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Full text of "Glossen zum Wiener Theater (1903-1906)"

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Von Hermann Bahr ift im gleichen Verlage erfhienen: 
Die gute Schule. Roman. 2. Auflage. 

Meben der Liebe. Wiener Roman. 2 Auflage. 
Dora. Wiener Gefpichten. 2 Auflage. 

Caph. Novellen. 2 Auflage. 

Der Antifemitismus. Ein Interview. 
Nenaiffance. Neue Reipe zur aritit der Moderne. 
Theater. Ein Wiener Roman. 3. Auflage. 
Tſchaperl. Ein Wiener Stüd. 

Joſephine. Ein Spiel. 

Der Star. Ein Diener Stüd. 

Wiener Theater (1892-1898), 

Die ſchoͤne Frau. Novellen. 2. Auflage. 
Rezenfionen (Wiener Theater 1901-1909). 

Dialog vom Tragifchen. Eſſavs. 

Der Meiſter. Komödie. 3. Auflage. 

Sanna. Schauſpiel. 

Die Andere. Schauſpiel. 





Hermann Bahr 


Sn 
Gloſſen 
Zum Wiener Theater 


(1903—1906) 





©. Fiſcher, Verlag, Berlin 
1907 


Ale Rechte, 
insbeſondere das der Überfegung, 
vorbehalten. 





Pas 1c 
Vs Bs4 


I 
Burgtheater 





1905 
Zu fpät. 


(Drei Einakter von M. E. delle Grazie. Zum erften Male 
aufgeführt im Burgtheater am 19. März 1903.) 

„Bu fpät“ nennt Fräulein belle Grazie drei kleine 
Stüde: „Vineta“, „Donaumwellen“ und „Sphinz“ ; das 
Buch, bei Breitfopf und Härtel, enthält noch ein viertes, 
„Mutter“, das man im Burgtheater ausgelafjen hat, viel- 
feiht damit die Komtefjen nicht erfahren, daß man Kinder 
ausſetzen kann. Die Form kennen wir von Sudermann, 
Hartleben und Schnigler her. Sie erlaubt dem Dichter, 
mit einem Gedanten zu fpielen, indem er ihn bald nad- 
denttich und ſchwer, bald von der heiteren Seite nimmt 
und jo, was man etwa gegen das eine Stüd einzuwenden 
hat, ſelbſt im nächiten gleich wieder außgleichen fann. Dem 
Publikum gefällt fie Durch ihre Kürze, da es doch Heute, 
nervbs und ungeduldig, nirgend3 zu warten, jondern gleich 
„gepadt“ fein will und nach dem letzten Alte, nach der 
Entſcheidung drängt; das andere, meint es, könne es fich 
ſelbſt denlen. Darin täufcht es ſich nun freilich und be- 
merft nicht, daß es eben die Kunſt jener drei Autoren iſt, 

029 


— s — 


indem fie uns nur einen legten Aft zu geben ſcheinen, in 
diefem doch alles, wenn auch nur fozufagen ftenographifch, 
unterzubringen, was fonft vorher in zwei langen Aften 
ausgebreitet wird. Ich fürchte faft, Fräulein delle Grazie 
hat fich darin auch ein wenig täufchen laſſen. Ihre Akte 
find in der Tat Iegte Akte, denen die früheren fehlen. 
Man fühlt e8 aber, daß fie fehlen; man vermißt fi. Wenn 
ih ganz aufrihtig meine Empfindung beim Lejen jagen 
darf, fo war fie recht jeltfam. Ich war die ganze Zeit ver- 
wundert, warum e8 denn noch immer nicht auf mich wirkte, 
da das doch eigentlich auf mich wirken müßte. Dann habe 
ich das Buch zugeflappt und nachgedacht und mir zu dem 
Stüd die Vorgefehichte aufgebaut. Und da hat e8 gemirkt. 
Im Theater aber hat man nicht bie Zeit, jo nachzuhelfen. 
Bevor wir noch in die Stimmung gelommen find, ung 
diefe Menichen und ihr Leben aus eigenem zu ergänzen, 
ift das Stüd ſchon wieder aus. Der Schaufpieler kann 
da freilich viel für und tun, aber es ift noch immer zu 
wenig. 

Ich vermute, Fräulein delle Grazie überjchägt die 
Situation, fie überfchägt das Ereignis auf der Bühne. 
Wir find aber geneigt, bei jedem Ereignis zu denen: Da 
kommt e8 num ganz auf den Menfchen an, den es trifft 
— was dieſen vernichtet, wird für jenen nur ein Spaß 
fein, je nach feiner Art; und fo ift ung mit der bloßen 
Situation, mit dem Ereignis noch gar nichts gegeben und 
gar feine Stimmung angejchlagen, wenn wir die Art des 
Menſchen nicht kennen. Sie aber rechnet nun ſchon mit 
einer Stimmung in ung, baut auf dieje und wundert fich 
‚wohl, wenn fie nicht wirkt. Nehmen wir gleich das erſte 





-9 — 


Stück. Zufällig begegnen ſich die junge Baronin Sußdorf 
und der Miffionär Johannes Noltih. Die beiden haben 
fi einft, ala er Hofmeifter im Haufe ihrer Eltern war, 
heiß geliebt, ohne es fich zu jagen. Sie Hat einen anderen 
heiraten müfjen und ift unglüdlich geworden. Ex geht 
als Prediger nad) China, um den Tod zu fuchen. Und 
nun, da es „zu ſpät“ ift, jagen fie fich, was fie einander 
geweſen find, und fcheiden in einer tiefen Wehmut, die wir 
nicht mitfühlen können. Wir fönnen es nicht, weil wir 
diefe beiden Leute zu wenig kennen, um zu willen, was 
ihnen jenes Ereignis bedeutet hat. Das Fräulein wird 
fagen: Uber denken Sie doch, ein junges Mädchen, das 
dem Geliebten entjagen und einen anderen heiraten muß ! 
Bir Innen aber junge Mädchen, die das vortrefflich über- 
ftanden Haben, mit dem anderen jehr glüdlich geworden 
find und nur lachen müfjen, wenn fie zufällig dem Heiß⸗ 
geliebten von damals begegnen. Jeder Hofmeifter, deſſen 
Bögling eine Schwefter Hat, ift in diefe vernarrt. Aber 
wenige find noch Miffionäre geworden. Das heißt, äſthetiſch 
geiprochen: Jenes Ereignis. hat an fich gar feinen Stimmungs- 
gehalt, es Tann Fein Poften in der dramatijchen Rechnung 
fein, es ift feine Valeur, fondern es befommt feine Be— 
deutung, feinen Wert erft eben durch den Menſchen, dem 
es geſchieht. Wir müßten die Baronin, bevor fie heiratet, 
geiehen und als eines jener empfindfamen Wejen erfannt 
haben, die nicht verwinden Tönnen; oder dies müßte un, 
wozu freilich eine ganz außerordentliche Kunſt gehören 
würde, durch irgend etwas, das fie geheimnisvoll fagt, oder 
an irgend einem Vorfalle unmittelbar gewiß werden. Da 
die nicht geichieht, fühlen wir uns, wie man fchon im 


— s — 


indem fie und nur einen letzten Alt zu geben ſcheinen, in 
diefem doc; alles, wenn auch nur fozufagen ftenographifch, 
unterzubringen, was font vorher in zwei langen Alten 
ausgebreitet wird. Ich fürchte faſt, Fräulein delle Grazie 
hat ſich darin auch ein wenig täufchen laſſen. Ihre Alte 
find in der Tat legte Akte, denen die früheren fehlen. 
Man fühlt e8 aber, daß fie fehlen; man vermißt fie. Wenn 
ich ganz aufrihtig meine Empfindung beim Lejen fagen 
darf, fo war fie recht ſeltſam. Ich war die ganze Zeit ver- 
wundert, warum e8 denn noch immer nicht auf mich wirkte, 
da das doch eigentlich auf mich wirken müßte. Dann habe 
ich da8 Buch zugeflappt und nachgedacht und mir zu dem 
Stüd die Vorgefchichte aufgebaut. Und da hat e8 gewirkt. 
Im Theater aber hat man nicht die Zeit, jo nachzuhelfen. 
Bevor wir noch in die Stimmung gelommen find, uns 
diefe Menſchen und ihr Leben aus eigenem zu ergänzen, 
ift dag Stüd ſchon wieder aus. Der Schaufpieler kann 
da freilich viel für und tun, aber es ift nod immer zu 
wenig. 

Ich vermute, Fräulein delle Grazie überſchätzt die 
Situation, fie überfhägt das Ereignis auf der Bühne. 
Wir find aber geneigt, bei jedem Ereignis zu denken: Da 
fommt es nun ganz auf den Menſchen an, den es trifft 
— was dieſen vernichtet, wird für jenen nur ein Spaß 
fein, je nach jeiner Art; und fo ift una mit der bloßen 
Situation, mit dem Ereignis noch gar nichts gegeben und 
gar feine Stimmung angeichlagen, wenn wir die Art des 
Menjchen nicht kennen. Sie aber rechnet nun ſchon mit 
einer Stimmung in uns, baut auf dieje und wundert ſich 
‚wohl, wenn fie nicht wirkt. Nehmen wir gleich das erfte 





-9 — 


Stück. Zufällig begegnen fich die junge Baronin Sußdorf 
und der Miffionär Johannes Noltſch. Die beiden haben 
ſich einft, als er Hofmeifter im Haufe ihrer Eltern war, 
heiß geliebt, ohne e3 fich zu jagen. Sie hat einen anderen 
heiraten müfjen und ift unglüdlich geworden. Er geht 
als Prediger nach China, um den Tod zu ſuchen. Und 
nun, da es „zu ſpät“ ift, jagen fie ich, was fie einander 
gewejen find, und fcheiden in einer tiefen Wehmut, die wir 
nicht mitfühlen Tönnen. Wir können e3 nicht, weil wir 
dieſe beiden Leute zu wenig fennen, um zu willen, was 
ihnen jenes Ereignis bedeutet hat. Das Fräulein wird 
jagen: Aber denken Sie doch, ein junges Mädchen, das 
dem Geliebten entjagen und einen anderen heiraten muß ! 
Wir Iennen aber junge Mädchen, die das vortrefflich über- 
ftanden haben, mit dem anderen ſehr glüdlic) geworden 
find und nur lachen müffen, wenn fie zufällig dem Heiß- 
geliebten von damals begegnen. Jeder Hofmeifter, deſſen 
Bögling eine Schwefter hat, ift in diefe vernarrt. Aber 
wenige find noch Miffionäre geworden. Das heit, äſthetiſch 
geiprochen: Jenes Ereignis hat an fich gar feinen Stimmungs- 
gehalt, es Tann fein Poſten in der dramatijchen Rechnung 
fein, es ift feine Valeur, ſondern es befommt feine Be- 
deutung, feinen Wert erft eben durch den Menjchen, dem 
es geichieht. Wir müßten die Baronin, bevor fie heiratet, 
gejehen und als eines jener empfindfamen Weſen erkannt 
haben, die nicht verwinden Tönnen; oder dies müßte ung, 
wozu freilich eine ganz außerordentliche Kunſt gehören 
würde, durch irgend etwas, das fie geheimnigvoll fagt, oder 
an irgend einem Vorfalle unmittelbar gewiß werden. Da 
dies nicht gejchieht, fühlen wir uns, wie man ſchon im 


— 1 — 


Theater, wird man nicht bezwungen, fogleich widerſpricht, 
in eine heimliche Oppofition gebrängt und jagen blaftert: 
„Das alles, weil fie ben Hofmeiſter nicht gekriegt hat? 
Anderen ift ſchon Ärgeres paffiert.* 

Mit den „Donaumwellen“ ift es ähnlich. Ein kleines 
Wirtshaus Hinter dem Prater, an der Reichsbrücke 
Kleine Leute, die einer Damenkapelle zuhören. Hier 
tommt Fräulein Hedwig mit dem Weinreiſenden Dit 
zuſammen, den fie heiraten fol. Die alte Geſchichte: Sie 
iſt verführt und verlaffen worden, und um fie los zu werden, 
will fie der Frühere einem Reiſenden feiner Firma an« 
hängen, der unter guten Bedingungen bereit ift, gefällig zu 
jein. Im Geſpräch mit diefem praftifchen Herrn fühlt fie 
erſt, was aus ihr geworden ift, fühlt, was neben ihm aus 
ihr würde. Sie hat ja dem Kinde das Opfer bringen 
wollen, aber fie fann nicht, es ift zu viel. Sie fpringt 
auf und rennt fort, ein Gewitter kommt, es bligt und ſtürmt 
und donnert, da jchreit ein Fiaker plöglich auf: „Jeſus 
Maria! Da 18 ane in die Donau g’prungen! Hilfe, 
Hilfe !“ ... Dies ift unleugbar eine rein tragiſche Situa- 
tion, wenn — wenn nämlich) das Mädchen danach ift. 
Es fommt auch bier wieder alles auf ihr Weſen an, das 
wir erft fühlen müffen, um ficher zu fein, daß ihr Unter- 
gang notwendig ift. Was jener Dit zu ihr fagt, ift ſehr 
ftarf, vielleicht zu ftarf, da gerade jo naiv verdorbene Leute 
meiftens ſchon aus Eitelfeit gutmütig find. Es handelt 
fi) aber nicht darum, ihn jehr gemein zu zeigen, fondern 
um auf und zu wirken, müßte gezeigt werden, daß fie zu 
jenen. Menjchen gehört, die das Gemeine tdtet. Das fehlt. 
Es fehlen wieder die früheren Akte, in welchen wir das 





—- 1 — 


Mädchen allmählich hätten Tieb gewinnen können ; oder es 
fehlt jene geheimnisvolle plaftiiche Kraft, der ein ftilles 
Wort genügt, um uns dadurch eine Seele zu ent- 
Hüllen. 

Ganz Iuftig ift die „Sphing“ gedacht, die freilich 
achte zum Schwan, in die Poſſe Hinübergleite. Ein Ge- 
lehrter, der verlorene zerjtreute Profefjor aus den liegenden, 
ahnt nicht, daß er fich in ein gutes junges Mädchen im 
Haufe verliebt, und um ed nur immer bei fich zu haben, 
läßt er fich ein, ihre alte Tante zu heiraten. Da fich das 
Mädchen nun aber mit einem Coufin verlobt und aljo doc; 
aus dem Haufe will, begreift er erit, was mit ihm war, 
und rennt Inapp vor der Hochzeit noch der Tante erjchroden 
davon. Das fit ein ganz hübſcher Scherz in, der älteren 
Manier, den die verliebte Wunterfeit des jungen Paares 
angenehm belebt. 

Dem erften Stüde Half Frau Hohenfeld mit ihrer 
unficgtbar waltenden Energie nad; Herrn Devrient 
wird man freilich einen ſchwärmeriſchen Miffionär niemals 
glauben. Im den „Donauwellen“ jchten ſich das Publitum 
über das Beiwerk zu amüfieren, die Damentapelle, die 
Kellner, den Tinker; es wurde auch ſehr „echt“ gejpielt, 
freilich mit einer etwas Herablaffenden und zum Parterre 
zwinfernden Echtheit, gleichjam: Schauts, wie gemein wir 
Hofbeamten uns doch machen Tönnen! Frau Medelsky 
übertrieb; dies ift doch nicht der letzte Akt der „Liebefei“. 
Höchft ergöglich waren Herr Zeöla, Herr Korff und 
Her Schmidt. Die „Sphinx“ zog und dehnte Herr 
Thimig jehr aus, und jo komiſch er übrigens, jo reizend 
Frau Retty war, die rechte Stimmung wurde es nicht. 


— 12 — 


Fräulein delle Grazie erſchien nach jedem Stüde, dem Ziſchen 
tapfer trogend. 


Die Frau vom Meere. 
(Schaufptel in fünf Alten von Henrik Ibſen. Im Burgtheater zum 
erften Male aufgeführt am 24. Aprit 1908.) 

Elida, das Kind eines Wächters auf dem Leuchtturm, 
wird von einem wilden finnifchen Steuermann begehrt und 
da er fliehen muß, verloben fie fich insgeheim unter felt- 
famen Zeichen, indem er einen Schlüffelbund aus der 
Tafche zieht, an diejen feinen Ming und einen Meinen 
Ning von ihr ftedt und nun den Bund mit den Ringen 
weit ins tiefe Meer wirft, wodurch fie fich nun beide für 
alle Zeit dem Meere angetraut glauben jollen. Er zieht 
fort, fie erwächſt und bald ift e& ihr nur noch wie ein 
wüfter Traum, fie fieht ein, wie „verdreht und ſinnlos“ 
e3 war, und wird die Frau des Doktor Wangel, nachdem 
fie diefem ehrlich befannt Hat, daß fie ſchon einmal einen 
anderen geliebt. Aber fie kann fich in der Ehe, nicht recht 
„afflimatifieren“. Ste lernt ihren gütigen Gatten lieben, 
doch der andere, der Wilde, jchredt immer noch ihr Gemüt 
auf. Sie denkt nur mit Grauen, mit Entjegen an ihn, 
aber fie fühlt, daß fie ihm gehört. Er wird fommen und 
fie holen, da wird fie ihm folgen müfjen, denn er hat Die 
Macht über fie. Und er kommt wirklich. Da wagt ihr 
Dann, der Arzt, das legte: er gibt fie frei, fie ſoll nicht 
gebunden fein, fie mag wählen zwijchen ihm und dem 
Fremden. Dies Idft den Spuk, der finftere Zauber zer- 
rinnt, über die Freie hat der Fremde feine Gewalt mehr: 








— 3 — 


er geht, ſie bleibt. Sie iſt dem Gatten gewonnen, jetzt 
kann ſie erſt Wurzel ſchlagen in ſeinem Hauſe. 

Dies iſt nun zunächſt nur, wie ein Arzt jagen würde: 
ein jchöner Fall von Hyſterie. Ellida mag damals in den 
gefährlichen Jahren der Hedwig Ekdal geweien fein; oder 
gerade kaum darüber hinaus. Von einer ungeheuren Er: 
regbarkeit und Empfänglichkeit aljo. Da ftößt fie auf den 
wilden Mann, der eine billige Romantik Hat: er iſt eine 
Art fliegender Holländer in der Vollsausgabe, er hat einen 
Mord begangen, er ift aber unfchuldig und er weiß fie 
durch unheimliche Worte, durch abenteuerliche Zeichen, grobe 
Symbole, wie Kinder und einfache Menjchen fie lieben, 
zu betäuben und zu betören. Wie er weg ift, wird das 
alles bald vergeffen. Es verfinkt in fie hinab, fie denkt 
nicht mehr daran. Aber die Che mit einem_älteren, ſehr 
gütigen, doch nicht eben ſehr lebhaften Manne in einem 
engen Kreiſe unter Heinen Pflichten und Sorgen hält ihr 
nicht, was fie fich verfprochen haben mag. Ihr wird 
dumpf und bang, ihre Sehnfucht fängt zu arbeiten an und 
dag ift num pfychologiich jehr wahr: die Sehnfucht jegt 
ſich immer an einen alten Kern an, bier Friftallifiert fie. 
So ſteigt der verfunfene Fremde drohend wieder aus ihrer 
Erinnerung herauf. Sie erjchridt, fie wehrt das fürchter- 
liche Bild ab. Dadurch und weil fie es verbirgt, weil fie 
& nicht wagt, fich dem Gatten anzuvertrauen, weil fie die 
Erfcheinung, die fie verftört und beflemmt, wie die Piychiater 
das nennen: nicht „abreagiert“, wird ihre Furcht jo groß, 
daß fie jeden anderen Gedanken allmählich aus ihr ver- 
drängt. Dafür gibt e8 nur eine Kur: was fie fürchtet, 
muß gejchehen, weil das Wirkliche niemals jo furchtbar 


- 10 — 


Theater, wird man nicht bezwungen, ſogleich wiberjpeicht, 
in eine heimliche Oppofition gedrängt und fagen blaftert: 
„Das alles, weil fie den Hofmeiſter nicht gekriegt hat? 
Anderen ift ſchon Ärgeres paffiert.“ 

Mit den „Donauwellen“ ift es ähnlich. Ein Kleines 
Wirtshaus Hinter dem Prater, an der Reichsbrücke 
Kleine Leute, die einer Damenfapelle zuhören. Hier 
kommt Fräulein Hedwig mit dem XWeinreijenden Dit 
äufammen, den fie heiraten fol. Die alte Geſchichte: Sie 
iſt verführt und verlafen worden, und um fie 108 zu werden, 
will fie der. Frühere einem Reiſenden feiner Firma an- 
hängen, der unter guten Bedingungen bereit iſt, gefällig zu 
fein. Im Gefpräch mit diefem praftifchen Herrn fühlt fie 
erſt, was aus ihr geworben ift, fühlt, was neben ifm aus 
ihr würde. Sie hat ja dem Kinde das Opfer bringen 
wollen, aber jie kann nicht, es iſt zu viel. Sie fpringt 
auf und rennt fort, ein Gewitter kommt, es bligt und ſtürmt 
und donnert, da ſchreit ein Fiaker plöglich auf: „Jeſus 
Maria! Da is ane in die Donau g’fprungen! Hilfe, 
Hilfe !“ ... Dies ift unleugbar eine rein tragiſche Sttua- 
tion, wenn — wenn nämlich das Mädchen danach iſt. 
Es kommt auch hier wieder alles auf ihr Weſen an, das 
wir erft fühlen müffen, um ficher zu fein, daß ihr Unter- 
gang notwendig iſt. Was jener Ott zu ihr fagt, ift ſehr 
ſtark, vielleicht zu ftark, da gerade jo naiv verdorbene Leute 
meiftens ſchon aus Citelleit gutmitig find. Es handelt 
fi) aber nicht darum, ihn ſehr gemein zu zeigen, fondern 
um auf und zu wirken, müßte gezeigt werden, daß fie zu 
jenen Menſchen gehört, die das Gemeine tötet. Das fehlt. 
Es fehlen wieder die früheren Akte, in welchen wir das 





— 11 — 


Mädchen allmählich hätten lieb gewinnen Tönnen ; oder es 
fehlt jene geheimnisvolle plaftiiche Kraft, der ein ftilles 
Wort genügt, um und dadurch eine Seele zu ent- 
hüllen. 

Ganz luſtig iſt die „Sphinx“ gedacht, die freilich 
ſachte zum Schwant, in die Poſſe Hinübergleitet. Ein Ge— 
lehrter, der verlorene zerſtreute Profeſſor aus den Fliegenden, 
ahnt nicht, daß er fich in ein gutes junges Mädchen im 
Haufe verliebt, und um es nur immer bei fich zu haben, 
läßt er fich ein, ihre alte Tante zu heiraten. Da fich das 
Mädchen nun aber mit einem Coufin verlobt und alſo doch 
aus dem Haufe will, begreift er erjt, was mit ihm war, 
und rennt knapp vor der Hochzeit noch der Tante erſchrocken 
davon. Das tft ein ganz hübjcher Scherz in, der älteren 
Manier, den die verliebte Munterkeit des jungen Paares 
angenehm belebt. 

Dem erften Stüde Half Frau Hohenfels mit ihrer 
unfichtbar waltenden Energie nah; Herrn Debrient 
wird man freilich einen fchwärmerifchen Miſſionär niemals 
glauben. In den „Donaumellen“ ſchien fich das Publikum 
über das Beiwerk zu amüfieren, die Damenfapelle, die 
Kellner, den Fialer; es wurde auch jehr „echt“ geiptelt, 
freilich mit einer etwas herablaffenden und zum Parterre 
zwinfernden Echtheit, gleichſam: Schauts, wie gemein wir 
Hofbeamten und doch machen können! Frau Medelsky 
übertrieb; dies iſt doch nicht der legte Aft der „Liebelei“. 
Höchſt ergbtzlich waren Herr Zesla, Herr Korff und 
Her Schmidt. Die „Sphinx“ z0g und dehnte Herr 
Thimig ſehr aus, und fo komiſch er übrigens, jo reizend 
Frau Retty war, die rechte Stimmung wurde es nicht. 


— 12 — 


Fräulein delle Grazie erfchien nach jedem Stüde, dem Ziſchen 
tapfer trotzend. 


Die Frau vom Meere. 
(Säaufpiel in fünf Akten von Henrik Ibſen. Im Burgtheater zum 
erften Male aufgeführt am 24. April 1908.) 

Ellida, das Kind eines Wächter auf dem Leuchtturm, 
wird von einem wilden finnifchen Steuermann begehrt und 
da er fliehen muß, verloben fie ſich insgeheim unter jelt- 
famen Zeichen, indem er einen Schlüffelbund aus der 
Taſche zieht, an diefen feinen Ring und einen Heinen 
Ning von ihr ſtedt und nun den Bund mit den Ringen 
weit ins tiefe Meer wirft, wodurd fie fi nun beide für 
alle Zeit dem Meere angetraut glauben follen. Er zieht 
fort, fie erwächſt und bald ift es ihr nur noch wie ein 
wüfter Traum, fie fieht ein, wie „verdreht und finnlos“ 
e3 war, und wird die Frau des Doktor Wangel, nachdem 
fie diefem ehrlich befannt hat, daß fie ſchon einmal einen 
anderen geliebt. Aber fie Tann ſich in der Ehe, nicht recht 
„afflimatifieren“. Sie Iernt ihren gütigen Gatten lieben, 
doch der andere, der Wilde, ſchreckt immer noch ihr Gemüt 
auf. Sie denkt nur mit Grauen, mit Entjegen an ihn, 
aber fie fühlt, daß fie ihm gehört. Er wird kommen und 
fie holen, da wird fie ihm folgen müffen, denn er hat bie 
Macht über fie. Und er kommt wirklich. Da wagt ihr 
Mann, der Arzt, das legte: er gibt fie frei, fie foll nicht 
gebunden fein, fie mag wählen zwiſchen ihm und dem 
Fremden. Dies Löft den Spuf, der finftere Zauber zer 
zinnt, über die Freie hat der Fremde keine Gewalt mehr: 


— 13 — 


er geht, ſie bleibt. Sie iſt dem Gatten gewonnen, jetzt 
kann ſie erſt Wurzel ſchlagen in ſeinem Hauſe. 

Dies iſt nun zunächſt nur, wie ein Arzt jagen würde: 
ein fchöner Fall von Hyſterie. Ellida mag damals in den 
gefährlichen Jahren der Hedwig Efdal geweien fein; oder 
gerade faum darüber hinaus. Von einer ungeheuren Er: 
regbarkeit und Empfänglichkeit alfo. Da ftößt fie auf den 
wilden Mann, der eine billige Romantik hat: er ift eine 
Art Fliegender Holländer in der Volksausgabe, er hat einen 
Mord begangen, er ift aber unfchuldig und er weiß fie 
durch unheimliche Worte, durch abenteuerliche Zeichen, grobe 
Symbole, wie Kinder und einfache Menjchen fie lieben, 
zu betäuben und zu betören. Wie er weg iſt, wird das 
alles bald vergefjen. Es verfinkt in fie hinab, fie denkt 
nicht mehr daran. Aber die Ehe mit einem_älteren, jehr 
gütigen, doch nicht eben jehr lebhaften Manne in einem 
engen Kreife unter Heinen Pflichten und Sorgen Hält ihr 
nicht, was fie fich verfprochen Haben mag. Ihr wird 
dumpf und bang, ihre Sehnfucht fängt zu arbeiten an und 
das ift nun piychologiich fehr wahr: die Sehnfucht ſetzt 
ſich immer an einen alten Kern an, bier Friftallifiert fie. 
So fteigt der verjunfene Fremde drohend wieder aus ihrer 
Erinnerung herauf. Sie erichrict, fie wehrt das fürchter- 
liche Bild ab. Dadurch und weil fie es verbirgt, weil fie 
& nicht wagt, fich dem Gatten anzuvertrauen, weil fie die 
Erſcheinung, die fie verjtört und bellemmt, wie die Piychiater 
das nennen: nicht „abreagiert“, wird ihre Furcht jo groß, 
daß fie jeden anderen Gedanken allmählich aus ihr ver- 
drängt, Dafür gibt es nur eine Kur: was fie fürchtet, 
muß gefchehen, weil das Wirkliche niemals jo furchtbar 


— 4 — 


ſein laun, als es unſere Einbildung macht; und fie darf 
nicht beſchũtzt, ſie muß gezwungen werden, ihm aus eigener 
Kraft zu begegnen. Indem der Fremde erſcheint, nicht 
mehr als ein bloßes Geipenft ihrer Angft, ſondern mit 
Fleiſch und Blut, ift fie eigentlich jchon geheilt. Es muß 
ihr nur erft noch bewußt werden, fie darf nicht glauben 
fönnen, daß man ihr geholfen Hat, fie muß ficher fein, 
daß jie es jelbft ift, die die Macht hat, das Phantom zu 
vernichten. Indem der Doktor Wangel die Einficht hat, 
fie frei wählen und ſich ihren Entſchluß allein abringen 
zu laſſen, Handelt er ganz, wie unjere Doktoren Breuer 
und Freud ihre Kranfen behandeln: er hebt ihr Leiden an 
einer urfprünglich nicht erledigten, fondern gewaltſam ge- 
hemmten Vorftellung dadurch auf, daß er fie zwingt, den 
verhaltenen Affekt auszulöjen und im Hin und Her von 
Erwägungen, zwifchen welchen fie ſchwankt, bis fie fi 
entfchließt, allmählich abzuführen; worüber mehr in dem 
wunderbaren Buche unjerer beiden Gelehrten, „Studien 
über Hyſterie“ (Wien, Franz Deutide, 1895) nachgeleien 
werden mag. 

Ibſen ftellt ficy immer, al? fei e3 ihm nur um einen 
folgen ganz bejonderen einzelnen Fall zu tun. Er hat, 
feit er fich der Romantik entrungen hat, eine ungeheure, 
manchmal fat komiſche Angſt, ein „Problembichter” zu 
fein. Es hilft ihm aber nichts, er kommt von jeiner Natur 
nicht 108. Nur find es, was man leider immer noch zu 
verfennen fcheint, freilich niemal® Probleme der Moral, 
fondern er hält fich an die der Kultur. Man wird ſchon 
fpäter einmal begreifen Iernen, daß er fich darin unmittel- 
bar an Goethe anjchließt; Rosmer und Tafjo haben diejelbe 





— 15 — 


Wurzel. Hier ift e8 nun das Thema, wie fehwer es ung 
wird, und aus der Barbarei in die Sitte zu fügen. Da 
jeder von uns in fich die ganze Entwicdlung der Menjch- 
heit noch einmal abgekürzt durchzumachen Hat und noch 
einmal ber Reihe nach Tier, Urmenſch, Halbmenſch ift, 
bevor er al3 Europäer herausfommt, muß ſich der Jüng- 
fing, noch von ſolchen ftarfen Erinnerungen an die Wild- 
beit beherrfcht, fremd in der Sitte und Zucht fühlen, die 
ihn umgeben, und findet ſich nicht gleich zurecht. Er muß 
fich erft „afflimatifieren". Es ergeht ihm ganz wie Ellida 
jagt: „Ich Habe es jo gut hier gehabt, wie es nur ein 
Menſch wünſchen mag. Aber ich kam nicht freiwillig. 
Das ift die Sache” Jeder hat das wohl einmal erlebt; 
feiner ift „freiwillig“ gefommen, das iſt die Sache. Wir 
finden und als Jünglinge vor Gejegen, Sitten, Gewohn- 
heiten, um die wir nicht gefragt worden find — das iſt 
die Dual der Jugend. Mag man und immer beweifen, 
wie gerecht und notwendig fie find — man hätte uns 
fragen follen. Man mag und immer erzählen, daß fie ja 
nur zu unferem Glüde find — weiß man denn, ob wir 
glüdlich fein wollen? „Die Wahl muß ich haben,“ fagt 
Ellida, „die Wahl nach beiden Seiten hin.” Ihr graut 
vor dem Manne des Meeres, jo graut und vor Begierden, 
die wir aus alter Zeit her in uns drohen fühlen. Aber 
wir werden bon ihnen erft frei, wenn wir ung ihnen ftellen 
dürfen, wie fich Ellida dem {Fremden ftellt. Es gibt Dinge, 
die der Menſch nur bei fich ſelbſt allein abmachen Tann, 
und es ift der Wahn unferer Kultur, daß fie ihm dies 
eriparen will, indem fie ihm feine Natur zu vertuſchen 
glaubt, Geſetz, Sitte und Kunſt können nicht befohlen 


— 16 — 


werben, fie müfjen erlebt worben fein. Es hilft ung nichts 
daß ung Eltern und Erzieher über dad Chaos in una 
Binwegtäufchen wollen. Es bricht doch durch und unjer 
Stolz verlangt, „die Wahl zu haben, die Wahl nach beiden 
Seiten hin". Erſt wenn wir das Chaos aus eigener Kraft 
überwunden haben, treten wir „freimillig” in die Kultur 
ein und wir fchließen uns dem Beſchluſſe der Menfchheit 
erſt an, wenn wir erleben, daß nicht ohne uns ſchon alles 
erledigt und abgetan ift, daß auch wir notwendig find, daß 
es auch für und noch eine „Aufgabe“ gibt. Als Ellida 
fih an der wirren Heinen Hilde fragt: „Sollte hier eine 
Aufgabe für mich fein?“, da weicht der Bann, der Dämon 
der barbarifchen Erinnerungen entfchwindet, die Wilingerin 
iſt bezähmt. 

Frau Bleibtreu Hat als Ellida verfagt. Das Ner- 
vdfe, das Hyſteriſche, das Viſionäre oder wie man es 
immer nennen mag, ift ihrer fejten, in fich ficheren und 
Haren Natur fremd, die nach ruhiger Entfaltung verlangt, 
wenn fie fich in ihrer Kraft und Größe zeigen ſoll. Freilich 
weiß ich auch ſonſt im Burgtheater niemanden für die Rolle. 
Here Heine wird als fremder Mann durch feine fpige, 
nüchterne, verjtändige Art faft komiſch; vielleicht Tönnte 
man es mit Herrn Schmidt wagen. Sonnenthal wirft 
ja immer durch jeinen warmen und edlen Ton, aber jeinem 
Bangel fehlen die hübſchen Heinen Züge des alkoholiſchen 
Pedanten. Frau Medelsfy, Frau Retty, Herr Niſſen 
und Herr Trefler fpielen gar etwas ftark in den deutſchen 
Schwank hinüber, aber fie haben das Publikum für fich, 
dem erft in den leichteren Szenen des legten Altes all- 
mählich etwas behaglicher zu werden jchien. 





— 17 — 


Burgtheater. 


(Mutter“, Schauſpiel in einem Alt von M. E. delle Grazie. 
„Die ſtillen Stuben", Schauſpiel in drei Akten von Sven Lange. 
Am 13. Mat 1903.) 


Sven Lange Hat einen merfwürdigen Roman ge— 
ſchrieben: Hertha Junker. Der fängt als muntere Satire 
mit allerlei netten einen Bosheiten an, um fich allmählich 
in eine traurige Liebe einzufpinnen. Jene find ganz an» 
genehm zu leſen, ohne doch irgend ernſter oder tiefer zu 
wirken. Diefe genießt man mit einer unendlichen Wehmut 
und man fpürt, daß hier etwas ganz Neues verfucht wird. 
Was hier nämlich die Leute jagen oder was über fie vom 
Dichter gejagt wird, iſt es nicht, daS uns rührt, ſondern 
auf eine geheimnisvolle Art läßt er und in ihre Stimmung 
geraten, ohne Worte zu brauchen; dieje Klingen und ſchwin⸗ 
gen nur fo mit, wir hören fie faum. Sehr reine und 
ftille Menjchen kommen uns nahe, nicht durch das, 
was fie tun oder was fie fprechen, jondern durch einen 
Glanz auf ihrem ganzen Weſen. Sehr ſchbne Stunden 
beglüden und noch in der Erinnerung, aber wir konnen 
eigentlich nichts von ihnen erzählen, das wäre lächerlich; 
wir wiffen gar nicht, wa3 an ihnen war, wir werden nur 
nie vergefjen, ‘wie jchön e8 war. Sehr bittere Schmerzen 
werden una von fieben Menſchen angetan, aber wir fönnen 
und nicht einmal beffagen, wir begreifen jelbft nicht, was 
uns fo gefränft hat, und was wir davon jagen können, 
das ift e3 alles nicht. Solche Dinge, den Schimmer oder 
die Muſik, die um manchen Menfchen ſchweben, die bange 
Luft unvergeßlicher Stunden, das tiefe Leid, daS ung ge- 

Hermann Bahr, Gloſſen 2 


— 18 — 


ichieht, ohne dab eine Hand erhoben oder auch nur ein 
Wort geiprochen wird, durch einen bloßen Blick oder durch 
das Schweigen oder durch den verhaltenen Gram einer 
geliebten Perfon, dies drüdt Sven Lange mit einer wunder- 
baren Macht aus. 

In feinem Schaufpiel jehen wir eine junge Frau in 
ihrer Ehe mit einem guten Manne, den fie liebt, allmäh- 
lich verzagen und ſcheu und fo traurig werden, daß fie 
in ihrer Not jich felbft nicht mehr verfteht und ſchon einen 
anderen zu lieben glaubt, bis fie, jchon bereit, mit diefem 
zu entlaufen, plöglich erfennt, daß es doch jener ift, dem 
fie mit ganzer Seele gehört, und in ihrer Verwirrung, 
ihrer Scham Gift nimmt. Alfo die alte Gefchichte, wird 
man jagen, von der unverftandenen oder unbefriedigten 
Frau, die es nach Abenteuern lodt und die doch zu an- 
ftändig oder zu feig ift, ihrer Leidenichaft zu folgen. Ja 
und nein. Gewiß find es immer die alten Gejcichten, 
die unter den Menjchen gejchehen. Cs jpürt fie nur jeder 
anders. Hier wird gezeigt, wie wir fie ſpüren. Sonſt hie 
es in den Romanen oder in den Stüden immer: Sie 
liebte ihren Mann nicht mehr, fie liebte einen andern. 
Wobei ich doch immer dag Gefühl habe: Glüdliche Frau 
die ihrer Empfindung fo ficher ift und darin ſolche Ordnung 
hält, die da8 Datum fennt, wann fie zu lieben angefangen 
oder aufgehört hat, die weiß, wen fie liebt! Im Leben, 
hab ich gefunden, ift daS anders. Wir begehren, vie. ge: 
nießen, aber nachdem es aus ift, fält uns fpäter plöglich 
einmal ein: War das damals eigentlich Liebe? Und 
wir wifjen es nie. Wir fünnen nur vermuten. Wielleicht 
im erften Taumel, ein paar Tage, ein paar Wochen. Aber 





— 19 — 


iſt das Liebe? Selbſt Romeo — hat er eigentlich geliebt ? 
Nicht bloß begehrt, ſondern ſo geliebt, wie jede junge Frau 
geliebt zu werden und zu lieben träumt ? 

Bei diefer Frage ift Frau Helga angefommen. Liebt 
ihe Dann fie noch? Liebt fie ihn noch? Sie vermikt 
wohl die ftarfe und heftige-Emotion der erften Begierde. 
Sie fühlt etwas aus ihrem Leben entſchwinden, entgleiten. 
Sie Löjt fich allmählich von ihrem Manne los, fie wird 
einſam, fie fragt und grübelt und fehnt ſich. Hätte fie 
nun einen brutalen und finnlichen Mann, fo würde diefer, 
dur ihr verändertes Weſen ftugig, gereizt und wütend, 
jeine Eiferjucht, feinen Neid, feine Sorge fo gewaltſam 
entladen, daß es unter Flüchen und Tränen ſchließlich doch 
wieder die Emotion geben würde, die ihr fehlt. Niels 
Theyſen aber, ihr Gatte, iſt einer jener ftillen, verleglichen 
und fprachlojen Menſchen, die Sven Lange liebt. Er kann 
nicht toben, nicht Elagen, er explodiert nicht, er würgt alles 
ftumm in fich hinein, befommt höchſtens Kopfweh davon 
und zeigt nicht, was in ihm geichieht. Und, was feine 
eigentliche Schuld gegen die Frau ift: er will gerecht gegen 
fie jein und ihr ihre volle Freiheit laſſen. Er jpürt, daß 
fie ſich allmählich von ihm entfernt. Statt fie nun mit 
aller Macht an fich zu ziehen, wodurch alles wieder gut 
werden Tönnte, hat er das Gefühl: Dies wäre häßlich, ich 
darf fie ‚nicht ftören, in ihr geht irgend etwas vor, derlei 
muß jeder Menſch bei ſich allein abtun, dann wird. fich 
ja zeigen, ob fie mich noch liebt, und wenn fie mich nicht 
mehr liebt, foll fie frei fein!. So quält er fich und ahnt 
nicht, daß er fie damit noch viel mehr quält. Sein Irrtum 
iſt nämlich, mit der Liebe einer Frau wie mit einer ficheren 

9* 


— 2 — 


Größe zu rechnen. Er denkt immer: Das ift ihre Sache, 
ich darf fie nicht zwingen! Liebe ift aber nichts ala Zwang: 
dag weiß er nicht. Was Frauen als Liebe empfinden, 
ift nur die durch fie ftrömende Straft des Mannes, der 
fie will. Hört diefe zu wirken auf, fo ift es für das 
Gefühl der Frau ganz gleich, ob es aus Überdruß, aus Un- 
treue oder aus einer faljchen Gerechtigkeit geichiet. Sie 
fühlt fich nur verlafjen und davon, daß er ſich im Stillen 
abhärmt, Hat fie nichts; fie will bezwungen fein. In 
diefem faft unheimlichen Verhältniffe zweier Menichen, 
das man Liebe nennt, Tommt es eben wahrjcheinlich gar 
nicht darauf an, was jeder von ihmen bei fich fühlt, 
fondern nur darauf allein, was er den anderen fühlen 
läßt. 

So zarte und gefährliche Dinge werden in biejem 
Stüd mit einer unbejchreiblichen geiftigen Anmut dargeftellt. 
Ganz feltiam tft dabei, wie der Dichter das Wort be- 
handelt. Er erinnert darin an Strindberg. Strindberg 
tft der erfte geweſen, der das Wort völlig zurückgedrängt 
hat, jo daß es eigentlich wenig bedeutet, was jeine Men⸗ 
chen jagen; das Wort wirkt bei ihm nur noch als Farbe 
oder wie die Maler das nennen: als Valeur im Ganzen. 
Darum verlangt er auch Echaufpieler, die nicht bloße 
Referenten“ des Tertes find, jondern die mimiſche Kraft 
haben, uns durch den Blick, die Gefte und ihr ganzes 
Weſen mehr von fich wiſſen zu laſſen, als jie jagen dürfen. 
Ebenſo Sven Lange in diefem Stüd, das vermutlich erſt 
im Berliner „Kleinen Theater“ erjcheinen wird, wie es 
wirklich iſt. Hier traf nur Herr Korff anfangs ungefähr 


den Ton. Die anderen jpielten daran fo grotesf vorbei, | 





— 1 — 


daß das Publikum eigentlich recht Hatte, das feine und 
melancholifche Stück auszufichern. 

Der Akt des Fräuleins delle Grazie, zum Zyklus 
„Bu ſpät“ gehdrend, zeigt wieder, daß es dem Fräulein 
leider immer an der plaftiichen Straft fehlt, ihre Intention 
zu geftalten. Sie hat gewiß allerhand zu jagen, aber fie 
jagt e8 eben immer nur, fie ftellt es nicht dar, wir hören 
in einem fort reden, aber wir jehen nichts, nichts wird 
lebendig, nichts fteht da. Doch wird ihr Stück wenigſtens 
in zwei Rollen gut gejpielt: Die klare, ſcharfe, eindring- 
liche Art der Frau Mitterwurzer und Sonnenthals warmer 
edlet Ton Klingen vortrefflich zufammen. 


Geſchäft ift Geſchaft. 
(Komödie in drei Akten von Detabe Mirbeau. Zum erſten Male 
aufgeführt im Burgtheater am 2. Ottober 1908.) 

Bon Mirbeau wird erzählt, es fei, ald er noch ein 
Heiner Bub war, feine Paſſion geweſen, fich ungeitüm, 
wenn er einen Wagen ſah, vor die Pferde zu werfen, neu» 
gierig, ob es dem Kutjcher gelingen würde, fie noch zurüdzu- 
tigen. Als er daheim nicht mehr zu bändigen war, 
wurde er nach Vannes zu den Jefuiten in die Schule ge- 
ſchict, woran man feine Erinnerungen im Sebaſtien Roch 
nachleſen mag, und kaum fiebzehn kam er nach Paris, um 
Juriſt zu werden, er zog aber die Heinen Mädchen vor. 
Bald finden wir ihn im Ordre bei den Bonapartiften, wo 
er über Malerei jchreiben foll, doch durch feine Begeifterung 
für Manet und feine Wut auf die „Alten“ unmöglich wird. 
Er wendet ſich zur Kritik über die Theater, Tann fich aber 


— 26 — 


ſoll, daß er ihn aufgeleſen hat, und kuſchen muß, wenn 

“er ihn anſchreit. Oder mit ſeinem Gärtner, deſſen Frau 
die Frechheit hat, ein Sind zu kriegen, ohne ihn zu fragen 
— und nur feine Kinder im Haus, das ruiniert den Raſen. 
Aber jonft, wenn man ihn nicht reizt, fann er mit feinen 
Leuten ganz liebenswürdig und nett jein. Er hat in jeinem 
Blatt einen jungen Menichen, für den er alles tut, weil 
er jo ſpaßig ift, die Sarah Bernhardt kopiert und mit 
der Nafe Klavier fpielen fann. Er hat es überhaupt gern, 
wenn man gemütlich ift. Nur feine langen Geſchichten 
machen, die Menjchen find alle Brüder, nur gemütlich! 
J’aime qu’on soit rond. J’aime qu’on se tutoie. Nous 
ne sommes pas des gens de l’ancien rögime, nous 
autres, des comtes, des ducs. Nous sommes de francs 
dömocrates, pas vrai? Des travailleurs.. Man muß 
das Leben genießen! Leben und Ieben laſſen! Auer 
natürlich in Geſchäften. Das ift etwas anderes, Das 
muß man zu trennen wifjen. 

Und er beweift, daß er es zu trennen weiß. Es wird 
ihm ein Gefchäft angetragen. Bon zwei Ingenieuren. 
Die möchten nämlich ihn Hineinlegen. Sie find aber doch nur 
kleinere Gauner. Er bat das gleich weg und e& dauert 
Taum eine Stunde, jo freffen fie ihm aus der Hand. Er 
diftiert ihnen feine Bedingungen. Sie ziehen ſich zurüd, 
den Vertrag aufzujegen. Einftweilen nimmt er den Marquis 
v. Porcelet vor und zwingt ihn, für feinen Sohn um die 
Hand des Fräuleins Lechat zu bitten. Da geſchieht es, 
daß diefe widerfpricht: „Ich bin nicht mehr frei, ich habe 
einen Geliebten." Lechat fährt auf, tobt, droht, fie gibt 
nit nad), er jagt fie hinaus — „mag fie vor Hunger 





— 28 — 


ſchwankt immer zwiſchen den beiden Typen. Aber manchmal 
vereinigen fie ſich. In Diderot zum Beiſpiel. Und Mirbeau 
hat wirklich etwas von Diderot. Dies ſind Menſchen, in 
welchen eine durch viele Geſchlechter verhaltene und auf- 
geiparte Energie fich plöglich entladen muß. Sie fragen 
nicht viel, fie werfen fich vor die Pferde. Die Kraft muß 
heraus. Aber in jenen Gejchlechtern, von welden fie 
ftammen, ift zur felben Zeit viel Erfahrung und Kenntnis 
der Welt angejammelt worden, die fich nicht verliert. Da- 
her der Philojoph im Abenteurer. Und fo blinzelt der 
fleine Bub unter den Hufen neugierig hervor, wie ſich 
der Kutjcher benehmen und welche „Pointe“ jein Abenteuer 
haben wird. Dieſe Menſchen reizt es, alles zu erleben, 
aber doch eigentlih nur, um davon hübſch erzählen zu 
finnen, dann genießen jie es erjt: niemals im Moment 
ſelbſt, ſondern erjt in Literatur abgezogen. Weshalb fie 
& auch gar nicht erwarten können, den Moment in Dar« 
ftelung zu verwandeln, und in der einen Hand noch das 
Schwert, tapfer um fich ſchlagend, mit der anderen ſchon 
gleich alles notieren, ‚wobei e3 ihnen denn begegnet, daß 
fie fi manchmal in ihren Gegner plögfich verlieben, bloß 
weil er eine jo ſchöne Notiz gibt. So ift auch dieſe Ko— 
mödie Mirbeaus offenbar entftanden, in der er fich mit 
feiner ganzen Wut auf den großen Geldmenfchen ftürzt, 
dann aber in der rein Fünftlerijchen Luft an der Figur auf 
einmal den Polemiften vergißt und aus Kunſtgefühl menfch- 
lich gerecht wird. 

Man wird bei ung vielleicht finden, das ſei gar fein 
Süd. Es hat feine Handlung, es geſchieht nichts im ge- 
meinen Sinne, es geht nicht? vor, was die Komteſſen 


_ 4 — 


„Ipannen“ Zönnte. Bei Moliere auch nicht. Es wird 
nur ein Menſch gezeigt. Dies aber mit einer Kraft und 
einer fünftlerifchen Freude, die man eigentlich Mirbeau doch 
gar nicht zugetraut Hätte. Sonft hat ihn immer feine 
Laune oder auch der Haß Hingerifien, fich perjönlich ein- 
zumifchen. Aber hier ift fein Gefühl der Figur jo ftark 
gewejen, daß es ihn völlig aufgejogen Bat. Er hat in 
feinem ganzen Leben nichts geichaffen, was fich mit ihr 
vergleichen konnte. 

Iſidore Lechat Heißt der Mann. Banfier, Brasseur 
d’affaires, hat fünfzig Millionen. Woher ? Verdient, heißt 
&. In „Geihäften“. Bald fo, bald jo. Überall. Nicht 
immer ganz reinlich. Meiftens nicht. Hat auch einmal 
mit dem Gericht zu tun gehabt. Böje Geſchichte. Wie 
ja die meiften, das gehört dazu. Heute Hat er fünfzig 
Millionen, Hat ein Hiftoriches Schloß, hat eine Zeitung, 
der Minifter iſt jein Freund, fein Sohn ift im vorneßmften 
Klub — wer denkt da noch an die alten Saden? Und 
wenn — des cretins, jagt er, je m’en fiche! Er fennt 
die Menjchen. Sie tun nur manchmal ein bißchen mo- 
raliſch. Aber das Geld ift ftärker. Er wird deswegen 
doch in die Kammer gewählt werden und wird feine Tochter 
mit dem jungen Marquis von Porcellet verheiraten. Das 
Geld kann alles. Er ift noch mit allen Vorurteilen fertig 
geworden, man muß die Menfchen nur zu nehmen wifjen. 
Und man muß nur das Gejchäft verjtehen. Geichäft iſt 
alles. Und er verfteht es. Weil er fich Har ift, darauf 
fommt e3 an: nur feine Phrajen ... Klarheit, Tatjachen, 
Geld! Man muß wiffen, was man will. Il faut faire 
de la philanthropie ou des affaires. Alles zu jeiner 





— 25 — 


Zeit. Das iſt jo merkwürdig, daß das manche nicht bes 
greifen wollen. Gejchäft ift doch Geſchäft. Wie Tann 
man da jentimental fein? Es iſt vielleicht fein ganzes 
Talent, daß er in Gejchäften niemals jentimental ift. Andere 
müßten aud), wie der große Coup zu machen wäre. Aber 
dann jagen fie ſich: das kann man doch nicht tun, aus 
Rückſicht auf diejen, aus Mitleid mit jenem. Lechat fagt 
fi das nie. Wodurch man Geld verdient, das fann man 
immer tun. Er ift fonft eigentlich ein ganz gutmütiger 
Menſch. Er erträgt geduldig die Launen feiner albernen, 
ängftlichen, geſchwätzigen Frau, die Verfchwendungen jeines 
Sohnes, der ein Ged ift, und jelbft die trübe Stimmung 
feiner ernften Tochter, die er gar nicht ‚verjteht, weil fie 
ſich feiner ſchämt, weil fie in feiner Luft faſt erſtickt, weil 
fie fi) Hinausfehnt, ing Elend ... lieber ungern und 
frieren, aber ein ehrlicher Menjch fein dürfen! Er lacht 
darüber — wie eben die jungen Mädchen Heute find, nervös 

. und leſen Romane und Verſe zujammen, lauter 
dummes Zeug, „ich,“ fagt er, „ich leje nie. Ich habe in 
meinem Leben nichts gelefen. Das ift mein Stolz. Und 
das hindert nicht, daß ich Iſidore Lechat bin, Schloßherr 
von Vauperdu, Millionär und Eigentümer einer Zeitung, 
durch welche ich die öffentliche Meinung in Politik, Philo— 
fophie umd Literatur beherrſche.“ Er macht fich jelbft 
darüber luſtig. Das Leben kommt ihm eigentlich unge 
heuer komiſch vor, weil die Menſchen alle jo dumm find. 
Nur dürfen fie dann nicht noch frech fein. Wenn fo ein 
dummer Kerl, der nicht? Hat, ſich vor ihm nicht Duden 
will, dann fann er jehr unangenehm werden. So mit 
feinem Verwalter, einem verarmten Vicomte, der froh fein 


— 26 — 


ſoll, daß er ihn aufgeleſen hat, und kuſchen muß, wenn 

“er ihn anſchreit. Oder mit feinem Gärtner, deſſen Frau 
die Frechheit hat, ein Sind zu kriegen, ohne ihn zu fragen 
— und nur feine Stinder im Haus, das ruiniert den Raſen. 
Aber jonft, wenn man ihn nicht reizt, kann er mit feinen 
Leuten ganz liebenswürdig und nett jein. Er Bat in jeinem 
Blatt einen jungen Menichen, für den er alles tut, weil 
er jo ſpaßig ift, die Sarah Bernhardt fopiert und mit 
der Nafe Klavier fpielen kann. Er hat es überhaupt gern, 
wenn man gemütlich ift. Nur feine langen Gejchichten 
machen, die Menjchen find alle Brüder, nur gemütlich! 
J’aime qu’on soit rond. J’aime qu’on se tutoie. Nous 
ne sommes pas des gens de l’ancien r&gime, nous 
autres, des comtes, des ducs. Nous sommes de francs 
dömocrates, pas vrai? Des travailleurs. Man muß 
das Leben genießen! Leben und Ieben lafjen! Außer 
natürlich in Gejchäften. Das ift etwas anderes. Das 
muß man zu trennen wifjen. 

Und er beweift, daß er e3 zu trennen weiß. Es wird 
ihm ein Geſchäft angetragen. Von zwei Ingenieuren. 
Die möchten nämlich ihn hineinlegen. Sie find aber doch nur 
Heinere Gauner. Er bat das gleich weg und es Dauert 
Taum eine Stunde, jo freffen fie ipm aus der Hand. Er 
diftiert ihnen feine Bedingungen. Sie ziehen fich zurüd, 
den Vertrag aufzujegen. Einftweilen nimmt er den Marquis 
dv. Porcelet vor und zwingt ihn, für feinen Sohn um die 
Hand des Fräuleind Lechat zu bitten. Da gejchieht es, 
daß dieſe widerjpricht: „Sch bin nicht mehr frei, ich Habe 
einen Geliebten.“ Lechat fährt auf, tobt, droht, fie gibt 
nicht nad), er jagt fie hinaus — „mag fie vor Hunger 








— 27 — 


krepieren, das wird meine Rache ſein, meine Luſt!“ Aber 
während er noch raſt, bringt man ſeinen Sohn, ſeinen 
Stolz, zerſchmettert heim; er iſt mit dem Automobil ge— 
ſtützt. Das trifft ihn furchtbar, er taumelt, er wankt, er 
weint, vielleicht zum erften Mal. Da fommen die beiden 
Ingenieure mit dem Vertrag. Sie haben von dem Unglüd 
ion gehört, fie fuchen ihn zu tröften, fie ſprechen ihm 
zu... nur, fie müffen dann gleich fort, ihr Zug geht 
und deshalb, jo peinlich es fft, in einem ſolchen Moment 
von Geſchäften zu reden, aber er braucht ja nur zu unter- 
ichreiben, der Vertrag enthält genau, was fie beiprochen 
haben. Und fie legen ihm das Papier hin. Er joll nur 
ſchnell unterjchreiben. Er nimmt das Papier. Seine Augen 
find noch naß, feine Hand zittert, er fann kaum ftehen. 
Aber er lieft. Geſchäft ift Geſchäft. Und nachdem er ge» 
lejen hat, fieht er die beiden an: „Ihr feid Schufte! 
Diebe! Ihr Habt den Vertrag gefälfcht, im Vertrauen auf 
meinen Schmerz!" Und er zwingt fie, den Vertrag noch 
einmal zu fchreiben, mit viel härteren Bedingungen für fie, 
die er ihnen mit feiter Stimme diltiert. Man meldet, 
daß die Leiche ſchon über die Stiege getragen wird. Gleich, 
jagt er, und er diftiert erft aus. Dann unterzeichnen Tie. 
Er lieſt ihn noch einmal durch, unterzeichnet auch und geht 
zu jeinem toten Sohn. Dieje furchtbare Szene ift von 
einer Kraft, von einer Größe, die man doch nur mit den 
ganz großen Momenten bei Balzac vergleichen Tann. 

Den Lechat gibt Herr Heine. Schaufpieleriich in 
manden Momenten ganz intereffant, gar wenn man be-, 
denkt, daß fich fein ganzes Wejen gegen die Rolle fträubt. 
Schon phyſiſch. Die Menfchen (man denke, wie oft Forain 


— 3 — 


den Typus, immer wieder, gebracht hat) find groß, breit, 
maffig, mit plumpen Füßen und fleifchigen Tagen und 
enormen Bäuchen. Sie puften, fie | hnauben, fie fchwigen, 
alles gejchieht mit Getdje und wenn ihre fette Stimme 
flüſtern will, grunzt fie. Es gröhlt, wenn fie lachen, und 
fie lachen in einem fort und huſten vor Lachen und ſchneuzen 
ſich und rülpfen und fpuden. Dieſe unappetitlich triefende 
Bonhomie gehört aber zu ihrem Metier, fie können nicht 
wirfen, geht nicht ein gewiſſes jchmalziges Behagen von 
ihnen aus, das über ihren böfen Ruf täufcht. Wenn man 
zu ihnen geht, jagt man fich auf der Stiege: Mic joll 
der Gauner nicht fangen, ich weiß, wer er ift! Und dann 
Hopfen fie einem auf den Bauch und erzählen jchmierige 
Aneldoten und lärmen lachend herum. Und wenn man 
dann von ihnen geht und erſt nach und nach merkt, wie 
betrogen man iſt, jagt man ſich auf der Stiege: Daß das 
ein ſolcher Gauner ift, hätt’ ich doch nicht gedacht — aber 
ein famofer Kerl und fo furchtbar komiſch! Nun aber 
der fleine, pie, dünne, faure, fcharfe Herr Heine, dem 
man den Bdjewicht am der Nafe abfieht! Freilich wird 
man fragen: wer ſonſt? Vielleicht am ehejten noch Herr 
Schmidt. Auch Frau Medelsky paßt für die Germaine 
gar nicht. „Une intellectuelle“, jagt der Vater von ihr. 
Geiftig ift fie ihren Eltern entwachien und ihr Grimm, 
ihre Ekel, ihr Schmerz, alles kommt aus dem Kopfe Es 
ift aber gerade das Talent der Medelsky, daß bei ihr 
nicht3 aus dem Kopfe kommt. Und nun jollte gar noch 
Frau Schmittlein, immer vortrefflih, wenn es Schärfe, 
Energie und Überlegenheit gilt, die einfältige, wirre und 
Hilfloje Frau Lechat fein! So war es denn fein Wunder, 





— 29 — 


daß dem Publikum, das den Sinn des Stückes in dieſer 
heilloſen Entſtellung nicht erraten konnte, zuletzt die Ge⸗ 
duld riß. 


Der Strom. 
(Drama in drei Aufzügen von May Halbe. Zum erften Mal auf- 
geführt im Burgtheater am 19. Dftober 1903.) 

An der Weichſel. Durch das Fenſter fieht man auf 
den hohen Deich hinaus, Es ſchneit und der Strom liegt 
feit, liegt und Iauert; man hört nur manchmal fo ein Knacken 
md Knallen mitten im Eis, dann ift wieder alles ftill. 
Und der Sturm bläft ivie verrüdt, auf dem Damm kann 
man fi kaum halten. Es ift die böje Zeit, jeden Tag 
fann der Strom ausbrechen; denn die ift wie ein wildes 
Vieft, die Weichjel, wie jo ein wildes Bieft auf dem Jahr- 
markt. So lange die Eifenftange hält, lacht man, wenn 
& brülft und den Rachen zeigt. Aber wenn die Eiien- 
fange Ioder wird! Und eine jolche Eifenftange iſt das 
hohle Knie bei der Wachtbude drüben, wo der Damm 
änmal ſchon beinahe nachgegeben hat. Dann bricht das 
Vieft durch und frißt alle zufammen auf. In diejer Angit 
leben fie. Steiner weiß, ob der Strom nicht morgen fein 
Gut verfehlingt, mit den Eisichollen anrüdend wie im 
Sturm, und dann kann er betteln gehen. 

Der Hof gehört dem Peter Doorn. Sein Bruder 
Heinrich tft in der Fremde draußen, tief unten im Süden, 
am Rhein. Jakob, der andere Bruder, erſt fiebzehn, dient 
auf dem Hof. Er hat nichts lernen dürfen, er muß immer 
im Stall beim Vieh fein. Das hat ihn wire und mild 


— 34 — 


haben zwei Rehe geſtanden, die ſind wer weiß wie weit 
von oben gekommen und haben mitmüſſen runter zur See. 
Ganz merkwürdig haben die beiden ausgejehen im halben 
Mondlicht. Neben mir hat das Waffer jo komiſch gegludit 
und am Damm gefteffen. Da hab’ ich mir gejagt, was 
du da fiehft, ift wie ein Bild. Der Strom, der ift das 
Leben oder das Schidfal oder jo was, und die Menfchen, 
das find die Eisfchollen, die ziehen fo reihenweiſe runter 
zur See! Da ift es mir fo frei und leicht ums Hey 
geworben, ich hab’ jo 'n Gefühl nie vorher gefannt, und 
wie die beiden Rehe vorüber getrieben find, weißt du, 
woran ich da gedacht hab’? Ich Hab’ gedacht, das ift der 
König und die Königin... Sa! Und der König, der 
war ich, und die Königin, die warft du.“ Renate fchidt 
ihn fort. Die Brüder kommen. Heinrich will nun ab- 
rechnen mit Peter. Aber diefer verweigert es: „Nichts 
geb’ ih zu! Es ift alles erftunfen und erlogen, was Dir 
gejagt ift. Du haft dich von einer Wahnfinnigen beſchwatzen 
laſſen! Bon einer Najenden, die nicht weiß, was fie tut 
und was fie fpricht!" Sie follen fehen, ob fie es ihm 
beweifen Zönnen, beweijen! Sie follen fich ihren Teil vom 
Gericht Holen! Hier aber ift er noch der Herr. Und er 
jagt fie hinaus, alle beide, gleich, den Heinrich und den 
Jakob, und wer nicht freiwillig vom Hofe geht, ben wird 
er mit den Hunden hegen! Satan, ſchreit Jakob auf, aber 
„ich will mir die Hand nicht ſchmutzig machen, ich weiß 
ein beſſeres Mittel für dich, du ſollſt am mich denken!“ 
Und raſend hinaus und den Damm hinauf und fängt zu 
graben an und draußen ſchreit's: der Damm wird durch- 
geitochen! Aber Peter ihm nach, Elettert Hinauf, rennt 


— 30 — 


ihn von unten an, jetzt haben ſie ſich, jetzt halten ſie ſich, 
Jakob wirft den Spaten weg, fie halten ſich gepadt, fie 
ringen Bruft an Bruft, und immer näher zum Rand, immer 
näher zum Strom, noch einen Schritt und noch einen 
Schritt, fie Halten ſich überm Rand, fie haben fich bei 
der Gurgel, fie ftürzen, der brüllende Strom reißt fie 
fort. 

In diejem ſchweren und finfteren und atemlog ächzen- 
den Schaufpiel wirft wieder Halbes Gefühl für die Natur, 
für Erde und Strom, für Wetter und Wind jehr ſtark 
und wir fpüren, wie nahe ihm folche Menfchen mit einem 
Dtto Ludwig-Zug gehen müſſen. Uns fommen fie freilich 
jeltfam vor. Die Weichjel ift weit und und die Art diefer 
Leute, fich voreinander jahrelang zu verwahren und ver- 
halten, heimlicher als es uns im täglichen Bufammenfein 
möglich wäre, dann aber wieder plöglich fo Ioszufahren 
und ſich, in alle Winkel hinein, preiszugeben, wie wir es 
auch wieber, felbft in der letzten Leidenichaft von einer 
gewiffen Scham oder doch Verlegenheit niemals frei, und 
nicht denken fünnten, diefe tieriich dumpf hinbrütende, dann 
aber wie ein Geſchwür ausbrechende Art werden wir viel- 
leicht verftehen, aber kaum jemals mitempfinden fünnen. 

Fräulein Witt ift zu ſehr Dame für die Renate, der 
vielleicht Frau Bleibtreu eher beigefommen wäre, und 
Herrn Nifjens bürgerlicher Bieberfeit glaubt man den 
verichlagenen Deichhauptmann ſchwer. Vortrefflich waren 
Herr Reimers, der in folchen deutſchen Nollen einen 
wunderbar einfachen und wahrhaften Ton hat, und Herr 
Gimnig. Halbe wurde nach dem zweiten und dritten Akt 
ftürmifch gerufen. 

3* 


— 36 — 


Novella d Andrea. 


Gchauſpiel in vier Aufzügen von Ludwig Fulda. Zum erſten 
Mal aufgeführt im Burgtheater am 21. November 1903.) 


Giovanni d’Andrea, der greife Lehrer des Rechts in 
Bologna, Hat zwei Töchter, die zierlich heitere Bettina, 
ein „Loje® Jungfräulein“, und die ftrenge männliche No- 
vella, die ihre Jugend in Folianten vergräbt und Dem 
Ehrgeiz hat, in Gelehrjamfeit jo Hoch zu jteigen, als ihr 
berühmter Vater fteht. Diefe it alſo, was man Heute 
eine „Emanzipierte“ nennt. Sie ſpürt die Kraft und den 
Stolz ihrer neuen Zeit jehr ftark und erträgt es nicht, daß 
e3 immer nur die Männer fein follen, die ringen und er- 
obern dürfen — 

Und nur wir Frauen follen ſeitwärts ftehen, 

Nur wir dem Heildruf unfer Ohr verſchließen, 
Im engen Kreis von Heinen Müh'n und Pflichten 
Freiwillig blind und taub fein für das Große, 
Das aller edlen Männer Dafein füllt? 


Es Iodt fie, e8 den Männern gleich zu tun, in welchen 
ſich „alles Menschliche zum ſchwellenden Afkord“ vereinen 
darf: 

D, wär ich doc ein Mann! Wir ahnen nicht, 
Was Leben heiß, und werden's nie erfahren. 
Nur ein paar Schlüdchen, forgiam durchgefiltert, 
Doc nie den ganzen, vollen ftarfen Trank! 

Darum gibt fie fich gierig der Wiffenfchaft hin, von 
Sangiorgo gefördert, einem jungen Gelehrten, bis fie fo 
weit ift, daß fie ſich den beften Schüler ihres Vaters 





_ 37 — 


mennen darf. Nun fordert fie aber auch, Öffentlich zu 
wirken wie der Vater und jener Freund. 


Ja, hört mid an. 
Was meine Wangen glühen macht, ift nicht 
Das Fladerlichtlein wandelbarer Laune ; 
Dies Feuer, von euch beiden angezündet, 
Bon euch geihürt, kann nur mit meinem Leben 
Berlöfchen ; denn es warb mein Leben felbft- 
Das Reich, in dem du König bift, mein Vater, 
Ich, durch Geburt die Nächte deinem Thron, 
Lernt es mit deinen Augen jehn und lieben; 
Und wenn bu warnend oft das Haupt gefchüttelt, 
Ja, nur mit Zögern deines Geiftes Schäge 
Bor mir erſchloſſen — mir erftand ein Helfer 
In unferm Freund; er reichte mir die Hand, 
Ein wack'rer Mentor, dem es nichts verſchlug, 
Daß Telemach diesmal ein Mädchen war, 
Und führte mich hinan, bis meinem Blick 
Nicht fürder ſchwindelte, mein Fuß nicht mehr 
Zu ftraucheln drohte, nur mit jedem Schritte 
Die Ausfiht freier ward auf deine Welt 
Solt’ ich zurüd? Vergabwärts wieder fteigen 
Ins dumpfe Tal? Ich hätt’ es nicht vermocht, 
Und fo befchloß ich denn: ich mil zum Gipfel. 


Der Vater, der Freund erfchreden. Der Alte warnt: 


D, meine Tochter, glaub mir, einen Sohn, 
Der alfo fpräche, ſchlöß' ich an mein Herz 
Und hieße mich den glüdlichften der Väter. 
Jedoch fo unerhört ift, was bu planft, 

So weit von allem Brauch, ber bein Geſchlecht 
Seit Alterd in beſcheid'm Schranken zwingt, 
Daß furchtbeklommen meine Seele zittert 

Und forgend mahnt: Bedenke, wer du bift! 


— 4 — 


haben zwei Rehe geftanden, die find wer weiß wie weit 
von oben gelommen und haben mitmüfjen runter zur See. 
Ganz merkwürdig haben die beiden ausgejehen im halben 
Mondlicht. Neben mir hat das Waſſer fo komiſch gegludit 
und am Damm gefreffen. Da hab’ ich mir gejagt, was 
du da fiehft, ift wie ein Bild. Der Strom, der ift das 
Leben oder das Schidfal oder jo was, und die Menjchen, 
das find die Eiöfchollen, die ziehen fo reihenweife runter 
zur See! Da ift es mir fo frei und leicht ums Herz 
geworben, ich hab’ fo ’n Gefühl nie vorher gelannt, und 
wie bie beiden Rehe vorüber getrieben find, weißt bu, 
woran ich da gedacht hab’? Ich Hab’ gedacht, das ift der 
König und die Königin... . Ja! Und der König, der 
war ic, und die Königin, die warft du.” Renate chic 
ihn fort. Die Brüder Tommen. Heinrich will nun ab» 
rechnen mit Peter. Aber diefer verweigert es: „Nichts 
geb’ ich zu! Es ift alles erftunfen und erlogen, was dir 
gejagt ift. Du haft dich von einer Wahnfinnigen beihwagen 
laſſen! Bon einer Rafenden, die nicht weiß, was fie tut 
und was fie ſpricht!“ Sie follen jehen, ob fie es ihm 
beweifen Zönnen, beweijen! Sie follen fich ihren Teil vom 
Gericht holen ! Hier aber ift er noch der Herr. Und er 
jagt fie hinaus, alle beide, gleich, den Heinrich und den 
Jakob, und wer nicht freiwillig vom Hofe geht, den wird 
er mit den Hunden hegen! Satan, fchreit Jakob auf, aber 
„ich will mir die Hand nicht ſchmutzig machen, ich weiß 
ein beſſeres Mittel für dich, du ſollſt an mich denken!“ 
Und rafend Hinaus und den Damm hinauf und fängt zu 
graben an und draußen ſchreit's: der Damm wird durch⸗ 
geſtochen! Aber Peter ihm nach, klettert hinauf, rennt 


35 — 


ihn von unten an, jet haben fie fich, jegt Halten fie fich, 
Iafob wirft: den Spaten weg, fie halten fich gepadt, fie 
tingen Bruft an Bruft, und immer näher zum Rand, immer 
näher zum Strom, noch einen Schritt und nod einen 
Schritt, fie halten ſich überm Rand, fie haben fich bei 
der Gurgel, fie ftürzen, der brüllende Strom reift fie 
fort. 

In diejem ſchweren und finfteren und atemlos ächzen- 
den Schaufpiel wirft wieder Halbes Gefühl für die Natur, 
für Erde und Strom, für Wetter und Wind jehr Stark 
und wir fpüren, wie nahe ihm ſolche Menjchen mit einem 
Otto Ludwig-Zug gehen müffen. Uns kommen fie freilich 
ſeltſam vor. Die Weichjel ift weit und und die Art diefer 
Leute, fich voreinander jahrelang zu verwahren und ver- 
halten, heimlicher als es uns im täglichen Bufammenjein 
möglich wäre, dann aber wieder plöglich fo loszufahren 
und fich, in alle Winkel hinein, preiszugeben, wie wir es 
auch wieder, ſelbſt in der legten Leidenichaft von einer 
gewiffen Scham oder doch DVerlegenheit niemals frei, und 
nicht denfen fünnten, dieſe tierijch dumpf hinbrütende, dann 
aber wie ein Geſchwür ausbrechende Art werden wir biel« 
leicht verftehen, aber faum jemals mitempfinden können. 

Fräulein Witt ift zu fehr Dame für die Renate, der 
vielleicht Frau Bleibtreu eher beigefommen wäre, und 
Herrn Nifjens bürgerlicher VBiederfeit glaubt man den 
verſchlagenen Deichhauptmann fehwer. Vortrefflih waren 
Herr Reimers, der in ſolchen deutjchen Rollen einen 
wunderbar einfachen und wahrhaften Ton hat, und Herr 
Gimnig. Halbe wurde nach dem zweiten und dritten Aft 
ſtürmiſch gerufen. 

3* 


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Novella d Andrea. 


(Schaufpiel in vier Aufzügen von Ludwig Fulda. Zum erſten 

Dal aufgeführt im Burgtheater am 21. Rovember 1903.) 

Giovanni d’Andrea, der greiie Lehrer des Rechts in 
Bologna, hat zwei Töchter, die zierlich heitere Bettina, 
ein „loſes Jungfräulein“, und die ftrenge männliche No— 
vella, die ihre Jugend in Folianten vergräbt und den 
Ehrgeiz hat, in Gelehrjamfeit jo hoch zu jteigen, als ihr 
berühmter Vater fteht. Diefe ift alfo, was man heute 
eine „Emanzipierte“ nennt. Sie ſpürt die Kraft und den 
Stolz ihrer neuen Zeit jehr ſtark und erträgt e3 nicht, daß 
es immer nur die Männer fein follen, die ringen und er- 
obern dürfen — 


Und nur wir Frauen follen feitwärts ftehen, 
Nur wir dem Heildruf unfer Ohr verfchließen, 
Im engen Kreis von Heinen Müh'n und Pflichten 
Freitvillig blind und taub fein für das Große, 
Das aller edlen Männer Daſein fült? 


Es lockt fie, e8 den Männern gleich zu tun, in welchen 
fi „alles Menſchliche zum ſchwellenden Alkord“ vereinen 
darf: 

D, wär ih body ein Mann! Wir ahnen nicht, 

Was Leben heiß, und werden's nie erfahren. 

Nur ein paar Schlücdkhen, ſorgſam durchgefiltert, 

Do nie den ganzen, vollen ftarfen Trank! 

Darum gibt fie ich gierig der Wifjenfchaft Hin, von 
Sangiorgo gefördert, einem jungen Gelehrten, bis fie jo 
weit ift, daß fie fich den beiten Schüler ihres Vaters 


— 37 — 


nennen darf. Num fordert fie aber auch, Öffentlich zu 
wirfen wie der Vater und jener Freund. 


Ja, hört mid an. 
Was meine Wangen glühen macht, ift nicht 
Das Fladerlichtlein wandelbarer Laune; 
Dies Feuer, von euch beiden angezündet, 
Bon euch gefhürt, lann nur mit meinem Leben 
Berlöfchen ; denn es warb mein Leben felbft- 
Das Reich, in dem du König bift, mein Bater, 
Ich, durch Geburt bie Nächite deinem Thron, 
Lernt es mit deinen Augen fehn und lieben; 
Und wenn bu warnend oft das Haupt gefchüttelt, 
Ja, nur mit Zögern beines Geiftes Schäge 
Bor mir erſchloſſen — mir erftand ein Helfer 
In unferm Freund; er reichte mir die Hand, 
Ein wad'rer Mentor, dem es nichts verfchlug, 
Daß Telemach diesmal ein Mädchen war, 
Und führte mic hinan, bis meinem Blick 
Nicht fürder ſchwindelte, mein Fuß nicht mehr 
Bu ſtraucheln droßte, nur mit jedem Schritte 
Die Ausficht freier ward auf deine Welt 
Sollt' ich zurüd? Bergabwärts twieber fteigen 
Ind dumpfe Tal? Ich hätt’ es nicht vermocht, 
Und fo beſchloß ich denn: ich will zum Gipfel. 


Der Vater, der Freund erjchreden. Der Alte warnt: 


D, meine Tochter, glaub‘ mir, einen Sohn, 
Der alfo fpräche, ſchlöß' id} an mein Herz 
Und hieße mich den glüdlichften der Väter. 
Jedoch fo unerhört if, was du plant, 

So weit von allem Brauch, der bein Geſchlecht 
Seit Alters in beſcheid'm Schranfen zwingt, 
Daß furchtbeflommen meine Seele zittert 

Und forgend mahnt: Bedenke, mer bu bift! 


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Der Freund aber faßt ſich raſch. 

Wahrhaftig, nein! Mich ſelbſt würd' ich verleugnen, 

Rief id} bewundernd nicht euch Beifall zu. 

Novella hat, ſo dünkt es mich, mein Lehrer, 

Das Vorrecht jeder ſeltenen Erſcheinung 

Auf eig'nen Maßſtab und Geſetz. Ihr Mut, 

Ihr Geift, ihr tiefer Ernſt, ihr reiches Wiffen 

Stellt fie den beften Männern völlig gleich; 

Nicht und geziemt ed, Schranken aufzurichten, 

Wo die Natur in einer Sonntagslaune 

Ste fortgeräumt. 

Und fo geſchieht es, fie jegt ihren Willen duch, fie 
darf auf das Satheder. Aber die wilden Scholaren, jehr 
ſchlimme Buben, toben fo, daß fie nicht fprechen Tann. 
Einer erklärt es ihr: 

Nicht Kränkung iſt's für euch, wenn wir Scholaren 
Unfähig find, gefammelt und gefaßt 

Das Eherecht von Euch trattiert zu hören, 

Als wäret Ihr ein fchrumpfliger Magifter ; 

Nicht Krankung ift es fondern Hulbigung. 

Blut und nicht Tinte fließt in unfern Adern, 
Und unfer Herz ift nicht aus Pergament. 
Fünf Sinne haben wir; wenn Ihr verlangt, 
Daß Euch von biejen einzig nur das Ohr 
Sic widmen fol, dann müßten wir zubörberft 

Blind werden wie die Göttin Themis felbft; 

Denn ir find jung, und Ihr — bei der Madonna 
Schwör' ich's und allen Helligen — Ihr feid ſchön. 

Da Hat fie den hübjchen Einfall, ſich das Geſicht 

dicht mit einem Schleier zu verhüllen: 
Ihr jungen Herrn, hier bin ich wieder, 
Und dennoch bin ich's nicht. Denn was vorhin 
Euch für mein Wefen galt, hab’ id} verborgen, 
Damit, was ihr verfanntet, fich enthüllt. 


— 319 — 


Ich bin fein Antlig mehr, das euch verwirrt, 
Kein Bild, das euerer Abficht euch entfrembdet, 
Nur eine Stimme nod, nur noch ein Wort, 
Das aus ben toten Büchern auferfteht, 

Um lebend eure Seelen zu befruchten. 

Ehrt meinen Schleier und ihr ehrt euch felbft; 
Jedoch ift unter euch ein eing’ger nur, 

Der diefed Panzer Heiligkeit verachtet, 

Der trete vor und reiß’ ihn mir herab. 


Dies bezwingt die Scholaren, fie werden fromm und 
jegt ſchlägt auch in der ganzen Stadt die Stimmung um, 
man jauchzt Novella zu und fie wird im Triumph zur 
Promotion geführt. Iener „Gipfel“ ift erreicht und fie 
hat nur noch einen Wunſch, den fie verwirrt dem Water 
befennt: fie Liebt Sangiorgio, ihren Mentor. Da fommt 
diefer, aber er iſt anders als fonft, zögernd, was er von 
ihr wänjcht : er liebt Bettina und fie foll für ihn um fie 
werben — 

Ich meine, was mir zum Geleite frommt 

Iſt Einfalt unverkünftelter Natur, 

Ein ſchlichter Sinn, ein kindliches Gemüt, 
Das nur den Ehrgeiz hegt, in fanfter Demut 
Sich anzuſchmiegen, nur den Willensbrang, 
Im ſtärk'ren Willen aufzugeben... . 

Sie ift vernichtet. Ihr ganzes Leben zerbricht, mit 
allen Hoffnungen und Wünſchen. 

Ich war fo verblendet, ih! So finnberaubt, 

So kindiſch und betört und aberwitzig 

War id), zu wähnen, eine Geifteäbrüde, 

Müßt' ich erbauen zwiſchen mir und ihm! 

D llagliches Verſehen, daß ich bie Kluft 

Durch al’ mein Heißes Mühen Jahr um Jahr 


— 40 — 


Und Tag und Nacht, fie mählich auszufüllen, 
Erft aufriß und beharrlich tiefer grub! 

Ich war ja fhön! D Narrbeit, daß ich nicht 
Mit diefem einen Vorzug mich beſchied! 

Schön, nichts ald ſchön; den Männern iſt's genug; 
Warum denn wollt ih mehr? Warum nicht blieb 
Ich wie Bettina ſchlicht und ungelehrt, 

Klein und altäglih? Dann für feine Hürde 
Das rechte Weibchen wär’ ich ihm erfchienen ; 
Dann hätt’ er mich geliebt. Mein Wiſſen war 
Der Schleier, der mein Antlig ihm verbedte, 

Der meiner Jugend Blüh’n vor ihm verbarg ... 
Fluch eud Büchern, die ftatt Frühlingshauch 

Mir Moderluft geſpendet! Liſt'ge Diebe, 

D, wär' in euch doch Leben! Könntet ihr 

Doch Pein wie ich empfinden, Fönntet fpüren, 
Die meine Rachſucht euch mit Füßen tritt! 

Fluch meinen Gaben! Meinem Streben Fluch! 


Sangiorgio zieht mit Bettina fort. Novella bleibt 
allein. Der Vater ftirbt. Sie lebt einfam mit der alten 
Amme, fehr gelehrt, jehr berühmt, Nach zehm Jahren 


fieht fie den Geliebten wieder. Auch er ift nicht glücklich 


geworden. Bettina ift zu Hein für ihn. 
Ich bin der Gatte nicht, den fie erträumte, 
Ste nicht da Weib, def’ ich bedurft; Enttäuſchung 
Bedrückt und beide... . Sprechen wir felbander, 
Dann iſt's ein hohler Ton, der ohne Mitklang 
Nur Luft bewegt . . . 

Sept jagt fie ihm, wie fie ihn einft geliebt und 
was er in ihr zerftört hat. Dann gehen fie ftill aus— 
einander. 

Goethe Hat einmal gejagt: „Die Deutjchen Haben fo eine 
Art von Sonntagspoefie, eine Poeſie, die ganz alltägliche 





— 4 — 


Geſtalten mit etwas beſſeren Worten bekleidet, wo denn auch 
die leider die Leute machen follen.” Daran muß ich bei 
Fulda immer wieder denken. Ich bin früher manchmal 
heftiger gegen ihn geworben, als es recht war. Er ift 
immerhin ein Autor von Bildung und Gejchmad, der fein 
Metier fennt, und wenn er fich eifriger, als es für fein 
Talent gut ift, um die Gunft des Publitums bemüht, jo 
weiß er doch eine gewiſſe äußere Kultur in der Darftellung 
zu bewahren und bleibt immer ein Mann von guten lite- 
tarifchen Sitten. Mich macht nur nervös, daß feinen an- 
genehmen Formen doch der geiftige Gehalt fehlt, den fie 
verlangen würden. Das Schöne ift bei ihm nur Koftüm, 
& fällt ab und die „ganz alltäglichen Geftalten“ ftehen da. 

Freilich, wenn Kainz feine Rollen fpielt, merft man 
ihnen das gar nicht an. Kainz hat die geheime Kraft, 
Vulgäres durch feine wunderbare Energie jo zu vergeiften 
und befeelen, daß es manchmal, feltiam umgewandelt, plöß- 
lich aufzuleuchten fcheint. Wie er den Sangiorgio ſpricht, 
fangen alle Gloden Dantes zu Klingen an. Die Novelle 
gibt Frau Hohenfels in ihren munteren Szenen ſehr hübſch. 
Herr Thimig iſt als Rektor, Herr Baumgartner als Pedell 
ſehr luſtig. Frau Netty, Here Korff, Herr Reimers, Herr 
Römpler, Herr Gimnig und Herr Schmidt jchließen ſich 
angenehm an. Das Publifum war dem Autor ſehr 
freundlich. 


Braut von Meffina. 
Am 4. Juli 1803 fchrieb Zelter an Goethe über 
die dritte Aufführung der „Braut von Meſſina“ in 


— 12 — 


Berlin: „Über die Chöre möcht' ich lieber nichts fagen, 
weil mir alles dunkel und unbelannt vorjchweht. Wetten 
wollte ich, daß Schiller recht Hat, und daß etwas dahinter 
liegt, was wir alle noch nicht fennen.“ Bu unferer Schande 
müſſen wir eingeftehen, daß wir nach hundert Jahren noch 
immer nicht weiter find. Wir möchten wetten, daß Schiller 
echt hat, wir jpüren in der Tiefe diejer Chöre eine mächtige 
Schönheit verborgen, aber fie jchwebt und nur dunfel und 
unbefannt vor, die Schaufpieler Haben fie noch immer nicht 
gehoben. Lejen wir die Chöre, jo fühlen wir uns durch 
ihren zwiſchen der Sprache und der Muſik ſchwebenden 
Ton wunderbar ergriffen. Er ſchwingt ſich über jene hin- 
aus, indem er überall vom Einzelnen gleich zum All- 
gemeinen dringt, ohne doch dieje zu erreichen, da er immer 
noch in Nefferion befangen bleibt. Daß er deu Schau- 
fpieler zugänglich ift, wifjen wir, wir brauchen nur an die 
Dufe zu denfen oder uns etwa zu erinnern, wie Kainz Die 
große Rede im dritten Akt der , Verſunkenen Glode“ oder 
die Erzählung von Salern im letzten des „Armen Heinrich“ 
behandelt. Beide haben einen Ton, der ſich über unjere 
Sprache beflügelt erhebt und doc durch feine Erregung 
natürlich bleibt. Man wende ihn auf diefe Chöre an und 
die Höchite Wirkung ift gewiß. Leiert man fie aber, wie 
«3 bei uns geſchieht, mit den entjtellten geſchraubten und 
verfälfchten Stimmen manieriert verlogener Bußprediger 
herab, die unperjönlich, widernatürlich und unmenichlich, 
wie Grammophone, Klingen, jo tft es heillos und man 
hat Mühe nicht herauszulachen. Es wird ung immer von 
einer Erneuerung der klaſſiſchen Stüde verſprochen. Das 
Bedürfnis ift da: denn wir haben wieder ein Verhältnis 





— 3 — 


zur Tradition gefunden und fie unferen neuen Gefühlen 
angeeignet. Auch die Mittel find da: denn die Schau- 
ipieler, in ihrer Kunft durch den Naturalismus erfrifcht 
und verjüngt, brauchen nur den Schwung einer großen 
Empfindung, um fich wieder zum Stile zu erheben. Man 
sieht es aber vor, in der alten Routine zu bleiben, und 
indem man dies mit fchlechtem Gewiſſen tut, wird fie zur 
hellen Karikatur. Novelli macht feinen Freunden gern 
einen Spaß -vor, der fehr luſtig ift. Er hat auf feinen 
Reifen in allen Ländern Vorftellungen gejehen, ohne die 
Sprache zu verftehen, fo daß ihm nur der Klang der 
Schaufpieler im Ohre geblieben ift, dieſen fopiert er nun. 
Kommen da die Deutichen an die Reihe, jo ift es ein 
Vergnügen, wie er die Unarten unjerer alten finnlojen 
Dellamation, natürlich noch ein bißchen übertreibend, grimmig 
zu verjpotten weiß. Genau jo wurde geftern gemimt, es 
war aber fein Vergnügen. Iſt das Burgtheater unfähig, 
ein klaſſiſches Stüd halbwegs anftändig zu fpielen, fo 
tut es wirklich befjer, wenn e3 fich auf die leichtere Gattung 
der heutigen Stüde beichränft, die ja jet meiſtens mit 
Geſchmack inizeniert und erträglich dargeftellt werden. Der 
geftrigen Aufführung aber hätte man fich in jeder Provinz 
geſchämt. Man hatte das Gefühl: Frau Bleibtren als 
Saft. Sie war es namentlich allein, die fich im wütenden 
Tumult der faljchen Deflamationen dur die Ruhe, den 
hohen Sinn und die Klarheit ihrer ausgeglichenen Dar- 
ftelung zu behaupten verjtand, Aber Fräulein Rabitow 
mit ihren blechernen, jcheppernden Tönen, Herr Gregori 
mit feiner ranzigen und fetten Stimme, Herr Lewinsky 
mit feiner verddeten Diftion — es war unerträglich. 


— 4 — 


1904 
Timandra. 


(Zrauerfpiel in fünf Aufgügen von Adolf Wilbrandt. Zum erfter 
Mal aufgeführt im Burgtheater am 6. Mat 1904.) 

Plutarch erzählt im neununddreißigften Kapitel feines 
Alkibiades von einer Hetäre Timandra, der Geliebten des 
Alkibiades, die bei ihm war, als er von den Leuten des 
Lyſander ermordet wurde. Sie bob den Leichnam auf, 
Ihlug ihn in ihr Gewand und trug ihn ins Grab. Andere 
Autoren nennen fie Theodote und in des Kenophon Memo- 
rabilien, im elften Kapitel des dritten Buches, ift es fehr 
hübſch, wie Sokrates einft, durch den Ruf von ihrer hohen 
Schönheit angelodt, zu ihr geht, die eben einem Maler 
figt. Sokrates, der ihren koſtbaren Echmud und die 
Dienerinnen und das reiche Wejen des ganzen Haufes be 
merkt, fragt fie, woher fie denn eigentlich ihr Einkommen 
habe. Wenn einer, jagt fie, der mein Freund geworden 
ift, mir Gutes erweiſen will, das ift mein Einfommen. 
Woraus Sokrates fchließt, daß es beffer ift, eine Herde 
von Freunden zu befigen, ald von Biegen und Schafen 
und Rindern. Und nun unterhalten fie ſich von der Kunft, 
folche Freunde anzuziehen und feftzuhalten, wobei Sokrates 
der Schönen fo zu gefallen weiß, daß fie wünjcht, ihn 
öfter bei fich zu fehen, um feinen Rat hören. Ein reizendes 
Beifpiel der attijchen Konverfation, die es liebte, auf eine 
unfcheinbar ſcherzende Art den tieferen geiftigen Gehalt 
mehr ahnen zu lafjen als unmittelbar auszufprechen. Eigent- 
lich jeden wir nur einen alten Herrn mit leifer Lüſternheit 





— 45 — 


ſpaßen. Bald aber merken wir doch, daß ſeiner gelaſſenen 
Heiterleit ein Sinn beigemiſcht iſt, der uns unwillkürlich 
zum Nachdenken ſtimmt. 

Nicht dieſe Timandra iſt es, die Wilbrandt bringt, 
ſondern er gibt ihren Namen der Frau des Glaufon, 
die Platon, ihren Schwager, liebt. Diefer erwidert es 
ihr, will mit ihr fliehen, wird aber von Sofrates gewarnt, 
fein Leben, der Luft gehorchend, zu verderben. Er reift 
fich 103, fie aber, um ſich an Sokrates zu rächen, verjpricht 
dem Dichter Meletos ihren Leib, wenn er jenen dafür beim 
Volfe jo verflage, daß es ihn töten wird. Dies gejchieht, 
wir finden Sokrates vor jeinen Richtern, hören feine Stläger, 
hören ihn fich verteidigen und jehen ihn dann im Sterfer, 
von feinen Freunden umgeben, fterben. QTimandra, die 
zu ſpät bereut, nimmt dasſelbe Gift. Ste ift überhaupt 
viel heroiſcher als jene in dem Kleinen Kapitel des Keno- 
phon. Ich aber meine, den ganzen Sokrates dort mehr 
zu fpüren als bier in fünf langen Alten, jo fleißig fie aus 
dem Platon zitieren. 

€3 wäre mir peinlich, den Reſpekt vor Wilhrandt 
zu verlegen, deffen ganze geiftige Haltung eher angenehm 
it Er Hat ein fchönes Gefühl der Verehrung für die 
hohe Kunft, daS in allen feinen Bemühungen erjcheint. 
Nur geſchieht es ihm, die Wärme, die ihm von den Werfen 
der großen Kunſt zugeftrahlt wird, mit eigener produftiver 
Erregung zu verwechſeln. Das Nachzittern fremder Werke 
in einem empfänglichen Gemüte reicht aber eben doch nicht 
bin, jchöpferifch zu werden. Er mag dies ſelbſt fpüren 
und glaubt fich auszuhelfen, indem er jein Werk in den 
Schutz geliebter Namen ftellt, die fo leuchten, daß davon 


— 6 — 


doch wohl, hofft er offenbar, auch auf feine armen Ge- 
ftalten ein Glanz hinüberfließen wird. Das ift ein Irrtum. 
Ich könnte mir denfen, daß dieſe Gefchichte einer beleidigten 
Frau, die eben die ganz andere Bedeutung der Liebe für 
den Mann als für das Weib, defien ganzes Leben fie 
ausfüllt, nicht verftehen Tann, in bürgerlichen Verhältniſſen 
an Herrn Maier und Frau Schulze dargeftellt, vielleicht 
erträglich wäre. Aber gerade dadurch, daß jeden Augen- 
blid ein anderer Name in und Erinnerung an die Anmut 
des attijchen Geiftes weckt, empfinden wir unjere Entfernung 
von ihm mit einer Wehmut, die allmählich zur Erbitterung 
wird. 

Iener Glaufon war des Platon jüngerer Bruder, voll 
Ehrgeiz, jo daß er, kaum zwanzig Jahre alt, durchaus 
jchon den Staatsmann fpielen wollte Wie ihn Sofrates 
davon zu kurieren fucht, das gehört in der Darftellung | 

des Xenophon (im fechiten Kapitel des dritten Buches ber 
Memorabilien) zu den feinften Proben feiner ironijchen 
Weisheit. Tritt Antifthenes auf, der fpäter zum Stifter 
der zunifchen Schule wurde, fo gedenken wir des fchönen 
Geipräches, daS bei Zenophon (Buch II, Kapitel V) So- 
krates über die Freundſchaft mit ihm führt. Hermogenes, 
der arme Bruder des verjchwenderijchen Kallias, und ber 
Thebaner Simmias, von dem Sokrates im Phaidros jagt, 
feiner übe beſſer als er die Kunſt, zum reden zu nötigen, 
kommen herein und vor ung taucht die wunderbare Welt 
diefer philofophifch rajenden Jugend auf. Im zweiten 
Alte werden wir durch ein Gaftmahl, im vierten Durch das 
Gericht, im fünften durch den Kerfer an das Sympofion, 
die Apologie, den Eutryphron, den Kriton und den Phädon 


— 41 — 


erinnert. Meletos, der mit Alkibiades einft im Haufe des 
reichen Polytion die Eleufiniichen Myſterien parodiert hat, 
und der Staatsmann Anytos beichwören Verje des Arifto- 
phanes oder de3 Euripides, die von der Wut der Edlen 
gegen die jchamlojen Nedner grollen. Uber dabei geht es 
zu, wie wenn von Spiritiften große Männer beſchworen 
werden. Es Hopft, wir horchen, nun heißt e8: Goethe 
ift da oder Leonardo! Wir ſchaudern vor Ehrfurcht, aber 
der Schauder verrinnt, wenn fie zu ſprechen beginnen, denn 
fie wiffen nichts, was ung nicht ebenfo ein Krämer oder 
Kellner jagen konnte. 

Sonnenthal gibt den Softates mit einer geiftigen und 
törperlichen Kraft und Ausdauer, die Bewunderung ver- 
dienen. Auch Frau Hohenfels jegt für die Timandra ihre 
ganze Kunft ein. Den Platon jpricht Herr Reimers, den 
Meletos Herr Devrient, den Anytos Herr Heine Das 
Publikum wurde jehr herzlich, als Wilbrandt erichien, und 
tief ihn immer wieder und wieder. Er fieht auch wirklich 
wie ein Dichter aus. 


Tell. 
(eu infeniert im Burgtheater am 17. Ottober 1904.) 


In Berlin muß jegt jedes Theater feinen Maler Haben. 
Die Direktoren, die dies Reinhardt nachmachen, wiſſen 
jelöft nicht warum. Cine Mode, fagen fie, die Hoffentlich 
hurze Beine hat. Oder allenfalls: Das Publikum tft nervös, 
zerfahren, es bringt die ruhige Kraft nicht mehr auf, ſich 
an den Dichter zu Halten, e& will gereizt, zerjtreut, betört 


— 1 — , 

zugleich äußeren und inneren Schauens zu erleben. Dazı 
genügt dad Wort nie, es ift zu weit, es ift ja Doch immer 
nur ein Zeichen in der Ferne, wie eine wehende Fahne, 
die uns anzeigt, daß dort drüben, dort draußen etwas 
vorgeht, aber nicht: was, Dies wird erſt durch die Ge- 
bärbe des Schaujpielerd beitimmt, der an feinem Körpet 
dad Wort individualifiert. Die Gebärde des Schaufpielers 
verſtehen wir ſchon befjer, aber er bleibt doch immer ein 
fremder Menſch für uns, ein anderer: wir erleben fein 
Schichſal, nicht unſeres. Erſt indem nun die Muſik aus 
Geheimnifjen heraufdringt, welche für alle Menfchen die- 
jelben find, können wir am einzelnen falle die gemein- 
ſame Sache der ganzen Menfchheit, am Falle des anderen 
unfere eigene Sache erfennen. Und erft wenn dieſe Töne, 
wie aus unferem eigenen Munde gequollen, um unjere 
tiefften Heimlichleiten zu verraten, nun plöglich wieder 
draußen als Farben unjeren Augen ſichtbar werben, geht 
uns de3 Lebens hochſtes Wunder auf: daß unfere innere 
Welt und jene äußere Welt diefelbe find und wir, was 
wir auch zu erbliden glauben, immer nur in einen Spiegel 
ſchauen. 

Zu dieſem gehört natürlich ein Maler, der zur Dichtung 
fteht, wie Wagner zu feinen Verſen oder Beethoven zum 
Egmont oder Coriolan. Roller fteht jo zum Fidelio. 
Maler aber, welchen ein folches zwingendes inneres Ver⸗ 
hältnis fehlt, werden höchitens etwas wie Zwijchenaft3- 
mufif machen, um allenfalls ein zerjtreutes Publikum einige 
Zeit anzuregen. Derlei Zwiſchenaltsmuſik kann nun an 
fich gut oder ſchlecht fein. Es joll nicht geleugnet werben, 
daß die, welche jegt der Maler Golg zum Tell geliefert 





— 9 — 


deutſchen Geiſte ſeit hundert Jahren vorbereitet, iſt unaufhalt» 
ſam. Erſt wenn ſie ſich durchgerungen haben wird, iſt das 
Kunſtwerk der Germanen möglich, das von Shakeſpeare zu 
Goethe und Schiller, von Goethe und Schiller zu Wagner 
immer heftiger nach der Vereinigung aller Künfte drängt. 
Wagner beklagt einmal Goethe und Schiller, weil fie nicht 
erreichen konnten, was fie wollten: denn fie Hatten die 
Muſik nicht. Ebenſo können wir Wagner beffagen, weil 
er nicht erfüllt jehen fonnte, was er wollte: denn er hatte 
die Malerei nicht. Dieje hinzuzufügen, wie er die Muſik 
hinzugefügt hat, nämlich nicht als eine Begleitung, jondern 
al3 den mit dem Worte zugleich geborenen Ausdrud, der 
dasſelbe wie das Wort, aber im Elemente der Töne, nicht 
für die Dimenfion des Verftandes, jondern für Die des 
Gefühles ift, verlangt unjere ganze Entwidlung, die dadurch 
erſt da3 Drama der Germanen auf die Höhe der griechijchen 
Tragödie bringen wird, wohin es freilich von einer ganz 
anderen Seite als dieje gelangt, nämlich urjprünglich, vecht 
unferer Rafje von einjamen Menfchen gemäß, vom Worte 
ber, vom Mittel des einzelnen aus, während die Griechen, 
diejeg den einzelnen niemals vom Ganzen, von der Polis 
loslaffende Volt, vom Rhythmus herfamen. 

Die Tendenz, welche die Entwidlung des germanijchen 
Dramas treibt, ift unverkennbar: einen vollfommenen und 
abſoluten Ausdrud zu fchaffen, der das zufcauende Wolf 
zwinge, genau das, was der Dichter einen Moment lang 
in einer ungeheuren, plöglich den tiefiten Sinn des Dafeins 
durchleuchtenden Erregung erblidt, gehört, gejpürt, gedacht 
und erfannt hat, ganz ebenſo mit derjelben Intenfität, der- 
jelben unmittelbaren Gewißheit und derjelben Energie des 

Hermann Bahr, Gloffen. 4 


— 5 — , 
zugleich äußeren und inneren Schauen zu erleben. Dazu 
genügt das Wort nie, es ift zu weit, es ift ja doch Immer 
nur ein Zeichen in der Ferne, wie eine wehende Fahne, 
die und anzeigt, daß dort drüben, dort draußen etwas 


vorgeht, aber nicht: was. Dies wird erft durch die Ge-' 


bärde des Schaujpielers beftimmt, der an feinem Störper 
das Wort individualifiert. Die Gebärde des Schaufpielers 
verftehen wir jchon beffer, aber er bleibt doch immer ein 
fremder Menſch für uns, ein anderer: wir erleben fein 
Schidjal, nicht unſeres. Erſt indem nun die Mufif aus 
Geheimnifjen heraufdringt, welche für alle Menjchen die- 
jelben find, können wir am einzelnen falle die gemein- 
fame Sache der ganzen Menſchheit, am Falle des anderen 
unfere eigene Sache erfennen. Und erft wenn dieje Töne, 
wie aus unferem eigenen Munde gequollen, um unſere 
tiefften Heimlichkeiten zu verraten, nun plöglich wieder 
draußen als Farben unjeren Augen fichtbar werden, geht 
uns des Lebens höchſtes Wunder auf: daß unfere innere 
Welt und jene äußere Welt diefelbe find und wir, was 
wir auch zu erbliden glauben, immer nur in einen Spiegel 
ſchauen. 

Zu dieſem gehört natürlich ein Maler, der zur Dichtung 
fteht, wie Wagner zu feinen Verjen oder Beethoven zum 
Egmont oder Coriolan. Roller fteht jo zum Fidelio. 
Maler aber, welchen ein ſolches zwingendes inneres Ber- 
hältnis fehlt, werden höchitens etwas wie Zwifchenafts- 
muſik machen, um allenfalls ein zerftreutes Publikum einige 
Zeit anzuregen. Derlei Zwiſchenaktsmuſik kann nun an 
fich gut oder jchlecht fein. Es joll nicht geleugnet werden, 
daß die, welche jet der Maler Golg zum Tell geliefert 


— 51 — 


hat, am fich ſehr hübſch iſt. Seine Dekorationen haben 
dem Publikum gefallen und manche — nicht die der großen 
Landfchaft, wofür ihm der heroiſche Bug fehlt, wohl aber 
die behaglich intimen, da8 Zimmer beim Walter Fürft im 
zweiten Alte, Haus und Hof Tells im dritten, das Zimmer 
Tells im fünften, mit dem Blice auf die ftrahlende Wieje 
hinaus — find in der Tat erfreulich. Und fie haben den 
Vorzug, auch für jedes andere Stüd zu pafjen, das in der 
Schweiz ſpielt, wenn fich vielleicht nächjtens einmal Blumen- 
thal oder PHilippi dahin begeben; bei ihrem Text würde 
jogar der amüjante Brand der Fronvefte („ein Triumph der 
modernen Technik”, konnte auf dem Bettel ftehen) ficherlich 
noch ftärfer wirken, da einem die dramatiſche Aufregung 
Schillers Teider nicht die Zeit Täßt, fich ihm ganz zu 
widmen. Das Pathos, das Schiller feinen Schweizern 
gibt, Hat Golg nicht. Ich weiß Heute freilich nur einen 
der es hätte: Hodler. Aber gewiß ift Goltz wienerijcher. 

Der Darftellung merkt man es an, daß Thimig fich 
bemüht, ebenfo von der leeren Dellamation als von der 
Öden Meiningerei loszulommen und das Wort überall in 
Spiel umzufegen. In zwei Szenen ift ihm dies merf- 
würdig jehön gelungen: bei Attinghaufen und beim Apfel- 
ſchuſſe. Sonft gerät er bald in einen jaljchen Lärm, jo 
daß man fich eher bei Wildenbruch glaubt (gleich in der 
eften Szene des erften Altes), bald wieder, offenbar aus 
Angft, theatralifch zu werden, faft in den Ton der ger 
wöhnlichen Konverſation (in allen Szenen Stauffachers 
und auch auf dem Rütli, wo jede Steigerung fehlt), mit- 
unter aber ganz in die Oper (bejonderd in der hohlen 
Gaffe). Baumeiſters Attinghaufen ift prachtvoll. In der 

* 


- 82 — | 


Maske an den dreizehnten Leo erinnernd, ganz eingelunfen, | 
zerknittert, verlöfchend, mit einem geifterhaften Glanze der | 
Hinüberblidenden Augen, ſchlägt er in dieſen zwei knappen 
Szenen ein ganzes Leben vor uns auf. Wenn er jagt: 


gern’ dieſes VoM ber Hirten Tennen, Knabe! 

Ich kenn's, ich hab’ es angeführt in Schlachten 
richtet fich in dem Hinfälligen Greiſe plöglich ein junger 
Held auf. Und wie dann Rudenz fort ift und er fih 
müde in den Erker jeßt, der Zeit nachſinnend, Die er nit 
mehr verfteht, hören wir in dieſem flehentlich zornigen: 
Was tu ich Hier? alle Bitterkeit des ausgeftoßenen Alters | 
Magen. Wunderjchön ift auch der Walther Fürft des Herm 
Rompler, der zeigt, wie man einfach und mit der höchiten | 
Wahrheit jprechen Tann, ohne deshalb nüchtern zu werben. 
Kainz, Frau Medelsky und Herr Heine geben dem Meld- 
thal, der Armgard und dem Baumgarten ihre fladernde 
Nervofität. Reimers geht den Tell beherzt und entjchlofjen 
an, Hütet fich zu deflamieren, jchreit nur ein paar Mal 
und Hat alles, um, wenn er die Rolle erjt noch breiter 
und männlicher nimmt, ein guter Tell zu werden, dem nur 
freilich ein Bug von verfonnener Innigkeit immer fehlen 
wird. Als Rudenz führt fich ein Herr Baſch in angenehmer 
Haltung ein. Unerträglich ift Here Gregori, der den 
Parricda mit den Grimafjen eines Franz Moor auf dem 
Dorfe mimt und jegt auch noch die Manie Hat, fich jeden 
Moment als „Iebendes Bild“ zu ftellen. 


— 53 — 


Im grünen Baum zur Nadtigall. 

(Ein Stubentenftüd in drei Akten von Dito Erich Hartleben. Zum 
erften Mal aufgeführt im Burgtheater am 27. Dftober 1904.) 
Doktor Hermann Steingräber, alter Couleurftudent, 

einft Dozent in Iena, durch den Tod feines Vaters ver- 
armt, gezwungen, für ſich und Schwefter zu verdienen, 
it nad Amerika, um in Milwaukee in die Fabrik eines 
Freundes zu treten, des Ingenieurs Heinrich Pfenninger 
eines biederen Schweizers, der das „Opachinal“, ein Mittel 
für franfe Nerven, erfunden hat, mit dem fie tüchtig Geld 
machen. Sechs Jahre vergehen, da padt fie die Sehnfucht. 
Sie entichließen fich, nach Iena zu fahren, wo das 
Schwefterchen, Lilli Steingräber, bei einem alten Onkel 
geblieben ift, und Pfenninger Hofft inögeheim, fie zur Frau 
zu gewinnen. Kaum auf deutfchem Boden, Tönnen fie fich 
der alten deutichen Sentimentalität nicht erwehren und es 
gelüftet fie, das Nänzchen auf dem Rücken, durch Land 
gu wandern und in ihr geliebtes Städtchen einzuziehen. 
Aber ein paar Stunden vor Jena verftaucht ſich Stein- 
gräber den Fuß, er kann nicht weiter, fie müffen in einer 
Schenke in Cospeda raften, im grünen Baum zur Nadh- 
tigall, bis eingefpannt fein wird. Das dauert jeine Zeit 
und einftweilen hören fie den Studenten zu, den „Alanen“, 
die in diejem Bierdorfe ihre Schwänfe treiben. Bierjungen 
werden gebrummt, Bierfchwefel gehalten, ein Biergericht 
verhandelt und e& ertönt das jchöne Lied: 

Laßt und den Verftand verfaufen, 

Denn was nügt uns ber Verftand? 

Denn was nützt und der Berftand? 

Laßt und den Berftand verfaufen, 


— 4 — 


Denn was nützt uns der Verſtand? 

Von der Wiege bis zur Bahre 

IR der Suff das einzig Wahre — ! 
Laßt und den Berftand verfaufen, 

Denn was nüßt und ber Berftand? Sieſtewohl! 

Die beiden Amerikaner jehen fi verwundert den 
Zumult an, der brave Schweizer ganz ergrimmt, daB es 
fo etwas heute überhaupt noch gibt, während in dem 
anderen allmählich Erinnerungen an feine Jugend erwachen, 
als es auch bei ihm noch hieß: 

Immer Iuftig, iht lieben Brüber, 

Stect die bangen Sorgen auf! 

Morgen geht ja die Sonne wieder 

Betrunten an dem Himmel auf! 
Der Schweizer ringt die Hände, dem anderen wird immer 
wärmer. Dann tritt noch ein junger Menich an den Tiſch 
der Alanen, Reinhard Dühring, der nun ſogleich von den 
Brüdern gehänfelt wird. Er fcheint verliebt zu fein und 
wird deswegen außgelacht: denn er hat ſich, wie fein 
Leibburſche verrät, nicht entblödet, ſogar Gedichte auf „Tie“ 
zu machen. Ungeheuered Hallo! Eine Biermimif wird 
vorgeſchlagen: „Diejer jehr glüdliche, Hoffnungsvolle Jüng- 
ling macht bekanntlich; Gedichte. Möge er uns doch mal 
eins davon hier vorjäufeln, auf daß wir dann daraus eine 
jaftige Biermimif deixeln.“ Dies gejchieht, Reinhard fügt 
fich in guter Laune, indem er ſelbſt fein Gedicht parodiert, 
während die anderen es grotesf pantomimijch begleiten 
und Röschen, die Tochter des Wirtes, ein „wohlbejcholtenes 
Mädchen“, feine Geliebte jpielt; und als fie fich nun gar 
in die Arme finfen und küſſen, ſchlägt die Fidelität über 
und der ganze Chor jauchzt dem Dirnlein brüllend zu: 


— 50 — 


„Heil! Fräulein Lilli Steingräber, ſie lebe hoch! Hoch, 
hoch, hoch und abermals hoch!“ Da fahren die beiden 
Amerikaner auf. Der Doktor Steingräber iſt ganz fahl 
geworden: ſeine Schweſter alſo, ſeine liebe Schweſter Lilli 
es, die hier von betrunkenen Studenten verhöhnt wird! Er 
geht auf Reinhard zu: „Was haben Sie fi da erfrecht? 
Mein Name ift Steingräber.“ Reinhard prallt zurüd: Der 
Bruder! Aber Steingräber aufer fih: „Sie... Sie 
unverfchämter dummer Junge! Betrachten Sie fich ala ge- 
ohrfeigt.“ Die Karten werden gewechjelt, die Sefundanten 
treten zufammen : Gezogene Piftolen. zehn Schritte Diftanz, 
dreimaliger Kugelwechiel mit Bielen; morgen früh. 

Steingräber fieht natürlich ein, daß das ein Unfinn 
iſt. Schließlich Hat der junge Menſch keineswegs die Ab- 
ficht gehabt, feine Schweſter zu beleidigen. Es war ein 
Spaß, nicht fehr fein, aber Steingräber ift ſelbſt einmal 
Student gewejen und kennt die Stimmung der Fidelität 
bei Liechtenhainer Bier. Und deswegen jchießen und auf 
ſich ſchießen lafjen? Aber, was foll er tun? Er kann 
nicht mehr zurüd. Etwa den jungen Menſchen noch um 
Verzeihung bitten? Ausfneifen? Nein. Dazu ift er doch 
zu jehr Stubent geblieben. Mag der Schweizer, der ihm 
tät, einfach „diefe jungen Burjchen mit ihrem Affenkram 
allein zu Iafjen“, taujendmal recht Haben, „über gewifje 
Dinge fommt man eben nicht hinweg“. 

Für den Studenten ift es noch ärger. Er banbelt 
nämlich nicht ;etwa bloß fo mit der Lilli. Er liebt fie 
wirklich. Sie find heimlich ſchon verlobt. Sie haben nur 
noch gewartet, biß der Bruder fommt, an dem das Mädchen 
zärtlich Hänge. Und nun foll das alles zerftört jein? 


— 66 — 


Aber was kann er tun? Er iſt beſchimpft worden, er 
muß es rächen ober er Hat Feine Ehre mehr. „Wenn man 
doch einen anftändigen Ausweg wüßte! Aber es gibt ja 
Teinen — es gibt feinen!“ Und fchon ift am anderen 
Morgen alles bereit, der Kampf foll beginnen, ala plötzlich 
Lilli fommt. Jenes Röschen,. das Mädchen des Wirtes, 
hat es ihr in feiner Angft verraten und fo tritt fie zwiſchen 
den Bräutigam und den Bruder, ein neues Ehrengericht 
verlangend, dad fie mit folcher Laune und jo Hug zu 
führen weiß, daß fich die beiden verjühnen, in einer recht 
unwahrfcheinlichen, aber theatralijch amüfanten Szene, die 
wirklich beſter Paul Lindau ift. 

IH fage das ohne Grimm. Paul Lindau hatte es 
vor dreißig Jahren gern, irgend eine Tagesfrage jcharf 
anzugehen, als Moralift oder fatirijch, dann aber, um den 
Leuten nicht unbequem zu werden, mit einem bübjchen 
Einfall abzubiegen und es in einen guten Spaß aufzu- 
Idjen, der den Leuten im Theater entſchieden lieber ilt. 
Dagegen will ich nun feineswegs den böfen Merfer machen, 
weil Dtto Erich, ſich zitierend, mir font jagen könnte: 

Die Würbdigen, die die Kunft gemacht zum Lehrgebäube, 
Bergaßen mit der Zeit, daß fie ein Kind der Freude. 
Sie anerkannten gern, doch ſchließlich merkt ihr Grollen, 
Das Künftler immerfort nur wieder fpielen wollen. 
Worauf ich e3 freilich Leicht Hätte, ihn auch zu zitieren, 
erwidernd : 
Damit’3 dir Spaß noch macht, mußt du dich ſchon bequemen, 
Das Leben immerhin ein bißchen ernft zu nehmen. 
Dem Halkyonier, der ganz reif und ganz ruhig geworden 
ift, wird zuleßt alles, was die Menfchen tun, ein bloßer 


— 57 — 


Bahn fein, mit dem er jpielt, Aber eben um mit ihm 
fpielen zu können, muß er verlangen, daß es den Menjchen 
jelbft damit ernft ift. Wenn fie jelbft aus der Rolle fallen, 
hört der Spaß auf, der doc eben darin allein ift, daß 
wir, als Zuſchauer, verlachen gelernt haben, womit fie, 
als Mitipieler, fich noch ‚quälen. Ich gehöre nicht zu den 
„Würdigen,“ die fich erbofen, wenn der Sünftler feine 
eigenen Figuren nicht ernft. nimmt. Ja, Dito Erich, er 
foll mit ihnen fpielen, nicht aber fie jelbft mit fich, ſonſt 
geht es mir wie hier, wo am Ende ich es bin, der ſich 
von ihnen gefoppt fühlt, weil er fie ernſter nahm als fie 
ſich ſelbſt, weil er für fie fürchtet, weil er für fie litt, 
wo fie fich mit einer Komödie Iuftig zu helfen mußten. 

So ſchien es auch unjer Publitum zu empfinden, 
durch die Darftellung noch darin beftärkt, die zuerjt den 
Ton fo ſchwer nahm, daß man nad) dem zweiten Afte 
auf ein tragifches Ende geftimmt war und num bei der 
heiteren Wendung be3 dritten in eine recht ärgerliche Ver- 
blüffung geriet. Übrigens find gerade hier Frau Retty 
und Herr Niffen jo liebenswürdig, daß ich den Born der 
Leute doch nicht recht begriff. Wenn man fich erinnert, 
wie gnädig fie mit dem Heren Brüll neulich waren! 


1905 


Don Carlos. 
(Im Burgtheater neu infgeniert am 7. und 9. Januar 1905.) 
Die Klagen gegen den Don Carlos find alt: ein 
„Liebesdrama“ ſei Hier in ein „politifches“ Drama gelegt, 


— 58 — 


ohne mit ihm zu verwachſen, ſo daß eines das andere nur 
hemme, verdränge, ſtöre; jedes habe ſeinen beſonderen Helden 
für ſich, zwiſchen welchen die Teilnahme des Dichters noch 
mehr als die des Publifums ſchwanke; und fo jei es fein 
Wunder, wenn das Stüd, jegt nach dem Erotiichen Hin, 
jegt vom Politiſchen her gerifjen, in der Mitte zerbricht. 
Schon Schiller ſelbſt bat fich dagegen in den „Briefen 
über den Don Carlos“ verteidigt. Er gibt zu, es könne 
ihm begegnet fein, daß er in den erften Akten andere Er- 
wartungen erregt habe, als er in den leßten erfüllte. Und 
entfchuldigt dies fo: „Während der Zeit nämlich, daß 
ich es ausarbeitete, welches, mancher Unterbrechungen wegen, 
eine ziemlich lange Zeit war, hat fi — in mir jelbft 
vieles verändert. An den verſchiedenen Schidjalen, die 


während dieſer Zeit über meine Art, zu denfen und zu 


empfinden, ergangen find, mußte notwendig auch dieſes 
Werk teilnehmen. Was mic, zu Anfang vorzüglich in 
demjelben gefeſſelt Hatte, tat dieje Wirkung ſchon in der 
Zolge ſchwächer und am Ende nur faum noch. Neue 
Ideen, die indeſſen bei mir auffamen, verdrängten die 
früheren. Carlos jelbft war in meiner Gunſt gefallen, 


vielleicht auß feinem anderen Grunde, ala weil ich ihm in 


Jahren zu weit vorausgefprungen war, und aus der ent- 
gegengejegten Urjache ‚hatte Marquis Poja feinen Platz 


eingenommen. So fam es denn, daß ich zu dem vierten 


und fünften Afte ein ganz anderes Herz mitbradjte. Aber 
die erften drei Akte waren in den Händen des Publikums, 
die Anlage des Ganzen war nicht mehr umzuftoßen — 
ich hätte aljo das Stüd entweder ganz unterbrüden müſſen 
(und das Hätte mir doch wohl der Hleinfte Teil meiner 


89 — 


Leſer gedankt), oder ich mußte die zweite Hälfte der erften 
fo gut anpafjen, als ich konnte. Wenn dies nicht überall 
auf die glüdlichfte Art geſchehen ift, jo dient mir zu einiger 
Beruhigung, daß e3 einer geſchickteren Hand als der meinigen 
nicht viel befjer würde gelungen fein. Der Hauptfehler 
war, ich Hatte mich zu lange mit dem Stüde getragen; 
ein dramatifches Werk aber kann und foll nur die Blüte 
eine einzigen Sommers fein.“ Was ein Dichter über jein 
Berk zu jagen hat, mag man anhören, weil e8 ung immer» 
bin auf Ummegen doc} feinem Sinne nähern kann. Uber 
man fol ihm lieber nicht trauen: was er gebildet Hat, 
braucht er nicht erft noch einmal auszufprechen und wo 
feine bildende Kraft verjagt, wird uns die redende nichts 
helfen. Was er einmal im Schaffen verloren hat, bringt 
ihm feine Befinnung mehr zurüd, Dies aber vermute ich 
hier. Ich vermute, daß er hier den erften dramatijchen 
Keim und Trieb, aus welchem ihm einmal, einer jehr 
grellen, aber fogleich verbligenden Viſion gleich eine &e- 
ftalten plöglich aufgejprungen waren, jpäter im Schaffen 
völlig verloren hat, ohne ſich, wie er ſich auch darum 
peinigen mochte, jemals dahin zurüd zu finden. Daher 
die Stodungen, die Paufen, der Wechfel im Ton; daher 
das Gefühl, dad man im zweiten Teile bisweilen hat: 
einer ich gewaltfam erhigenden Reflexion, die forcieren foll, 
was fich der Eingebung nicht mehr abpreſſen läßt. Selt- 
ſam bleibt nur, daß er, was er damals verloren liegen ließ, 
nicht jpäter, wie es Dichtern oft gejchieht, in einem anderen 
Stoffe mwiederfand. Vielleicht, weil er nicht bloß einen 
Einfall verloren Hatte, fondern mit ihm fich felbit, jenes 
Stüd von fich, deſſen Ausdruck eben jener Einfall gewejen 


— 60 — 


war. Und dies vielleicht darum, weil er ihn und fich an 
feine Zeit verlor, der es wejentlich war, das Grundverhältnis 
abzuweiſen und auszuichließen, auf daS er fein Stüd zu- 
erſt geftellt Hatte. Dieſes Grundverhältnis jcheint mir 
die Begegnung zweier Männer zu jein, die dasſelbe 
ſuchen, es aber, nach ihrer inneren Anlage, jeder dort 
finden müffen, wo es dem anderen verwehrt ifl. Ihre 
inneren Anlagen wären die beiden Enden der menichlichen 
Natur, in deren ewigen Widerftreit allein vielleicht alle 
Bewegung, alle Entwictung de3 menjchlichen Lebens be- 
fteht. Deshalb hätte fie der Dichter nebeneinander Hin- 
zuftellen mit dem gleichen Rechte, beide von Anbeginn 
in unerfchütterlicher Macht, gleich unverföhnlich, ſich 
gleich ewig unentbehrlich, wie Tag und Nacht. Aber 
dies ließ dem Dichter feine Zeit nicht zu, die, eine bon 
jenen leidenſchaftlich aufgeregten und vehement begehrenden, 
die auch den Größten zwingen, Partei zu nehmen, ihn un 
geftüm nad) der einen riß. 

Zwei junge Leute, Karl und Pofa, begegnen fich in 
derjelben Sehnjucht und Dual. Dual an diefem dumpfen, 
nichtigen, leeren Leben, das ftarr und hart um fie fteht. 
Sehnjucht nach einem freien, vollen, frohen Leben, das fie 
in ihren Tiefen loden fühlen. Jenes ift die Qüge, dieſes 
die Wahrheit, wird ihnen in jtillen Stunden der Ießten 
Vertraulichkeit gewiß. Jenes durch diejed zu verdrängen, 
dieſes zum Gejege für eine glüclichere Menjchheit zu ge 
winnen, wird der Vorſatz, dem fie ſich weihen. Ehre, Ruhm, 
alles, worum fie die Großen de3 Reiches fich verzehren 
jehen, gilt ihnen nichts. Im ihrer Bruft fühlen fie ein 
edleres Glück. Diejen reineren Himmel ihrer Begeifterung 


— 6 — 


unter die Menjchen auf die Erde zu bringen und ein Leben 
der Unſchuld dort zu geftalten, wo jetzt der Neid, die 
Bosheit, der Haß der Mächtigen herrſchen, ſchwören fie 
ſich trunfen zu. Beiden ift Dies äußere Leben unerträglich, , 
beide fühlen ein inneres, das jenes überwinden fol, und 
fo verbinden fie ſich, auß fich felbft die Welt umzufchaffen. 
Schiller ſchreibt: „Unter beiden Freunden bildet fich aljo 
ein enthuſiaſtiſcher Entwurf, den glüdlichiten Zuftand her- 
vorzubringen, der ber menjchlichen Gejellichaft erreichbar ift, 
und von diefem enthuſiaſtiſchen Entwurfe, wie er nämlich 
im Konflifte mit der Leidenjchaft erjcheint, handelt das 
gegenwärtige Trama.“ Im Konflikte mit der Leidenjchaft ? 
Hier fpricht Schiller ſchon völlig als Poſa, dem er jich im 
Schaffen allmählich fo ſehr überlajjen hat, daß er unfähig 
wird, jenen beiden Typen der Menjchheit, von welchen er 
ſich den erften jchöpferiichen Reiz geholt hat, ihr gleiches 
Recht zu geben, weil er nun für den einen ſelbſt Partei 
nimmt. Nun erjcheint ihm, wie dem Poſa, al3 eine das 
Weſen des Carlos und feine Beftimmung zerftörende 
„Leidenichaft“, was viel mehr, der anderen Natur des Poja 
freilich umbegreiflich, nur der höchfte Ausdruck diefes Weſens 
und feine Vollendung iſt. 

