auf dessen Veranlassung die Expedition ausgerüstet 
worden war. Uber ihre Tätigkeit und Ergebnisse ist bisher 
u. a. folgendes bekannt gegeben worden. An den meisten 
der 74 Beobachtungsstationen wurden physikalische und 
biologische Untersuchungen vorgenommen, und es wurden 
über 600 Temperaturmessungen in verschiedenen Tiefen aus- 
geführt. Diese Temperaturbeobachtungen stimmen sehr gut 
mit denen des „Challenger“ überein, aber die Bestimmung 
des Salzgehaltes und der Dichtigkeit des Wassers hat neue 
Resultate ergeben. Die Strommessungen in der Straße von 
Gibraltar zeigten, daß die Grenze zwischen den oberen (öst- 


lich gehenden) und den unteren (westlichen) Strömungen in 
einer Tiefe von 50 bis 100 Faden liegt, wechselnd mit den 


Gezeiten. Die größten gemessenen Geschwindigkeiten waren 
etwa fünf Knoten. In den warmen Gewässern der Sargassosee, 
wo die Schleppnetze der deutschen Plankton-Expedition wenige 
Pflanzen erlangt hatten, zeigte die Zentrifugalmaschine, daß 
das Wasser hier Pflanzen von den kleinsten Formen enthielt, 
die den Maschen des feinsten Seidennetzes entgehen mußten; 
sie fanden sich zu Tausenden in Tiefen bis zu 50 Faden. 
Prof. Gran ermittelte eine Menge neuer Spezies und konnte 
durch mikroskopische Quantitativuntersuchungen ihre ver- 
tikale Verteilung feststellen. Das Temperaturprofil durch den 
Golfstrom südlich der Großen Bänke zeigte unerwartete Er- 
gebnisse: sowohl die Temperatur wie das Plankton deuten 
auf einen Gegenstrom am südlichen Rande des Golfstromes 
hin. Deshalb folgte der „Michael Sars“ dem Laufe des Golf- 
stromes durch den Atlantischen Ozean, ständig beobachtend. 
Das Ergebnis soll später mitzeteilt werden. 


— Professor Louis Gentil von der Sorbonne, bekannt 
durch seine geologischen Forschungsreisen in Marokko, ist 
vom französischen Unterrichtsminister mit einer neuen Stu- 
dienreise dorthin beauftragt worden. Sein Ziel ist diesmal 
das Muluja-Tal, mit dessen Untersuchung er seine früheren 
Studien im algerisch-marokkanischen Grenzgebiet ab- 
schließen will. 

— Auf 8. 35 des 97. Globusbandes war von De Lacostes 
Reise durch die westliche Mongolei die Rede. Der 
Reisende war Ende September 1909 nach Kobdo gelangt. 
Er ist inzwischen nach Frankreich zurückgekehrt und hat in 
der Pariser geographischen Gesellschaft einen Vortrag ge- 
halten (abgedruckt in „La Geographie“, Bd. XXI, 8.375 bis 
384, mit Übersichtsskizze). Danach führte die Weiterreise 
von Kobdo in nordwestlicher Richtung über den mongolischen 
Altai (Taschuntopaß) nach dem in 1800 m Meereshöhe ge- 
legenen russischen Grenzposten Kasch-Agatsch und dann am 
Katun abwärts und über Biisk nach der Bahnstation Obi 
(November). 

Es sei hier einiges aus den allgemeinen Bemerkungen 
De Lacostes über die Mongolei mitgeteilt: Das Klima ist recht 
ungünstig, die Winter sind streng, und auf ein stürmisches 
Frühjahr folgt ein furchtbar heißer Sommer, der durch die 
unglaublichen Fliegenschwärme und durch häufige Stürme 
von großer elektrischer Kraft noch unerträglicher gemacht 
wird. Trotz dieser Stürme aber ist Regen spärlich, doch fallen 
Hagelstücke von nicht gewöhnlicher Größe. Die Mongolen 
fürchten den Blitz, der auch häufig Verheerungen anzurichten 
pflegt. Vegetation findet sich auf den Steppen, aber Bäume 
fehlen ganz, außer auf den nördlichen Abhängen einiger 
Gebirgsketten, die den feuchten Nordwinden ausgesetzt sind. 
In Anbetracht der Dürre des Gebiets überrascht es aber doch 
einigermaßen, wenn man sieht, welch wasserreiche Neben- 
flüsse zur Selenga und zum Baikalsee gehen. Das erklärt 
sich aus dem reichlichen Schnee des Winters. 

Zwischen Urga und Uliassutai sah der Reisende nicht 
ein einziges Haus; die Bevölkerung schien spärlich und ärm- 
lich, die Herden durch Hunger und Durst dezimiert zu sein. 
Das aber ist nicht dem Mangel an Subsistenzmitteln zuzu- 
schreiben; denn das Gras der Steppen wäre ausreichend, wenn 
nur die Mongolen sich die Mühe nehmen wollten, es für den 
Winter in Heuschobern aufzubewahren. Die Lage der Mon- 
golen ist höchst elend, da sie von den Chinesen, ihren eigenen 
Lamas und Mönchen, ihren einheimischen Fürsten und den 
Geldverleihern unterdrückt und ausgesogen werden. Zwischen 
Urga und der sibirischen Grenze begegnete De Lacoste 400 
bis 500 Chinesen, die von einem Auswanderungsbureau in Urga 
abgeschickt waren, um die meistversprechenden Landstriche 
zu besetzen und zu kolonisieren, und es hatte hin und wieder 
den Anschein, als wollten die Chinesen diese Maßnahme bis 
zum eventuellen Ausschluß der Mongolen durchführen. De 
Lacoste bemerkt, daß die Russen hier nicht so einflußreich 
wären wie in Kaschgarien; denn ihre Konsuln in Urga und 
Uliassutai hätten keine Militärbedeckunz, und in Kobdo 
(1000 Einwohner) gäbe es überhaupt keinen. 

— Zum Schutz der Alpenflora. Der Verein zum 
Schutz und zur Pflege der Alpenflora (Sitz Bamberg) hat sich 
in den letzten Jahren um die Schonung der gefährdeten 
Alpenblumen große Verdienste erworben. Auf seine Anregung 
ist eine neue Verordnung zurückzuführen, die der Bezirks- 
amtmann Graf Lerchenfeld für Berchtesgaden und Bad 
Reichenhall in den Bayerischen Alpen erlassen hat. In 
einer früheren Verordnung war das Ausgraben und Ausreißen 
von Edelweiß, Alpenrose, Zwergalpenrose, Alpenveilchen, Berg- 
mandel, Braunelle, Christblume, Frauenschuh, Gamsblume, 


148 


Kleine Nachrichten. 





Seerose, gelber und kleiner Teichrose und Steinrösl verboten. 
Die neue distriktspolizeiliche Vorschrift enthält folgende all- 
gemein interessierende Bestimmungen: „$1. Der Schutz wird 
auf stengellosen Enzian, Türkenbund, Fliegenorchis, Alpen- 
zwergstendel, Knabenkraut, Kuckucksblume, wohlriechendes 
Köhlröschen oder Schweißbleaml, Hirschzunge ausgedehnt. 
$2. Als Pflanzenschonbezirk wird erklärt das Gebiet, das 
einerseits von der Landesgrenze, andererseits von einer Linie 
begrenzt wird, die vom Torrener Joch nach dem Königburg- 
Bach und von dem Königsbach zum Kessel, dann über den 
Königssee zum Eisbach, diesen entlang zur Hirschwiese, von 
dieser über die Rothleitenschneid zum großen Hundstod ver- 
läuft. $3. Auf dem in Absatz 2 bezeichneten Gebiete ist 
das Pflücken, Abreißen, Ausgraben, Ausreißen, Sammeln und 
Fortbringen wild wachsender Pflanzen aller Art verboten. Aus- 
genommen ist das Sammeln wild wachsender Pflanzen zu 
wissenschaftlichen Zwecken durch Personen, die sich 
im Besitz eines vom Bezirksamt Berchtesgaden widerruflich 
auszustellenden Erlaubnisscheines befinden. Ferner das Aus- 
graben und Sammeln von Enzianwurzeln durch die mit forst- 
amtlichem Erlaubnisschein versehenen Personen. Die Er- 
laubnisscheinesind beim Sammeln und Fortbringen mitzuführen. 
Die gemäß $4 der oberpolizeilichen Vorschriften ausgestellten 
Erlaubnisscheine gelten für Pflanzenschonbezirke nicht. Zu- 
widerhandlungen gegen diese Vorschriften werden mit Geld 
bis zu 150 4 oder mit Haft bestraft.“ 

Im Anschluß hieran sei erwähnt, daß auch in Berchtes- 
gaden ein alpiner Pflanzgarten angelegt wird. Das in der 
Hinter-Gern gelegene Gelände hat Kommerzienrat Stöhr aus 
Leipzig, nach dem das auf dem sagenreichen Untersberg er- 
richtete Stöhrhaus genannt ist, angekauft. Es ist Aussicht 
vorhanden, daß spätestens im nächsten Jahr die Anlage des 
großzügig gedachten Alpengartens in Angriff genommen wird. 
Während der in Bad Reichenhall zu errichtende Alpengarten 
etwa 500m ü. d. M. liegen wird, ist jener in einer Höhe von 

` 900 bis 1000 m gedacht. Dr. C. 0. Hosseus. 


— Ein Teil der Mitglieder der Grönland-Expedition 
Ejnar Mikkelsens ist am 19. August d. J. mit dem Zweit- 
kommandierenden Marineleutnant Laub an Bord eines Grön- 
landfahrers in Aalesund eingetroffen; dagegen sind Mikkelsen 
selbst und ein anderes Mitglied namens Iversen in Grönland 
verblieben, und über ihr Schicksal ist nichts bekannt. Das 
Expeditionsschiff ist Ende März d. J. vom Eise zerdrückt 
worden. 

Mikkelsens Hauptaufgabe war, nach den Leichen Mylius- 
Erichsens und Hagens zu ‚suchen, die im November 1907 auf 
ihrem Rückzuge vom Danmarkfjord in Nordgrönland über 
das Inlandeis zum Schiffe dem Hunger und der Kälte erlegen 
waren, und deren Tagebücher und Karten heimzubringen, 
die sie vor Antritt ihres Todesmarsches vermutlich am Dan- 
markfjord bei Kap Reichstag zurückgelassen hatten. Nach 
Erledigung dieser Aufgabe wollte Mikkelsen den Pearykanal 
nach Westen hinaufgehen und ermitteln, ob dieser ein iso- 
lierter Sund oder ein Teil eines ausgedehnten Fjordsystems 
wäre (vgl. die Karte im Globus, Bd. 94, 8.320). Im einzelnen 
ist der Reiseplan 8. 339 des 95. Globusbandes skizziert worden. 
Von dem tatsächlichen Verlauf der Expedition ergaben die 
ersten kurzen Nachrichten folgendes Bild. 

Mikkelsen verließ mit sechs Gefährten an Bord der 
„Alabama“, eines kleinen, mit einem Petroleummotor ver- 
sehenen Schoners, Anfang Juli 1909 Kopenhagen und ging 
an der Shannoninsel ins Winterquartier.. Noch im Herbst 
1909 begab sich eine Schlittenexpedition von drei Mann an 
der ostgrönländischen Küste nordwärts bis nach Lambertland 
(79'/%° n. Br.), um dort ein Depot für die Frühjahrsreise an- 
zulegen und nach Mylius-Erichsens und Hagens Leichen zu 
suchen, die in dieser Gegend vermutet werden. Man fand 
sie aber nicht. Die Frühjahrsschlittenreise zum Danmarks- 
fjord begannen Mikkelsen und Iversen am 3. März 1910, sie 
verließen an diesem Tage das Schiff und zogen über die Dove- 
bucht (bei Kap Bismarck) nach Norden. Mikkelsen hatte Laub 
die Weisung gegeben, auf seine Rückkehr nicht länger als 
bis zum 1. August 1910 zu warten, dann vielmehr mit dem 
Schiffe die Heimfahrt anzutreten. Er ist bei dieser Weisung 
offenbar von der Erwägung ‚ausgegangen, daß es sich für 
ihn vorteilhafter erweisen könnte, nach der Untersuchung 
von Danmarkfjord und Pearykanal die Westküste Grönlands 
hinunter nach den Niederlassungen am Smithsund zu gehen, 
anstatt nach der Ostküste zurück. Drei Wochen nach Mikkel- 
sens Abgang wurde die „Alabama“ vom Eise zerdrückt, doch 
konnte die Bemannung sich und die Vorräte auf der Shannon- 
insel in Sicherheit bringen. Als nun Mikkelsen und Iversen 
ausblieben, errichtete Laub für sie ein Haus auf Shannon, 
das er mit Lebensmitteln für zwei Jahre ausstattete, und be- 


nutzte die am 7. August sich bietende Gelegenheit, mit einem 
Fangschiff heimzukehren. 

Ein besonderer Grund für Besorgnisse um Mikkelsens 
und Iversens Schicksal liegt nun nicht vor; denn zweierlei 
ist wahrscheinlich. Sie können um Nordgrönland herum den 
Smithsund erreicht haben und vielleicht noch in diesem 


Herbst mit einem der letzten Dampfer zurückkehren. Oder 
sie sind mit Verspätung nach der Shannoninsel gekommen, 
und treffen dort zufällig noch einen Walfischfänger, der sie 
mitbringt, oder überwintern da und benutzen im Sommer 
1911 eine Gelegenheit zur Heimreise. Freilich kann auch 
irgend ein unglücklicher Zufall, wie er ja in der Polar- 
forschung sich nicht selten ereignet hat, den beiden ver- 
hängnisvoll geworden sein; auch damit muß man eben rechnen. 

— Die Tektonik des schweizerischen Tafeljura 
erörtert Ed. Blösch (Neues Jahrb. f. Miner. 1910, 29. Beilage- 
band). Das älteste Gestein ist ein Biotitgneis, der älter als 
Devon ist und von verschiedenen Eruptivgängen durchsetzt 
wird. Unter deın Grundgebirge lagerten sich in der Perm- 
zeit die Breceien und roten Tone des Rotliegenden; erstere 
dürfen als verkitteter Gehängeschutt des hereynischen Gebirges 
aufgefaßt werden. Das Wüstenklima reicht noch weit in die 
Buntsandsteinzeit hinein. Eine kontinentale Senkung machte 
die Gegend zum Meeresufer und während der Ablagerung 
des Muschelkalkes zum Meeresboden. Nach der Hebung blieb 
das Meer während der ganzen Jurazeit im Lande, meist aller- 
dings nicht tief. Zur Malmzeit hob sich der Schwarzwald 
wieder und ihm folgte auch das ganze Gebiet im Süden. 
Gegen Ende der Eozänzeit sank der Westen des Gebietes, im 
Mittel- und Oberoligozän traten dann wieder langsame He- 
bung mit Brüchen am Anfang des Rheintalgrabens und Ver- 
werfungen im Basellande auf. Zur Miozänzeit sackte sich 
der südliche Teil, während der Schwarzwald beständig stieg. 
Gegen Ende der Miozänzeit begann die Jurafaltung. Bei der 
Gebirgsbildung zog sich das Meer zurück, und eine gewaltige 
Erosion setzte ein. Die alpinen Eiszeiten bedeuten für das 
Gebiet jeweilen Perioden der fluvioglazialen Aufschüttung, 
während in den Interglazialzeiten erodiert wurde. Der Ost- 
rhein floß zuerst noch zur Donau und die Aare über Basel 
nach Frankreich. Nach Abla zerung des Deckenschotters kam 
neue Bewegung in die starre Erdrinde. Das Rheintal von 
Basel abwärts sank so weit ein, daß das Wasser nach Norden 
abfloß. Gleichzeitig fanden Bewegungen auf den Verwerfungen 
in Baselland statt. Auch nach Ablagerung der Hochterrasse 
wurden die Steppentiere der Lößzeit durch Erdbeben suf- 
geschreckt, die Folgen von neuerlichen Dislokationen waren; 
diese dauern heute noch fort. Die vierte alpine Vergletsche- 
rung erreichte auch dieses Gebiet. Die Eisströme aus den 
Alpen, dem Jura und dem Schwarzwald vereinigten sich und 
überfluteten den Tafeljura bis gegen Basel. Der Urgestein- 
sporn bei Laufenburg am Rhein bereitete schon damals dem 
Rhein große Mühe. Er zwängte sich durch ein tiefes Canon 
südlich der jetzigen Stadt und verschüttete dann sein Bett 
mit Niederterrassenschotter. Überall, wo heute Stromschnellen 
sich finden, liegt eine Stromverlegung vor. Während früher 
der Rhein nach Osten floß, kommt jetzt Donauwasser durch 
die Aach in den Rhein. Die eigentliche Ursache ist das 
Absinken des Rheintalgrabens und die dadurch bewirkte 
Tieferlegung des ganzen Flußsystems. 





— Die Vegetation des Oberrheins schildert R. Lau- 
terborn (Verhandl. d. naturh.-med. Ver. zu Heidelberg 1910, 
N. F., 10.Bd.). Dabei ergibt sich die Beobachtung, daß der 
Planktongehalt eines fließenden Gewässers in erster Linie 
abhängig ist von der Stärke der jeweiligen Planktonzufuhr, 
die ihm aus seinen stehenden Hinterwassern zuteil wird. 
Dem Gefälle kommt nur eine sekundäre Bedeutung zu, indem 
bei Abnahme desselben die mitgeführten suspendierten Sand- 
und Schlickpartikel rascher sedimentieren. Die zahlreichen 
Altwasser des Rheines drohen leider mehr und mehr zu ver- 
schwinden, obwohl die Vegetation der strömenden Altrheine 
und Seitenarme so manches Beachtenswerte bietet. Die Ver- 
landung schreitet bei all diesen Wasserteilen durchgehends 
rapide vorwärts, aus ihnen wird meist Sumpf, dann Ellern- 
bruch und Wiesenmoor. Obgleich der Oberrhein in mehr 
als 300km langem Laufe eine weite Talebene durchfließt, ist 
er trotzdem bisher biologisch noch kein ausgesprochener 
Tieflandstrom, sondern hat in Fauna und Flora noch viel- 
fach den Charakter eines Gebirgswassers bewahrt. Auf die 
biogeographische Bedeutung des Oberrheins als Verbindungs- 
glied zwischen der Flora und Fauna der nordischen Gewässer 
und derjenigen des Alpenvorlandes will Verfasser später ein- 
gehen und eine Reihe von Belegen aus dem Tier- und 
Pflanzenreich dazu beibringen. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 56. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 











Bd. XCVIII. Nr.10. 


BRAUNSCHWEIG. 


15. September 1910. 








Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


Einige Beobachtungen über tropische Schutzkrusten und Wadibildungen. 


Von Dr. Herbert Burmester. München. 


Mit 8 Abbildungen nach Photographien des Verfassers. 


In jeder Felswüste treten zwei Phänomene auf, welche 
das Charakteristikum bilden für die weiten, öden Land- 
flächen, über denen die heiße Sonne der Subtropenzone 
leuchtet: die tropische Schutzkruste und die viel- 
fach gewundenen Trockentäler mit steilen, glatten Seiten- 
wänden, die Wadis. J. Walther !) bezeichnet die Schutz- 
kruste der Schutzrinde geradezu als Leitfossil der 
Wüste. Unter diesem Worte versteht man einen in allen 
Wüsten vorkommenden sehr dünnen, harten Überzug der 
Felsen. Dieser Überzug, der starker, trockener Hitze 
seine Entstehung verdankt, besteht aus Eisen- oder 
Manganoxyden, die durch Ritzen der Kruste mit einem 
scharfen Instrumente zu unterscheiden sind. Nach 
J. Walther ?) zeigt eine gelbe Strichfarbe junge eisen- 
oxydhydrathaltige Kruste an, rote Strichfarbe ältere Rinde, 
die sich durch Wasserverlust in Eisenoxyd verwandelt 
hat, während ein grauer Strich Gehalt an Manganoxyd 
angibt. Die Farbe der Kruste selbst wechselt zwischen 
tiefem Schwarz, hellem Grau und allen ins Braun gehen- 
den Schattierungen, wobei im wesentlichen der Gehalt 
an Kieselsäure mitwirkt, indem die Kruste um so dunkler 
ist, je reicher das Gestein an Kieselsäure ist). Ebenso 
ausgesprochene Erscheinungen in der Felswüste sind die 
tief in die horizontalen Plateaus eingerissenen Schluchten, 
die von hohen, unnahbaren Wänden begleitet sind und 
oft mit einer gewaltigen Steilwand blind enden, nachdem 
sie sich stundenlang, ja tagereisenweit in den harten Fels 
eingeschnitten haben. 

Schutzkrusten und Wadis sind also die wichtigsten 
Erscheinungen der Felswüste und scheinbar völlig unab- 
hängig voneinander, indem die Wadis als das formgebende 
Element, die Rinden als sekundäre Begleiter auftreten. 
Vielleicht aber lassen sich bei genauerer Untersuchung 
der Schutzkruste in den Wadis Zusammenhänge erkennen, 
die sowohl auf die Bedeutung der Krusten wie auf das 
Wesen der Wadibildungen ein helleres Licht werfen 
können. 

Die Wüste östlich des Niltales, die in der Nähe von 
Kairo beginnt, ist eine ausgesprochene Felswüste, in der 
alle Erscheinungen, welche diese in so reichem Maße 
kennzeichnen, in verschiedensten Formen auftreten. Die 
Kalkplateaus des Gebel Mokattam bei Kairo und die sich 
südlich anschließenden Partien, die östlich von Heluan 
gelegen sind, bieten ein vortreffliches Feld zur Wüsten- 


1) Johannes Walther, Gesetz der Wüstenbildung, 8. 21. 
Ebenda. Neuere Untersuchungen erklären die Schutz- 
rinde für Flechtenbildungen. 
®) J. Walther, Denudation in der Wüste. 
Globus XCVIII. Nr. 10. 





beobachtung, einerseits wegen ihrer leichten Erreichbar- 
keit von Kairo aus, andererseits, weil gerade für die 
Heluaner Gegend die vorzügliche Karte t) Georg Schwein- 
furths existiert, so daß die in Frage kommenden Plateaus 
und Schluchten leicht identifiziert werden können. An 
der dort angenommenen Nomenklatur wurde darum auch 
im folgenden festgehalten. 


I. Untersuchungen über die Wirkung der Schutz- 
kruste auf die Intensität der Verwitterung. 


In der Wüste ist ein strenger Unterschied zu machen 
zwischen Gesteinspartien, welche der Sonne ausgesetzt 
sind, und solchen, die wenig oder gar keine Sonnenstrah- 
lung erhalten. Die ersteren Teile sind mit Kruste be- 
deckt, die härter als das Muttergestein ist, und werden 
von der Verwitterung oberflächlich schwer angegriffen, 
eine Eigenschaft, welche dieser Kruste den Namen „Tro- 
pische Schutzkruste“ gegeben hat. Diese Schutzrinde 
bildet sich überall dort auf den Felsen, wo sie der Sonnen- 
strahlung direkt ausgesetzt sind, kriecht aber auch in 
kleine, oberflächliche Vertiefungen hinein, in welche keine 
Sonnenstrahlen fallen können. Somit dürfte es im wesent- 
lichen die Erhitzung des Gesteins sein, welche eine Ver- 
bindung des Gesteins mit den in der Luft befindlichen 
Eisen- und Mangansalzen bzw. Flechtenbildung begünstigt. 
An den im Schatten liegenden Partien ist das Gestein gegen 
oberflächliche Verwitterung durch keine Rinde geschützt, 
die Feuchtigkeit des Nachttaues oder eines der seltenen 
Regen kann sich länger halten, und ungehindert kann hier 
die chemische Verwitterung angreifen. Die Verwitterung 
beginnt also an Schattenpartien, bildet dort kleine, allmäh- 
lich sich nach innen erweiternde Höhlungen oder Über- 
hänge, bis schließlich sich eine Höhle ihre Seiten oder Deck- 
wand von innen durchbrochen hat, oder das Dach eines 
Überhanges infolge seines eigenen Gewichts eingestürzt 
ist. Man nennt diese Erscheinung Verwitterung von innen 
nach außen. Ist nun z. B. ein gewaltiger Felsblock, der 
das Dach eines Überhanges gebildet hatte, herabgebrochen, 
so bildet sich an der Bruchstelle alsbald von neuem 
Schutzkrustee Nun aber fällt es entschieden auf, daß 
solche Blöcke, die als Reste der Decke eines Überhangs 
auf dem Boden liegen, an allen Seiten Schutzrinde zeigen 
und trotz dieses Schutzes ausgesprochene Höhlungen 
aufweisen, die von innen die Kruste durchbrochen haben, 


*) G. Schweinfurth, Die Umgegend von Heluan als Bei- 
spiel der Wüstendenudation. 


20 





150 Burmester: Einige Beobachtungen über tropische Schutzkrusten und Wadibildungen. 





Abb. 1. Baustein bei der Cheopspyramide mit Schutzrindenlappen. 


so daß die Kruste in großen Lappen von der Höhlendecke 
herabhängt. Abb. 1, die einen Baustein aus den um die 
Cheopspyramide verstreuten Tempelruinen zeigt, läßt er- 
kennen, daß die herabhängenden Teile den Grund der 
von ihnen gebildeten Höhlungen beschatten, also der 
Höhlenbildung Vorschub leisten und somit zur rascheren 
Verwitterung beitragen. Diese Lappen und Überhänge 
verdanken aber nur der Schutzrinde ihr Bestehen, denn 
diese schützt sie vor zu raschem Vergehen, ja manchmal 
ist alles Muttergestein der Verwitterung schon zum Opfer 
gefallen und nur die härtere Schutzrinde hängt noch, 
mehrfach schon von innen angenagt, Schatten spendend 
als Höhlendach oder zerborstene Seitenwand am Felsen. 
Wir sehen also, daß der Name Schutzkruste nur insofern 
eine Bedeutung hat, daß sie das unmittelbar darunter 
liegende Gestein vor oberflächlicher Verwitterung, die 
ohnehin gering ist, schützt. Dagegen aber begünstigt 
sie die in der Wüste maßgebende Schattenverwitterung, 
indem sie durch ihre größere Härte und Lebensdauer 
länger schattengebende Partien als Höhlendach oder 
Seitenwand bestehen läßt, als es ohne diesen 
Schutz der Fall sein könnte. Die Schutz- 
kruste schützt also das Gestein nicht 
vor der Zerstörung, sondern beschleunigt 
diese im Gegenteil dadurch, daß sie durch 
Schattenspende die Aushöhlung der Felsen 
rascher fortschreiten läßt. Wir sehen daher, 
daß die Existenz der Schutzrinde nicht eine 
für die Wüstenbildung hindernde Macht ist, 
sondern als begünstigender Faktor für die 
Entstehung der Felsformen, der gesamten 
Oberflächenbeschaffenheit aufzufassen ist und 
somit auch bei der Entstehung der Wadis 
seine Bedeutung haben muß. Es ist hiermit 
natürlich nicht gesagt, daß die Schutzkruste 
die Verwitterung bedinge, denn man findet 
auch verkrustete Felsen, die keine Verwitte- 
rung aufweisen; wo aber einmal die kleinste 
Höhlung, etwa schon vor der Krustenbildung, 
entstanden ist, gibt die Kruste den wider- 
standsfähigen Deckmantel, unter dessen 
Schatten die Unterminierung des Felsens 
ruhig arbeiten kann. Es sind infolgedessen 





auch alle die Felsblöcke, welche die stärkste 
Verkrustung aufweisen, am intensivsten an- 
genagt, es sind alte Felsen, bei denen Kruste 
und Verwitterung Zeit zur Entwickelung hatten. 
Um aber zu erkennen, ob es in der Wüste viel- 
leicht eine „Wetterseite* gibt, welche etwa die 
Südseite sein könnte, wegen der dort größeren 
Sonnenstrahlung, wandte ich mich an ägyptische 
Bauwerke. In der Wüste selbst sprechen zu 
viele Faktoren mit, als daß man dort ein reines 
Resultat erhalten könnte. Die Windrichtung, 
die Härte des Gesteines sind hierbei maßgebend, 
und schwerlich wird man Blöcke finden mit 
zweifellos gleichalterigen Bruchstellen, die ver- 
schiedenen Himmelsgegenden ausgesetzt sind. 
Es ist bekannt, daß die Steine, welche zu den 
ägyptischen Bauten verwendet wurden, schon 
jetzt nach 6000 Jahren Kruste an der Ober- 
fläche zeigen. Eines der bekanntesten Beispiele 
ist das von G. Schweinfurth gefundene Stauwerk 
im Wadi Geraui bei Heluan. Die dort ver- 
wendeten, nach Osten schauenden Blöcke sind 
oben wenig angefressen, zeigen deutliche Bräu- 
nung; jedoch ist in dem weichen Gips in jeden . 
Block eine deutliche Höhlung hineingewittert. 
Für unsere Zwecke bieten aber die Pyramiden, 
welche allen vier Himmelsgegenden ausgesetzte Seiten 
besitzen, das günstigste Studienobjekt. Von den Pyra- 
miden bei Giseh kommt nur die Chefrenpyramide in 
Betracht, da nur sie noch teilweise den ursprüng- 
lichen Mantel in der Nähe ihrer Spitze aufweist. Bei 
den anderen finden wir angewitterte Blöcke, bei denen 
die Zeit ihrer Bloßlegung unbestimmbar ist. An der 
Chefrenpyramide besitzt aber keine der vier Seiten eine 
merklich stärkere Bräunung als die anderen, auch die Ver- 
witterung hat ziemlich gleich stark angegriffen. Die 
steile Sommersonne hat also Kraft genug, auch auf der 
Nordseite Schutzkruste zur Entwickelung zu bringen. 
Wir haben dadurch für die Untersuchung der Wadis 
die große Erleichterung, daß wir bei Krusten- und Ver- 
witterungsuntersuchungen die Lage der Felsen in bezug 
auf die Himmelsrichtung gegenüber anderen Faktoren ohne 
große Fehlerquelle vernachlässigen können. Richten wir 
unser Augenmerk auf den Sphinx (Abb. 2), so bemerken wir, 
daß auf dem Hinterkopfe starke Kruste und ausgesprochene 
Verwitterung auftritt, in dem nach Osten gerichteten 


-e 





Burmester: Einige Beobachtungen über tropische Schutzkrusten und Wadibildungen. 151 





Gesicht aber wenig Kruste und geringe Verwitterung. Ob 
hier etwa durch verschiedene Bearbeitung des Materials 
dieser Unterschied bedingt ist, entzieht sich meiner 


Kenntnis, jedenfalls aber 
existiert die Tatsache, daß 
hier bei fehlender Kruste 
auch die Verwitterung 
fehlt. 

Es sei hier noch eine 
eigenartige Anordnung 
der Rinde erwähnt, wo- 
bei sich auf normal braun 
verkrusteten Felsen eine 
örtliche, schlackenartig 
aufgelagerte Kruste fin- 
det, die manchmal in selt- 
samen Figuren vollkom- 
men willkürlich angeord- 
net erscheint. Diese Rinde 
ist tiefschwarz und stets 
erhaben. Schneidet man 
einen solchen Stein durch, 
so liegt unter diesen An- 
- häufungen meist dunk- 
leres Gestein, das Höhlen, 
Knollen bildet, oder auch 
in Schichten angeordnet 
ist. Die Härteprobe er- 
gibt, daß es Hornstein- 
einsprengungen im Kalk 
sind, wodurch auch ohne 
weiteres die dunklere 
Farbe des Gesteines er- 
klärt ist, da diese bei zu- 
nehmendem Gehalt an 
Kieselsäure auch an 
Dunkelheit der Farbe 
zunimmt. Hornsteinein- 
sprengungen erscheinen 
ja auch in einer Gegend, 
wo vielfach verkieseltes 
Holz gefunden wird, 
nicht als unwahrschein- 
lich. Jedenfalls aber sehen 
wir, daß härteres Gestein 
erhaben ist gegenüber 
krustenbedecktem Kalk. 
Der Kalk verwittert also, 
seine Schutzkruste hält 
der äußeren Verwitterung 
nicht unbedingt stand 
und erneut sich ständig 
wie etwa die menschliche 
Haut, ohne dabei aus- 
gesprochene Abschup- 
pung zu zeigen. Zu ihrer 
Erneuerung nimmt sie 
Material von dem Mutter- 
fels, bedingt also eine ihn 
verkleinernde Verwitte- 
rung von außen nach 
innen. 

Diese natürlich sehr 
langsame Verwitterung 
von außen nach innen 





Abb.3. Abschuppung in der Reilschlucht. 





Abb.4. Blindende der Sclaterschlucht. 


geht Hand in Hand mit der weit rascheren und wich- 


tigeren Schattenverwitterung. 
Nicht immer arbeitet sich die Kruste kontinuierlich 
in den Fels hinein, es gibt Fälle, wo sich die Kruste in 


dünnen Schichten vom Gestein loslöst: die Erscheinung 
der Abblätterung oder Desquamation. In diesen Fällen 
wird diese Tatsache der Sprengwirkung durchgepumpter 


und dann kristallisier- 
ter Salzlösungen zuge- 
schrieben 5). 

Abb.3 zeigt das Blind- 
ende der Reilschlucht bei 
Heluan. Wir sehen hier 
eine teilweise Loslösung 
der Schutzkruste, welche 
hier eine kohlkopfartige 
Verwitterung bedingt. 

Abb.4 zeigt neben 
dunkeln, verkrusteten 
Partien am Blindende 
der Sclaterschlucht helle, 
frische Flächen, von denen 
die Kruste losgelöst ist. 
An diesen frischen Stellen 
bildet sich aber wieder 
neue Kruste, welche wie- 
derum durch Schatten- 
spende zur Verwitterung 
beiträgt; es wird somit 
in diesen Fällen durch 
Mitwirkung des Salzes 
ein intermittierender Vor- 
gang an Stelle des zuerst 
betrachteten kontinuier- 
lichen angebahnt. 


I. Wasserwirkungen 
in der Wüste. 


Der langgestreckte 
Lauf, den alle Wüsten- 
wadis besitzen, läßt auf 
eine Anlage derselben 
durch Wasser schließen. 
Die Hauptfrage hierbei 
ist die, ob die jetzt 
zur Verfügung stehenden 
Wassermengen zur Aus- 
bildung genügen oder ob 
früher größere Nieder- 
schläge stattfanden. Für 
den Sinai scheint eine Plu- 
vialperiode®) wohl nach- 
gewiesen zu sein. 

W. F. Hume’) schließt 
aus gewaltigen Schotter- 
ablagerungen und unter 
Berücksichtigung der all- 
gemeinen Temperaturab- 
nahme zur Eiszeit in Eu- 
ropa auf die Existenz 
größerer Schneefelder in 
früheren Perioden. Jeden- 
falls aber stellt er für 
den Sinai unzweifelhaft 
fest, daß jetzt in den 
Schotterablagerungen der 
Wadimündungen die De- 
nudation die Ablagerung 


*) Johannes Walther, Gesetz der Wüstenbildung, 8.20. 


°) J. Walther, Gesetz der Wüstenbildung, 8. 44. 
7) W. F. Hume, The Topo 


graphy and Geology of the 
Peninsula of Sinai (Cairo 1906), 8. 127. 


20* 


152 Burmester: Einige Beobachtungen über tropische Schutzkrusten und Wadibildungen. 


übertrifft, daß sich also jetzt kleinere 
Flüsse in die von gewaltigen Fluten 
ausgeschwemmten Schottermengen 
ein Bett graben. Wir können hier- 
aus nicht ohne weiteres Schlüsse 
auf das Niltal ziehen, aber die ge- 
nauere Betrachtung der heutigen 
Wadiformen gibt uns verschiedene 
Kennzeichen, daß neben der all- 
gemeinen Verwitterung auch die 
Wassererosion ihren Anteil an 
der Modellierung des Reliefs der 
Wüste hat, und zwar in früheren 
Zeiten in größerem Maße als 
heute. Betreten wir eines der be- 
deutenderen Wadis der Heluaner 
Umgebung, etwa das Wadi Hof, 
so erkennen wir ohne weiteres, daß 
wir uns in einem Tale befinden, in 
dem das Wasser seine Wirkung 
äußert. Der Boden besteht aus 
deutlich gerolltem Sand; ist er 
aus anstehendem Fels, so finden 
wir ausgesprochene Wassererosions- 
rinnen, die konkaven und konvexen 
Bogen sind deutlich ausgeprägt; 
hier ausgespülte, weiße Hohlkehlen, dort angehäufte 
Schuttmassen. Nun aber richten wir unseren Blick auf 
eine harte Kalkbank, über die erodierende Wassermassen 
ohne Zweifel darüber gehen, wenn ein seltener Regenguß 
seine belebenden Fluten herniedergesandt hat. Auf dieser 
Kalkbank finden wir an den Stellen, wo das Wasser nur 
mit verminderter Kraft fließen kann, leichte Anflüge von 
Schutzkruste, während dort, wo das Wasser in heftigem 
Schwalle seine Furchen getrieben hat, nicht das geringste 
Zeichen von Bräunung zu erkennen ist. Somit hat also 
an manchen Stellen das Wasser, an anderen die Kruste 
den Sieg davongetragen. Um diesen Kampf von Kruste 
und Wasser besser studieren zu können, untersuchte 
ich die Kalkbänke in den Nebenwadis, weil dort aller 
Voraussicht nach der geringeren Wassermengen halber 
die Krustenwirkung stärker sein mußte. Diese Ver- 
mutung fand ich bestätigt, denn ausnahmslos zeigte der 


Abb. 5. 





Abb. 6. 





Stufefin der Derflerschlucht mit Kruste und Wassererosion. 


Erosionsschlucht im Wadi Dugla. 


Boden der Nebenwadis dort, wo er harte Kalkbänke auf- 
wies, dunkle Krusten über früheren Erosionsschliffen. 
Noch klarer wurde das Bild an kleinen Stufen innerhalb 
der Wadis und an den Blindenden. Abb. 5 einer Stufe 
in der Derflerschlucht zeigt deutlich den Unterschied 
zwischen den dunkeln, mit Kruste versehenen Partien 
und dem weißen, glatt gewaschenen Erosionsstreifen. Am 
Fuße dieses Streifens, der eine ziemlich tiefe Rinne dar- 
stellt, ist unten ein großes Strudelloch entstanden. In 
der ganzen Breite des Absturzes findet sich sonst nur 
brauner, verkrusteter Fels, über den kein starker Wasser- 
fall vernichtend rinnt. Diese erodierte Kalkbank liefert 
einen beredten Beweis, daß heute die Krustenwirkung 
der Erosion gegenüber an Ausdehnung gewinnt, denn 
die ausgewaschene Bahn des Regenwassers nimmt nur 
einen kleinen Teil der Gesamtbreite des Wadibettes ein. 
Außerdem sind die mit brauner Rinde überzogenen Par- 
tien des Abbruches nicht teilweise 
wieder ausgespült, wie wir es in 
den Hauptwadis sahen. In den 
Hauptwadis kommen noch so 
viel Wassermassen zusammen, daß 
sie der beginnenden Verkrustung 
sich erwehren können, in den 
Nebentälern ist die Kraft schon 
erlahmt, und schmaler und un- 
bedeutender wird der Bereich des 
Wassers. In der Reilschlucht oder 
Sclaterschlucht (Abb. 4) besteht 
das Blindende aus einem gewalti- 
gen Felszirkus, in den sich eine 
schmale, unverhältnismäßig kleine 
Erosionsrinne eingegraben hat. 
Auf dem genannten Bilde der 
Selaterschlucht überschaut das 
Auge die Steilabstürze, ohne die 
Wasserrinne zu sehen, da sie, für 
den PBeschauer unsichtbar, im 
linken Winkel eingegraben ist. 
Dieser nur wenige Meter breite 
und tiefe Weg konnte niemals so 
viel Wasser beschaffen, daß es zur 
Ausarbeitung des Wadis genügt 





Burmester: Einige Beobachtungen über tropische Schutzkrusten und Wadibildungen. 153 





Abb. 7. 


Oberlauf des Wadi Dugla. 


hätte. Eines der besten Beispiele bietet das Ende 
des Wadi Dugla bei Turra, eines Hauptwadis, bei dem 
die Wassererosion stärker, aber trotzdem noch sehr 
gering auftritt. Stundenlang begleiteten das Wadi fast 
senkrechte Seitenwände auf seinem gewundenen Wege, 
endlich schließen sie sich in einem Halbkreise mit dunkel 
verkrusteten Wänden von 20 bis 30 m Höhe. Es ist aber 
kein eigentliches Blindende, welches in diesem Tale auf- 
tritt, da hier eine 10 bis 20 m tiefe und nur wenige Meter 
breite Erosionsrinne eingerissen ist, die sich in einer Längs- 
ausdehnung von etwa 100m bis zu einer 30 m höheren 
Stufe des Wadis erstreckt. Abb. 6 zeigt links die Ero- 
sionsschlucht als schmalen dunkeln Streifen in dem breiten 
Bette eingegraben, Abb. 7 die gesamte Breite des Wadi- 
oberlaufes, der sich über eine kurze Steilstufe auf das in 
Abb. 6 betrachtete Niveau stürzte. 

Aus dieser Bilderfolge dürfte zu erkennen sein, daß 
sich ehemals ein breiter Strom in den Kessel stürzte 
(Abb.7) und von diesem in einem zweiten Falle über die 
unteren Wandpartien in das Wadibett herunterbrauste, 
während jetzt das Wasser des breiten Oberlaufes unver- 
hältnismäßig stark zusammen- 
geschnürt wird, durch die enge 
Rinne hindurchströmt (Abb. 6) 
und sich schließlich im unteren 
Bett wieder verbreitert. Daß 
die Wirkung dieser auf so ge- 
ringe Breite zusammengedrängten 
Wassermengen augenscheinlich 
stark ist, zeigen die mächtigen 
Strudellöcher, die im Schlucht- 
grunde eingebettet sind, aber die 
Schlußwand, wo früher das Wasser 
als Fall darüberfloß, ist braun, 
verkrustet. Dort rinnt kein zer- 
störendes Wasser mehr, ja selbst 
die Erosionsrinne wird wohl nur 
bei starken Regenfällen ganz aus- 
gefüllt, denn auch an ihren oberen 
der Sonne zugänglichen Partien 
beginnt sich schon ein zarter 
Hauch von Schutzkruste 
zu zeigen. — Außer diesen Merk- 

Globus XCVIII. Nr. 10. 


Abb. 8. 


Vegetationsstreifen im Unterlauf des Wadi Dugla. 


malen, die sich aus der Verfolgung 
des Widerstreites der entstehenden 
Rinde und des strömenden Wassers 
ergeben, lassen sich noch ver- 
schiedene Momente für die Wahr- 
scheinlichkeit größerer Wasser- 
mengen auffinden, Tatsachen, die 
vielleicht im einzelnen nicht so 
schlagend sind, aber in'ihrer Summe 
die vertretene Ansicht einer Art 
Pluvialperiode unterstützen 
können. In den Wadis, und zwar 
vorzugsweise in den Seitentälern, 
finden wir oft inselartige Block- 
ansammlungen, denen das Wasser 
im Bogen ausweicht und die uns an 
ähnliche Erscheinungen in Alpen- 
tälern erinnern. Die Seiten- oder 
Mittelfelder bestehen aus meist 
stark gebräunten und verwitterten 
Blöcken verschiedener Größe; sie 
zeigen, obwohl sie oft mitten im 
Wadi liegen und auf beiden Seiten 
die gesammelten Regenwasser vor- 
beiströmen, keine Kennzeichen von 
Wassertransport und Rollung, ein 
Zeichen, daß jetzt das Wadi nicht mehr völlig von strö- 
mendem Wasser ausgefüllt wird. Ferner hat sich zwi- 
schen den Blöcken in ihrem Verwitterungsschutt bereits 
eine üppige Vegetation angesiedelt, die hier, ohne durch 
fließendes Wasser gestört zu werden, gedeiht. Diese 
Existenz stärkerer Vegetation zeichnet auch durchweg 
die Nebenwadis aus, während in den Haupttälern infolge 
der sich dort zeitweise ansammelnden größeren Wasser- 
fluten meist nur stellenweise dürftige Fettkräuter und 
Dornen ihr Dasein fristen, die von dem reißenden Wasser 
verschont geblieben sind. An vielen Stellen der Wadi- 
seitenhänge finden wir die Gehängeschotter, die ja meist 
aus Krustenbrocken bestehen, in Form ausgesprochener 
Wasserdejektionskegel angeordnet, die völlig festge- 
backen sind. In diese älteren Gebilde haben sich die 


jüngeren, kleinen Erosionsrinnen der heutigen Regen- 
wasser eingerissen. 

Richten wir nun unser Augenmerk auf das Wadi 
Geraui, in dem die alten Ägypter ein Stauwerk errichtet 
hatten, so erklärt sich die Anlage eines Stauwerkes nicht, 
wenn wir die jetzigen Regenmengen in Betracht ziehen, 





21 


154 Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen. 





da es wegen eines Regenfalles innerhalb mehrerer Jahre 
keinen Zweck hätte, solch mühsame Bauten auszuführen. 
Die Existenz eines Stauwerkes zeigt Wassermangel zur 
Zeit der alten Ägypter; aber sie mußten über mehr Wasser 
verfügen als jetzt, um es nutzbringend verwerten zu 
können. Ein beredtes Zeichen für die Klimaänderung 
Ägyptens geben ja auch die vielfach vorhandenen ver- 
steinerten Holzreste, die ebenfalls Feuchtigkeit zu ihrer 
Entstehung voraussetzen. So erhalten wir den Eindruck, 
daß sich eine langsame Klimaänderung vom Feuchten zum 
Trocknen im Niltale vollzogen hat. Daß zur Zeit der 
alten Ägypter ein sekundärer Maximalwert an Feuchtig- 
keit bestanden haben mag, dem das Stauwerk im Wadi 
Geraui seine Erbauung verdankt, erscheint gar nicht un- 
wahrscheinlich. In neuester Zeit ist das ägyptische Klima 
tatsächlich feuchter geworden, nachdem durch den großen 
Staudamm von Assuan die Felder länger mit Wasser ver- 
sorgt werden, und sich sowohl die Fläche des Frucht- 
landes wie die Dauer der Bewässerung vergrößert hat. 
Es muß darum zu den Zeiten, als der Moirissee (Birket 
Karun) und das ganze Fayum als großes Reservoir unter 
Wasser standen, der Feuchtigkeitsgehalt der Luft wie 
die Niederschlagsmenge gewachsen sein. 


II. Wadibildungen. 


Im vorangegangenen wurde versucht, eine Reihe von 
Erosionserscheinungen heranzuziehen, welche in uns den 
Eindruck erwecken, daß die Anlage der Wüstentäler der 
betrachteten Gegenden nicht durch dieselben Wasser- 
mengen geschaffen werden konnte, die heute existieren. 
Der Kampf, den das Wasser mit der Kruste führt, gab 
uns den Fingerzeig und ließ uns erkennen, wie in den 
Nebenwadis die Verkrustung den Sieg davonträgt, wäh- 
rend in den Hauptschluchten allein noch genügende 
Wassermengen zusammengebracht werden, die der 
Krustenwirkung ausreichenden Widerstand entgegensetzen 
können. Der Kampf entbrannte, als noch häufig sich 
Wasser in mächtigem Schwalle durch die Täler ergoß; 
die Kraft des Wassers erlahmte, und langsam gewann die 
Kruste die Oberhand. 

Betrachtet man auf einer ebenen Fläche die Entstehung 
eines Wadis, so fallen uns langgestreckte, gekrümmte 
Vegetationsstreifen auf, die sich in kleinen Senkungen 
hinziehen und bereits den späteren gewundenen Lauf 
eines Wadis darstellen (Abb. 8). Es sind dies Rinnen, 
in denen bei einem Regen das Wasser fließt, Tümpel 
bildet und so den Vegetationsstreifen entstehen läßt. 
Diese Pflanzen halten mit ihren Wurzeln die Feuchtig- 
keit länger, geben dadurch ihrer Umgebung die Möglich- 
keit, rascherer Verwitterung als die trockenen Partien 
und arbeiten somit für die zerstörende Wirkung chemi- 
scher Agenzien vor. An irgend einer Stelle bildet sich 
ein Überhang, Einbruchskessel weiten sich aus; ein Wadi 


beginnt kenntlich zu werden. Das Wesentliche scheint 
mir daran das Zusammenwirken von Vegetation und 
Wasser zu sein, welches bestimmte, langgestreckte Streifen 
der früher gleichartigen Wüstenfläche auflockert und 
durch subterrine Erosion späterer Verwitterung 
leichter zugänglich macht. Daß im Untergrunde der 
Wadis Wasser vorhanden ist, beweisen die Zisternen, die 
sich stets im Laufe von Tälern finden. Die Ausbildung 
in der jetzigen Zeit ist aber im wesentlichen durch 
Krustenverwitterung und Überhangsbildung gegeben. Die 
sich hieran reihende Schlußfolgerung, daß nun keine lang- 
gestreckten Täler, sondern kesselförmige Einbrüche ent- 
stehen müßten, trifft aber unter Berücksichtigung des 
soeben Entwickelten nicht zu. Betrachten wir die Ver- 
witterung in den Wadis genauer. Wir wissen, daß 
mächtige Blöcke durch Unterhöhlung herabstürzen, das 
Wadi erweitern helfen und nach ihrem Zerfalle als Ge- 
hängeschutt liegen bleiben. Es werden sich einerseits 
Kessel ausbilden, andererseits wird sich das Tal nach 
rückwärts einschneiden. Da aber das Gestein in der 
Rückwärtsverlängerung des \Wadis durch Vegetations- 
einfluß und subterrine Erosion für die Verwitterung vor- 
bereitet ist, so muß die Ausgestaltung des Wadis in dieser 
Richtung ungleich rascher fortschreiten. Es haben sich 
auch tatsächlich schon starke Kesselerweiterungen ge- 
bildet, und zwar in erster Linie dort, wo kleine Bachbette 
in das Wadi münden, was als selbstverständlich erscheint, 
wenn wir eine Prädisponierung für Verwitterung voraus- 
setzen dürfen. 

Außer dieser Anlage durch Wasserwirkung kommen 
natürlich auch andere geologische Momente in Betracht, 
wie verschiedene Gesteinshärte und Verwerfungen. Das 
Wadi Dugla z. B. läuft ein Stück in einer Verwerfungs- 
kluft, seine letzten, schon deltaartig verteilten Arme haben 
die Verwerfungsreihe sehr gut aufgeschlossen (Abb. 8: 
links geneigte Schichten, rechts horizontale). 

Im vorangegangenen war versucht worden, im An- 
schlusse an Betrachtungen über die Schutzkruste und 
ihre Wirkungen, über das Gegeneinanderarbeiten von 
Wasser und Rinde zu zeigen, daß in früheren Zeiten 
die Wasserwirkung, jetzt die Arbeit der Krusten- 
verwitterung maßgebend für das Relief der Wüste 
ist. Gleichzeitig aber sahen wir, daß Erosion und Ver- 
witterung Hand in Hand miteinander wirken, daß das 
Wasser vorarbeitet und auf gelockertem Boden die an- 
deren Kräfte eingreifen können. Und außerdem er- 
kannten wir den jetzigen Unterschied, der zwischen Haupt- 
und Nebentälern besteht; im Nebenwadi Anhäufung 
verwitterter Blöcke in mächtig getürmten Haufen, im 
Hauptwadi überwiegende Erosion und Transport 
des zertrümmerten Materials durch zeitweilig nach 
stärkeren Regen hier sich noch sammelnde Wasser- 
mengen. 





Die Brautwerbung der Balten und Westslawen'). 
Volkskundliche Streifzüge an der Ostgrenze Deutschlands. 
Von Prof. Dr. Tetzner. 


I. Die deutsche Ostgrenze beginntim Norden bei Nimmer- 
satt und durchschneidet hier den südwestlichsten Zipfel 
der lettischen Sprachinsel. Von Nimmersatt bis Dube- 
ningken durchwandern wir das litauische, und von da 


1) Vgl. Tetzner, Die Slawen in Deutschland. Heirats- 
gebräuche der Altpreußen, 8.22; der Litauer, 8.81 bis 85, 
58 bis 62; der Letten, 8.158 bis 160; der Masuren, 8.191 bis 
193; der Philipponen, 8.241 ff.; der Tschechen, 8.258, 262; 


bis zur äußersten schlesischen Südspitze polnisches Sprach- 
gebiet; und zwar in Ostpreußen masurisches, in Posen 
und in Schlesien polnisches. In Ostpreußen überwiegt 
auf der Linie Nimmersatt—Scheschuppe die litauische, 


der Mährer, 8.277 ff.; der Sorben, 8.305 bis 324, 343 ff.; der 
Polaben 8.368 bis 374; der Slowinzen, 8.429, 432 bis 436; der 
Kaschuben, 8.458 bis 461; der Polen, 8.485 bis 491. — Der- 
selbe, Die Slowinzen und Lebukaschuben, 8.58, 70 bis 82, 


Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen. 


155 





von dabis Wielitzken die deutsche, und nun so weit, bis 
die Oder eintritt, die masurisch -polnische Bevölkerung, 
die sich im äußersten Süden mit der tschechisch-mähri- 
schen im Kreise Ratibor mischt. In Masuren liegt auch 
das Philipponenländchen, dessen Einwohner ihrem Stamme 
nach Ostslawen, Weißrussen waren, die aber heutzutage 
durch Mischheiraten und nach Erlernen der deutschen 
und masurischen Sprache und wegen Aufgabe der alt- 
russischen Sitten sich in die westslawische Bevölkerung 
als ein Stamm besonderer Eigenart eingefügt haben. 
Wir finden an der deutschen OÖstgrenze sämtliche baltische 
und westslawische Stämme vereint oder benachbart und 
sollten meinen, daß volkskundliche Studien in diesem 
Gebiete recht erhebliche Eigenart der Stämme erweisen 
würden. Dies wäre nun, was das Volkstümliche angeht, 
zu prüfen, und da ist von vornherein festzustellen, daß 
natürlich die Sprache mit allem, was mit der Sprache 
zusammenhängt, jedem der erwähnten Völker und Stämme 
seine Grenze zieht und sein Gepräge gibt. Ein weiterer 
Untersuchungsgegenstand sind die Sitten und Gebräuche, 
insbesondere die Hochzeitsgebräuche. Und auf diese 
will ich näher eingehen, vorläufig nur auf die Werbungs- 
gebräuche. Heutzutage freilich sind die Unterschiede 
überhaupt nur in abgelegenen Orten zu finden. Es hat 
sich alles bereits so ausgeglichen, daß nur selten der 
eifrige Sucher etwas Eigenartiges entdecken kann. Das 
war vor 400 bis 600 Jahren anders. Die Leute, die 
damals über unsere Balten und Westslawen schrieben, 
ein Peter v. Dusburg (1326), Äneas Sylvius (1405 bis 
1464), insbesondere Simon Grunau (1524), Erasmus Stella 
(1518), Kaspar Hennenberger (1584 ff.), Balthasar Russow 
(1584), noch mehr Johann (1551) und Hieronymus Ma- 
letius (um 1560), taten sich etwas darauf zugute, Volks- 
tümliches barbarisch zu finden und zu schelten, und die 
folgenden Jahrhunderte haben bis an die Schwelle der 
Neuzeit daran festgehalten. Und so ist auch bei den 
meist von Pastoren herrührenden Schilderungen von Ein- 
horn (1649), Prätorius (um 1680), Lepner (um 1690), 
Schütze u. a., auch bei den weltmännischen Berichten 
von Äneas Sylvius, Herberstein (1557), Brand (1673) nie 
zu vergessen, in welcher Absicht die Veröffentlichung er- 
folgte, und daß ihnen die Objektivität, ja selbst oft der 
Wille zur Objektivität abging. Ich schweige ganz von 
den Fabeleien Grunaus und Stellas und setze den Bericht 
der beiden Maletius an die Spitze. Er ist in diesen 
Punkten nach Abzug der humanistisch - selbstbewußten, 
für Sabinus berechneten Worte wohl glaublich und er- 
streckte sich nach den beigegebenen Sprachproben auf 
Balten und angrenzende Slawen, insbesondere Weißrussen. 
Der Bericht ist auch insofern interessant, als er mit 
Dusburgs Bemerkungen für alle Zeit die Quelle für die 
Darstellung der baltischen Hochzeit bot, unter anderem 
bei Lukas David (1576), Kaspar Schütz (1592), Waisse- 
lius (1599), Hartknoch (1684), Lukanus (1748). Hiero- 
nymus Maletius stützt sich auf seines Vaters 1551 im 
Druck herausgegebenen Brief über die Opfer und den 
Götzendienst der alten Preußen, Liven und anderer Nach- 
barvölker, in dem es heißt: „Bei den Sudauern, Kuren, 
Schameiten, Litauern haben vielerorts die heiratsfähigen 
Mädchen eine Klingel (tintinabulum) am Gürtel bis zu 
den Knien herabhängen. Sie werden auch nicht in die 
Ehe geführt, sondern geraubt, nach Spartanersitte, wie 
sie Lykurg einführte. Geraubt werden sie aber nicht 
vom Bräutigam selbst, sondern von zweien seiner Ver- 
wandten. Und nachdem sie geraubt worden sind, dann 
erst wird — nach Einholung des elterlichen Jaworts — 
die Ehe geschlossen.“ Johannes Maletius fährt nun fort, 
die Hochzeit zu schildern, die mit der dreimaligen Führung 
der Braut um den Herd beginnt. Hieronymus hat diese 


Beschreibung fast wörtlich übernommen, doch so, daß 
bei ihm als Verlobungsbrauch erscheint, was der Vater 
als Hochzeitsbrauch aufführt. Auch sein Anfang lautet 
anders. Er schreibt in seiner „Warhafftigen beschreybung 
der Sudawen“ von jren sponsalien vnd verlöbnus, wie folgt: 


So einer begehrt eines Mannes Tochter, so gibt er sie 
ihm nicht vergebens, er muß ihm eine Mark oder zehn geben, 
nach seinem Reichtum; so er nicht Geld gibt, so gibt er 
einen Ochsen oder Getreide, er will sein Kind keinem Freund 
umsonst geben, er muß auch der Braut geloben, einen Borten 
und Mantel zu kaufen; wenn sie nun versagt ist, so bittet 
sie ihrer Freunde Frauen und Jungfrauen, auf daß sie mit 
ihr wehklagen, die Braut hebt sehr an zu weinen, darnach 
spricht sie: 


Oho, wer wird meinem Väterlein und Mütterlein ihre Bettlein 
machen, 

Wer wird ihnen die Füße waschen, wer wird ihnen die Füllen 
und des Viehes warten, o mein liebes Kätzelein, Hündelein, 
Hühnerlein, Gänselein, Schweinelein, Pferdelein usw. 

Wer wird euch Guts tun. 


Wenn dies alles gesagt ist, was im Haus ist, so nehmen 
sie ihre Freunde und führen die Braut zum Feuer, da spricht 
sie dann: 

Ocho moy myle Schwante panicke, das ist: 


O mein liebes heiliges Feuerlein, 
Wer wird dir das Hölzlein zutragen, 
Wer wird dich verwahren. 


Und für großem Leid beseicht sie sich, und wenn dies 
die Freunde sehen, so umfahen sie die Braut und sprechen: 


Oho mein liebes Freundlein, 

Mühe dich nicht so fast oder hart, 

Siehe dein Bläselein möchte dir zerbersten, 
Daß du nicht tüchtig wärest deinem Männlein. 


Wenn die Braut von heime ziehen soll, so schicket ihr 
der Bräutigam einen Wagen, und wenn sie auf die Grenze 
kommt, so kommt einer gerannt hinter einem Wagen und 
hat in der einen Hand einen Brand Feuer, in der andern 
eine Kanne mit Bier, und wenn er zu drei malen um den 
Wagen gerannt hat, so spricht er: 

Wie du in deines Väterleins Haus hast verwahret dein 
Feuerlein, so wirst du auch tun, so es dein eigen sein wird, 
— und schenket der Braut von dem Bier. 

Der Wagentreiber ist wohl geschmücket, der heißt auf 
ihre Sprache: Kellewesse! Wenn der Wagen für die Haus- 
tür kommt, so fället er eilends vom Pferd, und die im 
Bräutigams Hause seind, die schreien alle: Kellewesse perioth, 
Kellewesse perioth, d. h. der Treiber ist kommen, so läuft 
Kellewesse in das Haus, und alle aus dem Wagen. An der 
Haustür steht ein Stuhl mit einem Kissen und ein Handtuch 
darauf; so machen sie einen langen Reihen, da muß Kelle- 
wesse dadurch laufen, wird übel gerauft und geschlagen, zur 
andern Tür wieder aus; erwischet Kellewesse zum erstenmal 
den Stuhl, so gehört ihm das Handtuch, und tun ihm nichts. 
Danach empfahen sie die Braut, Kellewesse stehet auf, und 
die Braut wird gesetzt auf den Stuhl, und bringen ihr den 
Willkomm; wenn sie nun getrunken hat, so führet man die 
Braut um den Herd, Kellewesse bringt den Stuhl wieder, da 
wird sie wieder aufgesetzt, und waschen ihr die Füße, mit 
dem Fußwasser besprengt man die Gäste, Brautbett, Vieh 
und alles Hausgerät. Danach bindet man der Braut die 
Augen zu und schmieret ihr den Mund mit Honig und 
führet sie für alle Türen, die im Hause seind, dann spricht 
der die Braut führet: 


trenke, trenke, stoß an, stoß an, 


so stößet sie mit den Füßen an die Tür, einer geht hernach 
her mit einem Sack, darinnen ist allerlei Samen, als: Weizen, 
Roggen, Gerste, Hafer, Leinsamen, und streuets über die 
Braut vor allen Türen und spricht: 


Unsere Götter werden dir alles genug geben, 
So du wirst an unser Götter Glauben bleiben. 


Darnach tut man ihr das Tuch von den Augen, setzen 
sich zu Tisch, essen und trinken, tanzen darnach bis auf den 
harten Abend, wann die Braut soll zu Bette gehen; im Tanz 
kommt ihrer Freunde einer und schneidet ihr das Haar ab, 
die Weiber umher setzen ihr einen Kranz auf, mit einem 
weißen Tuch benähet; das heißen sie Abklopte”den träg 
sie, weil sie keinen Sohn zeugt, sprechend: 


Die Maidlein die du trägst, sind von deinem Fleisch, 
Trägst du aber ein Männlein, so ist deine Jungfrauschaft aus! 


21* 


156 Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen. 


Darnach führt man sie zu Bett und schlagen sie und 
bringen den Bräutigam und der Braut den Brauthahn, ge- 
bratene Bocksnieren oder Bärennieren, und zur Köstigung 
muß kein ausgeschnitten Vieh geschlachtet werden, auf daß 
sie fruchtbar miteinander bleiben. 

So barbarisch manches in dieser Schilderung klingen 
mag, so glaube ich doch, daß in derselben Gegend im 
vorigen Jahrhundert die Brautwerbung ganz ähnlich 
stattfand. Als nämlich 1834 die Philipponen in Ost- 
preußen ihre Dörfer angelegt hatten, ließ die Regierung 
durch den Mund der angesehensten Siedler die Sitten 
und Gebräuche jener Raskolniken bekunden und proto- 
kollieren. Onufri Jakublew, der angesehenste der Kolo- 
nisten, sagte folgendes über die Werbung und Ehe 
aus, und die anderen Vornehmen bestätigten Onufris 
Bekundung. „Die Ehe ist bei uns kein Sakrament; kein 
Priester als solcher hat dabei etwas hereinzureden. Ein 
Brautpaar muß bei beiden Eltern die Einwilligung zur 
Ehe einholen. Wenn die Eltern gestorben sind, gilt 
der nächste Verwandte als anzurufende Person. Die 
Eheschließung findet so statt, daß sich im Brauthaus das 
Brautpaar, die beiden Elternpaare und fünf Zeugen ver- 
einen, von denen mindestens einer schreiben kann. Einer 
der fünf Zeugen fragt den Bräutigam: „Willst du die 
NN heiraten?“ Nach des Bräutigams Ja erfolgt die 
gleiche Frage an die Braut. Der Vorgang wird dann 
von einem Zeugen zu Papier gebracht, des Inhalts, daß 
sich die betreffenden beiden ehelichen, sämtliche An- 
wesende unterschreiben oder unterkreuzen. Damit gilt 
die Ehe als vollzogen, Verlöbnis fehlt; Ehebruch gilt als 
schweres Verbrechen.* 

So sieht die philipponische Ehe 1834 auf dem Papier 
aus. Die Wirklichkeit war ein wenig anders. Onufris 
Sohn selbst stahl sich des Schönfelder Schulzen Tochter. 
Onufri zeigte die Sache der Behörde an. Aber das 
Mädchen bekundete, sie wollte bei ihrem neuen Manne 
bleiben, und schließlich versöhnten sich alle. In einem 
anderen Falle machten die Eltern eines geraubten Mädchens 
gleichfalls Anzeige, aber die Untersuchung ergab, daß 
der ganze Raub nur eine abgekartete Sache war. In 
einem dritten Fall wurde das Mädchen dem Brauträuber 
wieder abgenommen, in einem vierten wurde die Raub- 
ehe als rechtlich geschlossen von allen Parteien betrachtet, 
weil der Bräutigam mit der Braut Dach und Fach er- 
reicht hatte, ehe die Angehörigen der Braut des Paares 
habhaft geworden waren. Das Mädchen war überhaupt 
immer einverstanden. Und Gerß schreibt deshalb richtig: 

Wenn die Eltern ihre Einwilligung zur Heirat nicht 
geben, oder wenn der Bräutigam bei den Angehörigen des 
Mädchens Schwierigkeiten zu finden glaubt, oder wenn er 
sich jener oben angeführten Förmlichkeit nicht unterwerfen 
will, so begibt er sich nach dem Wohnorte der Braut, oder 
auf den Jahrmarkt, oder am Markttage in die nächste Stadt, 
wo er des Mädchens sich bemächtigt, sie auf seinen Wagen 
oder Schlitten setzt und mit ihr entflieht. Wird die Ent- 
führung von den Angehörigen der Braut entdeckt, so setzt 
man sofort dem Räuber nach, wird er nicht eingeholt und 
gelingt es ihm, unter ein Dach zu kommen, so wird die Ehe 
als vollgültig geschlossen angesehen; holt man ihn aber ein, 
so steht es den Angehörigen des Mädchens frei, die Braut 
wegzunehmen und den Entführer durchzuprügeln. Gewöhn- 
lich ist das Mädchen und manchmal sind auch die Eltern 
desselben von der Entführung schon zuvor unterrichtet 
worden, und sie setzen darum auch nur so nach, daß sie ihn 
nicht einholen. Die ganze Zeremonie findet auch gewöhnlich 
nur deshalb statt, um dem Ganzen eine gewisse Solemnität 
zu geben. Es geschieht aber auch manchmal, daß ein 
Mädchen von einem jungen Manne unversehens und ohne 
vorherige Übereinkunft geraubt wird, was ihr aber dennoch 
nicht unangenehm ist. Es ist möglich, daß aus diesem 
Grunde die Philipponenmädchen beinahe zu jedem Jahr- 
markte der Nachbarstadt, wo die meisten Entführungen ge- 
schehen, sich einfinden und sich hierbei, um die Aufmerk- 
samkeit der Jünglinge auf ihre Person zu lenken, mit großer 
Sorgfalt auszuputzen pflegen. 


Nach dem Raube, so sagen die Philipponen, pflegt der 
Entführer vor dem Staryk zu erscheinen mit den Worten: 
„Verzeiht, heiliger Vater, daß ich sündiger Mensch aus Not 
mir ein Weib mit Gewalt geholt habe.“ — Und der heilige 
Vater pflegt dann, nachdem er dem Sünder Buße auferlegt 
hat, nicht nur zu verzeihen, sondern gewöhnlich auch als 
Vermittler zwischen ihm und den Schwiegereltern aufzu- 
treten, wenn der Raub ihrer Tochter nicht nach ihrem Sinn 
gewesen war. Die wider Willen der Eltern geschlossenen 
Ehen bleiben immer fortbestehen. . 

So widersprechend Onufris und Gerßens Bericht er- 
scheinen, so sind beide doch nur gegenseitige Ergänzungen, 
und wenn wir nur einen Bericht hätten, kämen wir zu 
keinem richtigen Urteil. So wäre auch des Maletius Be- 
trachtung aufzufassen. Wir erhalten hierbei einen wert- 
vollen Einblick in die sogenannte Raubehe überhaupt. 

Die gefühlvolle Mutter kann noch heute zum Aus- 
druck bringen, daß ihr die Tochter von einem fremden 
Manne geraubt worden ist. Es gibt noch heute genügend 
Beispiele dafür, daß die Mutter oder der Vater das 
Mädchen, das in der Wirtschaft unentbehrlich ist und 
nötig gebraucht wird, nicht heiraten lassen wollen, und 
daß die Tochter gern frei sein will und mit Rückert 
denkt: „Ach wenn doch wer käme und mich mitnähme.“ 

Wie war das aber erst in früherer Zeit, als der 
Reichtum eines Bauern zum guten Teil in Arbeitskräften 
bestand, wo jeder Verlust eines Mädchens im Dorf der 
Verlust zweier Arbeitshände war! Wenn man im Kriege 
Gefangene machte, erwarb man Arbeitskräfte, und die 
Verteilung der erbeuteten Mädchen wird wohl auch unter 
diesem Gesichtspunkt angesehen worden sein und nicht 
immer unter dem im ersten Gesang der Iliade (Achill- 
Briseis) bekundeten. Sahen nun die Dorfgemeinschaften 
den Verlust eines Mädchens als Einbuße am Gemein- 
eigentum an, so hat sich der Gedanke auf vielen Dörfern 
noch jetzt erhalten. Manche Dörfer halten die gesamten 
Dorfschönen für ihr gemeinsames Eigentum; kommt ein 
Fremder auf den Tanzsaal oder sucht er gar mit den 
Mädchen anzubändeln, so wird er seine Kühnheit bald 
am eigenen Leibe büßen, falls er sich nicht durch eine 
Bierspende gewissermaßen einkauft. Hielten ja die 
Innungen auch daran fest, daß ein fremder Innungs- 
genosse für seine Aufnahme in die Stadt und die Stadt- 
innung einen recht beträchtlichen Preis zahlte. Daß die 
Raubehe bei irgend einem monogamen Volk Sitte ge- 
wesen sein kann, ist vollständig ausgeschlossen. 

Keine Gemeinschaft kann eines alle schützenden Ge- 
setzes entbehren. Die Beispiele Arminius - Thusnelda, 
Paris-Helena, David-Michal (auf dieses berufen sich die 
Philipponen gern) sind schon zu ihrer Zeit als Aus- 
nahmen betrachtet worden, als verwegene Taten, wie sie 
auch heute noch vorkommen. Und schon Herodot be- 
kundet im Anfang seiner Aufzeichnungen, daß man da- 
mals nicht anders als heute dachte. Die Frauen wären 
nicht geraubt worden, wenn sie nicht damit einverstanden 
gewesen wären. Der Brautraub hatte jedenfalls in den 
Zeiten, von denen unsere Quellen berichten, den Schrecken 
eingebüßt und wurde bei derberen Sitten beinahe als 
Zeremonie angesehen. Wenn das Wort Raub nicht 
dabei stände, würde man kaum in des Maletius Bericht 
etwas von Raub merken, es war nicht viel mehr als eine 
abgekartete Geschichte. Höchstens ersonnen, um das 
Brautkaufgeld zu sparen oder doch selbst bestimmen zu 
können. Die gekaufte Frau fühlte sich durchaus nicht 
als Sklavin oder Ware; man nimmt zu gern den Scherz 
der Dainos für Ernst. Und wie sagt doch schon Brand von 
den lettischen Mädchen ? Er führt die kurische Daina an: 

„Zittre, zittre, fremdes Mädchen 
Unter meinem Mäntelchen. 


Warum hast du nicht gezittert, 
Als du mir die Hand gegeben.“ 


Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen. 


157 





„„Heb dich auf, du feiner Sohn, 
Laß mich unter dich kriechen !** 
„So will ich dich bezahlen, 
Dieses Sommers reitend.“ 


Das Mädchen soll „geraubt* werden, nachdem der 
Jüngling den Händedruck für Annahme der Werbung 
angesehen hatte. Da sie nun aber zu zittern scheint, 
und der Werber die Braut zum Gespräch herausfordert, 
erklärt sie sich ihm als die Seine. Da versichert der 
Bräutigam, das Kaufgeld gern bezahlen zu wollen. — 
Wenn Johannes Maletius den Brautraub von zwei Ver- 
wandten des Bräutigams ausführen läßt, so hat Paul Ein- 
horn schon einen ausführlichen Ritus festgestellt: Der 
Bräutigam geht mit etlichen seiner guten Freunde zur 
Braut und deren Eltern, gibt einen anderen Grund des 
Kommens kund und wird gut empfangen und auf- 
genommen und bewirtet. Einer wartet draußen bei den 
Pferden, das erzählt man beim Essen. Da wird die 
Braut aufgefordert, den Harrenden hereinzuholen. Sie 
geht, wird ergriffen und fortgeführt. Und schließlich 
geben die Eltern ihre Einwilligung. 

Hasentöter meint, die liefländischen Bauermädchen 
würden vom Bräutigam und seinen Freunden in der Nähe 
des Hauses belauert, auf einen Schlitten geworfen und 
entführt. Die Angehörigen der Braut eilten mit Spieß 
und Schwert hinterdrein. Entsteht nun ein Kampf, so 
wird schließlich das Paar eine Nacht zusammengelassen, 
und dann bestimmt das Mädchen, ob sie beide beieinander 
bleiben wollen. Schon Brands Herausgeber bezweifelt 
aber 1702, daß dies allgemein gewesen sei. Hören wir 
doch schon von Dusburg, daß die Preußen ihre Weiber 
„gemäß alter Gewohnheit und nach überkommenem Brauch 
bis heute für eine gewisse Summe Geldes kauften“. Daher 
käme auch die Magdstellung der Frau, sie äße nicht mit 
am Tische u. dgl. Wenn Dusburg noch lebte, könnte er 
das letztere noch heute hier und da beobachten, ohne 
daß deshalb die Frau eine Magdstellung darin sähe. Die 
Kaufehe in Preußen bezeugt neben Hieronymus Maletius 
auch sein Zeitgenosse Lukas David mit ähnlichen Worten 
und dem Zusatz, daß statt Geld auch Ochsen und Ge- 
treide gegeben werden. Bei der Kaufehe war noch kenn- 
zeichnend das Fehlen des Bräutigams bei der Ver- 
lobung, wie dies Maletius bei den Preußen, Hupel bei 
den Letten, die Dainos bei Letten und Litauern schildern. 

In historischer Zeit ist also bei den Balten und Weiß- 
russen „Raubehe“ mehr Ritus als Raub gewesen, und 
die Kaufehe sehen wir noch vor unseren Augen bestehen 
oder in mildere Formen übergehen; doch so, daß der 
Käufer nicht immer der Bräutigam, die Bezahlten nicht 
immer die Brauteltern sind. Bei ärmeren Volksstämmen 
ist es allerdings meist noch ganz so. Bei gewissen 
Stämmen der baltischen wie der westslawischen Be- 
völkerung, beispielsweise bei Slowinzen und Nehrungs- 
letten, dient der Bräutigam, wie weiland im Alten Testament 
in des Schwiegervaters Haus als tüchtiger Fischer jahre- 
lang um die Braut. Die Gelegenheit muß abgewartet 
werden, bis beide wirtschaftlich selbständig sind und 
etwa das Häuschen übernehmen können. Die Auslese 
vollzieht sich nicht nach den Gesetzen der Schönheit, der 
Gesundheitslehre u. dgl. Man will frühzeitig in der Lage 
sein, Kinder zu haben, die das Fischergewerbe mit seiner 
aufzehrenden Kraft rüstig fortsetzen, das Väterliche 
übernehmen und nach altem Herkommen verwalten 
können. Bei wohlhabender Bevölkerung aber sieht der 
Bräutigam laut Berichten des 16. und 17. Jahrhunderts 
schon recht sehr auf Mitgift oder vielmehr, die Ver- 
wandten erwägen die gegenseitigen Güter und eine 
standesgemäße Ehe durchaus. Bei den Russen geschah 
dies laut Herberstein, Warbotsch u. a., noch bevor sich 


Braut und Bräutigam gesehen hatten. Für die Litauer 
haben Brand, Prätorius und Lepner ausführliche Berichte 
geliefert. Letzterer schreibt: 


Von der Litauer Freischaft. 


Wenn die erwachsene junge Littausche Kerdel (welche 
sie Barsdutus, Bärtige, nennen) heyrathen wollen, sehen sie 
auf ein gutes wohlhabendes Gehefte, auf gesehende Freund- 
schaft und insgemein auf eine Gleichheit. Als wird kein 
Sohn des Erbes leicht eine Dienst Magd freyen (usw.). Wenn der 
Vater siehet, daß ihm zu seinem Ackerbau und Leistung des 
Schaarwerks ein Arbeiter fehlet, oder auch die Tochter nicht 
gesucht wird zur Freyschaft, so schickt er einen Freys-Mann 
in ein Hauß, und lässet um einen Schwieger-Sohn werben, 
erhält er abschlägige Antwort, welche nicht geachtet, oder 
von ihm vor einen grossen Schimpf gehalten wird, so schickt 
er weiter. Bisweilen nimmt er auf die andere Tochter auch 
einen Schwieger-Sohn und schaffet ihm ruhige 'Tage, denn 
ein Schwieger-Sohn muß wie ein Knecht arbeiten, und be- 
kommt davor keinen Lohn als nur Kleider und etzliche 
Plätzgen Haber und Lein zu säen. Oefters halten sie Söhne 
bey sich und geben ihnen Weiber, wie denn im hiesigen 
Kirchspiehl vor wenig Jahren ein Stein-alter Mann ver- 
storben, welcher drey seiner Söhne bey sich hatte, da 
wimmelte es von den Kindern dieser Söhne. Die Schwieger- 
Tochter (Marte) muß gleich einer Magd arbeiten, und be- 
kommt davor nur ein Plätzgen Lein zu säen, davon bespinnet 
sie sich, ihren Mann und ihre Kinder. Jemehr die Littauer 
Arbeiter im Hause haben, je besser stehet es um sie. Auch 
schicket eine Wittwe einen Freys-Mann aus, ihr einen andern 
Mann zu freyen, welches ihr nicht schimpflich ist. Man 
muß sich aber verwundern über die Einträchtigkeit dieser 
Leuthe. Bey den deutschen Bauern und andrer Gelegenheit 
Leuten gehet solches nicht an; da kan selten ein Vater mit 
einem Sohn in einem Hause leben; dafern der Vater dem Sohn 
zur Hand gehet, so geschicht es doch nicht von der Schwieger- 
Tochter. So eine Beschaffenheit hat es nicht, wenn der 
Littauer einen Schwieger-Sohn in sein Hauß nimmt; unter 
ihnen blühet die Einträchtigkeit und der Gehorsam. Auf 
diese Art wird der Acker gut bearbeitet, der Herrschaft die 
Pflicht geleistet. Sie erhalten durch zusammengesetzte Arbeit 
(ohne was das Spinnen betrifft) sich miteinander, die Kinder, 
insonderheit die Töchter werden versorget, und dürffen nicht 
veralten. Die Stief-Väter und Stief-Mütter werden von denen 
Kindern nicht groß geachtet, und nur beym Nahmen ge- 
nennet. Stirbet die Mutter, und der Stief-Vater überlebet 
sie, muß er zum Hause heraus, und erhält nur sein Ein- 
gebrachtes, und sonsten ein weniges, so gehets auch der 
Stief-Mutter. Die Werbung aber in der Littauer Freyschaften 
geschieht in folgender Gestalt: Der Bräutigam bittet den 
Freys-Mann (Pirszlys), er möchte die Eltern der Braut grüssen 
und sie befragen: Ob sie ihm wolten ihre Tochter zur Ehe 
geben. Dieser reitet gleich der Sonnen Aufgang, oder wohl 
auch vor derselben, und bringet sein Wort kurtz bey; Biß- 
weilen wird er von den Eltern zum Sitzen genöthiget, bis- 
weilen auch nicht, allemahl aber muß er ohne eintzige Ant- 
wort auf seine Werbung zurück reiten, doch bringet er einen 
gemeinen Gruß mit. Wenn ein paar Tage verflossen sind, 
kommt der Freysmann wieder und spricht: Er grüsse das 
Hauß von des Freyers Hause; Er sey ein Swetzas (Gast) ge- 
sandt vom Bräutigam, und setzt die vorige Worte darzu. 
Wollen die Eltern ihm die Tochter nicht geben, so sprechen 
sie, er möchte nur nicht mehr reitens machen, sondern eine 
andere suchen, diese werde er nicht erlangen; die Ursache 
des Absagens wird nicht hinzu gesetzet. Und dieses nehmen 
sie, wie schon gedacht, nicht eben für einen sonderlichen 
Schimpf auf, als andere Völcker, welche nicht gern einen 
Korb vorliebnehmen. Belieben sie den Bräutigam, so wird 
ihm Essen und Trincken gegeben, und also wird er in etwas 
aufgenommen, doch empfängt er das Ja-Wort noch nicht (so 
schöff halten sie sich, zum Schein mit ihrer Waare, welcher 
sie doch öfters wünschen loß zu werden), doch wird ihm 
gleichwohl ein Tag zu seiner Wiederkunft angesetzet. Wenn 
dieselbe geschiehet, wird er gefraget, wie die Braut oder der 
Schwieger-Sohn inskünftige soll gehalten werden, wie viel 
Acker den künftigen Ehe-Leuten zu ihrer Aussaat, an Lein- 
Saat und Haber von den Eltern werde gegeben werden? 
Denn wird dem Freys-Mann ein Schnupf-Tuch gegeben, von 
der Braut selbsten, dafern sie nieht blöde ist, und zum Vor- 
schein kommet, sonsten verrichtet es die Mutter. Der Freys- 
Mann hat auch ein solches Tuch bey sich, und giebts der 
Tochter oder der Mutter; dem Freys-Mann wird auf seinem 
Stab ein Würtzgen gebunden, ingleichen zwey Handtücher, 
welche er um den Leib bindet, wie auch ein Würtzgen, 
Schnupf-Tuch und Hosenbänder gegeben, welches alles er zu 


158 Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen. 





sich nimmt. Sein Pferd wird im Sommer mit allerley Kraut, 
im Winter aber mit Kletten und alten Lumpen behangen. 
In solcher Zierrath, mit solchen Freuden-Zeichen, kommt der 
Freys-Mann voller Wonne in des Bräutigams Hauß und bringt 
dem Bräutgam die Hoffnung zur Heyrath, denn bishero hat 
er zwischen Furcht und Hoffnung leben müssen. Er über- 
liefert das eine empfangene Handtuch des Bräutgams Eltern, 
das andere behält er vor sich, und das Schnupf-Tuch mit 
den Hosenbändern und Würtzgen dem Bräutigam (diese Ge- 
schenke nennen sie die Zeichen, denn sie gebrauchen sich 
keiner Ringe, als in der Trauung, welches sie von den 
Deutschen werden angenommen haben), und läst sich mit 
Essen und Trincken bewirthen. Darauf führet der .Bräuti- 
gam mit seinen, und die Braut mit ihren Anverwandten in 
die Kirche zur Predigt. Nach verrichtetem Gottes-Dienste 
gehen sie alle in den Krug (i zwalgu zum Anschaun, oder 
vielmehr, damit sie miteinander bekannt werden), und sauffen 
einander lustig auf die Haut. Darauf wird von beiderseits 
Eltern die Verlöbniß (welche sie Uzgertuwes, das Zutrinken 
oder die Daribas, die Behandlung nennen, wiewohl diese 
Wörter von etlichen unterschieden werden) bestimmet. Wann 
die Zeit heran kommt, wird erstlich in des Bräutigams Hause 
von dem Freyes-Mann und etzlichen Kerdels, so dem Bräuti- 
gam verwandt sind, und mit ihm zur Braut reiten wollen, 
ein paar Tage gezechet. Der Braut Bruder, oder der nechste 
Freund, welcher bei dem Bräutigam mit gesoffen, reitet 
voran zu dem Hause der Braut, und bringet Rauten-Krantz 
und ein Stutzgen mit Raut bewunden. Die Braut kommt 
diesem entgegen, begleitet mit Mägden und Weibern. In 
das Stutzgen wird Trincken eingeschencket, und der Braut 
Bruder (welcher jetzt von seinem Amte Uzgerys der Zu- 
trincker genennet wird) trincket der Braut, seiner Schwester, 
zu, sie thut bescheiden, und trincket einer von ihren Ge- 
fehrten zu, unterdessen kommt der Bräutigam, der Freyes- 
Mann und ihr gantzer Trop. Diese werden alle hinein und 
am Tisch genöthiget; der Freyes-Mann bedancket sich gegen 
der Braut Eltern, daß sie so günstig gewesen seyn, und dem 
Bräutigam die Braut zu geben versprochen, und bittet, daß 
die Braut, welche sich ihnen entzogen, möchte zugegen seyn, 
und dem Bräutigam sprechen. Diese kommt nach ihrer Art wohl- 
bekleidet und geschmücket mit einem Krantz auf dem Haupt. 
Der Bräutigam giebt ihr die Hand, und diese wiederum ihm, 
nebst einem Tuch, beyde küssen sich. Diese beyde geben allen 
am Tisch sitzenden, die Hände. Braut und Bräutigam werden 
grad über gesetzet, jene mit ihren, dieser mit seinen Freunden. 
Die Braut hat ein paar Mägde um sich. Sie wechseln den 
Sitz um, die Braut schencket dem Bräutigam ein Hembde, 
dieser erwiedert solche Gabe mit Gelde oder einem andern 
Geschencke. Ehe Bräutigam und Braut vom Tisch aufstehen, 
nimmt ein jeder ein Kauszelis (ist ein kleines höltzernes 
Gefäß) mit Littauschen Bier gefüllet in die Hand, beyde 
trincken einander zu und giessen das letzte von dem Getränck, 
davon ziemlich viel überbleiben muß, einer dem andern in 
die Augen, davon die Beysitzer besprenget werden. Ist eine 
schöne Bäurische Höflichkeit! Die Gäste bleiben eine Nacht, 
der Bräutigam aber ein paar Nächte durch auf dem Ver- 
löbniß, welches also sein Ende erreicht. Nach diesem er- 
suchet der Bräutigam etliche mahl die Braut um einiger 
Ursachen willen, insonderheit, damit die Verlobte sich nicht 
eigenthätig, da öfters aus geringer Ursache ihnen eine Reue 
ankommet, trennen mögen, müssen die Eltern die künftge 
Verlobung dem ordentlichen Pfarrern ansagen, bei Straf 
8 Marck der Kirche zu gut. Wie solches die Kirchen-Recesse, 
so nach gehaltener Visitation der Kirchen in den Littauschen 
Aemtern, welche im Jahre des Heyls 1639 durch den Druck 
von der hohen Herrschaft gegeben seyn, ernstlich haben 
wollen. Weil man aber bemercket, daß dennoch die Ver- 
lobungen der Littauer unter sich öfters allerhand Unrichtig- 
keit nach sich ziehen, und nicht wollen gehalten werden; 
Als haltens die meisten Pfarrer dieses Amtes, und ich mit 
ihnen also: Daß die Erklärung ihres Ehe-Wercks in der 
Widden geschiehet, vor dem ordentlichen Pfarrer, welcher 
sich um die Zulässigkeit dieses Wercks erkundiget, ihnen 
vorstellet, was sie vor ein wichtiges Werck vorhaben, und 
wie viel an dem Ja-Wort gelegen sey, und daß selbiges nach- 
mahls nicht könne zurück gezogen werden. Wenn die, so es 
angehet,. bey ihrem Ja-Wort bleiben, geben Bräutigam und 
Braut einander die Hände, und diese hernachmahls dem 
Pfarrer und andern Anwesenden. Es ist aber zu bemercken, 
daß die Art zu Freyen, Werben und Verlöbniß zu halten, 
an vielen Oertern mancherley sey, und ich nur dieselbe be- 


Denn 


rühret, welche in meinem Kirchspiel in Brauch ist. 
es melden auch obbemeldete Kirchen-Recesse in der Ab- 
theilung von Freyschaften, Verlöbnissen und Hochzeiten, daß 
durch die Werber erstlich geschehe die Besichtigung, dar- 
nach die Anmeldung, zum dritten die Werbung, dann aller- 


erst die rechte Verlöbniß. Hie sollte jenes statt haben: 
Quod fieri debet per pauca, non fiat per plura. Was man 
mit wenigen kann verrichten, daß soll durch viel nicht ge- 
schehen. Doch fällt bey den Wohlhabenden nur solche Weit- 
läufigkeit vor, von den Armen geschiehet die Verlobung auf 
einmahl bey wenigen Essen und Trincken, und die Hochzeit 
im Kruge, kurtz genug. 


Eine einfachere — polnische — Brautwerbung vor 
100 Jahren, die aber bis auf den dreifachen Besuch 
des Freiwerbers und die üblichen Geschenke an vielen 
Orten alles Wesentliche enthält, schildert Pohl mit fol- 
genden Worten: 


Der Brautwerber nimmt einige Männer mit sich, welche 
im Dorfe allgemeines Vertrauen genießen, sie verfügen sich 
spät am Sonnabend zu dem Hause des Mädchens, und die 
Eltern laden eine Gesellschaft zusammen, ¥0 gut es in der 
Eile geschehen kann. Wenn die Gäste recht lebhaft ge- 
worden, nimmt der Wortführer eine Flasche Met und einen 
Becher aus dem Korbe und trinkt den Eltern oder Ver- 
wandten des Mädchens zu; nach diesem füllt er ihn aufs 
neue und gebietet dem Werber, ihn dem Mädchen zuzu- 
trinken, wobei er folgende Reime spricht: 


Fleißig wie der Biene Leben 
Ist das Ackerleben, 

Und süß wie der Honig 

Ist der Ehestand. 


Nimmt nun das Mädchen den Becher an, welches natür- 
lich vorher mit den Eltern besprochen worden, so ist damit 
das Jawort gegeben; verweigert sie ihn und entfernt sich 
aus dem Zimmer, so stimmen die anwesenden Burschen und 
Mädchen das Freierlied an, der Werber geht beschämt von 
dannen, aber der Wortführer bleibt, weil die Eltern zum 
Zeichen der fortdauernden Freundschaft den Becher an- 
genommen. In solchem Falle wird die allbekannte Redensart 
gebraucht, das Mädchen habe den Werber nach Dreikraut 
geschickt (poszle za trojzielem). Bei dem Jawort findet das 
Aufbieten und die Verlobung nach einer fröhlich durch- 
zechten Nacht sofort am Sonntage statt. 


Das Freierlied heißt: 


An die schlanke Fichte 
Setzten sich drei Vögel, 

Und zum schönen Mädchen 
Kamen drei Jünglinge. 

Du bist mein, so spricht der eine, 
Und der andre: Sei nicht hart! 
Und der dritte: So Gott will, 
Kommst du in mein Haus. 


Und das Mädchen lacht sie aus 
Und versetzte ihnen: 
Meine Mutter, die hat mich 
In der Milch gebadet. 


Von dem Monde ließ sie nur 
Meine Augen schauen, 
Und die Blumen ließ sie nur 
Meinen Busen küssen. 


Doch wollt schöne Knaben ihr 
Mich zum Weibchen haben, 
Dann müßt ihr zum Sonntagsfest 
Mir drei Sachen bringen. 


Und der erste der soll mir 
Milch von Vögeln schaffen, 
Und vom Monde soll der zweite 
Einen Strahl mir holen. 


Und der dritte soll noch heut 
Über Meere reiten, 

Und zur Hochzeit einen Kranz 
Mir von Dreikraut bringen. 


(Schluß folgt.) 





Junghans: Das Wiederaufleben des sächsischen Zinnbergbaues. 


159 


Das Wiederaufleben des sächsischen Zinnbergbaues. 


Von Werner Junghans. 


Allenthalben hört man im Erzgebirge von dem wieder- 
aufgenommenen Zinnerzbergbau, besonders vom Geyer- 
schen „Zinnstockwerk* Erfreuliches. Mitte Mai waren 
gute Erze angefahren worden, ebenso wie im Januar. 
Als ich die Grube befuhr, hörte ich, daß man diesen 
August oder September den Abbau beginnen würde, da 
sehr gute Erzkörper in drei Versuchsstrecken angefahren 
waren. 

Weiter konnte man kürzlich lesen, daß eine englische 
Gesellschaft im Freiwalde bei Ehrenfriedersdorf und im 
Saubergschachte zu Ehrenfriedersdorf Aufschlußarbeiten 
vornimmt. 

Vor zwei bis drei Jahren wurde der Römerschacht 
zu Altenberg auf Zinn wieder betrieben, und in Zinnwald 
wurde die Grube „Vereinigtfeld“ in Betrieb gesetzt, zu- 
erst oberirdisch, dann aber auch unterirdisch. Ober- 
irdisch baute man die alten Bergwerkhalten auf ihren 
Wolframgehalt ab, den die alten Bergleute noch nicht 
zu schätzen wußten. Dann hörte man, daß auf dem 
böhmischen Revier von Zinnwald ein Schacht „Segen 
Gottes“ niedergebracht worden sei und man den Betrieb 
unter Tage eröffnet habe. 

So sieht man, daß in neuester Zeit in den vier 
erzgebirgischen Zinnrevieren Geyer, Ehrenfriedersdorf, 
Altenberg und Zinnwald der Bergbau wieder aufge- 
nommen worden ist. Der Grund dafür ist der hohe 
Preis für Zinn und dann die Seltenheit von Zinnvor- 
kommen. Denn Zinn wird außer in Sachsen und dem 
böhmischen Erzgebirge nur noch in Schaggenwald bei 
Marienbad, das auch in einem durch die Erzgebirgshaupt- 
verwerfung abgetrennten Stück Erzgebirge liegt, in Eng- 
land, auf einigen Inseln des Malaiischen Archipels und 
in den Malaienstaaten Malakkas gefunden. Infolge dieses 
geringen Angebots und der regen Nachfrage der modernen 
Metall- und Elektrizitätsindustrie stieg der Preis so stark, 
daß die verlassenen alten sächsischen und böhmischen 
Reviere wieder abbauwürdig erschienen. Allerdings sind 
alle vier Reviere nicht von großer Ausdehnung, und das 
Zinn scheint nicht zu besonders großer Teufe herabzu- 
steigen. Beides liegt in der Natur des Zinnvorkommens. 

Das Vorkommen der Zinnerze hängt wesentlich mit 
der ehemaligen Tätigkeit eines gewissen Vulkanismus zu- 
sammen. Da die Zinnerze des Kontinents auf das Erz- 
gebirge (und ein ihm verwandtes Gebirge) beschränkt 
sind, so muß dieser Vulkanismus auch mit dem Wesen 
des Gebirges zusammenhängen. Das ist auch durch die 
neuesten Untersuchungen des Leipziger Geologen Dr. 
Gäbert über die Genesis des Erzgebirges klar dargelegt 
worden. Um die Entstehung der Zinnerze zu erklären, 
muß man daher erst die Genesis des ganzen Gebirges 
kennen. 

Das Erzgebirge besteht in der Hauptsache aus Gneis 
und einer peripheren Glimmerschiefer- und Phyllitzone. 

Der Gneis hat die Eigentümlichkeit, in verschiedenen 
Kuppeln aufzutreten:in der Freiberger, Saydaer, Katharina- 
berger, Annaberger und Marienberger Kuppel. Bei ver- 
schiedenen dieser Kuppeln kann man beobachten, daß die 
zentralen Teile granitisch ausgebildet sind, während das 
Gestein allmählich gegen die Peripherie hin gestreckter 
wird. Daraus folgt, daß die erzgebirgischen Gneise 
granitischer, plutonischer Natur sind. Die verschiedenen 
Kuppeln sind granitisches, erstarrtes Magma. Das ganze 
Gebiet liegt auf einem ehemaligen Herd plutonischer 
Tätigkeit. Dabei scheint die Tätigkeit des Vulkanismus 
ähnlich wie die Gase in einem Topfe dicken Breies ge- 


wirkt zu haben, indem der Brei sich zu Blasen ent- 
sprechend den verschiedenen Kuppeln bläht, wobei natür- 
lich durch das Blähen die oberste Schicht am gestrecktesten 
ausgebildet wurde, während die zentralen Teile, die die 
Denudation und Erosion jetzt freigelegt hat, noch das ur- 
sprüngliche Gefüge zeigen. 

Als später dieses aufgeblähte Magma erstarrt war, 
konnte das noch darunter flüssige sich nicht hindurch- 
brechen. Es suchte daher die schwachen Stellen, nämlich 
an der Peripherie heraus. So haben wir Eruptionsmassen, 
die jünger als der Gneis sind, als Granite bei Kirchberg 
und Eibenstock, bei Aue, Ehrenfriedersdorf, Geyer, 
Bobritsch, Dohna, Gottleuba, endlich bei Altenberg, Zinn- 
wald, Schellerhau und Fley, als Porphyre bei Augustus- 
burg, Chemnitz, Flöha, Siebenlehn, Tharandt, Hainsberg 
und die ungeheure Porphyrmasse des Teplitzer Porphyrs, 
die sich von Graupen bis Ob.-Frauendorf bei Dippoldis- 
walde erstreckt und in Gangschwärmen noch den ganzen 
erzgebirgischen Ostflügel durchsetzt. Das Vorkommen 
von Zinnstein ist nun an einige dieser peripheren Aus- 
bruchsstellen besonders gebunden, und zwar an die von 
geringer Ausdehnung, nämlich an den bekannten Orten 
Zinnwald, Altenberg, Geyer und Ehrenfriedersdorf. So 
ist das Verhältnis der Bergwerkdistrikte zu der Gebirgs- 
tektonik. 

Dem Alter nach sind die Granite stets jünger als das 
umgebende Gestein. 

Merkwürdigerweise hat jedes Vorkommen etwas Be- 
sonderes an sich, so daß jedes für sich beschrieben werden 
muß; nur einiges Gemeinsame gibt Anhaltspunkte zu 
einer Einteilung in drei Typen: den Zinnwald-Geyerschen 
Typ, den Altenberger und den Ehrenfriedersdorfer. Die 
beiden letzten Arten der Lagerstätten kommen allerdings 
untergeordnet auch bei dem ersten Typ vor, so daß der 
erste Typ als der allgemeinste, alle Vorkommenarten 
umfassende erscheint. Daher möge er zuerst beschrieben 
werden. 

Die Granite von Zinnwald, wie von der Binge zu 
Geyer haben eine minimale Ausdehnung (von etwa 200 
bis 300m). Sie zeigen sich als steile Kegel, die (mit ab- 
geschnittener Spitze) in das Muttergestein so eingelassen 
sind, daß sie in der Teufe sich verbreitern. Man kann 
sich leicht das Eindringen der glutflüssigen Masse in das 
umgebende Gestein vorstellen, das bei Zinnwald Teplitzer 
Porphyr, bei Geyer Glimmerschiefer ist. Diese Gesteine 
sind durch den nach oben dringenden, glutflüssigen Granit 
etwas verändert worden, was man besonders bei dem 
Glimmerschiefer in Geyer sehen kann. Aber auch der 
erstarrte Granit hat sich verändert. Er hat sich ganz 
merkwürdig an seinen Kontaktstellen mit den Neben- 
gesteinen ausgebildet, nämlich zu dem sogenannten Stock- 
scheider, einem granitischen Gesteine, das von großen 
Feldspatkristallen durchschossen ist und das Zinnstein 
führt. Oft umschließt der Stockscheider losgerissene 
Stücke von Glimmerschiefer oder Porphyr. Der Granit 
hat bei dieser Abkühlung an dem umgebenden Gesteine 
eine Umwandlung erfahren, indem der Feldspat durch 
Topas und andere Fluorverbindungen, eine komplizierte 
Glimmerart und diverse Erze, besonders Zinnstein (Sn O3), 
verdrängt wird. Dieses Gestein heißt Greisen. Bei 
seiner allmählichen Abkühlung entstanden senkrechte 
und wagerechte Klüfte im Granit. In diese drangen die 
erzhaltigen Gase aus der Teufe hinauf und erfüllten sie 
bei ihrer Abkühlung mit den Erzen. So entstanden 
saigere (senkrechte) und schwebende (wagerechte) Gänge. 


160 


Anthropologische Indices. 





Die letzten werden auch Flöze genannt. Während die 
saigeren nur selten (wie in Geyer) eine bestimmte Rich- 
tung einhalten, scheinen die Flöze schildförmig gebogen 
zu sein. Beide Arten werden von mit Zinnstein impräg- 
niertem Greisengestein begleitet, dem sogenannten Zwitter- 
gestein. Dieses ist desto reicher an Erz, je ärmer das 
Flöz ist, und umgekehrt. Man denkt sich die Ent- 
stehung so, daß das Gas in den saigeren oder stehenden 
Gängen in die Höhe drang und in der Nähe der Kuppe 
des Granits diese und die wagerechten Klüfte, die meist 
parallel zur Kuppe gehen, wie man am Greifenstein be- 
obachten kann, mit Erz ausfüllten. Man sieht also, daß 
der Niederschlag (bergmännisch ausgedrückt: das Herein- 
brechen) von Zinnstein nur in der Nähe der Erdober- 
flächen erfolgen konnte. Das wird bestätigt durch die 
Aufgewältigung des unteren Bünaustollens zu Zinnwald, 
der sämtliche Erzgänge unabbauwürdig oder gar taub, 
jedenfalls von geringerem Adel, antraf. Allerdings sind 
infolge des höheren Druckes, der in den tieferen Partien 
bei der Eruption herrschte, die Zinngase in das die Klüfte 
begleitende Gestein hineingepreßt worden, so daß dieses 
Gestein als zinnhaltiger Greisen, wenn auch unabbau- 
würdig, gefunden wurde. 

Es scheint diese Anreicherung des Greisens auch 
nicht lange nach der Teufe zu anzuhalten. Denn bei 
dem zweiten Lagerstättentyp, dem Altenberger, bei dem 
der ganze Granitstock durch Klüfte, die Zinn führen, 
durchsetzt ist und das umgebende Granitgestein in 
Greisen verwandelt worden ist, „Zwitterstockwerk“ 
genannt, wurde eine gänzliche Abnahme des Zinngehaltes 
der Zwittergesteine bei etwa 230 m Teufe ermittelt. 

Der dritte Typ ist der bei Ehrenfriedersdorfer Sau- 
berge auftretende Hier ist nämlich das Zinnerz in 
Gängen, die nicht im Granit, sondern im Gneisglimmer- 
schiefer aufsetzten, anstehend getroffen und zu gehöriger 
Teufe (etwa 130m) zum Teil abgebaut worden. Man 
sollte nach Obigem hoffen, daß diese Gänge in den wahr- 
scheinlich darunter liegenden Granit hineinsetzten. 

Auch der berühmte Greifenstein ist von Zinngängen 
durchschwärmt, von denen zwei an seiner Südflanke durch 
den Garisch- und Leyerstollen aufgeschlossen sind. Man 
hat diese Stollen neuerdings bis auf den Greifenstein- 
granit getrieben und dort den Stockscheider und zinn- 
führendes Greisengestein angefahren. 

Störungen in der Lagerung der Gänge, Verwerfungen 
treten oft ein. So ist im Ehrenfriedersdorfer Sauberg- 
schachte der Prinzler, ein Erzgang, von einem der erz- 
gebirgischen Kobalt-Silberformation, die jünger ist, ver- 
worfen worden. 

Sehr interessant ist es nun, wie der moderne Berg- 
mann im Gegensatz zum alten die fündigen Zinnerze 
abbaut. Besonders schön ist das im Geyerschen Berg- 
werk „Zinnstockwerk Geyer“ zu beobachten. Die 


Schachtanlage steht auf dem südlichen Rande der großen 
Binge, einer durch eingestürzte Zinnbergwerke des 
Mittelalters gebildeten 80 m tiefen Grube. Diese ist ein 
Zeugnis sowohl von der Kühnheit der alten Bergleute, 
wie von der Unvollkommenheit ihrer Art der Anlage. 
Denn während der moderne Schacht mit elektrischer 
Förderung arbeitet, stürzte man in den alten Bauen das 
Wasser über Radstuben, in denen Wasserräder aufge- 
stellt waren, deren Kraft man zum Fördern verwendete. 
Zu diesem Zwecke und aus Gründen der Billigkeit ließ 
man die abgebauten Hohlräume stehen, bis das Verhängnis 
hereinbrach. Im Zinnstockwerk kann man noch einen 
solchen alten Bau in seiner ganz imposanten Ausdehnung 
sehen, oder vielmehr nicht sehen, da das Grubenlicht 
nicht von einem Ende zum anderen leuchtet, auch nicht 
bis auf den in der Tiefe liegenden Spiegel einer 8m 
hohen, die Sohle des Baues bedeckenden Wassersäule. Wie- 
viel Vorzüge bieten dagegen die modernen technischen Ein- 
richtungen. Über Tage sind ein Kompressor für die 
zum Bohren gebrauchte komprimierte Luft, eine elektrische 
Förderanlage und Pumpstation und schließlich die nötigen 
elektrischen Umform- und Schaltstationen aufgestellt. 

Den Schacht selbst, „Franzschacht* genannt, hat 
man im Nebengestein, Andalusit-Glimmerschiefer, nieder- 
gebracht und von ihm nach Nord, Ost und West drei 
wagerechte Versuchsstrecken angelegt, dienun den ganzen 
Granitstock in einer Ebene durchschneiden. Kennt man 
durch diesen Querschnitt den Wert, den Adel und die 
Ausdehnung der einzelnen Erzgänge, so wird man mit 
dem Abbau beginnen können. Der Abbau kann nun, 
da man den Erzvorrat nach den Schwankungen der 
Geschäftslage regeln muß, rationell und rentabel bis auf 
die letzten verwertbaren Reste getrieben werden. 

Man wird ihn nach oben richten, damit man das los- 
geschossene Erz durch Rollen oder Bremsberge auf die 
Querschläge ohne Maschinen mittels der Schwerkraft 
fördern kann. Nun wird es nach dem schönen, elektrisch 
erleuchteten Füllort geschafft und mit den zwei Förder- 
gefäßen zutage gebracht. Der Vertrieb selbst wird mit 
durch Preßluft getriebene Bohrhämmer und durch 
Sprengen geleistet. Um die Gesundheit der Arbeiter zu 
schützen, wird der Bohrstaub mit Druckwasser nieder- 
geschlagen. Eine elektrische Pumpe im Füllort hebt 
die Abwässer und die Grubenwässer. Da das Gestein 
sehr hart ist, kommt man ohne Zimmerung aus. Auch 
sonstige Vorsichtsmaßregeln wie im Kohlenbergbau sind 
im Erzwerk nicht nötig, was den Betrieb verbilligt. Die 
Wetterführung wird durch Wettertüren leicht geregelt. 
Für alle Fälle ist im Füllort ein Telephon angebracht. 

Bei dem schon erwähnten Fündigwerden vorzüglicher 
Erze und bei den guten technischen Einrichtungen kann 
man hoffen, daß der Zinnbergbau im Erzgebirge erprieß- 
lichen Fortgang nehmen wird. 





Anthropologische Indices. 


Für einen jeden, der sich mit Anthropologie, Ethnologie 
und Urgeschichte beschäftigt, liegt eine wertvolle und un- 
entbehrliche Gabe jetzt vor in der „Table des 20 premières 
années“, welche zu Band 1 bis 20 der ausgezeichneten fran- 
zösischen Zeitschrift „L’Anthropologie“ (Paris, Masson & Cie.) 
erschienen ist. Kaum eine zweite Zeitschrift verfolgt in 
gleichem Maße, sei es in Originalartikeln, sei es in sach- 
lichen Berichten, die genannten drei Schwesterwissenschaften 
so ausführlich wie die genannte, und die 20 jetzt abge- 
schlossenen Bände bringen eine Riesenfülle von Stoff, der 
nun übersichtlich, einmal nach den Verfassern, dann nach 
Materien geordnet, auf mehr als 200 Seiten vor uns liegt. 
Nimmt man dazu die „Table générale des publications de la 
société d’anthropologie de Paris depuis sa fondation (1860— 
1899)“, die im gleichen Verlage schon 1900 erschien, so hat 


man die vielfach vorbildliche französische Forschung und einen 
Teil der ausländischen beisammen. 

Das Bedürfnis nach guten Registern steigt bei der Zer- 
streutheit und starken Produktion der immerhin noch jungen 
anthropologischen Wissenschaften mehr und mehr, ohne daß 
man sagen kann, daß ihm auch schon voll entsprochen wurde. 
Musterhaftes hat für ihre Veröffentlichungen die Berliner 
Anthropologische Gesellschaft geleistet, durch die Heraus- 

abe zweier Generalregister, zu Band 1 bis 20 ihres Organs 
1869—1888) unter der Redaktion von Rudolf Virchow und 
zu Band 21 bis 34 (1889—1902) unter der Redaktion von 
A. Lissauer. Sie sind mit großer Sorgfalt gearbeitet und 
lassen nach keiner Richtung im Stiche — umfassen beide 
zusammen nicht weniger als 1060 enggedruckte Seiten. Um 
ferner den Überblick nicht zu verlieren, nehme man dazu 
die Übersichten, welche Buschans „Anthropologisches Zentral- 
blatt“ bringt, obwohl man hier Jahr für Jahr durchblättern 


Bücherschau. 161 





muß. Der so reiche Inhalt des „Archiv für Anthropologie“, 
welches jetzt bis Band 36 gediehen ist, ist leider nicht so 
bequem zugängig, denn nur für Band 1 bis 22 erschien bis- 
her ein Generalregister und nicht immer in erwünschter Aus- 
führlichkeit. 

Auch die Wiener Anthropologische Gesellschaft ist be- 
strebt, die Schätze, die in ihren „Mitteilungen“ seit 1871 vor- 
liegen, durch Inhaltsverzeichnisse zugängig zu machen, wenn 
auch nicht in so ausführlicher Weise wie die Pariser und 
Berliner Zeitschriften. Mit Abschluß der ersten Serie jener 
„Mitteilungen“ (1871—1881) veröffentlichte Dr. M. Much das 
erste allgemeine Inhaltsverzeichnis. 1891 erschien ein General- 
register zu den Bänden 11 bis 20 (1881—1890), dem 1901 ein 
zweites zu Band 21 bis 30 (1891—1900) von F. von Hopf- 
gartner folgte. 

In England ist seit 60 Jahren eine Reihe anthropologisch- 
ethnologischer Zeitschriften erschienen, die aber zumeist 
wieder eingingen, bis sie in den großen Hafen des „Journal 
of the Anthropological Institute“ und seiner Beihefte „Man“ 
mündeten. Schon 1893 erschien ein „Index to the Publica- 
tions of the Anthropological Institute, 1843—1891“, welcher 
dadurch wichtig wird, daß er auch die vielen wertvollen 
Arbeiten systematisch verzeichnet, welche in jenen einge- 
gangenen, jetzt selten gewordenen Zeitschriften enthalten 
sind. Viele davon sind grundlegender Art, und bei ihrer 
Kenntnis würde mancher jüngere Autor sich die Mühe er- 


spart haben, gewisse Themata wieder ab ovo zu bearbeiten. 
Es handelt sich hier um den Inhalt der Zeitschriften „Journal 
and Transactions of the Ethnological Society“ (1843—1871), 
„Journal and Memoirs of the Anthropological Society“ (1863— 
1871), „The Anthropological Review“ und schließlich um 
die ältere Reihe des „Journal of the Anthropological Institute“ 
(1871—1891). Für die neue, seitdem fortlaufende Reihe liegt 


noch kein Generalregister vor. Zwar begann N. W. Thomas 
eine „Bibliography of Anthropology and Folk-Lore“ — „it 
deals only with works and periodicals published in the British 
Empire“ —, aber sie umfaßt nur die Jahre 1906 und 1907 
und ist ins Stocken geraten, seit der Verfasser eine afrika- 
nische Forschungsreise antrat. 

Auf dem deutschen Anthropologentage in Köln 1910 trat 
an mich ein Herr aus Rußland heran, welcher es beklagte, 
daß außer den Inhaltsübersichten der Bände kein General- 
register für den „Globus“ vorhanden sei. Und welche Fülle 
von Stoff enthält diese Zeitschrift, die im nächsten Jahre 
ihren hundertsten Band veröffentlicht. Fünfzig Jahre 
sind gleich seit der Begründung verflossen, und in dieser Zeit 
ist sie nicht nur den Fortschritten der Geographie und Eth- 
nographie gefolgt, sondern hat auch eine große Menge vor- 
züglicher Originalarbeiten gebracht. Nützlich und wünschens- 
wert wäre bei diesem Jubiläum gewiß auch die Herausgabe 
eines Generalregisters. 

Richard Andree. 


Bücherschau. 


Knut Stjerna, Les groupes de civilisation en Scan- 
dinavie à l’&poque des sépultures à galérie. (L’An- 
thropologie, Vol. XXI, 1910, p. 1.) 

Ein Abschiedswort des trefflichen früh dahingeschiedenen 
schwedischen Forschers. Stjerna war ein Hauptvertreter einer 
Richtung, die in der gegenwärtigen schwedischen Archäologie 
sich schon sehr bemerkbar gemacht hat, welche den sicheren 
Boden der dort geltenden typologischen Systematik nicht 
aufgibt, aber auf ihm nach Gruppierungen von kultureller 
Bedeutung strebt und diese der alten Landes- und Volks- 
geschichte dienstbar macht. So hat Stjerna schon früher 
den Gegensatz der Svear und Götar und ihre Kämpfe archäo- 
logisch festgelegt und neuerdings eine umfassende Geschichte 
der Kultur- und Völkerbewegung auf Bornholm gegeben. 
Im Gegensatz dazu behandelt der vorliegende Artikel eine 
bestimmte Epoche über ein ausgedehntes Gebiet. Auch hier 
stets mit der den Skandinaviern eigenen wohltuenden Reserve 
gegenüber dem ethnischen Problem. Es ist erwünscht, daß 
die Anschauungen des Verfassers in einer so allgemein ver- 
breiteten Zeitschrift zur Aussprache kommen, nur stört ein 
recht inkorrekter Druck ; selbst der Name des Verfassers und 
die Unterschriften der Abbildungen enthalten Fehler. 

Die vom Verfasser behandelte Periode ist die époque des 
sépultures à galerie, eine Umschreibung für die Periode 
Montelius III, welche deutschen Lesern nicht gerade glück- 
lich erscheinen wird, denn die Ganggräber sind doch nur ein 
Merkmal und nicht das Entscheidende: gerade in der baltisch- 
westdeutschen Neolithik haben wir ein typisches Montelius IIE 
ohne Ganggräber. Daß die Benennung nicht gleichgültig ist, 
sondern zu direkten Mißverständnissen führt, zeigt die 
kleine, sonst recht hübsche Karte, auf der die ganze jütische 
Halbinsel auf Grund der „Einzelgräber“ einer schnurkerami- 
schen Provinz zugeteilt ist, während diese dort doch sicher 
nur eine singuläre Erscheinung inmitten dominierender Mon- 
telius III-Kultur darstellen. — Die drei Kulturgruppen, welche 
auf skandinavischem Gebiet in die Ganggräberperiode fallen, 
sind die „arktische“ oder Schieferkultur, beide Namen von 
Stjerna gemieden und, eine aussichtslose Neubildung, als 
„baltische“ oder Nordostkultur bezeichnet; die Kultur der 
Megalithgräber („Kattegattkultur“) und die der Einzelgräber 
(„jütische“). Eine Schwierigkeit des Vergleichs liegt in der 
Verschiedenheit der Bergung des Materials, da die erste 
Gruppe fast ausschließlich auf Wohnstellen, die andere eben- 
so auf Gräber angewiesen ist. — In der Oharakterisierung 
der ersten Gruppe berührt sich Verfasser mit den bekannten 
Darstellungen von Almgren, A. W. Brögger, Ailio, betont den 
„epipaläolithischen“ Charakter jener Fischer- und Jägerkultur, 
hält einen Zusammenhang der arktischen Plastik mit der ost- 
europäischen für wahrscheinlich und läßt die Frage, ob Nach- 
kommen der „Epipaläolithiker“ oder neu einwandernder Ost- 
stamm, offen. — Bei der „Ganggräber“ - Gruppe scheidet Stjerna 
streng zwischen den Grabformen der eigentlichen Dolmen 
und der Ganggräber, für die er einen verschiedenen Ursprung 
und verschiedene Urformen annimmt: Dolmen rechteckig, 
frei stehend, Ganggräber rund, bedeckt auf überseeischem 


Wege aus England nach Skandinavien übertragen; die 
jütischen Küstenstriche, Dänemark, Westschweden, sind ihr 
eigentliches Gebiet. Im Vergleich zu den voraufgehenden 
Stufen (Kjökkenmödding- und Dolmenzeit) ist eine Verschiebung 
landeinwärts, besonders in Schweden (Westergötland) erkenn- 
bar, was mit dem Übergang zum Ackerbau zusammenhängt. 
Mit der Bodenkultur tritt auch der Kampf um den Boden 
ein, und in der Ausstattung der Gräber spielen jetzt Waffen 
(Äxte, Lanzen, Pfeilspitzen) eine große Rolle. 

Die dritte Gruppe wird durch die „Einzelgräber“ Sophus 
Müllers mit ihrem feststehenden Inventar an Axten besonderer 
Form und einer degenerierten Schnurkeramik bezeichnet. 
Sie drängt sich in Jütland usw. zwischen die Megalithbevöl- 
kerung, die aber die Küsten behauptet. Auf Grund der 
Keramik erblickt Verfasser darin einen Vorstoß des mächtigen 
schnurkeramischen Volkes aus Mitteldeutschland, welcher 
durch das Streben, die Bernstein produzierenden Länder zu 
gewinnen, hervorgerufen sein möge. Man wird den geist- 
vollen Ausmalungen der Folgen, welche eine derartige Inva- 
sion für die Megalithkultur haben mußte, mit Interesse folgen; 
überzeugend wirken sie nicht: die Bedeutung eines supponierten 
steinzeitlichen Bernsteinhandels bleibt vorläufig ebenso eine 
Fiktion wie die Herleitung der Einzelgrabbevölkerung von 
den Schnurkeramikern, mit denen sie nichts gemeinsam hat 
als eine keramische Form. Auch bei dieser Einschränkung 
bleibt der Arbeit Stjernas das Verdienst, zum ersten Male 
das Problem der Ganggräberkultur, ihrer Ausbreitung wie 
Einschränkung nach beiden Seiten hin (Nordost und Süd) in 
größerem Zusammenhange aufgerollt zu haben. 

R. Beltz-Schwerin. 


Jacques Faitlovitch, Quer durch Abessinien. Meine 

zweite Reise zu den Falaschas. XV u. 1888. mit 60 Abb. 

u. 1 Karte. Berlin 1910. M. Poppelauer. 5 fb 

Seiner ersten Reise zu den Falaschas, den abessinischen 
Juden, die er in einem auch hier angezeigten Werke in 
französischer Sprache beschrieb, ließ Faitlovitch im Jahre 1908 
eine zweite folgen, über die er jetzt in einem deutschen Buche 
berichtet. Der Zweck dieser Reisen war einmal, neues Ma- 
terial zur Kenntnis dieser schwarzen Juden zu beschaffen, 
dann, durch Vorstellungen bei den abessinischen Machthabern 
das zumeist ziemlich traurige Los dieser Leute zu mildern, und 
schließlich, die Juden der zivilisierten Welt mit werktätigem 
Interesse für diese ihre Glaubensgenossen zu erfüllen, damit sie 
in der Isolierung ihren Glauben und ihre Eigenart sich be- 
wahren könnten. Mit seinen Bemühungen in der zuletzt ge- 
nannten Richtung hatte Faitlovitch zunächst nicht überall 
Erfolg, denn die mächtige Alliance Israälite schien die Fa- 
laschas nicht für voll anzusehen, sandte auch einen eigenen 
Beobachter, den Großrabbiner Nahum, nach Abessinien, um 
sich selber zu unterrichten (vgl. Globus, Bd. 96, 8.257). Mit 
dessen Ergebnissen ist nun Faitlovitch wenig einverstanden, 
er zieht in dem neuen Buche gegen ihn zu Felde und appel- 
liert wiederum an das Solidaritätsgefühl. Die Zahl der Fa- 
laschas gibt Faitlovitch auf etwa 50000 an, während Nahum 


162 Kleine Nachrichten. 





nur 6000 bis 7000 annehmen zu dürfen glaubte. Faitlovitch 
schlug 1908 meist andere Wege ein als 1904 und dehnte seine 
Reisen diesmal auch nach Schoa aus, wo er Menelik per- 
sönlich um Schutz für die Falaschas bat und von diesem 
auch eine Zusage erhielt. Das Buch berichtet über die Reise- 
erlebnisse, über die weiteren Beobachtungen über die Fa- 
laschas und über Land und Volk von Abessinien in recht 
interessanter Weise und unter Beifügung von Abbildungen. 
Die Karte allerdings erscheint technisch und inhaltlich etwas 
diluvial. 

In unserer Zeit, wo so viel vom Naturdenkmalschutz die 
Rede ist, könnte man auch für die Erhaltung menschlicher 
Naturdenkmäler — und als ein solches sind die Falaschas 
zu bezeichnen — etwas tun, und deshalb ist Faitlovitchs 
Bemühungen Anerkennung zu zollen und Erfolg zu wünschen. 
Deshalb sollte auch die christliche Mission die Falaschas 
nach ihrer eigenen Fasson selig werden lassen, sie hat ander- 
wärts Betätigungsfelder genug, wo sie segensreich wirken 
kann. Sg. 
Arnold Schultze, Das Sultanat Bornu mit besonderer 

Berücksichtigung von Deutsch-Bornu. 1368. mit 2 Karten. 
Essen 1910, G. D. Baedeker. 4 

Das Buch scheint eine Dissertation zu sein. Der Ver- 
fasser war Mitglied der Jola-Tsadsee-Grenzexpedition und hat 
deshalb einen Teil des von ihm behandelten Gebietes selber 
soweit kennen gelernt, als es bei einer solchen Reise, wo 
die Vermessungsaufgaben im Vordergrunde stehen, überhaupt 
möglich ist. Aber man kann sagen, daß das Buch so gut 
wie ganz auf Literaturstudien beruht, und das ist erklärlich, 
wenn man bedenkt, daß bereits Barth und Nachtigal für 
die Keuntnis Bornus so viel geleistet haben, daß ihren Nach- 
folgern nicht allzuviel mehr zu tun übrig geblieben ist. Die 
Darstellung des Verfassers hält sich an das alte Schema: 
Bodengestaltung, Klima, Fauna, Flora, Bevölkerung usw. 
bietet keine neuen Gesichtspunkte und hat eigentlich nicht 
viel Zweck. Aber die Zusammenstellung verrät wenigstens 
Sorgfalt und Fleiß (von größeren Werken scheinen dem 
Verfasser nur die A. Chevaliers und B. Alexanders entgangen 
zu sein). Aus dem Verzeichnis im Anhang ergibt sich, daß 
der Verfasser eine beträchtliche Anzahl Lepidopteren auf 
der Grenzexpedition beobachtet hat. Singer. 


Karl Baedeker, Palästina und Syrien, die Hauptrouten 
Mesopotamiens und Babyloniens und die Insel Cypern. 
Handbuch für Reisende. 7. Aufl., XCVIII und 432 S. mit 
21 Karten, 56 Plänen und 1 Panorama. Leipzig 1910, 
Karl Baedeker. 10 4. 

Der Baedeker von Palästina und Syrien hat schon ein 
beträchtliches Alter, denn in seiner ersten Auflage ist er vor 
nun bereits 35 Jahren erschienen. Seitdem ist der Besuch 
des Orients ja immer mehr erleichtert worden, Beförderungs- 
möglichkeiten und -mittel, sowie Unterkunftsverhältnisse 
haben sich gebessert, und so sind gelegentliche revidierte 
Neuauflagen des Handbuchs gewiß am Platze. Manche 
Baedeker haben wissenschaftlichen Wert und können vom 


Geographen nicht entbehrt werden, und das gilt auch von 
dem vorliegenden Bande, dessen Karten z. B. nicht immer 
Ausschnitte aus Atlanten oder einfache Zusammenstellungen 
des Inhalts anderer Karten sind, sondern meist Selbständig- 
keit in der Anlage und manches Wichtige im Inhalt zeigen. 
Nicht wenige Pläne sind wieder neu. Auch bringt der um- 
fangreiche allgemeine Teil kleine Abhandlungen darüber, wie 
sich die einzelnen Gebiete nach dem Stande der neuesten 
wissenschaftlichen Forschung, der archäologischen z. B., jetzt 
repräsentieren. Besondere Sorgfalt ist darauf gelegt, den 
Reisenden mit der Bevölkerung bekannt zu machen (Reli- 
gionen, Trachten, Gebräuche, Islam). 


M. von Kimakowicz- Winnicki, Spinn- und Webewerk- 
zeuge. Entwickelung und Anwendung in vorgeschicht- 
licher Zeit Europas. Mit 107 Textabbildungen. Würz- 
burg 1910, ©. Kabitzsch. 4,50 f. 

Eine mit großer Gründlichkeit und vollster Beherrschung 
der zerstreuten Literatur gearbeitete und viel Neues bietende 
umfangreiche Abhandlung, die für Prähistoriker, Ethno- 
graphen und Folkloristen von Wichtigkeit ist. Von der 
Rekonstruktion der Pfahlbautenwebstühle durch Paur, Heierli 
und andere ausgehend, welche die bekannten, am oberen 
Ende durchbohrten „Webegewichte“ oder „Zettelstrecker“ in 
ihrer Anwendung falsch deuteten, während andere sie gar 
als Netzsteine usw. auffaßten, zeigt der Verfasser zunächst 
ganz klar, daß diese Tonkegel als Tonwinden benutzt wurden, 
zwischen welchen die Garnspindeln abgewickelt wurden. 
Das ist der Ausgangspunkt der Arbeit, und die weitere Ent- 
wickelung der Weberei, die der Verfasser selbst erlernte, 
wird durch eine auch vom volkskundlichen Standpunkte aus 
sehr eingehende Darstellung der teilweise noch recht primi- 
tiven Webverfahren der Rumänen und Sachsen in Sieben- 
bürgen unterstützt, bei denen sich mancherlei Aufklärung 
für die prähistorische Weberei finden läßt. Überhaupt zieht 
der Verfasser ein großes Vergleichsmaterial herbei, von den 
Zäunen an, bei denen er die Entdeckung des Prinzips der 
Weberei sieht, und den altägyptischen Webstühlen, dem für 
unzuverlässig erklärten und durch Worsaae beschriebenen 
Webstuhl der Färöer, den antiken Vasenbildern bis herab 
auf die Brettchenweberei, um daraus Anhaltspunkte für die 
vorgeschichtliche Weberei zu gewinnen. 

Hier sind es nun die erwähnten Tonkegel, welche die 
Hauptrolle spielen, da sie meist in größeren Mengen zu- 
sammen vorkommen, und die zum Einstecken der Spindeln 
dienten. Von letzteren wurden gleichzeitig mehrere ab- 
gewickelt, um in einem „Fadensammler“ vereinigt zu werden. 
Dieser ist die Entdeckung des Verfassers: es sind die durch- 
bohrten Hirschgeweihstücke, die bisher ganz andere Deutungen 
erfuhren und zu denen er auch die sogenannten Kommando- 
stäbe zu rechnen geneigt ist, mit denen man bisher nichts 
Rechtes anzufangen wußte. So wie diese Tonkegel findet 
noch eine Anzahl anderer bisher nicht genügend oder falsch 
gedeuteter Fundstücke ihre Aufklärung; und auch dadurch 
erwächst der Prähistorie namhafter Gewinn, wofür sie dem 
Verfasser zu Danke verpflichtet ist. A. 





Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Dr. Max Schmidt, Direktorialassistent am Berliner 
Museum für Völkerkunde und bekannt durch seine Reise von 
1900/01 ins Schingugebiet, sein wertvolles Buch darüber 
(„Indianerstudien in Zentralbrasilien“), sowie seine Arbeiten 
über südamerikanische Ornamentik, hat sich im April d. J. 
von neuem nach dem zentralen Südamerika zwecks 
ethnographischer Studien begeben. Zunächst machte er von 
Amolar, einem Orte an der Vereinigung des Rio S. Lourenzo 
mit dem Alto Paraguay (etwa 18° s. Br.), eine lltägige Ex- 
kursion in das recht wenig bekannte Gebiet im Westen und 
zu den Guatö, die er auch schon auf seiner ersten Reise 
aufgesucht hatte. Hierüber schreibt er uns in einem Briefe 
aus Amolar vom 3. Juli unter anderem folgendes: 

„Durch den glücklichen Zufall, daß ich gleich an der 
Einmündung des Rio Caracarä in den 8. Lourenzo mit den 
das Gebiet des unteren Caracar&ä bewohnenden Guatö zu- 
ammentraf, gelang es mir, den streckenweise dicht mit Ge- 
büsch und Wasserpflanzen verwachsenen Rio Caracarä bis zu 
etwa zwei Dritteln seiner Länge aufwärts zu befahren und 
zwei der im Sumpfgebiet versteckten Atterrados aufzufindep. 
Auf den Karten, die den Caracar& andeuten, zweigt dieser 
Fluß vom Alto Paraguay ab. Das ist aber, wie ich mit. Be- 
stimmtheit feststellen konnte, nicht richtig. Der Caracara 


zweigt eben unterhalb der Einmündung des Rio Cuyabä von 
dem 8. Lourenzo ab und mündet am Fuße des Berges Cara- 
cará in denselben 8. Lourenzo wieder ein. Die erwähnten 
beiden Atterrados liegen abseits vom Flusse. Ich habe genaue 
Untersuchungen über sie angestellt und photographische Auf- 
nahmen gemacht. Bei meinen Grabungen stieß ich auf einen 
Begräbnisplatz und grub eine größere Anzahl von Skeletten, 
Scherben und Gebrauchsgegenständen aus. Auf meiner Rück- 
tour erstieg ich die steile Felswand an der Rückseite des 
Berges Caracar& und fand dort an mehreren Stellen in ganz 
verschiedener Höhe insgesamt sechs verschiedene Felszeich- 
nungen. So verlief in der kurzen Zeit, die mir für diese 
Untersuchungen zur Verfügung stand, alles nach Wunsch.“ 

Über seine weiteren Pläne teilt Schmidt mit, daß er sich 
von Amolar mit dem Dampfer den Paraguay aufwärts nach 
S. Luis de Caceres begeben und dann den Sepotuba hinauf 
in das Gebiet der noch unerforschten Cabixi-Indianer vor- 
dringen wolle. (Geographische Kunde über diese abgelegenen 
Teile Mato Grossos hat jüngst die Expedition des Obersten 
Candido Rondon gebracht; vgl. Bd. 97, 8. 388.) 


— Der durch seine früheren Reisen in Australien und 
Nordmexiko bekannte Ethnograph Carl Lumholtz hat im 


Kleine Nachrichten. 163 





Frühjahr 1909 eine geographische und ethnographische 
Expedition nach Arizona und Sonora unternommen, 
über deren erste Ergebnisse er aus Sonoita in Sonora unter 
dem 20. Mai 1910 der Pariser geographischen Gesellschaft 
berichtet hat („La Géographie“, Bd. XXII, 8.56). Danach 
hat er das erste Reisejahr dem Studium der ariden Gebiete 
Süd-Arizonas und Nordwest-Sonoras gewidmet, in denen die 
Papagos, ein intelligenter und mutiger Indianerstamm, wohnen. 

Die Gegend, die von den Spaniern den Namen Papa- 
guerria erhalten hat, gehört zu der großen Wüste Sonoras, 
und ihr westlicher Teil, der sich bis zum Coloradofluß aus- 
dehnt, war bisher auf unseren Karten ein weißer Fleck. 
Lumholtz hat ihn drei Monate durchstreift und gefunden, 
daß er dieselben allgemeinen Charakterzüge zeigt wie die 
übrigen Teile der großen Wüste; nur sind die Sierras, die 
alle eine Neigung zur Ost-West-Streichrichtung haben, hier 
weniger zahlreich. In der Nähe der Küste erscheinen Dünen 
paonon die sich von Puerto de Lobos fast bis zum Colorado 
mit einer Unterbrechung etwa halbwegs) ausdehnen. Eine 
dieser Dünenketten wird 60 m hoch. 
leicht rotbraun. 

Das Wasser in den Bergen rührt ausschließlich von den 
atmosphärischen Niederschlägen her, die sich in natürlichen, 
tinajas genannten Höhlen sammeln. In den Ebenen findet 
- man Wasser in Tiefen von mindestens 12m, am Strande an 
manchen Stellen in 0,60 bis 1,80 m Tiefe; es ist aber gewöhn- 
lich mehr oder weniger brackig. Lumholtz mußte für sich 
und seine Leute Wasser in Fässern mit sich führen; die Tiere 
konnten einmal 76 Stunden lang kein Wasser erhalten. 
Futtergras, besonders galetta, fand sich in genügender Menge, 
auch fraßen die Packtiere die Blätter gewisser Bäume und 
Sträuche, besonders gern die des pato pero (Olneya tesota). 
Übrigens gingen Lumholtz alle seine Pferde ein. Der süd- 
westliche Teil der Wüste von der Sonoita-Oase bis zum Rio 
Colorado ist heute unbewohnt. 

Die meisten der Papago-Indianer leben in Arizona, ihre 
Zahl beträgt dort über 2500. Ein Glück für sie ist es, daß 
hier die Verhältnisse den Weißen die Viehzucht oder den 
Ackerbau nicht gestatten; daher erfreuen sich die Indianer 
der Sicherheit ihres Besitzes und haben einige Brunnen er- 
langt, die die Amerikaner bei ihren verunglückten Koloni- 
sationsversuchen gegraben hatten. Außerdem ist den Papagos 
ganz neuerdings eine sehr kräftige Hilfe gegen den gemein- 
samen Feind beider Rassen, die wilden Apachen, zuteil ge- 
worden, die sich in einer besseren Lage befinden als die 
meisten nordamerikanischen Indianerstämme. Ebenso haben 
die mexikanischen Papagos von der mexikanischen Regierung 
Unterstützung gegen den kräftigen Yaquistamm erhalten; 
diese Papagos, durch die Auswanderung nach der Union und 
den Mißbrauch des Alkohols dezimiert, zählen heute nur noch 
600 Seelen. Die Papagos waren bisher noch nicht studiert 
worden. Lumholtz fand in Arizona bei ihnen noch manche 
alte Sitten und Feste von altertümlichem Ursprung; aber 
diese Überbleibsel werden bald verschwunden sein mit dem Ver- 
schwinden der alten Leute. Im 17. Jahrhundert waren unter 
den Papagos einige Missionen tätig, aber mit wenig oder gar 
keinem Erfolge; es gelang den Missionaren nicht, die Ein- 
geborenen in Dörfern (pueblos) zu vereinigen. Die Indianer 
führen auf ihren Rancherias ein halb nomadisches Dasein; 
den Winter verbringen sie bei ihren Herden mit Vorliebe in 
den Sierras, wo das Wasser nicht so selten ist, im Sommer, 
sobald die schwachen Regen beginnen, bestellen sie in den 
Tälern kleine Mais-, Bohnen-, Kürbis- und Wassermelonen- 
pflanzungen. 


Der Dünensand ist 


— Weil die Völkerkunde auf unseren Universitäten kein 
selbständiges Lehrfach ist, auf den meisten von ihnen viel- 
mehr ein Anhängsel der Geographie und von den Hochschul- 
lehrern der Erdkunde sozusagen im Nebenamt behandelt wird, 
kommt sie gewöhnlich auch auf unseren höheren Schulen 
zu kurz. Man muß natürlich sagen: leider! und den Schaden 
haben unsere kolonialen Versuche. Immerhin gibt es Schulen, 
wo infolge persönlichen Interesses des Geographielehrers für 
die Völkerkunde die Schüler mit dieser in ausreichender und 
dankenswerter Weise bekannt gemacht werden, ja wo sie 
selbständiges Unterrichtsfach ist, und zu diesen gehört die 
Braunschweiger Anstalt, an der Dr. A. Wollemann tätig 
ist. Wir ersehen das aus dessen kleiner Schrift „Die Völker- 
kunde im Unterricht an den höheren Schulen“ 
(Braunschweig 1910, A. Graffs Buchhandlung; 40 Pf.), die das 
wiedergibt, was dort gelehrt wird. Es kann naturgemäß nicht 
viel sein, aber so ganz belanglos ist der Stoff doch nicht, und 
man wäre schon zufrieden, wenn selbst jeder Kandidat der 
Erdkunde und der Naturwissenschaften so viel völkerkundliche 
Tatsachen von der Universität ins Lehramt mitbrächte, wie 
sie hier verzeichnet werden. Das kleine Heft sei als nütz- 


licher Berater allen Lehrern empfohlen, die der Völkerkunde 
im Schulunterricht die ihr gebührende Beachtung schenken 
wollen und können. 


— Über seine Versuche, den Mount Robson zu er- 
steigen, der mit seinen 4180 m heute als der höchste Gipfel 
Kanadas gilt, hat Professor A. P. Coleman im „Geogr. Journ.“ 
(Juli 1910) berichtet. Der Mount Robson liegt an der Grenze 
von Britisch-Kolumbia und Alberta, auf der Wasserscheide 
zwischen Fraser River und Smoky River (zum Mackenziesystem 
gehörig) in einem noch recht wenig bekannten Gebiet. Seinen 
ersten Besteigungsversuch unternahm Coleman zusammen mit 
seinem Bruder L. Q. Coleman und dem Reverend George 
Kinney im August 1907 von Süden und Westen her, aber es 
ging viel kostbare Zeit verloren, bis man die Flanken des 
Berges erreichte, und als in den ersten Septembertagen der 
Aufstieg an den steilen Wänden des Massivs begonnen werden 
sollte, stellte sich mit starken Schneefällen der Winter ein, 
und man mußte unverrichteter Sache heimkehren. Das gleiche 
negative Ergebnis hatte ein von den genannten drei Alpinisten 
im Jahre 1908 unternommener Versuch, bei dem die Ostseite 
des Berges von Norden her erreicht wurde. Nach mehrtägigen 
Anstrengungen Anfang September kamen sie bis zur Höhe 
von 3450 m, vor einer tiefen Spalte. Aber der Tag neigte 
sich seinem Ende zu, und ein nochmaliges Kampieren hier 
im Schnee ohne Decken und Nahrung war nicht möglich; 
deshalb erfolgte die Umkehr. Im Jahre 1909 machte 
Kinney allein einen dritten Versuch und gewann am 13. August 
glücklich den Gipfel. Näheres über dieses Unternehmen teilt 
Coleman nicht mit. Seine Karte und seine Beschreibung der 
beiden ersten Versuche enthält manches Neue über die Gegend 
um den Mount Robson, an dessen Fuß mehrere kleine Seen 
liegen. Wegen seiner Lage auf der Westseite der Rocky 
Mountains, und weil hohe Gebirge zwischen ihm und dem 
Pazifik fehlen, empfängt er dessen feuchte Winde, so daß 
der Gipfel zeitweise ganze Tage lang von Wolken eingehüllt 
ist. Diese Erfahrung machte Coleman besonders 1908. 





— Kapitän Bernier, der Kommandant des kanadischen 
Regierungsschiffes „Arctic“, hat „Peterm. Mitt.“ zufolge Mitte 
Juli die geplante neue Polarexpedition angetreten. Dies- 
mal sind die von der Sverdrupschen Expedition entdeckten 
und rekognoszierten Inseln westlich vom Jonessund und von 
Ellesmereland sein Ziel, auch beabsichtigt er festzustellen, 
ob das 1906 von Peary gesichtete Crockerland wirklich exi- 
stiert. Ohne Zweifel rechnet Bernier mit einer Überwinterung. 

Bei dieser Gelegenheit darf man vielleicht die Erwartung 
äußern, daß Bernier den Versuch machen wird, festzustellen, 
inwieweit eigentlich Cooks Polarexpedition nicht erdichtet 
ist. Daß sie einen realen Kern hat, ist sicher; man weiß 
nur nicht, wie groß der wohl ist. Nach seiner Angabe hat 
Cook den Winter 1908/09 in einer Höhle bei Kap Sparbo am 
Südufer des Jonessundes auf Nord-Devon zugebracht, und 
die Spuren dieses Winterlagers würden doch noch aufzufinden 
sein. Ebenso das von Cook nach seiner Angabe am Nord- 
ausgange des Nansensundes errichtete Depot, das er auf der 
Rückreise nicht berührt hat. 


— Der 10. internationale Geographenkongreß 
findet im Jahre 1911 während der mit dem 15. Oktober 
beginnenden Woche in Rom statt. Das Organisationskomitee 
steht unter der Leitung des Marquis Raffaele Cappelle, des 
Vorsitzenden der Italienischen geographischen Gesellschaft, 
Generalsekretär des Komitees ist Giovanni Roncagli, der 
Sekretär jener Gesellschaft. Die Verhandlungen des Kon- 
gresses werden in folgenden acht Sektionen vor sich gehen: 
Mathematische Geographie; Physikalische Geographie; Bio- 
geographie; Anthr'opogeographie und Völkerkunde; Wirt- 
schaftsgeographie; Chorographie; Historische Geographie und 
Geschichte der Geographie; Methodik und Unterricht. 

Laut Beschluß in Lübeck wird nun der für 1911 fällig 
gewesene nächste deutsche Geographentag erst zu 
Pfingsten 1912 stattfinden (in Innsbruck). 


— Interessante Nachrichten über den Moschusochsen 
gibt R.Kowarzik in der „Fauna Arctica“, Bd. V, 1910. Die 
gegenwärtig lebenden Vertreter dieser Tiergattung zerfallen 
in zwei Gruppen, eine östliche und eine westliche, erstere 
östlich der Wasserscheide zwischen dem atlantischen und 
dem pazifischen Teile von Nordamerika wohnend, letztere 
westlich von jener Wasserscheide vorkommend. Die östliche 
Gruppe läßt noch dazu deutlich zwei Unterabteilungen unter- 
scheiden, eine mit Hornbasen, deren Länge zwischen der 


164 


Kleine Nachrichten. 





westlichen Gruppe und den übrigen Vertretern der östlichen 
steht, und eine mit ganz kurzen Hornbasen. Das Verhalten 
der Hornbasen ermöglicht aber gerade einen Blick in die tier- 
geographische Geschichte dieses seltsamen Tieres. Den west- 
lichen Typus muß man als den ältesten der rezenten Moschus- 
ochsen betrachten, der Amerika bewohnte. O. m. Wardi ist 
der jüngste und stellt die Stufe der Entwickelung vor, auf 
die es das Genus Ovibos bis auf unsere Zeit gebracht hat. 
Schon Matschie sprach das Gesetz aus, Wasserscheiden seien 
die einzigen Grenzen der Tierverbreitungsbezirke, und beim 
Moschusochsen ergibt sich dies ganz deutlich. Jedes selb- 
ständige größere Becken hat seinen eigenen Typus. Als 
Westgrenze für das Vorkommen des Moschusochsen überhaupt 
kann der Mackenzie angenommen werden, im Süden bezeichnet 
der 60. Grad n. Br. sein südlichstes Vorkommen. Der Große 
Sklavensee gehört nur noch mit seinem nordöstlichsten Teile 
zum Verbreitungsgebiete von Ovibos, doch soll er dort nur 
noch sehr selten anzutreffen sein, vielleicht ist er bereits von 
da verschwunden. Im Osten ist es die Hudson-Bai, welche 
seiner Weiterverbreitung in dieser Richtung ein energisches 
Halt gebietet. Nach Norden zu aber steht dem Moschus- 
oohsen die Welt offen, und man findet ihn auf allen Inseln 
im Norden des Festlandes. Von Grantland aus geht sein 
Vorkommen weiter nach Grönland über die gesamte nördliche 
Küste, soweit wir sie kennen, und auf der Ostseite bis zum 
Scoresby-Sund. Die genaue Nordgrenze seiner Verbreitung 
bleibt natürlich unbekannt, solange jene Länder selbst noch 
der Erforschung bedürfen. In die Gefangenschaft kommen 
Moschusochsen nicht leicht. Erst 179 Jahre nach seiner ersten 
Beschreibung gelangte im Jahre 1899 ein lebendes Exemplar 
nach Europa. Meist gehen diese Tiere bald ein. Von 30 in 
zoologische Gärten gelangten Tieren kamen nur zwei nach 
Amerika, die übrigen nach Europa. Ende 1908 konnte man 
fünf Moschusochsen auf unserem Kontinent bewundern, ein 
Weibchen im Berliner Zoologischen Garten und vier in der- 
selben Lage zu Kopenhagen. Eine Paarung der Tiere ver- 
mochte man bisher in der Gefangenschaft nicht zu erzielen, 
und es ist die Frage, ob es in unserem Klima jemals dazu 
kommen wird. 

— In seiner Bearbeitung der Coleopteren des arkti- 
schen Gebietes betont B.Poppius („Fauna Arctica“ 1910, 
Bd. V), daß der Wald im allgemeinen eine ziemlich scharfe 
Grenze zieht. Dann ist der Reichtum an Arten einiger Fa- 
milien auffallend, und zwar treten hier besonders hervor die 
Carabiden, Dytisciden und Staphyliniden, während andere 
Familien wieder nur sehr wenige Repräsentanten aufweisen. 
Die Vertreter der drei genannten Gruppen sind auch zum 
größten Teile carnivor oder leben auch von allerlei ver- 
modernden pflanzlichen und tierischen Stoffen. Es ist da- 
gegen auffallend, wie ungewöhnlich arm die rein phytophagen 
Arten auf den Tundren und auf den Eismeerinseln sind, ob- 
gleich wenigstens in den dem Waldgebiet angrenzenden Teilen 
der Tundren die Vegetation zuweilen sogar reich und üppig 
erscheinen kann. Von den phytophagen sind auch die meisten 
hauptsächlich in den südlicheren Teilen vertreten, während 
sie sehr stark gegen Norden abnehmen. Die Wasserformen 
scheinen auffallend gegen Norden weniger aufzutreten; in 
den südlicheren Tundragebieten sind sie noch zahlreich, so- 
wohl betreffs der Arten wie besonders der Individuen, nehmen 
aber schon auf dem eurasiatischen Festlande stark gegen die 
Eismeerküsten ab. Ungewöhnlich arm ist die Wasserkäfer- 
fauna auf den Eismeerinseln; von mehreren derselben sind 
überhaupt keine Funde bekannt. Die Abnahme dieser Käfer 
nach Norden steht offenbar im Zusammenhang mit dem 
kurzen Sommer. Die meisten Landformen leben durchgehends 
an feuchteren Stellen, besonders da, wo eine reichere Vege- 
tation sich entfaltet, einerlei ob aus Sträuchern, Kräutern 
oder Moosen bestehend. Nur sehr wenige Spezies der arkti- 
schen Käfer sind an trockenen Stellen zu finden. Zahlreiche 
arktische Coleopteren scheinen durchgehends Herbst- und 
Frühjahrsformen zu sein. Die meisten dieser Arten besitzen 
eine sehr große Verbreitung. Hierdurch wird es oft unmög- 
lich, schärfer begrenzte Gebiete abzutrennen. Die große Ver- 
breitung der verschiedenen Arten steht offenbar im Zusammen- 
hang mit der übereinstimmenden Beschaffenheit der Tundren 
in verschiedenen Gegenden, wodurch auch die Lebens- 
bedingungen für die hier lebenden Käfer ziemlich gleichartig 
sind. Dies gilt besonders für die rein arktischen und arktisch 
borealen Elemente. Außerdem kommen besonders in den den 
Wäldern angrenzenden Teilen der Tundra auch nicht wenige 
Arten hinzu, die mehr als andere sich an verschiedenartige 
Lebensbedingungen angepaßt haben und die in den tempe- 
rierten Gebieten oft eine sehr weite Ausdehnung besitzen. 
Im einzelnen kennen wir speziell aus Grönland 31 Arten, von 


denen nur eine ausschließlich an der Ostküste gefunden ist. 


Spitzbergen und Bäreninsel lieferten 9 Spezies. Island kann 
man tiergeographisch nicht zur Arktis rechnen, es weist keine 
einzige ausgeprägt arktische Art auf, nur zahlreich boreale 
Elemente. Auch treffen wir in Island noch zahlreiche süd- 
liche Arten, die in die Arktis nicht mehr vordringen; diese 
Insel hängt betreff der Käferfauna vollständig mit dem nörd- 
licheren Mitteleuropa zusammen. 


— Die Betrachtung der Seichesaufzeichnungen 
in Riva am Gardasee hat A. Defant zu der Frage geführt, 
welche regelmäßig sich wiederholende meteorologische Er- 
scheinung die periodische Schwingungen des Sees auslösende 
Denivelation verursacht, und diese Frage sucht er in der in 
den Sitzungsber. d. kais. Akad. d. Wissenschaften in Wien, 
math.-naturw. Klasse, Bd. 118, Abt. IIa, April 1909 erschie- 
nenen Abhandlung „Berg- und Talwinde in Südtirol" zu 
beantworten. Er kommt zu dem Resultate, daß durch das 
Abfließen der durch die Wärmezufuhr über den Tälern ge- 
hobenen Luftmassen gegen die Bergabhänge hin ein perio- 
disch zwischen dem Gebirge und der Niederung wirkender 
Gradient entsteht, mit einer einfachen täglichen Periode mit 
einem Maximum in den Morgen-, einem Minimum in den 
Nachmittagsstunden. Der maximale Gradient in den Morgen- 
stunden, der vom Gebirge her gegen die Pogbene gerichtet ist, 
beträgt im Mittel 0,85 mm, er erzeugt den Bergwind; der 
maximale Gradient am Nachmittag, der von der Niederung 
gegen die Alpen wirkt, beträgt 1,00 mm und ist die Ursache 
des Talwindes. Die Wendestunden sind im Mittel gegen 
112 und 9P und stimmen mit den Aufzeichnungen des Limni- 
graphen, wo sie sich durch plötzlich auftretende, breiter an- 
setzende Linienzüge bemerklich machen und namentlich auch 
den Beginn der Ora bis auf die Minute erkenntlich machen, 
sehr gut überein. Defants Untersuchungen haben zum ersten 
Male erfolgreich die Seicheserscheinung eines bestimmten 
Sees in die gesamten atmosphärischen Erscheinungen seiner 
Umgebung eingefügt. 


— Über den Ursprung der Haussa, jenes rätselhaften 
dunkeln Volkes des Westsudans, äußert sich Kapitän A. J. 
N. Tremeerne in einem Bericht des „Journ. of the Roy. 
Society of Arts“ vom 8. Juli d. J. Seine Bemerkungen mögen 
hier ohne weiteren Kommentar wiedergegeben werden. Er 
sagt: 1. Ihre Religion ähnelt in zu vielen Punkten der der alten 
Agypter, als daß man sich vorstellen könnte, sie habe sich 
ganz unabhängig herausgebildet. 2. Die Haussa haben die 
Handels- und Wanderinstinkte der Semiten und sind frei- 
willig und ohne äußeren Druck gewandert, während die An- 
gehörigen der meisten westafrikanischen Negerstämme sich 
zusammengehalten haben, bis eine Eroberung und eine Ver- 
treibung aus ihrem Lande stattfand. 3. Der Schädelindex 
ist derart, wie man ihn bei den Abkömmlingen einer Rassen- 
mischung erwarten kann, manche haben einen größeren, 
manche einen geringeren Index. Weil das arabische Element 
in der Minderheit war und infolge des Einflusses der Um- 
gebung steht der Schädelindex der Haussa dem der ägypti- 
schen Kopten und gemischten Rassen näher, als dem der 
Araber. Die heutige Haussarasse ist eine weitere Mischung 
des Volkes, das ums Jahr 1000 n. Chr. mit den Eingeborenen 
kam. 4. Arabisch ist einiger Einfluß bei der Bildung der 
Haussagrammatik gewesen, auch hat das Arabische etwa ein 
Drittel des Wortschatzes geliefert, und so müssen einige von 
den Leuten, die ihn gebildet haben, das Arabische gekannt 
haben. Da wiederum zwei Drittel des gegenwärtigen Wort- 
schatzes keine Ähnlichkeit mit irgend einer semitischen 
Sprache haben, so müssen andere Elemente vorhanden sein, 
und von diesen sind einige dem Koptischen verwandt. Das 
Wort Habeschi war ein von den Arabern angewendeter Aus- 
druck der Verachtung für gemischte Rassen, und Haussa 
(Ba-hausche) ist eine Modifikation. 5. Das Volk kam aus 
dem Osten (dem alten Äthiopien) und brachte das Pferd. 
Die Araber hatten Pferde um jene Zeit (1000 n. Chr.), und 
das ankommende Gemisch sprach zweifellos einen gewissen 
Teil Arabisch. Sie mögen Hamiten gewesen sein, viel wahr- 
scheinlicher aber ist, daß sie eine Mischung von Hamiten und 
Semiten waren, zusammen mit Elementen lokaler, unterwegs 
angetroffener Völker und der ursprünglichen Bewohner des 
Landes, das nun die Haussastaaten bildet. Wahrscheinlich ist 
auch ein wenig Berberblut vorhanden und sogar eine weitere 
Beimischung von arabischem. Da sie sich ihrer niedrigen 
Abkunft schämten, so erfanden sie eine andere für sich und 
nannten ihren mythischen Stammvater Babusche, was in 
Wirklichkeit Ba-(ha-)beschi und Ba-hab(e)schi oder Ba- 
hausche ist. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 





GLO 


BUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unn VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE, 


VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 








Bd. XCVIII. Nr. ıı. 





= BRAUNSCHWEIG. 





22. September 1910. 








Nachdruck nur nach Übereinkunft 





mit der Verlagshandlung gestattet. 


Die neueren Ausgrabungen in der Stadt Alesia. 


Von A. van Gennep. Paris. 


Wie bekannt, endete der Widerstand der Gallier 
gegen Cäsar mit dessen Eroberung der Burg Alesia und 
der persönlichen Ergebung des Militärchefs Vereingetorix. 
Über die Lage dieser Burg hatte man in Frankreich 
jahrelang gestritten, indem man sie mit verschiedenen 
Örtlichkeiten identifizierte!), bis Napoleon III. von 1861 
bis 1865 bei dem heutigen Städtchen Alise-Sainte-Reine 
Ausgrabungen vornehmen ließ?).. Es wurde damals 
nicht auf dem Plateau, dem sogenannten Mont Auxois, 


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Abb.1. 


geforscht, sondern nur unten in der Ebene, weil man 
sich zu jener Zeit nur für die römischen Arbeiten inter- 
essierte8). Man schnitt kleine Gräben auf, die tatsäch- 








1) Über die früheren Anschauungen s. C. Pitollet, Alesia 
dans la littérature du XVe au XVIIIe siècle, Pro Alesia I, 
S. 115 ff., 139 ff. 

2) Über die vor Napoleon III. ausgeführten Ausgrabungen 
s. Gaston Testart, Les anciennes fouilles du Mont Auxois, 
Pro Alesia I, 8. 197 ff., 230 ff., 259 ff., 290 ff., 324 ff. ; III, 8. 400 ff. ; 
IV, 8.602ff., 656 ff. 

®) Über die römischen Festungsanlagen s. Napoleons 
Histoire de César und besser: Commandant J. Colin, Notes 
sur les travaux des Romains devant Alesia, Pro Alesia I, 
8.147 ff., 170 ff.; II, 8. 238 ff., 269 ff., 348 ff. 


Globus XCVIII. Nr. 11, 





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lich den von Cäsar erwähnten Ringwällen (circonval- 
lations) quer begegneten. So ergab die Übereinstimmung 
der Beschreibung, die Cäsar in seinem De Bello Gallico 
von den Festungsanlagen geliefert hatte, mit den in situ 
gefundenen künstlichen Arbeiten das endgültige Beweis- 
mittel für die Lokalisierung der alten Alesia auf dem 
Mont Auxois. Aber einige Archäologen, hauptsächlich 
der berühmte Quicherat, wollten diese Schlußfolgerungen 
nicht annehmen, und eine wissenschaftliche Opposition 


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Plan der Burg Alesia 1909. 


entstand, die übrigens auch ihre politische Seite hatte. 
Seitdem hat nun freilich die alesische Frage keinen poli- 
tischen Charakter mehr, obgleich andere Alesias immer 
noch lokale Anhänger besitzen, so Isernore im Dep. Ain, 
auch eine Alesia in der Franche-Comté u.a.m.*), und 
diese Eifersucht brachte und bringt noch gute Resultate 
mit sich, da die an mehreren Stätten systematisch aus- 
geführten Ausgrabungen die Kenntnis der vorrömischen 
und der römischen Periode in Frankreich bereicherten. 





*) Dr. Simon, Discours etc., Pro Alesia II, 8.272 ff.; 8. 
Déchelette, L'identification d’Alesia et les Tombelles d’Alaise, 
Pro Alesia III, 8.489 ff. 


22 


166 van Gennep: Die neueren Ausgrabungen in der Stadt Alesia. 


*Die von Napoleon III. für seine Histoire de César 
befohlenen Arbeiten wurden von einem Elsässer, dem 
Oberst Stoffel, geleitet; aber ohne die Hilfe einiger tüch- 
tiger Mitarbeiter, wie des aus Alise stammenden und 


Die drei Schichten Alesias. 


Abb. 2. 


heute noch sich lebhaft für die Altertümer interessieren- 
den ehemaligen Maire, Victor Pernet 5), wäre Stoffel nicht 
viel gelungen. Es haben sich dann seit einigen Jahren 
um Prof. Louis Matruchot und um Dr. Simon, den 
Präsidenten der Société des Sciences der benachbarten 
Stadt Semur, viele jüngere Kräfte konzentriert, so daß 
endlich auch mit systematischen Ausgrabungen auf dem 

$) Siehe dessen Les fouilles de Napoleon III, Pro Alesia 


1, 8.122 ff., 141, 157, 173; II, 8.205, 248, 279, 300, 352; III, 
S. 418, 458, 472, 525; IV, 8.554, 580, 625 ff. 





Mont Auxois begonnen werden konnte, und gleich in 
dem ersten Jahre dieser Ausgrabungen (1905) kam man 
zu so wichtigen Resultaten, daß eine bei Privatleuten 
und bei Regierungsbehörden unternommene Propaganda 
allmählich Mittel zur Erweiterung der 
Forschungen verschaffte. Vor einigen 
Monaten hatte die Gesamtsumme 
der Ausgaben für fünf Kampagnen 
etwa 40000 Franken erreicht. Ob- 
gleich bei so geringen Mitteln nur 
ein ganz kleiner Teil des Plateaus 
bis jetzt untersucht werden konnte, 
so sind doch schon die Entdeckungen 
von größter Wichtigkeit, nicht nur 
für die lokale Geschichte, sondern 
auch für die allgemeine Geschichte 
der vorrömischen Kunst, Technik und 
Religion. 

Anfangs wurden die Rapports 
des Fouilles und die Abhand- 
lungen über einzelne Fundobjekte in 
dem Bulletin der Société des Sciences 
de Semur und in verschiedenen ar- 
chäologischen Zeitschriften veröffent- 
licht. Im Jahre 1906 gründete dann 
Louis Matruchot eine spezielle Zeit- 
schrift unter dem Titel Pro Alesia, 
wo alles, was die Burg anging, zen- 
tralisiert sein sollte. Leider trennte 
sich im letzten Jahre der Hauptmann 
Esperandieu, einer unserer besten 
Archäologen, von der Société) und 
begann seinerseits mit Ausgrabungen, 
über welche er in allgemeinen archäo- 
logischen Zeitschriften berichtet. Man 
hat lange den lokalen Archäologen 
den Vorwurf gemacht, sie hätten kein 
genügendes Museum, obwohl es in 
Alise selbst zwei Museen gab’), aller- 
dings den wissenschaftlichen Forde- 
rungen nicht entsprechend. Um diesen 
Vorwurf zu entkräften, erwarb vor 
einigen Monaten die Société de Semur 
ein großes Gebäude, wo die früheren 
Sammlungen und alle neuen Fund- 
objekte Unterkunft und systema- 
tische Klassifizierung erhalten werden. 
Aber die von Esperandieu künftig 
gefundenen Gegenstände werden nach 
Saint-Germain kommen. 

Pro Alesia®) bringt nicht nur 
Nachrichten über die neuen Funde, 
sondern enthält auch höchst wert- 
volle Abhandlungen von allgemeiner 
Tragweite, wie ich im folgenden 
zeigen möchte, da bald der vierte 
Jahrgang dieser Zeitschrift zu Ende 
geht, und man jetzt ein einheitliches 
Bild der vorrömischen und frührömi- 
schen Stadt Alesia entwerfen kann. Auch kann ich 
dank der Liebenswürdigkeit von Prof. L. Matruchot 


€) Siehe darüber mehrere von beiden Parteien veröffent- 
lichten und in Pro Alesia angezeigten Flugschriften; über 
die Flugschrift der Société de Semur s. meine Rezension in 
der Revue des Études Ethnographiques 1909, 8. 220. 

7) 1, Musée Napoleon III oder Musée Municipal (collection 
Callabre); 2. Musée Alesia oder Musée de la Société des Sciences 
de Semur. 

®) Erscheint in der Librairie Armand Colin monatlich ; 
Abonnementspreis fürs Ausland 10 Franken. 


van Gennep: Die neueren Ausgrabungen in der Stadt Alesia. 


die Resultate der Kampagnen 1909 und 1910 berück- 
sichtigen. 

Die auf dem Mont Auxois und in der Umgebung be- 
findlichen prähistorischen Ansiedelungen, deren mehrere 
während der napoleonischen Ausgrabungen gefunden 
worden sind), sind seitdem nie systematisch unter- 
sucht worden. Als ich unter Führung von L. Matruchot 
und V. Pernet den Mont Auxois vor einigen Monaten 
besuchte, wurde mir versichert, eine prähistorische Stätte 
hätte man auch während der Arbeiten für die Errichtung 
des riesigen Vercingetorixdenkmals entdeckt, sich darum 
aber nicht weiter gekümmert. An der Stelle, wo das 
eigentliche Alesia stand, scheinen keine vorhistorischen 
Artefakte vorzukommen; übrigens ist man da noch nicht 
überall zu der untersten Schicht vorgedrungen !°). 

Heute ist Alise-Sainte-Reine immer noch ein Wall- 
fahrtsort, da es dort eine heilige Quelle gibt, die der 
heiligen Reine geweiht ist. Wie so oft, so hat auch hier 
das Mittelalter nur frühere Gewohnheiten christianisiert, 
und die neuen gut gelungenen Forschungen Esperandieus 
haben nachgewiesen, daß dieselbe Quelle auch den Römern, 
Gallo-Römern und früher den Kelten, vielleicht sogar 
den Ligurern, als heilig und heilbringend galt!!), Er 
hat beweiskräftige Ex-votos gefunden, hauptsächlich 
Simulacra von Augen; und die Quelle heilt heute noch 
Augenkrankheiten nach Volksmeinung. 

Über die Herkunft des Namens der Stadt hat man 
früher viel gestritten. Heute steht so viel fest, daß die 





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Abb. 3. Hipposandale (Pferdeschuh) aus Alesia. 


primitivere Form Alisia war, verwandt mit dem Götter- 
namen Alisa (no deo), dessen Komponenten al-is kel- 
tisch sind (siehe Isar, Isère, Cremisa usw.) und Quellen 


- °) V. Pernet, Alise préhistorique, Pro Alesia I, 8. 11, 
29, 48 ff. 

10) Es interessieren sich aber für die prähistorische Frage 
des Mont Auxois einige Prähistoriker von Dijon und Um- 
gebung. 
n) Comptes-Rendus de PAcadémie des Inscriptions 1909. 


167 


oder fließendes Wasser bezeichnen !?). Sehr früh aber 
begegnet man schon der von den griechischen und latei- 
nischen Schriftstellern adoptierten Form Alesia, die 
man griechischer Abkunft hielt; im 9. Jahrhundert leitet 
der Hagiograph Heiricus Alesia vom lateinischen alere 
her und verschmilzt auf diese Weise eine Volksetymologie 





Abb. 4. Die sogenannte „Mutter“. 


mit einer einheimischen Brottechnik (über diese siehe 
weiter unten). 

Unter den in Alesia gefundenen Gottheiten verdienen 
eine besondere Betrachtung der Gott Ucuetis und die 
Göttin Bergusia. Das Wort Ucuetis behandelt bereits 
eine ansehnliche Literatur: Roger de Belloguet, Pictet, 
Allmer 13), John Rhys, d’Arbois de Jubainville, Berthoud 14), 
Ad. J. Reinach und andere haben die Abkunft dieses mit 
merkwürdigen Endungen versehenen Götternamens unter- 
sucht, und jetzt scheint man zu der Annahme gekommen 
zu sein, das Wort sei völlig ligurisch. Aber von der 
Persönlichkeit des Gottes weiß man noch nichts. Ligu- 
risch wäre auch der Name Bergusia. Solche mit 


12) A. T. Vercoutre, Le Nom d’Alesia, Pro Alesia II, 8. 193 
—194; C. Jullian, Le Nom d’Alesia II, S. 241—242; A. Thomas, 
Alisum, ancien français Alis, IV, 8. 625—626. 

12) Wiederabgedruckte Abhandlung in Pro Alesia I, 
8. 71—72. 

14) L. Berthoud, Sur un vase votif en bronze avec in- 
scription, Pro Alesia III, 8. 412—417; derselbe, A propos des 
divinités d’Alise Ucuetis et Bergusia, IV, 8. 583—596. 


22* 


168 


van Gennep: Die neueren Ausgrabungen in der Stadt Alesia. 





Berg... anfangenden Personen- und Ortsnamen findet 
man nur in Zentral- und Südfrankreich (Bourgoin, Dep. 
Isere, usw.), in Norditalien (Bergamo usw.), in Spanien 
(Bergida, Bergidum, Bergium, Bergula usw.), also in den 
von den Ligurern eingenommenen Gebieten. Daraus 
könnte man den Schluß ziehen, Alesia wäre eine heilige 
Stätte der Ligurer gewesen. Es bringen also die neueren 
Ausgrabungen einen interessanten Beitrag zu der schwie- 
rigen Ligurerfrage. 

Höchstwahrscheinlich waren die Gottheiten, von 
denen man nur eine römische Nachbildung gefunden hat, 












genommen wurde, sondern der Üppigkeit, und die letzte 
speziell der Früchte (Abb. 4). Schöne Reliefs der Kapi- 
tolinischen Triade und ein Dioskur mit Pferd wurden 
1906 gefunden !6); 1907 zwei Bildnisse der Pferdegöttin 
Epona, und 1909 mehrere schlechter erhaltene, noch 
nicht identifizierte Götterbildnisse 17). Von späteren 
Figuren hebt sich hervor ein wunderschöner Silen, dem 
man die prächtige Statuette des schlafenden oder ver- 
wundeten Galliers zur Seite stellen kann 28). 

Soweit die Ausgrabungen bis jetzt vorgedrungen 
sind, zeigen sie deutlich, daß die Stadt Alesia dreimal 
wieder aufgebaut worden ist, da sich 
eine vorrömische, eine frührömische und 
eine spätrömische Schicht erkennen 
lassen (Abb.2). Man weiß aber nicht 
mit Sicherheit, welche Eroberungen die 
Vernichtung und welche Ereignisse die 
Wiederherstellung der Stadt hervor- 
gerufen haben. Zu Cäsars Zeit war 





Abb.5. Kleinere in Alesia gefundene Gegenstände: @löckchen, Löffel, 
Kanne, Axt usw. 


wenn nicht lokal einheimisch, allgemein in der Gegend 
von Alesia und in der heutigen Bourgogne zu Hause. 
Die sorgfältig von Ad. J. Reinach !5) studierten Bildnisse, 
sechs an der Zahl, von sogenannten Müttern gehören 
dem gemeinkeltischen Götterschatz an. Von diesen sechs 
in Alesia gefundenen Müttern ist eine mit zwei männ- 
lichen Göttern sitzend dargestellt; drei sitzen neben 
einem Gott; eine saß vielleicht auch bei einer männlichen 
Gestalt, und eine sitzt allein. Alle Mütter waren Gott- 
heiten nicht des Herdes oder des Hauses, wie früher an- 


1$) Ad. J. Reinach, La nouvelle Déesse -Mère d’Alesia, 
Pro Alesia III, 8.425, 452, 468, 493, 508 ff. Auch Separat- 
Abdruck, 23 8. 





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Abb.6. Die alesische Panflöte, 


Alesia eine Hauptstadt der Mandubii, 
die dann während der Kaiserperiode 
allmählich durch die Edui verdrängt 
oder aufgesogen wurden !?). Die Blüte- 
zeit Alesias dauerte ungefähr andert- 
halb Jahrhundert. Im 9. Jahrhundert 
sagt schon Heric (Heiricus) in seiner 
Vita des heiligen Germain: „Nunc 
restant veteris tantum vestigia 
castri“. Im Mittelalter bildete sich das Städtchen Alise auf 
einem Abhang des Mont Auxois, also nicht über der frühe- 
ren Stadt, wo jedoch einige mittelalterliche Sarkophage 
gefunden worden sind. Dann wurde der ganze Mont 
Auxois in den Bereich der Landbebauung gezogen. Es 


16) Siehe darüber Esperandieu, Pro Alesia I, 8. 39 ff., 257 ff. 

17) J. Toutain, Pro Alesia IV, S. 545—546. 

18) Abbildungen findet man in der Zeitschrift Pro Alesia 
und auf den Ansichtspostkarten, die man in der Librairie 
Colin, 5 rue de Mézières, Paris, findet; es gibt davon zwölf 
Serien, jede von zehn Postkarten, zu 1 Frank die Serie. Biehe 
weiter unten. 

1°) Otto Hirschfeld, Alesia et les Mandubiens, Pro Alesia 
II, S. 409—411. 


van Gennep: Die neueren Ausgrabungen in der Stadt Alesia. 


169 





ist also eigentümlich, daß kein späterer Schutt die An- 
siedelung übergraben hat und daß man nur Fundamente, 
aber keine eingefallene Baumaterialien in situ findet. 
Auch scheinen die späteren Einwohner von Alise die 
Stockmaterialien nicht benutzt zu haben, wie es so oft, 
z. B. in Nordafrika, vorkommt. 

Unsere heutige Kenntnis der Stadt ist noch dürftig, 
obwohl der allgemeine Plan und die untere Einrichtung 
der Häuser festgelegt sind. Erkannt wurden bis jetzt 
(alle Besitzer des Plateaus haben nicht Ausgrabungen be- 
willigt), wie man aus Abb. 1 ersieht: ein Theater, ein 
großes viereckiges Gebäude mit Säulengang und dahinter 
ein Gebäude mit drei Chören; dann weiter hinten kel- 
tische runde Hütten, auch einige Häuser; und auf der 
anderen Seite der römischen Straße: ein Gebäude mit 
Säulenhallen, ein anderes mit vielen Räumen, dann ein 
schöner Keller, den eine kleine Innenstraße vom soge- 
nannten Monument à Crypte, wo die Mater gefunden 
wurde, teilt2°). Weiter kommt eine Anzahl von Häusern 
und von Brunnen, aus denen man Eimer, Vasen und 
allerlei Gegenstände herausgrub. 

Fast jede einzelne Einrichtung wurde von den Mit- 
arbeitern von Pro Alesia gründlich erforscht, so die 
Halbsäulen ?!), das Deckensystem 22), die Heizungseinrich- 
tungen oder Hypokausten 23). Auch die gallischen oder 
keltischen Hütten gaben Henri Barbe Anlaß zu einem 
Artikel, wo erfreulicherweise die ethnologische Methode 
verwertet wurde 2%). 

Was Alesia in der ganzen römischen Welt berühmt 
gemacht hatte, das waren die besonderen, mit edlem 
Metall oder Zinn überzogenen Bronzeartefakte. Plinius 
berichtet über diese Arbeiten 25), aber obwohl mehrere 
verzinnte, versilberte und vergoldete Metallwaren in der 
Bourgogne gefunden worden waren, so zweifelte man 
doch noch an Plinius’ Verläßlichkeit. Glücklicherweise 
fand dann 1909 Pernet in einem von Schutt und allerlei 
Sachen gefüllten Tiefbrunnen auch versilberte Eimer 
und Vasen. Allmählich kamen noch hervor: Stücke von 
zwei vergoldeten Kesseln, acht mit Bleiglasur übergossene 
Vasen u. a.m., deren alesische Herkunft ganz sicher 
ist26), Alle diese Objekte gehören der vorrömischen 
Periode an; auf einem derselben erkennt man einen 
Fisch, der vielleicht ein religiöses Symbol war. 

Auch eine andere technische Frage haben die neueren 
Ausgrabungen gelöst. Man hat die Werkstätte der 
Metallarbeiter gefunden und Gußformen mit kleinen 
Kanälen aufgehoben, die ganz sicher beweisen, daß die 
Alesier die Gußtechnik à la cire perdue kannten (wie 
die Beninneger). Die alesischen Gegenstände haben eine 
gewisse Rauheit, die die Polierung nicht ganz wegzu- 
nehmen vermag ?7). 


20) Über die Monumente siehe besonders die Artikel des 
Hauptmanns Esperandieu und die Bulletins des Fouilles. 

1) Henry Barbe, Note sur des fûts de colonne partagés 
en deux, Pro Alesia II, 8. 224—229. Jean Maxime, Sur les 
pierres de recouvrement en forme de demi-füt, trouvés à 
Alesia, Pro Alesia III, 8. 397—399. 

22) B. Chaussemiche, Couverture d'une maison d’Alesia, 
Pro Alesia IV, 8. 629 ff. 

2) L. Matruchot, Les divers modes de chauffage des 
maisons gallo-romaines d’Alesia, Pro Alesia III, 8.487 (che- 
minée), 500, 520 ff (hypocaustes). 

1“) H. Barbe, Les huttes gauloises d’Alesia, Pro Alesia 
III, 8.505 ff., 535 ff.; IV, 8.547 ff. 

23) XXXIV, 17; siehe die Kritik von Berthoud, Pro Alesia 
II, 8.317—320. 

2%) M. Besnier, Les Vases de metal découverts à Alesia 
en 1909, Pro Alesia IV, 8. 641—649. 

27) L. Matruchot, L'industrie des bronziers d’Alesia, Pro 
Alesia III, 8. 435—439. 


Diese beiden Entdeckungen würden endgültig die 
alesische Frage lösen: die Stadt auf dem Mont Auxois 
ist in der Tat die von Plinius und Cäsar erwähnte Alesia. 
Sogar das eigentümliche Brot von Alesia ist wieder- 
gefunden worden ?®), und die Masse von allerlei Gegen- 
ständen, die gefunden wurden, bezeugt ein reiches und 
wohlhabendes Leben. 

Über diese Gegenstände haben einzelne Mitarbeiter 
der Zeitschrift Pro Alesia berichtet. Ich selbst habe die 
Nützlichkeit der gegenwärtigen Volkskunde für die Er- 
klärung alesischer Gegenstände hervorgehoben, indem 
ich die Schlüssel und Schloßvorrichtungen erläuterte 2°); 
auch über interessante Glöckchen werde ich berichten. 
Eine schöne Arbeit über das Pferdegeschirr und speziell 
über Pferdeschuhe, die sogenannten Hipposandalen 
(Abb. 3), hat G. Joly, Professor an der Kavallerieschule 
zu Saumur, geliefert3°); er hat auch den Gebrauch des 
Steigbügels für die vorrömische Periode in Alesia fest- 
gestellt und damit die allgemeine Theorie der Erfindung 
des Steigbügels im Mittelalter umgestürzt®!). Die schöne 
Panflöte (Abb. 6), die einzige, welche uns aus dem Alter- 
tum erhalten ist, hat Th. Reinach behandelt32), Unter 
den anderen interessantesten Gegenständen möchte ich 
noch einige samnitische Töpfereien erwähnen 3°), Frag- 
mente eines Spiegels 3t), einen mit Eisenbändern be- 
festigten Eimer mit Kette 35), die in Alesia massenweise 
aus Knochen hergestellten Kopfnadeln 3) und andere 
Dinge, deren mehrere in Abb.5 dargestellt sind. 

Nicht alle in Alise und auf dem Mont Auxois im 
Laufe des letzten Jahrhunderts gefundenen Objekte be- 
finden sich in Alise selbst oder in Saint-Germain (Musee 
des Antiquites Nationales unter Leitung von Salomon 
Reinach), es werden solche auch in den Museen von 
Dijon, Autun, Genf usw. aufbewahrt. Sogar im Berliner 
Museum für Völkerkunde befindet sich eine nicht arme 
Serie von alesischen Gegenständen, über welche H. Flem- 
ming ausführlich in Pro Alesia berichtet hat 37). 

Als wichtig für die Kenntnis von Alesia muß man 
noch die von der Société des Sciences de Semur heraus- 
gegebenen -Bulletins des Fouilles und die schon er- 
wähnten Serien von Ansichtspostkarten zählen. Daß die 
Postkarte ein gutes Mittel für die Verbreitung der Wissen- 
schaft in ärmeren oder entlegenen Kreisen ist, wird seit 
Jahren anerkannt. In Frankreich besitzen wir jetzt eine 
sehr gute prähistorische Serie; auch die einheimische 
Archäologie ist hier und da gut auf Postkarten reprä- 
sentiert, wie aus einem neuerdings gedruckten Katalog 
von J. Dechelette hervorgeht. Die alesischen Postkarten 
wurden von L. Matruchot herausgegeben, und jede ist 
mit einem erläuternden Text versehen. Zum Vergleich 
wurden auch moderne Stiche und Abbildungen von 
anderen gallischen Denkmälern herangezogen. Eine 
andere Postkartenserie zeigt das heutige populäre Theater- 
spiel, La Passion de Sainte-Reine. Obgleich kein Pompeji 
oder Timgad, gibt Alesia doch einen guten Einblick in 
die vorrömische und römische Lebensweise. 


2) Ad. J. Reinach, Le pain d’Alesia, Pro Alesia II, 
8. 209—223. 
2°) Pro Alesia III, 8.529 ff.; IV, 8. 675—681 mit 4 Tafeln. 
w Pro Alesia III, 8.450 ff. (La ferrure celtique); 476 ff. 
(les hipposandales); 511, 539, 540 ff. 

31) Pro Alesia III, Taf. LIX und 8. 538—539. 

32) Pro Alesia I, 8. 161—169, 180—185; II, 8. 201—202. 

33) Pro Alesia I, B. 81 ff., 128 ff. 

3t) Pro Alesia I, S. 129 ff. 
n Pro Alesia III, Taf. L und 8. 423. 
3) L. Matruchot, Une industrie d’objets d’os à Alesia, 
Pro Alesia IV, 8.553. 

37) Pro Alesia III, 89391 ff., 430 ff., 480 ff., 514 ff. 





Globus XCVIII. Nr.11. 


23 


170 Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen. 


Die Brautwerbung der Balten und Westslawen. 


Volkskundliche Streifzüge an der Ostgrenze Deutschlands. 


Von Prof. Dr. Tetzner. 
(Schluß.) 


II. Die Werbungsbräuche knüpfen sich an fünf Ab- 
schnitte des Brautlebens, an die Bekundung der Heirats- 
fähigkeit, an die Brautschau, die Liebeserklärung, die 
Freiwerbung und die Verlobung. 

1. Der Eintritt ins reife Alter, die Anzeige der 
Heiratsfähigkeit und der Heiratslust wird von Balten 
und Slawen schon äußerlich kenntlich gemacht. Maletius 
berichtet vom Tintinabulum, das die puellae nubiles bei 
den Sudauern, Kuren, Schameiten und Litauern an einer 
Schnur tragen, die vom Gürtel bis zu den Knien herab- 
schwingt. Der Gebrauch war nicht allgemein und war 
nur „vielerorts“ heimisch. Er erinnert an die breiten 
Schürzenbänder, die heute noch die heiratslustige Sorbin 
und Slowakin nach der Konfirmation anlegt, während 
sie den kurzen Rock, im Unterschied zur Deutschen, bei- 
behält. Die Klingel ist etwa dem im Globus erwähnten 
Momtschanik (Globus 1904, Bd.86, S.88 ff.) zu vergleichen, 
mit dem die serbischen Burschen ihren Eintritt ins heirats- 
fähige Alter anzeigen wollen. Freilich besteht der von 
mir damals gekennzeichnete Zustand noch, daß die Sache 
nicht völlig aufgeklärt ist. Eine gleichlaufende Sitte 
hat sich beim deutschen Soldaten ausgebildet, der bei 
seinem Dienstaustritt stolz den Reservestock mit Militär- 
quaste trägt; beim Eintritt ist die Schmückung der Brust 
mit Stoffblumensträußen allgemein. Die Slowaken tragen 
lange Bänder am Hütchen. 

Natürliche Kennzeichen, wie die von Lepner erwähnte 
Bärtigkeit, kommen hier nicht in Betracht. Im übrigen 
trägt heute der junge Bursche, dem die Dainos als 
Attribut gern die Sporen geben, wohl keine besonderen 
Abzeichen als Heiratskandidat, da er durch feinere Klei- 
dung und Schmuck, durch Auftreten und Gehaben sich 
schon sonst bemerkbar macht. Das Mädchen aber hat, 
wie in alter Zeit, bei Balten, Slawen und Deutschen noch 
heute inmitten ländlicher Bevölkerung, wenn es von 
jungen Burschen gesehen sein will, Blumen in der Hand, 
am Kleid und im Haar. Dies letztere ist namentlich noch 
bei den Litauerinnen zu bemerken. Die Blumen und 
Kräuter des Kleingartens, die stark duften, Majoran, 
Raute, Rosmarin, daneben Preißelbeerkraut u. dgl., werden 
zu Sträußen oder Kränzen vereint oder geradeswegs ins 
Haar geflochten, das Haar aber in herabhängenden 
Zöpfen oder als Kopfkranz getragen. Auch die Lieder 
der Polen, Masuren, Kaschuben, Tschechen, Mährer, 
Slowaken erzählen davon, wie die Dainos. 

Über die junge Litauerin vor 100 Jahren sagt Rhesa: 


„Die Frauenzimmer kleiden sich in den verschiedenen 
Gegenden abwechselnd, und es läßt sich aus ihrer Tracht 
erkennen, in welchem Distrikte sie wohnen. Nur darin 
kommen sie alle überein, daß die Mädchen mit bloßen, ge- 
flochtenen Haaren gehen und sich von den verheirateten 
Frauen unterscheiden, die ihre Haare bedecken und mit 
Tüchern umschlagen. Um Tilsit und Ragnit tragen die 
Mädchen das Haar in zwei Flechten oder achtteilig ge- 
flochtenen Zöpfen, die ganz enge um den Kopf geschlagen 
werden. Um die geflochtenen Haare legen sie ein buntes 
und zur Trauerzeit ein schwarzes Band. Eine Braut aber 
unterscheidet sich durch einen Kranz von grüner Raute auf 
der linken Haarflechte, oder durch eine hohe, schwarz 
sammetne Haube, die oben mit einem Rautenkranz eingefaßt 
ist, in welchem Fall die Flechten oberwärts gebogen werden. 
Letzterer Aufsatz besteht eigentlich in einem etwas über 
einen halben Fuß hohen, runden ausgesteiften Turban, der 
die Scheitel umgibt und an dem oberen Ende mit Rauten 
und allerlei Blumen verziert ist. Von dem ihn umgebenden 


Rautenkranz heißt dieser perpendikulär aufstehende, zylinder- 
förmige Aufsatz Wainikkas. Unterschieden und etwas sonder- 
bar ist der Kopfputz der jungen Frauen, die nach der Hochzeit 
einen aus Filz oder diekem umgebogenen Draht verfertigten 
Hut anlegen, der nicht so tief als der Männerhut ist. Dieser 
bügelförmige Aufsatz, den sie Kykas nennen, ist mit feiner, 
weißer Leinwand bezogen und oben mit Schnüren durch- 
kreuzt. Einige haben an den Krempen eine gefaltete herab- 
hängende Umfassung, einige Zoll lang, wodurch zum Teil 
das Gesicht verdeckt wird. Vielleicht ist dieser Frauen- 
aufsatz noch ein Überbleibsel von dem Kopfputz der alten 
heidnischen Preußen, welcher als eine Art des Kranzes über 
die Stirn beschrieben wird. Simon Grunau berichtet, wie 
er 1490 das Jungfernbortlein der Pogosania, einer angeb- 
lichen Tochter Widewuts, im Kloster zu Elbing gesehen 
habe. Aus der kurzen Beschreibung läßt sich folgern, daß 
solches eine Art gefalteten Frauenhuts gewesen, der vorne 
mit einer Zierat von eingefaßten Steinen oder von Bilber 
und Metall versehen war. 8. Preuß. Sammler, T.2, 8. 1241 
u. Bock, Nat. Preußens I, 158 bis 163. — Rhesas Donalitius- 
ausgabe, 8.151. 

Die jungen Südslawinnen behängen ihre Brust mit 
Goldstücken, um ihren Brautschatz anzudeuten; man 
kann sie noch heutzutage auf den Jahrmärkten ihren 
Reichtum zur Schau tragen sehen. Der Kopfschmuck 
der Mädchen wird heutzutage nur noch in einigen 
Gegenden, so bei den Litauern, Sorben und den Bam- 
bergerinnen bei Posen, in alter Eigenart getragen. Bei 
den Litauerinnen wird im Winter der Kranz aus Papier- 
blumen hergestellt. Nach Brand u. a. trugen die Mädchen 
die Jungfrauenkränze auch noch als junge Frauen, so- 
lange sie keinen Sohn geboren hatten. Bei ihm ist diese 
mit dem Kranz gekrönte Jungfrauenborta im unteren 
Teil vier bis fünf Finger breit und auch von Samt. 
Donalitius singt: 


„Frauen, begehrt mit nichten das Jungfernkränzlein zu tragen, 
Und ihr Mädchen verlangt mir dafür nach dem Kykas mit 
nichten !“ 


Bei den Sorben bedeutet Kika einfach die Haarflechte. 
Die Ablegung des Brautkranzes oder dessen Verkauf an 
den Bräutigam, die Auflösung der Zöpfe und Neuflechtung 
durch die Schwiegermutter in Frauenweise (bei den Süd- 
polen geschieht’s auf dem Backtrog) bildet nebst der Auf- 
setzung der Frauenhaube einen wichtigen Teil der Hochzeit. 
Die Brautkrone, ein besonders wertvolles Hochzeitsstück, die 
in vielen Familien als Erbstück (vgl. Litau. Liter. Mitt. 1901, 
S. 168 ff.) verwandt wurde, ist noch heutigentags bei den 
Südslawen in Gebrauch und war wenigstens im vorigen 
Jahrhundert auch noch in Litauen zu finden. Hupel 
sagt 1777 von der lettischen, sie habe vier Taler ge- 
kostet, das polnische Mädchen ließ verkünden, sie habe 
vier Nächte allein am Kranz geflochten, er sei 100 Du- 
katen wert. 

Am auffälligsten zeigt die junge Sorbin durch ihren 
Kopfschmuck ihr Jungfrauenalter an. Im Sorbenlande 
aber ist dieser von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit ver- 
schieden. In gewissen Gegenden ähnelt er dem litauischen 
und zeigt den Kranz auf einem Unterbau. Diese Jung- 
frauenkrone ist hier und da nicht höher als die litauische, 
zuweilen aber so hoch wie der Zylinderhut des Bräuti- 
gams und dazu noch zugespitzt (vgl. Slawen in Deutsch- 
land, Abbildung 123 bis 133). Die jungen Kaschubinnen 
und Slowinzinnen legten um den bloßen Kopf „eine 
schwarzsammetne mit schwarzen Borten besetzte und 
etwas ausgestopfte Binde oder Stichel, die inwendig mit 


Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen. 171 





rotem Fries gefüttert ist“, doch nur wenn sie reine 
Jungfrauen waren. 

In Kujavien trägt das Mädchen gewöhnlich ein 
schwarzes loses Kopftuch; gegenüber den Polinnen, die 
heutzutage den Schleier und Myrtenkranz bei der Hoch- 
zeit tragen, hält die Kujavierin daran fest, ohne Schleier, 
aber mit langen seidenen Bändern am Myrtenkranz zu 
erscheinen. Die tütenförmige Kopfbedeckung der Polabin 
ist ganz verschwunden, und die kostbaren goldenen und 
silbernen Brautkronen werden nur noch selten aus dem 
Schrein hervorgeholt, um die Enkelin damit zu schmücken. 

Die übrige Kleidung der jungen Mädchen, soweit sie 
noch altertümlich ist, will durch helle Farbe, Buntheit 
und Zierat von Knöpfen, Bändern, Besatz auffallen. Das 
ärmellose Mieder, lange seidene Schleifen, bunte Schürzen 
und Gürtel kehren in. reicher Abwechselung in allen 
ländlichen Gegenden wieder. 

Wie umständlich hier und da die Brautrüstung an- 
gelegt werden muß, erhellt aus der Nachricht, daß ein- 
zelne Burger Bräute bis zu 243 Nadeln zur Befestigung 
des zusammengesetzteren Schmuckes bedürfen. Eine be- 
nachbarte Werbenerin machte dazu die Bemerkung: „Die 
Affen!“ Aber auch in Werben hält man auf einen schönen 
Brautschmuck im sorbischen Sinne. 

2. Haben so Jüngling und Jungfrau den natürlichen 
Jugendreizen mittels Tracht und äußerer Anzeichen noch 
weiter nachzuhelfen gesucht, um zu gefallen, so kann die 
Brautschau beginnen. Während die alten Autoren, 
wie Herberstein, Wargotsch u. a. von den Ostslawen be- 
richten, Braut und Bräutigam bekämen sich vor der 
Hochzeit nicht zu sehen, so ist bei den Westslawen und 
Balten das gerade Gegenteil festzustellen. Seit den 
ältesten Zeiten bis heute lernen sich die jungen Leute 
genügend kennen, oder haben doch Gelegenheit dazu. 
Bei allen Stämmen sind es gleichermaßen Kirche, Jahr- 
markt, jede Familienfeierlichkeit, die die Jugend näher 
bringt. Wo noch Spinnstuben vorhanden sind, wie bei 
den Niedersorben und Litauern, wo Arbeitsschmäuse 
nach der Düngerfuhr, der Ernte, dem Flachsbrechen ge- 
halten werden, wie bei den Litauern, wo Gesangs-, Tanz- 
und andere Gesellschaften sich, oft in dörferlich freund- 
schaftlicher Weise, auftun, kommt alles zusammen, was 
heiraten möchte. Dazu gesellen sich auch, wie häufiger 
besonders bei den Kaschuben, unmittelbare Besuche 
heiratslustiger Leute bei den Schwiegereltern, die unter 
irgend einem Vorwand oder Bewerb gemacht werden, um 
Kenntnis von den Verhältnissen zu erlangen. Im ein- 
zelnen ist hervorzuheben, daß der Jahrmarkt ehemals 
bei den Philipponen, Masuren, Slowinzen geradezu als 
Heiratsmarkt galt, und daß in den großen Kirchspielen, 
die noch heute die zerstreuten lettischen und litauischen 
Dörfer einen, der Kirchgang als besonders günstige Zeit 
galt, Jungfrauen und Jünglinge zusammenzuführen. Bei 
den polnischen Stämmen und bei den Sorben aber ist es 
der Tanz, der am meisten die Jugend lockt und eint. 
Nach dem Tanz folgt die Begleitung nach Hause, das 
Unterhalten vor der Tür. Zu Frenzels Zeit ging das 
Paar wohl auch in die Mädchenstube, legte sich mit den 
Kleidern in oder aufs Bett. Beim Weggehen sang der 
Bursch vor der Tür noch ein Liebeslied. 

Welche Eigenschaften muß nun die Schöne haben, 
die sich der Bursche zum Lieb erkürt? Arme Völkchen 
wie die Nehrungskuren und Slowinzen begehren nur eins: 
Jugend und Gesundheit, Angehörigkeit zu demselben 
Volk und zum Fischergewerbe. Bei gegliederten Völker- 
schaften sind die Ansprüche nach Stand und Vermögen 
verschieden. Bei allen aber ist Standesgemäßheit und Be- 
sitz die selbstverständliche Voraussetzung jeder Werbung. 
Es fällt, solange die neuzeitlichen Quellen zurückreichen, 


keinem Durchschnittsburschen ein, unter Stand zu freien 
oder auch nur die Augen auf eine nicht ebenbürtige Maid 
zu lenken. Kommt ja eine Ausnahme vor, so führt sie 
zu Familienkämpfen. Erst die neueste Zeit hat an- 
gefangen, darin Wandel zu schaffen. Eine der besten 
litauischen Novellen von Wileischis behandelt geradezu 
diese Frage und tritt für die Liebesheirat im Gegensatz 
zur herkömmlichen berechnenden Ehe ein. Wie hier 
eine alte Schranke durchbrochen ist, so nicht minder in 
bezug auf die Volksgenossenschaft. Die Völker, die 
früher die Bräute geraubt haben, wie die Letten, sollen 
nach Bielenstein die fremden Mädchen bevorzugt haben. 
Die Regel war das sicher nicht. Die Fremde ist bei 
Völkern mit engem Horizont schon jenseits der Sippe 
gewesen und jenseits des übernächsten Dorfs. Die großen 
Fahrten der Bräute ins fremde Land, ins Elend, die an- 
geblich 100 Meilen weit gingen, sind Phantasie der 
Dainasinger; man braucht da nur die ostpreußischen 
Kirchenbücher durchzusehen. Wenn der Lettenpriester 
Heinrich in der Livländischen Chronik mitteilt, die Letten 
hätten neben Vieh auch Mädchen aus dem Kampf mit 
den Esten mit fortgenommen, „deren allein die Heere 
zu schonen pflegen“, und ein andermal, die Letten hätten 
die Dörfer wie verödet stehen lassen und Weiber und 
Mädchen nebst anderer Beute mit sich fortgeführt, so 
glaube ich nicht, daß diese Sache mit der Ehe etwas zu 
tun hat, zumal in demselben Kapitel gesagt wird, die 
Letten hätten 1208 in der sakkalanischen Landschaft 
erschlagen, was sie vorfanden: Männer, Weiber und 
Kinder. Bei Lepner, Brand und Juschkiewitsch, und 
erst recht bei den neuen Schilderern litauischer Werbung, 
sehen die Werber auf Geld und Gut, in den Erzählungen 
und Liedern der Sorben und Polen die Jünglinge erst 
recht. 

In welchen Grenzen bewegt sich der Umgang Lieben- 
der vor der Werbung? Anscheinend widersprechen sich 
da die Berichte recht sehr. Brand meint bei Schilderung 
der Litauer: „Endlich ums 17. oder 18. Jahr, weil er 
alsdann zum Ehestand tüchtig, teils wegen Geschicklich- 
keit sein Weib und Kinder zu ernähren, muß er ein 
Weib nehmen und steht dies zu merken, daß sie lieber 
eine Hure mit zwei oder drei Hurenkindern nehmen, als 
eine noch reine und unberührte Marielle, ja wann sie 
eine reine Dirne nehmen sollen, zittern und beben sie, 
weil sie sich befürchten, sie möge, um Kinder zu zeugen, 
unbequem sein, da sie doch hingegen mit den anderen 
schon berührten dieses sich nicht vermuten. So tut 
auch die Marielle, so verheiratet wird; welche auch sagen: 
Was soll ein Mann, der zuvoren nicht ein Mädchen 
probieret habe? Oder bist du ein Kerl und hast nicht 
eine Magd gehabt?“ Änliche Scherze erzählt man wohl 
von mancher ländlichen Gegend. Die moralische An- 
schauung ihres Volks haben aber diese litauischen Ma- 
riellen hier sicherlich nicht ausgesprochen. Im Gegensatz 
hierzu bekunden die Dainos, daß jedes litauische Mädchen 
das Zeichen ihrer Jungfräulichkeit, den Rautenkranz, 
sehr hoch achtet und stets Preise dafür angibt, die der 
Jüngling nicht erschwingen kann. Ebenso verlangt das 
polnische Mädchen in Oberschlesien 100 Dukaten für 
ihren Brautkranz, und die Sorbin sagt, daß es mit der 
Jungfräulichkeit der Braut schon nicht ganz richtig sei, 
wenn die Flittermünzen an der Borta nicht ordentlich 
hängen. Bei Tschechen, Mähren und Slowaken betont 
man in moralischen Liedern die Keuschheit ausgiebig, 
und in drastischer Weise wird in der Kaschubei das 
Mädchen befragt, ob ihre Jungfrauenehre unbetastet sei; 
in vielen Gegenden darf sogar die gefallene Jungfrau die 
Zierden der keuschen Braut nicht tragen, besonders nicht die 
erbliche Brautkrone (Litau. Liter. Mitt. 1901, 5.168). Trotz- 


23* 


172 Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen. 





dem wäre es verkehrt, in der Weise Rhesas die ländliche 
Bevölkerung, besonders die der Kuren und Litauer seiner 
Zeit, für engelsreine Geschöpfe zu halten. 

Wiederum weisen die gleichzeitigen Aufzeichnungen 
der Lehrer und Pastoren in allen hier in Betracht kom- 
menden Gebieten unwiderleglich nach, daß man zwar die 
gegenseitige Keuschheit im Volk für ein Ideal hält, daß 
aber die jungen Leute recht häufig in gewissen Kreisen 
die Genüsse des Ehelebens vorausnahmen. Für die 
Litauer genüge der Hinweis auf die entrüsteten Rand- 
noten des Dichters Donalitius; bei Kaschuben und Slo- 
winzen erzählen die Kirchenbücher zur Genüge. Auch 
bei den Philipponen ist trotz der strengen Öhrenbeichte 
nicht alles so keusch und fromm, wie Onufri Jakublew 
und seine Genossen gern gewollt hätten. Für den Osten 
überhaupt, besonders für Preußen hat Weiß 1878,79 die 
in Betracht kommenden Verhältnisse klar dargestellt. 
Eigenartig bleibt die Tatsache, daß viele junge Mädchen 
in dem Verkehr mit Volks- und Standesgenossen 
nichts sehen, sich dagegen nie mit Fremden einlassen 
würden. 

3. Nach der Brautschau, das lehrt die Herbartsche 
Philosophie, folgt die Liebe die gehobene Lebens- 
stimmung, die den Glanzpunkt im Leben unserer balti- 
schen und slawischen Jugend ausmacht. Um sich der 
Welt und der geliebten Maid angenehm zu machen, über- 
nimmt der Bursche vielerlei kleine Dienste und große 
Arbeit, die er in der Ehe sehr unterläßt. Dieser Minne- 
dienst ist aber bei allen Völkern so gleichmäßig und von 
Fall zu Fall so individuell, daß nur einiges besonders 
Eigenartige hervorgekehrt werden kann. Wie Jakob um 
Rahel, so wirbt auch mancher Bursche als Fischer- oder 
Ackerknecht um seine Angebetete beim Schwiegervater 
als Mitarbeiter. Das Anputzen von Maien vor dem Hause 
der Braut, das Zutrinken des Ehrentrunkes, Tanzen des 
Vorreigens mit der Geliebten und Ähnliches findet sich 
bei der baltischen wie der slawischen und deutschen Be- 
völkerung, ebenso aber auch das grausame Spiel von 
Dorfkoketten, dem Verliebten Aufgaben zu stellen, die 
er nicht lösen kann oder über deren Lösung er zugrunde 
geht wie Sigunes Tschionatulander. Das polnische 
Mädchen hat für die Abweisung den poetischen Ausdruck 
gewählt, der Werber werde erhört, wenn er das Drei- 
kraut bringe. 

Den schönsten Ausdruck hat sich das Liebesleben 
aber im Volkslied geschaffen. Und die litauischen und 
lettischen Dainos, die sorbischen und polnischen Lieder 
bieten uns unverhüllt das gesamte Sinnen und Minnen der 
ledigen Jugend. Die ganze Gefühlsleiter, alle Einzel- 
heiten des Liebeslebens offenbaren sie in verschiedenster 
Auffassung und in gehobener Stimmung. Solange man 
ledig ist und liebt, singt man. Wenn die Lieder auf 
die Ehe zu sprechen kommen, wird der Ton hart, die 
Ehe ist Prosa und hat enttäuscht. Leider ist fast bei 
allen Völkern die volkstümliche Pflege des Liedes im 
Verschwinden. Die lettischen Vierzeiler, die improvi- 
sierten Dainos, die sorbischen Volkslieder werden immer 
seltener, die Lebenseinrichtung ist prosaischer geworden. 
Geben die Lieder reichlich über die Gefühle der Jugend 
Kunde, so sind sie doch mit großer Vorsicht bei Be- 
urteilung realer Verhältnisse oder gar als historische 
Zeugnisse zu betrachten. Die Erfinder der Lieder sind 
nicht Gelehrte, die den baltisch-slawischen Olymp kennen 
oder von Kreuzrittergefechten wissen; sie singen, was ihr 
Herz bewegt, und nehmen fremde Ausdrücke und Bilder auf, 
über die sie sich selbst nicht immer Rechenschaft geben 
können. Die ältesten erhaltenen Volksliebeslieder stammen 
aus Zeiten, deren Verhältnisse und Anschauungen von 
den unseren nicht wesentlich verschieden waren. 





Die gefühlvollen Gesänge dürfen gleichfalls nicht als 
Quellen über die tatsächlichen Verhältnisse des bürger- 
lichen und ehelichen Lebens gelten. Der weiche weh- 
mütige Ton einzelner Lieder steht beispielsweise im 
Widerspruch mit den derben Scherzen, die gleich danach 
getrieben werden. Gold und Silber, Farbe und Glanz 
herrscht in den Dainas, während das Leben der singenden 
Burschen sich meist in recht beschränkten Kreisen be- 
wegt. Andererseits singt aber auch die Braut oder junge 
Frau von Grausamkeiten und Härten des Ehelebens, die 
es gar nicht gibt. Sie klagt und jammert öffentlich und 
fühlt sich meist in ihrer Haut sehr wohl. Die Daina 
und das polnische wie das sorbische Lied vertritt die 
Anschauung, das Mädchen sei durch die Ehe betrogen 
worden, als „Geraubte“ lebt es in der „Fremde“ bei einem 
grausamen oder liederlichen Mann, wird geschlagen und 
brutal behandelt, und die Brüder helfen nicht einmal, 
sondern lachen noch darüber. Wer nun solchen Sang 
für bare Münze nimmt, dem dient der Bursche mit 
Gegengesängen: 

Wisse, daß der Led’ge einzig glücklich ist. 
Aber, wer ein Weib sich nahm, verraten ist. 


Die herrlichen kleinen Lieder wollen eben als Kleinode 
des Gefühlslebens in Einzelfällen betrachtet und be- 
urteilt sein, und als solche haben sie höchsten Wert. 

4. Hat der Jüngling nun in seinem Herzen gewählt, so 
beginnt die Werbung. Sie wurde bei unseren 
slawischen und baltischen Völkern ausnahmslos, wenn 
die jungen Leute nicht gar zu arm waren, nicht direkt, 
sondern durch den Freiwerber vollzogen. Darüber sind 
sich alle Quellen einig, sogar die vom Brautraub be- 
richtenden; nur daß hier wohl der Raub vom Bräutigam 
ausgeführt werden kann, die nachträgliche Werbung aber 
wieder von anderer Seite vollzogen wird. Der Freiwerber 
ist oft der Familie, häufiger der Verwandt- oder Freund- 
schaft entnommen, nicht selten hat ein geschickter Mann 
das Amt wiederholt übertragen bekommen. Der Frei- 
werber, den sich der Jüngling kürt, hat allein oder in 
Begleitung eines anderen — vielleicht des Bräutigams 
selbst — den Wortführer zu machen. Seine Kleidung, 
seine Reden, seine Gänge, alles ist in verschiedenen 
Gegenden verschieden, da gerade in diesem Falle aus der 
Masse einmal eine Individualität auftaucht, die Ange- 
lerntes und Eigenes so bieten muß, daß es Geschick hat 
und Anklang findet. Der Werber hat die Aufgabe, die 
Brauteltern zu besuchen, seine Werbung vorzubringen 
und Bescheid zu holen. Bei Juschkiewitsch kommt der 
Werber viermal; Juschkiewitsch sagt, der von ihm ge- 
schilderte Brauch vor der Verlobung habe sich von alten 
Zeiten her in Wielona erhalten. Werber und Freier gehen 
zum Brauthaus. Der Werber fragt nach den Eltern und 
spricht dann: „Dieser Jüngling verbeugt sich vor eurer 
Tochter und sucht sich eine Wirtin: eine züchtige, ge- 
wandte, die Feuer anmacht und schürt, spinnt, webt, 
bunte Leisten ans Tuch macht, Arabesken hineinwebt, 
Roggen schneidet und bindet, mahlt, knetet, Brot backt, 
Schweinefraß mischt, Vieh füttert, daß sie sorge um ihren 
Kreis, den Hof und die Wartung der Gänse, Enten und 
Hühner, daß sie die Familie ihres zukünftigen Mannes 
und ihre eigene liebe, daß sie sich am Herde und vor dem 
Fremden zu benehmen verstehe, und mit einer solchen 
eben will er sich vereinigen und verloben.“ Der Bräutigam 
steht dabei und sagt gar nichts, das Mädchen aber ver- 
steckt sich; schließlich aber lassen die Eltern beide zu- 
sammen sprechen, wenn der Bräutigam angenommen 
wird. Man scheidet, und die jungen Leute treffen sich 
gelegentlich. — Das zweitemal reitet der Werber und 
der Bräutigam zur Braut, die sofort wieder verschwindet. 


Tetzner: Die Brautwerbung der Balten und Westslawen. 173 





Der Werber breitet auf dem einen Tischende ein weißes 
Tüchlein aus und stellt ein Wein- oder Metgefäß und 
einen Becher darauf. Das Mädchen wird von den Eltern 
geholt und gefragt, ob sie den Jüngling heiraten wolle. 
Inzwischen trinken Eltern und Werber das Gefäß leer. 
Mißfällt der Freier, so gießen sie das Gefäß wieder voll, 
und die Freiersleute reiten ab. Zögern die Eltern mit 
der Antwort, so läßt der Werber. Tuch, Flasche und 
Becher zurück, daß die Eltern im ablehnenden Falle am 
dritten Tage alles zurücksenden können, — gefüllt. Tritt 
dies nicht ein, so kommen Werber und Bräutigam kurz 
darauf zum zweitenmal zu Pferd. Es beginnt dieselbe 
Auflegung des Tuches am Ehrenplatz, dem gegenüber 
das Brautpaar gesetzt wird. Dabei werden die Ab- 
machungen wegen Mitgift u. dgl. getroffen. Ist man 
einig, so gibt die Braut dem Bräutigam, welche beide sich 
am Trinken nicht beteiligen, in einem schönen Tuch oder 
Leinwandstück eine Rautenblüte für ihre Schwieger- 
mutter. Das ist das Zeichen der Heiratseinwilligung und 
gilt als Verlobung oder Zusammentrinken. Merkwürdiger- 
weise folgt aber nun ein nochmaliges ähnliches Fest. Der 
Freiwerber mit dem Bräutigam kommt zum drittenmal 
geritten, nachdem der Heiratskontrakt ausgefertigt 
worden ist. Statt Met oder Wein kann er auch Likör 
oder Fruchtschnaps im Gefäß haben. Jetzt sind die 
Verwandten eingeladen. Die Braut sitzt in der Nähe 
des Ehrenplatzes neben dem Bräutigam und überreicht 
ihm Rautenblüten, deren Stengel in ein weißes Tuch 
gewickelt sind, die Blüten steckt er sich an die Brust, 
das Tuch steckt er ein. Beide wechseln die Ringe, die 
sie vorher angesteckt haben, küssen sich, und der Bräu- 
tigam leert das Glas halb auf das Wohl der Braut, die 
in gleicher Weise Bescheid tut. Beglückwünschung, 
Gesang, Jubel und Bedankung des Bräutigams bei den 
Brauteltern schließen das Fest. Der Werber ist also der 
Unterhändler zwischen den beiden Familien, nur am 
Schluß der Werbtätigkeit treten Braut und Bräutigam 
selbständig auf. So ausführlich wie Juschkiewitsch die 
Werbung schildert, ist sie heute nicht mehr in Wielona. 
Aber ähnlich wirkt der litauische Werber schon bei 
Lepner; bei ihm, wie bei Prätorius, ist es nichts Ungewöhn- 
liches, daß die Werbung auch von seiten der Braut, be- 
sonders wenn sie eine Witwe ist, ausgehen kann. Der 
Werber kann aber auch eine Frau sein, und der Bräutigam 
braucht bei den ersten Werbebesuchen nicht mitzukommen. 
Die Verhandlungen fanden zuweilen auch nach der Kirche 
im Gasthause statt (Litau. Liter. Mitt. I, 415). Die von 
Pohl vorhin angeführte polnische Werbung ist viel ein- 
facher, geschieht aber in gleicher Weise durch den Freiers- 
mann. Und in den von Düringsfeld aufgezeichneten 
Werbeformen der Polen ist die Art in allen polnischen 
Provinzen ähnlich. Hier bringt der Werber kein Glas 
mit, sondern bittet um eines, daß er einschenken kann. 
Findet man keins, so gilt dies als Ablehnung; die Frei- 
werbung geschieht bei den Masuren — nach Töppens 
Schilderung — so, daß der Freiwerber zu Pferd ankommt 
und einen angefressenen Kohlkopf vorzeigt mit dem Be- 
deuten, im Hause müsse ein Reh sein, er habe die Spur 
der Kohlkopfbeschädigerin verfolgt. Haben die Eltern 
Interesse an der Werbung, so wird er für über acht 
Tage mit dem Bräutigam wieder bestellt; und nun wird 
alles für die Verlobung vorbereitet und verhandelt. Bei 
den Kaschuben (Verh. d. Berl. Anthr. Ges. 20. Juni 1896) 
tritt der Bräutigam viel mehr in den Vordergrund, wie 
überhaupt bei den ärmeren Ständen, wo die Eltern 
materielle Werte nicht zu sichern haben. Aber auch hier hat 
der Werbemann den Hauptteil der Geschäfte zu leiten 
und besonders über die Mitgift zu verhandeln. Mehrmals 
kommt der Werber geritten oder gegangen, bis daß die 


Verlobung festgesetzt wird. Erscheint aber beim ersten 
Besuch des Bräutigams und des Werbers die Braut nur 
zum Gruß und läßt sich dann nicht wieder sehen, so gilt 
die Werbung für abgelehnt. Im allgemeinen befinden 
aber auch hier die Eltern, ob sich die jungen Leute 
heiraten sollen oder nicht. Galt die Werbung für 
aussichtslos, oder fanden sich Schwierigkeiten, so erfolgte 
nun ehemals der Brautraub, wie ihn für Deutschland 
J. Maletius, für die Ostseeprovinzen Einhorn, Hasentöter, 
Brand u. a., für die Philipponen Gerß schildert. Mildere 
Zeiten führten dafür den Brautkauf ein, wie Dusburg, 
H. Maletius, Lukas David, Hupel berichten. 

5. Nach gegenseitigem Übereinkommen aber folgte die 
Verlobung. Die war natürlich zur Zeit des Brautraubs 
oder -kaufs eine ganz andere als später und umfaßte 
bald mehr, bald sehr wenige Gebräuche. Bei der Kauf- 
ehe fand sie im Brauthause ohne Beisein des Bräuti- 
gams statt und bestand in der Art, wie sie Maletius 
schildert. 

Als Abschluß der Werbung kommt die Verlobung 
am sichersten bei den Kaschuben zum Ausdruck. Am 
festgesetzten Tage finden sich Bräutigam und Werber mit 
ihrem Biergefäß im Brauthaus ein. Das Einkaufen von 
Ring und Gesangbuch, vielleicht auch gerichtliche Ver- 
schreibung, gemeinsame Kirchfahrt sind voraufgegangen. 
Mit oder ohne Scherzgebräuche wird nun an dem Ver- 
lobungstage das Faß halb leer getrunken. Dann gehen 
Werber, Bräutigam, Brauteltern in ein Zimmer für sich, 
besprechen die letzten materiellen Fragen und geben sich 
zum Zeichen des Abschlusses die Hände. Dann trinken 
die erwähnten Personen mit der eingeladenen Verwandt- 
schaft das Fäßchen leer. Nach Gewohnheitsrecht gilt 
mit der „Handreichung“ und dem „Austrinken des Fasses“ 
die Werbung für abgeschlossen, das Brautpaar geht in 
den nächsten Tagen zum Standesbeamten und zum 
Pfarrer, daß das Aufgebot erfolgen kann. Ähnlich sind 
die Bräuche bei allen westslawischen Stämmen. Bei 
den Masuren erhält der Werber von der Braut ein neues 
Hemd zum Geschenk; gestrickte und bestickte Handschuhe 
hatte die Slowinzin, Leinwand die Sorbin, ein Schupftuch 
nach Lepner die litauische Braut zu Geschenken vorrätig. 
Auch bei den Polen wird in manchen Gegenden das Zu- 
sammentrinken als Abschluß der Rechtsfrage angesehen, 
und dies galt bei gerichtlichen Auseinandersetzungen 
über Mitgiftfragen als Kennzeichen. Nik. Wargotsch 
sagt aber auch in seiner Beschreibung der Reise in die 
Moskau 1593 von den Russen, bei denen in alter Zeit 
nach Herberstein u. a. die Heirat nur zwischen den 
Familienvätern besprochen, Braut und Bräutigam kaum 
gehört wurden, der Bräutigam bekäme die Braut erst am 
Tag nach dem Beilager zu sehen, könne aber den Kauf, 
auch wenn er ihn reue, nicht rückgängig machen, „die- 
weil man den Leykauf getrunken hatt“. 

Bei Juschkiewitsch ist die Verlobung eigentlich drei- 
teilig, schon beim zweiten Erscheinen des berittenen 
Werbers nennt er das Ende der Verhandlung Verlobung 
oder Zusammentrinken. Beim dritten Erscheinen redet 
er vom Zutrinkefest oder Ringwechsel, was der Über- 
setzer wieder Verlobung nennt. Als Abschluß aber sieht 
er die Prüfung vor dem Pfarrer und die Eintragung ins 
Kirchenbuch an. Das gegenseitige Besuchen, Beschenken 
und Gehöftebesehen geht voraus und folgt; das Fest- 
setzen der Hochzeit bleibt der Zukunft vorbehalten. Erst 
dann hat der Werber seine Aufgabe gelöst, und der 
Hochzeitsbitter mit den Brautjungfern tritt jetzt in sein 
Recht. Bei den Tschechen und Mährern Schlesiens feiert 
man die Verlobung als eine Art Vorhochzeit, wo die 
Druschben die eingeladenen Gäste unterhalten; sie gilt 
vor den Gästen als Ende der Werbung. 


174 


In den ältesten Schilderungen der preußischen und 
lettischen Werbungen galt das Fest als Verlobung, das 
Juschkiewitsch schon als Vorfeier der Hochzeit ansieht 
und Großabend nennt, und wobei der Bräutigam nicht 
war. Hupel sagt: „Die Verlobung geschieht in Abwesen- 
heit des Bräutigams, der durch seinen angenommenen 
Branntwein bereits das Jawort erhalten hat.“ Da werden im 
Brauthaus bei Abwesenheit des Werbers ähnliche Bräuche 
geübt, wie ich sie vorhin aus der Schrift des Maletius an- 
geführt habe, scherzhafte Brautkaufszenen mit Dainasang 
am Schlusse. Bei den Südslawen gehören sie überall 
zu den Hochzeitsgebräuchen. Meist läßt man sofort die 
Hochzeit folgen, so bei den Slowinzen. Dagegen schreiben 
Balthasar Russow und Hupel, daß die Letten zu ihrer 
Zeit meist recht lange mit der Hochzeit gewartet hätten. 
Russow fügt hinzu, wenn man sie deshalb getadelt hätte, 
wäre ihre Antwort gewesen: „Es wäre eine alte livländische 
Gewohnheit, so hätten ihre Väter auch getan.“ 

Eine der Dainas, die bei der Verlobung gesungen 
wird, hat große Berühmtheit erlangt. Es ist dieselbe, 
die Rubig, Lessing, Herder, Goethe in ihren Werken auf- 
führen. Goethes „Fischerin“ beginnt mit ihr: 

Ich hab’s gesagt schon meiner Mutter, 

Schon aufgesagt vor Sommers Mitte! 

Such, liebe Mutter, dir nun ein Mädchen, 

Ein Spinnermädchen, ein Webermädchen. — — 

Ihr meine Flechten von grüner Seide, 

Ihr werdet hangen, mir Tränen machen. — 
Diese und ähnliche Lieder des Abschieds vom Haus am 
„Großabend*“ hat man dann meist so gedeutet, als ob 
die Braut höchst unglücklich über die Heirat, und die 
Wehmut der Ausfluß und Ausdruck des geknickten 
Menschendaseins wäre. Nichts ist verkehrter als diese 
Auffassung. Schon Maletius bezeugt, welche derbe 
Scherze auf derartige Klagelieder unmittelbar folgten, 
und auch Juschkiewitsch sagt nach Aufführung einer 
solchen tränen- und klagereichen Daina der Braut: „An 
diesem großen Festabend fährt ebenso die ganze Familie 
zum großen Rat; man jauchzt laut, man singt, man 
tanzt und trinkt.“ Auch Wagner und Lucanus, Prätorius 
u. a. berichten von dem unglaublichen Lärm, den beide 
Geschlechter bei diesen Festlichkeiten verüben. 

Nicht unwesentlich scheint mir die gegenseitige 
Beschenkung des Brautpaars in der Verlobungszeit. Die 
Gaben sind nach den Orten, nicht nach den Völkern, ver- 
schieden und bestehen meist in einem Schmuck- oder Be- 
kleidungsstück. 

Brand und Hasentöter haben noch einen anderen Ab- 
schluß der baltischen Werbung; bei ihnen geht die Ver- 
lobung in die Heirat geradeswegs über und gilt erst dann 


Flechtner-Lobach: Die Volkskunst in Schweden. 


als abgetane Sache, wenn die Braut mit dem Beilager zu- 
frieden ist. Die Brauteinholung schließt mit der Be- 
gleitung des Paares in die Klete bis zum Brautbett. 
Kommen beide aus der Klete heraus, so werden sie von 
den Wartenden examiniert. Mag die Braut den Bräutigam 
nicht, so bleiben sie geschieden, im anderen Falle folgt 
nach Brand ein großes Fest. Und nach Hasentöter gilt 
die Ehe erst dann, wenn das Paar eine Nacht zusammen- 
geblieben und am Morgen noch einig ist. Aber Brands 
Herausgeber hat schon 1702 diese Angaben bezweifelt 
und zu beweisen gesucht, daß sie nicht als allgemein 
gültig anzusehen sind. 

Die Werbegebräuche machen nur den kleineren Teil 
der Hochzeitsgebräuche aus. Juschkiewitsch teilt seine 
Wielonaer Hochzeit in 57 Abschnitte, von denen nur 
acht bis zwölf auf die Werbung fallen. Die Scherz- 
vorführungen, die an Krieg, Brautraub und Brautkauf 
erinnern, sind von den slawischen Völkern mehr auf 
den Vermählungs- und Heimführungstag verlegt worden. 

Gemeinsam ist allen baltischen und westslawischen 
Stämmen, soweit noch alte Gebräuche vorhanden sind, 
die Brautwerbung durch den Freiwerber, die Verlobung 
und Beschenkung des Brautpaars; die kirchliche Mit- 
wirkung ist weder ursprünglich, noch allgemein. Be- 
sondere Unterschiede finden sich nur in Äußerlichkeiten, 
wie Tracht, Wahl des Tages u. dgl. Und ist die Werbung 
von der deutschen verschieden? Die verneinende beste 
Anwort gibt Goethe. In seiner Werbungsschilderung 
findet sich nicht ein abweichender Zug. 


„Hatten die Eltern die Braut für ihren Sohn sich ersehen, 

Ward zuvörderst ein Freund vom Hause vertraulich gerufen; 

Diesen sandte man dann als Freiersmann zu den Eltern 

Der erkorenen Braut, der dann in stattlichem Putze 

Sonntags etwa nach Tische den würdigen Bürger besuchte, 

Freundliche Worte mit ihm im allgemeinen zuvörderst 

Wechselnd, und klug das Gespräch zu lenken und wenden 
verstehend. 

Endlich nach langem Umschweif ward auch der Tochter 
erwähnet, 

Rühmlich, und rühmlich des Mannes und des Hauses, von 
dem man gesandt war. 

Kluge Leute merkten die Absicht; der kluge Gesandte 

Merkte den Willen gar bald und konnte sich weiter erklären. 

Lehnte den Antrag man ab, so war auch ein Korb nicht 
verdrießlich. 

Aber gelang es denn auch, so war der Freiersmann immer 

In dem Hause der erste bei jedem häuslichen Feste; 

Denn es erinnerte sich durchs ganze Leben das Ehpaar, 

Daß die geschickte Hand den ersten Knoten geschlungen. 

Jetzt ist aber das alles mit andern guten Gebräuchen 

Aus der Mode gekommen, und jeder freit für sich selber. 

Nehme denn jeglicher auch den Korb mit eigenen Händen, 

Der ihm etwa beschert ist, und stehe beschämt vor dem 
Mädchen!“ 





Die Volkskunst in Schweden'). 


Von Alice Flechtner-Lobach. Stettin. 


Schweden erfreute sich noch Anfang des 19. Jahr- 
hunderts einer kräftigen, weit verbreiteten Volkskunst, 
die dann aber mit Beginn der Industrieepoche reißend 
schnell aus dem Bereich der Städte und ihrer näheren 
Umgebung verschwand. 

Im Innern dagegen, vornehmlich in den weiten, dem 
Verkehr nur schwer zugänglichen Landstrecken des nörd- 


1) Quellenmaterial: Montelius, Kulturgeschichte Schwedens. 
v. Falcke, Geschichte des deutschen Kunstgewerbes (Nord- 
deutschland). Verschiedene kleinere Aufsätze über die Volks- 
kunstbestrebungen in Schweden. Persönliche Studien in dem 
nordischen Museum und in Skansen, Stockholm, und in den 
in Betracht kommenden Heimkunstvereinen, vor allem dem 
Handarbetets Vänner in Stockholm. 


lichen Schwedens, konnten sich alte Kunst und Sitten 
länger erhalten, und auch noch heute finden sich Dörfer, 
Gehöfte und Bauernhäuser, in denen alte Kunstfertig- 
keit mit alten Werkzeugen nach ererbten Mustern 
geübt wird. 

Wie lange noch diese Kunstfertigkeit aus eigenen 
Kräften der modernen Strömung hätte widerstehen können, 
wäre allerdings nur eine Frage der Zeit gewesen, hätten 
sich ihr nicht schon seit Jahren Hilfskräfte zugesellt, 
die ihre Produkte fördern und erhalten wollten, ‘allen 
modernen Einflüssen zum Trotz. 

Wohl kein anderes Land kann sich einer solchen 
Pflege und Förderung seiner Volkskunst erfreuen, wie 
Schweden und auch Norwegen, das, wenngleich politisch 


Flechtner-Lobach: Die Volkskunst in Schweden. 


175 





von jenem getrennt, in den Erzeugnissen seiner Volks- 
kunst mit dem Nachbar verwandt ist. 

Schon 1874 hatte sich in Stockholm der Handarbetets 
Vänner (Verein von Freunden der Handarbeit) gebildet, 
mit dem Zwecke, die textilen Erzeugnisse des Volkes, 
Weben, Sticken und Spitzenfabrikation, zu erhalten. 

Ein Jahrzehnt später wurde der Heimkunstverein 
(Föreningen for Svensk Hemslösd) und etwas später in 
Norwegen die „Norske Husflida Vorening“ in Christiania 
gegründet. Diese Vereine, die vom Staat unterstützt 
werden, widmen sich mit großer Hingabe und feinem 
Verständnis ihrer Aufgabe, und ihnen ist es zu verdanken, 
wenn die alte Kunst wieder lebensfähig geworden ist. 

Indem sie mit regem Eifer alles sammelten, was an 
Mustern noch vorhanden war, die Mühe nicht scheuten, 
Technik und Kunstfertigkeit, Material und Farbenzu- 
sammenstellung zu studieren, schufen sie zunächst Vor- 
bilder, die, vom künstlerischen Standpunkt ausgehend, 
die Schönheit und Echtheit der alten Stücke wiedergaben. 
In Ausstellungen und Sammlungen suchten sie das 
Interesse des kaufenden Publikums zu erregen, während 
andererseits in den von ihnen errichteten Schulen den 
Bäuerinnen und Landmädchen Technik und Herstellungs- 
weise, die sie vielfach schon verlernt, von neuem gelehrt 
und ihnen durch Errichtung von Verkaufszentralen Ge- 
legenheit gegeben wurde, ihre Produkte nutzbringend 
abzusetzen. So schufen sie eine Heimindustrie im besten 
Sinne des Wortes, die, absatzkräftig und gewinnbringend 
gestaltet, gleichzeitig alle Vorzüge der alten Volkskunst 
aufweist. 

Die Uranfänge der nordischen Volkskunst führen bis 
in das Zwielicht ältester Geschichte zurück. 

Auf Gräberfunde und die Entdeckung versunkener 
Pfahlbauten gestützt, haben die Gelehrten eine sehr alte 
und hochentwickelte Kunst der nordischen Völker fest- 
gestellt, zu denen in diesen Zeiträumen nicht nur die 
Bewohner Skandinaviens, sondern auch des nördlichen 
Deutschlands zu rechnen sind, wie die Übereinstimmung 
in Technik und Muster der Funde beweist. 

In der Tat zeigen diese Schmuckstücke, Waffen und 
Geräte, die aus der Bronze- und Eisenzeit stammen, der- 
artig entwickelte Formen, so fein bearbeitete Flächen, daß 
die Kunstfertigkeit dieser rauhen Nordländer als er- 
staunlich anzusehen wäre, wenn jene feinen Arbeiten 


wirklich von ihnen hergestellt und nicht, wie von anderer ` 


Seite behauptet wird, eingeführt worden sind. 

Denn schon damals unterhielten die Bewohner der 
Ostseeküste Handelsverbindung mit südlichen Völkern, 
die Bernstein, Felle und Holzarbeiten holten und Gold 
und Silber, vor allem Bronze brachten; ob in verarbeiteter 
Form oder in Barren, die dann erst im Norden ver- 
arbeitet wurden, bleibt dahingestellt. 

Viel sicherer weisen dagegen andere Spuren darauf 
hin, daß die Fertigkeit der Holzbearbeitung und -ver- 
zierung sehr alt ist und so recht eigentlich mit dem Volke 
zusammen sich von Stufe zu Stufe verfeinert hat. 

Der ungeheuer große Holzreichtum der nordischen 
Länder, vor allem Skandinaviens, wies die Bewohner ja 
auf dies Material hin, und die seit Urzeiten betriebene 
Schiffahrt unterstützte und förderte aufs glücklichste die 
Fertigkeit in der Holzbearbeitung; denn auf den Bau 
ihrer Schiffe legten die Bewohner dieser Länder fast 
noch größeren Wert, als auf den ihrer Blockhäuser. 
Einzelne erhaltene Gallione von Wikingerschiffen zeigen 
am besten, zu welch künstlerischer Höhe sich die Schnitzerei 
schon um diese Zeit erhoben hatte. 

Die Motive, welche diese Funde zeigen, sind der Natur 
des Landes entnommen. Köpfe vom Rentier und Hirsch, 
in den südlicheren Strichen von Pferden (noch heute in 


Schleswig-Holstein und Niedersachsen zu finden) waren 
die gebräuchlichsten Schnitzformen, zu denen sich im 
Laufe der Jahrhunderte viel fremde Formen, von anderen 
Völkern erlernt, gesellten. 

Neben diesen massigen und groben Formen, die in 
ihren Anfängen nur in klobigen Linien aus den dicken 
Stämmen herausgehauen waren, war schon zur Zeit der 
Wikingerzüge der Kerbschnitt bekannt, der so recht 
eigentlich das ist, was man Volkskunst nennen kann. 
Denn er entsprang ohne fremden Einfluß aus der Quelle, 
aus der die rechte Volks- und Heimkunst immer fließt, 
aus dem Wunsche, das tägliche Gerät zu schmücken, und 
aus dem Zwange, sich dem vorhandenen Material anzu- 
passen. 

Die Faser des Holzes gab den Mustern ihre Grenze, 
die einfachen Sternblumen aus Wald und Garten die 
ersten Vorlagen, und so entstand eine Fülle hübscher 
und mit der Zeit immer gefälligerer Muster, die in ihren 
Grundmotiven, den eingekerbten Dreiecken, bis auf den 
heutigen Tag die gleichen geblieben sind. 

Über das ganze Hausgerät, das ja zum größten Teil 
aus Holz bestand, breitete sich diese Kunst aus, und sie 
zeigte in der Vielheit ihrer Anwendung, welch festes 
Besitztum sie für das Volk geworden, so fest, daß sie 
alle Zeiten überdauerte und noch heute geübt wird 
wie einst. 

Noch heute läßt der Bauer von dem Dorfhandwerker 
seine Schüsseln und Humpen, seine Bottiche und das 
andere Hausgerät mit geschnitzten Mustern versehen, 
und an Feierabenden greift er wohl selbst zum Schnitz- 
messer und schnitzt Sterne und Dreiecke nach altem 
Brauch in die Kelle der Prunklöffel, auf das Mangelholz 
oder an das Bordbrett und schmückt so sein Haus. 

Was er aber nicht mehr kann, und was doch einst 
so eng mit der Kunst des Schnitzens verbunden war, 
das ist die Holzbemalung. 

Es war natürlich, daß die nordischen Völker bei ihrer 
Vorliebe für bunte Farben auf die Dauer an der glatt 
gebeizten Holzfläche, selbst wenn sie geschnitzt war, keinen 
rechten Gefallen finden konnten. Sie wollten die Stern- 
blumen, die Blätter und alles, was ihr Messer sonst zu- 
stande brachte, auch in den natürlichen Farben sehen, 
und so leuchtet uns aus den älteren Stücken des schwe- 
dischen Hausrates eine unverblaßte Fülle herrlichster 
Farben entgegen, die auch Fensterläden, Schranktüren, 
kurz alle Flächen, die sich irgend dazu eigneten, mit 
ihrem frischen Zauber schmückten. 

Von einer sinnenfreudigen Heiterkeit, die sich nicht 
scheut, die Grundfarben in all ihrer Kraft unvermittelt 
nebeneinander zu stellen, sind diese geschnitzten und 
dann bemalten Gegenstände. Das blüht und leuchtet 
frisch hervor, im besten Sinne naturalistisch, ohne jede 
Spur von Schattierung und doch so plastisch wirkend. 

Nur selten findet sich an Türen und Schränken 
heutiger Bauernhäuser eine blasse Spur dieser einstigen 
Kunst; all das aber, was in den Geschäften der Städte 
als „Schwedische Holzmalerei* für Reiseandenken aus- 
geboten wird, kann mit seinen in Fabrikmanier ge- 
pinselten Figuren im Nationalkostüm, deren Konturen 
mit dem Brennstift gezogen sind, wohl überhaupt keinen 
Anspruch auf irgend welche Kunst machen. Die Ver- 
suche, auch hier alte Fertigkeit wiederzubeleben, sind 
bisher immer noch an dem Geheimnis der Farbe ge- 
scheitert; die chemischen Farben wirken zu grell einer- 
seits, andererseits fehlt es ihnen an Wärme und Leucht- 
kraft, um ebenbürtig neben den alten Erzeugnissen zu 
stehen. 

Die letzten Reste von Muster und Zeichnung haben 
sich in den Spanarbeiten erhalten, doch ist die Span- 


176 Flechtner-Lobach: Die Volkskunst in Schweden. 


flechterei jetzt ganz aus dem Rahmen der Hauskunst 
herausgetreten. Das Flechten und auch die Bemalung 
der fertigen Waren wird zwar als Hausindustrie, jedoch 
nicht mehr als Hauskunst betrieben. Das System der 
Arbeitsteilung, das zu Verdienstzwecken sich eingebürgert 
hat, läßt eine individuelle Gestaltung der Stücke nicht 
mehr aufkommen. Auch hier hat das Volk seit langem 
nichts Neues zugelernt, vieles aber verlernt. 

Welch schöne und eigenartige Flechtmuster bieten 
die gesammelten Körbe und Taschen, vor allem die 
Schuhe aus Birkenrinde geflochten, die die Museen zeigen. 
Begreiflicherweise wurde diese Birkenrinde mit dem 
Fortschreiten der Kultur bald durch weicheres Material 
ersetzt, und die Schuhe vor allem, deren Form an den 
Bundschuh des armen Konrad erinnert, bieten heute nur 
ein historisches Interesse. 

Vom Flechten zum Weben ist nur ein Schritt! Die 
Technik ist in der Urform bei beiden dieselbe. Ein glück- 
licher Fund hat in Börmerstorp, Provinz Halland, einen 
Fetzen Stoff zutage gefördert, an dem die schräg laufen- 
den Fäden des Flechtmusters am besten zeigen, wie die 
ersten Stoffe tatsächlich durch einfaches Ineinanderflechten 
grober Wollfäden mit der Hand entstanden sind. 

Bald allerdings müssen auch Werkzeuge erfunden 
sein, denn neben verschiedenen Spindeln, die in einem 
Grabe aus der Heidenzeit lagen, haben sich auch Reste 
eines primitiven Webestuhles, ein Webeschwert aus Wal- 
roßzahn und eiserne Gewichte gefunden, die wohl dazu 
gedient haben, den Webebaum im Gleichgewicht zu er- 
halten. 

Die frische, lebendige Entwickelung, die vor allem 
diese Kunst im Laufe der Jahrhunderte nahm, führte 
dann späterhin noch die verschiedenartigsten Hilfswerk- 
zeuge und Apparate ein. 

Denn in der Kunst des Webens, wie in der Stickerei 
und Spitzenarbeit waren die Bewohner Skandinaviens 
allen anderen europäischen Völkern überlegen. Nirgends 
hat diese Volkskunst eine solche Fülle leuchtender Blüten 
hervorgebracht, nirgends auch allen Anstürmungen mo- 
derner Einflüsse so standgehalten, wie in diesen Ländern. 

Die langen kalten Winter mit ihren Eis- und Schnee- 
massen, mit ihrer erzwungenen Ruhe gaben neben dem 
notwendigen Bedürfnis nach warmen Hüllen Zeit und 
Muße, diese Arbeit erfreulich und schmückend zu ge- 
stalten. 

Das Gefühl für Farbe, der Wunsch, die dunklen 
Räume lustiger zu gestalten, ließ die webenden Frauen 
dazu greifen, die einzelnen Posten der gesponnenen 
Garne zu färben und sie in den einfarbigen Grundstoff 
als Muster zu verarbeiten. 

Und ganz wundervoll war das, was die Kunst dieser 
schwedischen Bäuerinnen auch hier bezüglich der Farbe 
hervorbrachte. Die aus Pflanzenstoffen, aus dem Saft 
der Beeren gewonnenen Farben waren von einer Leucht- 
kraft, von einer Weichheit, daß noch heute nach vielen 
Jahrhunderten keine bessere Art gefunden ist, Stoffe zu 
färben. Noch heute färben die Bauerfrauen in der alten 
Weise wie ihre Vorfahren, und der Handarbetets Vänner 
in Stockholm läßt heute seine schönen Webereien haupt- 
sächlich mit Garn arbeiten, das in dieser alten Art ge- 
färbt ist, obwohl es bedeutend teurer kommt infolge der 
mühseligen Herstellung der Farbe. Aber die künstliche 
Färbung erreicht nicht diesen eigenen Farbenreiz, der 
doch eine spezielle Schönheit der nordischen Weberei ist. 

Und neben der Farbe das Muster. Der Ursprung 
dieser Muster läßt sich nicht verfolgen; sie sind so eng 
mit dem Volk verwachsen, so ängstlich als kostbares 
Gut gehütet und von Generation zu Generation verbessert, 
daß sie eben unverlierbares Gut des Volkes geworden sind. 








Man hat in vielen Stücken, hauptsächlich in ganz 
alten, orientalischen Einfluß entdecken wollen, hat ge- 
funden, daß einzelne Muster ganz eigentümliche Ähnlich- 
keit mit den Teppichen des Orients haben; und wirklich 
zeigen manche Stücke ganz fremdartige Milieus, um die 
sich dann die eckigen, oft so naiv anmutenden Formen 
der nordischen Phantasie gruppieren und den Reiz dieser 
Teppiche, Wandbehänge und Bankdecken nur erhöhen. 

Die Blumen des Hausgartens, die Tiere des Hofes und 
Waldes geben auch hier die Vorbilder, die die schaffende 
Phantasie von Jahrhunderten umgeändert und be- 
reichert hat. 

Der Wunsch nach dekorativer Wirkung, nach lebens- 
kräftiger Darstellung war so groß, daß den webenden 
Frauen bald die farbige Musterung allein nicht genügte, 
sie suchten die Formen plastisch hervorzuheben, und im 
Laufe der Zeit entstanden so die verschiedenartigsten 
Webearten, die mit untergelegtem Brett am hochstehenden 
Webstuhl und auf die allerverschiedenste Webeart Stoffe 
von wundervoll plastischer Wirkung hervorbrachten, die 
unter den verschiedensten Namen — Rödlakan, Krabas- 
nor, Dukagon (diese eine Art Gobelinweberei) — noch 
heute bekannt und dank den Bemühungen der Vereine 
von neuem wieder belebt worden sind. 

Diese künstlerischen Abarten der Weberei setzten 
natürlich eine unendliche Fertigkeit voraus, und es könnte 
fast unwahrscheinlich dünken, daß Bauerfrauen diese 
köstlichen Stücke hervorgebracht, wenn man nicht in 
Betracht zieht, daß eben Erfahrung und Übung von 
Generationen sich hier verkörperten. 

Ein ebenso großes Feld wie die Weberei hatte die 
Stickerei in Schweden. Ihre Blüte war zu jener Zeit, als 
die Weberei noch nicht imstande war, die plastischen 
und scharf konturierten Wirkungen aus sich selbst 
heraus zu gestalten. So finden wir die Stickerei mit und 
neben der Weberei schon in den ältesten Zeiten. Mannig- 
fach waren die Muster und Zeichnungen, die haupt- 
sächlich das Figürliche betonten; dagegen beschränkte 
sich die Technik — und sie tut es im Gegensatz zu 
anderen Ländern auch heute noch — hauptsächlich auf 
den Stielstich. Ganz hervorragend schöne Wirkungen 
wurden nun auch hauptsächlich mit Hilfe der Farbe in 
der einfachen Strichstickerei erzielt, die auch zur Ver- 


wendung großer Flächen diente. 


Die Muster waren ebenfalls ganz besondere, von 
Familie zu Familie vererbte, sie erscheinen denen der 
Weberei sehr ähnlich, sind auch vielfach als Vorbilder 
für spätere Webereien verwandt worden. 

Naturgemäß sank die Stickerei von ihrer allein herr- 
schenden Stellung in der plastischen Gestaltung herab, 
als die Weberei diese Wirkungen selbst hervorzubringen 
begann. Sie bekam mit der Zeit ein ganz bestimmtes 
Feld, die Kleidung, auf dem sie wunderschöne Blüten 
trieb und ganz unentbehrlich war. Die Tracht, der 
Sonntagsstaat war recht geeignet zur Betätigung der 
Sticknadel, und dank den Bemühungen ist diese Tracht 
auch heute noch nicht ausgestorben und gibt der schwe- 
dischen Stickerei Gelegenheit, sich immer mehr zu ver- 
vollkommnen. rs 

Neben den uralten, immer wieder gebrauchten Mustern 
finden sich da manche schöne Stücke, die zeigen, daß 
auch die moderne schwedische Bauerfrau noch versteht, 
ihren Sonntagsputz hübsch und eigenartig zu besticken, 
und es wieder gelernt hat, mit bunten Fäden lustig und 
naturgetreu den Stoff zu beleben. 

Diese Sonntagstracht ist überhaupt ein Stück Volks- 
kunst für sich. Jedes Stück ist selbst gemacht, jedes 
Stück seit Generationen in Form und Arbeit unverändert. 
Und so vielgestaltig die Tracht in Schweden ist (jede der 


Das Ende des Kaiserreichs Korea. 177 





24 Provinzen hat eigene Tracht, und innerhalb einzelner 
Dorfgemeinschaften ist sie noch wieder verschieden), so 
einheitlich und unverändert hat sie sich in den einmal 
gebildeten Formen erhalten. 

Neben der Weberei und Stickerei, neben einigen sehr 
eigenartigen Lederarbeiten ist es die Spitze, welche eine 
große Rolle spielt und ebenfalls zu dem Gebiete der Volks- 
kunst zählt. A 

Die Kunst der Spitzenarbeit wird besonders in ein- 
zelnen Teilen Schwedens, so in der Provinz Darlekarlien, 
betrieben, und das Städtchen Vadsterna rühmt sich noch 
heute, Muster zu besitzen, die einst von Barbara Utt- 
mann geklöppelt worden sind. — Denn um die Technik 
des Klöppelns handelt es sich besonders bei diesen 


Spitzen, seltener finden wir die genähte Spitze; allen 
aber ist eine Feinheit und Zartheit der Muster’ eigen, 
die den Beschauer immer wieder staunen läßt über die 
Fülle von künstlerischer Gestaltung, über die unendliche 
Geduld, mit der grobe, arbeitsgewohnte Hände solch 
feine Schöpfungen hervorbringen. 

Die Liebe zur Sache selbst, das Interesse an der voll- 
kommenen Ausgestaltung solcher Arbeit, das ist es, was 
diesen Werken des Volkes den Weg zur künstlerischen 
Gestaltung eröffnet hat. Und das ist es auch, was die 
Erzeugnisse solch stiller Stunden mit all dem Zauber 
ihrer ungebrochenen Farben, mit der naiven Auf- 
fassung und Beobachtung der Natur für uns so lehr- 
reich macht. 


Das Ende des Kaiserreichs Korea. 


Im Frieden von Portsmouth, der den russisch-japa- 
nischen Krieg beendete (30. August 1905), erkannte 
Rußland Japans „Vorherrschaft“ in Korea an, nachdem 
Japan schon während des Krieges von Korea das Zu- 
geständnis der Schutzherrschaft erzwungen hatte. In 
den folgenden Jahren büßte der Kaiser von Korea nach 
und nach vollends alle Selbständigkeit ein, so daß ein 
Reich Korea nur noch pro forma bestand. Am 28. August 
d. J. hat Japan dann, ohne die übrigen Großmächte erst 
viel zu fragen, den letzten Schritt getan und Korea zu 
einer Kolonie erklärt — in einem „Vertrage“ mit dem 
bisherigen Kaiser. Dieser Annexionsvertrag lautet: 

1. Der Kaiser von Korea tritt alle Souveränitäts- 
rechte über das gesamte Reich Korea vollständig und 
für immer an den Kaiser von Japan ab. 

2. Der Kaiser von Korea erklärt sich mit dieser 
Machtentäußerung einverstanden und gibt seine Ein- 
willigung zur Annexion Koreas durch Japan. 

3. Der Kaiser von Japan wird dem Kaiser von Korea, 
sowie seinem Vorgänger, ebenso auch dem koreanischen 
Kronprinzen und allen Verwandten des koreanischen 
Kaiserhauses ihrer Würde entsprechende Residenzen auf 
japanischem Gebiete anweisen und ihnen entsprechende 
Jahresrenten zur Bestreitung ihres Hofhaltes gewähren. 

4. Der Kaiser von Japan gewährt weiterhin die nötigen 
Mittel zum Unterhalt der Beamten der koreanischen Hof- 
haltung. 

5. Der Kaiser von Japan wird den Koreanern, die 
sich durch ihren Dienst in der Verwaltung des Reiches 
einer besonderen Anerkennung würdig gezeigt haben, 
eine einmalige Entschädigung, sowie dauernde Privilegien 
zuweisen. 

6. Die japanische Regierung übernimmt die Regierung 
und Verwaltung des gesamten Kaiserreichs Korea. Sie 
wird auf Grund der gegenwärtig geltenden Gesetze allen 
Koreanern und ihrem Eigentum vollen Schutz angedeihen 
lassen. 

7. Die japanische Regierung wird, soweit es die Um- 
stände erlauben, die Koreaner, die sich dem neuen Regi- 
ment loyal anpassen, in ihren Staatsdienst übernehmen, 
falls sie sich hierfür geeignet zeigen. 

8. Dieser Vertrag, der die Zustimmung Seiner Majestät 
des Kaisers von Japan, sowie Seiner Majestät des Kaisers 
von Korea erhalten hat, tritt mit dem Tage der Ver- 
öffentlichung in Kraft. 

Korea hatte mit einer Anzahl fremder Mächte Handels- 
verträge; die hören mit der Annexion auf, und an ihre 
Stelle treten die Handelsverträge mit Japan. Wahr- 
scheinlich wird aber Japan sich um die von den Frem- 


den in Japan erworbenen Rechte nicht viel kümmern. 
Masampho wird aus der Liste der offenen Häfen gestrichen, 
an seine Stelle tritt Schiuwidschu. 

Selbst der Name „Korea“, entstanden aus der Be- 
zeichnung Korai für eines der Teilfürstentümer, in die 
bis zum Jahre 1391 die Halbinsel zerfiel, wird verschwinden: 
die neue Kolonie wird den Namen Chözen führen. Das 
ist aber kein neuer, von den Japanern erfundener Name, 
sondern ihre alte Bezeichnung für das seit dem genannten 
Jahre bestehende Königreich Korea. 

Der Beginn der Beziehungen Japans zu Korea ist in 
Dunkel gehüllt. Zum ersten Male hören wir von ihnen 
um das Jahr 30 v. Chr.; damals wurde eines der koreani- 
schen Fürstentümer von Japan abhängig. Einen großen, 
von Erfolg gekrönten Eroberungszug gegen Korea unter- 
nahm um das Jahr 202 n. Chr. Jingo-Kogo, die Witwe 
des Mikado Chuai-Tenno. Japan wurde damals der Herr 
Koreas, aber auch der Empfänger seiner chinesischen 
Kultur. Rein („Japan“, Bd. 1, 2. Aufl., S. 311) sagt 
darüber: „Wenn auch in den folgenden Jahrhunderten 
sich noch manche Expedition und viele Kämpfe an diesen 
überseeischen Besitz knüpfen und das Abhängigkeits- 
verhältnis der koreanischen Fürsten von Japan sich mehr 
und mehr bis zur völligen Auflösung lockert, so wurden 
diese jahrhundertelangen Beziehungen zum asiatischen 
Festlande doch das Mittel, durch welches neues Leben 
in die alten barbarischen Zustände Japans strömte. Es 
ist der Strom der chinesischen Zivilisation, der sich über 
Korea nach dem Lande des Sonnenaufganges ergoß. 
Chinesische Staatseinrichtungen und Rechtspflege, chine- 
sische Schrift und Literatur, chinesische Ethik und Heil- 
kunde, chinesische Künste und Gewerbe gelangten meist 
auf diesem Wege nach Japan und fanden hier eine 
günstige Aufnahme. Der Träger dieser eigenartigen 
Zivilisation ist, weit mehr als die einflußreiche Philosophie 
der chinesischen Weisen, der Buddhismus.“ 

Korea war später einmal die Brücke, mit deren 
Hilfe Japan das chinesische Reich erobern wollte. Von 
1592 bis 1598 kämpften japanische Heere in Korea gegen 
koreanische und chinesische mit wechselndem Erfolge. 
Der ehrgeizige Plan gelang nicht, und ein Wechsel in 
der Person des Regenten Japans veranlaßte die Zurück- 
berufung des Heeres. 

Japans Politik ist von jeher bis heute Korea gegen- 
über selbstsüchtig, skrupellos und gewalttätig gewesen. 
Aber die weiße Rasse braucht sich darüber nicht in 
moralischen Betrachtungen zu ergehen; denn die Politik 
ihrer Staaten läßt sich auch nur vom eigenen Vorteil 
leiten. 





178 Bücherschau. 





Bücherschau. 


Alfredo de Carvalho, Prehistoria Sul-Americana. 

2448. mit 20 Tafeln und 1 Karte. Recife 1910. 

Das Prof. Richard Andree gewidmete Buch, in portugie- 
sischer Sprache abgefaßt, beschäftigt sich hauptsächlich mit 
den in Südamerika vorkommenden Petroglyphen, deren Pro- 
blem durch die Arbeit von Theodor Koch-Grünberg („Süd- 
amerikanische Felszeichnungen“, Berlin 1907) so wesentlich 
aufgeklärt worden ist. Verfasser trägt mit großem Fleiße 
eine Menge Material aus der älteren und neueren Literatur 
zusammen unter Beifügung einschlägiger Illustrationen und 
schließt sich dabei eng an die Ausführungen von Koch-Grün- 
berg (a. a. O.) an. In den letzten beiden Kapiteln werden 
allgemeine Ansichten über den Ursprung der Bewohner 
Amerikas geäußert und insbesondere die Stämme Brasiliens 
in vier großen Gruppen (Tapuya, Aruak, Tupi und Karaiben) 
zusammengefaßt, ein Schema, dem man jedoch ebensowenig 
rückhaltslos beistimmen kann wie dem der Völkerkarte bei 
8.212. Um derartig abschließende Urteile über die Völker- 
komplexe Südamerikas zu fällen, bedarf es einer weit genaue- 


ren Kenntnis namentlich auch der Sprachen jener Erdteils- 


hälfte, als man sie bisher hat. 
Dr. Walter Lehmann-München. 