Die beiden. jungen Leute, vom äußeren Leben ange- 
widert, Durch ihr inneres beglüct, möchten dieſes in jenem 
bewähren. Es ift die Stimmung der erften Jugend, welche 
ſtets Welt und Menfchheit vor das Gericht der eigenen 
Sehnfucht ftellt. Den Jüngling verlangt, feinen eigenen 
Wunſch zum Gejege zu machen, er traut ſich zu, durch 
feine Tat alles Häßliche zu verdrängen und ift es nur 
einmal jo weit, daß, was er für gerecht, für vernünftig, 


— 92 — 


für notwendig erfennt, in der Welt zur Regierung kommt, 
fo zweifelt er nicht, daß der ganzen Menjchheit die Stunde 
des Glückes fehlagen wird. Poſa Hat es nun in feiner 
Natur, der ewige Jüngling zu bleiben, dem ſich niemals 
der Verdacht regt, es konnte vielleicht überhaupt unmöglich 
fein, inneres Glüd vom äußeren Leben zu erlangen oder 
unjere innere Welt in die äußere zu tragen, es Tönnte 
vielleicht die Kluft zwiſchen unferer Sehnjucht und der 
Wirklichleit zu breit, zu tief fein. In feinem Zutrauen auf 
unfere Kraft, aus und die Welt umzufchaffen, bis fie unſer 
Gleichnis wird, ift er der richtige Idealiſt und reißt damit 
auch den noch unerwachten Carlos fort. Die „Verbreitung 
reinerer, fanfterer Humanität, die höchft mögliche Freiheit 
der Individuen bei des Staates höchfter Blüte, der voll- 
endetſte Zuſtand der Menjchheit, wie er in ihrer Natur 
und ihren Kräften als erreichbar angegeben liegt“, wird 
nun der liebliche Traum, in dem die Phantafie der jungen 
Freunde jchwelgt, bis es dem Carlos geichieht, daß er im 
hödjften Momente des Daſeins jene ganz andere Wahrheit 
erfährt, die feinem Weſen beitimmt ift: bis er liebt. Er 
liebt und plöglich verfinft diefe äußere Welt, von der er 
fonft fo gelitten hat, und er hat Teinen Efel mehr vor ihr 
und feinen Haß mehr auf fie und fie fann ihn nicht mehr 
quälen, denn fie ift jegt gar nicht mehr da, nichts ift mehr 
da, fein Gefühl für die Königin hat alles verfchlungen 
und aus Ddiefem alles verdrängenden, außzehrenden, zer- 
nichtenden Gefühl geht ihm ein Glück auf, das gegen alles 
Außere fich gefeit weiß und dem feine Macht mehr geben 
oder nehmen Tann. Cr liebt, aber dies ift freilich nicht 
die fanfte, till verklärende, tief beruhigende Neigung, die 


— 68 — 


ſonſt als Liebe bejungen wird, fondern es ift die Liebe 
al tödliche Leidenſchaft, von welcher ein Menſch förmlich 
aufgeiprengt, jeder gefelligen Verbindung mit den anderen, 
ja jelbft dem bloßen Vermögen, fie auch nur zu verſtehen, 
entriſſen und gleichjam in den Urzuftand der Menfchheit, 
ind Chaos der noch von Feiner Vernunft, Feiner Sitte, 
feiner Furcht vor Leben oder Tod gefeflelten Elemente 
zurüdgetaucht wird. Liebe ala Leidenichaft, die Dante in 
der Vita nuova mit dunklen Worten ſcheu berührt, Shafe- 
ipeare ein einziges Mal, im Romeo, geftreift und vielleicht 
nur Stendhal wirklich begriffen Hat, da fie doch felbft im 
Triftan ſich immer wieder in Schleiern entzieht. Trogdem 
ift fie vieleicht nicht jo ſelten, als man wohl denkt, aber 
die von ihr reden könnten, find verftummt durch fie, wie 
durch einen mächtigeren Tod, weil fie für alles, was unter 
den Menfchen ift und hier gilt, nur noch das tiefe Lachen 
haben. Aber nun wird Carlos von allen im Stiche ge— 
laſſen. Auch vom Dichter, der fich plöglich vor feinem 
eigenen Entwurfe zu fürchten ſcheint. Cr hätte hier den 
Urgrund unfere® Dafeins aufreißen fönnen. Drüben alle 
Mächte des Lebens, die böfen wie die guten, das Unrecht, 
die Gewalt, der Haß, und Recht, Freiheit und Menjchen- 
liebe, aber gegen alle dieje Verbündeten zufammen ein ein» 
ziget Menſch geitellt, dem fein Gefühl ein jolches Glück ge- 
währt, daß daneben alle anderen menfchlichen Unterſchiede 
von Luft und Leid verichwinden und, an diefem Glüde ge- 
meffen, der Prinz mit dem Bettler, der freie mit dem 
Knecht, der Frohe mit dem Bedrüdten in dasſelbe Elend 
verfinft! Welch ungeheueres Schaufpiel! Was ift ihm 
Flandern, was das Schidjal der Provinzen, was kann ihm 


— 4 — 


noch die Freiheit fein, der an ſich jelbft die Seligfeit der 
eigenen Vernichtung in einem anderen Wejen erfahren hat? 
Poſa, die Figur jener Menſchen, die in ihr eigenes Indi- 
viduum ewig eingejchloffen bleiben und e3 darum, gewiß 
ſich niemals zu verlieren, leicht Haben, den anderen ruhiges 
Wohlwollen, die Hilfe beherzter Taten und zuverläffige 
Treue zuzumenden, neben Carlos, der fich plöglich entäußert 
fühlt und indem er eben durch diefen Verluft feiner ſelbſt 
im tiefften doch erft zu feinem wahren Selbft fommt, feinen 
auf das äußere Glüd, die Wohlfahrt, den Frieden, auf 
Ehre, Recht oder Freiheit gelenkten Trieb mehr verftehen 
Tann — die beiden Enden, die beiden Pole der Menjchheit 
zujammen! Aber plöglich gibt der Dichter Carlos auf, 
wie von feiner eigenen Vifion erfchredt, Qielleicht, weilman, . 
um fie ganz zu verftehen, erft in Schopenhauer hinein und 
durch ihn und über ihn hinaus ins Licht gegangen fein muß. 
Don Carlos wird uns jet im Burgtheater in zwei 
Teilen geliefert. Wenn der König in der Tiefe feiner ver- 
Iaffenen Not fich entichließt, nach dem Marquis zu fenden, 
werben wir heimgejchict, um nach zwei Tagen erft zu er- 
fahren, wie die Gefchichte noch ausgegangen ift. Das ift 
durchaus unkünſtleriſch, aber jchließlich auch nicht mehr, 
al3 den halben Text auszureißen und, wozu der Dichter 
ſechs Stunden braucht, in vieren abzufprudeln. Es zeigt 
ſich wieder, daß das dramatijche Weſen mit einer Ordnung 
der Gejellichaft unverträglich ift, welche den Erwerb von 
Geld in die Mitte des Dajeins rückt, unſer wahres Leben 
aber in den Winfel ermüdeter Stunden ſtellt. Dies aber 
gerade von Schlenther gelöft zu, verlangen, der vielleicht 
gar nicht anfpricht, ein Nevolutionär zu fein, jcheint mir 





— 5 — 


nicht ganz billig. Nicht an den Künſtlern und ihren Ge— 
biffen ift es, Die Bedingungen zu fchaffen, unter welchen 
Kunft überhaupt erft wieder möglich fein wird. Bis dahin 
bleibt es ziemlich gleich, ob man ein Werk, um es für die 
Jerftreuung oder Verdauung Herzurichten, bejchneiden oder 
gerreißen oder was immer man mit ihm machen wird, 
damit es die Gewohnheiten erſchöpfter Handelsleute nicht 
för. Der Fleiß der Regie, den man in jeder Szene 
wieder fpürt, iſt neulich fchon gerühmt worden. - Wie 
Thimig den Wert des einzelnen im Ganzen zu fühlen, 
jeder leifen Wendung nachzujpüren, alles aufeinander zu 
beziehen weiß, verdient Bewunderung. Ich fürchte nur, 
et vergißt darüber, daß doch alles, was auf den Proben 
geichieht, immer nur Vorarbeit, Vorjpiel, Vorftimmung auf 
ein am Abend jeldft erft wie Gewitter außbrechendes Ereignis, 
daß es fozufagen nur Brennholz ift, das er von allen 
Seiten Herbeizujchleppen und rings aufzufchichten hat, in 
da3 num aber, im Moment der Darftellung jelbit, erjt das 
Feuer einer ungeheueren Leidenfchaft geworfen werden muß. 
Das fehlt feinen Aufführungen oft: es ift alles bereit, 
wird aber dann nicht abgebrannt. Wie denn auch hier 
alle Szenen, durch welche nicht Kainz feine Riejenflammen 
ſchlägt, unbewegt im Finfteren liegen bleiben. 


Traumulus. 


ragiſche Komödie von Arno Holy und Oskar Jerſchke. Zum erften 
Mal aufgeführt im Burgtheater am 11. Februar 1905.) 


Traumulus wird der Direktor des königlichen Gym- 
nafiums, Herr Profefjor Dr. Niemeyer, von jeinen Schülern 
Hermann Bahr, Bloffen. 5 


— 6 — 


genannt weil er feine Ahnung hat, wie fie find und wie 
die Welt ift. Faft jede Schule hat jo einen Traumulus 
und an ihm, den Güte wehrlos macht, pflegen die Buben 
zu rächen, was ihnen von feinen harten Stollegen an Bos- 
heit und Grauſamkeit geſchieht. Kinder richten nämlich 
ihr Verhältnis zu den Menichen nur nad) ihrer Furcht 
- ein; merken fie, daß jemand gut ift und fich jchent, ihnen 
wehe zu tun, und fie fich alfo ficher vor ihm glauben 
dürfen, jo benügen fie dies immer nur, um fich ungeftraft 
gegen ihn zu vergehen. Erwachjene ja übrigens auch; nur 
daß dieſe fich dabei doch heimlich manchmal ein bißchen 
ſchämen. Es fcheint jchon ein Geſetz unjerer Natur zu 
fein, daß jeder Menfch dem anderen genau jo viel antut, 
als er rechnen kann, daß diejer fich von ihm gefallen läßt. 
Dafür wird, wer fich alles gefallen läßt, dann gut, wer 
fich nichts gefallen läßt, böje genannt. Jener wird geliebt, 
aber ausgelacht, diejer gehakt, aber man folgt ihm. Man 
Tann das ruhig außfprechen, ohne fürchten zu müſſen, daß 
deswegen ein Guter, durch Schaden Hug geworden, fi, 
zum Bbſen entichließen Fünnte. Unſer Verhältnis zu den 
anderen wird ja leider nicht von unſerer Erfenntnis noch 
durch unferen Willen beftimmt, fondern wir find, wie zu 
fein ein aus der Tiefe unſeres Wejens heraufdringendes 
Gebot, ſtärker als jeder Rat und Plan der Vernunft, und 
geheimnisvoll zwingt. Bei Slindern oder ganz jungen 
Leuten ift daS nun deutlicher, weil fie noch gar nicht ver- 
fuchen, es zu vertujchen, jondern wie Frauen, die darin 
ewig jung bleiben, Güte, die fie dankbar anerkennen, ſogleich 
als Schwäche behandeln, die nicht zu mißbrauchen doch 
ſchade wäre. Bisweilen mag es ihnen wohl dämmern, 


— 67 — 


daß Dies eigentlich in der Welt nicht ſehr ſchön ift. Aber 
ftatt fich zu fchämen oder gar fich ändern zu wollen, 
empfinden fie dann nur noch einen leijen Verdruß, eine 
durch Verachtung verbitterte Mancune gegen den Guten, der 
daran ſchuld ift. Ein „wahrhaft guter Menſch“ wird zu 
legt gewahr, daß er fich eigentlich immer nur lächerlich 
und fogar die anderen nur noch fehlechter macht, weshalb 
er fich gar nicht beffagen darf, wenn fie ihn verachten, 
ſondern es verdient. Otto Erich Hartleben hat diejes 
Thema einmal in einer merkwürdigen, nur doch recht lieder- 
lich geführten Komödie geftreift, aber es würde, mit Ernft 
ergriffen, wohl auch wahrjcheinlich eine ſolche Qual ſein, 
daß es niemand aushalten könnte. Doc) in den Traumulus 
Mingt davon nicht mehr hinein, als fich mit der angenehmen 
Stimmung eines guten Theaterftüdes gerade noch verträgt. 

Und um bieje Tragödie des guten Mannes ift eine 
andere geichlungen: die de3 jungen Menjchen, dem zum 
eriten Male der Schleier vom Leben geriffen wird. Kurt 
d. Zeblig, ein Schüler de Traumulus, fein Liebling, hat 
ſich in eine jener Heinen Damen vergafft, die daneben auch 
beim Theater find; fie bringt ihn in ein verrufenes Lokal, 
fie zechen, es wird ſpät, er ift jung, er hat Seft getrunfen 
und fo begleitet er fie, nicht bloß 5i8 an das Tor. Und 
das ift gejehen worden. Sfandal. Alle Heuchler der 
Heinen Stadt find los. Und die Feinde des Direktors, 
der Landrat voran, die fein weltfernes Weſen, weil fie es 
nicht verftehen können, als ein ewiger Vorwurf erbittern 
muß, eilen nun, ihm daraus den Strid zu drehen. Trau- 
mulus, der dies alles noch gar nicht faſſen kann, hält 
ſtrenges Gericht. Zuerſt mit der liftigen Sünderin, die 

gr 





| 
— 68 — 


natürlich leugnet, tief beleidigt iſt und auf ihre Tugend 
ſchwört. Gerührt, wie durch den ſüßen Ton der Lüge, 
den die Wahrheit niemals hat, weil ſie zu ſtolz iſt, ein 
noch unverdorbener Mann immer gerührt wird, glaubt ihr 
Traumulus natürlich ſofott. Nun muß der Jüngling vor, 
der natürlich zu „ritterlich“ iſt, um-jeine „Dame“ zu ver- 
raten; lieber lügt auch er. den Lehrer an, der jegt, von 
Schanı verwirrt, das unfchuldige junge Mädchen und feinen 
verleumbdeten Liebling am liebften um Verzeihung bitten 
möchte, daß er fie jo häßlich verdächtigen fonnte. Dan 
denfe fich, wie dem Knaben fein muß, dem doch der Mund 
verichloffen ift. Er erkennt jegt Traumulus erſt, er fieht 
plöglich feine Güte ganz, es überläuft ihn, alles gut zu 
machen, aber darf er denn, kann er denn? Und fo, in 
feiner Sehnjucht nach irgend einer geheimnisvoll großen 
und jchönen Tat, die ihn innerlich reinigen und erlöjen 
und wieder erheben foll, ftürzt er zu feinen Kollegen, in 
die Kneipe der „Antityrannia” und redet fie feierlich an: 
„Liebe Freunde! Ich Habe die mir auferlegte Strafe nicht 
durchbrochen, um mit euch fidel zu fein. Ich bin hier- | 
hergefommen, um den Antrag zu ftellen, unjere Verbindung | 
auizulöjen. Bitte, laßt mich außreden. . . . Ich begreife | 
vollkommen, daß ihr meint, ich habe den Verſtand ver- 
Ioren. Hätten wir unſer Stiftungsfeit geftern um dieſe 
Zeit gefeiert, ich glaube, ich hätte dem, der und auch nur | 
mit Ähnlichen gefommen wäre, nie mehr die Hand gereicht. ! 
Ich denke jegt nicht mehr fo. Ich Habe heute, vormittags 
mit Herrn Profefjor Niemeyer ein. . . inneres Erlebnis 
gehabt, das mich — zu einem anderen Menfchen gemacht 
hat. Ich habe die Überzeugung gewonnen, daß unſer 


— 9 — 


Direktor, den wir Tag für Tag auf das fchamlofefte be- 
ſchwindeln, den wir Hintergangen Haben, wo wir nur 
tonnten, der beite Menich ift. Einem befjeren werden wir 
nie mehr im Leben begegnen. Wir find dumme Jungens 
oder Schurken, wenn wir feine unglaubliche Gutheit in fo 
ſchandbarer Weiſe noch weiter mißbrauchen. . . . Ich Habe 
diefe Nacht etwas getan, vor dem ich jegt ausſpucken möchte. 
Ich habe diefen Dann, der mir in feiner Herzensgüte voll 
vertraut, in der niedrigften Art und Weile Hintergangen ! 
Einer... Kanaille wegen! Und ich will heilfroh fein, 
wenn die einzige Folge meiner Gemeinheit die bleibt, daß 
ih ihn obendrein auch noch auf das widerlichite belügen 
mußte! Ich würde fonft wiffen, was ich zu tun hätte... 
Ih bin fein anftändiger Menſch mehr!" Aber er kommt 
zu ſpät, ſchon dringt die Polizei in die Bude, die Burſchen 
werden abgefaßt und auf das Bureau gefchleppt, der Land⸗ 
tat ift entfchloffen, mit der ganzen Wirtſchaft des guten 
Traumulus einmal gründlich aufzuräumen. Und er be— 
weift ihm, durch das Verhör, wie niederträchtig er von der 
„Dame“ und von feinem Liebling belogen und betrogen 
worden ift. Und ganz in der Art von Menfchen, die jedem 
glauben, aber, einmal in diefem Glauben erjchüttert, fich 
an einen Zorn verlieren, der ihnen nun die ganze Welt 
ind Teufliſche verzerrt, bricht der fonft fo janfte Mann 
gegen den armen Snaben jegt wie gegen den ärgſten Buben 
108. Der ftammelt nur: „Ich bitte Sie, Herr Direktor... 
mir zu verzeihen!" Aber Traumulus ift hart geworden: 
„sh bin mit Ihnen fertig!" Noch einmal fledt jener in 
einem jo merkwürdigen Tone, daß jeder andere ſtutzig werden 
müßte: „Es ift meine leßte Bitte, Herr Direktor!" Aber 


— 0 — 


Traumulus, unverföhnlich: „Sie haben jedes Bitten bei 
mir verwirkt! Danfen Sie Gott, daß ich Ihnen nicht 
noch rechts und links einen Polizisten mitgebe! Sie find ein 
Verbrecher." Da geht der Knabe ftumm, rennt in die 
Nacht Hinaus und fchieht fich tot. 

Mich ergreift es ſehr, wie durch diefes ganze Stüd 
der troftlofe Gedanke zieht, daß doch fein Menjch den 
andern kennt, aber eigentlich auch jich nicht, feiner vom 
anderen weiß, auch von fich nicht, und darum feiner je- 
mals dem anderen Helfen kann, auch fich ſelbſt nicht, ſon⸗ 
dern alle nur, vor den anderen und vor fich ſelbſt verftedt, 
im Leben wie in einem tiefen Nebel ftehen. Und es wirkt 
auf mich, wie ftark und rein jene zwei Gejtalten empfunden 
find, wenn auch freilich der Autor fie uns mehr bloß ahnen 
als fehen läßt. Dies ift nicht feine Schuld, fondern eher 
fünftlerifche Abficht: denn fie Hätten fonft die Form des 
Theater zeriprengt. Es hat ihm aber offenbar gereizt, 
einmal zu zeigen, daß es möglich ift, auch in das übliche 
Theaterjtüc, das fich der Sinn der Menge wünſcht, Menich- 
liches zu bringen. Wan weiß, daß es Holz Spaß madit, | 
manchmal in fremden Tönen zu reden. Warum nicht auch 
einmal im Tone des durchtriebenen Theatermenfchen, dem 
auf jeden Wink alle Finten und Kniffe de Metiers ge- 
horchen? Sonft rufen wir in jolchen Fällen gleich verzüdt: 
Seht doch die Franzofen! Freuen wir ung, e3 einmal an 
einem Deutjchen bewundern zu dürfen. Dies alles jagt 
mir mein Verſtand beharrlich vor und ich ärgere mich, 
daß e3 ihm nicht gelingt, mich ehrlicher zu begeiftern. Aber 
eine leiſe Stimme will nicht ſchweigen: es tut mir um 
dieſe zwei Figuren leid, daß der Autor fie in ein Theater» 





— 71 — 


ftüf verbannt hat. Gerade weil ich ihren menſchlichen 
Bert jo ftarf fpüre. Sie find mir zu gut, um dem Be- 
hagen träg verbauender Gaffer zu dienen. Und ich kann 
den Arno Holz nicht vergeffen, der zwanzig Jahre lang 
ein Unerbittlicher geweſen tft, einer von den großen Ein- 
famen, zu welchen niemals der Ruf des Marktes dringt. 


Die Räuber. 
Reu infzeniert.) 

Ob man die Räuber in der Vorſtadt oder in der 
legten Provinz, von Stümpern, Anfängern oder Pfuſchern 
geipielt fieht, man Tann ficher fein, daß fie wirken. Sie 
find unverwüftlich und wenn auf irgend ein Stüd, fo 
trifft Hier die Forderung Goethes an Kleiſt zu: „Auf 
jedem Jahrmarkt, auf Bohlen über Fäſſer gefchichtet, der 
gebildelen und ungebildeten Mafje das Höchite Vergnügen 
zu machen.” Geſtern aber jaß man müde da, langweilte 
ſich und atmete auf, als es, nach zwölf, doch endlich aus 
war. Wie neulich im „Tell”. Wie dann im „Don Carlos“. 
Noch ein paar folche Inſzenierungen und Schiller wird 
und auf Jahre verleidet fein. 

Schuld hat vor allem die törichte Marotte, alles un- 
geſttichen zu fpielen. Daran erfennt man Schlenther als 
Germaniiten. Einem Künftler wäre das nie eingefallen. 
Aber der Germanift nimmt ein bloß gelehrte Intereſſe 
de3 urteilslos ſammelnden Antiquars an der Kunſt. Jeder 
Zettel gilt ihm gleich, der Buchſtabe ift ihm Heilig und er 
bat ja für die Wiſſenſchaft auch recht. An der Wiffen- 


— 2 — 


ſchaft iſt es, das Material beizuſtellen, aus welchem 
dann jede Generation nach der neuen Art, auf die 
fie die Menſchen und die Dinge ſieht, ſich wählen mag, 
was ihr wichtig ift. Aber eben um dieſe Wahl Handelt 
& fi, wenn man fünftleriich wirken will. In dieſen 
Hundert Jahren find die Menfchen anders geworden 
und fie verlangen, daß in ihrer neuen inneren Sprache 
mit ihnen geredet werde, wofern man nämlich fich nicht 
an der verlogenen Zuftimmung der Bildungsphilifter ge- 
nügen läßt, fondern Iebendiges Gefühl entbinden mill. 
Striche aufzumachen hat gar feinen Sinn. Eher: andere 
Striche zu fuchen, die notwendig geworben find. Worte 
auszumerzen, die ihren Sinn gewechjelt oder ihren Klang 
verloren haben. Wiederholungen zu kürzen, die wir, mit 
unferen im Theater erfahrenen Ohren, entbehren können. 
Wer dies einmal wagen wird, mag fi) über daß Gezeter 
der Pedanten tröften; er hat das Beilpiel Goethes und 
Schillers für fi. „Man muß ein alter Praktikus fein,“ 
hat Goethe einmal zu Edermann gejagt, „um das Streichen 
zu verftehen. Schiller war hierin beſonders groß. Ich jah 
ihn einmal bei Gelegenheit jeines „Muſenalmanachs“ ein 
pompðſes Gedicht von zweiundzwanzig Strophen auf fieben 
reduzieren und zwar hatte das Produft durch dieje furcht- 
bare Operation keineswegs verloren, vielmehr enthielten 
dieſe fieben Strophen noch alle guten und wirfjamen Ge- 
danken jener zweiundzwangig.“ Goethe fonnte davon reden, 
er hatte es an fich jelbit erfahren, als Schiller auf feinen 
Egmont jo barbarifch eindrang; denn wie Goethe jagte: 
„Schiller Hatte in feiner Natur etwas Gewaltſames; er 
handelte oft zu jehr nach einer vorgefaßten Idee, ohne hin- 


— 73 — 


längliche Achtung vor dem Gegenſtande, der zu behandeln 
wor.“ Man nannte das in Weimar damals: ein Stüd 
„tedigieren“. Und fchlieklich ift die ganze dramatifche 
Literatur nur eine ewige ſolche Redaktion der alten Stoffe 
für die neue Reit: Sophofles Hat den Aiſchylos redi- 
giert, Euripides den Sophofles, die Römer die griechiiche 
Komödie, Shafeipeare alte engliſche Stüde, die Klaſſiker 
Shakeſpeare. Und mir ift gewiß, daß, wenn unſere klaſſiſche 
Dichtung wieder aufleben foll, ſich erft einer finden muß, 
der den Mut Hat, fie nach unferem Sinne zu „redigieren". 
Bis dahin bleibt doch alles bloß Schmockerei. 

Dazu kommt, daß dieſe Aufführungen Schillers 
|Haufpieleriich verfagt Haben. Freilich Kain! Er 
hat den MelchtHal gejpielt, dann den Carlos, jet den 
Franz. Alle drei Rollen find in feinem Leben jehr viel 
gewejen. Der Melchthal war die erfte, die er in München 
gab, wo dann jenes jeltiame Märchen mit ihm begann. 
Durch den Carlos hat er zuerſt Berlin bezwungen. Am 
Franz hat er jeine Begabung für das Böſe gefunden, die 
ihn dann bis zum Tartuffe geführt hat und ihn Hoffentlich 
auch noch zum Marineli, zum Mephifto, zum Banga, 
zum Shylod, zum Jago, zum Golo und zum Stolzen- 
thaler führen wird. Dazu ift es aber jegt die höchjte 
Seit: er hat durchaus neue Rollen nötig, an den alten 
hat er fich überfpielt, fie machen ihn ungeduldig und da 
er fein Virtuoſe ift, der fich mit der Routine forthelfen 
würde, fondern um zu wirken, den Reiz unmittelbarer Er- 
griffenheit braucht, iſt es nur natürlich, wenn wir ihn an 
den alten Rollen jegt mit den ſeltſamſten Einfällen han- 
tieren jehen. Er wendet fie hin und ber, nichs genügt 


— An — 


ihm, in jeder Szene greift er ſie von einer andern Seite 
an. Man mißverſtehe mich nicht: es iſt durchaus nicht 
das, was man „überladen“ nennt, er macht feine „Nuancen“, 
ex ftopft feine Mägchen hinein. Darin ift er der große 
eine Künftler geblieben, daß er immer durchaus auf die 
ganze Figur losgeht, nur leider in jeber Szene auf eine 
andere. Wie er denn geftern den franz Moor dreimal 
gab: bald fHakefpearifierend, in den großen Linien des 
dritten Richard, bald fich auf den Zopf befinnend, den er 
trug, mit der prachtvollen Dialektik, in der die Helden bes 
Marquis de Sade ſich fo gefallen, und dazwiichen wieder 
plöglich einen farbigen Verismus verjuchend, faft ein biß- 
hen zu Novelli oder Zacconi hinüber. Dies ift ein Schau- 
fpiel von höchſtem geiftigen Reize für Artiften. Aber die 
Rolle wird aufgeiprengt, das Stück zerreißt. 

Ich glaube, daß es mit der Regie Thimigs ganz 
ähnlich fteht: er überprobiert die Stüde. Dabei gefchieht 
es einem leicht, daß man fich in den einzelnen fzenifchen 
Einfall verliebt und daß man, allmählich ftumpf geworden, 
fi ſchon nicht mehr genug tun fann, weil man das Ge- 
fühl für die ruhige Wirkung des Ganzen in der Haft einer 
immer wieber zerriffenen Arbeit fchlieglich durchaus ver- 
Ioren bat. Jenes verführt, alles auszudehnen und hin- 
zuziehen, was gejtern, bejonder3 im vierten Afte, faft un- 
erträglich wurde. Dieſes ermüdet, durch fzenijches Detail, 
den Schaufpieler fo, daß ihm darin der Atem der Rolle 
auögeht, was geftern beſonders an Reimer zu merken war. 
Die Folge ift, daß ſich am Ende alles völlig verzerrt und 
aus dem Ganzen, das verfinkt, plöglich irgend eine Epiſode 
zu verblüffender Wirkung Herausfpringt, wie e8 geftern mit 


— BB — 


dem Daniel de3 Herrn Römpler und dem Paftor des Herrn 
Gregori geſchah. 


Hedda Gabler. 
Ghhauſpiel In vier Akten von Henrit Ibſen. Im Burgtheater zum 
erften Mal aufgeführt am 20. März 1905.) 

Das iſt eine ſehr ergögliche Gedichte, wie es jet 
gelang, Hinterrüd® die Hedda Gabler ind Burgtheater zu 
paſchen. Einige Schaufpieler, mit den Aufgaben unzu— 
frieden, die Schlenther ihnen ftellt, nach höheren gierig 
und empört, fich im niedrigen Schwanfe verfümmern zu 
fühlen, nahmen dieſes Stüd, teilten unter fi die Rollen 
aus, übten e3 ein, fuhren nach Brünn, führten es auf und 
hatten Erfolg. Dadurch bemerkte Schlenther das Stüd 
und, im Vertrauen auf Brünn, entſchloß er fich beherzt, 
& nun auch bei und zu wagen. So fönnen wir wieder 
hoffen. Wielleicht nehmen fich nächiten® ein paar feiernde 
Schaufpieler der Genovefa, des Herodes und der Agnes 
Bernauer an, um Hebbel über Znaim oder Steyr in unjere 
Stadt zu bringen. Und auch wir, die Schlenther nach 
Berlin verbannt hat, atmen auf. Wenn wir es nur ver- 
ftehen, und der Gunſt müßiger Schaufpieler zu verfichern, 
tüdt vielleicht doch wieder einmal ein Stüd von uns ind 
Burgtheater ein. Liebe Senders, erbarme dich unfer, lieber 
Reimers, bitt' für und! O wie nett, o wie zuderjüß will 
ich hinfort mit den Schaufpielern immer fein! 

Die Hedda Gabler ift in Wien zuerft im Carltheater 
von Frau Niecherd, dann im Volkstheater unter Brahm 
don Fräulein Dumont, zulegt von der Dufe geipielt worden. 


— 726 — 


Mean bat fie anfangs ausgelacht, ſpäter angeſtaunt, ver- 
ftanden nie. Die jungen Mädchen ſchwärmen für fie, weil 
fie in Schönheit Ieben oder doc} fterben will, Weinlaub 
im Haar, wie einft der trunfene Zug des Julian trug. 
Die klugen Leute dagegen jagen: Aber fie ift doch ein 
Luder! Ich denke, fie haben beide recht, die jungen Mädchen 
und die Eugen Leute: der Dichter zeigt, wie eine Frau, 
die fich aus der Gemeinheit einer bürgerlichen Exiftenz er- 
heben will, in unferen Zuftänden und an unjeren Zuftänden 
zum Luder werden muß. Ihn Hat das Problem der 
dionyſiſchen Frau gereizt, die fich an ihrer Sehnfucht in 
ein helleres und freiere und edleres Leben ſchwingen will, 
aber indem die wunderbare Klarheit feiner Natur es ihm 
ſogleich an einem einzelnen und ganz bejonderen alle, 
eben dem der ertravagant erzogenen, vor der Zeit erotiſch 
erwachten, unftet durch ein leeres Leben irrenden, dann 
noch in eine dumpfe Ehe verftoßenen, an einen täppiſch 
ahnungslofen Mann verlorenen, im Engen und Starten 
vereinfamten QTochter des General® Gabler zeigt, ftellt er 
mit dem Problem gleich auch jeine Karikatur dar, bis er 
eben dadurch plöglich unverjehen® wieder an fein ewige: 
Thema fommt, in das feine Werfe, wo immer fie auch beginnen 
mögen, immer wieder enden: an das Leiden von Menſchen 
zwiſchen zwei Formen, die, in ihrer Sehnfucht ſchon fo neu, 
daß ihnen die alte durchaus unerträglich ift, doch immer 
wieder in fie zurädfinfen müffen, weil fie noch die Kraft 
nicht haben, aus jich eine andere zu prägen. Diejes ewig 
über ſich hinaus Verlangen und ewig wieder in fich hin- 
ein Verlbſchen unferer armen Zeit, die ſich in Wünſchen 
jo verzehrt, daß ihr feine erfüllende Macht mehr bleibt, 


— 77 — 


bis ſie davon bitter, wild und tückiſch wird, dieſes ganze 
Elend unſerer doch immer flügellahmen Vermeſſenheiten wird 
hiet dargeſtellt. Ich geſtehe, daß auch mir dies erſt durch 
die Duſe völlig aufgegangen iſt, wie es denn, um für ein 
Stück Ibſens reif zu werden, niemals genügt, ſeine Geſtalten 
mit dem Verſtande zu erkennen, ſondern man immer noch 
erſt ein ſtarkes inneres Erlebnis braucht, um ſich daran 
zu jeiner Freiheit aufzufchwingen. 

Er hat einmal an Brandes gejchrieben: „Überhaupt 
gibt es Zeiten, da die ganze Weltgejhichte mir wie ein 
einziger großer Schiffbruch erſcheint — es gilt, fich ſelbſt 
zu retten!“ Das ift die Grundftimmung feines Lebens, 
feiner Werke. Schiffbruch überall. Die Menfchheit an 
ihren Lügen gefcheitert. Und: wie retten wir una? Das 
ift immer jein Thema. Immer ftellt er einen Menfchen 
auf, der leben möchte, aber es in unferer Welt nicht kann. 
Daher fein furctbarer Haß gegen die bürgerliche Form 
des Dafeins, in der es für ihn fein Gedeihen, aus der 
& fein Entrinnen gibt. Byron, die franzöfijche Romantik, 
das junge Deutichland, auch revolutionär, haben doc 
immerhin geglaubt, der einzelne könne fich innerlich frei 
behaupten. Und jpäter find die Künftler gern aus dem 
Bürgertum und feinen Gejegen entflohen, um fich in ihrem 
Schaffen wie auf einer feligen Injel zu ergehen. Ibſen reift 
alle dieje Betäubungen der Erbitterung auf. Nein, du kannſt 
did diejer bürgerlichen Form nicht Durch inneren Trog er- 
wehren, du Tannft dich nicht ſtill in eine Ede jtellen, dies 
alles ift nicht wahr, denn fie läßt dich dir nicht, fie nimmt 
dich ſelbſt dir weg, fie biegt und Lügt und ſchmiegt dich um, 
bis du dir jelöft zum Efel und zur Verachtung wirft, bald 


— 78 — 


biſt du nicht mehr du, ein Schatten ihrer Gemeinheit wird | 


aus dir! Nein, du haft feine andere Wahl, als: dich ihr 
zu ergeben, indem du dir entjagft, oder aber, wenn du 
dich retten willft, fie zu vernichten. Nein, jchmeichle dir 
nicht mit dem falfchen Troft, in jeder Form des menſch⸗ 
lichen Lebens fei dem einzelnen doch das ftille Glück ei- 
gener Ausbildung gewährt, du betrügft dich nur, es gibt 
für einen Mann, der ſich nicht verraten oder doch ver- 
leugnen will, fein andere Verhältnis zum Staate ald die 
Revolte. 

Keiner Hat leidenfchaftlicher al3 Ibſen empfunden, 
was aus dem Menjchen werden könnte. Steiner jchmerz- 
licher, wie furchtbar ihm unjere Zeit verfrüppelt. Seiner 
hat fich gieriger und wilder nach dem dritten Meiche ge- 
jehnt, in welchem die Menjchen aus dem Tode erwachen 
werden. Wie jinnlos ift unjer Leben und könnte den höchften 
Sinn haben! Damit entläßt er und aus feinen Stüden 
immer. Seit es wieder Mode geworden iſt, Wohljein in 
unferer Eriftenz zu heucheln, nennt man das jeinen Peſſi— 
mismus. Aber dann ift es ein Peſſimismus, jo wunder- 
bar produftiv an Kühnheiten und Hoffnungen, daß die 
Menfchheit ihn einſt fegnen wird: denn er hat ihr den 
Zorn und den Haß in die Hand gedrüdt, nun fann fie 
fich wehren. Er ift unter allen, die jegt leben, der ein- 
zige Dichter, der Pathos Hat. Kein Iyrijches freilich, das 
in Tiraden erplodiert. Sondern das gelaffene, ftumme, 
totbereite eines Verſchworenen, der lauert. Unjer Pathos, 
das fich mit Faſſung oder Spott bededt, bis die Stunde 
gefommen fein wird! Er hat einmal gejagt: „Ein Dichter 
gehört feiner Natur nach zu den Weitfichtigen.“ In diefem 


— 9 — 


Sinne iſt er heute der einzige Dichter. Er ſieht in die 
Weite. Er ſieht eine Menſchheit, die vielleicht in fünfzig, 
in hundert Jahren erft fein wird. Er fieht die Zeit, die 
fine Gewalt mehr leiden wird. Und er weiß, daß, wenn 
fie dann einft über unfere Gericht hält, ihr jeder von und 
aur nach feiner Sehnjucht, feinem Hafje gelten wird, nach 
dem Hafje gegen unſere Lügen, nad} der Sehnjucht in die 
Ferne, zur Sonne, hinaus und hinauf. 

So müßte man aber feine Stüde nun auch endlich 
einmal fpielen: als Symphonien von Haß und Sehnſucht. 
Es ift gar nicht fo ſchwer: man erinnere ſich nur der 
Vorftellung des „Klein Eyolf” unter Burdhard, mit Mitter- 
wurzer und der Sandrod. Ich hoffe noch immer, daß 
Reinhardt, der jegt im Sommernachtstraum die Heiterkeit 
Shatefpeares, die auch auf der Bühne immer verfehlt 
worden ift, jo wunderbar getroffen hat, daß dieſer jeltfame 
Zauberer der Negie ſich doch noch einmal an den legten 
Ibſen machen wird. E wird dann eine Überrafchung 
geben. Denn mir ift gewiß, daß Ibſen, wenn die Schau- 
ipieler nur erft feinen Stil Haben, für das Schaujpiel wird, 
was jest Wagner für die Oper ift. 

Fräulein Witt, deren Fleiß und fünftleriichen Takt 
man immer wieder bewundern muß, ift für die Hedda zu 
mondän; bejonders ſeeliſch. Sie jpielt fie mehr zur Francillon 
hinüber. Damit ftimmt im Tone Herr Gimnig, der auß 
dem Brad ungefähr den Präfekten in Andrea macht. Dumas, 
Sardou. Herr Niffen gleicht das aus, indem er einen 
Tesman von Benediz, höchitens von Wolzogen gibt. Merf- 
würdig ift Reimer: anfangs der beite Lovborg, den wir 
noch gejehen Haben, und ebenjo wieder am Schlufje von 


— 2 — 


Herz, wird feiner Ines untren, einer Spanierin, Die der 
Dichter als feurig charakterifiert, und raftet nicht, bis er 
aus alten Urkunden den Beweis hat, daß William Dorrit 
der einzige Nachkomme von Japhet Ieremiad Dorrit, der 
einzige Erbe feines ungeheueren Vermbgens und alfo frei 
und ein reicher Mann ift, worauf er fich fofort befcheiden 
zurüdzieht, damit wir im legten Afte und noch über Torrit 
als Snob amüfieren fönnen, bis fie fich dann, noch dazu 
in Gegenwart eines Prinzen, eines wirklichen Prinzen, 
endlich doch Triegen. 

Das macht nun dem Publikum ein großes Vergnügen, 
von dem man fich nicht auszufchließen braucht, weil e8 gar 
feine Prätenfionen hat und durchaus anftändig, ſauber 
und geſchickt vorgeführt wird. Man darf nur nicht an 
den Roman denken, fonft wird man ärgerlich. Nicht weil 
auf der Bühne, was dort Kraft und Fülle hat, dünn und 
leer geworden ift; dies verfteht man, da fich eine Erzäh— 
lung von taujend Seiten faum in einen Schwanf von 
dritthalb Stunden preſſen läßt. Aber man ftaunt, wie 
viel Didens, bei jeiner Verwandlung in Schönthan, an 
Menſchlichkeit verloren hat. Es find hier diejelben Leute 
al dort, ebenjo jpaßhaft, aber dort muß man manchmal 
plöglich über fie weinen, mitten im Spaß, und mehr als 
über fie noch darüber: wie der Menſch eben if. Das ge- 
ſchieht einem Hier nie, daran zu denken: wie der Menſch 
eben ift. Und das fehlt dann den Figuren. Gleich bei 
Klein Dorrit jelbft. Dort läßt fie ung fpüren, wie furdht- 
bar arm jein ift; hier kommt einem das nur ein bißchen 
abenteuerlih und eher fait verlodend vor. Dort iſt es 
rührend, wie jcheu es fie macht, daß man fie jedem zeigt 





— 3 — 


und zu jedem von ihr jpricht und alle ftolz auf fie find, 
bier Eofettiert fie noch faft damit. Ebenjo das Pumpen 
des Alten. Derb komiſch, bier wie dort. Auch Dickens 
bedenkt fich gar nicht, ihn uns ſchäbig zu zeigen. Aber 
e3 wirft ganz anders. Denn anfangs wird einmal erzählt, 
daß einft ein armer Mann, ein Maurer, das Gefängnis 
verließ und dem Alten Kupfer in die Hand gab, indem 
ex entjchuldigend bemerkte: es ift nicht viel, aber es kommt 
vom Herzen. Das war dem noch nie geichehen, Kupfer 
hatte ihm noch feiner gefchentt. „Wie Lönnen Sie es wa⸗ 
gen!“ fagte er zu dem Manne und brach in ohnmächtige 
Tränen aus. Der Maurer drehte ihn gegen die Wand, 
damit man fein Geficht nicht jehe; dies war jo zartfühlend 
und der Mann war jo zerfniricht und bat jo ehrlich um 
Verzeihung, daß er nicht umhin konnte, ihm zu fagen: 
„Ich weiß, Sie meinten es gut. Sprechen wir nicht mehr 
davon.“ — „So wahr ich lebe, Sir,“ beteuerte der Maurer, 
„ich hab’ es gut gemeint. Und ich glaube, ich würde mehr 
für Sie tun, als alle anderen.“ — „Was würden Sie 
tun?“ fragte er. — „Ich würde" Sie wieder bejuchen 
fommen, nachdem ich draußen bin.“ — „Geben Sie mir 
das Geld wieder,“ jagte der andere lebhaft, „und ich will 
& behalten und nie ausgeben. Ich danke Ihnen, danlke 
Ihnen vielmals. Ich werde Ste aljo wiederjehen?“ — 
„Wenn ich noch eine Woche Iebe, ja.“ Sie jchüttelten ſich 
die Hände und fchieden. Die Kollegen, welche am Abend 
in der Kantine verammelt waren, wunderten fich über ihren 
Vater und fragten, was ihm wohl gefchehen fei, daß er 
jo fpät noch im Hofe auf und ab gehe und fo niederge- 
ſchlagen ſcheine . . . Das ift nur eine ganz fleine, ganz 
6 


— 92 — 


Herz, wird feiner Ines untren, einer Spanierin, die der 
Dichter ald feurig charakterifiert, und raftet nicht, bis er 
aus alten Urkunden den Beweis bat, daß Williom Dorrit 
der einzige Nachlomme von Japhet Jeremiad Dorrit, der 
einzige Exbe feines ungeheueren Vermögens und alfo frei 
und ein reicher Mann ift, worauf er fich fofort bejcheiden 
zurüdzieht, damit wir im legten Akte uns noch über Dorrit 
als Snob amüfieren können, bis fie fich dann, noch dazu 
in Gegenwart eines Prinzen, eines wirklichen Prinzen, 
endlich doch friegen. 

Das macht nun dem Publitum ein großes Vergnügen, 
von dem man fich nicht außzufchließen braucht, weil es gar 
feine Prätenfionen hat und durchaus anftändig, fauber 
und geichict vorgeführt wird. Man darf nur nicht an 
den Roman denken, jonjt wird man ärgerlich. Nicht weil 
auf der Bühne, was dort Kraft und Fülle hat, dünn und 
leer geworden ift; dies verfteht man, da fich eine Erzäh— 
fung von taujend Seiten kaum in einen Schwanf von 
dritthalb Stunden preffen läßt. Aber man ftaunt, wie 
viel Didens, bei jeiner Verwandlung in Schönthan, an 
Menichlichkeit verloren hat. Es find hier diefelben Leute 
ala dort, ebenjo jpaßhaft, aber dort muß man manchmal 
plöglich über fie weinen, mitten im Spaß, und mehr als 
über fie noch darüber: wie der Menjch eben ift. Das ge 
ſchieht einem Hier nie, daran zu denken: wie der Menſch 
eben ift. Und das fehlt dann den Figuren. Gleich bei 
Klein Dorrit ſelbſt. Dort läßt fie uns fpüren, wie furcht- 
bar arm fein ift; Hier fommt einem das nur ein bißchen 
abentewerlich und eher fait verlodend vor. Port ifl & 
rührend, wie ſcheu es fie macht, daß man fie jedem zeigt 


— 83 — 


und zu jedem von ihr jpricht und alle ftolz auf fie find, 
bier Eofettiert fie noch fat damit. Ebenjo das Pumpen 
des Alten. Derb komiſch, bier wie dort. Auch Dickens 
bedenkt fich gar nicht, ihn ung ſchäbig zu zeigen. Aber 
& wirkt ganz anderd. Denn anfangs wird einmal erzählt, 
daß einft ein armer Mann, ein Maurer, das Gefängnis 
verließ und dem Alten Kupfer in die Hand gab, indem 
er entichuldigend bemerkte: es ift nicht viel, aber es kommt 
vom Herzen. Das war dem noch nie gejchehen, Kupfer 
hatte ihm noch feiner geſchenkt. „Wie können Sie es wa- 
gen!” ſagte er zu dem Manne und brach in ohnmächtige 
Tränen aus. Der Maurer drehte ihn gegen die Wand, 
damit man fein Geficht nicht jehe; dies war jo zartfühlend 
und der Mann war fo zerfnirjcht und bat jo ehrlich um 
Verzeihung, daß er nicht umhin Fonnte, ihm zu jagen: 
„Ich weiß, Sie meinten es gut. Sprechen wir nicht mehr 
davon.“ — „So wahr ich lebe, Sir,“ beteuerte der Maurer, 
„ich hab’ e3 gut gemeint. Und ich glaube, ic} würde mehr 


für Sie tun, als alle anderen.“ — „Was. würden Sie 
tm?“ fragte er. — „Ich würde" Sie wieder bejuchen 
fommen, nachdem ich draußen bin.“ — „Geben Sie mir 


das Geld wieder,“ jagte der andere lebhaft, „und ich will 
& behalten und nie ausgeben. Ich danke Ihnen, danfe 
Ihnen vielmals. Ich werde Sie aljo wiederjehen ?“ — 
„Wenn ich noch eine Woche Iebe, ja.“ Sie jhüttelten ſich 
die Hände und ſchieden. Die Kollegen, welche am Abend 
in der Kantine verjammelt waren, wunderten ſich über ihren 
Later und fragten, was ihm wohl gejchehen jei, daß er 
jo fpät noch im Hofe auf und ab gehe und fo niederge- 
ſchlagen ſcheine ..... Das ift nur eine ganz Heine, ganz 
6* 


— 4 — 


kurze Szene. Aber wir können fie nicht mehr vergefien. 
Und wie gemein und abjurd ſich der Alte hinfort gebärden 
mag, wir fennen ihn befjer, wir wifien, was es ihn koſten 
muß, denn wir wiſſen die Gefchichte mit dem Maurer. 
Bei Schönthan fehlt fie. Und eigentlich Hat bei Didens 
jede Figur immer fo irgend eine geheime Gejchichte mit 
dem Maurer. Bei Schönthan aber fehlt diefe. Deshalb 
darf man an den Roman nicht denen. 

Das Publikum tat es nicht und fo ftörte nicht3 feine 
Freude, die (man ſah das im dritten Afte) dem unver- 
fälfchten Schönthan noch mehr als dem mit Dickens gemifchten 
galt. Das Stüd wird in mehreren Stilen gejpielt: von 
Frau Retty, die jehr gefiel, im Tone des „feinen Luft- 
fpieles“ von 1880, aus dem Herr Thimig erft zulegt in 
den groben „deutihen Schwanf“ gerät, dann von Herrn 
Hartmann, der den wirklichen Prinzen gibt, ftark franzdjelnd, 
endlich von Frau Kallina, die als Spanierin gern die 
Dufe kopieren möchte, wie das nur die Pohl-Meifer könnte, 
als Operette. Schönthan wurde nach jedem Akte gerufen. 


Zwiſchenſpiel. 


(Komödie in drei Alten von Artur Schnitzler. Zum erſten Mal 


aufgeführt im Burgtheater am 12. Oftober 1905.) 
Zwiſchenſpiel. Der Name gefällt mir ſehr. Vielleicht 
iſt es gar nicht fo gemeint, aber ich höre heraus: zwiſchen 
ernften Dingen. Ein Aufatmen nad) großen, vor größeren 
Werfen. Aufatmen und Ausraften. Paufe. Sein Deutſcher 
unferer Beit ift auf der Bühne im Geiftigen weiter ge- 
kommen als Schnigler im „Einfamen Weg“. Und id 


— 80 — 


habe vielleicht nie Wahn und Wunfch der Heutigen, Mor- 
gigen ftärfer vernommen als aus jeinem „Auf des Lebens". 
Aber dazwiſchen Pauſe. Atem zu holen und lächelnd zurüd- 
zubliden. Auf vieles, da8 ung einft wichtig war. Und 
mit dieſem jegt zu fpielen. Wieder einmal Theater zu 
fielen. Ganz einfach Theater. Wie damals, ala wir 
noch für Herrn Hartmann ſchwärmten ... So fpricht 
diefer Name mich an und ich kann es ſehr verftehen. 
Niegiche Hatte feine Zeit mit Nie. Er nannte das 
im Spaß jeinen Réealismus. Man wunderte fich: der tief 
jpürende, Hoch wollende Niegjche mit diejem gemäßigten 
Menſchen der verftändigen Klarheit. Es war ihm aber 
ofienbar eine Sur, die er fich verordnet Hatte. Wir haben 
ſolche Zeiten, in welchen ung nötig wird, uns einzuziehen, 
ja, am beiten: von uns einmal abzufehen. Wir brauchen 
Pauſen, welche vielleicht für die geheime Kraft in ung gar 
feine find, die vielleicht umbelaufcht fchaffend bleibt, 
während wir zu fpielen glauben. Ich verjtehe das; 
und noch mehr: e3 jcheint mir für unjer Theater ganz 
gut, wenn dieſer oder jener manchmal in jeiner eigentlichen 
Produktion anhält, um daneben, dazwifchen in einer 
leichteren, ihm jelber unwichtigen, etwa ſogar nicht ganz 
echten, loſen, Iuftigen Art wieder einmal bloß zu jpielen, 
einfach Theater zu ſpielen. Es ift nämlich ſonſt Gefahr, 
daß wir uns, nur unferer Eigenheit zugewendet, indem wir 
und erfüllen und vollenden, zu jehr vom Publikum ent- 
fernen, welches, unfähig, und nachzufommen, ratlos an die 
gemeinen Macher ausgeliefert würde. Weshalb es ihm 
zu gönnen ift, wenn manchmal ein Künftler ſich zwifchen 
feinen ernften Dingen herabläßt, den ftrengen Ton etwas 


— 86 — 


zu mildern, um in einer Pauſe mit ihm ein bißchen zu 
ſpielen. 

Der Kapellmeiſtet Amadeus Adams und ſeine Frau, 
die Sängerin Ortenburg. Die zwei haben ſich einſt ſehr 
geliebt. Jetzt haben fie fich nur noch ſehr gern. Vielleicht 
follte man gar nicht jagen: nur noch. Vielleicht ift das 
jegt eigentlich viel fchöner, al3 das damals war. Vielleicht 
verbinden fich zwei Menfchen gerade dann erft ganz, wenn 
fie fich nicht mehr begehren. Wielleicht gibt es eine zweite 
Liebe, die zwar nur unter Menfchen möglich ift, welche 
früher durch jene finnliche verbunden waren, aber erft 
beginnt, wenn die erſte aus ift. Wenigftens Amadeus 
fühlt es faft fo; es feheint auch mehr ein männliches Ge- 
fühl zu jein, in das ſich eine frau jelten findet. Er iſt 
ſehr froh, auch weil es ihm ein bißchen jchmeichelt, fich 
fagen zu dürfen, daß es fein Verſtand ift, den er diefe 
gute Che verdankt. Er Hat fie auf volllommene Auf- 
richtigfeit gegründet, fie Haben einander nie etwas verjchwiegen 
und deshalb kennen fie ſich jegt jo gut, daß ihnen vor- 
kommt, es könne noch nie zwei Menjchen gegeben haben, 
die fich beſſer verftanden hätten. Vor allem künſtleriſch. 
Wenn fie fingt, hat fie ihn gern bei fich, weil fie fich in 
feiner Nähe viel ficherer weiß. Und er erlebt es oft, dab 
fie an feinen eigenen Einfällen mehr entdedt, als er ſelbſt 
darin merkt. Aber nicht bloß Fünftlerifch, jondern auch 
menſchlich. Sie läßt es zu, daß er mit einer Kollegin 
tändelt, der Sängerin Gräfin Friederife Moosheim, welche 
einen jehr eiferfüchtigen Mann, eine Villa, leuchtend und 
weiß am Waffer, mit einer berühmten Platane im Part, 
unter der fie in heißen Nächten manchmal fchläft, und 


— 8397 — 


Liebhaber Hat. Und er wieder läßt e3 zu, daß ihr ein 
junger Fürft Lohfenftein gefällt, der eigentlich ins Klofter 
gehen wollte, jegt aber hauptſächlich Tanzmuſik treibt. 
Zuerſt iſt es wirklich nicht mehr, als daß ihr der ganz 
artige junge Menſch eben gefällt. Es wird mehr, als 
Amadeus zu fragen beginnt, nicht aus Eiferfucht, fondern 
gewohnt, von allem mit ihr zu fprechen. Hier zögert fie, 
mit der Empfindung, daß man manches nicht ausſprechen 
darf, weil es dadurch gleich ganz anders wird. Er aber 
verſteht daS nicht und drängt: Liebſt du ihn? Sie weiß 
es nicht. Sie glaubt es eigentlich nicht. Sie fühlt fich 
zu ihm Bingezogen, aber e3 ift etwas da, das fie zurück- 
hält, Oder doch zurüdhalten könnte. Aber das will er 
nicht. Nein, da wird er fchroff, er iſt zu Stolz, fie 
zu halten. Nein, dann lieber gleich — und fie 
haben das ja immer gewußt, daß einmal diefe Stunde 
tommen wird, die Stunde der Trennung. Aber er fieht 
nicht ein, warum fie, innerlich getrennt, es auch äußerlich 
werden müſſen. Warum? Sie leben fo ſchön zufammen, 
fie verjtehen fich jo gut, fie brauchen fich fo viel, fie haben 
ein Heim, fie haben einen Buben, warum dies alles 
zerſtören? Da es doch nur noch viel ſchöner werden 
lann, wenn fie nicht mehr als Gatten, fondern als 
Kameraden beifammen find! „Wir würden uns über 
alles augjprechen, geradejo, wie bisher — ja gewiffer- 
maßen über mehr. Da wäre natürlich die Vorausſetzung 
unjerer weiteren Beziehung: Wahrheit — rüchhaltloſe 
Wahrheit. Und das käme nicht nur unjeren DBezieh- 
ungen zueinander, fondern jedem einzelnen von ung jehr 
auftatten. Denn fönnteft du einen befjeren Kameraden 


8 — 


finden al3 mich, ich eine beifere Kameradin ala dich? — 
Mit unferen Freuden und unferen Schmerzen kämen wir 
zueinander, wären Freunde wie biöher, vielleicht befjere 
als je, und würden uns die Hände reichen, auch über Ab- 
gründe. So behielten wir alles was uns bisher gehört 
hat: unfere Arbeit, unfer Kind, unfer Heim — alles was 
wir gemeinfam haben müfjen, damit es feinen ganzen Wert 
für ung behält. Und gewännen zugleich mandjed, wonach 
wir ung beide feit einiger Zeit jehnen und wovon ich im 
übrigen auch gar feine freude Hätte, wenn ich Dich ver- 
Heren müßte... . Dir geht es ja geradefo, Cäcilie. Ich 
weiß es ja. Wir können ohneeinander gar nicht Ieben. 
Ich ohne dich gewiß nicht. Und du?“ Sie antwortet: 
„Es ift wohl möglich, daß es auch mir ſchwer fiele." Er 
aber überhört, wie wenig zuverfichtlich das Klingt, und um- 
armt fie. „Was tuft du?“ fragt fie. Er erwidert: „Sch 
habe meiner Geliebten Lebewohl gejagt.“ Und drüdt ihr 
die Hand: „Und nun begrüße ich die Freundin!“ Und iſt 
tiefig vergnügt, weil es Doch auch wirklich jo bequem ift. 
„Ah, ich kann dir gar nicht jagen, wie froh mir zumute 
ift! Es hat ſich wahrhaftig nicht viel geändert. Nur die 
Befangenheit ift fort... . die Bangigfeit diejer legten 
Wochen... . Es ift nicht jchön geweſen in der legten 
Zeit. Der Himmel jo trüb über unjerem Hauje ... und 
nicht nur über unjerem Haufe. Jetzt ſchwinden die Wolten, 
jegt wird die ganze Welt geradezu wieder licht. Und ih 
werde eine Symphonie fehreifen — eine Symphonie!“ 
Und nun geht Amadeus zu jeiner Heinen Gräfin in 
die weiß am Waffer leuchtende Billa unter die berühmte 
Platane. Das Hält ſich übrigens nicht Iange, im zweiten 


— 89 — 


Alte ift es ſchon wieder aus. Eben kommt Cäcilie aus 
Berlin zurüd, wo fie gaitiert hat. Der junge Fürft war 
natürlich mit. Amadeus hat nichts Dagegen, ald er es 
erfährt. Es ftimmt ja mit der Verabredung. Es macht 
ihn höchſtens manchmal ein bißchen nervös, dab die 
Leute ſchon davon reden, daß man ihn anonym warnt, 
daß eine Zeitung fogar von der Verlobung jeiner Frau 
mit dem Fürften wifjen will. Aber er würde mit dieſem 
allen fertig, wenn fie nicht plöglich, heimgefommen, jo 
merkwürdig verwandelt wär. Er erfennt jie faum, 
iht Wefen hat einen neuen Klang, der ihm fremd ift, und 
es regt ſich in ihm wie Furcht für fie. Er möchte fie 
ſchützen, vor unbelannten Gefahren, die er ihr drohen fühlt. 
Aber das weift fie zurüd, fie will nicht mehr gehütet jein. 
„Sch habe ja noch... . ich habe ja noch fo wenig erlebt. 
Und ich ſehne mich danach. Ich ſehne mich nach allem 
Schmerzlichen und Süßen, nach allem Schönen und nach 
allem Kläglichen, was das Leben bringt. Ich jehne mich 
nah Stürmen und Gefahr — vielleicht nach mehr... 
du weißt nur, was ich dir — was ich als deine Geliebte, 
deine Gattin war. Uud da du für mich die ganze Welt 
bedeutet Haft, in dir all meine Sehnjucht, all meine Zärt- 
lichfeit beichlofjen war, jo fonnten wir beide früher nicht 
ahnen, wozu ich beftimmt wäre, wenn fich die wirkliche Welt 
dor mir auftäte. Ich bin jchon Heute nicht mehr, die ich 
war, Amadeus... .. Ober vielleicht war ich immer diejelbe 
und babe es nur nicht gewußt; und es ift jegt etwas von 
mir abgefallen, das mich früher umhüllt Hat... . 3a, jo muß 
& fein: denn jegt fühle ich alle Wünſche, die früher an mir 
herabgeglitten find wie an einem fühllofen eifernen Pan— 





— 90 — 


zer ... jetzt fühle ich fie über meinen Leib, über meine 
Seele gleiten und fie machen mich beben und glühen. 
Die Erde fcheint mir voll von Abenteuern, der Himmel 
wie von Flammen ftrahlend und mir ift, als jäh’ ich mich 
ſelbſt, wie ich mit außgebreiteten Armen dajtehe und 
warte.“ Und da fie fo vor ihm fteht, ferner Ver— 
heißungen wartend, ander als er fie je gefannt, von 
einer Schönheit, die er nie an ihr geſehen hat — 
„Seine Beſſere, glaub’ ich, als jene andere, eher eine 
Graujamere, und doc eine, glaub’ ich, die mehr ge- 
Schaffen ift zu beglüden“ — da geichieht ihm, daß er fie 
plöglich wieder begehrt. Sie beraufcht ihn, er dringt auf 
fie ein und jegt, ſeit er fie wieder gehabt hat, ift ihm 
der Fürft unerträglich, die Leidenſchaft wirft zurüd, er haßt 
ihn, will ihn fordern, will ihn töten, bis er erfährt, daß 
zwiſchen dem Fürften und feiner Frau gar nicht geweſen 
iſt. Alſo nur eine Komödie von ihr? Um ihn eiferfüchtig 
zu machen? Und an feiner Eiferfucht aus feinen Aben- 
teuern zu ihr zurüd zu ziehen? Nein. Sie war nicht treu. 
Und wenn fie dem Fürften nicht gehört hat, fo ift das 
nur, weil Frauen irgend etwas auch dann noch zögern 
macht, wenn fie ſchon längſt entichlofjen find. Nur deö- 
halb ift es noch nicht, aber es wird fein. Amadeus fährt 
auf: „Nie!“ Sie aber: „Warum bildeit du dir das 
ein, Amadeus? Es wird wahr werden. Glaubft du denn, 
dies follte eine Prüfung für dich fein? Denkft du, id 
fpielte eine lindiſche Kombdie, um dich zu ftrafen, und 
jegt, nachdem du zu früh die ganze Wahrheit erfahren, 
würde ich Dir in die Arme finfen und erklären, alles jei 
wieder gut? Haft du es wirklich für möglich gehalten, 


— 1 — 


daß nun alles vergeſſen ſei und wir unſere Ehe wieder 
aufnehmen werden, wo ſie unterbrochen wurde? Kannſt 
du es denn nur wünſchen, daß es fo fommt und daß es 
eine Ehe wird wie taufend andere, wo man fich betrügt — 
und wieder verjöhnt — und wieder betrügt, je nach der 
Laune des Augenblides?“ Amadeus will fie beſchwichtigen: 
„Wir haben ung nicht betrogen und nicht verfühnt — wir 
waren frei und haben uns wiedergefunden.“ Aber fie 
läßt ſich jegt von feinen Lügen mehr fangen: „Wir ung 
+... Als wenn das nur möglich gewejen wäre! Was ift 
& denn, was mich mit einem Mal für dich jo begehreng- 
wert machte? Nicht daß ich Cäcilie war — nein: da 
ih als eine andere wiederzukommen ſchien. Und war ich 
denn wirklich dein? Ich' war es nicht. Oder bift du 
jo beicheiden geworden mit einem Mal, daß dir ein Glüd 
genügte, das zur felben Stunde fich vielleicht auch ein 
anderer hätte holen können, wenn er nur dageweſen wäre?” 
Und fo fcheiden ji. Es wird zu ertragen fein, fie haben 
ja beide zu arbeiten. Und vielleicht, wer weiß? „Wir 
find einander joviel gewejen, Amadeus, daß wir ung die 
Erinnerung daran erhalten müffen. Wenn das ein Aben- 
teuer war, jo find wir auch unjer vergangenes Glüd nicht 
wert; war es ein Abſchied, jo find wir doch vielleicht zu 
einem künftigen beitimmt . . . vielleicht." 

Ich Habe Hier manches gefunden, das mir nachge- 
gangen ift. Dieſes: man Iebt mit einer Frau, Hat fie 
gern und weiß doc eigentlich nicht? von ihr, fie Tann 
morgen eine andere fein, über Nacht. Und diefes: wir 
jehen die Menjchen nur fo, wie wir für fie fühlen. Seit 
dem Amadeus feine Frau finnlich gleichgültig geworden 


— 12 — 


iſt, glaubt er fie gleichgültig, unfinnlic, falt. Worin viel- 
leicht noch ein ganz anderes Stüd ftedt. Und diejes: wir 
glauben unjer Schidjal zu regieren, aber es |pielt mit ung 
und unfer eigenes Leben lebt über uns hinweg; was ich 
im „Meifter" fo ſehr empfunden habe. Nicht angenehm 
ift mir der Ton, in welchen Amadeus mit jeinem Freunde 
verkehrt: Grienfteidl 1890. Und gar nicht mag ich den 
Fürften. Died mag meine Schuld fein. Jeder fann nur 
nad) jeinen Erfahrungen denken. Dieier junge Fürſt be- 
trägt ich edler al® alle andern in der Komödie. Nach 
meinen Erfahrungen ift in feinen Kreiſen fittlicher Taft 
und Menjchlichfeit der Empfindung unbefannt. Wenn 
ich die Kapellmeifter nehme, die ich Tenne, und mit den 
Baronen, Grafen oder Fürſten vergleiche, über welche mir 
ein Urteil zufteht, fo ift jeder von jenen menſchlich mehr 
wert als dieje. Sch weiß nicht, woher Schnigler andere 
Erfahrungen haben kann. Und es ftört mich jehr, woran 
Schnigler gewiß gar nicht gedacht hat, wie diejer Fürft 
im Burgtheater wirfen muß: als ein Kompliment vor den 
Komteſſen! Es iſt für mich, weil ich Schnigler ſehr gern 
habe, ein peinliche® Gefühl, mir zu denfen, daß eine der 
Damen, die damals den Kaladu vertrieben haben, jegt 
vielleicht befriedigt ruft: Bravo, Hat fich gebefjert! Und 
ich darf nicht aufftehen und darf nicht fchreien: Nein, es 
ift nicht wahr, er hat fich nicht gebeffert, er wird es nie! 
Wunderbar ift Kainz als Amadeus. Nicht bloß ſchau— 
fpielerijch, in feiner unglaublichen Bravour, alle Neben-, 
Seiten-, Ober«, Unter- und Zwiichenbedeutungen der Worte 
mitzujprechen und das Wort durch den Geſtus umzubiegen 
und abzubrechen. Noch viel mehr menjchlich: er ift der 


— 93 — 


einzige deutſche Schauſpieler jetzt, der den guten Wiener 
Ton Hat, oder richtiger: den Ton der zehn oder zwolf 
ſeht kultivierten Wiener; und einer der ganz wenigen, die 
und mit zwei Sägen an einen wirflichen bedeutenden Mien- 
ſchen glauben machen können. Das fehlt dem ſcharmanten 
Fräulein Witt leider ganz, das die Cäcilie bald ins Mon- 
däne hinüber, bald ins bürgerlich Brave herabrüdt. Den 
jungen Fürften gab Herr Korff mit einer zu fichtlichen 
Angft, ausgelacht zu werden. Das Publilum, anfangs 
ſehr gut gelaunt, wollte im legten Afte nicht mehr recht 
folgen. Nach dem erften Afte erichten der Negiffeur, dann 
Schnigler felbft, herzlich begrüßt. 


Stein unter Steinen. 

Schaufpiel in vier Alten von Hermann Subermann. 

IH traf vor Jahren einmal Theodor Herzl, wir 
gingen zufammen und er war ſehr böje auf mich. Er 
ärgerte fich, daß ich ein Stüd, das er jchlecht fand, freund- 
lich rezenſiert hatte. Ich fand es ebenfo fchlecht, er Hatte 
die auch Herausgehört und begriff mich nun gar nicht. 
Die Peitiche, rief er, ich höre ihn noch, verdient der Kerl 
und Sie ftreicheln ihn noch! Wenn er aber, fragte ich, 
vielleicht doch Talent hat, wie mir feheint? Und Herzl, 
heftig: . „Umfo fehlimmer. Für ihn und für Sie. Einem 
Talente ift man ſchuldig, unerbittlich zu fein.” Und mit 
der Luft, die wir an Paradoxen haben, fuhr er fort: 
„Talentlojeg mag man loben, wenn denn ſchon manchmal 
gelobt werden muß. Das fehadet niemand. Aber Talent, 
nein, Nie. Lachen Ste nur, es ift doch fo. Talent darf 


— 4 — 


nie gelobt werden, auch in ſeinen höchſten Leiſtungen nicht, 
weil es ſich ſonſt beruhigt. Kritik aber iſt dazu da, Talent 
über ſich empor zu treiben und es ſo zu quälen, daß es 
vor Angſt und Not das Letzte hergibt.“ Es ſei dies eine 
Frage der Methode, entgegnete ich, auf Kinder verweiſend, 
die manche freilich Schläge brauchen, aber andere nur in 
meiner ftreichelnden Art zu behandeln feien, indem fie fich 
ſonſt gleich verftodten und zertrogten. Solchen müfje mar 
vielmehr fingieren, als feien fie wahre Muſter, wodurch 
es ihr Ehrgeiz werde, unferen Glauben nicht zu enttäufchen. 
Und nun führte ich ihm Beifpiele an, wie ich Autoren, 
die ſchon ſehr bereit geweſen, fich zum Publikum herab⸗ 
finfen zu laſſen, durch einen Starken Ausdrud des Vertrauens 
emporgehalten hätte. Herzl lachte und gebrauchte noch das 
Wort, daß ich eigentlich aljo Talente innerlich hinaufſchwindle. 
Was mich gar nicht verdroß, denn das Mittel ift mir 
gleich und ich Habe Proben, daß Menichen, zu einer geiftigen 
Haltung gezwungen, an die fie zuerſt insgeheim ſelbſt gar 
nicht glauben, diefe mit der Zeit zu ihrer zweiten Natur 
machen. Bei jedem wird das freilich nicht gelingen und 
ich beſtritt Herzl auch gar nicht, daß feine Methode, die 
peitjchende, ebenjo notwendig ift. Beide find notwendig. 
Und beide Zönnen, falſch gebraucht, ſehr gefährlich werden. 
Was ja auch jeder von uns wife, wie denn meine Sritif 
doch keineswegs immer nur ftreichle, feine feineswegs immer 
nur peitjche und wir uns, einer über den anderen, auch 
ſchon umgekehrt geärgert hätten. Und fo fchieden wir ver- 
gnügt und entfernten uns. 

Daran muß ich immer denfen, wenn ich Sudermann 
ſehe. Er gehört, fommt mir immer mehr vor, zu den 


— 90 — 


Autoren, die es brauchen, daß ihnen von guten klugen 
Freunden beharrlich Talent eingeredet wird, und die dann 
wirllich ſeht fteigen können. Nun kann man nidjt fagen, 
daß die Berliner Kritif von der ftreichelnden Art if. Er 
aber Hat die Peitjche nicht vertragen. Er ift troßig ge- 
worden, haut aus und rennt durch. Fort. Hinüber. Mitten 
ins gemeine Publikum hinein. 

In ihm war immer eine hochjtrebende Begabung mit 
einem Zug ins Brutale, mit einer heftigen Begierde, un- 
mittelbar ftarf zu wirken, beijammen. Und er hat ſich um 
jene jehr bemüht. Das ſollte man nicht verfennen. Ich 
muß Doch jagen, immer wieder, daß mir der Mann, der 
ſich nach der Heimat aufgerafft und zu der ftillen Arbeit 
an der Schmetterlingzfchlacht, am Glück im Winkel, an 
den Reiherfebern bejonnen hat, Uchtung zu verdienen ſcheint. 
Wäre er darin ermutigt worden, fo würde die deutjche 
Bühne am anftändigen, einen hohen Geſchmack nicht ver- 
legenden und doch den Bedürfnifjen des gebildeten Philiſters 
gerechten Stücken reicher fein. Und folche Stüde brauchen 
wir fehließlich. Entbehren wir fie, jo haben nur die ge- 
meinen Spaßmacher den Profit. „Kunftpolitiich” Hätte 
Sudermann, von einer behutjamen Kritik nach dem edleren 
Geſchmack hingedrängt, dem deutichen Theater etwas jehr 
BVichtiges werden Eönnen: der Autor de3 gebildeten mitt- 
leren Bürgertums, das bei ihm fein Gewiſſen erforjcht, 
feine Sorgen beraten, feine ragen verhandelt gefunden 
hätte, Die peitichende Kritik Hat ihm toll gemacht. Er 
will jegt nur noch zeigen, daß er ftärfer ift. Eine Stimmung, 
die fi ganz gut begreifen läßt. Schreibt er heute ein 
Stüd, das nicht unbedingt auf das Publitum rechnen 


— 96 — 


Tann, ſo hat er dazu nur noch den kritiſchen Hohn. Es 
bleibt ihm alfo nichts als: mit allen Mitteln zu wirken. 
Die Kritit hat ihn zum Publitum verdammt. Hat er 
diefed, jo Tann er ihrer lachen; es mag ein bitteres 
Lachen fein. Aber ob er will oder nicht, er muß, es bleibt 
ihm nichts als der brutale Effekt, er kann nicht mehr aus. 
Schade um ihn. Und noch einmal: nicht er allein iſt 
ſchuld. Und wenn er vielleicht doch noch feinen Trotz 
wenden würde und doch noch die Kraft hätte, heute noch, fich 
heraus zu reißen, vom Publikum weg, nach einem überall 
unbefümmerten Schaffen empor, dies Könnte ein großes Bild 
fein. Aber e3 icheint, daß er müde geworden ift. Schade. 
Dan Iennt den Inhalt des Stüdes. Stark Fabricius, 
Gewiß ein Problem. Es Lönnte das Sinnloje der Strafe 
gezeigt werden. Und wie ihre Wirkungen ihr eigentliches 
Weſen erfennen laſſen: daß fie zulegt ja doch nichts als 
Rache ift. Umd deswegen unjerer Empfindung heute jo 
fremd, fo feindfich. Aber dies alles wird hier durch den 
Effekt zugedeckt. Alles geichieht mit unabläſſigen Blicken 
nad dem Publitum. Und er hat ja jehliehlich recht. Er 
erreicht ja, was er will. Es wirft ja. Ich aber muß 
an die Echinetterlingsjchlacht denken und an die Reiher- 
federn und noch an Johannisfeuer und mir ift leid. 


Familie. 
(Schaufpiel in drei Akten von Karl Schönherr. Zum erſten Mal 
aufgeführt im Burgtheater am 30. November 1905.) 
Ein junger Menſch hat feine Frau jehr gern. Uber 
die blinzelt und angelt nach anderen. Und da ift im Dorfe 


— 97 — 


ein Jäger, Rüttling, den will ſie. Er widerſtrebt, er mag 
den Günther, feinen beſten Freund, nicht betrügen. Und 
der eine Bub tut ihm leid. Uber fie, gierig und heiß, 
läßt nicht und Iodt und lodt: Komm’ ſchöner Jäger... 
tan dich ... heut wär mein Mann nicht daheim. Ich 
fell? dir das Licht and Fenfter! Ein Licht... dem 
lieben Gott zu Ehren, jagt fie. Er jei ihr Gott. Auch 
dem Knaben fagte fie dies. Er erzählt es, viele Jahre 
ipäter: „So fünf, ſechs Jahre war ich alt... . werd’ ich 
in der Nacht einmal wach. Seh’ ich ein Licht am Fenſter! 
Ruf ich! Mutter! Was tft dad? Sagt fie: Ein Licht... 
dem Tieben Gott zu Ehren! Kommt Gott denn Heut zu 
uns? frag’ ih, — Mußt ſchon die Augen zumachen! 
Dann kommt er, jagte fie. Ich mach’ die Angen zu und 
wart auf den lieben Gott. Da Hör’ ich, es fommt wer 
in die Stube! Heb' ich die Händ’ auf umd bei’... 
Bas ſeh' ich dir ftatt Gott? Einen ganz gewöhnlichen 
Menſchen! Und Mutter Hat feit die Arme um ihn und 
fügt ihn ab und erzählt ihm lachend, was fie mir mit 
dem Lichte vorgefchwefelt Hat... . es ſei dem lieben Gott 
zu Ehren. Da geht auf einmal die Tür auf! Der Vater 
tommt! Er ſchaut! Er will drauf los ... kann feinen 
Schritt vom Boden weg! Reißt fperrangelweit die Augen 
auf... plumpft der Länge nach auf den Boden hin... 
erledigt! Er Hat den Anblid Gottes nicht ertragen.“ 
Der Vater, ins Herz getroffen, ift tot. Die Mutter, in 
ihrer ungeheueren Angft, padt den Knaben, rennt hinaus 
und jpringt in den Bad. Sie ertrinkt, das Kind wird 
gerettet. Sie hat's aus Verzweiflung getan, aus übergroßer 
Liebe, jagen die Leute und find fehr gerührt. Man be- 
Hermann Bar, Gloffen. 7 


— 8 — 


gräbt beide in demfelben Grabe und die frauen der Gegend 
fammeln für einen Stein. Und Heute noch wallfahrten 
junge Hochzeitsleute ‘gern zu dieſem Grabe und ſchwören 
fich davor Liebe und Treue bis in ben Tod. 

Seitdem find Jahre vergangen. Rüttling hat es über- 
wunden. Furchtbar ſchwer. Lange noch im Gemüte be- 
drüdt, auch nachdem er es gebeichtet und der gute Pfarrer 
ihn getröftet Hat. Lange noch ungewiß, ob es denn genüge 
zu beichten, ob er es nicht erft noch werde büßen müffen. 
Aber Jahre vergehen. Er freit ein Weib, es fchenkt ihm 
Kinder, einen Sinaben, Henner, und ein Mädchen, Nantchen. 
Er iſt Oberförfter, Arbeit freut ihn, alles gedeiht ihm. 
So finkt Vergangenheit allmählich hinab, er wird frei, er 
wagt zu vergefien. Bis es ihn plöglich einmal wieder 
furchtbar aufſcheucht. Er ertränft eine Kate im Bache, 
jein Sohn fteht dabei, rutſcht aus, ſtürzt ins Waſſer. 
Da taucht jenes mit fo jchauerlicher Kraft vor ihm auf, 
daß es ihm lähmt: er fteht mur und ftarrt hinaus und 
denkt zurüd, kann fich nicht vegen, ſonſt ein fo mutiger 
Helfer, ein Preisichwimmer, man verfteht es gar nicht. 
Schon fcheint der Knabe verloren, da kommt ein Soldat 
gerannt und rettet ihn. Es iſt der Soldat Günther, jener 
beiden Sohn, 

Dem Günther ift’3 arg ergangen. Bon Hein auf 
wie ein Hund in der Welt herumgeſchlagen. Mit fünfzehn 
Jahren jchon in der Stadt, Bedienter, bei einer Brettel- 
fängerin. „Na! Bei der Gnädigen iſt's zugegangen! Ye 
den Tag ein anderer an der Tour! Und wenn die Gnädige 
in ber Nacht heimgefommen iſt ... vollgefoffen von Scham- 
pus ... und fie hat g’rad’ wieder einmal ihre Mädel 


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davongejagt, dann hab’ ich bei ihr dürfen Kammerzofe 
machen. Und das muß ich ſchon ſagen ... da war meine 
Gnädige oft ſchon mehr als gnädig. Na... das Luder 
hat mich gut abgerichtet! Wo ich nur ein jchönes Weib 
erwiſcht hab'!“ Und fo bedenkt er fich nicht viel, nützt die 
dankbare Rührung der erregten Mutter aus und nimmt 
fi Frau Nüttling „Ste hat mir zuerft wegen Henner 
die Hände geküßt ... und fo hat fich die Sache ge- 
macht !* 

Bald fängt man im Dorfe zu ziicheln an. Es gibt 
Leute genug, die es dem aufrechten Manne gönnen. Man 
tufchelt bei der Hirfchenmwirtin drüben, daß fich jet oft 
nachts im Erker des Förfters ein Licht zeigt. Und immer, 
wenn ſich das Licht zeigt, iſt es eine Nacht, in der ber 
Operförfter auswärts ift. Und immer, wenn ſich das Licht 
zeigt, fteht der Soldat Günther auf, fo bald er e8 von 
der Gaſtſtube aus fieht, und zahlt und geht fort. Das 
weiß man bald im ganzen Dorfe und die Gafjenbuben 
fingen ſchon einen Neim auf das Abenteuer: Eins und 
zwei ift drei, ein Weidmann trägt ein Geweih! 

Hier fett das Stüd ein, das nun eigentlich bloß zeigt, 
wie Rüttling, erft ahnungslos, es allmählich erfährt, doc 
nicht glauben Tann, argwöhniſch wird, immer noch hofft, 
dab es fich als eine Verleumdung zeigen wird, Beweiſe 
will und eben dieje Beweiſe doch jcheut, bis er endlich 
jelbft nachts das Licht in jenen Erker ftellt, um zu fehen, 
ob der Soldat auf das Zeichen wirklich kommen wird. 
Aber indem er Iauert, fchleicht fein Sohn Henner, der es 
weiß, in die Nacht hinaus und erſchießt den Soldaten. 
Dos wird mit einer jehr ficheren Technik aufgerollt, an 

—* 


— 10 — 


der zu bewundern ift, wie fie Stüd um Stüd Vergange- 
nes und Kommendes fo verknüpft, daß der Zuſchauer immer- 
fort in Spannung tft: er hat Angft, alles zu verfäumen, 
wenn er nicht jede Karte, die der Autor augfpielt, gleichfam 
mitzuzählen und den Moment auszurechnen weiß, wann 
der Trumpf kommen muß. Bei einem Franzoſen würde 
man ſich über die Bravour diejer Technik gar nicht genug 
verzüden können. Es ift vielleicht ungerecht, daß man bei 
Schönherr diejer Künfte nicht froh werden will. Vielleicht 
aber darf er gerade darauf ftolz fein. Mir ift es unbe 
haglich, an einem Menfchen zu beiwundern, was er kann, 
wenn ich lieber bereit wäre, zu verehren, was er ift. Das 
fpürt man bier jo wenig. Den Schönherr ſpürt man eigent- 
lich das ganze Stüd nicht. Es hat etwas Franzöfilches, 
im rüdficht3lofen Drängen auf den ftarfen Effekt Hin, und 
hat in der Stimmung manchmal plöglich etwas Altromanti- 
ſches, jo Zacharias Werner etwa; oder gar geradezu an 
Müllers Schuld habe ich manchmal denken müſſen. Nur 
an Schönherr felbft nicht. Und ich fürchte faft, dies kommt 
daher, weil Schönherr, ich will nicht jagen: Furcht vor 
dem. Publitum hat, nein, das hoffentlich doch nicht, aber 
weil man ihm anzumerfen glaubt, daß er fich um das | 
Publikum forgt. Er traut feiner eigenen Sache nicht zu, 
allein mit dem Publikum fertig zu werden. Und jo fpinnt | 
er allerhand ein und aus, für das Publikum, und verjpinnt | 
fie fo, daß man fie zuleßt gar nicht mehr fieht, feine eigene | 
Sache ſelbſt. Ich vermute, daß ihn an jeinem Stüde zu | 
erſt etwas Wunderjchönes gereizt hat: der Sohn, der die | 
Gier des entbrannten Weibes, die jedem Jüngling entjeg- 
lich ift, zuerft an der eigenen angebeteten Mutter erblidt. 


— 101 — 


Et hat das zweimal: der Günther verdirbt daran, ebenfo 
wie Henner. Und trogdem merft man es faum, weil er 
es mit feiner Technik verhängt. Vielleicht zum äußeren Vor- 
teile de3 Stückes, gegen das, wenn ed den Mut hätte, 
rückſichtslos auf fich zu beftehen, die Leute wütend rebellieren 
würden. Gewiß mit einem inneren Verlufte, weil er fo 
doch gar nicht dazu fommt, feine Sache eigentlich aus- 
zutragen. 

Merkwürdig übrigens, wie das Publikum ijt: will's 
ihm einer recht machen, jo iſt's ihm auch wieder nicht recht, 
& wollte ben ganzen Abend über eine gelafjene Hochachtung 
nicht hinaus. Vielleicht auch weil Herr Pittichau, in den 
ruhigen Momenten vortrefflich, dann doch die Kraft nicht 
hat, zum Erbförfter emporzuwachien. Wunderfchön ift die 
Maria der Frau Bleibtreu, wunderfchön auch die Groß— 
mutter der frau Mitterwurzer. Reimers überrajcht als 
Günther durch eine knappe Wucht die faft etwas Gabilloni- 
ſches hat, und Fräulein Senders zeigt in einer Epifode 
wieder ihre ganz unvergleichliche fchaufpielerifche Energie. 


- Der Helfer. 

(Shaufpiel in vier Aufgügen von Felix Philippi. Zum erften Mat 
aufgeführt im Burgtheater am 14. Dezembember 1905.) 
Wir jagen neulich in Berlin ein paar beifammen und 

erinnerten und und wunderten ung. Noch vor ein paar 

Jahren herrichten die „Macher“. Und plöglich gibt es jegt 

faum mehr ein Theater für fie. Reinhardt nimınt fie 

nicht; Brahm felten und nicht gern. Bonn zählt nicht. 

Bleibt hochſtens Hülſen. Und auch in der Provinz, Hagen 


- 12 — 


fie, geht es zurüd. Überall dringt die „Literatur“ vor, 
die verfluchte Literatur. Den großen firmen wird angft. 
Was fol das werben? Und ich ſagte: Es tft auch un- 
gerecht. Sehr angenehm für und. Aber ungerecht gegen 
fi. Schließlich Lönnen wir doch nicht Ieugnen, daß die 
Stüde der Macher, diefe grundichlechten Stüde, auch ihr 
Publikum haben. Ein ſehr großes Publilum. Ein Publikum, 
das ſich nach folchen Stüden jehnt. Dem jchlechte Stüde 
ein Bedürfnis find. Glaubt man, daß es angeht, ein jo 
ftarkes Bedürfnis unbefriedigt zu lafien? Das wird fich 
nicht Halten. So fagte ich und fagte voraus, da nächftens 
einer, der das Geichäft veriteht, ein neues großes Theater 
für fie gründen werde, ein Theater der Macher, der jchlechten 
Stüde. Da erwiderte einer: Warum denn? Es ift nicht 
fo arg. Denn wenn fie auch bier jegt aus allen Theatern 
verdrängt find und die Provinz uns zu folgen fcheint, es 
bleibt ihnen doch ein jchönes Heim: das Burgtheater bleibt 
ihnen. 

Das Burgtheater gab geftern den neuen Philippi: 
„Der Helfer“. Da kommt das moderne junge Mädchen 
vor, Tochter eines Groklaufmanns und Senators. Bei 
Sudermann, vor fünfzehn Jahren, in Sodoms Ende, hieß 
fie Kitty. Dann wurde fie zur Demi-vierge des Prevoft. 
Aber natürlich trägt Philippi ganz anders auf. „Verdorben 
werden wir ja alle jchon in den Penfionen und was etwa 
an Unſchuld und Reinheit und Illuſionen noch übrig bleibt 
... Du lieber Gott, das wird einem im erjten Winter, 
wo man tanzt, gründlich genommen!“ (Achtung auf den 
Stil) Zieht fi wie eine Kofotte an. Wird auf der 
Straße für eine gehalten. {Freut fich darüber. Lieſt ſcham⸗ 


— 18 — 
loſe Bücher. „Mein Gott, in meinen Jahren liejt man 


- doch nicht mehr Schiller!“ Spottet über Liebe und Ehre. 


„Heiraten, ih? O ja, gedacht Hab’ ich ſchon daran, wie 
man an Slavierftunden oder an das Wartezimmer beim 
Zahnarzte denkt... . Ich? Heiraten? Immer mit dem- 
jelben Mann Ieben müſſen? Das lange, lange Leben? 
Ihm gehorchen müſſen? Diefe Sklaverei! Weißt bu, 
was die Ehe ift? Neugierde! Und meiftens beftrafte Neu- 
gierde ! Kurz, das „richtige übermütige Übermädchen“. Ihre 
Schwefter, die auf dem Lande verheiratet ift und fünf 
Kinder Hat, Hält darüber einen langen Sermon: „Ein 
modernes Mädchen braucht mit achtzehn Jahren nicht mehr 
an den Storch zu glauben, ein modernes Mädchen joll 
ftreben und arbeiten und fich auf eigene Füße ftellen, ein 
modernes Mädchen ſoll mit offenem Blicke in die Welt 
jehen, fie fol fi} an dem Schönen freuen, fie jol auch 
das Häßliche kennen Iernen und ſoll ſich von ihm ab- 
wenden. Das lafje ich don Herzen gelten. Aber wenn 
dad „modern“ bedeuten fol, daß die jungen Mädchen fich 
von jedem dummen Laffen Unverjchämtheiten in die Ohren 
tufcheln laſſen und mit gleicher Münze heimzahlen dürfen, 
daß jie Bücher leſen und über Bücher jprechen, die jeder 
anftändigen Frau die Schamrdte ind Geficht treiben... . 
wenn das modern jein foll, daß fie nur noch Freude am- 
Efelhaften und Genuß am Schamlojen haben, dann, liebe 
Mama, geht mir mit eueren „Modernen“ gefälligit zum 
Teufel. Sieh dir doch deine Beate an. Jedes Wort, da 
fie jpricht, jeder Gedanke, den fie denkt, ift zweideutig und 
ſchlüpfrig, jeder Blick ift eine Herausforderung, jeder Wunſch 
ift unweiblich, jede Hoffnung ift unkeuſch! Ihre Phantafie 


— 14 — 


ift ſchon hübſch zerfreffen. Für die gibt es nur noch eine 
Rettung; heiraten! Einen Mann, der fie feft am Bügel 
hält, der fie lehrt, was fittlicher Ernſt und was echte 
Weiblichkeit bedeutet!” 

, Das Stüd zeigt nun, wie dies edle Mädchen an einen 
folchen Mann gerät. Auf eine recht jonderbare Art. 
Und an einen recht fonderbaren Mann, Direktor Stein- 
harter. „Ein tollfühner gewiſſenloſer Spieler”, aber, 
erflärt der Konſul Peterſen, „ein Finanzgenie! Ich 
gebe dir zu, daß feine Gefchäftsprinzipien ganz, ganz an⸗ 
dere find als die, die du und ich mit der Muttermilch ein- 
gejogen haben. Er ift eben ein ganz und gar moderner 
Menih! und das läßt fich doch nicht leugnen: der Erfolg 
hat ihm recht gegeben. Er ift mit feinen wohl kaum dreißig 
Jahren der leitende Direktor der Handelsbank, er hat fie 
in wenigen Jahren zur vollften Blüte gebracht, in feiner 
Hand laufen die Fäden großartiger Weltunternefmungen 
zufammen. Was geniert dih? Was willſt du? Daß er 
ein lockerer Vogel ift, daß fein Privatleben nicht ganz ein- 
wandfrei ift, daß er, wenn ich recht unterrichtet bin, ein 
Schürzenjäger ift und ſich jede reife und vielleicht auch un- 
zeife Frucht vom Baume des Lebens fchüttelt ?* Der ftelt 
num Beaten nach und verführt fie. Seine Frechheit „im- 
poniert“ ihr, jeine Unverjchämtheit findet fie „bezaubernd“. 
Es fällt ihr nicht ein, ihn zu lieben. Sie jagt es ihm 
ganz offen, es reize fie nur, „weil es verboten ift! Weil 
ich der guten Sitte ein Schnippchen jchlage, weil ich nicht 
mehr nur ahnen, weil ich wiſſen wollte. Dürfte ich mit 
dir zufammen fein... fo vor aller Welt... jo ohne 
alles Heimliche und Verſchwiegene und ohne alles Herz 


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Hopfen und Vorwürfe... . fo beglaubigt und geftempelt 
... jo als beine Frau . . . weiß Gott, e8 würde 
jeden Reiz für mich verlieren!“ (Achtung auf ben Still 
Und man laufche dem Dialog der Liebenden! Beate 
wirt ſich auf die Chaifelongue. Steinharter ſetzte 
fh zu ihr: „Sirene!“ — Beate: „Bin ich fo kühl?“ 
— GSteinharter: „Schlange“ — Beate: „Bin ich jo 
jaiaj?*) 

Aber nun begibt es fich, daß Beatens Vater Verlufte 
bat. Er braucht viermalyunderttaufend Marl. Er findet 
fie nirgends. Nur Steinharter, den er nicht mag, Tann 
‚ihn retten. Cr überwindet fich, geht zu ihm und bittet 
ihn. Steinharter fagt zu, er will der Helfer jein. Der 
Senator ift gerettet. Da kündigt ihm fein alter Profurift. 
Barum? Er will e8 erft nicht jagen. Der dringt in ihn. 
Und nun bricht der Alte los: „Ich bin ganz allein... 
ih habe weder frau noch Kinder... . mich liebt niemand 
. . . ich Liebe niemand! ... Ich liebe nur eins: das 
Geſchäft! Mit Stolz... . mit Freude! . . . Mein ganzes 
Herz hing daran! ... Ich Habe mich in der Ehre des 
Haufes gefpiegelt . . . ſeit geſtern iſt der Fleck auf die 
Ehre des Hauſes gefallen. Dieler Fleck fann nur ver- 
ſchwinden, wenn Sie dem Manne das Geld noch heute 
zurüdzahlen! ... Zahlen Sie noch heute das Geld zurück 
— und wenn Sie e8 vom Himmel herunternehmen joll- 
ten — fonft find Sie ein verlorener Mann!" Der Alte 
weiß. nämlich, daß fich Beate dem Steinharter gegeben hat, 
und glaubt, daß auch der Senator es weiß, glaubt, dab 
er feine Ehre verfauft hat, und jo kommt es heraus. Nun 
natürlich: die große Szene zwilchen dem Vater und dem 


— 16 — 


Verführet. „Sehen Sie, ich bin aufgewachjen in ber Zucht 
eined Vaters, dem Ehre und Atmen untrennbare Begriffe 
waren. Ich bin aufgewachien in einem Haufe, welches 
— ich kann das ohne Übertreibung und mit Stolz fagen 
— das Sinnbild der. Ehre war. Ich Habe die Lehren, 
die ich da empfangen habe, in mir aufgenommen und habe 
fie zur Richtſchnur meines Lebens gemacht. Selbſt meine 
Feinde — und ich habe wohl auch welche — werden dies 
zugeſtehen. Ich Habe niemals eine Handlung begangen, 
die ich nicht vor meinem Gewifjen hätte verantworten 
tönnen, habe mich glüdlich gefühlt in dem Bewußtſein, 
meine Pflicht zu tun! Ich habe niemald in meinem gan«. 
zen Leben einem Menfchen wifjentlich etwas Boſes zuge 
fügt... . Herr, was tat ich Ihnen, daß Sie mir mein 
Kind zugrunde richten?" (Achtung auf den Stil! Und die 
Piychologie! Man verführt bekanntlich Mädchen nur, wenn 
einem der Vater etwas „getan“ Hat.) Umd natürlich ift 
der Verführer num plöglich jehr edel und will fie Heiraten. 
Und natürlich jagt fie zuerft nein, plöglich aber ja, weil 
fie plöglic, ihr Herz entdedt und aus. einem Übermädchen 
plöglich ein „echtes Weib“ wird. 

Die Darfteller, Sonnenthal, Devrient und Römpler, 
Frau Retty und Fräulein Witt, bemühen fich, die Hand» 
lung ins Einfache, Natürliche zu rüden, das Stüd fozufagen 
Binter feinem Rüden zu fpielen. Wodurch es nicht beſſer, 
aber langweilig wird. Doch wirft der breite Bariton, den 
Sonnenthal für väterlichen Schmerz hat, und Korffs und 
Treßlers Chargen find luſtig. 








— 17 — 


Torquato Taſſo. 

(Neu infgeniert im Burgtheater am 17. Januar 1906.) 

Tafjo Hat beim Publikum den Ruf, langweilig zu 
fein. Man gebt allenfalls Hin, um diefe Sentenzen mit 
Nefpekt zu vernehmen. Uber ſchade, daß es undramatifch 
it. Eigentlich doch nur eine Sammlung von Zitaten. 
So wirkt's auf die Leute. Denn, hört man fie jagen, es 
geſchieht ja nichts; es wird bloß deflamiert, freilich wunder» 
ihn. Das ift die Meinung, die der gebildete Deutſche 
inögeheim vom Tafjo hat. Er fühlt feinen Verſtand an- 
geregt, vermißt aber die Emotion; es iſt ein kaltes Stüd. 
Ein Höchft mwunderliches Urteil: denn ein Menich der 
höchften Emotion wird Hier gezeigt, eine Frage, die jeden 
an jeinem Leben trifft, und ein erotijcher Fall von folcher 
Seltjamfeit, daß er heute pervers heißen würde. 

Taffo wie Oreſt find Menſchen in hyſteriſchen Zu— 
ftänden. Bon jo heftigen Leidenichaften angefallen, daß im 
Momente ihr ganzes Weien ausgelbſcht wird. Verlaſſen 
von allen Hilfen des Verftandes, des Willens, des Ge- 
wiſſens; verloren an eine Wut, die gar nichts. Menfchliches 
mehr hat, fondern fi) von außen auf fie zu werfen jcheint. 
Beſeſſen; und dieſes muß erjt ausgetrieben werden, dann 
tehren fie zurüd, fie felbft. Goethe hat das aus fich ge- 
kannt. Es hat faum einer je die Macht des fremden, des 
Anderen über fich fehredlicher gefühlt und fein ganzer 
„Stil“ ift immer nur ein Schild gegen fi. Man müßte 
einmal Goethe und Beethoven vergleichen. Beide dämoniſch. 
Aber Beethoven bereit, fi) dem Dämon zu opfern, indem 
er im Dämoniſchen nur das wahre Leben erkennt, während 


— 18 — 


Goethe fich entjchließt, die Grenzen feiner bewußten Natur 
zu hüten und alles anruft, um von ihnen den Dämon 
abzuwehren. Zwei Rafjen. Die Größe der Griechen war 
es, daß fie es ertrugen (übrigens auch kaum hundert Jahre 
lang), beide zu ſein. Die ganze deutiche Myſtik: Raſſe 
Beethoven Das Weien der Renaiſſance, die noch immer 
nicht vollendet ift: daß die Raſſe Goethe Herr wird. Uber 
man will Zeichen jehen, als könnte jest wieder die Raffe 
Beethoven beginnen. 

Und das Problem, das doch, wie diefem Taſſo, jo 
jedem von und geftellt wird: das innere mit dem äußeren 
Leben auszugleichen. Won und allen Handelt das Stüd 
und jeder, in den Logen oder im Parterre, hat fich, bewußt 
oder dumpf, einmal dasjelbe fragen müflen: Wie findeft 
du dich in die Welt? Und leife, bange: Iſt fie e8 denn 
auch wert? Und: Was aber bleibt dir dann zulegt 
von bir? 

Taſſos Problem ift allgemein. Seine Erotik ift eine 
ganz bejondere. Man verfteht fie erſt gar nit. Man 
ftaunt nur. Man fpürt: in diejer Liebe dieſes Mannes 
zu dieſer Frau ift etwas, was uns fremd if. Man weiß 
es nur nicht gleih. Man ſpürt: diefer Mann liebt dieje 
Frau anders als ſonſt Frauen vom Manne geliebt werden ; 
jeine Liebe hat noch ein anderes Motiv. Und man fucht. 
Und dann findet man: es ift die Prinzefjin, die er an 
diefer Frau liebt. Alfo: der foziale Rang hat fich hier 
in einen erotijchen Neiz verwandelt. Es ift genau das 
Verhältnis des Wilhelm Meifter zur Gräfin. Und man 
ſpürt e3 auch in den Briefen an die Stein. Auch hier 
hat man mitunter das Gefühl, der hier wirkende finnliche 


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Neiz gehe weniger von der Frau als von der Dame aus. 
Was mir immer fajt unheimlich ift: daß nämlich etwas 
bloß Gedachtes, nur Fingiertes, ganz Unwirkliches, wie es 
Rang und Titel find, durch unfere Imagination in eine 
finnliche Kraft verwandelt werden kann! Daß ber erotiiche 
Neiz eines Weibes wachſen fol, bloß durch den fozialen 
Mantel, den es trägt! Daß aljo Soziales zulegt ſogar 
unfere Serualität beftimmen darf! Es gibt dafür ein 
Beiipiel, das faft ein bißchen komiſch ift: Goethes Ver— 
hältnis zur Maria Ludovica. Goethe beträgt ſich da gar 
nicht als Taffo, er vergißt in feiner Leidenichaft niemals 
die Form und doch geichieht es ihm, daß er die Kaiſerin 
verftimmt. Vielleicht eben weil fie jpürt, daß es die 
Kaiferin ift, die er liebt, nicht die Frau. "Dies gehört ins 
Gebiet des erotijchen Idealismus, der die Kraft gibt, durch 
bloße Vorftellung ſich wollüftig zu erregen. 

Wenn man died num addiert: einen Menjchen, den 
wütende Begierde von aller Bejonnenheit entrüdt, und 
ein Problem, das jeden von und trifft, und die Seltſamkeit 
des ungemeinen erottjchen Falles, wer kann dann begreifen, 
daß alles dies zufammen ein langweiliges Ctüd ergibt? 
Es iſt aber fein Zweifel, daß die meiften Zufchauer gar 
nicht fpüren, was es an Emotion enthält. Es geht ihm 
ganz wie der Iphigenie. Zwei Stücke der Raſerei; und 
der Zufchauer ſchläft darin ein. Weil unfer Zuſchauer 
gedrillt ift, niemald die Sache jelbft aufzunehmen, fondern 
nur den Ton, in welchem fie dargeftellt wird. Er regt 
ſich auf, wenn aufgeregt verhandelt wird; nach dem Grunde 
fragt er nicht, er Hält ſich an die Wirkung, die er ſieht. 
Es kommt ihm gar nicht darauf an, wie das ift, was dar- 


. 
- 10 — 


geftellt wird, jondern immer nur eben auf die Darftellung 
ſelbſt, wie diefe iſt. Und er ift gewohnt, daß dieſe jegt 
aufgeregt tut, auch wenn fie gar feinen Grund bat. WWed- 
Halb er fich mit dieſer goethiichen Art feinen Rat weiß, 
die vielmehr durch Darftellung von der Aufregung Toszu- 
kommen jucht. Unfer Zuſchauer verlangt von der Stunft, 
daß fie ihn, der ſich matt und leer und ftarr fühlt, erzitieren 
fol. Goethe griff nach der Kunft in extremen Zuſtänden 
einer legten Erregung und Verftörung, um fie zu Talmieren. 
Er rettet fich in die Kunſt vor den Flammen des Lebens. 
Uns, die vor dem Leben friert, ſoll die Kunſt entflammen. 
Sein Bwed ift: aus Efftafen, die ihn zerreißen, fich zu 
beruhigen. Unfer Zwed ift: aus Ermattung, in der wir 
verdden, uns zu fteigern. Er nimmt dazu die Kunft, wir 
auch. (Wir, ich meine die Menjchen diejer Zeit, von der 
ich ſelbſt mich übrigens gerade darin abgejondert fühle.) 
Es ift Mar, daß feine Kunft eine ganz andere fein muß 
als unfere. Er fpürt daS Leben zu ftark, die Kunſt foll 
es abkühlen; es kommt ihm zu nahe, fie ſoll es entfernen. 
Wir verſchmachten nach dem und immer entrinnenden Le⸗ 
ben, uns ift falt, die Kunft joll uns erhigen, fie ziehe das 
Leben heran. Er ift viel „reizſamer“ als wir es find. 
Er braucht Schug vor den Neizen, fonft zerfleiichen ihn 
die Hunde des Lebens: das ift jeine Kunſt. Uber un- 
fere ift für erlofchene Sinne, aus welchen fie die Iegten 
Funken ſchlägt. Deshalb Tonnen fich die beiden nicht 
verſtehen. 

Wer Taſſo für unſere Zuſchauer infgenieren fol, muß 
alſo eigentlich die goethiſche Form auftrennen. Wenn’ ich 
mir vorfage, was im Taſſo geichieht, ift es ſehr aufregend. 


- 11 — 


Gelingt es mir, die den Bufchauer fpüren zu laſſen, jo 
wird das Stüd auf ihn wirken. Diefelbe Handlung, in 
derjelben Reihe, an denfelben Menſchen, aber mit den im- 
pulſierenden Verſen, die wir jetzt gewohnt find, und ſolchen 
Gebärden dargeftellt, muß ihn erjchüttern. Die Gebärden 
lann der Schaufpieler bringen, aber es bleibt noch immer 
Goethes beſchwichtigender, erfältender, entfernender Vers. 
Bas geſchieht mit diefem? (Diejelbe Frage, wie bei Shate- 
ſpeare jo oft, wo auch der Vers bisweilen, zum Beifpiel 
im Lear auf der Heide, aus der Emotion reißt, ftatt fie, 
wie wir jegt von ihm verlangen, zu vollenden.) Wir können 
ja das Wort nicht ändern. Wie aber, wenn wir, ftatt die 
Gebärden aus den Worten zu beftimmen, jetzt dieje viel- 
mehr an jene zu pafjen trachteten ? Goethe tft bisher immer 
aus den Worten infzeniert worden, aljo aus der Kälte. Geht 
man aber in feinen jchöpferifchen Zuftand .zurüd, der von ſol⸗ 
em Fieber war, daß er, um fich zu retten, eben in jene Kälte 
floh, fo Hat man den Ton, den wir brauchen. Er muß 
für und aus feiner inneren Situation infzeniert werden. 
Dieſe gibt die Gebärden an und die Frage ift nun nur 
noch, ob man die Kraft hat, ihren Rhythmus fo den Ber- 
ien aufzuzwingen, daß dieſe eigentlich bloß noch wie vor 
innerer Fülle aufgeplagte und fich nun ausrollende Gebärden 
wirken. Allerdings muß man dann fähig fein, den Vers 
ganz unlogifch, rein muſilaliſch und maleriſch, bloß auf 
feinen Klang und feine Zarbe bin, bloß ala Mittel der 
Stimmung zu behandeln. Was heute vielleicht nur Sing 
und Matkowsky können. 

Bunäcft faßt aber Stainz den Tafjo ganz anders an. 
Es ſcheint: er will fich goethifieren.. Dämpfen. Einkühlen. 


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Abflären. Zur großen Linie hin. Was vor allem techniſch 
ſehr merfwärdig ift, aber doch mehr einen Tafjo von Kaul⸗ 
bach gibt. Zwei Alte lang. Dann hält er es nicht mehr 
aus. Dann, im vierten, bricht plöglich der Schaujpieler 
108. Der Echaufpieler wird Herr über ihn. Und jept 
fpielt er: nicht die Worte, jondern den Zuſtand, den fie 
verhüllen. Zerreißt dieſe Hüllen. Sprengt alle Deden auf. 
Das ift dad Geheimnis der ungeheneren Wirkung, die er 
hier hat; er fpielt Hinter den Tert zurüd. In das Chaos 
vor der Form. Und fängt nun Hier mit eigener Fauft zu 
formen an. Alles wird neu, wir erfennen die Worte nicht 
mehr, jedes hat einen anderen Glanz, einen anderen Klang 
befommen, ein Wunder ift gejchehen. 

Die anderen Rollen werden von den Damen Hohen- 
feld und Reinhold jowie von den Herren Hartmann und 
Gregori aufgefagt. 


Der verlorene Vater. 
Gomödie in vier Akten von Bernard Shaw. Deutid von Siegfrieb 

Trebitſch. Zum erften Mal aufgeführt im Burgtheater 

am 17. März; 1906.) 

Vor vier Jahren hätte Schlenther Candida haben 
Tönnen. Sie war ihm, noch dor Dresden und Berlin, 
‚angeboten. Er zögerte, konnte fich nicht entſchließen und 
ſchlug den Ruhm aus, der erſte für Shaw unter den 
Deutihen zu jein. Dem Hat da3 weiter nicht geſchadet, 
feine jeltfam tiefjinntg fragenhafte Art, von Ibſen zu 
Courteline, zur Weisheit Grimafjen jchneidend, ift uns 
raſch geläufig worden. Candida, zuerft in Dresden, dann 


— 13 — 


mit der Sorma bei Reinhardt, dieſes wunderbar jeinen 
Ernſt verhüllende Spiel, und der Teufelsferl, die Helden, 
fein Napoleon Haben fie durchgejegt. Nur fennen wir noch 
immer erft den Shaw, der fich verftellt und Lieber einen 
Chatlatan aus fi macht, ald jein Gemüt auf den Markt 
zu bringen. Es reizt ihn, jich Masten aufzufegen und er 
fat una aus, wenn ung immer wieder eine andere täujcht. 
Eſt in CAfar und Kleopatra dringt durch die Larve der 
Schein jeined eigenen Weſens manchmal dur. Hier er- 
taten wir den anderen Shaw, den wirklichen feiner Ein- 
jamfeit. Und wieder hätte Schlenther, diefen bringend, 
der erfte fein fönnen, der Entdecker jener Welt, die Shaw 
jonft Hinter feinen Späßen verborgen Hält. Er Hat nicht 
wollen. Er zieht eine alte Poſſe von ihm vor. Er würde, 
wöre Goethe nicht ſchon bei uns eingeführt, wohl zuerſt 
feinen Bürgergeneral bringen. 

Ein Dann ift feiner unausftehlichen Frau weggelaufen. 
Nach achtzehn Jahren treffen fie fich wieder. Sie haben 
einen Sohn und zwei Töchter; in eine verliebt fich ein 
Zahnarzt. Sie find aus Madeira, das Stüd fpielt in 
einem englifchen Bade. Und es gejchieht nun nichts, ala 
daß der Autor fie durcheinander hegt, um Schindluder zu 
treiben: mit ihnen, mit dem Publikum, mit fich ſelbſt. 
Das ift famos, beſonders durch einen unmiderftehlichen 
Trid, den er gern Hat: er bringt eine Figur, wenn fie 
etwas Geſcheites zu jagen Hat, in die dafür dümmſte Stellung. 
Man denke fich etwa: Hamlet, feinen Monolog fagend, 
indem er fich dabei mit der großen Zehe hinter dem Ohre 
fragt. Es ift wirklich die Komik von Affen und ebenjo 
rührend . . . wenn man ſich nämlich nur durch die Frage 

Hermann Badr, @loffen. 8 


— 14 — 


nicht abjchreden läßt, nachdenklich Atem zu holen. Dann 
befinnt man fi), daß dies ja doch ein Gleichnis unferes 
Lebens ift: wir verfuchen ſtets, in Lächerliches eingezwängt, 
gedanfenvoll zu fein und, vom Echidjal in unferen Tief- 
finn gezwickt, müſſen wir Gefichter jchneiden. Ein fehr 
deutjcher Humor eigentlich: der Grabbes, der Viſchers (in 
„Auch Einer“); und er fegt eine völlige Verachtung der 
Wirklichfeiten voraus, welche zugleich als Null erfannt und 
als Macht empfunden werden. 

Shaw Hat revolutionär angefangen. Bor zwanzig 
Jahren Hat man ihn, eine ſchwarze Fahne in der Hand, 
mit Scharen von Arbeitslojen durch die Straßen ziehen 
jehen und an jeder Ede gegen die Reichen, gegen die Aus- 
beuter wüten gehört. Der erjte Marzift in England. 
Beraufcht von Wünfchen nach der Zukunft hin. Plöglich 
aber ernüchtert. Plöglich enttäuſcht. Plöglich in die Kunſt 
verfchlagen, für Wagner. Der erfte Wagnerianer in Eng- 
land. Wieder ein Rauſch. Dann fucht er die Malerei, 
gleich darauf das Theater ab: immer nach einem neuen 
Naufch. Immer wieder enttäufcht. Sein Geheimnis ift: 
er kann nur im Rauſche leben und keiner hält. Was viel- 
leicht das uralte Geheimnis der ganzen Menjchheit iſt, 
welche ftet3 das Leben nur ertrug, indem es ihr gelang, 
darüber irgend eine ungeheuere Täufchung auszufpannen. 
Was vielleicht das Iegte Geheimnis unferer Not ift, dab 
wir die Kraft verloren haben, uns durch Rauſch um bie 
Wahrheit zu betrügen. Was bleibt dann? inficht ins 
grenzenlos Stupide, das unfer Leben it. Im der Poſſe 
Shaws jagt einer: „ed iſt unklug, geboren zu werben, 
es ift unflug zu heiraten, es ift unklug zu leben, und es 


— 15 — 


iſt klug zu fterben.“ Aber ein anderer, noch klüger, er- 
widert: „Wenn ich mir Höflichft erlauben darf, fortzu- 
fegen:: Und Weisheit ift das Allerunklügſte!“ Wir fangen 
endlich wieder an, dies zu erfennen, daß Erkenntnis ung 
nicht helfen kann. Sie legt uns bloß die Nichtigkeit von 
lem in die hohle Hand, wie follen wir und aus diejer 
Kraft oder Mut trinken? Und jo wiſſen wir jegt wieder, 
daß es nicht gilt, dem Verſtande das Leben auszuliefern, 
fondern an Sehnfucht jo ftark zu fein, daß wir aus ihr 
ein zweites, neues, unſer eigenes ſchaffen, das zu leben fich 
verlohnt. Und vielleicht wird in einer fpäteren Beit jeder 
von und nur jo viel wert fein als er beigeholfen Hat, 
Sehnfucht zu ſchüren. Set es indem er einen Traum vor 
und aufflammen läßt. Set es, indem er dieſes jegige, vor 
den Verſtand geftellte Leben in folchen Fragen zeigt, daß 
wir uns fchämen, ſolchen Hohn zu verdienen. So nur ift 
Shaw zu verftehen, wenn er den Clown macht: aus Efel 
und Verachtung einer Welt, die, zum bloß Verftändigen 
degradiert, nur die Narrheit des Zufalles behalten will. 

Im Burgtheater wird Shaw geſpielt, als ob es Scribe 
oder der ältere Sardou wäre. Für diefe hat man den 
ſeht beliebten Stil einer zurüdhaltenden Luftigfeit, welche 
& allenfall® einmal riskiert, unmwahrjcheinlich zu werden, 
aber niemals, über das Mögliche zu fehießen. So be- 
mühten fi Nömpfer, Frau Bleibtreu, Fräulein Witt, 
Thimig und Gimnig, nur ja nicht fomifcher zu werden, 
als es fich mit der Bejcheidenheit der Natur noch verträgt. 
Shaw wäre vor Langweile übers Drchefter auf die Rampe 
geffettert und ich Hätte gern erlebt, was dann aus Herrn 
Pittſchau geworden wäre, der eine Mitterwurzers würdige, 

gr 


— 16 — 


diabolijch freche Charge mit dem pietätvollen Ernfte eines 
Leichenbitter3 gab. Selbſt Korfi, dem die Grimaffe doch 
geläufig ift, zwängte fi in eine Würde ein, ala ob Shaw 
Öfterreichifcher Hofrat und Herrenhausmitglied wäre. Wirk 
licher Shaw waren nur die Senders und Treßler, auf die 
„Natur“ der banalen Wirklichkeit pielfend, um vergnügt 
in die höhere der Karikatur zu fpringen. Der größte Spaß 
aber war dad Publifum. O Shaw, das hätten Sie jehen 
müffen, Sie hätten fich gefugelt! Nämlich, es hat läuten 
gehört, daß bei Ihnen alles eine tiefere philoſophiſche Be- 
deutung hat. Und nun ftocherte es fich bei jedem Sage 
nad) diefer das Gehirn aus. Bis ihm alles weh tat, und 
dann wurde es bös. 


Dor fünfzig Jahren. 
1. Burgtheater. 


1832 wurde Schreyvogel fortgejagt, weil er unbequem 
war, Er hatte das Burgtheater zur erften deutjchen Bühne 
gemacht, verftand e3 aber nicht, den Kavalieren und den 
mit ihnen farefjierenden Weibern zu ſchmeicheln: er gefiel 
oben nicht. Man entließ ihn und nahm Deinhardftein, 
einen forglojen Wiener, der den höfifchen Ton befier be- 
geiff und auf die Kunft pfiff. Die Stavaliere atmeten auf, 
das Theater verfam. Dies hätte ihnen nichts gemadit, 
aber al3 nun auch die Rechnung nicht mehr ftimmte, er- 
ſchralen fie. In ſolchen Fällen wird in Öfterreich ein 
Beamter berufen: Holbein, ein braver Kanzlift. Da brach 
die Revolution an. Im jolchen Fällen wird in Oſterreich 


— 17 — 


verſucht, den Teufel durch Beelzebub auszutreiben. Dieſer 
hieß jetzt: Laube. Er wurde Direktor wie man bei und 
Minifter wird; niemand will es, man glaubt jelbft nicht 
daran, plöglich ift man’3. Sie hatten fich das eigentlich 
nur als ein Proviforium gedacht. Aber fie kannten den 
Dann ſchlecht. Der fette fich felbft in den Sattel. Er 
verlangte fünf Jahre. Graf Grünne, im Kommißmantel, 
bis an den Hals zugelnöpft, fragte, wohl ein bißchen ver- 
wundert über den jeltiamen Menjchen, der, ftatt nach dem 
Amte zu fchnappen, noch jo dreift war, Bedingungen zu 
ſtellen: „Warum wollen Sie gerade fünf Jahre?“ Er fagte: 
„Weil ich in den erſten Jahren genötigt bin, mir jehr viel 
jeinde zu machen. Ih muß aufräumen, muß abjegen. 
Nach zwei bis drei Jahren bin ich im weſentlichen nur ver- 
hakt — fchaffen und mir Freunde erwerben fann ich erft 
im vierten und fünften Jahre.“ Man tat ihm jeinen 
Villen. Dan tut in Öfterreich jedem feinen Willen, der 
tinen hat. Es fommt nur faft nie vor. 

Ein unzulängliches Perfonal, feit zehn Jahren nicht 
mehr ergänzt, kaum geflidt, von den paar guten Schau- 
Wielern die Mehrzahl alt, die Minderzahl bejahrt, alle durch 
Routine faul und dumpf geworden, fein Repertoire und 
in Publitum, dad an das Theater nicht mehr glaubte. 
& begann er. Und nad; zehn Jahren war es wieder 
das erfte Theater der deutſchen Welt. 

Wie hat er das gemacht? 

Er war fleißig. Gleich im Jahre 1851 verzeichnet 
a: „Zünfundzwanzig Neuigkeiten und gegen vierzig Neu- 
hhenierungen“. Das pulverte die Schaufpieler auf, das zog 
dog Publikum ber, alle fühlten: Hier geht wieder etwas 


— 18 — 


vor! Man begreift freilich Heute faum, wie er es leijten 
Tonnte. Und ganz allein. Selbit fein einziger Regifjeur. 
Immer jelbft auf der Bühne. Denn er hatte jogleich er- 
kannt: „Ein Theater ift Heute nicht mehr vom Bureau 
zu dirigieren, die wichtigfte Arbeit der Direktion muß auf 
der Szene geleitet werden.“ 

Zweitens: Er hatte eine Überzeugung. Er lieh das 
Publikum nicht diktieren. Er verachtete es nicht, er juchte 
es zu verftehen, aber um ihm beizufommen, nicht um ihm 
zu dienen. Vom „Fräulein von Seigliere" des Sandeau 
erzählt er einmal: „Trotz Safjenproteftes gab ich das 
Stüd nicht auf, weil ich es für ein gutes Stüd hielt, und 
fegte jahrelang die Wiederholungen fort vor ſchwach be- 
ſuchtem Haufe Nach fünf Jahren etwa, als das Stüd 
hartnädig wiederfam, fammelte ſich allmählich ein neues 
Publitum für dasfelbe, und erft nach zehn Jahren hatte 
es die Scharte des erjten Abends ausgewegt." in Stüd, 
dad er für gut hielt, gab er niemal3 auf und fo gab das 
Publikum am Ende lieber nad. Das war jein großes 
Geheimnis. Seine beiten Erfolge hat er jo dem Publikum 
abgeſchlichen oder abgetrogt. 

Dann aber: indem er jo fich unnachgiebig gegen das 
Publitum zu behaupten verfiand, blieb er doc eingedent, 
niemal3 die Verbindung mit dem Volfe zu verlieren. Er 
hat einmal gejagt: „Ein Theater muß eng und vertrau- 
lich mit dem Volke zujammenhängen.“ Er fühlte, daß 
hier nicht ein einzelner feine bejonderen Wünfche, Sorgen, 
Zaunen zu verfünden hat, jondern die Nation aus ihm 
die tiefen Stimmen ihrer eigenen Sehnfucht zu hören ver- 
langt: denn dies eben macht das Weſen der dramatijchen 


— 19 — 


Kunft aus, daß fie den einzelnen fich vergefien läßt und, 
für eine felige Stunde, wieder in das Urgefühl der Ge— 
meinfchaft taucht. Nur freilich, Volt und Publitum find 
nicht dasſelbe, wie jegt unjere Direktoren glauben, jondern 
das Publikum, ein Haufe von einzelnen, die ſich aus der 
Kunſt eine Liebhaberei, einen Sport gemacht Haben, drängt 
fi vor das Volk und verjucht, den Dichter von ihm ab- 
zuſchneiden. Und es ift vielleicht das Schwerfte für jeden, 
der irgendwie am Dramatiſchen mitwirft als Schaujpieler, 
Dichter oder Direktor fich des Publitums, das immer nur 
eine Kafte ift, beharrlich zu erwehren, ohne fich aber da» 
durch zum Troge gegen das Volk verleiten zu laffen. 

Und ebenfo verftand er, wie jeit Schreyvogel feiner, 
das rechte Verhältnis zur Zeit zu trefien. Er hat einmal 
geſagt: „So fehr ich überzeugt bin, daß ein Theater nicht 
beftehen Tann, wenn fein Inhalt nicht wejentlich überein- 
ftimmt mit dem Sinne der Seit, fo feft bin ich davon 
durhdrungen, daß die weiteren Gefichtspunfte der Kunſt 
nicht dem eben herrjchenden Parteifinne geopfert werden 
dürfen.“ Und jv hütete er fich, das Schaujpiel den Fragen 
des Tages auszuliefern, die ſchon morgen vergefien fein 
werden, ohne jich aber deswegen an zeitloje Spiele zu ver- 
lieren. Wie das Publifum vor das Volt, jo ftellt fich 
nämlich das Problem des Augenblickes vor den Sinn der 
Zeit und verdedt ihn, indem es ihn gerade zu entfalten 
ſcheint. Er zeigt fich erft, wenn die Redner der Minute 
abgetreten find. 

Und fo gelang es ihm, feinem Theater eine das ganze 
Leben der Nation beherrichende Macht zu geben. Er ſchuf 
aus ihm, was heute den Deutſchen überall fehlt: ein 


— 10 — 


geiſtiges Milien“. Der einzelne, feinen Geſchäften hin— 
gegeben, fich in den Sorgen des Tages erjchöpfend, an Die 
er fich doch nicht verlieren will, unfähig, fi von feinem 
engen Winkel aus das große weite Leben und den Sinn 
der Welt zu deuten, worauf er doch nicht verzichten will, 
jehnt fich, das Echo ftarfer Stimmen zu vernehmen, welchen 
er fich anvertrauen könnte. Nur den ganz Großen ift es 
gegeben, aus ſich allein mit unjeren Nätjeln fertig zu 
werden. Die anderen verlangt, fich in der Not und Angſt 
des Daſeins anzufchließen, anzulehnen, anzuhalten. Sie 
drängen fich zufammen, um nicht zu frieren. Sie brauchen 
den ftarfen Atem einer Gemeinjchaft. Es ift ihnen not- 
wendig, vom Rhythmus großer Gedanken, Heftiger Gefühle 
fortgeriffen und beftimmt zu werden. Im jeiner großen 
Beit, ala es fich fand, Hat das deutjche Bürgertum drei 
ſolche Rhythmus ausftrahlende Mächte gehabt: feine Uni- 
verfitäten, jene Berliner Kreiſe, die Goethe in der Stille 
hegten, und das Burgtheater Laubes, der hier vollendete, 
was Schreyvogel begonnen hatte. 

Draußen hat man früher über und gern ein bißchen 
gelächelt, wenn man vom Enthuſiasmus der alten Dfter- 
reicher für ihr Burgtheater vernahm. Man konnte kaum 
begreifen, was e3 durch Laube für unfere ganze Entwicklung 
geworden war. Im der fehlimmften Beit hielt es unfere 
Menſchen geiftig zufammen. Hier fanden fie jich, hier 
atmeten fie von den angeziwungenen Zügen auf, hier ſaßen 
fie wie Verſchwbrer einer freieren Zukunft da. In dieſes 
Theater kam man nicht, um ſich an den vorgetäufchten 
Leidenſchaften erfundener Abenteuer aufzuregen, fondern 
hier ftrecten fie fich von der Knechtſchaft des Tages aus: 


— 21 — 


man fam wie in eine Schule des fünftigen Lebens. Menfchen, 
von verbotenen Hoffnungen erregt, brauchen, um fich zu 
verftändigen, dieſe gar nicht erft auszufprechen, fondern fie 
glänzen aus allen Augen, jeder leiſe Drud der Hand verrät 
fe. Starte Wünfche, aus einer Mafje ftrahlend, ftellen 
eine Spannung ber, in der fich der einzelne wunderbar 
ermutigt und verftärft fühlt: ein fonft leeres Wort, ein 
geheimes Zeichen nimmt darin die größte Bedeutung an. 
So war es hier: es fam gar nicht auf das einzelne Stüd, 
die einzelne Rolle an — man fuchte diefe Luft auf, die 
Luft der neuen Zeit. Sch muß den Vergleich mit den 
deutfchen Univerfitäten wiederholen: da trug auch jeder 
bloß feine Sache vor und doch fühlte fich der Lehrer dem 
Schüler unausgeſprochen verbunden. Solche tiefite Ver— 
hundenheit, die der Worte, der Zeichen entraten fanrı, vom 
Schaufpieler um den Zufchauer zu fchlingen, hatte Laube 
die geheime Kraft. 

Daher auch die ganz einzige Bedeutung des Schau- 
ſpielers, der hier gar nicht jo fehr nach feinen Mitteln, 
nach feinen Künften als nach dem menfchlichen Werte galt. 
Schiller Hat einmal vom Schaufpieler gejagt, er müfje 
zuerſt dafür forgen, daß „die Menjchheit in ihm ſelbſt zur 
Zeitigung komme“. Dies wirkte Hier jo ftarf: die Bu- 
ſchauer, in unerträgliche Zuftände gebannt, welche jie hemmten, 
ſich auszureifen, fahen jehnfüchtig nach Proben, nach Bei- 
riefen einer glücklichern Menichheit aus, dieſe fanden fie 
bier: Laube gab den Wienern Echaufpieler von jolcher Art, 
wie jeder fich wünfchte, jelbft zu fein; auf der Bühne er- 
idien ihnen, was das Leben ihnen verjagt hatte, 

Unfere Zeit gleicht der vor Laube. Ein Gefchlecht, 


— 12 — 


das dor ungeduldiger Erwartung bebt. Cine ungeheuere 
Sehnfucht überall. Heimlich geballte Fäufte und ein tiefes 
Knirjchen. Und der Mann des Vertrauens fehlt. Dies 
ift es, was alle zu folcher entjeglichen Einjamfeit verdammt. 
Selbft fühlt fich feiner jo ftark, aus fich zu helfen; und 
feiner fann zum anderen fommen. Werden wir verichmach- 
ten? Oder hält das Schidjal noch eine legte Gefahr, eine 
letzte Not bereit, ftarf genug, daß wir in ihr eines Sinnes 
werden fönnen? In diejes öfterreichiiche Problem gehen 
alle unjere Fragen aus. Auch die Frage des Burgtheaters. 
Wenn es jemals wieder werden foll, was es in der großen 
Zeit war, muß es erſt ein Publitum haben, das nicht 
durch Launen oder Moden, fondern wieder duch ein 
Pathos beſtimmt wird. Dazu aber gehörte ein Dann 
der Zeit, der daS PVertrauen hätte: der Mann, der uns 
überall fehlt. 


’ 2. Literatur. 