Paul Herrmann, Island in Vergangenheit und Gegen- 
wart. Reiseerinnerungen. 3. Teil: Zweite Reise quer 
durch Island. X u. 312 S. mit 30 Abb. u.1 Karte. Leipzig 
1910, Wilhelm Engelmann. 7 .% 

Der Verfasser hat 1908 eine neue Sagastudien gewidmete 
Reise nach Island ausgeführt und die Beschreibung dieser 
Reise als 3. Band seinem vor drei Jahren erschienenen zwei- 
bändigen Werke über die erste Reise von 1904 (vgl. Globus, 
Bd. 92, 8.209) folgen lassen. Der Schauplatz der neuen Reise, 
die die Zeit von Mitte Juni bis Mitte August beanspruchte, 
war der Westen der Insel. Der Verfasser wanderte von Reyk- 
javik durch die westlichen Küstengebiete bis zum Skaga- 
fjördur im Norden und durchkreuzte dann die Insel in einem 
achttägigen Marsche über den Kjölur und den Geysir nach 
Skalholt im Süden. Das Buch hat die Form einer — mit- 
unter sehr ins einzelne gehenden — Reiseerzählung erhalten, 
in die die eigenen Beobachtungen und die der Literatur ent- 
nommenen Resultate älterer Reisender verwebt sind. Was 
mit den Sagas und der Geschichte Islands zusammenhängt, 
tritt dabei naturgemäß in den Vordergrund. Des Verfassers 
Weg quer durch Island entsprach dem Wege, den vor ihm 
zuletzt v. Knebel 1905 genommen hatte; auch von Komoro- 
wicz war 1907 dort gewesen. Er führt durch ein geologisch 
sehr interessantes Gebiet, in dem noch mancherlei zu tun 
übrig bleibt, und der Verfasser macht da auf einige Pro- 
bleme aufmerksam. Er hat sich nämlich seit der ersten Reise, 
wie er sagt, auch mit Geologie beschäftigt. Ob ihn das frei- 
lich schon berechtigte, ohne Beweis von „kühnen, haltlogen 
Hypothesen“ eines Beobachters wie v. Knebel zu sprechen 
(8. 232), darf bezweifelt werden. Des Verfassers Führer war 
Ögmundur, der auch y. Knebel auf dessen beiden Islandreisen 
begleitet hatte, und Ogmundur berichtete ihm manches über 
den verunglückten Forscher (z. B. 8.88). Aber es ist nicht 
alles richtig, und das Bild, das sich der Verfasser von ihm 
macht, ist es auch nicht. Der Band liest sich ebenso an- 
genehm wie die voraufgehenden und ist mit einigen guten 
Abbildungen und einer Übersichtskarte mit des Verfassers 
Reiserouten zweckmäßig ausgestattet, r. 


0. Goebel, Volkswirtschaft des westbaikalischen 
Sibirien. X u. 326 S. mit 4 Karten. (Berichte über 
Landwirtschaft, herausgegeben im Reichsamte des Innern, 
Heft 14.) Berlin 1910, Paul Parey. 3,25 f. 

Die Darstellung, die auch Jakutsk umfaßt, gründet sich 
auf der B. IX teilweise angegebenen Literatur, aber offenbar 
auch auf eigenen Studienreisen des Verfassers. Für den 
Geographen ist im Kap. I (Allgemeines) manches von Interesse. 
8.13 sucht der Verfasser die Frage zu beantworten, wieviel 
Menschen Westsibirien überhaupt zu ernähren imstande sein 
dürfte; es wären unter Voraussetzung einer völligen Boden- 
ausnutzung und einer entsprechenden Entwickelung von Vieh- 
zucht und Fischfang im Maximum 60 Millionen (gegen 
8,5 Millionen heute). Bezüglich der Güte des sibirischen 
Bodens für Ackerbauzwecke urteilt der Verfasser, daß die 
sibirische Schwarzerde nicht so reich und nicht so tief- 
gründig zu sein scheine, wie im Europäischen Rußland, daß 
sie sich auch weniger kontinuierlich ausdehne; man klage 
schon jetzt an vielen Stellen über Erschöpfung des Bodens. 
Gegen den Schluß dieses Teiles meint der Verfasser: „Daß 
sich Sibirien nicht noch stärker entwickelt, als es unter dem 


Einfluß der Bahnbauten und der Übersiedelung geschieht, 
liegt an der geringen Unternehmungslust und Arbeitsfreudig- 
keit sowohl der eingeborenen Sibirier, als auch der Zuwan- 
derer. Von manchen Seiten sucht man den letzten Grund 
in dem Überfluß an Land, den der einzelne Bauer habe, und 
in der dadurch bedingten extensiven Wirtschaftsweise. Es 
fehlt aber z. B. in den sibirischen Städten durchaus nicht 
an Proletariat, aber trotzdem ist es schwer, Arbeiter zu finden, 
da die Bevölkerung die Arbeit vielfach nur notgedrungen 
tut. Unter allen diesen Verhältnissen hat sich Sibirien nicht 
so lebhaft entwickelt, wie manche angenommen haben, und 
es wird vermutlich auch nie eine stürmische Entwickelung 
eintreten. Die Verhältnisse drängen aber zum mindesten zu 
einem ständigen Fortschreiten in der Aufschließung und Aus- 
nutzung des Landes.“ 

Die speziellen Kapitel der Arbeit enthalten eine Fülle 
von wichtigen Tatsachen oder wenigstens von Tatsachen, die 
einmal wichtig gewesen sind. Denn jüngeren Datums als 
1907 ist nichts. Nun ist doch aber die Veröffentlichung 
offenbar für den deutschen Kaufmann und Industriellen be- 
stimmt, und was sollen die mit heute großenteils überholten 
Angaben? Der Verfasser oder das Reichsamt des Innern hat 
sich mit der Veröffentlichung dieser fleißigen Arbeit zu viel 
Zeit gelassen, und so erscheint sie leider im Grunde zwecklos. 


Edward Sapir, Takelma Texts. 263 8. (University of 
Pennsylvania, The Museum, Anthropological Publications, 
Vol. II, No.1.) Philadelphia 1909. 

Die Takilmasprache ist nach Gatschet eine besondere 
Sprache, die an der Oregonküste um den unteren Rogue 
River gesprochen wird, früher aber sich weiter an diesem 
Flusse oberhalb ausdehnte. Dorsey fand die Takilma auf 
27 Individuen zusammengeschmolzen im Jahre 1884 in der 
Siletzreservation, und es gelang ihm, ein Vokabular der 
Sprache anzulegen. 

Abgesehen von einigen kurzen Aufsätzen über die Ta- 
kilma ist die Literatur hierüber bisher sehr dürftig ge- 
wesen. Durch die umfangreichen Arbeiten Sapirs ist nun 
ein reiches Material erschlossen worden, das sowohl dem 
Sprachforscher wie dem Mythologen hochwillkommen ist. 
Es schließt sich an desselben Verfassers kalifornische Yana- 
texte an (Univ. of Californ. Publicat. in Am. Arch. and Ethnol. 
IX, No. 1, Berkeley 1910) und gibt zu wichtigen Fragen über 
die Verbreitung der Mythenmotive in den Gebieten zwischen 
Britisch-Kolumbien und Kalifornien Veranlassung. Sapir be- 
tont, daß trotz des kalifornischen Charakters der materiellen 
Kultur der Takilma die Mythologie von der Zentralkaliforniens 
wesentlich verschieden ist, namentlich in dem Fehlen eines 
Schöpfungsmythus und im Vorhandensein eines scharf be- 
grenzten Kulturheroenmythus. In dieser Hinsicht ergeben 
sich vielmehr Beziehungen zum nordwestlichen Kalifornien. 
Andererseits ist es nicht gut angängig, einen Zusammenhang 
mit dem nördlichen Oregon herzustellen, da sich der Kultur- 
heros nicht mit dem Coyote identifizieren läßt. Wohl tritt 
der Coyote häufig genug in den Mythen auf, aber er spielt 
wie in Kalifornien hauptsächlich die Rolle eines listigen 
Gauners, eine Eigenschaft, die, wie ich beifügen möchte, in 
Zentralamerika nach meinen Beobachtungen dem Kaninchen 
zukommt, während umgekehrt der Coyote in den mittel- 
amerikanischen Tiermärchen allemal der Betrogene ist. 

Weiter finden sich in den Takilmamythen nicht wenige 
Motive des nördlichen Kaliforniens, von Oregon, Washington 
und der übrigen Umgebung wieder, so vor allem die Bären- 
geschichten. Im ganzen ist jedoch der Typus der Takilma- 
mythen ein eigenartiger. Zu weiteren Schlüssen wird man 
gelangen, wenn erst die Mythologien der Kalapuya, Shasta 
und der verschiedenen athabaskischen Stämme Oregons publi- 
ziert sein werden. 

Im Anschluß an diese jetzt in den Staaten mehr und 
mehr zunehmenden Mythensammlungen, von denen ich noch 
an die wichtigen Fox Texts der Algonkin von William Jones 
(Publications of the American Ethnological Society, edited 
by Franz Boas, Vol.I, Leyden 1907) erinnere, sei der soeben 
als Heft 1 des 4. Bandes der Mythologischen Bibliothek er- 
schienenen grundlegenden Arbeit Paul Ehrenreichs „All- 
semeine Mythologie und ihre ethnologischen Grundlagen“ 
Leipzig 1910) gedacht. Die Gedanken, die Ehrenreich be- 
reits in seinen Mythen und Legenden der südamerikanischen 
Urvölker (Berlin 1905) entwickelt hat, werden in dieser seiner 
letzten Arbeit mit kritischer Vorsicht ausgebaut, verallge- 
meinert und vertieft. Für jeden, der es überhaupt der Mühe 
für wert hält, sich mit Mythologien oder gar mit verglei- 
chender Mythologie zu beschäftigen, kann dieses in seiner 


Kleine Nachrichten. 


179 





Art bahnbrechende Werk nur auf das dringendste empfohlen 
werden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß es geduldiger 
und objektiver Forschungsmethode gelingen wird, zunächst 
in Amerika, wie es bereits Ehrenreich in seinen Mythen und 
Legenden der südamerikanischen Urvölker gezeigt hat, mytho- 
logische Provinzen festzulegen, die im Zusammenhang mit 
den Ergebnissen der Sprachforschung, Ethnologie, Archäologie 
und Anthropologie neues Licht auf die Entwickelung und 
Ausbreitung der amerikanischen Völkerstämme werfen können. 
Freilich ist die Mythendeutung ein sehr gefährliches Gebiet, 
namentlich wenn sie sich mit einem engeren Feld nicht be- 
gnügt, sondern Parallelen aus der ganzen Welt heranzieht. 
Dr. Walter Lehmann-München. 


Karl Goës, Die indischen Großstädte. 93 8. mit Ta- 
bellen. (Statistische und nationalökonomische Abhand- 
lungen, herausgegeben von Georg v. Mayr, Heft VII.) 
München 1910, Ernst Reinhardt. 3,50 f. 

Die Arbeit beruht im wesentlichen auf den Veröffent- 

lichungen über den indischen Zensus von 1891 und 1901. 


Die Zahl der indischen Großstädte ist gering im Verhältnis 
zur Gesamteinwohnerzahl; von ihr entfallen nur 2 Proz. 
(etwa 6,6 Mill.) auf jene. Die alten Residenz- und Kult- 
städte Indiens zeigen mitunter einen sehr bedeutenden Rück- 
gang, woran verschiedene Ursachen schuld sind, u. a. die 
manchmal ungünstige Lage zu den modernen Hauptverkehrs- 
straßen. Der Verfasser bespricht zuerst die Großstädte als 
statistische Faktoren, dann deren äußere Entwickelung auf 
geschichtlicher und wirtschaftlicher Grundlage, ferner die 
Bevölkerung nach ihrer natürlichen und sozialen Differen- 
zierung. Aus dieser Betrachtung ergeben sich für die indi- 
schen Großstädte Erscheinungen, die zum Teil denen in euro- 
päischen Großstädten gerade entgegengesetzt sind. Dazu ge- 
hört z.B. das starke Überwiegen des mänulichen Geschlechts 
(in Kalkutta kommen auf 1000 Männer nur 507 Frauen). 
Die Geburtenzahlen werden von den Sterbezahlen erheblich 
übertroffen, und wo eine Bevölkerungszunahme stattfindet, 
geschieht es infolge der Zuwanderung von außen her. Er- 
wähnt wird auch die Bedeutung der Großstädte für die 
national-indische Bewegung. . 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Besteigung des Kasbek. Am 5. August d. J. haben 
zwei deutsche Hochtouristen, K. Vandewart aus Nürnberg 
und E. Schmalbruch aus Berlin-Wilmersdorf, den Kasbek 
von der Seite des Dewdoraki-Gletschers erstiegen. Nachdem 
sie bei regnerischer Witterung in der Jermolowschutzhütte 
(12000), die wegen sehr defekten Dachs sehr geringen Schutz 
gewährte, übernachtet, brachen die Bergsteiger um 3 Uhr 
nachts mit zwei einheimischen Führern auf. Das Wetter war 
recht schlecht, Schnee wechselte mit Hagel, der eisige starke 
Wind war sehr empfindlich. Stellenweise war der Schnee 
so vereist, daß Stufen gehauen werden mußten. Nach sehr 
beschwerlichem Anstieg wurde der Gipfel nach 3 Uhr nach- 
mittags erreicht. Wegen heftigen Gewittersturms verweilte 
die kleine Gesellschaft nur kurze Zeit auf dem in Wolken 
gehüllten Gipfel. Nach ebenso beschwerlichem Abstieg wurde 
die Jermolowhütte gegen 8 Uhr abends wieder erreicht. Die 
Touristen hatten also mehr als 16 Stunden gebraucht, während 
10 Tage vorher drei russische Bergsteiger bei sehr gutem 
Wetter den gleichen Weg in 11 Stunden gemacht hatten, 
wovon noch mehr als eine Stunde Aufenthalt auf dem Gipfel 
abzurechnen war. H. 


— „Wissenschaftliche Luftschiffahrten in der 
Arktis“. Wie hier seinerzeit mitgeteilt wurde, besteht das 
Bestreben, die Zeppelin-Luftschiffe für die Erforschung der 
Polargebiete, insbesondere ihrer Luftschichten, zu verwenden, 
und für die Verwirklichung dieser Idee hat sich in Deutsch- 
land ein „Arbeitsausschuß“ gebildet. Zunächst hat dieser 
Anfang Juli den Lloyddampfer „Mainz“, an dessen Bord sich 
u. a. Graf Zeppelin selber, Prof. Hergesell und Prof. v. Dry- 
galski befanden, nach Spitzbergen geschickt, damit Unter- 
suchungen über die dortigen Landungsmöglichkeiten für 
Luftschiffe angestellt würden. Diese Expedition ist Ende 
August zurückgekehrt und stellt sich (durch das Wolffsche 
Telegraphenbureau) öffentlich folgendes Zeugnis aus: „Der 
Zweck der Fahrt ist vollkommen erreicht. Alle für Lan- 
dungen mit Luftschiffen auf Spitzbergen in Betracht kommen- 
den Plätze sind genau untersucht. Hierbei wurden durch 
den Grafen Zeppelin selbst wichtige Versuche mit vorher 
konstruierten Verankerungen auf dem Lande und auf dem 
Polareise gemacht. Zur Feststellung der Fahrbedingungen 
von Luftschiffen im Polarsommer wurde eine Reihe aero- 
logischer Beobachtungen und tägliche meteorologische Messun- 
gen ausgeführt. Auch wurde durch besondere Methoden zu 
verschiedenen Malen die Nebelhöhe und die Nebeldicke be- 
stimmt, wobei sich gleichfalls günstige Verhältnisse für den 
Luftschiffahrtsbetrieb ergaben. Auch die übrigen ozeano- 
graphischen, glazialen und optischen Untersuchungen konnten 
zur vollsten Zufriedenheit sämtlicher beteiligten Gelehrten 
ausgeführt werden, entsprechende Veröffentlichungen befinden 
sich in Vorbereitung. Die Studienreise hat die Ausführ- 
barkeit wissenschaftlicher Luftschiffahrten mit Zeppelin- 
Luftschiffen in den arktischen Regionen ergeben. Unter den 
30 auf Spitzbergen und dem Polareise verbrachten Tagen 
waren nur drei, an denen das Wetter für die Fahrt mit Luft- 
schiffen hinderlich gewesen wäre. Auf Spitzbergen wurden 
geeignete Landungsplätze ermittelt. Nach den ausgeführten 
Versuchen wird die Verankerung der Luftschiffe auf dem 
Polareise leicht und in kurzer Zeit mit der Besatzung der 


Luftschiffe auszuführen sein. Der Arbeitsausschuß ist hier- 
nach von der Ausführbarkeit des Vorhabens, mit Zeppelin- 
Luftschiffen in der Arktis wissenschaftliche Forschungsfahrten 
zu unternehmen, überzeugt; er erblickt deshalb seine nächste 
Aufgabe darin, für die Ausbildung von Luftschiffen zu langen 
Fahrten über See von der nordischen Zentralstation Hamburg 
aus zu wirken. Hier kommt in erster Linie in Betracht die 
Erzielung höchster Betriebssicherheit auf maschinellem Gebiet, 
sowie Schulung eines besonderen Personals und Ausbildung 
einer sicheren Navigation. Mit so entwickelten Luftschiffen 
wird alsdann der Arbeitsausschuß mit aller Energie an die 
Verwirklichung wissenschaftlicher Luftschiffahrten in der 
Arktis herantreten.“ 

Also die Ausführbarkeit wissenschaftlicher Fahrten 
mit Zeppelin-Luftschiffen in den Polargebieten soll nach- 
gewiesen sein. Man sollte aber meinen, daß doch wohl nur 
die Praxis diesen Nachweis zu führen imstande sei. Übrigens 
fehlt auch noch der zwingende Nachweis für den entsprechen- 
den wissenschaftlichen Wert solcher kostspieliger Fahrten, 
und bevor der nicht geführt ist, müßte gegen etwaige Ver- 
suche, dafür Reichsunterstützung zu erlangen, nachdrücklich 
Widerspruch erhoben werden. Indessen hat es damit offen- 
bar noch keine große Eile, wie aus den letzten Sätzen der 
zitierten Meldung hervorzugehen scheint. 


— Ein Königreich Montenegro gibt es seit dem 
29. August 1910. An jenem Tage hat die montenegrinische 
Volksvertretung, wie verabredet war, den bisherigen Fürsten 
Nikolaus I. gebeten, den Königstitel anzunehmen, und dieser 
hat es getan. Die Zustimmung Europas ist natürlich nicht 
zweifelhaft. Nun sind also alle die christlichen Staatengebilde 
der südosteuropäischen Halbinsel Königreiche. Das König- 
reich Montenegro ist 9080 qkm groß und hat eine Bevölkerung 
von schätzungsweise 228000 Seelen. Seit 1905 hat Monte- 
negro eine sogenannte Verfassung. 


— Eine Karte des Konzessionsgebietes der Ge- 
sellschaft „Süd-Kamerun“ in 1:300000 hat M. Moisel 
in Heft 2 der diesjährigen „Mitt. a. d. dtsch. Schutzgeb.“ ver- 
öffentlicht. Sie bedeutet einen Ausschnitt aus den vier süd- 
lichen Blättern der neuen Kamerunkarte in 1:300000, die 
wohl bald fertig vorliegen dürften. Die genannte Gesellschaft 
hatte bekanntlich 1898 in Südkamerun ein gewaltiges Ge- 
biet zur Ausbeutung überantwortet erhalten, das erst 1905, 
nachdem sich allerlei Unzuträglichkeiten ergeben hatten, durch 
neuen Vertrag der Regierung mit der Gesellschaft auf ein 
vernünftiges Maß reduziert wurde. Hauptmann Ramsay 
führte zwecks Begrenzung des neuen Konzessionsgebietes 
1906/07 die nötigen Aufnahmen aus, und auf diesen sowie 
seinen Breitenbestimmungen beruht die Karte in der Haupt- 
sache, die im übrigen noch viele andere bisher unveröffent- 
lichte Routenaufnahmen, darunter auch solche von Angestellten 
der Gesellschaft, enthält. — Das heutige Hauptgebiet der 
Gesellschaft, 12600 qkm groß, umfaßt im wesentlichen zwei 
jener „Toten Zonen“, die man in Südkamerun vielfach an- 
trifft: unbewohnte Urwälder. Es liegt etwa zwischen dem 
14. und 15. Längengrad und zwischen 2°30’ und 4° n. Br 
(reicht aber nördlich an einer Stelle bis zum Dume). Außer- 
dem gehört dazu ein von jenem getrenntes Urwaldstück von 


180 


Kleine Nachrichten. 





2600 qkm Größe zwischen dem Bumba und seinem westlichen 


Nebenfluß Bök. Im Begleitwort zur Karte sind die benutzten 
Ortsbestimmungen zusammengestellt. 


— Dr. W. Dröscher berücksichtigt in einem in der Zeit- 
schrift für Fischerei, XIII, 3/4, erschienenen Aufsatz „Der 
Schaalsee und seine fischereiwirtschaftliche Nutzung“ auch 
die allgemeinen physikalischen und geologischen Verhältnisse 
dieses zweittiefsten norddeutschen Landsees. Sein Einzugs- 
gebiet ist etwa siebenmal größer als sein Areal, daher stehen 
such seine Wasserstandsschwankungen in keiner unmittel- 
baren Beziehung zu den Niederschlägen im Einzugsgebiet. 
Die stärksten Niederschläge finden in den Monaten Juni bis 
Oktober, die höchsten Wasserstände dagegen im Februar bis 
Mai statt, hinken also den Niederschlägen um 5 bis 8 Monate 
nach. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der See in der Haupt- 
sache durch Grundwasser gespeist wird, worauf auch die ver- 
hältnismäßig hohe Temperatur der untersten Schichten (am 
4. Juli und am 4. September wurde in je 65m 6° gemessen) 
hindeutet. Die Durchsichtigkeit des Wassers übertrifft dagegen 
die der meisten norddeutschen Landseen, sie stieg im Sep- 
tember 1907 bis auf 8m. Der mit Laichrevieren von der 
Natur gut bedachte See liefert ein gutes Erträgnis. Dröscher 
schätzt den jährlichen Gesamtertrag auf 41000 fb, wovon 
auf den Aalfang etwa 15000 fb kommen, durchschnittlicher 
Ertrag eines Hektars war demnach 17,60 #4. Bei einheitlicher 
Verpachtung an eine, höchstens zwei Genossenschaften würde 
sicherlich ein noch höherer Betrag herauszuwirtschaften sein. 
Der am meisten bemerkenswerte Fisch des Schaalsees ist 
die Schaalseemaräne, die mit der Maräne des Madüsees in 
Pommern, des Selentersees in Holstein und einiger anderen 
Seen Norddeutschlands identisch ist und allein einen Ertrag 
von jährlich 4000 f liefert. Dröscher schlägt die Errichtung 
einer Maränenbrutanstalt an der Schaalmühle und die regel- 
mäßige jährliche Gewinnung befruchteter Maräneneier wäh- 
rend der Laichzeit vor. Leider stützen sich seine Ausein- 
andersetzungen über den Boden des Schaalsees auf die veraltete, 
bei Geinitz, Die Seen, Moore und Flußläufe Mecklenburgs, 
Güstrow 1886, veröffentlichte Tiefenkarte des Sees von Peltz, 
welche von den neueren in den geologischen Karten der 
Preußischen Geologischen Anstalt plubizierten erheblich ab- 
weicht. Halbfaß. 


— M. Ebelings Beschreibung seiner Reise durch 
das isländische Büdland (Zeitschr. d. Ges. f. Erdkunde 
zu Berlin 1910) ist zu entnehmen, daß das heutige Island als 
im Durchschnitt 600 m hohe Hochfläche aus dem Meere auf- 
steigt; sie besteht zum größten Teile aus einer Basaltformation, 
welche ihrerseits in eine lignitführende ältere, tertiäre und 
eine moränenführende jüngere, quartäre Basaltformation 
unterschieden werden kann. Sie hat unter dem Einfluß einer 
oder mehrerer Eiszeiten gestanden, die, wie die überall vor- 
handenen Gletscherschrammen beweisen, zu gewissen Zeiten 
die ganze Insel mit ihren Eismassen bedeckt haben, und 
unter deren Einfluß ein beträchtlicher Teil der Insel noch 
jetzt steht. In den fluvioglazialen Bildungen kommen jüngere 
vulkanische Bildungen in Gestalt von Lavaströmen und Tuffen, 
und äolische Bildungen wie loser und verfestigter Flugsand 
sowie Dünen hinzu. Island nimmt an der großen positiven 
Wärmeanomalie Nordeuropas teil; es hat verhältnismäßig 
warme Winter und kühle Sommer; nur das Nordland der 
Insel ist wegen des grönländischen Eises ungünstiger gestellt, 
so daß dort mitten im Sommer zuweilen Schneefälle ent- 
stehen. Infolge der geringen Sommerwärme reift in Island 
keinerlei Getreide, doch bauen die Bauern schlechte Kar- 
toffeln, etwas Rüben und Kohl. Wiesenkultur und Viehzucht, 
an der Küste der Fischfang müssen den Lebensunterhalt 
bestreiten. Boden wie Arbeitskräfte werden absolut nicht 
ausgenutzt, Düngen ist fast unbekannt, Drainieren kennt man 
so gut wie nicht. Dem Vieh läßt der Isländer nur geringe 
Sorgfalt angedeihen; Schweine sind so gut wie abgeschafft, 
die Zahl der Kühe wird mehr und mehr beschränkt, da es 
sonst gilt Heu zu machen. Dabei vermöchte der isländische 
Boden bei nur einer geringen sorgfältigen Kultur bei weitem 
mehr Menschen zu ernähren, als es jetzt der Fall ist, und 
mit den drei Schlagworten: Arbeite, dünge, entwässere! ließe 
sich die gesamte isländische Landwirtschaft umkrempeln, sehr 
zu ihrem Vorteile. E. R. 

— Dr.KarlKumm, Professor der orientalischen Sprachen 
in Freiburg, durchquerte, wie hier schon kurz mitgeteilt 
wurde, 1908/09 das nördliche Afrika von der Mündung 
des Niger bis zum oberen Nil (Gaba Schambeh, nördlich von 
Lado), hauptsächlich in der Absicht, die Missionsstationen 
des mittleren Sudans zu besuchen. Ihm verdankt man einige 


nicht unwesentliche Korrekturen in der Karte von Französisch- 
Äquatorialafrika; auch entwarf er ausführliche topographische 
Skizzen von der Umgebung von Bukuru (südwestlich von 
Bautschi in Nord-Nigeria) und von Ndele, der Hauptstadt 
des mohammedanischen Herrschers Senussi (ostsüddstlich von 
Fort Archambault am Schari, in der französischen Aquatorial- 
provinz). Das Augustheft des „Geogr. Journal“ von 1910 
enthält nun Dr. Kumms Vortrag in der Londoner Geogr. 
Gesellschaft nebst Kartenbeilagen und vier Abbildungen von 
Land und Leuten. Von der Küste bis Fort Archambault und 
von der Grenze des Bahr el Ghasal-Gebietes nach Osten sind 
es meist bekannte Landschaften, die er durchzogen und be- 
schreibt. Besonders erwähnenswert dürfte nur sein, daß 
das Plateau von Bautschi (Nord-Nigeria) auch das Plateau 
von Bukuru (1300m ü. d. M.) mit einer Bevölkerung von 
120000 Seelen umschließt und daß das Reich des Senussis 
Frankreich an Größe gleichkommt; dessen Hauptstadt Ndele 
liegt 480m ü. d. M. und zählt an 10000 Einwohner. Die 
meisten Untertanen Senussis sind seine eigenen Sklaven, die 
er aus den ringsum über 100 km weit verwüsteten Grenz- 
gegenden zusammengetrieben hat. Der wichtigste Handels- 
artikel zum Austausch gegen europäische Zeuge und Waren 
im englisch-ägyptischen Sudan besteht aus Kautschuk und 
Elfenbein, welch letzteres bei den zahlreichen Elefanten- 
herden in großen Massen gewonnen wird. Von Ndele nach 
Osten erstreckt sich eine neun Tagemärsche weite unbewohnte 
Wildnis; in stetem Wechsel folgen aufeinander felsiger Boden, 
große Moräste, dichte Dschungel, endlose Savannen, bis man 
bei Katwaka (9° n. Br. und 24° ö. L.) ein hügelgekröntes 
Plateau (1220 m ü. d. M.) erreicht, welches die Wasserscheide 
zwischen dem Schari-Kongosystem und dem Nilgebiet bildet. 
Dies ist eine der bemerkenswertesten geographischen Tat- 
sachen, die Dr. Kumm als Erster konstatierte. — Interessant 
dürfte ebenfalls sein, was Dr. Kumm über die sudanesischen 
Mekka-Pilgerfahrten und deren veränderte Route sagt. 
Ehe Adamaua deutsche Kolonie ward, gingen diese von 
Nord-Nigeria über Dikoa und südlich um den Tsadsee nach 
Wadai, Kordofan usw. Als aber die Deutschen Zoll er- 
hoben, schlugen die Pilger einen Weg nördlich um den 
Tsadsee ein und dann den Schari aufwärts nach Fort Ar- 
chambault und von Ndele in nördlichem Bogen nach Keffi 
Genji, an der Grenze des englisch-ägyptischen Sudans. Dr. 
Kumms Weg von Ndele ostwärts liegt südlicher und wird 
künftig, wie er meint, wegen günstigerer örtlicher Verhältnisse 
von den Pilgern vorgezogen werden. Eine Pilgerkarawane 
braucht von Timbuktu bis Mekka ein ganzes Jahr. Eine 
große Anzahl von alten Männern, von Weibern und Kindern 
schließt sich an; doch die meisten sterben unterwegs oder 
werden in Mekka verkauft. Nur wenige von der großen 
Menge kehren, im elendesten Zustande, in die Heimat zurück. 
Dr. Kumm traf mit einer solchen Karawane, an deren Spitze 
der Sohn des Sultans von Timbuktu sich befand, in Fort 
Archambault zusammen; da war sie 150 Köpfe stark, mit 
500 Stück Rindern reichlich ausgestattet. Als er ihr aber 
an der Grenze von Darfor wieder begegnete, war sie schon 
auf ein Drittel zusammengeschmolzen und hatte all ihr Vieh 
verloren. Trotzdem wanderte sie unverdrossen weiter, von 
religiösem Fanatismus getrieben. Solcher Heroismus flößt 
den heidnischen Negern einen derartigen verehrungsvollen 
Respekt ein, daß sie sich in zahlreichen Fällen zum Islam 
bekehren. B. F. 


— Dr. 0. Reche von der Hamburger Südsee- Expedition 
hatUntersuchungen über Wachstum und Geschlechts- 
reife bei melanesischen Kindern angestellt (Korre- 
spondenzblatt der Deutschen anthropologischen Gesellschaft 
1910, Nr.7), auf die wir hier hinweisen wollen, weil sie mit 
gewissen bisher als allgemein gültig angenommenen An- 
schauungen im Widerspruch stehen, nämlich mit der Ansicht, 
daß unter dem Einflusse eines heißen Klimas die Geschlechts- 
reife früher eintrete als in einem kälteren. Auf Matupi 
(Neu-Pommern) konnte er 58, dem Alter nach genau bestimmte 
Kinder in der dortigen Mission untersuchen, wobei er mancher- 
lei in anthropologischer Beziehung wichtige Ergebnisse erhielt, 
die von unseren Verhältnissen abweichen, aber Übereinstimmung 
(nach Baelz) mit Japanern zeigen. So z. B. ist bei jenen 
Melanesiern das Wachstum um einige Jahre früher beendet 
als bei europäischen Kindern. Am auffallendsten aber 
zeigte sich der Unterschied beim Eintritte der Pubertät, die 
bei den Matupimädchen erheblich später als bei den Mittel- 
europäerinnen eintritt, nämlich erst mit dem 17. Lebensjahre, 
gegen das 14. bei uns. Dr. Reche nimmt wohl mit Recht an, 
daß diese Unterschiede in erster Linie mit der Rasse im Zu- 
sammenhang stehen, und daß klimatische Einflüsse aus- 
geschlossen sind. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 





GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 











Bd. XCVIII. Nr. ı2. 


i BRAUNSCHWEIG. 





29. September 1910. 








Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


Sind die Tapiete ein guaranisierter Chacostamm ? 


(Mitteilung von der Hernmarckschen Expedition.) 
Von Erland Nordenskiöld. 


In Bolivia gibt es zwei Stammesnamen, die dem 
Reisenden vor näherer Kenntnis der Verhältnisse große 
Schwierigkeiten bereiten. Der eine ist der Name Guarayo 
(Huanayo, Guärayü), der andere Tapiete (Tapii, Tapuy). 
Im Grenzgebiete zwischen Bolivia und Peru nennen die 
Weißen alle wilden Indianer Guarayos. Dies kommt 
daher, weil mehrere Indianerstämme das Wort Huanayo 
oder Guarayo in der Bedeutung Feind anwenden !). Diese 
Stämme im Grenzgebiete von Peru und Bolivia sprechen 
Pano oder Tacana, aber nicht Guarani. Die echten Gua- 
rayo, oder richtiger Guärayü, kennen wir besonders 
durch d’Orbigny. Sie leben teils in den Missionen 
zwischen dem Rio S. Miguel und Rio Blanco in Ostbolivia, 
teils unabhängig am Rio Paragua, einem Nebenflusse des 
Rio Guaporé, wo sie Pauserna genannt werden. Diese 
Guärayü in Ostbolivia sind, wie bekannt, Guarani 2). 

Über die Tapiete (Tapii, Tapuy) herrscht eine ganz 
besondere Unsicherheit. 

In der Literatur finden wir sie mehrfach erwähnt. 

Domenico del Campana?°) hat das zusammen- 
gefaßt, was wir über sie wissen. In der von ihm ange- 
führten Literatur werden teils die Chang, teils ein Stamm 
zwischen dem Rio Pilcomayo. und dem Parapiti Tapiete 
(Tapii) genannt. 

Cardus#) spricht von den Tapiete, die am Rio Pilco- 
mayo leben; er erwähnt auch, daß die Chané und Izozenos 
von den Chiriguano Tapui genannt werden. 

Campos?°) hat dadurch die Verwirrung noch ver- 
größert, daß er die Aschluslay Tapiete genannt hat, und 
da seine Arbeit unter den Weißen in Südostbolivia recht 
bekannt ist, so ist dieser Name jetzt am Pilcomayo sehr 
gebräuchlich. Den richtigen Namen der Aschluslay oder 
ihren Chorotinamen Aschli kennt kein Weißer am Pilco- 
mayo. Die Aschluslay gehören zur Matacogruppe. 

Die übrigen Guarani sprechenden, Tapiete (Tapii, 
Tapuy) genannten Indianer werden von den meisten Ver- 
fassern als zu demselben Stamme wie die Chiriguano 


1) Erland Nordenskiöld: Beiträge zur Kenntnis einiger 
Indianerstämme des Rio Madre de Dios-Gebietes. Ymer 1905, 
Heft 3. 

2) Alcide d’Orbigny: L'homme américain. Paris 1839. 

2) Domenico del Campana: Cenni see i Tapii ed i 
Tapihete. Archivio per l’Antropologia e la Etnologia. Firenze 
1902, 8. 283—289. 

*) Cardus: Las Misiones Franciscanas entre los infieles 
de Bolivia. Barcelona 1886. 

®) Cam pos: Expedición Boliviana de 1883. Buenos Ayres- 
La Plata 1888. A 

Globus XCVOI. Nr. 12. 


gehörend betrachtet. Giannecchini®) hält die Tapiete 
und Tapii für zwei Gruppen des früher zahlreichen und 
kriegerischen Chiriguanostammes. Domenico del Cam- 
pana”) betont die Wichtigkeit der Ermittelung ihrer 
wirklichen Stellung. Kersten‘) rechnet die von den 
Weißen Tapuy genannten Chané in Bolivia zu der 
Arowakgruppe, was mir auch sprachlich zu bestätigen ge- 
lungen ist. Die Tapiete rechnet er”) aber zu den Tupi. 

Die von den Weißen Tapuy (Tapii) genannten Chané 
wohnen am Rio Itiyuro, bei Caipipendi (nicht Caipipendi 
am Rio Parapiti) unweit des Pilcomayo und am Rio 
Parapiti. Es ist dies ein Stamm, der kulturell auf der- 
selben Höhe wie die Chiriguano steht. Sie sprechen 
jetzt alle Guarani. Sie sind guaranisiert. Wie ich 
schon in einem früheren Hefte des Globus betont habe 1°), 
findet man noch Reste der ursprünglichen Sprache, die 
eine Arowaksprache ist!!), Die Chané nennen sich 
niemals untereinander Tapuy (Tapiete oder Tapii). Die 
Chané sind von den Chiriguano unterworfen worden. 

Kersten?) stellt die älteren Angaben zusammen, 
die dieses bestätigen. Er sagt außerdem: »Das Unter- 
tanenverhältnis der Chané zu den Chiriguano kam schon 
dadurch zum Ausdrucke, daß der Chané diesen als „cheya“ 
— mein Gebieter bezeichnete, während er umgekehrt bei 
den Chiriguano „tapii* — Sklave hieß.« 

Die eigentümliche Verbreitung der Chané innerhalb 
des Gebietes der Chiriguano beweist, daß sie Reste eines 
zersprengten Stammes sind. Die Chane sind aber nicht 
der einzige guaranisierte Stamm hier in Südbolivia. Der 
andere sind die Tapiete. 


®) R. P. Dorot&o Giannecchini: Diario de la Expe- 
dición Exploradora Boliviania al alto Paraguay de 1880—1887. 
S. M. de los Angelos ‘1896. 
a} A. a. 0. 
®) Ludwig Kersten: 
Chaco usw. Internationales Archiv f. Ethnographie. 
1904. 8.69. 

°?) A. a. O., 8.67. 

10) Erland Nordenskiöld: Meine Reise in Bolivia 


Die Indianerstämme des Gran 
Leiden 


1908/09. Globus vom 14. April 1910. 

1) Chané Chané Mojo 

(Arowak) (Guarani) 

Wasser. . ŭné A une 
Mais. . .  sopóro avuatti sepossi 
Feuer yucu táta yucu 
Hund tamúco yaumbä tamuco 
Chicha (gut) liqui cángui itico 
Ratte . .  cóvo angúya cozo 


12) A. a. O., 8.70. 


182 Nordenskiöld: Sind die Tapiete ein guaranisierter Chacostamm? 





Diese Indianer (Abb.1 u. 2), die sich selbst Tapiete 
nennen oder wenigstens lieber Tapiete als Yanaygua, 
wie ein Teil von ihnen ebenfalls genannt wird, heißen 


lebt hatte, behauptete bestimmt, daß er sie unter sich 
eine Sprache habe sprechen hören, die er nicht verstanden 
habe. Diese Spur habe ich auf verschiedene Weise zu 


























DIE INDIANERSTÄMME 
IM 


BOLIVIAN.- ARGENTIN.-GRENZGEBIET. 
Maßstab 1: 3000000 


20 40 60 80 100 Km, 


Routen des Verfassers 1908 u. 1909. 
CHOROTI = Namen von ‚Indianerstämmen. 
A Dörfer nicht völlig seßhafter Indianer. 
o Niederlassungen der Weißen oder 
seßhafter Indianer (Chiriguano und Chané). 
& Missionsstationen. 
































wollen, wohnen zwischen dem Rio Pilcomayo und dem 
Rio Parapiti. Weder die Chiriguano noch die Chand 
betrachten sie als Verwandte. Sie sprechen jedoch alle 
Guarani, und ihr Dialekt gleicht sehr dem der Chiri- 
guano. Ein Chiriguano, der lange mit den Tapiete ge- 








1 Aquarati 

2 Aquaratimi. 
3 Tamane 

4 Coropa 

5 Yovi 

6 Aguaraygua 
7 Hurrapembe 
8 Tamachindi 
9 Ihuasiriri 








VE “ 5 ué 
ILA Esteros 


SASCHLUSLAY 











verfolgen gesucht. Ein Tapietehäuptling Yaré von Yu- 
quirenda am Pilcomayo, dem ich einen Dienst erwiesen 
hatte, beteuerte, daß sie keine besondere Sprache hätten. 

Am Rio Parapiti suchte ich einen Chané Bättcha 
auf, der etwa ein Jahr mit den Tapiete gelebt hatte. Er 


Nordenskiöld: Sind die Tapiete ein guaranisierter Chacostamm? 183 


erklärte aber, er habe nie gehört, daß sie eine eigene 
Sprache sprächen. Was die Weißen als Geheimsprache 
betrachteten, sei Choroti, das einige von ihnen sprechen 
könnten. Während der paar Wochen, die ich unter den 
Tapiete verweilte, habe ich sie nie etwas anderes als 
Guarani sprechen hören. 

Wir kennen somit von den Tapiete keine andere 
Sprache als Guarani. 

Kulturell gehören die Tapiete aber viel mehr mit den 
Mataco, Choroti und Toba zusammen als mit den Chiri- 
guano. Dies gilt vor allem für die wilden Tapiete 
(Yanaygua). 

Die Tapiete scheinen mir auch ein vermutlich zur 
Matacogruppe gehöriger Stamm zu sein, der infolge seiner 
Verbindung mit den Chiriguano deren Sprache und Ge- 
brauch des Tembeta angenommen hat. Wie die Chang, 
sind sie guaranisiert worden, obschon sie außerdem ihre 
eigene Kultur beibehalten haben. 

Während, wie schon erwähnt, die Chané an drei ge- 
trennten Stellen wohnen, leben die Tapiete in einem 
wahrscheinlich zusammenhängenden Gebiete. Dies er- 
streckt sich vom Rio Pilcomayo bis zum Rio Parapiti. 
Wie weit sie in den Chaco hinein wohnen, ist unbekannt. 
Am Pilcomayo sind sie ansässig, nach dem Parapiti 
kommen sie nur gelegentlich. So besuchte ich sie dort 
1908, fand sie aber 1909 nicht mehr da. 





Abb. 1. Tapietefrau vom Rio Parapiti. 


Ich habe nicht mehr als höchstens 200 Tapiete ge- 
sehen, ihre Anzahl ist aber mit Sicherheit größer, ob- 
schon im Verhältnis zu dem großen Gebiet wahrschein- 
lich ganz gering. Das von ihnen bewohnte Land ist 
auch sehr wasserarm und bietet daher keine großen 
Existenzmöglichkeiten. Am Pilcomayo bin ich in einem 
Dorfe gewesen, dessen Häuptling Yare heißt, und am 


Rio Parapiti in zwei Dörfern. In Yares Dorf hatte man 
außer runden Hütten zahlreiche viereckige vom Chiri- 
guanotyp (Abb. 3 u.4). In den Dörfern am Rio Parapiti 
sah ich nur runde Hütten von dem für die Choroti, 
Mataco und Toba charakteristischen Typ. 





Abb. 2. 


Tapietemann vom Rio Pilcomayo. 


Die Tapietemänner tragen, wie schon erwähnt, ein 
kleines Tembeta aus Holz. Die Tapiete, die ich am 
Parapiti antraf, tragen das Haar lang wie die Choroti 
und Mataco. Am Pilcomayo hatte der eine oder der 
andere das Haar mit einem Band um die Stirn auf 
Chiriguanoweise aufgesetzt, einige von diesen hatten ein 
Tembeta aus Zinn und Glasstückchen. Die Männer 
waren nicht tatuiert. Dagegen sah ich mehrere tatuierte 
Frauen (Abb. 5). Ihre Tatuierung gleicht der der Choroti 
und Mataco. Die Tracht der Männer bestand aus einem 
Stück Zeug, das die Geschlechtsteile schützte, sowie bei 
Kälte dem gewöhnlichen, aus Wolle gewebten Chaco- 
mantel. Die Frauen hatten einen ähnlichen, kleineren 
Schurz um die Hüften. 

Wie bei den Chiriguano, beginnt man auch hier 
unter den Tapiete den Brauch des Tembeta abzulegen, 
d. h. man bohrte den Knaben nicht mehr Löcher in die 
Unterlippe. 

Bei den Tapiete habe ich sehr wenig Schmucksachen 
gesehen. Dies kommt daher, weil ich bei ihnen zu einer 
Zeit war, wo Mangel herrschte. 

Die Tapiete leben vom Einsammeln wilder Früchte, 
Wurzeln und Honig, Hackbau, Jagd und Fischfang. Sie 
treiben außerdem etwas Viehzucht, besonders Schafzucht. 
Den Fischfang betreiben wohl nur die am Pilcomayo 
wohnenden Indianer, denn die am Rio Parapiti getrauen 
sich selten wirklich nach dem Flusse hinab. Die Tapiete 
bauen Mais, süße Kartoffeln, Wassermelonen, Baum- 
wolle, Zapallo (Cucurbita Pepo Lin.), Kalebassen und 


24 * 


184 


Bohnen. Ihre Pflanzungen kenne ich nicht, kann sie also 
nicht beschreiben. 

Ihre Fischgeräte am Rio Pilcomayo sind dieselben, 
wie die der Mataco, Toba und Choroti. Die Netze, die 





Abb. 3. 


Echte Tapietehütte. 


Keulen zum Töten der Fische und die Nadeln zum Auf- 
reihen derselben sind von demselben Typ. Die Taschen, 
in denen sie die wilden Früchte sammeln, sind aus Cara- 
guatä (einer Bromelia) und von dem uns von den Toba, 
Mataco und Choroti bekannten Typ. — Die Tapiete haben 
gleich den Choroti, Toba, Mataco 
und im Gegensatz zu den Chiri- 
guano und Chané keine Hänge- 
matten. Sie verstehen es, ebenso 
wie die drei ersteren, nicht, Korb- 
arbeiten zu machen. Die Chiri- 
guano und Chané verfertigen da- 
gegen Körbe. 

Wie die Mataco und Choroti, 
so bewahren sie den Honig in 
Beuteln aus abgehäuteten Tieren 
auf. — Die Keramik der Tapiete 
bietet nichts besonders Eigentüm- 
liches dar. Sie weist die Formen 
auf, die wir bei den Stämmen 
am Pilcomayo zu sehen gewohnt 
sind. Gleich ihnen haben sie die 
charakteristischen, in der Mitte 
eingeschnürten Wasserkrüge. Ge- 
wöhnlich sind sie mit Harz bemalt. 
Dieses Harz, das eine schwarz- 
grüne Farbe hat, wird gleich auf 
das Gefäß gestrichen, nachdem 
dieses gebrannt und noch warm 
ist. Auf ähnliche Weise bemalte 
Gefäße sind besonders von Bog- 
gianis Sammlungen aus dem para- 
guayischen Chaco her bekannt. Mit der schönen Keramik 
der Chiriguano haben sie nichts Gemeinsames. 

Von den Caraguatätaschen ist nur ein Typ mit 
rundem Boden für die Tapiete charakterisiert. Im übrigen 
sind diese Erzeugnisse der Caraguatäindustrie denen der 
Mataco und Choroti gleich. Die Chiriguano und die 





Nordenskiöld: Sind die Tapiete ein guaranisierter Chacostamm? 


Chane verfertigen dagegen niemals Taschen aus Cara- 
guata. 

Ihre Gewebe gleichen denen der Choroti, Toba und 
Mataco. Die hübschen ornamentierten Gewebe, die man 
besonders bei den Aschluslay zu sehen bekommt, sind 
den Tapiete unbekannt. 

An Werkzeugen sieht man Nadeln, Pfriemen und 
Messer aus Knochen sowie eigentümlich geschäftete Beile 
aus Eisen (Abb. 6). Die Blätter erhalten sie von den 
Weißen, das Schäften ist aber original. Das Beilblatt 
wird in der unentbehrlichen Caraguatätasche getragen 
und erst, wenn es zur Anwendung kommen soll, ge- 
schäftet. 

Die Tapiete benutzen Tabakpfeifen von der uns von 
den Mataco und Choroti bekannten Form. Gleich diesen 
sind sie eifrige Raucher, im Gegensatz zu den Chiriguano, 
die nur mäßig und außerdem selten Pfeife rauchen. 

Gleich den Mataco und Choroti sind die Tapiete 
schmutzig, während die Chiriguano und Chané sehr rein- 
lich sind. 

Die Tapiete begraben ihre Toten nicht, wie die Chiri- 
guano, in Tongefäßen unter der Hütte, sondern in runden 
Gruben unweit des Dorfes. 

Auch die Sagen der Tapiete ähneln denen der Chiri- 
guano und Chané nicht. Wie die Choroti, Mataco und 
Toba, bewundern die Tapiete die Chiriguano sehr, und es 
ist nichts Ungewöhnliches, daß sie als Diener bei ihnen 
arbeiten. Auch für die Chané habe ich die Tapiete ar- 
beiten sehen. Dies ist ein Beispiel für die hier 
zwischen den Indianerstämmen vorkommende 
soziale Ungleichheit. 

So ist es etwas sehr Gewöhnliches, daß Tapiete sich 
mit Kind und Kegel vor einem Chiriguanodorf nieder- 
lassen. Sie helfen dann bei allen möglichen Arbeiten 
und erhalten ihre Bezahlung in Mais. Diese Art und 


Weise, mit all seinem Hab und Gut zu wandern, ist gar 


Abb.4. Moderne Tapietehütte. 
nicht chiriguanoartig, stimmt aber mit den Sitten und 
Bräuchen der Mataco, Choroti und Toba überein. 

Wenn die Tapiete in die Chiriguanodörfer kommen, 
bringen sie oft Taschen aus Caraguatä, getrocknete Fische 
und anderes mit, um Tauschgeschäfte zu machen. Trotz 
dieser Besuche sieht man bei den Tapiete äußerst wenig 


Nordenskiöld: Sind die Tapiete ein guaranisierter Chacostamm? 185 





Chiriguanosachen. — Wir sehen somit, daß die Tapiete | sind ebenfalls von den Chiriguano stark beeinflußt, 
kulturell viel mehr mit den Mataco, Choroti und Toba | haben ihre eigene Sprache aber doch beibehalten. Sie 
zusammengehören. Es ist deshalb klar, daß sie ein ! begraben ihre Toten in großen Urnen, wie die Chiriguano. 





Abb. 5. 


a Chorotiweib mit Tatuierung, 
Esmeralda, Rio Pilcomayo. 

b Tapieteweib mit Tatuierung, 
Yuquirenda, Rio Pilcomayo. 

c Matacoweib mit Tatuierung, 

Crevaux. 
d Tapiete (Yanaygua) mit Tatulerung, 
Rio Parapiti, 

e Tapieteweib mit Tatuierung, 

Yuquirenda, Rio Pilcomayo. 





guaranisierter Stamm sind, der wahrscheinlich zur | Die Mataco Vejos vergraben die Tongefäße jedoch nicht, 
Matacogruppe gehört. — Auch auf die am oberen Pilco- | sondern stellen sie auf ein Gerüst im Walde in einer 
mayo wohnenden Toba haben 
die Chiriguano einen großen 
Einfluß. Diese verstehen fast 
sämtlich etwas Guarani. Ihre 
Guaranisierung hat begonnen. 

Lozano!3) spricht eben- 
falls von einem guaranisierten 
Matacostamm. Er schreibt 
nämlich 8.76: „Ay unos 
Uamados Mataguayes Coro- 
nados, y otros Mataguayes 
Churumatas. Los Coronados 





hablan la langua guarani ur Abb.6. Axt der Tapiete. '/, nat. Gr. 
aunque la materna suya es 
diferente.“ — Die Mataco Vejos, die längs den Anden | Grabhüttee — Lafone-Quevedo!t) meint, daß am 


zwischen dem Rio Bermejo und dem Rio Itiyuro wohnen, | unteren Rio Paraguay in der. Provinz Corrientes eine so 


Guarani sprechende Indianer in Südostbolivia. 


Chiriguano Chané (Arowak) Tapiete von den Ava, Chané, Tapii, Tapii, Tapiete, 
(Guarani) (guaranisiert) (guaranisierter Chiriguano (M)bia (am Cuüareta Yanaygua. 
Chacostamm, genannt: Parapiti). (Weiber, Spott- 
wahrscheinlieh name). 
von der 
Matacogruppe). von den Ava. Cunareta Tapiete. 
ins ee ; Tapiete (Weiber, Spott- 
von den Chiriguano, Chiriguano, Tapiete, genannt: name) 
Weißen Camba (Spott- Tapuy, Tapii, Yanaygua, g 
genannt: name in Bolivia), Isozeños, Tapii. vonden 
Chavanquo Chané, Camba, ETET AR 5 
(Spottname in Chavanquo. Choroti . Nyöna. ? Hueneck. 
Argentinien). genannt: 
von den Ava, Chané. Tapiete, von den z 
Chané (plur.) Avareta Yanaygua. Aschluslay ? ? Nihuennick. 
genannt: (Männer). genannt: 
3) Pedro Lozano: Description chorogräphica del ter- 14) Samuel A. Lafone-Quevedo: Etnologia Argentina 
reno, rios, árboles y animales etc. del gran Chaco. Cor- | (De la Universidad Nacional de la Plata en el IV° Congreso 
doba 1733. científico [10 Panamericano], 8. 176—215). Buenos Aires 1909. 


Globus XCVIII. Nr. 12. 25 


186 Rescher: Weib und Ehe in der Spruchweisheit der Araber. 





bedeutende Guaranisierung stattgefunden hat, daß die 
dort Guarani sprechenden Indianer ihrem Ursprung nach 
nicht Guarani sind. Auch für die dort von ihm dis- 
kutierte Frage ist die Beobachtung der Guaranisierung 


in Südbolivia von Interesse. — Alle die Namen, die ich 
für die Guarani sprechenden Indianer im südöstlichen 
Bolivia habe anwenden hören, sind auf S.185 unten 
zusammengestellt. 


Weib und Ehe in der Spruchweisheit der Araber. 


Von Dr. O. Rescher. Leipzig. 


Jung meistens schon verheiratet, mit einer Welt- und 
Lebensanschauung, die dem einmal gegebenen historischen 
Entwickelungsprozeß nur allzu willig sich unterordnet, 
pflegt der islamische Orientale (Araber wie Perser und 
Türke) Weib und Ehe weit weniger als ein individuell 
zu lösendes geistiges Problem zu betrachten, als vielmehr 
— fast durchgängig — lediglich unter dem Gesichts- 
punkte einer aus den praktischen Bedürfnissen des Lebens 
herausgeborenen Notwendigkeit — fast, um mit Cato cen- 
sorius zu reden, eines unvermeidlichen Übels — anzu- 
sehen. Ist auch nun in den ältesten Zeiten eine sehr 
verschiedenartige Bewertung der beiden Geschlechter 
(man denke an den bis auf Mohammed herrschenden, 
in Arabien ganz üblichen Mädchenmord der Neugeborenen) 
ganz unzweifelhaft und feststehend, so hat doch anderer- 
seits die primitive Kultur der Israeliten und Araber, 
obwohl ihr Schwergewicht auf der Kraft des männlichen 
Arms beruhte, einen prinzipiellen Gegensatz in der Stellung 
der beiden Geschlechter nie aufkommen lassen. Mag auch 
das Beduinenweib, wie die ihr in manchem Punkte ähn- 
liche Indianersquaw, sehr häufig des Lebens schwerste 
Bürde mit nimmerrastendem Arme auf sich zu nehmen 
sich gezwungen gesehen haben, oft mehr des Mannes 
Magd (zumal wenn er arm war) als Genossin, so besaß 
sie dennoch ein gewisses Minimum ethischer Freiheit, 
das sie dann unter günstigen Bedingungen leicht fort- 
entwickeln konnte; ja selbst die Führerschaft eines 
Stammes, von einem Weibe ausgeübt, galt keineswegs 
als etwas Befremdendes. Das ganze, von den ursprüng- 
lich dem Islam zugrunde liegenden Verhältnissen so 
prinzipiell verschiedene Denken des heutigen Orientalen, 
dessen Kulturzustand allerdings auch in erster Linie die 
städtische Entwickelung zugrunde liegt, läßt sich sicher 
als ein Erbe aus der Zeit herleiten, die man — mit 
Recht oder Unrecht — allgemein als die Blütezeit des 
islamischen Weltgedankens zu beurteilen pflegt: der 
Abbassidenherrschaft in der Kalifenresidenz Bagdad. 
Und hier war es auch, wo in dem Brennpunkte des 
ganzen geistigen Lebens Vorderasiens zur Zeit eines 
Härün der unterworfene persische Geist, der Träger der 
nie ganz erloschenen altorientalischen Weltanschauung, 
eben weil er kulturell höher stand als das erobernde 
Arabertum, als ein zweites Graecia victa jenen Gedanken- 
strom einer vergangenen ‚Welt in das Beduinenvolk und 
seinen neuen Glauben einströmen ließ, der fortan eine 
unverwischbare Tngrodidhn der neuen, manchmal doch 
so primitiv anmutenden Ideen bildete. Das Gemisch von 
Skeptizismus und kultureller Überfeinerung, das den 
Inhalt des Lebens und Treibens der oberen und wohl- 
habenden Schichten der damaligen Kalifenresidenz bildete, 
hat auch sein Teil zu der Deteriorierung der Frau und 
ihres gesellschaftlichen und geistigen Lebens beigetragen, 
wie sie im wesentlichen der heutige islamische Orient 
festgehalten hat. So entstanden allmählich, durch die 
der Frauenentwickelung feindlichen Tendenzen beeinflußt 
und gestärkt, die angeblichen Prophetenaussprüche, die 
die prinzipielle Scheidung der Geschlechter vom Stand- 
punkt einer religiös-absoluten Wertschätzung schon in 
den frühesten Islam hinaufzuverlegen suchen; die Frau 


war und blieb fortan außerhalb des Kreises einer intellek- 
tuellen und moralischen Ausbildung; selbst wenn wir die 
allmählich zerfallende, in eine Art von historisch erstarrter 
Halbkultur ausmündende Entwickelung der islamischen 
Welt nicht zu hoch mehr einzuschätzen uns veranlaßt 
fühlen, so genügte doch der völlige Ausschluß der leben- 
digen Freiheit, um auch die geringsten Reste eines in- 
dividuellen Lebens in die generelle Erscheinung des 
Weibes als solchen auszulösen, dem gegenüber allein 
noch die mehr oder weniger brutal oder galant auf- 
tretende Sinnlichkeit ihren Platz fand. So weit zum 
Verständnis der Genese der historisch gewordenen und 
bedingten Psychologie der Sprichwörter, die natürlich 
auch wieder je nach dem Stand der sozialen und intellek- 
tuell erreichten Stufe bald mehr naiv, bald mehr reflek- 
tiert, Anschauung und Denken widerspiegeln. 

Ganz unserem Gefühl widerstrebend ist der Ausspruch: 
„Die Frau ist ein Etwas, dessen Erwähnung schamrot 
macht“ (17571). Und wirklich sind es gar zahlreiche 
Fehler, die der Orientale an der Frau zu entdecken weiß, 
manchmal ohne die Lichtseiten ihres Wesens genügend 
anzuerkennen: „Keine Treue beim Weib“ (“Ali Sprüche 
ed. Fleischer, Anhang 272); ferner: „Die über und von 
Männern gesammelte Kenntnis ist ein Schatz, Frauen Wort 
(dagegen) nur ein (leerer) Wind“ (501 Anm.); „Drei 
Dinge sind auf der Welt, denen man mißtrauen muß: 
Glück, Frauen und Pferde* (542). Ganz schlimme Er- 
fahrungen muß der hinter sich haben, der meint: „Die 
Frauen sind Teufelskühe“ oder mit einer Variante: „Stücke 
des Satans“ (1876). Deshalb heißt es, erst nach reif- 
lichem Nachdenken in die Ehe treten, denn: „Für eine 
Ehenacht bedarf es (vorher) ein Jahr wohlbedachter 
Überlegung (911), und wie schnell verfliegt wieder der 
süße Wahn“. „Die erste (Eheperiode) ist wie (süßer) 
Honig; die zweite wie (würzige) Butter, aber die dritte 
— wie (übler) Teer“ (413). Wie lange nun eine so 
glückliche erste Eheperiode (der Honigmond) und das 
erste Ungestüm der Liebe währen kann, sagt unser Sprich- 
wort nicht; immerhin meint ein anderes: „Nur ein Un- 
verständiger mag den jungen Ehemann im ersten Jahre 
tadeln (nämlich, daß er zu lange mit seiner Frau zu- 
sammen verweilt)“ (2647). Dann wieder: „Unglücklich 
ist der Ehemann, dessen Krankheit seine Frau ist“ (1766), 
denn wie das Sprichwort vermeldet, so „manche Frau, 
die ihren Charakter in der Ehe ganz und gar verändert 
hat“ (natürlich nicht immer zu ihrem Vorteil. Dann 
sind es weiter die Nebenfrauen, die sich gegenseitig eifer- 
süchtig in den Haaren liegen und den Ehemann des Lebens 
ungetrübte Freude nicht genießen lassen. Doch darf die 
Frau allerdings die Eifersucht in ihrem eigenen Interesse 
nicht zu arg treiben, in Hinsicht auf die Gefahr, die in 
ihrem Handeln liegt, denn: „Die Eifersucht der Frau ist der 
Schlüssel ihrer Scheidung“ (1292 — Burckhardt Nr. 463). 
„Die Nebenfrau ist bitter, auch wenn sie von anständiger 
Familie ist“ (2595) und „das Leben mit der Nebenfrau ist 
bitter“ (1209 R.); natürlich bleibt auch die Rückwirkung 

1) Einfache Zahlen bedeuten die betreffende Nummer 


der „Proverbes de l’Alg6rie* von Mohammed ben Cheneb 
(Algier 1904/07). R. bedeutet Reimform. 


Rescher: Weib und Ehe in der Spruchweisheit der Araber. 187 


der Unverträglichkeit zweier Frauen auf die Ruhe des 
Mannes nicht aus: „Wer sich das Leben schwer machen 
will, braucht sich nur in den Besitz eines Esels und einer 
Ziege zu setzen; und wer Unruhe und Geschrei im Hause 
will, der braucht nur mehr Frauen (in den Harem) und 
Hunde (in sein Haus) aufzunehmen“ (238 R.2). Am 
schlimmsten noch, wenn die neue Frau einen Stiefsohn 
mitbringt; denn: „Ein Stiefsohn ist eine Krankheit, für 
die es keinen Arzt gibt“ (852). 

Und doch soll der Mann den Rosenketten sich nicht 
entziehen: „Stets gilt ein richtiger Ehemann dem Moslem 
mehr als der, der einsam durchs Leben wandert. „Jung 
gefreit, hat nie gereut“; so sehr der Orientale blühende 
Jugend liebt und fordert, „besser noch, eine Alte zu 
heiraten, als Junggeselle zu bleiben“ (2490); scherzhaft 
sagt man auch von einem jungen Mann, der die Ent- 
scheidung verzögert und sich in seiner Freiheit wohl fühlt: 
„(Er ist wie) der jüdische Junggeselle“ (der auch später 
erst zu heiraten pflegt) (2690). Trotzdem ist die Wahl 
des Freiers nicht so leicht; vor allem soll er keine Witwe 
nehmen; nicht etwa aus Gründen, die Leviticus 21, 13—15 


sich geltend machen, sondern um seiner lieben Ruhe 


willen: „Heirate nicht die (Verstoßene oder) Verwitwete, 
selbst dann nicht, wenn sie ein hübsches Äußeres hat“ 
(2830 R.®). Ferner muß die Wahl auch immer die Mutter 
berücksichtigen: „Wählt die Töchter nach ihren Müttern“ 
(usw.) und: „Heirate die Tolle, Tochter einer Vernünftigen 
(Frau), aber nicht die Vernünftige, Tochter einer Närrin“ 
(708). „Macht die Liebe auch blind“ (Liebe verbirgt 
die Fehler) (611), so soll nicht bloß nach dem äußeren 
Schein der entscheidende Schritt getan werden („Laß 
dich nicht von der Schönheit eines Mädchens soweit ge- 
fangen nehmen, um ihr Handeln ganz zu übersehen“) 
(1622). 

Unerläßlich ist auch eine gewisse Ebenbürtigkeit, 
wenn dieser Zug auch mehr dem altarabischen Volksgeist 
angehört, der einen gewissen ästhetischen Sinn und den 
Rassenstolz einer edlen Abkunft nie verleugnete. — Beinahe 
von Natur gegeben war im alten Arabertum (auch noch 
bei den heutigen Beduinen durchaus üblich) die Ver- 
bindung mit der „bint el’amm“, der Cousinet). „Vier 
Torheiten gibt's: Die Cousine einem Fremdling zu über- 
lassen (statt sie selbst zu nehmen), ohne Geld auf den 
Markt zu gehen, ohne Hilfe in den Kampf zu ziehen, 
den Löwen (allein) im Gebirge („seiner Höhle“) anzu- 
greifen“ (412). „Heirate deine Cousine! kaut sie dich 
(auch), so verschlingt sie dich doch nicht“ (710). „Nimm 
deine Cousine, selbst wenn sie alt ist, und wieg’ dich in 
Sicherheit“ (denn sie wird dir treu bleiben) (2283). Aller- 
dings findet sich hierzu auch geradezu der Gegensatz in: 
„Entferne dich vom verwandten Blut, auf daß es dich 
nicht besudelt“ (d.h. schließe keine Verwandtenehe) (459), 
entsprechend: „Such dir einen Garten in der Nähe und 
eine Ehegenossin aus der Ferne“ (Var.: Gott segne die 
aus der Fremde geholte Gattin und das in der Nähe be- 
stellte Saatfeld) (1235°). Auf jeden Fall aber — mag 


2) Vgl. Altmann: Wüstenharfe, Leipzig 1856, 8. 143: „Wenn 
ich Nä’ila will kosen kommen — Schmäht sie: geh’, du bist 
für Dschäsch erglommen! — Will ich Dschäsch umarmen, 
spricht die wieder — Mehr ja bist du Nä’ila willkommen! 
— Eines Weibes muß ich mich entschlagen, — Ach, zwei 
Weiber dienen nicht zum Frommen." 

®) Denn, mag sich der Ehemann auch noch so sehr ab- 
plagen, immer redet sie in den höchsten Tönen des Lobes von 
ihrem „Seligen“; vgl. auch „die heiße Suppe“ in Chodscha Nasr- 
ed-dins Schwänken (dtsch. von Ali Nouri, Breslau 1904, 8. 83). 

*) Auch bei den Juden sehr üblich; gemeinsemitisch ? 
Vgl. Snouck-Hurgronje: Mekkanische Sprichw., Nr.8. Wilken: 
Matriarchat bei den alten Arabern (dtsch.), 8. 59. Burck- 
hardt 620. 

®) Wilken, a. a. O., 8. 57/58. 


das Sprichwort uns auch mit der Verwandtenheirat im un- 
klaren lassen — bedarf eine Frau, die einem das Glück 
ins Haus bringen soll, einer anständigen Abkunft und 
der Jugendfrische, die beide zusammen sie erst dem Mann 
lieb und wert machen: „Heirat’ eine Frau aus anständiger 
Familie und schlaf’ auf der Strohmatte* (713) (d.h. suche 
dir nur eine edle Frau zu erwerben, und wenn du [mit 
dem Kaufpreis] auch den letzten Heller dranrücken 
müßtest); denn: „Wer eine Frau nimmt aus anderem 
(gewöhnlichem) Geschlecht, der stirbt an einer Krankheit, 
die ihm eigentlich nicht bestimmt war“ (d. h. vorzeitig) 
(322 R.) Ebenso: „Such’ für das Weib (= Tochter) 
einen (wackeren) Mann und für den Mann (= Sohn) eine 
Tochter aus angesehener Familie“ (2953). Wer nun 
sucht, dem gibt das Sprichwort folgende Weisheit zum 
besten: „Wer Schönheit liebt, suche eine Georgierin, wer 
List, eine Jüdin, wer Ruhe, eine Christin, wer Stolz und 
Phantasie, eine Türkin, wer Generosität und Adel, eine 
Araberin“ (337). Und wie häufig gibt die Schönheit den 
Ausschlag: „Die Schönheit des Mannes liegt in seiner 
Intelligenz ; die Intelligenz des Weibes in ihrer Schönheit“ 
(922), und: „Das schöne Weib ist ein Glück, die Alte 
ein Unglück“ (998); denn: „Drei Dinge schwärzen das 
Gesicht (d. h. bringen Trauer): Die Last auf dem Nacken, 
das Gehen als Barfuß, das Heiraten einer Alten“ (2329), 
und: „Der, welcher seinen Kummer vervollständigen will, 
mag eine heiraten, die seine Mutter sein könnte“ (2208). 
Und doch, so jung auch die Frau sein mag: „Unter den 
Frauen gibt’s keine Junge (— Unerfahrene), so wenig wie 
im Feuer (harmlose) Funken“ (il n’y a plus des enfants!) 
(2904). 

Empfindet so der Mann Abneigung gegen das schöne 
Geschlecht, wenn seine Blüte verwelkt ist (und wie bald 
vollzieht sich das bei der frühreifenden Orientalin) — 
entsprechend der „Flucht eines Mädchens vor dem grau- 
haarigen Onkelchen (wie die alternden Liebesdichter 
immer klagend ausrufen) gleich der des Lammes vor dem 
Wolf“ (1756) —, so gilt doch auch hier keine Regel 
ohne Ausnahme: „Lieber eine Alte als gar keine“ (2490) 
im „Hagestolzenstolz“, oder es muß wenigstens eine edle 
Abkunft die verwelkte Schönheit wieder einigermaßen 
wettmachen (777); und „nimm lieber die ältliche Cousine 
als ein fremdes Weib“ (2283), wobei aber, wie wir schon 
oben sahen, das Sprichwort nicht ganz eindeutig konse- 
quent sich erwiesen hat. Dem Bequemlichkeitsbedürfnis, 
der Freude am sorglosen „Kêf“, aber aus der Seele ge- 
sprochen ist das: „Lieber ein Mistkäfer®) (Scarabaeus), 
der mich in Ruhe läßt, als eine Gazelle, die mich ins 
Verderben führt“ (2407); denn man läßt eine schöne 
Frau nicht ohne Strafe für die eigene Ruhe unter Palmen 
wandeln. Ist ja nicht umsonst das ganze Geschlecht für 
seine listigen Pläne bekannt: „In einer List des Weibes 
stecken immer zwei Ränke“ und „sein Witz trägt immer 
über den Mann den Sieg davon“ (1578), und der Gatte, 
der mit dem Spruche „Leg’ hin das Geld (den Kaufpreis), 
so gehört dir die Braut (660)“ sich diese errungen hat, 
ist noch lange nicht auch wirklich ihrer Treue versichert; 
recht merkwürdige „drei- und viereckige“ — nicht immer 
entsprechende — Verhältnisse sehen wir bei der im „Harem 
festgehaltenen“ Moslemin: „Ihr Mann — sagt ein ge- 
flügeltes Wort — geht schonend mit ihr um, und ihr 
Liebhaber zieht sie im Dreck herum“ (2479), und gar wie 
eine — etwas naiv oder zynisch — meinte: „Einer fürs 
Gemüt, der andere zur Zerstreuung und der dritte um 
des lieben Brots willen“ (3055). So können wir ver- 
stehen, daß der Mann einem wirklich herzlichen Ver- 





°) Ist dem Orientalen ein sprichwörtliches Bild der Häßlich- 
keit. Vgl. Burckhardt: Arab. Sprichwörter, deutsch Weimar 
1834, Nr. 60 u. a. 


25* 


188 


Rescher: Weib und Ehe in der Spruchweisheit der Araber. 





hältnis nicht so leicht geneigt ist; berät er sich auch 
mit seiner Frau, so mag er doch immerhin seinem eigenen 
Kopfe folgen (1004 5), denn „die Folgsamkeit (gegen- 
über dem Rat der Frauen) führt stets die Reue nach 
sich“ (ebenda u. 11227); ja sogar mag „eine solche Nach- 
giebigkeit zur Hölle führen“ (1123). Der Mann soll aber 
der Frau gegenüber nicht brutal auftreten: „Nur ein 
Lump schlägt seine Frau“ (2928) oder ein „Schwächling, 
der auf den Markt (oder gegenüber seiner Schwieger- 
mutter) den kürzeren gezogen, läßt zu Hause, an dem 
unschuldigen Weibe, sein Mütchen aus“ (1289); auch 
bleibt die Belohnung für ein gesittetes Betragen nicht 
aus: „Wer seine Frau gut behandelt, kann sich auf die 
Nachbarin (die auch gern einen so guten Mann wünscht) 
Hoffnung machen“ (622): doch muß er allerdings vor- 
sichtig zu Werke gehen, denn: „Nichts zersprengt Freund- 
schaften (Nachbar- und Freundschaft gehen im Orient 
sehr häufig Hand in Hand) so schnell wie Geld und 
Weiber“ (1983°). Immerhin braucht auch der zuvor- 
kommende Ehemann im ersten Jahre auch einer wackeren 
Frau keinerlei Lob zu erteilen (1597 Anm.) (um nicht 
durch voreilige Anerkennung sich nachher um so schmerz- 
licher enttäuscht zu sehen). — Etwas widersprechend wird 
das gegenseitige Verhältnis beleuchtet in folgenden Sen- 
tenzen: „Das Roß hängt vom Reiter, das Weib vom 
Manne ab“ (1323), dann aber heißt es wieder: „Die 
Pferde gehorchen den Reitern, die Reiter den Weibern 
und die Weiber wieder ihren Kindern“ (2424), denn: 
„Das Kind ist wie man es erzieht und der Mann so, wie 
die Frau es ihm lernt“ (!) (2585). Gibt es auch mehr 
männlich veranlagte Frauen: „'Isä oder Müsä, oder sonst 
eine recht männlich kräftige unter den Frauen“ (2688) 
(nämlich von denen, die selbst das Schlachttier nieder- 
stechen, was natürlich im allgemeinen Aufgabe der Männer 
ist), so gilt doch auch immer noch: „Kräht die Henne 
wie der Hahn, so muß man ihr den Hals umdrehen“. 
Die Frau ist und soll im wesentlichen die Gebärerin 19) 
und Aufzieherin der Kinder sein; deshalb ist „die beste 
Frau die zärtliche und fruchtbare“ (natürlich an Söhnen !!) 
(Ali Sprüche, ed. Fleischer, Anhang 69). Ist aber die 
Familie mit Töchtern „gesegnet“, so läßt der Haus- 
vater die Nase hängen (wie ein „Spitzbube*) (2967); 
denn, wer viele Töchter hat, bekommt miserable Sklaven 
zu Schwiegersöhnen (3001); auch ist die Behandlung der 
Töchter streng, ihre Freiheit beschränkt. Sie hängen ganz 
und gar vom Vater ab (2649) und müssen, bis der Freier 
kommt, bei ihrem „Staub“ verbleiben (2282) und dürfen 
nie die Frauentugend xar &&oyjv — die Geduld — (3025) 
verlieren. Dabei darf sie der Vater mit Halfagras ab- 
reiben 12), solange nur noch ein bischen von ihr übrig 


7) Nasr-ed-din Chodscha, der türkische Till Eulenspiegel, 
meint, alle 40 Jahre einmal solle man dem Rat seiner Frau 
folgen (vgl. Die Geschichte von seiner Bettdecke, dtsch. von 
Ali Nouri, Breslau 1904, 8. 161). 

°) Da er seiner „Schwiegermutter nicht gewachsen war, 
so band er mit seiner Frau an“. Burckhardt Nr. 628. 

°) Unverständlich ist mir 1296: „Der liederlichen Frau 
gegenüber mußt du dich rücksichtsvoll, der feinen dagegen 
widerstrebend erzeigen. 

1°) Zur Erleichterung der Konzeption usw.; vgl. die kultur- 
historisch-interessante Angabe in 2753 Anm. 

1) Der Glückwunsch an die Neuvermählten lautet: In 
Eintracht und mit Kindern (d.h. Söhnen). Meidäuis Sprich- 
wörtersammlung, Bd. II, 8.68. 

12) „Striegeln“ würden wir vielleicht sagen. 


bleibt (1133); nicht viel anders 2614. Ja manches Sprich- 
wort treibt den Pessimismus noch weiter und sagt: „Hat 
der Vater viele Töchter, so nimmt er schließlich noch die 
Hunde (d. h. das Verächtlichste von allen Dingen) als 
Schwiegersöhne“, und: „Das Grab ist der beste Schwieger- 
sohn“ (pflegte man ehedem ja doch die Töchter lebendig 
zu bestatten) (1305 Anm.). So muß die Tochter froh 
sein, einen halbwegs angenehmen Mann zu kriegen, und 
der Vater ist froh, sie unter die Haube zu bekommen; 
da ihre jahrelange Aufziehung ihm durch das Brautgeld 
nicht kompensiert wird, so dürfte auch das Sprichwort 
(Weißbach, Iraq-Ar. Nr. 3): „Der Vater von Töchtern 
ist wohlhabend* (nämlich infolge der ihm gezahlten 
Brautgabe) kaum allgemeine Geltung haben. Zum Schluß 
kommen wir noch zu der Erscheinung, die trotz des rigorosen 
Gesetzes nie vollständig sich hat unterdrücken lassen, der 
Prostitution; immerhin tritt diese im Vergleich zu abend- 
ländischen Verhältnissen in der Öffentlichkeit außerordent- 
lich zurück. „Eine Frau ohne Scham ist wie eine Speise 
ohne Salz“ (383) ist zunächst noch wie: „Eine Frau 
ohne Vernunft ist wie ein Salat ohne Zwiebel“ (2564), 
und: „Eine Frau ohne Gürtel ist wie eine Stute ohne 
Zügel“ (2951) ganz allgemeiner Natur; speziell aber auf 
die demi-monde sind gemünzt: „Die Reue der Challäda: 
nachdem sie ihr früheres Gewerbe verlassen, ist sie Kupp- 
lerin geworden“ 13) (532 — 42); auf dieser Stufe ist das 
Weib unverbesserlich (vgl. auch Burckhardt Nr. 498.) 
„Der Stein schmilzt nicht im Wasser und die Dirne 
findet nicht durch die Reue den geraden Weg zurück“ 
(629). Von einem, der sehr schnell seine vergangenen 
Fehler vergißt, sagt man so wohl auch: „Einen Tag und 
eine Nacht hatte sich die Dirne gebessert, da rief sie 
schon: Gibt es denn unter den Leuten keine anständigen 
Menschen mehr?“ (492; vgl. Burckhardt Nr. 156). Als 
das Verächtlichste und Unreinste hat das Sprichwort 
das Bild geprägt: „(So unrein) wie die Brust einer 
Dirne“ (1583). 

Verlassen wir dieses nur zur Vollständigkeit noch ange- 
fügte Kapitel, so geht doch aus dem Ganzen ziemlich deut- 
lich hervor, daß die absprechende Beurteilung des Weibes 
im islamischen Volksgeist viel mehr hervortritt als die An- 
erkennung der von ihm geleisteten Arbeit, Entbehrungen, 
daß eine gewisse Voreingenommenheit gegen das ganze 
psychische Leben der Frau besteht und es infolgedessen 
zu einer unbefangenen Beurteilung nicht kommt, während 
der allerdings tatsächlich vorhandene Mangel an Bildung '4) 
irgend welcher Art doch wieder durch die absichtliche 
Unterbindung des geistigen Lebens bedingt ist, so daß 
die Relation des Geschlechtes überwiegend dem sinnlichen 
und praktischen Bedürfnis vorbehalten bleibt, einer Do- 
mäne, die dem Sprichwort nur teilweise ein fruchtbares 
Feld bieten kann. Es prävaliert die Ansicht des Apostels 
Paulus von dem „Gefäß der Sünde“, ohne daß der Ge- 
danke klar zum Ausdruck käme, daß die absprechende 
Beurteilung des Frauenwertes zugleich auch den Rück- 
schluß auf das Verantwortlichkeitsgefühl des Mannes selbst, 
als des Trägers der islamischen Kultur, notwendig bedingt. 


13) Ein sehr realistisches Bild entrollte Schweiger-Lerchen- 
feld: Frauen des Orients, 8.759, von der Entwickelung des 
Weibes zur Dirne und dann zur Kupplerin. Vgl. auch 
Burckhardt Nr. 111: Wenn die Hure bereut, so wird sie 
zur Kupplerin. 

14) Dazu die Aumerkungen zu Burckhardt Nr. 739. 








Pennsylvanien zur Zeit Penns. 


189 


Pennsylvanien zur Zeit Penns. 


Vor kurzem ist ein interessantes kleines Buch er- 
schienen: „Pennsylvanien im 17. Jahrhundert und 
die ausgewanderten Pfälzer in England“ 1), dessen 
Bearbeiter der Sekretär des Historischen Vereins der 
Pfalz, Emil Heuser, ist. Der Inhalt ist mannigfaltig. 
Wir finden da mehrere Beschreibungen Pennsylvaniens 
aus der Zeit Penns, darunter die des Deutschen Pastorius 
vom Jahre 1700, abgedruckt und das merkwürdige Schick- 
sal einer größtenteils aus Pfälzern bestehenden Auswan- 
derertruppe von 16000 Leuten erzählt, die 1709 nach 
Pennsylvanien und Karolina wollten, aber zumeist nur 
bis England kamen, wo sie teilweise angesiedelt wurden, 
während 3000 von ihnen später nach der Kolonie New 
York gelangten, manche auch mit Unterstützung der 
englischen Regierung den Rückweg in ihre alte Heimat 
fanden. Auf diese Teile des Buches sei hiermit nur 
kurz verwiesen. Aber es enthält noch etwas anderes, 
nämlich eine aus dem Jahre 1683 herrührende Schil- 
derung Pennsylvaniens durch William Penn, dessen Be- 
gründer, selbst, und auf diese wollen wir hier ein wenig 
näher eingehen. 

Penn hatte seit dem Oktober 1682 in seiner Land- 
konzession am Delaware, dem nach ihm benannten 
späteren Staate Pennsylvanien, ein Jahr geweilt, als er 
einen langen Brief nach England schickte, worin er das 
Land und seine Bewohner, die Indianer, ziemlich aus- 
führlich schilderte. Es war eine kleine Monographie. 
Was aus dem Urtext geworden ist, ist dunkel, er mag 
wohl vollständig veröffentlicht worden sein, aber es 
scheint sich kein Exemplar erhalten zu haben. Bekannt 
geworden waren bisher nur von anderer Seite gefertigte 
kurze Auszüge aus dem Briefe in Form von Flugblättern. 
Nun hat Heuser im Münchener Geheimen Staatsarchiv 
eine Handschrift vorgefunden, die eine deutsche, nicht 
immer ganz klare Übersetzung des vollständigen Briefes 
Penns darstellt, und die hat der Herausgeber seinem 
Buche vorangestellt, wobei er die Rechtschreibung und 
die Satzzeichen dem heutigen Gebrauche angepaßt hat. 
Die Handschrift, die im Format des Buches, Klein-Oktav, 
22 Druckseiten einnimmt, hat einen langen Titel, der 
mit den Worten beginnt „Ein Brief von William Penn, 
Eigentumsherrn und Befehlshaber in Pennsylvania in 
Amerika, zu denen Verordneten der Freien Gesellschaft 
in der Handlung derselben Landschaft wohnend in 
London“. Die Herausgabe ist Heuser als ein Verdienst 
anzurechnen. 

Penn erklärt zuerst, daß er den Gerüchten entgegen 
noch am Leben sei, berichtet, daß er von den Eingebo- 
renen freundlich empfangen worden sei, und geht dann 
zur Schilderung des Landes über. Besprochen werden die 
Bodenbeschaffenheit, die Gewässer, Witterung und Klima, 
die Pflanzenwelt (wobei besonders eingehend der Rebe ge- 
dacht wird), was an Feld- und Gartenfrüchten dort ge- 
deiht, die Tierwelt (Bären kommen vor) und dann, ganz 
besonders eingehend, die Indianer, von denen er sagt, 
man sollte fast glauben, sie seien von jüdischer Abkunft, 
„von dem Stamm der zehn Geschlechter“. Schließlich 
werden die kolonialen Verhältnisse, Erfolge und Hoff- 
nungen behandelt. Eine strenge Disposition ist dabei 
nicht eingehalten, die Angaben gehen manchmal etwas 
durcheinander. Es mag nun hier einiges über die da- 
maligen Indianer Pennsylvaniens mitgeteilt werden, 
wobei bemerkt sei, daß Penn ein großer Indianerfreund 
war, gewissenhaft auf die Erfüllung der mit ihnen ge- 


1) Neustadt a. d. Hardt 1910, Ludwig Witter. 





1,80 Ab. 


schlossenen Verträge hielt und deshalb mit den Rothäuten 
stets auf bestem Fuße stand, übrigens ebenso wie der 
deutsche Teil von Penns Ansiedlern. Die Indianer, die 
Penn antraf, waren die Delawaren, ein Algonkinstamm; 
erwähnt wird der Name von ihm aber nicht. 

Nach ihrer Naturart, heißt es, sind die Indianer 
schwarz, doch mit Vorsatz, gleich wie die Zigeuner in 
England. Sie schmieren sich mit klargemachtem Bären- 
fett ein und gebrauchen keine Hüte gegen die Sonne 
und das Wetter, so daß ihre Haut notwendig schwarz 
werden muß. — Dann wird das geliefert, was wir eine 
anthropologische Beschreibung nennen würden, und 
einiges über die Sprache (mit Angabe von ein paar Vo- 
kabeln) gesagt, die „geschwind, doch kurz, fast gleich 
der hebräischen, in der Bedeutung sehr voll“ ist. 

Die neugeborenen Kinder werden mit Wasser ge- 
waschen, später taucht man sie bei kaltem Wetter in 
das Wasser der Flüsse, um sie abzuhärten. Man wickelt 


‘das Kind in ein Tuch und legt es der Länge nach auf 


ein Brett, wo man es festbindet, damit der Körper gerade 
wird. „Derohalben haben alle die Indianer glatte (?platte?) 
Häupter, und auf diese Art tragen sie sie auf dem 
Rücken.“ Mit dem neunten Monat beginnen die Kinder 
zu laufen. Die Knaben gehen vom 15. Jahre ab in die 
Wälder auf die Jagd, „und wenn sie einige Taten ihrer 
Männlichkeit bewiesen, daß sie einen guten Vorrat an 
Handen zusammengebracht, dann mag er heiraten. 
Anders ist es eine Schand, wenn er an ein Weib ge- 
denken sollte.“ Die Mädchen bleiben bei der Mutter 
und lernen die Feldarbeit, die ihnen als Ehefrauen ob- 
liegt. „Denn die Weiber sind ihrer Männer treue Die- 
nerinnen, dagegen sind ihnen die Männer auch sehr 
wohl geneigt. Wenn die jungen Weibsleute zum Hei- 
raten bequem werden, so tragen sie auf dem Haupte 
etwas zur Einwickelung, doch also, daß ihre Gesichter 
nicht wohl zu sehen, außer wenn es ihnen beliebig.“ 
Wenn die Mädchen heiraten, so sind sie 13 oder 14 
Jahre alt geworden, der Bursche heiratet selten später 
als mit dem 17. oder 18. Lebensjahr. Die Zuneigung 
der Eltern zu den Kindern ist groß. 

Die „Häuser“, so hoch wie ein Mann, bestehen aus 
Matten oder Baumrinde, die an Pfählen befestigt sind. 
Im Innern liegt Rohr und Gras. Sind die Indianer 
unterwegs in den Wäldern, so zünden sie zur Nacht ein 
Feuer an und lagern sich, in ihren Zeugmantel ge- 
wickelt, herum. Die Jagd, aber auch etwas Ackerbau, 
gewährt den Lebensunterhalt. 

Ist ein Europäer ihr Gast, so lassen ihm die In- 
dianer in der Hütte den besten Platz und beim Essen 
das erste Stück zukommen. Tritt der Indianer beim 
Weißen ein, so begrüßt er ihn mit dem Worte „Itah“ 
(= „Gutes sei zu euch“) und setzt sich auf den Boden. 
Oft spricht er nicht ein Wort, gibt aber auf alles acht. 
Wird dem Indianer etwas zum Essen oder Trinken an- 
geboten, so ist es gut, er selber aber fordert .nichts. 
Was mit Freundlichkeit angeboten wird, wird gern an- 
genommen; im anderen Falle geht der Indianer schwei- 
gend, wenn auch „sauer sehend“, weg. Für seinen 
Freund ist dem Indianer nichts zu kostbar. Seine 
Freundschaft und Zuneigung sind leicht erworben, „aber 
es vergehet bald“. Mit den eigenen Absichten und Ge- 
danken wird streng zurückgehalten. 

Penn erzählt vom Selbstmord einer Häuptlingstochter: 
„Eine Königstochter, die da gedachte, daß sie von ihrem 
Manne schlecht geachtet würde, indem sie zugelassen, 
daß ein ander Weibsbild zwischen ihnen beiden liegen 


190 


Pennsylvanien zur Zeit Penns. 





möge, stand auf, ging hinaus und nahm eine Wurzel 
aus der Erde, aß dieselbige, worauf sie denn alsobalden 
starb. Derenthalben so übergab er vergangene Woche 
ihren Freunden oder Anverwandten eine Gabe, um Ver- 
söhnung und die Freiheit zu haben, wieder zu heiraten, 
welches auch zween andere taten zu ihrer Weiber An- 
verwandten, welche doch eines natürlichen Todes ge- 
storben waren; denn bis dahin, daß die Witwer solches 
getan haben, dürfen sie nicht wiederum heiraten.“ Penn 
erzählt im Anschluß daran: „Es wird gesagt, daß etliche 
junge Weibsleute, ehe sie noch heiraten, für Lohn un- 
behörliche Freiheit gebrauchen, wenn sie aber ver- 
heiratet, dann halten sie sich keusch. Wenn eine 
schwanger, so schläft sie nicht mehr bei ihrem Mann, 
bis sie entbunden, und wenn ihre Natur, dann rühren 
sie keine Speise an. Sie essen aber mit einem Stöcklein, 
damit sie sie nicht verunreinigen möchten. So haben 
auch ihre Männer nichts mit ihnen zu tun, bis die Zeit 
vorüber.“ 

Diese Indianer sind lustige Leute, die zu leben ver- 
stehen. Schmausereien und Tanz sind an der Tages- 


ordnung, so im Herbst bei der Getreideernte. Sie haben ' 


nie viel, leiden aber auch nicht viel Mangel. Was einer 
hat, genießen auch die anderen, „nichtsdestoweniger 
nehmen sie doch ihr Eigentum in acht“. Die Häupt- 
linge teilen mit ihren Untertanen und bedenken bei 
Gastmählern sich selber zuletzt und mit dem wenigsten. 
Man lebt sorglos in den Tag hinein. Nur morgens und 
abends wird gegessen. Nach Ankunft der Europäer 
fanden die Indianer Gefallen an starken Getränken, und 
für Rum gaben sie ihr Bestes an Pelzwerk und Häuten 
her. „Wenn sie von so einem Trank erheitert werden, 
so sind sie unruhig, bis sie so viel bekommen, daß sie 
schlafen. Dann rufen sie: Noch etwas mehr, und ich 
will schlafen gehen; aber wenn sie trunken sind, ist es 
das närrischste Schauspiel, das zu sehen ist in der 
Welt.“ 

Bei Krankheiten werden nur in Wasser gekochte 
Wurzeln genossen oder etwas Fleisch, das von einem 
weiblichen Tier herrühren muß. Stirbt jemand, sei es 
ein Mann oder ein Weib, so wird er in seiner Kleidung 
begraben, und die Verwandten werfen von ihren Kost- 
barkeiten etwas ins Grab. Zum Zeichen der Trauer, die 
ein Jahr dauert, wird das Gesicht schwarz gefärbt. Die 
Gräber werden sorgfältig gepflegt, das Gras von ihnen 
wird abgerupft, und die herabgefallene Erde wird wieder 
aufgehäuft. 

Über religiöse Vorstellungen erzählt der fromme 
Penn folgendes: „Dieses arme Volk ist unter einer fin- 
steren Nacht in denen Dingen, was die Religion angeht. 
Um was ihr Menschenverstand sie versichern mag je- 
doch, so glauben sie an einen Gott und die Unsterblich- 
keit ohne die Beihilfe der Metaphysik; denn sie sagen: 
Da ist ein großer König, der sie gemacht, welcher in 
einem herrlichen Lande gegen Mittag wohnt, und daß 
die Seele eines Frommen dahin fahre, allwo sie wiederum 
leben soll. Ihr Gottesdienst besteht aus zwei Stücken: 
Opfer und Gesängen. Ihr Opfer ist die erste Frucht. Der 
erste und fetteste Bock oder Hirsch, den sie töten, gehet 
nach dem Feuer, allwo er mit einer traurigen Gebärde 
dessen, so die Zeremonie verrichtet, ganz verbrannt 
wird. Und dieses tut ein solcher mit solcher seltsamen 
Festigkeit und Bemühung des Leibes, daß ihm fast über- 
all der Schweiß ausbricht. Das andere Stück ist der Ge- 
sang, welcher mit einem Zirkeltanz geschieht, je bis- 


weilen bloß in Worten, je bisweilen in Gesängen, und 
dann mit einem Freudengeschrei. Zwei stehen in der Mitte 
und regieren mit Singen und Trommeln auf einem Brett 
den Chorum. Ihre Gebärden in dem Tanz sind sehr 
anscheinend und sehr mannigfaltig, jedoch alle nehmen 
ihr Maß wohl in acht. Dieses wird mit einer durch- 
gehenden Ernsthaftigkeit und Arbeit verrichtet, doch er- 
scheint dabei eine große Freude“. 

Die Häuptlinge heißen Sachima, und ihre Würde ist 
erblich, „aber alle Zeit von der Mutterseite.e Zum Ex- 
empel: Die Kinder dessen, der nun König ist, können 
nicht nachfolgen, sondern sein Bruder bei der Mutter, 
oder die Kinder seiner Schwester; deren Söhne (und 
nach solchen allen die Kinder von ihren Töchtern) re- 
gieren sodann, denn kein Weib vererbet es. Die Ur- 
sache, so sie für diese Art der Nachfolge beibringen, ist, 
daß ihre Nachfolger nicht möchten Bastard-Art sein.“ 

Dem Häuptling jedes Stammes — Penn redet von 
„ungefähr 200 Völkern“ — steht ein Rat zur Seite, der 
sich aus den alten und klugen Leuten zusammensetzt, 
und ohne den nichts Wichtiges vorgenommen werden 
kann. Aber auch die jüngeren Leute werden gehört. 
Obwohl sich somit das Volk gewissermaßen selbst regiert, 
haben die Häuptlinge eine große Gewalt. Vergehen und 
Verbrechen werden durch Geldstrafen gesühnt. (Das 
Geld ist „aus den Beinen aus Fischen“ gemacht. „Die 
schwarzen sind bei ihnen als Gold und die weißen Silber. 
Sie nennen sie alle Wampon.*) Ist ein Weib getötet, 
so muß doppelt gezahlt werden, weil die Weiber „Kinder 
hervorbringen, was die Mannsleute nicht tun können“. 
Uneinigkeiten entstehen selten, wenn die Indianer nüch- 
tern sind; in der Trunkenheit ausgesprochene Beleidi- 
gungen aber werden verziehen: man sagt, es sei der Trunk, 
nicht der Mann der Beleidiger gewesen. Penn erkennt 
an, daß die Christen keinen Anlaß hätten, sich über die 
Indianer zu „ärgern“, denn sie hätten diesen nur allerhand 
Laster gebracht und sie nichts Gutes gelehrt. „So herr- 
lich als ihr (d. h. der Christen) Zustand scheinet, so 
haben doch die Christen mit allem ihrem Vorwand einer 
höheren Offenbarung nichts mehres erlangt. Was für 
Gutes sollte nun nicht ein gutes Volk (d.h. die Indianer) 
ausrichten können, allwo so ein klarer Unterschied zwi- 
schen dem Guten und Bösen ist?“ 

Wie schon erwähnt, ist Penn geneigt, die Indianer 
von den Juden, vom „Stamm der zehn Geschlechter“ 
abzuleiten, eine kuriose Ansicht, mit der er bekanntlich 
nicht allein steht. Er begründet das wie folgt: „Erst- 
lich, daß sie haben müssen in ein unbekanntes und un- 
gebautes Land gehen, welches sicherlich Asien und 
Afrika gewesen, wonicht Europa, und einer, der das 
sonderbare Urteil über dieselbige beobachtet, sollte ihre 
Reise dahin nicht schwer machen, weilen es an sich 
selbsten nicht unmöglich ist, von denen östlichen Teilen 
in Asien nach Westen in Amerika (zu kommen), ferner 
wegen der Gleichheit ihrer Gesichter und ihrer Kinder 
in so einer lebendigen Gleichheit, daß einer, der sie sieht, 
wohl gedenken möchte, er wäre zu London in Dukes- 
place oder Berry-street. Über (wohl „aber“) dieses ist 
nicht genug, sie kommen auch mit ihren Gebräuchen. 
Sie rechnen nach dem Mond, sie opfern ihre ersten 
Früchte, sie haben eine Art des Festes der Laubhütten, 
es wird gesagt, daß sie ihren Altar auf zwölf Steine 
setzen, ihre Trauer dauert ein Jahr, die Gewohnheiten 
der Weiber, neben vielen anderen, so mir nun nicht 
beifällt.* 


Türkische Eisenbahnbauten usw. — v. Hahn: Ein Versuch der Erforschung des Klimas im Kaukasus. 191 


Türkische Eisenbahnbauten und -Proiekte. 


Unter dem alten Regime in der Türkei war es ziem- 
lich umständlich und zeitraubend, Bahnbaukonzessionen 
zu erhalten. Jetzt hat sich das geändert, und es hat den 
Anschein, als wenn die Türkei auf dem Gebiet des Bahn- 
baues mit Windeseile in kurzer Zeit alles das nachholen 
will, was in langen Jahren versäumt worden ist. Eine 
Übersicht über die Bauten und Pläne gibt ein neuerer 
Bericht der österreichisch-ungarischen Handelskammer zu 
Konstantinopel. 

Bewilligt ist von Parlament und Regierung die 45 km 
lange Linie Baba-Eski—Kirk-Kilise (östlich von 
Adrianopel), die von den Orientalischen Eisenbahnen ge- 
baut werden wird. Sie durchzieht ein an Getreide und 
Wein reiches Gebiet. Geplant ist die Fortführung bis 
Derlet-Aghatsch an der bulgarischen Grenze (35 km); 
diese Linie hat mehr militärische Bedeutung. 

Für Makedonien sind zwei Projekte aufgestellt, 
die eine Verbindung der bulgarischen Bahnen mit den 
türkischen bezwecken. Das eine betrifft eine Linie von 
Demirhisar an der „Verbindungsbahn“ nach Djuma- 
i-Bala an der bulgarischen Grenze (140 km), das zweite 
willKüstendil in Bulgarien mit Kumanovo (nordöst- 
lich von Üsküb) verbinden: 78km. Die erste Linie ginge 
von Süden nach Norden durch eine ziemlich arme Gegend, 
falls sie aber durch den Bau der 32km langen Strecke 
Drama—Kavalla ergänzt würde, so würde sie als kürzeste 
Verbindung Bulgariens mit dem Ägäischen Meer große 
kommerzielle und auch politische Bedeutung gewinnen. 
Dann besteht ein Projekt, das Monastier mit Janina 
(172km) über Resna, Goritza und Liaskorik verbinden 
will, aber wohl nur ausführbar ist, wenn die Regierung 
eine Garantie gewährt; denn der Bau wäre schwierig, 
und bei dem niedrigen Stande der Kultur in jenem Gebirge 
wäre zunächst wohl keine Aussicht auf Erträge vor- 
handen. Das Projekt einer Adriabahn bezweckt eine 
Linie von Nisch über Prokolje und Kurschumlie an die 
serbische Grenze bei Mirdar, dann über Pristina und 
Diakova durch das Drintal nach Skutari und S. Giovanni 
di Medua. Der Bau wäre teuer, das Gebiet ist zum Teil 
sehr arm, der Hafen von Medua ist schlecht, und der 
Weg zum Meere wäre um nur 20km kürzer als über 


Ein Versuch der Erforschung des Klimas im Kaukasus. 
Mitgeteilt von C. v. Hahn, Tiflis. 


Der Gehilfe des Direktors des Tifliser Observatoriums, 
J. W. Figurowsky, geht an die Herausgabe eines zwei- 
bändigen Werkes über das Klima im Kaukasus, nachdem er 
in den letzten Jahren mehrere einschlägige Artikel veröffent- 
licht hat, wie z. B. Allgemeine Übersicht über das Klima 
des Kaukasus, Klassifikation der kaukasischen Klimäte usw. 
Jetzt teilt er einen vorläufigen Bericht über seine Studien 
mit, aus welchem hervorgeht, daß der Kaukasus für die 
Klimatologie in vielen Beziehungen ein großes Interesse dar- 
stellt. Auf verhältnismäßig kleinem Raum treffen wir hier 
eine merkwürdige Mannigfaltigkeit der naturgeschichtlichen 
Bedingungen: der Topographie, der Bodenarten, der Pflanzen- 
welt in ihrer Abhängigkeit von zwei Meeren und dem Konti- 
nent. Das Vorhandensein zahlreicher klimatischer Typen 
und Variationen läßt keinen Zweifel darüber, daß zwischen 
den lokalen physikogeographischen Bedingungen und den 
verschiedenen Klimaten ein bestimmter, wissenschaftlich noch 
wenig erforschter Zusammenhang besteht. In den einen Ge- 
bieten, nämlich in den gut geschützten Tälern und Ufer- 
strecken von Transkaukasien, wird dieser Zusammenhang 
nicht gestört durch die Einwirkungen der allgemeinen äußer- 
lichen und zufälligen Bewegungen der Atmosphäre, während 
auf anderen Gebieten, z. B. im nördlichen Kaukasus, außer 
lokalen Einflüssen fremde Luftströmungen auf das Klima ein- 


Salonik. Die Bedeutung dieser Bahn würde auf politischem 
Gebiet liegen. Wirtschaftlich würde sie der Linie Salonik 
—-Mitrovitza Abbruch tun, indem sie in dem oberen Gebiet 
einen Teil der Warenbewegung an sich ziehen und zum 
Adriatischen Meere leiten würde. Vorläufig ist die Trasse 
noch nicht studiert. 

In Kleinasien ist der Eisenbahngesellschaft Smyrna 
—Kassaba die Konzession zum Bau der etwa 190 km 
langen Linie Panderma (am Marmarameer) südlich 
über Balikesri nach Soma erteilt worden, und zwar hat 
die Regierung eine Zinsgarantie für 10 Jahre über- 
nommen. Das durchzogene Gebiet ist sehr fruchtbar 
und enthält auch Minen. Die Linie Samsum— Siwas, 
die belgische Unternehmer bauen wollen, wird durch eine 
Kommission der Regierung untersucht. Sie soll, 350 km, 
mit ihren Abzweigungen 430 km lang, über Amasia und 
Tokat führen. Dabei ist eine Steigung von 1300 m zu 
überwinden, so daß auf hohe Baukosten zu rechnen ist. 
Aber die Bahn dürfte sich trotzdem bezahlt machen, weil 
die: Gegend reich und der Verkehr bedeutend ist. Tabak, 
Getreide, Mehl, Obst, Trauben, Gewebe, Holz (bei Tokat 
auch Kupfer) bilden die wichtigsten Ausfuhrgegenstände, 
die jetzt durch Kamele zum Hafen Samsun befördert 
werden müssen. Samsun zählt 14000 Einwohner, 
Amasia 30000, Siwas 40000. 

In Syrien ist die Linie Tripolis—Homs, die 102km 
lang sein wird, der Regie generale de chemins de fer en 
Orient bewilligt worden, die sie ohne Garantie bauen 
wird. Homs liegt an der Bahn Damaskus— Aleppo, Tripolis 
hat 18000 Einwohner und eine ungünstige Reede, aber 
sein Handel (mit Geweben, Wein, Orangen, Schwämmen 
usw.) nimmt zu. 

Ein Amerikaner namens Chester will eine Bahn Wan 
—Diarbekr—Mosulmit Abzweigungen nach dem Meere 
bauen, und zwar unter Verzicht auf Regierungsgarantie, 
doch gegen das ausschließliche Minenrecht auf den Land- 
streifen je 20km rechts und links der Bahn. Chester 
hat die Konzession bedingt erhalten, d. h. es ist ihm bis 
Mitte 1911 zwecks Untersuchung der Mineralvorkommen 
eine Frist gewährt worden, nach deren Ablauf er sich 
erklären soll, ob er die Bahn bauen will oder nicht. 


wirken und dessen Charakter und Eigentümlichkeiten be- 
stimmen. 

Diese Abhängigkeit der Klimate von äußeren Umständen 
gibt uns die Möglichkeit einer Erklärung der Grundfragen 
der Klimatologie, wie z. B. über den Ursprung der Klimate, 
über die das Klima bildenden Hauptfaktoren, über den Oha- 
rakter und die Verbreitung der Klimate, über den Einfluß 
äußerer Umstände und die wechselseitigen Beziehungen der 
Klimate zueinander. 

Das Werk Figurowskys zerfällt in drei Teile. Der erste 
handelt von der Temperatur der Luft, von dem Einfluß der 
Meere, Wälder, Steppen, der Höhe über dem Meer, der Breite 
und Länge. Für die drei letzteren wichtigen Faktoren hat 
Figurowsky Temperaturkoeffizienten und Gradienten fest- 
gestellt, welche einen Ausschluß dieser Faktoren ermöglichen. 
Die neuberechneten Zahlen der Verminderung der Temperatur 
mit der Zunahme der Höhe übertreffen dank dem reichen 
zu Gebote stehenden Material und der Vervollkommnung der 
Methode die Aufstellungen des Akademikers G. J. Wild aus 
den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts an Genauigkeit. 

Die Erforschung der Temperaturschwankungen zeigt, 
daß der Einfluß äußerlicher, zufälliger Strömungen auf die 
Temperatur sich am auffallendsten geltend macht an der 
Nordgrenze von Ciskaukasien. Mit Annäherung an die Berge 
und in diesen verschwindet dieser Einfluß mehr und mehr; 
sehr gering ist er in den am Meer liegenden Gebieten und 
in Transkaukasien mit Ausnahme der armenischen Hochebene, 


v. Hahn: Ein Versuch der Erforschung des Klimas im Kaukasus. 





wo die Schwankungen sich als ganz ungewöhnliche erweisen. 
Der zuletzt genannte Umstand erklärt sich nicht durch den 
Einfluß äußerlicher Faktoren, sondern durch den streng aus- 
geprägten kontinentalen Charakter des Hochplateaus. 
Figurowsky hat fast mit Gewißheit festgestellt, daß die 
Temperatur der Luft auf jedem Gebiete, abgesehen von den 
allgemeinen Faktoren, abhängt von der Intensität des Wärme- 
umsatzes in den oberen Schichten der Erdrinde. In Wasser- 
bassins hängt der tägliche und jährliche Wärmeumsatz haupt- 
sächlich ab von der Tiefe, der Dichtigkeit, dem Salzgehalt 
des Wassers und von den Meeres- und Luftströmungen. Des- 
wegen finden wir die höchste mittlere Jahrestemperatur und 
die geringste mittlere Jahresamplitude in jenen am Ufer des 
Meeres liegenden Gebieten des Kaukasus, wo die größten 
Tiefen herrschen. Die weniger tiefen Bassins erwärmen sich 
ebenso rasch, wie sie sich abkühlen, und üben darum wenig 
Einfluß aus auf das umliegende Land. Auf dem Festlande 
unterscheiden sich die Waldgebiete durch den Wärmeumsatz 
und Wärmeaustausch mit der Luft von den Steppengebieten; 
in den Steppen haben die Bestandteile und die Konfiguration 
des Bodens einen ungeheuren Einfluß auf den Wärmeumsatz 
und Wärmeaustausch mit der Luft. Infolgedessen unter- 
scheiden sich die jährlichen Temperaturen und Amplituden 
der Waldgebiete von denen der Steppen, und in den Steppen 
läßt sich wiederum ein großer Unterschied bemerken zwischen 
den Schwarzerde- und Sandsteppen. In den Sandsteppen des 
Kaukasus übersteigt die mittlere Jahresamplitude gewöhnlich 
28° und geht bis auf 32°, während sie in den Schwarzerde- 
steppen zwischen 26 und 28° schwankt, in den Waldgebieten 
des Festlands zwischen 22 bis 24°; in den am Meer gelegenen 
fällt sie auf 22 bis 18° und tiefer. Amplituden von 24 bis 
26° sind der Übergangszone vom Wald zur Steppe und den 
Alpenwiesen eigentümlich. Auf der Karte der Isoamplituden 
sind die klimatischen Waldgebiete durch eine ziemlich breite 
Übergangszone von dem Steppengebiet getrennt. Die auf 
den dem Werke beigefügten Isothermenkarten angezeigte 
Verteilung der Temperaturen auf Januar und Juli bestätigt 
die Abhängigkeit der Temperatur von dem Charakter und 
der Konfiguration der Erdoberfläche. Diese Abhängigkeit 
zeigt sich auch in der Form der Isothermen, welche sich in 
gesetzmäßiger Folge aneinanderreihen. In den Steppen 
wachsen im Sommer die Temperaturen vom Rande zum Zen- 
trum, im Winter dagegen nehmen sie ab; auf dem Meere 
treffen wir das gerade Gegenteil. Die Wälder aber gleichen 
in dieser Beziehung, wie in vielen anderen, mehr dem Meere. 
Das jetzige Klima im Kaukasus ist allmählich entstanden. 
Nach der Tertiärepoche, in welcher sich das kaukasische 
Gebirge gebildet hat, sind hier in der Verteilung der Meere 
und des Festlandes, der Wälder und Steppen bedeutende Ver- 
änderungen vor sich gegangen. Der Einfluß der geologischen 
Veränderungen hat sich am wenigsten an dem gut beschützten 


kaukasischen Südufer des Schwarzen Meeres geltend gemacht, , 


wo sich aller Wahrscheinlichkeit nach das Klima vom Ende 
des Tertiärs bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Ein 
Vergleich mit diesem Winkel des Kaukasus gibt ein sehr 
interessantes Bild der aufeinanderfolgenden Veränderungen 
im Klima der einzelnen Rayons. Da, wo sich die Wälder 
erhalten haben, hat sich der Einfluß der neuen Faktoren auf 
die Vermehrung des Wärmeumsatzes und die Vergrößerung 
der Temperaturschwankungen als verhältnismäßig schwach 
erwiesen. In den anderen Gebieten dagegen ist die Inten- 
sität des Wärmeumsatzes und der Amplitude gewachsen. Die 
größten Abweichungen fanden in den Steppengebieten statt, 
hierauf in der Waldsteppenzone und auf den Alpenwiesen. 
Der zweite Teil des Werkes behandelt die Luftströmungen 
im Kaukasus. Für die Klimatologie des Landes war es von 
größter Bedeutung, die hauptsächlichsten Richtungen der 
äußerlichen Strömungen, das Gebiet ihrer Verbreitung und 
den allgemeinen Charakter derselben festzustellen. Die For- 
schung ergab, daß durch die größte Regelmäßigkeit die 
Winterströmungen dessibirischen Antizyklons sich auszeichnen, 
deren Weg durch ein System von Isobaren im Kaukasus und 
durch Linien der Isanomalen bezeichnet ist. In betreff dieser 
Strömungen und der zufälligen Kältewellen gelang es fest- 
zustellen, daß sie nicht von Norden über den kaukasischen 
Hauptkamm dringen, sondern an ihm abprallen und sich in 
zwei Zweige teilen, deren einer nach Nordwesten, nach No- 
worossnisk und weiter abschweift, der andere im Terek- 
gebiet am Fuße des Gebirges zum Kaspischen Meer vordringt. 
Die neuberechneten Koeffizienten der Verminderung der 
Temperatur mit der Höhe machten es möglich, bei der Zeich- 
nung der Karten der Isobaren die Beobachtungen hoch- 
gelegener Stationen zu benutzen, was den Karten mehr Präzi- 
sion im Ganzen und im Detail gab, als es die früheren hatten. 
Zum ersten Male tritt auf den Karten deutlich der stationäre 
Winterantizyklon auf dem armenischen Hochplateau auf, wie 


das bedeutende Sommerminimum auf ihm. Dagegen erwies 
sich, daß auf dem Hauptkamm im Winter kein antizyklonales 
Gebiet existiert, eine geringe Zunahme des Luftdrucks ist 
jedoch im Sommer auf dem Hauptkamm zu bemerken. Diese 
Eigentümlichkeiten in der Verteilung des Luftdrucks sind 
von größtem Wert, um die Entstehung der meisten lokalen 
Winde in T'ranskaukasien zu erklären. Schon lange war es 
bekannt, daß aus dem Gebiet der stationären Winterzyklone 
über dem Atlantischen Ozean und dem Mittelmeer hohe Luft- 
strömungen hinziehen, welche im Osten bis Turkestan reichen. 
Die neuesten Beobachtungen (Hildebrandt Hildebrandsohn 
und Bicello) haben das Vorhandensein auch noch anderer 
oberer Luftströmungen allgemeinen und lokalen Charakters 
dargetan. Die Vergleichung einiger über den Kaukasus hin- 
gehenden oberen Strömungen mit der Höhe der Jereo und 
Gebirgsketten gab Figurowsky die Möglichkeit, den Zusammen- 
hang vieler lokaler Winde mit den oberen Strömungen fest- 
zustellen. Besonders deutlich zeigt sich dieser Zusammen- 
hang in den Wintermonsunen am Ufer des Schwarzen Meeres 
und in den Föhnen. Die lokalen Monsune und Föhne hat 
Figurowsky gründlich erforscht und ihre Typen und ihre 
Verbreitung festgestellt. Ebenso erforscht sind die Brisen 
und die Winde der Gebirgstäler, die in vielen Gebieten großen 
Einfluß ausüben auf die Übertragung der Wärme und der 
Wasserdämpfe. 

Das dritte Kapitel des Buches beschäftigt sich mit dem 
Feuchtigkeitsgehalt der Luft und der Menge der Niederschläge. 
Die Forschungen Brückners und Fritsches über den Kreis- 
lauf des Wassers in der Natur haben gezeigt, daß die 
Schätzung der Wassermengen, die von den Meeren auf das 
Festland kommen, sehr übertrieben ist. Daher erwies sich 
die allgemein verbreitete Meinung, deren Verfechter unter 
anderen auch Supan ist, daß nämlich die Hauptquelle aller 
Feuchtigkeit auf dem Festland das Meer sei, als nicht be- 
gründet. Figurowsky hat sich bei seiner Erforschung der 
Luftfeuchtigkeit und der Niederschläge im Kaukasus auf 
einen ganz anderen Standpunkt gestellt und war bestrebt, 
die Abhängigkeit der Luftfeuchtigkeit und der Niederschläge 
auf dem Festland von dem Kreislauf des Wassers im Boden 
und dem Feuchtigkeitsaustausch zwischen der Luft und der 
ihr unterbreiteten Erdoberfläche klarzulegen. 

Die Beobachtungen der „Versuchsstätten für Waldanlagen“ 
über die Feuchtigkeit des Bodens ergaben, daß die Wald- 
gebiete hinsichtlich der Festhaltung und des jährlichen Um- 
satzes der Feuchtigkeit sich von den Steppen sehr scharf 
unterscheiden ; in beiden Beziehungen spielen wieder in den 
Steppen eine große Rolle die Bestandteile und die Konfi- 
guration des Bodens; besser halten die Feuchtigkeit die 
Schwarzerden, dann der Löß und der Ton, an letzter Stelle 
stehen die durchlässigen, sandigen Bodenarten. Diese brauchen 
die Feuchtigkeit sehr rasch auf, indem sie sie entweder so- 
gleich zum Verdunsten bringen oder in die tieferen Schichten 
durchlassen, wo sie für den Austausch mit der Luft verloren 
gehen. Im Gegensatz dazu erhält die Luft der Waldgebiete 
am reichlichsten und regelmäßigsten Feuchtigkeitszufuhr aus 
dem Boden. Die Sandsteppen dagegen geben an die Luft 
nur ein Minimum von Feuchtigkeit ab. In der Mitte zwischen 
Waldgebieten und Sandsteppen stehen die Steppen mit 
Schwarzerde, Löß und Ton. Auf Grund langjähriger Beob- 
achtungen ergeben sich als Jahresmittel der Niederschläge 
im Kaukasus: für die Waldgebiete (gewöhnliche Wälder) 
734mm, für Waldsteppen 583mm, für Schwarzerdesteppen 
556 mm, für Übergangssteppen (Löß, Ton usw.) 418 mm, für 
Saudsteppen im ganzen 273mm. Diese Zahlen ändern sich 
mit der höheren oder tieferen Lage wenig. Größere Mengen 
von Niederschlägen im Gebirge kann man hauptsächlicb da 
beobachten, wo zwischen den Bergketten und der zu ihren 
Füßen sich ausbreitenden Ebene ein Unterschied des Bodens 
und der Pflanzen besteht. 

Die Untersuchung der Skala der jährlichen Niederschläge 
im Kaukasus hat das interessante Resultat ergeben, daß der 
Eintritt des Maximums der Niederschläge auf dem Festland 
von dem Feuchtigkeitsgehalt des Bodens abhängt. Der größte 
Feuchtigkeitsvorrat in den oberen Schichten des Bodens wird 
im Winter beobachtet, denn mit Zunahme der Erwärmung 
der Oberfläche der Erde findet eine mehr oder weniger ener- 
gische Verdunstung statt. Im Zusammenhang mit dem 
Steigen der Temperatur an der Oberfläche verstärken sich 
die vertikalen Luftströme, die die Feuchtigkeit in höhere 
Luftschichten tragen, wo die regenbildenden Prozesse vor 
sich gehen. Früher als alle anderen verlieren die sandigen 
Bodenarten ihre Vorräte an Feuchtigkeit. Im Kaukasus be- 
obachtet man das allerfrüheste Maximum der Niederschläge 
in den östlichen, längs des Kaspischen Meeres sich ausbreitenden 
Steppen 'Transkaukasiens im März, das gleiche sehen wir in 
den zentralen Teilen der Sandsteppen von Transkaspien. In 


Bücherschau. 


193 





Gegenden mit Bodenarten, die die Feuchtigkeit besser fest- 
halten, besonders in solchen, die mit Vegetation bedeckt 
sind, tritt das Maximum erst später, nämlich zu Ende des 
Frühlings ein, in den Schwarzerdesteppen von Ciskaukasien 
gar erst mit Anfang des Sommers. In den Wäldern von 
Mittelrußland, wo die Feuchtigkeit sich fortwährend gut 
hält, findet das Maximum bekanntlich noch später statt, 
nämlich in den heißesten Monaten Juli und August. 

Die Gebirgsketten unterscheiden sich durch die jährliche 
Menge der Niederschläge überhaupt nicht von den anliegenden 
Ebenen. Das gilt für Ciskaukasien ebenso, wie für Trans- 
kaukasien. 

Die am Meer gelegenen Striche von Kaukasien unter- 
scheiden sich von den Binnenländern hauptsächlich durch die 
Menge der jährlichen Niederschläge. Zwischen den einzelnen 
Teilen der Küstenstriche herrschen aber große Unterschiede, 
die abhängig sind von dem Grade der Bedeckung mit dem 
Charakter des Wachstums und der anliegenden Steppen. Im 
südlichen Teil des Küstenstrichs am Schwarzen Meer, der noch 
mit Urwäldern mit immergrünem Unterholz bedeckt ist, hat 
sich der sogenannte ostsubtropische (oder ostasiatische) Typus 
der Skala der jährlichen Niederschläge erhalten mit dem 
Maximum im Winter und reichlichen Regenmengen das ganze 
Jahr hindurch. Im Süden des steppenartigen Küstenstrichs 
am Kaspischen Meer (etwa bis Petrowsk) wiederholt sich der 
mittelmeersubtropische Charakter der Niederschläge mit dem 
regenarmen Sommer. Im nördlichen Teil dieses Küstenstrichs 
hat die Verteilung der Niederschläge auf die einzelnen 
Monate des Jahrs durchaus kontinentalen Charakter, ebenso 
wie in den benachbarten Steppen; der Mittelmeertypus macht 
sich auch im Norden des kaukasischen Küstenstrichs am 
Schwarzen Meer (in der Nähe von Noworossnisk) geltend, 


allerdings noch in der Übergangsform. Diese Form ist vom 
höchsten Interesse für die Erklärung der Klimaveränderungen 
nach der Tertiärzeit, die sich offenbar durch große Feuchtig- 
keit und reichliche Niederschläge ausgezeichnet hat. 

Die aufgezeigten Eigentümlichkeiten in der jährlichen 
Verteilung und Menge der Niederschläge erweisen sich in 
vielen Fällen so charakteristisch, daß man sie einer Einteilung 
des Kaukasus in klimatische Gebiete und Zonen zugrunde 
legen könnte. Diese Einteilung wird erleichtert durch die 
Karte Figurowskys, auf der die Verteilung der Niederschläge 
angezeigt und die Punkte mit gleichen Regenmengen 
durch Linien verbunden sind (Isohyeten). Die Einteilung 
auf dieser Karte auf Grund der Lage der Isohyeten fiel zu- 
sammen mit der Einteilung auf der Karte der Isoampli- 
tuden, was die Zuverlässigkeit der angenommenen Merkmale 
beweist. 

Seine Einteilung des Kaukasus in klimatische Gebiete 
hat Figurowsky ausschließlich auf Grund klimatischer Daten 
aufgestellt und sie verglichen mit der Einteilung des Kaukasus 
in botanische (phytogeographische) Gebiete, wie sie Smirnow, 
Radde, Medwedjew vorgenommen haben. Die Vergleichung 
hat gezeigt, daß die phytogeographischen Gebiete überhaupt 
in der gleichen Abhängigkeit stehen von den klimatischen 
und daß umgekehrt die klimatischen wieder eng verbunden 
sind mit den phytogeographischen. 

Den Inhalt des 2. Bandes werden bilden: ‘eine Klassifi- 
kation der kaukasischen Klimate, eine eingehende und allseitige 
Beschreibung jedes Klimas, ihrer Lage, der gegenwärtigen 
und vergangenen Bedingungen für die Eigentümlichkeit der 
Klimate, Vergleichung mit den Klimaten anderer Länder, 
Charakteristik des Klimas einzelner Orte, z. B. der Städte, 
der Bäder usw. 


Bücherschau. 


Davis Trietsch, Levante-Handbuch. Eine Übersicht über 
die wirtschaftlichen Verhältnisse der Europäischen und 
Asiatischen Türkei, der christlichen Balkanstaaten, Agyp- 
tens und Tripolitaniens. 2. Aufl. 4°. 244 Spalten mit 
Karten. Berlin, Gea-Verlag, o. J. 4 M. 

Davis Trietsch, Handbuch über die wirtschaftlichen 
Verhältnisse Marokkos und Persiens sowie ihrer 
Nachbargebiete: Algerien — Tunesien — Spanisch-Nord- 
afrika — Afghanistan — Beludschistan. 4°. 174 Spalten 
mit 3 Karten. Berlin, Gea-Verlag, o. J. 3 f. 

Otto Kessler, Serbien. Wirtschaftliche Verhältnisse und 
deren Entwickelung. Unter Berücksichtigung der deutschen 
Interessen. 4°. 78 Spalten mit 3 Karten. Berlin, Gea- 
Verlag, o. J. 2 M. 

Diese drei Hefte mögen zusammen angezeigt werden, da 
ihr Charakter der gleiche ist, und zumal die an zweiter und 
dritter Stelle genannten Hefte eine Ergänzung des ersten 
sind. Dieses erste, das „Levante-Handbuch“, ist in seiner 
ersten Auflage vor Jahresfrist hier anerkennend besprochen 
worden. Die zweite Auflage gleicht in der Anlage und im 
Inhalt der ersten, zeigt indessen viele Nachträge und An- 
derungen auf Grund neuerer Nachrichten. Derselbe Verfasser 
holt dann in einem anderen Heft Marokko und Persien mit 
ihren Nachbargebieten nach, auch hier unter Berücksichtigung 
alles dessen, was den Kaufmann, Industriellen und Politiker, 
vornehmlich den deutschen, interessieren kann. Die Marokko- 
Bibliographie, Spalte 79 bis 83, ist ziemlich reichhaltig, doch 
selbst mit Bezug auf die selbständigen Werke nicht voll- 
ständig. So fehlen die wichtigen Bücher von de Foucauld, 
Doutt@ und Harris. Die gleiche Rubrik über Persien und, 
seine Nachbarn hat kaum Bedeutung. Serbien war schon 
von Trietsch im „Levante-Handbuch“ kurz behandelt worden. 
Eine nähere dankenswerte Darstellung von diesem Lande, 
auf das die Reichsdeutschen nachdrücklich aufmerksam ge- 
macht werden, hat nun Kessler geliefert. Dieses Heft hat 
auch mehr detaillierte Karten, während die Kärtchen der 
beiden anderen Hefte nur ganz bescheiden sind. 


Emil Carthaus, Die klimatischen Verhältnisse der 
geologischen Vorzeit vom Präkambrium an bis 
zur Jetztzeit und ihr Einfluß auf die Entwickelung der 
Haupttypen des Tier- und Pflanzenreiches. V u. 296 8. 
Berlin 1910, Friedländer u. Sohn. 

Die Grundanschauungen des Verfassers basieren auf der 
Kant-Laplaceschen Welt- oder Eisbildungstheorie. Er kann 
nicht anders denken, als daß in der organischen Welt — 
ohne Eingreifen des Menschen, wie bei der Domestikation — 
die Sippen und Arten nur notgedrungen oder auf Anregungen 


hin, die sich vorher noch nicht geltend gemacht haben, wesent- 
liche Veränderungen in ihrer Lebensweise und ihrem Organis- 
mus eingehen. An ein Streben nach Vollkommenheit in dem 
Sinne, wie dieser Ausdruck von verschiedenen Vertretern der 
Naturwissenschaft und Naturphilosophie gebraucht ist, ver- 
mag Carthaus nicht recht zu glauben, doch ist er wiederum 
weit davon entfernt, der Konkurrenz ums Dasein ihren ent- 
schieden zur Vervollkommnung führenden Einfluß abzu- 
sprechen. Es ist eben schwer, über jenes Streben nach Voll- 
kommenheit, das der Lebewelt innewohnen soll, etwas Sicheres 
zu sagen. 

Ein Referat über das Buch oder seinen Inhalt zu geben, 
ist kaum möglich, da der Text ununterbrochen ohne jede 
Gliederung fortläuft und an sehr vielen Stellen mit den 
wörtlichen Anführungen anderer Gelehrter durchsetzt ist. 
Wir haben es mit einer Aneinanderreihung einer großen Reihe 
von Tatsachen und Beobachtungen zu tun, welche der Ver- 
fasser auf langjährigen Reisen in der tropischen, gemäßigten 
wie subtropischen Zone in der Natur wie in Büchern ausführte; 
Verfasser sucht darzutun, daß Flora wie Fauna der einzelnen 
geologischen Perioden sich nur so entwickeln konnten, wie es 
tatsächlich der Fall ist, was wohl auch auf den geraumen 
Zeitraum zurückzuführen ist, vor dem das Buch eigentlich 
konzipiert wurde; hatte Carthaus doch bereits vor 17 Jahren eine 
schriftliche Zusammenstellung der in diesem Buche ausführ- 
licher entwickelten Gedanken übersandt! Hinzu kommt der 
Umstand, daß der Text im Ausland niedergeschrieben wurde, 
fern von der wissenschaftlichen Welt und ihren Bibliotheken. 
Immerhin sollte jedes Buch eine deutliche Einteilung und 
Gruppierung des Stoffes zeigen und es nicht dem Leser über- 
lassen, sich eine solche notdürftig zu konstruieren. 

E. Roth, Halle a. 8. 


Der Islam. Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islami- 
schen Orients. Herausgegeben von C. H. Becker. Mit 
Unterstützung der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stif- 
tung, Bd. 1, Heft 1. Straßburg 1910, Karl J. Trübner. 
Hamburg, 0. Boysen. 

Weltliche Priester benutzen die Religion als Deckmantel 
ihrer egoistischen Pläne, der Menge aber reden sie vor, sie 
sei etwas besonders Erhabenes, und diese glaubt meistens 
ihren Worten. Die Vertreter der Ethnographie haben lange 
Zeit auf dem Standpunkt der Menge gestanden. Vor einiger 
Zeit hat sich aber eine neue Richtung gebildet, und sie ist 
in der kurzen Zeit ihres Bestehens so gut gediehen, daß, wer 
beute die Bibel anders bewerten würde wie etwa den Herodot 
oder Strabo, nicht mehr auf wissenschaftlichem Niveau stünde. 
In der Orientalistik tritt jetzt derselbe Umschwung ein, wie 


194 


Kleine Nachrichten. 





die neue Zeitschrift „Der Islam“ beweist. Sie wird mit einer 
sehr gehaltvollen Arbeit ihres Herausgebers eingeleitet, durch 
die die theologische Richtung entthront und an ihre Stelle 
Politik und Wirtschaft gesetzt, ferner die arabische oder 
islamische Zivilisation auf ihre wahre Grundlage zurück- 
geführt wird, nämlich auf die der Byzantiner, Perser, Griechen, 
die durch die Araber zwar einen Einschlag erhielt und weiter- 


geführt wurde, aber doch maßgebend blieb. Letzteres wird 
ausführlicher von Ernst Herzfeld in einer Arbeit „Die Genesis 
der islamischen Kunst und das Mshatta-Problem“ nachgewiesen: 
Der große Tempel, den Abd al-malik ibn Marwan in Jerusalem 
bauen ließ, lehnte sich an alte Typen an und adaptierte sie 
den neuen Verhältnissen; ein Mihräb, den Sarre und Herz- 
feld in Baghdad gefunden haben, konnte kaum als Erzeugnis 
islamischer Kunst erkannt werden ; die Ornamentik der Ibn- 
Tülün-Moschee in Kairo ist in Ägypten bodenständig und 
lebt als etwas Eingeborenes auch in den späteren islamischen 
Denkmälern Agyptens fort. Ich möchte mir aber zu der 
Herzfeldschen Arbeit eine Bemerkung erlauben: sie gebraucht 
den Begriff Wirtschaft in einem Sinne, der von dem her- 
gebrachten abweicht. Ihr Verfasser sagt, daß bei den Städte- 
gründungen des Amru und des Ahmad ibn Tülün Zeit und 
Arbeit gespart werden sollte, und nennt dies ein wirtschaft- 
liches Motiv. Ein solches läge vor, wenn die Ersparnis aus 
Geldmangel notwendig gewesen wäre, aber mit diesem hatte 
man nicht zu kämpfen (8.60). Ferner rechnet er das Ar- 
beiten heimischer Arbeiter mit fremdem Material und das 
importierter Arbeiter mit lokalem Material zu den wirt- 
schaftlichen Motiven. Natürlich wird durch dieses Bedenken 
meinerseits der Wert der Arbeit in keiner Weise beeinträchtigt, 
ich habe es nur vorgebracht, weil ich die neu anbrechende 
Ära der Orientalistik vor Verwirrung der Begriffe schützen 
möchte. Welch Unheil durch diese angerichtet werden 
kann, weiß niemand besser als der Ethnograph, dem die 
falschen Begriffe der Philologen und Theologen jahrzehnte- 
lang jeden Fortschritt unmöglich gemacht haben. Denselben 
Geist wie die Herzfeldsche Arbeit atmet die kürzere von 
Georg Jacob, der nachweist, daß die islamische Kultur auf 


den Gebieten der Miniatur, des Teppichs und der Fayence 
von den Türken beeinflußt ist. Martin Hartmann behandelt 
die Frage, wie die wirtschaftlichen und kulturellen Ver- 
hältnisse der islamischen Länder im deutschnationalen Inter- 
esse gehoben werden können, zwei kürzere Beiträge stammen 
von Ignaz Goldziher und Enno Littmann, und dann folgt eine 
höchst interessante Mitteilung aus der Feder Beckers über 
das Wayfsystem (fromme Stiftungen) in Nordsyrien zur Zeit 
der Mameluckenherrschaft, durch das unter dem Deckmantel 
der Frömmigkeit das Volk ausgesogen und zugrunde gerichtet 
wurde. Becker stützt sich auf eine Inschriftensammlung 
Sobernheims. Zwei kleinere Mitteilungen und eine Biblio- 
graphie beenden das Heft. 

Die neue Zeitschrift ist für den Ethnographen in doppelter 
Beziehung wichtig. Erstens entzieht sich ein neuer, umfang- 
reicher Wissenszweig der theologischen und philologischen 
Phrase und wird damit zum Bundesgenossen der neuen 
Völkerkunde, zweitens lernen wir endlich das wirkliche 
Leben weiter Landkomplexe kennen, über das wir bisher 
mit Redensarten abgespeist wurden; denn das Leben der 
Völker wurzelt nicht in theologischen Dogmen und nicht in 
philologischen Finessen, sondern in materiellen Dingen. 

Zum Schluß möchte ich mir die ganz unverbindliche 
Frage erlauben, ob es sich nicht empfiehlt, den Begriff der 
islamischen Kultur überhaupt aus der Wissenschaft auszu- 
scheiden. Denn er enthält den Gedanken, daß die Religion, die 
Mohammed gestiftet hat, bestimmenden Einfluß auf die Ent- 
wickelung des Orients gehabt habe. Das war doch aber 
nicht der Fall, wie beispielsweise aus dem Wagfsystem aufs 
deutlichste hervorgeht: die Religion war der Vorwand, hinter 
dem sich die wahre Absicht, das persönliche oder Familien- 
interesse verbarg. Die Verhältnisse lagen dort genau so wie 
bei uns, und wie man bei uns zu den wunderlichsten Schlüssen 
kommen würde, wenn man die historische Entwickelung aus 
den überlieferten Lehren Jesu von Nazareth herleitet, so 
erweckt man mit dem Begriff „Islamische Kultur“ leicht 
Vorstellungen, die mit dem „christlich-germanischen Familien- 
sinn“ verwandt sind. Goldstein. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Betrachtungen über die Tiergeographie der Bey- 
chellen von H. Kolbe finden sich in den Mitt. aus d. zool. 
Museum in Berlin, 5. Bd., 1910. Die Fauna dieser Inseln 
schließt sich größtenteils an dasindische Gebiet an, besonders 
an das Vorderindiens, Ceylons wie des Malaiischen Archipels, 
teilweise viel deutlicher als an Madagaskar und die Maska- 
renen; zu dem afrikanischen Gebiete finden wir nur geringe 
Beziehungen. Das Gebiet der Seychellen muß in früheren 
Perioden wohl größer gewesen sein. Wichtig ist der En- 
demismus der verhältnismäßig vielen spezialisierten Seychellen- 
formen. Die Hypothese einer kontinentalen bzw. peninsularen 
Verbindung dieser Inselgruppe mit Ceylon und dem südlichen 
Teile Vorderindiens kongruiert gut mit den von Inselreihen 
und Inselgruppen oder einzelnen Inseln gekrönten submarinen 
Erhebungen des Meeresgrundes zwischen den Seychellen und 
den südlich von diesen gelegenen Agalegainseln nebst den 
Garayoinseln einerseits und den Tschagosinseln, den Maldiven, 
Ceylon und Vorderindien andererseits. Die Inseln der Bey- 
chellen sind sämtlich nur durch Flachseen voneinander ge- 
trennt und erscheinen wie die Berggipfel eines submarinen 
Gebirges, welches einer niedergesunkenen größeren Insel auf- 
liegt; sie erheben sich auf einer gemeinsamen submarinen 
Bank in 20 bis 80m Tiefe. Die Seychellen sind ganz von 
Granit und Gneis aufgebaut und ragen bis zu 1000 m empor. 
Sie gleichen in ihrer geologischen Bildung Madagaskar, das 
in seinem ganzen zentralen Teile der Länge nach von einer 
gewaltigen, hochragenden Granitmasse durchzogen wird. 
Faunistisch kommen neben den indischen Elementen dann 
noch Beziehungen zu Australien, Neuseeland, Südamerika 
und Madagaskar in Betracht, mit welcher Insel wohl einmal 
eine territoriale Gemeinschaft bestand. Die Periode dieses geo- 
logischen Zusammenhanges mag aber viel weiter zurück- 
liegen als die Periode ihrer peninsularen Verbindung mit 
Indien. Australische Elemente, namentlich solche von Neu- 
seeland, Polynesien, lassen sich mehrfach auf den Seychellen 
feststellen. Wenn auch sicher ein Zusammenhang mit Mada- 
gaskar festzustellen ist, so befremdet doch die Armut der 
Fauna der Seychellen gegenüber der reichen Insektenfauna 
jener großen Insel. Die Vegetation ist auf den Seychellen 
meist sehr üppig, eine Folge der gleichmäßigen Wärme, der 
großen Feuchtigkeit und des guten Bodens. Das Klima ist 


als Seeklima trotz der Lage nahe dem Äquator sehr erträg- 
lich; die mittlere Jahrestemperatur beträgt 27 bis 29°C, die 
jährliche Schwankung umfaßt nur 10 bis 12°C, die tägliche 
überschreitet nicht 6 bis 7°. Im Winter fällt kein oder nur 
wenig Regen, aber im waldigen Gebirge ist die Regenmenge 
ziemlich reichlich. Die zahlreichen Flüsse trocknen niemals 
aus, doch dürften in früheren Zeiten die Wälder in noch 
stärkerem Maße die Insel bedeckt haben. Heute treffen wir 
vielfach auf Graslandschaften und Gebüsch neben den Kultur- 
pflanzungen, die Kakao, Kaffee, Vanille, Bananen, Zitronen, 
Zimt usw. liefern. 


— Menschenopfer im Altertum. Bei keinem an- 
deren Volke des klassischen Altertums sind nach E. Mader 
(Diss. von Freiburg i. Schw. 1909) die Menschenopfer durch 
Inschriften und anderweitige Quellen so gut dokumentiert 
wie bei den Ägyptern. Das Verhältnis, in welchem Israel im 
Verlaufe seiner Geschichte zu Ägypten stand, sowie besonders 
mehrere Bibelstellen legen es nahe, den Ursprung des hebräi- 
schen Molochdienstes in Ägypten zu suchen. Wenn auch die 
assyrisch-babylonischen Keilinschriften und Reliefs, welche 
auf Menschenopfer hinweisen, nicht sehr zahlreich sind, 
so genügen die bisher bekannten doch vollkommen, um 
die Existenz der Menschenopfer bei den Völkern des Zwei- 
stromlandes sicherzustellen. Da die hebräischen Kinderopfer, 
soweit wir Nachricht darüber haben, zu keiner Zeit so sehr 
im Schwange waren als in der assyrischen Periode und eine 
Herübernahme von Kanaan in dieser Zeit ausgeschlossen 
scheint, so wird dieses Wiederaufleben des Molochdienstes 
auf Rechnung assyrischen Einflusses zu setzen sein. Es ist 
kein einziger Beweis dafür vorhanden, daß die Kanaanäer 
ihre Menschenopfer dem Melkart gebracht haben, vielmehr 
ist es meistens Kronos, dem diese Opfer galten. Weder die 
Identität des Melkart von Tyrus mit dem Baal von Byblos, 
noch die Entsprechung bzw. Gleichstellung beider mit dem 
Menschenopfer der Hebräer ist als wahrscheinlich zu be- 
trachten. Daß es ein Feuer- oder Sonnengott sei, läßt sich 
weder aus seinem Namen, noch aus der Erscheinungsform 
und seinen Charakterzügen folgern. Die Behauptung, daß 
der Molochkult alter Jahvekult und Jahve = Moloch sei, stimmt 
nicht. Die richtige Auslegung von Ezechiel 20, 25 ff. sowie 


Kleine Nachrichten. 195 


des Gebotes der Erstgeburt und des Kriegsbannes zeigt, daß 
es ungerecht sei, die Menschenopfer als legitimen Jahvekult 
auszugeben. Im Gegenteil beweisen die scharfen Pentateuch- 
gesetze sowie die energische Stellung der Propheten gegenüber 
dem Molochdienst, daß der orthodoxe Jahvismus die Menschen- 
opfer zu allen Zeiten perhorreszierte und als heidnischen 
Götzendienst ansah. Keines der biblisch bezeugten Fakta von 
Menschenopfern ist derart, daß es einen Beweis für die Ver- 
einbarkeit dieser Opfer mit dem echten Jahvedienst abgeben 
könnte. Die definitive Abschaffung der Menschenopfer in 
Israel kann nicht auf den bloßen Einfluß der persischen 
Zivilisation zurückgeführt werden, sondern hat ihren tiefsten 
Grund in der scharfen Polemik und in,dem unerbittlichen 
Kampf, welchen die geistesmächtigen Propheten gegen den 
Greuel eröffneten, und besonders in der speziellen Führung, 
welche die göttliche Providenz dem ausgewählten Volke zu- 
teil werden ließ. Der reine Jahvedienst der Propheten ist 
sicherlich nicht ein reformierter Molochdienst gewesen, son- 
dern stand bereits bei seinem ersten Erwachen in einer ganz 
anderen Ideenwelt und zeigte Inhalt wie Formen, die unend- 
lich verschieden von jenen sind, welche zur Versöhnung 
des Schuldbewußtseins noch blutige Menschenopfer forderten. 


— Der Afrikareisende Franz Seiner aus Graz 
schiffte sich am 7. September d. J. in Hamburg neuerdings 
nach Deutsch-Südwestafrika ein, um die größtenteils 
noch unbekannten Landschaften zwischen dem Epukiro, dem 
Omuramba Omatako, dem Okawango und der Ostgrenze des 
Schutzgebietes geographisch und, soweit dies möglich ist, 
wirtschaftlich zu erschließen. Der Reisende wird bei der 
Wasserarmut des Gebietes, durch das bekanntlich der Todes- 
zug der Herero ging, mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen 
und wasserlose Strecken von 200 bis 300 km Länge zu 
überwinden haben. Die geplanten Arbeiten werden eine 
wichtige Ergänzung zu Seiners wissenschaftlichen Beob- 
achtungen während seiner Reisen 1905/07 im Caprivizipfel 
und in der britischen Mittelkalahari bilden. 


— Im Juli v. J. wurden in einem Tumulus bei Peschawar 
einige weitere Reste der Gebeine Buddhas aufgefunden, 
die dort der Kuschankaiser Kanischka (im zweiten nach- 
christlichen Jahrhundert) in einem prächtigen Tempel 
hatte beisetzen lassen (vgl. die Notiz über den Fund Bd. 96, 
8.179). Es entstand nun die Frage, wo im Bereiche der 
buddhistischen Welt dieser kostbare Rest — es sind nur drei 
winzige Knochenstückchen, so groß wie die Glieder des 
menschlichen kleinen Fingers — seine neue Ruhestätte 
finden sollte. Ein Vorschlag ging dahin, sie unter die Länder 
zu verteilen, wo heute der Buddhismus am stärksten ver- 
breitet ist, und auch Japan wünschte seinen Anteil zu er- 
halten. Viele Hindus aber protestierten energisch dagegen, 
sie erklärten es für Vandalismus, den Inhalt des Gefäßes zu 
teilen und einen Teil ins Ausland zu schicken. Die Bir- 
manen machten geltend, sie hätten auf die Reliquie das 
größte Anrecht, denn im goldenen Mandalay herrschte Bud- 
dhas Religion in ihrer ganzen Reinheit, da nur wären die 
wirklich rechtgläubigen Priester. Die Birmanen haben sie 
nun auch bekommen, kürzlich hat sie der indische Vizekönig 
in Kalkutta einer Deputation aus Mandalay feierlichst aus- 
gehändigt. Dort wird nun zur Aufnahme der Reste eine 
Pagode errichtet werden. — Es war übrigens von vornherein 
ausgeschlossen, daß die indische Regierung die Reliquie oder 
auch nur Teile davon ins Ausland gehen lassen würde. Wo 
sie ruhen, da muß natürlich für die ganze buddhistische 
Welt ein richtiger Wallfahrtsort entstehen, und daraus er- 
wachsen dem Lande nicht nur pekuniäre, sondern auch 
politische Vorteile. 


— Der Verein „Deutsche Heimat“ in Wien teilt uns mit, 
daß er im Attersee einen Pfahlbau habe rekonstruieren 
lassen, und daß dieser am 14. August d. J. zur Besichtigung 
freigegeben worden sei. Im Attersee wie auch im benach- 
barten Mondsee sind Reste von Pfahlbausiedelungen auf- 
gefunden worden, die im Gegensatz zu denen der Westalpen 
bereits mit dem Ende der Steinzeit aufgegeben worden sind, 
also zu den ältesten gehören. Die Ortlichkeit war demnach 
für die Errichtung der Rekonstruktion gut geeignet. Sie 
liegt bei Kammer im sogenannten Sturmwinkel, in der Nähe 
von Eisenbahn- und Schiffsstation. Der Rost, 357 qm groß, 
ruht auf 190 Pfählen aus Lärchenholz und trägt fünf Hütten 
in natürlicher Größe, denen man genau die Form der beiden 
wissenschaftlich festgestellten Typen, des Blockbaues und des 
Flechtbaues, gegeben hat. Ein 40 m langer Steg aus Knüppel- 
holz verbindet das Dorf mit dem Festlande. In den Hütten 
sind einige Modelle von Geräten der Pfahlbaubewohner zu 
sehen, so ein Steinbohrapparat. Ferner ist von dem genannten 


Verein in dem Orte Kammer ein Museum errichtet worden, 
das hauptsächlich Funde aus der Pfahlbauära der jüngeren 
Steinzeit enthält. 


— Dr. Max Moszkowski aus Berlin hat, wie Bd. 97, 
8.275, mitgeteilt wurde, im vorigen Frühjahr eine For- 
schungsreise in das Mamberamogebiet (im Norden 
des holländischen Teiles von Neuguinea) angetreten, um es 
ethnologisch, anthropologisch und auch geographisch zu er- 
forschen. Er hat dazu u. a. vom Berliner Museum für 
Völkerkunde aus der Baeßler-Stiftung die Mittel erhalten. 
Es war dort kurz vorher auch eine holländische Expedition 
unter der Leitung von Franssen Herdersch6e tätig gewesen, 
in der Absicht, schließlich quer durch die Insel das Schnee- 
gebirge von Norden her zu erreichen (vgl. Globus, Bd. 97, 
8.33); sie hatte aber vorzeitig umkehren müssen, mit einem 
Verlust von etwa 30 Toten und 100 Erkrankten, Opfern der 
Beri-Berikrankheit. Moszkowski scheint nun mehr vom Glück 
begünstigt zu werden, wie aus einem Briefe hervorgeht, den 
er unter dem 26.Juli von der Mamberamomündung an den 
Globus gerichtet hat. 

Wir entnehmen ihm, daß er in den ersten drei Monaten 
seiner Tätigkeit das Gebiet zwischen der Mamberamomündung 
und dem Van Rees-Gebirge durchzogen hat. Er hat überall 
unter den Papuas in ihren Dörfern gewohnt und ist, obwohl 
er ohne jeden militärischen Schutz war, unter diesen Leuten, 
die nach ihrem eigenen Eingeständnis Menschenfresser sind, 
unbehelligt geblieben. Er ist von ihnen offiziell zu ihrem 
Gastfreund ernannt worden, hat an ihren Festen teilnehmen 
dürfen und hat so Gelegenheit für eine reiche wissenschaft- 
liche Ausbeute gehabt. Er hat bereits acht Kisten mit 
500 Nummern Ethnologica und je vier Kisten Zoologica und 
Botanica nach Hause geschickt, 150 Photographien, 30 Phono- 
gramme und drei Papuasprachen aufgenommen. Speziell 
über die religiösen Anschauungen ist viel in Erfahrung ge- 
bracht worden. 

Auf geographischem Gebiet hat Moszkowski die Namen 
sämtlicher Dörfer und Stämme zwischen Van Rees-Gebirge 
und Mamberamomündung festgestellt, auch die Namen der 
meisten Nebenflüsse. Ferner hat er einen mächtigen Seiten- 
arm, den der Mamberamo zur Geelvinkbai sendet, befahren 
und aufgenommen. Von diesem Arme hatte man bisher 
nichts gewußt, auch nichts von dem Hügelrücken, der ihn 
flankiert und ihn von den Flüssen, die in die südliche Geel- 
vinkbai münden, scheidet. Damit ist also ein großer weißer 
Fleck von der Karte getilgt worden. 

Die Moszkowskische Mamberamoexpedition hatte bis zum 
Abgang des Briefes noch keinen einzigen Fall von Beri-Beri 
zu verzeichnen; das schreibt Moszkowski einer von ihm aus- 
gedachten Prophylaxe zu, und er meint sogar, daß nach dieser 
seiner Methode ernährte Expeditionen überhaupt gegen Beri- 
Beri gefeit seien. 

Zum Schluß schreibt der Forscher: „Auch sonst erfreuen 
wir uns alle — zwei Europäer und fünf Malaien — des 
besten Wohlbefindens. Nunmehr verlege ich mein Haupt- 
quartier mit Hilfe eines Dampfers, den mir die holländische 
Regierung freundlichst zur Verfügung gestellt hat, ins Van 
Rees-Gebirge, und dann beginnt der Marsch nach den Schnee- 
bergen.“ 


— In der Nähe des berühmten erloschenen Geysir von 
Waimangu auf Neuseeland haben Ende Juli vulkanische 
Ausbrüche begonnen. Die englische Zeitschrift „Nature“ 
erinnert daran, daß dieser Geysir einige Jahre lang als der 
mächtigste galt. Seine Tätigkeit 1903 und 1904 rief auf der 
Nordinsel Neuseelands eine derartige Furcht hervor, daß eine 
Auckländer Zeitung, die seine Tätigkeit dem großen Anwachsen 
des benachbarten Rotomahanasees zuschrieb, den Vorschlag 
machte, den See abzulassen, um den heißen Quellen der 
Gegend einen freieren Ausfluß zu gewähren. Es wurde aber 
nichts unternommen, und die Gefahr wurde dadurch beseitigt, 
daß der Seedamm brach. Das Wasser des Rotomahana ergoß 
sich in den Rotoruasee, und die Ausbrüche des Waimangu 
hörten auf. Es wäre von Interesse zu erfahren, ob die Er- 
neuerung der vulkanischen Tätigkeit an der Taraweraspalte 
mit jenem Aufhören der Waimanguausbrüche zusammenhängt. 


— Zweifel an Deschnews sibirischer Reise von 
1648 werden in einem kleinen Aufsatz von F. A. Golder 
im Londoner „Geogr. Journ.“ (Juli 1910) geäußert und zu 
begründen gesucht. Simeon Deschnew war ein russischer 
Kosak, über dessen Reise von der Kolyma zum Anadyr über 
die Beringstraße vom Jahre 1648 G. P. Müller 1736 im Archiv 
zu Jakutsk Nachrichten vorfand. Waren aber diese Nach- 
richten authentisch, so bedeuteten sie, daß nicht erst Bering 
1728 den Beweis für die Trennung Asiens von Amerika durch 


196 Kleine Nachrichten. 


die Umsegelung des Ostkaps erbracht hatte, sondern bereits 
80 Jahre vor ihm der lange vergessene Deschnew. Der 
russische Archivar N. Oglobin betonte das 1890 von neuem, 
und 1898 trug die russische Regierung diesem Umstande 
Rechnung, indem sie das bisherige Ostkap, die Ostspitze 
Asiens, Deschnew zu Ehren „Kap Deschnew“ benannte. Die 
Geographen und Kartographen folgten diesem Beispiel. 

Deschnew soll nach Müller mit mehreren Gefährten am 
30. Juni 1648 von der Kolyma abgesegelt, am 30. September 
auf einem Kap, dem Ostkap, gelandet sein und bald darauf 
an der Olutorskmündung Schiffbruch gelitten haben; dann 
habe er nach mehrwöchigem Landmarsch den unteren Anadyr 
erreicht. Diese Angaben sind bisher als richtig anerkannt 
worden, und unter anderem wurde dafür ins Feld geführt, daß das 
von Deschnew als zwischen Nord und Nordost sich erstreckend 
erwähnte Kap die Richtung des Ostkaps habe, und daß die 
ihm gegenüberliegenden Inseln in der Tat, wie Deschnew 
weiter erwähnt, von einem Tschuktschenstamme mit durch- 
bohrten Lippen bewohnt würden. Es mag hier nur angegeben 
werden, was Golder auf Grund einer erheuten Prüfung des 
Deschnewschen Originalmanuskriptes und „anderer Doku- 
mente des 17. Jahrhunderts“ dagegen ins Feld führt: „Das 
von Deschnew erwähnte Kap braucht nicht notwendiger- 
weise das Ostkap zu sein, weil die angegebene Lage unklar 
ist und ebensogut sich auf zahlreiche andere arktische Kaps 
bezieht, und weil sich dasselbe auch von der Lage der Inseln 
sagen läßt. Was das Lippenpflöcke tragende Volk angeht, so 
glauben 1. Wrangel und Nordenskiöld, die längere Zeit in 
jener Gegend weilten, daß in nicht ferner Vorzeit ein Eskimo- 
volk die Gebiete östlich von derKolyma und dem Tschelagskoi- 
Kap bewohnt habe; 2. war der Bericht erst 1655 geschrieben, 
und in der Zwischenzeit hatte Deschnew reichlich Gelegen- 
heit, von den Eskimos zu hören. Sarytschew, ein sibirischer 
Seemann und Entdecker, meint, daß viel von dem, was sich 
in dem Bericht findet, von den Eingeborenen der Anadyr- 
gegend erkundet worden ist. Deschnews Kap ist nicht das 
Ostkap, weil Deschnew sagt, daB man vom Kap zum Ana- 
dyr drei Tage über Land oder zur See habe, „nicht länger“. 
Es erhebt sich nun die Frage: Da es nur drei Tage bis zum 
Anadyr sind, und da Deschnew schon das Kap auf seinem 
Wege passiert hatte, warum brauchte er zehn Wochen, um 
den Fluß zu erreichen?“ 

Ob diese und die anderen Einwände Golders ausreichen, 
Deschnew sein Verdienst wieder zu entreißen, ließe sich nur 
an der Hand des Originalmanuskriptes des russischen Kosaken 
prüfen. Vielleicht wird das durch russische Geographen ge- 
schehen. 


— Über die Leichenbeseitigung bei den Machey- 
engas, einem sehr primitiven Indianerstamm im östlichen 
Peru zwischen Ucayali und Urubamba, unterrichtet uns 
W. O. Farabee (Proc. of the Amer. Antiqu. Soc., Oktober 
1909). An Ursprünglichkeit lassen diese „Wilden“ es nicht 
fehlen; sie nähren sich von den Fischen der Urwaldströme 
und kleinen Bananen- und Yukkapflanzungen, sind ohne jede 
Stammesorganisation, ohne Streit und Krieg, in kleine Horden 
geteilt mit dem beschränkten Ausblicke in die Welt, soweit 
ihre Kähne sie flußauf und -ab tragen. So leben sie fried- 
lich dahin, sterben und werden nicht begraben. Irgend welche 
religiöse Zeremonien kennen sie nicht, und auch bei Todes- 
fällen kommen religiöse Vorstellungen nicht vor. Stirbt 
einer, so entledigt man sich der Leiche schnell. Auf ein 
paar Stangen wird sie im einfachen Baumwollkleide zum 
Flusse hinabgetragen und in diesen hinabgeworfen, wo 
sie den Fischen zur Nahrung dient. Auch dem Tode nahe 
alte Personen beseitigt man auf diese Weise. Wenn diese 
Indianer dann ihre Hütte verlassen, so geschieht es einzig 
aus dem Grunde, weil sie fürchten, von der Krankheit des 
Verstorbenen angesteckt zu werden, nicht etwa, weil sie 
Furcht vor dem Geiste des Toten hätten. Die Macheyengas 
haben eine Art Seelenvorstellung, allein diese ist sehr eigen- 
tümlicher Art und wird durch eine Überlieferung erläutert. 
Einmal begrub man einen Indianer und stellte bei seinem 
Grabe eine Wache auf, die sehen sollte, ob er eine Seele 
habe. Acht Tage darauf sah man aus dem Grabe einen 
Rothirsch springen und in den Wald laufen. In diesen war 
die Seele des Toten hineingewandert, und daher verzehrt 
man auch kein Hirschfleisch. Auch die Seelen der in den 
Fluß geworfenen Leichen gehen in einen Hirsch ein — damit 
hat aber die Sache ein Ende, denn weder der Hirsch noch 
die Seele existieren oder wandern weiter. Eine genaue Vor- 
stellung von der Seele, die seletce heißt, hat man nicht; sie 
ist aber Tieren und Menschen gemeinsam. Unklare Vor- 
stellungen bestehen bei diesem Stamm von Idioci, dem dicken 
Mann im Himmel, welcher die Menschen, Sonne und Mond 


schuf und Regen und Donner macht. Aber Opfer, Gebete, 
Feste, Zaubermittel, heilige Tänze, Verkehr mit Geistern 
kennen diese Primitiven nicht, die, unkontrolliert durch äußere 
Mächte, völlig frei ohne Religion dahinleben. A. 


— Die lappischen Zaubertrommeln, heute außer 
Gebrauch, aber noch in ziemlicher Anzahl in europäischen 
Museen erhalten, haben in der letzten Zeit wiederholt die 
Aufmerksamkeit der Ethnographen erregt und zu Deutungen 
der auf ihnen eingezeichneten Figuren veranlaßt. Die Zauber- 
trommel, mit welcher Linné auf einem bekannten Bilde dar- 
gestellt ist, wurde in Paris wieder aufgefunden, und auch zu 
Meiningen entdeckte man in der Sammlung des Henne- 
bergischen Altertumsvereins ein schönes Exemplar, welches 
von Prof. Weinitz im Verein mit W. Lindholm in der Zeit- 
schrift für Ethnologie 1910, 8. 1 abgebildet und beschrieben 
wurde. An dieser Beschreibung nun, und namentlich an der 
Deutung der auf dem Trommelfell dargestellten Figuren, übt 
jetzt K. B. Wiklund in Upsala eine eingehende Kritik, in- 
dem er zeigt, daß vieles von Weinitz und Lindholm falsch 
gedeutet wurde. Er konnte dieses um so mehr, als zu Dront- 
heim ein altes Manuskript vorhanden ist, welches über die 
Meininger Trommel die genauesten Auskünfte gibt, selbst 
deren Entstehungsort und frühere Besitzer kennt. Dadurch 
erhalten viele Figuren eine ganz andere Bedeutung, die wir 
aber, ohne Abbildungen, hier nicht weiter verfolgen können. 

r die Trommeln, die zu Zauber- und Wahrsagediensten 
von den lappischen Schamanen benutzt wurden, gibt Wik- 
lund aber, unter Anführung der großen Literatur, eine be- 
langreiche Zusammenfassung, aus welcher hervorgeht, daß 
auf ihnen ein lappischer Mikrokosmus dargestellt ist. Mit 
Hilfe der Zeichen auf dem Trommelfelle wurde die Zukunft 
enthüllt, der Zauberer legte einen Ring oder dergleichen auf 
das Fell, schlug dieses mit einem Hammer aus Rentierhorn, 
und je nachdem der Ring an die Zeichen sprang, wahrsagte 
ey daraus. Die Zeichen waren teils mythologischer Art und 
stellten lappische Götter und Göttinnen oder Hilfsgeister des 
Zauberers dar; zum Teil aber waren sie dem täglichen Leben 
der Lappen entnommen, gaben z. B. Hütten, Schiffe, Wölfe, 
Rentiere wieder. Von besonderem Werte aber sind diese 
Zeichen als Quellen unserer Kenntnis der alten Religion 
der Lappen, noch wichtiger aber werden sie dadurch, daß 
sie Aufschlüsse über die religiösen Vorstellungen 
der alten Nordgermanen geben, da sich herausgestellt 
hat, daß die alte, Religion der Lappen von altnordisch-heid- 
nischen Elementen ganz durchdrungen war, worauf schon 
1876 Fritzner hinwies und was neuerdings von Axel Olrik 
und K. Krohn näher begründet wurde. A. 


— Auf dem Gebiete der slawischen Altertumskunde 
spielen sich unter den Blawisten zurzeit heftige Kämpfe ab. 
Prof. J. Peisker in Graz ist so eine Art Hecht im Karpfen- 
teiche, der schon wiederholt durch ganz neue Ansichten unter 
den übrigen Slawisten heftigen Widerspruch erregte. Er hat 
kürzlich eine Schrift herausgegeben „Neue Grundlagen der 
slawischen Altertumskunde“, in welcher er den Nachweis zu 
führen sucht, daß die noch einheitlich beisammensitzenden 
slawischen Stämme in ihrer Urheimat jenseit der Karpathen 
in einer fürchterlichen Knechtschaft, gehetzt wie ruheloses 
Wild, einerseits unter den Turkotataren, andererseits unter 
den Germanen ein jämmerliches Dasein führten, in dem sie 
zu Vegetariern wurden, Viehzucht nicht kannten usw. Die 
Beweise dafür sucht er auf sprachlichem und geschichtlichem 
Gebiete beizubringen. 

Dieses Bild widerspricht allerdings völlig den bisherigen 
idyllischen Schilderungen von den slawischen Urzuständen, 
die ebenfalls sehr übertrieben sind, und veranlaßte eine An- 
zahl Gelehrter, dagegen aufzutreten. Jetzt (Archiv für sla- 
wische Philologie, Bd. XXXI, 8. 569—594) erwidert ihm mit 
Glück der hervorragende tschechische Altertumsforscher Prof. 
Lubor Niederle, welchem auch der gelehrte Wiener Slawist 
V. Jagić sekundiert; Niederle, der Verfasser einer slawischen 
Altertumskunde (tschechisch), war hierzu allerdings der be- 
rufene Mann. Namentlich die Hypothese von der turko- 
tatarischen Unterjochung wird zurückgewiesen, wobei inter- 
essante Exkurse über die Skythen stattfinden, deren iranische 
Sprache jetzt feststeht. Auf die vielen sprachlichen Einzel- 
heiten und die Frage der Lehnwörter in der vorliegenden 
Sache können wir nicht eingehen, doch scheint uns Niederle 
(und mit ihm Jagić) glücklich gegen Peisker zu kämpfen. 
Da die Ansichten des letzteren vielfach in der deutschen 
Literatur schon Verbreitung gefunden haben, so wollen wir 
auf die Gegenschrift hier hinweisen, zumal sie auch sonst 
vielerlei Aufklärung zur slawischen Altertumskunde enthält. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 





Abb.1. Kopalbäume bei Kilindoni. 


Der Eindruck, den der Reisende beim Herannahen 

des Schiffes an Kilindoni, den künftigen Sitz der Lokal- 
` verwaltung, empfängt, ist auch für das an tropische 

Farbenpracht und Formenfülle gewöhnte Auge überaus 
anziehend. Eine wesentlicher Bestandteil der Schönheit 
dieses Bildes sind die Gruppen prächtiger alter Kopal- 
bäume, die den gewohnten, etwas steifen Konturen des 
mit Kokospalmen gesäumten Tropenstrandes eine äußerst 
wohltuende kräftigere Nuance verleihen (Abb. 1). Diese 
fast an nordische Seeküsten erinnernden Formen ver- 
einigen sich mit der leuchtenden Farbenglut des lasur- 
blauen Meeres und des weißen Steilabfalles und mit dem 
tiefen Grün der Vegetation zu einem Landschaftsbild 
von ungewöhnlichem malerischen Reiz. 

Die Bedeutung des Ortes Kilindoni ist vorläufig noch 
lediglich in seiner schon erwähnten Bestimmung als 
künftiger Sitz der Verwaltungsbehörde begründet. Auf 
diese in der Zukunft liegende Bedeutung weisen zwei 
weiße Häuschen in arabischer Bauart hin, die das Zoll- 
amt beherbergen. Die Geschichte dieses 
Zollamtes entbehrt nicht einer gewissen 
tragischen Komik. Es befand sich ur- 
sprünglich auf der kleinen Nachbar- 
insel Tschole, die den gleichnamigen 
Hauptort der gesamten Inselgruppe 
trägt und auch heute noch der Sitz 
der dem Bezirksamt Kilwa unterstehen- 
den Bezirksnebenstelle ist. Die Ver- 
legung des Zollamtes von dort nach 
Kilindoni sollte der erste Schritt zu 
der geplanten Verlegung der Ver- 
waltung auf die Hauptinsel sein, die 
aus Gründen der verschiedensten Art 
geboten erschien. Die Araber jedoch, 
welche das Patriziat von Tschole wie 
überhaupt auf der ganzen Inselgruppe 
bilden, und bei welchen die Absicht, 
ihr geliebtes Tschole seines Charakters 
als Hauptstadt zu entkleiden, auf ein- 
mütigen Widerstand stieß, begannen 
nun ihre Güter in Daressalam zu ver- 
zollen und dann von dort nach Tschole 
schaffen zu lassen, so daß auf diese 
Weise das Zollamt in Kilindoni so- 





v. Boxberger: Wandertage auf Mafia. 


zusagen boykottiert wurde. Ob sie 
an dieser etwas umständlichen Praxis 
festgehalten haben, entzieht sich 
meiner Kenntnis: jedenfalls wurde 
zur Zeit meiner Anwesenheit der 
Friede des mit der Zollverwaltung 
beauftragten Inders durch nichts 
gestört. 

Weit überragt in historischer und 
gegenwärtiger Bedeutung wird Kilin- 
doni durch den einige Kilometer 
nördlich gelegenen Ort Tireni, den 
einstigen Sitz des reichen Arabers 
Salim bin Said. Der Weg von Kilin- 
doni nach Tireni führt an wunder- 
vollen Kopalbeständen vorüber. Zu 
meinem größten Leidwesen sah ich 
hier, daß durch eine vandalische 
Behandlung der Bäume, welche zum 
Zwecke der Harzgewinnung an- 
gewendet wird, dieser herrliche 
Schmuck Mafias binnen kurzem rui- 
niert sein wird, wie ganze Bestände 
bereits vernichtet worden sind. Um 
den Stamm zur Ausscheidung des 
Harzes anzuregen, wird die Rinde in großen zusammen- 
hängenden Flächen bis auf dasSplintholz abgehauen, welche 
Behandlung der Baum einige Jahre aushält, dann aber durch 
Absterben quittiert. Solche eingegangenen Stämme machen 
da, wo sie in größerer Zahl beisammen stehen und ihr 
weißes Geäst kahl und starr in den blauen Himmel recken, 
vollkommen den Eindruck eines winterlichen Buchenwaldes 
der Heimat und treten dann in wunderlichen Kontrast 
zu ihrer tropisch-üppigen Umgebung. 

Tireni ist heute ein Bild des Verfalles, wie die meisten 
ehemaligen Herrensitze auf Mafia. Nach dem Tode des 
Salim bin Said sind seine Erben nach Sansibar verzogen, 
in Tireni selbst wohnt nur noch eingeborenes Sklaven- 
volk (Wambwera). Das ehemals imposante Steinhaus 
des Salim ist mit der schon von Baumann hervorgehobenen 
Schnelligkeit, mit der sich auf Mafia der Wechsel von 
Werden und Vergehen menschlicher Werke vollzieht, zu 
einem Trümmerhaufen geworden. An vergangene Herr- 
lichkeit erinnern neben der ungemein ausgedehnten, jetzt 





Abb.2. Negerhütten in Marimbani mit Akadjubaum. 


v. Boxberger: Wandertage auf Mafia. 


199 





dem Sultan Seyid Chalid gehörenden Kokospalmen- 
pflanzung einzelne Exemplare von Zierbäumen und 
Arecapalmen, die die Spuren eines nicht ohne Ver- 
ständnis angelegten Parkes noch erkennen lassen. Aus 
der Gegenwart verdient hervorgehoben zu werden, daß 
der Jumbe von Tireni, Ali bin Barra, es sich in be- 
wundernswerter Unternehmungsfreudigkeit angelegen 
sein läßt, die von der Regierung gewünschte und prote- 
gierte Anpflanzung von Gewürznelken in Angriff zu 
nehmen. Seine „Kulturen“, die aus einem mit etwa zwei- 
jährigen Sämlingen bestandenen Beet gebildet wurden, 
litten offenbar unter Trockenheit, doch soll damit kein 
Urteil über die Nelkenbauversuche auf Mafia überhaupt 
ausgesprochen werden. 

Von eigenartigen Kulturgewächsen sei schon hier der 
auf ganz Mafia endemisch vorkommende Akadjubaum 
(Anacardium occidentale) erwähnt (Abb. 2), dessen nach 
edlen Äpfeln duftende Frucht, mbibu genannt, außen an- 
gehängt einen Kern von Größe und Gestalt einer starken 
Saubohne trägt (Koroscho), der angeröstet einen sehr an- 
genehmen Geschmack hat (der etwa in der Mitte zwischen 
gerösteten Kastanien und gebrannten Mandeln steht), 
während er in rohem Zustand ebenso wie die fleischige 
Frucht eine scharf ätzende Wirkung auf die Mund- 
schleimhaut ausübt. Merkwürdigerweise scheint sich der 
Verbrauch dieser Koroschonuß, die ein Exportartikel 
ersten Ranges zu werden verdiente, im wesentlichen auf 
die Insel zu beschränken, da die Frucht an der Küste 
kaum bekannt ist. 

Ein regelmäßiger Begleiter der Pflanzungen und An- 
siedelungen ist neben dem Akadjubaum der überall auf 
Mafia in großer Schönheit wachsende Mangobaum, der 
ja auch an der Küste eine der gewöhnlichsten Er- 
scheinungen ist. Aus der Pflanzenwelt fällt weiter eine 
niedrige, in kleinen Büschen rankende oder auf dem 
Boden herkriechende Leguminose mit harten, rotschwarzen 
Erbsen auf, die ich in Europa zu gewissen geschmack- 
losen Zieraten, wie Muschelkästchen, Bilderrahmen u. dgl., 
verwendet gesehen zu haben glaube. 

An Palmen findet sich auf Mafia neben der in großen 
Mengen angepflanzten Kokospalme häufig eine Phönixart 
(Ukindo), die streckenweise den Pori auf das angenehmste 
belebt und als Erzeugerin des zur Mattenflechterei ver- 
wendeten Bastes eine wichtige Rolle spielt. Das Vor- 





Abb. 4. Zugang zum Dorf Kipingwi. 





Abb.3. Im Urwald von Tschunguruma. 
kommen dieser wasserliebenden Palme gegenüber der an 
der trockenen Küste vorherrschenden Dumpalme (Hy- 
phaene crinita) deutet auf eine relativ hohe Bodenfeuchtig- 
keit der Insel hin, wie sich eine solche auch durch die häu- 
figen kleineren Teiche und Wasserläufe zu erkennen gibt. 

Von interessanten, an der Küste von mir nicht be- 
obachteten Pflanzenformen sei noch eine ganz entzückende 
Selaginelle erwähnt, die man an besonders feuchten Stellen 
findet und die ganz und gar ein getreues Ebenbild der 
in Europa so beliebten Zimmertanne (Araucaria excelsa) 
ist und bis !/,m hoch wird. Unter den Charakterpflanzen 
Mafıas ist schließlich noch eine baum- 
artige Ericacee hervorzuheben, die 
streckenweise, so zwischen Kilindoni 
und Tireni, ganze Bestände bildet, 
leider aber stark gerodet wird, da sie 
bei der Trockenheit ihres braunroten 
Holzes ein vorzügliches Brennmaterial 
liefert. Diese sandigen, trockenen, nur 
wenig von anderer Vegetation durch- 
setzten Baumheidebestände erwecken 
einen ganz eigenartigen „unafrikani- 
schen“ Eindruck, wenn man das er- 
drückende Pflanzenwirrsal des Küsten- 
pori gewöhnt ist. 

Von Tireni aus führt der Haupt- 
weg, dem auch Baumann folgte, zu- 
nächst stundenlang durch ausgedehnte 
Kokosschamben. An Tierleben bemerkt 
man hier außer den überall auf Mafıa 
gehaltenen zahlreichen Rinderherden 
mitunter eine sehr vertraute Eichhorn- 
art, tschindi genannt; an auffallenden 
Erscheinungen aus der Vogelwelt einen 
kleinen weißen Reiher (Bubulcus ibis L.), 
der den melodischen Namen Nenge- 


26* 


200 v. Boxberger: Wandertage auf Mafia. 


njange führt. Ein Charaktervogel der 
Baumheidebestände ist Andropadus 
flavescens Hartl., dessen feurigen, über- 
hasteten Schlag man auf Mafia über- 
haupt sehr viel vernimmt. 

Die große Meerkatzenform der Insel 
(die einzige dort vorkommende Affen- 
art), die in den Eingeborenenpflanzun- 
gen erheblichen Schaden anrichtet, 
kann man hier wie überall bemerken; 
es fiel mir auf, daß die Tiere hier viel 
scheuer sind als in den entlegeneren 
Teilen der Insel, wo die an sich seltenen 
europäischen Besucher der Insel nie- 
mals hinkommen. 

Von den wenigen Tagen, welche 
mir zur Verfügung standen, opferte 
ich einen dem Besuch der beiden 
Tschunguruma - Teiche, da Baumann 
erwähnt, daß diese Teiche von hoch- 
stämmigem Wald umgeben seien und 
Nilpferde beherbergten. Obwohl mich 
mein Entschluß nicht reute, so wurde 
ich doch nach den Vorstellungen, die 
ich mir infolge der Schilderung Baumanns gemacht hatte, 
durch den vorgefundenen Zustand schmerzlich enttäuscht. 
Von dem einstigen Hochwald findet sich nur noch kurz, ehe 

` man zum ersten der beiden Tschunguruma-Teiche kommt, 
eine kleine, höchstens 25 ha große Parzelle, die zum 
wesentlichen aus alten Kopalbäumen besteht. Die beiden 
Teiche dagegen liegen jetzt vollkommen kahl im kümmer- 
lichen Buschpori da; der einst ihre Ufer umkränzende 
Hochwald ist vernichtet. Soviel ich durch Befragen des 
sehr intelligenten Sohnes und Stellvertreters des uralten 
Jumben von Dondwe (von Baumann mit Tondwa be- 
zeichnet) ermitteln konnte, bestand auch dieser Hoch- 





Abb. 6. 


Arabisches Grab auf Tschole, 











mE 





Abb.5. Korallenklippen auf Miöwi. 
wald aus Kopalbäumen, die nach meiner bestimmten Ver- 
mutung dem bei der Harzgewinnung betriebenen sinn- 
losen Raubbau zum Opfer gefallen sind. Sieht man doch 
auch an den Bäumen am Rande des noch verbliebenen 
Urwaldrestes bereits dasselbe Verfahren geübt. 

In dem genannten Stück alten Waldes wird das 
Unterholz teilweise durch eine schlankschäftige, elegante 
Dracaenaart gebildet (vgl. Abb. 3), die ich an der Küste 
niemals, wohl aber in den Urwäldern Usambaras an- 
getroffen habe. Es mag allerdings sein, daß es sich 
dort um eine nahverwandte Art oder um eine andere 
geographische Form handelt. An Tieren wird dieser 
kleine Urwald belebt von den schon erwähnten Meer- 
katzen, von der auf Mafia heimischen Zwergantilope, 
Tschässi genannt, von einem braunen Rüsselhündchen 
(Ndoro) und von einem nicht recht qualifizierbaren, von 
mir weder gesehenen noch geschossenen höhlengrabenden 
Tier, welches von der Größe eines Kaninchens und von 
grauer Farbe sein, nächtlich leben und sich nach Ratten- 
art ernähren soll und von den Eingeborenen Kubä ge- 
nannt wird. An Vögeln fielen mir in diesem Walde be- 
sonders auf Vinago Delalandei Bp., von denen ich eine 
größere Zahl für meine Küche schoß, und Cossypha 
natalensis A. Sm., die in großer Gesellschaft nach Drossel- 
oder Rotkehlchenart auf der Erde und im niedrigen 
Gebüsch umherhüpften und im Laube nach Erdmast 
suchten. 

Weit lebhafter war das Vogelleben an den beiden 
Teichen, sowie an einem dritten etwas weiter nach Dondwe 
zu liegenden Teich. Dort bemerkte ich Phalacrocorax 
africanus Gm., Anastomus lamelligerus Temm., Bubulcus 
ibis L., Ceryle rudis L., Alcedo semitorquata Sws., Eurysto- 
mus afer (Lath.), Haliaötus vocifer (Daud), Parra africana 
Gm. sowie zwei sehr scheue totanusartige Vögel von 
schwarz-weißer Farbe, deren ich mangels jeder Deckung 
nicht habhaft werden konnte, obwohl sie mich zweimal 
um den einen der beiden Teiche hetzten. Aus der 
Reptilienwelt zeigte sich auch hier das überall am 
Wasser vorkommende Kenge (Varanus spec.), eine riesige, 
bis 11/,m lange Eidechsenform. Das Krokodil, das auf 
dem afrikanischen Festland jede Süßwasserstelle unsicher 
macht, kommt auf Mafia nicht vor. 

Die zu Baumanns Zeit noch in den meisten Teichen 
sich findenden Nilpferde scheinen nun auch nahezu aus- 
gerottet. Weiß gebleichte Knochenreste lagen am Ufer- 


v. Boxberger: Wandertage auf Mafia. 





Abb. 7. 


rande des größeren Teiches; von den Tieren sonst keine 
Spur mehr. Die Eingeborenen erzählten mir, der Bwana 
mganga, d.i. ein Sanitätssergeant der Bezirksnebenstelle 
Tschole, habe einmal sieben Stück geschossen! Ihre 
Rechtfertigung gegenüber Leuten, die eine derartige 
Ausübung der „Jagd“ mißbilligen, findet diese Massen- 
schlächterei darin, daß die Nilpferde notorisch arge Ver- 
wüster der Eingeborenenpflanzungen sind. Nachdem 
aber Nilpferd und Mschenzi (wie der eitle Msuaheli den 
Neger vom Lande verächtlich nennt) sich bis zum Ein- 
treffen des Europäers viele Jahrtausende lang miteinander 
vertragen haben, berührt es seltsam, daß auf einmal 
gerade jetzt der Retter in Gestalt des Europäers kommen 
muß, zumal gerade jene Klasse von Europäern im übrigen 
gar nicht so sehr besorgt um das Wohl der Einge- 
borenen ist. 

Auch jetzt dürften noch zwei bis drei Paare von Nil- 
pferden die Insel bewohnen, sie führen aber ein unstätes 
Vagantenleben, das von dem wechselnden Wassergehalt 
der Teiche und Tümpel und von dem Grade der je- 
weiligen Verfolgung beherrscht wird. 

Viel schlimmer als unter diesen letzten Sprossen eines 
ehrwürdigen Dickhäutergeschlechtes haben die Einge- 
borenen unter den Affen und unter den sehr häufigen 
Schweinen (Potamochoerus africanus) zu leiden, die die 
Schamben furchtbar verwüsten, und denen wegen ihrer 
vorwiegend nächtlichen Lebensweise recht schwer beizu- 
kommen ist. Die große Mehrzahl aller Eingeborenen- 
pflanzungen ist zum Schutz gegen diese Borstentiere 
mit einem sehr sauber aus Pfählen und Stangen her- 
gestellten Zaun umgeben, der manchmal ganze Dorf- 
gemarkungen umschließt (Abb. 4) und für den durch das 
Dorf Reitenden ein recht unangenehmes Hindernis bildet. 
Gegen die Affen hilft freilich auch der beste Zaun nichts; 
ein tragikomischer Anblick ist es, wenn man in derselben 
oft nur kleinen Schamba ein paar Affen und in einiger 
Entfernung von ihnen friedfertig den Eigentümer auf 
der Erde sitzen sieht, so daß es den Anschein hat, als 
nähmen beide Parteien gar keine Notiz voneinander. 
Es ist auch völlig zwecklos, die Tiere zu verscheuchen, 
denn sobald sich der Eigentümer umdreht, sind sie doch 
wieder da. Anders aber, wenn der Europäer mit dem 
Feuergewehr erscheint; schon aus weiter Ferne enteilen 
sie dann unter häufigem, besorgtem Rückwärtsschauen. 

Globus XCVIII. Nr. 13. 


Einbaum ohne Ausleger: (Mtumbwi). 


201 


An tierischen Schädlingen verdient 
noch der im ganzen Schutzgebiet, ja 
wohl überhaupt in ganz Afrika über- 
aus häufige Schmarotzermilan, Milvus 
aegyptiacus (Gm.), genannt zu werden, 
der den Raub der jungen Hühnchen 
systematisch betreibt, so daß man den 
Hennen in der Regel nur ein oder zwei 
Junge folgen sieht. Auf Bitten des 
Jumben von Dondwe schoß ich zum 
maßlosen Erstaunen seiner Leute nach- 
einander von derselben Stelle, dem 
dürren Aste eines Mangobaumes, drei 

‚ Milane herab; er war der Meinung, es 
sei immer ein und derselbe Räuber, 
der ihm die Hühnchen holte. 

In Dondwe verließ ich die Route 
Baumanns, um in südöstlicher Rich- 
tung zwischen dem Teichkomplex, der 
sich in der Regenzeit dort vorfindet, 
hindurch nach Kipingwi zu kommen. 
Der Weg führt meist durch ziemlich 
reizlose Buschsteppe, die mit dem 
Küstenpori wesentlich übereinstimmt 
und nur durch die graziösen Formen 

der schlankstämmigen Phönixpalmen stellenweise ange- 
nehm belebt wird. Hier sieht man auch wenige niedrige 
Dumpalmen. Hier und da zeigen sich kleine Völker von 
Perlhühnern (Numida Reichenowi Grant.), die sehr scheu 
und schwer anzubirschen sind. Kokospalmen deuten die 
Nähe von Ansiedelungen an, sind aber hier von keiner 
nennenswerten Ausdehnung und fehlen in der weiteren 
Umgebung der Ortschaften. 

Der auch von Baumann besuchte Ort Kipingwi, der 
zu dessen Zeit unter der Herrschaft der Binti Mhemedi 
ein blühendes Dorf war, ist heute nur noch ein trauriges 





Abb.8. Aus den Ruinen von Kua. 
27 


202 v. Boxberger: Wandertage auf Mafia. 





Überbleibsel seiner besseren Vergangenheit, bietet aber für 
den, der der Eigenart der Landschaft und dem Wesen 
der Eingeborenen Verständnis entgegenbringt, manches 
Anziehende Der Ort zählt heute nur noch knapp 
20 Hütten und wird ausschließlich von eingeborenen 
Arabersklaven bewohnt. Das von Baumann erwähnte 
Haus der Binti Mhemedi, in dessen Hof ich mein Zelt 
aufschlug, ist im Begriff zu zerfallen, zeigt aber noch 
Spuren ehemaliger Schönheit (geschnitzte Türpfosten 
u.dgl.). Die Erben der verstorbenen Besitzerin sind nach 
Tschole gezogen und kümmern sich nicht mehr um 
diesen Besitz. Ein alter Neger, mit dem ich ein Gespräch 
anknüpfte, wußte viel von der einstigen Schönheit dieses 
seines Geburtsortes zu erzählen, seine Ausführungen 
endigten aber auch in der wehmutsvollen Apostrophierung: 
Samani walikaa watu wengi na njumba msuri sana—sasa 
wapi? . (Früher gab es viele Leute hier und schöne 
Häuser, und jetzt — wo sind sie hin?) 

Kipingwi zeichnet sich auch heute noch durch seine 
Mattenproduktion aus; ein großer Teil der berühmten 
Tscholematten erblickt hier das Licht der Welt. Die dort 
lebenden Neger fertigen die Matten, zu welchen sie das 
Material den Blättern der Phönixpalme entnehmen, für 
ihre in Tschole lebenden Herren an, in Kipingwi selbst ist 
es daher unmöglich, eine Matte zu kaufen. 

Neben den Erzeugnissen der Fischerei und der Kokos- 
palme ist ein Hauptnahrungsmittel der Leute von Kipingwi 
die schon früher erwähnte Koroschonuß. Unmittelbar 
an den Mangrovengürtel, welcher den Kriek von Kipingwi 
umsäumt, anschließend zieht sich ein etwa 500 m breiter 
Streifen von Buschwald hin, der vorwiegend aus Akadju- 
bäumen mittleren Alters besteht. Dieser Akadjuwald 
wird erfüllt von einem berauschenden Duft, der an den 
des Gravensteiner Apfels erinnert, und ist von einer un- 
gemein reichen Vogelwelt belebt. Da die Bäume einen 
mittelhohen Stamm bilden, die Spitzen ihrer Äste aber 
wieder der Erde zuneigen, so entstehen im Innern dieses 
Waldes schattige hallenartige Räume, die ideale Be- 
obachtungsplätze für das bunte Leben bilden, das dort 
herrscht. 

Die hier zugebrachten Stunden gehören zu meinen 
liebsten afrikanischen Erinnerungen. Große Flüge von 
prachtvoll erzschillernden Glanzstaaren, Lamprocolius 
melanogaster (Sw.), tummeln sich im Gezweig und lassen 
ihre pfeifenden, an die unseres heimischen Staares er- 
innernden Rufe hören, Bülbüls (Pyenonotus et Phyllo- 
strephus) schmettern feurige Strophen dazwischen, bunt- 
gefärbte drosselartige Vögel (Cichladusa et Erythropygia) 
flattern und huschen über dem Boden, kleinere Sänger 
zeigen sich im Laubwerk in ständigem Wechsel der 
Arten; sie alle schwelgen im Genusse der fleischigen, saft- 
strotzenden Früchte des Akadjubaumes und schaden 
niemandem, da von den Negern nur die Kerne, nicht die 
Früchte gesammelt werden. Auf dem Boden rascheln 
geschäftig die flinken Rüsselhündchen, und durch das Ge- 
zweig schwingen sich kolossale feiste Meerkatzen, die den 
Eindringling mehr erstaunt als furchtsam mustern; kleine 
Flüge von Halsbandtauben, Turtur semitorquatus (Rüpp.) 
ziehen mit klatschenden Flügelschlägen über den Busch; 
überall ein vielgestaltiges, bewegtes Leben, das sich be- 
quem und ohne die lästigen Begleiterscheinungen, die 
sich in den Tropen so gewöhnlich einstellen, belauschen läßt. 

Der hinter dem Akadjuwald liegende Mangrovengürtel 
weist die gleichen Verhältnisse auf, wie sie sich an der 
Küste finden, interessant sind jedoch größere Partien 
von altem Mangrovenwald, wo sich Stämme von bedeuten- 
der Stärke den Platz streitig machen und zusammen 
mit Wurzeln und Ästen eine undurchdringliche Mauer 
bilden. Von botanischem Interesse dürfte die Erwähnung 


einer bei Kipingwi wachsenden kleinen Agavenform von 
niedrigem Habitus mit rotgefleckten Blättern und schönen 
orangeroten Blüten sein, die mit der an den Felsen von 
Uluguru und Usambara vorkommenden Art vollkommen 
übereinzustimmen scheint. 

Den Aufenthalt in Kipingwi benutzte ich zu einem 
Abstecher auf die Koralleninsel Miëwi, die meines Wissens 
bisher von keinem Europäer besucht worden ist. Ein 
eingeborener Fischer und „Fundi wa bahari“ (was etwa 
soviel wie Fahrwasserkundiger bedeutet) wurde als Führer 
angenommen, da das Fahrwasser und die Landung auf 
Miöwi wegen der vielen Korallenriffe recht schwierig ist, 
wie überhaupt Korallenklippen von den abenteuer- 
lichsten Formen sich auf und um Miöwi vorfinden 
(vgl. Abb. 5). Miöwi selbst ist eine in des Wortes ver- 
wegenster Bedeutung undurchdringliche Wildnis, um- 
geben von einem furchtbaren Korallengürtel, der meinem 
Diener die Füße wund schnitt und meinen vorsichtigen 
Führer zur Mitnahme von dicken Bastschuhen veranlaßt 
hatte. Selbst für den starkbeschuhten Europäer ist die 
Fortbewegung auf den zackigen, glasharten und messer- 
scharfen Korallen keine leichte Aufgabe. Meine Hoffnung, 
auf oder bei Miöwi einmal die sonst nirgendwo ge- 
fundenen Brutplätze der so massenhaft den Meeresstrand 
belebenden Lariden, Charadriiden und Ardeiden aufzu- 
spüren, wurde betrogen; weder auf kahlen noch auf be- 
wachsenen Korallenfelsen fanden sich Spuren von Wasser- 
vogelnestern. Dagegen entdeckte ich mitten im undurch- 
dringlichsten Pori, in welchen wir uns mit Hilfe des 
Buschmessers einen Weg gebahnt hatten, im Gewirr der 
Schlinggewächse, die einen Affenbrotbaum und die be- 
nachbarten Bäume überzogen, eine Kolonie von etwa 30 
natürlich leeren Nestern, die von meinem Cicerone der 
Papageitaube zugeschrieben wurden (Njinga, Vinago spec.) 
und auch nach Bauart und Größe sehr wahrscheinlich 
von einer Taubenart herrührten. Besonders bemerkens- 
werte Pflanzenformen fielen mir auf der Insel nicht auf; 
die auf einer Insel bei Daressalam vorkommende pracht- 
volle Orchidee Angrecum eburneum konnte ich weder 
auf dieser für ihr Vorkommen geeignet erscheinenden 
Insel noch sonstwo auf Mafia entdecken, obwohl ich mein 
besonderes Augenmerk darauf richtete. Am Strande und 
zwar da, wo dem Korallenkalk eine starke Schicht Schlick 
aufgelagert ist, fiel mir eine durch ihre Form ausge- 
zeichnete Alge auf, die in ihrem Aufbau durchaus einer 
winzigen Opuntie gleichkommt. 

Einen materiellen Irrtum Baumanns muß ich bei 
dieser Gelegenheit berichtigen; er betrifft die Benennung 
dieser Koralleninselchen. Nicht die auf Baumanns Karte 
mit Miöwi bezeichnete, in nordsüdlicher Richtung sich 
hinziehende längliche Insel trägt diesen Namen, der Name 
Miöwi kommt vielınehr nur der kleineren ovalen Insel zu, 
welche westlich von der Südspitze der vorgenannten 
Insel liegt. Diese selbst wird Djiha genannt, ist ganz 
mit Mangroven, darunter streckenweise Hochstämmen, 
bestanden, die von weitem den Eindruck eines Kiefern- 
waldes machen, und vollkommen unzugänglich, da sie 
mit grundlosem Schlamm bedeckt ist. Über den von 
Baumann berichteten Glauben der Eingeborenen, die 
Inseln Miëwi oder Djiha seien von einem bösen Geiste 
bewohnt (als welcher etwa der Msimu, Räwa oder viel- 
leicht auch Kinjamkära in Betracht käme) und daher 
von den Eingeborenen gemieden, konnte ich nichts er- 
mitteln, obwohl ich meinen Führer zu Mitteilungen nach 
dieser Richtung hin ermunterte. Er zögerte jedenfalls 
nicht im mindesten, mich zu begleiten. 

Der Weg von Miöwi und Kipingwi in die Kultur 
zurück zur südöstlichen Landspitze von Mafia, der Über- 
fahrtsstelle nach Tschole, führt über Kipandeni und 


v. Boxberger: Wandertage auf Mafia. 


Marimbani zunächst eine Strecke lang die von der 
Regierung angelegte Barrabarra, die sich durch tiefen 
Sand und infolgedessen eine glühende Atmosphäre aus- 
zeichnet. Sodann geht der Weg fast ununterbrochen 
durch Kokospalmen und Mangohaine. Beide Baumarten 
gedeihen auf Mafia vorzüglich und tragen besonders 
große Früchte. Welche Erträgnisse hier eine Kokos- 
schamba liefert, zeigt die Tatsache, daß gegenüber einem 
an der Küste gewöhnlich angenommenen Jahresreinertrag 
von einer Rupie (1,33.#) für den Baum hier mit einem 
solchen von 2, 3 und selbst 4 Rp. gerechnet wird. Eigen- 
tümer dieser Pflanzungen, die oft mehrere tausend Stämme 
enthalten, sind meist Schatiriaraber, die ziemlich hell- 
häutig sind, in ihrer Erscheinung aber doch eine starke 
Beimischung von Negerblut verraten. 

Zwischen Marimbani und Utende (der Südostspitze) 
führt der Weg wieder an größeren Baumheidebeständen her. 

Die Überfahrt nach Tschole wird durch eine Dau 
bewerkstelligt und erfordert bei ungünstigem Wind über 
1/, Stunde. Über Tschole selbst hat Baumann so ein- 
gehend berichtet, daß ich mich kurz fassen kann. Zur 
Ehre des Ortes sei hervorgehoben, daß die von Baumann 
an sich mit Recht gegeißelten breiten, rechtwinkligen 
„trostlosen Straßenungetüme* jetzt mit dem üppigen 
Grün der beiderseits angepflanzten Bäume einen ganz 
anheimelnden Eindruck machen. Überhaupt verbinden 
sich in Tschole die vielfachen Erinnerungen an die 
Araberzeit mit dem meist wohlhabenden, mitunter fast 
vornehmen Gepräge der Farbigenhäuser und der lauschigen 
Stille der breiten Alleen zu einer Gesamtwirkung von 
eigentümlichem Stimmungsreiz. Sehenswert ist-ein kleiner 
alter Araberfriedhof mitten in der Stadt, mit einer Mauer 
umschlossen und von herrlichen Baumriesen umstanden, 
der neben den üblichen Formen der Grabdenkmäler 
(Abb.6), in welchen die eingemauerten bunten Porzellan- 
teller noch wohlerhalten sind, auch solche von abweichen- 
der Architektonik, z. B. Obelisken enthält. 

Wer nach Tschole kommt in der Hoffnung, hier einen 
großen Markt für die bekannten feinen Bastmatten zu 
finden, die überall in Ostafrika als Tscholematten ver- 
handelt werden, erlebt eine Enttäuschung. Fertige Matten 
kann man in Tschole überhaupt kaum bekommen, da 
alles, was auf der Schamba’) von den Sklaven gearbeitet 
wird, nur in Tschole zusammenfließt, von dort aber gleich 
nach Sansibar oder Daressalam auf die dortigen Märkte 
versandt wird. Will man an Ort und Stelle kaufen, so 
muß man die Arbeit in Bestellung geben, auf welche 
Weise man dann allerdings die schönsten Muster und 
Formen sich aussuchen kann. 

In landschaftlicher Hinsicht sehenswert sind die über 
das ganze Inselchen verbreiteten Mangohaine, welche 
geradezu monumentale Exemplare dieses schönen Baumes 
enthalten. Das Tierleben auf Tschole ist naturgemäß 
gering, da die Insel sehr belebt und zum großen Teil 
auch von der Stadt eingenommen ist. 

Natureindrücke imposanter und lieblicher Art und 
Stimmungswerte von einer in dem nüchternen Afrika un- 
gewöhnlichen Kraft birgt die südöstlich von Mafia und 
Tschole gelegene Insel Djuani, deren Besuch zu dem 
Lohnendsten gehört, was die Mafiagruppe zu bieten ver- 
mag. Man mietet einen Einbaum (Abb. 7), am besten einen 
solchen mit Auslegern (Ngalawa), die ein Umkippen un- 
möglich machen, und fährt vom Südostende Tscholes aus 
hinüber bis zur Küste von Djuani und an dieser ent- 
lang an grotesken Korallenfelsen vorbei bis zu einem 
Landeplatz, der unterhalb der berühmten Ruinen von 





®) Mafia heißt bei den Einwohnern von Tschole „Tschole- 
schamba“. Schamba = Pflanzung, schambani = auf dem 
Lande. 


203 


Kua liegt. Bereits diese Fahrt, auf welcher man eine 
Fülle entzückender Bilder an sich vorüberziehen sieht, ist 
ein hoher ästhetischer Genuß. In einem Abstand von 
Schrotschußweite gleitet der Einbaum an der Küste ent- 
lang, die von freudig grünen Mangroven gesäumt wird. 
In diesen Mangroven tummeln sich Brachvögel und 
anderes Wasserflugwild verschiedener Art, und auf den 
Zweigen der Bäume und Büsche ruhen in graziösen 
Stellungen Scharen von kleinen schneeweißen und grauen 
Reihern (Bubulcus ibis L. und Herodias gularis Bose.). 
Die Kontraste der schlanken, hellfarbigen Leiber mit dem 
satten Grün der Vegetation und dem milchigen Lasur- 
blau des Wassers ergeben ein Farbenspiel von herrlicher, 
unvergleichlicher Schönheit. Auf der Höhe der Insel er- 
heben sich die majestätischen Gestalten wahrhaft gigan- 
tischer Affenbrotbäume, die auf Djuani stellenweise in 
so großer Menge wachsen, daß sie Wälder von ansehn- 
licher Ausdehnung bilden; schließlich sieht man inmitten 
des üppigsten Buschwaldes die Trümmer der Stadt Kua 
emporragen. 

Kua, eine Ansiedelung der bereits um das Jahr 1000 
aus Schiras eingewanderten asiatischen Kolonisten, ist 
nach seinen noch vorhandenen Resten ehemals eine aus- 
gedehnte Stadt gewesen; wie Baumann vermutet, lange 
Zeit die Hauptstadt der ganzen Mafiagruppe. In welche 
Zeit die Gründung und Blüte der Stadt fällt, ist völlig 
unbekannt; aufgegeben wurde der Platz bereits zu Beginn 
des 19. Jahrhunderts anläßlich des Einfalles der mada- 
gassischen Sakkalaven. Was man heute noch sieht, 
sind lange Mauerzüge, mehrere Ruinen von Wohnhäusern 
und Moscheen und ein verhältnismäßig gut erhaltener 
Begräbnisplatz. Alles das ist von allen Seiten von 
Vegetation eingeschlossen, überwachsen und durchsetzt. 
Die am besten erhaltene Moschee ist buchstäblich von 
Vegetation umstrickt, man möchte sagen erwürgt. In 
und an den Mauern dicke Stämme, im Innern der 
Moschee ein Netzwerk von Lianen, auf den Resten des 
Daches ein üppig grünender Wald, eine packende Illu- 
stration zu dem Worte: „Das Alte stürzt, es ändert sich 
die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen!“ 

Eine photographische Aufnahme der Moscheeruine 
zu machen, erwies sich als untunlich, da es ein Ding der 
Unmöglichkeit war, in dem Wust von Vegetation einen 
Standpunkt für den Apparat zu finden und bereits in 
einiger Entfernung alles im Buschwald versteckt lag. 
Auch die Aufnahme des von Baumann besonders er- 
wähnten Wohnhauses (Abb. 8) war mit den größten 
Schwierigkeiten verknüpft; ich mußte die etwas entfernt 
liegende Ruine einer dünnen, hin und her schwankenden 
Mauer erklettern und auf ihr für mich und meinen 
Apparat einen Standort finden. 

Sicherlich der wertvollste Teil der Ruinenstadt ist 
neben der ebengenannten Moschee die Begräbnisstätte, 
deren Auffinden im dichten Pori nicht leicht ist. Ist 
schon die Moschee dem Kampfe mit der eindringenden 
Vegetation unterlegen, so liegen erst die Gräber im 
wahrsten Sinne des Wortes selbst unter Vegetation be- 
graben. Trotzdem sind sie gut zu sehen, da nur die 
Stämme der Bäume und Lianen die Gräber eingeschlossen 
haben, das Laubwerk aber erst in einer gewissen Höhe 
sich voll entfaltet. Obwohl die Grabdenkmäler im wesent- 
lichen nach ein und derselben Grundform errichtet sind, 
so findet man doch auch hier Abweichungen. Alle sind 
verhältnismäßig gut erhalten. Auffallend ist der auch 
schon von Baumann betonte Mangel an Schmuck und 
Inschriften; der einzige Zierat, der sich bisweilen findet, 
sind die schon erwähnten, an vielen arabischen Gräbern 
angebrachten Porzellanteller, über deren Bedeutung man 
sich nicht klar ist, sowie hier und da runde, aus Korallen- 


27* 


204 v. Boxberger: Wandertage auf Mafia. 





kalk gemeißelte Platten, die als Aufsatz verwendet sind. 
Von dieser toten Stadt mit ihren stummen Gräbern, die 
keine Kunde geben von denen, die unter ihnen gebettet 
ruhen, umwuchert von rücksichtslos daraufloswachsendem 
Leben, geht eine ergreifende Wirkung aus, der sich kein 
empfängliches Gemüt entziehen kann. 

Irgendwelche Erinnerungen an die Bewohner dieser 


versunkenen Stadt haben sich unter den für alles Histo- 


rische gänzlich unempfänglichen Eingeborenen der Insel 
nicht erhalten. Nach längeren Inquisitionen erlangte ich 
schließlich den Bescheid, daß in Tschole ein Weib namens 
Bibi Mlango Njuma wohne, welche noch etwas von Kua 
zu berichten wisse. Natürlich war sie nicht in Tschole 
anwesend, als ich nach ihr fragte. 

Baumann erzählt, daß ihm auf seine Frage nach 
den Erbauern dieser Stadt stets ein unqualifizierbares 
Volk, die Wadebuli, als solche bezeichnet worden seien. 
Diese Auskunft konnte ich nicht erhalten, auch bei Nennung 
des Namens Wadebuli stieß ich auf Djuani sowohl wie auf 
Tschole nur auf verständnisloses Kopfschütteln. Esscheint 
demnach fast so, als ob sich selbst die Erinnerung an 
den Namen der früheren Bewohner und Beherrscher der 
Insel verwischt hätte. Armselige, auf der niedrigsten 
Kulturstufe stehende Waschenzi wohnen heute in un- 
mittelbarer Nähe der Ruinenfelder, mit keinem anderen 
Interesse an diesen, als die schönen behauenen Steine 
für ihre Zwecke zu verwenden! 

Von der Tierwelt Djuanis habe ich außer einigen 
Affen und vielen Vögeln nichts wahrgenommen. Nach 
Baumann sollen auch Schweine und Zwergantilopen dort 
leben, was sicher zutrifft; die von Baumann für alle 
Inseln der Mafiagruppe als häufig angeführten Riesen- 
schlangen sind heute jedenfalls erheblich zurück- 
gegangen. 

Es war mir bei der Kürze der mir zur Verfügung 
stehenden Zeit nicht vergönnt, den nördlichen Teil der 
Insel Mafia sowie ihre südlichsten Gebiete kennen zu 
lernen. Baumann bringt hierüber einige Notizen, denen 
ich nach mündlicher Auskunft des damaligen stell- 
vertretenden Verwaltungschefs von Kilwa, welcher 
unmittelbar vorher die Hauptorte der ganzen Insel 
bereist hatte, nur weniges hinzuzufügen habe. Das 
wirtschaftliche Leben der Insel nimmt nach Norden hin 
schnell ab, der Wohlstand ist dementsprechend im Norden 
geringer. Die Landschaftsform ist vorwiegend Pori, 
während Kulturland nur in geringem Umfang vorhanden 
ist. Riesige Affenbrotbäume, die man in den südlicheren 
Teilen nicht eben häufig sieht, treten in größerer Zahl 
auf, desgleichen im äußersten Norden geschlossene Be- 
stände von Baumeuphorbien, welche Pflanzenart weiter 
südlich so gut wie ganz fehlt. 

Eine zoologische Spezialität des Nordens der Insel 
sind Herden vollständig verwilderten Rindviehs, das über 
alle Maßen scheu und heimlich sein soll. Da die Herden 
mit Küstenfieber verseucht sind und die wenigen von 
dieser Krankheit verschont gebliebenen zahmen Rinder, 
denen sie sich in der Paarungszeit zugesellen, damit in- 
fizieren, wird von der Verwaltung ihr Abschuß gewünscht. 
Der Bezirksstellenverwalter von Tschole, der kurz vorher 
ein solches Rind zur Strecke gebracht hatte, erzählte von 
den außerordentlichen Schwierigkeiten der Birsch auf 
dieses eigenartige Wild. 

Auch der von Baumann recht stiefmütterlich be- 
handelte Süden der Insel ist mir nicht aus eigener An- 
schauung bekannt geworden. Erwähnenswert dürfte 
sein, daß hier der einzige europäische Pflanzer, den die 
Insel bislang aufzuweisen hatte, ansässig ist. Wie mir 
erzählt wurde, beschäftigt er sich mit dem Anbau von 
Baumwolle und neuerdings auch von Nelken, über welche 


Kultur sein Urteil nicht ungünstig gelautet haben soll. 
Bei dieser Gelegenheit will ich nicht unerwähnt lassen, 
daß ich außer bei dem Jumben von Tireni auch bei Ein- 
geborenen in Vunjamnasi (wenn ich nicht irre, war so der 
Name des Ortes) zwischen Utende und Kilindoni Nelken- 
sämlinge sah, desgleichen bei dem indischen Zollassistenten 
in Kilindoni, der seine reichliche beschäftigungslose Zeit 
diesem Vergnügen widmete. 

Über die Aussichten, welche sich der europäischen 
Plantagenwirtschaft auf Mafia eröffnen, wage ich auf 
Grund einer so kurzen Orientierung, wie ich sie mir nur 
verschaffen konnte, nicht, ein Urteil abzugeben. Das 
aber darf unbedenklich ausgesprochen werden, daß auch 
hier diejenige Kultur, welche nicht nur immer rentabel 
bleiben wird, sondern sich vor allen anderen ostafrika- 
nischen Kulturen sehr vorteilhaft durch die unbedingte 
Sicherheit eines alljährlichen Ertrages auszeichnet, die 
der Kokospalme ist. Bei der Unabhängigkeit dieses 
Baumes von allen klimatischen Unregelmäßigkeiten, bei 
der relativ einfachen und billigen Unterhaltung der 
Pflanzungen und Aufbereitung der Ernte und bei der 
fortgesetzt steigenden Nachfrage nach Kopra wird die 
Kokospalmenkultur wohl immer die solideste Form der 
Kapitalinvestierung für den ostafrikanischen Pflanzer 
bleiben. Allerdings muß er in der Lage sein, es ab- 
warten zu können, bis die jungen Pflanzen tragfähig sind, 
falls er nicht einen bereits tragenden Bestand billig genug 
erwerben kann. Die der Kokospalme offenbar ganz be- 
sonders zusagenden klimatischen und Bodenverhältnisse 
Mafias und das verhältnismäßig große Areal noch unbe- 
bauten Landes lassen die Insel für diese Kultur in noch 
weit größerem Umfang als bisher prädestiniert erscheinen. 
Daß daneben der Anbau anderer Tropennutzpflanzen, 
welche höherwertige Produkte liefern, wie Baumwolle, 
Nelken u. dgl., zu günstigen Ergebnissen führen kann, 
ist natürlich nicht in Abrede zu stellen. 

Schließlich wäre noch einer ernsten Erwägung wert, 
ob nicht der geregelte Anbau des äußerst dankbar 
wachsenden und tragenden Akadjubaumes in Verbindung 
mit einer methodischen Ausnutzung der vorhandenen 
wilden oder halbwilden Bestände eine lohnende Kultur 
werden könnte. Die höchst einfache Behandlung der 
ohne jede Pflege wachsenden Koroschonuß, die nur ab- 
genommen, etwas getrocknet und in Säcke gefüllt zu 
werden braucht, um versandfähig zu sein, bietet meines 
Dafürhaltens eine Gewähr für die Rentabilität dieser 
Kultur, zumal sich auf dem europäischen Markt ohne 
Zweifel vorteilhafte und dauernde Absatzmöglichkeiten 
für dieses ausgezeichnete Produkt finden würden, welches 
den Vorzug hat, eine Spezialität Mafias zu sein. 

Endlich könnte man noch an die Zucht des bereits 
in großen Mengen auf Mafıa vorhandenen Rindviehs in 
einem durch europäisches Kapital und europäische Energie 
gestützten Großbetriebe denken. Allein die Prognose 
für ein solches Unternehmen ist meiner Überzeugung 
nach keine günstige. Einmal lastet das anscheinend un- 
ausrottbare Küstenfieber schwer auf der Viehzucht der 
Insel, sodann aber wird von den Eingeborenen, die das 
Vieh zu ihrem Lebensunterhalt insbesondere der Milch 
wegen nötig haben oder zu haben glauben, so viel Rind- 
vieh gehalten, daß für einen Großbetrieb nach euro- 
päischem Muster kein Platz auf der Insel mehr ist. Wo 
sollte auch die zu einem solchen Unternehmen erforder- 
liche große zusammenhängende, mit brauchbaren Weide- 
pflanzen bewachsene Fläche zu finden sein? 

Betrachtet man die Insel Mafia schließlich vom Stand- 
punkt des Interesses ihrer Bewohner aus, so kann man nur 
der Hoffnung Ausdruck geben, daß die Insel von euro- 
päischen Unternehmungen jeglicher Art verschont bleiben 





Priebusch: Die Stellung des Häuptlings bei den Wabena. 


205 





möge. Im kontinentalen Schutzgebiet ist so viel Platz 
für Pflanzungen aller Art, und die Bewohner Mafias 
leben im Vergleich mit so mancher Gegend des Fest- 


landes unter so glücklichen Verhältnissen, daß sie durch 
eine Veränderung des bestehenden Zustandes nichts ge- 
winnen, aber viel verlieren können. 





Die Stellung des Häuptlings bei den Wabena. 


Von Martin Priebusch, Missionar in Ilembula (Deutsch-Ostafrika). 


Nachfolgende Zeilen sollen die Stellung schildern, die 
ein hervorragender Häuptling der Wabena hatte, solange 
noch der Stamm sich seiner Unabhängigkeit erfreute. 
Heute ist durch das deutsche Regiment im Lande die 
Häuptlingsmacht natürlich in mancher Hinsicht be- 
schränkt. Soweit aber das alte Häuptlingsrecht nicht 
mit dem deutschen Recht und der deutschen Verwaltung 
in Widerstreit getreten ist, besteht es noch jetzt so, wie 
es nachfolgend beschrieben wird. 

Ein Häuptling der’Wabena war ehedem unum- 
schränkter Herrscher seines Volkes, er hatte auch die 
Gewalt über Leben und Tod seiner Untertanen. Nicht 
nur, daß er Verbrecher töten oder begnadigen konnte, 
er konnte auch verlangen, daß bei seinem Tode Leute 
seines Stammes getötet und ihm zur Begleitung mit ins 
Grab gegeben wurden. Auch sonst wurden im Lande 
hin und wieder Leute getötet, deren Seelen die Aufgabe 
haben sollten, sich dem Gefolge des verstorbenen Häupt- 
lings auzuschließen, damit er ein seiner Würde ent- 
sprechendes Gefolge mit in die Unterwelt bringen könne. 

Der Häuptling hatte auch ein gewisses Recht auf 
das Vermögen seiner Untertanen. Was er an Kühen, 
Schafen oder Lebensmitteln verlangte, wurde ihm ge- 
‘bracht. Sah er auf seinen Wegen irgendwo ein schönes 
Rind, das ihm gefiel, und äußerte er den Wunsch, es zu 
besitzen, so mußte der Besitzer es ihm übergeben, ohne 
dafür Entschädigung verlangen zu können. Ebenso ver- 
hielt es sich mit anderen Gegenständen, die ihm gefielen 
und die er zu haben wünschte, sie mußten ihm ohne 
Widerrede gebracht werden, nur daß er nicht ohne Grund 
jemand sein gesamtes Hab und Gut nehmen durfte. 

Sein Recht aber an den Frauen seiner Untertanen 
ist beschränkt. Er darf keine Frau ihrem Manne fort- 
nehmen und sie zu seiner Ehefrau erklären, wenn 
diese Frau nicht dazu ihre Einwilligung gibt. Der Ehe- 
mann kann zwar seinerseits nichts dagegen machen, 
wenn der Häuptling seine Frau oder eine seiner Frauen 
zu haben wünscht und diese einwilligt, sein Weib zu 
werden; er muß sie ohne weiteres zum Häuptling ziehen 
lassen. Aber der Häuptling ist dann verpflichtet, dem 
Ehemann das Heiratsgut, das er für seine Frau gezahlt 
hat, zu erstatten. 

Besondere Abzeichen der Häuptlingswürde sind 
folgende: Der Häuptling kleidet sich mit teuren und 
guten Stoffen. Stoffe, wie der Häuptling sie trägt, dürfen 
nur noch von denen getragen werden, die sie aus der 
Hand des Häuptlings als besondere Zeichen seiner Huld 
erhalten haben. Der Häuptling trägt als Schmuck Ottern- 
felle. Diese Art von Fell darf nur von ihm selbst 
und von Leuten seines Gefolges getragen werden. Er 
sitzt bei öffentlichen Versammlungen oder bei Gerichts- 
verhandlungen, die er leitet, auf besonders geschmücktem 
Stuhl. Man ehrt ihn durch besönderen Gruß: „Adze 
senga!“ Senga heißt „Rind“; aber es denkt keiner bei 
dem Gruß an das liebe Vieh. Adze ist Verstümmelung 
von vradze „komm“, „tritt näher“, das etwa unserem 
„Willkommen“ gleich ist. Senga ist Titel geworden, ein 
Ehrenname, den nur der Häuptling führen darf, wie 
etwa bei uns die Bezeichnung Majestät. Daß der Grund 


zu diesem Titel im Viehreichtum liegt, auf den der Ein- 
geborene ja sehr viel gibt, ist wahrscheinlich. 

Nieläßt man den Häuptling allein gehen; er wird auf 
allen Wegen von einer Anzahl seiner Leute begleitet. 
Wenn er in irgend einem Orte einen Besuch gemacht hat, 
so begleitet ihn, wenn er fortgeht, immer eine Anzahl 
Leute aus dieser Ortschaft so weit, bis er zu einem anderen 
Dorfe gelangt. Überall, wo er hinkommt, wird er mit 
Bier bewirtet, und dort, wo er über Nacht bleibt, wird 
für ihn und sein Gefolge ein Mahl bereitet; dem Häupt- 
ling wird extra als Zuspeise zu seinen übrigen Speisen 
ein Bock geschlachtet. 

Bei Kriegszügen, die unternommen wurden, um be- 
nachbarte Stämme auszurauben, wurde ein bestimmter 
Tag für die Gewinnung von Beute für den Häuptling 
festgesetzt. Alles, was an diesem Tage seinen Leuten in 
die Hände fiel, wurde dem Häuptling zu seinem Eigentum 
übergeben, und niemand durfte auch nur das geringste 
davon für sich unterschlagen. 

Der Häuptling ist in keiner Weise für das, was er 
tut, verantwortlich; es ist auch niemand unter seinen 
Untertanen vorhanden, der ihn irgendwie zur Rechen- 
schaft ziehen könnte. Er ist durch keine Volksver- 
sammlung noch auch durch den Rat seiner Großen in 
seiner Macht beschränkt. 

In Gerichtssachen ist er der oberste Richter, gegen 
sein Urteil gibt es keine Appellation mehr. 

Wenn der Häuptling gestorben ist, werden zu seiner 
Bestattung nur die Unterhäuptlinge (Avandzagila) und 
die bei Hofe Vertrautesten gerufen. Das Volk erfährt 
von dem Tode des Häuptlings nicht eher etwas, als bis 
der Nachfolger in seine Häuptlingswürde eingesetzt ist. 
Nach dem Tode des Häuptlings bis zur Wiedereinsetzung 
eines neuen Häuptlings findet das Volk keinen Zutritt 
zum Häuptling. Der Zutritt wird dem Volk unter der 
Ausrede gesperrt, der Häuptling sei krank und könne 
deshalb niemand empfangen. Die Leiche wird in Baum- 
wollstoff eingehüllt, und darüber wird eine neue, aus 
Gras geflochtene Matte gebreitet; danach wird sie ins 
Grab gelegt mit dem Haupte nach Osten. Es werden 
dann der Gürtel des Häuptlings, der aus Otternfell ge- 
fertigt ist, und andere ihm gehörige Schmucksachen zu 
ihm ins Grab gelegt. Zu beiden Seiten des Häuptlings 
wurden früher Kinder im Säuglingsalter gelegt. Diese 
Kinder wurden lebendig mit der Leiche des Häuptlings 
begraben. Sollten zu diesem Zwecke gerade keine Säug- 
linge vorhanden sein, so wurden größere Kinder dazu 
benutzt. Solche Kinder wurden aber zuvor, ehe sie ins 
Grab gelegt wurden, erstickt. Man hielt ihnen so lange 
Mund und Nase zu, bis sie tot waren. Wenn kleine 
Kinder, die mit der Leiche des Häuptlings zusammen 
lebend ins Grab gelegt wurden, zu weinen begannen, ehe 
sie mit Erde bedeckt waren, so wurden sie wieder heraus- 
genommen und andere, die sich ruhiger verhielten, an 
ihrer Stelle mitbegraben. Wollte sich gar kein Kind 
finden, das beim Begrabenwerden stille war, so wurde 
ein Kind, das gerade zur Hand war, auf oben geschilderte 
Weise erst stille gemacht und dann der Leiche des 
Häuptlings zur Seite gelegt. Oben auf die Leiche wurden 


Mitteilungen über das heutige Wadai. 





auch erwachsene Männer gelegt, die man auf gleiche 
Weise getötet hatte. 

Wenn nun die Bestattung so weit fortgeschritten ist, 
daß man sich anschickt, das Grab mit Erde zu füllen, 
treten zuvor die Angehörigen des Verstorbenen an das 
Grab und rufen ihm den Abschiedsgruß zu: „hwererage“, 
d. h. „lebe wohl!*, wörtlich: „ruhe aus!“ von dem Zeit- 
wort hwa „den Tag zubringen“. Dem Leichnam wird 
nun zuerst an allen Seiten Erde untergestopft, damit er 
nirgends hohl liegt, sondern überall bequem aufliegen 
kann. Auch der Kopf wird etwas erhöht gelegt. Die 
Stricke, mit denen die Matte um den Leichnam fest- 
geschnürt war, werden losgebunden, damit der Tote sich 
frei fühle. Dann wird das Grab zugeschüttet und ein 
länglich ovaler Hügel darüber aufgeschüttet. Über dem 
Grab wird ein kleines Häuschen gebaut, das immer 
wieder erneuert wird, wenn es baufällig geworden ist. 
Nachdem das Grab geschlossen ist, wird dem Schatten 
des Verstorbenen ein schwarzes Schaf geopfert. Das Blut 
dieses Schafes wird über das Grab gesprengt. Ein Stück- 
chen Fleisch wird aus der Achselhöhle des Opfers ge- 
schnitten und aufs Grab geworfen, desgleichen ein 
Stückehen Lunge und ein Stückchen Leber. 

Die Opferung begleitet man mit den Worten: „Du, 
der du jetzt gestorben bist, bringe dieses zu den Unserigen, 
die vor dir gestorben sind, zu dem, und dem und dem! 
(Dabei werden die Namen der verstorbenen Verwandten 
genannt, zu denen er es bringen soll.) Wenn die 
Genannten unser vergessen haben sollten, so soll sie 
diese unsere Opfergabe, die du ihnen mitbringst, wieder 
an uns erinnern. Diese Opfergabe bringt der Verstorbene 


zu euch, um euch zu begrüßen, damit ihr ihn nicht von euch 
fortjagt, sondern ihn als den eurigen unter euch aufnehmt.* 
Dann wird ein kleiner flacher Topf auf dem Grabhügel 
halb eingegraben, mit Bier gefüllt und zugedeckt. Es 
wiederholt sich nun derselbe Sermon, wie er bei der ersten 
Opferung stattgefunden hat. 

Diese ganze Zeremonie wird von dem Totengeschrei 
und Geheule der Leidtragenden begleitet. Diese sagen 
etwa: „Er, unser Freund, unser Vater und Helfer, unser 
Häuptling, hat uns verlassen. Er hatte ein mildes Herz 
und gab uns stets unsere Nahrung und gab uns Fleisch 
usw.“ Es werden alle Tugenden des Verstorbenen auf- 
gezählt und die etwa nicht vorhanden gewesenen hinzu- 
gedichtet, und man beklagt sich, daß der Spender all 
der guten Gaben nun nicht mehr vorhanden ist. 

Nach Beendigung der Bestattung begeben sich 
sämtliche Leidtragende in das Haus des verstorbenen 
Häuptlings; dort wird eine reichliche Anzahl von 
Rindern geschlachtet und das Fleisch an die An- 
wesenden verteilt, die es zum Andenken an den Ver- 
storbenen andächtig verzehren und ihren Durst, den 
sie dabei bekommen, mit Bier stillen, das ihnen ge- 
reicht wird. 

Die Großen des Häuptlings und die Unterhäuptlinge 
beweinen nun den Toten und bleiben bis zu vier 
Wochen in seinem Hause. An jedem Morgen gehen sie 
hin zum Grabe des Häuptlings und begrüßen ihn dort, 
als wenn er noch lebend unter ihnen weilte. Nachdem 
sie ihn begrüßt haben, nehmen sie wieder Abschied von 
ihm. Wenn der Trauermonat vorüber ist, begibt sich 
jeder der Leidtragenden wieder an seinen Ort. 





Mitteilungen über das heutige Wadai. 


Bei, dem für die Kolonne Fiegenschuh so verhängnis- 
vollen Überfall am Bir Tauil, Januar 1910, fand auch der 
Leutnant Delacommune seinen Tod, ein junger Offizier, 
der erst im Juli 1909 nach Wadai gekommen war, aber bei 
der Bekämpfung der auf die Eroberung Abeschers folgenden 
Unruhen an der Ostgrenze Wadais eine wichtige Rolle gespielt 
hatte. Aus Privatbriefen, die er in die Heimat gesandt hat, 
sind kürzlich in „L’Afrique française“ (August 1910) umfang- 
reiche Auszüge erschienen, die u. a. viel Interessantes über 
die bisher kaum bekannten Verhältnisse im nordöstlichen 
Wadai und in den diesem Reiche tributären Sultanaten Dar- 
Tama und Dar-Gimer enthalten. Einige Einzelheiten mögen 
hier mitgeteilt werden, 

Über Abescher, Wadais Hauptstadt selber, sagt Dela- 
commune, es wäre eine „riesige, interessante, belebte Stadt, 
die wahre Hauptstadt Innerafrikas“. Er erwähnt dann die 
gewaltigen Mengen von Gewehren und Patronen, die nach 
seiner Ankunft den Franzosen ausgeliefert wurden, und 
wundert sich, wie eine an Zahl so schwache Truppe, wie die 
Bourreaus, das Wadaiheer hätte vertreiben und die Haupt- 
stadt nehmen können. Die Erklärung liegt darin, daß die 
Wadaileute dem Bajonett nicht stand hielten, einer ihnen 
unbekannten Waffe, vor der sie große Furcht hatten. Freilich 
hatte die Artillerie tüchtig vorgearbeitet; sie habe den Sultan 
Dudmurra zur Flucht veranlaßt, der gesagt haben solle, 
Allah wolle offenbar seinen Untergang, da er ihm Kugeln 
schicke. Übrigens hatte auch Dudmurra Geschütze gehabt, 
aber es waren alte Kanonen, die Napoleon in Agypten zurück- 
gelassen hatte. Der Sultanspalast ist eine Welt und eine 
Stadt für sich, die mehrere Kilometer (?) im Umfang hat. 
Sie ist sehr gut aus gebrannten Ziegeln gebaut, hat auch 
Häuser mit Stockwerken. Um die eigentliche Tata (Burg) 
des Sultans liegen die Tatas der Akiden (Heerführer), kleine 
Festungen. Der große Marktplatz scheidet von ihnen die 
Eingeborenenstadt. Diese ist in mehrere Viertel geteilt. Im 
Innern liegt das Wadaiviertel. Ringsherum gruppieren sich: 
das Fessanerviertel, wohin die Karawanen aus Marokko und 
Tunisien kommen, das Bornuviertel, das die westlichen Kara- 
wanen aufsuchen, und das Tripolitanerviertel. Überall findet 
man Verkaufsläden. Der Rest der gewaltigen Senke von 
Abescher wird von Dörfern ausgefüllt, und es gibt da viel 
Wasser, Kulturen und Vieh. Jenseits dieser Senke erheben 








sich Gebirgsmassive, deren größtes die Kalingaberge sind. 
An deren Fuße stieß Delacommune in einem Felszirkus auf 
ein Dorf von 2000 Einwohnern. Da Delacommune auch auf 
seinem Wege nach Abescher, also im Westen Wadais, Dorf 
an Dorf mit riesigen Viehherden und unabsehbaren Hirse- 
feldern sah, so muß sich Wadai unter Dudmurra ganz wohl 
befunden haben, obwohl ihm die Dörfer u. a. auch Kinder 
(z. B. für seine Eunuchenreserve) hatten liefern müssen und 
angeblich vielen sonstigen Bedrückungen ausgesetzt gewesen 
waren. 

Vom September 1909 ab hatte Delacommune viel zu tun. 
Zunächst sollte er die Kalinga der französischen Herrschaft 
zuführen, die ihn aber immer mehr als kühl empfingen. 
Sonderbar, sagt er, ist in den Wadaidörfern die Teilung in 
streng voneinander geschiedene Quartiere. Zuerst ist da ein 
Wadaidorf, dann liegen in einiger Entfernung die vornehmen 
Persönlichkeiten gehörigen Dorfteile.. So besaß die Sultans- 
mutter 253 Dörfer im Reiche. Bewohner dieser Dörfer sind 
Sklaven, die aber durchaus nicht zu beklagen sind. Sie haben 
ihre Hütten, ihre Familien, auch ihre Schafherden, bauen 
Hirse für ihre Herren und besorgen deren Herden. Traurig 
war ihre Lage nur insofern, als ihnen ihre Kinder nicht 
gehörten, sie konnten ihnen weggenommen und verkauft 
werden. Aber ihre Elternliebe war nicht genug entwickelt, 
als daß ihnen das Schmerzen bereitet hätte. Ohne Erfolg 
erklärte Delacommune überall diesen Sklaven, sie wären frei 
und könnten in ihre Heimat zurückkehren. Niemand wünschte 
das. Bedauernswert waren nur die Sklaven, die man durch 
die Wüste nach Tripolis brachte. Auch nach der Einnahme 
von Abescher hatten noch einige Sklavenkarawanen nach 
dem Norden entkommen können. 

Ende September 1909 wurde Delacommune nach Niery, 
der Hauptstadt Dar-Tamas, gesandt, um den an Stelle des 
Sultans Othman von den Franzosen eingesetzten neuen Sultan 
Hasen dorthin zu geleiten. Zwischen Wadai und Dar-Tama 
war ein 50km breiter menschenleerer Streifen zu passieren, 
der infolge der Kriege unbewohnt bleibt. In Dar-Tama waren 
alle Dörfer und auch die Hauptstadt Niery verlassen worden, 
die Bewohner wollten so wenig von ihrem neuen Landesherrn 
und den ihm verbündeten Franzosen wissen, daß sie in die 
Berge geflohen waren, wo sich auch der alte Sultan Othman 
aufhielt. Mit diesem gab es dann beschwerliche Kämpfe in 
den unwegsamen Gebirgen Dar-Tamas, bis er etwas an An- 
hang verlor, der zum neuen Sultan überging. Ende Oktober 


Range: Steinwerkzeuge der Buschleute des deutschen Namalandes. 





rückte Delacommune an die Grenze des Dar-Tama im Osten 
benachbarten Dar-Gimer, dessen Sultan Idris gern die franzö- 
sische Oberhoheit anerkannt hätte (Dar-Gimer war ebenso 
wie Dar-Tama ein Vasallenstaat Wadais gewesen), wenn er 
nicht hätte fürchten müssen, daß der Sultan von Dar-For, 
bei dem nach der Einnahme von Abescher viele Wadaifürsten 
ein Asyl gefunden hatten, sein Land verwüsten würde. Auch 
seine anderen Nachbarn, Massalit und Saaura bedrohten 
ihn. Mitte November hatte Delacommune eine Zusammen- 
kunft mit Idris in dessen Lande und suchte dessen bedrohte 
Stellung zu befestigen. Dann wurde er nach Abescher zu- 
rückbeordert, um sich Fiegenschuh auf dessen Expedition 
nach Dar-Massalit anzuschließen. 

Es sei noch kurz erwähnt, wie sich seitdem die Verhält- 
nisse an der Ostgrenze Wadais entwickelt haben. Kaum war 
die Nachricht von der Vernichtung der Kolonne Fiegenschuhs 
bekannt geworden, als der neue Sultan von Dar-Tama wieder 


Dasselbe Los hatte nun auch Idris von Dar- 
Gimer, über den die Dar-Forer herfielen. In den folgenden 
Monaten dauerten die Kämpfe mit den Dar-Forern, dem 
Sultan Othman und auch dem vertriebenen Sultan von Wadai 
an, bis die Franzosen im April 1910, bald nach der Er- 
mordung Boyd Alexanders in Dar-Tama, einige größere Er- 
folge errangen, so daß sie ihre Schützlinge wieder nach 
Dar-Tama und Dar-Gimer führen konnten. Nach wie vor 
aber bilden der Sultan von Dar-For und die an seinem Hofe 
weilenden Anhänger Dudmurras eine stete Gefahr für die 
Ruhe in Wadai. Nach der Auffassung offizieller Karten der 
englisch-ägyptischen Sudanregierung sollen übrigens Dar- 
Tama, Dar-Gimer und Dar-Massalit zu Dar-For, d. h. eben 
zum AÄgyptischen Sudan gehören. Wie dem aber auch sei: 
zum mindesten hätte Frankreich das Recht, von England 
zu verlangen, es solle den Sultan Ali Dinar von Dar-For in 
Schranken halten. 


verjagt wurde. 


= 





Steinwerkzeuge der Buschleute des deutschen Namalandes. 


Unter Buschmännern versteht der Ethnograph eine 
von den Hottentotten wohl zu unterscheidende Menschen- 
rasse, die als Jäger in den Steppen und Wüsten Süd- 
afrikas ein unstätes Leben führt. Sie haben eigene 
Sprachen, die dem Nama der Hottentotten ähnlich sind, 


handen sein. Was mir von den diese öden Landstriche 
bewohnenden Nomaden begegnet ist, waren nicht mehr 
echte Buschmannfamilien, nur einzeine Individuen zeigten 
noch die in einem rechten Winkel ausgezogene Ohr- 
muschel, was bei den Hottentotten als charakteristisches 





Steinwerkzeuge von Rotekuppe im südlichen Namalande. Nat. Gr. 


aber doch so viele Unterschiede aufweisen, daß sie kaum 
als Dialekte des Nama aufgefaßt werden können. Als 
ich im Jahre 1906.nach Deutsch-Südwestafrika kam, war 
mir von vornherein interessant festzustellen, ob sich noch 
echte Buschleute im südlichen Teil unseres südwest- 
afrikanischen Schutzgebietes vorfänden. Gesprochen 
wurde verschiedentlich davon, besonders sollten in der 
Küstenwüste südlich von Lüderitzbucht noch solche vor- 


Merkmal der Buschleute gilt. Eine eigene Sprache exi- 
stierte auch nicht mehr, die mich begleitenden, Nama 
sprechenden Hottentotten und Bastards konnten stets 
die sogenannten Buschleute verstehen, wenn sie auch 
über die unbeholfene Ausdrucksweise derselben häufig 
lachten. Um so interessanter war es mir, an verschie- 
denen Stellen der Küstenwüste des südlichen Namalandes 
gefundene Steinwerkzeuge übereinstimmend von älteren 


208 


Bücherschau. 





Bastards und Hottentotten als Werkzeuge der Busch- 


leute bezeichnet zu sehen. Ein alter Bastard, der mich 
auf meinen Reisen längere Zeit begleitete, erzählte, daß 
die Buschleute noch vor gar nicht langer Zeit steinerne 
Pfeilspitzen verwendet hätten. Einer der interessantesten 
Fundpunkte solcher Steinwerkzeuge findet sich bei Rote- 
kuppe. Hier liegen in einem Talkessel auf jungen Wüsten- 
sedimenten, etwa 2km südlich der Bahnstation gleichen 
Namens, zahlreiche Werkzeuge verschiedener Art umher, 
von denen einige nebenstehend abgebildet sind. 
Erfahrungsgemäß wohnen die Buschleute niemals un- 
mittelbar am Wasser, und auch hier findet sich das 
nächste kleine Grabwasser etwa zwei Stunden nördlich 
nahe dem Gipfel des südlichen Koviesberges. Schon 
Dr. Lotz hatte von hier einige Werkzeuge gesammelt, 
und ich konnte gelegentlich erneut vorgenommener 
Bohrungen eine ziemliche Anzahl derselben zusammen- 
bringen. Bei den öfteren Besuchen, die ich der Fund- 
stelle abstattete, gelang es mir aber nie, nennenswerte 
Überreste von Tierknochen, Muschelschalen und Straußen- 
eiern zu entdecken, während andere mir bekannte Lager- 
stellen der Nomaden diese meist massenhaft zeigen. In 


solchen Lagerstätten findet man dann auch meistens 
schon bearbeitete eiserne Gegenstände, Schiffsnägel u. dgl., 
und sie zeigen damit ihr relativ junges Alter an. Aus 
beiden Gründen möchte ich für das Vorkommen bei 
Rotekuppe größeres Alter in Anspruch nehmen. Wie 
alt die Werkzeuge sein können, ist natürlich schwer zu 
schätzen; mehr als einige hundert Jahre scheint mir 
nicht wahrscheinlich; denn dann hätte sich bei den sehr 
heftigen Sandstürmen dieser öden Wüstenlandschaft doch 
stärkere Windwirkung an den Instrumenten zeigen müssen. 
Das Gesteinsmaterial ist Kiesel, durch verschiedene Bei- 
mengungen bunt gefärbt, einzelne Stücke sind aus wasser- 
klarem Bergkristall hergestellt. Diese Gesteine kommen 
etwa 20km südlich Rotekuppe und dann weiter nach 
Süden reichlich vor und sind jedenfalls von dort mit- 
gebracht. Viele der Werkzeuge sind hervorragend ge- 
arbeitet und können sich nach dem Urteil des Herrn 
Prof. v. Luschan den schönsten unserer paläolithischen 
Stücke würdig an die Seite stellen. So reicht in Deutsch- 
Südwestafrika die Steinzeit, welche bei uns grauer Ver- 
gangenheit angehört, nahe an die Gegenwart heran. 


Dr. P. Range. 


Bücherschau. 


Franz Thonner, Vom Kongo zum Ubangi. Meine zweite 
Reise in Mittelafrika.. XI u. 1168. mit 20 Textbildern, 
114 Lichtdrucktafeln u. 3 Karten. Berlin 1910, Dietrich 
Reimer. 12 f. 

Der Wiener Botaniker Thonner unternahm Ende 1908 
eine neue Reise nach dem mittleren Kongo zum Zwecke bo- 
tanischer und ethnographischer Studien. Mitte Dezember 
1908 verließ er Banana, und Mitte Januar erreichte er den 
am Unterlauf des Itimbiri liegenden Posten Mandungu. Nun 
folgte eine einmonatige Landreise bis zum Posten Yakoma 
an der Vereinigung von Mbomu und Uelle zum Ubangi und 
schließlich die Talfahrt auf dem Ubangi und Kongo (bis 
10. April 1909). Thonners diesmaliges eigentliches Reisegebiet 
liegt also etwas östlicher als das von 1896 (Mongalla). Be- 
kannt war es wenig, und so hat 'Thonner neben der Botanik 
auch der Geographie und der Völkerkunde Dienste leisten 
können. 

Sein Buch bringt zunächst einen knappen Reisebericht 
mit den allgemeinen Beobachtungen. Dann folgt ein zu- 
sammenfassender Abschnitt über Land und Leute zwischen 
Kongo und Ubangi und am Ubangi. Es werden darin ein 
paar geographische und klimatische Daten gegeben, dann 
werden die naturwissenschaftlichen und die Völkerverhältnisse 
eingehender besprochen. In völkerkundlicher Beziehung ist 
das Reisegebiet insofern schon recht interessant, als sich hier 
Bantu- und Sudannegerelemente durcheinanderschieben. Die 
Vor- und Eindringenden sind die Sudanneger gewesen, aber sie 
sind von den Bantu in Sprache, Tatuierung und Hüttenbau 
beeinflußt worden. Reihendörfer wechseln mit Haufendörfern, 
Hütten mit rechteckigem Grundriß mit Rundhütten. Thonner 
versucht nach der Sprache eine Gruppierung der Stämme und 
stellt sie auf einer Karte dar. Von Einzelheiten mag nur die 
abenteuerliche Haartracht mancher junger Mädchen der Sango 
(Sudanneger am Ubangi) erwähnt werden. Sie tragen falsche 
Haare aus Pflanzenfasern, deren untere Enden zu einem ge- 
waltigen walzenförmigen Ballen zusammengerollt und von 
einem Netz umschlossen auf dem Rücken getragen werden. 
Die Körperhaltung wird dadurch gebückt (8. 25 u. Taf. 74/75). 
Die Mode ist freilich im Abnehmen begriffen. Die Bevölkerungs- 
diehte ist sehr schwach, höchstens zwei für den Quadrat- 
kilometer. Die Kautschukausbeute ist erheblich, stellenweise 
sogar bis auf den zehnten Teil zurückgegangen, so daß die 
Anforderungen an die Eingeborenen in dieser Beziehung überall 
herabgesetzt worden sind. Es sei dann noch auf die meteorolo- 
gischen und Pflanzentabellen, sowie auf ebenfalls in Tabellen- 
form mitgeteiltes ethnographisches und sprachliches Material 
verwiesen. Manches enthalten auch noch die Erläuterungen 
zu den Lichtdrucktafeln, die in überreicher Fülle beigegeben 
sind. Von ihnen sind leider die Aufnahmen Eingeborener 
zum großen Teil mißlungen. Die von F. Bischoff gezeichnete 
und von M. Moisel redigierte Karte in 1: 500000 gibt Thonners 
ansehnliches topographisches Material, enthält auch die Höhen- 


messungen. Auf ihr ist uns die starke (und wohl kaum not- 
wendige) Überbreiterung des Itimbiri aufgefallen, eines Flusses, 
der nach Thonners eigenen Angaben und auch nach den Ab- 
bildungen doch meist nicht viel breiter als 100 mist. Binger. 


J. P. Johnson, Geological and Archaeological Notes 
on Orangia. London 1910, Longmans, Green and Co. 10 s. 

Der bekannte Geologe und Prähistoriker Johnson, dessen 
Buch „The Stone Implements of South Africa“ bereits in 
dieser Zeitschrift besprochen wurde, bringt in dem vor- 
liegenden, 100 Seiten starken, mit Abbildungen reich aus- 
gestatteten Bande ein zwar etwas heterogenes, aber des- 
halb nicht weniger interessantes Material von Beobachtungen. 

Auf den Seiten 1 bis 43 schildert er, nachdem er einen 
kurzen Abriß der Geologie gebracht hat, die bekannten Dia- 
mantminen zwischen Vaal und Oranje. Am interessantesten 
ist die Vorspoedmine. Dort ist augenscheinlich zuerst ein 
Schlot aus dichtem Diabas (Aphanit) entstanden und dieser 
später durch die Eruption des Kimberlits herausgesprengt 
worden. Indes bestehen große Teile der Mine auch aus 
Diabas. Auch Gänge von Kimberlit werden in größerer Zahl 
von verschiedenen Stellen beschrieben. 

8. 44 bis 51 behandelt die oberflächlichen Ablagerungen, 
den Kalktuff und die rötlichen Sande. Vor allem aber werden 
die flachen schalenförmigen Pfannen eingehender beschrieben. 
Johnson nimmt mit Allison an, daß die trinkenden Tiere im 
Verein mit dem Winde bei ihrer ersten Entstehung eine 
entscheidende Rolle gespielt haben. Später sei dann die 
Winderosion maßgebend. Interessant sind seine Ansichten 
über den Klimawechsel. Nach einer feuchten Periode habe ein 
Wüstenklima mit energischer Winderosion geherrscht, und in 
dieser Zeit seien die großen Pfannen und der rötliche Sand 
mit seinen Dünen entstanden. Dann folgte eine neue feuchtere 
Zeit, in der die Pfannen gefüllt waren. Darauf entwickelte 
sich allmählich das Klima der Jetztzeit, das an Trockenheit 
die frühere Zeit nicht erreicht. 

Sehr lehrreich sind die archäologischen Forschungen, die 
die alten Ansichten bestätigen und erweitern. Die Gesteins- 
artefakte gehören einer älteren „Acheulischen Periode“ an 
und bestehen ausschließlich aus mandelförmigen Handstücken. 
Johnson schlägt für sie den Namen „Amygdalithe“ vor. Die 
jüngeren Artefakte gehören dem Solutreen an. Die damals 
mit Quellwasser gefüllten Pfannen waren die Zentrale der 
damaligen Kultur, die das Rind als Haustier schon kannte, 
und auch den Mahlstein, sowie durchbohrte Staußeneier- 
plättchen und die bekannten Steinringe für den Grabstock. 
Durch zahlreiche Abbildungen werden auf Felsen gemalte 
und eingekratzte Figuren von Tieren und Menschen ver- 
anschaulicht, die zum größten Teil wohl von Kaffern her- 
rühren und nicht sehr alt sind. Ein Abschnitt über Aus- 
sichten der Farmwirtschaft schließt diese vielseitige Schrift ab. 

Passarge. 


Bücherschau. 


209 





Berthold Laufer, Chinese Pottery of the Han Dynasty. 
XVI u. 3398. (Publication of the East Asiatic Committee 
of the American Museum of Natural History. The Jacob 
H. Schiff Chinese Expedition.) Leiden 1909, E. J. Brill. 

So eng begrenzt nach Stoff und Zeit der Gegenstand 
dieses Werkes scheinen mag — es behandelt die chinesischen 
'Tonwaren aus der Hanzeit, 206 v.Chr. bis 221 n. Chr. —, so 
zeigt sich doch auch hier, daß eine in die Tiefe dringende 
Kenntnis der Einzelheiten zugleich eine Erweiterung bedeutet. 
Das Buch hat ein noch wenig bekanntes Gebiet in einer für 
die antiquarische und kulturhistorische Forschung bahn- 
brechenden Weise erschlossen. Zunächst schon dadurch, daß 
Laufer, ein ausgezeichneter Sinologe, jahrelange Forschungen 
in China unternommen und durch seine Funde aus Gräbern 
der Hanzeit ein reiches, echtes Material zutage gefördert 
hat. Dadurch hat er die Erforschung der altchinesischen 
Kultur aus der Gebundenheit an die literarische Tradition 
befreit, die er als Philologe auch in diesem Werke vortreff- 
lich verwertet. Bekanntlich sind Werke altchinesischer Kunst 
bisher nur in sehr geringer Anzahl bekannt. Die meisten 
alten Schätze der kaiserlichen Museen in China sind in den 
ungeheuren Erschütterungen, die das Land erlitt, zugrunde 
gegangen, namentlich in der Mongolenzeit und beim Ansturm 
der Mandschus auf Peking. Aber auch europäische Truppen 
haben 1860 übel gehaust. Die geschichtliche Kenntnis der 
älteren Kunst mußte sich meist auf die großen illustrierten 
Kataloge der kaiserlichen Sammlungen stützen, auf das 1107 
bis 1111 verfaßte Po-ku-t'u-lo des Wang Fu und das vom 
Kaiser Kienlung 1749 veranstaltete Prachtwerk Si-tsing-ku- 
kien, die zusammen etwa 3000 Abbildungen geben. Wie 
vieles aus diesen Werken zu gewinnen ist, hat W. v. Hoer- 
schelmann (Die Entwickelung der altchinesischen Orna- 
mentik, Leipzig 1907) in vortrefflicher Weise gezeigt. Dem 
allen gegenüber aber bedeutet Laufers großes Werk einen 
gewaltigen Fortschritt; es lehrt die Fülle des älteren Kunst- 
schaffens an Originalen kennen. Zugleich aber handelt es 
sich bei der chinesischen Keramik nicht nur um die Ge- 
schichte der Formen und der Technik, sondern um Dokumente 
des chinesischen Kulturlebens und seiner oft weitreichenden 
Beziehungen, die uns tiefere Einblicke und greifbare Auf- 
schlüsse über das Volksleben gewähren. In dieser Beziehung 
kann man sich dem Werke Laufers gegenüber nur als Ler- 
nender verhalten. Es ist in jeder Hinsicht — auch in der 
äußeren Ausstattung, in den Bildern, im Druck — ein glän- 
zendes Werk, ein weithin sichtbares Zeichen für den Auf- 
schwung, den die Sinologie zu nehmen beginnt. 

Ich möchte zur Würdigung des vielfach ausgezeichneten 
Werkes hier die Seite hervorheben, die mir die wichtigste 
scheint und die jedenfalls auch bei solchen Beachtung zu 
finden verdient, denen die speziell sinologischen Studien ferner 
liegen, nämlich die kulturhistorische Bedeutung der kerami- 
schen Erzeugnisse. Sie beruht auf dem Jenseitsglauben und 
Totenkult.e. Auch die Chinesen teilen den weitverbreiteten 
Glauben, daß der Tote im Jenseits ein dem irdischen Leben 
entsprechendes Dasein führe, für das er mit den Bedürfnisssen 
und Hilfsmitteln des Erdenlebens ausgerüstet werden muß. 
So werden die Grabgaben ein Spiegelbild der Kultur, wie 
das zuerst und besonders die ägyptologische Forschung er- 
wiesen hat. 

Die Chinesen sind seit alters ein Bauernvolk, und für ein 
solches ist die Bewässerung des Landes eine Lebensbedingung. 
So nimmt der Brunnen im Leben wie in der Kunst eine 
wichtige Stellung ein. Ein Relief der Hanzeit, wie ein an- 
deres aus Schantung (Chavannes, La sculpture en Chine, 
8.46) stellen das Schöpfen aus einem Brunnen dar (Laufer, 
Fig. 16). Daß der moderne Brunnen mit dem über ein Rad 
gezogenen Eimer in alte Zeit zurückgeht, zeigt der Vergleich 
von einem Brunnengehäuse (Fig. 14) mit der Nachbildung 
eines Brunnens in Ton (Laufer, Tafel XIV). Der Brunnen 
hat eine steinerne Umfassung, über der sich ein Gerüst er- 
hebt, das die Rolle mit dem Schöpfeimer trägt, der hier auf 
dem Rande der Einfassung steht. Ein kleines Dach schützt 
die Anlage, in dem wir schon die charakteristische Form 
des chinesischen Hausdaches mit vier abfallenden Seiten sehen. 
— Die Gestalt des Brunnens wird mehrfach in Gefäßen 
nachgeahmt; wie stark das Vorbild wirkt, zeigt sich darin, 
daß das Brunnendach hier oben auf dem Bügel der Gefäße 
sitzt (Laufer, Tafel XVI), und noch pedantischer, wenn gar 
im Innern eines Gefäßes der Schöpfkrug des Brunnens 
plastisch nachgebildet wird! (Laufer, 8.79). Diese Sinnlosig- 
keit ist wohl aus der Neigung der Chinesen, einmal gegebene 
Formen zu bewahren, zu begreifen, die aueh in der Ge- 
schichte der Sitten zu manchen uns absonderlich erschei- 
nenden Bräuchen geführt hat. Eine andere Gefäßform zeigt 
uns den turmförmigen Getreidespeicher. Solche Anlage 
als Totengabe zeigt Laufer, Fig.12: auf dem umfriedigten 


Hofe erhebt sich ein runder Turm mit Treppe, die an der 
Außenseite emporführt zu der Öffnung, durch die das Ge- 
treide eingeschüttet wird. Dem entsprechen die turmartigen 
Gefäße (Tafel IX, X, XI), bei denen das vierseitige Dach 
zum Deckel geworden ist. 

Interessant sind die Füße dieser Gefäße, die Laufer als 
Bärenfüße erkennt, wie solche auch in Po-ku-t'u-lo genannt 
werden. Das muß mit der Bedeutung des Bären für eine 
ältere Kulturstufe zusammenhängen, deren letzter Nachklang 
wohl noch in der religiösen Verehrung nachlebt, die der Bär 
bei den Ainus und bei sibirischen Stämmen genießt. 

Einen Einblick in die ältesten agrarischen Zustände 
bieten Gefäße mit Schafen (Laufer, 8.45). Mehrere begriff- 
liche Schriftzeichen des Chinesischen, die mit dem Zeichen 
für „Schaf“ zusammengesetzt sind, beweisen, daß das Schaf 
im Mittelpunkt der Wirtschaft stand (vgl. die von Conrady 
gegebenen Beispiele in Ullsteins „Weltgeschichte“ III, 502). 
Aus diesem Werke lernen wir zugleich die altchinesische 
Mühle kennen (Laufer, Tafel IV). Von besonderem Inter- 
esse, ein Denkmal uralter Seßhaftigkeit, sind die Kochherde 
(Laufer, Tafel XVII u. XVIII), wie wir solche auch aus 
einem Steinrelief kennen. Sicher dienten solche Ofen durch- 
aus praktischen Zwecken — Laufer (S. 80) hält sie lediglich 
für Totengaben —; noch die Mingzeit benutzte kleine trans- 
portierbare Kochöfen von ähnlicher Anlage. 

Noch eine schwierige Frage sei aus dem großen kultur- 
geschichtlichen Gehalt des Werkes hervorgehoben: die Be- 
ziehungen der älteren chinesischen Kultur zur mittelasiati- 
schen. Auch Münsterberg hat ihr im 1. Bande seiner großen 
„Chinesischen Kunstgeschichte“ besondere Aufmerksamkeit 
gewidmet. Sicher hat die mittelasiatische Kunst zunächst 
von Indien und China, ferner auch vom Westen mancherlei 
Einwirkungen erfahren; aber die mittelasiatischen Völker 
haben diese Anregungen selbständig gestaltet. (Dabei saßen 
hier auch indogermanische Völker; ob Mittelasien zur Han- 
zeit schon türkisch war, muß wohl noch ungewiß bleiben.) 
Jene selbständig gewordene Mischkunst hat dann auf die 
chinesische Kunst eingewirkt, freilich bedeutend später als 
in der Hanzeit. Wir stehen hier aber erst in den Anfängen 
der Erkenntnis, die erst durch die neuesten archäologischen 
Forschungen in Zentralasien festen Boden gewonnen hat. 

R. Stübe. 


Dr. J. Hunziker, Das Schweizerhaus nach seinen land- 
schaftlichen Formen und seiner geschichtlichen Entwicke- 
lung. Sechster Band. Herausgegeben von Dr. C. Jecklin. 
Aarau 1910, H. R. Sauerländer u. Co. 

Es ist erfreulich, daß nach Hunzikers Tode sein Nach- 
laß in Dr. Jecklin einen pietätvollen Herausgeber gefunden 
hat, der das groß angelegte Werk weiterführt. ‚Dieser sechste 
Band bringt uns zunächst eine allgemeine Übersicht über 
das dreisässige Haus, welches uns durch die in den früheren 
Bänden geschilderten Reisen Hunzikers von der Saane bis 
zur Thur und im deutschen Jura bekannt wurde. Hier wird 
eine Zusammenfassung der vielen Spielarten und verschiedenen 
Mischformen geboten, welche das Ergebnis der Wanderungen 
darstellen, wobei zu bewundern ist, wie der Verfasser all die 
tausend Einzelheiten erforscht und mit ihren mundartlichen 
Benennungen festgelegt hat. Die zweite Abteilung behandelt 
das schwäbische Haus der Nordostschweiz wieder in der Form 
einer Wanderung. Die immer spärlicher werdenden alten, den 
Urtypus zeigenden Schwabenhäuser werden in zahlreichen 
Abbildungen und Plänen noch für die Nachwelt aufbewahrt 
und mit zahlreichen Einzelheiten geschildert. 


F. Curschmann, Die deutschen Ortsnamen im nord- 
ostdeutschen Kolonialgebiet. (Forschungen zur 
deutschen Landes- und Volkskunde, Bd. XIX, Heft 2.) 
Stuttgart 1910, J. Engelhorn. 5 f. 

Über die slawischen Ortsnamen im nordostdeutschen 
Kolonialgebiet ist genug geschrieben worden, so daß man 
fast glauben konnte, es gäbe dort überhaupt keine Deutschen 
mehr. Gründlich und zusammenfassend schließt nun die vor- 
liegende Schrift diese Lücke, wiewohl der Verfasser be- 
scheiden betont, es sei da noch vieles nachzuholen. Jeden- 
falls erkennen wir aber, daß die deutschen Ortsnamen weit 
zahlreicher dort sind, als man bei der Fülle der —itz, —ow, 
—in usw. vermutete. Und die deutschen Ortsnamen sind 
gleichzeitig wertvolle Zeugnisse der verschiedenen Koloni- 
sationsperioden. 

Das Gebiet, welches Curschmann behandelt, wobei er 
stets das reiche Urkundenmaterial zugrunde legt, wird nach 
Westen von der Elbe, Saale und den böhmischen Randgebirgen 
begrenzt, so daß noch Schlesien in seine Untersuchungen 
hineinfällt. Er teilt seinen Stoff nach den vier geschichtlichen 
Siedelungsperioden, die sich auch in der Namengebung aus- 


210 


Kleine Nachrichten. 





drücken. Aus der ältesten germanischen Periode (Vandalen, 
Burgunder, Goten u. a.) ist sehr wenig Sicheres übrig ge- 
blieben. Vollkommen richtig betont der Verfasser, daß die 
auswandernden deutschen Stämme das weite Land nicht 
menschenleer hinterließen, sondern daß ihre Reste von den 
nachrückenden Slawen (2. bis 6. Jahrh.) aufgeschlürft wurden. 
Aus jener historischen Urzeit haben sich der Name Schlesien 
(von den germanischen Silingen) und eine Anzahl Flußnamen 
(Havel, Elster, Ihle usw.) erhalten. Auch Brandenburg ist 
ein deutscher Ortsname, das angeblich altslawische „Brannibor“ 
ist eine spätere Fälschung; deutsch sind Havelberg und 
Mecklenburg aus jener frühen Periode. Nach der slawischen 
Zeit, deren Ortsnamen hier nicht in Betracht kommen, folgt 
die deutsche Kolonisationsperiode mit den zahlreichsten deut- 


schen Ortsnamen vom 12. bis 14. Jahrh., die, in ihren Einzel- 
heiten erforscht, den Hauptinhalt der Schrift ausmachen, ein 
überreiches, gut gegliedertes Kapitel, das viele für die Siede- 


lungsgeschichte wichtige Nachweise bringt. So z. B. wissen 
wir, daß die Ortsnamen auf —leben den Warnen (mittleres 
Elbegebiet bis Thüringen) angehören und aus der Zeit vor 
531 stammen. Sie sind im Kolonisationsgebiet nur gegen 
20mal vertreten, stammen aber sicher durch Übertragung aus 
dem Gebiete der Warnen. Endlich die Ortsnamen der Neu- 
zeit (welche Curschmann an die Spitze seiner Arbeit stellt); 
sie zeigen in ihrer Mannigfaltigkeit keine besonderen Kenn- 
zeichen; da treffen wir selbst Orte wie Quebeck, Sadowa, 
Kaisertreu, Gneisenau und sehr viele, die einfach mit Vor- 
namen zusammengesetzt sind. A. 





Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Daß es in Indien ganze Stämme gibt, die nur ein Ver- 
brecherleben führen und großenteils auch Nomaden sind, er- 
fahren wir durch eine ausführliche und mit Tafeln versehene 
Schrift des Generalpolizeiinspektors M. Kennedy über die 
indischen Verbrecherklassen („Notes on Criminal Classes 
in the Bombay Presidency“, Bombay, Government Central 
Press, 1908), die sehr belangreiche Nachrichten enthält, nach 
denen das indische Gaunertum dem europäischen keineswegs 
nachsteht. In welchen Beziehungen diese „Klassen“ von Ver- 
brechern mit den Kasten stehen, und wohin sieethnographisch zu 
rechnen, bemerkt Kennedy nur ausnahmsweise. Er führt nur die 
„Klassen“ an, die sich aber meistens mit Stämmen decken. Viele 
sind reine Nomaden wie die Kaikadis im Dekkan, die Sansiyas, 
die Beriyas und andere. Es gibt solche Stämme, die nur in 
zeitweilig errichteten Rohr- oder Laubhütten wohnen; die 
Mang-Garudis führen Rohrhütten auf Büffeln mit sich. 

Man trifft unter diesen Stämmen alle Arten von Ver- 
brechern wie in Europa: Diebe und Einbrecher, Taschendiebe, 
Falschmünzer, doch werden- von einzelnen Stämmen diese 
Verbrechen spezialisiert, und der erfahrene Polizeibeamte er- 
kennt an den angewandten Instrumenten, der Art des Ein- 
bruchs usw. leicht, um welchen Stamm es sich handelt. So 
erkennt man daran, wie ein Loch in die einfachen Behausungen 
der Eingeborenen zwecks Einbruchs gemacht wurde, ob es 
sich um einen Koli oder Harni im Pandschab handelt. Das 
europäische „Schmierestehen“ ist auch in Indien bekannt; 
Husten in verschiedener Art wird als Warnungszeichen ge- 
braucht. Niemals deutet der Warner mit der Hand auf die 
Gegend, aus der Gefahr droht, sondern er braucht dazu ver- 
schiedene Bewegungen mit dem Ellenbogen, kratzt sich auf 
dem Kopfe usw. Es gibt da eine ganze Zeichensprache, die 
Kennedy im einzelnen schildert. Auch das, was die deutschen 
Gauner „Zinken“ nennen, Zeichen an Häusern oder Türen, 
eine Art Geheimschrift, ist in Indien bekannt, und wie bei 
uns verstecken diese Gauner geraubtes Geld oder Schmuck 
in Körperöffnungen. Ganz so wie in Europa sind auch diese 
Verbrecherklassen stark abergläubisch, und da trifft merk- 
würdigerweise auch jener Aberglauben zu, daß eine Defäkation 
den Dieb vor der Entdeckung bei einem Einbruche schütze, 
so lang sie frisch ist! Andere werfen einige Samen von Abrus 
praecatorius vor sich hin, andere versagen sich vorher gewisse 
Speisen, essen nur Hammelfleisch, tragen eine getrocknete 
Ziegenzunge als Schutzmittel bei sich, und die Sansiyas und 
Beriyas entwenden von den Krematorien verbrannte Menschen- 
knochen, mit denen sie, bei Einbrüchen, über die Schläfer 
hinwedeln, im Glauben, diese würden nicht erwachen. 

— Im Alter von 100 Jahren ist zu Cleveland in Ohio 
Nikolaus Mihajlo, der „Kleine“ zubenannt, gestorben, 
von dem wir deshalb hier Notiz nehmen, weil er wohl der letzte, 
von einer Regierung anerkannte Zigeunerfürst war. Aller- 
dings war es nur die ungarische provisorische Regierung des 
Jahres 1848, die ihn, den Anführer der Zigeuner im Banate, zum 
Zigeunerwojwoden ernannte, weil er ihr vorzügliche Spionen- 
dienste gegen die Österreicher geleistet hatte. Von da ab 
hieß er nur der Zigeunerkönig, nach dem nicht nur die unga- 
rischen und serbischen, sondern zum Teil auch die rumänischen 
Zigeuner sich richteten, und der ihnen, nach Zigeunerart 
wandernd, bald hier, bald da Recht sprach. Mihajlo war als 
Sohn eines Wanderzigeuners 1810 im Banate geboren. Als 
geordnete Verhältnisse eintraten, litt es ihn nicht mehr in 
Europa; 1880 wanderte er nach Amerika aus, wo die dortigen 
Zigeuner sein Königtum anerkannten. Von ihm sagt sein 
Biograph F. W. Brepohl (Journ. of the Gypsy Lore Society, 
Juli 1910): „Mit ihm sank der letzte Zigeunerfürst ins Grab, 


dessen Würde jemals von der Regierung eines Kulturstaats 
bestätigt wurde. Mit ihm sinkt auch ein letztes Stück alter 
Zigeunerherrlichkeit und -privilegien dahin. Seine Getreuen 
beweinen in ihm nicht nur den großen Toten, sondern auch 
den letzten Zeugen einstiger Zigeunerfreiheit und Zigeuner- 
rechte.“ 


— Zwei hydrographische Missionen haben mit ihrer 
Tätigkeit im französischen Aquatorialafrika begonnen. 
Die eine, die unter Leitung des durch seine wertvollen Auf- 
nahmen im Tsadseegebiet bekannten Schiffsleutnants Audoin 
steht, hat sich Ende Juni nach Loango begeben. Im Hinbick auf 
die geplante Bahn von der Gabonküste nach Brazzaville am 
Stanley Pool hat sie folgende Aufgaben erhalten: Studien 
für die Wahl eines Hafens im Gabonästuar und Ausarbeitung 
eines vorläufigen Projekts für diesen Hafen; Untersuchung 
des heutigen Hafens bei Kap Lopez; Studien für die Wahl 
eines Hafens in den Buchten von Pointe Noire oder Pointe 
Indienne und Ausarbeitung eines vorläufigen Projekts dafür. 
Für diese Mission, die über einen zahlreichen Stab von 
Ingenieuren verfügt, sind 450 000 Fr. ausgeworfen. — Für die 
zweite Mission, die unter dem Befehl des Marine - Ingenieur- 
hydrographen H. Roussilhe steht und ebenfalls zahlreiche 
Mitglieder zählt, sind 650000 Fr. bewilligt. Die ersten Teil- 
nehmer sind Ende August hinausgegangen. Die Aufgaben 
umfassen: Studien über projektierte Häfen bei Brazzaville, 
Bangi (wo die Landrouten nach dem Tsadseegebiet ab- 
gehen) und Uësso, das der Endpunkt der Nordbahn vom 
Ogowe und Gabon sein wird; hydrographische Untersuchung 
des Sangha zwischen Uësso und Bayanga, des Ngoko zwischen 
Uësso und Ngoila, des Ubangi zwischen Bangi und dem Ein- 
fluß des Lobaye, sowie des Kongo zwischen Brazzaville und 
Kimpoko (Stanley Pool). Die Dauer dieser Mission ist auf 
1'/, Jahre veranschlagt. 


— Über die Ergebnisse der Expedition von H. A. Lorentz 
nach dem Schneegebirge Niederländisch - Neuguineas sind 
noch immer wenig Einzelheiten bekannt geworden. Einiges 
weitere wird in der „Tijdschrift v. h. Kon. Nederl. Aardrijks- 
kundig Genootschap“, 1910, Nr. 4, mitgeteilt. In der Nähe 
des Schneegebirges traf die Expedition auf ein Volk von 
kleinem Wuchs, und es sind einige Männer gemessen 
worden. Die Zahlen sind 152,5, 157, 158, 158,5, 160, 161 und 
163cm. Diese Leute sind also recht klein, aber sogenannte 
Pygmäen, Angehörige der Zwergrassen, sind sie nicht. Es 
werden keine Kleider getragen, die Wohnungen sind kleine 
Hütten, 3m über dem Erdboden errichtet. Bogen und Pfeil 
sowie Steinäxte sind in Gebrauch. Es finden Körperver- 
stümmelungen statt: die Frauen schneiden sich den Mittel- 
finger der linken Hand ab, die Männer den oberen Teil eines 
Ohres. Man baut und raucht Tabak, was an der Südküste 
von Niederländisch-Neuguinea nicht geschieht, wohl aber im 
Tal des Fly River und im Zentraldistrikt von Englisch-Neu- 
guinea, von wo die Sitte sich nach der Küste verbreitet hat. 
Daraus könnte man schließen, daß sie in Neuguinea von 
Norden her Eingang gefunden hat. Auch Lorentz nimmt 
für den von ihm gefundenen Bergstamm Verbindung mit 
der Nordküste an, da dieser große Seemuscheln als Brust- 
schmuck trägt. Viel Verläßliches war nicht zu erfahren, da 
die Verständigung nur durch Zeichen möglich war. 





— Wilhelm Filchner ist von seiner Übungsexpedition 
nach Spitzbergen (vgl. oben 8. 141) Anfang September 
nach Berlin zurückgekehrt, nachdem er die Westinsel von 
der Templebai bis zur Wichebai, also auf einem etwas nörd- 


Kleine Nachrichten. 


licheren Wege als Conway durchkreuzt hat. Es handelte 
sich für ihn darum, sich und die Mitglieder der von ihm 
geplanten Südpolarexpedition mit den Eisverhältnissen ver- 
traut zu machen, wie er sie in ähnlicher Weise auf seinem 
künftigen antarktischen Arbeitsfelde vorzufinden erwarten 
darf, auch mit der Reisetechnik; ferner auch um die Aus- 
probierung verschiedener Ausrüstungsstücke und namentlich 
eines Schlittenmodells, eines verbesserten Nansenschlittens. 
Wie Filchner nach seiner Rückkehr den Zeitungen mitgeteilt 
hat, ist er mit dem Ergebnis zufrieden, auch sein Schlitten- 
modell habe sich bewährt. Das dortige Inlandeis war ziem- 
lich schwierig, von zahllosen Spalten, Wasserlöchern und 
Bächen durchsetzt, die Teilnehmer mußten die beiden 
Schlitten größtenteils selbst ziehen — was ihnen ja wohl 
auch in der Antarktis bevorstehen wird. Spitzbergen ist an 
der erwähnten Stelle etwa 40 km breit. Als Mitglieder des 
wissenschaftlichen Stabes der Südpolarexpedition werden bis- 
her genannt: Dr. Erich Barkow vom Meteorologischen Institut 
in Potsdam (Meteorologe und Luftelektriker), Dr. Hans Philipp, 
Privatdozent in Greifswald (Geologe), Dr. Erich Przybyllek, 
Assistent am Geodätischen Institut in Potsdam (Astronom und 
Erdmagnetiker), Dr. Heinrich Saelheim aus Berlin (Geograph) 
und Dr. Carl Potpeschnigg aus Graz (Arzt). Die Genannten 
haben auch an dem Ausfluge nach Spitzbergen teilgenommen. 


. — Die Eisverhältnisse in den südbayerischen 
Seen erörtert H. Herpich (Diss. d. Techn. Hochsch. München 
1910). Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, pflegen diese 
Hochseen im Laufe des November zu vereisen. Im Gegensatz 
zu dem Vorgang des Vereisens pflegt sich die Auftauungs- 
periode im allgemeinen über den April und Mai zu erstrecken. 
Je weiter ein See von der freien Hochebene gegen das Ge- 
birge zu abliegt, um so eher wird er vereisen und um so 
später wieder auftauen; doch gibt es hier wieder eine ganze 
Reihe von Ausnahmen. Drei Faktoren beeinflussen haupt- 
sächlich den Eintritt der Vereisung: die Tiefe des Seebeckens, 
deren Zunahme stets eine Verzögerung des Vereisungsbeginns 
bedingt — der Gang der Lufttemperatur, deren Sinken immer 
eine Beschleunigung der Eisbildung, zeitlich oder räumlich 
genommen, verursacht, deren Steigen dieses Datum hinaus- 
schieben oder auch das Auftauen herbeizuführen vermag — 
endlich der Föhn, dieses gewaltige Naturphänomen, das auch 
den mächtigsten Eispanzer, dessen Entstehen mehrere Monate 
beanspruchte, oft im Verlaufe weniger Stunden vernichtet. 
Während Bewölkung, Niederschläge und horizontale Gestal- 
tung des Seebeckens nur bedingungsweise einen nennenswerten 
Einfluß ausüben können, stellen endlich Umgebung und Zu- 
flüsse vor allem bei kleineren Seen nicht zu unterschätzende 
Faktoren in dem so verwickelten Wechselspiele der den Ver- 
eisungsgang beschleunigenden oder verzögernden Kräfte dar. 
Für die Untersuchung so mancher lokalen wie meteorologi- 
schen Erscheinung fehlen leider nur zu häufig die dazu un- 
bedingt notwendigen Beobachtungsmaterialien. Man erkennt 
nur zu bald, daß eben jeder See in gewissem Sinne als In- 
dividuum eigenster Art aufgefaßt und untersucht werden 
muß, sollen die innersten Zusammenhänge der seine Eis- 
verhältnisse beeinflussenden Faktoren wirklich klargelegt 
werden. 

— Über die südlichen Rheingletscherzungen von 
St. Gallen bis Aadorf schreibt C. Falkner (Jahrb. d. 
St. Gall. naturw. Ges. für 1908 u. 1909). Die östlichsten vom 
Bodenseebecken schweizerischerseits abzweigenden Zungen 
des genannten Gletschers erstrecken sich innerhalb.des inneren 
Jungmoränenkranzes zwischen der 8-Flanke des St. Galler 
Hochtales und dem Tannenbergplateau, zwischen diesem und 
dem Nollenplateau; zwischen letzterem und dem Immenberg- 
plateau. Alle diese Zungen weisen sich ganz allgemein durch 
die topographischen Verhältnisse, im speziellen durch ihre 
bzw. Moränenumwallung, ihre Molasseflanken und die sie 
mehr oder weniger erfüllenden Drumlins und Rundhöcker 
als solche aus. Als innerer Jungmoränenkranz ergibt sich 
die streckenweise von Molasseerhebungen unterbrochene End- 
und teilweise Seitenmoränenumwallung in westwärts fort- 
laufendem Sinne auf der Linie St. Gallen—Gossau—Flawil— 
Jonswil—Wil—Eschlikon—Aadorf—Burg. Der innere Mo- 
ränenkranz erweist sich als die Folge eines Vorstoßes des 
Rheingletschers; die ostwärts von Winkeln im St. Galler 
Hochtale gelegenen Endmoränen sind successive auf dem 
Rückzug abgesetzt worden, doch sind Anzeichen einer in der 
Nähe des Bodensees erfolgten kleinen Schwankung vorhanden. 
Die Drumlins und Rundhöcker spiegeln in der Orientierung 
ihrer Längsachsen in durchaus zuverlässiger Weise die Rich- 
tungslinien der vorrückenden Eiszunge wider; sie laufen 
jeweilen mit entsprechender Umbiegung über West nach Süd- 
west in die entsprechende Zunge ein, um dieselbe meist 


211 


ganz zu erfüllen. Die Molasseflanken zeigen fast überall 
Terrassierung oder Rippung; letztere ist besonders dort stark 
ausgeprägt, wo der große Rheingletscher durch zeitliche Zu- 
flüsse verstärkt worden ist. Das Zungenniveau liegt um so 
tiefer, je weiter westwärts die Zunge gelegen ist; diese Er- 
scheinung zeigt sich sogar innerhalb einer und derselben 
Zunge, sofern dieselbe durch Rippen oder vorspringende Mo- 
lassekeile zerlegt worden ist. Die Abflußrinnen vom inneren 
Jungmoränenkranz mußten im allgemeinen in der Richtung 
Ost—West verlaufen. 


— Über die Entstehung der Faltengebirge ver- 
öffentlicht A. Ludwig eine interessante Arbeit in den Jahr- 
büchern der St. Gallenschen naturw. Ges. für 1908 und 1909, 
gestützt auf das fundamentale Werk von Sueß „Das Antlitz 
der Erde“, wobei er aber in Gegensatz zu den von jenem 
Gelehrten und Heim veröffentlichten Sätzen tritt. Das Haupt- 
merkmal der großen gefalteten Hochgebirge der Erde ist die 
Vollständigkeit bzw. Lückenlosigkeit der marinen Schichtreihe. 
Faltung und einstige Meeresbedeckung stehen in einem ge- 
wissen Zusammenhang. Die großen Hochgebirge liegen in 
den Gebieten, von welchen die großen Meerestransgressionen 
ihren Ausgang nahmen, also an tiefen Stellen der früheren 
Meere. Aus Geosynklinalen entstehen im Laufe geologischer 
Zeiten Geoantiklinalen oder die großen Faltengebirge. Gegen 
die Behauptung, daß die Hebung der Meeressynklinalen zu 
Faltengebirgen durch tangential wirkende Kraft erfolgt sei, 
die Hochgebirge also als zerdrückte Meere aufzufassen seien, 
lassen sich viele Gründe anführen, welche für Vertikal- 
erhebung mit Gleitfaltung sprechen. Die mancherorts be- 
hauptete Faltung als Ausdruck erzwungener Anpassung oder 
Einfügung in gegebene Verhältnisse bedarf zur Erklärung 
nicht einer tangential wirkenden Kraft, sondern geht schon 
aus der Auffassung der Gebirge als frühere Meeressynklinalen 
hervor. Die Tendenz, die Tiefen zu überschieben, läßt sich 
auch durch Gleitfaltung erklären. Gegen die Lehre von der 
tangential wirkenden Kraft spricht die auf geringe Entfer- 
nungen auftretende totale Verschiedenheit der Schubrichtung. 
Die aus allen Beobachtungen sich ergebende Notwendigkeit, 
die sogenannte horizontale Bewegung der Erdrinde als eine 
mehr oberflächliche zu betrachten, ist einer der stärksten 
Gründe gegen die Annahme einer tangential wirkenden Kraft 
und ein Hauptargument für die Gleitfaltung. Die Tatsache, 
daß die Fazies quer zur Streichrichtung viel rascher wechseln 
als in der Längsrichtung des Gebirges, läßt sich nur durch 
Unterschiede in der Meerestiefe zur Zeit der Sedimentation 
erklären. Die Entstehung der Hochgebirge erfolgte wahr- 
scheinlich in mehreren Phasen und vornehmlich zur Zeit 
negativer Strandverschiebungen. Die Erhebung der Meeres- 
teile zu Hochgebirgen erfolgte auf bestimmten Leitlinien 
nämlich den synklinalen Tiefenlinien, die in gewissem Sinne 
als Linien der Schwäche zu bezeichnen sind. 





— Über Gifte der Eingeborenen im Uhehegebiet 
(Deutsch-Ostafrika) macht Hauptmann Nigmann (Iringa) 
im „Deutschen Kolonialblatt“ vom 15. August d. J. einige 
Angaben. Ein von den Wahehe und den ihnen nahestehenden 
Wabena häufig verwendetes Gift stammt von der Wurzel des 
Baumes Muhewe (Abutilon indicum). Bei Erwachsenen dient 
es, mäßig angewandt, als Abführmittel, bei jungen Kindern 
wirkt es, in stärkeren Dosen eingegeben, tödlich. Nament- 
lich die Wahehe und ihre Nachbarstämme bedienen sich 
dieses Mittels bei ihren zahlreichen Kindestötungen gern, 
da die erzeugte Diarrhöe den Tod des Kindes unauffällig 
und natürlich erscheinen läßt. Als Pflanzengifte werden 
ferner gern benutzt: Wolfsmilchsaft der Euphorbienarten 
(Malangali), die Aloearten, Nachtschatten, die Liliengewächse, 
endlich auch Tabak (bei Kindern). Ganze Familien der 
Wahehe und der ihnen benachbarten Stämme besitzen von 
einem bestimmten Gift Kenntnis, die streng geheim gehalten 
wird und sich durch viele Generationen forterbt. Den einstigen 
Machthabern war das wohlbekannt, und die früheren Sultane 
suchten solche unheimlichen Familien dadurch unschädlich 
zu machen, daß sie sie nach einer entfernten Landschaft ver- 
pflanzten, aus der sie nicht herausdurften. Seit Aufrichtung 
der deutschen Herrschaft sind diese Familien vielfach in 
ihre alten Heimatsorte zurückgekehrt; sie wissen, daß die 
deutsche Rechtsprechung Klagen gegen sie aus Mangel an 
ausreichenden Beweisen fast nie zu verfolgen vermag, und 
so üben diese Leute ungestraft einen oft gräßlichen Terroris- 
mus aus. Es ist sehr schwer, solcher Familiengifte habhaft 
zu werden. Denn zunächst werden diese Gifte nicht vor- 
rätig gehalten, sondern zum bestimmten Zweck immer be- 
sonders hergestellt. Außerdem geben auch überführte Gift- 
mörder ihr Familiengift nicht preis, selbst wenn ihnen Straf- 
erlaß oder andere Belohnung in Aussicht gestellt wird. 


212 


Kleine Nachrichten. 





Gewöhnlich nennen sie bereitwillig eine'Anzahl Pflanzen, die 
das Gift enthalten sollen, zeigen auch selbst die Pflanzen, 
aber diese entpuppen sich gewöhnlich als harmlos. Gleich- 
falls zu Vergiftungszwecken wird hier ein auf Gräsern ver- 
kapseltes Gewebe (wohl eine Puppe) benutzt, dessen Genuß 
selbst erwachsenes weidendes Großvieh sofort tötet. Dieses 
Gespinst erscheint hier gegen Ende der Regenzeit, etwa im 
Februar bis März. Endlich erwähnt Nigmann, daß die 
Wangoni und benachbarte Stämme sich vielfach des Leichen- 
giftes bedienen. Dieses wird auf Hunde übergeimpft, der 
abgekratzte Schorf wird aufgelöst, und damit werden dann 
Speer- und Pfeilspitzen bestrichen. Ebenso wird das schlafende 
Opfer durch Impfung umgebracht. 


— Das Bekanntwerden, wenn auch nicht gerade die Ent- 
deckung, eines Heiligen für den Schweizerkäse, San 
Lucio, verdanken wir dem um die Hagiographie vielfach 
verdienten Baseler Professor E. A. Stückelberg (Arch. f. 
Religionswissenschaft 1910, 8.332). Das einsame Wallfahrts- 
kirchlein dieses Heiligen liegt 1545 m hoch auf einer Paßhöhe 
zwischen dem Kanton Tessin und Italien, zwischen Val Colla 
und Val Cavargna. Mit dem Namen Lueius, den verschiedene 
Heilige führen, hat der Käseheilige nichts zu tun; er ist viel- 
mehr ein Hugo bzw. Uguccio gewesen, woraus Lucio entstanden. 
Als Schutzpatron der Älpler erscheint er, ähnlich wie Sankt 
Wendelin, umgeben von Vieh seit dem 13. Jahrhundert, und 
seit dem 15. Jahrhundert findet sich ausnahmlos auf allen 
seinen vielen von Stückelberg untersuchten Bildern als Attribut 
der breite, scheibenförmige Schweizerkäse. Auf 40 authen- 
tischen Bildern steht er da mit dem Schweizerkäse im Arme, 
den er meistens mit einem Messer anschneidet, und von dem 
er ein Stück den zu ihm Bittenden spendet. So ist er Patron 
der Käse erzeugenden Sennen und der Alpwirtschaft. Der 
Heilige hat im 12. Jahrhundert gelebt, und an seinem Grabe 
geschehen Wunder. Noch jetzt ziehen jährlich 1500 Wall- 
fahrer zu seinem oben bezeichneten kleinen Heiligtum auf 
sehr beschwerlichem Wege. 


— Volkskunde der Buren kann man eine große Ab- 
handlung betiteln, „Die Wurzeln der kapholländischen Volks- 
überlieferungen“, welche als Supplement zum Internationalen 
Archiv für Ethnographie (Leiden 1910, E. J. Brill) erschienen 
ist. Der Verfasser, F. T. Schonken, ein Kapländer, ist leider 
vor der Veröffentlichung gestorben, die jetzt Prof. E. Mogk 
in Leipzig besorgt hat. Die Arbeit ist deshalb von Belang, 
weil sie uns zeigt, einmal, was sich im Verlauf von einigen 
Jahrhunderten unter den Ansiedlern noch von holländischen 
Überlieferungen erhalten hat, dann, wie der neue Lebensraum 
wirkte und was für Einflüsse die fremden Völker als Nach- 
barn ausübten. Dabei ist zu beachten, daß die heutigen 
Buren selbst ein stark mit deutschen, französischen und eng- 
lischen Elementen versetztes Volk sind, und daß daher mehr 
oder minder diese alle sich volkskundlich bemerkbar machen. 
Mancherlei ist auch durch hottentottische oder buschmännische, 
selbst kaffrische Erzählungen (Tierfabeln) beeinflußt, Haus- 
mittel wurden von diesen übernommen, aber die Sprach- 
schwierigkeiten setzten hier eine Grenze. Auch die zahlreich 
ins Kapland eingewanderten malaio-portugiesischen Völker 
trugen mancherlei zur Volkskunde der Buren bei, deren 
Sprache etwa 100 von diesen stammende Lehnwörter, die 
meist auf das häusliche Leben sich beziehen, enthält, was 
sich daraus erklärt, daß die Kapmalaien als Sklaven gehalten 
wurden. 

Vorherrschend ist natürlich das aus der alten Heimat 
Bewahrte, fast das ganze Gebiet von Sitte und Brauch, der weit- 
aus größte Teil geistiger und die kleinere Hälfte der mate- 
riellen Kultur. Auf dem neuen Boden, aus dem Milieu, ist 
dagegen der größte Teil der materiellen Kultur (Wohnung 
und Wirtschaft) erwachsen, aber weit weniger von der 
geistigen Kultur (Dichtung usw.) und noch weniger von der 
Sitte. Unter dem Einflusse der Mutter hat die Kinderstube 
manches Alte aus der Heimat gut bewahrt, und wir hören 
da Abzählweisen oder, mit der gleichen Melodie wie bei uns 
in Deutschland, das Liedcehen: Taler, Taler, du mußt wandern 
(Daler, daler gij moet wandlen). 


— Der italienische Anthropologe Ridolfo Livi macht 
(Bull. Soc. d’Anthropologie 1909, p. 438) auf einen bisher 
übersehenen Faktor der Völkermischung aufmerksam, welcher 
namentlich für die anthropologische Gestaltung der Be- 
völkerung Italiens von Wichtigkeit ist. Gegenüber den 
Mischungen, die durch Völkerwanderungen, Kolonisationen usw. 
ganz offen zur Konstituierung derselben beitrugen, vollzog 


sich mehr heimlich, aber sicher und langsam die Bei- 
mischung von Sklavenblut in vielen Teilen Italiens. 
Brachykephale Inseln inmitten einer dolichokephalen Be- 
völkerung, blonde Menschen zwischen braunen, die weder 
historisch noch sprachlich erklärbar sind, werden von Livi 
auf Nachkommenschaft der noch durch das ganze Mittel- 
alter in Italien blühenden Sklaverei zurückgeführt. Von den 
Einwanderungen und Beimischungen keltischen, langobardi- 
schen, normännischen, sarazenischen Bluteshat man viel geredet, 
aber das von der Sklavenbevölkerung stammende übersehen. 
Von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts war 
die Sklaveneinfuhr in Italien sehr lebhaft, und es wurden 
namentlich weibliche Sklaven eingeführt. Von den venezia- 
nischen und genuesischen Besitzungen am Schwarzen Meer 
und der Krimküste, von Kaffa (von dem aus jener Zeit der 
Name Kaviar stammt), aber auch aus Afrika kamen sie und 
in Venedig, Florenz, Lucca, Pisa, Genua waren fast durchweg 
keine heimischen Dienstboten, sondern Sklaven in den 
Haushaltungen beschäftigt. Nicht nur die Reichen, sondern 
jede bürgerliche Familie kaufte sich namentlich weibliche 
Sklaven. Die Einfuhr in Venedig allein betrug damals, wie 
sich feststellen ließ, jährlich nicht weniger als 10000. Dort 
war allerdings die Einfuhr am stärksten, aber auch kleine 
Städte hatten Sklaven. 

Die Benutzung der Sklavinnen als Kebsweiber war da- 
mals eine allgemeine Sache, und aus einem Register von 
Lucca aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts ist festgestellt 
worden, daß ein Drittel der dortigen Kinder Sklavinnen zu 
Müttern hatte. Die nach Venedig gebrachten Sklaven, vom 
Schwarzen Meer, werden in den Listen als „Tartaren“ auf- 
geführt, worunter man verschiedene dort ansässige mongo- 
lische Völkerschaften zu verstehen hat. In einem Florentiner 
Register jener Zeit werden Sklaven mit breitem, plattem 
Gesicht, stumpfer Nase, gelber Gesichtsfarbe — also von 
mongolischem Typus — oft erwähnt. Und die Nachkommen 
dieser Sklaven haben bis heute diese Züge, namentlich im 
Venetianischen, noch fortgepflanzt. 

Ein anderer Herd, in welchem anthropologisch das 
Sklavenblut fortbesteht, ist Sizilien, wo bis in das 17. Jahr- 
hundert die Sklaverei andauerte. Noch 1812, also vor hundert 
Jahren, ist ein Sklave in Palermo nachweisbar, wofür Livi 
die Urkunden mitteilt! Dort gab es im Jahre 1565 noch 
etwa 1300 Sklaven, die Hälfte Weiber, unter 40000 Ein- 
wohnern, und da in einer Urkunde auch die Hautfarbe von 
456 Sklaven angegeben wird, so erfahren wir, daß unter 
diesen sich 115 olivenfarbige und 224, beinahe die Hälfte, 
schwarze befanden, der Rest war weiß. Und die Schwarzen 
stammten aus Bornu, waren also echte Neger. Ganz ge- 
wöhnlich war es, den Sklavenkindern den Namen der Familie, 
der sie gehörten, zu erteilen, wie überhaupt das Los der 
Sklaven milde war. 

Auf solche Beimischungen führt Livi auch die Ver- 
schiedenheit der sizilianischen Typen zurück, namentlich die 
nicht seltenen negroiden Schädel, die erst kürzlich von 
jener Insel Giuffrida Ruggeri in L’Anthropologie beschrieb. 

Auch auf ähnliche Verhältnisse in den Mittelmeerland- 
schaften Frankreichs und in Spanien, wo gleichfalls starke 
Sklaveneinfuhr im Mittelalter herrschte und Vermischungen 
eintraten, weist Livi hin. i A. 


— Ein weltverlorenes Eiland war bis vor wenigen Jahren 
die Hatterasinsel, die sich mit anderen schmalen Sand- 
inseln vor der Küste Nordkarolinas hinzieht, von dieser durch 
den breiten Pamplicosund getrennt. Ihre Bewohner waren 
von der Außenwelt unberührt geblieben und lebten noch so 
ziemlich unter denselben Verhältnissen, wie ihre Voreltern 
vor drei Jahrhunderten. Das gibt sich auch, wie Collier 
Cobb im „University of Carolina Magazine“ ausführt, in 
ihrer Umgangssprache kund, die gewisse Wörter und Aus- 
drücke in dem Binne gebraucht, wie es im alten Englisch 
üblich war, heute aber wohl nirgends mehr in den Ver- 
einigten Staaten. So wird das Zeitwort to travel im Sinne 
von „gehen“, im Gegensatz zu jeder anderen Art der Fort- 
bewegung, gebraucht. Acre bedeutet furlong = Y, Meile; 
country bedeutet das gegenüberliegende Festland. To travel 
wird in dem angegebenen Sinne noch an einigen entlegenen 
Punkten der Britischen Inseln angewendet. Alte englische 
Melodien werden auch noch auf der Hatterasinsel angetroffen, 
obgleich die Gesänge der Mütter und Großmütter von den 
Töchtern schon fast vergessen sind. Cobb meint, daß jene 
sprachlichen Überlebsel sich aus Schiffbrüchen erklären, 
die hier 1558 und 1590 stattgefunden haben. Seit etwa zehn 
Jahren aber wird diese Insel häufig besucht, und das Alte 
verschwindet nun schnell. 








Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unn VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 











Bd. XCVIII. Nr. 14. 








BRAUNSCHWEIG. 


Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 








13. Oktober 1910, 








Der Kurdenstamm Manggur. 


Von allen kurdischen Stämmen Persiens und der 
Türkei ist der Stamm Manggur darum von größtem Inter- 
esse — insbesondere auch für den Ethnologen — weil 
er seine Eigenart, seine Sitten und Gebräuche treu be- 
wahrt hat, obwohl er seit Jahrhunderten schon fremder 
Herrschaft unterworfen und fremdem Einfluß ausgesetzt 
gewesen ist. Die Manggur sind der tapferste Stamm. Die 
Perser und Türken haben es wiederholt erfahren, aber auch 
in Kurdistan selbst wird das voll anerkannt: „tapfer wie 
ein Manggur“ ist ein verbreitetes Wort, und jeder damit 
Bedachte ist stolz. 

Die Manggur sind wohlgebaute und kräftige Ge- 
stalten, von einer Hautfarbe, die heller ist als die 
ihrer kurdischen Nachbarn im Süden und Norden, die 
einen recht bräunlichen Teint haben. Im übrigen unter- 
scheiden sie sich kaum vom allgemeinen kurdischen Typus. 
Ihre Wohnsitze beginnen unmittelbar südlich von der 
Stadt Saudschbulagh, die der Hauptsitz der Mukrikurden 
ist, und erstrecken sich bis zum Wesneh-Gebirgszuge, 
einer hohen Kette, die den weitaus größten Teil des Jahres 
mit Schnee bedeckt ist. Ferner grenzt im Westen ihr 
Gebiet an die Sitze des Stammes Mammasch, den Schau- 
platz der persisch-türkischen Grenzstreitigkeiten. Die 
Manggur sprechen einen kurdischen Dialekt, der dem der 
Mukrikurden sehr nahe steht, jedoch weicher und ange- 
nehmer klingt und sich von dem Einflusse der türkischen 
‚und arabischen Sprache fast ganz freigehalten hat. 
Einzelne Worte klingen an das Armenische an, und 
darauf fußend, haben die Armenier auch die Manggur als 
Verwandte in Anspruch nehmen wollen und behaupten 
nun, daß die Manggur vor geraumer Zeit von dem 
armenischen Hochlande ausgewandert seien und sich an 
ihren jetzigen Wohnsitzen niedergelassen hätten. Das 
ist indessen reine Phantasie und durch nichts zu er- 
weisen. Die Manggur selbst glauben wieder, von dem 
durch Firdusis Heldengesänge bekannten iranischen 
Heros Rustem abzustammen. Aber auch das ist nur 
eine Sage. 

Vor etwa 70 Jahren bildeten alle Manggur nur 
einen Stamm unter einem einzigen Kaderweschi (Häupt- 
ling), Bapir Agha. Dieser hatte 21 Söhne. Noch zu 
seinen Lebzeiten teilte er alle zu seiner Herrschaft ge- 
hörenden Dörfer unter sie, und so ist heute der Manggur- 
stamm in 21 Unterstämme geteilt, über deren jedem 
ein Kaderweschi herrscht. Der Oberhäuptling, der über 
diesen 21 Kaderweschis steht, führt den Titel Mezin 
(Großherr). Die persische Regierung hält sich aber für ihre 
Steuern nur an die 21 Kaderweschis, deren jeder, ob er 
nun reich oder arm geworden ist, die gleiche Summe ab- 
zuliefern hat. 


Globus XCVIII. Nr. 14. 


Von der Zeit der Seffawiden-Dynastie an haben die 
Manggur der persischen Regierung nicht wenig zu schaffen 
gemacht. Sich den Stamm mit Waffengewalt zu unter- 
werfen, war die Regierung zu schwach, und so versuchte 
sie mit List ihren Zweck zu erreichen. Um einen Begriff 
von den angewandten Methoden zu geben, möchte ich kurz 
die Geschichte des Stammes während des 19. Jahrhunderts 
erzählen. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts lud, im Auf- 
trage der persischen Regierung, Ahmed Khan von dem 
türkischen Stamme der Mughadem den Vater des schon ge- 
nannten Bapir Agha mit seiner Verwandtschaft und seinen 
Reitern nach Meragha (in der Nähe des Urmiasees) zu 
einer Hochzeit ein. Der Manggurhäuptling folgte der Ein- 
ladung und erschien dort am festgesetzten Tage mit un- 
gefähr 200 Reitern, wurde festlich aufgenommen und 
mit seinen Begleitern in einer Anzahl von Familien unter- 
gebracht. In der Nacht aber wurden alle Manggur über- 
fallen, der Häuptling selbst sowie der größte Teil seiner 
Begleiter getötet. Nur sehr wenige entrannen dem Blut- 
bade und brachten die Nachricht heim. Die Manggur 
waren zunächst nicht imstande, die Toten zu rächen, 
so groß ihr Wunsch auch war. Erst der Sohn des Bapir 
Agha, Hemseh Agha, konnte für die Ermordung seines 
Großvaters Vergeltung üben. Er setzte sich mit dem 
angesehenen Scheich Obaidulla in Verbindung und plante 
nichts Geringeres als einen Feldzug gegen Persien. 1880 
schlug er, zusammen mit dem Sohne Obaidullas, Abdul 
Kadir (jetzt Mitglied des Senates in Konstantinopel), los. 
Die Absicht der beiden ging dahin, Persien zu erobern 
und Seid Kadir zum Schah von Persien zu machen. Mit 
beispielloser Grausamkeit fielen die Manggur in die 
Provinz Azerbaidschan ein, raubten, plünderten und 
töteten alles, was ihnen in die Hände fiel. In kurzer 
Zeit waren die Städte Mianduab und Binab in ihrer Hand 
und die türkischen Stämme jener Gegend dezimiert. Es 
war eine späte, aber furchtbare Rache. Persien stand 
vor einem Aufstande ähnlich den Afghanenunruhen 
zur Zeit der Seffawiden. Nasr-ed-din Schah schickte 
schleunigst alle verfügbaren Truppen gegen die Kurden, 
nicht aber diese, sondern der Unfriede im eigenen Lager 
der Kurden rettete Persien. Hemseh Agha sah sich ge- 
zwungen, sich in die Berge zurückzuziehen, ohne seine 
Pläne jedoch völlig aufzugeben. Ein Jahr darauf ließ 
der Gouverneur von Saudschbulagh, Amir Nizami Gerussi, 
früher persischer Gesandter in Paris und in anderen 
Hauptstädten Europas, den Manggurhäuptling zu sich 
kommen, damit er mit Persien seinen Frieden schlösse. 
Der Gouverneur leistete einen Eid auf den Koran, daß 
nicht ein Haar auf dem Haupte Hemseh Aghas gekrümmt 
werden solle, solange er, Amir Nizami Gerussi, unter den 


28 


214 


Kasi: Der Kurdenstamm Manggur. 





Menschen lebe und diese Seele im Leibe habe, wobei er 
auf seine Brust (nach orientalischer Anschauung der Sitz 
der Seele) zeigte. Unter seinem Rocke aber trug Amir 
Nizami Gerussi einen Sperling. Nachdem daraufhin 
Hemseh Agha seinerseits geschworen hatte, Frieden zu 
halten, tötete Amir Nizami Gerussi aber zunächst den 
Sperling, der ihm die Last des Meineides abnehmen sollte, 
und gab dann den Befehl, den Häuptling und seine 
Gefolgschaft im Zelte zu überfallen und niederzumachen. 
So geschah es. Hemseh Aghas Kopf ward als ein Ge- 
schenk für den Schah nach Teheran geschickt. In Kurdi- 
stan aber lebt das Andenken an diesen Helden fort, und 
sein trauriges Schicksal wird heute noch von den kurdi- 
schen Sängern gesungen. „Baitti Hemseh Agha“ läßt das 
Herz jedes Kurden höher schlagen. 

Oberhäuptling des Stammes ist heute Bais Agha. 
Während der persisch-türkischen Grenzstreitigkeiten ist 


Abb.1. Junger Kaderweschi (links) mit Dienern. 


er vor fünf Jahren zu den Türken übergegangen und 
empfing den Titel Pascha. 

Die Manggur sind bis auf den heutigen Tag Nomaden 
geblieben und wandern innerhalb ihrer Grenzen ständig 
umher. Den Winter über wohnen sie in Dörfern, die aus er- 
bärmlichen Hütten bestehen, im Sommer in Zelten zwischen 





schneebedeckten Gipfeln, wo sie über große und nahr- 
hafte Weiden für ihre zahlreichen Schaf- und anderen 
Herden verfügen. Ihr Gebiet ist der schönste Teil Kurdi- 
stans und hält einen Vergleich mit den Alpen wohl aus, 
Die herrliche Natur hält die Leute frisch und gesund, in 
großer Rüstigkeit erreichen viele ein hohes Alter. Sie 
treiben nur ganz ausnahmsweise Ackerbau und in sehr 
geringem Umfange. Sie wären auch zu ausgedehnterer 
Agrikultur kaum fähig; denn erstens gedeiht das Getreide 
in diesen Lagen und auf diesem Boden nicht besonders, 
und zweitens läßt ihre Viehwirtschaft ihnen auch kaum 
zu solchen größeren Arbeiten Zeit. Der ganze Sommer 
vergeht damit, daß die Herden auf die Weiden geführt 
werden und zugleich Futter für die Tiere zum Winter 
aufgestapelt wird. Im Frühling und Herbst bringen sie 
Gemüse, Milch und Holzkohlen nach der Stadt und kaufen 
von dem Ertrage sich Stoffe und Lebensmittel, wie 
sie nur in der Stadt zu haben sind, die 
etwas Abwechselung in ihr bescheidenes 
Menu bringen sollen. Die Stammes- 
verfassung ist noch ungelockert, jeden- 
falls viel kräftiger als bei allen an- 
deren kurdischen Stämmen. Wie schon 
gesagt, steht über den 21 Unterhäupt- 
lingen, Kaderweschis, ein Oberhäupt- 
ling mit dem Titel Mezin. Dieser muß 
zu den ältesten und vornehmsten Aghas 
gehören. Er wird nicht gewählt, son- 
dern nominell von der persischen bzw. 
türkischen Regierung ernannt, hat aber 
nicht die geringste Macht, wenn er 
nicht von den Aghas anerkannt wird. 
Als Anerkennung des neu bestimmten 
Mezin gilt es, wenn die Aghas ihn be- 
suchen und ihm die durch die Sitte 
vorgeschriebenen Geschenke über- 
bringen. Die Stellung des Häuptlings 
ist ziemlich hoch und verantwortungs- 
voll: er ist der Regierung für die 
richtige Ablieferung der Steuern, für 
die Verfolgung von Verbrechen, für die 
Ruhe in seinem Gebiete verantwort- 
lich. Er entscheidet für seinen Stamm 
über Krieg und Frieden mit Nachbar- 
stämmen, führt eventuell auch einen 
Aufstand gegen die Regierung. 

Der Höhepunkt des Lebens eines 
Manggur ist der Kampf. Schon der 
junge Knabe muß reiten und schießen 
lernen. Im Alter von etwa 10 Jahren 
setzt man ihn auf ein Pferd, bindet 
ihn am Sattel fest und läßt das Pferd 
dann laufen. Das stürmt nun davon, 
jagt hierhin und dorthin, bis es schließ- 
lich ermüdet stehen bleibt. Die ver- 
folgenden Reiter kommen heran und 
nehmen den Knaben herunter. So geht 
es eine Reihe von Tagen hintereinander, 
bis der Junge seine Angst verliert und 
die Not ihn gelehrt hat, sich auf dem 
Pferde zu halten und das Pferd zu 
beherrschen. Wenn es in den Krieg 
geht, fechten die Bauern, die in ihrer 
Freiheit zugunsten ihres Herrn sehr beschränkt sind, 
unter ihrem Agha. Ihre Bewaffnung bilden Gewehre, 
meistens deutsche Mauser, Revolver und Dolche. Jeder 
trägt seine Waffen immer bei sich und drei bis vier 
Patronengürtel um den Leib (vgl. Abb. 1). An den 
Gefechten nehmen zuweilen selbst die Frauen teil, die 


Halbfaß: Die Ausnutzung der Wasserkräfte im Auslande. 


überhaupt bei diesem Stamm eine viel freiere Stellung 
haben, als es sonst in islamischen Ländern üblich ist, 
und die auch weder im Harem 
leben, noch einen Schleier tragen. 
Sehr häufig kommt es bei Streitig- 
keiten zwischen den Stämmen zu 
Zweikämpfen hervorragender Per- 
sogen. So war es bei einem Kriege 
zwischen den Manggur und Mam- 
masch der Fall. Beide Führer, 
Häuptlinge ihrer Stämme, traten 
sich gegenüber, fielen aber beide, 
und der Kampf blieb für die 
Stämme somit unentschieden. Wer 
im Kampfe fällt, erhält ein prunk- 
volles Begräbnis, das in seinen 
Einzelheiten hier nicht geschildert 
werden soll. Hingegen wird ein 
Todesfall infolge von Krankheit 
oder Alter gar nicht beachtet. Nicht 
einmal die Frauen des Verstorbenen 
legen die schwarze Trauerkleidung 
an, und das Begräbnis verläuft 
ohne Feier. Die Parallelen, die das 
altgermanische Leben dazu bietet, 
haben auf mich einen starken Ein- 
druck gemacht. 

Ihrer Religion nach sind die 
Manggur sehr strenggläubige An- 
hänger der sunnitischen Lehre, 
haben aber auch dem Koran gegen- 
über sich ihre eigenartigen Sitten 
bewahrt. Erwähnt wurde schon, 
daß die Frauen keinen Schleier 
tragen, und auch kein Harem exi- 
stier. Auch im Rechtswesen ist 
die Eigenart dieses Volkes aus- 
geprägter als sonst im Islam. Das 
mohammedanische Gesetz, das Sche- 
riat, ist hier vom Gewohnheitsrecht, 
dem Urf, nahezu ganz verdrängt. 
Statt zum Kadi oder Mullah zu 
gehen, wählen die streitenden Par- 
teien sich einen Schiedsrichter, einen 
Agha oder sonst einen angesehenen 
älteren Mann. Sachen, die vor ihm 
nicht geschlichtet werden, kommen 
vor den Häuptling, dessen Urteil 
abschließend ist. Dieser ist auch 
Richter in Mordprozessen. — Obwohl 
Nomaden, haben die Manggur, wie die Kurden überhaupt, 
ein reges Interesse für Wissenschaft und besitzen ver- 


Abb. 2. 


Die Ausnutzung der Wasserkräfte im Auslande. 


Mehreren Vorträgen, die Direktionsrat Dr. Cassimir in 
Ministerialbesprechungen desK. Bayerischen Staatsministeriums 
für Verkehrsangelegenheiten jüngst gehalten hat, entnehmen 
wir folgende Angaben über die Entwickelung der Ausnutzung 
der Wasserkräfte im Auslande nach der technischen, 
wirtschaftlichen und rechtlichen Seite. 

In Frankreich, das zuerst den vielgebrauchten Aus- 
druck „weiße Kohle“, la houille blanche, geprägt hat, hat sich 
™mamentlich im Südosten und Süden die Ausnutzung der 
Wasserkräfte bedeutend entwickelt, die treibende Kraft dieser 
Entwickelung bilden große Elektrizitätsgesellschaften, deren 
Verteilungsnetze vielfach zusammenhängen. Die &Société 
d’Energie Electrique du Littoral Mediterraneen mit dem Sitz 
in Marseille, die größte von ihnen, verfügt über ein Leitungs- 
netz von 1250 km und ein Betriebskapital von 70 Mill. Fran- 
ken, sie versorgte 1906 350 Gemeinden mit nahe 3 Mill. Ein- 








215 


schiedene gelehrte Schulen, in denen guter Unterricht 
in den mohammedanischen Wissenschaften erteilt wird. 


Bürger von Manggurabstammung aus Saudschbulagh. 


Es ist ein frisches und unverbrauchtes Volk, das noch eine 
Zukunft vorsichhat. Mirsa Mohammed Djewad Kasi. 


wohnern mit Kraft, von welcher 122 500 PS Wasser- und nur 
29000 Dampfkräfte sind. Für die Chemins de fer du Midi 
de la France baut jetzt der Staat Wasserkraftwerke für die 
Erzeugung der zum Betriebe von 400 km Bahnlänge erforder- 
lichen elektrischen Energie (50000 PS). Die Paris- Lyon 
Mittelmeereisenbahn beabsichtigt, ihre sämtlichen Linien an 
das Leitungsnetz der oben erwähnten Mittelmeer-Elektrizitäts- 
gesellschaft anzuschließen. — Im Gegensatz zu Frankreich 
dienen in der Schweiz häufig Seen als Kraftspeicher für 
elektrische Werke. So die Hochdruckanlage von Vouvry am 
Genfersee, die in einer einzigen Stufe ein Gefälle von 935 m 
ausnutzt; als Betriebswasser dient ihr der Lac Tannay, der 
durch Verbauung seiner unterirdischen Abflüsse einen Stau- 
weiher von 5 Mill. cbm Inhalt bildet. Das neue Stauwerk im 
Kanton Glarus nutzt den Klöntaler See aus, welcher mittels 
eines Staudammes um 28m gehoben wurde und dadurch 
einen Stauraum von 45 Mill. cbm erhalten hat. Das Absatz- 
gebiet der Werke erstreckt sich über die Kantone Aargau, 


28* 


216 


Passarge: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes. 





Zürich, Glarus, Schaffhausen, Thurgau, St. Gallen, Schwyz. 
Die schweizerischen Bundesbahnen verfügen jetzt über 
70000 PS, welche durch die Aufstauung des Ritomsees auf 
nahezu 100000 PS gesteigert werden können. Ein inter- 
essantes Bild gewerblicher Entwickelung auf dem platten 
Lande bietet das Wasserkraftwerk von La Dernier bei Vallorbe 
in der Nähe des Lac de Joux im Kanton Waadt dar, es ver- 
sorgt über 200 sehr kleine schweizerische Gemeinden mit 
Kraft und Licht. Im Kanton Wallis mit 114000 Einwohnern 
betrug die Zahl der von der Industrie benutzten hydraulischen 
Energie im Jahre 1895 897 PS, 1900 8433 PS, 1906 29 930 PS 
und 1909 schon 61350 PS. Die Kantone Zürich und Schaff- 
hausen bauen gemeinschaftlich bei Rheinfelden ein hydrau- 
lisches Kraftwerk, das sämtliche Gemeinden und Kantons- 
einwohner mit Licht und Kraft versorgen soll. Im all- 
gemeinen ist die Schweiz auch in der Erfüllung sozialer 
Aufgaben durch den staatlichen Ausbau geeigneter Wasser- 
kräfte und möglichst weite Verbreitung billiger elektrischer 
Energie in Europa am weitesten vorangeschritten. 

In Italien besitzt die Elektrizitätsgesellschaft Edison 
vier Kraftwerke bei Paderno, Zogno, Vigevano und Trezzo 
zusanımen mit einer Mindestleistung von 32100 P8; da aber 
der Bedarf von Mailand und Monza sich im Winter bis auf 
37000 PS steigert, sind weitere Wasserkraftanlagen von 
jener Gesellschaft projektiert worden. Weitere große Anlagen 
sind die der Städte Mailand, Turin, Genua und Venedig, von 
denen diejenige von Venedig ihre Zentrale 90km ent- 
fernt an der Cellina, einem Wildbach der Friauler Alpen, 
besitzt. Für die Bedürfnisse des platten Landes sorgt die 
Società Lombarda per Distribuzione di Energia Elettrica in 
ihren Zentralen bei Vizzola, Turbigo und Brusio. Letztere 
benutzt den Poschiavo-See als Kraftspeicher, den sie bis 7,4m 
unter den Normalspiegel senkt, sie erzielt eine Kraftleistung 
von 96 000 PS, welche sie auf 170km Entfernung längs des 
linken Ufers der Adca und des östlichen Ufers des Comer- 
sees zur Versorgung des nordwestlichen Teiles der Umgegend 
von Mailand fortleitet. Diese Kraftanlagen versorgen ein 
Gebiet von über 2000 qkm zwischen Varese, Mailand und dem 
schweizerischen Kanton Tessin. Die bedeutendste Hochdruck- 
anlage Italiens dürfte das Adamellokraftwerk sein, das den 
Ausfluß des bis zu 25m unter seinen Normalstand abgesenkten 
Lago d’Arno benutzt, um in einer einzigen Gefällstufe von 
930 m 28000 PS zu erzielen. 

Auch auf der eigentlichen Halbinsel Italien sind zahl- 
reiche Kraftanlagen teils schon in Betrieb, teils im Bau be- 
griffen, die zum nicht geringen Teil der bevorstehenden 
Elektrisierung der italienischen Staatsbahnen dienen sollen, so 
daß dieses Land, das bisher jährlich etwa für 150 Mill. Mark 
an England für Steinkohlen bezahlen mußte, seinem Ziele, 
durch die Verwertung der in den Wasserkräften sich bietenden 
natürlichen Schätze des Landes sich unabhängig von dem 
Kohlenbezug aus dem Auslande zu machen, mit Riesen- 
schritten entgegengeht. A 

Die Flüsse und Ströme Norwegens eignen sich sehr 
vorteilhaft zur Kraftausnutzung, sie sind wasserreich und 
haben ein großes Gefälle, das an vielen Stellen schon von 
Natur in einzelne Stufen vereinigt wird. Die zahlreich vor- 
handenen Seen können zu Speicherbecken ausgenutzt werden, 
um die sehr ungleichmäßige Wasserführung zu paralysieren. 
Dennoch hielt sich die Ausnutzung der Wasserkraft bis vor 
kurzem in sehr bescheidenen Grenzen, weil das Land äußerst 
dünn bevölkert ist (auf I qkm treffen im Durchschnitt 
nicht mehr als sieben Menschen). Erst seitdem man im- 
stande ist, aus der atmosphärischen Luft Stickstoff zu ge- 
winnen, ist die Nachfrage nach Kraft gewaltig gesteigert. 


Die größten Kraftanlagen finden sich am Skienfluß, in 
dessen Flußgebiet nicht weniger als 60 Seen mit einem 
Flächenraum von rund 500qkm liegen. Die Kraftanlage 
Svälgfos für die erste Salpeterfabrik bei Notodden verfügt 
über 40000 PS; die noch im Bau begriffene an dem be- 
rühmten Wasserfall Rjukanfos nutzt die Wassermasse des 
Maanflusses aus, die in zwei Absätzen von 100 und 20m 
herabstürzt und bei der Schneeschmelze bis zu 300 cbm/sec 
anwächst. Mit der gewaltigen Kraftmenge von rund 230000 P8 
wird dieses Werk bei weitem an der Spitze aller Kreft- 
anlagen Europas stehen. Da das Land bei seiner geringen 
Bevölkerung eine Verwertung der Wasserkraft für sich allein 
nicht ausnützen kann, besteht die Gefahr, daß das aus- 
ländische Kapital sich ihrer mehr und mehr bemächtigt. Der 
norwegische Staat sucht durch geeignete Gesetze der Aus- 
beutung der Naturkräfte durch Auswärtige möglichst ent- 
gegenzuarbeiten; es ist dies aber recht schwierig, wenn 
man das allgemeine Wohl des Landes dabei nicht aus den 
Augen verlieren will. 

Auch in Schweden, das jährlich etwa für 70 Mill. 
Mark Kohlen aus England bezieht, steht das nationale Moment 
bei der Behandlung der Frage über die Ausnutzung der 
Wasserkräfte im Vordergrunde. Der Staat hat eine Reihe 
bedeutender Wasserkräfte, vor allem die Wasserfälle von 
Trollhättan, von den Privateigentümern gekauft, in erster 
Linie, um sie für den elektrischen Betrieb seiner Eisenbahnen 
zu verwenden, sodann, um elektrische Kraft an Gemeinden 
und sonstige Interessenten zu verpachten. Die in nächster 
Zeit fertige Anlage bei Trollhättan repräsentiert 80000 PS, 
doch sind bedeutende Erweiterungen in Aussicht, da man 
mit dem Plan umgeht, Kopenhagen mit elektrischer Energie 
aus diesem Werke zu versorgen. Andere große Werke werden 
demnächst im nördlichen Schweden, in Lappland, ausgebaut 
werden, teils zu Beleuchtungszwecken, teils zum Betrieb auf 
der Ofotenbahn von Kiruna bis zur schwedisch-norwegischen 
Grenze. 

In Österreich ist seit dem letzten Dezennium die Aus- 
nutzung der Wasserkräfte in ein lebhafteres Stadium getreten. 
Von größeren schon vollendeten Wasserkraftanlagen sind die 
Sillwerke der Stadt Innsbruck, wo bei einem Gefälle von 
187 m 13000 P8, die Etschwerke der Städte Meran und 
Bozen, wo 6000 PS, und die Schnalstalwerke derselben Städte, 
in denen 15000 PS bei 130 m Gefälle gewonnen werden, die 
Brennerwerke bei Matrei, das Kraftwerk bei Andelsbuch in 
Vorarlberg, das Kraftwerk Jajce an der Pliva in Bosnien zu 
nennen. Weit größereWerke sind in Aussicht genommen, von 
denen dasjenige am Millstättersee, das bedeutendste von ihnen, 
am meisten Staub aufgewirbelt hat und auch in dieser Zeit- 
schrift (Bd. 92, Nr. 21) von Prof. von Luschan einer be- 
sonderen kritischen Würdigung unterzogen wurde. Dieses 
und die anderen projektierten Werke sollen insbesondere der 
Elektrisierung der südlich von der Donau und westlich von 
Wien liegenden Staatsbahnlinien dienen, für welche seit 
dem Jahre 1907 eine besondere, der Eisenbahnbaudirektion 
in Wien angegliederte Studienabteilung existiert. Das erste 
Landeselektrizitätswerk mit gleichzeitiger Ausnutzung von 
Wasserkräften geht in Niederösterreich seiner Vollendung 
entgegen, welches Kronland frei über die fließenden Gewässer 
verfügen kann, während z. B. im Kronland Salzburg der 
Gesamtstaat Eigentümer ist. Die rechtlichen Verhältnisse 
der fließenden Gewässer sind in den einzelnen europäischen 
Staaten meist äußerst verwickelt; um ihre Kraft der Industrie, 
Landwirtschaft und überhaupt dem Gemeinwohl dienstbar zu 
machen, ist die Schaffung moderner Wassergesetze ein drin- 
gendes Bedürfnis. Halbfaß. 





Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes. 
Eine kritische Studie. 


Von S. Passarge. 


Während des Krieges mit den Hereros hat ein da- 
maliger Einjährig-Freiwilliger, Herr Michaelsen, in 
anerkennenswerter Weise Beobachtungen über eine An- 
zahl von Kalkpfannen im östlichen Damaraland ange- 
stellt trotz der sehr großen, durch Krieg und Krankheit 
verursachten Schwierigkeiten. Herr Michaelsen war zwar 
Student, hatte aber noch nie geologische Studien getrieben 
und war im geologischen Beobachten und in der Gesteins- 


kunde völlig Neuling. Um so anerkennenswerter sind 
seine Bemühungen. Die Vorstellungen, die er auf Grund, 
seiner Studien über die Entstehung der interessanten 
Kalkpfannen an Ort und Stelle gewonnen hat, waren 
etwas gewalttätiger Natur. Er hat sich einmal in einem 
Vortrage in München darüber ausgelassen. Wirbel- 
stürme hätten sie ausgekolkt und die Kalksteinblöcke 
herausgeschleudert. Diese Tatsache ist deshalb wichtig, 


Passarge: 


Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes. 


217 





weil aus ihr hervorgeht, daß Herr Michaelsen die 
in seiner jüngst erschienenen Studie!) entwickelten 
Ansichten nicht an Ort und Stelle, sondern erst nach- 
träglich unter dem Einflusse seiner späteren geogra- 
phischen Studien gewonnen hat. Das erkennt man auch 
auf Schritt und Tritt in seinen hypothetischen Betrach- 
tungen. Um Herrn Michaelsens Arbeit richtig ein- 
schätzen zu können, muß man dieses wissen, denn es ist 
ja ganz verständlich, daß in der Erinnerung — nament- 
lich bei einem Laien — unter dem Einflusse theoretischer 
Studien sich die Beobachtungen verwischen, umgestaltet 
und umgedeutet werden, ohne daß es einem zum Bewußt- 
sein kommt. Sehen wir zu, was er beobachtet hat und 
wie er es verwertet! 


A. Positive Beobachtungen und Angaben. 

Nach Herrn Michaelsen nennen die Ansiedler mit Sand 
erfüllte Flußbetten Rivier, solche mit lehmigem Talboden 
aber Omuramba. Erstere kommen in der Regenzeit zu- 
weilen ab, letztere selten oder nie. Erstere sind im Süden, 
letztere im Norden zu finden. 


A. 





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Trümmer- Zone 
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im Rivier entspricht, mit glänzender, stellenweise wie 
mit Lack überzogener Oberfläche. „Diese Schicht setzte 
sich scheinbar unter dem Kalkrand fort.“ Am Fuße des 
Steilrandes lagen Schollen von Röhrenkalktuff. „Im 
Süden, Osten und Westen des Pfanneninnern trat eine 
schneeweiße harte Kalkkruste zutage, die ebenfalls unter 
die randlichen Ablagerungen untertauchte.“ Röhrenkalk- 
tuff liegt in Schollen und am Pfannenrand, nicht im 
Pfanneninnern. Zwei Brunnenlöcher zeigten unter dem 
Schlick (0,60 cm) weißen harten Kalk ohne Röhren (0,30), 
dann weichen feuchten Kalktuff mit kleinen Kalktrümmern 
(1,00 bzw. 1,50 m), schließlich in einem Brunnen dunkeln 
festen Kalksandstein, wie an der Oberfläche der Nordseite, 
in dem anderen Brunnen dagegen Granit. 

Zwischen dem dunkeln und hellen Kalk ist die Grenze 
scharf, also sind es zwei verschieden alte Ablagerungen. 
Der Pfannenrand ist ein 100 bis 150cm breiter Streif. 
Am Steilrand und auf der Oberfläche des Pfannenrandes 
bildet er eine zusammenhängende Schicht mit glänzend 
weißer knolliger Oberfläche. Die auflösende Wirkung 
des Regenwassers war mehrfach sichtbar. Nach außen hin 






Trümmer-Zone 
p, 















Die Kalkpfanne Okateitei. 


A Wie Michaelsen den Aufbau des Randes der Pfanne beschreibt. — B Wie Michaelsen den Aufbau des Randes der Pfanne zeichnet 
und hypothetisch verwertet. 


Die Kalkpfanne Okateitei liegt in einer Ebene 
roten Sandes mit schwachen Bodenschwellen. Der Weg 
erreicht ein Rivier, und beim Aufwärtsziehen treten 
eckige, scharfkantige Stücke eines blendend weißen 
Kalkes auf. Er war innen gelblich, außen mit Schichten 
harten Kalkes von Sinterstruktur überzogen. Je weiter 
Herr Michaelsen kam, um so zahlreicher wurden die 
Stücke dieses sowie eines dunkeln Kalksandsteines. Das 
Rivier erweiterte sich zu einer Kalkpfanne, d. h. einem 
flachen, fast runden Becken von etwa 400m Durch- 
messer. Im Innern liegt eine runde Vertiefung im Kalk, 
von einem senkrechten Steilrand umgeben. Der Rand 
fehlte nur an der Mündungsstelle des Riviers. Dort 
führte eine Sandböschung hinab. Der Steilrand hat 
1!/,m Höhe, das Pfanneninnere 200 m Durchmesser. 
In seiner tiefsten Region liegt eine Schicht grauschwarzen 
Schlickbodens voller Trockenrisse und Schlammschalen. 
Zwischen dem Schlickkuchen und dem Steilrand tritt 
ein etwa 100 m breiter Streif festen Gesteins zutage, 
der in den verschiedenen Teilen des Pfanneninnern 
eine gänzlich andere Beschaffenheit hat. Im Norden 
liegen Trümmer eines dunkeln Kalksandsteins, der dem 





1) H. Michaelsen, Die Kalkpfannen des östlichen Damara- 
landes. Eine geomorphologische Studie. Diss. d. Phil. Fak. 
d. Universität Berlin. Mitt. a. d. deutsch. Schutzgeb. 1910. 

Globus XCVILL. Nr. 14. 


löst sich der Kalk in eine Trümmerzone ganz auf. Auch 
der Steilrand besteht aus einer 1m mächtigen Ablage- 
rung von feuchtem Kalktuff mit Röhrenstruktur, der von 
einer harten Oberflächenbank von Röhrenkalk bedeckt 
wird. Diese muß 0,50m stark sein, da an anderer 
Stelle die gesamte Ablagerung auf 1,50m angegeben 
wird. Die harte Bank überragt den weichen Tuff und 
bricht in Schollen in das Pfanneninnere nieder. In der 
Umgebung der Pfannen findet sich weder Kalk noch Granit. 

Die Pfanne Okateitei ist diejenige, die Herr Michael- 
sen augenscheinlich am besten studiert hat, denn er 
beschreibt sie am eingehendsten. Die übrigen Pfannen 
haben im wesentlichen denselben Aufbau, alle sind 
von Sand umgeben, alle besitzen die Trümmerzone, ein 
Pfanneninneres und meist auch einen Steilrand aus 
Pfannenkalktuff. Im einzelnen sind natürlich indivi- 
duelle Verschiedenheiten nachweisbar. 

Im ganzen werden noch acht Pfannen kurz beschrie- 
ben, von einer, Otjikango, ein Reliefquadrant abgebildet, 
wie auch von Okateitei. Bezüglich dieser Pfanne sei auf 
das Original verwiesen. 


B. Hypothetische Folgerungen. 
Aus seinen Beobachtungen folgert Herr Michaelsen 
folgendes: 
29 


218 


Passarge: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes. 





Der Aufbau der Kalkpfannen. Die Umgebung 
ist roter Sand, das Grundgestein liegt anscheinend 
nirgends sehr tief unter den Pfannen. Eine dichtere 
Vegetation umgibt die Pfannen, die zum Teil aus hohen 
frisch grünen Anabäumen besteht. Nahe Beziehungen 
zwischen Kalkpfannen und Flußbetten sind oft vor- 
handen. Bald liegen sie in alten Flußbetten, oder ent- 
senden oder erhalten solche. Manchmal fehlt auch jede 
Beziehung. 

Der Pfannenrand löst sich nach außen in eine 
Trümmerzone auf, die aus weißem Sande mit Kalk- 
stücken besteht. Dieser Sand geht unter Abnahme der 
Kalkstücke nach Zahl und Größe nach kurzer Entfer- 
nung in den roten Sand über. „Daraus geht hervor, 
daß der Pfannenrand, der am Abfall eine Mäch- 
tigkeit von 2,0m über dem Pfannenboden hat, 
sich nach außen hin auskeilt.* 

Das ist die erste wichtige Hypothese Herrn Michaelsens. 

Der Pfannenkalktuff (c in dem abgebildeten Profil) 
besitzt Röhrenstruktur und seine 30 bis 40 cm dicke Ober- 
flächenbank — eine Kalkkrustenbildung — gleichfalls. 

Das Pfanneninnere bildet ein weicher, feuchter Kalk- 
tuff mit harter, weißer Oberflächenbank (b), der nur in 
Okateitei von dem Brunnenloch durchsunken war und etwa 
1,5 m Mächtigkeit besaß. Weder der Kalktuff noch seine 
Kruste besitzen Röhrenstruktur. Daraufhin stellt Herr 
Michaelsen seine zweite grundlegende Hypothese auf: 
Schicht b und c seien Faziesbildungen. 

Der dunkle Kalksandstein (a), den er mit dem Pfannen- 
sandstein des Chansefeldes vergleicht, ist nur in Owiko- 
korero und Okateitei gefunden worden. Er ist älter als 
der Kalktuff über ihm. 

Bezüglich des Alters der Kalkpfannen ist Herr 
Michaelsen auf Grund der Berichte der älteren Forscher 
von Galton bis Baines zu folgender Ansicht gelangt. Bis 
1850 herrschte ein regenreicheres Klima, die Kalkpfannen 
waren mit Teichen gefüllt, die Riviere kamen öfters 
ab und flossen tagelang. Zehn Jahre später haben 
wir fertige Kalkpfannen vor uns, da Chapman sie (1861) 
beschreibt. Daher stellt Herr Michaelsen seine dritte 
grundlegende Hypothese auf: Die Kalkpfannen sind 
in historischen Zeiten entstanden (d. h. zwischen 
1850 und 1860). Und auf dieser Hypothese baut er 
eine vierte auf: „Daß nämlich die Riviers unseres 
Gebietes derselben Feuchtigkeitsperiode ihre 
Entstehung verdanken wie die Kalkpfannen.“ 
Dagegen sind die Omurambabetten, die durch ihre große 
Breite und lehmige Ablagerungen sich auszeichnen, älter, 
nämlich diluvial. Sie sind aber einer späteren Trocken- 
periode fast gänzlich zum Opfer gefallen. „Nur wenige 
bevorzugte Stellen konnten ihren Charakter bis heute er- 
halten.“ 

Daraufhin stellt Herr Michaelsen seine fünfte grund- 
legende Hypothese auf: die Klima-Hypothese. Diese 
besagt: Auf die diluviale feuchte „Omurambaperiode“ 
folgte eine „Flugsandperiode“, in der der Flugsand im 
Süden alles verhüllte, während sich im Norden Reste der 
alten Landoberfläche erhalten haben. Darauf kam die 
feuchte „Rivierperiode“, in der sich Kalkpfannen und 
Riviere bildeten; seit 1850 hat wieder eine trockene 
Periode begonnen. Jetzt werden die Kalkpfannen und 
die Riviere wieder zerstört. „Wie lange wird es dauern, 
bis auch diese Zeugen einer einst besseren Zeit ver- 
schwunden sind.“ 

Nunmehr wirft Herr Michaelsen einen Blick auf die 
Kalkpfannen anderer Gebiete. Die des Chansefeldes seien 
älter. Ob in der Ähnlichkeit zwischen ihnen und den 
Pfannen des östlichen Damaralandes irgendwelche Be- 
ziehungen bestehen, stellt er dahin. Die Kalkpfannen 


der Südkalahari liegen im tiefen Sande, also, folgert er, 
sind sie jünger als der Sand, also gleichalterig mit denen 
des östlichen Damaralandes. 

Schließlich bringt Herr Michaelsen eine Erklärung 
des Phänomens, über die wir uns ganz kurz fassen 
können. Die Kalkpfannen sind zum Teil im Sande durch 
chemische Lösungen, die im Bereiche des Grundwassers 
den Sand verkitteten, entstanden. — Das ist der Kalk- 
sandstein a (Pfannensandstein) des Untergrundes. In 
einem Teich, der durch höher tretendes Grundwasser ge- 
bildet wurde, schlug sich dann über dem Sande der Kalk- 
tuff (b) des Pfanneninnern und -randes nieder. Daher 
keilt sich letzterer über dem Sande aus. Der Kalktuff des 
Pfannenrandes (c) und der des Pfanneninnern (b) sind 
Faziesbildungen in solchen Teichen der Rivierperiode; denn 
die Röhrenstruktur sei auf Schilfstengel zurückzuführen. 
Im Bereiche des Schilfes hätte sich der Kalk viel schneller 
chemisch aus dem Wasser abgeschieden als in dem Teich. 
Daher hätte sich ein hoher Rand gebildet, der mit steiler 
Böschung nach dem Innern der Pfanne abfiel. So wäre 
dann die Pfannenform eine primäre. Nach Trocken- 
legung hätte sich — also zwischen 1850 und 1860 — 
die Kalkkruste gebildet. Der Pfannenrand, der ursprüng- 
lich als steile Böschung sich herabgebogen habe, sei 
durch Zerstörung zurückgewichen, und zwar als senk- 
rechte Wand, da die Röhrenstruktur ein senkrechtes 
Abbrechen der harten Oberflächenkruste hervorruft. Die 
Kalkschollen wurden durch Insolation, Zerplatzen und 
Zerfall zerstört. Den Gedanken, daß der Röhrenkalktuff 
einst die Pfanne ausgefüllt habe und durch zoogene 
Erosion entfernt worden sei, weist er von der Hand. 
Die Röhrenkalkinsel in Owingi aber sei durch eine 
Quelle, wie die Tuffkegel im alten Lahontansee (Utah), ent- 
standen. 

C. Kritische Betrachtungen. 

Es wird genügen, einige Punkte, auf die es ganz be- 
sonders ankommt, herauszuheben. 

1. Die'‘Angaben über die Größenverhältnisse 
der Kalkpfannen beruhen nicht auf exakten 
Aufzeichnungen, sondern sind unsicher. 

Im allgemeinen bringt Herr Michaelsen über die 
Größenverhältnisse der Kalkpfannen nur ganz allgemeine 
Schätzungen, nur von Okateitei gibt er die Größenverhält- 
nisse bestimmt an. Allein seine Angaben im Text und 
seine Zeichnung widersprechen sich derartig, daß weder 
Zeichnung noch Beschreibung einen Anspruch 
auf Genauigkeit machen können. 

Beweis: Der Durchmesser ist nach der Beschreibung 
etwa 400 m, der Radius also 200 m. 





























| Zeichnung 
| Beschreibung — - 
| N—S-Profil | W—0-Profil 
Pfannenrand .| 100—150m |32 mm Y)=160m! 18 mm = 90m 
Gesteinsfläche | etwa 100m | 6mm = 30m 20 mm = 100m 
Schlickkuchen | 
des Pfannen- | 
innern . . .| Für diesen | 44 mm = 220 m | 48 mm = 230 m 
| bleibt kein 
= K t Raum! a | 
Radius | 200—250 m 410m | 420m 
Entweder ist die Zeichnung richtig — dann ist der 


Durchmesser 840 bis 860 m und nicht 400 m. Oder der 
Text ist richtig und dann ist der Maßstab der Zeich- 
nung 1:2500, nicht 1:5000. Hält man sich aber an 





*®) Der Maßstab der Zeichnung ist angegeben als 1: 5000. 
Bei Berücksichtigung der perspektivischen Verkürzung wird 
die Differenz noch schlimmer. 


Passarge: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes. 


219 





die in die Zeichnung eingetragenen Zahlen, die mit der 
Beschreibung auch nicht übereinstimmen, so ist der Maß- 
stab etwa 1:2000. 

Nimmt man einen falschen Maßstab an, dann bleibt 
immer noch die Tatsache bestehen, daß innerhalb des 
Profils die Angaben für die Größenverhältnisse der einzel- 
nen Schichten nicht stimmen, daß für die — der Zeich- 
nung nach — größte (d. h. etwa 450 bzw. 225m be- 
sitzende) Ablagerung der Beschreibung nach kein Raum 
bleibt! 

Noch schlimmer steht es mit der Reliefzeichnung der 
Kalkpfanne Otjikango. Der Beschreibung nach hat sie 
einen Durchmesser von nur 100 m, die Zeichnung (1:5000) 
zeigt auf der einen Seite einen Halbmesser von 69 mm 
— 345m und einen von 85mm = 425m. Der Durch- 
messer wäre also 690 bzw. 850 m und nicht — 100 m! 

Die rein topographischen Grundlagen der Beschrei- 
bung der Kalkpfannen sind also als ganz unsicher zu 
bezeichnen. Wie steht es nun mit der stratigraphischen 
Darstellung? 

2. Die stratigraphische Beschreibung der 
Pfanne Okateitei und die Zeichnung derselben 
bringen eine durch nichts bewiesene Hypothese 
Herrn Michaelsens als feststehende Tatsache, 
aus der weiterhin weitgehende Folgerungen ge- 
zogen werden. 

Gemeint ist die Auffassung, daß sich der Kalk in der 
„Trümmerzone“ auskeile und eben deshalb sich in Stücke 
auflöse. Die Zeichnung läßt daher mit scharf ausge- 
zogenen Linien den Sand unter die Kalkschichten unter- 
tauchen. Herr Michaelsen zeichnet ihn in der Tiefe bis 
fast zum Steilrand gehend. Dieses Untertauchen des 
Sandes ist durch nichts bewiesen, vielmehr rein 
hypothetisch, ist obendrein ganz unwahrscheinlich. In 
anderen Gebieten herrschen, nach Herrn Michaelsens Be- 
schreibung zu urteilen, genau die gleichen Verhältnisse, 
wie sonst in der Kalahari: Alle Kalkpfannen sind von 
einer Zone von Kalkkrustenstücken umgeben, nämlich da, 
wo der Sand sich auskeilt und unter seiner dünnen Decke 
der Untergrund — nämlich die Kalkkrusten — zutage 
treten. Das ist die Trümmerzone von Herrn Michaelsen. 
Der weiße Sand ist durch Kalksplitter gefärbt und geht 
in den roten kalkfreien Sand über. Diese Verhältnisse 
lassen sich in anderen Teilen der Kalahari, wo viele gute 
Aufschlüsse vorhanden sind, wo man leicht feststellen 
kann, daß sich der Kalk weit über die Pfannen hinaus 
unter dem Sande fortsetzt, ohne Schwierigkeit erkennen. 
Der Kalk keilt sich nicht aus, sondern streicht unter 
dem Sande fort, ist also älter als dieser — nicht 
jünger. 

Einmal müßte er, wenn er eine auf dem Sande lie- 
gende und sich auskeilende Schicht wäre, an ein- und 
ausfließenden „Rivieren“ bestimmte Erosionserscheinungen 
hervorrufen, nämlich Stufen auf dem Boden und Steil- 
rand an den Ufern. Das ist nie der Fall — auch nicht 
im östlichen Damaraland. 

Sodann ist Herrn Michaelsens Erklärung der „Trüm- 
merzone* aus folgendem Grunde unhaltbar. Er be- 
schreibt ganz richtig die Trümmerzone als eine Region 
von weißem Sand mit Kalkstücken zwischen dem roten 
Sand und der kahlen Gesteinsfläche. Gerade auf dieser 
Übergangszone steht aber die dichte Vegetation mit den 
hohen grünen Bäumen, die Herr Michaelsen ganz treffend 
schildert. Nun erklärt er die Trümmerbildung als eine 
Folge der Insolation. Zwar sucht sich der Kalk, so sagt 
er, durch Krustenbildung zu schützen. „Aber die Sonne 
besiegt bald den Widerstand dieses Panzers. Schon beim 
ersten Austrocknen sind am Pfannenboden und auch auf 
den randlichen Ablagerungen kreuz und quer Risse ent- 


standen, welche diese oberste Kruste in zahlreiche Trüm- 
mer zerteilen. Die Insolation wirkt dann so stark, daß 
die Trümmer immer mehr zerkleinert und schließlich eine 
Beute des Windes werden.“ 

Widerspruch über Widerspruch! Herr Michaelsen 
beobachtet, daß die Kalkschicht des Pfannenrandes an 
dem Innen- und Außenrand in Trümmer zerfallen sei, 
in der Mitte aber eine geschlossene Gesteinsfläche bilde. 
Später beschreibt er aber die zertrümmernde Kraft der 
Austrocknung und der Insolation auf der ganzen Ge- 
steinsfläche. Daß am Steilrand die überhängende Ober- 
flächenbank zerbricht, ist leicht verständlich, daß da- 
gegen der Außenrand durch Insolation zertrümmert 
werde, im Gegensatz zur Mitte, ist nach Herrn Michael- 
sens Erklärung ganz unverständlich, denn der Kalk 
wird gerade im Bereiche der Trümmerzone 
durch den Sand und die Vegetation gegen die 
Insolation geschützt. Weder ist letztere die Ursache 
der Zertrümmerung des Kalkes — soAst müßte die dem 
Sonnenbrand schonungslos ausgesetzte, fast vegetations- 
lose Kalkkruste in erster Linie zerfallen — noch auch 
das Auskeilen der Kalkschicht. Vielmehr wirkt hier eine 
viel einfachere Kraft auf den Kalk ein — nämlich die 
nach Wasser suchenden Wurzeln der hohen 
Bäume. Sie zertrümmern den Kalk. Bis lm hohe 
Kalkplatten hatten z.B. an der Pfanne Neitso im Chanse- 
feld die wachsenden Motswerebbäume (Combretum primi- 
genium) aufgerichtet. Die Bäume auf der dünnen Sand- 
schicht über dem Kalk sind maßgebend für das Ent- 
stehen der „Trümmerzone“, nicht Auskeilen des Kalkes 
und Insolation. 

Die Hypothese von dem Auskeilen des Kalkes 
ist also gänzlich unbegründet und ohne sie die 
Entstehung der Trümmerzone viel einfacher zu 
erklären. 

3.DiestratigraphischeBeschreibung derKalk- 
pfanne Okateitei steht in einem Punkt von ent- 
scheidender Wichtigkeit im schroffen Gegensatz 
zu der Zeichnung und den Hypothesen. 

Herr Michaelsen schreibt, die Schicht dunklen Kalk- 
sandsteins streiche unter dem Steilrand des Pfannenkalk- 
tuffs weiter und werde von diesem überlagert. Von der 
Kalkkruste des Pfanneninnern aber heißt es dann 
gleich weiter: „die ebenfalls unter die randlichen Ab- 
lagerungen untertauchte.“ 

Jeder Zweifel an dem, was Herr Michaelsen gemeint 
hat, ist ausgeschlossen. Er hat beobachtet, daß die 
Kalkkruste des Pfannenbodens unter dem weichen Tuff 
des Pfannenrandes fortstreicht. 

Was zeigt aber seine Reliefzeichnung? (Vgl. Abb.) 
Genau das Gegenteil! Der Kalk des Innern endet vor dem 
Pfannenrand, und beide sind eine Faziesbildung. Daß es 
sich nicht um ein Versehen handelt, beweist die Hypothese 
von der primären Pfannenform, infolge ungleichmäßiger 
Ablagerung in der Schilfzone und im Teiche, ohne die seine 
Hypothese von dem ganz jungen Alter der Kalkpfannen 
unmöglich ist. 

Augenscheinlich hat Herr Michaelsen ganz richtig 
beobachtet. Dafür spricht der Umstand, daß in den 
Pfannen, die ihrer Kalktuffschicht fast beraubt sind, die 
harte Oberflächenbank des inneren Kalkgürtels den Boden 
bildet. Wenn der weiche Kalktuff wirklich in der Außen- 
zone neben der harten OÖberflächenbank läge, so müßte 
ja letztere infolge der schnelleren Zerstörung des weichen 
Kalktuffs durch die von Herrn Michaelsen beschriebene 
Insolation sehr bald einen den äußeren Gürtel über- 
ragenden Rand bilden — was nie beobachtet worden ist. 
Herr Michaelsen hat sich also von nachträglichen Vor- 
stellungen völlig bestechen lassen und, einer Kette ver- 


29* 


220 


Passarge: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes. 





führerischer Hypothesen folgend, seine direkten Beob- 
achtungen beiseite geschoben. 

4. Die stratigraphischen und petrographi- 
schen Verhältnisse der Kalkpfannen sind so 
schwierig und eigenartig, daß zu ihrer Er- 
forschung große Übung im geologischen Be- 
obachten und Spezialkenntnisse erforderlich 
sind, die Herr Michaelsen, wie er selbst zugibt 
(8.113), nicht besaß. Eigenartig und schwierig sind 
die Verhältnisse deshalb, weil in den Kalkpfannen Ab- 
lagerungen auftreten, deren Entstehung noch recht 
zweifelhaft ist. Die petrographischen Verhältnisse sind 
aber sehr kompliziert, weil alle Ablagerungen aus Kalken 
bestehen, die zum Teil nur wenig voneinander abweichen 
und trotzdem auseinandergehalten werden müssen. Ich 
habe persönlich Erfahrung hierin. Ich weiß, wie lange 
es gedauert hat, bis es gelang, die verschiedenen Formen 
zu erkennen und auseinanderzuhalten. Es war not- 
wendig, ganz neue Begriffe wie Chalzedonsandstein, 
Pfannensandstein, Sandkalk, Pfannenkalktuff, Sinterkalk 
einzuführen. Daß ein Laie, wie es Herr Michaelsen damals 
war, in dieses Einerlei von verschiedenen Kalken ein System 
bringen konnte, erscheint von vornherein sehr unwahr- 
scheinlich. Herr Michaelsen hat nun zwar nachträglich 
aus der „Kalahari“ Bezeichnungen, wie Pfannensandstein, 
Pfannenkalktuff, Sinterkalk, Sinterstruktur, entlehnt. Ob 
aber das, was er darunter versteht, dasselbe ist, 
was ich gemeint habe, ist durchaus zweifelhaft, 
da seine Beschreibungen überaus dürftig und 
ungenau sind, und er niemals Proben aus meiner 
Sammlung gesehen hat. Er unterscheidet zwei Kalk- 
arten: erstens einen Kalksandstein, das heißt mit 
Kalk zementierten Sand, und zweitens eine Kalktuffab- 
lagerung teils mit, teils ohne Röhrenstruktur. ' Niemals 
erwähnt er Sand in diesen Kalktuffen — also hat er keinen 
darin bemerkt. Nach meinen persönlichen Erfahrungen 
sind Kalktuffe ohne Sand sehr selten. Ich kenne sie 
eigentlich.nur aus den Makarrikarribecken. Nun wird 
man mir entgegnen: im östlichen Damaraland ist das eben 
anders. Das bezweifle ich indes durchaus. Sind, wie 
Herr Michaelsen annimmt, die Kalktuffe jünger als der 
Sand und in Sandmulden zur Ablagerung gelangt, dann 
können sie gar nicht sandfrei sein, dann muß Sand in 
sie hineingeweht oder -geschwemmt worden sein. Es 
gibt also nur zwei Möglichkeiten: 

Entweder ist Herrn Michaelsens Beobachtung, daß der 
Kalktuff so’ wenig Sand enthält, daß er ihn nicht er- 
wähnt, richtig — dann ist seine Hypothese von der jungen 
Ablagerung über dem Sand unhaltbar, oder der Kalktuff ist 
in einem Teiche im Sandfelde entstanden, und dann ist 
seine Beobachtung falsch, dann muß er reichlich Sand 
enthalten. 

Es läßt sich nun aber der Nachweis führen, daß 
Herrn Michaelsens Beobachtung falsch sein muß. Nach 
seiner Angabe besitzt der Kalktuff des Pfannenrandes 
Röhrenstruktur. Die Beschreibung, die er entwirft, ist 
folgende: „Bei einigen Schollen bemerkte ich eigenartige 
Röhren, welche sie in einer Richtung parallel zueinander 
durchzogen.“ 

„Sowohl der weiche Kalktuff, als auch die harte 
Oberflächenkruste des Pfannenrandes waren von einem 
eigenartigen System von parallelen Röhren senkrecht 
durchzogen.“ é 

Es ist mir keinen Moment zweifelhaft gewesen, daß 
Herr Michaelsen typische Pfannenkalktuffe mit Röhren- 
struktur, die so auffallend sind, beobachtet hat. Ebenso 
unzweifelhaft ist es aber auch, daß er keine Vor- 
stellung von dem Wesen dieser Struktur besitzt, 
sonst könnte er sie nicht so unklar beschreiben. Er 


hat nur die löcherigen, von Röhren durchsetzten, ausge- 
waschenen Kalksteine gesehen. Gänzlich ist es ihm ent- 
gangen, daß im ursprünglichen Kalktuff diese Röhren 
mit Sand ausgefüllt sind. Es sind nämlich bleistiftdicke, 
vielfach anastomosierende, mit Kalk wenig verkittete 
Sandröhren, die zwar nach oben hinstreben, aber durchaus 
nicht gerade und einander parallel sind. Kein Leser hätte 
nach Herrn Michaelsens Beschreibung das wohl auch nur 
geahnt. Wenn aber Herr Michaelsen das Wesen 
der Röhrenstruktur nicht erkannt hat, dann 
kann auch seine Angabe, daß diese oder jene 
KalkschichtkeineRöhrenstrukturbesäße,keinen 
großen Anspruch auf Gewicht erheben, dann ent- 
behren auch seine Beobachtungen über den Auf- 
bau der von ihm gesehenen Kalkpfannen über- 
haupt einer sicheren Grundlage, dann schweben 
seine weitgehenden Hypothesen erst recht in 
der Luft. Man kann dieses um so bestimmter aus- 
sprechen, weil im feuchten Kalktuff, namentlich an 
den verschmierten Wänden eines Brunnenloches die 
Röhrenstruktur auch von dem geübten Kenner oft nur 
schwer festzustellen ist. Ob also der Kalktuff des 
Pfanneninnern Röhrenstruktur besitzt oder nicht, ist 
nicht mit Sicherheit zu sagen. Aber selbst wenn wir 
annehmen, daß Herrn Michaelsens Ansicht von der Ver- 
schiedenheit der Struktur der Kalke des Pfannenrandes 
und des -innern richtig wären, würde seine Erklärung, 
daß beide Faziesbildungen seien, kaum zutreffend sein. 
Denn erstens hat er in Okateitei beobachtet, daß die 
Öberflächenkruste des Pfanneninnern unter den Pfannen- 
kalktuff des Steilrandes untertauche, sodann ist aber seine 
Hypothese von der primären Pfannenform infolge un- 
gleichmäßiger Ablagerung des Kalkes unhaltbar. 

5. Die Hypothese von der primären Pfannen- 
form. Einmal ist es durchaus zweifelhaft, ob die 
Röhrenstruktur auf Schilfstengel zurückgeführt werden 
muß. Die Schilfhypothese hat Herr Michaelsen der 
„Kalahari“ entlehnt. Als ich auf dem jüngst trocken ge- 
legten Boden eines Teiles des Sumpflandes im Makarri- 
karribecken abgebrochene, hohle Schilfstengel unmittelbar 
über dem Boden offen stehen sah, kam mir der Gedanke, 
daß, wenn Sand in diese hineingeweht oder geschwemmt 
würde, Sandröhren entstehen würden. Allein ich über- 
legte mir damals nicht, daß dann auch Schichten von 
Sand im Kalktuff auftreten müßten. Das ist aber 
nicht der Fall. Damals kannte ich noch nicht die 
starke selbstreinigende Kraft des in Umlagerung be- 
griffenen Kalkes. Es scheint mir daher wahrscheinlicher, 
daß die Röhren — die ja auch gar nicht so gerade und 
einander parallel sind, wie Herr Michaelsen schreibt, viel- 
mehr häufig anastomosieren — sekundär durch Fort- 
drängen des Sandes entstanden sind. Es ist ja sehr 
wahrscheinlich, daß Stengel und Wurzeln bei diesem 
Prozeß eine Rolle gespielt haben, gerade so, wie bei der 
Ausbildung des zelligen Maschenwerks im Kalksandstein 
des Botletle-Ufers und auch im Laterit. Sodann aber 
müßten, wenn erst seit 1850 bis 1860 die Kalkpfannen 
vom Wasser entblößt und ausgetrocknet sind, nach 
nur 50 Jahren unbedingt noch Reste der Schilfstengel 
und Wurzeln zu sehen sein, mindestens als humose Sub- 
stanz. Das ist aber nicht der Fall. 

Schließlich ist, selbst wenn das Schilf bei der Aus- 
bildung der Röhren eine Rolle gespielt haben sollte, die 
Hypothese von der ungleichmäßigen Ablagerung des 
Kalkes unhaltbar. Weder in unseren Seen mit See- 
kreideablagerungen, noch auch in den Teichen der 
Kalahari ist die Bildung des Kalkschlammes im Schilf- 
gürtel am energischsten — bei uns ist sie sogar minimal 
— sondern in dem offenen Wasser, wo die Kalk ab- 


Passarge: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes. 


221 





scheidenden Wasserpflanzen in dichter Masse auftreten. 
Daher besteht in solchen flachen Teichen 3), wie auch bei 
uns die Tendenz, das Innere schnell bis zum Rande des 
Schilfes auszufüllen. Eine steile Böschung kann sich aber 
deshalb nicht bilden, weil der Schlamm sehr leicht gleitet. 
Wenn die Sedimentbildung in der Schilfzone schneller 
als im Teichinnern erfolgen würde, so könnte das nur 
durch eingewehten oder -geschwemmten Sand und Schlick 
geschehen, nicht aber durch Kalkschlamm der Pflanzen. 
Schließlich — und das ist eine wichtige positive Beob- 
achtung — entstehen in den heutigen Teichen der nörd- 
lichen Sandfelder, die die Beschaffenheit besitzen, die 
Herr Michaelsen den Kalkpfannenteichen zuschreibt, nur 
humose Schlamme, nicht aber Kalktuffe. 

Es ist mir sehr interessant zu sehen, bei Herrn Micha- 
elsen zwei Gedanken zu finden, die mich lange beschäftigt 
haben und die ich wiederholt an Ort und Stelle er- 
wogen und geprüft habe, ich meine die Entstehung 
des Kalaharikalkes im oder auf dem Sand und die 
ungleichmäßige Sedimentbildung primärer Pfannenform. 

Manche Probleme würden sehr vereinfacht werden, 
allein zu meinem größten Bedauern mußte ich solche 
Vorstellungen fallen lassen. 

Der Gedanke, daß der Kalk in Vertiefungen auf dem 
Sande zur Ablagerung gelangt sei oder daß der Kalksand- 
stein ein sekundär verkitteter Sand sei, liegt nahe genug. 
Es würden gerade die Kalkpfannen des eigentlichen Sand- 
feldes und das lokale Fehlen des Sandes über dem Kalk 
leicht erklärt werden. Allein als ich sah, daß in dem 
ganzen großen Gebiete zwischen Gobabis, Andara und 
dem Bamangwatolande niemals — aber auch niemals — 
eine Auf- oder Einlagerung des Kalkes auf bzw. in dem 
Sande beobachtet wurde, daß in allen vorhandenen Auf- 
schlüssen der Kalk direkt auf älterem Gestein liegt, daß 
niemals in dem Sande der Beginn solcher Kalkabscheidung 
in‘rudimentärer Form oder in Resten zerstörter, älterer, 
lokaler Auf- oder Einlagerungen zu sehen war, trotz 
eifrigen Suchens, als ich sah, daß vielmehr auf un- 
geheure Strecken hin, vom Ngami bis Andara (170 km) 
und vom Ngami bis zum Ostrande des Makarrikarribeckens 
(340 km) zusammenhängende Kalkablagerungen unter 
dem Kalaharisand nachweisbar sind — als ich das sah, 
gab ich den Gedanken an eine lokale sekundäre Ent- 
stehung in oder über dem Sande auf. 

Auch bezüglich der primären Entstehung der Kalk- 
pfannenform ging es mir nicht anders. Wenn man so und 
so oft Gelegenheit gehabt hat, Kalkpfannen zu beobachten, 
in denen der Röhrenkalktuff noch voll und ganz die 
Becken ausfüllt, wenn man gesehen hat, wie sich zwischen 
diesen Pfannen und solchen, die nur noch minimale Reste 
von Kalktuff enthalten, alle Übergänge finden, wenn man 
obendrein in dem feuchteren Norden Sandpfannen mit 
Kalktuffboden findet, die man aus triftigen Gründen als 
die Urform der Kalkpfannen ansprechen kann, dann ist 
doch wohl die Deutung am natürlichsten, daß der Kalk- 
tuff einst die Pfannen ausgefüllt habe. Und spricht 
nicht auch in der Pfanne Owingi die Insel von Röhren- 
kalktuff, „die“, wie Herr Michaelsen betont, „bis zur 
Höhe des Pfannenrandes reicht“(!), deutlich für 
solche Auffassung? Allein seiner Hypothese zuliebe weist 
er die natürliche Erklärung zurück und nimmt lieber in 
einer Ebene eine Springquelle mit Kalktuffkegel à la 
Lahontan-See an, obwohl er in der Pfanne Otjire das 
Vorhandensein einer einfachen Quelle in der Tiefe der 


») In tiefen Teichen sind die Verhältnisse anders, da 
die Wasserpflanzen nur in der Tiefe von einigen Metern 
(etwa 10 bis 20) gedeihen. Dort liegt das Maximum der 
Sedimentbildung zwischen dem Schilfrande und 10 bis 
20 m Tiefe. 


Pfanne gerade wegen der Ebenheit des Geländes leugnet. 
In Owingi ist die Ebenheit aber ebenso groß. 

Der Hauptgrund, warum die Kalkpfannen eine primäre 
Pfannenform haben sollen ist für Herrn Michaelsen der, 
daß bis 1850 die Pfannen mit Wasser gefüllt gewesen 
wären, aber 1860 bereits fertige Kalkpfannen vorliegen. 
Die Autoren, auf die sich Herr Michaelsen bezieht, sind 
Baines und Chapman, die 1861 bis 1862 von Walfisch- 
bai nach dem Sambesi reisten. Die von Herrn Michaelsen 
erwähnten leeren Kalkpfannen, die sie vorfanden, liegen 
— was Herr Michaelsen vergessen hat zu erwähnen — 
im Chansefeld. Es sind die Pfannen Chanse und Kubi. 
Die Kalkpfannen des Chansefeldes sind aber, 
wie Herr Michaelsen wiederholt versichert, älter 
als die im östlichen Damaraland!*) 

6. Die „Rivierperiode und die Omuramba- 
periode“. Wenn auch die Ansiedler einen Unterschied 
zwischen Rivier und Omuramba machen, so ist er in 
wissenschaftlichem Sinne unhaltbar, weil im Verlauf 
eines Flußbettes der Charakter desselben häufig wechselt. 
Bald hat es Lehmboden — dann ist es ein Omuramba, 
bald Sandboden — dann ist es ein Rivier. Leicht könnte 
man zahlreiche Beispiele dafür anführen. Ganz unver- 
ständlich aber ist Herrn Michaelsens Glaube, daß die 
Riviere, die doch gerade im regenärmeren Süden seines 
Gebietes liegen, häufig abkommen, die Omuramba aber, 
die sich im regenreicheren Norden befinden, selten oder 
nie. Das ist einmal unwahrscheinlich, zweitens unrichtig>). 

Besonders bemerkenswert aber ist die Behauptung, 
die Riviere seien ganz jung, da sie wenig in den Sand- 
boden eingeschnitten sind. „Das beweist, daß sie sehr 
jung sind.“ Dieser Satz ist sehr interessant, weil er 
aufs deutlichste zeigt, wohin das Davissche Schema von 
jungen und alten, reifen, halbreifen, unreifen Flußbetten 
führt. Es kommt in jedem einzelnen Fall ganz auf die 
Umstände an. Ein wenig eingeschnittenes Flußbett 
kann sehr alt sein, so z. B. im Sandfelde der Kalahari. 
Abnorme Regenmengen bewirken dort Abkommen mit 
Erosion, allein dann folgen Monate und Jahre, wo das 
langsame Abschwemmen der Regen und die nivellierende 
Tätigkeit der Winde alle Spuren der Erosion verwischen. 
Dann ist das Flußbett also im „Greisenalter“. Aber 
eine Stunde später kommt der Fluß ab, dann ist es im 
„Jugendalter“. Das ist nur ein Beispiel dafür, wohin 
man mit Schlagwörtern und Schematismus gelangt. 

Herrn Michaelsens Anschauung aber, daß sich das 
Klima seit 1850 bis 1860 geändert habe, da seitdem 


*) Bolche Gedankenfehler kommen gar nicht vereinzelt 
vor. Wiederholt betont Herr Michaelsen, wie wichtig für die 
Bildung von lokalen Hohlformen mit Kalkabscheidungen eine 
wasserundurchlässige Schicht oder das Grundgestein in ge- 
ringer Tiefe sei. Er nimmt daher an, daß das Grundgestein 
unter den Kalkpfannen im allgemeinen in nicht sehr großer 
Tiefe anstehend ist (8.123). Auf 8.127 heißt es aber gleich- 
zeitig: „Einen Schluß auf die Kalkpfannen der südlichen 
Kalahari kann man nur aus der Tatsache ziehen, daß sie im 
tiefen Kalaharisand liegen sollen. Das kann allein der Fall 
sein, wenn sie jünger sind als der Sand.“ Herr Michaelsen 
hätte doch mindestens — seinen obigen Ausführungen ent- 
sprechend — die Frage offen lassen müssen, ob das Grund- 
gestein als eine wasserundurchlässige Schicht in geringer Tiefe 
läge. Aber die Hypothese verlangt in dem einen Fall tiefen 
Sand, also ist der Sand tief; in dem anderen flachen Sand, 
also ist er flach. Die Befriedigung der Hypothese ist eben 
stets die Hauptsache. 

*) Eigenartig, aber unrichtig ist die Vorstellung, die 
Riviere kämen ab, weil infolge von Regen im Quellgebiet 
der Grundwasserspiegel sich so weit hebe, bis das Rivier ober- 
tlächlich Wasser führe. „Das nennen die Farmer abkommen.“ 
O nein! Abkommen nennt man das oberflächliche Abfließen 
des plötzlich gefallenen Regenwassers über dem trockenen 
Sande der Flüsse. Selbst nach tagelangem Fließen dringt das 
Wasser überraschend wenig in den Sand ein. 


222 


Goldstein: Besitz und Vermögen bei den primitiven Völkern. 





die Kalkpfannen ausgetrocknet seien, widerspricht völlig 
unseren Kenntnissen von dem Auf- und Abschwanken 
der Niederschläge in Südafrika. Die von Herrn Micha- 
elsen erwähnten Pfannen des Chansefeldes, die Chapman 
und Baines trocken fanden, sind seitdem wiederholt 
gefüllt und trocken gewesen, und andererseits haben 
wir vor 1850 Nachrichten von furchtbaren Dürren aus 
Südwestafrika, z. B. bereits aus den 70er Jahren des 
18. Jahrhunderts zur Zeit der ersten Burenexpeditionen. 
Über die von Herrn Michaelsen beschriebenen Pfannen 
fehlen aber Nachrichten überhaupt. 


Schlußfolgerungen. 


Es sei nochmals betont, daß es gewiß in hohem Grade an- 
erkennenswert ist, daß Herr Michaelsen, obwohl er keine 
entsprechende Vorbildung besaß und unter den denkbar 
ungünstigsten Verhältnissen reiste, doch Beobachtungen 
über so schwierige Gebilde, wie es die Kalkpfannen sind, 
angestellt hat. Erklärlich ist es auch, daß ein junger 
Student seine Dissertation und erste wissenschaftliche 
Arbeit auf eigenen, in unbekannten Landen angestellten 
Beobachtungen aufzubauen wünschte, unverständlich da- 
gegen, daß man ihn zu vorliegender Arbeit ermutigen 
konnte. Denn hier wird auf ganz unzulänglichen Be- 
obachtungen eines Laien, der zur Zeit seiner Beobach- 
tungen keine Kenntnisse in Geologie und Petrographie 
besaß, ein Luftschloß aus Hypothesen aufgebaut, das an 
Kühnheit der Architektur nichts zu wünschen übrig läßt. 
Als Dissertation eignet sich eine solche Arbeit nicht. 
Hätte Herr Michaelsen sich auf seine eigenen Be- 
obachtungen beschränkt, so hätte er einen beachtens- 
werten Beitrag zu der Kenntnis der Kalkpfannen liefern 
können ®); statt dessen hat er seine eigenen Beobach- 
tungen verstümmelt, um sie in die starre Form be- 
stimmter Hypothesen zwängen zu können, zu denen er 
erst unter dem Einfluß seiner Studienzeit gelangt ist. 

Nun gibt es noch einen Gesichtspunkt, von dem aus 
betrachtet die Arbeit Herrn Michaelsens allgemeineres 


€) Eine Abhandlung über die pfannenförmigen Hohl- 
formen der südafrikanischen Steppengebiete wird Gelegenheit 
bieten, diese Ansicht zu begründen. 


Besitz und Vermögen bei den primitiven Völkern. 


Herr Prof. Joseph Kohler, Berlin, hat unter diesem 
Titel in Nr. 24 der „Internationalen Wochenschrift“ einen 
Artikel publiziert, in dem er alle die Lehren wiederholt, die 
die wissenschaftliche Ethnographie der letzten Jahre als 
irrig erkannt und dementsprechend aufgegeben hat. Er 
greift das Problem vom Standpunkt des modernen Rechts- 
gelehrten an und übersieht dabei die grundlegende Tatsache, 
daß bei primitiven Völkern das Verhältnis der Menschen 
zum besessenen Boden ein ganz anderes ist wie bei Kultur- 
völkern. Primitive Völker haben immer eine sehr geringe 
Dichte, eine Bevölkerungspolitik, wie sie sich unter dem 
Einfluß des Klerus zum großen Unglück für die Menschen 
und — was heute nur wenige wissen — zum großen Unglück 
für die Staaten gebildet hat, ist ihnen unbekannt. Aller- 
dings wünschen primitive Familien zahlreiche Nachkommen- 
schaft, aber nicht weil sie dabei an den Staat denken, dessen 
Begriff ihnen ebenso unbekannt ist wie die Bevölkerungs- 
politik, sondern weil zahlreiche Kinder Zeugnis für den Be- 
sitz zahlreicher Weiber ablegen. Denn selten stammen in 
polygamen Stämmen, was doch die meisten unzivilisierten 
sind, zwei Kinder eines Mannes von derselben Mutter, in 
der Regel von zwei verschiedenen, und hat ein Mann viele 
Kinder, so muß er auch viele Weiber haben. Großer Weiber- 
besitz ist aber gleichbedeutend mit großem Reichtum, nicht 
etwa, weil ihre Unterhaltung viel Kosten verursacht, denn 
jede Frau muß sich selber ernähren, kostet also dem Manne 
gar nichts, auch nicht, weil eine Frau eine Arbeitskraft 
darstellt, denn der primitive Mensch ist kein Warenhändler, 
sondern weil sie gegen Wertobjekte eingetauscht werden 
müssen, der Besitz vieler Weiber demnach den Besitz vieler 


Interesse verdient, nämlich der, daß'wir uns jetzt gerade 
in einer für die Entwickelung der geographischen Wissen- 
schaft so kritischen Zeit befinden. Mit den nachfolgenden 
Befürchtungen stehe ich keineswegs allein da. Sie werden, 
wie ich bestimmt weiß, auch von anderen Fachgenossen 
geteilt, und sie erklären es, warum hier auf Herrn Micha- 
elsens Abhandlung so ausführlich eingegangen worden ist. 

Von den res terrestres des Varenius ist nach Ab- 
zweigung der Geophysik, Meteorologie und Ozeanologie 
als selbständigen Wissenschaften nur noch die Geomorpho- 
logie als Arbeitsgebiet für den Geographen übrig ge- 
blieben. Da aber die Geologie die notwendige Grundlage 
der Geomorphologie bildet, der Geologe also für die Be- 
handlung geomorphologischer Fragen der gegebene Mann 
ist, und da ihn obendrein das moderne geologische Kar- 
tieren einfach zu geomorphologischen Studien zwingt, so 
ist es ganz natürlich, daß die Geologen angefangen haben, 
die Geomorphologie als ihr Arbeitsgebiet zu betrachten 
und es dem Geographen ‘zu entreißen streben. Gelingt 
ihnen das, so werden diesem definitiv die naturwissen- 
schaftlichen Fächer als Arbeitsgebiet genommen und er 
wie in früheren Zeiten wieder auf die res humanae be- 
schränkt. Das würde aber den Ruin der Geographie als 
Naturwissenschaft herbeiführen: Die Gefahr ist sehr groß 
und nur angestrengtes, solides Arbeiten auf geologischer 
Grundlage und nur eine strenge systematische geologische 
Ausbildung der heranwachsenden Geographen könnte sie 
abwenden. Leider muß man feststellen, daß nicht selten 
Geographen ohne genügende geologische Schulung und 
unter Vernachlässigung der Geologie sich geomorpho- 
logischen Studien widmen. Der Mißerfolg ist nicht aus- 
geblieben. Es ist kein Geheimnis, daß viele Geologen nur 
noch mit mitleidigem Lächeln auf den Geographen als 
Geomorphologen herabsehen. Geradezu verhängnisvoll 
muß daher eine Richtung werden, der bereits die Be- 
obachtungen eines Laien ohne geologische und petto- 
graphische Kenntnisse über so schwierige und wenig 
bekannte Gebilde, wie es die Kalkpfannen zweifellos sind, 
als eine genügende Grundlage für eine in weitgehen- 
den Hypothesen schwelgende geomorphologische Arbeit 
erscheinen. 


wertvoller Güter, etwa Kühe, anzeigt. Hat ein Mann 
demnach viele Kinder, so zeigt er damit, daß er reich 
ist, und an dem Renommieren mit seinem Reichtum liegt 
dem Unzivilisiertten wie unseren Protzen vielleicht noch 
mehr als an dem bloßen Besitz. Der Noachische Segen 
„Seid fruchtbar und mehret euch“ paßt also vortrefflich 
für unzivilisierte Stämme; daß dies bei europäischen Stämmen 
ganz und gar nicht der Fall ist, beweist die Abnahme der 
Kinderzahl bei zunehmender Wohlhabenheit (Brentano). Aber 
trotz alles Sehnens nach Kindersegen bleibt die Bevölkerungs- 
dichte primitiver Stämme aus Gründen, deren Erörterung tief 
in demographisches Gebiet führen würde, gering, und daher 
stehen so ungeheure Flächen zur Verfügung, daß der Boden 
wertlos ist, ein Eigentumsrecht am Boden sich also nicht 
ausbilden kann, ganz gleichgültig, ob der Boden bebaut wird 
oder nicht, Viehzucht getrieben wird oder nicht. Bei den Kaffern 
z.B.wird der Boden von den Weibern bebaut, aber ein Eigen- 
tumsrecht am Boden bildet sich dadurch nicht aus, es kann sich 
gar keins ausbilden, da es der Kaffer vermeidet, längere Zeit an 
einem und demselben Ort zu bleiben. Aus den nichtigsten Ur- 
sachen wird der Ort gewechselt, wahrscheinlich weil längeres 
Ausharren für gemein gilt. Von den Tuareg der Sahara ist dies 
erwiesen: das seßhafte, nach unseren Begriffen bequemere und 
darum erstrebenswerte Leben ist für die niedrige Klasse der 
Imrhad, der Asger-Edele wohnt im Lederzelt oder in einer 
Felsspalte und würde sich für deklassiert halten, sobald er 
seßhaft werden müßte. In noch viel höherem Grade würde 
dies durch den Feldbau geschehen. Nicht jede Arbeit ist in 
den Augen des primitiven Menschen eine Schande, jede aber 
dem täglichen Bedürfnis dienende ist es, und ganz besonders 
der Feldbau, der daher fast immer in den Händen der 
Frauen und Sklaven liegt. Will man daher die Vermögens- 


Die heutige Lage der Gilbert-Insulaner. 


223 





verhältnisse primitiver Völker untersuchen, muß man vor 
allem feststellen: Was gilt bei ihnen für gemein, was für 


vornehm? Wer an das Problem mit kraß materialistischen 
Ideen herantritt, kommt von Irrtum zu Irrtum. 

Kohler sagt ganz allgemein: „Mit der ursprünglichen 
Form der Gemeinverhältnisse der Völker ist auch eine völlige 
Gemeinsamkeit des Vermögens verbunden.“ Der Boden muß 
hierbei ausscheiden, da er nicht zum primitiven Eigentum 
gehört. Das ist er so wenig, daß in einigen Gebieten, die 
Wißmann durchzog, das Untertanenverhältnis sich nicht 
nach dem Lande richtete, in dem die Menschen wohnten, 
sondern nach der Abstammung. Das primitive Eigentum be- 
steht immer in Mobilien, und diese sind niemals in gemeinsamem 
Besitz. Ob Rinder, Pferde, Kamele gezogen, oder Kupfer, 
Eisen, Rinde, Elfenbein oder Menschenschädel thesauriert 
werden, der Besitz haftet immer an der Person. Es kann 
gar nicht anders sein, da der primitive Besitz nicht not- 
wendige Bedürfnisse befriedigen soll wie der des Europäers, 
sondern seinen Besitzer möglichst hoch über seine Mit- 
menschen erheben soll. Der Neger zieht Rinder, melkt 
seine Kühe und trinkt ihre Milch, und der Schluß liegt ge- 
wiß nahe, er halte sie dieses Nutzens wegen. Aber das ist 
nicht der Fall. Das Vieh wird von ihm des Besitzes wegen 
gehalten, von dem er nie genug haben kann, denn je mehr 
er hat, für desto reicher und vornehmer wird er von sich 
selbst und seinen Landsleuten gehalten. Als Schlachttier 
kommt daher das Rind für ihn kaum in Frage, und er ent- 
schließt sich nur an hohen Festen, eins zu opfern, da er 
sonst ja seinen Viehschatz verkleinern würde. Er trinkt die 
Milch der Kühe, aber es gibt in Afrika Stämme, die ihre 
Kühe nicht melken, obgleich sie es könnten, andere, die sie 
nicht melken können, weil sie keine Milch geben, und in 
China wird bis auf den heutigen Tag die Milch nicht zu 
Nährzwecken verbraucht. Es war den Reisenden längst auf- 
gefallen, daß die Viehzucht unzivilisierter Stämme einen 
ganz anderen Zweck hat als unsere, sie hatten längst er- 
kannt, daß das Vieh nicht seines wirtschaftlichen Nutzens 
wegen gehalten, sondern seiner selbst wegen gezüchtet wird, 
und bezeichneten daher die primitive Viehzucht als Luxus 
oder Liebhaberei. Da hierdurch aber weder der Wertcharakter 
des Viehes noch die Anstrengungen seines Besitzers, seine 
Zahl nach Möglichkeit zu vergrößern, zur Genüge angedeutet 
wurde, so habe ich vorgeschlagen, die Viehzucht der Natur- 
völker als Viehthesaurierung zu bezeichnen. Von einer 
Gemeinsamkeit dieses Viehschatzes ist aber nirgends die 
Rede; im Gegenteil: wenn der Neger kann, beraubt er an- 
dere Herden, um seine eigene zu vergrößern. Bei der The- 
saurierung lebloser Dinge, etwa von Metallen, liegen die Ver- 
hältnisse analog. Gemeinsamkeit des Besitzes ist bei diesen 
schon deswegen vielfach ausgeschlossen, weil sie von den 
Besitzern ständig als Schmuck getragen und nicht entfernt 
werden können. Manche Eingeborene Afrikas tragen kupferne 
Ringe um den Hals, die bis 7kg schwer werden können. Sie 
sind fest herumgeschmiedet und können nur abgenommen 
werden, wenn man ihrem Träger den Kopf abschlägt. 

Ganz irrig ist auch Kohlers Meinung, daß auf primitiver 
Stufe der einzelne der Gesamtheit diene. In despotisch re- 
gierten Ländern könnte man den Satz eher umkehren und 
sagen, die Gesamtheit diene dem einzelnen, nämlich dem 
Despoten. Wer die schonungslose Gewalt kennt, mit der 
beispielsweise Ngilla oder Munsa oder der Muata Jamwo oder 
der Lukengo über seine Untertanen herrschte, wird dies 
gewiß nicht übertrieben nennen. Man könnte indessen sagen, 
dies sei ein anormaler Zustand; aber Despotien’ sind in 
Afrika so häufig, daß man sie nicht zu den Ausnahmen 
zählen kann, und haben sie sich gebildet, so sind sie immer 
durch unmenschliche Grausamkeit, Wollust und rücksichts- 
lose Unterjochung der Untergebenen gekennzeichnet. Wenden 
wir uns aber zu ganz freien Stämmen, z. B. den Tuareg 
der Sahara, so ist bei ihnen von einer Unterordnung des 
einzelnen unter die Gesamtheit vollends keine Rede, sondern 
es herrschen so freie Zustände, daß Foureau sie nicht anders 
wie anarchisch nennen konnte. Jeder Asger tut, was ihm 
paßt, kümmert sich niemals um seine Stammesgenossen, auch 
nicht um den Häuptling. Foureau hatte vom Asgerhäuptling die 
Erlaubnis erhalten, durch das Gebiet des Stammes zu ziehen, 
hatte von ihr auch schon Gebrauch gemacht, aber einem Asger- 
Edeln paßte es nicht, ihn weiter ziehen zu lassen, und er mußte 


Die heutige Lage der Gilbert-Insulaner. 


Im Südosten der deutschen Marshall-Gruppe liegen die 
englischen Gilbert- und Ellice-Inseln, wie jene aus Atollen 
bestehend. Die Bevölkerung der nördlichen Gruppe, der 


umkehren. Nur wenn Krieg droht, ist an eine Vereinigung 
aller Asgerabteilungen, oder bei Verletzung oder Tötung 
eines Sippenmitgliedes durch das Glied einer anderen Sippe 
an die Vereinigung aller Sippenglieder zu denken, sonst lebt 
jeder für sich und fragt nicht nach dem Interesse der 
übrigen. So wenig ist bei diesem freiesten Volk der Erde 
das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit anderen ausgebildet, 
daß ich mir schon die Frage vorgelegt habe, ob der Cha- 
rakter des woy moAstıxov dem Menschen nicht durch Zwang 
oder durch den Druck der Verhältnisse angewöhnt worden, 
seiner eigentlichen Natur aber fremd sei, und wer die 
Schwierigkeit kennt, mit der die Menschen ohne Zwang zu- 
sammenzuhalten sind, etwa bei Produktivgenossenschaften, 
wie oft diese nur durch Zänkereien der Mitglieder zugrunde 
gehen, oder wie schwer es ist, zwei Familien auf einem 
gemeinsamen Hausflur in Frieden zu halten, wird diese Frage 
gewiß diskutabel finden. 

Ich darf hierbei indessen nicht verschweigen, daß 
Pechuöl-Lösche aus Loango Verhältnisse mitgeteilt hat, die 
man Unterordnung des einzelnen unter die Gesamtheit 
nennen kann. Aber es handelt sich hierbei um einen ein- 
zelnen Volkssttamm, und obwohl die bei ihm herrschenden 
Verhältnisse sich bei anderen, wahrscheinlich sogar bei vielen 
anderen wiederfinden, so ist es dennoch unzulässig, sie auf 
alle Stämme der Erde anzuwenden. Generalisationen sind 
den Wissenschaften immer verhängnisvoll, und vielleicht 
keine hat unter ihnen mehr zu leiden gehabt als die Eth- 
nographie. Ferner bestehen die Bafioti in Loango, von denen 
Pechuäl-Lösche berichtet, aus zwei Schichten, von denen die 
eine als Eigentum der anderen betrachtet wird. Die leib- 
eigene wird allerdings ganz den Interessen der herrschenden 
aufgeopfert, aber die herrschende selbst ist wieder ganz frei, 
nicht zuletzt in ihren weiblichen Gliedern, und da ferner 
jedes Glied der herrschenden Klasse seine Anzahl Unter- 
gebener hat, so haben wir hier die Verhältnisse Ngillas oder 
des Muata Jamwo, nur in größerer Zahl nebeneinander und 
nicht mit so viel Grausamkeit verdüstert, letzteres, weil in 
Loango die Frau einen großen Einfluß hat, und die Natur 
der Frau wenig zur Grausamkeit neigt. 

Da die europäischen Völker wie alle Völker sich für 
die höchstzivilisierten halten, und die Landwirtschaft ur- 
sprünglich ihre Hauptbeschäftigung war und bei vielen noch 
heute ist, hat man gesagt, sie sei die Mutter der Kultur, 
und auch Kohler tut dies. Aber es gibt Völker, bei denen 
die Landwirtschaft von alters her einen großen Umfang hat, 
deren Kultur man aber schwerlich hoch nennen wird. Sind 
z.B. die Chinesen ein Kulturvolk oder waren es die Japaner 
vor der Meiji-Ara? Ich kann diese Fragen nicht beantworten, 
weil ich den heute so viel angewandten Kulturbegriff nicht 
anerkenne; aber ich glaube, die meisten werden sie ver- 
neinen. Oder sind die Russen ein Kulturvolk, oder waren 
es die übrigen Europäer, als die Geistlichkeit mit Hilfe von 
Martern Geständnisse erpreßte, unschuldige Menschen beider- 
lei Geschlechts in Scharen dem Flammentode übergab oder 
für Geld begangene oder künftige Verbrechen ungeschehen 
machte? Waren sie es in höherem Grade als die Mexikaner, 
die unschuldigen Menschen das Herz aus dem Leibe rissen? 
Aber wir haben uns aus eigener Kraft von diesen gräßlichen 
Zuständen befreit, und uns verdankt es die Welt, daß, soweit 
unser Arm reicht, solche Greuel nicht mehr geduldet werden. 
Gewiß, aber diesen Fortschritt verdanken wir nicht der Land- 
wirtschaft, sondern der Bürgerschaft in den Städten; wäre 
es ihr nicht gelungen, über geistliche und weltliche Herren 
auf dem Lande Macht zu gewinnen, so ständen wir vielleicht 
noch heute auf dem Standpunkt, daß man Gott eine große 
Ehre erweist, wenn man unschuldige Menschen lebend auf 
dem Scheiterhaufen opfert, und wüßten nichts von Zivili- 
sation, dem alleinigen Werk der Bürger, von denen sie ihren 
Namen trägt. Die Landwirtschaft als solche hat den mensch- 
lichen Fortschritt nicht gefördert, der Schluß vom post 
auf das propter ist hier wie überall falsch; die wirklich 
fördernde Kraft des Menschengeschlechts ist das freie Bürger- 
tum in den Städten und die unter seinem Schutze gedeihende 
voraussetzungslose Forschung. Solange diese besteht, brauchen 
wir nicht zu verzagen, so trübe es auch um uns aussehen 
mag. Erst wenn es Landwirten und Geistlichkeit gelungen 
ist, die freie Wissenschaft totzuschlagen, ist alles aus. 

Goldstein. 


Gilbert-Inseln, wird zu den Mikronesiern gerechnet, während 
die der südlicheren Ellice-Inseln den polynesischen Samoanern 
sehr ähnlich ist. Arthur Mahaffy, Assistent des Oberkom- 
missars für den westlichen Pazifik, hat beide Gruppen im 
vorigen Jahre besucht und seine Beobachtungen jüngst in 


224 


Bücherschau. 





einem englischen Parlamentsbericht niedergelegt. Einiges 
daraus sei hier über die Gilbert-Insulaner mitgeteilt, zur Er- 
gänzung dessen, was nach dem Vortrage des Oberkommissars 
Sir Edward F. im Thurn S. 260 des 96. Globusbandes über die 
heutige Lage der Eingeborenen gesagt wurde. 

Sichere Häfen sind spärlich an diesen niedrigen Korallen- 
inseln, man kann gewöhnlich nur landen, nachdem man 800 
bis 1000 m weit durch das Wasser über den Korallenboden 
gewatet hat. Infolge der Aquatorialströmung, die eine un- 
regelmäßige, jedoch zeitweise außerordentliche Stärke zeigt, 
ist der Verkehr zwischen den Inseln der Gilbert-Gruppe be- 
schränkt, und die Lebensgefahr, die man bei Seereisen mit 
den Kanus der Eingeborenen läuft, ist so groß, daß die Re- 
gierung alle Seereisen außer mit den Handelsschiffen jetzt 
verboten hat. Die früheren Kriege unter den Eingeborenen 
der Gruppe haben seit Errichtung der englischen Herrschaft 
aufgehört und die Verluste an Menschenleben in den Wellen 
infolge des erwähnten Verbotes ebenfalls. Trotzdem aber 
sterben sie aus (ihre Zahl ist auf etwa 25000 gesunken), oder 
vielleicht gerade deshalb; denn neben den ihnen von der Zi- 
vilisation gebrachten Krankheiten sieht Mahaffy die Ursache 
dafür in den Einwirkungen der Langeweile, unter der sie 
nun zu leiden haben. An die Stelle der Kämpfe mit den 
Waffen sind Wortgefechte getreten: chronische Streitereien 
über das Eigentumsrecht an Landfetzen und Kokospalmen 
bilden jetzt die einzige Rettung der Eingeborenen vor der 
tödlichen Langeweile. 

In alten Zeiten waren die Kriege ebenso chronisch, sie 
hörten fast niemals auf, Mordtaten waren auch häufig, und 
den Gefechten folgte die Zerstörung der Ernte durch die 
Sieger, so daß die Besiegten vom Hungertode bedroht waren. 
Heute ist völlige Armut fast unbekannt, jeder ist im sicheren 
Besitz seines Landes. Die Steuern, die die Regierung erhebt, 
sind nicht drückend und dienen nahezu ausschließlich zu 
Verbesserungen auf den Inseln und für Zeiten der Dürre oder 
anderer Kalamitäten. Und trotz alledem werden tatsächlich 
keine Kinder geboren, „aus Gründen, die die Eingeborenen 
nicht erklären können oder wollen“. 

Mahaffy rühmt die Zweckmäßigkeit der heutigen Haus- 
form auf den’ meisten Inseln der Gilbert-Gruppe. Es hat sich 
darin eine außerordentliche Gleichmäßigkeit entwickelt nach 
einer Reihe von Experimenten. Die Dörfer werden in schönster 
Ordnung und die Wege peinlich sauber gehalten. Auf allen 


Inseln gibt es Krankenhäuser, und die Eingeborenen, die 
hier so viel an unsichtbaren Leiden kranken, suchen sie 
sehr gern auf und werden in vielen Fällen auch völlig 
kuriert. Das steht ganz im Gegensatz zu Fiji, wo die Ein- 
geborenen sich gegen die Behandlung in den Regierungs- 
hospitälern sträuben. 

Die tägliche Nahrung bestand früher nur aus Kokosnüssen, 
Pandanusfrüchten und Fischen, jetzt werden Reis, Mais, Zucker 
und Biskuits gegen Kopra eingetauscht. Die alten Künste 
und Fertigkeiten sind dahin, Kleider, Stiefel und Segel 
zeigen den europäischen Einfluß. Zu den Wirkungen der 
ungewohnten neuen Kleidung gehört aber die weit verbreitete 
Schwindsucht, die mit anderen importierten Krankheiten an 
der Abnahme der Eingeborenen arbeitet. Die weiße Bevölke- 
rung auf den Inseln gedeiht nicht, dagegen scheinen die 
Chinesen, die zahlreich zuströmen, zu prosperieren. Der täg- 
liche Verbrauch an Kokosnüssen durch die Eingeborenen be- 
trägt etwa sieben pro Kopf, so daß nach ihrem Erlöschen 
alle Nüsse für die Koprabereitung zur Verfügung stehen. 
Nun vollzieht sich die Bevölkerungsabnahme am schnellsten 
gerade auf den Inseln, die die meisten Palmen haben, so daß 
bald ansehnliche Bestände für jenen Zweck frei werden 
dürften. 

Die schon erwähnten Streitereien haben ihren Grund in 
der eigentümlichen Zersplitterung des Landbesitzes. Die jetzt 
regelmäßig geführten Landregister zeigen Tausende von Stücken, 
deren kleinste nur einige Quadratmeter umfassen. Diese 
Stücke sind von den Eingeborenen entweder von den Vor- 
fahren ererbt, oder im Kriege gewonnen, oder das Resultat 
von Parteikämpfen, in manchen Fällen rührt auch der Besitz 
aus der Bestrafung von Verbrechen gegen die Gemeinde her; 
sie sind alle mit größter Sorgfalt abgegrenzt, liegen zwar 
anscheinend unentwirrbar durcheinander, sind aber ihren 
Eigentümern ganz genau bekannt. Diese Kenntnis geht, wie 
Mahaffy versichert, sogar so weit, daß der Eigentümer die 
Kokosnüsse seiner eigenen Palmen aus einem Haufen anderer 
Nüsse zu rekognoszieren vermag. Das zeigt sich z. B. bei 
Diebstählen. 

Auch kurze Bemerkungen über die Ellice-Insulaner finden 
sich in dem Bericht. Mit ihrer Armut soll es nicht so 
schlimm bestellt sein, wie behauptet worden ist. Auf dieser 
Gruppe sind noch keine weißen Händler ansässig, die Dampfer 
kaufen die Kopra unmittelbar von den Eingeborenen. 


Bücherschau. 


Max Koch, Beiträge zur Kenntnis der Höhengrenzen 
der Vegetation im Mittelmeergebiete. X u. 310 8. 
Halle 1910, Kaemmerer. 6 f. 

Ein interessantes Buch, das uns so recht die Einwirkung 
der klimatischen Verhältnisse auf die Pflanzenwelt vorführt. 
Dabei zeigt Verfasser, wie sich in dem genannten Gebiete 
an einer Reihe von Beobachtungsarten ein Parallelismus in 
der unteren und oberen Höhengrenze der Pflanzen konsta- 
tieren läßt. Abweichungen sind wohl meist durch lokale Ein- 
flüsse verursacht. Die Höhengrenzen der im Mittelmeer- 
gebiete vorkommenden Pflanzen scheinen von der auf Meeres- 
niveau reduzierten Januar- wie Julitemperatur beeinflußt zu 
werden. Im allgemeinen wirkt erstere mehr auf die Gestal- 
tung der Höhengrenze der speziell mediterranen, die Juli- 
temperatur mehr auf die der mitteleuropäischen Pflanzen 
ein. Als bestimmend für die Höhengrenzen der mediterranen 
Vegetation muß man die 5°-Januarisotherme, als bestimmend 
für die Baumgrenze die 10°-Juliisotherme betrachten. Die 
Hebung dieser Isothermen bestimmt im allgemeinen auch 
die Hebung der betreffenden Höhengrenzen. Die Pflanzen 
des Mediterrangebietes sind in bezug auf die Temperatur 
sehr anpassungsfähig, wie die großen Temperaturschwankungen 
an den Höhengrenzen beweisen. Die jährliche Niederschlags- 
menge hat einen positiven Einfluß auf die Höhengrenzen der 
mitteleuropäischen Waldbäume, während bei den xerophilen 
Vertretern der Mediterranvegetation der Einfluß meist ne- 
gativ ist. Die Massenerhebung spielt auch im Mittelmeer- 
gebiete eine die Höhengrenze hebende Rolle, und zwar 
scheinen die Massenzentren ganzer Ländergebiete diese Be- 
deutung zu haben. Die Höhengrenzen fast aller vom Ver- 
fasser behandelten Pflanzen — es sind 28 — heben sich in 
ihren Mittelwerten mit der Annäherung an den afrikanischen 
Wüstengürtel, an den kontinentalen Teil von Asien und an 
die Pyrenäenhalbinsel. Im allgemeinen ist im Mittel in der 
Apennin- und Balkanhalbinsel die geringste Höhenentwicke- 
lung der Pflanzen zu suchen. 

Vermochten wir nur die Hauptergebnisse mitzuteilen, so 
steht doch noch viel in den einzelnen Kapiteln, beispielsweise 


von dem Verhältnis der Höhenkurve zur Niederschlagskurve, 
so daß wir das Buch namentlich Italienfahrern empfehlen 
möchten. 

Halle a. 8. E. Roth. 
Cartas de Juan Vázquez de Coronado, Conquistador de 

Costa Rica. Neu herausgegeben von D. Ricardo Fernändez 
Guardia. 4°. 688. Barcelona 1908. 

Den größten Teil dieser Briefe des kühnen Eroberers von 
Costa Rica aus den Jahren 1562 bis 1565 hat bereits Manuel 
M. Peralta, der sie im Archivo General de Indias von Sevilla 
entdeckte, in seinem selten gewordenen Werke „Costa Rica, 
Nicaragua y Panamá en el siglo XVI“ (Madrid 1883) ver- 
öffentlicht. Trotzdem ist die neue Ausgabe der Briefe eine 
wertvolle Gabe, da ihr Text sorgfältig verbessert worden ist, 
und ein Brief vom 20. Januar 1653 hinzugefügt wurde. Es 
ist angenehm, dieses für die Geschichte des alten Costa Rica 
und seiner Bewohner unschätzbare Quellenwerk in vornehm 
ausgestatteter Form zur Hand zu haben. Den Amerikanisten 
sei es hiermit auf das wärmste zum Studium empfohlen, 
zumal wir hier die beinahe einzigen Nachrichten über die 
Bewohner des südöstlichen Costa Rica (Coto, Quepo usw.) 
aufgezeichnet finden. Dr. Walter Lehmann-München. 


Dünenbuch. Werden und Wandern der Dünen. Pflanzen- 
und Tierleben auf den Dünen. Dünenbau. Bearbeitet 
von F. Solger, P. Graebner, J. Thienemann, 
P. Speiser und F. W. O. Schulze. VIII u. 404 S. mit 
3 Tafeln u. 141 Textabbildungen. Stuttgart 1910, Fer- 
dinand Enke. 

Es ist ein glücklicher Gedanke, gegenüber dem vor 
einem Jahrzehnt erschienenen stärkeren Handbuch des deut- 
schen Dünenbaues (vgl. Globus, Bd. 78, 1900, Nr. 3, 8. 48 
bis 52) mehr die naturwissenschaftliche Seite zu betonen 
und auf diese Weise einem größeren Leserkreis Einblicke in 
diese eigenartigen Verhältnisse zu verschaffen, während da- 
mals die technische Seite mehr hervortrat. Je mehr der 
Aufenthalt an der See weitere Scharen anlockt, desto größer 


Bücherschau. 


war das Bedürfnis nach einem solchen Führer geworden, 
der uns die geologische Geschichte der Dünen vorträgt, uns 
die Windrichtungen erklärt, das Mitwirken der Strandpflanzen 
erläutert usw. Dabei ist den einzelnen Gegenden unseres 
Vaterlandes mit ihren Verschiedenheiten im Aufbau der 
Dünen hinreichend Rechnung getragen; Solger beschäftigt 
sich im einzelnen mit denen zwischen Swinsmünde und 
Misdroy, dann der Kurischen Nehrung, der hinterpommer- 
schen Küste, der Nordsee, er geht auf Stranddünen und 
Wüstendünen ein und zieht die norddeutschen Inlanddünen 
in den Kreis seiner Betrachtung. 

Eigenartig ist das Pflanzenleben auf den Dünen, das 
uns P. Graebner schildert, dem wir ja auch die fesselnden 
Darstellungen über die Heide verdanken. Die natürliche 
Vegetation der typischen Dünen muß geschützt sein gegen 
die Gefahren der intensiven Strahlung der Sonne, gegen 
Hitze und sonstige besondere Eigenheiten des Klimas. Lang- 
kriechende Kräuter suchen den Einfluß des Windes gegen- 
standslos zu machen, dicht rasenbildende Gewächse können 
sich auf dem losen Sande halten, andere bilden zu gleichem 
Zweck lange Pfahlwurzeln aus, usw. 

Die Dünen sind im großen und ganzen tierarm, wie 
Thienemann seine Schilderung beginnt, wozu nicht zum 
mindesten die veränderte Lebensweise beiträgt. Immerhin 
hat die Vogelwelt einen großen Anteil an der Zusammen- 
schmelzung der Fauna, und diese typischen Bilder schildert 
unser Verfasser meisterhaft. 

In die Augen fallend ist dann noch der Anteil der In- 
sektenwelt an der tierischen Bevölkerung der Dünen, und 
für die geringen Bedürfnisse dieser Schweber genügt auch 
der spärliche Blumenflor der Dünen, sagt Speiser. 

Der spezielle Dünenbau bringt nun die Zweckmäßigkeit 
und Ziele des Dünenbaues, Baustoffe und Mittel, Festlegung 
und Bewaldung der Wanderdünen aus der Feder von F. W. 
Otto Schulze. 

Schon die Abbildungen allein locken zum Lesen und ge- 
währen andererseits prächtige Anschauungsbilder zur Er- 
läuterung des Textes. 

Halle a. 8. E. Roth. 
Karl Andrees Geographie des Welthandels. Eine 

allgemeine Wirtschaftsgeographie, vollständig neu bearbeitet 

von einer Anzahl von Fachmännern und herausgegeben 
von Prof. Dr. Franz Heiderich und Prof. Dr. Robert 

Sieger. I. Bd. Frankfurt a. M. 1910, Heinrich Keller. 

Mit vorliegendem Werke hat die alte Geographie des 
Welthandels von K. Andree eine Wiederauferstehung gefeiert. 
Es ist recht, daß die Neuherausgeber den alten Titel bei- 
behalten haben, um so das Andenken an den Vater einer 
neueren geographischen Disziplin zu ehren, wenn auch das 
neue Werk dem alten auf keiner Seite gleicht. Die Ent- 
wiekelung des Weltverkehrs und der Weltwirtschaft, die Ent- 
wickelung der wichtigsten europäischen und außereuropäischen 
Wirtschaftsreiche stellen heute andere Anforderungen an eine 
handelsgeographische Behandlung als vor nahezu einem 
halben Jahrhundert. Trotz des Veraltetseins vieler Tatsachen 
wird der von K. Andree selbst geschriebene Band wegen 
seiner guten und inhaltsreichen Darstellung noch fernerhin 
seinen Reiz auf Forscher und Leser ausüben. Indessen ist 
hier ein Vergleich zwischen dem alten und neuen Werke 
nicht am Platze. Die Neubearbeiter haben auch nicht 
beabsichtigt, zum Vergleich herauszufordern, sondern ab ovo 
etwas Modernes darzubieten, und man muß unumwunden an- 
erkennen, daß unter der Führung von R. Sieger in Graz 
und Fr. Heiderich in Wien uns etwas Treffliches präsentiert 
wird. Ein Streben nach Bestem blickt aus der Arbeit jedes 
Mitarbeiters heraus. 

Zu begrüßen ist die der eigentlichen Behandlung der 
Materie vorangestellte Biographie Karl Andrees aus der 
Feder seines Sohnes Richard Andree. In dem umfang- 
reichen einleitenden Teil behandelt Heiderich sodann die 
Wirtschaftsgeographie und ihre Grundlagen, Klemens Ottel 
die handelskundlichen Grundbegriffe, Fr. Graebner den 
Handel bei Naturvölkern, R. Pösch die Hygiene im Welt- 
verkehr. An den allgemeinen Teil schließt sich die Behand- 
lung von Mittel- und Westeuropa, der skandinavischen Länder 
und des russischen Reiches an. Heiderich wiederum be- 
schäftigt sich mit dem Deutschen Reiche und mit Osterreich- 
Ungarn, A. E. Forster mit der Schweiz, E. Hanslik mit 
Frankreich und Belgien, W. R. Eckardt mit den Nieder- 
landen, Großbritannien und Irland. R. Sieger selbst hat 
ein ihm liebgewordenes Forschungsgebiet, die skandinavischen 
Länder, wirtschaftsgeographisch beleuchtet und F. Immanuel 
das europäische und asiatische Rußland. 

Wir haben ein groß angelegtes Werk in dem neuen 
Andree, denn drei Bände wird das gesamte Werk umfassen, 


225 


und mehr von einem weiteren Standpunkt aus ist es deshalb 
auch zu beurteilen. All die kleinen Angaben und Zahlen 
zu kontrollieren, liegt außerhalb einer immerhin kurzen Be- 
sprechung. Damit würde der Sache auch nicht gedient sein. 
Soweit ich mich durch Stichproben überzeugt habe, sind die 
besten Statistiken geschickt verwertet worden. Daß die Statistik 
in einem derartigen Werke eine große Rolle spielt und spielen 
muß, ist selbstverständlich. Die Vergleichungszahlen, denen 
ich schon seit Jahren das Wort rede, sind in ausgiebigem 
Maße angewendet worden. Nur hier und da scheint mir die 
statistische Zahl überflüssig zu sein, insonderheit bei einigen 
Stellen der Behandlung des Deutschen Reiches, wo Heiderich 
am Schlusse jeder Industriegruppe eigentlich weiter nichts 
als eine Abschrift der Ein- und Ausfuhr der betreffenden Artikel 
aus der deutschen Reichsstatistik bringt, und zwar alle Angaben 
auf das Jahr 1907 bezogen. Entweder hätten diese Angaben 
ganz fortfallen können, die Arbeit hätte nicht verloren, oder 
wenn einmal angewendet, hätten sie mit anderen verglichen 
oder überhaupt verarbeitet werden müssen. Etwas anderes 
wäre es, wenn man damit rechnen könnte, daß das Werk in 
wenigen Jahren in Neuauflage erscheinen würde, was wohl 
bei dem Umfang und dem Preise (rund 50.#% für drei Bände) 
ausgeschlossen erscheint. Bei Produktionszahlen kann man 
sich unter Umständen die Einzelzahl gefallen lassen, da sich 
die Produktionsziffer von Urprodukten nicht so schnell ändert 
wie die Import- und Exportziffer der meisten Warengruppen; 
zu empfehlen ist die Einzelzahl niemals. 

Neben der ausgiebigen und in der Hauptsache gut ver- 
wendeten Statistik ist ein anderer Punkt lobenswert hervor- 
zuheben, nämlich die Herausarbeitung der wirtschaftlichen 
Charakterzüge der verschiedenen Wirtschaftsreiche aus dem 
von der Natur zugewiesenen Boden. Damit soll das gene- 
tische Verständnis der wirtschaftlichen Eigenheit der Wirt- 
schaftsgebiete angebahnt werden. Den Verfassern ist dies fast 
durchweg gelungen. Ganz auffällig tritt diese methodische 
Behandlung bei Frankreich und Belgien hervor. Hier spricht 
geradezu eine gewisse Wärme aus jeder Zeile der Abhand- 
lung; nur mit Hansliks Einteilung in Landwirtschaft (Natur- 
produktion) und Stadtwirtschaft (Kulturproduktion) wird 
man sich kaum einverstanden erklären. Unter Stadtwirt- 
schaft behandelt Hanslik Bergbau und Hüttenwesen, Gewerbe 
und Industrie und zuletzt als Kulturbewegung Verkehr und 
Handel. Warum nicht einfach Produkte der Pflanzen- und 
Tierwelt, des Mineralreiches und Gewerbe und Handel? 
Die Landwirtschaft als Naturproduktion der Stadtwirtschaft 
als Kulturproduktion gegenüberzustellen, ist doch nicht an- 
gängig; gerade die Landwirtschaft gebraucht zuweilen mehr 
Kultur und kulturelles Verständnis als die Stadtwirtschaft, 
als mancher Bergbau (der primitive Tagbergbau!). Ebenso 
wohl durchdacht wie die Abhandlung von Hanslik sind die 
der anderen, wie von W. Eckardt, Forster und Sieger. 

Von den einleitenden Abschnitten würde ich die über 
den Handel der Naturvölker und über die Hygiene im Welt- 
verkehr dem letzten Bande zugewiesen haben. Zuletzt ist ja 
dies Geschmacksache. Da aber der dritte Band für allgemein 
umfassende wirtschaftsgeographische Themata vorgesehen ist, 
würden die besagten Kapitel besser dahinein gepaßt haben. 
Die handelskundlichen Grundbegriffe sind klar und allgemein- 
verständlich von Ottel entwickelt und dürften vielen, denen 
die Dinge etwas fern liegen, zur Orientierung willkommen 
sein, wenn auch viele der erläuterten Begriffe in den folgenden 
Abschnitten weiter keine Erwähnung finden. In einem 
längeren Kapitel spricht Heiderich über die Wirtschafts- 
geographie und ihre Grundlagen. Neue Probleme werden 
hier nicht aufgerollt. Indessen kann man dem Verfasser die 
Anerkennung für den großen Fleiß, der in diesem Abschnitt 
steckt, nicht versagen. Vielfach geht die Behandlung ins 
rein Volkswirtschaftliche über, besonders bei dem Abschnitt 
über Handel und Verkehr, und wie viele geographische Momente 
bietet doch der Verkehr! Bei diesem einleitenden Abschnitt 
hätte Heiderich viel mehr Literatur verarbeiten müssen, hierin 
hat er seinen großen Vorgänger Karl Andree nicht erreicht. 
Es sei nur an die Arbeiten von Chisholm und Kraus erinnert. 
Auch wenn sich Heiderich eingehender mit meinen handels- 
geographischen Arbeiten beschäftigt hätte, dürfte vielleicht 
seine Abhandlung hier und da gewonnen haben; oder sollte 
Heiderich sie dennoch gekannt haben? Wie dem auch sei, 
ich will hier nicht weiter richten, sondern lieber meiner 
Freude Ausdruck geben, daß Karl Andrees Wirtschafts- 
geographie eine im großen und ganzen so vortreffliche Neu- 
bearbeitung gefunden hat. Wir haben damit in Deutschland 
wieder ein wirtschaftsgeographisches Werk auf den Bücher- 
markt gebracht, mit dessen Umfang und Gründlichkeit 
sich gegenwärtig kein ähnliches ausländisches Werk messen 
kann. 

Max Eckert. 


226 


Kleine Nachrichten. 





C. Strehlow, Die Aranda- und Loritjastämme in 
Zentralaustralien. III. Teil. (Veröffentlichungen aus 
dem Städtischen Völkermuseum Frankfurt a. M.) Frank- 
furt a. M. 1910, Joseph Baer u. Co. 13 M. 

Die tief uns in das Geistesleben der Australier einführenden 
Forschungen des Missionars Strehlow, auf das vortrefflichste 
und sachkundigste herausgegeben von M. v. Leonhardi, erfahren 
hier die dritte Fortsetzung, welche über die totemistischen 
Kulte der Aranda Auskunft gibt. Das so ungemein schwie- 
rige und von verschiedenen Beurteilern oft so verschieden 
beurteilte Kapitel vom Totemismus erhält hier eine wesent- 
liche Vertiefung, was schon daraus zu entnehmen ist, daß 
Strehlow nicht weniger als 59 verschiedene totemistische 
Kulthandlungen der Aranda nebst den dabei gesungenen 
Liedern anzuführen weiß. Spencer und Gillen, denen wir 
bisher das Beste über die Aranda verdankten, waren in einer 
Beziehung vor Strehlow im Nachteile, indem sie nur sehr 
unvollständig diese Sprache beherrschten, während Strehlow 
hierin Meister ist und damit tiefere Einblicke in das Denken 
der Schwarzen gewann, ihre Kultgesänge übersetzen und 
erklären konnte, was Spencer und Gillen nicht gelang. Aber 
auch abgesehen hiervon bleiben zwischen dem deutschen 
Missionar und den beiden englischen Forschern noch ver- 
schiedene Differenzen, über welche erst die Zukunft Auf- 
klärung bringen wird. Im ganzen haben wir aber jetzt ein 
gutes Bild der Aranda erhalten, das uns in das tiefste Fühlen 
und Denken dieses Volkes einführt. j 

Die totemistischen Kulte der Aranda und der Loritja 
(zwischen 24 und 27° südl. Br. und 131 und 136° östl. L.) 
gleichen sich in allen Einzelheiten vollständig, und nur die 
Benennungen sind verschieden. Nicht leicht ist es, den sehr 
genauen Beschreibungen des Werkes zu folgen, da sie stark 
mit den Arandawörtern durchsetzt sind, welche im Gedächtnis 


nicht haften und stets wieder, zum Teil in den vorhergehenden 
Bänden, aufgesucht werden müssen. Es ist dieses wohl nicht 
leicht zu umgehen, erschwert aber das Verständnis und die 
Lektüre ungemein. 

Merkwürdige Zeremonien und die Tjurungagesänge bilden 
einen Hauptinhalt der totemistischen Kulthandlungen, welche 
auf die Altjirangamitjina zurückgehen, in der Urzeit lebende 
göttliche Wesen, deren Name „die ewigen Unerschaffenen“ 
bedeutet. Sie lehrten ihren Novizen die religiösen Gebräuche 
und wie man die betreffenden Totemtiere und Totempflanzen 
mehren und stark machen könne. Darauf gehen also die 
Kulthandlungen zurück, die mit einem außerordentlich 
komplizierten Zeremoniell durchgeführt werden. 

Diese Lieder „bieten in ihrer Gesamtheit den ohne Unter- 
richt aufgewachsenen Schwarzen ein gutes Stück populärer 
Naturgeschichte dar“, da sie das Leben der Tiere, in welchen 
die Altjirangamitjina einst umherwanderten, schildern, und 
über die Totemtiere und Totempflanzen wird darin berichtet. 
Zum Teil stammen die Tjurungalieder aus alter Zeit und 
sind darum nicht mehr den Jüngeren verständlich; andere 
in der jetzigen Umgangssprache abgefaßte sind jünger. 
Diese Lieder nun, die alle in der Ursprache und in der Über- 
setzung mitgeteilt werden, bilden den Hauptinhalt des vor- 
liegenden Bandes, wobei stets die damit verknüpften, mannig- 
fachen Zeremonien beschrieben und in ihrer Bedeutung 
geschildert werden. Eigentliche Lieder in unserem Sinne 
sind es freilich nicht, vielmehr „ein näselndes Skandieren“. 
Ohne Erläuterungen sind sie nicht verständlich, da die ein- 
zelnen Verse scheinbar ohne logischen Zusammenhang an- 
einandergereiht sind, und diese Erläuterungen Strehlows sind 
es, welche es uns ermöglichen, die Lieder zu verstehen und 
damit in das Geistesleben der Australier und ihre totemistischen 
Anschauungen einzudringen. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Die Kraft des einst so gefürchteten Massaivolkes ist 
gebrochen, an Zahl und Viehbesitz hat es seit dem Beginn 
der 9er Jahre des vorigen Jahrhunderts gewaltig verloren. 
Soweit die Massai auf deutschem Gebiet leben, haben sie nun 
eine Reservation von etwa 5800 qkm in der Steppe südlich 
vom Kilimandscharo. Uns liegt eine von R. Schultze und 
M. Moisel bearbeitete Karte des Massai-Reservats in 
1:200000 vor, die in Bd.23 (1910) der „Mitt. a. d. dtsch. 
Schutzgeb.“ erschienen ist und viel Interessantes enthält. Sie 
greift überdies weit über die Grenzen des Reservats hinaus, 
nach Süden bis 4°40' s. Br. Verarbeitet sind alle älteren und 
viele neueren Aufnahmen, unter denen die des Majors v. 
Prittwitz und Gaffron als die umfangreichsten und wichtig- 
sten hervorzuheben sind. Deutlich sind die Wasserstellen 
der Massaisteppe bezeichnet. Das Reservat hat im Norden 
auch etwas fließendes Wasser: die Bäche, die am Kilima- 
ndscharo ihren Ursprung nehmen und entweder in der Steppe 
versiegen oder zum Pangani gehen, der die Ostgrenze des 
Reservats bildet. 

— Die kongolesisch-portugiesische Grenze in der 
Gegend des Dilolosees war bisher noch festzulegen. Es 
hatte sich herausgestellt, daß es unmöglich wäre, die Grenze 
hier nach den geographischen Angaben der diplomatischen 
Abmachungen zu ziehen. Deshalb haben nun Portugal und 
Belgien folgendes vereinbart: Die Grenze bildet der Lotembwe 
von seiner Mündung in den Kassai bis zu seiner Quelle, 
weiter östlich die Kongo -Sambesi- Wasserscheide. — Neuere 
Beobachtungen, so bemerkt dazu das Brüsseler „Mouv. geogr.“, 
haben übrigens ergeben, daß der Dilologee, der seit langen 
Jahren nur noch ein weiter Sumpf war, mehr und mehr 
zum Austrocknen neigt und hydrographisch zum Sambesi 
gehört. 

— Über die Riesenlandschildkröte der Insel 
Aldabra (Testudo elephantina) macht J. ©. F. Fryer, ein 
Mitglied der bekannten ,„Sealark“ -Expedition J. Stanley 
Gardiners, in seinem Aufsatz „The South-west Indian Ocean“ 
(Geogr. Journ. September 1910) Angaben. Danach kommt 
sie in ziemlicher Anzahl im Osten der Hauptinsel vor, findet 
sich aber, wenn auch nicht oft, überall in den übrigen Teilen 
des Atolls. Vielleicht scheint sie seltener, als sie wirklich 
ist; denn sie ist so scheu und hält sich so versteckt, daß 
man wohl jahrelang auf Aldabra leben kann, ohne ein 
Exemplar zu Gesicht zu bekommen. Tagsüber verbirgt sie 
sich im dichtesten Gebüsch, in der Nacht verläßt sie es und 





geht auf die Suche nach Nahrung, die in der nassen Jahres- 
zeit aus Blättern und Gras besteht, in der trockenen angeb- 
lich aus Baumrinde; doch frißt sie auch gierig eine Sukku- 
lente, die das ganze Jahr über in der Nähe von Brack wasser- 
pfützen wächst. Das Brutgeschäft findet im Februar und 
März statt. Die Schildkröte gräbt sich dann in einer mit 
Guano gefüllten Felshöhle ein Loch und legt dort ihre hart- 
schaligen Eier. Nach 60 Tagen sollen die Jungen auskriechen. 
Es ist der Vorschlag gemacht worden, man solle den ganzen 
Bestand an Riesenschildkröten von Aldabra nach den Sey- 
chellen bringen, um ihr Aussterben zu verhindern. Fryer 
hält aber diese Vorsichtsmaßregel für überflüssig, weil es 
auf den Seychellen schon einige Herden gibt und weil dieser 
Schildkröte auf Aldabra keine besondere Gefahr droht, so- 
lange die grüne Schildkröte der Ansiedelung reichliche und 
leicht zu bekommende Nahrung liefert. Der einzige Feind 
der Riesenschildkröte ist gegenwärtig die Ratte, die, durch 
at hierher verschleppt, für das Atoll eine Landplage 
bildet. 

Dann. bemerkt Fryer über die Verbreitung der Land- 
schildkröten über den Indischen Ozean: Vorgekommen sind 
sie auf den Seychellen, 8t.-Pierre, Cosmoledo, Assumption 
(wo er ihre Knochen gefunden hat), Aldabra, den Maskarenen 
und Madagaskar. Man könnte annehmen, daß sie kontinen- 
tale Inseln, wie die Seychellen, zu Lande erreicht haben. 
Das könne aber nicht für die Inseln rein ozeanischer Bildung, 
wie Aldabra, zutreffen, das nach seiner Struktur niemals 
Kontinentalverbindung gehabt habe. Sie gehörten nicht zu 
den Tierarten, die passiv, von der See, verbreitet werden, 
und deshalb habe es den Anschein, daß menschliche Tätig- 
keit mitgewirkt habe. Die auf Assumption und Cosmoledo 
gefundenen fossilen Schildkröten und ebenso die im Gestein 
auf Aldabra eingebetteten Knochen nötigten zu dem Schluß, 
daß jene Überführung durch menschliche Einwirkung in 
sehr frühen Zeiten stattgefunden haben müsse. Aber wir 
wüßten eben nichts über die Art, auf die so viele von den 
Inseln des südlichen Indischen Ozeans mit Riesenlandschild- 
kröten bevölkert worden seien. 

— Eine „Angkor-Gesellschaft“ für die Erhaltung 
und das Studium der alten Denkmäler Indochinas (Société 
d’Angkor pour la conservation des monuments anciens de 
l’Indo-Chine) hat sich „La Géographie“ zufolge in Paris ge- 
bildet. Präsident ist Emile Senart, Mitglied des Instituts, 
Schriftführer und Schatzmeister P. Guesde (Avenue Élisée- 
Reclus 15), der jährliche Mitgliedsbeitrag ist wenigstens 5 Fr. 





Kleine’Nachrichten. 





Erklärt wird die Begründung dieser neuen Gesellschaft damit, 
daß Frankreich durch den Vertrag mit Siam vom 28. März 
1907 auch in den Besitz der Denkmäler der Provinzen Bat- 
tambang, Siemreap und Sisophon gelangt sei, nachdem es 
die von Kambodja und Annam bereits besessen habe, und 
daß es seine Pflicht sei, für diese Altertümer zu sorgen. 


-- Theobald Fischer, Professor der Erdkunde an der 
Universität Marburg, der ausgezeichnete Kenner der Mittel- 
meerländer, denen seine wissenschaftliche Lebensarbeit ge- 
golten hat, ist am 17. September in Marburg gestorben. 
Fischer, der am 31. Januar 1846 zu Kirchsteitz im preußi- 
schen Sachsen geboren ist, studierte unter anderem in Bonn 
und Heidelberg Geschichte, wandte sich aber bald geo- 
graphischen Studien zu und besuchte nach Abschluß seiner 
Universitätsjahre Südeuropa (1868 bis 1876), später, 1886, 
Tunisien und Ostalgerien und, 1888, Westalgerien und einige 
Punkte Nordmarokkos. 1899 und 1901 folgten zwei For- 
schungsreisen im nordwestmarokkanischen Atlasvorlande. 
Auf diesen kleineren und größeren Reisen machte Fischer 
sich persönlich mit den Gegenden bekannt, denen auch seine 
literarischen Studien galten, und er hatte dabei viel Gelegen- 
heit, Lücken unserer geographischen Kenntnis auszufüllen. 
Seine akademische Lehrtätigkeit begann in Bonn, wo er sich 
1876 als Privatdozent für Geographie habilitierte, 1879 erhielt 
er die Kieler erdkundliche Professur und 1883 die Marburger. 
Fischer hat bis in die jüngste Zeit eine rege schriftstellerische 
Tätigkeit entfaltet, und in Zeitschriften der verschiedensten 
Art begegnet man seinen Arbeiten und Gelegenheitsaufsätzen, 
die er wenige Jahre vor seinem Tode in den „Mittelmeer- 
bildern“ (Leipzig 1906, neue Folge 1908) gesammelt heraus- 
gegeben hat. Andere wichtigere Veröffentlichungen sind: 
„Beiträge zur physischen Geographie der Mittelmeerländer, 
besonders Siziliens“ (1876, Habilitationsschrift); „Studien über 
das Klima der Mittelmeerländer*, Ergänzungsheft 58 zu 

„Peterm. Mitt.“ (Gotha 1879); „Die Dattelpalme“ , Ergänzungs- 
heft 64 zu „Peterm. Mitt.“ (Gotha 1881); „Beiträge zur 
Geschichte der Erdkunde und Kartographie in Italien im 
Mittelalter“ (1886); „Wissenschaftliche Ergebnisse einer Reise 
im Atlasvorlande von Marokko“, Ergänzungsheft 133 zu 

„Peterm. Mitt.“ (Gotha 1901); „Meine dritte Forschungsreise 
im Atlas-Vorlande von Marokko“ in den „Mitt. geogr. Ges. 
Hamburg“ 1902; „La Penisola italiana“ (Turin 1902); „Der 
Ölbaum“, Ergänzungsheft 147 zu „Peterm. Mitt.“ (Gotha 1904). 
Eine geschlossene Darstellung des ganzen Mittelmeergebietes, 
das man ja als eine geographische Provinz für sich be- 
trachten kann, hat Fischer zwar vorgehabt, aber nicht mehr 
geliefert, dagegen eine wissenschaftliche Landeskunde der 
drei südeuropäischen Halbinseln für Kirchhoffs „Länderkunde 
von Europa“. Fischer interessierte schlechtweg alles, was 
das Mittelmeergebiet anging, auch die politischen Vorgänge, 
so zuletzt die marokkanische Frage, und auch über diese 
Dinge hat er manches geschrieben. Innerhalb seines engeren 
Studienfeldes war er von der denkbar größten Vielseitigkeit, 
ohne indessen im geringsten die allgemeinen Aufgaben zu 
vernachlässigen, die ihm aus seiner Stellung als Hochschul- 
lehrer der Erdkunde erwuchsen. 


— Bergbesteigungen im Kaukasus. Neben mehreren 
Besteigungen des Kasbek (unter anderem auch durch zwei 
Russinnen) sind in diesem Sommer auch mehrere Besteigungen 
des Ararat und des Elbrus zu verzeichnen. Der am 12. 
und 13. August (n. St.) vollzogene Aufstieg auf den Ararat 
hatte den Zweck, die vor einigen Jahren auf dem Gipfel in 
einer Kiste eingelegten Instrumente abzulesen bzw. zu kon- 
trollieren. Dem damit beauftragten Beamten des Tifliser 
Observatoriums, Dr. Rosenthal, schlossen sich mehrere Aus- 
länder an. Als Führer dienten zwei Kurden. Eine Partie 
war um 5 Uhr früh von Sardar-Bulach (im Sattel zwischen 
dem großen und kleinen Ararat) aufgebrochen, erreichte den 
Gipfel um 4 Uhr nachmittags und war um 9 Uhr abends 
schon wieder auf dem Ausgangspunkt. Die zweite Partie 
nächtigte beim Aufstieg zweimal in 3600 m und 4400 m Höhe 
und einmal beim Abstieg, so daß sie erst zu Mittag des 
vierten Tages nach Sardar-Bulach zurückkehrte. Leider war 
die Kiste mit den Meßinstrumenten nicht mehr auf ihrem 
Platze, sondern während eines Sturmes von der Stelle gerückt 
und an den Felsen zerschellt worden, wobei alle Instrumente 
zerbrochen waren. 

Am 23. August (n. St.) wareu zwei Partien kurz nach- 
einander auf dem Elbrus. Näheres ist nur von der zweiten 
Partie bekannt, welche aus dem wirklichen Mitglied der 
kaiserl. russischen geographischen Gesellschaft W. W. Dub- 
janski und dem Professor an dem Polytechnikum zu Warschau 
W. J. Isaew nebst einem einheimischen Führer bestand. 
Diese übernachtete auf dem Terskol-Pik (3625 m), erreichte 


von dort den Ostgipfel (5593 m), nach 14 Stunden, trat den 
Rückweg um 4 Uhr nachmittags an, ruhte auf einem Firn- 
feld in Erwartung des Mondes (in 4100 m) zwei Stunden und 
erreichte obengenannten Pik wieder um 11 Uhr nachts. Die 
Temperatur auf dem Gipfel betrug —5° C, der Luftdruck 
375mm. Bei sehr klarem Wetter sah man die beiden Meere 
im Westen und Osten sowie nach Südsüdosten die gewaltigen 
Umrisse des Ararat. Auf dem Gipfel fand man in einem 
Steinhaufen die Visitenkarten der Herren Hug und de Rhamm 
aus Lausanne, welche einige Stunden früher dagewesen 
waren und sich nach dem Westgipfel begeben hatten. Sie 
waren auch vom Terskol aufgestiegen. Es erweist sich, daß 
dieser Weg der bequemste und bei gutem Wetter für geübte 
Bergsteiger nicht schwer ist. H. 


— Die deutsch-holländische Abgrenzungs-Kom- 
mission in Neuguinea, die von der Nordküste aus in der 
Gegend des 141. Meridians ö. L. nach Süden vordringen 
sollte, ist, wie ja schon von vornherein zu befürchten war, 
nicht weit landeinwärts gekommen. Schwierigkeiten der Ver- 
pflegung, auch hier eine Folge des scheuen oder feindseligen 
Verhaltens der Eingeborenen, zwangen die Expedition unter 
3° 20' s. Br., also von einem von der Küste nur etwa 75km 
entfernten Punkte, zur Umkehr. Wie der deutsche Leiter 
Prof. L. Schultze berichtet (vgl. „Kolonialblatt“ vom 15. Sep- 
tember), erfolgte der Abmarsch von der Küste am 12. Juni 
dieses Jahres, doch erkrankte bald einer der deutschen Teil- 
nehmer, Oberleutnant Findeis, so schwer, daß er sofort die 
Rückreise antreten mußte. Die deutsche und die holländische 
Abteilung marschierten getrennt voneinander, hielten aber 
stete Fühlung. Nachdem in 1600m Höhe ein der Küste 
parallel laufender Gebirgszug überschritten worden war, ge- 
langte man in eine weite Ebene, in der ein westwärts 
strömender wasserreicher Fluß aufgefunden wurde, der ver- 
mutlich zum weit im Westen mündenden Mareberamo ge- 
hören wird. Die Ebene war bewohnt, die Eingeborenen aber 
zogen sich vor der Expedition überall zurück oder zeigten 
sich räuberisch und feindselig, so daß ein Verkehr mit ihnen 
unmöglich war. Hierdurch entstanden Verpflegungsschwierig- 
keiten, und da es in jener wasserreichen Ebene überdies an 
Wegen mangelte, so mußte die Kommission sich am 15. Juli, 
also nach fünfwöchiger Reise, zur Rückkehr an die Küste 
entschließen. Nunmehr beschloß sie, den Kaiserin-Augusta- 
Fluß hinaufzufahren und mit dessen Hilfe den Grenzmeridian 
an einem südlicheren Punkte zu erreichen. Dieser Fluß 
kommt höchstwahrscheinlich aus dem holländischen Gebiete. 
Die Fahrt wurde Ende Juli auf einem flachgehenden hollän- 
dischen Flußkanonenboot angetreten. 


— Im Heft 3 der diesjährigen „Mitteilungen aus deutschen 
Schutzgebieten“ veröffentlicht Leutnant Hans Kaufmann 
sehr interessante Aufzeichnungen über die Auin-Busch- 
männer (= 'Aukwe), die er auf Veranlassung des Schutz- 
truppenkommandos nach Fragebogen des Berliner Museums 
für Völkerkunde in Rietfontein-Nord gemacht hat. Seine 
Arbeit enthält eine Fülle der interessantesten Notizen, die 
neben schon bekannten Dingen sehr viel neues Material ent- 
halten. Es freut mich festzustellen, daß speziell meine eigenen 
Beobachtungen über das Nachbarvolk der !Aikwe im Chanse- 
feld hierdurch ganz bedeutend erweitert und vertieft wurden, 
namentlich unsere Kenntnisse der Spiele, Rechtspflege, Religion, 
Ehe, sozialen Verhältnisse. Daß die Buschmänner auch Frauen- 
und Junggesellenhäuser — oder vielmehr -Windschirme — 
haben, ist gewiß überraschend. Es sei auf diesen Aufsatz 
ausdrücklich aufmerksam gemacht. Passarge. 


— Die merkwürdigen Karstgebiete im nördlichen 
Yucatan und die durch die Art der Wasserversorgung her- 
vorgerufenen Veränderungen in den Lebensbedingungen der 
Eingeborenen hat Dr. Cole im „Bull. American Geogr. Soc.“ 
(Mai 1910) behandelt. Das Gebiet, so führt Cole aus, liegt 
zwar in den Tropen, hat aber keineswegs eine üppige Vege- 
tation; die Wälder sind nur spärliches Strauchwerk, und die 
Gegend ist eine halbaride Ebene. Der Grund dafür liegt 
aber weniger im Regenmangel als in dem porösen Kalkgestein, 
das das Wasser wie ein Schwamm aufsaugt und nur eine 
dürftige Bedeckung mit Erde zeigt. Von Flüssen gibt es nur 
einige wenige kurze Wasserläufe an der Ostküste; sie sind 
wahrscheinlich unterirdische Flüsse gewesen, deren Dach ein- 
gestürzt ist. Es sind indessen Vertiefungen, wie sie überall 
in Kalksteingebieten vorkommen, vorhanden, und die enthalten 
Wasser, das mit dem in den unterirdischen Höhlen auf 
gleichem Niveau zu stehen scheint. Die Nordküste entlang 
strömt das Wasser in Quellen auf dem Meeresboden aus, und 
das macht man sich manchmal zunutze: man sammelt dieses 
süße Wasser, indem man ausgehöhlte Baumstämme über die 


228 


Kleine Nachrichten. 





Quellen im Meeresboden stellt, so daß es sich nicht mit dem 
Salzwasser mischen kann, und so gewinnen die Bewohner 
einzelner Küstendörfer ihr Trinkwasser dadurch, daß sie mit 
ihren Kanus in die See hinausfahren. Das ist aber nur bei 
schönem Wetter möglich; herrscht Sturm, so müssen sie sich 
Wasser aus dem Innern des Landes holen. Die Küstenquellen 
sind die Ausmündungen der unterirdischen Flüsse, und die 
Binnendörfer sind auf deren Linie errichtet, überall dort, wo 
sich Löcher finden. Trotz dieser offenbar ungünstigen Ver- 
hältnisse herrschte dort ehemals die hohe Mayakultur. Ihre 
Städte legten die Mayas alle in der Nähe von großen Benk- 
löchern an; denn sie gruben keine Brunnen. Heute findet 
man überall Brunnen, deren Wasser durch Windmühlen ameri- 
kanischen Systems emporgehoben wird; sie verleihen der 
Landschaft ein eigentümliches Gepräge. 


— Die verdienstvolle Amerikanistin Zelia Nuttall be- 
schäftigt sich in ihrer Abhandlung „A Curious Survival in 
Mexico of the Use of the Purpura Shell-fish for Dyeing“ 
(Putnam Anniversary Volume, p. 368—384) mit der Tech- 
nik der Purpurfärberei in Zentralamerika und 
Mexiko. Diese ist heute noch unter den Indianern von 
Tehuantepec im Schwange. Aus älteren Quellen (Thomas 
Gage, Ulloa) geht ihre Ausübung auch für den Golf von 
Nicoya in der. Republik Costa Rica hervor. Nach meinen 
Studien in Costa Rica kann ich hinzufügen, daß die Purpur- 
färberei mit Purpura patula Linn. auch am Golfo Dulce bei 
den Terraba- und Borucaindianern heute noch sich erhalten 
hat. Verschiedene Gewebe mit purpurgefärbten Streifen be- 
finden sich in meinen Sammlungen im Berliner Museum für 
Völkerkunde. Pablo Biolley (Elementos de Historia Natural, 
8.123/24, San Jose 1899) erwähnt von der pazifischen Küste, 
auf die übrigens die Purpurmuschel nicht beschränkt ist, die 
Purpura melones Duclos (caracol de tinte morado) als zum 
Färben von Baumwollfäden verwandt. Carl Scherzer (Die 
Republik Costa Rica in Zentralamerika, S. 462/63, Leipzig 
1856) macht nähere Angaben über die Purpurschnecken des 
Golfs von Nicoya. Er nennt sie Caracolla albilatris und 
fügt hinzu, daß es auch noch andere Schaltiere im Golfe 
gibt, die zu Färbezwecken ‚Verwendung finden. Vom Golfo 
de Nicoya und Golfo Dulce wird das Vorkommen der Pur- 
purschnecke von Joaquin Bernardo Calvo (The Republic of 
Costa Rica, S. 119, Chicago und New York 1880) bezeugt. 

Die gelehrte Verfasserin knüpft an die Purpurfärberei 
in Amerika Betrachtungen über die Purpurindustrie der 
Alten Welt. Sie schließt aus dem Vorhandensein der Pur- 
purfärberei, der tetrarchischen Regierungsform, des zykli- 
schen Kalenders, des Gebrauchs von Perlen und Muschel- 
trompeten, dem Reichtum an Edelmetallen an bestimmten 
Gegenden der Neuen und Alten Welt, daß Beeinflus- 
sungen der letzteren auf die erstere in präkolumbischer Zeit 
stattgefunden haben könnten, die sich in indianischen Her- 
kunftssagen dunkel widerspiegelten. Die Verfasserin glaubt, 
daß es sehr unwahrscheinlich sei, daß die Eingeborenen 
Amerikas aus sich selbst heraus die Güter ihrer Kultur ent- 
wickelt hätten, da namentlich das entnervende Klima Mexi- 
kos und Zentralamerikas wenig dazu geeignet sei, geistige 
und körperliche Kräfte zu entfalten. 

Ich kann mich dieser Ansicht nicht anschließen, vor 
allem, weil die Kulturen des alten Amerika einen durchaus 
eigenartigen Stil und Charakter besitzen, und weil es nicht 
einzusehen ist, warum nicht auch die Indianer unabhängig 
von altweltlichen Kulturen sich entwickelt haben sollen. 
Die Zentren dieser Kulturen befanden sich in den klimatisch 
günstigen Hochländern, wo von einer Entnervung überhaupt 
weniger die Rede sein kann, einer Entnervung, die übrigens 
weit mehr den Europäer und Mischling als den reinen In- 
dianer in Mitleidenschaft zieht. Endlich vermag ich eine 
Parallele zwischen griechischen Tetrarchien und tetrarchischen 
Regierungsformen in Mexiko nicht zu erblicken, da die Ver- 
hältnisse in Mexiko doch ganz anders liegen. Was das Kalender- 
system anlangt, so ist auch zwischen den „Elementen“ des 
Empedokles und den Zeichen der vier Jahre in Mexiko ein 
sehr großer Unterschied. Die zyklischen Zahlensysteme der 
Mexikaner beruhen auf Kombinationen, in denen die Zahl 
13 eine Rolle spielt, die durchaus nur für Amerika typisch 
ist. Der Gebrauch der Purpurmuschel an der pazifischen 
Küste Amerikas kann sehr wohl unabhängig von Mittelmeer- 
kulturen entstanden sein, da man einfach empirisch benutzte, 
was die Natur von selbst darbot. 

Ganz ähnlich liegt es mit den Muscheltrompeten. Die 
Vorliebe für Perlen, da, wo Purpurfärberei ausgeübt wurde, 
hängt vielleicht, falls es wirklich eine besondere Vorliebe ist, 
damit zusammen, daß mit den Purpurmuscheln gleichzeitig 
auch, Perlmuscheln gefunden und verwendet wurden. Perlen 
und Purpur sind jedenfalls überall auf der Welt geschätzte 





Kostbarkeiten gewesen, und so konnte sich an den Plätzen, 
wo sie gefunden wurden, schnell ein reger Handelsverkehr 
entwickeln, der leicht auch Gold, Silber und Kupfer im Ge- 
folge hatte. 

Ich vermag nicht einzusehen, warum alle diese Beob- 
achtungen in Amerika nicht ebensogut und unabhängig ge- 
macht worden sein konnten als wie am Mittelmeer. 


Ich stimme der Verfasserin bei, wenn sie selbst zum 
Schlusse bekennt, daß zur Lösung der Frage eines Kontaktes 
zwischen der Neuen und der Alten Welt in präkolumbischer 
Zeit es noch vieler Zeit und weiterer Entdeckungen bedarf. 

München. Dr. Walter Lehmann. 


— In seiner chemischen Untersuchung einiger Bronze- 
und Eisenfunde der La Tene-Zeit betont H. Rupe (Verhdlgn. 
der naturf. Gesellsch. zu Basel, 21. Bd., 1910), daß wir noch 
sehr wenig über die Methoden der Eisengewinnung 
bei den alten Völkern wissen, da die Angaben der 
Schriftsteller meist sehr dürftig sind. Zwar ist man ziemlich 
gut orientiert, wie zur römischen Kaiserzeit Eisen gemacht 
wurde; dafür begegnet man genaueren Angaben über die 
Eisenbereitung im Norden der Alpen erst im späteren Mittel- 
alter. Bis dahin ist man auf die spärlichen Ergebnisse von 
Ausgrabungen und zufälligen Funden angewiesen. Wohl 
die genauesten Angaben über prähistorische Eisenschmelzen 
im Norden der Alpen machte der weiland Berner Minen- 
und Hütteningenieur A. Quiqurez 1871, der auch die Ab- 
bildung eines von ihm im Modell hergestellten antiken 
Schmelzofens veröffentlichte. Freilich reichten die in diesem 
prähistorischen, wohl sogar die in den Öfen des früheren 
Mittelalters erreichten Hitzegrade zum Schmelzen des Eisens 
kaum hin. Es mußte also damals der Kunst des Schmiedes 
vorbehalten bleiben, dieses rohe Eisen durch wiederholtes 
Glühendmachen und fleißiges, oft wiederholtes Aushämmern 
mehr oder weniger homogen zu gestalten. Die Atzfiguren 
zeigen denn auch, in welchem Maße das dem prähistorischen 
Schmiede gelungen ist: Je mehr Spalten und Schlacken- 
einschlüsse vorhanden sind, um so mehr dunkle und helle 
Stellen gibt es, um so weniger gut ist dem Schmied von 
anno dazumal also seine Arbeit geraten. 


"— In einem Kloster entdeckte Ed. A. Holmberg jr. zwei 
bemalte, arg beschädigte Lienzos, die Juan B. Ambrosetti 
erhielt und restaurieren ließ. Das eine derselben — vgl. 
Ambrosettis Abhandlung „Un documento gräfico de etno- 
grafia peruana de la época colonial“ (Buenos Aires 1910) — 
aus dem 16. Jahrhundert behandelt ein Wunder der 
Jungfrau Maria während der Belagerung von Cuzco 
durch den Inka Manco. Man sieht die Festung Bacsahuaman, 
brennende Häuser, Gruppen bewaffneter Indianer, im ganzen 
einige 90 Figuren, deren Tracht und Bewaffnung ethno- 
graphisch von Interesse ist. Vermutlich entspricht dieses Bild 
der von P. Acosta aufgezeichneten Legende und einer von den 
Indianern hergestellten „gewebten“ Darstellung, die aus der Ca- 
pilla del Triunfo von einem Geistlichen vor langer Zeit ent- 
wendet wurde und später nach Argentinien gelangte, wobei 
Ambrosetti allerdings voraussetzt, daß jene „Darstellung“ 
kein indianisches Gewebe, sondern das Werk eines indiani- 
schen Malers gewesen ist. Inwieweit diese Annahme richtig 
ist, sei dahingestellt, da es sehr wohl möglich ist, daß außer 
diesem Bilde auch noch eine gewebte bildliche Darstellung 
des erwähnten „Wunders“ existiert hat. 

München. Dr. Walter Lehmann. 


— Radestock geht (Zeitschr. f. soz. Med., 5. Bd., 1910) 
auf die Luftdruckschwankungen als Ursache der 
plötzlichen Todesfälle ein. Früher glaubte man, daß 
der sogenannte Schlag sich ganz besonders zur Zeit der 
Aquinoktialstürme, d. h. im letzten Drittel der Monate März 
und September einstelle. Die Todesursachenstatistik zeigt 
aber, daß die meisten derartigen Sterbefälle der Reihe nach 
in den Monaten Januar, März, Dezember eintreten, die 
wenigsten in die Monate September, August, Oktober, Juni 
und Juli fallen. Nun haben jene drei erstgenannten Monate 
zweifellos die meisten Tage mit raschen und starken Luft- 
druckschwankungen aufzuweisen, bei denen sich das Fallen 
des Barometers innerhalb von 24 Stunden um mehr als 5mm 
feststellen läßt. Diese Schwankungen erheblicher Natur gehen 
zweifellos Hand in Hand mit den plötzlichen Todesfällen an 
Herzschlag, Gehirnschlag oder Altersschwäche, kurz betreffen 
Leute mit Herzerkrankungen oder Leidende mit Gefäß- 
erkrankungen. Jedenfalls sollten sich diese Individuen bei 
starken Barometerschwankungen möglichst ruhig verhalten, 
keine körperlichen Anstrengungen auf sich laden, ja nach 
Möglichkeit das Ausgehen überhaupt vermeiden. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schüneberg-Berlin, Hauptstraße 655. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE. i 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 








BRAUNSCHWEIG. 





20. Oktober 1910. 





Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika '). 


Von Prof. Dr. K. von Rümker. 


Die Naturdenkmalpflege hat in den letzten Jahr- 
zehnten auch in Deutschland Wurzel geschlagen. Man 
ist allmählich durch die wiederholten Hinweise von Prof. 
Dr. Conwentz und anderen dahin gekommen, Seltenheiten 
des Pflanzenwachstums, besondere Schönheiten der Na- 
tur usw. vor Zerstörung durch Mutwillen, Roheit, Ge- 
schmacklosigkeit, oder Unverstand, oder auch durch die 
Einwirkungen der Kultur zu bewahren. In früheren 
Zeiten „sammelte“ man Gegenstände aus der Natur, 
welche transportabel waren, und stellte sie wohl etiket- 
tiert in naturhistorischen Museen auf. Dieses Verfahren 
hat selbstverständlich auch heute noch in vielen Fällen 
seine volle Berechtigung, soweit dadurch ein Nutzen für 
die Allgemeinheit gestiftet wird, welcher den der schonen- 
den Erhaltung an Ort und Stelle aus irgend welchen 
Gründen übertrifft. Andererseits ist aber ohne Frage 
ein Fortschritt darin zu erblicken, daß man versucht, 
auch transportable Schönheiten oder Merkwürdigkeiten 
der Natur an dem Orte ihres Vorkommens zu erhalten 
und durch Beschreibung, Abbildungen usw. auf sie hinzu- 
weisen und zu ihrer Besichtigung anzuregen. Die Wahr- 
scheinlichkeit, daß sie auf diese Weise einer größeren 
Zahl von Beschauern zugute kommen und durch ihren 
Besuch in der Natur zur aufmerksamen und verständnis- 
vollen Naturbetrachtung anregen, das Volk also gewisser- 
maßen zur Liebe der Natur erziehen, ist jedenfalls größer 
als der Nutzen durch ihre Speicherung in Museen, welche 
durch Anhäufung derartiger Gegenstände mitunter den 
Charakter naturhistorischer Raritätenkabinette annehmen. 
Diese Kleinarbeit der Naturdenkmalpflege hat schon ihre 
große ethische und pädagogische Bedeutung, wieviel mehr 
aber erst die Naturdenkmalpflege großen Stils, die es 
sich zur Aufgabe macht, die Schönheit oder Eigenart 
ganzer Gegenden und größerer Gebiete vor den schabloni- 
sierenden Einflüssen der Kultur zu bewahren und in ihrer 
Ursprünglichkeit und Unberührtheit möglichst zu erhalten. 

Der neuerdings in Stuttgart gegründete „Verein 
Naturschutzpark“ verfolgt diese großen Zwecke nunmehr 
auch in Deutschland, und es wäre im Interesse der geistigen 
und körperlichen Gesundheit unseres Volkes wohl zu 
wünschen, daß seine Bestrebungen von einem entsprechen- 
den Erfolge gekrönt sein möchten. ` 

Die in den rasch anwachsenden Großstädten sich 
immer mehr zusammenballenden Bevölkerungsmassen 
suchen, soweitihre Mittel es erlauben, Erholung und Er- 
frischung von der nervenzerrüttenden Tätigkeit und den 


!) Unter Benutzung der einschlägigen Literatur auf 
Grund eigener Anschauung behandelt. 
Globus XCVIII. Nr. 16. 


Breslau. 


oft gesundheitsgefährdenden Einflüssen der Wohnungen 
dieser Städte in Sommerfrischen und Kurorten aller Art, 
deren Zahl schon sehr groß ist, aber immer noch weiter- 
wächst, indem immer neue, für diese Zwecke geeignete 
Plätze „entdeckt“ werden. Zuerst abgelegen, ländlich ein- 
fach, still, billig und ohne jeden Komfort, entwickeln sie 
sich nach Herstellung einer Eisenbahn- oder Dampfboot- 
verbindung mitunter in fabelhafter Geschwindigkeit, und 
mit dieser Entwickelung ziehen nicht nur die Vorteile, 
sondern auch die Nachteile der Kultur ein. Es dauert nicht 
lange, so tummeln sich große Menschenhaufen, mit den un- 
vermeidlichen Konzerten, Feuerwerken usw. Staub, Lärm 
und schlechte Luft verbreitend, an diesen Orten umher 
und erreichen für vieles Geld nichts weiter als eine Ab- 
wechselung, selbstverständlich aber nicht Ruhe, Erholung, 
Erfrischung und Abspannung der Nerven. Der richtige 
Großstädter glaubt vielfach ohne diesen ganzen Groß- 
stadtzauber nicht bestehen zu können und langweilt sich, 
wenn er ihn für einige Wochen vollkommen entbehren 
soll; es genügt ihm oft schon, wenigstens den Schein 
davon um sich zu haben, wenn dieser Abglanz groß- 
städtischer Überkultur in:mehr oder weniger dörfischer 
Nachahmung mitunter auch fadenscheinig und abge- 
schmackt genug erscheint. 

Die großstädtische Entwickelung, welche hier nicht 
selten als Karikatur in die Kur- und Erholungsstätten _ 
verpflanzt wird und welche das heiß erstrebte Ziel der 
betreffenden Kommunalverwaltungen zu sein pflegt, ist 
zweifellos eine Folge der Geschmacksrichtung des Publi- 
kums; indem man ihr folgt, nutzt man sie aus, zieht 
Gäste und mit ihnen Geld an, und das ist der Zweck 
der Übung. Daß diese Geschmacksrichtung verfehlt ist, 
kann keinem Zweifel unterliegen, denn das, was der 
Großstädter an einem Erholungsaufenthalt braucht, kann 
er dadurch, daß er seine Großstadtatmosphäre mitnimmt 
oder mit Vorliebe dahin geht, wo er šie mit einiger 
Wahrscheinlichkeit anzutreffen hoffen darf, natürlich 
nicht finden. 

Wieviel gesünder, erfrischender und ethisch heilsamer 
ist im Vergleiche zu diesem Treiben moderner Kurorte 
und Sommerfrischen mit großstädtischer Politur der Be- 
such eines Stückes unberührter Natur und der Aufenthalt 
in derselben. Amerika hat uns in dieser Richtung seit 
mehreren Jahrzehnten das Vorbild geliefert, und erst 
jetzt schicken wir uns an, ähnliche Wege zu beschreiten. 
Die Vereinigten Staaten besitzen mehrere sogenannte 
„Nationalparks“, von denen ich hier einen, und wohl den 
größten, nämlich den „Yellowstone-Park“ näher be- 
schreiben will, da ich ihn im Sommer 1909 selbst zu 


30 


230 


von Rümker: Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika. 





besuchen das Glück hatte. Andere Nationalparks sind 
der „Yosemite- Nationalpark“ in Kalifornien und der 
„Sequoia-Nationalpark“ südlich davon, beide in der Sierra 
Nevada gelegen. Diese sogenannten „Nationalparks“ 
sind mitunter sehr bedeutende Territorien und nichts 
weniger als Parks in unserem Sinne, in denen mit Kunst 
und mehr oder weniger Geschmack Landschaftsbilder 
konstruiert werden, die ursprünglich nicht vorhanden 
waren, sondern sie sind ein Stück Natur, welches mit 
größter Schonung in seiner ganzen natürlichen Schönheit 
und Wildheit dem Beschauer unter strenger, gesetzmäßiger 
Anweisung für seinen Besuch und Genuß zugänglich 
gemacht ist, in dem Maße und Sinne, daß die Natur in 
ihrem Zustande nur die möglichst geringste Änderung 
erfährt. Es ist daher vielleicht nicht ohne Interesse und 
Nutzen, die Entwickelung eines solchen Gebietes zu einem 
nationalen Naturheiligtum kennen zu lernen. 


Der Yellowstone-Park. 


1. Vergangenheit und Gegenwart. Das Gebiet 
des Yellowstone-Parkes gehörte ursprünglich zum größten 
Teile in seiner nördlichen Hälfte bis zum Yellowstonesee 
zu Louisiana und damit zu Frankreich, der kleinere 
südliche Teil zu Mexiko. Ersterer wurde von den Ver- 
einigten Staaten 1803 unter dem Präsidenten Jefferson 
mit Louisiana käuflich von Frankreich erworben für die 
Summe von 15000000 Dollar. Der kleinere südliche 
Teil wurde 1847 unter dem Präsidenten Tyler nebst allen 
Besitzungen, welche nördlich des Rio Grande del Norte, 
also, kurz gesagt, nördlich der jetzigen mexikanischen 
Grenze liegen, an die Vereinigten Staaten abgetreten 
gegen eine Summe von ebenfalls 15000000 Dollar. 

Heute gehört der überwiegend größte Teil des Yellow- 
stonegebietes zum Staate Wyoming, ein schmaler Nord- 
rand und die Nordhälfte eines schmalen Westrandes zum 
Staate Montana und die südliche Hälfte eines schmalen 
Westrandes zum Staate Idaho. Das Yellowstonegebiet 
liegt also im Nordwesten der Union, im Herzen des Felsen- 
gebirges. Seine Ausdehnung beträgt von Ost nach West 
ungefähr 80, von Nord nach Süd ungefähr 100 km, seine 
Fläche ist genau 8671 qkm groß, also größer als das 
Großherzogtum Hessen, das nur 7682 qkm umfaßt. Dieses 
Parkgebiet wird aber weiter begrenzt von riesigen Wald- 
reserven, welche ebenfalls Eigentum der Zentralregierung 
der Vereinigten Staaten sind, so von der 33850 qkm 
. großen Yellowstone- und der 3290 qkm großen Madison- 
Waldreserve, welche beide nicht zur Parkverwaltung 
gehören, aber vorläufig ebenfalls vollkommen unberührte 
Wildnis enthalten. 

Der Yellowstone-Park im engeren Sinne liegt auf 
einem etwa 2400 m hohen Plateau (der Große St. Bern- 
hardpaß in der Schweiz hat eine Höhe von 2472 m), er 
befindet sich also in vollkommener Hochgebirgslage. 
Dieses Plateau ist zwischen die Parallelketten des Felsen- 
gebirges eingebettet und durchschnitten von tiefen 
Schluchten, in welchen meistens Gebirgsflüsse hinrauschen, 
der Yellowstonefluß, der Gardinerfluß, der Lamarfluß und 
andere. Die Bergketten, welche das Plateau überragen, 
steigen bis zu Höhen von 3000 bis 3600 m auf und sind 
zum Teil mit ewigem Schnee bedeckt. Die wundervolle 
Geyserwelt dieses Gebietes wurde erst spät bekannt. Den 
Indianern sind diese heißen Quellen sicher nicht fremd 
gewesen, aber wie es natürlich erscheint, war dieses aber- 
gläubische Naturvolk mit scheuer Furcht davor erfüllt 
und hat an Weiße nichts darüber verraten. Die erste 
Kunde von den Merkwürdigkeiten der dortigen Natur 
stammt von französischen und englischen Pelzhändlern 
und Trappern, welche dieses Gebiet schon am Ende des 
18. Jahrhunderts durchstreiften, denn 1797 taucht der 


Name „Roche jaune“ und „Yellowstone“ dafür auf, der 
offenbar von der Farbe der hier vorherrschenden Felsarten 
herrührte. Auch dieIndianer hatten den Namen „Mi tsia 
da zi“ dafür, was auf deutsch etwa Gelbfelsenfluß heißt 
und dem englischen „Yellowstone“ entsprechen würde. 

Nachdem dieses Gebiet 1803 für die Vereinigten 
Staaten erworben war, schickte Präsident Jefferson eine 
Expedition unter der Führung von Lewis und Clark aus, 
um einen Weg durch den neuen Nordwesten der Union 
nach dem Großen Ozean zu suchen. An dieser Expedition 
nahm auch der Amerikaner John Colter teil. Er kam 
im Jahre 1806/07, also zehn Jahre nach dem Auftauchen 
der ersten Nachrichten über diese Gegend, in das Yellow- 
stonegebiet. Er entdeckte einige „heiße Quellen mit 
stinkendem Wasser“ und fühlte sich von der Großartig- 
keit und Absonderlichkeit der Naturschönheit dieser 
Gegend derartig angezogen, daß er die Expedition Lewis 
und Clark verließ, sich den Indianern anschloß und unter 
deren Führung das Gebiet weiter durchstreifte Er kam 
erst nach zwei Jahren, auf einem Kanu den Mississippi 
allein herabfahrend, nach St. Louis zurück, wo er zu Hause 
war. Der romantische Reiz des Yellowstonegebietes ver- 
anlaßte ihn bald darauf, eine zweite Erkundungsfahrt 
dorthin zu unternehmen, auf welcher er wiederum mit 
seinen indianischen Freunden jene Gebirge durchstreifte. 
Als er von dieser zweiten Fahrt im Jahre 1809 nach 
St. Louis heimkehrte, hatte er immer noch nicht alles 
gesehen. Seine Erzählungen klangen so abenteuerlich, 
daß man sie für grobe Lügen hielt und ihnen keinen 
Glauben schenkte. 

Nach diesen ersten mündlichen Überlieferungen durch 
John Colter blieb für lange Zeit alles still, und die 
Schwarzfußindianer beherrschten das Gebiet ungestört, 
wenn sie auch hin und wieder Zusammenstöße mit weißen 
Pelzhändlern und Trappern hatten, so z. B. mit den beiden 
bekanntesten aus jener Gegend, mit James Bridger und 
Josef Meek, die um 1830 herum, von ihren Streifzügen 
heimkehrend, die ersten Nachrichten von den großen 
Geyserbecken, von versteinerten Bäumen und großen 
Obsidianfelsen mitbrachten. Aber auch diese Berichte 
fanden keinen Glauben, obgleich sie die inzwischen aller- 
dings vergessenen älteren Nachrichten Colters teilweise 
bestätigten. 

Die erste literarische Veröffentlichung über das 
Yellowstonegebiet stammt von Warren Angus Ferris 
(von anderen auch Fergus genannt), einem Beamten der 
amerikanischen Pelzgesellschaft, welcher im Jahre 1834 
das Yellowstonegebiet von Süden her betreten und mit 
zwei indianischen Führern durchstreift hatte. Ferris 
sah ebenso wie bereits Meek einige Geyserbecken und 
veröffentlichte seinen Reisebericht im Western Literary 
Messenger von Buffalo in New York und im Mormon 
Wasp of Nauvov Illinois im Jahre 1842 in zwei sehr 
interessanten Aufsätzen mit zahlreichen Details, die heute 
noch wertvoll sind. 

Wiederum verstrich ein Jahrzehnt, bis die geogra- 
phische Länge und Breite dieses Gebietes von einem 
katholischen Geistlichen, Pater De Smet, im Jahre 1851 
festgestellt und im Jahre 1852 veröffentlicht wurde, wobei 
er die Nachrichten von Colter und Ferris bestätigte. 

Abgesehen von der 1804 vom Präsidenten Jefferson 
ausgeschickten Expedition, welche, wie oben erwähnt, 
nicht die Aufgabe gehabt, das Yellowstonegebiet, von 
dem man damals offiziell noch gar nichts wußte, zu er- 
forschen, waren dieses alles während der ganzen ersten 
Hälfte des 19. Jahrhunderts Privatunternehmungen ge- 
wesen. Die erste offizielle Regierungsexpedition zur 
Erforschung dieses Gebietes wurde im Jahre 1859 unter 
Führung von Kapitän Raynolds ausgeschickt. Zu dieser 











von Rümker: Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika. 


Expedition gehörten noch der Geologe F. Hayden, Leut- 
nant Maynardier und der damals schon ziemlich betagte, 
bereits oben als einer der ersten weißen Besucher dieses 
Gebietes genannte Trapper James Bridger als Führer. 
Das Ergebnis dieser Expedition war eine Karte, die von 
der Regierung veröffentlicht wurde. 

Ein Jahr darauf brach der amerikanische Bürgerkrieg 
aus, wodurch alle weiteren Unternehmungen zur Er- 
forschung des Yellowstonegebietes zunächst wieder lahm- 
gelegt wurden. 

Erst im Jahre 1863 kommt neue Kunde von dort, 
indem Kapitän Walter W. de Lacy in großer Eile auf 
der Suche nach Gold das Yellowstonegebiet durchstreifte. 
Er zog etwa eine Wegstunde entfernt am unteren Geyser- 
becken vorüber, kreuzte einen Strom heißen Wassers, 
ohne ihn zu untersuchen, und ließ sich nicht Zeit, die 
nahen Geyser zu besichtigen. Seinen Bericht über diesen 
Marsch veröffentlichte er auch erst 1876. Dieser Bericht 
enthielt daher auch nichts über die großen Geyser. 

Nunmehr folgten Expeditionen auf Expeditionen: 
1866 George Huston, 1867 verschiedene Reporter vom 
Omaha Herald und anderen Zeitungen, 1869 David 
E. Folsom, C. W. Cook und William Peterson. Folsom 
veröffentlichte seinen Reisebericht im Western Monthly 
von Chicago im Juli 1871 usw. Die wichtigste von 
diesen neueren Expeditionen war aber die des Generals 
H. D. Washburn, der im Jahre 1870 das Yellowstone- 
gebiet mit etwa 12 Reisegenossen von Norden her, von 
Gardiner kommend, betrat. Washburn entdeckte die 
schönsten, größten Geyser, und als die Expedition am 
Abend des 19. September 1870 um ihre Lagerfeuer saß 
und die überstandenen Gefahren und Ereignisse des Tages 
besprach, sagte Cornelius Hedges, eines ihrer Mit- 
glieder: „Nein, dieses Land muß so bleiben zum 
Nutzen und zur Erholung und Freude für das 
Volk“, und damit war die Idee, das Yellowstonegebiet 
zu einem nationalen Reservat zu machen, gewissermaßen 
geboren. Die anderen Mitglieder der Expedition nahmen 
diesen Gedanken begeistert auf und gingen nach ihrer 
Heimkehr daran, ihn in das Volk zu tragen. Cornelius 
Hedges schrieb den ersten Aufsatz darüber in der Zeit- 
schrift Helena Record vom 9. November 1870, und Wash- 
burn und die anderen Mitglieder der Expedition schlugen 
in anderen, rasch einander folgenden Aufsätzen in die- 
selbe Kerbe. 

Diese Agitation blieb nicht ohne Erfolg, denn schon 
am 1. März 1872 faßte der Kongreß unter dem Präsi- 
denten Grant den Beschluß, einen gewissen Teil dieses 
Yellowstonegebietes als Staatsreservat zu einem „Natio- 
nalpark“ zu machen und seine Naturwunder vor Zer- 
störung durch Kultureinflüsse möglichst sicherzustellen: 
„zum Nutzen und zur Freude für das Volk“, 
welcher Wahlspruch heute auf dem großen, steinernen 
Eingangstore zum Yellowstone-Park in Gardiner als 
Devise prangt. 

Dieser Beschluß des amerikanischen Kongresses war 
aber zunächst nur eine theoretische Eroberung, denn die 
Indianer waren noch tatsächlich Herren des Landes; am 
24. August 1877 fand in-diesem Gebiete der letzte india- 
nische, blutige Überfall auf Weiße statt, und noch 1878 
werden die letzten indianischen Pferdediebstähle ver- 
zeichnet. 

Die Einführung einer festen Verwaltung, die Statio- 
nierung einer Polizeitruppe von mehreren 100 Mann 
Kavallerie, der Bau von Straßen usw. haben dann bald 
mit den Rothäuten aufgeräumt und Sicherheit hergestellt. 
Der Bau der Northern-Pacificbahn im Jahre 1882 und 
der Ausbau ihres Anschlußzweiges von der Station Li- 
vingstone nach Gardiner im Jahre 1892 haben den Yellow- 


“Gardiner in zwei Stunden 


231 


stone-Park nunmehr vollkommen in den Verkehr hinein- 
gezogen, und man kann ihn heute im Schlafwagen auf 
bequemste Weise von überallher erreichen. Für aus dem 
Osten kommende Besucher ist der bequemste und beste 
Zugang über Chicago — Minneapolis — St. Paul, von wo 
aus man in 36 Stunden am Yellowstone-Park anlangt. 

Seit 1886 ist eine geordnete Militärverwaltung ein- 
geführt zum Schutze der Reisenden, wie zum Schutze des 
Wildes vor den Reisenden, denn in dem ganzen Gebiete 
des Yellowstone-Parkes darf nichts geschossen werden, 
es darf keine Bahn hindurchgebaut werden, es wird auch 
kein Auto hineingelassen, um das Wild nicht zu beun- 
ruhigen; nur auf Wagen darf man es durchstreifen, und 
diese Wagen sowie ihre Bespannung sind gut. 

Im Jahre 1884 bildete sich eine Yellowstone-Park- 
Transportgesellschaft, welche vorzügliche und geschmack- 
volle Straßen durch den Yellowstone-Park baute und an 
ihnen eine Anzahl großer, sehr komfortabler Hotels in 
solcher Verteilung errichtete, daß man von Hotel zu 
Hotel eine bestimmte Tour zurücklegt, die entweder mit 
einer Mahlzeit im Laufe des Tages oder mit einem Nacht- 
quartier endet. Diese Straßen zeigen alle Schönheiten 
der Gegend in vorteilhaftestem Lichte. Unberührtes 
Urwalddickicht, in welchem mitunter drei oder mehr 
Generationen von Baumstämmen in den verschiedensten 
Stadien der Verwesung den Grund bedecken, aus welchem 
die letzte noch grünende Generation von Bäumen, 
Sträuchern und Kräutern hervorsprießt, wechselt mit 
weiten Hochblicken in das Land, über tiefe Täler mit 
schäumenden Bergflüssen, über weite Seenspiegel hinweg, 
umrahmt von prächtigen, schneebedeckten Hochgipfeln 
des Felsengebirges; sie führen durch liebliche Täler und 
enge Schluchten an steil aufragenden Felsen und Ab- 
gründen vorüber, ein dauernd abwechselungsvolles Land- 
schaftsbild darbietend. 

Die Hotels, besonders die an den Nachtquartier- 
stationen befindlichen, sind meist sehr groß, da der täg- 
liche Aus- und Eingang von Reisenden in der kurzen 
Saison vom 5. Juni bis 25. September 300 bis 400 Per- 
sonen betragen soll, und recht komfortabel und teilweise 
schön und originell eingerichtet. Besonders reizvoll ist 
Old Faithfull Inn, ein aus unbehauenen Stämmen errich- 
tetes, reich gegliedertes Blockhaus, welches mit großem 
Geschmack in die Gegend des oberen Geyserbeckens 
hineinkomponiert worden ist; aber auch das Seehotel 
oder die älteren Bauten, wie das Canyon-Hotel, das Foun- 
tain-Hotel, das Hotel in Mammoth Hot Springs, haben 
ihre Reize. Man ist in diesen Hotels mit Quartier und 
Beköstigung vortrefflich aufgehoben, was um so mehr an- 
erkannt werden muß, wenn man bedenkt, daß jede Kleinig- 
keit, die man dort zum Leben braucht, Hunderte von 
Meilen weit mit Spannfuhren durch die Wildnis trans- 
portiert wird. 

Diese Touren von Hotel zu Hotel sind so gelegt, daß 
sich die Eindrücke von Tag zu Tag steigern: „Jeder Tag 
ist der schönste gewesen“, so lautet das allgemeine Urteil 
der Reisenden, wenn sie am Abend in den großen Hallen 
der Hotels bei prasselndem Kaminfeuer und oft lustiger 
Musik zusammentreffen. 

Von Mammoth Hot Springs gehen diese Touren aus. 
Mit sechsspännigen Coaches fährt man vom Bahnhof 
im romantischen Gardiner 
Canyon, an steilen Felsentürmen mit Adlernestern darauf 
vorüber, den schäumenden Gardinerfluß entlang, in teil- 
weise starker Steigung nach Mammoth Hot Springs. Dort 
empfängt einen zuerst das sogenannte Fort Yellowstone, 
d. h. die Militärkolonie, in welcher die etwa 400 Mann 
starke Polizeitruppe mit Mannschaften und Offizieren in 
einer Anzahl hübscher, größeren Familienhäusern ähneln- 


30* 


232 


Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 





der Baulichkeiten in Garnison liegt und ihr Hauptstand- 
quartier hat. Im Hotel Mammoth Hot Springs hat man 
zunächst einen halben Tag Aufenthalt, sowohl um die 
dort befindlichen herrlichen Sinterterrassen zu bewundern, 
als auch, um sich die Reisegesellschaft auszusuchen, mit 
der man die 5!/, Tage dauernde Wagenfahrt durch den 
Park zusammen machen will. Jeder Reisegenossenschaft, 
wie sie sich dort zusammenfindet, wird ein ihrer Kopf- 
zahl entsprechendes Gefährt gestellt, in und mit welchem 
die Teilnehmer für die ganze Tour zusammenbleiben, und 
es ist klar, daß man sich mit Rücksicht hierauf seine 
Reisegenossen vorher einigermaßen genau ansieht, was 
mitunter zu sehr amüsanten Situationen führt. Diese 
Wagen, „Stages“ genannt, sind meist offene oder nur 
mit einem leichten Schattendach versehene, vier- bis 
sechs- oder mehrsitzige kremserartig gebaute, mit zwei 
bis vier oder sechs guten Pferden bespannte Wagen. 

Man kann zurzeit den Yellowstone-Park auf dreierlei 
Art durchstreifen. 

Erstens mit der eben geschilderten Hoteltour, welche 
für Transport, Wohnung und Beköstigung für 5!/, Tage 
von Gardiner bis Gardiner 51 Dollar kostet, ein Preis, 
den man für das, was und unter welchen erschwerenden 
Umständen es geboten wird, für sehr mäßig halten muß. 
Wem aber auch dieses noch zu teuer ist, der hat noch 
zwei billigere Möglichkeiten durch die Lagertouren, die 
Wylie Camp-Tour und die Powell Camp-Tour. Erstere fährt 
von einem fest aufgeschlagenen Zeltlager zum anderen, 
letztere führt die Zelte auf ihren Wagen mit und schlägt 
sie auf, wo es der Reisegesellschaft behagt. Für diese 
Wanderlager ist insofern sehr gut gesorgt, als an zahl- 
reichen Stellen im Walde neben den Straßen Tafeln an- 
gebracht sind, die anzeigen, wo ein guter Lagerplatz ist, 
wo aus irgend welchen Gründen kein Lager aufgeschlagen 
werden darf, wo gutes Wasser zu finden ist usw. Die 
Powell Camp-Tour bietet den geringsten Komfort und ist 
mit 36 Dollar die billigste, während die Wylie Camp-Tour 
in den für die ganze Saison fest aufgeschlagenen Zelt- 
lagern etwas mehr Komfort und wahrscheinlich auch 
besseres Essen bietet und etwa 41 Dollar kostet. Jede 
der drei Gesellschaften hat ihre eigenen Wagen und 


Einrichtungen, holt ihre Gäste von Gardiner ab und führt 
sie wieder dorthin zurück. Wer es wünscht, kann auch 
hier und da längeren Aufenthalt nehmen oder auch 
andere Touren machen, wenn er diese Absicht in Mammoth 
Hot Springs vor Antritt seines Aufenthalts im Yellow- 
stone-Park bekannt gibt. Für derartige Spezialtouren 
und -aufenthalte gelten andere Tarife wie für die glatt 
durchführenden Touren. 

Die beste Jahreszeit für den Besuch des Yellowstone- 
Parkes ist auf die Zeit etwa vom 5. Juni bis 25. September 
beschränkt, weil die Hochgebirgslage wegen des dort 
herrschenden langen und rauhen Winters mit großen 
Schneemassen weder einen früheren, noch späteren Ver- 
kehr auf den Straßen gestattet. Die Straßen selbst sind 
unbefestigte, aber gut gehaltene Landwege und werden 
bei der starken Frequenz, die täglich Hunderte von 
Wagen auf ihnen hin und her passieren läßt, vorsorg- 
licherweise mit Sprengwagen gesprengt, trotzdem aber 
ist der Staub, besonders wenn sich zwei größere Wagen- 
züge begegnen, mitunter fast erstickend. 

Im großen ganzen, so muß man aber sagen, ist alles 
vorzüglich eingerichtet und klappt aufs beste; nirgend 
begegnet dem Reisenden Prellerei oder Geldschneiderei, 
so daß man den Eindruck gewinnt, daß die Devise des 
Yellowstone-Parkes: „Zum Nutzen und zur Freude für 
das Volk“ ernsthaft festgehalten wird. An den Straßen 
verteilt liegen Zwischenstationen für die Polizeitruppe, 
welche auf den Straßen einen berittenen Patrouillendienst 
dauernd unterhält; diese Relaisposten werden von dem 
Hauptstandquartier in Mammoth Hot Springs aus 
abgelöst. 

Die Verwaltung und Organisation ist, den Verhält- 
nissen entsprechend, praktisch und zweckmäßig, und wir 
sehen in der Einrichtung der Camp-Touren, wie der Ameri- 
kaner, der bei anderen Nationen in dem Rufe nüchternsten 
Erwerbssinnes steht, daneben doch einen ganz respek- 
tablen Rest romantischer Neigungen und Sinn für un- 
verfälschten Naturgenuß besitzt, denn das Beziehen eines 
Zeltlagers als Sommerfrische soll in Amerika eine sehr 
beliebte und verbreitete Sitte sein. 

(Schluß tolgt.) 





Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 


Analytisch-akustische Untersuchungen über einige Instrumente von Naturvölkern. 


Von S. Baglioni. 


1. Zweck und Methodik der Untersuchung. 


Der Zweck, der mir bei den vorliegenden akustischen 
Untersuchungen über einige musikalischen Instrumente 
von Naturvölkern (hauptsächlich Afrikas) vorschwebte, 
war nicht bloß der Wunsch, unmittelbare wissenschaft- 
liche Kenntnisse über die Elemente einer wahren natür- 
lichen Musik zu gewinnen, sondern auch die Hoffnung, 
vielleicht einen neuen Beitrag zur Lösung der so sehr 
umstrittenen Frage nach der Herkunft unserer musi- 
kalischen Tonleiter liefern zu können. Dabei war ich 
von dem wohlberechtigten Gedanken geleitet, daß der 


Kulturzustand der lebenden Naturvölker entsprechende‘ 


Vorstufen unserer eigenen Kultur darstellt. 

Der Freundlichkeit des Herrn Professor Pigorini, 
des Direktors des ethnographischen Museums zu Rom, 
sowie des Herrn Dr. Pettazzoni, Inspektors im selben 
Museum, verdanke ich die Möglichkeit der Ausführung 
dieser Untersuchungen, weshalb es mir eine angenehme 
Pflicht ist, ihnen auch hier meinen Dank auszusprechen. 








Rom. 


Bei der Auswahl der zu analysierenden Instrumente 
aus der reichlichen Sammlung des genannten Museums 
ging ich vom Gedanken aus, nur die Instrumente zu ver- 
wenden, deren Töne weder durch die Zeit noch durch 
andere äußere Umstände alteriert sind. Aus diesem 
Grunde beschränkte ich meine Analyse auf die Instru- 
mente, die mit festen Tönen bestanden, und deshalb wurden 
die zahlreichen Streichinstrumente und zum Teil auch 
die Blasinstrumente außer acht. gelassen. 

Da es sich schließlich darum handelte, vornehmlich 
die harmonischen Verhältnisse zwischen den verschiedenen 
Tönen eines und desselben Instrumentes festzustellen, so 
wurde auch die andere, ebenfalls sehr zahlreiche Reihe 
von Instrumenten nicht berücksichtigt, die gewöhnlich 
nur einen Ton bzw. die Oktave desselben zu erzeugen 
vermögen (Hörner und Trommeln). 

Die von mir untersuchten Instrumente zerfallen also 
in drei Reihen: die Marimbas, die Sansas und die 
Pansflöten. Die zwei ersten Reihen stammen ausschließ- 


Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 


lich von afrikanischen Naturvölkern her, die dritte aus 
allen Gegenden der Erdoberfläche. 

Die Methode zur Feststellung der Höhe der Einzel- 
töne der verschiedenen Instrumente war eine zweifache. 
Erstens bediente ich mich der Edelmannschen Resona- 
torenreihe!) und zweitens der Bezoldschen kontinuier- 
lichen Tonreihe (geeichte Stimmgabeln und Pfeifen 2), die 
ebenfalls vom physikalisch -mechanischen Institut von 
Prof. Edelmann (München) geliefert wird. Da, wie zu 
erwarten war, die die verschiedenen untersuchten Instru- 
mente zusammensetzenden Einzeltöne mit den 72 Halb- 
tönen unserer chromatischen (temperierten) "Tonleiter 
nicht immer übereinstimmten, für die eben die genannten 
Resonatoren wohl akkordiert sind, so ist es klar, daß 
dieses Untersuchungsmittel die jeweiligen Werte der Ton- 
höhe nur annähernd zu bestimmen vermochte. Ge- 
nauere Bestimmung geschah dann in allen Fällen unter 
Anwendung der Stimmgabeln bzw. der Pfeifen der Be- 
zoldschen Tonreihe. Dabei kam es nur darauf an, den 
Ton herauszufinden, der mit dem untersuchten im vollen 
Einklang (ohne Schwebungen) stand. 

In der Regel waren es Instrumente, deren Einzeltöne 
(mit Ausnahme der Pansflöten) sich nicht allzu hoch er- 
streckten; infolgedessen genügten für 
deren Analyse schon die Stimmgabeln, 
ohne Hilfe der zwei geeichten Pfeifen 
der genannten Tonreihe. Im allgemeinen 
war es ziemlich leicht, durch geeignete 
Verlegung der zwei Belastungsgewichte 
(vgl. Abb.1) den entsprechenden Ton 
herauszufinden. Die übrigens leicht zu 
erkennende Identität der Töne (Ein- 
klang) wurde sowohl mittels meines 
(musikalisch geübten) Ohres wie des 
Ohres eines ebenfalls musikalischen 
Assistenten ermittelt. Ferner wurde 
hierzu bei der Analyse der aus leicht 
schwingenden Eisen- oder Holzzungen 
bestehenden Sansas der Umstand be- 
nutzt, daß, wenn man den Stiel der 
betreffenden vibrierenden Stimmgabel 











Abb.1. Stimm- auf den Resonanzboden aufsetzte, sofort 
gabel gerade die Zunge stark mitzuschwingen 
nach Bezold. begann, deren Tonhöhe mit der der 


Gabel übereinstimmte. Die Mitschwin- 
gung konnte man sehr leicht mit den Augen wahrnehmen. 
— Die Feststellung der Tonhöhe fand leicht statt durch 
Ablesung der an der Zinke der Stimmgabeln angegebenen 
Halbtonwerte. Hierzu ist jedoch zu bemerken, daß, wie 
gesagt, die Einzeltöne meiner Instrumente mit einem von 
der Graduierung der Zinke angezeigten Halbton der chro- 
matischen (temperierten) Tonleiter, für welche die Be- 
zoldsche Tonreihe abgestimmt ist, nicht immer genau 
übereinstimmten. Oft kam es vor, daß ich den Ton, der 
mit dem meines Instrumentes im Einklang stand, dadurch 
erhielt, daß ich beide Belastungsgewichte auf einem Niveau 
festschraubte, welches sich eben innerhalb des von einem 
Halbton eingenommenen Umfangs befand, wie aus der 
Abb. 1 ersichtlich ist. Um auch in diesen Fällen die 
Tonhöhe angeben zu können, bediente ich mich des Hilfs- 
mittels, den Abstand in Millimetern abzumessen, um wel- 
chen das betreffende Niveau vom nächsten Grad in plus 


1) M. Th. Edelmann, Kontinuierliche Tonreihe aus Re- 
servatoren mit Resonanzböden, Physik. Zeitschr., Jahrg. 7, 
og), Nr. 14, 8.510—511. 

2) Kontinuierliche Tonreihe nach Prof. Dr. Bezold, 
München, zur Untersuchung der Tonempfindlichkeit des Ohres. 
Mitt. Nr. 3 aus d. physik.-mech. Inst. von Prof. M. Th. Edel- 
mann, München (s8). 

Globus XCVIII. Nr. 15. $ 


233 


oder in minus sich entfernte. Wenn also zum Zweck 
des Einklangs mit einem gegebenen Ton z. B. (wie in 
der Abb. 1 der Fall war) beide Belastungsgewichte auf 
einem Niveau fixiert werden mußten, das sich 4 mm ober- 
halb des dem f entsprechenden Grades befand, so be- 
zeichnete ich die betreffende Tonhöhe als f — 4, was eben 
einen Ton bedeutet, der um 4mm tiefer liegt als f. 

Da der Zwischenabstand unter zwei benachbarten 
Graden, also unter zwei aufeinanderfolgenden Halbtönen, 
bei der Stimmgabel c! etwa 8,5 bis 9 mm, bei den übrigen 
Stimmgabeln (g!, c?, g?, c3) etwa 7 mm beträgt, so war 
der genannte Ton ein viertel Tonintervall niedriger als f. 

Aus dem gleichen Grunde — daß nämlich die üb- 
liche Notierung der musikalischen Töne ausschließlich 
auf dem Prinzip der chromatischen (temperierten) Ton- 
leiter beruht, weshalb sie sich nicht ohne weiteres dazu 
eignet, von den 72 Halbtönen der genannten Tonleiter 
abweichende Tonwerte anzugeben — war ich bei der 
Notierung der genannten Töne dazu gezwungen, oberhalb 
der entsprechenden Note die +-Millimeter anzugeben, 
die sie vom nächsten in der Notenschrift angeführten 
Halbton trennten. 

Da diese Fälle, bei denen also die die verschiedenen 
Musikinstrumente der Naturvölker zusammensetzenden 
Einzeltöne von den Halbtönen unserer temperierten Ton- 
leiter mehr oder minder abweichen, wohl ziemlich oft vor- 
kommen, so sind alle Versuche, mittels unserer musikali- 
schen Notierung die verschiedenen musikalischen Produk- 
tionen (Gesänge, Melodien usw.) dieser Naturvölker ohne 
weiteres wiederzugeben, meistens für unzutreffend zu 
halten. 

Vielleicht ist ferner von Interesse zu wissen, daß, so- 
weit ich in der wohl reichlichen bezüglichen Literatur 
sehen konnte, derartige Untersuchungen bisher nicht aus- 
geführt worden sind?) Ankermann, dem wir eine 
sorgfältige Aufzählung und Beschreibung der besonders 
im Berliner Museum für Völkerkunde befindlichen afri- 
kanischen Musikinstrumente verdanken +4), hat diese Seite 
der Untersuchung völlig vernachlässigt. Und doch liegt 
es auf der Hand, daß, wenn wir die Musikinstrumente 
eines Volkes wirklich kennen lernen wollen, wir vor allem 
nicht so sehr die äußere Gestalt wie ihren wesent- 
lichen Inhalt, d. h. ihre musikalischen Eigenschaften, 
kennen lernen müssen. 


2. Ergebnisse der Untersuchung. 


2 `a) Marimba. 

Diese wichtigste Art von Musikinstrumenten der Zen- 
tralafrikaner konnte ich in den vier schönen Exemplaren 
des römischen Museums analysieren. 

Bekanntlich besteht dieses Instrument aus einem mei- 
stens bogenförmigen Holzgestell, auf dem der aus meh- 
reren schön und stark klingenden, frei schwingenden 
Stäbchen aus Hartholz bestehende Klangkörper mittels 
Schnüren befestigt ist, während auf der Unterseite der 


*) Eine Ausnahme würde in dieser Hinsicht bezüglich 
einer von Delhaise (Les Warega, Brüssel 1909) unter- 
suchten Sansa (Kansambi) bestehen (doch s. u.). Wallaschek 
(Primitive Music, London 1893, 8. 154 ff.) erwähnt ferner 
einige Forscher, die namentlich Gesänge von Australiern und 
Arabern zwar musikalisch-akustisch analysierten, jedoch unter 
Anwendung keiner genaueren modernen Untersuchungsmittel, 
soweit ich aus den Angaben Wallascheks beurteilen kann. 
— Vgl. auch die wichtige Abhandlung O. Abrahams und 
E. v. Hornbostels (Über die Bedeutung des Phonographen 
für vergleichende Musikwissenschaft, Zeitschrift f. Ethnol., 
36. Jahrg., 1904, 8. 222—236), die unter Verwendung des 
Appunnschen 'Tonmessers siamesische Instrumente unter- 
suchten. 

*) Ethnologisches Notizblatt, Bd. III, Heft I, 8. 1—134. 
Berlin 1901. 


31 


234 Baglioni: 


Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 





aus einer Reihe trockener, meist zweckmäßig geordneter 
Kürbisse verschiedener Größe und Gestalt bestehende Re- 
sonanzkörper sich befindet. Das Instrument wird durch 
zwei hölzerne Hämmerchen mit Gummiköpfen gespielt. 
Sein Klang hat eine angenehme Farbe, ist harmonisch 
und erinnert stark an unser Klavier. Unter Anwendung 
der zwei Hämmerchen können offenbar auf einem und 
demselben Instrumente sowohl melodische Tonfolgen, wie 
auch symphonische, aus zwei verschiedenen zusammen- 
klingenden Tönen bestehende Akkorde leicht ausgeführt 





Abb.2. Marimba vom Uelle. 
werden. — Bei der folgenden Beschreibung der Instru- 
mente erfolgt die Bezeichnung der Einzelstäbchen stets 
von links nach rechts der Reihe nach. 

1. Die Marimba der Abb.2 trägt im Inventarregister 
des Museums mit der Nr. 76008 u. a. folgende Notizen: 
Länge 80 cm, größte Breite 35cm. Herkunft: Kongo- 
becken, Fluß Uelle-Azande. 

Aus der Analyse der Einzeltöne ergab sich, daß die 
Anordnung der Töne dieses Instrumentes recht eigentüm- 
lich ist. Wie aus der beigegebenen 
Notierung ersichtlich ist, deren erste 
linke Note dem ersten linken Stäb- 
chen usw. gehört, erfolgt die Tonaus- 
wahl und Tonanordnung nach dem Prin- 
zip von Paaren von mitunter genauen, 
mitunter alterierten (vermehrten) Oktav- 
intervallen. Der tiefere Ton wird zwar 
nicht vom ersten, sondern vom dritten 
Stäbchen geliefert, von dem aus jedoch 
die Tonhöhe nach rechts zu regelmäßig 











zunimmt. Der höchste Ton wird somit 
vom Br Stäbchen geliefert. 
— 5,5 er. 0,5 
VI vu VII IX 


Werden die Einzeltöne ihrer Tonhöhe nach geordnet, 
so ergibt sich die Tabelle I, in der ferner der Wert der 


Tabelle I. 


Intervalle 
fa Pees3 III. Stäbchen > 1 Ton 
s vrs V. ; 
1. Skala} gis! RE z Po (vermindert) 
ee I a ae 
h'(— 5,5) . I. H K 2 
2 2°/, Töne 
Bund, sh IV. z SıTon 
Am. 5 Si 
2: Skala 0.2.0 4 u“ II. = 4 $3 
k ASEN ee 
cis? II S » 


Azande. 


zwischen den benachbarten Einzeltönen bestehenden Inter- 
valle angegeben ist. 

Aus dieser Tabelle ergibt sich, daß die Mehrzahl der 
Intervalle dem Werte eines Ganztones gleich ist. Nur 
zwischen dem IX. und I. Stäbchen besteht ein Intervall, 
welches sich einem Halbtonintervalle nähert. Höhere Inter- 
valle bestehen zwischen I. und IV. Stäbchen (eine Quart) 
und zwischen VI. und VIII. Stäbchen (eine kleine Terz). 

Sehr wichtig ist, die große Zahl der konsonanten 
Intervalle hervorzuheben, die sich in dem Instrumente 
verwirklichen. Abgesehen von 
den fünf Oktavintervallen (von 
denen jedoch bloß zwei genau 
sind, während die anderen alte- 
riert, und zwar vermehrt sind), 
bestehen drei genaue Quintinter- 
valle (nämlich zwischen III. und 
I. Stäbchen; zwischen IV und X 
und zwischen VI und II) außer 
dem oben erwähnten zwischen 
VI und VIII bestehenden Quart- 
intervall (das bekanntlich als ein 
Quintintervall aufgefaßt werden 
kann, wenn als Tonika, d.h.Prime, 
die niedere Oktave von IV an- 
genommen wird). Es gibt ferner 
drei Intervalle großer Terz (zwi- 
schen III und VII, V und IX, 
VII und I) und zwei Intervalle 
kleiner Terz (zwischen VI und VIII, VII und I). Im ganzen 
gibt es also auf 10 Einzeltöne 14 konsonante Intervalle. 

2. Die zweite Marimba (Abb. 3) trägt im Inventar 
mit der Zahl 31 007 u. a. folgende Notizen: Länge 0,76 m, 
Breite 0,30 m. Herkunft: Ostafrika, Quilimane. 

Sie besteht aus zehn Stäbchen (Tasten), deren Größe 
von links nach rechts allmählich zunimmt. Der Reso- 
nanzkörper ist von zehn oben geöffneten kugeligen Kür- 
bissen (deren erster abhanden gegangen ist) gebildet, 





Abb.3. Marimba aus Quilimane. 


deren Größe ebenfalls von links nach rechts allmählich 
zunimmt, und welche an ebensovielen Löchern des Stütz- 
brettes durch Harz befestigt sind. Im allgemeinen er- 
scheint die Konstruktion vorliegender Marimba sorgfältiger 
als die der vorangehenden. 

Die Analyse der Einzeltöne zeigt, daß sich hier Ton- 
auswahl und Tonanordnung mit unserer üblichen diato- 
nischen, von links nach rechts abnehmenden Tonleiter 
beinahe auf die genaueste Weise decken (vgl. folgende 
Notierung). 


— 1,5 


er Feier ERS 


VI VM IX 











Werden die Einzeltöne ihrer Tonreihe nach geordnet und 
die Intervalle angegeben, so ergibt sich folgende Tabelle: 


Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 


235 





l Tabelle II. Intervalle 
ein (—2) . = Stäbchen > 4, Ton (vermehrt) 
RR ES . n > 1 ,„ (vermindert) 
e (—3) . . VII. n >1 
1. Skala | fis' (— 2,5). VIL „ >! (vermehrt) 
ee Y ee 
= Ga wa vV. n > 1 = 
N .CH08 . IV. 5, ? (vermindert) 
= (—15). IL n > a „ (vermehrt) 
2. Skala 5 I vi n » >1 „ (vermindert) 


Die Tonleiter dieses Instrumentes ist also eine wahre 
klassische diatonische Tonleiter mit Ganzton- und Halb- 
tonintervallen (D-dur). Für die ersten sieben Töne gibt 
es also alle konsonante Intervalle der diatonischen Skala. 
Die drei letzten Töne stellen drei genaueste Oktavinter- 
valle der ersten drei dar, weil sie fast gleiche Alterationen 
aufweisen (dem cis!—2 von X entspricht cis®—1,5 von 
III; dem d! von IX: d? von II; dem e!—3 von VII: 
e?—3 von I). Das Instrument zeigt ferner fünf Quint- 
intervalle (IX—V, VIMI—IV, VO—II, VI-O, V—J); 
drei große Terzen (IX— VII, VI—IV, V—IIN) und fünf 
kleine Terzen (X—VIH, VII—VI, VI—V, IV—IJ, 
II—I). Im ganzen zeigt es also auf 10 Einzeltönen 
16 konsonante Intervalle. 

3. Von der dritten Marimba (Abb. 4) bringt das In- 
ventar unter der Zahl 23607 u. a. folgende Nach- 
richten: Länge 0,95 m, Maximal- 
breite 0,26m. Herkunft: Ba- 
londo- oder Balondestämme, 
Undset Inguald. 

Diese Marimba unterschei- 
det sich wegen mehrerer Bau- 
eigenschaften von den übrigen. 
Namentlich ist ihr Holzgestelle 
anders gebaut, indem hier der 
Holzbogen nicht vorkommt. 
Der Klangkörper besteht aus è 
20 Brettchen (Tasten), deren 
Größe von links nach rechts 
regelmäßig zunimmt. Der Reso- 
nanzkörper ergibt sich aus 
16 Kürbissen, die, in zwei Reihen eingeteilt, einfach an 
Schnüren befestigt, unterhalb des Klangkörpers frei hängen. 


fi 


4 t3 +16 — 2,5 —2 


He s 

















I u 









+ 


XI XI XM XIV XV XVI XVH XVII XIX XX 


Die Analyse der Einzeltöne zeigt, daß diese Marimba 
aus 20 Tönen besteht, die wesentlich nach unserem üb- 
lichen diatonischen System ausgewählt und geordnet sind 
(vgl. Notierung). Tabelle IN gibt die nach zunehmen- 
der Tonreihe geordneten Einzeltöne sowie deren Inter- 
valle an. 

Der Tonumfang dieser Marimba umfaßt also drei an- 
nähernd genau abgestufte diatonische Skalen (gis—fis'; 
g'—f?; gis—dis?), von denen nur die letzte unvoll- 
kommen ist. Somit erweisen die Einzelintervalle im all- 
gemeinen den Wert eines Ganztones bzw. eines Halb- 
tones, mit der einzigen Ausnahme des Intervalles zwischen 
VI und VI, das den Wert einer freilich recht vermin- 
derten kleinen Terz hat, was das Intervall dem Wert 
eines Ganztones stark nähert. Von den zehn Ganzton- 





TU WG 


Tabelle III. ER 
is (—5). XX. Stäbchen Tece 
gis (—5) . f £ 
ae a re /a Ton ES 
h (— 1,5) . XVIII. 2 A a (vermindert) 
cisì (— 1,5) XVIL , Zi” 
dis' (—1,5) XVL „a Za” 
e (—25). X. a S "a » zA 
2. Skala $ fis? ... XIV. 3 Lia (vermehrt) 
ct). XI , z A» ; 
n 
m (E A = rs > 1 „ (vermindert) 
e* BER X. = > » (vermehrt) 
d? _e) IX. A > 1 „ (vermindert) 
1 ‚ vV. , = ⁄ » (vermehrt) 
ARSAN ee E 2 5) YE > > aM (vermindert) 
a i v. z > l „ (vermehrt) 
ht (+15). V. 5 ZL» . 
ë (+3) . IM. > an a 
4.Skalat d? (+2) . I. Z > 1 » (vermindert) 
dis? Bin I. E > /2 » a 


intervallen sind jedoch nur vier genau; von den übrigen 
alterierten sind vier vermindert und zwei vermehrt. Von 
den acht Halbtonintervallen ist andererseits keines genau, 
denn es sind wohl sechs vermehrt und zwei vermindert. 
Die Tatsache, daß die Mehrheit der Halbtonintervalle ver- 
mehrt, während wohl eine große Anzahl der Ganzton- 
intervalle vermindert ist, würde dafür sprechen, daß das 
Ohr des Spielers dieser Marimba zu einem gleichen kon- 


Abb. 4. Marimba der Balondostämme. 


stanten Intervallenwert strebte, der zwischen dem eines 
Ganztones und dem eines Halbtones schwankte, was sehr 
oft, wie wir sehen werden, bei den übrigen Musikinstru- 
menten dieser Naturvölker erfolgt. 5 

Die konsonanten Intervalle dieser Marimba sind recht 
zahlreich. Es gibt 13 mehr oder minder genaue Oktav- 
intervalle (XX— XII, XIX— XI usw., dann XIII—VI, 
XTH—V usw.); 13 Quintintervalle (XX—XVI, XIX— 
XV, XVII—XIV, XV—XI, XIOT—IX, alle genau; 
dann X—VI, VI—II, VI—I, alle etwas vermehrt; 
schließlich XVH—XIH, XVI—XI, XI—VO, IX—V, 
VI—II, alle etwas vermindert); drei große Terzen (XIX 
--XVO, XHI—XI, VI—V); und wohl 14 mehr oder 
weniger genaue kleine Terzen (XX— XVII, XVII—XV, 
XVI—XIV, XV—XOI, XIV—XO, XIX, XI—IX, 
X—VIOI, IX— VO, VO—VI, VI—-IV, V—II, IV—I, 
II—I). Im ganzen gibt es also auf 20 Tasten wohl 
43 mehr oder minder genaue konsonante Intervalle. 

Es ist wichtig hervorzuheben, daß, wenn es sich um 
20 genau nach der klassischen diatonischen Tonleiter ab- 
gestufte Töne gehandelt hätte, es im ganzen wohl 44 ge- 
naue konsonante Intervalle, und zwar 13 Oktaven, 13 
Quinten, 8 große Terzen und 10 kleine Terzen gegeben 
hätte. Die Unterschiede zwischen dem Toninhalt dieser 
Marimba und dem eines unserer Instrumente gleichen 
Umfanges bestehen also darin, daß der erstere ein kon- 
sonantes Intervall weniger aufweist, vorwiegend ärmer 
an großen, dafür reicher an kleinen Terzen ist. Außer- 


31* 


236 


Koch: Die Flüsse in der ersten Jahreshälfte 1910. 





dem sind in der Marimba viele konsonante Intervalle mehr 
oder weniger alteriert. — 4. Die vierte Marimba (Abb. 5) 
trägt mit der Zahl 76882 u.a. folgende Notizen: Länge 





Azande? 


Abb. 5. Marimba vom Uelle. 
0,72m, Breite 0,46m. 
Uelle-Azande (?). 

Die Konstruktion dieser Marimba gleicht der der zwei 
ersten. Sie besteht nur aus fünf Klangbrettchen und 


Herkunft: Kongobecken, Fluß 


fünf Resonanzkürbissen. Die akustische Analyse zeigt, 
daß der tiefste Ton vom Brettchen V, der höchste von 
IV gegeben wird (vgl. die entsprechende Notierung). 


(en 


I u 
In der folgenden Tabelle IV wurden die Einzeltöne 
ihrer Tonhöhe nach eingereiht und zugleich die Werte 
der Intervalle angegeben. 




















Tabelle IV. 


Intervalle 
a. + BON Erua V. Stäbchen > Y,Ton (vermindert 
AR i Raa 5 > 2 "Töne ma : I 
e(—1 5) TR I. ” > 1 Ton (vermehrt) 
(= 4) AR N 5 > 1% „ (vermindert) 


Der Tonumfang dieser Marimba erstreckt sich also 
nicht einmal auf eine volle Oktave. Die Zahl der kon- 
sonanten Intervalle ist trotzdem recht beträchtlich. Denn 
sie zeigt drei Quinten (V—HI, IV—II, wenn I als höhere 
Oktave angenommen wird; es ist nämlich ein sog. Quart- 
intervall; II—V, ebenfalls V als höhere Oktave an- 
genommen, also wieder ein Quartintervall); zwei große 
Terzen (I—U, stark vermindert; V—II, schwach ver- 
mehrt); zwei kleine Terzen (II—IV, IV—I, wenn I als 
höhere Oktave aufgefaßt wird). Im ganzen gibt es also 
auf fünf Einzeltöne wohl sieben konsonante Intervalle. 

(Fortsetzung folgt.) 





Die Flüsse in der ersten Jahreshälfte 1910. 


Der eisarme Winter von 1910 brachte wie schon im 
Dezember 1909 so auch im Januar 1910 beträchtliche 
Durchschnittshöhen der Gewässer. Das ist um so be- 
merkenswerter, als sie vielfach, wie z. B. im Westen und 
zwar im Rheingebiete, das höchste aller Januarmittel 
in den acht Jahren seit 1903 erreichten. Noch mehr als 
in Deutschland traten diese Januarhochwässer im Aus- 
lande verheerend auf. Gleich zu Jahresanfang hatten 
ein Teil des südöstlichen Europa, insbesondere Bulgarien 
und die Türkei, sowie Vorderasien Überschwemmungen, 
während nach Monatsmitte wiederholte Überflutungen in 
den französischen Stromgebieten auftraten, die ihren 
Höhepunkt in der zeitweilig durch die hochgehende Seine 
veranlaßten Isolierung der französischen Hauptstadt von 
der Außenwelt fanden. Bezeichnend für die Intensität 
und Mächtigkeit der Pariser Hochflut war es, daß sich 
dieser Zustand über einen Monat hinaus, bis gegen Ende 
der ersten Februarhälfte, erhalten konnte. Im deutschen 
Alpenvorlande wurden durch wechselweises Auftreten von 
Schneestürmen und Föhnwinden die Flüsse in ständig 
übernormaler Höhe erhalten und überfluteten nach be- 
sonders intensiver Schneeschmelze vielfach die Ufer. 
Besonders auffällig trat das auch bei einer zu Beginn des 
letzten Januardrittels aus dem Schwarzwald und den 
Vogesen sich ergießenden Hochflut in die Erscheinung. 

Der Februar zeigte zunächst ein Abflauen der Hoch- 
wasserwellen, worauf sich aber mit dem 8. im Westen 
bereits wieder eine neue Flutwelle in die Flüsse ergoß, 
die an den folgenden Tagen auch in den Zuflüssen der 
Weser und Elbe auftrat und sich in gleicher Weise in 
den Flußgebieten der Warthe, Oder und Weichsel sowie 
in den nordöstlichen Gewässern zeigte. Nachdem sie um 
Monatsmitte nur wenig abgeflacht war, setzte sie etwas 
vor Monatsende um den 24. neuerdings wieder ein, und 


es erreichte diesmal ihr Scheitel noch höhere Stände 
als bei der ersten Hochflut um den 9. Februar herum. 
Während somit die Wintermonate infolge der wieder- 
holten Hochfluten, die im Februar nach Zeit und Aus- 
dehnung ihren Höhepunkt erreichten, zu den wasser- 
reichsten Monaten einer langen Reihe von Jahren gezählt 
werden können, trat im Laufe des März ein auffällig 
schneller Rückgang der Hochwässer ein, und zwar in so 
beschleunigtem Maße, daß nach Mitte des Monats die 
Flüsse bereits allseitig unter ihre Normalhöhen, die für 
den März festgestellt sind, gesunken waren, teilweise zu 
dieser Zeit auch bereits Klagen über Wassermangel laut 
wurden, die besonders aus den östlicher gelegenen Ge- 
bieten zunehmend dringlicher auftraten und im folgenden 
April an Umfang zunahmen. In gleicher Weise gingen 
auch die östlichen Flüsse in der zweiten Märzhälfte stark 
zurück, so daß während dieser Zeit vielfach die kleinsten 
Märzwasserstände einer langen Reihe von Jahren erreicht 
wurden, mithin der Kontrast gegenüber den übernormalen 
Zuflußhöhen im Februar besonders ausnehmend sich be- 
merkbar machte. Den Grund für dieses auffallende Ver- 
halten der Wasserverhältnisse hat man in dem Mangel 
jeglicher größerer Frostperioden während der Winter- 
monate zu suchen, die den Niederschlag der Winter- 
monate in Form von Schnee in den höheren Lagen auf- 
speichern und in der Folgezeit mit zunehmender Erwär- 
mung langsam abfließen lassen. Da nun im verflossenen 
Winter solche Frostperioden und demgemäß auch eine 
den Abfluß verzögernde Einwirkung fehlten, so floß alles 
Wasser im Februar ab, wodurch dieser Monat den vorhin 
geschilderten Wasserreichtum erzielen konnte, aber keine 
Reserven für März zurückzuhalten vermochte. Dieses 
und der nur gering bleibende Niederschlag des Monats 
bewirkten, daß sich die vom Februar überkommenen 


Koch: Die Flüsse in der ersten Jahreshälfte 1910. 


237 





Hochwässer schnell verliefen und, da der Nachschub 
fehlte, in der zweiten Märzhälfte bei fortgesetztem Rück- 
gang der Gewässer die vorhin erwähnten ungewöhnlich 
niedrigen Stände der Gewässer am Monatsschluß auftraten. 
Im April kam diese auf ernstlichen Wassermangel ab- 
zielende Entwickelung der Zuflußmengen zunächst wieder 
in ein langsameres Tempo, bis dann nach Monatsmitte 
die Gewässer verschiedentlich bei einsetzenden Gewitter- 
zügen wieder neue Wasserzufuhr erhielten, die insbeson- 
dere in den Alpenflüssen, unterstützt durch die dort ein- 
setzende allseitige Schneeschmelze, vielfach Hochwasser 
veranlaßte. 

Im darauffolgenden Mai hielt sich der Zufluß in den 
Gewässern noch auf der Höhe wie im Laufe des April, 
wobei die östlichen Gewässer vielfach noch durch Gewitter- 
züge, die als Ausläufer gleichartiger Erscheinungen des 
Alpengebietes ihren Wirkungskreis weithin ins östliche 
Mitteleuropa ausdehnten, größere Zuflußmengen erhielten, 
die im Bereich der Oder, Weichsel und Warthe zu teil- 
weisen Überflutungen führten, die außerdem das Alpen- 
gebiet in ausgedehntem Maße betrafen und sich über die 
osteuropäischen Länder bis nach Kleinasien hinein er- 
streckten. Im letzten Drittel des Mai wiederholten sich 
diese Überflutungen wiederum in einzelnen Alpengebieten, 
ohne in größerem Umfange auf das reichsdeutsche Gebiet 
überzugreifen. Dieses hatte vielmehr unter Wirkung der seit 
Monatsmitte eingetretenen großen Temperatursteigerung 
stark rückgängige Zuflußhöhen aufzuweisen, die das öst- 
liche Reichsgebiet in größerem Umfange als das westliche 
betrafen. Mit dem fortschreitenden Rückgange trat in 
den östlichen Flüssen erheblicher Wassermangel ein, so 
daß es nicht allein bei den städtischen Wasserleitungen 
an Trink- und Gebrauchswasser mangelte, sondern auch 
die meisten östlichen Wasserläufe, soweit sie zur Elbe, 
Warthe, Oder und Weichsel gerichtet sind, außerdem 
auch die märkischen Gewässer Wassermangel auf- 
wiesen. 

Während die Gewitterzüge und die von ihnen hervor- 
gerufenen Hochwässer im Spätfrühjahr, und zwar in 
zweiter Aprilhälfte und im Mai, mehr das östliche 
gebirgige Mitteleuropa erfaßten, traten im Juni, bald 
nach dessen Beginn, von Westen her neue Gewitterzüge 
auf, die sich durch bedeutend erweiterten Wirkungs- 
bereich und auch durch viel größere den betroffenen Ge- 
bietsteilen zugedrängte Wassermassen sehr wesentlich 
von den Gewitterzügen des östlichen gebirgigen Mittel- 
europa im Spätfrühjahr unterschieden. Diese Gewitter- 
züge hatten ihre Vorboten bereits in ausgedehnten 
Überschwemmungen, die sich zu Beginn des Juni über 
das ganze westliche Mitteleuropa ausdehnten und zeit- 
weise noch über die Elbe hinweg ins östliche Mitteleuropa 
übergriffen. Die hervorstechendsten Ereignisse dieser von 
Westen anrückenden Gewitterzüge waren die Hochfluten 
im Ahrtal am 13. Juni und in den Bayerischen und 
Tiroler Alpen vom 13. bis 17. Juni. Bei letzterem wurden 
hauptsächlich der Ammerwald, das Werdenfelser Land 
und viele Teile des Loisach- und Isargebietes betroffen, 
während sich die Überschwemmungen etwas abgeschwächt 
noch weiter über das ganze bayerische Oberland aus- 
dehnten. Einige Tage später wurden das obere Rhein- 
gebiet von einer Hochflut heimgesucht, gleichzeitig auch 
die österreichischen Kronländer und das ungarische Tief- 
land, wo die Überschwemmungen teilweise ähnliche Höhe 


wie nach Monatsmitte im bayerischen Hochlande er- 
reichten. Kurz vor Schluß des Juni traten im links- 
seitigen Rheingebiet neue Hochwässer auf. 

Da nun diese Hochwässer in der Hauptsache an den 
Gebirgsrändern der nördlichen Alpenhänge zur Ent- 
wickelung kamen, so wurde das übrige mitteleuropäische 
Gebiet vorerst weniger von ihnen betroffen, und es setzte 
sich in diesem der vom Maischluß her bestandene Wasser- 
mangel zunächst noch fort und zeitigte insbesondere in 
den östlichen Gewässern bedenkliche Tiefstände, die erst 
im Juli etwas behoben wurden. 

Im Juli wurde auch das reichsdeutsche Mitteleuropa 
bis ziemlich weit nach Osten in den Bereich der Über- 
schwemmungen einbezogen, die zu Beginn des Monats 
die Schweiz und den Schwarzwald heimsuchten, darauf 
gegen Schluß des ersten Julidrittels auf die Zuflüsse der 
Werra und der Saale aus Thüringen und dem Harz über- 
griffen, gegen Schluß des zweiten Julidrittels wiederum 
im Rheingebiet auftraten und im letzten Julidrittel die 
Zuflüsse der Elbe und der märkischen Gewässer be- 
trafen. Den vorläufigen Schluß der Hochwasserüber- 
flutungen bildeten sodann neue zu Anfang August auf- 
getretene Überschwemmungen im Bereiche Thüringens, 
Sachsens, Süddeutschlands und der Schweiz. 