Als Laube ins Burgtheater trat, fand er unfere 
Literatur jo vor: 

Grillparzer grollend verftummt. Mürriſch, menjchen- 
ſcheu, „monologijch“ geworden. In fein „Mausloch“ ver- 
feochen, wie er es in einem Briefe an Anaftafius Grün 
nennt, abgejperrt, „vom Theater wie vom Leben völlig 
abgewendet“, hat ihn Bauernfeld geſchildert. Trogig wie 
ein gefränftes Sind, das nicht mehr mitjpielen will. Ver- 
ärgert, müde, fatt. Won feiner Kunft, von der Liebe, von 
unjerem Wolfe, von der Menjchheit enttäujcht. Laufig. 
„Es geht mir laufig,“ pflegte er auf die Frage nad} jei- 


— 13 — 


nem Befinden zu jagen. Das ift das Wort für fein Leben, 
feit dem Falle von „Weh’ dem, der Tügt“, jeit 1838, 
noch dreiunddreißig Jahre lang: lauſig. Am liebſten 
einſam im Lehnſtuhle vor ſeinem Pulte, die Beine über 
einen Seſſel geſtreckt, den rechts geneigten Kopf in bie 
Hände geftügt, um zu „fimulieren“. In fich hineinzu- 
horchen. Üngftlich zu lauſchen, ob es ſich micht doch noch 
einmal regen wird. Aber es regt fich nichts mehr, er 
wartet umfonft. Er ift verödet. Manchmal fucht er noch 
den täufchenden Troft der Mufit oder die Betäubung alter 
Bücher auf. Manchmal fprigt er feinen Grimm in ein 
Epigramm aus, das tückiſch in der Lade verftedt wird. 
Die Leute follen nicht mehr merken, wie ihm ift. Ihnen 
kehrt er eine künſtliche Quftigkeit zu. Für fie ift er ein 
etwas wunderlicher, aber ganz vergnügter alter Herr, der 
einmal etwas geweſen fein joll, aber dem Halt nichts mehr 
einfällt. So kümmern fie fich nicht mehr um ihn. Nur 
ein paar ernfte, ſtille Männer, die mit ihm jung waren, 
find ihm treu geblieben. So fteht dieſes entjegliche Leben 
da, in der Mitte geborften. „Ein Torſo,“ hat Bauern- 
feld gejagt. Und man fragt beffommen: „Warum? Was 
war e8, das ihn zerbrochen hat?“ Es heißt: „Gott, die 
Benfur, der Vormärz, diejes ganze alte Öfterreich Halt!“ 
Bauernfeld hat gemeint: Weil er die Fröhlich nicht ge- 
habt und fich in der finnlichen Entbehrung aufgerieben 
und ausgezehrt hat. Und andere: daß er die Gemeinheit 
der Wiener, welchen auch die Kunft nur eine Heß ift, jeit 
jenem Sturze von „Weh' dem, der lügt“ nicht mehr ver- 
winden konnte. Dies alles war gewiß dabei. Wer aber 
fein Tagebuch Iennt, weiß, daß er doc; an feiner eigenen 


— 14 — 


Natur verdorben ift. 1826, in der Mitte des Lebens, 
auf der Höhe des Erfolges, ein Jahr nad) dem „Dttofar“, 
zwei Jahre vor dem „Treuen Diener“, fünf Jahre vor 
ber „Hero“ jchrieb er: „In ähnlicher Unfähigkeit zu ar- 
beiten und zu dichten habe ich mich zwar ſchon bfters be— 
funden, uber das Charafteriftiiche meines gegenwärtigen 
Zuftandes ift, daß, indes ich fonft die Urjache meiner Un- 
tätigfeit in äußeren Umftänden fuchte und fand, mir jegt 
ein inneres entjegliches Gefühl jagt, e3 fei mit der Dichter- 
gabe jelbft zu Ende. Eine ftufenweife Erfaltung der Bhan- 
tafie läßt ſich übrigens in meinen bisherigen Hervorbrin- 
gungen beftimmt nachweijen ... Auf der einen Seite alfo 
Abnahme, ftufenweifes Erlöfchen der Herzenswärme, und 
auf der anderen durchaus fein Zunehmen von feiten des 
Denkens und des Wollend. Die Phantafie wird nach und 
nach zum Greife und der Verftand bleibt ewig Kind, oder 
Knabe beſſer zu fagen, denn Kind wäre noch allenfalls zu 
entſchuldigen. Schon in ber Zeit, da ich noch hoffte, in 
der Poefie etwas Tüchtiges leijten zu fünnen und ein 
vorjchneller Wahn mich zu glauben antrieb, ich fönnte mich 
bereinft an die erften Dichter der Nation reihen, ſchlug 
das Gefühl einer inneren Injuffizienz, einer Unbedeutend- 
heit als Menſch jede ſolche Hoffnung nieder. Hätt' ich 
nur den Mut, mir ſelbſt treu zu jein, den unnennbaren 
Schmerz eines verfehlten Dafeins in mir fortwalten zu 
laffen, bis er entweder das Dafein jelbft verzehrt oder in 
höchſter Steigerung ein höheres hervorruft. Aber eine törichte 
Eitelkeit, -eine übel angebrachte faljche Scham zwingt mir 
bei jeder Berührung mit Menjchen eine gewiſſe Luftigkeit 
auf, die mic nicht froh macht, die mir nicht von Herzen 


— 125 — 


geht, aber für mich das einzige Mittel ift, mit Menjchen 
zu fommunizieren.“ Und ein anderes Mal, 1827: „Ich 
wollte was jchuldig fein, um einen Schmerz, ein Unglüd, 
eine Verzweiflung, die — und wär’ nur für eine Stunde 
— mein Wejen ganz aufgehen machte in eine Empfindung 
und mich — nur für eine Stunde — von dieſer dauernden 
Verftandeskälte frei machte, die wie ein hohnlachender Narr 
Sinter jedem Vorhange hervorgudt." Und wieder: „Wenn 


ich je dazu kommen jollte, die Geichichte der Folge meiner 


inneren Zuftände niederzufchteiben, jo würde man glauben, 
die Krankheitsgeſchichte eines Wahnfinnigen zu lefen. Das 
Unzufammenhängende, Widerfprechende, Launenhafte, Stoß- 
weiſe darin überfteigt alle Vorftellung. Heute Eis, morgen 
Teuer und Flammen. Jetzt geiftig und phyſiſch ohnmächtig, 
gleich darauf überfließend, unbegrenzt. Und zu dem allen 
noch nicht imſtande, fich von etwas anderem bejtimmen zu 
laſſen, als von der fprungweilen Aufeinanderfolge des 
ögenen, verftocten Ideenganges.“ Neutafthenie, würde 
man Heute jagen. Gewiß, aber eine, die nicht auß ber 
gemeinen Ermattung der Nerven, jondern aus einer tieferen 
Erkrankung des Geiſtes kommt. Es ift an jener eriten 
Stelle doch jehr merkwürdig, daß er, dad Nachlafjen feiner 
Staft beflagend, unwillkürlich ſogleich auf feine Verftellung 
dor den Menſchen fommt. Er hat fich vor ihnen immer 
zugedeckt. Gewiß nicht vorfäglich. Er litt eher darunter. 
Aber ihm war verjagt, fich ihnen zu geben. Sein Weſen, 
von ihnen berührt, zog fich ſogleich zu. Das ift jehr 
Öfterreichifch: fich vor dem Leben einzurollen, daß es 
nitgends herein Tann. Daran verdarb er. Nun ſaß er 
mit jeiner Kraft im Leeren da, unfähig, fie auf das Leben 


— 16 — 


einzujtellen, an welchem allein fie erſt hätte wirfen fönnen. 
Wenn feine Phantafie verjagte, wie er Hagt, jo war es, 
weil er ihr nichts mehr zugeführt Hat. Aus Unfähigkeit 
zu leben, wurde er unfähig zu dichten. Es ijt entfeglich, 
wenn er einmal befennt: „Für mich gab es nie eine 
andere Wahrheit, als die Dichtkunft. Im ihr habe ich mir 
nicht den Hleinften Betrug, die Heinfte Abweienheit vom 
Stoffe erlaubt. Sie war meine Philojophie, meine Phyſik, 
Geſchichte und Rechtslehre, Liebe und Neigung, Denfen 
und Fühlen. Dagegen hatten die Dinge des wirklichen 
Lebens, ja feine Wahrheiten und Ideen für mich ein Zu- 
fälliges, ein Unzujammenhängendes, Schattenähnliches, das 
mir nur unter der Hand der Poeſie zu einer Notwendig- 
Teit ward. Won dem Augenblide an, als ein Stoff mich 
begeifterte, fam Ordnung in meine Teilvorftellungen, ich 
wußte alles, erfannte alles, ic) erinnerte mich auf alles, 
ich fühlte, ich Tiebte, ich freute mich, ich war ein Menſch. 
War diejer Zuftand vorüber, trat wieder das alte Chaos 
ein. Mein ganzer Anteil blieb immer der Poefie vorbe- 
halten und ich ſchaudere über meinen Zuftand ala Menſch, 
wenn die immer feltener und jchwächer werdenden An- 
mahnungen von Poeſie endlich ganz aufhören follten.“ 
Das Schaffen muß für ihn aljo eine Art Epilepfie gewejen 
fein, durch die ja dem Kranken auch eine wunderbare 
Helligfeit vorgetäujcht wird. Und fo haben wir dieſen 
grauenhaften Zall: ein fehr heftiger Trieb, zu geftalten, 
dem aber die natürliche Befriedigung, am unmittelbaren 
Leben ſelbſt, verfagt wird, wodurch er, nad) gewaltjam 
fchmerzlichen Explofionen, allmählich erlahmt und erftarrt. 

Neben ihm fand Laube Halm vor. Sehr gefeiert, 


— 127 — 


ſehr berühmt. Der richtige Dichter für die Wiener. Ein 
Üuger Spieler mit der Form. Und was man hübfche 
Gedanken nennt. Solche nämlich die niemanden unruhig 
machen. Manchmal fam er den Wienern ein bißchen 
ipanifch vor, was ihnen aber nur zu beftätigen ſchien, daß 
er wirklich ein Dichter. Grillparzer Hat fein ganzes Weſen 
in einen einzigen Sag gepreßt: „Er verjteht nur auszu—⸗ 
führen.“ Laube meint dasſelbe, wenn er jeine „Kunitpoefie“ 
definiert als „talentvolle Produktionen, denen der Stern der 
Bahrhaftigkeit abgeht“. Sein „Talent“ ift nur die an- 
genefme Begabung, Worte zu fombinieren. Ungefähr wie 
man Domino fpielt. Das Leben, das die Worte urſprüng- 
fi, Hatten, geht dabei ganz verloren. Nur weil wir uns 
dunkel doch manchmal erinnern, daß Hinter den Worten 
einſt etwas Wirfliches war, fommt ein Schein von Leben 
herein. Aber diefer Schein ift ‘den Leuten, die ſich aus— 
ruhen wollen, gerade genug. In ihm finden fie die „Ver— 
rung“, die fie von der Poeſie fordern. 

Und zwifchen dieſen beiden Hofräten: Bauernfeld. 
Bricht in Grillparzer das Leben nur krampfweiſe aus, mit 
fo fchmerzlichen Anfällen, daß er fich, auf den Tod er- 
ſchtocken, vor ihm verkriecht, läßt es Halm an fich nur 
zum Spiel heran, fo ftredt Bauernfeld die Hände Iuftig 
in den Schaum, den es ang Ufer wirft. „Immer in dem« 
jelben Kreiſe des aktuellen Lebens und immer mit benfel- 
ben Mitteln und Wendungen“, Hat Laube von ihm gejagt. 
Das Talent recht Hein. Gar feine geftaltende Kraft. Aber 
doch endlich einer, der lebt. Recht töricht freilich: ganz 
im Augenblick befangen, unfähig vom einzelnen zum gan« 
zen, von der Fläche in die Tiefe zu dringen, und der richtige 


— 128 — 


Städter, der im Geſchwätz der Gaſſen bald die leije Stim- 
me der eigenen Sehnjucht nicht mehr hört. Aber doch 
einer, der lebt. Und darum der Sprecher der „Malfon- 
tenten“. Ein Heiner Revolutionär. Sehr Hein; und von 
einer behutfamen, wienerijch raunzenden, im Grunde doc 
höchſt Hoffähigen Art. Aber immerhin ein NRevolutionär. 
Einer, der das djterreichifche Problem ahnt: die Menjchen 
wieder mit dem Leben zu verbinden, von welchem fie ab- 
geſchnitten worden find. 

Einftweilen aber jaß in oberöfterreichiichen Schenfen 
einer mit Liedern, in welchen diejes Volk fein ganzes 
Weſen fand. Wie ein Tier vor Luft oder Leid auf- 
fchreit, fo ftieß er fein ganzes Leben in diejen Liedern aus, 
Das war des Johann Stelzhamer Sohn, der Franz von 
Pieſenham. 

Seither wandelt unfere ganze Literatur immer nur 
dieſe vier Typen ab. Und es ift vielleicht ihr legter Sinn, 
ung daran das dfterreichifche Problem begreifen zu laſſen 
und jo die Kraft vorzubereiten, die es einft Idjen wird. 
Es ift vielleicht der einzige Sinn der armen Menfchen, 
die ſich bei uns jegt mit dem Dichten quälen: erſt wieder 
möglich zu machen, daß einft ein Dichter kommt. Wozu 
die Vorbedingung wäre: möglich zu machen, daß unfere 
Naffe wieder unmittelhar an das Leben felbft herangebradt 
wird, von welchem fie feit der Gegenreformation abge 
Tchnitten ijt. Unfere Menjchen in einer maginären Welt 
von der Wirklichkeit zu ifolieren, ift die Tat der Gegen- 
zeformation gewefen. (ES fehlt und nur noch immer das 
Buch über die Barode, daS fie auf diefen geiftigen Grund- 
trieb zurücführen würde) Und ob mir die Straft finden 





— 129 — 


werden, unfere Menfchen aus dem Dunſt fo betäubter 
Eriftenzen ind Erwachen zu ftoßen, ift die Frage, der 
alle Arbeit unjerer Zeit gehört: aus Öfterreichern Lebende 
zu machen. Alles, was mir tun, ift nur ein langſames 
Suchen des Lebens. 

Nach jenen vier Typen ordnen fich die wichtigiten 
Nomen etwa jo: 

Zu Grillparzer, der, vor dem Leben entfegt, fich in 
den Winkel ftellt, gehören Stifter, Warsberg, die Ehner- 
Eſchenbach, Saar; ftatt durch Kunſt ihr Leben zu voll» 
enden, meinen fie, ſich mit ihr vor ihm zu ſchützen. An 
Halm, der Leben und Kunſt als Spiel treibt, ein richtiger 
Epigone des Barod, nur ein bißchen klaſſiſch maskiert, 
ſchließen fich Weilen, Keim, Wartenegg, Kralit und die 
Delle Grazie an. Vauernfeld, dem behenden Späher, der 
den Augenblid zu ertappen fucht, folgen zunächit: Kaiſer, 
D. F. Berg, Cofta, dann mit höherem Ehrgeize, an Rat- 
mund erftarkt, von Anzengruber gehoben, Karlmeis, dem 
ſich jegt, in ihren guten Momenten nicht ohne Glüd, Hawel 
und Schrottenbach nähern möchten. Anzengruber felbit 
iſt der erfte nach Stelzhamer. Er und Nofegger bleiben 
noch oft im Lofalen, im Zeitlichen, im einzelnen Erlebnis 
fteden, von dem alle Kunft beginnt, aber das bie große 
SKunft, indem es ihr zum Gleichnis wird, immer ins All- 
gemeine vollendet. An Anzengruber haben ſich Langmann, 
Mamus, Schönherr und Stranemitter gebildet, diefer, in 
der Provinz verloren, in allen Hoffnungen gekränkt, ſich 
einfam verzehrend, vielleicht das ſtärkſte Talent, das wir 
jegt haben. 

Es würde mich natürlich reizen, nun auch an Schnigler, 

Hermann Badr, Gloffen. 9 


— 10 — 


Hofmannsthal, Beer- Hofmann, Burdhard, Salten und der 
ihnen nachrädenden Jugend zu zeigen, wie fich auch hier 
jene vier Formen widerholen. Aber diefen bin ich doch 
zu nahe, um „hiſtoriſch“ zu bleiben. Und ich hoffe ja, 
daß es ihnen gelingen wird, aus jenen alten Zormen die 
neue zu prägen. 


u 


Deutfches Volkstheater 








1905 
Auferftehung. 


(Schaufptel in einem Borfpiel und vier Aften nad dem Roman Leo 

Tolftoiß von Henry Bataille, deutſch von Annie Reumann-Hofer. 

Zum erften Mal aufgeführt im Deutſchen Vollstheater am 24. 
Närz 1903.) 

Manchen gilt Tolftoi als ein Nevolutionär, der den 
Staat, die Kirche und alle Sitte bedroht, anderen als ein 
Reaftionär, ein Feind der Bildung, der jede Kultur ver- 
nichten will. Die einen jagen, er fei überhaupt nur als 
Ruffe aus den befonderen Verhältnifjen feines Landes zu 
verjtehen, den anderen ift er der mächtige Prophet, der den 
Europäern ihren neuen Glauben bringt. Viele verehren 
in ihm den größten Stünftler, an plaftiicher Kraft nur 
etwa mit Ibſen zu vergleichen, andere ſchmähen ihn, weil er 
fein Talent an eine Tendenz verraten habe. Die einen 
finden es Herrlich, daß er den Mut Hat, nach feiner Über- 
zeugung zu leben, die anderen fpotten über den Grafen, 
der Hinter dem Pfluge geht. Jenen ift er der Vote einer 
wunderbar neuen Zeit, die mit allen feigen Lügen brechen 
wird, um duch und durch wahr gegen fich ſelbſt zu jein, 

g* 


— 132 — 


diejen ein abgejchmadter Pofeur, im beiten Falle ein 
Vhantaft unferer Tächerlichen Decadence. Aber auf alle, 
ob fie ihm ergeben oder ihm widerftreben, auf alle Hat 
er gewirkt. Wie niemand unter uns ift, der nicht, er mag 
es vielleicht gar nicht wiſſen, er mag vielleicht felbft feinen 
Namen kaum fennen, durch Ibſen in jeinem ganzen Den- 
ten bejtimmt worden wäre, jo haben alle den Geift des 
verftörten Ruſſen eingeſogen. Es ift mit Gedanken ſeltſam, 
es ſcheint, daß fie die Schrift, das Buch gar nicht brau— 
Gen: fie fliegen von jelbft über die Länder. Menfchen, 
die feine Romane, feine Stüde, feine Manifefte niemals 
gelefen haben, denken wie Zoljtoi, fühlen mit ihm. Ir— 
gendwo fit in einer Heinen Garnifon ein braver Leut- 
nant, der ruhig feine Pflicht tut, morgens exerziert, abends 
Karten fpielt, und er wünjcht es fich nicht anders, aber 
plöglich fängt e3 in ihm zu bohren und zu hämmern an, 
und er weiß nicht, was mit ihm ift, er erſchrickt vor fich 
feldft, aber immer muß er wieder, geheimnisvoll gelodt, 
an das Duell denken, und es kommt ihm vor, daß es ein 
Unfinn fei, und es fällt ihm ein, daß vielleicht vieles, 
noch vieles andere auch ein Unfinn ift, und dies läßt ihn 
nicht mehr aus und ängſtigt ihn und er vertraut ſich 
zitternd einem Sameraden an und e& zeigt fich, daß diefer 
bei fich ebenfo denkt. Irgendwo figt ein braver Richter 
auf dem Lande, der feine Paragraphen kennt und nie ge- 
zweifelt Hat, aber plöglich fchleicht ein merkwürdiges Ge- 
fühl bei ihm ein, daß er unwürdig fet, ja, daß fein Menſch 
würdig jet, über einen anderen zu richten. Woher fommen | 
folche Bewegungen, welche plöglich Männer eines Standes 
ergreifen, defjen Vorteil doch verlangen würde, fich gegen 


— 133 — 


fie mit allen Kräften zu jträuben? Der Eleine Leutnant 
und der brave Nichter haben kaum je von Tolftoi gehört, 
fie find doch von ihm „infiziert“, man kann es gar nicht 
anders nennen. Es ift, ala ob die Gedanken, einmal aus— 
geatmet, von der Luft fortgetragen würden. 

Man verftehe mich recht: ich weiß fchon, daß die 
Theorie Tolftois oder fein Syſtem (worüber man das 
lluge Buch Eugen Heinrich Schmitts „Leo Tolftoi und 
ieine Bedeutung für unjere Kultur“ nachlejen mag, das 
durch die höchſt merfwürdige Schrift desſelben Verfaſſers 
über „Die Gnoſis“*) num erjt völlig verftändlich wird) 
faum taujend Menfchen befannt find. Ich weiß auch, daß 
man feine Romane lieft, um fich aufzuregen, ohne nach 
feiner Lehre zu fragen. Defto feltjamer iſt es mir, jo 
viele Leute, ohne daß fie es freilich ſelbſt recht bemerken, 
don ihr ergriffen zu finden. Beſonders Frauen, aber auch 
mandje Männer und gerade jolche, denen man es am wenig- 
iten zutcauen follte, Männer der Tat und des Weltlebens 
höre ich oft jagen, daß unfere inneren Fragen doch wich. 
tiger al3 alle äußeren Abenteuer find und daß eine gute 
Stimmung, ein frohes Gefühl, der Friede des Gewiſſens 
für uns mehr ift, als Glüc oder Reichtum je bedeuten 
fann. Weltkinder, erwerbende und genießende, fangen 
wieder an, Religion zu haben oder fie doch zu vermiſſen. 
Auch wählt in hohen Kreifen das Gefühl, daß, wer in 
der großen Stomddie des Lebens zufällig den Fürften oder 
Richter oder Helden fpielt, doch ganz ebenjo ein Menſch 
wie jeder Bettler oder Räuber ift, nur mit einem ſchweren 


*) Beide Werke bei Eugen Diederichs in Leipzig. 


— 14 — 


feierlichen Gewand angetan; reißt es ihm der Tod ab, jo 
ift fein Unterfchted mehr zu ſehen. Und rohen oder häß- 
lichen Menfchen zürnt man nicht mehr, fondern man wünfcht 
nur zu ändern, wodurch fie roh oder häßlich geworden 
find. Es iſt faſt unheimlich, wie geläufig diefe Gedanken 
heute fchon überall find, fie werden in der nächſten Gene- 
tation bereit3 banal fein. Indefjen fahren die Menſchen 
fort zu leben, wie fie immer gelebt haben, ſich zu haſſen, 
zu betrügen, zu bedrohen, und Gewalt und Lift herrfchen. 
Sollen, dürfen wir fie fchelten, daß fie jo ganz ander 
im Zun, ander in ihrem Denken find? 

Tolſtoi veracdhtet die Kunft. Er fragt nur immer: 
Wie mag ein Menich fich fo plagen, fi jo quälen, um 
feine Kraft für nichts zu vergeuden, mit der er doch an- 
deren nügen und helfen könnte? Es find nicht nur die 
Were unjerer Zeit, die er verdammt. Er denkt ganz ebenjo 
über „die rohen, wilden und für uns oft finnlofen Werke der 
alten Griechen“, über „Michelangelo mit feinem unfinnigen 
jüngften Gericht“, über Beethoven, deſſen legte Werke „ein 
künſtleriſches Irrereden vorftellen“ und defjen neunte Sym- 
phonte zur „ichlechten Kunft“ gehört, weil „diefe Muſik 
exkluſiv ift und nicht alle Menfchen vereinigt, ſondern nur 
einige, indem fie diejelben von den anderen Menfchen ab⸗ 
fondert”. Auch den „Fauft“ zählt er unter die „Falſifikate 
der Kunſt“ und Wagners Nibelungen findet er „jo dumm 
und gauflerhaft, daf man fich wundert, wie Menſchen, die älter 
find als fieben Jahre, ernfthaft bei diefer Sache zugegen 
fein Tönnen“. Er Haft dieje Kumft, weil fie „das Ideal 
der Moral durch das Ideal der Schönheit, daS heikt des 
Genuſſes“ verdrängt und „die Menfchen mittels Anſteckung 





— 15 — 


mit den für die Menfchheit fchlechteiten und jchädlichiten 
Gefühlen von Aberglauben, Patriotismus, Hauptjächlich 
aber von Wollluſt verdirbt“. Er jchont auch feine eige- 
nen Werke nicht, er nimmt nur die Erzählung „Gott fieht 
die Wahrheit" und die „Kaukafiichen Gefangenen“ aus, 
alle anderen rechnet er auch „in das Gebiet der fchlechten 
Kunft“. Man hat aber noch nicht gehört, daß er vorge— 
ſorgt Hätte, dieje jo ſchädlichen Bücher den Menfchen zu 
entziehen, um fie vor ihren verberblichen Wirkungen zu 
bewahren. 
Er Hat einmal mit ingrimmigem Hohne eine Probe 
gejhildert, die er in irgend einem Theater mitgemacht. 
„Es iſt ſchwer,“ jagt er, „ein abſcheulicheres Schaujpiel 
anzutreffen.“ Überall Arbeiter mit ſchmutzigen Händen, 
abgehetzt, müde, verbrofjen. Auf der Bühne hunderte von 
geſchminkten und aufgepugten Männern und entblößten 
Frauen. In der Oper, die man gerade probte, fam ein 
Zug von Indiern vor, die eine Braut führten. Der Zug 
wurde durch ein Rezitativ eines als Türken verkleideten 
Mannes eingeleitet, der mit fonderbar geöffneten Munde 
fang: „Ich begleite die Braut.“ Das Happte num nie, 
Bald kamen die Indier mit den Hellebarden zu jpät, bald 
zu früh, bald Tamen fie zur Zeit, aber beim Rückzuge 
drängten fie zu ſehr oder aber fie ftellten fich nicht, wie 
es fich gehörte, an den Seiten der Bühne auf und jedes- 
mal wurde alles unterbrochen und von neuem begonnen, 
unter den gröbjten Schimpfworten, wie man fie von 
Drofchkenkutichern Hört. Immer wieder beginnt der Sän- 
„Ich begleite die Braut“, wieder kommen die Indier 
mit den Hellebarden, wieder klappt es nicht, wieder klopft 


— 16 — 


der Meifter ab, wieder fehilt er und ſchmäht, und dann 
fängt jener wieder zu fingen an: „Ich begleite die Braut.” 
Und fo dauert es ein, zwei, drei Stunden. „Sol eine 
Probe dauert ſechs Stunden hintereinander. Das Klopfen 
mit dem Stödchen, Wiederholungen, Verteilungen, Korri⸗ 
gieren der Sänger, de3 Orchefters, des Zuges, der Tänze, 
und alles wird mit einem wütenden Schelten gewürzt. 
Die Worte: Eſel, Dummköpfe, Idioten, Schweine, die bei 
den Mufifanten und Sängern angewendet wurden, hörte 
ih im Laufe einer Stunde wohl vierzigmal. Und der 
unglüdliche, phyſiſch und moralisch entftellte Menſch, der 
Slötift, der Waldhornift, dem die Schimpfwörter zufallen, 
ſchweigt und kommt dem Befehle nach: wiederholt zwanzig⸗ 
mal „ich begleite die Braut“ und fingt zwanzigmal eine 
und dieſelbe Phraje und fchreitet wiederum in gelben 
Schuhen mit der Hellebarde auf der Schulter. Der Diri- 
gent weiß, daß dieje Menſchen jo entftellt find, das fie 
zu nicht? anderem taugen, als zu blafen und mit der 
Hellebarde in gelben Schuhen einherzugehen, daß fie aber 
zugleich an ein gutes, Iuzuridfes Leben gewöhnt find und 
alles ertragen werben, um nur nicht diejes gute Leben zu 
entbehren — und deshalb ergibt er ich ruhig jeiner Grob⸗ 
heit, umſomehr, da er dies in Paris und Wien beobachtet 
hat und weiß, daß die beiten Dirigenten fo handeln, daß 
dies eine mufifaliiche Tradition der berühmten Künſtler 
ift, die von dem großen Werke ihrer Kunſt fo hingeriſſen 
find, daß fie feine Zeit mehr haben, die Gefühle der Dar- 
fteller zu berückſichtigen.“ Lieft man diefe furchtbar wahre 
Schilderung, die vor Zorn und Verachtung bebt, jo ſchämt 
man fi, jemals an diefem Metier mitgetan zu haben 


| 


— 1317 — 


md verwünfcht es. Man hat aber den Troft, dab fich 
Tolftoi nirgends gegen die Aufführung der „Auferftehung“ 
gewehrt hat. Und da wird e8 wohl, bei Herm Giniſty 
in Paris und bei Herrn Beerbohm Tree in London wie 
jegt bei uns, auf den Proben ganz ebenfo gewejen fein: 
fünf Stunden lang, der Regifjeur rajend, die Arbeiter 
ihwigend, die Darfteller außer ich, wie es eben bei diejer 
„linnberaubenden Beichäftigung“ einmal nicht anders ift. 
Aber, wendet man ein, vergeſſen Sie nicht, hier hat die 
Arbeit, die Angft, die Dual wenigſtens einen Sinn, einen 
Zweck: feine Gedanken des wahren Chriftentums zu ver- 
breiten! Nur find diefe Gedanken vom Roman zur Bühne 
verloren gegangen, der kluge Dramaturg hat wohl geſpürt, 
daß fie unfer Publitum, wie es nun einmal ift, bloß 
langweilen würden, und was übrig bleibt, ijt ein ftarfes, 
aufregendes und erjchütterndes Melodrama, das fich ganz 
ebenfo an unjere Sinne, unfere Nerven wendet, wie die 
Oper, in der jener die Braut begleitet hat. 

Njechljudow, ein junger Fürſt, eigentlich gutmütig, 
aber leichtjinnig und bald durch die Sitten jeiner Klaſſe 
verdorben, findet im Haufe jeiner Tanten ein junges Mäd- 
den, das ihm gefällt. Er verführt es, verläßt es und 
teift zu feinem Regiment ab. Nach ein paar Tagen hat 
er dad Abenteuer vergeſſen. Das Mädchen wird, als fich 
die Folgen zeigen, fortgejagt. Das Kind ftirht, die Mut- 
ter finkt, bald ift fie ganz verfommen. Es begibt fi 
aun, dab Njechljudow zum Geſchworenen berufen wird. 
Eine Dirne, die Maslowa, ift angeklagt, einen Klienten 
ermordet zu haben. Der Fürft erfennt in ihr jenes Mäd- 
den. Er überzeugt fich, daß fie unfchuldig iſt. Sie wird 


— 18 — | 


trogdem verurteilt. Cr wendet alles auf, fie zu retten. 
Er folgt ihr ins Gefängnis, erwirkt manche Erleichterung 
für fie, und als fie deportiert wird, begleitet er den Zug. 
Ia, um gut zu machen, was er verjchuldet hat, trägt er 
ihr an, fie zu heiraten. Sie lehnt es ab und nimmt, 
als fie begnadigt wird, einen gutmütigen Sträfling zum 
Manne, der fich in fie verliebt hat. Das ift die Hand- 
lung, im Roman wie im Stüd. Nur fehlt im Stüde 
alles, was im Roman kuünſtleriſch und tolftoiich ift. Im 
Roman jehen wir den Fürften aus einem guten Jungen 
zum nachdenflichen Mann reifen, der allmählich, von den 
Freuden enttäujcht, unruhig wird, nach allen Seiten ſchwankt 
und fich zwifchen den Gewohnheiten jeines Kreiſes und 
den leifen Wünjchen feines. Gewiſſens nicht zurechtfinden 
Tann. Nun erkennt er die Dirne und an dieſem Falle 
glaubt er mit einem das ganze Unrecht der Welt zu er- 
tennen. Er hat die Schuld, fie wird dafür beitraft. Und 
das ift immer fo — er fühlt jeßt, daß das überall jo 
tft, und eine ungeheuere Scham kommt über ihn, zu jenen 
zu gehören, die immer die Schuld haben, und ein unge 
heueres Erbarmen mit jenen, die immer beftraft werden, 
und eine ungeheuere Sehnjucht, gut zu machen und fid 
zu opfern. Es ift num wunderbar, wie es dem Dichter 
gelingt, die Gejtalt doch nicht ans Romantiſche zu ver- 
lieren: der Zürft bleibt, wie er ſich bemühen und mit 
fich ringen mag, doc immer ein elender Menich, und es 
ift rührend, wie er, feft entjchlofien, die Dirne zu heiraten, 
da er es für feine Pflicht hält, dennoch den Weltmann 
nicht verleugnen fann, der aufatmet, als ihm dies erſpart 
wird, wenn er auch freilich die jelbftjüchtige Regung im 


— 1399 — 


nächſten Augenblide ſchon wieder bereut. Ebenſo das 
Mädchen: welche Wahrheit, welches Leben Hat dieſe ent- 
jegliche Geftalt! Wie fie durch das Schidjal vertiert, dann 
durch die Güte des Fürften, die fie gar nicht verftehen 
Tann, erjt gereizt und erbittert, allmählich aber gleichjam 
umgebogen wird und nun ihre verfunfene Menfchlichfeit 
langſam wieder auftaucht, dies fühlen wir mit, als hätten 
wir e3 an ung jelbft erlebt. Im Stücke dagegen ift 
Njechljudow ein pathetijcher Ged und die Maslowa zer- 
rinnt uns, da jie uns zuerft wie das Annchen in der 
„Jugend“, plöglich als betrunfene Dirne und dann ebenſo 
plöglich als büßende Magdalene gezeigt wird, ohne daß 
wir jehen, wie im Roman wirklich vor uns fehen Fönnten, 
wie die eine zur andern wird und es durch ihr Schidjal 
werden muß. Dies fol übrigens durchaus kein Tadel 
für Herrn Bataille fein. Stellt man fi einmal das 
Problem: aus diefem Romane ein Stüd zu ziehen, wel- 
ches auf das Publifum, das in unfern Theatern figt, wirken 
fol, jo ift es faum ander zu Iöfen. Seltſam ift nur, 
daß Tolftoi diefes Problem überhaupt zuläßt. 

Herr Kutjchera legt den Fürſten gleich anfangs ſchwerer 
und inniger an, als er zuerft wohl eigentlich gedacht ift. 
Der leichte Sinn, die Sorgloſigkeit des unbefümmert 
genießenden Weltmenichen fehlen. Dafür weiß er fpäter 
durch feinen feſten Ton und feine energiiche Haltung 
manche Gefahr zu verhüten. Wunderbar ift die Sandrod 
als Maslowa, bejonders im zweiten Aft, fie hat da Geften 
einer Verlommenheit, Töne einer Erbitterung, die grauen- 
Haft find. Here Brandt, in einer ganz winzigen Epiſode 
von einer verblüffenden Wahrheit, dann die Damen Brenn- 


— 140 — 


eis, Schufter, Hofteufel, Somary, Gribl und Herr Kra— 
mer fchließen fi an. Das Publikum, anfangs Hoch- 
achtungsvoll gelangweilt, nur allmählich erft auftauend, 
zeichnete nach dem zweiten und nach dem vierten Aft die 
Sandrod ftürmijch aus. 


Vor Sonnenaufgang. 

(Soziales Drama von Gerhart Hauptmann. Zur Aufführung durch 
den Alademiſchen Berein für Kunft und Literatur im Deutichen 
Vollstheater am 25. April 1908.) 

Als ich mich in den Jahren 1884 bis 1887 an der 
Berliner Univerfität zuerft im Seminar von Adolf Wag- 
ner, fpäter bei Guſtav Schmoller der politifchen Öfonomie 
befliß, Ternte ich Wolfgang Heine kennen, der jegt ein 
Zührer der deutfchen Sozialiften ift. Damald war er 
eben Referendar geworden und wollte fich, bevor er nun 
in das tätige Leben trat, erft noch ein wenig in ber 
Wiſſenſchaft befeftigen. Er war ein berühmter Student 
gewejen, als Redner in den „Vereinen der deutichen Studen- 
ten", dann auch eine Zeit ald Redakteur des „Kyfihäufers“ viel 
bemerft; aber allmählich war er unficher und ratlos ge— 
worden und e3 ging ihm jegt wie mir, e8 fehlte ung in 
den geiftigen und fittlichen Dingen jede Direktion, jeder 
Halt; wir hatten jo viel gefehen und gelernt und nun 
wußten wir gar nichts, wir wollten wirken, aber wo, aber 
wie? Died verband und und ergab eine jener Freund- 
ichaften, die nur die Jugend fennt und fein Wechſel der 
Anfichten, aller Beziehungen, ja des ganzen Lebens jemals 
vernichten Tann. Wir hatten ein merfwürdiges Gefühl, 


— U — 


deffen ich mich heute noch ganz deutlich entfinne, nämlich 
als ob irgendwo ein Menſch oder ein Buch verborgen fein 
müßten, die uns die Wahrheit jagen fönnten, die ganze 
Wahrheit, die wahre Wahrheit, von Feiner Nüdficht oder 
Feigheit verfälicht; e3 gälte nur, jenen Mann oder jenes 
Buch zu finden. Und fo fuchten wir. Cine wilde, faſt 
finnliche Begierde, die Geheimniffe zu begreifen, eine wahre 
Satyriafis des Erfennens hatte und erfaßt. Die Tage 
über ftundenlang in der königlichen oder in der ftillen be— 
baglichen Bibliothek des ftatiftifchen Bureaus, Philoſophen 
und Öfonomen und Hiftorifer ercerpierend, ſaßen wir 
nachts im Café Bauer oben, alle Zeitungen vor und auf- 
getürmt und heftig disputierend, um uns dann, wenn es 
graute und wir endlich nach Haufe gingen oder vielmehr 
(wie Caftelli einmal von einer nächtlichen Heimkehr mit 
Zacharias Werner jo plaftifch gejagt Hat) nach Haufe 
ftanden, noch auf der Straße bis in den Morgen hinein 
unfere Sorgen, unſere Zweifel, unfere Sehnfucht zu Hagen. 
Dort war es auch, im Cafe Bauer oben, daß wir, einmal 
Arno Holz trafen. Es war eben, 1885, fein „Buch der 
Beit“ erjchtenen, das, in der Form eigentlich noch gar 

- nicht fo neu, uns doch durch feinen frechen und verruchten 
Ton entzüdte; wir fühlten überall den Rebellen heraus, 
Und dann hatte ihm der „Kladderadatſch“ geraten, Eifig- 
fabrifant zu werden; im „Rladderadatich“ verhöhnt zu fein, 
genügte aber damals, um von der Jugend bewundert zu 
werden. Auch war uns in unjeren ſchwanken Stimmun- 
gen nichtS gewiß als ein ſehr ſtarkes Beitgefühl. Diejes 
aber fchlug im jenem Buche heftig. Vivos voco ftand 
gleich auf dem Titel, und dann hie es: 


— 42 — 


D’rum ihr, ihr Männer, die ihr's ſeid, 
Bertrümmert eure Trugibole 
Und gebt fie weiter, die Parole: 
„Glüdauf, Glüdauf, du junge Zeit!” 
und ebenfo: 
Das Lied der Lieber, 
Das ift bad Lieb ber Zeit 
und: 
Ein neu Geſchlecht, ſchon weht es feine Schwerter, 
Schon webt die Sonne ihm den Glorienichein, 
Und glaubt: Es wird fein veildhenblauer Werther, 
Es wird ein blutiger Meffiad fein! 
In ſolchen Drohungen meinten wir unjere eigene 
Stimme zu vernehmen, und wenn er fich rühmte: 
Der Tonfal meiner lyriſchen Kollegen 
It mir ein unverftand’ner Dialekt, 
Denn meinen Reim hat die Kultur beledt 
Und meine Mufe wallt auf andren Wegen! 
fo Hang aud da wieder unjere Hoffart mit, in ihrem 
blinden Glauben an die Macht unferer neuen „Bildung“. 
Wir ſchwärmten aljo ſchon längſt für ihn, und als wir 
ihn ‘nun fennen lernten, war es völlig um uns gefchehen. 
Ich Habe nämlich feitger nur noch einen Menjchen gefun- 
den, der fo vermag, durch die Kraft feiner Gefinnung, 
durch feinen gebieterifchen Ton, ja durch einen juggeftiven 
Zauber feines bloßen Blides jchon alle Welt zu tyran- 
nifieren: unferen jungen Meifter Olbrich, der num aber 
freilich viel ruhiger und reifer, viel freier und reicher, viel 
männlicher und menfchlicher iſt, als Holz damals war. 
Diefer Hatte eine Art, einen mit feinen Meinungen fürm- 
lich zu knebeln, die mir nicht wieder vorgefommen iſt. In 


— 143 — 


den Büchern, bei den Lehrern hatten wir immer nur Ver- 
mutungen und alles voll Zweifel angetroffen. Hier hatten 
wir endlich einen, der feiner Sache ficher war. Er glaubte, 
wie nur irgend ein Fanatiker jemals geglaubt hat. Er 
wußte alles ganz genau. Er lachte über jeine lyriſche 
Bergangenheit, da für ihn noc das höchite „eine Zeile 
war, die wie eine Kuhglocke läutete“. Nun ging er daran, 
die Kunft „wiſſenſchaftlich“ zu begründen. Eigentlich ver- 
achtete er zwar alle Theorie, es war aber notwendig, fie 
durhzumachen, um „der verfligten Praxis beſſer beizu- 
lommen“. Und jo faß er tagelang emfig in feinem falten 
„Sy“, in Niederjchönhaufen draußen, eine Stunde vor 
Berlin, und brütete einfam und rang um eine formel, 
welche die ganze Kunft enthalten und die albernen Lügen 
der Vergangenheit entlarven follte. Er Hat jpäter einmal 
befannt, dies feien feine „glüdlichften Tage“ geweien, in 
der Heinen Bude, die „wie ein Vogelbauerchen mitten über 
einer wunderbaren Winterlandfchaft hing: von unferen 
Schreibtifchen aus, vor denen wir daſaßen, bis an die 
Nofen eingemummelt in große, ‚rote Wolldecken, fonnten 
wir fern über ein. verjchneites Stüd Heide weg, das von 
Krähen wimmelte, allabendlich die märchenfarbenften Sonnen- 
untergänge ftudieren, aber die Winde bliejen ung durch 
die ſchlecht verfitteten Heinen Fenſter von allen Seiten an 
und die Finger waren und troß der vierzig dicken Preb- 
fohlen, die wir allmorgendlich in den Dfen jchoben, oft 
fo froftverflammt, daß wir gezwungen waren, unjere Ar- 
beiten ſchon aus diefem Grunde zeitweile einzuftellen. 
Denn mitunter mußten wir fie auc) noch aus ganz andern 
Gründen quittieren. So zum Beiſpiel, wenn wir aus 


— 14 — 


Berlin, wohin wir immer zu Mittag efjen gingen — eine 
ganze Stunde lang, mitten durch Eis und Schnee, weil 
es dort „billiger“ war — wieder gar zu hungerig in unfer 
Vogelbauerchen zurückgefrochen waren, wenn uns ab und 
zu, um die Dämmerzeit, während draußen die Farben 
ftarben und in all der Stille rings die Einfamteit, in der 
wir lebten, plöglich hörbar wurde, hörbar und fühlbar, 
die Melancholie überfiel oder wenn, was freilich ſtets das 
Allerbedenklichite war, und einmal der „Tobak“ ausging, 
dad war dann ein Herzeleid — gar nicht zu beichreiben! 
Von Cuba waren wir jo allmählich auf „Caraballa“ ger 
funfen, von Caraballa auf „Paetum optimum“. Sa, ein- 
mal, als die Not am größten war, entfinne ic; mid, 
tauchten wir jogar das letzte Stüd einer alten Girlande 
auf. Honny soit, qui mal y pense .. . Unferen jchönften 
runden Tiſch mit bunter Velourdede, der eigentlich hätte 
vor dem Sofa ftehen jollen — dem „Perſerdiwan“, wie 
es offiziell hieß — hatten wir eigens zwifchen unfere beiden 
Schreibtijche gerückt, als würdige Unterlage für die lange 
Strienadel, mit der wir unfere Pfeifen pußten, eine leere 
Liebig-Büchfe diente als Ajchenbecher. Schließlich, als 
dann endlich durch unfere Scheiben wieder blau der Früh: 
lingshimmel brach, hatten wir die Genugtuung, Tonftatieren 
zu können, daß unfer jchöner, jchneeweißer Hermeskopf, der 
jo lange quer über einem großen, rotgebundenen Don 
Quigote mitten unter einem Spiegelchen geſtanden, ausſah 
wie ein Niggerjchädel.” Gott, wenn ich das jegt leſe und 
daran  denfe, wie ich da auch einmal im Enifternden Schnee 
hinausgewandert bin, mit Wolf Heine zufammen, jener 
füßen Unruhe und Bangigfeit voll, die wir Damals immer | 





— 145 — 


hatten, am Ende das Große doch zu verjäumen — Gott, 
war das doch fhön! Freilich, unfer Ton und die wilden 
Worte gegen die Alten, und wie wir einen großen Strich 
unter alle Vergangenheit zogen, um von uns aus erft die 
wahre Geichichte zu datieren, „Die Welt, fie war nicht, 
eh’ ich ſie erſchuf“, und wie wir ung entrüfteten, wußten 
ſelbft noch nicht, gegen wen, und wie wir und der höchſten 
Taten vermaßen, wußten jelbft noch nicht, wo und wann, 
dies mag alles wohl furchtbar komiſch gewejen fein. Aber 
diefe Zuverficht, dieſe Anjpannung aller Nerven und Sinne 
und, wie Holz einmal gejagt hat, dieſer „ſimſonſtarke“ 
Glaube, das gab doch ein Hochgefühl, das ich für die 
müde Weisheit der heutigen Jugend nicht umtaufchen 
möchte, 

In dieſe Luft, der ich 1887 entwich, um zumächit 
endlich mein Jahr abzudienen und dann in die weite Welt 
zu rennen, geriet 1889 Gerhart Hauptmann. Er hatte 
fi, eben erft zweiundzwanzig, im Mai 1885 vermählt, 
war nad Berlin gezogen, hielt es aber dort nicht aus, 
verließ die Stadt und ging nach Erfner, einem Kleinen 
Vorort im Dften, um ſich da, wie Bölfche einmal gejagt 
dat, „im Sieferduft der endloſen, einfamen Wälder, Die 
man bis zum Horizont fluten fieht wie einen blaugrünen 
Wollteppich, die ſchwarze Brühe der Großſtadt geiftig und 
törperlich wieder herunterzumaschen“. Sein Bruder Karl, 
Bolſche und Wille, Adalbert von Hanftein, der früh ver- 
ftorbene Maler Hugo Ernft Schmidt und Ferdinand Si- 
mon waren jein Verkehr. Er hatte ſich als Bildhauer 
verfucht, in Jena naturwiſſenſchaftlich und philojophifch 
ausgebildet, auch gelegentlich ſchon poetiſch geübt Aber 


Hermann Bahr, Gloffen. 


— 16 — 


er ſchwankte noch immer. Nun ging es eben um dieſe 
Zeit überall in der Literatur 108. Die Brüder Hart be- 
gannen zu rufen, in München wetterte Conrad mit feiner 
„Geſellſchaft“, Bleibtreu fuhr mit feiner „Revolution der 
Literatur“, Conradi mit den „Brutalitäten“ und dem 
„Adam Menſch“ auf. Am 14. April 1886 wurden Die 
„Geipenfter”, das „Trauerfpiel zum Gehirnerweichen“, wie 
der „U“ damals höhnte (man muß fi an jenen Ton 
erinnern, um unjere Erbitterung zu verftehen), zum erften 
Mal in Augsburg, am 9. Januar 1887 im Berliner 
Nefidenztheater aufgeführt; im März folgte die „Wildente“, 
im Mai „Rosmersholm“, in jener unvergeflichen Borftel- 
fung mit Emanuel Reicher und Charlotte Frohn. Um 
dieſelbe Zeit erfuhren wir, in Paris habe ein junger Be- 
amter der Gasgejellichaft namens Antoine ein neues The- 
ater geichaffen, gegen die verhaßte industrie thöätrale, 
das Theätre Libre. Sollten wir uns wieder von den 
Franzoſen beichämen laſſen? Überall war alles wie im 
Fieber vor Erwartung. Ein paar junge Leute taten ſich 
zufammen, die Gründung einer neuen Bühne zu beraten. 
Aber nun lernte Hauptmann Holz Eennen, dem inzwiſchen 
jeine neue Formel der Kunft gewiß geworden war: „Die 
Kunst hat Die Tendenz, wieder die Natur zu jein; fie 
wird fie nach Maßgabe ihrer jeweiligen Reproduftions- 
bedingungen und deren Handhabung.“ Das Hang recht 
nüchtern, aber defto leidenſchaftlicher jein Gebot, die blöde 
„Sprache des Theater“, diefe plumpe Lüge, von der 
Bühne zu jagen, um dafür die „Sprache des Lebens“ zu 
bringen, die einzige wahre Sprache der Kunft, und „ftatt 
des bisher überliefert geweſenen pofierten Lebens mehr und 


* 
— 147 — 


mehr das nahezu Wirkliche zu ſetzen, mit einem Worte: 
aus dem Theater allmählich das „Theater“ zu drängen.” 
Kein Theater mehr auf dem Theater, riefen wir ihm nach, 
jondern das Leben ſelbſt, das milde, große, herrliche, grau⸗ 
fige, unerfchöpfliche Leben, jo wie es tft, mit allen Wurzeln 
ausgegraben, friſch von der Gaſſe geholt, noch rauchend 
vom Dampfe de Augenblides, und wahrhaft, graufam, 
ſchamlos — ! 

Das Böfe mit feinem Namen heißen, 

Nichts verlindert und nichts vertwigelt, 

Nichts verzierlicht und nichts verfrigelt, 
wie ſchon der Erzvater aller Naturaliften gefordert hatte, 
Nur jo, glaubten wir, konnten die Deutſchen wieder zur 
Kunft gelangen und dies ſchien und in der Tat, wie Holz 
gelagt Hat, „eine Neuerung für die gefamte Literatur von 
einer fo prinzipiellen Bedeutung, wie fie jeinerzeit für die 
Malerei die Verdrängung de künſtlichen Atelierlichtes 
duch das natürliche SFreilicht beſeſſen“. 

„Erfült von Arno Holzens Theorie, angejpornt von 
feinem Bufpruch, machte fich Gerhart Hauptmann, wie 
Schlenther erzählt, fofort an einen Stoff, der für diefe 
extrem naturaliftiiche Behandlung ganz bejonder3 geeignet 
war.“ In ein paar Wochen war er fertig, Das Stüd 
jollte „Der Sämann“ heißen. Holz taufte e8 um und 
nannte es, wohl auch leiſe ſymboliſch, „Vor Sonnenauf- 
gang“. Es erſchien im Herbit, Arno Holz und Johannes 
Schlaf gewidmet, und wurde am 20. Dftober 1889 im 
Reifing- Theater von der „Freien Bühne“ aufgeführt, als 
äweite Vorftellung diefes Vereines, der fi am 5. April 
gebildet und am 20. September mit den „Geipenftern“ 

10* 


— 18 — 


begonnen Hatte. Das Publikum, an den „Zall Clemenceau“ 
und Dslar Blumenthal gewöhnt, ſchäumte vor fittlicher 
Entrüftung über das „Schnaps- und Zangenftüd“. Ein 
Arzt, der das Buch kannte, hatte in jeiner Wut eine Zange 
mitgebracht und, obwohl man auf den Proben manches 
gemildert hatte und die Wöchnerin gar nicht mehr wimmern 
ließ, fprang er auf das Stichwort doch im Parkett heu- 
Iend empor, um (ich zitiere wieder Schlenther) feine intime 
Zange wie ein hochgehaltenes Banner des Wahren, Gu- 
ten, Schönen über der Freiichenden, höhnenden, raſenden 
Maffe zu ſchwingen. Mitten in diefem Tumult und Höl- 
Ienlärm erſchien Hauptmann fo harmlos und unfchuldig 
erftaunt, daß der alte Fontane am nächiten Tag luſtig 
ſchrieb, man werde fich erinnern, wie ſchon der verftorbene 
Geheime Medizinaltat Caspar fein berühmtes Buch über 
feine Phyſilats- nnd gerichtsärztlichen Erfahrungen mit 
den Worten anfing: Meine Mörder fahen alle aus wie 
junge Mädchen. 

Wir Tönnen das heute alles Taum mehr begreifen. 
Es geht und mit dem Stüde ähnlich wie mit dem „Vierten 
Gebot“. Wir können uns eigentlich gar nicht denken, 
wie man denn den Dichter darin jemals verfennen mocjte. 
Wir empfinden es auch heute gar nicht mehr als „natu- 
raliſtiſch“. Es ftört uns. eher durch die „Tendenz“, die 
ſich heftiger vordrängt, als wir es jegt mögen; und, was 
wieder beweift, wie rajch der Geſchmack fich verändert: 
gerade feine Technik, die man damals als eine jo unerhört 
verwegene Neuerung empfand, kommt uns heute eher ſchon 
wieder ein bißchen veraltet und beinahe „Eonventionell” 
vor. Wir verftehen die Aufregung wirklich nicht mehr. 


— 19 — 


Deſto mehr wirkt auf uns jegt, was man damals noch 
gar nicht zu bemerken jchien, bei den Feinden nicht und 
laum bei den freunden: der neue Menich, der fich hier 
ihon überall anfündigt, ftatt des „bibliſchen“ des alten 
Dramas, der die Krone der Schöpfung war, der arme 
Menſch unferer Zeit, der, „wie eine Welle im endlofen 
Strom“, fich gar nicht mehr „Souverän“, fondern (nad 
Bölfche, der unter den wenigen war, die das damals ſchon 
‚ Würten) nur als ein winziges Fragment im Ungeheuren 
fühlt. Das klingt Hier manchmal ſeltſam rührend durch 
ud wer Hinhorcht, kann ſchon den Johannes und den 
armen Heinrich vernehmen. 


Ruhmloſe Helden. 


(Vier dramatifche Balladen mit Vorfpiel von Paul Buffon. Zum 
erſten Mal aufgeführt im Deutſchen Vollstheater am 12. Seps 
tember 1903.) 


Steile Feljen, ernfte Zyprefien, tiefe Dämmerung auf 
dem grauen Meer. Wir find am Geſtade des Todes. 
Der Dichter fieht auf die dunkle Flut hinaus, Hinter ihm 
fteht der Tod, von dem er „einen Blic ins unerforſchte 
Land“ verlangt. Schatten tauchen auf, mit flehenden Ger 
bärden, die Schatten armer Menjchen, die vergefien find, 
von welchen „kein Denkmal und fein Lied erzählt“, die 
ihr Geheimnis in da Grab genommen Haben. Ihr „Herold“ 
Will der Dichter fein: 


Sie waren Helden! — Ad} ich fühl e8 wohl, 
Und niemand fang für fie ein Helvenlied. 


- 150 — 


Für andere türmte man in weißem Stein 
Und golb’ner Bronze manches ſtolze Mal. 
Das darf nicht fein, daß niemand fie betreut. | 
Laß mich der Langvergefi'nen Sänger jein! 

Der Schlaf, des Todes fanfter Bruder, tritt zum 
Dichter, um auf fein Haupt einen Kranz von glühenden 
Mohnblüten zu legen, leiſe Muſik erflingt, der Dichter 
ſchläft ein. Der Tod aber jpricht: Mein ift er Doch! 
Und ftarr aufgeredt, ins Publitum drohend: 

„Ihr feid ja alle mein! 
Was er euch kündet auß bed Todes Reich, 
Erfahret ihr früher ober fpäter felbft. 
— Wenn fi zum legten Mal das Auge brebt 
In bangem Kreis — und wenn zum Ichten Mal 
Der Inhalt eured Lebens vor euch fteht 
Und Gut und Boſe in der Wage klingt, 
Dann wünſch id, daß ihr mir ind Auge feht 
Wie jene, die der Dichter euch beſingt!“ 

Der Vorhang geht wieder auf und wir jehen Hafjan 
ben Achmed und Omar ben Ismail in Stetten, von den 
Schergen des wilden Muley Bey bewacht. Sie find dem 
Muley Bey feind, dem fie den Tribut verweigert und die 
Boten ausgepeiticht Haben. Auf einem Ritte nad Diglis 
find fie von feinen Sriegern gefangen worden. Nun er- 
warten fie den Tod. Muley erjcheint, mit feinen Derwilchen, 
Soldaten und Sklaven. Den Henker neben fich, verhört 
er fie. „Seid ihr Verwandte?" Hafjan erwidert: „Omar 
ift der Gemahl meiner Schwefter“. Und warum nennt 
man euch die Brüderſcheichs? „Weil wir uns lieben, 
wie die Söhne einer Mutter fich lieben, und weil wir uns 
Treue halten in allen Dingen.“ Muley lacht: „Treue? 


— 1531 — 


Gibt es denn das?“ Haſſan aber erzählt, wie ihn Omar, 
vor drei Jahren, vom Tode gerettet hat; jeitdem lieben 
fie fich fo zärtlich. Seltfam kommt dies dem Bey vor; 
fie prahlen wohl nur, die Pferdediebe! Und er verfündet: 
Einer jei frei, der andere muß fterben; num zeigt eure 
Ziebe: wer will für den anderen das Opfer jein? Und 
Haſſan ben Ahmed und Omar ben Ismail rufen beide: 
„Ich — ich, Herr!" Die Derwiſche und alles Volt und 
die Sklaven ftaunen. „Würde man mir von jolchen Männern 
erzählen,” jagt Muley, „ich würde es nicht glauben.“ So 
fol denn das Los enticheiden. Er läßt zwei Schüffeln 
und einen jchwarzen Kieſel bringen: „Nun achtet wohl 
auf mic, ihr Brüderſcheichss. Die Hand desjenigen, dem 
es beitimmt ift, vom Leben zu feheiden, wird dieſen Stein 
wählen. Der aber, deſſen Schüffel leer ift, mag ungefährdet 
heimkehren zu feinen Zelten und künftighin ein treuer 
Untertan fein.“ Nachdem er aber den Stiefel heimlich in 
eine der Schüſſeln getan und dieſe mit einer roten, die 
. andere mit einer jchwarzen Schärpe bedeckt hat, ruft er 
den Haffan zu fi und flüftert ihm zu: „Du bift mir 
lieb, Tapferer! Der ſchwarze Stein liegt unter dem roten 
Tuche.“ Und er wendet fich zu jeinen Sklaven, Muſik er- 
tönt, der Zug entfernt fi. Die Freunde bleiben mit ihren 
Wächtern und dem Henker allein. Omar fällt Haffan 
ſchluchzend um den Hals. Hafjan hat ihn nie jo gefehen: 
„Dmar! Willft du weinen wie ein Weib? Du, der mid 
aus den Händen der Feinde befreit hat? Du, ver, mit 
einer Stugel zwiſchen den Rippen, ſchweigend mit mir durch 
die Wüfte ritt? Du weinſt?“ Aber Omar denft an 
Fatme, feine Frau, Haſſans Schweiter; dies macht ihn 


— 12 — 


feig. Da tritt Haffan vor die Schüffeln, fein 2o8 zu wählen. 
Und er ſpricht: „Rot war die Farbe deines Mantels, 
gefärbt von deinem Blute, ald wir durch die Wülte ritten. 
Ich wähle das, was unter dem roten Tuche liegt.“ Und 
da er Omar erbleichen fieht: „Du wollteft auch Rot 
wählen ?“ Omar erwidert: „Sa, Haſſan.“ Jener aber: 
„Nun iſt's mein.“ Er hebt das Tuch auf und nimmt 
den jchwarzen Stein aus der Schüffel. „Grüß' mir Fatıne, 
meine liebe Schwefter, und grüß’ mir meine tapferen Krieger. 
Umarme mich, wir jehen uns nicht mehr wieder!" Und 
die Wächter führen ihn fort. 

Diefem arabiſchen Aft, den der Autor „Leben um 
Leben” nennt, folgt ein ruffiicher, „Die Flüchtlinge“. Zwei 
Studenten und eine junge Malerin, Olga, die Braut des 
einen, die Schweiter des anderen. Ein Verein, dem die 
Sünglinge angehören, ift ausgehoben, ihre Freunde find 
verhaftet worden, geftern nacht? aus den Betten geholt 
und gleich in den Wagen und fort, in die Kupfergruben. 


Auch ihnen feldft ift man ſchon auf der Spur. Wenn jie - 


nicht auf das ſchwediſche Schiff entlommen, find fie ver- 
Ioren. Aber fie haben feinen Paß. Der Hafen ift mit 
Wachen umftellt, ohne „Schein“ darf niemand dur. Sie 
find gefangen wie Wachteln im Netz. Freilich, der Rheder 
Milkow, bei dem fie wohnen, hätte folche Scheine, für 
feine Beamten und Arbeiter. Olga foll ihn bitten. Mil- 
kow fommt und Olga, mit ihm allein, fleht ihn at. Er 
fann fie retten. Er will es auch. Aber unter einer Be— 
dingung. Er wagt doch viel: er wird felbft verjchickt, 
wenn man ihn ertappt. Und: er ift fein Idealiſt — was 
gehen ihn die zwei überfpannten jungen Leute an? Außer 


— 13 — 


wenn, ja — „was befomm’ ich denn dafür, Dlgachen ?* 
Und er nähert fich ihr zärtlich: „Einen Abend, Olga, und 
ich tue was Sie wollen... . Sie verlangen, ich folle meine 
Eriftenz aufs Spiel jegen, ich begehre dagegen ein paar 
Stunden... Es ift ein Gejchäft! Ich bezahle mit dem 
Leben Ihres Bruders und Ihres Bräutigams — Sie mit 
. .. mit Ihrem reizenden Körper!" Sie willigt ein. Aber 
erſt die Scheine. Der Rheder gibt fie, fie ruft die Jüng- 
linge: fie follen voraus, fie wird ihnen fpäter mit dem 
Rheder folgen. Der Bräutigam zaudert wohl einen Augen» 
blick, aber ihr Bruder drängt: in zehn Minuten Tönnen 
fie an Bord fein und find gerettet! Und fo rennen fie fort. 
Der zynifche Rheder lacht: „Die Eiferfucht de3 Bräutigams 
iſt nicht jo ſchlimm. Nicht einmal danke haben fie gejagt.” 
Olga ftarrt vor fich Hin: „Nein, nicht einmal danke haben 
fie gejagt." Dann tritt fie zum Fenſter. Sie fieht die 
Jünglinge nad) dem Hafen eilen, jegt find fie beim legten 
Poſten, der prüft die Scheine genau, aber er läßt fie 
durch, jeßt fteigen fie in den Kahn, die Kette wird gelöft, 
fie find gerettet. Da nähert fich ihr grinfend der Alte. 
Sie ftößt ihm weg. Erbarmen! Er wird zomig: Sie 
haben gefchworen, zieren Sie fich nicht länger! Sie er- 
greift ein Meffer und bohrt es fich in die Bruft. 
„Coeurdame“ heißt der dritte At. Der grauſame 
und rohe Graf von Sterendar ift auf vier Tage fort, da 
läßt feine zarte Frau Herrn von Barignac ein, den fie 
fiebt. Während fie flirten, Eehrt der Gatte zurück. Barignac 
wird in eine hohe alte Uhr verjtect, die in der Edle des 
Zimmers eingemauert iſt. Schon bricht der Graf tobend 
herein. Er hat zwei Schatten am Fenster gejehen! „Sie 


14 — 


haben einen Geliebten. Wo verbirgt fich der Elende? Er 
entfommt mir nicht!“ Er nimmt jein Reiterpiftol, fpannt 
‚den Hahn und taumelt rafend durch die Zimmer. Plög- 
lich bemerkt er die Uhr. „Ei! Es kündigt fi ein Un- 
glüd an. Die alte Familienuhr ift ſteh'n geblieben.“ 
Er Hebt die Piftole und zielt. „Nicht ſchießen!“ jchreit 
Yvonne auf. Er aber, in jeiner Trunkenheit: „Ei, was! 
Blitz und Knall tun mir wohl! Wenn Sie um Gnade 
flehen würden mit Ihren Heinen Händen — nun, vielleicht 
würde ich ihm fagen, geftehe alles und du magit laufen, 
Bube! Sollte aber das Bürſchlein trogen und fchweigen, 
Aug in Aug mit dem Rohr, dann, dann würd’ ich ihn fo 
niederfnallen!" Und er ſchießt in die Uhr und trifft. 
„Somit wäre die Sache abgetan ... Madame, ich er- 
warte Sie in einer halben Stunde zum Diner. Sie 
werden jchön fein, wie immer . . . Auf Wiederjehen, jchöne 
Yoonne!l* Er wirft ihr tändelnd mit zwei Fingern einen 
Kuß zu und verläßt lächelnd das Zimmer. Die Uhr wird 
geöffnet, Barignac fteht totenblaß, das Spigentud) auf das 
Herz gepreht. Die Zofe bringt ihn fort. Man Hört 
Fanfaren und da Gelächter der wilden Freunde, die mit 
dem Grafen zechen. Die Zofe kommt weinend zurüd, er 
hat fich noch durch den Park bi an das Tor gefchleppt, 
er ift tot. Ein alter Diener tritt ein und meldet monoton: 
Madame, es ift ferviert. 

Zulegt „Morgenrot“. Eine fteinige Schlucht in einem 
düfteren ZFöhrenwalde. Napoleoniſche Grenadiere, von 
einem armjeligen Dorflehrer geführt, der fich für Geld an- 
geboten hat, ihnen den Weg zu zeigen. Raſt. Die Offi- 
ziere verhöhnen den Spion. „Deine Frau war fehr nett 


— 15 — 


mit dir... . Verräter — Judas — Schelm — hübjche 
Borte, fie ſoll doch froh fein, wenn du ein paar Golb- 
füchfe mitbringft . ... Schön wirft du zu Haufe empfangen 
werden. D weh! ch ginge am deiner Stelle nicht mehr 
beim ... Deine Frau hat fogar die Kinder weggeriſſen, 
als du fie küſſen wollteſt.“ Da kommt ein Hufar mit 
einer Meldung. Der Meine Lehrer reckt fich auf. Jetzt 
berjtehen die Offiziere, daß fie in eine Falle geraten find. 
Rings droht ein ganzes Freikorps, der Transport iſt ver- 
Ioren. „Ihr alle jeid verloren,” jagt der Lehrer; er ift 
plöglich ganz verändert. Und er befennt: er hat fie ge- 
täufcht, er hat fie abſichtlich in die Falle gelodt. „Hätte 
da8 Dorf um meinen Plan gewußt, wäre er euch ficher 
zu Ohren gelommen. Gie glaubten, ich führe euch über 
die Berge. Hätten fie geahnt, daß ich euch in die Wald- 
Schlucht führe, Hätte fich gewiß einer gefunden, der gegen 
gute Bezahlung alles verraten hätte. Mir ward es ge- 
geben, diefe Tat zu tun, und ich danke dem Himmel da- 
für" Mag fein Weib den Tag verfluchen, an dem fie 
fein geworden ift, mögen feinen Sindern die Gafjenbuben 
nachſchreien, mag fein Name mit Schmach bededt fein, der 
Herr wird ihn in Ehren aufnehmen! Die Soldaten 
führen ihn ab, man hört einen Schrei, fie haben ihn in 
ihrer Wut mit den Bajonetten niedergeftochen.- Aber der 
Kapitän jagt, indem er den Degen zieht, um fich dem 
Feinde zu ftellen: Der Mann war ein ganzer Held. 

Der Gedanke, der in dieſen vier Akten defliniert wird, 
verrät die Jugend des Autors, der offenbar noch meint, 
der Ruhm fei nad Verdienſt und Würdigkeit zu verteilen. 
Später hat man andere Sorgen. Man wird allmählich 


— 16 — 


mißtrauifch gegen Ruhm. Bei Werken freilich, welche dem 
Nugen oder gar unmittelbar dem finnlichen Genufje dienen, 
findet, jagt Schopenhauer einmal, die richtige Würdigung 
feine Schwierigkeit und „ein ausgezeichneter Paſtetenbäcker 
wird in feiner Stadt lange obſtur bleiben, gejchweige nötig 
haben, an die Nachwelt zu appellieren”. Wenn e3 aber 
einen neuen Gedanken oder eine kühne Tat gilt, findet fich 
die Bewunderung langſamer ein. Man lernt das ertragen 
und wenn man gar erft, alternd, leiſe die Gewalt des 
Todes zu ahnen beginnt, wird einem auch der Nachruhm 
eher lächerlich. „Nachwelt gibt's auch nur für die Leben- 
digen,“ jagt der fterbende Rademacher, in den „Legten 
Masken“. Ich Tann mir wirklich nicht denken, daß es den 
Toten jo wichtig fein follte, was fie bei uns gelten. Herr 
Buſſon überfchägt dag wohl. Wären wir nur immer gegen 
die Lebendigen gerecht, die Toten nehmen es kaum fo genau. 
Es will mir nicht ein, daß ich einen Menfchen, dem nichts 
Ärgeres geichieht, als verfannt zu werden, deshalb tragiſch 
nehmen fol. Er weiß doch, was er ift. Muß es ihm 
erſt beicheinigt werden? Wäre Alerander geringer, wenn 
wir nicht8 von ihm wüßten? Und würde dann wirklich 
fein Schatten unerlöft am Geftade des Todes irren müfjen, 
bis irgend ein ausfpähender Journalift ihn gnädig „ent- 
dedt“ ? Mich verdrießt's, mir auch die Toten noch als 
Geden vorzuftellen. 

Die Vorftellung war auf einen ganz falſchen Ton 
gewaltfamer und künſtlicher Erregung geftimmt, in den die 
Schaufpieler gern verfallen, wenn fie glauben: fie müfjen’s 
jegt machen und den Dichter heraushauen. Dann geht's 
103, daß die Zegen fliegen. Bei Barnay hat man einft 





— 17 — 


ſo geſpielt, vor fünfzehn Jahren. Heute wirkt es nur noch 
tomiſch. Doch ſei immerhin der tragiſchen Wucht der 
Sandrod, der männlichen Entichloffenheit, mit der Kutſchera 
den Hafjan ſprach, und der guten Haltung gedacht, in der 
Herr Jenſen einen franzöfifchen Offizier gab. 


Die Shloßherrin. 
(Komödie in vier Alten von Alfred Capus. Zum erfien Mal auf: 
geführt im Deutfchen Volkstheater am 26. September 1908.) 

Nach dem theätre rosse das théatre rose — das 
ift die neue Formel. Hoffentlich doch nur für Paris, 
Aber da ftimmt jie; man dreht einfach das Theater der 
legten zehn Jahre um und die Schule Antoine wird zur 
Schule Capus. War man dort graufam und roh, jo wird 
man jegt duldſam und ſanft. Dort Hat man die &criture 
artiste gejucht, jest ſpricht man, wie die Qeute auf der 
Gaſſe reden. Frapper fort hieß es dort, jeßt zieht man 
den leichten Ton des Cauſeurs vor. Damals war die 
Hauptfache que ga fasse peur au bourgeois, jegt gilt 
es wieder, dem Bourgeois eine Stimmung zu bereiten, in 
welcher er angenehm verdaut. Le parti pris pessimiste 
war e3 damals, die ganze Welt von Schurfen und Kretins 
bewohnt, ein Peſſimismus, der zulegt jo banal wurde, daß 
ihn Zemaitre une sagesse de commis voyageur nennen 
konnte; jeßt ift e8 le parti pris optimiste, alle Menfchen 
find plöglich nett und alles geht immer gut aus. In kaum 
fünf Jahren hat fich das jo verwandelt, die Franzoſen 
zeiten ſchnell. 

Max Tann ja nun von diejen beiden Schulen jagen, 


— 18 — 


daß die eine jo wahr als die andere oder daß feine wahr 
ift oder auch, daß es erft beide zufammen find. Cs kommt 
ſchließlich wohl eigentlich nur auf da8 Temperament an. 
„Die Welt, in der jeder lebt, hat Schopenhauer gejagt, 
hängt zunächſt ab von feiner Auffaſſung derjelben, richtet 
fich daher nach der Verjchiedenheit der Köpfe: diejer gemäß 
wird fie arm, ſchal und nun flach oder reich, intereffant 
und. bedeutungsvoll ausfallen.“ Und dann kommt es viel- 
leicht auch auf das Lebensalter an. Die Jugend mit 
ihren großen Forderungen wird wild, wenn fie zum erjten 
Mal die wirkliche Welt erblidt. Seitdem aber die Autoren 
ein bißchen älter geworben find, haben fie ſich beſchwichtigen 
laffen; und dann machen auch die Tatiemen viel, das 
glaubt man gar nicht. Man dichtet doch anders im vierten 
Stod als in einer Villa, mit Automobil. Renten haben 
die geheime Kraft, das Weltbild zu verſchieben ... Ich 
will aljo keineswegs, wie viele tun, Capus verachten, nur 
deshalb, weil er fein Mifanthrop ift. Seine Philoſophie 
konnten wir uns ſchon gefallen laſſen. Sie kann fich auf 
gute Zeugen berufen. Er meint: wir follen nur das Leben 
nicht tragiſch nehmen, das ſei es gar nicht wert. Dies 
hat Plato ſchon gewußt: onze zı zur dvdgwnivon &Sıov ueyakis- 
omovdis, nicht? Menjchliches, jagt er in der Republik, ver- 
diene großen Eifer. Dann: wir follen und nicht auf- 
regen, alle Energie hilft nicht viel, das Schiejal läßt ſich 
nicht zwingen, Glüd muß man haben und geduldig warten, 
big feine Stunde fommt, das tft die ganze Kunſt. Auch 
dies war den Griechen jchon befannt, die den Eufolos vom 
Dyskolos fehieden; und in einem alten fpanijchen Sprich 
worte, das Schopenhauer gern zitiert, heißt es: da ventura 





— 19 — 


a tu hijo y echa lo en el mar — ſchau, daß dein Sohn 
Glück Hat, dann Tannft du ihn ins Meer werfen. Es 
gilt nur, die gute Stunde nicht zu verpaffen, das Talent 
findet fich dann fehon: denn, fagt Lichtenberg, „Gelegen- 
heit macht nicht Diebe allein, fie macht auch große Männer.” 
Und endlich: eigentlich find alle Menfchen gut, au fond, 
es gibt gar feine böfen, ſolche nämlich, die nicht fähig 
wären, gut zu werden, wenn es ſich trifft, ganz jo, wie 
& zulegt auch gar feine guten gibt, folche nämlich, die 
fiher wären, niemals ſchlecht zu werden; darum darf fich 
feiner befjer ald der andere dünfen, im Grunde find wir 
doch alle gleich, jeder trägt diefelde menjchliche Natur in 
fih, die fich nur bei jedem freilich anders zeigt. Geht 
man diejem Gedanken nach, der alle Figuren des Capus 
hält, jo kommt man auf unſeres braven Angelus Silefius: 

Menſch, alles, was du willſt, ift ſchon zuvor in bir; 

Es lieget nur an bem, daß du's nicht wirtſt herfür. 

Und eigentlich überhaupt gleich in die tieffte Myſtik. 
Der Meifter Edhart hat gejagt: „Wem Gott lieber in 
einem als im andern ift, der Menſch ift gewöhnlich und 
noch fern und ein Sind. Aber wem Gott gleich ift in 
allen Dingen, der ift zum Mann geworden. Aber wen 
alle Kreaturen überflüfjig und fremd find, der ift zum 
Rechten gefommen.“ *) Und davon kommt, dahin geht feit 
jeher alle Gnofis, die und in allem, was einmal von der 





*) Ich möchte bier gleich auf die ſchöne neue Ausgabe Eckharts 
von Guſtav Sandauer (Berlin, Karl Schnabel) verweilen, von ber 
ich hoffentlich, vieleicht zufammen mit dem vortrefflichen Paracelſus 
von Franz Strunz (Leipzig, Eugen Diederichs) noch einmal aus— 
führlicher ſprechen darf. 


— 10 — 


Natur gegeben ift, es ſei gut oder 658, mächtig oder gering, 
{hön oder Häßlich, immer dasjelbe Gejeg verehren lehrt 
... Aber ich merke, daß mir Capus unter der Hand zum 
Schwärmer ober Magier wird. Dabei habe ich ihn. gar 
nicht loben, fondern mir nur erflären wollen, warum mir 
denn feine Stüde fo wenig gefallen. Nämlich: es kommt 
doch wohl nicht bloß darauf an, was einer jagt, fondern 
auch, wie er es jagt. In diejen Stüden werden Gedanfen 
vorgetragen, die nur wahr find, wenn man fie in einem 
ganz großen und menjchlichen Sinne nimmt, nicht aber, 
wenn man mit ihnen bloß fpielt, um fie fchließlich zu einem 
artigen Wig zufammendrehen, und nicht für Menfchen, die | 
damit dann foupieren gehen. Seine „petites folles“ hat 
Mendes ein vaudeville trös distingu& genannt. Das gilt | 
eigentlich von allen Komödien des Capus. Wie er ji 
auch immer anftellen mag, zulegt wird es Doch wieder nur 
ein Vaudeville. Es fragt fich nun aber, ob dieje Form 
Raum für kosmiſche Gedanken hat. Und mag fie nod | 
jo dijtinguiert behandelt fein. Dann erjt recht nicht. Das | 
ift e8 wohl, warum, was, von Tolftoj oder Gorfi vor- 
gebracht, jo ftarf auf mich wirkt, mir hier allmählich ſchon 
faft unerträglich ift. Zur Mefje jpielt man feine Polka. 
Oder man darf dann doch feine Andacht von mir ver- 
langen. 

In jeiner „Chatelaine“ wird nun das alles noch deut⸗ 
Ticher, als. es fonft war, weil ihm hier offenbar einmal 
gar nichts eingefallen ift. Das fann einem ja pafjieren. 
Wer Piychologie der Autoren treibt, mag es fogar ſeht 
gern: denn niemals zeigt der Autor befjer, was eigentlich 
an ihm ift, als wenn er fi) ganz auf feine eigene Macht 





— 161 — 


angewieſen fieht, ohne ſich mit dem Stoff aushelfen zu 
tonnen. Hier fommt es nun jchredlich auf, daß jener 
Optimismus des Capus nur ein Duietismus ift, aus Angit, 
feine Figuren zu verlieren, fo bald er fie bewegt. Frau 
von Rive, von ihrem liederlichen Dann verlafjen, der fie 
nicht bloß betrogen, jondern auch ihr Vermögen vergeudet 
hat, Hat nichts mehr als ihr altes Schloß Sauveterre. 
Dos will jie verlaufen. Es ift kaum Hunderttaujend 
Franken wert. Aber Ioffan, in feiner Jugend ein wilder 
Biveur, jet Erfinder und fehr reich, bietet ihr dreimal fo 
viel, denn er hat fich auf den erſten Blick in fie verliebt. 
Natürlich rührt fie das, fie liebt ihn wieder, fie möchten 
ſich verloben. Da ift num aber eine böfe alte Frau, der 
dies nicht paßt, weil fie den reichen Joſſan für ihre Tochter 
will. Sie Het darum Herrn von Rive auf, der ſchon 
ganz einverftanden war, fich von feiner Frau zu trennen, nun 
aber, da es ihr Glück wäre, plöglich nicht mehr will. 
Barum? Weil e& ihr Glück wäre Aus reiner Bosheit. 
Diejer fchlechte Kerl wird nun aber, nachdem er feiner Frau, 
um fie fich gefügig zu machen, ihren geliebten kleinen 
Knaben mit Hilfe jener böjen alten Zrau entführt hat, von 
Joſſan gepadt, der ihm fo ins Gewiſſen fpricht, daß er 
ſich ſchämt und entfagt, weil er ja doc} eigentlich ein ganz, 
guter Menſch iſt — Joſſan ſelbſt gefteht es ihm zu: „Et 
pourtant vous n’ötes pas un möchant homme, au fond“. 
Und natürlich kriegt jegt der edle Millionär die fanfte 
Chatelaine und das brave Heine Mädchen, dem er von 
der böfen Alten zugedacht war, kriegt einen Züngling, den 
& natürlich im ftillen immer fchon heiß geliebt hat und 
alle find gerührt, ſogar die böje Alte, die nämlich eigent- 
Hermann Badr, Gloffen. 11 


— 12 — 


lich auch gar nicht bbſe iſt, wenigſtens ſagt ihr armer 
Mann: „Au fond, tu n’es pas möchante.“ Großer 
Feuillet! Wie haben wir über deine Menichen gelacht, 
jeder ganz Held oder ganz Bbſewicht, ſchneeweiß oder 
rabenſchwarz! Aber jchließlich waren fie Doch irgend etwas, 
fie waren doch irgend wie. Hier aber ift jeder, au fond, 
geſchwind nur das, was der Autor gerade für die nächite 
Szene braucht. Und wie hat man dich je langweilig finden 
konnen, großer Feuillet? Hätten wir gewußt! 

An die ſchmachtende Frau von Rive verſchwendet 
Frau Odilon ihre feinfte Laune, Herr Jenſen ift ein ele- 
ganter Joſſan und den lächerlichen böfen Gatten rettet 
Herr Kramer durch das merkwürdige Talent, das er immer 
in heiffen Rollen wiederfindet: verlorene Poſten weiß 
niemand befjer zu verteidigen. And ein paar Fleinere 
Nollen werden von Frau Thaller, Fräulein von Brenneis 
und Heren Tewele jehr hübfch geſpielt. Schade. 


Verliebt. 

(Komödie in drei Alten von Georged de Porto⸗Riche. Deutſch von 
Theodor Wolff. Zum erften Mal aufgeführt im Deutichen Bolt 
theater am 10. Oktober 1908.) 

„Amoureuse“, die wir übrigens ja ſchon von der 
Rejane im Ausftellungstheater gejehen haben, ift nun zwölf 
Jahre alt. Sie wurde zuerft am 25. April 1891 im 
Odbon gegeben, drei Jahre nach der „Chance de Frangoise* 
desielben Autors, die aus dem Theätre-Libre dann über 
das Gymnaſe-Dramatique allmählih in die Comödie 
Frangaife eingerüct ift. Sechs Jahre jpäter folgte „Le 


! 





— 18 — 


Pass&“, am 30. Dezember 1897, im Od6on. Zuſammen 
mit einem Eleinen Akt in Verjen, „L’infidele“, hat Porto- 
Ride die drei Stüde in ein wunderbares Buch gegeben, 
dad er „Theätre d’amour“ nennt (Paris, Paul Ollen- 
dorf. 1898). Wunderbar, weil faum irgend ein anderes 
die Stimmung diefer Generation, einer zugleich jfeptifchen 
und doch nach Leidenfchaft verlangenden, ungläubigen und 
fehnfüchtigen, nihiliſtiſch enttäufchten und romantiſch ver- 
ſchwaͤrmten, jo traurig jchön ausgedrückt hat, Und weil 
man hier auch alles, was fie im Techniſchen zu verfuchen 
fih vermaß, wie von einem Schulbeijpiel ablejen Tann. 

Techniſch kommt der Autor aus dem erjten Theätre 
Libre und von Henri Becque her. Seine Handlung, feine 
Spannung, feine „Präparationen“, feine ficelles, wie man 
damals Höhnifch fagte, feine scöne & faire, nicht mehr 
von diefem unerträglich und verächtlich gewordenen Metier 
des guten Onkel Sarcey. Sondern Menjchen, alltäglich, 
wie wir find, in ihren alltäglichen Gefühlen und ihrer 
alltäglichen Erjcheinung vorgebradt. Und mit einer heute 
für uns ſchon wieder faft ein wenig komiſchen Angft vor 
jeder „Tirade“ (jo daß die Reden, die man ja fchließlich, 
um ein Schaufpiel zu bewegen, doch nicht entbehren kann, 
immer wieder vom Partner abgefchnitten werden, was auf 
und heute genau jo ünftlich wirft, als man es damals 
unerhört natürlich fand), vor jedem „Abgang“, vor alleın, 
was jemals das Publikum daran erinnern Tönnte, daß es 
im Theater figt. Dies wundert uns Heute ein wenig, wenn 
wir denfen, wie wichtig und ftolz man es damald nahm, 
da ung doch inzwiſchen aufgegangen ift, daß die dramatiſche 
Kunft, wie jede, eine Form Hat, die auf Fiktion beruht. 

B 11r 


— 14 — 


Doc wollen wir nicht vergefien, von welchen Feſſeln eben 
dadurch das Schaufpiel befreit und um wieviel beweglicher 
es geworden ift. 

Dieje jungen Leute hielten damals ehr viel auf ihren 
Peſſimismus. Sie wollten ſich vom Leben nicht betrügen 
laſſen, fie riffen ihm alle Kränze holder Illuſionen ab. 
Sie entdedten, daß der Menſch ein Tier ift, daß es fein 
menfchliches Glüd gibt, daß uns von allen’ Freuden, die 
das Leben bringt, nur Bitterfeit und Efel auf der Zunge 
Hleibt. Sieht man aber diejen Peſſimismus nur fefter an, 
jo bemerkt man bald, wie romantifch er eigentlich war. Es 
ging ihnen allen, wie es Stendhal ergangen war (den man 
ja gerade um jene Zeit — Bourget grub ihn aus — 
wieder zu leſen begann), der fich, napoleonijch aufgeregt 
und an feinem Bilde eines erträumten Italien beraufcht, 
eine beroijche Welt imaginierte, an der er nun die wirk— 
liche maß. Gerade Porto-Riche erinnert darin ſehr an 
Stendhal. In jedem Franzoſen ftect ja immer noch ein 
Cyrano. Kennt man Dörouldde, fo begreift man dieje 
Figur erft. Nun denfe man fich einen Cyrano mit Ver- 
ftand, einen mißtrauffchen, ironifchen, fpöttiichen Cyrano, 
wozu freilich eine fo verwirrte Zeit gehört, als die unſere 
ift, einen Cyrano mit der hämiſchen Stepfis des Boulevard, 
und man hat Borto-Niche, fein Heimweh nach ungebrochener 
großer Leidenjchaft und den böfen Spott, den ihm unfere | 
Welt erregt. | 

Lichtenberg jagt einmal: „Kein Menſch, der nicht, jo 

zu reden, jedermanns Heimlichkeiten zu fagen weiß, jollte 
fi an ein Schaufpiel machen"; und Speidel hat einmal 
vom Pichter gejagt, daß fein Auge jämtliche Dinge, fie 


— 165 — 


mögen noch jo gewohnt und vergriffen fein, ſtets zum erſten 
Mal ſieht und einen Strahl der Verwunderung und, des 
Wiedererkennens darauf fallen läßt. Auch Schopenhauer 
findet darin, daß „man fich über das Gewöhnliche und 
Altägliche verwundere“, das Zeichen, das „die künſtleriſchen 
Menſchen von den anderen trennt“. Dieſe drei Sätze ſind 
wie eigens auf Porto-Riche geſchrieben. Seine Art iſt 
8, dem Banalen nachzufpüren, um in jedermanns Heim» 
lichleiten Die verftecten Dramen aufzufinden. Banal tft, 
wobon wir oft gehört und woran wir ung gewöhnt haben. 
Es Hört aber fogleich auf, e8 zu fein, wenn es un jelbit 
einmal paffiert. Täglich werden Kinder geboren, darüber 
wundert ich niemand. Nur die Mutter fühlt das uner- 
forjchliche Geheimnis, das jede Geburt if. Undank ift 
der Welt Lohn, weiß jeder und weiß es doch eigentlich 
nicht, bis er es, verwirrt, beftürzt, zerftört, an fich jelber 
erfährt. Das Niederträchtige ift das Mächtige, jagen wir 
nach, aber an wem e3 wahr wird, der kann, indem er es 
erlebt, zerbrochen werden. Wir tragen in allgemeinen 
Redensarten einen Schag uralter Weißheit mit ung herum, 
die wir eigentlich gar nicht verftehen. Würden wir es, 
wir hätten faum mehr den Mut, gelaffen fortzuleben. Wir 
fönnen unfer Dafein nur ertragen, wenn wir ung, vor und 
jelbft, doch unwiffend ftellen, als wären die Gefahren, die 
dem Menſchen drohen, nur für die anderen, keineswegs 
aber für uns felbft da. Aus dieſer Unwiſſenheit reißt 
uns das Leben täglich und doch, um und nur zu behaupten, 
tauchen wir täglich wieder in fie hinein. Sagt uns je- 
mand: Es tft ein Pech, wenn eine Frau ihren Mann mehr 
liebt als ex fie, jo ftimmen wir leichtfinnig zu und fragen 


— 16 — 


hicht weiter. Porto-Niche aber zeigt hier, daß es tragiſch 
tft, und läßt ung, was wir und hundertmal gedacht oder 
doch nachgeiprochen haben, jo ſtark empfinden, als Hätten 
wir e8 eben erſt an uns ſelbſt erlebt. Darin gerade ift 
fein ganz merkwürdiges Talent, daß alle Dinge, fie mögen 
noch jo gewohnt und vergriffen fein, unter den Strahlen 
feiner Verwunderung plöglich aufzuleuchten fcheinen und 
uns neu werden. Cine Frau liebt ihren Mann. Aus dem 
ganzen erften Aft der „Amoureuse“ erfahren wir eigent- 
lich fonft nichts. Aber indem wir fie jo um ihn jchleichen, 
bald werben, bald trogen, bald flehen, immer wieder zärt- 
lich überftrömen jehen, wird ung, als wüßten wir nun 
erft, was die Leidenſchaft der Liebe ift, wie fchön, wie 
furchtbar und — wie unverträglich mit einer ruhigen bürger- 
lichen Eriftenz! Wir bewundern die Frau als ein ganz 
feltenes und koſtbares Exemplar einer Empfindung, von 
der wir in einemfort veden hören und vor der wir doc, 
wenn jie einmal wirklich erfcheint, ung fat entjegen müſſen. 
Wir beneiden den Mann, der fo geliebt wird, und be- 
greifen doch, daß er es verwünſcht, und begreifen vielleicht 
fogar, daß er zulegt, durch dieſe Liebe in allen jeinen 
Plänen bedroht, da es doch feinem Manne genügen kann, 
nichts als Romeo zu fein, erbittert die Frau feinen Freunde 
an den Hals wirft. Und wir begreifen das läppiſch traurige 
Abenteuer des Freundes, wir begreifen die Neue und Scham 
de3 Gatten und begreifen, daß er die Frau zurücdnimmt 
und alles wieder unverändert weitergeht, wie alles Glück und 
alles Unglüd in unferem Leben immer unverändert weiter: 
geht, als welches nicht von außen hereingetragen ift, fon- 
dern aus unjerem Weſen kommt. Dies alles wird mit einer 


— 17 — 


rwubhigen Macht, einer Sicherheit und einer Schärfe vor- 
getragen, .die nur die Meifter des Theaters haben. 

Frau Odilon, ſchauſpieleriſch vortrefflich und mit allen 
Fineſſen ihrer fubtiblen Kunſt, verfehlt doch eigentlich, was 
der Autor meint. Sie mag bei Stendhal über die „vier 
Arten der Liebe“ nachlejen und wird dann empfinden, daf 
fie nur Die „Liebe aus Sinnlichkeit” dargeftellt hat, wäh. 
rend es bier eine „aus Leidenichaft” iſt. Wäre es jene, 
fo Lönnten wir den Ernſt kaum verftehen, mit dem ein 
Thema des Vaudeville in eine tragifche Stimmung gerüct 
wird, wie es auch in der Tat unferem Publikum erging, 
das, anfangs entzückt, fich fpäter gar nicht mehr zurecht» 
finden wollte. Herr Streamer Iegt den Gatten geſchickt an, 
aut leider ſehr unficher im Text, und Herr Jenſen weicht 
in der heiflen Rolle des Freundes behutjam und ug allen 
Gefahren aus. 


Die Shratt. 
(Zur Premiere der „Maria Therefia” von Franz v. Schönthan im 
Deutichen Volkstheater am 17. Dftober 1908.) 

Es gibt Schaufpieler, die gar nicht erjt den Ummeg 
über ihre Kunft brauchen, ſondern unmittelbar, ſchon durch 
die bloße Macht ihres Wejens, dadurch allein, daß fie da 
find, auf dad Publitum wirken, jet e8, daß dieſes fie als 
bejondere, an Schönheit oder Leidenjchaft oder Güte un- 
gemeine Exemplare der Menjchheit verehrt, fei es, was ihm 
vielleicht noch lieber ift, daß es in ihnen feine eigene 
Natur wiederzufinden glaubt, jo rein und mit folcher Anmut 
dargeftellt, daß es Urfache hat, ftolz zu fein. Dieſe, jeder 


— 18 — 


Stadt willlommen, weil man fich überall gern in einem 
verjchönenden Spiegel fieht, find es nirgends mehr als in 
der unferen, die, was fie auch räjonnieren und über fich 
raunzen mag, doch, geftehen wir es mur, recht eigenfinnig 
in ſich verliebt ift und fich, wie bereit fie ſei, Fremdes zu 
bewundern, Neues aufzufafjen, in ihrer altgewohnten Art 
immer noch am wohlften fühlt Wir find nun einmal 
auch im Theater nicht „objektiv“, wir ſchauen duch die 
Rolle gleich nach der Perſon aus, dieſe ſoll ung wert und 
lieb fein, was doc, jedem Menfchen jchließlich nur ift, 
wer ihm gleicht. Und fo ringt fich in Wien fein Schau- 
fpieler durch, der ung nicht irgendwie fat familiär anzu- 
heimeln weiß. Wir fragen viel weniger, was oder wie er 
ipielt, al3 ob er ung gemütlich verwandt berührt, und 
eigentlich entjcheidet zulegt doc immer nur, ob man in 
den Logen und im Parkett Luft bekommt, mit ihm be- 
fannt und intim zu werden. Das fcheint einft das Ge— 
heimnis Korns und Fichtners, der Luife Neumann, der 
Haiginger und auch wohl der Rettich geweſen zu fein; 
man hatte offenbar das Gefühl: hier jpielt uns einer oder 
eine von ung unjer eigene® Temperament vor. Und das 
ift das große Geheimnis der Schratt, die jegt in der Gunft 
der Stadt neben Girardi fteht: weil an ihr die Wienerin 
ſich jelbft zu erblicen glaubt, wie fie ift ober doch gern 
wäre, und weil an ihr der Wiener feine liebſten Wünſche 
anmutig behaglich erfüllt fieht. 

Sie Hat einft im Burgtheater die Frau Wahrheit ge- 
ſpielt, und von dieſen tüchtigen, derben, refoluten Frauen 
des Hans Sachs ftammt ja die Wienerin weſentlich ab, 
nur daß der deutichen Redlichkeit und dem breiten Behagen 


— 19 — 


in unferen Ländern noch ein Schuß von Übermut und ein 
vielleicht feltifcher Zug von geiftiger Beweglichkeit und 
arglofer Lift beigemifcht, ift, der nun gar in dieſer merf- 
würdigen Wiener Stadt noch feinen befonderen füdlichen 
Glanz hat. Die Wienerin tft zugleich trogiger und herber, 
aber doch auch wieder finnlicher und wärmer als ihre 
bajuvarifche Schwefter, in ihre deutjche Grundfarbe jpielt 
& bald jlaviich, bald romaniſch jchillernd Herein. Dem 
Norddentichen kommt fie verwegener dor als fie ift, weil 
ihn ihre unbefangene Munterkeit und die Luft an Heinen 
Gefahren täufcht, die fich doch durch das Gewicht ihres 
Haren und eigentlich ganz unleidenjchaftlichen Sinnes ge- 
fihert weiß. Der Romane hinwieder findet fie eher ipröde 
und falt, weil er eben ihre kreuzbrave Seelenruhe nicht 
verftehen Tann. Daß fie beides ift, finnlich Fed und im 
Grunde doch ernft, launiſch und Doch verläßlich, bei jenem 
Philinenzug, der Hebbel fo gefiel, doch eigentlich faft philiſtrös, 
das macht ihren Zauber aus, der fich Iuftig zwiſchen Leiden- 
ſchaft und Verſtand wiegt, manchmal faft bis an jene ge» 
rät, aber fich fogleich immer wieder auf diejen befinnt 
und zulegt beide in einer gemächlichen Heiterkeit, der es 
an Meinem Eigenfinn und einem faft fomifchen Trotz nicht 
fehlt, fanft auszugleichen und fröhlich zu beruhigen weiß. 
So ift die Wienerin und genau fo ift die Schratt und daß 
man dag im Theater jpürt und daß die Wienerin fi an 
ihr erfennt, das ift ihr Reiz. 

Dazu ftimmt nun bei ihr alles ein. Gleich wenn fie 
tommt, man hat fie noch faum erblickt und ſchon iſt das 
Ohr betört, fo freundlich klingt ung dieje helle und reiche 
Stimme an, in der alle Heinen Teufel der Wiener Laune 


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lauern, gutmütiger Spott, Verjchlagenheit und unfere böje 
Luſt am Frozzeln, alle bereit, bunt durcheinander loszu— 
fahren. Uber jegt jchlägt fie die Augen auf, dieſe un- 
glaublichen Augen, fern und ftill, wie ein weit weg gligern- 
der Stern, Augen einer Melufine, die fich nach dem tiefen 
Waffer fehnt, verträumt, unirdiſch, entrüct, zu denen nun 
der fröhlich geiprächige Mund eigentlich gar nicht paßt, 
um ben es, ſehr weltlich, jehr irdiſch, hausfraulich ver— 
ftändig, von tätiger Entſchloſſenheit und munterer Ber- 
wegenheit bligt. Dem Wiener wird warn, er benft un- 
willkürlich gleich, wie nett es fein muß, wenn fie fich 
ndiftet“ und die Zähne zeigt, danach gelüjtet ihn, wie ihm 
denn immer ein verföhnlicher Zank, Iuftig, Friegeriich ge- 
führt, im Grunde das liebſte Verhältnis zur Frau ift. 
Er ift fein Tronbadaur, er betet nicht gern an, höchſtens 
über die Gaffe, und zur ſchweren und verhaltenen nordijchen 
Leidenſchaft taugt er jchon gar nicht. Sein „Ideal“ muß 
am häuslichen Herd ftehen, bonne menagere und bereit, 
treibt er es zu arg, auch einmal mit dem Kochlöffel auf 
ihn loszugehen, worauf ihm das Eſſen erft noch viel beſſer 
ſchmeckt. Dieje ideale Wiener Frau, Melufine mit dem Koch- 
Löffel, der jchon in det fchnadahüpfelnden Stimme, ja jo- 
gar ſchon in ihrem behaglich Tampfbereiten Gange droßt, 
das ift die Schratt. 

As Rojel im „Verſchwender“, ald Unzengrubers 
Vroni, in allen Rollen, die zeigen, wie frohen, ftarfen, 
unanfechtbar in fich ruhenden Naturen im Leben nichts 
geichehen ann, und die einen Tropfen von unjerer alt- 
öfterreichijchen Luft am Spotte haben, ift fie ganz unver 
gleichlich. Sicherheit des Herzens, die nicht zu verwirten ift, 


- 11 — 


und ein Gefühl der eigenen Kraft, das manchmal faft in 
Hochmut oder Trog ausarten konnte, aber durch Wohl- 
wollen befchwichtigt wird, geben ihr eine feltiame Art von 
verſchämter Güte, die ſich fträubt, die fich wehrt, die, kaum 
etappt, ſchon wieder in einen Spaß entwifcht. Dieſer jcheint 
ihr eigentliche Clement zu fein, aber es ift zu hübſch, 
wie fie fih nun aus ihm allmählich, durch Übung und 
mit Takt, zur Dame hinaufgejpielt und (man benfe nur 
an die Königin im „Glas Waffer“) einen jcharmanten 
Ton des Salons gewonnen hat, der und am meiften ent - 
züdt, wenn er dann wieder unverjehens plöglich feinen 
Biener Schnabel verrät. Bei und plaudert man ja nicht, 
bei uns plaufcht man; unfer „Eiprit“, fonft dem Pariſer 
fo verwandt, hat immer doch eben erft den Kochlöffel weg- 
gelegt und ſich an der Schürze abgewiſcht. Das ift nicht 
zu erlernen und ift kaum zu befchreiben, auch fangen wir 
ja jelbft jegt jchon dies Talent, das vielleicht nur in einer 
Heinen Stadt unter ftillen, eng zufammengerüdten Menfchen 
feinen leifen Zauber ſpinnen Tann, allmählich zu verlieren 
an. Die Schratt ift vielleicht die legte Meifterin der alten 
Wiener Sunft des Plauſchens, in der noch einmal alle 
guten Geifter unferer gemütlichen Eleganz verfainmelt find. 
Man muß fie nur vorlefen hören, Wiener Gedichte und 
Wiener Geſchichten oder das unfterbliche Lied von. Mar 
und Morig, den ſchlimmen Buben. Sie Iennt die Be- 
fangenheit gar nicht, welcher Schaufpieler, wenn ihnen dad 
Bublitum jo nahe rüdt, leicht verfallen, ſondern unbedenklich 
jegt fie fich Hin, gudt munter im Kreiſe herum, macht ein 
liſtiges Geficht, als ob es etwas ganz Beſonderes wäre, 
was ſie weiß, und ſogleich iſt die Stimmung da, bloß 


— 112 — 


durch ihren Ton fchon verwandelt ſich uns der Saal, fie 
figt auf einem Stanapee und wir rund um den Tifch her⸗ 
um, eine eine Campe brennt und es riecht nach Kaffee. 
Und immer, wenn td) fie jo hörte, einmal bei Böfendorfer 
und wieder voriges Jahr, al3 fie im Mufikverein Stelz- 
hamer las, immer babe ich dann denfen müffen, wie ſchade 
es doch ift, für fie felbft und für uns alle, daß fie in 
einer Stadt Iebt, wo jeder Menfch auf den anderen böfe 
ift und feiner dem anderen dienen will. Sie würde näm- 
lich nur ihren Sardou brauchen, der fähig wäre, ihr Weſen 
zu verftehen und auszudrüden, in einer Rolle, die fie nicht 
erft zwingt, fich lange zu verftellen, fondern, auf ihr Ge— 
müt gefchrieben, ihr erlaubt, einmal ganz fie jelbft zu fein, 
als irgend eine Wiener Sans-Göne, die, breit in unferer 
Vollksnatur ftehend, ſich darin ungebunden ergehen darf, 
aber dann doc auch ihren heimlichen Ernft, ihre Redlich- 
keit und. ihre gute Buverficht verlauten läßt. Karlweis Hat 
in feiner legten Zeit an eine folche Rolle für fie gedacht, 
in der fie fich nicht erft viel zu verkleiden hätte, da es Doch 
niemals die Rolle ift, wodurch fie auf ung wirkt, fondern 
die Schratt. 

Herr von Schönthan verfteht fein Metier, fennt das 
Publikum und weiß es auf feine Art zu vergnügen, nicht 
ſehr wählertich in den Mitteln, wenn fie nur wirken, und 
nicht eben ängftlich, wenn er nur gröblich lachen macht. 
Man muß ihm aber lafjen, da es ein glängender Einfall 
war, ftatt ein Stüd, jegt lieber einmal die Schratt zu 
fchreiben, wie fie leibt nnd lebt. Man wäre nun ein 
Pedant, ihm kritiſch darzutun, daß die Maria Therefia 
doch wohl noch ein bifschen anders geweſen fein wird. 


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— 113 — 


Schließlich war e3 (ich weiß, daß man daS vielleicht paradox 
ausgedrückt finden wird) die ftolze Phantafie diefer Frau 
allein, welche, wa® wir Öfterreich nennen, erſchaffen hat, 
md fo fuggejtiv war ihre Straft, daß es noch bis in das 
Gemüt der vierten Generation lebendig blieb. Die ganze 
Verwaltung, die zulegt doch immer dad Leben einer Nation 
beftimmt, ftammt von ihr her und es ift ihr Geiſt, den 
wir in unferer fehönen Literatur, von der Pichlerin über 
Stifter bis auf unferen guten Saat, in unfere Beit hinein 
noch immer vernehmen. Aber das weiß Herr von Schön- 
than wohl auch, er hat nur das alles nicht brauchen können, 
denn e3 iſt ihm ja bloß um ein Koftäm für die Schratt 
zu tun. Und fo zeigt er uns feine Staiferin bald feierlich, 
bei der Einweihung von Schönbrunn, unter ihren Großen, 
ſtaatsmänniſch, beredt, Cicero zitierend, franzöfiich par— 
lierend, ungariſch ertemporierend, gelegentlich aus dem 
ftrengen Hochdeutich in unfere bequemere Mundart hin- 
über entgleift; bald wieber intim, in ihrem Boudoir, mit 
den Heinen Crzherzoginnen, die ihren Glückwunſch zum 
Geburtstage auffagen; und immer verliebt in ihren ſchönen 
Franz, eben noch eiferfüchtig erboft und gleich wieder zärt- 
lich verföhnt, aber dann noch einmal von der böfen Zuchfin 
verhegt, trugend, bodend, heimlich bereuend, bis fie ihr 
geplagter Mann zulegt nach dem alten Rezept Heilt, das 
ſchon der liſtigen Lufiftrata befannt war. Dazu ein paar 
hübſche Kleine Bilder, Saal in Schönbrunn, mit dem Blick 
duch) das Fenſter aufs Gloriette, die Gratulationscour, 
die tanzenden Erzherzoginnen, die Kleinen Hofdamen, auf 
dem Boden herumkriechend, um einen verlorenen Rubin zu 
ſuchen; und allerhand Figuren, jene fchlimme Fuchſin, 





— 114 — 


ihrer Majeftät gar zu tugendhafte Oberhofmeifterin, der 
bizarre Kaunig, freilich ohne das „genie superieur*, das 
ihm ſelbſt Schevenhüller, der ruhige und eher ſleptiſche 
Oberftfämmerer, bei allen feinen „Kleinen ridicules“ doch 
lafjen mußte, und fogar Metaftafio, der zierliche Poet, 
aber eben alle kaum angedeutet, viel Kleiner noch, als fie 
im Leben neben ihrer großen Kaijerin waren. 

Das Publikum Hielt ſich an Die Schratt, die es jünger, 
ſcharmanter, anmutiger fand, als je. Jedes Iuftige Wort, 
jede drollige Wendung nahm es dankbar lachend auf, und 
fie mußte fi, zwiſchen Sträußen und Stränzen, immer 
wieder und wieder ihren Wienern zeigen. Neben ihr er- 
ſchienen Herr Kutſchera, Herr Stramer, Herr Tewele, Herr 
Weiſſe, Frau Thaler, Fran Schweighofer, Fräulein Schufter, 
Fräulein v. Brenneis, Fräulein Dewal, Fräulein Laval, 
die Heine Gerzhofer, die Heine Einer und Herr v. Schön- 
than, der glüdliche Autor. 


„Gloria.“ 
¶ Tragðdie von Gabriele d'Annunzio. Deutich von Linda von Lützow. 
Zum erften Mal aufgeführt im Deutſchen Vollstheater am 28. Di: 
tober 1903.) 
1897 wurde d’Annunzio in die Kammer gewählt. 
Am 24. Auguft erichien er zum erſten Mal als Kandidat, 
um vor Bauern und Handwerkern von den höchſten Fragen 
zu reden. Die Pfeiler des großen Saales, in weldem er 
ſprach, trugen die Namen feiner Bücher, wie ein Held ſich 
mit ‚den Namen feiner Städte zu umgeben liebt, die er 
erobert hat. Und er fagte zu den Männern aus den Bergen 


— 15 — 


* (id) zitiere nach einer Überfegung unjeres Hofmannsthal): 
„Ihr Leute aus meiner Heimat, ich habe mit euch von 
den Banden zu reden, die den Geift eines Dichter mit 
dem Boden feines Landes verfnüpfen. Ein Genoffe diefer 
ungeheuren Zeit, vermag ich in meiner Kunft doch nichts 
auszudrüden, al3 indem ich es mit dem Leuchten ber reifen 
Früchte, mit den ſchwanken Ähren, mit dem Summen der 
Bienen vermenge, mit dem fanftmütigen Schauen der Kinder, 
mit der Tieblichen Krümmung unjerer Buchten, mit dem 
Blinfen unſeres Pfluges. Indem ich meinen Blick auf 
den fchimmernden Strohhalm im Staube Hefte, vermag 
ih in eine ſchwere Wahrheit einzudringen. Glühende Ge- 
danken erweckt in mir die Gebärde des Mannes, der das 
ſchwellende, duftende, friiche Brot in den Dfen hebt, 
Wundervolles taucht in mir auf, wenn ich das junge Lamm 
jaugen jehe und aus dem Schatten her das Tönen des 
Bienenftodes mich umſchwebt. Ich will mic, rühmen vor 
euch, ihr Männer aus meinem Lande. Zwiſchen die ver- 
brannten und ſchwieligen Hände des Bauern, in denen er 
in der feierlichen Stille des Sonntags, unter dem Eichbaum 
figend, einen heiligen Tert zu halten gewohnt ift, möchte 
ih dasjenige von meinen Büchern legen, in welchem ich 
mit der graufamften Kühnheit das langſame Sterben eines 
der Liebe und des Lebens unwürdigen Menjchen geichildert 
babe. (Hier meint er eines feiner berühmteften Bücher, den 
„Triumph des Todes.) Und wenn das geichriebene Wort 
durch ein Wunder firh in die greifbaren Dinge verwandeln 
tönnte, deren Gedankenſymbole es enthält, ſo müßte es 
geichehen, dab der Mann, von ungeheurem Staunen ge 
troffen, das volle Gewicht feiner eigenen ländlichen Welt 


— 116 — 


auf der flachen Hand zu tragen meinte, wie auf alten 
Bildern die Kaiſer eine Weltkugel tragen. Sein Haus 
aus Lehm und Stroh, fein Waſſer, jein Brot und die 
Lieder feiner Töchter bei der Arbeit, dies alle müßte nun 
vor feinen Augen Heiliger ſcheinen ald zuvor. Und wenn 
ih an irgend einem Abend etwa in fein Haus zu treten 
täme, er würde fich mit Ehrfurcht erheben, nicht als vor 
feinem Herrn, doch als vor einem, der eine große und gute 
Macht über fein ganzes Dafein hat. Und er würde ſprechen: 
„Diejer Tennt mich wohl und zeigt mir mein Gutes!“ 
Deſſen rühme ich mid. Wie das Waſſer und das Brot, 
fo Halfen die Gleichniſſe, die mein Griffel hinſchreibt, das 
Leben unjere® Stammes erhalten. Und wenn einem jeden 
von euch mein ganzes Werk völlig unbelannt wäre und 
wenn feiner von euch meine Sprache verftanden hätte, ich 
euch ein Fremder fchiene, aus unbefannten Ländern Her- 
gewanbert: mein Wort würde deöwegen nicht weniger 
leuchtend ausbrüden, was in eurem Denfen dämmernd 
liegt — und wenn feiner in mir den Offenbarer des ewigen 
Strebens anerfennen wollte, des dunklen unfterblichen 
Strebens, da unfer Volt nach ſeinen Schichſalszielen hin- 
drängt, jo wäre darum meine Gegenwart nicht minder voll 
einer erhabenen und wohltätigen Bedeutung. Es liegt 
in der Menge eine Schönheit verborgen, der nur der Dichter 
und der Held Blige zu entloden vermögen. Das Wort 
des Dichters, wenn es über dad Gedränge hinfliegt, ift 
Tat, wie die Gebärde des Helden. Einmal kommt der 
Augendlid, wo für den Dichter die Materie des Lebens 
nicht länger nur durch ungreifbare Symbole hervorgerufen 
wird, jondern wo ſich ihm das Leben als Ganzes offenbart, 


- 1 — 


der Rhythmus feiner Satzgefüge fich zu atmenden, berühr- 
baren Geftalten entbildet, die Idee fich in der Kraft und 
Freiheit verkündet. Hier num iſt endlich die Tat. Die 
männliche Tat, nach der es unſere Seelen verlangt, nach 
der wir uns bis zu jchmerzlicher Verftörtheit jehnen, wir 
alle, die wir zwiichen den Ruinen de3 Vaterlandes unfere 
betrogene Jugend hinabſinken jeden ... So bin ich bahin- 
gelommen, Tragödien zu fchreiben; um in einigen zornigen 
und edlen Gebärden etwas Erhabenheit und Schönheit aus 
dem flutenden, zudringlichen Schwall des Gemeinen zu 
teten, der heute die außerlefene Erde bededt, auf ber 
Leonardo feine gebietenden Madonnen und Michelangelo 
feine niebezwungenen Helden bildete. Und jo bin ich ferner 
dahingefommen, vor euch hinzutreten und aus euren Händen 
eine bürgerliche Macht zu verlangen. Es gibt Leute, bie 
über diejen meinen Entſchluß allzu verwundert tun. Es 
tt Zeit, albernen Fabeln ein Ende zu machen und ein 
falfches Bild von mir zu zerftören. Es ift nicht mehr die 
Zeit, einfam im Schatten des Lorbeer3 und der Myrte zu 
träumen. Die Gelftigen müffen nun alle ihre Kräfte zu- 
fammennehmen, um jo wie in einem Sriege die. Sache 
des Geiftes gegen die Barbaren zu verteidigen. Wenn fie 
leben wollen, jo ziemt es ihnen von nun an, jedem Bivie- 
ipalt zwifchen Denfen und Tun ein Ende zu machen. Er- 
ringen müffen fie den Plag, der ihnen gebührt zu oberft 
in der Ordnung der Stände. Den Waffen, den Neligtonen, 
dem Reichtum folge in der Herrjchaft die Kaſte, für die 
noch fein Name geprägt ift, in der die Bedingungen bes 
höchſten geiftigen Dajeins vereint find.“ Und nun rief er 
alte, teure Erinnerungen an, von der Eroberung Roms und 
Hermann Babdr, Gloffen. 12 


— 18 — 


den Hofinungen jener fchwärmenden Jugend, Hoffnungen, 
welche dann zerbrochen hingejunfen, „wie die abgehauenen 
Hände, die Herodot vor den Füßen der Koloffe zu Sais 
liegen jah“. Warum? Weil die Männer, die man Be- 
freier naunte, die Gedanken nicht lafen, „mit denen die 
göttliche, Teuchtende Stirne des Baterlandes beladen war, 
als man den Staub, den Schweiß und das Blut wegge⸗ 
wiſcht hatte... . Wer von den Männern, die zur Re 
gierung Staliens berufen wurden, hat bis heute gezeigt, 
daß er die Idee begriffen hätte, der unſer Voll durch die 
taufendjährigen Wechſel hindurch von feinem Genius ent- 
gegengeführt wird? Diejes iſt die Wahrheit, welche ih 
ſtolz und froh bin, einem Wolfe, das mir zuhört, ent- 
gegenzurufen, des Lachens der Philifter in großer Ver- 
-achtung bewußt: das Schidjal Italiens ift nicht zu trennen 
von den Geichiden der Schönheit, deren Mutter Italien 
if. Dies ift die erhabene Wahrheit, zu der wir aufichauen 
als zu einer Sonne . . . Begreift mich, nehmt meine wahr- 
haftige Rede auf, liebe Landsleute, liebe Brüder. Die 
Wahrheit, die fich auf meinen Lippen formt, ift den Wurzeln 
eure? Weſens ſchon eingerigt, fie ift in Urworten dem 
Boden entiprungen, fie ift eins mit dem Weſen des Landes 
und der Leute. Wie ich das Leben jehe, das kommt 
nirgendwo anders her als aus den Zeugniſſen eines 
früheren ſchbneren und gewaltigeren Lebens, denen, welche 
ich im Lande und im Volke erkenne. Unzerſtörbar ift in 
und die Seele der Väter und noch immer brauchen wir 
unfere Kräfte unter der unbewuhten Herrjchaft der uralten 
Inſtinkte . .. So laßt und noch einmal mit lauter und 
fefter Stimme die befreienden Wahrheiten wiederholen: 


— 19 — 


Um fo viel tugendhafter ift ein Menich, als er fich mehr 
bemüht, fein Dafein zu fteigern. Das Geſchick Italiens 
it untrennbar von den Schidjalen des Schönen, deſſen 
Mutter Italien ift. Lateiniicher Geift wird nicht anders 
feine Vorherrſchaft in der Welt zurüdgewinnen, als unter 
der Bedingung, daß ber Kult des ungebrochenen Willens 
wieder hergeſtellt wird und daß jenes Empfinden unange- 
taftet bleibt, dem zu Ehren das alte Latium ein tieffinniges 
Felt, das Feſt der Grenziteine, bejab.“ 

Anderthalb Jahre fpäter, im Februar 1899, ift die 
Gloria entftanden, aus derjelben geiftigen Welt, aber mit 
einem feltfamen Ton wilder Entmutigung und Enttäujchung. 
Ein junger Tribun, wie D’Annunzto wohl fi} jelbft gern 
gefehen haben mag, wird Hier von der Maffe zur Macht 
getragen, aber, von einer gleienden Frau betört, derſelben, 
die feinen Gegner an ihn verraten hat, verliert er ſich und 
tommt verachtet um. Man Hat darin allerhand An- 
ſpielungen gefucht, auch auf Crispi und die Tagespolitif. 
Ich glaube nicht, daß D’Annunzio das wollte. Er Hat 
die Tragödie des Tribunen von heute jchaffen wollen, dem 
verſagt bleibt, ein Herrſcher zu werden, weil er nur ein 
Berftörer ift, fein Schöpfer. Freilich, man merkt das viel- 
leicht nicht gleich, weil das Prachtgewand feiner prunfen- 
den und funfelnden, mit ſchweren Juwelen behängten 
Sprache den Leib de3 Schaufpiel3 kaum erraten läßt, den 
& mit feinen raufchenden Falten verdedt. Es ift manchmal, 
als würden fich die Worte, von d'Annunzio mit jolcher 
Macht in feinen Dienft gelodt, nachher an ihm rächen 
wollen, indem fie, ftärfer als ihr Herr, ber fie gerufen, 
feinem Sinne entipringen. Ich will deshalb verfuchen, 

127 


— 180 — 


einmal ganz ruhig, bloß für den Verftand und eher ffeptifch, 
aufzuzeigen, was die Meinung ift, die unter ihnen liegt. 

Er ftellt den Tribunen dar als einen Mann, welcher 
die große Natur, die das Volk in ihm zu ſpüren glaubt, 
ſelbſt nicht wirklich befigt, fondern nur in Momenten der 
Erregung und des Taumels plöglich an fich reißt und 
ftatt dem Wolfe von feiner Kraft zu geben, vielmehr jelbft 
erſt das Volt braucht, um fich aus ihm Kraft anzueignen. 
Selbft hat er nur Begierde, die er nicht bändigen und 
darum nicht geftalten kann, wie fich eine Schale, unter 
einen zu heftigen Strahl gehalten, niemals füllt. Cr zittert, 
wenn er handeln fol, ewig in Angſt vor fchredlichen 
Keämpfen, in welchen er oft plöglich Hinfällt, und ihn 
ſchaudert Törperlich (man denkt unwilllürlich an Lafjalle) 
vor der Berührung mit der dampfenden Menge, die er 
doch braucht, um, Durch fie gereizt und aus fich herausge— 
trieben, aus bden Bellemmungen in die atemlofe Wut zu 
geraten, die fein fonft verborgenes Weſen erjt aufzumweden 
ſcheint. Er fühlt fi, „als ob ihm die Lebenskraft ver- 
jagen wollte, ala ob feine Adern nicht Blut genug hätten, 
um fein Herz wieber zu füllen“; er fühlt fich leer, es muß 
erſt in ihn Hineingepumpt werden, und erft im Sturm der 
großen Leidenichaften, die um ihn raſen, oder unter den 
Drohungen furchtbarer Gefahren, wenn er wie einer, nad 
welchem ſchon der Tod greift, das Lepte aus fich Holt, 
wird jein Mund von Worten beraufcht, die ſtark wie alter 
Wein find und ihm ſelbſt eine Leidenschaft, eine Madit, 
eine Vermefjenheit der Seele vortäufchen, die er doch gar 
nicht Hat. Daher der Wunſch nach Gefahr: Che la 
vostra forza sia provata dal piü gran pericolo, sempre. 





— 131 — 


Daher die großen Worte, die er gar nicht fo jehr an das 
Volk ſpricht, fondern an fich jeldft, um mit ihnen wie mit 
Geißeln oder Dornen jein träges Fleiſch aufzureißen. Da- 
ber die Sehnfucht nach dem Wunder. Vi sono prodigi 
da compiere, Wunder find zu tun, für die jeine Kraft 
nicht reicht: Oltre le sue forze, über feine Kräfte muß 
a wirfen, indem er die Gier und Wut, die in der Maſſe 
keult, von ihren Lippen faugt, verfchlingt und dann, gleich“ 
jam durch fremden Wahnfinn angeſteckt, jelbft zur ſchreienden 
Figur ihrer wilden Triebe wird. Er hat jelbft gar fein 
Beien, er ift nur ein ungeheure? Medium aller fremden 
Leidenſchaften, das, find fie ausgetobt, wieder ohnmächtig 
in fi zujammenfinft. Voi non appartenete alla razza 
dei ereatori! ruft ihm der alte Ceſare Bronte Höhntich 
iu, denn du bift Tein figlio della terra, radicato nelle 
profonditä del nostro suolo. Er ift nur wie ein Rohr, 
aus dem die Leidenfchaft des Volkes brauft. Wie fie ver- 
ftummt, gibt er feinen Ton mehr. Denn feldft ift er nichts 
geweſen, es war nur die Wut und Gier des Volkes, die 
aus ihm jchrie. 

Ih finde das fehr wahr und jehr groß und meine, 
dab es auch wirken müßte, wenn es nur ein fähiger Re— 
aiffeur darzuftellen oder doch wenigſtens anzudeuten ver- 
ſuchte. Vor fünf Jahren war in der Sezeſſion ein Bild 
von Laermans zu jehen, einen Zug von Streifenden zeigend, 
die, in großer Ordnung, zum äußerften entichloffen, um 
eine Fahne geichart, gegen den Feind marjcieren, ſeltſam 
mächtig dadurch, daß es uns fühlen ließ, wie der einzelne, 
wenn er in bie große Bewegung einer Maffe gerät, wunder 
bar verändert wird und, indem er ihren Rhythmus an- 


— 12 — 


nimmt, ſeine eigene, geringe tägliche und mesquine Art an 
ein höheres, furchtbar ſtrenges und unerbittliches Weſen 
verliert, eben das der Maffe, in welcher, vor einer Gefahr, 
einer gemeinfamen Not, einer Leidenſchaft, die einzelnen zu 
einer einzigen, ungeheuren Perjon des allgemeinen Pathos 
verwachſen. Darauf fommt es auch hier an: fein einzelner, 
fondern eine Maffe ift der Held, und alle Bewegungen, 
die wir fehen, alle Worte, die wir vernehmen, müßten auf 
und wie Zudungen und Laute eine einzigen gepeinigt 
aufbrüllenden Tieres wirken. 

Im Volkstheater tritt nur einer nad) dem andern vor 
und jagt eilig feine Rolle her, es wird gar fein Verfuch 
der mächtigen Symphonie gemacht und jo muß jelbft der 
prachtvoll tragiiche Ton der Sandrod verpuffen. Das 
Bublitum ſaß recht verdugt, allmählich ein bifschen un- 
geduldig dabei. Die Tragödie d’Annunzios konnte es ja 
aus diefer Aufführung gar nicht vermuten. 


1904 
Candida. 
(Romödie in drei Alten von Bernard Shaw, deutſch von Siegfried 


Trebitſch. Zum erflen Mal aufgeführt im Deutichen Volkstheater 
am 8. Ditober 1904.) 


Lieber Bernard Shaw! 
Sie haben fich voriges Jahr einmal über Ihre Candida 


Luftig gemacht. Und über uns in Deutjchland, denen fie | 


gefällt. Es war fehr amüſant, ich mußte lachen, aber ich 
dachte doch: Schade, daß der arme Menſch jein Stüd nicht 


— 13 — 


veiteht! Und ich ließ Ihnen fagen, Hoffentlich hat e8 IHr 
Dolmetich ausgerichtet: Ich jei gern bereit, e8 Ihnen zu 
eflären. Leider Haben Sie verjäumt, diejen Sommer in 
Bayreuth zu jein. Hoffentlich kommt es aber doc noch 
dazu, daß wir uns kennen lernen. Wenn es nämlich wahr 
it, was man mir immer jagt, daß Sie der engliſche 
Hermann Bahr find, ich aber der deutjche Bernard Shaw 
(ih weiß nicht, für wen das beleidigender ift), wie nett 
muß e3 für beide fein, und einmal von allen Seiten an- 
juguden, wie die beiden Dromios, der von Ephejus und 
der von Syrakus, und „Halme zu zieh'n ums Seniorat“. 
Einftweilen aber will ich Ihnen doch ein paar Andeutungen 
machen, damit Sie endlich wenigftens ungefähr über Ihr 
Stück orientiert find. 

Sie find, lieber Shaw, vor allem ein Piychologe. Sie 
ſehen den Menſchen anders, als er in den Komödien er- 
ideint. Sie jehen fich ihn näher an und finden ihn viel- 
fältiger, bunter, verwidelter. Und Sie trauen ihm nicht. 
Sie haben bemerkt, daß er nie jagt, was er über fich denkt, 
und daß das, was er über jich denkt, erſt recht nicht wahr 
iſt. Und Sie haben bemerkt, daß die Motive, aus welchen 
er handelt, andere find, als er zeigt, und andere, als er 
weiß. Und fo, wie Sie nun den Menichen jehen (ich 
übrigens auch), möchten Sie ihn darftellen (ich auch). Aber 
Sie konnen das nicht (ich auch nicht). Das wird wohl 
gar nicht unfere Schuld fein, jondern die der Zeit, welcher 
der Menſch durch uns erft von Grund aus fragwürdig ge- 
macht werden muß, bis fie, um fich vor unferen Ironien 
zu retten, aus Angft die Kraft aufbringen wird, jene neue 
Form feiner Darftellung zu gewinnen. Cinftweilen, das 


— 14 — 


wiſſen Sie jo gut als ich, ift mit unjerer Piychologie eine 
Wirkung auf dem Theater nicht möglich. Da Sie aber zur 
Wirkung auf die Maſſe geboren, für die Kanzel zu ehrlich, 
zum Bolitifer zu Hug find, bleibt Ihnen doch wieder nichts 
als diejes fo verachtete Theater übrig. Und immer wieder 
padt es Sie, fich zu jagen: Sted’ deine neue Piychologie 
ein und fchreib das alte Stüd, wie das Publitum es nun 
einmal will. Und immer wieder gejchieht Ihnen dann 
dasjelbe: die eingeftedte Pſychologie Friecht unvermutet plög- 
lich wieber aus. Ich weiß nicht, ob das mehr tragiich oder 
tomifch ift. Aber es iſt Ihr großer Reiz. 

Sehen Sie, bei der Candida, da fagten Sie ſich doch 
offenbar auch: Schreibe das alte, das ewige Stück! So 
fing's an. Was zieht im Theater? Was auf die Frauen 
wirkt. Was gefällt den Frauen? Was von ihrer Sache 
handelt. Was ift ihre Sache? Was fie Liebe nennen. 
Iene tugendhaften rauen, welche die Theater beherrichen, 
haben ein Ideal: ihrem Manne treu zu fein, ohne des⸗ 
wegen ganz auf die Gefühle zu verzichten, die man hat, 
wenn man ihm untreu ift. SHauptjächlich weil ihnen dies 
das Leben fo felten gewährt, fuchen fie das Theater auf, 
um es hier zu finden. Es war Ihnen aljo gegeben: Eine 
Frau, die ihren Mann liebt (jonft würden die Frauen fie 
verachten), die aber in Gefahr der Untreue gerät (jonft 
würde fie fie nicht interejfieren), dies natürlich durch die 
Schuld des Mannes (eine andere gibt die Frau im Theater 
nicht zu) und vom höchiten Glanze verlodt (denn nur, wen 
Jupiter ſelbſt erjcheint, begreift die Frau im Theater, daß 
eine Frau doch vielleicht einen Augenblid want); und fie 
ſollte lange wanfen, viel wanten, ftarf wanken (denn heim- 


15 — 


lich macht doch dies allein die Luft der rau am Thenter 
aus), dann aber ftrahlend fiegen (damit die Männer fich 
ihämen), und zwar nicht bloß aus Tugend (die nicht mehr 
in folchem Kredit und übrigens jelbftverftändlich tft), jondern 
aus irgend einem ganz beſonders überrafchenden Motiv, 
das wieder einmal die Würde der Frauen recht beweiſen 
würde. Dies alles war Ihnen flar und es handelte fich 
aljo bloß um zwei Dinge: um jenen Jupiter und um diejes 
Motiv. Jener gelang Ihnen, indem Sie den Liebhaber 
der Frau zum Höchften machten, was Sie zu vergeben 
haben: zum jungen Dichter. Aber auch diejes dachten Sie 
ug aus: nicht Tugend ift e8, was Candida bei ihrem 
Manne hält, und nicht irgend eim bürgerlich enges, irgend 
ein romantifch vages Gefühl, auch nicht die Kraft dieſes 
Mannes, nein, gerade feine Schwäche vielmehr: weil er fie 
braucht, Tiebt die Fran ihn mehr als den jungen, der es 
vielleicht verwinden und vielleicht auch ohne fie leben können 
wird. Shaw, Bernard, Ire! Ich beneide Sie! Wie müfjen 
Sie fich gekrümmt und gebogen haben, als Ihnen diejer 
infernale Einfall kam! Die Frau bleibt bei dem, der fie 
nötig hat; an fich felbft denkt doch feine, fie find ſchon 
jo! Coufin, kannſt du noch? Und Sie jahen im Geifte 
die naſſen Wangen der verzüdten Damen vor fich, die Teile 
niden würden: Ja, der fennt ung, das ift ein Dichter, der 
tennt und genau! Und lachend fchliefen Sie an jenem 
Abend ein und lachend wachten Sie am nächiten Morgen 
auf: jo gut wird fich bei Ihrem Stüde feiner mehr unter- 
halten. Und richtig fielen Ihnen die Deutichen herein. 
Und in diefer Laune war e8, da haben Sie ſich dann damals 
über Ihr Stüd und über uns luftig gemacht. 


— 186 — 


Sie vergaßen nur eines, Lieber! Sie vergaßen, daß 
Sie der Bernard Shaw jind. Ich will Ihnen nämlich 
etwas verraten, was Sie gewiß überrajchen wird: Sie haben 
viel mehr Talent, als Sie wiffen. Leute von unferer Art 
leiden daran, daß fie zu gefcheit find. Das macht fie gegen 
das eigene Talent ungerecht, und da verfuchen jie dann, 
für das Publitum zu fchreiben. Uber das Talent rächt 
ſich: es gelingt ihnen nicht. Verſtellen Sie ſich nur, es 
nützt Ihnen nichts, rechnen Sie noch ſo genau, es ſtimmt 
doch nie: denn hinterrücks miſcht ſich doch Ihr Talent immer 
ein. Alas, poor Yorick! Wie haben Sie ſich gefreut, 
als Sie jenes Motiv der entfagenden Frau fanden, die nicht 
ihrem Herzen folgen, jondern dem Bedürftigen gehören will! 
Die ganze legte Ezene reiben Sie ſich vor Vergnügen die 
Hände, ein ganzes Couplet ſchießen Sie los, Heiliger Dumas, 
und Frau Candida muß reden und reden und reden, bis 
auch der legte Kretin die Pointe fängt! Und dann muß 
es erſt auch der Dann noch einmal ausdrüdlich jagen: 
„Was ich bin, haft du aus mir gemacht durch die Arbeit 
deiner Hände und die Liebe deines Herzens. Du biit 
mein Weib, meine Mutter, meine Schweiter — du bift 
die Summe aller Liebesmöglichkeiten in meinem Dafein I“ 
Und noch nicht genug, dann muß fie noch feierlich den jungen 
Dichter zum Abjchied fragen: „Bin ich Ihnen auch Mutter 
und Schweiter, Eugen?“ Und bengalifch fteht nun das 
Weib triumphierend da! Und Sie freuten fich tückiſch! Aber 
indem Sie fich freuten, froch Ihnen leiſe Ihr Talent in 
Ihre Feder und dieje fchrieb am Ende noch einen Kleinen 
Sag: „Die Gatten umarmen fich, aber das Geheimnis in 
des Dichters Herzen, das kennen fie nicht.“ Da ftugt man. 


— 1897 — 


Das Hält einen auf. Das verfteht man nicht gleich. Und 
fo denkt man zurüd, geht alles noch einmal durch und nun 
fällt einem erjt allmählich hier ein Heines Wort, dort ein 
anderes auf und fie verbinden ſich und ſchon dämmert es 
und plöglich erinnert man fi), daß über dem Kamin die 
heilige Marie aus Tizians „Himmelfahrt“ hängt und daß 
der Autor, indem er Candida zum erften Mal charakterifiert, 
ausdrüdlich jagt: „Ein kluger Beobachter würde, fie be- 
trachtend, mit einem Mal erraten, daß, wer immer das Bild 
der „Marie-Himmelfahrt“ über ihren Kamin gehängt hat, 
ein ſeeliſches Band zwiſchen den beiden Frauengeſtalten ge- 
ahnt haben mag, obwohl niemand, weder ihr Mann noch 
fie felbft, eines Gedanfens fähig wären, der fie mit der 
Kunft Tizians in Zufammenhang brächte.“ Und da hat 
man e3 jegt plöglich. 

Mein lieber Herr, ſchwindeln Sie doch nicht: Ihr Stüd 
iſt wirffich gut! Dan merkt es nur nicht gleich, das iſt 
Ihr Tri: jo ſehr nämlich, als ein anderer fich plagt, um 
zu zeigen, was er will, quälen Sie fich, Kollege, es zu ver- 
fteden ab. Denn jenes ift doch gar nicht das Motiv der 
Candida, Sie tun nur jo. Dieſen Höllifchen Spaß: IHrer 
würdig, daß eine Frau, erotifch, aljo durch die tieffte Macht 
der menfchlichen Natur angezogen, fich verfagen joll: aus 
Rückſicht, aus Takt fozufagen und für eine hübſche Poſe, 
foppen Sie ung doch nur vor, Nein, das hat fich Ihre 
Pſychologie nicht gefallen laſſen. Wenn Candida, ftatt mit 
dem Iodenden Knaben in die weite Welt zu rennen, bei 
ihrem Manne bleibt, jo ift es der Inftinft des gejunden 
Weibchens, der fie Hält. Nicht weil der Mann gut ift, nicht 
weil er fie braucht, nicht weil er ihr leid tut — Herr, 


— 18 — 


Halten Sie und für brave Kinder, denen man mit Fabeln 
fommen muß? Sondern fie bleibt, weil fie mit der Genialität, 
die Frauen in Berufsfachen haben, fogleich begreift, daß fie 
niemal® das Weib für den anderen jein fann, für dem 
Dichter : denn diefer ift größer als fie, er wird das erfennen, 
und dann iſt der Zauber aus. Das ift „das Geheimnis 
in des Dichter Herzen“. In der germanijchen Welt Hat 
das Weib nur fo lange Macht über einen Mann, als er 
es wie ein höheres Wefen, faft eine Heilige fühlt: Candida, 
das fit: die Schimmernde, die Fledenlofe, die Reine, das 
ift der Himmel, das find die Sterne, das ift da3 ewige 
Licht. Und diefe Candida? Kein Bweifel, daß aud fie 
eine Heilige ift. Es fragt fich nur, in welchem Himmel. 
Es gibt einen erften Himmel und einen zweiten Himmel 
und jo fort bis zum fiebenten Himmel. Im fiebenten 
Himmel, Shaw, das wifjen Sie, da find nur die Dichter 
allein, und aus dem fiebenten Himmel muß die Frau fein, 
vor der Ihr wunderbarer Marchbanks einmal Inieen wird 
wenn e3 denn jchon fein joll, daß ein Dichter jemals kniet. 
Aber Ihre Tiebe Candida ift aus einem tieferen Himmel. 
Weniger alpin. Weit unter taujend Metern. Gutbürger- 
lich bewohnte Region. Da ift fie die Heilige, die das 
germanijche Männchen braucht. Da ſchimmert fie. Für 
die Morells nämlich, für die braven Leute, die Fabier 
find, Tugenden predigen und Sonntags die joziale Frage 
lbſen. Da gehört fie Her. Und daß jie dag weiß, darin 
fo durchaus germaniſch, als es die beiden Männer in ihren 
Gefühlen für daS Weib find, das gibt ihr einen Zug, der ein- 
fach fublim ift. Erjchreden Sie nur nicht, denken Sie lieber 
einmal ruhig darüber nach, Sie finden es dann gewiß aud. 


— 189 — 


Es wäre nur billig, wenn Sie fich jegt gleich meine 
fämtlichen Werfe kaufen würden, um fie genau (langjam!) 
zu lefen. Es gibt da nämlich auch manches, was ich gern 
endlich einmal erklärt haben möchte. Dies, lieber Vetter, 
erwartet ganz beſtimmt 

IHr Herzlich ergebener 
Hermann Bahr. 


* * 
* 


Diefe breite, finnlich frohe, voll tönende Candida, ein 
Eochen Bogner, das nur ein bißchen Ibſen gelejen Hat, liegt 
dem zierlichen, gligernden, geiftreich zuſpitzenden, eiligen, 
tet feanzöfiichen Fräulein Petri eigentlich gar nicht. 
Kutſchera, immer der Wirkung gewiß, wenn er rejolut 
feine grunbehrliche Natur unmittelbar ausdrüden darf, gibt 
den fonoren Paftor, der feinen inneren Menfchen mit dem 
Baffe des predigenden Moraliften deckt. Herr Birron, 
der ſich immer mehr als ein vortrefflicher Schaufpieler zeigt, 
gewandt, behende, frifch, voll Temperament, ſehr intelligent 
und von einer Hohen fünftlerijchen Zucht, die er wohl 
Berlin verdankt, Hat nur eines nicht: jenen ſchwärmeriſchen 
Zug inneren Adels gerade, der dem jungen Marchbanks 
wefentlich iſt. Um jo merfwürdiger, wie nahe trogdem alle 
drei ihren Rollen zu kommen wiſſen, mit einer befonnenen 
Entfagung, der es fchliehlich gelingt, doch die Linien des 
Stücdes anzudeuten. Auch Fräulein Wallentin ift fo 
Ung, eine zu billigen Wirkungen lockende Charge mit an- 
genehmer Mäßigung zurückzuhalten, und die Herren Jenſen 
und Höfer fügen fich diskret ein. Diejen ſorgſamen Be- 


— 10 — 


mühungen iſt es zu danken, daß das Publikum, oft be— 
fremdet, manchmal ſchon recht ungeduldig und, was ed gar 
nicht mag, felbft über feine Gefühle für die Figuren im 
ungewifjen, doch feine gute Laune nicht verlor. 


Kettenglieder. 

(Ein fröhliches Spiel am häuslichen Herd in vier Aufjügen von 
Hermann Heifermand. Zum erften Mal aufgeführt im Deutichen 
Volkstheater am 19. November 1904.) 

Vor dreißig Jahren ift Pancras Duif noch ein armer 
Teufel gewefen, hoch oben auf Dächern mit dem Hammer 
ſchuftend. Dann hat er mit ein paar erfparten Grofchen 
eine Schmiede aufgemacht. Keine angenehme Erinnerung. 
Eine Frau und vier Kinder und die verfluchten Sorgen, 
Tag um Tag, die einen nicht fehlafen laffen, Nacht für 
Nacht, die einem das Fleiſch vom Leibe reißen! Die Frau 
hat auch nichts zu lachen gehabt. Wenn der Gerichtsvoll⸗ 
äteher kam, um mit der Pfändung zu drohen, da ftanden 
fie fi) manchmal wie die Beftien gegenüber und gleich 
ging es los, um ein Wort, ein jchiefes Geficht, einen zer- 
brochenen Teller; immer Srafeel im Haus, Lärm und 
Prügel. Nein, das war fein Leben, für ihn nicht und für 
fie nicht. Dann ftarb fie. Wieder heiraten? Aber wer 
nimmt denn einen armen Witwer mit vier Meinen Kindern? 
Er bat es verfucht. Aber fie lachen einen aus. Sie be- 
danken fich fchönftens, eine ſolche Schmugwirtichaft in Ord- 
nung zu bringen. Er hat es allein tragen müſſen. Das 
wird einem nicht leicht, wenn man noch jung ift und einen 
gefunden Körper hat. Es find oft verfluchte Stunden ge- 


— 11 — 


weſen. Stunden, in denen er heulte, weil er fein Weib 
hatte. Den Kopf dumpf und den Leib frank vor Ent- 
haltung. Oft nachts von folder Gier gequält, daß er 
aufftand, um den glühenden Kopf unter die Pumpe zu 
ſteclen, daß ihm die Augen brannten, die Schläfen klopften 
daß es ihn vor ihm jelber efelte, bei feinen Kindern, die 
fo ruhig, ruhig, ruhig in derfelben Stube jchliefen. Nun, 
zulegt geht es doch, es geht ſchon. Und im Geichäft ift 
& auch gegangen. Nicht bloß durch feinen Fleiß; er hat 
ſich tüchtig geradert, aber er war auch ſchlau; immer die 
Augen auf, um feinen guten Zug zu verjäumen. Spefuliert. 
Und er hat auch Glüc gehabt. Damals, der Krach des 
Eifenigndifats in England, vor zehn Jahren — bei, das 
hat ihm manche Tonne Gold gebracht. Und immer in 
die Höhe, bis aus der Heinen Schmiede eine große Fabrik 
geworden ift: „die Kette”, Firma Pancras Duif. Das 
war einmal jein Traum. Und jegt ift es erreicht. Jetzt 
iſt der reiche Pancras Duif, der Stolz der ganzen Stadt, 
wie ein Meiner König. Nun follen aber die Söhne daran. 
Er Hat fich genug gefchunden. Sollen die zeigen, was fie 
tönnen. Er jpannt jegt aus. Nicht als ob er müd' wäre, 
wenn er auch manchmal ein bißchen kränkelt. Er ftellt 
doch mit feinen fiebenundfünfztg Jahren immer noch feinen 
Kerl, Gut fonferviert, wie Büchjengemüfe. Aber da will 
er nun auch was davon haben. Er hat ſich's ehrlich ver- 
dient, num ſoll ihm das Leben ſchmecken. Die Kinder find 
verſorgt: Hen leitet die Fabril, Yan ift Makler, Toon, 
der Student, gaufelt in der Welt herum, Coba hat einen 
Bauunternehmer geheiratet, es Tann ihnen nicht fehlen. 
Und ihm macht es Spaß, ihnen zuzufehen, die natürlich 


— 192 — 


glauben, alles viel beffer zu verftehen. Bejonders Hent, 
der die Fabrik nun im modernen Stil führt, mit großen 
diden Büchern, wahren „Prachtbibeln“, wo alles aufge- 
fchrieben wird, was der Alte im Kopf gehabt Hat; italieniſche 
Buchführung nennt man dad — es macht dem Alten einen 
tiefigen Spaß. Und der Bauunternehmer auch, Dirk, der 
Mann der Coba; ber will wieder zeigen, was er für ein 
Spekulant ift: jeden Moment ein anderes Projekt, und 
der Alte fann dann zahlen. Aber e8 macht ihm Spaß. 
Wenn es notwendig wird, dreht er jchon ben Daumen zu. 
Sonft hätten fie ihm freilich ſchon längft kahl gefrefjen, 
denn da ift der eine wie der andere: Geld, immer nur 
Geld! Und da Hilft auch einer dem anderen, wie heftig 
fie fich fonft auch untereinander zanken. Aber ihm macht 
das alles Spaß. Er Hat das gern, wenn es unter den 
Menſchen jo recht durcheinander geht. Wenn fein Bruder 
Hein, der eine ältere Frau geheiratet hat — ich wünfchte, 
jagt er, ich könnte von ihr „abheiraten“ — mit ihr tobt, 
daß die Fetzen fliegen, oder wenn fich die Kleine Elsje, 
feine Enfelin, von ihm einreden läßt, duß die Kühe gerade 
wie die Hühner Kinder Friegen, und fich num wünfcht, ein- 
mal eine Kuh auf Eiern figen zu jehen, dann biegt er fid 
vor Vergnügen. Es gibt zu Tuftige Sachen im Leben. 
Wenn man es nämlich jo gut hat, wie er jegt. Beſonders 
feit die Marianne da ift. 

Marianne ift die neue Wirtichafterin. Cine famofe 
Perſon. Kein och mehr in feinen Strümpfen, fein Stäub- 
hen auf den Möbeln. Und kochen! Jeden Tag denkt fie 
was anderes aus; folche Sachen mit franzöfifchen Namen, 
die er fi) gar nicht merken Tann. Überhaupt gebildet! 


— 19 — 


Spielt Klavier, kann Franzöfifch, und man muß nur das 
Wirtſchaftsbuch fehen, diefe Handichrift, wie fie mur das 
große „S“ macht, fein Maler fann das befier. Und jpar- 
fan wie die Hölle; Blumenkohl, vier Köpfe für zehn Cent, 
und das Fett von den Hühnern nimmt fie morgen zum 
Schmorfleifh. Und rechnen! Daß einer ſchwach werden 
tann! Wieviel tft fiebenundbreigigmal Bundertdreiundfünf- 
ig? Da fteht man doch da wie der Ochſe vor dem Tor, aber 
fie macht fih fo was im Kopfe. Und Augen! Er fühlt 
ſich wie ein junger Hahn, wenn er nur dieje Augen fieht. 
Sie wird böje, als fie da merkt. Ja, jagt er, meinen 
Sie, daß einem alten Bode nicht auch ein grünes Blättchen 
ſchmeckt? Aber ihr paßt das nicht; wenn er fo anfängt, 
da fucht fie fich lieber zum erften einen andern Plag. Oho! 
Was glaubt fie denn von ihm? Er meint e8 ehrlich, er 
nimmt fie zur Frau, morgen wird das Aufgebot beitellt. 
Sie wehrt fih. Sie will nit. Warum? it er ihr nicht 
jung genug? An einem Manne Ende ber Bierziger hat 
eine Frau mehr Halt, als an fo einem Hofenmag von 
Zwanzig. Und er weiß doch von ihr, daß fie ein Kind 
hat, einen Heinen Knaben; ſchon aus Liebe für diejen foll 
fie es tun, der dann verforgt ift, nicht? Da muß fie ihm 
nun doch die Wahrheit fagen.: er weiß, daß fie ein Kind 
hat, aber fie hat ihm verjchwiegen, daß diejes Sind feinen 
Vater Hat, fie war nie verheiratet, ihr Zeugnis ift gefälicht, 
fie hat es fich ſelbſt gefchrieben, weil man eine Witwe ja 
zum Dienfte nimmt, eine ledige Mutter nicht. Er muß 
lachen, daS gefällt ihm, das ift ein feiner Kniff, wie er 
ſolche wohl in feinem Gefchäfte auch ſchon gemacht hat. 
Und er reicht ihr die Hand Hin: „Komm! Du Haft noch 
Hermann Babr, Gloffen. 13 


— 14 — 


keine Stunde Glück in deinem Leben gefannt, ich auch nicht.“ 
Sie gehören zufammen. 

Dan kann fich denken, wie das auf die Kinder wirkt, 
als fie erfahren, daß fich der Vater mit der Wirtjchafterin 
verlobt hat. So eine Schande von jo einem alten Manne! 
„Und das Geld, dad man zu erwarten hat, fann man fich 
auf den Budel fchreiben.“ Da muß die Familie etwas 
tun. Es iſt ja doch ſonnenklar, daß er verrückt ift! Anders 
wäre es ja auch gar nicht zu erffären. Und num erinnern 
fie fich erft: er ift ihmen fchon die ganze legte Zeit oft 
echt feltfam vorgelommen. Er macht fo fonderbare Späße. 
Und dem Dirk Hat er aus einem Zigarrenladen telephoniert, 
daß er heiratet. Hat dag je ein vernünftiger Menjch in 
einem Bigarrenladen getan, wo jeder hören fann, was man 
telephoniert ? Und der Heinen Elsje hat er neulich erzählt, 
daß die Kühe auf Eiern figen wie die Hühner! Und dem 
Dirk hat er Geld für ein Projekt verweigert, bei bem eine 
halbe Million zu verdienen war! Sein Bweifel, um den 
armen Vater ſteht es jchleht. Man muß fih an einen 
Arzt wenden. Es gibt doch Piychiater! 

Und der Piychiater findet ſich. Es findet fich immer 
ein Piychiater. Und der Alte erfährt, daß jeine Kinder ent- 
ſchloſſen find, ihm für wahnfinnig zu erklären, aus Angft 
für ihr Geld. Und er erfährt, daß die Paptere feiner Braut 
aus dem Schranke geftohlen worden find. (Der Student 
ift empört: er hat nicht geftohlen, Teufel auch, er ift fein 
Schuft, e8 war ein Zufall: er hat fich eine Zigarre an- 
fteden wollen, dadurch ift er dahinter gefommen, und nun, 
da er es einmal weiß, was dag für eine liederliche Perſon 
ift, kann er doch den Alten nicht ins Verderben rennen 


— 15 — 


laſſen.) Und er erfährt, daß ſeine Kinder Mariannen mit 
der Polizei drohen, weil fie ihr Zeugnis gefälfcht hat — 
wenn fie nicht verzichtet. Und fie verzichte. Sie geht 
wieder ind Elend hinaus. Er aber bleibt im Elend zurüd. 
Nun ift er für die Kinder wieder der liebe, gute Papa. 
„Was bift du doch für ein Engel,“ ſchmeichelt feine Tochter, 
„für ein durch und durch verjtändiger Engel, ein herrlich 
vernünftiger Engel, daß du das Frauenzimmer weggetan 
haft, daß du an deine Kinder gedacht Haft; dafür kriegſt 
du zehn Küffe“ Er aber ftößt fie weg: Lab mich 
allein. 

Diejes wunderbar ftarte Stüd, durch die breite Sicher- 
heit feiner Geftalten und die beherrichte Leidenjchaft feiner 
Enträftung ſtark, wirkt weniger als des Dichter „Hoffnung“, 
deren Ton doch manchmal wirklich bis zur Macht des Pore 
Goriot anſchwillt. Vielleicht nur, weil die legte Gtei- 
gerung ins unmittelbar Tragiiche fehlt. Der alte Bancras 
und Marianne, beide haben ja einen tiefen Bug tragifcher 
Verblendung. In der Welt berunigeftoßen, kennen fie fie 
noch immer nicht, wie ja dies eben das Wejen der guten 
Menjchen ausmacht, fie niemals zu fennen. Es wäre 
darum in ihrer Natur, nicht nachzugeben, weil fie nicht 
glauben Können, daß dies menfchenmöglich iſt. Der Vater 
nicht, daß ihn feine Sinder ind Narrenhaus einjperren 
tönnen. Dearianne nicht, daß vor Gericht für eine Fälſchung 
gelten Tann, wodurch doch niemand betrogen worden ift. 
Und nun müßten fie erleben, daß der Vater, der Piychtater 
iſt ja da, wirklich durch feine Kinder ins Irrenhaus fommt 
und Marianne, der Richter läßt fich finden, ins Zuchthaus. 
Das Stüd ift zu wahrhaft groß angelegt, als daß es ung, 

13* 


— 16 — 


ftatt in tragifcher Wut, mit einer trüben Verbitterung ent- 
lafien dürfte, 

Den Pancras jpielt Herr Höfer vortrefflih. Mag 
man anfangs den Humor breiter, faftiger, derber wünfchen, 
mag man am Ende einen aus der Tiefe quellenden Ton 
vermifjen, mag ihm im Heiteren und im Ernften dad Letzte 
fehlen, man muß doch die vollkommene Technik, den hoben 
Verſtand, den Gefchmad dieſes durch jeine Mäßigung doppelt 
wirfjamen Schaufpielerd bewundern. Fräulein Wallentin 
kommt mit ihrer guten Routine der Marianne bei, die man 
von der Niefe jehen möchte. Sonft find noch Fräulein 
Hofteufel, Herr Jenſen, Herr Ruffed und Herr Naeder 
zu nennen. ° 


1905 
Freiwild. 


GSchauſpiel in drei Akten von Arthur Schnitzler. Im Deutſchen 
Vollstheater aufgeführt am 28. Januar 1906.) 

Es war 1897. Prinz Alonjo und Herr Eugen Brüll 
hatten ſich noch nicht gegen das Duell erflärt. Noch galt 
es darum nicht für ritterlich, feig zu fein. Auch Hatte 
ſich die neue Literatur mit ihren Zweifeln und fpöttifchen 
Fragen noch der Soldaten nicht bemächtigt. Wenn der 
Offizier auf der Bühne erichien, war es als Bierde der 
Nation oder doch des Salons. Dem Major von Tellheim 
verwandt ober Veilchenfreſſer und Reiflingen. Noch Hatte 
ſich Hartleben nicht erdreiftet, noch drohte Fein Beyerlein 
und Bilfe Da begab es fich, daß ein junger Dichter, 


— 17 — 


ſchon vom erften Ruhm geftreift, aber unzufrieden mit ſich 
ſelbſt, hochmütig gegen fich jelbft, und darum nach großen 
Entfchlüffen begterig, die feiner Kraft mehr abzufordern 
hätten, als fie bisher ihm gewähren konnte, zudem von 
jener Teichten Schwermut gerührt, die uns betört, wenn 
wir uns zum erften Mal von den ſüßen Mädchen und ben 
Spielen der Liebe trennen, weil wir da nämlich noch nicht 
wiffen fünnen, daß es doch niemals ein Abjchted für immer 
iſt — in diefer zugleich melancholiſch entfagenden und doch 
heftiger, als er noch jemals einen Trieb in ſich vernommen 
haben mochte, zum Exnft des Lebens, zum Wirklichen hin, 
zu den großen Mächten des Daſeins gedrängten Stimmung 
des untuhigen jungen Dichters begab es fich, daß er an 
das Verhältnis des Offizier in unſerer Heutigen Welt 
geriet. Ich denke, er Hatte einen Kater; fo fing es wohl 
wahrfcheinlih an. Wir find dann immer jehr gefränft 
wenn wir eines Tages, erwachend, gewahren, dab irgend 
ein Tiebes kleines Mädchen doch nicht das ganze große 
Leben ift; und verargen ihr das fehr und rächen ung, 
indem wir ung plöglich nun auf die „Probleme“ werfen, 
zu denen ung erfahrene und reife Freunde Doch ſchon immer 
geraten haben. Ihre Erfahrung, ihre Reife tft freilich 
meiften® zulegt wohl eigentlich mehr nur ein leiſer Neid, 
fie fönnen und nicht töricht glüclich jehen. Und wer 
fpäter, in Gefahren, durch Leiden, aus Freuden, wirklich 
reif geworden ift und den wahren Sinn des Lebens er- 
fahren hat, merkt erft, daß ihn vielleicht das dümmſte 
Heine Mädchen Tieferes lebendiger Iehrt, als es die Löfung 
der Höchiten Probleme vermag. Dazwiſchen aber, in der 
leeren Pauſe von verlangender Jugend zur erfüllenden 


— 18 — 


Männlichkeit hinüber, kommt es uns riefig gefcheit vor, 
den „Problemen“ zu dienen, worunter die ernten Menſchen 
alles verftehen, was gerade zu diefer Zeit in den Beztehungen 
der Menfchen und ihrer gejellichaftlichen Ordnung wankend 
und fragwürdig und verbefferlich geworden ift. Wenn fie 
freilich weniger ernit, aber dafür mit der menschlichen 
Natur vertrauter wären, würden fie begreifen, daß ihr von 
außen her niemals zu helfen ift, jondern, wie Vetter Hamlet 
fagt, aus „de3 Herzens Herzen“ allein, und daß e8 darum 
doch eigentlich, um die Sehnfucht der Menjchheit zu heilen, 
nur ein einziges Problem gibt, nämlich: ihren Geiſt und 
ihr Gemüt fo durch Erſchütterung aufzutreiben, daß ihr 
die Gewalt, jede Form der Gewalt, ganz unerträglich und 
alles, was bisher Ordnung hieß, unmöglich, aber auch 
entbehrlich wird. Bis aber einer erſt dahin gekommen 
ift, dies an fich felbft zu begreifen, flict jeder gern eine 
Beit an den „ragen der Gefellfchaft“ herum. 

Das hat auch Schnigler durchmachen müffen und daher 
hat fein Stüd eine fo merkwürdige Haltung. Etwas fehr 
Entjchloffenes nämlich, dem man doch leiſe den inneren 
Zwang anhört. Wie wenn jemand fehr eindringlich von 
einer Sache, deren Wichtigkeit er fich nachdrücklich vorftellt, 
ſprechen will, aber fich jehr zufammennehmen muß und 
Mühe hat, dabei zu bleiben, weil er fich insgeheim immer 
an nähere Gedanken verliert, die ftärker find, Er beißt 
ſich auf die Lippen, um fich nicht merfen zu laſſen, wie 
zerftreut er ift: denn dieſes ganze Stück ift nur aus dem 
Verftande geholt, in feiner Tiefe weiß er nichts davon, 
da bereiten fich ſtill Schon die fchönen Erfüllungen feiner 
Neife vor. Wozu vielleicht auch noch etwas anderes kam. 


— 19 — 


Mir will fcheinen, als ob ich heraughören würde, wie gern 
er als junger Menſch im Burgtheater geſeſſen ift. Die 
Luft des alten Burgtheater haucht mich hier an und in 
manchen Szenen wird mir faft, als ob fie mir die Hände 
des Herrn Hartmann entgegenftreden würden. Was uns 
gefällt, ſteckt uns unmillfürlich an; was auf uns wirkt, 
dem möchten wir gleichen, und fo wird, gar in bildſamer 
Jugend, unjere innere Form durch äußere Gewohnheit oft 
mehr al3 von unfereın Wejen beitimmt. Wir merften es 
ſelbſt ja damals faum, aber unwillfürlich nahm der Geift 
der jungen Leute von 1890 doch immer die Gebärden des 
alten Burgtheaters an, diejer jehr auserwählten, aber recht 
abgefühlten, niemals ganz natürlichen, immer hochanftändigen, 
gezügelten Kunft, die jo höflich war, immer artig an den 
Zuhörer zu denfen. Sie benahm fich jtet3, wie man tut, 
wenn im Bimmer ein großer Spiegel ift: man verleugnet 
ſich ja deswegen nicht, man bleibt natürlich, aber doch 
anders natürlich, als man ift, wenn man fich nicht fieht. 
Dean weiß dann eben von jich, wie man wirft, und wenn 
man ſich auch nun deshalb erft recht anftrengt, ungezwungen zu 
fein, jo wird es doch nur eine herablafjende Ungeziwungen- 
heit, die jede wahre Vertraulichkeit einfamer Gedanken ent» 
fernt. Herablafjend, Ieutjelig, immer wie ein Hoher Herr, 
der einmal im fchlichten Jägerrocke unter das gemeine Volt 
geht, war dieſe Kunft des alten Burgtheater8 und davon 
drang etwas in jedes Geſpräch jener jungen Leute von 
1890 ein und ein bißchen ift davon noch am „Freiwild“ 
Hängen geblieben. Schaufpieler, die in der Kuliffe ftehen, 
um das Stichwort zu erwarten, pflegen ſich dann, auf das 
Zeichen de3 Inſpizienten, plöglich einen Nud zu geben, 


— 20 — 


der förmlich ihre ganze Natur zu ſpannen und zu ſtrecken 
ſcheint. Das tft es, was ich an dieſem Stücke manchmal 
zu ſpüren glaube: wie ſich der Dichter einen Ruck gibt. 
Es iſt ſchon der Schnitzler, aber ein geſpannter, geſtreckter, 
der den Kopf zurückwirft und ſich ein bißchen auf die 
Zehen ſtellt. Und ich ſpüre daran erſt recht die ganze 
Kraft und Schönheit feiner ſpäteren Entwicklung, die feine 
Mahnung des Inſpizienten mehr braucht und nicht mehr 
vor den Spiegel tritt. 

In der Literatur wird „Freiwild“ bleiben ala das 
erſte Soldatenftüd unjerer Zeit. Hartleben Hat jpäter durch 
fehr feines Detail, das er jehr geſchickt an eine wafjerblaue 
Handlung band, ftärker gewirkt und Beyerlein hat e8 dann 
zum groben tHeatralifchen Effekt gedreht. Ich meine übrigens, 
die Serie ift noch nicht aus, e8 wird noch mancher fommen, 
weil da8 Thema noch nicht erfchöpft iſt: in ihrem legten 
Weſen ift die Eriftenz eines Soldaten in unferer Beit noch 
nicht getroffen worden. Unſere Zeit verlangt von jedem, 
der in der gejellichaftlichen Ordnung als Mitregent leben 
will, daß ihm diefe zur zweiten Natur werden muß. Die 
Beitimmung des Soldaten verlangt von ihm, immer für 
den Moment bereit zu jein, in welchem die bürgerliche 
Ordnung plöglich wieder aufgehoben, die zweite Natur 
wieder zerriffen wird. Bu ihrem Schuge, um nicht don 
jebem Feinde umgerannt zu werden, braucht fie Männer 
von einer Art, die unter ihrem Schuge doc) eigentlich gar 
nicht gedeihen Tann. Damit aus einem Menjchen ein guter 
Bürger werde, müffen in ihm eben jene Sträfte vertilgt 
oder doch verfümmert werden, die den guten Soldaten 
machen. Ie menfchlicher einer ift, je gütiger und gerechter, 


— 1 — 


je mehr Herr über unſere tierifche Wildheit, ein deſto 
idlechterer Soldat wird er im Kriege fein. Und je ver- 
wegener, leidenfchaftlicher, graufamer er fich in der Schlacht 
bewähren wird, defto ſchwerer wird er fich in die bürger- 
fie Ordnung finden önnen, deren Verteidigung aber dann 
ſchließlich doch wieder der Sinn feiner ganzen Eriftenz ift. 
Der große Reiz, den der foldatifche Beruf noch immer 
für viele hat, beſteht wahrjcheinlich darin allein, daß es zu 
diefem Berufe gehört, auf ein Zeichen aus aller Ordnung 
ausbrechen zu konnen und wieder zum ungezähmten Ur- 
menjchen zu werden, den uns Erziehung, Kultur, Geſetz 
verleugnen lehrt. Es wird vom Soldaten aljo eigentlich 
verlangt, daß er auf Kommando jet zum Urmenfchen, 
jegt zum Staatsbürger werden fann. Und wenn ich mir 
einen nachdenklichen und mit fich aufrichtigen Menjchen 
denfe, dem dies bewußt würde, jo wäre das wohl ein rein 
tragiſcher Fall, der feinen Dichter verdiente, 

Die Aufführung ift im einzelnen ungewöhnlich gut. 
Bor allem wirken Stutjchera und Jenſen durch eine merf- 
würdige Kraft, die die etwas Iehrhaften Sachen, die fie 
mitunter räfonierend zu jagen haben, perjönlich zu beleben 
weiß. Dann Fräulein Erl durch ihren wunderhübfchen 
Ton, der nur leife zuweilen noch ein bißchen unfret klingt. 
Stamer, als Karinski, ift in der Haltung vortrefflich, aber 
er bleibt der Figur die Wildheit, den Zug zum Abenteuer, 
die Falte vom gebornen Croupter ſchuldig. Sonit ift noch 
Herr Höfer zu nennen, mit dem ergöglichen Armeedeutſch, 
das er dem Leutnant Vogel gibt. Die Wirkung war ftarf: 
wie in einer Volksverſammlung klatſchten die Leute den 
berwegenen Reden der gejunden Wernunft begeiftert zu. 


— 202 — 


Ja fiehft du, Arthur fo geht’3: vor acht Jahren, ala du 
fie fchriebft, find e8 Frechheiten geweſen, die man dir gar 
nicht verzeihen wollte, und jegt ſind's ſchon Wahrheiten 
für die kompakte Majorität geworden, und noch zehn Jahre, 
und e3 werden Banalitäten fein, hoffentlich, gegen die ſich 
dann eine neue Jugend wieder ingrimmig empdren muß — 
das iſt der Lauf der Welt. 


Rat Schrimpf. 

(Komödie in fünf Akten von Mar Burkhard. Zum erften Mal aufs 
geführt im Deutſchen Vollstheater am 13. April 1905.) 
Schon Niebuhr Hat geiagt, die Freiheit beruhe auf 

der Verwaltung mehr ald auf der Verfafjung. Vom älteren 

deutjchen Liberalismus ift das dann eifrig nachgejprochen 
worden, freilich eher inftinftiv aus dumpfen Gefühlen ald 
aus Haren und ficheren Begriffen der Verwaltung, zu welchen 
es ihm doch an jeder Anfchauung fehlte. Er konnte fich 
nur an die Schilderungen der englifchen halten, die Lothar 

Bucher und Gneift mitgebracht hatten, in der verlodenden 

und bald überall geläufigen, aber, wie wir jegt aus dem 

Buche des Dr. Joſef Redlich über die „Engliſche Lofal- 

verwaltung“ wiſſen, durchaus unzulänglichen Daritellun- 

gen. Erſt Iofef Nedlich hat das Geheimnis der eng- 
liſchen Verwaltung erjchloffen, die, indem es ihr gelang, 
fi) von der Macht der Krone beharclich abzulöjen und 
gegen die Macht der Krone durchzutrogen, ein vollfommenes 

Organ der nationalen Bebürfnifje geworden tft. Sie ruht 

auf der uralten, „elementaren“, überall an die natürlichen 

und drtlichen Verbände der Bürger gefügten Rechts- und 


— 203 — 


Gemeinshaftsordnung, die bei und vom Feudalismus zer- 
trümmert wurde, dort aber, durch ein lebendiges Gefühl 
des Volles erhalten, von den Konigen zuerſt gegen ben 
Feudalismus noch beftärkt, die Kraft gemann, jeden Ver— 
fu der Königlichen Gewalt, die, erſt einmal durch fie 
fiher geworden, fpäter nun auch fie zerbrechen wollte, ge- 
laſſen abzujchlagen, bis zuleßt, in eben der Beit, da der 
Krone vom Parlament die Gejeßgebung entwunden wird, 
auch aus ihr der Tönigliche Wille völlig verfchwindet. Es 
ſcheint, daß unfere Politiker nicht leſen Tönnen: fie hätten 
fonft aus diefem Buche, dem die Strenge der Wiſſenſchaft 
doch allen Neiz einer fünftlerifchen Darftellung läßt, er- 
Tennen müſſen, woran es unferer Verwaltung fehlt. Dieſe 
dient der ftaatlichen Gewalt. Sie wird von der Staatlichen 
Gewalt regiert, die englifche durch das nationale Bedürfnis. 
Freilich gibt auch unjere das nationale Bedürfnis vor, 
aber mit einer fortwährenden heimlichen Angit, dieſes Tönnte, 
wird es erfüllt, wodurch ja das Volk erftarkt, irgend ein- 
mal der ftantlichen Gewalt gefährlich werden. Indem 
unfere Verwaltung aljo das nationale Bedürfnis jo weit 
erfüllt, als es unabweislich ift, um zu verhüten, daß es 
ſich fonft, unbefriedigt, gegen die jtantliche Gewalt kehrt, 
wird fie niemal® die Sorge 108, wie fie wohl das Be— 
dürfnis, dem fie Öffentlich zu dienen ſcheint, heimlich doch 
vielleicht zu hemmen vermöchte. Wozu noch Tommt, daß 
bei uns die ftaatliche Gewalt, um fich des Adels zu ver- 
fihern, mit dem fie nicht fertig geworden ift, das Abkommen 
getroffen Hat, fich feiner Verforgung anzunehmen, einer 
materiellen und einer idealen Verjorgung, mit Einkünften 
und mit Ehren, indem fie ihm alle wichtigen Poften der 


— 204 — 


Verwaltung gleihfam als Pfründen zuweiſt. Friedjung 
fagt einmal von jenem „Grafenminifterium“ des Beleredi, 
es habe die Vorftellung gehabt, „daß ſich der Staat und 
die Ariftofratie deden“. Der Adel hat diefe „Worftellung“ 
no immer. Indem es nun unferer Verwaltung nicht ge- 
lang, unabhängig von der ftantlichen Gewalt zu werden, 
indem ferner die Verwaltung zugleich dem Adel zur Ver- 
forgung zugeteilt wurde, für den fich die ftaatliche Gewalt 
noch immer mit der Macht der paar großen Familien deckt, 
indem fie aljo zugleich da8 Organ der nationalen Bedürf- 
niffe fein fol, als welches allein ja ſchließlich jede Wer- 
waltung zuerft entiteht, fofort aber auch ein Organ ber 
ftaatlichen Furcht vor den nationalen Bedürfniffen wird 
und zudem an ein Perfonal ausgeliefert ift, das es als 
jeine Gebühr, als ein gefchichtlich durch feine Verdienfte 
um die ftaatliche Gewalt erworbene Privileg anfieht, ſich 
dafür vom Volke aushalten zu laſſen, ift die Verwaltung 
bei ung jene merkwürdige Anftalt geworden, die, halb Poli- 
zei, halb adeliges Safino, dem Üfterreicher das tiefe Grauen 
vor ber „Behbrde“ anerzogen Hat. Er traut ihr nicht, 
fie ihm nicht. Er erfchrict, wenn er vor fie gerufen wird. 
Ste iſt gereizt, wenn er fich doch einmal an fie wenden 
muß. Und beide wünfchen fich nur, nicht® miteinander zu 
tun zu haben. 

Hat man dies einmal begriffen, fo wird man gegen 
den einzelnen viel milder, wie denn Einficht in Buftände 
immer geduldiger gegen ihre Menjchen macht. Der ein- 
zelne kann daran nichts ändern. Es wird gewiß in unferer 
Verwaltung anftändige Leute geben. Mehr als der Arg- 
wohn unferer erbitterten Bevölferung glauben mag. Es 


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— 205 — 


nägt nur nichts, fie richten nichts aus, die Verhältniſſe 
find ftärker. Und allmählich jehen fie das dann ein und 
geben es auf. Mancher aus Eigennug, um beſſer fortzu- 
fommen, mancher auch bloß aus Müpdigfeit, weil e8 doc 
feinen Sinn bat, daß gerade nur er allein immer anders 
fin fol, und weil es ja doch nichts nützt. Das „Be- 
amtentum“, hat Burdhard einmal gejagt, „ist ein Würger: 
& tötet Menjchen und jet Schemen an ihre Stelle, Schemen 
voll Unvernunft und Haß, wo Verftand im Kopfe, Menjch- 
lichkeit in der Bruſt geherricht Haben. Unendlich vieles 
läßt fich gegen die Wählbarkeit der Beamten, für die 
Wichtigkeit fachlicher, dauernder Schulung jagen — und 
doc, es follte einer nicht länger als drei Jahre lang, und 
dann erſt wieder nach Jahr und Tag, Inhaber einer 
öffentlichen Macht jein dürfen! Um feiner felbft willen. 
Nur die wenigiten find dem gewachſen.“ Burchard hat 
die an dem Grafen Lamezan gezeigt, der durchaus eine 
Natur, froh und ſtark, doch innerlich am „Beamtentum“ 
verdarb, fich nach und nach völlig verlierend, bi8 aus dem 
Menjchen jchließlih ein „guter Beamter“ geworben war. 
„Deren,“ jagt Burdhard, der es ja wiſſen muß, „gibt es 
drei Kategorien: Da ift einmal der „gute Beamte“ 
unterfter Güte, dag tft der Beamte, für den die Paragraphe, 
die Gejege, das Um und Auf feines Beamtentums find, 
der fich mit juriftiihen Deduftionen eine Meinung über 
den wahren Inhalt und die richtige Anwendung jeiner 
Paragraphe bildet und nun, ohne nach recht? und links 
auf Menjchen oder Verhältnifje zu ſehen, nach jeinen Para- 
graphen adminiftriert und judiziert, mögen Eriftenzen 
vernichtet werden, mag der Blödfinn triumphieren, mag 


— 206 — 


der Staat, die Welt in Franſen gehen. Dann kommt der 
„gute Beamte“ zweiter Güte, dem die Inftitutionen alles 
find, dem die Gejege und ihre Auslegung nur Mittel find, 
die Staatlichen und kirchlichen Autoritäten, die den Staat 
und die Kirche und die „Gejellichaft“ erhaltenden Ideen 
zu ftügen und zu fehügen, und der, wenn diejer höhere 
Zweck es erheijcht, die Paragraphe biegt und dreht und 
bricht — joweit es ihm nötig erjcheint. Und dann ift 
noch der „gute Beamte“ erjter Güte, der Mann, dem die 
maßgebenden Perjonen, die „Chefs“, alles find und dem 
die Gejege nur der erforderliche Apparat find, den jeweiligen 
Willen der jeweiligen Vorgejegten zur Ausführung zu 
bringen.“ 

Wie nun aus einem netten braven Menfchen, ohne 
daß er es ſelbſt merkt, eigentlich nur duch Ermüdung, 
indem er unwillfürlich nach und nach den anderen angepaßt 
wird, ein „guter Beamter“ entfteht, das ift das Thema 
der neuen Kombdie. Nat Schrimpf ift von bürgerlicher 
Herkunft. Man braucht ja doch auch ſolche: für die Arbeit. 
Er nimmt es mit feinem Amte jehr genau. Er hat ent 
behren und entfagen gelernt, er Iennt die Freuden des 
Lebens faum, aber verlangt fie ſich auch gar nicht: die 
innere Freude, das Rechte zu .tun, ift ihm mehr, „das 
Nechte oder doch das, was er für das Nechte hält, was: 
nach dem Gejege, an das er nun einmal gebunden ift, 
ihm als das Rechte erjcheinen muß; und dieſe innere 
Freude daran, unabhängig zu fein, alles, was man tut, 
umfonft zu tun, ohne Lohn, frei von jeder Beeinfluſſung 
durch Freunde oder Vorgefegte, frei von Liebe und Hab, 
die fit auch etwas und gewährt vielleicht mehr Glüd, 





— 207 — 


. 


jedenfalls vielmehr Befriedigung als all das, auf was man 
dat verzichten zu müſſen, um zu ihr zu gelangen“. Er 
wird damit feinen Vorgeſetzten natürlich bald unbequem. 
&r kommt in den Auf, gern die anderen ein bißchen zu 
„Siften“, was ja bet uns das Wort für jeden ift, der ſich 
vermißt, die Ruhe der allgemeinen Korruption zu ftören. 
Der Statthalter, bei dem er dient, merkt bald, daß er ihn 
nicht brauchen kann: er Tobt fich ihn aljo weg, ins Minifte- 
zum hinauf. Und nun verjucht man, ihn Hier einzu= 
fangen. Zunächſt durch feine kleine Frau, was ja meiftens 
das ficherfte Mittel ift, da Frauen ganz unbefangen in die 
Belt jehen, durch Begriffe von Ehre oder Recht wenig 
behindert ; fie haben darum alle bald Los, daß es nicht 
gilt, anftändig zu fein, jondern flüger iſt, anftändig 
zu feinen. Die Freundin des Miniſters macht fich 
aljo an die Kleine Frau Schrimpf, um durch fie den un« 
beugfamen Rat allmählich umzubiegen. Aber er wider- 
ſteht. Die erfte Verfuchung ift abgejchlagen. (In einer 
Szene, nebenbei bemerkt, von folcher Anmut und wiene- 
riſcher Laune, wie ich in der ganzen heutigen Literatur 
faum eine zweite weiß.) Und er widerfteht aud der nächften 
Verfuhung: eine niebliche Schaufpielerin bietet ſich ihm 
zu einem „fleinen Seitenfprung“ an, wenn er fich dafür, 
in einer Angelegenheit ihres Geliebten, etwas vom Geſetz 
abhandeln läßt. Er widerfteht. Er widerfteht immer, er 
bleibt fich treu, es gibt feinen Vorteil, der ihn verführen 
fönnte, jeine Pflicht zu verraten. Und dann verrät er fie 
Ichließlich aber doch. Ohne jeden Vorteil. Ganz dumm, 
ohne das Geringfte davon zu haben. Ohne dem Mintfter 
einen bejonderen Gefallen zu tun, oder feiner Frau, oder 


— 8 — 


irgend einen Iodenden Mädchen — für nichts. Bloß weil 
er müde geworden tft. Weil feine Nerven es nicht mehr 
aushalten, immer und ewig mit den Kollegen herumzu- 
ftreiten. Weil die Kollegen ihm fo lange zureben, daß er, 
endlich nicht mehr die Kraft hat, immer wieder Nein zu 
jagen. Es geht ihm faft, wie armen jungen Mädeln oft, 
die gern anftändig bleiben möchten. Ein Verführer bietet 
Geld, das Mädel widerfteht. in anderer ift ein hübſcher 
Kerl, das Mädel verliebt ſich in ihn, aber es widerſteht 
Es widerfteht jahrelang. Um dann oft plöglich auf einen 
zu fallen, der fein Geld Hat, der nicht einmal nett ift, den 
es kaum liebt. Ohne Grund. Bloß weil das Mädel 
müde geworden ift. Weil es feine Kraft aufgerieben und 
erjhöpft Hat. Weil es nur ſchon endlich einmal Ruhe 
haben will. Aus fchlechten Nerven eigentlich. Vielleicht 
iſt die Anftändigkeit wirklich nur eine Frage der Nerven. 
Bei den Mädeln, wie bei den Männern. Vielleicht möchten 
die meiften Tieber anftändig fein; fie halten es nur nicht 
aus, es ftrengt fie zu fehr an. Der Spiefbürger, der 
von Korruption hört, denkt immer gleich an Beſtechung 
duch Geld. Aber das ift wirflich die Heinfte Gefahr für 
unjere Verwaltung. Man braucht meiftens gar fein Geld 
dazu. Es geht billiger. Das Beilpiel der Kollegen ge- 
nügt. Täglich und täglich fehen, wie die anderen find — 
wer behält da die Kraft, anders zu bleiben? Und warum 
denn au? Wozu denn auh? Cs nügt ja doc) nichts, 
ein einzelner Tann e3 nicht ändern. So macht einer den 
anderen Elein und jchlecht, einer wird am anderen matt. 
Und der Unterfchied ift vielleicht nur, daß der eine davon | 
etwas hat, und der andere nicht, Der Anftändige iſt 





— 209 — 


vielleicht nur der Dumme, Nicht bloß in der Bureau» 
= fratie, 

z Den Schrimpf gibt Herr Höfer in feiner vorfichtig 
zurückhaltenden Yet, der es vielleicht mur ein bißchen an 
Farbe fehlt. Ein Komtler hätte die Figur draftiicher nehmen 
: tönnen, aber wie Herr Höfer dafür dieſes langſame DVer- 
finfen, ja förmliche Bergehen eines Charakters zeigt, das 
ift vortrefflich. Vortrefflich auch feine fleine Frau, das 
muntere Fräulein Exl, das fich geftern ind Herz des Wiener 
Publikums geplaudert Hat. Und vortrefflich die Damen 
Schuſter, Wallentin und Faſſer, die Herren Kramer, Kut- 
ichera, Jenſen und Birron. Der Autor konnte denn auch 
: fchon vom zweiten Akte ab für den Erfolg danken, der 
: gleich ſehr Herzlich begann, nach dem dritten Akte jehr 
: ftürmifh war, dann ein Elein wenig nachließ, um nach 
dem legten faft zu einer Demonftration zu werden. 

















Die Juden. 
: (Schaufpiel in vier Aufzügen von Eugen Tſchirikow. Zum erften 
: Mal aufgeführt im Deutſchen Volkstheater von der Berliner Truppe 
Carl Meinhards am 15. Juni 1905.) 

Ein niedriges Zimmer in einem Keller. Links geht 

«3 zur Wohnung, rechts ift der Laden des alten Uhrmachers 
Leiſer Frenkel. Drüben Hört man den Lärm ftreitender 
Stimmen. Vorn figt Frenkel an der Arbeit, mit Schloime, 
feinem Gebilfen. Und die beiden reden. „Nein,“ jagt 
Leiſer, „nein, Schloime! Ich werd’ es nicht mehr erleben, 
meine Augen werden e3 nicht mehr fehen! — Aber viel- 
leicht werden meine Enfel oder Urenkel wieder nach Paläftina 

Hermann Bapdr, Gloſſen. 14 


— 210 — 


fommen.“ Und der junge Schloime feufzt: „Das gebe 
Gott, Reb Leifer!“ Und Leifer weiter: „Und fie werden 
enblich ihre eigene Heimat haben, wie jeder Menſch!“ Und 
Schloime wieder: „Das gebe Gott, Reb Leiſer!“ Und 
Zeifer: „Und ich... . ich werd’ hier bleiben, auf fremder 
Erde! ... Vielleicht bringt dann jemand aus Paläftina 
eine Handvoll Heilige Erde mit und wirft davon auch auf 
mein Grab.“ So reden diefe zwei, und man ſpürt gleich: 
fie reden es alle Tage, müfjen es reden, jeden Tag, denn 
Tein anderer Gedanke kann in ihnen fein, davon leben fie. 
Beide. Der alte Leijer, der in feinem Leben dreimal alles 
verloren hat und dreimal fein Leben wieder angefangen 
Bat. „Wie eine Biene hab’ ich tropfenweiſe den Honig 
aufgefammelt, Und wenn in meinem Bienenftod genug 
Honig war, dann haben fie mir ihn zerftört und alles, 
was drin war, herausgenommen.“ So wie e8 mit Hiob 
geihah: Da kam ein großer Wind von der Wüfte her und 
fegte alles weg. Und ebenjo Schloime, der.freilich noch 
zu jung ift, um ein rechter Jude zu fein: „Man hat did 
noch zu wenig geprügelt,“, jagt Leijer. Aber e3 fängt ſchon 
an. Er erzäpft: „Als ich geitern früh über den Markt 
ging, da hat mich ein Betrunkener im Genick gepadt und 
mir einen Hieb verjegt . . . ich Hab’ ihm ja gar nichts 
getan — ich ging nur ſo. ... Und als ich dann davon 
lief, da warf einer mit einem Stein nach mir! ... Gott 
ſei Dank, der Schuft traf mich nicht! ... Es war ein 
geoßer Stein! ... Was hab’ ich denn getan?! Ich ging 
nur fo...“ Under weiß es doch längſt: fie Haben ihm 
ja feine Mutter getötet, damals in Wilno, als die Ber- 
folgungen waren. Darum figen die zwei und reden nur | 





— 21 — 


inmer davon, an der Arbeit, und denfen an den Tag, von 
dem es heißt, daß, wenn Meſſias kommt, daß alle Juden, 
die in verjchiebenen Ländern wohnen, in Polen, bei und, 
in Amerika, in Afrifa und in England und überall, alle 
unter der Erde nad) Paläftina ziehen werden. ber indem 
ſie jo figen und fo reden, dringt der Lärm von Streitenden 
ber, von Leijerd Kindern und ihren Freunden. Er hat 
einen Sohn, dem e3 lieber ift, Boris zu heißen, als Boruch, 
wie ihn der Bater nennt, und hat eine Tochter, Lija, und 
die beiden hätten lernen follen, um es einmal beſſer zu 
haben, aber man Hat fie von der Univerfität fortgejagt, 
„wegen Beteiligung an Unruhen“. Das kommt davon, 
wenn der Menjch zu Hug wird. Das ift ein großes Un- 
glüd, jagt Leijer. „Wenn der Menſch jehr Hug wird, tft 
es ebenfo jchlimm, wie wenn er ein Dummkopf wäre. ... 
Dann fängt er an zu glauben, daß er klüger als Gott 
ſelbſt ift.“ Boruch glaubt nicht mehr, daß die Juden noch 
einmal nad) Paläſtina kommen werben, er jagt, daß das 
alles Märchen find. „Ja, es ift ein großes Unglüd, feine 
Kinder jo Hug werden zu lafjen, daß fie an dieſe Märchen 
nicht mehr glauben. Es ift ein großes Unglüd, denn wenn 
der Jude an diefe Märchen nicht mehr glaubt, dann Hört 
er gar bald auf, Jude zu fein.“ Boruch und Lila find 
auch in der Tat eigentlich Feine Juden mehr, fie fühlen 
nicht mehr jüdiih, fie möchten aus allem diefem heraus. 
Bie ja dem Zioniften Nachmann, der fie liebt, den auch 
fie einft zu Lieben glaubte, während es doch nur Dankbar- 
feit war, Dankbarkeit für den Lehrer, der ihr „den breiten 
Horizont des Lebens“ erjchloffen hat, wie fie dieſem, nach 
zwei Jahren aus der Reſidenz zurücgefehrt, befennt: „In 
14* 


— 12 — 


diefen zwei Jahren hab’ ich vergeſſen, daß ich eine Jüdin 
bin! Ich hatte fo viel gute Menfchen um mich her, Rachmann, 
denen es gleich galt, ob ich eine Jüdin bin oder feine... 
Das Leben floß voll und reichlich dahin, und ich Dürftende 
trank mit vollen Bügen. . . . Als ich hieher fuhr und auf 
dem ftaubigen Wege wieder einen Juden in feiner Tracht 
erblickte, fuhr ich zufammen. ... Er ging in Pantoffeln, 
weißen Strümpfen und einem langen Rod... gebüdt, 
bager, mit einem großen filberweißen Bart... . Ich jah 
ihn an und mir war es plöglich, als ſähe ich ein altes, 
halbzerfallenes Haus verödet und verlafien vor mir, in 
dem ich einft, vor Langer, langer Zeit, als Kind gelebt 
babe.“ Dem Bruder ift es nicht anders ergangen, er hat 
fi einen neuen Talmud gefunden: Marx. Und darin 
eine neue Sehnfucht, neue Hoffnungen, neuen Glauben. 
Und neue Freunde, die nicht mehr fragen, zu welcher Nation 
einer gehört, die überhaupt nur noch zwei Nationen kennen: 
„Die eine arbeitet viel und it wenig, die andere arbeitet 
wenig und ißt fehr viel!“ Die auch „nach Haufe“ wollen, 
aber nicht in irgend ein Jeruſalem der Vergangenheit, 
fondern in das Haus der befreiten Menjchheit. Die be 
griffen Haben, „warum der eine Menſch den andern an der 
Kehle würgt“, und von denen darum feiner mehr ein Aufie 
oder Pole oder Jude, jondern jeder nur noch einfach ein 
Menſch fein will. Seitdem kann er an die Wiedergeburt 
feines Volkes nicht mehr glauben, weil er jet einen höheren 
Glauben hat: an die Wiedergeburt der ganzen Menſchheit. 
Und wenn jener Bionift an das Wort des Propheten 
Sacharia mahnt: „Zu der Zeit werden zehn Männer aus 
allerlei Sprachen einen jüdifchen Mann bei dem Zipfel 





— 213 — 


ergreifen und jagen, führe und nach Jeruſalem!“, jo Hält 
er es jegt mit feinem Freunde, dem jüdiichen Arbeiter Iſerſon, 
dee dem Schwärmer entgegnet: „Es iſt ſchon in Erfüllung 
gegangen... . Der Prophet iſt gelommen! Alle Ber- 
folgten aus allen Stämmen, in Scharen folgen fie Marz 
nah! Mögen die Blinden und Tauben warten, bis man 
fie nach) Jeruſalem führen wird.“ 

Aber dann ift noch ein anderer Jude da, Doktor 
Fuhrmann, Arzt, breit, behaglich, ſatt, gut gefleidet, ſchwere 
Bigarren ſchmauchend, für den das alles, der Sozialismus 
der einen wie der Zionismus der anderen, im Grunde nur 
Neurafthente, nur Hyfterie if. Es kommt nicht viel dabei 
heraus, als hochſtens „nur ein blind verfehltes Leben und 
verpfuſchte Karriere“. Necht töricht von Juden, „für die es 
ohnedies nicht viel Karriere gibt“. Den Sozialiften jagt 
e: „Ih Tann e3 nicht verftehen, wie ihr jungen Herren 
euer Leben einzurichten gebenft! Ihr wollt auf fremden 
Grund bauen ..., daraus wird aber nichts werden! 
Denn wenn es euch auch gelingt, etwas aufzubauen, etwa 
eine Scheune des allgemeinen Wohlergehens, dann wird 
man euch, den Juden jagen: ort vom fremden Boden! 
Und fo wird es kommen, daß ihr wieder nichts haben 
werdet; nicht einmal diefe Scheunel . . . Ihr jungen 
Herren verſchafft euch zum zweiten Mal ägyptiichen Städte- 
bau, dem wir feinerzeit glücklich entronnen find . . . dank 
der Liebenswürdigfeit de8 Moſes!“ Und den Bioniften 
jagt er: „Ich glaube, daß der Bionismus eine gejunde 
Strömung in dem Leben unjerer Juden ift. Es bringt, 
jozufagen, in unfer nationales Selbftbewußtjein ein paar 
Tropfen Wiedergeburt hinein. . . . Ich glaube aber nicht 


— 4 — 


an die Verwirklichung des idealen Endzieles des Bionismus. 
Das ift genau jo eine Utopie, wie der Sozialismus. Man 
muß das Leben innerhalb des Möglichen... . und des 
Realen einzurichten fuchen.“ Und erklärt ihnen auch gleich, 
wie er jich das denkt, dieſes Leben eines Juden innerhalb 
des Möglichen und des Nealen: „Wir dürfen nicht ver- 
geſſen, daß wir, die Juden, fogar auf der Höhe unferer 
politiſchen Macht, nur eine religids-nationale Aggregation 
waren. Ohne unfere Religion find wir keine Nationalität! 
... Ein gebildeter Jude verliert mit feiner Religion feine 
Nationalität. Das iſt das Gefeg der Hiftorifchen Evolution 
bes jübijchen Volkes. Unjer Judentum ift nur durch die 
Religion ſtark. Wer von den gebildeten Juden kann ſich 
aber religids nennen? ch kenne feinen, bin nie einem 
ſolchen begegnet! An einem jolden gibt es dann bald 
nichts Judiſches mehr. Vielleicht nur der Akzent — über 
den alle lachen, der eine unerjchöpfliche Duelle für die 
ruſſiſchen Wigbolde tft. — Was bleibt nun unter diefen 
Unftänden zu tun? Es wird verlangt, du jollit Dich 
taufen lafjen: laß dich taufen! — Bald geſchehen! Man 
fpottet in deiner Gegenwart über die Juden: Lac} auch du! 
denn es ift unvernünftig zu weinen. Der arme Jude muß 
Hungers fterben: fieh aljo, daß du reich wirft! denn der 
Jude mag ebenfowenig fterben, wie jedes andere vernünftige 
Geſchöpf. Dunn, wenn du reich wirft, werben fie fich vor 
dir, dein Juden, büden und du, der Jude, wirft über fie 
laden... . Das ift die ganze Logik des Lebens!" Das 
ift feine Art, fi „anzubauen“, auf ficherem Grunde: ge- 
haßt wird nun einmal jeder Jude, aber dem Reichen ſchadet 
fein Haß. 


— 15 — 


Borte, Worte, höre ich) nun gegen das Stüd fagen, 
nichts als Worte die ganze Zeit, es wird immer nur ge- 
redet, nichts geſchieht, bis ganz zulegt der wütende Pobel, 
durch Nachrichten aus Kiſchinew verhegt, in das Haus 
dringt, um alles, Sozialiften und Bioniften, Juden und 
auch den Chriften, der fein geliebtes Mädchen retten will, 
mörderifch zu zerichlagen. Worte, nichts ald Worte. Aber 
in dieſen Worten fteht daS ungeheuere Leid diejes alten 
Volles und fein ewiges Schicjal fteht darin. Und fie 
Tommen mandjmal, rauchend von Blut, jo tief herauf und 
dringen mandjmal, brennend von Scham, fo tief hinein, 
daß einem vor der Menichheit graut. Worte, jo beladen 
mit uralter Schuld, daß fie vor Zorn ftark umd groß wie 
Taten werden. Eine Szene ift da, zwifchen Lija und dem 
armen jungen Chriften, der fie liebt, wo ſich in dieſe ftille 
Liebe jogar dad Mißtrauen der verfeindeten Raſſen ſchleicht 
und jedes Wort des einen im Ohr des anderen fo ver- 
dreht, daß fie fich nichts mehr jagen Tönnen, ohne ſich zu 
quälen. Des Menichen tiefftes Leid, daß jeder doch immer 
einfam bleibt und feiner je zum- anderen hinüber kann, 
wird bier mit einer wilden Gewalt aufgerũhrt, vor der 
man im Tiefſten erſchaudert. 

Die Bearbeitung von Rudolf Bernauer, in der das 
Stüd bier gegeben wird, geht ſehr geſchickt auf das Theatra- 
lifche 108, wobet fie freilich das Geiftige bisweilen graufam 
verftümmelt. Die Darftellung war anfangs merkwürdig 
furchtfam, als traute fie fich gar nicht recht Heraus. Sogar 
Neicher ald Leijer in den erften Akten. Im legten wuchs 
er dann freilich zur ftärkften Wirkung empor. Neben ihm 
Tind Herr Foreft, dem der Dr. Fuhrmann wieder zu einer 


— 16 — 


durchaus Tebendigen und perjönlichen Figur wird, und 
Herr Bernauer zu nennen, ber al3 Boris den gewaltfamen 
und doch unfiheren Ton eines entwurzelten Menjchen 
eigentümlich rührend trifft. Seltjam war das Publikum. 
Auf der Galerie freilich mit Leidenſchaft dabei; es hätte 
am liebften wie in einer Volfsverfammlung gleich mit- 
geipiel. Was Spöttern vielleicht naiv, mir aber viel 
natürlicher fcheint, als das leiſe Sträuben unten im Parkett, 
wo man, ftatt ſich mit dem Autor zu entrüften, eher gegen 
ihn verftimmt war. Der legte Aft mit jeiner tojenden 
Kraft riß durch Neichers jähe Macht freilich auch diefe 
ſcheu Widerjtrebenden hin. 


Rosmersholm. 
(Schaufpiel in vier Akten von Henrik Ibſen. Neu inizeniert im 
Deutſchen Volkstheater am 21. September 1906.) 

Hebbel der Letzte, Ibſen der Erfte. Hebbel das Ende, 
Ibſen ein Anfang. Hebbel das Geſetz, Ibſen die Freiheit. 
Moraliften find beide. Auch Ibſen noch, immer von der 
tage verfolgt, was wir jollen, und unfähig den Menſchen 
Hinzunehmen. Aber er zweifelt doch fchon und wo bie 
Natur feindlich auf das Gefeg ftößt, iſt er für fie, während 
Hebbel ſich immer zum Gefeg ftellt. Dieſer weiß auch, 
wie viel das Geſetz zerftört, an Mut, an Schönkeit, an 
Kraft. Daß es den Menjchen Hein und brüchig und 
mürbe macht. Daß es ihn entmenfcht oder, wenn fich die 
menſchliche Natur in ihm wehrt, zerbricht. Nur fcheint ihm 
dies gerade der eigentliche Sinn der Welt, die fo ge- 
macht et, daß fie nur das Mediocre zulaffen Kann, und 


— 2117 — 


dem Untergange alles Ungemeinen, dem Untergange der 
volltommenen Tugend („Senofeva“), dem Untergange der 
volllommenen Schönheit („Agnes Bernauer“), fieht er 
auftimmend, faft beifällig zu, ja, man muß jagen, daß 
er daran eine tüdijche Freude verrät. Das fittliche Geſetz 
und die menfchliche Natur find ihm unvereinbar. Er be— 
wundert dieſe, wenn fie jich gegen jenes empört. Sa, ſolche 
Empörung ift für ihn das Schönfte, was die Welt zu 
zeigen hat. Nur zweifelt er nie, daß es immer gegen die 
Natur enden muß. Daß das Gejeg am Ende ftärker ift. 
Und daß dies notwendig und recht und das eigentliche 
Beien der für ihn eben durchaus tragiichen Welt iſt. 
Unheimlich, wie er fich im Grunde Gott dent: als einen, 
der fi) eben das heimlich wünſcht, was er nicht will. 
Der das Geſetz will, aber mit einer ftillen Liebe für jeden, 
der es bricht. Der die Sehnjucht in den Menjchen legt, 
groß und ſtark und ſchön zu leben, aber dann den Tod 
darauf jegt. Denn das fittliche Gejeg ift für Hebbel durch- 
aus göttlich, mit aller ewigen Macht bewehrt (er ftedt noch 
ganz in der politijchen Romantik), und jede menjchliche Natur, 
die fich nicht verleugnen und verengen lernt, ift ihm ſchon 
eine tragiſche Schuld. Aber inzwifchen wächſt ein anderes 
Geichlecht auf, daS es dem Geſetze nicht mehr glaubt, 
göttlich zu fein. Es zweifelt. Es fragt. Es horcht. Und 
& findet, wie veränderlich das „ewige“ Geſetz ift, Menichen- 
werk, durch Menſchen entftehend, mit ihnen vergehend. Und 
fo findet es, daß nicht die menjchliche Natur dem fittlichen 
Gefege zu folgen Hat, fondern das Gefeg vielmehr der 
Natur. Ibſens Gejchlecht. Denn das ift Ibſens Tat: 
er entgöttert das Geſetz. Wunderichön bat Kerr einmal 


— 218 — 


geſagt: „Ibſen ift Luzifer. Sein ganzes Werk ift im 
Grunde das eines Engdttererd. Das Werk diejes ſchonen 
und traurigen und ftarfen Engels, der „Gegenſchöpſer“ 
fein will.“ Er hätte nur, um alles zu fagen, Binfegen 
müffen, daß Ibſen nicht fertig wurde. Darum wirkt Hebbel 
als der Stärkere, weil er am Ende der alten abgeichlofjenen 
Welt fteht; und fo rollt er fie noch einmal auf. Aber 
Ibſen ift unfer Anfang. Nein, kein „Gegenſchöpfer“ jelbft. 
Aber einer, der es will. Und der einer neuen Menjchheit 
den Mut und den Trog gibt, es zu werden. 

Schon die Heine Nora jagt: „Ich muß heraußfriegen, 
wer recht hat, die Gejellfchaft oder ich,“ Ihr iſt das Ge- 
ſetz nichts Gottliches mehr, fie ftellt ihr eigenes Gefühl 
gegen das Geſetz. Gefühl und Geſetz, das ift anfangs Ibſens 
Problem. Wer hat recht? Ihr jagt, jo fol der Menſch jein, 
und feid anders! Das geht durch feine ganze Jugend, die 
überall nur auf Einigung drängt, Einigung des Lebens mit 
dem Denken. Wie Nietiche einmal an Burdhardt ſchrieb: 
„Ich Habe den Punft erreicht, wo ich Iebe, wie ich dente!“ 
Was wirklich wie dad Motto des ganzen Ibſen flingt. 
Unfer Elend: daß die Menfchen, durch das Geſetz verhalten, 
ein Außeres oder inneres Geſetz, anders leben müſſen, als 
fie denfen und fühlen. Uniere Sehnfucht: jo leben zu 
Tönnen, durchaus nur fo, wie wir denken und fühlen. Was 
fol uns das entgötterte Gejeg? Menſchenwerk, das Men- 
chen ändern Zönnen, wie fie es ſchufen: nach fich feldft, 
duch ihr Gefühl. Aber da ftößt Ibſen auf die Frage: 
Wie, wenn einer fein ficheres Gefühl hat? Denn auch 
das Gefühl ift nicht „göttlich“, ift nicht „ewig“, wandelt 
fi mit den Menfchen, ſchwankt auf und ab, entgleitet. 


— 19 — 


Und wie, wenn, was das Gefühl des einen bejaht, durch 
das Gefühl des anderen verneint wird? Brauchen wir dann 
wicht Doch erft vecht wieder ein Geſetz, das enticheidet? Und 
wer jchügt das Gefühl gegen ein feindliches anderes? 
Hier fett der Glaube Ibſens ein, der Glaube an die Macht 
großer und guter Menjchen, die bloß da zu fein brauchen, 
um durch ihre Nähe ſchon, durch ihren bloßen Anblid, 
jeden, der neben ihnen lebt, nach ſich umzuformen, zu ſich 
aufzubilden. Ein Glaube. Unbeweisbar wie jeder. Aber, 
auch wie jeder, dem Gläubigen unmittelbar gewiß: nämlich 
durch innere Notwendigkeit. Wird einem Menſchen ge- 
wiß, daß etwas fein muß, damit er Iebe, fo hat man 
ihm damit ſchon bewieſen, daß diefes ift. Diejes neue 
Geſchlecht kann nicht leben ala nur in vollfommener innerer 
und äußerer Freiheit, es kann nicht. Sieht es num ein, 
daß Freiheit nicht möglich ift als nur durch eine von den 
großen und guten Menjchen aus die Welt nad) ihnen bil- 
dende Macht befchügt, jo glaubt es an dieje. Freilich eine 
Religion. Ibſens Religion. Mit der jublimen Heftigfeit 
und Wildheit aller Religionen. 

So wirft Rosmersholm. Religids. Wie ein heftig 
und verzüdt ausgeſtoßenes Kredo. Aber nicht zum Himmel 
auf, fondern über die Erde hin: hier joll jet der Himmel 
werden. Ohne Gewalt, durch die Macht allein, die dag 
bloße Dafein großer und guter Menfchen hat. „Adels- 
menfchen“ nennt fie Ibſen hier, was mich immer ein biß- 
Gen ftört, weil mit der Zukunft Namen der Vergangenheit 
nicht ftimmen fönnen. Aber wir wifjen ja jchließlich, was 
er meint. Wir denken und wohl auch heute ſolche große 
und gute Menjchen anders, ald er den Rosmer gezeichnet 


— 0 — 


hat, vor faſt zwanzig Jahren. Vor allem nicht als Prediger. 
Nicht als einen, der nicht lachen kann. Nicht als einen, 
den Schwermut und etwas wie Scheu vor ſeinem eigenen 
Weſen drüdt. Auch als einen Erben hoher Ahnen denken 
wir uns ihn faum, wir Haben Argwohn gegen Erben. 
Viel lieber als einen, der plöglich irgendwo aus der Tiefe 
der Menfchheit jpringt, und mit ihm fpränge die ganze 
Menjchheit herauf. Aber jchlieklih, auf Rosmer kam es 
Ibſen doch auch viel weniger an, al3 auf Rebekla. Er 
iſt wirklich faft nur ein Abſtraltum, ein Zeichen oder wie 
man e3 nennen will, eben bloß: die fanfte Macht der 
großen und guten Menfchen. Aber Rebekla. An ihr hätte 
ſich Niegfche gefreut. (Mebenbei: es gehört für mich zum 
unbegreiflich Tückiſchen und Teuffiichen des Lebens, wenn 
Nietzſche wirklich, wie mir verfichert wird, Ibſen nicht ge- 
kannt hat, der doch mit Wagner und ihm den Geift der 
jet anfangenden Menfchheit ausgeprägt hat.) in pracht- 
voller Menſch, prachtvoll, wie er überall ganz auf fich 
ſelbſt fteht, ungebrochen, ungefnidt, ungebogen. Prachtvoll 
ſchlecht, in fchlechten Zuftänden. Prachtvoll gut, fobald 
er zu fich felbft kommt, in die Freiheit. Prachtvoll, weil 
er die höchfte Kraft der Natur Hat: bie Kraft der Ver- 
wandfung. Der „Überformung“, von der ſchon der brave 
Angelus Silefius weiß. Die Kraft der Liebe, deren Weſen 
ja nur dies ift: uns in Entrüctheit das Höchfte der Menich- 
heit plöglich erbliden und uns ihm fo nähern zu lafjen, 
daß wir ihm ähnlich werden. Jene helljeheriiche Rahel 
Hat ein merkwürdige Wort gejagt: „Wir jelbft find ung 
ein Bild, und werden wir ein anderes vor uns haben, fo 
werden wir anders fein.“ Darin iſt das Geheimnis aller 


— 21 — 


menſchlichen und vielleicht auch der tierifchen Entwidlung 
enthalten. Und feltfam: es enthält doc) auch den ganzen 
Zul der Rebekka. Sie ift fich ſelbſt ein Bild, erft das 
aller Häßlichleit und Wildheit, die fie in ihrer Welt er- 
blickt; aber dann, Rosmer erblickend, will fie ihm gleichen, 
den fie liebt, und indem fie nun ein anderes Bild von 
fi, feinem gleich, in ihrer Seele hat, muß fie auch anders 
fein. An das tieffte Wunder alles Werdens tft Hier ge- 
rührt und man fpürt faft, wie den Dichter vor feinen 
eigenen Gefichten fehaudert und er ftodt. Aus Angft, ins 
Unbetretene, Unerforichliche zu geraten. Wird es immer 
unerforjchlich fein? Aber vielleicht kommen Menſchen nach, 
Ibſens würdig, und haben feinen Mut auf jeinen Wegen. 
Und vielleicht, daß einer von ihnen dann einen anderen 
Rosmer ſchaffen wird, einen untragiichen Rosmer, der mit, 
feiner Rebelka nicht in den Mühlbach geht, jondern lebt, 
weil er nicht glaubt, daß jemals eine Schuld durch den 
Tod geführt werden Tann, fondern nur durch ein andereg 
Leben. 

Rosmersholm ift vor fünf Jahren von den Berlinern 
Brahms gefpielt worden, in einer literarifch unanfechtbaren, 
aber fhaufpielerifch dünnen und dürftigen Vorftellung, und 
vor zwölf Jahren ſchon im Volkstheater, mit der Sandrod, 
die als Rebekla von einer unvergeflichen Gewalt und Tiefe 
war. Dept gibt diefe Fräulein Wallentin, von Herrn 
Vallentin geführt, dem neuen Negiffeur. Weide gleichen 
fi darin, daß ein ungemeiner Sunftverftand mit dem 
feinften Gehör für die leijeften Intentionen des Dichters 
fie merhvürdig welt bringt, oft bis dicht an das Letzte 
heran. Es verdient Bewunderung, wie fie, die im Grunde 


— m — 


gewiß eine ganz untragiiche Natur ift, ſich dennoch Wir- 
tungen abzuringen weiß, denen man e3 gar nicht mehr 
anmerft, daß fie fünftliche find, und wie er cerebral und 
nervds erjegt, wa ihm an urjprünglicher Leidenſchaft fehlt. 
Sie Haben ſich auch beide vor derjelben Gefahr zu hüten, 
der nämlich, überdeutlich zu werden, unerfättlich im Gloſſieren 
und Kommentieren, und alles jo zu verbehnen, ja mandj- 
mal fait zu zeripielen. Den Rosmer gab Herr Jenſen, 
anfangs recht ziellos, unficher den Ton fuchend, ben er 
erft im dritten Aft fand, dann aber immer freier und 
wärmer, beſonders in der erſten Szene des vierten von 
fehönfter Stimmung. Als Brendel wirkte Herr Weiſſe 
ſtark, doch kehrt er wohl den Hjalmar darin mehr heraus, 
als die im Grunde tief ernfte, tief traurige Geſtalt will. 


1905 


Deutſches Volfstheater. 
(nDer zerbrochene Krug” von Kleiſt. „Der grüne Kakadu“ von 
Arthur Schnigler. Am 14. Dftober 1906.) 

Der alte Schauſpieler Genaft erzäßlt vom „Zer- 
brochenen Krug“ in Weimar, am 2. März 1808: „Bei 
der Aufführung diefes Stüdes ereignete fi ein Vorfall, 
der in dem Heinen Weimarfchen Hoftheater noch nie da- 
geweien und als etwas Unerhörtes bezeichnet werden fonnte: 
ein herzoglicher Beamter hatte die Frechheit, das Stüd 
auszupfeifen. Karl Auguft, der feinen Plag . . . auf dem 
fogenannten bürgerlichen Balkon hatte, bog fich über die 
Brüftung heraus und rief: „Wer tft der freche Menſch. 


nn —— 


— 23 — 


der fich unterfteht, in Gegenwart meiner Gemahlin zur 
pfeifen? Hufaren, nehmt den Kerl feſt.“ Dies geihah 
... und er wurde Drei Tage auf die Hauptwache geſetzt. 
Den anderen Tag fol Goethe gegen Riemer, der e8 mir 
mitteilte, bemerkt haben: Der Menfch Hat. gar nicht fo 
unrecht gehabt; ich wäre auch dabei geweſen, wenn es der 
Anftand und meine Stellung erlaubt hätten. Des An- 
ftandes wegen hätte er eben warten follen, bis er außer- 
halb des Zufchauerraumes war.“ Man weiß aud) fonft, 
daß Goethe in fein Verhältnis zu Kleiſt kommen konnte, 
an dem ihm „die nordifche Schärfe des Hypochonders und 
die Gewaltſamkeit der Motive“ unerträglich war. „Ich 
habe ein Recht,“ Hat er einmal gejagt, „Stleift zu tadeln, 
weil ich ihn geliebt und gehoben habe; -aber fei es nun, 
daß jeine Ausbildung, wie e8 jegt bei vielen der Fall ift, 
durch die Zeit ‚geftört wurde, oder was ſonſt für eine Ur- 
face zum Grunde liege; genug, er hält nicht, was er zu- 
gelagt. Sein Hypochonder tft gar zu arg; er richtet ihr 
ala Menfchen und Dichter zugrunde. Sie willen, welche 
Mühe und Proben ich es mir koſten ließ, feinen „Wajjer-. 
trug“ aufs hiefige Theater zu bringen. Daß es dennoch 
nicht glüdte, lag einzig in dem Umftande, daß ed dem 
übrigens geiftreichen und humoriſtiſchen Stoffe an einer 
tafch durchgeführten Handlung fehlt.“ Und ähnlich ein 
anderes Mal zu Riemer, ſich über die eigenfinnigen und 
igenwilligen Neuen von Kleiſts Art beflagend: „Sie 
meinen, außer dem Rechten gäbe es noch ein Rechtes, ein 
anderes Rechtes, das Hätten fie. Wie wenn es außer dem. 
Schwarzen in der Scheibe noch ein anderes gäbe, und de 
ſchießen fie denn ins Blaue.“ Womit er übrigens nur 


— 2 — 


das allgemeine Gefühl feines Kreiſes ausſprach. So ſchrieb 
Sräulein v. Knebel an ihren Bruder: „Ein fürchterliches 
Zuftfpiel, was wir eben haben aufführen jeh'n und was 
einen unverlöfchbaren unangenehmen Eindrud auf mich 
gemacht Hat, und auf ung alle, ift der „Zerbrochene Krug“ 
von Herm von Kleift in Dresden, Mitarbeiter des fchar- 
monten „Phobus“. Wirklich hätte ich nicht geglaubt, daß 
es möglich wäre, jo was Langweiliges und Abgeſchmacktes 
Binzufchreiben. Die Prinzeß meint, daß die Herrens von 
Kleift gerechte Anfprüche auf den Lazarus-Orden hätten. 
Der moraliſche Ausfag ift doch auch ein böfes Übel.“ 
Kleift gab das Mißgeſchick jelbft zu, als er in den „Phöbus“ 
ein Fragment aus dem Stüde fegen ließ, mit der rejo- 
Iuten Bemerkung: „Da dieſes Heine, vor mehreren Jahren 
zufammengejegte Luftipiel eben jegt auf der Bühne von 
Weimar verunglüdt iſt . ..“ Er Eonnte nur freilich nicht 
ahnen, daß es dabei bleiben follte: indem ſich dag Stüd 
allmählich im ftillen immer danfbarere Lefer gewann, fuhr 
«3 im Theater bei den Zujchauern zu „verunglüden“ fort. 
Eigentlich bis Heute. Laube erzählt in feinem Burgtheater: 
„Noch in einer anderen komiſchen Richtung verjuchte ich 
das Repertoire zu erweitern. Im der Richtung nad) Nor- 
den, möchte ich fagen. Heinrich v. Kleiſts „Zerbrocener 
Krug“ gehört ganz zur nordifchen Komik. — Heinrich 
v. Kleiſt ftand lange auf der Senatorlifte unferer großen 
Poeten. Man meinte, es müfje alles dafür getan werden, 
dem Publitum begreiffich zu machen, daß ihm einer der 
nächſten Sefjel nad) Schiller und Goethe eingeräumt werde. 
Ich war ſelbſt diefer Meinung und hatte vor, alle feine 
Dramen in Szene zu fegen. Zuerſt brachte ich den „Ber- 


2 — 


brochenen Krug“, der hier nie gegeben worden; eigentlich 
ohne Erfolg. Er erſchien zu nordiſch, zu kalt, zu gedacht, 
zu abftralt. Mehr Komik für den Denker, als für den 
Zuſchauer. Der Unterjchied unjerer deutfchen Landsmann- 
ſchaften zeigt ſich da fehr deutlich. Die märkiſche Lands- 
mannſchaft, zu welcher Stleift gehörte, findet das Stückchen 
ihrem Gejchmade zufagend, fie folgt ihm mit Behagen 
Döring gibt auch den DVorfrichter Adam viel zyniſcher, 
fchärfer und frecher ald La Roche, und die Döringiche 
Charakteriftit entipricht dem märkiſchen Grundtone Die 
norddeutſche Komik fteht eben der Kauftik viel näher, als 
die füddeutjche. Aber auch im Norden mußte diejer durch 
die Romantifer berühmt gewordene „Krug“ geftrichen werden 
bis auf die Knochen. Er ift viel zu breit für die Szene. 
Und dem Süddeutſchen ift ein Körper ohne Fleiſch ein 
mißlih Ding“ Im Wien hat er in der Tat eigentlich 
niemals gewirkt. Auch in München nicht, fogar bei 
Dingelſtedts Muftervorftellungen von 1854 mit Döring 
taum. Eigentlich aljo nur in Berlin, fo lange Döring 
den Hofrichter gab. Dann auch nicht mehr. Erſt neulich 
noch, als er im Stleinen Theater wieder verjagte, hat Sieg- 
fried Jacobſohn verzeichnet, es Habe fich „die über alle 
Begriffe herrliche Komödie feit Dörings Tode auf feiner 
Bühne behaupten können“. Warum? Ein von allen 
bewunderte3 Stüd, das überall durchfält. Es muß doch 
einen Grund haben. 

Laube jpricht auch in feinem Stadttheater einmal 
über das Stüd. Und da fagt er einen fehr merkwürdigen 
Sag: „Selbft der „Zerbrochene Krug“, in den Schmidt 
ſchen Verkürzung von Döring meifterhaft dargeftellt in der 

Hermann Bahr, Gloffen. 15 


— 226 — 


Figur des Richter Adam, iſt ganz ſelten geworden im 
Repertoire. Anderswo hat er nie feſten Fuß faſſen fönnen, 
weil man feine Komik, die Komik der Vorausjegungen zu 
ſpitz fand für die Bühne. Dieſe Komik bringt es mit fid, 
daß man nachträglich lacht, im Theater aber will man 
auf der Stelle lachen.“ Die jcheint mir das Wejen der 
Kleiftihen Charakteriftif zu enthalten, welcher fich der Bu- 
ſchauer, auch im Tragifchen, immer erſt nachher durch 
Neflerion bemächtigen Tann, während es dramatiſch ift, fie 
und unmittelbar aufzudrängen. Er braucht aljo Schau- 
fpieler, die dem Bufchauer fogleich bringen, was ihm Diejer 
Dichter immer erſt am Ende, erft bei einer inneren Nevi- 
fion zu Haufe gibt, indem fie vorweg aus Eigenem fpielen, 
was er erft zulegt durch einen langwierigen Prozeß ala 
Nejultat gewinnt. Wir haben im „Krug“ immer am Ende 
das Gefühl: würde er ung jegt gleich noch einmal vor- 
geipielt, jo fönnten wir erft lachen. Er braucht aljo Schau- 
ſpieler, die fähig find, uns durch irgend eine geheime Macht, 
was der Dichter verjäumt, gleich ſchon worempfinden zu 
laſſen, noch bevor e3 ſich aus der Handlung ergibt, die jo 
dramatiſch ift als die Darſtellung ihrer Menſchen un- 
dramatiſch. Tieck muß dies ſchon gemerkt haben. Er fagt 
in den dramaturgifchen Blättern einmal: „Kleiſts Dramen 
geben dem Schaufpieler große Veranlaffung, feine Kunft 
zu zeigen, aber zugleich gehört es zu den allerfchwierigjten 
Aufgaben, fie befriedigend oder auch nur jo aufzuführen, 
daß die Abfichten des Dichters nicht ganz verloren gehen. Alle 
diefe Charaktere müfjen fehr ſcharf umriffen werden, das 
Kolorit ift grell, und beides, Umriß und Farbe, verfchwindet 
zuzeiten beinah wieder ganz, und dem Schaufpieler ift 


— 27 — 


die Ergänzung, gewifjermaßen die Schöpfung, unbedingt 
anvertraut.“ Deutlicher außgedrüdt: man hat bei Kleiſts 
Geftalten immer das Gefühl, daß der Dichter ihren 
„Charakter“ eben durch den dramatischen Verlauf nur erft 
ſucht; und wir müfjen mit ihm fuchen, und wenn er ihn 
endlich gefunden hat, ift das Stüd ſchon aus, es endet 
mit feiner Entdedung. Bei Shafejpeare auch, wird man 
vielleicht jagen. Sa, aber anders: Shaleſpeare dedt im 
legten Aft auf, als jegt für den Vorftand bewiejen, was 
wir mit dem Gefühl ſchon in der erften Szene geheimnis- 
voll antizipiert haben. (Worin Shafejpeare wie das Leben 
ift, unfer Leben ſelbſt, das auch nichts anderes mit uns 
tut) Und eben dies, was Shafejpeare vor Kleift voraus 
hat, diefe magijche Macht, und jogleich fühlen zu laſſen, 
was und die dramatifche Begebenheit dann erft an den 
Geſtalten erkennen läßt, muß dieſem, wenn er wirken fol, 
der Schaufpieler geben. Ich weiß freilich Heute nur drei, 
welchen ich e3 für den „Krug“ zutrauen kann: Novellt, 
Kainz und Girardi. 

Was ih am „Grünen Kakadu“ immer wieder be- 
wundere, ift, daß er ganz unmittelbar auf ung und doch 
feinen Augenblick als Koſtüm wirft. Sonſt jagt man fi 
bei „hiſtoriſchen“ Stüden entweder: Aha, er meint ung, 
er hat ung nur verfleidet, aber wir find’s, uns geht es 
an, unfer Fall wird verhandelt. (Bei Shafejpenre, Goethe, 
Schiller immer.) Oder man weiß gleich, daß eine Ver— 
gangenheit gezeigt werden foll, mit Gebanfen, die wir nicht 
mehr denten, Gefühlen, die und fremd geworden find, 
Menichen, die wir nicht mehr haben. Schnigler trifft es 
wunderbar, beides zu verbinden: dag „Echte“ mit unferem 

15* 


— 228 — 


neuen Gefühl. Niemals empfinden wir das als „KRoftüm*, 
wir find fogleich in jene große Zeit entrüdt. Wir jpüren: 
Diefe waren anders, feiner ift Beute fo, unſer Leben hat 
diefe Form nicht mehr. Und fpüren doch ihre Leidenfchaft 
als unjere und ſpüren zugleich faft einen geheimen Wunſch, 
ihre Vergangenheit zu unferer Zukunft zu machen. Es ift 
Geichichte, ja, aber lebendige, aus der noch Funken in unfere 
Wünfche fpringen. 

Here Höfer, diefer jo kluge, fo geſchickte, nur nicht 
draftifche Künftler, gibt den Adam fehr fein, ohne ihm 
freilich jene pofitive Komik zuzufchießen. Luftig ift die 
Marthe der Frau Thaller, von angenehmer Friſche der 
Nuprecht des Herrn Birron und in die ganze Vorftellung 
bringt Herr Valentin, der neue Regiffeur, ein Tempo und 
einen Zug, die man fonft in diefem Theater nicht kannte. 
Man pürt feine ftarfe Hand auch im ‚Kakadu“, der, von 
den Damen Lißl und Riſcher, den Herren Kramer, Jenſen 
und Birron vortrefflich dargeftellt, das Publikum in einen 
Taumel und Tumult riß, wie man hier lange, lange feinen 
vernommen hat. 


Der König Candaules. 

(Drama in drei Akten von Andrs Gide. Deutiche Umbichtung von 
Franz Blei. Zum erften Mal aufgeführt im Deutſchen Volkstheater 
am 27. Januar 1906.) 

Andre Gide fing ganz dicht bei Barres an. 1891, 
nach feinen Cahiers d'André Walter, nannte Barres ihn 
unter jenen qui tächent & trouver du nouveau, en 
n’6coutant que leur personnalite. Neaftion gegen den 





— 129 — 


Naturalismus. Man wendet ſich von der äußeren Belt 
ab; zuräd zu fich ſelbſt. Die Loſung wird: la culture 
du moi und la gymnastique du moi. Nach der Formel 
des Barrès: &prouver par son moi tout ce qu'il ya 
d’&motion au monde. Alles andere ift zerronnen, nur und 
ſelbſt Haben wir noch. Ad se ipsum. Im fich ſchauen. 
Sich entdeden. Sich geniehen. Gerade das bejonders, 
worin man einzig iſt. Sein Wunder, daß man dann bald 
allein ift. Und dann beginnt die Furt Dann fühlt 
man fich plöglich wanfen. Man will Feſtes, will fi 
anhalten. Da wurde Barres Nationalift. Remy de Gour- 
mont hat diefe Stimmung einmal volllommen ausgebrüdt: 
Acquörir la pleine conscience de soi, c’est se con- 
naitre tellement differönt des autres qu’on ne sent 
plus avec les hommes que des contacts purement 
animaux: cependant entre ämes de ce degre il y a 
une fraternit& idéalo basse sur les diff6rences, tandis 
que la fraternit& sociale l’est sur les ressemblances. 
Barrös erichraf plöglich vor diefer geiftigen Bruderichaft, 
basse sur les differences. Ihm wurde nad) der anderen 
bang, nach der alten, sur les ressemblances. Er traute 
dem Geifte nicht mehr: l’intelligence, quelle petite 
chose à la surface de nous-mömes! Er ftieg noch tiefer 
in ſich hinab, zur eigenen Vergangenheit, ins Unbewußte, 
wo die Gefchichte unferer Väter. fortlebt. Je ne puis 
vivre que selon mes morts .... Nous sommes la con- 
tinuit6 de nos parents. Cela est vrai anatomiquement. 
Ils pensent et ils parlent en nous. Toute la suite 
des descendants ne fait qu’un möme ötre.... Celui 
qui se laisse pönötrer de ces certitudes abandonne 


— 30 — 


la prötention de penser mieux, de sentir mieux, de 
vouloir mieux que ses pères et möres, il se dit: „Je 
suis eux-mömes“! Alſo fich einwurzeln. Zurück zur 
Mutter Erde. Jeder in feine Provinz, Da trennte ſich 
der kluge Gide von ihm, alle Repliken wunderbar in einen 
einzigen Sag drängend, den Renan nicht feiner gefchliffen 
hätte: N& & Paris, d’un pöre Uzötien et d’une möre 
Normande, oü voulez-vous, Monsieur Barres, que je 
m’enracine? J’ai done pris le parti de voyager. Er 
gab zu: für die Seinen, für die Schwachen, für die Feigen 
mag döracinement eine Gefahr fein. Gut, wurzelt fie 
ein! Aber: ich kümmere mich nicht um fie. Ich frage, 
was den Starken frommt. J’aime tout ce qui met 
/’homme en demeure, ou de pörir, ou d’ötre grand. 
Ich und die von meiner Rafje find, wir juchen die Gefahr: 
denn fie nur treibt auß ung, was jeder in fich ganz allein 
bat, und in ihr erſt findet jeder, was darzuftellen ung der 
Sinn des Lebens fcheint: feine attitude nouvelle devant 
la vie. Mag den Schwachen bangen, wir fürchten uns 
nicht: wir reißen uns los, wir reifen, nach allen Gefahren 
der Welt! 

Und er reifte. Nicht bloß ſymboliſch. Biskra, Al- 
gier und Weimar. Um fein Ich allen Verfuchungen aus- 
zufegen. Sehr kühn. Mit einem Trog, der fait mand- 
mal ein bißchen gewaltfam wirft: ich will allein jein, ich 
gehöre nur mir! Iſt er wirklich fo ftart? 

Ich weiß es nicht. Aber eigentlich: ich traue feiner 
Kraft nicht ganz. Sie ift mir verdächtig. Erſtens: er hat 
am Weimariſchen Hofe Merkwürdiges gejagt. Am 5. Auguft 
1903. Einer Einladung des Grafen Stehler folgend, des 


— 31 — 


feinften, klügſten und wirkſamſten Kunftfreundes, den die 
Deutichen jegt Haben. Und da ſprach er: de l’importance 
public. Sehr gejcheite Dinge. Aber mit einer leiſen 
Sehnfucht nach einem wirklich verftehenden, in einen ficheren 
Geſchmack eingefchloffenen Publikum, das er nad) einem 
Worte Molidred die soci6t& d’honndtes gens nennt. Glaubt 
er wirflih daran? Kann er ed, der, wie fein Roman 
„L’Immoraliste“ zeigt, erfannt hat, daß die Wahrheit 
etwas ganz Perfünliches ift, daß jeder feine bejondere 
Wahrheit hat, die er nun gegen alle anderen verteidigen 
muß, daß es jo viele Wahrheiten als Menfchen gibt? Gibt 
er fich dann nicht auf, wenn er auf die Zuftimmung der 
anderen hofft? Iſt das nicht fchließlich auch wieder ein 
enracinement ? Ob es nun Gejeg oder Sitte oder Ge— 
jchmad Heißt: wenn einmal ein andere? Maß gilt, als 
welches ich in mir trage, bin ich dann noch frei? Und 
rein perjönlich geſprochen: Muß ich ſchon gehorchen, dann 
will ich es lieber dem Haufen, den er fo haft, als irgend 
einer „Elite“; und wurzelt man mich ein, dann foll es 
bei meinen Bauern fein, lieber noch als in den Zwang 
Höfifcher Traditionen. 

Und zweitens, was mir noch bedenklicher ift, weil 
das in Weimar vielleicht nur ein Kompliment war: er 
ſchreibt Stüde. Kann einer Stüde jchreiben, der verweigert, 
fich einzumurzeln ? Darf einer fagen, er jet frei, der Stüde 
fchreibt? Stüde jchreiben heißt wirken wollen; wirken 
Heißt gefallen ; gefallen jchmeicheln ; ſchmeicheln ähnlich fein, 
gleichen; wer aber dem Haufen gleicht, ift der noch frei, 
ift der no wahr? Gide fühlt das felbit, aber 
er will es drehen. Mit großer Lift; in einer feiner Lettres 


— 232 — 


& Angdle. Sa, jagt er, eine Komödie tft faite pour 
&tre jouée, aljo: pour &tre livr6e à la foule. Sie wird 
dem Haufen ausgeliefert und der Dichter mit ihr: der Dichter 
bringt fih dem Publikum dar. Aber da widerjpricht Gide. 
Nein, jagt er, umgefehrt. Et pourtant je ne peux con- 
sidörer le drame comme soumis au public; non jamais ; 
je le considere comme une lutte au contraire, ou mieux 
comme un duel contre lui..... duel oü le möpris du 
public est un des prineipaux 6löments du triomphe. 
La grande erreur de nos dramaturges modernes est 
de ne pas möpriser suffisament leur public. Il ne 
faut pas chercher & l’acquerir, mais à le vaincre. Un 
duel, vous dis-je et d’oü le public sorte, et battu et 
content. Ich muß fagen, daß ich das nicht glaube ; oder 
doch nicht mehr glaube. Wir betrügen und Damit nur 
felbft. Vainere, das klingt ftolz und kühn. Uber im 
Geiftigen fiegt über den Haufen nur, wer fich ergibt. 
Und auf den Sieger im Theater gerade, auf den Dichter, 
der das Publikum beziwungen hat, feheint e8 mir zuzutreffen, 
daß er heimfommt, et battu et content. Wenn Gide 
erſt einmal einen Erfolg hat, den wirklichen großen Erfolg, 
wird er ſchon erfahren, daß es nicht er ift, der „gefiegt* 
bat, nicht feine attitude nouvelle devant la vie, niemals, 
jondern immer nur das, worin er den anderen gleicht, 
worin er gemein ift. Was übrigens wahrjcheinlich nicht 
bloß vom Theater, jondern von. allen Wirkungen auf 
Menſchen gilt. 

Den Fall des Königs Candaules Iennen wir durch 
Hebbel. Gide läßt dasſelbe geichehen, aber aus anderen 
Motiven. Hebbel ftellt den König auf den Trog ber ei- 


— 33 — 


genen Vernunft, die, Sitte, Vorurteil, Herkommen ver- 
ſchmähend, nur aus fich jelbft das Recht der Welt be- 
ftimmen will. Gide jegt ein anderes Motiv ein und Idft 
& bald durch ein zweites, zulegt noch durch ein drittes 
ab. Dieſer König tft reich, aber er will das ſehen; das 
eigene Gefühl, reich zu fein, genügt ihm nicht; die Luft, 
die Bewunderung, der Neid der anderen joll es ihm be— 
ftätigen. Er verfteht den Geiz nicht, der das Gold ver- 
ftedt; er wuchert damit, indem er es an die freunde gibt 
und ſich die Binfen in ihrem Staunen, ihrem Prahlen 
nimmt. Was ganz antik gedacht ift: in der alten Welt 
tft feiner mehr, als er gilt, auch für das eigene Gefühl 
nit. Das Glüd, dab ihm die fehönfte Frau gehört, 
wird es erſt für ihn, wenn man es weiß: darum muß 
er fie zeigen. Und num trifft er den Gyges, einen armen 
Fiſcher, und erfährt an ihm, daß der Reiche deshalb noch 
nicht der Starke ift. Er ſchenkt und ſchenkt verſchwenderiſch, 
aber der Fiſcher bleibt traurig um fein treulofes Weib. 
Hier verwandelt ſich das Motiv: Zum Glück gehört nicht 
bloß, es zu zeigen, fondern die Macht, zu beglüden; glüd- 
lich ift erft, wer glücklich macht. Das ift es, was den 
König treibt, die Königin dem Fiſcher zuzuführen. Aber 
ſchon verwandelt da8 Motiv fich wieder: plöglich miſcht 
fich ein erotifcher Neiz ein. Warum ſchmückt ein Mann 
die geliebte Frau für andere? Warum will er, daß fie 
gefält? Warum reizt es ihm am ihr, daß fie andere 
reizt? Andere von ihr erregt zu wiſſen, fcheint ihn felbit 
noch mehr zu erregen. Diefer unheimliche Reiz, finnlos 
wie alles Erotiſche, da es aus einer Region kommt, in 
die hinab der Verftand nicht reicht, ift e8, der Hier zulegt 


_ 34 — 


den Candaules bejtimmt. Wie fich diefe Motive allmäh- 
ich enthüllen, eines aus dem anderen greift, eines ſich in 
das andere ſchiebt, das zeigt die Kunft eines jehr Eugen 
Piychologen, der fi nur in der dramatischen Form etwas 
gedrüdt zu fühlen fcheint. Er hat zu viel Geichmad, um 
gleich immer fo deutlich zu werden, als es das Publikum 
gewohnt ift. Auch traut er dem Worte mehr zu, als es 
auf der Bühne vermag (oder das Publikum müßte erft 
hören lernen). So wirkt alles ein bißchen dünn, blaß, 
fern, und mit einer bloß gedachten Schönheit, der die 
Kraft fehlt, fichtbar zu werden. Und ich fürchte fait, wenn 
das Stüd nicht von ihm wäre und er Hätte dag Urteil 
zu Äprechen, er würbe finden, wa8 er einmal von den 
Werfen Curels gejagt hat: Je ne crois pas pourtant 
que des telles piöces puissent durer; leur aristocratie 
intellectuelle nous flatte, elle fait dire aux dölicats: 
„Que cela est bien &crit!“ precisement lA oü le style 
cesse complötement d’ötre un style de rampe, sans 
fournir pour cela de phrases vraiment belles. . . 
Malgr& toutes ces röserves j’aime en lui une tr&s 
grande, une parfaite honnötet& artistique, une bonne 
foi qui, sonvent, m’emouvait plus que le drame. 

Den Candaules gibt Herr Kramer, dem im Koftüm 
niemals jehr behaglich ift; es macht ihn nervds, nichts 
fcheint ihm dann bedeutend genug und um ftarf zu fein, 
wird er laut. Die Königin des Fräuleins Galafres, ein 
bißchen monoton, findet zulegt hieratiſche Gebärden, die 
ſchön find; an ſich jchön, nur an ihr nicht ganz überzeugend. 
Kutſchera fpricht den Gyges mit großer Kraft und hat 
Momente, die auf feinen Dthello neugierig machen. Das 


— BB — 


Publikum war fehr gaftlih. Gide, wie ein gallifcher 
Peter Altenberg anzujehen, mußte ſich immer wieber zeigen, 
zulegt mit Blei, dem blonden Erotifer. 


— 42 — 


waren, die Kunſt des Schauſpielers zu vergewwaltigen. 
Statt, wie es auf ihrem Wege lag, ihn bis zu plaftijchen 
Wirkungen oder doc bis dicht an die Grenze zu führen, 
wo die Plaftit beginnt, haben fie ihm gewaltſam die 
Geſetze der Plaftif aufnötigen wollen, unter welchen jeine 
ganz andere Natur verfümmern muß. Dasſelbe ift feitdem 
der Schaufpiellunft von allen Seiten immer wieder ge- 
ſchehen, noch zulegt durch jenen Berliner „neuen Stil“, 
der nichts weiter war ald die vollfommene Unterdrüdung 
der Schaufpielkunft durch den Literaten, welcher nur feine 
literariſchen Forderuugen, nur literariiche Nüdfichten, nur 
literariſche Wirkungen kennt. Man Hat gejagt, bei Vor- 
ftellungen des Deutſchen Theaters babe man oft das 
Gefühl, gar nicht im Theater zu fein, fondern vielmehr 
dad Stüd vom Autor jelbft, mit genauefter Betonung 
feiner feinften Intentionen, ganz wie er es fich denft, vor- 
gelejen zu hören. Wobei denn doch zu fragen wäre, wozu 
wir denn dann überhaupt noch ein Theater brauchen, und 
zu entgegen wäre, daß das „Schaufpiel“ nicht zum Nach- 
denfen von Gedanken, jondern eben zum Schauen, zum 
Anfchauen von Geftalten da ift. Und fo ift es mir, fuhr ich 
damald in meinem Berichte fort, zur Gewißheit geworden, 
daß wir eine wahre Schaufpielfunft niemals haben werden, 
wenn fie fich nicht entjchließt, denjelben Weg zu gehen, den 
die anderen Künſte gegangen find. Ste muß aufhören, 
Plaftit oder Literatur oder irgend eine andere Kunſt zu 
fein und muß aus fich jelbft zu den höchſten ihr möglichen 
Wirkungen entwidelt werden. Fühlt fie ſich erft ſouverän 
und ift fie don allen Seiten bis an alle Grenzen vor⸗ 
gedrungen, an welchen fie fich mit den anderen Künſten 








— 213 — 


zufammenftoßend berührt, jo bleibt nur noch übrig, fie dann 
noch ing Ganze aller Künfte einzuordnen, mit den anderen 
zu verbinden und aus allen zujammen jene volltommene 
Darftellung des Schönen zu gewinnen, die die Träume der 
Edelſten beunruhigt hat, von Richard Wagner bis auf 
D’Annunzios „Zuoco“. Den erften Schritt dazu haben die 
modernen Italiener bereit3 getan: ihre ungeheure Wirkung 
fommt daher, daß fie ed zum erften Mal gewagt haben, 
zunächft einmal nichts als nur Schaufpieler zu fein, ihr 
Metier aufs äußerfte zu treiben und das Mimiſche bis an 
die legten Grenzen auszudehnen, die ihm gezogen find. 
SH Habe an Novelli gezeigt, wie diefer fouveräne Schau- 
fpieler, ohne es ſelbſt zu wiſſen, bloß Dadurch, daß er immer 
aus allen menjchlichen Cmpfindungen ihren höchſten 
ſchauſpieleriſchen Ausdruck jchöpft, in allen feinen Dar- 
ftellungen zulegt immer an einen Punkt gerät, wo die 
mimifche Wirkung unwillfürlich zur malerifchen wird; und 
jeder erinnert fich, wie die Dufe, auch indem fie in ihrer 
Technik an das äußerſte Ende geht, oft aus der Region 
des Schaufpielers auf einmal in eine rein muſikaliſche 
Welt enthoben zu fein ſcheint. Holen die deutfchen Schau- 
fpieler nach, was ihnen, die Italiener vorgemacht haben, 
entſchließen auch fie fich, fich refolut der mimtjchen Kunſt 
anzuvertrauen, gelingt es ihnen aber dann, bewußt auß- 
zuführen, was jenen nur wie im Traume geraten ift, lernen fie 
bewußt die Verbindung der Schaufpielfunft, einer extrem⸗ 
ften Schaufpiellunft, mit den anderen Sünften anzu- 
ftreben und aus allen zufammen eine höhere neue Ein- 
beit zu gewinnen, durch welche nachher auch jeder Teil 
wieder vom Ganzen aus erneut werden müßte, dann erſt 
16* 


— WM — 


und nur dann werden wir eine deutſche Schauſpielkunſt 
haben. 


Dieſe deutſche Schauſpiellunſt, die ich verwegen da- | 


mals verhieß, bier iſt fie: im „Kleinen Theater“ iſt fie 
erbracht. Hier wird jedes Stück aus der Form des Dichters 
erſt in die des Schauſpielers umgefühlt. Hier wirkt auch 
die geringe Kraft, weil ſie im Ganzen ſteht und ſich vom 
Ganzen gehalten fühlt. Hier malt nicht irgend ein Maler 


ein Panorama Bin, in welchem die Schaufpieler dann ver- 


wundert auf» und abipazieren, jondern die Dekoration fpielt 
fozufagen mit, der Maler nimmt den Ton des Schaufpielers 
auf, drückt ihn durch feine Kunft aus und was wir fehen, 
was wir hören, ftimmt alle3 wunderbar ein... . Reicher 
und Reinhardt Iennt man ja in Wien. Man wird aber 
gerade an ihnen erft jehen, wie ganz anders ein Schau- 
fpieler in feinem natürlichen Element wirkt, als wenn er 
durch den Partner, durch den Regiſſeur, durch den Maler, 
die jeder nach einer anderen Seite hin ziehen, immer wieder 
heranägeriffen wird. Dann tft Herr Waßmann du, viel- 
leicht der merfwürdigfte junge Menſch, der feit Kainz auf 
einem deutjchen Theater erjchienen ift, und Gertrud Eyfoldt, 
das ftärffte Talent, das Berlin jest neben der Triefch und 
der jungen, noch unfertigen, aber ganz eigenen Jenny Rauch 
bat. Die Wiener werden vielleicht zuerſt finden, fie ſei 
nicht ſehr hübſch. Ich wette aber, fie ſpüren doch bald, 
daß fie viel ärger iſt. Ste hat einen jeltfamen, ſchwülen, 
faft unheimlichen Reiz, wie ein Geſchöpf von Beardsley, 
und wenn man fie fieht, verfteht man eigentlich Wilde und 
Wedekind erft. 





— 45 — 


„Nachtaſyl“. 
(Szenen aus der Tiefe in vier Aklten von Marim Gorki, deutſch 
von Auguft Scholz.) 

Gorkis „Stleinbürger“ haben gar nicht auf mich ge- 
wirkt, das „Nachtaſyl“ ſehr. Beide haben doch genau 
dieſelbe Technik und haben eigentlich auch dasſelbe Weſen: 
Durch und duch undramatifch, fich immer nur im Kreiſe 
drehend, ratlos um jeden Schritt, den die Handlung tun 
joll, dabei auch noch von einer ganz altväterlichen, faft 
einfältigen Behandlung der Figuren, die über ſich immer 
eine Menge zu erzählen haben und fich doch niemals zeigen. 
Beide find durchaus unartiftich: es tft ihnen um feine 
Anfchauung, jondern nur um eine Tendenz zu tun. Warum 
machen mich jene nervös, während mich dieſes ergreift? 
Offenbar ift mir dort die Tendenz ärgerlich oder doch 
gleichgültig, während ich bier fo zuftimme, daß ich alle 
Bedenken de3 Künftler3 verliere. Dort wird uns wieber 
einmal das Leben in der Enge dürftiger, Heiner Familien 
verefelt, und man fagt ſich ungeduldig: Ja, ja, es mag 
ſchon fein, aber jchlieflich das jehen und hören wir und 
nun ſeit zehn Jahren an, es iſt mit der Zeit ſchon wirklich 
zu banal geworden! Hier fühlen wir, wie unter audge- 
ftoßenen Menſchen, Dieben, Landftreichern, Strolchen, Ver- 
kommenen und Verdorbenen, die unjere Kultur verlafjen 
haben, Empfindungen einer Menjchlichkeit bereit liegen, die 
nur einen warmen Blid, ein gutes Wort braucht, um auf- 
zufnojpen, veiner und reicher als, fagen wir uns leife, 
faft ein wenig neidiſch, als uns unfere Bildung und Sitte, 
mit der wir fo ſtolz tun, jemals blühen fann. Dort fehnen 


— 4 — 


wir uns aus der Ede verftörter Erüitenzen in die weite Belt 
hinaus. Hier ift diefe weite Welt, mit dem großen Hori- 
gont ber Sreiheit, der wahren Freiheit, ie ſich auf ein Patent 
beruft, die gar nicht erft beichlojjen und verkündet zu werden 
braucht, die jeder hat, der fich nur nicht mehr von den Masten 
des Lebens täufchen läßt. Es iſt ja jchlieklic auch nichts 
Nenes, e3 ift die Stimmung des Herzogs in „Maß für Mak* : 
Du bift nicht du felbft, du biſt nicht ftetig, denn du 
wechſelſt wunderfam je nach dem Monde! Wenn man 
will, die alte ſokratiſche Weisheit: Wir find michts, wir 
ftellen nur vor, wir fpielen alles bloß! Bettler oder König, 
verachtet oder gepriejen, am Ende legt jeder jein Gewand 
ab und es bleibt dann nur ein zitternder nadter Menich, 
der friert. Wie hier der Mügenmacher Bubnow jagt: Mag 
ſich einer von aufen noch fo bunt anmalen, es reibt ſich 
alles wieder ab! Damit ift aber Hier nicht bloß gemeint, 
wie man das in den liberalen Zeiten gejagt bat: Wir 
follen nicht eitel fein auf Ruhm oder Rang! jondern Hier 
heißt es mehr: Wir wollen auch auf die Tugend nicht 
eitel fein, fie hält jo wenig als das Glüd, fie ift da und 
ift weg wie der Morgenwind auf leifen Zehen. Wie ſchon 
der Oreft bei dem Euripides, klagt hier der wilde Pepel 
genau mit dem nämlichen Worten: „Man Tennt fich nicht 
aus in den Menfchen! Wer gut ift, wer bdje, nichts läßt 
ſich mit Beftimmtheit jagen!“ Worauf Lula, ein alter, 
froher Pilger, der „weich“ geworden ift, weil fie ihn 
„tüchtig geflopft haben“, ihn lächelnd tröftet durch ein 
wunderbar mildes, gütiges und tiefes Wort, daS irgend 
einer von den erregten Mönchen vor der Renaiffance gejagt 
haben fönnte, der heilige Franz etwa in den Fioretti, oder 


— 247 — 


auch dann jpäter wieder mancher unjerer ftill beglüdten 
Myſtiker, etwa der vergnügte Angelus Silefius: „Was ift 
da viel zu fagen? Der Menfch lebt bald fo bald jo... 
wie fein Herz geftimmt ift, jo lebt er... . heut’ ift er gut, 
morgen böfe.” Und ein anderes Mal fragt derjelbe Pepel: 
„Gibt's einen Gott?“ Und derfelbe Luka lächelt erft und 
ſchweigt, aber nachdem er fich ein wenig bejonnen hat, jagt 
er: „Wenn du an ihn glaubft, gibt's einen; glaubft du 
nicht, dann gibt's feinen. Woran du glaubt, das gibt's 
eben.“ Das ift die innige Weisheit diefer Szenen, bie 
ung jo rührt, daß ung vor ihren rauhen und verwilderten 
Geſtalten ſeltſam andächtig und faft bange wie in einer 
ftillen Kirche wird. Woran du glaubft, das gibt’3 eben! 
Dean hat den Menfchen jo lange vorgejagt, fie wären 
fchlecht, bis fie es, immer an der Stette zerrend, geglaubt 
haben und es geworden find. Werfucht es doch einmal und 
redet ihnen ein, gut zu fein. Wenn fie es nur erft glauben, 
find fie es auch ſchon. Hier tritt unter elende Menichen 
einer, der über alles lächeln und alles verftehen und alles 
verzeihen gelernt Hat, eben jener wunderliche Greis, und 
er tut eigentlich gar nichts, er glaubt ihnen nur nicht, 
daß fie jchlecht find, und indem er mit ihnen redet und 
jeden anhört und jeden gelten läßt, verwandeln fie ſich 
an ihm wunderbar, und längſt ift er wieder fort, da weilt 
und wirkt fein Geift noch immer, und feine guten Worte, 
die er ihnen gelafjen hat, find mächtiger als ihre böjen 
Triebe. Wie wir dies im legten Akte allmählich erkennen 
Iernen, dies ift von einer Gewalt der Stimmung, die 
freilich mit Kunft nichts zu tun hat, viel eher mit Reli— 
gion, aber der man doch willenlos erliegt, und leiſe 


— u — 


klingt uns im Gemüt der alte Vers jenes lieben Ange⸗ 
lus nach: 


Wie magſt du was begehren? Du ſelber kannſt allein 

Der Himmel und die Erd' und tauſend Engel ſein. 
Will ich nun aber verſuchen, die ganz außerordentliche 
Darſtellung der Berliner anzudeuten, ſo muß ich ſie wieder 
mit der Technik der impreſſioniſtiſchen Malerei vergleichen. 
Indem fie nämlich eine fchaufpieleriiche Kraft neben die 
andere einfach hinzuftellen fcheinen, wie die Impreifioniften 
die farbigen Flede oder Punkte nebeneinanderjegen, tft es 
eben ihre ungemeine Stunft, daß plöglich aus dieſen vielen 
flimmernden Zügen ein Bild entfteht, in welchem der ein⸗ 
zelne als einzelner, als Punkt oder led, völlig ver- 
ſchwunden ift. Sie erreichen damit eine Wirfung, die mit 
den alten Mitteln durchaus nicht möglich war. Wirklich 
hat man noch niemals in deutjcher Sprache fo jpielen 
gejehen. Nennt man einzelne, Waßmann, Reicher, die 
Eyfoldt, jo wird man eigentlich ſchon ungerecht: denn das 
Wunderbare ift, daß felbft dieſe drei Leiftungen, jede für 
fich ein Pradhtftüd der Schaufpielfunft, in diefem Ganzen 
doch nicht herborragen. 


„Pelleas und Melifande.“ 
(Bon Maurice Maeterlind, deutſch von Friedrich v. Dppeln- 
Bronikowski.) 
An dieſem Stücke, das man ja auch bei uns ſchon 
aus einer Aufführung in der Joſefſtadt kennt (durch die 
Sezeſſionsbühne im Juli 1900), ſind die erſten Verſuche 





— 2149 — 


gemacht worden, für die poetiiche Darſtelluug wieder einen 
Stil zu finden. Drei junge Dichter, Maeterlind, d’Annun- 
zio und unfer Hofmannsthal, Hatten fich in den Neun- 
zigerjahren eingefunden, welchen weder mit ber hergebrachten 
Art noch durch die naturaliftifchen Mittel beizufommen 
war. Sie fingen an, immer ftärfer auf das Gemüt der 
Jugend ängſtlich ſüß zu wirfen und, von ihren jeltiam 
ſchimmernden Geftalten tief verlodt, wurde man immer 
begieriger, fie and Licht der Bühne zu ziehen. Unfere 
Tirektoren, immer im Banne ber Kaſſiere, wollten natür- 
lich wieber nicht. Vereine bildeten fich, e8 zu wagen, mit 
Maeterlind zuerft. Ia, aber wie? Wie jpielt man Maeter- 
lint? Das wurde nun die Schulfrage der neuen Regie. 
Man fand nämlich bald, daß gerade, was wir an jeinen 
Werfen, wenn wir fie einfam in der Stille laſen, fo heftig 
und fieberhaft geſpürt Hatten, fich bei den Aufführungen, 
ausgejprochen und dargeftellt, völlig zu verlieren und 
gleihfam in der Luft zu zerrinnen ſchien. Es blieb ein 
verworrened Stüd zurüd, manchmal rührend durch feinen 
Hagenden Ton, dann wieder oft fat komiſch durch wie in 
der Trunfenheit ausgeftoßene Worte, denen doch jeber 
Sinn zu fehlen fchien, und eigentlich fogar Tangweilig. 
Lag dad an Maeterlind ſelbſt? Hatte er wirklich nur 
„für Marionetten“ gedichtet? War es wirklich unmöglich, 
ihn mit unſeren Schaufpielern zu jpielen? Und da be- 
gann man binzuhorchen, was denn wohl eigentlich das 
Geheimnis feines fchmerzlich verzückten und betörenden 
Weſens fein mochte. Immer waren feine Menfchen von 
Angft gejchättelt. Sie ſelbſt und alles um fie ſchien nur 
aus Angft geiponnen, aber freilich aus einer ganz anderen, 


— 30 — 


als uns fonft die tragijchen Dichter gezeigt hatten. Wollten 
diefe uns ängftigen, fo geſchah es immer von außen ber, 
durch ein jchrecdliches und drohendes Ereignis, durch eine 
unaufhaltfam Heranrüdende Not oder Gefahr. Er aber 
hatte offenbar tief bei fich erlebt, daß, wie Novalis fagt, 
„das Weltall in uns felbft ift“; und darum ift uns von 
außen nicht zu Helfen und von außen fann uns nichts 
geihehen. Die Freuden, die man uns bringt, die Leiden, 
die man uns antut, find lächerlich gering neben jenen 
anderen aus uns jelbft. Ja wir fönnten und über fie gar 
nicht freuen und könnten gar nicht an ihnen leiden, wäre 
die Freude, wäre das Leid nicht fon vorher in und. Der 
Mörder, der auf mich lauert, könnte mich nicht ängſtigen, 
dad Mädchen, das fich mir verfpricht, mich nicht beglüden, 
läge nicht die Angft, läge nicht das Glüd in mir fchon 
da. Wovon wir leben, wodurch wir froh uud ftolz oder 
ſcheu und hämiſch jind, wozu wir durch unfer Dajein all- 
mählich erſt zu werden jcheinen, dies alles ift jeit unferer 
eriten Stunde ſchon in uns eingejenkt, wir rollen es nur 
auf, und unſer Leben tft, daß wir gewahren lernen, was 
wir immer gewejen find. Unten liegt in uns eine exi- 
stence inalt&rable geheimnisvoll verwahrt, von der unjer 
Verftand nichts weiß und die doc) alles, was wir leiden 


oder tun, was wir wünſchen oder fürchten, was wir hafjen 


oder lieben, allein beherrjcht: 
„Nach dem Gefek, wonach wir angetreten,“ 


wie e3 ſchon im Dämon heißt. Manchen wird nun ge- 
wäßrt, in Momenten einer ſeltſamen Erregung, der „Gnade“, 
wie die Heiligen jagen, der jchöpferiichen Eckſtaſe, der Hell 


— 31 — 


jehenden Liebe oder auch einer überfinnlichen Qual, dieje 
tief verborgene innere Welt ahnen und von ihr namenlofe 
Bilder anzufchauen, Bilder einer ungeheuren Seligfeit oder 
des wildeften Schredens. Kehren fie, bebend und triefend, 
aus ſolchen Zifionen in das karge Leben des machen Ver- 
ſtandes zurüd, jo willen fie Hinfort, daß alles, was wir 
zu erleben glauben, nur Trug und Blendung unferer armen 
Sinne, die wahre Duelle aber allein in uns jelbft iſt. 
Dies möchten fie den Menjchen verfündigen und möchten 
ihnen fagen, was ihnen in der erhabenen Stunde erichienen 
iſt. Aber fie konnen e8 nicht, fie winden ſich und ftammeln 
nur. Wie es ſchon an die Korinther heikt: „Er ward 
entzüdt in das Paradies und hörte unaugiprechliche Worte, 
welche fein Menjch jagen kann.” Wie Dante erzählte: 

Nel ciel 

Fu io, e vidi cose, che dicere 

N® sa, n6 puo qual di lassu discende 
Wie die heilige Angela von Foligno, wie der heilige Igna- 
tius immer Hagen, daß fich nicht erzählen läßt, was fie ge- 
ſehen haben. Wie der Künftler verzweifelt, weil es ihm 
immer wieder entweicht. Wie Liebende fich nur jtill bie 
Hand oder die Lippen geben, weil fie es fich doch niemals, 
niemals jagen fönnen. Aber vielleicht werben die Menjchen 
einft, wie für die äußere Welt, um fich in ihr zu behaupten 
und zu verftändigen, nun auch für die innere, wenn fie nur 
erſt einmal jene als Täufchung, dieje als ihre Wurzel erfannt 
haben werden, Zeichen und Worte zu finden willen. Dies 
ift es, was der junge Maeterlind jucht: in unferen jinn- 
lichen Worten, welche dem fichtbaren Leben entnommen 
find, das unfichtbare auszufprechen. Dazu würde nun 


— 22 — 


aber ein Ton des Schaujpielerd gehören, der fich von der 
gewöhnlichen Rede jo weit entfernt, als das felige Stammeln, 
das ängſtliche Wimmern jener Geftalten von der drama- 
tiſchen Rhetoril. Unſere Deklamation, die der Schaufpieler 
in der Schule lernt, ift es unfähig. Site will mächtiger 
und feierlicher prunfen als das natürliche Geſpräch. Hier 
gilt es umgefehrt, ftiller und Heimlicher zu werden, fchatten- 
haft und faft wejenlos, unferer Sprache das irdifche Ge— 
wicht zu nehmen und nur ihren Hauch, ihr Ieijeg Schwingen 
zu behalten, einen Ton aus Luft zu weben, zu flüftern, 
wie die Blumen blühen. Die Sada Yacco haben wir fo, 
ftill verjeelt, zirpen gehört und der Dufe wird jo die Rede 
manchmal zur himmlifch wehenden Melodie. Nun kommt 
aber noch etwas dazu: Maeterlinds ſehr merkwürdige An- 
ſchauung feiner Geftalten im Raume. Es genügt nicht, 
ihn fprechen zu Iernen, er mutet dem Schaufpieler auch 
noch ein ganz neues Verhältnis zur Dekoration zu. Er 
tut nämlich al3 Dichter dasſelbe, was eben in der Malerei 
geichehen ift. In der Malerei hatte man früher entweder 
eine Figur durch eine Landſchaft „abgejchloffen“ oder eine 
Landſchaft mit Figuren „belebt“, das eine oder daS andere 
war.immer „Staffage*. Nun fällt aber für das Gefühl 
unferer Zeit der Menſch nicht mehr aus der Natur her 
aus, er fteht auch nicht mehr in ihrer Mitte, fie tft nicht 
mehr ein Panorama für ihn, fondern er wird für uns 
mit ihr jegt eins, er Freift im ihren ungeheuren Bahnen 
mit, er ift dasjelbe, was das Tier, die Pflanze, der Stein, 
die Flut, die Wolfe find. Diefes Gefühl der Imprefjio- 
niften bat Maeterlind. Auch für ihm ift der Menich 
immer nur, wie jene Maler e8 nennen, eine valeur: er 


— 263 — 


gilt ihm nur als Farbe oder als Ton, und wenn er 
Meliſanden ſchluchzend am Brunnen ſieht oder wenn Pelleas 
mit ihr vor der Burg in der Dämmerung auf das Meer 
ſchaut, dann ſpielen der Brunnen, die Dämmerung und 
das Meer mit, ſie ſind künſtleriſch genau ſo viel, als der 
Schauſpieler mit feinem Tone und feiner Gebärde iſt, fie 
begleiten nicht etwa bloß die Stimmung, Sondern dieſe 
wird eben dadurch erft, daß ihre Wirkung in die des 
Schaufpielers fließt. Nun ftelle man fich aber bloß unfere 
Bühne vor, die einen Rahmen, ferner ein Bild, die Deko— 
ration, und zwifchen dem Bilde und feinem Rahmen ein 
Brett hat, auf welchem ſich der Schaufpieler bewegt, der, 
um durch) feine Miene wirken zu fünnen, ein ganz anderes 
Licht braucht, als das Bild verträgt. Jede Dekoration, 
die als Bild wirkt, wird natürlich durch jede Bewegung 
des Schaufpielers jogleich vernichtet. Die fchönfte Be— 
wegung des Schaufpielers wird hier unwahr, weil fie 
das Bild zerreißt. Schredlich ſpüre ich das immer gar 
in der Oper, wo vorne Muſik gemacht, Hinten Malerei 
getrieben, dazwijchen aber Gejang oder Tanz geübt wird, 
während es ihr Weſen wäre, das wogende Gefühl bis 
zur menfchlichen Geftalt zu fteigern, an ihr das Leben zu 
erfüllen und uns zulegt im Bilde zu beſchwichtigen. Künft- 
Ierifch zu wirken, wird auf der Bühne erſt möglich fein, 
wenn e3 gelingt, fie aus einem Brett mit dahinter auf- 
gehängten Malereien, über das der Schaufpieler hin- und 
berjpaztert, in einen Raum zu verwandeln, der als die 
Natur des Schaufpielers, als feine Welt wirkt. Daran 
arbeiten Olbrich, Kolo Mofer und Roller jeit Jahren, dar- 
über bat ein Franzoje, Adolphe Appia, jegt ein wunder- 


— Bd — 


bares Buch gejchrieben: „Die Muſik und die Infzenierung“ 
(Münden, bei Brudmann, von der Prinzefjin Elſa Can- 
tacuzöne liberjegt; ich hoffe gelegentlich noch mehr dazu 
jagen zu dürfen). In einem folchen Raume find die 
Geftalten Maeterlind3 immer gedacht und gefühlt. Da 
wir ihn aber noch nicht haben, können wir einftweilen nichts 
tun, als daß wir ihn wenigftens vorzutäufchen fuchen, das 
beißt: jo weit dies bei der jegigen Dekoration nur irgend 
möglich ift, ihr das Weſen des Bildes nehmen, fie wie 
ein Ornament wirken laffen und jede Gebärde des Schau- 
fpielers, die dieſe Wirfung ftört, zu vermeiden trachten. 
Die Schulfrage, wie Maeterlind zu fpielen fei, geht aljo 
in zwei Forderungen aus: die eines rein geijtigen Tones 
unferer inneren Eriftenz und die eines Raumes, der und 
den Menfchen in feine Natur, den Schaufpieler in die 
Dekoration bineingeftellt und als ihren Ausdruck erfcheinen 
laſſen fol. Das hohe Verdienft des Kleinen Theaters 
tft es nun, daß feinen Leuten diejes Problem wenigftens 
bewußt geworden ift und daß fie es Löfen, jo weit es auf 
unferer Bühne überhaupt gelöft werden Tann. Corinth, 
der Maler der Dekorationen, zielt offenbar nicht auf 
Illuſion ab, fondern auf Suggeition, nicht darauf, „Wirk— 
liches“ vorzufpiegeln, fondern darauf, den Ton der Szene 
in Farbe umzujegen, was ihm mandjmal, fo gleich an- 
fangs im Walde, dann am Brunnen, dann an Melifandes 
Fenſter völlig gelingt. Auch jucht er, jo viel es nur geht, 
die Bühne voll zu bauen, und engt damit den Schau- 
fpieler jo ein, daß er ihn zwingt, ſich nur auf die not- 
wendige, die wefentliche Gefte zu beichränfen. Dies ift 
vortrefflich. Freilich, den Ton treffen doch eigentlich nur 





— 260 — 


Fräulein Höflich, Reinhardt und ein Kind, die kleine Rothe, 
jene beiden auch in den Bewegungen wunderſchön ... 
Berichtet jet noch, daß Herr dv. Winterftein einmal mit 
einer Fadel an einen Vorhang geriet, da3 Zeug fing zu 
glimmen an, man fchrie im Parterre und ſprang auf, ein 
tajcher Griff des beherzten Schauſpielers und alles war 
wieder ruhig. Übrigens: Ein ausverfauftes Haus, wie es 
auch beim „Nachtaſyl“ immer ausverkauft ift. Die beite 
Antwort auf die Verleumdung, daß unfer Publitum nur 
blöde Stüde „ziehen“. Es kommt ftet3, wenn es hoffen 
darf, Gutes gut gejpielt zu finden. 


Der Erdgeilt. 

(Eine Tragödie von Frank Webelind. Zum erften Mal aufgeführt 
vom Kleinen Theater im Deutſchen Vollstheater am 22. Juni 1908.) 

Vor zwei Jahren jchon, als Wedekind im Yung- 
wiener- Theater feine frechen Lieder von der Brigitte B. 
und Ilſe jang, mit einer unbeichreiblich ernften, reuig 
Hagenden, aber plöglich hämifch kichernden Stimme, und 
dann wieder vor ein paar Monaten jet, al3 uns der ver- 
wegene Jarno feinen „Marquis von Keith“ gab, habe ich 
verjucht, die bald furrile, bald ſchwärmeriſche, jegt grinfende, 
jegt fehnfüchtige, immer verruchte, niemals banale Art des 
münchnertjch behäbigen Sataniſten darzuftellen. Ich ſchätze 
ihn ſehr, ſchon weil er den Leuten fo zuwider ift und fie 
doch durch feine Kunft zu zwingen weiß; und ich denke, 
daß es in unferer Zeit, die fich überwinden muß, wenn 
fie fich erfüllen will, das Amt der Kunft ift, die Menſchen 
nicht zu befchwichtigen oder einzulullen, jondern aufzu- 


— 2566 — 


ſchrecken und, wie Schiller geſagt hat, zu „inkommobdieren, 
ihnen ihre Behaglichkeit zu verderben, fie in Unruhe und 
Erftaunen zu fegen“, weil fie nur „dadurch allein an die 
Eriftenz einer Poeſie glauben lernen und Nefpekt vor dem 
Voeten belommen“. Ich ſchätze ihn ferner, weil er uns 
die ftille Liebe für die „ichöne Sünde“ außgetrieben und 
den Schwindel aufgededt hat, den die Philifter in ihren 
romantiſchen Stunden mit dem Lafter treiben, ald ob es, 
wenn auch freilich leider verboten, doch geheimnisvoll und 
begehrenswert fei, während er es endlich zeigt, wie es wirklich 
iſt, der hyſteriſchen Bewunderung entriffen: platt, elend 
und ftupid, nicht einmal greulich, fondern grauslich. Und 
ich ſchätze ihn, weil ich denfe, daß es feine Kultur, die ſich 
behaupten will, entbehren Tann, manchmal an das Chaos, 
dem fie fich entrungen hat, erinnert zu werden; fie darf 
fi niemals ficher fühlen, fie darf nie vergefjen, daß fie 
doc immer nur ein Ausraften von der Wildheit ift, die 
jeden Augendlid, wie ein jchlecht gezähmtes Tier, wieder 
außbrechen kann, fie muß uns manchmal drohen, was ohne 
fie wäre, ohne das ftrenge Geſetz, ohne die fromme Sitte, 
damit wir ung, entjegt, wieder um fie jcharen. Dies alles 
Habe ich damals ſchon gejagt und möchte nun nur noch 
von feiner Piychologie fprechen, die mir auch ganz merf- 
würdig und unferen neuen Gedanken über den Menjchen 
gemäß fcheint. Ex fieht nämlich die Menſchen anders, als 
ſonſt die Autoren fie uns zeigen, und ich finde, er kommt 
damit der Wahrheit näher, die wir jegt vermuten. Biel» 
leicht darf man jagen, daß er die Menjchen „imprefftoniftiich“ 
ſieht. 