Hiernach ist die erste Jahreshälfte von 1910 als er- 
heblich zu wasserreich zu bezeichnen, wobei die ver- 
schiedentlich im Frühjahr aufgetretenen Anfänge von 
Wassermangel das Gesamtbild nicht wesentlich zu stören 
vermögen. Zur Illustration des Ganzen mögen nach- 
folgend noch die Ergebnisse der mittleren Zuflußhöhen 
einer Reihe Flüsse des Westens aus dem Schwarzwald, 
Hessen und dem schweizerischen Voralpengebiet angefügt 
sein, in denen die Entwickelung des Zuflusses von Monat 
zu Monat veranschaulicht wird. 






































Wutach | Kinzig |Murg bei| Nidda | Lahn | Rhein 

Oberlauch-! 3 bei Weisen- bei bei bei 

| ringen Wolfach bach Vibel Gießen | Waldshut 

m m m m m m 
Januar 0,91 0,94 0,% 1,35 1,64 2,77 
Februar 0,93 0,96 0,94 1,88 2,18 2,91 
März 0,85 0,69 0,81 1,02 1,02 2,50 
April 0,74 0,65 0,79 0,39 0,44 2,60 
Mai .. | 0,74 0,68 0,79 0,58 0,86 3,23 
Juni. . 0,84 0,69 0,79 0,47 0,42 4,27 


Hiernach zeigt in den Mittelgebirgsflüssen durch- 
gehend der Februar das Maximum und der April das 
Minimum der Monatsmitte. Bemerkenswert ist dabei 
der verhältnismäßig starke Abfall der Mittelwerte vom 
Februar zum März, während von da zum April die Ab- 
nahme wieder erheblich kleiner wird. In den folgenden 
Monaten hebt sich sodann das Monatsmittel wieder 
etwas, so daß die niedrigen Sommermittel des Vorjahres 
1909 nicht erreicht werden. In den acht Jahrgängen bis 
rücklaufend 1903 hatten Januar, Februar und Juni 1910 
zumeist das höchste Mittel der betreffenden Monate auf- 
zuweisen, dagegen entfiel auf den April 1910 das 
niedrigste Mittel. Im Rhein zeigten ebenfalls der Januar, 
Februar und Juni das höchste Monatsmittel der be- 
‚treffenden Monate aus den acht Jahren, während ein aus- 
gesprochenes Minimum nicht auftrat. 


L. Koch. Duderstadt. 





238 


Schmidt: Der angebliche universale Heiratstotemismus usw. 





Der angebliche universale Heiratstotemismus der süd- 
ostaustralischen Stämme und einiges andere. 


Von P. W. Schmidt. 


Ob Dr. Graebners Entgegnung') auf meinen Artikel?) 
wirklich in der „Liebenswürdigkeit des Tones“ nicht, und 
zwar erfolgreich, konkurriert, möchte ich einfach dem 
Urteil der Leser überlassen. Daß er es in der Ausführlich- 
keit nicht getan, gebe ich ohne weiteres zu; ob das aber ein 
Vorzug ist, möchte ich wiederum dahingestellt sein lassen. 
Dagegen sehe ich für diesmal kein Hindernis darin, seinem 
Mangel an Ausführlichkeit zu folgen. Von zwei Punkten 
abgesehen, auf die ich hier kurz eingehen will, glaube ich 
nämlich die Leser einfach einladen zu können, Graebners 
Bemerkungen mit meinen vorherigen Ausführungen zu ver- 
gleichen, um zu sehen, wie viel davon berücksichtigt und 
entkräftet worden ist?). 

Graebner hält dafür, „daß die Logik und Methodik die 
beste ist, die zu den richtigsten Ergebnissen führt“. Das ist 
meines Erachtens eine durchaus nicht einwandfreie Auf- 
fassung: man kann auch von unrichtigen Prämissen aus und 
mit unrichtiger Logik und Methodik — per accidens — zu 
ganz richtigen Ergebnissen gelangen, wenn man nur das 
Glück hat, beim Ziehen der letzten Schlußfolgerung eine 
entsprechende neue Unrichtigkeit zu begehen. So könnte, 
selbst wenn auch Graebners Satz von dem universalen Heirats- 
totemismus der Südostaustralier richtig wäre, doch seine 
ganze bisherige Beweisführung für diesen Satz sehr wohl 
falsch sein. Als wenn Graebner selbst diese Beweisführung 
mindestens für verstärkungsbedürftig hielte, führt er nun 
mit ziemlichem Nachdruck einen ganz neuen Beweis an, 
dem er einen peremptorischen Charakter beimißt *). Ich be- 
dauere, auch diesen Beweis als einen durchaus verfehlten 
bezeichnen zu müssen. 

Graebner entnimmt ihn einer Darlegung von R. H. Mathews. 
Er fühlt selbst das Bedenkliche heraus, diesen Mann als aus- 
schlaggebenden Zeugen in einer so wichtigen Sache anführen 
zu müssen. Denn über die Unzuverlässigkeit dieses merk- 
würdigen Mannes in so mancher Hinsicht hat sich Graebner 
selbst sehr verständig ausgesprochen, und wer Einsicht nimmt 
in das, was er im „Zentralblatt für Anthropologie“ (Bd. XII, 
8. 338 bis 339) darüber geschrieben, wird kaum den Ab- 
schwächungen beistimmen, die er hier versucht. Er zieht 
denn auch selbst zur Verstärkung jetzt das „zweifellos richtige 
Prinzip der historischen Quellenkritik“ heran, „daß gleiche, 
voneinander unabhängige und nicht aus gleichem subjektiven 
Vorurteil hervorgegangene Quellen ... auch dann als zu- 
verlässig zu gelten haben, wenn die Einzelquellen nicht immer 
einwandfrei sind“°). Indes dieses schöne quellenkritische 
Prinzip verfängt hier nicht, wenn positiv die Unzuverlässig- 


1) Globus, Bd. 97, S. 362 ff. 

») A. a. O., S.157 f., 173 f., 186 ff. 

®) Zu dem Vorwurf des schwarzen Undanks, den mir Graebner 
zu machen scheint (a. a. O., S.362, Anm. 3), folgende Richtig- 
stellungen: 1. das erwähnte Gespräch war allerdings sehr „aus- 
fübrlich“, von nachmittags etwa 4 bis abends '/,10 Uhr, ich wüßte 
aber nicht, daß gerade ich diese Ausführlichkeit veranlaßt hätte; 
als „eigentliche Anregung“ habe ich nicht die zu meinen mytho- 
logischen Arbeiten (s. darüber Anthropos, Bd. IH, S. 1118) erhalten, 
sondern nur den Antrieb, dem Kulturkreisgedanken näherzutreten; 
2. auf mein Befragen teilt mir Graebner mit, daß er mir zweimal 
Manuskripte geschickt — also gerade eben genug, daß er den 
vieldeutigen Ausdruck „mehrfach“ gebrauchen konnte; daß von 
einer inneren Abhängigkeit dabei nicht die Rede sein kann, muß 
auch Graebner zugeben, da er den „geringen Erfolg“ bedauernd 
konstatiert. — Hier sei auch kurz die Bemerkung Graebners ge- 
streift, daß ich ihm einmal geschrieben, er werde mir das Zeugnis 
eines gewissen Fleißes nicht vorenthalten können (S. 365, Anm. 42). 
Das sieht so aus, als hätte ich beiihm, als dem strengen überlegenen 
Richter, gebettelt, er möge mir doch wenigstens ein Fleißzeugnis 
nicht versagen, eine Rolle, die ja für Graebner des Erhebenden 
nicht entbehrt hätte. In Wirklichkeit schrieb ich Graebner, daß 
meine Arbeit über die austronesischen Religionen und Mythologien 
nach anderen als den Kulturkreisgesichtspunkten ausgeführt sei, 


daß er aber genug wertvolle Resultate durin finden könne, die auch’ 


ihm für seinen Kulturkreisgedanken nützlich sein würden, und daß 
er mir also für den Fleiß, den ich dabei aufgewendet, zu Dank 
und Anerkennung verpflichtet se. Wenn sich Graebner dann 
herbeiläßt, den wegwerfend-beleidigenden Vorwurf der „Schnell- 
produktion“ weiter zu geben, so wird niemand das als besonders 
nobel betrachten können, angesichts der Tatsache, daß er ziemlich 
gut wußte, bis zu welchem Grade ich meine Zeit auszunutzen pflege 
und welche schwere Erkrankung ich mir dadurch zugezogen. 

*) Graebner, a. a. O., S. 363, 

®) Graebner, a. a. O., Anm. 15. 


keit gerade des hier in Frage stehenden Zeugnisses Mathews’ 
dargetan werden kann. Und das läßt sich, wie ich denke, 
in überzeugender Weise bewerkstelligen. 

An sich ist Mathews überhaupt in solchen allgemeinen 
Angaben, wie die von „all the tribes of the eastern half of 
Victoria“, in erhöhtem Grade verdächtig, weil er sehr zu un- 
zulässigen Verallgemeinerungen hinneigt, die als solche auch 
in mehreren Fällen positiv dargetan werden können. So 
hatte ihm schon Graebner selbst in der oben zitierten 
Stelle Vorhaltungen dieser Art gemacht; ein anderes Beispiel 
habe ich Graebner in meinem Artikel entgegengehalten ‘); 
weitere Fälle werde ich in meiner lingnistischen Arbeit über 
die Sprachen Australiens beibringen. Man hat also schon 
deshalb das Recht, auch diesem neuen Zeugnis Mathews’ 
mit erhöhtem Mißtrauen entgegenzutreten — und bei einiger 
Untersuchung wird man dieses auch vollauf gerechtfertigt 
finden. 

Graebner hebt die „genaue Abgrenzung des Gebietes“ 
— all the tribes of the eastern half of Victoria — hervor. 
Mathews gibt diese wie folgt: „If we assume a line drawn 
from Geelong through Castlemain and Pyramid Hill until it 
meets the Murray River; thence up that river to its source 
in Forest Hill; thence from Forest Hill to Cape Howe; and 
thence along the sea-coast back to Geelong“’). Es ist also 
zweifellos, daß Mathews zu den „tribes of the eastern half 
of Victoria“ auch die Bangerang -Stämme rechnet®). Von 
diesen Stämmen nun behauptet Mathews anderswo?) selbst 
ausdrücklich, gegen Howitt, daß sie nicht männliche, sondern 
weibliche Erbfolge des Totems hätten. Das ist der erste 
Widerspruch, in den Mathews mit sich selbst gerät, da er 
in dem von Graebner angezogenen Zeugnisse allen Stämmen 
der östlichen Hälfte von Victoria die männliche Erbfolge 
zuspricht. 

Einen anderen Widerspruch nicht mit sich selbst, sondern 
mit Howitt läßt sich Mathews zuschulden kommen, wenn er 
in seinem von Graebner benutzten Zeugnis ganz allgemein 
für die Stämme des östlichen Victoria die Lokalisierung der 
Totems nicht nur als Theorie, wie auch Graebner hervor- 
hebt, sondern als Tatsache hinstellt.e. Denn Howitt berichtet 
ausdrücklich, daß bei den genannten Bangerang die beiden 
Heiratsklassen, und damit auch die Totems, nicht lokalisiert, 
sondern wie im westlichen Victoria über das Land hin zer- 
streut gewesen seien !°). Diese konkrete Einzelangabe Howitts 
ist schon deshalb als die zuverlässigere anzusehen gegenüber 
der allgemeinen Behauptung Mathews’, weil letzterer hier nicht 
einmal physisch in der Lage war, nach Howitt noch weitere 
Forschungen anzustellen. 

Ich habe von einer Nichtlokalisierung der Totems (Plural!) 
bei den Bangerang gesprochen. Richtig muß ich sagen: des 
Totems (Singular!); denn nicht nur bei den Bangerang, son- 
dern auch bei den sämtlichen Kulinstämmen war es selbst 
Howitt, trotz aller Mühe, die er sich gab, nicht möglich, 
mehr als ein Totem zu entdecken, Thara den Sumpffalken, 
welcher der Bundjil-Klasse zugehörte, während die Waang- 
Klasse überhaupt keinerlei Totems besaß '')., Wenn nun von 
diesen Kulinstämmen, die doch den bei weitem größten Teil 
der „eastern half of Victoria“ ausmachen, ein Teil überhaupt 
keinerlei Totem, ein anderer nur ein einziges besitzt, so sieht 


©) Globus, Bd. 97, 8.187, Anm. 44. Graebner heftet sich in 
seiner Entgegnung allein an die Stelle über Howitt, während doch 
die über Mathews viel mehr ins Gewicht fällt. 

7) R. H. Mathews, Ethnological Notes on the Aboriginal Tribes 
of New South Wales and Victoria, Sydney 1905, S. 95—96. 7 

8) Ich hebe das hervor, weil er sie früher einmal (American 
Anthropologist, Bd. XI [1898], S. 843) den „Tribes of central Vic- 
toria“ zuzählt. 

P) American Anthropologist, a. a. O.,. S. 327. Der Grund, den 
er für seine Angabe anführt, ist zwar durchaus nicht ausschlag- 
gebend, aber es kommt eben hier nur darauf an, seine Unzuver- 
lässigkeit durch seine beständigen Selbstwidersprüche darzutun. 

10) Howitt, Native Tribes of South-East Australia, S. 127. 

1) Howitt, a. a. O., S. 126 f. Mathews kennt diese Tatsachen 
ebenfalls aus Howitt und berichtet sie an einem anderen Orte 
(American Anthropologist, Bd. XI, S. 326) in gleicher Weise. Wenn 
er dann ebendort meint „the Bangerang were divided into two inter- 
marrying groups called Bunjil and Wah, and probably had aggre- 
gates of totems attached to each, like their neighbors on the north 
and west“, so kopiert er auch darin nur die Bestrebungen Howitts, 
um jeden Preis auch hier mehrere Totems zu finden, Bestrebungen, 
die auch Graebner selbst nicht glücklich findet. Ubrigens beweist 
dieses Kopieren auch, daß Mathews’ Urteil „aus gleichem, subjektivem 
Vorurteil hervorgegangen“ ist, viele Totems zu finden, und daß 
also auch aus diesem Grunde das von Graebner zu Hilfe gerufene 
„zweifellos richtige Prinzip der historischen Quellenkritik“ gar keine 
Veranlassung hat, hier in Aktion zu treten, 


240 v. Gabnay: „Sunnawend“ im Märamaroser Komitat. 





nesischen Kultur“ *), also der allerjüngsten Kultur der Süd- 
see, wird er rektifizieren müssen, diese Art der Feuerberei- 
tung kommt, wie dargelegt, schon, und wahrscheinlich als 
einzige, der allerältesten Kulturschicht zu. 

In einem nicht recht erkennbaren Zusammenhang mit 
dem Thema seines Artikels steht es, wenn Graebner am 
Schluß desselben, wohl ungerufen, eine Besprechung meines 
Pygmäenwerkes zu bringen sich beeilte und so der eigentlichen 
Besprechung durch Prof. Dr. Schwalbe ®*) um ein gutes Stück 
zuvorkam. Dr.Graebner wird es mir nicht verübeln können, 
wenn mir Prof. Schwalbes Besprechung, obwohl hier be- 
deutend mehr sachliche Gegensätze zutage treten, in mancher 
Hinsicht sehr viel besser gefällt; bei Graebner wirkt die 
„Liebenswürdigkeit des Tones“ ersichtlicherweise doch etwas 
zu sehr, und gewiß nicht zum Vorteil der Objektivität, auch 
in diesen Teil hinüber. Ich habe nicht die Absicht, jetzt 
auf irgend eine der schon vorliegenden Kritiken meines Pyg- 
mäenwerkes einzugehen”), sondern ich werde abwarten, 


25) Graebner, a. a. O., S. 365, Anm. 34. 

26) Globus, Bd. 98, S. 53 f. 

27) Nur weise ich sehr nachdrücklich die Insinuation Graebners 
zurück, daß ich in meinen religionswissenschaftlichen Arbeiten „eine 
Beweisführung für ein von vornherein feststehendes Ergebnis“ unter- 
nehme. Ich bin mir noch nicht. vollkommen darüber klar, in welchem 
Sinne Graebner das versteht; ich hoffe es aber zu seinem Vorteil 
zunächst noch nicht nach der Richtung hin auslegen zu müssen, 
daß er, um der Schwäche seiner Argumente zu Hilfe zu kommen, 


bis so ziemlich alle zu erwartenden Besprechungen einge- 
laufen sind und sie dann zusammen beantworten. Dr. Graebner 
wollte ich hierfür nur bitten, doch die Belege anzugeben für 
das umfassende Urteil, das er über „fast sämtliche Bogen- 
typen der Erde“ abzugeben sich getraut. Monographien über 
die Bögen gibt es doch erst in sehr beschränkter Anzahl und 
nur über einige Teile der Erde; was in den Reisebeschrei- 
bungen usw. vorliegt, genügt nur in den seltensten Fällen 
wirklich wissenschaftlichen Anforderungen; die verschiedenen 
ethnologischen Museen haben bisher nur zum allerkleinsten 
Teil ihr diesbezügliches Besitztum veröffentlicht; bei dieser 
Sachlage wäre es natürlich von besonderem Interesse zu er- 
fahren, welches seine Belege sind für das oben berührte 
umfassende und apodiktische Urteil über „fast sämtliche 
Bogentypen der Erde“. 


Anmerkung der Redaktion. Nachdem die Herren 
Graebner und Schmidt in dieser Angelegenheit je zweimal 
zu Worte gekommen sind, muß die Debatte darüber im Globus 
geschlossen werden. . 


Mittel heranziehen will, durch die man sich in gewissen Kreisen 
allerdings leicht sehr „populär“ machen kann, die aber in ernster 
wissenschaftlicher Erörterung ihre Wirkung völlig verfehlen. Jedenfalls 
möge Graebner getrost meinen sogenannten „Standpunkt“ beiseite 
lassen und sich an die ethnologischen Tatsachen halten, mit denen 
allein ich operiere, wo ich ethnologische Thesen aufstelle; er wird 
daran vorläufig noch Arbeit genug haben. 





„Sunnawend‘“ im Märamaroser Komitat. 


Um die ärarischen Forstgebiete im nordöstlichen Teile 
Ungarns, besonders im Komitate Märamaros, fachgemäß 
ausnutzen zu können, wurden zur Zeit Maria Theresias, 
also in den Jahren 1740 bis 1780, Holzknechte aus Ober- 
österreich, besonders aus Ischl, Gmunden, Ebensee, Rinn- 
bach usw., als konventionierte Forstarbeiter in der Má- 
ramaros angesiedelt. 

Der Grund und Boden ihrer Ortschaften, als da sind 
Kirälymezö (Königsfeld), Német Mokra (Deutsch-Mokra), 
Rahó, Körösmezö usw., blieb ärarisch, nur die darauf er- 
bauten, reinen und bezimmerten Holzhäuser bilden ihr 
Eigentum. Sie sind die Intelligenz jener Gegend und 
die Lehrmeister der dort ansässigen Ruthenen im Bau 
der Klausen, Buhnen, Sporen, im Regulieren der Flüsse 
sowohl als im Flößen der Langhölzer und im Triften der 
Klötze. Die Leute haben sich so ziemlich stammesrein 
erhalten, sind hoch und stämmig gewachsen, haben aber 
in ihre Sprache genug fremde Idiome eingemengt. Daß 
sie den Hügel „Piachl“ nennen, mag ja noch ihrer Er- 
innerung an Büchl oder Bügel zuzuschreiben sein, daß 
sie aber statt Busen „Pasoch“ und statt Gehirn gar 
„Mosog“ sagen, läßt schon keine germanische Ableitung 
mehr vermuten. 

Die unverfälschtesten sind die Mokraner, diese haben 
auch noch die meisten Gebräuche ihrer früheren Heimat 
sich am besten bewahrt. Der schönste dieser Gebräuche 
ist die Feier der „Sunnawend“, der Sonnenwende. Die 
Sonne hat bekanntlich am 21. Juni ihren Höhepunkt er- 
reicht und bleibt dort bis zum 28. Juni, was als Sonnen- 
stillstand, Solstitium, bezeichnet wird. In diese Zeit fällt 
der Johannistag, nämlich auf den 24. Juni. Der Gebrauch 
wird am Vorabend bei eintretender Dunkelheit ausgeführt 
und auch Scheifelschlag oder Scheibenschlag ge- 
nannt. Man gebraucht dazu Scheibchen von 8 bis 9 cm 
im Quadrat und 1 cm Dicke, die in der Mitte durchbohrt 
und aus ganz frischem, feuchtem Buchenholz gespalten 
sind, damit sie ja nicht brennen, sondern nur glühen oder, 
wie die Mokraner sagen: klosen. 

Nun machen die Burschen am genannten Abend an 
einer oder zwei Stellen der Berglehne ein größeres Feuer 


an und errichten daneben einen Schlagbock, auch Schlag- 
brett genannt. Dieser besteht aus zwei in die Erde ge- 
rammten Holzpflöcken, diein Brusthöhemit einem schmalen, 
gespaltenen Brett verbunden sind. Nun legen sie die 
Scheibehen der Reihe nach ins Feuer, damit sie erglühen, 
und wenn um 8 Uhr abends zum Gebet geläutet wird, 
nimmt der Anführer das erste Scheibehen mittels eines 
meterlangen und zentimeterstarken Stabes aus dem Feuer, 
indem er dessen Ende in das Loch des Scheibchens steckt, 
schwenkt es einigemal hin und her, damit es an der Luft 
besser erglühe, und schlägt den Stock von unten in die 
Höhe stark an das Schlagbrett an, so daß das Scheibchen 
im weiten Kreise vom Stock wegfliegt. Diese Scheibe 
wird die Gebetscheibe, der Schlag aber Gebet Sonn’'wend 
Scheifelschlag genannt. Nach diesem folgen dann die 
übrigen Schläge, aber abwechselndimmer von einemanderen 
Burschen, der während des Hin- und Herschwenkens 
„Sunnawend, Sunnawend!“, während des Schlages aber 
seinen eigenen Namen in das Dorf hinunterschreit. 

Die Dorfschönen bleiben bis Mitternacht auf, um sich 
an den kleinen glühenden Sonnen zu ergötzen und zu 
sehen, wessen Schlag wohl der gelungenste sei, welcher 
Bursche wohl den größten Bogen erreicht habe. 

Das Spiel wird oft auch noch an den folgenden zwei 
oder drei Abenden fortgesetzt, da es doch gar zu schön 
ist, um nur eine einzige Nacht zu dauern, und da man 
in diesen Gegenden sonst nur sehr wenig Zerstreuung 
hat, so daßauch die kleinen Kinder ein bis zwei Wochen vor- 
her und nachher noch mit solchen Scheibehen auf der 
Gasse spielen, aber natürlich ohne Feuer. 

Daß dieser Brauch heidnischer, altgermanischer Ab- 
stammung ist, steht fest, ob er aber noch in der früheren 
Heimat dieser Leute vorkommt, ist zweifelhaft. Ich schrieb 
zwar dem Herrn Bürgermeister von Ischl deswegen, der 
aber scheint aller Rücksichten bar geworden zu sein und 
hat nicht geantwortet. 

Die alten Germanen sollen zu dieser Zeit im Walde 
Freudenfeuer entzündet und dann unter gewissen Zere- 
monien über sie hinweggesprungen sein. 

Franz von Gabnay. 





Die Hittiterforschung. — Bücherschau. 


241 





Die Hittiterforschung. 


Über Hittiterforschung sprach D. G. Hogarth auf der 
diesjährigen, in Sheffield stattgefundenen Versammlung der 
British Association. Auszugsweise ist über den Vortrag in 
der Zeitschrift „Nature“ vom 8. September 1910 berichtet 
worden; danach hat Hogarth über die Entdeckung der Tat- 
sache, daß die Hittiter ein herrschendes Volk gewesen sind, 
und über ihre Stellung in der Weltgeschichte folgendes aus- 
geführt. 

Jene Entdeckung datiert von der 1834 bis 1845 erfolgten 
Auffindung zweier prähistorischen Städte bei Boghas Kjöi 
und Ujuk im nordwestlichen Kappadozien. Sayce ermittelte 
später, daß die dortigen Skulpturen und Inschriften derselben 
Völkerfamilie angehört haben, wie gewisse nach 1870 bei 
Hamath und sonst in Syrien aufgefundene Skulpturen und 
Inschriften und wie einige andere Denkmäler Kleinasiens bei 
Ibris und in der Nähe von Smyrna. Jene syrischen Denk- 
mäler waren schon früher einem Volke zugeschrieben worden, 
das unter dem Namen Kheta oder Khatti in den syrischen 
Beziehungen der Pharaos der 18. bis 20. Dynastie eine große 
Rolle gespielt hatte, und auch in denen der Assyrerkönige, 
und man nahm allgemein an, daß dieses Volk mit den „Kindern 
Heths“ oder den Hittitern des Alten Testaments identisch 
wäre. Wenn aber diesen Hittitern die syrischen Monumente 
zuzuschreiben waren, so waren sie in gewissem Sinne auch 
für die kleinasiatischen Denkmäler verantwortlich, und es 
war jedenfalls klar, daß eine sehr eigenartige und wichtige 
Zivilisation, die im zweiten vorchristlichen Jahrtausend und 
im Beginn des ersten ein großes Gebiet des nahen Ostens um- 
faßt hatte, von der Geschichte vergessen worden war. 

Durch Studien und Grabungen bemühte man sich nun 
während des nächsten Vierteljahrhunderts, diese Zivilisation 
zu erhellen, und man gelangte so weit, ihren Ursprung nach 
Kleinasien zu verlegen und durch die Entdeckung zahlreicher 
neuer Denkmäler geographisch die zwischen den zuerst auf- 
gefundenen klaffenden Lücken mehr oder weniger auszu- 
füllen. Es ergab sich daraus, daß diese Denkmäler an Ver- 
kehrslinien, die von Nordwest-Kappadozien nach Süden und 
Westen führten, lagen, und ferner, daß nicht nur Nordsyrien, 
sondern auch das westliche innere Kleinasien solche Denk- 
mäler in fast allen ihren Teilen enthielten. Aber grundlegende 
Fragen blieben noch offen: Wer waren die Gründer dieser 
Zivilisation, welches war die genaue Lage ihres Brennpunktes 
und wer hatte an ihrer Entwickelung Anteil? Sie konnten 
erstbeantwortet werden, als Boghas Kjöi 1906/07 durchWinckler 
und seine Gefährten ausgegraben wurde. 

Auf der Stätte von Boghas Kjöi, von der man seit einigen 
Jahren wußte, daß sie Keilschrifttafeln teils in babylonischen, 
teils in einer unbekannten Sprache bot, legten die Forscher 
eine große megalithische Ruinengruppe in der unteren Stadt, 
sowie Befestigungen und gewisse andere Bauwerke in der 
oberen Stadt frei; auch klärten und untersuchten sie von 
neuem die schon lange bekannten religiösen Felsreliefs von 
Jasily Kaja. Außer auf mehrere Mauerskulpturen, von denen 
die interessanteste eine bewaffnete Amazone zeigt, ‚stießen 
die Forscher auf eine Anzahl von Keilschrifttafeln, besonders 
in den Ruinen älterer Teile des unteren megalithischen Bau- 
werks, das offenbar ein Palast war. Diese Tafeln erwiesen 
sich in der Hauptsache als Archive des „Auswärtigen Amts“ 
von sechs Königsgenerationen, die über die „Hatti“ von Boghas 


Kjöi im 14. und 13. vorchristlichen Jahrhundert geherrscht 
hatten, und sie erwiesen ferner, daß die Hatti Kappadoziens 
die Ketha waren, die mit den Agyptern bei Kadesch kämpften 
und den berühmten Vertrag mit Ramses dem Großen schlossen. 
Das erste bedeutende Königtum war das des Subbiluliuma, 
eines Zeitgenossen des ägyptischen Amenhotep IV.; das letzte 
war das des Hattusil II., des „Khetasar“, der den Vertrag mit 
Ramses schloß. Wir wissen aber aus babylonischen, assyrischen 
und ägyptischen Berichten, daß vor wie nach jenen Königen 
die Hatti eine Macht in Westasien waren, und daß wir ihnen 
eine wenigstens tausendjährige Geschichte zuzubilligen haben. 
Die Tafeln zeigen, daß Subbiluliuma die kappadozische Macht 
über Nordsyrien und sogar über einen großen Teil Mesopo- 
tamiens ausgedehnt hat, wo die Mitanni vormals herrschend 
gewesen waren, und daß dieser weite sich sogar bis an die 
Grenze Babylons erstreckende Besitz durch seine bedeutendsten 
Nachfolger Mursil und Mutalla erhalten und erst nach Hattusil II. 
verloren ging, der mit Agypten wie mit Babylon auf dem 
Fuße der Gleichberechtigung verhandelte. Überraschend wie 
diese Enthüllung ist, sehen wir nun, daß ohne die Existenz 
einer solchen hittitischen Macht die weite Zerstreuung der 
hittitischen Baudenkmäler und Zivilisation und des physischen 
Typus unerklärlich gewesen wäre, und wir erkennen in Boghas 
Kjöi den natürlichen Brennpunkt, von dem alles das über 
Kleinasien und Syrien ausstrahlte. Wir erkennen aber auch, 
daß viele jener Monumente und viel von der hittitischen Zi- 
vilisation das Werk anderer Völker als der kappadozischen 
Hatti war — von Völkern, die von diesen gelernt und sie in 
vielen Fällen überdauert haben. Auch andere Erscheinungen 
haben durch die Funde in Boghas Kjöi ihre Erklärung ge- 
funden, besonders der Mißerfolg der ägäischen Macht Kretas, 
in Kleinasien festen Fuß zu fassen, und die lange Dauer des 
hittitischen Namens und Rufes in Syrien. Sie zeugen ferner 
so klar, wie nichts anderes, für den orientalischen Einfluß auf 
die früheste hellenische Zivilisation, besonders auf die ionische 
Kunst und Religion. Denn selbst die frühe Berührung zwischen 
den Muski-Phrygiern und Assyrien scheint eine für die Er- 
klärung des griechischen Phänomens ausreichende Orientali- 
sierung Phrygiens und Lydiens nicht ergeben zu haben. Die 
wahre orientalisierende Kraft war in Kappadozien, dessen 
Kunst und Religion den dazu erforderlichen Typus zeigten. 

Ohne Zweifel hat dann eine große, wenn auch vergessene 
Rolle in den Beziehungen zwischen Ost und West die Zivili- 
sation gespielt, die so lange die ganze Landbrücke zwischen 
Asien und Europa einnahm. Das lange erdauern und die 
große Ausdehnung des hittitischen Einflusses in Syrien erhellt 
aus den Ausgrabungen in Sendschirli und Sakje Gösi und 
aus neueren Entdeckungen im Becken des mittleren Euphrats 
zu beiden Seiten des Flusses. Aber ein gewaltiges Feld bleibt 
noch zu erforschen, und es müssen noch andere wichtige 
Stätten genau untersucht werden, namentlich Kartschemisch, 
Marasch und Malatia. Wenn auch nur eine von ihnen nach 
den besten neuen Methoden gründlich ausgegraben sein wird, 
dann wird sich eine Flut von Licht auf die hittitische Alter- 
tumskunde ergießen; und mit der Hilfe, die die Entzifferung 
der nichtbabylonischen Tafeln von Boghas Kjöi für die Ent- 
zifferung der phonetisch schon in erheblichem Maße durch 
Sayce interpretierten hittitischen Inschriften gewähren wird, 
wird das Studium der hittitischen Zivilisation ihre Stelle auf 
dem Felde der wissenschaftlichen Geschichtsforschung ein- 
nehmen. 


Bücherschau. 


C. 6. Seligmann, The Melanesians of British New 


Guinea. With a Chapter by F. R. Barton and an 
Appendix by E. L. Giblin. Cambridge 1910, University 
Press. 21s. 


Der Inhalt des Buches verteilt sich in ziemlich gleicher 
Weise auf zwei der ethnographischen Bezirke von Britisch- 
Neuguinea, den Zentral- und den Massimdistrikt, beide, wie 
der Titel andeutet, von Stämmen melanesischer, d. h. malaio- 
polynesischer Sprachzugehörigkeit bewohnt oder wenigstens 
kulturell beherrscht. Doch wird vom Zentralbezirk nur die 
westliche Hälfte, die Stämme der Koita, Roro und Mekeo, 
behandelt. Da die Koita zuden Motu in engster, nicht nur geo- 
graphischer, sondern auch kultureller Beziehung stehen, fällt 
auch manches Streiflicht auf die Gebräuche der Motu; die von 
Barton behandelten jährlichen Handelsfahrten nach dem 
Papuagolf sind sogar ursprünglich eine ausschließliche Motu- 
sitte, an der nur sekundär auch Koita teilnehmen. Die sozialen 
Verhältnisse des westlichen Zentralbezirkes gewinnen durch 
die Auffindung eines ausgebildeten Totemsystems bei den 
Mekeo bedeutend an Klarheit. Dessen Existenz war übrigens 


nach den übrigen kulturellen Verhältnissen nicht ganz un- 
erwartet, nicht nur wegen der Nähe des Papuagolfs, sondern 
weil aus dem Mekeobezirk selbst Kegeldachhütten, von Delena 
(Roro) die Speerschleuder in der Form des Schleuderstricks 
belegt war. Der Totemismus der Mekeo ist vaterrechtlich 
exogam, mit starker Tendenz zur Lokalisierung, indem ent- 
weder in jedem Dorfe nur eine Totemgruppe vorhanden oder 
herrschend ist, oder, wo ein Dorf mehrere Gruppen umfaßt, 
deren Häuser innerhalb des Ganzen lokale Gruppen bilden. 
Das Totem ist meist gespalten; jede Gruppe besitzt außer 
dem eigentlichen Totemtier oder der Totempflanze noch ein 
Gruppenabzeichen, ebenfalls ein Tier, eine Pflanze oder seltener 
auch ein lebloses Objekt, und zwar ist es das Urbild dieses 
Abzeichens, das, wenn eßbar, nicht gegessen wird, während 
für die eigentlichen Totemobjekte ein solches Verbot nicht 
besteht. Allem Anschein nach handelt es sich, da die eigent- 
lichen Totems oft mehreren Gruppen gemeinsam sind, bei den 
Gruppenabzeichen um ursprüngliche Subtotems. Außer dem 
Recht auf ihr Abzeichen hat jede Gruppe noch das Recht 
auf Errichtung eines oder mehrerer Klubhäuser. Dies ganze 


242 


System scheint nun von den Mekeo nach Süden und Osten 
allmählich auszuklingen. Weder Roro noch Koita kennen 
eigentlichen Totemismus, und die Gruppenabzeichen, die bei 
beiden kaum mehr figürlich6 Bedeutung haben, treten bei den 
Koita überhaupt nur noch schwach hervor, wie denn dort auch 
die Exogamie weniger ausgeprägt ist. An Stelle der Klub- 
häuser treten bei den Koita die bekannten Zeremonialplatt- 
formen, oft mit prächtig geschnitzten Pfosten, deren Er- 
richtun& und Instandhaltung bestimmten Familien innerhalb 
der Gruppe zusteht und ganz bestimmten sozialen Rang verleiht. 
Wesentlich gleichförmiger sind die sozialen Verhältnisse im 
Massimdistrikt: Überall derselbe mutterrechtliche Totemismus 
mit „linked totems“, den der Verfasser schon früher in 
mehreren Aufsätzen geschildert hat. Als Reste der ursprüng- 
lich vaterrechtlichen Form dürfen der größere Respekt gegen- 
über dem väterlichen Totem und die auch hier vorhandene 
Tendenz zur Lokalisierung gelten. Im Südwesten des Be- 
zirks, auf dem Festlande von Neuguinea, macht sich stellen- 
weise eine Teilung der Totems in zwei Gruppen bemerkbar, 
die auch im Zentraldistrikt nicht ganz zu fehlen scheint, 
und in der wahrscheinlich der Einfluß eines Zweiklassen- 
systems zu sehen ist. Die Bedeutung des Häuptlingstums, 
' besonders die Stellung der Oberhäuptlinge im nördlichen 
Massimbezirk, erscheint nach Seligmann nicht mehr so groß, 
wie früher berichtet, läßt aber doch den Einfluß polynesi- 
scher Anschauungen noch deutlich genug hervortreten. Nicht 
so zusammenhängend und übersichtlich wie die Darstellung 
der sozialen Gruppierungen ist das, was über Familienleben, 
Werbung und Ehe, Geburt, Eigentums- und Erbrecht, Handel, 
Krieg, Tabu, Feste und Tänze, Bestattungsgebräuche, Zauberei 
und Religion gesagt wird. Doch enthalten auch diese Ab- 
schnitte eine Fülle von Material, dessen genaue Durch- 
arbeitung sicher noch wichtige Gesichtspunkte für die Kultur- 
geschichte der Gebiete erschließen wird. Ich verweise etwa 
nur noch auf die Ausführungen über das Häuptlingswesen 
und das Amulettwesen des Zentraldistrikts, über den Kanni- 
balismus, die damit in Zusammenhang stehenden eigentüm- 
lichen Zeremonial-Steinkreise und den im Norden zum Extrem 
entwickelten Skelettkult des Massimdistrikts. Für die mate- 
rielle Kultur ist der Abschnitt über den Handel des Massim- 
distrikts mit Bemerkungen über die großen Steinbeile und 
die knöchernen Zeremonial-Kalkspatel als Geld und Wert- 
objekte, über Bootformen und anderes von besonderem Inter- 
esse. Aus dem südlichen Massimbezirk wird eine Anzahl 
Sagen teilweise naturmythischen Inhaltg gegeben. Zahlreiche 
gute Abbildungen tragen zur Veranschaulichung der mit- 
geteilten Tatsachen bei. F. Graebner. 


Kungfutse, Gespräche (Lun-yü). Aus dem Chinesischen 
verdeutscht und erläutert von Bichard Wilhelm. 
XXXII u. 2468. Jena 1910, Eugen Diederichs. 5 %. 

Der Eugen Diederichsche Verlag in Jena hat sich durch 
manche seiner Veröffentlichungen unbestreitbare Verdienste 
um die Pflege der Geistesgeschichte und -kultur erworben. 

Er fügt ihnen ein neues hinzu mit einem groß angelegten 

Unternehmen, das die Hauptwerke der chinesischen Philo- 

sophie und Religion in deutschen Übersetzungen (10 Bände) 

dem allgemeinen Verständnis erschließen soll. Der Wert, 
sogar die dringende Notwendigkeit solches Werkes liegt auf 
der Hand. Kein großes Kulturvolk steht uns so fern, ist so 
vielfach verkannt und falsch beurteilt worden und ist auch 
so schwer verständlich wie die Chinesen. Durch die prak- 
tischen Beziehungen des modernen Weltlebens tritt uns dieses 

Volk in der festen Geschlossenheit seines Wesens, mit seinem 

ganzen Besitz an Kultur nahe. Der Völkerverkehr erfordert, 

um Mißgriffe zu vermeiden, vor allem ein Verständnis dieser 
eigenartigen Welt. China ist in hohem Maße bereit, von 

Europa Belehrung anzunehmen; es ist aber seines Wesens 

auch bewußt und will dafür Anerkennung finden, es will 

nicht zu europäischem Sinn bekehrt sein. Wenn man sich 
klar macht, wie die Grundlagen der europäischen Gesittung 
geschaffen sind, so kann man gar nicht erwarten, daß China, 
dem diese Grundlagen — vor allem die griechische Kultur — 
fehlen, unmittelbar in europäisch- christliches Wesen hinein- 
wachse. Vielmehr gilt es, auch den geistigen und sittlichen 

Gütern Chinas gegenüber ein unbefangenes historisches Urteil 

zu gewinnen. Das heißt natürlich nicht, daß wir nun Kon- 

fuzius auch zu unserem Heiligen erheben müßten, wie das von 

Dilettanten gelegentlich geschehen ist. Er gehört nicht der 

Menschheit an, so groß er ist, sondern lediglich dem Kultur- 

kreise Chinas, in dem er mit allen Fasern seines Wesens 

wurzelt, den er in einem persönlichen Typus verkörpert. 

Indem uns heute China nahe tritt, greift aber auch sein Geist 

nach Europa über; und eine Auseinandersetzung mit den 

religiös-ethischen Gedanken des Ostens wird für die Zukunft 
ebenso nötig werden, wie sie dem Buddhismus gegenüber 


Bücherschau. 


längst unvermeidlich geworden ist und heute lebhaft er- 
örtert wird. 

Wer China kennen lernen will, muß Konfuzius und die 
von ihm ausgehende Wirkung verstehen. Von Konfuzius 
selbst ist nur ein Werk verfaßt, das ihn als praktischen 
Staatsmann zeigt, der Tso-tschuan betitelte Kommentar zu 
der Chronik seines Heimatstaates Lu über die Jahre 721 bis 
481 v. Chr. Diese Chronik selbst ist ein altes, in rein annali- 
stisch aufzählendem Stil gehaltenes Geschichtswerk, während 
der Kommentar ebenso sehr den sprachgewaltigen Meister 
wie den offenherzigen Mut des Konfuzius zeigt. Dieanderen 
Werke, aus denen wir Konfuzius kennen lernen, sind erst in 
seinem Schülerkreise entstanden, die „Gespräche“ (Lun-yü), 
die „Große Lehre“ (Ta-hioh) und die „Unwandelbarkeit 
der Mitte“ (Tschung-jung) 

Das uns vorliegende Werk, das Lun-yü, die Gespräche 
des Konfuzius, die in einer lehrhaften, politischen oder ethi- 
schen Weisung gipfeln, ist in seinen intimen Zügen und der 
lebensvollen Anschaulichkeit zweifellos die beste Quelle für 
die Kenntnis des eigenartigen Mannes. An seiner Echtheit 
zu zweifeln ist lediglich Hyperkritik. Wer nicht das Gefühl 
für das Unerfindbare der Persönlichkeit hat, die aus allen 
diesen Worten spricht, wer hier nicht individuelles Leben 
spürt, der ist freilich für historische Forschung — wenigstens 
auf geistesgeschichtlichem Gebiete — nicht zu brauchen. 
Vor allem möchte ich auch den Wert des 10. Buches, 
das das Privatleben und das äußere Gebahren des Konfuzius 
bei verschiedensten Anlässen schildert, nicht gering an- 
schlagen. Die uns befremdende Detailschilderung entspricht 
ganz dem chinesischen Sinn für das Einzelne und für den 
symbolischen Wert der Formen. Mag dieser Teil auch anderer 
Herkunft sein wie die Hauptmasse, er stammt sicher aus der 
nächsten Umgebung des Meisters. 

Was die Sversetrang und Erklärung anbelangt, so ist 
hier nicht der Ort für weit ausholende philologische Streit- 
fragen. Jedenfalls ist die rsetzung dadurch sehr wert- 
voll, daß sie neben eine möglichst wörtliche Ubersetzung 
eine oft auch die sachliche Erklärung in sich aufnehmende 
Umschreibung stellt. Wer mit chinesischer Grammatik 
bekannt ist, weiß, daß eine rein wörtliche ersetzung aus 
dem Chinesischen kaum möglich ist, jedenfalls für uns meist 
unverständlich bleibt. Die Ausdrucksformen und Mittel der 
Sprachen sind zu tief verschieden. Man muß einen chinesi- 
schen Text in unsere Formen zu denken umsetzen. Auch 
dann ist er oft noch dunkel genug; die Umschreibung ist oft 
unentbehrlich. Hier freilich ist das Subjektive der Auf- 
fassung nicht zu.vermeiden; es geht eben ein uns wesens- 
fremdes Geistesleben nicht ohne innere Umgestaltung in die 
Denkweise über, in der wir infolge unserer Kulturvoraus- 
setzungen leben. Ob z. B. des Konfuzius Lehre von der 
„Gradheit“ (Aufrichtigkeit, Buch VI, 17) so vergeistigt werden 
darf, wie es schon durch einen chinesischen Kommentator 
und danach vom Bearbeiter geschieht: „das Leben des 
Menschen beruht auf der ihm von Gott verliehenen Kraft des 
Geistes“ — das möchte fraglich sein. Ebenso mag Buch IX, 5 
die Interpretation durch den „Willen Gottes“ und die „Bache 
Gottes“ für den schlichten Pflichtenbegriff des Konfuzius eine 
Steigerung mit sich bringen. Ähnliche Fragen der Auffassung 
ließen sich noch mehrfach geltend machen. — Recht wert- 
voll sind die Anmerkungen; sie lassen durch Hinweise auf 
Goethe, Kant und andere europäische Denker oft ein inter- 
essantes Licht auf den chinesischen Weisen fallen. Aber 
auch an kulturhistorischem Material bringen sie vieles zur 
Erklärung des Konfuzius herbei. Wenn trotzdem noch manche 
Stelle dunkel bleibt oder mehrdeutig ist, so teilt die europäi- 
sche Wissenschaft solche Verlegenheiten mit den chinesischen 
Gelehrten. Derartige Schwierigkeiten mögen zum Teil in 
zerstörter Textüberlieferung begründet sein; jedenfalls werden 
stets solche Schwierigkeiten bleiben. 

Sie können indes keinen Einfluß auf die Auffassung und 
Würdigung des Konfuzius haben, den wir historisch und als 
Menschen so gut kennen lernen, wie wenige Größen der Ver- 
gangenheit. Eine voraufgehende Einleitung schildert die 
allgemeinen Vorraussetzungen seines Wirkens, die Geschichte 
seines Lebens und stellt seine Lehre systematisch dar, um 
mit einer hohen, aber durchaus berechtigten Würdigung des 
Meisters zu schließen. Der Verfasser berührt auch das Problem 
der Entstehung der chinesischen Zivilisation; sie habe sich 
nicht rein autochthon entwickelt, sondern die Chinesen seien 
aus Hochasien in das Tiefland eingewandert durch den Paß 
von Lantschou, wo der Gelbe Fluß die Gebirge durchbricht. 
Indes wird man die Bildung der ältesten Kultur in China 
durchaus für bodenständig halten müssen. Die Entstehung 
des chinesischen Staates hat zuerst W. P. Wassiljew in 
genialer Weise erkannt (Die Erschließung Chinas, Leipzig 1909, 
8.3), und unabhängig von ihm ist A. Conrady zu den 


Kleine Nachrichten. 


243 





gleichen Ergebnissen gekommen (im Anhang zu Wassiljews 
Buch, 8.157 bis 164), Stellen, die niemand unbeachtet lassen 
darf, der die Anfänge Chinas verstehen will. R. Stübe. 


G. Frank Speck, Ethnology of the Yuchi Indians. 
Diss. University of Pennsylvania. Anthropological Publi- 
cations of the University Museum, Vol.I, No.1. Phila- 
delphia 1909. 

Die Jutschi oder Tsojahá waren einst ein volkreicher 
Stamm am Savannah; von den Muskogi bedrängt, wanderten 
sie nach dem Cross Timber-Land in Oklahama und schlossen 
sich dem Krikbunde an; sie zählen jetzt kaum 500 Köpfe. — 
Verfasser, der sie in den Sommern 1904 und 1905 und im Winter 
1908 studierte, berührt zunächst kurz die Umwelt und die 
Nachbarstämme der Jutschi und die charakteristischen Er- 
scheinungen in ihrer Sprache und beschreibt dann ihre 
materielle Kultur: Ackerbau (heute europäisiert), Jagd mit 
Bogen und Pfeilen, Fischfang mit Gift, Pfeilen, Reusen und 
Angeln; Töpferei (Gefäße, Pfeifenköpfe, Figuren); Korbflechten, 
Anfertigung der alten Lederkleider, Metall- und Perlenarbeiten. 
Häuser und Kleidung sind in Form und Material jetzt meist 
modern. Die figürlichen und geometrischen Ornamente an 
Trachtenstücken und Gefäßen haben meist religiöse Bedeutung, 
ebenso die Musikinstrumente, außer der Flöte. — Die Jutschi 
zerfallen in 20 totemistisch-exogame Sippen, von denen vier 
als höherstehend gelten und die Stammesführer liefern. Diese 
auch bei anderen Indianern bestehende Zweiteilung, die mit 
einer Verschiedenheit in Rechten und Pflichten verknüpft ist, 
ist nach Bedeutung und Ursprung nicht klar. Die oberste 
Instanz ist die Gemeindeversammlung, sie entscheidet unter 
Vorsitz von 8 Leitern politische Angelegenheiten und führt 
die religiösen Zeremonien aus. — Weiterhin schildert Speck 
die Gebräuche bei der Geburt (Verscharren der Nabelschnur 
zusammen mit Bogen und Pfeilen bei Knaben, mit Stampfer, 
Mörser und Rührlöffel bei Mädchen; gewisse Verbote für den 
Vater), Namengebung, Eheschließung, Initiation der Burschen, 
Menstruation, Kindererziehung, Begräbnis (früher in der Hütte). 


Am eingehendsten aber behandelt er die Religion der Jutschi, 
welche Ahnen- und Naturgeister, zoo- und anthropomorphe 
Gottheiten, als höchste die Sonne hat, und dabei besonders 
die verschiedenen Zeremonien, die beim Jahresfest auf dem 
den Regenbogen symbolisierenden Gemeindeplatz stattfinden: 
Fasten, mannigfache Tänze, Verbote, Gewinnung des heiligen 
Feuers durch Schlagen, Skarifikation, Nehmen eines Brech- 
mittels usw. Etwas kurz ausgefallen ist das Kapitel über 
Schamanismus; immerhin sind die Mitteilungen über Krank- 
heiten, die danach durch Tiergeister verursacht werden, und 
über ihre Heilung durch Zaubersprüche und gewisse Kräuter 
psychologisch interessant. Das Schlußkapitel enthält eine 
vergleichende Untersuchung über die Mythologie der Jutschi 
unter Beifügung einer großen Reihe von Erzählungen in 
wörtlicher Übersetzung. — Ausgestattet ist diese gründliche 
und sorgfältige Arbeit mit 42 Abbildungen im Text und zahl- 
reichen weiteren, zum Teil bunten auf 16 Tafeln. Aby. 


Don Juan Matienzo, Gobierno del Perü, obra escrita 
en el siglo XVI. 219 8. Herausgegeben von José 
Nicolas Matienzo. Buenos Aires 1910. 

‘Von den ursprünglich vier Büchern der Handschrift 
haben sich nur die ersten beiden erhalten, die jetzt das 
Britische Museum in London unter Nr. 5469 besitzt. Matienzo 
verfaßte sein Werk als Oidor de la audiencia de Charcas 
jedenfalls noch vor dem Jahre 1573. 

Obgleich das Werk die Politik der Spanier sehr beschönigt, 
so ist es doch sowohl geschichtlich als auch kulturhistorisch 
und ethnographisch in amerikanistischem Sinne wertvoll als 
neues Quellenwerk über Peru. 

Interessant sind die Angaben über die Chirrguanaes in 
Buch II, Kap. 9, die als wilde Menschenfresser geschildert 
werden, die Ortsangaben nebst Entfernungen in Buch II, 
Kap. 15, die Nachrichten über die Provinzen Chuquito (II, 
Kap. 14), Tucuman (II, Kap. 16), Paraguay (II, Kap. 17). 
Wertvoll sind auch die Bemerkungen über Coca (Buch V, 
Kap. 44—51). Dr. Walter Lehmann-München. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Eilerts de Haans Surinam-Expedition 1908. In 
der Übersicht über das Forschungswerk der Holländer in 
ihrer Kolonie Surinam, die van Manen im 95. Bande des 
Globus (Nr. 7 und 8) gab, war zuletzt kurz der Expedition 
des Marineleutnants J. G. W. J. Eilerts de Haan gedacht 
worden, deren Zweck es war, das noch unbekannte Quellen- 
gebiet des Surinamflusses aufzuhellen. Inzwischen hat Eilerts 
de Haan in der „Tijdschr. Kon. Ned. Aaardrijksk. Genoot- 
schap“, 1910, Nr. 3 und 4 einen Bericht über den Verlauf 
jener Expedition veröffentlicht, dem u. a. eine große Karte 
über das obere Stromgebiet des Surinam beigefügt ist. Wie 
die meisten dieser holländischen Expeditionen, so mußte sich 
auch diese darauf beschränken, die von Stromschnellen durch- 
setzten Flüsse soweit als möglich im Boot aufwärts zu ver- 
folgen und einige aus dem Urwaldmeer aufragende Kuppen 
zu ersteigen, von wo Umschau gehalten werden konnte. 
Indianersiedelungen hat auch diese Expedition nicht an- 
getroffen. 

Mitglieder waren der Marineleutnant R. H. Wijmans und 
der Arzt J. H, A. T. Tresling, der auch das zoologische und 
botanische Gebiet zu bearbeiten hatte. Mitte Juli 1908 stand 
die Expedition an der Schwelle des Unbekannten, nämlich 
in dem Buschnegerdorf Goddo, wo sich der Gran Rio und der 
Pikien Rio zum Surinamfluß vereinigen. Zunächst wurde bis 
Anfang August der Pikienfluß aufgenommen und unter 3° 30’ 
umgekehrt. Ferner unternahm de Haan allein einen Abstecher 
nach dem schon von einer früheren Expedition gesichteten 
Ananasberge. Hierauf wurde von Mitte August ab der Gran 
Rio befahren und hier der fernste Punkt, etwa 3° 20’ nördl. Br., 
56° 15’ westl. L., Ende September erreicht. Auch vom Gran 
Rio wurden Abstecher in den Urwald unternommen, so nach 
dem Franssen Herderschee-Pik im Süden und nach einer 
anderen, 820 m hohen Hügelgruppe im Westen. Die Peilungen 
von diesen Gipfeln reichten weit nach Norden, Osten und 
Süden und stellten die Verbindung mit den Messungen früherer 
Expeditionen her. Auch wurde ein schon zum Korantin 
gehender Fluß, „Lucie Rivier“, überschritten. Ende Oktober 
wurde der Rückweg angetreten, am 11. November Goddo 
und eine Woche später Paramaribo erreicht. 

Es bleibt nun noch der äußerste Westen Surinams am 
Korantin in gleicher Weise zu rekognoszieren. Damit ist wieder 


Eilerts de Haan beauftragt worden, den diesmal der Marine- 
leutnant C. C. Kayser und der Marinearzt J. Fr. Hulk begleiten. 
Diese Expedition hat am 18. Juli d. J. Paramaribo verlassen. 


— Eine Reise im nordöstlichen Labrador hat im 
Sommer 1910 Professor Macmillan, ein Teilnehmer an der 
letzten Pearyschen Nordpolfahrt, ausgeführt. Er begab sich 
vom Davis Inlet (an der Ostküste von Labrador, 56° nördl. Br.) 
zum George River, der in süd-nördlichem Laufe der Ungava- 
bucht zufließt. Auf diesem Wege wurden drei unbekannte 
Seen aufgefunden, deren größter der 40km lange Misternipi 
ist. Macmillan kam Mit den Naskopie-Indianern in Berührung. 


— Herderschees Mamberamo-Expedition. Daß es 
der holländischen Expedition unter Franssen Herderschee in- 
folge großer Verluste unter ihrer Begleitmannschaft nicht 
gelungen ist, unter Benutzung des Mamberamo von Norden 
her das zentrale Schneegebirge Neuguineas zu erreichen, 
wurde bereits in der Notiz über Moszkowskis Mamberamo- 
reise mitgeteilt (oben 8.195). Wir finden nun Auszüge aus 
Herderschees Aufzeichnungen aus der Zeit vom 7. Februar 
bis 4. April in Nr. 5 des laufenden Jahrgangs der „Tijdschrift 
K. Nederl. Aardrijksk. Gen.“ abgedruckt, aus denen hervor- 
geht, daß die Expedition den westlichen Quellarm des Mambe- 
ramo doch ein recht ansehnliches Stück ins Innere hat ver- 
folgen können und gerade dort hat umkehren müssen, wo 
einem Landmarsch ins Schneegebirge keine sonderlichen 
Schwierigkeiten mehr entgegenzustehen schienen. Herderschee 
fuhr den Mamberamo aufwärts und fand, daß er sich etwa 
unter 3° südl. Br. aus einem West- und einem Ostarm ver- 
einigte. Der Ostarm ist möglicherweise mit dem bedeutenden 
Flusse identisch, den die deutsch-niederländische Grenzexpedi- 
tion fern im Osten, im Süden der Küstenketten angetroffen 
hat (vgl. oben 8.227). Herderschee befuhr den im allgemeinen 
südwest-nordöstlich verlaufenden Westarm und gelangte am 
19. März bis zu einer Stelle, wo die vom Gebirge kommenden 
Quellarme des Flusses sich zu vereinigen schienen, und deren 
Lage auf 137° 29’ östl. L. und 3° 24’ südl. Br. bestimmt wurde. 
Man war deshalb nur noch etwa 75km in gerader Linie von 


Kleine Nachrichten. 





der auf 5500 m Höhe geschätzten Carstensz-Spitze des zentralen 


Schneegebirges entfernt. Man untersuchte nun bis Anfang 
April die einzelnen Quellarme, sah sich aber infolge der 
zahlreichen Todesfälle und Erkrankungen an Beri-Beri und 
Malaria gezwungen, die Rückfahrt anzutreten. Vorher wurde 
ein Hügel in den Vorbergen der Zentralkette bestiegen, doch 
war die Carstensz-Spitze von da nicht sichtbar, da andere 
Erhebungen sie verdeckten. Ende Mai langte die Expedition 
wieder in Surabaja an. (Vgl. Karte 21 in dem erwähnten 
Heft der Zeitschrift, wo der Mamberamo nach der Aufnahme 
Herderschees skizziert ist.) 

Ob die indische Kolonialregierung dem Vorschlage 
Herderschees folgen und noch einen zweiten Versuch auf 
dem Mamberamo machen lassen wird, ist bisher nicht bekannt. 
Inzwischen hat uns ja Moszkowski mitgeteilt, daß er im 
Begriff sei, sich vom Van Rees-Gebirge, also vom Mamberamo 
her, dem Schneegebirge zuzuwenden. 


— Zur Frage der Schiffsverbindung zwischen 
Europa und Sibirien. Man erinnert sich, daß es im Jahre 
1905 einer vom russischen Verkehrsministerium ausgerüsteten 
Expedition von mehreren Dampfern und anderen Fahrzeugen 
gelang, durch das Karische Meer bis zur Mündung des Jenissei 
und diesen aufwärts bis Jenisseisk zu gelangen, und daß sich 
hieran weitgehende Verkehrshoffnungen geknüpft haben. So 
heißt es auch in dem offiziellen Regierungswerk über jene 
Expedition, es sei wieder einmal die Ungefährlichkeit jenes 
Weges und die Möglichkeit erwiesen worden, ihn in den Dienst 
des Handelsverkehrs zu stellen. Eine Wiederholung scheint 
jener Versuch aber nicht erfahren zu haben, und Alex. Si- 
biriakoff legt in einem Artikel „Über die Fahrten der 
Novgoroder durchs Karische Meer und über den Weg 
durch die Halbinsel Jalmal zum Ob“ dar, daß der Weg 
durch das Karische Meer trotz der Erfahrungen von 1905 
doch zu viel Risiko biete. Daß das Karische Meer zeitweise 
ohne besondere Mühe und Gefahr durchfahren werden könne, 
habe man schon längst gewußt, aber auch, daß die guten 
Erfahrungen eines Jahres nichts auf die Eisverhältnisse im 
nächsten schließen ließen. Das hätten auch schon die alten 
Novgoroder gewußt, die sich zwar manchmal durch das Ka- 
rische Meer zum Tas begaben, dann aber, wenn dort viel 
Eis vorhanden war, einen anderen Weg gewählt hätten: Sie 
segelten bis zur Mündung der Mutnaja auf Jalmal, fuhren 
diesen Fluß noch 6 bis 8 Tage stromauf, zogen dann ihre 
Schiffe über die 400 m breite Landstrecke zwischen der Mut- 
naja und dem Selenojesee und fuhren auf dem aus diesem 
See herauskommenden Selenajafluß in den Obbusen und weiter 
zum Tas. Sibiriakoff meint nun, man könne wohl versuchen, 
ob jener Weg noch heute benutzbar sei, und gegebenenfalls 
die Landenge durchstechen. Weiterhin könnte man den Tas- 
busen und die bequem herzustellende Verbindung zwischen 
den Flüssen Tas und Turuchan benutzen, um auch einer 
Seefahrt zur Jenisseimündung enthoben zu sein. Im übrigen 
ist Sibiriakoff der Ansicht, daß „als die besten und gefahr- 
losesten Häfen für die äußeren Beziehungen Sibiriens mit 
Europa die Petschoramündung und Archangelsk zu betrachten 
sind“. 


— Der englische Geograph T. W.Saunders ist, wie wir 
einem ihm gewidmeten Nachruf im Septemberheft des „Geogr. 
Journ.“ entnehmen, am 22. Juli 1910 in Newton Abbot, De- 
vonshire, gestorben. Geboren war Saunders am 16. April 
1821 in Plymouth. Er kam als ganz junger Mensch nach 
London und eröffnete hier 1846 eine Kartenhandlung; 1851 
gab er eine Wetterkarte der Britischen Inseln heraus, die er 
täglich auf der großen Ausstellung im Hyde-Park aushing. 
Später war er Leiter der geographischen Abteilung des Ed- 
ward Stanfordschen Verlages und machte sich durch die 
Herausgabe einer Reihe wissenschaftlicher und Schulkarten 
verdient. 1868 wurde Saunders als Assistant Geographer to 
the Indian Office bestellt, um die zahllosen Karten, Pläne 
und Berichte dieses Amtes zu sichten und zu katalogisieren. 
In dieser Stellung blieb er bis zum Jahre 1885, dann lebte 
er im Ruhestand. Von Saunders’ Veröffentlichungen mögen 
hier folgende besonders genannt werden: 1853 publizierte er 
das Buch „The Asiatic Mediterranean and its Australian 
Port“, in dem er für die Errichtung einer Ansiedelung am 
Golf von Carpentaria durch die englische Regierung eintrat. 
1870 veröffentlichte er eine „Sketch of the Mountains and 
Rivers of India“, die damals und später viel Beachtung fand, 
und deren Angaben zum Teil durch die spätere Forschung be- 
stätigt wurden; auf sie geht die „Gangrikette“. 1878 erschien 
der umfangreiche „Catalogue of Manuscript and Printed Re- 





ports: Field Books, Memoirs, Maps, etc., of the Indian Sur- 
vey“, 1881 eine „Introduction to the Survey of Western Pale- 
stine“, die der Palestine Exploration Fund drucken ließ. Zwölf 
kritische Karten Indiens, die er mit Hilfe von Clements 
Markham entworfen hatte, erläuterten den „Decennial Report“ 
von 1882/83 und erschienen 1885 selbständig als Atlas. 


— Eine Übersichtskarteder Hauptsprachfamilien 
in Afrika (Maßstab 1:35000000) nebst einem kurzen Be- 
gleittext hat Bernhard Struck in Form eines besonderen 
Heftes veröffentlicht. Auf dem Gebiet der afrikanischen 
Sprachforschung, die ja auch der Ethnographie gute Dienste 
geleistet hat, ist in neuerer Zeit manches geschehen, und so ist 
der hier gebotene Ersatz für Ravensteins vielfach veraltete 
Sprachenkarte von 1883 gewiß willkommen. Auf Einzelheiten 
und Schlüsse, die zum Teil recht interessant sind, kann hier 
nicht eingegangen werden; es sei nur bemerkt, daß auf dieser 
Karte auch die Verbreitung der Pidginsprachen zum ersten 
Male darzustellen versucht ist. Zu ihnen rechnet der Verfasser 
auch das Haussa. Ihrer Existenz nach weniger allgemein 
bekannt, als etwa das Negerenglisch des Westens, das Ban- 
gala des Zentrums und das Suaheli des Ostens, sind von 
diesen Sprachen das Isikula im Südosten, das weit von Westen 
her ins Innere greifende Negerportugiesisch und das Neger- 
französisch oder Kreolisch der Maskarenen. Erwähnt sei 
dann noch die Berechnung der Zahl der heutigen afrikanischen 
Sprachen und Dialekte. Zum Semitischen rechnet Struck 
10 Sprachen und 12 Dialekte; für die hamitische Sprachfamilie 
sind die Zahlen 47 und 71, für das Bantu 182 und 119, für 
die Sudansprachfamilie 264 und 114, für die Buschmannfamilie 
11 und 3. 





— L. Siegert schlägt in seiner Arbeit zur Kritik des 
Interglazialbegriffs (Jahrb. d. Kgl. preuß. Geol. Landesanst. 
1909, Bd. 29, I. Teil) vor, den Begriff „Interglazial“ zu 
dem Umfange zu erweitern, welchen man mit Intermoränal 
bezeichnet. Unter Interglazial würden demnach alle Ab- 
lagerungen zu verstehen sein, die nicht unmittelbar dem 
Eise ihre Entstehung verdanken, sondern geologischen Pro- 
zessen, die sich in eisfreiem Gebiet zwischen einer Rückzugs- 
und einer Invasionsperiode abspielten. Als Glazial würden 
dagegen alle Ablagerungen zu bezeichnen sein, die unmittel- 
bar dem Eis ihre Entstehung verdanken, also Grundmoränen 
und Schmelzwasserabsätze. Diese Definition für Interglazial 
läßt sich natürlich auch sinngemäß auf prä- und postglaziale 
Ablagerungen übertragen. Die Interglazialablagerungen glie- 
dern sich wieder in ein unteres (kaltes) Interglazial, ein 
mittleres (warmes) und oberes (kaltes), von denen das mittlere 
Interglazial der jetzt üblichen engeren Definition für Inter- 
glazial entspricht. Die unteren und oberen Interglazial- 
ablagerungen werden dagegen jetzt vielfach als Ablagerungen 
vor dem Eisrand usw. bezeichnet. Ist später einmal die 
Kenntnis der diluvialen Fauna weiter vorgeschritten, dann 
wird man auch die hier vorgeschlagenen Namen verlassen 
und faunistische Benennungen für die einzelnen Interglazial- 
stufen einführen können, wie dies für die postglazialen ja 
bereits üblich ist. 


— Mitteilungen über die Gewitterfrequenz in der 
Schweiz gibt J. Maurer in der Zeitschrift für Balneologie, 
3. Jahrg., 1910. Das Land besitzt vier ausgesprochene Ge- 
witterstraßen, von denen die eine über den Jura, die zweite 
durch die Mitte des Mittellandes, die dritte dem Ostrande 
des Mittellandes und dem Westrande des Voralpenrandes 
und die vierte, allerdings weit schwächer besuchte, die Hoch- 
alpen entlang führt. Im einzelnen weist die Jurakette vor- 
nehmlich drei ausgesprochene dichte Maxima auf. Am Züricher 
Obersee und dessen Umgebung liegt das zweite Dichtemaximum 
der ganzen Schweiz. Im ganzen ergibt sich, daß alle Gebiete 
mit solchen Dichtemaxima sich durch ihren Wasserreichtum 
auszeichnen, der entweder durch Seen und Sümpfe oder die 
durchfließenden Flüsse geschaffen wird. Dagegen stehen die 
Dichtemaxima der Endpunkte der Gewitterzüge vor kleineren 
und größeren Bodenerhebungen still, die den Gewitterzügen 
hemmend im Wege stehen. Es gibt eben eine Klasse sehr 
tiefgehender Gewitter, die gewissermaßen nur dem Boden 
nachziehen und nicht imstande sind, querstehende Boden- 
erhebungen zu überschreiten; es sind Tiefgewitter im wahren 
Sinne des Wortes. Wahrscheinlich begünstigen ausgedehnte 
Moorgebiete durch die Speisung der Luft mit Wasserdampf 
die Gewitterbildung, wie denn auch große Hagelfrequenz mit 
ausgedehnten Moorbezirken zusammenzufallen pflegt; diese 
begünstigen sicher Hagelschlag. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schüneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- und VÖLKERKUNDE. 
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 

















Bd. XCVIII. Nr.16. 


_ BRAUNSCHWEIG. 


27. Oktober 1910. 








Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


Die Insel Timor. 


Wenn man nicht nur durch Schrift und Wort mit 
dem herrlichen Reiche von Insulinde, das sich, wie ein 
niederländischer Schriftsteller sagt, „um den Erdgleicher 
schlingt wie ein Geschmeide von Smaragden“, bekannt 
geworden ist, sondern auch die meisten von jenen malai- 
ischen Eilanden, auf welchen die Pflanzenwelt eine Fülle 
und Üppigkeit wie nur in wenigen Winkeln der Welt 
entfaltet, mit eigenen Augen gesehen hat, dann blickt 
man mit nicht geringer Verwunderung auf die Wüsten- 
insel Timor, zumal wenn man sich von den in ewigem 
Grün gekleideten Inseln Bali und Lombok oder aus dem 
großen, blühenden Garten, der Java geheißen, kommend, 
zur Zeit unseres Sommers deren Gestaden nähert. Die 
Insel Timor liegt zwischen 8040’ und 10940’ südl. Br. 
und 123° 30’ und 127° östl. L. Wie sie schon ihrer 
Lage nach aus der Südostasien in weitem Bogen um- 
ziehenden gewaltigen vulkanischen Bruchzone, die über 
Sumatra, Java, die Kleinen Sundainseln sowie durch die 
Molukken und über die japanischen Inseln verläuft, um 
erst in dem nordischen Eise in den Aleuten und Kurilen 
zu endigen, herausgerückt erscheint, so weicht sie auch 
in ihrem ganzen Aufbau von den meisten malaiischen 
Eilanden gänzlich ab. Man sucht auf Timor vergebens 
nach den grandiosen Vulkankegeln, die bis zu ansehn- 
licher Höhe, ja selbst bis an ihre Gipfel mit üppigem 
Pflanzenwuchs bedeckt erscheinen. Dort findet man 
nicht die Piks und die schönen Bergkuppen, wie man 
ihnen auf den anderen Sundainseln, wo sie mitunter ein 
ganzes Labyrinth von steilen Bergen formen, begegnet; 
anstatt dessen ziehen sich auf Timor parallele Bergketten 
über die ganze Insel hin, wovon die niedrigsten auch 
seitlich bis zur Küste reichen. Ebenen, selbst von 
mäßigem Umfange, und breite Täler fehlen auf ihr, und 
wenn man auf die zahllosen, durch Erosion gänzlich um- 
gestalteten, dabei teilweise senkrecht abfallenden, turm- 
und zinnenförmigen Felsenmassen in ihrem Innern hin- 
blickt, dann könnte man schier glauben, riesenhafte, in 
Trümmern liegende Ritterburgen in unabsehbarer Reihen- 
folge vor sich zu sehen. So zeigt sich dieses malaiische 
Eiland dem Auge des Beschauers sowohl vom Meere, als 
auch von einer hochliegenden Stelle in seinem Innern 
aus gesehen, und dabei ist es mit einem Flächeninhalt 
von 32617 qkm die größte der Kleinen Sundainseln. 
Seine Haupterstreckung ist von Südwesten nach Nord- 
osten gerichtet, in jener Richtung im Kap Usina, in dieser 
im Kap Pakula endigend. Die Insel besitzt eine läng- 
liche, zugespitzte Form und zeigt nach Norden hin, ab- 
gesehen von einigen Buchten von nicht besonders großem 
Umfange, eine mehr ausgebauchte Gestalt. Nach Süden 

Globug XCVIII. Nr. 16. 


hin erscheint die Küste in Wirklichkeit viel mehr 
landeinwärts gekrümmt, als auf den geographischen 
Karten zu sehen ist. Infolgedessen ist nach den Berech- 
nungen des Kapitäns der holländischen Siboga-Expe- 
dition die Insel etwa 4140 qkm kleiner, als man früher 
annahm. A 

Nachdem die Portugiesen schon im Jahre 1520 von 
Pulu Timor, was im Malaiischen soviel wie die „Ostinsel“ 
bedeutet, Besitz ergriffen hatten, nistete sich die Nieder- 
ländisch-Ostindische Kompagnie seit 1613 immer mehr 
auf ihr ein, und es hat dieses nach vielfachen Reibe- 
reien schließlich dahin geführt, daß in dem Traktat von 
Lissabon vom Jahre 1854 die portugiesisch-holländische 
Grenze in der Weise festgesetzt wurde, daß sie sich im 
Norden mit der zwischen den kleinen Staaten Djenilu 
(Silawang) und Kowa und im Süden mit der zwischen 
Lakekun und Suhai deckt. Eine Grenzregulierungs- 
kommission änderte dann 1898 und 1899 noch dadurch 
die Besitzgrenzen, daß die Enklaven in dem holländischen 
und in dem portugiesischen Gebiete gegenseitig ausge- 
tauscht wurden, so daß die Niederlande heute den größeren 
westlichen Teil der Insel und die Portugiesen ihren öst- 
lichen Teil innehaben. Hier ist Dilly oder Deli, wie sich 
meistens auf den Karten angegeben findet, die Regierungs- 
hauptstadt, dort Kupang. Dieser Ort, unansehnlich und 
ungesund, liegt an einer ziemlich weiten Bai und ist 
durch einen kleinen Fluß in zwei Teile geteilt. In 
nautischer Hinsicht liegt Kupang ungünstig, so daß die 
holländische Kohlenstation hinter die kleine Insel Alor 
(Reede von Hansisi) verlegt werden mußte. Im nord- 
östlichen Teile ist die Bai so flach, daß hier die Ein- 
geborenen Salzgärten zur Gewinnung von Kochsalz aus 
dem Seewasser anlegen konnten. Weiter nach Osten 
liegt der Hafenort Pariti, welcher der Sitz eines hol- 
ländischen Regierungsbeamten ist, und noch weiter die 
Bai von Barate. Hierauf, in ziemlich gerader Linie 
nach Nordosten verlaufend, biegt sich die Küste erst bei 
Kap Batu Putih (d. i. dem Kap der weißen Steine) 
wieder ein und bildet dann die an Klippen reiche Bai 
von Atapupu. Von hier sich in mehr östlicher Richtung 
fortsetzend, bildet die Küste verschiedene Buchten, von 
welchen die von Dilly, die einen sehr guten Ankerplatz 
bietet, die wichtigste ist. In etwa 37,5km Entfernung 
von ihr liegt, ebenfalls als portugiesischer Besitz, die 
Ziegeninsel oder Pulu Kambing, ein kleines hügeliges 
Eiland mit steilen Küsten, wie solche auch die Insel Timor 
in ihrem Norden besitzt. Der östlichste Punkt von Timor 
wird durch den Noord-Oostpunt der holländischen See- 
karten und das kleine Eiland Nusa Besi (d. i. Eiseninsel) 


32 


246 Carthaus: 


gebildet. Die zum Teil flache Südküste wird westlich 
von Nenometan steil und felsig und zeigt hier, abge- 
sehen von der Bai von Noi Mina, auch keine nennens- 
werte Einbuchtungen. ` 

Was die Bodenform von Timor angeht, so ist es nicht, 
wie die geographischen Karten zeigen, ein hoher Gebirgs- 
grat, welcher die Insel durchzieht, sondern es sind mehrere 
parallele Gebirgsketten, denen nach der Küste hin niedrige 
Berg- und Hügelketten vorgelagert sind. Im westlichen, 
holländischen Teile von Timor steigt das Gebirge nur bis 
zu etwa 1700m an, im portugiesischen aber bis zu 
2000m. Als größte Bodenerhebungen sind im Westen 
zu nennen der 1580m hohe Lakan in der Landschaft 
Fialaran, ferner der Miamaffo, der Mutis, der Kauniki 
und der Mollo, alle ungefähr 1700m hoch. Der Bulu 
Hulu an der portugiesischen Grenze erreicht eine Höhe 
von 1039m und der Pik von Solamu nur eine solche 
von etwa 600m. Im Osten der Insel liegen der Lakus 
und der Leo Hitu in der Landschaft Lomak Hitu, beide 
ungefähr 2000m hoch; ferner der Taroman (1747 m) 
und der Foho Mesak (1448 m) in der Landschaft Koba 
Lima. 

Die Eingeborenen unterscheiden auf Timor zwei Arten 
von Bergformen, die Fatus (malaiisch batu — Stein) und 
die Netens. Jene, zumeist in grauen oder rötlichen 
Farben spielend, bilden turm- und zinnenförmige Fels- 
massen, zerrissen durch oft tief eingeschnittene und teil- 
weise breite Pässe, dabei umgeben von Trümmerfeldern, 
die zum Teil aus gewaltigen Felsblöcken bestehen. Die 
Netens, welche in ihren Gesteinsmassen durch Eisen- 
verbindungen mehr gelb oder gelbbraun gefärbt er- 
scheinen, bilden nicht so steile und mehr abgerundete 
Formen, steigen aber ebenfalls zuweilen zu bedeutender 
Höhe an. Sie sind mit Gras und Krüppelholz bewachsen, 
so daß bei ihnen das nackte Gestein bei weitem nicht in 
dem Maße hervortritt, wie bei den Fatus, die auf ihren 
Gipfeln kein Baum schmückt und an ihren Wänden keine 
einzige Pflanze, so daß sie mit ihren grotesken Formen 
Landschaftsbilder von trostloser Starrheit, die nur durch 
das Ungewohnte das Auge des Beschauers eine Zeitlang 
fesseln, hervorrufen. Ihr Anblick erinnert an gewisse 
Felspartien an den Küsten des Roten Meeres bei Aden 
und an der Sinai-Halbinsel. 

Bevor ich hier einiges über die geologischen Ver- 
hältnisse von Timor sage, möchte ich eines fast ver- 
gessenen deutschen Mannes rühmend gedenken, der, leider 
nur ein Autodidakt auf dem Gebiete der Geologie, ein 
außerordentliches Interesse an der Erforschung des Malai- 
ischen Archipels bekundet und auch über Timor ge- 
schrieben hat, nämlich des praktischen Arztes Dr. Schneider, 
von dem sich namentlich in österreichischen Zeitschriften 
Veröffentlichungen finden. Ferner haben sich um die geo- 
logische Erforschung Timors verdient gemacht: Schwaner, 
Martin, Wichmann, Beyrich, Verbeck und einige andere). 
Wiewohl namentlich das Innere der Insel noch wenig 
erforscht ist, so wissen wir doch, daß an ihrem Aufbau, 
wenn auch nicht in großem Umfange zutage tretend, 
einige sehr alte Gesteinsarten wie Serpentin und kri- 
stallinischer Schiefer teilnehmen, daneben Peridotit, 
schieferiger Hornblende-Gabbro, Diabas und Melaphyr. 
Diese Gesteine werden hauptsächlich im Westen des Ei- 
landes, in den Landschaften Kupang, Atapupu, Djenilu, 
Fialaran, Lamaknen und Takai, gefunden. Von nutz- 
baren Mineralien im Bereiche dieser Gesteine nenne ich 
neben Gold und Chromeisenstein als eines, das wohl 


1) Nach neueren niederländisch -indischen Zeitungs- 
nachrichten werden sich Prof. Dr. Molengraaf und Berg- 
ingenieur Weckherlin de Marez Oyens demnächst zwecks 
geologischer Untersuchungen nach Timor begeben. 


Die Insel Timor. 


Aussicht auf eine rentierende bergmännische Aus- 
beutung bietet, den Asbest, der mit Serpentin zu- 
sammen z..B. am Südfuße des Berges Maimaffo in 
Adern und Schnüren vorkommt. Unter den jüngeren 
Eruptivgesteinen, die nach Martin vor der Miozänperiode 
zum Ausbruch kamen, ist Basalt zu nennen. Von paläo- 
zoischen Schichtengesteinen kommt Kohlenkalk vor; 
ebenso ist die Triasformation vertreten und vielleicht 
auch die Kreide. Eine nicht unbedeutende Rolle scheinen 
altmiozäne Ablagerungen bei dem Aufbau des Gebirges 
von Timor zu spielen. Beachtenswert ist es, daß der 
jüngere Korallenkalk in den der Küste genäherten Ge- 
bieten teilweise bis zu beträchtlicher Höhe aufge- 
hoben erscheint, an der Bai von Kupang z. B. bis zu 
460 m. 

Als eineirrtümliche Angabe muß es bezeichnet werden, 
wenn man so vielfach in geographischen Werken und 
Reisebeschreibungen liest, daß Timor keine Vulkane be- 
sitze. Fand doch auf der mitunter selbst von heftigen 
Erdbeben heimgesuchten Insel, und zwar in ihrem Westen, 
im Dezember 1856 noch ein Ausbruch des Feuerberges 
Dun Bano und im April des darauffolgenden Jahres 
auch eine Eruption auf portugiesischem Gebiete statt, 
am Vulkane Bibiluto. Freilich sind die alten Berichte 
von Aragon und Hoff über den Vulkanismus auf der 
Insel übertrieben, da diese selbst von Lavamassen an der 
Küste sprechen. 

Bezüglich der hydrographischen Verhältnisse von 
Timor ist leicht einzusehen, daß sich bei der eigentüm- 
lichen Konfiguration des Bodens, bei seinem Reichtum 
an Kalkgesteinen und vor allem bei der Regenarmut 
der Insel während der einen Hälfte des Jahres keine 
größeren Flüsse bilden konnten, und das umsoweniger, 
als die aus dem gebirgigen Innern des Eilandes kommenden 
Wasserläufe ohne große Umwege dem Meere zueilen. 
Während der Regenzeit oft zu reißenden Strömen an- 
schwellend, trocknen die meisten Flüsse auf Timor 
während des trocknen Ostmonsuns geradezu ein, nur hier 
und da kleine Wassergerinne und Tümpel hinterlassend. 
Für den Transport kommen die Flüsse auf der Insel 
überhaupt nicht in Betracht. An der Nordküste sind 
der Tramanu und Bebai die größten Flußläufe, und an 
der Südküste begegnet man, von Westen nach Osten 
fortschreitend, dem Noi Mina, dem Noi Benoin, dem 
Noi Buti, dem Bebulu (Mota) Massi und an der Grenze 
von Holländisch- und Portugiesisch-Timor dem Suhai 
und dem Tafara-Flusse. 

Was nun das Klima der Insel betrifft, so fällt die 
trockene Jahreszeit in die Monate Mai bis November. In 
dieser Zeit kommt auf Timor sozusagen kein Tropfen 
Regen zur Erde; der Boden ist dann wie versengt, und 
die Bergabhänge erscheinen kahl und verbrannt. Selbst 
die Eucalyptusbäume stehen mit ihren weißen Stämmen 
kahl und blätterlos da. In dieser Zeit steigt das Thermo- 
meter im Schatten bis auf 34° ja 360C. Im Beginne des 
Ostmonsuns sind die Nächte noch etwas abgekühlt, später 
aber ist es bei Tag und bei Nacht gleich heiß, und das 
macht sich um so mehr fühlbar, als dann der Südostwind, 
der anfänglich in der trockenen Jahreszeit stark weht 
— übrigens als fiebererzeugend gilt — fast in Wind- 
stille übergeht. Verlangend sieht man daher der Regen- 
zeit, die mit schweren Gewittern und Platzregen einzu- 
setzen pflegt und die Natur wie umgewandelt erscheinen 
läßt, entgegen. Die scheinbar unbedeutenden Bäche 
werden zu Strömen, die Bergabhänge schmücken sich 
mit in üppigem Grün prangendem Savannengrase, mit 
Blumen und Sträuchern, und bei einer beträcht- 
lichen Abkühlung der Luft atmen die Menschen wie- 
der auf. 


Carthaus: 


Die Insel Timor. 


247 





In der Hauptstadt Timors, in Kupang, ist während 
des Ostmonsuns die mittlere Temperatur morgens früh 
24,5°C, um 12 Uhr 330C (steigend bis 35°C im 
Schatten und 51,5°C in der Sonne) und bei Sonnen- 
untergang 30°C. Dagegen beträgt die Wärme in der 
Regenzeit morgens früh 22,5°C, mittags 31°C und bei 
Sonnenuntergang 27°C. Was dieser scheinbar nicht so 
große Wärmeunterschied zu bedeuten hat, weiß am 
besten der, der die Hitze der Tropen nach allen Seiten 
hin kennen gelernt hat. 

Wenn nun bei diesem Klima so viele Beamte, Missionare 
und Naturforscher nach kurzem Aufenthalte auf Timor 
durch Tropenkrankheiten dahingerafft wurden, so ist 
dieses mehr dem \Wohnen in den Küstenorten Kupang, 
Dilly und Atapupu zuzuschreiben, wo Korallenriffe zur 
Zeit der Ebbe eine wahrhaft mephitische Luft erzeugen, 
und daneben auch dem bis heute fühlbaren Mangel an 
gutem Trinkwasser. In seinem Innern kann Timor nicht 
so ungesund sein; dort aber wurden die reisenden 
Europäer meistens durch Entbehrungen erschöpft. Was 
die Eingeborenen, deren Zahl wohl kaum eine halbe 
Million erreicht, hier mehr als das Klima dezimiert, das 
sind oder waren die ewigen Fehden unter den lächerlich 
kleinen Staaten der Insel. Sicher fühlen sich. die farbigen 
Menschen dort eigentlich nur in ihren Felsennestern an 
den genannten Fatus, an deren steilen Gehängen man 
ihre kleinen Siedelungen wie angeklebt sieht. 

Obgleich ein während der Hälfte des Jahres durch- 
aus trockenes Klima wie das von Timor eine Waldvege- 
tation nur schwer aufkommen läßt, und von einem fast 
undurchdringlichen Urwalde, wie z. B. auf Sumatra, nicht 
die Rede sein kann, so glaube ich doch aus Gründen, die 
hier auseinanderzusetzen zu weit führen würde, wohl an- 
nehmen zu können, daß die Ausdehnung des bewaldeten 
Gebietes auf der Insel vordem entschieden größer war, 
und daß dieses schon seit dem Hinduzeitalter des Archipels, 
u. a. auch durch anhaltende Ausbeutung der Sandelholz- 
bestände, immer mehr eingeengt wurde. Heute findet 
man nur noch hier und da im Gebirge größere Wälder 
mit echt tropischen Baumformen, die in ihrem Charakter 
manches mit der malaiischen Flora, manches aber auch 
mit der australischen gemein haben. Als charakteristische 
Typen der australischen Flora sind die häufig mit Black- 
wellia tomentosa vergesellten Eucalyptus- (besonders 
Eucalyptus alba) und Casuarina - Bäume hervorzuheben, 
welche, nicht so dicht zusammenstehend wie die malai- 
ischen Waldbäume und dazu eine nur geringe Laubent- 
faltung zeigend, die Wälder von Timor nur wenig schatten- 
reich und weniger in sich geschlossen erscheinen lassen. 
Allerdings fehlt es nicht ganz an den prächtigen malai- 
ischen Baumgestalten mit einem weitausgebreiteten, 
schattigen Blätterdach, wie z. B. den indischen Ficus- 
Arten, im Indischen Archipel unter dem Namen der Wa- 
ringins so wohlbekannt; allein sie sind verhältnismäßig 
selten. Entschieden häufiger sind dagegen die blattarmen 
und vielfach dornenreichen Pflanzen, wie man ihnen auf 
dem trockenen Kalkboden der Sundainseln ebenfalls be- 
gegnet, z. B. Acacia- und Zizyphus-Arten, Capparideen 
usw. Farne und Orchideen fehlen auf Timor fast gänzlich. 
Fast völlig übereinstimmend mit der malaiischen zeigt 
sich, wie auch nicht anders zu erwarten, die Strandflora 
mit ihren Rhizophorenwäldern, worin Rhizophora-, Bru- 
guiera- und Sonneratia-Arten eine große Rolle spielen, 
außerdem aber auch Aegiceras-, Acanthus-, Rottlera-, 
Pongamia- und andere Arten vertreten sind. Dazu kommen 
auch krautartige Pflanzen aus den Familien der Convol- 
vulaceen, Malvaceen usw. Unter den Palmen ist natürlich 
die Kokospalme vorhanden; typisch für Timor sind aber 
die Gebangpalme (Corypha gebanga) und die so nützliche 


Lontarpalme (Borassus flabelliformis). Neben ihnen ver- 
dient auch noch die Zuckerpalme, Arenga saccharifera, 
Erwähnung. Außer Savannengräsern (Imperatum- und 
Saccharum-Arten) sieht man auch zuweilen Bambus- 
wäldchen die Höhen weithin bedecken. Der am meisten 
typische Baum für Timor ist zweifelsohne der Sandelholz- 
baum (Santalus alba), welcher in der Landschaft Manu- 
bang seine größte Höhe bei einem Umfange des Stammes 
von 4 bis 5m erreicht. (Ich sah von dort eine aus einem 
Stück bestehende Tischplatte von 2 m Durchmesser.) 
Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß in der Hindu- 
zeit des Archipels eine künstliche Verpflanzung des 
Sandelholzbaumes wie auch der Lontarpalme aus dem 
kontinentalen Indien (vielleicht durch Vermittelung von 
Java) nach Timor stattgefunden hat. Jedenfalls aber hat 
diese Insel im Laufe von mehreren Jahrhunderten sehr 
große Mengen von dem so geschätzten Sandelholze an 
China und Europa abgegeben, und dadurch ist der Be- 
stand an diesen schmucken Bäumen auf ihr außerordentlich 
zusammengeschmolzen.. Während im Jahre 1849 die 
Ausfuhr von Sandelholz noch auf 6000 Pikul (1 Pikul 
—60,5 kg) geschätzt wurde, hatte sie sich im Jahre 
1861 schon bis zu 1219 Pikul verringert. Das Einsammeln 
dieses kostbaren Holzes gehört auf Timor zu den Rega- 
lien der Fürsten, die zum Teil altjavanische Titel führen 
(Datu, Tumengong). 

Eigentümlich ist es nun, daß, während im Ostmonsun 
in der Küstenregion eine derartige Trockenheit herrscht, 
daß die Eingeborenen gezwungen sind, mit ihrem Vieh 
dem Gebirge zuzuziehen, damit es nicht verhungere, man 
in diesem sogar im August noch Täler antrifft, die im 
frischen Grün prangen. Es ist das nur dadurch zu erklären, 
daß im Berglande während der trockenen Jahreszeit nachts 
ein sehr starker Tau fällt. Auch läßt sich nicht leugnen, 
daß die Insel trotz der zeitweiligen großen Dürre viele 
recht fruchtbare Landstriche besitzt, in welchen neben 
dem Mais, dem Hauptnahrungsmittel der dunkeln Bevölke- 
rung, auch Hirse und besonders Weizen, der namentlich 
in dem portugiesischen Teile ausgezeichnet gedeiht, häufiger 
angebaut wird. Erdfrüchte und Gemüse wachsen stellen- 
weise sehr gut, und selbst der Weinstock, auf dessen 
Kultur jedoch auf holländischem Boden kein Wert gelegt 
wird, liefert recht gute Erträge, ebenso auch verschiedene, 
mehr tropische Fruchtbäume. Tabak wird von den Ein- 
geborenen nur für den eigenen Bedarf gezogen, hingegen 
haben die Portugiesen auf ihrem Gebiete nicht ohne Er- 
folg die Kaffeekultur eingeführt, und zwar als eine Art 
Zwangskultur, ohne indessen die Eingeborenen dabei so 
rücksichtslos auszubeuten, wie es die Holländer jahrzehnte- 
lang auf Grund des so berüchtigt gewordenen „Cultur- 
stelsel“ getan haben. 

Die Fauna von Timor schließt neben australischen 
bzw. papuanischen viele indische Elemente in sich ein. 
Außer der seltenen Wildkatzenart Felis megalotis S. Müll. 
sind auf der Insel nur vier Säugetierarten heimisch, und 
zwar ein Beuteltier, der Kuskus, ein Palmenmarder, eine 
Spitzmaus sowie ein Schwein. Aller Wahrscheinlichkeit 
nach eingeführt ist der kleine graue Java-Affe, Cercopi- 
thecus cynomolgus, sowie auch eine kleine Hirschform, 
wohl zu Cervus equinus zu rechnen. Auch die Vogelwelt 
von Timor ist mit allerdings über 100 Arten für die 
Sundainseln arm zu nennen, und dasselbe gilt von der 
Insektenfauna, welche zwar verschiedene schöne und 
seltsame Formen in sich schließt, jedoch, wie das bei 
einem zeitweilig so trockenen Klima nicht anders zu er- 
warten ist, nicht nur arm an Arten, sondern auch an 
Individuen ist. Unter den Haustieren der Eingeborenen 
sind in erster Linie die Pferde zu erwähnen. Fast jeder 
Timorese besitzt ein solches, das bei dem Fehlen von be- 


32* 


248 Carthaus: 


Die Insel Timor. 





fahrbaren Straßen auch als Lasttier Dienste tut. In dem 
portugiesischen Teile der Insel ist die Regierung sehr 
auf die Hebung der Pferdezucht bedacht, nicht so die 
holländische, obgleich auch aus ihrem Gebiete Pferde 
über See ausgeführt werden. Von Haustieren sind ferner 
die sehr schweren und kräftigen Büffel zu erwähnen, da- 
zu auch Schweine, Ziegen und Hühner. Das Meer um 
Timor herum ist reich an Fischen. 

Hinsichtlich der Bevölkerung, welche neben einigen 
hundert Europäern und vielleicht 2000 Chinesen nach 
den besten Schätzungen, wie schon erwähnt, aus unge- 
fähr einer halben Million Eingeborenen besteht, will ich 
nur bemerken, daß die letzteren zwei Volksstämmen an- 
gehören, von denen der eine, die eigentlichen Timoresen, 
den südwestlichen, der andere aber, die Belonesen, den 
mittleren und östlichen Teil der Insel bewohnen. Die 
zuletzt genannten Inselregionen bildeten vordem die Reiche 
Sonnebait und Waiwiku Wahale, von denen das erste 
in sich zerfallen ist, obgleich seine Fürsten noch immer 
den stolzen Titel Keser, d. i. Kaiser führen. Es ist nicht 
schwer zu erkennen, daß die Belonesen eigentlich zur 
Papuarasse gehören, wogegen in den Timoresen viel 
Malaienblut fließt. Im holländischen Teile der Insel stehen 
die im ganzen sehr unreinlichen farbigen Bewohner noch 
auf einer sehr niedrigen Bildungsstufe, da es nur in dem 
kleinen Gouvernementsgebiete einzelne Schulen gibt und 
die katholischen Missionen in Atapupu und Lahuras so- 
wie auch die evangelische Missionsschule nur eine sehr 
beschränkte Tätigkeit entfalten können. Entschieden 
besser steht es in Portugiesisch- Timor mit der Volks- 
bildung, wozu die katholischen Missionen nicht wenig 
beigetragen haben. Bis vor einigen Jahren taten die 
kleinen Fürsten auf Timor, deren Zahl eigentlich Legion 
ist, im ganzen noch, was sie wollten, und besonders die 
holländische Regierung kümmerte sich nur wenig um sie. 
Nunmehr hat diese es wenigstens unter den erschlafften 
Eingeborenen soweit gebracht, daß sie als Oberherrin an- 
erkannt wird, und demnächst will sie sogar von ihnen 
Steuern einziehen, obgleich von den braunen Leuten wenig 
zu holen sein wird. 

In.ethnographischer Hinsicht ist über die Eingeborenen 
hauptsächlich folgendes zu bemerken: Das religiöse 
Denken der Timoresen erstreckt sich abgesehen von ge- 
wissen Formen des Phallusdienstes auf die Verehrung der 
Nitus, der Wald- und Berggeister, zu denen auch die Seelen 
der Abgestorbenen fahren. Die Orte, wo sie hausen, gelten 
als heilig und unschändbar (Lulik, Pomali); es werden 
dort durch eigene Priester (Tobor und Aote Nahu) Opfer 
gebracht. Bei den Belonesen besitzen die Fürsten als 
Radja Pomali oft priesterliche Würde. Weissagen aus 
den Eingeweiden von Hunden, Hühnern usw. ist sehr in 
Gebrauch. — Die meisten Christen findet man auf portu- 
giesischem Gebiete. 

Niemals endende Fehden, Unsicherheit des Besitzes, 
Sklaverei, Menschenraub verbunden mit Sklavenhandel, 
daneben auch die sogenannten Kopfjagden („Sneltochten“, 
wie die Holländer sie nennen), veranstaltet, um frisch 
abgeschnittene Menschenköpfe zu abergläubischen Zwecken 
zu gewinnen, ließen bis jetzt die Eingeborenen auf Timor 
gar nicht zur Ruhe kommen. Meistens nur in kleinen 
Ansiedelungen zusammenwohnend, suchen sie, wie gesagt, 
vielfach Schutz in den von der Natur gebildeten Felsen- 
nestern an den oben besprochenen Fatus und in dem 


Gewirr ihrer Felstrümmer. Die kleinen Wohnungen der 


Eingeborenen ruhen auf vier Pfählen. Die runde Form 
ist noch vorherrschend, bei einem weit überragenden 
Dache und niedrigen Seitenwänden. Bei allen Eingeborenen, 
Frauen so gut wie Männern, ist heute noch das Tätowieren 
in Gebrauch, ja, es erstreckt sich dieses soweit, daß jede 
Familie samt den in ihrem Besitz befindlichen Pferden 
durch Tätowierungszeichen ihre Zusammengehörigkeit 
verrät. 

Die Verwaltung des holländischen Gebietes von Timor 
liegt in den Händen eines in Kupang wohnenden Resi- 
denten, dem zugleich auch die benachbarten kleinen Sunda- 
inseln untergeordnet sind. Von europäischen Beamten 
sind ihm einige Kontrolleure und sogenannte Posthalter 
(Posthouder) unterstellt; im übrigen liegt die Verwaltung 
noch in den Händen der zahlreichen farbigen Duodez- 
fürsten. Für das portugiesische Gebiet ist in Dilly (Deli), 
das mit seinem Fort, seinen Kasernen und anderen in 
europäischem Stile errichteten Gebäuden, worunter auch 
ein Nonnenkloster, einen bei weitem besseren Eindruck 
als Kupang macht, ein Gouverneur angestellt, dem im 
Innern der Insel wohnende europäische Beamte mit mili- 
tärischen Titeln zur Seite stehen. Es läßt sich nicht 
leugnen, daß im großen und ganzen die Verhältnisse in 
dem portugiesischen Timor mehr geordnet erscheinen 
als in dem holländischen Gebiete, wenngleich sie auch 
dort sehr viel zu wünschen übrig lassen, wobei indessen 
wegen der geringen Finanzkraft von Portugal manches 
zu entschuldigen ist. 

So trostlos es zurzeit auch mit Timor und seinen 
Bewohnern, mehr noch im Westen der Insel als in ihrem 
Osten, bestellt ist, so glaube ich dennoch sagen zu können, 
daß es mit Land und Leuten dort viel besser stehen wird, 
wenn das trotz seines teilweise sehr trockenen Klimas 
nicht unfruchtbare Eiland einmal längere Zeit unter die 
Herrschaft eines Staates gekommen sein wird, der finan- 
ziell stark genug und auch dazu bereit ist, zunächst die 
nötigen Millionen für dieHebung der Insel und ihrer Be- 
wohner hinzugeben. Dazu würde in erster Linie ein 
weitgehender Schutz des Waldes und eine Wiederauf- 
forstung desselben mit passenden und nützlichen Forst- 
bäumen, z. B. dem Sandelholz-, dem Kussambi- (Schleichera 
trijuba) und vielleicht dem Teakbaume, gehören, sodann 
neben der Weizenkultur auch die Einführung nützlicher 
Kulturpflanzen, wie des Weinstocks und der Baumwolle. 
Vor allem hätte man auch sein Augenmerk auf die etwaigen 
Mineralreichtümer der Insel zu richten, was womöglich 
zu ungeahnten Erfolgen führen würde. Es ist schon 
viel darüber gestritten worden, ob der Boden Timors 
nicht große Mengen von Kupfererzen in sich schließt, 
und es dünkt mich nicht unwahrscheinlich, daß diese 
Insel einmal ein gar nicht gering zu schätzender Lieferant 
von dem roten Metalle für den Weltmarkt wird. Wer 
weiß auch, ob nicht der östliche Teil der Insel, aus welchem 
schon jetzt eine englische Aktiengesellschaft Petroleum 
ausführt, einmal durch seine Petroleumindustrie mehr 
Bedeutung erlangen wird? In früheren Jahren hat auch 
die Perlenfischerei an der Küste von Timor eine reiche 
Ausbeute geliefert, und das würde vielleicht auch später 
wieder der Fall sein, wenn an dieser eine Flagge wehte, 
vor der namentlich auch die australischen Perlenfischer 
mehr Respekt haben als vor der niederländischen. 

Dr. Emil Carthaus. 





Baglioni: 


Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 


249 


Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 


Analytisch-akustische Untersuchungen über einige Instrumente von Naturvölkern. 


Von S. Baglioni. 


Rom. 


(Fortsetzung.) 


b) Sansa. 


Dieses ebenfalls eigenartige Instrument Zentralafrikas, 
das vielleicht noch stärker verbreitet ist als die Marimba 5), 
besteht wesentlich aus einem Klangkörper, welcher von 
einer Reihe frei vibrierender Metall- oder Holzzungen 
gebildet ist, und aus einem Resonanzkörper, der meist 
aus einem Holzkasten, mitunter aber aus einem hinzu- 
gefügten hohlen Kürbis besteht. Oft gibt es ferner 
klappernde Anhängsel (in einer Spalte des Resonanz- 
kastens sich befindende frei schwingende Eisenringe, 
oder auf die Zungen selbst gesteckte Glasperlen), die 
durch das Schwingen der Zungen in Bewegung gesetzt 
werden und so ein eintöniges begleitendes, nicht unan- 
genehmes Klirren erzeugen. 

Beim Spielen wird das Instrument mit beiden Händen 
erfaßt, frei gehalten oder an den Leib gelehnt. Die 
freien Enden der Stäbchen werden dann mit dem Daumen 
hinabgedrückt und losgelassen. Somit können an dem- 
selben Instrument, wie es bei der Marimba der Fall war, 
sowohl melodische Tonfolgen, wie symphonische von zwei 
zugleich ertönenden Klängen zusammengesetzte Akkorde 
ausgeführt werden. „Hauptsächlich mit den Daumen ge- 
zwickt (schrieb neulich E. Pechuäl-Loesche®), geben 
die Zungen ansprechende, an die einer Spieldose erinnernde 
Töne. Genau abgestimmt sind sie nicht, können aber 
häufig, um den Klang auszugleichen, hin und her ge- 
schoben werden. In der Stille der Nacht, am Lagerfeuer, 
klingt das Geklimper recht anheimelnd, namentlich wenn 
die Nssänsa gut und der Spieler geschickt ist.“ 

Der klassische Name für dieses Instrument ist bei 
den deutschen und englischen Forschern: Sansa bzw. 
Sansi. Mit diesem Namen wird es von Ankermann 
(a. a. O. S.32—36), von Ratzel”?), von H.Johnston®), 
von A.Werner?) und anderen beschrieben und abge- 
bildet. Die Namen, mit denen die Eingeborenen das In- 
strument belegen, scheinen jedoch recht verschieden zu 
sein, offenbar je nach den Stämmen. So fand ich im 
Inventar (wie wir sehen werden) die einzelnen Instru- 
mente dieser Art oft mit verschiedenen Namen angeführt. 
Auch in der Sammlung der von C. v. Overbegh (10) pu- 
blizierten Monographien über den belgischen Kongo haben 
diese Instrumente verschiedene Namen: Kisachi bei den 
Basonge, Kansambi bei den Warega. Es mögen hier 
einige Angaben Delhaises über dieses Instrument mit- 
geteilt werden; er sagt: Les extrémités des baguettes, 
ainsi relevees, forment une espece de clavier sur lequel 


$) Vgl. Ankermann, a. a. O. 

®) Pechuöl- Loesche, Volkskunde von Loango (Stutt- 
gart 1907), 8. 120—121. 

7) Auf 8. 62 der italienischen Ausgabe des Bandes über 
Afrika ist ein Exemplar (des Stockholmer Museums) aus 17 
Zungen wiedergegeben. 

) H. Johnston, British Central Africa, 3. Aufl. (Lon- 
don 1897) enthält die Abbildung eines solchen Instrumentes 
mit 24 Zungen und anhängenden Ringen S. 467. 

?) A. Werner, The Natives of British Central Africa 
(London 1906). Auf 8. 222 wird ein solches Instrument be- 
schrieben und abgebildet, welches als klappernde Anhängsel 
zwei Reihen aus dem Gehäuse einer großen Schnecke (Acha- 
tina) ausgeschnittener Scheiben trägt. 

10) Q.v.Overbegh, Congo Belge: Les Mayombes; Les 
Basonge; Les Warega (par le Commandant Delhaise). 
Brüssel 1907—1909. 

Globus XCVII. Nr. 16. 


on joue avec les deux pouces en tenant l'instrument à 
deux mains. Une calebasse maintenue par une ficelle 
fait l'office de caisse de résonnance. Le kansambi s’ac- 
corde en allongeant ou en diminuant les tiges de fer. 
L’accord est obtenu quand il donne une gamme naturelle 
complete. Pas de dieses ni de bemols. Je note ci-dessous 
en allant de gauche à droite, les sons donnés par les 
tiges dun instrument à onze notes: 


HERRREEEHA 


i a Be kè x w 














Demnach würde es sich um eine diatonisch genau ab- 
gestufte Tonleiter handeln. Wir werden aber sehen, daß 
für gewöhnlich diese Instrumente, obwohl sie im großen 
ganzen dem Schema Delhaises entsprechen, niemals eine 
derartige genaue Tonauswahl und Tonanordnung erweisen. 
Delhaise, der dabei offenbar nur sein musikalisches Ge- 
hör zur Verfügung hatte, war vielleicht nicht imstande, 
eine sorgfältigere Analyse der Einzeltöne auszuführen. , 

Im ethnographischen Museum zu Rom stand mir eine 
recht reiche Anzahl dieser afrikanischen Instrumente zur 
Verfügung. Neun davon, die mir wegen ihrer Festigkeit 
ausreichende Garantie dafür lieferten, daß sie keinerlei 
Änderung in dem Toninhalt, etwa durch ‘nachträgliche 
Zungenverschiebung, erlitten hätten, wählte ich für meine 
Untersuchungen aus. Alle von mir untersuchten Sansas 
hatten ihre Zungen stark und unverschiebbar befestigt. 

1. Die Sansa der Abb. 6 (S. 250) trägt im Inventar die 
Nr. 53649 und u. a. folgende Notizen: Benennung: Sy- 
limba. Größe: 15x10cm. Herkunft: Südostafrika, 
Sambesi. Sie besteht aus zwölf Eisenzungen, deren freie 
Enden, offenbar infolge des Gebrauches, glatt poliert er- 
scheinen. In der ausgehöhlten Vorderseite des Resonanz- 
brettchens ist ein Eisendraht eingelassen, an den elf 
Eisenringe gesteckt sind, die mit den Zungen mitschwin- 
gen und deren Klang mit einem typischen Klirren be- 
gleiten. Die folgende Notierung zeigt die Tonhöhe der 
verschiedenen Einzelstäbchen. 


—25 —2 —2 


—45 +15 —2 —2 —3 




















I u MD IV V VI VI VM IX X XI Xu 


Werden die Einzeltöne ihrer Tonhöhe nach geordnet 
und deren Intervalle ausgerechnet, so ergibt sich folgende 
Tabelle V. 


Tabelle V. I u 
) S Züngs ntervalle 
FEN... ; 
TA I BEIN aee Wile A ET ne 
ala! S, > „ (vermehrt) 
gis o earr WVE „ S i! 
EEE RN ae 
Ba te X. f y 
al 2) XL > = 1 » (vermindert) 
 — 2 G V. s» E K 
2. Skala? g! (— 2) . Me ECAV " 
g' (+ 1,5 II. n > ir i 
gis (— 2 I. „ Ra 
EP zu. , a Teck indert) 
d? ( — 4,5) D N 


33 


250 


Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 





Toninhalt und Tonanordnung dieser Sansa bieten 
manche Eigentümlichkeiten. Zunächst ergibt sich das 
sonst von den übrigen Exemplaren dieser Art (mit ein 
paar Ausnahmen) überhaupt gezeigte Merkmal, daß die 


Ein anderes spezifisches Merkmal dieser Sansa in der 
Tonauswahl besteht darin, daß die Gesamtheit der Einzel- 
töne in vier Untergruppen zerfällt, von denen die erste 
von den Zungen VI, VII und VIII, die zweite von IX, X 


o 





Abb. 6. Sansa aus Südostafrika. 





Abb.7. Sansa der Barotse. 





Abb.11. Sansa aus Masciona (Maschona). 





Abb.8. Sansa der Mayombe. 


tieferen Töne die mittlere Gegend der Zungenreihe ein- 
nehmen, von der aus die darauffolgenden Töne in ihrer 
Tonhöhe nach beiden Seiten hin zunehmen. Diese Eigen- 
schaft entspricht wohl am besten den Anforderungen der 
Handhabung des Instrumentes beim Spielen, das, wie ge- 
sagt, von beiden Daumen besorgt wird. 


Sansa vom Sambesi. 





Abb. 12. Sansa vom unteren 


Kongo. 





Abb.9. Sansa vom Ubanghi-Mobeghi. 





Abb. 14. Sansa aus 
Alt-Calabar. 





Abb. 13. 


Sansa aus 
Alt-Calabar. 


und XI, die dritte von II, IV und V, die vierte von I, 
II und XVI gebildet sind. Die Einteilung ergibt sich 
übrigens auch aus der Länge (vgl. Abb.) der betreffenden 
Zungen. Es ist nun eine Tatsache, daß die einzelnen 
Gruppen (namentlich die drei ersten) aus Tönen gebildet 
sind, die sehr nahe untereinander stehen, indem sie nur 


Baglioni: 


innerhalb des Umfanges je einer vermehrten kleinen Terz 
sich bewegen. 

Die Mehrzahl der zwischen den benachbarten Tönen 
bestehenden Intervalle beträgt auch hier den Wert eines 
Ganztones (sechs Fälle), der häufig aber (in drei Fällen) 
etwas vermindert ist. Es gibt ferner zwei Halbtoninter- 
valle, von denen das eine vermehrt ist, sowie ein Inter- 
vall, das bedeutend geringer ist als ein Halbtonintervall. 

Von den konsonanten Intervallen gibt es hier schließ- 
lich drei Oktaven (VII—V, VO—IV, VI—NI); vier 
Quinten (VI—IX, X—II, XI—XII, IV—I); fünf große 
Terzen (VH—IX, vermehrt; IX—XI; X— V; XI—-IV; 
XI—I, vermindert); fünf kleine Terzen (VII—VI; VI 
—IX; V—II, vermindert; V—III, vermehrt, H— XI). 
Im ganzen kommen also auf 12 Einzeltöne 17 konso- 
nante Intervalle. Würde es sich dagegen um 12 genau 
diatonisch abgestufte Einzeltöne handeln, so wären im 
ganzen 22 konsonante Intervalle (d. h. fünf Oktaven, 
sieben Quinten, vier große Terzen und sechs kleine Terzen) 
gewesen. 

2. Die Sansa der Abb. 7 wird in dem Register mit 
der Nr.74756, als „Kangombio“ bezeichnet. Länge des 
Brettchens 14cm, Maximalbreite 10,5 cm, Minimalbreite 
8cm. Herkunft: Zentralafrika, Barotse des westlichen 
Rhodesia, am Sambesi. Der Klangkörper ergibt sich aus 
neun Eisenzungen. Als Resonanzkörper fungiert ein 
Kürbis. Die Analyse ihrer Einzeltöne lieferte die in der 
Notierung angegebenen Werte. 











=å —1,5 zi SS 
+< 4 
I U mw v vi vW va X 


Die folgende Tabelle VI zeigt die Leiter der nach ihrer 
Tonhöhe geordneten einzelnen Töne, sowie den ausgerech- 
neten Wert der betreffenden Intervalle. 


Tabelle VI. 


Intervalle 
ci (— 1,5) IV. Zunge — > y Ton 
7 TERET. AA -t Sg 25, Töne 
1. Skala fit idea KL £ 2 A Ton ER 
(4)... VL a Sy’ > 
Be E O, TIE „ > Y n 
ar 3,5) N. a OSa A 
e ea. 1x. ” > 1 (vermehrt) 


Es gibt also zwei Intervalle eines Ganztones, ein Inter- 
vall eines Halbtones, sowie zwei Intervalle unterhalb des 
Wertes eines Halbtones und drei Intervalle oberhalb des 
Wertes eines Ganztones. Auch hier besteht aber eine 
große Zahl konsonanter Intervalle. Denn es gibt eine 
verminderte Oktave (V—I); sechs Quinten (IV—II, ver- 
mindert; V—VI, vermehrt; III—V, eigentlich Quarte; 
II—I; VO—IX, vermehrt; IX— VII, eigentlich Quarte); 
fünf kleine Terzen (IIT—VI, vermindert; IT—VI; VI— 
VMA; VII— VII, vermindert; I—IX, vermindert). Im 
ganzen sind also auf neun Einzeltöne wohl 12 konso- 
nante Intervalle gegen 14 (d. h. zwei Oktaven, fünf 
Quinten, drei große Terzen und vier kleine Terzen, aller- 
dings außer den Quarten), die sich in der genau diatoni- 
schen Tonfolge von neun Tönen beobachten lassen. 

3. Das schöne Exemplar (Abb.8) trägt die Nr.63 929 
und u. a. folgende Notizen: Länge 28 cm, Breite 11 cm. 
Herkunft: Afrika, Unterkongo, Mayombeneger. Es sind 
elf Eisenstäbchen, die auf dem verzierten kahnförmigen 
Resonanzkasten nach ihrer regelmäßig von links nach 
rechts abnehmenden Länge eingereiht und solide befestigt 
sind. Der fortgesetzte Gebrauch ergibt sich sowohl aus 
den glatt polierten Zungenenden, wie ays einer auch aus 


Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 251 


der Abbildung ersichtlichen, den Enden der Zungen direkt 
entsprechenden Furche im Resonanzkasten. Die Notie- 
rung zeigt die Werte der Einzeltöne. 


ee 


vV VI VN 











u mM IV VII IX X XI 


Ihre zunehmende Tonleiter sowie deren Intervalle 
wurden in der Tabelle VII zusammengestellt. 


Tabelle VII. italie 
te ee I; u 
1. Skala { gis 2.2... Ii. > ye 
E A Wr IH. > er š 
e (+1) IV... Zu (vermehrt) 
Fa . Gr Zy , 
n 
2. Skala! f. RR ” >l „ (vermindert) 
(+1)... x: z i » (vermehrt) 
ai 253 x. ? Z D/s» (vermindert) 
è (—4) XI. PAs a 


Auch die Klänge, aus denen diese Sansa besteht, sind 
also vorwiegend, ja in einem noch genaueren Maße als 
die vorangehenden, nach dem diatonischen Prinzip aus- 
gewählt und geordnet. Es gibt nämlich vier Intervalle 
des Wertes eines Ganztones, von denen zwei genau, eins 
vermindert und eins vermehrt sind; vier Intervalle eines 
Halbtones, von denen wiederum zwei genau, eins vermehrt 
und eins vermindert. Es bestehen aber noch zwei volle 
Intervalle des Wertes einer kleinen Terz, von denen eins 
vermindert ist. 

Von konsonanten Intervallen existieren: vier Oktaven 
(I—VIH; I—IX, schwach vermehrt; II—X; IV—XI, 
beide vermindert); sieben Quinten (I—IV, vermindert; 
I—V, etwas vermehrt; II—VI, etwas vermehrt; III— 
VINH; V—IX; VI—X; VO—XI, vermindert); drei große 
Terzen (II—VI; V—VII; IX—XI, vermindert); vier 
kleine Terzen (IT—IU; IV—VI; VH—IX; IX—X, ver- 
mindert). Also im ganzen auf elf Einzeltöne wohl 18 
konsonante Intervalle, gegen nur 19 (d. h. vier Oktaven, 
sechs Quinten, vier große Terzen und fünf kleine Terzen), 
wenn es sich um eine genaue diatonische Tonfolge von 
elf Zungen gehandelt hätte. 

4. Die aus mehreren Gründen bemerkenswerte völlig 
aus Holz verfertigte Sansa der Abb. 9 bringt im Register 
unter Nr. 76010 u. a. folgende Notizen: Länge 25 cm, 
größte Breite 14 cm. Herkunft‘ Kongobecken, Fluß 
Ubanghi-Mobeghi. Die neun Zungen aus Bambus (dem 
wir hier zum ersten Male begegnen) sind auf dem Brett- 
chen solide befestigt, welches den als Resonanzboden 
dienenden hohlen Halbzylinder aus zweckmäßig einge- 
rollter und durch Holznägel zusammengehaltener Baum- 
rinde deckt. Die Analyse der Einzeltöne lieferte die in 
der folgenden Notierung Ks 














Ger m Se > mE 


Die folgende Tabelle VIII enthält die ihrer Tonhöhe 
nach geordneten Einzeltöne, sowie deren Intervalle. 

Die Tonanordnung dieser wohl primitiveren Sansa 
gleicht den drei ersten Sansas mit den tieferen Tönen in 
der mittleren Gegend der Zungenreihe. Zum ersten Male 
finden wir hier zwei Fälle von Wiederholung eines und 
desselben Tones (d. h. Einklang, zwischen IM und VI, 
I und IX), was notwendigerweise die Mannigfaltigkeit 


33* 


252 Baglioni: 
Tabelle VIII. Intervalle 
EN V. Zunge — | Ton 
g' EPEY V G >ı 
1.8kalayalı 2.2... IL » 5 Einklang 
S r EE en -»- >ı Ton 
EEE ©oa >, „ (vermehrt) 
[: ( 2) . VII. n > v 
2 Va 
2. Skala a‘ 45) VL» > 2), Töne (vermin- 
EEE DR L ” D> Einklang [dert) 


und den Reichtum des Toninhaltes sehr beschränkt. Die 
Einzelintervalle schwanken zwischen dem Werte eines 
Fünftels vom Ganztone und dem einer vermehrten großen 
Terz. Die Mehrzahl entspricht jedoch dem Werte eines 
Ganztones.. Von konsonanten Intervallen gibt es eine 
genaue Oktave (V—IX bzw. V—]); drei Quinten (V— 
VII, vermehrt; V— VIII, noch mehr vermehrt; II—IX bzw. 
II—I, um einen Halbton vermindert); vier große Terzen 
(V—II bzw. V—VI, IV—U, M—VM bzw. II— VI, 
VIII—IX bzw. VIII—I, vermehrt); eine kleine Terz (III 
bzw. VI—VII, vermehrt). Also im ganzen auf neun 
Einzeltöne neun konsonante Intervalle, gegen 14 (vgl. 
oben) einer Tonfolge von neun genau diatonisch abge- 
stuften Einzeltönen. 

5.Die Sansa der Abb. 10(a.S.250)ist aus mehreren Grün- 
den der zweiten oben erwähnten ähnlich. Unter Nr.47916 
trägt sie im Inventar u.a. folgende Notizen: Benennung: 
Kagombio. Länge des Brettchens 0,16 m, größte Breite 
0,10m, Dicke 0,015m. Herkunft: Afrika, Schwarze 
des Sambesi. Der Klangkörper besteht aus zehn Eisen- 
stäbchen, deren Enden abgenutzt erscheinen. Als Resonanz- 
boden dient außer dem Brettchen, auf dem die Zungen 
fixiert sind, eine aus Holz verfertigte hohle, abgeplattete 
Halbkugel, die mit dem Brettchen durch eine Schnur ver- 
bunden ist. Die ausgehöhlte vordere Seite des Brettchens 
birgt ferner eine Reihe Eisenringe, die, in einen Eisendraht 
gesteckt, den Klang der Zungen mit einem charakteristi- 
schen harmonischen Klirren begleiten. Das Ergebnis der 
Analyse der Einzeltöne ist in der Notierung ersichtlich: 


4-15 —3 —4 —35 —15 —2 








IV Yy- VI vu 


VII 1X X 


Tabelle IX zeigt diese Töne ihrer Tonhöhe nach ge- 
ordnet, sowie deren Intervallenwerte. 


Tabelle IX. Intervalle 
Lee 
Ir a Fe = Zunge — 1/⁄, Ton (vermehrt) 
1. Skala? g' (—1,5) .. WM, Zl” „ 
"an! N OE 1'/⁄s» (vermindert) 
M(-15) a VE . Sir ® » 
e(—2)... RR. „ S a n 
gr Yun IL a S 3 Töne (vermehrt) 
2. Skala fae are m » Š Einklang 
gi EEE Er © = Sy, Ton 
TE re E Kr. :; 


Die Tonanordnung dieser Sansa ist demnach die üb- 
liche. Die Werte der Einzelintervalle schwanken auch 
hier innerhalb sehr weiter Grenzen, zwischen dem Ein- 
klang (II—I) und einer vermehrten großen Terz (III—II). 
Die Mehrzahl entspricht jedoch dem Wert eines mehr oder 
minder alterierten Halbtones. Von konsonanten Inter- 
X, etwas vermindert); 
fünf Quinten (VI—VII, vermindert; V—IX; IV—II, 
vermindert; VIII—II bzw. I; IX—X, vermindert): drei 
große Terzen (IV—VI; VI—IO; HI—I bzw. I, ver- 
mehrt); drei kleine Terzen (VI—IV, vermehrt; IV—VI, 
vermindert; VIII—III, vermindert), also im ganzen 12 
konsonante Intervalle auf zehn Einzeltöne, gegen 15 (d.h. 








Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 


drei Oktaven, fünf Quinten, drei große Terzen und vier 
kleine Terzen) einer diatonischen Tonfolge gleichen Um- 
fanges. 

6. Die merkwürdige Sansa der Abb.11 (a.S. 250) bringt 
im Register die Nr. 40553 und u.a. folgende Notizen: Be- 
nennung: Sephela. Größe des viereckigen Holzresonanz- 
kastens 0,19 X 0,14m. Herkunft: Stamm Masciona (?) 
am Sambesi. Es sind 16 Eisenzungen von abwechseln- 
der Länge, in zwei Gruppen eingeteilt, von denen die 
linke aus neun Stäbchen, die rechte aus acht Stäbchen 
besteht. In der folgenden Notierung sind die durch die 
Analyse festgestellten akustischen Werte der Einzeltöne 
zusammengestellt. 








-2 —35 —-3 —15 —2 —2 —85 +15 
I u ul IV Vv VI VI VJI IX 


sie & 


Die entsprechende Tabelle X enthält die Einzeltöne 
nach ihrer zunehmenden Tonhöhe eingereiht, sowie deren 
Intervalle. 











e 


xm XIV XV XVI 





Tabelle X. 


Intervalle 
1. Skala A = 2 er af Zunge > 1 Ton (vermindert) 
; N u IE at gS a » (vermehrt) 
è (—2 Y a i 
1 a 
a e av a Se B » >> f "Töne 
ze ae el Ton „ 
fis' (+ 1,5) 5 ” >", „ (vermindert) 
2. Skala A (— 1,5) >11 (vermehrt) 
a! (+1,5 Fi rk > Y, 2 
h! (— 3,5 n.: Ge > Einklan 
BAR... KW. a Sea T 
h (—15) .. X. Si) x 
nk! 24, 
eis" (— 2, Par . n uvm i 
3. Skala ı fis? (— 3,5). . VIL „ = gi 9 
fis? ERS XV. „ SiYi g (vermehrt) 
g' (F25) .. XV. „ 
Die Tonanordnung dieser Sansa unterscheidet sich 


wesentlich von der üblichen. Sie ist keine genau regel- 
mäßige; man erkennt jedoch in ihr leicht die Tendenz, 
dem Prinzip der von links nach rechts zunehmenden 
Tonleiter zu folgen. Eigentümlich ist hier ferner der 
Umstand, daß hohe Töne mit tieferen abwechseln, oft 
von konsonanten Intervallen getrennt (z. B. bildet die 
Zunge II die um einen Halbton verminderte höhere Ok- 
tave von I und zugleich die genaue höhere Oktave von 
HI, VI ist die höhere Oktave von V, VIII die von IX, 
während ein Intervall einer Quint zwischen V und IV 
sowie zwischen XI und XII, ein Intervall einer kleinen 
Terz zwischen IX und X besteht). Deshalb erinnert 
zum Teil die Anordnung dieser Sansa an die der ersten 
Marimba. 

Der Wert der Einzelintervalle schwankt innerhalb 
sehr weiter Grenzen, zwischen !/, von einem Ganztone 
und etwas mehr als zwei Ganztönen. In ihrer Mehrzahl 
(sechs) betragen sie den Wert eines Halbtones, von denen 
drei genau, zwei vermehrt und einer vermindert sind. 
Ferner gibt es drei Intervalle geringer als einen Halb- 
ton, einen Einklang, drei Intervalle des Wertes je eines 
Ganztones (zwei vermehrt und eines vermindert), und 
schließlich zwei große Terzen. Von mehr oder minder 
genau konsonanten Intervallen bestehen zehn Oktaven 
(außer den vier oben erwähnten: I—X, vermehrt; II— 
XIV; HI—XIH, vermehrt; V—XTII, vermehrt; IX—XV, 


Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 


253 





vermindert; I’—XVI, vermehrt); elf Quinten (I—XI, 
vermehrt; IIT—IX, vermehrt; VII—IV; V—IV, vermin- 
dert; XI—I bzw. XIV, vermindert; XI—XII, vermin- 
dert; IX—XII, vermindert; II bzw. XIV—VIH; XI— 
XV, vermindert; VI—XV]J, vermindert; XIN— XVI, ver- 
mehrt); sechs große Terzen (I—V, vermindert; IV—XII; 
V—XI; IX—I bzw. XIV, vermehrt; IV—III bzw. XIV, 
vermindert; XITI— VII, vermehrt); fünf kleine Terzen 
(I—VDO; XI—XV, vermindert; IX—X; X— VI, vermin- 
dert; X— XII, vermehrt). Im ganzen gibt es also auf 
16 Zungen 32 konsonante Intervalle (deren Mehrheit 
freilich mehr oder minder alteriert ist), gegenüber 34 
konsonanten Intervallen (d. h. neun Oktaven, elf Quinten, 
sechs großen und acht kleinen Terzen), die sich verwirk- 
licht hätten, wenn die 16 Einzeltöne genau nach dem 
Prinzip der diatonischen Tonleiter abgestimmt worden 
wären. 

7. Die Sansa der Abb. 12 (a.S.250) trägt mit Nr. 41078 
u.a. folgende Notizen: Größe des Resonanzkastens 0,17 X 
0,095 m. Herkunft: Westafrika, unterer Kongo. Es 
sind zehn Eisenzungen, von denen vier (I„ VI, VII. und 
X.) in ihrem unteren Teile je zwei Glasperlen eingesteckt 
tragen, die beim Spielen mitschwingen, also dieselbe Be- 
gleitaufgabe haben wie die Eisenringe der ersten und 
der fünften Sansa. Die Analyse der Einzeltöne liefert 
die in der Notierung angegebenen Werte: 


— 2,5 


+2 +1 —25 +15 —15 +3 











I u IH IV vu Vu 


VII IX X 


Die folgende Tabelle XI zeigt ihrerseits die nach ihrer 
Tonhöhe geordneten Einzeltöne, sowie deren Intervalle. 


Tabelle XI. 


Intervalle 
ci (+1)... VL Zunge > Y, Ton 
el A 5) AN Be: " > lIVa„ (vermindert) 
LEE... VE | Z 1'/, „ (vermehrt) 
1. Skala | Ê 5) ee, 5 
Nein Re 
Use a IV. la n» . 
a! (— 1,5) IX. ” >s n» (vermindert) 
2 ~” >Y „ (vermehrt) 
aiat a G a aia AL... ©, 
2. Skala ist ( x 2,5) Ye E A > Ya „ (vermindert) 


Die Tonanordnung entspricht also der üblichen, mit 
den tieferen Tönen in der mittleren Gegend. Der Wert 
der Einzelintervalle schwankt auch hier innerhalb sehr 
weiter Grenzen, d. h. von einem Minimum, das !/, eines 
Ganztones gleich ist, bis zu einem Maximum einer ver- 
mehrten kleinen Terz. Ihre Mehrzahl entspricht aber 
dem Wert eines Halbtonintervalles (fünf Fälle, von denen 
zwei vermehrt und drei vermindert sind). Nur ein Inter- 
vall hat den Wert eines Ganztones, während zwei den 
einer kleinen Terz erweisen, von denen das eine vermehrt, 
das andere vermindert ist. Von den zwar meist alte- 
rierten konsonanten Intervallen gibt es zwei Oktaven 
(VI—DO, V— I); fünf Quinten (VI—IV, vermehrt; V—X, 
etwas genauer; V—IV, vermehrt; VIT—II; VII—I, ver- 
mindert); vier große Terzen (VII—X, vermehrt; VIII— 
wW; IV—U; IX—I); sieben kleine Terzen (VI—VII; 
V—VII, beide vermindert; VI—VII, vermehrt; VIII— 
IX, vermindert; X—III, vermindert; IX—II, vermehrt; 
III—I, vermindert): also im ganzen 18, zwar meist alte- 
rierte konsonante Intervalle auf zehn Einzeltöne, gegen 
15 (drei Oktaven, fünf Quinten, drei große Terzen, vier 
kleine Terzen), die sich in einer genau diatonischen Ton- 
folge gleichen Umfanges ergeben würden. 

Aus dem Obigen ergibt sich ferner, daß alle mehr 
oder weniger alterierten Einzeltöne dieser Sansa sich in 


dem Umfang der zwei fundamentalen Drei-Klang-Akkorde 
bewegen: c!—g!—c¢? und dis!—fis!—ais! (Prim, Quint, 
Oktave, bzw. Prim, Terz, Quint). Die Tonika (Prim) des 
letzten Akkordes steht dann in konsonantem Verhältnis 
(kleine Terz) zu der Tonika des ersten. 

8. Die zierliche Sansa der Abb.13 (a.S.250) gehört zu 
einer Gruppe von vier Sansas gleicher Konstruktion und 
gleicher Herkunft, von denen noch die folgende untersucht 
werden konnte, da die zwei übrigen keine so ausreichende 
Garantie veränderten Toninhaltes boten. Die vorliegende 
hat im Register unter Nr. 20 778 u. a. folgende Notizen: 
Größe des viereckigen Resonanzkastens 0,32 X 0,10 m. 
Herkunft: Westafrika, Ostguinea, Alt-Calabar. Es sind 
acht Zungen aus Bambusrohr, von denen die allerletzte 
rechts die längste der Reihe ist, während die übrigen nach 
der üblichen Art der Sansas geordnet sind. Die Werte 
der Einzeltöne werden von der folgenden Notierung gezeigt. 


RT +1 


EA FF A 
J $ jt av j F 
1 1 vv vI 


m Vv VII VII 








In der Tabelle XII wurden die Einzeltöne ihrer zu- 
nehmenden Tonhöhe nach geordnet, sowie der Wert der 
Einzelintervalle angegeben. 


Tabelle XII. 


Intervalle 
ECFA OEE RR nr Zunge — j1, Ton (vermindert) 
ais (—35).....-. Wg z 1 » » 
U ee, der EL, 2.0 
eis (58) ei er VL. „ Inn » 
ARS oN NTE ENS II. Za >» 
DE ER viL °? ZMA.» 
f en I 3 > "e = 


Die Tonanordnung vorliegender Sansa ist sicher recht 
merkwürdig. Denn wir haben hier außer der gewöhn- 
lichen Anordnung der Sansas (mit den tieferen Tönen 
in der mittleren Gegend) die Tatsache, daß der tiefste 
Ton den allerletzten, d. h. den am leichtesten beim Spielen 
auszufindenden Platz der Reihe einnimmt. Auch hier 
schwanken übrigens die Werte der Einzelintervalle inner- 
halb sehr weiter Grenzen, und zwar von einem Minimal- 
wert, der !/, Ganzton (in zwei Fällen) gleich ist, bis zu 
dem Maximalwert einer kleinen Terz (der wohl dreimal 
vorkommt). 

Von freilich oft alterierten konsonanten Intervallen 
haben wir eine beinahe genaue Oktave (VIII—I); vier 
Quinten (VIL—VI; VII—I, vermehrt; V—VI, vermin- 
dert; II—IV, eigentlich Quarte); fünf große Terzen 
(VIII—V; IV—VI, vermehrt; V—II, vermindert; VI— 
VII, vermindert; II—I); fünf kleine Terzen (VIII—IV, 
vermindert; V--VI; IH—VI, vermindert; III—I; H— 
VII); also im ganzen 15 meist mehr oder minder alterierte 
Konsonanzen auf acht Einzeltönen, gegenüber elf (aller- 
dings außer den Quarten, d. h. also einer Oktave, vier 
Quinten, drei großen und drei kleinen Terzen), die in der 
diatonischen Tonfolge gleichen Umfanges auftreten. 

Aus dem Öbigen ergibt sich ferner, daß sich die ge- 
samten Einzeltöne, die den Inhalt dieser Sansa bilden, 
um die zwei fundamentalen Drei-Klang-Akkorde vereini- 
gen: —a—c! (Prim, Terz, Quint) und c!—e!—g (Prim, 
Terz, untere Quint). Die Tonika des letzten Akkordes 
steht in konsonantem Verhältnis mit der Tonika des ersten. 
Es fehlt also bloß der dritte fundamentale Drei-Klang- 
Akkord der Dominante (d.h. g—h—d) zur völligen Ver- 
wirklichung unserer klassischen diatonischen Tonleiter !!). 


...') Vgl. H. Riemann, Die Elemente der musikalischen 
Asthetik, Berlin und Stuttgart, 8. 121 ff. 


254 von Rümker: 


Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika. 





9. Die Sansa in Abb. 14 (a.8.250) gehört, wie gesagt, der 


Gruppe der vorangehenden an. Im Inventar trägt sie die 
Nr. 40780 und folgende Angaben betreffs der Größe des Re- 
sonanzbodens: 0,33 X 0,10 m. Sonst decken sich ihre 
Angaben mit denen der vorangehenden. Die Werte der 
Einzeltöne ergeben sich aus der Notierung: 


+1, —1 +25 +15 


Be 


VII f 


Tabelle XIII enthält die nach ihrer Tonhöhe geord- 
neten Einzeltöne, sowie deren Einzelintervalle. 








Tavse FUN Intervalle 
fis oy PET vu Zunge — 1, Ton (serie 
5 G BEI Ae aoa v. nba 1 1/4 »„ (vermehrt) 
Pah AEE I Beet N 

aA aa g ar 2 x = A » (vermindert) 
dis! 1 RER ER ER 

(2) 6 2 5 4 I > r n 
ECHTE ar VI. , z RA (vermehrt) 
OCES NASE EC er Le n n 


Auch hier findet also wesentlich dieselbe Tonanord- 
nung wie bei der vorangehenden statt. Der Toninhalt 
bietet jedoch manche Unterschiede. Denn die Werte der 


Einzelintervalle schwanken zwar auch innerhalb weiter 
Grenzen (von einem Halbton zu einer vermehrten kleinen 
Terz), ergeben jedoch in der Mehrzahl den Wert eines 
Ganztones. Während nämlich in der vorangehenden 
Sansa aus dem Umfang einer Oktave sieben verschiedene 
Einzeltöne ausgewählt waren (es verwirklichte sich also 
eine Art heptatonischer Tonleiter), erreichen hier bloß 
fünf Einzeltöne fast denselben Umfang einer Oktave 
(von Zunge VIN bis VI, es würde sich also hier dagegen 
um eine Art pentatonischer Tonleiter handeln). 

Von zwar auch hier oft alterierten Konsonanzen gibt 
es drei Oktaven (VIH—II, vermindert; VI—VII, ver- 
mehrt; IV—I, vermehrt); fünf Quinten (VI—V, vermin- 
dert; VIO—II; IV—VI; V—VI; VI—I, vermindert); 
vier große Terzen (IV—III, vermehrt; II—II, vermin- 
dert; VI—VII; II—I, vermehrt); drei kleine Terzen (VIII 
—IV, vermindert; IV—V, vermehrt; V—VI, vermindert): 
also im ganzen auch hier 15 mehr oder minder genaue 
konsonante Intervalle auf acht Einzeltönen. 

Der fundamentale Dreiklang-Akkord, um den sich 
die verschiedenen Einzeltöne vereinigen, ist —a—c!. Die 
zwei übrigen Töne d—g stehen in konsonantem Ver- 
hältnis einer Quint mit den beiden letzten Tönen des 
fundamentalen Akkordes, der andererseits dem der voran- 
gehenden Sansa gleich ist. 


(Schluß folgt.) 


Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika. 


Von Prof. Dr. K. von Rümker. 


Breslau. 


(Schluß.) 


2. Naturgeschichtliches. Das Yellowstonegebiet 
besteht in gewissen Teilen aus andesitischer und rhyo- 
lithischer Lava, welche mitunter 600 m hoch, stellenweise 
auch noch mächtiger auf Kalkschichten lagert. Die 
Bergketten, welche das Hochplateau überragen, bestehen 
teils aus Kalk, teils aus Sandstein; auch Porphyr, Basalt 
und Obsidian kommen in größeren Massen vor. Das 
ganze Gebiet ist in der Tertiärzeit der Schauplatz ge- 
waltiger vulkanischer Tätigkeit gewesen, deren Spuren 
und Nachklänge uns auf Schritt und Tritt in reicher 
Abwechselung begegnen, so z. B. in Schwefelhügeln, den 
Sinterterrassen, Kraterbildungen, Geysern, Schlammvul- 
kanen, versteinerten Bäumen, Obsidianfelsen, in dem Vor- 
kommen von Basalt und allerlei Kristalldrusen von Achat, 
Chalcedon, Onyx, Jaspis, Amethyst usw. 

Die letzte Eiszeit überflutete dieses Gebiet von Osten 
und Süden her mit Gletschern und hinterließ in ihren 
Moränenresten und Ablagerungen von Geschiebelehm mit 
erratischen Blöcken durchsetzt eine mächtige Decke über 
den teils sedimentären, teils vulkanischen Formationen. 
Geradezu typisch für das Yellowstonegebiet sind die 
größeren und kleineren vegetationslosen Kalksinterplatten, 
aus denen durch ungezählte Ritze und Spalten heiße, 
zum Teil übelriechende Dämpfe herauszischen und diese 
Platten fast zur Temperatur des kochenden Wassers 
erhitzen. Diese Spalten sind von sehr verschiedener 
Größe, vom kleinsten Riß bis zur Ausdehnung gewaltiger 
Kratertrichter. Die weiteren Spalten sind meistens mit 
kochend heißem, kalkhaltigem Wasser gefüllt, das ent- 
weder darin still steht, oder aber auch von Zeit zu Zeit 
kochend aufschäumt, oder auch periodisch fontänenartig 
zu sehr verschiedener Höhe emporgeschleudert wird. Diese 
springenden heißen Quellen werden Geyser genannt. 
„Geysier“ ist ein isländisches Wort und heißt zu deutsch 





„Tobender Sprudel“. Ihre Entstehung erklärt Bunsen 
in folgender Art: Das Wasser, welches von oben durch 
meteorische Niederschläge oder aus Seen, Bächen und 
Flüssen versickernd durch die die Lavamassen und dar- 
unterliegenden Kalkschichten durchsetzenden Spalten in 
die Erde dringt, wird von der aus dem Erdinnern nach 
oben strebenden Hitze sehr stark erwärmt und beginnt 
in der oberen Hälfte dieser Wassersäulen dort zu sieden, 
wo der Druck der darauf ruhenden Wassersäule es gerade 
noch gestattet. Durch diesen Verdampfungsprozeß wird 
zunächst der ganze obere Teil der Wassersäule aus dem 
Rohre herausgeschleudert, und dieses Hinauswerfen des 
Wassers hält so lange an, bis der Siedeprozeß den Grund 
des Rohres erreicht hat. Sobald das geschehen, tritt 
äußerlich so lange Ruhe ein, bis das Rohr wieder voll 
Wasser gelaufen ist, und bis diese Wassersäule durch 
die aufsteigende Wärme wieder so weit erhitzt ist, daß - 
der vorher geschilderte Kochprozeß sich wiederholt. Diese 
periodische Wiederkehr des Sprudelaufkochens ist je nach 
der Tiefe und Weite des Rohres, je nach der Masse des 
darin sich ansammelnden Wassers und je nach der Wärme- 
zufuhr aus dem Erdinnern sehr verschieden. Manche 
dieser Geyser springen alle ö oder 10 Minuten, andere 
alle 12 bis 24 Stunden, manche nach ein bis vier Tagen, 
noch andere alle zwei bis drei Wochen, vereinzelte auch 
unregelmäßig. Im allgemeinen springen die größeren, 
bedeutenderen Geyser weniger oft als die kleinen, was 
nach der Art ihrer Entstehung auch selbstverständlich 
erscheint. Die Springhöhe und die Springdauer der Geyser 
wechselt ebenfalls beträchtlich; es gibt einzelne, wie den 
Giant, die Giantess, oder den Grand Geyser, welche bis 
80m hoch springen. Die größten Geyser, die man auf 
dieser Tour zu sehen bekommt, zeigt das obere Geyser- 
becken bei Old Faithfull Inn, das mittlere und untere 


von Rümker: Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika. 


255 





Geyserbecken hat auch einige recht ansehnliche Geyser, 
während das Norris-Geyserbecken sich durch eine sehr 
große Zahl kleinerer Geyser auszeichnet. 

Neben den springenden Geysern sind auch die nicht- 
springenden, die sogenannten „Pools“ oder „Springs“ 
von großem Reiz, und zwar infolge der Farbenpracht 
der in ihren Kratern befindlichen Wassermassen. In 
dem Morning Glory Spring sieht man etwa 20 bis 30 m 
tief in eine kristallklare, intensiv dunkelhimmelblaue 
Wassermasse hinab, in deren tiefdunkelsaphirblauem 
Grunde große Gasblasen flottieren, welche den Anschein 
züngelnder hellblauer Flammen erwecken, als welche sie 
dem staunenden Publikum von dem Führer auch vor- 
gestellt werden. 

Ein anderer, der Emerald Spring, ebenfalls im oberen 
Geyserbecken gelegen, ist wiederum mit kristallklarem, 
smaragdgrünem Wasser gefüllt, und so hat jede von 
diesen nichtspringenden heißen Quellen ihre besondere 
Schönheit und ihren Farbenreiz. 

Eine ganz merkwürdige Art von heißen Quellen sind 
auch die „Paint Pots“, die Farbentöpfe Die Krater 
dieser Quellen sind mit einem dicken Kalksinterbrei ge- 
füllt, der an den arbeitenden Stellen mit glucksendem 
Geräusch Breiklümpchen emporschleudert, die dann 
schließlich kleine, über den Breispiegel hervorragende 
Breikegel aufbauen, während der zurzeit nicht arbeitende 
Teil eines solchen Paint Pots die getrocknete Breimasse 
in bunten Farben von vielen Rissen durchfurcht zeigt 
mit konkaven Flächen, wie ein eingetrockneter Lehm- 
oder Kleistertopf. Diese Breimasse der Paint Pots wird 
zum Anstreichen von Holz- und Mauerteilen benutzt und 
stellt mit etwas Leimzusatz eine von der Natur gelieferte 
billige Anstreichmasse dar. Die Farben sind blau, grün, 
rot, gelblich, orange, bräunlich, kurz in etwas matteren 
Nuancen die Farben der rhyolithischen Lava, wie sie uns 
an den Wänden des Grand Canyon vom Yellowstonefluß, 
an den Sinterterrassen und anderen Überlaufstellen dieser 
heißen Quellen im Yellowstone-Park begegnen. 

Es gibt auch einige periodisch springende Geyser, 
die stinkendes Schmutzwasser auswerfen, z.B. im Norris- 
becken und an anderen Stellen, die sogenannten Schmutz- 
geyser. 

Kurz, die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit dieser 
zahlreichen Geyser ist überraschend groß, und man wird 
nicht müde, dieses Phänomen in seinem Abwechselungs- 
reichtum zu beobachten. 

Auch die Formen und Farben der Kalksinterablage- 
rungen dieser Geyserbecken sind oft von großartiger 
Schönheit. Ganz besonders imposant sind die riesigen 
Sinterterrassen bei Mammoth Hot Springs, sowohl durch 
ihre Größe, wie die Farbenpracht der in frischem Überlauf 
befindlichen Partien. Hoch oben auf einem Berge brechen 
die heißen Quellen hervor und haben an den Abhängen 
durch ihren Ablauf die merkwürdigsten Terrassen gebildet. 
Sehr interessant ist es auch, zu sehen, wie einzelne Geyser 
an der Stelle ihres Austritts einen Kegel aufgebaut haben, 
der mitunter nur klein ist, mitunter aber auch sehr be- 
deutende Dimensionen annimmt, wie bei dem Schloß- 
geyser, dem Grottengeyser, dem Riesengeyser und beson- 
ders bei dem Liberty Cap, dem riesigen Kegel eines längst 
erloschenen Geysers in der Nähe von Mammoth Hot 
Springs am Fuße der dortigen Sinterterrassen. 

Sehr schön sehen auch die Kalksinterbildungen aus, 
welche die Farbe und Gestalt eines neuen gelben Bade- 
schwammes besitzen. Die Abflüsse sämtlicher heißen 
Quellen sind bunt in allen Farben, und nur die nicht 
mehr überlaufenden Partien sind blendend weißer Kalk. 
Die Schwefeldämpfe, welche diese heißen Quellen aus- 
hauchen, schädigen die Vegetation, indem sie die Bäume, 


die sie berühren, zum Absterben bringen und mit einer 
weißen Kalksinterkruste überziehen. Die Lage dieser 
Ausströmungen scheint im Laufe der Zeit zu wechseln, 
denn man sieht an manchen Stellen die Waldränder um 
die Geyserplatten neuerdings im Absterben begriffen, 
während wieder in anderen Teilen, wo die Dampfaus- 
ströomung zur Ruhe gekommen ist, der Wald wieder 
erobernd in eine solche erkaltete Geyserplatte vordringt. 

Eine ganz unvergleichliche Farbenpracht zeigt der 
Grand Canyon des Yellowstoneflusses. Hier hat der Ab- 
fluß des Yellowstonesees eine mächtige Schicht rhyolithi- 
scher Lava durchbrochen, und die Abhänge dieser Erosions- 
schlucht strahlen in einer Farbenpracht von Weiß, Gelb, 
Orange, Purpur, Violett usw., die jeder Beschreibung 
spottet. Selbst wenn man es in der Natur sieht, kann 
man kaum glauben, daß dieser Farbenexzeß Wirklichkeit 
ist. Wenn der Grand Canyon des Coloradoflusses in 
Arizona durch seine riesenhaften Dimensionen und die 
dunkelroten Töne seines Gesteins, die sich durch die 
Fernen in Blau und Tiefviolett verwandeln, infernalisch 
großartig wirkt, so ist das Bild des Grand Canyon im 
Yellowstone-Park an Majestät und Gewaltigkeit zwar 
nicht mit jenem zu vergleichen, dafür aber so heiter und 
farbenübermütig, daß er den Beschauer nicht weniger 
anzieht und in seiner Art einen 'ebenfalls unvergeßlichen 
Eindruck hinterläßt. Das intensiv grüne, von weißen 
Schaumkämmen bedeckte Wasser des Yellowstoneflusses, 
das diesen Canyon durchrauscht, trägt nicht wenig dazu 
bei, den Reiz dieses Landschaftsbildes zu erhöhen, und 
steht in einem sehr vorteilhaften Gegensatz zu den lehmig 
trüben Fluten des Coloradoflusses, der sich durch die 
abgrundtiefen Schluchten des Grand Canyon in Arizona 
hindurchwindet. In zwei prächtigen Wasserfällen, von 
denen der eine 34m hoch ist, stürzt der Yellowstonefluß 
in den Grand Canyon hinein, und Treppenanlagen mit 
Aussichtspunkten, sowie Fahrstraßen und Promenaden- 
wege lassen vom Canyon-Hotel aus diese herrlichen Bilder 
mühelos genießen. Der braungefiederte weißköpfige ameri- 
kanische Weißkopfseeadler, der sich an großen Flüssen 
und Seen bis tief ins Land hinein verbreitet, nistet auf 
den turmartigen Zinnen nnd Klippen dieser leicht ver- 
witternden Lavamassen des Canyons in so großer Zahl, 
daß man ohne Mühe von den Aussichtspunkten aus der 
Höhe in der Schlucht 20 bis 30 und mehr Adlerhorste 
zählen kann. 

Die Tierwelt des Yellowstone-Parkes gehört überhaupt 
mit zu seinen größten Reizen. Während man in den 
ganzen Vereinigten Staaten von Amerika, wenn man sie 
mit der Eisenbahn durchfährt, nirgend mehr ein wild 
lebendes Tier sieht, kaum in den Wüsten Arizonas einen 
Hasen oder Präriewolf, scheinen die Waldreserven und 
Nationalparks alles aufgenommen zu haben, was noch 
von wild lebenden Tieren übrig geblieben ist, und hier, 
wo nichts geschossen werden darf und niemand die Tiere 
stört, beunruhigt oder gar verfolgt, scheinen sie zu para- 
diesischer Harmlosigkeit zurückgekehrt zu sein und auch 
dem Menschen nichts mehr zu leide zu tun. 

Die Büffel sind in mehreren Herden hinter Hegezäunen 
interniert und machen auf den Beschauer, abgesehen von 
ihrer größeren Zahl, keinen wesentlich anderen Eindruck 
als in einem großen zoologischen Garten. 

Von Bären gibt es im Yellowstone-Park braune, 
schwarze und graue Bären, aber nicht die gefürchteten 
Grizzlibären. Im Anfange des Sommers, Ende Mai, An- 
fang Juni, fischen sie in den Bächen des Gebirges Fo- 
rellen, und ist diese Zeit vorüber, dann ziehen sie sich 
nach den Hotels hin, wo sie auf den Kehrichthaufen ihre 
Abendmahlzeit zu suchen pflegen. Dort kann man sie 
sehr bequem beobachten; sogar Bänke sind in der Nähe 


256 


von Rümker: Naturdenkmalpflege in den Vereinigten Staaten von Amerika. 





dieser Müllhaufen für das Publikum aufgestellt, und es 
gehört zu den Vergnügungen des Parkgenusses, nach 
dem Dinner in dieses „Bärentheater* zu gehen und die 
munteren und oft imponierenden Gesellen bei dem Sinken 
des Tages aus dem Walde kommen und dort wühlen zu 
sehen. Mitunter steht zum Schutze des Publikums ein 
Soldat ‘mit geladenem Gewehr dabei, um durch einen 
Schuß zu scheuchen, falls einer der Bären ein intimeres 
Interesse für seine Bewunderer zeigen sollte, was aber 
kaum jemals vorgekommen sein soll. Gewöhnlich küm- 
mern sich die Tiere sehr wenig oder gar nicht um den 
Menschenhaufen, der ihnen neugierig zuschaut. 

Auch die Präriewölfe (Coyotes), die nicht selten den 
Weg der Reisenden kreuzen, scheinen harmlos zu sein 
und den Wagen wenigstens nichts zu tun. Da nun aber 
die Wagen selten einzeln fahren, diese Coyotes dagegen 
im Sommer einzeln herumzustreifen pflegen, wagen sie 
wohl keinen Angriff. Ferner sieht man im Yellowstone- 
Park eine ungeheure Menge von Hirschen, hauptsächlich 
Virginiahirsche, seltener Wapiti, in gewissen Teilen Anti- 
lopen, in den höchsten Gebirgen Wildschafe, ferner 
Skunkse, Luchse, Füchse, zahllose Eichhörnchenarten, 
Hermeline, Marder, Biber, Kaninchen, Wildschweine usw. 
Von Vögeln: Schwäne, Pelikane, Kraniche, Adler, Geier, 
zahlreiche Entenarten, Raben, wilde Gänse, Krähen, 
Drosseln usw. 

Von größeren Reptilien sollen in einzelnen Teilen 
Klapperschlangen vorkommen. 

Auffallend ist, wie schon bemerkt, an allen Tieren, 
die man dort sieht, ihre vollkommene Harmlosigkeit und 
Zutraulichkeit. Die Hirsche gehen niemandem aus dem 
Wege und laufen in nächster Nähe der Hotels mitten 
durch die promenierenden Hotelgäste hindurch. 

Die Flora des Yellowstone-Parkes ist weniger ab- 
wechselungsreich. Die Hochgebirgslage schränkt hier die 
Zahl der noch lebensfähigen Gattungen und Arten sehr 
ein. Der Wald besteht hauptsächlich aus Schwarzfichte, 
Rotfichte, Balsamfichte, Weißtanne, roten Zedern, Espen, 
Zuckerahorn und Weiden. Von Büschen gibt es einige 
beerentragende, und von Gräsern herrschen Büffelgras, 
Raygras und Timothee vor. 

Die Vegetation macht daher einen etwas eintönigen 
und stellenweise düsteren Eindruck. 

Die Seen, Flüsse und Bäche sind, soweit sie kalt sind, 
sehr forellenreich. Das Fischen ist gestattet und bildet 
an den Seen, besonders am Yellowstonesee vom Seehotel 
aus, ein sehr beliebtes Vergnügen. Dort ist mit Ruder- 
und anderen Booten, mit Angel- und sonstigem Fischerei- 
gerät alles aufs bequemste für das Publikum eingerichtet, 
so daß es in der Tat verlockend genug ist, einen solchen 
Angelausflug nach dem Ausflusse des Yellowstoneflusses 
aus dem See zu unternehmen. Die Seen selbst mit ihrer 
Bergwaldumrahmung und den fernher herüberleuchtenden 
Schneehäuptern der Anden bieten an sich schon einen 
hohen landschaftlichen Genuß, auch wenn man dem 
Fischereisport nicht huldigen will. Sogar Motorboote 
findet man am Seehotel zu Exkursionen auf der viele 
Quadratmeilen großen Wasserfläche. 

Keine Schilderung kann aber den Eindrücken gerecht 
werden, welche der Reisende im Yellowstonegebiet emp- 
fängt; es ist von unvergleichlich eigenartiger Schönheit, 
herb, streng und doch wieder wunderbar großartig und 
anziehend. 

Der Besuch des Yellowstone-Parkes ist allein eine 
Reise nach Amerika wert, und es war ein großartiger 


Gedanke, ihn zu einem nationalen Reservat zu machen ° 


und diese Eigenart seiner Natur, die auf dem ganzen 
Erdenrund wohl einzig dastehen dürfte, vor jeglicher 
Verletzung und Zerstörung zu bewahren. Es ist ein 


Naturdenkmal größten Stiles, welches man dort erhält, 
und ebenso großartig und genial ist die Art, wie man 
dieses tut. Auch ist es geradezu erstaunlich, wie dieser 
ideale Zweck des reinen Naturgenusses festgehalten wird 
und nicht einmal die vielleicht in diesen heißen Quellen 
schlummernden Heilkräfte zu verwerten gestattet. Sollte 
dieser letztere Gesichtspunkt einmal den Sieg davontragen, 
dann allerdings wäre die keusche Jungfräulichkeit dieses 
Wunderlandes dahin, und das Badeleben mit all seinen 
Konsequenzen würde die Gesunden, für welche allein 
heute dieser Naturgenuß möglich ist, hinausdrängen und 
mit ihnen die interessante Tierwelt und heilige Stille des 
Bergwaldes. Hoffen wir, daß der Erwerbssinn sich nicht 
auch dieser Stätte reinster Naturschönheit bemächtigt. 
Würde dadurch vielleicht manches gewonnen werden, es 
würde aber unendlich viel und Unersetzliches darüber 
verloren gehen. 


Andere Nationalparks. 


Ein anderer Naturpark großen Stiles ist das Yose- 
mitetal, welches man in der Regel von San Francisco 
aus über Berenda und Raymond erreicht. Es wurde 
1864 mit seiner Umgebung im Umkreise von 3km durch 
Kongreßbeschluß dem Staate Kalifornien geschenkt unter 
der Bedingung, daß es als öffentlicher Park erhalten 
bleiben sollte. Die gewöhnliche Rundfahrt, zu der die 
Yosemite Stage and Turnpike Co. in San Francisco die 
Fahrkarten ausgibt, kostet 38 Dollar ausschließlich Hotel- 
unterkunft. Andere Zugänge sind von San Francisco 
über Stockton und über Merced. 

Im Yosemitetale selbst gibt es nur ein Gasthaus, das 
Sentinel-Hotel; man kann auch hier ähnlich wie im 
Yellowstone-Park Camp-Touren machen und ein Lager- 
leben führen mit der Curry’s Camp Co., oder auch mit 
der Yosemite Camp Co. 

Das Yosemitetal bietet herrliche Hochgebirgsland- 
schaften, schöne Wasserfälle und eine abwechselungs- 
reiche Vegetation, da es nicht so hoch liegt wie der 
Yellowstone-Park. Die Saison dauert hier vom 1. April 
bis 1. November, und Mitte Mai ist wohl die angenehmste 
und beste Zeit zum Besuche dieser Gegend. Für Lager- 
liebhaber ist das allerdings zu früh der Kälte wegen; 
Juni bis August ist dafür die beste Zeit. 

Die Naturschönheiten des Yosemitetales sind groß- 
artig, vielfach an die Schweiz erinnernd, aber nicht so 
eigenartig und absonderlich wie die des Yellowstone- 
Parkes. Auch ist das ganze Gebiet viel kleiner. 

Der Sequoia-National-Park oder Giant Forest 
(1890 von den Vereinigten Staaten käuflich erworben) 
liegt im hohen Teil der Sierra Nevada in Kalifornien an 
der Linie zwischen Exeter und Tulare. Das Sehenswerte 
hier wie im General-Grant-Park bei Millwood oder 
im Calaveras-Hain bei Stockton, oder im Mariposa- 
Hain bei Wawona und an anderen Orten sind die „Big 
Trees“, die riesenhaften Sequoien, die einen Umfang von 
über 30m und gegen 100m Höhe und ein Alter von 
3000 bis 5000 Jahren erreichen können. Die Sequoien 
oder Redwood (Sequoia sempervirens) sind Nadelhölzer, 
welche vorwiegend am Westabhange der Sierra Nevada 
und in den Wäldern der kalifornischen Küstengebirge 
vorkommen. Die Sequoia oder Wellingtonia oder Wash- 
ingtonia gigantea wird noch größer und ist nur auf 
die Westabhänge der Sierra Nevada beschränkt. 

Diese uralten Riesen zu erhalten, ist in der Tat eine 
Pflicht der Naturdenkmalpflege, und so ist es sehr er- 
freulich, daß die amerikanische Zentralregierung mehrere 
dieser Sequoienreste, die den furchtbaren Verwüstungen 
der amerikanischen Wälder durch Feuer und der Gewinn- 
sucht der Holzschlächter bisher entgangen waren, an- 


Halbfaß: Der Mohriner See in der Neumark. 


257 





gekauft hat und vor Vernichtung schützt. Daß man 
diese herrlichen Waldriesen oft nur gegen Entree zu 
sehen bekommt, wie z. B. bei Santa Cruz in Kalifornien, 
berührt zunächst etwas befremdend; wenn man aber die 
Geschichte dieser Reservate kennt, erstaunt man nicht 
darüber. 

Die Sequoien haben die Eigentümlichkeit, sich durch 
Ausschlag aus den Wurzeln ringförmig um den Haupt- 
stamm zu verbreiten und mitunter mit diesem zu ver- 
wachsen. So kommen ganz gewaltige Gruppen von 
diesen Riesen zustande, die durch ihre ringförmige Stel- 
lung, wenn der ursprüngliche Mutterbaum nicht, mehr 
vorhanden ist, in Erstaunen setzen. 

Mögen diese Beispiele genügen, zu zeigen, wie der 
Amerikaner, dem meist die größte Nüchternheit und Ge- 
winnsucht nachgesagt wird, doch auch Sinn für die Natur 


und ihre Schönheiten besitzt und wie er diese Liebe zur 
Natur und die Achtung vor ihr in großem Stile zu be- 
tätigen weiß. Man ist sich in Amerika der großen und 
eigenartigen Schönheiten des Landes bewußt und seit 
einigen Jahrzehnten in einer Weise und in einem Um- 
fange bemüht, sie zu erhalten und zur Geltung zu bringen, 
die auch für andere Völker vorbildlich sein könnte. 

Möchte es uns auch in Deutschland gelingen, Sinn 
und Verständnis für die Pflege der Naturdenkmäler so 
weit zu erwecken, daß auch wir über die Kleinarbeit 
hinaus an wirklich große Aufgaben herantreten könnten! 
Die darauf verwendeten Gelder wären gut angelegt und 
würden zur geistigen und körperlichen Gesunderhaltung 
unseres Volkes mehr beitragen als manche verweich- 
lichende Einrichtung der Großstädte, Badeorte und High 
Life - Sommerfrischen. k 





Der Mohriner See in der Neumark. 
Von Prof. Dr. W. Halbfaß. Jena. 


Mit einer Karte. 


Es ist eine unter den Geographen und Geologen satt- 
sam bekannte Tatsache, daß das stehende Wasser die 
Formen der Erdoberfläche konserviert. Die Wellen reichen 


Tiefenkarte des Mohriner Sees 


; nach Lotungen 
von Prof, Dr, W. Halbfaß. 
Maßstab 1:25000 


in ihrer Wirkung selbst in günstigsten Ausnahmefällen 
nur einige Meter unter die Oberfläche des Wassers; vor 
den auflösenden und sammelnden Wirkungen der Atmo- 
sphäre bleibt der Grund der stehenden Gewässer dauernd 
geschützt; vor allem ist der Einfluß des Sauerstoffs 





weitaus geringer. Die konservierende Eigenschaft des 
Wassers macht sich vor allen Dingen bei unseren Land- 
seen geltend, und die Ansicht, die Ule einmal aussprach, 


daß die Konturen des Bodens der Landseen die des um- 
gebenden Landes unter allen Umständen widerspiegeln, 
entspricht in sehr vielen Fällen durchaus nicht den Tat- 
sachen, wie ich dies bereits früher an mehreren Beispielen 
zeigen konnte. Ein weiteres sehr treffendes Beispiel 


258 


Halbfaß: Der Mohriner See in der Neumark. 





bietet der Mohriner See in der Neumark. Dieser durch 
Kopisch hübsches weitverbreitetes Gedicht „Der große 
Krebs im Mohriner See“ populär gewordene See liegt in 
einem überwiegend dem „Sandr“ zugehörigen Terrain, das 
größerer Unebenheiten fast überall entbehrt. Auf dem 
Meßtischblatt Mohrin liegt der höchste Punkt 39 m über 
dem Spiegel des Sees, über 3km von seinem Ufer ent- 
fernt; im großen und ganzen gehen aber die Höhen- 
unterschiede nicht wesentlich über 20 m hinaus. Die 
nächsten Ufer des Sees ragen nur bis 10 m über ihn empor 
mit alleiniger Ausnahme des Schloßwalles, welcher den 
westlichen Teil des Sees zu einem besonderen Zipfel, 
Butterfelder See genannt, zusammenschnürt, aber auch 
dieser erhebt sich nur 15 bis 16m über den Seespiegel. 
Völlig im Gegensatz zu seinen flachen Ufern erscheint 
die Bodenkonfiguration seines Untergrundes, wie die hier 
beigegebene Tiefenkarte zeigt. Sie wurde gezeichnet auf 
Grund von 396 Lotungen vom Boot aus mittels der be- 
kannten Uleschen Lotmaschine unter Zählung der Ruder- 
schläge zwischen zwei benachbarten Lotungen !). Selbst- 
verständlich läßt der Maßstab 1:25000 nicht zu, die 
geloteten Punkte zur Darstellung zu bringen. Das Er- 
gebnis der Lotungen findet sich daher am Schluß dieses Auf- 
satzes tabellarisch zusammengestellt. Die morphome- 
trischen Berechnungen wurden an der Hand einer Karte im 
Maßstab 1:12500 gemacht, auf die ich die Konturen des 
Meßtischblattes vergrößert hatte. Es ergibt sich, daß das 
Relief des Seebodens im Gegensatz zu dem umgebenden 
Land sehr verwickelt ist und die Tiefenkarte sich noch 
unregelmäßiger gestalten würde, wenn man die Zahl der 
Profile durch den See noch vermehrt hätte, wozu es mir 
aber an Zeit gebrach. 

Die tiefste Stelle mit 58,5 m befindet sich ungefähr 
in der Mitte des Sees, doch näher dem Südwest- als dem 
Nordostufer; sie liegt innerhalb der kleinen Fläche, welche 
die 50 m-Isobathe umspannt. Auch die 40 m-Isobathe, 
welche langgestreckt dem Nordufer bis auf etwa 350 m sich 
nähert, umfaßt nur 10 ha, das sind nur etwa 3 Proz. des 
Gesamtareals, und nur dreimal größer ist die Fläche 
innerhalb der 30 m-Isobathe. Ob die kleineren 30 m-Iso- 
bathen nördlich und südlich von der Hauptfläche mit ihr 
in Zusammenhang stehen oder durch Höhenrücken ge- 
trennt sind, wage ich nicht mit völliger Sicherheit zu 
entscheiden, ich habe sie zunächst als isolierte Tiefen- 
zonen innerhalb flacheren Gebietes gezeichnet. Die 
10 m-Isobathe erstreckt sich noch ziemlich weit in den 
südlichsten schmalen Zipfel des Sees, südlich von der Stadt 
Mohrin, hinein, reicht dagegen nicht in den westlichsten 
Teil des Sees, der wegen gesonderter Besitzverhältnisse 
auch einen besonderen Namen, Butterfelder See, erhalten 
hat, wenigstens, soweit meine Lotungen ergaben, die sich 
nicht ganz bis in das letzte Ende des Sees erstreckt haben. 
Die mich begleitenden Fischer versicherten mir bestimmt, 
daß größere Tiefen in dem nicht ausgeloteten Teil des 
Sees nicht vorkämen, was ich auch durchaus für wahr- 
scheinlich halte. Am nächsten dem Ufer hält sich die 10 m- 
Isobathe bei dem Vorsprung am Mohriner Schützenhaus 
(A der Karte), während sie weiter nördlich bis auf 500 m 


!) Wie ich erst bei meinem Aufenthalt in Mohrin erfuhr, 
hat Herr Dr. Samter Lotungen im See vom Eis aus unter- 
nommen, das Resultat seiner Arbeiten bisher aber noch nicht 
publiziert. Vor längeren Jahren soll der Landesgeologe Professor 
Dr. Müller gleichfalls Lotungen im Mohriner See unter- 
nommen haben. Auch diese Tatsache erfuhr ich erst später, 
da Recherchen nach früheren Lotungen im See meinerseits 
nur das Resultat ergeben hatten, daß Tiefen bis zu 60 bzw. 
58,5 m gefunden worden seien, ohne Angabe von Namen. 
Diese bedeutende Tiefe veranlaßte mich in erster Linie, 
eine Auslotung des Sees vorzunehmen und eine Tiefenkarte 
zu publizieren. 





vom Ufer entfernt bleibt. Innerhalb der 10 und 20 m- 
Isobathen finden sich nicht wenige Stellen mit Untiefen 
bis zu 3m Tiefe; ihre Zahl ist jedenfalls in Wirklichkeit 
weit größer, als sie die Tiefenkarte angibt. Die Ein- 
schnürung zwischen dem eigentlichen See und dem Butter- 
felder Winkel ist ungefähr 3 m tief, so daß eine 5 m-Tiefen- 
kurve in ihm eine geschlossene Linie darstellen würde. 

Was die Wasserstandshöhe während meiner Lotungs- 
arbeiten (2. Hälfte des Juli d. J.) angeht, so behaupteten 
zwar die Fischer, daß der Wasserstand niedrig gewesen 
und der Hochwasserstand über 1 m höher sei. Die Be- 
schaffenheit der Ufer widerspricht aber dieser Behauptung 
durchaus, so daß ein ganz ungewöhnlich hoher Wasser- 
stand des Sees dazu gehört, um sein Niveau 60m über seinen 
tiefsten Punkt zu erheben. Auch der Umstand, daß sowohl 
Zu- wie Abfluß (Schibbe) im Verhältnis zur Ausdehnung 
des Sees nur sehr gering zu nennen sind, spricht. 
gegen große Schwankungen seines Wasserstandes. Die 
Hauptspeisung des Sees dürfte durch Grundwasserströme 
erfolgen; Tiefentemperaturmessungen, zu denen die Zeit 
fehlte, hätten darüber sicheren Aufschluß geben können. 
Beobachtungen mittels des bekannten Endrösschen Index- 
limnographen ergaben eine Seiche von ungefähr 5 Minuten 
Dauer. Der See ist nach dem großen Stechlinsee (64,5 m) 
der tiefste der Provinz Brandenburg. 

Was endlich die Entstehung des Mohriner Sees an- 
geht, so darf ich an die Arbeit von Geh. Rat Professor 
Dr. Keilhack über „Die baltische Endmoräne in der Neu- 
mark und im südlichen Hinterpommern“ erinnern, welche 
1895 im Jahrbuch der Königl. Preußischen Geologischen 
Landesanstalt für 1893 erschien. Die baltische End- 
moräne in der Neumark findet sich danach unmittelbar 
südlich von dem Mohriner See, und zwar sowohl im 
Westen wie im Osten des Südzipfels, aber, wie ich mich 
persönlich durch Begehung überzeugen konnte, nur 
schwach ausgeprägt und ist keineswegs mit den bekannten 
prachtvollen Aufschlüssen nördlich und südlich von Nören- 
berg zu vergleichen. Ich glaube daher, daß der See nur 
teilweise durch Stauung in diesem Endmoränenzug ent- 
standen ist; sein verwickeltes Relief trägt vielmehr in 
der Hauptsache den Typus eines Grundmoränensees, wobei 
der verhältnismäßig geringe Teil des Sees, welcher eine 
bedeutende Tiefe besitzt, durch Evorsion entstanden sein 
mag, etwa in ähnlicher Weise wie dies für den Hauptteil 
des tiefsten norddeutschen Sees, des Dratzigsees, sehr 
wahrscheinlich erscheint. 

Durch den See gelegte Profile: A’D. Nach je 
20 Schlägen: 9, 12, 12, 11, 8, 7!,m. DE. Nach je 
15 Schlägen: 2, 4, 12, 12!/,, 12, 11, 10, 81/,, 4!/am. 
EF. Nach je 15 Schlägen: 21/3 11, 131/,, 131/,, 12, 81/,, 
7'/ım. FG. Nach je 15 Schlägen: 7, 91/,, 12, 14, 14, 
131/2 Y!/a 4!'/am. GH. Nach je 15 Schlägen: 5, 131/,, 
13, 12, 9, 4m. IA”. Nach je 20 Schlägen: 9, 11, 121/,, 
131/3, 13, 101/,, 10, 111/3, 111/,, 6m. AB. Nach je 
20 Schlägen: 11!/,, 12, 171/3, 19, 181/3, 16, 161/,, 20, 
21, 18, 16, 91/,, 2!/gm. CA’. Nach je 20 Schlägen: 3, 3, 
111/2, 141/g, 151/2, 17, 18, 181/,, 17, 101/,, 2m. AK. 
Nach je 20 Schlägen: 11, 16, 18, 20, 26, 25, 23, 23, 13, 
6, 5, 31/4, 3, 2, 2, 1m. KL. Nach je 15 Schlägen: 3, 
4, 5, 5, 3, 3, 4, 8, 16m; nach je 20 Schlägen: 20, 20, 
20, 24, 30, 32, 32, 28, 21, 20, 17, 18, 4, 2m. LN. 
Nach je 20 Schlägen: 2, 9, 11, 18, 20, 20, 22, 25, 24, 
23, 29, 34, 35, 36, 32, 27, 22, 151/3, 10, 8, 10, 7, 4, 3, 
21/3, 1/gm. NM. Nach je 20 Schlägen: 2, 4, 7, 6, 
11, 14, 5, 14, 22, 31, 34, 40, 41, 40, 54, 561',, 38, 20, 
14, 12, 8, 10, 8, 6, 6, 21/, 2m. AO. Nach je 30 Schlägen: 
19, 22, 20, 15, 18, 26, 29, 27, 19, 24, 34, 40, 40, 38, 
32, 25, 17, 16, 14, 16, 8, 2m. OS. Nach je 20 Schlägen: 
2, 16, 17, 14, 16, 27, 31, 30, 29, 29, 35, 45m; nach 10 


Amundsens Südpolarexpedition. — Kleine Nachrichten. 


259 





Schlägen: 45 m; nach je 20 Schlägen: 28, 20, 14, 9, 
3, 3, 21/9, 1!/m. SR. Nach je 20 Schlägen: 2, 2, 7, 
11, 13, 7, 14, 12, 13, 27, 42, 55m; nach je 
5 Schlägen: 56!/,, 54, 58l/, m. Von diesem Punkt 
aus direkt nördlich nach je 5 Schlägen: 54, 48, 44, 
43, 44m. Zurück zum Ausgangspunkt und nach je 
20 Schlägen: 42, 43, 44, 39, 32, 24, 20, 15, 9, 13, 12, 
8,5, 2m. AN. Nach je 20 Schlägen: 12, 19, 22, 21, 
14, 13, 151/2, 21, 22, 22, 20, 14, 18, 20%/,, 21, 25, 23, 
18, 17, 11, 10, 6, 3, 2m. NS. Nach je 20 Schlägen: 
2, 3, 3, 6, 4, 8, 12, 7, 5, 16, 23!/„ 29, 28, 30, 291/,, 
30, 35, 32, 30, 33, 46, 42, 26, 20, 17, 151/2, 91/3, 9, 3, 
2m. SQ. Nach je 15 Schlägen: 2, 2, 14, 18, 14, 3, 12, 
11, 9, 2m. QC. Nach je 20 Schlägen: 2, 19, 30, 31, 
28, 26, 22, 24, 31, 31, 40, 43, 42, 47, 46, 32, 24, 22, 


28, 29, '22, 13, 9, 19, 25, 24, 24, 20, 15, 9, 8, 6, 2m. 
LP. Nach je 15 Schlägen: 2, 5, 9, 5, 8, 12, 14, 15, 18, 
24, 33, 42, 44, 41, 37, 31, 24, 21, 20!/3, 241/3, 15!/a 
41/2, 21/3, 2m. OL. Nach je 15 Schlägen: 2, 8, 171/3 
17, 15, 11, 17, 241/,, 291/,, 30, 32, 33, 28, 40, 40, 491/3, 
40, 27, 26, 20, 7, 14, 13, 7, 2, 2m. 

Zusammenstellung der wichtigsten morphometrischen 
Daten: 























= 
Meeres- Umfangs- | Größte | Mittl. ; 
höhe i Umfáng nern] Tiefe | Tiefe Volumen Bean 
m ha ung m m |Mill. cbm 
51,4 I 330 | 10500 | 1,63 | 58,5 | 15,1 | 50 | 4,5° 





Amundsens Südpolarexpedition. 


Amundsen hatte nach Erledigung der geplanten 
Fahrten im Nordatlantischen Ozean am 9. August end- 
gültig mit dem „Fram“ Norwegen verlassen und Anfang 
September Madeira angelaufen. Von hier hat er am 
9. September die Weiterreise angetreten, aber Nachrichten 
nach Norwegen gesandt, die von einer unerwarteten 
Änderung oder Erweiterung des Expeditions- 
planes Kunde geben. Er schreibt nämlich, er wolle sich, 
bevor er zur Beringstraße gehe, um die Driftfahrt durch 
das Nordpolarbecken anzutreten, am „Kampfe um den 
Südpol“ beteiligen. In welcher Weise dieses geschehen 
werde, könne er noch nicht sagen. Er wolle an einer 
geeigneten Stelle der Antarktis sich mit einem Teile der 
Expeditionsmitglieder absetzen lassen und dort den Winter 
1911 zubringen. Das Schiff solle, wenn es nicht am 
Winterquartier festgehalten werde, noch vor Eintritt des 
Winters nach Punta Arenas und Buenos Aires zurück- 
kehren (wo die Ankunft im Juni 1911 zu erwarten sei), 
den Südwinter 1911 über Meeresforschungen ausführen 
und Ende 1911 die Landungsabteilung wieder an Bord 
nehmen. Damit wäre dann der März 1912 heran- 
gekommen, und nun erst solle es durch den Großen Ozean 
nach der Beringstraße gehen, zum Ausgangspunkt für 
die Drift durch das Polarbecken. — Damit würde sich 
also der Beginn der eigentlichen Polarfahrt um ein volles 
Jahr hinausschieben — wenn sie überhaupt gleich im 
Anschluß an die Südpolarfahrt stattfindet, woran wir nicht 
recht glauben können. 

Amundsen motiviert diesen Planwechsel mit dem Hin- 
weis darauf, daß es ihm bis zu seinem Aufbruch von 
Norwegen nicht gelungen sei, dort die ganze für die Fahrt 
durch das Nordpolarbecken erforderliche Summe aufzu- 
bringen !) und daß er hoffe, sie werde ihm zufließen, 
nachdem er mit einem erfolgreichen Vorstoß gegen den 
Südpol seine Landsleute erfreut haben werde. Er erklärt, 
er habe von Anfang an nicht die Jagd auf den Nordpol, 
sondern eine streng wissenschaftliche Expedition durch 
das Nordpolarbecken im Auge gehabt und für eine solche 


1) Es sollen daran noch 150000 Kr. gefehlt haben, die 
zur Löhnung für die Mannschaft und zur Verproviantierung 
nötig sind. 


um Unterstützung geworben. Nachdem aber während 
seiner Vorbereitungen der Nordpol erreicht worden sei, 
hätte sich in Norwegen das Interesse für seine Nord- 
polarfahrt stark abgekühlt, und er habe einsehen müssen, 
daß die privaten Beiträge nicht die erforderliche und 
anfangs erhoffte Höhe erreichen würden. Deshalb habe 
er schon in Norwegen beschlossen, sich am Kampfe um 
den Südpol zu beteiligen und damit das Interesse für sich 
und seinen wissenschaftlichen Nordpolarplan zu beleben. 

Wo Amundsen in der Antarktis landen, wo er mithin 
seine Operationsbasis errichten wird, hat er also vorläufig 
offen gelassen, und wir werden das wohl erst erfahren, 
wenn etwa im März nächsten Jahres der „Fram“ in Punta 
Arenas auftaucht. Man kann allerdings vermuten, 
wohin Amundsen will. Sein Bruder, der ihn bis Madeira 
begleitet hatte, hat nämlich in Christiania erwähnt, jener 
werde seine Vorstoßlinie zum Südpol so wählen, daß sie 
weder mit derjenigen Scotts, noch mit der geplanten 
Route Filchners kollidiere, und er werde vom „Fram“, 
nachdem er ihn wieder abgeholt habe, im März 1912 
nach Lyttelton (Neuseeland) gebracht werden. Erinnert 
man sich nun daran, daß Amundsen zu den Teilnehmern 
der belgischen Südpolarexpedition gehörte, die im öst- 
lichsten Teile des Südpazifik tätig war, dort also .persön- 
lich Bescheid weiß, so liegt die Vermutung sehr nahe, 
daß er sich dorthin wenden und westlich von Graham- 
land zu landen versuchen wird. Freilich ist das weder 
der belgischen Expedition noch nachmals den beiden 
französischen Expeditionen gelungen, und so dürften 
auch Amundsens Aussichten dort nicht gar zu günstig 
stehen. Wenn ihm das aber auch glücken sollte, so 
bleibt es noch recht unwahrscheinlich, daß gerade von 
da aus, wo jeder Schritt südwärts in völlig unbekanntes 
Gebiet führt, in einem einzigen Sommer mit Hundeschlitten 
der Südpol erreicht werden kann; die Entfernung beträgt 
z. B. von der Peterinsel aus in der Luftlinie 2300 km! 
Wenn Amundsen nur schließlich nicht doch das Weddell- 
meer wählt und damit der Filchnerschen Expedition 
manchen Erfolg vorwegnimmt. Der Zweck — hier die 
Sensationsmacherei — heiligt schließlich auch bei der 
Südpolarforschung die Mittel! 





Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Der vierte Jahresbericht der schweizerischen Natur- 
schutzkommission hat einige erfreuliche Erfolge ihrer regen 
Tätigkeit zu verzeichnen. Hervorzuheben ist, daß mit dem 
Schweizerischen Nationalpark ein Anfang gemacht ist, 


welcher als Kristallisationspunkt für den groß geplanten Park 
dienen wird. Es handelt sich um einen Gebirgsdistrikt des 
Unterengadins, der durch das Viereck Piz Quatrevals, Piz 
Nuna, Piz Lischanna und Piz Nair östlich vom Inn um- 


260 


Kleine Nachrichten. 





grenzt wird. Der Anfang zu diesem’ von 2600 bis 3100 m 
hohen Gipfeln überragten zukünftigen Nationalpark wurde 
mit der Erwerbung des wilden Cluozatales gemacht, das end- 
gültig von der Gemeinde Zernez für 25 Jahre erworben wurde. 
Dort hört jetzt jede wirtschaftliche Benutzung auf, Holzbe- 
trieb, Jagd, Weidgang und Bauten sind verboten, Schutz- 
maßregeln für anzusiedelnde Steinböcke sind vereinbart, und 
selbst Ersatz für durch Bären angerichteten Schaden ist vor- 
gesehen. Die jährliche Pachtsumme an die Gemeinde Zer- 
nez beträgt 1400 Frank. Das Schutzgebiet umfaßt 25 qkm, 
und ein Parkwächter ist angestellt worden. 

— Entdeckung eines Vulkans und warmer Quellen 
auf Spitzbergen. Major Gunnar Isachsen, der auch 
im vorigen Sommer auf Spitzbergen tätig war, hat dort einen 
Vulkan und mehrere warme Quellen gefunden. Wie diese 
Entdeckung gemacht wurde, darüber berichtet er jetzt fol- 
gendes: 

Im August letzten Sommers lagen wir in einem kleinen 
neuentdeckten, sehr guten Hafen an der östlichen Seite der 
Bockbai. Schon als wir dort angekommen waren, war es mir 
aufgefallen, daß die Oberflächentemperatur im Innern der 
Bucht etwas höher war als außerhalb derselben. Ich sprach 
davon mit einem der Geologen, Dr. Hoel, und mit dem Eislotsen 
Sören Svendsen, und der letztere erzählte dann, daß er auf 
der Jagd nach Rentieren den Tag vorher Wasser getroffen 
hätte, welches sehr warm war. Wir beschlossen dann, daß 
die Sache näher untersucht werden sollte, und Hoel begab 
sich auf eine Expedition. Am Abend kam er zurück und 
warf vergnügt ein schweres Paket auf den Tisch, indem er 
rief: „Vulkanische Asche!“ Das Wasser war wirklich „sehr 
warm“, d.h.24°C. In den folgenden Tagen untersuchte Hoel 
die Gegend näher und fand außer den zuerst entdeckten 
zwei warmen Quellen noch sechs andere. Der Vulkan und 
die Quellen werden von Dr. Hoel folgendermaßen beschrieben: 

Der von ausgeworfenen Lapilli und Bomben gebildete 
Vulkan liegt an der westlichen Seite der Bockbai unter 
79°28’n.Br. und 13° 28'ö. L. Die warmen Quellen, zusammen 
acht, liegen in gerader Linie; zwei von ihnen nordnordwest- 
lich, die anderen sechs südsüdöstlich vom Vulkan, aber in 
etwas größerer Entfernung von ihm. Dieser selbst bildet 
einen sehr regelmäßigen Kegel, und die Besteigung desselben 
erinnert an eine Wanderung nach den Kegeln des Vesuv oder 
Atna. Der Unterschied besteht darin, daß das lose Gestein 
der italienischen Vulkane schlackenartig ist, während man 
auf Spitzbergen große Stücke Olivin trifft, und das kleine 
Gestein in Struktur, Form und Größe an die Lapilli, welche 
Pompeji bedecken, erinnert. Der Vulkan liegt an der einen 
Seite eines Meerbusens, und seine Eruptionen dürften in der 
quarternären Zeit stattgefunden haben. Jetzt ist er untätig. 

Der von den ausgeworfenen Gesteinen gebildete Krater, 
der von Lavagängen durchzogen ist, liegt isoliert. Der Kegel 
bildet eine Erhebung von 500 m über dem Meere, und 
auf der östlichen Seite ist eine pferdeschuhförmige Vertie- 
fung, die Isachsen als die Reste eines Kraters auffaßt. 

Die warmen Quellen haben nur eine geringe Höhe über 
dem Meere. In den zwei nördlichen ist die Temperatur des 
Wassers etwas über 24°C, und es fließt reichlich aus dem 
von den Quellen selber abgesetzter Kalktuff. Dieser hat die 
Form eines Kegels, ist ziemlich breit, aber nicht hoch. Die 
sechs anderen Quellen am Endpunkte der Bucht fließen aus 
einer Reihe von Kalktuff-Becken, welche sich treppenförmig 
aufeinander auftürmen. Isachsen sagt, daß sie ihn an die 
Abbildungen der Quellen auf Neuseeland oder im Yellow- 
stoneparke erinnern. Die Becken sind nicht so breit wie 
die der erstgenannten zwei Quellen, sind mit Tropfstein- 
bildungen bekleidet, und die Temperatur des Wassers kann 
bis 28°C steigen. Die Quellen sind nach Isachsens und Hoels 
Ansicht vulkanischer Entstehung, und daß die unterirdische 
Tätigkeit noch nicht erloschen ist, geht aus dem Getöse her- 
vor, welches ab und zu in der Quellenregion gehört wird. 
Auch in der Gegend der Woodbai hat Hoel vulkanische 
Bildungen gefunden; auf den Höhen der Felsen östlich von 
der Bucht fand er Lava, und an der westlichen Seite der 
Woodbai wurden Vulkanreste entdeckt. B. 


— Der schwedische Geologe O. Sjögren liefert in den 


Sveriges Geologiska Undersökning No. 219 (Arsbok 3, 
1909, No. 2) unter dem Titel „Geografiska och Glacialgeologiska 
Studier vid Torneträsk“ eine mit 5 Karten, 6 Tafeln und 
72 Textabbildungen geschmückte Arbeit über den großen 
lappländischen See Torneträsk, an dessen Südufer sich 
die bekannte Lofotenbahn Gellivare—Narvik hinzieht. Der 
bis 164m tiefe See besteht aus drei größeren und einigen 
kleineren Becken, die durch Schwellen voneinander getrennt 


sind und sowohl in ihrer Gesamtheit wie im einzelnen durch 
glaziale Erosion in einem präglazialen Flußtal entstanden 
sind. Weder Verwerfungen noch glaziale Abdämmungen, die 
bei den sonstigen Seen im südlichen Lappland die hauptsäch- 
lichste Ursache ihrer Entstehung gewesen sein mögen, kamen 
beim Torneträsk in Betracht; auch die Schwellen zwischen 
den Teilbecken dürften überwiegend aus festem Gestein be- 
stehen. Eine andere schöne Felswanne in der Nähe des 
Torneträsk ist der Bildviksvattnet nahe der Station Sildvik, 
er ist nach unten zu durch eine quer über die Talsohle sich 
erstreckende reingespülte Felsbarriere abgegrenzt. Auf Grund 
der von Sjögren mitgeteilten Tiefenkarte beider Seen im 
Maßstab von 1:100000 bzw. 1:25000 habe ich ihre hauptsäch- 
lichsten morphometrischen Werte berechnet und in folgender 
Tabelle zusammengestellt: 




















Eu Moeros- Areal | Größte | Miktl- | Yolumen [Umfang Mittl. 
des Sees | wa anl S m aan. cbm] km EEE 
Torneträsk | 342 | 350 | 164 | 48 | 18800 | 250 2,6° 
suam f 634 | 15 | 87 | 41 62 | 7,3 | 13,50 
Halbfaß. 


— Prof. Th. Arndt stellt in den „Veröffentlichungen des 
Kgl. Preuß. Met. Instituts“, Nr. 205, Abh. Bd. II, Nr. 2 die 
Ergebnisse zehnjähriger Gewitterbeobachtungen 
in Nord- und Mitteldeutschland (1887 bis 1896) zu- 
sammen, denen wir folgende Einzelheiten entnehmen. Durch- 
schnittlich ist der Juli der gewitterreichste Monat, in welchen 
Monat im westdeutschen Tiefland und im schlesischen Ge- 
birgsland 6 Gewittertage fallen; in Schleswig-Holstein sinkt 
diese Zahl auf 4,42 im Durchschnitt herab. Im mittel- 
deutschen und im schlesischen Bergland treffen auf den 
Juni fast ebensoviel Gewittertage wie auf den Juli, in 
Schleswig-Holstein konkurriert mit dem Juli der August. 
Das Maximum der Gewitterhäufigkeit scheint das Glatzer 
Gebirge (26 Tage im Jahr) zu besitzen, das Minimum 
Schleswig-Holstein und die Rhön (18 Tage). In Westdeutsch- 
land kamen die Gewitter vornehmlich aus dem Südwesten 
bis Nordwesten, im Osten aus dem Osten bis Süden; im 
schlesischen Gebirgsland ergab sich ein Maximalwert auf- 
fälligerweise sowohl für Nordwesten wie für Südosten; Jahre, 
in denen gleichzeitig aus fast allen Richtungen Gewitter in 
besonders großer Zahl auftreten, sind selten. Die meisten 
Gewitter treten durchschnittlich zwischen 4 und 5 Uhr nach- 
mittags auf; diese Regel gilt mehr oder weniger von allen 
Gegenden Nord- und Mitteldeutschlands. Im Sommer dauert 
1/, bis '/, aller Gewitter weniger als eine halbe Stunde, über 
2 Stunden nur Yo bis '/, aller; im Herbst ist die Zahl der 
Gewitter, die mehr als eine halbe Stunde dauern, noch ge- 
ringer. In dem Zeitraum 1862 bis 1897 scheint die Gewitter- 
häufigkeit im ganzen zugenommen zu haben, und zwar um 
etwa 25 Proz. Der größte Betrag fällt in den meisten 
Gegenden auf den Zeitraum 1892/94, während nur in West- 
deutschland die Jahre 1895/97 eine noch größere Zunahm 
aufweisen. H. 


— In einer in „Peterm. Mitt.“ 1910, II, Heft 2, er- 
schienenen Abhandlung Ergebnisse neuerer simultaner 
Temperaturmessungen in einigen tiefen Seen 
Europas veröffentlicht Prof. Halbfaß die Resultate der im 
Wettern, Bodensee, Genfersee, Vierwaldstättersee, Zürichersee, 
Zugersee, Gmunder- und PBolsenasee durch ihn in den 
Jahren 1906 und 1907, teilweise auch 1908 veranlaßten 
simultanen Temperaturmessungen, welche im ganzen achtmal 
im Jahre unternommen wurden. Nimmt man auch einige 
andere von anderer Seite aus gemachte Serien von Tempe- 
raturmessungen in Norwegen und Schottland zur Hilfe, so 
zeigt sich, daß der Anschauung Forels, daß der Wärmeumsatz 
nordischer Seen ein größerer ist als derjenige zentraleuro- 
päischer, unter gewissen Umständen eine Berechtigung nicht 
abzusprechen ist. Dies zeigt sich besonders bei einer Gegen- 
überstellung des Comer- und des Mjösensees sowie des 
Thunersees mit dem Loch Neß. Dagegen beweisen die 
Messungen im Loch Morer und Gmundersee, der Hallstätter- 
see und Loch Katrine u. a., daß unter sonst vergleichbaren 
morphometrischen Verhältnissen die Annahme Forels mindestens 
nicht allgemein gültig ist, und daß es erneuter mehrere 
Jahre hindurch fortgesetzter Untersuchungen bedürfe, ehe 
wir zu einer vollständigen Klarheit über diesen Punkt 
kommen können. Zum Schluß werden einige Tiefentempe- 
raturen tiefer Seen mitgeteilt, um zu zeigen, daß dieselben 
keineswegs, wie man vielfach annimmt, konstant seien. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE. 
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“, 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE., 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 








Bd. XCVIII. Nr. 17. 


BRAUNSCHWEIG. 


3. November 1910. 











Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


Die Höhlen Westfalens und die Ausgrabungen in der Veleda-Höhle. 


Von Dr. Emil Carthaus. 


Der nicht schichtenförmig, in Platten oder Bänken, 
sondern mehr als ein Massengestein abgelagerte Stringo- 
kephalenkalk, auch Eifel- oder Elberfelderkalk von den 
älteren Geologen genannt, bildet im rheinisch-westfälischen 
Schiefergebirge die obere Stufe des Mitteldevons und zieht 
sich dabei in den Kreisen Meschede und Brilon als ein 
langes, schmales Band südlich dem oberen Ruhrtal ent- 
lang bis zum Plateau von Brilon hin, wo er eine breite 
Insel, umgeben von Oberdevon und Karbon, bildet. Dieser 

` licht- bis bläulichgraue devonische Massenkalk, welcher 
sich durch seine Versteinerungen an den meisten Orten 
seines Vorkommens im westfälischen Sauerlande als aus 
Korallenbildungen hervorgegangen erweist, bildet nun 
einen ganz vortrefflichen Baustein für Höhlenbildungen, 
wie denn solche auch, sozusagen überall, wo er zutage 
tritt, in ihm eingeschlossen erscheinen. Einige von diesen 
Höhlen zeichnen sich durch ihren geradezu wundervollen 
Tropfsteinschmuck aus, was ja auch in Kalkhöhlen, von 
deren Decke aus zahlreichen dünnen Klüftchen beständig 
mit doppelkohlensaurem Kalk beladenes Wasser in Tropfen 
herabfällt, recht begreiflich erscheint. Immer sind es 
ungefähr dieselben, bald mit zahllosen Kalkspat- 
kriställchen schneeig schimmernden, bald durch erdige 
bzw. lehmige Überzüge mehr grau, gelblich oder bräun- 
lich erscheinenden Tropfsteingebilde, die entweder in Form 
von Stalaktiten von der Höhlendecke herabhängen oder 
als Stalagmiten vom Boden aufragen, oder auch als 
sogenannte Orgeln, Kanzeln, Gardinen usw. die Höhlen- 
wände bekleiden; indessen besitzt jede Tropfsteinhöhle 
ihr eigenes Gepräge, ihre eigene urweltliche Architektur. 
: Das Gebirge des südlichen Westfalen ist nun ganz 
besonders reich an solchen höchst sehenswerten Höhlen, 
von denen die Atta-Höhle bei Attendorn, die Bilstein- 
Höhlen bei Warstein, die Dechen-Höhle bei Iserlohn und 
die Recken-Höhle im Hönnetale alljährlich Tausende von 
Besuchern haben. Andere Höhlen im rheinisch-west- 
fälischen Schiefergebirge, deren Felsendecke so dicht 
geschlossen erscheint, daß an ihr nur hier und da 
Tropfsteingebilde durch herabsickerndes Wasser ent- 
stehen konnten, haben nun vornehmlich für die Er- 
forschung der Vorgeschichte unseres Landes entschiedene 
Wichtigkeit erlangt, da sie sowohl in der Stein- als 
auch in der Bronze- und Eisenperiode Menschen zu 
vorübergehendem oder auch längerem Aufenthaltsorte 
gedient haben, und da diese nicht selten in Höhlenerde 
eingebettete oder auch wohl offen an der Oberfläche 
liegende deutbare Spuren ihre Tätigkeit hinterlassen 
haben, sei es in der Form von mehr oder weniger 
primitiven Artefakten oder in der von Tierknochen, 
Globus XCVII. Nr. 17. 


welche zu irgend einem Zwecke durch Menschenhände 
umgestaltet erscheinen — nicht selten mit Hilfe des 
Feuers durch Kochen oder Braten. Diese unscheinbaren 
Relikte aus grauer Vorzeit erzählen uns über die einstigen 
Bewohner unseres Landes viel mehr, als man gemeiniglich 
glaubt, und darum ist es sehr zu bedauern, daß gerade 
in Westfalen, dessen Gebirge so reich an Höhlen war, die 
solche alten Kulturreste in sich bargen, oder in denen sich 
selbst noch Knochenreste von den ehemaligen Bewohnern 
unseres Landes vorfanden, so überaus wenig von alle 
diesem für die Wissenschaft erhalten geblieben ist. Ich 
will hier nicht von den diluvialen Tierresten reden, von 
denen sich z. B. in der im Hönnetale gelegenen, weit ° 
gewölbten Balver-Höhle ganze Wagenladungen fanden, 
die, in Stücke geschlagen oder zerfallend, zum Düngen 
der Äcker verwandt wurden 1); weit mehr noch ist die 
Wissenschaft dadurch beeinträchtigt, daß die in den 
Erdschichten so mancher westfälischen Höhle liegenden 
Artefakte, vor allem aber auch die zahlreichen Knochen- 
reste von Menschen, welche Westfalen in frühester Zeit 
bewohnt haben, durch Unkundige aus der Höhlenerde 
herausgerissen und verzettelt worden sind. Reste von 
so verloren gegangenen menschlichen Gebeinen fanden 
sich z. B. in der Räuberhöhle und in der Martinshöhle 
bei Letmathe, in der Rösenbecker- und auch in der Balver- 
Höhle. 

Wenn nun wenigstens ein kleiner Teil jener für die 
Wissenschaft so wertvollen Höhlenfunde erhalten geblieben 
ist, so hat man dieses zum Teil dem Naturhistorischen 
Verein von Rheinland und Westfalen, dem Oberbergamte 
in Bonn, sowie auch der Deutschen Anthropologischen 
Gesellschaft, zum Teil dem Westfälischen Provinzialverein 
für Wissenschaft und Kunst zu verdanken, und im 
übrigen dem Interesse, welches Privatpersonen an der 
Erforschung jener so interessanten uralten Kulturstätten 
von Westfalen genommen haben. So sehr die für der- 
artige Untersuchungen verfügbaren Gelder der Provinz 
Westfalen auch immer in Anspruch genommen werden 
mögen, so sollte diese meiner Ansicht nach im Interesse 
der Wissenschaft doch die Mittel gewähren, um von der 
Nachlese der Funde aus den westfälischen Kalkstein- 
höhlen, von denen schon verschiedene dem Hochofen- 
betriebe und der Kalkindustrie zum Opfer gefallen sind, 
wenigstens das zu retten, was überhaupt noch zu retten ist. 
Sie sollte das um so mehr tun, als sie eine Universität 








1) In der gewaltigen, 12m hohen, 18m breiten und 87m 
langen Halle dieser Höhle wird alljährlich das Schützenfest 
der Stadt Balve, woran viele Hunderte von Menschen teil- 
nehmen, mit Musik und Tanz gefeiert. 


34 


262 


besitzt und deren Sammlungen gewiß nicht reich an 
Fundstücken aus westfälischen Höhlen zu nennen sind. 

Nachdem ich im Jahre 1887 die Aufschließung und 
wissenschaftliche Erforschung der Bilstein-Höhlen bei 
Warstein geleitet, habe ich vor 15 bis 20 Jahren nicht 
ohne Unterstützung des Westfälischen Provinzialvereins 
für Kunst und Wissenschaft verschiedene Höhlen des 
Hönnetales untersucht und dabei, abgesehen von Tier- 
knochen, auch Reste von menschlichen Gebeinen (darunter 
einen Schädel und zahlreiche Fragmente von Schädeln) 
aus verschiedenen Kulturperioden zutage gefördert, 
sowie auch zahlreiche Erzeugnisse einer mehr oder weniger 
primitiven Kultur aus Stein, Bronze, Eisen, Knochen, 
Bernstein usw. Ebenso habe ich sehr alte verkohlte 
Getreidereste gefunden. Diese reichen Funde — deren 
Alter von der frühen Eisenperiode Norddeutschlands 
bis in die Steinzeit hinabreicht — haben mich nach lang- 
jähriger Abwesenheit von Europa denn auch veranlaßt, 
im Anfange dieses Jahres an das Kuratorium der zur 
Ehrung unseres großen Rudolf Virchow errichteten und 
mit seinem Namen belegten Stiftung, welche der anthropo- 
logischen Forschung so große Dienste zu leisten berufen 
ist, ein Gesuch zu richten, worin ich um finanzielle Bei- 
hilfe zur wissenschaftlichen Untersuchung einer Höhle 
im oberen Ruhrtale bat, die mir aus mehr als einem 
Grunde interessante Funde versprach. Es ist dieses die 
Veleda-Höhle, im Osten des Kreises Meschede, etwa 
lkm südlich von dem freundlichen Dörfchen Velmede 
gelegen, 150 bis 200m über dem Bette der Ruhr. 

Die Veleda-Höhle befindet sich an der Nordseite und 
in halber Höhe eines langgestreckten Kalksteinhügels, 
dessen westlicher Teil bereits zur Gewinnung von Mörtel 
` und Dungkalk abgetragen ist. Drei breitgewölbte Ein- 
gänge, eingeschnitten in eine steile Felswand, führen in 
das Innere der Höhle, doch ist nur der westlichste ohne 
Mühe zu durchschreiten. Der Sauerländische Gebirgs- 
verein hat diesen Zugang zur Höhle durch ein Gittertor 
verschließen und in ihrem Innern mehrere Eisentreppen 
anbringen lassen, so daß man jetzt ohne Gefahr über den 
abschüssigen Boden durch die beiden großen und hohen 
Haupthallen der Höhle hin zu den zwei unterirdischen 
Wasserbecken gelangen kann, die etwa 50m tiefer als 
die Eingänge liegen. Die stellenweise über 12m hohe 
und 10m breite obere Halle, in die man zuerst eintritt, 
verengt sich nach hinten bis auf etwa 3m an Höhe und 
Breite, um dann in die zweite sehr hohe, daneben aber 
auch 10 bis 15m breite Haupthalle überzugehen. Der 
unter einem Winkel von 20 bis 25° abfallende Boden 
in ersterer war von einer Ablagerung von Erde bzw. 
Lehm und eckigen Kalksteinstücken (worunter sich Blöcke 
von mehr als lcbm Inhalt befanden) bedeckt. Diese 
Erdschicht besaß stellenweise eine Mächtigkeit von 4,5 m. 
Den Boden der unteren großen Halle bedeckt ein höchst 
eigentümliches loses Haufenwerk von scharfkantigen, 
mittelgroßen Kalksteinstücken, worin nur hier und da 
kleinere Erdmassen eingeschlossen sind. Wie groß die 
Mächtigkeit dieser Steinlage ist, konnte ich noch nicht 
ermitteln, jedenfalls ist sie aber namentlich in ihrer 
Mitte und in ihren oberen Teilen nicht gering (mehr als 
5 bis 6m). Wie diese Anhäufung von losen Kalkstein- 
stücken, zu deren Transport das Wasser zweifellos nicht 
beigetragen hat, hierhergekommen ist, kann ich mir nicht 
erklären, und wer weiß, was sie in sich birgt? Ich kann 
nicht glauben, daß diese zahllosen, nicht abgerundeten 
und fast alle gleich großen Kalksteinbrocken im Laufe 
der Zeit von der Decke der Halle herabgefallen sind. Ich 
habe nur hier und da, mehr an der Oberfläche, in diesem 
Steinhaufenwerke suchen lassen können, wobei zahl- 
reiche Tierknochen, verschiedene Tonscherben von sehr 


Carthaus: Die Höhlen Westfalens und die Ausgrabungen in der Veleda-Höbhle. 


primitiver Arbeit, sowie auch ein Bruchstück von einem 
Gegenstand aus Bronze gefunden wurden. 

Ungefähr in der halben Höhe der oberen Halle zweigt 
sich von ihr ein etwa 100m langer Seitengang in öst- 
licher Richtung ab, dessen Boden nur an einer Stelle ein 
wenig ansteigt. Dieser Gang stellt in seinem vorderen 
Teile ein flaches, 2 bis 4m hohes und 3 bis 5m breites 
Gewölbe, in seinem hinteren Teile mehr einen Spalt von 
5 bis 8m Höhe und 1 bis 2m Breite dar; überall aber 
verrät dieser Höhlenarm deutlich seine Bildung durch 
Auswaschung des Kalkgesteins. Sein Boden ist an den 
meisten Stellen nur mit einer dünnen Lehmlage, die an 
vielen Stellen durch Tropfstein verkittet erscheint, bedeckt, 
stellenweise aber mit einer Tropfstein- oder Kalktuff- 
schicht, welche durchschnittlich nur sehr dünn, in einem 
Teile des Ganges jedoch über 0,5 m mächtig ist. Nach 
Osten hin ist dieser Gang durch Tropfsteinbildungen 
geschlossen, doch zweifle ich nicht, daß er sich noch 
weiter in dieser Richtung fortsetzt. 

Da das Kuratorium der Rudolf-Virchow-Stiftung in 
liberaler Weise die Geldmittel zu den Ausgrabungen in 
der Veleda-Höhle bewilligte, so konnten sie Ende April 
dieses Jahres bereits begonnen und bis Ende Juni fort- 
gesetzt werden. Genau untersucht wurde der größte 
Teil der Erdablagerungen in der oberen Halle und in 
dem soeben beschriebenen Nebengange. 

Die Erdmassen der oberen Halle waren in den oberen 
Lagen mehr humusreich, gingen nach unten aber in den 
gelben Diluviallehm über, wie man ihn in so vielen 
deutschen Höhlen zusammen mit Knochenresten von 
Höhlenbär, Mammut, Rentier und anderen Tieren der 
Eiszeit vorfindet. Tierknochen lagen in der Veleda- 
Höhle überall in den Erdablagerungen, doch wurden sie 
in einer Tiefe von 2,5 bis 3m seltener. Am Grunde der 
Erdschicht wurden Zähne vom Höhlenbären bzw. Ursus 
arctos gefunden. Die anderen in großer Zahl, namentlich aus 
den höheren Lagen, zutage geförderten Knochenreste, 
worunter sich solche von Tieren finden, welche in der 
dortigen Gegend völlig ausgestorben sind, werden, von 
einem Spezialisten untersucht, hoffentlich einen wert- 
vollen Beitrag zur Kenntnis der einstigen Säugetierfauna, 
besonders aber auch der ältesten Haustiere des Landes 
der roten Erde liefern. Von noch größerem Interesse 
für die Wissenschaft dürften aber die in so großer Menge 
gefundenen Menschenknochen sein, welche sowohl in der 
Haupthalle als auch besonders in dem Nebengange der 
Höhle lagen. Soviel ich ersehen konnte, gehören sie 
wenigstens 12 bis 15 Individuen, sowohl Erwachsenen 
wie Kindern, an. Genauere Resultate wird erst eine ein- 
gehende Untersuchung ergeben, wie sie selbstverständlich 
nur von einem tüchtigen Fachmanne auf dem Gebiete 
der somatischen Anthropologie ausgeführt werden kann. 
Soviel ich indessen bereits von maßgebender Seite er- 
fahren habe, scheinen die zutage geförderten mensch- 
lichen Gebeine und Schädelreste, von somatisch-anthropo- 
logischem Standpunkte aus allein betrachtet, weniger 
Merkwürdiges zu bieten — abgesehen freilich davon, daß 
sie bei ihrer großen Zahl in ihrer Gesamtheit wertvolle 
Rückschlüsse ermöglichen auf die körperliche Beschaffen- 
heit jener Menschenrasse, die ehedem das Gebirge von 
Westfalen bewohnte. Nach einigen Extremitätenknochen 
und Schädelbruchstücken zu urteilen, scheinen diese Ur- 
Sauerländer gerade keine kleinen Leute gewesen zu sein. 

Was aber nun jenen menschlichen Knochenresten ein 
erhöhtes Interesse verleiht, sind ihre Lagerungsverhält- 
nisse im Zusammenhange mit Artefakten und anderen 
Spuren einer vor Deutschlands geschichtlicher Zeit 
liegenden Kultur, dieich auf Grund der gemachten Funde 
als gewiß nicht anheimelnd bezeichnen möchte. Zwar 


Carthaus: Die Höhlen Westfalens und die Ausgrabungen in der Veleda-Höhle. 


263 





wurden sozusagen überall in der Erdablagerung der 
oberen Halle, sowie in dem Nebengange Menschenknochen 
gefunden, worunter namentlich Schädelreste und Unter- 
kiefer durch ihre Häufigkeit hervortraten; allein die 
meisten von ihnen lagen doch um alte Feuerstellen herum. 
(Es wurden von diesen letzteren nicht weniger als zehn 
in verschiedener Tiefe in der Erdschicht der oberen 
Halle und auch in dem Nebenraum aufgedeckt.) Andere 
von diesen Knochenresten lagen auch unmittelbar über 
der Kohlen- bzw. Aschenschicht der Feuerstellen. Aus- 
drücklich muß aber hierbei hervorgehoben werden, daß 
nur zwei Hirnschalen, wovon die eine einer erwachsenen 
Person, die andere einem Kinde angehört hat, Brand- 
spuren zeigen, außerdem allerdings auch einige wenige 
Zähne, welche auf einer Feuerstelle in dem Nebenarme 
der Höhle gefunden wurden. Die genannten beiden 
Schädelstücke lagen dicht aneinandergeschoben unmittel- 
bar am Rande einer Herdstelle, so daß sie, wenn sie dort 
lose lagen, durch Zufall leicht angebrannt sein könnten. 
Von Leichenverbrennung uf den verschiedenen Feuer- 
stellen, an welche man sonst leicht denken könnte, kann 
daher wohl nicht die Rede sein. In Anbetracht dessen, 
daß wohl zahlreiche Menschenknochen in der Nähe der 
Feuerstellen zusammenliegend gefunden wurden, daß 
diese aber verschiedenen Individuen angehörten, und 
daß die Knochen, vor allem die Schädelstücke so vielfach 
arg zerstückelt in die Erdablagerung hineingeraten sein 
müssen, könnte man geneigt sein, an Anthropophagie zu 
denken, jedoch müßten dann meiner Ansicht nach mehr 
Knochenreste vorhanden sein, an denen man Feuer- 
spuren, hervorgebracht durch Braten oder Kochen des 
Fleisches, erkennen könnte. — Von einer Beerdigung 
menschlicher Leichen über vorher angelegten Feuer- 
stellen kann wohl deshalb nicht die Rede sein, weil an 
keiner Stelle zahlreiche zusammenhängende Stücke von 
ein und demselben Individuum zum Vorschein kamen. 
Es bliebe also nur noch die eine Möglichkeit übrig, daß 
in der Höhle, nachdem Feuer in ihr abgebrannt waren, 
Leichen offen beigesetzt und ihre Gebeine durch Tiere 
verschleppt wären. Wie erklärt es sich bei dieser An- 
nahme aber, daß auf einer Feuerstelle in dem Seitengange 
der Höhle zahlreiche Zähne von wenigstens drei mensch- 
lichen Individuen lagen, aber keine anderen Menschen- 
knochen wie ein einziges kleines Schädelfragment? Eine 
derartig weitgehende und seltsame Verschleppung 
der Skeletteile ist wohl kaum anzunehmen, auch 
wenn Leichen über der betreffenden Brandschicht offen 
beigesetzt wurden. — Als Beigaben für die Toten wären 
vielleicht die Artefakte aus Knochen, Bronze und Eisen, 
sowie die überaus zahlreichen Tonscherben zu deuten, 
von denen sich die meisten zusammen mit den Menschen- 
knochen an den Feuerstellen fanden. Namentlich Ton- 
scherben, bearbeitete Knochen und Fragmente von Arte- 
fakten aus Eisen lagen aber auch weiter entfernt von 
den Feuerstellen sozusagen überall in der Höhle bzw. in 
deren Erdschichten, hier und da selbst an der Oberfläche. 
Was die Topfscherben angeht, so stellen diese mit 
einer Ausnahme sämtlich ein höchst primitives Mach- 
werk dar. Die Gefäße, zu denen sie gehört haben, waren 
offenbar sehr dickwandig und sind sichtlich noch ohne 
Zuhilfenahme der Töpferscheibe hergestellt, wobei in die 
Töpfermasse Kalkspat- und Quarzkörnchen in Menge ein- 
geknetet erscheinen. Verschiedene der Tonscherben 
tragen rohe Verzierungen, sogenannte Fingertupfen- 
und verschieden gestaltete Strichornamente. 

Als eine recht interessante Tatsache ist mir bei 
meinen Ausgrabungen in verschiedenen westfälischen 
Höhlen die aufgefallen, daß sich die gefundenen Ton- 
scherben in ihrem ganzen Habitus auffallend gleich- 


bleiben, mögen sie aus Kulturschichten der Steinzeit oder 
der Bronze- bzw. der frühen Eisenperiode herrühren. 
Dabei will ich erwähnen, daß ich sowohl auf der Mandar- 
küste von West-Celebes, als auch im Innern der Resident- 
schaft Tapanuli (Sumatra) die Eingeborenen vor meinen 
Augen Tongefäße ohne Töpferscheibe und durch Brennen 
(sogenanntes Schmauchen) in einem offenen Stroh- bzw. 
Reisigfeuer habe anfertigen sehen, welche den in den 
westfälischen Höhlen gefundenen täuschend ähnlich 
sind. — Ein überraschender Fund war für mich der 
von verschiedenen Tonscherben, die ohne weiteres als 
von altrömischem Ursprunge zu erkennen waren. Auf 
zwei Feuerstellen in dem Seitengange der Höhle wurden 
auch zahlreiche verkohlte Getreidekörner entdeckt, wo- 
runter sich bezeichnenderweise nur solche von Weizen 
und Gerste fanden, obschon die Kultur von Weizen in 
dem rauhen Klima des Sauerlandes wenig angebracht 
erscheint. Wir wissen indessen, daß Roggen und Hafer, 
die so recht für das deutsche Gebirge geschaffenen 
Cerealien, nicht früher als in den ersten Jahrhunderten 
n. Chr. in unserem Vaterlande bekannt wurden. Gerste 
und dieselbe kleine Weizenart, daneben auch Hirse, 
Erbsen und eine kleine Bohnenart, hatte ich übrigens 
schon früher in verkohltem Zustande in zwei Höhlen 
des Hönnetales gefunden. Neu in seiner Art aber war 
für mich der Fund eines — leider nur sehr kleinen — 
verkohlten Geweberestes, der in einer engen, ziemlich 
trockenen Felsennische des Nebenarmes gemacht wurde. 

Was die übrigen zutage geförderten Artefakte be- 
trifft, so wurden auch Spinnwirtel aus Ton gefunden 
und neben verschiedenen von Menschenhand bearbeiteten 
und geglätteten Knochenstücken auch Beinnadeln und 
-pfrieme. Von den ausgegrabenen Bronzegegenständen 
waren die meisten zu sehr verwittert, als daß man noch 
hätte ersehen können, wozu sie ehedem gedient hatten. 
Verhältnismäßig gut erhalten zeigten sich nur ein ziem- 
lich massives Kinderarmband, zwei oder drei Bruch- 
stücke von Fibeln und zwei kleine Ringe. Unter 
den gefundenen, gänzlich durch Rost zerfressenen 
Eisenstücken glaube ich allein einige Köpfe von Nägeln 
erkennen zu können. — In einer Brandschicht hinten 
in dem Nebenarme der Höhle lagen zwei Glasperlen aus 
blauem Kobaltfluß. 

Während die gefundenen Menschenknochen und Arte- 
fakte in dem Seitengange der Veleda-Höhle fast alle nur 
von einer dünnen Erd- oder Tropfsteinschicht bedeckt 
waren, zeigten sich in der Erdschicht der oberen Halle 
Holzkohlenstückchen und einzelne Tonscherben noch in 
einer Tiefe von 3 bis 3,5 m, Bronzereste dagegen nicht 
tiefer als etwa 1,5m. Daß dabei diese Erdschicht seit 
ihrer Ablagerung ziemlich unberührt geblieben ist — 
abgesehen natürlich von ihrer Oberfläche —, dürfte wohl 
daraus hervorgehen, daß die fünf Brandschichten, welche 
sich, wie gesagt, in ihr in verschiedener Tiefe vorfanden, 
nicht aus ihrer ursprünglichen Lage gebracht sind. Sie 
sind vielmehr allmählich unter der vom Höhleneingange 
her herabrollenden Erde begraben worden, teilweise so 
tief, daß die eine Feuerstelle erst in 1,75 bis 1,80 m an- 
geschnitten wurde. 

Mir will es nun scheinen, als ob die menschlichen 
Knochenreste nicht aus ein und derselben, sondern aus 
zwei verschiedenen Zeitperioden herrührten, die meisten 
aus der frühesten Eisenperiode Norddeutschlands, einige 
andere aber auch aus älterer Zeit. Dieser letzteren scheinen 
mir vor allem die Schädelstücke und andere mensch- 
liche Knochenreste anzugehören, welche ganz am Ende 
des Nebenganges unter einer Lehm- bzw. Kalktuff- 
bedeckung von etwa 30cm Dicke ausgehoben wurden. 
In ihrer Nähe wurden nur Tierknochen sowie einige 


34* 


264 


Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 





Stückchen Holzkohle gefunden, und ebenfalls nicht weit 
von ihnen in nahezu 1 m Tiefe auch zwei Höhlenbären- 
zähne. Genaueres über das Alter dieser menschlichen 
Überbleibsel wird sich wohl schwer sagen lassen, es sei 
denn, daß ihre genaue anatomische Untersuchung dem- 
nächst oder später durch Vergleichung dafür einige An- 
haltspunkte an die Hand geben wird. 

Sprachen, wie gesagt, verschiedene sich an die Funde 
anknüpfende Tatsachen dafür, daß in der Veleda-Höhle 
ehedem eine Anzahl von Leichen offen beigesetzt worden 
ist, so erklärt sich bei dieser Annahme vielleicht auch 
ein sehr alter, bei den Umwohnern der Höhle bestehender 
Gebrauch, von dem schon im Anfange des vorigen Jahr- 
hunderts ein Pfarrer des Dorfes Velmede in dem dortigen 
Kirchenbuche berichtet. In diesem wird gesagt, daß die 
Bewohner des Ortes schon seit undenklicher Zeit am 
ersten Ostertage zu der Höhle am „Hohlestein* oder 
der Veleda-Höhle wallfahrteten, daß sie dort in ihrer Weise 
beteten und zurückzukehren pflegten, wenn die Kirchen- 
glocken in Velmede zur Vesper zusammenschlugen. Be- 
kanntlich hat sich nun das christliche Osterfest an die 
altgermanische Frühlingsfeier angelehnt, wie schon sein 
Name (abgeleitet von der altdeutschen Göttin Ostara) 
sagt. Könnte es da nicht leicht möglich sein, daß der 
uralte Begräbnisplatz der Veleda-Höhle, worin m einer 
früheren Zeit vielleicht zahlreiche offen umherliegende 


Totengebeine ernstes Denken und heilige Schauer wach- 
riefen, allmählich zu einem Wallfahrtsorte wurde? 
So ganz von der Hand zu weisen ist jedenfalls auch der 
Gedanke des genannten Pfarrers nicht, welcher den 
Namen der Veleda-Höhle und den des Ortes Velmede mit 
der vielgenannten germanischen Seherin oder Priesterin 
Veleda in Verbindung bringt. Wir wissen zwar durch 
Tacitus, daß diese ihren eigentlichen Sitz an dem der 
Ruhr benachbarten Nebenflusse des Rheins, an der Lippe 
hatte, indessen muß sich ihr Einfluß einst sehr weit im 
Lande der roten Erde erstreckt haben, und es konnten 
diese weithin berühmte Germanenfrau ihre Wege auch 
sehr leicht in das südlich von der Lippe liegende Ge- 
birge des Sauerlandes führen. Auffallend ist dabei nun, 
daß in der Veleda-Höhle Scherben von altrömischen Ton- 
gefäßen gefunden wurden, und daß in dem erwähnten 
Kirchenbuche auch die Rede von einer kunstvollen 
kleinen römischen Statue ist, welche im Beginne des 
vorigen Jahrhunderts in dem Dorfe Velmede ausgegraben 
wurde. Außerdem sind es aueh noch andere Umstände 
und Funde, deren nähere Besprechung hier zu weit 
führen würde, welche darauf hinweisen, daß nicht fern 
von den unterirdischen Hallen der Veleda-Höhle Römer 
und Germanen zusammengetroffen sind, und daß sich 
dort vielleicht ein wichtiges Stück altdeutscher Geschichte 
abgespielt hat. 


Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 


Analytisch-akustische Untersuchungen über einige Instrumente von Naturvölkern. 


Von S. Baglioni. 


Rom. 


(Schluß.) 


c) Panflöten. 


Im Gegensatz zu sämtlichen vorangehenden afrikani- 
schen Instrumenten stammen die folgenden analysierten 
neun Panflöten aus verschiedenen Gegenden der Erde her, 
da sie, wie neulich D. del Campana!?) in einer freilich 
bloß die äußeren Gestaltsmerkmale berücksichtigenden 
Abhandlung hervorgehoben hat, bei allen Völkern ver- 
breitet sind. 

1. Die Panflöte der Abb.15 trägt im Register unter 
Nr. 2585 u.a. folgende Notizen: Länge der Einzelröhren 
von 0,09 bis 0,15m. Herkunft: Neuguinea, Fly River. 
Von den sechs Röhren konnte die V., gebrochen, nicht 
analysiert werden. Die Werte der Einzeltöne sind in 
der folgenden Notierung ersichtlich. 


ih —8 +2 
6 tee 
I I m IV Vv VI 


Die Tabelle XIV zeigt die nach ihrer zunehmenden 
Tonhöhe geordneten Einzeltöne, sowie deren Intervalle. 

















Tabelle XIV. Intervalle 
EGR ua Re VI. Röhre 
er een a Von > 3 Töne (vermindert) 
Be re, ar Ar IVs ; 
> 1 Ton 
me (58) Sehe = a Eh, (vermehrt) 
MalSLLIILIIIE 2 DU m (vermindern) 


Die noch wahrzunehmenden Konsonanzen zwischen 
den fünf noch erhaltenen Tönen sind im ganzen vier, d.h. 

12) D.delCampana, Notizieintorno all’ uso della „siringa“ 
o „flauto di Pane“. Arch. p. l’Antropol. e la Etnol., Vol. 39 
(1909), 8. 46. 


zwei Quinten (VI—IH, I—IV, eigentlich Quart), zwei 
kleine Terzen (IV—II; II—I). Zu bemerken ist noch, 
daß sich die sechs Einzeltöne sämtlich innerhalb des Um- 
fanges einer verminderten Oktave befinden. 

2. Die zweite Panflöte (Abb. 16) gehört zu derselben 
Gruppe wie die erste, indem sie dieselbe Herkunft und 
die gleiche Konstruktion hat. Wegen Verletzung des 
I. und VI. Rohres konnten nur die Klänge der vier 
übrigen Röhren analysiert werden, deren Werte in der 
folgenden Notierung angegeben sind. 








is 
=k 


eg 


l Il m V VI 








Die Tabelle XV bringt die gewöhnlichen Daten. 
Tabelle XV. 


Intervalle 

E EELE EEE, VI. Röhre _ , 

Sy ? 
asg ausy aie Eye Taa V. > 3'⁄ Töne (vermindert) 
f = 2 TAES I. » S i Ton , 
Va SC ) E EE A 5 - 
Va o r a ai II. 5 > Ik "5 (vermehrt) 
RE Ai ie oraaa Deej 


Die unter den vier Einzelklängen noch wahrzunehmen- 
den Konsonanzen sind im ganzen drei: und zwar eine 
Oktave (V—I), eine Quint (V—IV) und eine kleine Terz 
(II—T). Zu bemerken ist noch, daß hier im Gegensatz 
zu der vorangehenden Flöte die sechs Einzelklänge dem 
Umfang zweier Oktaven gehören: denn von einem und 
demselben Oktavumfang gibt es nur vier Einzeltöne. 

3. Bezüglich der Panflöte Abb. 17 wird im Register 
unter Nr. 1471 u. a. folgendes angegeben: Länge der 
Röhren von 0,16 bis 0,44 m. Herkunft: Fidschiinseln. Von 


Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 265 





den 16 in zwei parallel verlaufenden Reihen angeord- sammenhalten der Flöte diente. Die Werte der Einzeltöne 
neten Röhren sind nur die acht der vorderen Reihe zum | ergeben sich aus der untenstehenden Notierung. — Die 
Blasen fähig, da die andere Reihe aus oben und unten ! Tabelle XVI (a.S.266) zeigt die nach ihrer zunehmen- 


; 20 
Abb. 20. Panflöte von der Insel Buka. 
16 
Abb. 16. Panflöte 


vom Fly River, 
Neuguinea. 





15 





Abb. 15. Panflöte 
vom Fly River, 
Neuguinea. 


Abb. 19. Panflöte von der 
Insel Buka. 





Abb. 18. Panflöte 
23 von der Insel 
Buka. 





Abb. 23. Panflöte der 


Abb. 21. Panflöte aus dem Mayombe, unterer Kongo. 
„Urteil des Paris“. 





22 
Abb. 17. Panflöte von den Abb. 22. Panflöte aus der Umgegend Abb. 24. Panflöte vom Amazonen- 
Fidschiinseln. von Harrar. strom. 


geöffneten Röhren besteht und wohl entweder als Reso- | den Tonhöhe geordneten Einzeltöne, sowie deren Inter- 
nator oder als ein Mittel zum besseren und solideren Zu- | valle. — Der Toninhalt dieser Panflöte, die mit den voran- 
I 18: ui _2 gehenden und den drei nächstfolgenden einem der primi- 


4 4 
= ze er tivsten Völker (Australiern) gehört, ist sicher durchaus 
& 4 [S | EEE: == wichtig. Denn hier erweisen die Werte der Einzel. 
+ 5 
I u IV v 




















intervalle deutlich die Tendenz, sich einem konstanten 
ul VI vu VIII Wert eines vermehrten Ganztones (also einer ver- 
Globus XCVIII. Nr.17. 35 


266 Baglioni: 


Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 





Tabelle XVI. Intervalle 
g ee vT Röhre — | Ton (vermehrt) 
e (2s... III] vL ? ZZ 14a» (vermindert) 
e' (— 4) . E E e S E Y: ” es A a 5 
PIPIO: e ers w. en x 
s, (S re U ” >1 ,„ (vermehrt) 
® Ra 5 nn aa GAl L ” >I%» (vermindert) 
Ma pe: 


minderten kleinen Terz) zu nähern. Es gibt kein Intervall 
vom Werte eines Halbtones. Der Umfang einer Oktave 
wird von fünf Tönen dargestellt; es verwirklicht sich 
also hier eine wahre pentatonische Tonleiter. Auf acht 
Einzeltönen finden wir dann im ganzen wohl 13 mehr 
oder minder genaue konsonante Intervalle, und zwar drei 
Oktaven (VIIL-—II; VO—II; VI—I, vermindert); drei 
Quinten (VII—V, vermindert; VI—IH; IV—I, vermin- 
dert); zwei große Terzen (VI—V, vermindert; IV—II, 
vermindert); vier kleine Terzen (VIII—VI, vermindert; 
VH-—-VI, vermindert; V—III, vermehrt; II—I, vermin- 
dert). Die zwei fundamentalen Dreiklang- Akkorde 
(Prim, Terz, Quint), die dem Toninhalt dieser Panflöte 
zugrunde liegen, sind offenbar —a—c und c—e—g. Es 
fehlt also auch hier der dritte Akkord der Dominante 
(9—h—d) zur völligen Verwirklichung der klassischen 
heptatonischen Tonleiter. 

4. Die Panflöte Abb. 18 (a.S. 265) gehört zu einer Gruppe 
von fünf Panflöten gleicher Herkunft (Salomonen, Insel 
Buka), welche im Register die Nr. 48 599 bis 48 603 tragen. 
Alle zeigen Spuren längeren Gebrauches. Drei hiervon be- 
stehen aus einem Bündel von je sieben verschieden langen 
Röhren, von denen aber nur zwei zum Blasen fähig sind, 
da die übrigen an beiden Enden offen sind. Von diesen 
drei wurde nur die hier abgebildete eine analysiert (vgl. 
die folgende Notierung). 


+15 


ge 


Das Intervall beider Einzeltöne hat wohl den Wert 
einer fast genauen Quint (vgl. Tabelle XVII). 


— 1,5 














Tabelle XVII. Intervall 
Ka 3 Da AK I. Röh 
g + w a AET N IL. =” > 3", Töne (vermindert) 


5. Die zwei übrigen Panflöten, die der obigen Gruppe 
der Salomoninseln gehören, erweisen die klassische Kon- 
struktion dieses musikalischen Blasinstrumentes. Die Pan- 
flöte der Abb. 19 (a. S. 265) besteht aus zwölf Röhren, von 
denen acht nach ihrer Länge regelmäßig geordnet sind, 
während die vier übrigen längeren nicht genau nach ihrer 
Länge eingereiht sind, wie es übrigens deutlich aus der 
Abbildung hervorgeht. Folgende Notierung zeigt die 
gefundenen Werte der Einzeltöne. 


Te +2 —2 —3 -35 —4 —5 —4 +1 —i 


EEE FeR 


I u mıIVv V VI VI VID IX X XI 




















Werden die Einzeltöne ihrer Tonhöhe nach geordnet 
und deren Intervalle ausgerechnet, so ergibt sich Ta- 
belle XVII. 

Tonanordnung und Tonauswahl vorliegender Panflöte 
erweisen durchaus wichtige Eigenschaften. Zunächst ist 
leicht zu erkennen, daß die Gesamtheit der Einzeltöne in 
zwei Abteilungen zerfällt, die voneinander durch ein 


Tabelle XVIII. 


Intervalle 
a(—4 IX. Röhre 4 Ton (vermehrt) 
Bl 9- SE 
Te (=I) rna XL py Sy i 
KA . i 
AU ER vn. ” > 3 Töne (vermindert) 
! ` ` > 1 Ton (vermehrt) 
h (—4) vL Zy 
Eaha W a ar? 
(= ” 
ous ; = 2 1v ” >1 „ (vermehrt) 
f (+2) m. == Z i (vermindert) 
ahnen Wo e S s 
a? (+0,5) Dra F 


Intervall von drei Ganztönen (etwas vermindert, X— VII) 
getrennt sind. Die Werte aller übrigen Einzelintervalle 
neigen dann deutlich zum konstanten Wert eines Ganz- 
tones. Denn es sind hiervon wohl neun, von denen fünf 
vermehrt, drei genau und eine vermindert. Es gibt nur 
ein Intervall vom Werte eines Halbtones. Die sich hier 
verwirklichenden, mehr oder minder genauen konsonanten 
Intervalle sind im ganzen 21, d. h. sechs Oktaven (IX— 
VIII; XH—VU; XI—VI, vermindert; XI—V, vermehrt; 
X— IV, vermehrt; VIII—I, vermehrt); sieben Quinten 
(IX—X; XI— VII, vermehrt; X—VJ, vermehrt; VII— 
IV; VO—II; VI—H, vermindert; V—IJ, vermehrt); fünf 
große Terzen (IX—XI, vermehrt; XII—X, vermehrt; 
VI—IV, vermehrt; V—IIL; III—I, vermindert); drei kleine 
Terzen (VII—VI, vermehrt; VI—V, vermehrt; IV—III, 
vermehrt). In dieser Flöte verwirklicht sich also eine 
fast genau abgestufte diatonische a-moll-Tonleiter, die 
von der ersten Gruppe (VII—I) der acht Röhren dar- 
gestellt ist, und deren erste vier Töne eine Oktave nie- 
driger von den vier Röhren der zweiten Gruppe wieder- 
holt werden. Der Moll-Sinn dieser Tonleiter zeigt an- 
dererseits keine scharfe Bestimmtheit, da sie infolge der 
angebrachten Alterationen der Einzeltöne nach dem Dur- 
Sinn hinneigt. Denn die Abteilung der vier tieferen Töne 
gehört entschieden zu einer Dur-Tonleiter, während die 
kleine Terz der Tonika (VIII—VI) wohl eine vermehrte ist. 

6. Die Panflöte Abb. 20 (a.S.265), die ebenfalls zur 
Gruppe der zwei vorangehenden gehört, besteht aus 14 
regelmäßig nach ihrer Länge geordneten Röhren. In der 
folgenden Notierung wurden die gefundenen Werte der 
Einzeltöne zusammengestellt. 


ie a -3 +4 
F& —FZr&R 
I u E UI 1 IV v VI VIE VE IX 


+35 —15 —35 

















-15 +2 


XIV 


Tabelle XIX zeigt ihrerseits die gewöhnlichen Daten. 














x XI XU xm 


Tabelle XIX. 
e Intervalle 
| aisi E. . XN Fe , Ton (vermindert) 
Viral! £ 16 Eh 
1. Skala et É = n >ı 2 (vermehrt) 
f* Aap 5) Kor > e 1!/%, „ (vermindert) 
(+ De A A E 
a? Ba 3 ; Wes Zn z 
cis? (+1) VIL >" „ (vermehrt) 
3 vi ” >l „ (vermindert) 
2. Skala ee ee > 
WR ara T 2 I ”’ 
Bet aSa N Le 
Mn et uU, = fo’ 
PAE wa. S 
gis’ = 1) I. 5 2» n 


Baglioni: Ein Beitrag zur Kenntnis der natürlichen Musik. 


Toninhalt und Tonanordnung auch dieser Flöte zeigen 
wichtige Merkmale. Hier schwanken die Werte der 
Einzelintervalle innerhalb weiterer Grenzen, obwohl auch 
hier ihre Mehrzahl den Wert eines Ganztones zeigt. Denn 
es gibt sechs Intervalle des Wertes eines Ganztones, von 
denen eins vermehrt, eins genau und vier vermindert. 
Die übrigen zerfallen in vier Halbtöne (einer vermehrt 
und drei genau) und in drei verminderte kleine Terzen. 
Von mehr oder minder genauen Konsonanzen gibt es im 
ganzen wohl 32, d. h. neun Oktaven (XIV—IX; XII— 
VII; XH—VI, vermindert; XII—V, vermehrt; XI—IV, 
vermindert; XI—III, vermehrt; X— II, vermindert; IX—I, 
vermehrt; VIII—I, vermindert); zwölf Quinten (XIV—XI, 
vermindert; XIII—X, vermehrt; XII—X; XI—VII; X— 
VI, vermindert; X—V, vermehrt; IX—IV, vermindert; 
IX—III, vermehrt; VII—II, vermindert; VII—II; 
VI—I, vermehrt; V—I, vermindert); drei große Terzen 
(XIV—XU, vermehrt; X—VII, vermindert; VII—IV); 
acht kleine Terzen (XMI—XII, vermindert; XI—X, ver- 
mindert; IX— VII; VII—VI, vermehrt; VI—V; VI— 
II; IV—III; H—I, vermindert). 

Der Toninhalt vorliegender Panflöte wurde demnach 
aus dem Umfang zweier aufeinanderfolgender Oktaven 
gewählt, von denen die erste (untere) durch fünf Einzel- 
töne (XIV—X) repräsentiert ist, mithin eine Art penta- 
tonischer Tonleiter wäre, während die zweite (obere) 
acht Einzeltöne bietet, indem sie zugleich diatonische und 
semichromatische Intervalle aufweist. In dieser Panflöte 
würden sich also die wesentlichen Elemente der drei 
klassischen pentatonischen, heptatonischen (diatonischen) 
und semichromatischen Tonleitersysteme vermischt be- 
finden. 

Bemerkenswert ist schließlich der Umstand, daß die 
Zusammensetzung vorliegender Flöte mit derjenigen der 
eben vorangehenden im allgemeinen übereinstimmt. Hier 
wie dort zerfällt die Gesamtheit des Toninhaltes in zwei 
Abteilungen, von denen die tiefere aus einer geringeren 
Anzahl Töne besteht; hier wie dort liegt endlich der höchste 
Einzelton zwei Oktaven höher als der tiefste. Wie aus 
der hier wiedergegebenen photographischen Aufnahme 
(Abb.21a.S.265) eines im römischen Museum Terme (Lu- 
dovisis Sammlung) sich befindlichen Hochreliefs (Urteil 
des Paris) hellenistischer Herkunft hervorgeht, scheint 
es eigentümlicherweise, daß auch die griechisch-römischen 
Panflöten nach einem Prinzip gebaut waren, das mit dem 
der zwei hier in Rede stehenden übereinstimmt, indem 
auch sie aus zwei Hauptgruppen Röhren bestehen. 

7. Die Panflöte der Abb. 22 (a. S. 265), die aus 20 glatten, 
neuen Röhren besteht und im Register die Zahl 42279 
trägt, stammt aus Ostafrika (Umgegend von Harrar). 
Die Notierung zeigt den Wert der Einzeltöne. 


+2 +05 +1 


+05 -1 —05 -15 —15 











VIE IX X 
1 Oktave 








XI XI XIM XIV 


höher 


Tabelle XX zeigt die gewöhnlichen Daten. 

Der Toninhalt dieser Flöte ist also der Umfang dreier 
unvollständigen Oktaven. Die Werte der Einzelinter- 
valle schwanken innerhalb eines Fünftels und eines ver- 
mehrten ganzen Tones, indem jedoch die Zahl der Halb- 


267 
Tabelle XX. Intervalle 
RT XX. Röhre 13 m 
fi 2) XIX. „ = dr hok eresishrt) 
1. Skala! 9, (+3)... XV „ > 1 „ (vermindert) 
a (—2).. XVIL , S y 
i? (— 2,5). XVL ? on 
E a EV „ Z a » (vermehrt) 
e® (— 1,5) XIV. , S Ya s 
ei (58) u XOL a 
d* (—2) Ib 295,00 
3 A 2 ” n 
2.8kala] 48 - - oo. I G i » (vermindert) 
(-15) . > AS 
NIE SR, a 
a° (— 0.5) vi. ? = } » (vermehrt) 
h? (— 1) VIL. „ S n 
cist (+ 0,5). Fika S ® x 
pr | » 
He HD. PL " > 1 „ (vermindert) 
8.8kala? e a AA a ES | A 
WO aaa Saa If. „ Sg 
« (+ 0,5) IL. ; Ne: 
a (+2) L „ m 


töne in den ersten tieferen neun Röhren, und die der 
Ganztöne in den übrigen weit überwiegt. 

Ich halte es für überflüssig, näher in die Tonanord- 
nung vorliegender Flöte einzugehen, da sie, aller Wahr- 
scheinlichkeit nach, für Handelszwecke und nicht zum 
wahren musikalischen Genuß fabriziert wurde. 

8. Die Flöte der Abb. 23 (a. S. 265), die aus vier Röhren 
besteht, trägt im Register unter Nr. 63 925 folgende Angabe 
bezüglich der Herkunft: Afrika, unterer Kongo, Mayombe- 
neger. Zum Unterschied von der größten Mehrzahl der 
anderen Panflöten sind hier die vier Röhren ihrer Länge 
nach abwechselnd geordnet. Die Notierung zeigt die 
gefundenen Werte ihrer Töne. 


+2 —15 +2 —3 











I I II IV 
Tabelle XXI zeigt die üblichen Daten. 
Tabelle XXI. 





Intervalle 
Z % 
dis En ARETAS = Röhre >ı Ton (vermindert) 
fs (HY. -oee m. 2 = eo (erment) 
gis (F2) è 5 e.s i i N £ 


Die vier Klänge bilden zwei konsonante Intervalle, 
deren Werte zwischen der großen und der kleinen Terz 
schwanken (IV—III ist eine sehr vermehrte kleine Terz, 
und II—I ist ebenfalls, freilich nicht so sehr, eine ver- 
mehrte kleine Terz). 

9. Die Flöte der Abb. 24 (a. S. 265) trägt im Register die 
Nr.3383 und folgende Notizen: 13 Röhren, deren Länge 
von 0,03 bis 0,14m schwankt. Herkunft: Amerika, Ein- 
geborene Brasiliens vom Amazonenstrom. Die zwei längsten 
Röhren konnten nicht zum Ertönen gebracht werden. 
Folgende Notierung zeigt die Werte der elf übrigen Röhren. 


—1 —1,25 —1 +0,5 +4 
A o 


—0,5 — 0,5 






vÆ az 
E u m IV ]|V VI VO VM|IX X XIXI XIMI 


2 Oktaven höher 1 Oktave höher 


In der Tabelle XXII wurden dann die Einzeltöne ihrer 
Tonhöhe nach geordnet, sowie deren Intervalle angegeben. 

Die den Toninhalt vorliegender Flöte zusammensetzen- 
den Einzeltöne stammen also aus dem Umfang von drei 
Oktaven her. Die Werte ihrer Intervalle schwanken 
innerhalb eines Minimums eines verminderten Ganztones 
und eines Maximums einer vermehrten großen Terz. Es 
überwiegen wohl die Intervalle eines Ganztones, deren 


35 * 


von Buchwald: Primitiver Feldbau und Arbeitsteilung. 


269 


Primitiver Feldbau und Arbeitsteilung. 


Von Otto von Buchwald. Guayaquil. 


Angeregt durch die interessanten Aufsätze des Herrn 
K. Sapper in den Heften 1 und 22 des 97. Globusbandes 
möchte ich mir erlauben, hier einige Beobachtungen aus 
dem mittleren Südamerika mitzuteilen. 

Die kleinen Horden der Jäger, die sich in den un- 
endlichen Wäldern auf beiden Seiten der Anden ver- 
teilten, hatten anfangs reichliche Fleischnahrung, zu der 
erst in zweiter Linie einige Früchte kamen. Affen, 
Schweine, Rehe, Nagetiere, Rebhühner, Truthähne und 
Fasanen gab es in großer Menge, und mit Leichtigkeit 
konnten sie erlegt werden. Das Material war zur Hand, 
Bogen, Wurfbrett und Blasrohr wurden aus Palmenholz 
gefertigt, und ein kleines Arsenal lag stets unter dem 
Dach der Hütte. 

Während die Frau die Speisen zubereitete, arbeitete 
der Mann an seinen Pfeilen, die er der Jagd entsprechend 
ganz verschieden ausarbeitete, gerade so wie zwischen 
Entenschrot und Kugel ein großer Unterschied ist. Der 
Pfeil für Bären und Affen mußte Widerhaken haben, damit 
die Tiere ihn nicht aus der Wunde herausrissen ; ebenso 
die Fischpfeile, um die Beute ans Land oder ins Kanu 
ziehen zu können. Um Papageien lebendig zu fangen, 
setzte man dem Pfeil eine umwundene Kugel auf, und 
Taubenpfeile hatten drei kleine Spitzen. 

Jagen und Fischen gehört zusammen, aber es hat 
natürlich je nach der Örtlichkeit der eine oder andere 
Zweig dieser Beschäftigungen die Hauptrolle gespielt. 
Dabei muß aber bemerkt werden, daß sich die Frauen 
am Fischfang beteiligten. Besonders wo es sich um 
Absperren des Flußarmes handelte, mußte die ganze 
Familie aufgeboten werden, um die mit Barbasco be- 
täubten Fische zu sammeln. 

So wie ich es an den oberen Flußläufen des Napo 
und Ucayali gesehen, war es schon in Urzeiten, und 
man findet dieses Jägerleben noch überall in Blüte, wo 
die Stämme weit genug auseinander wohnen, um sich 
nicht zu beeinträchtigen. 

Wo sich aber fremde feindliche Stämme eindrängten, 
wurde das Revier verkleinert, und wenn der Mann nicht 
genügend Tiere erlegen konnte, brachte er in seiner 
Tasche auch Früchte mit, um den Bedarf zu decken. 
Die Lebensmittel finden sich auch nicht überall in den 
Wäldern in gleicher Fülle, und es gibt Stellen, wo man 
verhungern kann, wenn man nichts mitnimmt. So wurden 
denn die Menschen erfinderisch, und der Küchenzettel 
vermehrte sich durch vegetabilische Stoffe, wobei man 
auch von den Nachbarn lernte und Erfahrungen zu- 
sammentrug. 

Wenn ich mir nun eine solche Hütte ohne Feldbau 
vorstelle, so muß rings umher der Küchenabfall gelegen 
haben, also auch die Kerne der Früchte und die Wurzeln 
und Zweige der anderen Vegetabilien. 

In der kleinen Lichtung keimte es bei dem heißen 
und feuchten Klima überall, und rings um die Wohnung 
fanden sich bald eßbare Früchte und Pflanzen. 

Als Guayaquil im Jahre 1896 abbrannte, waren die 
Ruinen nach dem Regen mit kleinen Obstbäumen, Kür- 
bissen, Wassermelonen und anderen Vegetabilien bedeckt, 
und die schnell umzäunten Hausplätze glichen wilden 
Gärten. So kann man auch oft im Walde den Platz 
erkennen, wo eine Hütte gestanden hat, denn aus zu 
Boden gefallenen Kernen entwickeln sich Orangen- und 
Mangobäume. 

So ist es auch schon früher gewesen, und die Be- 
wohner der primitiven Hütte werden wohl oft die ein- 


wandernde Vegetation beseitigt haben, um in der Wohnung 
Luft und Licht zu erhalten. Dabei ist es aber sehr natür- 
lich, daß sie auf die Bequemlichkeit aufmerksam wurden, 
die sich ihnen durch die Nähe der Lebensmittel bot, sei 
es nun infolge der Sorge der Frau oder des Spieles der 
Kinder; wer will sagen, wie in Tausenden von Anfängen 
das bebaute Feld im Walde entstanden ist! Soviel ist aber 
gewiß, daß auch der Mann darauf aufmerksam wurde, 
denn es war bequemer, die Lebensmittel in der Nähe 
des Hauses zu haben, als sie von weither durch den 
Wald heranzuschleppen. Darum habe ich auf dieser Seite 
Südamerikas auch fast nur Männer bei der Feldarbeit 
getroffen; daß aber der Frau das Dasein leicht gemacht 
wurde, soll durchaus nicht gesagt sein. Sie holte das 
Wasser in einem Stück Bambus, in einer Kalabasse oder 
einem Topf; sie suchte das Holz zum Kochen, was in 
dem feuchten Walde mitunter gar keine leichte Arbeit 
ist; sie holte die Vegetabilien aus dem Felde, das sie 
mit den Kindern von Unkraut säuberte. Das konnte ja 
auch nicht anders sein, denn die Hauptsache blieb die Jagd, 
und der Mann streifte im Walde umher. Kam er dann 
ermüdet nach Hause, so verlangte er das Essen, dann 
ruhte er aus und fing wieder an, seine Pfeilspitzen aus 
Rohr zu schnitzen. War die Jagd aber nicht ergiebig 
genug, mußte er Bäume fällen und die Pflanzung vor- 
bereiten. Das Abholzen war mit Stein- oder Kupferaxt 
eine mühevolle Arbeit, denn die Bäume mußten geringelt 
und mit Hilfe des Feuers einzeln oder in Gruppen gefällt 
werden. Im ersten Jahre war im Urwald wohl selten 
an ein Abbrennen der Rodung zu denken, und erst im 
zweiten Jahre konnte, mit Hilfe des abgehauenen Nach- 
wuchses, Feuer angelegt werden. Dabei blieben die 
dicken Stämme immer noch liegen, und zwischen ihnen 
begann die Pflanzung. 

Das erste Werkzeug war der Pflanzstock, wie er 
noch jetzt an der Küste von Ecuador und in den Wäldern 
von Peru angetroffen wird. Der hiesige Arbeiter, 
welcher Rassenmischung er auch angehöre, kennt nur 
Pflanzstock, Waldmesser und Axt. Allen Neuerungen 
setzt er passiven Widerstand entgegen, und das geht 
so weit, daß zum Ausheben von Entwässerungsgräben 
Leute aus dem Hochlande genommen werden, die mit 
der Schaufel umzugehen wissen. Mit dem Pflanzstock 
pflanzt er Mais, Reis, Bohnen usw. 

Der Grabstock existiert nicht, denn um Yuca, Zucker- 
rohr oder Kakao zu pflanzen, bedient der Arbeiter sich 
des Waldmessers, mit dem er kleine Löcher macht, um 
den Samen in die aufgelockerte Erde zu stecken. Erst 
vor wenigen Jahren wurde der Pflug in den Zuckerrohr- 
plantagen, unter vielfachem Widerspruch der Eigentümer, 
eingeführt. 

Ich kann den Hackbau durchaus nicht für primitiv 
erklären, denn unendlich lange Zeiträume und viele 
Errungenschaften müssen zwischen dem Pflanzstock- 
und dem Hackbau liegen. 

Sowohl im Reiche der Inkas wie in dem der Chimus 
war Hackbau allgemein. Wo die Chimus an der Küste 
vorgedrungen sind, finden wir in den Gräbern kupferne 
Hacken, deren Gebrauch bei den heutigen Bewohnern in 
Vergessenheit geraten ist. Es wird sich also wohl um 
eine Unterbrechung der Einwanderung zur Zeit der 
letzten Inkas handeln. 

Da aber, wo die Herren von Tahuantinsuyu ihre 
Kolonisten festsetzten, finden wir noch heute den Hack- 
bau neben dem modernen Pfluge, der allerdings nur aus 


270 


einem krummen Holz, Deichsel und Keil besteht, um den 
Tiefgang der angebundenen Spitze zu bestimmen. Dabei 
möchte ich bemerken, daß die Baumstümpfe in der Rodung 
keineswegs entfernt zu werden brauchen. Man hebt den 
Pflug darüber hinweg, und wenn die Spitze an einer 
Wurzel hängen bleibt, so wird sie mit Axt oder Wald- 
messer abgehauen. Nur in Zuckerrohrplantagen wird 
regelrecht gerodet, weil man mit schweren Pflügen 
arbeitet. 

Die Hacken der Kolonisten des Inkareiches waren 
aus Kupfer. doch findet man daneben auch Stein, wo 
es an Metall fehlte. Diese Steinhacken werden viel- 
fach mit den Steinäxten verwechselt, weil sie ihnen 
ähnlich sind und an den Hakenstock (Kuti = um- 
wenden) angebunden wurden, um Kartoffeln und Mais zu 
häufen. . 

Ob die höher stehenden Völker diese Errungenschaften 
bei ihrer Einwanderung mitgebracht haben, wird wohl 
erst durch weitere Untersuchungen nachgewiesen werden 
können, und ich möchte hier vorläufig nur auf die längst 
bekannten großen Kulturunterschiede hinweisen. 

Wenn wir nun von den Waldbewohnern zum Strande 
des Meeres gehen, so finden wir statt der Jäger eine 
Fischerbevölkerung. Das Haus besteht aus Schilfmatten 
und steht auf trockenem Sande. Die ganze Nahrung 
liefert ursprünglich das Meer mit seinen Fischen, Krebsen, 
Muscheln usw., und dazu kommt als einzige vegetabilische 
Nahrung der Seetang (Kóchay-yúyu) Ein breiter 
Streifen unfruchtbaren Dünenlandes trennt die Fischer 
von dem fruchtbaren Alluvialboden. 

Die Fischerei auf hohem Meer war Sache der Männer, 
die auf ihren Schilfbooten hinausfuhren, während Frauen 
und Kinder alles übrige am Strande sammelten, um 
selbst bei schlechtem Fange auf See Lebensmittel zu 
haben. Kam der Mann nach Hause, so schleppten Frau 
und Kinder die Beute nach der Hütte, wo sie aus- 
genommen, gesalzen und getrocknet wurde. 

Aus den Burgen aus Luftziegeln im Lande der 
Yungas sehen wir aber, daß der Aufenthalt am Strande 
oft durch Piraten gefährdet wurde. Die Fischer mußten 
sich also zeitweise vom Strande zurückziehen und fanden 
dann in den halb ausgetrockneten Flüssen nicht die 
nötige Nahrung. Anderenteils war die Jagd auf Land- 
tiere gering und die Fähigkeit als Jäger weniger aus- 
gebildet. So genügten ihnen die Tauben und Rehe 
nicht, und sie waren dann auf den Ackerbau angewiesen. 
Zu welcher Vollkommenbheit es aber dieses Volk mit seinem 
Hackbau gebracht, beweisen die alten Bewässerungs- 
gräben und Furchen auf längst ausgedörrten Feldern. 
Die Hauptfrucht war der Mais, der nicht gemahlen, 
sondern geschält ganz gekocht wurde (mote) und neben 
dem Fisch noch heute die Hauptnahrung dieser Indianer 
ausmacht. Da aber die Felder zu weit vom Strande des 
Meeres entfernt lagen, so muß sich schon früher eine 
Teilung der Arbeit gebildet haben und damit ein 
Handel mit Mais und Fischen. 

Wenn wir uns nun das Besitztum einer primitiven 
Familie vorstellen, so müssen wir vor allem bedenken, 
daß es Gemeingut war, in dem dem Manne als Haupt 
der Familie der Löwenanteil gehörte. Ein Reservat der 
Frau habe ich nicht gefunden und ebensowenig ein 
Gärtchen, das schon auf höheren Grad der Kultur und 
vielleicht Rassenneigung schließen läßt. Der Platz des 
Hauses war auch häufig für Pflanzungen nicht geeignet, 
weil bei der Auswahl ganz andere Rücksichten genommen 
werden mußten als bei dem Felde. 

Die Feldarbeit an dieser und jener Seite der Cordillere 
war Männerarbeit, doch half die Frau beim Reinigen 
und Ernten, 


von Buchwald: Primitiver Feldbau und Arbeitsteilung. 


Wenn auch stellenweise die |Feldarbeit die Haupt- 
sache wurde, so pflegte man die'Jagd doch nicht ganz 
zu vergessen. 

Bei den Yumbos am oberen Napo fand ich, daß sie 
drei Häuser und ebensoviele Felder (Karu-Tambo = 
Karu, fern, und Tambo, Wohnung) haben, die voneinander 
entfernt liegen. Die Jagd ist ebenso geringfügig ge- 
worden, daß man alles Getier als Lebensmittel betrachtet. 
Ratten, Raubvögel, Faultiere und die kleinsten Vögel 
werden gegessen, und man verläßt die Wohnung während 
mehrerer Monate, damit sich wieder neue Tiere dort an- 
sammeln. Alle vier Monate wird gewechselt, und ein 
Fest mit berauschenden Getränken bezeichnet den Ein- 
tritt in die neue Wohnung. Chontaruro (Guillema sp?) 
und weißen Kakao (Theobroma bicolor) läßt man in der 
Rodung stehen, weil sie Nahrung bieten, das übrige wird 
mit Mais und Yuca (Manihot aipi) bepflanzt, ehe man die 
Wohnung verläßt. 

Bei fortschreitender Kultur wurde die Jagd aber mit- 
unter fast ganz vergessen, und es steigerten sich die 
Bedürfnisse der vegetabilischen Nahrung. Sowohl bei 
den Inkas als auch bei den Yungas mit ihrem Hackbau 
trat eine veränderte Lebensweise ein. Das Haus blieb 
natürlich dort, wo die Beschaffung des Wassers am 
leichtesten war, aber die Felder entfernten sich je nach der 
Qualität des Bodens. Der Mann arbeitete draußen, und 
die Frau brachte ihm Essen und Chicha nach dem Felde; 
wie noch heute, so vor langen Jahren, wie die Krüge 
und Schalen in den Begräbnissen beweisen. 

Die Lasten in der Nähe des Hauses, an das sie schon 
die Familie band, trug die Frau, nach auswärts aber 
der Mann. So sah ich die Frauen von Papallacta (auf 
dem Wege zwischen Quito und dem Napo) mit Körben 
voll Bohnen und Arracacha zwischen dem Dorf und den 
Feldern im Tale verkehren. Die hölzernen Schalen und 
Löffel aber zum Verkauf in Quito trugen die Männer, 
die es nicht gern sehen, daß ihre Frauen die spanische 
Sprache erlernen. 

Bei den von den Yungas abstammenden Stämmen ist 
der Ackerbau so intensiv, daß zweimal je nach der 
Jahreszeit verschiedene Arten Mais gesät werden. Ja 
bei einigen tritt sogar ein sechsmonatlicher Wohnungs- 
wechsel mit verschiedener Kultur im Hoch- und Tief- 
lande ein. 

Wir finden also, daß bei den Völkern der Cordillere 
der Ackerbau von den Männern besorgt wird und die 
Frau höchstens bei der Ernte hilft. Töpfe habe ich 
ebenfalls nur von den Männern anfertigen sehen. Dagegen 
ist Kochen, Spinnen und Weben Frauenarbeit. 

So komme ich denn zu der sozialen Stellung der 
Frau, die ich unter Bezugnahme auf einen kleinen 
Artikel in Nr. 22 des 97. Globusbandes besprechen möchte. 

Ich glaube, daß die karaibischen Stämme von denen 
der Westseite strenge getrennt werden müssen. Wenn 
die Frauen, besonders bei den Nordkaraiben, so ver- 
schieden von den Männern waren, so kommt das doch 
wohl nur daher, daß sie zu anderen, höher entwickelten 
Stämmen gehörten. Die Karaiben töteten eben die 
Männer und behielten die Frauen, die natürlich ihre 
Sprache bewahrten. Daher die häuslichen Kenntnisse 
der Frauen und ihre niedrige Stellung den Männern 
gegenüber. Sie waren eben kriegsgefangene Sklavinnen. 

Bei den andinischen Stämmen war die Stellung der 
Frau weit besser, und die Mutter und Großmutter wurden 
hoch geehrt. Ja, die Frauen konnten mitunter einfluß- 
reiche Stellungen einnehmen, wie aus der Sage von Manko 
Kapak und seinen vier Schwestern zu ersehen ist. 

Die Frau hat im allgemeinen eine passivere Stellung 
als der Mann, allein wenn man bedenkt, daß sie im 


Der Fischfang der Eingeborenen an der mauretanischen Küste. 


Walde, wenn der Mann auf der Jagd war, ihre Kinder 
zu verteidigen hatte, so kann man sich die Entwickelung 
des entschlossenen Kampfes wohl vorstellen. Eine der 
Schwestern von Manko Kopak jagte mit ihrer brutalen 
Kampfweise den Feinden blinden Schrecken ein, und 
eine andere Frau verteidigte Cuzco gegen die Chankas. 
Von einer Frau vom Maranon, die einem Panther das 
Rückgrat mit dem Ruder zerschlug, nachdem er ihrem 
Manne das Bein zerbissen hatte, hörte ich ebenfalls 
erzählen. 

Solcher Beispiele ließen sich wohl noch mehr auf- 
zählen, und ich glaube, daß die indianische Frau sich 
unter Umständen wohl am Kampfe beteiligen kann, wie 
Orellana berichtet, zumal wenn sie Mann und Kinder 
bedroht glaubt. 

Trotzdem zweifle ich an dem historischen Grunde 
der Amazonensage. Es gehörte eben zu dem Charakter 
der Spanier jener Zeit, profane und religiöse Sagen der 
Alten Welt auf Amerika zu übertragen, das ja nur die 
Atlantis war, die einst bis nach Spanien gereicht haben 
sollte. Auf andere Weise konnten sie sich die Ver- 
breitung des Menschengeschlechtes seit Noah nicht er- 
klären. 

Wer die ersten Kapitel zur Geschichte des Inka- 
reiches von Pedro Sarmiento de Gamboa (ed. R. Pietsch- 
mann) liest, kann sich einen Begriff davon machen, wie 
man damals Geschichte schrieb und mit der Genealogie 
der Völker umging. 

Was nun gar die Verbindung der Sonnenjungfrauen 
mit der Amazonensage betrifft, so scheint mir das doch 
recht bedenklich. Die Sonnenjungfrauen waren keines- 
wegs Nonnen nach europäischen Begriffen. Sie hießen 


271 


Aklla, d. h. Auserwählte, die allerdings im Sonnendienst 
tätig waren, aber nur so lange, bis der Inka sie in 
seinen Harem aufnahm oder sie als Preis an seine Heer- 
führer verteilte. Das wurde beiderseits als hohe Ehre 
angesehen. 

Nun wird allerdings berichtet, daß Anko Ayllo, Heer- 
führer der Chankas, der unter Pachakutek focht, mit 
seiner Mannschaft in die Wälder nach Rupa-rupa (rupa 
— heiß) entflohen sei, und daß man nicht wieder von 
ihm gehört habe. Wie aber Sonnenjungfrauen in jene 
Gegenden zwischen Chachapoyas und Guanuco gekommen 
sein sollen, ist mir nicht klar. Wie gesagt, Orellana 
wird wohl kämpfende Frauen gesehen haben, und die 
üppige spanische Phantasie jener Zeit hat das übrige 
hinzugedacht. 

Was aber die Sonnenjungfrauen betrifft, so haben 
sie jedenfalls Bedeutung für die soziale Stellung der 
indianischen Frau im Reiche der Inkas. 

Wenn ich die durch die spanischen Encomindas ver- 
tierten Indianer des Hochlandes ausnehme und die 
Frauen der andinischen Stämme betrachte, wie ich sie in 
langen Jahren auf Reisen beobachtet habe, so finde ich, 
daß die Arbeitsteilung und soziale Stellung eine durch- 
aus angemessene ist. 

Mit dem Ackerbau hob sich die Stellung der Frau. 

Am Maranon erinnere ich mich, die Tochter des letzten 
Kaziken gesehen zu haben, die mit souveräner Würde 
ein Dutzend Männer beherrschte, und an der Küste 
wurde ich nicht den Männern, sondern den Frauen vor- 
gestellt, deren jede die Spezialität einer Fischspeise 
kannte und von der Küche aus ihr kleines Reich 
regierte. 





Der Fischfang der Eingeborenen an der mauretanischen 
Küste. 


Die Küsten Mauretaniens sind reich an Fischen, und 
neuerdings werden sie auch von französischen Fischereidampfern 
viel aufgesueht, nachdem dort bei Kap Blanco der Hafenort 
Port-fitienne begründet worden ist. Die französische Regie- 
rung hatte außerdem im Jahre 1908 den Dozenten A.Gruvel 
und den bekannten Saharaforscher R. Chudeau nach jenen 
Küstengebieten entsandt, damit sie sie wissenschaftlich und 
wirtschaftlich untersuchten, auch das Meer im Interesse der 
französischen Fischerei. Gruvel und Chudeau veröffentlichen 
jetzt über ihre Mission ein Werk „A travers la Mauritanie 
Occidentale“ (Paris, bei Émile Larose), dessen erster Band 
„Parties générale et économique“ erschienen ist, und es sei 
hier daraus einiges von dem mitgeteilt, was sie über die 
Fischerei der Eingeborenen berichten. 

Die eingeborenen Fischer, die dort am Meere ihre Lager- 
plätze haben, heißen Imragen, was eigentlich „Muschel- 
sammler“ bedeutet. Es sind zum größeren Teil keine reinen 
Mauren, sondern Mischlinge aus Mauren und schwarzen 
Frauen. Der Beschreibung ist ein bestimmtes Fischerlager 
zugrunde gelegt, dessen Bewohner aus Haratines des Mauren- 
stammes EI-Bu-Abueni und Senaga der Uled-Hamed-Ben 
Daman') bestehen. Das Lager selbst liegt am Abhang einer 
Küstendüne nahe dem Meere. Die Hütten sind aus Straüch- 
werk, Euphorbienstengeln und ähnlichem Material errichtet 
und mit einem langen Grase bedeckt. 

Die Männer geben auf das Meeresufer acht. Haben sie 
einen Fischschwarm bemerkt, so versehen sie sich mit ihren 
Netzen, entledigen sich ihrer Baumwollenkleider und legen 
eine Art Badehose aus dickem Leder (Asefa) an, die den 
untersten Teil des Leibes gegen die Haifische schützen soll. 
Die Fischnetze sind an 2m langen Stöcken befestigt, die ihrer- 
seits wieder auf im Boden vor den Hütten steckenden Gabeln 
ruhen, damit sie trocknen. Der Fischer nimmt also den 








1) Haratines (= „Freigelassene“) sind Mauren, die einem Krieger- 
stamme eine Abgabe entrichten und sich dafür ungehindert mit 
Viehzucht, Ackerbau und Handel beschäftigen dürfen. Die Senaga 
sind wahrscheinlich die Urbewohner, doch stark gemischt, und wenig 
mehr als Sklaven der Krieger- und Marabutstämme Mauretaniens. 
(Gruvel und Chudeau, $.162 u. 163.) : 


Stock mit dem Netz und wirft sich in die Brandung, um 
watend und schwimmend in den Fischschwarm zu gelangen. 
Den Stock hält der Fischer in der einen Hand, während er 
mit der anderen das Netz ausbreitet und so viel Fisehe wie 
möglich darin einzuschließen versucht. Er geht dann mit 
seiner Beute ans Ufer und schüttet sie auf den Sand, um 
von neuem sich ins Meer hinein zu begeben und das Ma- 
növer zu wiederholen, bis der Schwarm verschwunden ist. 
Ist das Netz lang genug, so wird es auch an zwei 
Stöcken befestigt, und es arbeiten dann zwei Mann gemein- 
sam. Auch die Kinder fischen mit kleinen Netzen zusammen 
mit den Erwachsenen. Es sind äußerst geschickte Schwimmer, 
die sich in der Brandung nur mit den Füßen oben zu halten 
wissen, so daß sie mit den Händen frei zu agieren vermögen. 

Die maurischen Netze sind zum Teil aus in &St.- Louis 
gekauftem Hanfgarn, zum Teil aus einem Faden geknüpft, 
der aus einer dort sehr häufigen Asklepiadee („Titarek*, Le 
tadenia pyrotechnica) gewonnen wird. Die Schwimmer (Kita), 
2 bis 3cm breit und 6 bis 7 cm lang, sind aus gut getrockneten 
Calotropis-Stengeln geschnitten. Als Netzbeschwerer (Ida) 
benutzt man in der Gegend von Nuakschott Bruchstücke von 
Ziegeln aus dem alten Fort Marsa (dem früheren Portendick), 
anderwärts Kugeln aus gebranntem Ton. Diese ziehen den 
unteren Teil des Netzes zu Boden, während der obere Teil 
auf der Oberfläche des Wassers gehalten wird. 

Die primitive Methode gestattet den Imragen den Fang 
nur weniger Fischarten; es sind in der Hauptsache Meeräschen 
oder Seebarben: Mugil cephalus, von den Eingeborenen Asaula 
genannt, und Mugil auratus, dessen maurischer Name Agmila 
ist. Diese Arten kommen an der Küste in gewaltigen Massen 
vor und bilden mehr als drei Viertel des maurischen Fisch- 
fangs. Manchmal gehen auch Seezungen ins Netz, aber sie 
haben für die Mauren keinen Wert und werden am Strande 
liegen gelassen. Diese Abneigung gegen Plattfische findet 
sich bei allen mohammedanischen Schwarzen. Man hat das 
auf irgend welche religiöse Verbote zurückführen wollen, 
aber, wie Gruvel und Chudeau meinen, mit Unrecht. Der 
Plattfisch behagt den Mauren und Schwärzen einfach deshalb 
nicht, weil er im Verhältnis zum eßbaren Fleisch zu viel 
Gräten enthält, besonders wenn er — was ja meistens der 
Fall — getrocknet genossen wird. 

Ist der Fang wenig ergiebig gewesen, so werden alle 
Fische gleich zubereitet und im Lager verzehrt. War er 


272 


Bücherschau. 





reichlich, so trocknet man die Fische und steckt sie in be- 


sondere Säcke aus Titarekfasern. Die Frauen nehmen diese 
Säcke auf den Rücken und verkaufen oder vertauschen sie 
in benachbarten Lagern oder bei durchpassierenden Karawanen. 

Die Zubereitung der Fische ist folgende: Man entfernt 
den Kopf, öffnet den Fisch auf der Mitte und am Rücken, 
nimmt die Wirbelsäule und die Eingeweide heraus und läßt 
ihn von der Sonne auf dem Hüttendach oder auf Gesträuch 
trocknen. Salz wird dabei nicht verwendet. Solange der 
Fisch noch feucht ist, legen die Fliegen ihre Eier dort nieder; 


aber die Sonne, der Wind und die trockene Luft dörren ihn 
so schnell, daß die Maden nicht zum Auskriechen kommen. 
Diese getrockneten Fische sind bei den Mauren sehr beliebt 
und werden von ihnen so wie sie sind verzehrt. Sie rösten 
sie aber auch auf Kohlen oder kochen sie mit etwas Hirse 
oder Reis. Es findet an der Küste ein ziemlich lebhafter 
Handel mit ihnen statt. Von den Marabutstämmen sind es 
besonders die El-Bu-Abueni, die EI-Barrikallah und die 
Tendgha, die Fischlasten ziemlich überall im Innern und bis 
nach Adrar gegen Guineakorn, Hirse usw. verkaufen. 


Bücherschau. 


Leo Frobenius, Kulturtypen aus dem Westsudan. Aus- 
züge aus den Ergebnissen der zweiten deutschen inner- 
afrikanischen Forschungsexpedition nebst einem Anhang 
über Kulturzonen und Kulturforschung in Afrika. 125 8. 
mit 1 Karte u. 7 Textfiguren. (Ergänzungsheft Nr. 166 
zu „Petermanns Mitteilungen“.) Gotha 1910, Justus Per- 
thes. 8,40 M. 

Der Verfasser hat zwei Reisen nach Afrika unternommen, 
die eine vor ein paar Jahren nach dem südlichen Kongobecken, 
die zweite jüngst nach dem Französischen Sudan und Togo. 
Zwischen diesen beiden Reisegebieten klafft ein weiter Raum, 
den der Verfasser noch nicht kennt, und dem er jetzt eine 
besondere Reise, die dritte, widmen will. Nachdem er auch 
diese hinter sich hat, will er dann endlich sein ganzes Material 
verarbeiten und herausgeben. Um aber schon jetzt eine Vor- 
stellung von dem zu liefern, was er auf der Westsudanreise 
quantitativ und qualitativ gesammelt und wie er gearbeitet 
hat, ist er dem Rat wohlmeinender Freunde gefolgt und hat 
hier sozusagen einen Ausschnitt aus seinem Material vor- 
gelegt und auf gewisse seiner Schlußfolgerungen schon jetzt 
aufmerksam gemacht. 

Sicherlich hat der Verfasser, wie auch schon früher, die 
Museen, für die er sammeln durfte, um viele und interessante 
Stücke bereichert. Ob er aber auch die Völkerkunde selbst 
um so viel Tatsachen bereichert hat, wie er kühnen Mutes an- 
nimmt, darüber dürften die Meinungen auseinandergehen. 
Die Sucht zu überraschen, die Ethnologen durch neuartige 
Spekulationen zu verblüffen, äußert sich auch in dieser Arbeit 
des Verfassers. Freilich soll nicht verkannt werden, daß aus 
ihr eine gewaltige Beobachtungsfreudigkeit spricht, die auch 
keineswegs vergeblich gewesen, wenn vielleicht auch nicht 
immer richtig verwendet worden ist. Um wenigstens einen 
kleinen Begriff von des Verfassers weitreichenden Ideen zu 
geben, sei erwähnt, daß ihm eine gewisse, nicht zufällige 
Verwandtschaft des mittelalterlichen europäischen mit dem 
westsudanischen Rittertum der dortigen Epen aufstößt. Dieses 
afrikanische Rittertum stamme fraglos aus dem Libyer- und 
Berbertum; nun seien aber jene maurischen Stämme, mit 
denen seinerzeit die Krieger Karls des Großen in Spanien 
fochten, und die dem Rolandslied bekannt sind, ebenfalls 
Berber gewesen. „Es darf ferner darauf hingewiesen werden, 
daß gerade nach dem Verkehr zwischen den maurischen 
Berbern in Spanien mit den Stämmen Südfrankreichs jene 
Periode des Rittersanges und des Epos neu belebt und die Form 
ins Leben gerufen wurde, der wir den Parsival und das Ga- 
vanlied verdanken.“ Aber noch mehr: Späterer Zeit, so meint 
dann der Verfasser, mag es vorbehalten sein, darauf hinzu- 
weisen, und zu beweisen, daß die ältere Kultur Westeuropas 
und Nordwestafrikas sich auf gleicher Grundlage erhoben 
hat. — Man kann dazu nur wünschen, daß der Verfasser 
selbst noch Zeit und Gelegenheit finden möge, diesen Beweis 
zu führen; denn ihm wird er wohl am besten gelingen. 


Hoebels Karte von China. Maßstab 1:4500000. Berlin, 
Kommissionsverlag der Simon Schroppschen Landkarten- 
handlung. 6%. 3 

Diese Karte, deren Verfasser Dolmetscher des Chinesischen 

im Chinafeldzuge gewesen ist, räumt mit den bisherigen 

Transskriptionen der chinesischen Namen auf unseren China- 

karten auf. Ihnen lag der eine Dialekt von Peking zugrunde. 

Hier aber sind für die verschiedenen zahlreichen Dialekt- 

gebiete besondere Transskriptionen geschaffen worden, und da 

lag die Schwierigkeit darin, deren Geltungsbereich festzu- 
stellen. Demnach begegnen uns auf der Hoebelschen Karte für 
bekannte Orte Namen, die ganz anders wie die seither üblichen 
lauten, z. B. Hök tschiu hu statt Futschau. Der Verfasser 
hat denn auch gefühlt, daß diese Umwälzung in der Namen- 
schreibung die praktische Verwendbarkeit seiner Karte beein- 
trächtigen könnte, und deshalb häufig die pekinesischen Namen 
in grüner Schrift neben die neuen gesetzt. Ob die neue Me- 


thode Nachahmung verdient, ist vielleicht fraglich; ob der 
an sich durchaus anerkennenswerte Versuch überall gelungen 
ist, mögen Binologen entscheiden. An dieser Stelle kann die 
Karte nur vom geographischen Standpunkt aus beurteilt 
werden, und da wäre folgendes zu sagen. 

Das Gelände, braune Schummerung, läßt eine ausreichend 
durchgearbeitete Plastik vermissen, die gewaltigen Hochgebirge 
des Westens sehen ebenso aus, wie die Mittelgebirge oder 
Hügel des Ostens. Das ist um so mißlicher, als die Karte 
keine Höhenzahlen angibt; wir haben nur ein paar auf For- 
mosa entdecken können. Bei der Zeichnung des Flußnetzes 
ist des Guten zu viel getan. Die zahllosen kleinen Flüßchen 
verwirren das Auge und können im übrigen den ganz falschen 
Eindruck erwecken, als seien sie wirklich bekannt. Nirgends 
begegnet man einem gestrichelten Flußlauf, und doch sind ja 
die wenigstens aufgenommen. Andererseits ist es sehr schwer, 
auf der Karte gerade die großen Flußläufe zu verfolgen, weil 
sie zu dünn und undeutlich gezeichnet sind. Bei der Dar- 
stellung des größten Teils von China hat der Verfasser im 
wesentlichen andere, ältere Kartenkompilationen zugrunde 
gelegt; einige Gebiete, so die Mongolei und auch Teile von 
Szetschwan, hat er selber nach den Originalquellen bearbeitet, 
wobei ihm freilich doch manches entgangen ist und auch 
Fehler vorgekommen sind. Bo ist z. B. der doppelte obere 
Hoanghobogen nach Futterer richtig eingetragen, aber der 
Name Baa-Gol kommt einem südlicheren Zufluß zu. Im übrigen 
muß anerkannt werden, daß die neue Chinakarte einen sehr 
reichlichen Inhalt und viele nützliche Angaben aufweist. 8. 


Baeßler-Archiv. Beiträge zur Völkerkunde, herausge- 
geben aus Mitteln des Baeßler-Instituts. Unter Mitwirkung 
der Direktoren der ethnologischen Abteilungen des Königl. 
Museums für Völkerkunde in Berlin redigiert vonP.Ehren- 
reich. Bd.I, Heft 1 mit 4 Tafeln und 49 Abbildungen 
im Text. Leipzig 1910, B. G. Teubner. Preis des Bandes 
von 36 Bogen 20 f. 

Es ist dieses die erste Frucht, die der Ethnographie aus 
den reichen Mitteln erwächst, welche der vor zwei Jahren 
verstorbene Reisende und Ethnograph Prof. Baeßler dem 
Museum für Völkerkunde hinterließ. Unter der Redaktion 
eines bewährten Fachmannes liegt der Anfang des Archivs 
in vornehmster Ausstattung hier vor, und es ist zu hoffen, 
daß die Fortsetzung von eben so gediegenem Inhalt wie dieses 
erste Heft sein wird, das eine einzige Abhandlung, von 
Dr. Max Schmidt „Über altperuanische Gewebe mit 
szenenhaften Darstellungen“, bringt. Im wesentlichen 
benutzt sie die überreiohen Schätze, welche im Jahre 1907 
durch eine Schenkung der Gretzerschen Sammlung in das 
Berliner Museum gelangten. 

So viel auch über die merkwürdigen peruanischen Ge- 
webe schon gearbeitet wurde, die in wunderbarer Erhaltung 
aus Gräbern ans Tageslicht gelangten, so bekommen wir doch 
hier zum ersten Male reinliche Scheidungen nach der chrono- 
logischen Seite und den Stilarten, die bisher meistens über- 
sehen wurden. Auch in den Deutungen der Szenen ist 
Schmidt glücklich gewesen, und in der schwierigen Frage, 
ob ein neuer von ihm nachgewiesener Kulturkreis etwa von 
außen her zu einer unbestimmten Zeit an die Küste Perus 
gelangt sei, verhält er sich vorsichtig. Ob zu Lande oder zu 
Wasser, von Westen oder Norden kann er nicht sagen. Aber 
er schaut mit Ephraim und dem Webstuhl nach Westen. 
Das große Fragezeichen für das Eindringen einer außerameri- 
kanischen Kultur nach Amerika besteht aber fort, und am 
auffallendsten bleibt, daß bei etwaiger Übernahme einer 
hohen Webekultur so wichtige Kulturwerte wie Haustiere 
und Eisen nicht auch übernommen wurden, die doch eher 
als nützlich ins Auge fallen mußten, wie schöne Gewebe. 

Dem Verfasser in manche Einzelheiten seiner sorgfältigen 
Studien zu folgen, ist leider ohne Beigabe von Abbildungen 
nicht möglich, da diese erst das Verständnis bringen. Die 


Kleine Nachrichten. 


273 





technische Seite der Arbeit kann also ohne solche hier nicht 
erörtert werden. Schmidt faßt zunächst die figürlichen Dar- 
stellungen von Pachacamac ins Auge, bei denen von einem 
Einflusse der Inkakultur noch keine Rede ist, neben oder 
vielmehr vor welchen sich deutlich noch eine ältere Art von 
Szenen nachweisen läßt, welche mit der alten Kultur von 
Tiahuanaco übereinstimmt und auch in ihren Geweben eine 
durchaus andere Technik zeigt. Das beweisen die erhaltenen 
Stücke und auch die vorhandenen, teilweise rekonstruierten 
Webapparate. Diese ältere, schon durch Uhle betonte Tiahu- 
anacokultur zeigt als besonders typisches Kennzeichen eine 
quadratische Anordnung der einzelnen Teile der Figuren nicht 
nur in den Geweben, sondern auch auf Baumwollstoffmalereien. 
Und weiter hat Schmidt nachgewiesen, daß diese Webereien 
von Tiahuanaco nicht nur in der Technik mit jenen von Ica 
übereinstimmen, sondern daß auch die Flächenornamentik 
beider nahe verwandt ist. Dadurch ist festgestellt, daß in Ica 
und Tiahuanaco zwei alte Schwesterkulturen vorhanden waren. 

Die figürlichen Bilder der jüngeren Pachacamaczeit aber 
zeigen gegenüber dem eben erwähnten quadratischen ganz 
anderen Charakter und sind oft schwierig zu deuten. Da 
haben wir wahrscheinlich geschichtliche Darstellungen, Mythen, 
Szenen aus dem Alltagsleben vor uns, z. B. Bootfahrten (auf 
den heute noch üblichen Balsas), Fischerei, Gewebedar- 
stellungen, welche als altperuanische Bilderschrift (?) gedeutet 
werden, von der bisher kaum etwas bekannt war, wiewohl 
schon Acosta darauf hinwies. Allein die Deutungen sind 
schwierig, und Schmidt muß sich damit begnügen, die Frage 
angeschnitten zu haben. Ganz neu sind seine Nachweise von 
Bildern von Kulturpflanzen, die schematisch, aber zum Teil 
gut erkennbar, als Malerei auf Geweben vorkommen. Wir 
erkennen den Mais, die Mandioka mit den bekannten Wurzeln, 
Bohnen und anderes. Diese Pflanzungen zeigen gewöhnlich 
auch die Figuren von Feldhütern (Pariana), welche die Felder 
vor Diebstahl und Vogelschaden schützten und deren Amt 
mit einer Art von religiöser Würde verbunden war. Mit 
ihnen sind auch Mythen verknüpft, welche auf den Bildern 
zur Darstellung gelangen. 

Durch die Scheidung der verschiedenen Stile und der 
durch sie gekennzeichneten altperuanischen Kulturperioden, 
die Max Schmidt hier in die Wege geleitet hat — viel ist 
noch zu tun — sind wir in der Deutung dieser Textile um 
ein gutes Stück weiter gekommen, und die ganze Arbeit ist 
als eine glückliche Einleitung des neuen Baeßler-Archivs zu 
bewillkommnen. 


Charles P. Bowditch, The Numeration, Calendar 
Systems and Astronomical Knowledge of the 
Mayas. 340 S. mit 19 Taf. Cambridge 1910. 

Seit dem- Tode des Nestors der Mayaforschung, Ernst 
Förstemanns, schien dieser Zweig der Amerikanistik etwas 
vernachlässigt zu sein, da sich das Interesse der Forscher 
anderen, im Augenblicke wichtigeren Aufgaben zugewandt 
hat. So sehr sich auch in den letzten Jahren der Kreis der 
Amerikanisten vermehrt hat, so sind doch diejenigen, die 
sich ernsthaft mit dem Problem der Entzifferung der Maya- 
hieroglyphen beschäftigen, nur wenige. Ihre Anzahl scheint 
eher ab-, als zuzunehmen, ein Umstand, der selbst wieder 
nur dazu beiträgt, das Interesse an diesem Wissenszweig er- 
lahmen zu lassen, das nur durch die Mitarbeit mehrerer 
Forscher wach erhalten und gefördert werden kann. Seit 
dem „Primer of Mayan Hieroglyphics“ von Daniel G. Brinton 
ist etwas Zusammenfassendes über die Mayahieroglyphen 
nicht mehr veröffentlicht worden, obwohl durch die Arbeiten 
von Seler, Förstemann, Schellhas, Bowditch, Goodman, 
Tozzer, C. Thomas manche Probleme in vielen Einzelheiten 
sogar gelöst worden sind. Freilich macht sich eine gewisse 
Stagnation der Forschung fühlbar, weil das Vergleichsmaterial 
beinahe erschöpft ist, wenigstens was die drei Mayahand- 
schriften in Dresden, Paris und Madrid anlangt, Zu denen 
keine weitere sich auffinden lassen will. 

Andererseits ist das Studium der Steininschriften noch 
über die chronologische Entzifferung der Initial Series kaum 
hinausgekommen; ein Vergleich zwischen diesen und den 


Handschriften stößt auf außerordentliche Schwierigkeiten 


und ist in vielen Fällen ergebnislos.. Dinge nur aus diesen 
selbst heraus erklären zu wollen, ist meist eine Unmöglich- 
keit. So liegt es mit den Hieroglyphen der Mayahandschriften, 
obwohl uns ihr bildlicher und rechnerischer Inhalt im wesent- 
lichen geläufig ist. 

Die absurden Entzifferungen Brasseur de Bourbourgs 
sind inzwischen so gut wie vergessen worden, seitdem Förste- 
mann seine Kommentare zu den genannten drei Hand- 
schriften am Abend seines hochbetagten Lebens geschrieben 
hat. Die praktischen Amerikaner haben im 28. Band der 
Bulletins des Bmithsonian Institution 24 Aufsätze verschiedener 
deutscher Autoren unter der Aufsicht von Oharles P. Bow- 
ditch in englischer Übersetzung, Washington 1904, gesammelt, 
die zumeist Mayaforschungen betreffen. 

Es lag das Bedürfnis vor, den jetzigen Stand der Maya- 
hieroglyphenforschung zu schildern, und es ist unstreitig ein 
großes Verdienst, das sich der Verfasser erworben hat, in- 
dem er einen Teil dieser Aufgabe erschöpfend behandelt 
hat in einem Werke, das hoffentlich neue Jünger dieser 
jungen Wissenschaft zuführen wird. Es ist ganz unmöglich, 
hier auf alle Einzelheiten einzugehen, da das ganze Werk 
eine Summe unzähliger Einzeltatsachen ist, die mit großem 
Fleiß und in wohltuender Übersichtlichkeit angeordnet sind. 

Was die Planeten (8.225 ff.) anlangt, so sind die von 
Förstemann eruierten Zeichen dafür bis auf die Venus zweifel- 
haft. Vielmehr scheinen sie zusammenzuhängen mit gewissen 
Hieroglyphen aus Chichen Itza, die nach Seler (Verhdlg. XVI. 
Int. Am.-Kgr. Wien 1909, S. 158 ff.) Konjunktionen des 
Planeten Venus mit verschiedenen Sternbildern darstellen. 
Ich stimme auch dem Verfasser bei, wenn er (8.227) die 
Deutung des Förstemannschen Saturn im Cod. Dresd. ab- 
lehnt. Verfasser verwirft auch (8. 212) die Merkurperiode, 
aber, wie ich glaube, mit Unrecht. Die synodische Umlaufs- 
zeit dieses Planeten, die von den Astronomen mit 115 Tagen 
21 Stunden berechnet wird, kommt den 115 Tagen des Codex 
Dresdensis Bl. 51 und 52 immerhin nahe. Man darf daher 
an einer mit 12 lamat beginnenden Merkurperiode wohl 
noch vorläufig festhalten. 

Was den Planeten Mars anlangt (8.229 und 8.235), so 
müßte namentlich die wichtige und merkwürdige Reihe auf 
Bl. 43 und 44 des Codex Dresd. herangezogen werden, die 
mit 3 lamat 6 zo’tz beginnt und die Differenz 780 aufweist. 

An der Richtigkeit der Hieroglyphen der vier Himmels- 
richtungen und der vier entsprechenden Farben (S. 249) kann 
füglich nicht mehr gezweifelt werden. 

Im Appendix I, 8. 263 werden die Bedeutungen der 
20 Mayatageszeichen nach verschiedenen Autoren gegeben, 
die aber meist unrichtige Vermutungen enthalten. Seler hat 
diesen Gegenstand jedoch ganz ausführlich (Ges. Abhdig 
Bd. I, 1902, 8. 449 bis 500) behandelt und namentlich die 
Etymologien grundlegend festgestellt. Es ist zu verwundern, 
daß Brasseur de Bourbourg, Brinton uud Schellhas hier als 
Autoren zitiert werden und Seler mit Stillschweigen über- 
gangen wird. 

Auch die Bedeutungen der 18 Monate sind vielfach 
falsch oder ungenau. So ist, um einiges richtig zu stellen, 
yaxkin („die grüne Sonne“) „das erste Fest“, nämlich nach 
dem vorhergehenden Monat xul „Schluß“, in den früher das 
Jahresende fiel. Mac bedeutet „Grenze, Absperrung“. Moan 
ist ein Wolkendämon, was aus dem Ackersegen von Xconcha- 
kan bei Brasseur hervorgeht (vgl. oxlahun taz muyal „die 
13 Schichten der Wolken“). Aus der Vorstellung des Ver- 
hüllten, Dunkeln entwickelte sich vermutlich die Idee des 
Todes und des mit Todessymbolen ausgerüsteten Moan-Vogels. 
Kayab bedeutet ursprünglich „womit man singt“, cumku 
enthält etymologisch vielleicht cum „Topf“; die Hieroglyphe 
scheint jedenfalls Lebensmittel in einem Topf anzudeuten. 

Auf den beigefügten Tafeln werden die Varianten der 
bekannteren Hieroglyphen, wie der 20 Tageszeichen, der 
18 Monate, der Zyklen, katun, tun, uinal und kin, der Zahlen 
in Balken und Punkten sowie in Köpfen usw. nach den Hand- 
schriften und Steinmonumenten abgebildet. 

Dr. Walter Lehmann-München. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Auf der diesjährigen Versammlung deutscher Natur- 
forscher und Ärzte, im September in Königsberg i. Pr., sprach 
Filchner über seine geplante Südpolarexpedition. Seine 
Mitteilungen hat er der Zeitschrift der Berliner Gesellschaft 
für Erdkunde übergeben, wo wir sie in Nr. 7 abgedruckt 


finden. Das Neue darin sei hier kurz verzeichnet und mit 
ein paar Bemerkungen begleitet. 

Dadurch, daß Filchner und Scott sich möglichst in die 
Hände arbeiten wollen, ist die anfangs ins Auge gefaßte Ent- 
sendung eines zweiten Schiffes überflüssig geworden, so daß 


274 


Kleine Nachrichten. 





die Kosten des Filchnerschen Unternehmens sich auf 1200000 f 


ermäßigen. Die Hälfte davon ist durch Zeichnungen bereits 
gedeckt. Filchner hat auch schon das Expeditionsschiff an- 
gekauft, nämlich den Sandefjorder Walfänger „Björn“, und 
es in Christiania ins Dock gebracht. Das Schiff, das künftig 
den Namen „Deutschland“ führen wird, ist 56m lang und 
10'/,m breit, hat einen Gehalt von 527t brutto und 277t 
netto und eine Segelfläche von 7000 Quadratfuß. Die Maschine 
hat 400 Pferdekräfte, und das Schiff kann bei voller Fahrt 
7 Knoten laufen. Zurzeit wird das Innere den Zwecken 
der Expedition entsprechend umgebaut, im Dezember wird 
das Schiff in Hamburg zur Verfügung stehen. Als Kapitän 
ist der Norweger Jörgensen gewonnen worden, sämtliche 
anderen Teilnehmer — im ganzen etwa 25 Mann Besatzung 
und 10 Mann wissenschaftlicher Stab — werden Deutsche sein. 

Die Ausreise soll „im Frühjahr“ 1911 erfolgen, wohl des- 
halb so früh, damit für die geplanten Meeresforschungen auf 
der südamerikanischen Seite des Atlantischen Ozeans etwas 
Zeit bleibt. Man wird dann Buenos Aires und Südgeorgien 
anlaufen und über die Sandwichinseln in das Weddellmeer 
vorstoßen, dessen Tiefenverhältnisse weiter untersucht werden 
sollen. Die Landung wird südlich von Coatsland angestrebt 
werden, wo Filchner seine Basisstation entweder auf dem 
Lande oder aber auch, wenn solches nicht erreicht werden 
kann, auf dem Eise errichten will. Bezüglich des Schlitten- 
vorstoßes zur Entscheidung der Frage des Zusammenhanges 
zwischen Ost- und Westantarktika sagt Filchner: „Über die 
Richtung des Schlittenvorstoßes ergeben sich zwei Möglich- 
keiten: Entweder wir finden Anhaltspunkte für den an- 
genommenen Meeresarm zwischen Ost- und Westantarktika, 
so verfolgen wir diesen, und ein Zusammentreffen mit Scott 
gewinnt an Möglichkeit, da wir naturgemäß in derselben 
Jahreszeit vorgehen werden. Oder aber es ergibt sich, daß 
Coatsland mit Grahamland in Verbindung steht, so unter- 
suchen wir diese und stellen diese fest, indem wir jedoch 
unter allen Umständen weit nach Süden vorzustoßen trachten, 
um den Anstieg des Binneneises festzustellen.“ 

In dieser Außerung fällt auf, daß Filchner und Scott 
„naturgemäß in derselben Jahreszeit“ vorgehen werden. Auf 
ein solch gleichzeitiges Vorgehen verweist auch eine andere 
Bemerkung Filchners: „Scott dringt von der Roßsee, ich von 
der Weddellsee aus vor. Begegnen wir uns dabei, so gehen 
Leute von Scott mit mir nach der Roßsee und Leute von 
mir mit Scott nach der Weddellsee. So entwickelt sich ein 
Durchstoß beider Expeditionen ganz von selbst.“ Dieses Über- 
einkommen im Falle einer Begegnung ist deshalb getroffen 
worden, damit jede Schlittenexpedition die Depots der anderen 
benutzen kann. Da nun Scott seinen Schlittenvorstoß pol- 
wärts im Oktober 1911, jedesfalls mit Beginn des Südsommers 
jenes Jahres, antritt, so müßte Filchner bei einem „natur- 
gemäß gleichzeitigen“ Vorgehen das ebenfalls tun, er müßte 
also sofort nach der Landung auch mit seinem großen Schlitten- 
vorstoß beginnen. Dergleichen ist bei antarktischen Expe- 
ditionen noch nicht vorgekommen, und es will uns sehr fraglich 
erscheinen, ob Filchner so früh im Südwinter 1911/12 landen 
kann, daß er noch für seine große Schlittenreise die nötigen 
Vorbereitungen treffen und sie durchführen kann. Sollte es 
möglich sein und dieses Programm wirklich zur Ausführung 
kommen, so würde die Filchnersche Expedition wahrschein- 
lich keine Überwinterung in den Antarktis durchmachen und 
schon Anfang 1912 zurückkehren. Auf jeden Fall wird 
Filchner sein Schiff bei der Basisstation zurückhalten müssen, 
denn die dort eventuell eintreffenden Mitglieder der Scott- 
schen Schlittenexpedition werden doch wohl gleich heimkehren 
wollen. Über diese Angelegenheit wird vielleicht später noch 
einiges zu sagen sein. 

Aus Filchners Vortrag sei schließlich noch erwähnt, daß 
er außer Hunden auch mandschurische Ponies und drei Eis- 
kraftwagen, diese besonders zum Legen rückwärtiger Ver- 
bindungen, mit sich nehmen will. 


— Eine neue europäische Verkehrslinie. Eine 
Frage von wirtschaftsgeographisch höchster Bedeutung wurde 
am 9. Oktober zu St.’ Johann i. T. wiederum angeschnitten. 
Unter dem Vorsitz des Präsidenten des österreich-ungarischen 
Abgeordnetenhauses, Dr. Pattay, in Gegenwart der Vertreter 
aller österreichischen Kronländer und der Handelskammern 
wurde der Beschluß gefaßt, nachdrücklichst darauf zu dringen, 
daß dieSaalachtalbahn gebaut werde. Sie bedeutet für den 
Verkehr Wien—Innsbruck eine Abkürzung von 97 km oder 
zwei Stunden Fahrtzewinn, die zu gleicher Zeit auch dem 
internationalen Verkehr Konstantinopel—Paris, Warschau— 
Paris, Wien—Italien und Wien—Lindau zugute kommen. 
Diese Parallelbahn zur Giselabahn, die bekanntlich eingleisig 
und technisch auf die Dauer für den Weltverkehr unzulänglich 
sein wird, berührt die Orte Salzburg, Bad Reichenhall in 


Bayern, Lofer und St. Johann einerseits, Bad Reichenhall, 
Lofer und Saalfelden mit Anschluß an die Tauernbahn 
andererseits. Die Strecke beträgt 53 + 22km und würde 
bei zweigleisigem Bau einen Kostenaufwand von 283450000 
Kronen erfordern, im Gegensatz zu den 42 Millionen Kronen, 
die die sonst notwendige Herstellung eines zweiten Gleises 
der Giselabahn kosten würde. Infolge der Fahrtabkürzung 
wäre die Strecke Wien—Innsbruck in 9 Stunden, Wien— 
Zürich in 17'/, Stunden zurückzulegen. 

Strategisch würde die Bahn insofern eine wertvolle Hilfe 
bedeuten, als im Falle eines Krieges die Reichenhaller Bahn 
den internationalen Personenverkehr aufrecht erhalten könnte, 
während die Giselabahn ausschließlich zu militärischen 
Zwecken Verwendung finden könnte. Von Interesse ist des 
weiteren der Umstand, daß die ueue Bahnlinie der uralten 
Reichsstraße Wien—Bad Reichenhall— Innsbruck folgen würde, 
auf der auch, als dem kürzesten Wege, das Automobilwett- 
rennen von 1905 Paris—Wien stattfand. 

Außer für den internationalen Verkehr gewänne die 
Linie auch für Österreich durch den engen Anschluß der 
Kronländer Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Böhmen 
und Tirol, Vorarlberg an immenser Bedeutung. Für Bayern 
bedeutet die Erschließung des Saalachtales, an dem der welt- 
berühmte Luftkurort Bad Reichenhall liegt, insofern einen 
großen Vorteil, als bei Reichenhall ein großer Stausee zur 
Ausnutzung der Wasserkräfte der Saalach errichtet wird und 
damit neue Abnehmer für die Elektrizität gewonnen werden. 

. Dr. C. C. Hosseus. 


— Neue prähistorische Karstfunde. Vor einigen 
Monaten gaben wir Nachricht von den wichtigen Entdeckungen 
auf prähistorischem Gebiete, die Herr Peter Savini in der 
„Fliegen -Grotte“ unweit 8. Kantian gemacht hatte. Unter 
vielen anderen Objekten wurde damals ein vollständig er- 
haltener Helm mit italo-etruskischer Inschrift gefunden, der 
die Aufmerksamkeit der Archäologen erregte. Vor kurzem 
setzte Herr Savini die Arbeiten in der tiefen Grotte fort und 
seine Mühen wurden durch die Ausgrabung eines reichen 
prähistorischen Depotfundes belohnt. Der Fund ist so groß- 
artig, daß in drei Wochen Arbeit 4000 Stücke ans Licht 
gefördert werden konnten. 

Unter diesen sind in großer Zahl Waffen aus Bronze; 
Lanzenspitzen, Paalstab, Kelte, Axtmesser, halbmondförmige 
Sicheln, Bronzeschwerter, Dolche, kurze Schwerter wurden an 
die hundert gefunden. Die Lanzenspitzen mit Hohlrinne sind 
am zahlreichsten und sehr verschieden in der Form und 
Ornamentierung. Nicht weniger häufig sind Schmuckgegen- 
stände. Die Armbänder sind meist einfach spiralig oder schnur- 
artig; einige sind verziert und von sehr schwerfälliger Arbeit, 
ihre Rundung kann sich nur an sehr dünne Hände schmiegen. 
Die Ringe sind meist zylindrisch und geschlossen. Es fehlen 
auch nicht Fibeln, Haarnadeln und Stecknadeln. Einige 
Schwertblätter wurden im rohen Zustande oder in der ersten 
Bearbeitung gefunden, was zur Annahme führen würde, daß 
diese tiefe Höhle eine Werkstatt war, in der die Bronze 
geschmolzen und verarbeitet wurde. Unter den vielen 
gefundenen Gegenständen gibt es auch einige von Eisen: 
wie Lanzenspitzen und Nägel. Von Artefakten aus Knochen 
ist nur ein einziges Stück gefunden, gearbeitet nach Art 
eines Pfriemens. Ebenso selten sind Gefäßreste aus Ton, 
bestehend in einigen Bruchstücken von aus freier Hand 
gearbeiteten Gefäßen, deren Ton mit wenigen Quarz- und 
Kalkspatkörnchen gemischt ist, unvollständig gebrannt oder 
an der Sonne getrocknet. Die Verzierung solcher Gefäße ist 
sehr einfach, entweder auf einfache erhabene Wülste beschränkt, 
oder auf umlaufende Finger- oder Fingernageleindrücke, oder 
mit einem spitzen Werkzeuge herbeigeführte Eindrücke. Die 
Prüfung der Funde durch den Finder ergab nach seinem 
Dafürhalten, daß sie aus der Übergangsperiode der vor- 
geschichtlichen zur geschichtlichen Zeit stammen dürften. 
Sämtliche Funde werden der prähistorischen Abteilung des 
k. k. Naturhistorischen Hofmuseums einverleibt. 

Triest, im September 1910. Dr. L. K. Moser. 


— In den „Meddelanden frän Hydrografiska 
Byrån“, No. I, hat A. Wallén, der Vorstand des Schwedi- 
schen Hydrographischen Amtes, wie schon (oben 8. 19) kurz 
mitgeteilt, die Wasserstandsschwankungen des Wener- 
sees in dem verflossenen Jahrhundert untersucht (Väners 
Vattenständsvariationer, Stockholm 1910). Die Wasserstände 
am Wenersee wurden zuerst 1807 in Frugärden nahe Veners- 
borg gemessen, seit 1810 in Sjötorp am Ostufer, da, wo der 
Götakanal den See verläßt, um den Wettersee zu erreichen. 
In den 100 Jahren von 1809 bis 1910 betrug die Differenz 
zwischen Höchst- und Niedrigstwasserstand nur 2,80 m, eine 
geringe Zahl, wenn man sie mit den Wasserstandsschwan- 


Kleine Nachrichten. 


275 





kungen von Alpenseen vergleicht; freilich übertrifft der 
Wenersee an Areal den größten innerhalb der Alpen ge- 
legenen See, den Genfersee, um das Zehnfache. Die Diffe- 
renz der Mittel der jährlichen Maxima und Minima betrug 
nur 80cm. Der stärkste Zuwuchs erfolgte vom 5. Mai bis 
5. Juni 1836, nämlich durchschnittlich 3,5 cm pro Tag, was 
einer Zunahme von 2250cbm pro Sekunde entspricht. Die 
stärkste Abnahme fand vom 26. Juli bis 3. August 1811 statt 
und betrug 1,6cm pro Tag, entsprechend einer Abnahme von 
1000cbm pro Sekunde. Die höchsten Wasserstände treten 
im Juni, Juli, die tiefsten im März ein, die Differenzen 
dieser Wasserstände betragen jährlich im Durchschnitt 
0,37 m. Sehr eingehend sind die Wasserstandsschwankungen 
auf ihre Periodizität untersucht worden durch immer weiter- 
gehende Mittelbildungen der Wasserhöhen, namentlich der 
durchschnittlichen Monatshöhen. Es zeigten sich vier ver- 
schiedene Perioden: eine jährliche, eine Periode von ungefähr 
33 Monaten, eine solche von 11 Jahren und eine solche von 
noch längerer Dauer, wobei es aber gänzlich zweifelhaft 
bleibt, ob die letztere mit der Brücknerschen 35 jährigen 
übereinstimmt oder nicht. Wallén konstatiert nämlich ein 
Minimum um 1810, um 1859 und um 1890, ein Maximum 
um 1828 und um 1865 bzw. 1869. Der Zwischenraum 
zwischen den drei Minima ist also 49 bzw. 31 Jahre, zwischen 
den beiden Maxima 37 bzw. 41 Jahre. Der Übergang von 
einem Minimum zu einem Maximum erfolgt weit energischer 
als umgekehrt. Mit vollem Recht sagt Wallén, im Gegen- 
satz zu Sieger, dessen Schlüsse auf falschen Rechnungen 
fußten, daß die Beobachtungszeit am Wenersee nicht aus- 
reicht, um sich für oder gegen die Brücknersche Periode zu 
erklären. Von den zuerst genannten drei Perioden besitzt 
die jährliche eine mittlere Amplitude von 37cm, die 33- 
monatliche von 76, die von 11 Jahren eine solche von 90 cm. 
Letztere steht in genauestem Zusammenhang mit der Sonnen- 
fleckenperiode, mit der sie auch in den einzelnen Phasen 
vortrefflich übereinstimmt. Das sehr bedeutende Retentions- 
vermögen des Wenersees gegenüber den Niederschlägen in 
seinem gewaltigen Einzugsgebiet (48540 qkm = Rheinland + 
Westfalen) wird graphisch sehr schön durch Gegenüberstellen 
der Regenhöhen und Seespiegelhöhen dargestellt; aus der 
Größe des Einzugsgebietes erhellt zugleich, daß Kurven der 
Temperatur- und Seespiegelschwankungen unmöglich kon- 
form gehen können. Mit dem bisherigen Beobachtungs- 
material ist es dem Verfasser geglückt, die künftigen Wasser- 
standsschwankungen des Sees auf ein Jahr vorauszubestimmen. 
Halbfaß. 

— W. Halbfaß polemisiert in einem Aufsatz „Zur 
Thermik der Alpenseen und einiger Seen Nord- 
Europas“ (Zeitschr. f. Gewässerkunde, IX, 4) gegen die von 
Brückner in der Geogr. Zeitschr. XV, 6, aufgestellte Be- 
hauptung, daß für die Temperatur der Alpenseen und 
einiger nordischer Seen die größere oder geringere Durch- 
flutung die Hauptrolle spiele. Halbfaß zeigt an mehreren 
prägnanten Beispielen, daß der entscheidende Faktor für die 
Wärmebildung und Bilanz eines Sees stets seine morpho- 
metrische Beschaffenheit ist, und daß nur unter sonst 
gleichen Verhältnissen starke Durchflutung die Ampli- 
tude der Schwankungen der Oberflächentemperatur und 
etwas auch die des gesamten Wärmeumsatzes verringere. 
Das von Brückner beigebrachte Zahlenmaterial beruht zum 
größten Teil auf Messungen am Ufer und ist demnach nicht 
beweiskräftig, es steht in vielen Fällen in Widerspruch mit 
den Temperaturmessungen in dem eigentlich pelagischen Teil 
des Sees. Auch der Einfluß des Windes, der Höhenlage und 
der topographischen Umgebung des Sees wird von Brückner 
nicht gebührend berücksichtigt. 


— Dr. R. v. Sterneck hat die Schwerkraft in der 
Umgebung des Plattensees untersucht und seine Resul- 
tate in dem großen Balatonwerk, Bd. I, Teil I, geophys. An- 
hang, dargelegt. Die nähere Umgebung des Sees gehört 
einem Gebiet mit zu großer Schwere an, denn während 
südlich des Sees 10 Stationen im Mittel + 0,021 cm zu viel geben, 
finden wir im Nordosten des Sees aus 12 Stationen im Mittel 
+ 0,033, im Nordwesten aus 11 Stationen + 0,048 cm. 4 Sta- 
tionen in der Umgebung von Tihany, umgeben von Gegenden 
mit zu großer Schwere (+ 0,037 nn gehören einem Gebiet 
mit normaler Schwere (+ 0,004 cm) an. In weiterer Ent- 
fernung vom See finden wir im Nordwesten ein Gebiet mit 
zu kleiner, im Norden, Süden und Osten mit normaler 
Schwere. Das Gebiet der größten Schwere deckt sich so 
ziemlich mit dem Vorkommen der schweren Gesteine der 
Basaltfamilie, während die normale Schwere in den jüngeren 
und jüngsten Formationen zu finden ist. Unter den vielen 
Schwerebestimmungen, welche v. Sterneck ausgeführt hat, 


ist die Gegend am Plattensee einer der wenigen Fälle, in 
denen die Schwere mit der Dichte der anstehenden Gesteine 
in einem engen Zusammenhang zu stehen scheint. Halbfaß. 


— Alligatorenarten gibt es nicht nur in Amerika, sondern 
(nach Fonck) auch im Tanganikasee und in China. Dem 
chinesischen Alligator, der in den Museen erst in etwa 
einem Dutzend Exemplaren vertreten ist, hat T. Barbour 
in den „Proc. Philadelph. Acad.“ eine Abhandlung gewidmet, 
worin er nachzuweisen sucht, daß dieser Alligator nur im 
Jangtsetal vorkommt und auch dort nur eine enge begrenzte 
Verbreitung hat. Die meisten der bisher bekannten Exem- 
plare sind bei Wuhu und Tschinkiang erbeutet worden, andere 
sollen aus dem Poyangsee und der Gegend von Nanking her- 
rühren. 

— Über die Steinzeit Ägyptens besitzen wir, seit sie 
1870 zuerst betont wurde, eine sehr reiche Literatur. Zu- 
sammenfassend kritisch und auch auf eigene Beobachtungen 
gestützt, behandelt sie neuerdings Dr. Paul Sarasin in den 
Verhandlungen der naturforschenden Gesellschaft in Basel, 
Band XXI, 1910. Zwar läßt er den Ausdruck Steinzeit nicht 
mehr gelten und setzt dafür Lithochromie, wie Chalkochromie 
und Siderochromie für Bronze- und Eisenzeit, indessen es 
scheint doch sehr fraglich, ob die seit alters eingebürgerten 
Ausdrücke dadurch verdrängt werden. Es ist sehr zeitgemäß, 
daß Sarasin wieder einmal auffrischt, wie die zünftigen Ägyp- 
tologen sich dem Vorhandensein der ägyptischen Steinzeit 
gegenüber ablehnend verhielten, und man traut seinen Augen 
kaum, wenn man nachliest, was so hervorragende Gelehrte 
wie Lepsius, Dümichen, Ebers und andere im Beginne der 
siebziger Jahre noch schrieben und eine prähistorische Zeit in 
Agypten leugneten. Sarasin schreibt dem kürzlich verstorbenen 
Anthropologen E. Hamy das Verdienst zu, die Steinzeit Ägyptens 
entdeckt zu haben, und erwähnt nur nebenbei eine Notiz Arcelins 
(nicht Arcellin), welcher kurz vor Hamy die ägyptische 
Steinzeit „gemeldet“ haben sollte. Allein die Sache verhält 
sich umgekehrt und die Priorität kommt A. Arcelin zu. 
Dieser bereiste 1869 bis 1870 im Auftrage des französischen 
Unterrichtsministeriums Agypten. Bei Abu Mangar, oberhalb 
der bekannten Steinbrüche von Silsilis, fand er auf einer 
Schicht von Kies und Sand Feuersteingeräte und auch eine 
geschliffene Axt von Porphyr; ferner bei El-Kab behauene 
Feuersteine, endlich am Eingange des Tales von Bab el-Melik 
bei Theben große Mengen künstlich geschlagener Feuersteine, 
Messer, Sägen, Schaber usw. Er sprach in seinem Berichte 
an den Unterrichtsminister vom 26. Juni 1869 von einer In- 
dustrie primitive en Égypte, probablement préhistorique, 
welche wahrscheinlich verschiedenen Epochen angehöre, bei 
Abu Mangar aber mit dem Kennzeichen de l’âge dit de la 
pierre polie versehen sei. (Matériaux pour Phistoire de 
l’homme, Févr. et Sept. 1869, L’Industrie primitive en Égypte. 
Macon 1870.) Damit kommt in dieser Sache Arcelin die 
Priorität zu. 

In Sarasins Schrift ist von besonderem Belang, was er 
nach eigenen Forschungen über die Steinwerkzeuge in den 
pleistozänen Schottern des Nils berichtet. Sehr bekannt sind 
die Steinwerkzeuge auf den Anhöhen über Theben, die schon 
durch ihre Färbung jedem Vorübergehenden auffallen und 
leicht aufgelesen werden können. Sie zeigen den Acheuléen- 
typus, und Sarasin weist nun nach, daß die in den Nilschottern 
vorkommenden Artefakte ganz genau den gleichen Typus 
zeigen. Beide gehören zusammen. Wie kommt das nun: 
oben auf den Höhen über den Königsgräbern und unten in 
den Schottern am Nil die gleichen Geräte? „Die Ansiedelungen 
der ägyptischen Acheul&enmenschen befanden sich auf den über 
dem Ufer eines ungeheuren Stromes, des diluvialen Nils, ge- 
legenen Plateaus und Bergkuppen“, und in den Pluvialfluten, 
welche in jener Zeit eines sehr feuchten ägyptischen Klimas 
herrschten, entsprechend der europäischen Eiszeit, wurden 
jene Schottergeräte von den Kalksteinwänden über den 
Königsgräbern herabgeschwemmt. R. A. 


— Der Assyriologe Hormuzd Rassam, der Mitarbeiter 
und Nachfolger Layards auf den Ruinenstätten Assyriens, 
ist am 16. September d. J. in Brighton gestorben. Rassam, 
der aus einer chaldäischen Familie stammte und 1826 in 
Mosul geboren war, begleitete Layard auf dessen beiden 
Grabungszügen nach Ninive, 1845 und 1849, und leitete später 
selber die weiteren Forschungen für das Britische Museum, 
das ihm eine Menge schöner und wertvoller assyrischer Alter- 
tümer verdankt. Er trat dann in den englischen Konsulats- 
dienst und wurde 1864 von der englischen Regierung zu 
Theodor von Abessinien gesandt, um von diesem die Frei- 
lassung der von ihm gefangen gesetzten Engländer zu er- 
wirken. Aber Rassam wurde selber von Theodor als Ge- 


276 


fangener nach Magdala gebracht, und erst der Napiersche 
Feldzug verschaffte ihm die Freiheit wieder. Später nahm 
Rassam als Kustos des Britischen Museums auf Veranlassung 
Layards, der mittlerweile Botschafter in Konstantinopel ge- 
worden war, seine Grabungen in Assyrien und Babylonien 
wieder auf, und zwar auch auf einigen neuen Ruinenstätten, 
wie Balawat und Sippar (Abu Habba bei Babylon), denen er 
zahlreiche weitere Schätze entnehmen konnte. In Sippar 
fand er auch ein großes Tontafelarchiv. Diese Forschungen 
endeten 1882, er hat über sie in den „Transactions of the 
Society of Biblical Archaeologie“ berichtet, auch hat diese 
Gesellschaft einen Teil der Funde von Balawat in dem Werke 
„The Bronze Ornaments of the Palace Gates of Balawat“ 
(London 1880/81) herausgegeben. Seine Erfahrungen in 
Abessinien hat Rassam 1869 in dem zweibändigen Werke 
„A British Mission to Theodore“ veröffentlicht. 








— In der Nähe von Basel beim Dorfe Aesch hat Dr. 
Fritz Sarasin ein steinzeitliches Dolmengrab aus- 
gegraben, welches schon deshalb von Belang ist, weil es die 
östlichste Verbreitung der ganz ähnlichen Dolmengräber 
Frankreichs darstellt und in der Schweiz vereinzelt dasteht. 
Es handelt sich um eine etwa 4m lange und 2'/,m breite, 
mit Pflasterboden versehene Grabkammer aus Kalksteinplatten, 
die, wie Sarasin annimmt, ehemals auch mit Decksteinen 
versehen war. Die Grabanlage ist mit einem niedrigen Tu- 
mulus umgeben. Eine Überraschung bereitete die Ausgrabung, 
da sie eine Unmenge menschlicher Skelettreste zutage 
förderte, alle in Trümmer aufgelöst, so daß kein Knochen 
oder Schädel vollständig war. Bunt durcheinander lagen die 
zerstörten Reste von Kindern und Erwachsenen, deren An- 
zahl Sarasin nach den gut erhaltenen Zähnen auf etwa 40 
berechnet. Jedenfalls handelt es sich um allmähliche Nach- 
bestattungen und, wie gezeigt wurde, nicht um frische Leichen, 
sondern um Beisetzung von Skeletten (zweistufige Bestattung), 
die ja auch anderweitig bekannt ist. Die Grabbeigaben 
waren gering: Messer aus Silex und Jaspis, Tonscherben, 
durchbohrte Zähne und ein „Schädelamulett“ mit Trepanations- 
marke (Brocas „Rondelle*). 

— Kapitän J. Thilo hielt im Februar d. J. einen Vortrag 
über seine Forschungsreisen im Tsadsee-Gebiet, welcher 
unter Beifügung einer rsichtskarte (1:2000000) und 
12 Abbildungen im Septemberheft 1910 des „Geographical 
Journal“ publiziert wurde. Er enthält eine Anzahl sehr bemer- 
kenswerter Beobachtungen mehr, als der Bericht desselben 
Autors, den das Märzheft von „La Géographie“ gebracht hat und 
worüber bereits in Nr. 17 des 97. Bandes des „Globus“ (8. 269) 
referiert worden ist. Thilo bestätigt nicht nur die Erfahrungen 
des Leutnants Freydenberg über die gegenwärtige Beschaffen- 
heit des nördlichen Teiles des Tsad (vgl. Globus, Band 91, 
8.369), sondern er geht noch mehr ins Detail ein und hat die 
deutlich erkennbaren Grenzen von vier verschiedenen Zonen 
des Grenzgebietes herausgefunden und beschrieben, nämlich 
eine völlig ausgetrocknete, eine morastige, eine schiffbare und 
eine lagunenhafte Zone. Die ausgetrocknete Zone liegt nörd- 
lich vom Parallel der Mündung des Komadugu-Yobe und ist 
im Westen von 30 bis 40 Fuß hohen Dünen eingefaßt. Es ist 
eine trostloge, monotone, leicht gewellte Fläche, teils mit nie- 
derem Gesträuch oder mit Sand bedeckt, hier und da von 3 
bis 6 Fuß tiefen zerklüfteten Depressionen von geringem Um- 
fang unterbrochen, deren von dem erst kürzlich zurückge- 
tretenen Wasser durchfeuchteter Boden unter den Tritten von 
Menschen und Tieren auf und nieder schwankt. Was früher 
deutlich eine Insel war, ragt jetzt nur ein klein wenig her- 
vor und ist übersät mit Muschelschalen und umgrenzt von 
Tausenden von Fischleichen. Und auf diesen winzigen Er- 
hebungen hausen noch immer Eingeborene in den elendesten 
Hütten! Weiter nach Osten, gegen Kanem zu, nehmen die 
inselartigen Wohnstätten an Höhe und Größe zu. — Die mo- 
rastige Zone beginnt im Osten, zwei Stunden von Bosso ent- 
fernt; folgt man dem Lauf des Komadugu, welcher nach und 
nach in eine Reihe von Wasserlöchern versickert, und dessen 
Bett schließlich ganz verschwindet, so tritt man in eine weit 
ausgedehnte Schilffläche ein, deren Horizont ein Wald von 
Ambatschbäumen (Herminiera elaphroxylon) umschließt. Diese 
Fläche ist mit einer Unzahl von tiefen und breiten Wasser- 
rinnen durchsetzt und geht streckenweise in ein trockenes 
Plateau von schwarzem Lehm über; sie nimmt den dritten 
Teil des ganzen Seengebietes ein. 

Die erste und schiffbare Seefläche, welche im südlichen 
Abschnitt von dem Gestade von Kuka gegen Osten sich er- 
streckt, beträgt nur 60 bis 77 qkm. Fast undurchdringliche 
Ambatschwaldungen bilden die Umrandung; durch diese erst 
gelangt man auf wenigen engen Kanälen zur zweiten und 


Kleine Nachrichten. 


größten Ausdehnung des offenen Wassers, welches sich vor 
der Mündung des Schari nach allen Seiten ausbreitet. Hier 
hat die Beefläche einen Umfang von nahezu 1800 qkm, re- 
präsentiert jedoch nur den 50. Teil des gesamten Beegebiets. 
— Die Lagunenzone, eine wirr untereinander verschlungene 
Masse von engen und seichten Rinnen, durch welche drei 
befahrbare Wasserstraßen führen, ist hauptsächlich der Küste 
von Kanem vorgelagert. In ihr befinden sich einige größere 
und bewohnte Inseln mit einer Erhebung von 35 bis 50 Fuß; 
die meisten, welche mit 15 bis 25 Fuß über dem Wasser her- 
vorragen oder in der Regenzeit ganz untertauchen, dienen 
gelegentlich als Weideplätze oder als temporäre Zufluchts- 
stätten. — Der Archipel ist bevölkert von zwei verschiedenen 
Arten von Buduma. Die im Südosten seßhaften, als Kuri 
bekannt, treiben Ackerbau und verkehren friedlich mit den 
Eingeborenen des Festlandes. Die im Nordosten hausenden 
dagegen, ungefähr 45000 an der Zahl, beschäftigen sich neben 
der Viehzucht am liebsten mit Raubzügen in die nähere und 
fernere Umgebung. Sie sind ein gefürchtetes, kriegslustiges 
Volk, welches selbst ein Rabeh nicht unterwerfen konnte, 
das aber doch vor den Dampfern und Schußwaffen der Weißen 
in unzugängliche Schlupfwinkel scheu sich verkriecht. B. F. 


— Eine Volksdichtedarstellung des Kreises Gol- 
dap gibt H. Steinroeck in seiner Königsberger Dissertation 
1910. 726,69 qkm werden, nach Abzug der Holzungen und 
Wasserstücke, welche 26,9 Proz. der Gesamtfläche ausmachen, 
bei der Berechnung der Dichte zugrunde gelegt, so daß 
59 Einwohner auf 1 qkm kommen. Dabei ist der Süden des 
Kreises bedeutend dünner bewohnt als der Osten und Norden. 
Während dort die höheren Dichtestufen fast gänzlich fehlen 
und Dichtegrade von 20 bis 40 Einwohnern auf den Quadratkilo- 
meter bei weitem vorherrschen, treten im Osten und Norden 
deutlich Bezirke mit stärkerer Verdichtung auf. Während 
nur 36,3 Proz. der Bevölkerung auf die Dichtestufen unter 
das Mittel von 50 bis 75 Einwohnern kommen, gehören 42,9 Proz. 
den über dem Mittel an. Mit anderen Gegenden Deutsch- 
lands verglichen verfügt aber der Kreis Goldap über eine 
sehr dünne Bevölkerung, und selbst in der ohnehin schon so 
dünn bevölkerten Provinz Ostpreußen nimmt der Kreis eine 
der niedrigsten Dichtestufen ein. 


— Die Meinung von dem fehlenden Naturgefühl 
des frühen Mittelalters ist nach den Ausführungen von 
Gertrud Stockmayer (Diss. von Tübingen 1910) entschie- 
den unhaltbar; es gibt tatsächlich ein Naturgefühl zu 
jener Zeit, wenn es auch nicht so mannigfaltig und fein ab- 
gestuft aus den Quellen hervorgeht wie das moderne Man 
sieht, wie den Gestirnen Bewunderung entgegengebracht wird, 
das Meer wird nach seiner stürmischen Seite erwähnt; die 
schauerliche Dunkelheit kam den Leuten zum Bewußtsein, 
und Irrlichter wie Wunder sind nicht zu selten. Von den 
Bergen kannte man die Gefährlichkeit, und der Wald wird 
in seiner Wildheit und Düsternheit gefürchtet, andererseits 
aber schon als Schmuck einer Gegend angesehen. Am Lenz 
und seinem Kommen erfreute man sich bereits, und Blumen 
müssen zu allerlei Vergleichen herhalten. Dann wurde da- 
mals bereits die Natur in Beziehung zum menschlichen Leben 
gesetzt, wie ihr auch persönliches Leben verliehen worden ist. 
Nicht -mit Unrecht bemerkt auch die Verfasserin, daß die 
leidenschaftliche Sehnsucht nach der Natur wohl bei den 
modernen Menschen am meisten vorhanden ist, die in die 
großen Städte gebannt sind; solche Steinkolosse kannte man 
aber im frühen Mittelalter noch nicht. 


— Eine sehr ansprechende kleine Geologie der Insel 
Sylt hat Dr. W. Wolf geschrieben. (Verlag v. Pfennigsdorf, 
Halle a. S. u. Westerland auf Sylt.) Unter steter Bezugnahme 
auf die den Badegästen bekannten oder leicht von ihnen auf- 
zusuchenden Aufschlüsse schildert er die geologische Geschichte 
und Entstehung der Insel und der heute dort vorhandenen 
Landformen, sowie die noch auf der Insel tätigen umgestaltenden 
Naturkräfte. Interessant ist hierbei, daß er eine fortschrei- 
tende Landsenkung in der allerletzten geologischen Zeit ab- 
lehnt und die in historischen Zeiten vorgekommenen Verände- 
rungen auf andere noch tätige Kräfte: Wind, Meereserosion 
und Einwirkung des Menschen zurückführt. Das leichtver- 
ständliche, in fließender Sprache geschriebene und mit 16 
gut gelungenen und gewählten Abbildungen versehene Büchlein 
ist bei seinem billigen Preis (1,25 .46) wohl wert, daß es recht 
viel von Interessenten, besonders Badegästen gekauft wird, 
und auch fähig, bei ihnen nicht nur Verständnis für die Insel 
und ihre geologischen Verhältnisse, sondern auch Interesse 
für geologische Fragen im allgemeinen zu erwecken. Gr. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Suhn, Braunschweig. 


GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- UND VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE., 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 








Bd. XCVIII. Nr.18. 





BRAUNSCHWEIG. 


10. November 1910. 














Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 





Das Diluvium in der Umgebung von Hannover. 
Von K. Olbricht. 


Meine Arbeiten in der Lüneburger Heide hatten mich 
— zum Teil in Übereinstimmung mit Stoller — zu dem 
Ergebnis geführt, daß die Heide aus zwei ganz verschiedenen 
Teilstücken besteht. Das reich zertalte Hügelland im Norden 
besteht überwiegend aus Schichten der Würmeiszeit, 
d. h. der letzten Eiszeit der Beamten der Landesanstalt; 
erst in den tiefeingeschnittenen Tälern kommt das 
ältere Diluvium zum Vorschein. Dieses besteht aus rot- 
eisenschüssig verwitterten Sanden und Grundmoränen, 
die wahrscheinlich eine recht unebene Oberfläche mit 
zahlreichen Senken gebildet haben, in denen als Seeablage- 
rungen die bekannten Kieselgur- und Süßwasserkalklager 
(Riß-Würm-Interglazial) entstanden. 

Im Süden der Heide nimmt die Mächtigkeit der jung- 
glazialen Schichten stark ab, und die großen plumpen, 
wenig zertalten Hochflächen der Südheide werden nur 
mit einer dünnen Decke des jüngeren Diluviums überzogen, 
und stellenweise steht sogar das ältere Diluvium auf 
weiten Strecken an, so beim Falkenberg, großen Teilen 
der Lüßhochfläche und den Wierener Bergen. 

Dieser eigentümliche Aufbau der Südheide hatte mich 
schon früher (I, s. Literatur am Schluß) veranlaßt, aus- 
zusprechen, daß der Rand des Würmeises nicht allzuweit 
im Süden gelegen haben muß, und im folgenden will ich 
über die Ergebnisse meiner jüngsten Begehungen in der 
Umgebung von Hannover kurz berichten, da diese sicher 
manches Interesse haben. Mein Arbeitsfeld läßt sich auf 
der beigefügten Karte 2 leicht überblicken. Es deckt 
sich in manchen Punkten mit demjenigen Spethmanns (II), 
dessen Arbeit ich im folgenden häufig erwähnen werde. 

Zweck meiner Studien war einmal die Betrachtung 
des Aufbaues der Endmoränen, die ich nicht nur morpho- 
logisch aufgefaßt habe, dann die Untersuchung der Lösse, 
endlich die Begrenzung der jungdiluvialen Schichten auf 
Grund der verschiedenen Arten der Verwitterung, da sich 
— wenn Lösse zurücktreten — nur auf diesem Wege 
einwandfreie Grenzen von Gletschern verschiedener Eis- 
zeiten nachweisen lassen. Auch über die Verbreitung 
und Einteilung der Leineschotter habe ich viel Material 
gesammelt, wenngleich dieses zu einer genaueren Würdi- 
gung der Probleme noch längst nicht ausreicht. Daher 
komme ich nur kurz auf diese zu sprechen. Am Ende 
des Aufsatzes werde ich meine Ergebnisse mit denen 
anderer Forscher vergleichen und dann auf die wichtigen 
Probleme hinweisen, diein Westhannover einer eingehenden 
Würdigung noch harren, die sich aber nur durch regio- 
nales Arbeiten einer Lösung näher bringen lassen. 

A. Der vordiluviale Untergrund. Dieser bildet 
eine Fastebene, die Schichten der Trias, des Jura und 

Globus XCVIII. Nr. 18, 


der Kreide abschneidet. Über diese welligen Flächen der 
Fastebene erheben sich als Monadnocks mehrere Hügel, 
von denen besonders der Kronsberg, der Benther Berg, 
der Stemmer Berg und die Gehrdehner Berge genannt 
seien. Das sicher einmal über diesen Höhen ausgebreitete 
Diluvium ist überall wieder abgetragen. Aber auch in 
den übrigen Gebieten ist die diluviale Decke nur gering, 
und die Nähe des alten wasserundurchlässigen Gebirges 
bedingt einen hohen Grundwasserstand und dadurch 
üppige Wiesen und fruchtbare Felder, wodurch Teile der 
Gegend parkartig erscheinen. So kann an den meisten 
Stellen nach Abdeckung der jüngeren Schichten das ältere 
Gestein erreicht und wirtschaftlich verwandt werden. Im 
Süden von Hannover überwiegen Kalkgruben mit Zement- 
industrie (obere Kreide), im Norden ist die obere Kreide 
wohl überall denudiert, und die dunkeln an Eisenkon- 
kretionen reichen Tone der unteren Kreide werden in 
großen Ziegeleien abgebaut, Berenbostel, Mellendorf, 
Langenhagen, Warmbüchen. Eine Ausnahme machen 
nur die Ziegeleien im Leinetal, welche Anlehm abbauen. 
Über das genaue Alter dieser Fastebenen lassen sich für 
die Gegend von Hannover keine Angaben machen, da das 
Tertiär ganz fehlt. 

B. Die diluvialen Deckschichten. Wie ich schon 
bemerkte, bilden die diluvialen Schichten eine hin und 
wieder unterbrochene Decke, die ihre größten Mächtig- 
keiten in den mehrfach vorhandenen Endmoränen erreicht. 
Die Endmoränauszüge, die schon teilweise Spethmann 
beschrieben hat — die große Engelbosteler Endmoräne 
erwähnt er nicht — ‚lassen sich auf der beigegebenen 
Übersichtskarte sehr gut erkennen. Die Endmoränen 
bilden zwei Gruppen. Eine nördliche wesentlich frischer 
aussehende und auch mehr zusammenhängende mit teilweise 
vorgelagerten großen Sandrebenen und eine südliche, die 
in wenigen rudimentären Spuren westlich von Peine be- 
ginnt, bei Hohenhameln am schönsten ausgebildet ist und 
westlich der Leine verschwindet. Ich vermute aber, daß 
die Moränenreste, welche Spethmann nördlich der Weser 
von Rinteln bis Hameln beschreibt, auch bei dem Gletscher- 
vorstoß entstanden, der die Hohenhameler Endmoräne 
schuf, welcher ein deutlich ausgeprägtes Urstromtal 
vorgelagert ist. Siedelungsgeographisch sind die Endmo- 
ränen, die nicht nur wegen ihrer Höhe Schutz, sondern 
auch wegen ihrer sandigen Beschaffenheit Trockenheit 
gewähren, von großer Bedeutung. So finden wir im Norden 
von Hannover die Orte Horst, Meyenfeld, Berenbostel, 
Engelbostel und das 5km lange Isernhagen mit seiner 
malerischen Kirche auf der Engelbosteler Endmoräne. 
Im Süden weist Hohenhameln eine ähnliche Lage auf 


36 


278 


Olbricht: Das Diluvium in der Umgebung von Hannover. 





und beherrscht mit seiner schönen zweitürmigen Kirche 
die Umgebung. Die Engelbosteler Endmoräne weist nörd- 
lich der Stadt Hannover eine große Lücke auf, die heute 
von der Eisenbahn nach Soltau benutzt wird. 

Der Aufbau dieser Endmoränen läßt sich an mehreren 
tiefen Aufschlüssen — deren Lage die Karte andeutet 
— gut ersehen. Die Mellendorfer Moränen bestehen nach 
den dortigen tiefen Aufschlüssen (1, vgl. Karte 2) — 
nördlich Mellendorf an der Straße nach Walsrode — aus 
weißen stark gestörten Sanden, über denen Reste von 
Grundmoränen in Gestalt von Kiesen und Geschiebesanden 
liegen. Am Aufbau der Engelbosteler Endmoräne um- 
hüllen, wie die großen Aufschlüsse (2) bei Engelbostel 
zeigen, diese Sande mit ihrer Kies- und Geschiebesanddecke 
stark aufgepreßte eisenschüssig verwitterte Sande, die in 
verwickelter Weise mit verwitterten entkalkten Grund- 
moränen, in denen tiefrot patinierte Feuersteine und 
völlig zersetzte Gebiete vorkommen, wechsellagern. Diese 
Moräne erweist sich also deutlich als eine Aufpressung. 








Wasserscheide. 
— Endmoräne, 






































Würmeises. 
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Maßstab 1:4000000 


o 10 20 40 60 80 Km. 





Karte 1. 


Kleinere Aufschlüsse bei Horst (3) und Isernhagen (4) 
zeigen nicht mehr die jüngeren Sande, sondern nur noch 
eisenschüssig verwitterte. Falls hjer nicht Umlagerungs- 
produkte vorliegen, kann man annehmen, daß die 
jüngeren Deckschichten schon abgetragen sind. 

Im Süden dieser Endmoräne lagern große ausgedehnte 
Sandrebenen, in denen sich lokale Reste von verwischten 
Vorstaffeln erkennen lassen (Weg von Engelbostel nach 
Stöcken). Die Sandrebenen sind leider nur an sehr wenigen 
Stellen aufgeschlossen, so im Norden von Bothfeld (5) 
auf der rechten Seite der Landstraße nach Isernhagen 
und im Ahltener Walde an der Straße von Ahlten (6) 
nach Kolshorn. Nur an wenigen Stellen reichen diese 
Sandr über die Leine und sind bei Letter (7) und Ahlem (8) 
in großen Sandgruben über interglazialen roteisenschüssig 
verwitterten Leineschottern und Grundmoränen (8) er- 
schlossen, etwa 5m mächtig. Bei Bothfeld sind diese 
Sandr etwa 4m tief aufgeschlossen, enthalten oft Bänke 
mit Kies und Lagen von Kieselschiefern und werden 
(nach Baggerproben) unterlagert von eisenschüssig ver- 
witterten lehmig bis sandigen Schichten, die große zersetzte 
nordische Gesteine enthalten. Im Ahltener Walde sind 


im Vermutliche Grenze des 





Übersicht über das Diluvium Nordwest-Deutschlands. 


diese liegenden verwitterten Schichten, die auch in allen 
erwähnten Aufschlüssen Manganausscheidungen und über- 
wiegend rotgelb gefärbte Feuersteine enthalten, sehr gut 
erschlossen. Die hangenden Sande haben viel älteres 
Material umgearbeitet, darunter sogar Kieselgurbruch- 
stücke, die nur aus der Heide kommen können. Dazu 
passen sehr gut die Beobachtungen, die wir in den Kiesel- 
gurlagern bei Breloh und Oberohe machen können, wo 
die Kieselgur durch Eisdruck stark gefaltet und ihre 
obersten Partien vielleicht teilweise vom Eise abgehobelt 
sind. Die meist weißen Sande dieser Sandr sind nun an 
vielen Stellen — besonders nördlich der Leine bei Garbsen 
— zu hohen Dünen aufgeweht, die darum wichtig sind, 
weil sie in der Vorzeit dicht besiedelt waren, wie zahl- 
reiche Funde von Feuersteinwaffen beweisen. Auffallender- 
weise verengt sich dieser Sandr im Osten immer mehr 
und scheint nördlich von Burgdorf ganz zu fehlen, wenn 
er nicht unter dem Oldborster Moor liegt. Dieses ist 
eines der vielen Moore, die südlich in großem Bogen 

j den besprochenen Endmoränen vorgelagert sind 
und südwestlich von Celle mit dem großen 
Moor beginnen. 

Überschauen wir die bisher mitgeteilten 
Tatsachen, so sehen wir, daß in dem bisher 
besprochenen Gebiete das Diluvium eine Zwei- 
teilung erfährt, in einen oberen Horizont mit 
überwiegend weißen Sanden und Resten einer 
Grundmöräne darüber, und einen unteren Hori- 
zont, der nur meist aus eisenschüssig ver- 
witterten Schichten besteht und so schon durch 
die Farbe deutlich mit den hangenden Schichten 
kontrastiert. Da genau dieselbe Zweiteilung 
auch von mir in der Lüneburger Heide beob- 
achtet ist, hege ich keinen Zweifel, die liegen- 
den Glieder mit dem Rißdiluvium (unteren Dilu- 
vium der Heide), die hangenden mit dem Würm- 
diluvium zu identifizieren. Dazu paßt nicht 
nur die Lage der umgelagerten Kieselgur- 
schollen, sondern daß auch, wie ich gleich 
mitteilen werde, die Schichten des südlichen 
Vorlandes unmittelbar in das verwitterte Riß- 
diluvium der Lüneburger Heide übergehen. 

Entstand nun diese große Endmoräne aus 
einem lokalen (I. S. 522—526) oder einem 
größeren selbständigen Vorstoße? Für letzteres 
würde (vgl. hierzu I. S. 520—522, wo diese 
ganzen Probleme formuliert sind) schon die 
Tatsache sprechen, daß vor ihr eine große aufgeschüttete 
Sandrfläche liegt. Jedoch genügt uns diese Feststellung 
noch nicht. Auch die Lösse können wir nicht verwenden, 
weil sie erst viel weiter südlich beginnen. Viel wichtiger 
ist hier die Erforschung des südlichen Vorlandes, zu dessen 
Analyse die vorhandenen Aufschlüsse ausreichen. Da 
sehen wir denn, daß sich im Süden das Bild verändert. 

Die roteisenschüssig verwitterten Schichten, die bis- 
her das Liegende jüngerer Deckschichten bildeten, stehen 
in allen Aufschlüssen oberflächlich an, die ich als rote 
Kreuze und rote Punkte eingetragen habe, und zwar ist 
die Lagerung derart, daß an den Stellen, wo Grundmo- 
ränen vorhanden sind, diese immer über den Sanden 
lagen. Die ganze Gegend stellt also eine im Süden von 
Löß überdeckte Grundmoränenlandschaft dar, über die 
sich hin und wieder das ältere Gestein erhebt. Den Ha- 
bitus dieser Grundmoränen erkennen wir am besten in 
den großen Aufschlüssen bei Hohenhameln (8), Burgdorf 
(9) und Altenhagen bei Celle (10). Die Grundmoränen 
sind überall entkalkt, weit roteisenschüssig verwittert und 
führen an zahlreichen Stellen die charakteristischen zer- 
setzten, lokal sogar (Altenhagen) kaolinisierten, Geschiebe 





Olbricht: Das Diluvium in der Umgebung von Hannover. 


279 





und gelbrote Feuersteine. Nur zwischen Burgdorf und 
Celle ist diese Moränendecke bei der Bildung des Allertales 
abgetragen, aber die im Allertal vereinzelt (Westercelle 
11) angelegten Sandgruben erschließen Sande, die von 
den Sanden, die überall im Süden das Liegende der 
Grundmoränen bilden, nicht zu unterscheiden und daher 
wohl identisch mit ihnen sind. So lagern also vor den großen 


umkleiden zugleich mantelartig einen aufgestauchten Kern 
der liegenden Sande. 

Diese Beobachtungen ermöglichen es uns also, auf 
große Strecken den Rand des Würmeises genauer festzu- 
legen und damit einen wichtigen Fixpunkt zu schaffen, 
den wir nachher im Rahmen der weiteren Umgebung be- 
trachten wollen. Der Rand des Würmeises bei Hannover 





Maßstab 1:500000 


10 











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4 
In, 


9,18 


© Burgdorf 








Karte 2. Geologische Übersichtskarte der Umgebung von Hannover. 
Die roten Linien sind Endmoränen. Der Sandr des Würmeises ist punktiert. Die Aufschlüsse, in denen eisenschüssig verwitterte Schichten 


anstehen, sind als rote Punkte eingezeichnet und durch ein Kreuz eine Lößbedeckung angedeutet. 


gestrichelt. Die Monadnocks und Gebirge sind schraffiert. 


Die Südgrenze des Würmeises ist 


Die Zahlen an den Punkten und Kreuzen bezeichnen die Nummer des Auf- 


schlusses in dem Aufsatze, so daß diese sofort auf der Karte aufzufinden sind. Berücksichtigt sind nur die größeren grundlegenden Aufschlüsse. 


zuerst betrachteten Endmoränen ausgedehnte ältere Grund- 
moränenlandschaften, die im Nordosten sich weit in die 
Heide hinein verfolgen lassen. Unter diesen Grundmoränen 
finden wir auch Lokalmoränen aus umgelagerten älteren 
Leineschottern (Bemerode 12, Kreide: Hohenhameln, 
Limmer 13, Muschelkalk: Benther Berg 14 und Ronnen- 
berg 15). In der Endmoräne von Hohenhameln finden 
wir dieselben Lagerungsverhältnisse, die Grundmoränen 


erscheint auffallend beeinflußt vom interglazialen Relief 
der südlichen Lüneburger Heide (Karte in II). Wir 
sehen, wie das tiefe Örzetal dem Eise einen Weg wies 
und es ihm ermöglichte, weit nach Süden vorzudringen, 
während es die hohe Hochfläche des Lüß nicht mehr zu 
überschreiten vermochte, so daß hier auf weiten Strecken 
— genauere Grenzen habe ich wegen mangelnder Auf- 
schlüsse nicht feststellen können, hoffentlich erbringt die 


36* 






280 Olbricht: Das Diluvium in der Umgebung von Hannover. 





staatliche Kartierung der Landesanstalt solche — die 
älteren verwitterten Schichten anstehen. Es wird die 
Aufgabe derUntersuchungen zwischen Peine, Braunschweig 
und Gifhorn sein, festzustellen, wie weit auch das tiefe 
Isetal wieder ein weiteres Vordringen des Eises nach 
Süden gestattete, so daß sich infolge der eigentümlichen 
Höhenverhältnisse ein schmaler unvereister Zipfel im Osten 
und Westen von Eis umgeben weit hinein über Celle in 
die Heide erstreckte. 

Mehrere Andeutungen sprechen dafür, daß auch in 
unserer Gegend das ältere Diluvium noch eine Teilung 
in mehrere Glieder erfahren kann. So lagern in den großen 
Aufschlüssen bei Garßen (16) unter verwitterten Sanden 
mit einer Deckschicht von zersetzten Geschieben und 
Resten sandiger Grundmoränen bis 6 m mächtige schwarz- 
blaue Tone, die keine Schichtung aufweisen und hin und 
wieder kleine nordische Steinchen enthalten. Fossilien 
aus diesen Tonen sind mir nicht bekannt. Unter ihnen 
lagern nach Bohrungen und Aufschlüssen nordische Sandr 
zum Teil mit humosen Streifen. Sollten es spätere For- 
schungen ergeben, daß diese Tone — die nichts mit 
glazialen Bändertonen zu tun haben — identisch mit 
dem Lauenburger Ton (VI) sind, so wäre damit die 
wichtige Tatsache festgestellt, daß auch dieser keine ein- 
heitliche Bildung ist, sondern zum Teil dem Mindel-Riß- 
Interglazial zuzurechnen ist. Ebenso sind in den großen 


deutschlands eine ganz bestimmte Stellung im Diluvial- 
profil zukommt. 

Wir haben bisher einfach von im Süden der Würm- 
vereisung zum Vorschein kommenden älteren Grundmo- 
ränenlandschaften gesprochen. Die Oberfläche derselben 
hängt im Süden von Hannover derartig vom älteren 
Untergrund ab und ist auch derart von einer Lößdecke 
überkleidet, daß wir eine genaue Analyse derselben nicht 
geben können. Anders bei Burgdorf, wo das Diluvium 
größere Mächtigkeiten erhält und die Lößdecke fehlt. 
Hier liegen keine Grundmoränenebenen vor, sondern die 
Landschaft löst sich — man betrachte die Meßtischblätter 
für Burgwedel und Burgdorf — in eine Fülle von rund- 
lichen, oft langgestreckten Hügeln auf, die senkrecht zu 
der in unserer Gegend festgestellten Eisrandlage der 
Hohenhameler Endmoräne und des südlich derselben vor- 
gelagerten Urstromtales streichen. Hier liegt die Ver- 
mutung nahe, daß wir es mit einer älteren, darum schon 
gemilderten Exarationslandschaft (V) zu tun haben. 

Ich habe schon erwähnt, daß nach meinen Beobach- 
tungen die Lößdecke erst im Süden von Hannover mit 
der von mir eingezeichneten Linie beginnt, also nicht mit 
der Grenze der Würmeiszeit zusammenfällt. Sollte hier- 
aus die Möglichkeit hervorgehen, daß die Lößbildung im 
regenreicheren norwestdeutschen Flachlande allmählich 
ausgesetzt hat? 














TRUKRITEUERTENTEIFECHIKEERFIRTEITE, 
EEEE EREEREER EEEIEE 





Schematisches Profil durch das Diluvium der Umgebung von Hannover. 


Die beigesetzten Zahlen bezeichnen die Nummern der Aufschlüsse, wo die betreffende Schichtenfolge am besten zu beobachten ist. 
Die Schotter sind nicht berücksichtigt. 


z SAN Alteres Gebirge. Z 


Schottergruben von Ahrbergen (17) Grundmoränen von 
derartig hochgradiger Zersetzung der Geschiebe aufge- 
schlossen, daß hier möglicherweise auch ältere Bildungen 
vorliegen. Ebenso lagern in den großen Sandgruben 
nördlich von Burgdorf (18) — an der Bahnstrecke nach 
Celle — unter verwitterten Grundmoränen mit liegenden 
mehrere Meter mächtigen Sanden Reste noch älterer 
Grundmoränen mit dunkelrot verfärbten Feuersteinen 
und anderen Geschieben, die möglicherweise Reste von 
Mindelmoränen sind. Es wird Aufgabe weiterer For- 
schungen im Süden sein, diese Fragen zu klären. 
Fassen wir die bisherigen Ergebnisse zusammen, so er- 
gibt sich das Bild, welches stetig in Norddeutschland 
wiederzukehren scheint. Über Sanden der Rißeiszeit 
breiten sich die Grundmoränen dieser Eiszeit aus, die 
hochgradig eisenschüssig verwittert sind und nicht mehr 
von Rißsanden bedeckt werden. Nördlich von Hannover 
lagert am Südrande der Engelbosteler Endmoräne der 
Würmsandr, und auch dieser verschwindet im Norden — 
in der Heide besonders — unter immer mächtiger werden- 
den Grundmoränen, die wiederum südlich der Elbe von 
jüngeren Sanden nicht mehr bedeckt werden. Beim Vor- 
rücken der Gletscher werden also mächtige Sande auf- 
geschüttet, über diese breitet der Gletscher seine Grund- 
moräne, die aber nicht mehr von Sanden bedeckt wird. 
Wieder eine Bestätigung der von mir (I. S. 521) zum 
ersten Male erwähnten Tatsache, daß das Abschmelzen 
der Gletscher offenbar unter ganz anderen Verhältnissen 
als das Vorrücken erfolgt, und daß den Sandr Nord- 


7: Grundmoränen und Sande der 
—= jüngeren Eiszeit (Würm). 


Grundmoränen und Sande der 


älteren Eiszeit (Riß). Lös. 





Eine Gliederung der Lösse — die im allgemeinen sehr 
unrein und verlehmt erscheinen — ist bisher nicht zu 
geben, ebenso ist ihre Altersbestimmung zum Teil un- 
möglich. Vielleicht ergibt sich diese durch die Verknüpfung 
der Lösse mit Gehängeschutt und Schottern, die wir weiter 
im Süden finden. Da mir hier nur Stichproben vorliegen, 
beschränke ich mich darauf, kurz die wichtigsten der 
Lösung harrenden Probleme hier zu erörtern. 

Gehängeschuttdecken, welche meine Arbeiten in der 
Lüneburger Heide in großem Umfange ergeben haben, 
fehlen in der Umgebung von Hannover wohl wegen der 
geringen Höhenunterschiede und treten erst im Bereich 
der Mittelgebirge wieder in größerem Umfange auf, zum 
Teil hier mehr als 4m mächtig werdend. 

Wie meinemit Herrn Professor Hauthal unternommenen 
Begehungen im Gebiete des Hildesheimer Waldes ergeben 
haben, sind diese Gehängeschuttdecken in großartigem 
Maße entwickelt und liegen teilweise in 4m Mächtigkeit 
über diluvialen Grundmoränen: Zeche Hildesia (21). In 
den großen Kiesgruben bei Eitzum (19), wo das glaziale 
Diluvium zumeist aus stark eisenschüssig verwitterten 
Sanden mit hangenden Grundmoränen besteht, liegt über 
diesen diluvialen Schichten — aber durch eine große Ero- 
sionsdiskordanz von ihnen getrennt — ein etwa 2m 
mächtiger Gehängeschutt, der durch eine eingeschaltete 
Lößdecke in zwei Unterabteilungen zerfällt, von denen 
die untere lokal fehlt. Hier liegen also zwei Perioden 
der Gehängeschuttbildung getrennt durch eine der Löß- 
bildung vor. Am Wege von Eitzum nach Diekholzen (20) 


Olbricht: Das Diluvium in der Umgebung von Hannover. 281 


wiederum liegen Lösse über Hängeschutt. — Aus diesen 
wenigen Beobachtungen geht hervor, daß nach Ab- 
lagerungen der diluvialen Schichten — die wahrschein- 


lich bei Eitzum der Rißeiszeit angehören, sicher aber 
präwürm sind — diese erst stark abgetragen wurden und 
dann erst Zeiten von Gehängeschuttbildung und Zeiten 
der Lößbildung folgten. Wer heute sieht, wie die dichte 
Walddecke den Boden schützt, zweifelt auch keinen Augen- 
blick, daß diese Gehängeschuttdecken in trockenen, vege- 
tationsarmen Zeiten entstanden sind. 

Zur Beurteilung des Alters der Lösse ist wichtig, daß 
Lößkindel nirgends beobachtet wurden, obwohl sie sich 
durch ihre Verlehmung und Mächtigkeit stark von den 
jüngsten Lössen (V1) unterscheiden. Die oft rötliche 
Farbe der Lösse beruht zum Teil — nicht überall! — wohl 
darauf, daß sie aus Buntsandsteinstaub abzuleiten sind, 
da Buntsandstein den größten Teil des Hildesheimer Waldes 
aufbaut. 

Auch die Frage der Schottersysteme ist für unser 
Gebiet noch nicht spruchreif. Im Norden von Hildesheim 
sind in großen Sandgruben zwischen Steuerwald und 
Drispenstedt (22) mächtige, aus einheimischem Material 
— darunter Kieselschiefer aus dem Harz! — aufgebaute 
Schotter erschlossen, die sich offenbar weit nach Norden 
ausdehnen und von glazialen, zum Teil eisenschüssig ver- 
witterten Sanden in zwei Abteilungen zerlegt werden, 
derart, daß die obere mit einer Erosionsdiskordanz über 
den Sanden lagert. Weiter im Norden verschmälern sich 
die Schotter und beschränken sich im wesentlichen auf 
das Leinetal. Schöne Aufschlüsse bieten sich besonders 
in den großen Kiesgruben von Barnten (23), Ahrbergen 
(17) und Heisede (24). Bei Ahrbergen sind diese Schotter 
durch Eisdruck gestaucht und liegen unter völlig zersetzten 
— zum Teil aus umgelagertem Schotter aufgebauten — 
Grundmoränen, denen eisenschüssige Sandschlieren ein- 
gelagert sind. Darüber folgen 3 m verlehmter Löß. 
Bei Barnten stehen diese Schotter unter einer dünnen 
Lößdecke an und lagern über Grundmoränen mit stark 
zersetzten Geschieben, die wiederum eine zum Teil zer- 
störte dünne Decke über Keupermergeln bilden, die als 
Liegendes zum Vorschein kommen. Zwischen der Ablage- 
rung der Schotter und der liegenden Grundmoräne liegt 
also eine Zeit, in der die letztere stark abgetragen wurde. 
` Ich bemerke noch, daß die Schotter bei Ahrbergen stark 
eisenschüssig verwittert sind, während diejenigen bei 
Hildesheim und Barnten viel frischer aussehen. Die offen- 
bar älteren eisenschüssigen Schotter entfernen sich nun 
auch mehr von der Leine. Am Wege von Sarstedt und 
Gödringen (23) sind sie in sehr schlechten verfallenen 
Gruben erschlossen und stark gestört. Hinter Bemerode 
— Weg nach Kirchrode — bilden sie das Liegende der 
verwitterten Rißmoränen und sind zum Teil in diese ein- 
gefaltet. Während sich bei Hannover die heutige Leine 
nach Westen wendet, lassen sich diese alten Schotter 
nordwärts verfolgen und sind südlich von Mellendorf in 
den großen Tongruben (26) zwischen zwei Grundmoränen, 
von denen die Liegende verwitterte Geschiebe aufweist, 
aufgeschlossen. Auch bei Letter sind diese roteisenschüssi- 
gen Schotter als Liegendes der dortigen Würmsandr er- 
schlossen. 

Es sind also in der Gegend um Hannover Andeutungen 
eines älteren Schottersystems vorhanden, das nach den 
Lagerungsverhältnissen wahrscheinlich in der Zeit zwischen 
der Riß- und der Mindeleiszeit gebildet ist, zum Teil aber 
(Letter, Mellendorf) auch jünger sein kann. Charakteristisch 
für dieseSchotter sind besonders Buntsandsteine und Kiesel- 
schiefergerölle. Die Leine floß früher nördlich von Han- 
nover direkt nach Norden durch die auffallende Senke, 
die heute zum Teil von der Eilenriede eingenommen wird 

Globus XCVIII. Nr. 18, 


und weiter im Norden von dem Wietzetal, welches auch 
die Eisenbahn nach Walsrode benutzt. Das heutige Leine- 
tal zwischen Hannover und Wunstorf ist vielleicht erst 
jüngeren Datums und hängt genetisch mit der Südgrenze 
des Würmeises eng zusammen. 

Auf die Bildung der älteren Schotter, die zum Teil 
15 m über die Leine sich erheben, folgt offenbar eine 
Zeit starker Erosion und dann die Bildung der jüngeren 
Schotter, die nicht mehr eisenschüssig verwittert sind, 
wesentlich weniger zementiert erscheinen — oft ganz locker 
— und wohl auch wieder verschieden alt sind, indem 
ältere grobkörnige Schotter sich von jüngeren feinkörnigen 
unterscheiden lassen. Für das Alter der jüngsten Schotter 
ist es wichtig, daß bei Hemmingen (27) nach den Mit- 
teilungen von Dr. Hahne unter 3 m Talton und 2 m 
feinem Schotter Hirschhornwaffen gefunden wurden, die 
wahrscheinlich neolithisch sind. Ich beschränke mich auf 
diese wenigen Mitteilungen, aus denen hervorgeht, was 
für eine Fülle von Problemen im Leinetal zu lösen ist. 

Ausblick. Es liegt nahe, die bisher gebrachten 
Ergebnisse mit denen aus benachbarten Gebieten zu ver- 
gleichen, um so der hier einsetzenden Forschung die 
Wege zu weisen. Auf der kleinen Übersichtskarte habe 
ich angedeutet, wo der Rand des Würmeises zu suchen 
ist. Als Fixpunkte kommen in Betracht die Saale 
nördlich von Halle (Nordgrenze des jüngeren Löß!), die 
Gegend nördlich von Halberstadt (dasselbe), das von uns 
behandelte Gebiet nördlich der Stadt Hannover und 
vielleicht die Insel Sylt (VII). Dazwischen klaffen große 
unerforschte Lücken. Nehmen wir aber dielanggestreckten, 
Endmoränen repräsentierenden Wälle westlich der Weser 
und die mit ihnen zum Teil zusammenfallenden Wasser- 
scheiden zu Hilfe, so ergibt sich das auf der Karte ein- 
gezeichnete Bild. Hierfür ist es wichtig, daß Behrmann 
(VIII) bei Oldenburg Landschaften beschreibt, die mit den 
von mir bei Burgdorf beschriebenen große Ähnlichkeit 
aufweisen. Hier kommt möglicherweise außerhalb der 
Grenzen der Würmvereisung eine ältere welligeExarations- 
landschaft zum Vorschein, die auffallenderweise auch 
unter den von Würmmoränen bedeckten Landschaften 
vorhanden ist und in ihren Mulden die bekannten 
limnischen interglazialen Ablagerungen der Heide ent- 
hält. Wie weit die Rißeiszeit nach Süden reichte, wissen 
wir auch noch nicht, doch vermute ich, daß ihre Grenze 
mit der großen Wasserscheide — auf der Karte zum 
Teil durch wallförmige, endmoränenartige Hügel ange- 
deutet — im Westen der Ems zusammenfällt, die meine 
kleine Skizze auch verzeichnet '). 

Werfen wir zum Schluß noch einen Blick auf die 
Nacheiszeit. Diese war im wesentlichen eine Zeit der 
Abtragung. Das Klima wurde offenbar nicht allmählich 
wärmer, sondern trockene und feuchte Zeiten wechselten 
miteinander ab. Aus diesen trockenen Zeiten kennen 
wir bei Halle verlehmte Schuttkegel, ich stelle in die- 
selben die Bildung der niederen Terrassen des Ilmenau- 
tales und der Schuttkegel, die sich hier, wie in den 
anderen Heidetälern, ins Vorland geschoben haben. 
Wichtig sind hierfür besonders die von den meisten 
Glazialgeologen aus begreiflichen Gründen systematisch 
totgeschwiegenen Arbeiten von Professor Schulz in 
Halle, deren Quintessenz er kürzlich im 2. Hefte des 
Jahrganges 1910 der Zeitschrift der deutschen geolo- 
gischen Gesellschaft gegeben hat. Ich möchte alle kri- 
tisch denkenden Glazialgeologen bitten, diese Arbeiten 
mit in den Kreis ihrer Betrachtung zu ziehen. 


1) Eine genauere Begründung, auf Grund einer großen 
zum Teil in Arbeit befindlichen Übersichtskarte Nordwest- 
deutschlands behalte ich mir vor. 


37 


282 


Sehröter: Der erste schweizerische „Nationalpark“, Val Cluoza im Unter-Engadin. 





Auch bei Hannover finden wir Andeutungen post- 
glazialer Klimaschwankungen. In den Gruben der Ze- 
mentfabrik in Lehrte — genauere Profile dieser höchst 
wichtigen Stelle werde ich demnächst mit Herrn Dr. Hahne 
gemeinsam veröffentlichen — liegen zwei Torfbänke ge- 
trennt durch einen Schneckenriet mit gerollten Steinen. 
Darunter lagen direkt über der Kreide behauene Knochen 
aus der Litorinazeit. Die heute von Mooren erfüllte 
Mulde muß also eine Zeitlang ausgetrocknet sein. 

Die Fragen, die sich uns aufgedrängt haben, lassen 
sich nur durch regionales Arbeiten lösen, und so ist es 
bezeichnend, daß die bisherigen Untersuchungen dieser 
Gebiete eine Klärung nicht gebracht haben. 


Literaturverweis. 


I. K. Olbricht, Grundlinien einer Landeskunde der 
Lüneburger Heide (Stuttgart 1910), 8. 597. — K. Olbricht, 
Über einige ältere Verwitterungserscheinungen in der Lüne- 
burger Heide.. Centralblatt für Min. usw. 1909, Nr. 22. 


II. Spethmann, Glaziale Stillstandslagen im Gebiet der 
mittleren Weser. Geogr. Mitt., Lübeck 1908, 2. Reihe, Heft 22. 

III. K. Olbricht, Bemerkungen an der Höhenschichten- 
karte der Lüneburger Heide. Petermanns Mitteilungen 1910, 
2. Halbbd., Heft 2. 

IV. Schucht, Der Lüneburger Ton als leitender Horizont 
usw. Jahrb. d. Kgl. Preuß. Landesanstalt 1908, 8. 131—150. 

V. K. Olbricht, Die Exarationslandschaft. Geologische 
Rundschau 1910, Heft 4. 

VI. E. Wüst, Gliederung und Altersbestimmung der Löß- 
ablagerungen Thüringens usw. Centralblatt f. Min. usw. 
1909, 8. 385-392. — Vgl. dazu die Bemerkungen der 
Herren L. Siegert usw., Centralblatt 1910, 8. 99—112, und die 
Antwort von Wüst im Centralblatt 1910, 8. 369—371 und 
407—417. $ 

VII. Gagel, Uber einen Grenzpunkt der letzten Vereisung. 
Jahrb. d. Landesanstalt 1907, 8.581 usw. 

VII. Behrmann, Zur Frage der Urstromtäler im Westen 
der Unterweser. Verhandlungen des 17. deutschen Geographen- 
tages 1910, 8. 49—66. — Zu ähnlichen Ergebnissen wie ich 
kommt Stoller: Landschaftsformen der südlichen Lüneburger 
Heide. 2. Jahresbericht des niedersächsischen geologischen 
Vereins, 1909, S. 126—131. 


Der erste schweizerische „Nationalpark“, Val Cluoza im Unter- Engadin. 


Von Prof. C. Schröter. 


Mächtig hat in den letzten Jahren die ideale Be- 
wegung eingesetzt, deren Streben nach Erhaltung der 
spärlichen Reste ursprünglicher Natur in unseren alten 
Kulturländern ging. „Schutz den Naturdenkmälern“ 


Zürich !). 


Danzig, besonders lebhaft gefördert, immer weitere Kreise 
ergriff. 

In der Schweiz wurden die früheren zerstreuten Be- 
strebungen im Jahre 1906 zentralisiertt durch die 





— s i 





Abb. 1. 


lautete ihr Wahlspruch, dessen suggestive Wirkung, von 
dem unermüdlichen deutschen Vorkämpfer, Prof.Conwentz- 


') Wir entnehmen diesen Aufsatz mit seinen Abbildungen 
unter freundlicher Erlaubnis des Vereins Naturschutz- 
park in Stuttgart dessen kürzlich erschienener Broschüre 
„Naturschutzparke in Deutschland und Österreich, 
Ein Mahnwort an das deutsche und österreichische Volk“ (Preis 
1 #). Der genannte Verein ist bestrebt, auch in Deutsch- 
land und Österreich-Ungarn einen Gedanken zu verbreiten, 


Das Val da Scarl. 


Schaffung einer „Kommission zur Erhaltung von Natur- 
denkmälern und prähistorischer Stätten“ oder kürzer 


der in anderen Ländern, wie in der Schweiz, in Amerika 
und Schweden, bereits Wurzel gefaßt hat und in die Tat 
umgesetzt worden ist: den Gedanken, Reservate zu schaffen, 
in denen ein Stück deutscher Natur in unverändertem Zustand 
fernen Geschlechtern überliefert wird. Diesem schönen Ge- 
danken dient auch die erwähnte Broschüre, die eine Reihe 
zweckdienlicher illustrierter Aufsätze enthält (außer dem vor- 


Schröter: Der erste schweizerische „Nationalpark“, Val Cluoza im Unter-Engadin. 283 




















Abb.2. Der Hintergrund des Val Cluoza von der Alp Murter aus 
gesehen (rechts Piz Quatrevals und die Valetta, links das Val del Diavel und 


der Piz dell’ Acqua). 


gefaßt „Schweizerischen Naturschutz- 
kommission“. Im Schoße der Schweizeri- 
schen naturforschenden Gesellschaft, die 
in unserem Lande die Rolle einer Aka- 
demie der Wissenschaften spielt, war 
von ihrem Zentralpräsidenten, Dr. Fritz 
Sarasin-Basel, der mit Begeisterung auf- 
genommene Antrag zur Gründung einer 
solchen Kommission gestellt worden. Sie 
besteht aus Geologen, Botanikern, Zoolo- 
gen und Prähistorikern unter dem ener- 
gischen Präsidium von Dr. Paul Sarasin-: 
Basel. Sie veranlaßte in jedem Kanton 
die Bildung einer Subkommission, so daß 
jetzt über das ganze Land verteilt eine 
große Zahl von „Naturschutzmännern“ 
an dem großen Ziel arbeitet. Es werden 
überall die Naturdenkmäler inventari- 
siert, erratische Blöcke und schöne Bäume 
zu schützen gesucht, und es wurde eine 
Verordnung zum Pflanzenschutz an- 


stehenden u. a.: Max Kemmerich, Natur- 
schutzparke; Kurt Floericke, Entwicklung, 
Stand und Aussichten der Naturschutz- 
parkbewegung; A. Metzroth, zur Geschichte 
der Naturschutzparke; Hans Sammereyer, 
Die Errichtung des Alpennaturschutzparkes; 
Konrad Günther, Das Leben der deutschen 
Wasserlandschaft, sein Rückgang und die 
Abhilfe dagegen; Floericke, Die Aussichten 
für einen Naturschutzpark in Norddeutsch- 
land; F. Schleichert, Eine Wanderung im 
Urwald am Kubani; Wolfgang von Garvens- 
Garvensburg, Wild im Yellowstonepark;; Der- 
selbe, Der Mariposahain von Riesenbäumen). 
Über den schweizerischen Nationalpark 
wurde bereits oben 8.259 in einer kurzen 
Notiz berichtet; hier findet sich Näheres 
über ihn. — Die Mitgliedschaft des Vereins 
Naturschutzpark (Geschäftsstelle Stuttgart, 
Pfizerstr. 5) wird für einen jährlichen Mindest- 
beitrag von 2.4 erworben. Neue Mitglieder 
erhalten die Broschüre kostenlos. Der Bei- 
tritt muß wärmstens empfohlen werden. 
Die Red. 


gestrebt, die jetzt schon in den Kantonen 
Aargau, Appenzell-Außerrhoden, Glarus, Grau- 
bünden, Luzern, Solothurn, St. Gallen, Uri, 
Wallis, Zürich und Zug durch die Regierungen 
für rechtskräftig erklärt ist und namentlich die 
gefährdete Alpenflora vor der drohenden Ver- 
armung retten soll und wird. 

Als eine Hauptaufgabe betrachtete aber die 
Naturschutzkommission die Schaffung von zu- 
sammenhängenden Erhaltungsgebieten (Reser- 
vationen, Naturparken, Tier- und Pflanzen- 
asylen). Das sind möglichst ursprünglich ge- 
bliebene Gelände, auf denen in Zukunft jede 
menschliche Einwirkung ausgeschaltet werden 
soll, um den unberührten Naturzustand für 
alle Zeiten .zu erhalten: Es sollten so mit der 
Zeit die Haupttypen natürlicher Gelände der 
Schweiz der Nachwelt überliefert und vor der 
drohenden Vernichtung durch die Kultur ge- 
rettet werden. Der Naturschutz arbeitet hier 
Hand in Hand mit dem „Heimatschutz“ und 
dem schweizerischen Forstverein, der die Schaf- 
fung von Waldreservationen in die Hand ge- 
nommen hat. 

Zunächst handelte es sich darum, im 
schweizerischen Hochgebirge einen Naturpark 














37* 


Schröter: Der erste schweizerische „Nationalpark“, Val Cluoza im Unter-Engadin. 





zu schaffen. Hier schien von vornherein das Ofen- 
gebiet, in der Südostecke unseres Landes gelegen, in 
vielen Hinsichten am geeignetsten. Es gehört einer 
Massenerhebung mit hochgelegenen oberen Grenzen 
an; zahlreiche gewaltige Schneegipfel und Dolomit- 
stöcke über 3000 m krönen das Ganze. Der große Reich- 
tum der Flora und Fauna ist durch die Lage an der 
Grenze der Zentral- und Ostalpen und durch den reichen 
Gesteinswechsel bedingt. Es ist ein wenig vom Verkehr 
und der Kultur berührtes Gebiet von wilder Ursprüng- 
lichkeit und erhabener Einsamkeit. Stundenweit be- 
decken urwaldartige Bergföhrenwälder die Gehänge, über 
denen zackig zerrissene Dolomitgipfel leuchten; in tief 
eingerissenen wilden Schluchten brausen der Spöl und 
Ofenbach dahin. Von Zernez im Unter-Engadin, der 
waldreichsten Gemeinde der Schweiz (sie besitzt 8000 ha 
Wald), führt die schön angelegte hochromantische Ofen- 
bergstraße nach Münster mitten durch dieses Gebiet, das 
also trotz seiner ursprünglichen Wildheit doch den Vor- 
zug leichter Zugänglichkeit besitzt. 


sette ihre leuchtendroten Rasen; es schimmern die manns- 
hohen Rispen des Wiesenhafers im Glanze der Engadiner 
Sonne, und der Schlangenwegerich schüttet den Blüten- 
staub in ganzen Wolken aus seinen hellgelben Ähren. 
So breiten sich an den Pforten unseres Naturparkes 
blumenreiche Fluren. 

Der Anstieg zur Wasserscheide ist ein herrlicher 
Waldspaziergang, zwischen Fichten, Arven, Lärchen und 
Engadiner Föhren (einer alpinen Abart der Waldföhre), 
auf rötlich schimmernden Teppichen der Schneeheide und 
durch weißbestreute Silberwurzelspaliere. 

Das Tal selbst, in das man auf holprigem Geißpfad 
nun hinabsteigt, führt an seinen steilen, tausendfach 
durchfurchten Kalkhängen, wie auf den weniger ebenen 
Stellen des Talbodens einen ‘urwaldähnlichen lockeren 
Baumbestand aus aufrechten Bergföhren, Arven und 
Lärchen, abwechselnd mit Legföhrendickichten und baum- 
losen Schutthalden, auf denen eine reiche und mannig- 
faltige Schuttflora sich angesiedelt hat. Dem Grunde 
des moosigen Urwalds entsteigt die bleiche Korallenwurz 

(Coralliorrhiza) und der seltene Gift- 





>O 
t 








Arvenwald im Val da Scarl. 


Abb. 4. 


Hier gelang es nun, den ersten schweizerischen 
Nationalpark zu schaffen. Es ist das Val Cluoza, ein 
wildes, bis jetzt schwer zugängliches Hochgebirgstal, in 
das gewaltige Dolomitmassiv des Piz Quatrevals tief ein- 
gerissen, südlich von Zernez im Unter-Engadin, am rechten 
Innufer (Abb. 2). Es läuft vom Piz Quatrevals (3150 m) 
gerade nach Norden; die Einmündung des Cluozabachs 
in den ungestümen Spölfluß liegt etwa 1520m hoch. 
Das Tal hat eine Länge von 10km, eine maximale Breite 
von 4km und einen Flächeninhalt von 28qkm. Nach 
oben gabelt es sich in die drei schreckhaft öden Fels- und 
Trümmertäler Valetta, Val Sassa und Val del Diavel. 
Gegen Süden, an der italienischen Grenze, ist es durch 
einen teilweise vergletscherten, schwer begehbaren Grenz- 
kamm abgeschlossen. 

Der Zugang von Zernez aus umgeht die wilde, felsige 
Mündungsschlucht des Cluozabachs, zieht sich zur links- 
seitigen Wasserscheide hinauf und von da ins Tal hinab. 

Haben wir von Zernez ausgehend den Spöl über- 
schritten, so wandern wir zwischen blühenden Sträuchern 
der rostroten Heckenrose, unter denen in großen Raketen 
die üppigen duftenden Stauden der blauen Himmelsleiter 
(Polemonium) emporschießen, während die schlingende 
Alpenrebe ihre blauen Glocken zwischen die blühenden 
Rosen hängt. Auf den Wiesen breitet die wilde Espar- 





hahnenfuß (Ranunculus Thora). 

Das Endstück des Tales, das Val del 
Diavel, führt zum beschwerlichen Teufels- 
paß empor, über den man ins italienische 
Livigno gelangt. Es ist von furchtbarer 
Wildheit „ein weites Felsengrab, wohin 
du blickst, ausgefüllt mit grauen Blöcken 
von Geröll ...“ (Otto v. Bülow.) 

Auf der rechten, etwas milderen Tal- 
seite liegt die Alp Murtèr, an dem dom- 
artig gerundeten Rücken, der das Val 
Cluoza vom Spöltal trennt. Es ist eine 
Schafalp, bisher an Bergamasker ver- 
mietet, die aber laut einer neuerlichen 
Verfügung des Bundesrates ihre Tiere 
überhaupt nicht mehr in der Schweiz 
weiden lassen dürfen; eine Vorschrift, 

die die Ablösung des Pachtvertrags den 

Zernezern sehr erleichtert. Ein üppiger, 
blumenreicher Rasen erfreut uns hier: 
in reichen Büscheln lagern die sammet- 
blauen Alpenveilchen auf dem Grase; die 
ganzblätterige Primel streut herdenweise 
ihre roten Sterne über den Boden, und das seltene 
Callianthemum öffnet seine weißen Blüten. Auf dem 
steinigen Grat, der im Piz Murter gipfelt, schmückt eine 
reiche Polsterflora den Felsschutt: der leuchtend orange- 
gelbe Mohn, der parnassiablätterige Hahnenfuß, zahl- 
reiche Hungerblümcehen und Saxifragen glänzen uns 
entgegen. 

So bietet das Tal die ganze Skala alpiner Vegetations- 
typen: den Alpenwald, den Strauchgürtel, die Hochstauden- 
flur, die Schuttfluren, die blumigen Matten, Quell- und 
Gesteinsfluren in reicher,‘ bunter Mischung. Auch an 
Gemsen und Murmeltieren fehlt es nicht, und, was dem 
Tal einen besonderen Reiz verleiht: es ist eine der 
letzten Zufluchtsstätten des Bären! 

Vom 1. Januar 1910 an hat sich die Gemeinde Zernez 
verpflichtet, im Val Cluoza keine wirtschaftliche Benutzung 
mehr zuzulassen, es darf in Zukunft „keine Axt und 
kein Schuß“ mehr erklingen, kein weidendes Haustier 
darf das Tal betreten. Die Naturschutzkommission der 
Schweizerischen naturforschenden Gesellschaft, mit der 
der Vertrag abgeschlossen wurde, hat das Recht, Wege, 
Hütten, Abgrenzungen und dergleichen zu erstellen und 
Wächter anzustellen. Es ist beabsichtigt, einen besseren 
Zugang zu schaffen, eine einfache Klubhütte zu bauen 
und einen ständigen Wächter anzustellen, sowie für 





Budberg: Bürg- und Haftpflicht im chinesischen Volksleben. 





die genaueste wissenschaftliche Durchforschung besorgt 
zu sein. 

Es ist ja keine Frage, daß die gesamte Flora der 
Alpweiden durch den Einfluß der Düngung und des Be- 
weidens in ihrem Pflanzenbestand ganz wesentlich be-. 
einflußt ist. Alles, was das stetige Abgebissenwerden 
und die Düngung nicht erträgt, das ist unter dieser Jahr- 
hunderte dauernden Selektion verschwunden. Es wird 
eine besonders interessante Aufgabe sein, in den Reser- 
vationen die allmähliche Wiederherstellung der ursprüng- 
lichen Flora zu verfolgen. 

Mit dem Naturpark des Val Cluoza ist im Ofengebiet 
ein erstes Zentrum geschaffen, an das sich weitere Teile 


dieses Gebietes angliedern sollen, teils Totalreservationen, 
wie Cluoza, teils hochalpine Partialreservationen, die erst 
oberhalb der Wald- oder Almengrenze beginnen sollen. 
Schon sind Unterhandlungen mit mehreren Gemeinden 
angeknüpft, die die Aussicht haben, zu einem guten 
Ende zu führen. So mit Schuls wegen der Tal- und Kamm- 
gebiete östlich und westlich des einsamen, waldreichen 
Val da Scarl (vgl. Abb. 1, 3 u. 4), mit Tarasp wegen des 
Plafnatales und mit Scanfs wegen der südlichen Täler 
des Quatrevalsmassivv.. Damit taucht das schöne Bild 
eines weiten Schutz- und Schongebiets unzerstörten 
Naturlebens vor uns auf, das der Nachwelt überliefert 
werden soll. 





Bürg- und Haftpflicht im 


Von Dr. R. Baron Budberg. 


Einer der wesentlichsten Charakterzüge des Chinesen 
ist, daß er die Welt und was ihn umgibt, nicht von sich 
aus beurteilt, sondern sich als ein sehr unwesentliches 
Atom der großen Welt, der er sich anzupassen hat, fühlt. 
Der Ausdruck „Fehlende Individualität“ ist indessen für 
diese Eigentümlichkeit des Chinesen nicht die richtige 
Bezeichnung. Jedem Chinesen wohnt dieFähigkeit inne, sich 
Personen und Verhältnissen zu akkommodieren. Die vor- 
züglichsten Beispiele dafür finden wir in der Sprache. 
Ganz zu schweigen von charakteristischen Bezeich- 
nungen des eigenen „Ich“, die zum Teil Ausdruck größter 
Bescheidenheit sind, gibt es viel bedeutsamere, die wirk- 
lich als Ausdruck eines uns fremden Vorstellungs- 
vermögens zu gelten haben. Die Begriffe „rechts“ 
und „links“ werden vom Chinesen wohl nur da gebraucht, 
wo es sich ausschließlich um seinen eigenen Körper 
handelt; um die Bezeichnung zur Umwelt auszudrücken, 
ersetzt er aber die uns geläufigen Begriffe links, rechts, vor 
und hinter durch Norden, Süden, Osten, Westen. Es 
berührt darum den Europäer, der erst kurze Zeit unter 
Chinesen weilt, höchst eigentümlich, wenn er selbst von 
kleinen Kindern hört: der Gegenstand befindet sich nördlich 
oder nordöstlich usw. auf dem Tische. Die Notwendig- 
keit, zur eigenen befriedigenden Existenz sich beständig 
der Welt und Gesellschaft in Sitten und Anschauungen 
anpassen zu müssen, leuchtet auch dem weniger begabten 
Chinesen ein. Gegen die elementarsten Grundgesetze 
der Moral darf er nicht verstoßen, denn tut er das, so 
„verliert er sein Gesicht“, d.h.er geht der Achtung, ohne 
die kein Mensch im Kreise seiner Mitmenschen leben 
kann, verlustig. Wer „das Gesicht verloren“ hat, der ist 
völlig isoliert und kann auf ein gedeihliches Fortkommen 
nicht mehr rechnen. Ein solcher Mensch findet dann 
nur noch Aufnahme in der Gesellschaft von Dieben, 
Räubern, Menschenhändlern usw., die alle kein Gesicht 
mehr besitzen. 

Chinas gesamter Staatsbau nun gründet sich auf den- 
selben Prinzipien, auf denen das Leben einer geordneten 
Familie beruht. An der Spitze einer jeden Familie stehen 
die Eltern. Daß diese ihre Kinder lieben, ist ein Natur- 
gesetz, das ja selbst die ganze Tierwelt kennzeichnet; 
daß umgekehrt die Kinder ihre Eltern lieben und achten, 
ist eine Notwendigkeit. Wohl können einmal die Eltern 
schlechte Leute sein (denken wir nur an das verbreitete 
Opiumlaster, das unzählige, selbst die reichsten Familien 
ruinieren kann), dann können die Kinder wohl auch den 
Eltern Vorstellungen machen und eine ganze Reihe 
anderer Mittel anwenden, um dem Unglück vorzubeugen; 
nie dürfen aber dabei die Grundbedingungen, die Liebe 
und Achtung den Eltern gegenüber fordern, vernachlässigt 


chinesischen Volksleben. 


Charbin. 


werden. Geschähe so etwas, so würden die Kinder un- 
vermeidlich alle Achtung bei ihren Mitmenschen verlieren 
und hätten zu fürchten, daß das Gesetz, das streng über 
die guten Sitten wacht, sie sehr hart straft. Das 
patriarchalische Familienleben der Chinesen schließt die 
Glieder der Familie unvergleichlich fester zusammen, als 
wir Europäer es uns vorstellen können. Einen rechten 
Einblick ins chinesische Familienleben erhält ein Europäer 
selten, es sei denn, daßihn verwandtschaftliche Bande mit 
chinesischen Familien verknüpfen oder er als helfender 
Arzt gerufen wird und man seiner Gesinnung vollstes 
Vertrauen schenkt; nur dann wird ihm ein Platz an 
gutem chinesischen Familienherde gestattet. In Europa 
kennt man ja, was Familienleben und Volkspsychologie 
betrifft, China meist nur aus der Feder der Missionare. 
Ihnen schreibt der Beruf Feindseligkeit gegen die kon- 
fuzianischen Lebensprinzipien vor, und dazu kommt 
dann häufig eine gewisse Gereiztheit, weil ihnen, die ja 
meist ihr lebelang inmitten chinesischer Bevölkerung 
weilen, das Übertreten der Schwelle zum häuslichen 
Herde guter Familien versagt wird. Sitten und mora- 
lische Anschauungen in christlich-chinesischen und kon- 
fuzianischen Kreisen sind sehr voneinander verschieden. 
Es kommt selten vor, daß sich eine Familie trennt, am 
häufigsten sehen wir Familien, selbst mehrere Generationen 
hindurch, beisammen bleiben unter einem Haupte, dem 
ältesten Mitgliede, dem sich die jüngeren Glieder unweiger- 
lich zu fügen haben. Leben die Großeltern oder die Eltern 
nicht mehr, so tritt an ihre Stelle der älteste Sohn, dem 
sich die jüngeren Brüder wie einem Vater fügen. Aus 
praktischen Gründen, wegen Krankheit oder schwachen 
Charakters des älteren, kann die Stelle des Familien- 
hauptes auch ein jüngeres Glied einnehmen. Die Heirat 
eines der Söhne bringt keinen Anlaß zur Trennung. 
Dem Sohne wählen die Eltern die Frau; wo nur Mittel 
vorhanden sind, sichern sich die Eltern möglichst früh- 
zeitig eine Braut für ihren Sohn, als Kinder werden 
viele verlobt, ohne bis zur Hochzeit einander zu kennen. 
Das durch Vertrag verlobte Mädchen ist wie durch die Ehe 
selbst gebunden. Es ist deshalb eigentlich zutreffender, 
statt von Verlobung von der Adoption eines Mädchens 
in eine andere Familie zu sprechen. Die junge Frau 
wird gleichsam in die Familie ihrer Schwiegereltern 
adoptiert und dem eigenen Sohn als Frau zugewiesen; 
aus ihrer Elternfamilie scheidet sie völlig aus. Weitaus 
in den meisten Fällen sehen wir die junge Frau sich 
innig an ihre Schwiegereltern, die sie ja selbst zu ihrer 
Tochter gewählt haben, anschließen. Die Kasse der 
Familie ist gemeinsam, das einzelne Glied arbeitet für 
die ganze Familie. Durch seine Ehe ist der chinesische 


286 


Budberg: Bürg- und Haftpflicht im chinesischen Volksleben. 





Mann in seiner Freiheit nicht beschränkt. Er kann in 
die Ferne ziehen, um mehr zu erwerben, für die Frau 
ist ja im Elternhause gesorgt; denn auf sie und ihre 
Kinder sieht man so wie auf die leiblichen. Es würde hier 
zu weit führen, noch andere Bedingungen, wie etwa den 
Ahnenkultus, zu erwähnen, die die Glieder der Familie 
so gewaltig fest verknüpfen. 

Die logische Folge aller dieser Bedingungen aber ist 
die Verantwortlichkeit der einzelnen Glieder für einander, 
die Haftpflicht in weiten Grenzen. Für Vergehen aller Art 
hält sich das Gesetz, hält sich der Geschädigte, im Falle 
der Schuldige sich geflüchtet hat, an die Verwandten. 
Nehmen wir ein Beispiel: Ein Dienender hat seinen 
Herrn bestohlen und sich geflüchtet, der Geschädigte reist 
dahin, wo der Vater, Bruder oder Sohn des Diebes lebt, 
und auf sein Verlangen wird der Verwandte des Diebes 
ins Gefängnis getan, bis der Schuldige sich gestellt hat 
oder festgenommen worden ist; ja es kann schließlich 
sogar der Haftpflichtige die Strafe des Diebes erleiden. 
Bei sehr großen, unerhörten moralischen Verbrechen 
eines Verwandten unterliegt die ganze Familie, Aszen- 
denten wie Deszendenten, die beisammen lebten, der Aus- 
rottung. Das Gesetz sagt in solchen Fällen, daß eben das 
ganze Geschlecht völlig degeneriert sein, und daß deshalb 
im Interesse der Mitmenschen, des Staates dem weiteren 
Keimen so schlechter Saat durch Ausrottung vorgebeugt 
werden müsse. Gewisse Verbrechen, die am Schuldigen mit 
dem Tode bestraft werden, zogen früher Kastration für 
die männliche Nachkommenschaft nach sich, um fort- 
schreitender Degeneration vorzubeugen. Man sollte diese 
Prinzipien nicht schlechtweg grausam nennen; ihr logischer, 
praktischer Sinn ist erstaunlich tief. Stets halte man sich 
vor, daß das chinesische Gesetz, die Volkspsychologie 
‚kennend, zum Wohle des Staates oder großer Kreise 
gegen das Einzelindividuum oft grausam, um nicht zu 
sagen ungerecht ist. Besonders rücksichtslos ist das 
Gesetz gegen Vergehen, die die Moral verletzen, wie Miß- 
achtung der Eltern, Unkeuschheiten mannigfaltiger Art, 
die zum Teil vom europäischen Gesetz, als das intimste 
Familienleben betreffend, gar nicht verfolgt werden. 


Sympathisch berührt uns dabei, daß das Gesetz nicht nur’ 


exemplarisch bestraft, sondern auch große Tugenden 
freigebig belohnt, und daß die Regierung den Tugend- 
haften selbst nach dem Tode schöne Denkmäler setzt, 
z. B. häufig tugendhaften Witwen. Alle diese und viele 
andere erziehende Prinzipien im chinesischen Gesetz, in 
angeborener und anerzogener Lebensmoral lassen die 
größte Verantwortlichkeit der einzelnen Familienglieder 
für einander ganz natürlich erscheinen. Die Anerkennung 
von Autorität überhaupt wird von jedem Gliede der 
Gesellschaft auf Grund der elementarsten Tugend, der 
Achtung vor den Eltern, gefordert; deshalb ist auch den 
Eltern, die verantwortlich für ihre Kinder sind, vom 
Gesetz die größte Machtbefugnis diesen gegenüber ein- 
geräumt. Wer in China die elementarsten Tugenden miß- 
achtet, wird unbarmherzig von der ganzen Gesellschaft 
verstoßen, er findet kein Brot in der Heimat und keine 
Bürgen, deren er in fernen Gegenden bedarf; zu 
Tausenden sterben alljährlich solche der Barmherzigkeit 
unwürdige Leute Hungers auf den Straßen. Barmherzig- 
keit einem Unwürdigen gegenüber wird von der Gesell- 
schaft nie anerkannt, vielmehr gerügt. Neben der natür- 
lichen Haftpflicht der Verwandten spielt im sozialen Leben 
Chinas und der Chinesen in fremden Ländern die frei- 
willige Bürgschaft die wichtigste Rolle. Das Band der 
geschworenen Freundschaft ist heilig und kommt der 
Blutsverwandtschaft gleich. 

Die Haftpflicht der Verwandtschaft geht der Verant- 
wortlichkeit auf Grund freiwilliger Bürgschaft voran. 


Dem Chinesen, der innig seine Heimat und sein Heim 
liebt, wohnt indessen stets ein Zug in die Ferne inne. 
Es ist nicht allein die große Armut in einzelnen Provinzen, 
die das Volk arbeitsuchend den häuslichen Herd verlassen 


‚läßt, sondern oft reine Wanderlust. Wohl keiner aber 


begibt sich allein oder ohne alle empfehlenden Ver- 
bindungen in weite Ferne, ihn begleitet wenigstens ein 
Brief, eine Empfehlung bis zum nächsten Orte. Annahme 
von Dienstboten, ohne daß eine Bürgschaft geboten wird, 
erscheint als sträflicher Leichtsinn. Je nach der Verant- 
wortlichkeit, die der Dienstbote übernimmt, wird eine 
größere oder geringere Bürgschaft verlangt. Die Form 
bildet ein schmaler Streifen Papier, auf dem das Geschäft 
oder eine einzelne Person bescheinigt, daß sie dem zu- 
künftigen Dienstherrn für den Empfohlenen bürgt, ein 
Stempel der Firma fehlt dabei nicht. Solch eine Bürg- 
schaft, „bau-thjau“, sichert vor allem Schaden, den der 
Dienstherr durch den verbürgten Dienstboten erleiden 
könnte, sie besitzt vollste Rechtskraft. Man hört eigent- 
lich nie davon, daß ein durch einen wahren „bau-thjau“ 
empfohlener Dienstbote sich des ihm geschenkten Ver- 
trauens unwürdig gezeigt habe; denn dadurch wäre nicht 
allein er verloren, seine ganze Familie wäre blamiert 
und vielleicht ruiniert durch Beitreibung des Vielfachen 
von dem Schaden, den er verschuldet hat. Es ist durch- 
aus nicht notwendig, daß der Bürgende den Empfohlenen 
selbst kennt; es genügt, daß er von einer anderen Person 
oder Firma um die Bürgschaft gebeten wird, letztere 
kennt die Familie des Empfohlenen, weiß, an welche 
Personen sie sich mit der Haftpflicht zu halten hat. So 
können diese Bürgschaften häufig eine lange Kette 
bilden, was indessen häufig zum Vorteil der gegenseitigen 
kommerziellen Beziehungen dient. Den Schaden hat zu- 
nächst derjenige zu tilgen, der den „bau-thjau“ gegeben 
hat. Wir stehen hier vor einem erstaunlich organisierten 
System bester Garantien und geschäftlicher Beziehungen. 

Die nämlichen Prinzipien spielen im Handel dieselbe 
Rolle, schaffen dazu einen billigen Kredit und festen 
Konnex. Das Kaufmannsgeschäft beruht ja in China 
auf anderen Prinzipien als bei uns, die Kontrolle ist ver- 
einfacht. Selbst der kleinste Kaufladen hat zu Teil- 
nehmern am Geschäft meist mehrere Personen; denn dieses 
schafft schon mehr Beziehungen und verlangt nicht 
zu große Kapitalien vom einzelnen. In den internationalen 
Kolonien Chinas ist es etwas sehr Gewöhnliches, daß die 
Dienstboten der Europäer stille Teilnehmer an solchen 
kleinen Geschäften sind. Die Buchführung eines jeden 
Geschäftes ist sehr genau und läßt eine vorzügliche 
Kontrolle zu. Der Kassenabschluß des Tages wird nach 
Schluß des Geschäftes alltäglich durch alle Angestellten 
geprüft, wobei jeder sein Rechenbrett, auf dem er meister- 
haft schnell zählen kann, vor sich hat, die einzelnen 
Posten werden von der ganzen Gesellschaft rhythmisch 
singend addiert usw. und unterliegen so der ausgiebigsten 
Aufsicht. Zu welch einer Routine in kaufmännischen 
Interessen die Chinesen gelangen, mag ein Bild aus dem 
Leben in großen Restaurants illustrieren. Irgend ein 
Herr hat Gäste oder Freunde ins Restaurant geladen, 
die Mahlzeit ist zu Ende, der Kellner trägt die Rechnung 
rhythmisch singend vor, ihm antwortet zur Kontrolle der 
Koch aus der Küche, während der Kassierer seinerseits 
die Posten bucht. Der Chinese liebt überhaupt das 
Rechnen, und man sieht auch alle anderen Gäste mit 
Interesse dem schnellen Gesange und dem summarischen 
Resultat folgen. Der Wirt hat nebenbei den Vorteil, 
daß infolge dieser Methode so mancher Gast mehr be- 
stellt, allein um vor dem Publikum ein wenig zu protzen. 

Im Dienste größerer Firmen finden junge Leute nur 
mit guten Bürgschaften Aufnahme. Als Laufbursche 


Friederici: Die Verbreitung der Steinschleuder in Amerika. 


287 





eingetreten, tüchtig und zuverlässig, rückt der junge 
Mensch im Laufe einiger Jahre vor und erhält einen 
Anteil an dem Unternehmen, der mit den weiteren 
Jahren wächst. Die Stellung der Glieder eines chinesischen 
Kaufmannshauses zueinander gleicht den Beziehungen 
der Glieder einer Familie untereinander. 

Selbst die staatlichen Behörden bedienen sich bei 
Anstellung von niederen Beamten, Soldaten und Polizisten, 
die als Volontäre in den Dienst genommen werden, des 
Bürgschaftssystems. 

Wer in China lebt, nicht nur der Kaufmann, 
sondern auch jeder andere, muß, wenn er sich nicht 
großen Unannehmlichkeiten und Enttäuschungen aus- 
setzen will, sich an dieses tief eingebürgerte rationelle 
System der Bürgschaft halten. 99 Proz. von denen, die 
sich über Unehrlichkeit und -Schlechtigkeit der Chinesen 
zu beklagen haben, verschulden sie selbst, weil sie diese 
Grundbedingungen im Verkehr mit den Chinesen nicht 
gekannt oder vernachlässigt haben. Solche Europäer 
müssen sich dazu ins Gewissen schreiben, daß sie 
demoralisierend auf die von ihnen beschäftigten Chinesen 
gewirkt haben. Darin, daß der Dienstherr von seinem 
Untergebenen keine Garantie verlangt, sieht der Chinese 
geradezu eine Verleitung zu Unehrlichkeiten, und in 
jedem Fall ist eine Nichtbeachtung dieser für den 
Chinesen selbstverständlichen Vorsichtsmaßregel eine 
herausfordernde Versuchung, die Tausende junger Chinesen 
in europäischen Diensten verdorben hat. F 

Erschreckende Bilder weitestgreifender Demoralisation 
unter der chinesischen Bevölkerung infolge Ignorierens 
genannter Bedingungen bietet das Gebiet der Ost- 
Chinesischen Bahn. Diebstähle und Verbrechen aller 
Art nehmen in diesem Gebiet von Jahr zu Jahr in er- 
schreckender Zahl zu. Es vergeht kein Jahr mehr, wo 
nicht Ermordungen ganzer Familien durch chinesische 
Dienstboten zu verzeichnen sind. Dieentflohenen Verbrecher 
bleiben dabei, weil Heimat und Name unbekannt sind, 
ohne Strafe. Man nimmt sich ja nicht einmal die Mühe, 
den Namen seines chinesischen Bedienten, auch wenn er 
jahrelang im Hause ist, kennen zu lernen, man gibt ihm 
den Namen Iwan, Andrei usw. und kümmert sich 
sonst nicht darum, woher er stammt und welche 
Beziehungen er unterhält. Es werden Stellenvermittelungs- 
bureaus speziell für Annahme chinesischer Dienstboten 
konzessioniert, diese kennen aber nicht das System der 
Garantien, sondern halten sich an die Regeln, wie sie 
in den inneren russischen Gouvernements gebräuchlich 


sind. Die Verwaltung sieht nun wohl allmählich ein, 
daß die Verhältnisse immer kritischer werden; die 
Zahl der Verbrechen wächst sichtlich, und es werden neue 
Maßnahmen getroffen oder geplant, immer aber wird an 
den Grundsätzen festgehalten, die das Gesetz für die 
inneren russischen Gouvernements vorschreibt. Letzthin 
ist beim Polizeibureau in Charbin ein offizielles Kontor 
zur Annahme chinesischer Dienstboten eröffnet worden, 
und als Garantie sollen zwei Photographien dienen, von 
denen die eine der Dienstherr, die andere die Polizei 
behält. Dadurch meint man im Falle eines Verbrechens 
den Flüchtling wiederfinden zu können. Durch den 
amtlichen Charakter, den solch ein Kontor besitzt, wird 
die Annahme von Dienstboten nur noch leichtsinniger. 
Das Verderblichste für die hiesigen russischen Interessen 
ist, daß die ganze Presse, die das Publikum über die 
Grundbedingungen einer befriedigenden Existenz im 
fremden Lande und unter völlig fremder Bevölkerung 
aufklären könnte und sollte, nicht gebildete Kräfte besitzt 
und dabei den Gegensatz zwischen den -einzelnen 
Nationalitäten zu schüren bestrebt ist. 

China kommt infolge der rapid zunehmenden Ver- 
derbnis des ab- und zuwandernden Volkes auf einem so 
großen Gebiet, das dazu noch zu frisch sich erschließen- 
den Kolonisationsgegenden führt, in eine kritische 
Lage. Hier will es jetzt schon nicht recht Herr werden 
können über die stets zunehmenden großen Räuber- 
banden. 

Rußland, dem hier alle Vorbedingungen, seinen 
Handel und geine Machtstellung zu festigen, geboten 
waren, geht infolge seiner Unfähigkeit, sich großen 
kulturellen Grundsätzen anzubequemen, zurück, und die 
Zeit dürfte nicht fern sein, wo auch russisches Grenz- 
gebiet heimgegucht wird von den überhandnehmenden 
Chunchudzenbanden. Wird China es verstehen, in seinem 
großen Reformwerk sich neu zu beleben, ohne sein 
altes rationelles Staatssystem zu zerbrechen, auf be- 
währtem Fundament weiterzubauen, dann dürfte es im 
Erwerben der Errungenschaften auf wissenschaftlichen 
und technischen Gebieten, ein Schüler der modernen 
Welt, bald diese seine Rolle mit dem des Lehrmeisters in 
staatserhaltenden Prinzipien vertauschen. Zeigt uns doch 
schon die Geschichte des chinesischen Staates, daß er in 
kurzer Zeit dank seiner alten Kultur zahllose ver- 
schiedene Völker zu einer Nation und einer Lebens- 
auffassung so harmonisch vereinigt hat, wie es keinem 
anderen Staatswesen gelungen ist. 





Die Verbreitung der Steinschleuder in Amerika. 


Von Dr. Georg Friederici. 


Die im folgenden gegebene kurze Übersicht über die 
Verbreitung der Schleuder in Amerika ist das Ergebnis 
einer Untersuchung, die als Vorarbeit für eine größere 
Abhandlung über die Südseeinseln notwendig wurde. 

Um im Norden zu beginnen, so wissen wir zunächst, 
daß die Eskimos auf der ganzen Linie, von Grönland 
über die Baffin-Bai und Mündung des Mackenzie bis nach 
Alaska, gewandte und gefährliche Schleuderer waren. 
Frobisher und Luke Fox haben im Gefecht mit ihnen 
Bekanntschaft gemacht, Alexander Mackenzie und Admiral 
v. Wrangell konnten sie beobachten 1). An der Ostküste 


1) „A Collection of Documents on Spitzbergen and 
Greenland“, p. 216, 217 (London 1855, Hakl. Soc.). — „The 
Voyages of Captain Luke Fox of Hull, and Captain Thomas James 
of Bristol, in Search of a North-West Passage, in 1681 — 1632“, 
I, 49, 67, 88 (London 1894, Hakl. Soc.). — „Voyages d’Alex- 


von Nordamerika traf Sebastian Cabot die Schleuder bei 
den Beothuks von New Foundland im Gebrauch ?), Le- 
derer bei einem Stamme von Nordkarolina 3). 

Während den Indianern der Golfstaaten ihr mächtiger 
Bogen die Hauptangriffswaffe war, hatten sie doch offenbar 
noch als Nebenwaffe die Schleuder im Gebrauch. Cabeza 





andre Mackenzie dans l'Intérieur de l’Amerique Septentrionale 
etc.“ Trad. Castera. II, 61 (Paris 1802). — v. Wrangell: 
„Statistische und etlınographische Nachrichten über die 
russischen Besitzungen an der Nordküste von Amerika.“ 
Herausg. K. E. v. Baer, 8. 90 (St. Petersburg 1839). 

2) Harrisse: „Découverte et Évolution Cartographique de 
Terre-Neuve et des Pays Circonvoisins 1497—1501—1769“, 
p. 164 (Paris et London 1900). 

3) „The Discoveries of John Lederer, in three Several 
Marches from Virginia, to the West of Carolina“, p. 18 
(London 1672). 


Friederici: Die Verbreitung der Steinschleuder in Amerika. 





de Vaca sagt dies ganz ausdrücklich, während Garcilaso 
de la Vega bei Beschreibung der Schlacht von Mauvila 
es offen läßt, ob der gewaltige Steinhagel aus den Händen 
der Indianer stammte oder aus Schleudern. Moore hat 
zahlreiche in Mounds der Küste von Nordwestflorida ge- 
fundene runde oder zylindrische Steine als indianische 
Schleudersteine gedeutet ®). 

Im Museum von Nassau, New Providence, Bahama- 
inseln, befindet sich eine Anzahl harter, eigroßer Kugeln 
aus einer tonigen Erde, die man in einer Höhle gefunden 
hat. Es sind sicherlich Erzeugnisse der ehemaligen Be- 
wohner, der Lucayos, aber ob man in ihnen Schleuder- 
steine vor sich habe oder Kochsteine, hat man nicht zu 
entscheiden vermocht. Vielleicht sind sie keines von 
beiden gewesen. 

Die Lucayos waren nahe Verwandte der Tainos von 
Haiti, von deren Sprache die ihrige nur dialektisch ver- 
schieden war. Die Tainos nun haben nach dem aus- 
drücklichen Zeugnis von Las Casas niemals Schleudern 
gekannt und verwandt. Aber den Schluß hieraus zu 
ziehen, daß nun auch den Lucayos die Schleuder fremd 
gewesen sei, würde voreilig sein. Dann müßte man 
auch folgern, daß die Lucayos auch im Besitz der tiradera, 
des Wurfholzes der Tainos von Haiti, gewesen seien. 
Nichts wird hiervon in den spanischen Berichten erwähnt. 
Dazu kommt, daß für Trinidad der Gebrauch der Schleuder 
belegt ist; zwar ist nicht ersichtlich, ob es sich in diesem 
Falle um Karaiben oder um Aruaks handelt, die beide 
damals auf dieser Insel wohnten, an der Tatsache selbst 
aber scheint angesichts der ausdrücklichen Angabe von 
Thevet nicht zu zweifeln zu sein 5). 

Das Verschwinden der Schleuder kann bei den Twana 
im heutigen Staate Washington verfolgt werden. Eells 
konnte noch feststellen, daß in früherer Zeit die jungen 
Leute mit Schleudern auf die Entenjagd gingen; er 
selbst fand diese ehemalige Kriegswaffe zum Knabenspiel- 
zeug entartet 6). 

In Ober- und Unterkalifornia hat man noch die 
Schleuder im Gebrauch vorgefunden, aber sie war schon 
sichtlich vom Bogen zurückgedrängt, war auf dem Aus- 
sterbeetat. In Unterkalifornia scheint sie sich etwas 
länger als Kriegswaffe gehalten zu haben 7). 

Bei den Pueblo-Indianern war die Schleuder zum 
Knabenspielzeug herabgesunken °), aber in Mexiko konnten 
die Spanier noch ihre volle Wirkung im Kriege verspüren. 
Vom Gran Rio del Norte bis nach Guatemala hinein ist 


t) Cabeza de Vaca: „Relación de los Naufragios y 
Comentarios“, I, 40—41 (Madrid 1906). — Garcilaso de la 
Vega: „La Florida del Inca“, p. 150 II (Madrid 1723). — 
C. B. Moore: „Certain Aboriginal Remains of the Northwest 
Florida Coast“, II, 160—161 (Philadelphia 1902). — Jones: 
„Antiquities of the Southern Indians“, p. 372 (New York 1873). 

*) „The American Naturalist“, IX, 183—184 (Salem, 
Mass., 1875). — Las Casas: „Historia de las Indias“, III, 90 
(Madrid 1875—1876). — Bernaldez: „Historia de los Reyes 
Católicos D. Fernando y Da. Isabel“, I, 296 (Granada 1856). 
— Thevet: „Les Singularités de la France Antarctique“, 
p. 322 (Paris 1878). — „The Voyage of Robert Dudley, etc. 
to the West Indies, 1594—1595“, p. 65/66, 78/78 (London 1899, 
Hakl. 8oc.). 

6) Eells: „The Twana Indians etc.“ in „Bull. U. 8. 
Geolog. a. Geogr. Survey of the Territories“, III, 78 (Wash- 
ington, D. C., 1877). 

7) Powers: „Tribes of California“, p. 404 (Washington 
1877). — Mason in „Smithsonian Report“, July 1893, p. 633 
(Washington 1894). — Mason in „American Anthropologist“, 
N. S., I, 61 (New York 1899). — Wheeler: „Report upon U. 
S. Geogr. Surveys West of the One Hundredth Meridian“, 
VII, 28, 205 (Washington, D. C., 1879). — Ramusio: „Delle 
Navigationi et Viaggi Raccolte“, III, 288 D., 290 B., 292 A. 
(Venetia 1606). — P. Juan Bravo in Stöcklein: „Der Neue 
Welt-Bott“, I. Bund, VII, 73 [Numerus 171] (Augspurg und 
Grätz 1728). 

°) F. Krause: „Die Pueblo-Indianer“, 8. 36, 60 (Halle 1907). 


hier dieSchleuder belegt. Besonders über die sogenannten 
Chichimeken nördlich von Mexiko, über die Azteken und 
ihre Feinde, die Tlaxcalteken, über die Gegenden von 
Catoche, Campeche, Tabasco, Chiapas und Jalisco haben 
wir bestimmte Nachrichten. Merkwürdigerweise läßt 
Landa bei Aufzählung der Waffen der Maya die Schleuder 
aus und sagt dann, daß sie andere Waffen als die ge- 
nannten nicht besäßen. Die Schleuder war eine etats- 
mäßige Waffe in der Heeresorganisation der Azteken. 
Neben den anderen Waffen und Ausrüstungsstücken 
waren auch die Schleudern mit Munition in den Arsenalen 
aufgehäuft. Bei einer Mobilmachung wurden sie an die 
Krieger ausgegeben. Die Treffsicherheit der Azteken 
mit der Schleuder wird gerühmt, sie erzielten eine erheb- 
liche Fernwirkung und gefährliche Durchschlagskraft. 
Das Gefecht begann gewöhnlich mit einem aus Pfeilen 
und Steinen gemischten Geschoßhagel. Gomara sagt, 
daß die Azteken während der Straßenkämpfe in Mexiko 
mit keiner Waffe so viel Schaden angerichtet hätten als 
mit den geschleuderten Steinen, wobei hier allerdings 
auch wohl noch Handsteine mit darunter zu verstehen 
sind. Der Chronist Diaz del Castillo erhielt im Gefecht 
einen nicht ungefährlichen Schleuderschuß; Motecuhzoma 
wurde bekanntlich durch drei Schleudersteine seiner 
erbitterten Untergebenen verwundet °). 

Wir finden diese Waffe dann weiterhin im übrigen 
Zentralamerika !0), im Anschluß hieran im Caucatal 1!) 


°?) Abert: „A Report and Map of the Examination of New 
Mexico“, Senate Doc., p. 48 (Washington 1848). — Diaz del 
Castillo: „Historia Verdadera de la Conquista de la Nueva 
España“, I, 12, 14, 16, 17, 31, 88, 92, 93, 182, 187, 188, 226, 
282, 417, 418, 420 (bis), 422, 423, 424, 426 (bis), 431, 432, 
433, 434, 438, 491, 493; II, 11, 14, 26, 40, 70, 71, 129, 214, 
215 (Mexico 1904). — Motolinia: „Historia de los Indios de 
Nueva Espana“, I, 188 [trat. III, cap. VII] (Mexico 1858). 
Tomo II, Juan de Sämano: „Relación“, p. 269 (Mexico 1866.) 
— „Colección de Documentos Inéditos para la Historia de 
Espana“, tomo LII, p. 515 (Madrid 1869). — Gomara: 
„Historia de Mexico“, p. 26a, 28a, 32a, 36a—37, 110, 153, 
153a, 154, 154a, 156 (Anvers 1554). — Duran: „Historia de 
las Indias de Nueva Espana etc.“, I, 259, 260 (Mexico 1867). 
— Torquemada: „Los Veinte y Un Rituales, y Monarquia 
Indiana“, lib. XIV, cap. III [tom. II, p. 588 II—539 1I) (Madrid 
1723) — Ramusio, l. c. III, 251a, 254a. — Herrera: 
„Historia General“, Déc. II, 165I, 186 II (Madrid 1726—1730). 
— Solis: „Historia de la Conquista de Mexico“, I, 131 (Bar- 
celona 1789). — Clavigero: „Storia Antica del Messico“, lib. 
VII, $ 23 [II, 143] (Cesena 1780). — Landa: „Relación de las 
Cosas de Yucatán“, in „Colección de Documentos Inéditos 
del Archivo de Indias“, Seg. ser., vol. XIII, 341 (Madrid 1900). 
— Stoll: „Die Ethnologie der Indianerstämme von Guate- 
mala“, Suppl. zu Bd. I d. „Intern. Arch. f. Ethnogr.“, S. 74 
(Leiden 1889). 

10) Herrera: „Historia General“, Dec. I, 228I. — Las 
Casas V, 518. 

11) The Travels of Pedro de Cieza de Leon, A. D. 1532 
— 1550“, edit. Clements R. Markham, p. 49, 71, 81—82 
(London 1864, Hakl. Soc. No. 33). — Zu Seite 49 sagt der 
Herausgeber in Note 1: „the slings seem to me likely to be 
throwing-sticks with cords“. Diese Bemerkung ist unzu- 
treffend; auch wenn der in der englischen Ausgabe ganz 
mangelhaft übersetzte spanische Originaltext nicht so deut- 
lich spräche, wäre kein Kommentar für die Schleuder nötig, 
denn ihr Vorkommen ist in dieser ganzen Gegend Amerikas 
belegt. Der spanische Text lautet folgendermaßen: „Las 
armas con que (p. 28a) pelean, son dardos, y lanças largas 
dela palma negra que arriba dixe, tiraderas, hondas, y vnos 
bastones largos como espadas de a dos manos, a quien 
llamä Macanas“. Pedro Cieca de Leon: „La Chronica del 
Perv“, p. 28—28a [cap. XII] (Anvers 1554). Die eng- 
lische Übersetzung der Hakluyt-Edit. lautet wie folgt: „Their 
arms are darts, long lances of black palm, slings and two- 
handed clubs, called Macanas“. Jeder Kommentar ist für 
einen Ethnologen überfiüssig. Die Ausgaben der Hakluyt 
Society von Cieza de Leön und Garcilaso de la Vega sind 
wegen ihrer häufigen Lücken und stellenweise schlechten 
Übersetzung mit Vorsicht zu benutzen. Für einige Arten wissen- 
schaftlicher Untersuchungen sind sie völlig unzureichend. 


Friederici: Die Verbreitung der Steinschleuder in Amerika. 


289 





und bei den Stämmen der Hochlande von Bogotá 12), 
Überall hier scheint die Schleuder aber nur eine unter- 
geordnete Rolle gespielt zu haben; die Hauptfernwaffe 
war die tiradera, das Wurfbrett oder Wurfholz. 

Weiter nach Süden kommen wir nun in das wichtigste 
Verbreitungsgebiet der Schleuder, in das Inkareich. 

Hier war sie zunächst die Waffe des Donnergottes; 
man muß den scharfen, peitschenknallähnlichen Schuß 
eines gewandten Schleuderers gehört haben, um sofort 
zu verstehen, wie eine solche Auffassung bei einem Ge- 
birgsvolke entstehen mußte, deren einzige Fernwaffe die 
Schleuder war. Sie spielt dann weiter ihre Rolle in der 
Gründungssage des Inkastaates und war noch bis zuletzt 
eine Art göttlichen Donnerkeils in der Hand des regieren- 
den Inka. Cinchi Roca gab mit einem Schleuderschuß, 
dessen Geschoß eine Kristallkugel war, in einer Schlacht 
das Zeichen zum Angriff. Huayna Capac soll mit einer 
angeblich von seinem Vater, der Sonne, erhaltenen 
Schleuder nebst drei Kristallgeschossen in einer Schlacht 
gegen die Kazika Quilago Wunder verrichtet haben. 
Garcilaso sagt an einer Stelle, daß die Schleuder im Inka- 
heer zu den wenig geachteten Waffen gehört habe. Das 
scheint mir aber nicht so ohne weiteres zuzutreffen und 
stimmt auch nicht zu den Angaben anderer Gewährs- 
männer. Sie war recht eigentlich die Waffe der Völker 
der Berge, die zu den Kerntruppen des Inkaheeres ge- 
hörten, und war in ihren Händen von gewaltiger Wir- 
kung. Möglich, daß die mit anderen Fernwaffen aus- 
gerüsteten Völker der Wälder und Ebenen mit einer 
gewissen, sicherlich auf Gegenseitigkeit beruhenden Ge- 
ringschätzung auf die Schleuderer hinabsahen, wie ja 
auch in den modernen Armeen bis zum heutigen Tage 
Eifersucht unter den verschiedenen Truppengattungen 
gegeneinander zu herrschen pflegt, bis zu einer gewissen 
Grenze ein sehr wertvoller soldatischer Charakterzug. Im 
Gegensatz zu Garcilaso wird die Schleuder verschiedent- 
lich an erster Stelle unter den aufgezählten Waffen ge- 
nannt; die Kunst des Schleuderns war ein Prüfungszweig 
des Examens, dem sich die Inkajünglinge unterziehen 
mußten, bevor sie vom Herrscher zu „Rittern“ ernannt 
wurden. Bei den militärischen Übungen mit Schleudern 
bediente man sich statt der Steine der Frucht des Quizco 
(Cereus peruvianus). Ihre Durchschlagskraft war so 
gewaltig, daß es selbst mit diesen Geschossen nicht selten 
Tote gab. 

Wir finden die Schleuder (waraka) über das ganze 
Inkareich hin verbreitet, von den Cara und Purüa im 
Norden bis zu den Grenzen Chiles. Sie wurde zum Teil aus 
Wolle verfertigt und hieß dann auch washka, zum anderen 
Teil aus Agavefasern und Rohr. Alle Schleudern für 
die Militärverwaltung wurden in bestimmten Gegenden 
des Reiches hergestellt, wo die Bedingungen für gute 


und billige Fabrikation am günstigsten waren. Auch 
die Schleudergeschosse — Kieselsteine, das will sagen 
„harte Steine“, genannt — wurden in einer gewissen 


glatten eiförmigen Form fabrikmäßig hergestellt. Schleuder 
und Steine wurden in großen Massen in die Arsenale 
des Reichs gebracht und hier vermittelst Quipus registriert 
und verwaltet. Selbst die Steine hatten die Kammer- 
unteroffiziere des Inka auf diese Weise zu buchen. Bei 
einer Mobilmachung wurden dann Waffen und Muni- 
tion an die Soldaten ausgegeben. Die Chachapuya trugen 
ihre Nationalwaffe, eine Schleuder von ganz besonderer 
Machart, um die Stirn gewickelt, wie man das noch heute 
in derselben Art bei den Baining und Tumuip von Neu- 
Pommern in der Südsee sehen kann. Im Kriege gegen 


12) Oviedo y Valdés: „Historia General y Natural de las 
Indias“, II, 392II (Madrid 1851—1855). — Herrera, l. c. 
VI, 11511. 


Cayambe zog Huayna Capac angeblich 40 000 mit Schleu- 
dern und anderen Fernwaffen ausgerüstete Krieger zu- 
sammen. In der Schlachtlinie marschierten die Schleuderer 
mit ihren Holzschilden und gepolsterten Baumwollen- 
wämsern vorne weg; sie waren die Artillerie, sagt Las 
Casas, die das Gefecht einleitet. Die Wirkung der 
Schleudergeschosse wird als ganz gewaltig geschildert. 
„Ihre Hauptwaffe ist die Schleuder“, sagt Henriquez de 
Guzmän. „Mit ihr schleudern sie einen großen Stein 
mit solcher Gewalt, daß er ein Pferd tötet; ihre Wirkung 
ist tatsächlich nur wenig geringer als die einer Arkebuse; 
ich habe gesehen, wie ein so geschleuderter Stein auf 
eine Entfernung von 30 Schritt ein Schwert in zwei 
Teile zerbrach, das ein Mann in der Hand hielt“ 13), 
Auch die Araukanier und Pehuenche besaßen die 
Schleuder als Waffe; im Verlaufe ihrer Kämpfe gegen 
die Spanier ist sie aber wohl sehr bald gegen wirksamere 
Kriegswerkzeuge gänzlich zurückgetreten 14). Ercilla 
führt in seiner Aufzählung der Waffen der Araukanier 
auch „trabucos“ auf; Toribio Medina sagt in einer An- 
merkung hierzu, daß ein trabuco ein Apparat zum Steine- 
schleudern sei. Mir fehlen im Augenblick die Unterlagen, 
um feststellen zu können, wie dieser Apparat eigentlich 
aussah, auch weiß ich nicht einmal, ob dieses Instrument 
schon in befriedigender Weise untersucht worden ist 25). 
Während Yahgans auf Feuerland ihre Fellschleudern 
wie die Baining um den Kopf gewunden trugen, sind 
Anwohner der Magelhaensstraße beobachtet worden, denen 
ihre aus Fell und getrocknetem Fischdarm zusammen- 
gestellte Schleuder auch zugleich als Gürtel diente In 
diesem ganzen Südteile von Amerika ist die Schleuder 
als Jagd- und Kriegswaffe vertreten. Mit der Leistungs- 
fähigkeit dieser Leute als Schleuderer scheint es in der 
zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts schnell 
bergab gegangen zu sein; während Kapitän FitzRoy 
und noch Bove voller Bewunderung sind, ist Hyades 
sehr enttäuscht 16). Wenden wir uns wieder nach Norden, 





t») Xerez: „Verdadera Relacion de la Conquista del 
Perú“, p. 99 (Madrid 1891). — Cieza de León (Hakl. Edit.) 
p. 299, 355. — Garcilaso de la Vega: „Primera Parte de los 
Comentarios Reales“, p. 181 II, 196I, 201, 202 und lib. V, 
cap. 6 [die Seitenzahl fehlt mir hier: s. Ausg. d. Hakluyt 
Soc. II, 18—19) (Madrid 1727). — Derselbe: (Ausgabe Lisboa 
1609), p. 197 [lib. VIII, cap. 1]. — Las Casas: „De las Anti- 
guas Gentes del Perú“, p. 38—39, 40, 42, 108, 194, 197 
(Madrid 1892). — Montesinos: „Memorias Antiguas Histo- 
riales y Políticas del Perú“, p. 124, 161—162, 164—166 
(Madrid 1882). — „The Life and Acts of Don Alonzo Henri- 
quez de Guzman“, p. 101 (London 1862, Hakl. Soc.). — 
Acosta: „Historia Natural y Moral de las Indias“, II, 11 
(Madrid 1894). — Herrera, l. c, V, 61lI. — Sarmiento 
de Gamboa: „Geschichte des Inkareiches“, herausg. von 
R. Pietschmann, 8.35, 36, 65, 74 (Berlin 1906). — v. Tschudi: 
„Culturhistorische und sprachliche Beiträge zur Kenntniss 
des alten Perú“, S. 165 (Wien 1891). — „The Journal of 
the Anthrop. Inst. Gr. Britain a. Ireland“, IV, 322 (London 
1875). — Payne: „History ofthe New World called America“, 
I, 372, Note; 478, 543 (Oxford 1892). 

14) Toribio Medina: „Los Aborijines de Chile“, p. 139 
(Santiago 1882). — Molina: „Saggio sulla Storia Civile del 
Chili“, p. 67—68 (Bologna 1787). — Luis de La Cruz: „De- 
scripcion de la Naturaleza de los Terrenos etc. poseidos por los 
Peguenches“ in „Colección de Angelis“, I, 46 (Buenos Aires 
1835). — Frezier: „Relation du Voyage de la Mer du Sud 
aux Côtes du Chili ete.“, lib. 21, chap. 1 (Amsterdam 1717). 

15) Ercilla: „La Araucana“, I, 6 [canto I, éstr. 19] 
(Madrid 1776). — Toribio Medina, l. c., p. 139. 

16) [Córdoba]: „Relacion del Ultimo Viage al Estrecho 
de Magallanes“, p. 341, 346—347 (Madrid 1787). — „Apéndice 
a la Relacion del Viage al Magallanes“, p. 25—26 (Madrid 
1793). — De Laet: „Nieuwe Wereldt ofte Beschrijvinghe 
van West-Indien“, XII, 9 [p. 464]; XII, 12 [p. 472] (Leyden 
1630, Elzevier). — Weddell: „A Voyage towards the South 
Pole, Performed in the Years 1822—1824*, 2nd edit., p. 164 
— 165 (London 1827). — Wilkes: „Narrative of the United 
States Exploring Expedition“, I, 124 (Philadelphia 1845). — 


290 


Bücherschau. 





so finden wir die Schleuder noch bei den Guaranivölkern 17) 
und auch noch — wenigstens nach dem Vokabularium 
von Marbän zu schließen — bei den Moxos £28). Hier 
aber scheint die Verbreitung der Schleuder nach Norden 
und Osten von Südamerika ihr Ende zu finden. Dieser 
ganze Teil von Brasilien, der Osten von Venezuela und 
die Guayanas scheinen im allgemeinen von der Schleuder 
frei gewesen zu sein. 

Ich bin mir wohl bewußt, in dieser kurzen Abhand- 
lung das Quellenmaterial zur Sache nicht erschöpft zu 
haben; aber ich glaube in großen Zügen ein im all- 
gemeinen richtiges Bild der Verbreitung der Schleuder über 
den amerikanischen Kontinent gegeben zu haben. In 
Einzelheiten wird es verbesserungsbedürftig sein. 

Man ersieht aus dem Vorhergehenden, daß die Schleuder 
vom Norden bis zum Süden Amerikas zu finden war, 
daß frei von ihr im allgemeinen nur die großen Alluvial- 
gebiete des Mississippi, des Orinoko und des Amazonas 
waren und dazu die Gebiete der Völker, die einmal aus 
diesen Gegenden abgewandert sind. Es sind das an- 
nähernd genau dieselben Länder, auf die ich schon in 
einem anderen Zusammenhang hingewiesen habe 19). Da- 
mals habe ich nachgewiesen, daß für diese Gegenden der 
Mangel an steinernen Schneide- und Stechwerkzeugen 
und Waffen oder das völlige Fehlen von ihnen charak- 
teristisch ist, und ich habe diese Erscheinung durch den 
absoluten Steinmangel ungeheurer Gebiete des Kontinents 
zu erklären versucht. Dasselbe trifft nun auch für die 
Schleuder zu. Die Schleuder ist in Amerika annähernd 
überall da vertreten gewesen, wo es Steine gab; wo 
diese aufhörten, hört auch die Schleuder auf. Schon 
Oscar Peschel hat auf diesen Zusammenhang hin- 


Hyades in „Revue d’Ethnographie“, IV, 542—546 (Paris 1885). 
— Bove: „Expedicion Austral Argentina“, p. 132 (Buenos 
Aires 1883). 

17) v, Ihering: „A Civilisação Prehistorica do Brazil 
Meridional“, p. 129 (São Paulo 1895). — Stöcklein, l. c., 
I, II, 52 (num. 48); I, VIII, 62 (num. 169). — Ruiz de 
Montoya: „Bocabulario de la Lengoa Gvarani“, II, 38, unter 
honda (Leipzig 1876). 

18) Marban: „Arte de la Lengua Moxa“, p.253 (Leipzig 1894). 

1°) „Skalpieren und ähnliche Kriegsgebräuche in Amerika“, 
8. 40—41 (Braunschweig 1906). 


gewiesen 2%). Nicht zutreffend istdagegen die andere Behaup- 
tung von Peschel, die auch Payne vertritt ?!), daß nämlich 
im tropischen Urwald die Schleuder nicht verwendbar sei. 
Ein Volk, dessen einzigste Fernwaffe die Schleuder ist, 
die Baining, lebt in einem nahezu lückenlosen Urwald. 
Im recht eigentlichen tropischen Urwald kann man über- 
haupt mit keiner Fernwaffe kämpfen, manchmal kaum 
mit dem Messer. Man kämpft auf den schmalen Pfaden, 
an Flußübergängen, an den Rändern der Taropflanzungen, 
in den Lichtungen bei den Dörfern, am Strand. Ledig- 
lich vom Standpunkte der Verwendung betrachtet, hat 
in einem solchen Gelände der Bogen sicherlich Vorzüge 
vor der Schleuder, das Wurfbrett aberkaum. Der Wurf- 
brettschütze braucht mehr Ellenbogenfreiheit als der 
Schleuderer; die mangelhafte Rasanz des Wurfbretts ist 
ein erheblicher Nachteil. Auch ist es nicht ganz zu- 
treffend, wie gesagt worden ist, daß die Schleuder nur 
in wenig bewohnten Gebieten gefunden worden ist. 
Nirgends hat die Schleuder in Amerika eine so große 
Rolle gespielt wie in den Halbkulturländern Mexiko und 
Peru mit ihrer verhältnismäßig dichten Bevölkerung. 

Wenn man die weite Verbreitung der Schleuder über 
Melanesien, Mikronesien und Polynesien würdigt, so drängt 
sich die Frage auf, ob nicht vielleicht auch diese Waffe 
zu den Erscheinungen gehört, welche die Südsee dem 
amerikanischen Kontinent ethnologisch näher zu bringen 
scheinen. Aber die Untersuchung zeigt, daß dem nicht 
so ist. Die Schleuder ist in Amerika offenbar überall 
da, wo sie überhaupt nur sein kann; während sie gestern 
ein Jäger bei der Llamajagd am Titicaca erfunden hat, 
ist vielleicht vorgestern in Neu-Mexiko beim Spiel einem 
Pueblo-Indianer derselbe glückliche Gedanke gekommen. 
Genau so verhält es sich mit dem Kind der Schleuder, 
der Bola; wir finden sie in ihren verschiedenen Formen, 
als bola perdida und als zwei- oder dreisträhnige Bola 
in Nord- und in Südamerika. Hier wie dort hat sie sich 
selbständig entwickelt. Doch das überschreitet den 
Rahmen dieses Aufsatzes. 


2) „Völkerkunde“, 5. Aufl., herausg. v. Alfred Kirchhoff, 
8. 191 (Leipzig 1881). 
21) ]. c., I, 269, Note. 


Bücherschau. 


Adolf Heilborn, Der Mensch der Urzeit. Vier Vor- 
lesungen aus der Entwickelungsgeschichte des Menschen- 
geschlechts. Zweite Auflage. VIII und 104 8. mit zahl- 
reichen Abbildungen. (Aus Natur und Geisteswelt, 62. Bd.) 
Leipzig 1910, B. G. Teubner. 1,25 f. 

Auf dem Gebiete der Urgeschichte des Menschen ist ja 
in den allerletzten Jahren viel neues Material zusammen- 
gebracht worden. Es sind überaus wichtige Funde (z. B. 
durch Schoetensack und Hauser) geglückt, und die Forschung 
ist auf Grund dieser Funde zu neuen — ob auch immer 
richtigen, sei dahingestellt — Anschauungen über den euro- 
päischen Urmenschen gekommen. So war eine Neubearbeitung 
dieses Bandes der bekannten Sammlung wohl geboten. An- 
gesichts aber der Fülle des neuen Stoffs ließ der Verfasser 
diesmal eine Beschränkung insofern eintreten, als er sich im 
wesentlichen nur mit der Paläanthropologie beschäftigte und 
die Prähistorie, die Urgeschichte der Kultur, nur soweit be- 
rührte, als es um des Verständnisses willen nicht zu umgehen 
war. So behandelt der Verfasser mit guter Beherrschung 
des Stoffes in für weite Kreise berechneter Form und Aus- 
dehnung folgende Dinge: Das gegenwärtige Wissen vom 
Ursprung des Menschen; den tertiären Menschen; die Ne- 
andertalrasse; die Aurignacmenschheit und die Mischrassen 
des ausgehenden Diluviums. Die Abbildungen sind zweck- 
mäßig gewählt, man findet da z. B. viel aus der Fundstätte 
von Le Moustier, den Schädel von La Chapelle - aux - Saint, 
den Unterkiefer von Mauer (H. Heidelbergensis) und Skizzen, 
die dem Leser unmittelbar das Verfolgen der Schädelentwicke- 
lung gestatten. 


Alfred Manes, Ins Land der sozialen Wunder. Eine 
Studienfahrt durch Japan und die Südsee, nach Australien 
und Neuseeland. XII u. 312 8. mit 125 Abb. und 1 Karte. 
Berlin 1911, E.8. Mittler u. Sohn. 6 M. 

Die eigentümlichen, von den unseren so verschiedenen 
sozialpolitischen Verhältnisse Australiens und Neuseelands 
lockten den Verfasser im Jahre 1909 zu einer Studienreise 
dorthin. Sein Weg führte ihn dabei auch über Japan, Ma- 
nila und über verschiedene Südseegruppen. Sein Buch soll 
den Leser mit den Erfahrungen, Urteilen, Nutzanwendungen, 
Eindrücken und Erlebnissen des Autors in leichter Form be- 
kannt machen, und das wird denn auch dank seiner vollendeten 
und fesselnden Darstellungskunst in vollkommener Weise er- 
reicht. Das Buch zerfällt in eine Beschreibung der Reise 
und in einen „Soziale Studien“ überschriebenen Teil, der des 
Autors Beobachtungen zusammenfaßt. Ohne einer Über- 
tragung der australischen und neuseeländischen sozialen Ge- 
setzgebung auf deutsche Verhältnisse ohne weiteres das Wort 
zu reden, ist er doch mit Recht von hoher Bewunderung für 
die Sozialpolitik der Antipoden und das durch sie Erreichte 
erfüllt. Der Hauptunterschied zwischen der deutschen und 
z. B. der neuseeländischen Sozialgesetzgebung und ihrer 
Wirkung liegt wohl in ihren Motiven: bei uns war sie ein 
Produkt der Angst, dort ein Ausfluß wahrer Humanität. 
Übrigens gibt der Weg nach Australien dem Autor oft Ge- 
legenheit zu kolonialpoljtischen Betrachtungen. Im Bismarck- 
archipel weilend, fragt er: Warum verwendet man im Kolonial- 
dienst draußen einseitig juristisch gebildete Leute, denen 
volkswirtschaftliche, ethnologische und Sprachkenntnisse ganz 


Kleine. Nachrichten. 


291 





fehlen? Vielleicht hat er einmal Gelegenheit, diese Frage 
an den „großen Kaufmann“ Dernburg zu richten. Wir 
wollen sie mit dem Hinweis zu beantworten versuchen, daß 
ja auch die ganze Verwaltung (und zum Teil auch die Recht- 
sprechung) daheim infolge ihrer Erziehung und juristischen 
Vorbildung meist weltfremd gewordenen Leuten konsequent 
ausgeliefert wird. — Dem empfehlenswerten Buche sind viele 
sehr hübsche Abbildungen beigefügt, die allerdings nicht 
immer ausreichende Beziehung zum Text erkennen lassen. 


Hermann Wagner, Geographisches Jahrbuch. 33. Bd., 
1910. X u. 4728. Gotha 1910, Justus Perthes. 15 f. 
Der Band ist diesmal als Ganzes herausgekommen, er 

enthält ausschließlich Berichte über mathematisch - natur- 

wissenschaftliche Gebiete der Erdkunde, und zwar zumeist 
solche über längere Zeitperioden, während deren eine Bericht- 
erstattung ‚bisher ausgeblieben war. Das erklärt zum Teil 
auch die Änderungen in der Person der Berichterstatter. 

W. Gerbing in Leipzig behandelt die Fortschritte der geo- 

graphischen Meteorologie von 1906 bis 1908; E. Tams in 

Hamburg die Fortschritte in der Dynamik der festen Erd- 

rinde für die Jahre 1903 und 1904. Tams ist an die Stelle 

von E. Rudolph getreten und soll auch den ausstehenden 

Bericht über die folgenden Jahre zusammenstellen. Hermann 

Haack in Gotha berichtet für die Jahre 1906 bis 1908 über 

Kartenprojektion, -zeichnung und -messung; das Kapitel über 

die Kartenreproduktion fehlt diesmal. Zu den regelmäßiger 

wiederkehrenden Berichten gehört der von Franz Toula in 

Wien über neuere Erfahrungen über den geognostischen Auf- 

bau der Erdoberfläche, 1907 bis 1909. Leider hat Drude, 

einer der ältesten Mitarbeiter am Jahrbuch, die Bericht- 
erstattung über die Geographie der Pflanzen niedergelegt; an 
seine Stelle ist L. Diels in Marburg getreten, der in dem 

Bande mit einer Übersicht über die Jahre 1905 bis 1909 er- 

scheint. Ebenso hat O. Krümmel, dessen letzter ozeano- 

graphischer Bericht im Jahrbuch für 1903 erschien, die Mit- 
arbeiterschaft eingestellt; dieser hat mit dem vorliegenden 

Bande in dem Göttinger Privatdozenten L. Mecking einen 

jüngeren Nachfolger (Zeitraum 1903 bis 1909) gefunden. 


Otto Hübners Geographisch -statistische Tabellen 
aller Länder der Erde. Fortgeführt und ausgestaltet 
von Franz Juraschek f. 59. Ausgabe für das Jahr 1910. 
IX u. 103 8. Frankfurt a. M., Heinrich Keller. 1,50 f. 

Schon zwei Menschenalter hindurch erscheint nun dieses 
von Hübner begründete, seit 1884 von Juraschek fortgeführte 
und ständig ausgebaute Nachschlagewerk. Juraschek starb 

im Februar 1910, und dieser 59. Jahrgang ist der letzte, den 

er noch — zum Teil wenigstens — bearbeitet hat; zu Ende 

geführt hat ihn Jurascheks Witwe und Mitarbeiterin, die in 
einer Einleitung auf die wichtigsten statistischen Verände- 
rungen seit dem Vorjahre hinweist. Voraufgeschickt ist ein 
von Robert Meyer dem Verstorbenen gewidmeter Nachruf. 

Die Hübner-Juraschekschen Tabellen füllen ein nur ver- 
hältnismäßig dünnes Heft; trotzdem ist hier eine ganz er- 
staunliche Fülle von Angaben zusammengedrängt, und wer 
das Werk ständig benutzt, wird in ihm nicht leicht vergebens 
suchen. Dazu vermehrt sich von Jahrgang zu Jahrgang der 
gebotene Inhalt um neue Stoffarten und Nachweise, und auch 
der vorliegende macht da keine Ausnahme. Es ist klar, 
welche Mühe in dem Werke steckt, und die verwendete Sorg- 
falt und Gewissenhaftigkeit ist höchsten Lobes würdig. Jeder 


Geograph, Kaufmann, Volkswirtschaftler, Verwaltungsbeamte, 
Politiker, eigentlich jeder Gebildete, der das staatliche Ent- 
wieckelungsleben verfolgt, findet da Auskunft über alle mög- 
lichen Fragen der Zahl, und wer sich an den verläßlichen, 
kurz und schnell orientierenden Berater gewöhnt hat, wird 
ihn nicht mehr entbehren wollen. 


Richard Pietschmann, Bericht des Diego Rodriguez de 
Figueroa über seine Verhandlungen mit dem Inka 
Titu Cusi Yupanqui in den Anden vonVillcapampa. 
(Aus den Nachrichten der Kgl. Gesellsch. der Wissensch. 
Göttingen, Philol.-hist. Kl. 1910, 8. 79—122.) 

Der verdienstvolle Herausgeber der „Geschichte des Inka- 
reiches von Pedro Sarmiento de Gamboa’ veröffentlicht hier 
ein Manuskript aus dem Nachlasse Alexander von Humboldts 
in der Kgl. Bibliothek zu Berlin (Ms. hispan. qu. 64), eine 
Kopie des französischen Orientalisten Eugene Jacquet von 
spanischen Dokumenten, die er bei seinen Studien über die 
Schriftarten der Philippinen in einem Sammelbande spanischer 
Aktenstücke in der damals Kgl. Bibliothek zu Paris unter 
der Signatur Saint Germain, frang., No. 1588 vorfand. Es 
ist die Handschrift Esp. 325 der jetzigen Bibliothèque Natio- 
nale in Paris, die auf dem Einbandrücken den Aufdruck 
„Relation des Philippines“ trägt. 

Diese Bemerkung ist wichtig, da die Hoffnung besteht, 
daß in den Archiven der Philippinen oder in anderen auf diese 
Inseln bezüglichen Dokumenten sich noch weitere wertvolle 
Nachrichten über Peru und Mexiko in Form von spanischen 
Manuskripten werden auffinden lassen, eine Annahme, zu der 
ich längst auf Grund des lebhaften Handelsverkehrs und Aus- 
tausches von Missionaren zwischen Amerika und den Philip- 
pinen namentlich im 16. und 17. Jahrhundert gekommen bin. 
Der bisher unveröffentlichte Bericht des Diego Rodriguez (de 
Figueroa) behandelt seine Reise in die „tierra de guerra de 
Mango Ynga“, das Andengebiet von Villcapampa, in dem 
Rodriguez den Titu Cusi Yupanqui, einen Bruder des in 
Yucay gestorbenen Sayri Tupac, aufsucht, um ihn durch 
Friedensverhandlungen zu einem Vertrage zu veranlassen, und 
zwar, wie sich rechnerisch feststellen läßt, im Jahre 1565. 
In der Schilderung der Reise des Hofstaates des Titu Cusi 
Yupanqui und der mit ihm gepflogenen Unterhandlungen findet 
sich eine Menge Nachrichten, die wertvoll sind nicht nur für 
die Geschichte Perus, sondern auch für die Kenntnis der 
Kultur und der Sitten der alten Bewohner des Landes. 

Dr. Walter Lehmann, München. 


Robert Lehmann-Nitsche, Sumarios de las Conferencias 
. y memorias presentadas al XVII Congreso Inter- 
nacional de los Americanistas. Buenos Aires 1910. 
Während sonst die Berichte der Amerikanistenkongresse 
immer erst geraume Zeit nach stattgehabter Tagung erscheinen, 
übergibt diesmal der verdienstvolle General-Sekretär des Kon- 
gresses von Buenos Aires die Extrakte der einzelnen Vorträge 
gleich nach Beendigung des Kongresses der Öffentlichkeit. 
Damit ist allen Amerikanisten, namentlich denen, die nicht 
in Buenos Aires anwesend sein konnten, ein großer Dienst 
erwiesen worden. Die Vorträge und Arbeiten verteilen sich 
über die Paläanthropologie, physische Anthropologie, Lin- 
guistik, Ethnologie und Archäologie, allgemeine Ethnologie 
und Kolonialgeschichte. Ein Eingehen auf Einzelheiten wird 
besser erst dann geschehen, wenn der Kongreßbericht selbst 
in extenso vorliegen wird. W. L. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Die Bahn von Konakry nach Kurussa am oberen 
Niger, in Plan und Bau ein Werk des Hauptmanns Salesses, 
ist Mitte September 1910 fertig geworden. Salesses studierte 
die Linie bereits 1896, drei Jahre später beschloß die fran- 
zösische Regierung den Bau, und 1900 wurde mit ihm be- 
gonnen. Am 1. Januar 1904 war der Bau der ersten Teil- 
strecke von 148km beendet. Dann folgte in weiteren drei 
Jahren der Bau der zweiten Teilstrecke, vom km 148 bis 
km 301 (Kumipaß), und seit 1908 der des Schlußstückes bis 
km 599 (Kurussa). Die Baukosten beliefen sich auf rund 
56'/, Mill. Fr., so daß der Kilometer auf 93750 Fr. zu stehen 
kam. Am teuersten stellte sich der Bau, der Gebirge wegen, 
auf der zweiten Teilstrecke, wo der Kilometer rund 111000 Fr. 
kostete. Am billigsten, nämlich für etwa 83000 Fr. den Kilo- 
meter, baute man das dritte Teilstück, Kumipaß —Kurussa, 
und da hierfür 30 Mill. Fr. bewilligt waren, sind an 5 Mil- 
lionen erspart worden, die nun wohl dazu dienen werden, 


Kurussa mit der 73km entfernten, reichen und dicht bevöl- 
kerten Landschaft Kankan im Südosten von Kurussa durch 
einen Schienenweg zu verbinden. Die Bahn Konakry—Ku- 
russa wird in der Entwickelung des westlichen Französischen 
Sudan eine wichtige Rolle spielen, zumal sie für gewisse 
Teile des Sudan eine viel kürzere Verbindung mit der Küste 
darstellt, als die nördlichere aus dem Wasserweg des Senegal 
und der Bahnstrecke Kayes—Bammako zusammengesetzte 
ältere Verkehrsstraße. Schon vor Beendigung des letzten 
Teilstücks warf die Konakry—Kurussabahn einen Nettogewinn 
von 1 Mill. Fr. jährlich ab; er wird sich jetzt gewiß erheb- 
lich steigern. 


— Der englische Zoologe Douglas Carruthers hat im 
März d.J. mit J.H. Miller und M.P. Price eine Reise zwecks 
naturwissenschaftlicher und geographischer Studien in der 
nordwestlichen Mongolei, insbesondere im Becken des 


292 


Kleine Nachrichten. 





oberen Jenissei, angetreten. 
1910 werden Mitteilungen über den bisherigen Verlauf der 
Reise, die von Ende Juli aus Tschakul am oberen Jenissei 


Im „Geogr. Journ.“ für Oktober 


datiert sind, gegeben. Danach verließ Carruthers im Mai 
Minussinsk am Jenissei (südlich von Krassnojarsk) und durch- 
zog den Sajan- und Beikemdistrikt, worauf er auf einem 
Floß den Beikem, den nördlichen Quellfluß des Jenissei im 
chinesischen Gebiet, über 450 km weit hinaufging. Nach 
Carruthers ist das auf unseren Karten auf der russisch- 
chinesischen Grenze als Kette verzeichnete Sajanische Ge- 
birge in dieser Form nicht vorhanden, sondern nur in der 
Form isolierter Gruppen von sehr rauhen Bergen; sie scheinen 
infolge einer Reihe voneinander getrennter Aufrichtungen, 
die nach verschiedenen Richtungen und in verschiedenen 
Zeiträumen stattgefunden haben, entstanden zu sein. Die 
Flußsysteme sind durch kaum wahrnehmbare Wasserscheiden 
getrennt. Es wurden viele auf unsereu Karten nicht ver- 
merkte Glazialseen, darunter solche von erheblicher Größe, 
angetroffen. Überraschend ist, daß dieses Gebiet eine enge 
Verwandtschaft mit Sibirien, nicht mit der Mongolei, auf- 
weist. Klima, Landschaft, Volk, Flora und Fauna — alles 
ist sibirisch. Dichter Wald bedeckt den größeren Teil des 
Landes, die dürre mongolische Flora beginnt erst in den 
Talböden und an den Südabhängen der Hügel um Tschakul 
zu erscheinen. Bewohnt wird es von einer kleinen Anzahl 
Uriantschais, die auch mehr Verwandtschaft mit den süd- 
sibirischen Stämmen als mit den Mongolen zeigen. Im Herzen 
der Wälder der abgelegenen oberen Täler wurden Nomaden 
angetroffen, die in Birkenrindenzelten wohnten und in ihrer 
Existenz gänzlich auf ihre gezähmten Rentierherden an- 
gewiesen waren. Das Vorhandensein dieses Tieres innerhalb 
des chinesischen Reiches ist sehr interessant, um so mehr, 
als sich Beweise dafür ergaben, daß es dort einheimisch ist, 
nämlich auch wild vorkommt. Weil die bisherigen Karten 
sich als sehr unzuverlässig erwiesen, machten Carruthers und 
Miller überall Aufnahmen. Ferner ist viel zoologisches Ma- 
terial gesammelt worden, und Price hat geologisch und bota- 
nisch gearbeitet. — Die Weiterreise sollte nach Westen gehen, 
im Tale des Kemtschik, des aus dem Südwesten kommenden 
großen chinesischen Jenisseizuflusses, aufwärts, wobei das 
Tannu-ola-Gebirge untersucht werden sollte; dann über den 
Altai nach Tschugutschak und Kuldscha, wo die Expedition 
inzwischen eingetroffen sein wird. Den Winter gedachte 
Carruthers im Tarimbecken und den Frühling in Kansu und 
Alaschan zuzubringen. 








— Die Republik Portugal. Seit dem 5. Oktober gibt 
es in Europa eine Republik mehr: in Lisssbon erfolgte eine 
Revolution unter Mitwirkung von Teilen des Heeres und der 
Marine, der König Manuel U. suchte das Weite, seine Dynastie, 
das Haus Braganza, ist abgesetzt und die Republik erklärt 
worden, zu der sich alsbald auch die übrigen Landesteile 
und Truppen bekannt haben. Portugal, 92575 qkm groß mit 
annähernd 5!/, Millionen Einwohnern und einem noch sehr 
ansehnlichen Kolonialbesitz (etwa 2090000 qkm), lag seit 
langem wirtschaftlich und kulturell arg darnieder, und die 
Zukunft muß lehren, ob die neue Staatsform imstande sein 
wird, da mit mehr Erfolg zu arbeiten, als es das Königtum 
getan und vermocht hat. Sehr wertvoll, aber bisher wenig 
entwickelt sind die großen afrikanischen Kolonien Portugals; 
auch hier harrt der Republik eine große Aufgabe, wenn sie sie 
vor dem Appetit anderer Kolonialmächte dauernd sichern will. 


— Über Boyd Alexanders Ermordung in Dar- 
Tama (vgl. oben 8. 131) haben die französischen Behörden 
in Wadai eine Untersuchung veranstaltet, die folgendes er- 
geben hat: Nachdem der englische Reisende am 30. Dezember 
1909 Fort Lamy am Schari verlassen hatte, zog er über Moito, 
Yao, Birni und Birket el-Fatma nach Abescher, wo er am 
4. März 1910 anlangte. Der französische Resident in Abescher 
untersagte ihm die Fortsetzung der Reise, doch trat Alexander 
mit dem Sultan von Dar-For in Verbindung und teilte ihm 
mit, daß er sein Land durchziehen wolle. Nachdem er dann 
erfahren hatte, daß in das von den Franzosen für Wadai 
reklamierte Dar-Tama Dar-For-Truppen einen Einfall gemacht 
hatten, erhielt er von dem französischen Offizier die Erlaubnis 
zu einem Erkundungsritt in der Richtung auf Dar - Tama 
unter der Voraussetzung, daß Alexander gleich nach Abescher 
zurückkehren würde. Dieser Ritt wurde am 28. März an- 
getreten und fand in einem kleinen Dorfe bei Nyeri durch 
den Tod Alexanders sein Ende. Der Zusammenstoß wurde 
dadurch hervorgerufen, daß Alexander sich dem Versuch, 
ihn gewaltsam zum Sultan von Dar-Tama zu bringen, wider- 
setzte. Einer seiner Leute, der ebenfalls niedergeschlagen 
wurde, kam nach dem Abzuge der Angreifer zu sich, über- 


zeugte sich vom Tode Alexanders und entkam dann. Alexan- 
ders Leiche ist den Behörden von Englisch-Bornu übergeben 
und dort auf dem Europäerfriedhof in Maifoni beigesetzt 
worden, wo jetzt auch unser Landsmann Overweg ruht. 


— Berniers neue Nordpolarfahrt. Es scheint, daß 
Kapitän Bernier, der im Juli d. J. mit dem Schiffe „Arctic“ 
von neuem nach den Gewässern im Norden Kanadas ab- 
gesegelt ist, auf die Absicht, durch den Jonessund nach 
Norden vorzudringen und die Frage nach der Existenz von 
Pearys Crockerland zu entscheiden, verzichtet hat. Es heißt 
jetzt, Bernier habe sich wiederum zum Lancastersund ge- 
wendet und wolle eine Nordwestdurchfahrt auszuführen ver- 
suchen. 


— Nansen über „Vinland“. Vinland = Weinland 
gilt als der südlichste Küstenteil des nordamerikanischen 
Festlandes, der ums Jahr 1000 n. Chr. von den isländischen 
Normannen entdeckt und auch Schauplatz ihrer späteren 
Kolonisationsversuche gewesen sein soll; Vinlandfahrten sollen 
noch während dreier Jahrhunderte nach der Entdeckung 
ausgeführt worden sein. Für diese Fahrten haben wir 
literarische Quellen, Spuren solcher Kolonisierung haben sich 
nicht gefunden; denn die amerikanischen „Runensteine“ 
haben der Kritik schlecht standgehalten. Da indessen in 
Neuschottland, in Massachusetts, auf Rhode Island und auch 
in New Jersey die wilde Rebe mit ihren wohlschmeckenden 
Beeren vorkommt, so konnte man annehmen, daß hier 
irgendwo das „Vinland“ zu suchen sei. 

Neuerdings hat sich Fridtjof Nansen mit den amerika- 
nischen Fahrten der Normänner beschäftigt und dafür die 
isländischen Berichte, aus denen wir von jenen wissen, zu 
Rate gezogen, sich dafür auch der Hilfe des norwegischen 
Historikers Mol und des Sprachforschers Torp versichert. 
Und da will er denn gefunden haben, daß jene Vinland be- 
treffenden Reiseberichte Romangebilde, Sagen seien, die einen 
nur kleinen Tatsachenkern einhüllten. Die älteren, mit den 
angeblichen Fahrten nach Vinland gleichzeitigen altisländi- 
schen Chroniken wüßten nichts von ihnen, erst viel spätere, und 
da lasse sich nachweisen, daß diese sie irischen Sagen (z. B. 
Insulae fortunatae), ja teilweise auch der Odyssee entlehnt 
hätten. Die „Skrälinger“, die feindseligen Eingeborenen, mit 
denen die Vinlandfahrer zu kämpfen hatten, sind nach Torp 
die altdeutschen „Schräheller“, d. h. Elfen und Spukwesen. 
Nur so viel will Nansen der bisher gültigen Ansicht zugestehen, 
daß die Isländer mit dem nördlichsten Amerika Tauschhandel 
getrieben, nach „Markland“ gekommen seien und mit den 
Indianern gekämpft hätten; denn in der Beschreibung dieser 
Dinge hätte die Rande-Chronik eine ganz andere Prosa als 
in der Schilderung von Vinland. 

Nansen hat das Anfang Oktober in einem Vortrage vor 
der Videnskabs-Selskabet (Wissenschaftlichen Gesellschaft) in 
Christiania ausgeführt und zu begründen versucht, und die 
Zeitungen berichten darüber. Man kann sich vorläufig darauf 
beschränken, auf diese Hypothese aufmerksam zu machen 
und im übrigen zu bemerken, daß, wenn, wie Nansen zugibt, 
die Normannen bis Neufundland gekommen sind, nicht recht 
einzusehen ist, warum sie nicht auch noch ein Stück südlicher, 
bis „Vinland“, gelangt sein sollen. 

— Über Rasse und Kultur der jüngeren Steinzeit 
in der Rheinpfalz, speziell der neolithischen Rasse, macht 
Fr. Sprater interessante Angaben (Mitt. d. hist. Ver. d. Pfalz, 
1910, Heft 31, und Münch. Diss. 1910). Eine Zusammen- 
stellung einer größeren Anzahl neolithischer Schädel ergab 
beispielsweise die Haltlosigkeit der mehrfach vertretenen An- 
sicht, daß die Neolithiker ausschließlich dolichokephal waren. 
Auch die Annahme, daß in den verschiedenen Stufen ver- 
schiedene Rassen zu erkennen sind, erscheint Verfasser nicht 
gerechtfertigt. Wahrscheinlich haben wir vielmehr bereits 
in der Steinzeit dieselbe Verbreitung des dolicho- und brachy- 
kephalen Typus wie heute. Im Norden wiegt der erstere 
vor, im Süden der zweite vermischt mit ersterem. Irgend 
welche Abweichungen von den heutigen Schädelformen ver- 
mochte Sprater nicht zu finden. Was die Kulturzustände 
anlangt, so waren Schnurkeramik und Hinkelsteintypus nur 
mit zweifelhaften Funden zu belegen. So manches Material 
ist bereits in Aufsätzen veröffentlicht, doch vermochte Ver- 
fasser eine große Anzahl falscher Datierungen zu korrigieren, 
falsche Fundortsangaben richtig zu stellen und das bisher 
bekannte Material beträchtlich zu vermehren. Das steinzeit- 
liche Material wurde von neuem geordnet und eine vollständig 
neue neolithische Stufe, der Egersheimer Typus, nachgewiesen, 
welcher insbesondere durch seine Beziehungen zu nordischen 
Kulturen von Interesse ist. 








Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE, 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 








Bd. XCVIII. Nr. 19. 


Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 





BRAUNSCHWEIG. 


17. November 1910. 





Entdeckung des bei Homer erwähnten Räucheraltarplatzes der Aphrodite 
in Paphos auf Cypern. 


Von Dr. Max Ohnefalsch-Richter. 


Kuklia (Cypern), 30. September 1910. 

Als mir Ende Februar d.J. in der cyprischen Hafen- 
stadt Limassol der Großkaufmann Kleanthis Pierides die 
ersten Mitteilungen über Silbeninschriftfunde machte und 
mir sie zeigte, fuhr es mir durch den Kopf: „Du hast 
dort in Rantidi, wo sie gefunden wurden, nur in 2!/, eng- 
lischen Meilen Luftlinienentfernung von Kuklia- Palai- 
paphos, die homerische Altarstätte der Aphrodite und die 
älteste Stadt Paphos vor dir.“ Und mit den Abklatschen 
und Photographien der ersten Rantidi-Inschriften schrieb 
ich das sofort an 
den Herausgeber des 
cyprischen Silbenin- 
schriftwerkes (Corpus 
Inscriptionum Cypria- 


carum), Prof. Dr. 
Richard Meister in 
Leipzig. 


Erst am 8. Mai 
d. J. konnten die an- 
tiken Ruinenfelder in 
Rantidi selbst be- 
sichtigt werden, und 
weitere zwei Monate 
später erschien dann 
in den Londoner 
„Times“ am 27. Juli 
mein Bericht über 
diese Besichtigung. 1 3 3 





Was ich am 23. Juni, ohne die Inschriftlesungen zu 
kennen, nach London schrieb, ist in Meisters am 25. Juni 
in Leipzig erschienener Abhandlung in glänzender Weise 
bestätigt und erweitert worden. Ich gebe hier den Wort- 
laut der an den Anfang gesetzten Schlußfolgerungen aus 
der Abhandlung, die im August in meine Hand gelangte. 
Meister, der die eingesandten Abklatsche und Photo- 
graphien von den zuerst gefundenen Inschriften ent- 
zifferte, schreibt: „Die folgenden Steininschriften sind 
in der Gegend von Rantidi, ungefähr 5 km südöstlich von 
Kuklia, jenseits des 
Flusses Cha-Potani 
(englische Schreib- 
weise Randi und Kha- 
Potani), nicht weit 
vom Meere gefunden 
und von Herrn Pie- 
rides in Limassol im 
Juli 1910 dem Cyprus- 
Museum geschenkt 
worden. Die ersten 
Mitteilungen über sie 
erhielt ich durch 
Herrn Dr. Max Ohne- 
falsch-Richter, der 
mehrere bei Herrn 
Pierides in Limassol 
gesehen hatte. Die Er- 
mächtigung zur Publi- 





Denn erst am 16. Juli 
war es mir gelungen, 
Herrn Pierides zu be- 
wegen, die von ihm aufgekauften, aus geheimen, ver- 
botenen Ausgrabungen stammenden zehn Rantidi-In- 
schriftsteine dem Cyprus-Museum zu schenken, wodurch 
ich meines Schweigegelöbnisses entbunden wurde. Auf 
der hier beigedruckten Kartenskizze (der die große Karte 
Kitcheners zugrunde liegt) ist bereits damals im Juli unter 
Vorbehalt die ungefähre Lage des Altarplatzes durch 
ein eingezeichnetes Viereck angedeutet worden, wäh- 
rend ich jetzt, nach meiner Entdeckung vom 27. August 
d. J., in der Lage bin, durch einen eingezeichneten kleinen 
Kreis die genaue Lage gerade am 86. englischen Meilen- 
steine unmittelbar an der Fahrstraße Nicosia— Limassol— 
Paphos auf einem etwa 20 bis 30m über ihr liegenden 
Hügel (Abb. 1) festzustellen. 
Globus XCVII. Nr. 19. 


Lage des ältesten Paphos auf Cypern nach Ohnefalsch-Richter. 


kation der Inschriften 
verdanke ich den 
Herren Kleanthis Pie- 
rides und Dr. Ohnefalsch-Richter. Ohnefalsch - Richters 
Vermutung, daß in der Gegend von Rantidi das älteste, später 
verlassene Paphos gelegen habe, konnte ich insoweit bestäti- 
gen, als alle dort gefundenen Syllabar-Inschriften sehr alter- 
tümlichen paphischen Schriftcharakter zeigen, während 
Alphabetinschriften, soviel ich erfahren habe, dort über- 
haupt nicht gefunden worden sind. Schon die wenigen 
Inschriften, die bis jetzt aufgelesen wurden, bezeugen, 
daß dort Aphrodite mit mannigfachen Beinamen (die 
»Unbesiegbare«, Nr. 2, die Göttin, die den Frühling 
sendet, Nr. 6), Apollon (Nr. 3) und eine mit »Philos 
Theos« bezeichnete Gottheit (Nr. 4) einen Kult gehabt 
haben, daß sich dort ein ganz altertümlicher Räu- 
cheraltar befunden hat (Nr. 5) und daß dort neben 


38 


294 Ohnefalsch-Richter: Entdeckung des bei Homer erwähnten Räucheraltarplatzes der Aphrodite usw. 





den Kultplätzen auch Grabanlagen (Nr.1) waren. Also 
ist in Rantidi nicht etwa nur ein einzelnes »The- 
menos«, sondern ein großer Kulturplatz entdeckt 
worden, der sich vielleicht als das älteste Paphos 
erweisen wird.“ 


hergeschenkten Inschrifträucherbecken aufgestellt waren, 
von denen wieder bisher Meister fünf entziffert und ver- 
öffentlicht hat. 

Abb. 4 zeigt den nach Süden zu gelegenen Eingang 
zu dieser eigenartigen, etwa 20 m unter der höchsten 





Abb. 1. Der Räucheraltarberg. 


Und die wichtigste Inschrift, die hier nach der Pu- 
blikation der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissen- 
schaften in Leipzig (die ihrerseits ihre Photographien von 
mir erhielt) wiedergegeben ist (Abb. 2), ergänzt Meister: 
„Der Paphia wurden von jeher hier die zum Räuchern 
bestimmten Ehren- 
gaben verbrannt.“ 
Auch fügt er hinzu: 
„Der Block gehört 
danach zu einem 
Räucheraltar.“ Und 
ferner sagter: „Der 

Räucheraltar 
der Aphrodite zu 
Paphos (Homer 
VIII, 362, Home- 
rische Hymnen IV, 
59) war seit älte- 
ster Zeit be- 
rühmt.“ 

Am 27. August 
d. J. gelang es mir 
nun, geführt von 
dem geheimen Aus- 
gräber Jangos Adgi Savas, dem Gärtner der Gebrüder 
Aphrostolites, der Pächter des am Cha-Potani-Flusse 
liegenden Berg Sinai-Klostergutes, welche die ge- 
fundenen Inschriftsteine Herrn Pierides abgetreten 
hatten, den einen Teil des Aphrodite-Räucheraltarplatzes, 
eine halb unterirdische, halb oberirdische Seitenfelskammer 
nachzuweisen, in welcher acht oder neun von den zehn 





Abb.2. Die von Prof. Meister im Juni 1910 publizierte Inschrift. 


Links Oberseite, rechts Vorderseite. 


Spitze gelegenen Seitenräucherkammer. Auf dieser west- 
lichen Seite ist oben in die senkrechte Felswand eine 
Stufe horizontal eingehauen, und auf dieser standen in 
einer Reihe aneinander sechs bis sieben steinerne Räucher- 
becken, darunter die fünf mit den von Meister publi- 
i zierten hieratischen 
Inschriften, während 
der sechste Stein 
Meisters mit der 
Grabinschrift schon 
früher irgendwo in 
Rantidi gefunden 
war. Auf jeder der 
steinernen Räucher- 
schalen stand eine 
große tönerne Weih- 
rauchopferschale, 
bis zum Rande mit 
Asche und Kohle 
angefüllt. Ich sehe 
noch die Spuren der 
Verbrennung im Bo- 
den und auf den her- 
umliegenden Scher- 
ben der rohen Tonschale, von denen ich eine Anzahl 
sammelte und vorn vor die Inschriftschwelle legte, als 
das Bild aufgenommen wurde. 

Alle diese fünf von Meister publizierten Inschrift- 
räucherbecken waren ursprünglich unversehrt und sind 
erst in Limassol zerschnitten worden. Es gelang mir 
aber noch am Abend jenes 27. August, als bereits die 

















Ohnefalsch-Richter: Entdeckung des bei Homer erwähnten Räucheraltarplatzes der Aphrodite usw. 295 





Purpurkugel der Sonne bei dem fern vor uns liegenden | Inschrift in denselben altertümlichen Silbenzeichen auf- 
Neapaphos ins Meer getaucht war, auf einem von dem | zulesen. Nur die Inschriftenseite ist etwas verwittert, 
größten Ruinenfelde (das offenbar die Stadtanlage des ! da sie seit vielleicht 2900 Jahren den atmosphärischen 





Abb.3. Altertümliches Räucherbecken aus Stein mit verwitterter Inschrift auf dem Räucheraltarberg. 


ältesten Paphos ist, während unser Inschriften- und | Einflüssen ausgesetzt war. — So konnte ich denn gleich 
Weihrauchaltarhügel der Aphrodite deren Akropolis ge- | darauf nach Deutschland berichten, daß ich den ganz 
bildet haben wird) entfernten anderen Ruinenfelde nach | altertümlichen Weihrauchaltarplatz der Meisterschen In- 
Westen zu ein ganz unversehrtes Räucherbecken mit | schriftenpublikation tatsächlich entdeckt hatte. 





Abb.4. Felsenräucherkammer auf dem Räucheraltarberg mit ausgegrabener Inschrift. 
i53 


296 Ohnefalsch-Richter: Entdeckung des bei Homer erwähnten Räucheraltarplatzes der Aphrodite usw. 





Um diese Zeit kam der von der Königl. Akademie 
der Wissenschaften auf meine Veranlassung nach Cypern 
geschickte Dr. Zahn an, der nun fast einen Monat lang 
mit gegen 15 Mann gearbeitet und äußerst bedeutsame 
Erfolge erzielt hat. Dr. Zahn hat, in der von mir oben 
beschriebenen Räucheraltarkammer weiter hinein grabend, 
fünf oder sechs weitere Inschriftsteine (Abb. 3), alle mit 
denselben altertümlichen paphischen Inschriftzeichen ver- 
sehen, gefunden. Dann ist er weiter den Hügel hinab- 
gegangen und hat im ganzen über 100 mehr oder weniger 
große cyprische Silbeninschriftsteine gefunden. Auch ist 
er auf klare Mauerwerke gestoßen, die den Hügel um- 
geben oder flankieren, und deren Spuren ich auf der 
Erdoberfläche bereits deutlich mit eigenen Augen gesehen 
hatte. Unter den Inschriftfunden ist hervorzuheben ein 


dem Weihrauchopferhügel; dort steht ein mit Bildwerken 
angefüllter Weihgeschenkraum von der Art an, wie sie 
für die cyprischen Heiligtümer vom Ende des 7. Jahr- 
hunderts an typisch ist. Es sind die Plätze, die den 
Ausgräbern von jeher die große Masse aller Bildwerke 
lieferten. Hier opferten die vorüberkommeırden Wanderer 
ihre Bildwerke, riesengroße, große, mittelgroße, kleine 
oder winzige, jeder nach seinen Verhältnissen. 

Ganz anders nun hier in Kuklia, in Palaipaphos, das 
zum Unterschiede von Neapaphos, der weiter westlich 
gelegenen antiken Stadt, das Dorf Paphos bei Ktima 
(dem Distrikthauptort) genannt wird. Auch an dieser 
Stelle hat Dr. Zahn versuchsweise graben lassen und einige 
Bildwerke gefunden. Hier sind wir nicht mehr in früh- 
griechischer, zu Homer und über Homer in die Mykenä- 





mit Inschriften förmlich überladenes großes tönernes 


Weihrauchbecken. Man hat auch unter anderem einen 
sehr merkwürdigen, realistisch vollendet aus Ton model- 
lierten Phallus ausgegraben, der wiederum im cyprischen 
Aphroditedienst eine große Rolle gespielt hat. Überhaupt 
sind eine ganze Anzahl Phalli gefunden worden. In der 
Hauptsache ist der von Dr. Zahn weiter nachgewiesene 
Götterdienst amikonisch, bilderlos. Der Kultus auf diesem 
Aphroditehügel bestand im Darbringen von Weihrauch- 
opfern, wie er bei Homer beschrieben wird. 

Aber andererseits sind die Übergänge zum Bilder- 
dienst da. Denn in der Mitte der beschriebenen Räucher- 
altarkammer mit der Inschrift am als vorhanden inschrift- 
lich nachgewiesenen Altar hat Jangos eine zerbrochene 
etwa lebensgroße Tonstatue gefunden. Der Stil ist sehr 
altertümlich und das Bildwerk um 600 v.Chr. anzusetzen. 

Auch führte mich Jangos zu einer Ausgrabestelle 
jenseits der Fahrstraße nach Norden zu, direkt unter 


epoche hinaufreichender Zeit, hier sind wir nie in dieser 
frühen, von phönizischen Einflüssen noch unberührten 
urgriechischen, für den Rantidi-Hügel charakteristischen 
Zeit gewesen. Hier künden megalithische Reste, Riesen- 
blöcke, die aber auf einer Untermauerung aus kleinen 
Steinwürfeln stehen, grundverschieden von der -mykeni- 
schen Bauweise in Tiryns und Mykenä, den Einfluß der 
Phönizier einer nicht sehr alten Zeit an, die auch von 
den alten Schriftstellern als die Gründer von Palaipaphos 
bezeichnet werden. Diese Riesenblockmauern (Abb. 5) 
umgeben den Haupttempelhof, den hauptsächlich die Eng- 
länder 1888 bloßlegten. Hier fanden sie die zahllosen 
Marmorbasen, aber, von drei Ausnahmen abgesehen, aus- 
schließlich mit griechischen Inschriften hellenistischer 
und römischer Zeit beschrieben. Sie trugen viele große 
Bildsäulen, darunter sicher solche von hohem Kunstwert, 
die Cato für seinen Triumphzug 56 v. Chr. nach Rom 
schleppte, als er im Namen der Republik von der Insel 





Die Verhältnisse Liberias nach amerikanischer Auffassung. 


297 





Besitz ergriffen hatte. — Neuerdings sind nun auch 
in etwa 180 Schritt Entfernung von den Aus- 
grabungen der Engländer und in nordöstlicher Rich- 
tung von ihnen an der Nordostecke des heutigen 
Dorfes Kuklia, bei den letzten Häusern am Ab- 
hange des dort schluchtartig abfallenden Geländes, das 
den Namen Xylino führt, zwei Weihinschriften ge- 
funden worden. Auf der einen Säulentrommel mit hel- 
lenistischer gemeingriechischer Inschrift (Abb. 6) sitze 
ich im Vordergrunde. Mein photographischer Apparat 


Kuklia in der Tschira-Philippa genannten Gegend ge- 
funden worden. Nicht nur, daß diese Steine kalligraphisch 
himmelweit von den sehr altertümlichen Rantidi-Inschriften 
entfernt sind und ins vierte vorchristliche Jahrhundert 
gehören, es sind auch phönizische Inschriften darunter. 

Übrigens hat gestern, am 29. September, der auf 
meine Veranlassung hergesandte Dr. Zahn seine Arbeit 
beendet und vorher noch ein in den Felsen gehauenes 
Kuppelgrab gefunden, wie ich deren bereits zwei 1885 
bei Soloi ausgegraben und in meinem Werke „Kypros, 





Abb. 6. 


wurde zur Aufnahme fast genau auf die Fundstelle der 
` zweiten im vorigen Jahre entdeckten spätphönizischen 
Inschrift gestellt. Sie lag in einer Mauer verbaut, die 
die heutigen Dörfler aus lose aufgehäuften Steinen er- 
richtet hatten, um, wie hier überall, ihre Grundstücke 
voneinander zu trennen. Beide Inschriften waren offenbar 
in der byzantinischen Kirche, die hier in Ruinen liegt, 
verbaut und sind vor Jahrhunderten von benachbarten 
Tempeln hingebracht worden. Denn bis zur Ausgrabungs- 
stelle der Engländer beträgt die Entfernung, wie gesagt, nur 
etwa 180 Schritt, und das Ende des Tempels liegt in nächster 
Nähe. — Endlich sind noch 37 Inschriftsteine südlich von 


Auf den Trümmerfeldern von Alt-Paphos. 


Liuks Steintrommel. 


die Bibel und Homer“ veröffentlicht habe. Diese Nach- 
bildungen mykenischer Kuppelgräber fallen in die Zeit 
von 1200 bis 1000 v. Chr., und ich habe auch in einem 
derselben eine spätmykenische Vase mit Firnismalerei 
ausgegraben, wodurch die Rantidi-Zeit und die Zeit Homers 
genau fixiert werden. 

Wir müssen nun abwarten, was Prof. Meister aus diesen 
mehr als 100 gefundenen Inschriften herauslesen wird. 
Bis jetzt spricht alles für meine Vermutung, daß in Rantidi 
auf dem Räucheraltarhügel nicht nur ein Räucheraltar der 
Aphrodite Paphia stand, sondern der berühmteste Räucher- 
altar der Aphrodite von Paphos, der homerische. 


Die Verhältnisse Liberias nach amerikanischer Auffassung. 


Vor nicht langer Zeit wurde man wieder einmal auf 
die Negerrepublik Liberia aufmerksam. Die Vereinigten 
Staaten, die die Republik ja gegründet haben, äußerten 
für sie ein die europäischen Kolonialmächte etwas beun- 
ruhigendes Interesse; sie wollten die ewig schlechten 
Finanzen des Freistaates sanieren, ihm überhaupt auf 
die Beine helfen, und da bekannt ist, daß ein Staat dem 
anderen diesen Freundschaftsdienst nicht umsonst und 

Globus XCVIH. Nr. 19. 


ohne Nebenabsichten leistet, so wurden namentlich Eng- 
land und Frankreich etwas bedenklich. Denn Frankreich 
und England sind mit ihren afrikanischen Besitzungen 
die Nachbarn Liberias, haben dort mannigfache Interessen, 
und rechnen stark damit, daß es ihnen einmal zufallen 
wird. Interessen hat dort übrigens auch Deutschland, 
und ihm muß an der Unabhängigkeit Liberias gelegen 
sein, aber England und Frankreich kennen die Schüchtern- 


39 


298 Die Verhältnisse Liberias nach amerikanischer Auffassung. 





heit des deutschen Auswärtigen Amtes, das in manchmal 
komisch wirkender Ängstlichkeit bestrebt ist, bezüglich 
Liberias den Engländern und Franzosen nur ja keinen 
Anlaß zu dem „Verdacht“ zu geben, es wolle dort etwas 
für sich. So ist ihnen da das Deutsche Reich eine 
quantité négligeable. Aber mit den von Rücksicht und 
Zartheit nicht behafteten Yankees ist das ganz anders; 
daher eine gewisse Sorge. 

Aber die Sorge war, wenn nicht überflüssig, so doch 
vielleicht verfrüht, und Amerika hat beruhigende Er- 
klärungen vom Stapel gelassen. Immerhin hatte es sich 
mit den Verhältnissen der Republik sehr eingehend be- 
schäftigt und eine aus den Herren Roland P. Folkner, 
George Sale und Emmet J. Scott gebildete Kommission 
zum Studium jener Verhältnisse hingeschickt. Diese 
haben natürlich einen Bericht erstattet, und aus dem soll 
hier einiges mitgeteilt werden. Bemerkenswert ist an 
ihm, daß er Liberias Zustände zum Teil mit ziemlich 
rosigen Farben malt, während englische und französische 
Beobachter alles rabenschwarz darzustellen belieben, und 
auch Deutsche in diese Kerbe zu hauen pflegen. Es mag 
dahingestellt bleiben, wer recht hat. Sicher wird man 
nicht alles unterschreiben dürfen, was die Amerikaner 
über das heutige Liberia sagen, aber viele ihrer Gedanken 
sind doch beachtenswert. Vor allem erkennt man auch 
aus dem Bericht, was die Amerikaner mit ihrem Interesse 
für Liberia im letzten Grunde bezwecken. 

Die Kommission berichtet nun, die Würde und die 
Intelligenz der liberianischen Regierungsvertreter, mit 
denen sie zu tun hatte, habe auf sie einen tiefen Ein- 
druck gemacht. Obwohl ihre Zahl nur verhältnismäßig 
klein gewesen, hätten sie den besten Teil der Bürgerschaft 
Liberias repräsentiert, und schon die Tatsache, daß eben 
die besten Leute ihren Weg in die Staatsämter fänden, 
sei ein günstiger Umstand. Es heißt dann u.a. weiter: 

Die Liberianer sind kein revolutionär veranlagtes 
Volk und haben während der ganzen bisherigen Dauer 
ihres Staatswesens geordnete Regierungsformen aufrecht 
erhalten. In 62 Jahren haben sie 13 Präsidenten gehabt, 
von denen die meisten ein oder mehrere Male für die 
zweijährige Amtsperiode wiedergewählt worden sind; 
wenn sie aber Veränderungen in der Verwaltung herbei- 
zuführen gesucht haben, so ist es durch konstitutionelle 
Mittel geschehen. Wenn unter dem Druck der öffent- 
lichen Meinung ein oder mehrere Präsidenten ihr Amt 
vorzeitig niedergelegt haben, so ist es zu gewaltsamen 
Umwälzungen nicht gekommen. 

Es wird häufig versichert, Liberia sei bankerott, aber 
das ist falsch. Allerdings fanden sich viel Ungeschicklich- 
keiten in seiner Finanzverwaltung vor, und die Regierung 
hat Verlegenheiten wegen ihrer Schulden und der daraus 
sich ergebenden Lasten; aber die Staatsschuld von kaum 
1300000 Doll. ist nicht zu groß, selbst wenn man sie 
mit den gegenwärtigen Einkünften vergleicht; sie ist im 
Gegensatz zum natürlichen Reichtum des Landes sehr 
klein. Richtig ist, daß die tatsächliche Regierungsgewalt 
sich nur auf die Küstenstädte und die Niederlassungen 
am St. Paul- und St. Johnsflusse erstreckt, aber hier 
herrschen auch Gesetz und Ordnung, Leben und Eigen- 
tum sind angemessen gesichert, und Verbrechen werden 
sofort bestraft. Frieden, guter Wille und freundschaft- 
liche Gefühle herrschen zwischen diesen Städten und 
Ansiedelungen und den unmittelbar angrenzenden Ein- 
geborenendörfern. 

So unfertig in vieler Beziehung die Zivilisation 
Liberias sein mag, es hat darin Fortschritte, nicht Rück- 
schritte gemacht. Will man den Fortschritt des liberia- 
nischen Volkes richtig einschätzen, so muß man seine 
Entstehung nicht vergessen. Es besteht aus drei ur- 


sprünglichen Elementen: Von der Kolonisationsgesellschaft 
hinausgesandten freien Negern, Afrikanern, die während 
der Zeit der Unterdrückung der Sklavenausfuhr von den 
amerikanischen Kriegsschiffen den Sklavenhändlern ab- 
genommen worden sind, und aus Befreiten, die während 
des Sezessionskrieges nach Liberia ausgewandert sind, 
Aus diesem Material nun und geleitet von den amerika- 
nischen Lebensüberlieferungen, hat das liberianische 
Volk eine Zivilisation entwickelt, die von der des besseren 
Negerelementes in den Vereinigten Staaten nicht unvor- 
teilhaft absticht. Die Kommission hat die Überzeugung, 
daß die Liberianer die sie umgebende Eingeborenen- 
bevölkerung weit mehr beeinflußt haben, als jene von 
dieser beeinflußt worden sind. Jener großen Masse un- 
kultivierter Völker gegenüber haben sie sich auf einer 
verhältnismäßig hohen Stufe der Zivilisation gehalten, 
für die das wohlgeordnete Vaterland, der Respekt vor 
Gesetz und Ordnung, die Sonntagsruhe und die gut 
gehaltenen Häuser deutlich Zeugnis ablegen. 

Zu schwer für sich findet nun Liberia die größeren 
und schwierigeren Regierungsaufgaben, die ihm haupt- 
sächlich infolge der Aufteilung Afrikas unter die euro- 
päischen Mächte während der jüngsten Zeit entgegen- 
getreten sind. Sie sind erwachsen aus der zunehmenden 
Bedeutung seiner Beziehungen zu den Nachbarländern 
und aus der dringenden Notwendigkeit einer mehr wirk- 
lichen Kontrolle und Regierung der Eingeborenenstämme 
innerhalb seiner Grenzen. Infolge dieser Aufgaben und 
Probleme fühlt Liberia den Bedarf nach Hilfe durch eine 
starke Macht. Im einzelnen sind diese Probleme: 1. Der 
Schutz der Grenzen gegen Angriffsversuche der Nach- 
barn, deren Macht Liberia nur die Gerechtigkeit seiner 
Ansprüche entgegenzustellen hat. 2. Die tatsächliche 
Aufsicht über die Eingeborenenstämme, besonders an 
den Grenzen, damit für die Besetzung liberianischen Ge- 
bietes durch die Nachbarn jeder Vorwand entfällt. 3. Die 
Ordnung der Staatsfinanzen, damit es allen Verpflich- 
tungen gegen das Ausland nachkommen kann und der 
Staatskredit auf eine feste Grundlage gestellt wird. 4. Die 
Entwickelung des Hinterlandes in der Weise, daß der 
Umfang des Handels wächst, so daß er die wachsenden 
Bedürfnisse einer auf den Fortschritt bedachten Regierung 
deckt und sie gleichzeitig in den Stand setzt, die 
wünschenswerte Einwanderung aus den Vereinigten 
Staaten zu beleben. — Weil es Liberia bis dahin nicht 


gelungen ist, diese Aufgaben befriedigend zu lösen, so - 


hat es sich in Meinungsverschiedenheiten mit fremden 
Mächten verwickelt gesehen; sie haben eine Unruhe ge- 
schaffen, die die innere Entwickelung Liberias hemmt und 
ihm das Gefühl erweckt, seine nationale Existenz werde 
von außen durch mächtige Nachbarn und im Innern 
durch Schwäche bedroht. 

Im Norden und Osten hat Liberia Frankreich zum 
Nachbar. Indem Frankreich seine auf den Aufbau eines 
großen westafrikanischen Reiches gerichtete Politik ver- 
folgte, war es ein Dorn in der Seite Liberias. Die Fran- 
zosen haben sich beständig und hartnäckig um die Ver- 
besserung ihrer Grenzen bemüht. Durch Verträge haben 
sie Liberia allmählich um Gebiete beraubt, die es lange 
beansprucht hat. Seine Eingriffe begründet Frankreich 
mit der Ausrede, daß die Gebiete, die es annektiert und 
dann durch Vertrag von Liberia abgetreten erhalten 
hatte, nicht im tatsächlichen Besitz der Liberianer ge- 
wesen wären und daher von jeder anderen Macht hätten 
erworben werden können. 

Im Westen grenzt Liberia an die englische Kolonie 
Sierra Leone. Sogar schon, als Liberia noch eine Kolonie 
war, die unter von der Kolonisationsgesellschaft ernannten 
Gouverneuren stand, hatte es mit Sierra Leone Streit. 


Die Verhältnisse Liberias nach amerikanischer Auffassung. 


299 





Britische Kaufleute bestritten ihm das Recht, Zölle zu 
erheben, und weigerten sich, in dieser Beziehung seine 
Autorität anzuerkennen. Die so entstandene Frage war 
einer der Hauptgründe, die zur Errichtung der Republik 
führten. Seitdem ist Liberia verschiedene Male gezwungen 
worden, den ehrgeizigen Absichten seines Nachbars Kon- 
zessionen zu machen. Ein langer Streit um die West- 
grenze Liberias ist durch den Vertrag von 1885 beendet 
worden; er kostete ihm ein beträchtliches Stück Küsten- 
linie, auf das es einen gerechten Anspruch hatte. 

Das britische Auswärtige Amt hat bestritten, daß es 
Absichten auf liberianisches Gebiet habe; aber diese 
Behauptung läßt sich schwer mit den Handlungen und 
der Haltung seiner Beamten in Sierra Leone und Liberia 
vereinigen. Unschwer ist doch Englands Erklärung ver- 
ständlich: Wenn es Frankreich gestattet sei, erfolgreiche 
Vorstöße auf liberianisches Gebiet zu machen, dann 
werde England im eigenen Interesse gezwungen sein, 
auch seinen Anteil zu beanspruchen. Es macht wenig 
Unterschied, ob England der obere oder der untere 
Mühlstein ist: Liberia ist zwischen beiden und wird, 
wenn es nicht die Unterstützung einer England oder 
Frankreich an Stärke ebenbürtigen Macht erhält, als un- 
abhängiger Staat schnell von der Karte verschwinden. 

Das öffentliche Schulwesen Liberias besteht aus dem 
Liberia College in Monrovia für den höheren Unterricht, 
vier Mittelschulen und den Volksschulen. Dem College 
fehlt es am Notwendigsten in der Ausrüstung, seine 
Studienkurse kommen denen einer höheren Schule schwer- 
lich gleich. Die Mittel- und Volksschulen haben unter 
dem Mangel an Schulgebäuden und ausgebildeten Lehrern 
zu leiden. Die jährlichen Mittel für den Unterhalt der 
Schulen sind sehr gering und werden sehr unregelmäßig 
gezahlt. Eine völlige Rekonstruktion der Schulen ist 
eines von Liberias größten Bedürfnissen. Solange aber 
die Geldmittel so gering bleiben, wie sie sind, solange 
ist für die Entwickelung eines wirklichen öffentlichen 
Unterrichtes nichts zu erhoffen, und solange die Ein- 
künfte des Staates sich nicht materiell vermehren, so- 
lange besteht wenig Aussicht, daß der Staat jene Mittel 
erhöht. Die beste Unterrichtsarbeit in Liberia wird 
gegenwärtig unter der Aufsicht der Kirche geleistet, und 
manche von religiösen Vereinigungen unterhaltenen 
Schulen sind auch lobenswert. 

Liberias große Quelle des Wohlstandes sind seine 
Wälder, die Palmöl, Palmkerne, Piassavafaser und Gummi 
liefern. Diese Produkte werden von Eingeborenen ge- 
wonnen, die manchmal unter Leitung eines Liberianers, 
meistens aber selbständig arbeiten und den Ertrag 
an die Liberianer oder unmittelbar an die fremden 
‚Kaufleute verhandeln. Das, was es exportiert, vermag 
Liberia nicht zum vollen Werte auszunutzen infolge der 
primitiven und verwüstenden Methoden bei der Gewinnung 
der Produkte und bei deren Vorbereitung für den Ex- 
port, die sie teilweise ihres Wertes berauben. Von An- 
bauprodukten, die zur Ausfuhr kommen, ist der ameri- 
kanisch-liberianische Kaffee das wichtigste Einmal 
stand diese Kaffeeindustrie in Blüte, jetzt aber steht sie 
still oder geht zurück. Der Wettbewerb anderer Länder, 
besonders Brasiliens, das billigeren und besser zube- 
reiteten Kaffee auf den Weltmarkt gebracht hat, hat den 
liberianischen Pflanzer entmutigt, weil seine kleine 
Ernte ihm nicht mehr die früheren schönen Preise ein- 
trägt. Er ist gleichgültig und nachlässig geworden, er 
hat nicht gelernt, sich den neuen Bedingungen anzupassen, 
und baut und erntet nach alter Art. 

Liberia hat seinen Boden bisher nur oberflächlich berührt 
und das auch nur in einem kleinen Teile seines Gebietes. 
Infolge des Mangels an Verkehrsmitteln ist es recht un- 


zugänglich. Die Flüsse sind nur auf eine kurze Ent- 
fernung von der Küste schiffbar, bis an die Schnellen. 
Primitive Straßen in den zivilisierten Siedelungen und 
Waldpfade im Innern des Landes sind die einzigen Ver- 
kehrswege. Wagen sind fast unbekannt, und die gesamte 
Handelsware, die aus dem Innern kommt, findet, abge- 
sehen von den küstennahen Flußstrecken, auf den Schul- 
tern und Köpfen der eingeborenen Träger ihren Weg 
zum Meere. Dieser traurige Mangel an Verkehrsmitteln 
beschränkt natürlich sehr die Fläche, wo der Handel 
festen Fuß fassen kann; er drückt auch den Einfluß 
Monrovias im Innern auf ein Minimum herunter und be- 
reitet der wirklichen Kontrolle von Punkten im Innern 
große Hindernisse. 

Die Schuld an diesen Verkehrsschwierigkeiten trägt 
nicht die Bodenbeschaffenheit Liberias; es fehlt eben an 
Straßen durch das Waldland. Deshalb ist das Innere 
den Liberianern ebenso wenig bekannt, wie der übrigen 
Welt. Was ihre ausgedehnten Wälder produzieren 
können, welche Quellen des Reichtums da liegen, welchen 
Wert das gerodete Land für Anbauzwecke haben könnte, 
wissen die Liberianer einfach nicht. Vor allem muß 
also das Land genau durchforscht werden. 

Ein weiteres Hindernis für den liberianischen Handel 
ist der Mangel an Häfen und als Folge davon die 
Schwierigkeit, die Güter einzuschiffen. Das ist wegen 
des flachen Wassers über den Barren an den Flußmün- 
dungen eine kostspielige und oft gefährliche Aufgabe. 

Dazu kommt der Mangel an Interesse für Industrie 
und Handwerk bei den Liberianern. Sie beschäftigen 
sich ganz mit Regierungs- und Handelsangelegenheiten. 
Fast alleManufakturwaren sind importiert. Da nun aber 
Liberia vielleicht niemals ein gewerbetreibendes Land wer- 
den wird, so müßte der Entwickelung von Handel und In- 
dustrie erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt werden, wenn 
eine höhere Stufe rationalen Gedeihens erreicht werden soll. 

Unter den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen 
Liberias kann einer zahlreichen Auswanderung der Neger 
der Vereinigten Staaten dorthin nicht das Wort geredet 
werden. Wahrscheinlich ist dort ein Feld für eine große 
Menge zivilisierter Neger; ebenso sicher ist es aber, daß 
der Einwanderer, der nur seine physische Kraft und 
seine Arbeitslust mitbringt, heute in Liberia wenig Aus- 
sicht hätte, sich und seiner Familie eine Existenz zu 
gründen. 

Die Liberianer wissen zu wenig von ihrem eigenen 
Lande und zu wenig davon, wie sie dessen Hilfsquellen ent- 
wickeln können, als daß sie der Einwanderung Vorschub 
leisten dürften. Ein systematisches Studium jener Hilfs- 
quellen, die Kenntnis der Produkte des Landes und der 
besten Methoden, sie zu gewinnen, die Kenntnis der 
Möglichkeiten des Landes und wie dieses am besten unter 
Kultur gebracht werden kann, der Bau wenigstens einer 
guten Straßeins Innere, wo besseres Land und gesunderes 
Klima für Menschen und Tiere zu finden wäre — all 
das ist notwendig, bevor Liberia daran denken kann, 
Einwanderer heranzuziehen. Da nun die Liberianer 
selbst weder über die Mittel noch über die Kenntnisse 
für ein solches Studium verfügen, so könnte ihnen kein 
größerer Dienst erwiesen werden, als wenn man für sie 
diese Untersuchungen ausführt, damit sie ihre eigene 
Erbschaft antreten und gastlich der wünschenswerten 
Einwanderung aus den Vereinigten Staaten die Tore 
öffnen können. Die Kommission schlägt deshalb unter 
anderem vor, daß die Vereinigten Staaten in Liberia eine 
Forschungsstation errichten und unterhalten. 

Die Aufgabe einer solchen Station sollte in der Er- 
forschung der Natur des Landes bestehen, der Entwicke- 
lung und Erhaltung der Quellen seines Wohlstandes, der 


39* 


Schultz: 


Das Falealii. 





Wirkungen des Klimas auf die Gesundheit und der Ur- 
sachen, Behandlung und Heilung der Tropenkrankheiten. 
Auch rein wissenschaftliche Vorteile in diesem so wenig 
erforschten Teile Afrikas würden sich ergeben, und die 
Vereinigten Staaten würden sich damit ein Verdienst 
erwerben. 

Soweit der Bericht der Kommission. Den Ver- 
einigten Staaten macht ihre schnell wachsende Neger- 
bevölkerung Sorge, und sie möchten sie gern los werden 
oder beschränken. Da wirft man nun sein Auge auf 
Liberia und will es für die Aufnahme der Afrikaner 
vorbereiten. Dies scheint einer der Hauptgedanken zu 


sein, der die Amerikaner in ihrer neuen Liberiapolitik 
leitet. Ob sie einschlagen wird, muß die Zukunft lehren. 
England und Frankreich kann die Nachbarschaft eines 
starken Negerstaates in Westafrika, hinter dem noch 
dazu die nordamerikanische Union schützend steht, 
schwerlich angenehm sein, weil im Laufe der Zeit die 
Farbigen in ihren Besitzungen Lust gewinnen dürften, 
sich ihm anzuschließen oder es gleichfalls mit der Unab- 
hängigkeit zu versuchen. Es wird eben wohl ohnehin 
einmal dazu kommen, daß im Schwarzen Erdteil sich der 
Ruf erhebt: Afrika den Afrikanern, trotz der immerfort 
betonten angeblichen Inferiorität der Negerrassen. 


Das Falealii. 


Von Öberrichter Dr. Erich Schultz. 


Obwohl Samoa ethnologisch vielfach und eingehend 
bearbeitet worden ist, bleibt doch noch reichlich zu tun 
übrig, um in intensiverer Tätigkeit Lücken auszufüllen 
und Irrtümer zu berichtigen. So ist z. B. ein anmutiges 
Stück samoanischen Volkstums, das Falealii, ein perio- 
disch stattfindendes Wettfischen mit der Angel, der For- 
schung bisher so gut wie völlig entgangen. 

Das Wort falealii ist in dem anerkannt besten Wörter- 
buch, Pratt’s Grammar and Dictionary of the Samoan 
Language (3. Aufl., London 1893), folgendermaßen er- 
klärt: 1. a feast at the time of getting palolo, 2. games 
on a large scale. 

Die erste Bedeutung ist so allgemein ausgedrückt, 
daß sie den Begriff kaum erkennen läßt; auch ist die 
Zeitangabe ungenau. Die zweite ist sicher unrichtig, 
da sich nach meinen Ermittelungen das Wort nur auf die 
hier besprochene Einrichtung bezieht. Falealii, zusammen- 
gezogen aus fale o alii, Haus der Häuptlinge, bedeutet 
eigentlich das Haus, in dem die an dem Wettfischen 
teilnehmenden Personen sich versammeln, dann über- 
tragen: die Gesamtheit der Teilnehmer, und schließlich 
den ganzen Brauch des festlichen gemeinsamen Wett- 
angelns überhaupt. 

Turner sagt in seinem Buche Samoa a Hundred Years 
ago (London 1884), S. 127, summarisch: 

Fishing matches were in vogue at particular sea- 
sons. The party who took the most fish won, and were 
treated with cooked pigs and other viands by those 
who lost. 

Im übrigen habe ich in der Samoaliteratur nur noch 
eine kurze Bemerkung in Krämers Monographie: Die Sa- 
moainseln II, S. 405 (Stuttgart 1902/03) gefunden, wo 
anscheinend in Anlehnung an Pratt fälschlich der Palolo- 
Fang zum Anlaß des Festes erhoben ist. 

Das Falealii ist einer näheren Betrachtung wohl wert, 
weil es einige charakteristische Züge samoanischen 

` Wesens veranschaulicht. Strengen Regeln unterworfen, 

wie sie das Bedürfnis der Samoaner nach Form und 
Etikette nun einmal fordert, läßt es dennoch Raum zur 
Betätigung gesunden Humors, und dem Tüchtigsten wird 
die verdiente Anerkennung zuteil, ohne daß die bewährte 
soziale Gliederung des Volkes darunter litte. Das so oft 
geäußerte berechtigte Bedauern, daß gute, alte samoa- 
nische Sitten der europäischen Zivilisation weichen, ist 
auch hier am Platze. Nur selten noch findet ein Fa- 
lealii statt; bald dürfte es ganz der Vergangenheit an- 
gehören. 

Nachstehend eine aus berufener samoanischer Feder 
stammende Beschreibung des Festes nebst eigener Über- 
setzung; zur Erleichterung des Satzes ist im samoani- 


Apia. 


schen Text der als diakritisches Zeichen für den Kehl- 
laut dienende Apostroph durchgehends weggelassen. 


O le mea lea e masani 
ai alii ma tulafale talu mai 
anamua. E mafai foi ona 
auai i ai ni taulelea pe afai 
ua faia ni o latou momoli 
e taua o le fau. 


Dieser Brauch ist bei 
Häuptlingen und Sprechern 
von alters her in Übung. 
Auch junge Männer können 
daran teilnehmen, wenn sie 
eine Essensgabe, fau ge- 
nannt, entrichten. 


E faia lava i tausaga 
uma e amata i le masina o 
Taumafamua !) e oo iaLö?), 
a e na o Taumafamua ma 
Toelaumafa °) e faasilia auā 
e fai ai mea taumafa ma- 
tuä tele +). 

Na o e ua fau e mafai 
ona auai i le Falealii e ui 
lava i se matai), a e afai 
e lei fau e le mafai lava 
ona alu, ane i le Falealii. 


E pule lava Täuava®) 
ma Faimea7) i le Falealii, 
o ia i latou le tonu mo 
mea uma e faia auā o i 
latou e tapuaiina le Fale- 
alii ina ia manuia. E taua 
tagata uma o alii ala, pe 
se matai pe se taulealea 
e tutusa lava. 


Es geschieht alljährlich 
vom Monat Oktober!) bis 
zum März), aber am mei- 
sten im Oktober und No- 
vember 8), weil da Überfluß 
an Nahrung herrscht ®). 


Nur die, die ihr fau ge- 
leistet haben, dürfen am 
Falealii teilnehmen; mag 
jemand auch matai’) sein, 
— hat er noch nie ein fau 
geleistet, so ist er vom Fa- 
lealii ausgeschlossen. 

Die Täuava‘) und die 
Faimea ?) haben die Leitung 
und treffen Bestimmung 
über alle Einzelheiten, weil 
sie es sind, „durch deren 
Vermittelung dem Falealii 
Erfolg zuteil wird“. Die 
Teilnehmer heißt man unter- 
schiedslos, ob sie matai oder 


1), °), °) Die alten samoanischen Monatsnamen sind heute 


nicht mehr gebräuchlich. 


*) Die im Oktober einsetzende Regenzeit bringt die Pflan- 


zungen zur Reife. 


*) Familienhaupt (Häuptling oder Sprecher). 
°), 7) Die Täuava und die Faimea gehören zur Klasse 


der tautai, der in Fischfang und Schiffahrt erfahrenen Leute, 
die ihre Kenntnisse in den Dienst der Häuptlinge zu stellen 
haben. Die Faimea beschäftigen sich mit der Herstellung 
der weiter unten beschriebenen Angeln. Den Amtsbereich 
der Täusva bilden die Riffeinfahrten — ava —, die nicht 
nur für den Schiffsverkehr wichtig sind, sondern auch den 
von der hohen See in die Larune kommenden Fischen als 
Eingangstor dienen. Jede Riffeinfahrt untersteht einer Gott- 
heit — aitu —, mit der der täu-ava im Interesse seines 
Häuptlings gute Beziehungen zu unterhalten hat — tapuai. 
Das Wort tau ist Abkürzung für täula (etwa = Priester). 
Die gleiche Etymologie hat das Wort täulaitu, das früher 
häufig, auch noch bei Krämer, a. a. O., I, 8. 23, Anm. 9, 
fälschlich von täula (Anker) abgeleitet worden ist. Ent- 
sprechend täumalae. 6 


Schultz: Das Falealii. 


301 





E fai le Falealii i le 
aso e tuaoi ma le matofitele 
o le masina auā o le aso 
lea e amata ai alafaga, ona 
fai pea lea seia pē le ma- 
sina ona tuu lea. 

O le aso muamua lava 
e fai ai faigāai e taua o 
pā), o alii ala uma e tofu 
ma le mea fono o le a fai 
ai ni mea ia tele lava auā 
e tauleleia le tagata ua tele 
ana mea. O le a tufatufa 
na mea ina ia aai ai le 
nuu uma atoa ma ni tagata 
ese o i ai. A uma ia mea 
ona faasaga lea ile faiva 
o alafaga e fai i pā. E 
gaosia pā?) i mea nei o tifa 
matapoto, pule, tio!°), e 
maua ai ituaiga eseese o 
pā, ona fai lea le maga i 
se fasi una o se laumei a 
e teuteu i fulu papae o le 
tavae. O le taeao o le aso 
lea e matofitele ai le ma- 
sina o le a amata ai ala- 
faga, o e ua auai i le Fa- 
lealii o le a ala uma e sa 
lava se alii ala e nofo i 
uta, e sa foi se tagata e 
lei fau e alu i alafaga, o 
le itulā e tolu po e le fa 
i le taeao e amata ai seia 
oo i le fitu po o le valu. 
E taua le taeao muamua o 
le fuigāumu !!), o le a tai- 
tasi le tagata ma alu i lona 
paopao e toso ai ana pā ina 
ia maua sana ia, ona ae 
lea e uta ma faapotopoto 
alii ala uma i le fale tele 12) 
e fai ai le Falealii sei fai 
aile ava ona o le tapuaiga 
o le Falealii 1*), e taua lea 
ava o le ava o le mafua !4), 
ma o le a sao foi le ma- 
fua 1) ina ia iloa pe fia ni 
ia na maua, po o ai na 


jungeMänner sind, angelnde 
Häuptlinge. 

Das Falealii tritt in Tä- 
tigkeit am Tage vor dem 


letzten Mondviertel, weil 
mit diesem das Angeln be- 
ginnt, und dauert bis zum 
Neumond; dann hört es auf. 

Am ersten Tage findet 
ein Schmaus statt, pä°) 
genannt; alle angelnden 
Häuptlinge tragen dazu 
bei, damit es viel werde, 
denn wer viel bringt, wird 
gelobt. Das Essen wird 
verteilt, auf daß das ganze 
Dorf davon genieße, des- 
gleichen Fremde, die gerade 
anwesend sind. Wenn das 
vorüber ist, beginnt man 
mit dem Fischen. Die An- 
geln, die man dazu ver- 
wendet, bestehen aus einem 
Schaft?), der aus der Schale 
der Perlmutter-, der Conus-, 
der Cypraea- oder der Ver- 
metus-Muschel !0) geschnit- 
ten wird; es gibt also 
verschiedene Arten von 
Schäften. Daran befestigt 
man einen Haken aus Schild- 
patt und versieht das Ganze 
mit weißen Federn vom Tro- 
pikvogel. Am Morgen des 
Tages, an dem der Mond 
im letzten Viertel steht, 
fängt das Angeln an, alle 
müssen hinaus, keiner darf 
dahinten bleiben, anderer- 
seits darf niemand mit- 
machen, der noch kein fau 
dargebracht hat; um 3 oder 
4 Uhr morgens geht es los 
und dauert bis 7 oder 8 Uhr 
morgens. Dieser erste Mor- 
gen heißt „das [erste] Ein- 
tauchen der Angeln“ 11); 
jeder fährt in seinem Kanu 
und schleppt seine Angeln 
[durchs Wasser], um einen 
Fisch zu bekommen, dann 


®) Eigentlich der Schaft der Angel (vgl. Anm. 9), hier 


bildlich gebraucht. 


°) Dieser von v. Bülow vorgeschlagene Ausdruck ist 
meines Erachtens der Übersetzung Krämers „Blänker“ vor- 


zuziehen. 


1%) Die wissenschaftlichen Namen sind nach Krämer, 
a. a. O., II, 8. 407 ff. angegeben. 

11) Fufui, eintauchen, naß machen, umu, eigentlich die 
Kochgrube, hier bildlich für die Angeln, weil das Falealii 
zu so vielen Schmausereien Anlaß bietet, daß die Kochgruben 
ebenso häufig gebraucht werden wie die Angeln. 

12) Irgend eines der großen (Rund-) Häuser des Dorfes 


futi ia, po o ai foi na logo 
(o e na fufuti ni ia a ua 
le maua)!6, A tufa le 
ava o le a muamua le ua 
futi ia, e ui lava i se alii 
tele afai ua le futi ia e le 
muamua lava sana ava, a 
uma ona inu e na futi ia 
ona pitu lea i ai o e na 
logo. A o le alii ala na 
futi ia o le a faasaga e fai 
ni mea taumafa e ave i le 
Falealii e taua lea o le 
sami ia!) E matuā viia 
lava le tagata ua futi ia, 
e tofu le nuu ma a latou 
tu e faasino i lea mea. 