Impreſſioniſten nennen wir jene Maler, deren Technil 





— 37 — 


es ift, erft auf eine gewiffe Entfernung zu wirken, in welcher 
ihre in der Nähe umverftändlichen und wirten bunten 
Flecken oder Striche oder Punkte plöglich zum Bilde zu- 
fammenjchließen. Statt unmittelbar die Farbe aufzutragen, 
welche erblidt werden foll, teilen fie fie und Idjen die Er- 
fcheinung auf, die fie darjtellen wollen. Iſt man nahe, 
jo weiß man e3 nicht zu deuten. Tritt man zurüd, ordnet 
es fich erft von jelbft. Dies hat noch den befonderen 
Reiz, dab man das Bild, indem man fich ihm nähert 
oder von ihm entfernt, nach Belieben verwifchen und wieder 
hervorzaubern Tann. Es verſchwindet, es entjteht, wie ich 
will, unter meinen Augen. Bin ich da, fehe ich es; bin 
ich dort, ift e8 weg. Indem es mich fo gleichjam mitzutun, 
an ihm mitzuarbeiten zwingt, wird es ganz eigen lebendig. 
Es hängt nicht fertig und ftarr an der Wand. Es regt 
fi) wunderbar, von meinem Auge berührt. Ebenſo wirkt 
Wedekind, der feine Menjchen in lauter flimmernde kleine 
Züge zerlegt, aus welchen allmählich, im Verlaufe der Hand- 
lung, erft ihre Farbe, ihr „Charakter“ wird. Einſt Hat 
man die Menfchen in gute und böje abgeteilt, beide auch 
ſchon an ihrem Geficht, an ihrer Haltung fogleich zu er- 
Iennen. Dann haben wir bemerkt, daß nicht jeder Bbſe— 
wicht rote Haare hat oder jchielt. Weiter, daß auch ein 
guter Menjch manchmal von böfen Trieben, ein jchlechter 
oft von innigen Gefühlen angefallen wird. Weiter, daß 
der Menſch fich verwandelt und nie ficher ift, morgen noch 
derjelbe zu ſein. Weiter, daß, was als gut oder böje 
wirkt, die gute Negung, die böje Tat fich allmählich erft 
aus vielen durcheinander zifchenden bald guten, bald bbſen 
Kräften ergibt, jo daß im Guten, das ung erjcheint, Doch 
Hermann Bahr, Gloffen. 17 


— 268 — 


auch niemals das Böfe, in dieſem jenes nicht fehlt. Und 
endlich vermuten wir jetzt, es könnte vielleicht, was uns 
ein Menſch jcheint, und fogar das Gefühl, das er jelbft 
von fich Hat, eigentlich doch nur eine immer ungerechte 
Abbreviatur fein, mit der wir uns bloß praftijch aus- 
helfen, um, unfähig, das taufendfältige Wunder jeder Er- 
ſcheinung zu begreifen, e8 und, wenn auch flüchtig und 
ungenau, doch wenigſtens proviforiich anzumerken, wie wir 
ja, in unſerer Eile, und weil e8 bequem ift, auch jagen: 
das iſt blau, obwohl nichts blau, ſondern alles an Farben 
jo reich und wanbelbar ift, daß unſer ganzes Leben nicht 
genügen würde, fie zu nennen. Wir fönnten nicht eriftieren, 
würden wir ung nicht von den Erfcheinungen, wie Steno- 
graphen, Zeichen und Sigel machen, die über fie gar nichts aus- 
jagen, fondern ung nur helfen follen, ung dann fpäter zu er- 
innern. Solche Zeichen, folche Sigel find alle moralischen Ur- 
teile immer. Wir lönnen e3 nicht ändern, wir brauchen fie, 
aus Öfonomie de Denfend, um uns nicht aufzuhalten, 
um nur im Leben weiterzufommen. Wie nun aber das 
Sigel, indem e3 nur einen oder zwei Buchftaben aus einem 
Worte nimmt und unfer Gedächtnis die anderen ergänzen 
läßt, deswegen doch keineswegs bedeuten foll, daß das 
Wort nur aus dieſen Buchftaben befteht, jo wollen wir 
nicht vergeffen, daß auch unjer moralifches Urteil über 
einen Menjchen niemals fein Wejen trifft, jondern uns nur 
helfen will, ihn in unfer Denken einzufchalten, um ihn 
gelegentlich) wieder raſch zu erfennen. Er ift ein Held, 
er iſt Lafterhaft, er iſt ſchwach, alles, was wir fo von 
Menſchen außfagen, find nur Wbbreviaturen, die irgend 
einen Zug nennen, der und an ihnen eben auffällt, und 





— 3159. — 


einen Buchftaben, durch den wir uns leicht das ganze 
Wort zu merfen glauben, aus feinem Charakter Idjen. Wir 
wiſſen aber, der Held hat feige Momente, der Lafterhafte 
fromme, der Schwache heftige. Wir willen, über den 
Menfchen jelbft und fein wahres Weſen wird mit einem 
ſolchen moralifchen Urteil noch gar nicht? gejagt. Wir 
wiffen das und vergefjen es doch immer wieder. Died nun 
empfinden wir als tief ungerecht und jehnen uns nad) 
einem freieren und veineren Begriff des Menſchen, der jo 
ftark wäre, daß er auch im jenen Abbreviaturen noch, deren 
wir einmal für das Handeln im täglichen Leben nicht ent» 
raten Fönnen, doc, immer warnend mitklingen würde. 
Daran arbeiten wir und, wie der Imprefjionismus der 
neuen Maler, mag uns auch der piychologiiche des Wede- 
find helfen, ihn zu vollenden. 

Woran aber follen wir dann aljo den Menfchen er- 
tennen? Er ift anders, als er jcheint; die anderen fünnen 
nicht8 über ihn wiſſen. Er ift auch anders, als er zu fein 
glaubt; feiner weiß felbft von fich, was er if. Er ift 
endlich auch anders, als ihn feine Taten zeigen; auch wenn 
wir und an dieje halten, um aus ihnen auf ihn zurüd- 
zuſchließen, finden wir ihn wieder nicht, weil auch die Tat 
immer nur einen Moment eined Menfchen anhält, aus 
welchem er fich fogleich wieder verwandelt. Wie Napoleon 
den Menfchen erſchien, ferner wie er ihnen gern erjchienen 
wäre, ferner was er felbft zu ſein glaubte, dann was er 
gern geweſen wäre, endlich was er tat, dies zufammen 
macht erft auß, was er wirklich war. Dieſe fünf Perfonen 
tönnen erft feine Perfönlichteit geben, die alfo.erft im Tode 
des Menfchen erfcheint, wenn dieſer ihn von uns abgerückt 

17% 


_ 264 — 


bares Buch gejchrieben: „Die Muſik und die Inſzenierung“ 
(München, bei Bruckmann, von der Prinzefjin Elfa Can- 
tacuzene Überjegt; ich Hoffe gelegentlich noch mehr dazu 
jagen zu dürfen). In einem folchen Raume find die 
Geftalten Maeterlinds immer gedacht und gefühlt. Da 
wir ihn aber noch nicht haben, können wir einftweilen nichts 
tun, als daß wir ihn wenigftens vorzutäufchen fuchen, das 
heißt: jo weit Dies bei der jegigen Dekoration nur irgend 
möglich ift, ihr das Weſen des Bildes nehmen, fie wie 
ein Ornament wirken lafjen und jede Gebärde des Schau- 
ipielers, die diefe Wirkung ftört, zu vermeiden trachten. 
Die Schulfrage, wie Maeterlind zu fpielen fei, geht alfo 
in zwei Forderungen aus: die eines rein geiftigen Tones 
unferer inneren Exiſtenz und die eines Raumes, ber ung 
den Menfchen in feine Natur, den Schaufpieler in die 
Dekoration bineingeftellt und als ihren Ausdruck erſcheinen 
laffen fol. Das hohe Verdienft des Steinen Theaters 
ift es nun, daß feinen Leuten dieſes Problem wenigitens 
bewußt geworden ift und daß fie es loſen, jo weit es auf 
unferer Bühne überhaupt gelöft werden fann. Corinth, 
der Maler der Dekorationen, zielt offenbar nicht auf 
Illuſion ab, jondern auf Suggeftion, nicht darauf, „Wirk- 
liches“ vorzufpiegeln, fondern darauf, den Ton der Szene 
in Farbe umzufegen, was ihm mandmal, fo glei an- 
fangs im Walde, dann am Brunnen, dann an Melifandez 
Fenſter völlig gelingt. Auch jucht er, fo viel es nur geht, 
die Bühne voll zu bauen, und engt damit den Schau- 
jpieler jo ein, daß er ihn zwingt, ſich nur auf die not- 
wendige, die weſentliche Geſte zu beichränfen. Dies tft 
vortrefflich. Zreilich, den Ton treffen doch eigentlich nur 


— #1 — 


faul, und üppig zu jein, und doc; fpüren wir fie unab- 
läffig an ihrem Schickſale ſchaffen. Der erfte Mann fieht 
fie gern tanzen und fie tanzt ihm den ganzen Tag vor; der 
zweite ift ein Maler und fie läßt fi} den ganzen Tag von 
ihm malen; ber dritte, ein großer Sournalift mit unruhigen 
Plänen, träumt für fie von der Bühne und von Ruhın 
und fie gehorcht auch feiner Laune — fie gehorcht eigent- 
lich immer, fie fügt fich immer, fie ift weich und doch 
jpüren wir, daß fie die Männer, indem fie ihnen nachzu— 
geben jcheint, durch ihren unbeugjamen Willen beftimmt. 
Die Leute jagen von ihr: Herzlos. Und das ift gewiß 
nicht wahr, weil fie den Doktor Schön doch wirklich liebt. 
Das ift aber eigentlich auch wieder nicht wahr, nicht bloß 
weil fie ihn beträgt, nicht bloß weil fie ihn erſchießt, 
ſondern weil fie auch feinen Augenblick durch ihn die 
ſchwere Betäubung, die fühe Verzüdung der Leidenſchaft 
fpürt. Sie nennt ſich Lulu, ihr erjter Mann nennt fie 
Nellie, der zweite Eva, der dritte Mignon; wie fie wirklich 
heißt, weiß niemand, fie weiß es jelbft nicht. Und viel- 
leicht ift fie gar nichts, fondern fie kann nur alles werden, 
was der Mann verlangt. Und vieleicht Hätte fie nur 
einen gebraucht, der jo ſtark geweſen wäre, ihr feine eigene 
Natur aufzuzwingen, da fie doch ſelbſt feine hat. Und 
vielleicht ift fie darin zulegt nicht anders, als eigentlich 
alle Frauen find. 

Diefen namenlojen, wejenlofen, englijchen Satan gibt 
die Eyjoldt mit einer Energie der Darftellung, die bis— 
weilen faft ſchmerzlich wirkt, jo faft körperlich und ftechend 
nahe jpüren wir fie an uns herandringen. Eine extreme 
Geiftigfeit, die jeden kaum aufzudenden halben Gedanfen 


— % — 


noch zu erhafchen weiß, verbindet ſich mit einer Vitalität, 
vor der wir erichreden, indem wir doch ihrem böfen finn- 
lichen Zauber erliegen. Eine Stimme von einer wilden 
und tückiſch fchleichenden Zärtlichkeit, eine Verwegenheit 
der bald Eindijchen, bald äffischen, immer ruchloſen Ge— 
bärden, die immer wieder an Beardsley erinnern, und eine 
Beredjamfeit des Körpers, die wir an feiner anderen deutjchen 
Schaufpielerin kennen, eine Beredjamfeit für das rein 
Cerebrale und bis zum tief Beftialifchen ergeben eine Wir- 
fung, für die wirkfich Tein Wort der Bewunderung zu ftarf 
iſt. Neben ihe fteht Meicher, der bejonders im legten Akt 
Töne des höchſten tragiichen Grauens hat. Aber au 
Herr Licho, Herr Waßmann, Herr Arnold find vortrefflich 
und die ganze Vorftellung Hat eine jo unbeugſame Straft, 
daß fie das fich immer wieder aufbäumende Publikum bis 
an da8 Ende doch immer wieder bezwang. 


Adermann. 

(ragtomdbte in drei Alten von Felix Hollaender und Lothar 
Schmidt. Zum erften Mal aufgeführt im Deutichen Vollstheater vom 
Berliner Kleinen Theater am 30. Juni 1903.) 

Seit zehn Jahren will ich über Felix Hollaender 
fchreiben, weil er mir, menfchlich, durch fein leidenfchaft- 
liches und unruhiges Weſen wert und, Zünftlerifch, duch 
die großen Abfichten feiner Werke merkwürdig ift. Aber 
immer wieber hält es mich ab, immer will ich wieder Fieber 
noch warten, weil ich immer wieder das Gefühl habe, von 
einem Buche zum anderen: dies ift noch nicht jein Wert, 
ſondern es fündigt bloß ein höheres an, daß ihn erft zeigen 





— 263 — 


wird. Auch andere Autoren entwickeln ſich ja, doch ge— 
ſchieht dieſe Entwicklung zwiſchen ihren Werfen, jedes 
Werk ſchließt eine Entwicklung ab, faßt ſie ein und drückt 
ſie aus. Er aber ſcheint ſich, während er ſchafft, am 
Berke, im Werke ſelbſt zu entwickeln, das num, indem es 
die legte Vergangenheit feines Autors noch nicht verleugnen 
Tann, doch ſchon nach einer heftig vorgefühlten Zukunft 
Hinausdrängt und, bier noch jener eingedenf, dort ſchon 
dieſer bewußt, fich niemals befeftigen, niemals beruhigen 
fann. Man fpürt immer oder: ich glaube wenigſtens 
immer zu jpüren, daß es vom Autor jchon wieder über- 
wunden ift, der es, im Schaffen feldft, nur noch mit halber 
Seele hegt, während ihn ſchon wieder nach neuen Ent 
würfen zu verlangen jcheint. Ich begreife dies, ich kenne 
den Zuftand ſelbſt, leider. Man trägt einen Stoff zu 
fange bei fi) herum und trägt ihn ab; faßt man ihn 
dann endlich doch noch an, jo fühlt man fich ſchon wieder 
von anderen Wünjchen verwirrt und heimlich weggelodt. 
Und man hat den ftarfen Glauben an das Werk nicht 
mehr, das uns ja nur gerät, wenn wir ficher find, uns 
einmal für alle Zeit darin unabänderlich auszudrüden. 

Auch mit dem Adermann, den er jegt mit Lothar 
Schmidt zufammen gejchrieben Hat, geht es mir jeltfam. 
Ich höre jagen, daß er ein ſchlechtes Stüd jei. Und eigent- 
lich finde ich das ja jchlieklich auch. Aber doch aus ganz 
anderen Gründen, ald die anderen haben. Sie tadeln, 
was das Stück verjucht. Ich freue mich über dieſen Ver- 
ſuch. Ich meine nur, daß er nicht gelungen iſt. Aber 
man fol ihn wiederholen, bis er gelingen wird. Gejchieht 
dies, woran ich nicht zweifle, jo wird man e& doch auch 


— 264 — 


den zwei Autoren zu danken haben, weil ſie den Mut 
hatten, anzufangen. Und mir gilt dieſer immer mehr als 
die Kraft zu vollenden. 

Die anderen ſagen, das Stück ſei ſchlecht, weil es 
eigentlich „unliterariſch“ ſei: es wirke nämlich nicht an 
ſich, ſondern durch die Macht des Schauſpielers. Es iſt 
ja jetzt Mode geworden, ein Stück nur dann „literariſch“ 
zu finden, wenn es fein Thema, feinen „Fall“ bloß durch 
die Mittel allein, die der Autor hat, ohne fremde Hilfe 
zu bewältigen weiß. Ich bin nun ba ein Steger; ich glaube, 
da wirft nur noch das alte Buchdrama in und nach, deö- 
halb lafjen wir dem Autor nur gelten, was er aus feiner | 
eigenen Kraft gibt, und er darf fich durchaus von einer 
anderen Kunft nicht helfen laſſen. Sagt er: Hier reiche | 
ich jelber nicht aus, da verjuche ich es mit Muſik, fo nennen 
wir ihn jchon „unliterariich” ; wir wollen fein Melodram. 
Wer gar den Maler zu Hilfe ruft, den nennen wir gleich 
einen Sardou. Ein gutes Stüc in unferem Sinne muß 
alles fich jelber verdanken, es darf fich nirgends etwas 
ausleihen: nicht einmal bei der Schauſpielkunſt. Ein gutes 
Stüd in unferem Sinne muß für fich fertig jein, ohne 
erſt den Schaufpieler zu brauchen. Es mag dann auch 
geipielt werden, aber es muß auch, wenn es nie gejpielt 
würde, an fich etwas fein, e8 darf nicht erſt durch das 
Spiel lebendig werden. Das ift umjere alte Anfchauung. 
Ich habe nichts gegen fie. Ich fehe nur nicht ein, warum 
man e3 nicht auch einmal anders verjuchen ſoll. Jene 
Autoren, haben gejagt: wir wollen uns alles jelber machen. 
Gut. Warum jolen nun aber andere Autoren nicht jagen: 
Nein, wir machen es lieber mit dem Schaufpieler zu— 


— 5 — 


ſammen. Ich kann gewiß jagen: es reizt mich, diefe Stim- 
mung durch die Violine auszudrüden. Aber warum joll 
ich nicht auch fagen dürfen: Nein, ich nehme lieber Violine 
mit Klavier oder gar das ganze Orchefter? Wird man 
dann den Part der Violine oder den Part des Klaviers 
Schlecht finden, weil er felber, allein, nicht alles enthält, 
jondern da8 andere dem Partner läßt? Wer will über- 
haupt bejtimmen, wieviel dem Klavier zukommt, wieviel 
der Violine? Wie ich es einteile, das ift doch meine Sache, 
wenn ich e3 nur fo einteile, daß es jchließlich wirkt: daß 
ich meine Stimmung „herausbringe“. Im Mufitalifchen 
wird mir jeder beiftimmen. Alſo warum ſoll das im 
Theatralijchen nicht gelten ? Das Stüd foll wirken: weinen 
machen, lachen machen, diejelbe Stimmung am Ende fpüren 
laſſen, aus der es am Anfang entftanden ift. Wie es 
das macht, ift jeine Sache: durch den Dichter allein, wo 
dann der Schaujpieler ja eigentlich zum bloßen Vorlefer 
wird, oder durch den Schaufpieler allein, wie in einer 
idealen Pantomime ohne Mufif, die man fi) von Novelli 
oder Zacconi wohl denken fünnte, oder endlich durch den 
Dichter mit dem Schaujpieler zufammen, wo jeder feinen 
Bart bejorgt, feiner das Ganze. Freilich darf hier dann 
der Schaufpieler kein blofer Vorlefer oder Referent des 
Dichter3 fein, fondern es ift num am ihm, neben dem 
Dichter aus fich jelber zu wirken. Steiner hat hier aus 
Eigenem das ganze Thema zu bejtreiten, jondern jeder gibt 
jeine Kraft her, der Schaufpieler und der Dichter, und nun 
gilt es nur noch, die eine auf die andere jo zu ſtimmen, 
daß fie wirken. Das haben die Italiener längst verjucht, 
Rovetta, Giacofa, Praga, und das ift es, glaube ich, was 


— 266 — 


Hollaender und Schmidt hier verſuchen. Man darf ihnen 
deshalb nicht vorwerfen, daß fie nicht Können, was fie ja 
gar nicht wollen: die rein literariiche Löfung des Themas: 
Sie wollen ja gerade, daß ein Reſt bleiben foll: eben der 
Bart für den Schaufpieler. Unjere „literarifche“ Kritik kann 
fie gar nicht treffen, weil fie ja niemals auf ihre Abfichten 
zielt, jondern man muß fie ganz anders Fritifieren, an 
den Bebürfniffen der Schaufpielfunft nämlich, die fie er- 
füllen wollen. Gelingt ihnen dies, jo haben fie recht. 
Und nur wenn und fo weit fie es verfehlen, darf ich fie 
tadeln. Alles andere tft Beckmeſſerei. 

Ihre Abficht war offenbar: eine Rolle für Reicher. 
Auch darüber denkt der Literat bei uns ſpöttiſch, es gilt 
nicht für vornehm, eine Rolle einem bejtimmten Schau- 
fpieler anzupaffen. Aber Shafeipeare, Molisre und Goethe 
haben e3 getan und D’Annunzto tut es und Hauptmann 
auch. Eine Rolle aljo für Reicher, der ja feit fünfzehn 
Jahren in der Berliner Bewegung fteht, immer voran, erft 
für Ibſen, dann für Strindberg und Hauptmann, jegt für 
die neue Negie und eine mimijche Kunft, die ſich mit der 
italienijchen mefjen könnte. Er ift der erfte Naturalift der 
deutjchen Bühne geweſen, jchon vor Nittner und Jarno, 
und wieder der erfte, der die naturaliftiiche Darftellung ins 
Myſtiſche zu führen verfucht Hat, noch vor der Trieih und 
der Eyſoldt. Er hat eine jeltiame Macht, den Charakter, 
den er jpielt, allmählich unter unſeren Augen erjt gleich- 
ſam entftehen zu laſſen, indem er feinen jemals gleich fertig 
mit fich bringt, fondern jeden im Verlaufe der Handlung 
erſt, die manchen Keim entwicelt, andere zerftört, nach und 
nad aus vielen Eleinen, faft unmerklichen Zügen, die 








— 37 — 


plötzlich, wenn wir es am wenigſtens erwarten, zuſammen⸗ 
ſchießen, geheimnisvoll vor uns erwachſen läßt; während 
die meiſten Schauſpieler von Anfang an ſozuſagen den 
Paß ihrer Rolle ins Geſicht geſchrieben tragen und gleich 
in der erſten Szene ſchon den letzten Akt mitzuſpielen ge— 
wohnt ſind, reizt es ihn, den Prozeß darzuſtellen, wie ein 
Menſch allmählich durch ſein Schickſal ſeine Form gewinnt. 
Und er erinnert an die Italiener auch noch durch ſeine 
Neigung zum Pathologijchen, das vor ihm die deutjchen 
Schaufpteler kaum anzudeuten gewagt haben. Eine Rolle 
für ihn, das Heißt aljo: eine Rolle, die einen ſtarken Natura- 
lismus verträgt, aber doch auch jene dunkleren myſtiſchen 
Töne zuläßt, und in der er feine Kunft der leijen Umbildung 
und langjamen Verwandlung zeigen fann und bie ihm 
endlich erlaubt, Geiftiges, irgend einen Schmerz oder Zorn, 
bis ins Körperliche zu verfolgen. Und das haben die 
beiden Autoren vortrefflich gelöft. Herr Adermann ift 
ein ſchmutziger alter Geizhals, neidifch, boshaft, feig; müh- 
ſam emporgefommen aus der Tiefe; im Elend tüdijch und 
granfam geworden. Alſo wenn man will: bie Aulularia 
berlinifch. Aber doch anders und auch anders als bei 
Moliore, nämlich durch eine jeltiame Begierde des Alten, 
fein Lafter zu verewigen ; es genügt ihm nicht, ſelbſt geizig 
zu fein, fondern er möchte auch gleich eine Dynaſtie des 
Geizes gründen, er wünſcht ſich einen Sohn, den er fi 
erziehen würde: zum Hüter über feinen Schaf, ‚wenn er 
ſelbſt einmal geitorben jein wird; und fo malt er fich wohl 
ſchon ein ganzes Gefchlecht aus, in dem der Geiz unfterb- 
lich wäre. Deswegen heiratet er ein Mädchen, das einen 
jungen Menſchen Tiebt, aber ji aus Not von der Mutter . 


— 268 — 


bereden läßt, Das Leben mit dieſer jungen ſinnlichen Perſon, 
die ihn nicht mag und ihn quält, die Angft um jein Geld, 
das fie vergeudet, die Wut, die er noch verhalten muß, 
weil das junge Weib ftärker ift, die Leidenſchaft für fein 
Kind, der Teile Verdacht, den er hat, Furcht, Eiferfucht und 
Erſchbpfung durcheinander, dies alles bringt ihn fo herab, 
daß er fichtlich verfällt. Als ihm nun gar noch bewiejen 
wird, daß er betrogen und der geliebte Knabe gar nicht 
fein Sind ift, bricht er zufammen, er ftiert erjt betäubt vor 
fi Hin, rafft fi dann rafend empor, reißt die Kaffe auf, 
ftürzt zum Kamin und beginnt nun Stüd für Stücd feinen 
Neichtum zu verbrennen, Ungarifche. Goldrente, Bayeriſche 
Hypothekenbank, Pommerſche Pfandbriefe, Stüd für Stüd, 
heiſer Fichernd, und fein Geſicht verzerrt, feine Augen ver- 
glafen fich, er ift wahnfinnig geworden. Wie dieje ganze 
Rolle auf Reichers Kunft eingeftellt ift, die fi) an ihr von 
allen Seiten entfalten kann, das finde ich wirklich hoher 
Bewunderung wert: denn hier werden nicht, wie fonft 
Autoren tun, einem Schaujpieler bloß feine Allüren, feine 
Gewohnheiten abgelaujcht, um fie ihm gefällig darzu- 
bringen, fondern für den Gehalt feiner fchaufpieleriichen 
Natur wird hier eine Figur gejucht, an der fie, ohne ſich 
erſt umkleiden oder einhüllen zu müffen, unmittelbar er- 
ſcheinen fann; und merkwürdig ſcheint mir auch daS Ver- 
hältnis des Wortes zur Gebärde des Schaufpielers ge- 
teoffen, indem ihm genau foviel Tert, al3 er braucht, um 
fein Spiel völlig auszulöfen, aber nicht mehr gegeben wird, 
als fein Spiel bewältigen Tann. Leider aber in dieſer 
einen Rolle nur. Die anderen Rollen find weder „Lite 
rariſch“ ausgeſchopft, was ja auch gar nicht möglich ge- 





— 269 — 


wefen wäre, ohne den Stil zu zerftören, noch find fie 
„ſchauſpieleriſch“ gedacht, wie die Abficht der Autoren es 
doch gebieten würde. Wären auch fie, wie die des Ader- 
mann, jo dem Schaufpieler angepaßt, daß er fich in ihnen 
bewegen und fie durch fich vollenden kann, dann Hätten 
wir bier vielleicht das Stüd, nach dem eben jegt Die neue 
Schaufpielfunft verlangt, welche nicht länger dem Dichter 
dienen will, jondern neben ihm und mit ihm eine ftärfere 
Wirkung fucht, als irgend eine einzelne Kunft jemals 
vermag. 

Zür mein Gefühl überladet Reicher die Rolle etwas; 
er fcheint in jeden der vielen Heinen Züge, aus welchen 
er fie zufainmenfegt, jelbft jo jörmlich verliebt, daß er fie 
beftiger zieht und länger bei ihnen vermweilt, als ich not- 
wendig finde. Aber den Schluß fpielt ihm wohl fein 
anderer deutjcher Schaufpieler heute nad}; er kommt hier 
wirklich dicht an die Wirkungen Zacconis heran. Neben 
ihm weiß fi nur die Eyfoldt zu behaupten, durch deren 
wunderbare Energie und Geiftigfeit ſelbſt dieje ganz ftarre 
Trude manchmal aufzuleben jcheint. 


1905 
Elektra. 


(Tragödie in einem Aufzuge, frei nach Sophofles, von Hugo von 
Hofmanndthal. Zum erften Mal aufgeführt von ber Truppe bes 
Berliner Kleinen Theaters im Theater an der Wien am 13. Mat 1905.) 

Im zweiten Saale des Atheniſchen Mujeums find 
die myfenifchen Funde. Waffen, Geräte, Schmud. Und 


— 70 — 


Gold überall, ftrahlendes, Ieuchtendes, gleikendes Gold. 
Streifen aus Gold, Scheihen aus Gold, an die Gewänder 
zu heften. Stirnbinden, Wehrgehänge, Schwertgriffe. 
Goldene Scheiben, goldene Gürtel, goldene Becher. Gold- 
magfen, Goldplatten, den Leichen über das Geficht und 
auf die Bruft gelegt, als Schug oder Zier. Und in diejes 
glühende, funfelnde Gold das ganze Leben eingepreßt, 
Ranken, Schmetterlinge, Käfer, Männer auf der Jagd 
oder im Kriege, Delphine, Löwen, Hinter Gazellen, Hinter 
Hirſchen her. Man weiß nicht, was man an dieſer Kunft, 
die an die viertaufend Jahre alt ift, mehr bewundern fol: 
die verblüffende Bravour von Händen, die mit allen 
Schwierigkeiten ſpielen, oder den gelafjenen Gejchmad im 
Wechfel der Linien oder dieſen Geift einer ungeheueren 
Luft am Leben, einer unermehlichen Seligfeit an der 
eigenen Kraft, einer unbezwinglichen Sicherheit, der aus 
jeder Gefahr, aus aller Not nur immer wieder ein neuer 
Sieg winkt. Das Schönfte find wohl die beiden Becher, 
die Tſuntas in Waphio, wo einft Amyklai war, unweit 
von Sparta, ausgegraben hat. Becher, etwa acht Benti- 
meter hoch, mit einem Henkel; außen Stiere, in getriebenen 
Reliefs, auf dem einen wild, im Kampfe mit zwei Jägern, 
auf dem anderen gezähmt, von einem Hirten gehütet, der 
das eine der Tiere an einem Stride zerrt, daß es ſich 
aufbäumt vor Schmerz, Auch bier wieder: welche Ruhe, 
welche Kraft, welche Freude! Furchtbares wird dargeitellt, 
aber furchtlos, ja als ob die Furcht den Menfchen gar 
noch nicht befannt geworden wäre, dieſen Menjchen, die 
ſich größer und ftärker wußten, als alle Schreden des 
Lebens und des Todes find. Menſchen von einer Ver- 





— 271 — 


mefjenheit, wie Kinder fie haben, bevor ihnen noch ein 
Leid gefchehen ift; und darum unbarmherzig, unfähig, mit 
zu leiden. Menfchen, welchen das Leben und der Tod 
und alle Abenteuer und jede Gefahr und die Drohungen, 
welche der Himmel und das Meer und die Erde bergen, 
immer nur ein Spiel find, ihren Mut und ihre Macht 
zu proben. 

Dann aber fam die große Doriiche Wanderung. Dieſe 
Kunft leicht Iebender, furchtlofer, wunfchlojer, arglojer, in 
der eigenen Kraft ruhender Herren ift plöglich zerftoben, 
verfunfen, verjchollen. Der Menich wird zurückgeworfen. 
Alles ift vergeffen. Er fängt erſt noch einmal wieder ar. 
Eine neue Kunft beginnt, tappend, roh, ungeſchlacht. Die 
Kunſt der Porosfiguren auf der Akropolis. Seltſame, ja 
für uns lächerlich heftige Geftalten, Männer mit violetten 
Bärten und Haaren, grellrote Löwen, tiejblaue Stiere. 
Da ift der dreileibige Typhon, da tft Herafled, mit dem 
Triton ringend, da ift wieder ein Stier, von zwei Löwen 
zerfleiſcht. Alfo die alten Themen, wie damals, Dort 
ein Stier, der gequält wird, wie hier. Aber dort darge» 
ftellt mit der Luft an der Dual, der Luft des Starken, der 
ſich jelber ficher weiß; hier mit der Furcht, vor der Dual, 
der Furcht des Gequälten, der felber gelitten hat. Denn 
zwiſchen den zwei Künften, jener herotjchen vor der Wande« 
rung und diefer tragifchen nach der Wanderung, ift 'eine 
große Erfindung gejchehen: die Menfchheit hat das Mit- 
leid entdeckt, das Mitleid und die Furcht. Wir wifjen 
ja noch immer nicht, was jene Wanderung eigentlich war: 
eine Verſchiebung von Raſſen (mofern die Heroen etwa 
gar feine Griechen geweſen) oder aber, in derjelben Raſſe, 


— 272 — 


eine der Stände, ein nationale oder eine joziale Erſchütte- 
rung. Doc; jedenfalls ein Sturz der alten Mächte, eine 
Erhebung neuer: Herren, ſeit Hunderten von Jahren uner- 
fchütterlich, zerbrachen, Stnechte, eben noch am der Stette, 
ftiegen aus dem Dunkel auf. Aber es ift noch fein König, 
wer nach der Krone greift. Dieſe neuen Herren, plöglich 
zur Macht emporgeriffen, Eönnen nicht vergeffen; Erinnerung 
an die Greuel ihrer Vergangenheit figt neben ihnen und 
fie ſchlafen fchlecht, fie träumen ſchwer, ängftlich auffahrend, 
ob man fie morgen nicht wieder verjagen wird. Ihr 
Problem ift: was fie äußerlich find, nun aber auch inner- 
Ich zu werden. Sid; zu dem, was fie für die anderen 
find, auch vor fich jelbft zu machen. Sich als die Herren 
fühlen zu lernen, zu welchen fie ſich aufgeworfen haben. 
Erztehung geborener Knechte zu Freien, Verwandlung von 
Zeigen in Frohe. Denn was Hilft die Tat der Waffen, 
fo lange fie das jchlechte Gewifjen Haben? So lange jie 
noch ſelbſt nicht an fich glauben, beffommen von der Un- 
ficherheit ihrer Gefühle, tm Dunft verräteriicher Drohungen, 
die fie überall wittern, wird ihre auf das Schwert geftüßte 
Macht doch immer nur ein bloßer Schein fein. Die Zeichen 
der Herrichaft nügen ihnen nichts, jo lange fie nicht auch 
innerlich den alten Herren gleichen. Dies: das attifche 
Volk mit dem Geifte zu füllen, den einft die großen Stönige 
Hatten, ein Bolt aljo, dem die Spur entjeglicher Ber- 
gangenheiten noch immer in den Eingeweiden ftöhnt, geiftig 
zu beroifieren, ift der ungeheuere Verſuch der Periffeifchen 
Beit. Hier wurzelt die Tragödie, Hier Phidias. Jene 
ſucht den ganzen Inhalt der Mythen, in welchen ſich das 
Furchtbare der Vergangenheiten zufantmengedrängt erhält, 





— 273 — 


„abzureagieren“, wie die Pſychiater heute jagen, indem fie 
ihn aus der Dämmerung verftörender Ahnungen an den 
Tag glängender Fefte bringt, zugleich zeigend, wie fich der 
Neid der Götter und das Schidjal an Menichen bricht, 
die bei fich jo ſtark find, jchön zu bleiben. Und diejer 
ftellt nun ſolche ſchöne Menjchen auf die Straße hin, ihrer 
eigenen Anmut jo zärtlich froh, daß fie nichts mehr fürchten 
fönnen, wenn ihnen nur dieje bleibt, wenn fie nur fich 
felbft Haben dürfen. (Worüber man mehr in meinen 
Dialogen nachlejen mag, jenem „vom Tragijchen“, beionders 
aber dem „vom Marſyas“, der den Philologen jo zumider 
ift.) Die ganze große Zeit der Griechen dreht fich nur 
immer um bdiejen einzigen Verjuch: Herren vergefjen zu 
machen, daß fie einft Knechte waren; aus Menfchen, die jo 
gelitten haben, daß fie noch davon zittern, Starke, Sichere, 
Frohe zu züchten; Scham und Angſt in Stolz und Luft 
zu verwandeln. Und es gelingt nie. Der Snecht bleibt 
immer im griechijchen Gemüt verftect, wie laut ſich auch 
außen der Herr vermeſſen mag. Daher der Gram, der 
den fchönften Köpfen ftill in den Winkeln der leije ver- 
zogenen Lippen jigt. Daher die dumpfe Sehnfucht, die 
immer gieriger in den tragischen Helden anſchwillt, bis fie 
zulegt aus dem Euripides bricht. Ariftophanes, der für 
jenen griechiichen Geift der großen Zeit die Leiden- 
ſchaft und Inbrunft des fpäten Romantikers hat, weiß, 
warum er ben Euripides jo haßt. In Euripides und 
Sofrates fällt der Herr vom Griechen ab, das Werf der 
Zeit ift zerftört, der nadte Snecht wird offenbar. Sie 
find beide eigentlich ſchon Chriften. 

Windelmann und Goethe Haben das griechtiche Weſen 

Hermann Bahr, Bloffen. 18 


— 11 — | 


nicht erfennen können, weil es in den Nachwerken, an bie 
fie gewiefen waren, abgeblaßt und verdunfelt ift. Sie 
wurden den Geift gewahr, der überall zur Größe, nad 
Ruhe, in geficherte Freude drängt, aber ohne zu merfen 
welche Gewalt er fich antun muß, wie wehe der grie- 
chiſchen Heiterkeit ift; die geheimen Zeichen tiefer Angſt 
von Menjchen, die fich verzerren müffen, um fo mutig 
und feit zu jcheinen, als fie gern wären, fahen fie nicht. 
Die Statue, vom Griechen Hingeftellt als ein Gejeg der 
Menjchheit, zu welchem fie fich doch erft emporftreden foll, 
ſchien ihnen vielmehr der Ausdrud der griechiſchen Natur, 
welche zu verleugnen, zu verwandeln wir jegt als dem 
tiefften Sinn der Haffifchen Kunft verjtehen lernen. Und 
vom Scheine betört, den ſich die Statue gibt, unempfind- 
lich für die freilich im jenen Nachwerken fait erlojchenen 
Spuren der Not und Bein, von welcher dieje Kunft aus- 
geftoßen wird, verloren fie ſich an jenes faljche Griechen» 
tum, das dann von den Epigonen noch völlig vergipft 
wurde. Es fei, hat Windelmann gejagt, das Grundgejeg | 
des hohen Stils gewejen, „das Geficht und den Stand 
der Götter und Helden rein von Empfindlichkeit und ent- 
fernt von inneren Empörungen in einem Öleichgewichte des 
Gefühle und mit einer friedlichen, immer gleichen Seele 
vorzuftellen.“ Das wurde nun auch noch auf die Griechen 
jelbft übertragen und diejes attijche Volk, ein Genie im 
Leiden, mit Sinnen der verruchteften Empfänglichteit, Ner- 
ven don fo chauerlicher Gier, daß es nur in einem Taumel 
von beftändiger, aus allen Gebärden, aus der Sprache, 
aus jedem Schritte der menfchlichen Beziehungen zuftrömen- 
der Muſik überhaupt leben konnte, Hundert Jahre lang den 


— 275 — 


Schulbuben als ein Mufter verjchlafener Mäßigung und 
wunſchlos geduldiger Ergebenheit in ein penfioniertes Leben 
bingeftellt. Perikles, der jein Volk von der ungeheueren 
ichmerzlichen Gier bedroht ſah, in der jeder fich vor dem 
anderen die Bruft aufriß, um ihn mit feinem Sammer an- 
zufteden, glaubte e3 zu retten, indem er ihm (durch die 
Tragödie und durch die Plaftif) gebot: ftolz zu werden, 
jeine Seele zu verbergen, nach außen zu lächeln, fich 
nichts merfen zu laſſen, undurchfichtig zu fein. Es ift 
ihm dennoch nicht gelungen, die Griechen über fich zu 
täufchen. Aber ung. Für die nachlommenden Nationen 
hat er fie undurchfichtig gemadt. Bis auf Burdhardt 
und Nietzſche. Die nahmen ihnen die Masten der ewig 
gleichen Stille, der ftarren Heiterkeit ab. Nun ſehen wir 
wieder in ihr von Gier und Gram zerriffenes Geficht. 
Wie wir jet die Griechen ſehen, als ein Volt, das 
vergeblich im Glanze feierlicher Neben, flatternder Muſik, 
berzaubernder Gebärden die dumpfe Not unfeliger Menjchen 
zu vergeffen fucht, hat fie Hofmannstal in. feiner Elek— 
tra gezeigt. Ob dieje denn eigentlich griechifch jet, ift 
diel geftritten worden. Nein, hat Hauptmann einmal ges 
jagt; er liebe das Stück, aber griechiich fei es nicht. „Denn 
bei den Griechen ſcheint in tiefftes Leid aus der Ferne 
doch immer das blaue Meer herein." Hauptmann hat 
teht; dag ganze griechiſche Weſen kann man gar nicht beſſer 
ausſagen: „Tiefſtes Leid, immer mit dem Blid aufs blaue 
Meer.“ Aber nachdem man uns hundert Jahre nun immer 
nur das blaue Meer im Griechifchen gezeigt, war es an 
der Zeit, und endlich wieder das ungeheure Leid fühlen zu 
Iaffen, auf dem alles griechiſche Weſen ruht. Uns gerade, 
18x 


— 276 — 


dieſes neue Gefchlecht der großen Sehnfucht ins Freie, nad) 
Wind und Welle, zum Himmlijchen empor, die doch immer 
nur im Leiden erjchöpften Menjchen erſt erfüllt wird. Um 
des Lebens froh zu werden, ınuß einer erft alles erlitten 
haben; ‘Freuden, die nicht wiffen, was wir leiden, find 
leer, fruchtbare Luft blüht nur aus dem Leid auf. Hof- 
mannöthal hat uns hier in die tiefiten Höhlen irdiſcher 
Pein gezwängt. Nun harten wir, ob er die Kraft haben 
wird, auch durchzudringen, hinauf und hinaus, in das 
blaue Meer! 

Die Elektra der Getrud Eyfoldt gefört zum Stärfften 
der heutigen Schaujpielfunft. Hier ift die Welt zu, der 
Atem der Menjchheit ftodt. Ein Weien, ganz ausgejaugt 
und ausgehöhlt von Leid; alle Schleier zerriffen, die ſonſt 
Sitte, freundliche Gewöhnung, Scham um uns zieht. Ein 
nadter Menſch, auf das Letzte zurüdgebracht. Ausgeſtoßen 
in die Nacht. Haß geworden. Haß eflend, Haß trinfend, 
Haß ipeiend. Wund vor Haß, geil vor Haß, toll vor 
Hab. Nicht mehr irgend ein Weſen, das habt, jondern 
der Haß jelbft. Schreie, wie aus ferner Urzeit ‚her, Tritte 
des wilden Tieres, Blicke des ewigen Chaos. Gräßlich, 
fagen die Leute, zufammenjchauernd. Gräßlich. Aber eben 
darin griechiicher, als es jemals die Kunſt der ftrengen 
Linie, der Hugen Mäßigung, der zarten Stille jein Tann. 
Denn Griechiſch ift: aus Gräßlichem Schönheit zu holen. 

Es ijt nicht ganz leicht, zu jagen, wie die Vorftellung 
geftern eigentlich gewirkt hat. Sie begann mit Schillings 
Prolog zum Odipus, der, unter Hans Pfitzners ſicherer 
und großer Führung, wunderbar erregte und ergriff. Und 
nun die Enfoldt. Das Publifum zog den Atem an, tief 





— 277 — 


beflommen. Und eine Stile von Angft und Erwartung. 
Bis zur Szene mit der Klytämneſtra der Durieux. Hier 
wich die Stimmung, das Publitum dehnte fich, unruhig 
und fich fehättelnd wie ein Pferd, das vor Ungeduld 
ſchnaubt. Auch in der zweiten Szene mit der Chrhio- 
themis der Höflich noch. Erſt an den feltfam glänzenden 
Gebärden Moiffis al3 Oreſt und auf den ruhig großen 
Ton, den Joſef Mein dem blutigen Ägiſth gibt, jammelte 
ſich die verflatterte Spannung wieder. Dann aber war 
es die nerodje Kraft der Eyjoldt, die man förmlich über 
die Rampe gleiten und an den Hals der Laufchenden 
greifen ſpürte, dieſe Binreißende Kraft war e&, die zulegt 
doch einen ftarfen Erfolg erziwang. 


Der Graf von Charolais. 


(Ein Trauerfpiel von Richard Beer-Hofmann. Zum erften Mal aufs 
geführt von der Truppe des Berliner Kleinen und Neuen Theaters 
im Theater an ber Wien am 15. Mai 1905.) 

In der „Unfeligen Mitgift“, einem Trauerjpiele von 
Philipp Maffinger und Nathanael Field, das um 1632 
gedrudt und, wie auf dem Titel gejagt wird, damals oft 
und mit großem Beifalle von den königlichen Schaufpielern 
auf dem Theater zu Blackfriars aufgeführt worden ift, wird 
die Zeiche des alten Charolais, der einft ein großer Kriegs⸗ 
held war, von Gläubigern als Pfand behalten, bis feine 
Schulden getilgt fein werden. Dies erlaubt ihnen das 
Gejeg, fein Sohn aber ift arm und fann fie nicht aus— 
löfen. Da bat Rochfort, der Präfident des Gerichtes, Er- 
barmen, zahlt und gibt dem Jüngling noch, von feinem 


— 278 — 


Unglüde, der Sindetreu und frommen Tapferkeit feltjam 
bewegt, die fchöne Tochter zur Frau. Dieje betrügt den 
Mann, er erfährt’3, tötet den Galan und ruft ihren Vater 
ber, der ſoll das Urteil fprechen. Er reicht ihn das Kleid 


des Richters: 
m + . bier ift Eur Talar; 


Denn Yhr jemals Gerechtigkeit geliebt, 

Nehmt ihn noch einmal um. Es ift ein Fall 

Zu ſchlichten, der fo unpartei'ſches 

Gericht verlangt, ala Ihr noch je gemährt. 

Heut ſetz ih Eure Feftigfeit und Kraft 

Auf ſchwere Probe, — habt wohl acht, Mylord, 

Daß Ihr, der wie ein Adler ſcharf durchſchaut 

Des Fremden Bortrag, nit zum Maulwurf werdet 

In Eurer eig'nen Sade. Nehmet Platz, 

Gleich werd’ ich vor Euch ftehn.“ 

Und trägt e8 dem Alten vor, den Spruch verlangend. 
Diefer wird ihm: 

„Dem Teufchen Ehebett zugefügte Schmach 

Wird nicht durch Reuetränen abgebüßt; 

Und fei verfichert, ſolche Schuld verzeihn, 

ft mindre Sünde night, ald fie begehn.“ 

Noch zögert Charolaid: „So darf ich nicht begnad- 
gen?“ Aber der Richter ift ftarr: 

„Noch fie hoffen, 

Oder zu leben wünſchen. Keine Sonne 

Wird aufgehn, die nicht, ehe fie niederſinkt, 

Im neuen Licht ihr böfed Freveln zeigt, . 

Und jeben Tag verhafter; ja fogar 

Dieſes Gebet, das fie in brünft'ger Demut 

Hinaufzuienden feheint, wird nicht erhört; 

Und alle Bitten tieferfnirfchter Reue, 

Raum angelangt, verachtend abgewieſen 

Aus jebem Gnadenhof.“ 





— 279 — 


Und fo gefchieht es: Charolais tötet fie. Da bricht 
aus dem Richter erſt der Vater aus und klagt und weint. 
Und da Charolais fich beruft, daß er es auf feinen 
Spruch getan: 

Doch fällt ich ihn 

Nur als ein Richter, ald ein Freund bed Rechts 

Und eifrig, die verlegte Ehre dir 

Zu ſchüten, brach ich jedes Band des Bluts, 

Und eined Vaters Lieb und zarte Neigung 

Berbannt’ ih. Ja, ich hüllte mich für dich 

In einen blutgefärbten Scharladhmantel 

Bon Grauſamkeit; doch als Erwiderung 

Haft du die Gnadenfahne nicht entrolt. 

Ich ſah den ſchwergekränkten Gatten, doch 

Deine Auge blieb dem Vater feft verſchloſſen. 

Beaumelle! meine Tochter!” 


Und jammert und tobt und verzweifelt. 

Auf diefe große Szene zwilchen Vater und Richter 
in derjelben Bruft geht das ganze Stüd Hin, das übrigens 
die Luſt feiner Zeit an Abenteuern, wechjelvollen Zügen 
des Schickſals und feltiamen Begebenheiten Hat. Jene 
Menſchen jahen fich zum erften Mal in der Welt um und 
ftaunten, wie weit und wunderbar das Leben ift und was 
einem alle gejchehen fann. Dies jollte der Dichter ihnen 
zeigen. Wir jegt wollen doch mehr von ihm. Es genügt 
und nicht, was ich zugetragen hat. Wir wollen es be- 
greifen Tönnen. Wir fragen: warum? Wir wollen gleich“ 
fam dabei geweſen fein. Wir glauben nur, was wir am 
eigenen Leibe erlebt. Was geſchah, foll vor uns noch 
einmal gejchehen, vor und in uns, und fo, daß wir es für 
unabänderlich erkennen müfjen, nach der Beichaffenheit der 


— 2330 — 


Welt und der Beichaffenheit der Menfchen. Dann aber 
möchten wir erft noch darin bewiejen finden, was uns der 
legte Grund und Sinn des ganzen Dajeins ſcheint: Ge- 
techtigfeit oder Schönheit oder wie jeder eben, aus feiner 
Erfahrung, feiner Hoffnung, ſich unſer Leben zu deuten 
ſucht. Dazu rufen wir den Dichter an. Die Nachricht 
allein, wie der feltene Fall denn eigentlich war, genügt 
und jegt nicht mehr. Wir möchten und als jene Menfchen 
fühlen, welchen das geſchah. Und gern möchten wir uns 
als den lieben Gott auch fühlen, der es angeordnet hat. 
Wir wollen nicht bloß erfahren, wie e& war, jondern er- 
tennen, daß es notwendig war, und fehen, daß es gut 
war. Wir möchten vom tragifchen Dichter Iernen, dem 
Leben zuzuftimmen. 

Dies alles laſſen Maffinger und Field weg, Moti— 
vieren war ihre Sache nicht. Saum Tnapp jo viel, daß 
die Handlung nicht ftoden muß. Warum gibt Rochfort 
dem armen Grafen jein geliebte Stind, die „Ihönfte Jung- 
frau in Dijon“? Gott, der junge Menſch gefällt ihm. 
Und einmal jagt er auch: um „meinen arınen leeren Namen 
mit Eurem zu vereinen.“ Vielleicht alfo auch ein bißchen 
aus Snobismus, Mag fich jeder im Publitum dag Motiv 
nehmen, das ihn überzeugt. Die Autoren wollen nur 
weiter, zur Wirkung. Und warum wird Charolais be- 
teogen? Gott, Frauen find ſchwach. Sie jagt jelbft: 

„Seit ich mich verirrt und wandelte 

In dem verbotnen Labyrinth der Luft, 

Zertrennt ich felbſt, was unauflöslich war.” 

Und ihr Vater ſagt: 

„Erzeugt von ſünd'gen Menſchen, als ein Weib, 

Und von Natur der Schwachheit drum verfallen.” 


— 31 — 


Faſt wie Jachimo den Gemahl der Imogen jagen 
läßt: „Wie Weiber find, ja, wie fie wider Willen fein 
müffen.“ Und das Publikum, das der Maffinger und Field, 
ift es zufrieden, die Handlung rollt weiter, es fragt nicht 
mehr. Wir aber haben fragen gelernt. Dies ift vielleicht 
unſere einzige Kraft, dies ift unſer Stolz: unerbittlich 
Fragende zu fein. Darum wirft das englijche Stüd auf 
ung gar nicht ald ein Werk der Kunft. Es bringt nur den 
zohen Stoff des Lebens her. Ein Bericht, eine Chronik, 
Uns aber verlangt zu wiſſen: wie mag das nur eigentlich 
geweſen fein? Erſt wer uns dies zu jagen weiß, das 
Eigentliche, den tief verborgenen Trieb und Sinn ber 
Handelnden, de3 Gejchehens inneren Stern, ift uns ein 
Dichter. Richard Beer-Hofmann weiß es. 

Warum gibt Rochfort dem armen Grafen fein ge- 
liebtes Kind? Aus Liebe und aus Angſt. Weil er für 
fie die Täufchungen der Sinne fürchtet, weil er für jie 
den erlejenen Mann fucht, der jo menjchlich wäre, auch 
im Weibe den Menjchen zu fpüren. Ihm ift bang um fie, 
feit er plöglich fühlt, daß fie fein Sind mehr ift. Wie 
ſchnell das kommt! Er hat es gar nicht gemerkt, immer 
bei ihr, fie immer neben fich, nein — 

Nicht „neben“, „an“ mir, wie ein Zweig am Stamm 

Bon einem Safte, einem Blut durchkreiſt. 

„Mein Kind“ das fagt’ ich fo mie „meine Hanb”! 
Nicht „mein“ bloß, nein, ein Teil von mir, ich felber. 
Und das iſt nun ein Weib! etwas, wonach 

Ein Mann begehrt, und ärger noch — was felbft 
Nah Mann verlangt: „ein Weib“. 


Er ift ein alter Dann gewefen, als fie geboren wurde, 


— 282 — 


über Sechzig. Die Mutter ſtarb. Allein zog er das 
Kind auf. 
Nicht aus Sturm, Gemwittern unb 
Geftirnter Himmelspracht, und Schöpfungswunbern, 
Sprach Gott zu mir — im Lallen meines Kindes 
Bernahm id} ihn, fromm warb ich durch mein Kind. 
Euch zog die Frau die Kinder auf, ihr fünnt nicht 
Begreifen, was das Kind mir tft und mie ich 
Sie lieb hab’! Lieb! — Und jet wird irgend einer, 
Wird irgend einer kommen und ihr jagen, 
Daß er fie lieb hat. Küffen wird er fie 
Mit Lippen, bie noch heiß von Dirnenfüffen! 
Wenn ich die Stirn ihr füßte, war's ein ftummeß 
Gebet zu Gott, daß er das Kind mir füge — 
Er aber wird fie füffen, Mund an Mund, 
Sie an ſich prefien, Leib an Leib, daß ihr 
Der Atem faft verfagt; mit Worten, Bliden 
Wird er zum Sturm aufrufen ihre Sinne, 

Belauern fie, ob fchon im ihren Augen 

Die feuchte Glut, die fie ihm wehrlos macht — 

Und dann, ben armen unberührten Leib 

Mit widerlich erfahr'nen Fingern — — pfui! 

Mich ekelt's! Pfui! 

Ja, wenn es Liebe wäre! Wenn es einer wäre, ber 
fie liebt! Der eine, der fie liebt! Mit einer der jeinigen 
verwandten, tief menjchlichen und ahnungsvollen Liebe, 
die ihn fpüren macht, daß die geliebte Frau 

Für ihn 

Das einz'ge Band noch ift, das fein Geſchick 

An aller Welten ew'ges Schidjal bindet, 
und ihn gütig macht, gütig und lind! Aber wo iſt dieſer 
Mann? 

Ich find ihn nicht, und fänd ic} ihn, fo wär's 

Ein alter Mann; was Jugend if, ift graufam. 





— 2383 — 


Und graufam wird er fein. Ste quälen, wenn er 
Sie liebt — und quälen, wenn er ihrer fatt. 

Mit Eiferſucht fie quälen, wenn fie heiß — 

Und fie verfhmähen, wenn fie kalt! Wie viele, 

Die viele Nächte bin ich aufgeftanden, 

Nachfehen, ob fie nicht im Schlaf die Hand 

Auf ihre Bruft gelegt, beforgt, daß nicht 

Ein Alb fie ängftige! Grträumtes Leid 

Wollt ich ihr fernehalten — bloß erträumtes! 

Nun wird fie wirklich leiden, und um einen, 

Der noch nie um fie litt, und gerne leiden, 

Denn fie ihn liebt; und es vor mir berbergen; 

Und mich um ihn verlaffen! Mid — um ihn! 

Wo ift diefer Mann, dem er fie vertrauend geben 
möchte? Den fucht er für fie: 

Den 

Dem nichts de Lebens heißer Hauch da drinnen 

Berborren konnte, dem noch Quellen fpringen, 

Dem, der noch jubeln fann und leiden — ben, 

Den ſuch id — — (nad; oben blidend) 

Nein, den bitt’ ich, laſſ'ſ mich finden! 
Gib’, daß ich nicht an ihm worübergeh’! 

Darum gibt er fie dem Charolaiß, der jo am toten 
Vater hängt, wie fonft nur Eltern an den Kindern, dem 
alle böfe und gemeine Gier, die dem Menjchen aus der 
Tiefe droht, durch Leid ausgebrannt, der durch Leid ganz 
gütig und ganz reif geworden ift. Als einen anderen 
Vater gibt er ihn ihr. Um ihr zu erfparen, was an Greueln 
und Graufamfeiten das wilde Leben tüdiich dem Weibe 
beftimmt. Ohne zu ahnen, daß er fie dadurch vernichten 
wird. Eben, indem er fie bewahren will, muß er fie ver- 
nichten. Denn dag Leben läßt fich nicht um fein Geſetz 
betrügen. Es ift ftärfer als der armen Menjchen Rat. 


— 4 — 


Barum wird Charolais von ihr verraten? Der 
gütige Charolais? Der fie liebt, den fie liebt, dem fie 
ein Kind geboren Hat? Bei der er „dunller Träume 
Deutung, ewiger Sehnfucht Raſt“ gefunden Hat? 

Bei ihr nur einzig, 

Bei ihr war Zuflucht, Sicherheit bei ihr! 

Ihr Arm, gelegt um meinen Naden, barg mic, 

Ihr Arm — Friebe! Ihre Lippen — Glüd! 

Ihr Leib — Verheißung! Eins mit ihr zu werden, 

Aus mir in fie zu flüchten, faßt ich fie, 

Umfchlang fie, ließ mein Leben in fie ftrömen — — 

Und hielt fie — meine Antwort an ben Tod! 

Und die — Und die — — 

Und die fann ihn verraten? An einen berweibten 
Geden, der fie nicht einmal liebt, fie nur begehrt, kaum 
aus Luft, nur au verworrener Eitelfeit der inne, 
die um alles wirbt, um jeden Mann, um jedes Weib, 
um jedes Ding der Welt, gierig, jedes zu befigen, 
um fi daran zu fühlen, der nichts jchön ift, was ihr 
nicht gehört, die nichts fpürt, was fie nicht mit Fingern 
faßt! An folchen widerlichen Bettler um die Welt verrät 
die ftolze Frau den tief geliebten ftarfen Mann. Warum? 
Von feilen Worten fortgezogen, deren fremd verruchter 
Schall fie lodt, in Berührungen verftridt, die die Macht 
der Schande haben, ich jelbft entwendet durch Fieberdunft, 
der ihren Sinn verbrüht! Warum? Kann denn das fein? 
Warum? 3 trieb fie, jagt man dann und fehaudert. 8. 

„Es* trieb und — treibt und! „EB! — 

Nicht ich — nicht du! 

Wer ift dieſes fürchterliche „ES“, dem fie verfällt? 

Und leiſe fpricht’3 in uns: vielleicht das Weib. Vielleicht, 


— 2385 — 


weil ihres Mannes Liebe reine Güte war, himmlifch und 
vol Scham und hell geworden, aber das Weib dahin 
erſt alle Höllen der Brunft durchjchreiten muß. Weil ſich 
die Natur nicht betrügen läßt. Weil es ihr Geſetz ift, 
daß fie den Menfchen erft auf finftere Wege ftößt, bevor 
fie ihm das Licht gibt. Ihr guter Water Hat audgeflügelt, 
fein Kind vor der Gier zu hüten. Wie aber, wenn ed 
über und verhängt wäre, daß wir durch ihr großes euer 
müffen? Er hat es ihr erjparen wollen. Aber die Natur 
fpottet unjerer armen Vernunft. Seinem Menjchen bleibt 
das Menſchliche erjpart. 

Einen ſchaurigen Moment im legten Aft lang wird 
ung, als jcharre der Dichter Hier dies als den legten Sinn 
des Lebens aus: daß es feinen hat. Aber nein. Dieler 
Dichter, in welchem fich die Ahnungen der großen tragiſchen 
Völker verfammeln, gräbt tiefer. Wir fpüren, daß er die 
Menſchen überall in einen ungeheuren Plan verwoben ſpürt, 
den fie nur nirgends fafjen können. Ihnen ſcheint's Hohn, 
Tücke, Wahn. Nur der Dichter ift gejegnet, daß er manch⸗ 
mal, wenn die rote Sonne finft oder früh der leije Wind 
ſprüht, bei fich weiß, wie doch in allem, über allem ein 
ewige Geſetz ift. 

Es gibt ein Gedicht von Beer-Hofmann, „Schlaflied 
für Mirjam“, jo wunderbar weich und wiegend, für mich 
das jchönfte, das feit „Über allen Gipfeln“ den Deutjchen 
geichenkt worden ift. Darin Heißt die zweite Strophe: 

Schlaf mein Kind — ber Abendwind weht; 

Weiß man woher er kommt, wohin er geht? 

Dunkel verborgen bie Wege hier find, 

Die, und auch mir, und uns allen, mein Kind! 


— 286 — 


Blinde — ſo gehn wir, und gehen allein, 

Reiner kann keinem Gefährte hier fein — 

Schlaf mein Kind — mein Kind ſchlaf ein! 

Blinde jo gehen wir. Wir find blind, nicht unfer 
Schickſal. Wer weiß, wie leuchtend es ift! Dem, der es 
jehen Könnte Wir Tönnen’3 nicht. Das ift unfer tiefes 
Leid; und ift doch auch der höchſte Troft darin. Weil 
es und jo ftarf macht, daß wir unjere Qual verehren 
lernen. 

Den Charolais gibt Friedrich SKayfler, von dem 
man hier unter Brahm den Probelandidaten, den Doktor 
Rank und den jungen Arnold Kramer gejehen hat. Er 
wirkte ſchon damals immer durch einen merkwürdig ftarfen 
Ton innerer Ergriffenheit, doch ftodend und manchmal 
wie widerwillig, faft ala ſchäme er fich, zur Schau geftellt 
zu fein. Bei Reinhardt Hat er fich nun zu einer wunder 
baren fünftleriichen Freiheit durchgefpielt und an feinem 
Charolais find Zeichen zum Hamlet, zum Macbeth, ja zum 
Fauſt Hin. Prachtvoll fteht Joſef Mlein neben ihm, zart 
und von füßefter Anmut Elfe Heims. Alerander Moiffi ver- 
bfüfft wieder durch den warmen Glanz feiner ſamtenen Gebär- 
den, befremdet wieder Durch den undentichen Klang feiner 
flirrenden, girrenden, ſchwirrenden Rede. Am ſtärkſten wirkt 
Neinhardt feldft, der in der Epijode eines alten Juden 
Macht und Mäßigung auf die ſchönſte Art vereint. 

Das Publitum nahm den erjten Aft mit einem Jubel 
auf, der im zweiten ſank, nach dem dritten ſtürmiſch, nach 
dem vierten, durch hämiſchen Widerfpruch gereizt, braufend 
wurde, um erft im legten ermüdet nachzugeben. 





— 3837 — 


Die Neuvermählten 


von Björnfon, ſchon einft im Stadttheater mit der Schratt 
und der Weiffe, Glig und Reufche, fpäter auch im Burg- 
theater geipielt, wurden geftern von ben Berlinern ge— 
bracht. Es war vor allem ein großer Erfolg der Höflich. 
Es ift unglaublich, mit welcher Einfachheit fie wirft. Sie 
figt, und man lacht. Sie macht den Mund auf, ohne noch 
etwas zu jagen, und man ladıt. Sie jtridt, und man 
lacht. Plöglich dreht fie rafch den Hals, und man lacht. 
Sie fpreizt die Finger von der Hand, und man lacht. 
Dies ift eine ganz bejondere Komik von faft animalijcher 
Art. Die Komik einer Iuftigen Schwalbe, die fich fragt, 
einer vergnügte Ente, die taucht. Eine Komik, die unfere 
tieffte Luft an der Natur auslöft; nur Weſen, die wir lieb 
haben, kommen ung fo komiſch vor. Weshalb auch, da 
doch Dicht bei jeder Luft der Liebe ftet3 die Sorge fteht, 
das Leifefte genügt, fie in Rührung zu verwandeln. Noch 
lachen wir, du wird das Geficht der Höflich ernft, die 
Stimme ftoct ihr, die Lippe finkt herab, und wir weinen. 
Die Durieuz gab die heifle Rolle der freundin. Diefer 
doch jehr merkwürdigen Schaufpielerin hat man neulich 
unrecht getan. Sie iſt noch unfertig, will zu viel und 
will alles auf einmal, man muß ihr auch jagen, daß ſich 
der Schaufpieler bet feiner Rolle, wie fie nun einmal ift, 
zu beicheiden hat und nicht verjuchen ſoll, gleich das ganze 
Leben, wie er es ſpürt, aus eigenem noch nachzuftopfen; 
aber fie hat doch heute ſchon Momente von einer fo groß, 
hervorbrechenden Kraft, daß man, hat fie fich erft mäßigen 
gelernt, da8 Schönfte von ihr erwarten darf. Beſonders 


— 288 — 


wohl in Rollen rätjelhafter, wirrer, dunkler Frauen, zu 
welchen fie ſchon der Widerjpruch des launiſch beweglichen, 
eher jpigbübifchen Gefichtes mit ihrem ſchweren tragiſchen 
Weſen hinweiſt. Neizend ift Engels, bald ein bifchen 
an Baumeifter, bald an Römpler erinnernd, reizend auch 
Hedwig Wangel und beherzt padt Schroth den jungen 
Gatten an. Früher, in den guten alten Zeiten, lang ift’3 
ber, hätte man von einer jolchen Vorftellung gefagt, fie fei 
Burgtheater. 


Sommernadtstraum. 
(Aufgeführt dur die Truppe des Berliner Kleinen Theater und 
Neuen Theaters im Theater an ber Wien am 20. Mai 1905.) 

Der „Sommernachtstraum“ ift Neinhardts ftärffter 
Berliner Erfolg geweſen, ein unwahrſcheinlicher, unglaub- 
ficher, unbegreiflicher, ein phantaftijcher Erfolg, unerichöpf- 
lich, noch täglich wachjend, zu Leuten dringend, die fonft 
die Kunft kaum ftreift, weit hinaus, tief hinab. Fünfund- 
achtzigmal ausverkauft. Dies in einem Theater, da8 mit 
feiner Arbeit aus der hergebrachten Routine fort, zum 
Stil, zur Kunft empor den klugen Spöttern in den Kreis 
der Xrtiften und der Snob3 gebunden fchien. Und nun 
diefer in alle Breiten, alle Tiefen greifende Erfolg! Denn 
Erwartungen, längft in der Stille gehegt, immer wieder 
enttäufcht, faum mehr geglaubt, zeigten bier ſich plöglich 
erfüllt. Seit Jahren hatte man den Leuten vorgejagt, die 
klaſſiſche Kunſt lebe noch. Aber fie langweilten fich dabei, 
nur gab es feiner zu, faum fich ſelber; fie fürchteten und 
ſchämten ſich. Dieſes merkwürdig gemifchte Gefühl von 





— 2339 — 


Verwunderung, Berdruß, Verlogenheit, Angjt, Scham, Zwang, 
Verblüffung und Verddung wurden fie hier endlich los. 
Dies gefiel ihnen wirklich); e8 wirkte; es war eine Luft. 
Es gefiel ihnen nicht nur aus Reipeft, aus Bildung, 
aus Pflicht. Sie dachten erft gar nicht nad), fie waren 
jelig. Sie hatten mit der Zeit ſchon gemeint, es jei un» 
vermeidlich, bei den alten Dichtern zu gähnen; das gehöre 
nun einmal dazu, die Kunft it ernft, man muß fich Mühe 
geben. Und plöglich war es hier die helle Luft. 

Wie hat Reinhardt dies erreicht? Ich will verjuchen, 
die Teile jeiner Arbeit aufzuzeigen. Wir jollen ja von 
ihm lernen. 

Zunächſt: Hier ift endlich die Dekoration mit der 
Bühne völlig vereint. Die Leute jchreien bewundernd: 
Nein, diefer Wald, einen jo wahren Wald hat man auf 
feiner Bühne noch geſehen! Das ift aber gar nicht richtig. 
Nicht der Wald wirft fo, der auf der Bühne ift, fondern, 
daß die ganze Bühne Wald geworden iſt, daß es feine 
Bühne mehr gibt. Die „Stene“, zuerjt bei den Griechen 
nur eine Wand, welche dem Zujchauer die Vorbereitungen 
de3 Schaufpielers, die Garderoben, fein ganzes heimliches 
Geſchäft verdeden joll, wird im der Entwicklung allmählich 
zum Rahmen, der anfangd nur prunfen, feierlich ftunmen, 
bald aber „mitpielen“, an der vom dramatichen Künftler 
ausgejponnenen Suggeition helfen will: jie wird der 
„Schauplag der Handlung”. Zunächſt noch immer vom 
Schaufpieler getrennt. Hinten ijt ein gemalter Wald aufs 
gehängt, vorn führen die Schaujpieler auf einem Brett das 
auf, was als in jenem Walde gejchehen gedacht wird, 
Hinten ein Schauplag, vorne der Spielplag. Nun ftellen 


Hermann Bahr, Gloffen. 19 


— 284 — 


Warum wird Charolais von ihr verraten? Der 
gütige Charolais? Der ſie liebt, den fie liebt, dem fie 
ein Kind geboren hat? Bei der er „dunkler Träume 
Deutung, ewiger Sehnſucht Raſt“ gefunden hat? 

Bet ihr nur einzig, 

Bei ihr war Zuflucht, Sicherheit bei ihr! 

Ihr Arm, gelegt um meinen Naden, barg mic, 

Ihr Arm — Friebe! Ihre Lippen — Glüd! 

Ihr Leib — Verheißung! Eins mit ihr zu erben, 

Aus mir in fie zu flüchten, faßt ich fie, 

Umfchlang fie, ließ mein Leben in fie firömen — — 

Un hielt fie — meine Antwort an den Tod! 

Und die — Und bie — — 

Und die fann ihn verraten? An einen vermeibten 
Geden, ber fie nicht einmal liebt, fie nur begehrt, Taum 
aus Luft, nur aus verworrener Üitelfeit der Sinne, 
die um alles wirbt, um jeden Mann, um jedes Weib, 
um jede Ding der Welt, gierig, jedes zu befigen, 
um fi daran zu fühlen, der nichts ſchön ift, was ihr 
nicht gehört, die nicht? fpürt, was fie nicht mit Fingern 
faßt! Un folchen widerlichen Bettler um die Welt verrät 
die ftolze Frau den tief geliebten ftarfen Mann. Warum? 
Bon feilen Worten fortgezogen, deren fremd verruchter 
Schall fie lodt, in Berührungen verftrict, die die Macht 
der Schande haben, fich jelbft entwendet durch Fieberdunft, 
der ihren Sinn verbrüht! Warum? Kann denn dag fein? 
Barum? ES trieb fie, jagt man dann und ſchaudert. Es. 

„Es“ trieb und — treibt und! „EB“! — 

Nicht ich — nicht du! 

Wer ift diejes fürchterliche „Es“, dem fie verfällt? 

Und Ieije fpricht’3 in uns: vielleicht dag Weib, Vielleicht, 





— 91 — 


zum Traum, alles fcheint nur Wald, Waldes Atem, 
Waldes Hau, bald menſchlich, bald in flüchtigen Spuk 
gejormt, aus Luft gewebt, in Luft verweht. Und num 
fängt diefer Wald zu tönen an. 

Denn dies ift das Zweite: Reinhardt hat das Stüd 
durchaus mufifalifch inizeniert. Sein Wort, das irgend 
einer zu jagen hat, wird hier beim Wort genommen, als 
Zeichen einer Wirklichkeit, fondern jedes nur als Reiz der 
Sinne, als Wert der Stimmung. Und feine Gebärde der 
Schaufpieler wirft Hier real, zur mimijchen Berjtändigung, 
fondern Reinhardt jchafit fie zu Linien um, Ornamenten 
gleichfam aus geronnener Muſik, erfennend, daß uns der 
Dichter Hier nicht irgend eine Begebenheit, noch irgend einen 
Menſchen zeigen, jondern und nur zärtlich wiegen will. 
Denn wie zwijchen zwei Küſſen iſt dieſes Stüd erdacht, 
noch find die wunden Lippen feucht, ſchon öffnen fie ſich 
und verlangen wieder, und jo, von gejtillter Liebe glühend, 
ruft ung der Dichter zu: Died allein, von dem ich weiß, 
daß es Wahn ijt, nur dies ift dennoch wahr! Das Stüd 
iſt wie ein Zwiegeſpräch von Verſtand und Sinnlichkeit, 
worin jener die Torheit der Liebesluſt beweijen, aber dieſe 
in diejer Torheit eben die höchfte Weisheit der Natur ver- 
nehmen will. Spüren, wie der Wind weht, wie fich die 
Gräfer biegen, wie dunkler Duft aus Rojen finkt, und 
das Leuchten der Sonne und das Summen in der Luft 
und den leifen Drud geliebter Finger jpüren, nur dies ift 
wahr! Und dort ragt ein fteiler Baum, im Wipfel fteht 
ein Heiner Vogel oben und fingt und fingt, ganz oben. 
Und wie er fingt, ift alles in uns jtil geworden, die Welt 
iſt weg, das Leben jchweigt, wir wifjen nur noch: ich und 

19* 


— 292 — 


du, du und ich, wir, wir und der kleine Vogel, dies allein 
iſt wahr, nur dies. Und immer ſingt der Heine Vogel, 
Und wie er's fingt, wird’3 wie die Stimme einer Welle. 
Derjelden Welle, auf der der leiſe Wind fährt. Unjerer 
Welle, die und beide trägt, did; und mich. Davon aber, 
mein Kind, wollen wir dem Verſtande gar nicht? jagen, 
der doch alles beffer weiß, und lachen ihn lieber heimlich 
aus, Solches heimliches Lachen über den Verſtand, Lachen 
der Freiheit von aller dumpfen Welt, Lachen, das zulegt 
auch noch über jich felber lacht, ift dag ganze Stüd. Und 
diefes Tiebestiefe Lachen aus erfüllter Luft Hat Reinhardt 
infzeniert. 

Und aus ſolchem Lachen, Urlachen der Natur, fteigt 
nun auch diefer prachtvolle Pu der Eyjoldt auf. Nicht 
niedlich und geziert, wie ihn die anderen geben, verkleideten 
Marquifen gleich, die jchäferiih in dünnen Schuhen um 
irgend ein Trionon ftreifen, Tünftelnd, tänzelnd, wigelnd. 
Nein, borftig, ftruppig, zottig, dicht an der Tierheit; eine 
Geftalt, die nach ſchwarzer Erde riecht; ein Naturlaut, der 
Geftalt befommen Hat. Wie der griechiichen Anthologie 
entftiegen ; ihre Verſe fingen in jeden Schritt herein, Verſe 
von Pan, dem Walddurchwandler, dem rauhſchenkligen, 
der, das vögelfangende Rohr mit dem Leime beftreichend, 
über den Berg hingeht oder auf Hafen pirfcht, dem Führer 
der Nymphen, der de jchroffen Gebirges laufchige Grotten 
bewohnt, dem bodfüßigen Hüter der Herden, der fühen 
Moft aus heimijchem Kruge oder ein faugendes Lamm will. 
Diefe Stimmung, aber ftürmijcher noch, brünftiger ala jie 
in der Anthologie ift: an unferer romantijchen Sehnſucht 
erhigt. Ein Heiner Pansbub, der einmal gefangen gewejen 





— 293 — 


und eben erft wieder entlaufen wäre, jauchzend in ben 
Wald zurüc, nach dem fchwärmenden Gotte Lyäus, triefend 
vor Luft und grunzend und gröhlend: Ho, Ho, ho, dab 
es tief in die Höhlen der Oreaden jchallt, tief aus den 
Büſchen die Hamadryaden ruft: Ho, ho, ho! Ein Pan 
von Bödlin. Ein Pan, um den der ſchwere Sonnenduft 
von unferen hohen Wiefen, der tiefe Glanz des deutichen 
Waldes jchwebt. Enkel des alten Pan, aber ganz um— 
iponnen von der ewigen Sehnfucht der Germanen. Ban 
auf dem Blocksberg. Unfer Ban, wie auch diejer Thejeus 
hier doch unfer ift. 

Nun find geftern auch die Wiener dem gligernden 
Bauber willig erlegen. Der Abend begann gleich mit einer 
rauſchenden Ovution, für Pfigner, der in feiner weit aus— 
holenden, vollarmigen, gleichjam mitmalenden Art dirigierte, 
Dann flogen eilig die erften Szenen vorbei, und nun die 
Nüpel, von Waßmann, Arnold, Kayßler mit anftedender 
Tollheit dargeftelt. Dann aber der Wald, von dem jeht 
ganz Wien ſprechen wird, wie von ihm feit drei Monaten 
ganz Berlin ſpricht. Das Publikum freute fich wie ein 
Kind. Und das waldesfrohe Lachen der Eyjoldt! Und 
die rajende Jagd der Höflich Hinter der langfüßig flüchtenden 
Heims her! Das Publifum ſchrie vor Luft. Und dann 
fängt nun diefer ganze Wald fich wie im Traume zu be» 
wegen an. Und dann gar noch der Tanz der Rüpel. Und 
nun ging's: Reinhardt, Reinhardt! mit lauten Rufen ftür- 
mild durch das Haus. Reinhardt, Reinhardt und fein 
Ende! 


— 294 — 


Minna von Barnhelm. 


Die Berliner haben uns nun auch noch durch ihre 
ganz unvergleichlich feine glockenhelle Vorſtellung der Minna 
von Barnhelm entzückt, bie wieder Reinhardts volllommene 
Kunſt, uns die Luft einer Dichtung und den um ſie 
ſchwebenden Dunſt überall ſpüten, ja ſehen und förmlich 
greifen zu laſſen, auf das ſchönſte zeigt. Es gibt heute 
feinen Regiffeur, der reicher an ſzeniſchen Einfällen wäre, 
zugleich aber von jolcher Kraft, alles Detail doch immer 
gleich wieder ans Ganze zu fchließen und die große Linie, 
was Laube den Duftus eines Stüded zu nennen pflegte, 
wunderbar jeft und ftill zu behaupten, darin nur Mahler 
vergleichlich, der e3 auch wagen darf, noch bei den leijeften 
Neizen vorüberhufchender Erregungen zu verweilen, weil er 
fich ficher weiß, ſelbſt dem legten, zarteften, eiligiten noch 
das große ruhige Licht feiner ungebrochenen Empfindung 
für den Rhythmus nachzujenden. Es drängen fich mir, 
wenn ich von Reinhardt preche, immer Vergleiche aus dem 
Muſikaliſchen auf: denn fein ganzes Wejen, wie er gleich- 
fam den Tonfall jedes Dichter8 inizeniert und jene ge 
heimen Schwingungen jpürt, die fich dann in der fchöpfe- 
tifchen Stunde des Dichters allmählich erft zu Worten, 
Geftalten, Begebenheiten verdichten, dieſe über das Werk 
zum empfangenden Vorgefühl des Dichters zurüdgteifende 
und aus diefem dann jede Szene, jede Figur intonierende 
Art dedt den verftecten Tanz auf, der das Element alles 
Dramatiihen ift. Hier: Menuett von Haydn oder das 
Es-dur-Quartett von Dittersdorf. Hell, ftill, froh. Aber 
hinten hängt das Zöpfchen. Immer artig. Die Luft und 





— 295 — 


Laune wohlerzogener Menfchen, die niemals ihre gefteiften 
Kleider vergefien. Eine Dekoration auf blafjes Gelb, die 
andere milde roſig gejtimmt. Und darauf nun dag ganze 
Stück eingeftellt: mattgelb, zierlich xoja, ein Kränzchen um 
jede Szene geflochten, ein Böpfchen an jedes Wort gehängt. 
Und nun die Höflich als Franzisfa! Ihre Kraft der 
inneren Verwandlung ift erftaunlich, fie trifft alle Dialekte 
der menfchlichen Seele, und immer wieder ftimmt man 
Schnigler zu, der neulich von ihr gejagt hat, fie jei, nach 
ihren Entwidlungsmöglichkeiten in alles tragijche und Heitere 
Gebiet, der größte Glücksfall, den die deutjche Bühne jeit 
der Sorma erlebt hat: Neben ihr Fräulein Heims als 
DMinna, hell und warm wie die liebe Sonne. An ihr 
bat fich fo vecht Reinhardt als Erzieher gezeigt. Sie fam 
vor ein paar Jahren zuerft unter Brahm her: Hübfch, 
anmutig, ſcharmant, wenn fich das allerliebite Gejichtchen 
vom Lachen plöglich jo drollig ins Weinen verzog, aber 
doch, wie es jchien, unfähig, anders als durch ihren per- 
fönlichen Reiz zu wirken. Und noch auf den Berliner 
Proben zum „Meifter“, in welchem fie die nervöſe Heine 
Sekretärin gab, voriges Jahr, hätte ich nie gedacht, daß 
man fie je beftimmen fünnte, eine wirkliche Figur abzu— 
jondern, wie jegt diefe Minna ift, in der, was fonft nur 
der zufällige Charme de3 Fräulein Heims jchien, durchaus 
ins Notwendige, in Kunft umgejegt ift. Dasſelbe gilt 
von Herrn Giampritro. Jahrelang haben wir diejen Eugen, 
beweglichen, eleganten Schaujpieler im Volkstheater gefehen, 
immer durch fein den Wienern jehr angenehmes Wejen 
wirffam, aber ohne den leiſeſten Verſuch, es irgend der 
Rolle anzupafjen; er wäre hier in Manier umgefommen. 


— 26 — 


Jetzt jtellt er einen jo reichen, jo lebendigen, in jedem Zuge 
jo bejtimmten Riccaut hin, daß man einfach verblüfft war. 
Dies ift eben der Unterjchied: der Wiener Schaufpieler läßt 
in jeder Rolle einfach feine Natur los, er macht ein Couplet 
für fi aus ihr; Reinhardt zwingt feinen Schauſpielern 
immer eine Figur ab, ſelbſt auf die Gefahr Hin, daß einer 
dabei manchmal jeine ficheren perſönlichen Wirkungen ver- 
leugnen muB. So bier zum Beilpiel Kayßler, defien 
durchaus tragijche Natur, über ter immer eine jchwarze 
Wolfe zu hängen fcheint, fich eigentlich gegen den breit 
vergnüglichen Wachtmeijter fträubt, dem er nun doch mit | 
einer künſtleriſchen Energie, die die höchſte Bewunderung 
verdient, beizufommen weiß. Herr v. Winterftein ift ein 
angenehmer Tellheim, Engels der ergöglichite Wirt, Nein 
hardt jelbft ein Juſt, der ſich jogar neben der ſtarken Er- | 
innerung an Tyrolt zu behaupten vermag, und als Dame 
in Trauer hat Frau Wangel eine faft unheimliche Kraft, 
in zwei drei Sägen ein ganzes langes menfchliches Leben 
darzuftellen. 


Deutjhes Theater. (1904) 
Gaſtſpiel im Carl:Theater. Erſte Vorftellung: „Die Weber“ von 
Gerhart Hauptmann. 

Im Dezember des vorigen Jahres war mir vergönnt, 
Proben bei Reinhardt und bei Brahm, im Kleinen und 
im Deutichen Theater mitzumachen. Unfere Direftoren 
ftellen fich diefe doc} anders vor, als ich fie fand. Sie 
verfichern gern: da es in Berlin ein Stüd, das ge 
fällt, leicht auf Hundert, bei und aber in der Regel kaum 


— 297 — 


auf einige dreißig Vorfteilungen bringe, könne ınan dort 
viel und langſam proben, wozu es bei uns an der Zeit 
fehle; dies gebe jenen Schaufpielern eine Sicherheit und 
Geläufigfeit, aus welcher allein ſich die Überlegenheit der 
Berliner Schule erkläre. Ich aber fand, daß dort nicht 
bloß mehr und gründliche geprobt wird, fondern wejent- 
lich anders. Während jich nämlich bei ung der Regiffeur 
doch meiſtens begnügt, als Ordner den Schaujpielern bei= 
zuftehen, der beftimmt, wo fie aufzutreten oder abzugehen, 
wann fie fich zu fegen, allenfall® noch, welches Tempo fie 
zu nehmen haben, fühlt er fich dort al3 den Künftler, der 
in den Schaufpielern, als feinem Material, das Gefühl, 
das ihm das Werk des Dichters gibt, auszudrüden verfucht. 
Bevor er noch auf die Bühne kommt, Hat er das Stück 
bei fich fertig, er fieht den Raum, in welchem es fich be- 
wegt, er Hört fozufagen feinen Schritt und gibt nun nicht 
nad, bis es ihm gelingt, jo die Gebärden und die Töne, 
die ihm die Schaufpieler bringen, allmählich umzuformen, 
daß zulegt die Geftalten, die ihm daheim beim Lejen er- 
ſchienen find, wirklich vor ihm auf der Bühne ftehen. Das 
will Reinhardt und das will Brahm; beiden find ihre 
Schaujpieler, wa dem Bildhauer der Marmor ift. Aber 
jeder verhält ſich zum Dichter auf feine bejondere Art und 
jeder hat dann auch fein eigenes Verfahren mit den Schau- 
ipielern. Neinhardt fteht zum Dichter viel freier ald Brahm. 
Dieſer will jein Diener jein. Man merkt ihm immer 
noch den Kritifer an, deffen Natur es ja ift, fih in den 
Dichter aufzuldjen. Er mag allenfalls einmal, wenn dem 
Dichter was Mienjchliches pajfiert, für ihn denken und Hilft 
ihm mit leiſem Zinger behutjam nad) oder weift ihn be- 


— 288 — 


wohl in Rollen rätſelhafter, wirrer, dunkler Frauen, zu 
welchen fie ſchon der Widerſpruch des launiſch beweglichen, 
eher ſpitzbübiſchen Gefichtes mit ihrem ſchweren tragijchen 
Weſen hinweiſt. Neizend ift Engels, bald ein bifschen 
an Baumeifter, bald an Nömpler erinnernd, reizend auch 
Hedwig Wangel und beherzt padt Schroth den jungen | 
Gatten an. Früher, in den guten alten Zeiten, lang iſt's 
ber, hätte man von einer jolchen Vorftellung gejagt, fie fei 
Burgtheater. | 


Sommernadtstraum. 
(Aufgeführt durd die Truppe des Berliner Kleinen Theaters und 
Neuen Theaters im Theater an der Wien am 20. Mat 1905.) 

Der „Sommernachtstraum“ ift Neinhardts ftärfjter 
Berliner Erfolg gewefen, ein unmahrjcheinlicher, unglaub- 
licher, unbegreiflicher, ein phantaftiicher Erfolg, unerſchöpf⸗ 
lich, noch täglich wachjend, zu Leuten dringend, die ſonſt 
die Kunft kaum ftreift, weit hinaus, tief hinab. Fünfund- 
achtzigmal außverfauft. Dies in einem Theater, das mit 
feiner Arbeit aus der hergebrachten Routine fort, zum 
Stil, zur Kunft empor den Hugen Spöttern in den Kreis 
der Artiften und der Snobs gebunden fchien. Und nun 
diejer in alle Breiten, alle Tiefen greifende Erfolg! Denn 
Erwartungen, längft in der Stille gehegt, immer wieder 
enttäufcht, faum mehr geglaubt, zeigten Hier ſich plöglic 
erfüllt. Seit Jahren hatte man den Leuten vorgefagt, die 
klaſſiſche Kunft lebe noch. Aber fie Iangweilten fich dabei, 
nur gab es feiner zu, kaum fich felber; fie fürchteten und 
ſchämten ſich. Dieſes merkwürdig gemifchte Gefühl von 





— 289 — 


Verwunderung, Verdruß, Verlogenheit, Angjt, Scham, Zwang, 
Verblüffung und Verddung wurden fie hier endlich los. 
Dies gefiel ihnen wirklich; e8 wirkte; es war eine Luft. 
Es gefiel ihnen nicht nur aus Reſpelt, aus Bildung, 
aus Pflicht. Sie dachten erft gar nicht nach, fie waren 
jelig. Sie hatten mit der Zeit ſchon gemeint, e3 jei un- 
vermeidlich, bei den alten Dichtern zu gähnen; das gehöre 
nun einmal dazu, die Kunft iſt ernft, man muß fich Mühe 
geben. Und plöglich war es hier die helle Luft. 

Wie hat Reinhardt dies erreicht? Ich will verjuchen, 
die Teile jeiner Arbeit aufzuzeigen. Wir jollen ja von 
ihm lernen. 

Zunächſt: Hier ift endlich die Dekoration mit der 
Bühne völlig vereint. Die Leute jchreien bewundernd: 
Nein, diefer Wald, einen fo wahren Wald hat man auf 
feiner Bühne noch gefehen! Das ift aber gar nicht richtig. 
Nicht der Wald wirft fo, der auf der Bühne ift, fondern, 
daß die ganze Bühne Wald geworden ijt, daß es feine 
Bühne mehr gibt. Die „Skene“, zuerjt bei den Griechen 
nur eine Wand, welche dem Zuſchauer die Vorbereitungen 
de3 Schaufpielers, die Garderoben, fein ganzes heimliches 
Geſchäft verdeden foll, wird in der Entwidlung allmählich 
zum Rahmen, der anfangs nur prunfen, feierlich ſtimmen, 
bald aber „mitjpielen“, an der vom dramatijchen Künftler 
ausgejponnenen Suggeition helfen will: jie wird der 
„Schauplag der Handlung“. Bunächft noch immer vom 
Schaufpieler getrennt. Hinten ijt ein gemalter Wald auf 
gehängt, vorn führen die Schaujpieler auf einem Brett das 
auf, was als in jenem Walde gejchehen gedacht wird. 
Hinten ein Schauplag, vorne der Spielplag. Nun jtellen 


Hermann Babr, Gloffen. 19 


— 290 — 


Kuliſſen allmählich eine Art von Verbindung her, in 
Verſatzſtücken ſchiebt det Wald Bäume, Sträucher, Bänke, 
Wege, Zelien auf das Brett der Schaufpieler vor, immer 
mehr vor, indem fich dieſes verengt, aber immer noch zu 
behaupten vermag. Wir haben die fchönften Wälder auf 
der Bühne gejehen, aber vor ihnen blieb immer noch ein 
Raum, eine Rampe, blieb das Brett und hier traten die 
Schaufpieler aus dem Walde heraus vor, fobald fie zu 
iprechen oder zu handeln Hatten; immer noch blieb die 
Bühne in einen Schauplag und einen Spielplag abgeteilt. 
(Sogar wenn es im Zimmer fpielt; man achte nur einmal, 
wie ſelbſt hier der Negifjeur, der Schaufpieler ſich immer 
gleich einen unfichtbaren Kreis zu ziehen jucht, der nicht 
mehr das Zimmer, der nur das Brett ift.) Reinhardt 
aber, vollendend, was Roller im „Triftan“ und „Fidelio“ 
begonnen hat, hebt jene Teilung auf, er zieht den Wald 
bis an die Rampe vor, er treibt die Schaufpieler tief in 
den Wald zurüd: das Brett, daS alte Brett, daS jchred- 
liche Brett ift weg. Früher hat der Bufchauer immer erft 
langwierig mit dem Verftande nachhelfen müffen: Aha, die 
Elfen, die hier tanzen, Titania, die hier träumt, Oberon, 
der hier lauſcht, dies alles gehört eigentlich dort in den 
Wald Hinein. Iegt löſen fich Elfen aus den grauen 
Stämmen wie von der Rinde ab, auf fteifen Pfaden geht 
das Spiel, Buck hufcht über Moos, in den Wipfeln rauſcht's, 
von Würmchen glüht die Luft, ein Leuchten und ein tiefes 
Atmen ift, man glaubt im leifen Wind, im feuchten Dunft 
den Kuß der Nacht zu fpüren — das Brett, das Brett 
ift weg und fo wirkt feiner ala ein bloßer Schaujpieler 
mehr, alles ift verwandelt, das Brett in Erde, das Spiel 





— 291 — 


zum Traum, alles jcheint nur Wald, Waldes Atem, 
Waldes Hauch, bald menichlich, bald in flüchtigen Spuk 
gejormt, aus Luft gewebt, in Luft verweht. Und num 
fängt diefer Wald zu tönen an. 

Denn dies ift das Zweite: Reinhardt hat dag Stück 
durchaus mufikalifch inizeniert. Sein Wort, das irgend 
einer zu jagen hat, wird hier beim Wort genommen, als 
Zeichen einer Wirklichkeit, fondern jedes nur ala Neiz ber 
Sinne, als Wert der Stimmung. Und feine Gebärde der 
Schaufpieler wirkt Hier real, zur mimijchen Verftändigung, 
fondern Reinhardt jchafft fie zu Linien um, Ornamenten 
gleichjam aus geronnener Mufit, erfennend, daß uns der 
Dichter Hier nicht irgend eine Begebenheit, noch irgend einen 
Menſchen zeigen, jondern und nur zärtlich wiegen will. 
Denn wie zwilchen zwei Küſſen iſt dieſes Stüd erbacht, 
noch find die wunden Lippen feucht, ſchon öffnen fie fich 
und verlangen wieder, und jo, von geftillter Liebe glühend, 
ruft und der Dichter zu: Died allein, von dem ich weiß, 
daß es Wahn iſt, nur dies ift dennoch wahr! Das Stüd 
ift wie ein Zwiegeſpräch von Verſtand und Sinnlichkeit, 
worin jener die Torheit der Liebesluſt beweijen, aber dieje 
in diejer Torheit eben die höchte Weisheit der Natur ver- 
nehmen will. Spüren, wie der Wind weht, wie fich die 
Gräfer biegen, wie dunkler Duft aus Roſen finkt, und 
das Leuchten der Sonne und das Summen in der Luft 
und den leijen Druck geliebter Finger jpüren, nur dies ift 
wahr! Und dort ragt ein fteiler Baum, im Wipfel fteht 
ein kleiner Vogel oben und fingt und fingt, ganz oben. 
Und wie er fingt, ift alles in uns till geworden, die Welt 
iſt weg, das Leben ſchweigt, wir wifjen nur noch: ich und 

19" 


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du, du und ich, wir, wir und der Heine Vogel, dies allein 
ift wahr, nur die. Und immer fingt der Heine Vogel. 
Und wie er's fingt, wird’8 wie die Stimme einer Welle. 
Derjelben Welle, auf der der Ieife Wind fährt. Unjerer 
Welle, die uns beide trägt, dich und mich. Davon aber, 
mein Kind, wollen wir dem erftande gar nicht? jagen, 
der doch alles beffer weiß, und lachen ihn Lieber heimlich 
aus. Solches Heimliches Lachen über den Verftand, Lachen 
der Freiheit von aller dumpfen Welt, Lachen, das zulegt 
auch noch über jich felber lacht, ift das ganze Stüd. Und 
dieſes Tiebestiefe Lachen aus erfüllter Luft hat Reinhardt 
infzeniert. 

Und aus ſolchem Lachen, Urfachen der Natur, fteigt 
nun auch diefer prachtvolle Bud der Eyſoldt auf. Nicht 
niedlich und geziert, wie ihn die anderen geben, verfleideten 
Marquiſen gleich, die jchäfertich in dünnen Schuhen um 
irgend ein Trianon ftreifen, fünftelnd, tänzelnd, witzelnd. 
Nein, borftig, ftruppig, zottig, dicht an der Tierheit; eine 
Geftalt, die nad) ſchwarzer Erde riecht; ein Naturlaut, der 
Seftalt befommen hat. Wie der griechiichen Anthologie 
entitiegen ; ihre Verſe fingen in jeden Schritt herein, Verſe 
von Ban, dem Walddurchwandler, dem raubichenkligen, 
der, das vögelfangende Rohr mit dem Leime beftreichend, 
über den Berg hingeht oder auf Hafen pirfcht, dem Führer 
der Nymphen, der des jchroffen Gebirges lauſchige Grotten 
bewohnt, dem bocfüßigen Hüter der Herden, der füßen 
Moft aus heimijchem Kruge oder ein faugendes Lamm will. 
Diefe Stimmung, aber ftürmifcher noch, brünftiger als fie 
in der Anthologie ift: am unferer romantijchen Sehnjucht 
erhigt. Ein Heiner Pansbub, der einmal gefangen geweſen 


— 293 — 


und eben erſt wieder entlaufen wäre, jauchzend in den 
Wald zurück, nach dem ſchwärmenden Gotte Lyäus, triefend 
vor Luſt und grunzend und gröhlend: Ho, ho, ho, daß 
es tief in die Höhlen der Oreaden ſchallt, tief aus den 
Büſchen die Hamadryaden ruft: Ho, ho, ho! Ein Pan 
von Bödlin. Ein Pan, um den der ſchwere Sonnenduft 
von unferen hohen Wiejen, der tiefe Glanz des beutjchen 
Waldes ſchwebt. Enkel des alten Ban, aber ganz ums 
iponnen von der ewigen Sehnfucht der Germanen. Pan 
auf dem Blocksberg. Unfer Ban, wie auch diejer Thejeus 
hier doch unfer iſt. 

Nun find geftern auch die Wiener dem gligernden 
Bauber willig erlegen. Der Abend begann gleich mit einer 
rauſchenden Ovation, für Pfigner, der in feiner weit aus— 
hofenden, vollarmigen, gleichjam mitmalenden Art dirigierte, 
Dann flogen eilig die erften Szenen vorbei, und nun die 
Rüpel, von Waßmann, Arnold, Kayßler mit anftedender 
Tollheit dargeftellt. Dann aber der Wald, von dem jeht 
ganz Wien fprechen wird, wie von ihm feit drei Monaten 
ganz Berlin fpricht. Das Publitum freute fich wie ein 
Kind. Und das waldesfrohe Lachen der Eyjoldt! Und 
die raſende Jagd der Höflich hinter der Iangfüßig flüchtenden 
Heims her! Das Publikum ſchrie vor Luft. Und dann 
fängt num dieſer ganze Wald fich wie im Traume zu be 
wegen an. Und dann gar noch der Tanz der Rüpel. Und 
nun ging’3: Reinhardt, Reinhardt! mit lauten Rufen ftür- 
mich durch das Haus. Neinhardt, Reinhardt und fein 
Ende! 


— 294 — 


Minna von Barnhelm. 

Die Berliner haben uns nun auch noch durch ihre 
ganz unvergleichlich feine glockenhelle Vorſtellung der Minna 
von Barnhelm entzückt, die wieder Reinhardts volllommene 
Kunſt, uns die Luft einer Dichtung und den um ſie 
ſchwebenden Dunſt überall ſpüren, ja ſehen und förmlich 
greifen zu laſſen, auf das ſchönſte zeigt. Es gibt heute 
Teinen Regifjeur, der reicher an fzenifchen Einfällen wäre, 
zugleich aber von jolcher Kraft, alles Detail doch immer 
gleich wieder ans Ganze zu ſchließen und die große Linie, 
was Laube den Duftus eines Stüdes zu nennen pflegte, 
wunderbar jeft und ftill zu behaupten, darin nur Mahler 
vergleichlich, der e3 auch wagen darf, noch bei den leijeften 
Reizen vorüberhufchender Erregungen zu verweilen, weil er 
ſich ficher weiß, ſelbſt dem legten, zarteften, eiligiten noch 
das große ruhige Licht feiner ungebrochenen Empfindung 
für den Rhythmus nachzufenden. Es drängen fi) mir, 
wenn ich von Reinhardt jpreche, immer Vergleiche auß dem 
Mufilalifchen auf: denn fein ganzes Wejen, wie er gleich- 
fam den Tonfall jedes Dichter8 injzeniert und jene ge— 
heimen Schwingungen jpürt, die ſich dann in der ſchöpfe— 
riſchen Stunde de3 Dichters allmählich erft zu Worten, 
Geftalten, Begebenheiten verdichten, dieje über das Werf 
zum empfangenden Vorgefühl des Dichters zurückgreifende 
und aus diefem dann jede Szene, jede Figur intonierende 
Art deckt den verftedten Tanz auf, der das Element alles 
Dramatiichen ift. Hier: Menuett von Haydn oder das 
Es-dur-Quartett von Dittersdorf. Hell, ſtill, froh. Aber 
Hinten hängt das Zöpfchen. Immer artig. Die Luft und 


— 295 — 


Laune wohlerzogener Menſchen, die niemals ihre geſteiften 
Kleider vergeſſen. Eine Dekoration auf blaſſes Gelb, die 
andere milde rofig geftimmt. Und darauf nun das ganze 
Stüc eingeftellt: mattgelb, zierlich roja, ein Kränzchen um 
jede Szene geflochten, ein Zöpfchen an jedes Wort gehängt. 
Und nun die Höflich als Franzisfa! Ihre Kraft der 
inneren Verwandlung ift erftaunlich, fie trifft alle Dialekte 
der menfchlichen Seele, und immer wieder ftimmt man 
Schnigler zu, der neulich von ihr gejagt Hat, fie jei, nad 
ihren Entwidlungsmöglichfeiten in alles tragijche und heitere 
Gebiet, der größte Glüdsfall, den die deutſche Bühne jeit 
der Sorma erlebt hat: Neben ihr Fräulein Heims als 
Minna, hell und warm wie die liebe Sonne. An ihr 
hat fich jo recht Reinhardt als Erzieher gezeigt. Sie kam 
vor ein paar Jahren zuerſt unter Brahm Her: hübſch, 
anmutig, charmant, wenn fich das allerliebite Gejichtchen 
vom Lachen plöglich jo drollig ind Weinen verzog, aber 
doch, wie es ſchien, unfähig, anders als durch ihren per— 
ſönlichen Reiz zu wirken. Und noch auf den Berliner 
Proben zum „Meifter“, in welchem fie die nervöſe Heine 
Sekretärin gab, voriges Jahr, hätte ich nie gedacht, daß 
man fie je beftimmen könnte, eine wirfliche Figur abzu— 
jondern, wie jegt dieſe Minna ift, in der, mas jonft nur 
der zufällige Charme des Fräulein Heims jchien, durchaus 
ins Notwendige, in Kunſt umgejegt it. Dasjelbe gilt 
don Herrn Giampritro. Jahrelang haben wir diejen Eugen, 
beweglichen, eleganten Schaujpieler im Volkstheater gejehen, 
immer duch fein den Wienern jehr angenehmes Wejen 
wirfiam, aber ohne den leifeften Verſuch, es irgend der 
Rolle anzupaffen; er wäre hier in Manier umgekommen. 


— 296 — 


Sept jtellt er einen jo reichen, jo lebendigen, in jedem Zuge 
jo beftimmten Riccaut hin, daß man einfach verblüfft war. 
Dies ift eben der Unterjchieb: der Wiener Schaufpieler läßt 
in jeder Rolle einfach feine Natur 108, er macht ein Couplet 
für fi aus ihr; Reinhardt zwingt feinen Schaujpielern 
immer eine Figur ab, ſelbſt auf die Gefahr Hin, daß einer 
dabei manchmal jeine ficheren perfönlichen Wirkungen ver- 
leugnen muß. So hier zum Beilpiel Kayßler, defjen 
durchaus tragiiche Natur, über ter immer eine ſchwarze 
Wolfe zu Hängen jcheint, fich eigentlid, gegen den breit 
vergnüglichen Wachtmeifter fträubt, dem er num doch mit 
einer fünftleriihen Energie, die die höchfte Bewunderung 
verdient, beizufommen weiß. Herr v. Winterftein ift ein 
angenehmer Tellheim, Engels der ergöglichite Wirt, Rein- 
hardt jelbft ein Juſt, der ſich jogar neben der ftarfen Er 
innerung an Tyrolt zu behaupten vermag, und als Dame 
in Trauer hat Frau Wangel eine faft unheimliche Kraft, 
in zwei drei Sägen ein ganzes langes menjchliches Leben 
darzuftellen. 


Deutſches Theater. (1904) 
Gaſtſpiel im Carl:Theater. Erſte Vorftellung: „Die Weber“ von 
Gerhart Hauptmann. 

Im Dezember des vorigen Jahres war mir vergönnt, 
Proben bei Reinhardt und bei Brahm, im Kleinen und 
im Deutfchen Theater mitzumachen. Unfere Direktoren 
ftellen fich diefe doch anders vor, als ich fie fand. Sie 
verfichern gern: da es in Berlin ein Stüd, das ge 
fällt, leicht auf Hundert, bei uns aber in der Regel kaum 





— 297 — 


auf einige dreißig Vorſtellungen bringe, önne man dort 
viel und langjam proben, wozu es bei und an der Beit 
fehle; Dies gebe jenen Schaufpielern eine Sicherheit und 
Geläufigfeit, aus welcher allein fich die Überlegenheit der 
Berliner Schule erkläre. Ich aber jand, daß dort nicht 
bloß mehr und gründlicher geprobt wird, fondern wejent- 
lich anders. Während jich nämlich bei und der Negiffeur 
doch meiftens begnügt, als Ordner den Schaujpielern bei- 
zuftehen, der beftimmt, wo fie aufzutreten oder abzugeben, 
wann fie fich zu ſetzen, allenfall® noch, welches Tempo fie 
zu nehmen haben, fühlt er ſich dort als den Künſtler, der 
in den Schaufpielern, als feinem Material, das Gefühl, 
das ihm das Werk des Dichters gibt, auszudrüden verfucht. 
Bevor er noch auf die Bühne foınmt, hat er das Stüd 
bei fich fertig, er fieht den Raum, in welchem es fich be- 
wegt, er hört jozujagen jeinen Schritt und gibt nun nicht 
nad), bis e3 ihm gelingt, jo die Gebärden und die Töne, 
die ihm die Schaufpieler bringen, allmählich umzuformen, 
daß zulegt die Geftalten, die ihm daheim beim Lejen er- 
ichienen find, wirklich vor ihm auf der Bühne ftehen. Das 
will Reinhardt und das will Brahm; beiden find ihre 
Schaujpieler, was dem Bildhauer der Marmor ift. Aber 
jeder verhält ſich zum Dichter auf jeine befondere Art und 
jeder hat dann auch fein eigenes Verfahren mit den Schau= 
ipielern. Neinhardt fteht zum Dichter viel freier als Brahm. 
Dieſer will fein Diener jein. Man merkt ihm immer 
noch den Kritifer an, deffen Natur es ja ift, fi in den 
Dichter aufzuldjen. Er mag allenfalls einmal, wenn dem 
Dichter was Vienichliches pajftert, für ihn denfen und Hilft 
ihm mit leifem Finger behutjam nach oder weiſt ihn be- 


— 298 — 


dächtig zurecht. Immer aber würde er ſich hüten, ihm ſein 
eigenes Weſen aufzudrängen. Ganz anders Reinhardt, 
Dieſer dichtet nicht bloß nach, er dichtet mit. Für ihn 
ſchlägt das Stück des Dichters nur ſozuſagen das Thema 
an. Er fragt nicht viel, ob er immer trifft, was der Dichter 
meint. Vielmehr, wie er ſelbſt das Stück des Dichters meint, 
till er ung ſpüren laſſen, jenen Dirigenten gleich, welchen 
es wichtiger ift, was fie bei Beethoven empfinden, als 
was Beethoven empfunden Haben mag. Dann aber 
die Methode, mit den Schaufpielern zu verfahren. 
Tyrann ift ja fchließlich jeder Negiffeur, Brahm aber 
doch Heimlicher und von janfterer Art. Er will den 
Schaujpieler nicht zwingen, fondern führt ihn Hin, in- 
dem er fich dazu lieber der Vernunft als der Leiden- 
ichaft bedient. Reinhardt fteht auf der Bühne und unter- 
bricht bet jedem Sag. Er jagt das Wort dem Schaufpieler 
vor. Der Schaufpieler wiederholt es. Er ſchüttelt den 
Kopf, jagt es wieder vor und wieder muß es der Schau- 
fpieler wiederholen. Und fo noch einmal, fünfinal, zehn- 
mal, er gibt nicht nach, er läßt nicht ab, feit und hart 
neben ihm, den Kopf vorgeitredt, lauſchend, mit erhobener 
Hand, einen grimmig nervöfen Zug um den offenen Mund, 
bis es jo doch allmählich zulegt genau der Ton wird, den 
ex bei fich im Innern hört. Auch ordnet er die Haltung 
und jede Gebärde des Schaufpielers an, tritt vor ihn Hin, 
macht e3 ihm bor, wodurch es bisweilen gejchieht, daß der 
Schaufpieler, immer wieder unterbrochen, immer wieder 
beginnend, fich allmählich ganz verlierend, verwirrt, atemlos, 
betäubt, in eine Erregung und Erbitterung gerät, die ihn 
reizt, mehr berzugeben, als er je bei ruhiger Beſinnung 





— 29 — 


vermöchte. Ein Krititer hat von Reinhardts Leuten ein- 
mal gejagt, fie jpielten „verzweifelt“ gut. Dies ift anders 
wahr, als e8 gemeint war. Neinhardt jagt fie in eine 
Haft, angftvolle Wut und Verzweiflung hinein, aus welcher 
fie fich zulegt in eine Art fchöpferifcher Raſerei überjchlagen. 
Wer einmal irgend einen Sport getrieben hat, wird dies 
verftehen, weil er aus Erfahrung weiß, daß die Außerite 
Erſchbpfung und Ermattung, in der man jchon abzufallen 
und umzufinfen glaubt, manchmal Kräfte auszulöfen ver- 
mag, durch welche man fich jo völlig erfrifcht und erneut 
fühlt, daß man nun erjt fein ganzes Weſen einzufegen 
bereit ift. Zu folchem Jockey der Negie fühlt fich Brahın 
nun gar nicht berufen. Er figt ftill unten im Parterre, 
in feinen Mantel eingehüllt, ein wenig fröftelnd, über ein 
Papier gebüct, in das er eifrig notiert. Er macht fich 
ganz Hein, ſcheint fich fürmlich zu verfriechen und hat es 
nicht gern, wenn unterbrochen wird. Iſt die Szene aus, 
fo Hlettert er über die Brücke zu den Schaufpielern Hinauf, 
nimmt erft Herrn Leſſing, ſeinen Regiffeur, beifeite und 
dann fieht man ihn und diejen eifrig mit den Schau- 
ipielern flüftern, die num allmählich, im leiſen Geſpräche, 
durch Heine juggeitive Fragen, von irgend einem Detail 
aus, in welchem fie nicht empfindlich find, behutjam und 
ohne daß fie jelbft es eigentlich recht merken follen, nach 
und nad) umgebogen werden. Der Direktor eilt wieder 
auf feinen Pla zurüd, die Szene wird wiederholt, nun 
ſchlägt der eine Schaufpieler ſchon einen anderen Ton 
an, der andere, der fich noch fträubt, geht doch unwill- 
fürfich halb darauf ein, unverſehens ift die Stimmung 
da. Stimmung, da ift ja das große Geheimnis des 


— 30 — 


Deutichen Theaters. Nun meint man bei und, Stimmung 
könne über eine Szene gleichjam wie ein Licht, von oben 
her, ausgegoſſen werden, und unſere Negiffeure quälen ſich 
um Einfälle ab, die fo leuchten follen. Ich habe aber 
bemerft, daß Brahm fie eher durch eine merkwürdige 
Tämmerung gewinnt, zu welcher er die Wirkungen jeiner 
Schauſpieler abzudämpfen weiß. Scaujpieler glauben 
leicht, daß fie in jeder Rolle, ja in jeder Szene, gleich 
alles zeigen müffen. Daß neben ihrer Rolle noch andere 
folgen, daß jede Rolle, jede Szene erſt von den anderen 
ihren Sinn erhält, bedenken fie nicht gern. Brahm aber 
hat jeinen Leuten beigebracht, immer den Wert und das 
Gewicht der einzelnen Rolle, der einzelnen Szene im 
ganzen zu fühlen. Ich habe darin auf jenen Proben be» 
ſonders Nittner bewundern müffen, wie er, manchmal in 
einer Szene verführt, um der ficheren Wirkung willen 
mehr zu geben, als fich mit dem Bedürfnis des Partners 
oder den Übfichten des Stüdes vertrug, fich dorch fofort 
immer mit einer unvergleichlichen Zucht und der höchften 
künſtleriſchen Entjagung auf feine Figur bejann, die von 
allen Seiten her und nad allen Enden hin auszujpüren, 
dann aber langſam, wie in Mufeen manchmal mit foft- 
baren Statuen gejchieht, rings im Kreiſe herumzudrehen 
er eine Hingebung bewies, von der ich, der Autor, ent- 
züdt war. 

Nittner und die Lehmann find es, auf welchem jetzt 
die Tradition des Deutfchen Theater ruht. Man Hat fie 
Naturaliften genannt. Aber dies Wort fagt uns heute 
nicht mehr viel; und dann wäre auch Baumeiſter ein 
Naturalift, dem fie tief im Wejen verwandt find, „Sim- 





— 301 — 


plizitätsfpieler“ Hat fie Kerr einmal geheiken, und das 
gibt eher die Richtung an, aus welcher ihre merkwürdig 
ftarfe Wirkung fommt. Wer den Schauipieler nach feiner 
Kraft der Verwandlung und feiner Kunſt, jich abzulegen, 
ein anderer zu werben, jich völlig zu trangfigurieren, ſchätzt, 
wird ihnen widerftreben. Auch technifch zu verblüffen iſt 
ihre Sache nicht, Sie bringen doch eigentlich immer nur 
(e3 jei noch einmal an Baumeifter erinnert) ihr eigenes 
Weſen dar, ohne ſich zu verjtellen oder umzubilden. Diefes 
aber ift fo rein, daß es faft mit der Gewalt eines jchönen 
Tages, einer blühenden Landſchaft oder des Blickes in 
weite leuchtende fernen rätjelhaft frei und groß auf uns 
wirft, und das Unabänderliche ihrer Darftellungen, welche 
den ganzen Menjchen wie auf der Folter befennen, drängt 
ſich mit einer oft faft beffemmenden Gefchlofjenheit auf. 
Von ihrer Art ift auch Oslar Sauer, der, noch enger, 
noch fpröder, doch manchmal, etwa als Vater Bernd im 
legten Aft oder gar als Gregers, eine tragijche Wucht er- 
reicht, die zum Hbchſten der heutigen Schauipielfunft ge— 
hört. Ganz anders wirken Bafjermann und Irene Triei: 
farbiger, beweglicher, italienischer jozufagen. Jener milcht 
jeinen bunten Gejtalten jo viel Ironie und jchillernde Lift 
bei, daß es um fie von allen Untertönen, Zwijchentönen 
und den taufend Fragezeichen unjerer dubiojen Menjchlich- 
teiten flirt. Dieje ift die große Schaujpielerin des Ge- 
heimnisvollen. Wie ung manche Menfchen, mehr als durch 
alles, was fie jagen oder tun, durch einen ſeltſam auf 
ihrem ganzen Wejen ruhenden Glanz bedeuten, hat fie 
eine faft magijche Gewalt, beredt zu jchweigen, ſug— 
geſtiv zu jigen und durch einen jähen Blick der großen 


— 302 — 


drohenden Augen, durch ein Zuden der fchweren Lippen, 
duch einen wie fiebernden Griff tiefftes Leid lange 
oder die wilde Lujt zu verraten. Herr Meinhard, ein 
ſehr draftifcher Darfteller, in Masken erfahren, manchmal 
ein bißchen an Reinhardt erinnernd, das anmutige Fräulein 
Heims mit finnlich warmen und hellen Tönen, Herr Foreft, 
ſcharf und knapp charakterifierend, Herr Hofmeiſter, defjen 
man ſich aus dem Burgtheater entfinnt, Herr Biener, ein 
jugendlicher Thimig, und die Herren Pauli, Iwald, Stieler, 
Marz, Schwaiger, Köhler jchließen fich an. 

Diesmal haben die Berliner mit Hauptmanns 
„Webern“ begonnen, die nun nad) zwölf Jahren doc 
endlich den ängftlichen Behörden abgerungen worden 
find. Wie muß es in den Leuten ausſehen, die hier eine 
„Tendenz“ fürchten konnten! Es ſei denn die: menſchlich 
zu fühlen. Dir ift es immer eher faft unheimlich ge- 
wejen, wie der Dichter feinen Zorn beherrjcht, und mir 
graut in folchen Momenten eigentlich vor dem Weſen 
der Künftler, der Dichter, welchen verliehen ift, noch ge 
laſſen zu jchauen und bedächtig zu formen, wann es natür- 
licher wäre, in Taten der Empdrung auszubrechen. Das 
tieffte Geheimnis Hauptmanns, ſich vom Unerträglichen 
dur) Darftellung zu befreien und, indem er das Bbſe 
nadhbildet, das ihm quält, es für fein Gefühl ab- 
zutun, wird vielleicht nirgens feltfamer offenbar als in 
diefem raujchenden Gedichte, da8 Not, Hunger, Verzweif- 
lung zulegt in einen einzigen Afford von grollender Schwer- 
nut auflöft. Dies verlangt eine Darftellung, die den 
lyriſchen Wert jeder einzelnen Rolle trifit, jede nur als 
bloßen Ton nimmt und nun jo mit den anderen verjchlingt, 





— 308 — 


daß es zur ungeheuer flutenden Mufit wird. Dadurch 
wirft diefe Vorftellung immer noch umwiderftehlich. Bis 
auf Nittner und Herrn Pauli haben alle Darfteller ge- 
wechjelt. Den Pieifer, einft eine viel bewunderte Rolle 
des Herrn Filcher, gibt jegt Here Foreſt, den roten Bäcker, 
den Damals Stainz gab, Herr Iwald, den Fabrifanten 
Bafjermann, den alten Hilfe Sauer, den Lumpenjammler 
Herr Meinhard; die Lutje ift von Frau Bertens über 
die Lehmann an die Triejch gelommen. Die wunderbare 
Stimmung ift diefelbe geblieben. Langſam vorbereitet, fich 
allmählich jammelnd, wie ein ſchwarzes Wetter, dad man 
ſchon von allen Seiten grollen und zuden fühlt, be— 
vor es, fafl erfehnt, ſchnaubend und prafjelnd Hereinbricht, 
fteigt fie unaufpaltfam aus dem Gewirre von ächzenden 
und flehenden, wild kreiſchenden, elend wimmernden, finfter 
warnenden, grellen und dunflen Stimmen zu einer Er- 
ſchütterung, einem Grauen empor, welchen ſich auch geftern 
niemand entwand. 


Novelli. 
(US Gaft im Raimund-Theater vom 14. bis 17. Mai 1903.) 


Im Auguft find es zwei Jahre, daß ich nad) Rimini 
fuhr. Ich verließ Fiume abends und, allein auf dem 
Heinen Dampfer, von milden Winden gehegt, fchlief ich 
bald ein, mehr nur fo hindufelnd, immer noch den Hauch 
des Waſſers gewahr, von ſeltſam fich findenden und gleich 
wieder verlierenden Träumen verwirct, aus welchen ic; 
plöglich erjchraf, daS von Feljen tragende Ancona im fahlen - 


— 304 — 


Morgen zu jehen. Hier nahm ich den Zug, der jich immer 
dicht am Meere hält. Es bligt und winkt und nict und 
neigt und wiegt fich, fteigt verlangend heran, ſchießt ziſchend 
und fprigend wieder zurüd, und man fieht und hört und 
riecht es bald Fichern und gifchen, bald braufen und 
ſchnauben. Hütte jteht an Hütte da, Kinder wälzen ſich 
nadt im Sande, kreiſchen auf, von behender Welle geledt, 
tauchen kopfüber ein. Damen wandeln, um fich zu bräunen, 
wandeln langſam, manchmal leicht erfchauernd im nafjen 
Gewande, wollüftig verweilend, um mit zagem Fuße durch 
den figelnden Sand zu taften. Herren figen, mit breiten 
Hüten, rauchend, Iejend, ſchwatzend. Und manchmal, wenn 
der Wind jtärfer bläft, ift e& wie ein Raufch und Raſen, das 
plöglich über die Kinder jtreicht, fie eilen, fie jchreien, fie fafien 
ſich an und fpringen und winden fich im Reigen, das nafje 
Haar fliegt und flattert dicht, das helle Fleiſch ſprüht, und jie 
fchreien und fpringen und tanzen, geſchwinder wie der Wind. 
Aber Hinter ihnen ift das große blaue Meer und oft ein 
ſpitzes rotes oder gelbes Segel in der Ferne. Und auf allen 
Wundern ruht das Licht, das Heilige Licht mit jeiner 
feierlichen Macht und fließt über fie und faugt jie ein... 
Und fo fommen wir in Rimini an. Es wimmelt in der 
Station. Fiſcher, Bäuerinnen, Gendarmen, haftige Fremde, 
die mit Tajchen und Stöden und Scirmen drängen, 
Träger, die fhieben und ſtoßen, und alles ruft und rennt 
und rinnt durcheinander. Aber in der Mitte fteht, hoch 
über alle ragend, unbeweglich, ſpähend, ein großer langer 
feiter Mann mit einem breiten weißen Hute, in einer weiten 
weißen Hofe, noch brauner als die anderen, und wie er 
jo um ſich fieht und fucht, faft drohend und gefährlich 





— 305 — . 


durch jeinen wilden und finfteren Blid, in jeiner ftrogen- 
den, kaum gebändigten, mühjam verhaltenen Kraft, halb 
Toreador und halb Hidalgo, ganz wie man fi in ro— 
mantifcher Sehnfucht den gewiffen großen edlen Räuber- 
hauptmann denkt. Alles fieht auf ihn, alles grüßt und 
freut fich, er winkt nur immer kurz mit der Hand, es 
fcheint irgend ein König aus den Bergen zu fein. Es ift 
Novelli. Er hat mich erblidt und fchon find wir in feinem 
Wägelchen, mit großen Rädern, er fehnalzt, das Iujtige 
Pony trabt, wir werden über die runden Steine gejchupft 
und indem er mich nun erft recht begrüßt und mir durch- 
einander erzählt und fich erinnert und fragt und nach allen 
Seiten zu Paſſanten nidt und, bald drohend, grollend, 
bald Iodend, ſpottend, das ftugige Pferdehen treibt und 
dann wieder erzählt und wieder fragt und durcheinander 
jubelt, wie ſchön es hier ift, und jammert, wie bald es 
doch wieder aus fein wird, und dazwiſchen wieder einen 
Scherz für einen Freund auf der Gaſſe, wieder einen 
Ruf an da munter hüpfende Tier Hat, kutſchiert er mich 
im Sturm durch den Ort an dad Meer zu feiner Billa 
hinaus, die weiß und rot mit gotijchen Türmen in der 
Sonne glänzt. Wir halten an, er ruft, das Gitter ſpringt 
auf, ein mächtiger Hund fommt uns wedelnd entgegen, 
ftolz und ſanft, fein Leone, wirklich einem Löwen gleich, 
töniglich und gütig. Uber im Tore, zwifchen zwei Löwen 
aus Sandftein, fteht die Giannini, feine Frau, in ihrer 
frohen und ruhigen und reichen Schönheit. 

Diefe drei Tage, die ich bei meinem Zauberer blieb, 
find mir unvergeßlich. Schwerer Duft von Blumen, heller 
Hauch vom Meere, Seligkeit im Waffer und im Winde, 


Hermann Bahr, Gloffen. 20 


— 306 — 


leichte Stunden heiter mit feinen Gäften im Garten ver 
tändelt, dann wieder ftille, faft feierliche der Sehnſucht. 
wenn der Abend langſam auf leijen Sohlen kam und wir 
faßen auf der Terrafje drüben, ftumm und wartend, bis 
die Sonne rot verfunfen war, und wieder dann geheimnis- 
volle, faft bange, einer feltfamen Erregung voll, wenn wir | 
in tiefer Nacht noch wach waren, rings lag alles ftill, 
zum Fenſter atmeten die ſchweren Blumen herein, mand- 
mal war es wie ein leiſes Beben durch die laue Luft, 
als hätte fich das Meer unruhig im Schlafe geftredt, der 
Hund ſchlug träumend an, wir laufchten, da war es wieder 
ganz till, in der ferne fiel ein Stern, wir ſchwiegen eine 
Weile, aber dann fuhr er zu erzählen fort und feine tiefe 
Stimme wurde jo weich und mir war fo gut, daß ich die 
Augen ſchloß und dann glaubte ich die Nacht jelbft, unjere 
Mutter, groß und ernft zu mir reden zu Hören... . 

Ich wurde die ganzen drei Tage ein faft komiſches 
Gefühl nicht 108. Immer kam mir vor, zu Belmont bei 
Porzia Saft zu fein. In der Tat: Genau die Stimmung, 
die der letzte Aft des „Raufmanns von Venedig“ hat, einer 
ſehr edlen, auf Kraft ruhenden, ſtill und einfach, faft ein 
bißchen fpdttifch gewordenen Freude ftarfer, Fühner und 
gütiger Menſchen ift e8, in der Novelli lebt. Er hat erfüllt, 
was vielleicht das Höchite ift: fein Weien jo rings um 
ſich auszuftrahlen, daß es ihn nun überall umgibt. Cr 
fchreitet nun in jeine eigene Luft tief eingehüllt, und was 
zu ihm will, muß erft durch fie, wandelt fich in ihr um 
und nimmt feine Natur an. Er hat einen unfichtbaren 
Hof um fich gezogen, man tritt nicht ein, ohne fich unwill- 
kürlich in feinen Ton zu ſchmiegen, er iſt wirklich ein 


— 307 — 


König. Und indem ich dies empfand, wurde mir auch erft 
das Geheimnis jeiner Kunft ganz offenbar. Ich Hatte fie 
immer in einer ungeheuren, oft bis ing Schmerzliche be- 
klemmenden Berzüdung aller Sinne, aller Nerven fo geſpürt, 
daß ich, aus ihrem Banne dann wieder ind wirkliche Leben 
zurüdgeftoßen, dieſes oft unerträglich fahl und geſpenſtiſch 
leer und nur wie einen matten, kläglich ſchon verlöjchenden 
Schein fand. Aber nun fing ich erft an, fie allmählich 
zu ahnen, nnd fing langjam zu begreifen an, was es tft, 
wodurch fie uns jo magijch berüden mag. 

Als wir ihn, im April 1900, zum erjten Mal bei 
uns fahen, waren wir alle von feiner unglaublichen Kraft 
der Verwandlung verblüfft. Er Hatte am erften Abend 
den Luigi geipielt und man glaubte ihn doch nun ſchon 
ungefähr zu fennen. Am zweiten Abend war die „Wider- 
ſpenſtige“. Er erichien als Petrucchio. Aber niemand er- 
lannte ihn. Man fah auf den Zettel — aber nein 
unmöglich, das konnte nicht derjelbe fein, der geitern fich, 
von Furcht und Fieber zerrüttet, ausgehöhlt und abgezehrt, 
tüdijch verfrümmt, wie ein Franfer böjer alter Affe über 
die Bühne gefchlichen war! Und jegt dieſer robufte jchwarze 
Satun mit dem vergnügten roten Geficht und furzen dicken 
Hals eines maſſiv genießenden Zecherd und Schlemmers, 
den verſchmitzt begehrlichen Augen und großen gefräßigen 
Zähnen des Abenteurers, den breiten Schultern und ge- 
waltſam zugreifenden Händen eines Ningers, eines Tier- 
bändigers, follte derjelbe fein? Und nun fing er zu ſprechen 
an, aber das war ja plöglich auch eine ganz andere Stimme, 
jchmetternd und trompetend, die geftern heifer und wie in 
Gebeten erſtickt geweſen war; und das war ja auch ein 

20* 


— 38 — 


ganz anderer Gang, weit ausſchreitend und voll auftretend, 
wie ein Hahn ftolziert. Und dies erlebten wir num jeden 
Abend. Zwölf Rollen gab er damals und in jeder ſchien 
er wieder völlig ein neuer Menſch zu jein, nicht etiwa bloß, 
wie unfere Schaufpieler tun, in der Maske verändert, jondern 
anders an Stimme, Haltung, Blid, Gang und Gebärden: 
als Luigt mit nervos zudenden, bigotten, wie gejalbten 
Händen, als Petrucchio mit derben und raufluftigen Zäuften, 
als Lebonnard mit den feinen und zärtlichen Fingern des 
Uhrmachers, die zerbrechliche Räder und Schrauben zu 
drehen geübt find; als Petrucchio groß, ſchlank und fehnig, 
al Goldoni gebeugt, dünn und winzig; als Luigi mit 
einer belegten und frömmelnden Stimme, als Petrucchio 
mit einer randalierenden und herrijch befehlenden, als Euclio 
mit einer Treijchenden und Elirrenden, als Shylod mit 
einer tiefen, jonoren, furchtjam verhaltenen, die aber in der 
Wut und dann im Triumph plöglich den großen Ton der 
tafenden Propheten hat, als Burbero mit einer ganz jpigen, 
dünnen, ffurrilen, die wie eine Arie tänzelt — jedesmal 
durchaus verändert, völlig neu, in jeder Rolle ein fom- 
pletter Menſch für fi. Es ſchien, daß er feine eigene 
Natur, wenn er die Bühne betritt, ganz abzuftreifen und 
fich die der Rolle wie eine Haut anzuziehen vermag. Sa 
‚noch mehr, denn wir fahen: er ftellt nicht bloß jedesmal 
eine andere Perſon, ſondern an jeder fogar denjelben Affekt 
ander dar; fein Shylod ift anders zornig als der Le 
bonnard, fein Luigt fürchtet fich ander3 als der Euclio, 
er weint und lacht „im Charakter der Figur“, ja er charaf- 
terifiert felbft noch durch den Kuß und läßt uns duch | 
die Art, wie Luigi mit faugenden Lippen fein Amulett, 





— 300 — 


der Euclio, wie eine Amme ihr Kind, den Topf mit dem 
Golde, der Chaponet, beichwipft, Tüftern verſchämt in die 
Luft küßt, gleich ihr ganzes Weſen erfahren. 

Gut, fagte man fi, eine ganz unglaubliche Macht 
der Verwandlung, wie wir fie noch an feinem Schaujpieler 
jemals gejehen Hatten, aber eben darin jchließlich doch, 
jegt Tam das böfe Wort, zu dem man vor ihm floh, doc 
eigentlich nur ein „Virtuoſe“, von einer viel höheren Art 
freilich, al „Virtuoſen“ fonft find, unendlich gefteigert, 
reicher, voller, ftärfer, jo vielfältig und jo weit, daß die 
anderen neben ihm zu lächerlich armjeligen Pfujchern ver- 
ſchrumpfen, aber dem Weſen nach doch immer noch ein 
„Birtwofe*. Denn, wird in unjerer Äſthetik gelehrt, ein 
Künftler ift nur, wer allein unmittelbar durch feine Natur 
wirft; Beifpiel: Baumeifter. Wer aber erſt mit dem DVer- 
ftande die Geftalt, die der Dichter entworfen hat, aus- 
zufüllen und bis ins Detail durchzudenfen, diefer fremden 
Figur aber dann jo feinen Körper anzupaffen weiß, daß 
fie uns an ihm völlig vorgetäufcht erjcheint, der heißt uns 
ein Virtuoſe; Beiſpiel: etwa Coguelin oder, viel höher, 
Zacconi. Jener gerät, denfen wir, durch das Wort des 
Dichters in eine Verzüdung, die fein wahres, fonft ver- 
borgenes Wefen, was wir eben feine fchaujpieleriiche Natur 
nennen, aus der Tiefe hebt und fich vor uns entfalten 
läßt. Diejer ſcheint entweder eine eigene Natur gar nicht 
zu haben oder feine Kunft iſt e8 eben, fie zuzuhalten und 
durch die Rolle zu bededen, die er ihr wie Schminke auf- 
legt. Waren wir nun jo weit und glaubten Novelli unter- 
gebracht, fo geihah uns aber feltfam: denn plöglich ſchien 
alles wieder gar nicht zu ftimmen, wir hatten nämlich bei 


— 310 — 


diefem Virtuoſen doc) immer ein Gefühl, das uns font 
nur der Stünftler geben kann. Der Künftler, der auf die 
Bühne tritt, gibt uns das Gefühl: Wie diefer Menſch hier 
fteht, dies ift er, er muß es fein, er lann gar fein anderer 
werben. Der Pirtuofe gibt und das Gefühl: Wir wiflen 
ganz genau, daß diejer Menjch anders ift, ala er ſich 
zeigt, und dies macht gerade den merfwürdigen Reiz feiner 
Erſcheinung aus, die ung einmal erleben läßt, wie fich der 
Menſch verftellen kann. Bei Novelli aber, wie er ſich 
verwandeln mag, ſchwören wir doch immer auf jede Ge— 
ftalt, Wir fönnen uns gar nicht denfen, daß es möglid 
wäre, ihn jemal3 anders zu jehen. Jeden Blid, jeden Ton 
jeden Schritt empfinden wir niemals bloß als einen Aus- 
drud feiner Rolle, jondern als den legten und vollkommenen 
Ausdrud einer Natur, die vor uns, durd) das Spiel be 
täubt, entrüct und in einen faft nachtwandlerijchen Zuftand, 
geradezu in eine Halluzination, in „Trance“ (wie man ed 
bei den Medien nennt) geratend, mehr verrät, als fie wach 
ſelbſt von fich weiß. Bet feinem Petrucchio, wie bei jeinem 
Zuigi, wie bei feinem Burbero, immer jagt ınan fich jedes— 
mal: Dies ift eben einer jener wunderbaren Zufälle, wo 
fi die Rolle eines Schaufpielers jo mit feinem Weſen 
dedt, daß er fich nur zu geben braucht, wie er ift, um 
mit aller Gewalt des Lebens jelbft auf uns zu wirfen. 
Fragt man ſich aber dann, wie derjelbe Menſch zugleich 
drei ſolche Menſchen, ja fieben, zehn, Hundert fein kann, 
nicht bloß fie fpielen oder fcheinen, jondern fie bis zur 
hochſten Evidenz für uns fein, jo erjchredt man fait, denn 
dies reicht in den Abgrund aller Geheimnifje unjerer 
menjchlichen, ja vielleicht der ganzen Natur hinab. Es 





— 311 — 


wäre nämlich nicht möglich, würde feine Verwandlung, wie 
bei den Virtuojen, durch den Verftand und bewußt ge— 
ſchehen. Sie gejchieht jedoch offenbar inftinktiv, fie wird 
nicht „gemacht“, fie ift feine Verftellung, ſondern eine wahre 
„Umwandlung vom Grunde aus, eine Tranzfiguration“ 
(das Wort ift von Mar Marterfteig, der über dies eigent- 
liche Problem des Schaufpielers ein ſehr geicheites Buch 
gejchrieben Hat). Das verfteht man nun erſt ganz, wenn 
man Novelli leben zufieht. Er hat mich einmal durch den 
alten Ort zur Feftung der Malatefta, in die Kathedrale 
und nad; dem prächtigen neuen Theater geführt; einmal find 
wir auch, zufammen in einer kleinen Ausftellung geweſen, 
um ein paar moderne Bilder anzujehen. Da konnte ich 
feine „Transfiguration* am hellen Tage erfahren. Wenn 
er nämlich etwas Schönes erblict, fteht er erſt eine Weile 
genießend ftill, mit langen und gierigen Bliden, welche die 
Schönheit gleichjam auszutrinfen und in fich einzujaugen 
jcheinen, jpähend und fehnuppernd, während fein großes 
Geficht ganz ernft und faft furchtiam wird. Dann fängt er 
plötzlich haftig zu ſprechen an und ftößt viele Worte der 
Beſchreibung, der Bewunderung aus, indem er gern dabei 
das fchöne Ding mit zärtlichen Händen ftreichelt oder ftreift, 
Während nun dies gejchieht, ſcheint allmählich das Wejen 
oder ber Geift der jchönen Sache langſam in feinen Körper 
einzufließen, er zittert ein wenig, feine Stimme biegt fich 
um, das Geficht, die Bewegungen der Hände, allmählich 
der ganze Leib verändern fi, er nimmt die Schönheit an 
und wird ihr gleich, die er eben bewundernd befchreibt. Er 
Tann eine Sache nicht genießen, wenn er fi ihr nicht 
affimiliert. Oder man jagt ihm irgend einen Namen, etwa 


— 34 — 


das ift das Merkwürdige. Er ift es nämlich jegt gar 
nicht mehr, den wir fehen, jondern unfer eigenes Bild von 
ihm, das unfere Phantafie, durch jene jchauerlichen Töne 
aufgeheßt, fo grauenhaft macht, ald es in der Wirklichkeit 
niemals fein fann. Dies einmal gewahr, habe ih ihm 
nun wieder im Gejpräche zugejehen. Ich jagte wieder: 
Malatefta. Und nun fand ich, dab feine Verwandlung 
eine ganz eigene ift, nämlich: des ganzen Körpers nicht 
in eine Perjon, jondern in einen einzigen Bug. Dies 
fcheint fo zu gehen: Er hört einen Namen, aljo Malatefta, 
er hat dadurch bei jich eine Viſion, nun ift e8 aber nicht 
diefe, nach welcher er feinen Leib umformt, fondern er 
nimmt von ihr nur einen einzigen Bug, den, der alle 
anderen enthält, den wejentlichen, den fuggeftiven Zug an, 
und indem er diejen, ihn allein, zun höchſten Ausdrude 
bringt, bin ich es nun, der Hörer, der, davon Hypnotifiert, 
aus Eigenem die anderen fchaffen muß und endlich auch 
zu fehen, zu hören glaubt, was mir gar nicht gezeigt oder 
gejagt, jondern nur in meiner Einbildung, wohl durch 
„Aſſoziation“, wie das die Pfychologen nennen, erregt 
worden ift. So ift er nicht bloß das befte Medium, das 
jemals auf einer Bühne erjchien, jedem leifen Drude des 
Dichter3 fo bereit, daß er immer gleich zur Figur jeder 
Stimmung wird, fondern er ift auch noch ein ungeheurer 
Hypnotiſeur, der uns zwingt, feine Figur aus uns ſelbſt 
dann noch zu vollenden. Beides zujammen, jene geſchmei— 
dige Bildfamfeit und dieje betäubende Kraft, macht erft den 
namenlofen Zauber aus, den er, einem großen unbefann- 
ten Dämon gleich, über die felig und entjegt erjchauernde 
Menſchheit Hat. 





— 313 — 


morgen rauh und Heulend, feine Hände Heute fein und 
zärtlich, morgen grob und Ffriegeriich, feine Augen Heute 
gütig und treu, morgen falſch und graufam finden, fo 
Tönnen fie es doch nicht wirklich werden, wir wiljen, daß 
fie e8 nur fcheinen. Wie fich fein Körper verändern mag, 
er bleibt fein Körper. Wie kommt es nun, daß wir dies 
niemals bemerfen? Freilich, der Schaufpieler gerät in 
„Zrance*, das ift das Weſen feiner Kunſt, aber eben dies 
Wefen verlangt von ihm aud, daß er immer nur halb, 
niemals völlig dahin gerät, weil er doch immer bereit bleiben 
muß, das Stichwort abzuwarten und auf den Partner zu 
achten. In diefen Momenten der Bereitichaft und des Hor- 
chers ift es nun, daß fich die anderen Schaufpieler verraten 
und aus der Masfe oft plöglich, ängftlich oder ungeduldig, 
ihr Menſch blickt. Wie kommt es, daß ihm dies niemals 
geſchieht? Wird vielleicht die Täujchung, der wir erliegen, 
gar nicht durch ihn allein vollbracht, jondern tun am Ende 
auch wir felbft an ihr mit? Das ift mir zuerft einmal an 
jeinem Shylod flar geworden. Im dritten Akt: Jeſſica ift 
entfliehen, Shylod findet das Haus leer, er ſtürzt hinein, 
wir ſehen ihn nicht mehr, wir hören ihn nur noch, hören 
ihn über die Treppe durch die Zimmer fluchen und Hagen, 
wüten und rafen, jtammeln und fallen, pfauchen und jchnau- 
ben, ftottern und ftöhnen, knirſchen, röcheln, brüllen, dann 
ein Etoß, es fällt ein Schrank oder ein Tiſch um, die 
Tür geht, er erjcheint auf dem Balkon und da, das ganze 
Publitum fehreit da auf, fährt entfegt zurücd und wehrt 
ſich unwillfürlich faft erhebend, mit den Händen ab, jo 
furchtbar fieht fein verzerrtes Antlig aus. Es fieht aber 
gar nicht jo furchtbar aus, jondern wir jehen es nur jo, 


— 34 — 


das ift das Merkwürdige. Er ift es nämlich jet gar 
nicht mehr, den wir jehen, jondern unjer eigenes Bild von 
ihm, das umfere Phantafie, durch jene jchauerlichen Töne 
aufgehett, fo grauenhaft macht, als es in der Wirklichkeit 
niemals fein fann. Dies einmal gewahr, habe ich ihm 
„nun wieder im Gejpräche zugejehen. Ich jagte wieder: 
Malatefta. Und nun fand ich, daß feine Verwandlung 
eine ganz eigene ift, nämlich: des ganzen Körpers nicht 
in eine Perjon, jondern in einen einzigen Zug. Dies 
ſcheint fo zu gehen: Er hört einen Namen, aljo Malatefta, 
er hat dadurch bei jich eine Vijion, nun ift e8 aber nicht 
diefe, nach welcher er feinen Leib umformt, fondern er 
nimmt von ihr nur einen einzigen Bug, den, der alle 
anderen enthält, den wejentlichen, den fuggeftiven Zug an, 
und indem er diefen, ihn allein, zum höchiten Ausdrude 
bringt, bin ich es nun, der Hörer, der, davon hypnotiſiert, 
aus Cigenem die anderen jchaffen muß und endlich auch 
zu jehen, zu hören glaubt, was. ınir gar nicht gezeigt oder 
gejagt, jondern nur in meiner Einbildung, wohl durch 
„Aſſoziation“, wie das die Piychologen nennen, erregt 
worden ift. So ift er nicht bloß daS befte Medium, das 
jemals auf einer Bühne erjchien, jedem leifen Drude des 
Dichters fo bereit, daß er immer gleich zur Figur jeder 
Stimmung wird, fondern er ift auch noch ein ungeheurer 
Hypnotiſeur, der uns zwingt, feine Figur aus uns jelbit 
dann noch zu vollenden. Beides zujammen, jene gejchmei- 
dige Bildfamkeit und dieje betäubende Kraft, macht erft den 
namenlofen Zauber aus, den er, einem großen unbelann- 
ten Dämon gleich, über die jelig und entjegt erſchauernde 
Menſchheit Hat. 





— 35 — 


L’Istruttoria. 


(L’enquöte, Drama in zwei Alten von Henriot. Zum erften Mal 
aufgeführt dur Noveli im Raimund: Theater am 14. Mat 1903.) 


Eine® Tages fommt Roger, der berühmte Parijer 
Arzt, Spezialift in allen Nervofitäten, zum Direktor An— 
toine. „Lieber Antoine, Sie müffen mir einen großen 
Gefallen tun, einer meiner Schüler, ein junger Menjch, 
hat da, denken ie fich, ein Stück gejchrieben, mir gefällt's, 
aber ich fenne mich doch in folchen Sachen gar nicht aus, 
möchten Sie es nicht leſen?“ Antoine nimmt das Heft, 
tieft e3, ift entzückt, „Meifterwerf* und fo weiter. Roger 
ſchmunzelt. Es wird aufgeführt und wirkt enorm. Roger 
ſchmunzelt noch immer. Endlich gejteht er ein, jelbft diejer 
Henriot zu jein. „Was wollen Sie? Was ift da weiter 
dabei? Ein Fall von Epilepfiel“ 

Es ift wirklich nur ein Fall von Epilepfie, techniſch 
vollfommen vorgetragen. - Der Unterfuchunggrichter einer 
feinen Stadt begleitet feinen Präfidenten eines Abends 
ein Stück nad Haufe, trennt fi) dann von ihm und kehrt 
heim. Am anderen Morgen erfährt er entjegt, daß man 
den Präfidenten ermordet auf der Straße gefunden hat, 
ein paar Schritte von feinem Haufe, fat an derjelben 
Stelle, wo er ihn geftern verlafjen hat. Fieberhaft leitet 
er fogfeich die Unterjuchung ein. Wer fann der Mörder 
fein? Er findet Briefe an den Präfidenten, welche beweiien, 
daß der Ermorderte mit der Frau eines Kommis unerlaubt 
verkehrt hat. Sie zeigen au, das der Kommis, Durch 
ihre Ausgaben argwöhniſch geworden, ihr eiferfüchtig nach- 


— 36 — 


geforjcht Hat, und ein Verhör der Nachbarn, der Dienit- 
boten ergibt, daß in der legten Zeit heftige Szenen zwijchen 
den Gatten gewöhnlich geweien find; erſt geftern abends 
noch ſei der Mann nad) einem furchtbaren Tumult wütend 
fortgerannt. Es fcheint aljo alles zu ftimmen. Der Kommis 
wird eingebracht, er leugnet zwar, aber bie fragen des 
Richters, der nicht mehr zweifelt, verwirren ihn fo, daß er 
wanft und jaft jchon bereit jcheint, den Mord zu geftehen. 
Aber nun wird die rau vernommen. Sie beteuert feine 
Unſchuld: er kann e3 nicht getan haben, denn er weiß nichts, 
er ahnt gar nicht, daß es der Präjident gewejen ift, mit 
dem jie ihn Hintergangen hat. 

Der Vorhang geht wieder auf und wir finden den 
Nichter nachdenklich. Soll er, darf er dem Mörder von der 
Untreue der Frau erzählen? Wie aber, wenn er am Ende 
doch vielleicht unfchuldig ift? Wenn er wirklich von ihrer 
Schuld noch gar nichts ahnt? Da kommt der Advofat, 
den die Frau zum Verteidiger des Kommis bejtellt Hat. 
Er ift nicht müßig gewejen, er Hat felbft auch unterjucht, 
auf eigene Fauft, und — eö zeigt fich, daß die Sache doch 
nicht ganz fo Har liegt, als der Richter meint. Man hat 
nämlich die Leiche an einer Stelle gefunden, die der Prä— 
fident, nach der Ausfage des Richters, noch mit diejem 
zuſammen paffiert haben muß. Sollte er fpäter noch ein- 
mal heimlich umgefehrt und denjelben Weg zurücgegangen 
fein? Aber damit ſtimmt wieder die Qage der Leiche nicht, 
Und es ftimmt auch nicht, daß der Mord offenbar mit 
einem Stode gejchehen ift, während der Kommis nach— 
weijen Tann, daß er nie einen Stod getragen hat, woran 
der Richter natürlich gar nicht gedacht Hat, weil er freilich 





— 37 — 


die Gewohnheit hat, ſich niemals ohne Stock zu zeigen. 
Und merkwürdig iſt dem Advokaten auch die Art der Ver⸗ 
wundung: Ein Mörder fchlägt einmal, zweimal, dreimal 
zu, bis das Opfer fällt, hier aber ift ſinnlos noch auf die 
Leiche losgefchlagen worden, wie von einem Wahnfinnigen, 
der gar nicht mehr weiß, was er tut, jondern in feiner 
Begierde trunfen ift. Der Nichter ftugt. Dies alles ift jo 
ſeltſam, daß er fich jetzt wirklich nicht mehr anders zu helfen 
weiß — er muß dem Kommis die Schuld der Frau ver- 
raten, um zu jehen, wie dies auf ihn wirfe, und von feinem 
Geſichte abzulejen, ob er e3 gewußt hat. Der Kommis 
tommt, feine Frau ftürzt ihm entgegen, um alles zu ge- 
ſtehen — und nun ift fein Bweifel mehr, daß er nichts 
gewußt hat: das Entjegen, die Wut, der Schmerz ſprechen 
zu wahr aus feinem verzerrten Gefichte. Er wird abge- 
führt, feine Unfchuld ift bewieſen, er ift frei. Aber wer 
fonft ift der Mörder? Der Staatsanwalt erjcheint mit 
dem Arzte, dem e8 an der Leiche gewiß geworden ift, daß 
es nur ein Epileptifer gewejen fein Tann, der in einem 
Anfalle das Verbrechen verübt hat. Und nun wird es 
dem Richter allmählich bewußt, daß er ſelbſt diejer Epi- 
leptifer gewejen jein muß, und indem er fich langjam ent» 
finnt und es ſich langſam in ihm aufhellt, ſtürzt er in 
einem neuen Unfalle feiner jchauerlichen Krankheit zufammen 
und windet fich in wilden Krämpfen. 


* * 
* 


Immer glaubt man bei Novelli, jo groß, jo furcht- 
bar fei er doch noch nie gewejen! Zum dritten Mal ift 


— 38 — 


ex jegt hier, jede feiner Bewegungen, jeden Blick jeden Ton 
glauben wir jchon auswendig zu willen. Und wieder 
wirft er wie das erite Mal, wieder ftaunen wir betäubt, 
und fönnen e3 niemals fafjen, wieder erliegen wir feiner 
ungeheuren Gewalt. Den Inhalt der Iſtruttoria habe 
ich ja geftern fchon kurz erzählt. Ein Fall von Epilepfie, 
mit aller Sicherheit und Straft der frangöfiichen Technik 
vorgetragen. Man male fich aus, wie Novelli die Kriſe 
ipielt, mit Worten läßt es fich nicht beichreiben. Die Leute 
fpringen von den Sigen auf, Damen wenden fi) entjegt 
von der Bühne ab, Hier und dort hört man Frampfhaft 
aufichluchzen, jo gräßlich tft er anzuiehen. Aber für mein 
Gefühl ift es fünftlerifch noch weit höher, wie er uns die 
ganze Geftalt gleich anfangs menſchlich empfinden Läßt. 
Er fommt herein, ftreng, ruhig, feft, ganz Richter, aber 
dabei im Grunde offenbar ein herzensguter, liebenswürdiger 
Menſch. Nun entwidelt er die Gejchichte des Präfidenten, 
und da ijt es reizend, welche feinen Züge er diefem Metier 
abgelaujcht hat und wie er und nach und nad; die Freude 
des Juriften am „ſchönen Fall“, jeine Neigung, alles jo- 
gleich zu kombinieren, feine Übung, behutſam Beweis auf 
Beweis, Schluß auf Schluß unmwiederlediglich aufzubauen, 
aber auch) feine Nechthaberei, die Verblendung, wenn er 
einmal eine Spur zu haben glaubt, und die Eitelfeit auf 
feinen untrüglichen pſychologiſchen Scharffinn zeigt, am 
wunderbarften in der erften. Szene mit dem Berteidiger, 
wo er die leichte Ironie und Neizbarfeit, die man mand)- 
mal bei Gericht gegen die unbequemen Advokaten hat, unter 
feiner ſcharmanten Laune allerliebjt immer wieder hervor- 
ſchimmern läßt. Dabei ift es merkwürdig, wie wir, während 





— 319 — 


wir e3 doch immer nur mit dem Richter zu tun haben, 
doch unmerflich den ganzen Menſchen erfahren, einen ofien- 
bar jehr braven und tüchtigen, nur vielleicht etwas über- 
arbeiteten Menjchen, mit dem fich reizend plaudern läßt 
und — mit dem wir doch nicht zu nahe befannt werden 
möchten, nicht bloß amtlich, ſondern auch fonft nicht, weil 
er un, bei allen guten Manieren und allem Reize jeines 
ſehr ſympathiſchen Wefens, doch eigentlich, wir wiſſen nicht 
warum, gleich beinahe ein bißchen unheimlich ift. Er fieht 
manchmal einen Moment fo feltiam vor fich Bin, manchmal 
zudt es an feinem Munde, das Geficht wird ftarr und 
leer, nur einen Moment, es ift gleich wieder vorbei, er 
lächelt j don wieder, er hat ſchon wieder die Haltung feines 
Amtes, gemildert durch die guten Formen des Mannes 
von Welt. Wie er fo num allmählich unferen Verdacht 
zu erregen, gleich wieder abzulenken, dann wieder anzufachen 
weiß, wie fi dad Schaufpiel unmerklich verändert, wie er 
nach und nach, lange bevor er es ſelbſt noch ahnt, für uns 
zum Angeklagten wird, wie wir immer ſchon alles von 
jeinem Gefichte abgelefen haben, lange bevor er es ſelbſt 
noch gewahr wird, wie wir und endlich, des Entjeglichen 
gewiß, von Furcht gequält, beinahe ſchon fehnen, das Un- 
abwendbare möge fich doch nur ſchon erfüllen, jo furchtbar 
unerträglih wird die Pein der Erwartung, dies gehört 
wieder zum Höchften, das wir jemals im Theater bebend 
erlitten haben. Ach, unfere Worte find jo kläglich arm 
und feine Kunft ift fo unbegreiflich groß, unerjchöpflich 
und namenlos, wie das Leben jelbft! Vortrefflich gab 
Dlga Giannini die ſchuldige Frau und auch fonft wurde 
das Stüd bis zur Heinften Role jehr gut geipielt. 


— 320 — 


Novelli als Obdipus. 


Neulich haben wir gefragt, bei „Pelleas und Meli- 
ſande“: Wie jpielt man Maeterlinck? Das andere Problem, 
das der Kunſt des Schaufpielers jest geftellt wird, ift: 
Wie fpielt man die Griechen? Ihnen geht e& ja wie 
Jenem. Lejen wir fie, fo fpüren wir fie fehr ftarl. Auf 
der Bühne verfagen fie. Wir find nämlich, durch Niegfche, 
Erwin Rohde und Burdhardt, in ein ganz neues Ver- 
hältnis zum griechtichen Weſen gelommen, der Stil aber, 
in welchem e8 auf der Bühne erfcheint, ift noch immer der 
alte. Diefer Stil drüdt die Anſchauung aus, die unfere 
Väter, aus dem achtzehnten Jahrhundert her, von den Grie- 
chen hatten. Sie war von den Statuen genommen. Nach 
ihnen fchufen fie fich ein Vol, ihnen an Würde und Hoher 
Anmut gleich, ein Volt von Modellen fozufagen, dem nun 
die Gefinnungen und Empfindungen ungedichtet wurden, 
in welchen fie beim Anblide der Statuen ſchwelgten; und 
dieje Suggeftion war von folder Kraft, daß durch fie 
fogar die Geftalten der tragijhen Dichter zu Statuen 
wurden. Auch, der Schaufpieler jollte nun aljo einer Statue 
gleichen, die nur, vom Hauche des Dichters belebt, ſich 
rhythmiſch zu bewegen und feierlich ihre Linien auszu- 
fprechen hätte. Sieht man etwa Goethes Regeln für die 
Schaujpieler durch oder erinnert man fi, wie uns der 
Weimarer Stil, wie und noch die edle und getragene Art 
des Emil Devrient gefchildert wird, oder denft man an 
unſeren Robert, an den jungen Salvini zuräd, jo wird man 
gewahr, daß dieſe ganze Kunſt eigentlich immer nur auf 
den Schaufpieler angewandte Plajtif gewejen ift, der An- 


— 321 — 


ſchauung unferer Väter gemäß, die das plaftiiche Gefühl 
auf alles Leben der Griechen übertrug. Wir aber ſehen 
jegt die Griechen anders. Wir willen, daß fie ein Volk 
von wilder Leidenfchaft, der höchſten Qual und finnlofen 
Greueln gewejen find, dem nur gegeben war, zu vergefien 
und auszuruhen, eben in feiner Plafti. Sogar diefe Sta- 
tuen wirken jet anders auf uns. Sie ſcheinen und immer 
etwas von Menjchen zu haben, die als Kinder einmal jehr 
erſchreckt worden find und immer noch jchlecht träumen und 
auf eine ſcheue und befangene Art fpielen, tändeln möchten 
um nur nicht erinnert zu werden. Sie haben etwas von 
Rekonvaleszenten, die noch nicht ficher find, fich noch nicht 
trauen und leicht zu weinen anfangen. roh, Heißt es, 
find fie. Freilich, aber froh wie einer, den man vom 
Galgen heruntergeholt hätte, der jchon den Tod gefehen 
bat und jegt erſt weiß, wie das Leben jchön ift, und daß 
alles, was lebt, jchön ift, ſchon dadurch allein, dab es 
Iebt! Froh find fie, aber ihre Freude ift rings von Furcht 
umgeben, von der Furcht vor dem, was war, und wohl 
auch einer leijen Zurcht vor dem, was noch fein wird. 
Dazwiſchen gehen oder figen fie und atmen tief und warten. 
Wenden wir und aber gar von den Statuen zu den vers 
ruchten Helden der Tragödie hin, jo tut fich erjt die un— 
geheure Tiefe des griechiichen Wejend auf. Wie hat man 
es nur je verfennen, von griechijcher Mäßigung und Ruhe 
ſchwätzen, dieje Banditen für zufrieden ausgeglichene und 
unbewegliche Pedanten halten können! Wir erbliden ein 
Volk von namenlojer Haft, gepeinigt durch einen uner- 
träglichen Stolz, zerfrefien vom Neid, in Laftern und Lüften 
bis an den Hals, röchelnd vor Gier, jchnaubend von 
Hermann Bahr, Gloffen. 21 


— 322 — 


Hyſterie, nach raſenden Ekſtaſen in ſtarten Ermattungen 
betäubt, das ſich, um nicht zu explodieren, um nicht zu 
verichmachten, um fich zu beichwichtigen und zugleich auf- 
zureizen, als eine jchauerliche Kur feiner verwüfteten Nerven 
die Tragödie ſchafft. Im der Tragödie tobt ſich die ganze 
Wildheit, die ganze Berftörung dieſer entjeglichen, ſcham⸗ 
Iofen, verworrenen, immer von Bifionen einer unerhörten 
Größe, einer gräßlichen Gewalt zerrütteten, außer Atem 
ins Unendliche ftürzenden Nation wie in furchtbaren 
Krämpfen aus. Das wilfen heute num die Philologen noch 
nicht, die denn auch die einzigen find, welche gelegentlich 
noch ihre Darftellung im alten Stil ertragen. Uns aber 
verlangt, endlich die tragifchen Griechen auf der Bühne zu 
jehen, wie wir fie jegt fennen: im Sturme ihrer ruchloſen 
Leidenſchaft, blutbeiprigt, zügellos, aufer fich, Raubtiere, die 
fich (osgeriffen haben. Dafür haben wir ja den Stil. Die 
Italiener, Novelli und Zacconi, haben ihn gebracht, bei den 
Franzoſen Antoine, bei ung die Sandrod, in Berlin Reicher 
(ich denfe an den legten Alt des ‚Vaters“). Man darf ſich 
nur nicht ängftigen, der „Naturalismus“ paſſe nicht für 
die Tragödie. Er paßt, denn fie ift nicht gewejen als 
Naturalismus, in Lyrik getaucht. Für die Lyrik jorgt der 
Dichter ſchon, der Schaufpieler habe nur den Mut, „Na= 
turalift“ zu jein. Es gibt fein anderes Mittel, die Gips- 
figuren des vermeintlich klaſſiſchen Stils ftehen wir nicht 
mehr aus. Died alles, ich weiß ſchon, wird man rejpeft- 
108 finden. Aber vor lauter Reſpelt ift die Tragödie der 
Alten bei und umgelommen. Schaufpieler, die nach den 
Philologen fragen und nur immer daran denfen, griechiich 
edel und voll Hoheit zu fein, werben höchſtens den Tert 


— 353 — 


„referieren“. Es ift aber Zeit, daß wir die Tragddie endlich 
wieder einmal „Ipielen“, und dies jegt mit allen Mitteln 
unferer neuen Kunſt. In meinem Berichte an die Darm- 
ftädter Kolonie, den ich über die Reform des Thenter- 
weſens vor drei Jahren jchrieb (ich habe ihn ſchon neulich 
einmal zitiert, beim „Kleinen Theater“), fehlug ich für eine 
Aufführung der geplanten Darmftädter Schule die „Zrachi- 
nierinnen“ des Sophofles vor uud fagte: „Mein Ber- 
fahren wäre, zuerft den Schaufpieler den menfchlichen Ge— 
halt der Tragddie empfinden zu laſſen, unbelümmert um 
Griechentum, unbefünmert um Berje, wie einen Fall, der 
gejtern gefchehen ift, wie wenn es fi) um ein modernes 
Stüd handeln würde; der Deiancira aljo zu jagen: Du 
bift eine Frau, die ihren Mann Liebt, feit Jahren Haft du 
ihn entbehrt, nun kommt er heim und bringt feine Geliebte 
mit, du wirft eiferfüchtig, wehrft dich vergeblich gegen deine 
Leidenfchaft, tdteft den, den du dir zu retten glaubft, und 
fühnft es mit deinem eigenen Tode — aljo der Reihe nach 
Trauer, wiedererwachende Hoffnung, Freude, Verdacht, Un- 
tube, Heftigfeit, Verzweiflung, Neue, tragifche Ergebung, 
dus fpiele, als ob du die Kameliendame zu fpielen hätteft, 
unbefümmert um Griechen, unbefümmert um Verſe; oder 
dein Herakles zu jagen: Du bift vergiftet und ftirbft am 
Gifte, wie etwa Bacconi in der Morte civile.“ Dies tft 
nun genau, was Novelli tut. Er macht fich unbefangen 
an den Debipus, nicht als Grammatiker, um rhythmiſche 
oder plaftifche Wirkungen unbeforgt, nur mit feiner Kunft 
allein, al3 der große Schaufpieler, der aus fich ſchafft, wo⸗ 
von der Dichter redet. Das Thema des Oedipus ift der 
Neid der Götter. Je Höher ein jchuldlofer Menich in 
2ı* 5 


— 34 — 


feiner Kraft ftrebt, defto Liftiger verderben ihn Die Götter, 
in ihrer Furcht, die Menfchen könnten fich vermefjen, ihnen | 
zu gleichen. Dies jollen wir fühlen, daß der Fluch ber 
Götter auf allen Edlen ruht. Der Schaufpieler hat alio 
herauszubringen: Erſtens die Macht und Herrlichkeit dieſes 
Oedipus, es muß der erfte, der höchfte aller Menſchen fein, 
an dem der Frevel der Götter gejchieht; und zweitens 
feine völlige Vernichtung und Zerftörung, auf den beften 
Dann muß der größte Zorn fallen. Der Dichter gibt es 
deutlich an: “0 não zAsıvogı Oldinovg xalovuuvos, jagt Dedipus 
von fich ſelbſt: ich Dedipus, der ich von allen erlaudt 
genannt werde; und die Greiſe nennen ihn „den erften 
aller Männer, allen Wechjeln des Lebens gewachſen und 
im Verfehr mit den Göttern feit“. (Werd 8 und 33.) 
Alle ſchauen zu ihm empor (Vers 42), er hat die Sphim 
bezwungen, er bat die Stadt befreit, er ift der Retter, der 
Erlöfer, der Helfer (Werd 48 und 136), ihm trauen fie zu, 
alles zu wagen, alles zu fönnen, er ift der ftolgefte, der 
berrlichite in der ganzen Stadt (Werd 1380). Aber num 
fenden die Götter ihren Fluch und nun follen wir ein 
Elend fchauen wie e8 an feinem Menſchen noch gejchehen 
iſt. Tüpc yüp xaxà oddel; olig ze nahm duov pbpsıw Boorar, 
fchreit der Geblendete auf („Mein Leid zu tragen bin 
ich allein unter allen Sterblichen imftande“), der echte 
Grieche, der, wenn alle Eitelfeiten fonft verfagen, wenigitens 
noch mit jeiner Schmach prahlt. Und: „Was follten mir 
die Augen noch? Es gibt nichts Süßes mehr für mid 
zu ſehen“ (Ver 1415 und 1334; und ebenfo im der 
ganzen ſchauerlichen Klage 1369 bis 1423). Das ganze 
tft wie ein Duell zwifchen dem Menſchen und den Göttern. 





— 32 — 


Se ſtärker er uns und je gräßlicher feine Not gezeigt wird, 
deſto mächtiger fühlen wir fie triumphieren. 

© dewöv ldeiv nadog üvdgunog 

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mgoo&xuge' Fön — 
„ein Anblick, entjeglicher, ald ich jemals einen gehabt“ 
(Qer3 1296), auf diejes Gefühl eines ungeheuren, namen- 
lojen Grauens drängt die ganze Handlung hin. Diejen 
Kontraft arbeitet Novelli mit jeiner furchtbaren Energie 
prachtvoll heraus. Er erfcheint, einem verwilderten Zeus 
gleich, das mächtige Haupt wie von Schlangen umringt, 
mit jähen Blicken, drohender Stimme, zügelloſem Wejen, 
jo groß und fo wild, daß wir ihm über aller Gefahr 
empfinden, ein Räuber, ein Abenteurer, ein Eroberer, der 
aber, wenn ihm gehorcht wird, auch gütig und väterlich 
fein Tann; ja, mit Sofaften allein, jogar etwas Unfchuldiges, 
Welifremdes, fast Tindlich Unerfahrenes hat, wie jehr ſtarke 
und leicht zornige Menfchen oft, doch freilich auch das 
tajche Miftrauen, das ihnen aus vielen Enttäufchungen 
zugewachſen ift. Aber nun reißen die Götter den Mächtigen 
ein. Er wehrt ſich wie ein wildes Tier, er ringt gegen 
dad Schidjal, immer noch richtet er fich wieder in jener 
Hybris auf und wenn er zum Himmel fchreit: O Giove, 
che vuoi tu ordinarmi?, klingt noch einmal fein ganzer 
Trog wie eine Kriegstrompete empor. Und als es ſich 
nun unabwendbar erfüllt, Jokaſte ftirbt und er, geblendet, 
triefend von Blut und wie von innen heraus ganz aufs 
geiprengt, an der Säule lehnt, mit den langen rauhen 
Armen taftend, leije wimmernd, in feiner gräßlichen Ver— 
wüftung einem vom Sreuze genommenen Leichname gleich, 


— 326 — 


da fagen wir uns, verftört, in allen Tiefen aufge- 
wählt, fchaudernd: „ein Anblid, entjeglicher, als ich je- 
mals einen gehabt!" Und nun erinnert er fich noch ein- 
mal, jein ganzes Leben taucht wieder auf und wie er 
jegt ftöhnt, von ruchlofen Viſionen gepeinigt: Funeste 
notte sceleraste, wie er dann, zum Bettler geworden, vor 
Kreon niederfniet und flehentlich feine Hand füht, wie er 
nur noch leije röcheln kann, ald man ihn die Kinder nimmt 
und den Stab reicht, an welchem er aus der Stadt want, 
dies alles ift fo grauenhaft fchön, daß man ein paar 
Minuten no ftumm und wie gelähmt figt. Dann aber 
bricht ein NRafen aus und er muß immer wieder, immer 
wieder vor die Tobenden heraus. 


Corrado. 
(16. Rai 1903.) 

Novelli gab geftern den Corrado in der „Morte civile“, 
den wir zulegt von Zacconi gejehen haben. Es reizt mic) 
ſchon lange, die beiden einmal zu vergleichen und ihre 
Kräfte abzuwägen. Natürlich fällt mir nicht ein, einen 
gegen den anderen auszufpielen. Sch erinnere mich noch, 
wie hübjch es von Zacconi war, alle Bewunderungen feiner 
Wiener Schwärmer immer lächelnd mit derfelben Wendung 
abzutun: „Sie kennen eben hier Novellt noch nicht!“ Und 
ich weiß, mit welcher Freude Novelli, faft zärtlich, von 
Bacconi zu fprechen pflegt. Sie find ja auch beide jo 
groß, daß fie es fich erlauben dürfen, neidlos zu jein. So 
mag denn einmal der eine am anderen gemefjen werden. 
Zunãchſt verblüffen beide durch diefelbe Gewalt über ihren 





— 327 — 


Körper. Jeder Gedanke, jedes Gefühl, jede huſchende Laune 
fogar wird fogleich an ihnen fichtbar und auf jeden leijen 
Druck ihres Willens gehorchen Augen, Lippen, Hände, 
Füße, alle Musfeln fogleih. Dadurch find fie fähig, auch 
Zuftände darzuftellen, an welche fich früher die Kunſt des 
Schaufpielers nicht wagen Tonnte, Zudungen oder Krämpfe 
geiſtig verftörter, Törperlich gebrochener Menfchen, Delirien 
und Kriſen, die man vorher kaum angedeutet hatte, wie 
denn etwa der Wahnfinn, der auf dem Theater allmählich 
ſchon eine ganz ausdrudslofe und fehr Langweilige Poſe 
geworden war, eigentlich von ihnen erſt ſchauſpieleriſch ent- 
deckt worden ift. Darum brauchen fie auch, um zu wirken, 
gar nicht erft das Wort, durch welches im deutſchen Schau- 
fpieler meiften® die begleitende Gebärde erſt ausgelöſt wird; 
ihre Gebärde begleitet nicht bloß, fie wirft unmittelbar, fie 
drüdt mehr aus, als das Wort ausdrüden Tann, fie be— 
ginnt, bevor das Wort noch Zeit hat, ſich zu formen, fie 
ipielt noch fort, wenn das Wort ſchon wieder verftummt 
ift. Gehen wir num aber jenermerfwürdigen Gewalt über 
den Korper nach, fo werden wir fie bei beiden aus einer 
ungeheuren geiftigen Energie erflären müfjen, die nur, in 
der Wirkung bei beiden gleich, doch im Weſen offenbar 
bei jedem anders ift. Bacconi hat die Energie leidender, 
ſeht nerodfer und erfchöpfter Menjchen, die fozufagen nur in 
Anfällen leben und ihre hellen Stunden der Erregung mit 
furchtbaren Ermattungen zu bezahlen haben. Novelli hat 
die Energie de3 Starken, der Tumult und Sturm braucht, 
um feine Gejundheit zu entladen, um ſich auszuturnen, 
um nicht zu berften. Noch in einem anderen Zuge gleichen 
fie fich und find doch anders. Sie wirken beide durch die 


— 3238 — 


große Güte, die wir in allen ihren Geftalten fpüren. Ich 
Tann mir denken, daß ein Schaufpieler, mit ganz derfelben 
Gewalt über den Körper, mit ganz derjelben unheim- 
lichen Technik, mit ganz derielben Verwegenheit, irgend 
eine Xergiftung oder einen Krampf, eine Hyſterie oder 
Epilepfie ganz ebenfo fpielen und uns vielleicht dennoch Kalt 
lafjen fünnte. Cie aber haben uns die Geftalt, die das 
Unheil trifft, immer vorher ſchon fo lieb gemacht, daß wir 
wie mit einem freunde leiden. Es graut uns nicht bloß 
vor dem Entjeglichen, fondern weil es an einem Menjchen 
geichieht, den wir gern haben. Wir haben den Oswald 
Bacconis, wir haben Novellis Shylod, ſogar feinen Luigi 
gern, weil wir an allen diejen Geftalten fpüren, daß fie 
gute Menfchen find; fogar der ſcheußliche Luigi verrät ung, 
daß feine Tücke, feine Gier auch wieder nur enttäufchte, 
gefränfte und dadurch wild uud rachfüchtig gewordene Güte 
tft. Aber die Güte, auf welcher die Kunft Novellis ruft, 
ift doch wejentlich anders als die Zacconis. Ich denke mir 
oft, wie Nietzſche fich über Novelli gefreut hätte, weil er 
dann vielleicht feinen Zarathuſtra noch anders gefehen und 
erfannt hätte, daß es eine Kraft gibt, die gar nicht mehr 
nötig hat, Hart und graufam zu fein, jondern fich fo ficher 
und verwahrt fühlt, daß fie es wagen darf, zärtlich und 
milde zu fein, ohne Gefahr, fich zu verlieren und gemein 
zu werden. Zacconis Güte aber hätte Niegfche wohl ge- 
haßt: denn fie ift zufegt nur Angft, die Angft, die ſchwache 
und atemlofe Menjchen haben, welchen das Leben wehe 
tut, weil e8 ihnen zu groß und zu jchön und zu wild ift, 
weil e8 fie nur erſt recht fühlen läßt, wie verzagt und 
matt und erbärmlich fie find, weil fie es nicht bändigen, 





— 329 — 


nicht beherrfchen fönnen. Aber nun ift noch etwas zur 
jagen. Beide gleichen ſich auch darin, daß fie uns in 
jeder Rolle einen ganz bejonderen einzelnen Menfchen zeigen. 
Nehmen wir etwa Zacconi in den „Disonesti“ oder No» 
velli gleich neulich in der „Istruttoria*. Dort erfährt 
ein braver Mann die Schande jeiner Frau, hier wird ein 
Nichter epileptiſch, das ift vom Autor gegeben, mehr nicht, 
und der Schaufpieler genügt, wenn er nur dort die Brav— 
heit eines Mannes und feine Verzweiflung, hier den Ton 
des Richters und die Art der Epilepfie trifft. Nun kann 
aber der brave Mann und der epileptijche Richter ſonſt 
entweder luftig oder mürriſch, hochfahrend oder bejcheiden, 
gutmütig oder eitel fein. Das hat mit der Rolle nichts 
zu tun, der Autor jagt e8 uns nicht, aber Zacconi und 
Novelli jagen es und. Sie Haben die hohe Stunft, uns 
nicht bloß die Abenteuer eines Menfchen und jeine Affekte 
darin, fondern auch den Menfchen ſelbſt vorzuführen, wie 
wir etiwa im Leben, wenn wir einen Zornigen jehen, nicht 
bloß feinen Born gewahren, fondern auch ſchon vermuten 
werden, was er ſonſt jein mag; iſt es auch im Moment 
vom Zorne bededt, jo fühlen wir e8 doch dur. In der 
Rolle des Oswald hat Zaccont fogar noch mehr: Hier 
läßt er und nicht bloß eine Krankheit und nicht bloß den 
ganzen Menfchen, der frank ift, fehen, ſondern plöglich, im 
zweiten Aft, wenn Oswald von Paris erzählt, fteht auch 
jeine ganze Vergangenheit vor uns auf, wir willen jegt 
auch, wie er früher geweſen ift, wir fennen ihn durch und 
durch, wie einen nahen Freund, mit dem wir feit Jahren 
gelebt hätten. Novelli hat das immer. Wir bilden uns 
ein, dabei geweſen zu fein, als Dedipus den Laios er- 


— 30 — 


ſchlug, wir find mit feinem Petrucchio von Verona auf 
Abenteuer audgezogen, wir haben den jungen Luigi gefannt, 
bevor er noch argwöhniih und einjam und tüdiich ge- 
worden ift. Je vertrauter ich mit Novelli werde, je näher 
ich an fein Wefen bringe, je mehr ich über ihn nachfinne, 
defto wunderbarer wird mir dieje geheimnisvolle Kraft, und 
mehr noch faft ald in den großen Szenen der wilden Aus- 
brüche, wenn die Leute vor Begeifterung rafen, fühle ich 
jegt in den ftillen und ruhigen der Iangjamen Entfaltung, 
wenn nach und nach der Menſch jeiner Rolle jo diaphan 
wird, daß uns plöglich jeine ganze Vergangenheit und alle 
Bufunft enthüllt ift. Dies ift auch an feinem Corrado 
wieber fo merkwürdig. Ein guter Menſch, aber finnlos, 
wenn er gereizt wird, fchildert ihn der Autor, cuore bu- 
ono, ma il sangue! Aber wir jehen ihn ja erft als ent- 
fprungenen Sträfling, verwildert und vertiert durch dreizehn 
Jahre harter Einſamkeit im Kerler. Wie nun Novelli von 
diefer Erſcheinung aus zugleich vor⸗ und zurädipielt, ſchon 
manchmal, wenn er fich in der unerträglichen Pein erregt, 
den Tod, den er ſchon im Herzen hat, über jein Antlig 
fchleichen, aber dann wieder, wenn er fic) erinnert und von 
alten Zeiten erzählt, plöglich den friichen unbejonnenen 
jungen Maler von damals auftauchen läßt, bis wir fo fein 
ganzes Leben in allen Falten erfahren haben, darin ift er 
fo völlig anders als alle und ijt ganz neu und iſt ein 
Anfang, der Anfang einer Schaujpielfunft, welche vor ihm 
noch gar nicht geahnt worden ift. Bemerkt ſei noch, daß 
fein Corrado an einem Herzihlag ftirbt, während der 
Bacconis Gift nahm, und daß Olga Giannini, Herr Pia- 
monti und Herr Roſa ihm vortrefflich fefundieren. 





— 31 — 


Die Dufe. 
(Als Gaft im Carl-Theater vom 31. März bis 8. April 1903.) 

Seltſam: die Dufe gilt überall, von Rußland bis 
nach Merico, für die größte Schaufpielerin unjerer Zeit 
und doch ſcheint man gar nicht zu bemerken, was ihre Große 
ift. Dem Publitum genügt die jtarfe Emotion, es will 
nur erjchüttert und aufgewählt jein, ohne nach den Mitteln 
zu fragen. Es hält ſich an den erſten Eindrud, diejen be⸗ 
wahrt e3 in groben Zügen auf, dabei bleibt es. Es geht 
ihm mit feinen Lieblingen faft, wie es oft in der Ehe 
geichteht, daß die Gatten fich nach Fahren immer noch fo 
ſehen, wie fie damals waren, als fie fich lieben ernten. 
So fieht es in der Dufe feit zehn Jahren immer noch 
nur bie leidende Frau, die unter dem rauhen Leben zu- 
jammenzudt und vor Sehnfucht aufichreit. Daß fie feit- 
dem eine andere geworben ift und am fich alles burch- 
gemacht hat, was in diefer Zeit die ganze Kunſt umge» 
wälzt hat, das jcheint es gar nicht zu ahnen. ch will 
verjuchen zu zeigen, welche Höhe fie auf einfamen Pfaden 
erflommen hat. 

Sie ift eine figlia dell’ arte, wie man in Italien 
jagt: ein Thenterfind. Ihr Großvater, Luigi Dufe, war 
ſchon ein Liebling der Venetianer, bejonder3 in den Rollen 
des Goldoni berühmt und mit feinem Publikum fo vertraut 
daß er oft, wenn er nach der Vorftellung, wie es damals 
noch Sitte war, heraustrat, um anzulündigen, was am 
nächften Abend gejpielt werden jollte, daß er dann gern 
von feinen Erlebnifjen erzählte, von irgend einem Aben- 
teuer, das ihm zugeftoßen war, oder auch von feinen häus- 


— 32 — 


lichen Sorgen, wobei er es gelegentlich nicht unterließ, fein 
Leid zu Hagen und die guten Leute anzupumpen. Seine 
Söhne, einer feiner Brüder, feine Enkel und Neffen gingen 
alle zum Theater, und Luigi Raſi, der in feinem ange- 
nehmen Buche über die Dufe*) den Stammbaum der 
Familie verzeichnet hat, zählt ſechsundzwanzig auf, die fich 
alle auf der Bühne herumgetrieben haben. Unfere Eleonora 
ift die Tochter des Aleffandro Dufe und einer Angelica 
Cappeletto von Vicenza. Aleſſandro war primo attore, 
er fcheint fich aber als Schaufpieler nicht recht wohl ge— 
fühlt zu haben, jondern hatte einen Hang zur Malerei, 
die er in jeder freien Stunde leidenfchaftlich tried. Es 
begab fich, dab das Kind in einem vergoldeten Käſtchen 
mit gläjernen Wänden zur Taufe getragen wurde, und als 
der Aug an einem Poften vorbeifam, meinten die diter- 
reichijchen Soldaten, es müffe in diefem Tabernafel etwas 
ſeht Koſtbares enthalten fein, und traten ins Gewehr und 
präjentierten. Auf den Vater, der überhaupt ein verfonnener 
und jchwärmerifcher Mann geweſen fein muß, wirkte dies 
fehr; er rannte felig zur Wöchnerin heim und jagt ihr: 
Ich kann dir ja leider nichts geben für die Tochter, die 
du mir gejchenft haft, aber höre, was für ein gutes Vor- 
zeichen wir eben gejehen haben, nostra figlia sara qual- 
cheduna: le si son già presentate le armi. 

Mit vier Jahren debütierte die Kleine, und an ihrem 
vierzehnten Geburtätage gab fie, es war in Verona, zum 
erften Mal die Julia. Sie war aber durchaus fein Wunder- 
find; fie machte ihre Sache ganz gut, gab fich alle Mühe, 











*) Firenze. R. Bomporad & Figlio. 1901. 





— 33 — 


ſchien aber, jei e8 durch das Gefühl ihrer Armut, ſei es 
durch einen tiefen Efel vor dem Leben, wie ihn fränfelnde 
Kinder oft haben, jo bedrücdt und verfünmert, daß man, 
wenn fie ihre Rollen jo träge, halb im Schlafe und wie 
verftört zu murmeln begann, nur Mitleid mit ihr haben 
fonnte. Sie hatte auch nicht die Gabe, die Menjchen an- 
zuziehen. Sie muß trogig und ftörrifch gewejen fein, und 
am liebften war fie mit alten Statuen allein, die fie 
ftundenlang betrachten und, geheimnisvoll gebannt, ihre 
Haltung, ihre Gebärden verzückt nachahmen konnte. Das 
blieb jo bis 1879. Da fam fie mit einer Truppe nach 
Neapel, „Iherefe Raquin“ wurde gegeben, die Pezzana gab 
die Alte, fie die Therefe, mit ſolchem Erfolge, daß am 
anderen Tage ihr Name über ganz Italien flog. Einen 
Monat ſpäter war fie prima attrice assoluta bei Cejare 
Roffi, der damals mit feiner Truppe gerade nach Turin 
ging. Er Hatte faum zu jpielen begonnen, da kam die 
Bernhardt in der Stadt an. Behutſam und zur Tapferkeit 
nicht geneigt, wie ſchon Direktoren find, meinte Roſſi, da 
es nun doc einmal nicht möglich, die göttliche Sarah zu 
ichlagen, fet es klug, Vergleichen auszumeichen und lieber 
nur beitere Sachen zu geben, jeine prima attrice aber 
einftweilen im Schatten zu lafjen. Da bäumte fie fi 
auf: Nein, fie jollten nur vergleichen, fie hatte nicht? zu 
fürchten — ci sono anch’ io! Ich bin auch da, fie werden 
es ſchon fehen! Und fie beftand darauf, fich mit der Fremden 
mefjen zu dürfen, und dies in eben der Rolle, die der 
größte Triumph der Bernhardt war, als Prinzefjin von 
Bagdad. Und fie gab nicht nad, den unentjchloffenen 
Manager zu bedrängen, fie fegte e3 durch. Und an diefem 


— 34 — 


Abend ſchrie man durch die Stadt: c’ & anche lei, es 
gibt noch eine neben der Bernhardt! Und Heute weiß man 
e3 überall: c’ & anche lei. 

Der Erfolg war ungeheuer. Es verging fein Jaht, 
erzählt Raſi, und ganz Italien war von Meinen Dufen 
belagert, die fich den Kopf fragten, in die Finger bifien, 
fi wanden, wanften und quieften Man ahmte nicht 
nur ihr Weſen nad, fondern mehr noch ihre Perfon, da 
man jah, daß es gar nicht fo jehr ihre Kunſt war, der 
die Menſchen betört erlagen, als dieſe gewaljam aus- 
brechende Natur von einer jo hohen, neuen und doch gleich 
allen fo wunderbar vertrauten Art, daß es wirklich jchien, 
die Menſchen hätten immer ſchon von ihr geträumt und 
in banger Sehnfucht nach ihr gerungen: nicht irgend eine 
bejondere Schaufpielerin, fondern die neue Frau war er- 
ſchienen. Als der gute dicke alte Onkel Sarcey fie 1892 
in Wien jah, beutelte er fich verwundert und meinte bann: 
Une petite femme de race, mais qui n’a pas d’&cole. 
Das traf nun freifich nicht zu: Schule hatte fie ſchon, fie 
verftand alle Kniffe des Metierd, es lohnte fich ihr nur 
gar nicht, fie fpielte mit ihnen bloß, bis fie erft in die 
Stimmung fam, dann warf fie alles ab und riß fich jelbft 
auf. Aber Sarcey fühlte eben doch durch, dak Hier kaum 
noch von Kunft zu reden, fondern daß dies die Wirkung 
einer furchtbar großen Natur war, wie eines Elements, 
eine Gewitters, eines Qulfans. Gerhart Hauptmann hat 
von ihr gejagt: Sie fpielt wie jemand der fich ganz un- 
beachtet glaubt. Man müßte vielleicht noch hinzufügen: der 
ſelbſt auf fich nicht mehr achtet, der außer fich iſt, der 
nichts mehr beherrſcht, fondern, fich ſelbſt entrückt, über- 





— 386 — 


wältigt von losgeriſſenen Trieben, dampfend innere Gewalten 
ausſpeit, vor welchen er jelbit in den Tod erjchroden und 
wie betäubt if. So war fie damald. Man hatte gar 
nicht dad Gefühl, irgend eine Geftalt der Kunft zu fehen, 
ſondern eine entjeglich leidende, zerquälte und vor Schmerz 
ſinnlos gewordene Frau ftieß auf der Folter Schreie einer 
Wut und Not aus, die jonft die Sitte, die Scham, die 
Achtung vor fich ſelbſt auch in der legten Leidenichaft noch 
gewaltfam erftidt. Man mochte unwillkürlich an Aurelien 
im Meiſter denten, der Serlo, über die „Entblößung 
ihre innerften Herzens vor dem Publikum“ erboft, nach⸗ 
jagt, „fie werde noch eheſtens ganz nadt auf das Theater 
treten“. 

So war fie damald. So war fie noch, als ich fie 
1891 in Petersburg fah und in einem Taumel der Ver- 
züdung, der mich heute noch in der Erinnerung wunderbar 
ergreift, ihren Ruhm nach Deutfchland ſchrie. So war fie, 
als fie 1892 zum erften Mal in Wien erſchien. Indem 
& ihr gelang, die ganze Hölle ihrer Leidenjchaften in einen 
wilden Moment zu preffen und diefen, jo wie fie ihn em⸗ 
pfand, noch glühend, noch rauchend, mit aller Lava heraus- 
zuſchleudern, konnte fie einen Furor des Ausdrudes und 
eine Macht über unfere Sinne, unfere Nerven erreichen, die 
das Theater vor ihr niemals gefannt hat. Und die Jahre 
vergingen, und fie kam wieder. Indeſſen war es unter 
den neuen Künftfern unruhig und ängftlich geworden. Sie 
trauen der &motion forte nicht mehr, der fie fich jugend⸗ 
lich ſtürmiſch Hingeworfen Hatten; die Begeifterung für die 
sensation rare fühlte fih ab. Und in allen wahrhaft. 
Wollenden unſerer Generation begann ſich leiſe wieder zu 


— 36 — 


zegen, was Niegjche „die Treue gegen die Vorzeit“ genannt 
Hat: „das Wohlgefühl des Baumes an feinen Wurzeln, 
das Glück, ſich nicht ganz willkürlich und zufällig zu 
wiffen, fondern aus einer Vergangenheit als Exbe, Blüte 
und Frucht herauszuwachſen und dadurch in jeiner Exiſtenz 
entſchuldigt, ja gerechtfertigt zu werden.“ Das Heimmeh 
nad) der Tradition der großen Kunft, die Sehnjucht nad 
dem Stil begann. Um dieſe Zeit jahen wir fie plöglih 
feltfam beffommen, faft verftört, enttäufcht, bange, matt, 
faft an fich irre werden; fie ſchien unter ihrer Routine 
wie unter einem Kreuz zu feuchen und fat umzufinfen; 
es hieß, fie fei Trank: fie hatte angefangen, ein Höheres 
zu ahnen, eine Kunft, die über dem Hauch der Leidenfchaften 
ſchwebt, die nicht mehr nur betäuben und betören will, die 
dad Maß und die Form, die Freude an einer fchönen 
Gleichheit des Gemütes und die Gnade der inneren Samm-— 
lung gefunden hat. Es genügte ihr num nicht mehr, in 
Eruptionen zu leben. Incominciavo già a scolpirmi, 
jagt fie im Zuoco: fie fing an, fich zu meißeln. Mit ihr 
geſchah, was Goethen in Italien geichehen ift: das Ge 
heimnis der Form ging ihr auf, fie drang zum Stil durd). 
Aber die Form, der Stil find nicht, wie die Schulmeifter 
glauben, von den alten Meiftern abzulernen, fie liegen tief 
in uns feldft, aus uns müſſen wir fie heben. Schiller 
fchrieb einmal, er bewundere an der Natalie jo ſehr, daß 
fie „die Liebe als einen Affekt, als etwas Ausſchließendes 
und Beſonderes gar nicht fennt, weil die Liebe ihre Natur, 
ihr permanenter Charakter iſt.“ Darin ijt eigentlich alles, 
was wir Kultur nennen. Die Duſe hat die Straft gehabt, 
ſich den feligen Moment der Verzüdung, der Efftaje, der 





— 37 — 


Gnade oder wie man es immer nennen mag, wenn eine 
Erregung den Menſchen über fich Hinaus und zur reinen 
Anſchauung fortreißt, jo anzueignen, daß es ihr gelang, 
feinen „Affelt“ in ihren „permanenten Charakter” zu ver- 
wandeln und fich die Helligkeit, die Wonne, die Freiheit 
der erhabenen Stunden zur anderen Natur zu machen. 
Früher hat fie vor Schmerz aufgejchrieen, jegt ift aller 
Schmerz zur Güte abgeklärt, aus einer Furie des Leidens 
bat fie fich zur Statue des Erbarmens gemacht. Die 
wilden Töne find erlofchen, der Tumult verftummt; fie 
hat jet die ſanfte Ruhe der Meifter und die einfachiten 
Mittel genügen ihr jegt: ein Schatten auf der weißen 
Stirn, ein Zuden oder Hufchen um den Mund, eine ganz 
leife fließende Flexion in der füheften Stimme. Dieſe 
unfäglich ſchamhafte und ftille Kunft ruht wie ein fpiegeln- 
der Teich mit Nenupharen im Monde, fo rein und von 
äiner ſolchen limpidezza, daß das Schaufpiel zur Andacht 
wird, die ung erfühlen läßt, wie Schönheit doch durch 
ihre bloße Exiſtenz ſchon ein Glüd ift, das einzige Glüd, 
für daß zu leben fich verlohnt. 


* * 
* 


1. April 1903. 

Jetzt kommen unfere großen Feiertage der Kunſt: die 
Qufe ift wieder da. Sie gab geftern die blinde Anna in 
der „Cittä morta“. Man Tennt diefe unvergleichliche Ge— 
ftaft der Güte, die, mit ihrer Silvia und der Francesca, 
wohl zu den höchſten Gejchenfen der Schönheit gehört. 
Man hat fie oft gejehen, man hegt fie dankbar im 

Hermann Badr, Bloffen. 22 


— 38 — 


Gedächtnis, man ruft fie fi an langen ſtillen Abenden 
in der Furcht bes Winterd gern wie einen reinen Geiſt 
des Troftes herbei, und doch, wie vertraut man mit ihr 
fei, fie ift immer wieder feltfam neu, ift immer wieder ein 
Ereignis, das erjchüttert und befreit, wie am erjten Tage. 
In ihr fließen die Wirkungen aller Künſte zujammen. 
Wenn fie, blind, doch alles wifjend — sei cieca e nulla 
t' & ignoto — in die glühende Ebene ftarrt oder wenn 
fie mit Horchendem Finger die Wange der janften Bianca 
Maria jtreift oder wenn fie, von Erbarmen bebend, Er« 
barmen mit fich jelbft und allen, den bangen Fuß nad) 
der Heinen toten Lerche auf dem Boden lenkt, immer jcheint 
fie aus einem alten Relief zu treten, von ſolcher Hoheit, 
von ſolchem Wohllaut find ihre Gebärden. Aber aus 
ihren füß tönenden, leife klagenden Worten ftrömt eine 
heiße Kraft, ein betäubender Zauber hervor, wie von einem 
Gefange vieler Stimmen in der Ferne. Und indem fie 
ganz ftill bleibt, ſich kaum regt, kaum leife jeufzt, nur 
Linie und nur Klang, gleiten über das weiße Geſicht die 
Leiden ihrer Seele mit ſolcher Macht, daß es zur magiſchen 
Bühne zu werden ſcheint. Und auf allem ruht die tiefe 
Andacht jener ſchweigend gewordenen Kunft, die ihre Zauber⸗ 
ftäbe zerbrochen hat, wie der gütige Projpero tat, die Feine 
äußeren Mittel mehr braucht, die rein aus fich jelbft wirkt, 
und man verfteht das Wort der Schrift, daB der Herr 
nicht im Sturme und nicht im Erdbeben und nicht im 
Feuer war, aber nach dem Feuer fam ein ftilles fanftes 
Saufen, und darin war der Her! ... Seltſam ift auch 
wie wir uns doch an das viel heſchollem Stück gewöhnt 
haben. Gott, wie gräßlich dumm iſt doch einſt darüber 








— 339 — 


geredet und gefchrieben worden! Und fiehe, es behauptet 
immer noch feine Gewalt ber prunfenden Worte. Goethe 
hat recht, der einmal an Reinhard fchrieb: Wenn ein Wert 
nur einmal „als ein unveränderliches Faktum vor der Ein- 
bildungsfraft fteht“, jo läßt man es fich zulegt doch ge- 
fallen, „wie man fich in der Gefchichte nach einigen Jahren 
die Hinrichtung eines alten Königs und die Krönung eines 
neuen Kaiſers gefallen läßt: das Gedichtete behauptet fein 
Recht, wie das Gefchehene* ... Den Leonardo gab Herr 
Rofafpina, den Aleffandro Herr Galvani. Jenen kennen wir 
als einen Mugen und ficheren Schaufpieler, der nur manchmal 
gar etwas ftarf an Bacconi erinnert; er ifl aber, jeit wir ihn 
daß letzte Mal gejehen haben, über die Manier zum Eigenen 
vorgedrungen. Diefer führt fich gewandt in guter Hal- 
tung ein. 


4. April 1903. 

Die Dufe gab geftern ihre ſublime Francesca da 
Rimini. Es ift höchſt felliam, wie lange dies Werk doc 
gebraucht Hat, fich durchzudringen. Anfangs find wir 
überall faum fünf oder ſechs geweſen, die fogleich er- 
fannten, daß D’Annunzio Hier feine flolzen Verheißungen 
erfüllt, die Iyrifche Form, an der er jchon faſt erwürgt 
war, abgeftreift und wirklich die uralte Tragödie erneut 
hat. Die anderen hielten ſich an feinen Ruf, der nun ein- 
mal blieb, daß es ihm verfagt fei, feine Stimmungen 
dramatifch zu beherrichen, ohne erſt das Werk abzuwarten, 
das fie, mit ihren Vorurteilen gepanzert, gar nicht auf fich 
eindringen ließen. Sie gaben höchjtens zu, wie wunder 
bar der Ton und die Farbe, ja die ganze Luft der dan- 

22* 


— 30 — 


testen Welt getroffen waren, und ließen es bei einer fteifen 
Verbeugung vor feinem Fleiße, vor der ungeheuren Arbeit 
bewenben, welche die Reſurrektion jener alten Zeit gefofte‘ 
haben muß. Sie leugneten den ſüßen Zauber der wie 
fchwerer Duft aus alten Krügen lang verjchloffenen Weines 
betäubenden und beffemmenden und betörenden Worte in 
den Szenen der Liebe nicht. Sie mußten den wilden 
Drang der ehernen Geftalten, die verruchte Wucht ihrer 
Leidenfchaften und die Energie bewundern, welche ſich 
duch allen Tumult ihrer hölliſchen Menfchen nicht er 
ſchopft, noch zu jenem grandiofen vierten Akt zu erheben 
vermag, aus dem und das tragijche Feuer wie aus dem 
Othello entgegenichlägt. Dies alles ſpürten fie ſchon aud, 
es ift nur unbegreiffich, wie fie verfennen konnten, daß hier 
zum eriten Mal erreicht war, was unferer ganzen Zeit ver- 
fagt jchien, totum ponere, wie es Niegjche genannt hat, der 
um dieſe hochſte Kraft fein ganzes Leben vergeblich rang: die 
Geſtalten in ihre Handlung und jeden Willen in fein Schid- 
ſal mit einer fo ftarren Strenge einzujchließen, daß ſich 
an allem, was gejchieht, nur immer ein mächtige, dumpf 
und unaufhaltfam waltendes Geſetz aufzurollen fcheint, und 
eben dadurch ein Ganzes Hinzujegen wie einen ewigen 
Stein. Das wollte man damals nicht bemerfen, in Rom 
nicht und in Wien nicht, und auch die Berliner haben 
verjagt. Es war nun aber jehr merkwürdig, zuzuiehen, 
wie es allmählich doch durchzuſickern begann, in Stalien 
zuerſt, nach und nach auch bei uns, bis plögfic die 
Meinung der Kenner fachte umgedreht worden war. Heute 
wiſſen fie, daß die von Blut und Liebe triefende Gedicht 
wirklich die Krone der lateiniſchen Kunſt it, die er einft, 





— 4 — 


jugendfich ſchwärmend, feiner Nation darzubringen gelobt 
Bat. Und fo bewährt es fich wieder, daß das Werk des 
Künftlers ftärker als alle Niedertracht der Böfen und alle 
Albernheit der Dummen ift, wenn es nur von treuen und 
tapferen Händen fromm gehütet und beichägt wird. Es 
ſoll nie vergefjen werden, daß über diefe reinjte Tat un- 
jerer Zeit die Dufe den Schild ihrer hohen Kunft gehalten 
bat, wachend, wie Pallas über die Helden Homer. Sie 
ift vor D’Annunzio die größte Schaufpielerin der Welt 
gewefen, fie hat ihn nicht gebraucht, fie wäre künſtleriſch 
auch ohne ihn, was fie ift. Aber menfchlich ift fie uns 
durch ihren Glauben an ihn, durch ihre Treue, durch ihren 
fanatijchen Trog gegen’ alle Hleinmütigen Warner und 
Zweifler unendlic, teuer und rührend geworden; und was 
fie für ihn getan Hat, fichert ihr allein eine edlere Un- 
ſterblichkeit zu, als fonft ihrem Stande vergönnt iſt. Sie 
mag das wohl felbft fühlen, und aus dieſer Empfindung 
strahlt über fie, wenn fie feine Geftalten fpielt, ein Schimmer 
und ein Glanz herab, den fie jonft nicht Hat. Ihrer Kunft 
icheinen Flügel zu wachſen, und fie fchwingt fich in eine 
fo helle Region des Geiftes auf, daß uns faft beflommen 
froh wird, wie in der atemlofen Seligfeit auf hohen Bergen. 
Ihre unglaubliche Gewalt, Güte und Hingebung des 
liebenden Weibes faft fieberhaft darzuftellen, erreicht in der 
Francesca den legten Grad. Wie fie uns von der bangen 
Scham der erregten Jungfrau und ihrer lieblichen Ver— 
wirrung, da fie den ſchönen Jüngling erblidt, über den 
Zorn verwundeten Stolzes durch die Trunfenheit der Luft, 
lauernde Angit und Ahnung bedrohter Träume und den 
trotzigen Genuß der Gefahr bis in das Raſen ber legten 


— 32 — 


Leidenjhaft führt, die jhon den Atem des Todes im Naden 
fühlt, daS Tönnen die armen Worte feiner menfchlichen 
Sprache jagen. — Der merkwürdigen Geftalt, die Herr 
Rojajpina dem Gianciotto gibt, entfinnt man fich vom 
vorigen Jahre her, Herr Galvani war wirklich Paolo „il 
Bello“, als Malatejtino konnte Herr Roffi-Pianelli die 
Erinnerung an die Varini nicht verwijchen. 


7. Oftober 1904. 


Die Dufe tft wieder da: ein eines bißchen weniger 
ſchlank und das wunderbare Haar von einem goldigen 
Schimmer gerötet, wie fie denn auch ſonſt venezianijcher 
geworden zu fein jcheint. Sie gab die „Cameliendame*, 
aber Gott ſei Dank, es ift ja nicht dieje, die fie fpielt, 
fondern fie fpielt nur fich und man hat das Gefühl, als 
fpiele fie die Liebe felbft, von diejem einzelnen Fall ganz 
abgeldft, die Liebe an fich, entbunden von aller irbijchen 
Schwere, die innerjte Muſik aller menjchlichen Liebe, die 
fie gleihfam aus allem Zufälligen de3 gemeinen Dajeins 
in ihr ureigenes Element zurüdführt. Freilich, manchmal 
hört man doch auf den Tert und wird dann graufam auf- 
gewedt, Aber gleich nimmt fie eine Roſe, die fie wie 
einen matt gewordenen Kleinen Vogel in den ſüßen Händen 
begt, oder fie chlägt auch nur die fernen Augen auf, mit 
einer ihrer ſchweren reifen nachgedunfelten Gebärden an- 
gelednt, und man ift wieder entrüdt. Herr Rojajpina, als 
Gianciotto unvergeklich, kann als Armand, der ihm nicht 
liegt, doch alle Künfte der prachtvollen italienijchen Tech- 
ni zeigen. 





— 43 — 


10. Oftober 1904. 

Die Dufe gab geftern die Monna Vanna. Dieſe Rolle 
ft eigentlich nur ein Mantel. Alles andere hat der Dichter 
der Schaufpielerin überlaffen. Sie kann eine jüße fleine 
Tðorin aus ihr machen, die, font durch hütende Liebe vor 
der Welt verwahrt, nun zum erften Mal erfährt, daß die 
Menſchen einander nicht glauben; oder fie kann eine jener 
Rhodopen aus ihr machen, die wie auß lauter Schleiern 
gewoben find und zerrinnen, wenn man ihnen die Scham 
nimmt. Die Dufe macht ein einfames Weib aus ihr, und 
es ift eigentlich die Tragödie der großen Einfamleit, die 
fie jpielt. Dieſes ſcheu aus bangen Augen fragende Ge- 
ihöpf muß viele Jahre neben ihrem heißen Manne allein 
geblieben fein, unbeantwortet für fich lebend, und jo hat 
fie ſich alles aus fich ſelbſt gedeutet. Doch da begibt es 
fih, daß die Probe auf dieje zujammengeträumte Welt 
ein wildfremder Menjch befteht, aber der nicht, dem fie 
gehört. Dies zerbricht fie, und wie nun unter den Trüm- 
mern eines fo geborftenen Weſens alle Zurien der Menich- 
beit beroorftürzen, daß ftellt fie mit einer fchaufpieleriichen 
Bravour dar, die alles überrennt. Arioſto Hat die Frau 
jeiner Zeit in einer feiner Satiren einmal ein „gefährliches 
großes Kind“ genannt. Das fühlen wir hier: eine, die 
jeit vielen Jahren zur Frau geworden und doch ein großes 
Kind geblieben iſt und eben durch dieje Miſchung nun ge— 
fährlich wird. Auf diefen höchſten Moment der ausbrechen- 
den Gefahr fpart fie alles auf und hier erreicht ihre 
prachtvolle Technik eine Gewalt, die feine Worte nennen 
Tönnen. 


— 34 — 


11. Oftober 1904. 

Die Magda der Dufe kennt man ja längft. Aber 
fie ift in allen diejen Rollen jet ganz anders. Sie trägt 
in fie einen Schimmer wie aus einer anderen, freieren und 
reineren Welt hinein, wie eine, die eben erft auf unfere 
Erde zurüctgeftoßen wäre, aber auf demütig zagenden Händen | 
das Licht der. Himmlijchen mitgebracht hat und noch in 
fi) ihren Stimmen lauft. Muß fie dann den gemeinen 
Text ihrer Rollen herſagen, jo ift es manchmal, als ob 
fie davor erſchrecken würde, fie jcheint nach Worten zu 
ringen, nach) wahren Worten, nad) den Worten ihrer Seele, 
die frierend verftummt ift, und während ihr die Menge 
zujauchzt, hat fie den müden Schritt einer Gefangenen und 
man glaubt leiſe ſchwere Ketten klirren zu hören. Dies 
wirkt tief ſchmerzlich, faſt ald ein Symbol der Kunft unter 
den Menfchen, und wenn ich mir vorftelle, wie fie ji 
jegt an fchlechten Stücken dur; Europa jchleppen wird, 
fällt mir wieder ein Wort Hebbels ein, das ich mir oft 
vorſage, weil es den ganzen Schmerz des Künſtlers in 
der Welt enthält: „Am unglüdlichiten ift der Menſch, 
wenn er durch jeine geiftigen Kräfte und Anlagen mit dem 
Höcjften zufammenhängt und durch feine Lebensftellung 
mit dem Niedrigften verknüpft wird.“ 


L’autre danger. 
(Romöbie in vier Akten von Maurice Donnag. Zum erften Mal auf 
geführt von ber Dufe im Theater an der Wien am 2. Dftober 1904.) 
Und Wilde fchrieb „Lady Windermeres Fächer“. Und 
Maeterlind jchrieb „Monna Vanna“. Und wir in Deutid- 





— 35 — 


land dürfen ſchon gar nicht jagen, feit jogar Hartleben, 
der freche, den „Rojenmontag“, fogar Holz, der einfame, 
jegt den „Traumulus“ jchrieb. Die ganze Generation 
verleugnet ſich, überall Tiegen alle vor dem Publitum im 
Staube. Ja, die Tantiemen! fpottet man. Ich glaube 
das aber gar nicht. Es ſetzt fich einer Hin, entichloffen, 
die Kunſt zu verraten, um lieber mit einem fchlechten Stüd 
ein Gefhäft zu machen. So einfach iſt das Leben gar 
nicht. Die Menfchen find ſchon korrupt, aber auf eine 
viel feinere und heimlichere Art: jeder legt doch Gewicht 
darauf, es vor fich zu verhehlen. Sie find zu allem 
fähig, doch wollen fie, wie im „Othello“ der Rodrigo, 
„erſt beſſere Gründe Haben“. Diefe finden die Eunft- 
flüchtigen Autoren in der Empfindung, daß fie, geben fie 
der Neigung de3 Haufens zum Theatraliſchen nicht nach, 
auf jede Wirkung verzichten müffen. Es ift ihnen weient- 
ich, daß fie, jo wie fie num einmal find, nicht wirken 
fönnen. Und es ift ihnen, gerade wie fie nun einmal 
find, ebenfo wefentlich, daß fie wirken wollen. Den einen 
Fuß haben fie verwegen in die Zukunft gejegt, aber mit 
dem anderen fünnen fie aus dem Sumpf nicht heraus. 
In einer Zeit, zu welcher der Künftler nach feinem Be— 
griffe fein anderes Verhältnis als das der fanatifchen 
Berneinung haben kann, ift e3 feine tragiſche Verblendung, 
jenen zu dienen, die zu vernichten fein ganzes Weſen ihn 
drängt. Verblendung oder Schwäche; tragifch in jedem 
Falle: denn wer ſich einmal an den Erfolg verloren hat, 
fehrt kaum mehr unverjehrt zu ſich zurüd. Wie ſich aber 
jeder einzelne mit ihm abfindet, das ift noch das einzige, 
worin die Autoren jegt ihre Eigenart zeigen. Einige bilden 


— 36 — 


fich ein, ein künſtleriſches Gewiſſen zu haben, und quälen 
fih ab, die eigenen Forderungen mit jenen des lauten 
Pobels auszugleichen. Andere ziehen den Spaß vor, ſich 
zyniſch vor feinen Launen zu wälzen. Manche täujchen 
wie Bauchredner, und wenn das Parterre zu ihren falichen 
Stimmen vor Vergnügen gröhlt, benügen fie dies ge- 
ſchwind, um nun doch ein paar Worte in ihrem natür- 
lichen Tone zu jagen. So Donnay. 

Donnay fing im Chat noir an, wo er, noch in Der 
ſchönen Zeit des vehementen Salis, Abends feine Verſe 
ſprach, zierliche und innige Verſe, oft von einer großen 
Traurigkeit, die fich gleich aber ſelbſt fchämt, insgeheim 
ſehr jentimental, aber begierig, es fich um feinen Preis 
merfen zu lafjen, ein bißchen müde, ein bißchen zärtlich, 
ein bißchen frech, von allem ein bißchen, nichts ganz, Verſe 
jener legten Ironie, die endlich auch fich jelbft nur noch 
ironifch nimmt, Verfe des enttäufchten Blagueurs, der ſich 
fo gern in einer ftillen Empfindung ausruhen würde, wenn 
e3 nur niemand jehen möchte. Aus ihnen wurden allmählich 
Dialoge von derjelben Stimmung, in der Art der Gyp 
und Lavedans und unſeres Anatol. Der feinjte ift Die 
„Education de Prince“, worin mit fpöttelnder Weisheit 
erzählt ift, wie der Erbprinz Alerander von Steyer von 
einem, der das Leben (oder was für ſolche arme Menjchen 
eben das Leben ift) kennt, darin unterwiefen wird, ein 
ſcharmantes Buch von einem jeltfam geduldigen und dieſer 
ganzen Jugend, wie fi bald an dem Autor. felber zeigen 
ſollte, jehr gefährlichen armor fati, für den Lemaitre das 
Wort gefunden hat: nihilisme optimistee Dann famen 
die Amants, eigentlich auch wieder nur ſolche Dialoge, 





— 47 — 


durchaus fein „Drama“ und feine „Komödie“ in unjerem 
Sinne, fondern bloß fünf Heine Szenen aus dem Leben 
mondainer Vagabunden, nachläſſig und bequem vorgeführt, 
Taum verbunden, verlodend durch ihre Neigung, Iyrifch zu 
jein und ein bißchen zu ſchwärmen, die fich doch immer fos 
fort wieder felbft parodiert; und, faft noch in derjelben rei- 
nen Form, die feinem Geifte gemäß ift, die Douloureufe. 
Nun aber fing er fehon an, immer heftiger nach Wirkung 
zu verlangen. Gott, man wäre ja jo gern anftändig, aber 
wen verdrießt der Erfolg der jämmerlichen Macher nicht? 
Und die Leute ſchauen einen dann jo mitleidig an: Sehen 
Sie, der fann’3! Und man will nur einmal zeigen: das 
kann ich auch, wenn ich will! Es bleibt nur leider nicht da- 
bei. Und jo fam er zum Torrent, zur Bascule, zu L’autre 
Danger, zum Retour de Jerusalem. Es ift nun aber die 
höchſte Zeit, daß er in die Akademie tritt. Er ift reif. 
Dan fann von diejen Stüden nicht jagen, Donnay 
babe fich verleugnet. Er hat nur jeine Form aufgegeben. 
Er nimmt die alte her und blinzelt aus ihr, wenn er glaubt, 
gerade nicht erwifcht zu werden, wie hinter einem Fächer 
zuweilen hervor. Er hat das „gutgemachte“ Stüd erlernt 
und fertigt es num genau nach der alten Vorfchrift an. Die 
scöne & faire ift da, er bringt die Präparationen an, deren 
Kunft fo gerühmt wird, er baut das ganze Gerüft nach 
allen Regeln des Handwerks auf, nichts fehlt. Nur der 
Text ijt ein anderer, es ift fein Text, ihm drüdt er nun 
fein eigenes Wejen auf. Scribe hat noch gemeint, wenn 
er nur erft fein Szenartum beifammen habe, den Text könne 
dann auch fein Hausmeiſter fehreiben. Dumas hat ſchon 
das Wort gefeilt, aber fein Stil, der Wirkung fo ficher 


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und jo durchaus theatralifch, ift noch ganz unperjönlich ge- 
wejen. Donnay nimmt die alte Technif her und berührt, 
verändert fie faum, aber aus jedem Worte hören wir ihn 
heraus, feinen bejonderen, halb ironijchen, halb jentimen- 
talen Ton, der immer noch manchmal ein bißchen nach 
dem Chat noir flingt, aber ſich ſchon zuiammennimmt, 
um einmal unter der Kuppel des Inſtituts würdig zu 
hallen. Eigentlich ift das fehr fchlau: denn fo gewinnt 
er das Publitum, ohne den Kenner zu verjtimmen, der ſich 
über manchen Einfall des Weltmannes freut und übrigens 
gleich merkt: er nimmt fein Stüc doch jelbit nicht ernft 
und mutet es auch ung nicht zu. Nur wenn fie feierlich 
werden, find Auguren unerträglich. Die ung aber zuwinfen, 
daß man, wie diefe Welt nun einmal ift, halt auch leben 
will, laſſen wir und gern gefallen. 

Nach feiner Handlung ift „L’autre danger“ das rich- 
tige alte Theaterſtück. Eine Frau und ein junger Mann 
verlieben fi. Das Verhältnis dauert ſchon vier Jahre. 
Nun Hat die Frau aber eine Tochter. Dieſe wächit heran 
und e3 begibt fich, daß auch fie jenen jungen Dann Tiebt. 
Zufällig erfährt fie, daß er der Geliebte ihrer Mutter ift. 
Sie ftirbt faft daran. Um fie zu retten, genügt die fromme 
Züge der Mutter nicht, es ſei nur eine häßliche Verleum- 
dung gewejen, jondern die Mutter muß entjagen, muß, um 
das Glüd des Mädchens zu ftiften, ihr eigenes vernichten, 
muß es fich abringen, in dem Manne, den fie mit allen 
Sinnen geliebt hat, fortan ihren Sohn zu jehen. Man 
gewahrt auf den erften Blick die theatralifche Kraft diefer 
Situation: der Kampf zwifchen den beiden höchſten Ge- 
fühlen der Frau, ihrer finnlichen und ihrer Mutterliebe, 








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die Unentjchloffenheit de8 Mannes, den hier Dankbarkeit 
zurüdhält, dort Jugend lockt, die Dual des Mädchens, dem 
der zarte, dad Leben verhüllende Schleier plöglich zerriffen 
wird, und dies alles zulegt in eine große Szene zur Ex— 
plofion zujammenballt, die wir drei Afte lang ſchon fom- 
men jehen, nach der uns ungeduldig verlangt und die und 
dann doch noch durch ihre Verwegenheit überrafcht. Das 
alles ift alt, das alles ift fehließlich nur wieder Dumas, 
aber jede einzelne Szene, wie fie jachte herbeigeführt wird, 
der Ton der Gefpräche, der Glanz der unerwarteten Worte 
ift neu, ift jo Donnay, daß wir ihn gleich an jeder Wen- 
dung erfennen. Bejonders im zweiten und im dritten Aft. 
Jener ift eigentlich ein bifschen dünn; es geichieht nicht 
viel, die Handlung regt ſich kaum, aber die Stimmung 
einer verbotenen Liebe, der durch die Gefahr nur noch ein- 
geheizt wird, und die Dämmerung eines Mädchens, das 
fein feimende3 Gefühl noch gar nicht verjteht, find vor- 
trefflich. Und dann, in diejem, ein paar Typen, wie von 
Zorain. Da ift Prabert, der junge Dann, auf den die 
jungen Mädchen fliegen, weil er fie durch die Macht jeiner 
„perjönlichen“ Weſten berückt und weil er ihnen des hor- 
reurs jagt. Da ift ein anderer, der jo gern feine Geliebte 
heiraten möchte, aber warten muß, 518 erjt ihre Mama ge- 
heiratet haben wird, weil man doch nicht gut ein Mädchen 
zur Schwiegermutter haben kann. Da iſt Heybens, ein 
Entdeder von Goldminen in Annam, den genäfchige Frauen 
lüftern umgeben, um zu erfahren, ob es dort mit der Liebe 
wirklich fo ift, wie fie im Sama-Soutra gelefen haben. 
Gleich aber knallt wieder das Thenter los, das verruchte 
Theater, dem alle fluchen müſſen, die es fegnet. 


— 350 — 


Eine Frau, die fich ſelbſt „eine ganz einfache Frau“ 
nennt, hat mir heute, in dem Bedürfnis, ihrer Begeifterung 
für die Duje Luft zu machen, ein langen Brief gejchrieben. 
Darin heißt es: „Glauben Sie nicht auch, wenn die Pre- 
diger in der Kirche die Mugen der Dufe, ihre Stimme, 
ihre Modulation, ihren Affekt hätten, jo beredt zu predigen, 
wie die Dufe ergreifend fpielt, die Welt mürde bald anders 
fein, da8 Volk würde feine Roheit verlieren?” Ich finde: 
man fann gar nicht eindringlicher jagen, was der großen 
Zauberin ihre namenloje Macht über die Menjchen gibt. 
Sie fühlen fich durch fie beffer werden. Und das Merf- 
würdige ift, daß fie zu diefer ganz moralifchen Wirkung 
ducch rein Afthetifche Mittel kommt: fie ift jo ſchön, daß 
die Menſchen davon gut werden. Was Donnay hier zeigt, 
ift alles recht weltlich und eitel, Sinnenluft und Sinnen- 
leid, und mancher wird fich gegen die Frau bedenken, die 
den Liebhaber an die Tochter abgibt. Aber an der Schön- 
heit der Dufe rinnt dies alled ab und man geht aus diejer 
leeren, durch und durch verlogenen, Durch und durch thea- 
tralijchen Szene, die das Stüd ſchließt, mit einem auf- 
atmenden Gefühl innerer Reinigung wie aus einer Tra- 
gödie fort. 


Hedda Gabler. 
29. Oktober 1904. 

Die Hedda Gabler der Duje, die wir ja ſchon 
voriges Jahr gejehen Haben, läßt uns erft den anderen 
Ibſen fühlen, den die herfömmliche Darftellung des Ber- 
liner Naturalismus verdedt. Dieſe merkt nicht, daß jeine 





— 31 — 


Menschen, wie fie fich auch alltäglich gebärden mögen, doch 
immer etwas faft Mythiſches, etwas von Fabelweſen, von 
imaginären Ungeheuern wie aus einer Märchenwelt der 
Riefen haben. Er holt irgend eine Figur von der Gafje 
her, mit allen armfeligen Schrullen unjerer irren Zeit, aber 
indem er ihr nun in ihre Tiefe nachgeht, taucht er ins 
Urelement aller Menjchlichkeit hinab, bis er auf den Wifinger 
darin ftößt. Dieſer Wilingerzug macht die Hedda der Dufe 
fo grandios. Das ift nicht bloß des General Gabler ver⸗ 
zogenes, leicht entzündliches, launiſch wechjelndes, von 
wirren Nerven verheßtes, von leerer Sehnfucht tolles Kind, 
das, in der Enge röchelnd, um fich zu wehren, fich und 
die anderen quält, fondern in dies Heine Schidjal einer 
im bürgerlichen Käfig verlorenen Frau fpielt fie die Not 
und Dual unferer ganzen Zeit hinein, die aus der ftidigen 
Finfternis nach Luft und Licht fchreit, bis fie vor Angft 
heijer und vor Gier krank und vor Grimm böfe wird, zu- 
legt alles um fich zerftörend, um fich zu rächen. Diefes 
Anwachien aus übler Laune durch hämifchen Verdruß zur 
ungeheuren Bosheit, die nun, einmal im Zuge, jedes 
andere Gefühl ausbrennt und alles um fich unaufhaltiam 
vernichten muß, ftellt die Dufe mit einer unbegreiflich wil- 
den Kraft und Größe dar, und man fpürt, welche Wirkungen 
noch in Ibſen fteden, wenn nur erſt einmal fein Stil von 
unferen Schaufpielern gefunden fein wird. 


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KRameliendame. 


11. Januar 1905. 

Die „Rameliendame* hat man von der Duſe 
oft und noch erſt vor ein paar Monaten wieder gejehen | 
und doch bleibt’3 immer wieder neu und wirft immer 
wieder wie zum erften Mal. Es ift die ſtärkſte Probe, 
auf die man einen Künftler ftellen Tann: ob wir ihn in 
derjelben Rolle, und gar in einer, mit welcher er ung einſt 
überwältigt hat, ſpäter noch ertragen, ohne die durch Er- 
innerung noch verflärte Macht der erften Impreffion doch 
leiſe zu vermiffen. Wirkungen der großen Sünftler, indem 
fie uns für einen feligen Moment aus der Welt entrüden 
und ihr Gefchöpf aus ung machen, haben ja fat etwas 
Erotijches oder ftreifen doch daran, und zum Weſen des 
Erotijchen gehört, daß in ihm alles einmalig ift, daß fid 
in ihm nicht? wiederholen fann, daß in ihm das Gefühl 
fi) unabläffig verwandeln, jede Verwandlung aber, die 
feine Steigerung mehr ift, fogleich al3 eine Vernichtung 
empfunden werden muß. Wirkungen der großen Künftler 
treffen und durchaus wie jener coup de foudre des 
Stendhal, aber nur von den ganz großen fchlägt der Blig 
immer wieder ein. Niemals von jenen, die ihr Pulver 
forgfam in einer Patrone verwahren, in welche nun bloß 
auf ein Zeichen der Hahn zu fallen braucht, um prompt 
loszufnallen; niemals von jenen, die mit der darzuftellenden 
Geftalt daheim völlig fertig geworden find und fie dann 
auf der Bühne eigentlich nur noch reproduzieren, mit un- 
bewegter Seele jo gelafjen neben ihr ftehend, daß fie ruhig 
abzuzählen vermögen, wie viele Sige unten leer geblieben 





— 353 — 


find, worein franzöftfche Virtuofen ihren bejonderen Ehr- 
geiz ſetzen; niemals von den Sünftlern des abwägenden, 
außrichtenden, nachrechnenden Verftandes, deren Erregung 
nur allenfall® gerade hinreicht, um eine Geſtalt mit ihrer 
Phantafie zu fehen, die fie dann durch allerhand Künfte 
und vorzutäufchen fuchen, niemal® aber, um fich felbft, ihr 
zufälliges tägliches Weſen, jo von fich abzuichütteln, daß 
nun ein anderes, fonft unter jenem verborgenes, das eigent- 
liche, das ewige ihrer tiefften Natur, wie ein ungeheures 
Licht einer reineren Welt, plöglich aus ihnen hervorbricht. 
Dies aber ift der Dufe Geheimnis: nichts ung jemals vor- 
zutäujchen, wir find überhaupt für fie gar nicht da, fie 
fpielt nicht für uns, fondern fpielt, um fi) vom äußeren 
Leben, das auf ihr inneres drückt, frei zu fpielen, wie man 
eine Stimme rein fingt, bis aller rauher Anhauch irdiſcher 
Bellemmungen aus ihr entwichen und fie nur noch der 
ungetrübte Laut einer einjamen Seele if. Man jpürt das 
fast ſchmerzlich, wenn fie beginnt: hinter ſich moch die 
Wucht ded gemeinen Dajeins wie einen fehweren und zu 
langen Mantel herjchleppend, in den fich veritridend, von 
dem erftict fie faft umzufinfen droht, nun aber jagt fie, 
merkwürdig ftarr, wie Zauberer im Orient die Formeln, 
durch welche fie fich betäuben und fich vergeffen und fich 
in fich verjenfen, und mertwürdig mühjam, mit der ges 
waltjamen Anjpannung der vom Willen gequälten Miene, 
die Hypnotifeure haben, ihren Tert her, indem fie zugleich 
ängftlich nach innen zu horchen fcheint, ob von dort die 
Berzauberung noch immer nicht beraufdringen will, bis wir 
plöglich fühlen, wie heiß jegt das Fieber plöglich über fie 
ſchlägt und alles Tägliche von Luft und Leid ausbrennt 
Hermann Badr, Gloffen. 23 


— 354 — 


und verſchloſſene Grüfte in ihr aufbricht, aus welchen nun 
langſam, langiam, von unfichtbaren Händen heraufgereicht, 
die leuchtende Pracht und Glorie ihres inneren Lebens 
emporfteigt. Taneben werden Worte von Dumas oder 
Donnay oder Pinero gefprochen, manchmal hören wir eis 
nen Moment auf fie und müffen verwundert lächeln, weil 
fie jo gar nicht pafjen. Aber was tut's? Es find nicht 
die Formeln der Beichwörung, durch die der Zauberer das 
Wunder wirft, fondern durch feine magijche Kraft geichieht 
es, die er aus fich in fie legt. 


13. Januar 1905. 

Die Dufe hat nun auch die Locandiera wieder 
einmal gejpielt, die man feit Jahren bier nicht von ihr 
geſehen hat, und da find die Leute ftarr, daß fie dag auch 
kann: jo heiter, von einer jo beweglichen und leichten An- 
mut, fo einfach, nett fein, wie eine törichte junge Frau oder 
ein liebes Iuftiges Mädel nett ift, denen noch der Ge 
ſchmack des Lebens nie die Zunge verbrannt hat. Das 
verftehen die Leute nicht und können es an einem fo voll» 
fommen tragiichen Wejen faum fafjen, da Heiterkeit jetzt 
in Verruf geraten ift, als ob ihre Luft nur geringe, ſchwache, 
demütige Menſchen zeitigen fünnte, die fich niemals ins 
offene Meer der Leidenichaften Hinauswagen ; ftolze und 
jtarfe aber zögen es vor, lieber durch Wahrheit gegen ſich 
und die Welt unglüclich zu werden, als fich in der Lüge 
ftiller Meiner Freuden zu bejchwichtigen. Die Leute ver- 
geſſen nur, daß es noch eine andere Heiterkeit gibt, als 
fie fennen und um fich zu fehen gewohnt find, eine Ieid- 
entftamınte, nachtgeborene, tränenhelle, der noch an den zer- 





— 355 — 


fegten Schwingen das Blut durchrungener Stunden Elebt, 
die Heiterfeit der Wiedergelommenen, die fich allen Dä- 
monen bingeworfen, aber dann alle Dämonen beftanden 
haben und nun, nachdem alle Qualen verftörter Wünfche, 
maßlojer Hoffnungen, ungezügelter Launen erjchöpft find, 
wieder für eine Zeit ins gemeine Dajein zurüd auf Urlaub 
gehen. Sa, vieleicht ift nur der ganz heiter und nur der 
weiß vielleicht feine Heiterkeit gefeit, der zuvor jeden 
Schmerz, deſſen er fähig ift, ausgetrunfen hat, jo daß er 
jegt alle fennt und ihn darum feiner mehr verloden Tann, 
weil er zulegt fogar die Eitelkeit auch des Schmerzes er- 
fannt bat. Dann aber, wenn einer erjt weiß, daß auch 
das Leid nur ein Betrug tft, den wir und aus uns felber 
ichaffen, fieht er zuweilen gern den Nöten der anderen zu, 
die noch nicht fo weit find, die fich noch ftoßen und 
drängen, die noch draußen das Glüd erjagen wollen, und 
dann macht ihm Spaß, was fie peinigt, und dann reizt 
es ihn vielleicht erft recht, heftig mitzutun, ſelbſt ficher, 
daß ihm ja nun doch nichts mehr geichehen Tann. Wer 
nämlich erft einmal zu Ende erlebt bat, wie gering. 
neben dem, was man an fich felbft zu leiden hat, alles , 
ift, was einem die Menjchen antun fünnen, der ijt durch 
und die Stunde des großen Lachens ift für ihn da, der 
Tann nun getroft ind Gewimmel und Getümmel der täg- 
lichen Begierden zurüd, alle Pfeile find abgeftumpft, er hält 
ihnen lachend die Bruft hin, und ihn freut's, unbeweglich 
in ihrem Regen zu ftehen. Der brave alte Angelus Silefius, 
der auch genug ausgefoftet haben muß, hat einen Vers: 
Wer über Berg und Tal und dem Gewöltke fit, 
Der achtet’3 nicht ein Haar, wenn's donnert, Tracht und blift. 
23* 


— 36 — 


Und darüber fteht als Aufichrift: „Das Unt’re ſchadet nicht.“ 
Wen einmal Leid, jenes einzige wirkliche Leid, das aus 
uns ſelbſt fließt, erfennen ließ, daß alles, was uns in der 
Welt zuftoßen mag, tief unter uns ift, und wer fich jagen 
gelernt hat: „Das Unt’re ſchadet nicht“, der allein ift erſt 
für die Freude reif, der allein ift erft der wahren Heiter⸗ 
keit, ber tragifchen, wert geworden. Die des Goldoni mag 
vielleicht eine etwas geringere jein, eine weltlichere, die ſich 
noch nicht überall vom Irdiſchen losgeriſſen hat, aber in- 
dem die Dufe ihre vom Schmerze gejenneten Hände auf 
fie legt, fängt auch fie gleichſam tragiich zu leuchten an 
und in das lodere Spiel durchtriebener Scherze fällt bis- 
weilen ein wunderſam dunkler lang ein, ivie von ver- 
weinten Nächten her. 


15. Januar 1905. 

Es gibt immer wieder bebenfliche Leute, die dann 
zaghaft fragen, ob diefe Hedda Gabler der Duje denn 
auch eigentlich Ibſeniſch ſei. Sie jollen fich nur beruhigen, 
gewiß hat Ibſen die Figur anders gemeint: bürgerlicher, 
philifteöfer, nördlicher, nebliger, fahler, mit einen Zuge 
ins Mesquine, den die Dufe ins Grandioſe führt, im 
Schatten gedudt, wo fie Leidenſchaft grell aufflanımen läßt. 
Gewiß. Nur, dab es in der Natur der Dichter ift, Ge- 
ftalten zu fchaffen, die dann plöglich ihr eigenes Leben 
haben, anders, als fie von ihnen gemeint find, und mehr, 
als ihre Dichter von ihnen wifjen und mit ihnen wollen. 
Und gar bei Ibhſen ift das vielleicht noch empfindlicher 
als jonft, weil er, angewidert von der Neigung der Epi- 
gonen, in den vagen Umrifjen großer Intentionen zu 





— 37 — 


ſchwelgen, nun eine wahre Leidenfchaft Hat, ſich immer 
nur an den einzelnen Fall zu halten, ihn durchaus einzu- 
engen, dann aber mit der höchiten Präziſion plaftiich darzu« 
ftellen. Er hat immer Angſt, fich ins Allgemeine zu ver- 
lieren, und wendet alles auf, fi} im bejonderen anzubinden. 
Es geht ihm umgekehrt als jenen Epigonen: fie glauben, 
einen Menfchen zu fchaffen, aber diejer verraucht und zer- 
tinnt ihnen gleich in ungeftalte Gedanfen, während er, den, 
wie heftig er es ableugnen mag, immer zuerft ein Problem 
ſchopferiſch reizt, es fogleich in eine jo ftarfe, jo volle, 
fo lebensdichte Geftalt drängt, daß fie dann freilich 
auch die ganze Gattung enthält. Ihn Hat das Problem 
der diondfifchen Frau gereizt, aber indem die wunderbare 
Klarheit feiner Natur es ihm fogleich an einem einzelnen 
und ganz befonderen Falle, eben dem der ertravagant er⸗ 
zogenen, vor der Zeit erotijch erwachten, unftet durch ein 
leereß Leben irrenden, dann noch in eine dumpfe Ehe ver- 
ftoßenen, an einen täppifch ahnungslofen Manne verlore- 
nen, im Engen und Öden vereinfamten Tochter des Generals 
Gabler zeigt, ftellt er mit dem Problem zugleich auch feine 
Karikatur dar, bis er eben dadurch plöglich unverfehens 
wieder an fein ewige Thema fommt, in das feine Werke, 
wo fie immer auch beginnen mögen, immer wieder enden: 
an das Leiden von Menichen, die es quält, fich einer noch 
unfertigen höheren Forın des Dafeins, die fie ſchon in fich 
keimen, aber für die fie fich noch nicht reif fühlen, durch 
Sehnjucht jozufagen hinterrücks zu bemächtigen, und die 
daran verderben. Dies ift e8, unjer namenlojes Leid von 
Menichen zwiſchen zwei Formen, die, in ihrer Sehnfucht 
ichon fo neu, daß ihnen die alte durchaus unerträglich ift, 


— 3858 — 


doch immer wieder in fie zurüdfinfen, weil fie noch die 
Kraft nicht Haben, aus fich eine andere zu prägen, dieſes 
ewig über ſich hinaus Verlangen und ewig wieder in fih 
hinein Berlöjchen unferer arınen Zeit, die fich in Wünichen 
fo verzehrt, daß ihr feine erfüllende Macht mehr bleibt, 
bis fie davon bitter und wild und tüdijch wird, dieſes 
ganze Elend unferer doch flügellahmen Vermeſſenheit iſt 
es, was die Duje jpielt. Und man fönnte vielleicht noch 
einfacher jagen: das Leiden an Schönheit in einer un- 
ſchönen Welt. Brave Leute meinen oft, große Menjchen 
von innerer Kraft und Schönheit follten nun aber nicht 
fo unbefcheiden jein, auch noch ein äußeres Glüd zu for- 
dern, da fie doch an fich jelbit genug haben müßten. Sie 
vergefien, daß fein Menich allein, fondern jeder unter die 
anderen geftedt ift, gegen die er gerade durch feine Kraft 
und innere Schönheit nur defto empfindlicher wird, wofür 
fie fi an ihm noch mit wachjender Erbitterung rächen. 
Das muß die Dufe mit einer Heftigfeit erlebt haben, vor 
der einem falt und ftarr wird. Wie fie fich hier immer 
wieder aufrafft, jo gut und freundlich zu fein, als einft, 
mit feinem frohen Vertrauen ins Leben, das junge Mäd- 
hen war, wie fie e8 aber niemals fann, weil alles, was 
fie fieht, alles, was fie hört, alles, was um fie gejchieht, 
jeder trübe Blick, jeder läppiſch ängftliche Ton, jede leere, 
nur angelernte, unbejeelte Gefte, ja jede verlegen unge- | 
ſchickte Liebkoſung und zudringliche Zärtlichkeit aller diejer 
nichtswürdig braven und ruchlos anftändigen Leute für fie 
nur eine einzige ungeheure Beleidigung und Demütigung 
ift, wie fie fich von niemandem verftanden und auch jelbft 
niemanden zu verftehen fühlt, wie nichts, was fie fügt, zu 


— 359 — 


den anderen hinüberdringen, nichts, was ihr die anderen 
fagen, etwas von ihnen zu ihr herüberbringen fann, wie 
fie bei jedem ſcheuen Schritte gleich an die ftarre Mauer 
ihrer angeborenen Einfamfeit ſtößt, wie fie fich überall 
blutig reißt und endlich, die Haut der Seele ganz zer- 
ſchunden, nur noch wie auf einem glühenden Nofte lebt, 
jegt aber, indem fie fühlt, bloß daran gerade zu leiden, 
daß fie jchöner und beſſer und von einer edleren Art als 
die anderen ift, fich erbittert entichliekt, fo ichlecht und ge- 
mein und niedrig zu werden, wie fie find, um ihnen ge- 
wachſen zu fein und fich an ihnen rächen, nur wenigftens 
doch einmal rächen, ſich und die ihr gleich find, an diejer 
Welt von Feinden rächen zu können, biejes angenehme 
Dafein großer oder auch nur wirklicher Menſchen in einer 
naturvergefjenen Zeit jtellt die Dufe dar, mit dem Grimm 
und höfliichen Groll einer aus den legten Tiefen herauf 
von allen Ketten losgerifjenen und zur eigenen Vernichtung 
ausgebrochenen Natur, deren Anblick zum Höchften gehört, 
das heute Kunft gewähren fann. 


17. Januar 1905. 

Die Dufe ala Magda. Immer wieder ſpielt fie das. 
Und mir ift es ein Gefühl, das ich gar nicht recht nennen 
ton, feltfam dumpf, faſt ein bißchen unheimlich. Viel— 
leicht gerade, weil ich feit jo Iangen Jahren ihre Kunft 
kenne, weil ich fie in ihren höchiten Momenten völliger 
Entrüctheit erblickt Habe und weil fie mir jo viel gewor- 
den ift. Und dann jpielt fie wieder dad. Und daB es 
ihr möglich ift, kann ich eigentlich noch immer nicht be» 
greifen. Gott, ich hab gar nichts gegen das Stüd. Ich 


— 360 — 


ſchatze Sudermann fehr, und ſchließlich, es ift ein Stüd, 
das in allen Zonen auf die Leute wirkt, jo daß es ſchon 
auf Ummwegen doch irgendwie etwas Wirkliches in den 
Menichen trefjen muß; ander wär's ja nicht zu erflären. 
Nur daß die Dufe es fpielen kann, gerade jiel Einen 
Cherub Holz haden zu fehen! Und ich werde dann den 
ganzen Abend ein unendliches Erbarmen mit ihr nicht los, 
und dieſe Rolle, von der ihre ftolze und ftarfe Seele nichts 
wiffen fann, wächft mir faft zum finfteren Symbol ihrer 
ganzen, hinfällig durch die Länder um Erwerb und Ruhm 
geichleppten armen Eriftenz an. Als fie fie zulegt, im 
Oktober, gab, jchrieb ich, e8 habe mich an ein Wort Hebbels 
erinnert, das allen Schmerz des Künftlers in der Welt 
enthält: „Am unglüdlichften ift der Menſch, wenn er durch 
feine geiftigen Kräfte und Anlagen mit dem Höchiten zu— 
fammenhängt und durch feine Lebensftellung mit dem 
Niedrigften verknüpft wird.“ Was noch ganz befonders 
auf den Schaufpieler zutrifft, da feine Kunſt, als eine, die 
auf der völligen Vernichtung des Zufälligen, Unmwejent- 
lichen und Tagtäglichen in jeiner Natur ruht, die höchſte 
Reinheit fordert, jein Metier aber vielfach an Gemeinheit 
gebunden ift. Ich ſpüre aber jet Hier noch etwas anderes, 
das nicht ganz leicht zu fagen fein wird, weil es ziemlich 
tief ind Weſen ihrer Kunft geht. Alle Wirkung der Dufe 
kommt zulegt nur aus Leidenjchaft her, Leidenſchaft ift es, 
die die frierenden Menſchen bei ihr juchen. Sie nun fich 
zu diejer Leidenſchaft bei kalter Seele, nur durch Energie, 
der die Rolle nirgends Hilft, ja die die Rolle manchmal 
merklich ftört, gewaltjam erhigen zu fehen, indem jie ihr 
inneres Feuer gleichjam in Röhren von Eis pumpt, ift 


— 361 — 


mir jchauerlih. Schauerlihd — das Wort wird mander 
vielleicht exzejfiv finden, doch mag er überlegen, ob nicht 
ein fo großer und echter, niemals täufchender, immer fich 
ganz bergebender Künftler, wenn nichts da ift, wofür er 
fich hergeben fann, wenn fein Reiz ihn trifft, der jeine 
Natur auslöfen würde, wenn er aljo gezwungen ift, fich 
Ieer nur an feinem Willen aufzuregen, nicht in dieſer 
echauffierten Hingebung an etwas Totes und Starres ei- 
gentlich fait einer Frau gleicht, die fi in den Armen 
eines ungeliebten Mannes betäuben oder vergefjen würde. 
Man verftehe mich recht: e3 gibt taufend Schaufpieler, 
Denen e3 leicht ift, bei jchlafender Seele zu wirken. Der 
Duſe ift es unmbglich. Denn das Geheimnis ihrer Macht 
über die Menſchen ift es gerade, daß fie vor ihnen der 
eigenen Seele jozujagen die Haut abzieht. Und fie weiß 
es, daß die Menjchen zu ihr nur fommen, um den An- 
blid einer entfeffelten Erregung zu genießen. Dieje bloß 
vorzutäujchen, durch eingelernte Zeichen, ift fie unfähig. 
Sie kann feinen unbefeelten Blick, feinen unbeſeelten Schritt 
tun. In folchen Rollen aber, welchen die Bejeelung durch 
den Dichter fehlt, wo nimmt fie fie da eigentlich her? 
Offenbar nur aus einem ungeheueren inneren Zwange, wie 
die Derwiſche tun, die ſich im Kreiſe drehen, um auch ein 
Gefühl, für das ihnen jeder natürliche Reiz fehlt, künſtlich 
gleichjam aus dem Blauen herunterzuholen. Und die Leute, 
die nur fo vage jpüren, daß hier ein Wunder gejchieht, ohne 
zu ahnen, um welchen Preis, jauchzen ihr zu und fie muß 
fich immer wieder verneigen, jehr blaß, jehr matt an die Tür 
gelehnt, Teer lächelnd, mir aber tut es weh, weil ich immer 
denken muß, was es fie doch innerlich gefoftet haben mag. 


— 362 — 


19. Januar 1505. 

Gefragt, warum fie die Adrienne Lecouvreur ipiele, 
Hat die Dufe gejagt: Weil jie gelebt hat! Das klingt ei- 
nem zuerft feltiam, beftätigt .aber, was ich neulich, bei 
ihrer Magda, ſchrieb. Erregung ift die Duelle, aus der 
fie ihre Wirkungen Holt, fie braucht innere Truntenheit, 
um fich fünftleriich ganz geben zu fünnen. Woher dieje 
nehmen ? Eine frage, die freilich der erften Jugend unbe- 
Tannt ift, welche eben in einer andauernden grundlojen 
Trunfenheit befteht. Aber fpäter? Woher? Entweder aus 
der Kraft, die ein Dichter in einer Geftalt angefammelt 
bat, oder unmittelbar aus einem heißen Creignifje des 
Lebens jelbft. Aber an folchen anftedenden Geftalten der 
Dichter find wir arm und die Ereignifje unſeres Lebens 
Iafjen fich nicht fommanbdieren, nicht immer. Dann mag 
es einem helfen, wenn man ſich imaginär in ein fremdes 
Leben begibt, um fich an feinen Ereignijfen aufzuregen. 
So lieft man in Stunden der großen Enttäufhung und 
Müpdigkeit, wenn plöglich alles um einen zu verdorren 
ſcheint und man ſich völlig von allen Rechten des Dajeind 
ausgeftoßen glaubt, mit trauriger Begierde den Plutarch, 
zwängt fich in feine Helden und ihr Schidjal ein und 
preßt fich jo an den Pulzichlägen der Erinnerung wieder 
eine Tünftliche Atmung ab. Tas mag es fein, was die 
Dufe zur Lecouvreur zieht. Das Stück ift elend, aber fie 
hat gelebt! Sie hat fich in den Sinnfojigfeiten des Da- 
feing gewälzt, wie wir, fie ift von jeinen Fiebern und 
Schauern triefend und verbrannt gewejen, wie wir, fie hat 
gelebt, dasſelbe tolle, ratloſe, trügerijche, wilde, graufame, 
tüdifche Leben, das alle Dienjchen leben, wenn e3 vielleicht 





— 363 — 


auch glüdliche gibt, die e& weniger ſpüren. Es ift ja 
fchließlich ganz gleich, ob man den Alfihiades oder die 
Lecouvreur, eine Königin oder einen Roßknecht hernimmt: 
jedes Leben, das wirklich gelebt wird, enthält dasjelbe, 
wenn e3 auch freilich nicht von allen in demjelben Grade 
geipürt wird. Sie aber hat es noch bejonders leicht, ſich 
in das Dafein der Adrienne wie in eine Schlangenhaut 
zu Tteden, weil ihr dieſe wirklich tief verwandt geweſen fein 
muß. Vor allem fünftlerijch. 
De la nature elle a su le langage, 
Hat Voltaire von der Adrienne gelagt, und 
Elle embellit son art, elle changea les lois, 

was doch wirklich ganz merkwürdig auf die Dufe zutrifft. 
Und in einer Rede, die der Schaufpieler Grandval nad 
dem Tode der Lecouvreur auf fie hielt, jprach er von jener 
„unnachahmlichen Künftletin, die die Kunft, zum Herzen 
zu fprechen und, wo fonft nur Pomp und Feierlichleit 
war, Gefühl und Wahrheit zu bringen, eigentlich erit er- 
funden hat.“ Man bat fie als die erfte große, wie wir 
heute fagen würden: Naturaltitin gerühmt, weil fie viel 
näher, viel handgreiflicher an die Wirklichkeit trat, ald es 
jemals vor ihr auf einer Bühne gewagt worden war, und 
Doch ift es immer wieder auch die noblesse du sentiment, 
von der alle Nachrichten aus ihrer Zeit voll find. Sie 
muß von jener Außerften Wildheit der Leidenſchaft, welche 
zuletzt wieder ind ganz Innige, Flüfternde, Zärtlihe um- 
ichlägt, geweien fein, jenen auß Raſerei der Kraft in jüßefte 
Heimlichfeiten ftürzenden, von Verbrechen zu Seligfeiten 
taumelnden Geftalten altfranzöfiicher Sagen gleich, an die 
auch die Sunft der Duje manchmal erinnert, Und endlich 


— 36 — 


ihr armes Leben, fo von Legenden überjponnen, daß wir 
faum darüber etwas ficher wifjen fünnen ala nur, daß es 
ein einziger Schrei nach Glück geweſen ift, jenem Glüd, 
das fich den großen Menjchen immer verjagt, weil dies 
eben ihre Größe ausmacht, daß fie mehr fordern müſſen, 
als das Leben je zu geben hat. So begreift man, daß 
die Erinnerung an das ſtarke, ftolze, zerpeinigte Geſchöpf 
hinter diefem nichtswürdigen Stüd der Duje Hilft, fich zu 
jener nachttiefen Verlorenheit zu fteigern, die allein ihr die 
großen Momente ihrer Kunſt gewährt. Diefe Iennt man 
ja und fennt die Wirkung, die aus ihnen in das erſchau—⸗ 
ernde Publifum rinnt; und je verjchwenderifcher man, um 
fie zu jehildern, glühende Adjektive, leuchtende Metaphern 
verftreut, defto ärmer und hilflofer ftammelnd kommt man 
fi) nur immer vor und jpürt nur wieder, daß fein Wort 
jemals die Kraft hat, ein wirkliches Gefühl zu nennen. 


Sarah Bernhardt. 
(Gaftfpiel im Carl-Theater vom 8. bis 11. November 1904.) 

La Reine de l’attitude, la Princesse des gestes, 
la Dame d’energie hat Roftand fie einmal genannt. 
Und, fährt er fort, fcheint fie nicht wirllich aus einem 
Märchen zu kommen? Werden die Worte nicht Perlen und 
Diamanten auf ihren Lippen? Iſt es nicht der unfterb- 
liche blaue Vogel, der in ihrer Stimme fingt? Ihr Leben 
ift vielleicht das größte Wunder unferes Jahrhunderte. Es 
wird zur Legende werden. Aber ihr Dichter müßte irgend 
ein geheimnisvoller Homer fein, der zugleich ein Thöophile 
Gautier, ein Jules Verne und ein Rudyard Kipling wäre... 





— 365 — 


Nun, wird man lächelnd fagen, Roftand ift ein Poet und 
einer, der den fanfaronneöfen Ton feines Cyrano liebt. 
Sarcey aber, der gute alte Onkel Sarcey, der eher ein 
Spießer war und ein rechter cuistre der jchönen Künſte, 
ſprach von ihr nicht ander8 ald von la grande, l’unique 
Sarah. Und, Iyrijch jchnaufend, was dem munteren Bären 
feltfam genug ftand, hat er über ihre Phädra geichrieben: 
„Es ift die Vollendung der großen Kunſt. Unſere Groß- 
väter Sprachen bewegt von Talma und dem Fräulein Mars. 
Ich Habe die beiden nicht gejehen. Saum, daß ich mic 
an Fräulein Rachel erinnere. Aber ich fann mir nicht 
vorftellen, daß man jemald auf dem Theater etwas jo 
Geniales und fo Vollkommenes gejehen hätte, wie Frau 
Sarah) Bernhardt neulich war.“ (Derjelbe Sarcey, der die 
Duje „une petite femme de race, mais qui n’a pas 
d’ecole“ genannt hat.) Und faft wörtlich ebenfo, von 
ihrer Stleopatra, der ſonſt eher jpöttijche Albert Wolff, der 
fie noch ein paar Jahre früher hämiſch angefallen hatte: 
„Sch denke feit langer Zeit, daß dieje jeltene Schauipielerin 
nicht bloß eine große Künftlerin ift, fondern die große 
Künftlerin, die einzige in umjerer Zeit, die wirklich diejen 
Namen verdient, ohnegleichen auf der ganzen Welt. Ich 
weiß nicht, wie die Rachel war, die ich niemals gejehen 
habe. Aber ich kann mir nicht denfen, daß es möglich 
wäre, mehr Talent zu haben als Sarah." Und Lemaitre 
fogar, ungläubiger Renanift von Beruf, der jo gern die 
raſchen Enthufiasmen der beweglichen Menge ein bifschen 
zauft, ftimmt hymniſch ein: „Da alle lobpreifenden Adjek- 
tive des MWörterbuches jchon benügt worden find, um Frau 
Sarah Bernhardt zu feiern, weiß man nicht recht, wie 


— 366 — 


man fich anftellen fol, um ihr eine Anbetung darzubringen, 
die fich doch immer wieder erneut, fo oft dieſe außerordent- 
liche Frau erſcheint.“ Er fagt „Anbetung“: adoration. 
Ein Wort, das jonft nur gebraucht wird, um das Gefühl 
zu nennen, das der Fromme für die Heiligen oder allen- 
falls ein trunfener Züngling für die Geliebte hat. 

In folchem Tone von einer Schaufpielerin reden zu 
hören, ift uns jeltfam. Wenn man dies einem Franzoſen 
fagt, lacht er einen aus: Ihr könnt das eben gar nicht 
verstehen! Wenn man dann aber, bereit, fich durch Gründe 
befehren zu laſſen, nun weiter fragt, wodurch fie denn 
eigentlich auf ihre Adoranten jo wirfe, und eine Schilderung 
ihrer Kunft verlangt, jo find es immer nur diejelben paar 
dagen Worte: la voix d’or, le geste sublime, ces dons 
prodigieux und immer wird jchließlich einfach jene Couplet 
von der Reine de l’attitude, Princesse des gestes, Dame 
d’Energie wieder irgendwie variiert. Es ift höchft merf- 
würdig, wie wenig die Franzoſen von der Kunft der Frau, 
die fie jo jehr verehren, eigentlich zu jagen wifjen; und es 
önnte fein, daß diefe Verehrung vielleicht gar nicht fo ſeht 
ihrer Kunft gilt. Der Franzoſe, der von der großen Sarah 
fpricht, fängt immer fogleich aus ihrem Leben zu erzählen 
an: Und, denfen Sie, fie hat in Honolulu vor der Königin 
Pomare gejpielt! Und fie fchläft in einem Sarg! Und 
Leoparden und Tiger fpazieren in ihrem Salon herum! 
Keiner fann einem genau fagen, wie fie den dritten Aft 
der Stameliendame fpielt, aber jeder ift ftolz darauf, daß 
fie die Fahne der franzöfiichen Kunſt bis nach Indien ge- 
tragen hat. Sie ſelbſt jogar, wenn fie fich Öffentlich ver- 
nehmen läßt (wie bei jenem großen Feſte, das ihr im 





— 367 — 


Dezember 1896 gegeben wurde), fpricht faum je von ihrer 
Kunft, die für fie nur ein Mittel jcheint, dem Vaterlande 
und einigen großen, übrigend niemals deutlicher genannten 
Veen zu dienen. „Ich habe den Traum meiner Kunft 
über die Meere getragen und das Genie meiner Nation 
hat gefiegt. J’ai plant& le verbe frangais au coeur de 
la litt6rature ötrangäre, et c’est ce dont je suis le plus 
fiire. Gräce à la propagande de mon art, la langue 
frangaise est aujourd’hui langue courante de la jeune 
generation.“ Niemals eine Äußerung, was fie zum Bei- 
fpiel in irgend einer Rolle jucht oder etwa wie ſich für 
ihre Gefühl die Kunft zum Leben verhält und was fie 
denn überhaupt eigentlich fünftlerifch will. Aber genau 
verzeichnet fie, daß ihr in Kanada die Senatoren, unter 
Hochrufen auf Frankreich, die Pierde ausgeipannt und die 
Studenten für fie die Marfeillaife angeftimmt Haben, 
„welche die Engländer ftehend anhörten, den Hut in der 
Hand, mit dem Nefpeft, den fie für jede edle Manifeitation 
immer haben“, und daß in Auftralien, wo bis zu ihrer 
Anfunft die deutiche Kolonie ftärfer ala die franzöjiiche 
war, ein Feſt, das ihre Bewunderer gaben, jo ſtark auf 
die Bevölkerung gewirkt hat, daß l’&motion de cette r&- 
ception quasi royale rejaillit sur notre colonie frangaise 
stablie & Sydney et & Melbourne. Immer weiß fie von 
fich bloß zu jagen: Ich bin die Siegerin, nicht für mich 
allein, jondern für mein ganzes Volt! So fieht fie fich, 
dies nur will fie fein. Und indem fie es ft, jcheint fie 
den tiefiten Wunſch ihrer Nation zu erfüllen. In ihr 
findet jeder, was er jelbft gern wäre. Wie zu einer Statue 
der allgemeinen Sehnfucht hat fie fich gemacht. (Um aber 


— 358 — 


doch immer wieder in fie zurückſinken, weil fie noch die 
Kraft nicht Haben, aus fich eine andere zu prägen, diejes 
ewig über ſich hinaus Verlangen und ewig wieder in fich 
hinein Verlöfchen unferer arınen Zeit, die fich in Wünichen 
fo verzehrt, dab ihr feine erfüllende Macht mehr bleibt, 
bis fie davon bitter und wild und tückiſch wird, dieſes 
ganze Elend unferer doch flügellahmen Vermeſſenheit iſt 
es, was die Duje jpielt. Und man fönnte vielleicht noch 
einfacher jagen: das Leiden an Schönheit in einer un- 
ſchönen Welt. Brave Leute meinen oft, große Menjchen 
von innerer Kraft und Schönheit follten nun aber nicht 
fo unbefcheiden jein, auch noch ein Äußeres Glüd zu for- 
dern, da fie doch an fich jelbft genug haben müßten. Sie 
vergefjen, daß fein Menich allein, jondern jeder unter die 
anderen geitedt ift, gegen die er gerade durch feine Kraft 
und innere Schönheit nur deſto empfindlicher wird, wofür 
fie fi) an ihm noch mit wachjender Erbitterung rächen. 
Das muß die Dufe mit einer Heftigfeit erlebt haben, vor 
der einem kalt und ſtarr wird. Wie fie fich hier immer 
wieder aufrafft, fo gut und freundlich zu fein, ala einft, 
mit feinem frohen Vertrauen ins Leben, das junge Mäd- 
hen war, wie fie ed aber niemals fann, weil alles, was 
fie fieht, alles, was fie hört, alles, was um fie geſchieht, 
jeder trübe Blick, jeder läppiſch ängftliche Ton, jede Ieere, 
nur angelernte, unbejeelte Gefte, ja jede verlegen unge- 
ſchickte Liebkoſung und zudringliche Zärtlichkeit aller dieſer 
nichtswürdig braven und ruchlos anftändigen Leute für fie 
nur eine einzige ungeheure Beleidigung und Demütigung 
ift, wie fie fich von niemandem verftanden und auch ſelbſt 
niemanden zu verjtehen fühlt, wie nichts, was fie jagt, zu 





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den anderen hinüberdringen, nichts, was ihr die anderen 
fagen, etwas von ihnen zu ihr herüberbringen fann, wie 
fie bei jedem fcheuen Schritte gleich an die ftarre Mauer 
ihrer angeborenen Einſamkeit ftößt, wie fie ſich überall 
blutig reißt und endlich, die Haut der Seele ganz zer- 
ſchunden, nur noch wie auf einem glühenden Nofte lebt, 
jegt aber, indem fie fühlt, bloß daran gerade zu leiden, 
daß fie jchöner und beffer und von einer edleren Art als 
die anderen ift, fich erbittert entichließt, fo jchlecht und ge— 
mein und niedrig zu werden, wie fie find, um ihnen ge- 
wachſen zu jein und fich an ihnen rächen, nur wenigſtens 
doch einmal rächen, ſich und die ihr gleich find, an diejer 
Welt von Feinden rächen zu können, dieſes angenehine 
Dafein großer oder auch nur wirklicher Menjchen in einer 
naturvergeffenen Zeit ftellt die Dufe dar, mit dem Grimm 
und hölliihen Groll einer aus den legten Tiefen herauf 
von allen Stetten losgerifjenen und zur eigenen Vernichtung 
ausgebrochenen Natur, deren Anblid zum Höchften gehört, 
das heute Kunft gewähren fann. 


17. Januar 1905. 

Die Dufe al? Magda. Immer wieder fpielt fie das. 
Und mir ift es ein Gefühl, das ich gar nicht recht nennen 
Tann, ſeltſam dumpf, fait ein bißchen unheimlich. Viel— 
leicht gerade, weil ich feit fo langen Jahren ihre Kunſt 
Tenne, weil ich fie in ihren höchſten Momenten völliger 
Entrüdtheit erblict Habe und weil fie mir jo viel gewor- 
den ift. Und dann ipielt fie wieder das. Und daß es 
ihr möglich ift, kann ich eigentlich noch immer nicht be— 
greifen. Gott, ich hab gar nichts gegen das Stüd. Ich 


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ſchätze Sudermann fehr, und jchliehlich, es ift ein Stüd, 
das in allen Zonen auf die Leute wirkt, jo daß es ſchon 
auf Ummegen doc irgendwie etwas Wirfliches in den 
Menichen trefjen muß; anders wär's ja nicht zu erflären. 
Nur daß die Dufe es fpielen kann, gerade jiel Einen 
Cherub Holz haden zu fehen! Und ich werde dann den 
ganzen Abend ein unendliches Erbarmen mit ihr nicht los, 
und dieſe Rolle, von der ihre ftolze und ftarfe Seele nichts 
wiffen kann, wächſt mir faft zum finjteren Symbol ihrer 
ganzen, hinfällig durch die Länder um Erwerb und Ruhm 
geichleppten armen Eriftenz an. Als fie fie zulegt, im 
Oktober, gab, jchrieb ich, e8 habe mich an ein Wort Hebbels 
erinnert, das allen Schmerz des Künſtlers in der Welt 
enthält: „Am unglüdlichiten tft der Menſch, wenn er durch 
feine geiftigen Kräfte und Anlagen mit dem Höchſten zu- 
fammenhängt und durch feine Lebensftellung mit dem 
Niedrigften verfnüpft wird." Was noch ganz befonders 
auf den Schaufpieler zutrifft, da feine Kunft, als eine, die 
auf der völligen Vernichtung de3 Zufälligen, Unweſent- 
lichen und Tagtäglichen in jeiner Natur ruht, die höchſte 
Neinheit fordert, jein Metier aber vielfach an Gemeinheit 
gebunden ift. Sch ſpüre aber jegt hier noch etwas anderes, 
das nicht ganz leicht zu fagen jein wird, weil es ziemlich 

tief ind Wejen ihrer Kunft geht. Ale Wirkung der Duje 
tommt zulegt nur aus Leidenſchaft her, Leidenſchaft ift es, 
die die frierenden Menfchen bei ihr juchen. Sie nun fich 

zu dieſer Leidenjchaft bei Falter Seele, nur durch Energie, 

der die Rolle nirgends Hilft, ja die die Rolle mandmal 

merklich ftört, gewaltjam erhigen zu ſehen, indem fie ihr 

innere3 Feuer gleichſam in Röhren von Eis pumpt, ift 


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mir ſchauerlich. Schauerlich — das Wort wird mancher 
vielleicht exzeffiv finden, doch mag er überlegen, ob nicht 
ein jo großer und echter, niemals täufchender, immer fich 
ganz bergebender Künſtler, wenn nichts da ift, wofür er 
fich hergeben fann, wenn fein Reiz ihn trifft, der jeine 
Natur auslöfen würde, wenn er aljo gezwungen ift, fich 
leer nur an feinem Willen aufzuregen, nicht in dieſer 
echauffierten Hingebung an etwas Tote und Starres ei» 
gentlich faſt einer Frau gleicht, die fi in den Armen 
eines ungeliebten Mannes betäuben oder vergefjen würde. 
Dan verftehe mich recht: es gibt taufend Schaufpieler, 
denen e& leicht ift, bei jchlafender Seele zu wirken. Der 
Dufe ift es unmöglich. Denn das Geheimnis ihrer Macht 
über die Menfchen ift es gerade, daß fie vor ihnen der 
eigenen Seele jozujagen die Haut abzieht. Und fie weiß 
es, daß die Menfchen zu ihr nur fommen, um den An» 
blick einer entfeffeften Erregung zu genießen. Dieje bloß 
vorzutäujchen, durch eingelernte Zeichen, iſt fie unfähig. 
Sie fann feinen unbefeelten Blick, feinen unbejeelten Schritt 
tun. Im folchen Rollen aber, welchen die Beſeelung durch 
den Dichter fehlt, wo nimmt fie fie da eigentlich her? 
Dffenbar nur aus einem ungeheueren inneren Zwange, wie 
die Derwijche tun, die fich im Kreife drehen, um auch ein 
Gefühl, für das ihnen jeder natürliche Reiz fehlt, künſtlich 
gleichjam aus dem Blauen Herunterzuholen, Und die Leute, 
die nur jo vage jpüren, daß hier ein Wunder gefchieht, ohne 
zu ahnen, um welchen Preis, jauchzen ihr zu und fie muß 
ſich immer wieder verneigen, jehr blaß, jehr matt an die Tür 
gelehnt, leer lächelnd, mir aber tut es weh, weil ich immer 
denken muß, was e3 fie doch innerlich gefoftet haben mag. 


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19. Januar 1505. 

Gefragt, warum fie die Adrienne Lecouvreur ipiele, 
Hat die Duje gejagt: Weil jie gelebt Hat! Tas Hingt ei- 
nem zuerſt feltiam, beftätigt .aber, was ich neulich, bei 
ihrer Magda, jchrieb. Erregung ift die Quelle, aus der 
fie ihre Wirkungen holt, fie braucht innere Trunfenheit, 
um ſich Fünftleriich ganz geben zu fönnen. Woher dieje 
nehmen? Eine Frage, die freilich der eriten Jugend unbe- 
Tannt ift, welche eben in einer andauernden grundlojen 
Trunfenheit beiteht. Aber fpäter? Woher? Entweder aus 
der Kraft, die ein Dichter in einer Geftalt angefammelt 
bat, oder unmittelbar aus einem heißen Creignifje des 
Lebens ſelbſt. Aber an jolchen anftedenden Geitalten der 
Dichter find wir arm und die Ereignifje unferes Lebens 
laſſen fich nicht fommandieren, nicht immer. Dann mag 
& einem helfen, wenn man fich imaginär in ein fremdes 
Leben begibt, um fich an seinen Ereignifjen aufzuregen. 
So lieft man in Etunden der großen Enttäufchung und 
Müdigkeit, wenn plöglich alle um einen zu verdorren 
fcheint und man ſich völlig von allen Rechten des Dajeins 
ausgeftoßen glaubt, mit trauriger Begierde den Plutarch, 
zwängt fich in jeine Helden und ihr Schidjal ein und 
preßt fich jo an den Pulsſchlägen der Erinnerung wieder 
eine fünftliche Atmung ab. Das mag es fein, was die 
Dufe zur Lecouvreur zieht. Das Stüd ift elend, aber fie 
bat gelebt! Sie hat fich in den Sinnlojigfeiten des Da- 
feins gewälzt, wie wir, fie ift von jeinen Fiebern und 
Schauern triefend und verbrannt gewejen, wie wir, fie hat 
gelebt, dasſelbe tolle, ratloſe, trügerifche, wilde, graufame, 
tüdifche Leben, das alle Menjchen leben, wenn e3 vielleicht 





— 363 — 


auch glücliche gibt, die e8 weniger fpüren. Es ift ja 
ſchließlich ganz gleich, ob man den Alkibiades oder die 
Zecouvreur, eine Königin oder einen Roßknecht hernimmt: 
jedes Leben, das wirklich gelebt wird, enthält dasſelbe, 
wenn e& auch freilich nicht von allen in demjelben Grade 
gejpürt wird. Sie aber hat es noch bejonders leicht, ſich 
in das Dafein der Adrienne wie in eine Schlangenhaut 
zu fteden, weil ihr dieſe wirklich tief verwandt gewejen fein 
muß. Bor allem künſtleriſch. 
De la nature elle a su le langage, 
hat Voltaire von der Adrienne geſagt, und 
Elle embellit son art, elle changea les lois, 

was doc wirklich ganz merkwürdig auf die Dufe zutrifft. 
Und in einer Nede, die der Schaufpieler Grandval nad 
dem Tode der Lecouvreur auf fie hielt, jprach er von jener 
„unnachahmlichen Künftletin, die die Kunft, zum Herzen 
zu fprechen und, wo fonft nur Pomp und Zeierlichkeit 
war, Gefühl und Wahrheit zu bringen, eigentlich erſt er- 
funden hat.“ Man hat fie als die erfte große, wie wir 
heute jagen würden: Naturaliftin gerühmt, weil fie viel 
näher, viel handgreiflicher an die Wirklichkeit trat, ala es 
jemals vor ihr auf einer Bühne gewagt worden war, und 
doch ift es immer wieder auch die noblesse du sentiment, 
von der alle Nachrichten aus ihrer Zeit voll find. Sie 
muß von jener Außerften WildHeit der Leidenfchaft, welche 
zulegt wieder ins ganz Innige, Flüfternde, Zärtliche um- 
ichlägt, gewejen fein, jenen aus Raſerei der Kraft in ſüßeſte 
Heimlichkeiten ftürzenden, von Verbrechen zu Seligfeiten 
taumelnden Geftalten altfranzöfijcher Sagen gleich, an die 
auch die Kunft der Dufe manchmal erinnert, Und endlich 


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ihr armes Leben, io von Legenden überiponnen, dab wir 
faum darüber etwas ſicher wilien können ala mur, daß es 
ein einziger Schrei nad) Glüd geweien iit, jenem Glück 
das ſich den großen Menichen immer verjagt, weil dies 
eben ihre Größe ausmacht, daß iie mehr fordern müflen, 
als das Leben je zu geben hat. So begreiit man, dab 
die Erinnerung an das itarfe, ftolze, zerpeinigte Geſchöpf 
hinter dieiem nihtswürdigen Stüd der Duſe Hilft, ſich zu 
jener nadjttiefen Berlorenheit zu fteigern, die allein ihr die 
großen Momente ihrer Kunft gewährt. Diefe fennt man 
ja und fennt die Wirkung, die aus ihnen in das erichan- 
ernde Publikum rinnt; und je verihwenderiicher man, um 
fie zu ſchildern, glühende Adjeltive, leuchtende Metaphern 
verftrent, deſto ärmer und hilflofer ftammelnd kommt man 
fid) nur immer vor und jpürt nur wieder, daß fein Wort 
jemal3 die Kraft Hat, ein wirkliches Gefühl zu nennen. 


Sarah Bernhardt. 
(Gaftipiel im Carl-Theater vom 8. bis 11. Rovember 1904.) 

La Reine de Yattitude, la Princesse des gestes, 
la Dame d’energie hat Roftand fie einmal genannt. 
Und, fährt er fort, fcheint fie nicht wirklich aus einem 
Märchen zu fommen? Werden die Worte nicht Perlen und 
Diamanten auf ihren Lippen? Iſt es nicht der unfterb- 
liche blaue Vogel, der in ihrer Stimme fingt? Ihr Leben 
ift vielleicht das größte Wunder unferes Jahrhunderte. Es 
wird zur Legende werden. Aber ihr Dichter müßte irgend 
ein geheimnisvoller Homer fein, der zugleich ein Thöophile 
Gautier, ein Jules Verne und ein Rudyard Kipling wäre... 





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Nun, wird man lächelnd jagen, Roftand ift ein Poet und 
einer, der den fanfaronnesfen Ton feines Cyrano liebt. 
Sarcey aber, der gute alte Onfel Sarcey, der eher ein 
Spießer war und ein rechter cuistre der ſchönen Künſte, 
ſprach von ihr nicht anders als von la grande, ’unique 
Sarah. Und, Iyrijch jchnaufend, was dem munteren Bären 
feltfam genug ftand, hat er über ihre Phädra gejchrieben : 
„Es ift die Vollendung der großen Kunſt. Unjere Groß« 
väter ſprachen bewegt von Talma und dem Fräulein Mars, 
Ich habe die beiden nicht gejehen. Saum, daß ich mich 
an Fräulein Rachel erinnere. Aber ich fann mir nicht 
vorftellen, daß man jemals auf dem Theater etwas jo 
Geniales und fo Volltommenes gejehen hätte, wie Frau 
Sarah Bernhardt neulich war.” (Derjelbe Sarcey, der die 
Duſe „une petite femme de race, mais qui n’a pas 
d’6cole“ genannt hat.) Und faft wörtlich ebenjo, von 
ihrer Stleopatra, der ſonſt eher ſpöttiſche Albert Wolff, der 
fie noch ein paar Jahre früher hämiſch angefallen hatte: 
„Sch denfe feit langer Zeit, daß dieje jeltene Schauipielerin 
nicht bloß eine große Künftlerin ift, fondern die große 
Künftlerin, die einzige in unferer Zeit, die wirklich diejen 
Namen verdient, ohnegleichen auf der ganzen Welt. Ich 
weiß nicht, wie die Rachel war, die ich niemal3 gejehen 
babe. Uber ich Tann mir nicht denfen, daß es möglich 
wäre, mehr Talent zu Haben als Sarah." Und Lemaitre 
ſogar, ungläubiger Renaniſt von Beruf, der jo gern die 
raſchen Enthujiagmen der beweglichen Menge ein bißchen 
zauft, ftimmt hymniſch ein: „Da alle lobpreiſenden Adjek- 
tive des Wörterbuches ſchon benügt worden find, um Frau 
Sarah Bernhardt zu feiern, weiß man nicht recht, wie 


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es ihnen die Rejane gibt. Cie denken nur mit dem Ber- 
ftande Typen aus, aus der Gattung zur Figur macht es 
ihnen erft die Rejane. 

Das ſpürt man fo deutlich auch hier. „L’äge d’aimer* 
beißt da8 neue Stüd, zuerft Mai 1905 im Gymnafe ge- 
fpielt. Es könnte heißen „Die Frau von vierzig Jahren“. 
In jener merkwürdigen Krife des drohenden Alters, Wenn 
das Gefühl beginnt: ich habe feine Zeit mehr. Mit der 
ewigen Angft, das Leben zu verjäumen. Mit der leijen 
Wehmut: vielleicht zum legten Mal. Arme Frau, bie 
Abfchied nehmen muß. Und noch ärmer, weil fie ja jegt 
ſchon weiß. Weil fie die Liebe Tennt und deshalb nicht 
mehr an fie glauben kann. Weil fie fich zu den ewigen 
Illuſionen, die die Liebe find, jegt gewaltfam zwingen muß, 
Weil e3 bei jedem der füßen Worte leife in ihr fpricht: 
Erinner’ dich, das hat doc der damals auch gejagt, aud) 
jo für alle Ewigfeit, erinner’ dich nur, und trogdem, troß- 
den, erinnert du dich nicht? Und fie weiß, e8 wird wieder 
dasjelbe fein, ein bißchen irres Glück mit langem Leid be- 
zahlt. Und fie weiß, der Dann lügt, auch in der höchften 
Seligkeit noch; es ift die männliche Natur, in der Liebe 
zu lügen. Und fie weiß, er wird dann, aus der erjten 
Betäubung erwacht, höhniſch und roh und graufam fein, 
faft als hätte er fich zu rächen. Ja vielleicht, wenn es 
ein Dann wäre, der auch ſchon an der Wende des Lebens 
ift, auch ſchon mit der leiſen Bangigfeit des legten Mals; 
dann fönnte fie vielleicht noch hoffen. Aber er ift jung, 
und der Tag wird kommen, an welchem er mit harten 
Augen fieht, wie alt fie neben ihm ift. Dies alles weiß 
fie und muß doch. Muß. Immer warnt e3 in ihr und Hilft 


— 377 — 


doch nichts. Muß. Und jenes Wiſſen um den Mann 
bindet ſie ſo, daß ſie dieſem nicht einmal bös ſein kann. 
Wie denn auch? Sie hat es ja doch gewußt, es iſt ein- 
mal nicht anders, er muß wohl, ganz ſo wie ſie muß; 
was will ſie denn alſo von ihm? Und ſo bettelt ſie ſich 
weiter, wird immer wieder betrogen, mit jeder, die ihm in 
den Weg läuft, verzeiht immer wieder, kann ja nicht anders, 
wünſcht ſich nur, es wenigſtens nicht zu erfahren, erfährt 
es doch immer wieder, will es endlich nicht mehr ertragen, 
ſchämt ſich zu ſehr, bricht trotzig aus und kann es doc 
nicht, muß wieder verzeihen, muß, muß, noch dankbar, daß 
er jo lieb ift, wieder zu lügen, wenn fie es auch weiß. 
Nach der Generalprobe der „Sapho“ jchrieb Goncourt 

in fein Tagebuch: „Jamais on n’a joué ’amour comme 
cela.“ Das jpürt man immer wieder. Die Dufe ift 
färfer in der Leidenichaft, die ihre Amourenjen bis ins 
Sublime reißt. Sie hat dann Momente, wo das Ge- 
ſchlechtliche plöglich in eine ungeheure Geiftigfeit umfchlägt. 
Triumphe der Seele, in welchen und das große Wunder 
geihieht, einen Menſchen gleichjam entleibt und eben jegt 
erſt in feiner völligen Wahrheit zu jehen. ‚Damit ift nur 
etwa die Leonore, die Iſolde der Mildenburg, mandmal 
die Sorma zu vergleichen. Die Réjane hat das nie, aber 
dafür für die andere Geite der Liebe eine ganz einzige 
Gewalt der Darftellung: für das Chaos, aus dem die 
Liebe kommt. Was feine Frau eingefteht, kaum fich ſelbſt, 
ſtellt fie mit einer entjeglichen Deutlichfeit dar. Das 
Körperliche der Liebe, das alles, woran man nicht denken 
. darf. Das was Agaue, die Mutter des Pentheus, in die 
Wälder zu den bacchiichen Zreveln treibt. Died gehütete 


— 38 — 


Geheimnis einfam verrafter Stunden reißt fie auf, oft nur 
durch einen verräterifchen Blick, oft durch ein wildes Zucken 
des Tone3 mitten in einer banalen Rede, durch ein gieriges 
Erſchauern des zerquälten Leibes. 

Ihre Truppe, nun ... aber wir find ja nicht ver- 
wöhnt, wenn Parijer nach dem Orient geben, und Herr 
Magnier ift immerhin ein ganz angenehmer Liebhaber, 
von einer refoluten Natürlichkeit, die fat etwas Italieni- 
ſches hat. 


17. November 1905. 

Die Rejane in „Heureuse* von Maurice Hennequin 
und Paul Bilfaud. Dan kennt dad Stüd aus dem 
Deutjchen Volkstheater. Dort hat ed, mit Fräulein Worm, 
am 2. Januar 1904 ſehr gefallen, ohne fich freilich dann 
Halten zu können. Gilberte verträgt fich mit ihrem Mann 
nicht und liebt feinen Freund. Sie verläßt jenen und 
heiratet diefen, mit dem fie fich aber bald auch nicht mehr 
verträgt. Sie fehnt fich nach jenem zurüd und erklärt 
diefem traurig, der alten Zeit gedenfend: Damals, an 
feiner Seite, war ich wenigſtens glücklich mit dir! Und fo 
neigt fie fich, mit einem Unbefannten zu tändeln, der ihr 
verliebt gefchrieben Hat. Sie gibt feinen Bitten nach, 
kommt in feine Wohnung und findet — jenen, den Mann 
Nummer eind. Der will fi nämlich rächen, hat den 
Mann Nummer zwei anonym von ihrer Untreue verftändigt 
und freut fi nun, wenn dieſer fommen und fie bei ihm 
ertappen wird. Saum aber fieht er fie wieder, wirfen ihre 
Neize wieder, Rache verwandelt fich in Liebe, er wird zärt- 
lich, alles ift vergeſſen und er jchlägt ihr vor, Nummer 





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zwei zu verlaffen und fich wieder mit ihm zu verheiraten. 
Aber fie ift gefcheiter. Cie dankt. Sie verlangt ſich dad 
gar nicht. Sie hat nun alle Variationen ausprobiert: 
Nummer eins als Gatten mit Nummer zwei als Liebhaber _ 
und jegt Nummer zwei als Gatten mit Nummer eins als 
Liebhaber. Ehelich find beide zuwider, Nummer eins wie 
Nummer zwei; das fcheint nun einmal ſchon fo zu fein. 
Fragt ſich alfo nur wer der befiere Liebhaber iſt. Und 
da enticheidet fie fich für den Gatten Nummer eins. Ihn 
noch einmal heiraten, nein. Aber Nummer zwei mit ihm 
betrügen, gern. Abgemacht. Und jchon erjcheint Nummer 
zwei, argwöhntich ſchnaubend, aber fie fpielen ihm vor, daß 
es nur ein Scherz war, um ihn von feiner törtchten Eifer- 
ſucht zu heilen; oder will er am Ende gar glauben, daß 
fie ihn etwa mit Nummer eins betrügen wird? Nein, das 
findet er felbft zu dumm und muß lachen. Und fo reichen 
die Freunde fich die Hände, Nummer eins verjpricht, fleikig 
zu Nummer zwei zu fommen, und Gilberte ift vergnügt, 
ihre Ehe jegt in der fchönften Drdnung zu willen. Dies 
alles ift mit fehr vielen fuftigen Einfällen verbrämt und 
das Publifum fragt ja nicht, woher fie find. Zum Bei— 
fpiel die Szene mit der Ohrfeige, welche Gilderte, um 
einen Grund zur Scheidung zu haben, von ihrem Manne 
befommen foll, aber im entjcheidenden Moment umgefehrt 
ihm gibt: aus Sardous „Marquife“, ganz genau. Oder 
die Briefſzene im zweiten Aft: aus der „Parifienne“, Die 
ganze Gilberte ift übrigens aus der „Parifienne“, nur ver- 
gröbert, in dicken Strichen. Wie denn das Stüd durd- 
aus nach der hohen Komödie greift, alles aber dann zur 
Poſſe herabzieht, vielleicht gerade dadurch fo wirffam. Man 


— 380 — 


weiß, mit welcher prachtvollen Technil die Réjane ſolche 
Figuren fpielt, einer raſtlos neben der Rolle ſchwirtenden 
Technik, die über dem Stüd und unter dem Stüd auf 
eigene Fauſt ihre Künfte macht. Das hat man ihr ja mit 
ſämtlichen Liften und Schlichen und Kniffen längft adge- 
laufcht, und jede deutfche Stadt hat Heute ſchon ihre Kleine 
Nöjane. Darum verblüfft fie Heute nicht mehr. Und 
mancher meint wohl leichtfinnig: Technik, alles nur Technik! 
Sieht man aber näher zu, jo wird man immer gewahr, 
daß es doch mehr ift. Im diejer Technik eines ertremen 
Kunftverftandes ſpürt man überall ein ſtarkes begehrendes 
lechzendes Weib. Und das hat ihr noch feine kleine deutfche 
Rojane nachgemacht, Gott jei Dank. 


Suzanne Despres. 


(Als Gaft am Carl-Thenter vom 18, biß zum 21. Januar 1906.) 


Suzanne Després ift die Schaufpielerin für die 
Künftler. Das große Publikum jhägt fie, doch mit einer 
leifen Verwunderung. Sie bleibt ihm immer noch fremd. 
Es hat eigentlich doc das Gefühl, fie gehöre nicht her. 
Sie gehört auch nicht hin, neben die Sarah und die Röjane. 
Sie gehört eigentlich nad Berlin. Zu Reinhardt, zur 
Eyjoldt und zur Höflich. Und am beiten zur Elje Leh— 
mann. Ihre Schwefter ift fie. Die Parifer Lehmann. 

Die Wirkung, die die Bernhardt oder die Réjane hat, 
jegt fich zufammen aus einer perjönlichen, einer techniſchen 
und einer jchaujpieleriichen. Das Publitum Tommt, um 
die göttliche Sarah) zu fehen, die Zauberin mit der goldenen 





— 381 — 


Stimme. Wie man in die Menagerie geht, um den Lowen 
zu ſehen. Es fragt gar nicht erft, was fie fpielt; es ift 
zufrieden, daß fie fich zeigt. Es hat fo viel von ihr ge— 
hört, daß es das Kurioſum endlich fennen will. Wie es 
auf die Gafje rennt, wenn der Schah kommt. Dann, 
zweitens, ift es neugierig, was fie fann. Es will ein 
Kunftftüc fehen, etwas Mühſames, eine Bravour, die ver⸗ 
blüfft. Wie e8 zu den Ufrobaten, wie es in den Birkus 
geht, um fich an Gefahren aufzuregen. Hier find es die 
Berwegenheiten der jchaufpieleriichen Koloraturen. Wie fie 
die Verje fchwingt, wie ihr Leib, wie ihr Geficht turnt! 
Das Publikum fühlt: das muß aber ſchwer jein. Und: 
Dos ann einer den Hals often. Und ift geichmeichelt, 
daß fie fich jo plagt, die Fee mit der goldigen Stimme, 
Und bemerkt kaum die Geftalt, die fie ſchafft. Wie denn 
auch? Sarah ſelbſt ift immer größer als alle Geftalten 
und fteht ihnen vor, 

Die große Schaufpielerin wirkt in Paris als eine 
bejondere Perjon, die etwas Beſonderes kann und ed an 
einer Rolle zeigt, an jeder Rolle immer dasjelbe. Als 
der gute alte Sarcey (in Wien vor vierzehn Jahren) die 
Dufe zum erften Mal ſah, nannte er fie une petite femme 
de race, mais qui n’a pas d’&cole. Da verrät jedes 
Wort, was der Franzoje im Theater fucht. Une petite 
femme fand er verwundert: denn der Franzoſe will die 
grande dame. Femme de race ftatt du monde. Und: 
qui n’a pas d’6cole. Die die Fünfte, die Finten, das 
Metier nicht hat. Man kann wirklich jagen, daß bis in 
die legte Zeit das ganze franzöjiiche Theater eigentlich 
Hoftheater geblieben ift, das nur den Fürſten gemwechjelt 


— 382 — 


hat: immer noch will es fchließlich nur auffällige Männer 
oder Frauen von ungemeiner Art jervieren, deren bejondere 
Sertigkeiten unterhalten. Erſt bei Antoine fanden fi 
einige, denen e3 nicht galt, fi) zu produzieren, fondern 
die geftalten wollten. Und die Schaufpielerin diefer Ge— 
neration iſt die Despres. 
Die Eltern Heine Leute. Ganz arm. Das Mädel 
fol bald verdienen. Kommt in ein Geſchäft. Hält es 
nirgends aus. Bindet Blumen. Wird Modell. Wil 
immer zum Theater. Doch man findet, daf fie fein Talent 
hat. Hat auch nichts von.dem, was die Parifer in der 
Schaufpielerin fuchen. Nichts von der Diva, vom gebornen 
Star. Gar nicht? Raufchendes, gar nicht dieſen Schein 
von großer Welt, Abenteuern und Verführung. Die erſte 
Rolle, die fie fpielt, ift die Petra im „Volksfeind“. Ein 
merfwürdiger Zufall: dieſes ftarke, redliche, tapfere Mäd- 
hen der Zufunft; wie fie felber ift. Und bald darauf die 
Hilde im „Solneß“. Und immer wieder Ibſen. Immer 
am beiten: unfranzöfiiche Wejen. Und auf eine ganz un- 
franzöſiſche Art: indem fie ſich völlig zu entäußern fucht, 
um durchaus die Figur zu werden. Unbefümmert um die 
Wirkung. Natürlich fpüren die Leute doch, daß fie be- 
ſonders ift, anders als die anderen. Man wird aufmerk- 
fam. Uber es heißt, daß fie zu wenig kann. Sie wird 
ſelbſt an fich irre und, längft als Schaufpielerin bekannt, 
tritt fie in das Konſervatorium ein, um zu lernen. Nach 
zwei Jahren führt Lugne-Po& fie nad) Belgien und Nor- 
wegen. Dann, März 1898, hat fie im Gymnaſe mit 
Lemaitres „L’Aine6“ ihren erften Parijer Erfolg, Sie 
kommt zu Antoine, fpielt hier Boil de Carotte und ift feit- 


— 383 — 


dem endlich „berühmt“. Sie geht zu Guitry, fpielt die 
Servaife in „L’Assommoir“ und da, 1900, jchreibt Zola 
von ihr: Elle donne la vie elle-möme par l’admirable 
simplicit6 de son jeu... .; et la douceur dont elle 
enveloppe la triste destinge humaine n’exclut pas chez 
elle la nettet6, ni la force. C'est certainement l’artiste 
dans ces dernieres annees, qui m’a &mu le plus 
profond&ment par tout ce qu’elle a evoqu& en moi de 
vrai, de douloureux et de bon. Nun wird fie in die 
Comẽdie geholt. Aber dort leidet es fie nit. Man 
denfe fich die Eyfoldt im Burgtheater. Und wieder fort. 
Bald Hier, bald dort. Erfolg um Erfolg, überall. Und 
muß doc unftet fein. Muß warten, bis erſt ein Publitum 
für fie fommen wird. Eines, das im Theater nicht mehr 
das Kunftftüd, fondern das Kunſtwerk fucht, das nicht 
fommt, um ein Couplet zu hören, fondern einen Menfchen 
zu erleben, daS nicht verlangt, verblüfft zu werden, jondern 
mitzuleiden. 

Die franzöfifche Lehmann. Nur daß das dort viel 
fchwerer ift, weil fie die große Tradition erft zerbrechen 
muß. Die Rejane fing ähnlich an: auch zuerjt ganz kunſt⸗ 
108, gar nicht Dame, daß erſte Weib der franzbſiſchen Bühne. 
Aber fie lernte bald. Sie nahm die ganze Tradition auf. 
Und jegt ift e8 ihr Reiz: eine Dame geworben zu fein, 
aus der noch mandmal das Weib plöglich hervorbricht. 
Die Despr&s aber, fcheint es, iſt ftärfer als die Tradition. 
Sie gibt nicht nach. Sie kann offenbar gar nicht anders. 
Und gerade durch dieſes „Ich Tann nicht anders, jo muß 
ich fein“ wirft fie jo. Es find immer die ganz Kunftlojen, 
durch die fich die Kunſt erneut. 


— 384 — 


Ste begann geſtern als Jacqueline im, Détour“, der 
feinen, Eugen, nur gar zu mathematiſchen Kombdie Bern: 
fteind, die man aus dem Naimund-Theater und dem 
Volkstheater kennt. Anfangs fehr Iuftig, ſehr nett, jehr 
zierlich; mit einem Hintergrunde von Ernſt. Und man 
fragt fich unwillkürlich: Wo habe ich nur dieſes Geſicht 
ſchon gejehen, jo merfwürdig rein und fo drohend ftill? 
Aber dann fchiebt fie plöglich das harte Kinn vor, der 
Hals ſchwillt an und jet hat man es: Englifches junges 
Mädchen von Fernand Khnopff! Ia, ganz fein Typus. 
Ganz dieje leifen und doc; feiten Züge, mit diefen Fernen 
im Blicke. Faft noch Kind, aber ſchon ſchwebt die Sphinz 
an den böfen Lippen. Und num ift e8 wunderſchön, wie 
wie fie nach und nach, mit einer lautlojen Kunft, der man 
anfühlt, daß fie ſich an Ibſen gebildet, die Figur zu öffnen 
beginnt, bis in des Herzens letztes Herz Auch techniſch 
mit allerhand Vortrefflichleiten. Sie hat zum Beifpiele 
eine unbefchreibliche Art, zu zeigen, daß fie Bosheiten denft, 
während fie Liebenswürdiges jagt. Endlich aber, in den 
großen Szenen, ift es ein ganz perfönlicher Ton, durch 
den fie bezwingt: ein Ton von einer eigenfinnigen und 
erbitterten Ehrlichkeit, die faft etwas puritanijch Eiferndes 
und einen verhaltenen Zorn hat, den man mit zuefender 
Seele erlebt fpürt. 


20. Januar 1906. 
Bor der Desprös haben wir die Nora hier von 
der Dufe, von der Sorma, von der Trieſch gejehen, aber 





— 388 — 


merkwürdig: die Heine Pariſerin iſt ibſeniſcher als alle. 
Die Duſe war ein Adler, nicht die Lerche. Die Sorma 
romantiſcher, als man es einer Frau glaubt, die ſo viel 
zu rechnen hat; mit einem Schimmer, der erſt bei einem 
höheren Einkommen beginnt. Die Trieſch mit Anfällen 
zur Judith hin. Dieſe Nora der Desprss iſt ganz un⸗ 
tragiſch und hat gar nicht das, was man „poetifch“ nennt. 
Eine brave kleine Frau, von der man verſteht, daß fie 
mit dem Helmer glüdlich ift. Mit engen bürgerlichen Ge- 
bärden. Und rührend, wie fchlecht fie tanzt; auch mit 
einer Hingebung, die man nur für das hat, was man 
nicht fann. Eine liebe Heine Frau, wie wir Taujende 
fennen. Und man glaubt fie erledigt, wenn man jagt: 
eine liebe Kleine Frau! Aber nun jest dad Schidjal an, 
um ung zu zeigen, was e3 alles aus jo einer lieben Heinen 
Frau Holen kann: an Schmerz, an Kraft, ja zulegt an 
Größe. Und da verjteht man plöglich nicht nur die Nora 
ganz anders, man verfteht auch erſt Die neue nordijche 
Frau. Man verfteht, wie fie geformt worden ift: in der 
Not, durch Sorgen, aus armen Mädchen. Das ergreift 
uns fo ſeltſam: diefe Schaufpielerin riecht nach Volk, Die 
großen Schaufpielerinnen verleugnen jonft immer ihre Her- 
tunft, fie find entwurzelt. Aber bei der Despr6s hat man 
das Gefühl (wie bei der Lehmann): die ift von jenen, 
die jegt herauffommen, aus dem Dunkel, in welchem die 
Kraft ruht. 


21. Januar 1906. 
Die Despr&s gab geftern zuerft „La Fille Elisa“. 
Eigentlich nur drei Szenen, von Ajalbert aus dem Roman 
Hermann Badr, Gloffen. 3 


— 386 — 


Goncourts gehadt: der Moment der vision rouge, die fie 
treibt, daS Mefjer in den armen Heinen Soldaten zu 
rennen; dann vor den Geſchwornen; endlich im Gefängnifie. 
Drei Verfuchungen zum großen Coup. Wie würde ſich 
eine andere darauf ftürzen! Der Coup der Desprös ift es, 
ihn jedes Mal zu vermeiden, Nur die Linien der Figur 
zu ziehen, ift es offenbar, was allein fie reizt; den jchau- 
fpielerifchen Schluß verſchmäht fie. Ganz Schule Brahm. 
Mit derjelben Angſt vor dem „Theater“, die zulegt alle 
ſchauſpieleriſchen Pointen abbricht. Manchmal hat man 
freilich den Verdacht, es könnte vielleicht auch fein, daß 
fie dag legte nicht fann. Set e8, daß dann ihre Kraft 
verfagt, bejonder8 der Stimme. Sei es aus einer ver- 
haltenden Scham, die menfchlich wunderfchön, aber künſt⸗ 
Terifch doch ein Defelt wäre. Man hat dann das Gefühl, 
wie zuweilen bei Baumeifter auch: Das Beſte ſchluckt fie, 
hinunter! Darum ift fie die große Schaufpielerin der Vor- 
geſchichten. Was vor dem Stüde liegt, wie diefer Menſch 
fo geworden ift, den Roman vorher, der ihn geformt Hat, 
hellt ihr trandparentes Geficht auf. Und die große Schau: 
fpielerin der Baufen. Wenn der Dichter ſchweigt, wird 
ihr Auge beredt. Fängt er wieder zu fprechen an, ift es 
manchmal faft, als erfchrede fie und wolle fich verftecen. 
Und die große Schaufpielerin zwiſchen den Zeilen. Wenn 
der Dichter etwas jagt, aber nur jo nebenhin, und noch 
etwas ganz anderes meint. Das ift der unendliche Reiz 
ihres Poil de Carotte. Das Etüd war im Burgtheater; 
ich glaube: dreimal. Mit ihr fünnte es hundertmal fein. 
So wunderbar ergreifend ift es, wie fie, mit doch nur 
ganz alltäglichen Worten von der Straße, heimlich die 


— 387 — 


Seele de3 einfamen Kindes aufmacht. Es gibt heute kaum 
vier, fünf Schaufpielerinnen, deren Kunft jo deutich ift. 
Man möchte fie einmal mit Kayßler, Oskar Sauer und 
der Höflich zujammen jehen. 


26* 


IV 


Theater in der Joſefſtadt 








Marquis von Keith. 
(Schaufpiel in fünf Aufzügen von Frank Webelind. Zur Aufführung 
am 29. April 1903 im Theater in der Jofefftadt.) 

Darf der ſchnöde Rezenſent e8 wagen, einmal ein 
bißchen vor fich Hin zu phantafieren ? 

Ich fpiele gern damit, mir auszumalen, furchtſam, 
aber manchmal auch etwas jchadenfroh, wie man wohl in 
hundert Jahren über uns denken wird. Sch meine nun, 
unfere Nacjlommen werben es machen, wie wir es gemacht 
haben, und jeden von und nur jo viel gelten laſſen, als 
er beigetragen hat, an der neuen Form des Lebens mit- 
zubelfen, die fie erben werben. Wenn es ihnen gelingt, 
wie ſchon Niegiche geſchwärmt hat, wieder eine regierende 
Kafte zu bilden, die rings das Dafein der Menſchen aus 
ihrem Geifte zu geftalten weiß, dann werden fie fich dank⸗ 
bar erinnern, wen fie unter den Ahnen ſchon an ihrer 
Arbeit vorgefunden haben. Gegen die anderen aber unter 
uns, welchen es nicht gegeben ift für die Zukunft zu wirken 
oder doch zu wünfchen, werden fie, muß ich fürchten, hart 
und ungerecht fein; denn als ein junges und frohes und 
tätiges Gefchlecht, wie ich fie mir denke, das fich vermißt, 
die Welt umzufchaffen, werden fie von unferem geduldig 





— 389 — 


liebreichen „Hiftorifchen“ Sinn nichts wiſſen wollen, fon- 
dern, darin dem Beifpiele aller großen und ftarfen Zeiten 
folgend, alles nur auf fich beziehen und nach fich richten. 
Wer aber tft unter und, der es vertragen kann, jo ge- 
meffen zu werben? Mir wird um manden Kameraden 
bang und viele große Namen, die heute gelten, werben 
dann wohl bald zu den Germaniften entſchwunden fein. 
Aber andere dafür, die man heut verfennt, weil fie nicht 
der Zeit zu dienen wifjen, ſondern abſeits ihrer Sehnfucht 
folgen, wird die Zukunft aus der Ede holen. Stelle ih 
mir nun dieſen fpäten Triumphzug vor, wie er dann 
feierlich durch8 Gewühl der dankbar erregten Enfel geleitet 
wird, fo glaube ich immer voran das breite und bleiche 
und maßfenftarre Geficht des Frank Wedekind zu ſehen; 
denn feiner ift unter und, der fich nad) einer Beit der 
Freiheit und der Freude fehmerzlicher und gieriger fehnt, 
darum verſchmachtet er auch fat in der unjeren und darum 
haßt er fie fo, wie nur Propheten haſſen. 

Bor jein Buch „So ift dad Leben“ hat er ald Motto 
das Urteil eines Kritilers gejegt, da8 von ihm fagt: „In 
der deutſchen Literatur von heute gibt e8 nichts, was jo 
gemein ift, wie die Kunft Frank Wedekinds.“ Es macht 
ihm offenbar Spaß und er rühmt fich noch, „gemein“ zu 
fein. Er ift es auch, wie die ftillen Schwärmer Tolftojs, 
wie die weiſen Vagabunden Gorkis „gemein“ find, nämlich 
als ein Entlaufener aus unſerer Kultur, der mit ihr nichts 
mehr zu tun haben will, weil er fie durchichaut hat. Er 
iſt der legte der großen Zerftörer, nun bleibt nicht? mehr. 
Ringsherum ift unfere Kultur abgellopft worden. Iſt e8 
wirklich groß, das Große? hat Ibſen gefragt. Und dann 


— 390 — 


wurde gefragt: Iſt es wirklich jchön, das Schöne, wirklich, 
gut, das Gute? Und fogar: Iſt es wirklich wahr, das 
Wahre? Und fo ſank eine Mauer nach der anderen um, 
kein Glaube war mehr, e8 war nur noch der Aberglaube 
an das Lafter. Alles Licht verlofch, da ſchimmerte noch 
daß Lajter. Bon feiner Romantik lebt eine ganze Literatur, 
und leiſe klingt bis zum fcheuen Philifter der Verdacht 
hinüber, daß es doch eigentlich wunderjchön fein müßte, 
„unfittlich“ zu fein, wenn es nur nicht leider verboten wäre. 
Nein, jagt da Wedekind und ftößt auch diefe Mauer ein, 
eure Gejellfchaft ift jo verderbt, daß es auch mit dem 
Laſter nichts mehr ift; es hat feine „Poefie“ mehr, als 
allenfalls für Knaben oder Greiſe, es ift nicht „romanttjch“, 
es ift banal und albern wie eine „Muritat“. Heute nennt 
man ihn deöwegen unmoralijch, vielleicht wird man aber 
bald einmal fo paradog fein, in ihm die ſtärkſte moraliſche 
Kraft unferer ganzen Literatur zu finden: denn er reiht 
dem Lajter die jchöne Maske ab. Es reizt und ja doch 
eigentlich nur wie Elliden der fremde Mann: weil uns 
vor ihm graut. Ihm aber graut nicht mehr, er kennt e8, ihn 
ekelt nur, il fastidito fünnte er fich wie ber Nolaner nennen, 
und indem er uns dieſen grandiojen Efel mitteilt, find wir 
geheilt. Eine Roßkur wird man vielleicht fagen. Ya. 
Aber auch Savonarola war nicht fanft, das liegt ſchon 
einmal im Metier der Moraliften. 

Das Gefühl Wedekinds ift, unfere ganze Stultur fei 
duch und durch „pervers“, indem auch die Kräfte, die jie 
fonft vielleicht retten könnten, in ihr zur Sarifatur werden 
müffen. Jede Kultur braucht ihre Leute mit der Zeit auf, 
aber dann find an ihrem Rande immer andere da, die fi 


— 391 — 


friich erhalten Haben und aus welchen fie fich erfegen kann. 
Giordano Bruno hat ein Stück gejchrieben, das fich übrigens 
die Herren vom „Afademiichen Verein für Kunft“ einmal 
anfehen follten, ob fie e& nicht wagen wollen: den Candelaio, 
den ihm die Pedanten noch immer nicht verzeihen fünnen. 
Hier fommen lauter Gauner vor, aber es find zugleich die 
Philoſophen ihrer Zeit, die academici di nulla academia. 
Sie fühlen fich verftoßen und ausgejegt, aber dies benügen 
fie, um ſich über ihre Zeit hinaus in die Zukunft zu 
ſchwingen und dieje vorzudenken, vorzuleben. Die Gefell- 
{haft will von ihnen nichts wiffen, gut, jo wiljen auch 
fie nichts von ihr, jo find fie frei, und dieſe Freiheit macht 
fie fühn. Sie betragen fich nicht ſehr fein, aber wir em- 
pfinden, daß in dieſer Luft allein der verruchte Geiſt ge- 
deihen Eonnte, der dann fo ſtark wurde, alles abzujchütteln 
und eine neue Menjchheit aufzurichten. Nenne man fie 
Bohöme oder wie man immer mag, aus ihnen hat fich 
doch die Welt verjüngt, wie man wohl auch denken mag, 
daß fich aus den Strolchen Gorkis vielleicht ihr Vaterland 
verjüngen wird. Wie ift es aber bei una? Haben wir 
nicht auch Menſchen, die fich ausgeſetzt und verftoßen fühlen? 
Gibt es nicht auch da manches Talent, für das die Ge- 
jellichaft feinen Pla mehr hat und das fich darum jeinen 
in der Zukunft jucht? Ja, jagt Wedelind, wir haben ſchon 
auch eine Bohöme, nur ift fie verkümmert, wie ihr alle 
feid, fie hat feinen Stolz mehr, fie will nicht „Draußen“ 
bleiben, fie ſtiehlt fich in die Gejellfchaft hinein; die alte 
„Kreuzung von PHilofoph und Pferdedieb“ — die Defi- 
nition würde auch für die Helden des Candelaio gelten 
— iſt nicht außgeftorben, aber fie ift jegt ehrgeizig ge— 


— 392 — 


worden, fie will damit Karriere und Gejchäfte machen. 
Das ift der lächerlich tragiiche Fall des „Marquis von 
Keith": er fühlt fi) als „Übermenfch“, will das aber 
auch jogleich verwerten und gibt Aftien auf feine Uber- 
menſchheit aus, bis fie zuſammenkracht. 

Der Marquis iſt der Sohn einer Zigeunerin und 
eines Dorfſſchulmeiſters in Oberſchleſien. Er ſchildert ung 
ſeinen Vater als „einen geiſtig ſehr hochſtehenden Menſchen“, 
beſonders in der Mathematik und den exalten Dingen. Er 
wächſt als Gefährte eines jungen Grafen von Trautenau 
auf, rennt dann in die Welt, treibt ſich „halsbrecheriich“ 
herum, brennt mit einem Heinen guten Mädchen, faft noch 
einem Sinde, aus Büceburg nach Amerika durch, Hat 
manches Abenteuer zu beftehen, foll einmal, wenn wir ihm 
glauben dürfen, auf Cuba mit zwölf Komplizen erfchoffen 
werden, hilft fich aber immer wieder davon: er ift nicht 
umzubringen. ragen wir um das Motiv, das ihn eigent- 
lich, treibt, jo hören wir ihn felbft über fich jagen: „Meine 
Begabung beſchränkt ſich auf die leidige Tatjache, daß ich 
in der bürgerlichen Atmofphäre nicht atmen kann.” Er 
tert aber, wenn er glaubt, darin beſonders zu fein: ed geht 
anderen auch fo, nämlich allen Künftlern, deren Weſen es 
ja ift, fich in der äußeren wirklichen Welt, die fie umgibt, 
fo beflommen und bedrängt zu fühlen, daß fie fie, um nicht 
daran zu erjtiden, durch das Bild ihrer inneren imagi- 
nären überwinden müſſen. Sein Irrtum ift nun, daß er 
fich falſch interpretiert: er legt feine Bellemmung in der 
„bürgerlichen Atmoſphäre“ aus, als ſei fie ein Zeichen, 
daß er berufen fft, in eine höhere Klafje zu gelangen; und 
dad Phantom, das fi dem Künftler in den erhabenen 





— 393 — 


Stunden der Vifionen gewährt, will er in der Wirklichkeit 
erjagen. Da er nun von der Welt fordert, was ber Künftler 
nur aus ſich jelbft Haben Tann, die Befriedigung feiner 
unfteten Phantafie, die nicht zu heilen ift, weil fie nie- 
mals natürlich, nämlich durch ein Werk, entladen wird, 
wird er unerfättlich und rennt „Tag und Nacht wie ein 
ausgehungerter Wolf Hinter dem Glüde her“. Immer 
ſchwebt e3 vor ihm, immer glaubt er es fchon zu greifen 
und bevor er entjagt, wie jeine arme Molly fleht, und fich 
bejcheidet und nach Bückeburg geht, „Lieber juche ich Bir 
garrenftummel in den Caf68 zufammen !“ Leben, nur leben, 
endlich ein Mal, ein einziges Mal ſich ausleben dürfen, dad 
quält ihn: „Wenn ich ftürbe, ohne gelebt zu haben, würde 
ich als Geift umgehen... Ich bin ala Srüppel zur 
Welt gefommen. So wenig wie ich mich deshalb zum 
Sklaven verdammt fühle, jo wenig wird mich der Zufall, 
daß ich als Bettler geboren bin, je daran Hindern, den 
allerergiebigften Lebensgenuß als mein rechtmäßiges Erbe 
zu betrachten.“ Worauf die törichte Molly, die doc; 
eigentlich viel klüger ift, weil fie von feiner Phantafie ge- 
plagt wird, das tiefe Wort fagt, das fein ganzes Weſen 
enthält: „Betrachten dürfen wirft du ihn, fo lange du 
lebſt.“ Das ift, wie man es früher genannt haben würde: 
die tragifche Schuld feiner Natur. Zum „Betrachten“, 
zur Anſchauung beftimmt, wie es die Künftler find, glaubt 
er, durch Genußſucht betrogen, ein Mann ber Tat zu fein, 
der nur, weil er niedrig geboren ift, weil er Hinft und 
dieje roten, groben „Plebejerhände“ hat, gezwungen jei, es 
ala Hochitapler zu verfuchen. Er ift aber eigentlich un» 
ſchuldig wie ein Kind, er Hat nur den Größenwahn, ein 


— 34 — 


Betrüger zu jein, es gelingt ihm nie, er bleibt ein armer 
Phantaſt, und die verzagte Molly hat wieder recht, wenn 
fie dem großen Faifeur, dem jchon alle Leute mißtrauen, 
treuherzig jagt: „Wir beide find eben nun einmal zu ein- 
fältig für die große Welt.“ Er ift es wirklich; das „Un- 
geheuer von Gewiffenlofigleit”, das der blinde Idealiſt 
Scholz in ihm fieht, weiß nicht einmal die Münchener 
Spießer zu täufchen, er wendet die dümmften Mittel an, 
und indem er die ganze Welt auszubeuten glaubt, wird er 
3 ſelbſt von allen Seiten, weil er im Realen ratlos ijt. 
Er hat gar feinen Sinn für die Mittel, er fieht immer 
nur das Ziel, daß er fich, der echte Phantaft, wunderbar 
auszujhmüden liebt. „Ich Habe ein wedjielvolles Leben 
hinter mir, jagt er einmal, aber jegt denfe ich doc) ernit- 
lich daran, mir ein Haus zu bauen; ein Haus mit mög- 
licht hohen Gemächern, mit Park und Freitreppe. Die 
Bettler dürfen auch nicht fehlen, die die Auffahrt garnieren.“ 
So beraufcht er ji ewig an Träumen, und wie vermefjen 
er fich gebärden mag, er bleibt ein armer Dichter, der ver- 
derben muß, weil er fich verraten und ftatt jeinem inneren 
Leben til zu dienen, and äußere weggeworfen hat. 

Um diefe Figur ift nun mehr Geift aufgefchüttet, als 
unfere berühmten Autoren in zehn Jahren aufzubringen 
haben. Dan bewundert immer die Franzoſen. Hier ift 
ein Deutfcher, der fi an Kenntnis der Welt und bitterer 
Erfahrung im Menfchlichen mit La Rochefoucauld mefjen 
Tann. „Der Menich wird abgerichtet,” fagt er einmal, 
„Oder er wird hingerichtet . .. Unglüd kann jeder Ejel 
haben; die Kunft ift die, daß man es richtig auszubeuten 
versteht . .. Um unſterblich werden zu wollen, muß man 


— 39 — 


ſchon außergewöhnlich lebensluſtig fein . . . Ich habe feit 
einiger Zeit vor lauter Lebensluſt manchmal Selbftmord- 
gedanken... Mit Feuerwerk blendet man feinen Hund, 
aber der vernünftigfte Menjch fühlt fich beleidigt, wenn 
man ihm feines vormacht ... Sünde ft eine pathetiiche 
Bezeichnung für ſchlechte Geichäfte, gute Geſchäfte laſſen 
fih nur innerhalb der betehenden Geſellſchaftsordnung 
ſchließen . .. Und nun übermittle ich ihnen den Stein 
der Weiſen: das glänzendfte Gejchäft in dieſer Welt ift 
die Moral.“ Und fo praffelt und knattert es durch das 
ganze Stüd fort. Yet höre ich aber jagen, es ſei doch 
fchade, wenn ein Dichter joviel Geift verſchwendet, um die 
Menſchen nur zu quälen und ihnen das Leben zu ver- 
leiden, während es doch das heilige Amt der Poefie jei, 
fie zu beichwichtigen, zu tröften und zu verjöhnen. So 
wird nämlich, wie vor zehn Jahren gegen Ibſen, der auch 
fo „peinlich” war, heute gegen Wedekind gejammert und 
geflagt. Man zieht ja jegt wieder der comedie rosse die 
comedie rose vor. Ich bin jedoch dieſer Meinung nicht, 
weil „mir bet meinen wenigen Erfahrungen klar geworden 
ift, daß man den Leuten, im ganzen genommen, durch die 
Poefie nicht wohl, Hingegen recht übel machen fann, und 
mir deucht, wo dag eine nicht zu erreichen ift, da muß man 
das andere einfchlagen. Man muß fie infommodieren, 
ihnen ihre Behaglichkeit verderben, fie in Unruhe und Er- 
ftaunen fegen. Eins von beiden, entweder ald ein Genius 
oder als ein Geipenft, muß die Poefie. ihnen gegenüber- 
ftehen. Dadurch allein lernen fie an die Exiſtenz einer 
Poeſie glauben und bekommen Reſpekt vor dem Poeten.“ 
Diez iſt aber nicht von mir, fondern von Schiller, auf den 


— 396 — 


fi} unfere Pebanten weniger berufen würden, hätten fie 
ihn gelejen. 


* 


Beim Theater kommt es immer anders: Wedekinds 
verrufener „Marquis von Keith“, von dem ich ja neulich 
ſchon im Feuilleton geiprochen habe, derjelbe, der in Mün- 
hen und in Berlin mit jolcher Wut verhöhnt worden ift, 
hat geftern hier einen ftarfen, unbeftrittenen, von Aft zu 
Akt immer heftigeren, zulegt braufenden und tofenden Er— 
folg gehabt. Armer Webelind, neulich in Berlin mit dem 
„Erdgeift”, jegt ebenſo hier — plöglich wirft du gar am 
Ende noch ein „beliebter Autor“ fein, Sänger der „Bri- 
gitte B.“! Hier Hat er es übrigens Jarno zu verdanken, 
dem Negifjeur und dem Schaufpieler. Ich denfe mir 
allerdings den Marquis eigentlich heller, gejchmeidiger, 
leichter, gläubiger an feinen Stern, unfchuldiger in feiner 
Laune; doch das Hätte wohl nur Mitterwurzer gekonnt. 
Wie aber Jarno feine ftarfe Vitalität und die Energie 
jeiner Begierden trifft und wie er gar den legten Aft fpielt, 
wie da der Freche, Zyniſche plöglich vor dem Schidjal 
ftugt, unficher wird, zaubert, fich jedoch noch einmal zu= 
ſammennimmt, gewaltjam wieder aufrafit, es noch einmal 
trogig verjuchen will, aber dann von innen heraus gleich- 
fam aufgebrochen und zerfprengt wird und nun ein ganzes 
Heer von Dämonen herausftürzt, Reue, Schmerz und ge» 
meine Todesangft, bis er endlich einem ertappten, jchlot- 
ternden Diebe gleicht, der vor Erjchöpfung nur noch irre 
lallt, dies hat mit einer Wucht gewirkt, der niemand wider- 





— 397° — 


ftand. Er mußte denn auch an die dreißigmal, ftürmifch 
herausgejohlt, erſcheinen. Verblüfft hat mich auch Fräu- 
lein Krenn, die die heiffe Rolle der Gräfin mit einer 
wunderbaren Anmut gab. Hier ift eine junge Odilon, ja 
vielleicht noch mehr, da bisweilen eine unbezähmte Leiden- 
ſchaft aus ihren böfen Augen bligt, die vielleicht bis ing 
Tragiſche reicht. 


Crainquebille. 


(Scaufpiel in drei Bildern von Anatole France, deutſch von Theodor 
Wolff. Zum erften Mal aufgeführt im Theater in der Joſefſtadt 
am 24. November 1903.) 

Anatole France auf der Bühne! France, der ftille, 
feine, ſteptiſche, der lächelnd weiß, que sur toutes choses 
il y a beaucoup de veritss, sans qu’une seule de ces 
verit6s soit la verit6, auf der Bühne, die das Laute und 
das Grobe verlangt, große Worte und feite Züge und 
irgend eine Wahrheit, welde es auch immer jei, aber 
flatternd aufgerollt und mit Leidenfchaft geſchwungen. Er 

. spöttelt gern ein bißchen über fein Metier, weil er (lange 
vor Mauthners „Sprachkritik“) den Worten nicht traut. 
Parler, 6crire, quelle piti6, jagt er einmal, qu’est ce 
qu’il en fait, le lecteur, de ma page d’öcriture? Une 
suite de faux-sens, de contre-sens et de non-sens, 
Lire, entendre, c’est traduire. (Im Lys rouge, und 
ganz ähnlich einmal im Vorwort zu den Opinions de 
Mr. Jöröme Coignard, wo er davon fpricht, daß es wahr- 
fcheinlich in der Ilias und in der Göttlichen Komödie fei- 
nen einzigen Vers gibt, den wir heute jo verjtehen würden, 


— 398 — 


wie er damals gemeint war). Und num tritt er vor bie 
dreifte, gefchwägige, zerftreute Menge im Theater hin. Und 
es gelingt. Aber er ift ja überhaupt der Mann der Kon— 
trafte. Griechiſch gefinnt, ein guter Heide, kann er fid 
doch einer feltiamen Neigung für Mönche, Büßerinnen, 
Heilige nicht erwehren. Faſt wie er feinen Sylveſtre 
Bonard gefchildert hat: ein vieux savant cölibataire, 
trös intelligent, trös röflöchi, trös ironique et tr&s doux, 
jehr meditativ, gelehrt, den Verjuchungen der Welt entrüdt, 
jogar mit einem leifen pedantiſchen Bug, zeigt er fich doch 
in der Schilderung wilder Sünden verdächtig erfahren. 
Aller Kulturen vol, Tünftlich wie ein Alerandriner, ein 
bißchen müde von jo viel Weisheit und fo viel Schönheit, 
die er aus allen Bechern gejchlürft, liebt er die Bettler, 
Zigeuner, Vaganten, ganz einfache, faft tieriiche, von der 
Luft der Landftraßen beraufchte Menjchen. In der Rede 
gelaffen, an der hellen Art des achtzehnten Jahrhunderts 
gebildet, durchaus klaſſiſch, jchweift er doch zuweilen fo 
jonderbar ab, daß man unwillfürlic an Jean Paul oder 
Didens erinnert wird. in Zweifler (J’ai demandö mon 
chemin & tous ceux qui, prötres, savants, sorciers ou 
Philosophes, pr&tendent savoir la g&ographie de l’inconnu. 
Nul n’a pu m’indiquer exactement la bonne voie), der 
zulegt am Zweifel jogar zweifelt (J’ai eu peur de ces j 
deux mots d’une störilit€ formidable: je doute), dem 
alles, alle8g dans ce röve d’une heure qui est la vie 
nur Schein und Wahn fit, der die einjame Freude der Ent- 
fagung liebt (joie triste .... et cela est plus qu’une 
joie joyeuse) und gelernt bat, in allen Wechjeln des 
Schickſals Yattitude d’un promeneur paisible zu be 





— 39 — 


wahren, ein iromifcher Zujchauer der Menfchen und des 
Lebens, ſelbſt wie fein Abbe Jerome Coignard une sorte 
de m&lange merveilleux d’Epicure et de saint Frangois 
d’Assise, hat er fich dennoch, als die Stunde kam, mitten 
ins Gewühl gejtellt und tapfer mitgelämpft. Es muß in 
feinem Weſen doch noch irgend etwas fein, das feinen 
Werken fehlt. Man wundert fich auch, wenn man fein 
Bild fieht. Sein Geficht Hat einen Zug von männlicher 
Entichlofjenheit, von Sraft, von Härte, einen ſoldatiſchen, 
ftreitbaren, unerbittlichen Zug, den man nach feinen Schriften 
nicht erwartet. Jeder Menfch, der überhaupt etwas ift, ift 
doch immer noch mehr, ala er weiß und glaubt. In 
unferen Büchern zeigen wir nur, was und an uns jelbft 
gefällt. Es ift nicht immer das Beſte. 

Crainquebille war zuerſt eine Heine Geſchichte. Dann 
wurde daraus ein Meines Stüd. Jene enthält den Unatole 
France, den wir kennen. Dieſes überrafcht uns, wie fein 
Bild, durch eine Energie, die wir ihm nicht zutrauen konn⸗ 
ten. Es zeigt fich nicht bloß, daß auch einmal ein Phi- 
lofoph le don du thöätre haben kann. Es zeigt fich jetzt 
auch erft, wie leidenschaftlich doch insgeheim alle feine 
Ironie ift. 

Jeremias Crainquebille, ein Gemüſehändler, der tag- 
aus, tagein feinen Wagen mit Kohl, Rüben und Salat 
durch die Straßen von Paris fchiebt, ein ruhiger, ftiller, 
gutmötiger Menfch, ſchon an die Sechzig, nicht fehr ge» 
ſcheit, kommt eine Tages durch die Strafe von Mont- 
martre, da tritt Frau Bayard, die Schufterin, aus ihren 
Laden, um einzukaufen. Sie fucht, fie feiljcht, der Schug- 
mann Nummer vierundjechzig geht vorbei und jagt: Allons, 


— 400 — 


eirculez! Die Schuſterin bietet vierzehn Sous, aber fie 
hat fein Geld bei fich, fie muß es aus dem Laden holen. 
Der Schugmann Nummer vierundfechzig fommt wieder: 
Allons, eirculez! „Ich warte nur auf mein Geld,“ jagt 
Crainquebille. Darauf der Schugmann, fehon gereizt: 
„Habe ich Ihnen etwa gefagt, Sie jollen auf Ihr Geld 
warten? Weiterfahren jollen Sie, verftanden?“ Und jo, 
da die Schufterin im Laden eine Kunde zu bedienen hat, 
auch noch ein drittes Mal: Allons, eirculez! Jegt wird 
Crainquebille ärgerlih: „Zum Kudud, wenn ich Ihnen 
ſchon fage, daß ich auf mein Geld warte!“ Inzwiſchen 
füllt fich die Straße, der Karren des guten Alten ftört in 
der Tat den Verkehr, man ftößt, man drängt, man jchreit, 
die einen gegen den Alten, die anderen gegen den Schug- 
mann, dieſer wird heftig, Crainquebille auch, man verfteht 
fein eigenes Wort nicht mehr und plöglich faßt der Schug- 
mann den Alten an: „So, Sie haben ‚Verfluchter Polyp‘ 
gejagt? ES ift gut, folgen Sie mir.“ Crainquebille ift 
ftarr. Es ift ihm gar nicht eingefallen. „Ich hätte ‚Ber- 
fluchter Polyp‘ gejagt? Ich? Mein Gott, mein Gott!“ 
Aber der Schugmann läßt ihn nicht mehr aus. Ein alter 
Herr aus der Menge, Dr. Matthieu, Oberarzt, Offizier 
der Ehrenlegion, fucht ihn umſonſt zu begütigen: „Sie 
irren fich, der Mann hat Sie nicht beleidigt.“ Das wird 
ſich alles zeigen. Zunächſt muß er mit, dor Gericht. 
Vor Gericht. Unter den Zuſchauern ein paar Leute 
aus dem Quartier, neugierig, wie das ausgehen wird. 
Aber die Richter find gar nicht neugierig. Der Advofat 
auch nicht. Der Fall ift ganz unintereffant. Derlei hat 
man täglich. Und nicht? dabei zu holen. Alfo nur ge | 





— 401 — 


ſchwind. Schade um die Zeit. Vorwärts. Was Hat der 
Angeflagte zu jagen? Ia, mein Gott, bei dem guten Alten 
geht das nicht fo raſch. Er muß fich erſt erholen. Er 
kennt fich noch gar nicht aus. Er wundert fi, daß die 
Herren jo freundlich und fo Höflich mit ihm find. Gar 
nicht barfch, wie er immer gedacht Hat, daß man Ver— 
brecher behandelt. Wenn fie nur etwas Iangjamer ſprechen 
würden! Sie ſprechen ja gewiß ſehr jchön. Aber ein 
bißchen zu jchnell. Für ihm wenigſtens. Er kann gar 
nicht mit, er verfteht gar nicht recht, was gefragt wird. 
Und immer heißt e& gleich: Weiter, nur fchnell! Ja, das 
geht doch nicht fo. Er müßte den Herren doch erſt er- 
zählen, wie er jeden Tag ſchon in der Früh um fünf Uhr 
in den Hallen ift und dann durch die Straßen zieht, damit 
fie ſehen, daß er fein fchlechter Menſch ift, jondern ein 
ehrlicher Arbeiter, zufrieden, fi das bißchen Brot zu ver- 
dienen. Aber fie haben feine Zeit. Sie rufen den Schug- 
mann vor. Diejer beſchwört, daß der Angeklagte „Ver- 
fluchter Polyp“ “gejagt hat. Die Schufterin weiß gar 
nichts, fie fieht den Verbrecher nicht einmal mehr an. Der 
Doktor Matthien beichwört, daß ſich der Schugmann ver- 
hört hat: der Dann Hat ihn nicht beleidigt. Der Advolat 
erhebt fi. Er wird kurz fein. Auch ihn interefjiert' der 
Fall nicht. Das hat man jeden Tag. Er beginnt mit 
einem Lob der Polizet — diefer befcheidenen Diener des 
Geſetzes, die bei einem kläglichen Gehalt den größten Er— 
müdungen und fortwährenden Gefahren außgejegt find und 
täglich ihren Heldenmut beweien müfjen: „Es jind meift 
alte Soldaten, die Soldaten geblieben find — Soldat, 
das fagt alles!“ Er weiß, daß das immer wirkt; es ift 
Hermann Badr, Bloffen. 286 


— 402 — 


patriotifch. Die Richter niden befriedigt. Er will alii 
den Schugmann Nummer vierundfechzig keineswegs eine 
böfen Abficht zeihen, aber e8 gibt — Gehörshalluzinationen 
Er beruft ſich auf die Wiſſenſchaft. Cr zeigt, wie beleſe 
er iſt. Die Richter verlieren jchon falt die Geduld. € 
eilt zum Schluffe. „Und felbft wenn Crainquebille „Ber 
fluchter Polyp“ gejagt hätte, jo tft es noch die Frage, ol 
dies Wort in feinem Munde eine Beleidigung, aljo F 
Vergehen ift. Crainguebille ift das uneheliche Kind eind 
herumztehenden Hänblerin, die eine notoriſche Trinleri— 
war, er ift alfo als Alkoholiler geboren. Sehen Sie fi 
den Mann an und urteilen Sie jelbft, was fechzig Sam 
des Elends aus ihm gemacht haben. Meine Herren, Si— 
müfjen zugeben, daß man ihn nicht verantwortlich, madeı 
Tann.“ Die Richter stehen fich zuräd. Crainquebille danl 
dem Anwalt; er hat zwar das meiſte nicht verftanden 
aber es ift iehr jchön geweien. Die Zufchauer find über 
zeugt, daß er freigefprochen werden muß. Nur ein jung 
Advofat, der auch zugehört Hat, ift es nicht. Ex fen 
das beſſetr. Er weiß, wie die Nichter denlen. Ei 
Menſch kann fich täufchen. Peter und Paul können irr 
Descartes und Gafjendi, Leibnig und Newton, Bid) 
und Claude Bernard, die alle Haben irren Zönnen. Ri 
alle irren, und zwar ſehr Häufig. Die Möglichkeit 5 
irren ift fehr groß und mannigfaltig. Die Wahrne)) 
mung unferer Sinne und das Urteil unſeres Verſtandes 
find oft nichts weiter als bloße Einbildungen und die 
Urſache von Ungewißheit und Zweifel. Man darf ſich 
nicht auf das Zeugnis eines Menjchen verlafjen. Testis 
unus — testis nullus. Aber auf eine Zahl kann man 





— 408 — 


ſich verlaffen. Aber der Schugmann Nummer vierund- 
ſechzig — wenn man von feiner Perjon als Menich ab- 
fieht — täuicht fich nit. Wohin kämen wir ohne unfere 
Polizei? ... Der Heine Advolat hat recht: Die Richter 
lommen zurüd, Crainquebille ift ſchuldig, vierzehn Tage 
Gefängnis und fünfzig Francs Gelditrafe. Er wird ab» 
geführt, nur raſch, denn ſchon beginnt der nädjite Fall, 
und fo geht es bier immer weiter. 

Der Vorhang fällt und während auf der Bühne ver- 
wandelt wird, befinnen wir und ein wenig. Sehr wahr, 
ſehr fein, jehr Hug; und mit einer merfwürbigen ſparſamen 
Kraft vorgebracht, die erft feine Umftände zu machen braucht. 
Aber ſchließlich: nicht jehr neu. Tolſtoi, grimmig an- 
Hagend, Brieux, kalt und gelafjen, ‚und der göttliche Cour- 
teline, zyniſch höhnend, haben und dasſelbe gejagt. Unfer 
Gefühl läßt nicht mehr zu, daß fich irgend ein Menſch 
zum Richter über die anderen aufwirft. Und eigentlich 
fteht daS ja auch fon in „Maß für Maß“. Nur jagt 
& France auf feine Art. Pour le savant, il n’y a pas 
v6ritablement de monstres, meint er einmal im „Abb6 
Eoignard*. Darum find es für ihn auch die Richter nicht. 
Sie find nur auch Menjchen wie wir, Menjchen, die feine 
Zeit haben, die leicht ungeduldig werden und denen ihr 
Geſchäft ſchon recht langweilig ijt. Gott, die Routine! 
Das ift nun einmal nicht anders. Ein Schaujpieler, der 
immer diejelbe Rolle fpielt, fpielt fie auch zulegt fehlecht. 
Sie freut ihn nicht mehr. Und das iſt das einzige, was 
man diejen Richtern vorwerjen kann. Es freut fie nicht 
mehr. Und es iſt ihnen auch nicht mehr jo wichtig. 
Seien wir ehrlich: wer will es ihnen verdenfen? Es 

26* 


— mM — 


gibt fo viel Unglüd auf der Welt, das fi nun einmal 
nicht ändern läßt, und fo viel Ungerechtigkeit in der Natur 
überall, daß es daneben wirklich wenig zu bedeuten Hat, 
ob der gute Exainquebille vierzehn Tage brummen muß. 
Der Richter, der in tieferes menjchliches Leid geblickt hat, 
Tann das nicht tragijch nehmen. Und, denken wir, wenn 
Erainquebille vernünftig ift, macht er es dem Richter nad), 
regt ſich nicht erft auf und kehrt im vierzehn Tagen an 
fein Gefhäft zurüd, 

Da jegt der dritte Akt ein. Crainquebille ift ver- 
nünftig. Er regt fich nicht auf, er hadert nicht mit Gott 
und den Menjchen. Cr weiß zwar noch immer nicht recht, 
warum er eigentlich figen muß, aber die Herren Richter 
haben ihm doc, fehr imponiert, weil fie fo freundlich und 
höflich gewejen find, auch gefällt es ihm in der Belle ganz 
gut, die jo blank ift, daß man vom Boden effen Fünnte, 
und fo ergibt er ſich willig in die Gejege der Nepublif, 
nur etwas bejorgt, was denn aus jeinem Starren geworden 
fein mag, und ob die Schufterin nicht vergefjen wird, ihm 
die vierzehn Sous zu bezahlen. Und nachdem er entlafjen 
ift, ſchiebt er wieder feinen Karren durch die Straße von 
Montmartre vor fich her und ruft: Kohl, Rüben, Salat! 
Er macht es den Richtern nach und nimmt die Sache nicht 
tragiſch. Aber die Menſchen! Die find nicht fo wie die 
Nichter. Für die ift das ein ernſter Fall. Die können 
von einem Manne, der vierzehn Tage geſeſſen ift, fein Ge 
müfe mehr laufen. Die wollen von ihm nichts mehr wiffen. 
Die Schufterin kennt ihn nicht mehr und erinnert fich an 
feine vierzehn Sous nicht mehr, man wendet fi) von ihm 
ab, die Heine Dirne fogar, die fonft gern mit ihm am der 


— 400 — 


Ecke geplaudert Hat, verachtet ihn jegt. Zuerſt Tann er 
das alles gar nicht verftehen. Was Haben fie nur alle? 
Dann frißt es an ihm und erbittert ihn und er wird zänkiſch 
und- fängt, um fi) zu betäuben, zu trinken an und ver- 
Indert fi und kommt herab. Und dann wird e8 Winter. 
Er verbient nichts mehr. Jetzt hat er ſchon einen ganzen 
Tag gefmmgert. Und er fühlt: mit ihm ift eg aus. Und 
ihn friert Und er erinnert fich, wie gut es ihm eigentlich 
in Der Zelle gegangen ift. Und da fällt ihm plöglich ein: 
das kann ich doch wieder haben, ich kenne ja jet den 
Kniff! Und er geht, bis er einen Schugmann erblickt, tritt 
auf ihn zu und jagt: „Verfluchter Polyp!“ Der Schup- 
mann bleibt ftumm und rührt fich nicht. Crainquebille 
wiederholt : „Verfluchter Bolyp — das gilt Ihnen!“ Da 
fagt der: „Das müſſen Sie nicht ſagen, ... wahr und 
gewiß, daß müſſen Sie nicht fagen. Wenn man fo alt 
ift wie Sie, follte man vernünftiger jein. Gehen Sie 
Ihrer Wege“ Crainquebille fragt: „Warum arretieren 
Sie mich nicht ?* Aber der Schumann fchüttelt den Kopf: 
„Wenn wir all die Krafeler einſtecken wollten, die jagen, 
was fie nicht jagen dürfen, dann Hätten wir viel zu tun! 
... Und was hätte das wohl für einen Zwei?“ Da 
ſchämt ſich Crainquebille und verſichert: „Es war auch 
nicht für Sie, daß ich ‚Verfluchter Polyp‘ gejagt Habe, und 
aud für feinen andern — es war nur jo eine Idee.“ 
Aber der andere erwidert: „Das iſt ganz einerlei, warum 
Sie es gejagt haben, aber das muß man nicht jagen, denn 
wenn ein Menſch feine Pflicht tut und viele Strapazen 
ausftehen muß, jo joll man ihn nicht durch müßige Worte 
beleidigen. Ich wiederhole Ihnen noch einmal, gehen Sie 


— 406 — 


Ihrer Wege.“) Und Crainquebille ſenkt den Kopf und 
wanft langſam durch den Regen in die dunkle Nacht hinein. 
„Si !’on se möle & conduire les hommes,“ hat france 
einmal gejagt, „il ne faut pas perdre de vue qu'ils 
sont de mauvais singes: à cette condition seulement 
on est un politique humain et bienveillant.“ 

Jarno ift als Crainquebille vortrefilih. Er jagt dieſe 
rubigen Worte jheinbar ganz arglos her und wirft gerade 
dadurch ergreifend. Beſonders vor Gericht, wenn er nur 
immer vom einen zum anderen blidt und eigentlich den 
ganzen Akt bloß mit den Augen fpielt. Im dritten Akt 
hätte ich mir vielleicht doch einmal einen grelleren Ton 
der Verzweiflung gewünſcht, etwas aus dem legten Akt 
feines Keith. Aber wie er dann mit einer unendlich 
ſcheuen und elenden Gebärde den Schugmann um Per- 
zeihung fleht und endlich wortlos, ratlos, hoffnungslos 
hinausirtt, da8 iſt wieder ganz wunderbar. Auch fonit 
wird das Stüd — von den Damen Pohl-Meijer, Balme 
und Clemens, den Herren Strasni, Claar, Bachmann, 
Groß, Ezagell, Schmid! und Mahr — bis in die Heinfte 
Rolle herab durchaus glänzend gefpielt und ift ein Mufter 
Aug nachfühlender und mitichaffender Regie. 








*) Ich habe nach der deutſchen Überfegung der Novelle, von 
Gertrud Savitſch, zitiert, die im Septemberheft der „Neuen Deutichen 
Rundſchau erfhienen ft. 





— 4071 — 
Einafter. 


(nAngele”, Komödie von Otto Eric) Hartleben, — „Rarrnerleut” 
von Karl Schönherr. — „Der Dieb“ von Octave Nirbenu. — Zum 
erſten Mal aufgeführt am 30. September 1904.) 

Als im zweiten Jahre der Berliner freien Bühne 
Hartlebens „Angele“ erichien, gab e8 einen großen Skandal, 
Faft wie zuvor bei Hauptmanns „Schnaps- und Zangen- 
ftäd“. Man zeterte fittlich: Wie unmoraliſch! Und jetzt, 
da wir das Stüc nad) vierzehn Jahren wiederjehen, wundern 
wir ung faft, wie moraliſch es ift. Es hat in der Tat 
den zomigen Ton beleidigter Tugend, es jchreit vor Sitt- 
lichkeit, es kann ſich gar nicht fafjen, daß die Welt jo 
ſchlecht ift. Und unwillfürlich fragen wir ganz erftaunt. 
Ja, warım denn, was ift denn gejchehen? Ein feines 
Berliner Mädchen, wie dieſe nun einmal jind, vergnügt 
einen Neferendar, handelt wohl gelegentlich auch daneben, 
und da der alte Herr, den der Neferendar für feinen Vater 
hält und der es vor dem Geſetze auch iſt, und ein Findifcher 
Kandidat der Theologie fich in fie vernarren, möchte fie 
den einen oder den anderen ehelich einfangen, was ihr ber 
Autor, ſchadenfroh wie Moraliften immer find, durch einen 
Zufall vereitelt. Umd donnernd jet er als Motto Hin: 
Verachte dad Weib! Deshalb? Wir jehen gar feinen Grund. 
Beil ein junges Ding, wild aufgewachfen, arın, unbejonnen, 
hilflos, der großen Stadt ausgeſetzt, lieber genießen als 
arbeiten will, einmal der Gier eines Mannes erlegen bald 
auch an amdere gerät, Liebe und Lafter nicht tragifcher 
nimmt, al3 fie es überall fieht, jo liederlich wird, wie die 
Männer fie machen, und jich endlich, da ihr doch mand;- 
mal vor dem Alter bangen mag, gern bürgerlich verforgen 


— 08 — 


möchte, um dann wahricheinlich eine fo brave Frau zu 
werden, als ihr Neferendar, bis er nur erſt Aſſeſſor ge» 
worden ift, den braven Mann machen wird? Iſt das jo 
ſchredlich? Die Männer nügen fie für ihre Lüfte aus; 
ift e8 fo fchlimm, wenn nun auch fie die Lüfte der Männer 
auszunützen verjucht ? Und deshalb gleich: Verachte das 
Weib? Wenn e3 dafür kein ftärkeres Argument gibt! Wir 
fühlen Bier viel weniger das Weib als die Gefellichaft 
verächtfich, in der es fich jchänden muß. Aber daran 
merft man die Tugend des Autors und merkt, daß er aus 
einer ftillen Heinen Stadt kommt, ängftlich erzogen und 
vor dem Leben verwahrt. Man wird unjeren Ton von 
1880 bis 1890 nie verftehen, wenn man nicht weiß, daß 
wir alle aus kleinen Städten waren, als Kinder in hellen 
ftillen Stuben mit weißen Gardinen forgfam behütet, im 
eine Tünftliche Welt von Treu und Medlichkeit verhüllt. 
Nun aber aus dieſem geiftigen Biedermeierſtil plöglich ins 


Leben auögejtoßen, fehrieen wir entjegt auf. Seitdem find | 


wir älter und find ftädtiicher geworden. Was wir damals 
exit pathetijch, dann Höhnifch ingrimmig angeklagt, nehmen 
wir jegt mit einer Geduld Hin, die weniger philofophifch 
als praftiich ift. Wir werden es nicht ändern; e& fcheint, 
daß wir den Glauben an uns verloren haben. Insgeheim 
ſchämen wir uns wohl noch ein bißchen, aber wir regen 
un Öffentlich nicht mehr auf, ſondern es genügt uns, zu 
wiffen, daß e8 in der Welt, wie fie nun einmal vorläufig 
tft, niemals anftändig zugeht. Wenigfiens gewiß nicht 
unter den anftändigen Leuten. Bei den anderen vielleicht 
eher. 

Bei den anderen vielleicht eher. Die unanftändigen 


— 49 — 


Leute find anftändiger. Das ift das Thema Schönherrs 
in den „Rarmmerleuten“, Mirbeans im „Dieb“. Auch nicht 
ganz neu, e3 hat immer eine „Räuberromantit” gegeben. 
Und Giordano Bruno hat ein Stück gejchrieben, den 
„Candelaio“, den ihm die Pedanten niemals verzeihen: da 
kommen lauter Gauner vor, aber es find zugleich die Philo- 
fophen ihrer Zeit, die academici di nulla academia ; aus- 
geftoßen und verachtet, fühlen fie fih an fein Vorurteil 
der Sitte gebunden und benügen dies, um fich über ihre 
Zeit hinaus in eine hellere Zufunft zu fchwingen, die vor- 
zubenfen, vorzuleben ihr Stolz ift. So verwegen geht 
Schönherr nicht 108. Auch ruft er nicht unſeren Hohn, 
jondern das Mitleid an. Der Vintſchgauer ift ein Bagant, 
der mit feinem Weib und den zwei Buben berumzieht, 
Erdäpfel ſtiehlt, auch einmal wildert, nichts verjchmäht, 
was fich irgendwo mitnehmen Yäßt, und einen bejonderen 
Spaß hat, die Gendarmen zu foppen, die ihn niemals er- 
wiſchen. Diebe!, jagen der Bauer und der Bürger; und 
befreuzigen fi. Ja, jagt Echönherr, aber man ift nicht 
bloß ein Dieb, damit ift der Menſch noch nicht erledigt, 
er Tann auch in diefem Berufe ſehr menjchlich fein. Und 
er zeigt, wie väterlich der Strolch mit feinen Kindern 
ſcherzt, und wie daS Heinere, Füchſel genannt (die Figur 
erinnert in ihrer Stimmung ein bißchen an „Poil de 
carotte“ des Jules Renard, deſſen man ſich aus dem 
Burgtheater entfinnt) ſich in feinem verjchmigten Köpfchen 
einen ganz eigenen Ehrbegrifi zurechtmacht, der fo ftarr 
wie nur irgend ein ritterlicher ift. Aus Hunger verrät es 
den Vater an den Gendarmen, der e3 mit einem Stüd 
Brot Iodt, und ſchämt fich dann fo, daf es in den Bach 


— 40 — 


{pringt, um lieber zu fterben, als dies Gefühl zu ertragen. 
Diefe Szene ift mit aller dramatifchen Wucht und Kraft 
geführt, die wir an Schönherr immer wieder bewundern, 
nur leiſe beforgt, daß er fich mit ihr nicht zu begnügen 
jcheint, und eine Neigung, ind Theatraliiche zu geraten, 
nicht verwinden mag. 

Mirbeau faßt dasſelbe Thema fatiriich an. Mirbeau 
ift ein violent, wie die Franzofen einen nennen, dem es 
nicht genügt, durch die Wand zu rennen, fondern der darauf 
verſeſſen ift, e8 juft mit feinem eigenen Kopfe zu tun. 
Aber dann ift er auch (Goncourt hat dies einmal im 
„Sournal* jehr amüfant geſchildert) ein potinier: einer, 
der eine freude hat, das Leben in lauter famofe kleine 
Geſchichten und Anekdoten aufzulöfen. In tyrannos, aber 
nicht ohne ihnen, während er den Dolch in fie ſtößt, noch 
ein hübſches Wort und einen verbindlichen Scherz zu 
jagen, über den fie ſelbſt lachen müfen. Mit den Jahren 
wird jener in ihm immer jchwächer, diefer immer ſtärker, 
was auch einträglicher ift, und jo hat er fich allmählich 
in den Anarchiften am Kamin verwandelt, der in geficherter 
‚Stellung mit Bomben wie ein Iongleur hantiert. Er 
fagt den reichen Leuten, daß fie ärger als die Diebe find, 
fagt es aber fo, daß fie ſich darüber noch riefig freuen. 
Was ja vielleicht Heute die einzige Art ift, frei zu fein, 
ohne eingeiperrt zu werden. 

Der Vorhang geht auf, ein finfteres Zimmer, wir 
Hören das Fenfter flirren und es fteigt, non feinem Lafaien 
‚gefolgt, ein jehr eleganter Herr, in einem Pelz, im Frad, 
mit weißer Krawatte, ein, der nun auszuplündern beginnt. 
Wir erfahren, daß es ſchon gegen fünf Uhr früh ift; er 


— 41 — 


hat ſich im Klub verſpätet, weil er ein leidenſchaftlicher 
Spieler iſt. Der Lalai beflagt die: der Herr hätte ſich 
font ſchon längft vom Geichäfte zurücziehen können, um 
von feinen Renten zu leben, draußen auf dem Lande irgendwo, 
und ein Heine Häuschen zu haben, mit einem fleinen 
Garten, und Kirchenrat oder Gemeindevorfteher zu werden! 
Aber der Herr, immer weiter die Laden Ieerend, lehnt dies 
ab: Dazu bin ich noch zu jung, ich muß arbeiten, ich kann 
nicht untätig fein! Umd während fie arbeiten, ftößt er an 
eine Vaſe, dieſe Fällt und zerbricht, ein Krach, nebenan er- 
wacht der Schläfer, dem die Wohnung gehört, und ftürzt 
herein. Die beiden begrüßen fich höflich, denn der Dieb 
hat immer das Prinzip: Soyons corrects et restong 
gentlemen! Und während nad; der Polizei um den Kom- 
miffär geſchickt wird, plaufchen fie gemütlich zujammen. 
Iener ftellt fi) vor: „Ich bin ein Einbrecher, ein Dieb. 
Aber ich habe diefen Beruf nicht gewählt, ohne vorher 
teiflich überlegt und erfannt zu haben, daß in den ver- 
wirrten Zeiten, in welchen wir leben, er noch der freiefte, 
der anftändigfte, der ehrlichfte ift. Der Diebſtahl, mein 
Herr — und ich jage: der Diebftahl, wie ich jagen würde: 
der Handel, die Advofatur, die Induftie, die Literatur, die 
Malerei, die Finanz, die Medizin — alſo der Diebitahl 
it nur deshalb bisher eine verrufene Karriere geweſen, 
weil die Leute, die fich ihr widmeten, widerliche Vagabunden 
waren, Leute ohne Urteil, ohne Erziehung und ohne Ele- 
ganz, Leute, die man wirklich nicht bei fich empfangen 
konnte ... Übrigens, ſeien wir doch ehrlich: der Dieb- 
ſtahl ift die einzige Beſchäftigung des Menſchen. Ich be- 
haupte, daß ein Menſch durch die Tatjache allein, daß er 


— 42 — 


Geld verdient, es irgendwo ftiehlt.“ Ce n’est peut-Etre 
qu’une question de dictionnaire . . . en effet, bemerkt 
der andere ſchüchtern. Aber jener fährt fort: er Bat als 
Kaufmann begonnen, ift dann zur Finanz übergegangen, 
#t der Reihe nach Journaliſt, Politiker, Weltmann ge- 
weien — „kurz ich habe alle Karrieren verſucht, die das 
Öffentliche und das private Leben einem begabten und taft- 
vollen jungen Menfchen, wie ich bin, zu bieten hat. Und 
dann ſchloß ich jo: Da nun der Menſch einmal diejem 
Naturgejege des Diebſtahls nicht entrinnen kann, ift es 
nicht ehrenvoller, dieß offen zu betreiben? Und fo begann 
ich zu ftehlen und ftahl jeden Tag, ehrlich.“ Und auf 
die Frage des anderen, ob er denn dabei glüdlic iſt: 
„So weit man es in einer fo unvollfommenen Ordnung der 
Gejellichaft jein Tann, wo uns alles verlegt und die nur 
von Lügen lebt." Sein Geift, feine guten Manieren, jein 
Wig entzüden den anderen jo, daß er, al3 nun der Kom⸗ 
miffar erſcheint, diejen gleich wieder fortſchickt und den 
neuen Freund durchaus zum Frühftüd behalten will. Der 
lehnt es aber entjchieden ab: Es ift faft acht Uhr, ich bin 
noch im Fra, das wäre zu läcerlih. Nun bietet ihm 
der andere wenigſtens feinen Wagen an. „Dante, mein 
Automobil wartet an der Ede. Auf Wiederfehen alſo!“ 
Und er will zum enfter hinaus. „Aber bitte doch,“ jagt 
der andere, „durch die Tür!“ „Richtig,“ erwidert der Dieb, 
„entfchuldigen Ste: die Macht der Gewohnheit.“ Und fie 
grüßen fich höflich und er geht. 

Jarno gab in der „Angele* den Alten, einft eine 
berühmte Rolle Neichers, und dann den Dieb: jenen jehr 
merkwürdig durch etwas geheimnisvoll Verhaltenes, das 





— 43 — 


uns einen tieferen Menſchen ahnen läßt, als die Figur 
zeigt, dieſen ſcharmant in feiner mondänen Sicherheit. Aus 
dem Beftohlenen, der eigentlich gar feine Rolle ift, fondern 
nur Die Stichworte zu bringen hat, wurde durch Maran 
ein Daumier. Sonft find der nur etwas zapplige Herr 
Bachmann, Herr Nerz, Herr Claar und die Meine Blaha 
zu nennen. 


Anderes 








Stumm und Drang. 

(„Die Rinbermörderin“, ein Trauerfplel von Heinzid) Seopolb Wagner. | 
Zum erften Bal aufgeführt durch den Mufil- und Thenterverein 
„Seeffion” im Beatrigfanl am 27. Auguft 1904.) 

In einer Geichichte der deutichen Literatur, die noch 
immer gern jungen Leuten zu Weihnachten gefchenkt wird, 
fteht über Heinrich Leopold Wagner zu leien: „So war 
fein ungemein rohes und gemeines Trauerjpiel „Die Kindes⸗ 
mörderin“ dem entnommen, was er von Goethe über Gret⸗ 
chens traurige Ende im „Fauſt“ andeutungsweiſe gehört 
hatte. Zur Strafe dafür hat ihn Goethe in jeinem großen 
Drama als Faufts Famulus verewigt.“ Daran ift natür- 
lich fein wahres Wort. Das „ungemein gemeine“ Stüd 
heißt gar nicht die „Sindeömörderin“, fondern die „Kinder 
mörderin“ ; wir wifjen längft, daß es nicht Goethe „ent- 
nommen“ ift; und Goethe wird wohl auch faum den 
Famulus nur erfunden haben, um Wagner zu „Itrafen“, 
den er übrigens, ſonſt fpäter, in der „klaſſiſchen“ Zeit, den 
Freunden aus feiner wilden Jugend nicht eben ſehr gnädig, 
immerhin, „obgleich von feinen aufßerordentlichen Gaben“, 
doch als einen „guten Gejellen“ gelten ließ. Aber jo gebt 
es mit den Germaniften; einer jchreibt daß Urteil des 


— 45 — 


andern aus, ohne jelbft das Werk zu fragen, und rafft ſich 
einer dazu doch einmal auf, ift er wieder meiſtens gar 
nicht fähig, das Weſen zu ſpüren. Mißverftändniffe, halbe 
Wahrheiten, ganze Lügen erben fich fort, auch wer ſich vor 
ihnen zu hüten glaubt, wird unmillfürlich doch angeftedt 
und ift dann paff, wenn er zufällig nach Jahren wieder 
vor jo ein verrufenes Werk gebracht, plöglich gewahrt, wie 
ftarf es ift. Ich Habe jet wieder einmal ein paar Tage 
Klinger, Lenz und Wagner gelejen, welchen ich jeit meiner 
erſter Berliner Zeit entrüdt war. Damals Haben fie jehr 
auf mich gewirkt, wie wir und ja damals alle, in den 
ungeftämen Achtzigerjahren, gern auf fie beriefen und gar, 
ein bißchen kokett, als ihre Vollſtrecker fühlten. Ich Hatte 
dies nicht vergeffen, aber wie man jchon bisweilen, eben 
indem man einen Gedanken oder ein Gefühl zu bewahren 
glaubt, doch feine nach und nach unmerflich verblafjende 
Kraft allmählich verliert, war ich jegt faft beftürzt, wie 
heftig nun ihre Natur auf mich eindrang. Man übertreibt 
dann in der erften Freude gern, man joll es nicht, id; 
jage mir das die ganze Zeit ſchon vor, es Hilft aber nichts, 
ih muß: noch nie war mir jo Mar, daß unfere ‚ganze 
neue deutfche Literatur von ihnen kommt, fie nur immer ent 
widelt und aufrollt, und wie fie fi von ihnen entfernt, jo 
lange verirrt bleibt, bis fie ſich zulegt doch immer wieder 
auf fie befinnt. (Nur der Ordnung wegen jei bemerft, 
daß fie deswegen doch fein Anfang find, jondern, wie jeit- 
dem alles auf fie, jo wieder ihr Weſen ganz auf den 
Minnejang zurüdgeht, deſſen Kunft auch ein durchaus un- 
mittelbare Verhältnis zum Leben hat.) Ich fühle, wie 
man mic, indem ich dies fage, ängftlich oder ſpöttiſch 


— 406 — 


Ihrer Wege.“*) Und Crainquebille ſenkt den Kopf und 
wanft langſam durch den Regen in die dunkle Nacht hinein. 
„Si on se möle & conduire les hommes,“ hat France 
einmal gejagt, „il ne faut pas perdre de vue qu'ils 
sont de mauvais singes: & cette condition seulement 
on est un politique humain et bienveillant.“ 

Jarno ift als Crainquebille vortrefilih. Er fagt dieje 
ruhigen Worte ſcheinbar ganz arglos her und wirft gerade 
dadurch ergreifend. Beſonders vor Gericht, wenn er nur 
immer vom einen zum anderen blidt und eigentlich den 
ganzen Akt bloß mit den Augen fpielt. Im dritten Akt 
hätte ich mir vielleicht doch einmal einen grelleren Ton 
der Verzweiflung gewünfcht, etwas aus dem legten Aft 
feines Keith. Aber wie er dann mit einer unendlich 
ſcheuen und elenden Gebärde den Schumann um Ver— 
zeihung fleht und endlich wortlos, ratlos, hoffnungslos 
hinausirrt, das iſt wieder ganz wunderbar. Auch fonft 
wird das Stüd — von den Damen Pohl-Meijer, Palme 
und Clemens, den Herren Strasni, Claar, Bachmann, 
Groß, Ezagell, Schmid! und Mahr — bis in die Heinfte 
Nolle herab durchaus glänzend geipielt und ift ein Mufter 
Aug nachfühlender und mitjchaffender Regie. 








*) Ich Habe nad der deutſchen Überfefung der Novelle, von 
Gertrud Savitſch, zitiert, die im Septemberheft der „Neuen Deutichen 
Rundſchau“ erfchienen it. 





— 4107 — 
Einalter. 


(„Angele“, Komödie von Otto Erich Hartleben. — Karrnerleut“ 
von Karl Schönherr. — „Der Dieb“ von Detave Nirbeau. — Zum 
erften Mal aufgeführt am 30. September 1904.) 

Als im zweiten Jahre der Berliner freien Bühne 
Hartlebeng „Angele“ erichien, gab es einen großen Skandal. 
Faſt wie zuvor bei Hauptmanns „Schnapd- und Bangen- 
ftüd“. Man zeterte fittlih: Wie unmoraliſch! Und jegt, 
da wir das Stüd nad) vierzehn Jahren wieberjehen, wundern 
wir uns faft, wie moraliich es ift. Es hat in der Tat 
den zornigen Ton beleidigter Tugend, es ſchreit vor Sitt- 
lichleit, es kann ſich gar nicht faſſen, daß die Welt fo 
ichfecht ift. Und unwillkürlich fragen wir ganz erftaunt. 
da, warum denn, was ift denn geichehen? Ein fleines 
Verliner Mädchen, wie diefe num einmal jind, vergnügt 
einen Referendar, bandelt wohl gelegentlich auch daneben, 
und da der alte Herr, den der Neferendar für jeinen Water 
hält und der es vor dem Gelege auch ift, und ein kindiſcher 
Kandidat der Theologie fich in fie vernarren, möchte fie 
den einen oder den anderen ehelich einfangen, was ihr der 
Autor, ſchadenfroh wie Moraliften immer find, dur) einen 
Zufall vereitelt. Und donnernd jegt er als Motto hin: 
Verachte dad Weib! Deshalb? Wir jehen gar feinen Grund. 
Beil ein junges Ding, wild aufgewachſen, arın, unbejonnen, 
hilflos, der großen Stadt ausgeſetzt, Lieber genießen als 
arbeiten will, einmal der Gier eines Mannes erlegen bald 
auch an andere gerät, Liebe und Lafter nicht tragijcher 
nimmt, als fie e8 überall fieht, jo liederlich wird, wie die 
Männer fie machen, und ſich endlich, da ihr doch mand;- 
mal vor dem Alter bangen mag, gern bürgerlich verjorgen 


— 46 — 


fragend anjehen wird, weil ich doch in Deutichland umter 
den erjten war, die darauf drangen, dem Naturalismus zu 
entrinnen und wieder zur Form zu ftreben, und fo viel- 
leicht, ungeduldig treibend, mit an diefem falſch vomantifchen, 
geziert klaſſiſchen, nichtigen Unweſen ſchuld bin, das jetzt 
ſtolziert, die jungen Leute betört und uns zu den Epigonen 
zurückzuwerfen droht. Dies mag fein, aber ich büße dafür 
ſchon jchwer genug und ich muß doch auch jagen: unge» 
tet. Niemals war von mir gemeint, der Künſtler Fönne 
je des Lebens entraten, um lieber nach der Kunft in die 
Luft zu greifen, und wenn es mich verdroß, bie Naturaliften 
ſich an der bloßen Impreffion genügen zu jehen, und es 
mich ergriff, wie laut und alle Meifter aller Zeiten jagen, 
daß diefe, die bloße Impreffion, allein noch nie die Kunſt 
war, jo blieb mir doch immer bewußt, daß von ihr aus 
nur erft alle Kunft beginnt und daß es ohne fie doch 
überhaupt feine Kunft gibt. Es ſcheint aber wirklich, daß 
nun die Menjchen jchon einmal unfähig bleiben, ein Ganzes 
zu leiften, und ewig wiederholt ſich jo dasſelbe Spiel: 
Fühlen fie das Leben, fo verachten fie die Form, in welcher 
allein doch Natur erft zur Kunft wird, und geht ihnen 
dann endlich das Geheimnis der Form wieder auf, jo wird | 
das Leben verleugnet, das allein doch nur jener den Stoff, 
Worte, Farben, Töne reicht, und jie wollen nicht verſtehen, 
daß beide zum Stünftler gehören, deſſen Weſen eben nur 
dies ift, daß in ihm das Leben immer wieder auf eine 
neue Form ftößt. So treibt man unabläffig ‚den Teufel 
duch Belzebub aus, und ein Irrtum, faum überwunden, 
wird fchon wieder notwendig, um den anderen zu heilen, 
der ihm auf den Ferfen folgt. Ich will noch einmal den | 


— 49 — 


Leute find anftändiger. Das iſt das Thema Schönherrs 
in den „Rarmerleuten", Mirbeaus im „Dieb“. Auch nicht 
ganz neu, e3 hat immer eine „Räuberromantif“ gegeben. 
Und Giordano Bruno hat ein Stüd geichrieben, den 
„Gandelaio“, den ihm die Pedanten niemals verzeihen: da 
Tommen lauter Ganner vor, aber es find zugleich die Philo- 
jophen ihrer Zeit, die academici di nulla academia; aus- 
geftoßen und verachtet, fühlen fie fih an fein Vorurteil 
der Sitte gebunden und benügen dies, um fich über ihre 
Beit Hinaus in eine hellere Zukunft zu ſchwingen, die vor- 
zudenlen, vorzuleben ihr Stolz ift. So verwegen geht 
Schönherr nicht 108. Auch ruft er nicht umjeren Hohn, 
jondern das Mitleid an. Der Vintjchgauer ift ein Vagant, 
der mit feinem Weib und den zwei Buben herumzieht, 
Exdäpfel ftiehlt, auch einmal wildert, nichts verſchmäht, 
was fich irgendwo mitnehmen läßt, und einen bejonderen 
Spaß bat, die Gendarmen zu foppen, die ihn niemals er- 
wifchen. Diebe!, jagen der Bauer und der Bürger; und 
befrenzigen fi. Ja, jagt Schönherr, aber man ift nicht 
bloß ein Dieb, damit ift der Menſch noch nicht erledigt, 
er fann and) in dieſem Berufe jehr menjchlich fein. Und 
er zeigt, wie väterlich der Strolch mit feinen Kindern 
ſcherzt, und wie das fleinere, Füchjel genannt (die Figur 
erinnert in ihrer Stimmung ein bißchen an „Poil de 
carotte“ de3 Jules Nenard, deſſen man ſich aus dem 
Burgtheater entfinnt) ſich in feinem verjchmigten Köpfchen 
einen ganz eigenen Ehrbegriff zurechtmacht, der fo ftarr 
wie nur irgend ein ritterlicher ift. Aus Hunger verrät es 
den Vater an den Gendarmen, der ed mit einem Stüd 
Brot lockt, und ſchämt fich dann fo, daß e in den Bach 


— 40 — 


ſpringt, um lieber zu fterben, als dies Gefühl zu ertragen. 
Diefe Szene tft mit aller dramatifchen Wucht und Kraft 
geführt, die wir an Schönherr immer wieder bewundern, 
nur leiſe beforgt, daß er fich mit ihr nicht zu begnügen 
ſcheint, und eine Neigung, ins Theatraliiche zu geraten, 
nicht verwinden mag. 

Mirbeau faßt dasſelbe Thema fatiriih an. Mirbeau 
ift ein violent, wie die Franzoſen einen nennen, dem es 
nicht genügt, durch die Wand zu rennen, fondern der darauf 
verjeffen ift, e& juft mit feinem eigenen Sopfe zu tun. 
Aber dann ift er auch (Goncourt Hat dies einmal im 
„Journal“ fehr amüſant geichildert) ein potinier: einer, 
der eine Freude hat, das Leben in lauter famoje Feine 
Geſchichten und Anekdoten aufzulöfen. In tyrannos, aber 
nicht ohne ihnen, während er den Dolch in fie ftößt, noch 
ein hübſches Wort und einen verbindlichen Scherz zu 
fagen, über den fie felbjt lachen müfen. Mit den Jahren 
wird jener in ihm immer ſchwächer, dieſer immer ftärfer, 
was auch einträglicher ift, und jo Bat er ſich allmählich 
in den Anarchiſten am Stamin verwandelt, ber in gejicherter 
‚Stellung mit Bomben wie ein Jongleur Hantiert. Er 
jagt den reichen Leuten, daß fie ärger als die Diebe find, 
fagt es aber jo, daß fie fi) darüber noch riefig freuen. 
Was ja vielleicht heute die einzige Art ift, frei zu fein, 
‚ohne eingefperrt zu werden. 

Der Vorhang geht auf, ein finiteres Zimmer, wir 
hören dag Fenſter flirren und es fteigt, von feinem Lafaien 
‚gefolgt, ein jehr eleganter Herr, in einem Pelz, im Frad, 
mit weißer Strawatte, ein, der nun auszuplündern beginnt. 
Wir erfahren, daß e3 fchon gegen fünf Uhr früh ift; er 





— 41 — 


Hat ſich im Klub verjpätet, weil er ein leidenſchaftlicher 
Spieler ift. Der Lafai beklagt dies: der Herr Hätte ſich 
fonft ſchon längſt vom Geichäfte zurüdtziehen Können, um 
don jeinen Renten zu leben, draußen auf dem Lande irgendwo, 
und ein Heine® Häuschen zu haben, mit einem fleinen 
Sarten, und Kirchenrat oder Gemeindevorfteher zu werden! 
Aber der Herr, immer weiter die Laden leerend, lehnt dies 
ab: Dazu bin ich noch zu jung, ich muß arbeiten, ich fann 
nicht untätig fein! Und während fie arbeiten, ſtößt er an 
eine Bafe, diefe fällt und zerbricht, ein Krach, nebenan er- 
wacht der Schläfer, dem die Wohnung gehört, und ftürzt 
herein. Die beiden begrüßen fich höflich, denn der Dieb 
hat immer das Prinzip: Soyons corrects et restong 
gentlemen! Und während nach der Polizei um den Kom- 
miſſär geſchickt wird, plaufchen fie gemütlich zufammen. 
Jener ſtellt fich vor: „Ich bin ein Einbrecher, ein Dieb. 
Aber ich habe dieſen Beruf nicht gewählt, ohne vorher 
reiffich überlegt und erkannt zu haben, daß in dem ver- 
wirrten Zeiten, in welchen wir leben, er noch der freiefte, 
der anftändigfte, der ehrlichite ift. Der Diebitahl, mein 
Herr — und ich jage: der Diebftahl, wie ich jagen würde: 
der Handel, die Advolatur, die Induftie, die Literatur, die 
Malerei, die Finanz, die Medizin — aljo der Diebftahl 
iſt nur deshalb bisher eine verrufene Karriere geweſen, 
weil die Leute, die fich ihr widmeten, widerliche Vagabunden 
waren, Lente ohne Urteil, ohne Erziehung und ohne Ele- 
ganz, Leute, die man wirklich nicht bei fich empfangen 
tonnte ... Übrigens, jeien wir doch ehrlich: der Dieb- 
ftahl ift die einzige Beichäftigung des Menfchen. ch be- 
haupte, daß ein Menſch durch die Tatjache allein, daß er 


— 42 — 


Geld verdient, es irgendwo ſtiehlt.“ Ce n’est peut-ätre 
qu’une question de dictionnaire ... . en effet, bemerft 
der andere jchüchtern. Aber jener fährt fort: er bat als 
Kaufmann begonnen, ift dann zur Finanz übergegangen, 
iſt der Reihe nach Journaliſt, Politifer, Weltmann ge- 
weien — „kurz ich habe alle Karrieren verfucht, die das 
Öffentliche und das private Leben einem begabten und talt- 
vollen jungen Menfchen, wie ich bin, zu bieten hat. Und 
dann ſchloß ich jo: Da nun der Menich einmal diejem 
Noturgefege des Diebſtahls nicht entrinnen Tann, ift es 
nicht ehrenvoller, dies offen zu betreiben? Und fo begann 
ich zu ftehlen und ftahl jeden Tag, ehrlich.“ Und auf 
die Trage des anderen, ob er denn dabei glüdlich ift: 
„So weit man e& in einer jo unvolllommenen Ordnung der 
Geſellſchaft fein kann, wo uns alles verlegt und die nur 
von Lügen lebt.“ Sein Geift, jeine guten Manieren, fein 
Wit entzüden den anderen jo, daß er, al3 num der Kom⸗ 
miffar ericheint, dieſen gleich wieder fortfchidt und den | 
neuen Freund durchaus zum Frühftüd behalten will. Der | 
lehnt es aber entichieben ab: Es iſt faft acht Uhr, ich bin 
noch im Frack, das wäre zu lächerlih. Nun bietet ihm 
der andere wenigitens feinen Wagen an. „Danke, mein 
Automobil wartet an der Ede. Auf Wiederjehen alſo!“ 
Und er will zum Zenfter hinaus. „Aber bitte doch,“ jagt 
der andere, „Durch die Tür!“ „Richtig,“ erwidert der Dieb, | 
„entichuldigen Sie: die Macht der Gewohnheit.“ Und fie 
grüßen fich höflich und er geht. 

Jarno gab in der „Angele“ den Alten, einft eine 
berühmte Rolle Reichers, und dann den Dieb: jenen jehr 
merkwürdig durch etwas geheimnisvoll Verhaltenes, das 


— 43 — 


uns einen tieferen Menſchen ahnen läßt, als die Figur 
zeigt, dieſen ſcharmant in ſeiner mondänen Sicherheit. Aus 
dem Beſtohlenen, der eigentlich gar keine Rolle iſt, ſondern 
nur die Stichworte zu bringen hat, wurde durch Maran 
ein Daumier. Sonft find der nur etwas zapplige Herr 
Bachmann, Herr Nerz, Herr Claar und die Heine Blaha 
zu nennen. 


Anderes 








Sturm und Drang. 


(„Die Kinbermörderin“, ein Trauerfpiel von Heinrich Leopold Wagner. 
Zum erften Mal aufgeführt dur den Mufil: und Theaterverein 
„Segeifion“ im Beatrixſaal am 27. Auguft 1904.) 

In einer Geichichte der deutichen Literatur, die noch 
immer gern jungen Leuten zu Weihnachten gejchenft wird, 
fteht über Heinrich Leopold Wagner zu Iejen: „So war 
fein ungemein rohes und gemeined Trauerjpiel „Die Kindes⸗ 
mörderin“ dem entnommen, was er von Goethe über Gret- 
chens trauriges Ende im ‚Fauſt“ andeutungsweiſe gehört 
Hatte. Zur Strafe dafür hat ihn Goethe in feinem großen 
Drama als Fauſts Famulus verewigt." Daran ift natür- 
lich fein wahres Wort. Das „ungemein gemeine” Stüd 
heißt gar nicht die „Kindesmörderin“, jondern die „Kinder- 
mörderin“ ; wir wiffen längft, daß es nicht Goethe „ent- 
nommen“ ift; und Goethe wird wohl auch faum den 
Famulus nur erfunden haben, um Wagner zu „itrafen“, 
den er übrigens, ſonſt fpäter, in der „Eajfifchen“ Zeit, den 
Freunden aus feiner wilden Jugend nicht eben jehr gnädig, 
immerhin, „obgleich von feinen außerordentlichen Gaben“, 
doch al3 einen „guten Gejellen“ gelten ließ. Aber jo geht 
es mit den Germaniften; einer jchreibt das Urteil des 


— 45 — 


andern aus, ohne jelbit das Werk zu fragen, und rafft ſich 
einer dazu doch einmal auf, ift er wieder meiſtens gar 
nicht fähig, das Weſen zu jpüren. Mißverftändniffe, halbe 
Wahrheiten, ganze Lügen erben fich fort, auch wer fich vor 
ihnen zu hüten glaubt, wird unwillkürlich doch angeftedt 
und ift dann paff, wenn er zufällig nach Jahren wieder 
vor jo ein verrufenes Werk gebracht, plöglich gewahrt, wie 
ſtatk es ift. Ich Habe jet wieder einmal ein paar Tage 
Klinger, Lenz und Wagner gelejen, welchen ich feit meiner 
erſter Berliner Zeit entrüdt war. Damals haben fie jehr 
auf mich gewirkt, wie wir und ja damals alle, in den 
ungeftämen Achtzigerjahren, gern auf fie beriefen und gar, 
ein bißchen kokett, als ihre Bollftreder fühlten. Ich hatte 
dies nicht vergeffen, aber wie man jchon bisweilen, eben 
indem man einen Gedanken oder ein Gefühl zu bewahren 
glaubt, doch feine nach und nach unmerklich verblafjende 
Kraft allmählich verliert, war ich jegt faft beftürzt, wie 
heftig num ihre Natur auf mich eindrang. Man übertteibt 
dann in ber erften Freude gern, man joll es nicht, ich 
jage mir daS die ganze Beit ſchon vor, es Hilft aber nichts, 
ich muß: noch nie war mir jo klar, daß unfere ‚ganze 
neue deutjche Literatur von ihnen kommt, fie nur immer ent 
wickelt und aufrollt, und wie fie ſich von ihnen entfernt, jo 
lange verirrt bleibt, bis fie fich zulegt doch immer wieder 
auf fie befinnt. (Nur der Ordnung wegen fei bemerkt, 
daß fie deswegen doch fein Anfang find, jondern, wie jeit- 
dem alles auf fie, fo wieder ihr Weſen ganz auf ben. 
Minnejang zurüdgeht, deſſen Kunft auch ein durchaus un- 
mittelbare3 Verhältnis zum Leben hat.) Ich fühle, wie 
man mich, indem ich dies fage, ängftlich oder ſpöttiſch 


— 406 — 


Ihrer Wege.“*) Und Erainquebille jenft den Kopf und 
wanft langſam durch den Regen in bie dunfle Nacht hinein. 
„Si l'on se möle & conduire les hommes,“ hat France 
einmal gejagt, „il ne faut pas perdre de vue qu’ils 
sont de mauvais singes: & cette condition seulement 
on est un politique humain et bienveillant.“ 

Jarno ift als Erainquebille vortrefflih. Er fagt diefe 
ruhigen Worte ſcheinbar ganz arglo8 her und wirft gerade 
dadurch ergreifend. Beſonders vor Gericht, wenn er nur 
immer vom einen zum anderen blidt und eigentlich den 
ganzen Akt bloß mit den Augen fpielt. Im dritten Aft 
hätte ich mir vielleicht doch einmal einen grelleren Ton 
der Verzweiflung gewünfcht, etwas aus dem leiten Aft 
feines Keith. Aber wie er dann mit einer unendlich 
fcheuen und elenden Gebärde den Schugmann um Ver- 
zeihung fleht und endlich wortlos, ratlos, hoffnungslos 
hinausirrt, das ift wieder ganz wunderbar. Auch fonft 
wird das Stüd — von den Damen Pohl-Meijer, Palme 
und Clemens, den Herren Strasni, Claar, Bachmann, 
Groß, Czagell, Schmid! und Mahr — bis in die Heinfte 
Nolle herab durchaus glänzend geipielt und iſt ein Mufter 
Aug nachfühlender und mitjchaffender Regie. 











*) Ich habe nad; der beutfchen Überfegung der Novelle, von 
Gertrud Savitſch, zitiert, die im Septemberheft der „Neuen Deutichen 
Rundfhau” erſchienen iſt. 





— 41 — 


Einalter. 

(Angele“, Komödie von Otto Erich Hartleben. — „Rarrnerleut” 
von Karl Schönherr. — „Der Dieb“ von Detaye Nirbeau. — Zum 
erften Mal aufgeführt aın 30. September 1904.) 

Als im zweiten Jahre der Berliner freien Bühne 
Hartlebens „Angele“ erichien, gab es einen großen Skandal. 
Faft wie zuvor bei Hauptmanns „Schnaps- und Zangen- 
ftüd“. Man zeterte fittlich: Wie unmoraliſch! Und jetzt, 
da wir das Stüd nach vierzehn Jahren wiederjehen, wundern 
wir uns fat, wie moralijch es ift. Es Hat in der Tat 
den zornigen Ton beleidigter Tugend, es ſchreit vor Sitt- 
lichkeit, es kann ſich gar nicht faſſen, daß die Welt jo 
ſchlecht ift. Und unwillfürlich fragen wir ganz erftaunt. 
Ja, warım denn, was ift denn geichehen? in Meines 
Berliner Mädchen, wie diefe nun einmal jind, vergnügt 
einen Referendar, bandelt wohl gelegentlich auch daneben, 
und da der alte Herr, den der Neferendar für feinen Vater 
hält und der es vor dem Gejege auch ift, und ein kindiſcher 
Kandidat der Theologie fi in fie vernarren, möchte fie 
den einen oder den anderen ehelich einfangen, was ihr ber 
Autor, ſchadenfroh wie Moraliften immer find, durch einen 
Bufall vereitelt. Und donnernd fegt er al Motto Hin: 
Verachte das Weib! Deshalb? Wir jehen gar feinen Grund. 
Weil ein junges Ding, wild aufgewachien, arın, unbejonnen, 
bilflos, der großen Stadt ausgeſetzt, lieber geniehen als 
arbeiten will, einmal der Gier eines Mannes erlegen bald 
auch am andere gerät, Liebe und Lafter nicht tragifcher 
nimmt, als fie es überall fieht, jo liederlich wird, wie die 
Männer fie machen, und ſich endlich, da ihr doch mandj- 
mal dor dem Alter bangen mag, gern bürgerlich verforgen 


— 48 — 


möchte, um dann wahricheinlich eine fo brave Frau zu 
werden, als ihr Neferendar, bis’ er nur exit Aſſeſſor ge- 
worden ift, den braven Mann machen wird? Iſt das fo 
ſchreckllich? Die Männer nügen fie für ihre Lüfte aus; 
ift es fo fchlimm, wenn nun auch fie die Lüfte der Männer 
auszunützen verſucht? Und deshalb gleich: Verachte das 
Weib? Wenn e3 dafür fein ftärkeres Argument gibt! Wir 
fühlen bier viel weniger das Weib als die Geſellſchaft 
verächtlich, in der es fich jchänden muß. Aber daran 
merkt man die Tugend des Autor? und merkt, daß er aus 
einer ſtillen kleinen Stadt kommt, ängftlich erzogen und 
vor dem Leben verwahrt. Man wird unjeren Ton von 
1880 bis 1890 nie verftehen, wenn man nicht weiß, daß 
wir alle aus fleinen Städten waren, als Kinder in hellen 
ftillen Stuben mit weißen Gardinen ſorgſam behütet, in 
eine künftliche Welt von Treu und Redlichkeit verhält. 
Nun aber aus dieſem geiftigen Biedermeierftil plöglich ins 
Leben ausgeftoßen, jchrieen wir entjegt auf. Seitdem find 
wir älter und find ftädtifcher geworden. Was wir damals 
exit pathetiich, dann Höhnijch ingrimmig angeflagt, nehmen 
wir jegt mit einer Geduld Hin, die weniger philofophiich 
als praftiich ift. Wir werden es nicht ändern; e& fcheint, 
daß wir den Glauben an und verloren Haben. Insgeheim 
ſchämen wir und wohl noch ein bißchen, aber wir regen 
ung Öffentlich nicht mehr auf, fondern es genügt und, zu 
wiffen, daß es in der Welt, wie fie nun einmal vorläufig 
ift, niemals anftändig zugeht. Wenigſtens gewiß nicht 
unter den anftändigen Leuten. Bei den anderen vielleicht 
eher. 

Bei den anderen vielleicht eher. Die unanftändigen 





— 49 — 


Leute find anftändiger. Das ift das Thema Schönherrs 
in den „Karrnerleuten”, Mirbeaus im „Dieb“. Auch nicht 
ganz neu, es hat immer eine „Räuberromantif” gegeben. 
Und Giordano Bruno hat ein Stück gefchrieben, ben 
„Candelaio“, den ihm die Pedanten niemals verzeihen: da 
kommen lauter Gauner vor, aber es find zugleich die Philo- 
fophen ihrer Zeit, die academici di nulla academia; aus- 
geitoßen und verachtet, fühlen fie fih an fein Vorurteil 
der Sitte gebunden und benügen dies, um fich über ihre 
Zeit hinaus in eine hellere Zukunft zu ſchwingen, die vor- 
zudenken, vorzufeben ihr Stolz ift. So verwegen geht 
Schönherr nicht 108. Auch ruft er nicht unferen Hohn, 
fondern das Mitleid an. Der Bintjchgauer ift ein Vagant, 
der mit feinem Weib und den zwei Buben herumzieht, 
Erdäpfel ftiehlt, auch einmal wildert, nicht? verſchmäht, 
was fich irgendwo mitnehmen läßt, und einen bejonderen 
Spaß Hat, die Gendarmen zu foppen, die ihn niemals er- 
wifchen. Diebe!, jagen der Bauer und der Bürger; und 
befreuzigen fich. Sa, jagt Schönherr, aber man ift nicht 
bloß ein Dieb, damit ift der Menſch noch nicht erledigt, 
er kann auch in diefem Berufe jehr menichlich fein. Und 
er zeigt, wie väterlich der Strolch mit feinen Kindern 
ſcherzt, und wie das Kleinere, Füchjel genannt (die Figur 
erinnert in ihrer Stimmung ein bißchen an „Poil de 
carotte* des Jules Renard, deſſen man ſich aus dem 
Burgtheater entfinnt) fich in feinen verfchmigten Köpfchen 
einen ganz eigenen Ehrbegriff zurechtmacht, der fo ftarr 
wie nur irgend ein ritterlicher ift. Aus Hunger verrät es 
den Vater an den Gendarmen, der es mit einem Stüd 
Brot lockt, und ſchämt fich dann fo, daß es in den Bach 


— 20 — 


groß in ihrer Schwäche! — wie ganz Tugend, auch nach⸗ 
dem ich fie mit dem Lafter befannt gemacht hatte! Und 
ich, wie Hein! Wie — o! Ich mag gar nicht zurüd- 
denlen.“ Worin, nebenbei bemerkt, noch ein ganzes Stüd 
ftedt, da3 auf feinen Autor warte. Das Motiv, von 
Wagner und von Hartleben nicht weiter verfolgt, das auch 
irgend fonft ausgeführt gefunden zu Haben ich mich nicht 
erinnern Tann, müßte doch einen Piychologen reizen: ein 
Wüftling, der die Verführung als Metier treibt, jo 
irgend ein Valmont, auß den „Liaisons dangereuses“ 
des Laclos, aber nun, indem es ihm mit einem Mädchen 
glückt, ſich in der eigenen Schlinge fängt, fentimental 
wird und am Ende verzweifelt, daß er das Mädchen, dem 
die Debauche ſchmeckt und das fich jetzt ebenjo, aber um- 
gefehrt verändert, unheilbar zerftört hat 'und fo verliert, 
eben indem er es gewinnt. Man ftaunt immer wieder: 
in diefen Stüden de3 „Sturm und Drang“ ift noch ein 
ganzes Neportoire für und, Man ſehe hier nur gleich 
den erften Aft, der im „gelben Kreuz“, in einem ver- 
rufenen Haufe fpielt. Wagner hat ihn wohl aus „Maß 
für Maß“, von der frau Ueberley und ihrem guten Bier- 
zapfer Pompejus angeregt. Aber erinnern wir uns, wie 
neu er noch in den „Gefallenen Engeln“ der Frau Lang- 
fammer und erft neulich wieder, burlesk gewendet, in der 
„Einquartiernng* auf uns gewirkt bat. Was ſchließlich 
doch nur beweiſt, wie wenig ſich das Publikum im Grunde 
verändert hat. Es iſt jegt eine etwas andere Technik ge- 
wohnt, es will die Dinge ein bifschen anders jerviert, aber, 
geftehen wir e8 nur, im Grunde diejelben Dinge, immer 
nur biejelben Dinge noch. Es hat fich nicht geändert. 


— 421 — 


Dos wird einem auch in dem Vorworte fehr deutlich, das 
Bagner drei Jahre fpäter zur Umarbeitung feines Stüdes 
ſchrieb. Es Heißt da: „In unjeren gleisnerifchen Tagen, 
wo alles Kombdiant ift, kann die Schaubühne freilich, wie 
ihr ſchon mehrmalen vorgeworfen worden, Teine Schule 
der Sitten werden ; dies von ihr zu erwarten, müſſen wir 
erit dem Stande der unverderbten Natur wieder näher 
rüden, von dem wir weltenweit entfernt find. — Sollte 
die je wieder gejchehen können? Ich hoff's, denn jede 
zu hart geipannte Feber ſchnappt über und in ihre natür- 
liche Lage zurück. Sept ift e8 Mode, tugendhaft fcheinen 
zu wollen, vielleicht wird man es einmal aus der näm«- 
lichen wichtigen Urfache. Jetzt hat alles keuſche Ohren, 
der größte Haufen freche und bublerifche Augen und ein 
unreines Herz: Tugend figt den meiften bloß auf den 
Lippen und gibt alle anderen Zugänge der unverfchämte- 
ften Ausgelaſſenheit preis; wenn ſich das einmal wieber- 
lehrt, wird's wohl wieder befjer werden . . . Indeſſen be 
wog mich doch dieſes zu einer Beit, wo ich gerade was 
Beſſeres zu tun nicht geftimmt war, ſelbſt Hand anzu- 
legen und den in der „Kindermbrderin“ behandelten 
Stoff jo zu modifizieren, daß er auch in unjeren delifaten, 
tugendlallenden Zeiten auf unferen fogenannten gereinigten 
Bühnen mit Ehren erjcheinen dürfte.“ Das Tönnte chließ- 
lich auch ich für den „Reigen“ gejchrieben haben, an &x- 
zellenz v. Koerber. Nein, e8 hat fich nicht® geändert, die 
heiligften Güter der Nationen find gewahrt und unent« 
wegt lallen auch wir noch Tugend. 

Die Aufführung duch den Verein „Sezeifion“ war 
fehr angenehm. Beſonders find die Damen Werther und 


— 112 — 


Enrici, die Herren Tellheim, Edel und Forft zu nennen. 
Sie zeigten eine fo ſchöne Luft an der Sache, daß man 
ganz vergaß, was ihnen an Routine noch fehlt. 


Das große Glüd. 


(Drama in drei Akten von Stanislaw Prszybys zewsti. Zum erften 
Mal aufgeführt durch das „Intime Theater“ im Jantich-Thenter am 
3. Dftober 1904.) 

Otto Julius Bierbaum hat einmal, in feinem „Stilpe“, 
die flandinavifch-flavifche Berliner Boheme der Neunziger- 
jahre geſchildert. Da kommt auch „Saftmir, der Fugen- | 
orgler“ vor, ein gar wilder Pole, Dämon und Blagueur, 
Toddy trinfend und das Idiotiſche verehrend. „Er hatte 
als Dichter nur ein Thema, Stilpe nannte es die medi- 
ziniſch· katholiſche Abgrundweis, aber diejes beherrichte er 
mit der Meifterfchaft bornterter Genies. Sein Dichten war | 
eine Art verzüdter Drehfranfheit, und man wußte nicht, ob 
er fich drehte, um zu dichten oder ob er dichtete, um fi 
zu drehen. Doch konnte fich feiner der Macht diejer 
grandios-wirren Eintönigfeit entziehen. Es war jchöpfe 
riſche Beſeſſenheit, die indefjen manchmal mehr Beängftigung 
als Tünftlerifchen Genuß hervorrief.“ Wir haben aud) 
noch ein anderes Dofument jenes Streifes, den Roman 
„Gärungen“ von Franz Servaes. Hier erfcheint in der 
Tafelrunde „zum eijernen Drachen“ als „neuefte Senfattond- 
nummer des geijtigen Berlin“ ein Kleiner Böhme, rothaarig, 
mit grauen, faft grünen, ſehr intenfiven Augen, zierlic, 
behend und liſtig, Spiridion Krakuſchek, Gehicnanatom, 
Mufifant, Genie, „ein Sterl, der alles umſchmeißt: Afthetif, 


— 428 — 


Wiſſenſchaft, Geſellſchaft und Tod und Teufel! Nietzſche 
iſt da der reine Waiſenknabe gegen.“ Er beneidet den 
Ftoſch, dem er eben das Gehirn exſtirpiert hat: „Won 
allen Schmerzen der Erkenntnis befreit. Denkt bloß noch 
mit dem Rückenmark. Ganz wie die Dichter: vifionär und 
in lauter vefleftorifchen Impreffionen. Iſt jest — Genie! 
... Das Gehirn ift im Grunde eine ftupide und lächer- 
liche Einrichtung! Stiftet lauter Verwirrung und will 
dabei überall das große Wort führen. Man müßte tat« 
fächlich das Gehirn zeitweife auf erperimentellem Wege 
entfernen — hinterher fönnte man’3 ja wieder einjegen! — 
verflucht! dann würden wir zum erften Male wiſſen, was 
wir eigentlich wollen und wie wir empfinden!" Er leidet 
an der Analyje, es drängt ihn zur Syntheſe zurüd: 
.Chaotismus — das iſt da8 Evangelium der Erlöfung. 
Die Menichheit muß wieder zum Chaos zurüd. Alles aus 
dem Urjchleim aufs neue gebären! Das Gehirn hat uns 
überall in die Sümpfe gelodt. Wir kranken an Hyper⸗ 
trophie des Bewußtſeins. Nur das Unbewußte, das Unter- 
bewußte kann und retten. „Rüdenmark wider Gehirn!“ — 
das ſei unfer Schlachtruf! Und unfer Mittel — der 
Rauſch! ... Wie der Rauſch zuftande fommt, das ift 
ganz furchtbar egal. Wenn er nur da ift, das iſt die 
Hauptſache! Alle Eraltationen, alle Ekſtaſen müſſen wir 
ſyſtematiſch durchkoſten. Sonft bleiben wir immer lächer- 
liche Gehirnmenſchen und fommen aus unſeren abftraften 
Ronftruftionen niemals heraus. Auch Fieberzuftände müſſen 
wir uns fchaffen. Die find noch intuitiver, offenbarungs- 
teicher als der Rauſch. Das Höchfte aber ift der Wahn⸗ 
finn! Dann fchreit und kreiſcht in ung die ganze Natur. 


— 40 — 


man dent an Mad}, den übrigens Przybyszewsli wahr- | 
ſcheinlich gar nicht fennt. Und man fpürt eine Pſychologie 
im Werden, die nicht mehr mit fertigen Gefühlen operieren, 
ſondern die Gefühle unter unferen Augen entftehen, jetzt 
gefrieren, jegt verbunften, immer fich verwandeln, immer 
fi) erichöpfen und eben dadurch immer fich wieder erneuen 
lafjen wird. 

In dieſem diabolifchen Dialog voll Widerhafen und 
Fallftriden durchzukommen, ift ſchauſpieleriſch unfinnig 
ſchwer. Um fo merkwürdiger, wie fehr es hier ein paar 
jungen Leuten gelang, von denen man biöher faum mehr 
als den Namen weiß. Einer ift unter ihnen, Herr Louis 
Neber, in der Provinz feit langem bekannt, der nach ber 
Energie, dem Takt und der Intelligenz jeiner Darftellung 
an ein großes Theater und vielleicht an erſte Stelle gehört. 
Die anderen, Fräulein Stödl, Fräulein Hohened und Herr 
Mich, erfegen durch Eifer, was ihnen an Schule fehlt. | 
Und was bei uns fo jelten ift: fie machen den Eindrud, 
zu verjtehen was fie jpielen. 


Herodes und Mariamne. 
(Zur Aufführung im Raimund:Theater am 30. November 1904.) 


Vom Prater herauf fnatterten die Salven des blutigen 
Jellachich, ala Hebbel in der Jägerzeile an der großen 
Szene zwilchen Mariamne und dem Romer Titus fchrieb. 
Als er ein paar Wochen jpäter, im November 1848, fertig 
war, zogen die faijerlichen Truppen in das geichändete | 
Wien, die Revolution war zerbrochen, die Freiheit erwürgt | 


— 2 — 


ob mit bloßen Worten die Macht der Muſik zu erreichen 
Hit, ob das Wort denn immer erft den Umweg über den 
Werftand nehmen muß, ob das Wort denn niemals ein 
gunmittelbares Verhältnis zur Empfindung, bevor fich diefe 
noch in einen Gedanken verwandelt hat, finden Tann. Sein 
+ Wort tft finnlos, wie die Worte im zweiten At des „Tri- 
ftan“ oder im „Liebestod“ finnlos find, indem erft die 
Muſik ihren Sinn für das Gefühl bringt. Diefem Ge- 
ühlsſinne nun Worte zu geben, die aljo gar nicht als 
logiſche, ſondern nur als finnliche Werte genommen werden, 
ohne erft dazu mit Muſik nachzubelfen, ift fein Verſuch. 
= Er Hat ungeheuer gewirkt. Offentlich allerdings nicht ; in 
den Beitungen ift er nicht berühmt geworden. Doch wer 
-  fpäter einmal der Entwidlung unſerer Sprache zur Dar- 
+ ftellung des Seelifchen nachgehen wird, muß überall auf 
ihn ftoßen. Aber plöglich war er fort. Und wie ver- 
ſchollen. Nur manchmal flog ſchwarz ein ſcheues Gerücht 
auf. Bis e8 plöglich hieß, er jet num in Lemberg zur 
Macht gelangt. Dies ift aber zu weit von und: denn e& 
gehört zum Oſterreichiſchen, daß wir von Borneo mehr 
wiſſen, als über unjere Nachbarn. Doc) muß er dort 
ſtark gehauft Haben. Ich traf einmal in Rom einen Polen, 
einen jehr netten und, wie es fchien, fünftleriich gefinnten 
alten Herm, und als ich num, um mich ihm gefällig und 
mein Intereffe für feine Literatur zu zeigen, von Przybys- 
zewsh begann, wurde der gute Menjch jo vor Entjegen 
fahl, als Hätte ich den Teufel ſelber angerufen; denn, rief 
er mit Wut, der richtet noch Polen zugrunde! Er fcheint 
aljo in der Tat dort das zu haben, was man eine ein- 
flußreiche literarijche Pofition nennt. Er ift der Sprecher 























— 426 — 


der Moderne, die ſich dort noch als Partei fühlt. Er 
zieht die jungen Leute an ſich, gibt ihnen in ſeiner Zeit- 
ſchrift ‚Zyeie“ die Lofungen aus und drängt ihnen feinen 
unftet nach dem Chaos verlangenden Geift auf, „mit einer 
ſolch gewaltigen Vehemenz, einer jo hypnotifierenden und 
raſenden Leidenfchaft, daß man wahrlich manchmal be- 
zweifeln konnte, ob das Genie in ihm wahnfinnig oder 
der Wahnfinn genial geworden“. Ich habe dies aus einem 
klugen und feinen Auffage von Klemens Funfenftein notiert, 
der an Ploszowski, dem defadenten Helden in Sienkiewicz' 
Bezdogmatu, und an Przybyszewsli die Wandlung der 
Polen zur neuen Generatton darftellt, und ich nehme dar- 
aus noch ein paar Säge her, die zeigen, wie Przybys⸗ 
zewski jegt auf fein Wolf wirkt: „Mit Hilfe der ganz 
Teifen Töne der ihm göttlichen Chopinfchen Muſik geleitet 
er hinunter in die Unterwelt der menjchlichen Seele; und 
fröftelnd kehrt er. zurüd, um einen ftärferen Anlauf zu 
nehmen und noch tiefer einzudringen. Bet jeder Rückkehr 
bringt er etwas, wie Geſtohlenes gleichjam, mit herauf 
und wirft es, wie wenn es glühend heiß wäre, ſchnell und 
mit Entfegen vor den Leſer hin. Der Lefer fieht es ebenjo 
ſchnell verſchwinden, aber was ihm zurückbleibt, das ift 
der Glaube an eine ihm bisher faft unbefannte Welt, die 
in dem Menſchen ift, an jene unterbewußten Regionen, 
welche in fich vielleicht die Antwort auf alle urweltlichen 
ragen bergen, an eine Heimftätte unfere® in und ver- 
ſchloſſenen irdiſchen und außerirdiſchen Schidjales. Und 
er weiß ed mit einem Mal, daß man nur eindringen 
tönnen müßte, um e8 wahrzunehmen und zu belaufchen — 
nur daß man nicht unberührt wiederfegren würde. Es ift 


— 41 — 


ihm, als ob ein dort hauſender Dämon uns den Verſtand 
fangen, unſere Begriffe verwirren, unſer Gedächtnis aus» 
lien, uns einen unheilbaren Schreden einjagen müßte, 
um diefen Hausfriedensbruch zu rächen und das Schweigen 
zu erzwingen . . . Und er bewundert den Autor, der feine 
Furcht Tennt, der fich ganz der Entwidlung der menjc- * 
lien Erkenntnis geweiht hat. Denn die Grenzen unjeres 
Bewußtſeins immer mehr augeinanderzuichieben, hat er ſich 
zur Aufgabe gemacht, fie zu erweitern, bis fie ſich mit der 
peripheren Linie des Unterbewußtſeins deden, erjcheint ihm 
als Ideal und Endziel unſeres Strebend. Und noch ar- 
beitet Przybyszewsli unermüdlich, um die Partei, die er 
ſich fchuf, zu fördern und zu vergrößern, um feine Konna- 
tionalen zur Arbeit in diefer Richtung zu bewegen. Er 
fennt ihre auf Mol geftimmten Nerven und er lodt fie 
an fih mit den "traurigften Spiegelbildern jeiner Seele. 
So ſpricht er zu ihnen in Worten, die fich zur Mufit 
verſchmelzen, zu einer Mufit, jo weich und dämoniſch, daß 
einem die Sinne ſchwinden, jo wirft er ihnen Blumen zu, 
deren Düfte fich wie ein wohllüſtiges Grauen durch die 
Seele gießen. So zaubert er ihnen Farben vor, die fich 
zu einer wilden Symphonie umfchlingen. So überjegt er 
ihnen in ihre Mutterjprache den Himmel mit den purpur- 
blauen Striemen und die totenblafjen Mondſcheinnächte 
und die leuchtenden Gewäſſer und die einfam lebloſen 
Steine und das Funfeln der betauten Zittergräfer im Glanze 
der Abendröte und die feinften, jubtiliten Nachwirkungen 
ferueller Triebe und die Verftimmung der jo gemarterten 
Seelen, wenn der graue Morgen die Wipfel der noch 
ſchwatz umnachteten Bäume verfilbert und ihnen das Ko- 


— 428 — 


lorit des Friedhofes verleiht... So lockt er fie hinein 
in ihre eigenen Seelen und hält ſie dann feſt mit einer 
unheimlichen, eiſernen Kraft, bis ſie einen Blick wenigſtens 
geworfen auf jenes Unausſprechliche, Schauderhafte, Ber- 
derbenbringende, Erlbſungsbergende... Denn von dieſem 
Augenblicke an gehören ſie ihm ... Und wenn jie dann 
taumelnd heimwärts ziehen, voll ftolzen Schredens und 
freudigen Grauens, gewiß — fie müſſen zu einem anderen 
Gott beten. Und wenn fie am Fußende des Bettes in 
die Kniee finfen und in Grabesftille untertauchen, gewiß 
— fie werden es wahrnehmen, wie die trauerumhüllten 
Gedanken, die Avantgarde des Wahnfinnes, die Hintertür 
ihres Gehirns erftürmen, und fie werden es entjetlich be- 
greifen: bald, bald, wird es Nacht ... Aber ihr letzter, 
verzweifelter Aufſchrei wird eine Bereicherung des menjch- 
lichen Wiſſens jein, ihr fterbendes Wort eine legte Schen- 
tung an die vorwärtsſtrebende Menjchheit.“ 

Das „große Glück“ jucht Stephan Karften bei Olga 
Tolſt, für welche er Grete, feine Geliebte, verläßt. Aus 
Kummer darüber und durch feinen faljchen Freund Karl 
Bed verwirrt, der ihm Olga nicht gönnt, weil er jelbit 
fie liebt, bringt Grete fich um. Der Tod fteht nun zwiſchen 
jenen, das große Glück ift zerjtört. Es kann aber jein, 
daß ich es falich erzählt habe. Sch weiß nämlich eigentlich 
die Motive diejer Menjchen nicht. ‘Und fie. jelbft wiſſen 
fie nicht. Und der Autor weiß fie auch nicht. Er weiß 
nur, daß fein Menich je die Motive eines andern wiſſen 
Tann, weder feine eigenen, noch die eines anderen, weil, 
was wir ein Motiv zu nennen gewohnt, nur eine Abbre- 
viatur ift, die wir uns der leichteren Ordnung wegen 


— 429 — 


machen, der aber real nichts entſpricht. Ich erzähle: Stephan 
bricht mit Grete, weil er fie nicht mehr, jondern Olga Tiebt. 
Der Autor aber zeigt, wie Died ausfieht, wenn einer eine 
nicht mehr zu lieben glaubt: daß er, indem er fich frei 
von ihr fühlt, doch immer noch an ihr hängt, indem er 
fie vergefien Haben will, erft recht an fie denken muß, in- 
dem er ihr feine Macht mehr über fich gibt, gerade durch 
die Erinnerung an fie vernichtet wird. Ich erzähle: Bed 
ift ein faljcher Freund. Uber der Autor zeigt, daß er ſich 
vielleicht niemal® wahrer mit dem anderen verbunden ge- 
fühlt Hat, als indem er ihn verrät. Ich erzähle, daß er 
ſich an Olga rächen will. Aber es kann auch fein, daß 
der Autor meint, er glaube vielmehr fie dadurch zu retten. 
Bei jedem Worte, das gejagt wird, läßt und der Autor 
fühlen: der es jagt, meint bei fich etwas anderes, und 
was er bei fich meint, ift es auch wieder nicht, woraus er 
Handelt. Mit allen Worten von ung und allen Gedanken 
über ung kommen wir niemal3 an das Gefühl hinab, das 
ung wirklich treibt. Und vielleicht gibt e8 gar fein folches 
Gefühl, jondern was wir jo nennen und für daß innere 
Motiv einer Handlung ausgeben, fpringt aus taufend durch- 
einander bligenden und aneinander wieder verlöfchenden 
Neizen plöglich hervor, die einen Moment vorher ganz 
ander3 waren, einen Moment nachher wieder anders fein 
werben und ſich nur gerade jegt und niemals wieder fo 
treffen, daß fie fich eben in diefe Tat entladen müffen, die 
demjelben Menſchen unter denjelben Bedingungen eine Mi« 
nute früher und eine Minute fpäter unmöglich wären. Wie 
bier Empfindungen zerdacht werden, denkt man unwillfür« 
lich an die Teilung der Farben bei den Pointilliften. Und 


— 40 — 


man denlt an Mach, den übrigens Przybyszewsli wahr- 
fcheinlich gar nicht kennt. Und man fpürt eine Piychologie 
im Werben, die nicht mehr mit fertigen Gefühlen operieren, 
fondern die Gefühle unter unferen Augen entftehen, jetzt 
gefrieren, jegt verbunften, immer ſich verwandeln, immer 
fich erfchöpfen und eben dadurch immer fich wieder ernenen 
laſſen wird. 

In biefem diaboliſchen Dialog vol Widerhaten und 
Fallſtricken durchzulommen, ift ſchauſpieleriſch unfinnig 
ſchwer. Um jo merkwürdiger, wie ſehr es hier ein paar 
jungen Leuten gelang, von denen man bisher faum mehr 
als den Namen weiß. Einer ift unter ihnen, Herr Louis 
Neber, in der Provinz feit langem befannt, der nach der 
Energie, dem Takt und der Intelligenz feiner Darftellung 
an ein großes Theater und vielleicht an erfte Stelle gehört. 
Die anderen, Fräulein Stödl, Fräulein Hohened und Herr 
Milſch, erjegen durch Eifer, was ihnen an Schule fehlt. 
Und was bei uns fo felten ift: fie machen den Eindrud, 
zu verftehen was fie fpielen. 


Herodes und Mariamne. 
(Zur Aufführung im Raimund:Theater am 30. November 1904.) 


Vom Prater herauf fnatterten die Salven des blutigen 
Jellachich, als Hebbel in der Jägerzeile an der großen 
Szene zwilchen Mariamne und dem Romer Titus jchrieb. 
Als er ein paar Wochen jpäter, im November 1848, fertig 
war, zogen die faijerlichen Truppen in das gejchändete 
Wien, die Revolution war zerbrochen, die Freiheit erwürgt 


— 4 — 


und die ruchlofe Zeit jener „Öutgefinnnten“ begann, die 
Emil Kuh mit einem prachtvollen Wort, defien Wahrheit. 
wir erft jegt wieder ganz verftehen Eönnen, die „Macchia- 
velliften aus der Schule des fidelen Lebens“ genannt hat. 
Das Recht jollte ausgebrannt und zerfäbelt werden. Es 
war fein Wunder, daß in diejer Stimmung, vor einem 
Publikum von Naderern, der „Herodes“, am 19. April 
1849 aufgeführt, mißfiel. Man jpürte wohl doch den 
verhaßten Geift heraus: denn die deutjche Revolution hat 
fein größeres Denkmal als dieſes Stüd gelafjen, das den 
vagen Begriff der Freiheit mit germanifcher Kraft füllt, 
indem es ihn auf die Würde des Menſchen ftellt. Hebbel, 
politifch ein Doktrinär, vol Schrullen und bald von einer 
tomantijchen Empfindfamfett, die vor der Härte des realen 
Lebens ſcheut, bald durch einen verfünftelten Begriff des 
Monarchiſchen betört, ift doch geiftig durchaus revolutio- 
när gewejen. Er hat erkannt, daß es den Menſchen un- 
erträglich geworden, „zum Ding herabgefegt” das Eigen- 
tum eines anderen zu fein und daß bie Menichheit fich 
nicht mehr beruhigen wird, big ſich auch der legte, der 
Heinfte, der ſchwächſte davor gefichert wilfen wird. 
Herodes liebt Mariamne. Im Wejen der Liebe tft 

&, ſich mit dem anderen fo verwachfen zu fühlen, daß 
& feine Trennung mehr geben kann, auch durch den Tod 
nicht, Wie Herodes jagt: 

Zwei Menfchen, bie ſich lieben wie fie follen, 

Können einander gar nicht überleben, 

Und wenn ich felöft auf fernem Schlachtfeld fiele: 

Man brauchte dir's durch Boten nicht zu melden, 

Du fühlteft es fogleich, wie es geichehn, 

Und ftürbeft ohne Wunde mit an meiner! 


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So fühlte er e8, fo fühlt auch fie es. Sie liebt ihn 
mit bderjelben Kraft. Ste ift entichlofien, ſich zu töten, 
lehrt er von Antonius nicht zurüd, der ihn vor fein Ge— 
richt gerufen hat. Uber nun verlangte er es. Er ver 
langt von ihr, was' ſie von ſelbſt will. Und da fie num, 
durch ihn gezwungen, foll, was fie ſich wuͤnſcht, Tann fie 
& nicht mehr. Ihr eigener Wunfch, zu fremden Zwang 
geworden, jein Befehl geworden, tft ihr unerträglich, weil 
er dann feinen Wert mehr hat. Die Schuld des Herodes 
verftricht fich noch tiefer, indem er dies nicht verjteht. Er 
weiß nicht, daß Mariamne den Tod für ihn, zu dem fie 
bereit ift, nicht geloben kann, weil fie dadurch ihrem Ent- 
ſchluſſe das Siegel der Liebe abnehmen würde, in deren 
Weſen es ift, alles als Geichent zu gewähren. Jene Tat, 
ihr Tod für ihn, jo groß, wenn fie von ihr dargebracht 
wird, ift nicht® mehr, wenn fie fie duch ihn muß. Er 
aber, dies nicht begreifend, weil er der Konig ift, alfo einer, 
der nicht wifjen kann, daß neben ihm die anderen Menjchen 
innerlich dasſelbe find wie er, ftellt fie jegt unter das 
Schwert und ahnt nicht, daß er, eben indem er jo die 
Macht auf fie lenkt, ſchon die Macht über fie verloren 
hat. Zweimal geſchieht dies mit ihm, zweimal erfährt 
fie es; in feinem Wejen ift es, daß er nicht fühlen kann, 
was mit ihr ift, weil er zu den Menfchen jo fteht, daß 
er von ihnen Taten will, aber nach ihrem Sinn nicht 
fragt; und in ihrem Weſen ift es, daß fie es ihm nicht | 
fagen kann, weil dies nicht? helfen würbe, weil es nicht 
die Drohung mit dem Tode ift, wodurch er ihre Liebe 
verwirkt, jondern dies allein, daß er die Würde der Liebe: 

„ihre jchenfende Kraft, verfennt und verſchmäht. 


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Aber Herodes erlebt das nicht bloß an ſeinem Weibe. 
Es iſt vielleicht der größte Zug der Dichtung, daß er 
es auch an ſeinem Freunde erlebt, an Soemus. Wie 
Mariamne die weibliche Liebe, auf ihren Superlativ ge—⸗ 
bracht, ift Soemus die männliche Freundſchaft. Eine 
durchaus germanifche Geftalt. Wie Horatio, wie Lerfe, 
wie Kurwenal. Der Gefährte, der feinen Wert darin jucht, 
dem zu dienen, den fein Gefühl für den Größeren erkennt. 
„Ein Treuer ohne Wanten*, mit dem Heren, den er 
ſich gewählt Hat, Haffend und minnend, immer für ihn 
bereit. Sein Stolz ift, feinen Herren fo zu kennen, daß 
er aus ich felbft unbefohlen tut, was diefer braucht. Stein 
Zweifel, er würde, wäre Herodes in der Schlacht gefallen, 
ohne ihm irgend einen Auftrag gelafjen zu haben, Mariam- 
nen töten, wenn fie es jelbft nicht tut: bloß aus dem 
Gefühle, fein toter Herr müfje dies wünſchen. Aber 
Herodes trägt es ihm auf. Und fo verliert er den Freund, 
wie er das Weib verlor. Es ift nicht die Tat, dor der 
Soemus fchaudert. Aber fie gehört zu jenen, die ein Mann 
nur ungeheißen tun kann, aus fich jelbft, die nur dev wagen 
darf, der fie auch verantworten muß, die fich ein Mann nur 
abeingt, wenn er die Wahl hat, weil er zum Knechte ver- 
Tommen ift, wenn er fie fich gebieten läßt. Soemus jagt: 

So groß ift Feiner, daß er mich ald Werkzeug 

Gebrauden darf! Wer Dienfte von mir fordert, 

-Die mich, vollbracht und nicht vollbracht, wie's kommt, 

Schmachvoll dem fihern Untergange weih'n, 

Der fpricht mic) los von jeder Pflicht, dem muß 

Ich zeigen, daß es zwiſchen Künigen 

Und Sklaven eine Mittelftufe gibt, 

Und daß ber Mann auf diefer fteht! 

Hermann Babr, Gloffen. 28 


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Werkzeug nennt er fid); ganz wie Mariomne: „Ich war 
ihm nur ein Ding und weiter nichts!“ Dadurch fühlen 
fie ſich geichändet. Beiden ift es eigen, das was fie wollen, 
zu verfagen, wenn e3 ihnen befohlen wird: aus dem Ge- 
fühle, daß ihre Tat jeden Wert verliert, wenn fie nicht 
durch fie ſelbſt geichieht. Wie Ellida, die fi vor Sehn- 
fucht nach dem fremden Manne verzehrt, jo lange fie dem 
eigenen gehören foll, aber, von dieſem freigegeben, feine 
Hörige mehr, unter ihr eigenes Geſetz geftellt, fich ihm in 
Liebe ſchenkt. „Ja, die Wahl muß ich haben,“ jagt Ellida. 
Und wieder: „In freiheit, freiwillig und unter meiner 
Verantwortung!" Es ift, hier wie bei jenen Juden Heb- 
bels, der tiefere Begriff der freiheit, den die Germanen 
in die Welt gebracht Haben, welche mit ihr nicht eine Be— 
freiung von böfen oder jchweren oder läjtigen Dingen ver- 
ftehen, fondern das Recht, auch gute und notwendige Dinge 
zu verweigern, wenn fie befohlen werden: aus einer er 
habenen Anfchaunng von der Würde des Menfchen, die 
es ihm unmöglich macht, eine Sache, das Eigentum eines 
anderen zu jein, jet diejer nun ein Mann oder Weib, ein 
Gebieter oder ein Freund, ein Volk oder ein Staat, und 
die an der Tat immer nur den darin freudig dargebrachten 
Willen gelten läßt. 

Diefer Begriff der Freiheit wurzelt im germanijchen 
Gefühle der tiefen Einſamkeit, in die der Menſch verſchloſſen 
ift. Steiner jol über den anderen Gewalt haben dürfen, 
weil feiner gegen den anderen gerecht fein fann: denn 
feiner fennt den anderen, feiner weiß von ihm. Dies ift 
vielleicht der größte Schmerz, den unfer Leben Hat. Wir 
werden niemals, niemals einem begegnen, der um uns 


— 45 — 


weiß. Viele werden uns die Hände reichen, viele ſich mit 
Worten nähern, viele in einer Empfindung mit uns ver⸗ 
weilen. Keiner erfennt und. Auch in ber Liebe wähnen 
wir das nur zuweilen. Es zeigt fich aber, daß auch die 
Liebe die Kraft nicht hat, einen Menſchen dem anderen 
anfzufchließen. Das ift ed, woran Mariamne ftirbt. Was 
ift dann Liebe, wenn es möglich ift, daß man fich auch 
in ihr noch fremd bleibt? Wenn Herodes fie jo wenig 
fennt, daß er ihr zutraut, nach feinem Tode noch Ieben zu 
fönnen, wie lächerlich ift fie dann getäufcht worden! Dann 
ift e3 doch ein fremder Mann, der nur ihren Leib ge» 
nommen hat! „Won jeßt erft fängt mein Leben an, bis 
heute träumt’ ich.“ Jetzt iſt fie aus dem furchtbaren Be- 
truge aufgewacht. ‘Freilich, fie Lönnte es ihm ja jagen. 
Mit Worten jagen? Sollen elende Worte vermögen, was 
die heißen Geberden der Leidenfchaft nicht Fonnten? Sie 
hat ihm Kinder geboren und er weiß nicht3 von ihr! Wenn 
das Leben fo ift, dann gilt ihr nicht® mehr; mag er fie 
verdammen! Es ift derjelbe Zug, der Cordelia verftummen 
läßt: wenn ihr Vater nicht weiß, wie fie ihn liebt, wenn 
er erſt Verficherungen braucht, wenn ein Menſch, dem an- 
deren fo verbunden, dennoch erft fragen muß, dann hat fie 
in diefer Welt nichts mehr zu tun! Und eigentlich ift es 
dies ja auch allein, worüber Irene wahnfinnig wird: Tag 
für Tag ift fie dem Rubek gejeffen, er Hat fein Werk an 
ihrem Leibe geformt, aber niemals hat er das Pochen ihrer 
Sehnfucht gehört. Wenn es den Menichen verjagt iſt, zu 
einander zu fommen, was reden fie dann von Liebe? 
Aber Hebbel gräbt Hier noch tiefer. Die Menjchen 
fönnen nicht zu einander fommen, weil feiner auch nur zu 
« as · 


— 46 — 


ſich ſelbſt kommt. Keiner vertraut dem andern, weil feiner 
fich felbft vertrauen Tann. Keiner kann vom anderen wil- 
fen, wie er ift, weil es feiner von fich jelbft weiß. Hero- 
des jagt: 

Nun lebt fie unterm Schwert! Das wird mic fpornen, 

Zu tun, was ich noch nie getan; zu dulden, 

Was ich noch nie gebulbet, und mich zu tröften, 

Wenn e3 umfonft geſchieht! 


Und noch deutlicher, al3 er jpäter feinen ungeheuren 
Frevel vor Mariamnen zu rechtfertigen verjucht: 


Ih würde nit den Mut zur Antivort haben, 
Wenn ich, was ich auch immer wagen mochte, 
Des Ausgangs nicht gewiß geweſen wäre, 

Das war ich aber und ich war es nur, 

Beil ic mein Alles auf das Spiel gefegt! 

Ich tat, was auf dem Schlachtfeld der Soldat 
Wohl tut, wenn es ein Allerlegtes gilt. 

Er fchleudert die Standarte, die ihn führt, 

An der fein Glücd und feine Ehre hängt, 
Entſchloſſen von fi), ind Gewühl der Feinde, 
Doch nicht, weil er fie preißzugeben dent: 

Er ftürgt fi) nad, er holt fie ſich zurück, 

Und bringt den Kranz, der ſchon nicht mehr dem Mut, 
Nur der Verzweiflung noch erreichbar war, 

Den Kranz des Siegs, wenn auch zerriffen, mit. 


Auch ihm alſo, dem Machtigſten in feiner Zeit ger 
ſchieht e8, daß er fich feiner ſelbſt nicht ficher weiß. Er 
hat das Vertrauen nicht, immer fo bereit zu jein, wie er 
fich in feinen guten und großen Stunden fühlt und will. 
Er braucht Gewalt gegen fich jelbft, um zu fich jelbft, feir 
nem eigentlichen, feinem wahren, feinem wefentlichen Selbſt 
zu kommen. Erſt wenn die Standarte bei den Feinden 


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iſt, wenn ein Ungeheures durch Verzweiflung die letzten 
Käfte aus verborgenen Winkeln feiner Natur aufjagt, 
| wird er, was er iſt. Er fühlt, daß er fein eigenes Selbft 
nicht immer hat, er ängftigt fich, es zu verlieren, er weiß, 
daß es nur manchmal, in der höchſten Luft und in der 
, höchften Not, ihm felber unbegreiflich wunderbar erjcheint. 
\ Wer aber fich jo tief erfannt hat, daß er an ſich zu glau- 
ben verzweifeln muß, wie könnte der gar einem Weide ver- 
trauen? Hier Tiegt ein Motiv, das Hebbel ſelbſt nur wie 
\ im Nebel erblicht zu Haben jcheint, und wir erft, madjifcher 
, Gebanfen voll, in feiner tückiſchen Schönheit empfinden. 
| Ein ſeltſames Gedicht. Überall Stimmungen ange- 
| Tindigt, die das nächte Gejchlecht erft erlebt Hat. Uberall 
Drohungen der Zukunft. Überall Fragen, mit welchen ſich 
\ eben jegt erft die Menjchheit zu rüften beginnt. Ein Ge» 
dicht, wie über unfer neues Gefchlecht, für unjer neues Ge- 
ſchlecht. Warum wirkt es dennoch nit? Oder da man 
ſolches doch lieber nur ganz perjönlich fragen foll: wo— 
durch geſchieht es mir, daß ich, bei der höchften Bewunde- 
tung dieſer Gedanlen, niemals über eine rein cerebrale 
Freude hinaus zur unmittelbaren Empfindung entrüdt, kei—⸗ 
nen Augenblick don meiner logijchen Mitarbeit befreit werde 
und, im geiftig frohen Anblic jo hoher Dinge, doch nie 
mals ein dumpfes Unmohljein meiner erbittert widerftreben- 
den Natur verwinden kann? Ich habe das Gefühl, einer 
erhabenen Rede zuzuhören, während mich der Redner am 
Halfe würgt. Im meinem „Dialog vom Marſyas“ verfucht 
der Meifter die aus einer tiefen Verftörung in Hebbels 
Natur zu erklären, der den Geftalten, die jein Talent ent 
warf, menschlich nicht gewachſen war; #3 wäre ihm ähnlich 


— 48 — 


wie dem Herodes gegangen: er hat auch immer erft Die 
Standarte wegwerfen müfjen, um fich durch Not höher zu 
reizen, als fein Wejen war, und die Grimaffe, zu der fich 
dabei jede jeiner Gebärden verzerrt, quält uns, indem fie 
uns feine Dual verrät. Ich glaube aber nun auch noch 
einen anderen Grund gefunden zu haben. Er muß feine 
Geftalten forcieren, weil er jpürt, daß er nicht die Kraft 
bat, die Emotion, die ihn felbft zu ihrer Erſchaffung er- 
regt Hat und in der fie fich bewegen, auch dem Zufchauer 
mitzuteilen. Er hat aber diefe Kraft deshalb nicht, weil 
er ſich dazu eines faljchen Mittels bedient, das fein genug 
ftarfer Leiter ift. Nämlich allein des gejprochenen Wortes. 
Bor Beethoven hat die moderne Menjchheit (von den Grie- 
Gen wird hier nicht geiprochen, die fich eine Wirkung auf 
Menſchen ohne Muſik überhaupt nicht denken konnten) in 
der Stunft feine Emotion gekannt, deren nicht, dem Grade 
nad, auch das nadte Wort fähig gewejen wäre. Durch 
Beethoven hat fie Emotionen von einer Macht Iennen ge- 
lernt, die den Menjchen jogleich von der Ingifchen Welt 
zu befreien und in das Urweſen der Natur zu entrüden 
vermag. Seit Beethoven fünnen ihr darum Emotionen 
von geringer Sraft, als die Initrumentalmufit gibt, nichts 
mehr fein. Der redende Künſtler hat aljo ſeitdem nur die 
Wahl, entweder das Wort mit der Muſik zu verbinden — 
Wagner (für jehr empfängliche Nerven kann die Muſik viel- 
leicht durch den Rhythmus erjegt werden, den die Trans- 
figuration mancher pathologiſch juggeitiver Schaufpieler 
augftrahlt — Novelli, Schule Reinhardt); oder auf die 
finnliche Emotion überhaupt zu verzichten, in Darftellungen, 
die niemals das Gebiet der logiſchen Welt verlafien — 


— 49 — 


Ibſen. Hebbel aber hat noch verfucht, dem bloßen Worte 
Emotionen anzuvertrauen, die es nur in der Verbindung 
mit der Mufik erft finden fann. Er mag dies feldft dunkel 
gefühlt haben. Wenigftens wiffen wir, daß er feinen größ- 
ten Plan, den Moloch, liegen ließ und einen Mufifer da- 
für fuchte. 


11. Dezember 1904. 

Heren Paul Wiede vom Dresdener Hoftheater, der 
geftern den Herodes gab, haben wir ſchon vor zwei Jahren 
in einer Vorftellung de3 jeitdem Teider zerfallenen Afade- 
mifchen Vereins gejehen. Er nahm damals durch feinen 
Elan einer beherzt zugreifenden Jugend und Die geiftige 
Sicherheit, mit der er fich in der enormen Rolle des Peer 
Gynt zu behaupten verftand, fogleich für fich ein und Hatte 
beſonders zulegt, in der Szene mit dem Knopfgießer, ein 
paar Momente von binreißender Kraft. Neulich Hat er 
im Anforge-Verein Gedichte Hebbeld vorgelefen, für den 
er mit jchöner Leidenjchaft um das Publitum wirbt, wie 
vor Jahren Kainz für Grillparzer. Ein Schaufpieler von 
ſolchem Enthuſiasmus könnte jegt in Wien Wunder tun. 
Man erinnere ſich nur, wie ftar Doch Herr Heine anfangs 
gewirkt hat, bis e3 ihm amtlich verboten wurde. Bei der 
verfchlafenen Indolenz unferer Direktoren, bei der Bedürfnis⸗ 
Iofigfeit unſeres gottergebenen Publifums, bei der himm- 
liſchen Geduld unferer entjagenden Kritik kann es wirklich 
nur einem jungen Menjchen von verruchter Entjchloffenheit 
vielleicht noch gelingen, uns aus dem Sumpfe zu ziehen. 
Und Herr Wiede wäre noch mehr: er ift der „intereffante 
Schaufpieler“, den wir jo dringend brauchen. Herr Heine 


— 40° — 


geht. Bleiben Kainz und Jarno. Die zwei ſollen jetzt 
allein beſtreiten, was ſich in Berlin auf Matkowski und 
Nittner und Baſſermann und Reicher und Sauer und 
Wüllner und Reinhardt und Steinrüd verteilt. Dann 
aber fragen die Direktoren tieffinnig, durch welche Tüde 
wohl unferer Stadt die „Führung“ im Dramatfchen ent 
wendet fein mag... . Er gefiel geftern als Herodes jehr. 
Er fpricht vortrefflich: klar gliedernd, wifjentlich fteigernd, 
durch den heißen Atem wirkſam, der aus jeiner Rede dem 
Bublitum ins Geficht fehlägt; und wenn er fpürt, daß es 
fih in den Wirrungen des Dichters verfängt, zögert er 
nicht, es zu überrennen. Der Furor, mit dem dies ge- 
ſchieht, ift fo ftarf, daß man darüber faft den leiſen Zweifel 
vergißt, ob fein Geift nicht bisweilen weiter geht, als fein 
Talent nachzufommen vermag. Lernt er erjt noch die 
Gebärde beherrichen, die er oft in zufällige Bewegungen 
zerflattern läßt, ftatt dieſe in einen einzigen großen, weſent⸗ 
lichen Ausdrud zufammenzufaffen, jo wird er noch reiner 
wirken. Möchte e8 unter unferen Augen geichehen! Ihn 
hier zu haben, wäre eine Freude. 


Der Buppenfpieler. 
(Stubie in einem Aufzuge von Arthur Schnigler. Zum erften Mal 
aufgeführt im Carl-Thenter am 12. Dezember 1904.) 

Zwei Freunde treffen fich nach Jahren wieder. Freunde? 
Nun, wie e8 im „Einfamen Weg“ heißt: „Wir bringen ein- 
ander die Stichworte fo geſchickt — es gibt pathetifche 
Leute, die jolche Beziehungen Freundfchaft nennen.” Sie 
find zufammen jung gewejen, und das bleibt einem hängen. 


— Mi — 


Eigentlich iſt es nur Aſſoziation, wie die Pſychologen 
ſagen: der „Freund“ ruft Erinnerungen aus einer Zeit 
auf, in der wir und noch felber lieb hatten. Denn da— 
mals dufteten und die Roſen ftärker, der Wein war heißer 
und im’ Winde wälzten wir und durch das Gras. Daran 
erinnert und der Freund, deshalb haben wir ihn gern; 
Affoziation. (Wie denn „Treue“ nur gutes Gedächtnis ift.) 
Alſo zwei Freunde. Sie haben fich zehn Jahre nicht ge- 
jehen, num aber, da fie fich zufällig begegnen, find fie ge- 
rührt. Wenigftens der eine, Herr Eduard Jagiſch, der in 
der Oper Oboe fpielt. Wir merken bald, daß der Dichter 
in ihm den ſchlichten Mann gezeichnet hat. Er ift ver- 
heiratet, er hat ein Kind, er ſcheint gefühlvoll, wohnt weit 
draußen vor der Stadt, faft auf dem Lande, obwohl das 
„manchmal feine mißlichen Seiten hat“; und — und er 
wagt e3, fich glücfich zu nennen, „vollkommen glüdlich, 
ſchattenlos glücklich,“ da felbft „der Tod nicht? mehr Schreck⸗ 
liche8 Hat, wenn man einmal Weib und Kind hat, die einen 
beweinen werden“. Wir begreifen, daß er mit feinem Be- 
hagen den anderen ein bißchen nervbs macht. Diejer, Herr 
Georg Merklin, ift nämlich) keineswegs ſchlicht. Wir merfen 
bald, daß er zu den paar Menjchen gehört, denen e3 we— 
niger darauf anfommt, im Leben etwas zu jein, als zu 
erfahren, was es denn eigentlich mit dem Leben auf ſich 
hat, und denen ihr Schidjal faſt nur wie ein Experiment 
tft, um daran die Probe auf ihre Gedanken zu machen. 
Er hat in feiner Jugend gedichte, man erwartete damals, 
er würde etwas Großes werden. „Wer jagt dir,“ ant— 
wortete er dem Freunde, der ihn daran erinnert, „daß ich 
es nicht geworden bin? Müſſen es denn die anderen 


— 442 — 


merlen? Wenn du heute deine Oboe verkaufteſt oder wenn 
deine Finger und Lippen gelähmt würden, daß du nicht 
mehr blajen Zönnteft — wäreſt du ein geringerer Virtuoſe 
al3 zuvor? Oder nimm an, du hätteft feine Luft mehr 
und wirfft fie einfach zum Fenſter hinaus, deine Oboe, 
weil ihr Klang dir nicht genügt — wärft du dann fein 
Künftler mehr? Oder mwärft du es micht vielmehr erit 
recht, wenn du es zum Fenſter hinuntergeworfen hätteft, 
dein Inftrument, das jo ohnmächtig ift im Vergleiche zu 
der göttlichen Mufif in deinem Hirn? ... Nun, ich habe 
fie zum Fenfter hinuntergeworfen, meine Oboe. Die Dumm- 
Töpfe haben ausgeſchrieen: Es fällt ihm nichts ein! Sch 
laſſe fie fchreien. Dem wahren Künftler kann nie etwas 
einfallen, denn er hat alles in fi — er hat die innere 
Fülle. Das iſt es, darauf fommt es an.” Man denft 
an Ulrif Brendel, von dem es wörtlich ebenjo heikt, daß 
„die Welt früher einmal etwas Großes von ihm erwartete,“ 
und aus dem dann nur ein fpöttiicher Vagabuud geworden 
ift, aber immer noch ftolz auf feine Werke, die fein Menſch 
tennt, weil fie gar nicht geichrieben find, fondern nur von 
ihm allein in Gedanken und Gefichten genofien, und den 
Rosmer jo beneidet, weil er „menigitend den Mut hat, 
das Leben nad; feinem eigenen Stopfe zu leben“. Freilich 
um den Preis, verjchollen zu fein. Aber was liegt daran? 
Merklin jagt: „Ich verfichere dir, es tut gar nicht weh, 
verſchollen zu jein. Und ich glaube nicht, daß Menſchen 
meiner Art überhaupt etwas beſſeres zuftoßen ann.“ Denn 
Menſchen von feiner Art gelingt es nicht mehr, fi) vom 
Leben düpieren zu laffen, und hat man dies einmal ver- 
Sernt, was bleibt einem no? „Ruhm? — Behn Jahre 


— 43 — 


— tauſend Jahre — zehntauſend? ſag' mir, in welchem 
Jahre die Unſterblichkeit anfängt und ich will um meinen 
Ruhm beſorgt ſein. — Reichtum? — Zehn Gulden — 
tauſend — eine Million? — Sag' mir, um wie viel 
die Welt zu kaufen iſt, und ich will mich um Reichtum 
bemühen. Vorläufig iſt mir der Unterſchied zwiſchen Ar- 
mut und Reichtum, zwiſchen Dunkelheit und Ruhm zu ge- 
ring, als daß es fich mir Iohnte, einen Finger darum zu 
rühren. Lab mich jpazieren gehen, Freund, und mit Men- 
chen fpielen. Das ift daß einzige, was eines Menfchen 
meiner Art würdig iſt.“ Er jagt bier wieder: Menjchen 
meiner Art, und ftect fich von den anderen ab, um nur 
nicht im Haufen zu fein, wie es immer jene drängt, die 
an einem tiefen Stolze leiden, die fich zu gut find, um ſich 
mit halben Erfüllungen abzufinden, die Lieber verzichten, 
als fich zu beſcheiden. Alles oder nichts, die Lojung 
Brands. Kann ich das Leben nicht zwingen, mir dag zu 
werden, worauf mein inneres Weſen fteht, fo will ich auch 
feine Gnaden nicht und danfe für ein Glüd, das den 
Hammer einer unerbittlichen {Forderung und des großen 
Mißtrauens nicht verträgt. Dann lieber in der Ede ftehen, 
ſpottiſch zuſchauen und tändelnd jpielen, mit dem Leben 
und mit den Menjchen jpielen, wie mit Puppen, was 
wahrhaftig, an Lebendigen geübt, ein edleres Vergnügen 
it, als „Luftgeftalten im poetifchen Tanze herummirbeln 
"zu laſſen.“ Als ſolcher „Puppenjpieler“ hat ſich Merklin 
von je gern vergnügt. Auch einft, vor zehn Jahren, an 
eben diefem Herrn Jagiſch, der jet fo glüdlich ift. Da— 
mals war er da3 gar nicht, denn er litt, wie folche jchlichte 
Menſchen in der Jugend oft, an Mißtrauen vor fich felbft. 


— 444 — 


Wie einen Größenwahn, gibt es nämlich, vielleicht viel 
öfter als diefen, auch einen Kleinheitswahn: „Mir geht, 
Halt nichts gut aus, mich hat halt niemand lieb!“ Davon 
ihn zu heilen, ſich aber wieder ein Exempel zu machen, daß 
in unferem Leben doc; alles nur aus Illuſion gewoben ift, 
ftiftet Merlin ein junges Mädchen an, in Jagiſch verliebt 
zu tun, wozu es, jelbft in Merklin verliebt, fich bereden 
läßt. Und nun, nach zehn Jahren, jagt er es ihm und 
weidet ſich daran: „Ich vermute, daß diejer Abend be— 
deutungsvoller für dich war, als du ahnt. Sch glaube, 
daß du an diefem Abende den Lebensmut in dich getrunfen 
haft, von dem du auch Heute noch erfüllt bit. Denn da» 
mals, gefteh' e3, haft du zum erften Mal empfunden, daß 
auch du im ftande bift, Glüd zu geben, Glück zu em- 
pfangen ... Wäre jene Stunde nicht geweſen, du wärft 
wohl dein Lebtag der verjchüchterte, ängitliche Burfche ge— 
blieben, als den ich dich kannte. Wielleicht hätteft du nicht 
einmal den Mut gefunden, um ein Weib zu werben... 
Und wie fam dies alles? Wodurd war dieje außerordent- 
liche Veränderung deines Weſens hervorgerufen? Indem 
du glaubteft, das jchöne Mädchen, das dich damals doch 
zum erften Mal jah, hätte fich auf den erjten Blick in Dich 
verliebt... . Du Hatteft Urſache, e8 zu glauben; aber bu 
Haft dich geirrt . . . Das Ganze war ein tieffinniger Spaß, 
den ich ausgedacht Hatte... Es war eine abgefartete Sache. 
Die Kleine, die jo zärtlich mit dir war, tat einfach, was 
ich wollte. Ihr wart die Puppen in meiner Hand, ich 
lenkte die Drähte. Es war abgemacht, daß fie ſich in dich 
verliebt ftellen ſollte. Denn du haft mir immer leid ge- 
tan, Eduard. Ich wollte in dir die Illufion eines Glückes 


— 


— Mi — 


erwecken, damit dich da8 wahre Glück bereit fände, wenn 
es einmal erfchiene. Und jo hab’ ich — wie es Leuten 
meiner Art wohl gegeben fein mag — vielleicht noch tiefer 
gewirkt, al3 ich wollte. Ich Habe dich zu einem anderen 
Menſchen gemacht.“ Der andere Hört zu und lacht nur 
til vor fi Hin. Und dann kommt es herauß: daß er 
das alles jchon weiß. Längft. Das Mädchen felbft hat 
ihm geftanden, daß es zuerft nur ein Spiel war. Später, 
als es fein Spiel mehr war. Denn fpäter ift fie ihm 
dann wirklich gut geworden und dann ift fie jeine Frau 
geworben und jegt ift ſchon ein großmächtiger Bub da. 
Und fo verdankt er dem Puppenſpieler eigentlich fein ganzes 
Glück. Aber dem Puppenfpieler kommt es doch ſeltſam 
vor. Beſonders der Bub kommt ihm jeltiam vor, dieſer 
wirkliche, unleugbare, leibhafte Bub, aus einer Illuſion ge- 
boren. „Wer weiß, wozu diefer Heine Junge einmal be- 
rufen ift. Und wenn man zugleich bedenkt, daß er nie 
geboren wäre, wenn ich nicht an jenem Abend den Einfall 
gehabt hätte... Ihe müht es ihm erzählen, wenn er ein- 
mal groß genug ift, um es zu verſtehen ... Ein Sind 
meiner Laune — wahrhaftig." Und er geht. Die beiden 
aber binden dem Buben die Serviette um und rüden ſei— 
nen Stuhl an ben Tiſch und es wird gegejfen. Und wir 
merfen, oder es fommt uns wenigſtens vor, daß der Dich- 
ter jagen will: Der ſchlichte Mann hat recht, nicht die 
„Menjchen meiner Art“, fondern, die fich vom Leben foppen 
taffen. 

Womit wir denn wieder bei Grillparzerd und Stifters 
altöfterreichijcher Weisheit der Beſchwichtigung und Ent» 
fagung wären: 


— 46 — 


Eines nur iſt Glück hienieden, 
Eins; des Innern ſtiller Frieden 
Und die ſchuldbefreite Bruft! 

Und die Größe iſt gefährlich, 

Und ber Ruhm ein leered Spiel; 
Bas er gibt, find nicht'ge Schatten, 
Was er nimmt, e& iſt fo viel! 

Beifeite leben. Still fein. Sich nicht vermefien, um 
ſich nicht zu verlieren. Umgelehrt wie Brand: nicht „alles 
oder nicht8,“ jondern dazwiſchen. Nicht hochmütig auf die 
Wahrheit pochen, die, wenn fie extrem wird, über unfere 
Kraft geht. Die Heinen Lügen nicht verachten, aus denen 
doch manchmal etwas jo Wirkliches wie diefer Heine Bub 
hier wird, worin vielleicht das eigentliche Wunder und das 
legte Geheimnis unjeres Lebens liegt. Eine Gefinnung, die 
fich feit ein paar Jahren bei Schnigler immer wieder mel- 
det, fogar im „Einfamen Weg,“ feiner reifiten, fo wunder- 
bar tiefen und reichen Dichtung. Eine Gefinnung, die auf 
mich — lieber Arthur, ſei nicht 688, aber: Bekenntnis gegen 
Bekenntnis — allmählich unerträglich penfioniert wirkt. 
Eine Gefinnung, mit der ſich auch Hebbel, durch Öfterreich 
gebrochen, betrogen hat: Kraft oder Schönheit gehört in 
unfer Leben nicht, nimmt, wenn ſie fich darin zeigt, eine 
Schuld auf fich und muß fie tragiſch büßen. Ich habe fonft 
meinen Marzismus mit der Beit recht bedingen gelernt, 
aber da muß ich doch jagen: Dies ſcheint mir wirklich nichts 
als der geiftige Ausdrud einer finfenden dfonomiichen 
Kaffe zu fein, die, da fie fich durch die Entwicklung unauf- 
haltſam zerrieben fühlt, jegt einfach aus dem Leben defer- 
tieren will. Durch unfere Geburt gehören wir ihr an, 
deshalb wird fie aus unferer Empfindung niemal3 aus—⸗ 


— M — 


zutilgen ſein, die Frage iſt nur, ob wir auch geiſtig uns 
ihr fügen müſſen oder fie geiſtig vielleicht überwinden 
dürfen, ob nicht unferer Generation gerade dazu nur die 
Kunſt gegeben wurde, die Stunft und die namenlofe 
Sehnfucht, um duch fie das Leben jelbft, defien leere 
Lügen wir nicht mehr ertragen, aus und umzuformen. 
Dos Leben hält und geiftig nicht, was wir von ihm 
fordern. An unferen Gedanfen gemeffen, ift e8 matt und 
dumpf. Und darum willft du dich aus ihm ftehlen, in 
den Winfel mäßiger Entjagung? Weil e8 unjerem Geifte 
nicht gemäß ift, das foll mich beftimmen, es mit dem 
Geifte der Väter zu verfuchen? Wenn das Leben mir nicht 
gemäß tft, wer jagt dir denn, daß ich darum mich ändern 
muß, ftatt es? Trauen wir und jo wenig zu? Haben wir 
uns denn ſchon mit ihm gemejjen? Wir wollen doch erft 
einmal jehen, wer jtärker ift: Wir mit umjerer freudigen 
Sehnfucht nach der neuen Form einer ftarfen, durchaus 
wahrhaften, leuchtenden Eriftenz im innerer freiheit, oder 
diejes Hinfälligen alten Lebens trifter Widerftand! In Ge- 
danken ftill beifeite, fozufagen: auf dem anderen Ufer fein 
und höchitens manchmal lächelnd herüberjchauen, froh, dab 
man fich noch zur rechten Zeit geflüchtet und davor ge- 
fichert hat, das feheint jegt oft der müde Wunjch deiner 
Menſchen. Aber jolche Gedanken, die nur ftill, mit ge— 
funfenen Händen, beifeite figen fönnen, find mir nichts und 
mich verlangt nach fühneren, die die Kraft hätten, die 
Fäufte zu ballen und ins Leben zu ftreden und es nicht 
zu laſſen, bis es uns fegnen wird. Ich denfe jegt jo oft 
an deinen „Schleier der Beatrice“, an die ſchaurig große 
Stimmung jener legten Nacht, die den blutigen Borgia 


— 48 — 


ſchon vor den Toren weiß... . und morgen wird er fom- 
men und mit ihm kommt der Tod. Sind wir nicht ſelbſt 
jegt in jolcher Nacht einer Welt, die morgen verjinft? Aber 
da wollen wir doc) die paar legten Stunden, bevor der 
Borgia fommt, endlich einmal nicht mehr entjagen, nicht 
mehr und fügen, nicht mehr nach dem Gebot der Väter 
fragen, fondern nachholen, bevor es zu fpät ift, und end- 
lich nichts als wir felbft fein umd, den Tod im Leibe, 
endlich, endlich leben! Ich glaube nicht mehr, Arthur, daß 
Entjagung Reife ift. Ich glaube, fie ijt nur innere Schwäche. 
(Furcht von Menſchen, die ſich bewahren wollen, weil jie 
noch nicht wiffen, daß dies der Sinn des Lebens ilt: 
ſich zu zerftören, damit Höheres lebendig werde) Ich 
glaube, daß dies weite Leben, das da draußen winkt, un- 
geheuer reich an wilder Schönheit und verruchtem Glüd 
ift: es wartet nur auf einen großen Räuber, der es zwingen 
wird. Ich glaube nicht mehr an die Heinen Tugenden 
des gelafjen zuichauenden Geiftes. Ich glaube nur noch 
an die große Kraft ungeftüm verlangender Leidenjchaft. 
Und ich glaube, daß einer von und, gerade einer von und, 
dies machen muß, dies Werk, das die legte Nacht einer 
alten Zeit enthalten wird, aus der ſchon in der Ferne, 
blutig froh, die Sonne der neuen bricht. Mach’ du's! 

Jarno gab den Puppenipieler in feiner feften und 
ficheren Art, mir faft ein bißchen zu feft und beftimmt: 
die Figur hat bei Schnigler den beinahe mufifalifchen Reiz 
einer Radierung, Jarno macht einen Holzſchnitt daraus. 
In den „legten Masken“, die vorhergingen, wirkte Herr 
Heine als Rademacher fehr, prachtooll in diefer Mifchung 
von Grimm, Neid, Hab, Gier, Wut eines ohnmächtigen 


— 49 — 


Menfchen, der fich ein ganzes Leben geduct hat und nun 
im Tode höhnend aufbäumt. Zum Gilbert in der „Literatur“, 
die dem Puppenfpieler folgte, ift er im Tone zu ſchwer, zu 
teal, beſonders neben dem Simpliziffimusftil der Frau 
Netty und des Herrn Trehler, die hier in ihrem Element 
waren. 


Timon von Athen. 
(Bon Shafeipenre. Im Kaiferjubiläums-Stadtthenterfaufgeführt am 
31. Januar 1905.) 

So ift die Neihe: Lear, dann Antonius, nun holt er 
Atem, Troilus folgt, Coriolan, aber wie einer, der ſinnlos 
losſchlägt, am Schlagen felbft die Wut, ftatt fie zu jättigen, 
nur immer noch reizt, ftößt er num noch dieſen legten 
furchtbaren Schrei des Timon aus. Hier ift die Welt zu 
Ende, bier kehrt das Chaos wieder, Hier ift nur noch 
Zinfternis und Blut. Manche glauben zu fpüren, auch 
in Szenen, die unzweifelhaft von Shafeipeare find, es habe 
bier feine gejtaltende Kraft nachgelafien. Mich ergreift 
gerade dies fo grauenhaft groß: daß auch er jogar, er, 
einmal doch vor dem Leben ſchwach und Elein geworden tft, 
zu tief getroffen, um noch länger der Meifter zu fein, der 
3 gelafjen in Figuren ſchließt und fie fpielen läßt. So 
lange ein Menfch noch fähig ift dem Daſein jchöne Bilder 
abzuziehen, hat er doch immer nur feinen fernen Schein 
geipürt. Im feinen Schlund geftürzt, in feinem Feuer 
brennend, die frechen Hände, die nach ihm griffen, von jet- 
nem Qualm verbrüht, wird man ungeſchickt, noch gefällige 
Formen zu drehen. Gerade wie Shakeſpeare hier die 

Hermann Bahr, Gloſſen. 29 


— 40 — 


„Literatur“ zerreißt, feine Metapher mehr beherricht und 
faft darin aufatmend zu fehwelgen jcheint, daß er nichts 
von jeiner Kunft mehr hat, gerade dieje legte Verlorenheit 
an ein einziges, alles auslöfchendes Gefühl, das ungeheuer 
gewejen fein muß, hat eine tragiiche Gewalt, die einem 
Werle der vollfommenen Kunft immer verjagt bleiben wird. 
Aus dem größten Dichter, der je war, jpringt hier plöglich 


derfelbe gepeinigt ftöhnende, heulende, rajende Menih 


hervor, der jeder von uns ift, wenn es auch Glückliche 
gibt, die es nicht bemerken. Und dann verjtummt die 
Kunft. 

Die Forjcher regen ſich nun neugierig auf, was es 


denn gewejen fein mag, wodurch um dieſe Zeit, feit dem 


„Hamlet”, Shafejpeare jo „verftimmt“ wurde Die 
ſchwarze Dame in den Sonetten? Der Fall des Efjer? 
Die PBuritaner? Ich Habe früher ange gedacht, ob nicht 
zur Erklärung jein Bedürfnis des Künſtlers, die Welt 
und die Menjchen in den Momenten ihrer höchſten Schön- 
heit und Größe zu fehen, ausreichen könnte, zu der fie 
doch immer erft fommen, wenn fie irgend ein Enfegliches 
aus der Trägheit angelernter ſanfter Lügen und betäu- 
bender Verhüllungen reißt. Auch ift es mir wahrichein- 
lich gewejen, es möchte wohl der bloße Anblid des 
Lebens, wie ſeltſam fich darin die Gemeinheit des Menjchen 
mit feiner Dummheit erwürgend verftricdt, genügen fönnen, 
einen nachdenklichen und gegen fich aufrichtigen Mann zu 
verzweifeln, ohne daß er dazu noch erjt jelbft an ſich die 
Tücke der Schickſale beſonders zu erfahren braucht. Aber 
dies iſt doch wohl artiftijcher gedacht, ald auf einen jo 
lebendigen Menjchen zutreffen kann, und es würde den 





— 41 — 


Ton perjönlicher Verbitterung und Demütigung nicht er- 
täten, die, mit einer wütenden Gier ſich zu rächen, aus 
diefen Geftalten jchreit. Shakeſpeare muß dazu ſchon ſelbſt 
etwas erlebt haben, nur braucht es gar nicht? Trauriges 
geweſen zu fein, fondern bloß fo ftarf, daß er in Leiden⸗ 
ſchaft geriet. Leidenſchaft aber, woher immer, über einen 
Menfchen geworfen, zieht in ſolche Tiefen des gärenden 
Gefühles hinab, daß er fich nicht wieder in die laue Re— 
gion unleidenfchaftlicher Menfchen zurüdfinden Tann. Der 
Velten Urmuſik im Ohre, hat er die Sprachen des Ver- 
ftandes verlernt, er fann nichts mehr verftehen, was fich 
auf der Erbe begibt, und er wird ungerecht, indem er num 
aus der Leidenichaft dad Maß für Dinge Holt, die doch 
gar nicht unter ihren Geſetzen ftehen. Dies furchtbare 
Gericht, daS hier, vom Hamlet an bis zu Timon, über 
die Menjchheit gehalten wird, trifft diefe ſchließlich gar 
nicht, weil fie feine Forderungen gelaffen abweiſen fann, 
weil fie hier doch mit einer höheren und reineren ftrafend 
verglichen wird, Die es noch gar nirgends als nur in der 
Sehnfucht einer über das Irdiſche hinausgeſtreckten Leiden- 
ſchaft gibt, und weil es ihr gutes Recht tft, ſich nach ihrer 
angeftammten Art in der Gegenwart behaglich zu gefallen, 
shne viel zu fragen, ob nicht im einer helleren Zukunft 
einmal ein ftärferes Geichlecht, durch Leidenfchaft verwan⸗ 
delt, auf eine Höhe des Dafeins gelangen wird, von welcher 
aus alles, was jegt ift, tief im Gemeinen unten erlojchen 
ſcheint. Daher der Ton von Demütigung: indem der 
Dichter, von Leidenfchaft entführt, die Welt träger Men« 
ſchen, die fi an den Verſtand und feine Abmachungen 
halten, durchaus nicht mehr ertragen kann, fühlt er doch, 
29* 


— 454 — 


Puritaner? Laſſen wir die Gelehrten ſtreiten. Möglich, 
daß es auch das war. Ich glaube aber nicht, daß ein 
Menich, der der Leidenfchaft fähig ift, erft ein häßliches 
Erlebnis braucht, um tragiſch „verftimmt“ zu werben; es 
Tann auch ein ſehr fchönes fein. Es genügt dazu, daß 
einer nur einmal was Wirkliches fpürt, jo ftarf, daß er 
meint, dies Gefühl müſſe, von ihm den Menſchen zu- 
gefchict, ihnen wie die Sonne leuchten, heiß und groß, 
dann aber gewahr wird, daß es nicht die Kraft hat, ihnen 
etwas zu fein. Gewahr werden, daß man mit dem Höch- 
ften, was man ift, doch nie die Kraft Hat, einem Menfchen 
etwas zu fein, dies genügt. Dann figt man bald in feiner 
Einjamteit als ein Bettler da, nur mit dem einzigen 
Wunſche noch, ſchon auch endlich fagen zu können: 

Run, Lippen, firaft nicht weiter, ſchliekt euch feit; 

Und was verkehrt ift, beffre Gift und Beft! 

Nur Gräber grabe man und fin! in Nacht! 

Sonn’ hüll' in Schwarz bih! Timon hat vollbracht 


Schmelz, der Nibelunge. 
(Komödie in vier Alten von Franz Adamus. Zum erften Mal auf 
geführt tm Raimund: Thenter am 6. März 1905.) 

Die „Familie Wawroch“ des Franz Adamus, die 
am 21. April 1900 im Dentichen Volkstheater gegeben 
wurde, enthält eine Szene, die man nicht wieder vergikt. 
Im dritten Akt, in der Schenke „zum ſchwarzen Diamanten“, 
die dem alten Juden Schmelz gehört. Draußen lärmt es, 
Arbeiter rotten fich, Weiber Heulen, der Heinrichichacht ift 
zerjtört, jegt find fie zum Marthajchacht hin, die Wippen 


45 — 


krachen, Dampf ziſcht, und Geſang und Geſchrei, Wivat, 
Hurra, Hoch erichter Mai, fo kommt's immer näher, immer 
drohender, immer wüfter an den zitternden alten Juden 
heran. Daneben aber, im anderen Zimmer, liegt fein Weib 
in den Wehen. Und er laufcht. Und jegt kracht es, vom 
Schachte her. Und dann fchreit das Weib fchrill auf, 
nebenan. Er aber ruft: „Riboine schel oilom, Herr der 
Welten!" Und Holt den Tales, den langen Mantel mit 
den ſchwarzen und weißen Streifen, und hüllt fich ein und 
macht feltiame ſchwere fremde Zeichen und murrt jeltiame 
ichwere fremde Worte, während draußen die Steine jchon 
an die Türe praffeln. 

Diefer alte Schmelz hat einen Buben, Willujch, der 
in der Schenke aushilft, angemwidert vom Lärm und Dunft 
der Trinker, innmer gleich gereizt, wenn einer mit ihm fchreit, 
ſehr fleißig, mit einer wahren Gier, nur recht viel zu Ier- 
nen und Wiſſen an fich zu raffen, um fo doch jpäter ein- 
mal vielleicht diefer Welt zu entlommen. Still und dem 
Vater gehorjam, geht er unter den Zechern herum. Da 
ſchiebt ihm einer fein Glas Hin und berricht ihn an: „Noch 
einen Schnaps, Jud!“ Der Knabe zudt zufammen. Und 
da der Becher flucht: „Sakramentski potworo! Noch ein 
Schnaps !*, fährt er wie ein gereiztes Tier auf ihn los, 
weiß vor Wut: „Sie, da wird nicht geſchimpft! Verſteh'n 
Sie!“ Der Alte trennt fie: „Geh', Willufch, geb’ ihm 
den Schnaps. Wirte dich mit d'n Goj herausſtell'n? 
Soll er ſag'n: Jud'! Bifte fein Jud'?“ Wilhelm ge» 
horcht. Der Alte mahnt ihn dann noch: „Und du follft 
dich nicht mehr einlafjen in ſolche Streitigkeiten mit die 
Kerls! Was geht das dich an, was fie reden? Du ſchau 


— 44 — 


Buritaner? Lafjen wir die Gelehrten ftreiten. Möglich, 
daß es auch das war. Ich glaube aber nicht, daß ein 
Menſch, der der Leidenfchaft fähig ift, erft ein häßliches 
Erlebnis braucht, um tragiſch „verftimmt“ zu werden; es 
Tann auch ein fehr fchönes fein. Es genügt dazu, daß 
einer nur einmal was Wirkliches fpürt, jo ftark, daß er 
meint, dies Gefühl müffe, von ihm den Menfchen zu- 
geicdhict, ihnen wie die Sonne leuchten, heiß und groß, 
dann aber gewahr wird, daß es nicht die Kraft hat, ihnen 
etwas zu fein. Gewahr werden, daß man mit dem Höc- 
ften, was man ift, doch nie die Kraft hat, einem Menfchen 
etwas zu jein, dies genügt. Dann figt man bald in feiner 
Einjamteit als ein Bettler da, nur mit dem einzigen 
Wunſche noch, ſchon auch endlich fagen zu Können: 

Run, Lippen, firaft nicht weiter, ſchließt euch feit; 

Und was verkehrt ift, beff’re Gift und Peft! 

Nur Gräber grabe man und ſink' in Nacht! 

Sonn’ hüll' in Schwarz did! Timon hat vollbracht. 


Schmelz, der Nibelunge. 
(Romöbdte tn vier Miten von Franz Adamus. Zum erften Mal auf- 
geführt im Raimund-Theater am 6. März 1905.) 

Die „Familie Wawroch“ des Franz Adamus, die 
am 21. April 1900 im Deutichen Volkstheater gegeben 
wurde, enthält eine Szene, die man nicht wieder vergiät. 
Im dritten Aft, in der Schenke „zum ſchwarzen Diamanten“, 
die dem alten Juden Schmelz gehört. Draußen lärmt e, 
Arbeiter rotten ſich, Weiber heulen, der Heinrichſchacht ift 
zerftört, jegt find fie zum Marthaſchacht hin, die Wippen 


— 45 — 


krachen, Dampf ziſcht, und Geſang und Geſchrei, Vivat, 
Hurra, Hoch erichter Mat, jo kommt's immer näher, immer 
drohender, immer wüfter an den zitternden alten Juden 
heran. Daneben aber, im anderen Zimmer, liegt fein Weib 
in den Wehen. Und er laufcht. Und jegt kracht ed, vom‘ 
Schachte her. Und dann fchreit das Weib jchrill auf, 
nebenan. Er aber ruft: „Riboine schel oilom, Herr der 
Velten!“ Und Holt den Tales, den langen Mantel mit 
den fehwarzen und weißen Streifen, und hüllt fich ein und 
macht ſeltſame ſchwere fremde Zeichen und murrt ſeltſame 
ichwere fremde Worte, während draußen die Steine jchon 
an die Türe praffeln. 

Diefer alte Schmelz Hat einen Buben, Willufch, der 
in der Schenke aushilft, angewidert vom Lärm und Dunft 
der Trinfer, immer gleich gereizt, wenn einer mit ihm fchreit, 
ſehr fleibig, mit einer wahren Gier, nur recht viel zu ler-- 
nen und Wiſſen an fich zu raffen, um fo doch ipäter ein 
mal vielleicht diefer Welt zu entlommen. Still und dem 
Bater gehorfam, geht er unter den Zechern herum. Da 
ſchiebt ihm einer fein Glas hin und Herrfcht ihn an: „Noch 
einen Schnaps, Jud!“ Der Knabe zudt zufammen. Und 
da der Becher flucht: „Sakramentski potworo | Noch ein 
Schnaps!“, fährt er wie ein gereiztes Tier auf ihn los, 
weiß vor Wut: „Sie, da wird nicht geſchimpft! Verſteh'n 
Sie!" Der Alte trennt fie: „Geh', Willuſch, geb’ ihm 
den Schnaps. Wirfte dich mit d'n Goj herausſtell'n? 
Sol er ſag'n: Jud'! Bifte fein Jud'?“ Wilhelm ge- 
dort. Der Alte mahnt ihn dann noch: „Und du follft 
dich nicht mehr einlaffen in ſolche Streitigkeiten mit die 
Kerle! Was geht das dich an, was fie reden? Du ſchau 


— 46 — 


auf das Geſchäft! Um’ ſoll'n fe zeden, was je woll’n!* 
Wilhelm verteidigt ſich: „Ich hab’ mich nur jo gejchämt, 
daß die mich Jud' geſchimpft haben!" Und geduldig jegt 
er ſich wieder an die Kaſſe Hin und fehreibt die Schulden 
aus den Büchern heraus, 

Diefen Sa führt das neue Stüd des Adamus aus: 
das Stüd von den Juden, die jich ſchämen, wenn fie 
Juden geichimpft werden, und die ftolz find, wenn man 
fie nicht ala Juden erkennt, das Stüd von den armen, 
halben Menjchen ohne Heimat, weil fie ſich von der alten 
losgeriſſen und doch nicht die Kraft haben, fich eine neue 
zu ſchaffen. 

Willuſch ift jegt an der Univerfität in Wien. Er 
heißt nicht mehr Wilhelm Schmelz, fondern Franz Wil- 
beim. Und er hat fich taufen laffen. Warum? Zunächſt 
-wohl nur aus einer findijchen Eitelkeit. Er ift in eine 
Geſellſchaft deutfcher Studenten geraten, zur Verbindung 
„Nibelungia“, und es fchmeichelt ihm, daß fie ihn für 
einen Arier halten. Dies tut ihm jo wohl, daß er all- 
mählich anfängt, felbft an feiner jüdijchen Abftammung zu 
zweifeln. Er erinnert fich, daß feine jelige Mutter „allem 
eher ähnlich gejehen hat, als einer Züdin: das Prototyp 
einer fchlefiichen Bäuerin! Etwas Arijcheres im Ausdrude 
nicht zu denken!“ Freilich der Vater. Diejer Vater, der 
ihn fo liebt und immer jo rührend für ihn gejorgt hat! 
Es ift furchtbar für ihn Und manchmal figt er ver- 
‚zweifelt da und wünſcht fich ſchluchzend: „Ach, wenn es 
doch überhaupt feine Juden gäbe!“ Und er erflärt es dem 
Freunde, mit dem er wohnt: „Schau, Deubner, ſchon als 
Kind Hab’ ich fait nur unter Chriften gelebt — meine 


— 47° — 


beiten Freunde waren Chriſten ... Daß es da zwiſchen 
Chriften und Juden einen anderen Unterjchied gäbe, als 
den doch jehr geringen in der Neligion, daran Hab’ ich 
überhaupt nicht gedacht. Ich fomm’ an die Univerfität, 
lerne deutjchnationale Kollegen Tennen, fie ziehn mich in 
ihren Kreis und ich denke mir da natürlich zuerit gar nichts 
Bejonderes dabei. Dann fällt hie und da ein Wort — 
über die Juden — und ich merke, daß fie mich für feinen 
halten... Was Hätt’ ich num tun follen? Sofort Ios- 
ſpringen und rufen: Sie, meine Herren, Sie irren fi), ich 
bin ein Jude —? Nein, das bring’ ich nicht über mich 
— dazu hab’ ich zu viel Schamgefühl!" Dann aber fommt 
wohl noch etwas dazu: ein Zug jener unerbittlichen Selbft- 
tritit, mit der die Juden fich peinigen. Steine andere Na- 
tion fieht ihre eigenen Fehler jo grell und feine haft fie 
fo. Keine Hat dieſe zornige jüdifche Gerechtigkeit, Die nie» 
mals begreift, daß, wer fich behaupten will, vergemwaltigen 
lernen muß. Seine ift fo bereit, fich immer wieder vor 
das Gericht der Vernunft zu ftellen, unfähig, einzujehen, 
daß alle großen Taten der Menfchheit viel mehr aus der 
Tiefe die Vernunft überwältigender Inſtinkte gejchehen. 
Jede andere Nation nimmt die Triebe und Leidenfchaften, 
die fie ſtark in jich jpürt, einfach als ihr natürliches Ge— 
jeg hin: So bin ich, jo muß ich fein, aljo ift es mein 
Recht. Nur die Juden find ewig in diefer tiefen, ſcheuen 
Verwunderung über fich jelbft: So bin ich, aber fol ich, 
dorf ich es denn eigentlich auch? Die anderen wiſſen, 
daß man ein Recht, nach dem man erft fragt, doch eben 
dadurch ſchon verwirkt Bat, 

Und nun joll der Studiojus Franz Wilhelm in den 


— 48 — 


Bund der Nibelungen aufgenommen werden. Gerade in | 


den „Badeni-Tagen“. Die Stadt ift in Aufruhr. Gejten 
ift die Polizei ind Parlament gedrungen, der Führer der 
Deutjchen, der Abgeordnete Zorn, ift verhaftet und fort- 
geichleppt worden, nun ziehen die wehrhaften Verbindungen 
vor das Haus, die Nibelungen voran, Wilhelm mit, die 
Polizei will e8 wehren, fie hauen zu, und Wilhelm, der 
im Gedränge jein Mädchen bedroht fieht, gibt in der Wut 
einem eins mit dem Stode über den Schädel, der tau- 
melt, ſchon greifen die Schergen nad} ihm, aber die Freunde 
reißen ihn weg und bringen ihn fort, nun ift er plöglich 
ein Held und foll abends, beim Stiftungsfeft der Berbin- 
dung, zum erften Mal ald Bruder unter ihnen fein. Da 
begibt es fich, daß fein Vater, der alte Schmelz, dem ein 
Neffe, ein fanatifcher Jude, den Abfall des Willuſch ver- 
tät, um ihn zu retten, in die Stadt fommt. Er trifft ihn 
zu Haufe nicht mehr, Täßt fich die Kneipe nennen und 
dringt dort ein. Man kann fich denken, wie die zechenden | 
deutſchen Burſchen den alten polnifchen Juden empfangen. 
Was will der bier? Welche Frechheit! Und was will er 
von Wilhelm? Das wird doch wirklich ſchon verdächtig. 
Wilhelm aber, wieder von jener Scham verwirrt, die es 
ihm immer verwehrt, fich zu befennen, herrſcht den Alten 
an: „Alſo — ich bitte — fagen Sie endlich — wer find 
Sie — was wollen Sie von mir?“ Der Alte zudt zu 
jammen und murmelt nur: „Gar nichts.“ Und will fort. 
Dann aber bricht'3 plöglich aus ihm hervor: „Warum 
haft du mich jo ſchwer geftraft, ewiger Gott im Himmel? 
Was hab’ ich denn getan e jo Schlechtes? — Ich Hab’ 
gefündigt gegen deine Gebote — gut. Ich Hab’ fehmwer 


— 459 — 


gefündigt — ja. Aber ich bin doch nur ein ſchwacher 
Menſch. — Aber du — du! Ein wildes Tier kennt feine 
Familie, aber mein Sind — mein eigenes Kind — ver 
Ieugnet mich!" Und da die Studenten lärmen und höh— 
nen: „Machen Se nicht Ihr Gefpött mit ein’ alten Mann! 
Ich weiß, ich Bin ja nur ein armer, alter Jud’! Was 
ſoll ich jagen mehr? Gott hat mich ejo geichaffen. Er 
wird wiffen, warum! Gelobt fei Gott in der Höh’! — 
Aber wenn Se haben zu Haus noch ein’ alten Vater — 
denfen Se auf ihn, denfen Se auf ihn!“ Er ftürzt ohn- 
mächtig Hin, erjchroden bemühen ſich die Studenten jet 
um ibn, da gellt es von der Straße herein: „Das Mi- 
niftertum ift g’ftürzt — Extraausgabe! Demiffion des 
Minifteriums! Auflöjung des Parlaments! Die neuen 
Minifter! ...“ 

Von den Studenten audgeftoßen, in der tiefen Angft 
um den kranken Vater, voll Scham und Reue, gefcheitert, 
zerbrochen, an fich irre, kehrt Wilhelm zu feiner Nation 
zurück. Und da er das Gefühl Hat, nicht mehr eben zu 
önnen, bevor er gejühnt haben wird, ftellt er fich ſelbſt 
der Polizei. Er wird für jenen Schlag gegen den Poli- 
äiften verurteilt werden. $ 81, wenigitens ein paar Mo- 
note Kerker. Dann aber, dann fängt ein neues Leben an. 

Mir ift hier jehr ſympathiſch die Neigung des Autors, 
es fich mit allen Parteien zu verderben. Er hat das Talent, 
es feiner recht zu machen. Dazu gehört immerhin Mut 
und ein Vertrauen in die eigene Kraft, das felten ge- 
worden ift. Auch wird man nicht leugnen önnen, daß das 
Stück techniſch vortrefflich geführt ift. Mir fehlen nur die 
echten Motive für den Wilhelm. Es kommt gewiß vor, 


— 460 — 


daß ein junger Jude aus Eitelfeit, faljcher Scham und um 
ftudentifche Freuden behaglicher zu genießen, feine Raſſe ver- 
leugnet. Man fann da8 recht gut begreifen, aber es regt 
einen nicht weiter auf. Und ich habe gefunden, daß es im 
Leben doch meiftens tiefere Motive find, welche Juden zum 
Verrate verloden. Ich kannte ald Student einen Juden, der 
auch verfuchte, feiner Rafje zu entlommen und ein Deutjcher 
zu werben. Es iſt ihm nicht gelungen, er hat fich dann er- 
hoffen. Aber ich habe niemal3 mehr bei einem Menfchen 
ein jo wunderjchönes und großes Gefühl für das deutjche 
Weſen gefunden. Er war von der Art der deutſchen Nation 
wie fasziniert. Er erfannte fie tiefer und reiner, als es 
ein Deuticher, dem fie geläufig ift, jemals vermögen wird. 
Er empfand fie inniger, zärtlicher, jehnfüchtiger, als irgend 
einer feiner gelafjenen blonden Freunde begreifen fonnte. 
Nur Half ihn das alles nichts. Sein Irrtum war: zu 
meinen, ein fo hohes und ſtarkes Gefühl für ein fremdes 
Weſen müſſe uns fähig machen, es uns anzueignen. Das 
ift aber nicht wahr. Im Innerften mit dem Höchften des 
deutjchen Weſens vertraut, der deutjcheften Gedanken voll, 
durch die deuticheften Gefühle beftimmt, fuhr er fort, zu 
maujcheln. Ich aber, nächtelang ihm zuhörend, durch ihn 
zuerft den deutfchen Geift mit allen Wildheiten und Zärt- 
lichfeiten begreifend, jah damals ein, daß Verſtand und Ge- 
fühl ohnmächtig find, uns umzuwandeln. Und alle Sehn- 
ſucht der Entbehrung, der Entfernung Hilft dem Menfchen 
nichts. Du bleibft am Ende, was du bit... Auf 
diejeg Motiv wäre der Wilhelm zu ftellen geweſen: auf 
ein jehr aufrichtiges und echtes Verhältnis eines jungen 
Juden zum deutſchen Geifte und auf den abjurden Wahn 





— 461 — 


der liberalen Zeit, vom Verftande aus oder durch Gefühl 
unfere Inftinkte und was wir in der Tiefe find, korrigieren 
zu können. 

Der arme Wilhelm Schmelz gibt es auf, ein Deuticher 
zu werden. Ob er aber deswegen ein guter Jude fein wird? 
Kaum. Was foll aus ihm werden? Was foll aus jolchen 
werden. Der Autor bleibt hier die Antwort jchuldig. Aber 
er hat fie in einem anderen Stücke gegeben. Diejes heikt 
Neues Leben“, von jehr merkwürdigen Gedanken getrieben, 
mit denen es nur leider dramatijch nicht ganz fertig wird. 
Ein reicher Baron zieht das Kind armer Leute auf. Heran- 
gewachien, erfährt es die Wahrheit. Und nun jehnt ſich ber 
Jüngling weg, zu feiner verlafjenen Mutter hin, nach jeiner 
Heimat, die man ihm geftohlen hat. Er jucht die Mutter 
auf, der er jehr ungelegen fommt, die ihn nicht verfteht, 
mit der er nicht reden kann — er fteht nun erft recht ohne 
Heimat da. Die Löfung, die der Autor am Ende verſucht, 
ift Teine, aber ein wunderſchönes Wort klingt einmal durch, 
daß nämlich für uns heute, für uns die Heimat nicht 
„unjerer Väter Land“, jondern „unjer Kinder Land“, daß 
unfere Heimat nicht in der Vergangenheit, jondern daf fie 
in der Zukunft ift, daß wir heutigen Menſchen, Juden oder 
Chriſten, feine alte Heimat mehr zu bewahren, fondern erft 
eine neue zu erwerben haben. Der Heine Wilhelm Schmelz 
leidet daran, daß er, ald Jude geboren, fich nicht mehr als 
Jude fühlen kann. Aber geht es denn nur den Juden jo? 
Irgend ein heutiger junger Menſch, in Preußen geboren, 
Tann ſich denn der heute noch als Preuße fühlen, als folcher 
Preuße, wie fein Vater war? Oder ift denn unter und einer, 
der das ftarre, altöfterreichijche Gefühl unſerer Väter noch 


— 42 — 


begreifen lann? Die alten Rafjen in Europa find zu Ende. 
Welch ein Wahnfinn, weil man ſich in der einen nicht wohl 
fühlt, in eine andere von den alten zu fpringen! Freuen 
“wir ums lieber der neuen, die jeder ſchon in ſich feimen 
fühlt, und Hegen wir fie tätig, frohen Bertrauens auf 
„unferer Kinder Land“, das wir mit der Seele ſuchen. 
Den Wilhelm gab Herr Eugen Burg. Er ift vor 
Jahren ein Liebling der Wiener geweſen und hat ſich dann 
in Hamburg bei Berger tüchtig hinaufgeſpielt, bis zum 
Dswald, den wir nächſtens auch Hier von ihm zu jehen 
hoffen. Geſtern bewies er feine alte Kunſt, in heiffen Rollen 
einem ſchon ungeduldigen Publitum jo ſympathiſch zu 
bleiben, daß er es in der Enticheidung immer wieder für 
den Autor gewinnt. Herr Homma, Herr Valberg, Herr 
Popp, Herr Millmann, beſonders aber, in der liebens- 
würdigen Epifode eines fozialiftiichen Studenten, Herr 
Wehle, halfen ihm tapfer. Der Autor jchon nad) dem 
zweiten Aft, aber noch unter Proteft gerufen, konnte nad 
dem dritten und vierten einen faum mehr beftrittenen, ſehr 
ftarfen Erfolg quittieren. 


Die natürlide Tochter. 
(Zur Aufführung im Intimen Theater am 2. Februar 1906.) 


„Mormorglatt und marmorfalt“, hieß es in der 
„Leipziger Literatur- Zeitung”, gleich nach der Weimarer 
Premiere. Und ſeitdem fagt dies einer dem anderen nad. 
Der Knabe lernt es, bevor er das Stüd kennt. Der Re- 
giffeur, der Schaufpieler weiß e8, bevor er zur Arbeit geht, 





— 43 — 


Das Publikum erwartet es. „Marmorglatt und marmor- 
kalt.“ Dabei bleibt es. Und ganz gefcheite Leute habe 
ih jagen Hören, man müfje darum hier nach einer ganz, 
genen Inſzenierung ſuchen, fozufagen in Marmor, oder 
als Relief, die Schaufpieler gleichſam in gemefjen ſprechende 
Statuen verwandelnd. Dies zu treffen jet für den Regiſſeur 
das eigentliche Problem. „Marmorglatt und marmorlalt.” 

Dan läßt fi nämlich durch die Worte täufchen, 
Goethes Kunſt ganz mißverftehend, deren Sinn es ift, 
Aufregung durch Darftellung zu befchwichtigen. Er griff 
nach der Kunft in extremen Zuftänden tödlicher Verjtörungen, 
um fie zu kalmieren. Er fpürt das Leben zu heiß, es 
verbrennt ihn: die Kunſt joll es abkühlen. Er jpürt das 
Leben zu nah, es erftict ihn: die Kunſt foll es entfernen. 
Durch die Kunft will er jo weit vom Leben weg, daß er 
& dann, von drüben, ungefährdet betrachten und jegt erſt 
die Schönheit feiner Gefahren bewundern kann. Dies ge= 
ſchieht durch feinen Löfchenden, erfältenden, abrüdenden 
Vers, der aber, um zu wirken, vorausſetzt, dak wir die 
Flamme des Lebens gejpürt haben, die er bannt. 

Zür die Iphigenie, für den Taffo, für die natürliche 
Tochter, überall iſt alſo das Problem der Darftellung: 
erft und zu entflammen, wie der Dichter war, uns jozu- 
jagen am Leben anbrennen zu laſſen, dann aber noch zur 
techten Zeit zu Löjchen, jo daß wir jegt, unverjehrt und 
mit dem Aufatmen des Geretteten, der Flamme zujehen 
fönnen, wie ſchön fie iſt. Es ift alſo faljch, wenn der 
Schauſpieler ſich mimiſch den abfühlenden Verſen anzupafjen 
ſucht. Nein: er muß die Flamme ſein. Dann erſt ſegnen 
wir die ſchützende Macht dieſer wehrenden Verſe. Man 


— 44 — 


erinnere fich nur, wie Kainz neulich den vierten Aft des 
Taſſo geipielt Hat: nicht die Worte, fondern das euer, 
daß fie verbergen. 

In der „Iphigenie“, im „Tafjo“ fann ich dem Schau- 
fpieler jagen: Spiele den Zuſtand, die Situation, die unter 
den Worten, Hinter den Worten liegt, und fpiele den Men- 
ſchen, den dir der Dichter bringt! In der natürlichen Tochter 
muß ich noch mehr von ihm fordern. Nämlich: Schafe 
den Menſchen, von dem dir der Dichter nur die Gattung 
gibt! König, Herzog, Sekretär, Weltgeiftlicher, Mönch heißt 
& auf dem Zettel und fo find fie vom Dichter gehalten: 
Typen, welche nun der Schaufpieler erſt zu Perfonen zu 
maden hat. Das ift ihm ja nicht fo neu. Auch Moliere 
gibt bisweilen nur den Heuchler, den Geizigen, und läßt 
& dem Schaufpieler, ihn „individuell“ zu beftimmen. Auch 
Shafefpeare zuweilen, bei den Figuren der zweiten Reihe 
(die der dritten find ſtets wieder ganz perfönlich), bei 
Horatio, Theſeus, ja doch eigentlich auch beim Proſpero. 
Und was der Schaufpieler am liebſten fpielt: die ſoge— 
nannten guten Rollen ſchlechter Stüde find meiftens auf 
einen einzigen Zug geftellt, zu welchem er dann erft aus 
fih den Menjchen beizubringen bat. Er fol Hier nur 
dasſelbe, aber da traut er fich nicht; nichts hat unſeren 
Dichtern mehr gefchadet als der Reſpekt des Schaufpielers. 
IH würde ihm jagen: Behandle deinen Herzog, deinen 
Monch ungefchent, als wären fie von Philippi! Aus einem 
anderen Grunde als Philippi, weil er nämlich nicht wollte, 
was diejer nicht Tann, hat Goethe hier ganz ebenfo bloß 
umriffen, was auszufüllen, auszuführen nun die Sache des 
Schauſpielers ift. 





— 465 — 


Ich frage mich nun aber, warım man eigentlich nie- 
mals verfucht hat, die natürliche Tochter wirklich zu ſpielen, 
das Heißt alfo: die Leidenſchaft ihrer Zuftände fchaufpielerifch 
auszudrüden und ihre Rollen ſchauſpieleriſch zu „indivi- 
dualifieren“. Glauben in der Tat alle, Goethe verlange 
mit gebundener Schaufpielfunft aufgeführt zu werden? 
Oder — hat man vielleicht Furcht? Nämlich Furcht, daß 
fie, wirklich geipielt, zu ſtark wirten könnte, ftärfer als ben 
bürgerlichen Gewohnheiten erwünſcht ift? Ich habe diejen 
Verdacht. Und möglich wäre, daß aus jolcher Furcht auch, 
Goethe fie unvollendet ließ. Er erjchrad vielleicht plötz⸗ 
lich, als er fich daran jah, Einfichten zu verraten, die er 
lieber bei fich zu verwahren für klüger halten mußte, 

Es gibt einen merkwürdigen Brief von Stnebel über 
dad Stüd. Der jchrieb: „Es ift das raffiniertefte Werk, 
jo wie es da liegt, von Kunft, Talent und, darf ich das 
‚Wort wohl ausiprechen? — von Seelenbüberei, das je- 
mals aus Goethes Feder geflofjen .. . D, wie muß man 
im Herzen verborben fein, ein folches Werk hervorzubringen! 
Vermutlich, weil es ſchwer fein möchte, nicht bei irgend 
einem Individium eine felbftändige, freie Seele zu finden, 
fo nahm Goethe die Stände, und dieje find alle, per 6tat 
und de par le roi, Schurfen. Sie mögen es mitnehmen, 
da ihre Häupter Narren und Schwächlinge find. So fieht 
es aljo in der moraliichen Welt auß! Und da ift weiter 
fein Mittel, wenn man doch fortleben will, al3 daß man 
auch ein Bube werde. Hier ift aljo der Sieg des Ver— 
ftandes, der Kunſt und des Genies I" Das hat dem braven 
Knebel doc, wohl nicht nur fein Ärger, feine Verbitterung 
gegen den Dichter eingeblaſen, fondern er begrifj, was 

Hermann Bahr, Bloffen. 30 


— 46 — 


dieſes Stüc eigentlich bedeutet. Es ftellt dar, wie ber 
Staat, der vorgibt, das Menfchliche zu ſchützen, an einen 
Punkt gelangt, wo er, eben durch feinen Apparat, das 
Menfchliche vernichten muß. Das Soziale, um der Menichen 
willen entftanden, kennt dann nur noch die Sorge, fich zu 
erhalten, und opfert die Menſchen. Man fragt fich hier 
zulegt: ob nicht die Barbarei ſelbſt, die fein Geſetz kennt 
und alle wilden Triebe walten läßt, noch erträglicher iſt 
als eine Kultur, in welcher vor einem Papier, das deö 
Königs Namen trägt, jedes menfchliche Gefühl verftummt. 
It es ihr Ende, aus wilden Tieren künftliche Beſtien zu 
machen, von ganz derjelben Gefährlichkeit und Verderblich- 
feit, die nur dad voraus Hat, daß fie fich auf ein imagi- 
näre3 Interefje des Ganzen berufen darf, was fol fie dann 
noch? Um ſich zu fichern, ſchließt fich der Menſch an die 
Menſchen, in Stände, zu Parteien zufammen; und am 
Ende ift es der Stand, ift ed die Partei, die, indem fie 
ihr eigener Zweck werden, den Menjchen zerftören. Cugenie, 
die ebelgeborne, hat feine Wahl, als zu entfliehen oder ſich 
zu verbergen. Ein Symbol, das fein Anarchiſt höhniſcher, 
grimmiger erfinden könnte. Ich begreife, daß der Ge— 
heimrat vor ſich erſchrak. 


4. Februar 1906. 
„Die natürliche Tochter," von der ich ja fchon neulich 
ausführlicher fprechen durfte, hat gejtern in einer feines 
wegs vollendeten, in Einzelnheiten dilettantijchen, aber ſicher 
geführten und mit kräftigem Eifer aufwärtsftrebenden Dar- 
ftellung ungemein gewirkt. Gar nicht „marmorglatt und 
marmorfalt“. Eine atemlos laufchende ®emeinde, die nad 


— 47 — 


\ allen Akten Zeichen der Ergriffenheit, der Begeiſterung gab. 
Es war die Hundertfte Vorftellung dieſer Bühne*), die, viel- 


leicht zuweilen auf recht wunderlich verworrene Weife, Doch 
immer nur der Kunſt zu dienen den jchönften Willen hat. 
Bo ift in Wien eine zweite, die dies von fich jagen darf? 
Sie Hat fieben Stüde von Strindberg in ſechsunddreißig 
Aufführungen, vier von Przybyszewski in elf Aufführungen, 
hat Johannes Schlaf, Peter Nanjen, Guſtav Wied, Maeter- 
linck und Maupaffant, hat des innigen Wilhelm Schmidt- 
Bonn, der zu den teinften Hoffnungen des deutjchen The- 
aters gehört, wunderbar zartes Gedicht „Mutter Landſtraße“, 
hat Eduard Studen, Thaddäus Rittner und Paul Wert- 
beimer gebracht ; bier ift die kleine Orloff, die jegt bei 
Brahm al Hannele, als Hedwig Efdal und zulegt ala 
Pippa fo jehr gefallen hat, hier der junge Tony Schwanau 
erichienen. Und was mir mehr gilt: hier ift fein Stüd 
aufgeführt worden, daß nicht um Hohes errungen hätte, 
fein einziges, das auf das Geſchäft gejchielt hätte. Wo 
ft in Wien eine zweite Bühne, die dad von fich jagen 
darf? 


Ein Dokument. 


1899 ging Olbrich nach Darmftadt, vom Großherzog 
Ernft Ludwig in die neue Kolonie gerufen. Und feiner 
hochwollenden Art gemäß, die fich nirgends im einzelnen 
beſchwichtigen, fich niemals ifolieren läßt, jondern von 
jeder Stelle gleich zum Ganzen, ins Allgemeine, nad; Ver- 





*) Des „Intimen Theaters“ in Wien. 
30* 


— 468 — 


einigung drängt, trieb es ihn nun, die zunächft ganz be- 
hutſam geplante Reform mit Leidenfchaft auszuftreden. 
Er hat e3 in fich, nicht bloß Häufer, ſondern am Liebften 
gleich Staaten zu bauen. Wer weiß, ob wir nicht doch 
noch einmal zufammen eine Inſel erobern, um ein Reid 


der neuen Menjchheit aufzurichten? Damals war ernod | 


befcheidener, e8 genügte ihm, wie wir im Scherze gern 
fagten: Darmftadt zur Hauptftadt Europas zu machen. 
Natürlich geriet er dabei bald auch an das Theater, alle 


Fragen, alle Probleme: Bauform, Beleuchtung, Dekoration, | 


Koftüm, Spiel, Dellamation in feiner heftig durchdenten- 


den Weife bezwingend. Wir trafen und 1900 im Mai 
in Mainz; und ein paar Wochen jpäter find wir dann 
eine Nacht in Rüdesheim am Waffer unter dem Monde 
gejeffen. Und mir ift, wenn ich mich erinnere, jegt ojt 
feltfam, wie doch alle, was feitdem von Kolo Mofer, 
Roller, Appia, Gordon Craig und im Kreiſe Reinhardt 
ausgefponnen worden ift, in ihm damals ſchon Iebendig 
war. Nun galt es aber, jeine Kollegen in der Stolonie, 
den Hof und die teilnehmenden Kunftfreunde der Stadt 
unjern Wünfchen zu nähern. ch jchrieb für diefe ein 
Programm. Gefliffentlich „populärer“, als es mir jonft 
zufagt. Gleichſam in einem Plafatftil. Trogdem ſcheint 
es mir doc) eine Art Dokument, das vielleicht jegt etwas 
wie hiſtoriſches Verdienft haben mag. Ich braude 
aber wohl faum erft zu jagen, daß ich dieſe Meinungen 
don vor fünf Jahren in vielem gewechſelt oder doch 
gelindert Habe; ich bin bisweilen ein bischen ſteptiſch 
und auch, bejonder® was den „neuen Stil des Deut- 
chen Theater“ angeht, gerechter geworden, in dem 


— 469 — 


‘Mae, als andre zur jelben Zeit gegen ihn ungerecht 
wurden. 


* * 
* 


Allgemeiner Zuftand des deutſchen Theaters, 


Das deutfche Theater ift ſeit Jahren in einem Zläg- 
lichen Zuſtande. Es unterhält eigentlich nur noch die 
Maffe der Tleinen Bourgeoiſie. Die Gebildeten wenden 
fi immer mehr von ihm ab; die Dichter verzweifeln, 
auf ihm noch wirken zu können; die Sünftler glauben 
längft nicht mehr von ihm irgend eine Förderung der 
Kunft erwarten zu dürfen. Es fcheint faft, ald ob die 
Goncourts auch für ung Recht behalten follten, die jchon vor 
Jahren gemeint haben, das Theater werde bald überall 
zum Zirkus geworden fein. Ja, man muß heute fogar 
fagen, daß das Variets, das große Tingel-Tangel eher 
noch einen gewiſſen Zufammenhang mit der Kunft hat als 
das Theater. Der Stil, den am Wiener Burgtheater Laube 
geihaffen und Dingelftedt, mit einer Wendung ind Mafar- 
tifhe, vollendet hat, der Stil, der ſich an den deutſchen 
Bühnen aus Nachwirkungen der Hamburger und der Wei- 
marer Schule gebildet hat, endlich auch der Stil, den die 
Meininger gebracht haben, alle drei find jeder modernen 
Empfindung einfach unerträglich geworden. Der Gebildete 
iſt heute foweit, daß er zu jagen pflegt, er leſe ein Drama 
lieber bei fich zuhaufe; durch eine Aufführung werde ihm der 
Eindrud nur verdorben. E3 braucht aber nicht erft gejagt zu 
werden, daß ein Drama, das wirkliche Drama, nur auf der 
Bühne, erft durch dag Spiel fein wahres Leben erhalten Tann. 


— 40 — 


Der fogenannte „neue Stil“ des Berliner „Deut- 
ſchen Theaters“. 


Nur das Berliner „Deutiche Theater“ Brahms nehmen 
manche von diefer allgemeinen Verachtung aus; diefem ſei es 
doch gelungen, wird behauptet, für die Darftellnng moDder- 
ner Stüde einen ganz eigenen Stil herauszubilden. Es 
fol nicht geleugnet werden, daß dieſes Theater in der, 
Tat ein Enfemble Hat, welches zur Darftellung Kleiner, 
bürgerlicher norddeutfcher Zuftände mit ihren bedrückten 
Menſchen im Heitern und im Ernften ausreicht, wenn auch 
leicht nachzuweifen wäre, daß diefe Form keineswegs neu, 
jondern nur eine Anpafjung der alten Ifflandiſchen Weiſe 
ift; was für oder gegen fie vorzubringen ift, mag bei 
Goethe im 28. Bande (beſonders die Aufjäge „Weimarifches 
Hoftheater” und „Berliner Dramaturgen“) nachgelefen 
werden, Und jedenfalls hat die Erfahrung bewiejen, daß 
dieſer Stil verfagt, jobald er den engen Kreis der natura- 
liſtiſchen Schilderung einmal verläßt und fih an eine 
freiere Aufgabe machen will. Er hat ſchon bei der „Ber- 
funfenen Glocke“ verjagt, er verjagt bei den Werfen aus 
Ibſens letzter Periode, er verjagt vollends bei Maeterlind 
und Hofmannsthal ganz, und gar feine Verſuche mit Schiller 
(in der berüchtigten Aufführung von „Kabale und Liebe“ 
im Jahre 1894) find ausgelacht worden. Ein Stil aber, 
mit dem fich höchſtens eine Heine, nur auf den Ausdruck 
des Alltäglichen gerichtete Schule behelfen kann, wird uns 
nicht genügen. Sol das Wort vom „neuen Stil“ über- 
haupt irgend einen Sinn haben, fo kann darunter doch 
aur eine Form der Infzenierung und der Darftellung ver- 


— 41 — 


ſtanden werden, die fähig iſt, alles, was in den alten 
Dichtungen, von der griechiſchen Tragödie bis auf Hebbel 
und Otto Ludwig, für unſre Empfindung noch lebt, und 
alles, was heute träumende Dichter ſich an Geftalten ab» 
gerungen haben, zu unfrer Erjchütterung oder Erheiterung 
und dadurch zur Befreiung auferftehen zu lafjen. Wenn 
wir feine ſolche Form finden, jo wird eben das Theater 
nur noch ein Ort gemeiner Beluftigung jein. Finden 
wir fie, jo ift auch in der Kunft des Schaufpielers eine 
Renaiſſance zu denfen, wie die Kunft des Malers in unjern 
Tagen, wie die Kunſt des Architekten und des Delorateurs 
fie ſchon erfahren hat, und wie fie eben jegt die Kunſt des 
Dichters durch Maeterlind, D’Annunzio und unjern Hof- 
mannsthal zu erfahren jcheint. \ 


Die Renaifjance in den andern Künſten. 

In der neuen Renaiffance können wir bei den andern 
Künften immer ganz deutlich drei Phaſen unterjcheiden. 
Die Renaiffance beginnt immer damit, daß eine Kunft ſich 
plöglich wieder auf fich jelbft befinnt und entſchließt, nach- 
dem fie eine zeitlang alles mögliche gewejen, nun endlich 
einmal fie ſelbſt und nichts als fie felbft zu fein. Die 
Malerei, die Hundert Jahre lang alles mögliche, Zeichnung, 
Dichtung, Philofophte, ja Moral, nur nicht Malerei ge- 
weſen ift, entichließt fich endlich, nicht mehr zu reden, nichts 
meht zu erzählen, fondern zu malen. Den ganzen Inhalt 
der fogenannten „modernen Bewegung“ ſpricht der Sag 
aus: die Malerei wird malerijch. Ebenſo ift die Dichtung 
der Epigonen zur proſaiſchen Beichreibung und Aufzählung, 
zu einer Reportage des Wirklichen geworden, die, bei be= 


— 412 — 


wunderungsmürdiger Fertigkeit, doch unkünſtleriſch ift, weil 
fie, ftatt zu ſchaffen, nur abzudrüden vermag, und erft in 
den legten Jahren fcheint fich die Jugend zu befinnen, daß 
die Dichtung die edle Kunſt der Worte ift, die in dieſen 
zarten, flüchtigen Stoff Crträumtes webt. Die zweite 
Phaſe, nachdem eine Kunſt nur erft wieder fich ſelbſt ent- 
dedt Hat, ift dann immer der große technifche Rauſch. Sie 
will nun zeigen, daß fie alles Tann, daß ihr nichts un- 
möglich ift, daß es gar nichts brauchen würde als fie 
allein, um die Schönheiten aller Himmel und aller Erden 
und aller Höllen zu erfchöpfen. Sie rennt nun alle Ge— 
biete ab, fie reißt alles an fich, fie will feine Grenzen 
lennen. Daß fie dieje finden und fich ins Ganze aller 
Künfte einordnen und fich an ihrer Stelle zum gehorjamen 
Inftrumente beicheiden lerne, dies bleibt der legten Phaſe 
vorbehalten. Iſt es erreicht, fo ift fie vollendet. 


NRüdblid auf die bisherigen „Stile“ des 
deutſchen Theaters. 

Die Schaufpielfunft ift in Deutfchland, die Hamburger 
Schule abgerechnet, eigentlich noch nicht dazu gefommen, 
jemals frei und ganz Schaufpielfunft zu fein. Theoretiſch 
fcheinen wohl Goethe und Schiller ihr Weſen vollfommen 
begriffen zu haben, praktiſch haben fie ſich bald verleiten 
laſſen, um andrer Künfte willen, die ihnen näher waren, 
die Schaufpielfunft zu vergewaltigen. Statt, wie es auf 
ihrem Wege lag, fie bis zu plaftifchen Wirkungen oder doch 
bis dicht an die Grenze, wo die Plaſtik beginnt, zu ent- 
wideln und auszubilden, haben fie ihr gewaltjam die Ge- 
jege der Plaſtik aufnötigen wollen, unter welchen ihre ganz 


_ 413 — 


andre Natur verfümmern mußte. Dasfelbe ift der Schau- 
ſpielkunſt fortab immer wieder gejchehen, noch zulegt von 
jenem Berliner „neuen Stil”, der nicht? weiter iſt als 
die Unterdrüdung der Schaufpiellunft durch den Literaten, 
der nur feine literariſchen Forderungen, nur literariſche Rüd- 
ſichten, nur Literarische Wirkungen kennt. Dan Hat gejagt, 
bei Vorftellungen des „Deutichen Theaters“ habe man das 
Gefühl, gar nicht im Theater zu jein, fondern vielmehr 
das Stüd vom Autor jelbft, mit genauefter Betonung 
feiner feinften Intentionen, ganz wie er e3 fich denkt, vor- 
gelejen zu hören. Wobei denn doch zu fragen wäre, wozu 
wir dann überhaupt ein Theater brauchen, mit allen feinen 
ungeheuren Mühen der Vorbereitung und Abrichtung, die 
Tolſtoi einmal mit folcher Erbitternng gejchildert hat, und 
zu entgegnen wäre, daß das „Schaufpiel“ nicht zum Nach- 
denfen von Gedanken, fondern eben zum Schauen, zum 
Anjchauen von Geftalten da ift, und auch auf die höchſten 
Forderungen Goethes und Schillers an den Schaufpieler 
(„dev Schaujpieler müffe feine Berjönlichkeit verleugnen und 
derart umbilden lernen, daß es von ihm abhänge, in ge» 
wiſſen Rollen jeine Individualität unkenntlich zu machen” 
und fo weiter, zerftreut unter „Werjchiedenes über Theater“) 
zu verweifen wäre, 


Anfang jeder Reform: die Schaufpielkunft muß 
ſich entſchließen, endlich Schauſpiel kunſt zu 
werden. 

Nachdem ich fünfzehn Jahre lang das Theaterweſen 
betrachtet, unfre deutſche Art mit der franzöfiichen, ſpaniſchen, 
englifchen und italienijchen verglichen, als Autor die Un» 


— 44 — 


fähigkeit unfrer Schaufpieler, irgendwie die Abfichten des 
Dichters anjchaulich zu machen, als Kritifer das Unver- 
mögen mit Worten zu helfen, als Regiſſeur die Ratlofig- 
keit des Schaufpielers vor jeder über die gemeinfte Nach— 
ahmung Hinausgehenden Aufgabe jo oft empfunden habe, 
iſt es mir zur Gewißheit geworden, daß wir eine wahre 
Schauſpielkunſt niemals haben werden, wenn fie fich nicht 
entichließt, denjelben Weg zu gehen, den die anderen Künft- 
ler gegangen find, und jene drei Phaſen auch ihrerſeits 
durchzumachen. Sie muß aufhören, Plaſtik oder Literatur 
oder irgend eine andre Kunft zu ſein und muß zu den 
höchſten ihr möglichen Wirkungen entwidelt werden. Fühlt 
fie ſich erft fouverän und tft fie von allen Seiten bis an 
alle Grenzen vorgedrungen, an welchen fie fich mit den 
andern Künften zujammenftoßend berührt, fo bleibt nur 
noch übrig, fie dann ins Ganze aller Künfte einzuordnen, 
mit den anderen zu verbinden und aus allen zujammen 
jene volltommne Darftellung des Schönen zu gewinnen, 
die die Träume der Edelſten beunruhigt, von Richard 
Wagner bis auf D’Annunzios „Fuoco“. Den erften Schritt 
dazu haben die modernen Italiener bereitö getan: ihre un» 
geheure Wirkung kommt daher, daß fie zum erften Mal 
gewagt haben, zunächft einmal nicht? als nur Schaufpieler 
zu fein, ihr Metier aufs äußerfte zu treiben und das Mi- 
mifche bis an die legten Grenzen auszudehnen, die ihm 
gezogen find. Ich habe an Novelli gezeigt, wie diefer ſou⸗ 
veräne Schaujfpieler, ohne es ſelbſt zu wiſſen, bloß da- 
ducch, daß er immer aus den menjchlichen Empfindungen 
die höchiten fehaufpielerifchen ausſchopft, mit allen feinen 
Darftellungen zulegt immer an einen Punkt gerät, wo die 


— 415 — 


mimifche Wirkung unwillfürlich zur malerijchen wird, und 
jeder erinnert fich, wie die Dufe, auch indem fie in ihrer 
Technif an das äußerſte Ende geht, oft aus der Negion 
de3 Echaufpieler8 auf einmal in eine rein mufilalifche Welt 
enthoben zu fein ſcheint. Holen die deutjchen Schaufpieler 
nad, was ihnen die Italiener vorgemacht Haben, ent- 
ſchließen auch te jich, fich refolut der mimiſchen Kunft an« 
zuvertrauen, gelingt es ihnen aber dann, bewußt außzu- 
führen, was jenen nur wie im Traume geraten ift, lernen 
fie, bewußt die Verbindung der Schaufpielfunft, einer ex⸗ 
tremften Schaufpielfunft mit den anderen Künften, mit den 
extremften Ausdrüden der anderen Fünfte anzuftreben und 
aus allen zufammen eine höhere neue Einheit zu gewinnen, 
ducch welche nachher auch jeder Teil wieder vom Ganzen 
aus erneut würde, dann erft und nur dann werben wir 
eine deutjche Schaufpielfunft haben. 


Anwendung der Theorie auf ein Beifpiel. 

Ich würde mir die Gelegenheit wünfchen, der „KRolo- 
nie“ an einem Beiipiele zu zeigen, mit dem Buche in der 
Hand, wie ich mir das denke. ch würde etwa die 
„Zrachinierinnen“ des Sophofles wählen. Angenommen 
wäre, daß mir ein Perſonal von mittlerer Begabung zur 
Verfügung ftände, aljo allerdings von Leuten, die nicht 
bloß äußerlich abgerichtet find, fondern doch eigentliche, 
wenn auch mäßige und unausgebildete jchaufpieleriiche Be- 
gabung haben. Angenommen wäre ferner ein Maler, der 
nicht bloß fähig wäre, Sophofles nachzufühlen, jondern in 
feiner Natur mit der fophoffeifchen jo verwandt wäre, daß 
die Worte des Dichters in ihm fogleich Vifionen erweden 


— 46 — 


würden. Bann wäre mein erfahren: zuerſt den Schau- 
ipieler den menjchlichen Gehalt der Tragödie empfinden 
zu laſſen, uubelümmert um Griechentum, unbefümmert um 
Berje, wie einen Fall, der geftern geichehen ift, wie wenn 
& fih um ein modernes Gtüd Handeln würde; der 
- Deianeira aljo zu fagen: Tu bift eine rau, die ihren 
Dann liebt, jeit Jahren haft du ihn entbehrt, nun kommt 
er heim und bringt jeine Geliebte mit, du wirft eiferjüctig, 
wehrft dich vergeblich gegen deine Leidenichaft, töteit den, 
den bu dir zu retten glaubft und fühnft es mit deinem 
eigenen Tode — aljo der Reihe nach Trauer, wieder- 
erwachende Hoffnung, Freude, Verdacht, Unruhe, Heftigfeit, 
Verzweiflung, Reue, tragiſche Ergebung, das fpiele, als ob 
du die Cameliendame zu jpielen Hätteft, unbefümmert um 
Griechen, unbelümmert um Verſe; oder dem Serafles zu 
jagen: Du bift vergiftet und ftirbjt am Gift, wie Salvini 
oder Zacconi in der „Morte civile“. Damit wäre zu 
beginnen, und der rein jchaufpielerijche Augdrud des Stüdes 
wäre durch unabläffige Proben jo einzuüben, daß er zu- 
legt ganz mechaniſch würde und dem Schaufpieler jogar, 
wenn er mit dem Stichworte aus dem Schlafe gewedt 
würde, in der Betäubung noch geläufig fein müßte. In— 
zwiichen hätte ich aber mit meinem Maler genau dasſelbe 
getan, nämlich ihm den menjchlichen Gehalt der Szenen 
und zugleich jenes farbige und leidenfchaftliche Griechen- 
tum, das und Niegiche wieder in den Tragifern fpüren 
gelehrt hat, fo eindringlich vor-⸗ und dargeftellt, bis ihm 
jede Szene zu einem Bilde geworden wäre, das ich ihn 
nun leidenfchaftlich bäte, mit der höchiten Gewalt, deren 
er fähig, zum größten Ausdrud zu bringen. Indeſſen er 


— 47 — 


ſich darum bemüht, ſind meine Schauſpieler ſchon dahin 
gebracht worden, ihre Rollen mit aller Vollendung zu 
„ſpielen“, und ich fange nun an, während er ſeine Skizzen 
ausmalt, mit den Schaufpielern erſt das „Wort“ zu üben. 
Die ganze Vorftellung „fteht“ bereits, wie man beim 
Theater jagt, und num wird erjt mit der „Deflamation” 
begonnen, die denn aljo in ein ſchon unabänderfich ge- 
wordenes Spiel eingefügt wird. Bin ich fo weit, daß end- 
lich die Dellamation auf dem Spiele wie eine Haut figt, 
und ift inzwiſchen der Maler mit jeiner Arbeit fertig ge- 
worden, fo fangen nun die Proben im Koſtüm und mit 
Dekoration an: wie ich früher in ein mimtjch fertiges Spiel 
die Deklamation eingefügt habe, jo füge ich nun die aus 
dem Spiele und der Dellamation gewonnene Einheit erſt 
noch ins Koſtüm und in die Dekoration ein. An diejem - 
Tage, würde ich jagen, fängt eigentlich erft die Probe de3 
Stüdes an. Bis dahin tft alles Vorarbeit, Hausarbeit 
gewejen. Nun erjt, da im Detail alles fertig ift, Tann 
der Regiſſeur darangehen, das Ganze zu bedenfen, indem 
er nicht ruht, bis Schaufpielkunft und Redekunſt, Mufit 
und Delorationzkunft ſich fo harmonifch verbinden, daß 
jede dasſelbe, nur eben auf ihre Weife, auszudrüden jcheint. 
Mit dem Buche in der Hand wäre leicht zu zeigen, wie 
dad an den wichtigen Stellen de Stüdes zu gefchehen Hat. 

Wie eine jo geführte Schaufpieltunft zudem mit der 
Igrifchen Kunft vereinigt und beide, von Malerei und Muſik 
umgeben, auch öffentlichen Seiten und damit der Erziehung 
der ganzen Nation zur Freude dienjtbar gemacht werden 
tönnte, ſei einer fpäteren gelegentlichen Erörterung vorbe— 
halten. 











Regiſter 








Adamus, Franz 129, 454. 

Aiſchylos 78. 

\ Mialbert 385. 

Altenberg, Peter 235. 

d’Annunzio, Gabriele 174, 
179, 182, 240, 248, 249, 

| 266, 839, 841, 471, 474. 

Antoine 146, 157, 315, 320, 
372, 374, 882. 

Anzengruber 129, 170. 

Appia, Adolphe 48, 258, 
468. 

Amold 262, 298. 





Bachmann 406, 418. 

Bahr, Hermann 188, 189. 

Balzac 27. 

Barnay 156. 

Barrös 228, 229, 230, 

Baſch 52. 

Bafjermann 301, 803, 440, 

Bataille 131, 189. 

Bauernfeld 122, 123, 127, 
129. 

Baumeifter 51, 288, 300, 
301, 309, 871, 386. 

Bauıngartner 41. 

Beardsley 244, 262. 

Becque, Henri 873, 874, 
375. 


Beerbohm Tree 187. 





Beer- Hofmann 180, 277, 
281, 285. 

Beethoven 50, 107, 108, 
134, 298, 488, 

Behrens, Peter 240. 

Benedir 79, 

Berg, D. 5. 129. 

Berger 462. 

Bernauer, Rudolf 215, 216, 

Bernhardt, Sarah 26, 333, 
364, 365, 366, 368, 369, 
871, 372, 380, 381. 

Bernftein 384. 

Bertens, Roſa 239, 308, 

Beyerlein 196, 200. 

Bierbaum, Otto Julius 422, 

Bilhaud, Paul 878. 

Bilfe 196. 

Birron 189, 209, 228, 

Bjbrnſon 287. 

Blaha, Ei. 418. 

Blei, Franz 228. 

Bleibtreu 146. 

Bleibtreu, Frau 16, 35, 48, 
101, 118. 

Blumenthal, Oskar 51, 148. 

Bolſche 145, 149. 

Bonn 101. 

Böfendorfer 172. 

Bourget 164. 

Bram, Otto 75, 101, 221, 


240, 286, 295, 296, 297, 
298, 299, 300, 386, 467, 
470. 

Brandes, Georg 77. 

Brandt 189. 

Brenneis, FL 139, 162, 
174. 

Brieur 403. 

Bronte, Gejare 181. 

Brüll 37. 

Bruno, Giordano 891, 409, 

Bucher, Lothar 202. 

Burdhard, Mar 79, 130, 
202, 205, 218. 

Burdhardt 275, 320. 





Burg, Eugen 462. 
Buſſon, Paul 149, 156. 
Byron 77. 


Capus, Alfred 157, 158, 
159, 160, 161, 874, 875. 

Caſpar, Medizinalrat 148. 

Cajtelli 141. 

Ontacugöne, Elſa, Prinzeffin 
54. 


Chopin 424. 

Claar 406, 413. 
Clemenceau 148. 
Clemens 406. 
Contad 146. 
Conradi 146. 
Coquelin 309. 
Corinth 254. 

Cofta 129. 
Courteline 112, 408, 
Eraig, Gordon 468. 


480 


Curel 234. 
Czagell 406. 


i 

‚ Dante 41, 63, 251. 

! Dehmel, Ridjard 424. 

, Peinbarbitein 116. 

 Deroulede 22, 164. 

I Despr6s, Suzanne 372, 380, 

382, 383, 384, 385, 886, 

| Devrient, Emil 11, 47, 106, 
320. 

Dewal, Frl. 174. 

Dickens 80, 83, 84, 398, 

Diderot 28. 

Zingelftedt 225, 469. 

Dittersdorf 294. 

Donnay, Maurice 344, 346, 
847, 348, 349, 350, 354. | 

Döring 225. 

| Drumont 22. 

Dumas 79, 347, 349, 354. 

Dumont 75. 

Durieug 277, 287. 

Duje, Eleonora 42, 75, 77, 
84, 248, 252, 331, 332, 
336, 337, 339, 341,342, 
343, 344, 350, 351, 352, 
353, 354, 856, 358, 359, 
860, 861, 362, 363, 364, 
365, 371, 377, 381, 384, 
385, 475. 

Dufe, Luigi 331. 


Ebner⸗Eſchenbach 129, 
Edermann 72. 
Eckhart 159. 





| 


Cdel 422, 

Eienfchig 236. 

Eisner 174. 

Engels 288, 296. 

Enrici 422, 

&l, Tel. 201, 209. 

Guripides 78. 

Eyioldt, Gertrud 239, 244, 
248, 261, 266, 269, 276, 
277, 292, 298, 371,380, 
383. 


daſſer, Frl, 209, 


ichtner 168, 
teld, Nathanael 277, 280, 
281. 


diſcher 808, 


Fontane 148. 
Ya 27, 349. 
;oreft 215, 302, 808, 
Forft 422. 
Fortuny 48. 
France, Anatole 22, 397, 
399, 408, 406, 
Friedjung 204, 
tohn, Charlotte 146. 
ulda, Ludwig 36, 41. 
Zuntenftein, Klemens 426, 


Galafros 234. 

Galvani 339, 342. 
Gautier, Theophile 864. 
Genaſt 222. 

Gerzhofer 174. 

Giacoja 265. 
Giampietro 295, 


Hermann Bahr, Blofien. 


481 





Giannini, Olga 319, 330, 

Side, Andrs 228, 230, 281, 
232, 238, 234. 

Gimnig 35, 41, 79, 115. 

Ginifty 137. 

Girardi 169, 227, 

Slig 287. 

Gneiſt 202. 

Goethe 14, 40, 41, 47,49, 
71, 72, 107, 108, 110, 
111, 118, 120, 223, 224, 
227, 241, 266, 278, 320, 
836, 839, 414, 417, 419, 
468, 464, 465, 470,472, 
473, 

Goldoni 356. 

Goltz 50, 51. 

Gorfi, Mazim 160, 239, 
245, 389, 391. 

Gourmont, Remy de 229, 
375, 877, 886, 410, 

Grabbe 114. 

Grandval 363. 

Grazie, M. €. delle 7, 8, 
12, 17, 21, 129, 

Gregoti 43, 52, 75, 112, 

Gribl 140. 

Grillparzer 122, 126, 129, 
439, 445. 

Groß 406. 

Grün, Anaftafius 122. 

Grünne, Graf 117. 

Guittij 383, 

Gyp 8346. 


Haiginger 168. 
31 


— 42 — | 


be, Mar 29, 35. 

Im 126, 127, 129. 
mſtein, Adalbert v. 145. 
art, Brüber 146. 
artleben, Otto Erich 7, 53, 
56, 57, 67, 196, 200, 
345, 407, 420, 

aartmann 84, 85, 112, 199, 
uptmann, Carl 145. 
uptmann, Gerhart 140, 
145, 146, 147, 148, 240, 
266, 275, 296, 309, 834, 
407, 


jawel 129. 
yon 294. 
jebbel 75, 169, 216, 218, 
232, 344, 360, 418, 430, 
431, 434, 485, 487, 439, 
446, 471. 
Heijermans, Hermann 190. 
‚Heims, Elje 286, 298, 295, 
302, - 
Heine, Albert 16, 27, 28, 
47, 52, 489, 448. 
Heine, Solfgang 140, 144, 
ennequin, Maurice 378. 
mriot 815. 
tl 93, 94. 
odler 51. 
fer, Herr 189, 196, 201, 
209, 228. 

Hoflich, Frl 255, 277, 287, 
298, 295, 880, 387. 
Hofmannsthal, Hugo v. 180, 
175, 240, 249, 269, 275, 

276, 470, 471. 





rg 302. | 
ofteufel 140, 196. 

johened, Frl 430. 

obenfel3 11, 41, 47, 112, 
Feen 116. 

ollaender, Felix 262, 266, 
Holz, Arno 65, 71, 141, 

142, 146, 147, 845. 

omer 864, 

omma 462, 

ugo, Viktor 369. 

üljen 101, 


Ibſen, Henrit 12, 14, 75, 
77, 78, 79, 112,131, 132, 
189, 216, 217, 218, 219, 
220, 221, 240, 266, 350, 
351, 856, 382, 384, 889, 
895, 439, 470. 

Iwald 302, 308. 


Jacobſohn, Siegfried 225. 
Jarno 240, 255, 266, 396, 
406, 412, 440, 448, 
Jenfen 157, 162, 167, 189, 

196, 201, 209, 222, 228. 
Jerſchke, Oskar 65. 


Rain; 41, 42, 52, 65, 73, 
92, 111, 227, 244, 308, 
371, 489, 440, 464. 

Raijer 129, 

Kallina 84. 

Karlweis 129, 172, 374. 

Kaulbach 112, 


| 


— 43 — 


Kayßler, Friedrich 286, 298, 
296, 387. 

Keim 129. 

Kerr, Alfred 217, 801. 

Keßler, Graf 230. 

Khnopff, Ferdinand 384. 

Kipling, Rudyard 364. 

Klein, Joſef 277, 286. 

Kleiſi 71, 222, 228, 224, 
225, 226, 227, 

Klinger 415. 

Knebel 465. 

Knebel, Frl. v. 224. 

stöhler 302. 

Korff 11, 20, 41, 98, 106, 
116, 

Korn 168. 

Kralik 129. 

Kramer 140, 162, 167, 174, 
201, 209, 228, 284. 

Kranewitter 129. 

Krenn, Fıl. 397. 

Kuh, Emil 431. 

Kutjchera 139, 157, 174, 
189, 201, 209, 234. 


LZaerman 180. 

Landauer, Guftan 159. 

Zange, Sven 17, 18,19, 20. 

Zangmann, Philipp 129. 

Laſſalle Don ir 

Zaube 117, 120, 121, 122, 
126, 127, 224, 225, 294, 
469. 

Laval, Frl. 174. 

Lavedan 346. 





Lehmann, Elfe 300, 808, 
380, 885. 

Zemaitte 365, 870, 882. 

Lenz 415. 

Leonardo 47, 177. 

Leſſing 299. 

Lewinsky 43. 

Licho 262. 

Lichtenberg 159, 164. 

Lindau 56, 236, 

Lißl, Frl. 228, 

Ludovica, Maria 109, 

Ludwig, Otto 85, 471. 

Lugno⸗Pos 382. 

Lügow, Linda v. 174. 


Mad 430. 

Maeterlind, Maurice 22, 
240, 248, 249, 251, 252, 
254, 820, 344, 467,470, 
471. 

Magnier 378, 

Mahler, Guftav 48, 294. 

Mahr 406. 

Daran 413, 

Mars, Frl. 865. 

Marterfteig, Dar 311. 

Marz 302. 

Maflinger, Philipp 277, 
280, 281. 


Matkowsky 111, 440. 

Maupafjant 467. 

Medelsty 11, 16, 28, 52. 

Meinhard, Karl 209, 802, 
308. 

Michelangelo 184, 177. 


31* 


— 44 — 


Mitſch 430, 

Widenburg, Anna von 871, 

Millmann 462. 

Mirbeau, Octave 21, 23, 
24, 407, 409, 410. 

Mitterwurzer 21, 79, 101, 
115, 871, 396, 

Moiffi, Alerander 277, 286. 

Molière 24, 281, 266, 267, 
464, 

Moſer, Kolo 48, 253, 468. 


Nanfen, Peter 467. 

Neher, Louis 480, 

Nerz 413, 

Netiy 449. 

Neumann, Luiſe 168. 

Neumann-Hofer, Annie 131. 

Niebuhr 202, 

Niefe, Hanfi 196. 

Niegiche 85, 218, 220, 275, 
320, 328, 336, 340, 388, 
428, 424, 476, 

Niffen 16, 35, 57, 79, 

Novalis 250. 

Novelli 48, 227, 243, 265, 
805, 806, 310, 311, 315, 
817, 320, 322,323, 325, 
326, 327, 328, 329, 330, 
371, 438, 474. 


Odilon, Frau 162, 167, 397. 
Olbrich 48, 142, 240, 241, 
253, 467. 





Oppeln-Bronilowsfi 248. 
Drloff 467. 


jalme 406. 

aul, Jean 898. 
Pauli 302, 303. 
Petri, Frl, 189. 
Pfigner, Hans 276, 293. 
Philippi 51, 101, 102, 
Piamonti 330. 
Pinero 354. 
Pittſchau 101, 115. 
Plato 158. 
Ploszowski 426. 


Plutarch 44. 


% [ 286, 

ohl-Meijer 84, 406, 

Bopp 462. 

Porto - Rice, Georges de 
162, 163, 164, 165, 166. 


a 265. 
agpbhäzewäli 422, 424, 
425, 426, 427, 430, 467. 


Rabitow 43, 

Rachel, Frl. 365. 

Raeder 196, 

Raimund 129. 

Rafi, Luigi 332, 334. 

Rauch, Ienny 244. 

Redlich, DI. Joſef 202. 

Nie 85. 

Reicher, Emanuel 146, 215, 
216, 239, 240, 244, 248, 
262, 266, 268, 269, 322, 
412, 440, 


—_ 45 — 


Reimers 35, 41, 47, 52, 74, 
75, 79, 101. 

Reinhardt, Max 47, 48, 79, 
101, 118, 244, 255, 286, 
288, 289, 290, 291, 292, 
298, 294, 295, 296, 297, 
298, 299, 802, 380, 438, 
440, 468, 

Reinhold 112. 

Rejane 372, 378, 875, 376, 
377, 878, 380, 383, 

Renan 230, 

Nenard, Jules 409, 

Nettich 168. 

Retty 11, 16, 41, 57, 84, 
106. 


Reuſche 287. 

Niechers 75. 

Riemer 223, 

Riſcher, gt 228. 

Nittner, Rudolf 240, 266, 
300, 803, 440. 

Nittner, Thaddäus 467. 

Roche, La 225. 

Nochefoucauld, La 394, 

Rohde, Erwin 320. 

Roller, Profeſſor Alfred 48, 
50, 253, 290, 468. 

Römpler 41, 52, 75, 115, 
288. 

Roſa 380, 

Roſaſpina 389, 842, 

Nojegger 129. 

Roffi, Cefare 333, 

Roſſi, Pianelli 842, 

Rosmer 14, 





Noftand 364, 865. 
Nothe 255. 
Novetta 265. 
Nüpel 293. 
Ruſſeck 196. 


Saar 129. 

Sachs, Hans 168, 

Salten, Felix 130. 

Salvini 320, 476. 

Sandean 118. 

Sandrod 79,189, 140, 157, 
182, 221, 822, 371. 

Sarcey 365, 881. 

Sardou 79, 115. 

Sauer, Oscar 301, 308, 
887, 440. 

Savitjch, Gertrud 406. 

Schiller 42, 49, 51, 58, 61, 
71, 72,78, 108,121,224, 
227, 241, 256, 386, 395, 
470, 472, 473. 

Schilling 276. 

Schlaf, SoHannes 147, 467. 

Schlenther 64, 71, 75, 112, 
118, 147, 148, 

Schmid! 406. 

Schmidt 11, 16, 28, 41. 

Schmidt, Hugo Ernſt 145. 

Schmidt, Lothar 262, 266. 

Schmidt » Bonn, Wilhelm 
467. 

Schmitt, Eugen Heinrich 133. 

Schmittlein 28. 

Schmoller, Guſtav 140. 

Schnigler, Arthur 7, 84,98, 


J 


129, 196, 198, 200, 202, 
222, 337, 295, 440,446, 
448. 

Scholz, Auguft 245. 
Schönherr, Karl 96, 100, 
129, 407, 409, 410, 
Schönthan, Franz von 80, 

84, 167, 172, 173, 174, 

Schopenhauer 64, 156, 158, 
165. 

Schratt 167, 168, 169, 170, 
171, 172, 178, 174, 287, 

Schreyvogel 116, 119, 120. 

Schroth 288, 

Schrotienbach 129. 

Schufter, Frl, 140, 174,209. 

Schwaiger 802, 

Schwanau, Tony 467. 

Schweighofer 174. 

Scribe 115, 847. 

Senders 75, 101, 116. 

Servaes, Franz 422. 

Shafefpeare 49, 68, 78, 79, 
111, 227, 266, 449, 451, 
452, 458, 464. 

Shaw, Bernard 112, 118, 
114, 115, 116, 182, 188, 
185, 186, 188, 

Silefius, Angelus 159, 220, 
247, 248, 355, 

Simon 145. 

Somary 140. 

Sonnenthal 21, 47, 106. 

Sophofles 78, 269, 475. 

Sorma, Agnes 118, 295, 
877, 384, 885. 


486 





Speidel 164. 
Steinrüd 440. 
Stelzhamer 128, 129, 172. 
Stendhal 63, 164, 167, 852. 
Stieler 802, 
Stifter 129, 445. 
Stödl, Frl. 480. 
Strasni 406. 
Strindberg 20, 289, 266, 
Pu 467. 
trunz, nz 159. 
Eiuden, m 467. 
Subdermann, Hermann 7, 
93, 94, 95, 102. 


Talma 365. 

Taſſo, Torquato 14. 

Tellheim 422. 

Tewele 162, 174. 

Thaler, Frau 162, 174, 
228, 


Thimig 11, 41, 51, 65, 74, 
84, 115, 802. 

Tied 226, 

Zolftoi, Leo 181, 132, 138, 
184, 137, 139, 160, 389, 
408, 473, 

Trebitih, Siegfried 112, 
182, 


Treßler 16, 106, 116, 449. 
Trieſch, Irene 244, 266, 
301, 308, 384, 388, 

Tſchirikow, Eugen 209, 


Valberg 462. 
Valentin 221, 228. 





— 471 — 


Verne, Jules 864. 
Viſcher 114. 
Voltaire 363. 


Wagner, Adolf 140. 

Wagner, Heinrich Leopold 
414, 415, 418, 420, 421. 

Wagner, Richard 48, 49, 
50, 79, 114, 184, 220, 
243, 488, 474, 

Wallentin, Frl. 189, 196, 

BR 2, 

gel, Hedwig 288, 296. 

Warsberg rs ' 

Wartenegg 129. 

Waßmann, v. 244, 248, 262, 
293. 

Webelind, Frank 239, 244, 
255, 259, 260, 388, 389, 
390, 391, 395, 396. 

Wehle 462. 

Weilen 129. 

Weiſſe 174, 222, 287. 

Werner, Zacharias 100,141. 

Wertheimer, Paul 467. 

Werther, Frl. 421. 





Wiede, Paul 489. 

Wied, Guſtav 467. 
Wilbrandt, Adolf 44, 45, 47. 
Wilde, Oscar 289, 244, 344. 
Wildenbruch 51. 

Wille 145. 

Windelmann 273, 274. 
Winterftein, v. 255, 296, 
Witt 35, 79, 98, 106, 115. 
Wolff, Albert 365. 

Wolff, Pierre 373, 374. 
Wolff, Theodor 162, 397. 
Wolzogen 79. 

Worm, Frl. 378. 

Wüllner 440. 


Xenophon 43, 45, 46. 
Yacco, Sada 252. 


Zacconi 265, 269, 309, 320, 
8323, 326, 327, 328, 329, 
889, 476. 

elter 41. 
ezfa 11. 
jener 302. 
ola 883, 


Buchbruderei Roitzſch, @. m. b. O., Rottzſch. 


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