A oo i le afiafi ona toe 
potopoto lea o le Falealii 
sei fai se ava ona e taua 
o le ava o le taumuli 18), 
o le tapuaiga lea mo le 
aso a taeao, a tufa lea ava 
ua muamua le Täuava ma 
le Faimea. 


I le o le a faia pea 
lava faapea i aso uma seia 
oo ina pē le masina ona 
tuu lea. A e le tuu fua 
le Falealii, a e faia foi ni 
mea taumafa e faailoga ai 
lea aso, ma ua taua foi 
o le salāga o le ama auā 
e le toe ala seia oo i le 
matofitele o le isi ma- 
sina !®). 


O le fale e fai ai le 
Falealii e sa lava ona mo- 
moe ai le aiga po o ni 
malō pe a amata le Fa- 


steigt man wieder an Land 
und versammelt sich im 
großen Hause!2), um auf 
gutes Gelingen Kawa zu 
trinken 3), diese Kawa 
heißt „die Kawa der Lock- 
fische“ 14). Auch werden 
dann die gefangenen Fische 
herbeigebracht!5), damit die 
ganze Beute übersehen und 
festgestellt werden kann, 
wer etwas gefangen und 
bei wem es nur an der 
Schnur gezuckt hat!“). Beim 
Austeilen der Kawa trinkt 
zuerst, wer einen Fisch ge- 
fangen hat, selbst ein hoher 
Häuptling muß warten,wenn 
er nichts gefangen hat; nach 
denen, die etwas gefangen 
haben, kommen die, bei de- 
nen es an der Schnur ge- 
zuckt hat. Aber die, die 
etwas gefangen haben, rü- 
sten nunmehr für das Fa- 
lealii ein Mahl her, das „der 
Dank für die Fische“ 17) 
genannt wird. Sie ernten 
großes Lob ein, doch hat 
jedes Dorf in dieser Hin- 
sicht seine eigenen Ge- 
bräuche. 

Am Nachmittag tritt das 
Falealii wieder zusammen, 
um Kawa zu trinken; diese 
Kawa heißt „die Kawa des 
Achterteils“18)und bedeutet, 
daß man für den folgenden 
Tag Erfolg erhofft. Hierbei 
bekommen der Täuava und 
der Faimea zuerst. 

Und so geht es alle Tage 
weiter, bis der Mond zu Ende 
ist, dann hört man auf. Je- 
doch löst sich das Falealii 
nicht einfach auf, sondern 
man feiert den Schlußtag 
mit einem Festmahl, dies 
heißt „das Abnehmen der 
Ausleger“, weil man nicht 
wieder angelt bis zum letz- 
ten Viertel des nächsten 
Mondes ??). 

In dem Hause, wo das Fa- 
lealii sich versammelt, darf 
von Anfang an bis zum Ab- 
nehmen der Ausleger kein 


16) D. h. ein Fisch hat angebissen, ist aber entkommen, 
weil die Angel nicht gehörig gefaßt hatte, oder durch Reißen 


der Schnur. 


17) Sami (= putu), Dank abstatten (durch Darbringung 


wird gewählt und die daselbst wohnende Familie derweile 
ausquartiert (vgl. Anm. 20). 

13) Beim Kawatrinken läßt man aus dem Becher zu- 
nächst einige Tropfen auf die Erde fallen, als Libation. 

14) Mafua, verschiedene Arten kleiner Fische, die in der 
Regenzeit erscheinen und den größeren als Nahrung dienen. 
Die Schäfte der Angeln sind in ihrer Gestalt den mafua- 
Fischen nachgebildet. 

1$) Mafua, hier bildlich für die gefangenen Fische. 


von Essen) für eine Gunst, die man erfahren (hier das Glück, 
das die Götter durch Vermitteluug der Täuava und Faimea 
dem Fischer gewährt haben). 

w) Weil die Angeln hinten nachschleppen. 

1°) Die beim Falealii verwendeten Kanu durften in frü- 
herer Zeit, als man die altsamoanische Sitte noch streng 
beobachtete, zu keinem anderen Zwecke benutzt werden, 
wurden also jedesmal nach Beendigung des Festes durch 
Abnehmen der Ausleger „außer Dienst gestellt“. 


Weiteres über den Pfahlbaufund am Wettersee. 





lealii seia oo ina sasala le 
ama ona faatagaina lea 20). 

E sa lava se alii ala 
e faatamala ma ua le ala 
i se aso e tasi po ua le i 
ai i le Falealii i le taeao 
ma le afiafi o aso uma o 
alafaga. 


E lua lava ituaiga o 
ia e faasaga i ai le ala- 
faga, o malauli?1) ma ta- 
oto??), a o nisi ia e le 
amanina lava, a e faaoo- 
gaina foi le sapatū?3) i 
nisi nuu o Upolu. 


E tolu pā e toso e le 
alii ala pe a fai le alafaga: 

1. E nonoa i le vae 
taumatau ma toso i le itū 
i matau o le vaa, e taua 
lea o le pā tautino 24). 


2. E nonoa i le vae 
tauagavale ma toso i le 
va o le vaa ma le ama, e 
taua lea o le pā taulalo- 
vasa 25), 

3. E nonoa i le lima 
tauagavale ma toso i tala 
atu o le ama, e taua lea o 
le pā taufaatā 26), 


E i ai le isi pā e taua 
o le tauofe e nonoa i le 


2) Vgl. Anm. 12. 


2? 
23 


Familienmitglied und kein 
Gast schlafen 2°). 

Kein Teilnehmer darf 
während der ganzen Zeit an 
irgend einem Tage das 
Angeln versäumen oder am 
Vor- oder Nachmittag bei 
den Versammlungen des Fa- 
lealii fehlen. 

Zwei Fischarten sind es, 
denen man auf diese Art 
nachstellt, der malauli 2!) 
und der taoto 22), um andere 
Fische kümmert man sich 
dabei nicht; doch nehmen 
manche Dörfer in Upolu 
noch den sapatü 23). 

Der angelnde Häuptling 
schleppt drei Angeln: 


1. Eine wird am rechten 
Bein festgebunden und an 
der rechten (Steuerbord-) 
Seite des Kanus geschleppt; 
sie heißt die zum Leibe ge- 
hörige Angel **). 

2. Eine andere wird am 
linken Bein festgebunden 
und zwischen Kanu und 
Ausleger geschleppt; sie 
heißt die lalovasa 25)-Angel. 

3. Die dritte wird am 
linken Arm festgebunden 
und hinter dem Ausleger 
geschleppt; sie heißt die hin 
und her gehende Angel +8). 

Es gibt noch eine an- 
dere, die Angelstockangel, 


Ein kleiner Hai, ebenda. 


3 Caranx hippos L., nach Krämer, a. a. O., II, 8. 414 ff. 
Belone ferox Gthr., ebenda. 


*) Weil sie der rechten, d. h. der stärkeren und ge- 
schickteren Hand, also dem wichtigsten Gliede des Leibes, 


am nächsten ist. 


ofe, a e seāseā se tasi ei 
ai lea pā auā e gata i Tāu- 
ava le tauofe vaganā ua 
loto le Tāuava e fai se 
igaga o se alii po o se fai- 
lauga ia fai sana tauofe 
ona faatoa fai lea. 


O le masani o alafaga 
e fai ni itutaua e lua ona 
fai lea o le tauaiga ina ia 
iloa po o ai e manumalö, 
a tele ia a le itutaua o le 
manumalö lea, a itiiti ia 
a le au o le toilalo lea, o 
le au toilalo o le a faapo- 
logaina lava i feau o le 
Falealii e uiga i ava ma 
vai e utu pe valaauina nisi 
e fai ni siva ma lagi ni 
pese, o le au toilalo foi e 
fai sa latou faaai i ni mea 
taumafa ?7). 


E faasalaina le alii ala 
ua le ala ina ua moeloa 
vaganā se faalavelave ua 
tatau 28), o le tagata foi 
ua le futi ia o le a faasa- 
laina o ia na te tufaina 
ava ?9). 


O le au ua toilalo e 
le filemū lava, a e toe tau- 
mafai ona laga o le toi- 
lalo pe a oo i se isi 
masina. 


sein. 


sie wird an einem Bambus- 


stock befestigt, aber sie 
kommt selten vor; denn 
nur der Tāuava darf sie 
haben, es sei denn, daß er 
einem Häuptling oder Spre- 
cher vergünstigungsweise 
erlauben will, eine Angel- 
stockangel zu führen, erst 
dann darf es geschehen. 

Das Herkommen erfor- 
dert, daß zwei Parteien ge- 
bildet werden. Die [gefan- 
genen] Fische werden ge- 
zählt, damit man wisse, 
welche Partei gewonnen hat; 
viel Fische fangen heißt ge- 
winnen, wenige fangen ver- 
lieren. Die Verlierer müssen 
das Falealii bedienen mit 
Kawabereiten und Wasser- 
schöpfen, odereinige müssen 
etwas vortanzen oder ein 
Lied vortragen, ferner müs- 
sen sie eine Strafe in Essen 
entrichten ?7). 

Der Langschläfer, der 
beim Angeln fehlt, wird be- 
straft, ausgenommen wenn 
er sich genügend zu ent- 
schuldigen vermag?’). Auch 
wer keinen Fisch gefangen 
hat, wird bestraft, er muß 
die Kawa verteilen 2°). 

Den Verlierern läßt es 
keine Ruhe, sie versuchen 
im folgenden Monat ihre 
Niederlage wieder gut zu 
machen. 


7) Auch gröbere Späße mögen mitunter vorgekommen 
Ich habe mehrmals dem Falealii beigewohnt und an 


dieser Stelle stets Eindrücke gehabt, die mich an akademi- 


sche Biersitten erinnerten. 
2) Z. B. mit Krankheit. 


s Tufa heißt neben der Kawaschüssel sitzen und jedes- 


2) Lalovasa, der Raum zwischen Kanu und Ausleger. 
2) Weil die Schnur den Bewegungen des rudernden 
Armes folgt. 


mal den Namen dessen ausrufen, dem der gefüllte Becher 
gebracht werden soll; das Hin- und Hertragen des Bechers 
zwischen der Kawaschüssel und dem Trinkenden heißt tautü. 


Weiteres über den Pfahlbaufund am Wettersee. 


Über die Entdeckung des interessanten Pfahlbaues 
bei Alvastra in Schweden, dicht an dem großen Binnen- 
see Wettern, ist im „Globus“ schon früher berichtet worden 
(Bd. 96, S. 275, u. Bd. 97, S. 51). Man wird sich er- 
innern, daß dieser Pfahlbau einzig in ganz Nordeuropa 
dasteht, und daß er sowohl durch seine Größe wie durch 
seine Lage sich von den schweizerischen und südeuropäi- 
schen Pfahlbauten stark unterscheidet. Während die 
letzteren in offenen Seen auf Pfählen gebaut sind, ruht 
der schwedische Pfahlbau teilweise auf der Moorerde, in 
welche er hineingebaut ist, teilweise auf dem schwach 
sich neigenden Ufer des Sees und wurde mit Hilfe einer 
kleinen Brücke, deren Überreste man auch gefunden hat, 
von den Bewohnern erreicht. Weiter besteht der Pfahl- 
bau von Alvastra nicht wie die schweizerischen aus einem 
Einzelhause, sondern er hat eine Raumfläche von unge- 
fähr 400 qm, und die verschiedenen Öfen aus Kalkstein, 


sowie die Reste von verbranntem Holze und Töpfer- 
gefäßen zeigen deutlich, daß die Behausung einer größeren 
Anzahl Personen als Heim gedient hat. 

Die Entdeckung des Pfahlbaues geschah im Jahre 
1908 durch den Eigentümer des Moores, der zwar die 
Wichtigkeit seines Fundes nicht erkannte, aber doch die 
Aufmerksamkeit der schwedischen Akademie der Wissen- 
schaften darauf lenkte. Die eigentliche Untersuchung 
begann im Jahre 1909 und wurde durch den von dem 
genannten wissenschaftlichen Institut beauftragten Ama- 
nuensis Otto Frödin und seine Assistenten ausgeführt. 
Diese erkannten die Bedeutung des Fundes, und obschon 
es ihnen in jenem Jahre nur gelang, etwa 50qm der 
großen Anlage zu untersuchen, stellten sie doch fest, daß 
hier ein Pfahlbau ackerbautreibender Menschen aus der 
jüngeren Steinzeit vorlag, einer Bevölkerung, die Getreide 
und Früchte (Äpfel) baute, die Haustiere, wie Schweine, 


Bücherschau. 


303 





Ziegen, Schafe, Kühe und Hunde, besaß, die Jagd auf die 
wilden Tiere des Waldes machte, und deren Geräte aus 
Stein, Flint, Bein und Horn verfertigt waren. 

Nun ist die Untersuchung dieses wichtigen Fundes 
im letzten Sommer (1910) fortgesetzt worden, wobei 
Frödin durch den OÖsteologen L. Hedell aus Upsala unter- 
stützt wurde. Es gelang, das Gebiet der Untersuchungen 
um etwa 125 qm auszudehnen, so daß jetzt im ganzen un- 
gefähr 175 qm der großen Bodenfläche des Pfahlbaues 
bloßgelegt und durchforscht sind — eine schwierige und 
langsame Arbeit, wenn man bedenkt, wie minutiös man 
verfahren mußte, damit auch nicht der geringste Gegen- 
stand, den die Moorerde verbarg, übergangen würde. 

Die gefundenen Sachen sind, wie es sich von selbst 
versteht, hauptsächlich von demselben Charakter wie die 
1909 geborgenen, doch befanden sich unter den etwa 
1000 untersuchten Gegenständen — Tierknochen, Korn, 
Kohlen, Nußschalen und eingeschrumpfte Äpfel nicht mit- 
gerechnet — zahlreiche Varianten und eine nicht un- 
bedeutende Anzahl von Neuigkeiten. Die steinernen 
Geräte sind Äxte mit und ohne Öhr, Flintsteinsplitter, 
Bohrer und Pfeilspitzen aus Flint, sowie ungefähr zehn 
„Klopfsteine* zur Bearbeitung der steinernen Geräte, 
und endlich unzählbare kleinere Stücke geschliffener 
Steine. Weiter fand man in diesem Sommer etwa 300 
Quarzstücke und ebenfalls zahlreiche Kugeln aus Schwefel- 
kies; diese zwei Arten von Gegenständen sind zum Feuer- 
schlagen benutzt worden. Eine der eigentümlichsten 
von diesen Kugeln aus Schwefelkies, deren Ent- 
deckung dicht bei einer Feuerstätte von großem wissen- 
schaftlichen Interesse war, wurde leider während der zu- 
fälligen Abwesenheit Frödins von einem der vielen 
Touristen, die den Platz besuchten, gestohlen — ein Fall, 
der zu sehr scharfen Maßregeln gegen den Touristen- 
strom im kommenden Sommer Veranlassung geben wird. 

Von Geräten aus Knochen und Horn hat man zahl- 
reiche Meißel, Pfriemen und Dolche gefunden; die Dolche 
gehören zu den Neuigkeiten des letzten Jahres, ebenso 
wie zwei hölzerne Fischhaken. Ebenfalls neu ist auch 
ein Gegenstand aus Hirschhorn, über dessen Zweck man 
nicht ganz im reinen ist, von dem man aber vermutet, 
daß er dazu diente, den geschlachteten Tieren die Haut 
abzuziehen. Auch hat man neue Typen von Messern 
aus Wildschweinknochen und anderen Geräten aus Horn 
und Knochen gefunden. 

Die Flora ist dieselbe wie die im Jahre 1909 ge- 
fundene: Körner, Äpfel und Haselnüsse, doch um eine 
neue Art von Samen vermehrt, nämlich Hirse, welche 
in verkohlten zusammenhängenden Klumpen angetroffen 
wurde. Man wußte schon früher, daß Hirse der Steinzeit- 
bevölkerung des skandinavischen Nordens bekannt war, 
und daß diese verstand, ein Getränk daraus zu brauen, 
aber in Schweden ist Hirse früher nicht gefunden. 

Die Tierwelt weist die oben genannten Haustiere und 
wilde Tiere auf, doch auch hier sind neue Funde ge- 
macht: Knochen von Biber, Fischotter, wilder Katze 
und Igel. Besonders sind die Knochen der wilden Katze 
von Interesse, da man sie bisher nicht so weit nördlich 
gefunden hat. Auch Knochen von Vögeln wurden aus- 
gegraben, die Arten sind aber noch nicht bestimmt. Was 
die Fischgräten betrifft, so hat man wie im vorigen 


Jahre solche vom Hecht getroffen und als neue solche 
vom Brassen. Die Fischerei scheint von den Bewohnern 
nicht stark betrieben worden zu sein, wenigstens hat 
man nur sehr wenige Fischhaken entdeckt, und Fisch- 
netze sind überhaupt nicht gefunden worden. Die Mög- 
lichkeit ist aber doch vorhanden, daß solche benutzt 
worden sind, weil man kleine Rollen von Birkenrinde 
entdeckt hat, die vielleicht als Schwimmer gedient 
haben. 

Selbstverständlich werden die Arbeiten im kommen- 
den Sommer und überhaupt so lange fortgesetzt werden, 
bis die ganze Bodenfläche aufgedeckt sein wird, was 
wahrscheinlich mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird. 
Über die Hälfte des Bodens, welcher von einer 1,5 m hohen 
Moorschicht bedeckt ist, ist noch auszugraben. Aber 
auch nachdem dies geschehen ist, sind die Arbeiten noch 
lange nicht als beendet zu betrachten. Durch zahlreiche 
Probebohrungen hat man die Existenz von Abfallshügeln 
(„Kjökkenmöddings“) konstatiert, durch welche das Gebiet 
der Untersuchungen bis auf 2000 qm erweitert wird, und 
von deren Untersuchung man sich viele Überraschungen 
verspricht. Und wenn auch dieses ausgeführt ist, steht 
die interessante Untersuchung der Skelettgräber noch 
bevor, von denen man weiß, daß sie sich unter dem 
Boden befinden, mit deren Ausgrabung man aber noch 
nicht angefangen hat. Wie man sieht, liegt noch eine 
lange und interessante Reihe von Aufgaben vor, welche 
der Pfahlbau von Alvastra darbietet. Wenn aber endlich 
einmal das große Werk beendet sein wird, dann wird 
man auch einen wichtigen Beitrag zur Beurteilung der 
großen Kultur- und Rassenfrage erhalten haben, die nach 
Frödins Ansicht durch diesen Fund aufgeworfen worden 
ist. Die Bewohner dieses Pfahlbaues sind nämlich, wie 
er meint, unzweifelhaft Skandinavier germanischen Ur- 
sprungs und wahrscheinlich von Südwesten, wohl über 
den Wettern, in die Provinz Östergötland, wo der Pfahl- 
bau liegt, eingedrungen. Aber zur gleichen Zeit lebte 
in derselben Provinz, der Küste der Ostsee entlang, 
eine nicht skandinavische Bevölkerung, die nicht Acker- 
bau trieb und nicht seßhaft war, sondern sich von 
Jagd und Fischerei ernährte. Die Existenz dieser Be- 
wohner kennt man aus mehreren Bauplätzen, welche 
zeigen, daß sie eine mehrere Meilen breite Küstenstrecke 
von Östergötland im Besitze hatten. Der Abstand zwischen 
den Sitzen dieser beiden Völkerstämme ist wahrscheinlich 
nur ungefähr zehn Meilen, vielleicht noch weniger ge- 
wesen. Diese nahe Nachbarschaft des wilden, jagdtreiben- 
den Volkes zur friedlichen, ackerbautreibenden Germanen- 
bevölkerung ist nach Frödins Meinung die eigentliche 
Veranlassung für die eigentümliche Anlage des Pfahl- 
baues von Alvastra gewesen. Damit die kriegerischen 
Nachbarn sie nicht allzu leicht überfallen könnten, 
mußten die Germanen ihre Behausung so isoliert und 
schwer erreichbar wie nur möglich anlegen, und dies 
geschah am besten durch einen Pfahlbau auf schwanken- 
dem Grunde. Wir befänden uns überhaupt hier auf dem 
Grenzgebiet zweier Kulturen. Dies erkläre denn auch 
die eigentümliche Erscheinung, daß eine Siedelung wie 
der Pfahlbau von Alvastra nur hier und nicht innerhalb 
des eigentlichen Gebietes der südskandinavischen Kultur, 
Dänemark und Schonen, gefunden worden ist. B. 


Bücherschau. 


städtischen Museums für Völker- 
1908 bis 1909. Leipzig 


Jahrbuch des 
kunde zu Leipzig. Bd. III: 
1910, R. Voigtländer. 5,60 4b. 
Unter den Veröffentlichungen der deutschen ethnographi- 

schen Museen nehmen jene des Leipziger Museums unter 


K. Weules Direktion einen ehrenvollen Platz ein, was durch 
den vorliegenden dritten Band wiederum bestätigt wird. 
Rüstig hat sich das Museum weiter entwickelt, über dessen 
Ziele der Direktor Auskunft gibt, und da springen die Vor- 
lesungen ins Auge, die zur besseren Nutzbarmachung des 


304 


Bücherschau. 





Museums für weite Kreise im Museum gehalten werden und 
großen Anklang finden. 

Die wissenschaftlichen Abhandlungen im vorliegenden 
Bande sind mannigfaltiger Art und kennzeichnen die vom 
Museum gepflegten Disziplinen. Die prähistorische Abteilung 
hat sich gut entwickelt, und zwei Arbeiten von Dr. Jacob 
machen uns mit Funden aus der Stein- und Bronzezeit und 
einem Römerfund von Schladiz bekannt, der um deswillen 
von Belang erscheint, weil e3 ein so weit nach Osten vor- 
geschobener römischer Depotfund ist, in einem von Römern 
nicht betretenen Gebiete. Es sind zusammen zehn Stücke, 
Schüsseln, Kasserolle, Schöpflöffel, Messer, die etwa aus dem 
Jahre 200 n. Chr. stammen. 

Auch das Gebiet der Volkskunde ist durch eine reich- 
haltige Sagensammlung aus der Leipziger Umgegend von 
J. Bernhardt vertreten, die überraschend reich ausgefallen ist 
und sich dadurch auszeichnet, daß dabei, oft Licht verbreitend, 
auch die prähistorischen Forschungsergebnisse mit verwertet 
sind. Das Ganze, 77 Seiten umfassend, ist ein wertvoller 
Beitrag zur Sagenkunde des ehemals wendischen, aber gründ- 
lich germanisierten Leipziger Bodens. 

Rein ethnographischer Art sind zwei Abhandlungen des 
Jahrbuches. Bescheiden nennt G. Antze seine Arbeit „Einige 
Bemerkungen zu den Kugelbogen*, welche ein bisher ver- 
nachlässigtes Thema fördert. Diese Bogen, die eine ganz 
andere Sehne als die gewöhnlichen Bogen besitzen, dienen 
dazu, kleine Tonkugeln oder Steinchen auf Vögel zu schleudern, 
deren Gefieder nicht verletzt werden soll. Das Verbreitungs- 
gebiet dieses Jagdgerätes ist beschränkt und räumlich weit 
zersplittert. Es kommt einmal in Südamerika (Brasilien, 
Paraguay, Argentinien und Bolivia) vor und dann im süd- 
lichen, mittleren und östlichen Asien. Konstruktionsverschie- 
denheiten sind dabei vorhanden, aber das Prinzip ist stets 
das gleiche. Noch ist Material über diese Bogen nicht ge- 
nügend vorhanden, als daß man das Verbreitungsgebiet genau 
übersehen könnte, aber Dr. Antze verspricht auf die Kultur- 
probleme zurückzukommen, die sich an den Kugelbogen 
knüpfen. 

Eine Frucht seiner zentralbrasilianischen Reise 1908 teilt 
Dr. Fritz Krause mit. Es handelt sich um Nachbildungen 
von Tanzmasken vom mittleren Araguaya. Immer noch er- 
fahren wir hier Neues über die so vielfach behandelten 
Masken und Maskentänze. Neue Typen werden erschlossen 
und die technische Seite der Masken wird eingehend erläutert. 
Es wird gezeigt, wie die Indianer (Karaja und Schawaje) die 
Aufgabe lösten, dieselbe Maske im verschiedensten Stoffe, in 
Blättern, Federn, Wachs und als Zeichnungen auf Papier 
oder im Sande, darzustellen. 


Franz Stuhlmann, Handwerk und Industrie in Ost- 
afrika. Kulturgeschichtliche Betrachtungen. Nebst einem 
Anhang: Die Gewinnung des Eisens bei den -Nyamwezi 
von R. Stern. XIV u. 163 8..mit 77 Abbild., 4 Kärtchen 
im Text und 2 Tafeln. (Abhandlungen des Hamburgischen 
Kolonialinstituts, Bd. I.) Hamburg 1910, L. Friederichsen 
u. Co. 8% 

Auch das Hamburgische Kolonialinstitut hat nun mit 
der Veröff:ntlichung eigener wissenschaftlicher Abhandlungen 
begonnen. Sie sollen dem ganzen Gebiete der kolonialen 
Interessen entnommen sein und in zwangloser Folge erscheinen. 
Stuhlmann hat mit der vorliegenden Abhandlung den Reigen 
begonnen. 

Die Arbeit zerfällt in zwei Hauptteile.. Der erste be- 
handelt Handwerk und Industrie der Afrikaner (also nicht 
ausschließlich der Ostafrikaner) vor den neueren Fremd- 
einflüssen, d. h. den Urbesitz. In den Unterkapiteln werden 
besprochen : Wohnungsbau, Steinarbeiten, Tonindustrie, Holz- 
technik, Rindenstoffbereitung, Weberei, Flechterei, Fell- 
industrie, Salzgewinnung, Eisenindustrie (diese im Hinblick 
auf die schroffen Meinungsverschiedenheiten unter den Ethno- 
logen bezüglich der Frage, ob die afrikanische Eisentechnik 
bodenständig ist, besonders eingehend), andere Metallindu- 
strien. Im zweiten Hauptteil werden nach ungefähr der- 
selben Disposition Handwerk und Industrie in neuerer Be- 
einflussung durch Fremde vorgeführt. Zu diesen neueren 
Beeinflussungen werden besonders die durch den indo-malaii- 
schen und die durch den erythräischen Kulturkreis gerechnet, 
dann natürlich auch die ganz modernen europäischen. 

Man kann im Zweifel sein, ob der eigentliche Wert der 
Arbeit in dem angeführten Tatsachenmaterial oder in den 
eingestreuten und angehängten Ausführungen ihres Verfassers 
über die Herkunft der Afrikaner und ihrer Kultur besteht. 
Über die zusammengefügten und gruppierten Einzelbeobach- 
tungen, eigene und fremde, kann nur gesagt werden, daß sie 
willkommen sind. Vom zweiten Punkt, den Ausführungen, 
die ja viele interessante Gedanken entbalten, die großen 


Fragen der afrikanischen Völkerkunde aufrollen, gilt, daß 
— wie auch Stuhlmann zum Teil selbst zugibt — hier die 
Hypothese, die persönliche Anschauung herrscht. Stuhlmann 
steht auf dem Standpunkt, daß der Neger weder anthropo- 
logisch noch kulturell sozusagen auf eigenen Füßen steht. 
Entstanden sei er aus einer Mischung von (zwerghaften) Ur- 
einwohnern mit einer Reihe von vier großen Kulturströmen 
aus dem südlichen und aus dem westlichen Asien, und kul- 
turell bleibe nach Abzug aller fremden Elemente wenig übrig, 
was er selbst hervorgebracht („Geistige Unproduktivität der 
Afrikaner“). Andererseits aber hätten diesen Neger die 
fremden Einflüsse wenig verändert. Daraus seien auch ge- 
wisse Schlüsse für die koloniale Arbeit zu ziehen: sie mahnten 
zur Geduld und Bescheidenheit bei unseren eigenen Koloni- 
sierungsbestrebungen. — Das sind Gedanken, die sich mit 
denen nicht weniger jüngeren Ethnologen berühren, aber der 
sicheren Stütze noch vielfach entbehren und deshalb mit 
großer Vorsicht aufzunehmen sind. Zustimmen aber darf 
man dem Verfasser bei seinem hier von neuem geäußerten 
dringenden Wunsch, es möchte Arabien und besonders die 
Gegend am Persischen Golf einer gründlichen vorgeschicht- 
lichen Durchforschung unterzogen werden; denn wenn alles 
Afrikanische aus dem südlichen Asien gekommen ist, so läge 
hier die Brücke, auf der sich vielleicht noch einige Spuren 
finden möchten. 

Angefügt ist der interessanten Abhandlung ein Beitrag 
des Missionssuperintendenten R. Stern über Überlieferungen 
der Waniamwesi über die Gewinnung des Eisens (in Urtext 
und Übersetzung). Die Ausstattung des Heftes ist muster- 
gültig. 8. 


Des Prinzen Arnulf von Bayern Jagdexpedition in 
den Tian-Schan. Nach Tagebuch und Briefen zu- 
sammengestellt von Therese Prinzessin von Bayern. 
X u. 305 8. mit 126 Abbildungen und 2 Karten. München 
1910, R. Oldenbourg. 10 f. 

Prinz Arnulf von Bayern weilte 1907 zu Jagdzwecken 

im mittleren Tian-Schan, gleichzeitig mit der auch geo- 
graphische Zwecke verfolgenden Expedition eines Münchener 
Alpinisten. Bald nach seiner Heimkehr starb der Prinz. Er 
hatte während der Reise ein Tagebuch geführt und zahlreiche 
Briefe an seine Familie geschrieben, und dieses Material — 
ein großer Teil der Tagebuchaufzeichnungen ist übrigens 
verloren gegangen — hat Prinz Arnulfs Schwester, die als 
Naturforscherin und Reisende rühmlichst bekannte Prinzessin 
Therese von Bayern, zu dem vorliegenden Buche verarbeitet. 
Aus den Aufzeichnungen geht hervor, daß Prinz Arnulf sich 
in ihnen keineswegs nur auf die Beschreibung seiner jagd- 
lichen Abenteuer beschränkt, sondern ihnen alles Bemerkens- 
werte, was er gesehen und erlebt, anvertraut hat. Es spricht 
aus ihnen die Freude an der Natur und am Beobachten ihrer 
Schönheiten und Eigenarten. Der „Nimrod“ tritt gar nicht 
so dominierend hervor, wie der Titel vermuten läßt. Prin- 
zessin Therese hat ‚sich ihrer Aufgabe mit der gewohnten 
Gründlichkeit und Sorgfalt entledigt und sich in die sonstige 
Literatur über die von ihrem Bruder besuchten Teile Asiens 
eingearbeitet, um in Fußnoten unter dem Text Erläuterungen 
geben zu können. Sie sind hauptsächlich zoologischer und 
botanischer Art, passen in ihrer wissenschaftlichen Schwere 
freilich nicht recht zu dem immerhiu doch leichten Inhalt 
des Buches, verleihen ihm aber sicherlich einen größeren 
Wert. Beigefügt sind zwei gute Karten zur Übersicht der 
ganzen Reise und zum Verfolgen der Wege im Tian-Schan, 
sowie zahlreiche sehr schöne und zum Teil auch charak- 
teristische Abbildungen (z. B. Landschaftliches), die nach 
von dem Verstorbenen aufgenommenen Photographien her- 
gestellt sind. 


Dr. 0. Schlaginhaufen, Reisen in Kaiser- Wilhelms- 
Land (Neuguinea). Mit 3 Tafeln und 21 Textfiguren. 
(Abhandlungen des Kgl. zoologischen und ethnographi- 
schen Museums zu Dresden, Band XII.) Leipzig 1910, 
B. G. Teubner. 6,50 M. 

Diese Reise wurde im Jahre 1909 zu Sammel- und For- 
schungszwecken unternommen und beschränkte sich wesentlich 
auf eine Befahrung des Kaiserin-Augusta-Flusses, auf eine Be- 
steigung des Toricelligebirges und verschiedene Ausflüge im 
Küstengebiete des nördlichen Kaiser-Wilhelms-Landes, wobei 
der Verfasser, ein guter Beobachter, viele ethnographische 
Gegenstände erbeutete und in guten Abbildungen festlegte. 
Hervorzuheben sind auch die Tafeln in Lichtdruck, welche 
Typen und namentlich die Pfahlbauten der Eingeborenen zur 
Darstellung bringen. 

Die Fahrt auf dem Kaiserin-Augusta-Fluß, dessen Breite 
auch dem Verfasser imponierte, führte 187 Seemeilen auf- 
wärts. Ein Rückblick, der auf die früheren Befahrungen 


Kleine Nachrichten. 


geworfen wird, zeigt, daß seit 1885 (Finsch) etwa ein Dutzend 
deutscher Dampfer den Strom aufwärts gelangten ; am weitesten 
Reche mit 416 km. (Ganz neuerdings ist dann auf dem Flusse 
die deutsch - niederländische Grenzkommission sogar bis über 
den Grenzmeridian hinausgekommen.) Neu ist des Verfassers 
Beobachtung einer Brücke der Eingeborenen über einen La- 
gunenarm des Flusses. Von Belang erscheinen auch die nicht 
näher beschriebenen, aus dem Lehm des Ufers herausgeformten 
plastischen Darstellungen von weiblichen Figuren und Schild- 
kröten. Die künstlerischen Leistungen der Eingeborenen, die 
Schnitzereien, bemalten Rinden standen auch hier auf der 
anderweitig in Neuguinea beobachteten Höhe. Nachdem der 
Verfasser am Flusse Rieujamur aufwärts marschiert war, 
erfolgte Ende August die Besteigung des Toricelligebirges, 





Schon in 600m 


auf schmalen Pfaden im dichten Urwalde. 
Höhe machte sich die Temperatur empfindlich bei Weißen 
und Schwarzen bemerkbar und doch zeigte das Thermometer 


noch + 23°C! Erreicht wurde eine Höhe von 1000 m, in 
welcher die Araukarien einen starken Gegensatz zu der tropi- 
schen Vegetation an der Küste boten. Der Verkehr mit den 
Eingeborenen verlief friedlich; sie waren durchweg klein- 
wüchsig, die äußere Kultur machte einen ärmlichen Eindruck. 
Hervorzuheben sind die Penishüllen aus Geflecht. Es folgen 
zum Schlusse noch die sehr kurz und mehr skizzenhaft ge- 
haltenen verschiedenen Ausflüge an der Nordküste, wobei 
namentlich die Hausbauten und Dorfanlagen beachtet wurden. 
Die ganze, nur 17 Folioseiten umfassende Arbeit macht den 
Eindruck eines vorläufigen Berichts. 





Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Im Sommer d. J. hat Dr. Joh. Schmidt, der Leiter 
der dänischen Meeresuntersuchungen, mit dem Dampfer „Thor“ 
eine zweimonatige Forschungsfahrt im Mittelmeer auf 
Kosten des Carlsberglaboratoriums ausgeführt. Er hat hier- 
über in ‚einer Sitzung des Komitees für die Internationale 
Meeresforschung, Ende September in Kopenhagen, die ersten 
Mitteilungen gemacht, aus denen hier folgendes wieder- 
gegeben sei: 

Die hydrographischen Beobachtungen im östlichen Becken 
des Mittelmeeres, besonders auf einer Linie von der Küste 
Agyptens bis an die Insel Rhodos, boten größtes Interesse 
dar, weil sie sozusagen den Schlüssel geben zum Verständnis 
der Strömungen im Mittelmeere. Auf dieser ganzen Strecke 
war im Oberflächenwasser sowohl die Temperatur wie der 
Salzgehalt des Wassers ziemlich konstant (als Folge des 
starken Verdampfens war auch der Salzgehalt recht hoch); 
aber etwas unter der Oberfläche wurde eine Wasserschicht 
gefunden, deren Salzgehalt im südlichen Teile der untersuchten 
Strecke weit niedriger war als im nördlichen Teile, also 
nächst der Insel Rhodos. Dieser niedrige Salzgehalt rührt 
notwendigerweise vom atlantischen Wasser her, das der nord- 
afrikanischen Küste entlang aus dem Ozean einströmt, was 
noch deutlicher an den Küsten von Tunis und Algier sich 
nachweisen läßt. % 

Entfernt man sich von der Küste Agyptens, so ver- 
schwindet allmählich das atlantische Wasser, und wenn man 
Rhodos erreicht, trifft man den größten Salzgebalt, welcher 
überhaupt gefunden wurde. Da keine nennenswerte Zufuhr 
von weichem Wasser hier stattfindet, so steigt die Salzmenge 
des Oberflächenwassers infolge der Verdampfung gradweise 
im Laufe des Sommers. Hierdurch entsteht eine ganz dünne, 
aber sehr salzreiche Oberflächenschicht, die vermittelst der 
hohen Sommertemperatur sich, ohne zu sinken, an der Ober- 
fläche über dem darunterliegenden, weniger salzreichen 
Wasser halten kann. Wenn aber die Abkühlung im Herbst 
eintritt, dann sinkt dieses Wasser und mischt sich mit den 
tieferen Wasserschichten. Wenn dies den ganzen Winter hin- 
durch sich fortsetzt, so kann der gesteigerte Salzgehalt sich 
bis in einer Tiefe von mehreren hundert Metern geltend 
machen, und die dadurch entstandene salzige Mittelschicht 
breitet sich nun gegen Westen aus, wo der Dampfer „Thor“ 
sie schon auf seiner vorjährigen Reise im Ionischen Meere 
sowie im ganzen westlichen Becken in Tiefen von 200 bis 
500m gefunden hat. 

Überhaupt sind die eigentümlichen hydrographischen 
Verhältnisse des Mittelmeeres durch die in den regenlosen 
Sommern stattfindende Verdampfung bedingt. Dadurch wird 
das stetige Einströmen von atlantischem Meerwasser hervor- 
gerufen, ohne die das Oberflächenniveau des Mittelmeeres 
sinken würde. Die einströmenden Wassermengen führen aber 
dem Mittelmeere eine gewisse Salzmenge zu, welche wieder 
abgegeben werden muß, wenn das Meerwasser nicht im Laufe 
der Zeit mit Salz gesättigt oder übersättigt werden soll. Die 
notwendige Gegenwirkung geschieht durch die Ausströmung, 
die in der Tiefe der Straße von Gibraltar stattfindet, und die 
man im Atlantischen Meere den Küsten von Portugal ent- 
lang, in der Spanischen See, ja noch an der südwestlichen 
Küstenstrecke von Irland verfolgen kann. Das durch die 
Straße von Gibraltar eindringende Wasser hat einen Salz- 
gehalt von etwa 36 Promille, während das ausströmende Wasser 
etwa 38 Promille hat; folglich müssen die ausgehenden Wasser- 
mengen unter der Voraussetzung, daß der Salzgehalt im 
Mittelmeere konstant ist, °°/,, der einströmenden betragen, 
und nur *%/,, werden verdampft. Man weiß aber, daß die Ver- 
dampfung sehr bedeutend ist, und man bekommt hierdurch 


eine Vorstellung von den riesigen Wassermengen, welche 
durch die Straße von Gibraltar ein- und ausströmen, was 
wieder zur Erklärung der dort herrschenden reißenden Strö- 
mung dient. 

Die biologischen Untersuchungen des „Thor“ haben ein 
sehr bedeutendes Material ergeben, das nun nach der Heim- 
kehr näher untersucht und bestimmt werden soll. Dazu wird 
wegen der Mannigfaltigkeit der eingesammelten Organismen 
die Hilfe einer Menge zoologischer Spezialisten nötig sein, 
und es läßt sich voraussehen, daß erst nach Jahren die Be- 
arbeitung der einzelnen Tiergruppen beendet sein wird. Das 
Hauptziel der Untersuchung ist, eine allgemeine Übersicht 
über die Verbreitung der Organismen zu gewinnen, um daraus 
einen Vergleich zwischen der Fauna des Mittelmeeres und 
der des Atlantischen Ozeans ziehen zu können. Aber schon 
jetzt meint die Expedition eine einzelne Beobachtung hervor- 
heben zu können: daß man im Mittelmeere nirgends eine 
solche Menge von Organismen wie im Atlantischen Ozean 
findet. Weiter schien es, daß sowohl die Menge der Arten 
wie der Individuen im Mittelmeere, je östlicher man kam, 
abnahm. Dies gilt besonders in den oberen Schichten des 
Wassers, doch auch teilweise von den tieferen. In den oberen 
Schichten wurde eine weit größere Menge von Arten sowie 
auch von Individuen gefunden, als in einer Tiefe von 800 bis 
3000 m. Die verhältnismäßig wenigen Arten der tieferen 
Schichten waren beinahe immer dieselben, welche im Atlan- 
tischen Meere aus den gleichen Tiefen hervorgeholt wurden, 
aber im zuletzt genannten Meere wurde außerdem, wenn 
man eine Tiefe von einigen tausend Metern erreichte, noch 
eine Reihe von anderen Arten gefunden, welche im Mittel- 
meere nicht angetroffen worden sind. Die pelagische Tief- 
wasserfauna des Mittelmeeres scheint danach im ganzen 
Areal so ziemlich gleich zu sein, doch ärmer im östlichen 
Teile. Überhaupt ist sie arm an Arten und kann als eine 
Verdünnung der atlantischen Tiefwasserfauna von 1000 bis 
2000 m Tiefe aufgefaßt werden. Und es scheint auch, daß 
für das Mittelmeer eigentümliche Tiefwasserarten fehlen oder 
wenigstens sehr selten sind. 

Kopenhagen, im Oktober. Adolf Bauer. 

— Eisenbahnbau in Südchina. Nach einem neueren 
Bericht des britischen Konsuls in Kanton ist der Bau der 
Eisenbabn Kanton—Kaulun (bei Hongkong), der nach den 
Grundsätzen bei den europäischen Linien erster Ordnung vor 
sich geht, in letzter Zeit sehr schnell gefördert worden, so 
daß die ersten 45 bis 50km auf chinesischem Gebiete in- 
zwischen bereits dem Verkehr übergeben sein dürften. Es 
sind große teehnische Schwierigkeiten zu überwinden gewesen, 
vor allem bei den zahlreichen Brücken. Die Fundamentierung 
der Hauptbrücke, die über den Ostfluß bei Schiklung, ist fast 
vollendet, und man hat mit der Errichtung der Stahlgerüste 
für die gewaltigen Brückenträger begonnen. Die englische 
Teilstrecke nähert sich schnell ihrer Vollendung und wird 
Mitte 1911 Verbindung mit Hongkong haben. — Erhebliche 
Fortschritte sind dann beim Bau der Linie Kanton—Hankou 
zu verzeichnen gewesen. Die Züge von Kanton aus ver- 
kehren hier etwa 85km weit, bis Wöngschek am Nordfluß, 
aber der Bau ist schon bis Yingtak, 140 km nördlich von 
Kanton, fertig. Yingtak ist eine Bezirksstadt von einiger 
Bedeutung, und die Errichtung einer Station hier würde die 
Orte weiter aufwärts am Nordflusse Kanton um drei Tage 
näher bringen. Schnellzüge verkehren auf dieser Strecke 
gegenwärtig nicht, aber die Lokalzüge erreichen 60 bis 70 km (?) 
in der Stunde. Während der letzten Unruhen in Südchina, 
1909/10, hat die Eisenbahngesellschaft auf dieser Linie 


Kleine Nachrichten. 





1456466 Reisende befördert und eine Einnahme von 294391 
Dollar gehabt (monatlich im Durchschnitt 24500 Dollar), was 
beweist, daß auch hier die Chinesen schnell die Vorteile der 
Eisenbahnen für den Personen- und Güterverkehr begriffen 
haben und sie sich zunutze machen. 


— Die neue Surinam-Expedition unter J. G. W. J. 
Eilerts de Haan, die Mitte Juli d. J. von Paramaribo ins 
Innere aufgebrochen war (vgl. oben, 8. 243) hat leider mit 
dem Tode ihres Leiters geendet. Er scheint Ende August 
erfolgt zu sein, da die Nachricht Ende September durch 
Buschneger nach Paramaribo gebracht wurde. Bald darauf 
wurde die Nachricht durch die Rückkehr von de Haans 
beiden Begleitern bestätigt. Inwieweit die Expedition ihre 
Aufgabe, die Erforschung des Lucieflusses und der Gegend 
am mittleren Korantin, trotzdem hat erfüllen können, weiß 
man noch nicht. 

— Professor Alois Musil ist kürzlich von einer neuen 
Reise nach dem nördlichen Arabien zurückgekehrt, 
die er zu Anfang dieses Jahres auf Veranlassung der türki- 
schen Regierung angetreten hatte. Diese hatte ihn beauf- 
tragt, im Bereich der Hedschasbahn einen geeigneten Ort 
zur Errichtung eines Lazarettes ausfindig zu machen. Er hat 
sich aber auch mit geographischen, archäologischen, ethno- 
logischen und naturwissenschaftlichen Forschungen beschäf- 
tigt, im Edomiterland, im Gebirge El-Hisma, im südlichen 
Tihamagebirge und in den Bergen Midians, also in den 
Gegenden westlich von der Hedschasbahn. Trotz der Ge- 
fahren, die ihm aus der fanatischen Gesinnung der Ein- 
geborenen erwachsen sind, hat Musil gute Erfolge erzielt, 
und er läßt geheimnisvoll andeuten, daß er den „wahren“ 
Berg Sinai der Bibel entdeckt habe. 


— Bei Obertraun am Südostende des Hallstätter Sees 
ist kürzlich eine Eishöhle aufgefunden worden, über die 
einer der Entdecker, Prof. E. Fugger in Salzburg, in der 
englischen Zeitschrift „Nature“ vom 13. Oktober berichtet. 
Die Öffnung, die von Obertraun aus sichtbar ist, liegt 1600 m 
über dem See in der Rückwand eines Zirkus zwischen Mittag- 
kogl und Hirschberg. Ein niedriger, enger Gang führt in 
eine 10m hohe Halle, deren Boden mit ganz reinem und 
spiegelklarem Eise bedeckt ist. Eine Eissäule steigt nahezu 
bis zur Decke empor. Nach einem steilen Abstieg von 25 m 
gelangt man dann in einen von Eis umgebenen Dom von 
40m Höhe. Hier ist der Boden mit 4 bis 7m hohen Eis- 
blöcken bedeckt, die Wände sind dick mit Eis bekleidet, und 
eine Eispyramide ragt auch hier fast bis zur Decke empor. 
Ein Eisrücken, der diesen Raum in der Längsrichtung durch- 
zieht, führt von ihm in eine Rieseneisgrotte, die prächtige 
Gruppen von nadelartigen Eiskristallen birgt. Von einer be- 
sonders in die Augen fallenden Gruppe, „Monte Cristallo“, 
erstreckt sich ein klarer Eisstrom über 100 m weit nach Osten 
empor bis zu einer Wegteilung. Der Gang rechts ist eisfrei, 
in ihm wurde ein Zahn des Höhlenbären (Ursus spelaeus) 
gefunden. Man kann diesen Gang bis in eine zweite große 
Halle von 100m Länge, 50m Breite und 25m Höhe ver- 
folgen, in der sich eine burgförmige Eismasse erhebt. Hierauf 
muß man in einer Eisspalte abwärts klettern und kommt 
dann an ein prachtvolles Eistor, von dem ein sehr enger, 
20 m langer Gang in eine 200 m lange und mindestens 30 m 
hohe Halle führt, die eisfrei ist und sich in eine Reihe von 
Tunnels auflöst, in deren einigen vom Wasser bearbeitete 
Kiesel den Lauf eines ehemaligen Stromes andeuten. Die 
Gesamtlänge aller dieser Höhlen ist 2000m. Wo Eis vor- 
herrscht, beträgt die Temperatur 0 bis 1°C; in den eisfreien 
Teilen steigt sie auf 5°. 


— Die ostpreußischen Straßen im 18. und 19. Jahr- 
hundert unterzieht R. Grabe einer näheren Betrachtung 
(Königsberger Dissert. 1910). In früheren Zeiten waren, wo 
nicht See- oder Binnenschiffahrt in Frage kam, die Land- 
straßen die eigentlichen Träger des Verkehrs. Bei der Ent- 
stehung dieses Wegenetzes spielen die physische Beschaffen- 
heit des Bodens wie der Kulturzustand seiner Bewohner wohl 
die Hauptrolle. Über die ersten früheren Straßenverbin- 
dungen sind wir nur schlecht unterrichtet. Jedenfalls hatte 
aber Ende des 17. Jahrhunderts das Aussehen der großen 
Landstraßen den Zustand äußerster Verwahrlosung erreicht, 
sie waren vollständig ausgefahren, und tiefe Löcher befanden 
sich in den Wegen. Brücken fehlten entweder gänzlich oder 
waren mangelhaft im Stande. Friedrich III. suchte dann 
die schlechten Verkehrsverhältnisse seines Landes mit größerem 
Nachdruck, als es bisher geschehen war, zu bessern, und das 
Wegeedikt von 1698 hat manches gebessert, zumal die Knüppel- 
brücken vielfach zur Anwendung gelangten. Die Fahrpost 


bedeutete dann eine weitere Etappe in der Wegebesserung, 
durch sie rückte die Verbindung gewissermaßen in eine 
höhere Stufe und blieb darin, bis die Entwickelung der Eisen- 
bahnen den alten Poststraßen allmählich ihre Würde nahm. 
Friedrich Wilhelm I. ist dann als mächtiger Förderer der 
Wege zu nennen, seine „neuen fahrenden Posten“ brauchten 
gutgehaltene Wege zu ihrem relativ schnellen Fortkommen. 
Durch seine Kolonisation in Litauen und Masuren schuf er 
daselbst auch überall gute Verkehrsbedingungen. Friedrich 
der Große soll dem Straßenbau abhold gewesen sein, doch 
war es wohl nur aus Sparsamkeitsrücksichten, und als die 
Kriegsjahre vorbei waren, erschien 1764 ein umfangreiches 
Wegereglement, das erste seiner Zeit. Die letzte Periode des 
alten Straßenbaues ist dann gegen Ende des 18. Jahrhunderts 
zu setzen, dann begann die Periode der Chausseen, die zuerst 
als Staatschausseen angelegt wurden und an Chausseegeld 
etwas zu ihren Kosten beitragen mußten. Später setzten 
dann die Privat-, Aktien- und Gemeindechausseen ein, welchen 
als Kunststraßen immerhin eine bedeutende Mitwirkung zur 
Bewältigung des Verkehrs zuzuschreiben ist. Als dann in 
den meisten Teilen der Provinz gute Wege dem großen 
Hauptverkehr dienten, aber der Mittel- und Kleinverkehr 
noch vollkommen darniederlag, traten die Kreischausseen in 
ihre Rechte; der Hauptteil an dieser allgemeinen Vergröße- 
rung des Chausseenetzes fiel den einzelnen Kreisen zu. Doch 
erst von 1860 ab können wir von einem wirklich intensiven 
Kreischausseebau reden. 

— Den Ergebnissen der Beobachtungen des nieder- 
österreichischen Gewitterstatiomsnetzes inden Jahren 
1901 bis 1905 von A. Defant (Meteorol. Zeitschr. 1910, 27. Bd.) 
entnehmen wir, daß alle größeren Erhebungen, besonders 
alle dominierenden, günstige Verhältnisse für die Bildung 
von Gewittern geben, sie fördern geradezu auffallend die 
Entwickelung des Gewitterprozesses. Die ebeneren Gebiete 
lassen nur äußerst wenige Gewitter entstehen; sie sind die 
Auflösungsstätten der Gewitter, die von auswärts kommen 
und den ebeneren Gegenden zuziehen; sie hemmen die Ent- 
wickelung des Gewitterprozesses. Ein Gebiet bevorzugt stets 
Gewitter einer bestimmten Richtung; es läßt hauptsächlich 
nur Gewitter dieser bestimmten Richtung entstehen und ver- 
nichtet mit Vorliebe Gewitter der entgegengesetzten Richtung. 
Dabei folgen die Gewitter der gewittererzeugenden Gebiete 
dem abfallenden Terrain, ziehen längs der Bergabhänge den 
ebeneren Gegenden zu und erlöschen vollständig, wenn sie 
sich in der Ebene ausbreiten können. Je breiter das Gewitter 
ist, desto länger hält der Gewitterprozeß an, einen desto 
längeren Weg legt das Gewitter zurück. Der tägliche Gang 
der Gewitterbildung weist drei gut ausgedrückte Maxima 
auf; das erste liegt in den Vormittagsstunden, das zweite 
fällt auf die wärmste Tageszeit, das dritte auf die Abend- 
stunden. Diese Dreiteilung ist in jedem Jahr deutlich und 
klar ersichtlich. Zwei Gruppen von Gewittern vermag man 
zu unterscheiden, die auf verschiedene Ursachen zurückzu- 
führen sind. Solche, die auf die allgemeine Zirkulation der 
Berg- und Talwinde zurückzuführen sind; sie gehören zum 
Typus der Wärmegewitter, die an der Grenze von einem 
kalten und warmen Gebiete entstehen und sich gegen das 
warme fortpflanzen, die anderen beruhen auf Überhitzung 
der bodennahen Luftschichten auf labilem Gleichgewicht. 
Die kälteren Luftmassen lagern oberhalb der warmen, in der 
ersten Gruppe aber neben den warmen. 


— In einer vortrefflichen, kurzgefaßten Schilderung der 
Buschleute der Namib von Oberleutnant Trenk (3. Heft 
der Mitteilungen aus den deutschen Schutzgebieten, 1910, 
8.166 ff.) sind Beobachtungen enthalten, welche wegen ihrer 
Neuheit besonderes Interesse erwecken. Die Buschmänner 
Deutsch-Südwestafrikas, indem Bergland zwischen dem Swakop 
und dem Oranjefluß, unterscheiden sich von jenen der Kala- 
hari und von den Hottentotten namentlich durch ihr dichtes, 
nicht pfefferkornartiges Haupthaar; doch besitzen sie keine 
eigene Sprache, sondern sprechen reines Nama. Sie führen 
ein nomadenhaftes Jügerleben; von den Hottentotten werden 
sie verachtet und wegen ihrer gelegentlich verübten Vieh- 
räubereien unablässig verfolgt, so daß sie in den verborgen- 
sten Klüften und Höhlen der Tafelberge ihre Wohnsitze haben. 
Sie mögen im ganzen nicht mehr als 900 bis 1000 Köpfe 
zählen. Sie gliedern sich nach Familienclans, welche, je von 
einem Kapitän beherrscht, unabhängig voneinander sind, ihre 
eigenen Wasserstellen und Jagdbezirke haben und sich ge- 
gebenenfalls unter strenger Beachtung kriegsrechtlicher For- 
malitäten gegenseitig bekämpfen. Einen Großkapitän gibt es 
nicht mehr unter ihnen. In ihren Sitten weichen sie in 
vieler Beziehung von denen der übrigen Naturvölker ab: 
Monogamie ist allein üblich; Mädchen und Burschen heiraten 


Kleine Nachrichten. 


307 





sich sofort bei beginnender Geschlechtsreife und ohne Ent- 
richtung eines Kaufpreises an die Eltern der Braut; Prosti- 
tuierte kommen nicht vor; die Ehe gilt für das ganze Leben; 
Ehebrecher werden durch den Geschädigten von Rechts wegen 
ermordet; nach dem Tode des Familienhauptes erbt zuerst 
die Frau und dann der Sohn; Kinder dürfen von den Eltern 
nie verkauft, höchstens gegen Bezahlung zeitweilig verborgt 
werden; auch ist es nicht erlaubt, ein Familienmitglied in 
die Fremde zu verjagen; Diebstahl und Ehebruch sind unter 
den Volksgenossen eine große Seltenheit; den Gestorbenen 
gibt man unter großen Feierlichkeiten den verdickten Saft 
eines Strauches mit in das Grab, damit sie im Jenseits reich- 
liche Kost finden; ihre ursprüngliche Religion besteht nur in 
dem Glauben an einen bösen Geist und an eine Manifestierung 
der abgeschiedenen Seelen in gespensterhaftem Getier; hier 
und da hat das Christentum Eingang gefunden und mit ihm 
die Überzeugung, daß es einen Himmel gibt, wo es einem gut 
geht. Ist ein Verbrechen begangen und der Verbrecher nicht 
entdeckt worden, so hilft man sich mit einem sonst in Afrika 
nicht üblichen Gottesgericht: Die im Verdacht Stehenden 
werden vor ein Feuer gesetzt; wendet sich die emporsteigende 
Rauchsäule abwärts gegen eine Person oder mehrere, so sind 
diese die Schuldigen, wirbelt sie gerade und ungeteilt nach 
oben, so ist der Bann des Verdachtes aufgehoben. — Zur 
Erlegung des Wildes bedienen sich die Buschmänner des 
giftigen Saftes der Kandelaber - Euphorbia, indem sie damit 
entweder die Pfeilspitzen beschmieren oder, um namentlich 
Zebras zu töten, in Wasserstellen es spritzen, wodurch das 
Wasser eine rötliche Färbung erhält. 

An die Trommelsprache der Kameruner erinnert der Ge- 
brauch einer Signalpfeife. Ihr Ton ist schrill, daß er bei 
Windstille 2 bis 3km weit zu hören ist. Eine bestimmte An- 
zahl von Pfiffen mit größeren und geringeren Pausen be- 
deuten: „Der Feind ist da“ oder „Wasser gefunden“ usw. 

Am Schluß seiner Schilderung bemerkt Oberleutnant 
Trenk, daß die Buschleute Südwestafrikas wohl kaum trotz 
aller Bemühungen zu dauernder kultureller Tätigkeit heran- 
gezogen werden können; denn wenn sie auch in der Trocken- 
zeit in kleinen Trupps auf Farmen sich verdingen, so machen 
sie sieh doch plötzlich und heimlich wieder aus dem Staube, 
nehmen auch überdies einige Rinder mit fort. Sie sind im 
höchsten Grade unzuverlässig. Lieber ertragen sie im Drang 
nach vollkommenster Unabhängigkeit Armut, Entbehrungen 
und Strapazen, als daß sie sich an stetige, geordnete Arbeit 
gewöhnen. B. F. 

— Über die Entdeckung eines interessanten altägyp- 
tischen Steingrabes in der Nähe der Sneferu-Pyramide 
(4600 v. Chr.) berichtet Flinders Petrie im „Man“ vom 
September d. J. Es datiert aus einer Zeit vor der Erbauung 
der Pyramide, ist das früheste Privatgrab in Ägypten, dessen 
Alter bestimmt werden kann, und ist namentlich deshalb 
wichtig, weil es zeigt, daß der Leichnam gänzlich des Fleisches 
beraubt wurde, bevor man ihn in Tücher hüllte. Die Leiche 
liegt in einem Sarge aus rotem Granit; er ist der älteste 
bekannte Steinsarkophag. Man weiß seit langem, daß bei 
prähistorischen Begräbnissen das Fleisch vom Körper entfernt 
wurde, und daß man sogar die Knochen zerbrach, um das 
Mark herauszuziehen. Im vorliegenden Falle war jeder 
Knochen besonders in Leinen gehüllt, und der Fund beweist, 
daß die Zerstückelung des Skeletts unter den höheren Be- 
völkerungsklassen am Beginn der Pyramidenperiode üblich war. 


— Über die spanischen Besitzungen im und am 
Golf von Guinea ist einem neueren englischen Konsular- 
bericht folgendes zu entnehmen: Die Bevölkerung der Insel 
Fernando Pöo wird auf 20000 geschätzt, von denen 2500 bis 
3000 Europäer sind. Wieviel Menschen auf der Insel Elobey 
und auf dem Festlande, das ja noch ziemlich unerforscht ist, 
leben, weiß man nicht. Von hier — aus Bata — kommen 
die Plantagenarbeiter, ebenso aus Liberia und den englischen 
Kolonien. Die sanitären Verhältnisse sind nicht sehr günstig. 
Der Hafen von Sta. Isabel auf Fernando Pöo ist eine Station 
der europäischen Dampferlinien, hat aber in kultureller Hin- 
sicht davon wenig Nutzen gehabt. Die Regenmenge betrug 
hier im Jahre 1908 2130 mm, im Jahre 1909 2470 mm; sie 
verteilt sich über das ganze Jahr, mit zwei Maximalperioden im 
Mai/Juni und August/September von einem Monatsmittel von 
330 mm. — Erst seit 1907 veröffentlicht die spanische Regie- 
rung Handelsstatistiken, sie sind aber, außer für Fernando 
Pöo, sehr unvollständig. 1908 hatte der Import für diese 
Insel einen Wert von 2832156 Pes. (Baumwollwaren, Tabak, 
Petroleum, Transportmaterial, Salz, Wein), der der Ausfuhr 
einen solchen von 2737236 Pes. (Kakao, Palmöl und -nüsse, 
Kautschuk, Gummi, Holz, Pfeffer, Piassava, Kopra und Elfen- 
bein). Auf Fernando Pöo ist die Hauptkultur der Kakao, 


und die Kakaoausfuhr ist von 1902 bis 1909 von 1499050 kg 
auf 2799264 kg gestiegen (1908: 2813675 kg). Dieser gesamte 
Kakao geht nach Barcelona und Alicante infolge des hohen 
Ausfuhrzolls von 94,5 Pes. die Tonne, wenn er fürs Ausland 


bestimmt ist. In Spanisch-Guinea, also auf dem Festlande, 
gibt es viel Kautschuk, den mehrere Landolphiaarten liefern, 
aber der Handel damit stockt infolge des Preisrückganges in 
Europa und des Verbots, den Eingeborenen Flinten und Pulver 
zu verkaufen. Andererseits versucht man die Hevea auf 
Fernando P6o einzubürgern, dessen Boden und Klima ihr 
günstig sind; man zählt schon zwei Pflanzungen mit 3000 und 
500 Bäumen, deren Samen teilweise aus Ceylon herrührt. 
Der Gehalt soll den der in Viktoria (Kamerun) gezogenen 
Hevea übertreffen. Der Benitodistrikt auf dem Festlande 
liefert Mahagoni, Ebenholz und Rotlıolz, aber die Höhe des 
Ausfuhrzolls lähmt den Handel. Die Eingeborenen des Bata- 
distrikts bauen viel Mais von freilich mäßiger Qualität. Die 
Elefanten werden immer seltener. 


— In der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift (N. F., 
IX Bd., 1910, S. 369) verbreitet sich Dr. H. Rudolph über 
die Ergebnisse und ferneren Ziele der wissenschaft- 
lichen Drachen- und Ballonaufstiege. Er gibt zuerst 
eine historische Übersicht der hauptsächlichsten Aufstiegserien, 
welche bis jetzt stattgefunden haben, und der dabei erreichten 
höchsten Höhen. Darauf folgt eine kurze Aufzählung der 
bei den Aufstiegen benutzten Methoden, während unter den 
erreichten Ergebnissen auf die aufgefundenen Isothermien und 
Inversionen genauer eingegangen wird. Besonders beschäftigt 
sich der Verfasser mit der sogenannten oberen Inversion, 
ihrer Erklärung und ihrer Bedeutung für die Meteorologie. 
Ausführlich werden dann die Beziehungen der oberen Inver- 
sion zur Luftelektrizität besprochen und Vorschläge zu ihrer 
experimentellen Untersuchung gemacht. Gr. 


— Dr.H.Fritsche hat seine Berechnungen über den Erd- 
magnetismus durch eine siebente Arbeit fortgesetzt, in der 
er sich hauptsächlich mit einer kritischen "Besprechung der 
säkularen Anderungen der erdmagnetischen Ele- 
mente befaßt und im Anschluß daran die Verteilung der- 
selben für das Mittelmeergebiet und die Epochen 1200, 1300, 
1400 und 1500 n. Chr. berechnet. Die Resultate sind in vier bei- 
gegebenen Isogonenkarten graphisch dargestellt und befinden 
sich nach den Darlegungen des Verfassers in befriedigender 
Übereinstimmung mit den Kompaßkarten, Portolanen und 
anderen historischen Überlieferungen der damaligen Zeit. Gr. 








— H. Wehner hat auf der Kölner Versammlung Deutscher 
Naturforscher und Arzte einen Vortrag über die Revision 
eines Satzes der Gravitationslehre gehalten, dessen 
Referat von der Redaktionskommission nicht in den Versamm- 
lungsbericht aufgenommen wurde. Er veröffentlicht deshalb 
das Referat in der Zeitschrift „Neue Weltanschauung“ (1910, 
Heft8). Es handelt sich um "den Satz, daß kleine Körper, 
die im Innern von Massenhohlkugeln schweben, nach keiner 
Seite hingezogen würden. g Gr. 

— Die jüngeren KrustoAbawogUngon in den Kar- 
pathen bespricht L. Sawicki (Lemberg. Kosmos, 34. Bd.). 
Sie finden sich nach der Hauptfaltung vorwiegend im jüngeren 
Tertiär, in viel geringerem Maße auch im Quartär. Die 
Form dieser jungen Bewegungen ist in dem Gebirge selbst 
die der Hebung en bloque und der Schiefstellung, so daß 
wir noch die alten Formen zu erkennen vermögen; nur deren 
Höhenlage und Gefälle steht im Widerspruch zur Form und 
zur heutigen Entwickelung. Gleichzeitig fanden in den sub- 
karpathischen Geosynklinalen leichte Faltungen der weichen 
jungtertiären Schichten statt, selbst Überschiebungen lassen 
sich nachweisen. Manchmal haben such die gehobenen 
Blöcke des Gebirges wellenartige, unregelmäßige Faltungen 
erfahren, wobei Einbiegungen von flachen Becken mitspielten, 
so in Westgalizien und dem Eisernen Tore. Zur selben Zeit, 
da die Gebirge gehoben, die Geosynklinalen gefaltet wurden, 
sanken auch die großen zentralen und randlichen Becken 
Rumäniens, Ungarns, das wiener-moravische Becken usw. 
Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, daß diese posi- 
tiven und negativen Bewegungen in einem isostatischen Ver- 
hältnis zueinander stehen. Ein wichtiges Ergebnis ist, daß 
die Krustenbewegungen desto jünger zu sein scheinen, je 
mehr wir uns dem Osten nähern. Von intensiven Krusten- 
bewegungen im Pliozän wissen wir in den Westkarpathen 
überhaupt nichts, sowie auch von den quartären Dislokationen, 
ähnlich denen in Rumänien. Das Wandern der Krusten- 
bewegungen gegen Osten äfft nur die gleichnamige Verschie- 
bung des Faltungsprozesses nach, der im Westen älter als im 
Osten ist; in Mähren oder Westgalizien ist nur das ältere 


308 


Kleine Nachrichten. 





Miozän gefaltet, das jüngere liegt transgressiv auf dem schon 
gefalteten Gebirge und wurde durch die späteren Hebungen 
nur schwach disloziert. In Ostgalizien ist noch das jüngere 
Miozän überfaltet, und in Rumänien unterlag nicht nur das 
Sarmaticum, sondern auch das Pliozän einer gelinden Faltung. 
Die gewaltigen Vulkanausbrüche, welche die Westkarpathen 
im Süden umgürten, stehen nicht mit der Hauptfaltung, wohl 
aber mit den jüngeren miozänen Krustenbewegungen in Zu- 
sammenhang. Erst den jüngeren Krustenbewegungen ver- 
danken die Karpathen ihr heutiges Aussehen, vergebens 
suchen wir den Einfluß der Hauptfaltungen und der Über- 
faltungen in der Formengestalt der heutigen Oberfläche; nur 
im Verlauf der mehr oder minder widerstandsfähigen 
Schichten spiegelt sich die Struktur. Ja, es ist wahrschein- 
lich, daß diese intensiven Bewegungen sich tief in der Erd- 
kruste unter einer mächtigen Deckschicht abspielten. Erst 
die jüngeren Hebungen lieferten die Karpathen den die Ober- 
fläche modulierenden Prozessen aus. Das Karpathenrelief 
ist überwiegend jungtertiär und fand in einem miozänen, 
pliozänen und quartären Zyklus statt. 

— Nsibidi, eine neue Negerschrift, wird durch den 
Missionar J. K. Macgregor im „Journal Anthropological 
Institute“ Bd. 39, 8.209 (1909) beschrieben. Sie ist verbreitet 
im Calabardistrikt der englischen Kolonie Südnigeria, mehr 
noch am Cross River und diesen aufwärts und entstand unter 
dem großen 4 Millionen zählenden Ibovolke. Unter diesem 
sind es wieder die Schmiede, die bei allen Negern zauber- 
kundigen, welche die beste Kenntnis des Nsibidi besitzen, das 
als eine Art Geheimschrift gilt und unter dem eigenen Volke 
den meisten unbekannt ist, namentlich aber vor den Europäern 
streng gehütet wird. Erst im Jahre 1904 wurde der britische 
Distriktskommissar Maxwell damit bekannt. Gleichzeitig 
wurde Macgregor durch einen seiner Missionsschüler auf das 
Nsibidi aufmerksam gemacht, und seinen Nachforschungen 
gelang es nun, Klarheit über diese „Schrift“ zu gewinnen. 
Sie ist nach ihm ureigenes Negererzeugnis, entstanden ohne 
fremde Einflüsse, aber fern davon, alphabetischer Natur zu 
sein; sie ist vielmehr eine Art Zeichenschrift, die ich mit 
unseren „Bettlerzinken“ oder den Zeichen auf Bauernkalendern 
vergleichen möchte. Die Deutungen für die Zeichen, die 
Macgregor von verschiedenen Eingeborenen erhielt, waren 
keineswegs übereinstimmend. So stand das gleiche Zeichen 
zuweilen für ganz verschiedene Dinge, z. B. einmal für ein 
Haus, dann für einen Baum. Oder die gleiche Sache wurde 
durch verschiedene Zeichen ausgedrückt, und eine bestimmte 
Ordnung war bei den Zeichen auch nicht vorhanden, sie 
stehen bald wage-, bald senkrecht. Alle 98, die Macgregor 
mitteilt, zeigen ziemlich gleichen Charakter, welcher aus 
nachstehenden Beispielen erhellt: 


1 2 3 4 5 6 
1. Zeichen für Reichtum. 2. Haus, in welchem drei Weiber und 
ein Mann. 3. Drei Männer dringen in ein Haus und verlangen ein 


Frauenzimmer. 4. Zeichen für Feuer. 5. Mann im Gefängnis. 
6. Ein einsamer Mann, welcher keine Freunde hat. 


Mit dieser „Schrift“ werden auch ganze Geschichten ge- 
schrieben. Macgregor berichtet von einer Gerichtssitzung, 
die so dargestellt ist und in welcher die Parteien, die Zeugen, 
der Richter usw. vorkommen. Weitgehenden Gebrauch macht 
man vom Nsibidi zu Bekanntmachungen und Warnungen, 
z. B. Verbot, gewisse Straßen zu gehen. Diese Zeichen werden 
dann in den Boden eingeschrieben oder mit Kalk an die 
Hauswände angemalt. 

Nsibidi ist nach der Überlieferung schon sehr alt; es soll 
seinen Ursprung bei dem Uguakimastamme der Ibo haben. 
Diese selbst erzählen folgende Geschichte über die Entstehung: 
In ihren Wäldern lebten die Idiokpaviane in großen Mengen. 
Wenn dort ein Neger des Nachts Feuer anzündete, um sich 
zu wärmen oder vor wilden Tieren zu schützen, kamen die 
Idiok heran und setzten sich wie Menschen rings um das 
Feuer und ritzten allerlei Zeichen in den Grund, welche die 
Neger natürlich nicht verstanden, bis die Idiok dazu eine 
Geste oder Pantomime machten, welche dem betreffenden Zeichen 
entsprechen sollte. Diese Zeichen nannten die Uguakimaneger 
nsibidi, vom Iboworte sibidi, spielen, da sie durch die Spielerei 
der Idiok damit bekannt wurden. Außer dieser Schrift 
lernten die Neger von den Idiok vielerlei‘ Heilmittel, denn 
diese sind die weisesten Zauberdoktoren im Lande. 7 


— In seiner Doktorarbeit über die Volksdichte im 
Kreise Dirschau sagt W. Poerschke (Königsberg 1910), 
daß vornehmlich die Höhenlandschaft von dem Weichseldelta 
zu unterscheiden ist. Die verhältnismäßig hohe Volksdichte 
ist nur einigen größeren Ortschaften zuzuschreiben. Außerst 
auffällig ist die geringe Dichte im Weichseldelta, wo doch 
der beste Kulturboden sich findet. Hauptsächlich drei Momente 
drücken die Volksdichte eines Gebietes herunter: wenig 
ertragreicher Boden, große Waldbestände, die Besitzverhält- 
nisse, namentlich große Gutkomplexe und Herrschaften. Einen 
direkten Zusammenhang zwischen Bodenertrag und Volksdichte 
vermochte Verfasser nur für die niederen Dichtestufen fest- 
zustellen. Was die Lage der Siedelungen anlangt, so be- 
beschäftigt sich Poerschke nur mit Dirschau und wenig mit 
Pelplin. Ersteres beherrscht gewissermaßen den Zugang zum 
ganzen Weichseldelta und ist besonders geeignet, als Über- 
gang über den Fluß zu dienen. Aber erst durch den Bau 
der Ostbahn werde Dirschau eine wichtige Brückenstadt. 

— Betrachtungen über Flußgeröll, Molasseproblem 
und Alpenfaltung lassen A. Ludwig (Jahrb. d. Schweiz. 
Alpenklub, 45. Jahrg., 1910) zu folgenden Sätzen gelangen: 
Die Vergleichung der Geröllgrößen des heutigen Rheinkieses 
mit denjenigen der miozänen Nagelfluh ergibt den sicheren 
Beweis für die lokale Herkunft der Nagelfluh. Damit ist die 
Existenz eines dem Nordrande der Alpen entlang laufenden, 
als Archipel dem Meere entragenden Stammgebirges mit 
fremdartigen Graniten und mit ostalpiner Sedimentfazies 
bewiesen. Von diesem Stammgebirge sind auch die Klippen 
und die erratischen Blöcke herzuleiten. Damit wird die von 
der modernen Überschiebungstheorie behauptete Herkunft 
der höheren Decken aus dem oberitalischen Gebiet abgelehnt. 
Die Wurzellosigkeit zahlreicher und ausgedehnter Alpen- 
gebiete ist Tatsache, aber die Deckenschollen stammen aus 
der Nähe und lagern oft beinahe darauf, wo sie einst in der 
Tiefe ruhten. Die Alpen sind nicht durch Horizontalschub 
aufgestaut worden, sondern durch vertikale Erhebung auf 
tektonischen Leitlinien, mit intensiver Gleitfaltung als Folge- 
erscheinung. Die großen antiklinalen Faltenzüge waren einst 
Synklinalen, die heutigen Synklinalen waren einst Antiklinalen, 
oder die heutigen großen Alpenketten waren einst Täler, die 
heutigen großen tektonischen Alpentäler sind zurückgesunkene 
Gebirge. Die ursprünglichen Verhältnisse, wie sie unmittelbar 
nach vollendeter Faltung vorlagen, sind im heutigen Alpen- 
gebäude noch deutlich erkennbar. Die übertrieben hoch an- 
genommenen Denudationsbeträge sind stark zu reduzieren. 
Die alpinen Randseen sind weder durch Flußerosion, noch 
durch glaziale Erosion entstanden, sondern bilden die letzten 
Reste des ausgesüßten Molassemeeres. Pliozäne Sedimente 
waren einst auch auf der Nordseite der Alpen vorhanden, 
wurden aber von den eiszeitlichen Gletschern erfaßt, um- 
gearbeitet und ausgeräumt, wie auch der pliozäne Schutt- 
mantel des Gebirges. Die Existenz einer präglazialen Rumpf- 
ebene und die Vierzahl der Eiszeiten sind nicht genügend 
bewiesen. 

— In seinem Beitrag über einige Funde des Elentieres in 
dem Kanton Thurgau entscheidet sich E. Bächler (Mitt. d. 
thurg. naturf. Ges. 1910, 19. Heft) betreffend die Identität 
des postglazialen Elches mit der heute noch leben- 
den Art dahin, daß eine Trennung der beiden in verschie- 
dene Arten keinerlei Berechtigung besitzt. Das Ergebnis 
deckt sich mit den Ansichten Rütimeyers, welcher zuerst die 
in der Schweiz, namentlich in den Pfahlbauten entdeckten 
Elchreste als gleichwertig und übereinstimmend mit der re- 
zenten Art gefunden hat, namentlich aber auch mit den 
umfangreichen Untersuchungen von J. F. Brandt, der keinerlei 
spezifische Unterschiede zwischen fossilem und rezentem Elch 
festzustellen vermochte und nur bloße individuelle Abweichun- 
gen kennt. Lassen sich nun am Skelett des ostschweizeri- 
schen fossilen Elentieres und seinen einzelnen Knochen 
keinerlei tiefergreifende Unterscheidungsmerkmale feststellen, 
so gilt das letztere noch viel mehr von dem nicht unansehn- 
lichen Material von fossilen Elchgeweihen und Einzelschaufeln. 
Man kann nur immer wieder auf die schon genügend be- 
leuchtete enorme Variationsfähigkeit des betreffenden Körper- 
teiles hinweisen, so daß die beiden Geweihschaufelhälften in 
ihrer Flächenausdehnung und Form selten kongruent sind, 
sondern Ungleichheiten die Regel bilden, wobei die größten 
Variationen in der Zahl der beiderseitigen Sprossen eintreten. 
Daß aber sonst starkgebaute fossile Elche ab und zu kleinere, 
schmächtigere Geweihe tragen können, steht in direkter 

bereinstimmung mit der experimentell gemachten Erfah- 
rung, daß Nahrungsverhältnisse und Asung einen entschie- 
denen Einfluß auf Größe, Stärke und Ausladung des Geweihes 
ausüben. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 56. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 





GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- UND VÖLKERKUNDE. 
VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“, 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE, 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 








1. Dezember 1910. 








Bd. XCVIII. Nr. 20. 


- BRAUNSCHWEIG. 








Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


Meine vierte Islandreise, Sommer 1910. 


Von Heinrich Erkes. 


Köln. 


Mit 4 Abbildungen nach Aufnahmen des Verfassers. 


Im Sommer 1910 suchte ich mit meinem Sohne einige 
bisher wenig oder gar nicht bekannte Gegenden Nord- 
und Innerislands auf. 

Wir landeten am 8. Juni im Reydarfjord im östlichen 
Island, von wo wir nach Norden durchs Inland ziehen 
wollten; der ungünstigen Schneeverhältnisse wegen mußten 
wir jedoch den Plan ändern und fuhren mit dem Dampfer 
weiter zum Eyjafjord, den wir am 12. Juni bei leichtem 
Schneegestöber erreichten. Nach einem Ausflug zum 
Hörgärdalur, an dessen Mündung Daniel Bruun und 
Finnur Jönsson vor einigen Jahren die Ruinen der mittel- 
alterlichen Handelsniederlassung Gaesir aufgedeckt hatten, 
zogen wir den bekannten Weg über die Vadlaheidi nach 
Grenjadarstadir; hier liegt eine der wenigen auf Island 
noch vorkommenden alten Runensäulen. Dann besuchten 
wir die intermittierenden heißen Springquellen beim 
Uxahver; der Uxahver selbst sprang nicht, während er 
vor zwei Jahren alle 5 bis 7 Minuten einen Ausbruch 
hatte. Da der Geldingadalur verschneit war, zogen wir 
durch teilweise sehr unangenehm mooriges Terrain über 
‚den Jönspaß im Norden der Lambafjöll, untersuchten 
die Stirn des im 18. Jahrhundert von der Kraterreihe 
beim Leirhnükur nach Norden geflossenen großen Lava- 
stromes und kamen zu den Schwefelfeldern von Theista- 
reykir. Wir fanden sie beim Vergleich mit Thoroddsens 
Beschreibung von 1895 ziemlich unverändert; nur hat 
die von ihm erwähnte Erdwärme abgenommen. Vom 
Gipfel des Ketilfjall photographierten wir den Schild- 
vulkan Theistareykjabunga, dessen Krater wir unter 
dem Schnee leider nicht auffanden. Über die stark ver- 
schneite Reykjaheidi zogen wir sodann zur Jökulsä, über- 
schritten diesen reißenden Gletscherfluß auf der Brücke 
beim Ásbyrgi und befanden uns in der Landschaft Axar- 
fjördur, die jenseits der Grenze liegt, bis wohin der 
Touristenstrom kommt. 

Weiter nördlich bilden die Landschaften Núpasveit 
und Melrakkasljetta die nördlichste Halbinsel Islands, 
die von Fremden sehr selten besucht und außer von 
Thoroddsen nach seiner Reise 1895 niemals beschrieben 
wurde. Wir untersuchten zunächst die im Landinnern 
südöstlich des Kálfafell liegende Vulkangruppe Raud- 
hólar. Von ihr zieht sich ein großer Lavastrom nach 
Nordwesten, umfließt die Hügelkette Katastadafjöll, 
die wir bestiegen, und erreicht die Axarbucht beim Pfarr- 
hofe Presthólar. Ein zweiter Lavastroın fließt nordnord- 
östlich bis zur Ormarsä, deren Mündung die Ostgrenze 
der Melrakkasljetta bildet. Unweit der Raudhölar sahen 

Globus XCVIII. Nr, 20. 


wir mehrere verödete Gehöfte. Bei Presthölar liegt eine 
flache Bucht Magnavik, deren Name auf Magni, einen 
der Söhne des Gottes Thor, hinweist. Ein nahe der 
Bucht liegender Basalthügel wird Godhüssteinn ge- 
nannt; es ist nicht unwahrscheinlich, daß hier oder in 
der Nähe einst ein heidnischer Tempel stand, doch sind 
außer den erwähnten Namen keine Überlieferungen da- 
von erhalten. Am steilen Abhang des Axargnüpur, der 
Südgrenze der Nüpasveit, fanden wir etwa 100m ü.d.M. 
die aus Basaltsäulen roh aufgeschichtete Grettishütte, 
die dem zu Anfang des 11. Jahrhunderts lebenden Saga- 
helden Grettir zugeschrieben wird. 


Von Presthölar führte uns der sogenannte Hölsstig 
zum Südende des Blikalönsdalur ins Herz der Mel- 
rakkasljetta.. Dieser „dalur“ ist eine etwa 25km lange 
und 500 bis 800 m breite Einsenkung, Spalte oder Bruch- 
linie, die sich im Norden der Vulkane Raudhölar in fast ge- 
rader Linie durch dieganze Sljetta bis ins Nördliche Eismeer 
beim Hofe Blikalön hinzieht und mutmaßlich mit den 
Raudhölar ursächlich zusammenhängt. Die Melrakka- 
sljetta, d. h. Polarfuchs-Ebene, wegen der vielen dort 
vorkommenden Polarfüchse so genannt, zeigt sich als 
eine über 1000 qkm umfassende Glaziallandschaft auf 
einer Unterlage von geschrammter Doleritlava. Zahllose 
niedrige Höhenzüge (ásar) dürften sich großenteils als 
Moränenschutt erweisen; zwischen ihnen schimmern 
mindestens 60, wahrscheinlich noch mehr, kleine und 
größere Teiche und Seen. Einige sind vermoort, doch 
bemerkten wir keine eigentlichen Sümpfe. Außer weißen 
Schwänen und einer einzigen, sehr großen grönländischen 
Schneeeule nahmen wir im einsamen Innern der Sljetta 
wenig Tierleben wahr, woran allerdings die Frühe der 
Jahreszeit bei kaum + 3°C Durchschnittstemperatur 
mitschuldig sein mochte. Vom Hofe Blikalöon, wo wir 
drei Tage blieben, besuchten wir die nahegelegene nörd- 
lichste Spitze Islands, die über den Polarkreis hinaus 
als ein niedriges Basaltriff in die See ragt und Rifs- 
tangi heißt. Eine Steinwarte bezeichnet die Stelle, 
wo ein Leuchtturm für diese gefährliche niedrige 
Küste errichtet werden soll. In der Nähe liegt der kleine 
Hof Rif, das nördlichste Gehöft Islands, weiter östlich 
der aus isländischen Sögur (Sagas) bekannte steinige 
Hafen Hraunhöfn mit dem aus frostzersprengter Dolerit- 
lava bestehenden Kap Hraunhafnartangi, auf dem 
sich die Thorgeirsdys erhebt, ein hoher Haufen loser 
Steine, der angebliche Grabhügel des hier im Jahre 1024 
in einem Kampfe erschlagenen Skalden Thorgeirr. Von 


40 


310 


Erkes: Meine vierte Islandreise, Sommer 1910. 








Abb. 1. Die Lavawüste Ödädahraun. Im Hintergrunde die Dyngjufjöll mit folgenden 
Erhebungen (von links nach rechts): Fjärborg, Likkista, Kollur u. Häihnükur. 


hier sahen wir den stillen Hof Hardbakr, während ich 
den weiter südöstlich liegenden Hafen Raufarhöfn und 
Umgegend schon im Jahre 1907 besucht hatte Im 
Innern der Sljetta liegt ein einziger bewohnter Hof: 
Grashöll. Zwischen ihm und dem Blikalönsdalur be- 
suchten wir die Graenur, die aus einem Komplex von 
Seen, grünen Mooren und kargem Weideland bestehen. 
Nach Beendigung unserer Streifen durch das Innere 
der Sljetta zogen wir an der Nordküste entlang nach 
Westen. Die Nordküste besteht aus mächtigen Geröll- 
wällen, gegen die seewärts das Eismeer brandet, während 
landwärts eine Anzahl Haffs sich hinzieht, die vortreff- 
liche Brutstellen für Eiderenten usw. sind. Treibholz 
und Walknochen bedecken weite Strecken des Strand- 
gerölls. Der nordwestlichste Hof der Sljetta heißt N úps- 
katla; hier wurde am 7. Juni 1905 eine der Bojen ge- 
funden, die am 13. September 1899 im Auftrag der geo- 
graphischen Gesellschaft von Philadelphia bei Point 
Barrow an der Küste von Alaska ausgesetzt wurden und 
wahrscheinlich über den Nordpol trieben. Der Auffinder 
der Boje teilte uns alle Einzelheiten ausführlich mit. Die 
äußerste Nordwestecke der Melrakkasljetta erscheint von 
der See aus als eine etwa 75m hohe, steile, rote Fels- 
wand und heißt Raudinüpur; sie 
ist, wie Thoroddsen feststellte, ein 
von dem Meere zerstückelter Vulkan. 
Außer dem großen bekannten Krater 
fanden wir einen zweiten kleineren 
Krater und außerdem in den zer- 
bröckelnden Schlackenfelsen an- 
scheinend noch die Trümmer eines 
Vulkanschlotes.. Dem als Vogel- 
felsen vor dem Raudinüpur im 
Meere stehengebliebenen Rest des 
Vulkanmantels, der eine steile, einem 
massigen runden Turm ähnliche 
Klippe bildet, gaben wir auf islän- 
dische Anregung den Namen Jön 
Trausti, zu Ehren des zu Rif ge- 
borenen Dichters Gudmundur Mag- 
nüsson, der unter dem Pseudonym 
Jón Trausti schreibt. Im Süden 
des Raudinüpur liegt der schönste 
und reichste Hof der Sljetta, Grjöt- 
nes. Weiter südlich zieht sich, die 
Sljetta im Westen begrenzend, das 


Tuffgebirge Leirhafnarfjöll mit 
der höchsten Erhebung Gefla, die 
wir erstiegen und auf etwa 210m 
Meereshöhe maßen. In den steilen 
Wänden eines Hochtales der Gefla 
horstete der isländische Falke. Am 
Ostfuße des Gebirges erstreckt sich 
eine Schuttwüste, der sogenannte 
Geflusandur. Wir überschritten 
. die Leirhafnarfjöll an drei Stellen, 
zuletzt im Süden durch den niedri- 
* gen Paß Leirhafnarskörd, wo 
wir am oberen Ende des Geitay- 
sandur den Krater auffanden, aus 
dem, wie schon Thoroddsen erzählen 
hörte, im Jahre 1823 ein Ausbruch 
stattgefunden haben soll. 

Von der Melrakkasljetta kehrten 
wir zur Jökulsa zurück, zogen an 
ihrem Westufer bis zum Villardsfoss 
oberhalb des weltbekannten Detti- 
foss, und dann über Krafla und 
Leirhnükur, wo wir gegen meine 

Beobachtungen von 1907 eine starke Steigerung der vulka- 
nischen Tätigkeit in den Kratern und Solfataren wahr- 
nahmen, bis zum Mückensee. Hier begann der zweite Haupt- 
abschnitt unserer Expedition, nämlich die genauere Durch- 
forschung der Lavawüste Odädahraun (Abb.1) im Anschluß 
an meine Reisen von 1907 und 1908. Wir stiegen zunächst 
zum etwa 650 m ü.d.M. liegenden Heilagsdalur, durch 
dieses Tal zur Ketildyngja, die von Johnstrup und 
anderen besucht worden ist, und dann zur nie zuvor 
bestiegenen Kerlingardyngja. Ihre Höhe bildet ein 
ausgedehntes Plateau mit vielen Ausbruchstellen und 
Schlackenhügeln. Auf der Ostseite des Plateaus erhebt 
sich ein 90m hoher, an 300 m breiter Brecciefelsen; 
nördlich unterhalb dieser Spitze, die Sighvatur heißt, 
sind zwei kleine Krater. Die Südwestseite der Kerling- 
ardyngja fällt steil zu dem mehrere 100 m tiefer liegen- 
den unteren Odädahraun ab, welches wir hier als erste 
bis zu dem am Rande der Lavawüste liegenden Gehöft 
Svartärkot durchzogen. Von hier aus unternahmen 
wir einige Ausgrabungen in den Ruinen der seit vielen. 
Jahrhunderten verlassenen Ansiedelungen Hrauntunga 
und Sandmüli. Etwa 25 Funde aus Stein, Knochen, 
Eisen und Kupfer schickten wir dem Altertumsmuseum 








Abb. 2. Thoroddsenstindur, höchste Spitze der Dyngjufjöll. 


Goldstein: Zur Ethnographie der Juden. 


311 








in Reykjavík. Durch den Öxnadalur 
zogen wir zum inneren Hoch- 
land zwischen dem oberen Skjálf- 
andafljöt und Vatnajökull, be- 
stiegen den großen Schildvulkan 
Trölladyngja und hatten bei 
vorzüglich heller Witterung einen 
außergewöhnlich guten Überblick 
über das weite Gebiet vom Hofs- 
jökull zum Vonarskard und den 
Nordrand des Inlandeises Vatna- 
jökull bis zu den Kverkfjöll. Nach 
Rückkehr nach Svartárkot zogen 
wir zu den Dyngjufjöll mit dem 
über 50 qkm umfassenden Riesen- 
kessel Askja. Wir durchforschten 
zunächst den bisher ganz un- 
bekannten Dyngjufjalladalur, 
der etwa 300m zwischen Tuff- 
wänden ansteigt und von einem 
Lavastrom durchflossen wird. Von 
der oberen Talmündung kletterten 
wir über eine Paßhöhe, die wir 
Sudurskörd nannten, von Süden in die Askja. Un- 
weit unseres Zeltplatzes, genau im Süden des Knebelsees, 
erhebt sich die höchste Bergspitze der Dyngjufjöll, die 
wir zu Ehren des größten aller Islandforscher Thorodd- 
senstindur nannten (Abb. 2). Im Südwesten des Ge- 
birgsstockes fanden wir eine große Hochebene mit vielen 
Kratern, großen Lavaströmen und mit ausgedehnten er- 
loschenen Schwefelfeldern an den Randhöhen (Abb. 3). 
Der Knebelsee (Abb. 4) hat seit 1908 sein Niveau nicht 





Abb. 4. Knebelsee (Askjasee) mit Solfataren am Fuße des Thoroddsenstindur. 





Abb.3. Lava auf der Hochebene im Südwesten der Dyngjufjöll. 


verändert, doch sind große Stücke des Steilrandes ab- 
gesunken. Die Solfataren im Süden sind unverändert 
tätig. Der Wasserspiegel im Rudloffkrater hat sich be- 
deutend erhöht. 

Wir blieben vom 12. bis 19. Juli in der Askja, 
durchforschten besonders ihren Westen und Süden 
und einen Teil ihres Nordrandes, zogen auch nach 
Süden weit über den Fuß der Dyngjufjöll hinaus in die 
Wüste von Schlacken und vulkanischem Sande und 
machten u. a. die ersten photo- 
graphischen Aufnahmen vom Dyng- 
juvatn, der Vadalda usw. Beim 
Abstieg aus der Askja über den 
Jönspaß entdeckten wir einen neuen 
Paß, der von der Ebene im Norden 
der Askja zum Lockstindur führt, 
und nannten ihn Sigurdarskard. 
Der höchsten Spitze der nördlichen 
Dyngjufjöll, die von Svartärkot ge- 
sehen als höchster Gipfel des Ge- 
birges überhaupt erscheint, da von 
dort der Thoroddsenstindur nicht 
sichtbar ist, gaben wir den Namen 
Häihnükur. 

Am 25. Juli traf Dr. H. Speth- 
mann in Akureyri mit uns zu- 
sammen und zog sofort mit meinem 
Sohne wieder ins innere Hochland; 
ich verließ Island am 2. August, 
während die beiden nach weiteren 
erfolgreichen Unterguchungen am 
Vatnajökull und im Odädahraun am 
3. September ihre Heimreise an- 
traten. 





Zur Ethnographie der Juden. 


Von Ferdinand Goldstein. 


Robert Hartmann sagte: Wenn nichts hilft, wird das 
Semitentum herbeigezogen, sei es auch mit den Haaren, 
oder: Wo Begriffe fehlen, da stellen Semiten zur rechten 
Zeit sich ein; und an einer anderen Stelle nennt er die 
semitische Rasse einen alten Schwindel. Das ist ganz 
richtig. Semiten und semitische Rasse sind Worte ohne 


Inhalt; da aber die Menschen glaubten, den Worten 
müßten auch die Sachen, in diesem Fall also die Völker 
entsprechen, sind sie auf verhängnisvolle Irrwege ge- 
raten. Heute sind die Worte spurlos aus der Völker- 
kunde verschwunden wie einst das Phlogiston aus der 
Chemie, und nur in der Politisch- Anthropologischen 


40* 


312 


Goldstein: Zur Ethnographie der Juden. 





Revue und ähnlichen Organen mögen sie sich ihres alten 
Ansehens erfreuen, weil ohne ihr Dasein die Dogmen 
nicht „stimmen“. Außerdem herrschen sie natürlich in 
der Theologie, die ja ganz auf inhaltleeren Worten beruht. 

Es hatten sich viele vortreffliche Männer bemüht, die 
Wissenschaft von der „semitischen Rasse“ zu befreien. 
Hartmann habe ich schon zitiert, Bastian nannte sie ein 
Nebelgebilde unserer Denkoperationen, Pott und Stein- 
thal haben die Sprachrassen niemals anerkannt, Barth 
erklärte es für abgeschmackt, von semitischen und ku- 
schitischen Völkern ohne Berücksichtigung der Haussa 
zu sprechen, und Ratzel nannte die semitische Rasse wie 
andere Sprachrassen nicht nur wertlos, sondern verwerf- 
lich; aber sie hatten keinen Erfolg, da ihre Lehren gegen 
die Mode verstießen, und diese in inexakten Wissen- 
schaften weit mächtiger ist als die Vernunft. Erst nachdem 
ich den Beweis erbracht hatte, daß man in dem Begriff 
der semitischen Rasse zwei verschiedene Sinneseindrücke 
vereint hatte, daß sie also dem gesunden Menschen- 
verstande widersprach — kein Wunder, war ihre Mutter 
doch die Theologie —, mußte man wohl oder übel den 
falschen Begriff aufgeben !). 

Man hat dem ehemals so teuren Requisit zünftleri- 
scher Völkerkunde kein ehrenvolles Begräbnis zuteil 
werden lassen, im Gegenteil, man hat es sang- und 
klanglos verscharrt wie den Leichnam eines Verbrechers. 
Daß es aber verscharrt ist, beweisen unwiderleglich die 
beiden Antipoden Andree und Weißenberg, die sich 
früher bei den Juden leicht in die Haare kamen, jetzt 
aber auf demselben Boden stehen. Andree ist seit kurzem 
zu der Überzeugung gekommen, daß die Juden somatisch 
nahe Verwandte der Armenier sind; er meint, v. Luschan 
sei der erste gewesen, der auf ihre große Ähnlichkeit 
hingewiesen hat, erkennt ihm also die Priorität zu). 
Das ist nun allerdings ein Irrtum, denn v. Luschan hat 
seine Forschungsergebnisse auf der Anthropologenver- 
sammlung zu Ulm im Jahre 1892 vorgetragen, während 
v.Erckert in seinem bereits im Jahre 1888 erschienenen 
Buche „Der Kaukasus und seine Völker“ auf die Ähn- 
lichkeit der Juden mit den Völkern des Kaukasus auf- 
merksam gemacht hat. 

Es haben aber weder v. Erckert noch v. Luschan mit 
ihren Lehren Eindruck machen können, weil ihnen die 
semitische Rasse entgegenstand. v. Erckerts Buch ist 
vor 22 Jahren erschienen, v. Luschan hat seinen Vortrag 
vor 18 Jahren gehalten, dennoch wurden nach wie vor 
die Juden zur semitischen Rasse gezählt, und auch An- 
dree kann sich erst jetzt vorstellen, daß Juden und Ar- 
menier verwandt sind3). Weißenberg hat durch ver- 
schiedene Arbeiten bekundet, daß er auch in der wissen- 
schaftlichen Ethnographie auf zionistischem Boden steht), 
nach dem Sturz der semitischen Rasse durch mich 
folgte er aber ohne ein Wort der Erklärung der neuen 
Richtung, für die der Zionismus eine wunderliche Ver- 
irrung ist, indem er die nahe somatische Verwandtschaft 
der Juden mit den Kaukasiern „bewies“5). Ich muß 





1) Siehe des Verfassers Arbeiten: „Politik, Staatswissen- 
schaften und Ethnographie“ (Globus, Bd. 90) und „Die Her- 
kunft der Juden“ (Globus, Bd. 91). 

p, Globus, Bd. 92, 8. 147. 

3) Ich muß hierzu noch bemerken, daß v. Luschan als 
Kraniologe dem Schädel in seiner Beweisführung eine große 
Rolle zuerteilt. Dieser hat aber schon lange seine Beweis- 
kraft verloren, und durch die Boassche Publikation ist ihm 
jede Bedeutung geraubt worden; indessen zur Zeit der Ulmer 
Versammlung stand er noch in hohem Ansehen. Selbst wenn 
daher v. Luschan der erste gewesen wäre, der die Verwandt- 
schaft der Juden mit den kaukasischen Stämmen nachge- 
wiesen hat, stände seine Beweisführung auf schwachen Füßen. 

*) Globus, Bd. 92, 8. 261 ff.; Bd. 93, 8. 85 ff. 

*) Globus, Bd. 97, S. 309 ff., S. 328 ff, 


gestehen, daß mich diese stillschweigende Aufgabe eines 
wichtigen wissenschaftlichen Grundsatzes höchlichst be- 
fremdet hat, zumal Weißenberg von anderen peinlichste 
Angabe von Quellen fordert. 

Mir scheint jetzt das Wichtigste zu sein, das Gelehrten- 
und Laienpublikum für die neue oder, wenn man will, 
alte Erckertsche Lehre empfänglich zu machen. Daß 
hier noch so viel zu leisten bleibt, liegt hauptsächlich 
an den priesterlichen Irrlehren, die den Menschen in 
früher Jugend beigebracht werden und dadurch so fest 
mitihnen verwachsen, daß sie sich in reifen Jahren schwer 
von ihnen losmachen können. Das zehnte Kapitel der 
Genesis enthält die Völkertafel, eines der merkwürdigsten 
und wertvollsten Dokumente längst versunkener Ver- 
gangenheit. Sie ist so fein ausgearbeitet, daß Kiepert 
der gewiß richtigen Meinung war, ihrem oder ihren Ver- 
fassern müßten Karten vorgelegen haben £). Die Völker- 
tafel sagt nun, Noahs drei Söhne Sem, Ham und Japhet 
hätten nach der großen Flut Söhne gezeugt — von 
Töchtern spricht sie nicht. Es unterliegt aber keiner 
Frage, und auch der beschränkteste Theologe oder Phi- 
lologe hat noch nicht bestritten, daß es sich hierbei 
lediglich um biblische Sprechweise handelt, daß mit 
den Söhnen Völker gemeint sind. Nach welchem Prinzip 
sind aber die Gruppen zusammengestellt? 

Ich darf hierbei wohl die naive Lehre, jeder der drei 
Noachiden hätte ganze Völkerschaften in die Welt ge- 
setzt, mit Stillschweigen übergehen. Damit wird aber 
die philologische und anthropologische Zusammenfassung 
schon stark erschüttert, und sie kommt in Wegfall durch 
die Tatsache, daß der Bibel sprachliche oder somatische 
Einteilungen unbekannt sind, daß sie dagegen ganz von 
Religion und Religionspolitik beherrscht wird, diese sich 
aber noch niemals um Sprache oder Körper gekümmert 
hat. Für sie sind ganz andere Erwägungen maßgebend. 
Mit sprachlicher Einteilung stimmt ja auch die Völker- 
tafel gar nicht überein, und den Philologen, die ihre 
Dogmen nicht aufgeben wollten, blieb nichts anderes 
übrig, als sie stimmend zu machen. Die Völkertafel 
zählt Kanaan zu den Söhnen Hams, die Philologen aber 
brauchten Sem, also erklärten sie nach dem Grundsatz 
interdum dormitat bonus Homerus: Hier liegt ein Irr- 
tum vor; wir wissen es besser, Kanaan gehört zu Sem. 
Lud (die Lyder) wird von der Völkertafel zu Sem ge- 
zählt, die Philologen aber brauchten Japhet, also hat der 
Verfasser der Völkertafel wieder geschlafen. Doch genug 
hiervon; ich bin überzeugt, daß eine nahe Zukunft über 
die Philologenrassen in unehrerbietiges Gelächter aus- 
brechen wird. Aber ist es nicht auch sehr ernst, daß 
für solch wertlose Gelehrsamkeit so viel Zeit und Geld 
aufgewandt worden ist? 

Der hohe Wert der Völkertafel wird jedenfalls erst 
voll in Erscheinung treten, wenn sie den Händen der 
Theologen und Philologen entrissen sein wird, denn ihre 
Verfasser haben nicht geschlafen, sondern die Völker so 
zusammengefaßt, wie sie zusammen gehörten, und ihr 
Einteilungsprinzip war die Religion. Da diese in der 
Bibel eine so große Rolle spielt, so ist es von vornherein 
sehr wahrscheinlich, daß sie auch die Grundlage für die 
Völkertafel abgegeben hat. Es läßt sich dafür aber auch 
der positive Beweis erbringen 7). 


¢) Alte Geographie, 8. 2. n 

7) Im folgenden schöpfe ich aus meinem Vortrag: „Über 
die Einteilung der mittelländischen Rasse in Semiten, Ha- 
miten und Japhetiten“, den ich am 16. November 1901 in der 
Berliner Anthropologischen Gesellschaft gehalten habe. Nach 
seiner Beendigung erhob sich Herr v. Luschan und sagte, 
daß über die Hamiten und Semiten ein so großes sprach- 
liches und anatomisches Material vorliege, daß man meine 
vagen Spekulationen (sic!) nicht brauche, und bezweifelte, 


Goldstein: Zur Ethnographie der Juden. 


313 





Unter Religion verstand das Altertum die staatliche 
Anerkennung eines bestimmten Gottes oder, richtiger, 
Öbergottes und seine zwangsweise oder freiwillige Ver- 
ehrung durch das Volk. Darin besteht auch bei uns 
das Wesen der Religion. Jesus, Moses, Mohammed, 
Brahma, Buddha sind moderne Götter, während das 
höchste Wesen selber niemals verehrt wird, ja seine Ver- 
ehrer, z. B. die Sozinianer, zwar nicht mehr heute, aber 
doch vor verhältnismäßig kurzer Zeit mit den grausam- 
sten Strafen bedroht wurden. Das muß zur Erleichte- 
rung des Verständnisses besonders hervorgehoben werden, 
da bei uns mit der Religion solch arger Mißbrauch ge- 
trieben wird. 

Sem, Ham und Japhet sind Götter gewesen. Von Ja- 
phet ist dies längst bekannt, denn man hat seine Identität 
mit dem griechischen Japetos erkannt. Die Titanen, 
zu denen Japetos gehörte, versuchten die Götter 
zu stürzen, d. h. sie waren religiöse Revolutionäre, und 
sie müssen mit ihren Neuerungen auch zunächst Erfolge 
gehabt haben, denn erst durch die Hilfe der Athene 
konnten die alten Götter gerettet werden. Daher spricht 
Horaz von dem audax Japeti genus. Japetos Sohn war Pro- 
metheus, also wieder ein Halbgott und religiöser Neuerer, 
der für seine Sünden an den Kaukasus geschmiedet 
wurde. Die Länder um den Kaukasus sind aber die 
Heimat der Japhetvölker. Worin ihr Kult bestand, wissen 
wir nicht; da aber die der beiden anderen zu den sexu- 
ellen gehörten, so werden wir schwerlich mit der An- 
nahme fehlgehen, daß auch der Japhetkult mit geschlecht- 
lichen Ausschweifungen verbunden gewesen ist. 

Die Hamvölker, soweit sie identifiziert sind, hatten 
eine religiöse Grundvorschrift, an der sie noch bis zu 
dieser Stunde festhalten; das war die Beschneidung. Der 
Grund, der zu dieser seltsamen Operation geführt hat, 
ist uns unbekannt, wir wissen aber, daß sie eine priester- 
liche Vorschrift war und ist. Man nimmt vielfach an, 
und auch Herodot berichtet so, daß die Kanaanäer die 
Beschneidung von den Ägyptern gelernt hätten. Ist das 
richtig, so muß es in sehr früher Zeit, lange vor Moses 
Kriegszügen geschehen sein, denn schon die Genesis er- 
wähnt sie (Kap. XXXIV). Dort wird erzählt, daß Sche- 
chem, der Sohn des Chiwiterfürsten Chamor, Jakobs 
Tochter Dinah zum Weibe begehrte, daß man sie ihm 
aber verweigerte, da er unbeschnitten war, daß sie ihm 
jedoch unter der Bedingung zugesagt wurde, daß er sich 
und seine männlichen Untertanen beschneiden ließe. 
Außer Kanaan werden als Hamvölker noch Ägypten und 
Äthiopien aufgeführt, ferner Put, das nicht mit Sicher- 
heit identifiziert ist. Daß die Ägypter seit den ältesten 
Zeiten die Beschneidung üben, ist bekannt, und von den 
Äthiopen berichtet es Herodot: „Die Kolcher scheinen 
mir Ägypter zu sein, und zwar wußte ich das, bevor ich 
es von anderen gehört hatte. Da ich aber einmal dar- 
über nachdachte, fragte ich beide, und dabei zeigte es 
sich, daß sich die Kolcher besser an die Ägypter er- 
innern als die Ägypter an die Kolcher. Die Ägypter 
sagten, daß sie die Kolcher für Nachkommen der Armee 
des Sesostris halten, und ich stimme ihnen bei, da sie 
schwarze Haut und wolliges Haar haben. Das aber 
will nichts bedeuten, denn auch andere sind so beschaffen. 
Das aber ist von größerer Bedeutung, daß sich Kolcher, 
Ägypter und Äthiopen seit alter Zeit die Schamglieder 


daß mein Vortrag druckwürdig sei. Heute blicke ich mit 
Stolz auf ihn, da er der erste exakt wissenschaftliche Ver- 
such gewesen ist, die Ethnographie von dem Semitenschwindel 
zu befreien, der allerdings erst mehrere Jahre später zum 
vollen Erfolg geführt hat. Herr v. Luschan aber erklärt 
jetzt selber Sprachrassen für ein Unding, freilich ohne zu 
sagen, woher ihm diese Erkenntnis gekommen ist! 
Globus XCVIII. Nr. 20: 


beschneiden. Die Phöniker aber und die Syrer in Pa- 
lästina stimmen darin überein, daß sie die Beschneidung 
von den Ägyptern gelernt haben; die Syrer aber am 
Thermodon und am Flusse Parthenios und die Makroner, 
die diesen benachbart sind, behaupten, daß sie sie erst 
vor kurzem von den Kolchern gelernt haben. Das sind 
die einzigen Menschen, die die Beschneidung haben, und 
diese scheinen sie den Ägyptern nachgemacht zu haben. 
Ob aber die Ägypter oder die Äthiopen zuerst die Be- 
schneidung gehabt haben, vermag ich nicht zu sagen, 
denn sie scheint aus alter Zeit zu stammen“ (II, 104). 
Alle Hamvölker hatten also eine gemeinsame religiöse 
Grundvorschrift. Eine Gottheit Ham (hebr. Cham) kennt 
die Überlieferung aber auch, nämlich die phallische Gott- 
heit Chem, die namentlich in Oberägypten verehrt worden 
ist. Von ihr wurde Ägypten auch Chemia genannt, 
hiernach heißt die schwarze Kunst (die Kunst der 
Schwarzen) Chemie ë), und an Chem muß die Völkertafel 
denken, wenn sie die beschnittenen Völker unter Cham 
zusammenfaßt. 

Die Beschneidung ist viel weiter verbreitet, als die 
Bibel weiß, selbst wenn man die „Enkelvölker“ Hams 
mit berücksichtigt, von denen indessen viele nicht identi- 
fiziert sind. Die Semvölker dagegen waren unbeschnitten, 
und dies allein hätte den Gelehrten Bedenken verursachen 
sollen, die Kanaanäer zu ihnen zu zählen. Sie können 
als Entschuldigung nicht unsere geringen Kenntnisse 
von diesen Ländern vor der großen Entfaltung der As- 
syriologie anführen, denn aus der Bibel konnten sie sehen, 
daß Abram°), der aus dem Lande der Semvölker (Ur- 
Kasdim) stammte, bei seinem Einmarsch in Kanaan un- 
beschnitten gewesen ist und sich erst nach langjährigem 
Aufenthalte daselbst mit seinem Anhange beschneiden 
ließ (1. Mos., Kap. XVII). Diese positive Nachricht ist 
wichtiger als das Fehlen jeglicher Spur der Beschneidung 
bei den Babyloniern und Assyrern, denn ex silentio non 
concluditur. Eine Gottheit namens Sem (hebr. Schem) 
war im Euphrat-Tigrisgebiet wohlbekannt, es war der 
Gott Samas (hebr. Schemesch). Die Philologen behaupten, 
die semitischen Sprachwurzeln seien triliteral, die ari- 
schen diliteral. Aber diese Lehre ist von Delitzsch längst 
erschüttert worden, und die uralten hebräischen Wörter 
2x, Ð$, Ex, 72 sind diliteral. Aber gesetzt, die Lehre 
wäre richtig, so müßte aus ihr gefolgert werden, daß 
Sem (ow) und natürlich auch Ham (on) fremde Namen, 
die entsprechenden Götter also aus anderen Ländern ein- 
geführt worden sind. Da nun der Sonnengott der Ba- 
bylonier, Samas, in den hebräischen Sprach- und Kult- 
schatz übergegangen ist, so hat man die Frage zu stellen, 
ob Schemesch zu Schem verkürzt werden kann. Sie ist 
zu bejahen, denn der Perserkönig Kyros (hebr. Koresch) 
hatte seinen Namen vom Flusse Kyros, und dieser er- 
scheint in der Bibel als Kir 2°), heute Kur. Aber man 
braucht solche Kunstgriffe gar nicht anzuwenden, denn 
das hebräische Schemesch ist aus einer Verdoppelung von 
Schem entstanden, hieß also ursprünglich Schemschem 
und steht demnach mit Schem in innigstem Zu- 
sammenhange 11). Als Sem- oder Samasvölker nennt die 
Völkertafel Elam, Assur, Arpachsad, Lud (Lyder) und 
Aram. Von diesen kennen wir die Elamiten, Assyrer 
und Lyder, Arpachsad ist unsicher, und aus Aram hat 
man das Volk der Aramäer konstruiert. Aber noch nie- 


®) Ladenburgs Handwörterbuch der Chemie, Artikel 
Chemie. 

°) So ist ursprünglich sein Name gewesen, erst nach 
langjährigem Aufenthalt in Kanaan wurde er zu Abraham 
korrumpiert. À 

10) Jesajas XXII, 6; Amos IX, 7. 

11) Fürst, Hebräisches Lexikon WY. 


41 


314 


Goldstein: Zur Ethnographie der Juden. 





mand hat ihr Gebiet angegeben oder etwas von ihrer Ge- 
schichte erzählt, sie sind ein Wort wie die „semitische 
Rasse“. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß 
mit Aram die Armenier gemeint sind, denn Strabo sagt, 
daß die Armenier auch Aramäer heißen 12), und Moses 
von Chorene, der Geschichtschreiber Armeniens, sagt, 
daß, da König Aram mächtig und berühmt geworden 
war, alle Völker um uns herum unser Gebiet, wie allen 
bekannt ist, nach seinem Namen nennen bis auf diesen 
Tag 13). Ob das geschichtlich wahr ist, ist ohne Bedeu- 
tung, wesentlich ist dagegen, daß man damals allgemein 
Aram und Armenien identifizierte. Bei den Assyrern 
und Babyloniern herrschte die Sitte, daß sich die Frauen 
zu Ehren der Gottheit prostituieren mußten, und bei 
den Armeniern (Strab., p. 532) und Lydern (Herod. I, 
93) war es ebenso. Hierin muß also das Wesen des 
Sem- oder Samaskults bestanden haben. Allerdings ist 
überliefert, daß sich die Babylonierinnen zu Ehren einer 
weiblichen Gottheit preisgaben, aber welcher Ethnograph 
weiß es nicht, daß beim Import eines neuen Gottes fast 
immer nur der Name wechselt, der Inhalt des Kults aber 
derselbe bleibt. Die priesterlichen Lehren bestehen eben 
immer in inhaltleeren Worten. Die Prostitution der Frauen 
des Volkes werden die Sempriester sicher nicht aufgegeben 
haben, denn sie lieferte ihnen selbst erstens soviel Weib- 
lichkeit, wie sie nur haben wollten, und zweitens mußte 
das einlaufende Geld an die Tempelkasse abgeliefert 
werden, bildete also eine reich fließende Einnahmequelle. 
Und auf etwas Anderes wie auf Weiber und Geld sind 
die tatsächlichen, hinter den inhaltleeren Worten sich 
verbergenden Absichten priesterlicher Regierungen nie- 
mals gerichtet. 


So ruht also die Völkertafel auf religionspolitischer 
Einteilung. Aus der Gemeinsamkeit der Religion darf 
nun aber nicht ohne weiteres auf gemeinsame Natur ge- 
schlossen werden. Wenn aber gemeinsame religiöse Vor- 
schriften so fest im inneren Wesen politisch getrennter 
Völker wurzeln, daß sie sich jahrtausendelang erhalten, 
ja unausrottbar sind, so liegt doch die Vermutung nahe, 
daß hier anthropologische Gründe vorliegen müssen, und 
da Ägypter und Äthiopen zu den dunkelfarbigen Rassen 
gehören, so werde ich im folgenden untersuchen, ob die 
Urbevölkerung Palästinas ebenfalls dunkelfarbig ge- 
wesen ist 14). 

Ich könnte mich als Beweis dafür gleich auf die 
Adamsage berufen, unterlasse es aber, da sie sicher nicht 
in Palästina heimisch ist. Ich will indessen, um das 
Verständnis für das Folgende zu erleichtern, erwähnen, 
daß man in Babylonien zwei verschiedene Rassen unter- 
schied, von denen die Adamu dunkelfarbig, die Sarku 
hellfarbig waren. George Smith sagt darüber: „Schon 
Sir Henry Rawlinson hat darauf aufmerksam gemacht, 
daß die Babylonier zwei Hauptrassen unterschieden: die 
Adamu oder die dunkle Rasse und die Sarku oder die 
helle Rasse, wahrscheinlich in gleicher Weise wie auch 
die Genesis zwei Rassen erwähnt, die Söhne Adams und 
die Söhne Gottes (6, 1—4). Aus den Fragmenten der 
Inschriften geht beiläufig hervor, daß die Rasse Adam, 
die dunkle Rasse, für die gefallene galt; welche Stellung 


18) Übersetzung von Lauer, 8. 29. 

“) Die Kanaanäer hatten allerdings Herodot gesagt, 
sie hätten die Beschneidung von den Agyptern empfangen, 
aber es ist ja leicht erklärlich, wie sie dazu gekommen 
waren. Zur Zeit von Herodots Reisen herrschte in Palästina 
das mosaische Gesetz, und alle geltenden Sitten und Vor- 
schriften wurden auf Moses zurückgeführt, der aus Ägypten 
stammte. Von Moses aber stammte die Beschneidung in 
Kanaan sicher nicht, wie ich vorher nachgewiesen habe. 


n Edit. Casaub, p. 41 f. 


dagegen die andere im babylonischen System eingenommen 
habe, dafür fehlen uns zurzeit noch die Anhaltspunkte. 
Aus der Genesis (Kap. 6) erfahren wir, daß, als die Welt 
verderbt ward, die Söhne Gottes und die Rasse Adams 
sich untereinander verheirateten, und daß sich so das 
Sittenverderben verbreitete, welches bei den Adamiten 
seinen Anfang genommen hatte“ 15), 

Muß ich auf der einen Seite auf die Benutzung der 
Adamsage, so verlockend sie für mich ist, verzichten, so 
kennt die biblische Überlieferung auf der anderen Seite 
den Volksstamm Edom, der sicher historisch ist und das 
genaue Analogon zu den Adamu der Babylonier bildet. 
Die Namen Adam und Edom werden mit denselben Ra- 
dikalen geschrieben (27x), und erwägt man, daß die äl- 
teste hebräische Schrift nur die Konsonanten schrieb, so 
kann man gar nicht unterscheiden, ob von Edom oder 
Adam die Rede ist; der verschiedenen Vokalisation haben 
wahrscheinlich dialektische Verschiedenheiten zugrunde 
gelegen. Edom bedeutet rot, ist also gleichwertig mit 
gomë der Griechen, und Adam bedeutet auch rot. Das 
wissen wir einmal von der babylonischen Überlieferung, 
dann aber auch von Josephus (Antiq. I, 1, 2). Noch 
heute trägt das Rote Meer seinen Namen von einem 
roten Volksstamm 16). Spuren einer alten Edomiterherr- 
schaft in Kanaan haben sich bis in historische Zeit er- 
halten. Am östlichen Jordanufer, westlich von Zortau, 
lag eine Stadt Adam ox. (Jos. III, 16), Maaleh Adum- 
mim (ogg m5sn) lag gegenüber von Gilgal (Jos. XV, 7), 
und Adami Hannekeb (2pm a8) war Grenzstadt Na- 
phtalis (Jos. XIX, 33). Noch heute lebt bei Riha (Jericho) 
ein besonderer Stamm, der dunklere Hautfarbe hat, als 
man sonst bei den Beduinen oder Fellachen aus der 
höher gelegenen Landschaft bemerkt. Sie sind die ein- 
zigen Menschen, welche während des ganzen Jahres im 
Jordantale leben und sich dem erschlaffenden Einfluß 
des heißen Klimas aussetzen. Denn die Fellachen des 
Gebirges kommen nur im Herbst und Winter herab, um 
das Land anzubauen, und die Beduinen ziehen nur im 
Frühling hierher, um ihre Herden auf die Weide zu 
führen 17). Nach Burckhardt gibt es nicht nur einen 
einzelnen dunkeln Stamm, sondern ist ganz Westpalästina 
den Ägyptern ähnlicher als den nördlichen Syrern 18). 

Von großer Wichtigkeit ist, daß König David, der 
nicht aus der Priesterklasse, sondern aus dem Volk 
stammte, rot gewesen ist (1. Sam. XVII, 42). Man hat 
dem christlichen und jüdischen Europa diese „Schande“ 
ersparen wollen und daher behauptet, die Bibel spreche 
von roten Haaren. Aber der hebräische Urtext schreibt 
os, das mit oN zusammenhängt, die Septuaginta mvg- 
6axns und die Vulgata rufus, nirgends ist also von 
Haaren die Rede. Tacitus meldet, daß die Juden von 
den meisten für Nachkommen der Äthiopen gehalten 
werden, die von König Kepheus vertrieben worden sind 
(Hist. V, 2), mit dem Begriff Äthiopien aber verband 
das Altertum regelmäßig die dunkle Hautfarbe wie wir 
mit dem des Mohren. 


1$) George Smiths Chaldäische Genesis. Deutsch von 
Hermann Delitzsch. 8. 81 f. 

16) So Niebuhr, Reisen in Arabien, 8.417 f.; Knobel, Die 
Völkertafel der Genesis, 8.135. Das Rote Meer mag an der 
Küste infolge von Algen etwas rötliches Wasser haben, aber 
in anderen Meeresteilen ist das ebenso, ohne daß sie des- 
wegen rote Meere genannt werden. Noch niemand aber hat 
gesehen, daß der gesamte Meeresteil zwischen Afrika und 
Arabien rotes Wasser hat. Seine Name bedeutet vielmehr 
Meer der Roten, und analog Schwarzes Meer Meer der 
Schwarzen, Gelbes Meer Meer der Gelben. 

17) Ebers und Guthe, Palästina in Bild und Wort, Bd. I, 
8. 186. 

18) Reisen in Syrien, Palästina und der Gegend des 
Berges Sinai, Bd. II, 8. 588. 


Goldstein: Zur Ethnographie der Juden. 


Bei diesen zahlreichen Zeugnissen tritt die bekannte 
Überlieferung der Falascha, sie seien die nächsten Ver- 
wandten der antiken Juden, in ein neues Licht, ebenso 
Merkers Meinung, die Massai seien Verwandte der Juden. 
Aber nicht nur diese zwei, viele Stämme Afrikas werden 
sich bei objektiver Prüfung als Rasseverwandte der pa- 
lästinensischen Urbevölkerung erweisen, und hätte man 
sich nicht von allen möglichen Rücksichten leiten lassen, 
sondern wäre der treuen Überlieferung der Bibel gefolgt, 
so wäre man darüber schon lange im klaren, denn sie 
stellt die Kanaanäer mit den Ägyptern und Äthiopen zu- 
sammen, zwei notorisch dunkelfarbigen Stämmen. 

Außer dunkelfarbigen Stämmen gab es in Kanaan 
auch gelbe, denn Bochart, auf den Talmud gestützt, sagt, 
die Juden wären nicht schwarz und nicht weiß, sondern 
buchsbaumfarben (gelb) gewesen !?). Man täte unrecht, 
dieser Überlieferung zu mißtrauen, denn noch heute 
leben in Arabien gelbliche Sabäer neben dunkelfarbigen 
Himjaren 2°). 

Der Anthropologe legt auf den Unterschied des gelben 
und dunkeln Kolorits wenig Gewicht, da beide inein- 
ander übergehen können; für den Ethnographen aber 
liegen die Dinge anders. Denn da das Kolorit von dem 
Einfluß des Lichtes und der Sonne abhängt, deren Wir- 
kung aber größer oder kleiner ist, je nachdem der Mensch 
mehr oder weniger im Freien lebt, also ihrer Wirkung 
ausgesetzt ist, so enthält die Hautfarbe wichtige Finger- 
zeige für die Beschäftigung und soziale Stellung der 
verschiedenfarbigen Menschen, die für den Ethnographen 
von großer Bedeutung sind. In überzeugender Weise 
hat Virchow dies am weiblichen und männlichen Ge- 
schlecht in Ägypten nachgewiesen, von denen ersteres, 
da mehr im Hause lebend und dem Einfluß der Sonne 
daher mehr entzogen, auf den Malereien zart gelb er- 
scheint, während der mehr im Freien lebende Mann 
dunkel ist. 

Auf diese farbige Grundbevölkerung hat sich eine 
zweite aufgepfropft, die aus dem Euphrat-Tigrisgebiet 
stammte. Die Bibel knüpft dieses Ereignis an den 
Namen Abrams. Es ist mir allerdings zweifelhaft, ob 
dies die erste Eroberung Palästinas von Norden her ge- 
wesen ist, sicher aber ist es die erste historisch beglaubigte. 
Die Mythologen allerdings, die sich den Theologen und 
Philologen zur Verdunkelung des Altertums würdig an- 
geschlossen haben, behaupten, Abraham sei eine mythi- 
sche Figur. Gewiß, die Sage hat ihren Schleier um ihn 
gesponnen wie um viele andere große Männer der Ge- 
schichte; daß seinem Heereszuge aber eine Tatsache zu- 
grunde liegt, beweist unwiderleglich das 14. Kapitel der 
Genesis, in dem sein erfolgreicher Krieg gegen Kedor- 
laomer, König von Elam, erzählt wird, dessen Dynastie 
durch die Inschriften festgestellt ist. Fraglich bleibt es 
indessen, ob die Bibel von einem einzelnen Menschen 
namens Abram spricht, oder von einem Volksstamm oder 
doch einem Volkshaufen. Wir haben zuvor gesehen, daß 
die Völkertafel von Stämmen wie von einzelnen Menschen 
spricht, und etwas Ähnliches kann bei Abram vorgelegen 
haben. Indessen ist dies von viel geringerer Bedeutung, 
als es auf den ersten Blick scheinen möchte; denn es 
handelt sich bei der Abramüberlieferung nicht um die 
Taten eines einzelnen Menschen, sondern um die eines 
geschlossenen Volkshaufens. 

Die Bibel, die für alles ein göttliches Geschichtchen 
haben muß, erzählt, Abram habe vom Ewigen die Wei- 
sung erhalten, mit seinem ganzen Hause sein Geburts- 
land zu verlassen, und habe darauf das ganze Land bis 


19) Bei Knobel, Die Völkertafel der Genesis, S. 136. 
2) v. Maltzahn, Zeitschrift für Ethnologie, Bd. V, 8. 60f. 


315 


Schechem (Sichem in Kanaan) durchzogen. Diese Über- 
lieferung mag ja recht gut für die Kinderstube passen, 
in der Wirklichkeit aber verlaufen historische Ereig- 
nisse anders. Für den einzelnen hat die Weltgeschichte 
keinen Raum; er mag vortreffliche Ideen haben; wenn 
es ihm aber nicht gelingt, Anhang zu gewinnen, geht er 
mit seinen Ideen spurlos zugrunde. Abram hatte seinen 
Anhang, und zwar bestand er in einer gewaltigen Armee; 
wie hätte er sonst die mächtigsten Fürsten jener Zeit 
schlagen können! Die Bibel spricht allerdings nur von 
318 Waffengeübten, den Eingeborenen seines Hauses 
(1. Mos. XIV, 14), nehmen wir aber Josephus zu Hilfe, 
so erfahren wir, daß mit den 318 Waffengeübten Ober- 
befehlshaber gemeint sind, von denen jeder eine große 
Schar unter sich hatte (Bell. jud. 5, 9, 4). Es mag da- 
hingestellt bleiben, ob die Zahl stimmt, es ist auch gleich- 
gültig, ob seine Armee gleich beim Auszug aus Urkasdim 
so groß war wie in Kanaan, hier war sie jedenfalls so 
bedeutend, daß er die Fürstenliga schlagen konnte, 
und konnte er das, konnte er auch das Land unter- 
jochen. 

Das tat er aber zunächst nicht; denn als der König 
von Sodom ihm Besitz anbot, lehnte er diesen ab. Später 
aber wurde ‘er heimisch, erwarb Grundbesitz, nahm die 
Beschneidung an und wandelte seinen Namen in Abra- 
ham um. Das ist indessen alles nicht so wörtlich zu 
nehmen, es ist ja auch für die Politik ganz gleichgültig, 
ob er eine Vorhaut hatte oder nicht, Abram hieß oder 
Abraham, wesentlich ist dagegen, daß aus dem Bericht 
hervorgeht, daß die Auswanderer aus Ur-Kasdim in 
Kanaan festen Fuß faßten. 

Der Grund, der sie aus ihrem Heimatlande fort- 
getrieben hatte, war religionspolitischer Natur. Josephus 
erzählt darüber: Abraham lehrte zuerst, daß es nur einen 
Weltschöpfer gäbe, und daß, wenn einer von den übrigen 
etwas zur Glückseligkeit beitrage, es auf seine An- 
ordnung und nicht aus eigener Kraft geschähe. Er ver- 
glich dies mit den Unglücksfällen zu Wasser und zu 
Lande und dem Lauf der Sonne, des Mondes und der 
Gestirne. Da ihnen Kraft innewohne, so sorgten sie für 
ihre eigene Ordnung; es sei aber offenbar, daß ihre Kraft 
gering sei, und daß sie nicht sowohl aus eigenem Willen 
zu unserem Glücke beitrügen als vielmehr auf Befehl 
des Höchsten, den man daher allein verehren müsse. Da 
deswegen die Chaldäer einen Aufstand gegen ihn machten, 
hätte er das Land verlassen müssen (Antiq. 1, 7, 1). 
Im ganzen hat die Geschichte Abrams die größte Ähn- 
lichkeit mit der Mosis. Hier wie dort Volksbeunruhigung, 
hier wie dort bewaffneter Auszug, Eroberungen und zu- 
letzt Herrschaft in Kanaan. Ob Abram oder Moses histo- 
rische Persönlichkeiten gewesen sind, ist ohne jede 
Bedeutung. Sie sind welche gewesen, ich kenne wenig- 
stens keinen Grund, der dagegen spricht; aber gesetzt, 
sie hätten nicht gelebt, oder sie wären kurz nach ihrem 
ersten politischen Auftreten gestorben oder umgebracht 
worden, so hätte die Weltgeschichte doch denselben 
Lauf genommen. Unsere Zeit legt so großen Wert auf 
Personen und vergißt vollständig, daß eine neue Volks- 
bewegung nur ins Leben treten kann, wenn die Bevölke- 
rung für die neuen Ideen aufnahmefähig ist. Ist dies 
der Fall, so mag ihr Schöpfer sehr bald verschwinden, 
es treten dann andere an seine Stelle und unterhalten 
die Bewegung; ist das Volk dagegen nicht aufnahme- 
fähig, so verschwinden die neuen Gedanken sehr bald, 
auch wenn ihr Schöpfer am Leben bleibt. Es ist also 
eine ganz müßige Frage, ob Abram gelebt hat oder nicht; 
denn Tatsache ist, daß ein bewaffneter Haufe, der sich 
Abram nannte, aus Ur-Kasdim ausgezogen ist und be- 
stimmend in die damalige Politik eingegriffen hat. 


4l* 


316 


Banse: Die geographische Bedeutung der Araber. 





Der Weg, den der Eroberungszug aus dem fernen 
Osten nahm, muß, um nach Kanaan zu gelangen, durch 
das heutige Armenien gegangen sein; es gibt keinen an- 
deren, da die Wüste für ein Heer oder einen Volkshaufen 
unpassierbar ist. Armenien muß daher unterworfen oder 
verbündet gewesen und geblieben sein. Wäre es anders 
gewesen, so wären die Verbindungen mit dem Osten 
unterbrochen gewesen, die aber tatsächlich fortbestanden, 
wie die Brautwerbung um Rebekka beweist. Welches 
die Heimat der schönen Erzählung sein mag, ist für die 
vorliegende Darstellung ohne Bedeutung, wesentlich ist 
aber, daß aus ihr hervorgeht, daß erstens die Vornehmen 
unter den Eroberern keine ehelichen Verbindungen mit 
den Eingeborenen eingegangen sind, und zweitens, daß 
von Kanaan aus ungehindert eine große offizielle Ge- 
sandtschaft nach dem Osten geschickt werden konnte. 
Dies war aber nur möglich, wenn die Eroberer in freund- 
schaftlichen Beziehungen zu Armenien und seinen Nach- 
barstaaten standen, und wenn dies der Fall war, so 
konnten auch umgekehrt die Armenier in Beziehungen 
zu den Kanaanäern treten. Und dies haben sie nicht 
nur oberflächlich getan, sondern sie haben sogar im 
Norden ihres Landes politisch festen Fuß gefaßt, wie 
unwiderleglich die Bezeichnung von Damaskus als Aram 
Damaskus beweist?!). Wie stark sie von hier aus die 
farbige kanaanäische Grundbevölkerung beeinflußt haben, 
geht aus der Mythologie der Genesis hervor, die von der 
des Nordens untrennbar ist. Da auf diesem Gebiet aber 
ein fürchterlicher Wirrwarr herrscht, würde ich meine 
eigenen Forschungen nur gefährden, wenn ich mich hierher 
begäbe. Ich erwähne daher nur, daß für die Noahsage 
der Bibel, auf deren eigentlichen Ursprungsort ich nicht 
eingehe, Armenien das unmittelbare Stammland gewesen 
sein muß; denn die Bibel sagt selbst, daß der Kasten auf 
den Bergen des Landes Ararat hangengeblieben sei. 

Das Fazit meiner Untersuchung ist also, daß Ka- 
naan von einer farbigen Urbevölkerung bewohnt gewesen 
ist, und daß diese von einer direkt vom Norden, indirekt 
vom Osten stammenden Bevölkerung unterjocht worden 
ist. Das ist an sich so wahrscheinlich, daß es der ganzen 
religiösen Befangenheit bedurft hat, um es zu ver- 
kennen. Denn die Verwandtschaft der Araber mit den 
Einwohnern Kanaans ist noch niemals bestritten worden, 
und die Himjaren Arabiens sind dunkel, zum Teil sogar 
sehr dunkel, und die Sabäer sind gelb. ‚Daß ferner von 
Osten her das Land erobert worden ist, beweist die Über- 
lieferung von Abram, und daß die Armenier hingekommen 
sind, zeigt der Name Aram Damaskus. Endlich spielen 
die Hethiter (Cheta) unter den Völkern Kanaans eine 


21) Ich vermute sogar, daß Abram nichts anderes wie 
Aram bedeutet, daß also der Abramzug der Eroberungszug 
der Armenier gewesen ist. Denn Abram wird mit denselben 
Radikalen geschrieben wie Aram, enthält nur ein 2 mehr; 
der Ausfall eines solchen ist aber nicht ohne Beispiel: "W35N 
(4. Mos. XXVI, 30) heißt auch “t?"2x (Jos. XVII, 2). 


große Rolle, und dieses große Eroberervolk des fernen 
Altertums war den Armeniern somatisch nahe verwandt. 

Da es demnach erwiesen ist, daß Armenier und ar- 
menische Völker in Kanaan eingedrungen sind, und daß 
andererseits die heutigen Juden nahe Verwandte dieser 
Völker sind, so begreift sich auch, warum die Lehre, die 
heutigen Juden stammten aus Kanaan, so viel Wahr- 
scheinlichkeit für sich hatte: die Juden sind mit einem 
Teil der alten Bevölkerung Kanaans verwandt, nur 
stammen sie nicht aus ihrem Lande, sondern haben 
ein gemeinsames Stammland mit dem einen Teil der 
antiken Kanaanäer. Aber gleichzeitig sieht man dar- 
aus auch, wie gefährlich es in der Ethnographie ist, 
mit politischen Begriffen zu operieren. Es gibt kein 
Volk, das nur aus einem einzigen Stamm zusammen- 
gesetzt ist, alle bestehen aus einem Konglomerat von 
vielen, und daher kann es der exakten Wissenschaft 
nicht genügen, daß, um die Verwandtschaft zweier Völker 
nachzuweisen, diese oder jene Übereinstimmung hervor- 
gehoben wird, sondern der Stamm muß aufgesucht und 
mit seiner Hilfe die Verwandtschaft ermittelt werden. 
Die Stämme sind die Individuen, mit denen die Ethno- 
graphie zu arbeiten hat, während die Bedeutung der Per- 
sonen in dem Einfluß besteht, den sie auf die Stämme 
oder Volksabteilungen gewinnen. 

Erwägt man nun aber, daß die Juden Verwandte der 
Armenier sind, und daß Aram von der Völkertafel zu 
Sem gerechnet wird, so behalten lächerlicherweise die 
Fanatiker, die immer behaupten, die Juden seien Se- 
miten, doch recht; nur darf man nicht so töricht sein, 
dem Sohne Noahs eine solche Zeugungskraft zuzuschreiben, 
daß er vielen Millionen Menschen das Leben gab, oder 
den Verfassern der Völkertafel anthropologische oder 
ethnographische Kenntnisse zuzumuten. Vielmehr muß sich 
in unserem Volk die Erinnerung erhalten haben, daß die 
Armenoiden in Europa, die die Beschneidung angenommen 
hatten und sich Juden nannten, ursprünglich den Sa- 
maskult gehabt haben, und sie wurden daher mit Fug 
und Recht Semiten genannt. Dann aber bemächtigte 
sich die Demagogie der Sache, machte aus der Religion 
eine Rasse, und diese fand später Eingang in die Wissen- 
schaft. Bei den polnischen und russischen Juden wird 
man sich vermutlich am besten Aufschluß über noch 
vorhandene Reste des alten Samaskultes holen können, 
denn sie wohnen von allen Juden den Armeniern am 
nächsten, haben die Tradition am reinsten erhalten und 
beweisen schon durch ihre Zahl, daß die übrigen Juden 
Europas von ihnen herzuleiten sind. Bei manchen kau- 
kasischen Stämmen, auch bei den Armeniern, hat sich 
der alte Sonnenkult erhalten, und bei den Tscherkessen 
findet man sogar Spuren der heiligen Prostitution; denn 
bei Leichenbegängnissen vornehmer Herren wird ein junges 
Mädchen von den männlichen Leidtragenden defloriert 22). 


2) v. Klaproth, Reise in den Kaukasus und Georgien, 
Bd. I, 8. 603. 





Die geographische Bedeutung der Araber. 


Von Ewald Banse. Braunschweig. 


Mit einer Karte. 


Zeichnet man eine Karte der Verbreitung des Isläm, 
so ergibt sich als das Mittelstück der so enstandenen 
westöstlich gestreckten unregelmäßigen Ellipse das Halb- 
inselland Arabien, eben die Wiege dieser Religion. Es 
liegt nahe der Scheide der beiden innerislämschen Gesell- 


schaftskreise, ‘des orientalischen und indomalaiischen, 
doch aber völlig jenem angehörend, was sich schon durch 
das Fehlen seiner Bewohner in dem letzten Bezirk dar- 
tut. Deshalb beschränken sich die Einflüsse der Araber 
jenseits der orientalischen Ostgrenze auf die Lieferung 


Banse: Die geographische Bedeutung der Araber. 


317 





(nicht einmal die Einführung!) ihrer Gottesidee, von 
anthropologischer Beeinflussung aber ist keine Rede. 
Vielmehr klafft eine tiefe Cäsur zwischen dem islämschen 
Westen und Osten. Der indoislämschen Baukunst z. B. 
fehlt jeder Zusammenhang mit der orientalischen. Die 
Sunni und Schii Indiens haben nicht wenige religiöse 
Anschauungen und Bräuche der sie in sechsfacher Über- 
macht umgebenden Hindu übernommen, während die 
Mohammedaner des Orients, im Schutz ihrer weit über- 
ragenden Mehrzahl, von den unter ihnen geduldeten Un- 
gläubigen nicht im geringsten sich berühren ließen. So 
ist der Isläm im Westen seines Bereichs der ausschlag- 
gebende Faktor, der Alleinherrscher, im Osten aber nur 
ein Bruchteil! 


bewaldeten Flecke3) treten vor der anderen Vegetations- 
form völlig in den Hintergrund, sie entsprechen pflanzen- 
physiologisch genau den Oasen der ebeneren Regionen. 
Beweist nun die Tatsache der Verbreitung an sich (der 
handgreiflichste, der geographischste aller geographischen 
Faktoren) nicht am besten die genetische Gebundenheit 
des Isläm an die Steppe!! Denn auch in Indien, Nord- 
china, ja selbst auf den Malaieninseln hausen die 
Mohammedaner vorwiegend auf Grasfluren +4). 
Andererseits hat bezeichnenderweise das Meer die 
Verbreitung des grünen Banners wenig gefördert. In 
der Hauptsache kam sein Wellenrücken ihm zugute nur 
nach der Küste Ostafrikas und nach den südasiatischen 
Inseln, also nach Gegenden, die für die Gesamtausbildung 




































































Die Stellung Arabiens und der Araber im Bereich des Islâm. Von Ewald Banse. 


IE Vorwiegend Mosslmin. 


\W\ Vorwiegend Semiten. 


Es ist klar, daß die Lage Arabiens die Ausbreitung 
des Islâm und deren Richtung in erster Linie bestimmt 
hat. Als Kind der Steppe — auf Steppenwegen er- 
sonnen, von Steppensöhnen zuerst übernommen und in 
die Fremde getragen — wanderte dieser Glaube mit 
Kamel und Pferd über die Landschaft der dürftigen 
Krautnarbe, wie er heute noch vorwiegend auf sie be- 
schränkt ist. Denn die breite Nordhalbe Afrikas bis 
über den 10. Parallel hinaus (im Osten viel weiter) ist 
ein ungeheurer Steppenraum ?), wie auch der allergrößte 
Teil des Asiatischen Orients und die beiden Turkestan. 
Sind doch gleichfalls der Atlas, Anatolien, Armenien und 
Iran durchaus Steppen- und nicht Waldgebiete, d.h. die 


1) Die in Vorderasien erst der Türke Mahmüd von 
Rasna bewirkte (1000 u. Z.). 

) Die Wüsten rechnen hierbei nicht, da sie ja völlig 
unbewohnt sind. 


rn - Landgrenzen des Orients. 


.gation. 


USW Die altorientalischen Kulturzentren. 


und den Gesamtbestand der mosslimschen Kulturgruppe 
nur von geringem Wert sind. Dieser kontinentale 
Charakter ist ferner der schwerstwiegende Grund für 


2) Wälder in unserem Sinne gar kann man fast zählen. 

4) Der Historiker C. H. Becker im Hamburg glaubt 
diesen naturbedingten Schluß als „geographisches Schlagwort“ 
abtun zu können und begreift als Hauptfaktoren des isläm- 
schen Einheitbegriffs einheitliches Bekenntnis, einheitliches 
politisches Ideal und in der Hauptsache einheitliche Zivili- 
Nun, mit dem einheitlichen politischen Ideal sieht 
es (und sah es immer) mehr wie windig aus, da für einen 
derartigen Faktor zweiter Ordnung der Schauplatz denn doch 
zu mannigfaltig differenziert ist, und die in der Hauptsache 
einheitliche Zivilisation ist doch selber nur Folge und nicht 
Ursache. Und zwar geographische Folge, die außerdem 
nicht einmal durchweg zutrifft, denn zwischen einem Marok- 
kaner oder Targi und einem Insulaner von sagen wir Timor 
dürfte eine himmelweite Kluft gähnen. Ach nein, der Boden 
läßt sich noch immer nicht beiseite schieben. Er, der Magen 
und der Geschlechtstrieb beherrschen nun mal die Welt. 


318 


Banse: Die geographische Bedeutung der Araber. 





die geringe Kulturhöhe, es fehlt eben Freiheit des Horizonts, 
und deshalb hat der Isläm nicht in Übersee Fuß gefaßt, 
wird es voraussichtlich niemals, was wieder innig mit 
der steppenhaften Genesis zusammenhängt. Man denke 
nur daran, daß die Mosslmîn mit der prächtigen Renn- 
bahn des Mittelmeerrs auch gar nichts haben an- 
fangen können, und mit der Roten und Persischen See 
nicht viel mehr. Nein, solch eine Religion war, ist und 
bleibt kontinental. 

Dieses im Innersten Festländische geht mit der 
Zentrallage Arabiens Hand in Hand. Die aggressive 
Wirkung der letzten aber wurde ungemein gereizt durch 
eine Peripherie umgebender Kulturzentren. Der 
südarabische Kulturzirkel, der ägyptische, der syrisch- 
hethitische und der babylonisch-persische umgürten die 
Mekka—Medina-Landschaft in tunlichem Kreisrund. Sie 
alle hatten Gelegenheit, auf der Mittelaraber Sein und 
Werden reichlich und in unterschiedlichster Art abzu- 
färben. Daraus ergab sich ein fördersames Gemisch von 
Kulturatomen, in dem die moralisch minderwertigen 
durchaus nicht brauchen überwogen zu haben. Nicht 
der geringste der kulturellen Anreize war die Aussicht 
auf Beute, der die fast absolute Sicherheit der weiten, 
wasserarmen und deshalb heerfeinden Steppen zum 
Fliehen sich paarte. Deshalb haben von jeher die 
arabischen Beduinen einträgliche Räsu gegen die Boll- 
werke der Kultur unternommen und zwar, ohne daß 
jemals dieser Zustand aufgehört hat, war doch der casus 
belli konstant. Daß aber diese Raubzüge mit Retour- 
billet — man verzeihe das geschmacklose, aber hier sehr 
bezeichnende Wort — größere politische Wirkungen 
ergeben haben, das ist ganz entschieden zu bestreiten. 
Denn von einer führenden geistigen Idee, die allein solche 
hätte erzeugen können, ist vor Mohämmed nicht das 
geringste bekannt. Die Bedu fielen in die Ackerbau- 
gebiete ein, plünderten und raubten soviel sie konnten 
und kehrten dann befriedigt zu ihren Weiden zurück. 
Daß sie eine Mischung mit den Bodensassen eingingen 
und selber seßhaft wurden, wird im allgemeinen nur in 
zwei Fällen geschehen sein, nämlich entweder dann, wenn 
die Kulturträger übermächtig waren, so daß nichts oder 
nur wenig zu holen blieb, oder aber, wenn sie selber so 
überraschende Resultate erzielten, daß es lohnte, sich 
niederzulassen, um zu herrschen. Das erste ist in der 
Gegenwart an der Euphrat- und Tigrislinie und seit 
Mehemed Ali am Nil der Fall, das andere war der Zu- 
stand nach Mohämmed. 

Es herrscht augenblicklich eine Neigung, den Ursprung 
der arabischen Bewegung zu überschätzen. Hugo 
Winckler glaubt nach Analogie der in der Ausbreitung 
des Isläm gipfelnden arabischen Bewegung drei ältere 
Völkerwanderungen aus Arabien nach Norden ableiten 
zu können. C. H. Becker folgt in einem in den 
meisten Beziehungen überaus lichtvollen und Gedanken 
erregenden, in seiner einseitighistorischen Tendenz unseren 
geographischen Anschauungen aber doch stark zuwider- 
laufenden Aufsatz dieser Hypothese („denn sie wird 
durch den historischen Tatbestand überreichlich be- 
gründet!!“5). Martin Hartmann®), dem ich’) mich 
hierin schon früher anschloß, hat den Gedanken als 
erster bezweifelt. Um Völkerwanderungen aus der 


®) Der Isläm als Problem. In Heft 1 von: Der Islâm. 
Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients. 
Straßburg 1910. Ich nehme hier Gelegenheit zu erklären, 
daß diese Arbeit (mit einigen Ausnahmen) hervorragend ist 
und dem Problem zweifellos weitergeholfen hat. 

°) Der islamische Orient, Bd. II. Die arabische Frage, 
S. 93 ff., Leipzig 1909. 

7) Der arabische Orient (Orient II), 8.72, Leipzig 1910. 


dreiseitig meerverschlossenen, großenteils total unbewohn- 
baren arabischen Halbinsel heraus kann es sich gar nicht 
handeln, sie hat keinen Völkerrückhalt hinter sich, wie 
die Steppen Innerasiens. Beide Gebiete hierin mit ein- 
ander zu vergleichen, ist naiv. In der ganzen nord- 
arabischen Bewegung kann ich nichts anderes 
sehen als die vergrößerte Ausgabe des Überfalles 
eines Nomadenstammes auf eine seßhaft be- 
wohnte Kulturlandschaft, einen Räsu, einen Aus- 
schnitt aus dem Kern der gesamtorientalischen Geschichte, 
die besteht aus dem klimatischen und anthropogeographi- 
schen Kampf der Steppe gegen die Ackerkrume, der Barbarei 
gegen die Kultur. Statt dessen greift man zu vier 
(größtenteils ja nur durch Analogie vermuteten!) 
Völkerwanderungen, ja sogar zu „einem sich über Jahr- 
tausende hinziehenden Klimawechsel und allgemeiner 
Austrocknung des Landes“. Der Historiker will geo- 
graphischer sein als der Geograph! 

Zufällig und wenig imposant wie der Ur- 
sprung der arabischen Bewegung ist im eigent- 
lich Innersten auch ihr Verlauf geblieben! Denn 
dem Geistigen, in das sich ihr körperliches Überhand- 
gefühl unter Mohämmpd umgesetzt hatte, vermochten die 
einfachen Steppenkinder auf die Dauer nicht gerecht zu 
werden. Diese Araber der ersten Chalifzeit sind in ihrem 
Aussturm genial, ganz vergleichbar einem jungen Genie, 
das meteorgleich in kurzen Jahren eine Unsumme von 
Geist produziert, um bald darauf eben durch die Über- 
anstrengung der Gehirnnerven zusammenzufallen. Das 
nördlichste Afrika, Syrien, Mesopotamien und Westpersien 
wurden hauptsächlich von Arabern dem Isläm gewonnen. 
Es sind noch heute die Kernlande der Minäre und 
der halben Monde. Bei der Eroberung der übrigen 
Gebiete aber traten die eigentlichen Araber sehr in den 
Hintergrund und Neubekehrte nahmen ihre Stellung ein, 
zähere, vergleichbar mehr dem beständigen Talent als 
dem ungleichen Genie. 

Die alten Araber waren so die besten, leiden- 
schaftlichsten Vertreter des ÖOrientgedankens, 
d. h. der Ausbreitung einer gewissen Halbkultureinheit 
gegenüber der Vollkultur. Ihre Vorgänger, die Neuperser 
und noch früher die Parther, hatten weniger Glück in 
der Verfechtung dieser Idee, hauptsächlich weil ihr 
damals noch die packende geistige Verbrämung fehlte, 
die den Arabern der Mekkaner schuf. Auf der arabi- 
schen Grundlage fortzubauen, war später keine so große 
Schwierigkeit, da der Steppencharakter und die Uni- 
formität des Bodens das ungemein erleichterten oder besser 
überhaupt erst ermöglichten! Als Illustration diene die 
Erwägung, daß der Isläm, wenn im südlichen, ebenfalls 
steppenhaften Rußland geboren, sich weniger nach Westen 
als nach Osten ausgedehnt haben würde. Er wäre kaum 
über die Wiener Gegend hinausgekommen oder doch 
bald wieder zurückgeflutet. Wie nun bei dem weitaus 
größten Teil der reinen Araber die unausbleibliche 
Reaktion in Form versagender Ermattung eintrat, so daß 
sie heute nicht mehr die Träger des Örientgedankens 
sind, ebenso brennt die orientalische Pechpfanne ruhig, 
wenn auch kräftig, in anderen Volkselementen weiter. 
In erster Linie in den Libuberbern Nordafrikas, und den 
Hethitern Kleinasiens und des westlichsten Armeniens, 
beide starrköpfig, geistig nicht hervorragend, aber doch 
normal, brave Biedermänner. Neben sie treten die 
iranschen Indogermanen, deren höheren geistigen An- 
sprüchen die gebotene Religion nicht genügte, weshalb 
sie sie besonders’ sich zuschnitten, wobei entsprechend 
ihrer Neigung zur Lüge und Verschlagenheit denn auch 
was ganz Besonderes herausgekommen ist (Schia). 
Eigene Stellungen beanspruchen die Neger und die 


Neuere Anschauungen über das Projekt der Transsaharabahn. 


319 





Türken, die beiden islämschen Gegenpole. Jene sind 
anthropologisch die niedrigsten Bekenner des Korän und 
deshalb die fanatischsten. Daraus folgt aber nicht, daß 
sie auch seine dauerhaftesten Anhänger sind. Vielmehr 
glaube ich, die Neger lassen sich eben wegen ihrer 
minderen Gehirnqualität leichter vom Isläm abziehen 
als die andern Orientalen, wobei ich jedoch eine 
Ausnahme mache. Das sind die Türken, unter denen 
ich nicht das weit überwiegende Gros der (ziemlich) rein 
hethitischen Land- und auch meist Stadtbevölkerung 
Anatoliens verstehe, sondern jenes vorwiegend in mili- 
tärischen und zivilen Beamtenstellungen untergebrachte 
Mischmasch von alten mongoloiden Türken-, Griechen-, 
Kaukasier- und Negerelementen, das die leitende und 
verderbende Clique der Türkei ist. Die Klasse ist von 
Grund aus verseucht, ihr Gehirn beschränkt, ihre morali- 
schen Qualitäten noch unter jedem anderen Tiefstand, 
verseucht durch einen alles in den Hintergrund stellen- 
den Hang zu Hochmut und Quälerei, Ehebruch und 
Päderastie, besonders aber zur Verstellung und Lüge °). 





®) Jeder, der größere Inlandreisen in der Türkei gemacht 
hat, wird Stückchen erzählen können von der schamlosen 
Verlogenheit der Beamten, besonders der höheren. Ohne 
Zucken und Zögern wird die frechste Lüge ausgesprochen 
und bei der Ertappung anstandslos zugegeben. Von den 
Dutzenden von Beispielen, die mich persönlich betroffen 
haben, greife ich ein beliebiges heraus. Als ich im Begriff 


Diese Türken nun hängen innerlich sehr wenig am Isläm, 
so daß sie vielleicht die ersten wären, die das grüne 
Banner zerrissen, wenn ihr Vorteil es erheischte?). 

Es zeigt sich also, daß die Araber im ganzen 
nur AÄnreger, trovatori, waren, nicht aber 
Vollender! Wo sollten diese Hintersteppler auch 
die Gelegenheit dazu hernehmen. Daß ihre Rolle als 
Erfinder noch durchaus nicht beendet zu sein braucht, 
zeigt der Vorstoß der Uahäbi des Nedschd, der nichts 
weiter ist als eine kräftige Unterstreichung des Orient- 
gedankens, der Kulturfeindlichkeit! Die hat er erreicht, 
sonst nichts, er hat (außer noch Beutemachen) allerdings 
wohl auch nicht mehr beabsichtigt. Er ist aber die beste 
Illustration zur gegenwärtigen Bedeutung der 
Araber, die eben darin.liegt, das Feuer der Orient- 
idee, das andere ständig schüren, von Zeit zu Zeit 
grell emporflackern zu lassen, den Freunden ein 
Ansporn, den Feinden eine Drohung. 


stand, mit einer einen der höchsten deutschen Titel führen- 
den Persönlichkeit von Damaskus nach Der es sör zu gehen, 
war uns vom Uäli eine Eskorte von einem Offizier und fünf 
Mann versprochen. Die Leute stellten sich auch am Morgen 
der Abreise uns vor. Der Offizier erklärte, er wolle nur noch 
schnell etwas Vergessenes von Hause holen, verschwand und 
ließ sich nie wieder blicken. Die fünf Soldaten ritten mit 
uns bis zum Euphrat. 

°) Das zeigt auch die Ungeniertheit, mit der sie öffent- 
lich Bier und Schnaps trinken. 





Neuere Anschauungen über das Projekt der Transsaharabahn. 


Von der Transsaharabahn — d. h. von dem Projekt 
einer Bahn durch die Sahara von Nord nach Süd — war 
einst in Frankreich viel die Rede. Die von den Kolonial- 
politikern angestrebte Verwirklichung dieses großen Planes 
rückte aber in immer weitere Fernen, je genauer man 
die Sahara kennen lernte; denn es ergab sich immer 
deutlicher, daß weder in ihr selber Reichtümer zu holen 
seien, noch daß die Bahn Produkte des Sudan in nennens- 
wertem Umfange zur Nordküste zu transportieren haben 
würde. Allerdings konnten nach wie vor militärische 
und allgemein-politische Gründe für einen solchen Bahn- 
bau ins Feld geführt werden, und das geschieht auch 
heute noch durch die Anhänger des Projektes. Tot und 
begraben ist es keineswegs, derartige Pläne sterben nie. 

Neuerdings hat sich R.Chudeau, der große Teile der 
mittleren und westlichen Sahara aus eigener Anschauung 
kennt, über die große Wüstenbahn ausgesprochen, in 
einem in „L’Afrique française“ (1910, S. 305 bis 307) ver- 
öffentlichten Artikel, und die Bedeutung des Autors mag 
es rechtfertigen, wenn wir hier aus seinen bemerkens- 
werten Ausführungen einiges mitteilen. Den Anhängern 
des Projektes schweben im allgemeinen zwei verschiedene 
Linien vor: eine östliche, die bei Sinder oder am Tsad- 
see endigen soll, und eine westliche, die ihren südlichen 
Endpunkt irgendwo am Niger hätte. 

Die Ostlinie hätte im südlichen Tunisien oder im süd- 
lichen Constantine ihren Ausgang zu nehmen. Sie ginge 
zunächst 700km weit durch das große östliche Erg, 
dessen Meereshöhe bis 300 m ansteigt, und dann 800 km 
weit, bis In-Asua, über eine Reihe von Plateaus (Tinghert 
600 m, Tassili der Asger 1000 m), wobei die Höhen stark 
wechseln. Hierauf könnte sie das Gebirgsland Air west- 
lich umziehen, d. h. etwa der Talakebene folgen, und in 
Sinder endigen. Die Entfernung In-Asua—Sinder be- 
trägt auf diesem Wege 800 km, von denen die letzten 
300km, von Agades in Air bis Sinder, nennenswerte 
technische Schwierigkeiten nicht mehr bieten würden. 


Um so größer wären sie nach Chudeau im Norden; viele 
Kunstbauten wären dort nötig, so daß die im ganzen 
2300km lange Linie sehr kostspielig werden würde. 

Es fragt sich nun, ob diese Ostlinie der Transsahara- 
bahn wirtschaftlich ihre Rechtfertigung finden kann. Da 
wäre vielleicht etwas Lokalhandel im Oasengebiet von 
Tuggurt. Aber dann, bis Air, „gibt es nichts mehr“. 
Die Zahl der Tuareg des Nordens zusammen mit der 
der Bewohnerschaft von Tidikelt wird 10000 erreichen. 
Nutzbare oder gar wertvolle Mineralien kennt man aus 
diesem Gebiet nicht, und nichts läßt vermuten, daß man 
solche noch finden wird. „Ihres Klimas halber wird die 
Sahara immer arm sein und ihre Verbesserungmöglich- 
keiten werden beschränkt bleiben.“ Der Satz, daß eine 
Eisenbahn sich auch Verkehr schafft, trifft für die Sahara 
nicht zu. Air hat ungefähr 20000 Einwohner und 5000 
bis 6000 Dattelpalmen; die Viehzucht ist gering und die 
Zerealien genügen so wenig für den eigenen Bedarf der 
Bewohner, daß sie noch jährlich 1000 t Hirse aus Damer- 
ghu kaufen müssen. Zu diesen ziemlich mageren Hilfs- 
quellen kommt in Air noch der Karawanenhandel und 
das Vermieten von Kamelen. Es ist behauptet worden, 
daß es in Air wahrscheinlich Kupfererze gebe, aber die 
Lagerstätten sind noch immer unbekannt. Tatsache ist 
jedenfalls, daß allesKupfer, was die einheimischen Schmiede 
verarbeiten, aus Europa kommt; hätten sie jemals in Air 
welches gefunden, so hätten sie es sicherlich benutzt. 

Im Süden von Air streifen die Kelgress in einer Zahl 
von 20000; sie sind Viehzüchter. Im Becken von Kauar 
(Bilma) und des Tsad sind die seßhaften Bewohner wenig 
zahlreich — Kauar hat 2500 Einwohner und 100000 
Palmen — und die Nomaden, die Tibbu und die Uled- 
Sliman, sehr arm. Diese Gegenden lägen überdies von 
der Bahn weit ab. Im Westen von Air ist den Tuareg- 
stämmen der Ifogas und Aulimmiden der Niger zu nahe, 
als daß sie für den Transport ihrer Erzeugnisse einen 
anderen Weg suchen sollten, als diesen Fluß. In Tegama, 


320 


Die österreichische Sahara-Expedition. 





wie in allen seinen westlichen, östlichen und südlichen 
Nachbargebieten sind die Regen für den Anbau unge- 
nügend, von einigen bewässerbaren Stellen abgesehen; 
es ist also falsch, wenn man für die da herrschende 
Öde Verwüstungen durch Nomaden verantwortlich macht, 
allein das Klima trägt die Schuld. 

Südlich von Damerghu sind die Regen reichlicher, 
und es könnte da überall besonders Hirse in großem 
Maße angebaut werden. Aber von diesen Gegenden ge- 
hört nicht viel den Franzosen, sie sind englisch und 
gravitieren nach Kano. Und Kano ist nur 800 km vom 
Atlantischen Ozean entfernt, die englische Bahn wird es 
bald erreicht haben und den ganzen Handel an sich 
ziehen. 

Also bliebe die Ostlinie noch vom politisch-militärischen 
Standpunkte aus zu betrachten, und da meint Chudeau: 
Im Falle eines Konfliktes in Europa oder in Algerien 
würde Frankreich in jenen Ländern nur geringe und 
schlechte Reserven finden; sollten aber etwa im Gebiet 
von Sinder Schwierigkeiten entstehen, so wäre eine ge- 
meinsame Aktion des schwarzen und des hellen Bevölke- 
rungselements nie zu befürchten; das eine oder das andere 
würde immer auf Seite der Franzosen zu finden sein. 
Sollten aber wirklich jemals ernste Schwierigkeiten sich 
erheben, so dürften die Engländer lieber ihre Nigeria- 
bahn den Franzosen zur Verfügung stellen, als den Krieg, 
der dann ja nicht auf französisches oder auf englisches 
Kolonialgebiet beschränkt bliebe, auf eigene Rechnung 
führen. 

Von welchem Gesichtspunkt man also auch die Ost- 
linie betrachten mag, sie würde zu teuer sein und zu 
nichts dienen. Ganz anders aber denkt Chudeau von 
der Westlinie. 

Diese Westlinie müßte die Figigbahn fortsetzen, durch 
das Susfana und Saura bis Tuat (Taurirt): 700 km. 
Technische Hindernisse sieht Chudeau hier nicht. Von 
Taurirt oder Reggan ginge die Linie weiter nach Aschu- 
rat: 700km. Aus diesem Gebiet gibt es bisher nur 
Rekognoszierungen, die über die Beschaffenheit des Ge- 
ländes, Wasserverhältnisse und dgl. wenig Bestimmtes 
erkennen lassen; es scheint aber, daß besondere Schwierig- 
keiten für den Bahnbau nicht angetroffen werden würden. 
Einigermaßen bekannt ist das Land von Aschurat bis 
zum Niger: 400 km. Die übrigens niedrigen und wenig 
ausgedehnten Plateaus des Timetrin könnte man wahr- 
scheinlich im Westen umgehen, und die Landschaft Asauad 
ist im Meridian von Timbuktu eine horizontale Ebene, 
deren 5 bis 6m hohe Dünen durch Vegetation fest ge- 
worden sind. Von Djenan ed-Dar bei Figig (810 m) bis 
zum Parallel von Taudeni (100 m), Entfernung 1000 km, 
ist das Gefälle sehr regelmäßig, weniger als 1:1000 im 
Durchschnitt, auf der größten Strecke aber, von Igli ab, 
nur 1:4000. Ebenso unbedeutend ist der Aufstieg vom 
Parallel von Taudeni (100m) bis zum Niger (250 m), 
auf einer Entfernung von 800km. Da ferner größere 
Kunstbauten hier nirgends nötig sind und die Zahl der 
Stationen naturgemäß beschränkt wäre, so würde der 
Kilometer sich hier auf etwa 100000Fr. stellen, der 
ganze Bau auf 180 bis 200 Millionen Fr. 


Die österreichische Sahara - Expedition. 


Diese Bezeichnung führt ein wissenschaftliches Unter- 
nehmen, das nichts mehr und nichts weniger als die Er- 
forschung von Tibesti bezweckt. Leiter ist der Wiener 
Afrikareisende Otto Cesar Artbauer, der die ethnographi- 
schen und linguistischen Arbeiten ausführen wird; sein Be- 
gleiter ist der österreichische Oberleutnant Kraft v. Helm- 
hacker, dem die geographischen und geologischen Studien 


Es fragt sich nun, was die Bahn zu transportieren 
hätte. Gurara, Tuat und Tidikelt hatten nach der 
Statistik im Jahre 1905 — einem Durchschnittsjahre — 
eine Getreideernte von 8000 t, die knapp für den eigenen 
Bedarf der Bewohner (49100) zureichte; ferner ergaben 
die 1429650 Palmen 21280 t Datteln, von denen 2000 t 
exportiert wurden. Aber im allgemeinen ist der Waren- 
austausch der südalgerischen Oasen wenig bedeutend und 
übersteigt nicht einige tausend Tonnen, und die Produktion 
müßte eine ganz gewaltige Steigerung erfahren, wenn hier 
eine Bahn ihre Rechnung finden soll. 

Von Taurirt bis Aschurat herrscht Tanesruft, die Hilfs- 
quellen sind gleich Null. Das Ahnet z. B. ernährt auf 
15000 qkm kaum 1300 Kamele, 3000 Schafe und etwa 
100 Krieger. Nicht viel besser steht es mit der Land- 
schaft Asauad, die sonst etwa dieselben Verhältnisse 
zeigt, wie das oben erwähnte Tegama. 

Erst mit der Ankunft am Niger wird es anders, wenn 
Wert und Fruchtbarkeit des Landes auch recht ver- 
schieden sind. Aber es ist unwahrscheinlich, daß von 
seinen Produkten die Transsaharabahn viel zum Mittelmeer 
zu befördern haben wird, dazu haben sie zu wenig Wert. 
Die wertvollen Erzeugnisse des Nigergebietes, wie der Kaut- 
schuk, wachsen erst weiter südlich und finden auf den zur 
atlantischen Küste führenden Bahnen ihren Weg in die 
Außenwelt. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus erscheint 
also auch die Westlinie von recht fraglicher Bedeutung. 

Nun aber die militärisch-politischen Erwägungen. 
Es ist bekannt, sagt Chudeau, daß unter den Schwarzen 
des Sudan sich die Elemente für eine brauchbare zahlreiche 
Infanterie fänden. Ihre Verwendung in Europa werde be- 
sonders durch die Entfernung erschwert. Man habe daran 
gedacht, Senegaltruppen nach Algerien zu legen, und es 
jetzt auch im kleinen Umfange versucht. Aber man wisse 
auch schon, daß das Klima Algeriens ebenso wie das der 
Sahara den Schwarzen schlecht bekomme: selbst in den 
Oasen hätten die Neger wenig Kinder und stürben jung; 
seit der Unterdrückung des Sklavenhandels verminderten 
sich die Arbeitskräfte im Tuat in auffälliger Weise. Es 
sei also eine übergroße Sterblichkeit zu befürchten. Auch 
sei ja die Berührung der Zivilisation für die Primitiven 
immer verhängnisvoll. Deshalb wären Schwierigkeiten 
in Algerien möglich, wo es schon zu viel Rassenfragen 
gebe, und den Sudan könnte man nicht immer, wie jetzt, 
mit ein paar Kompagnien halten. Die Beförderung über 
See von Dakar nach Frankreich im Kriegsfalle wäre zu 
zeitraubend; eine Transsaharabahn würde dagegen ge- 
statten, daß die schwarzen Truppen daheim blieben, bis 
sie gebraucht würden, und doch diese Unzuträglichkeiten 
beheben. Deshalb müsse Frankreich zu seiner eigenen 
Sicherheit diese Transsaharabahn haben. 

Der Gedanke, afrikanische Truppen in Europa zu 
verwenden, ist in Frankreich, dessen Einwohnerzahl sich 
nicht vermehrt, nicht selten schon verfochten worden. 
Der staatlichen Selbsterhaltung müssen natürlich alle 
Opfer gebracht werden, auch das Opfer der namentlich 
in Frankreich sehr verbreiteten Überzeugung, daß man 
dort an der Spitze der Zivilisation marschiere! Wir 
Deutsche aber können uns dann gratulieren! 


obliegen sollen. Der Aufbruch der Expedition sollte im Laufe 
des November erfolgen, Ausgangspunkt Tripolis sein. Art- 
bauer schwebt eine Durchkreuzung Tibestis von Gatrun oder 
von Kufra aus vor mit Wadai oder dem Tsadsee als Schlußziel. 

Jeder, der auch nur einigermaßen mit der Geschichte 
der Afrikaforschung vertraut ist, weiß, was ein solches Unter- 
nehmen bedeutet, welche Gefahren es einschließt. Nur ein 
Forscher, Gustav Nachtigal, hat — 1869 — nach Tibesti ge- 
langen können, von Gatrun aus. Die bösartigen, räuberischen 


Bücherschau. 


321 





Tibbu-Reschade, die Bewohner des Gebirgslandes, bedrohten 
dort sein Leben, und er konnte sich nur durch schleunige 
Flucht aus Bardai und Gewaltmärsche retten. Rohlfs wollte 
1879 über Kufra und den Osten Tibestis nach Wadai ziehen, 
wurde aber bereits in Kufra beraubt und zur Umkehr ge- 
zwungen. Heute sind die Voraussetzungen für eine Reise 
nach Tibesti noch viel schlimmer als damals, weil jetzt fast 
alle Tibbustämme unter dem Einflusse der Senussi stehen, 
deren Oberhaupt eine Reihe von Jahren in Borku wohnte, 
und die Senussi durch das Vorgehen der Franzosen in der 
östlichen Sahara und in Wadai aufs heftigste gereizt sein 
müssen — nicht nur gegen die Franzosen selbst, mit denen 
sie in Borku blutige Zusammenstöße hatten, sondern ver- 
mutlich gegen alle Europäer '). Das Oberhaupt der Benussi 
residiert wieder in Kufra. Diese Dinge sind im Globus mehr- 
fach besprochen worden. Man hatte sich somit an den Ge- 
danken gewöhnt, daß ein Eindringen in Tibesti heute wohl 
nur an der Spitze bis an die Zähne bewaffneter Meharisten- 
kompagnien möglich sein würde, und dieser Wunsch ist auch 
neuerdings von Offizieren der französischen Kolonialtruppen 
im Tsadseegebiet verfochten worden, weil die Tibbu angeb- 
lich die Karawanenstraße Fessan—Bornu beunruhigen. Und 
trotz alledem will Artbauer das Wagnis unternehmen, er 
schreibt dem Globus unter anderem: 

„Wie ich das Rif bezwang (Artbauer hat mehrere Reisen 
in Marokko ausgeführt; vgl. hier unten die Besprechung 
seines Buches darüber), so hoffe ich, gelingt mir auch Tibesti. 
Nicht umsonst habe ich jahrelang als Araber unter Arabern 
gelebt, fließend schreibe ich deren Sprache. Nicht erst seit 
gestern oder seit vorigem Jahr befasse ich mich mit dem 


!) Manche Beobachter, so zuletzt Hanns Vischer („Across the 
Sahara“ an verschiedenen Stellen) bestreiten den Christeuhaß der 
Senussi; Vischer behauptet sogar, er habe durch sie sehr wirksam 
Hilfe erfahren. i 


Problem. Nubien und Kordofan, Tripolitanien und den 
äußersten Süden Algeriens habe ich aufgesucht, um alles 
nur irgend in Betracht kommende selbst zu erkunden. Seit 
1906 schwebt mir das Problem vor. Wenn irgend es in 
Menschenkraft steht, so werden wir, oder ich allein, Tibesti 
durchziehen. Ich glaube wohl vorbereitet zu sein.“ 

Es mag noch hinzugefügt werden, daß Artbauer die 
Länder des nordafrikanischen Islam gut kennt und mehrere 
arabische Mundarten spricht. In Österreich bringt man seinem 
Unternehmen größtes Interesse entgegen, in weiteren Kreisen 
sowohl wie in wissenschaftlichen (akademie der Wissen- 
schaften, Geographische Gesellschaft); an der Aufbringung 
der Kosten haben sich unter anderen der Kaiser und das 
Unterrichtsministerium beteiligt. Wie also auch der Ausgang 
des gefahrvollen Wagestücks sein mag, wir haben es mit 
einem durchaus ernsthaft aufzufassenden Forschungsunter- 
nehmen zu tun. Welchen Weg es einschlagen wird, wird 
sich erst in Tripolitanien ergeben. 

Bei der offiziellen Türkei scheint Artbauer vorläufig kein 
Entgegenkommen zu finden. Das ist erklärlich. Zwar gehört 
Tibesti auf Grund des englisch -französischen Vertrages vom 
31. März 1899 zum französischen Kolonialbesitz und Kufra 
zu Agypten. Aber die Türkei hat diesen Vertrag nicht an- 
erkannt und beansprucht sowohl Kufra wie Tibesti, sogar 
die Oase Kauar an der Bornustraße (wo heute ein französi- 
scher Militärposten besteht), obwohl sie dort schwerlich jemals 
etwas zu sagen gehabt hat. Allerdings berichtet Hanns Vischer 
(„Across the Sahara“, S. 130) aus dem Jahre 1906, von Mursuk 
aus sei ein türkischer Kaimakam in Bardai, dem Hauptort 
von Tibesti, eingesetzt worden, aber man weiß nicht recht, 
was es damit auf sich hat. Jedenfalls behauptet die Pforte, 
Tibesti gehöre zu Tripolitanien, und sie fürchtet offenbar, 
man könnte sie auf Grund solchen Anspruches zur Verant- 
wortung ziehen, falls dort der österreichischen Expedition 
etwas zustoßen sollte. Man kann da aber auch an noch 
andere politische Erwägungen denken. 


Bücherschau. 


Otto C. Artbauer, Kreuz und quer durch Marokko. 

Kultur- und Sittenbilder aus dem Sultanat des Westens. 

X u. 233 8. mit 164 Abbildungen und 1 Übersichtskarte. 

Stuttgart 1911, Strecker u. Schröder. 

Aus der Übersichtskarte bei S. 96 des Buches sind die 
Reisewege des Verfassers in Marokko und Westalgerien zu 
erkennen. Sie verteilen sich über die Jahre 1906, 1908 und 
1909 und über weite Gebiete des Scherifenreiches, von Mogador 
bis zum Rif, dessen Durchwanderung in einem besonderen, 
jetzt in der Presse befindlichen Buche geschildert werden 
soll. Wer so weit in Marokko herumgekommen ist, von dem 
darf man wohl annehmen, daß er viel gesehen und viel zu 
berichten hat; und diese Annahme wird durch den Inhalt 
des Buches auch vollauf bestätigt. Es ist keine Reisebeschrei- 
-bung, sondern besteht aus geschlossenen Kapiteln, die dem 
Leser die Bewohner Marokkos vorführen. In diesen Kultur- 
und Sittenbildern werden die mannigfaltigsten Seiten der 
Bevölkerung und ihres ja nun der Unabhängigkeit beraubten 
Staates behandelt, und man erhält ein interessantes und 
verläßliches Gemälde von den dortigen Zuständen. Da werden 
wir unter anderem bekannt gemacht: mit den Elementen der 
Bevölkerung, die zu vier Fünfteln aus reinen Berbern besteht, 
mit den marokkanischen Juden, deren Lage sich in neuerer 
Zeit sehr gebessert hat, mit den Wegen und dem Reisen, mit 
dem Leben und Treiben in den Dörfern und in den großen 
Städten, mit Militär und dem modernen, recht zwecklosen 
Polizeikorps, mit der Sklaverei, dem Heiligenunwesen, meh- 
reren religiösen Festen, Frauen und Frauenleben, mit dem 
heutigen Sultan, dem gewalttätigen Treiben der Franzosen, 
mit Raisuli, Buhamara und anderen merkwürdigen Persönlich- 
keiten, darunter auch dem alten Scheik Ma el Ainin, dem 
glühenden Franzosenhasser, der ja jetzt gestorben sein soll. 
Franzosenhasser sind heute, wie der Verfasser an Beispielen 
zeigt, übrigens alle Marokkaner, und an anderen Beispielen 
weist er nach, daß sie das mit vollem Recht sind. Es werden 
eben auch politische Fragen gestreift. Die Frage, warum 
denn eigentlich Frankreich so auf den Besitz Marokkos dringt, 
beantwortet der Verfasser mit der Auskunft: Frankreich 
braucht Soldaten, Verstärkung seiner Armeen durch schwarze 
Truppen für die Aktion in Europa. Daß solche Hoffnungen 
bestehen, weiß man (vgl. oben 8.320 den Schluß des Artikels 
über die Transsaharabahn); der Verfasser wird also wohl 
recht haben. Aber er zweifelt an einer Stelle (S. 20), daß 


es Frankreich je gelingen werde, die Berberbevölkerung zu 
unterwerfen, und verweist am Schluß auf die Gefahr einer 
solchen neuen Waffe für Frankreich selbst. — Das mit guter 
Kenntnis der Dinge und mit überzeugendem Urteil geschrie- 
bene kleine Buch wird dem deutschen Publikum ein weit 
zuverlässigeres Bild von Marokko vermitteln, als die meisten 
Reisebeschreibungen deutscher Autoren, die mit der Bevölke- 
rung doch nur wenig in Berührung gekommen sind. 


A. Steinhauff und M. 6. Schmidt, Lehrbuch der Erd- 
kunde für höhere Schulen. Ausgabe R (für Real- 
anstalten). 6 Teile. Leipzig 1910, B. G. Teubner. 

Das vorliegende Lehrbuch zeigt viele Vorzüge. Es will mit 
der bisherigen Methode brechen, nach der dem Schüler von 
jedem Lande erst Grenzen, Gebirge, Ströme, Siedelungen, 
Produkte einzeln dargeboten werden, so daß sie nur der 
Name eines bestimmten Landes zusammenhält. Dieses Nach- 
einander wird in ein Nebeneinander umgewandelt, indem 
räumlich zusammengehörige Gebiete nach drei Gesichtspunkten 
behandelt werden. Im Geländebild wird die Bodenform 
und deren Charakter beschrieben. Hierauf kann entwickelt 
werden, wie der Mensch die vorhandene Natur benutzt hat, 
um sie seinerseits für sich zu verwerten. Dieser zweite Ab- 
schnitt heißt Natur und Menschenwerk. Ihm folgt an 
dritter Stelle Völkerleben umd Siedelungen. Hier erst 
sieht der Schüler, wie die Entwickelung eines Volkes ganz 
von den durch die Natur gegebenen Bedingungen abhängt, 
wie besonders die Ansiedelungen nicht ohne Grund gerade 
an den gewählten Stellen entstanden sind. 

Auf diese Weise entstehen durch drei verschiedene Be- 
trachtungsweisen drei Bilder jeder Landschaft, die sich in 
ihrem Gesamteindruck sozusagen zu einem psychischen 
Dreifarbendruck zusammenfügen. 

Jede Betrachtung zerfällt in eine Gesamt- und Einzel- 
betrachtung. Dadurch wird es ermöglicht, daß der Schüler 
erst einen ganz allgemeinen Haupteindruck des besprochenen 
Landes erhält. Erst dann kommen weitere Einzelheiten, die 
sich dem Gesamtbild unterordnen, so daß sich das Oharakte- 
ristische an jedem Lande auf den ersten Blick einprägt. 
Letzteres wird noch unterstützt durch die sorgfältig aus- 
gewählten fett gedruckten Überschriften jedes kleineren Ab- 
schnittes, die, fortlaufend gelesen, sozusagen in Schlag- 
worten ein Allgemeinbild jedes Landes geben. Das ist be- 


322 


Kleine Nachrichten. 





sonders für die häusliche Repetition äußerst wichtig, um 
den Schüler immer und immer wieder auf die Hauptmerk- 
male hinzuweisen. 

Außerst geschickt sind die zahlreichen Illustrationen 
ausgewählt. Sie zeigen nicht nur die tote Natur, sondern 
führen diese immer wieder in ihrer Beziehung zur mensch- 
lichen Tätigkeit vor Augen. Dadurch wirken sie lebendig. 
Sie veranschaulichen u. a. besonders den Anbau und die 
Ernte der jedem Kinde geläufigen Kolonialprodukte. Auch 
unsere deutschen Kolonien werden entsprechend ihrer mehr 
und mehr steigenden Wertschätzung auf verhältnismäßig 
breitem Raume in Wort und Bild geschildert. Deutscher 
Verkehr und deutscher Handel werden vor allem gewürdigt. 

Die Ausführung der Bilder ist geradezu vorbildlich. 
Ein großer Teil ist von so malerischer Wirkung, daß man 
glaubt, die Wirklichkeit vor sich zu haben. Der Verlag hat 
keine Kosten gescheut, ein erstklassiges Lehrbuch herzustellen. 
Namen und Zalılen sind auf ein Mindestmaß beschränkt. 
Die wenigen Tabellen sind vorzüglich ausgesucht und tragen 
viel zur Veranschaulichung vergleichender Größenverhältnisse 
bei. Zu wünschen wäre nur eins, daß das Lehrbuch in recht 
vielen Anstalten Eingang fände, damit seine Brauchbarkeit 
auch praktisch erprobt würde. K. 


Joseph Déchelette, Manuel d'Archéologie pr6histo- 
rique, celtique et gallo-romaine. II. Archéologie 
celtique ou protohistorique. Première partie: Age du 
bronze. XVIII und 5128. mit 212 Abbildungen, 5 Tafeln 
und I Karte. — Dazu: Appendices. VII und 1908. Paris 
1910, Alphonse Picard et Fils. 20 Fr. 

Zwei Jahre nach dem die beiden Steinzeiten behandeln- 
den Bande (vgl. „Globus“ Bd. 94, 8.369 f.) erschien kürzlich 
der erste Abschnitt des zweiten Teiles dieser groß angelegten 
zusammenfassenden Darstellung der vor- und frühgeschicht- 
lichen Altertümer Europas, namentlich des keltischen Westens. 
Als „keltische und frühgeschichtliche Zeiten“ betrachtet der 
Verfasser die Bronzezeit, die Hallstatt- und die La Tene-Periode, 
von welchen in dem neuen Bande hauptsächlich die erste 
geschildert wird. Den beiden anderen, nämlich den beiden 
vorgeschichtlichen Eisenzeiten, wird wieder ein Band von 
gleicher Stärke gewidmet sein, welcher gegen Ende des 
nächsten Jahres erscheinen soll. Dann erst wird der dritte 
Teil folgen, der die gallorömische Archäologie enthalten und 
das verdienstliche Werk zum Abschluß bringen soll. So 
nähert sich der Verfasser auf einem langen Wege dem Haupt- 
gebiete seiner Spezialstudien, dem letzten vorrömischen Zeit- 
raum und den Jahrhunderten der Kaiserzeit. 

Infolge der überaus günstigen Aufnahme, die der erste Band 
durch die Kritik gefunden, hat sich Déchelette zu einer 
nach Möglichkeit noch gesteigerten Gründlichkeit und 
Korrektheit seiner durchwegs genau belegten Ausführungen 
anspornen lassen. Mit einem Fleiß und einem Eifer, den 
nur der zu würdigen weiß, der den Zustand unserer Quellen 
kennt und mit ihren Schwierigkeiten selbst gerungen hat, 
leistet er wirklich alles, was billigerweise erwartet werden 
darf. Seine Kenntnis der Literatur, vermutlich lückenlos 
für die französische und fast ebenso für die fremden Sprachen, 
verschafft ihm einen weiten Vorsprung vor den meisten 
anderen Prähistorikern, die gewöhnlich nur Kenner einzelner 
Fundgebiete und der darauf bezüglichen Publikationen sind. 


Nun muß man aber diese Literatur kennen und wissen, wie 
wenig Vorarbeit für eine großzügige synthetische Darstellung 
damit geleistet ist. Andererseits genügt es, zu erinnern, daß 
von älteren zusammenfassenden Schilderungen der Bronzezeit 
nur Ernst Chantres Studien im Rhonebecken („Bronzezeit. 
Untersuchungen über den Ursprung der Metallurgie in Frank- 
reich“, 1875 f.) John Evans’ Buch über diese Periode in 
Großbritannien und Irland (1872) und namentlich G. u. A. de 
Mortillets „Musée préhistorique“ (1881) für Westeuropa in 
Betracht kommen, während gerade diese Zeit für Nordeuropa 
(und teilweise auch für den Süden: Italien, Griechenland) 
von skandinavischen und anderen Forschern unermüdlich 
studiert und ihre weitreichenden Beziehungen gründlich 
untersucht worden sind. Der große Systematiker Oskar 
Montelius, dessen Name hier vor allen zu nennen ist, 
kennt und berücksichtigt wohl auch mittel- und westeuropä- 
ische Funde und bedient sich ihrer zur Stütze seiner Lehren; 
aber er geht doch nur mehr gelegentlich und beiläufig auf jene 
ein und greift lieber, um der Wurzeln der Erscheinungen 
habhaft zu werden, nach dem Orient hinüber, ans östliche 
Mittelmeer oder nach Agypten und Susiana. 

Unter diesen Umständen ist D&chelettes Bronzezeitband, 
dessen 212 Abbildungen meist Figurengruppen von bis 10 und 
15 Einzelbildern sind und somit auch ein sehr reiches Illu- 
strationsmaterial bringen, eine mächtige Förderung für alle, 
welche die europäische Bronzezeit nicht nur aus Skan- 
dinavien und den klassischen Ländern Südeuropas kennen 
lernen wollen. Obgleich er vorzugsweise Frankreich berück- 
sichtigt und sich in den „Appendices“ (äußerst genauen Ver- 
zeichnissen der bronzezeitlichen Depotfunde und Gußformen, 
sowie der — allerdings erst zum nächsten Band gehörigen 
— eisernen Schwerter und Dolche der Hallstattperiode) ganz 
auf dieses Land beschränkt, geht seine Darstellung doch auf 
die älteste Metallzeit ganz Europas ein und greift sogar 
darüber hinaus. Die einzelnen Kapitel behandeln: 1. die 
ältesten geschichtlich bekannten Einwohner Galliens: Ligurer 
und Iberer; 2. die Bronzezeit im Orient und in Griechenland 
mit Ausblicken auf Kaukasien, Indien, den fernen Osten und 
Amerika; 3. die europäischen Bronzezeitgebiete, der Ursprung 
der Metallurgie und die chronologische Einteilung des ge- 
samten Bronzealters (in vier Stufen für Westeuropa); 4. die 
Siedelungen (Pfahlbauten, Terramaren, Landdörfer, Wall- 
bauten); 5. die Grabformen der vier Stufen, brandlose Be- 
stattung und Verbrennung der Leichen; 6. Depots und Guß- 
stätten, metallurgische Prozesse und Behelfe; 7. Angriffs- und 
Schutzwaffen; 8. Werkzeug und Gerät; 9. Kleidung und 
Schmuck; 10. Arbeiten aus Gold, Silber, Blei und Glas; 
11. die Töpferei; 12. den Handel; 13. die Religion; 14. die 
bildende Kunst. Man wird nicht erwarten, über die vielen 
Gegenstände durchaus oder auch nur vorwiegend neue An- 
sichten zu hören: genug, daß ein so umfassendes Bild dieser 
hauptsächlich in das zweite Jahrtausend vor Christus fallen- 
den Kulturperiode streng nach dem heutigen Stande unseres 
Wissens geboten wird. In der Verfolgung mancher Formen- 
reihen gerät der Verfasser wissentlich und nicht zum Schaden 
seiner Arbeit stark in die älteste Eisenzeit hinein. Die Grund- 
lagen der letzteren ruhen ja fast ganz in der Bronzezeit, 
und jene ist mehr eine bereicherte Entwickelungsstufe dieser, 
als eine völlig neue Kulturperiode der nordischen Länder. 

M. Hoernes- Wien. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Von einer archäologischen Expedition nach der 
Stätte von Sardes ist „Nature“ zufolze Professor Howard 
C. Butler von der Princeton -Universität heimgekehrt. Die 
Entdeckungen bestehen in einem Teile des Pflasters der ehe- 
maligen Stadt und dem Unterbau eines großen Tempels aus 
dem 4. vorchristlichen Jahrhundert. In der Nekropole auf 
dem der Stadt gegenüberliegenden Flußufer hat man Frag- 
mente von Bildhauerarbeit und viel Goldschmuck von hoher 
Schönheit gefunden. 





— Wie Kapitän Dast& vom Schiffe „Mangoro“ aus Durban 
der Pariser geographischen Gesellschaft mitteilt, ist der 
Kaiser-Wilhelms-Berg der Heardinsel ein Vulkan, 
der sich im März d. J. in voller Tätigkeit befand; Dasté 
sah Dampf am Berge hinunterziehen („G6ographie*, Oktober 
1910). Die Heardinsel liegt südlich von der Kerguelengruppe 
unter 53° s. Br. Daß der Kaiser-Wilhelms-Berg, die höchste 
Erhebung der Heardinsel, ein Vulkan sei, war bisher nicht 
bekannt. Als sie im Februar 1902 die deutsche Südpolar- 


expedition anlief, stellte sich der Berg als ein runder vereister 
Gipfel dar, der nach allen Seiten Gletscher über stufenförmig 
abfallende Felsen ins Meer entsandte. Indessen waren jung- 
vulkanische Bildungen (Lava) bei Rogers Head im Nordwesten 
der Insel vorhanden, man fand da sechs Kraterstellen mit 
jungen Schlacken. (v. Drygalski, Zum Kontinent des eisigen 
Südens, 8. 213/214.) 








— Auguste Chevalier hat der Pariser geographischen 
Gesellschaft aus Nioro (Ober-Dahomey) über den Fortgang 
seiner westafrikanischen Mission (vgl. zuletzt Globus, 
Bd. 97, 8.36) berichtet. Er war, nachdem er das Hinterland 
der Elfenbeinküste verlassen hatte, zunächst fünf Monate in 
Mittel-Dahomey, worauf er sich dem Norden der Kolonie 
zuwendete, der ihm wissenschaftlich viel interessanter erschien 
als das übrige Dahomey. Die Oberläufe der Flüsse, auch 
der größten, wie des Son und Uöme, sind mehrere Monate 
hindurch völlig ausgetrocknet, mit nur ein paar Lachen auf 
weiten Entfernungen. Die Flüsse erinnerten Chevalier mit 


Kleine Nachrichten. n 


323 





dieser Erscheinung lebhaft an die Minia von Dar-Fertit und 
vom oberen Schari (die Khors Schweinfurths). Aber auch 
in der Flora und Vegetation waren sehr große Analogien mit 
der jener Länder zu erkennen. Beide Vegetationsgebiete 
gehören zur Sudanzone, in Ober-Dahomey aber scheinen mehr 
vom Nil und Schari gekommene Arten vorhanden zu sein, 
als dem Niger-senegalesischen Sudan eigentümliche Arten. 
Einige Charakterpflanzen des oberen Schari, wie die zuerst 
von Schweinfurth im Bahr el-Ghasal entdeckte prächtige 
Cycadee Encephalartos septentrionalis, findet sich noch 
inselchenweise in Ober-Dahomey, reicht aber nicht gegen 
Westen nach Togo hinüber. Die am Schari die Zone zwi- 
schen dem 6. und 8. Parallel charakterisierenden Pflanzen 
erscheinen in Dahomey erst nördlich vom 9. oder selbst 
10. Breitengrad. Djugu, wo Chevalier sich einige Zeit auf- 
hielt, ist ein wichtiges Handelszentrum, ein Transitpunkt für 
die Haussakarawanen, die Kola aus Aschanti holen, um sie 
nach Kano, Sokoto, Bornu, ja sogar bis nach Wadai zu 
bringen. Der Karawanenhandel vollzieht sich noch genau 
so wie zu Barths Zeiten. Djugu passieren jährlich etwa 
15000 Lasten (zu 30 kg) Kolanüsse. Die Haussa bringen ge- 
gerbtes Leder, eingeborene Baumwollengewebe, Zwiebeln, 
Matten, Strohhüte usw. Einige Kilogramm Leinsamen aus 
den Haussaländern wurden auf dem Markte von Djugu als 
Arznei verkauft! — Durch Gurma und Mossi wollte sich 
Chevalier nach Bammako am Niger begeben, um von da die 
Heimreise anzutreten. („La Géographie“, Oktober 1910.) 





— Eine Untersuchung des Jangtsebogens und des 
in ihn von Norden her mündenden Jalongkiang auf ihre 
Schiffbarkeit haben im letzten Winter und Frühjahr Graf 
Charles de Polignac, Jacques Faure und der Fregatten- 
kapitän Audemard ausgeführt. Die Reise wurde von 
Schanghai aus angetreten, und Audemard hatte zunächst den 
Auftrag, das Kanonenboot „Doudart de Lagree“ über die 
Schnellen oberhalb Itschang nach Tschungking am mittleren 
Jangtse zu bringen. Das gelang in kürzerer Zeit, als die 
früheren Unternehmungen gleicher Art, und ohne jeden Un- 
fall. Mitte Dezember begaben sich dann die drei Reisenden 
von Tschungking unter einem Besuch der merkwürdigen 
Salzbrunnen von Tseliutsin nach Tschengtu, von wo sie den 
Minfluß aufwärts bis Wöntschwan verfolgten, und am 11. Fe- 
bruar verließen sie Tschengtu aufs neue, um an die Lösung 
ihrer Hauptaufgabe zu gehen. Sie fuhren auf dem Min bis 
Kiating und erreichten über Jatscheu auf der Kientschang- 
straße am 15. März Ningjuenfu am Nganning, einem östlichen 
Nebenfluß des Jalong. Von da kreuzten sie die nordsüdlich 
verlaufende Gebirgskette zwischen dem Nganning und Jalong, 
gewannen diesen Fluß am 27. März bei Telipu und begannen 
nun, ihn mit zwei Barken von 8m Länge hinaufzufahren. 
Aber schon vier Tage später wurden die Reisenden durch 
einen unüberwindlichen Katarakt aufgehalten, und sie fuhren 
ihn nun abwärts bis zur Einmündung in den Jangtse, der 
dort Petschuikiang heißt (10. April). Diese Fahrt gestaltete 
sich recht schwierig infolge der zahlreichen Stromschnellen 
und der Unerfahrenheit der Bootsleute, die diese Flußreise 
noch nicht gemacht hatten. Nachdem Fahrzeuge und Mann- 
schaft in Matschang gewechselt worden waren, trat man am 
14. April mit drei 10m langen Barken die Bergfahrt auf dem 
Jangtse an und kam bis zum 1. Mai bis zur Brücke von 
Tselikiang, die in gleicher Breite mit dem westlicheren Li- 
kiang liegt. Dort kehrte man um und erreichte in 1'/, Tagen 
wieder Matschang. Während sich dann Graf Polignac und 
Faure von Lungkai nach Jünnanhsien und weiter nach Tonkin 
begaben, setzte Audemard die Talfahrt auf dem Jangtse mit 
denselben Barken fort und kam einen Monat später in Suifu 
oberhalb Tschungking an. Daraus geht zwar, wie Graf Po- 
lignac sagt, noch nicht hervor, daß der Jangtse bis Suifu 
schiffbar ist, aber die Fahrt beweist wenigstens, daß es trotz 
der übereinstimmenden Versicherung der Chinesen dort kein 
unüberwindliches Hindernis gibt. Im ganzen sind zwischen 
der Brücke von Tselikiang bis Suifu 810 Schnellen von ver- 
schiedener Stärke mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 
5'/⁄ Knoten angetroffen worden. Die Reiseroute ist von 
Tschengtu ab vollständig aufgenommen worden. 





— Prähistorische Fälschungen sind allerdings nicht 
so häufig wie die jetzt so beliebten Fälschungen mittelalter- 
licher Gegenstände, welche die Verkaufsräume unserer Anti- 
quare in den Großstädten füllen, sie haben aber auch schon 
ihre Geschichte. Die ältere Generation erinnert sich noch 
an das mit Lachen verknüpfte Aufsehen, als Ludwig Linden- 
schmit 1876 (Arch. f. Anthropol. XI, 8. 173) die unter die 
Thayinger Höhlenfunde geratenen beiden Tierfiguren ver- 
öffentlichte, „den Schwermutsbären“ und den Fuchs „Aller- 
wege ein Duckmäuser“, welche der „prähistorische Künstler“ 


aus einem Spamerschen Kinderbuche kopiert hatte. Damit 
fiel Verdacht auf die gesamten Thayinger Funde, aber der 
Entdecker konnte nachweisen, daß nur jene beiden Tier- 
figuren unter die echten Stücke eingeschmuggelt waren. 

Jetzt liegt wieder ein neuer Fall vor, der namentlich in 
der Wiener Anthropologischen Gesellschaft (8itzungsbericht 
1910, 8.34) zu lebhaften Auseinandersetzungen geführt hat, 
zwischen Prof. Moser in Triest einerseits und den hervor- 
ragenden Wiener Anthropologen Szombathy, Hoernes, R. Much 
und anderen, welche die Fälschungen nachwiesen. Da essich 
hierbei auch teilweise um die im Globus, Bd. 97, 8. 375 von 
Prof. Moser wiederholt abgebildeten Fig. 7, 8 und 9 handelt 
(sie erschienen auch schon in Bd. 69, 8. 305), so halten wir 
es für geboten, auf die Ausführungen der genannten Herren 
einzugehen. Dabei bemerken wir, daß niemand Herrn Prof. 
Moser selbst als Fälscher betrachtet, nach wie vor sieht er 
in den Zeichnungen echte prähistorische Stücke, und er hat 
auch den Vorschlag, sie einer Prüfung von Sachverständigen 
zu unterbreiten, abgelehnt, da er selbst genug Fachmann sei, 
um die echten und unechten Stücke zu unterscheiden. Am 
strengsten urteilt Szombathy über die Stücke aus der Vlasca 
jama. Nach ihm ist eine ganze Reihe von Speerspitzen, 
Harpunen usw. aus alten Knochen in neuer Zeit gearbeitet, 
als ganz absichtliche Fälschungen erklärt er die auch im 
Globus zweimal wiedergegebenen Zeichnungen: das eckige 
Schwein, den Schildkrötenkopf, die Menschenfigur. Hier sei 
sträfliche Absicht der Täuschung unverkennbar. Der Wiener 
Prähistoriker Prof. M. Hoernes schloß sich dem entschieden 
an und bemerkte, daß schon früher der ältere Much und 
Montelius Zweifel an der Korrektheit der Ausgrabungen ge- 
äußert hätten. Auch Prof. R. Much pflichtete in allem Szom- 
bathy bei und erklärte, daß alle Kriterien von Fälschungen 
vorlägen, daß schon aus der Entfernung sich dieses Urteil 
aufdränge. 


— Über die Deutsch-englische Grenzexpedition 
in Kamerun, die zwischen Yola und den Cross-Schnellen 
vermessen hat, bringt Major G. F. A. Whitlock einen aus- 
führlichen Bericht im Oktoberheft 1910 des „Geographical 
Journal“, unter Beifügung einer Karte (1:2000000) und 
einiger Abbildungen, der in kartographischer und geographi- 
scher Beziehung sehr viel mehr enthält, als der hauptsächlich 
technische Bericht des deutschen Expeditionsführers Ober- 
leutnant v. Stephani im „Deutschen Kolonialblatt* vom 
15. Dezember 1909 (mitgeteilt im Globus, 97. Band, 8. 51). 
Es ist das um so dankenswerter, da gerade das Gebiet des 
Grenzstreifens wenig erforscht und nur an einzelnen Stellen 
von Strümpell, Flegel, Zintgraff und Moseley quer durch- 
zogen worden ist. Whitlocks kartographische Bruchstücke 
ergeben freilich kein vollständiges Kartenbild, aber sie dienen 
doch wesentlich zur Ergänzung und wichtigen Korrektur des 
bereits publizierten Materials, wie nicht nur von der soeben 
vorerstin zwei Blättern erschienenen und vom Reichskolonial- 
amt herausgegebenen großen Kamerunkarte Max Moisels zu er- 
warten, sondern auch aus dem „Deutschen Kolonialatlas“® 
von 1910 (vgl. den Lauf des Taraba-Flusses) zu ersehen 
ist. Es sei mir gestattet, das im einzelnen durch Vergleich 
mit den letzten deutschen kartographischen Darstellungen nach- 
zuweisen. Oberleutnant Strümpells Kartenskizze (Kolonialbl. 
1907, Nr.23) deckt sich in bezug auf den Mao Bulo und Ine 
und den Gebirgsstock südwestlich von Farang nahezu voll- 
kommen mit der englischen Aufnahme, nur ist diese detail- 
lierter. Dagegen zeigt sich, daß es nicht der Taraba ist, 
welcher in ost-westlicher Richtung gegen Beli fließt, wie auf 
Moisels Karte vom mittleren Teil von Kamerun („Mitteil. 
aus d. D. Schutzgebieten“ 1903), wenn auch nur punktiert, 
eingezeichnet ist, sondern der Kam, und daß nicht der Kam, 
sondern der Taraba von Süden kommt. Auch liegt die 
Mündung der beiden Flüsse nicht bei Beli, sondern etwa 
60km weiter nordwestlich davon. Auf Hauptmann Glaunings 
„Provisorischer* Karte von Nordwest-Kamerun (Mitt. aus d. 
D. Schutzgebieten“ 1907). hat der Gamana einen weit mehr 
nach Norden gewundenen Lauf als auf Whitlocks Karte, 
auch liegt der Ort Toso nördlich vom 7. Grad, statt südlich 
davon. Wichtiger aber ist hier der Unterschied in betreff 
des Katsena und seiner drei südlichen Nebenflüsse. Der 
Katsena fließt ein gutes Stück weiter südlich vom 7. Grad, 
und die drei Nebenflüsse, näher nach 9° 30’ östl. L. gerückt, 
strömen ganz parallel zueinander in gerader süd-nördlicher 
Richtung. Endlich erstreckt sich die Wasserscheide des 
Katsena und Cross über 9° 30’ östl. L., und zwar einen halben 
Grad nach Osten weiter hinaus und reicht hier hinab bis 
6° 20’ südl. Br. 

Aus Major Whitlocks Beobachtungen und Messungen 
von geographischer Bedeutung sei folgendes hervorgehoben. 
Der Ausgangspunkt seiner Expedition, Bayare, südlich von 


324 x 


Yola, liegt in einer Ebene, 420m ü. d. M. Von hier aus 
nach Südwesten geht die Grenzlinie durch ein schroffes, zer- 
klüftetes Gebirgsland, welches in der Vogelspitze, nahe dem 
Ursprung des Kam, eine Höhe von 2040m, auf der Wasser- 
scheide des Bulo und Kam und dann auf jener zwischen 
dem Katsena und Crossfluß je eine solche von 1520m er- 
reicht. Der fortlaufende Gebirgskamm wird zweimal be- 
deutend unterbrochen; erstens durch eine 1290 qkm große 
Ebene südlich des Zusammenflusses des Kam und Taraba 
und zweitens durch ein auf 518qkm ausgedehntes Plateau 
südwestlich von Beli und dem Gazabu (dem Abaschirschir 
Glaunings). Die ganze Grenzgegend, in den Tälern sowohl, 
wie auch bis zu den Gipfeln empor, ist mit dichtem Strauch- 
werk bedeckt, in manchen Partien nahezu unpassierbar und 
äußerst dürftig bevölkert. Olpalmenbestände befinden sich 
nur zwischen Toso und Takum und hochstämmige Wald- 
stücke mit massenhaften Gummilianen allein auf der Süd- 
seite der Cross-Katsena-Wasserscheide. Reichlicheren Kulturen 
begegnet man auf beiden Seiten des Katsena und in dem 
dichtbevölkerten Distrikt zwischen Bascho und den Aus- 
läufern des Gebirges nach Süden (in dem Winkel zwischen 
6° 30’ nördl. Br. und 7° 30’ östl. L.) Am gangbarsten sind 
im südlichen Teil von Nordwest-Kamerun zwei Wege, die 
nach Takum führen. Der eine geht von Toso, der 
andere von Ossidinge aus, und zwar letzterer den Oji auf- 
wärts bis Akongo und zuletzt durch das Tal von Sonkwala 
und über Kisimbila. B. F. 


— Den Inhalt eines Fetischtopfes von der Gold- 
küste bespricht R. Zeller im Jahresber. über d. Ethnogr. 
Sammig. Bern f. 1909. Der Topf mit dem Inhalt wurde von 
dem Missionar Jost der Berner Sammlung geschenkt; er ist 
aus rötlichgelbem Hartholz roh geschnitzt, im Gegensatz zu 
den sonst dort verbreiteten Fetischgefäßen, die alte euro- 
päische Messingpfannen sind. Diese Fetischtöpfe sind schwer 
zu erwerben, und wenn das doch gelingt, so unterläßt man 
es im Museum lieber, den Inhalt zu untersuchen, weil er 
nachher kaum wieder richtig angeordnet werden kann. Bei 
dem Berner Topf war das indessen möglich. Er ist napf- 
förmig, oben 13cm im Durchmesser, 8cm hoch. Jost hatte 
darauf aufmerksam gemacht, daß der Topf 11 Kinderknochen 
enthalte, und bei oberflächlicher Betrachtung erschien das 
auch so. Groß aber war dann das Erstaunen, als sich diese 
Knöchelchen als harmlose Holzstäbehen erwiesen, an deren 
einem Ende eine Verdickung aus rötlichweißer Masse einen 
Gelenkkopf vortäuschte. Kinderknochen müssen ja in einem 
solchen Topf als etwas Absonderliches erscheinen und in dem 
Neger den Glauben an den Zauber und die Macht eines 
solchen Fetisches erwecken. Ferner wurden gefunden: Ein 
Stäbchen mit einem Haken ebenfalls aus Holz und mit un- 
bekannter Bedeutung; zwei mit weißer Masse beschmierte 
getrocknete Früchte mit den klappernden Kernen; verschiedene 
Dinge europäischer Herkunft, wie zwei eiserne Schließkolben, 
zwei eiserne Stäbchen von dem Stützstäbehen eines europäischen 
Regenschirmes abgezwickt, eine alte am Rohr abgebrochene 
Tabakspfeife aus ehemals weißem Ton ; dann zwei einheimische 
Bruchstücke von Halsketten, wie sie heute nicht mehr an- 
gefertigt werden (aus ringförmigen Perlen aus Schnecken- 
schalen); ein Reisstrohband, in das ein Stückchen rostigen 
Eisenblechs und zwei aus einer Ancillariaschnecke geschliffene 
Ringe eingeflochten sind; ein in der Mitte geknüpfter Streifen 
braunen, schwarz bedruckten Baumwollenzeuges; endlich 
eine steinerne Beilklinge. Solche werden dort nicht selten 
auf den AÄckern gefunden, es sind Zeugen einer primi- 
tiveren Kultur, als sie dort die heutige ist. Der Neger 
hat für sie keine Erklärung, sie werden also mit den Geistern 
in Verbindung gebracht und passen mithin recht gut in den 
Fetischtopf. Als Füllmaterial war noch ein rötliches Faser- 
gewirr vorhanden. Zeller bemerkt noch sehr richtig: Wenn 
auch der Inhalt des Topfes uns ein Lächeln abnötige, so 
dürften wir nicht vergessen, wie viele Reste ähnlichen Aber- 
glaubens auch bei uns noch fortbestünden, und daß, wenn 
man einmal an Zaubermittel glaube, es ziemlich gleichgültig 
sei, an was der Zauber gebunden werde. 


— Über die Eisenbahnen Colombias finden sich 
in einem neueren englischen Konsularbericht (von V. Huckin) 
Angaben. Die älteste Eisenbahn innerhalb der Grenzen des 
heutigen Colombia ist die seit 1867 bestehende Verbindung 
von Barranquilla mit dem Meere. Sie hat dadurch, daß sie 
dem Handel der atlantischen Küste jenen Ort zugänglich 
machte, eine bedeutende Rolle gespielt; diese wird aber jetzt 
in Frage gestellt durch den 1909 vom Kongreß gebilligten 


Kleine Nachrichten. 


Plan einer Durchstechung der gefährlichen Barre an der 
Mündung des Rio Magdalena, wodurch aus dem Flußhafen 
Barranquilla ein Seehafen gemacht würde. 1874 wurde 
die Antioquiabahn vollendet. Die Caucalinie, die bereits 
1878 begonnen wurde, war bis Ende 1908 erst 75km weit 
gediehen, macht aber seitdem schnelle Fortschritte. 1879 
wurde mit der Cucutabahn begonnen; der Bau hat dann 
geruht, doch wird ihn nun wahrscheinlich die Wiedereröffnung 
des Rio Zulia beschleunigen. Aus dem Jahre 1881 datiert 
der Beginn des Baues der Girardot-, Dorada-, Nord- und Sabana- 
linien. Von 1892 bis 1894 wurde die Cartagena-Eisenbahn 
gebaut, 1905 bis 1907 die Doradafortsetzung. Es ist dann 
auch neuerdings der Anfang zum Bau einer Linie zur Ver- 
bindung von Bucaramanga mit dem Rio Magdalena gemacht 
worden. Die jetzt im Betrieb befindlichen 12 Eisenbahn- 
linien Colombias sind zusammen rund 900 km lang. 


— Die kristallinische Zone der Kärnter Alpen 
ehört nach P. Egenter: „Die Marmorlagerstätten Kärntens“ 
Münch. Dissert. von 1909) einer ursprünglich sedimentären 
Formation an und verdankt ihre Umwandlung metamorphi- 
schen Prozessen. Die kristallinische Beschaffenheit der Ge- 
steine dieser Zone ist um so deutlicher hervortretend, je 
näher, sie am Zentralgranit liegen. Mit der Entfernung 
davon gehen hochkristallinische Glimmerschiefer in Phyllite 
über und aus dem in der Zone des ersteren grobkristallini- 
schen Marmor werden immer feiner kristallinische Bildungen. 
Scheinbare Ausnahmen von dieser Regel, namentlich das 
Auftreten dichter Varietäten in der Zone der injizierten 
Schiefer, lassen sich als Ergebnisse der Zermalmung durch 
Gebirgsdruck erkennen. In der nächsten Nachbarschaft der 
granitischen Massen sind Schiefer wie Marmor von verschie- 
denartigen Gängen durchsetzt, welche nur als Ausläufer der 
Intrusion des Zentralgranits angesehen werden können. Es 
haben gleichzeitig in demselben sich typische Mineralien der 
pneumatolytischen Agenzien entwickelt, wie der Turmalin und 
Apatit, die dem ursprünglichen Gesteinsbestande fremd sind. 
Auch in den am wenigsten kristallinisch entwickelten Ge- 
steinen fehlt eine Imprägnation mit Turmalin nicht. Die 
Struktur der durch Kontaktmetamorphose umkristallisierten 
Kalksteine zeigt bald die innige Verzahnung der einzelnen 
Körner, bald ausgesprochene Pflasterstruktur, ohne daßirgend 
ein Zusammenhang dieser entgegengesetzten Formen mit den 
Prozessen der Umwandlung selbst konstatiert werden könnte. 
Die hin und wieder vorhandene Kataklasstruktur dagegen 
weist deutlich auf Bewegungen in dem schon umkristalli- 
sierten Gestein hin, als die Temperatur nicht mehr hoch 
genug war, um eine plastische Verschiebung der einzelnen 
Körner zu gestatten. Die den unangenehmen Geruch des 
Stinkmarmors hervorbringende Substanz besteht zum Teil 
aus nachweisbarem Schwefelwasserstoff. Daneben ist aber 
höchstwahrscheinlich eine noch stärker übelriechende orga- 
nische Substanz vorhanden, welche einer Gruppe angehören 
muß, die eine große Widerstandsfähigkeit gegen hohe Tem- 
peraturen besitzt. Selbst Marmore der höchstkristallinischen 
Zone, die einst stark erhitzt waren, enthalten diese in unver- 
ändertem Zustande. Erst die direkte Berührung mit den 
späteren Nachschüben der granitischen Intrusion hat in 
schmalen Zonen ihre Veränderung bewirkt und wahrschein- 
lich die eigenartigen zarten Farben auf ihre Kosten entstehen 
lassen, welche auf den direkten Kontakt mit diesen Gängen 
beschränkt sind. 


— Flysch und Erdöl lautet der Titel einer Arbeit von 
R. Zuber (Kosmos, 35. Bd.), worin er darauf hinweist, daß 
alle erdölführenden Formationen fast ausschließlich und un- 
abhängig vom geologischen Alter in der Flyschfazies aus- 
gebildet sind, was den Schluß über den genetischen Zusammen- 
hang zwischen dieser Fazies und dem Erdölbildungsprozesse 
berechtigt. Da nun dort, wo flyschartige Sedimente sich 
bilden, fast keine tierische oder fettartige organische Substanz 
in diese Sedimente hineinkommt, dagegen fast nur vegetabi- 
lischer Detritus (Zellulose) in bedeutenderem Maße darin zur 
Ablagerung gelangt, so erscheint es gerechtfertigt, die Rad- 
ziszewskische Hypothese, welche eine eigentümliche Gärung 
der Zellulose als Grund der Erdölbildung annimmt, zum 
Ausgangspunkte einer befriedigenden Erklärung des Olbil- 
dungsprozesses sowohl vom chemischen wie vom geologischen 
Standpunkte aus zu nehmen, was natürlich nicht ausschließt, 
daß lokal auch andere Faktoren und Prozesse mitwirken 
können Verfasser verspricht eine besondere ausführliche 
Arbeit über diesen Punkt, der bekanntlich so oft schon zur 
Diskussion stand. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


326 


Schoen: Alte Sitten in der Bretagne. 





Hauptgedanken wir in mehreren Liedern der bardi- 
schen Sänger wiederfinden: 


Marzin, Marzin! zurücke kehr! 
Denn Zauberer ist nur Gott der Herr! 


Marzin, Marzin! distroet endrou! 
Ne deuz divinour nemed Dou’)! 


Ein anderes Fragment, dessen Heldin eine Wahr- 
sagerin ist, wirkt noch bedeutungsvoller. Loïza (Heloïse) 
hat mit ihrer Zauberkraft irdische Schätze in Fülle er- 
worben. In ihrem wahnsinnigen Hochmut hat sie eben 
die furchtbaren Worte ausgesprochen: „Wenn ich» noch 
ein Jahr auf Erden bliebe, so würde ich das Weltall 
umwälzen“. Da wird eine himmlische Stimme ver- 
nommen: 

„Mädchen, Mädchen, nimm Dich in acht! 
Denke an Deine unsterbliche Seele; 


Wenn Dir diese Welt gehört, 
So gehört die andere Gott allein!“ 


So kommt es in den ältesten Legenden oft vor, daß der 
Himmel selbst den christlichen Sängern und den Heiligen 
gegen die heidnischen Mächte zu Hilfe kommt *). 

Die alten Druidensteine, Menhirs und Dolmen, sowie 
die heiligen Quellen, spielen noch heutzutage eine wichtige 
Rolle in den Anschauungen der Bauern. Zahlreiche 
Mädchen, die bald heiraten möchten, bringen dem nächsten 
Druidenstein eine kleine Gabe (farbige Bänder, seidene 
Stoffe u. dgl.); andere werfen Stecknadeln in eine heilige 
Quelle. Eheleute, die bald Kinder und besonders Knaben 
haben möchten, unternehmen eine Pilgerfahrt nach einem 
berühmten Dolmen und reiben sich an die Oberfläche des 
Steines 5). 

Ebenso ist der alte Glaube an Zwerge und Feen nicht 
völlig verschwunden. Die ersten sind Kinder der Feen, 
nur sind sie häßlicher, roher, dämonischer. Wie in den 
nordischen Sagen besitzen sie große Schätze, aber sie 
gelten für berüchtigte Falschmünzer. Die Feen heißen 
Korriganen, von korr, klein, und gwen oder gann, 
Geist. Sie gelten für die Geister großer Fürstinnen oder 
Priesterinnen, die Gottes Fluch getroffen, weil sie sich 
nicht zum Christentum bekehren wollten. Ihr Aufent- 
haltsort ist gewöhnlich eine Grotte oder ein Druidenstein, 
besonders in der Nähe von Quellen. Dort kämmen sie ihr 
blondes Haar vor Sonnenaufgang. 


Unweit der Quelle saß die Fei; 
Ihr blondes Haar sie kämmte frei. 


Mit gold’nem Kamm sie kämmt es schön ... 


lesen wir in einem Volkslied der westlichen Bretagne. 
Doch wehe dem Mann, der sie stört. Er ist dem Tode 
geweiht, wenn er sie nicht heiratet. So ruft in einer 
alten Ballade die Korrigane dem ungerufenen Gast 
wütend zu: 

Wie hast die große Frechheit Du, 

Daß Du die Quell’ mir trübst im Nu! 


Willst Du nicht augenblicks midh frein, 
Am dritten Tag wirst tot Du sein®)! 


Und tatsächlich hört man am dritten Tage die Glocken 
zum Begräbnis des jungen Mannes läuten. 





®) Dieselbe Stimme ertönt mehrmals in der gallischen 
Poesie. Namen Diou, ned euz devin oder Namyn Duw 
nid oes devin (Mskpt. von Herghest), außer Gott gibt 
es keinen Wahrsager, heißt es in zwei Liedern von 
Liwarch Henn. 

*) Barzaz Breiz, Loiza, von Hersart de la Ville- 
marqué, 7. Auflage, Paris 1867. 

5) Daher der Name solcher Steine: pierre &criante (d.h. 
Frottiersteine). 

°) Aus der alten Ballade Junker Nann und die Fee 
(eigene, ungedruckte Übersetzung). 


IH. 


Besonders in den lyrischen Gedichten (soniou) 
hat sich die keltische Volksseele auf herrliche Weise 
kundgegeben. Liebe und Freundschaft, Vaterlandsliebe 
und religiöser Glaube haben sich in den alten Weisen 
des Volkes ausgedrückt. Die Frau spielt in der Volks- 
poesie der Bretagne eine Hauptrolle. „Sie thront in unsern 
Liedern“, ruft Prof. Le Braz aus, „sie thront im Herzen 
des Kelten, wie eine mystische Herrscherin! Ja, gewiß, 
die Bewohner der Bretagne sind Idealisten“ 7). 

Die keltische Seele hat für die Geliebte den hübschen 
Ausdruck „ma douce“, meine Süße, erfunden, der sonst 
in der französischen Dichtung kaum vorkommt. 


Schön ist meine Süße. 
Meine Süße ist schön wie der Mondschein, 
Der bei Nacht unsre Erde erhellt. 
Meine Süße ist schön wie ein Sternlein 
Und erleuchtet mir meine Welt. 
Meine Süße ist schön wie die Sonne 
Und strahlt meinem Pfad für und für. 


Meine Süße ist mir eine Wonne, 
Und nichts möcht ich haben dafür"). 


Um seine „Süße“ zu besuchen oder sogar um sie von 
weitem zu sehen, wird der junge Hirte drei, vier Paar 
Holzschuhe abnutzen. Glücklich ist er, wenn es ihm 
vergönnt ist, sie auf den Bergen oder auf der Heide 
singen zu hören, auch ohne zu wissen, ob seine Liebe 
jemals belohnt sein wird. 


Der junge Hirte. 
Holzschuh’ hab’ ich verloren, die Füße riß ich wund, 
Der Süßen nachzufolgen durch Wald und Wiesengrund; 
Nicht Nebel, nicht der Regen, auch starres Eis nicht kann 
Die heiße Glut ‘der Liebe hemmen in ihrer Bahn). 


Wie poetisch aber, wenn des Jünglings Leidenschaft 
Gegenliebe erfährt: 


Der arme Scholar. 
Ich hab’ verbraucht an drei Paar Schuh’, 
Um Dich zu sehen, mein Herz; 
Nun sage mir aber, und schaff’ mir Ruh’, 
Was sagt Dir Dein kleines Herz? 


Das Mädchen. 


Mein kleines Herze leise sagt: 
Ich will den, der mich gefragt '°). 


Das Schönste, was der junge Bauer kennt, könnte kaum 
einen schwachen Begriff von der Schönheit des geliebten 
Mädchens geben: 


Ihr Aug’, so hell und rein ist das, 
Wie klares Wasser blinkt im Glas; 
Die Zähne sind so weiß und rein 
Und glänzender als Perlen fein. 


Die Händ’ und Wangen weißer sind 

Als Milch aus schwarzem Topfe rinnt. 

O könntet Ihr, mein Freund, sie schaun, 
Euch reizte sie zur Liebe traun "!)! 


Manche alte Volkslieder aus der Bretagne sind heutzutage 
so frisch und unveraltet als vor Jahrhunderten, am 
Tage, wo sie ein junger Hirte oder ein armer „cloaröc“ 
(Student) dichtete: 


7) A.Le Braz, Einleitung zu Luzels Soniou Breiz- 
Izel, Paris 1890, 8. XXXV. 

®) Altes, Volkslied aus der westlichen Bretagne. Un- 
gedruckte Übersetzung von Fräulein Lina Friedländer 
und H. Schoen. 
o} Eigene ungedruckte Übersetzung. 
10) Ungedruckte Ubersetzung von Fräulein Lina Fried- 
länder, 

11) Übersetzung von Prof. Keller. 


Schoen: Alte Sitten in der Bretagne. 


327 





Womit mein süßes Liebchen ich wohl vergleichen könnt’? 
Die schönste Rose, die man Marienrose nennt, 
Der Mädchen Perl, die Lilie im Blumenflor sie ist, 
Die früh dem Licht sich öffnet und abends sich verschließt. !*) 
Weder Gold noch Silber können in Betracht kommen, 
wenn es sich um die Geliebte handelt. 

Mehr gilt mir die Liebe, die süß und weich, 

Als Reichtum, der nur eine Last. 


Wer heute arm, war noch gestern reich, 
Der Reichtum macht nimmer Rast. 


Reichtum vergeht wie die Frucht am Baum, 
Die Liebe grünet immerdar; 

Sogar ein flücht’ger Liebestraum 

Gilt mir weit mehr als Gold fürwahr ë). 

Seltener werden die lyrischen Verse in den Mund des 
Mädchens gelegt. Geschieht dies aber, so durchzieht oft 
ein melancholischer Zug die leidenschaftlichsten Strophen, 
denn die armorikanische Seele hat fast immer etwas 
Trauriges an sich. 


Ach, die Bretagner faßt so schnell doch Kummer an! 


So lesen wir in einem hochpoetischen Lied, das von zwei 
Schwestern aus der niederen Bretagne verfaßt worden 
ist und wie ein herrliches Seitenstück zu dem Lied des 
armen „cloarëc“ klingt: 

O wär’ ein Weißdornblümehen ich! 

Mit zarter Hand er pflückte mich. 


O wär’ ein Weißdornblümchen ich! 
Dann an die Brust er steckte mich. 

Es ist, als ob die düstere Melancholie der Gegend tief 
in die Seele der Bewohner eingedrungen wäre. Deshalb 
fällt die Trennung und die Entfernung vom Vaterlande 
dem Bretagner so schwer. Manche Söhne der Halbinsel 
wurden auf Schiffen von Heimweh so befallen, daß man 
sie schon bei La Rochelle oder bei Bordeaux auf dem 
Strand zurücklassen mußte. 

Warum kann fliegen nicht, nicht fliegen ich wie ihr! 
Weit übers Meer ich flög’ ins Heimatland von hier! 
singt ein Priester, Abbé Neurri, den die Verweigerung 
des Schwurs auf die bürgerliche Verfassung der Geistlich- 
keit in die Ferne verbannen ließ, und ein vertriebener 

Dichter ruft aus dem Exil der Geliebten zu: 
Wie wenn ein säugend Lamm der Mutter Brust entbehrt, 
So stöhn’ ich immerfort, seit unsre Trennung währt, 


Und immer muß mein Blick dorthin gerichtet sein, 
Wo Du geblieben bist, o süße Liebe mein '*). 


m. 


Wie die ältesten Volkslieder und Sagen, stammen 
manche Volksfeste aus der Zeit der alten Druiden. So 
das Junifest. 

Um ein altes keltisches Steindenkmal versammelt sich 
die Jugend an einem Samstagnachmittag. Die Jüng- 
linge tragen an ihren Hüten grüne Ähren, die Mädchen 
haben auf dem Busen himmelblaue Leinblüten, die sie 
bei ihrer Ankunft auf einen großen Druidenstein nieder- 
legen. Diese Blumen sollen sich so lange frisch erhalten, 
als sich die Liebenden treu bleiben. Nach zahlreichen 
symbolischen und geheimnisvollen Zeremonien wird 
um den Druidenstein getanzt und das Junifestlied 
gesungen: 

Da kommt der Juni wieder, bald wird es Sommer sein, 
Da überall mit Knaben lustwandeln Mägdelein. 
Nach Sonnenuntergang ziehen dann Jünglinge und 
Mädchen durch Wald und Wiesen heim, indem sie 


12) Übersetzung von Prof. Keller. z 

13) Alte keltische Sprichwörter. (Ungedruckte Übersetzung 
von Fränlein Friedländer.) 

4) Übersetzung von Prof. Keller. 


sich, nach altem Gebrauch, bei den Fingerspitzen halten 
und die letzten Strophen des Juniliedes singen: 


Komm mit, Du süßes Liebchen, lustwandelnd sei belauscht 
Von uns des Windes Wehen, der durch die Wipfel rauscht ... 


Ein jeder singt sein Liedchen, so wie er ist begabt, 
Das freuet unsre Seele, und unser Herz es labt. 


IV. 


In der Bretagne werden die meisten Herden von 
Kindern geweidet. Das erklärt vielleicht, warum auch 
jetzt noch der Schulzwang in manchen Kreisen so schwer 
durchzuführen ist. 

Diese Jungen haben ihr eigenes Fest, das sogenannte 
Hirtenfest (föte des pätres), das gegen Ende des 
'Herbstes fällt. 

Man führt die Knaben und Mädchen von acht bis 
dreizehn Jahren auf die schönste Weide des Kirchspiels. 
Wenn sie nach Herzenslust gespielt und getanzt haben, 
erhalten sie Kuchen, Obst und andere Lieblingsspeisen, 
und darauf wird ihnen auf der Weide ein reichliches 
Abendbrot aufgetragen. Am Ende des Mahles steht ein 
Greis auf, um den Kindern eine Art Katechismus in 
Versen vorzutragen. Das ausführliche Gedicht ist in der 
Bretagne sehr beliebt; Jahrhunderte haben daran ge- 
arbeitet, und manche Strophen werden den kleinen 
Kindern eingeübt. Leider sind sie zu lang, um hier an- 
geführt zu werden. 

Darauf tanzen Knaben und Mädchen, 
Augen der Eltern, bis nach Sonnenuntergang. 
Hinziehen singen die ältesten Kinder das 
Hirtenlied: 

Sonntag morgens, als ich aufstand und hinaus die Kühe trieb, 
Hört ich — gleich die Stimme kannt’ ich — singen schön 


mein trautes Lieb. 
Ich vernahm den Sang der Süßen, der vom Berge klang 


unter den 
Beim 
geliebte 


so hell. 
Und sogleich zu ihrem Preise macht’ ich dieses Liedchen 
schnell. 
usw. 
V. 


Wenn ein reicher Bauer den Boden seiner Tenne 
nicht mehr eben genug findet, so läßt er ein Fest der 
neuen Tenne verkündigen. Am Abend vor dem fest- 
gesetzten Tage fahren mehrere Karren mit Tonerde und 
Wasserfässern ganz in der Stille nach dem betreffen- 
den Hofe und suchen hinter den Gebüschen eine solche 
Stellung zu gewinnen, daß sie Schlag Mitternacht auf die 
Tenne loseilen und die farbigen Bänder gewinnen können, 
die den zuerst angekommenen als Preis erteilt werden. Bei 
Sonnenaufgang werfen dann die Landleute, jeder nach 
der Reihe, die Erde aus ihren Karren auf die Tenne; so- 
dann wird Wasser darauf gegossen, und auf diese 
Mischung läßt man Pferde mit farbigen Bändern in der 
Mähne herumstampfen. 

Acht Tage später, wenn die Tenne trocken ist, tanzt 
man darauf, um sie völlig zu ebnen. Diesen Tanz er- 
öffnen die Mädchen zuweilen mit einem kunstreichen 
Reigen. Gegen Abend findet ein großes Wettringen statt, 
ein Sport, in dem sich die Bewohner der Bretagne von 
jeher ausgezeichnet haben. 

Zuerst singen Knaben von zwölf bis fünfzehn Jahren; 
darauf lassen sich Jünglinge hören; endlich stimmen die 
Männer ein. 

Wer ringen will, ergreift einen Preis, trägt ihn im 
Kreise herum, und wenn ihn niemand streitig macht, 
behält er ihn. Zeigt sich jemand, so geben sich beide 
Ringer die Hand zum Zeichen der Freundschaft; sie 
sprechen leise miteinander und ergreifen sich gegenseitig. 
Nur wenn einer den anderen auf den Rücken geworfen hat, 


42* 


328 


Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 





wird er als Sieger betrachtet. Dann nimmt einer der 
Preisrichter den Sieger in die Arme und zeigt ihn dem 
Volk, das Beifall ruft. ‘Nach dem Ringen singt und tanzt 
man wieder bis spät in die Nacht. 


Lied am Tennenfest. 


All’ waren schon beim Feste dort, 
Zum Tennenfest auch ging ich fort! 


Mir hüpft das Herz vor Lust empor, 
Sobald die Spielleut’ hört’ mein Ohr. 


Ein Mägdlein schön ich tanzen sah, 
So munter wie ein Täubchen da. 


Und als wir tanzten, drückt’ ich leis’ 
Die liebe Hand so klein und weiß; 


Und sie, sie lächelte so süß, 
Wie’s Engel tun im Paradies. 


Und ich, ich lächelte ihr zu; 
„Nur eine lieb’ ich, das bist Du“ $)! 


ae (Schluß folgt.) 
1$) Etwas veränderte Übersetzung von Keller. 








Streifzüge in den Rocky Mountains'). 


Von Charles L. Henning. Denver. 
V. Der Clear Creek-Distrikt: Golden — Clear Creek Canyon — Black Hawk und Central City — Idaho 
Springs — Georgetown — Silver Plume — Mount McClellan. 
Mit 12 Abbildungen. 


I 


Das Denver-Becken (Denver Basin) oder, richtiger, die 
Denver-Ebene, wird in ihrer westlichen Begrenzung von 
den Foothills abgeschlossen, die ihrerseits das Verbindungs- 
glied zwischen diesen und dem Hochgebirge der Colorado 
Front Range darstellen. An den Foathills, eine Seehöhe 
von 1890 m erreichend, dehnt sich die Denver-Ebene bis 
zum Mississippi aus, dort nur noch 100 bis 150 m See- 
höhe aufweisend, so daß sich vom 105. bis 90. Längen- 
grad ein Gefälle von über 1700 m ergibt. In ihrem öst- 
lichen Teil nur wenig besiedelt und angebaut, ist die 
Ebene im Westen, besonders nördlich und südlich von 
Denver, ein reichen Ertrag lieferndes Kulturland, das 
besonders in den letzten Jahren, seitdem die hier nur 
spärlich fallenden Niederschläge ein ausgedehntes künst- 
liches Bewässerungssystem nötig machten, dessen Kosten 
von mehreren Millionen Dollar hauptsächlich aus öst- 
lichem Kapital bestritten wurden, zu einem Eldorado für 
Farmer geworden ist. Die Bedingungen für die Frucht- 
barkeit des Landes sind in der’ Zusammensetzung des 
Bodens, bzw. in seiner geologischen Beschaffenheit 
gegeben. 

Die der Stadt Denver und Umgebung unmittelbar 
unterliegenden Formationen bilden Süßwasserablagerungen 
der Kreidezeit, die sogenannten Denver Beds, deren Kon- 
glomerate und Sandsteine ein besonderes Charakteristikum 
der ganzen Gegend ausmachen, und denen fast ausschließ- 
lich vulkanische Gesteine mit verschiedenen Varietäten 
von Andesit unterliegen. Unter den „Denver Beds“ folgen 
die „Aropahoe Beds“, ein von vulkanischem Material 
freies Konglomerat, aber Gerölle sedimentärer Gesteine 
enthaltend, die in bezug auf ihr geologisches Alter von 
der Laramie-Fazies bis zu den roten Sandsteinen der 
Trias reichen. Unter den „Arapahoe Beds“ endlich 
liegen die Laramie-Kreidetone und kohleführende Sand- 
steine. Diskordanzen kommen zwischen den Laramie 
und Arapahoe und zwischen den letzteren und den 
Denver Beds vor. 

Die Denver-Ebene hat ihre gegenwärtige Gestalt nach 
dem Zurücktreten des Kreidemeeres, besonders in der 
folgenden Tertiär- und Diluvialzeit erhalten, wie sich in 
jenen großen erdgeschichtlichen Zeitabschnitten denn 
auch die Topographie der gesamten Foothill-Region end- 
gültig gebildet hat. Vornehmlich haben um diese Zeit 
auch die zahlreichen, in west-östlicher Richtung streichen- 


!) Vgl. Globus, Bd. 92, Nr. 2, 3, 7; Bd.98, Nr.20; Bd. 96, 
Nr. 22. 


den Canyons sich gebildet, die für die Foothill-Region 
so überaus charakteristisch sind und in die gewisse Ein- 
tönigkeit des landschaftlichen Bildes vielfache Abwechs- 
lung bringen. Wäre es uns vergönnt, aus der Vogel- 
perspektive das Gebiet der Foothills zu überschauen, 
dann würden wir gewahr werden, wie vom Longs Peak 
im Norden bis zum Pikes Peak im Süden tiefe, fast 
sämtlich einander parallel laufende, von West nach Ost 
streichende tiefe Quertäler das Gebirge durchschneiden 
— eben jene vorerwähnten Canyons — und wie den 
zahlreichen von der Front Range herabkommenden Creeks 
durch sie ein Ausweg nach der Ebene hin gewiesen ist. 
Jeder der vielen Canyons bildet ein echtes Durchbruchs- 
tal, hat seine besonderen Eigentümlichkeiten und weicht 
in vieler Beziehung hinsichtlich seiner geologischen 
Beschaffenheit von seinem Nachbar im Norden oder 
Süden ab. 

Gegenstand dieser Schilderung soll der Clear Creek 
Canyon und dessen Fortsetzung in die Hochebene von 
Idaho Springs, Georgetown und Silver Plume sein, sowie 
sein Seitental mit den Minenorten Black Hawk, Central 
City und Russell. Während einer Reise, die ich in der 
zweiten Hälfte des Juni dieses Jahres dahin unternahm, 
durchwanderte ich fast das ganze Gebiet zu Fuß, da es 
mir vornehmlich darum zu tun war, dessen morpholo- 
gische und geologische Beschaffenheit eingehend zu 
studieren und zugleich Material für eine Studie zu 
sammeln, die sich mit sämtlichen Canyons des Staates 
Colorado, der in dieser Hinsicht geradezu ein klassisches 
Feld ist, befassen wird. 

An der Stelle, wo der Clear Creek aus dem Gebirge 
heraustritt, um nach einem Lauf von 15 km nördlich 
von Denver sich mit dem South Platte River zu vereinigen, 
liegt Golden (1717 m Seehöhe). Der etwa 3000 Ein- 
wohner zählende Ort bietet an sich wenig von Bedeutung; 
eine große Bierbrauerei (von Adolph Coors, einem ge- 
borenen Kölner) und ein Erzschmelzer sind neben der 
„Colorado State School of Mines“ zu nennen, die, wenn 
auch nicht mit unseren deutschen Bergakademien ver- 
gleichbar, dennoch als eine vortreffliche Lehranstalt zur 
Heranbildung junger Leute für den praktischen Bergbau- 
betrieb bezeichnet werden muß. 

Die geographische Lage Goldens entspricht der von 
Morrison, ausgenommen, daß die für den Ort charakte- 
ristischen Erhebungen, die beiden Table Mountains, einen 
anderen Charakter aufweisen als die Dakota Ridges bei 
Morrison; der Dakotasandstein verschwindet hier, und 
an seine Stelle treten die säulenförmig angeordneten 


Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 329 





Kuppen des North und South Table Mountain, die auf 
den kretazeischen Denver Beds aufruhen. 

Die beiden Table Mountains erheben sich über 500 m 
über die Talsohle und sind durch eine weite Schlucht 
voneinander getrennt, durch die sich der Clear Creek 
seinen Weg gebahnt hat. Beide Berge haben eine Längen- 
ausdehnung von 2!/, bis 3km und zeigen die Form 
einer Mesa. Der North Table’Mountain hat an seinem 
Nordabhang eine größere Höhe als an seinem Südabfall 
gegen den Clear Creek hin. Eine Landmarke des South 
Table Mountain bildet der weithin sichtbare Castle Rock 
(Abb. 1), auf den ein Fußpfad hinaufführt und auf 
dessen Spitze ein Aussichtshäuschen einen Rundblick auf 
die ganze Umgebung gestattet. Die die beiden Berge be- 
deckende Basaltschicht hat eine Mächtigkeit von 90 
bis 95m und wird von zahlreichen größeren und kleineren 
Spalten und Klüften durchzogen, wodurch die Berge das 
Ansehen einer wohlbewehrten Festung gewinnen. Der 
North Table Mountain wird zur 
Basaltgewinnung für Straßen- 
bauzwecke abgebaut, und es 
finden sich hier in den Drusen 
des Basalts auch jene pracht- 
vollen Zeolithe, von denen die 
geologische Sammlung der State 
School of Mines eine größere Zahl 
besitzt. Die verschiedenen Spezies 
dieser in der amygdaloiden Zone 
des Table Mountain-Basalt vor- 
kommenden Zeolithe sind von 
W. F. Hillebrand und W. Cross 2) 
beschrieben worden und um- 
fassen Analcit, Apophyllit, Cha- 
bazit, Laumontit, Mesolit, Na- 
trolit, Scolecit, Stilbit, Thom- 
sonit, Calcit und Bol. Die meisten 
Spezies, mit Ausnahme des Bol, 
kommen in weißen oder farb- 
losen Kristallen in Höhlungen 
des Gesteins vor, während einige 
eine durch Eisenoxyd verur- 
sachte braungelbe Färbung zei- 
gen. Ihrer chemischen Zu- 
sammensetzung nach sind die 
Zeolithe Kalzium - Aluminium- 
Silikate, und ihr Ursprung dürfte 
auf Auskristallisierung solcher 
Silikatlösungen in den amygdaloiden Höhlungen des 
Basalt zurückzuführen sein. 

Was nun die Entstehungszeit der Table Mountains 
anbelangt, so steht auf Grund der eingehenden Studien 
von George H. Eldridge 3) fest, daß die Eruption des 
Table Mountain-Basalt während der Zeit der Bildung 
der Denver Beds, also während der Kreidezeit, statt- 
hatte, und zwar bevor die Schichten den steilen Neigungs- 
winkel erreichten, den sie heute zeigen. Die Spalten, 
durch welche die Lava aus dem Innern der Erde 
empordrang, waren offenbar das Resultat beständig 
vor sich gehender Biegungen des Gesteins, und das 
Empordringen der Lava an die Oberfläche wird 
das letzte Ereignis in der sehr komplizierten Ge- 
schichte einer Region zum Abschluß gebracht haben, 
die mehr als eine andere durch weitgreifende dynamische 
Bewegungen gekennzeichnet ist. Die nachfolgende, 
starke Erosion mag die die Basaltdecke umgebenden 
Denver Beds zum Teil abgetragen haben, so daß schließlich 





?) Monograph 27, U. 8. Geological Survey: Geology of 
the Denver Basin. 8. 292—296. 
*) Ebenda, 8. 304 ff. 
Globus XCVIII. Nr. 21. 


Abb.1. „Castle Rock“ (South Table Mountain) bei Golden. 


das Bild entstand, das bis in die Gegenwart ungeändert 
fortbesteht. Auf Einzelheiten der mit der Entstehung 
der Table Mountains in Verbindung stehenden geolo- 
gischen Probleme kann hier nicht eingegangen werden. 

In den Denver Beds wurde eine reiche versteinerte 
Flora gefunden, deren Hauptvertreter Farne, Eichen, 
Rhamnus und 15 verschiedene Feigenspezies bilden. 
Koniferen waren selten. Über die Funde von Resten 
der Tierwelt habe ich bereits in meinem letzten Aufsatz 
über Morrison Näheres erwähnt. 

Nördlich und südlich von Golden wird aus den 
Hogbacks des Gebiets feuerfester Ton gewonnen, dessen 
Industrie allerdings während der letzten Jahre stark 
zurückgegangen ist, so daß sie heute kaum noch von 
nennenswerter Bedeutung ist. 

Unmittelbar westlich von den Table Mountains dehnt 
sich zwischen diesen und den eigentlichen Foothills eine 
Talmulde aus mit zahlreichen ausgetrockneten kleinen 





Aufn. d. Verf. 


Flußbetten, die gute Beispiele des Zutagetretens der aus 
Mergeln und Sandstein bestehenden Schichten zeigen. 

Südlich von dem etwas höher als Golden selbst lie- 
genden Gebäudekomplex der State School of Mines führt 
eine Fahrstraße nach dem etwa 600 m über der Talsohle 
sich erhebenden Lookout Mountain, der ein beliebtes 
Ausflugsziel der Bewohner sowohl von Golden, als auch 
von Denver bildet, und über den die Straße weiter nach 
Idaho Springs führt. Ein in diesem Jahre eröffnetes 
Sommerhotel bietet alle Bequemlichkeiten nach den 
Strapazen der Besteigung des Berges, von dem man 
einen vortrefflichen Blick in die Talniederung genießt 
und die Gestaltung der Foothills, die im allgemeinen ein 
beständiges Auf und Nieder ist, gut beobachten kann. 
Südlich Golden führt eine gute Landstraße, an der eine 
Reformschule für Knaben liegt, nach Morrison, während 
nach Norden Verbindungswege nach dem Kohlenminen- 
ort Leyden gebaut sind. 

Golden verlassend, lenken wir unsere Schritte 
westwärts, dem Bahngeleise der Colorado and Southern R. R. 
folgend, das uns schon nach einer knappen halben Stunde 
in den Bereich einer durchaus anders gearteten Land- 


43 


330 


Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 








Abb.2. „Hanging Rock“, Clear Creek Canyon. 
schaft versetzt. Aus dem meist aus dürftigem Pflanzen- 
wuchs bestehenden Kleid der abgestumpften Kegeln ver- 
gleichbaren Rundhügel treten Granitfelsen von dunkel- 
roter Farbe hervor, uns belehrend, daß das „Altertum“ 
der Erde in seinen Resten vor uns steht. Gleich einer 
Wache erhebt sich rechts vom Bahnbett, zur Höhe von 
etwa 20m ansteigend, ein domförmiger Granitblock, 
dessen fast senkrecht gegen seine 
Unterlage gerichtete Zerklüf- 
tungsspalten die noch stetig fort- 
wirkende Tätigkeit der Erosion 
deutlich illustrieren. Noch etwa 
150m weiter, und wir sind am 
Eingang des Clear Creek Canyon 
angelangt. 


Der Clear Creek Canyon. 


Der Clear Creek Canyon er- 
streckt sich in einer Länge von 
25km von Golden bis Floyd 
Hill, von wo an das Tal bis Idaho 
Springs sich beständig erweitert 
und deshalb nicht mehr Canyon 
genannt werden kann. In Serpen- 
tinen fließt der Creek durch das 
stellenweise nur wenige Meter 
breite Tal, einen echten „Box 
Canyon“ schaffend (mit diesem 
Ausdruck bezeichnet die ameri- 
kanische Terminologie sehr enge 
Schluchten mit hohen Seiten- 
wänden, unserer deutschen 
„Klamm“ entsprechend). Stellen- 
weise rücken die Canyonwände 
0,25km weit auseinander, die 


Aufn. d. Verf. 


Breite des Flußbettes aber nur um ein Geringes 
ändernd, das im allgemeinen eine Breite von 
14 bis 16m aufweist. Die Bahn, eine sogenannte 
„Narrow Gauge“ (Schmalspur), folgt dem Fluß- 
bett in seinen zahllosen Windungen, wodurch 
sich ein rascher Wechsel der Landschaftsbilder 
von selbst ergibt, der auf die Dauer das Auge 
sehr ermüdet, dä ein kaum festgehaltenes Bild 
sofort von einem anderen ersetzt wird. Ein ge- 
naueres Studium der großartigen Landschaft ist 
deshalb bei einer Bahnfahrt unmöglich, und so 
zog ich vor, den Canyon seiner ganzen Länge 
nach zu Fuß zu durchwandern. Bei dieser Ge- 
legenheit wäre ich übrigens beinahe von einem 
hinter mir hersausenden Zug überrannt worden. 
Das Brausen des Flusses übertönt das Rasseln 
des Zuges vollständig, und obwohl es Vorschrift 
ist, daß die Züge beim Passieren von Kurven 
die Dampfpfeife tönen lassen sollen, geschieht 
dies keineswegs. Als ich dieserhalb am Nach- 
mittag des 21. Juni in Forks Creek einen Lokomo- 
tivführer zur Rede stellte, meinte er sehr naiv, 
es geschehe deshalb nicht, weil sie den „Steam“ 
beim Bergauffahren nötig hätten und also nicht 
alle Augenblick „pfeifen“ könnten. Er fuhr 
dann fort, daß soweit noch niemand überfahren 
worden sei, nur vor „einigen Wochen“ hätten 
sie eine Frauensperson zermalmt, die auf den 
Schienen gegangen sei, und da man später eine 
Flasche in der Nähe einiger zerstückelter Leichen- 
teile gefunden habe, sei sie wahrscheinlich — 
betrunken gewesen. 

Eine Fußwanderung durch den Canyon ist 
ein die Mühen einer stetig aufwärts gerichteten 
Bewegung reichlich aufwiegender Genuß. Schon 
etwa lkm von Golden entfernt machen die stark mit 
Detritus bedeckten hogbackartigen Hügel gewaltigen 
Szenerien Platz, die an Großartigkeit zunehmen, je mehr 
man in das eigentliche „Herz“ des Canyon eintritt, der 
seine mächtigste Entwickelung zwischen den Haltestellen 


Guy Gulch und Forks Creek hat, wo die Wände bis zu 








Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 


331 





500m und darüber über das Fluß- 
bett sich erheben. Mit jeder neuen 
Kurve des besonders im Frühjahr 
stark angeschwollenen Creeks, dessen 
Bett an zahlreichen Stellen durch 
abgestürzte Felsblöcke von der 
Größe mittelgroßer Häuser noch 
mehr eingeengt ist, ändert sich das 
Landschaftsbild, für das die häufig 
abenteuerliche Formen aufweisenden 
Felsgebilde eine der Phantasie reichen 
Spielraum liefernde Staffage bilden 
(vgl. Abb.2: „Hanging Rock“ und 
Abb.3: „Roadmaster“). In EIk 
Creek fand ich nach angestrengtem 
Marsch von über 5 Stunden gast- 
liche Aufnahme bei einem Ameri- 
kaner von deutscher Abstammung, 
George Young, der da Strecken- 
wärter ist und seiner Freude, daß 
ein deutscher Gelehrter sich in diese 
Gegend verirrte, nicht genug Aus- 
druck geben konnte. „Wenn De 
widder kommschst, kannste so lang 
bleiwe als De wilsschst, es kost nix, 
un esse hawwe mer plenty“ meinte 
der freundliche „Landsmann“, als er mir nach ein- 
genommenem Mittagsmahl auf einige Kilometer das 
Geleite gab und mir erzählte, wie reich an Gold der 
Canyon sei, „denn — hier wies er mit der Hand auf 
einige die Felsen herablaufenden Quarzadern — dort 
gibt's »leaders« (so heißen in den Vereinigten Staaten 
goldführende Quarzgänge), und ich selbst hab’ schon 
Gold in meiner pan gefunne“. Gewiß hatte der Mann 
nicht unrecht; aber wer wollte es wohl unternehmen, an 
den 1000 Fuß in die Tiefe abfallenden Steilabhängen 
nach Gold zu suchen! 

Etwa 3,5km oberhalb Elk Creek weitet sich der 
Canyon wieder, und bei Roscoe trifft man auf eine ver- 
lassene Mine, die gleich so vielen anderen des Distrikts 
langsam in Trümmer fällt. 





Abb. 5. 


Central City. 


Aufn. d. Verf. 





Abb.4. Black Hawk. Aufn. d. Verf. 


Bei Forks Creek, wo es ein Stationshaus und einen 
„Lunchroom“ gibt, mündet der North Clear Creek in den 
eigentlichen Clear Creek, der hier besonders charakte- 
ristische Felsbildungen aufweist. Da der westwärts 
über Floyd Hill nach Idaho Springs sich fortsetzende 
Canyon allmählich an Großartigkeit abnimmt und keine 
bemerkenswerten Einzelheiten mehr darbietet, will ich, 
dem Lauf des North Clear Creek folgend, mich Black 
Hawk und Central City zuwenden, die beide den End- 
punkt des Seitenzweigs der Colorado and Southern R.R. 
bezeichnen, die den ganzen Canyon von Golden bis Idaho 
Springs durchfährt und dann weiter nach Georgetown 
und Silver Plume geht. 

Das Tal des North Clear Creek ist von dem eigent- 
lichen Clear Creek Canyon durchaus verschieden; die 
Talwände sind weiter ausein- 
andergerückt und die mit De- 
tritus bedeckten Hogbacks lassen 
nur an vereinzelten Stellen das 
massige Gestein anstehen. Das 
Tal weist infolgedessen nicht im 
entferntesten die Großartigkeit 
der Szenerie des Canyon auf. 

11,5km von Forks Creek 
entfernt liegt das in 40 Minuten 
Fahrzeit erreichbare Black Hawk 
(2510 m Seehöhe) nebst der 
Schwesterstadt Central City 
(2657 m), Amtssitz von Gilpin 
County. 


Black Hawk und Central 
City. 

Black Hawk (Abb. 4) bildet 
mit Central City (Abb.5) ein 
Ganzes, d. h. beide Orte sind 
unmittelbar aneinander angebaut. 
Der Name des ersten Ortes geht 
auf ein Firmenschild in Gestalt 
eines Habichts (Black Hawk) 
zurück, das einer der ersten 
Minenbesitzer dort über seinem 
Besitztum anbrachte, während 


43* 


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332 


der Name von Central City das „Zentrum“ der umliegenden 
Minen bedeutet. Irgend etwas Besonderes ist von den 
beiden Orten nicht zu berichten; beide sind sogenannte 
Mining Camps mit einer aus verschiedenen Nationalitäten 
zusammengesetzten Bevölkerung. 

Die Gründung der beiden Camps fällt in das Jahr 1858, 
als dieGebrüder Russell (nach denen der Ort Russell be- 
nannt ist) aus Georgia nach den Rocky Mountains kamen, 
um nach Gold zu suchen. Im Juni des genannten Jahres 
fanden sie in der Tat Erz etwa 10 km oberhalb Denvers 
und nannten die Stelle „Montana Diggins“. Als sie 
nach dem Missouri zurückgekehrt waren, um Mundvor- 
räte zu holen, verbreitete sich die Kunde von Erzfunden 
in den Rockies derart schnell, daß eine ganze Gesell- 
schaft nach dem vermeintlichen Goldland aufbrach, 
unter ihnen ein gewisser John H. Gregory, dem es im 
April 1859 in der Tat gelang, Seifengold im Clear Creek 
zu finden. Im Mai 1859 hatte Gregory die nach ihm 
benannte „Lode“ entdeckt, und bald herrschte reges 
Leben. Das Gold wurde ausschließlich durch Waschen 
gewonnen. Bis Ende September 1859 arbeiteten gegen 
900 Mann in dem Distrikt bei einer wöchentlichen Aus- 
beute von 50 000 Doll. in Gold. In den 8 Monaten des 
Jahres belief sich die Gesamtausbeute auf 1 Million 
Dollar. 

In Verbindung mit der ersten Besiedelung des Minen- 
distrikts ist hier auch noch eine andere Persönlichkeit 
zu nennen, Patrick D. Casey, kurzweg „Pat“ genannt, 
der in den sogenannten Gründerjahren und auch noch 
später eine Rolle spielte. Ein irländischer Landstreicher 
(tramp), der weder lesen noch schreiben konnte, arbeitete 
er zuerst mit Gregorys Leuten, dann als Arbeiter in der 
(jetzt eingegangenen) Burroughs Mine an Quartz Hill bei 
Central City für einen Tagelohn von 2,50 Doll. Das 
Glück war ihm günstig, und nachdem er in Chase Gulch 
einen sehr ergiebigen Erzgang entdeckt hatte, der ihm 
große Summen einbrachte, begann er auf großem Fuß 
zu leben, warf das Geld mit vollen Händen weg und 
bildete bald die Hauptfigur in den Straßen Central Citys, 
jedem etwas abkaufend, der etwas zu verkaufen hatte, 
auch wenn es das wertloseste Zeug war. Dabei führte 
er stets ein großes Notizbuch und eine Menge Bleistifte 
bei sich und gefiel sich besonders darin, das Heft mit 
allerhand Kritzeleien zu verzieren. Seine gewöhnliche 
Redensart dabei war, daß er „used up ten lead pencils 
a day and then didn’t half do his business“. Als „Pat“ 
auf der Höhe seines Ruhmes stand, hatte er über 
100 Leute in seiner Mine beschäftigt, die für ihn durchs 
Feuer gingen. Eines Tages sank aber auch sein Stern! 
Es war während des Bürgerkrieges, als Pat, total be- 
trunken, auf einem Pferde wie rasend durch Central 
City galoppierte. Der Provostmarschall, der damals als 
Bürgermeister von Central City fungierte, versuchte ihn 
hinter Schloß und Riegel zu bringen, worüber aber Pat 
derart in Harnisch geriet, daß er seine sämtlichen Leute 
zu seiner Befreiung aufbot, um den Marschall nebst seiner 
ganzen Bande aus Central City zu verjagen. Nichts- 
destoweniger mußte Pat dennoch ins Gefängsnis wandern, 
aber nun war erst recht der Teufel los. Während der 
Nacht glich die Stadt einer Szene des wildesten Aufruhrs, 
die Miliztruppen wurden herausgerufen, und erst nach- 
dem der damalige Gouverneur von Colorado, John Evans, 
sich ins Mittel gelegt, trat etwas Ruhe unter den auf- 
geregten (iemütern ein. Pat wurde nach einigen Tagen 
wieder in Freiheit gesetzt, blieb auch fürderhin nüchtern, 
verschwendete aber ebenso rasch sein Geld, wie er es ge- 
wonnen hatte. Nachdem auch seine Minen allmählich 
an Wert abgenommen hatten, verkaufte er eines Tages sein 
Besitztum und verschwand. Niemand konnte mir in 


Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 


Central City oder Black Hawk sagen, was aus ihm 
geworden, nur soviel hörte ich, daß er einen Zigarren- 
laden in New York noch betrieben habe und dann wahr- 
scheinlich ungekannt und unbetrauert gestorben sei. 

Ich habe die Geschichte Pat Caseys deshalb etwas 
ausführlicher hier erzählt, weil sie geradezu charakte- 
ristisch für hundert andere, ähnlich verlaufene Schick- 
sale von Abenteurern ist, die aus der Hefe des Volkes 
hervorgegangen, ohne einen Cent Geld und ohne jegliche 
Bildung, in kurzer Zeit zu kolossalen Reichtümern ge- 
langten, dann aber ebenso starben wie sie lebten. 

Auch der im April dieses Jahres verstorbene Multi- 
millionär Thomas F. Walsh war als mittelloser „Tramp“ 
aus Irland nach ('olorado gekommen, hatte, gleich Pat 
Casey, in Central City und Black Hawk als Prospektor 
und Bergmann hart gearbeitet, bis er in Leadville und 
im San Juan-Distrikt zum mehrfachen Millionär ge- 
worden war. Aber Tom Walsh war ein ehrenhafter 
Charakter im vollsten Sinne des Wortes, und seine Rede, 
die er am 22. Mai 1908 vor den Studenten der State 
School of Mines in Golden hielt (abgedruckt im „Quarterly 
of the Colorado School of Mines“, Vol. 3, Nr. 1), muß 
unbedingte Hochachtung für ihn erwecken, wie auch 
Walsh während seines Lebens ernstlich bestrebt war, 
durch eifriges Lernen nachzuholen, was ihm eine harte 
und entbehrungsreiche Jugend versagt hatte. Er hat 
einen unbefleckten Namen mit ins Grab genommen. 

Black Hawk sowohl als Central City, die noch vor 
etwa 10 Jahren eine Einwohnerzahl von 1500 bzw. 3000 
hatten, weisen heute kaum die Hälfte der Bewohner auf 
und bieten in ihrer äußeren Erscheinung ein überaus 
trauriges Bild des Herunterkommens und Verfalls. Ich 
gewann geradezu den Eindruck, als ob der „böse Feind“ 
über das Land gezogen sei: verfallene Häuser, zer- 
schlagene oder vernagelte Türen und Fenster, verlassene 
Minen mit davorliegenden Abfallhaufen (Dump Hills), 
Schilder mit den Aufschriften: „House for rent“ oder 
„House for sale“ legen beredtes Zeugnis davon ab, daß 
die „goldenen Tage“, die diese Orte einst sahen und wo 
das Geld „wie Heu“ gemacht wurde, wohl nicht mehr 
wiederkommen werden, wenn nicht unvorausgesehene Ver- 
hältnisse die Lage ändern. In Massen verlassen die 
Einwohner die Orte, um teils in Denver, teils in Nevada, 
teils in Alaska wieder neue Reichtümer zu erwerben. 
Pater Mayer von der katholischen Aloysiusschule in 
Central City, ein geborener Westfale, erklärte mir, daß 
23 Familien im Mai und Juni Central City verlassen 
hätten, und daß, wenn die Dinge so weiter gingen, auch 
er sich wahrscheinlich entschließen müsse, sein Bündel 
zu schnüren, da er unter den obwaltenden Um- 
ständen seine Schule wohl nicht aufrecht halten 
könne. Die herrschende Depression äußert sich in aus- 
gesprochener Weise schon in den Mienen der Leute; 
niedergeschlagen und kaum zum Sprechen aufgelegt, 
gehen sie ihrem kärglichen Verdienst nach und murren 
über die „schlechten Zeiten“. 

In Russell, wo fast ausschließlich Tiroler und Nord- 
italiener wohnen, sind die Verhältnisse auch nicht besser, 
und da auch dort die wenigen noch im Betrieb befind- 
lichen Minen im Lease-System bearbeitet werden, müssen 
die Leute oft ein paar Monate völlig umsonst arbeiten 
und erhalten auch dann nur einen mageren Lohn, nach 
Abzug der Kosten, die für die Versendung des Erzes 
nach den Schmelzern entstehen. 

Ebenso ungünstig lautende Berichte über Niedergang 
bzw. völligen Stillstand der Minen liegen aus Leadville, 
aus dem einst so blühenden Aspen und selbst aus Cripple 
Creek vor, desgleichen aus dem San Juan-Distrikt. 

Was ist nun der Grund dieser Erscheinung? 


Täuber: Ein uralter Flußname (Aach-aqua-ava). 





333 





Zunächst kommt hier die Tatsache in Betracht, daß 
die Erze von Gilpin- und Clear Creek County im all- 
gemeinen „low grade ore“, d. h. niedergradiges Erz dar- 
stellen und zur Aufbereitung sehr kostspielige Prozesse 
durchzumachen haben, bevor sie technisch verwendbar 
sind. Solange in Black Hawk die Erze an Ort und 
Stelle eingeschmolzen werden konnten, ging die Sache 
noch sehr gut von statten, als aber der Schmelzer vor 
mehreren Jahren einging, mußte das Erz — wie auch 
heute noch — nach Golden bzw. Denver zum Ein- 
schmelzen geschafft werden, wodurch naturgemäß sehr 
beträchtliche Transportkosten erwuchsen. Des weiteren 
ist die Art der Aufbereitung nicht auf der Höhe der 
Zeit, da kein Kapital vorhanden ist zur Aufstellung mo- 
derner Aufbereitungsapparate, und weil ferner noch kein 
Mittel gefunden ist, niedergradiges Erz auf billige Weise 
zu verarbeiten. Der Hauptgrund für das Darniederliegen 
der Minen ist aber der völlige Mangel an dem nötigen 
Betriebskapital. Der Staat Colorado ist hinsichtlich des 
Zuflusses von Kapital zur Bewirtschaftung seiner Minen 
ausschließlich auf den Osten der Vereinigten Staaten 
oder, noch genauer gesprochen, auf Wall Street,- New 
York City, angewiesen. In den letzten Jahren hat nun 
das Emporwuchern zahlloser Schwindelminen (Fake 
Mines) einen derartigen Umfang angenommen, daß das 
östliche Kapital — und auch mit voller Berechtigung — 
die Hände auf die Taschen hält und weniger liberal im 
Geldspenden ist als zuvor. Gewissenlose Individuen 
haben, ohne auch nur die elementarsten Kenntnisse von 
Erz oder Mine zu besitzen, das ganze Bergbauwesen 
nicht nur Colorados, sondern der ganzen Vereinigten 
Staaten dadurch aufs schwerste geschädigt, daß sie 
irgendwo einen „Claim“ aufnahmen, dem Gesetz gemäß 
auch ein 10 Fuß tiefes Loch in die Erde bohrten, ein 
paar wertlose Steine herausnahmen und sie dann denen, 
„die nie alle werden“, als „reiches Golderz“ vorzeigten. 
Dann wurde eine „N. N. Milling and Mining Co.“ ins 
Leben gerufen, Anteilscheine (Shares) verkauft und 
unter Zuhilfenahme sonstiger Fälschungen das Geld den 
Leuten aus der Tasche gelockt, bis sie dann — natür- 
lich zu spät — einsahen, daß sie zum so und sovielten 
Male betrogen waren. 

Ein besonders bezeichnender Fall, der mir persön- 
lich in allen Einzelheiten bekannt wurde, sei hier mit- 
geteilt. Ein Metzger (!) — leider ein Deutscher — der 
von Erz- oder Minenwesen soviel verstand wie die Katze 
vom Sonntag, fungierte bis zu dem Tage, an welchem 
seine Schwindeleien zu arg wurden, als „Manager“ einer 
solchen „Milling and Mining Co.“ bei Dumont (bei Idaho 
Springs), verkaufte massenhaft „Shares“, besonders an 
ärmere Leute, und benutzte als Kapermittel pyrithaltiges 
Erz, das er, damit es mehr nach „Gold“ aussehe, vorher 
mit Blattgold überrieben hatte, welches er sich in Idaho 
Springs verschafft hatte. 

Gelingt es nun diesen Betrügern, genügend Geld 
zusammenzubringen, dann wird auch eine Mühle auf- 


gestellt, „Erz“ wird herausgeschafft, auf einem großen 
Haufen angesammelt, um die „Ergiebigkeit“ der Mine 
zu zeigen, Photographien dieses Haufens werden ge- 
macht usw., bis endlich die ganze Herrlichkeit eines 
Tages ein Ende hat. Dem Arbeiter in den Minen ist es 
sehr gleichgültig, ob er wertvolles Erz oder einfach wert- 
lose Steine herausfördert, solange er nur bezahlt be- 
kommt. Gibt es kein Geld mehr, dann geht er 
irgendwo anders hin, um dasselbe Spiel von neuem 
aufzunehmen. Kein Wunder daher, wenn, wie ich 
vorher bemerkte, der Osten dem Westen mit ge- 
schlossenen Taschen gegenübersteht, so lange die ge- 
schilderten Zustände, „wild cat mining“ genannt, un- 
gestraft bestehen; denn leider hört man nur sehr selten 
vom Eingreifen der Justiz in diese jeder Zivilisation 
hohnsprechenden Zustände, und die Betrogenen wollen 
nicht auch noch obendrein Geld für Prozesse ausgeben, 
die in der Regel doch verlaufen wie das Hornberger 
Schießen. 

Was Colorado und jeder bergbautreibende 
Staat der Union in erster Linie braucht, sind 
geschulte Bergleute. Solange die „Bergleute“ 
sich aus ungebildeten Fleischern, Schmieden, 
Maurernusw.allermöglichen Nationenzusammen- 
setzen, kann von einem Bergmann im deutschen 
Sinne des Wortes keine Rede sein. Des weiteren 
ist eine staatliche Überwachung des Bergbaues 
durch kompetente und wissenschaftlich gründ- 
lich gebildete Organe eine dringende Notwendig- 
keit. Erst nach Erfüllung dieser Bedingungen 
wird es möglich sein, das geschwundene Ver- 
trauen wieder zu gewinnen und werden auch 
Mittel und Wege gegeben sein, die in der Tat 
vorhandenen überreichen Schätze des Bodens 
so zu heben und nutzbringend auszubeuten, daß 
das Gemeinwohl für gespendete Mühe und Arbeit 
auf seine Rechnung kommt. 

Allerdings hängt die ganze Reform der gegenwär- 
tigen Art des Bergbauwesens eng mit dem herrschenden 
Erziehungssystem der Vereinigten Staaten zusammen. 
Solange hier nicht Wandel geschaffen wird, solange 
die Erziehung der Jugend — wenn hierzulande über- 
haupt von einer solchen gesprochen werden kann — 
nahezu ausschließlich in den Händen ungebildeter und 
für ihr Amt völlig unfähiger Lehrerinnen ist, von denen 
man gewiß kein Interesse für Naturwissenschaften, wie(teo- 
logieund verwandte Zweige, verlangen kann, solange werden 
sich die des großen Landes unwürdigen Zustände auch 
nicht ändern. Die in den meisten Fällen äußerst mangel- 
hafte Bildung der jungen Leute im Bergingenieurfach 
ist für das Gesagte ein sprechender Beweis, und der 
treffliche Präsident der Colorado State School of Mines, 
Victor C. Alderson, hatte nur allzu recht, als er kürzlich 
in nicht mißzuverstehenden Worten die ungenügende 
Bildung der jungen Leute für ihren Beruf rügte. 

(Fortsetzung folgt.) 


Ein uralter Flußname (Aach-aqua-ava). 


Von Dr. C. Täuber. 


Es wäre interessant, eine einigermaßen vollständige 


Zusammenstellung der geographischen Namen zu besitzen,. 


die sich auf althochdeutsches aha — gotisches ahva, 
„fließendes Wasser“, „Fluß“ zurückführen lassen. Kluge 
(in seinem Deutschen etymologischen Wörterbuch) weist 
hin auf die vielen Ach, Aach, Ache, Achen in Süddeutsch- 
land und Österreich, Aa in der Schweiz und Westfalen, 


Zürich. 


Ohe in Hessen. Als zweiten Bestandteil von zusammen- 
gesetzten Wörtern (Kluge nennt es Suffix) finden wir 
-ach (im ganzen mehr oberdeutsch) und -a (mehr mittel- 
und niederdeutsch) z. B.in Urach, Steinach, Salzach, Rotach, 
Schwarzach, Fulda (aus Fuldaha), Werra, Schwarza; als 
ersten Bestandteil in Achleiten (vom Wasser durchrieselte 
Grashalden), wovon der Personenname Achleitner. Die 


334 


Täuber: Ein uralter Flußname (Aach-aqua-ava). 





Schweden haben ihre À und die Dänen ihre Aa. Man be- 
achte hier schon, daß Aa, Aach usw. oft ohne weiteres 
auch für den an einem Bach oder Fluß liegenden Ort 
verwendet werden, wie z.B. das Städtchen Aach in Baden, 
das Dorf Steinach bei Arbon am Bodensee zeigen; oder 
daß der Fluß zwar inzwischen anders getauft wurde, der 
Ort aber immer noch den früheren generellen Wasser- 
namen trägt, wie z. B. Aadorf an der Lützel- (der 
„kleinen“) Murg (Kt. Thurgau). 

Zum gleichen Stamm, den wir in indogermanischem 
akwä, lateinisch aqua, haben, gehört auch Au. Kluge 
sagt, das vorauszusetzende agwjö sei ein substantiviertes 
Adjektiv und bedeute „die wässerige“ (Wasserland, d. h. 
Inseloder Wiese); agwjö wurde zu awjö (awiä), aujö, althoch- 
deutsch ouwa, mittelhochdeutsch ouwe: Aue. Die Angel- 
sachsen haben ég, ig „die Insel“; in Verbindung mit land 
erhalten wir niederländisch eiland, englisch i(s)land, „die 
Insel“ (s aus Vermengung mit isle von insula). Die alte 
Form awia hat sich latinisiert bewahrt in Bat-avia 
(niederländisch Betouwe), Scadin-avia (angelsächsisch 
Sceden-ig, altnordisch Skäney). — Ein näheres Studium 
hierhergehöriger Ortsnamen wäre im höchsten Grade 
lohnend. Das heute fast unbekannte „Ege“ scheint weit 
verbreitet gewesen zu sein. Wir haben es mit regelrechter 
Walliser Pluralbildung (vgl. die Laui, „Lawine“: Lauenen, 
Zenlauenen, „zu den Lawinen“; die Rüfi, „Erdrutsch“: 
Zenrüfenen; Seew, „der See“: Seewinen usw.)in Eginen, 
dem Namen eines von vielen Bächen durchzogenen ein- 
samen Tales im Oberwallis bei Ulrichen, und dem einer 
von den Abflüssen des mächtigen Allalin-Gletschers ge- 
speisten Gegend Eginen im Saastal, die zwar auf der 
Karte nicht benannt ist, von der aber der anliegende 
Berg Eginer seinen Namen trägt, auf der Karte fälsch- 
lich geschrieben Egginer im Anklang an Egg, das Eck 
(= die Ecke) im Sinne von Bergkante, währenddem 
die Bewohner Eginer oder sogar Eiginer sprechen. (Ver- 
mutlich findet damit auch der noch ungedeutete Name 
des Berges Eiger im Berner Oberland seine Erklärung, 
der im Jahre 1252 mons Egere und später Egerhorn 
heißt; ferner Egeri oder Aegeri am gleichnamigen Schwei- 
zersee, und der Egel, ahd. ögala, „Blut-egel“, nebst 
dem Egelsee ob Bremgarten.) Eger heißen sowohl ein 
Fluß im Württembergischen, ein Nebenfluß der Elbe, als 
ein Nebenfluß der Theiß; Egersund und Egerö, d. i. 
Eger-Insel, finden sich in Norwegen; ein Ort Egelsbach 
liegt im Kreis Offenbach und eine Stadt Egeln an der 
Bode in Preußen. Und ist es bloßer Zufall, daß die Göttin 
der alten Latiner, aus deren Quell die Vestalinnen das 
Wasser schöpften, Egeria hieß? Haben wir doch auf 
italienischem Sprachgebiet auch eine wasserreiche Alp 
(nebst Colle, „Paß“, namens Eigua) südlich von Ceppo- 
morelli in der Val Anzasca. Ich verweise noch auf den 
nordischen Gott der Fluten, den „Wassermann“ Ägir; 
auf Ägina, die Tochter des Flußgottes Asopos, geboren 
auf der nach ihr benannten Insel; auf Ägeus, den 
mythischen König von Athen, und das ägäische Meer. 
Eine an einem kleinen Flüßchen gelegene Ortschaft 
Egnach findet sich neben Salmsach bei Romanshorn. 
Agger ist ein Nebenfluß der Sieg (Köln), Ager der Ab- 
fluß des Attersees, in die Traun mündend. 

Häufiger als Ege ist die Form Ei, Eien. Wir haben 
wasserreiche Wiesen und Alpen dieses Namens u. a. am 
Fuß des vorhin genannten Eginer Berges, im urnerischen 
Erstfelder Tal, bei Engelberg; dieEikehle („Wasserrinne“) 
an der Schächentaler Windgelle. Andere Dialektformen sind 
Oey und Öeyen im Simmental, Aeuje (-je Walser, bzw. 
Walliser Diminutiv-Endung, wie Plattje, „kleine Platte“, 
Triftje, „kleine Trift“, Stockje, „kleiner Stock“ usw.) an 
der Landquart bei Klosters im Prätigau, und entsprechend, 


mit üblichem schweizerdeutschen Diminutiv -li (-lein) 
Üli, Alp im Linth-Tal beim Tödi, Eu: Euloch, eine Wasser- 
rinne am ÖOrtstock ob Linthal, der Eubach und das Eutal 
an der Sihl zwischen dem Aubrig („Au-berg“) und Ein- 
siedeln. 

Kluges etymologisches Wörterbuch macht uns schließ- 
lich noch auf eine in deutschen Gebieten erhaltene, aber 
weniger leicht erkennbare Gruppe von Bachnamen auf- 
merksam, die auf ein vorauszusetzendes keltisches apa 
— lateinisch aqua, gotisch ahwa, zurückgehen: Erlaff, 
ahd. Eril-affa, Aschaff, ahd. Asc-affa; ferner Ortsnamen 
im fränkisch-hessischen: Honeff, und niederdeutsch, auch 
westfälisch, nicht zu f verschoben, -ep in Lennep. 

Betrachten wir kurz den Einfluß des lateinischen 
aqua auf die Fluß- und Ortsnamenbildung in den roma- 
nischen Gegenden. Aus aqua entsteht italienisch acqua, 
spanisch agua, provengalisch aigua, altfranzösisch aigue, 
aiwe, ewe, eawe, eaue, neufranzösisch eau. In den spa- 
nischen Pyrenäen, wo z. B. der aragonesische Dialekt dem 
provengalischen sehr nahe verwandt ist, heißt der Bach 
oft aigueta, „Wässerlein“, z. B. die Aigueta de Eriste, 
der südliche Abfluß des Posets- („Seen“-) Gebirges. In 
der Provence befinden sich die Aigues Mortes oder Mar- 
tigues (= tote, „stagnierende“ Wasser, „Etangs“), auch 
ein Ort Eyguieres usw. In der dem franko-provengalischen 
Sprachgebiet zugehörenden Westschweiz bietet sich 
uns eine reiche Musterkarte von Formen, die (nach 
H. Jaccard, Essai de Toponymie, Lausanne 1906) alle teils 
auf lateinisch aqua, teils auf keltisches &ve, ive (vgl. oben 
apa) zurückgehen: aigue, eigue, igue, ivoue, ivue, invoue, 
ive, ève, euve. Beispiele: Aiguerousse („eau rouge“) bei 
Gryon; Aigue-Saussaz (lateinisch salsus, „eau salée“) bei 
Salins ob Aigle; Autraigue („au delà de l'eau“) bei Or- 
mont-dessous; Ballaigue („belle eau“, Urkunde von 1117 
aqua bella, 1228 Ballewi, 1354 Balleigue), Fraidaigue 
(„eau froide“) bei St. Prex; Raraigue („eau rare“) 
bei Aigle; Longeaigue („longue eau“) bei Avenches, 
Longive bei Oron, Longeau bei Biel, deutsch Lengnau 
(Urkunde von 990 Lengenach, 1181 Lengowe, 1228 
Longiewa), Longivue bei Autigny; Mortaigue und Mortigue 
(„eau morte“) in der Waadt, Mortive oder Mortivue 
in Freiburg; Noiraigue (Urkunde von 998 nigra 
aqua) in Neuchâtel, Neiraigue bei Ballens, Neirigue oder 
Neirivue („eau noire“) in Freiburg; Aiguette („petite 
eau“) bei Saubraz; Corne à l’Egaz bei Villeneuve; L’Egasse 
bei St. Imier; in Ygouasse („aux eaux“) bei Grimentz, 
Wallis; Albeuve (Urkunde von 1019 alba aqua, 1117 
Erbiwi und Albewi, 1620 Albegue) und Erbivue („eau 
blanche“), Freiburg; Clarivue („eau claire“), Wallis; 
Marivue (nach Jaccard „mar“ keltisch: „groß“ (?); wohl 
mar „Stein“, also „Steinach“) bei Albeuve; Rougève, Rogive 
(in einer Urkunde von 1237 Rogiaivui, rubea aqua), 
Rogivue, Rozaigue („eau rouge“) bei Orbe; Saussivue 
(1296 salsa aqua) bei Gruyère; Ivette oder Ivouette 
(„petite eau“) bei Bex; Evouettes, Wallis; Evuettes bei 
Sépey; ès Yvoettes bei Ollon; ès Invouettes, kleine Quellen 
bei Charmey; Entrèves, Etrèves, Etrives („entre les eaux“) 
bei Ollon; l’Evi, Fluß von Albeuve; Invoua bei Marly, 
Invou6 bei Sales, l’Invoö bei Thierrens, l’Invuex bei 
Granges, Linvuex (mit verschmolzenem Artikel) bei Sales, 
Livoez bei Assens, Ivuex bei Prahins, Yvoex bei Prangins; 
Evuez bei Roche (-ez und -ex sind Kollektiv-Suffixe, -asse 
augmentative Endung) usw. 

Die angeführten westschweizerischen Namen bereiten 

die eine große Schwierigkeit: zu unterscheiden 
zwischen dem aus lateinischem aqua hervorgegangenen 
altfranzösischen ewe, woraus französisch évier, „der 
Rinnstein* (lateinisch aquarium, „Wasserbehälter“), 
englisch ewer, „die Wasserkanne“ (vgl. Ewer in Ham- 


uns 


Täuber: Ein uralter Flußname (Aach-aqua-ava). 


335 





burg, „Flußfahrzeug“),französisch evolage, „Bewässerung“ 
usw. entstanden sind, und dem auf französischem Boden 
aus keltischem apa entstandenen ève, ive. Die Formen 
fließen hier ineinander; man hat deutlich vor Augen das 
Aufeinanderprallen von romanischen und keltischen 
Kulturelementen. 

Anders gestaltet sich die Sache, wenn wir uns in ein 
anderes Sprachgebiet, das räto-romanische begeben. 
Die Bündner Karte zeigt uns da zunächst einige wenige 
romanische Namen, die unschwierig zu deuten sind: 
so eine Alp Suracqua („ob dem Wasser“) am Julia-Fluß 
östlich von Stalla und die Lokalitäten Suracqua westlich 
und östlich von Casaccia im Bergell; daneben aber eine 
Menge von unstreitig rätischen Bachbezeichnungen a va, 
ova usw. 

Bei der Leichtigkeit des Überganges von p zu v in 
verschiedenen Sprachen (vgl. z. B. auch oben ève, ive 
auf französischem Boden aus keltischem apa) müssen wir 
zum mindesten intime Verwandtschaft zwischen keltischem 
apa und rätischem ava ansetzen. — Ich führe zunächst 
eine Anzahl gesammelter Beispiele an: Ava da Nandrö, 
Fluß bei Savognin; Surava, Dorf über der Albula; ava 
lungia bei il crap (Bergüner Stein); ava da Mulix, südlich 
von Preda am Albula-Paß; ava dil Fadalux, Bach bei 
Molins; ava dellas tigias, Bach bei Sur (Molins); riva 
d’ava, an der Julia bei Marmorera; ava di Soreno; ava 
caeda, westlich von Stalla; Aua da Laiders, Fluß bei 
Cierfs (Münstertal); Val dell’ aua bei Scarl; laua da 
Saglains, l’aua da Fless, l’aua da Lavinuoz usw. im Unter- 
Engadin; Ova del Lejet („Seelein-Bach“) in der Val 
d’Eschia (Engadin); ova del mulin („Mühlenbach“), ova 
della Roda, ova da Fex, ova del Crot (alle in den Silser- 
see mündend); ova del vallun, bei Silvaplana; ova del 
Fuorn, am Ofenpaß; ova d’spin, Nebenfluß des Spöl bei 
Zernetz; suot lova, zwischen Silser- und Silvaplaner- 
See; ova da Sanaspans, Bach auf der Lenzerheide. Auch 
die Verkleinerung Ovel („Bächlein“) kommt vor: Ovel 
d’Urmina, westlich von Bergün; die Alp Sur ovel, über 
dem Rosegbach. Sogar die Form eva findet sich: saneva 
(„gesundes Wasser“) im Gegensatz zu lava marcha 
(„faules Wasser“ — Schwefelquelle) im Val Tuors ob 
Bergün. Eine Lokalität südöstlich von Tinzen, wo eine 
Unmasse von Bächen entspringt, heißt PA vagna. 

Die genannten Formen des tief in die Romanenzeit 
erhaltenen „rätischen* ova, ava bleiben indessen nicht 
auf „alt fry Rätien“ beschränkt; sie begegnen uns wieder 
im Tessin. Freilich heißt dort das Wasser längst acqua, 
und als vor einiger Zeit am „Wasser“ par excellence, 
am Tessin ob Airolo, ein paar Häuser entstanden, nannte 
man die Ortschaft einfach All’acqua. Aber von den vor 
alters getauften Bächen und Flüssen heißt keiner „acqua“. 
Die Maiensässe ob den Bächen bei Peccia heißen die Monti 
dell’ Ovio; Oviga nennt sich ein Seitenbächlein der 
Melezza im Centovalli bei Palagnedra, und gleichfalls 
Oviga ist der Name eines Bächleins südlich von Avegno 
(vgl. obiges Avagna bei Tinzen) im unteren Maggiatal. 
Ovesca ist der große Fluß des Antronatales (Ossola). 

Weiterbildungen des offenbar uralten ava im 
Sinne von Wasser, Fluß mit üblichem Suffix (Vergröße- 
rungen, Verkleinerungen usw.) lassen sich nicht nur in 
Rätien und im Tessin nachweisen, sondern zeigen sich 
uns in einem großen Teile Europas. Ich verweise auf 
folgende geographischen Namen: Val Avers in Grau- 
bünden (die Bewohner werden „Avner“ genannt; vgl. 
Jahrbuch des Schweizer Alpenklubs XXX, S. 114), in 
welcher sich eine Aua da Vidurs, eine Aua granda 
(„großer Bach“), eine Aua pintga („kleiner Bach“) und 
eine Aua da mulin („Mühlenbach“) mit dem Hauptfluß 
(der „Ava“) vereinigen. Avero heißen Alphütten 


zwischen zwei Flüssen bei Campodolcino (Splügenroute). 
Dem berühmten Lago d’'Averno bei Neapel stellt sich 
die Lokalität Averne südlich vom Kleinen St. Bernhard 
an die Seite. Avrona werden Alphütten ob Vulpera 
genannt, die an einem Seitenbach der Clemgia liegen, 
und Aurona heißt der von den Gletschermassen des 
Monte Leone gespeiste Sammelbach, der ostwärts ab- 
fließt, Auressio ein Dorf bei vielen Bächen im tessi- 
nischen Onsernone-Tal (vgl. oben das augmentative Suffix 
-asse in Egasse, Westschweiz); Aurigeno, Dorf und Tal 
in der Valle Maggia, Val d’Auriglia, bei Selma im 
Calanca-Tal. — Wieder andere Ableitungen von ava: 
Avio, See, und A violo, Berg östlich von Edolo im Veltlin; 
südlich davon ein Monte Avello. Avila (bei den 
Römern Ovila) und Aviles sind spanische Flußstädte; 
Aulella ist ein Flüßchen in den Apuanischen Alpen 
(Massa-Carrara). Bei der Beschreibung des Paßweges 
von Aviasco (Val Seriana) heißt es im Jahrbuch des 
S. A. C. XLII, S. 154: „Eine ganze Reihe jener ernsten, 
dunkeln Bergseen folgt sich hier...“ Avino, über 
der Tunnelachse des Simplons, ist ein Seebecken, gespeist 
von Bächen des Monte Leone, Aveno ein am Monte 
Legnone (Comersee) entspringender Bach, Avegno ein 
Dörfchen bei der Einmündung des Rial grandein die Maggia 
nördlich von Ponte Brolla; Avigna, Tal bei Münster- 
Taufers; Avignon, das lateinische Avennio, die päpstliche 
Stadt an der Rhone; Avenone, westlich von Lavenone 
(vgl. Laveno am Langensee) am Idrosee; Avenza, ein 
Fluß in den Apuanischen Alpen im Marmorgebiet von Car- 
rara; Rio d’Avedo, Bachgebiet am Lago Negro, Valle Ver- 
molera, nordöstlich von Poschiavo; Avise, an der Dora, 
westlich von Aosta; Ausone, Alp in bachreicher Gegend 
am Devero, südlich des Albrun-Passes; Avisio, der 
Fluß des südtirolischen Tales Fleims (wie die Orte Flims, 
Graubünden; Flums, St. Galler Oberland, und Flon, Fluß 
von Lausanne, verwandt mit lateinischem flumen, Fluß). 
— Avon ist der Name mehrerer Flüsse in England; be- 
rühmt ist der, an welchem Shakespeares Geburtsstadt 
und auch der Ort Evesham („Wasserheim“) liegen. — 
Man möchte auch an Aventicum (jetzt Avenches) 
denken, die Helveterstadt am Murtnersee, welcher früher 
sich noch über die nunmehrige Sumpflandschaft erstreckte. 
Avent (urkundlich 1100 Avainz, 1250 Aveyn), Dorf an 
einem Seitenflüßchen der Rhone, westlich von Sitten. 
Ave ist ein portugiesischer Fluß nördlich von Porto, 
und Aveiro eine Stadt südlich davon an einem großen 
Meeresteich. „Aven“, mit Diminutiven avenca, aven- 
quet nennt man in Südfrankreich (nach dem Zeugnis 
der „Montagne“, C.A.F.1910, No. 4, avril, p. 230) einen 
gouffre, einen Strudel oder Abgrund. 

Häufig sind die Flußnamen A vançon oder Avengon 
im unteren Rhonetal bei Bex, Vionnaz, Colombey, nebst 
einem Diminutiv Avanconnet, bei Morcles. Diesen 
an die Seite zu stellen sind die Flüsse Evangon im 
Aosta-Tal, und die Avangon, Avance im Dauphing, 
unter Apokope des a auch Vangon, Vance, und Van- 
zone im Anzasca-Tal; als Diminutiv wieder das Flüßchen 
Avanchet bei Genf. 

Höchst beachtenswert ist, daß die Form eva sich 
auch in jetzt vollständig deutschem Sprachgebiet vor- 
findet, so im Kanton Uri der wilde Evi-bach, welcher 
von der Seewli-Alp herunterkommt und sich bei Silenen 
in die Reuß ergießt; die bachreiche Eveli-Alp im Hinter- 
grund des Maderaner-Tales; die bachreiche Lokalität 
„im Evel“ neben Eie (Eisten, im Walliser Saas-Tal). 
Aus französischem Sprachgebiet nenne ich Entreves 
(„zwischen den Bächen“) ob Courmayeur am Südfuß des 
Mont Blanc, in welcher Gegend der Wildbach sonst 
durchweg nant, nantillon genannt wird; die Lokalität 


336 


„Entre les Eves“ nördlich vom Mont Buet, den Col 
des Evettes bei Bonneval in der Maurienne; dieGrand 
Eyvia,den Fluß von Cogne am Gran Paradiso; Evole, ein 
jetzt zugedeckter Bach in Neuchätel; Evolena (urkund- 
lich 1250 Ewelina, 1255 Eweleina, 1449 Evolenaz), Fluß 
und Dorf im Val d’Herens; Evian (urkundlich aqui- 
anum), Badeort am Genfersee; Evionnaz (1020 Evunna, 
1263 Eviona), an der Rhone bei St. Maurice. 

Aus altem Evurnum ist Yvorne, Ort im unteren 
Rhonetal, aus Eburo-dunum Yverdon, Stadt am Neuen- 
burgersee, entstanden. 

Es besteht die Möglichkeit, daß O yace, Ort in bach- 
reicher Gegend in der Val Pelline, neben Fontana und 
Bagnera, einem italienischen oviaccio (vgl. oben Ovio), 
Ayas, auch Aiazza, das Tal des Evancon, italienischem 
aviaccia (vgl.oben Avia) entspricht, wobei dann wiederum 
Ajaccio, die korsische Hauptstadt am Meere, ihre 
Deutung fände. 

Aber auch die Eulach, der Fluß von Winterthur 
(in Urkunden von 760 und 761 wird der Ort Elgg, wo 
die Eulach ihren Ursprung nimmt, genannt: Ailagh-oga 
oder Ailihec-auge, später Elegauge, Eilicouwe, Eilcoue, 
also „Au an der Ailach“ ; vgl. A. Ziegler, Die geographischen 
und topographischen Namen von Winterthur), gehört 
hierher. Ailach scheint eine Weiterbildung von Avil 
(vgl. oben Avila usw.) oder Evil zu sein. Daß v zwischen 
zwei Vokalen öfters ausfällt, zeigt nicht nur das italienische 
avea statt aveva usw., sondern auch das Wort Aöla, nach 
welchem der Graubündner Berg bei Bergün benannt ist. 
Um diesen Namen richtig zu verstehen, muß man im 
Auge behalten, daß an der Nordostseite des Berghanges 
die Grasplanken, wo mehrere Bäche, vom Gletscher ge- 
speist, entspringen, „tranter Aela“ heißen. (Sehr klar 
zeigt die Situation eine Photographie im Jahrbuch des 
S. A. C. XXXII, S. 32.) Das romanische tranter, auch 
tanter, verwandt mit italienischem dentro, bedeutet 
„zwischen“; so haben wir den Engadiner Piz Trenter 
ovas („zwischen den Bächen“) im Quellgebiet des Beverin 
ob Bevers; die Lokalität Tanter auas bei Lavin im 
Unter-Engadin; ferner Tanter ils Craps („zwischen den 
Felsen“) westlich der Stammerspitze, Tanter mozza im 
Val Fless, Tanter Portas bei Sta. Maria, Tanter Ruinas 
im Münstertal usw. Aëla (avela) ist offensichtlich Dimi- 
nutiv zu ava. Die Lokalität, nach welcher der Berg 
benannt ist, heißt also „zwischen den Bächen“ und es 
ist falsch, wenn die deutsch sprechenden Touristen und 
ihnen nach nun allmählich die ortsansässigen Gebirgs- 
leute (Führer usw.) die Aussprache äla gebrauchen. — 
Übrigens nennen die Deutschschweizer Älen auch den 
waadtländischen Ort Aigle. Dieser heißt urkundlich 
1138 Allium, 1204 Aile. Jaccard (a. a. 0.) denkt an 
Herleitung von lateinischem aquila, „Adler“. Könnte es 
nicht aquula oder aquila, Diminutiv von aqua, „Wasser“ 
sein? Haben wir doch auch eine Aile froide, ein „kaltes 
(Gletscher-) \Wässerchen“ beim Pelvoux im Dauphiné. 
Herbeizuziehen wären noch Aquila, die Flußstadt nord- 
östlich von Rom, und Aquila am Fluß Brenno im tessi- 
nischen Blegnotal; Aquileja, die Wasserstadt, Vor- 
gängerin Venedigs; das „Wasserland“ Aquitania; das 
Gehöft Aquino an Fluß und Bächen im tessinischen 
Verzasca-Tal; die Aguagliouls, Gletscherbach-Gegend 
am Zusammenstoß von Tschierva- und Roseg-Gletscher 
(aguagliöl, Diminutiv von aguagl, lateinisch aquale, 
„Wasserrinne*) und Equilina, Hütten an einem Neben- 
flüßchen der Dora, westlich des obengenannten Avise 
im Aosta-Tal. 

Formen wie Equilina, Allium (Aigle), Aile helfen uns 
auch die Frage nach der Benennung des mächtigen 
Gletschers lösen, der von einer wasserreichen Lokalität 


Täuber: Ein uralter Flußname (Aach-aqua-ava). 


Allalin seinen Namen erhielt. Man dachte an aquilina 
als von aquila, „Adler“ kommend, weil ja auch der am 
oberen Gletscherende liegende Übergang „Adlerpaß*“ 
heißt. Doch letzterer soll erst 1853 bei der erstmaligen 
Überschreitung von Pfarrer Imseng und dem Engländer 
Wills wegen dortigen Fundes einer Adlerfeder so getauft 
worden sein. Nun heißt das oben besprochene Ober- 
walliser Eginen-Tal urkundlich latinisiert Ayguelina. 
Wie, wenn Eginen, von dem der bereits erwähnte Eginer 
Berg seinen Namen hat, auch Ayguelina hieß? Wenn 
aus aquila (aquilum?) Allium wurde, kann aus aquilina 
(aquulina) bzw. einem barbarisch latinisierten allulina 
wohl Allalin werden. 

Ohne das Thema erschöpft zu haben — hierzu be- 
dürfte es wegen der Fülle des vorhandenen Materials 
einer umfangreichen Dissertation —, will ich noch kurz 
nach fernerer Verwandtschaft zu gothisch-lateinischem 
ahva-aqua und keltisch-„rätischem“ apa-ava-eva forschen. 
In Waldes Latein. etymologischen Wörterbuch findet sich 
unter aveo, „begierig sein, heftiges Verlangen tragen“, 
die Erwähnung des Avens (eines in den Tiber münden- 
den, den Circus maximius durchfließenden Baches), wovon 
der Mons Aventinus (vgl. oben Aventicum) seinen 
Namen trägt. Hierbei wird verwiesen auf die Fluß- 
namen: gallisch Avos, Avara; bretonisch Ava; auf 
altindisch aväni- „Strom“, „Fluß“ und avatä-s, 
„Brunnen“, lettisch awuts, „Quelle“ (sowie den 
Averner See; siehe oben). — Das lateinische amnis, 
„Fluß“ wird auf zweierlei Art erklärt: 

„ 1. Aus einem vorauszusetzenden ap-ni: altindisch 
äp-, „Wasser“ und apa-vant-, „wässerig*, altpreußisch 
ape „Fluß“, apus, „Quelle“, „Brunnen“, litauisch 
und lettisch upe, „Wasser“, wobei verwiesen wird auf 
lateinisch opimus, fruchtbar , fett, wohlgenährt“ (ops, 
„Fülle, Reichtum, Macht“ usw.); ferner auf die griechi- 
sche Bezeichnung des Peloponnes (der „Pelops-Insel“) 
Apia und auf dieApuli, die „Wasseranwohner“ Unter- 
italiens (wovon Apulien); den illyrischen Fluß Apsos, 
und den apium, „Sumpf-eppich“, und den Namen 
der Volskerstadt Apiolae. Ich möchte hier noch heran- 
ziehen die Apuanischen Alpen bei Massa-Carrara 
(vgl. dort die Flüßchen Avenza und Aulella) und 
vielleicht den Apennin (aus Apenna; Wortbildung 


wie Ravenna usw.) als „Brunni-* oder „Brünneli- 
stöcke*. 

2. Aus altirischem abann, „Fluß“ (eymrisch afon, 
cornisch- bretonisch auon, „Fluß“, gallisch-britisch 


A bona), wobei auf die Flußnamen Apidón in Arkadien, 
und Apidanós in Thessalien hingewiesen wird, auch auf 
altindisches ábda-s, „Wolke“. — „Im letzten Grunde 
stehen indogermanisch ap- und ab- wohl im Zu- 
sammenhang.“ 

Chronologisch denke ich mir die Sache so: Da 
sich v wohl ungemein viel seltener zu b und p verhärtet, 
als umgekehrt sich p zu b und später zu v abschwächt, 
so sind die Formen auf ap- die ursprünglichsten; ab- 
und av- gehören späteren Sprachperioden an und wurden 
zu den notwendig gewordenen Ableitungen vom Grund- 
begriff „Wasser“ benutzt. — Das Lateinische nimmt 
mit seinem (lautgesetzlich korrekten) qu an Stelle des p 
im Gegensatz zu den älteren italischen Idiomen, welche 
den p-Laut beibehalten, eine Sonderstellung ein, ähnlich 
wie das Germanische. — Das verschafft uns die Leichtig- 
keit, die germanischen und lateinischen, bzw. davon ab- 
geleiteten romanischen Fluß- und Ortsnamen ziemlich 
klar zu erkennen: Ach, Aa, Au usw. einerseits, aqua, 
aigue usw. andererseits; in der Form Ege treffen sich 
beide. Dagegen sind weder germanisch noch lateinisch 
apa, ava, ova, eva usw.; ap kann altindisch, preußisch, 


Spieß: Die Joholü-Gottheit und ihr Schlangenkult. 


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griechisch, illyrisch, italisch, keltisch sein, ab irisch 
britisch, gallisch, av altindisch, westkeltisch und, wie wir 
an den vielen vorgebrachten Flußnamen gesehen haben, 
rätisch-italisch. 

Wie dem auch sei, Tatsache ist, daß eine große Menge 
von Flüssen und Orten schon vor der Weltherr- 
schaft der Römer getauft worden waren und den 


Eroberungszug der lateinischen Sprache durch Süd- und 
Westeuropa nicht mitgemacht haben, sondern konser- 
vativ in ihrem alten Gewande verharrten. Übrigens 
haben sich wohl das alte ava usw. in der lebendigen 
Volkssprache, besonders im abgelegenen Gebirge, 
nöch lange erhalten, bis endlich auch da das lateinische 
aqua einzudringen vermochte. 


Die Joholu-Gottheit und ihr Schlangenkult. 


Von Missionar C. Spieß, Togo, zurzeit Bremen. 


Auf einer meiner Reisen in Togo hielt ich mich längere 
Zeit in der Stadt Klewe, ®/, Stunden von Ho entfernt, 
auf. Dort, versteckt im Talesgrunde, abseits vom Ge- 
triebe der Städte, kann der ethnographische Sammler 
noch Gebräuchen begegnen, die anderswo schon dem 
Untergange geweiht gewesen sind. Aber nicht allzu lange 
mehr, und die europäische Kultur hat auch hier die letzten 
Reste heidnischer Sitten, die uns tiefe Blicke in die Religion 
der Eingeborenen Togos geben, verschlungen. 

In Klewe begegnete ich zum erstenmal einem einzig- 
artigen Schlangenkult, dem in erster Linie ein göttlicher 
Begriff, eine Gottheit selbst zugrunde liegt. Diese trägt 
den Namen Joholu. 

Joholü wohnt dort in einer Steinkluft und läßt sich 
des öfteren sehen an dem großen Wasserloch, aus dem 
Frauen und Kinder Wasser für den täglichen Bedarf 
schöpfen. Hier entspringt ein kleiner Fluß, der nach 
dem Gotte Joholü den gleichen Namen trägt. Joholu 
führt uns auf wo (ho) = Riesenschlange, die dort am 
Wasserloch (lu) sich aufhält. Er wird von der ganzen 
Stadt Klewe gefürchtet, gilt als der Lebenserhalter, wird 
mit Eifer verehrt und soll als die größte Gottheit zugleich 
die älteste aller Gottheiten Klewes sein. Joholu nimmt 
die Kinder aus den Händen der höchsten Gottheit Mawu 
und überbringt sie der Klewe-Stadt, bevor sie von Men- 
“schen geboren werden. Er kann, wenn er will, die Stadt 
auch vor schwerem Schaden u. dgl. beschützen. 

An seine Verehrungen knüpfen sich Verordnungen, 
die aufs strengste gehalten werden müssen. Diese lauten: 

1. Am Feiertage Joholüs, dem sog. asigbe oder 
awenogbe, darf niemand auf seinem Felde arbeiten. 

2. Niemand darf eine wo töten, denn sie gilt als ein 
Kind des Joholu. 

Tötet dennoch jemand eine Riesenschlange, so hat er 
weißen Baumwollstoff, aklala genannt, eine große Kale- 
basse Palmwein, 4,50 .#. in bar, sowie einen Ziegenbock 
zu bringen. Das weiße Zeug wird der Schlange als 
Leichentuch umgewickelt, worauf sie dann, anderen 
(menschlichen) Beerdigungen entsprechend, begraben wird. 
Palmwein, Geld und Ziegenbock werden nach dem üb- 
lichen Jowe-Gebrauch unter die Menge verteilt. Sollte 
jemand, der eine wo getötet hat, die Gabe nicht bringen 
wollen, so wird er sterben. Besonderes Interesse an der 
Erfüllung der Joholu-Pflichten haben die Priester, da sie 
sich dann ihrem Gotte gegenüber beruhigt fühlen. 

Nicht jedermann hat zu der Quelle in der Felskluft, 
in der Joholu seine Wohnung hat, Zutritt, um Wasser 
zu schöpfen. Das zeigen folgende Priestergesetze: 

1. Ne nyonu ade le gbe la made tro la we nowe o. 
Hat eine Frau ihre Menstruation, darf sie den Götter- 
platz nicht betreten. 

2. Ahosi medea egbo o. Witwen dürfen nicht hierher 
kommen. 

3. Akadi medea egbo le zame o. Mit einem Lichte 
darf keiner hier in der Nacht erscheinen. 


4. Amesi we asi enye asiande la medea gbo o. Wer 
sechs Finger hat, darf nicht den Ort betreten. 

5. Nudaze medea egbo ne adzudzo alo dzofe le nu o. 
Ein Eßtopf, der noch raucht oder an dem sich Asche 
befindet, darf nicht an diesen Platz getragen werden. 

6. Gayibogba, si nyonuwo tsona la medea gbo o. 
Die von Frauen getragenen eisernen Schalen darf man 
nicht auf diese Götterstätte bringen. 

Interessant war für mich folgendes Erlebnis. Beim 
Photographieren des Joholu-Platzes rief ich einer jungen 
Frau mit ihren Kindern, die vorbei gingen, zu: sie möchte 
sich doch auch mit hinstellen, worauf die dort anwesenden 
jungen Negerinnen mir sofort sagten, daß die Frau nicht 
kommen dürfe, da sie ihre „Tage“ habe. Namentlich 
der Ausruf dieser Eingeborenen brachte mich darauf, 
über die Joholu-Gottheit genauere Forschungen anzu- 
stellen. 

Übertreter irgend eines der sechs genannten Gebote 
werden bestraft mit 4,50 «#, einer großen Kalebasse 
Palmwein und einem Ziegenbock. Ist die Strafe ent- 
richtet, so wird der Bock, nachdem das Fleisch gekocht, 
unter Erwachsene und Kinder verteilt. Vom Palmwein 
wird die Hefe dem Trö Joholü unter Nennung des Über- 
treters mit folgendem Gebete dargereicht: „Gott, nimm 
hinweg des Übertreters böse Tat, weil ein Kind nicht 
Fehler gegen den Vater begehen, ihn auch nicht mit dem 
Tode schlagen darf.“ Am Trö-Feiertage hat der Priester 
das Recht, jedes Huhn, das er antrifft, zu töten. Er selber 
bringt von den seinigen zwei zu den eingefangenen 
Hühnern, geht zum Götterplatz und kocht dort die 
Hühner, worauf jeder Anwesende vom Essen nehmen 
kann. 

Nach der Feier richtet der Priester an Joholu zum 
Wohlergehen der Stadt folgendes Gebet: „O unser großer 
Mann Joholu, wir danken dir für deine Aufsicht über 
uns und bitten dich wieder, sei mit uns, daß unsere Stadt 
sich vergrößere; siehe auf die Kindermutter, laß ihr Haus 
voll werden und die Stadt sich vermehren; sei mit ihr 
im Kriege, daß sie siege!“ Nach Verrichtung des Gebetes 
wäscht jeder sein Angesicht in einer mit Arzneikräutern 
versehenen Schale und geht nach Haus. 

Dieser einzigartige Schlangenkult in Klewe brachte 
mich weiter darauf, in der 1!/, Stunden davon ent- 
fernten Stadt Akrofu nach einem gleichartigen Kult zu 
suchen. 

Hier lautet ein erstes Gesetz: Während des Busch- 
brandes ist es niemandem erlaubt, einen Leoparden oder 
eine wo-Schlange zu töten. Leoparden werden sonst 
jederzeit getötet, aber auch beim Buschbrande, durch den 
gerade viele Schlangen getötet werden, muß die Riesen- 
schlange am Leben bleiben. Wer dieses Gesetz nicht 
befolgt, wird schwer bestraft und darf nicht eher in den 
„Busch“, bis er bezahlt hat. 

Nach dem Buschbrande, wenn die wo-Schlangen nichts 
mehr im Busche zu fressen haben, kommen sie bis an 


338 


Bücherschau. 





die Hütten der Eingeborenen und können verzehren, was 
sie erfassen, seien es Schafe oder Ziegen, was sich die 
Besitzer ruhig gefallen lassen müssen. Während eine 
Riesenschlange ihre Beute vor den Augen der Eingeborenen 
verschlingt, treten diese zu ihr heran und begrüßen sie 
mit den Worten: „Amegä, miedekuku na wö, megawo 
o he, megawo o hē!“ („Großer Mann, wir bitten dich, 
tue es nicht wieder, tue es nicht wieder!“) 

Die Priester der wo, die von dem Vorgang wissen, 
versammeln sich in der Stadt und schicken jemanden 
zum König mit den Worten: einer unter ihnen in der 


Stadt habe die Göttergebote übertreten, daher der Zorn 
der Götter, daher das Verschlingen der Tiere. 

Nun kommt darauf die ganze Bewohnerschaft zu- 
sammen und richtet die Angelegenheit, bis dennoch am 
Schlusse die Priester die ganze Stadt für schuldig be- 
finden, sogar den König und seine Partei tadeln und sich 
nicht eher zufrieden geben, bis der König und die Ältesten 
eine Strafe bezahlen, die von den Priestern zum Götter- 
platz getragen wird, als Versöhnungsgabe für die erzürnte 
Gottheit dient, bald darauf aber im Besitze der Priester 
sich befindet. 


Bücherschau. 


The Archaeological Survey of Nubia. (Ministry of 
Finance, Egypt. Survey Department.) Bulletin No. 5 
Dealing with the Work from November 1 to December 


31, 1909. 25 S. Cairo, National Printing Department, 
1910. 
Die dankenswerte Erforschung der zahlreichen dem 


Untergange geweihten Grabstätten Nubiens wurde, wie das 
vorliegende Heft zeigt, in gewohnter sorgsamer Weise fort- 
gesetzt. Die Gräber in der Umgegend von Dakke, dem 
Pselchis der Griechen, welche Firth untersuchte, ergaben 
nur wenige archäologisch interessantere Überreste. Sie 
waren so gut wie alle in verhältnismäßig früher Zeit 
durch die Bauern, welche den Nekropolen die als Dünger 
dienende Sabacherde entnahmen, umgegraben und mit dem 
Wesentlichen ihres Inhaltes vernichtet worden. Zeitlich er- 
streckten sie sich von der Nagadazeit bis zum Mittelalter 
herab, doch überwog die ältere Zeit. Außer Gräbern unter- 
suchte man in der Nähe des Nils Reste eines Hauses aus 
der Römerzeit, das als Magazin gedient zu haben scheint, 
und bei dem großen Tempel von Dakke ziemlich ausgedehnte 
Teile eines römischen Lagers. An einem Felsen, 4km vom 
Nile entfernt, waren, wie Bates feststellte, von frommen 
Wanderern im Altertume Inschriften eingegraben worden. 
Die meisten derselben sind griechisch abgefaßt, doch finden 
sich daneben einige lateinische und meroitische und eine, 
die in hieratischer Schrift den Namen eines ägyptischen 
Königs Antef verzeichnet, der vor 2000 v. Chr. gelebt haben 
würde. Der Herrschername ist aber so fehlerhaft geschrieben, 
daß die Einzeichnung sicher nicht zeitgenössisch sein kann, 
sondern von einem weit späteren, des Agyptischen unkundigen 
Besucher herrühren wird. 
Unter den Knochenresten aus den nubischen Nekropolen, 
welche anatomisch genau von Elliot Smith und Derry unter- 
sucht wurden, fand sich eine Reihe von Negerschädeln aus 
der Zeit zwischen 200 und 400 n. Chr., welche zahlreiche 
schwere Verletzungen aufweisen und wohl von einer feind- 
lich in das Land eindringenden Schar herrühren. Bei 
einigen anderen Negerschädeln aus der hellenistischen Zeit 
traten umfangreiche künstliche Zahndeformationen auf; man 
hatte Zähne abgefeilt, in bestimmte Formen zurechtgeschnitten 
oder auch Schneidezähne absichtlich ausgezogen. Bei 
einigen Leichen aus einer Nekropole des Alten Reiches 
wurden Knochenveränderungen, besonders an den Rücken- 
wirbeln festgestellt, die auf Knochentuberkulose hinzuweisen 
scheinen. 
Bonn. A. Wiedemann. 

Georg Wilke, Spiral-Mäander-Keramik und Gefäß- 
malerei. Hellenen und Thraker. 848. mit 99 Text- 
abbildungen und 1 Tafel. (Darstellungen über früh- und 
vorgeschichtliche Kultur-, Kunst- und Völkerentwickelung, 
herausgegeben von G. Kossinna. 1. Heft.) Würzburg 1910, 
Curt Kabitzsch. 4,50 fé. 

Wie die Überschrift zeigt, beschäftigt sich Wilke in 
dieser Schrift — wie schon in früheren Arbeiten — vor allem 
mit Fragen der prähistorischen Ornamentik und mit den 
ältesten ethnographischen Verhältnissen der Balkanhalbinsel. 
Aber der Gang seiner Beweisführung ist viel verwickelter 
und greift den Grundlagen wie den Ergebnissen nach sehr 
viel weiter aus, als der Titel erwarten läßt. Wilke geht von 
der zuerst von Alphons Stübel (Festschrift zur Jubelfeier des 
25jährigen Bestehens des Vereins für Erdkunde zu Dresden 
1888) ausgesprochenen „Verschiebungstheorie“, d. h. von der 
Beobachtung aus, daß eine Menge geometrischer Muster, 
deren Zustandekommen an sich zunächst unbegreiflich er- 
scheint, aus einfachen Grundfiguren sich gewinnen lasse, 
wenn man diese in zwei gleiche Teile zerschneidet und den 


einen Teil gegen den anderen in der Richtung der Schnitt- 
linie verschiebt. Er zeigt, daß nach diesem Konstruktions- 
prinzip alle in der neolithischen Keramik vorkommenden 
Spiral-Mäander-Ornamente sich leicht herstellen lassen, und 
schließt daraus, daß die Künstler jener Epoche „dieses Kon- 
struktionsprinzip . . . vollständig beherrschten und zur Auf- 
suchung neuer Verzierungsmotive ganz methodisch verwen- 
deten“. Ist dies aber richtig, schließt der Verfasser weiter, 
dann ist die Heimat dieses Dekorationsstiles da zu suchen, 
wo die Verschiebungsmuster besonders reichlich und rein sich 
finden, und wo andererseits auch ihre Grundelemente vorher 
bereits vorhanden sind. Dies aber ist nur im nördlichen 
Balkan, besonders in Bosnien der Fall. Denn die anderen 
Gebiete, die auch Spiralmäander aufweisen, wie die Megalith- 
keramik und einige Fundstätten Mitteldeutschlands, zeigen 
sie erst in späteren Perioden und dann entweder ohne Ver- 
ständnis für das Konstruktionsprinzip oder in sprunghafter 
Auswahl ohne jede Spur einer Entwickelung von einfachen 
zu komplizierten Formen. Nun hat Kossinna seine Beobach- 
tung, daß „sich schon in der jüngeren Steinzeit etwa in der 
Höhe von Magdeburg eine scharfe Kulturscheide bemerkbar 
macht“, damit erklärt, es bezeichne diese Scheidelinie die 
ursprüngliche Grenze zwischen West-(Nord-) und Ost- (Süd-) 
Indogermanen, und es seien schon früh die Nordindogermanen 
über diese Linie nach Süden vorgegangen und hätten die 
Südindogermanen im Westen nordindogermanisiert (Band- 
keramik), während die östlichen Südindogermanen ihre ethno- 
graphische Eigenart und ihre bemalte Keramik beibehielten. 
Diese Aufstellungen müssen, wenn sie zutreffen, in den archäo- 
logischen Tatsachen ihre Bestätigung finden. „Das Kultur-, 
gebiet mit monochromer Spiral-Mäander-Keramik muß zu dem 
ihm sprachlich (?) nahestehenden nordischeu Gebiete mehr 
oder weniger enge Kulturbeziehungen, gegenüber dem in 
sprachlicher Hinsicht (?) so sehr verschiedenen Gebiete mit 
Gefäßmalerei aber tief einschneidende Kulturunterschiede auf- 
weisen.“ Einige gemeinsame Elemente beider Kreise erklären 
sich leicht durch Entlehnung und den gemeinsamen Ursprung 
beider Kulturen. Es bleibt dabei: „Beide Kulturformen sind 
durch eine tiefe Kluft voneinander getrennt, eine Erscheinung, 
die eben nur durch die Annahme tiefer ethnischer Gegen- 
sätze eine befriedigende Erklärung findet.“ „Ist die mono- 
chrome Spiral-Mäander-Keramik Bosniens und der Nachbar- 
gebiete den Vorfahren der Hellenen zuzuweisen, ... so 
gewinnen die im Süden der Balkanhalbinsel gelegenen Sta- 
tionen mit verwandter Tonware noch insofern eine besondere 
Bedeutung, als sie uns über Zeit und Weg der ersten helleni- 
schen Wanderungen Aufschluß geben.“ Wo sich hier Schichten 
sondern lassen, erkennt man von unten nach oben aufeinander- 
folgend zuerst rein geometrische monochrome Keramik, dann 
lineare Gefäßmalerei, hierauf monochrome Spiral- Mäander- 
Keramik und endlich wieder Gefäßmalerei mit übernommenen 
Spiral-Mäander-Formen, was auf einander ablösende Besiede- 
lungen durch 1. Indogermanen (vielleicht Pelasger), 2. Ost- 
indogermanen (vielleicht Thrako-Phryger), 3. Hellenen, 
4. neue Ostindogermanen, nämlich Thraker, schließen läßt. 
Dies ist der Gedankengang des Verfassers; es soll aber 
durch diesen kurzen Überblick nicht der Eindruck erweckt 
werden, als sei nur Behauptung an Behauptung gereiht; 
Wilke hat vielmehr seine Aufstellungen auf genaueste Einzel- 
beobachtung eines reichen Materiales gestützt und auch die 
verschiedensten anderen Möglichkeiten zu erwägen nie unter- 
lassen. Man muß sich aber doch fragen, ob aus archäologi- 
schen Befunden in der Weise auf ethnographische Verhält- 
nisse geschlossen werden darf, wie der Verfasser es tut, ob 
man wirklich unbedingt Kulturscheiden auf Völkerscheiden 
und gar Sprachgrenzen zurückführen, in der Folge der 
Kulturschichten ein Wechseln verschiedener Bevölkerungen 


Kleine Nachrichten. 


339 





sehen und umgekehrt auch erwarten darf, ethnische Ver- 
hältnisse stets archäologisch bestätigt zu sehen. Aus dem 
Vorkommen von Spiral-Mäander-Kultur in Stationen der Bal- 
kanhalbinsel darf zunächst doch nur auf ein Wandern der 
Kunstübung, der Herstellungsweise, der Ornamentik, nicht 
des Volkes geschlossen werden. Nicht einmal die Hocker- 
bestattung im Hause — so eigentümlich sie ist — kann einen 
Zusammenhang der Orte, an denen sie vorkommt, zwingend 
beweisen, da sie auch sonst noch in der Welt sich findet. 
Man sieht, es geht auf eine Prinzipienfrage hinaus, wieviel 
Tragkraft man dem Hypothesenbau Wilkes zugestehen will, 
und es mag gern zugegeben sein, daß auch er für sein Vor- 
gehen gute Gründe ins Feld führen kann. Jedenfalls ist der 
beste Weg, die methodische Frage zu lösen, der, daß eben 
für einen bestimmten Fall Hypothesen dieser Art aufgestellt 
und erprobt werden. Und von diesem Gesichtspunkte aus 
betrachtet ist auch das in der vorliegenden Arbeit zu begrüßen, 
was nicht bei allen Billigung findet. 

Zum Schlusse seien noch einige Irrtümer auf dem Gebiete 
der klassischen Altertumskunde berichtigt, aus denen man 
freilich dem Verfasser keinen Verwurf machen darf, da er 
von ganz anderer Seite an die Sache herankommt. Er zitiert 
8. 69 die somatische Schilderung — die zitierte Stelle steht 
Adamant. IIc, 32 (Scriptores Physiognomiei ed. Rich. Förster, 
Vol. I, p. 385) — der Griechen in der „Beschreibung des 


griechischen Arztes Adamantios, die freilich erst einer ziem- 
lich späten Zeit, dem 5. Jahrhundert v. Chr. entstammt“. 
Hier ist wohl ein Druckversehen zu korrigieren: der Verfasser 
scheint der Meinung des Fabricius zu folgen, der den Ada- 
mantios mit einem gleichnamigen Arzt des 5. Jahrhunderts 


nach Chr. identifizierte. Diese Ansicht ist jetzt aufgegeben; 
man setzt den Autor in das 3. Jahrhundert n. Chr. und 
weiß, daß seine Schrift gar kein Originalwerk, sondern nur 
ein Auszug aus dem Buche des Physiognomikers Polemo 
(3. Jahrhundert n. Chr.) ist (vgl. Scriptores Physiognomiei 
rec. Rich. Förster, Bd. I, 8. LXXV ff., C ff.) — Die „Pelasger“ 
sollte man jetzt doch endlich aus dem Spiele lassen, nachdem 
so sehr wahrscheinlich gemacht ist, daß dieses Volk eine 
Konstruktion primitiver griechischer Geschichtsforschung ist, 
ein Name, wie Autochthonen, Aborigines usw. Und der 
„Ppelasgische Mauerbau“ ist vollends als Erfindung der mo- 
dernen Archäologen erwiesen, die davon ausging, daß in 
einigen antiken Autoren vom „Pelasgikon teichos“ zu Athen 
die Rede ist. Inzwischen aber hat man aus einer attischen 
Inschrift gelernt, daß dieser — jetzt auch wieder aufgedeckte 
— Mauerbau gar nicht Pelasgikon hieß, sondern Pelargikon, 
was wohl „Storchenbau“ bedeutet, und daß dieser letztere 
Name auch in den guten Handschriften der erwähnten Au- 
toren steht (vgl. Ed. Meyer, Forschungen z. alten Gesch. I). 
München. Albert Hartmann. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Die englische Neuguinea- Expedition (vgl. oben 
8. 147) hat fortgesetzt mit den größten Schwierigkeiten zu 
kämpfen, so daß es sehr fraglich erscheint, daß sie von der 
gewählten Basis, dem Wakatimiflusse aus, das Schneegebirge 
erreichen wird. Das Gelände gestattet nicht die geringste 
Aussicht zum Zweck der Orientierung, außer hin und wieder 
vom Flußbett aus; unglücklicherweise führt keiner der Flüsse 
nach der gewünschten Richtung. Dr. Marshall kam von 
Tapue vier Tagemärsche nach Osten und dann in die Vor- 
hügel, aber die Eingeborenen verließen ihn nun, und er 
mußte sich allein mit den drei Gurkhasoldaten mühsam den 
Rückweg erkämpfen. Dann brachen er und Kapitän Rawling 
von neuem auf, sie schlugen sich einen anderen Weg durch 
den Busch und errichteten ein Lager an dem großen Flusse 
Wataikwa. Dieser sollte nach Angabe einiger Eingeborener 
aus der gewünschten Richtung, d. h. aus Osten kommen, 
und so versuchten die Reisenden, ihn aufwärts zu verfolgen, 
indem sie beim Kreuzen und Wiederkreuzen des Flusses 
häufig bis an die Achsel einsanken. Aber schließlich stellte 
es sich heraus, daß er aus dem Norden kam, und so kehrte 
man um. Nur mit knapper Not waren dabei die Reisenden 
dem Untergange entkommen; denn vier Stunden, nachdem 
das schützende Lager wieder erreicht war, sandte der Fluß 
Wasserfluten herab. Der nächste Schneeberg lag in einem 
Abstand von 45km, und um zu ihm zu gelangen, hätte man 
noch weiter östlich vorstoßen müssen; aber das Klima machte 
sich für alle fühlbar, und die Nahrungsmittel nahmen be- 
ständig ab, so daß nur wenig Aussicht war, weiter als 25 
bis 30km vorzudringen. Der Leiter der Expedition, Good- 
fellow, lag am Fieber danieder, Rawling, Marshall und 
Wollaston befinden sich verhältnismäßig wohl. Diese Nach- 
richten Rawlings datieren vom 19. Juli. Die Karte, so sagt 
er („Geogr. Journ.“, November), wuchs allmählich, erschien 
aber nur als geringer Lohn für siebenmonatige Bemühungen. 

— Die Quellen des Amazonenstromes. Professor 
Wilhelm Sievers (Gießen) bereiste von April bis November 
1909 das nördliche Peru und das südliche Ecuador, um seine 
früheren Cordillerenstudien fortzuführen und über die heutige 
und einstige Vergletscherung des dortigen Hochgebirges Unter- 
suchungen anzustellen. Dabei hat er auch das Quellgebiet 
des Marañon aufgesucht, der als der Hauptquellarm des 
Amazonenstromes gilt. Mit diesem Quellgebiet und der Quellen- 
frage beschäftigt Sievers sich in seinem vorläufigen Reise- 
bericht in der Zeitschrift der Berliner Gesellschaft für Erd- 
kunde, wobeier ganz zutreffend bemerkt, daß die Geographen 
und Reisenden jene Frage weit weniger interessiert habe, 
als z. B. die Nilquellenfrage. i 

Als Quelle des Marañon galt bisher allgemein der See 
Lauricocha in Peru (Lage etwa 10°10 s. Br. und 76°30’ 
w. L), dem der Rio de Lauricocha entfließt. Mit diesem ver- 
einigt sich unter 9°50’ s. Br. bei Huangrin der westlichere 
Rio Nupe, dem von links wiederum der Rio Queropalca zu- 
fließt. Lauricocha, Nupe und Queropalca, die alle aus der 


Cordillera de Huayhuasch kommen, sind als die drei obersten 
Quellflüsse des Maranon anzusehen, und esfragt sich, welches 
der wasserreichste ist. Eine Abschätzung der Wasserführung 
war bisher nur von Raimondi vorgenommen worden, der 
den Rio Nupe für den hauptsächlichsten erklärt hatte. Trotz- 
dem galt, wie erwähnt, ziemlich allgemein der Lauricocha 
als der Hauptquellarm und der Lauricochasee als die 
Quelle des Marañon. Sievers hat die Oberläufe aller drei 
Flüsse besucht und kommt zu dem Ergebnis, daß der 
bedeutendste und wasserreichste in der Tat der Lauricocha 
ist. Aber dieser hat auch eine längere Laufentwickelung 
als dieanderen, wenn man den größten Zufluß des Lauricocha- 
sees hinzunimmt, und Sievers hat dessen Ursprung genau 
studiert. Danach entspringt dieser Zufluß, also der Maranon, 
auf einem Schneeberge namens San Lorenzo in der Cordillera 
de Huayhuasch, etwa unter 10°30’ s. Br. und gegen 45km 
südlich vom Lauricochasee. Nach kurzem Lauf tritt er dann 
nacheinander in die Seen („Lagunen“) Santa Ana, Caballo- 
Cocha, Anca-Cocha und Tinki-Cocha, um sich nordwärts dem 
Lauricocha zuzuwenden. Über den Tinki-COocha ist Sievers 
nach Norden hin nicht hinausgekommen, doch sagte ihm 
der Verwalter der nahen Mine Raura, daß der Fluß unter- 
wegs noch eine Lagune namens Huascar-Cocha durchzieht. 
Diese Quellengegend ist auf den peruanischen Karten, z. B. 
auf dem südwestlichen Blatte der neuen Ausgabe der Loreto- 
karte, ungenau und unzutreffend dargestellt, Sievers ver- 
mochte diese Ungenauigkeiten zu beheben. 

Der Lauricochasee ist über 4km lang, aber wohl nicht 
über '/, km breit. Die Ufer sind mäßig hoch, das Wasser 
ist grün und klar und stand offenbar ehemals höher (60 bis 
70m). Die Temperatur betrug am 23. Mai 1909 um 9 Uhr 
früh 11°. Der Marañon tritt aus dem Nordostende als ein 
grünlicher, klarer, viele Wasserpflanzen führender, rasch 
strömender und wasserreicher Bach aus, der fast schon die 
Bezeichnung Fluß verdient. Etwa 250 m unterhalb der Aus- 
flußstelle hat er eine unbedeutende Stromschnelle, 250 m 
weiter überschreitet ihn eine niedrige Brücke aus 10 Stein- 
jochen, die aus frühspanischer Zeit stammen dürfte. 


— Die beiden Smithsundeskimos, die Cook nach seiner 
Behauptung zum Nordpol begleitet haben sollen, sind von 
dem Pfarrer Gustav Olsen — ebenfalls einem Eskimo — ver- 
nommen worden, und Rasmussen hat von Kap York die 
Aussagen nach dem dänischen Westgrönland geschickt, 
von wo sie Anfang November d. J. nach Kopenhagen gelangt 
sind. ber die Ausreise quer durch das Ellesmereland 
bis zu dem Punkte nördlich von Kap Thomas Hubbard, wo 
Cook alle seine anderen Begleiter zurückschickte, deckt sich 
die Aussage der Eskimos mit den Angaben Cooks. Sie sagen 
dann weiter, daß sie auf ausgezeichnetem Eise nur sehr 
kurze Tagemärsche gemacht und dann, nach Zurücklassung 
der Vorräte an getrocknetem Fleisch, auf westlicherer Route 
wieder „das Land“, wahrscheinlich wieder die Heiberginsel, 
erreicht hätten. Wie lange diese Reise gedauert hat, wissen 


Kleine Nachrichten. 





die Eskimos nicht mehr, aber sie berichten: „Eines Tages 
nahe dem Lande zeichnete Cook eine Karte. Apilak (der 
eine der beiden Eskimos) fragte: Wessen Route zeichnest du? 


Cook antwortete: Meine eigene. Das war eine Lüge. Die 
Route war weit über das Meer gelegt, wo wir nie gewesen 
waren.“ Während der Überwinterung bei Kap Sparbo schrieb 
Cook „fast unausgesetzt“ — offenbar sein Tagebuch über die 
Reise nach dem Nordpol. Während der Heimreise Anfang 
1909 die Eiskante von Ellesmereland entlang wurde auf 
Seehunde geschossen, so daß bei der Wiederankunft in 
Anortok nur noch vier Patronen vorhanden waren. Diese 
Einzelheit ist deshalb von Interesse, weil Cook erzählt hatte, 
er hätte sich bei Kap Sparbo, da der Schießbedarf aus- 
gegangen wäre, Speere, Bogen und Pfeil anfertigen müssen, 
um Jagd auf Polartiere zu machen und dadurch das Leben 
zu fristen! Rasmussen, der bisher noch Cook geglaubt hatte, 
muß diese Aussagen der Eskimos als durchaus zuverlässig 
bezeichnen. 

Olsen hat auch zwei Eskimos, die Mitglieder der Expedition 
Pearys waren, ausgefragt. Unter ihnen war der Eskimo 
indessen nicht, der mit Peary und seinem schwarzen Diener 
am Nordpol war; sie waren vor Beginn des letzten Ansturmes 
zurückgeblieben. 

Übrigens hat der Jäger Harry Withney, dem Cook 1909 
seine Originalaufzeichnungen bei Etah übergeben hatte, und 
der sie dann dort zurückließ, da Peary ihn mit diesen Papieren 
nicht an Bord nehmen wollte, im Sommer 1910 Cooks 
Winterlager bei Kap Sparbo besucht und dort Cooks leere 
Hütte gefunden — was allerdings nichts Überraschendes ist. 
Dagegen sind jene angeblichen Originalaufzeichnungen und 
Instrumente Cooks noch immer verschollen. 


— Wie Bd. 95, 8. 387 mitgeteilt wurde, gedachte der 
Amerikaner E. de Koven Leffingwell, ein Mitglied der 
Mikkelsenschen Expedition ins Beaufortmeer, im Mai 1909 
eine auf drei Jahre berechnete Expedition zwecks topo- 
graphischer und geologischer Arbeiten an der Nordküste 
Alaskas anzutreten. Das ist geschehen, und Leffingwell 
hat unter dem 21. Juli 1910 von Flaxman Island der Londoner 
geographischen Gesellschaft über seine bisherige Tätigkeit 
einen kurzen Bericht erstattet („Geogr. Journ.“, November 
1910). Er langte im Mai 1909 mit seinem kleinen Kutter 
am Bestimmungsort an und setzte seine früheren Aufnahmen 
zwischen Point Barrow nnd Herschel Island fort. Land- 
einwärts kartierte er etwa 80km des bei Flaxman Island 
mündenden Canning River und vervollständigte seine früheren 
geologischen Forschungen in der Gegend; aus vier Horizonten, 
darunter zwei neuen, sammelte er viele Versteinerungen. 
Während des Winters bestimmte er vier Längen. Künftig 
will er sich mit der Küste zwischen Demarcation Point und 
dem Colville River beschäftigen. Seine älteren Gezeiten- und 
sonstigen Beobachtungen hat Leffingwell den Behörden der 
Vereinigten Staaten übergeben, die geologischen Ergebnisse 
dürften von der U. 8. Geolog. Survey veröffentlicht werden. 


— Die Kosten der Filchnerschen Büdpolarexpedi- 
tion werden auf 1200000 „%# veranschlagt. Davon ist etwa die 
Hälfte durch freiwillige Zeichnungen gedeckt. Um nun 
auch den Rest zu sichern, ist zu einem neuen Mittel gegriffen, 
nämlich zu einer Geldlotterie. Die bayerische Regierung 
— Filchner ist Bayer — hat die Lotterie genehmigt und der 
Vertrieb der Lose ist auch in Preußen und anderen Bundes- 
staaten gestattet worden. Es werden 600000 Lose zu 3 % 
ausgegeben, und der dritte Teil ist der Reingewinn: 600000 f. 
Das wäre die zweite Hälfte. 


— Den wirtschaftlichen Wert von Wasserstraßen 
in Württemberg beleuchtet A.Marquard (Tübing. Inaug.- 
Dissert. 1909), wobei er hervorhebt: Ein nicht an die großen 
Verkehrsstraßen angeschlossenes Land geht erfahrungsgemäß 
zurück; eine Entwickelung, die sich in der Jetztzeit rasch 
vollzieht. Dabei kommt die Schiffbarmachung des Neckars 
in Frage, das Neckar -Donau-Kanalprojekt, wie das Donau- 
Bodenseeprojekt. Das erste württembergische Oberamt, das 
für das Neckarprojekt interessiert ist, finden wir in Neckars- 
ulm, wo die Industrie bis jetzt noch teilweise der Entwicke- 
lung harrt. Wichtig wäre der Wasserweg für das vielfache 
Vorkommen von Salz, dann kämen Zuckerrüben, Zichorie 
und Tabak in Frage. Für das Oberamt Heilbronn hat man 
etwa mit denselben Frachtgegenständen zu rechnen, wozu 
noch Kalksteine und Bausandsteine hinzutreten, eventuell 
auch der Weinbau, wie Papier-, Pianoforte-, Maschinen- 


industrie usw., wobei die chemische Großindustrie nicht zu 
vergessen ist. Oberamt Besigheim ist bis vor kurzem vor- 
wiegend landwirtschaftlich gewesen, doch regt sich jetzt dort 
auch die Industrie. Im Oberamt Marbach geht die Bevöl- 
kerung zurück, da bisher dort keine Industrie aufzukommen 
vermochte usw. — Was die Schiffahrtstrecke Mannheim — 
Heilbroun—Cannstatt—Eßlingen anlangt, so wird sie wahr- 
scheinlich in zwei großen Abständen herzustellen sein. Der 
Großschiffahrtsweg nach Württemberg wird erst durch die 
Fortsetzung zur Donau als die kürzeste Ost-West-Verbindung 
eine volle Bedeutung erlangen, Württemberg wird dadurch 
erst vollständig an den großen Verkehr angeschlossen, ein 
weit größerer Teil des Landes und auch Baden wäre erheb- 
licher an der Schiffahrtsstrecke beteiligt. Eine große Durch- 
gangsstraße von West nach Ost und umgekehrt wird stetig 
größere Bedeutung gewinnen, zumal England zur See stets 
die Oberhand behält und Zufuhren abzuschneiden in der Lage 
ist. Der Donau-Bodensee-Kanal endlich würde bei Ulm von 
der Donau abzweigen, dann dem Zuge der württembergischen 
Südbahn folgen, bei Erbach sie wieder kreuzen und in gerader 
Linie bis Biberach weitergeführt werden. Es unterliegt aber 
keinem Zweifel, daß die Verwirklichung dieser großgedachten 
und weit in die Zukunft blickenden Pläne für Handel, Ge- 
werbe und Landwirtschaft in Württemberg und darüber 
hinaus gewaltige Kräfte freimachen würde. 


— Eine Morphologie des Böhmerwaldes gibt Max 
Mayer in seiner Münchener Doktorarbeit (Erlangen 1910). 
Er unterscheidet für sein Gebiet sechs Landschaften. Die 
Furth-Neumarker Senke, ein peneplainartiges Gebiet, be- 
stehend aus Tonschiefern und Hornblendegesteinen; flacher 
Erosionstaltypus, gut besiedelt und angebaut, weitestes Vor- 
dringen der Tschechen nach Westen. Ein zweites bilden die 
Regen-Angelzüge zwischen Chambach und dem Quertal des 
Schwarzen Regens, südwestlich bis zum Längstal desselben ; 
drei ausgeprägte Gebirgszüge, unterbrochen durch das Quertal 
des Weißen Regens, bestehend im Südwesten aus Gneis, im 
Nordosten aus Glimmerschiefer, Phyllit und Hornblende- 
schiefer; die größte absolute Erhebung des Böhmerwaldes 
finden wir hier im Arber mit 1457 m, sonst sind charak- 
teristisch große tektonische Längs- und enge Quertäler; reiche 
Bewaldung auf den Höhen wechselt mit relativ guter Be- 
siedelung und Bebauung in den tektonischen Tälern. Der 
nördliche Teil des Pfahlgebirges umfaßt dann das Gebiet 
zwischen Regen und Pfahl, weiterhin zwischen den höheren 
Grenzzügen und dem Pfahl bis südöstlich Grafenau; er ist 
aufgelöst in Kuppen und kurze Rücken, besteht vorwiegend 
aus Gneis, weniger aus Granit; mit Ausnahme des schluchten- 
artig eingeschnittenen Regentales stoßen wir auf kleinere 
Bäche in relativ breiten Tälern; der Wald tritt mehr zurück, 
die Besiedelung ist als mittelmäßig güt anzusprechen, die 
Kultur als gut. Eine vierte Landschaft tritt uns im Plateau 
von Mader mit der nordwestlich davon gelegenen Gruppe 
des Lukkaberges entgegen, bestehend aus Granit, Gneis und 
wenig Glimmerschiefer; hier ist die größte Massenentwicke- 
lung des Gebirges; hochgelegene, meist flache Täler tragen 
eine fast ununterbrochene Bedeckung mit Wald und Sumpf; 
das rauhe Klima rechtfettigt die geringste Bevölkerungsdichte, 
wofür wir mit dem Zentrum der Holzwirtschaft zu rechnen 
haben. Das Ilz-Moldau-Bergland umfaßt den östlichen Teil 
der Ilzquellflüsse und das Bruchtal der Oberen Moldau; es 
stellt ein stark erniedrigtes und in einzelne flache Kuppen 
aufgelöstes, aus Granit und Gneis bestehendes Gebiet dar; 
auch hier treten uns flache, versumpfte Täler entgegen, der 
Wald findet sich vorwiegend im Nordosten, die Hänge der 
größeren Täler erweisen sich als mittelmäßig gut besiedelt, 
aber die Wirtschaft ist im allgemeinen schlecht infolge der 
klimatischen Ungunst. Das Plöckensteingebirge schließlich 
besteht aus einem granitischen Höhenzug, der sich außerhalb 
des Gebietes gegen Osten fortsetzt; von ihm sind dichte Be- 
waldung, geringe Besiedelung und starke Holzwirtschaft 
hervorzuheben. Was das mutmaßliche Klima früherer geo- 
logischer Perioden anlangt, so herrschte nach der Miozänzeit 
wohl dasselbe Klima wie heute. Im Diluvium tritt ein mehr- 
maliger Wechsel von kaltem, feuchtem : und wärmerem, 
trockenem Klima ein, entsprechend dem Vorstoßen und Rück- 
wärtsschreiten der nordischen und alpinen Gletschermassen. 
Während der Eiszeit herrschten im Böhmerwald wohl haupt- 
sächlich südwestliche Winde, hervorgerufen von der über 
den Eismassen der Alpen lagernden Antizyklone. So wird 
im allgemeinen im Diluvium, vielleicht auch schon früher, 
der reichlichere Niederschlag auf der Südwestseite des Ge- 
birges gewesen sein und dadurch hier die stärkere Erosion 
hervorgerufen haben. 





Verantwortlicher Redakteur: H., Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


| GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE. 


. VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE, 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 








Bd. XCVIII. Nr. 22. 


BRAUNSCHWEIG. 


15. Dezember 1910, 











Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung "gestattet. 


Über die Bedeutungen von „amerikanisch“, „Amerikaner“ usw. 
Von Dr. Alexander F. Chamberlain, 


Professor der Anthropologie an der Clark-Universität zu Worcester, Massachusetts. 


Als der berühmte Ethnolog Dr. Daniel G. Brinton 
im Jahre 1891 sein Werk über die primitiven Völker 
der Neuen Welt veröffentlichte, nannte er sie „The 
American Race“ (die amerikanische Rasse). Darin folgte 
er vielen europäischen Vorgängern, z. B. Lafiteau mit 
seinen „Moeurs des Sauvages Ameriquains“ (1724), 
worin die Indianer ganz kurz als „Américains“, d. h. 
Amerikaner, bezeichnet werden. Die ersten „Ameri- 
kaner“ sind zwar die „Uramerikaner“, die Rothäute, die 
das Land Jahrtausende vor der Ankunft der Weißen 
besaßen. Der Engländer aber und sein „strenuöser* 
Sohn, der Yankee, welcher sich allmählich zum Meister 
des nördlichen Teiles des Kontinents gemacht hat, wollen 
hier keine sprachliche Rivalität dulden. Also muß es 
nur eine wahre „amerikanische Rasse“ geben, und da 
die rothäutigen Eingeborenen natürlich keine Angel- 
sachsen sind, so müssen sie „Indianer“ u. dgl. heißen. 
Die Weißen der Vereinigten Staaten von Nordamerika 
haben nun, obgleich die Kanadier, die Mexikaner und 
die Bürger der Republiken von Zentral- und Südamerika 
sich mit gleichem Rechte Amerikaner nennen können, 
die Ansicht, sie seien „die Amerikaner“ im Gegensatz 
zu allen anderen Leuten, welche in der Neuen Welt 
wohnen. Dazu hat auch der Europäer beigetragen, indem 
er so oft die Ausdrücke „Amerika“ und „Die Vereinigten 
Staaten“ als gleichbedeutend gebraucht hat und noch 
braucht. So spricht auch der Engländer, welcher im 
tiefen Herzen die Kanadier als „bloße Kolonisten“ ver- 
achtet, gewöhnlich von „Amerika“, wenn er „The United 
States“ oder ganz kurz „The States“ sagen soll. Gewiß 
wollen die Kanadier nicht, daß man sie auf diese Weise 
zu „Amerikanern“ mache. Dieselbe Meinung haben auch 
die Millionen von Amerikanern, welche den südlichen Teil 
des Kontinents bewohnen. Man kann sich hier der Tat- 
sache erinnern, daß es heutzutage an den Ufern des 
St. Lorenzstromes französisch -kanadische „habitants“ 
(wie dort die Bauern heißen) gibt, deren Vorfahren eine 
recht lange Zeit vor der Landung der „Pilgerväter“ in 
Massachusetts-Bai als Amerikaner hätten gelten können; 
und der große Präsident von Mexiko, P. Diaz, ist zwei- 
fach Amerikaner, da in seinen Adern nicht nur das Blut 
der alten Azteken, sondern auch das der spanischen 
Konquistadoren fließt. Und alle Amerikaner finden sich 
noch nicht auf gemeinverständlichem Grunde, sind noch 
nicht zusammengewachsen. Zur Erläuterung der Sache 
erzählt ein bereister Freund von mir folgende kleine 
Geschichte: „Eines Tages, als ich auf meiner europäi- 
schen Reise war, stürzte sich in mein Zimmer ein deut- 

Globus XOVIH. Nr. 22. 


scher Bekannter mit der fröhlichen Ankündigung: »Herr 
Professor, ich habe einen Landsmann von Ihnen gefunden, 
einen Amerikaner! Sehen Sie, er kommt.« Der Ameri- 
kaner war in Wirklichkeit ein Portugiesisch sprechender 
Herr aus Brasilien, der nur ein paar Worte Deutsch ver- 
stand und gar kein Englisch. Glücklicherweise sprachen 
wir beide ein wenig Französisch; und da saßen wir zwei 
Amerikaner und unterhielten uns mit unserem sehr 
schlimmen Französisch. Wo war der Angelsachse ?* 

Die Portugiesisch- Amerikaner haben aber Mitbürger 
aus anderen Rassen. In Worcester (Massachusetts), einer 
Stadt von rund 150000 Einwohnern, z. B. haben wir 
Afro - Amerikaner, Finnisch - Amerikaner, Armenisch- 
Amerikaner, Skandinavisch-Amerikaner, Deutsch-Ameri- 
kaner, Französisch - Amerikaner, Englisch - Amerikaner, 
Schottisch - Amerikaner, Irisch- Amerikaner (ja sogar 
Schottisch - Irisch - Amerikaner), Italienisch - Amerikaner, 
Polnisch-Amerikaner, Dänisch-Amerikaner und noch mehr 
dergleichen. Der wahre zusammengesetzte „Amerikanisch- 
Amerikaner“ schwebt noch in der Luft. 

Auch amtlich ist die Frage: Was ist amerikanisch? 
betrachtet worden. Im Juni 1904 hat der Staatssekretär 
John Hay, Leiter des Kabinetts von Me Kinley, den amt- 
lichen Gebrauch von Ausdrücken wie „Ambassador of 


the United States“, „Legation of the United States“ usw. _ 


verboten; von nun an soll man „American Ambassador“, 
„American Legation“ usw. sagen und schreiben. Hierin 
folgen die Regierungsgewalten dem Beispiele des Volkes, 
welches lange diese Ausdrücke gebraucht hatte. 

Historisch ist hier von Interesse, daß der Name 
„Amerika“ anfänglich nicht Nord-, sondern nur Süd: 
amerika bezeichnete, zuerst die Ufer Brasiliens, später 
das östliche Südamerika usw., bis Mercator im Jahre 
1541 (vielleicht mehr aus in der Form des Globus liegen- 
der Notwendigkeit als aus rein geographischer Absicht) 
das Wort America über die ganze Neue Welt ausbreitete. 
Darum hat der Brasilianer von allen Amerikanern euro- 
päischer Abkunft das beste Recht, sich „amerikanisch“ 
zu nennen. 

Die Pflanzen- und Tierwelt des neuentdeckten Amerika 
lieferte vieles, was der Alten Welt ganz fremd war, und 
bald begann man solche Dinge amerikanisch zu nennen. 
Nachher wurden auch die Tiere, Pflanzen usw. von 
Amerika, welche neue, oftmals den europäischen nur 
ähnelnde Arten und Varietäten waren, amerikanisch 
genannt; auch bezeichnete man mit dem Ausdruck ameri- 
kanisch etwas ganz Unbekanntes, dem Europäischen weit 
Entferntes oder in seinen Eigenschaften davon merk- 


44 





342 


würdig Verschiedenes. Die Ausdehnung dieser Bedeutung 
des Wortes americanus, americana (amerikanisch) 
wurde aber dadurch verhindert, daß man auch bereits 
mit demselben Sinne die Ausdrücke canadensis (d. h. 
kanadisch oder kanadianisch) und virginiensis (d. h. 
virginisch) gebraucht hatte. In den ersten Jahrhunderten 
nach der Entdeckung Nordamerikas nannte man gewöhn- 
lich neue oder mehr oder minder unbekannte Pflanzen 
canadensis oder virginiensis (bzw. virginianus, 
virginicus), z.B. Cornus canadensis, Lilium canadense, 
Maianthemum canadense, Sanguinaria canadensis, Viola 
canadensis u. dgl. m.; Anemone virginiana, Clematis vir- 
giniana, Fragraria virginiensis, Saxifraga virginiensis usw. 
Von mit americanus (bzw. americana) zusammen- 
gesetzten Namen haben wir: Larix americana, Tilia 
americana, Ilex americana, Ceanothus americanus und 
viele andere. Aus patriotischen Gründen haben die Eng- 
lisch sprechenden Bewohner Nordamerikas die Zahl der 
amerikanischen Dinge vielfach vermehrt. In den Ver- 
zeichnissen von Gartenkräutern z.B. findet man folgende 
Namen: American bean, American beet, American cabbage, 
American carrot, American cauliflower, American celery, 
American corn, American cress, American kale, American 
leek, American lettuce, American muskmelon, American 
onion, American peas, American rhubarb, American squash, 
American tomato, American turnip, American water- 
melon usw. Unter amerikanisch benannten Pflanzen und 
Bäumen sind zu erwähnen: American alder, American 
aloe, American arbor-vitae, American ash, American bee- 
balm, American beech, American birch, American centaury, 
American cowslip, American crab, American cress, Ameri- 
can dittany, American dodder, American dogwood, Ameri- 
can elder, American elm, American feverfew, American 
fringe, American gromwell, American hellebore, American 
hemp, American holly, American horse-chestnut, American 
ice-plant, American ipecac, American ivy, American jute, 
American larch, American laurel, American linden, Ameri- 
can liquorice, American meadow-sweet, American mint, 
American mountain-ash, American nettle-tree, American 
nightshade, American panicum, American pennyroyal, 
American plane-tree, American poplar, American rowan- 
tree, American senna, American service-tree, American 
silver-fir, American smoke-tree, American spikenard, 
American sumac, American valerian, American vervain, 
American vetch, American wistaria, American woodbine, 
American yellowwood, American yew. In der englischen 
Mundart von Oxford nennt man eine Art von Kartoffeln 
„American breezers“; in der Mundart der Grafschaft 
Devon findet man „American creeper“ (Kanarienvogel- 
blume), „American lilac“ u.a. In einigen englischen 
Mundarten bedeutet „American weed“ (d. h. amerikani- 
öches Unkraut) das lästige Teichgewächs Anacharsis. 
Als „American weed“ wurde früher die Tabakspflanze 
(Nicotiana) bezeichnet. 

Von Tieren haben wir: American lion, auch „puma“ 
oder „cougar“ genannt, American tiger (d. h. Jaguar), 
American ostrich (Rhea), American camel (das Llama), 
American elk, American bison (Büffel), American hare 
(Lepus amer.), American robin usw. Besonders zu er- 
wähnen sind zwei andere Namen: „American beauty rose“ 
(d.h. Rose der amerikanischen Schönheit) und „American 
eagle“ (wie bekannt, der „Nationalvogel“ der Nord- 
amerikaner). 

Wie ich anderswo !) gezeigt habe, sind sehr viele 
Dinge, welche „amerikanisch“ hätten heißen können, 
„indianisch“ genannt worden. Beispiele davon sind 


1) Handbook of Amer. Inds. N. of Mexico (Bull. Bur. 
Ethnol. 30), Vol. I, Washington 1907, p. 605—607. 


Chamberlain: Über die Bedeutungen von „amerikanisch“, „Amerikaner“ usw. 


folgende Namen: Indian corn (d.h. Mais), Indian pitcher 
(die Pflanze Sarracenia purpurea), Indian rice (der „wilde“ 
Reis, Zizania aquatica), Indian weed (ein veralteter Name 
der Tabakspflanze), Indian sugar (heutzutage „maple- 
sugar“ genannt), Indian summer (dem europäischen 
Altweibersommer, Sommer von St. Martha u. dgl. ent- 
sprechend). Die Franzosen Kanadas haben auch einige 
Dinge nach dem Indianer benannt, z. B. traine sauvage 
(d. i. Tobagane, ein Schlitten, von den Rothäuten ent- 
lehnt), botte sauvage (oder Mokassin), thé sauvage (vgl. 
den englischen Namen „Indian tea“), und in Spanisch- 
Amerika finden wir noch viele andere Dinge, welche nach 
dem Indio benannt worden sind. Man kann hier die 
Tatsache erwähnen, daß ein bekannter Häuptling der 
Sioux-Indianer den Namen „American Horse“ trug. 

Es sind aber noch andere Dinge als Pflanzen, Tiere 
u. dgl. nach Amerika benannt worden, und zwar oftmals 
nicht aus Höflichkeits- oder ähnlichen Gründen. Es ist 
nicht alles gut, was aus der Neuen Welt kommt. Der 
Engländer spricht von „American shoulders“ (das sind 
nicht die physischen Schultern des amerikanischen Mannes, 
sondern die ausgestopften „Schultern“ des Rockes à la 
mode); American leather (ein gewisses künstliches Leder, 
welches man für das Überziehen von Hausgeräten braucht); 
American organ; American bowls (eine Art von Kugel- 
spiel); American system (das amerikanische Tarifsystem); 
American rake (eine mit Pferden gebrauchte Heuharke) usw. 
Weit bekannt ist „the American plan“ der Gasthäuser, 
welches System im Gegensatz zu dem „European 
plan“ steht. 

In den verschiedenen europäischen Sprachen findet 
man viele Ausdrücke, welche die sogenannten Volkseigen- 
schaften der Nordamerikaner bezeichnen. Der Franzose 
z.B. sagt à l'américaine (auf amerikanische Weise), indem 
er auf die unbegrenzte Freiheit und Kühnheit der Yankees 
hinweist. Das Schwindeln allerlei Art, welches man in 
der englischen Sprache mit den Ausdrücken „gold brick“, 
„green goods“ usw. bezeichnet, nannte der Gamin, und 
nach ihm auch die gebildete Sprache von Paris, vol 
à l’americaine, d.h. „Diebstahl auf amerikanische Weise“. 
Dem Genossen eines solchen Schwindlers legte man den 
Namen un américain bei. Die englische Volkssprache 
kennt den Ausdruck „American tweezers“, womit man 
die Drahtzange der Gasthausdiebe bezeichnet. In seinem 
im Jahre 1905 veröffentlichten „Dizionario moderno“ 
erwähnt Panzini das Wort americanata, für das er fol- 
gende Erklärung gibt: „Eine übertriebene, überraschende, 
kühne Handlung oder Unternehmung, deren charakte- 
ristische Heimat Nordamerika ist“. Ein anderer italieni- 
scher Ausdruck ist roba americana, der die für die 
Touristen gefertigten Gegenstände, Reliquien usw. be- 
zeichnet. Und mit „ganz amerikanisch“ kann der Deutsche 
viel Interessantes meinen und sagen. 

Im neuen Larousseschen Wörterbuch findet man den 
Ausdruck „avoir l’oeil américain“ (das amerikanische 
Auge haben) mit der Erklärung: „Kein Narr sein, nicht 
leicht betrogen“. Der Ausdruck ist aus dem Argot von 
Paris aufgenommen worden, worin „avoir l’oeil américain “ 
auch den Sinn hat: „Ein guter Schwindler sein“. In der 
französischen Sprache findet man weiter solche Aus- 
drücke, wie „faire l’oeil americain“, d.h. „schief sehen“; 
noeillade américaine“, d. h. „Liebesblicke“. 

Den Pferdebahnwagen nannte man in Paris erst 
„omnibus sur rails“; aber das war ein etwas ungeschickter 
Name, den das Volk bald verwarf, indem es einen ganz 
neuen, „l'américain“, für sich schuf. Das weibliche Wort 
„lamericaine* bedeutet ein leichtes Fuhrwerk, das um 
1860 gewöhnlich war; auch eine Art von Schriftzeichen, 
auf englisch „script“ genannt. In dem spanischen 


Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 





Wörterbuch findet man das Wort americana, welches 
einen einst sehr beliebten Rock bezeichnet. Der Portu- 
giese nennt americina (d.h. „kleine Amerikanerin“) eine 
gewisse kleine Eidechse. In Ägypten bedeutet malakano 
or manakano (d. h. „amerikanisch“) eine gewisse graue 
Farbe (dem ägyptischen asmar nahe verwandt). In den 
Vereinigten Staaten von Nordamerika findet man das 
Wort „American“ sogar als Personennamen. Eine be- 
kannte Dame jüdischer Abkunft trägt z. B. den Namen 
„Sadie American“. 

Es gibt auch einige Krankheiten, welche amerikanisch 
heißen. Einer der ersten Namen für die Weltpest der 
Zivilisation, die Syphilis, war „Morbus Americanus“, d. h. 
„die Amerikanische Krankheit“, ein Name, welcher den 
Gedanken (zu unserer Zeit die wissenschaftliche Theorie 
von Bloch, Suzuki, Ashmead und anderen Forschern) in 


sich trägt, daß diese schreckliche Krankheit aus der Neuen 
Welt herstamme. Wie bekannt, hat man sie auch Morbus 
Gallicus oder „Französische Krankheit“ genannt. In den 
ersten Jahren des 18. Jahrhunderts wollte der berühmte 
Arzt Astruc den Kinderblattern eine amerikanische Her- 
kunft zuschreiben und nannte sie daher „la maladie 
americaine“, die „Amerikanische Krankheit“ (seine Theorie 
ist seit langem erschüttert). Ein deutscher Name für 
das Gelbe Fieber ist „Die amerikanische Pest“. Als im 
Jahre 1869 Dr. Beard aus New York zum erstenmal die 
Neurasthenie beschrieb, legten ihr die europäischen Ärzte 
unter anderen Bezeichnungen den Namen „La maladie 
américaine“ bei. Heutzutage nennt man die konstitutio- 
nelle Nervosität (individuell und national) der Be- 
wohner der Vereinigten Staaten von Nordamerika 
„Americanitis“. 





Streifzüge in den Rocky Mountains. 


Von Charles L. Henning. Denver. 


V. Der Clear Creek-Distrikt: Golden — Clear Creek Canyon — Black Hawk und Central City — Idaho 
Springs — Georgetown — Silver Plume — Mount McClellan. 
Mit 12 Abbildungen. 
(Fortsetzung.) 


I. 

Von Black Hawk aus führt eine Schmalspurbahn 
durch Chase Gulch in zahlreichen Windungen "nach 
Nevadaville (2910 m) und weiter nach Russell Gulch 
(2940 m) zum Zwecke der Kohlenbeförderung für die in 
und um die genannten Plätze liegenden Minen. Personen- 
beförderung findet auf dieser Bahn, der Gilpin County 
Railway, nicht statt, doch wird die Erlaubnis des Mit- 


g 
a-a 

an. è 

nE S Ai n SA 


P, 


nur sehr spärlich mit Fichten und Zitterpappel bestanden 
und macht infolgedessen nur geringen Eindruck auf den 
Beschauer. Das Gestein ist der Hauptsache nach ein 
weißer Porphyr. 

Nach Abladung seiner Kohlenfracht geht der Zug 
mit dem Erz der Minen beladen nach Black Hawk zurück. 

Von Russell Gulch aus hat man zum erstenmal Ge- 
legenheit, einen Blick auf die im Westen sich ausdehnende 





Abb. 6. Idaho Springs. Nach Photographie. 


fahrens gern gewährt. Die auf der Bahn verwendeten 
Lokomotiven sind nach dem Shaysystem gebaut und 
werden ausschließlich in Lima, Ohio, hergestellt. Ein 
kompliziertes, ineinandergreifendes Räderwerk setzt die 
mit mäßiger Geschwindigkeit sich bewegende Maschine 
in den Stand, auch die schärfsten Kurven zu überwinden. 
Die Fahrt selbst bietet vortreffliche Gelegenheit, die 
Topographie des Landes zu studieren und sich im Geist 
in jene Zeit zu versetzen, in der Brüche und Verwerfungen 
die uns heute entgegentretende Gestalt des Gebirges ge- 
schaffen haben. Nevadaville und Russell Gulch liegen 
auf der Höhe des Quartz Hill, eines domförmigen Berges, 
der zugleich der höchste des ganzen Distriks ist; er ist 


Continental Divide zu genießen, deren mit Schnee be- 
deckte Häupter einen wundervollen Kontrast zu dem 
Blau des Himmels bilden. Ich verließ den Zug in Russell 
Gulch, um von hier aus zu Fuß nach Idaho Springs zu 
wandern, das südlich von Russell liegt. Der Weg dahin 
führt in einem steilen Abfall durch Virginia Canyon, 
eine Schlucht von etwa 6 km Länge, die ihren höchsten 
Punkt, 3020 m, bei den letzten Häusern von Russell er- 
reicht. Das Panorama ist von hieraus großartig: im 
Norden erheben sich gewaltige Berggruppen, im Osten 
thront der bis zu 3300 m ansteigende und noch dicht 
bewaldete Pewabic Mountain, während im Westen das 
Massiv des Bellevue Mountain (3250 m) den Blick in die 


44* 


Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 








Abb. 7. 


Ferne einschränkt. Auch an den beiden zuletzt- 
genannten Bergen liegen verschiedene Minen in stiller 
Ruhe, darauf wartend, bis wieder ein unternehmender 
Geist sich findet, sie zu neuer Tätigkeit zu beleben. 

Auch die Natur schien offenbar an der hier oben 
herrschenden Ruhe teilzunehmen; nur hier und da ließ sich 
ein Gebirgshäher (Mountain Jay) vernehmen, andeutend, 
daß doch nicht alles leblose Öde ist. Zahlreiche Erd- 
eichhörnchen (Chipmunks) kreuzten meinen Pfad, in 
Windeseile hinter diesem oder jenem Felsen verschwindend 
oder neugierig stille haltend. Der Weg durch die Schlucht 
ist infolge seiner Steilheit und der vielen scharfen Steine, 
von denen der Fuß beständig abrutscht, kein besonderes 
Eldorado für Fußgänger und macht öfters Ausruhen nötig. 
Als ich an einer Wegbiegung Halt 
machte, kamen zwei von je vier 
mageren Pferden gezogene, mit 
altem Hausrat bis zur äußersten 
Fassungskraft beladene Wagen 
an mir vorbei, deren Insassen 
offenbar auch aus Russell weg- 
gezogen waren, um, mit ihren 
Habseligkeiten weiter wandernd, 
anderswo das Glück zu suchen, 
das ihnen das einst berühmte 
„Goldland* versagt hatte Es 
überkam mich ein eigenartig weh- 
mütiges Gefühl, als ich diese 
„Auswanderer“ mit bleichen Ge- 
sichtern und dürftiger Kleidung 
an mir vorüberziehen sah, und 
noch lange war das Klappern der 
alten Ofen- und Herdröhren, die 
die Wagen bekrönten, zu ver- 
nehmen, als diese im dichten 
Staub der Straße talwärts ihren 
Weg weiter nahmen. 

In Idaho Springs traf ich 
nachmittags kurz nach 4 Uhr 
nach dreistündiger Wanderung 


ein (Abb. 6). Abb. 8. 


Stark gefaltete Felspartie bei Idaho Springs. Aufn. d. Verf. 


Silver Plume, von Osten gesehen. 


In 2435 m Seehöhe gelegen, 
erstreckt sich die 3500 Einwohner 
zählende Stadt in einer langen, 
von Ost nach West laufenden 
Straßenzeile.e Im Vergleich zu 
Central City und Black Hawk 
herrscht hier ein regeres Leben, 
das sich noch lebhafter gestalten 
dürfte, wenn die größte Mine des 
Ortes, der Argo-Tunnel, früher 
Newhouse-Tunnel genannt, der 
bis jetzt 8 km in den nördlich 
von Idaho Springs belegenen Seton 
Mountain gebaut ist, jene Stelle 
erreicht, von wo man von einer 
am Pewabic Mountain belegenen 
Mine einen 760 m tiefen Schacht 
gebohrt hat. Im Argo-Tunnel, 
der von einem Konsortium ver- 
schiedener Kapitalisten — dar- 
unter auch englisches Kapital — 
abgebaut wird, arbeiten zurzeit 
etwa 75 Mann in Tag- und Nacht- 
schicht. Außer dem Argo-Tunnel 
sind noch etwa 6 kleinere Minen 
im Betrieb. 

Idaho Springs macht einen 
freundlichen Eindruck mit seinen 
meist weiß angestrichenen Häusern und wohlgepflegten 
kleinen Gärten, die einen gewissen Wohlstand der 
Bewohner verraten. Mehrere gute Hotels und Logier- 
häuser liefern für mäßige Preise Unterkunft und Ver- 
köstigung; das Bellevue-Hotel wird von einem Elsässer 
geführt. Im Süden und Norden des Ortes erheben sich 
bis nahe an 3000 m hohe, teilweise noch dicht bewaldete 
Berge, unter denen Flirtation Peak vielfach als Ausflugs- 
ziel gewählt wird. 

Die Hauptbedeutung des Ortes liegt neben seinen 
Mineralschätzen aber vornehmlich in seinen heißen und 
kalten Schwefelquellen, die denn auch der Stadt ihren 
Namen gegeben haben. Sämtliche Quellen liegen im 
östlichen Teile des Ortes gegen den Cleer Creek Canyon 





Aufn. d. Verf. 


Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 


345 





zu und werden in drei Gruppen eingeteilt: Hot Springs, 
Blue Ribbon Springs und Cold Sulphur Springs. Neben 
den noch heute tätigen Quellen sind an vielen Stellen 
Beweise für das Vorhandensein von früheren aktiven 
Quellen in gelblichweißen Travertin- oder Kalksintern 
gegeben. Die Hot Springs treten an die Oberfläche 
nahe dem Kontakt eines Alkalisyenits mit präkam- 
brischem Gneis, während die Blue Ribbon Springs am 
Kontakt eines kleineren Körpers desselben intrusiven 
Gesteins sich finden; die Cold Sulphur Springs kommen 
aus dem Gerölle des Talbodens.. Die Temperatur der 
heißen Quellen schwankt von 37 bis 42°C und darüber. 
Behufs Benutzung für Heilzwecke sind die Quellen in 


Abb. 9. 


komfortabel ausgestatteten Badehäusern eingeschlossen, 
die besonders während der Sommermonate viele Kur- 
gäste aus dem Osten oder selbst aus Europa beher- 
bergen. Ihrer chemischen Zusammensetzung nach be- 
stehen die Quellen im wesentlichen aus Natrium-, Eisen-, 
Magnesiumkarbonat und aus Natrium- und Magnesium- 
sulfat mit geringen Mengen von Kalziumsulfat, Kalzium- 
karbonat, Kochsalz und Schwefelwasserstoff. 

Das Wasser der Blue Ribbon Springs bildet einen 
Haupterwerbszweig von Idaho Springs und wird in 
großen Mengen nach dem Osten als Tafelwasser versandt. 

Was den Ursprung der Quellen anbelangt, so geht 
die Ansicht der amerikanischen Geologen in Überein- 
stimmung mit der von Ed. Suess aufgestellten Theorie 
dahin, daß die in den Wässern enthaltenen Basen das 

Globus XCVIII. Nr. 22. 


Resultat'der Auslaugung des Gesteins sind, und daß die 
Säuren bzw. Säurereste aus den Emanationen eines sich 
abkühlenden vulkanischen Magmas herrühren. Von dem 
eigentlichen Wasser (H,O) der heißen Quellen glaubt 
man annehmen zu sollen, daß es das gleiche ist, welches 
auch den Erzgängen zugrunde liegt, und das als Exhala- 
tionen des in größerer Tiefe vorhandenen Magmas all- 
mählich nach oben steigt; man vermutet, daß in einer 
gewissen Tiefe von etlichen tausend Fuß unter der 
Oberfläche die den heißen Quellen entstammenden Wasser 
auch noch heute mineralbildend wirken. 

Von Idaho Springs uns westwärts- -wendend, folgen 
wir mit dem Geleise der Colorado and Southern R. R. 





Georgetown, von Westen gesehen. Nach Aufn. von L.C.McClure. 


zugleich dem Clear Creek stromaufwärts und passieren 
nacheinander die Orte Fall River, Dumont und Empire 
Station, um schließlich den Amtssitz von Clear Creek 
County, Georgetown, mit 2735 m Seehöhe, zu erreichen. 
Die Gegend von Idaho Springs bis Georgetown zeigt 
einen durchaus anderen Landschaftscharakter, als jene 
des Canyon. Das Flußtal ist breiter, zu beiden Seiten 
von immer höher ansteigenden Berggruppen, von denen 
die meisten abgestumpften Pyramiden gleichen, eingefaßt 
und, schon bei oberflächlicher Betrachtung, sehr deutlich 
ausgesprochene Faltungen zeigend (Abb.7). Die kühlere 
Luftströmung belehrt uns, daß wir uns der Region des 
Hochgebirges nähern. 

Kurz vor Georgetown rücken die Bergriesen näher 
aneinander und zeigen im Republican und Democrat 


45 


346 


Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 





Mountain zur Rechten (Norden) und Saxon und Griffith 
Mountain zur Linken (Süden) ihre mächtigste Ent- 
faltung. 

Georgetown (Abb. 9)*) hat heute eine Einwohner- 
zahl von etwa 1500 und ist nach George Griffith, dem 
heute noch lebenden County Clerk von Clear Creek 
County, benannt, der in der Nähe des ‘Ortes am 
1. August 1859 Erz entdeckte. Vor dieser Zeit waren 
dort nur einige Häuser unter dem Namen „Elizabeth- 
town“ bekannt. Die Lage des gleich Idaho Springs 
von peinlichster Sauberkeit Zeugnis ablegenden Ortes 
ist malerisch schön; nahe bei der Bahnstation ist ein 
wohlgepflegter kleiner Stadtpark angelegt. Zwei Hotels, 
St. James Hotel und The Barton House, das letzte von 
einem Deutschen, Hugo Lendecke, geführt, sind vorzüg- 
lich. Das Trinkwasser des Ortes ist gleich dem von 
Idaho Springs vortrefflich. 

Von den bei Georgetown belegenen Minen sind vor 
allem die Capitol-"und Griffith-Mine zu nennen. 

Eine besondere Berühmtheit hat Georgetown durch 
den sogenannten Loop gewonnen, der alljährlich, be- 
sonders aber während des Sommers, Tausende von 
Touristen und Ausflüglern hierher bringt. In Serpen- 
tinenwindungen führt der Zug im Tal des Clear Creek, 
höher und höher steigend, über eine 25m über dem 
Flußbett erbaute eiserne Brücke, von der man das ganze 
Panorama übersehen kann, bald das rechte, bald das 
linke Ufer des Creek berührend, nach Silver Plume 
(2960 m Seehöhe), das er nach 25 Minuten Fahrzeit er- 
reicht. Ein viel lohnenderer Genuß indessen ist es, von 
Georgetown auf der allgemeinen Landstraße, die am 
Fuße des Republican Mountain hinzieht, nach Silver 
Plume zu wandern. Schon etwa 15 Minuten nach dem 
Verlassen Georgetowns ist man bei 30m über der Stadt, 
hat den ganzen Loop zu seinen Füßen und kann so das 
herrliche Panorama viel besser überschauen, als von 
einem Eisenbahnwagen. Überdies ist der Weg viel 
kürzer; ich brauchte nur 40 Minuten, um die 2,5 km 
zwischen Georgetown und Silver Plume zurückzulegen, 
während der Zug auf seinem Schienenweg 6,5km zu 
fahren hat. 

Silver Plume (Abb. 8) hat 2960 m Seehöhe und liegt 
gleich Georgetown in einem U-förmigen Talkessel, dessen 
westlicher Hintergrund durch die Schneegipfel der Divide 
abgegrenzt ist. Der von Silver Plume sichtbare Pik ist 
der „Big Professor“. Silver Plume ist der Endpunkt 
der Colorado and Southern R. R., die die Entfernung 
von 86,5 km von Denver nach Silver Plume in 3 Stunden 
und 40 Minuten zurücklegt. 

Silver Plume ist ein Mining Camp schlechthin und 
zählt zurzeit etwa 500 Einwohner; auch hier sind von 
den zahlreichen umliegenden Minen nur wenige im Be- 
trieb. Der Ort hat ein Hotel, das New Windsor, mit 
guter Verpflegung. Gleich seinem Nachbar Georgetown 
ist der Ort rings von mächtigen Bergriesen eingeschlossen: 
im Norden schließt sich an den bis hierher reichenden 
Republican Mountain der Brown Mountain, während die 
südliche Begrenzung durch den Sunrise Peak und Mount 
Leavenworth gebildet wird. Von Silver Plume führt eine 
westlich ziehende Straße, allmählich in einen schmäler 
und schmäler werdenden Fußpfad übergehend, nach dem 
Gray’s Peak, während von dem sogenannten Pavillon aus 





*) Infolge eines Versehens bei der Entwickelung meiner 
Aufnahmen wurde das von mir genommene Bild von George- 
town leider zerstört. Ich bin deshalb Herrn Hartman von 
der Colorado and Southern R. R. für die gütige Überlassung 
der von dem Landschaftsphotographen McClure gemachten 
Aufnahme von Georgetown zu besonderem Dank ver- 
pflichtet. 


die Argentine Central R. R. ihren Aufstieg nach dem 
Mount Mc Clellan unternimmt. 

Bevor ich jedoch diesen Teil der von mir ausgeführten 
Reise schildere, seien Bemerkungen über Klima, Geologie 
und Erzlagerstätten von Gilpin County und Clear Creek 
County eingeschaltet. 


Das Klima. 


Da weder in Gilpin County noch auch in Clear Creek 
County Stationen des U.S. Weather Bureau vorhanden sind, 
und demnach keine auf mehrere Jahre sich erstreckenden 
Temperatur- und Wetterbeobachtungen vorliegen, kann 
das Klima nur auf Grund allgemeiner Wahrnehmungen 
geschildert werden. Im großen und ganzen läßt sich 
sagen, daß das Klima gleichmäßiger und weniger Schwan- 
kungen unterworfen ist, als jenes des Denver-Beckens. 
Temperaturstürze von 25 und 30°C, wie sie beispiels- 
weise in Denver innerhalb einer oder weniger Stunden 
beobachtet wurden, kommen in den beiden Counties nicht 
vor. Die Schutzwand der Continental Divide und die 
die beiden Counties gegen die Denver-Ebene abgrenzen- 
den Höhenzüge bewirken eine gleichmäßigere Tempera- 
tur, die im Durchschnitt etwa 8 bis 10°C im Jahre be- 
trägt. Im Sommer steigt das Thermometer selten bis 
auf 26°C, und im Winter sinkt sie selten auf — 20° C. 
In den höheren Lagen, z. B. in Silver Plume oder auf 
dem Mount Mc Clellan, sind naturgemäß die Temperatur- 
unterschiede beträchtlicher. 

Die in den Tälern gelegenen Orte haben eine durch- 
schnittliche Niederschlagsmenge von 485 mm. Von April 
bis August fallen die meisten Niederschläge, während 
Januar die geringste Niederschlagsmenge aufweist. In 
den Sommermonaten sind kurze Regenschauer oder Ge- 
witter, besonders während der ersten Nachmittagsstunden, 
eine fast tägliche Erscheinung. Der stärkste Schneefall 
tritt gewöhnlich Mitte Oktober ein, doch sind George- 
town und besonders Idaho Springs während des Winters 
fast schneefrei zu nennen. 

Einem jeden fällt, auch wenn er nur wenige Stunden 
sich in diesem Gebiet aufhält, die überaus reine, trockene 
und leicht atembare Luft auf, die selbst in einer Höhe 
wie Mount Mc Clellan (4516 m) keineswegs die Atmungs- 
organe beeinflußt, es sei denn, daß man schon hoch- 
gradig schwindsüchtig oder mit einem Herzfehler be- 
haftet ist. Es ist deshalb augenblicklich eine Bewegung 
im Gange, Georgetown zu einem Kurort für Asthma- 
leidende zu machen. Dr. R. B. Dexter, der sich vor 
kurzem in Georgetown niedergelassen hat, nimmt sich 
der Sache aufs eifrigste an und steht im Begriff, ein Sa- 
natorium zu diesem Zwecke zu errichten; sein Vorhaben 
dürfte um so mehr zu begrüßen sein, als wir in der Tat 
nur wenige Plätze in den Vereinigten Staaten haben 
(und diese liegen alle in einer niederen Lage), wo mit 
Asthma behaftete Personen Heilung ihres Leidens finden 
können. Wie mir Dr. Dexter erklärte, sollen an Tuber- 
kulose Leidende von Georgetown entschieden ferngehalten 
werden, damit Übertragung der „White Plague“ auf 
andere vermieden wird. Es soll in weitestgehendem Maße 
die Aufmerksamkeit der Außenwelt auf Georgetown ge- 
lenkt werden, da in genannter Beziehung hierüber noch 
nichts bekannt geworden ist. 

Auch in Idaho Springs ist augenblicklich eine Be- 
wegung im Gange, die, von der „Commercial Association“ 
des Ostens ausgehend, die Stadt als „Health Resort“ wei- 
teren Kreisen bekannt zu machen sich bemühte; die 
heißen und kalten Schwefelquellen, die große Ähnlichkeit 
mit jenen von Karlsbad haben — weshalb Idaho Springs 
auch das amerikanische Karlsbad genannt wird — sind 
für alle an Magen oder Nieren Leidende zu empfehlen. 


Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 


347 





Geologie von Clear Creek- und Gilpin County 5). 


Das Gestein des Clear Creek Canyon besteht in der 
Hauptsache aus Gneis und Glimmerschiefer. Stellen- 
weise stark hervortretende Faltungen und das an vielen 
Stellen des Canyon wahrnehmbare Auftreten von breiten 
Quarzbändern haben früher als Beweise eines sedimentären 
Ursprunges dieser Gesteine gegolten, indessen verliert 
diese Annahme immer mehr an Boden, und heute geht 
die Ansicht der meisten amerikanischen Geologen dahin, 
daß wir es im Canyon mit metamorphosierten Eruptiv- 
gesteinen des Präkambriums zu tun haben, in welche 
sich, jedenfalls während des Tertiärs, porphyritische 
Gänge (Dikes) eingeschoben haben. Zu den ältesten 
Eruptivgesteinen des Gebietes gehören die bis nach 
Georgetown und Silver Plume hinauf vorkommenden kiesel- 
säurereichen Pegmatite und Hornblendegneise, von denen 
die ersten in größerer Mächtigkeit als die letzten auf- 
treten; später folgten Intrusionen von Quarzmonzonit, 
der durch starke Pressung in Gneis überging. Am Mount 
Rosalie und in dessen Umgebung findet sich Biotitgneis 
in Form von Batholithen, Stöcken und Gängen. Man 
glaubt annehmen zu sollen, daß die Pegmatite aus flüs- 
sigem Magma auskristallisierten, durch Auslaugung aus 
dem Nebengestein aber wesentlich modifiziert wurden, 
so daß charakteristische Mineralien in der Kontaktzone 
des Pegmatits mit dem Nebengestein entstanden. James 
Underhill’) glaubt die metamorphosierten Eruptivgesteine 
als „bestimmt präjurassisch-triassisch“ ansprechen zu 
sollen. „Daß gewisse Teile (des unteren Clear Creek- 
Areals) von späteruptivem Ursprung sind, kann bewiesen 
werden, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird eines 
Tages die ganze Gegend, gleich dem Green Mountain- 
Areal in Massachusetts, als dem Devon zugehörig be- 
zeichnet werden müssen.“ 

Ein anderer Biotitgranit von bestimmtem Typus 
findet sich bei Silver Plume (Silver Plume Granite). 

Besonders erwähnenswert ist das starke Vorkommen 
von Magnetit im Pegmatit neben anderen Mineralien, wie 
Muskovit, Zirkon, Quarz, Turmalin, Feldspat, Granat, 
Apatit und Beryll. 

Zu den ältesten präkambrischen Gesteinen des Clear 
Creek-Distrikts gehört ferner die in großer Verbreitung 
auftretende Idaho Springs-Formation, der man — wenn 
auch unter Vorbehalt — sedimentären Ursprung zuge- 
schrieben hat. Ihren Namen erhielt die Formation nach 
ihrem besonders ausgeprägten Vorkommen bei Idaho 
Springs. Die stark gefaltete Formation bildet den Grund- 
stock des Gesteins des ganzen Distrikts und erstreckt 
sich über ungefähr 137 qkm; sie tritt ferner zutage von 
der Spitze des Griffith Mountain (bei Georgetown) südwärts 
bis zur Divide zwischen South Clear- und East Geneva 
Creek und besteht aus Biotit-Sillimanitschiefer, Biotit- 
schiefer, Quarzgneis und Kalksilikaten. Sie zeigt überall 
Spuren tiefgreifenden Metamorphismus, sowie Intrusionen 
von Serien holokristallinischer Eruptivgesteine. „Diese 
Formation“, sagt Ball (a. a. O., S. 37), „obgleich tief 
unter anderen vergraben, war gebirgsbildenden Kräften 


®) Das grundlegende Werk ist: Professional Paper 63 der 
U. 8. Geol. Survey: Economic Geology of the George- 
town Quadrangle, Colo., by Jos. E. Spurr and George H. 
Garrey, with General Geology by Sydney H. Ball. 1908. 
422 Seiten mit 155 Abb., 87 Tafeln u. Karten. Das Werk ist 
bei der Survey vergriffen, kann aber durch den Superintendent 
of Documents, Government Printing Office, Washington D. O., 
noch zum Preise von 1,75 Doll. bezogen werden. 

°) James Underhill: „Areal Geology of Lower Clear 
Creek“, University of Colorado Studies, Vol. 3, No.4 (August 
1906). — Für Überlassung dieser Schrift möchte ich Dr. 
Underhill, Idaho Springs, auch an dieser Stelle besten Dank 
sagen. 


unterworfen, die sie in einer komplizierten Weise fal- 
teten und in ihr eine regionale Schistosität (Schieferung) 
erzeugten. Später, aber ohne Zweifel noch in präkam- 
brischer Zeit, wurde sie mit einer Serie holokristallini- 
scher Eruptivgesteine imprägniert. Nach den verschie- 
denen Graden der Schieferung, die sich in den verschie- 
denen präkambrischen Gesteinen zeigt, muß die Zeit 
zwischen der Ablagerung der Idaho Springs-Formation 
und der Intrusion des spätesten präkambrischen Granits 
sehr groß gewesen sein, und während der langen Periode 
der Intrusion, wie aus dem granitoiden Habitus der 
Eruptivgesteine zu ersehen ist, muß die Oberfläche der 
Formation in der Gestalt, wie wir sie heute sehen, unter 
einer mächtigen Decke des darüberliegenden Gesteins 
begraben gewesen sein.“ Die Freilegung der Formation 
erfolgte offenbar in der nachkambrischen Zeit bzw. in 
jener Periode, die das Gebirgsbild von heute ge- 
schaffen hat. 

Die Geologie von Gilpin County ist im wesentlichen 
die gleiche wie die von Clear Creek County. Präkam- 
brische Gesteine, mit Imprägnationen von Quarz-Porphyr- 
gängen, sind auch hier vorherrschend. Offenbar hat dieser 
Distrikt aber eine weniger „bewegte Vergangenheit“ 
durchgemacht als der vorher beschriebene. Das Gebirge 
zeigt fast noch überall domförmige Bildungen mit nur 
stellenweisen Bloßlegungen oder Zerklüftungen des Ge- 
steins. Eine besondere Eigentümlichkeit des Gebiets, vör- 
nehmlich in dem vom North Clear Creek durchflossenen 
Teil gegen die Station Forks Creek zu und dann weiter 
am Eingang von Russell Gulch, ist die bankförmige Ab- 
sonderung des Granits: eine Eigentümlichkeit, die nur 
bei Eruptivgesteinen auftritt und auf Spannungsunter- 
schiede zurückzuführen ist, die sich in der allmählich er- 
starrenden eruptiven Masse senkrecht zur Abkühlungs- 
fläche äußerten. 

Das Werk der Erosion ist in dem gesamten geschil- 
derten Distrikt auch noch heute tätig; die ausfeilende 
Kraft des Windes löst größere oder kleinere Teile des 
Gesteins, sie als Schutthalde abwärts oder zu Tal tragend, 
und erzeugt da, wo weichere Partien der Luft geringeren 
Widerstand entgegensetzen, Klüfte und Schluchten, die 
das tiefer liegende Gestein aufschließen. Des weiteren 
richten Wolkenbrüche, die besonders, in den Hoch- 
sommermonaten keine seltene Erscheinung in den Canyons 
sind, gewaltige Zerstörungen an und schleudern haus- 
hohe Felsblöcke in die Tiefe, deren Wegschaffung oft auf 
lange hinaus den Verkehr hemmt. Durch Erosion bloß- 
gelegte, säulenförmige Bildungen konnte ich in der Nähe 
von Elk Creek beobachten. 

Was nun die eigentliche Bildung des Clear Creek 
Canyon, der ein echtes Durchbruchstal zwischen der Hoch- 
ebene von Idaho Springs und den Foothills der Denver- 
Ebene darstellt, was die Ausfeilung der Canyonwände 
und, im direkten Zusammenhang damit, die Bildung der 
zahlreichen pittoresken Formen innerhalb des Canyon 
betrifft, so haben wir es hier einfach mit den Wirkungen 
der Eiszeit zu tun, die vom Gray’s- und Torrey’s Peak 
bis Zum Canyon ihre deutlich erkennbaren Spuren zurück- 
gelassen hat. Von den beiden genannten Hochgipfeln, 
dann weiter vom Mount Evans und Rosalie erstreckten 
sich mächtige Gletscher in westlicher und östlicher Rich- 
tung über das gebirgige Hochland, dessen domförmige 
Gipfel — wie noch heute deutlich am Mount Mc Clellan 
und seinen Nachbarbergen zu sehen ist — überhaupt 
erst durch die darüber hinziehenden Gletscher ihre jetzige 
Gestalt erhielten, wenn sie nicht schon im späteren 
Tertiir — wie von einzelnen behauptet wird — ihre 
jetzige Form angenommen haben dürften. Die Täler 
waren vor der Eiszeit breiter als heute. 


45* 


348 


Schoen: Alte Sitten in der Bretagne. 





In der Eiszeit bildeten sich dann jene charakteristi- 
schen V-förmigen Täler jenes Hochlandes, während gla- 
ziale Zirkusse (so an Gray’s- und Torrey’s Peak) sich an 
dem Ursprung der Ströme bildeten, die in tieferen Lagen 
(Georgetown und Silver Plume) in U-förmige Täler über- 
gehen. Die gewaltigen, vom Hochgebirge herabkommen- 
den Wassermassen durchbrachen dann, einen Ausweg in 
ihrer ostwärts gerichteten Bewegung suchend, das ver- 
mutlich im Tertiär durch Hebung gebildete Gebirge und 


schufen so neben dem Clear Creek Canyon auch die benach- 
barten Canyons, den Bear Creek Canyon, den Turkey Creek 
Canyon u. a. Die Bewegung der Wassermassen war 
nicht streng west-östlich; die verschiedene Härte des Ge- 
steins führte zur Bildung von Kreuz- und Querwegen 
des Wassers, die da und dort Blöcke abrissen und sie 
weiterführten. Noch heute geht dieses Werk der Zer- 
störung innerhalb der Canyons, wenn auch in geringerem 
Maße, ungestört seinen Weg. (Schluß folgt.) 


Alte Sitten in der Bretagne. 
Volkslieder und Hochzeitsfeste. 


Von Prof. Dr. Heinrich Schoen. 


Cahors (Lot). 


(Schluß.) 


VL 


Noch interessanter sind die Hochzeitsfeste und Hoch- 
zeitslieder in der westlichen Bretagne. Wenn ein reicher 
Bauernsohn heiratet, werden öfters sechs- bis achthundert 
Gäste eingeladen, und manchmal mehr. Da werden un- 
geheure Kessel im Freien aufgestellt; ganze Ochsen 
werden, wie in alter Zeit, vor einem riesigen Feuer ge- 
braten; Hühner- und Gänsebraten werden dutzendweise 
aufgetischt, und der Apfelwein muß stromweise aus den 
Fässern fließen. Wenn es an Tischen fehlt, werden auf 
der nächsten Wiese zwei parallele Gräben in einer Ent- 
fernung von einem Meter gegraben; die aufgeworfene 
Erde bildet den Tisch; die Gäste sitzen auf der äußeren 
Seite eines jeden Grabens und stellen die Beine gemüt- 
lich in denselben. 

Solche Hochzeiten dauern manchmal drei Tage. Das 
Mittagessen findet gewöhnlich von zwölf bis vier Uhr 
statt. Darauf folgt Musik und Tanz, bis um sieben Uhr 
das Essen und Trinken von neuem beginnt. Und am 
folgenden Tage fängt das Fest wieder an. 

Das alles sind aber sozusagen nur die äußeren Kund- 
gebungen der Feier, die jedem Touristen zugänglich 
sind. Viel eigentümlicher sind die alten Zeremonien 
und Lieder, die nur den Eingeweihten verständlich sind 
und die ich besonders im „Pays de Cornouailles“ studieren 
konnte. 

Dort muß der junge Bauer, der ein Mädchen zu 
seiner Braut gewählt hat, einen Bazwalan oder 
Brautwerber als Vertreter haben. Dieser ist gewöhn- 
lich ein älterer, mit allen Volkssitten vertrauter Dichter 
oder Barde, der alle Leute der Gegend kennt. Wenn er 
seinen Vermittlerdienst ausrichten will, trägt er einen 
blühenden Ginsterzweig, ein uraltes Zeichen des Friedens 
und der Unverletzlichkeit des Liebesgesandten. Daher 
der Name, der aus baz, Rute, und walan, Ginster, ent- 
standen ist. 

Dieser Bazwalan begibt sich nun in den Hof der 
Eltern des betreffenden Mädchens, um die Sache seines 
Schützlings zu verteidigen. In der Brusttasche trägt 
er das geheimnisvolle „Louzou ar garantez“, die kleine 
Pflanze der Liebe, die, der Sage zufolge, wie ein Talisman 
bei jungen Leuten gegenseitige Leidenschaft entstehen läßt. 

Sollte es vorkommen, daß beim Eintreten des Baz- 
walan die Feuerbrände im Kamin aufrecht stehen, und 
die Hausfrau, ohne auf ihn zu achten, einen Kuchen 
nimmt und ihn mit den Fingerspitzen über das Feuer 
hält, so ist dies ein schlechtes Zeichen: der Gesandte ver- 
steht, daß er seinen Plan aufgeben muß, und geht weiter. 

Wenn ihn aber bei seiner Ankunft ein Freudenschrei 
zum Eintritt einladet, wenn die Kuchen vor ihm auf den 
Tisch gestellt werden und im Kamin die Feuerbrände 


wie gewöhnlich fortbrennen, so ist das ein Zeichen, daß 
alles gut geht. 

Hoffnungsvoll spricht der so aufgenommene Ver- 
mittler einige Worte mit der Mutter und geht mit ihr 
hinaus; bald kommt diese zurück und setzt ihrer Tochter 
alles auseinander. Stimmt diese bei, so wird einige Tage 
darauf der Vertrag von den Vätern abgeschlossen, und 
von nun an gilt er den beiden Verlobten als unantastbar. 
In der Bretagne ist nämlich die Verlobung ebenso heilig, 
wie in den meisten anderen französischen Provinzen die 
Heirat selbst. 

Schon vier bis sechs Wochen darauf findet die Hoch- 
zeit statt. Am festgesetzten Tage füllt, kurz nach Sonnen- 
aufgang, ein jubelnder Haufe das Haus der Braut, um 
sie zur Kirche abzuholen. Wenn es sich um reiche Bauern 
handelt, sind die Leute zu Pferde. Voran erblickt man 
Bräutigam und Brautführer. Auf ein gegebenes Zeichen 
steigt der Brautwerber langsam vom Pferde ab. Majestä- 
tisch geht er die Treppe vor dem Hause hinauf; er 
singt aus dem Stegreife ein Lied, in dem er Gottes, des 
Sohnes und des heiligen Geistes Segen über Haus und 
Hof erfleht: 


„Bonheur et joie en ce logis! 
Voici le messager des noces.“ 


Ihm muß ein anderer Stegreifdichter aus dem Hause, der 
„Bräutaör“ oder Brautgeber, im Namen der Familie 
der Braut antworten. 

Sodann entspinnt sich ein merkwürdiges Zwiegespräch, 
das allerdings je nach Gelegenheit verlängert oder geändert 
werden kann, dessen Hauptgedanken aber meist folgende 


sind: Der Bazwalan. 


Gott gebe diesem Hause Lust 
Weit mehr als wohnt in meiner Brust. 


Der Bräutaör. 


Was liegt Dir, Freund, in Deiner Brust 
Daß Dir im Herzen fehlt die Lust? 


Der Bazwalan. 


Es flog mir aus dem Taubenhaus, 

Vom Tauber weg ein Täubchen aus. 
Da kam herbei ein Sperber groß, 

Gar plötzlich wie des Windes Stoß, 

Der hat mein Täubchen so erschreckt, 
Daß ich nicht weiß, wo sich’s versteckt, 


Der Bräutaör. 
Doch gar herausgeputzt Du bist 
Für einen, der so traurig ist. 
Du hast gekämmt Dein langes Haar, 
Als gingst Du heut’ zum Tanz, fürwahr! 
Der Bazwalan. 
Mein Freund, o laß das Spotten gehn! 
Hast Du mein Täubchen nicht gesehn? 
Mir gilt kein Glück auf dieser Welt, 
Bis sich mein Täubchen eingestellt. 


Schoen: Alte Sitten in der Bretagne. 349 





Der Bräutaör. 
Kein Täubchen kam mir zu Gesicht, 
Und auch Dein weißer Tauber nicht. 
Der Bazwalan. 
Tot find’ ich wohl den Tauber mein, 
Kehrt nicht zurück das Weibchen sein. 
Drum, lieber Freund, laß mich doch gehn, 
Um selbst im Haus herumzusehn. 
Der Bräutaer. 
Halt! Freund! Du darfst hinein nicht gehn! 
Ich will danach schon selber sehn. 
Bei diesen Worten kehrt der Brautgeber ins Eltern- 
haus zurück und erscheint einige Augenblicke später 
wieder vor dem Haus, ein kleines Mädchen an der Hand 
führend. Er bietet dasselbe dem Werber an; doch dieser 
antwortet mit einer Verneigung: 


Der Bazwalan. 
Die Blum’ ist zart und artig so, 
Daß manches Herz drob würde froh... 
Er preist des Mädchens Schönheit und Anmut; doch, 
fügt er hinzu, müssen erst zehn Jahre vorübergehen, 
bis es dem verlorenen Täubchen gleiche. 
Darauf entfernt sich der Brautführer wieder 
kehrt mit der Hausfrau zurück. 


und 


Der Bräutaer. 
Ich stieg hinauf, doch kam mir nicht 
Dein weißes Täubchen zu Gesicht; 
Die Ahre fand ich nur, vergib, 
Die von der Ernte liegen blieb. 


Doch auch sie kann der Bazwalan nicht annehmen. Da 
führt der Brautgeber die Großmutter herbei: 


Der Bräutaör. 
Von keiner Art ich Täubchen sah, 
Nur diesen Apfel fand ich da; 
Der Apfel längst schon runzelt gar, 
Am Baum er unter Blättern war. 
Der Bazwalan. 


Ich danke Dir, mein guter Freund, 
Wenn auch ein Apfel runzlig scheint, 
Der Wohlgeschmack ihm bleiben kann '*). 
Doch was geht mich der Apfel an?... 
Mein Täubchen möcht’ ich wiedersehn; 
Ich will es selber suchen gehn! 


Endlich ergibt sich der Brautführer und spricht: 


Herr Gott! was ist doch der so fein! 

So komm, mein Freund, komm mit hinein! 
Du nicht verlorst Dein Täubchen zart, 

Ich selber hab’ Dir’s aufbewahrt; 

Von Elfenbein sein Käfig war, 

Die Sparren Gold und Silber gar. 

Da ist sie nun, von Lieb entzückt, 

So artig schön und wohlgeschmückt"”). 


Da wird der Brautwerber feierlich ins Haus eingeführt. 
Er holt den Bräutigam herbei, der in der Nähe den 
Schluß des poetischen Streites erwartete, und die ganze 
Familie setzt sich im großen Wohnzimmer des Hauses, 
um der folgenden Zeremonie, der sogenannten Gürtel- 
szene, beizuwohnen. 


VII. 


Sobald der Bräutigam erscheint, übergibt ihm der 
Hausvater einen Pferdegurt, und während jener seine 
junge Braut damit umgürtet und den Gürtel wieder löst, 
singt der Brautgeber das folgende Lied: 


Das Gürtellied. 


Auf einer Wiese hab’ gesehn 
Ich eine junge Stute gehn. 


18) Sprichwort in der, Bretagne. 
Y) Etwas geänderte Übersetzung von Keller. 


Es war ihr vor nichts Schlimmem bang, 
Sie lustig auf der Wiese sprang. 


Da mußte dieses Weges gehn 
Ein edler Reiter, jung und schön. 


So wohlgewachsen, schön und hold, 
Sein Kleid von Silber glänzt, und Gold... 


Als nun die Stute den gesehn, 
Da blieb sie starr vor Staunen stehn. 


Der Schrank’ sie naht’ mit leisem Gang, 
Und drüber streckt’ den Hals sie lang... . 


Der Reiter drauf gar schön ihr tat, 
Und seinen Kopf dem ihren naht’. 


Er gab darauf ihr einen Kuß; 
Das macht der Stute nicht Verdruß. 


Nun legt’ er einen Zaum ihr an, 
Und einen Sattelgurt sodann. 


Auf ihren Rücken er sich schwang, 
Sie heimzuführen ihm gelang '*). 


Hat diese naive Szene, in ihrer Einfachheit, nicht eine 
tiefe symbolische Bedeutung! 


VII. 


Nach der Gürtelzeremonie erfleht der Barde Gottes 
Segen für die junge Braut, sowie auch für ihre Eltern und 
Großeltern. Lebt der Großvater noch, so kniet die Braut 
vor ihm nieder. Nachdem ihr der Greis seinen Segen 
erteilt hat, hebt sie die Brautjungfer auf. Der Braut- 
geber legt ihre Hand in die Rechte des Bräutigams; die 
Ringe werden vertauscht; Braut und Bräutigam schwören 
einander, daß sie auf Erden so eng vereint sein wollen, 
wie der Ring mit dem Finger, auf daß sie es auch im 
Himmel seien. Endlich beten alle mit lauter Stimme ein 
pater, ein ave und ein de profundis. 

Nach dieser tief ernsten Feierlichkeit erscheinen die 
Verwandten, um sich der Familie anzuschließen. Der 
Bazwalan nimmt das Pferd des Bräutigams, führt es vor 
die Haupttreppe und hält es am Zaume, während der junge 
Mann aufsteigt. Der Brautgeber nimmt die junge Braut 
in seine Arme und setzt sie hinter den Bräutigam. Jeder 
anderen Person oder jedem Paar vom Zug führen die 
Knechte das Pferd nach der Reihe vor. Es öffnet sich 
die Schranke, und im Galopp geht es nach der Dorf- 
kirche oder zuerst nach dem Rathaus, wenn die Zivil- 
ehe noch nicht stattgefunden hat. Der erste Reiter, der 
an einem bestimmten Platz vor der Kirche oder vor dem 
Stadthaus ankommt, gewinnt einen Hammel, der zweite 
einige Bänder. 

Da bei diesem Ritt manche Unfälle vorgekommen 
sind, wird der letzte Konkursritt heutzutage meist auf- 
gehoben. 


In manchen Dörfern begibt sich der Priester vom 
Altar in die Sakristei, wohin ihm die neuen Gatten und 
ihre Verwandten folgen. Der Brautführer bringt einen 
Korb, der mit einem schneeweißen Handtuch bedeckt ist, 
und legt ihn vor den Priester nieder. Dieser zieht ein 
weißes Brot heraus und macht darauf mit einem Messer 
das Zeichen des Kreuzes; er schneidet ein Stück heraus 
und reicht es dem Brautpaar. Darauf nimmt er aus dem- 
selben Korb eine Flasche Wein und füllt eine silberne 
Schale. Der junge Mann trinkt zuerst daraus und reicht 
seiner jungen Frau die Schale. Dann empfangen beide 
nochmals den Segen des Priesters. 

Beim Heraustreten aus der Kirche wird der Zug von 
Schüssen und Musik empfangen. Das Hochzeitsmahl 
wird im Hofe der Braut eingenommen, wo alles festlich 


18) Übersetzung von Keller und Seckendorf; das Lied ist, 
wie das vorhergehende, sehr abgekürzt worden. 


350 


Schoen: Alte Sitten in der Bretagne. 





geschmückt ist. Der Sitz der jungen Frau ist am Ende 
des einen Tisches bereitet und gleich einer blühenden 
Laube geziert. 

Ehe man sich zu Tische setzt, spricht ein Greis das 
benedicite. Jedes Gericht wird von einem Musikstück 
begleitet, denn „Biniou- und Bombardespieler“ !9) wohnen 
dem Feste bei. Von Zeit zu Zeit stimmt die ganze Ver- 
sammlung irgend ein nationales Volkslied an. Bald 
heiter und leidenschaftlich, bald traurig und melancholisch, 
sind diese Lieder ein treues Bild des Landes, mit seinen 
herrlichen Landschaften und seiner öden Heide. 


Dein muß ich doch auf immer sein, 

Und Tag und Nacht gedenk ich Dein! 

Drei Paar Holzschuh’ verbraucht ich schier, 
O Süße, Dir zu folgen hier. 


Wohl fünfzig Nächte harrt ich hier, 
Du weißt es nicht, vor Deiner Tür; 
Mich Wind und Wetter nicht verdroß, 
Ob’s Wasser auch vom Kleide floß. 


(Aus einem alten ungedruckten Hochzeitstischlied.) 


Nach dem Essen wird fröhlich getanzt. Die Tänze 
sind aber nicht die kurzen, lustigen Walzer und Polkas 
der meisten französischen Provinzen. Ihrem Charakter 
gemäß, haben die Bewohner der Bretagne langsame, feier- 
liche Tänze, die oft zwanzig bis dreißig Minuten dauern, 
ohne den in rhythmischen Schwingungen bewegten Körper 
zu erschöpfen. 

IX. 

Nach Mitternacht wurde früher die Neuvermählte 
von allen Anwesenden entkleidet und zu Bette gelegt. 
Ihr Mann nahm neben ihr im großen, schrankartigen 
Brautbette Platz. Man trug ihnen dann noch eine 
Milchsuppe auf, die zu neuen symbolischen Zeremonien 
und Liedern Anlaß gab. Das Auskleiden ist heutzutage 
nicht mehr gebräuchlich, doch die Milchsuppe ist in 
manchen Dörfern geblieben. Sie wird dem jungen Ehe- 
paar vom Brautführer und von drei Freunden auf einer 
Tragbahre feierlich vorgeführt, und beide junge Leute 
müssen, ob gern oder ungern, eine Schüssel leeren, 
während die Gäste vor dem Ehebett das Milchsuppen- 
lied (Chanson de la soupe au lait) singen: 


Läute, Glöckner, läute! 

Läute immerzu! 

Die Suppe steht für uns bereit, 
Nach Arbeit kommt die Ruhezeit. 


Läute, Glöckner, läute! 

Läute immerzu! 

Die Suppe steht jetzt auf der Bank, 

Zur Arbeit kommt Ihr frisch und frank ®"). 


Häufig legt man den Neuvermählten noch einige kleine 
Kinder oder Puppen auf die Decke des Bettes. 

Der Bazwalan und der Bräutaör bekommen als 
Hochzeitsgeschenk ein Paar lange weiße Strümpfe mit 
gelbem Zwickel und einen schönen, breiten Gürtel aus 
roter Wolle. 

Das Volk hält außerordentlich an diesen Volkssitten, 
die vielleicht aus den ersten Jahrhunderten nach Christi 
Geburt stammen. Denn schon die ältesten Barden der 
Bretagne feierten die Hochzeiten auf ähnliche Weise mit 
Tänzen und Festgesängen, und bis ins 14. Jahrhundert 
hatten sie nach neu entdeckten Dokumenten das Recht, 
Ehen gültig einzusegnen. 


1°) Biniou ist eine Art Dudelsack mit weitem Bauche; 
Bombarde eine Art Hoboe, die gewöhnlich in der Bretagne 
den Biniou begleitet. 

®) Vgl. Brizeux’ Lied: Chantons la soupe blanche, amis, 
chantons encore — Le lait et son bassin plus jaune que 
de lor. 


X. 


Doch mit der Milchsuppenzeremonie ist nicht alles 
vollendet. 

Am folgenden Morgen früh erscheinen die Armen, 
die Überreste des Gastmahles zu verzehren. Das Ehe- 
paar sieht es als eine heilige Pflicht an, die Gäste selbst 
zu empfangen. Der Mann bedient die Männer, die junge 
Brauť die Frauen. Darauf tanzt die Frau mit dem ehr- 
würdigsten der Armen, der oft ein Dichter ist; der junge 
Mann bietet der ältesten Bettlerin seinen Arm. Schließ- 
lich bringen die Armen ihre Glückwünsche dar und 
singen Loblieder auf die Neuvermählten, die in wört- 
licher, ungebundener Übersetzung etwa folgendermaßen 
lauten: 

Neue Herrin ist gewählt, — Von ihr zu singen unsere Freud; — 


Bie wollen wir lieben, verehren. — Glücklich sei sie, das 
wünschen wir. 


Ja, von vielen Pfarreien — Ist sie die schönste, die beste. — 
Des Armen Qual weiß sie zu lindern, — Mit Freud sagt 
man ihr schönen Dank. 


Ihre Füße sind klein, rot ihre Lippen, — Blau ihre Augen, 
wie des Leines Blüte! — Sind wir müde, traurig, mürrisch, 
— Bei ihrer Stimme entflieht die Trauer"). 


XI. 


In gewissen Ortschaften, besonders im Léongebiet, 
wo die Sitten noch heutzutage außerordentlich ernst 
sind, ist der fröhlichste Hochzeitstag der dritte. Da 
wird der große, nach alter Sitte schön gezierte Schrank 
der jungen Braut in das Haus des Gatten gebracht. 

Aus Eiche oder Nußbaumholz, glänzend poliert, mit 
schönen kupfernen oder eisernen, künstlich verfertigten 
Schlössern verziert, wird dieser auf einem Wagen von 
zwei schönen Pferden gezogen, deren Mähne geflochten 
und mit Bändern geschmückt ist. An den vier Ecken 
des Schrankes sind große Sträuße befestigt worden. 

Wenn nun die Verwandten der Frau diesen ehrwür- 
digen Hausrat in die Wohnung des Mannes tragen wollen, 
so finden sie Tür und Fenster geschlossen. Sie müssen 
das Haus geradezu belagern. Ein langer Kampf ent- 
spinnt sich. Als endlich die Leute mit Balken und 
Stangen Tür und Fenster bedrohen, öffnet sich das Haus. 
Es ertönt auf beiden Seiten das bekannte Schranklied 
(la chanson de l'armoire). 

Die tüchtige Hausfrau deckt ein weißes Tischtuch 
über den Schrank und stellt zwei Teller Gebackenes, 
eine Flasche Wein und einen großen Becher darauf. 
Der angesehenste Verwandte des Mannes füllt den 
Becher, reicht ihn dem ältesten Verwandten der Frau 
und bittet ihn, Gebackenes zu essen. Dieser trinkt aus 
dem Becher, reicht ihn zurück und bietet ebenfalls 
gebackene Kuchen an. Jeder der Verwandten ahmt den 
beiden Greisen nach, und der Schrank wird unter 
Beifallrufen und Gesängen an den ihm bestimmten Platz 
im Wohnzimmer gestellt. 

Somit sind die Grundlagen eines neuen Herdes und 
eines traulichen Heimes gelegt. 


* * 
* 


Es wäre leicht, zahlreichere Beispiele alter Sitten und 
Volkslieder zu geben. In der Pariser Nationalbibliothek 
liegt eine umfangreiche Sammlung noch ungedruckter 
Volkslieder, die einem jungen Philologen eine vorzügliche 
Gelegenheit zu einer Doktordissertation bieten könnte. 
Hier wollte ich aber nur, ohne Philologie zu treiben, 
andeuten, was für alle Gebildete besonders interessant ist. 


2) Das alte Volkslied, das in keltischer Sprache sehr 
melodisch klingt, ist von einem blinden Bettler Jann-ar- 
Guen (Johann der Weise) gedichtet worden. 


Die persische Frau. 


351 





Vorhergehende Gebräuche und Volkslieder genügen, 
um zu zeigen, wieviel echte Poesie noch heutzutage in 
den ältesten Sitten der Bretagne zu finden ist. Zwar 
sind manche Lieder etwas realistisch. Die Bauern kennen 
überhaupt nicht die Kunst, ihre Gedanken in einer ver- 
blümten Sprache auszudrücken. Die echten Volkslieder 
der Bretagne sind aber selten roh. Man fühlt, sie haben 
auf den Lippen der alten Mütterchen die ursprüngliche 
Roheit verloren. 

Auch hier haben sich zahlreiche Spuren der be- 
deutendsten religiösen und politischen Umwälzungen des 
Landes gleichsam schichtenweise niedergelegt. Alt- 
keltischer Aberglaube, vorchristliche Mythen, mittelalter- 
liche Sagen, christlicher Glaube und Lebenspflicht, entfernte 
Töne englischer Balladen und französischer Trouvères, 
das alles ist in den Volksliedern der Bretagne wieder- 
zufinden. Und doch sind diese aus so verschiedenen 
Quellen entsprungenen Bestandteile zu einem lebendigen 
Ganzen verschmolzen, so daß diese alten Lieder und 
volkstümlichen Balladen, mit ihren moralischen Sentenzen 
und ihrem hohen Begriff von Verlobung, Hochzeit und 
Herd, mit ihren frischen Naturschilderungen, mit ihrem 
Meeresrauschen und Wellenschlag, mit dem Pfeifen der 


Winde durch die düstere Heide und in den verödeten 
Burgen, uns in ihrer Art ebenso anziehen, wie die 
frischen und fröhlichen Volkslieder der Provence oder 
der Gascogne. 

Zwar dringt die moderne Zivilisation nach und nach 
auch in die Bretagne. Zwar werden manche Legenden 
und Gebräuche vergessen; manche alte Sitten ver- 
schwinden mit der Zeit. Und doch werden die Volks- 
lieder nicht leicht in Vergessenheit geraten, denn sie 
haben im Herzen des keltischen Volkes feste Wurzeln 
geschlagen. Wie es ein junger Dichter beim Begräbnis 
des nationalen Sängers der Bretagne, des durch seine 
volkstümlichen Dichtungen bekannten Brizeux, ausrief: 
Die Bretagne wird ihre Vergangenheit in Ehren halten 
und ihre alten Balladen und Hochzeitslieder treu bewahren. 


. . . Die Bretagne in Ehren! 

Sie öffnet die Arme der Zukunft weit, 

Doch rühmt sie auch stolz sich vergangener Zeit, 
Und Schutz wird sie heimischen Sitten gewähren *?). 


®) LudwigTiercelin,ineinem „LamortdeBrizeux“ 
betitelten Gedicht, das er am 9. September 1888 vortrug. 
Ungedruckte, wort- und formgetreue Übersetzung von Fräulein 
Lina Friedländer. 





Die persische Frau. 


Persien hat begonnen, sich ebenso wie die Türkei west- 
europäischen Einrichtungen und Anschauungen anzupassen, 
aber es findet auf diesem Wege recht viel Dornen. Es hat 
sich eine Konstitution zugelegt und ein Parlament, aber 
diese Konzession an die Zivilisation und den Fortschritt 
findet selbst da wenig Anerkennung, wo man es am ehesten 
erwarten sollte: im freiheitlichen England, das nicht minder 
wie die Russen dem jungpersischen Reich Schwierigkeiten 
macht und wie jene seine Unabhängigkeit bedroht, neuer- 
dings unter dem Vorgeben, die Handelsstraßen in Südpersien 
wären unsicher. Es versteht sich im übrigen von selbst, 
daß ein orientalisches, seit vielen Jahrhunderten despotisch 
regiertes Reich, wo noch dazu der Islam alles beeinflußt, nicht 
einfach dadurch zum Kulturstaat wird, daß es sich mit ein 
wenig westlichem Firnis überzieht; dazu bedürfte es erst 
einer Umwälzung der sozialen Grundanschauungen der Be- 
völkerung, und damit hat es gute Wege. Ein Maßstab für 
die Kulturhöhe eines Volkes ist wohl die Stellung, die es der 
Frau gewährt, und wie es damit steht, darüber hat Ella C. 
Sykes, eine mit den persischen Verhältnissen infolge eigener 
Reisen bekannte Dame, kürzlich im „Nat. Geogr. Mag.“ 
(1910, 8. 847 bis 866) ein recht trübes Bild entworfen, dessen 
Grundton etwa der Satz anzeigt: „Von dem Augenblick 
seines Eintritts in die Welt, während seines ganzen Lebens 
und selbst im Jenseits hat der persische Mann durchaus das 
Beste von allem und die Frau das Schlechteste“. Wo der 
Islam herrscht, ist es auch sonst nicht anders. 

Von frühester Jugend an wird dem Perser gelehrt, daß 
der Rat einer Frau ganz belanglos sei, und die Priester 
sagen ihm, daß er immer am besten fahre, gerade das Gegen- 
teil von dem zu tun, wozu ihm eine Frau rate. Deshalb ist 
es verständlich, daß er gerade keine übertrieben hohe Meinung 
von seiner Frau oder seinen Frauen hat. Und im Paradiese, 
da stehen auch dem ärmsten Gläubigen 72 Huris zur Ver- 
fügung, jene engelgleichen Wesen, die ihm den leisesten 
Wunsch erfüllen und ihn alle die Frauen vergessen machen, 
die er auf Erden gekannt hat. 

Die Frau kommt oft schon ganz unerwünscht zur Welt 
und findet wenig Willkommen. Und ihr ganzes Leben lang 
wird sie gewöhnlich vernachlässigt und wenig gezählt. Das 
Mädchen wird manchmal zusammen mit den Brüdern bis 
zum achten Lebensjahre erzogen, dann aber wird es mehr 
oder weniger streng von ihnen geschieden und dem Anderun, 
dem für die Frauen bestimmten Teil des Hauses, zugewiesen. 
Selten findet man eine Perserin, die lesen oder schreiben 
kann; das Mädchen verbringt seine Zeit mit der Anfertigung 
von Stickereien, der Bereitung süßer Speisen und Getränke 
und im Geschwätz mit seinen Freundinnen und Dienerinnen. 
Das Hausgewand besteht im Sommer aus einer Jacke aus 
Gaze und kurzen, das Knie nicht erreichenden Hosen. Diese 
soll Nasr-ed-Din Schah aus Europa eingeführt haben, wo 
ihm das Kostüm der Pariser Balletteusen sehr imponiert hatte. 


Eine persische Dame schneidet ihr Haar zu geraden Fransen 
quer über der Stirn und durchflicht es, wenn auch nicht 
übermäßig, mit Pferdehaaren. Immer aber verdeckt sie das 
Haupt mit dem Tschargat, einem Tuche aus feinem Muslin, 
das Tag und Nacht getragen wird, und dessen Entfernung 
höchst unschicklich wäre. 

Die Perserin hat schöne Augen und angenehme Gesichts- 
züge, kleine Hände und Füße, doch einen für europäischen 
Geschmack zu gedrungenen Wuchs, während sie infolge 
ihrer abgeschlossenen Lebensweise oft blöde und unintelligent 
aussieht. Ihre Vorliebe für die Kosmetik verleitet sie, ihr 
Gesicht in höchst unkünstlerischer Weise zu schminken und zu 
pudern, und sie gebraucht Kohle, um den Augen einen 
schmachtenden Blick zu verleihen und die Weite ihrer 
Augenbrauen zu verdoppeln, derart, daß sie manchmal an 
der Nasenwurzel zusammenstoßen. Verläßt sie das Frauen- 
gemach, so verhüllt sie sich vollkommen. Ihre Haupt- 
zerstreuung bildet das öffentliche Bad; hier trifft sie ihre 
Freundinnen, mit denen sie viele Stunden in der heißen, 
dampferfüllten Luft verbringt, während ihre Dienerinnen 
ihr Haar mit Henna und Indigo und ihre Fingerspitzen und 
Zehen mit dem scharlachroten Saft der Hennapflanze färben. 
Am Freitag geht sie wohl zur Moschee, aber da darf sie 
nur in einem dicht vergitterten Käfig Platz nehmen, von 
dem aus sie nur wenig von den Vorgängen sehen und 
hören kann. 

Die Heirat bedeutet auch im Leben des persischen 
Mädchens das größte Ereignis, aber es hat da ebensowenig 
wie sonst eine Wahl. Die Eltern kommen oft gar nicht auf 
den Gedanken, nach dem Geschmack ihrer Tochter zu fragen, 
und die Mädchen werden manchmal Männern ausgeliefert, 
die alt genug sind, um ihre Väter oder gar Großväter zu 
sein. Ist das Mädchen einmal verheiratet, so ist es der 
jungen Frau sehnlichster Wunsch, einen Sohn zu bekommen; 
denn sie weiß, daß davon ihres Mannes Zuneigung, ja ihre 
ganze Stellung abhängt. Wird dem Manne nämlich kein 
Sohn geboren, so pflegt er, wenn er sich vielleicht nicht 
scheiden läßt, eine zweite Frau zu nehmen, und man kann 
sich leicht vorstellen, was für eine Eifersucht entsteht, wenn 
miteinander rivalisierende Frauen in ein und demselben 
Haushalt sind. 

In keinem Falle kann ein Weib dort die wirkliche Ge- 
fährtin des Mannes sein. Die Etikette erlaubt es ihm nicht, 
mit ihr in der Öffentlichkeit sich zu zeigen. Er darf sie 
nicht grüßen, wenn er sie auf der Straße erkennen sollte. 
Ihr abgeschlossenes Leben verhindert, daß sie etwas von den 
Vorgängen in der Außenwelt weiß, sie kennt keinen von 
den Freunden ihres Mannes, und er keine ihrer Freundinnen. 
Er verbringt seine Tage getrennt von ihr und ißt gewöhnlich 
mit seinen Freunden, und die Frauen des Hauses können 
verzehren, was er übrig lassen sollte. Der Frauen größter 
Trost liegt in ihren Kindern, und es gibt in Persien viel 
kindliche Liebe; aber des Sohnes Liebe zu seiner Mutter hat 
offenbar keinen Einfluß auf sein Benehmen gegen seine Gattin. 


352 


Bücherschau. 





Wenn eine Frau alt wird, so wenden sich ihre Gedanken 
oft der anderen Welt zu, und sie faßt wohl den Entschluß, 


eine Pilgerfahrt zu unternehmen. Als dem Propheten, so 
wird erzählt, ein Blick in die Hölle gestattet ward, fand 
er, daß die weitaus meisten Opfer, die sich dort in Qualen 
wanden, Frauen waren. Darum würde keine Frau noch so 
große Mühe scheuen, um solchen Schrecken zu entgehen. 
Nur durch ein Leben von vorwurfsfreier Tugend kann sie 
das Paradies gewinnen, in das anscheinend jeder Mann mit 
verhältnismäßig leichter Mühe zu gelangen vermag. Die 
Frau aber weiß nun, daß eine Pilgerreise nach Mekka, 
Kerbela oder Mesched sie von der schrecklichen mohamme- 
danischen Hölle rettet, und sie schmeichelt ihrem Manne 
dazu soviel Geld ab, wie sie kann, und verkauft auch ihre 
Edelsteine, und dann macht sie sich mit Freundinnen und 
Dienerinnen auf die für Frauen höchst beschwerliche Reise. 
Stirbt die Perserin an jenen heiligen Orten, so kann sie sich 
natürlich glücklich schätzen; macht sie sich dagegen auf 
den Weg nach Hause, so wünscht sie im Geruch der Heilig- 


keit zu sterben. Bei ihrem Tode kommen die gemieteten 
Trauerleute, um zu weinen und zu wehklagen. Alles Wasser 
im Hause wird fortgegossen, damit die Bewohner nicht die 
Kolik bekommen. Ein Priester rezitiert aus dem Koran, 
und der Leichnam wird, einen Stock unter jeder Achselhöhle, 
in den Sarg gelegt. Dieses geschieht, damit die tote Frau 
sich erheben kann, wenn die blauäugigen Engel kommen, 
um sie über ihre Rechtgläubigkeit zu befragen. Kann sie 
zu deren Zufriedenheit antworten, so wird ihr Sarg sich 
zur Größe eines Zimmers ausdehnen; anderenfalls wird 
ihre letzte Ruhestätte sich über ihr schließen, und alle Tiere 
können dann ihre Angstschreie hören, da sie so gequält 
wird. Aber wenn auch alles soweit gut geht, so hat sie' 
noch die Siratbrücke zu überschreiten, die „dünner ist als 
ein Haar und schärfer denn ein Schwert“ und über das 
Höllenfeuer hinwegführt. Und nur die Minderheit der 
Frauen kann sie sicher passieren und in die Gebiete der 
Seligen gelangen. Aber sie haben ein eigenes Paradies mit 
engelhafter Dienerschaft; ihren Gatten treffen sie dort nicht. 


Bücherschau. 


Walter McClintock, The Old North Trail, or Life, 
Legends and Religion of the Blackfeet Indians. XXVI 
und 539 8. mit zahlreichen Abbildungen und 1 Karte. 
London 1910, Macmillan and Co. 15 s. 

Die Schwarzfußindianer, ein Algonkinstamm, waren ehe- 
mals eine mächtige Konföderation, die das weite Gebiet 
zwischen den Rocky Mountains im Westen bis etwa zum 
105. Längengrad im Osten und vom North Saskatchewan 
im Norden bis zum Yellowstone River im Büden durchstreifte, 
und deren oft über Jahre ausgedehnte Raubzüge vom fernen 
Norden („The old North trail“) bis hinunter nach Neumexiko 
reichten. Heute sitzen die Reste des Stammes, noch etwa 
3500 Reinblütige, in einer Unionsreservation in Nordwest- 
Montana an den Abhängen der Rocky Mountains und in drei 
kanadischen Reservationen in Alberta, von denen zwei den 
Unterstämmen der Blut- und Peiganindianer zugewiesen sind. 
Das Buch McClintocks beschäftigt sich mit ihnen, mit ihrem 
heutigen Leben, ihrer Religion nebst den dazugehörigen 
Festen und Kulten und mit ihren Sagen, wobei die Art be- 
merkenswert ist, auf die der Verfasser sein Material ge- 
sammelt hat: er hat sich nämlich in der Montanareservation 
von einem angesehenen Indianer adoptieren lassen und als 
Indianer unter Indianern seine Beobachtungen machen 
können. Wann, wie oft und wie lange der Verfasser eigent- 
lich unter den Schwarzfüßen geweilt hat, ist dem Buche 
nicht mit Sicherheit zu entnehmen; es scheint, daß er das 
erste Mal Mitte der 90er Jahre zu ihnen gekommen ist und 
sie dann in der Folgezeit bis 1905 wiederholt besucht hat. 
Dabei scheinen zwar systematische ethnologische Studien 
nicht ausgeführt zu sein, aber es hat sich doch ein recht 
reichhaltiges und vielseitiges Material angesammelt, von dem 
hier das mitgeteilt wird, was für zartbesaitete Ohren nicht 
shocking ist. Der Verfasser hat sein Buch nämlich für einen 
weiten Leserkreis einzurichten gesucht. Er erzählt, wie er 
zu den Montana-Schwarzfüßen kam, mit ihnen bekannt und 
adoptiert wurde — was mit einer komplizierten „Biber- 
Medizin - Zeremonie“ verbunden war; und dann berichtet 
er von einem Besuch in der Reservation der Blutindianer, 
wo er anfangs auf Zurückhaltung stieß, schließlich aber 
auch offene Arme fand. Dies der Rahmen des Buches, den 
geschlossene Kapitel über Folklore, Sagen, Religion, Kulte (be- 
sonders den Sonnentanz) ausfüllen. Daneben wird das Leben und 
Treiben in den Lagern und auf der Jagd recht anschaulich 
und fesselnd geschildert. Die alte Zeit ist ja nun dahin, 
und die sogenannte Zivilisation dringt auch in die Reserva- 
tionen ein und verdirbt die Indianer und verschlechtert ihre 
Lage, die weißen, von der Regierung bestellten Indianer- 
agenten machen sich den Rothäuten lästig und untersagen 
ihnen sogar den harmlosen Sonnentanz; so steht die jüngere 
Generation den Stammesgewohnheiten schon gleichgültig 
gegenüber. Aber die alten Häuptlinge und Medizinmänner 
hängen um so fester an ihnen, und aus ihrem reichen Schatz 
an Wissen und Erinnerungen teilten sie dem Autor gern 
mit. Er konnte an intimen Zeremonien teilnehmen und 
dabei auch zeichnen und photographieren. Viele interessante 
Abbildungen und Aquarelle schmücken darum das Buch. 
Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden, doch 
sei wenigstens erwähnt, daß die „Religion“ der Schwarzfüße 
in der Verehrung von Sonne und Mond besteht, besonders 
der Sonne, von der alle Kraft und Macht über die Tiere zu 
den Menschen überging; so dient denn auch der an kom- 


pliziertem ZeremonieH überaus reiche Sonnentanz dem Kulte 
dieses Gestirmes. < 

Das hübsche Buch verdiente wohl eine deutsche Uber- 
setzung. Übrigens: Einem Dichter von Indianergeschichten 
eröffnet sich hier eine ergiebige und dazu verläßliche 
Fundgrube. 


Die Lagerstätten der nutzbaren Mineralien und 
Gesteine nach Form, Inhalt und Entstehung. 
Dargestellt von Prof. Dr. F. Beyschlag, Prof. Dr. P. 
Krusch und Prof. J. H. L. Vogt. I. Bd., 2. Hälfte. 
Mit se Abbildungen. Stuttgart 1910, Ferdinand Enke. 
8,60 
Während in der ersten Hälfte des von uns an dieser 

Stelle besprochenen I. Bandes (vgl. Bd. 96, 8. 177) der all- 

gemeine Teil der Erzlagerstätten behandelt wurde, bringt 

die 2. Hälfte des I. Bandes die spezielle Beschreibung der 
einzelnen Lagerstätten unter gleichzeitiger Würdigung ihrer 
wirtschaftlichen Bedeutung. 

Die von drei Autoren aufgestellte Systematik der Erz- 
lagerstätten ergab vier Hauptgruppen: 1. Magmatische Aus- 
scheidungen, 2. Kontaktlagerstätten, 3. Gänge, unregelmäßige 
Hohlraumausfüllungen und metasomatische Lagerstätten, 
4. Erzlager. Von diesen vier Hauptgruppen enthält der vor- 
liegende Teil ie beiden ersten vollständig und von der 
dritten die Zinnsteinganggruppe, die Apatitganggruppe und 
die Quecksilberganggruppe. 

Den einzelnen Hauptgruppen sowohl als auch deren 
Unterabteilungen werden ausführliche Literaturangaben vor- 
ausgeschickt. Ferner dienen zur Erläuterung der einzelnen 
Kapitel zahlreiche, sauber ausgeführte Profile, Risse, Situations- 
pläne u.a. m. 

Es liegt in der Natur der Sache, daß bei der speziellen 
Beschreibung der Lagerstätten, deren Details teils aus den 
zahlreichen Originalarbeiten, teils aus anderen Lehrbüchern 
der Lagerstättenlehre sattsam bekannt sind, viel Neues nicht 
geboten werden kann. So bleibt z. B. auch hier das Problem 
der Entstehung der wichtigen mittelschwedischen oxydischen 
Eisene'zvorkommen nach wie vor ungelöst, „namentlich be- 
züglich der Genesis des Nebengesteines, so daß man ihre 
Bildung mit großer Vorsicht behandeln muß“. Im übrigen 
aber machen Darstellung, die zahlreichen, sorgfältig auf- 
gestellten statistischen Daten, sowie die Gesamtausstattung 
den gleich günstigen Eindruck, wie in der ersten Hälfte des 
Bandes. F. Tannhäuser. 


W. Gothan, Botanisch-geologische Spaziergänge in 
die Umgebung von Berlin. 110 8. mit 23 Textabb. 
Leipzig 1910, B. G. Teubner. 2,40 fé. 

Das Buch soll an der Hand einer Reihe von Exkursionen 
in die Umgebung Berlins eine Einführung in das Verständ- 
nis der Pflanzenbiologie bringen. Dieser Plan ist auf das 
glücklichste durchgeführt. Vom Einfachsten wird aus- 
gegangen und zum Schwierigeren fortgeschritten, mit steter 
Berücksichtigung der Bodenverhältnisse. Die Ausflüge sind 
auf das minutiögeste ausgearbeitet, und in allgemein ver- 
ständlicher Sprache wird der Wanderer auf alles, was er 
botanisch und geologisch wahrnimmt, hingewiesen. Die zu- 
sammenfassenden Seitenüberschriften ermöglichen auch einen 
Gebrauch des Führers in anderen Teilen Norddeutschlands. 
Findet man doch in dem Buche auf engem Raume das zu- 


Kleine Nachrichten. 


353 





sammengefaßt, was sich sonst gar mancher Naturfreund 
mühsam aus einer Reihe von Fachschriften zusammensuchen 
mußte. Spethmann. 


E. Kayser, Lehrbuch der allgemeinen Geologie. 
(Lehrbuch der Geologie Teil I.) Dritte Auflage. XII u. 
825 8. Mit.598 Textfiguren. Stuttgart 1909, Ferdinand Enke. 

Da die zweite Auflage des vorzüglichen Buches (s. Globus, 

Jahrg. 1906, Bd. 89, S. 114) eine ausführliche Besprechung ge- 


funden hat, dürfte dieses Mal eine etwas kürzere Erwähnung. 


der neuen Auflage genügen. Auch bei dieser Auflage ist 
der Umfang wieder um genau 100 Seiten angewachsen, was 
vor allem durch eine Anzahl wesentlicher Änderungen, Er- 
weiterungen und Neubearbeitungen einzelner Abschnitte 
veranlaßt wurde Am meisten umgestaltet und fast neu 
gefaßt sind die Abschnitte über die Erdbeben und Gebirgs- 
bildung, aber auch die Pendulationstheorie, die Verhältnisse 
des Erdinnern, die Ursachen der Eiszeit, die Dünen, die 
‚Pseudomorphosenbildung, die Rolle der Organismen bei der 
Verwitterung, die Glazialerosion und die dadurch entstehen- 
den Formen, die Tiefseeablagerungen, die Vulkane usw. haben 
Zusätze erhalten oder sind wesentlich, zum Teil durch Ver- 
mehrung instruktiver Beispiele, erweitert worden. Auch die 
Textabbildungen sind um rund 100 gewachsen. Die großen 
Vorzüge, die in der vorigen Besprechung an dem Buch gerühmt 
wurden, sind ihm erhalten geblieben, so daß auch die neue 
Auflage auf das wärmste empfohlen werden muß. Zu den 
kleinen Ausstellungen, die bei der vorigen Auflage gemacht 
wurden und bis auf eine in der neuen unberücksichtigt ge- 
blieben sind, treten zwei hinzu, indem beim Vesuv noch die 
alten, seit dem Ausbruch 1906 nicht mehr stimmenden Maße 
angeführt sind, und daß unter dem Felsenmeer vom Oden- 
wald als Gestein „Syenit“ angegeben ist, während die hessi- 
schen Geologen das Vorkommen echten Syenits im Oden- 
wald verneinen und das Gestein als Hornblendegranit be- 
zeichnen. Gr. 


Johannes Walther, Lehrbuch der Geologie von 
Deutschland. Eine Einführung in die erklärende Land- 
schaftskunde für Lehrende und Lernende. XV u. 358 8. 
mit 93 Landschaftsbildern, 88 Profilen, 10 kleineren Karten 
im Text und 1 farbigen geologischen Strukturkarte. Leipzig 
1910, Quelle u. Meyer. 7,60 M. 

Der Verfasser hat schon in früheren Schriften, besonders 
in seiner Vorschule der Geologie, Beweise seines pädagogischen 
Taktes gegeben, der auch im vorliegenden Werke überall 
wieder hervortritt. Durchweg auf streng wissenschaftlicher 
Grundlage gehalten, aber allgemeinverständlich und leicht 
lesbar, wenig voraussetzend und immer vom Beispiel oder 
der exakten Beobachtung ausgehend, ist es vorzüglich ge- 
eignet, der Geologie Freunde zu werben und breitere Schichten 
in die Geologie unseres Heimatlandes einzuführen. Aber auch 
vielen Fachleuten und den Geographen besonders wird die 
Zusammenfassung des weit zerstreuten Materials willkommen 
sein, die, ohne in die Breite zu gehen, interessante Fragen, 
wie Eiszeit, erste Menschen usw., ausführlicher behandelt, 
aber auch sonst sehr viel Detail bringt. Das Buch besteht 
aus drei Teilen: der erste bringt einen kurzen Abriß der 
allgemeinen Geologie, deren für die folgende Darstellung in 
Betracht kommende Hauptfragen hier behandelt werden; der 
zweite gibt eine Übersicht über die Entwickelung der ein- 
zelnen Formationen in Deutschland und die daraus zu ziehen- 
den Schlüsse über die geologische Geschichte und Entwicke- 
lung Deutschlands; der dritte behandelt die einzelnen deutschen 


Landschaften. 


Sehr unterstützt wird die Darstellung durch 
die gut ausgeführten Bilder, Profile und Kärtchen, sowie 


die sehr übersichtliche Strukturkarte. Auf dieser sind die 
obertertiären Kohlen westlich der Linie Darmstadt— Frankfurt, 
sowie die reichliche Angabe von Tuff im Vogelsberg auf- 
gefallen; bei dem Profil S. 167 ist der Autor versehentlich 
falsch angegeben. — Ein solches Buch fehlte schon lange, 
und es wird ihm hoffentlich weiteste Verbreitung zuteil 
werden. Gr. 


E. Middelberg, Geologische en Technische Aanteeke- 
ningen over de Goudindustrie in Suriname. Mit 
einer geologischen Karte und vielen Tafeln. Amsterdam, 
J.H. de Bussy. 

Schon seit mehreren Jahrzehnten wurde in Suriname 
Gold gewonnen, doch ohne daß die Produktion bedeutend 
war. Zwecks Hebung der Goldindustrie und Schaffung ge- 
eigneter Grundlagen für sie wurden im Auftrage des Gou- 
vernements von 1904 bis 1907 planmäßige Untersuchungen 
ausgeführt, über deren Resultate der Leiter derselben in der 
vorliegenden Schrift berichtet. 3 

Er gibt zunächst eine kurze Übersicht über den geo- 
logischen Bau der holländischen Kolonie und die Abhängigkeit 
des Goldvorkommens von ihm. Hierdurch sind die nötigen 
Fingerzeige für das Aufspüren goldhaltiger Gebiete gegeben: 
ungestörte mehr oder weniger flache Granitgebiete kommen 
nicht in Frage; die besten Aussichten bieten die (womöglich 
mehrfachen) Durchbrüche jüngerer Eruptivgesteine an ihren 
Kontaktflächen, infolge sekundärer Konzentration; am günstig- 
sten scheinen wiederum die Strecken zu sein, in welchen 
Aplite auftreten. 

Dementsprechend wird der Prospektor beim Aufsuchen 
von Lagerstätten seine Aufmerksamkeit in erster Linie auf 
abwechselungsreicheres Hügelgelände von kompliziertem geo- 
logischen Bau zu richten haben und hierbei den kompli- 
ziertesten Gebieten den Vorzug geben, also solchen mit einem 
unregelmäßigen Gewirr kleiner Hügel. Es folgt eine kurze 
Darstellung der besten Prospektierungsmethoden; hier ver- 
weilt Middelberg besonders bei dem in Bangka gebräuchlichen 
Bohrzeug, dessen große Vorteile für Bohrungen von 20 bis 
30 m Tiefe er auseinandersetzt und dessen Gebrauch er genau 


‚erläutert. 


Das letzte Kapitel der ausgezeichneten Abhandlung bildet 
eine Darstellung der Goldproduktion. In überaus klarer, über- 
sichtlicher Weise kommen die verschiedenen Sorten von Lager- 
stätten und die hierbei möglichen und brauchbaren Arten der 
Gewinnung zur Besprechung: alluviale sowie eluviale Lager- 
stätten, sogenannte Imprägnationen in zersetztem Gestein und 
schließlich Quarzriffe. Ebenso wie die vorgenannten Ab- 
schnitte wird auch dieses Kapitel durch eine große Zahl 
ebenso instruktiver wie hervorragend schöner Photographien 
erläutert. 

Die Resultate faßt Middelberg folgendermaßen zusammen: 
Die abbauwürdigen Lagerstätten sind ohne Ausnahme sekun- 
därer Entstehung (Konzentration vor allem auf chemischem, 
nur untergeordnet auf mechanischem Wege). So gibt es zwar 
lokal reiche Lagerstätten, aber ihr Auftreten ist unregelmäßig, 
auch sind sie meist nur wenig ausgebreitet; darum ist wohl 
auch kaum an einen intensiven stationären Abbau zu denken, 
und rationeller Abbau wird sich in seinen Methoden auf 
Grund sorgfältigster Voruntersuchung nach Möglichkeit den 
lokalen Verhältnissen anzupassen haben. 

Große Hoffnung setzt der Verfasser auf die bisher noch 
wenig studierten Imprägnationen. W. Volz. 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— In Nr. 4 dieses Globus-Bandes bringt Herr Dr. 8. R. 
Steinmetz eine „Berichtigung zu Ed. Hahns niedrigem 
Ackerbau oder Hackbau“, auf die ich selbst doch noch 
antworten muß, nachdem nicht, wie ich gehofft, andere ge- 
wichtige Stimmen sich zur Diskussion gemeldet. 

Ich finde nicht, daß diese „Berichtigung“ irgend eine Be- 
rechtigung hat, weder nach der formellen, noch nach der 
sachlichen Seite hin. 

Um das Sachliche zuerst zu nehmen: Mein Aufsatz im 
Globus befaßte sich durchaus nicht mit der historischen 
Entwickelung der Rolle der Frau in der Ethnologie. Alle 
die Zitate, die „mit Ausnahme von Herrn Hahn“ bekannt 
sind, wie die aus Friedrich von Hellwald, Starke, Dargun 
und Bachofen, sind infolgedessen hier durchaus nicht an- 
gebracht. Noch viel weniger der Hinweis darauf, daß die 


Soziologen, z. B. Herbert Spencer, dies oder jenes hier 
oder dazu bemerkt hätten, und daß ich das nicht angeführt 
hätte. Meine Arbeiten gehören ja wesentlich dem Gebiet 
der Wirtschaftsgeographie an. Hätte Herr Dr. 8. 
was ja schließlich nicht viel verlangt wäre, meine Entstehung 
der wirtschaftlichen Arbeit 8.63 und 64 daraufhin angesehen, 
so hätte er Otis T. Mason in der Anmerkung zitiert ge- 
funden und noch einen andern modernen amerikanischen 
Forscher dazu: Payne (History of the New World America); 
die von Herrn Dr. 8. so stark gewünschte Vollständigkeit 
der Zitate erreicht er selbst also auch keineswegs. 

Das Material, das Herr Dr. 8. zitiert hat, leidet aber 
auch noch an dem grundlegenden Fehler, der auch auf sein 
Zitat v. d. Steinens zutrifft, daß er Forscher für die Grund- 
anschauung, die wir jetzt gewonnen haben, zitiert, die 


354 


Kleine Nachrichten. 





doch damals nur Einzelbeobachtungen machten, wie Herr 
v. d. Steinen für seinen persönlichen Anteil das neulich noch 
mit großer Energie aussprach. Es handelte sich ihm um die 
Beteiligung von Frauen an der Arbeit oder auch von den 
Frauen der Bakairi z. B., aber es handelte sich nicht um 
den Anteil der Frau an der Bodenwirtschaft. 

Was aber das Formale angeht, so trifft die „Berichtigung“ 
insofern ganz daneben, als Herr Dr. S. merkwürdigerweise 
glaubt, Grundanschauung und Hypothese gleichsetzen zu 
können. Wir können aber in diesem Falle ganz davon ab- 
sehen, wie groß mein Anteil an der Hypothese ist, daß der 
Pflanzenanbau in der Hauptsache auf die Tätigkeit und An- 
regung der Frau zurückgeht; die „Grundanschauung“ erhebt 
ja einen solchen Anspruch gar nicht, es ist nur die Ansicht, 
die ich meiner Hypothese des Hackbaus, den ich doch wohl 
mit Recht für mich in Anspruch nehmen kann, zu- 
grunde lege. Hahn. 


— Fragen der Eiszeit. Prof. Dr. Frech-Breslau hat 
dem Internationalen Geologen-Kongreß zu Stockholm eine 
vorläufige Mitteilung übergeben, in der er die Frage unter- 
sucht, ob aus der Tier- und Pflanzenwelt der interglazialen 
Schichten wirklich ein Rückschluß auf ein wärmeres Klima 
der interglazialen Perioden oder Stadien berechtigt ist, und 
ob die geologischen und sonstigen Befunde wirklich für eine 
so große Mächtigkeit der Binneneisdecke an ihrem Rande 
sprechen, wie man sie seither annahm. Letztere Frage ist 
besonders deshalb von Wichtigkeit, weil eine Eislage von 
800 bis 1000m Mächtigkeit, wie sie seither angenommen 
wurde, zu ihrem Abschmelzen längere Zeit und erhebliche 
Wärmemengen braucht. Eine Eisdecke geringerer Mächtig- 
keit schreitet dagegen rascher vor und zurück und bietet 
daher für das ganze Problem viel geringere Schwierigkeiten. 
Frech führt nun Beweise dafür an, daß die vereinzelten 
höheren Gipfel Schlesiens nach ihrer heutigen Beschaffenheit 
als Nunataker über das Eis hervorgeragt haben müssen, 
wonach die Eismächtigkeit sehr erheblich kleiner als seither 
(etwa 200m) angenommen werden muß. Für die geringe 
Eishöhe spricht nach ihm auch der geringe Abtrag der Tone 
in Schlesien. Daß trotzdem erratische Blöcke in den schle- 
sischen Randgebirgen bis zu mehr als 500 m Höhe vorkommen, 
erklärt er unter Berufung auf Drygalskis Beobachtungen in 
Grönland durch Aufwärtsfließen des Eises. Für die Inter- 
glazialzeiten sind besonders wichtig biologische Beobachtungen 
an Pflanzen und Tieren, die Frech nach zum Teil neuen Ge- 
sichtspunkten betrachtet, und für die ein auf dem Kongreß 
durch Woeikow mündlich mitgeteilter Fund lebender Rhodo- 
dendron praticum außerhalb der ozeanisch wärmeren Klimate, 
für die es seither als beweisend galt, besonderes Interesse 
hat; außerdem wird der interglaziale Löß behandelt, den 
Frech nicht unter allen Umständen als Beweis für ein aus- 
gedehntes Steppenklima gelten läßt. Gr. 





— Über weitere Beobachtungen im Tertiär und Quartär 
des subbeskidischen Vorlandes in Ostschlesien ver- 
öffentlicht Dr. G. Götzinger in den Verhandlungen der 
k. k. geol. Reichsanstalt zu Wien (1910, Nr. 3) vorläufige 
Mitteilungen. Er ist nördlich von Teschen den Zusammen- 
hängen zwischen den heutigen Grenzen von Diluvium und 
Tertiär und den Talbildungen durch Einschneiden der Flüsse, 
sowie den Quellhorizonten und der Taldichte nachgegangen, 
wie sie sich beim Kampf um die Wasserscheide zwischen 
der oberen Weichsel und der Olsa entwickelt haben. Durch 
Verfolgung der Schotter versuchte er eine Rekonstruktion 
des karpathischen diluvialen Flußsystems in die Ebene hin- 
aus und fand dabei eine wesentliche Divergenz zwischen 
ihm und den heutigen Flußläufen, die in den Durchbrüchen 
durch das Teschener Hügelland nicht mehr besteht. Aus 
den so erhaltenen hydrographischen Verhältnissen der dilu- 
vialen Flüsse konnte dann die Lage des Eisrandes da zu 
konstruieren versucht werden, wo geologische Ablagerungen 
zu Seiner genaueren Bestimmung fehlen. Gr. 


— In der Schweizer Zeitschrift für Forstwesen 1910 hat 
der bekannte Lawinenspezialist F. W. Sprecher-St. Gallen 
darauf aufmerksam gemacht, daß sich unter Umständen eine 
künstliche Veranlassung desAbganges von Lawinen 
durch Menschenhand empfehlen dürfte. Vorausgehen müßte 
natürlich eine exakte, mehrjährige, allseitige Beobachtung 
der Lawinen und der Natur ihrer Entstehungsgebiete, ein 
Ziel, das ja aus vielen praktischen und wissenschaftlichen 
Gründen äußerst erstrebenswert wäre. Es zu erreichen ist 
nicht leicht und auch mit unmittelbaren Gefahren ver- 
bunden, deshalb schlägt Sprecher vor, daß sich alle daran 
Interessierten und Beteiligten, Behörden und Private, zu- 
nächst in der Schweiz, die er in erster Linie im Auge hat, 


zu einer großen Organisation verbinden sollten, die sich die 
regelmäßige winterliche Beobachtung und die Aufzeichnung 
und Sammlung der dabei gewonnenen Resultate, besonders 
in Form graphischer Darstellung (Karten, Photographien usw.) 
zur Aufgabe macht. Dann könnte man dazu kommen, 
manche Lawinen in zweckmäßiger Weise dadurch zu beein- 
flussen, daß man sie absichtlich und zu bestimmter Zeit zum 
Abgehen brächte. Damit im Zusammenhang bespricht er 
die Entstehung der Lawinen, die begünstigenden und ver- 


.hindernden Faktoren der Lawinenbildung, die Grundsätze 


für künstliche Veranlassung des Abganges von Lawinen, die 
Zwecke der künstlichen Lawinenbeeinflussung und die Grenzen 
der Gebiete, innerhalb deren sie überhaupt möglich ist. Gr. 


— Das, was wir bis jetzt von geologischenKenntnissen 
über die Bären-Insel, Spitzbergen und das König- 
Karl-Land wissen, hatNathorst auf Grund seiner eigenen 
Anschauung in einer kritischen Bearbeitung zusammen- 
gestellt. (Bull. of the Geol. Instit. of Upsala, Vol. X, 1910.) 
Bie ist sehr reich mit Karten, Reproduktionen, photographi- 
schen Aufnahmen und Profilen ausgestattet, unter denen vor 
allem zwei farbige Beilagen, geologische Karte von Spitz- 
bergen in 1:2000000 und geologische Kartenskizze des 
König - Karl -Landes in 1:500000, hervorgehoben werden 
müssen. Die Arbeit ist hauptsächlich topographisch-geolo- 
gischer und stratigraphischer Natur, die Tektonik und die 
Morphologie werden nur kurz behandelt oder gestreift,-auch 
sind die rezenten Verhältnisse der Vereisung von der Be- 
sprechung ausgeschieden. Trotzdem besitzt sie auch für den 
Geographen die größte Wichtigkeit, da sie alles bis jetzt 
vorhandene Material in bequemer Form und kritisch gesichtet 
darbietet und eine außerordentliche Zahl vortrefflicher und 
instruktiver Bilder und Profile enthält. Die Arbeit war 
eine der Darbietungen zum Stockholmer Geologenkongreß. 


— Die Frage nach der Erhebungszeit des Thü- 
ringer Waldes und Harzes. Man hatte bisher ziemlich 
allgemein angenommen, sagt E. Philippi in seinem Aufsatz 
über die präoligozäne Landoberfläche in Thüringen (Zeitschr. 
d. deutsch. geol. Ges. 1910, Bd. 62), daß die Erhebung des 
Thüringer Waldes und Harzes, wie die Bildung des Thüringer 
Beckens ausschließlich in die Tertiärzeit fallen. Daran an- 
schließend galten die Störungen, welche die älteren Gebirgs- 
kerne begrenzen, und die, welche die Triasgebiete Thüringens 
durchziehen, als tertiär. Diese Auffassung glaubt Verfasser 
durch eine andere ersetzen zu sollen. Er möchte annehmen, 
daß der größere Teil der thüringischen Dislokationen in die 
Zeit vor Ablagerung des Oligozäns fällt und daß nur an 
einigen Spalten sich auch postoligozäne Verschiebungen voll- 
zogen, deren Sprunghöhe aber die der präoligozänen nirgends 
erreicht hat. Beobachtungen in den Nachbargebieten und 
die Lagerung des Cenomans im Ohmgebirge machen es wahr- 
scheinlich, daß die präoligozänen Krustenbewegungen sich 
großenteils schon am Ende der Juraperiode vollzogen, daß 
aber in der oberen Kreide oder im Eozän eine zweite Dislo- 
kationsperiode erfolgte. Die präoligozänen Krustenbewegungen 
verursachten Gesteinsabtragungen größten Maßstabes. Bo 
wurde Thüringen bis zur Oligozänzeit zu einer Peneplain 
abgeschliffen, deren Untergrund Gesteine sehr verschiedenen 
Alters bildeten. Schon vor dem Oligozän traten Schiefer im 
östlichen Thüringer Wald und Harz, Buntsandstein und Muschel- 
kalk an den Rändern, Keuper im Innern des Thüringer 
Beckens zutage. Die Hochfläche, welche sich oft sehr gut 
im Schiefergebirge, in größeren Partien aber auch im Trias- 
gebiete erhalten hat, ist nichts anderes als die präoligozäne. 
Infolge von postoligozänen Störungen hoben sich Thüringer 
Wald, Harz und Kyffhäuser in ihrer heutigen Gestalt heraus. 
Das Thüringer Triasgebiet zwischen den beiden Horsten bildete 
zunächst eine schiefe Ebene, deren tiefster Teil dem Harz 
stark genähert lag. 





— Die Sumpfschildkröte dürfte nachK. Friederichs 
(Mitt. d. Fischerei-Ver.d. Prov. Brandenburg 1910, N. F., Bd. 2) 
in der Provinz Brandenburg ursprünglich allgemein ver- 
breitet gewesen sein, wenn auch merkwürdigerweise Nach- 
richten über ihr Vorkommen im Spreewald gänzlich fehlen, 
während man doch gerade dort am ersten dieses Tier ver- 
muten sollte. Ein allmähliches Zurückdrängen und Ver- 
schwinden der Sumpfschildkröte in der Mark ist unverkenn- 
bar und beruht wohl hauptsächlich auf dem Entwässern und 
Räumen, das beides etwa seit dem Beginn der zweiten Hälfte 
des vorigen Jahrhunderts stark einsetzte. Als Aufenthaltsort 
geeignet scheint in erster Linie das Schwimmfenn zu sein. 
Und da dem Zuwachsen der Gewässer durch die schwimmende 
Pflanzendecke bisher nur an wenigen Stellen Einhalt getan 
wird, so sind die Aussichten für eine Erhaltung der Schild- 


Kleine Nachrichten. 


355 





kröten an solchen Stellen fürs erste nicht ganz ungünstig. 
Immerhin mag es jetzt noch manche Stellen in der Mark 
geben, wo die Sumpfschildkröte in größerer Zahl vorkommt. 
Im allgemeinen ist allem Anschein nach ihre Anzahl nur 
gering, und das Wegfangen der wenigen noch vorhandenen 
oder eines Teils davon wird sicher an vielen Stellen ver- 
hängnisvoll für den weiteren Bestand der Art daselbst. Man 
schütze also den Bestand auf alle Weise. 


— In seinem Beitrag zur Morphographie des 
Meeresbodens im südwestlichen pazifischen Ozean 
führt F. Heufes (Diss. phil. von Münster 1910) aus, daß 
dieser eine so wechselvolle Bodengestaltung aufweist, wie sie 
anderswo in den Ozeanen selten zu finden ist. Unruhiges 
Relief ist der Charakterzug der ganzen westlichen Südsee, 
er kommt auch in der großen Zahl der Inseln und Riffe zum 
Ausdruck. Das charakteristische Gepräge erbält das Bild 
jener Gegend durch verschiedene unterseeische Rücken 
und flache Schwellen, welche das Gebiet in meridionaler 
Richtung durchziehen. Zwischen diesen einzelnen Anschwel- 
lungen, welche an einigen Stellen in submarinen Vulkan- 
bergen mit Bänken oft bis nahe an die Meeresoberfläche 
ansteigen, finden sich Gebiete, in denen der Boden bis in 
große Tiefen abfällt. Von der mittleren Westküste der Neu- 
seelandgruppe aus erstreckt sich ein Rücken, der gewöhnlich 
als neukaledonischer bezeichnet wird, vom Verfasser aber 
lieber als Neuseelandplateau des Segelhandbuches mit Neusee- 
landrücken benannt ist. Er zeigt auf seiner ganzen Aus- 
dehnung nur Tiefen von 1100 bis 1200 m, steigt aber sogar 
auf wenig über 800m an mehreren Stellen empor. Zwischen 
diesem Nueseelandrücken und dem australischen Festlande 
treffen wir auf eine tiefe Depression, die sich in Nordsüd- 
richtung erstreckt. Im Norden eine grabenartige Einmuldung 
von ungefähr 3200 m Tiefe bildend, erweitert sich diese Ver- 
tiefung nach Süden hin zum ostaustralischen Becken, das 
Tiefen von über 5000 bis 5944m erreicht. Ein zweiter 
Rücken, von dem ersteren durch eine Einmuldung von 3200 
bis 3600 m getrennt, läuft von der Nordinsel Neuseelands 
nach Nordnordwest; auf seinem Kamme trägt er die Norfolk- 
inseln; mit mehr Berechtigung als Neukaledonischer Rücken 
bezeichnet, fällt diese Erhebung im Osten allmählich zu dem 
sehr ausgedehnten Fidjibecken ab, das Tiefen über 4700 m 
aufweist. Noch weiter im Osten treffen wir auf ein Gebiet 
von gewaltigen relativen Niveauunterschieden. Von der Nord- 
ostspitze der Nordinsel Neuseelands aus nach Nordnordost 
erstreckt sich ein Rücken mit oft noch nicht 2000 m erreichen- 
den Tiefen. Dieser Tongarücken trägt zahlreiche Vulkane, 
deren Vorhandensein auf Neuseeland und den Tongainseln 
deutlich zutage tritt, aber auch auf submarinen Inselbergen 
und Bänken zu vermuten ist. Unmittelbar am Ostrande des 
Tongarückens zieht sich eine Rinne von sehr großer Tiefe 
hin. Bei Neuseeland beginnend, nehmen die Tiefen nach 
Norden rasch zu. Diese tiefen Einmuldungen werden dann 
nach Norden durch eine Schwellung begrenzt; der Boden 
steigt unter dem 26. Breitengrade parallel fast bis auf 4000 m 
an, um in 23° 39’ nochmals zu 9184 m abzufallen. Trotzdem 
man verhältnismäßig zahlreiche Lotungen im Bereiche dieser 
starken Depression ausgeführt hat, die sich in einer Ge- 
samtausdehnung von rund 3000 km bis zum 15. Grad südl. 
Breite erstrecken, reichen die Angaben doch nicht aus, um 
ein genaueres Bild von der Gestalt des Ostrandes dieses 
Grabens zu geben. Ob die Herde der großen Weltbeben in 
diesen Gräben zu suchen sind, darüber weiß man noch nichts 
Bestimmtes. 

— Eine Monographie über die Insel Texel, das erste 
Glied des westfriesischen Inselbogens, bearbeitete H. Klein- 
kemm (Diss. von Gießen 1910). Während im allgemeinen 
die Wattenzone die Eilande von der Küste trennt, ist Texel 
nach zwei Richtungen hin abgetrennt, im Süden durch das 
Seegat von der Nordspitze Nordhollands und im Osten durch 
die Wattenzone. Im allgemeinen streicht die Außenküste von 
Texel mit nur geringen Abweichungen im Büdwesten und im 
äußersten Norden in gerader Linie von Südwest zu Süd nach 
Nordost zu Nord. Texel ist dabei die größte der friesischen 
Inseln mit 18355ha. Wann die Abtrennung vom Fest- 
lande erfolgte, darüber liegen uns keine Nachrichten vor. 
Durch Dünenwanderung und Benagung der See ändern sich 
die Verhältnisse stetig. Ein Vergleich der Messungsergebnisse 
von 1850 und 1906 ergibt im Mittel eine Verlegung des 
Dünenfußes von 338,35 m seewärts, der Hochwasserlinie von 
133,11 m seewärts, der Niedrigwasserlinie von 119,57 m see- 
wärts. An dem geologischen Bau der friesischen Inseln nehmen 
mit Ausnahme von Sylt nur Diluvium und Alluvium teil. 
Den weitaus wesentlichsten Bestandteil des niederländischen 
Dünensandes bildet der Quarz, wenn auch Ursprung und 


lokale Umstände, wie Einflüsse in der prozentualischen Zu- 
sammensetzung, immerhin eine gewisse Rolle spielen. Der 
Oberflächengestaltung nach unterscheidet man das Dünen- 
gebiet und dessen Hinterland, das in Geest und Marsch zer- 
fällt. Was Ebbe und Flut anlangt, so beträgt die größte 
Schwankung 4989 mm; das Maximum der Fluthöhe liegt im 
Jahresmittel ausschließlich bei der zweiten Flut, der tiefste 
Wasserstand bei der ersten Ebbe. Die südwestlichen Winde 
weisen die stärkste Frequenz auf, der Südost die geringste. 
Das Minimum der Lufttemperatur stellt sich durchschnittlich 
im Februar ein, das Maximum im August. Als äußerste 
Grenzen wurden + 31,0°C im August und — 19,9°C im Januar 
gemessen; die größte Jahresschwankung brachte 1893 mit 
42,6°C, die kleinste wurde 1898 mit 30,9°C beobachtet. An 
Niederschlägen maß man als Maximum 880,5 mm im Jahre 
1903, denen 576mm in 1905 gegenüberstanden. Der jähr- 
liche Durchschnitt aus 20 Beobachtungsjahren mit 668,8 mm 
dürfte sich wohl als nicht ganz richtig entpuppen. Schnee- 
tage hat der Winter durchschnittlich nur acht, der Frühling 
noch drei bis vier. Pflanzengeographisch stehen natürlich 
die Dünen dem übrigen Land ganz gesondert gegenüber, 
wenn es auch wohl keine Pflanze gibt, die nur auf ersteren 
gedeiht und nicht auch in anderen sandigen Heide- oder 
Gebirgsgegenden gefunden wird. Klima und Boden modifi- 
zieren nur den Aufbau der Gewächse in charakteristischer 
Weise, denen als dritte Gewalt der Wind sich beigesellt. Die 
diluviale Geest stellt sich als ein ausgesprochenes Heidegebiet 
dar, nur einen kleinen Bruchteil bedeckt der Wald da, ein- 
zelne wenig umfangreiche Laubholzbestände im Gegensatz 
zu dem für die niederländisch - norddeutsche Geest so typi- 
schen Kiefernheidewald. Die Marsch ist ein ausgesprochenes 
Gebiet der pflanzengeographischen Kleinform: offene wald- 
lose Wiesen und Flächen mit Cerealien wie sonstigen Kultur- 
pflanzen bebaut. Im Gegensatz zur Flora läßt unsere Kenntnis 
von der Fauna der Insel noch viel zu wünschen übrig. 
Schwimmvögel und Sperlingsvögel sind häufig, von Raub- 
vögeln kennen wir Sperber, Eulen, wenige Falken. Das Schaf 
ist allgemein verbreitet, dann finden sich Hasen und Ka- 
ninchen zahlreich. Das Vorkommen des Igels darf als ein 
untrügliches Zeichen für den einstigen vollständigen Zu- 
sammenhang mit dem Festlande angesehen werden. Haus- 
maus, Feldmaus, Haus- wie Wanderratte sind verbreitet. 
Fledermaus, Seehund, Iltis und Hermelin vervollständigen 
den Reigen. Die gemeine Eidechse ist das einzige bekannte 
Reptil; die Insektenwelt ist noch zu wenig erforscht, das 
offene Meer wie die Watten beherbergen einen wundervollen 
Fischreichtum neben einer Unmenge sonstiger Meerestiere. 


— Die Bevölkerungsentwickelung in den Regie- 
rungsbezirken Cassel und Wiesbaden zwischen 1885 
und 1905 zeigt nach A. Fricke (Diss. von Gießen 1910) eine 
verschiedene Stärke der Seelenzunahme. Der Bezirk Wies- 
baden, damals um 9999 Personen geringer bevölkert, übertraf 
1905 den Bezirk Cassel um 159586 Einwohner. Eine Haupt- 
quote des Zuwachses entfällt in beiden Landesteilen auf die 
Stadtkreise; ohne diese vermindern sich die Relativzahlen, 
16,8 bzw. 13,5 Proz. Von 14 nassauischen Kreisen , weisen 
Kreis Westerburg und Oberlahn eine Abnahme der Bevölke- 
rung auf, von 24 hessischen nur Hünfeld. Ein ungefähr 
gleichmäßig wachsender Geburtenüberschuß ist in Cassel um 
durchschnittlich 0,1 bis 0,2 Proz. größer. Durch die Wande- 
rungen hat der Reg.-Bez. Wiesbaden in dem 20 jährigen Zeit- 
raum ein Plus von 96118 Personen = 12 Proz., Cassel ein 
Minus von 70661 = 8,80 Proz. zu verzeichnen, wobei die An- 
zahl der weiblichen Personen hinter der der männlichen 
zurückbleibt. Wanderungsverlust zeigen namentlich mehr oder 
weniger diejenigen Kreise, deren Bevölkerung vorwiegend 
landwirtschaftlich beschäftigt ist, Wanderungsgewinn aber 
diejenigen, in welchen die industriell Tätigen überwiegen. 
Ein erhöhtes Maß der Einwanderung in ländliche Industrie- 
gebiete ist durch den gewerblichen Großbetrieb bedingt. Die 
Hausindustrie in ländlichen Gegenden verstärkt als er- 
gänzendes Gewerbe zur Landwirtschaft und infolge ihrer 
Bodenständigkeit die Seßhaftigkeit. Ausgedehntes Allmende- 
und sonstiges Gemeindeland kann ebenfalls den Abzug vom 
platten Lande hemmen. In agrarischen Distrikten, in denen 
der Groß- oder großbäuerliche Betrieb hervortritt, ist die Seß- 
haftigkeit geringer als in solchen mit vorherrschend klein- 
bäuerlichem und Parzellenbetrieb, was aus der größeren Be- 
teiligung am Eigenbesitz in letzteren zu erklären ist. Der 
fideikommissarisch gebundene Großgrundbesitz wirkt teils 
zur Abwanderung mit, indem er ein Hindernis für den Er- 
werb von Grundeigentum bildet, teils reduziert er den 
Wanderverlust, wenn mit dem Fideikommiß umfangreicher 
Waldbesitz verbunden ist, da hier landwirtschaftlichen Ar- 
beitern im Winter eine ergänzende Beschäftigung geboten 


356 


Kleine Nachrichten. 





wird. So können ausgedehnte Forsten die Seßhaftigkeit be- 
günstigen. Im übrigen sei daran erinnert, daß das weithin 
sich erstreckende hessische Bergland vielfach dank den un- 
günstigen Bodenverhältnissen eine noch weit schwächere 
Dichtigkeit der Bevölkerung aufweist als die geringst be- 
völkerten Distrikte Wiesbadens. Man hat alle Ursache, die 
unerwünschte Einwanderung in die Großstädte durch Unter- 
bindung des Fortzuges vom Lande zu hemmen; bessere Ent- 
lohnung der Arbeiter, Ansiedelung ihrer Familien und Aus- 
dehnung der Krankenversicherung auf die Landwirtschaft 
dürften am ehesten hier helfend eingreifen. 

— Beiträge zur Agrargeschichte des Wester- 
waldes gibt J. Zingel (phil. Diss. von Tübingen 1909). Die 
früher auf der ganzen Feldmark ausgeübte geregelte Feld- 
graswirtschaft, die ihren Weg meist durch die getrennte 
Bebauung hindurch genommen hatte, vermögen wir am An- 
fang des 19. Jahrhunderts nur noch auf ganz wenigen Feld- 
marken nachzuweisen. Ein großer Teil des hohen Wester- 
waldes war wieder in den alten Fehler des übertriebenen 
einseitigen Sommergetreidebaues zurückverfallen. Wir finden 
daher vielfach eine neunfelderige Körnerwirtschaft vor, doch 
lassen sich bereits Übergänge aus der Körner- zur Frucht- 
wechselwirtschaft wahrnehmen. Der traurige Zustand des 
hohen Westerwaldes jener Zeit beruht wohl hauptsächlich 
auf dem Verlassen der Feldgraswirtschaft. Erst die freiheit- 
liche Agrargesetzgebung des 19. Jahrhunderts schuf hier 
hauptsächlich Wandel, wenn sich auch noch Reste alter 
Übergangsstufen zu neuen und neuesten Bewirtschaftungs- 
formen dem Auge des Beobachters bieten. 





— Den Siedelungen im westlichen Nadrauen, im 
Westen des preußischen Litauen, widmet Johannes Kuck 
seine Promotionsschrift (Königsberg i. Pr. 1909). Zwei Motive 
erweisen sich für die topographische Lage der Siedelungen 
im genannten Gebiete als wirksam: Das Bedürfnis nach dem 
fließenden Wasser und das Streben nach einer möglichst vor 
Überschwemmung und Versumpfung gesicherten Lage. Fast 
alle Orte schließen sich an einen Fluß oder einen Bach an, 
und zwar werden die kleineren Flüsse vor den großen 
Strömen bevorzugt, welche geradezu gemieden werden. Zum 
Ausdruck kommt diese Erscheinung sehr drastisch auf der 
beigegebenen Volksdichtekarte. Der Grund für das Meiden 
der Ströme liegt an dem häufigen Auftreten von Sand und 
anderem wenig fruchtbaren Boden in ihrer Nähe. Auf dem 
Diluvium treten die Siedelungen nicht direkt an den Fluß 
heran, sondern halten sich an den Abfall der diluvialen Höhe, 
gezwungen dazu durch die alljährliche Überschwemmung des 
Tales. Im Moosbruch finden wir dasselbe Verhältnis, während 
in der Niederung die Siedelungen direkt an das Wasser 
herangehen. Ist in der Gemarkung ein Fluß überhaupt 
nicht vorhanden, so nimmt die Siedelung gewöhnlich die 
höchste Spitze derselben ein, aus Furcht vor der Versumpfung. 
Neben der topographischen Lage ist die geographische zu 
berücksichtigen, d. h. das Verhältnis znr näheren oder wei- 
teren Umgebung. Nur diejenigen Ordensburgen haben Städte 
ins Leben rufen können, die eine wichtige geographische 
Lage besitzen, d. h. solche, welche an einem wichtigen Ver- 
kehrsplatze liegen; so sind beispielsweise Laukischken und 
Taplacken über Dorfsiedelungen nicht herausgewachsen. Die 
Dörfer der Gebiete sind ihrer Grundrißform nach in der 
überwiegenden Mehrzahl als Straßendörfer zu bezeichnen. 
Daneben tritt vereinzelt ein unregelmäßiger Grundriß auf. 
Unter den Straßendörfern läßt sich eine Reihe von Typen 
unterscheiden, so das ostdeutsche Kolonialdorf als zweiseitiges 
Straßendorf, in der Mitte der Anger mit der Kirche; das 
preußische Dorf unterscheidet sich von den deutschen wesent- 
lich durch seine geringere Größe hinsichtlich des Dorfberinges 
wie der Einwohnerzahl. Das litauische Dorf des 17. und 
18. Jahrhunderts ist zwar auch ein Straßendorf, zeichnet sich 
aber meistens durch eine Anzahl von Ausbauten aus. Eine 
charakteristische Form zeigen dann die Moorkolonien, die 
sich eng an einen Fluß anschließen und ihm in allen seinen 
Windungen folgen. 
fortlaufende Reihe, jedes einzelne besitzt seinen besonderen 
Wasserweg nach dem Flusse, der großen Verkehrsstraße, der 
namentlich bei den älteren Kolonien die eigentliche Dorf- 
straße darstellt. Zum Fahrweg, der gemeiniglich erst später 
angelegt ist, stehen sie in keinem Verhältnis. 


— E. Romer teilt im Lemberger Kosmos (39. Bd.) einiges 
über die glaziale Karpathenlandschaft und deren Ent- 
stehung mit. An den Beispielen der Formen der glazialen 
Täler in den Karpathen zeigt er, daß vieles in ihnen erst 
durch die Annahme der Erosion von subglazialen Gewässern 


Die einzelnen Gehöfte bilden selten eine 


klar wird. Die außerordentlich frisch erhaltenen Formen 
von Swidowiec im Theißquellengebiet werden als charak- 
teristisches Beispiel angeführt. Die Täler sind da durchaus 
von mindestens zwei kaum Wasser führenden, doch gut ent- 
wickelten und an den beiden Rändern des glazialen Trogs 
angelehnten Talrinnen entwässert. Diese Rinnenanordnung 
muß noch während der Vergletscherung und subglazial sich 
entwickelt haben, im Postglazial würden ja die Erosions- 
und Unterwaschungsprodukte der Ufer die Entwässerungs- 
stromrinne vom Rande gegen die Achse oder gar gegen den 
anderen Trogbodenrand drängen müssen, es mußte also jeden- 
falls eine einheitliche symmetrische oder serpentinierende 
Entwässerung sich entfalten, nie aber eine doppelte randliche 
Entwässerung. Diese Erscheinung kommt noch prägnanter 
in den Tälern der nördlichen Gehänge der Czornahora im 
Pruth-Quellengebiet zutage. Die glazialen Beobachtungen in 
den Alpen bekräftigen nur noch den Gedankengang des Ver- 
fassers. Nichtsdestoweniger leugnet er die erosive Tätigkeit 
der Gletscher nicht, betont insbesondere die Rolle derselben 
in der Ausbildung der Kare wie der oberen Seenbassins. Die 
morphologische Hauptaufgabe üben aber nach seiner Ansicht 
die Gletscher nicht direkt aus, sondern indirekt, erstens durch 
die Regulierung und Richtungsänderung der fluvialen Tätig- 
keit, zweitens durch die Konservierung der durch Wasser- 
erosion erzeugten Formen durch den Schutz vor Verschüttung 
und drittens durch den enormen Transport. Zuletzt gedenkt 
Romer der großen Stufen im Längsprofil der Haupttäler, bei 
deren Bildung die fluviatile Erosion ausgeschlossen erscheint, 
die Annahme der glazialen aber ebenfalls mit ganz bedeuten- 
den Hindernissen verbunden ist. Ob mindestens nicht ein 
Teil der Stufen die Folge einer epirogenetischen Verjüngung 
der Landschaft sei, spricht er in Form einer Vermutung 
aus, welche er später eventuell näher zu begründen ver- 
suchen wird. 





— Prof. A. Haas in Stettin hat seit Jahren die Insel 
Rügen zu einem Spezialgebiet seiner Forschungen gemacht, 
namentlich in Beziehung auf deren Sagen, Sitten und Ge- 
schichte. Seine neueste Arbeit bietetBeiträge zur Kenntnis 
der rügenschen Burgwälle (Baltische Studien, XIV). 
Eigene Ausgrabungen hat Haas nicht veranstaltet, aber diese 
kritische, die gesamte Literatur berücksichtigende Zusammen- 
stellung der teilweise noch in geschichtlicher Zeit (Arkona) 
benutzten Burgwälle ist in dieser Vollständigkeit sehr will- 
kommen. Im ganzen zählt Haas 25 rügensche Burgwälle 
auf, Küstenburgen und Binnenlandsburgen, über deren Ent- 
stehungszeit nicht viel Sicheres sich ermitteln ließ. Gehen 
sie, oder einzelne, auch in die frübgermanische Zeit zurück, 
so fällt ihre Hauptbedeutung doch in die slawische Zeit. 
Von neun Burgwällen weist Haas nach, daß sie Zwecken der 
Landesverwaltung dienten, während die meisten militärische 
Befestigungen waren. Acht Abbildungen sind der Schrift 
beigegeben, unter denen wir die slawische Götzenfigur im 
Fundament der Marienkirche zu Bergen und den über 11 m 
hohen wilden Birnbaum beim Burgwall von Charenza hervor- 
heben, wohl eines der größten Exemplare dieses immer 
seltener werdenden Baumes. Karten zeigen die Lage der 
einzelnen Burgwälle. 


— Sehr gut erhaltene prähistorische Rinderschädel 
befinden sich im Museum zu Schwerin. Sie stammen aus 
den mecklenburgischen Pfahlbauten und werden in die Stein- 
zeit, genauer in den Schlußabschnitt der nordischen Stein- 
zeit versetzt. Diese Schädel hat nun Walter Zengel einer 
eingehenden Untersuchung unterzogen, über welche er im 
„Archiv für Anthropologie“ (Band IX, 1910, 8.159) ausführlich 
berichtet, wobei er zugleich die Frage der Domestikation 
behandelt und sehr richtig ausführt, daß hierbei nicht ein- 
seitig vorgegangen werden dürfe, sondern Kulturgeschichte, 
Paläontologie, Linguistik, Ethnologie, Physiologieund Anatomie 
berücksichtigt werden müßten. Aus seinen Untersuchungen 
geht im Gegensatze zu der bis heute gültigen Feststellung 
Rütimeyers hervor, daß unser europäisches Hausrind 
nicht von dem europäischen Ur (Bos primigenius) ab- 
stamme. Er verlegt in Übereinstimmung mit Prof. Duerst 
die Domestikation nach Asien, wo in den frühesten Zeiten 
die Symbiose zwischen Mensch und Tier stattfand. Zur 
Unterstützung seiner Anschauungen führt er die 1904 von 
dem Geologen Pumpelly zu Anau in Turkestan vorgenommenen 
Ausgrabungen an. Die Tierknochenfunde von dort, die 
Duerst untersuchte, sollen unzweifelhaft dartun, „daß das 
Rind aus diesem Kulturgebiete nach allen Himmelsrichtungen 
durch Völkerzüge verbreitet ist und der Ursprungsort des 
Rindes in Asien liegt, wo aus der Symbiose zwischen Mensch 
und Tier nach einwandfreier Feststellung schon um 8000 vor 
Christus das Haustierverhältnis entstanden war“. 





Verantwortlicher Redakteur: H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 65. — Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FOR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“. 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 











Bd. XCVIII. Nr. 23. 


BRAUNSCHWEIG. 


22. Dezember 1910. 
x | 











Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 


Magisches und mitteilendes Zeichnen. 


Von Th. W. Danzel. 


Dem spielmäßigen Zeichnen der Naturvölker ist von 
Wundt 1) das mitteilende gegenübergestellt worden, und 
nach der Annahme dieses Autors „liegt die Anwendung 
der zeichnenden Kunst in mitteilendem Sinne so nahe, 
daß man wohl zweifeln darf, ob hier überhaupt von einer 
zeitlichen Aufeinanderfolge die Rede sein kann. Denn 
sicherlich wird der Mensch eine zeichnende Kunst auf 
Steinen oder auf Baumrinde nicht früher geübt haben, 
als er auch schon in Horden lebte, die gelegentlich in 
Wechselverkehr mit anderen Horden stehen mochten, so 
daß daraus das Bedürfnis nach Mitteilung an Abwesende 
erwuchs; und für diese bot sich das die Vorstellung 
fixierende Bild als das nächste überall bereitstehende 
Hilfsmittel.“ Das ethnographische Material zeigt nun aber 
an einer Fülle von Beispielen, daß wohl Hinweise für 
abwesende Personen vorkommen vermittelst markierender 
Steinhaufen, Eigentumszeichen usw. in der Nähe von 
Wasserplätzen, Vorratsverstecken, die gewissermaßen als 
Dauerformen der hinweisenden Gebärde aufzufassen sind, 
dagegen die bildliche Darstellung nur von wenigen, erst. 
auf einer kulturellen Mittelstufe stehenden Völkern in 
den Dienst der Mitteilung gestellt wird. 

Das spielmäßige Zeichnen findet sich schon bei den 
uns bekannten primitivsten Völkern (Australiern). Hier 
soll nicht näher auf die Frage nach seiner Entstehung 
eingegangen werden. Die Annahme Vierkandts und Koch- 
Grünbergs ?), daß in die durch spielmäßiges Wiederholen 
von beim Schleifen der Steinwerkzeuge an Felswänden 
entstandenen Linienkombinationen Gestalten hinein- 
gesehen werden, die, der Lust an Betätigung folgend, 
vervollständigt, selbst Objekt spielender Nachahmung 
werden, ist auch für die folgenden Ausführungen gültig 
gewesen. 

Von dem spielmäßigen Zeichnen sondert sich das 
magische, zauberhafte. Es entspringt der allgemeinen 
Neigung des primitiven Menschen, seinen Vorstellungen 
sichtbaren Ausdruck zu geben, sie zu vergegenständlichen. 
Man darf dieser Erscheinung indes nicht den rationalen 
Wunsch unterlegen, sich dadurch verständlicher zu machen, 
vielmehr handelt es sich hier ursprünglich um die Nieder- 
schläge ungewollter motorischer Entladungen von Gefühls- 
spannungen. Auch wenn der Primitive den Gegenstand 
einer Unterhaltung durch eine Frucht oder gar durch 
ein flüchtig in den Sand gezeichnetes Bild 3) markiert, 


1) Wundt, Völkerpsychologie, I. Teil, Bd. 1, 8. 233. 
2?) Theodor Koch-Grünberg, Südamerikanische Felszeich- 
nungen; Alfred Vierkandt, Stetigkeit im Kulturwandel, 8.47. 
) Karl v. d. Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral- 
brasiliens, 8. 231. 
Globus XCVIII. Nr. 23. 


Leipzig. 


so entspringt das nicht so sehr dem Bestreben, die Er- 
zählung zu verdeutlichen, wie wir, rational denkend, an- 
nehmen möchten, als dem Triebe aller inneren Gefühle, 
Zustände, Vorstellungen in das konkret Sichtbare 
umzusetzen, unbewußt zu symbolisieren. Es ist 
natürlich, daß sich diese Neigung bei der Bedeutung, 
die magisch-zauberhafte Vorstellungen im Leben des 
Primitiven spielen, auch hier geltend macht. Ist 
die Technik des Zeichnens auf dem Boden, auf Baum- 
rinde, an Felswänden spielmäßig geläufig geworden, so 
wird sie als geeignetes Ausdrucksmittel insbesondere 
magischer Vorstellungen mannigfaltig Anwendung er- 
fahren. Während nun aber die spielmäßigen Zeich- 
nungen relativ naturalistisch, in sehr vielen Fällen auch 
dem Europäer bis zu einem gewissen Grade ohne Kom- 
mentar verständlich sind, zeigen die magischen Dar- 
stellungen, wie sie die Australier +) zum Zwecke kultisch- 
zauberhafter Handlungen auf dem Erdboden ausführen 
oder auf Hölzern (Churingas) oder auch an Felswänden 
einritzen, ausnahmslos Formen, deren Bedeutung wir nie 
erraten würden. Auf der einen Seite profane Zeich- 
nungen von Mensch, Känguruh, australischem Strauß in 
so naturalistischer Darstellung, daß man das Geschlecht 
erkennen kann, auf der anderen Seite Systeme von kon- 
zentrischen Kreisen, Schlangenlinien, parallelen Linien 
von wechselnder Bedeutung. Einmal stellen z. B. kon- 
zentrische Kreise auf den Churingas Menschen, ein an- 
deres Mal Gummibäume dar. 

Der Grund für die überaus merkwürdige Verschieden- 
heit zwischen den magischen und spielmäßigen Bildern 
mag in den Motiven liegen, denen sie ihre Entstehung 
verdanken. Bei den spielmäßigen naturalistischen Zeich- 
nungen ist die Anfertigung das Wesentliche. Ein Tier, 
ein Mensch, die einmal im Leben des Zeichners eine Rolle 
gespielt, einen unauslöschlichen Eindruck gemacht haben, 
werden in charakterisierenden Linien festgehalten. Bei 
den magischen Zeichnungen sucht der Primitive gleichsam 
tastend erst ein Ausdrucksmittel. Der Wunsch zu cha- 
rakterisieren tritt in den Hintergrund, und das Bild ist 
lediglich eine mehr oder weniger einer bestimmten Ab- 
sicht entsprungene Anwendung, eine Vergegenständ- 
lichung, vergleichbar einer Anzahl Körner, die bei eifriger 
Unterhaltung ergriffen werden und Menschen bedeuten, 
oder den einfachen Einschnitten eines Kerbholzes, die 
vollständig genügen, um die Phantasietätigkeit in be- 
stimmter Weise anzuregen. 





*) Spencer und Gillen, The Northern Tribes of Central 
Australia, 8. 716, 737, 741. 


46 


358 


Danzel: Magisches und mitteilendes Zeichnen. 





Analoge Erscheinungen zeigt das Leben des Kindes 5). 
Dem Kinde wird im Verlaufe eifrigen Spielens ein rohes 
Holzstück zur Puppe; besteht aber das Spiel gerade im 
Anfertigen einer Puppe, so wird etwas wesentlich Voll- 
kommeneres zustande kommen, als das rohe Holzstück 
es war, und es werden Gesicht, Arme und Beine ange- 
deutet werden. 

Auf höheren Stufen, wo alle Äußerungen des 
Menschen sich stärker differenziert haben, wird das 
gezeichnete Bild, das magische sowohl wie das spielmäßige, 
in Einzelheiten genauer charakterisieren; beispielsweise 
lassen die dämonischen Figuren auf afrikanischen Holz- 
trommeln deutlich erkennen, welches Tier Vorbild ge- 
wesen ist ©). 

Der Grund, weswegen die naturalistischen, spiel- 
mäßigen Zeichnungen nicht gleich anfangs zur Mitteilung 
an Abwesende im Sinne einer Bilderschrift verwandt 
werden, liegt wohl darin, daß der Primitive bei Betrach- 
tung eines Bildes, das in viel stärkerer Weise Anlaß zur 
Reproduktion von Erinnerungsvorstellungen ist als das 
Wort oder die Gebärde, da es eben selbst seiner Be- 
schaffenheit nach Gegenstand ist, noch nicht genügend 
Selbstzucht gegenüber den auftauchenden Vorstellungen 
übt, noch keiner Auswahl bestimmter Vorstellungen aus 
einem Vorstellungskomplex und deren Verselbständigung 
fähig ist, sondern sich von dem Strom unwillkürlich 
reproduzierter Vorstellungen fortreißen läßt ?), noch keine 
Abstraktion im Bilde ausführt. Die primitive Darstellung 
eines Tieres, so typisch sie uns auch erscheinen mag, 
ruft in dem primitiven Betrachter Vorstellungen ganz 
bestimmter individueller Ereignisse, in denen einmal ein 
solches Tier eine hervorragende Rolle spielte, wach, deren 
sich zu erwehren er nicht gelernt hat. Wenn nun auch 
die Anschauungsweise der einzelnen Individuen in hohem 
Grade gleichartig ist, so verhindert doch das Überwuchern 
spezieller, individueller Vorstellungen die Bildung einer 
gleichartigen, allen Individuen geläufigen Bildbedeutung, 
wie sie eine noch so primitive Bilderschrift erfordert. 

Auch hier dieselbe Erscheinung im Leben des Kindes °). 
Das Kind neigt stets dazu, beim Anblick eines für Er- 
wachsene völlig unähnlichen Bildes auszurufen: „Das 
ist der Vater“ oder: „Das ist der Onkel“, auch wenn 
ihm die Ausdrücke „Mensch“ und „Mann“ mündlich 
geläufig sind. 

Man darf dem primitiven Menschen überhaupt nicht 
von vornherein so rationale Beweggründe zumuten wie 
ein Bedürfnis der Mitteilung. Sogar die sprachlichen 
Äußerungen tragen noch in hohem Grade den Charakter 
der Gefühlsentladungen, der Selbstdarstellungen, Mit- 
bewegungen. 

Auch bei den Botschaften handelt es sich ursprüng- 
lich nicht um die Übermittelung von Tatsachen, die vom 
Nützlichkeitsstandpunkte wissenswert sind; die ganze 
Botschaftsüberreichung ist vielmehr eine symbolische 
Handlung. Lehrreich sind in dieser Beziehung wieder die 
Australier ?). Nähert sich der Bote mit magischen Zeichen 
bedeckt, bestimmte zeremonielle Regeln befolgend, dem 
Lager, so bringt er vielleicht nur die Aufforderung zu 
einem nächtlichen Tanz, einer kultischen Handlung und 
zählt den Zuhörern an Hand der Kerben seines Boten- 
stabes die verschiedenen Akte der beabsichtigten Festlich- 
keit mit Genauigkeit und Umständlichkeit auf, die 


J Eigene Beobachtung. 
°) Weule, Das Eidechsenornament in Afrika. Bastian- 
Festschrift, 8. 183. — Totemzeichen der Torresinsulaner, 
Globus, Bd. 86/87 ; Bd. 75, 8. 14: (Hoffmann). 

7) W. Stern, Die Analogie im volkstümlichen Denken. 

°) Eigene Beobachtung. 

°) Spencer und Gillen, a. a. O. 


den Zuhörern längst bekannt sind. Auch viele so- 
genannte symbolische Briefe, wie sie die Jebuneger 10) 
durch Boten übermitteln, zeigen dasselbe. Wohl ver- 
knüpfen sich hier schon ganz bestimmte Zwecke mit der 
Botschaft. Durch verschiedene Gegenstände (z. B. Kauris) 
wird irgend eine Forderung ausgedrückt und es werden 
verschiedene Bedingungen von deren Erfüllung abhängig 
gemacht, aber an und für sich würde bei derartig ein- 
fachen, Gedächtnishilfen nicht erheischenden Nachrichten 
eine nur mündliche Übermittelung demselben Zweck völlig 
genügen. Die Bilderschriften der Indianer !!) der Ver- 
einigten Staaten sind in der Mehrzahl von demselben 
Charakter. Es kommt aber schon eine Anzahl prak- 
tischen Bedürfnissen gerecht werdender Mitteilungen vor 
(bei Nahrungsmangel, plötzlichem Fortzug usw.), dagegen 
müssen die bilderschriftlichen Rechnungen und Tausch- 
angebote wohl als Reflexe europäischen Einflusses an- 
gesehen werden. 

Es darf uns nicht wundern, daß bei der überragenden 
Bedeutung religiöser Vorstellungen in primitiven Stufen 
die Veranschaulichung dieser durch das Bild besonders 
gepflegt werden wird, gibt doch der Besitz magischer 
Bilder dem Eigentümer das Gefühl der Macht, die Ge- 
währ des Schutzes. In derselben Weise, wie es möglich 
ist, einem Feinde im Bilde zu schaden 12), bieten einem 
auch die Bilder dämonischer Mächte eine Handhabe zu 
ihrer Beeinflussung. Es ist schon ein Fortschritt, wenn 
der Mensch das Bild nicht nur ausführt in dem trieb- 
haften Drang, seine Vorstellungen und Gefühle in das 
Greifbare, Sichtbare umzusetzen, sondern in der mehr 
oder weniger bestimmten Absicht, sich dadurch eines 
Schutzes zu versichern. 

Alle zauberischen Bilder und Gegenstände werden 
nun aber mit peinlicher Genauigkeit stets in derselben 
Weise angewandt, in derselben Form ausgeführt, und 
diese Beharrungstendenz !3), die das wichtigste erziehe- 
rische Moment primitiver Religion ist, weil dadurch ein 
Zwang ausgeübt wird, von der physischen Natur nicht 
gegebene Regeln inne zu halten, wird dazu beitragen, 
die Bedeutung des magischen Bildes zu festigen. Da 
letztere beim Kultus, also einer sozialen Handlung, eine 
große Rolle spielen, so ist dadurch die Gewähr gegeben, 
daß bei allen Individuen derselben Gruppe mit den Sym- 
bolen im wesentlichen gleichartige Vorstellungen ver- 
knüpft werden. 

Es ist somit ein Mittel entstanden, welches in hervor- 
ragender Weise geeignet ist, einer vollkommeneren Fixie- 
rung der Vorstellung zu dienen. Erst allmählich, wenn 
das Denken ein Schimmer von Rationalisierung erhellt, 
wird die Aufzeichnung zur beabsichtigten Festhaltung 
bestimmter Tatsachen oder ein Mittel zur Mitteilung. 
Das ethnographische Material zeigt an dem starken Über- 
wiegen der Aufzeichnungen religiösen Inhaltes, daß diese 
für den Menschen ursprünglich am bedeutsamsten sind. 
Die Bilderschriften der Mexikaner und Maya — also von 
Völkern einer stark differenzierten Halbkultur — scheinen 
beinahe ausschließlich historisch-religiösen Zwecken, in 
verschwindender Menge rationalen, gedient zu haben !#), 
Auch den alten Ägyptern war die Schrift in hervor- 
ragender Weise Aufzeichnungsmittel religiöser Materialien. 
Lehrreich ist auch, daß die Cherokee !), als ein Stammes- 


10) ©. A. Gollmer im Journal of the Anthr. Inst. of Gr. 
Br.a.I. XIV, 8. 169. — Ebendort, Gloxam 1887, 8. 291, 295, 298. 

1) Mallery: 4. und 10. Annual Report of the American 
Bur. of Ethnology. 

12) Vierkandt im Globus, Bd. 92 (Anfänge der Religion). 

12) Zuerst von Andree in ihrer Bedeutung erkannt. 

14) Seler, Gesammelte Abhandlungen, Bd. I. 

'®) Mooney, 7. Ann. Rep. Bur. Am. Ethn. 8. 307. — Vgl. 
auch Tschudi, Reisen in Südamerika, Bd. V, S. 314 bis 316 


Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 


359 





angehöriger ihnen ein Alphabet schuf, dieses in aus- 
gedehntem Maße dazu benutzten, um Zauberformeln 
aufzuschreiben. 

Fassen wir das Resultat der vorliegenden Unter- 
suchungen zusammen: Magisch-zauberhafte Handlungen 


und 8. 282 bis 284. Ein christlicher südamerikanischer 
Indianer erfand eine Bilderschrift, um die Lehren der katho- 
lischen Kirche aufschreiben zu können. — Auch die Bibel 
(NB! „Biblos“ und „Heilige Schrift“) ist noch heute nach 
den Berechnungen der Bibelgesellschaft das verbreitetste 
Buch der Erde. 


sind auch hier, wie in vielen anderen Fällen, gleichsam 
das Experiment für rationale gewesen !6). Aus dem magi- 
schen Zeichnen geht bei entsprechendem Zweckwandel in 
Zeiten rationalerer Denkweise das mitteilende Zeichnen 17), 
eines der wichtigsten Hilfsmittel höherer Kulturformen, 
hervor. 


16) Preuß, Anfänge von Kunst und Religion. Globus, Bd. 87. 
— Vierkandt, Anfänge der Religion. Globus, Bd. 92. 

'7) Die Entwickelung der Schrift wird in ausführlicheren 
Darstellungen vom Verfasser behandelt werden. 





Streifzüge in den Rocky Mountains. 
Von Charles L. Henning. Denver. 
V. Der Clear Creek-Distrikt: Golden — Clear Creek Canyon — Black Hawk und Central City — Idaho 
Springs — Georgetown — Silver Plume — Mount McClellan. 


Mit 12 Abbildungen, 
(Schluß.) 


II. 
Die Erzlagerstätten 7). 


Die Erzlagerstätten von Gilpin County und Clear 
Creek County bilden einen Zweig jenes großen Erzgürtels, 
der das Gesamtgebiet der Rocky Mountains in Colorado 
von Süd nach Ost durchzieht, und ihre im großen und 
ganzen zu beobachtende Übereinstimmung in ihrer mi- 
neralogischen Zusammensetzung läßt die Behauptung ge- 
rechtfertigt erscheinen, daß die Erze gemeinsamen Ur- 
sachen ihre Entstehung verdanken. 

Die Erzgänge beider Counties finden sich in präkam- 
brischen Gneisen und Schiefern, vergesellschaftet mit 
gangähnlichen Massen von Pegmatit und mit Gängen 
aus Porphyr-Andesit. Es sind sogenannte echte Gänge 
(True Fissure Veins). 

Der Erzdistrikt von Gilpin County umfaßt eine gold- 
und eine silberhaltige Zone; die Silberzone findet sich 
in der östlichen Begrenzung der Region, ungefähr an 
der Stelle von Black Hawk und unmittelbar östlich von 
North Clear Creek, und es ist das durchschnittliche Ver- 
hältnis von Silber zu Gold im ganzen Gebiet ungefähr 
5 Unzen Silber auf 1 Unze Gold. Die Erze des Silber- 
gürtels enthalten kein Gold, während in dem goldhaltigen 
Gürtel beide Mineralien im Verhältnis von 5:1 vertreten 
sind. Es lassen sich in dem Distrikt zwei Serien von 
Gängen unterscheiden, ein ungefähr ost-westlich und ein 
ungefähr nordöstlich-südwestlich streichender Gang, 
welche von zahlreichen kleineren Seitengängen gekreuzt 
werden. Die Reichhaltigkeit der Gänge an Erz schwankt 
beträchtlich; während an manchen Stellen die Gänge nur 
eine Mächtigkeit von 12m zeigen, weisen sie an anderen 
eine solche von 120 bis 150 m auf. 

Die Erze kommen in der Form von Sulfiden vor, und 
der weitestverbreitete Pyrit, wegen seines glänzenden Aus- 
sehens „Fool’s Gold“ genannt, ist in Verbindung mit 
Kalkopyrit, Zinkblende und Fahlerz der hauptsäch- 
lichste Träger von Gold. Telluride finden sich in 
einigen Minen, während Wismut und Arsen ziemlich 
häufig vorkommen. Der seltene Uraninit (Pechblende) 
kommt in der Wood Mine vor. Im Silbergürtel finden 
sich Polybasit, Stephanit und Hornsilber neben Galena, 


7) Ich gestatte mir, hier zu bemerken, daß anfangs 1911 
bei Ferdinand Enke in Stuttgart ein Werk aus meiner Feder er- 
scheinen wird, welches die Erzlagerstätten der Vereinigten 
Staaten in ihrer Gesamtheit behandelt. 


Zinkblende und Pyrit. Goldinkrustationen in Blattform 
auf Pyrit sind vielfach in den Gilpin-Minen gefunden 
worden, während Kupfer-Pyrit das meiste Gold enthält; 
die Blei-, Zink- und Antimonsulfide enthalten Silber. 

Der Georgetown-Distrikt enthält an Erzen Silber, 
Gold, Blei, Zink und Kupfer. Silber findet sich im freien 
Zustand als sogenanntes „Wire Silver“, vornehmlich aber 
in Vergesellschaftung mit Galena und Zinkblende; bei den 
niedergradigen Erzen liegt der Hauptwert in Galena und 
Zinkblende, so daß sich, besonders bei den augenblicklich 
herrschenden niedrigen Marktpreisen des Silbers, eine 
hüttenmännische Gewinnung dieses Metalls nicht lohnt. 
Das hellbraune oder gelbe „Resin Zinc“ scheint sich 
besser zur Silbergewinnung zu eignen als der dunkel- 
braune oder schwarze Sphalerit; bei hochgradigen Sulfid- 
erzen liegen die Silberwerte hauptsächlich im Tetraedrit 
und Polybasit, auch das sogenannte „Ruby Silver“ und 
Tennanit kommen im Distrikt vor. In der bergmänni- 
schen Sprache werden Tetraedit, Polybasit und Tennanit 
als „Gray Copper“ bezeichnet. 

Die Silbererze enthalten oft 2 Dollar an Gold die 
Tonne, besonders wenn Pyrit gegenwärtig ist. 

Gold wurde vor vielen Jahren im freien Zustande 
als „Seifengold“ aus Goldseifen (Placer Deposits) und im 
Anstehenden in der Nähe von Empire (bei Georgetown) 
gewonnen, doch wird das Metall heute ausschließlich aus 
Pyrit-Kalkopyrit aufbereitet. Sorgfältige Analysen von 
reinem Kalkopyrit ergaben bis zu 25 Unzen die Tonne. 

Bemerkenswert ist auch ein reiches Silber-Gold-Tel- 
luriderz, das sich in der Griffith-Mine findet, aber Ga- 
lena und Sphalerit sind stets die Haupterze des George- 
town-Distrikts. Buntkupfererz kommt vereinzelt vor. 
Das hauptsächlichste Gangmineral des Georgetown-Di- 
strikts ist Quarz; Siderit, Barit, Calcit, Rhodochrosit und 
Magnesit können nur als untergeordnete Gangmineralien 
in Betracht kommen. 

Die Erze des Idaho Springs-Distrikts sind die gleichen 
wie jene des Georgetown-Distrikts, nur ist vielleicht er- 
wähnenswert, daß nördlich von Idaho Springs die Erze 
vornehmlich kupferhaltiger Pyrit und Quarz sind, während 
südlich und westlich von der Stadt Galena und Sphalerit 
den Pyrit und Quarz in den goldhaltigen Erzen begleiten. 

In der Nachbarschaft der Lamartine-Mine, die etwa 
halbwegs zwischen Idaho Springs und Georgetown liegt, 
sind die Erze vornehmlich silberhaltig, unter Vorherrschen 
von Galena und Sphalerit. 


46* 


Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 





Produktion an Gold; Silber usw. in Clear Creek County, Colo. 
1905 bis 1908. 



























































1905 1906 1907 1908 

Wert in Wert in Wert in Wert in 

Menge Dollar Menge Dollar Menge Dollar Menge Dollar 
Gold. Unzen fein ..... 24 366,42 | 503698|| 25 626,81 529 753 | 25 295,09 522 896 | 31 884,74 | 659116 
EFT A 692,487 | 418232 | 652,796 | 437373 518,364 | 342120 508,551 | 266882 
Kupfer. Pfund ...... 235,669 | 36764 235,375 45497 171340 | 34268) 264,994 | 34979 
Bis, Plunder ah 3270211 | 153700| 3307001 | 188499| 2804172 | 148621| 2015,010 | 84630 
Zink. Pfand ....... 1869995 | 110330 | 1755,805 | 107104| 1406,187 | 82965 836,411 39 311 
5 2 ei a ge 
Summa 1 222724 | 1 308 156 || 1 130 870 | 1084 918 


Die Erze des Silver Plume-Distrikts produzieren nur 
Silber und Blei, kein Gold, während die Erze des Argen- 
tine-Distrikts, einschließlich Mount McClellan, ebenfalls 
Silber und Blei in abbauwürdiger Weise enthalten. Die 


erzführende Zone des Argentine-Distrikts setzt sich über 
die Continental Divide nach dem Tenmile-Distrikt fort, 


Abb. 10. 


wo der kleine Ort Breckenridge infolge des Auftretens 
von freiem Gold in den Mergeln des Farncombe Hill be- 
rühmt ist. Bemerkenswert ist im Argentine-Distrikt das 
Vorkommen von Fluorit als Gangmineral. 

Auf die wichtige, aber äußerst schwierige Frage nach 
der Entstehung der Erze und Mineralien der behandelten 
Distrikte kann ich hier nicht eingehen, ich verweise viel- 





Blick auf die Continental Divide von Waldorf aus. Aufn. d. Verf. 


mehr auf das angeführte große Werk der U. S. Geological 
Survey über den Georgetown-Distrikt. Nur so viel sei 
anzuführen gestattet, daß die Erze von Gilpin County 
und Clear Creek County ihre Existenz eruptivem, mon- 
zonitischem Magma verdanken und in aufwärts steigenden 
Lösungen sich abgesetzt haben. Aber auch abwärts 
gehende Lösungen, also solche, die 
„von oben her“ in die Tiefe 
drangen, haben ihren großen An- 
teil an der Bildung der Erzlager- 
stätten gehabt, so daß wir sowohl 
von primären, als auch von sekun- 
dären Lagerstätten reden können. 

Über die Menge und den Wert 
der Produktion an Gold, Silber usw. 
in den beiden Counties geben die 
beistehenden, nach den „Mineral 
Resources* der U. S. Geological 
Survey erstellten Tabellen Aus- 
kunft. Für das Jahr 1909 liegen 
noch keine verläßlichen Angaben 
vor. Seit 1905 wird in Gilpin 
County kein Zink mehr hütten- 
männisch gewonnen. 


Mount McClellan. 


Das Haupt- und Endziel aller 
Touristen, die von Denver aus die 
in einem Tage zu machende Rund- 
fahrt nach Georgetown und Silver 
Plume antreten, bildet der Mount 
Mc Clellan, der erst näher bekannt 
geworden ist, seitdem im Jahre 1903 
von dem Reverend E. J. Wilcox aus Denver, einem 
mehrfachen Millionär, mit einem Kostenaufwand von 
800000 Dollar eine Schmalspurbahn, System Shay, auf 
ihn gebaut wurde. Der Bahnbau nahm zwei Jahre in 
Anspruch, und im Sommer 1905 konnte die Bahn dem 
Personenverkehr übergeben werden. Die Bahn selbst ist 
als „Argentine Central R. R.“ inkorporiert und von 





Produktion an Gold, Silber usw. in Gilpin County, Colo. 
1905 bis 1908. 









































1905 1906 1907 | 1908 
Wert in | Wert in | Wert in Wert in 
Menge Dollar Menge Dollar Menge Dollar Menge Dollar 
ur = == I z z 1 a5- 7 E A | 1 r | 
Gold. Unzen fein . .... 70 145,33 | 1450 033 | 53 981,74 1115 902 , 45 399,36 | 938 488 | 52 042,21 1 075 808 
Silber. te a 340,901 | 205 904 242,478 162 460 | 209,347 138 169 | 187,030 99 126 
Kupfer. Pfund ...... I 512,276 | 79915, 638,002 123 134 874,060 174 812| 636,371 84 001 
Blei "Pfund > 2... ar 519,841 | 24 433| 510,791 29 115 i 611,060 32 386 538,143 22 602 
E — n - = 11 7 
Summa 1 760 285 | 1430611 | 1 283 855 1 281 537 
l i | Il | 








Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 361 


der Colorado and Southern R. R. 
völlig unabhängig. 

Wie im allgemeinen sämt- 
liche Bahnen in Colorado, die 
eintägige Rundtouren in das Ge- 
birge machen, die Fahrt als „the 
most ideal one-day trip in the 
world“ — „a lifetime in a day“ 
aus leicht begreiflichen Gründen 
anpreisen, so macht auch die 
Argentine Central keine Aus- 
nahme von dieser Regel. Man 
mag nun über diese Art der 
Reklame denken wie man will, 
das muß man sagen, daß die 
gesamte Fahrt von Denver aus 
durch den Clear Creek Canyon 
nach Georgetown und über den 
„Loop“ nach dem Mount 
McClellan in der Tat ein „most 
ideal one-day trip“ genannt 
werden muß. Die landschaft- 
lichen Bilder, die in rasch wech- 
selnder Folge an dem Auge vor- 
überziehen, der Übergang aus 
der Ebene mit brennender 
Sonnenhitze in eine alpine Land- 
schaft mit Bergriesen, die 1000 m 
über der Baumgrenze liegen, sind in der Tat auf dem 
weiten Erdenrund, abgesehen von der Schweiz, wohl 
nicht wiederzufinden, und der Eindruck einer derartigen 
Fahrt auf den Beschauer ist ein nachhaltiger. Da ich 
das Glück hatte, an drei aufeinander folgenden Tagen, 
sowohl bei herrlichstem Sonnenwetter, als auch bei Schnee 
und Gewitter, den Bergriesen befahren zu können, und 
außerdem einen Vormittag darauf verwandte, die nahe an 
der Baumgrenze liegenden Minen zu studieren, so konnte 
ich mich eingehender mit dem Gebiet vertraut machen, 
als dies bei dem nur knapp halbstündigen Aufenthalt des 
Zuges auf dem Gipfel des Berges möglich ist. Die Fahrt 
von Silver Plume nach dem Gipfel des Mount Mc Clellan 








Aufn. d. Verf. 


und zurück nimmt 4 Stunden, einschließlich eines Aufent- 
haltes von 20 Minuten in Waldorf zwecks Einnahme des 
Mittagsmahls, in Anspruch. 

Sofort nach dem Verlassen von Silver Plume steigt 
die Bahn in einer sogenannten 6-Proz.-Grade (6 m Stei- 
gung auf 100m Entfernung) in einer Zickzacklinie, die 
durch „Switch Backs“ die Lokomotive den Zug bald 
schieben, bald ziehen läßt, den Mount Leavenworth hin- 
auf. Silver Plume, der Loop und Georgetown erscheinen, 
höher steigend, gleich einer Ansammlung von Kinder- 
häuschen, bis die Bahn, sich rechts wendend und dem 
Leavenworth Creek folgend, eine westliche Richtung 
nimmt. Dem Leavenworth Creek folgt unten im Tal. 
die Argentine Pass Road, die, 
bevor die Bahn nach Leadville 
gebaut war, die Hauptverkehrs- 
straße von Georgetown nach 
Leadville und Summit County 
bildete. Heute ist der Paß, der 
einige hundert Meter von Wal- 
dorf aus nach der Continental 
Divide und von da nach Monte- 
zuma und Keystone führt, nur 
noch von historischer Bedeutung 
und wird wenig begangen oder 
befahren. Ein weiteres histori- 
sches Interesse dürfte der Paß 
aber auch deshalb haben, weil 
über ihn Ende der fünfziger 
Jahre des vorigen Jahrhunderts 
eine große Schar von Mormonen 
mit ihren ÖOchsenwagen nach 
dem „Gelobten Land“ zogen, ja, 
es soll auch, wie mir mitgeteilt 
wurde, der Prophet Brigham 
Young selbst diesen Pfad ge- 
zogen sein, was aber von denen 
angezweifelt wird, diebehaupten, 
daß Brigham über Wyoming 
nach Utah zog. — Mount Leaven- 


Abb. 12. Gray’s und Torrey’s Peak vom Mount Mc Clellan aus gesehen. Aufn. d. Verf. worth ist noch verhältnismäßig 


Globus XCVIII. Nr. 28, 


47 


362 


Henning: Streifzüge in den Rocky Mountains. 





dicht bewaldet mit Rottanne, Kiefer und im Tal mit Cotton- 
woodbäumen, den stetigen Begleitern der Flußläufe in 
Colorado. 
(Lodge Pole) an Stelle der Rottanne. Um 12 Uhr er- 
reicht der Zug Waldorf, 3753m über der See, einen 
kleinen Ort von etwa 30 Einwohnern; hier befindet sich 
eine Poststation, die, wie erklärt wird, die „höchste Post- 
station der Welt“ sein soll. Da mir Poststationslexika 
der Welt leider nicht zur Verfügung stehen, muß ich es 
anderen überlassen, über diesen Punkt das letzte 
Wort zu sprechen. Mehrere Minen sind in Waldorf 
in Betrieb, eine gegen den Argentine-Paß zu liegende 
ist verlassen infolge schwindelhafter Berichte, 'die 
über sie ausgegeben wurden, bei welcher Gelegenheit 
eine englische Kompagnie gehörig „hereingelegt“ wurde. 
Am bedeutendsten ist die dem Reverend Wilcox ge- 
hörige Tobinmine. Das Arbeitermaterial besteht aus- 
schließlich aus Schweden. 

Von Waldorf aus genießt man zum erstenmal einen 
Blick auf die Continental Divide (Abb. 10) und auf den 
einem abgerundeten Kegel ähnlich sehenden Mount 
McClellan (Abb. 11). Im Süden ragen Mount Cunning- 
ham, Mount Rosalie, Mount Evans als gewaltige Land- 
marken in die Lüfte, während direkt westlich von Wal- 
dorf die Divide einen mächtigen Talzirkus zeigt, dessen 
gegen Osten offener Teil sich in die Hochebene fortsetzt. 

In 4000 m wird die Baumgrenze erreicht — sie liegt 
also hier beträchtlich höher als z. B. auf der Moffat 
Road — dagegen geht die an 60 verschiedene Arten 
zählende alpine Flora bis zum Gipfel des Mount McClellan. 
Unter den Pflanzen verdient die prächtige Columbine 
(Aquilegia coerulea James), die Staatsblume Colorados, 
die allerdings nur bis zur Baumgrenze vorkommt, be- 
sondere Erwähnung. Im Juni und Juli steht die Pflanze 
in voller Blüte und gewährt durch ihre hellblau- und 
weißen Blüten einen prächtigen Anblick. Höher hinauf 
ist die Vegetation nur kümmerlich, aber nichtsdesto- 
weniger von nicht minderem Reiz. Die Tierwelt ist hier 
oben nur in einigen Alpenmurmeltieren, dem Mountain 
Jay und dem Robin vertreten; die Tatsache, daß der 
Robin (Turdus migrat.), unsere bekannte Colorado- 
Wanderdrossel, bis zur Baumgrenze vorkommt, dürfte 
ornithologisches Interesse beanspruchen. Bären soll es 
nicht mehr geben, dagegen Hochwild, wenn auch nur 
noch sehr vereinzelt; noch seltener ist das Bergschaf 
(Mountain Sheep). 

Wenige Schritte unterhalb des Gipfels des Mount 
Mc Clellan hält der Zug, und nun beeilt sich die ganze 
Reisegesellschaft, die höchste Spitze zu erklimmen. Wie 
mit einem Zauberschlage öffnet sich ein Panorama von 
überwältigender Großartigkeit: Gerade vor sich hat man 
im Westen die charakteristischen Hochgipfel des Gray’s 
(2510 m) und Torrey’s Peak (2506 m), die vom Mount Mc- 
Clellan nur etwa 250 m in der Luftlinie getrennt sind und mit 
diesem einen gewaltigen Talkessel bilden, dessen süd- 
licher Abschluß mit dem Mount Mc Clellan ursprünglich zu- 
sammenhing, aber jetzt durch einen großen Bruch von 
ihm getrennt ist. Mount McClellan selbst fällt gegen 
Westen über 1000m steil ab. In der Tiefe sieht 
man den Fußpfad (Trail) nach dem Gray’s Peak sehr 
deutlich, während das Hinaufklettern auf Torrey’s Peak 
eine höchst halsbrecherische Sache ist infolge der fast 
senkrechten Steilheit des spitz zulaufenden Berges. 

Im Norden ragen in der Ferne Long's Peak, Ara- 
pahoe- und James Peak auf, an die sich eine fast end- 
lose Kette von Hochgebirgsgipfeln anschließt, der sich 
die Utah Range in ihrer Gesamtausdehnung beigesellt. 

Alles was eine Kamera bei sich führt, nimmt jetzt 
Gray’s- und Torrey’s Peak aufs Korn, und auch ich 


Von 3000 bis 4000 m tritt die Schwarztanne. 


wollte nicht in diesem Wettkampf zurückstehen und 
biete hier eine wohlgelungene Aufnahme (Abb. 12). Der 
jeden Exkursionszug mitmachende Photograph nimmt 
von „erhöhtem Standpunkt“ dann ein Gruppenbild der 
Exkursionsteilnehmer, und nun geht es im Gänsemarsch 
herunter nach dem „Eispalast*, der sich etwa 15 m 
unterhalb des Gipfels befindet. Der „Eispalast“ ist nichts 
weiter als eine verlassene Silbermine, die 1875 von 
Thomas Cunningham, der noch heute als Sheriff von 
Clear Creek County fungiert, entdeckt und ausgebeutet 
wurde; sie ist zugleich die älteste Silbermine des Staates 
Colorado. Das Gestein besteht hauptsächlich aus Quarz 
und Granit. Daß Seitenwände und Decke der Mine 
dicht mit Eis bedeckt sind, stellenweise Stalagmiten 
bildend, gründet sich auf den Umstand, daß das ein- 
dringende Sickerwasser jede Nacht gefriert und nur zum 
geringen Teile während des Tages — und dann auch 
nur während der Sommermonate — wieder auftaut. 
Verschiedenfarbige elektrische Lämpchen, die von Waldorf 
aus betrieben werden, erzeugen wunderbare Farbeneffekte. 
In dem kleinen Vorraum zur Mine liegt ein 
Fremdenbuch auf, in dem jeder Tourist sich selbst- 
verständlich „verewigt“. Nach Erfüllung dieser Förm- 
lichkeit geht die ganze Reisegesellschaft zum Zuge 
zurück, um die Rückfahrt anzutreten; unterwegs hält 
der Zug nochmals für kurze Zeit an, um den Passagieren 
Gelegenheit zu geben, einen Strauß Blumen zu pflücken. 
Der Mount McClellan ist auf seiner Ostseite bis 
zum Gipfel mit Detritus und Humus bedeckt, so daß 
man das anstehende Gestein nicht erkennen kann; nur 
die steil abfallende Westseite und der im Süden vor- 
handene Bruch legen das Gestein bloß. Es ist ein dunkel 
grau-brauner feinkörniger Granit-Biotit 8). Mount 
McClellan bildete offenbar mit seinem Nachbar im Süden 
und damit zugleich mit Gray’s- und Torrey’s Peak ur- 
sprünglich ein Ganzes, wie überhaupt die gesamte Kon- 
figuration des Gebirgssystems für gewaltige, in früheren 
erdgeschichtlichen Epochen hier vorgegangene Ver- 
änderungen ein beredtes Zeugnis ablegt, worüber ich 
oben Näheres ausführte.e Am Schlusse meiner Schilde- 
rung angelangt, darf ich ohne Übertreibung wohl be- 
haupten, daß das Gebiet der Rocky Mountains von 
Golden bis Silver Plume und hinauf zum Mount Mc Clellan 
in jeder Beziehung ein überaus reiches Studienfeld bietet, 
sei es für den Geologen und Mineralogen, sei es für den 
Botaniker, der hier die ganze Flora Colorados studieren 
kann, sei es endlich für den Naturfreund im allgemeinen, 
der nur zu dem Zwecke hinauszieht, die Natur in ihrer 
gewaltigen Großartigkeit auf sein Gemüt wirken zu lassen. 
Für viele mir erwiesene Gefälligkeiten und freund- 
schaftlich erteilte Auskünfte möchte ich endlich Dank sagen 
den Herren Hartman von der Colorado and Southern R. R., 
Postmeister Tingle von Waldorf, Collins vom Argotunnel 
in Idaho Springs für bewilligte Erlaubnis der Besichtigung 
der Mine und der Entnahme von Erzproben, Superintendent 
Beaverley von der Argentine Central R. R., sowie nicht zum 
mindesten der U. S. Geological Survey für Überlassung 
des kostbaren Werkes über den Georgetown-Distrikt. 


®) Über den Mount Mc Clellan, Gray’s- und Torrey’s Peak, 
sowie über den ganzen Clear Creek-Distrikt sind eine Menge 
von farbigen Ansichtspostkarten im Umlauf, die, insoweit die 
Kolorierung in Betracht kommt, nur willkürliche Farben- 
klexereien sind. Außer einer Karte mit graubraunem Kolorit 
(richtig) liegen mir Karten vor, auf denen der Mount 
Mc Clellan gelb, rot und grün angestrichen ist. Die dunkel- 
grauen Gray’s und Torrey’s Peaks müssen es sich gefallen 
lassen, ebenfalls alle Farben des Regenbogens zur Schau zu 
tragen, ebenso wie der Georgetown Loop ein unmögliches 
Farbengemisch aufweist, nicht zu reden von anderen Ansichts- 
karten in farbiger Ausführung, die, durchaus willkürlich be- 
malt, ein völlig falsches Bild des Objektes ergeben. 





Schmidt: Aus den italienischen Marken. 


Aus den italienischen Marken. 


Von Dr. phil. Everhard Schmidt. 


Marken, italienisch Marche, ist der Name des Land- 
striches, der vom Mittelapennin ostwärts bis an die Adria 
reicht. Als Sammelname umfaßt er zugleich die Pro- 
vinzen Pesaro-Urbino, Ancona, Macerata und Ascoli- 
Piceno. In diesen politischen Grenzen bedecken die 
Marken ein Gebiet von annähernd 10000 qkm mit 1 bis 
1!/⁄, Million Einwohnern. Der Sprachgebrauch in Italien 
selbst faßt den Begriff Marken bald enger, bald weiter, 
indem er einerseits das Gebiet von Ancona bis Pesaro 
mit der nördlichen Emilia verschmelzen läßt, andererseits 
ihre Südgrenze vom Tronto südlich bis an die Pescara, 
in die Provinz Chieti hinein, hinabrückt. Diese letztere 
Abgrenzung ist auch die geographisch brauchbarste, da 
sie ein einheitliches, individuelles Landstück zwischen 
Monte Cunero bei Ancona und der Pescaramündung ein- 
schließt. 

Die Lage dieser Landschaft im Rücken Italiens, im 
Schatten des Apennin und an wenig zugänglicher hafen- 
armer Küste hat es verhindert, ihr den Zuzug von Reisen- 
den und Forschern zuzuführen, den andere Teile Italiens 
so reichlich aufweisen. Und doch hätte auch sie ihn ver- 
dient, vermöge der reichen historischen wie natürlichen 
Schätze, die sie aufweist, und wer von Loreto, gemeinhin 
dem Endziel des von Norden kommenden Reisestroms, 
eine Fahrt nach Süden ins Innere des Landes unter- 
nommen hat, hat es gewiß nicht bereut! Fehlt den Marken 
auch der landschaftliche Reiz Süditaliens, die reiche 
historische und künstlerische Fülle der Campagna und 
Toskanas, die intensive Kultur der Poebene, so vereinigen 
sich doch alle Beobachtungen in ihnen zu dem harmoni- 
schen Gesamtbilde einer alten, gut bewohnten und gut 
genutzten Kulturlandschaft, die einen nachhaltigen Ein- 
druck hinterläßt. Dieses Bild zu zeichnen, ist nicht der 
Zweck der folgenden Zeilen, sie sollen vielmehr nur mit 
einigen geographischen und kulturellen Tatsachen dieses 
wenig erforschten Gebietes bekannt machen. 


Die Küstenlandschaft. 


Die reizlose, in sanftem Bogen geschwungene Küste 
vom Monte Cunero bis zur Pescara erschwert durch ihre 
Hafenarmut die Zugänglichkeit und ist dadurch eine der 
verkehrsärmsten und wenigst befahrenen Italiens. Doch 
beruht der geringe Verkehr nicht allein auf der Ungunst 
der topographischen Konfiguration, sondern auch auf dem 
Fehlen eines nutzbaren Gegengestades. Andererseits 
bietet die durch kaum ein Vorgebirge oder Felsenriff 
gemilderte Schutzlosigkeit der Küste eine ernste Gefahr 
im strategischen Sinn; und man erwägt in Italien ernst- 
haft das Unheil, das eine feindliche Flotte (gemeint ist 
im allgemeinen Österreich) durch eine Beschießung, zumal 
der Straße und Bahn, die sich beide in nächster Nähe 
des Strandes hinziehen, anrichten könnte. Vom Meere 
gesehen, macht die Küste durchaus den Eindruck der 
Steilküste. Die Ausläufer des Apennin treten in parallelen 
Hügelzügen senkrecht an das Meer heran und brechen 
von etwa 200m Höhe in sandgelbem Steilhang scharf 
zu diesem ab. Die Küstenebene, die zwischen Strand 
und Hügelfuß eingelagert ist, ist zu schmal, um den 
Charakter der Steilküste abschwächen zu können; ihre 
Mittelbreite liegt zwischen 300 und 500 m, doch steigt 
sie gelegentlich auf 1km und mehr. Sie verbreitert sich 
an den Flußmündungen und im allgemeinen nach Norden 
zu. Oft verschwindet sie ganz und läßt den Nagelfluh- 
und Kalkwänden unmittelbaren Zutritt zum Meer. Das 


Freiburg i. Br. 


stattlichste Beispiel dieser Art ist der Monte Cunero, an 
dessen ausgebuchteten Steilabfall der Hafen Ancona, der 
einzige bedeutende an der ganzen Küste, gebunden ist. 
Ähnlich hart und steil treten südlicher bei Pedaso die 
Felsen an das Meer heran, wo ein stattlicher Leuchtturm 
vor den Klippen warnt. 

Der wechselnden Distanz des Hügelabfalls vom Meere 
entspricht auch die Zusammensetzung des Strandes. Er 
ist weicher Sandstrand dort, wo die Küstenebene in mäßiger 
Breite und ohne größere Wasserläufe vorhanden ist. 
Hier bietet sich somit ein guter Badestrand, den auch 
einige Ortschaften, San Benedetto del Tronto, Grottam- 
more u. a., als Badeorte ausnutzen. Die reine Seeluft, 
die durch das Meer etwas gemilderte Hitze tragen dazu 
bei, die Erholung suchenden Italiener anzulocken !). 
Kiesstrand finden wir an der Ausmündung der Flüsse 
und da, wo Nagelfluhfelsen sich dem Meere nähern; hier 
haben das Meerwasser und das der herabrinnenden Bäche 
den Kies der Felsbänke gelöst und hart am Meere ab- 
gelagert; stellenweise sind ganze Blöcke in das Meer 
hinabgespült, die die Einförmigkeit des Küstenbildes 
malerisch unterbrechen. Ganz gewaltig sind die Kies- 
ablagerungen an den Flußmündungen; sie nehmen ent- 
sprechend der starken Geschiebeführung der Apennin- 
flüsse alljährlich noch an Ausdehnung zu und lassen sich 
noch weit im Umkreis der Mündung feststellen. An der 
Mündung des Tronto, des Tesino und der vieler kleinerer 
Bäche findet man den Kies durch einen blauschwarzen, 
zähen Lehm zu kopfgroßem Geröll fest verkittet, das 
gleich Kanonenkugeln zahllos den Strand bedeckt und 
die rudimentären Anfänge eines neuen breccienartigen 
Gesteins andeutet. 

Im Gegensatz zu den Küsten der nördlichen Adria, 
längs denen man eine positive Niveauverschiebung den 
Flußablagerungen entgegenarbeitend annimmt, glaubt 
man für die Küsten der Marken eine Hebung feststellen 
zu können. Zwar auf die Erzählungen der Bewohner, 
daß vor vielen Jahren das Meer noch weit ins Land 
hineingereicht habe und eine Führung von Straße und 
Bahn, wie sie heute besteht, unmöglich gewesen sei, läßt 
sich weniger geben, als auf die natürlichen Zeugen dieser 
säkularen Schwankung. So stößt man gelegentlich längs 
der Küste wenige Meter landeinwärts innerhalb des Acker- 
landes auf große Steinblöcke, meist Breceien, mit tisch- 
artig ebener, glatt gewaschener Oberfläche und stark 
unterhöhltem Sockel. Sie scheinen Zeugen früherer 
Meerestätigkeit, der sie heute gänzlich entrückt sind. In 
der Regel ist ja der Wellenschlag längs der Küste sehr 
gering. Doch sind die Gezeiten in meßbarem Horizontal- 
wie Vertikalausmaß vorhanden, und die Flutwelle erreicht 
bisweilen eine Höhe, die ihr starke Stoßkraft verleiht und 
Erosionswirkungen wie die geschilderten verständlich 
macht. An den aus dem Meere noch herausragenden 
Blöcken vollzieht sich ihr schäumendes Zerstörungswerk 
vor unseren Augen. Auch eine alte Strandböschung ist 
deutlich sichtbar ausgebildet zwischen Senigallia und 
Fano, im Norden der Marken. Sie verläuft, eine auf- 
fällige topographische Erscheinung, 40 bis 50 m land- 
einwärts dem heutigen Strande parallel. Auf dem Neuland 
zwischen ihr und dem Strande laufen die Bahn und zum 








!) Vgl. über das Klima der Adria: K. Grund, Das Adria- 
tische Meer und sein Einfluß auf das Klima seiner Küsten. 
(Zeitschrift für Balneologie, Klimatologie und Kurorthygiene, 
2. Jahrg., 1909/10.) 


47* 





364 Sehmidt: 


Aus den italienischen Marken. 





Teil die Straße nebeneinander her, während man Reste 
der Römerstraße landeinwärts jenseits der alten Strand- 


linie aufgedeckt hat. Das gäbe einen gewissen Anhalt 
für die Datierung der Küstenhebung. 

Die Küstenebene ist in ihrer ganzen Ausdehnung 
intensiv bearbeitetes Kulturland und ernährt eine an- 
sehnliche Bevölkerung, so daß das Gebiet größter Volks- 
dichte (etwa 150 bis 160) als schmaler Saum das Meer 
begleitet. Der Anbau ist hier denkbar vielseitig und 
vereinigt die meisten Typen der italienischen Frucht- 
pflanzen. Die Hauptbrotfrucht ist der Weizen, dessen 
rechteckige Breiten der Wein umsäumt, der sich in leichten 
Bögen von Ulme zu Ulme, von Weide zu Weide schwingt. 
Die zahlreich dazwischengestreuten Oliven, Kirschen und 
anderen Obstbäume, die Eichen, die bald in Buschform 
die schmalen Fahrwege überdachen, bald in stattlicher 
Größe an Wegbiegungen und Vorsprüngen auftauchen, 
verleihen der Landschaft etwas Gartenartiges und wohl- 
tuenden Schatten. Die Hügelhänge hinauf zieht sich, 
wo es das Gefälle nur irgend erlaubt, der Wein in der 
ertragreicheren Stockpflanzung; ihm gesellt sich, zumal 
an sonnendurchglühten Ausbuchtungen, der Ölbaum in 
zahllosen Exemplaren. In die gelben Sandwände der 
Runsen und Schluchten haben sich vielerorts als einziges 
Zeichen von Vegetation bläuliche Aloön in üppiger 
Wildheit eingenistet. 

Da die Küstenebene durch den Landbau ihren Be- 
wohnern so reichlich Unterhalt bietet, ist die Fischerei 
an der Küste nur verhältnismäßig gering ausgebildet. 
Sie wird vor allem nicht im Großen, nicht für den Export 
betrieben, sondern fast allein zum Unterhalt der Fischer, 
die allmorgendlich und allabendlich ihre Tagesmahlzeiten 
einfangen. Auch hier liegt der Grund wieder in dem 
Mangel an Hafen- und Stapelplätzen, dem erschwerten 
Handel und dem Fehlen von Absatzgebieten. In der primi- 
tiven Art ihrer Mittel macht die Fischerei den Eindruck, 
als ob sie sich seit Jahrhunderten nicht entwickelt hätte. 
Sie vollzieht sich ausschließlich der Küste entlang, selten 
nur wagt sich einer der kleinen Einsegler außer Sicht 
des Landes. Verbreitet ist der Fischzug unmittelbar am 
Strande in der Weise, daß ein großes, einer ganzen An- 
zahl von Fischern oder der gesamten Dorfschaft gehöriges 
Netz halbkreisförmig in die See hinausgelegt und durch 
langsames Ziehen vom Strande her mühsam wieder ein- 
geholt wird. Dieser Fischzug erfordert Anstrengungen, 
die der spärliche Ertrag des Fanges kaum lohnt. Er 
wird täglich drei- bis viermal wiederholt unter Assistenz 
einer großen Anzahl mittätiger und zuschauender Men- 
schen. Die nur kleinen Fische, die wenigen Krebse und 
Muscheln, die er einbringt, die sog. Frutte di mare, bilden, 
in großen Massen gebacken, die alleinige Nahrung zahl- 
reicher Fischer. Ganz allgemein und weit lohnender ist 
der Fischfang von Segelbooten aus, die allmorgendlich mit 
malerisch und individuell gezierten gelben Riesensegeln 
ein Stück weit in die See hinausfahren, um abends in 
der Regel mit reicher Beute heimzukehren. Am häufigsten 
fängt man die Sepia, den Tintenfisch, der die Haupt- 
nahrung bildet, während seine Farbenblasen sorgfältig 
zu Farbzwecken gesammelt werden. Andere, zumal 
edlere Fischsorten sind seltener, wie überhaupt die Meeres- 
fauna dieses Küstenstriches an Zahl der Arten nicht 
übermäßig reich ist ?). Zahllose Delphine tummeln sich 
in den blauen, warmen Wellen, selbst nahe am Strande. 
Der Fischer betrachtet sie als gutes Zeichen und tut 
ihnen kein Leid an. Auch paarweise wird der Fischfang 
ausgeübt von zwei Segelbooten aus, die, nebeneinander 


2) Hierüber orientiert das neu erschienene Werk von 
Karl J. Cori: Der Naturfreund am Strande der Adria und 
des Mittelmeergebietes. Leipzig 1910. 


fahrend, das Netz zwischen sich ausspannen. Diese 
Fangart, die paranzi genannt, eignet speziell den Fischern 
von San Benedetto del Tronto, dem kleinen Städtchen 
nördlich der Trontomündung. In der Intensität des 
Fischereibetriebes läßt sich eine Abnahme von Norden 
nach Süden hin feststellen, entsprechend der wachsenden 
Bedeutungslosigkeit der südlicheren Küstenorte. Ein 
deutliches äußeres Anzeichen hierfür ist die ungleich 
stärkere Belebtheit der nördlichen Küstengewässer mit 
Segeln; hier auch finden sich stattliche, zweimastige 
Barken, von Ancona südlich aber sieht man in der Regel 
nur die bescheidenen Einmaster. 

Da die Bewohner der Küstenorte teils vom Land- 
bau, teils vom Meere leben, so scheiden sich auch ihre 
Ortschaften entsprechend in zwei Teile, das Fischerdorf 
und das am Hange der Hügel sich hinaufziehende Bauern- 
dorf. Das letztere ist allgemein das ältere. Es zeigt 
durch die in Terrassen aufsteigende Gruppierung seiner 
Häuser in engen, kaum fahrbaren Gäßchen, durch die 
meist beträchtlichen Reste alter Mauern, Tore und Zinnen, 
daß die Rücksicht auf Schutz für seine Anlage in erster 
Linie maßgebend gewesen ist. Hierfür ist ein weiteres 
sichtbares Wahrzeichen das Castello, das über der Mehr- 
zahl dieser Orte die Hügelkuppe krönt und mit seinen 
zerborstenen Firsten und Turmresten weithin wirkungsvoll 
die Küste überragt. Dagegen liegt das Fischerdorf ohne 
topographischen Schutz flach in der Küstenebene, nur 
selten an den älteren Ort lückenlos sich anschließend. 
Von der wichtigen Küstenstraße, dem Rückgrate der Ort- 
schaften, ziehen die kleinen Viali gegen den Strand hin 
und zerlegen mit ihren Querstraßen das Dorf in regel-' 
mäßige, nüchterne Rechtecke mit armseligen, niedrigen, 
schlecht gebäuten und schlecht gepflegten Häusern. 
Prunknamen wie Corso Vittorio Emmanuele und Corso 
Garibaldi, ohne die es das schmutzigste Nest in Italien 
nicht tut, wirken an diesen dürftigen Gassen leicht 
lächerlich. Eine grenzenlose Armut und intensiver Fisch- 
geruch geben diesen Orten eine traurige Originalität. 
Nur einmal im Jahre haben auch sie ihren großen Tag, 
wenn in den Sommermonaten die fahrenden Händler hier 
ihren alljährlichen Markt abhalten. Dann strömen die 
Landleute aus dem Hinterland zahlreich zur Küste und 
versorgen sich für ein ganzes Jahr mit den Gegenständen, 
die sie in ihrer noch abgelegeneren Heimat nicht finden 
können. Die Lage der Küstenorte an Bahn und Straße 
macht sich hierbei vorteilhaft geltend. 

An dem an sich nur geringfügigen Handel der Marken 
hat auch nur die Küste einigen Anteil. Die Ausfuhr 
beschränkt sich, dem wirtschaftlichen Charakter der 
Landschaft entsprechend, auf die Erzeugnisse des Land- 
baues. Deren Hauptabnehmer sind die Länder jenseits 
der Alpen. So benutzt denn der Handel ganz überwiegend 
den Landweg, was in den Marken gleichbedeutend ist 
mit der peripherischen Hauptbahn längs der Küste. Auf 
ihr rollen denn auch endlose Güterzüge mit den „Derratte 
Alimentari“ dem Zentrum des italienischen Handels, 
Mailand, zu. Die Marken sind an diesen Lieferungen 
wesentlich schwächer beteiligt als die südlicheren Pro- 
vinzen Foggia und Bari; hier ist bei weniger dichter 
Bevölkerung die Überproduktion größer und findet in 
der genannten Weise Absatz. Der Seehandel ist daneben 
geringfügig, lebhafter im Norden, ganz gering im Süden. 
Hier ist das Erscheinen größerer Segler schon eine Selten- 
heit, ja fast ein Ereignis. Sie kommen zumeist von der 
dalmatischen Küste und bringen Holz, den notwendigsten 
Bedarfsartikel des waldarmen Hinterlandes. Die Seicht- 
heit der Küste zwingt sie noch weit seeeinwärts zu ankern; 
die Löschung der Ladung kann so nur unter Schwierig- 
keiten und in primitivster Weise erfolgen. Man überläßt 


Schmidt: Aus den italienischen Marken. 


365 





es den Fluten, die Holzbalken an Land zu treiben, wo 
sie dann aufgefischt und auf den Köpfen der Bewohner 
zum Stapelplatz, oft auch zur Bahn zu weiterer Ver- 
schickung gebracht werden. Auf diese Weise dauert 
das Ausladen selbst kleiner Schiffe tagelang. Zur Rück- 
fracht nach Dalmatien laden die Schiffe Gemüse und Obst 
der Küstenbauern. Diese vereinigen ihre Waren nicht an 
einem einzigen Stapelplatze, sondern jeder bringt das Seine 
an den Strand, wo er ihm am nächsten erreichbar ist. In 
langsamer Küstenfahrt sammelt dann das Schiff die auf- 
gehäuften Stapel ein. So sah ich längs der Küste von 
der Trontomündung bis nördlich gegen Fermo, in einer 
Erstreckung von ungefähr 30 km, riesige Zwiebellager, 
die gesamte Ernte der Küsten, in gewissen Abständen 
voneinander aufgeschichtet. Sie wurden von einem süd- 
nördlich fahrenden Schiffe durch Boote eingeholt, eine 
Arbeit, die Tage beanspruchte. 

Aus dem Gesagten läßt sich ersehen, wie wenig tief 
das Meer auf die Marken einwirkt, wie gering selbst zu 
den Küstenbewohnern seine Beziehungen sind. Seine 
Einflußsphäre folgt schmalbegrenzt saumartig der Küste 
und weist nur an den größeren Tälern wenig tiefe Ein- 
buchtungen in das Hinterland auf. Außerhalb dieser hat 
das Meer im Wirken und Denken der Bevölkerung nur 
wenige Spuren hinterlassen. Man fühlt das schon in der 
Berghälfte der Küstenorte. Von hier ab stößt man auf 
eine rein landbauende Bevölkerung, die für und vom 
Boden lebt. Ihr Verkehr mit dem Fischerdorf am Strande 
ist erstaunlich gering, die große Mehrzahl der Bewohner 
hat mit dem Meere nichts zu tun und steigt nur selten 
zu ihm hinab. Auch hierin findet man wieder eine Be- 
stärkung der von Nissen 3) so treffend gekennzeichneten 
Beobachtung, daß der Italiener von Natur weder seelustig 
noch seetüchtig ist. Seeschiffahrt, für den Krieg wie 
für den Handel, nötigte ihm von jeher und auch heute 
noch der Wettbewerb mit anderen Völkern auf. Ihre 
Einflüsse sind nur oberflächlich geblieben und haben die 
Bewohner nie so durchsetzt wie im nahen Griechenland. 
Am wenigsten an der Adriaküste, wofür natürliche Mo- 
mente, die hafenlose Ungunst der Küste, in erster Linie 
maßgebend sind. 


Das Innere der Marken. 


Die Steilküste wiederum ist es, die auch das Ein- 
dringen in das Hinterland, ins Innere der Marken, er- 
schwert. Die gegebenen Eingangspforten sind daher die 
Flußtäler. Und doch sind sie es im allgemeinen nicht, 
die der praktische, wirkliche Verkehr aufsucht. Denn ihre 
gleich zu besprechende Eigenart ist der Besiedelung wenig 
günstig, die Ortschaften meiden sie und liegen auf den 
Höhen, für den Verkehr nicht leicht erreichbar. Äußer- 
lich sieht man das daran, daß die Stichbahnen, die von 
der Küstenbahn ins Innere abzweigen, nur in zwei Fällen 
(im Tronto- und Tordinotale) dem Talboden folgen, im 
übrigen aber in zeitraubender Steigung die Höhen er- 
klimmen müssen; und in noch größerem Maße gilt das 
von den Straßen. 

Immerhin sind die Flußtäler als natürliche Einlässe 
und als gliedernde Adern im Hügelgewirr der Marken 
wichtig genug. Man ist leicht geneigt, die Apenninflüsse 
der Adriaabdachung zu unterschätzen. Ihre Länge ist 
allerdings nicht bedeutend und übersteigt nur einmal 
(Pescara) 150 km. Aber man übersieht, wie sehr diese 
Flüsse durch die Breite ihrer Überschwemmungsbetten, 
ihre ausgedehnten Mündungskegel, durch ihre steilwan- 
digen Erosionsfurchen im Oberlaufe das Landschaftsbild 
beherrschen. Selbst die kleiner Flüsse, wie des Tesino, des 


*) Italische Landeskunde, Bd. I, 8.133. Berlin 1883. 


Tordino, des Vornano, deren breite Kiesbetten in der Regel 
nur ein träger Faden trüben Wassers durchschleicht, 
stellen bemerkenswerte topographische Formen dar; auch 
haben sie an der Ausmodellierung der Landschaft ihren 
kräftigen Anteil gehabt. Heute ist die Tätigkeit der 
Flüsse in Veränderung und Schaffung topographischer 
Formen naturgemäß eingeengt. An der Küste äußert 
sich, wie wir sahen, ihr Einfluß in der Ablagerung ge- 
waltiger Kiesmassen, durch die hindurch das Wasser in 
zahllosen Rinnsalen seinen Weg ins Meer findet. Ver- 
sumpfte Distrikte sind im Mündungsbereich der größeren 
Flüsse oft recht beträchtlich, doch nirgend so ausgedehnt, 
um auf das Klima nachteilig zu wirken. Die Marken sind 
daher völlig fieberfrei; erst die Mündung der stattlichen 
Pescara an der Südgrenze der Marken bildet einen aus- 
gedehnten Fieberherd.. In der Küstenebene liegt das 
Flußbett, zumal bei den kleineren, mehr Schlamm als 
Kies führenden Bächen, in der Regel höher als das um- 
liegende Land, selbsttätig erhöht durch die reichen mit- 
geführten Sinkstoffe. Ihre Wände sind dann, um 
Wasserausbrüchen vorzubeugen, künstlich erhöht und 
befestigt, so daß die Flüsse wallartig durch die Ebene 
ziehen und die Küstenstraße zu ihrer Überbrückung fast 
hügelartig ansteigen muß. 

Die Flußbetten im Innern haben das typische 
Aussehen der Fiumare: Kiesbetten, viel zu breit für die 
gewöhnliche Wasserführung, zahllose Verästelungen mit 
eingeschlossenen Inselchen, in deren zähem Schlamm 
üppiges Buschwerk wuchert. Wie breite, silberglänzende 
Straßen durchschneiden sie die Landschaft, malerisch 
abgeschlossen durch die schneebedeckten Flanken der 
Monte Sibellini und des Gran Sasso-Massivs. Den größten 
Teil des Jahres hindurch benötigt das Wasser kaum ein 
Drittel seines weiten Bettes; im August und September 
versiegt es in kleineren Flüssen vollständig, in den 
größeren, wie Tronto und Pescara, deren Quellen in den 
Hochapennin hinaufreichen, sickert es in schmächtigen 
Adern zum Meere durch. Im Frühjahr bei Regenwetter 
und Schneeschmelze treten die Wasser weit über den Rand 
der Kiesbetten hinaus, mit oft verheerender Wirkung, 
die übrigens auch ein wolkenbruchartiges Gewitter im 


‚Sommer hervorzurufen vermag. Die Ursachen dieser 


Schwankungen des Wasserstandes, der beim Tronto z.B. 
zwischen den Extremen von 1118 und 15 cbm in der Se- 
kunde liegt, beruhen allgemein auf dem mediterranen 
Klima, sie werden in den Marken wie überall in Italien 
durch die Waldarmut verstärkt. Überbrückungen oder 
auch nur Eindämmungen der Flüsse stoßen somit auf 
große Schwierigkeiten. Korrektionen sind nur selten 
versucht, allgemein in der Küstenebene, um Bahn und 
Straße vor Überflutung zu sichern. Brücken sind, mit 
Ausnahme der Bahn- und Straßenbrücke hart oberhalb 
der Mündung, selten; natürliche Einengungen des Fluß- 
bettes und Furten daher von um so höherem Wert. Die 
Eindämmung der Flüsse im Unterlaufe würde der Ver- 
sumpfung vorbeugen und den heute fast gar nicht be- 
wohnten Tälern neue Siedelungsmöglichkeiten schaffen. 
Dazu käme überall ein beträchtlicher Landgewinn, um 
den die schmalen Streifen Kulturlandes auf den Terrassen 
zu beiden Seiten vermehrt werden könnten. Von einer 
Schiffbarkeit auch nur in primitivster Weise kann bei 
keinem der Markenflüsse gesprochen werden. Ebenso- 
wenig war im Tallaufe industrielle Ausbeutung von Be- 
stand; verödete Fabrikmauern und stillstehende, zer- 
fallende Mühlen sind dessen traurige Zeugen. 

Der Oberlauf der Mehrzahl der Flüsse liegt schon 
im Apennin, ausgezeichnet durch starkes Gefälle und 
markante Erosionsformen. Die Wasserführung ist hier, 
durch Einsickerung und Verdunstung weniger geschwächt, 


366 


Schmidt: Aus den italienischen Marken. 





konstanter und das ganze Jahr hindurch beträchtlich. 
Sie erklärt uns die Wildheit und Großartigkeit der stark 
zerklüfteten und tief eingenagten Schluchten. Auch die 
von allen Seiten herabrinnenden Nebenbäche haben in 
den nackten Berghängen geradezu gewütet und Erosions- 
formen geschaffen, wie man sie eindrucksvoller und an- 
schaulicher selten beobachten kann. Zu Hilfe kam ihnen 
neben dem fast völligen Mangel an Vegetation und Wald 
auch die Beschaffenheit des Gesteins, die Weichheit und 
leichte Verwaschbarkeit der tertiären Kalke. Zwischen- 
lagen härteren Gesteins und bloßgelegte Jurabänke sind 
dann als wuchtig getürmte und pittoreske Felsgruppen 
stehen geblieben. Aber auch sie sind mit Vernichtung be- 
droht durch Unterspülungen und Erdrutsche und bilden 
eine stetige Gefahr für ihre Umgebung. Ich selbst hatte 
Gelegenheit, im Gebiete des oberen Tronto nahe der Stadt 
Ascoli die Wirkungen einer solchen, ganz kürzlich statt- 
gehabten „Frana“ zu betrachten, die neben einem ge- 
waltigen Felssturze auch die Abrutschung einer großen 
Fläche tiefer gelegenen Kulturlandes verursacht hatte. 
Es war eine Fläche von 1 bis 2 qkm mit etwa 41/, km 
rundlichem Umfange in Mitleidenschaft gezogen worden. 
Die primäre Ursache war die Unterspülung des Geländes 
durch den Talbach; der Druck der von oben nachstürzen- 
den Felsmassen wirkte dann besonders verheerend, so 
daß die kleine Talschaft das Aussehen eines schwer heim- 
gesuchten Erdbebengebietes hatte. Solche „Frane“ sind 
wie im ganzen Apennin so auch in den Marken nichts 
Seltenes +); die Bewohner tragen diese Katastrophen mit 
der gleichgültigen Ruhe der Gewöhntheit, nur daß sie 
durch eifrigeres Beten die vermeinte Strafe des Himmels 
wieder gut zu machen suchen. 

Die Weichheit der Apenningesteine erklärt auch die 
starke Geschiebeführung selbst der kleinen Markenflüsse 
und die Möglichkeit der Ablagerung so gewaltiger Kies- 
massen. Der Beginn dieser Ablagerungen bezeichnet 
den Übergang von Berg- und Tallauf. Bemerkt sei noch, 
daß Wasserführung und Gefälle der oberen Flußläufe 
Industrieanlagen größeren Stiles ermöglicht haben; deren 
bedeutendste ist das Elektrizitätswerk am Durchbruche 
der Pescara durch das Felsentor kurz unterhalb der 
Stadt Sulmona. 


Trotz des sommerlichen Versiegens der Flüsse ist 


Wassermangel in den Marken doch selten. Dagegen 
arbeiten die zahlreichen Quellen, die an ihrem Ursprungs- 
ort gefaßt und ausgenutzt werden, ohne daß es zur Bach- 
bildung kommt. Sie sind überwiegend Schichtenquellen, 
ihr Austritt aus den Bergen ist durch Schichtenwechsel 
veranlaßt. Daher finden sie sich am häufigsten an den 
Abrutschflächen der Hügelketten längs der Küste und 
längs den Tälern. Sehr hüsch ist oft die Form, in der 
sie zutage treten. Unvermittelt öffnen sich kleine, busch- 
werkumwachsene Grotten, die tief in den Berg hinein- 
führen. Aus ihrer stalaktitenreichen, mit zahllosen grünen 
Frauenhaarblättehen geschmückten Wölbung tropft das 
Wasser als ewiger Regen in das künstlich gestaute kri- 
stallklare Becken am Boden. Einige der schönsten dieser 
Grotten finden sich am Meere oberhalb Grottammare, das 
den Namen nach ihnen trägt; manche auch sind das Ziel 
wundergläubiger Wallfahrer. Die Häufigkeit der Quellen, 
ihre Wasserfülle und ihr Vorhandensein selbst in größerer 
Höhe haben nicht zum wenigsten den dichten Anbau des 
Landes und die zahlreich verstreuten Einzelhöfe be- 
günstigt. In geologisch quellarmen Gegenden tritt der 
alte Ziehbrunnen als Wasserspender an ihre Stelle; er 
findet sich besonders in der Küstenebene, wo er schwach 


*) Ein einheimischer Forscher, R. Amalgiä aus Aquila, 
hat in der Geogr. Zeitschrift 1910, Heft 5, eine Systematik 
der von ihm beobachteten Frane gegeben. 


brackiges, wenig gesundes Wasser liefert, so daß die 
Fischerdörfer ihr Trinkwasser auch von den Hügelquellen 
beziehen müssen; vereinzelt trifft man ihn auch auf den 
steileren Hochflächen. Seine seit Urzeiten bewahrte Form 
ist ein prägnantes Zeugnis für alte Ansiedelung und Be- 
bauung; der wuchtige Hebebaum, der Schöpfeimer an 
unförmlicher, rostiger Kette waren zur Römerzeit in 
gleichem Gebrauche wie heute. 

Das Innere des Landes zwischen Apenninfuß und 
Küste ist von einer endlos welligen Hügellandschaft ein- 
genommen. Das Hinter- und Nebeneinander zahlloser 
Hügelwellen legt den Vergleich nahe mit versteinerten, 
zur Starrheit verdammten Meereswogen. Erst erscheint 
es schwer, in das Gewirre der sich voreinander schieben- 
den, bald parallel, bald kreuz und. quer streichenden 
Hügelreihen ein System hineinzubringen. Doch helfen 
die Flußläufe, die Hügellandschaft in ein organisches 
Gerippe aufzulösen. Die Flüsse ziehen ausnahmslos vom 
Apennin senkrecht zur Küste, parallel zueinander und 
in annähernd gleichen Abständen. Ihre Täler sind die 
auffallenden Hohlformen des Landes und durchziehen es 
wie breite Furchen. Sie sind naturnotwendig einander 
sehr ähnlich, ohne irgend welche originelle Verschieden- 
heiten, nur daß nach Norden hin ihre Breite im all- 
gemeinen wächst. Gleichzeitig verringert sich hier die 
Höhe der Hügelketten, die Niveauunterschiede werden 
geringer, so daß der Norden eher den Eindruck eines 
sanft bewegten Flachlandes macht, wozu auch die hier 
bedeutendere Breite der Küstenebene beiträgt. In der 
Mitte und im Süden der Marken dagegen schließen die 
Flüsse ausgesprochene Hügelketten zwischen sich ein, 
langgestreckte parallele Rücken, die sich allmählich von 
etwa 500m auf 200 m verflachen. Von dieser Höhe 
stürzen sie zur Küste ab, oft so steil, daß, von oben ge- 
sehen, das Meer unmittelbar zu den Füßen zu liegen 
scheint und die schmale Küstenebene fast verschwindet. 
Doch findet sich nicht überall ein so lückenloser Steil- 
hang. Vielerorts und vorwiegend im Bereich der Nagel- 
fluh ist den zum Meere abfallenden Hängen eine Vor- 
hügelzone vorgelagert, die das Gefälle in ein langsameres, 
stufenförmiges verwandelt. Sie scheint entstanden durch 
Abrutschungen von Erd- und Gesteinsmassen, denen das 
große Gefälle und die Weichheit des Gesteins fördernd 
entgegenkamen. Über sie hinaus ragen die Steilhänge, 
durch den nackten, gelben, vegetationslosen Fels als Ab- 
rutschflächen gekennzeichnet, ein wirkungsvoller Hinter- 
grund des Küstenbildes.. Die gleichen Vorhügelketten 
begleiten die Flanken der größeren Täler, auch sie sind 
genetisch durch Erdrutsche zu erklären. Solch umfassende 
Erdbewegungen als bildendes Element im Antlitz der 
Marken anzunehmen, ist uns gestattet im Hinblick auf 
die auch heute sehr häufigen und oft beträchtlich um- 
gestaltenden Frane, deren eine ich erwähnt habe. Außer 
dem belebenden Zug, den diese Vorhügelketten in das 
sonst einförmige topographische Bild der Marken hinein- 
bringen, haben sie auch praktischen Wert für Anbau 
und Siedelung; weniger an der Küste als in den Tälern, 
deren sumpfige Niederungen unbewohnbar sind. Hier 
zeigen gerade die Vorhügel den reichsten und vielseitigsten 
Anbau, auf ihnen reiht sich Dorf an Dorf, und von be- 
sonders hervorstechenden Plätzen grüßen Trümmer alter 
Schlösser oder neue Palazzi und Villegiaturen; eine Fahrt 
das Trontotal hinauf zur Stadt Ascoli zeigt das am 
schönsten. 

In die Hauptflüsse hinab entströmen den Talwänden 
des Hügelgebietes zahlreiche Nebenbäche. Ihre oft 
canonartigen, im Sommer wasserlosen Erosionsfurchen 
zerlegen den Haupthügelkamm in vielgestaltige Quer- 
rippen, die in ursprünglich symmetrischer Anordnung 


Schmidt: 


Aus den italienischen Marken. 


367 





durch weitere Erosionstälchen und Bergrutsche eine aber- 
malige weitverzweigte Gliederung erfahren haben. Jede 
dieser bald länglich, bald mehr rundlich gestalteten Höhen 
ist von der anderen scharf isoliert durch die eingerissenen 
Wasserrinnen, die, wenn auch schmal, doch durch ihre 
steilwandige Tiefe ein Überschreiten erschweren. Das 
erklärt uns die Führung der Straßen von der Küste ins 
Innere. Soweit sie nicht Talstraßen sind, erklimmen 
diese in scharfen Kehren den Abhang und ziehen dann 
auf dem schmalen, wasserscheidenden Hauptkamm der 
Hügelrippe weiter mit weiten Ausbuchtungen um das 
Quellgebiet der seitwärts enteilenden Bäche. Ferner boten 
diese selbständig isolierten Hügel natürlich gesicherte 
und abgegrenzte Wohnplätze für Einzelhöfe, die wir 
denn auch zahlreich auf ihnen antreffen, während für 
einen größeren Wohnplatz die engumrissene Fläche im 
allgemeinen nicht ausreicht. An ihrem oberen Ende 
hängen diese seitlichen Hügel wie durch eine schmale 
Brücke mit dem Hauptkamm zusammen. Wo sich mehrere 
solcher Hügelbrücken zu einem höheren Hügelknoten 
vereinigen, von dem als hydrographischem Zentrum die 
einzelnen Bäche strahlenförmig ausgehen, liegt im all- 
gemeinen mit überraschender Übereinstimmung eine 
größere Ortschaft. Fast die gesamte küstennahe Städte- 
reihe hat diese Lage. Von ihrer dominierenden Höhe 
weithin sichtbar, krönen diese Orte mit ihren Campanilen 
und Festungszinnen malerisch die einförmige Land- 
schaft. 

Denn gerade durch die ständige Wiederholung der 
gleichen Figurationen sind die Oberflächenformen 
im Hügelland, zumal für den hochstehenden Beschauer, 
von ernüchternder Einförmigkeit. Die Niveauunterschiede 
sind nirgend bedeutend, die höchsten Höhenzahlen tragen 
in der Regel bezeichnenderweise die Siedelungen. Nur 
selten sind die ewig gleichförmig gerundeten Kuppen 
und Rücken durch herausgewitterte höbere Felskuppen 
von meist quadratischer Tafelbergform unterbrochen. 
Hin und wieder zeugen Schutthalden und klaffende 
Erosionsrinnen im bloßgelegten grauen Fels von der 
nivellierenden Arbeit des Wassers. Auch findet sich 
gelegentlich der anstehende Kalkstein durch die Erosion 
in rostartig gelagerte Steinrippen zerrissen mit oft messer- 
scharfen Rücken. Das sind die einzigen lebhafteren For- 
men, und auch diese sind selten genug. Da ferner die 
Bewässerung nur an den Talhängen und am Fuße der 
Hügel einen Anbau von echt italienischer Üppigkeit 
erlaubt, finden wir oben auf der den Fels nur notdürftig 
deckenden Verwitterungskrume nichts als Wiese und 
Weide. Ihr fahles, von der Sommersonne erzeugtes 
Graugelb gibt den Grundton der gesamten Färbung der 
Landschaft. Sie wirkt doppelt eintönig durch die so 
überaus dürftige heutige Bewaldung. Für die Ver- 
gangenheit eine dichtere Walddecke anzunehmen und ihr 
Verschwinden dem Raubbau der Bewohner zuzuschreiben, 
gibt es ein gewisses Bedenken. Wenigstens schließt oben 
auf den Hügelflächen die dünne Humusschicht hoch- 
stämmige Waldungen aus. Immerhin hat es an den an 
Verwitterungserde reicheren Talhängen in größerer Aus- 
dehnung Wald gegeben als heute; der häufige Gewann- 
name „Selva“ deutet unter anderem darauf hin. Anderer- 
seits zeigen hier und da hoffnungsvolle Aufforstungen, 
daß eine Waldmöglichkeit da und dort vorhanden ist. 
Anders steht es mit den grau und nackt emporsteigenden 
Apenninhängen, die man auch hier, der herrschenden 
Ansicht folgend, als dauernd waldlos annehmen kann. 
Vielerorts ersetzen kümmerliche Strauchgruppen den 
Wald, ohne aber den Eindruck des Trostlosen, Kultur- 
feindlichen abschwächen zu können. Die blaue Adria 
im Osten, die grünen Matten des Apennin und seine 


schneegekrönten Gipfel im Westen wirken, von der Hügel- 
landschaft aus gesehen, wie lockende Oasen. 

Ein Blick auf die Siedelungen im Innern der Marken 
läßt an ihnen die gleiche Geschlossenheit erkennen, wie 
sie Italien allgemein zeigt. Von ganz wenigen Taldörfern 
abgesehen, liegen sie alle sehr hoch; die Flucht vor dem 
Wasser mit seinen Verheerungen und seiner Fiebergefahr 
und das Bedürfnis nach Schutz waren maßgebend für 
ihre Anlage. Für letzteres spricht beredt die heute noch 
wohlerhaltene Ummauerung, die zumeist aus dem späteren 
Mittelalter, dem 13. und 14. Jahrhundert, stammt und 
bei den Städten Recanati, Fermo und Ripatransone am 
eindrucksvollsten zu sehen ist. Auch heute noch reichen 
die Mauern hin, die Städte jeweils ganz zu umspannen. 
Daraus läßt sich ersehen, daß man seinerzeit den zur 
Anlage gewählten Hügel in seiner ganzen Ausdehnung 
zu ummauern pflegte, abwartend, daß die Städte allmäh- 
lich in diesen Ring hineinwuchsen. Somit hat der einmal 
gegebene natürliche Wohnplatz keine Vergrößerung er- 
fahren. War der Platz ausgefüllt, so erfolgte das weitere 
Anwachsen der Gemeinden durch Einzelhöfe, die sich im 
„Paese“ ihres Ortes, seiner Gemarkung, an den geeig- 
netsten Stellen anbauten. Sie sind infolgedessen als 
jünger anzusprechen als die geschlossenen Siedelungen 
und sind kein ursprünglicher Siedelungstyp der Marken- 
bewohner; auch ihre heute noch im Lande geläufige 
Benennung, Casa colonica, weist darauf hin, daß die 
Zuwanderer, die Kolonisten, die in der Stadt keinen 
Platz mehr fanden, sich außerhalb ihr Heim bauen mußten. 
Nur größere Talstädte, wie Ascoli-Piceno und Teramo, 
haben ihren Festungsring durchbrochen und ihrem alten 
Kern neue Stadtviertel mit fahrbaren, modernen Straßen 
angegliedert. Die übrigen haben den einmal erreichten 
Umfang bewahrt, womit sich bezeichnenderweise eine 
fortdauernd konstante Einwohnerzahl, für die Wohnplätze 
wenigstens, deckt, nicht aber für die Gemeinden mit 
Einschluß des Paese; diese haben auch in den Marken 
an der starken Volkszunahme Italiens ihren kräftigen 
Anteil gehabt. Eine solche Unterscheidung zwischen 
Wohnplatz und Gemeinde, die wir in Spanien am auf- 
fallendsten treffen, bedarf auch bei Verwertung der ita- 
lienischen Bevölkerungsstatistik der Berücksichtigung. 

Die kleinen Städte und die alten Stadtkerne der 
größeren machen auf den Beschauer einen eigentümlichen 
Eindruck. Die Hauswände, gelbgetüncht oder aus un- 
verstrichenen, von der Sommersonne verbrannten und 
zerborstenen Ziegeln, türmen sich mit unregelmäßigen 
Fenstern über- und nebeneinander und steigern sich 
terrassenförmig hinauf zur Höhe, die wirkungsvoll von 
der Hauptkirche mit ihrem Campanile im Barockstil 
gekrönt wird; alles eingefaßt in das schöne Oval der 
wohlerhaltenen Ummauerung. Um den Platz möglichst 
auszunutzen, baute man die Häuser sehr nahe aneinander. 
Die Straßen sind daher im allgemeinen kaum wagenbreit, 
nur eine fahrbare Straße und die Piazetta, um die sich 
die öffentlichen Gebäude und Kirchen gruppieren, pflegen 
das entsetzliche Gewirr von winzigen, schlüpfrigen und 
ungleich gepflasterten Gäßchen zu unterbrechen. Man 
glaubt es kaum, daß Menschen in diesen übelriechenden 
Gassen, deren ragende Wände die Sonnenstrahlen ängst- 
lich aussperren, zu leben vermögen; aber es hilft den 
Leuten, daß sie möglichst das ganze Jahr hindurch alle 
Beschäftigungen im Freien zu besorgen streben, auf der 
Straße, der Piazza oder draußen auf dem Felde. Die 
Handwerker arbeiten auf der Gasse vor ihrer Türe, in 
eigens errichteten Holzgestellen werden Pferde und Ochsen 
schnell beschlagen; die Händler entfalten ihre Waren 
auf der Straße auf mehr oder weniger unsauberen Tischen, 
dazwischen schlendern die Bewohner, die so zahlreich 


368 


Neue Bemühungen um die Heiligsprechung des Kolumbus. 





und so oft nichts zu tun zu haben scheinen. So ist das 
Straßenbild, falls nicht die sengende Sonne die Leute in 
ihre Höhlen zurücktreibt, recht anziehend. ` 

Bei der Betrachtung der regionalen Verteilung der 
Städte wird es nicht auffallen, an der Küste südlich von 
Ancona nicht eine einzige bedeutendere Stadt zu finden; 
die schmutzigen Fischerorte San Benedetto del Tronto, 
Giulianova, Pescara können auf diese Bezeichnung keinen 
Anspruch "machen. Es fehlt eben an dieser einförmig 
geschweiften Küste jeder topographische wie auch wirt- 
schafts- oder verkehrsgeographische Zwang zur Aus- 
bildung eines ansehnlicheren Wohnplatzes. Die Städte 
haben sich vielmehr der schutz- und hafenlosen Küste, 
von der sie keine Förderung erwarten konnten, entzogen 
und landeinwärts auf sicheren Hügelkuppen angebaut. 
Eine ganze Städtereihe zieht so in mäßigem Abstande, 
auf hohen und wenig zugänglichen Kuppen gelegen, der 
Küste entlang. Überragend und unnahbar schauen sie 
auf diese hinab und unterhalten mit ihr nur geringe, 
durch die schwierige Erreichbarkeit noch erschwerte Be- 
ziehungen. Die Reihe beginnt mit den ferner gerückten 
San Marino und Urbino und setzt sich fort über Loreto, 
das der Küste die schmucklos nüchterne Kehrseite seiner 
prächtigen Kathedrale zuweist, über Recanati, Macerata 
nach Fermo, dieses wundervoll aufgebaut auf einem 


prächtig geformten Bergkegel. Weiter folgen das kleine, 
aber in ursprünglichster Eigenart erhaltene Ripatransone, 
dann Mosciano, Atri, Citta S. Angeli und endlich schon 
jenseits der Pescara als würdigster Schlußstein der Reihe 
das große und bedeutende Chieti. 

Dieser äußeren hochgelegenen Städtereihe entspricht 
eine zweite im Innern der Marken. Sie enthält unter 
anderem von Nord nach Süd die Städte Fossombrone, 
Pergola, Tolentino, Amandola, Ascoli-Piceno und Teramo. 
Ihre Lage unterscheidet diese Orte scharf von den erst- 
genannten; es sind keine Berg-, sondern ausnahmslos 
Talsiedelungen. Und zwar liegen sie alle an der er- 
wähnten Übergangsstelle vom Oberlauf zum Unterlauf 
der Flüsse, an ihrem Austritt aus dem hohen Apennin, 
in der Regel an der Einmündung eines oder mehrerer 
Nebenflüsse. Ein solcher und der Hauptfluß schließen 
mit ihren tiefen Erosionsschluchten ein steil abfallendes 
Plateau oder Schuttflächen ein, auf denen die Stadt sich 
ausdehnt. Der wunderbare natürliche Schutz bedurfte hier 
nur geringfügiger künstlicher Verstärkung. Am schönsten 
erkennt man diese Lage bei den größten der genannten 
Städte, Ascoli und Teramo, ersteres zwischen den jähen 
Schluchten des tiefgrünen Tronto und des brausenden wei- 
Ben Castellano; letzteres drückt schon in seinem Namen (Te- 
ramo aus Interamnes) die natürliche Gunst seiner Lage aus. 





Neue Bemühungen um die Heiligsprechung des Kolumbus. 


Kolumbus schenkte Spanien eine neue Welt und wurde 
dafür belohnt: zunächst mit allerlei Titeln, Würden und 
Einkünften, später mit Undank. Aber seine Zeitgenossen 
waren nicht der Meinung, er sei ein von der Vorsehung 
auserwählter Mann, ein Instrument des Himmels, das nur 
die Interessen der katholischen Kirche als Leitstern gehabt 
habe und auf die Westfahrt gegangen sei, um den Heiden 
der neuen Länder das Christentum zu bringen; sie wußten, 
daß der Entdecker materielle Beweggründe hatte und ver- 
standen sie. Und man kam nicht auf den Gedanken, Ko- 
lumbus müsse noch anders als materiell belohnt werden. 

Diese Vorstellung ist vielmehr modern und gehört erst 
dem 19. Jahrhundert an, noch dazu dessen zweiter Hälfte. 
Damals traten Leute mit der Forderung auf, Kolumbus 
müsse heilig oder wenigstens selig gesprochen werden. Der 
erste war ein Graf Roselly, der mit seinem Buche „La croix 
dans les deux Mondes“ (Paris 1844) für Kolumbus’ Selig- 
sprechung eintrat und damit das Interesse des Papstes 
Pius IX. erregte. Auch Leo XIII. war der Gedanke nicht 
unsympathisch. Aber niemand kann so ohne weiteres selig 
gesprochen werden; es wird da die Erfüllung verschiedener 
Vorbedingungen verlangt: der Kandidat muß ein heiliges, 
nach den Anschauungen der Kirche vorwurfsfreies Leben 
geführt und Wunder vollbracht haben, und es müssen für 
ihn wenigstens Anfänge eines Kultus nachgewiesen sein. 
Damit sah es aber bei Kolumbus windig aus. So hatte er 
keineswegs das erforderliche heilige Leben geführt; hatte er 
doch ein „Verhältnis“ mit Beatriz Enriquez, einer Dame 
aus Cordova, gehabt, dem ein unehelicher Sohn, Fernando, 
entsprossen war, und es war nicht bekannt, daß er etwa 
heimlich die Mutter dieses Sohnes, so sehr er stets für sie 
besorgt gewesen, geheiratet hatte. Darum erhoben sich ge- 
wichtige geistliche Stimmen gegen den Plan, und da dessen 
Anhänger zähe an ihm festhielten und die Einwände hin- 
wegzudisputieren suchten, so setzte sich der Kampf um 
die Heilig- oder Seligsprechung bis zur Vierhundertjahrfeier 
der Entdeckung Amerikas fort. 

Eine Skizze dieses interessanten Kampfes, der so heftig 
war, daß einmal ein Gegner der Kanonisation von einem 
Verfechter derselben als „Satan“ bezeichnet wurde, hat eben 
im „Journal de la Société des Americanistes de Paris“ (N. 8., 
Bd. VI, Heft 1/2) der Vorsitzende dieser Gesellschaft, Henry 
Vignaud, gegeben, und zwar deshalb, weil neuerdings wieder- 
um die Kanonisation des Kolumbus energisch verlangt wird. 
Es geschieht dies namentlich durch eine in den Vereinigten 
Staaten sehr einflußreiche Gesellschaft „Knights of Columbus“, 
die sich aus dortigen katholischen Irländern und Italienern zu- 
sammensetzt. Eshat drüben eine Agitation stattgefunden, und 
der Erzbischof von Philadelphia hat in Rom ein formelles, mit 


zahlreichen Unterschriften versehenes Gesuch überreicht. — 
Vignaud meint — das ist das Ergebnis seiner Unter- 
suchung —, daß Kolumbus die Heiligsprechung nicht verdiene. 
Zunächst wegen seiner Beziehungen zu Beatriz. Über die 
Art dieser Beziehungen könne gar kein Zweifel obwalten, 
nachdem inzwischen Schriftstücke aufgefunden seien, die sie 
eben als im Sinne der Kirche „unkeusche” bewiesen. 
So führt ein von ihr selbst zehn Jahre nach des Entdeckers 
Tode unterzeichnetes Dokument Namen und Vornamen auf 
(veröffentlicht 1902 von Arellano in den Schriften der spani- 
schen Akademie der Wissenschaften): Sie lauten „Beatriz 
Euriquez de Arana, Tochter des verstorbenen Pedro de 
Torquemada“; jede Anspielung darauf, daß sie Witwe und 
gar Witwe des Kolumbus sei, fehlt darin, und das Fehlen 
einer solchen Angabe in einem notariellen Dokument — ein 
solches ist es — beweise, daß Beatriz nicht Kolumbus’ Witwe 
im Sinne der Kirche sei, wie so oft behauptet worden. 
Vignaud schließt: Die Bedingungen für den höchst um- 
ständlichen Prozeß der Kanonisierung sind so streng, daß es 
nicht möglich erscheint, daß sie im Falle des Kolumbus zu- 
treffen. Wenn man das Leben des Entdeckers der Neuen 
Welt der Kritik unterwirft, so kommen so viele Schwächen 
ans Tageslicht, daß die Bedenken nicht beseitigt werden 
können, die selbst zwei dem Plane so geneigte Päpste wie 
Pius IX. und Leo XIII. stutzig gemacht haben. Wir wissen 
heute, daß, wenn Kolumbus heroisch in seinem Haß war, er 
es keineswegs in der Ausübung der christlichen Tugenden 
gewesen ist. Wir wissen, daß er nicht keusch gelebt hat. 
Wir wissen weiter, daß er zwar den Glauben und die Hoff- 
nung hatte, daß er aber nicht mildtätig war; denn er war 
habgierig und rachsüchtig. Endlich wissen wir, daß er zwar 
eine große Tat vollbracht, aber keine große Seele gehabt 
hat; denn mag er den Plan der Westfahrt Toscanelli oder 
einem unbekannten Seemann verdankt haben, er hat es 
jedenfalls für sich behalten, was er dem einen oder dem 
anderen schuldig war. Kolumbus’ Frömmigkeit war gewiß 
groß, aber er hat sie nicht heroischer bewiesen, als alle Welt 
zu jener Zeit. Bescheidenheit gehört sicherlich zu einem 
heiligen Leben, und Kolumbus war hochmütig und eitel. 
Er hat sich ein Wappenschild geschmiedet, hat sich Ahnen 
und adelige Eltern zugelegt, hat sich Taten gerühmt, die er 
nicht vollbracht hat. Die Heiligen weihen sich ausschließlich 
Gott. Gott ist für sie der Anfang und das Ende aller Dinge, 
auf ihn führen sie alles zurück, ihm weihen sie Leben und 
Werke. Kolumbus hat nichts dem Ähnliches getan. Er 
dachte zunächst an sich, und die erstaunlichen Vorschriften 
des außergewöhnlichen Aktes, durch den ein Majorat in 
seiner Familie geschaffen wurde, hatten nur die Verherrlichung 
seines Namens und die Schaffung einer Art Dynastie Kolum- 
bus zum Ziel. Diese Tatsachen machen es höchst unwahr- 
scheinlich, daß der Plan einer Heiligsprechung oder auch 


Passarge: Herr Geheimrat Penck und seine Urteile über Dr. Michaelsens Dissertation. — Bücherschau. 





369 





nur Seligsprechung des Entdeckers der Neuen Welt mit 
einiger Aussicht auf Erfolg wiederaufgenommen werden kann. 

Man kann im Gegensatz zu Vignaud der Meinung sein, 
daß es recht gleichgültig ist, ob dieses Ziel für Kolumbus 


Aber sein Name ist eben in 
so hervorragender Weise mit der Geschichte der Erdkunde 
verknüpft, daß man diese Bestrebungen und Gegenbestrebungen 
registrieren muß, 


je erreicht wird oder nicht. 





Herr Geheimrat Penck und seine Urteile über 
Dr. Michaelsens Dissertation. 


Herrn Pencks Stellungnahme zu der unter seiner Ägide 
erschienenen Dissertation von Dr. Michaelsen, die in Nr. 14 
dieses Globusbandes ausführlich besprochen wurde, ist so cha- 
rakteristisch und ungewöhnlich, daß sie es verdient, in wei- 
teren Kreisen bekannt zu werden, zumal bestimmte Befürch- 
tungen durch sie immer greifbarere Gestalt annehmen. 

Seit mindestens vier bis fünf Semestern hat Herr Micha- 
elsen unter Herrn Pencks Leitung an seiner Dissertation 
gearbeitet und vor mindestens vier Semestern bereits in dem 
Geographischen Seminar in einem Vortrag seine Ansichten 
über die Entstehung der Kalkpfannen in Gegenwart Herrn 
Peneks dargelegt. Also ist dieser seit mindestens zwei Jahren 
über das Beobachtungsmaterial Herrn Michaelsens genau 
informiert und konnte rechtzeitig, wenn er zu der Über- 
zeuzung kam, daß nach Person und Material für eine Disser- 
tation die geeigneten Grundlagen fehlten, den jungen Dokto- 
randen auf ein geeigneteres Gebiet hinweisen. 

Was hat Herr Penck aber getan? Er hat die Arbeit, 
die er seit mindestens vier Semestern in der Entstehung be- 
obachten konnte, der Philosophischen Fakultät der Universität 
Berlin vorgelegt, und zwar mit dem amtlichen Gutachten, 
daß er schwere Bedenken gegen die Arbeit hege, 
und sie nur mit Rücksicht auf Herrn Michaelsens 
eigenartige Laufbahn — gemeint ist die um vier Jahre 
zurückliegende Anteilnahme an dem Kriege in Afrika! — 
als Dissertation annehmen könne. Demgemäß gab er 
der Arbeit die denkbar geringste Note: idoneum. 

Aus diesem Gutachten geht meines Erachtens klar und 
deutlich hervor, daß Herr Penck über die wissenschaftliche 
Bedeutung der Arbeit im Zweifel ist und nur persönliche 
Momente ihn überhaupt zu ihrer Annahme als Dissertation 
bestimmt haben. Bestätigt wird diese Auffassung dadurch, 
daß Herr Penck, aus seiner Ansicht über Herrn Michaelsens 
Arbeit kein Geheimnis machend, sich auch privatim in 
gleichem Sinne geäußert hat, wie er sich der Fakultät gegen- 
über schriftlich festgelegt hatte. 

Trotz solcher scharf ausgesprochener Überzeugung hat 
nun Herr Penck in andern Fällen Ansichten geäußert, die 
seinem amtlichen Gutachten direkt widersprechen. 

Einmal hat er der Redaktion der Mitteilungen aus den 
Deutschen Schutzgebieten die Arbeit zur Aufnahme warm 
empfohlen. Lediglich seiner Empfehlung verdankt die 
Arbeit die Aufnahme in der genannten Zeitschrift. Die aus- 
drückliche Empfehlung beweist doch wohl, daß Herr Penck 


die Dissertation wissenschaftlich schätzt, denn eine verun- 
glückte Dissertation wird bekanntlich auf Kosten des glück- 
lichen neuen Doktors gedruckt und versinkt dann lautlos im 
Strome der Vergessenheit. Zweitens hat Herr Penck in der Zeit- 
schrift der Gesellschaft für Erdkunde Berlin ein ausführliches, 
günstiges Referat erstattet. Es umfaßt fast eine volle Seite, und 
bedeutet seine Aufnahme in der Zeitschrift unserer größten 
geographischen Gesellschaft eine Auszeichnung, die weit über 
den Rahmen einer gewöhnlichen günstigen literarischen Be- 
sprechung hinausgeht. Denn das Referat ist gerade in dem 
Abschnitt erschienen, den Herr Penck persönlich redigiert, 
den er zum größten Teil selbst schreibt, in den nichts ge- 
langt, was er nicht billigt, nämlich in dem Abschnitt über 
wichtige neue Forschungsergebnisse und Vorgänge 
auf geographischem Gebiet! Demgemäß muß Herr 
Penck die Ergebnisse der Dissertation von Dr. Michaelsen 
für wissenschaftlich bedeutsam und mitteilenswert halten. 
Zu diesem Schluß ist man um so mehr berechtigt, als Herr 
Penck Herrn Michaelsens Hypothese von dem Einsetzen einer 
neuen Trockenperiode in dem Zeitraum zwischen 1850 bis 
1860 durch den Hinweis auf die gleichzeitige Abnahme der 
alpinen Gletscher zu stützen sucht. Er schätzt also Herrn 
Michaelsens Hypothese so hoch ein, daß er seinerseits eine 
neue Hypothese darauf aufbaut. 

So sehen wir denn, daß Herr Penck über ein und den- 
selben Gegenstand zwei einander schroff gegenüberstehende 
Anschauungen geäußert hat, die sich meines Erachtens gleich- 
zeitig nicht vertragen, zwischen denen es keine harmonische 
Vereinigung gibt. Man könnte versucht sein, über Herrn 
Penck zu lächeln, wenn die Angelegenheit nicht eine gar so 
ernste Seite hätte, wenn nicbt in den von Herrn Penck geleiteten 
Instituten gerade durch die im „Fall Michaelsen“ klar hervor- 
tretenden Eigenschaften die bedauerlichsten Verhältnisse ge- 
schaffen worden wären — Eigenschaften, die schließlich notwen- 
digerweise jedes Vertrauen erschüttern und auf die Ent- 
wickelung der geographischen Wissenschaft in Deutschland 
einen unheilvollen Einfluß ausüben müssen. Die Gefahr ist 
so groß, daß ich es für meine Pflicht halte, rücksichtslos 
jedes persönliche Interesse beiseite zu stellen und offen auf 
die schweren Schäden hinzuweisen, die von Herrn Penck 
drohen und die bereits zu wirken beginnen — meinerseits 
bereit, die volle Verantwortung für diesen Schritt 
zu tragen. 

Was nun Herrn Dr. Michaelsens Dissertation betrifft, so 
kann für mich nur Herrn Pencks amtliche Überzeugung 
maßgebend sein, und ich betrachte sie hiermit als wissen- 
schaftlich erledigt. Passarge. 


Bücherschau. 


G. Haberlandt, Botanische Tropenreise. Indomalaiische 
Vegetationsbilder und Reiseskizzen. 2. Aufl. VIII u. 296 8. 
mit 98 Abbildungen im Text, 9 Tafeln in Autotypie und 
3 Aquarelltafeln. Leipzig 1910, W. Engelmann. 12,85 f. 

Wenn auch die erste Auflage bereits 1893 erschien, und 
die zweite, abgesehen von geringfügigen Anderungen im Text, 
hauptsächlich eine Vermehrung in dem Bildmaterial aufweist, 
so hat das Buch nichts von seiner Frische und Nützlichkeit 
verloren. 

Da heutzutage eine Reise nach den indischen Inseln so 
gar nichts Seltenes mehr ist, dürften die begeisterten Schilde- 
rungen des berühmten Botanikers wohl auch in den weitesten 
Kreisen willkommen sein. Die Beobachtungen fußen haupt- 
sächlich auf den im botanischen Garten zu Buitenzorg auf 
Java empfangenen Eindrücken, doch sind auch die der Reise 
mit verwendet worden. 

Da bei dem Entwurfe eines Vegetationsgemäldes, wie es 
Haberlandt vorschwebte, neben den wissenschaftlichen auch 
künstlerische Gesichtspunkte maßgebend sind, so durften darin 
als Staffage auch verschiedene Tier- und Menschenfiguren 
nicht fehlen, und meisterhaft sind sie dem eindrucksvollen 
Bilde eingefügt. Die Abbildungen gingen durchweg nicht 
aus Photographien, sondern aus Zeichnungen und Aquarellen 
Haberlandts hervor; von den letzteren schmücken drei neue 


diese zweite Auflage, von denen man beispielsweise die mit 
Rhizophora naucronata geradezu an die Wand hängen möchte. 
Wer einen Einblick in die ostasiatische Tropenwelt haben 
will, greife zu dem Werke Haberlandts, das mit seinen Zeich- 
nungen einen anschaulicheren Eindruck hinterläßt, als viele 
andere Reisewerke gleicher Art. E. Roth (Halle a. 8.). 


Alfred Haddon u. Hingston Quiggin, History of Anthro- 
pology. IX und 158 S. mit 9 Abb., London 1910, Watts 
and Co., 18. £ 

Professor Haddon sagt in der Vorrede, daß dieser, so- 
viel er weiß, erste Versuch einer Geschichte der Anthropologie 
mit großen Schwierigkeiten verknüpft war. „Ein kleines Buch, 
das mit einem so weit ausgedehnten Gegenstande, so ver- 
schiedenen Studien sich beschäftigt, kann die Spezialisten 
der verschiedenen Gebiete nicht befriedigen. In manchen 

Zweigen sind die Untersuchungen noch so neu, daß man hier 

von einer Geschichte kaum reden kann, und die schaffenden 

Männer sind noch am Leben. Gewiß werden viele den 

gewissen Verfassern gewidmeten größeren Raum beanstanden 

und sich darüber wundern, daß andere ganz fehlen oder 
nur in geringem Maße beachtet wurden.“ Zudem sei das 

Büchlein zunächst für Briten berechnet. 


370 


Bücherschau. 





Diese Selbstkritik trifft ja zu, aber trotzdem muß man 
sagen, daß auf 158 Seiten klein Oktav ganz außerordentlich 


viel geleistet ist. Dazu erhalten wir noch eine Anzahl 
Bildnisse hervorragender Anthropologen, ein kleines Literatur- 
verzeichnis für den geringen Preis. Ich skizziere hier das 
Schema, nach dem das nützliche Werk entworfen ist, welches 
nur weiter ausgebaut zu werden braucht, um die Grundlage 
für ein auch den Anthropologen und Ethnologen vom Fach 
befriedigendes Handbuch zu liefern. 

Mit der eigentlichen, physischen Anthropologie, mit 
Hippokrates und Aristoteles, beginnt das Werk, und hier 
werden der Reihe nach die somatologischen und kraniolo- 
gischen Anschauungen im Laufe der Jahrtausende und die 
Stellung des Menschen in der Natur und zu den Anthro- 
poiden besprochen. Es folgt der paläontologische Abschnitt, 
der im wesentlichen den nur kurzen Zeitraum betrifft, welcher 
das halbe Jahrhundert von der Auffindung des Neandertal- 
schädels bis zu den neuesten Skelettfunden Frankreichs um- 
faßt. Daran schließen sich die Klassifikationsversuche nach 
Rassen von Linné und Blumenbach bis auf Haeckel und 
Deniker. Zum kulturanthropologischen Teile übergehend, 
geben die Verfasser einen Überblick über ethnologische An- 
schauungen von Lukrez bis auf die neuesten herab, die ihre 
Bedeutung für die politischen Wissenschaften betonen. Ein- 
geschoben ist an dieser Stelle ein Abschnitt über Prähistorie 
von den nordischen Forschern und den Pfahlbauten an bis 
zu der Frage über den tertiären Menschen und die strittigen 
Eolithen. Mit den bei aller Kürze doch klar das Wichtigste 
betonenden Abschnitten über die Technologie, Soziologie, 
Religion, Sprache und den Einfluß des Lebensraumes schließt 
das Werk. Beherzigenswert ist das Schlußwort, in dem 
Haddon ausspricht, daß noch jetzt die Anthropologie eine 
organisierte und einheitliche Wissenschaft zu werden beginnt. 
„Gleich der Geschichte anderer Wissenschaften ist auch jene 
der Anthropologie voller Beispiele von Widersachern, die 
mehr auf Vorurteile, Bigotterie und Tradition geben, als 
auf die Ergebnisse der Untersuchungen und der daraus ge- 
folgerten logischen Deduktionen. Aber die Reaktionäre sind 
allezeit unterlegen.“ 

Es wäre unbillig, von dem Büchlein mehr zu verlangen, 
als es auf dem geringen Raum leisten kann. Daß man 
über die Bedeutung des einen oder anderen der aufgeführten 
Gelehrten streiten kann, gibt auch Haddon zu, und wenn 
wir manchen vermissen, der aufgeführt hätte werden sollen, 
so ist das bei dem „ersten“ Versuch auf dem vorliegenden 
Gebiete natürlich. Mit Nutzen kann die an Tatsachen reiche, 
leider auch in Bastians krauser Art verfaßte Schrift „Die 
Vorgeschichte der Ethnologie, Deutschlands Denkfreunden 
gewidmet für eine Mußestunde“ (Berlin 1881) herangezogen 
werden, in der Bastian sich nur in der Vorrede, nicht auf 
dem Titel nennt. Wenn er auch auf die ältesten Zeiten 
darin Bezug nimmt, so will er doch, und wie ich glaube 
mit Recht, eine Geschichte der Ethnologie erst mit dem 
Zeitalter der Entdeckungen beginnen lassen, da erst seitdem 
das Material dafür vorliege. Aufmerksam will ich hier auch 
machen auf das Werk eines dänischen Gelehrten, des Pro- 
fessors der Philosophie an der Ritterakademie zu Soröe, 
Jens Kraft, in welchem zum ersten Male die Naturvölker in 
ihrer Gesamtheit herangezogen werden, um die Geschichte 
der Menschheit aufzuklären (Jens Kraft, Die Sitten der 
Wilden. Zur Aufklärung des Ursprungs der Menschheit. 
Aus dem Dänischen, Kopenhagen 1766). Vergleichend zeigt 
er hier, was allen oder doch den meisten gemeinsam 
und wie die Entwickelung vor sich gegangen ist. Stützt er 
sich auch in vielem auf Lafiteau, so geht er doch eigene 
Wege. Als eine Lücke des Buches von Haddon betrachte 
ich es, daß die beiden Forster, Cooks Reisebegleiter, mit 
keiner Silbe erwähnt sind. Johann Reinhold Forsters 
„Bemerkungen auf seiner Reise um die Welt“ erschienen zu- 
erst in englischer Sprache und wurden dann erst von seinem 
Sohne Georg ins Deutsche übersetzt (Berlin 1783). Sehr 
vieles, was für die Geschichte der Anthropologie und Ethno- 
logie von Wichtigkeit ist, wird hier zum ersten Male gesagt 
und bildet die Grundlage für künftige Forschungen und 
wissenschaftliche Fortschritte. Noch will ich eines deutschen 
Philosophieprofessors hier gedenken und ihn zur Beachtung für 
eine künftige Auflage empfehlen: Christoph Meiners (1747 
bis 1816), dessen Werke „Grundriß der Geschichte der Mensch- 
heit“, Lemgo 1785, und „Untersuchungen über die verschie- 
denen Menschennaturen (die verschiedenen Menschenarten)*, 
Tübingen 1811, entschieden in einer Geschichte der Anthro- 
pologie ihren Platz finden müssen. Das Wort Kulturgeschichte 


kannte Meiners noch nicht; zur Geschichte der menschlichen 
Nahrung, Wohnung, Kleidung, der Regierungsformen, des 
Eigentums, der Sklaverei, der Sitten usw. stellte er ein ge- 
waltiges Material zusammen, so einer vergleichenden Ethno- 
logie die Wege weisend. Auch hundert Jahre vor Gobineau, 
der auch bei Haddon fehlt, hob Meiners in der schärfsten 
Weise den Wert der reinen Rasse hervor, wobei er, da er 
nur einer solchen weltgeschichtliche Bedeutung zuerkannte, 
auch auf Abwege geriet. Richard Andree. 


Hölzels Wandkarte der Alpen. Auf Grundlage der 
V. von Haardtschen Karte vollständig neu bearbeitet von 
Franz Heiderich. 6 Blätter in 13fachem Farbendruck. 
Maßstab 1:600000. Wien, Eduard Hölzel. 86 K. 

Rein historisch ist diese Karte zwar als die Nachfolgerin 
der zum ersten Mal 1883 erschienenen Alpenkarte Vincenz 
von Haardts zu bezeichnen; aber viel Ähnlichkeit hat sie 
nicht mehr mit ihr, innerlich und äußerlich ist sie unter 
der sachkundiger Hand Heiderichs etwas ganz Neues ge- 
worden. Vollständig neu bearbeitet und gezeichnet ist das 
südöstlichste Blatt mit dem Karstgebiet, und für nicht wenige 
andere, kleinere Gebiete gilt dasselbe. Gelände, Straßen, 
Eisenbahnen, Siedelungen, Schrift sind entweder neuge- 
stochen oder geändert, wo es nötig war. Das Gelände, auf 
dessen plastische Durcharbeitung besonders Gewicht gelegt 
wurde, verrät die Anwendung verschiedener Mittel, um diese 
Plastik zu erreichen. Zugrunde liegt Schraffur mit Isohypsen, 
dann hat es in Anlehnung an die schweizerische Darstellungs- 
weise mehrere (fünf) Stufenfarben erhalten, nämlich ein 
stumpfes Graugrün für die Stufe bis 200 m, ein lichtes Grau- 
grün bis 500m, Lichtgelb bis 1000 m, Braungelb bis 1500 m 
und schwach Rosarot für den Rest, wobei die Ferner weiß 
ausgespart sind. So ist in der Tat ein recht eindrucksvolles 
Relief erzielt worden, worauf es ja bei einer Alpenwand- 
karte vor allem ankommt. Die Eisenbahnlinien — es scheinen 
alle eingetragen zu sein, auch die elektrischen, sowie die 
Bergbahnen — sind rot verzeichnet. Im übrigen mußte, um die 
Karte nicht zu überladen, und ihr den Charakter der Wand- 
karte nicht zu rauben, bei Aufnabme sonstiger Objekte eine 
Auswahl Platz greifen. Von den Siedelungen finden wir in 
den österreichischen Alpenländern nur die Städte und einige 
Märkte, von den Straßen nur die wichtigsten. Ob da in der 
Auswahl freilich überall das Richtige getroffen ist, darüber 
kann man verschiedener Meinung sein. Aber dieser Punkt 
ist von sekundärer Bedeutung. Die ebenso schöne wie 
wissenschaftlich durchgearbeitete Karte stellt dem Autor 
und dem geographischen Institut des Verlages ein neues 
ehrendes Zeugnis aus. 


Otto Moszeik, Die Malereien der Buschmänner in 
Südafrika. 100 8. mit 173 Abb. im Text und 3farbigen 
Tafeln. Berlin 1910, Dietrich Reimer. 10%. . 

Über die Buschmannszeichnungen ist in den letzten 
Jahren viel veröffentlicht worden, ebenso sind Sammlungen 
der Zeichnungen selbst erschienen. Zu diesen Veröffent- 
lichungen gehört auch eine von Otto Moszeik im „Inter- 
nationalen Archiv für Ethnographie“, und diese Arbeit wird 
hier von neuem in Buchform geboten. Sie ist aber bezüglich 
der Menge der gebotenen Abbildungen ganz erheblich er- 
gänzt worden, nachdem der Verfasser auf Reisen sein Ma- 
terial hatte vermehren können. Weniger ist der Text ver- 
ändert und erweitert worden, indessen wird doch auf manches 
neu eingegangen. So auf die Frage, ob die Buschmänner 
wirklich die Maler und Zeichner gewesen seien (S. 10ff.). 

Namentlich waren es neuerdings Bemerkungen der Frau von 

Eckenbrecher (in ihrem Buche „Was Afrika mir gab und 

nahm“), die Zweifel berechtigt erscheinen ließen. Ihr Gatte 

hätte mit Kalahari-Buschmännern einen praktischen Versuch 
gemacht, aber die hätten nicht die einfachste Figur zeichnen 
können. An die Buschmänner gerichtete Fragen hätten 
nichts darüber ergeben. Niemand habe auch jemals einen 

Buschmann zeichnen und malen sehen. Der Verfasser sucht 

diese Zweifel zu widerlegen, verweist auf entgegenstehende 

Beobachtungen und meint im übrigen, daß infolge der Ver- 

änderungen in den Lebensbedingungen der Buschleute ihnen 

heute jene Kunstfertigkeit zumeist verloren gegangen sein 
werde. Am Schluß des Buches, wo die afrikanische Pyg- 
mäenfrage gestreift wird, wird auf in jüngster Zeit in der 

Sahara und auch im westlichen Sudan neugefundene, den 

Buschmannszeichnungen ähnliche Darstellungen verwiesen, 

die Frage aber eines Zusammenhanges aller Zwerge Afrikas 

nach wie vor als ungelöst bezeichnet. 


Kleine Nachrichten. ° 


371 


Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Der Erdgasbrand bei Neuengamme. Die Depu- 
tation für die Stadtwasserkunst der Stadt Hamburg nahm 
Anfang November zum Zweck der Wasserversorgung Tief- 
bohrungen zwischen der Elbe und Bergedorf vor. Das erste 
Bohrloch war in der Nacht vom 3. zum 4. November auf 
245m Tiefe gebracht, hatte die Schichten des Alluviums, 
dann die des Diluviums und schließlich die des Miozäns 
durchbohrt, und zuletzt vorwiegend sandige und tonige 
Mergel vorgefunden. In das Bohrloch waren eiserne Röhren 
niedergebracht, die in ihrer ganzen Länge gleich weit waren 
und 273mm lichten Durchmesser hatten. Am 3. November 
abends 11 Uhr schleuderte das unter einem Druck von 
mindestens 25, vielleicht aber bis zu 50 Atmosphären stehende 
Gas das im Bohrloche befindliche Wasser, Sand und Stein- 
material heraus und strömte mit unerhörter Heftigkeit aus 
den Öffnungen des Bohrkopfes heraus, von denen die beiden 
seitlichen eine lichte Weite von je 60mm besitzen, während 
die dritte obere Öffnung nur klein ist. Nachdem das Gas 
aus den Rohröffnungen und aus dem hölzernen Bohrturm 
längere Zeit in ungeheuren Garben und unter intensivem 
Zischen und Donnern ins Freie geströmt war, entzündete es 
sich plötzlich am 4. November nachmittags 4 Uhr an der 
zum Bohrbetriebe benutzten Lokomobile, deren Feuer noch 
brannte, zu ungeheuren Stichflammen, von denen die seit- 
lichen etwa 10 bis 15 m lang waren. Alle brennbaren Holz- 
teile insbesondere der Bohrtürme sind natürlich zerstört. 
Die Hitze war so groß, daß man über 100m von der Stelle 
entfernt bleiben mußte; das Rauschen der Flammen, das in 
der Nähe fast unerträglich auf das Gehör wirkte, war zwei 
Tage darauf bei der Mündung der Dovenelbe 12km weit 
deutlich vernehmbar. Fortwährend donnerten Explosionen, 
die die Erde erzittern machten. Die Zusammensetzung des 
ausströmenden Gases ist die folgende: Methan 91,5 Proz., 
schwere Kohlenwasserstoffe 2,1 Proz., Stickstoff 5,6 Proz., 
Sauerstoff 1,5 Proz., Kohlensäure 0,3 Proz. Solche Gase 
kommen im Zusammenhange sowohl mit Petroleum wie mit 
Steinsalzlagern vor. Wahrscheinlich ist hier das letztere der 
Fall, da das Flußgebiet der Elbe — es sei nur an Staßfurt, 
Lüneburg, Stade erinnert — an Salzlagern reich ist. Möglicher- 
weise sieht dieser Landstrich einer ungeahnten großen Zu- 
kunft entgegen. In außereuropäischen Gebieten, z. B. iu 
Baku, am Erie-See, sind ähnliche Feuerquellen ja bekannt, 
auch in abgeschwächtem Maße in Italien, z. B. zwischen 
Modena und Pistoja und zwischen Bologna und Florenz, aber 
in unserer norddeutschen Tiefebene war diese Erscheinung 
bisher noch nicht beobachtet worden. 

Gegen alle Vermutungen dauerte der Erdgasbrand in un- 
verminderter Stärke fort; man wird eben den Brand weiter- 
brennen lassen müssen, bis er erlischt. Man kann sich 
denken, daß ein so außergewöhnliches Naturereignis, zumal 
in der Nähe einer Großstadt wie Hamburg es ist, eine un- 
geheure Menschenmenge heranlockt; am 12. November sollen 
nicht weniger als 44 Sonderzüge zwischen Hamburg und 
Bergedorf eingelegt worden sein, um dem Andrang der Be- 
sucher einigermaßen genügen zu können. 

Der kondensierte Dampf der Quelle ist inzwischen im 
Hygienischen Institut in Hamburg analysiert worden. Die 
Abdampfrückstände betrugen 2732 mg auf das Liter, davon 
Kalk 162; Magnesia 88,9; Ammoniak 2,3; Chlor 1420; Schwefel- 
säure 25,7; Kohlensäure 94,6; Eisenoxyd 0,8; 'Tonerde und 
Eisenoxyd 2,0; Kieselsäure 16,0; Natrium 1078,8 entsprechend 
2035 Chlornatrium und 17,7 mg entsprechend 28 g Chlorkalium. 
Der Salzgehalt ist also 40mal, der Kalkgehalt4mal so groß wie 
beim gewöhnlichen Trinkwasser. Prof. Dr. Gürich, der Geologe 
der Hamburger Staatsanstalten, glaubt, daßdiedurchgesunkenen 
Schichten vorzugsweise dem oberen Miozän angehören. Be- 
merkenswert ist der Umstand, daß eine ideelle Verlängerung 
der Linie Peine—Hänigsen—Wietze genau auf das Bohrloch 
von Neuengamme stößt, womit natürlich nicht gesagt ist, 
daß Tiefbohrungen auf Petroleum, die man etwa in der 
Nähe des Bohrloches ausführte, sicher Erfolg haben würden. 
Inzwischen ist bekanntlich der Gasbrand gelöscht worden. H. 

— Für die Errichtung eines paläontologischen 
Instituts in Paris, dessen Leitung den Urgeschichts- 
forschern und Anthropologen Salomon Reinach, Boule und 
Verneau übertragen werden soll, hat Fürst Albert von Monaco 
dem französischen Unterrichtsministerium 1'/, Millionen Fr. zur 
Verfügung gestellt. Das Institut wird u. a. die Ausgrabungen 
in der Dordogne übernehmen, die bisher von dem Schweizer 
Hauser ausgeführt worden sind und bekanntlich das be- 


rühmte Skelett des Homo mousteriensis Hauseri zutage ge- 
fördert haben. Hauser hatte jenes noch viele wichtige 
Funde versprechende Höhlengebiet für seine Ausgrabungen 
käuflich erworben, und es werden nun von französischer 
Seite Versuche gemacht, Hauser zum Verkauf seines Besitz- 
tums zu veranlassen. Mag das nun gelingen oder nicht: in 
Zukunft werden Funde dieser Art in Frankreich verbleiben 
müssen; denn die französische Regierung hat einen ent- 
sprechenden Gesetzentwurf dem Parlament bereits vorgelegt. 
Veranlaßt worden ist sie dazu wohl in erster Reihe durch 
den Verkauf des kostbaren Homo mousteriensis durch Hauser 
an das Berliner Museum für Völkerkunde. 

— Auch China hat das Bedürfnis gefühlt, sich in einen 
Verfassungsstaat zu verwandeln. Das wird aber nicht 
über Nacht geschehen, wie in der Türkei, in Persien oder 
Montenegro; sondern die chinesische Regierung, deren ent- 
sprechendes Dekret aus dem Jahre 1908 stammt, will ver- 
nünftigerweise schrittweise vorgehen und hat das Inkrafttreten 
der nun inder Vorbereitung befindlichen eigentlichen Konstitu- 
tion erst für das Jahr 1917 angekündigt. Vorläufig hat sienur 
eine Art Oberhausgebildet, das ungefähr mit dem preußischen 
Herrenhause auf einer Höhe steht, also eine Volksvertretung 
nicht ist, sondern nur reden und im übrigen nur tun darf, 
was die Regierung befiehlt. Das kaiserliche Dekret, das die 
Einrichtung dieses Senats anordnet, ist vom 9. Mai d. J. 
datiert; er ist inzwischen zusammengetreten, debattiert und 
läßt die auch bei der weißen Rasse üblichen parlamenta- 
rischen Meinungsverschiedenheiten hervortreten. Er besteht 
aus 91 vom Kaiser ernannten Mitgliedern und 91 Vertretern 
sechs verschiedener Stände. In der letzten Kategorie ent- 
fallen 14 Mitglieder auf die Prinzen der kaiserlichen Familie, 
12 auf den Mandschu- und Chinesenadel, 17 auf Fürsten 
und Adel der Nebenländer, 6 auf andere Angehörige der 
Kaiserfamilie, 32 auf die Beamten- und 10 auf die Gelehrten- 
welt. Die Zahl der Mandschumitglieder übersteigt die der 
Chinesen, so daß die Beschlüsse nur das Echo der Regierungs- 
politik sein können. Dazu fallen die Finanzangelegenheiten 
nicht in den Bereich der — übrigens öffentlichen — Be- 
ratungen dieses Senats. Das erste Budget soll erst 1914 vor- 
gelegt werden. 

— Das für magnetische Aufnahmen erbaute Schiff 
„Carnegie“ hat im Juni d.J. von Brooklyn aus unter dem 
Befehl von W. J. Peters eine neue auf drei Jahre berech- 
nete Kreuzfahrt durch den Atlantischen, Indischen und 
Großen Ozean angetreten. Am 15. Oktober verließ es Para, 
mit Rio als nächstem Ziel. Die Fahrten zwischen Brooklyn 
und Para haben eine Länge von etwa 7000 Seemeilen, dabei 
wurde mehrere Male durch Ausführung von Schleifen die 
erste Route des Schiffes gekreuzt. Die auf der neuen Kreuz- 
fahrt bis zum Eintreffen in Para gewonnenen Resultate be- 
stätigten die Irrtümer, die die erste Fahrt für die bisherigen 
magnetischen Karten des Nordatlantischen Ozeans aufgedeckt 
hatte. Von Rio soll der „Carnegie“ über Montevideo und 
Buenos Aires nach Kapstadt gehen, wo sein Eintreffen für 
Ende März 1911 erwartet wird. Dort will sich der Leiter 
des magnetischen Vermessungswesens Dr. Bauer einfinden, 
um an den Fahrten im Indischen Ozean teilzunehmen. Auf 
dem Wege nach Kapstadt will Bauer mehrere der magne- 
tischen Institute Europas aufsuchen, um da Vereinbarungen 
über ein Zusammenwirken mit den Beobachtungen des 
„Carnegie“ zu treffen. 

— Der Herbst ist vergangen, ohne daß aus Westgrönland 
die Nachricht gekommen wäre, daß dort E. Mikkelsen, 
der Leiter der letzten dänischen Ostgrönland-Expe- 
dition, angelangt sei. Wie oben 8. 148 mitgeteilt wurde, 
war Mikkelsen mit seinem Begleiter Iversen von seiner 
Schlittenreise nach Nordgrönland bis Anfang August nach 
der Shannoninsel nicht zurückgekehrt, worauf die übrigen 
Expeditionsteilnehmer, deren Schiff vom Eise im vorauf- 
gegangenen Winter zerstört worden war, mit einer anderen 
Schiffsgelegenheit die Heimreise nach Kopenhagen angetreten 
hatten. Mikkelsen hatte ihnen diese Weisung hinterlassen, 
da er mit der Absicht umging, nach Erledigung seiner 
Untersuchungen über Nordgrönland die Westküste entlang 
— also etwa an der Ostseite des Kanebeckens — nach den 
Eskimoansiedelungen am Smithsunde und weiter nach den 
dänischen Kolonien des Westens zu gehen. Man konnte 
mithin mit der Möglichkeit rechnen, daß er dort noch in 


372 ° 


diesem Herbst eintreffen würde. Das ist nun also nicht ge- 
schehen, und es ist zweifelhaft, was aus den beiden Reisenden 
geworden ist. Die Wahrscheinlichkeit sprioht dafür, daß sie 
sich doch nach der Ostküste zurückgezogen haben, auf der 
Shannoninsel verspätet eingetroffen sind und in dem dort 
für sie errichteten, reichlich mit Vorräten ausgestatteten 
Hause den Winter zubringen. In diesem Falle wären sie ja 
in Sicherheit. Aber es ist Jeider immerhin auch möglich, 
daß sie irgendwo anderwärts unter viel ungünstigeren Ver- 
hältnissen überwintern müssen. Wenn im nächsten Frühjahr 
aus Westgrönland keine Nachricht über Mikkelsen kommt, 
wird man ihn im Sommer in Ostgrönland suchen müssen. 


— Für eine neue holländische Expedition in das 
Schneegebirge Neuguineas zur Vervollständigung der 
Ergebnisse der beiden Lorentzschen Unternehmungen von 
1907 und 1909 sind für das Jahr 1911 20000 Fr. von der 
Kolonialregierung ausgeworfen. Die Führung wird wahr- 
scheinlich J. W. van Nouhuys, dem Topographen, der 
zweiten Lorentzschen Expedition übertragen werden. — Übri- 
gens ist in Heft 6 der „Tijdschrift K. Nederl. Aardrijksk. 
Gen.“ für 1910, dem wir diese Mitteilung entnehmen, eine 
von Nouhuys bearbeitete topographische Übersichtskarte 
(ohne Routen) in 1:200000 über das Reisegebiet der beiden 
Expeditionen von Lorentz erschienen. Auf ihr ist die Höhe 
der Wilhelminaspitze mit 4700 m, die des nördlich von ihr 
liegenden Habbemasees, des fernsten 1909 erreichten Punktes, 
mit + 3600m angegeben. 


— In Tisnit im südwestlichen Marokko an der Kara- 
wanenstraße Marakkesch—Timbuktu ist im Oktober eine in- 
teressante Persönlichkeit gestorben, der Sherif Ma el-Aïnin, 
der eine nicht unbedeutende Rolle in der neuesten Geschichte 
Nordwestafrikas gespielt hat. Ma el-Aïnin war ein weit über 
seinen Wohnsitz, Smara im Segiet el-Hamra bei Kap Juby, 
hinaus verehrter, höchst einflußreicher und mächtiger Mann, 
ein unversöhnlicher Feind der französischen Ausdehnungs- 
gelüste und Absichten auf Marokko, denen er seit Jahren 
offen und noch mehr versteckt entgegengewirkt hat. Er 
war eine Stütze des verflossenen Sultans Abd el-Asis, den 
er einige Male persönlich aufsuchte, und sein Name wurde 
schon auf der Algeciras-Konferenz genannt. Er selber bezog 
durch einen regen Küstenschmuggel Gewehre, um seine An- 
hänger in Mauretanien bis nach Adrar hinunter zu be- 
waffnen. Gerne wären ihm die Franzosen an den Kragen 
gegangen, aber er war in seinem Wüstensitz ziemlich unan- 
greifbar und unerreichbar. Als Frankreich vor zwei Jahren 
an die Eroberung Mauretaniens ging, stieß es auch hier auf 
seinen alten Feind Ma el-Ainin, und wenn er auch nicht 
selber gegen die französischen Truppen im Felde stand, so 
organisierte er doch aus der Ferne den Widerstand und 
sandte seinen Sohn Hassana den Maurenstämmen zu Hilfe. 
Hassana mußte allerdings schließlich das Weite suchen, und 
Oberst Gouraud eroberte nach einem langen, beschwerlichen 
und verlustreichen Kampfe das südliche Mauret: nien. Auch 
mit dem neuen Sultan Muley Hafid stand Ma el-Ainin in 
enger Beziehung. Nach dem französisch -marokkanischen 
Übereinkommen vom 4. März d. J. hatte sich der Magsen 
verpflichtet, Ma el-Ainin und seinen Anhang hinfort in 
keiner Weise zu ermutigen oder mit Geld und Waffen zu 
unterstützen, und man meint, daß Mael-Ainin seinen Frieden 
mit Frankreich habe machen wollen, als er a€ der Reise 
starb. Wahrscheinlich ist das aber nicht. Sein 8 hn Hassana 
hat bei weitem nicht das Ansehen, das der a.te Marabut 
hatte, und so ist es möglich, daß diese Quelle der französi- 
schen Kolonialsorgen bald versiegen wird. 





— Mit den Franzosen können auch wir Deutschen den 
allzufrühen vor kurzem zu Paris erfolgten Tod des Anthro- 
pologen Dr. Léon Laloy beklagen, der vor allem die Schätze 
der deutschen anthropologischen und ethnologischen Literatur 
den Franzosen in mustergültigen Analysen vermittelte und 
ebensogut die deutsche, wie die französische Sprache be- 
meistert hat. Dr. Laloy war am 30. April 1867 in Weißen- 
burg im Elsaß geboren, er studierte Medizin in Paris, wo er 
1892 mit einer Dissertation über die therapeutische Anwen- 
dung des Hypnotismus promovierte, aber bald sich unter 
dem Einflusse Topinards und Hamys der Anthropologie zu- 
wendete. Im Jahre 1901 wurde er Bibliothekar in Bordeaux 
und 1905 Bibliothekar der Académie de médecine in Paris. 
Seine Berichte über die deutschen anthropologischen Arbeiten 
in der angesehenen Zeitschrift L’Anthropologie, von denen 
noch die letzte, Nummer eine ganze Anzahl bringt, werden 


- Rothäute; sie haben sich auch ihre alten 


Kleine Nachrichten. 


schwer zu ersetzen sein, da immer noch die deutsche Sprache 
unter den französischen Gelehrten nicht genügend verbreitet 
ist. Selbständige Werke von Dr. Laloy sind „L’&volution de 
la vie“ (1902) und „Parasitisme et mutualisme dans la 
nature“ (1906). 


— Die Indianer von Labrador. In Labrador gibt 
es noch zwei Indianerstämme, die zur Algonkinfamilie ge- 
hörigen sog. Montagnais und die Naskopie, deren beider 
Seelenzahl auf zusammen etwa 3000 geschätzt wird. Die 
Montagnais wohnen im Süden und haben seit der Ankunft 
der Europäer ziemlich enge Beziehungen mit den weißen 
Pelzhändlern und „Waldläufern“. Sie sind auch zum Christen- 
tum bekehrt und eigentlich keine Rothäute mehr, sondern 
Mischlinge, in deren Adern viel französisches und englisches 
Blut kreist. Ihre Nomadensitten haben sie fast ganz auf- 
gegeben; sie wohnen in Holzhäusern und haben sich mit 
einem gewissen Komfort umgeben. Immerhin schlummern 
unter dieser Zivilisationstünche noch die alten wilden Instinkte. 
Wie Clifford E. Easton im „Canadian Magazine“ erzählt, 
tötete unlängst ein junger Montagnais seinen Vater, um den 
Forderungen eines alten, allgemein unter den Indianern ver- 
breiteten Aberglaubens zu entsprechen: wenn ein Greis 
närrisch wird, so müssen ihn seine Kinder schleunigst töten, 
wenn sie nicht Kannibalen werden wollen. Dagegen sind 
die Naskopie, die im Innern leben und viel weniger Be- 
rührung mit den Weißen gehabt haben, noch reinblütige 
rlieferungen 
und Sitten bewahrt. Nur einmal im Jahre begeben sie sich 
nach der Faktorei der Weißen und tauschen hier 14 Tage 
hindurch ' ihr Pelzwerk gegen Gewehre, Munition, Tabak 
und Tee aus; wenn aber das Schiff der Kompagnie am 
Horizont auftaucht, so verschwinden sie schleunigst. Schlechte 
Behandlung hat der sie besuchende Weiße nicht zu befürchten, 
aber sie lehnen es ab, ihm Führerdienste zu leisten, und 
zwingen ihn dadurch bald zur Umkehr. Easton fragte, warum 
die Naskopie so schnell das Weite suchten, wenn ein Schiff 
sich nahe, und erhielt zur Antwort, sie fürchteten, daß ein 
Missionar an Bord sein könnte. Vor einigen Jahren hatte 
nämlich der Pater Le Moine die Rothäute, die sich im Fort 
Chimo befanden, zu bekehren versucht. Sie schienen anfangs 
dafür Neigung zu haben, als aber der Missionar die Frage 
der Einehe anschnitt, war es vorbei mit dieser Neigung. 
Ein guter und erfolgreicher Naskopie-Jäger hat nämlich das 
Recht, sich zwei, auch drei Frauen zu nehmen. Kulturell 
stehen die Naskopie nicht ganz niedrig; denn die Männer 
machen sich selber ihre Steinpfeifen und die Frauen kunst- 
volle Arbeiten mit der Nadel, die nach Easton mit persischen 
Stickereien rivalisieren sollen. Leider sind die Naskopie im 
Gegensatz zu den höchst ehrlichen Montagnais große Diebe 
und zeigen sich als solche in den Faktoreien. Auf der Tat 
abgefaßt, lachen sie nur. 


— Elliot Smith, der Anthropologe der Archaeological 
Survey of Nubia, äußerte sich über die Frage nach der 
Entstehung der Agypter von neuem in der diesjährigen 
Versammlung der British Association. Nach dem Bericht 
der „Nature“ führte er aus, daß es unmöglich sei, ein Bild 
von der Geschichte des Menschen in Agypten zu gewinnen, 
wenn man sich nicht auf das Studium des physischen Cha- 
rakters genau datierbarer menschlicher Reste aus den drei 
großen Hauptteilen des Niltales, Unter- und Oberägypten 
und Unternubien, stütze. Alles, was man heute über den 
Ursprung der prädynastischen Ägypter mit Sicherheit sagen 
könne, sei, daß sie sowohl mit der Mittelmeerrasse wie mit 
den Arabern Verwandtschaft zeigten. Kurz vor dem Ende 
der prädynastischen Zeit mache sich eine gewisse leichte 
Änderung im physischen Aussehen bemerkbar, deutlich 
spreche sie sich aber erst in der dritten Dynastie aus., Mit 
diesem Datum wurde es klar, daß jene drei Hauptteile Ägyp- 
tens voneinander verschiedene Bevölkerungen hätten: Unter- 
nubien ein mit dem prädynastischen identisches Volk, das 
aber mit Negerblut gemischt sei; Unterägypten die Abkömm- 
linge der prädynastischen Bevölkerung, aber stark mit 
weißen Einwanderern durchmischt, die durch das Delta ge- 
kommen seien; Oberägypten eine Bevölkerung, die von diesen 
beiden fremden Elementen zwar nicht unmittelbar beeinflußt 
gewesen sei, aber indirekt infolge der Durchmischung des 
Volkes mit dem der beiden anderen genannten Hauptteile 
des Nillandes. Im mittleren Reich wurden die schwarze nubische 
und die weiße mittelländische Beeinflussung deutlicher in 
Theben, und so. begann die noch heute andauernde all- 
mähliche Abstufung des physischen Charakters vom Schwarz 
Nubiens bis zum Weiß der levantinischen Bewohnerschaft 
des Nordens. 





Verantwortlicher Redakteur: 


H. Singer, Schöneberg-Berlin, Hauptstraße 55. 


— Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig. 


GLOBUS. 


ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- unD VÖLKERKUNDE. 


VEREINIGT MIT DEN ZEITSCHRIFTEN: „DAS AUSLAND“ UND „AUS ALLEN WELTTEILEN“, 
HERAUSGEGEBEN VON H. SINGER UNTER BESONDERER MITWIRKUNG VON Pror. Dr. RICHARD ANDREE. 
VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN. 











Bd. XCVIII. Nr. 24. 


_ BRAUNSCHWEIG. 


29. Dezember 1910. 








Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet. 





Indianererziehung auf der staatlichen Indianerschule Carlisle. 
Von K. Woltereck. 


*"Carlisle im Staate Pennsylvania soll von Franklin als 
militärische Befestigung gegründet sein. Während der 
ame ıkanischen Revolutionskriege wurde ein Kriegs- 
gefängnis daraus gemacht, das General Lee im Bürger- 
kriege teilweise niederbrannte. Im Jahre 1879 erhielt 
Kapitän Pratt die Erlaubnis, den nun verlassenen Platz 
zu benutzen, und er richtete dort eine Schule für Indianer- 
kinder ein, die er 25 Jahre, bis 1904, selbst leitete. Jetzt 
steht ein Regierungsbeamter der inzwischen verstaat- 
lichten Anstalt vor, die aber im Sinne des Gründers 
weitergeführt wird. 

Pratt hatte während eines Kommandos in Florida, 
als er auf einsamen militärischen Posten inmitten der 
Seminolenstämme den indianischen Charakter kennen 
und verstehen lernte, eingesehen, daß vor allen Dingen 
die jüngere indianische Generation die Weißen als 
Menschen, als Freunde kennen lernen müsse, die sie 
jahrhundertelang als ihren schlimmsten Feind und als 
ganz anders geartete Wesen angesehen hatte. Deshalb 
sollten die Kinder nicht nur eine bessere Erziehung, die 
sie für das moderne Leben tauglicher machte, erhalten, 
sondern auch mit dem Familienleben der weißen Ameri- 
kaner vertraut werden. 

Aus diesem Grunde schickt die Schule noch immer 
einen Teil ihrer Schüler als Pflegekinder in amerikanische 
Familien, wo sie sich ihren Unterhalt durch kleine Dienst- 
leistungen erwerben können, aber mindestens 100 Tage 
im Jahre daneben am regelmäßigen Unterricht der Orts- 
schulen teilnehmen müssen. In den’ Ferien geleistete 
Dienste werden extra bezahlt und die Hälfte dieses Ver- 
dienstes direkt nach Carlisle gesandt, wo das Geld für 
den Indianer festgelegt wird, das er erst’nach dem 
Examen am Ende der Schulzeit ausgezahlt erhält. Die 
andere Hälfte wird dem Pflegling zu eigener Verwaltung 
überlassen, damit auf diese Weise die kleinen Rothäute 
auch das Geld besser kennen und gebrauchen lernen. 
Einige 100 Schüler und Schülerinnen können die Ferien 
im Sommer in Carlisle selbst zubringen und sich dort 
durch Arbeit auf der großen Farm oder in den Schul- 
gebäuden, Wäschereien usw. Taschengeld verdienen, 
während die kleinen täglichen Dienstleistungen in der 
Schulzeit als Entgelt für freien Unterhalt und Unterricht 
aufgefaßt werden. 

Eine besonders angestellte Dame hat die Aufgabe, 
die Wahl zwischen den vielen Anerbietungen für diese 
„outing-kinder* zu treffen, wobei gern Farmerfamilien 
aus der Umgebung berücksichtigt werden, die .die 
Carlisleindianer sehr lieben. Im letzten Jahre hatten sich 
1400 Familien gemeldet, die bereit waren, Kinder bei 

Globus XOVIL. Nr. 24. 


sich aufzunehmen, aber von den etwa 1300 Schülern 
sind zurzeit nie mehr als 500 „out“; die anderen bleiben 
auf der Schule in Carlisle selbst. Länger als bis zwei 
Jahre vor dem Endexamen darf auch kein Schüler den 
regelmäßigen Unterricht dort versäumen, denn der ganze 
Durchschnittskursus umfaßt nur fünf Jahre. Wenn die 
Kinder sich in den Familien nicht wohl fühlen, dürfen 
sie auch früher zurückkommen, und um immer mit den 
Pfleglingen in Fühlung zu bleiben, werden die Familien 
häufig durch Beamte besucht und regelmäßige Berichte 
von Pflegern und Schülern verlangt. 

In der Schule in Carlisle ist das Leben äußerlich 
militärisch eingerichtet; die Knaben tragen uniform- 
artige Anzüge und die Mädchen gleichmäßig blaue 
Kleider mit weißen Schürzen. Der Arbeitstag beginnt 
pünktlich um 6!/, Uhr, auf den Glockenschlag geht es 
zum Frühstück, das im großen gemeinsamen Eßsaal nach 
kurzer Andacht eingenommen wird. Eine Stunde später 
fängt der Unterricht in den praktischen Fächern für die 
eine Hälfte der Schüler an, für die anderen beginnt erst 
um !/,9 der wissenschaftliche Unterricht, der sich auf 
Lesen, Schreiben, Rechnen, Englisch, Anschauungsunter- 
richt und Heimatkunde‘beschränkt. Nur besonders Be- 
fähigte erhalten weitere Ausbildung nach Wunsch und 
Anlagen. 

Um 1/,12 kommt die Mittagspause, und um 1 Uhr 
wandern die Studenten der Wissenschaften vom Morgen 
in die Handwerkstätten und umgekehrt. Und auch nach- 
mittags dauert die praktische Unterweisung eine Stunde 
länger. 

Im Winter kommt noch eine Arbeitsstunde nach dem 
Abendessen hinzu, aber im Frühjahr und Herbst gibt 
man diese Abendstunden Knaben und Mädchen zum 
fröhlichen Spiel draußen frei. Um 9 Uhr heißt es jeden 
Tag „Licht aus“ für die Kleinen, eine halbe Stunde 
später schlägt die Stunde für die Großen, und dann 
herrscht überall eine wundervolle Ruhe nach dem ge- 
schäftigen Treiben am Tage. 

Natürlich gibt es auch regelmäßigen Turnunterricht 
für die Carlisleindianer, da das veränderte Leben immer 
nöch die an unbeschränkte Freiheit in frischer Luft ge- 
wöhnte Konstitution bedroht. Hals und Lunge der 
Kinder werden häufig untersucht, damit dem schlimmen 
Feinde der roten Stämme, seit sie auf Reservationen 
leben müssen, der Schwindsucht, möglichst vorgebeugt 
werden kann. Oft werden auch Schüler aus solchen 
Gesundheitsrücksichten wieder in die Heimat zurück- 
geschickt, und da soll es jetzt häufig schwer sein, die 
Eltern zu überzeugen, daß das Schulleben tödlich sein 


48 


374 Woltereck: Indianererziehung auf der staatlichen Indianerschule Carlisle. 


könne. Denn bei vielen Stämmen wünscht jetzt die 
ältere Generation geradezu die Ausbildung des weißen 
Mannes für die indianische Jugend, während diese selbst 
oft erst durch große Liebe und Diplomatie dafür ge- 
wonnen werden kann. 

Die Schule in Carlisle hatte im letzten Jahre Schüler 
aus 77 verschiedenen Stämmen, und die deshalb ver- 
schiedenartigen und oft einander feindlichen Anschauungen 
und Überlieferungen bieten eine andere Schwierigkeit für 
die Lehrer. Auch die religiöse Frage war anfangs schwer 
zu lösen; man behandelt sie aber im allgemeinen dort 
möglichst einfach und dogmafrei. Die Sonntagspredigt 
müssen alle hören, am Nachmittage dürfen sie, wenn sie 
wollen, noch andere Kirchen der verschiedenen Sekten 
besuchen. 

Etwa 40 Gebäude für Wohn- und Lehrzwecke ge- 
hören jetzt der Anstalt, meist zweistöckige, von breiten 
Veranden umgebene Holzbauten. Das Hauptgebäude 
enthält die Kapelle, eine Bibliothek und Bureauräume für 
die Verwaltung. An beiden Seiten schließen sich Flügel 





Abb. 1. Richard Kissitti (Apachen-Indianer). 


mit großen, hellen Klassenzimmern an. Dem Haupt- 
gebäude gegenüber, durch einen breiten Rasenplatz von 
ihm getrennt, liegt das alte Schulhaus, das nur Schul- 
zimmer enthält, die von Knaben und Mädchen zu gleicher 
Zeit besucht werden; denn auch hier herrscht, wie in 
fast allen öffentlichen Schulen Amerikas, das Koeduka- 


tionssystem. An der einen Breitseite stehen die Wohn- | 


häuser der Mädchen, an der anderen die für die Knaben. 
In jedem derselben wohnen außer der Jugend einige 
Lehrer oder Lehrerinnen und Hausmütter; aber man hat 
unter den jungen Indianern eine Art Selbstregierung 
eingeführt, wie sie auf vielen der östlichen Hochschulen 
mit Erfolg schon lange herrscht. 

Hinter den Knabenhäusern liegen die Gebäude der 
Industrieschulen; hier können die Schüler schneidern, 
drucken, malen, schmieden, tischlern, schreinern oder 
noch andere Handwerke erlernen, und hier wird auch 
alles für den eigenen Gebrauch der Schule hergestellt 
und, wenn Zeit dazu vorhanden, für auswärtige Be- 
stellung gearbeitet. Sehr geschickte Arbeiter kann man 
da sehen und hübsche Tischler- und Schmiedearbeiten 
bewundern. Außerdem bieten die Ställe und das der 
Schule gehörige Land ein weiteres Gebiet der praktischen 


Tätigkeit für die Knaben, während sich die Mädchen in 
der Küche, Wasch- und Plättstube, in Schneidern oder 
Putzmachen, in der Kinder- und Krankenpflege usw. 
auch nach eigener Wahl für das Leben vorbereiten können. 





Abb.2. Joe Exendine (Sioux-Indianer), 
Assistent des Turnlehrers. 


Aber es gibt auch literarische Gebiete für die jungen 
Rothäute. Zeitungen werden verfaßt und eigenhändig 
gedruckt; in Klubs werden Vorträge gehalten; es wird 


Theater gespielt und man gibt Konzerte; und vor allem 





Abb.3. Jake Rocher, der Photograph (links, Hopi-Indianer), 
und Ted White, sein Gehilfe (Zuäi-Indianer). 


werden auch die einzelnen Stämmen seit Jahrhunderten 
eigenen künstlerischen Handfertigkeiten, Weben, Korb- 
flechten, Tonmalerei, Silberschmiedekunst usw., weiter 
ausgebildet. 

Der Durchschnittskursus umfaßt, wie gesagt, fünf 
Jahre, und das Durchschnittsalter der Schüler ist das 


ur 


Woltereck: Indianererziehung auf der staatlichen Indianerschule Carlisle. 375 





12. bis 20. Lebensjahr. Meist haben die Kinder schon 
vor dem Eintritt in Carlisle Vorbereitungsunterricht auf 
Reservationsschulen gehabt; aber es gibt auch Aus- 
nahmen, wie die Aufnahme des jüngsten Schülers Richard 
Kissitti (Abb. 1), der als vierjähriger Junge in die Schule 
kam und durch seine große Begabung viel verspricht. 
Seine beiden früh verstorbenen Eltern waren alte Carlisle- 
schüler aus einem Häuptlingsgeschlecht der Apachen. Oder 
aber es verirrt sich ein außergewöhnlich alter Schüler 
nach dort, der mit 18 Jahren noch nicht Schreiben und 
Lesen gelernt hat, und da bedarf es geschickter Lehr- 
kräfte, um dieses verschiedenartige Material richtig ein- 
zufügen. Unter den fast 100 Angestellten bilden mehr 
als die Hälfte das Lehrerkollegium der akademischen 
und praktischen Fächer, die anderen gehören der Ver- 
waltung an. Auch einige Vollblutindianer sind darunter, 
die erst in Carlisle selbst und dann zum Teil auf den 
Universitäten dazu ausgebildet sind (vgl. die Abb. 2 bis 5). 

Angel de Cora — ihr alter indianischer Name ist 
„Ai nom m kti li n kte“, d. h. „Die auf den Wolken in 
Pracht thronende* — ist eine besonders begabte Zeichen- 
lehrerin, die die alten symbolischen Muster ihres Volkes 
vor der drohenden Vergessenheit zu bewahren versucht. 





Elisabeth Penny (Nez-perces-Indianerin). 


Abb. 4. 


Sie lehrt dort zeichnen, malen, weben und flechten und 
bemüht sich auch, die Bedeutung und seltsame Schönheit 
der symbolischen Farben und Zeichen ihren Schülern 
klar zu machen; denn jetzt schon findet man diese einst 
hochentwickelte Kunst in künstlerischer, echt indianischer 
Weise nur noch bei wenigen Stämmen der weit von der 


Zivilisation lebenden Puebloindianer. Angel de Cora 
ist auch literarisch für die Sache ihres Volkes tätig, und 
ihre Aufsätze und Erzählungen sind meist mit eigenen 
Illustrationen geschmückt. Sie ist schon eine ganz be- 
kannte Persönlichkeit auf diesem Gebiet, und ihre Arbeiten 
sind bei den amerikanischen Ethnologen sehr geschätzt. 





Abb.5. Estella Sky (Schwarzfuß-Indianerin), 


Stütze der Vorsteherin im Fremdenhause. 


Auch Elisabeth Penny, eine junge Nez-Perces- 
indianerin (Abb. 4), verspricht für. die Sache ihres Volkes 
viel zu tun. Dieses eigenartige und sehr anziehende 
Mädchen ist besonders für Musik begabt. Sie hat im 
letzten Jahre ihre Bildung in Carlisle abgeschlossen und 
studiert jetzt Musik in Boston, weiß aber noch nicht, ob 
sie nach Abschluß ihrer Studien auf die Reservation 
zurückkehren soll, um dort eventuell als Organistin zu 
wirken, oder ob sie sich der Sammlung und Nieder- 
schreibung alter indianischer Melodien widmen will. 

Als ich die Indianerschule in Carlisle zum ersten 
Male besuchte, war es Frühling, und es herrschte dort 
ein festliches Treiben. Denn schon im April finden in 
Carlisle die Abgangsprüfungen und die damit verbundenen 
Festlichkeiten (commencements) statt. Und auch hier er- 
halten die Schüler nach bestandenem Endexamen feierlich 
ein Diplom überreicht, das ihre Tüchtigkeit beweisen und 
ihnen helfen soll, im Leben weiter zu kommen. 

Einer freundlichen Einladung folgend wohnten wir 
auch der Hauptfeier bei, die in dem großen geschmückten 
Turnsaal vor sich ging. Eine Ouvertüre des Schul- 
orchesters leitete den Festakt ein. Dann folgte die Rede 
des Direktors, der darauf die Diplome verteilte und beim 
Verlesen derselben die Berufswahl verkündete. Es gab 
dieses Mal darunter 2 Bäcker, 3 Kürschner, 3 Schneider, 
4 Schmiede, 4 Klempner, 4 Drucker, 4 Schuhmacher, 
7 Milchwirtschaftler, 10 Tischler; die anderen 22 hatten 
sich für die Landwirtschaft im allgemeinen vor- 
bereitet. 

Auf die Zeugnisverteilung folgte eine Begrüßung und 
Ansprache des Regierungsvertreters aus Washington, der 
den jungen Leuten die Bedeutung ihrer Ausbildung für 
das Leben ihres Volkes auf den Reservationen ans Herz 
legte, und hierauf begann der interessanteste Teil dieser 


48* 


376 


Die Fahrt der holländischen Grenzexpedition auf dem Kaiserin-Augusta-Fluß. 





eigenartigen Feier: Reden und Aufführungen der ab- 
gehenden Indianer. 

Eine junge Oneidaindianerin begann mit den Vor- 
führungen kleinerer Schülerinnen, an denen sie die er- 
lernte Krankenpflege zeigte und erläuterte. Dann sprach 
ein Sioux über seine landwirtschaftlichen Pläne für das 
ihm von der Regierung überwiesene Land. Eine Alaska- 
indianerin folgte mit einem Reigen kleiner Mädchen, der 
die Hausarbeit: Fegen, Scheuern, Staubwischen usw., ver- 
sinnbildlichen sollte. Und nach einer interessanten, frei 
und leicht gesprochenen Rede über alte Sitten ihres 
Volkes von Elisabeth Penny kam ein von ihr einstudierter 
Hochzeits- und Kriegstanz der Nez Perces-Indianer, zu 
denen sie gehört. Andere Nez Perces-Freunde halfen ihr 
dabei und sahen in echten Kostümen von Eltern und 
Großeltern sehr malerisch aus. Mit großer Würde und 
Andacht wurden die streng rhythmischen Bewegungen 
ausgeführt; Nez Perces-Sänger und -Musikanten saßen 
dabei regungslos im Hintergrunde und begleiteten die 
Tanzenden durch seltsames Singen und Spielen auf alten 
Instrumenten. Diese Vorführung war entschieden der 
Höhepunkt, so daß die noch folgenden Reden, Musik- 
vorträge und Deklamationen nicht mehr mit demselben 
Interesse verfolgt wurden. Elisabeth Penny schien sich 
auch besonderer Beliebtheit zu erfreuen, was man an 
dem starken Beifall merken konnte, der dem offiziellen 
Teile der Klassenrede folgte, die man ihr ebenfalls über- 
tragen hatte. 

Ein letzter Orchestervortrag und ein Schlußgebet 
beendeten die hübsche Feier in der Turnhalle, wo sich 
außer dem gesamten Schulkörper ein großes Publikum 
eingefunden hatte: indianische Eltern und alte Freunde 
aus der oft fernen Heimat, neue Freunde und Pflege- 
eltern aus der Umgegend, frühere Schüler und alte 
Lehrer und einzelne fremde Gäste, wie wir. 

Am Abend fand noch eine andere Feier statt, aber 
rein indianischer Natur, wie man mir sagte, wozu nie 
Weiße geladen würden. Die neu Graduierten und die 
Alumnae, die alten Schüler der Anstalt, versammelten 
sich dabei, und nach feierlichem Mahle wurden Reden 
gehalten, wozu im voraus Redner bestimmt waren, die 
besonders über Erfahrungen nach der Schulzeit sprechen 
sollten. Ich hatte gar nicht versucht, davon etwas zu 
hören, bedauerte es aber später, als Elisabeth Penny mir 
sagte, man würde gewiß für mich als Ausländer eine 


Ausnahme gemacht haben und mich trotz meiner weißen 
Haut eingeladen haben. 

Am nächsten Tage fand dann auf dem schönen Sport- 
platze ein öffentliches „Baseballspiel* statt, und dabei 
gab es noch einmal ein schönes indianisches Bild zu 
sehen. Es war ein sehr kalter Tag, so daß ich dankbar 
einen Pelz über meinen Winterrock zog, als wir früh 
hinausgingen, um gute Plätze zu finden und den feier- 
lichen Aufzug von Spielern und ihren Schulgenossen 
nicht zu versäumen. Die Knaben und Mädchen, groß 
und klein, kamen in schmucken Uniformen und blauen 
Kleidern; aber dieses Mal hatten sie darüber noch eine 
leuchtend rote Decke geschlagen, die sie nach Art ihrer 
Altvordern bei der Kälte über die Schultern lang herab- 
hängend trugen. Dann ließen sie sich nieder in dichten 
Reihen und blieben statuenhaft still und unbeweglich 
während der ganzen Dauer des Wettkampfes auf dem- 
selben Platze sitzen. Nur die lebhaften Augen unter 
den dunkeln Haarschöpfen verrieten, daß sie mit der ge- 
spanntesten Aufmerksamkeit das Spiel der beiden Parteien 
verfolgten, das die besten Spieler von Carlisle gegen weiße 
Schüler aus Philadelphia spielten. 

Ich habe später auch einmal die berühmten „Fuß- 
ballspieler“ von Carlisle gegen Harvards bekannte „Sieben“ 
spielen und gewinnen sehen und muß gestehen, daß ich 
niemals ein solches Laufen, Rennen, nein Fliegen von 
einem Menschen, nicht einmal einem Indianer, für 
möglich gehalten hätte, wie es damals Fr. Mount Pleasant, 
ein Pueblo, fertig brachte, der einer der Carlislespieler 
war. Er zeigte sich an jenem Tage als echter Abkömm- 
ling jener kühnen Jäger, die das Wild am liebsten im 
Fluge erbeuteten. Aber für uns, für alle, die es sahen, 
erschim es wie ein Wunder, das merkte man an der 
atemlosen Spannung der vieltausendköpfigen Menge und 
dem wilden Beifallssturm nachher, obwohl das Spiel 
Carlisle gegen Harvard den Sieg brachte, was bis dahin 
noch nie vorgekommen war. 

Auch dieses Mal siegten die roten Spieler, und der 
triumphierende Schrei der Indianer erscholl wie in alten 
Zeiten der Warhoop, den übrigens in den verschiedensten 
Variationen alle amerikanischen Universitäten, selbst die 
Frauenhochschulen übernommen haben, und dessen frene- 
tische Wildheit und Echtheit bei der Wiedergabe zumal 
durch weiße Amerikanerinnen schon oft europäische Be- 
sucher in Schrecken und gerechtes Erstaunen versetzt hat. 





Die Fahrt der holländischen Grenzexpedition auf dem Kaiserin-Augusta-Fluß. 


Wie oben (8.227) mitgeteilt, wurde dem Vordringen 
sowohl der deutschen wie der niederländischen Abteilung 
der Grenzkommission auf Neuguinea von der Humboldt- 
bai landeinwärts etwa unter 30 20’ s. Br. ein Ziel gesetzt), 
worauf sie den Versuch zu machen beschloß, auf dem 
‚Kaiserin-Augusta-Fluß nach Westen das Grenzgebiet am 
141.Meridian zu erreichen. An jenem südlichsten Punkte, 
bei Kerom, war man auf ein Gebirge gestoßen, das für 
die Wasserscheide zwischen den Küstenflüssen und den 
großen Flüssen des Innern gelten konnte, und ebenso 
auf einen von jenem Gebirge kommenden Fluß, der nach 
Südosten zog und möglicherweise — das war wenigstens 
die Ansicht der Holländer — zum Augustafluß gehörte, 
und deshalb lag die Vermutung nahe, daß man unter 
Benutzung des Augustaflusses bequemer ins Grenzgebiet 





!) Eine Kartenskizze der Routen während dieser Land- 
expedition hat mit anerkennenswerter Schnelligkeit die 
„Tijdschr. Nederl. Aardrijksk. Gen.“ (1910, Karte XXII) ge- 
bracht. 


gelangen könnte, als auf dem höchst beschwerlichen 
Landwege. 

Die Fahrt ist nun im Juli d. J. durch die hollän- 
dische Abteilung ausgeführt worden, und sie ist dabei 
in der Tat über den Grenzmeridian hinausgelangt. Es 
liegen darüber bereits Berichte in den niederländisch- 
indischen Zeitungen vor, die zeigen, daß unser Wissen 
vom Augustafluß über den bis dahin erreichten fernsten 
Punkt hinaus erheblich erweitert worden ist. 

Ausgeführt wurde die Reise durch holländische Marine- 
mannschaften unter dem Befehl des Leutnants zur See 
F. L. Rambonnet, des Kommandanten des holländischen 
Kanonenbootes „Edi“, und zwar mit dem kleinen Dampfer 
„Pionier“, den eine Dampfschaluppe und einige Prauen 
mit 20 Papuas aus Manokwari begleiteten. Der „Edi“ 
blieb vor der Mündung des Augustaflusses liegen. Am 
2. Juli begann die Stromfahrt. 

Am 8. Juli, also am sechsten Tage, begannen 
Schwierigkeiten. Der Fluß verteilte sich in eine Anzahl 





Die Fahrt der holländischen Grenzexpedition auf dem Kaiserin-Augusta-Fluß. 


377 





von Armen, die sich weiter oberhalb wieder vereinigten, 
und deren niedriger Wasserstand die Fahrt für den 
Dampfer erschwerte. Sie wurde auch durch Baumstämme 
im Flusse behindert, und schließlich geriet der Dampfer 
auf Grund. Diese Stelle lag nach der Berechnung unter 
141° 51’ ö. L. und 4°20’ s. Br., also an dem fernsten 
bisher auf dem Flusse erreichten Punkt. Hier blieb der 
„Pionier“ zurück, und die Fahrt wurde nur mit der Scha- 
luppe und den Prauen fortgesetzt. 

Am ersten Tage ward wenig von der Bevölkerung 
wahrgenommen, am zweiten schnell an einigen Dörfern 
vorbeigefahren. Die Häuser waren groß und hatten ebenso 
wie jene am oberen Digul (im südlichen Holländisch- 
Neuguinea) zwei Stockwerke, von denen das obere als 
Wohnung, das untere als Vorratskammer diente. Die mit 
Bogen und Pfeil bewaffneten Eingeborenen versteckten 
sich beim Vorbeifahren der Schaluppe hinter Bäumen und 
bewahrten offenbar eine abwartende Haltung. Ein eigen- 
artiger Zufall wollte es dann, daß man infolge einer 
riesigen Schleife des Flusses am Abend wieder vor dem- 
selben Dorfe — das also auf einer Art Halbinsel lag — 
sich befand. Hier wurde die Nacht verbracht. Am folgen- 
den Morgen erschien eine stets sich vermehrende Menge, 
die einen drohenden Kriegstanz auf der Sandbank voll- 
führte, auf der biwakiert worden war. Ein paar Schreck- 
schüsse aber bewirkten, daß die kampflustigen Schwarzen 
das Hasenpanier ergriffen. 

Anderen Tages erreichte man ein Dorf, dessen Be- 
wohnerschaft zuerst ebenfalls eine abwartende bewaffnete 
Haltung einnahm, am Abend aber nach einigem Schwanken 
Pfeil und Bogen ablegte und ins Biwak kam, wo sich 
dann ein Tauschhandel entwickelte. Die hier vorhandenen 
großen Flußschleifen bewirkten, daß die Expedition nur 
langsam gegen Westen vorrückte. Einige Male bot sich 
eine prächtige Aussicht auf das Hochgebirge, das sich 
schätzungsweise bis zu 3000 m erhob. Von ihm kam 
eine Anzahl von Bächen herunter, die das Volumen des 
Flusses merkbar vermehrten. Am sechsten Tage nach 
dem Verlassen des „Pionier“ (14. Juli) stieß man auf 
ein stark bevölkertes Dorf, wo auch alles die Waffen 
ergriffen hatte. Enge aneinander, sechs bis sieben Glieder 
tief, standen hier die Männer vor dem größten Hause, 
um die auf dem Flusse fahrenden Fremdlinge zu beob- 
achten. In den Händen hielten sie große Pfeilbündel, 
schienen aber nicht angriffslustig zu sein. Indessen 
waren doch Frauen und Kinder bemüht, ihre wenigen 
Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen. Sobald die 
Papuas aber bemerkten, daß die Fremden rasch vorüber- 
fuhren, liefen sie ihnen nach und bestürmten sie mit 
Fragen, die diese weder verstehen noch beantworten 
konnten. Nicht überall jedoch nahm die Bevölkerung 
eine solche Haltung ein. Höher aufwärts kam es vor, 
daß sie beim Passieren ihrer Dörfer sich sofort feindselig 
zeigte und sich anschickte, die Reisenden mit Pfeilen 
zu beschießen. Dann ward gewöhnlich ein Schuß auf 
einen Baum abgegeben, der sogleich die gewünschte Wir- 
kung tat. In einem anderen Falle wiederum war die 
Bevölkerung ausgesprochen freundlich gestimmt und 
zeigte sich über die Ankunft der Fremdlinge sehr erfreut. 

Schnellen behinderten die Reise nicht; der Fluß schien 
eine geringere Kraft zu haben ‚als der Mamberamo im 
Nordwesten von Holländisch-Neuguinea, wo der „Pionier“ 
vorher der Herderscheeschen Expedition gedient hatte. 
Nur hatte man viel Mühe und Aufenthalt mit den in der 
Fahrtrinne liegenden Baumstämmen. Höher flußaufwärts 
wurde die Strömung merklich stärker, auch Stromschnellen 
traten auf. Das Fahrwasser blieb indessen 6 bis 7 Fuß 
tief. Am achten Tage nach dem Verlassen des „Pionier“ 
(16. Juli) war es schon sehr schwer, die Schaluppe noch 

Globus XCVIII. Nr. 24. a 


ein Stück weiter zu bekommen, und am folgenden Morgen 
ergab die Untersuchung, daß das Wasser für dieses Fahr- 
zeug zu flach wurde. Es stellte sich später heraus, daß 
man am Tage vorher den Grenzmeridian überschritten 
hatte. Da man damals aber dessen noch nicht sicher 
war, beschloß Rambonnet, den Fluß noch mit den Prauen 
ein paar Tage weiter zu verfolgen, und ließ die Schaluppe 
unter Bewachung zurück. In den Prauen befanden sich 
außer dem Führer der Seekadett Willemstijn, noch zwei 
Europäer und 13 Papuas. Der Fluß hatte hier, auf 
holländischem Gebiet, eine zwischen 50 und 80 m schwan- 
kende Breite. Am zweiten Tage der Praufahrt wurden 
wieder Flußschleifen angetroffen; auch sah man einige 
Wohnhäuser, die aber leer zu sein schienen. Die Ein- 
geborenen beschossen aus ihren Verstecken die Prauen 
mit Pfeilen, während die Trommeln geschlagen wurden. 
Während des Aufenthalts auf einer Sandbank entwickelte 
sich sogar ein kleines Gefecht, bei dem die Weißen eine 
Salve abgeben mußten. 

Tags darauf (19. Juli) wurde die Rückreise angetreten. 
Als man an den am vorigen Tage anscheinend unbewohnt 
angetroffenen Hütten wieder vorbeikam, waren sie besetzt, 
und es näherte sich nun den Reisenden im langsamen 
Leichenträgerschritt eine Gruppe mit Bogen und Pfeil 
bewaffneter Eingeborener und legte die Waffen vor sich 
nieder. Keine Spur von Feindseligkeit war mehr zu be- 
merken; auch Frauen und Kinder kamen zum Vorschein. 
Es wurde mit den Feinden von gestern Tauschhandel 
getrieben und mit ihnen auf dem besten Fuße verkehrt. 
Ein Schwarzer wies auf die Gewehre und gab durch eine 
Geste seinen Abscheu davor zu erkennen. Die Talfahrt, 
auch mit der Dampfschaluppe, verlief glücklich, und die 
Bevölkerung begrüßte die Weißen nun überall freundlich. 
Der „Pionier“ und später der „Edi“ wurden sicher er- 
reicht, und die Dampfer langten am 5. August wieder 
in der Humboldtbai an. 

Durch diese Fahrt war bewiesen worden, daß der 
Augustafluß sich zum Erreichen der Grenze gut eignet. 
Allerdings hat es sich herausgestellt, daß der bei Kerom 
gefundene Fluß nicht zum Augustafluß gehört. Wie 
nämlich der Leutnant zur See Luymes von Ende August 
berichtet, hat er jenseits Kerom eine gleichmäßig bis auf 
200m sich senkende Hochfläche erreicht und durch die 
Verfolgung des Keromflusses auf einer Strecke von 96 km 
ermittelt, daß dieser zum Schluß eine westliche Richtung 
anzunehmen schien; er wird also vielleicht zum Mam- 
beramosystem gehören, was auch schon die deutschen 
Kommissionsmitglieder vermutet hatten (vgl. Bd. 98, 
S. 227 die Notiz über die Grenzexpedition). 

Der Schnittpunkt des Augustaflusses mit dem Grenz- 
meridian ist vermarkt und kann als Ausgangspunkt für 
künftige Landreisen dienen. Über die geographische 
Breite dieses Punktes ist bisher nichts Genaues bekannt 
geworden, nur die Angabe, er läge 100 km von der eng- 
lischen Grenze; er wird also etwas südlich vom 4. Breiten- 
grad zu suchen sein. Die gemischte Kommission wollte 
Mitte August von neuem die Bergfahrt auf dem Augusta- 
fluß antreten, aber Mitte November zurückkehren, da 
die Regenzeit dann doch weitere Arbeiten unmöglich 
machen würde („Deutsches Kolonialbl.“ 1910, S. 836). 
Zunächst sollte von jenem Schnittpunkte aus die Grenze 
südwärts bis zum 5. Breitengrad, also bis zur englischen 
Grenze, bereist werden. Die Eingeborenen am obersten 
Lauf des Augustaflusses hatten noch keinen Weißen ge- 
sehen und müssen darum noch ganz ursprüngliche Zu- 
stände zeigen, deren Studium von großem Interesse wäre. 
Da sie sich freundlich zeigten, müßte wohl dieses Studium 
möglich sein; aber es ist sehr fraglich, ob die Grenz- 
expedition sich ihm widmen wird und kann. 


49 





378 


Michaelsen: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes. 





Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes. 


Eine Erwiderung von Dr. H. Michaelsen. 


Meine Studie über die Kalkpfannen des östlichen 
Damaralandes!) hat durch Herrn Prof. Dr. S. Passarge, 
Professor der Geographie am Hamburgischen Kolonial- 
institut, eine so eingehende kritische Würdigung?) er- 
fahren, daß ich mir nicht versagen darf, dazu Stellung 
zu nehmen. 

Vorher seien mir einige orientierende Bemerkungen 
gestattet. 

Herr Passarge kennt das Damaraland nicht. 
Er hat es nur an seinen Grenzen flüchtig, z. B. bei Go- 
babis und Rietfontein, berührt. Dennoch schreibt er in 
seinem groß angelegten Kalahariwerke3), daß die Kalk- 
pfannen des Damaralandes anders sind, als die des 
Chansefeldes, die er besonders studiert hat, da sie einem 
Typus angehören, der dort „nur einmal angetroffen 
wurde“. Herr Passarge stützt sich hierbei nicht auf 
eigene Beobachtungen, sondern auf Mitteilungen 
von Ärzten und Offizieren. Trotzdem baut er auf 
diesen Grundlagen ein ganzes Gebäude von Hypothesen 
auf („Kalahari“, S. 371). Männer aber, die nicht direkt 
zum Fache gehören, pflegt Herr Passarge als „Laien“ 


Auflösung des Kalks 
| in Trümmer 





Sands 
Kalk 


Skizze zur Elementarregel geologischen Beobachtens. 


zu bezeichnen. Im Schlußworte zu seiner kritischen 
Studie sagt er über die Mitarbeit solcher „Laien“ in 
der Geomorphologie: „Geradezu verhängnisvoll muß 
daher eine Richtung werden, der bereits die Beobach- 
tungen eines Laien ohne geologische und petrogra- 
phische Kenntnisse über so schwierige und wenig be- 
kannte Gebilde, wie es die Kalkpfannen zweifellos sind, 
als eine genügende Grundlage für eine in weitgehenden 
Hypothesen schwelgende geomorphologische Arbeit er- 
scheinen.“ Diese Bemerkung richtet Herr Passarge 
offenbar an meine Lehrer, die mich ermutigt haben, 
meine Feldzugsbeobachtungen zu publizieren. Er macht 
ihnen einen Fehler zum Vorwurf, den er selbst begangen 
hat. Das ist um so peinlicher, da Herr Passarge falsch 
unterrichtet ist, wenn man ihm mitteilte, daß die Kalk- 
pfannen des Damaralandes keine „Krater“ haben, 
wie er sie allgemein im Chansefelde angetroffen hat. 
Ich habe in meiner Arbeit zeigen können, daß auch hier 
solche „Krater“ vorhanden sind. Damit aber werden 
alle Erörterungen, die Herr Passarge an ihr vermeint- 


1!) Dr. H. Michaelsen, Die Kalkpfannen des östlichen 
Damaralandes. Mitteilungen aus den deutschen Schutz- 
gebieten, Bd. XXIII (1910), Heft 3, 8. 111—134. 

*) Prof. Dr. 8. Passarge, Die Kalkpfannen des östlichen 
Damaralandes. Eine kritische Studie. Globus, Bd. XCVIII 
(1910), Heft 14, 8. 216—222. 

*) Prof. Dr. 8. Passarge, Die Kalahari. Versuch einer 
physisch-geographischen Darstellung der Sandfelder des süd- 
afrikanischen Beckens. Berlin 1904, 









Hamburg. 


liches Fehlen knüpft, hinfällig. Zugleich habe ich ge- 
zeigt, daß Herrn Passarges Erklärung von dem zoogenen 
Ursprung der Pfannenkrater für die Kalkpfannen des 
Damaralandes nicht zutrifft. Das muß man wissen, um 
die kritische Studie von Herrn Passarge „richtig ein- 
schätzen zu können“, denn hieraus mag sich der sonst 
kaum übliche Ton, in dem sie gehalten ist, erklären. 

Herr Passarge macht mir zunächst den Vorwurf, daß 
ich meine Anschauungen über die Kalkpfannen „erst 
nachträglich unter dem Einflusse“ meiner „späteren geo- 
graphischen Studien“ gewonnen habe. Ich soll mich 
früher einmal anders über die Entstehung der Kalk- 
pfannen geäußert haben, als heute: Wirbelstürme hätten 
die Pfannen ausgekolkt und die „Kalksteinblöcke 
herausgeschleudert“. Herr Passarge spielt hier 
offenbar auf einen nicht öffentlichen Vortrag 
an, den ich 1906, als ich meine geomorphologischen 
Studien begann, im geographischen Colloquium des 
Herrn Prof. E. v. Drygalski in München gehalten habe. 
Ich muß auf das nachdrücklichste betonen, daß meine 
an Ort und Stelle gewonnenen Vorstellungen nie- 
mals so „gewalttätiger Natur“ (vgl. 
Globus, S. 212) gewesen sind, wie Herr 
Passarge glauben machen will. Herr 
Passarge, der nicht bei dem Vortrage 
zugegen war, ist auch hier offenbar 
wieder nicht ganz richtig orientiert, 
so daß die Voraussetzungen, mit denen 
er an die Besprechung meiner Arbeit 
gegangen ist, hinfällig sind. Die 
Fundamente meiner Anschauungen 
über die Entstehung der Kalkpfannen 
sind in Afrika gelegt worden. Ich 
habe bereits an Ort und Stelle erkannt, 
daß es sich um lokale Kalkablage- 
rungen handelt, durch welche das ur- 
sprüngliche Wasserbecken nicht ganz aufgefüllt worden 
ist. Spätere Studien haben diese Vorstellungen selbst- 
verständlich erweitert und begründet. Es gereicht 
mir zur Genugtuung, gleiches auch bei Herrn Passarge 
feststellen zu können. Auch er hat seine Anschau- 
ungen seit seiner Rückkehr aus Afrika, ja selbst seit 
Herausgabe seines Kalahariwerkes weiter ausgebaut. 
Er gibt in seiner kritischen Studie eine Erklärung der 
Trümmerzone, die er früher nicht hatte, und ist zur Er- 
klärung der Röhrenstruktur des Kalktuffes geneigt, eine 
„starke selbstreinigende Kraft des in Umlagerung be- 
griffenen Kalkes“ anzunehmen, die er nach seiner eigenen 
Aussage früher nicht gekannt hat. 

Nun zu den Einwürfen, die Herr Passarge mir gegen- 
über geltend macht. Ich werde sie, soweit sie sachlich 
sind, in der Reihenfolge besprechen, deren er sich be- 
dient hat. 


I. Die Unsicherheit in der Angabe der Größen- 
verhältnisse. 

Herr Passarge findet Unstimmigkeiten zwischen 
meinen Zeichnungen und meinen Angaben über die 
Größenverhältnisse der Kalkpfannen, die ich absichtlich 
in keinem einzigen Falle „bestimmt“ gemacht habe, wie 
er angibt. 

In einer Tabelle stellt er die Angaben meines 
Textes den Werten gegenüber, die er mit dem Milli- 
metermaß aus meinen schematischen Blockdiagram- 


Michaelsen: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes. 


379 





men) herleitet. Diese Differenzen bestehen tatsächlich; sie 
erklären sich in sehr einfacher Weise dadurch, daß ich auf 
meinen Öriginalzeichnungen bereits den Maßstab an- 
gegeben hatte, den das Klischee nach der Reduktion haben 
sollte. Der Photograph hat meine Angaben geändert, 
und ich habe dies leider bei der Korrektur übersehen. 
Auch ein anderer offensichtlicher Druckfehler ist von 
mir übersehen. Nachdem ich bei der Beschreibung des 
Pfanneninneren von Okateitei seinen Durchmesser zu 
„etwa 200 m“ angebe, sage ich einige Zeilen weiter: 
„Zwischen dem Schlickkuchen und dem Fuße des senk- 
rechten Kalkabfalles trat ein etwa 100 m breiter Streifen 
festen Gesteins zutage.“ Es muß natürlich heißen: „ein 
etwa 10m breiter Streifen“. Ich bedauere lebhaft, daß 
ich diesen Druckfehler, der einem aufmerksamen Leser 
wohl leicht als solcher auffallen dürfte, bei der eiligen 
Korrektur, welche damals nötig war, nicht bemerkt habe. 
Eine kleine Bemerkung möchte ich mir noch ge- 
statten. Herr Passarge stellt meine Blockdiagramme 
mit Nachdruck als „topographische Grundlagen“ hin. 
Das ist ein Irrtum. Sie sind weiter nichts als ein 
Hilfsmittel, dem Leser die tatsächlichen Verhältnisse 
möglichst augenfällig klar zu machen und seine Vor- 
stellungen wirksam zu unterstützen. Nur zu diesem 
Zwecke und nur in diesem Sinne habe ich meiner Arbeit 
einige Blockdiagramme beigegeben, welche ich nach 
einigen flüchtigen Skizzen in ganz schematischer Weise 
gezeichnet habe. (Michaelsen, Kalkpfannen, Fig. 1.) 


I. Die Hypothese von dem Auskeilen des Kalkes. 


In diesem Abschnitt erörtert Herr Passarge unsere 
verschiedenen Auffassungen von dem Verhältnis des 
Kalkes der Pfannen zu dem umgebenden Sande. Nach 
meinen Beobachtungen keilt sich der Kalk am Saume 
der Pfannen aus. Herr Passarge hat dagegen heute 
die Überzeugung, daß der Kalk sich im Chansefelde 
nicht auskeilt, sondern unter dem Sande fort- 
streicht. Herr Passarge überträgt nun diese Auf- 
fassung ohne weiteres auf die Kalkpfannen des Damara- 
landes, die er nie gesehen hat. 

Meine Auffassung stützt sich im wesentlichen darauf, 
daß der Kalk sich am Rande der Pfannen in Trümmer 
auflöst. Eine Elementarregel der Aufnahmegeologie sagt 
nämlich: Wenn von zwei flach übereinander ge- 
schichteten Ablagerungen sich die eine an der 
Grenze gegen die andere in Bruchstücke auflöst, 
so ist diese als das Hangende anzusehen (vgl. die 
Figur). Daher war ich nie im Zweifel, daß die Kalk- 
ablagerungen das Hangende des Sandes bilden und sich 
auskeilen. Ich darf hier vielleicht daran erinnern, daß 
es auch im Damaralande Fälle gibt, wo der Sand tat- 
sächlich über den Kalk hinweglappt. Es handelt sich 
dabei um Verwehungen des Sandes, die ich in meiner 
Arbeit beschrieben habe (Michaelsen, Kalkpfannen, S.119, 
120). Diese Angaben dürften klar genug zeigen, daß 
ich von Fall zu Fall zu entscheiden gesucht habe, was 
das Hangende ist, ob Sand oder Kalk. 

Herr Passarge glaubt die eben angeführte Elementar- 
regel des geologischen Beobachtens nicht beachten zu 
dürfen. Er sucht die Trümmerzone am Saume aller 
Kalkpfannen daher mit der Annahme zu erklären, daß 
die nach Wasser suchenden Wurzeln der hohen Bäume 
in der Umgebung der Pfannen den Kalk unter der dünnen 
Sandschicht zerbrechen. 

Diese Erklärung erscheint mir um so weniger plau- 
sibel, als Herr Passarge uns den Beweis für seine Auf- 








+) Herr Passarge nennt sie „Reliefquadranten“, obgleich 
das Davissche Wort „Blockdiagramm“ sich bereits in unserer 
Wissenschaft eingebürgert hat. 


fassung schuldig bleibt. Ich kann nicht glauben, daß 
die hohen Bäume gerade da Wurzeln fassen sollen, wo 
die Sandschichten nach Herrn Passarge ihre geringste 
Mächtigkeit haben. Ebensowenig vermag ich eine Vor- 
stellung darüber zu gewinnen, warum die hohen Bäume 
nicht auch an anderen Stellen die harte Sinterkalkschicht 
durchbrechen, wo ihre Wurzeln dank der mächtigeren 
Sandauflagerung bereits kräftiger entwickelt sein könnten, 
zumal Herr Passarge in seiner „Kalahari“ (S. 287) selbst 
sagt: „Es ist nun sehr wohl möglich, daß ein Teil des 
»harten Sinterkalks« eine solche Oberflächenbildung ist, 
unter der vielleicht noch Tuff liegt.“ 

Viel wahrscheinlicher kommt es mir aber vor, daß 
die hohen Bäume in dem tiefen Sande der Pfannen- 
umgebung, wie ich ihn annehme, gedeihen und daß sie 
deshalb in möglichster Nähe der Pfanne und oft auch 
innerhalb ihrer Trümmerzone Wurzel fassen, weil sie 
hier dem Grundwasser am nächsten sind. Dabei ist es 
ganz selbstverständlich, daß der wachsende Baum größere 
oder kleinere Kalkplatten „aufrichtet“, wie Herr Passarge 
es im Chansefeld beobachtet hat. 

Herr’ Passarge erwartet auch bestimmte Erosions- 
erscheinungen am Pfannenrand durch etwaige Riviere. 
Diese Auffassung vermag ich durchaus nicht zu teilen. 
Das Rivier, das in eine Pfanne mündet, erreicht in ihr 
seine Erosionsbasis, wo bekanntlich keine Erosion mehr 
stattfinden kann. Damit entfällt die Möglichkeit, aus 
Erosionserscheinungen auf die Lagerungsverhältnisse von 
Kalk und Sand zu schließen. In der Tat habe ich auch 
niemals Einschlägiges beobachten können. 

Herrn Passarges Ausführungen entkräften also 
meine Auffassung von der Lagerung des Kalkes auf 
dem Sande nicht, und gänzlich haltlos sind seine Schluß- 
worte zu diesem Punkte (Globus, S. 219): „Die Hypothese 
von dem Auskeilen des Kalkes ist also gänzlich un- 
begründet und ohne sie die Entstehung der Trümmer- 
zone viel einfacher zu erklären.“ 


II. Der Gegensatz zwischen der Beschreibung 
und der Zeichnung derKalkpfanne von Okateitei. 


Herr Passarge sagt: „Die stratigraphische Beschreibung 
der Kalkpfanne Okateitei steht in einem Punkte von ent- 
scheidender Wichtigkeit im schroffen Gegensatz zu der 
Zeichnung und den Hypothesen.“ Hier muß ich Herrn 
Passarge beipflichten. Meine Bemerkung auf Seite 116, 
daß die schneeweiße harte Kalkkruste des Pfannen- 
innern ebenfalls unter die randlichen Ablagerungen 
untertaucht, steht tatsächlich in vollem Gegensatz nicht 
nur zu meiner Zeichnung und meiner Hypothese, son- 
dern auch — und das vergißt Herr Passarge in 
seiner kritischen Studie zu sagen — zu meinen 
Beobachtungen und den Beschreibungen, die ich von 
anderen Pfannen gegeben habe. Hier liegt ein Lapsus vor, 
der bei der immer wieder kürzenden Umarbeitung meiner 
Studie entstanden sein muß. Es dürfte aus dem ganzen 
Zusammenhang klar hervorgehen, daß es an der betreffen- 
den Stelle heißen muß, daß die schneeweiße Kalkkruste 
keinenfalls unter die randlichen Ablagerungen unter- 
taucht. In der ursprünglichen Niederschrift, welche der 
Philosophischen Fakultät der Universität Berlin als 
Dissertation vorgelegen hat, findet sich dieser sinn- 
entstellende Lapsus selbstverständlich nicht. In meinen 
Originalaufzeichnungen lautet diese Stelle wie folgt: 
„Pfanneninneres zum Teil ausgefüllt mit Schlickkuchen. 
Am Fuße des fast senkrechten Abfalles kommt festes 
Gestein, etwa 10 m, zutage. Im Norden dunkel ge- 
färbt, die randlichen Ablagerungen der Pfanne lagern 
darauf. Sonst überall glänzend weiß gefärbt. Aus 
Brunnenloch ist Profil ersichtlich. Danach geht weicher 


49* 


380 


Michaelsen: Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes. 





Tuff in harte Kruste über. Oberflächenkruste Zu 
unterst liegt der harte dunkle Kalksandstein, der im 
Norden zutage tritt; scheint also. überall unter dem 
Tuff zu liegen. Randliche Tuffablagerung unterscheidet 
sich vom zentralen nur durch Auftreten zahlreicher senk- 
rechter Röhren, die offenbar ein senkrechtes Abbrechen 
begünstigen. Am Rand ebenfalls allmähliches Übergehen 
des weichen Tuffs in harte Oberflächenkruste von 40 bis 
50cm Dicke. In den Röhren manchmal Schilfreste, die 
ein Bild von der Entstehung des Ganzen geben“ usw. 

Es geht daraus klar hervor, daß ich die weiße harte 
Kalkkruste bereits in Afrika als Oberflächenbildung auf- 
gefaßt habe. Von einem Untertauchen derselben ist 
nirgends die Rede. Es handelt sich also, wie ich noch- 
mals betone, und wie es auch aus dem ganzen Zusammen- 
hang hervorgeht, um einen Lapsus. 


IV. Die Ablagerungen der Kalkpfannen. 


Bevor ich mich den Einwürfen zuwende, welche Herr 
Passarge zu diesem Punkte macht, möchte ich zunächst 
auf eine andere mehr formale Frage zu sprechen kommen. 
Herr Passarge sagt: „Herr Michaelsen hat nun zwar 
nachträglich aus der »Kalahari« Bezeichnungen, wie 
Pfannensandstein, Pfannenkalktuff, Sinterkalk und Sinter- 
struktur entlehnt“. Von einem „Entlehnen“ — der Aus- 
druck hat eine nicht mißzuverstehende Spitze — kann 
aber durchaus nicht die Rede sein. 

Ich darf vielleicht bemerken, daß ich die Bezeichnung 
„Pfannenkalktuff*“ in meiner Arbeit nur ein einziges 
Mal (S. 122) gebraucht habe. Aber ich brauchte mich, 
glaube ich, gar nicht zu scheuen, den typischen Kalktuff 
meiner Pfannen auch „Pfannenkalktuff“ zu nennen, 
selbst, wenn es nicht dasselbe sein sollte, was Herr Pas- 
sarge im Chansefeld „Pfannenkalktuff“ genannt hat, und 
obgleich ich keine Proben aus seiner Sammlung) ge- 
sehen habe, worauf Herr Passarge aufmerksam 
macht. 

Den Ausdruck „Pfannensandstein* aber habe ich mit 
ausdrücklicher Quellenangabe übernommen, weil 
es „nicht unwahrscheinlich“ ist, daß die von mir so be- 
nannte Ablagerung mit der Bildung identisch ist, welche 
Herr Passarge aus dem Chansefelde beschrieben hat 
(s. Michaelsen, Kalkpfannen, S. 124). 

Ich halte es wirklich für besser, gute und brauch- 
bare Bezeichnungen älterer Forscher mit ausdrücklicher 
Quellenangabe zu übernehmen, als den bereits fast un- 
durchdringlichen Wust der geographisch-geologischen 
Nomenklatur mit neuen Ausdrücken zu bereichern. Dazu 
ist man aber in dem Fall berechtigt, wenn die bisher ge- 
bräuchlichen Bezeichnungen schlecht oder falsch sind. 
Dies gilt von den von Herrn Passarge in seinem Kalahari- 
werke geprägten Wörtern „Pfannenkrater“, „Geröllzone“, 
„Pfannenboden“ usw. Sie erfüllen nicht die Forderungen, 
die man in der Wissenschaft an die Einsinnigkeit der 
Begriffe stellen muß. Daher hielt ich mich für ver- 
pflichtet, diese Bezeichnungen richt nur nicht zu „ent- 
lehnen“, sondern durch bessere zu ersetzen. 

„Pfannenkrater“ z. B. ist eine Verbindung zweier 
— ich möchte fast sagen — paradoxer Begriffe. Das Wort 
„Krater“ löst stets beim Geologen die Vorstellung von 
irgend einem Eruptionsvorgang aus, so daß man sich 
über die Eindeutigkeit des Begriffes freuen und ihn nicht 
durch andere Vorstellungen verschleiern sollte. Ich habe 
daher an Stelle von „Pfannenkrater“ den Ausdruck 


*) Im übrigen ersehe ich aus der „Kalahari“, daß alle 
Handstücke aus dem Ühansefelde verloren ge- 
gangen sind („Kalahari‘, 8.281, 282). Es wäre mir also 
kaum möglich gewesen, Proben aus Herrn Passarges Samm- 
lung zu sehen, die für mich in Betracht kamen. 


„Pfanneninneres“ gewählt und glaube damit keinerlei 
falsche Vorstellungen erweckt zu haben. 

Ebenso habe ich den von Herrn Passarge geprägten 
Ausdruck „Geröllzone“ geprüft und verworfen. Ge- 
röll ist stets etwas, was gerollt ist. Die Kalk- 
brocken der Trümmerzone sind aber nicht gerollt; sie 
sind stets eckig. Es sind daher typische Trümmer. 
So scheint es auch im Chansefeld zu sein; wenigstens 
beschreibt Herr Passarge hier die Dinge nicht anders, als 
ich sie im Damaraland gesehen habe. Es erfüllt mich 
daher mit Genugtuung, daß Herr Passarge die sinn- 
störende Bezeichnung „Geröllzone“ in seiner kritischen 
Studie vermieden hat. Ich habe diesen Ausdruck durch 
„Trümmerzone“ ersetzt. 

Endlich habe ich den Ausdruck „Pfannenboden* 
durch „Pfannenuntergrund“ ersetzt. Herr Passarge be- 
zeichnet mit „Pfannenboden“ in der Regel den Boden der 
Hohlform, in die sich die Kalkablagerungen der Pfanne 
niedergeschlagen haben. Wenn wir aber die heutige 
Form „Kalkpfanne“ nennen, wie es Herr Passarge auch 
tut, so empfinde ich dies als logischen Fehler. Der 
„Pfannenboden“ von Herrn Passarge ist das, was ich 
„Pfannenuntergrund“ nenne, und mein „Pfannenboden“ 
ist das, was der Name sagt: der Boden der heutigen 
Pfanne. 

Was aber schließlich die Ausdrücke „Sinterkalk* und 
„Sinterstruktur“ anbelangt, die ich gleichfalls von Herrn 
Passarge „entlehnt“ haben soll, so brauche ich nur dar- 
auf aufmerksam zu machen, daß dies alte und fest- 
stehende Begriffe sind. Man findet sie in jedem Lehr- 
buch der Geologie. 

Der eigentliche Differenzpunkt dieses Abschnittes 
zwischen Herrn Passarge und mir liegt aber in dem Vor- 
wurf, daß ich das Wesen der Röhrenstruktur des Kalk- 
tuffs nicht richtig erkannt haben soll. Herr Passarge be- 
anstandet zunächst, daß ich von einem Parallelismus der 
Röhren spreche. Da er aber in seinem Kalahariwerke 
häufig genug sagt, daß die Röhren „senkrecht“ und „ver- 
tikal“, also auch parallel zueinander verlaufen, so darf 
ich wohl sagen, daß ich ebensowenig mathematisch 
parallel gemeint habe, wie Herr Passarge mathematisch 
„senkrecht“ und „vertikal“. 

Dann legt Herr Passarge Gewicht darauf, daß die 
Röhren .primär von Sand erfüllt gewesen seien, 
während sie nach meiner Anschauung von Schilfstengeln 
herrühren. Ich kann es aus dem Damaralande nicht 
bestätigen, daß die Sanderfüllung für die Röhrenbildung 
im Kalktuff maßgebend ist. Vielmehr habe ich mehrfach 
gesehen, daß Schilfreste in den Röhren erhalten sind. 
Daher glaube ich, daß die Entstehung der Röhrenstruktur 
sich viel ungezwungener durch die Annahme erklären 
läßt, daß der Kalk sich um die Schilfstengel und Wurzeln 
abgelagert hat, als durch die „starke selbstreinigende 
Kraft des in Umlagerung begriffenen Kalkes“, von der 
Passarge jetzt redet, ohne diese eigenartige Theorie durch 
Tatsachen zu belegen. Meine Beobachtungen dagegen 
werden von dem Regierungsgeologen Dr. P. Hermann £) 
bestätigt. Er sagt mehrfach bei der Beschreibung von 
Kalkpfannen des Damaralandes: „Harter Kalktuff, basal 
mitSchilfwurzelresten“. Ich glaube daher an meiner „Schilf- 
theorie“, wie Herr Passarge sagt, festhalten zu müssen. 


V. Die Hypothese von der primären Pfannenform. 


In diesem Abschnitte erörtert Herr Passarge den 
springenden Punkt. Während ich auf Grund meiner Unter- 


°) Dr. P. Hermann, Beiträge zur Geologie von Deutsch- 
Südwestafrika. I. Die geologische Beschaffenheit des mitt- 
leren und nördlichen Teiles der deutschen Kalahari. Zeit- 
schrift für praktische Geologie, Bd. XIII (1909), Heft 9, S. 386. 


Michaelsen: 


Die Kalkpfannen des östlichen Damaralandes. 381 





suchungen im Damaralande die Auffassung vertrete, daß 
das Pfanneninnere eine primäre Hohlform darstellt, welche 
durch spätere Verwitterungsvorgänge modifiziert worden 
ist, hat Herr Passarge sich in Chansefelde die Anschauung 
gebildet, daß das Pfanneninnere (Krater) eine sekundäre 
Hohlform ist, welche durch zoogene Erosion, nämlich 
durch Austreten und Auswühlen von Tieren, aus einer 
zusammenhängenden, geschlossenen Kalkablagerung her- 
ausgearbeitet sei. 

Herr Passarge wendet sich gegen meine Auffassung, 
indem er ausführt, daß die Bildung des Kalkschlammes 
im offenen Wasser stets energischer vor sich geht als am 
Rande der Seen (Globus, S.220, 221). Es bestehe die 
Tendenz, die flachen Teiche, dank den Kalk abscheiden- 
den Wasserpflanzen, welche im offenen Wasser in dichter 
Menge auftreten, schnell von innen heraus bis zum Schilf- 
rand aufzufüllen. Allerdings schränkt er diese Bemer- 
kung durch seine Fußnote wesentlich ein, wenn er dort 
sagt, daß „das Maximum der Sedimentbildung zwischen 
dem Schilfrande und 10 bis 20 m Tiefe“ liegt. 

Angesichts dieser Bemerkung muß ich mich fragen, 
ob Herr Passarge die dem Geologen wohlbekannten Kalk- 
tuffseen kennt, welche namentlich in den Karstländern 
weit verbreitet sind. Hier gibt es eine ganze Reihe von 
Seen, welche aus Flüssen dadurch hervorgegangen sind, 
daß dank den zahlreichen Aufragungen im Flußbett 
wahre Riffe von Kalktuff quer über die Flußbetten 
wuchsen und sie aufstauten. Solcher Art ist der See 
von Jajce und der Plittwitzer See in Hochkroatien; da- 
hin gehören auch die Seen an der Una in Bosnien und 
die Seen an der Kerka in Dalmatien. In allen diesen 
Seen ist die Kalktuffbildung am Rande unter dem Einfluß 
der Vegetation viel stärker als in der Mitte, und daher 
kommt es überall zur Entstehung von „Sinterschüsseln*“. 
Krebs und Lex?) sagen, daß der Sinter ganz von 
Pflanzenresten durchzogen ist.. Hier liegen meines Er- 
achtens Gegenstücke, mit welchen wir die Kalkablagerung 
der Pfannen in Südafrika besser vergleichen können, als 
beispielsweise mit den Seen von Lychen, wie Herr Pas- 
sarge es getan hat. Wie die Ablagerung des Kalkes manch- 
mal ganz lokal erfolgen kann, habe ich durch ein Beispiel 
aus Nordamerika belegt. Hier beschreibt Russell, daß 
in Seen mit kalkreichem Wasser die Kalkabscheidung 
gern um eine beliebige Aufragung, einen „nucleus“, statt- 
findet, so daß inselartige Aufragungen entstehen. Mit Hin- 
weis auf diese Hypothese Russells habe ich eine kleine 
Kalkerhebung am Boden der Pfanne von Owingi erklärt 
(Michaelsen, Kalkpfannen, 8.131). Dies Zitat hat Herrn 
Passarge zu der Äußerung veranlaßt, daß ich diese Er- 
scheinung mit einer „Springquelle mit Kalktuffkegel à la 
Lahontansee“ deute. Davon ist mit keinem Worte die 
Rede. Offenbar kennt Herr Passarge von den beiden Er- 
klärungsmöglichkeiten (vgl. Russell, Lake Lahontan. 
Monogr. U.S. Geol. Surv., XI, S. 222), die Russell für der- 
artige Erscheinungen gegeben hat, nur die eine, während 
ich ausdrücklich die andere zitiere. Herr Passarge 
erklärt bekanntlich diese inselartigen Aufragungen des 
Pfannenbodens wie folgt ( „Kalahari“, S. 313): „Indem nun 
die Füße der Tiere bekanntlich lokal verschieden auf den 
Kalktuff einwirken, wird derselbe an einigen Stellen zer- 
stört, an andern nicht. So kommt es denn, daß am Rande 
der Pfanne vereinzelte Tuffinseln stehen geblieben sind.“ 
Ich überlasse dem Leser die Entscheidung darüber, welche 
von diesen beiden Erklärungen die natürlichere sei. 


7) Krebs und Lex, Reisebericht über die Exkursion 
der Mitglieder des geographischen Instituts nach Bosnien, 
der Herzegowina und Dalmatien. XXV. Bericht des Ver- 
eins der Geographen an der Universität Wien (Wien 1899), 
8. 88. 


Um seine Theorie von der zusammenhängenden, ge- 
schlossenen Kalktuffmasse, welche die Kalkpfannen aus- 
gefüllt haben soll, noch mehr zu stützen, ‘sagt Herr 
Passarge, daß er „so und so oft Gelegenheit gehabt hat, 
Kalkpfannen zu beobachten, in denen der Röhrenkalktuff 
noch voll und ganz die Becken ausfüllt*. Dann sagt er 
weiter: „Wenn man gesehen hat, wie sich zwischen diesen 
Pfannen und solchen, die nur noch minimale Reste von 
Kalktuff enthalten, alle Übergänge finden, wenn man 
obendrein in dem feuchteren Norden Sandpfannen 
mit Kalktuffboden findet, die man aus triftigen 
Gründen als die Urform der Kalkpfannen an- 
sprechen kann, dann ist doch wohl die Deutung am 
natürlichsten, daß der Kalktuff einst die Pfannen aus- 
gefüllt habe.“ 

Das ist kein Beweis, denn alle diese Erscheinungen 
lassen sich mit meiner Theorie mindestens ebensogut 
erklären. Ich kann mir sehr gut flache Teiche vor- 
stellen, die sowohl ganz als auch zum größten Teil mit 
Schilf bewachsen sind. Dabei ist es selbstverständlich, 
daß in den einen „der Röhrenkalktuff noch voll und 
ganz die Becken ausfüllt“ und daß wir im übrigen 
„zwischen diesen Pfannen und solchen, die nur noch 
minimale Reste von Kalktuff enthalten, alle Übergänge 
finden“. Dagegen kommt es mir viel unwahrscheinlicher 
vor, daß die Elefanten usw., die nach Herrn Passarge 
die „Krater“ herausgearbeitet ‘haben sollen („Kalahari“, 
S.309 ff.), einige wenige Kalkpfannen verschont haben, 
während alle anderen Pfannen rings umher ihnen und 
ihrer Wühlarbeit usw. ihre heutige Gestalt verdanken sollen. 

Die eben erwähnte Stelle, daß ich zur Erklärung der 
Kalktuffinseln am Pfannenboden eine „Springquelle mit 
Kalktuffkegel a la Lahontansee* herangezogen habe, ist 
nicht die einzige sinnstörende, falsche Wiedergabe des 
Inhalts meiner Arbeit, die mir in Herrn Passarges „kri- 
tischer Studie“ aufgefallen ist. Es sei hier nur noch ein 
Fall berichtigt, da dieser eine falsche Ansicht über meine 
Auffassung verbreitet. Herr Passarge behauptet näm- 
lich, daß ich „wiederholt“ versichere, die Kalkpfannen 
des Chansefeldes seien älter als die des Damaralandes. 
Das ist gar nicht der Fall. Ein derartiges Urteil habe 
ich mir damals gar nicht angemaßt, da ich die Kalk- 
pfannen des Chansefeldes gar nicht gesehen habe. Herrn 
Passarge ist es nämlich entgangen, daß ich ihn in dem 
betreffenden Abschnitte zitiere (Michaelsen, Kalkpfannen, 
S.127). Daher kann von einer Versicherung meinerseits 
gar keine Rede sein. 


VI. Die „Rivier- und Omurambaperiode*. 

Die trockenen Sandbetten Südafrikas werden all- 
gemein „Riviere“ genannt. Diese Bezeichnung ist zu 
einem Begriff geworden, der als solcher eindeutig in der 
geographischen Literatur gebraucht wird. Ich habe im 
Damaralande aber noch eine andere Art von Flußbetten 
beobachtet, die mit den „Rivieren“ nichts gemein haben 
und die von den Einheimischen „Omuramba“ genannt 
werden. Es sind zwei ganz verschiedene charak- 
teristische Formen, die ich in meiner Arbeit be- 
schrieben und stets scharf auseinandergehalten habe. 
Ich habe daher vorgeschlagen, die letzteren, dem ein- 
gebürgerten Sprachgebrauch folgend, „Omuramba“ zu 
nennen. Herr Passarge sagt dagegen (Globus, S. 221): 
„Wenn auch die Ansiedler einen Unterschied zwischen 
Rivier und Omuramba machen, so ist er im wissenschaft- 
lichen Sinne unhaltbar, weil im Verlauf eines Flußbettes 
der Charakter desselben häufig wechselt. Bald ist er 
Lehmboden — dann ist es ein Omuramba, bald Sand- 
boden — dann ist es ein Rivier.“ Dieses letztere kann 
ich aus dem Damaralande nicht bestätigen.. Vielmehr 


382 


Die Forschungsfahrt des „Michael Sars“ im Nordatlantischen Ozean. 





habe ich wiederholt gesehen, daß ein typisches „Rivier“ 
sich in die weite flache Mulde eines „Omuramba“ ein- 
geschnitten hat. Ich betone also nochmals: nicht die 
Erfüllung mit Lehm oder Sand, sondern der Unter- 
schied des relativen Alters ist für mich das Wesentliche 
bei der Unterscheidung von „Rivier“ und „Omuramba“. 

Im übrigen darf ich darauf aufmerksam machen, 
daß auch der Regierungsgeologe Dr. P. Hermann voll- 
kommen mit mir darin übereinstimmt. Es sagt („Bei- 
träge“, S. 393): „Omuramben sind vorzugsweise nur 
breite muldenförmige Täler, in welchen eigentliche Fluß- 
betten meist fehlen. Sie pflegen selbst nach großen 
Niederschlägen keine zusammenhängende Wasserader zu 
bilden, sondern nur zusammenhanglose Wasserflächen 
(Vleye). Riviere sind scharf eingeschnittene, meist mit 
lockeren Flußsanden ausgefüllte periodische Flußläufe, 
die nach anhaltenden Regenzeiten große Wassermengen 
als reißende Flüsse talab führen.“ 

Endlich beobachtete auch Hermann („Beiträge“, 
S..380): „Mitten durch die Omurambamulde schlängelt 
sich ein scharf eingeschnittenes Rivierbett, das mit weißem 
Sand angefüllt ist.“ 

Herr Passarge bezweifelt ferner meine Angabe, daß 
die Omuramben im Gegensatz zu den Rivieren selten oder 
nie Wasser führen. Wie wir oben gesehen haben, hat 
Hermann dieselbe Erfahrung gemacht. Er erwähnt es 
nochmals besonders beim Omuramba-u-Omatako, den auch 
ich gut kennen gelernt habe („Beiträge“, S.394): „In 
diesem Gebiete fließt der Omuramba auch zur Regen- 
zeit nicht mehr.“ 

Endlich nimmt Herr Passarge in diesem Abschnitte 
Anstoß daran, daß ich unter dem Einfluß meines hoch- 
verehrten Lehrers Prof. Dr. W. M. Davis, Cambridge 
Mass., die Riviere nach ihrer gegenwärtigen Form für 
„jung“ erkläre. Diese Bemerkungen lassen klar erkennen, 
daß Herr Passarge das Wesen der Davisschen Anschau- 
ung nicht erkannt hat. Für ihn sind daher die Worte: 
„jung“, „alt“, „reif“, „halbreif* und „unreif“ 8) bloße 
„Schlagworte“. Für andere aber sind es fest- 
stehende, scharf begründete Begriffe, die Davis 
mit genialem Blick in der Natur erkannt und mit pein- 
licher Sorgfalt geprägt hat. Das beweist unter anderem 
auch die Tatsache, daß sie sich bereits in weitestem Maße 
in unserer Wissenschaft eingebürgert haben. 


Schluß. 


Im vorstehenden habe ich zunächst gezeigt, daß Herr 
Passarge seine „kritische Studie“ auf falschen Voraus- 
setzungen aufgebaut hat. Dann habe ich seine sechs 
Angriffspunkte einzeln gewürdigt. Sie beruhen, wie wir 
gesehen haben, einmal in der Auffindung zweier Druck- 
fehler und eines offenbaren Lapsus. Daß ich mich in 
meiner Entgegnung auch gegen fälschliche Unterschie- 


®) Die Worte „halbreif“ und „unreif“ sind von Herrn 
Passarge frei erfunden. 


Die Forschungsfahrt des „Michael 


Über die Forschungsfahrt des norwegischen Schiffes 
„Michael Sars“ im Nordatlantischen Ozean hat der Globus 
zwei Notizen gebracht (zuletzt Bd. 98, S.147). Nachdem 
nun die Fahrt beendet ist, hat deren Leiter, Johan Hjort, 
in der englischen Zeitschrift „Nature“ vom 10. November 
über sie einen zusammenhängenden vorläufigen Be- 
richt veröffentlicht, aus dem hier einiges Nähere mit- 
geteilt sei. 


bungen zu verteidigen hatte, sei hier nur nochmals ge- 
streift. Dann aber beruhen Herrn Passarges Angriffe vor 
allem darauf, daß er die Deutungen, die er für das Chanse- 
feld aufgestellt hat, ohne weiteres auf das Damaraland 
überträgt, dessen Kalkpfannen ihm nicht bekannt sind. 
Er geht darin sogar so weit, daß er daraufhin die Richtig- 
keit meiner Beobachtungen anzweifelt. Seine Erklärungen 
erscheinen ihm immer als die „natürlichen“. Aber den 
notwendigen Beweis ist er uns in allen Stücken 
schuldig geblieben. 

Es wäre nun eine verlockende Aufgabe, Herrn Passarge 
in sein eigenes Arbeitsgebiet, das Chansefeld, zu folgen 
und einmal an Hand seines Kalahariwerkes streng sach- 
lich, aber eingehend und ohne persönliche Spitzen zu 
prüfen, wie seine Beobachtungen mit seinen Hypothesen 
und kartographischen Darstellungen übereinstimmen. 
Doch würde man mir dann den Vorwurf machen können, 
daß ich über Dinge urteile, die ich nicht gesehen habe. 

Ein kurzes Wort sei mir aber noch zu den „Schluß- 
folgerungen“ gestattet, zu denen meine Arbeit Herrn 
Passarge scheinbar willkommenen Anlaß bot. Sie sind 
keine Zusammenfassung seiner Schlüsse in ein einheit- 
liches System, wie man es erwarten sollte. Mit keinem 
einzigen Worte kommt Herr Passarge darin auf die Sache 
zurück, die er angegriffen hat, vielmehr beschäftigt er 
sich darin mit dem, der mich dazu ermutigt hat, meine 
Feldzugsbeobachtungen zu veröffentlichen, und der sie 
als Dissertation der Berliner Fakultät empfohlen hat, 
nämlich mit Albrecht Penck. 

Es ist nicht das erste Mal, daß Herr Passarge meinen 
hochverehrten Lehrer angreift, und er weiß sehr wohl, 
daß er von ihm keine Antwort auf derartige persönliche 
Angriffe zu erwarten hat. Daher würde ich auch nicht 
im Sinne meines hochverehrten Lehrers handeln, wenn 
ich auch nur ein Wort zu seiner Verteidigung sagen wollte. 

Ich möchte hier nur das eine betonen, daß die Auf- 
fassung, welche Herr Passarge über das gegenseitige 
Verhältnis von Geologie und Geographie äußert, sich 
durchaus mit dem deckt, was mein Lehrer Herr Geheim- 
rat Prof. Dr. A. Penck wiederholt in seinen Vorlesungen 
und seinen Colloquien ausgesprochen hat. Auch ist es 
ihm, der doch selbst anerkannter Geologe ist, wohl 
„kein Geheimnis, daß viele Geologen nur noch mit mit- 
leidigem Lächeln auf den Geographen als Geomorphologen 
herabsehen“, wie Herr Passarge sagt (Globus, S. 222). 

Unter solchen Umständen ist es mir aber eine freudige 
Genugtuung, feststellen zu dürfen, daß meine von dem 
Geographen Passarge angegriffenen Beobachtungen sich 
in allen wesentlichen Punkten mit denen des deutschen 
Regierungsgeologen Dr. P. Hermann (s. oben) vollkommen 
decken. Ebenso erhalte ich von anderen Geologen 
spontane Zustimmungen, so vor allem von dem Kap- 
geologen Prof. Rogers, zweifellos dem besten Kenner 
südafrikanischer Geologie. Er schreibt mir unter anderem: 
„I think, there are many pans in the Kaap plateau, which 
will support your conclusions.“ 


Sars“ im Nordatlantischen Ozean. 


Die Expedition verließ Ende März Bergen, lief Ply- 
mouth an und folgte dann der Westküste Spaniens und 
Nordafrikas bis Kap Bogador, wobei in der Bucht von 
Biscaya, der Bucht von .Cadiz und den Gewässern zwi- 
schen den Kanarischen Inseln und Afrika spezielle Unter- 
suchungen ausgeführt wurden. Darauf unternahm sie 
einen Vorstoß in das Sargassomeer, berührte die Azoren 
und fuhr nach St. John’s (Neufundland). Von da segelte 


Die Forschungsfahrt des „Michael Sars“ im Nordatlantischen Ozean. 383 





sie nach der Südküste von Irland hinüber und beschloß 
die Forschungen durch eine Untersuchung der Gewässer 
zwischen Schottland und Rockall und zwischen Schottland 
und den Färöer — d.h. der Gegend nördlich und südlich 
von dem Wyville Thomson-Rücken — um den Einfluß 
des Atlantik auf die Norwegische See zu studieren. 

Auf 110Stationen wurden hydrographische Unter- 
suchungen ausgeführt, und zwar mit einer Reihe von 
modernen Instrumenten. Außer den Temperaturmessungen 
wurden dabei Wasserproben aus allen Tiefen gewonnen 
zur Bestimmung des Salzgehaltes und des spezifischen 
Gewichts, ferner weitere 100 große Wasserproben zur 
Ermittelung des quantitativen Vorkommens_ stickstoff- 
haltiger Substanzen, besonders von Ammoniak. Die Be- 
stimmungen aus den tiefsten Schichten (bis hinunter zu 
4950 m) ergaben sehr gleichmäßige Resultate mit einer 
Temperatur von 2,48°C. Es findet eine sehr schwache 
Zunahme der Temperatur in der Nähe des Bodens in 
großen Tiefen statt, was möglicherweise durch die Zu- 
führung von Wärme aus dem Innern der Erde oder durch 
Radiumeinwirkung zu erklären ist. In den oberen Schichten 
wechselten die Verhältnisse zeitweise beträchtlich, be- 
sonders in der Nähe des Golfstromgebiets und im west- 
lichen Teile des Nordatlantik. Hier ergab sich manches 
Neue und Interessante, worüber sich Hjort aber erst nach 
gründlicher Untersuchung der Wasserproben äußern will. 

Mit Ekmans Propellerstrommesser sind mehrere Reihen 
von direkten Strömungsmessungen ausgeführt worden. 
In der Straße von Gibraltar war die Strömung so stark, 
daß man nicht geringe Schwierigkeiten beim Ankern 
hatte. Es konnten indessen im Laufe eines Tages 70 gute 
Messungen aus acht verschiedenen Tiefen zwischen Ober- 
fläche und Meeresboden gewonnen werden. Es waren 
beträchtliche Gezeitenschwankungen sowohl in der west- 
lich gehenden Oberflächenströmung wie in der östlich 
gerichteten Tiefenströmung zu bemerken. Zusammen 
mit den Schwankungen in der Stärke der Strömung 
schwankte auch die Grenze zwischen den beiden Strö- 
mungen auf- und niederwärts, und zwar lag diese Grenze 
zwischen 50 und 100 Faden unter der Oberfläche. Ge- 
schwindigkeiten von vier Knoten oder mehr wurden 
mehrfach in der oberen wie in der Tiefenströmung er- 
mittelt; meistens aber hielt sich die Geschwindigkeit 
zwischen 1 und 21/, Knoten. (Vgl. die Beobachtungen 
des „Thor“ in der Straße von Gibralter, Globus, Bd. 98, 
S. 305.) 

Auf dem Abfall südlich von den Azoren ankerte man 
in 500 Faden Tiefe, und hier wurden etwa 90 Strömungs- 
messungen ausgeführt. In der Tiefsee zwischen den 
Azoren und den Kanaren gelang eine Reihe solcher 
Messungen bis 2000 m abwärts, während das Schiff leicht 
und gleichmäßig trieb und ein großes Taunetz als Drift- 
anker diente. Auch diese Messungen zeigten beträcht- 
liche Schwankungen, die offenbar mit den Gezeiten zu- 
sammenhängen. Ähnliche Forschungen mit modernen 
Mitteln sind vorher weder im tiefen Wasser noch in der 
Straße von Gibraltar vorgenommen worden. Auch Licht- 
messungen sind im Meere südlich und westlich von den 
Azoren ausgeführt worden, und zwar von Helland Hansen 
mit einem von ihm konstruierten neuen Photometer. Es er- 
gab sich ein großer Einfluß der Lichtstrahlen in 100 m Tiefe, 
wobei die roten die schwächeren, die blauen und ultra- 
violetten die stärkeren waren. In 500m Tiefe wurden 
noch blaue und ultraviolette Strahlen gefunden, und 
selbst bei 1000m war der Einfluß der ultravioletten 
Strahlen noch deutlich wahrnehmbar. Bei 1700 m zeigten 
die panchromatischen Platten nach einer Exposition von 
zwei Stunden um Mittag bei klarem Himmel keine Licht- 
spur mehr. 


Phytoplankton. Man war besonders bestrebt, 
Material für einen Vergleich des Planktons der Küsten- 
bänke mit dem des reinen ozeanischen Wassers, sowie 
für den Vergleich der subtropischen mit den borealen 
Existenzbedingungen zu gewinnen. Die Küstenbänke 
vor Irland, die Bucht von Cadiz, die Westküste Afrikas 
und die Neufundlandbänke haben eine charakteristische 
Flora, die sich scharf von der ozeanischen abhebt, die in 
den mittleren Teilen des Atlantik, besonders im Sargasso- 
meer südlich von den Azoren, angetroffen wird und reich 
an Arten, aber arm an Individuen ist. Die Coccolitho- 
phoriden und Nacktflagellaten, die sogar durch das feinste 
Seidennetz hindurchgehen, wurden zum Teil durch Filtern 
von Seewasser durch Sandfilter, zum Teil durch Ver- 
wendung einer von einer kleinen Dampfwinde getriebenen 
großen Zentrifuge gewonnen. Die Untersuchung ergab 
eine große Zahl neuer Formen, die zum Teil zu ganz 
neuen Typen gehören. In den mittleren ozeanischen 
Teilen des Atlantik kamen diese kleinen Organismen in 
zahlreichen Formen und in so großen Mengen vor, daß 
sie an Volumen die mit Hilfe der Seidennetze erbeuteten 
Pflanzen übertrafen. In der Nachbarschaft der europäi- 
schen Küstenbänke war die Spezieszahl geringer, die In- 
dividuenmenge aber ganz besonders groß. So fanden 
sich in einer einzigen Probe im Liter über 200 000 In- 
dividuen allein von einer Art. Im ganzen zeigen die 
Proben aus den nördlicheren Gewässern eine größere 
Menge von Pflanzen, als der subtropische Teil des Ozeans. 
Dort ist ferner das Phytoplankton auf eine dünnere, 
weniger tief herabreichende Schicht beschränkt, als in 
den südlichen Teilen des Forschungsgebietes. 

Für das gleichzeitige Bergen des Zooplanktons 
aus bestimmten verschiedenen Tiefen bediente man sich 
einer neu ausgedachten Vorrichtung, die im wesentlichen 
aus zwei vom Schiffe geschleppten Drahttauen mit daran 
befestigten Netzen bestand. Dadurch erhielt man Proben 
gleichzeitig aus Tiefen von 100, 200, 300, 600, 1000, 
1500, 2000, 2500 und 3000 m. Auf 30 Stationen wurde 
mit dieser Vorrichtung gearbeitet, und das so erlangte 
Material war sehr umfangreich: Hunderte von pelagischen 
Tiefseefischen und Liter von großen Dekapoden, Me- 
dusen usw. von ein und derselben Station. Weil an so 
vielen Stationen und in sehr verschiedenen Gewässern 
und zu verschiedenen Tages- und Nachtstunden gefischt 
wurde, so ist von einem Vergleich der Fänge unterein- 
ander viel Neues über die geographische Verteilung der 
Arten, über die Tiefen, in denen sie bei Tage und bei 
Nacht vorkommen, usw. zu erwarten. Überall im Atlanti- 
schen Ozean, vom Wyville Thomson-Rücken bis zum Sar- 
gassomeere, scheint es in Tiefen über 400 m eine be- 
ständig gleichartige Fauna kleiner schwarzer pelagischer 
Fische, großer roter Crustaceen, zahlreicher Medusen usw. 
zu geben, die wahrscheinlich, soweit die Fische in Frage 
kommen, auch in anderen Ozeanen vorhanden ist und 
dieselben Formverschiedenheiten aufweist, die z. B. die 
„Valdivia“-Expedition im Indischen Ozean und die „Chal- 
lenger“-Expedition im Großen Ozean gefunden hat. In 
den oberen Wasserschichten, in Tiefen von weniger als 
400 m, sihd dagegen zahlreiche jüngere Fischstadien von 
meist durchscheinender farbloser Form, z. B. Leptocephali, 
angetroffen worden. 

Mit dem Grundnetz ist nur insoweit gearbeitet worden, 
als es dem Expeditionsleiter darauf ankam, von der 
Zusammensetzung der Fauna in Tiefen von 500 bis 
1600 Faden dem Kontinentalabfall entlang von dem 
Wyville Thomson-Rücken südwärts bis zum tropischen 
Westafrika ein Bild zu gewinnen. Aber auch außerhalb 
der Küstenbänke wurden einige Grundnetzzüge in Tiefen 
bis zu 3000 Faden ausgeführt. Wesentlich neue Typen 


Roux’ Aufenthalt auf den Aruinseln. 





von Fischen ergaben sich dabei nicht. Die wenigen 
Züge aus den großen Tiefen stimmten im Resultat 
untereinander und mit denen früherer Expeditionen, so 
besonders des „Challenger“, des „Travailleur“ und des 


„Talisman“ überein, zeigten also, daß die gegenwärtige 
östliche Tiefseeebene des Atlantik besonders arm an 
allen Arten von höheren Organismen und vor allem an 
Fischen ist. 





Roux’ Aufenthalt auf den Aruinseln. 


Es ist hier früher einmal (Bd. 96, 8. 244) kurz von den 
Forschungen Dr. Jean Roux’, Konservators am natur- 
historischen Museum in Basel, auf den Aruinseln die Rede 
gewesen — jener namentlich durch Alfred Russel Wallaces 
Beschreibung bekannt gewordenen Inselgruppe, die deshalb 
von besonderem Interesse ist — geographisch und ethno- 
graphisch ebenso wie faunistisch und floristisch —, weil sie 
im Grenz- und Übergangsgebiet zwischen Asien und Australien 
liegt. Jetzt ist in der Zeitschrift „Le Globe“, dem Organ 
der geographischen Gesellschaft zu Genf, ein von Roux vor 
dieser Gesellschaft gehaltener Vortrag erschienen, der sich 
ausführlicher mit der Aru-, kürzer mit der benachbarten 
Keigruppe beschäftigt, und es seien ihm einige Mitteilungen 
über die Aruinseln entnommen. 

Die Reise, an der außer Roux Dr. Hugo Merton teilnahm, 
war im Jahre 1908 durch die Frankfurter Senckenbergische 
Gesellschaft zum Zweck naturwissenschaftlicher Forschungen 
ausgerüstet worden, und der Aufenthalt auf den Aruinseln 
nahm vier Monate, vom Januar bis Mai, in Anspruch. Trotz 
Wallace ist die Gruppe naturwissenschaftlich noch wenig be- 
kannt, und geographisch ist sie es erst recht nicht. Sie be- 
steht in der Hauptsache aus fünf großen Inseln, die aber 
nur durch eigentümliche kanalartige Meeresstraßen vonein- 
ander getrennt sind, und mehreren im Osten vorgelagerten 
kleinen Eilanden. Roux landete in Dobbo, dem Sitz der 
holländischen Verwaltung, arbeitete zunächst auf der süd- 
lichsten Insel Terangan und später auf den übrigen. Die 
geographische Arbeit hat sich anscheinend auf Tiefen- und 
Strömungsmessungen in den Kanälen beschränkt. 

Diese Kanäle heißen Sungi, haben eine ungefähr west- 
östliche Richtung und sind von stark wechselnder Tiefe und 
Breite (diese kann bei ein und demselben Kanal zwischen 
25 und 800m schwanken). Sie sehen manchmal wie breite 
Flüsse, manchmal wie von Inselchen übersäte Seen aus, 
verästeln sich und verzweigen sich mehr oder weniger tief 
landeinwärts. Deshalb sind längere Landmärsche auf den 
Inseln selten möglich, aber das Boot bietet dafür die Gelegen- 
heit, überall hin zu gelangen. Die von Wallace begründete 
Ansicht, daß diese Kanäle die Unterläufe der Flüsse Neu- 
guineas seien (deren Mittelläufe bei der Lostrennung der 
Arugruppe von jener Insel versunken seien: vgl. „Der Mal. 
Archipel“, Bd. II, 8. 266), teilt Roux — wie auch schon 
andere vor ihm — nicht; diese Dislokation der großen den 
Archipel bildenden Kalkplatte sei die Folge einer Erhebungs- 
bewegung gewesen. Man finde auch auf der Südinsel Spuren 
ehemaliger Kanalbetten, was beweisen würde, daß die Er- 
hebung noch andauere. Das Land ist durchweg flach; nur 
hier und da sind einige Geländewellen und im Süden ein 
paar 50 m hohe Hügel vorhanden. Die Kanalufer sind bald 
niedrig und sumpfig, bald fällt das Kalkgestein 15 bis 20m 
tief zum Wasser ab. Die Gezeiten verursachen in den Haupt- 
sungi Strömungen, die sich auch bis in die äußersten Spitzen 
der Seitenarme zn erkennen geben, und deshalb bilden sich 
mit Mangroven bewachsene Salzwasserlachen von großer 
Ausdehnung in den niedrigen Teilen der Inseln. Im übrigen 
bedecken Wälder und sehr hochgrasige Wiesen das Land. 
Diese Wiesen herrschen auf Terangan vor, das weniger 
Kanäle aufweist; auf den mittleren Inseln dominiert der 
Wald. In die Nebenkanäle münden kleine Flüsse, die aber 
in der Regenzeit viel Wasser führen, und diese Mischung 
süßen Wassers mit dem salzigen der Kanäle gestattet 
interessante Beobachtungen über das Anpassungsvermögen 
der Tiere. . 

Zu der verhältnismäßig armen Fauna gehören das 
Känguruh, das Wildschwein und der Hirsch. Reich ist in- 
dessen die Vogelwelt, deren schönster, aber infolge der rück- 
sichtslosen Ausmordung immer spärlicher werdende Reprä- 
sentant der Paradiesvogel ist. Die Eingeborenen stellen ihm 
in der schon von Wallace beschriebenen Weise (a. a. O., 
Titelbild des II. Bandes) nach, indem sie sich auf den 
unteren Baumästen ein Versteck einrichten und von hier 
die Vögel des Morgens, wenn sie „tanzen“, mit stumpfen 
Pfeilen erlegen. In Makassar hat Roux zu vielen Hunderten 
die für Paris oder New York bestimmten Bälge der Vögel 
gesehen, und er meint mit Recht, es wäre an der Zeit, daß 
die holländische Regierung der sinnlosen Abschlachtung 


dieser Vögel für Modezwecke Einhalt täte. 
der Aruinseln sind nicht giftig. 

Dobbo liegt auf einer kleinen Insel namens Wammer. 
Es hat etwa 1000 Bewohner: australische, chinesische, ja- 
panische und arabische Händler, die außer Paradiesvogel- 
bälgen Perlmuscheln und Kopra aufkaufen. Ferner gibt es 
dort Malaien, die Eingeborenen aber sind da wenig anzu- 
treffen. Die größte Zeit des Jahres über ist Dobbo verödet, 
nur im April und Mai stellen sich die Händler ein. 

Mit der friedlichen Bevölkerung, über die die Regierung 
durch die von ihr bestätigten Dorfhäuptlinge eine gewisse 
Aufsicht ausübt, und von der sie eine Steuer einzieht, kam 
Roux häufig in Berührung. Sie mag mit den Papuas von 
Neuguinea oder, wie einige behaupten, mit den Stämmen 
Nordqueenslands verwandt sein, anthropologisch ist das aber 
noch nicht sicher nachgewiesen. Die Größe der Männer 
übersteigt nicht 1,60 m, die der Frauen nicht 1,48m. Die 
Stirn ist fliehend, die Nase platt, der Prognathismus ziemlich 
ausgeprägt. Die Hautfarbe ist ein tiefes Braun. Eine Haut- 
krankheit und in den sumpfigen Gebieten die Malaria 
fordern zahlreiche Opfer. Ebenso der Alkohol, den die 
Chinesen einschmuggeln. Vor einigen Jahren herrschten 
auch Cholera und Pocken. Daher hat sich die Bevölkerungs- 
zahl stark gemindert und ist in den letzten 25 Jahren von 
25000 auf 8000 gesunken. Die Rasse ist schlecht geworden, 
die fortschreitende Degeneration unter dem Einfluß des 
leidenschaftlich vom männlichen wie vom weiblichen Ge- 
schlecht geliebten Arraks und Schnapses unverkennbar. In 
der Trunkenheit sind die sonst so sanften Aruinsulaner gar 
nicht wiederzuerkennen; sie werden dann grausam und 
schamlos, und die geringste Meinungsverschiedenheit kann 
zu Blutvergießen führen. Die Degeneration zeigt sich auch 
darin, daß die alten Kunstfertigkeiten vergessen sind. Die 
Häuser stehen auf schön geschnitzten Pfählen, aber die 
stammen aus der alten Zeit; heute gibt man sich mit solchen 
Arbeiten nicht mehr ab, die Pfähle neuerbauter Häuser sind 
schmucklos, und die Eingeborenen gestehen, sie beherrschten 
solche Fertigkeiten nicht mehr. Heute hat auch das euro- 
päische Geld überall Eingang gefunden, und Tauschhandel 
wird wenig mehr geübt. Roux belohnte die Eingeborenen 
für ihre kleinen Dienste durch Tabak, rote Stoffe oder Spiegel; 
aber gemünztes Geld war ihnen viel lieber. Das Vermögen 
der reichen Leute besteht indessen in Elefantenzähnen, 
großen chinesischen Gongs und ebenfalls importierten irdenen 
Tellern, auch alten von den Chinesen gekauften Lafetten 
von Bronzekanonen. Aus diesen Dingen besteht auch die 
Ausstattung der Bräute. 

Der Oberhäuptling des Dorfes ist der reichste Mann 
(Orang kaja). Ihn bestallt die holländische Regierung mit 
einem Stab und einem großen Diplom. Das geschieht mit 
folgender Zeremonie: Man gibt ihm ein wenig Arrak mit 
etwas Sand gemischt, und dies verschluckt er, indem er von 
der Seite die Sonne ansieht. Neben diesem Würdenträger 
hat auch der älteste Mann (Orang tua) einigen Einfluß. Die 
ursprüngliche soziale Gliederung bestand aus drei Haupt- 
klanen: dem Adel, dem Bürgertum und den Sklaven. Die 
Sklaven wurden für Elefantenzähne aus Neuguinea ge- 
kauft. Heute ist diese Gliederung infolge Vermischung ver- 
schwunden. 

Die Sprache zerfällt in eine Anzahl von Dialekten, die 
so voneinander abweichen, daß der Bewohner der Ostküste 
den der westlichen Inseln nicht versteht. Die sehr kompli- 
zierten Familiennamen sind wenig in Gebrauch, man bedient 
sich gewöhnlich der Vornamen. Häufiger als die Polygamie 
ist Einehe, Frauen kosten eben Geld, nämlich 800 bis 2400 f. 
Wer nicht gleielı bezahlen kann, zieht zu seinem Schwieger- 
vater und arbeitet die Summe ab, was ihm freilich manch- 
mal sein ganzes Leben lang nicht gelingt. Kranke behandelt 
der Zauberer. Die Toten werden in eine Art aus Brettern 
oder einem hohlen Baumstamm gebildeten Sarg gelegt, 
und der Sarg ruht dann einige Zeit unter dem Hause oder 
auf vier .Pfählen in der Nähe des Dorfes am Waldrande. 
Erst viel später beerdigt man die Gebeine. Die Ahnen 
werden verehrt und ihre Geister durch Opfergaben an Eß- 
waren bei guter Laune erhalten; denn sonst könnten sie 
den Lebenden Böses zufügen. Schlimme Geister, an die man 
glaubt, hausen in Bäumen, Felsen und im Meere. Um sie 
fern zu halten, legt man wohl auf einem Platze im Dorfe 


Die Reptilien 


Kleine Nachrichten. 





nicht mehr verwendbare Teller und Gongs nieder. Die Holz- 
idole, von denen ältere Reisende berichten, hat Roux nirgends 
mehr vorgefunden, und er meint, sie wären wahrscheinlich 
aus Neuguinea von eingewanderten Papuas importiert worden 
und verschwunden, nachdem jene in der Arubevölkerung 


aufgegangen wären. Die großen Kähne, deren sich die Aru- 


insulaner bedienen, sind von den Keiinsulanern gekauft, die 
in der Herstellung solcher Fahrzeuge Meister sind. Die 
Aruinsulaner selbst machen nur kleine Kähne durch Aus- 
höhlung von Baumstämmen, auf denen sie stundenlang unter 
monotonem Gesang die Kanäle durchrudern. Ein Gong- 
schläger oder Trommelschläger begleitet diesen Gesang. 





Kleine Nachrichten. 


Abdruck nur mit Quellenangabe gestattet. 


— Der Afrikafonds zur Förderung der wissenschaft- 
lichen Erforschung der deutschen Kolonien, hervorgegangen 
aus dem ehemals der Afrikanischen Gesellschaft alljährlich 
gewährten Reichszuschuß, hatte 25 Jahre hindurch eine 
Höhe von 200000 %#. Der „glorreichen“ Ära Dernburg erst 
blieb die Kürzung auf 150000 J6 vorbehalten — eine 
eigentümliche Illustrierung der Versicherungen jenes Staats- 
sekretärs, daß er die wissenschaftliche Arbeit in den Kolonien 
als Grundlage der praktischen hochschätze. Diese Kürzung 
war für das gegenwärtige Etatsjahr (1910/11) eingetreten. 
In den Etatsentwurf waren allerdings auch damals 200000 #6 
eingestellt, aber die Budgetkommission des Reichstages 
strich 50000 Mark ab, und zwar wesentlich auf Betreiben 
eines uns ‘dem Namen nach bekannten Abgeordneten, der 
sonderbarerweise einer Partei angehört, die doch sonst für 
Kulturaufgaben immer zu haben ist und den Mangel an 
Neigung für sie bei anderen Parteien oder bei der Regierung 
oft genug und nicht immer mit Unrecht rügt. Es wäre 
aber verfehlt, nun den Reichstag oder die Budgetkommission 
für die Kürzung des Afrikafonds verantwortlich zu machen. 
Die Verantwortung trägt der damalige Chef der Kolonial- 
verwaltung, die es in der Vertretung jener Position eben an 
dem nötigen Nachdruck oder der erforderlichen Geschick- 
lichkeit hat fehlen lassen, und so muß ihr nahegelegt 
werden, die Position in der alten Höhe wiederherzustellen; 
wenn es nicht im Etat für 1911/12 geschehen sein sollte, so 
müßte es im nächsten geschehen. 

Es sind ja in der Verwendung des Afrikafonds im ein- 
zelnen Fehler und Mißgriffe vorgekommen, an denen zum 
Teil die Kolonialverwaltung selbst, zum Teil ihre Beraterin, 
die landeskundliche Kommission für die Schutzgebiete, die 
Schuld trägt. Das soll aber kein schwerer Vorwurf sein. 
Fehler können überall vorkommen. Es ist ja auch Kritik 
geübt worden, und sie wird nicht vergebens gewesen sein. 
Wahrscheinlich hat diese Kritik den Erfolg jener Bestrebungen, 
den Afrikafonds herabzusetzen, mit veranlaßt; aber das war 
keineswegs der Zweck der Kritik, und es wäre ein Irrtum, 
wenn er so mißverstanden sein sollte. Tatsache ist, daß für 
die landeskundliche Forschung in den deutschen Kolonien 
noch unermeßlich viel zu tun bleibt, und ebenso, daß sie in- 
folge der Minderung des Fonds nicht in dem geplanten und 
erforderlichen Maße in letzter Zeit hat fortgeführt werden 
können. So ist z. B. aus der so dringend nötigen Neuguinea- 
Expedition nichts geworden, und es ist kein ausreichender 
Ersatz für sie, daß ein geographisch und ethnographisch 
vorgebildeter Zoologe an der deutsch-holländischen Grenz- 
vermessung auf jener Insel teilnimmt, deren Aufgabe doch 
eine ganz andere ist. Aus diesem Grunde würde es mit An- 
erkennung begrüßt werden, wenn die beteiligten Faktoren 
ihren Fehler sobald als möglich durch Vermehrung des Fonds 
auf die alte Höhe wieder gut machen würden. 

— Die Hamburger Südsee-Expedition, über die im 
Globus fortlaufend Bericht erstattet worden ist, hat ihren 
Abschluß gefunden, und ihr Leiter, Professor A. Krämer, 
ist im Oktober wieder in Europa eingetroffen. Die letzte 
Arbeitszeit, über die ein orientierender Bericht leider noch 
nicht erschienen ist, galt mehreren Inseln der Karolinen, 
auf denen die Expedition das Material für eingehende Dar- 
stellung sammeln konnte. 





— Eine in Wadai gefundene Reliquie Eduard 
Vogels. Im 97. Bande, 8. 194, nahmen wir von einer Mit- 
teilung des in Wadai gefallenen Kapitäns Fiegenschuh Notiz, 
wonach Leutnant Bourreau bei der Eroberung von Abescher, 
im Juni 1909, dort ein „Notiz- oder Tagebuch Nachtigals“ 
gefunden hätte. Wir begleiteten jene Mitteilung mit der 
Bemerkung, es handle sich schwerlich um Aufzeichnungen 
Nachtigals, der doch gar keine Veranlassung gehabt hätte, 
in Wadai irgend etwas zurückzulassen, sondern vielleicht 
um solche Eduard Vogels, der dort 1856 ein gewaltsames 
Ende gefunden hat. Nun ist das Buch nach Paris gekommen, 
und es hat sich in der Tat ergeben, daß es Vogel gehört 


hat. Aber es ist kein Buch mit Aufzeichnungen von seiner 
Hand, sondern das Bruchstück eines gedruckten Werkes mit 
astronomischen Hilfstafeln, wahrscheinlich der 1850 erschie- 
nenen 5. Auflage von C. Rümkers „Handbuch der Schiffahrts- 
kunde“. Im übrigen muß man nun die Hoffnung aufgeben, 
daß sich aus Vogels schriftlichem Nachlaß noch etwas in 
Abescher erhalten hat. Es ist wohl im Laufe der Zeit alles 
der Vernichtung anheimgefallen, sonst wäre doch den 
Franzosen dort etwas zu Gesicht gekommen. 


— Die englische Südpolarexpedition hat an Bord 
der „Terra Nova“ am 29. November Neuseeland (Port 
Chalmers) verlassen, nachdem sie sich dort mit dem Leiter, 
Kapitän Scott, vereinigt hatte. Die Route hatte um das 
Kap und über Melbourne geführt. Die australische Bundes- 
regierung gewährte Scott eine Unterstützung von 2500 £. 
Da der Geologe Thompson erkrankt war, trat an seine 
Stelle in Neuseeland R. E. Priestley, ein Mitglied der Expedition 
Shackletons, in den Stab ein. Man wird nun frühestens erst 
wieder im März 1911 etwas von der Expedition hören, wenn 
nämlich die „Terra Nova“ nach Neuseeland zurückgekehrt 
sein wird, und wir werden dann erfahren, ob es Scott ge- 
lungen ist, auf Edwardland seine Winterstation aufzuschlagen. 
Es ist freilich auch möglich, daß das Schiff an der Rück- 
kehr gehindert oder von Scott zurückbehalten wird. In 
diesem Falle müßte man ein weiteres Jahr auf Nachricht 
warten. 


— Legationsrat Dr. Max Frhr. v. Oppenheim tritt 
im Januar 1911 eine neue Reise nach Syrien und Meso- 
potamien an, deren Zweck neben geographischen und 
ethnographischen Studien in archäologischen Forschungen 
und Grabungen besteht. Namentlich soll der Tell Halaf im 
Tale des Chabur, des südlich von Der von Norden her in 
den Euphrat mündenden Flusses, ausgegraben werden; Frhr. 
v. Oppenheim hat jenen Tell auf seiner Reise von 1893 auf- 
gefunden, er soll eine Hittiterstadt bergen. Andere Studien- 
gebiete sollen sein: Das westliche obere Mesopotamien, das 
ehemals ein blühendes Kulturland war, heute aber eine 
traurige Wüste ist, die Gegend östlich von Bagdad, die frei- 
lich möglicherweise keine archäologischen Funde verspricht, 
und schließlich vielleicht auch die syrisch-arabische Wüste. 
Die Reise wird zwei, vielleicht auch drei Jahre in Anspruch 
nehmen. 


— Dr. Frederick Cook, seit Jahresfrist verschollen, 
hat zu allgemeiner Überraschung Ende November selbst noch 
das Wort ergriffen, anscheinend dazu veranlaßt durch 
die jüngst bekannt gewordenen, ihn Lügen strafenden Aus- 
sagen seiner beiden Eskimobegleiter: er hat in der amerika- 
nischen Zeitschrift „Hampton’s Magazine“ erklärt, er müsse 
nach reiflicher Überlegung bekennen, daß er nicht wisse, 
ob er den Nordpol erreicht habe oder nicht; wahr- 
scheinlich habe sein Geisteszustand infolge der Strapazen 
seiner Polarreise gelitten. 

Es wäre verkehrt, daraus zu entnehmen, Cook habe da- 
mit eingestanden, daß er die Welt zu beschwindeln ver- 
sucht hätte. Denn jene Erklärung — vorausgesetzt, daß sie 
in authentischer Form nach Europa gekabelt worden ist — be- 
sagt doch nur zweierlei: erstens, daß Cook zwar nicht mehr 
mit Bestimmtheit behaupten will, daß er den Nordpol er- 
reicht habe, daß er es aber für möglich hält; und zweitens, 
die Polreise habe ihn derartig mitgenommen, daß seine 
Geisteskräfte nicht mehr ausgereicht hätten, zu erkennen, 
wie weit er gekommen sei. Das sind faule Ausreden. Wenn 
es nicht schon ohnehin festgestanden hätte, so haben die 
Aussagen der Eskimos es gezeigt, daß Cook von der Nord- 
spitze von Axel Heibergland nur wenige Tagereisen pol- 
wärts vorgedrungen und dann trotz guter Eisverhältnisse 
urplötzlich umgekehrt ist. Wo waren da die Strapazen, die 
Cooks Geisteskräfte hätten schmälern können? Es ist möglich, 
daß sie dann später während des vielleicht aufreibenden 
Rückzuges durch den Sverdruparchipel nach Kap Sparbo ge- 


386 


Kleine Nachrichten. 





litten und den Reisebericht, an dem Cook dort den Winter 


über schrieb, beeinflußt haben. Aber Cook ist dann ja ganz 
gesund in Kopenhagen angekommen und hätte den unter 
geistiger Erkrankung des Autors entstandenen Reisebericht 
der Wahrheit gemäß leicht umformen können. Aber das ist 
ihm nicht eingefallen, und er heimste viel Geld und viel 
Ehren ein. Es hilft da kein Beschönigen und kein ver- 
steckter Anspruch, vielleicht dennoch als erster am Nordpol 
gewesen zu sein: Cook hat von Anfang an gar nicht die Absicht 
gehabt, einen ernstlichen Vorstoß gegen den Pol zu unter- 
nehmen, sondern nur die Absicht, einen großen Schwindel 
in Szene zu setzen, und das Bestreben, dessen Erfolg durch 
gewisses Beiwerk (z. B. durch die Überwinterung bei Kap 
Sparbo) nach allen Seiten hin zu sichern. Es gelang ihm 
das ja auch anfangs recht gut, und sogar mehrere erfahrene 
Polarforscher wurden getäuscht. 





— Gustav Adolf Graf von Götzen, um die Afrika- 
forschung verdient, zuletzt preußischer Gesandter in Hamburg, 
ist in einer Berliner Klinik am 1. Dezember nach kurzem 
Krankenlager gestorben. Geboren war Graf Götzen am 
12. Mai 1866 auf Schloß Scharfeneck in Schlesien (Kreis 
Neurode). Seine Laufbahn war zum Teil militärisch, im 
wesentlichen aber diplomatisch. Nachdem er im Jahre 1891 
das Kilimandscharogebiet besucht hatte, begab er sich im 
September 1893 mit zwei europäischen Begleitern von neuem 
nach Ostafrika, wanderte bis zum oberen Kongo und er- 
reichte dessen Mündung im Dezember 1894. Es war das 
die letzte Durchquerung Aquatorialafrikas, der noch große 
geographische Entdeckererfolge beschieden waren. Als erster 
drang Graf Götzen in das sagenhafte Land Ruanda ein, er- 
weiterte unsere Kenntnis über das Quellgebiet des Kagera, 
der vielfach für den Quellfluß des Nils gehalten wurde, 
fand den auf den Karten schon seit Spekes Zeiten im Norden 
des Tanganikasees nach Erkundigungen verzeichneten Kiwu- 
see auf, dessen nördlichen Teil er befuhr, entdeckte die 
höchst interessanten, teilweise noch tätigen Vulkane, die 
sich nördlich von dem See quer über die Sohle des Zentral- 
afrikanischen Grabens legen (Namlagira und Niragongo 
wurden bestiegen) und zog auf einem neuen Wege zum 
Kongo. Es war eine überaus wichtige Pionierreise, deren 
Ergebnisse — so die wertvollen Aufnahmen — im wesent- 
lichen allein dem Grafen Götzen zu verdanken sind. Er be- 
schrieb sie in dem 1895 in Berlin erschienenen interessanten 
Buche „Durch Afrika von Ost nach West“, das fünf Jahre 
später eine zweite Auflage erlebte. Von 1901 bis 1906 war 
Graf Götzen Gouverneur von Deutsch-Ostafrika; er versah 
sein Amt mit großem Verständnis und mit dem besten Willen. 
Aus Gesundheitsrücksichten trat er im Frühjahr 1906 zurück 
und schied damit auch aus dem Kolonialdienst. In seine 
Amtszeit fiel der ostafrikanische Aufstand, der der deutschen 
Herrschaft zwar nicht gefährlich wurde, aber viele Opfer unter 
den Eingeborenen forderte, auch Hungersnöte im Gefolge 
hatte. 1909 erschien aus Graf Götzens Feder eine Darstellung 
jenes ihm völlig überraschend gekommenen Aufstandes: 
„Deutsch-Ostafrika im Aufstand 1905/06“. Seine stets schwan- 
kende und schwache Gesundheit hat den Grafen Götzen leider 
kein hohes Alter erreichen lassen. 


— Die zweistufige Bestattung der Ethnologen 
erscheint gleichwertig der Teilbestattung der Prähisto- 
riker und zeigt wieder einmal, mit wie großem Vorteil die 
Ethnograpbie zur Erklärung prähistorischer Tatsachen benutzt 
werden kann. Unabhängig voneinander sind darüber neuer- 
dings zwei verschiedene Mitteilungen erschienen. F. v. Lu- 
schan teilt aus Westafrika einige erläuternde Fälle mit 
(Berichte aus den Königl. Kunstsammlungen, Berlin, 1. Ok- 
tober 1910). Besonders bei den Fanstämmen im südlichen 
Kamerun werden die Schädel von Verstorbenen oft jahrzehnte- 
lang nach ihrem Tode noch besonders verwahrt, bei Erinne- 
rungsfeierlichkeiten in pietätvoller Weise hervorgeholt und 
zum Gegenstande mannigfacher Kultgebräuche gemacht. In 
der Zwischenzeit werden sie in großen, aus Baumrinde her- 
gestellten Gefäßen verwahrt. Im nördlichen Adamaua dienen 
statt solcher große Tontöpfe, in denen Schädel liegen, wie 
ein kürzlich in das Berliner Museum für Völkerkunde ge- 
langtes Exemplar zeigt. Erhalten wir hier schon Erklärungen 
für die prähistorische Teilbestattung, bei der Schädel in an- 
scheinend ungestörter Schicht gefunden werden, unter Um- 
ständen, die eine isolierte Bestattung wahrscheinlich machen, 
so wird dieses noch augenscheinlicher durch eine Abhandlung 
von L. Rütimeyer „Über Totenmasken aus Celebes und die 
Gebräuche bei zweistufiger Bestattung“ (Verhandl. d. Naturf. 
Ges. in Basel, Bd. 21, 8. 290). Er stützt sich auf einen an 
wenig zugängiger Stelle befindlichen Bericht des holländischen 
Missionars Kruijt, der sich auf die T'oradjas auf Celebes be- 


zieht. Bei den mit Festlichkeiten und Opfern verbundenen 
Tengkegebräuchen dieses Volkes werden alle Leichen von 
Freien und Sklaven, die seit dem letzten Totenfeste begraben 
wurden, ausgegraben, die verfaulten Weichteile von den 
Knochen gestreift und diese von den Priesterinnen in Rinden- 
stoff gewickelt. Der Kopf wird besonders behandelt und mit 
einer Totenmaske versehen. Das Volk nimmt Abschied von 
den Skejetteilen und deren Seelen und die Wiederbeisetzung 
erfolgt in kleinen Kistchen, die unter Felsvorsprünge gesetzt 
oder auch begraben werden. Die belangreichen Einzelheiten 
gibt Kruijts Bericht. ” 

Von den Kajan Borneos berichtet Nieuwenhuis Ähnliches; 
hier findet die Beisetzung der gereinigten, wieder ausgegra- 
benen Knochen in Töpfen statt; ausführlich behandelt die 
gleiche Sitte Svoboda (Intern. Archiv f. Ethnographie VI) 
von den Nikobaren. Auf Celebes, Borneo, den Nikobaren 
finden wir also auf vorhergehende provisorische Bestattung 
nach Jahren die endgültige Beisetzung der Knochen mit 
Festlichkeiten verknüpft. Aus der Südsee wird Ahnliches 
berichtet. 

Daß die Sitte der zweistufigen Bestattung in Amerika 
bekannt war, dafür will ich statt vieler Beispiele nur auf die 
Choctaws hinweisen. In den auf diese zurückgehenden Be- 
stattungen in den Feriday Mounds, Louisiana, fand man die 
Knochen gut sortiert wie in einem Beinhause zusammen: 
lange Knochen, Schulterblätter, Rippen usw. und obenauf die 
Schädel (Free Museum of Science and Art, Bulletin Vol. II, 
p- 131). Und Ahnliches wiederholt sich in anderen indiani- 
schen Mounds. 

brigens brauchen wir zur Erläuterung der prähistori- 
schen Teilbestattungen weder nach Afrika noch nach Asien 
oder Amerika zu gehen. Wir haben sie noch heute bei uns, 
in den Alpenländern, und wer über das Ausgraben der Leichen, 
das Reinigen und Bemalen der Schädel, deren pietätvolle 
Wiederaufstellung genau unterrichtet sein will, der braucht 
nur den Abschnitt „Schädelkultus in den Alpenländern“ in 
dem Werke von Maria Andree-Eysn „Volkskundliches“ (Braun- 
schweig 1910) nachzulesen. Da steht die Parallele zu den 
westafrikanischen Fan, den Toradja von Celebes, den Choctaws 
von Louisiana. R. A. 


— Vor seiner Heimkehr aus der Südsee nach Europa 
wünschte G. Friederici von der Station Eitap& an der Nord- 
küste von Deutsch-Neuguinea einen Vorstoß über das Toricelli- 
gebirge zum Kaiserin-Augusta-Fluß zu machen, dieser Plan 
wurde aber durch die gewaltigen Regen vereitelt, die im 
Dezember 1909 in jener Gegend niedergingen. So beschränkte 
sich Friederici auf Wanderungen an der Küste von Kaiser- 
Wilhelms-Land oder in ihrer Nähe zwischen der Landschaft 
Yakomul im Osten und dem holländischen Grenzposten 
Hollandia im Westen. Berichtet hat er hierüber in „Peter- 
manns Mitteilungen“ 1910, II, Heft4 unter Beigabe von zwei 
Karten in 1:300000 und 1:50000. Von Yakomul bis zum 
Angriffshafen gibt es einen Korallenkalkstrandriff, der hohle 
Strand fällt zumeist mit starkem Neigungswinkel tief ins 
Meer hinab, woraus sich die gefährliche Brandung auf der 
ganzen Küstenstrecke erklärt. Der Strand selbst besteht 
überall aus weißgrauem Sand oder feinkörnigem Kies erup- 
tiver Natur, mehr oder weniger untermischt mit Kalk. Die 
Strandvegetation besteht hauptsächlich aus Crinium, das den 
vorderen Dünenkamm wie eine Hecke einfaßt, und der Strand- 
winde; Charakterbäume sind Kasuarinen, Cycas und — bei 
den Ansiedelungen — Kokospalmen. Die Küste zwischen 
Yakomul und Angriffshafen unterliegt offenbar häufigen Ver- 
änderungen, für die der Reisende Beobachtungen mitteilt. 
Mehrfach dringt das Meer vor, die Küste ist da also im 
Sinken begriffen; deshalb haben z. B. die Warupüleute ihre 
Hütten am Meere aufgeben und sich mehr landeinwärts neue 
errichten müssen. Dagegen sind bei Sissano, nicht weit 
westlich von der Warupülagune, Spuren einer Küstenhebung 
zu beobachten. Bei der Makehalbinsel, die den Angriffshafen 
im Osten abschließt, befindet sich ein merkwürdiges Riff, ein 
zum Strandriff gewordenes Sandsteinriff. Infolge der Bran- 
dung sind in ihm wie mit dem Meißel tiefe und breite Spalten 
in schnurgerader Richtung ausgehauen, das Gestein scheint 
in Platten und Würfel zersägt worden zu sein, und durch 
diese Rinnen saust das Wasser beim Anstürmen und Zurück- 
fluten mit großer Gewalt. — Der unlängst gegründete hollän- 
dische Posten Hollandia hat eine starke Besatzung und hat 
sich zu einer Art von malaiischer Kolonie ausgewachsen 
(430 Einwohner). Er ist auch ein Stützpunkt für die geo- 
graphischen Forschungen der Niederländer. 


— In den „Mitt. Anthrop. Ges. Wien“ 1910, Heft 5/6 be- 
richtet Oswald Menghin über das Ergebnis seiner Nach- 
forschungen nach Wallburgen auf den westlichen Höhen des 


Kleine Nachrichten. 


387 





Etschtales zwischen Meran und Bozen, im Sommer 
1909. Er hat im ganzen an fünf Stellen Reste solcher prä- 
historischen Befestigungswerke neu gefunden oder näher 
untersucht. Die von beiden Talseiten von früher her be- 
kannten Gerätefunde gingen über den Schluß der Hallstatt- 
zeit nicht zurück, die meisten gehörten der unmittelbar der 
römischen Zeit voraufgehenden Epoche an. Auf der West- 
seite aber, in der Nähe der Hippolitkapelle bei Tisens, liegt 
neben mehreren Kulturstätten jüngerer vorgeschichtlicher 
Perioden auch eine neolithische Siedelung, die älteste jener 
ganzen Etschtalstrecke und schon 1892 von Franz Tappeiner 
als solche erkannt. Menghin fand dann auch hier noch 
Reste einer künstlichen Befestigung. Die übrigen von ihm 
untersuchten Anlagen sind die von St. Vigil, das Burgstalleck 
bei Gaid, der Kasatschberg bei Nals und der Kobaltbühel bei 
Völlan, der ein recht ausgedehntes, kompliziertes und seltsames 
System von Wallresten aufweist, darunter einen wirklich 
kreisrunden Ringwall aus Steinen, den Menghin als einen 
Viehpferch anspricht. Auf dieser Stätte fand sich auch allein 
noch eine Kulturschicht mit Gefäßfragmenten und Bronze- 
stückchen. Menghin behandelt zum Schluß die Chronologie 
dieser „Castellieri“ im Zusammenhang mit den übrigen Süd- 
tirols auf grund geographischer, archäologischer und Traditions- 
merkmale und kommt zu folgendem Ergebnis: Die untere 
Wallburg zu St. Hippolit gehört, was Funde genügend er- 
weisen, der ersten Eisenzeit an. Die oberen dortigen Be- 
festigungen sind, wie erwähnt, neolithisch. Die Wallanlagen 
von Völlan am Kobaltbühel dürften der ausgehenden Bronze- 
und der beginnenden Eisenzeit angehören; dazu passen auch 
die dortigen Bronze-, Eisen- und Scherbenfunde. Dasselbe 
gilt für die Ringwälle von Vigil und Burgstalleck, deren 
Eigentümlichkeiten — Türme, Mittelbauten, Zisternen — in 
den für jene Zeit anderwärts gesicherten Befestigungen immer 
wiederkehren. Dagegen weichen Anlage und Ortswahl der 
Ruinen von Kasatsch von den übrigen hier besprochenen 
Befestigungen des Etschtales zwischen Bozen und Meran ab, 
und hier wäre vielleicht frühmittelalterlicher Ursprung nicht 
ganz von der Hand zu weisen. 


— Auf dem letzten internationalen Geologenkongreß, in 
Stockholm, machte Prof. De la Torre von der Universität 
Havana Mitteilungen über die Entdeckung zahlreicher 
fossiler Säugetiere aus dem Pleistozän in den Höhlen 
des zentralen Cuba. J. Winthrop Spencer begleitet diese 
Mitteilung in „La Geographie“ vom Oktober 1910 u. a. mit 
folgenden Bemerkungen: Nach E. D. Copes Forschungen 
umfaßte Cubas Säugetierfauna, soweit bekannt, nur fünf 
Nagerarten, vier lebende und eine ausgestorbene. De la 
Torres Sammlung umfaßt nun zahlreiche pleistozäne Nager, 
Edentata und andere Wirbeltiere, auch sehr schöne jurassische 
Fossilien. Diese pleistozänen Säugetiere oder ihre unmittel- 
baren Vorgänger können nach Cuba nur auf Landbrücken 
gelangt sein, die die Insel mit dem Festlande verbunden 
haben. Diese Landbrücken, die heute unter dem Meere 
liegen, finden sich in einer Tiefe von 1900 m; nur die, die 
von Florida ausgeht und sich heute in der großen Antillen- 
insel fortsetzt, liegt in 700m Tiefe. Die Canons, die diese 
versunkenen Landbrücken zerschneiden, zeugen für eine alte 
subaerische Erosion und erweisen dadurch das junge Alter 
der Senkung, die die ganze Antillengegend betroffen hat. 
Die Wanderungen der pleistozänen Fauna zeigen, daß in 
einer wenig zurückliegenden Epoche eine große kontinentale 
Senkung stattgefunden hat, und das ist eine Tatsache, die 
keine Theorie über den Ursprung der Glazialzeit außer acht 
lassen kann. Auch vom biologischen Gesichtspunkt aus hat 
die Entdeckung dieser Fossilien großes Interesse. Spencer 
verweist dann darauf, daß er auf der Antilleninsel St. Martin 
(östlich von St. Thomas) in einer Höhle an der französisch- 
holländischen Grenze die Reste einer Amblyrhiza, eines 
Nagers von Hirschgröße, entdeckt habe. Dieser Nager ist 
nach Cope aus Südamerika in die nordöstlichen Antillen 
über Landzungen gekommen, die die Inseln mit dem Fest- 
lande verbanden und heute unter dem Meere liegen, an einer 
Stelle bis zu 1200m. „Edward Hull und Fridtjof Nansen 
haben gezeigt, daß auch Europa in jüngerer Zeit eine große 
Erhebung durchgemacht hat, indem sie sich ebenfalls auf 
das Vorhandensein heute vom Meere bedeckter Oanons stützten.“ 


— Gegenwärtig, wo in verschiedenen deutschen Bundes- 
staaten um die Zulassung der Feuerbestattung gekämpft 
wird, wird ein Vortrag von Otto Schrader von der Bres- 
lauer Universität über „Begraben und Verbrennen im 
Lichte der Religiong- und Kulturgeschichte“ von 
allgemeinem Interesse sein, der jetzt im Druck erschienen 
ist (Breslau 1910, M. u. H. Marcus, 0,60 %6). Die Darstellung, 
‘die sich auf Europa und das’ Kulturgebiet des östlichen 


Mittelmeeres sowie Indien beschränkt, skizziert die Erd- 
bestattung, die als die ältere Bestattungsart angesehen wird, 
mit ihren verschiedenen Gebräuchen und dann die Feuer- 
bestattung und erörtert die Fragen, wann diese aufkam, 
woher sie stammt und was sie zu bedeuten hat. Die home- 
rischen Gedichte seien die Stätte, wo für den europäischen 
Kulturkreis die Sitte des Leichenbrandes zuerst einigermaßen 
chronologisch fixierbar sei und in ihrer Bedeutung von gleich- 
zeitigen Menschen erläutert werde. Im kleinasiatischen 
Küstenlande müsse der ionische Stamm zur Sitte der 
Leichenverbrennung übergegangen sein. Die Seele fliege in 
das Haus des Hades, das ihr nur, wenn der Leib verbrannt 
sei, offen stünde. In Indien herrschte ein ähnlicher Gedanke, 
und deshalb sei es zweifellos, daß der ursprüngliche Sinn 
der Feuerbestattung der gewesen sei, die auch nach dem 
Tode am Körper haftende Seele aus dieser Haft zu befreien, 
damit sie ins Totenreich gelangen könne. Wo dieser „neue“ 
Glaube zuerst aufgekommen sei, welches die Zeit und der 
Weg seiner Verbreitung durch Europa gewesen, sei noch un- 
bestimmt; die Prähistorie werde hier wohl noch die Erkennt- 
nis fördern. Zu diesem Gedanken trete ein zweiter, der 
Wunsch, sich selbst durch das Verbrennen der Leiche von 
dem Toten zu befreien und seine Wiederkehr zu verhindern. 
Dann wird darauf verwiesen, daß der Leichenbrand im alten 
Europa zu keiner Zeit und vielleicht bei keinem Volke aus- 
schließlicher Brauch gewesen sei, sondern das Verbrennen 
und Begraben nebeneinander bestanden hätten. So im 
klassischen Griechenland und in Rom. Aber auch in prä- 
historischer Zeit bei Hallstatt. „Ob dem freilich eine Zeit 
des Kampfes vorausgegangen ist, ob es, wie noch vor kurzem 
in meiner Vaterstadt Weimar, Verwandte zu Begrabender ge- 
geben hat, die es sogar verabscheuten, mit den Verwandten 
zu Verbrennender eine Grabkapelle gemeinsam zu haben, und 
ob das Hallstätter Ministerium, wie zu Weimar geschehen, 
infolgedessen das Vorhandensein gesonderter Räume zur Voll- 
ziehung der Totengebräuche für beide anordnete, können 
wir nicht wissen.“ Höchst seltsam sei die auf dem Gräber- 
felde am Hallstätter Salzberg bemerkbare Verquickung von 
Begraben und Verbrennen bei einer und derselben Leiche: 
der Tote sei halbiert, die eine Hälfte begraben, die andere 
verbrannt worden. In den nordischen Ländern sei das Ver- 
brennen der Leichen oft mit dem Verbrennen von lebenden 
Menschen, der Hunde, des Pferdes verbunden gewesen, das 
Christentum habe dem ein Ende gemacht. Wenn dieses aber, 
an die Erdbestattung des Judentums und der semitischen Völker 
überhaupt gewöhnt, jede Feuerbestattung bekämpfte (und 
ja noch bekämpft), so sei dies weniger geschehen, weil man 
die Verbrennung der Leiche dem christlichen Dogma, be- 
sonders von der Auferstehung des Fleisches, für zuwider- 
laufend erachtet habe, als weil eben der Leichenbrand als ein 


Kriterium des Heidentums erschienen sei. — Deshalb mag 
der Kirche wohl auch die Verbrennung der „Ketzer“ — 
nicht nur der Hexen, wie Verfasser meint — als diesen 


allein angemessene Todes- und Bestattungsart erschienen sein! 





— Schneefall in Transvaal. Ein heftiger Schnee- 
sturm wurde in den Tagen vom 16. bis 18. August 1909 in 
Johannesburg und Umgebung beobachtet. Mit besonderer 
Berücksichtigung dieses Ereignisses hat H. E. Wood vom 
Transvaal Meteorological Service in der Septembernummer 
des „South African Journal of Science“ eine Arbeit über 
Schneefall in Transvaal veröffentlicht. Schneefälle gehören 
dort ziemlich zu den Ausnahmen; denn es sind in der Zeit 
von 1853 bis 1909, soweit das festgestellt werden konnte, 
solche nur in elf Jahren beobachtet worden. In zwei Jahren, 
1903 und 1904, waren die Schneefälle sehr leicht, und in 
den Jahren 1905 bis einschließlich 1908 kamen überhaupt 
keine vor. Obwohl im Mai 1892 in Johannesburg ein ziemlich 
heftiger Schneefall zu verzeichnen war, war der Umstand, 
daß am Morgen des 17. August 1909 die Stadt von einer 
einige Zoll dicken Schneedecke überzogen war, ein so un- 
gewöhnliches Ereignis besonders für die jüngere Generation, 
daß der Tag als allgemeiner Feiertag begangen wurde. Die 
Karten über die Verteilung des Luftdrucks zeigen, daß jener 
Schneefall verbunden war mitder rapiden Annäherung eines 
Hochdrucksystemsan ein Gebiet mit bis dahin niedrigem Druck. 

— Reliefkarte der Vereinigten Staaten von 
Amerika. Von der U. S. Geological Survey wurde kürzlich 
eine neue Reliefkarte der Vereinigten Staaten — Blattgröße 
70x45cm — herausgegeben, die in sauberster Ausführung 
und mehrfachem Farbendruck die mittlere Erhöhung des 
Landes vom Meeresspiegel bis über 11000 Fuß zur Anschauung 
bringt. Die Karte ist von dem Topographen der Survey, 
Henry Gannett, bearbeitet und bildet eine verbesserte Aus- 
gabe der im 13. Ann. Report der Survey enthaltenen Relief- 


N 


388 32101 017830 


Kleine Nachrichten. 





Der Preis des besonders zu Unterrichtszwecken vor- 
züglich geeigneten Blattes ist 10cents; bei Annahme von 
100 oder mehr Exemplaren ermäßigt sich der Preis auf 


karte. 


6 cents. Sie kann durch den Director of the U. 8. Geological 
Survey, Washington D. C., bezogen werden. Hg. 








— Eine Karte des südlichen Peru und nördlichen 
Bolivia in 1:2000000 hat E. A. Reeves im Oktoberheft 
des „Geogr. Journ.“ veröffentlicht. In einem Begleitwort 
bespricht er das Material, auf dem sie sich aufbaut. Es ist 
begreiflicherweise sehr verschiedenartig und verschieden- 
wertig. Es gehören dazu die zahlreichen neueren peruanischen 
Arbeiten, auch die Originalaufnahmen und Ortsbestimmungen 
des bolivianischen Grenzkommissars P. H. Fawcett, die u. a. 
den Rio Abuna, den Unterlauf des Rio Beni und den oberen 
Aquiry (Acre) betreffen. Für das Hochland standen u.a. zur 
Verfügung der „Intercontinental Railway Commission Report“ 
(Bd. 3, 1891/92), Conways Triangulation der Cordillera Real 
von 1898, J. Evans’ und Watneys „Route Surveys in Cau- 
polican“ von 1902 und Neveu-Lemaires bathymetrische Auf- 
nahme des Titicacasees. Für die Tacnaprovinz Chiles sind 
die neuen Aufnahmen der chilenischen Grenzkommission be- 
nutzt worden. Für die Hochländer waren in den meisten 
Fällen J. B. Pentlands astronomische Ortbestimmungen und 
Triangulationen von 1827—1838 noch immer die verläßlichsten. 
Für die Position von Cuzco wurde das Mittel aus Gibbons, 
Markhams, Squiers und Pentlands Bestimmungen genommen. 
Wichtiges Material hat die Geographische Gesellschaft in 
Lima geliefert (die eben erst wieder im Bd. 23 ihres „Boletin“ 
die drei südlichen Blätter einer neuen Karte des Departamento 
Loreto veröffentlicht hat) und Raimondis Karte von Peru in 
1:500000. Für das Hochland von Bolivia bildete vielfach 
die französische Karte der Mission Cr&qui-Montfort von 1903 
(1:750000) die Grundlage. Der Grad der Verläßlichkeit der 
eingeschriebenen Höhenzahlen schwankt sehr. Am Schluß 
gibt Reeves eine Liste der Ortsbestimmungen und von 33 be- 
nutzten kartographischen Veröffentlichungen. 





— Bureau of Mines und Bureau of Standards. 
Die furchtbaren Katastrophen, die sich inden amerikanischen 
Kohlen- und Erzgruben in der letzten Zeit ereigneten und 
in den meisten Fällen auf den vollständigen Mangel an 
Schutz- und Sicherheitsvorrichtungen für die Arbeiter zurück- 
zuführen sind, scheinen die Behörden in Washington doch 
endlich einmal aus ihrer Gleichgültigkeit gegen das in den 
Vereinigten Staaten überaus gering bewertete Menschenleben 
aufgerüttelt und zur Inangriffnahme von Schutzmäßregeln 
veranlaßt zu haben. Nach statistischen Aufzeichnungen der 
Geological Survey sind von 1890 bis 1907, also in 17 Jahren, 
in den Kohlengruben allein 25415 Menschen durch schlagende 
Wetter getötet worden und diese Hekatombe schließt nicht 
einmal alle Kohlengruben betreibende Staaten ein; aus 
California, Georgia, Oregon, Texas und Virginia waren keine 
Statistiken erhältlich. Rechnet man zu dieser Zahl die von 
1908 bis 1910 stattgehabten Katastrophen, dann dürfte die 
Zahl 30000 weit überschritten werden. Die Zahl der Ver- 
letzten dürfte zum mindesten den dreifachen Betrag dieser 
Summe ergeben. Über die in den Erzgruben vorkommenden 
Unfälle mit tödlichem Ausgang liegen ebenfalls "keine 
Statistiken vor, doch glaube ich in keiner Weise zu über- 
treiben, wenn ich die Zahl der in den Kohlen- und Erz- 
gruben von 1890 bis 1910 ums Leben Gekommenen auf 
100000 schätze. Entschädigungen für den Verlust des Er- 
nährers erhalten die Familien der Getöteten im allgemeinen 
nicht; nur in seltenen Fällen kann die Familie noch von 
Glück sagen, wenn sie eine einmalige Abfindungssumme von 
150 bis 200 Dollar erhält. Der Nationalität nach sind es 
meistens Italiener, Slowaken, Griechen und Japaner, die in 
den Kohlengruben arbeiten, und mit diesen „Foreigners“ 
wird ohnedies in den Vereinigten Staaten nicht viel Auf- 
hebens gemacht. 

Durch Kongreßakte vom 16. Mai 1910 wurde nun als 
Unterabteilung des Department of the Interior ein „Bureau 
of Mines“ ins Leben gerufen, welches am 1. Juli d. Js. 
in Wirksamkeit trat. Dieses Bureau, aus der Geological 
Survey hervorgegangen, übernahm den gesamten techno- 
logischen Zweig derselben, einschließlich der Untersuchungen 
der Grubenunfälle und der Prüfung der Kohlen in bezug 
auf Explosionsfähigkeit (schlagende Wetter u. dgl... Der 
Kongreß hat dem Bureau of Mines eine Appropriation von 
410000 Doll. zu diesem Zweck vorläufig zur Verfügung ge- 
stellt, wovon auf die Untersuchung der Minenunfälle allein 
310000 Doll. entfallen. 120000 Doll. sind für Rettungs- 
stationen, 40000 Doll. für Untersuchung der Explosivstoffe, 


14000 Doll. für Untersuchung der elektrischen Anlagen in 
den Minen, 8000 Doll. für Verhinderung von Unfällen, 
5000 Doll. für Prüfung und Kodifizierung der bergrechtlichen 
Gesetze und Vorschriften vorgesehen. Die in Pittsburg seit 
1908 bestehende Versuchsstation (Mine Experiment Station), 
die sich bisher mit der Untersuchung der Explosivstoffe, 
Grubengas, Staub, Elektrizität usw., befaßte, bleibt als solche 
unter dem neuen Bureau bestehen. Insbesondere sind die 
Fabrikanten von Sprengstoffen aufgefordert worden, ihre 
Fabrikate zur Prüfung nach Pittsburg zu senden, damit 
dort entschieden wird, welche als geeignet verwendet werden 
dürfen und welche nicht. 

Dem Bureau of Mines fällt die weitere Aufgabe der 
Herausgabe von Bulletins oder Flugschriften zu, die auf die 
erwähnten Versuche Bezug haben. Vorläufig sind folgende 
Publikationen in Bearbeitung: Volatile matter of coal von 
H. C. Porter und F. K. Opitz; Coal analyses von H. W. Lord 
und J. J. Burrows; Regarding steam tests von L.P. Brecken- 
ridge; Lignite as a boiler fuel von D. T. Randall und Henry 
Kreisinger; Producer gas tests 1905—1907 von R. H. Fernald; 
The coke industry as related to the foundry von Rich. 
Moldenke; Coals for illuminating gas von A. H. White 
und Perry Barker; Petroleum for combustion under steam 
boilers von J. ©. Allen. — Zwei Bulletins, Nr. 423: „A primer 
on explosives for coal miners“ von Monroe und Hall und 
Nr. 425: „Explosibility of coal dust“ von G. 8. Rice, hat die 
Geol. Survey kürzlich herausgegeben, und es ist besonders 
das letzte deshalb von hohem Interesse, weil es auch die in 
europäischen Ländern angestellten ähnlichen Versuche be- 
rücksichtigt. 

Eine weitere Neuschöpfung der Regierung ist das dem 
Department of Commerce and Labor unterstellte, ebenfalls 
am 1. Juli 1910 in Wirksamkeit getretene Bureau of 
Standards, dessen Aufgabe in der Prüfung und Unter- 
suchung aller in den Gruben zur Verwendung kommenden 
Baumaterialien besteht. 

Es bleibt nun abzuwarten, welchen Einfluß die beiden 
Körperschaften auf die zurzeit bestehenden Zustände in 
den Gruben haben werden und ob die Zahl der Unfälle sich 
vermindern wird oder nicht. Eine sehr nötige Sache wäre 
es ferner, wenn das Bureau of Mines seine Aufmerksamkeit 
nicht nur auf die Kohlengruben allein, sondern auch auf 
die Erzgruben im allgemeinen ausdehnen würde, denn in 
diesen sind Vorsichtsmaßregeln zum Schutze der Arbeiter 
ebenso dringend nötig wie in den Kohlengruben. 

Denver, Colo. Charles L. Henning. 


— Straußenzucht auf Madagaskar. Angesichts der 
vorzüglichen Resultate, die in Süd-Madagaskar mit der 
Straußenzucht erzielt worden sind, versuchen nun auch, wie 
wir in „A travers le Monde“ lesen, die Kolonisten der Gegend 
von Majunga im Norden dieser Insel den Vogel zu akkli- 
matisieren, und auf ihr Ersuchen legt die Verwaltung auf 
der Ackerbaustation Marovoay eine Straußenzucht an, deren 
Erfolge abgewartet werden müssen. Große Straußenfarmen, 
wie man sie im Kapland hat, scheinen sich für Madagaskar 
nicht zu eignen infolge der Landesnatur und des zweifel- 
haften Wertes der eingeborenen Arbeiter. Im Somalilande 
und auch in Teilen des Sudan (Timbuktu) sieht man häufig 
zahme Strauße zusammen mit dem Vieh auf der Weide, und 
man verfährt auf Madagaskar ähnlich, weil die Gegenwart 
von Schafen die Wirkung hat, die Strauße beisammen zu 
halten. Das gibt ihnen außerdem ein gewisses Gefühl der 
Sicherheit und läßt unter den Vögeln jene Anfälle wahn- 
sinnigen Schreckens nicht aufkommen, die die Ursache vieler 
Unglücksfälle und Verluste sind. Junge Strauße von etwa 
sechs Monaten aus Tulear, die man in einem großen Park 
freiließ, haben sich allmählich an die Gegenwart von Schafen 
gewöhnt, die man dort gleichfalls eingeschlossen hatte. Nach 
Verlauf einer gewissen Zeit verlor sich die Furcht der 
Vögel, und die anfängliche Feindschaft machte der Gleich- 
gültigkeit Platz. Mit diesem Zeitpunkt begann der gemein- 
same Austrieb, wobei die Strauße zuerst an den Beinen ge- 
fesselt, später nur an ein Auslaufseil gebunden wurden. 
Jedes Tier wurde außerdem von einem Wärter überwacht. 
Nach und nach nahm die Wildheit der Vögel ab, sie ver- 
suchten nicht mehr zu entkommen und folgten auf der 
Weide dem Zuge der Schafherde. Die Zahl der Wärter 
wurde darauf vermindert. Diese Erfahrung dürfte für die 
Zukunft der madagassischen Straußenzucht von größter Be- 
deutung sein. Sie würde es gestatten, daß man einem zur 
Führung einer Schafherde geeigneten Eingeborenen einige 
darunter gemischte Strauße anvertraut, was keinen über- 
mäßigen Kostenaufwand verursachen würde. 





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— Druck: Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig.