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Goethe-Forschungen.
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Goethe-Forschungen
VON
WoLDEMAR FREIHERR VON Biedermann.
Frankfurt vm.
Literarische Anstali
rütten & loening.
1879.
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^ üniverstty'
]\ 1 DEC. 1937
V K °^ OXFORD
Druckerei von Aucu^t Osterrieth in Fr4nkfiirt a. M.
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Vorwort.
"^inige der von mir in Druck aber nicht in
\\ Buchhandel gegebenen Schriftchen zur Goethe-
^[ Literatur finden sich in andern veröflFentlichten
Schriften angeführt, und dieser Umstand ist
Ursache gewesen, dass ich manchmal um
Mittheilung solcher Privatdrucke angegangen worden bin
und leider war ich in Mangel übriggebliebener Exemplare
nicht immer im Stande, solchen Wünschen zu entsprechen.
Andere, ebenfalls hier und da citirte Aufsätze zur Goethe-
Literatur habe ich zwar durch den Buchhandel Jedermann
zugänglich gemacht, aber mittels einer Zeitschrift, welche
nicht ein Fachblatt für Literatur ist, so dass dieselben
Vielen , die sich dafür interessirten , fremd geblieben
waren und mir daher das 'in meinem Besitz befindliche
Exemplar der bezüglichen Nummern des Blattes wiederholt
zur Einsichtnahme abverlangt worden ist.
Diese Erfahrungen mögen die folgende Sammlung
meiner kleinen Schriften zur Goethe-Literatur umsomehr
rechtfertigen , als dieselben grossentheils umgearbeitet
worden sind, um sie auf die Höhe der fortgeschrittenen
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1 1 Vorwort.
Wissenschaft zu bringen ; auch haben noch nicht gedruckte
Aufsätze sowie noch nicht veröffentlichte Stücke von Goethe
— ein Gedicht und mehrere Briefe — darin Aufnahme
gefunden.
Zu den einzelnen Nummern ist zur Orientirung Fol-
gendes zu bemerken:
I. I. Das Original des bisher ungedruckten Gedichts
an Charlotte von Schiller befindet sich in meinem Besitz.
I. 2. Das Gedicht an Christine von Ligne habe ich
»zur kleinen Erbauung der stillen Gemeinde am 22. März
1860« in wenigen Exemplaren drucken lassen und ver-
theilt. Es ist dann im III. Theil der HempePschen Aus-
gabe von Goethe's Werken und darauf in andern Goethe-
Ausgaben wieder abgedruckt.
Sämmtliche Aufsätze des II. Abschnitts und die des
in. mit Ausnahme von »Mahommed«, »Prometheus« und
»Nausikaa« gehörten zu einer Reihe von Aufsätzen, die
unter der Ueberschrift »Quellen und Anlässe einiger dra-
matischer Dichtungen Goethe's« in der »Wissenschaftlichen
Beilage der Leipziger Zeitung« 1860, 186 1 und 1874 er-
schienen.
II. I. »Satyros« stand daselbst 1874 Nr. 40, ist aber
hier mit Rücksicht auf neuere Erörterungen über das Drama
umgearbeitet.
II. 2. »Stella«. Zwei Aufsätze der »Wissenschaftlichen
Beilage der Leipziger Zeitung« 1860 Nr. 104 und 1874
Nr. 39 waren wenig mehr zu gebrauchen, nachdem neuer-
dings sehr ausführliche Untersuchungen über dieses Schau-
spiel erschienen sind, denen gegenüber auch der gegen-
wärtige keine Bedeutung beansprucht.
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Vorwort. ni
II. 3, »Claudine von Villabella« aus der »Wissen-
schaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung« 1874 Nr. 40
ziemlich unverändert abgedruckt, desgleichen
II. 4. »Der Triumph der Empfindsamkeit« aus Nr. 72
von 1860,
IL 5. »Proserpina« aus Nr. 74 ebenda,
n. 6. »Iphigenie« aus Nr. 33 von 186 1 und
II. 7. »Vorspiel auf dem Theater zu Faust« aus Nr. 73
von 1860 desselben Blattes.
UI. I. »Belsazar« stand ebenda in Nr. 76 von 1861,
ist aber hier erv\^eitert.
in. 2. »Mahommed« bisher ungedruckt.
in. 3. »Prometheus« war der Erstling meiner Goethe-
literarischen Thätigkeit in den »Grenzboten« von 1855,
aber ein verunglückter, wie ich schon 1869 in der Recension
der drei ersten Bände der Hempel'schen Goethe-Ausgabe
(1870 als besondere Schrift unter dem Titel »Zu Goethe's
Gedichten« erschienen) unter feierlichem Widerruf jener
ersten Arbeit erklärt habe. Der hier abgedruckte Aufsatz
ist im Wesentlichen neu.
III. 4. »Elpenor« ist — abgesehen von Zuthaten ge-
ringeren Belangs — die Ineinanderarbeitung des Aufsatzes
in Nr. 68, 69 und 70 der »Wissenschaftlichen Beilage der
Leipziger Zeitung« von 1860, des Nachtrags hierzu in
Nr. 35 von 1861 und des ergänzenden Aufsatzes in Nr. 39
von 1874 der gedachten Zeitschrift.
in. 5. »Nausikaa« neu.
III. 6. »Der Zauberflöte zweiter Theil« aus Nr. 40
raehrgenannten Blattes von 1874.
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IV Vorwort.
III. 7. »Trauerspiel in der Christenheit« ist die Zu-
sammenarbeitung der Aufsätze aus den »Grenzboten« von
1857 I- Sem. Nr. 26 und aus der »Wissenschaftlichen Bei-
lage der Leipziger Zeitung« von 186 1 Nr. 34 sowie von
1874 Nr. 39 nebst Zugaben.
IV. I. Die Grundlage von »Goethe und Nicolai«
bietet die »Anekdote zu den Freuden des jungen Werther«,
die von mir 1862 zuerst an den Tag gebracht wurde ; mit
diesem Erstlingsrecht wolle man die Erlaubniss für erkauft
ansehen, den gegenw^äitigen Aufsatz hier abzudrucken,
der nichts ist, als eine Zusammenstellung aller, nunmehr
bereits durchgängig bekannter Beziehungen Goethe's zu
Nicolai.
IV. 2. »Goethe und Die von Fritsch« stand mit der
Überschrift »Goethe's Verkehr mit Gliedern des Hauses
der Freiherren und Grafen von Fritsch« in Nr. 15, 16 und
17 der »Wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung«
von 1868 und wurde privatim in Separatdruck ausgegeben.
Hier erscheint diese Monographie nicht nur in mehreren
Daten berichtigt, sondern auch durch Aufnahme später
bekannt gewordener Briefe an Glieder jenes Hauses und
andres vermehrt.
LedigUch Privatdrucke waren und sind fast unverändert
hier wiederholt :
IV. 3. »Goethe und Christian Gottlob von Voigt
der Jüngere« zu Goethe's 122. Geburtstagsfeier (1871)
mitgetheilt ;
IV. 4. »Goethe mit Friedrich Krug von Nidda und
in Tennstädt« mit wenig anders lautendem Titel Theil-
nehnienden zum Wolfgangstag 1873 zugestellt, sowie
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Vorwort.
IV. 5. »Goethe und die Fikentscher« dem Freien
Deutschen Hochstift in Goethe's Vaterhaus in Frankfurt
zum Wolfgangstag 1878 gewidmet.
V. I. »Goethe's Recensionen in den Frankfurter ge-
lehrten Anzeigen « führt den Nachweis aus, den ich in der
Einführung zum 29. Theil von Hempel's Ausgabe der
Werke Goethe's zuerst angedeutet und dann im IV. Bande
des »Archivs für Literaturgeschichte« ausführlicher ent-
wickelt hatte, dass jene in Goethe's Werke aufgenommenen
Recensionen zum Theil nicht von Goethe herrühren, und
unternimmt des Weiteren die Ermittelung von Goethe's
Verfasserschaft.
V. 2. »Goethe's Briefwechsel und die 1868 veröffent-
lichten Briefe an Voigt « ist eine in den ersten drei Stücken
aus der »Wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung«
von 1868 Nr. 52, 53 und 54 fast unverändert wieder abge-
druckte Recension, der nur unter IV. ein Nachtrag angehängt
ist, welcher die spätem Erscheinungen im Bereich der
Goethe'schen Briefwechsel berücksichtigt.
V. 3. »Elisabeth Goethe« aus Nr. 41 der »Wissen-
schaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung« von 1872 un-
verändert, nur mit ein paar unbedeutenden Ergänzungen
abgedruckt.
V. 4. »Reimstudie« ist ein in einem Uterarischen
Verein gehaltener Vortrag, der bereits in der »Wissen-
schaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung« von 1875 Nr. 79
abgedruckt war und hier unverändert wiederholt ist.
BezügHch der in der VI. Abtheilung untergebrachten
Berichtigungen und Nachträge zu »Goethe's Briefen an
Eichstädt«, zu »Goethe und Dresden«, sowie zu »Goethe
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VT Vorwort.
und das sächsische Erzgebirge« bedarf es keiner Bemer-
kungen und ist nur zur Entschuldigung, dass dergleichen
nicht auch zu »Goethe und Leipzig« sowie zu den An-
merkungen des 27. und des 29. Theils der Hemperschen
Ausgabe von Goethe's Werken aufgenommen worden
sind, anzuführen, dass die Menge des zu »Goethe und
Leipzig« Nachzutragenden zu bedeutend ist, als dass anders
als durch Neubearbeitung des Buches zu helfen wäre,
während von Hempel's Goethe-Ausgabe eine neue Auflage
zu erwarten sein dürfte, worin Nachgesammeltes bessere
Unterkunft finden würde.
Schliesslich möchte ich erwähnen, dass das Manu-
script gegenwärtiger Schrift bereits abgeschlossen war, als
mir Scherer's »Aus Goethe's Frühzeit« zuging und ich
lediglich Gelegenheit nehmen konnte, über den darin be-
handelten »Satyros« einen Nachtrag gehörigen Orts ein-
zuschalten.
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Inhalt
Seite
I. Zwei Gedichte Goethe*s.
1. Gce:he an Frau von Schiller ^
2. Goethe an Christine von Ligne S
II. Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen.
1. Satyros 9
2. Stella 21
5. Claudine von Villabella 2$
4. Triumph der Empfindsamkeit 5S
5. Proserpina 42.
6. Iphigenie 45
7. Vorspiel auf dem Theater zu Faust 54
III. Dramatische Entwürfe Goethe's.
1. Belsazar 61
2. Mahommed 6s
3. Prometheus , 73
4. Elpenor 94
5. Nausikaa 124
6. Zauberflöte, zweiter Theil 145
7. Trauerspiel in der Christenheit 154
IV. Goethe mit Zeitgenossen.
1. Goethe und Nicolai 19^
2. Goethe und Die von Fritsch 215
3. Goethe und Christian Gottlob von Voigt der Jüngere . 275
4. Goethe mit Krug von Kidda in Tennstädt 2^4
). Goethe und die Fikentscher 29s
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VIII Inhalt.
Seite
V. Vermischtes zur Goethe-Forschung.
1. Goethe's Recensionen in den Frankfurter gelehrten An-
zeigen 315
2. Goethe's Briefwechsel und seine 1868 veröffentlichten
Briefe an von Voigt 551
5. Elisabeth Goethe 385
4. Reimstudie 396
VI. Berichtigungen und Nachträge zu Goethe-Schriften
des Verfassers.
1. Zu Goethe's Briefen an Eichstädt 421
2. Zu Goethe und Dresden 430
3. Zu Goethe und das sächsische Erzgebirge 454
Nachtrag zu Satyros 456
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i. Zwei Gedichte
GOETHE'S.
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I. Goethe an Frau von Schiller.
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~2.
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Erläuterung zum Gedicht an Frau von Schiller.
Wie sehr Goethe den geistvollen Politiker, Redner
und Schriftsteller Constant, Freund der Frau von Stael,
schätzte, spricht er in den biographischen Aufsätzen zu
den »Tag- und Jahresheften« (Abs. 418 a der Hemperschen
Ausgabe) entschieden aus, deshalb berührte ihn um so
unangenehmer dessen Missgriff in : »Wallstein, tragedie en
cinq actes et en vers, pr^c^dee de quelques r^flexions sur
le thiatre allemand et suivie de notes historiques par
Benjamin Constant de Rebecque. A Gentve 1809.« Constant
hatte einen guten Theil seiner Jugendbildung in Deutsch-
land genossen und war tief genug in deutschen Geist ein-
gedrungen, um die Schönheiten des Schiller'schen »Wallen-
stein« vollkommen würdigen zu können ; er setzt dieselben
auch in den »r^flexions« mit vielem Verständniss auseinander,
andrerseits aber erklärt er es für eine Unmöglichkeit, diese
Trilogie dem französischen PubUcum unverändert vorzu-
führen. Er kürzt daher dieselbe nicht nur auf das Mass
einer gewöhnlichen französischen Tragödie und giesst den
frei sich bewegenden deutschen Bühnenvers in den gebun-
denen Alexandriner um, sondern verschmilzt auch mehrere
Personen in Eine, streicht eine grosse Zahl ganz, tilgt die
feinsten und zartesten Situationen, ändert die meisten
Motive und macht durch alles dies aus Schiller's Wallen-
stein ein sowol den Deutschen wie — trotz gefügiger
Anschmiegung — den Franzosen unerfreuliches Werk.
Die Adresse wie die Verse des Briefchens an Frau von
Schiller sind getreu nach der Urschrift — nur dem Raum-
verhältniss entsprechend etwas verkleinert — gedruckt.
oiT^
:,- '■'-,
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2. Goethe an Christine von Ligne.
Ein klein Papier hast Du mir abgewonnen,
Ich war auf grösseres gefasst;
Denn viel gewinnst Du w^ohl worauf Du
nicht gesonnen,
Worum Du nicht gewettet hast.
Töplitz, den 2. September 1810.
Goethe.
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Erläuterung zum Gedicht ak Christine von Ligne.
Der mit Goethe befreundete Fürst Karl von Ligne
hatte eine Tochter Christme, geboren am 4. Januar 1788
und nachmals von ihm legitimirt, wobei ihr der Name
»von Ligne« verUehen wurde. Sie vermählte sich am
6. November 181 1 mit dem Grafen O'Donnell von Tyr-
connell, welcher am i. December 1843 als k. k. Kämmerer
und Feldmarschallieutenant starb; sie ist die Mutter des
k. k. Kämmerer, Oberst und Flügeladjutant Maximilian
Graf O'Donnell von Tyrconnell, der bei dem Mordanfall
auf Kaiser Franz Joseph am 18. Februar 1855 den Mörder
zuerst ergriff und seine Unthat zu vollenden hmderte.
Christine von Ligne hatte nun in Teplitz 18 ro mit
Goethe eine Wette gemacht, die dieser verlor. Den be-
dungnen Preis schickte er in einem Guldenzettel, auf dem
die vorstehenden Reimzeilen geschrieben waren und den die
Gewinnerin achtlos einsteckte. Erst als sie in Begriff stand,
das Papier auszugeben, entdeckte sie das darauf Geschrie-
bene, und nun wurde selbstverständhch der Guldenzettel
nicht verwerthet, sondern als Schatz heilig bewahrt.
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n. Quellen und Anlässe
GOETHFSCHER DrAMEN.
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I. Satyros.
ehr verschiedene Ansichten sind noch über die
Deutung des Goethe'schen Dramas »Satyros«
verbreitet. Riemer (»Mittheilungen über
Goethe« II, 535) lässt das Stück auf Christoph
Kaufmann geschrieben sein; allein da soviel
feststeht, dass es nicht später als 1774 verfasst ist, Goethe
aber erst 1776 Kaufmann kennen lernte, so ergiebt sich
das Unhaltbare dieser Angabe ohne Weiteres. Bergk
(»Acht Lieder von Goethe«, S. 75) meint, im Waldteufel
sei Wilhelm Heinse wie er leibe und lebe geschildert;
Hermes soll Fritz Jacobi, Eudora seine Gattin, sowie
Arsinoe und Psyche dessen Schwestern sein. Wie aber
die Schilderung auf Heinse passen soll, ist unerfindlich.
War dieser auch in seiner Einbildungskraft und in seinen
Darstellungen von starker SinnUchkeit, so war er es doch
nicht im Leben; auch war er von weichem, zarten Wesen
— kurz in jeder Hinsicht das Widerspiel des Satyros.
Gervinus (»Geschichte der poetischen Nationalliteratur
der Deutschen« 2. Auflage IV, 530) sagt: »Wenn dieser
[Satyros] nicht ein Stich auf Basedow's faunisches Wesen,
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10 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen.
seine Reformationswuth und gotteslästerlichen Paradoxien
sein soll, so weiss ich ihn nicht zu deuten.« Dem
schliessen sich die Literarhistoriker Vilmar, Viehoff und
Goedeke an. Düntzer (»Neue Goethestudien« S. 38 ff.)
findet es unbegreiflich, wie Gerv'inus auf Basedow habe
fallen können, den Goethe damals gerade habe kennen
lernen und äusserst bewundert habe; er will den Satyros
gar nicht auf eine bestimmte Persönlichkeit gedeutet haben
sondern nur als Gegenstück zu Pater Brey gelten lassen.
Hettner (»Geschichte der deutschen Literatur des acht-
zehnten Jahrhunderts« IIL Buch r. Abschn. S. 171) bezieht
ihn ebenfalls nur im Allgemeinen auf die Uebertreibungen
der Anhänger Rousseau*s. AehnHch erblickt v. Loeper
(»Goethe's Werke, Dichtung und Wahrheit« III, 358) im
»Satyros« nur eine Satire auf eine Zeitrichtung, mittelbar
auf Klinger und zum Theil auf Basedow; doch passt die
Persönlichkeit des ersteren ebenfalls schlechterdings nicht
zum Satyros, indem ihn Goethe in seiner Lebensgeschichtc
als von grosser, schlanker, wohlgebauter Gestalt, mit regel-
mässiger Gesichtsbildung schildert, als einen Jüngling, der
auf seine Person hielt, sich nett trug und für das hüb-
scheste MitgHed des Kreises gelten konnte, endHch als an-
ziehend durch reine Gemüthlichkeit und ernsten Charakter.
Strehlke (»Goethe's Werke«, Berlin, Hempel. VIII, 147)
erkennt diese unbestimmten Deutungen zwar für unzulässig,
erachtet aber das Räthsel für noch ungelöst.
Neuerdings hat Wilmanns (»Archiv für Literatur-
geschichte« VIII, 227 — 299) in einer mühsamen und scharf-
sinnigen Abhandlung nachzuweisen gesucht, dass unter
Satyros d'Alembert, unter dem Eremiten Rousseau und
unter den übrigen Personen des Stücks andere, von ihm
gleichfolls namhaft gemachte Personen der damaligen pariser
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Satyros. 1 1
Gesellschaft zu verstehen seien. Es ist durchaus nicht die
Absicht diese Arbeit hier kritisch vorzunehmen, um aber
auch nur einiges darüber sagen zu können, erscheint es
nöthig, zuvor die Stelle aus dem dreizehnten Buch von
»Dichtung und Wahrheit« einzuschalten, in welcher Goethe
des »Satyros« gedenkt und von welcher alle Deutungs-
versuche auszugehen haben; sie lautet:
»Er [Merck] machte mich nur auf Menschen aufmerk-
sam, die oline sonderliche Talente mit einem gewissen
Geschick sich persönlichen Einfluss zu verschaffen wissen
und durch die Bekanntschaft mit vielen aus sich selbst
etwas zu bilden suchen; und von dieser Zeit an hatte ich
Gelegenheit, dergleichen mehr zu bemerken. Da solche
Personen gewöhnlich den Ort verändern und als Reisende
bald hier bald da eintreffen, so kommt ihnen die Gunst
der Neuheit zu Gute, die man ihnen nicht beneiden noch
verkümmern sollte; denn es ist dieses eine herkömmliche
Sache, die jeder Reisende zu seinem Vonheil, jeder Blei-
bende zu seinem Nachtheil öfters erfahren hat. — Dem
sei nun wie ihm wolle, genug: wir nährten von jener Zeit
an eine gewisse unruhige, ja neidische Aufmerksamkeit
auf dergleichen Leute, die auf ihre eigene Hand hin und
wieder zogen, sich in jeder Stadt vor Anker legten und
wenigstens in einigen Familien Einfluss zu gewinnen such-
ten. Einen zarten und weichen Zunftgenossen [Leuchsenring]
habe ich im »Pater Brey«, einen andern tüchtigem und
derbem in einem künftig mitzutheilenden Fastnachtsspiele,
das den Titel führt »Satyros oder der vergötterte Wald-
teufel«, wo nicht mit Billigkeit doch wenigstens mit gutem
Humor dargestellt.«
Zur Verv^oUständigung dieser Angaben ist noch die
Zeit der Entstehung des Drama's festzustellen. In der
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12 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen.
Ausgabe letzter Hand der Werke trägt es die Jahreszahl
1770, in der Darstellung in »Dichtung und Wahrheit«
scheint es dem Jahr 1773 zugetheilt. Die Lösung dieses
Widerspruchs muss unbedingt zu Gunsten des letztern
Jahres ausfallen, da aus jenem frühern nirgends derartige
»freche« Dichtungen erwähnt werden, dieselben vielmehr
insgesammt den Jahren 1773 und 1774 angehören. Diesem
letzten Jahre, in dem er zuerst genannt w^ird, könnte
»Satyros« nunmehr auch unbedenklich zugetheilt werden,
nachdem einmal die Jahreszahl 1770 als Irrthum, vielleicht
nur als Druckfehler anerkannt werden musste; denn die
Erzählung in »Dichtung und Wahrheit« weist nicht un-
zweifelhaft auf 1773.
Wilmanns versteht nun Goethe's Bericht über das Vor-
bild des Satyros so, wie es auch der Schreiber dieses stets
verstanden hat, dass er nicht bloss ins Blaue hinein im Satyros
einen Menschen der von Merck gekennzeichneten Art ge-
schaffen, sondern einen bestimmten solchen Menschen dar-
gestellt habe. Satyros ist auch viel zu scharf individualisirt,
als dass man annehmen könnte, Goethe habe dabei nur
eine abstracte Satire schreiben wollen. Gesetzt also auch,
alle Deutungen auf eine bestimmte Person wären zu wider-
legen, so würde man doch immer nur mit Strehlke sagen
dürfen: die von Goethe gezeichnete ist noch nicht er-
mittelt — nimmermehr aber: Goethe habe eine ganze
Classe von Nachahmern Rousseau's schildern wollen.
Man muss Wilmanns zugeben, dass er mit unendlichem
Fleiss aus den Beziehungen zwischen Rousseau und d'Alem-
bert alles zusammengesucht hat, was sich irgend auf Satyros
und den Eremiten deuten liess und dass er bei diesen
Deutungen meistens viel Geschick an den Tag gelegt hat,
allein seine ganze Beweisführung beruht im Wesentlichen
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Satyros. 1 3
nur auf der, wenn auch als möglich dargethanen, aber doch
immerhin sehr kühnen Voraussetzung, dass Goethe den
Inhalt von Rousseau's, viele Jahre nach Dichtung des
Satyros erschienenen Confessions und manche andere,
aus später veröffentlichten Briefwechseln bekannt gew^or-
denen Verhältnisse gekannt habe und zw^ar nicht bloss im
Allgemeinen, sondern bis ins AUereinzelste , — z. B. den
Ausdruck chiffon, den Rousseau in den Confessions von
einer ihm angeblich von d'Alembert entwendeten Schrift
gebraucht. Dass in den Briefen der Julie Bondeli, die
Leuchsenring etwa aus seiner Schatulle zum Besten gab,
dieser Ausdruck über ein Werk Rousseau's vorgekommen
sein sollte, dass dessen überhaupt irgend Jemand als eben
nur Rousseau selbst sich bedienen konnte, ist ganz un-
denkbar. Aber es bleiben daneben noch manche Fragen
zu beantworten, welche die unmittelbare Deutung auf
Rousseau und d'Alembert höchst bedenklich erscheinen
lassen. Würde Goethe, wenn er früher d'Alembert so
herabgewürdigt gehabt hätte, wie Wilmanns es ihm schuld-
giebt, in den Anmerkungen zu »Rameau's Neffen« sich so
scharf gegen die Gegner desselben als »solche feindselige
Naturen, die nur wider Willen entschiedene Vorzüge an-
erkennen«, sich geäussert haben? Würde er, wenn im
»Satyros« der Schwerpunct auf Rousseau und seine Wider-
sacher läge, von diesem Stück an der Stelle, an welcher
er es erwähnt, und nicht vielmehr in Verbindung mit
Rousseau gesprochen haben? Gehörte d'Alembert ferner
zu den Talentlosen, von denen Goethe hier spricht? Findet
sich eine Spur davon, dass er nöthig gehabt hätte durch
zahlreiche Bekanntschaften erst aus sich etwas zu machen?
Wo davon, dass er häufig seinen Ort verändert und als
Reisender bald da, bald dort erschienen sei? Dass er in
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14 Quellen und Anlasse Goethe'scher Dramen.
Familien unlöblichen Einfluss zu gewinnen gesucht habe?
Dass alle die hier gedachten Umstände nur auf »Pater
Brey«, nicht aber auf »Satyros« sich beziehen sollten, ist
eine auf gezwungene Auslegung gestützte Behauptung.
Kurz, ohne absprechend erklären zu wollen, dass die Deu-
tungen von Wilmanns unmöglich seien, muss ich doch
sagen, dass sie mir unglaubhaft sind und dass noch
zwingende äussere Bestätigungen abgewartet werden müssen.
Fast noch weniger vermag ich zu Scherer's Ansicht (»Aus
Goethe's Frühzeit« S. 43 — 68) mich zu bekennen, der im
Satyros Herder erblickt. Die auf d'Alembert*s Persönlich-
keit bezüglichen Fragen, die ich als von Wilmanns noch
zu beantwortende aufwarf, würde auch Scherer hinsichtlich
Herder's noch in einer stärkere Ueberzeugung erweckenden
Weise zu lösen haben, als er es jetzt versucht hat. Ja, es
kommen noch neue hinzu: wie reimt sich die Rohheit des
Waldbruders zu dem von Goethe bei Erzählung seiner
ersten Bekanntschaft mit Herder hervorgehobenen »galanten
und gefälligen Wesen«, dem »Weichen in seinem Betragen,
das sehr schicklich und anständig war«, ingleichen mit
dessen »unschätzbaren, einzigen Liebensfähigkeit und Lie-
benswürdigkeit«, die Goethe in den »Biographischen Ein-
zelheiten« rühmt? Ist eine Verspottung Herders denkbar,
da Goethe in seinen Briefen an denselben zwar oft ver-
drüsslich, aber nie höhnisch wird und er ausdrücklich bei
Herder's Schilderung in »Dichtung und Wahrheit« über
dessen Spöttereien erklärt, dass dieselben »einen anderen
irre oder gar abwendig gemacht hätten«, und fortfährt:
»mich aber rührte das nicht weiter, da ich von seinem
Werth einen so grossen und mächtigen Begriff gefasst
hatte, der alles Widerwärtige verschlang, was ihm hätte
schaden können« ? Dazu muss Scherer gleich Wilmanns zu
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Satyros. 15
seiner Beweisführung Schriften benutzen, die später be-
kannt wurden, als »Satyros« entstand; so namentÜch zum
Theil Herder's »Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts«,
vor allem aber den erst 1857 gedruckten Briefwechsel Her-
der's mit seiner Braut. — Nach alledem denke ich, Scherer
selbst wird seine Aufstellung mehr nur für ein geistreiches
Paradoxon ansehen.
Meinerseits halte ich mich an die Ansicht von Ger-
vinus, dass Goethe beim Satyros Basedow im Sinne ge-
habt habe und begründe dies näher, indem ich zuvörderst
den Gang des Dramas vorüberführe.
Das Fastnachtsspiel beginnt mit dem Selbstgespräch
eines Einsiedlers, der die Stadt verlassen hat, um in der
Einsamkeit der Anschauung der Natur zu leben. Ihn
unterbricht der als ein FremdHng hinzukommende Satyros;
er jammert, weil er bei einem "Sturz das Bein gebrochen
hat. Der Einsiedler nimmt sich seiner an, wofür er jedoch
nur Grobheiten von dem rohen Wesen erntet.
Der zweite Act besteht nur aus einem kurzen Selbst-
gespräch des Satyros, der fortfährt sich über das Unbehag-
liche der Einsiedelei zu beklagen, sich über die Frömmigkeit
ihres Bewohners und namentlich über die Anbetung des
Crucifixes ärgert, letzteres herunterreisst und es fortträgt,
um es ins Wasser zu w^erfen.
Der dritte Act hebt wieder mit einem Selbstgespräch
des Satyros an, der auf dem Rasen im Schatten gelagert,
sich wohl sein lässt, dann auf der Flöte bläst und singt. Dies
lockt zwei Mädchen, Arsinoe und Psyche herbei, von
denen die letztere sowol vom Spiel und Lied wie von der
Person des Fremdlings berückt ist; Satyros umfängt Psyche
mit heftiger Liebe, als die von Widerwillen gegen ihn
ergriffene Arsinoe sich entfernt hat, um ihren Vater herbei
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l6 Quellen und Anlasse Goethe'scher Dramen.
zu rufen. Arsinoe's Vater kommt; es ist der Oberpriester
Hermes. Ihm und dem sich sammelnden Volke gegen-
über brüstet Satyros sich mit seiner Nacktheit und seinem
unsaubern naturwüchsigen Aeussern, indem er ungebundnes
Leben und naturgemässe rohe Kost anpreist.
Im Beginn des vierten Actes beschwert sich Hermes,
der dem Ansehen des Satyros sich unterworfen hat, über
die Folgen der rohen Kastaniennahrung; Satyros kramt
vor dem gläubigen Volk Naturweisheit aus; er wird als
Prophet verehrt. Der hinzutretende Einsiedler, welcher ihn
wegen der Misshandlung des Crucifixes zu Rede setzt,
wird vom Volk als Gotteslästerer behandelt und zum
blutigen Opfer im Tempel des Satyros bestimmt. Im
fünften Act bedauert Eudora, das Weib des Hermes, den
seinem Tod entgegensehenden Einsiedler, der jedoch nun
mit ihr einen Plan verabredet, um das wahre Wesen des
Satyros ans Licht zu ziehen.
Die Schlussscene spielt im Tempel; Satyros überlässt
dem Volk, den Einsiedler zu opfern, indessen er sich
entfernt, um mit Eudora Verabredetermassen zusammen
zu treffen. Der Einsiedler weiss die Vollstreckung des
Opfers so lange hinauszuziehen, bis ein Schrei Eudora's
die erwartete Katastrophe verkündet. Die Thüre des
Seitengemachs, von welchem der Schrei drang, wird auf-
gesprengt und das Volk erblickt die gegen die Brunst des
Satyros sich wehrende Eudora. Der Entlarvte begiebt sich
hinweg, das seinen Werth vorgeblich nicht begreifende
Volk verächtlich scheltend; der Einsiedler schliesst, auf die
bethörte Psyche zielend: »Es geht doch wol eine Jung-
frau mit.«
Mit dem Satyros, wie er sich nach diesem Auszug dar-
stellt, wäre also Basedow zu vergleichen, selbstverständlich
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Satyros. 17
zunächst nach derjenigen Schilderung, welche Goethe selbst
im XIV. Buch von »Dichtung und Wahrheit« von ihm
entwirft, aus welcher folgende hier einschlagende Züge
hervorzuheben sind:
Basedow hatte ein unschönes Gesicht and vernach-
lässigte seine äussere Erscheinung;
durch grinsenden Spott reizte er auf und lachte
höhnisch, wenn er Andere in Verlegenheit gesetzt hatte;
er wusste dagegen auch durch leidenschaftliche, grosse
und überzeugende Beredsamkeit für sich einzunehmen,
wurde seiner Geistesgaben wegen bewundert und war
daher sehr gesucht ; allein er fühlte den unruhigsten Kitzel
Alles zu verneinen und sowol die Glaubenslehren, als die
äusserlichen kirchlichen Handlungen nach eignen Grillen
umzumodeln; auf eine harte Weise erklärte er sich vor
Jedermann als den abgesagtesten Feind der Dreieinigkeit
und verletzte dadurch die kaun^ gewonnenen Gemüther;
er verbreitete seine Ansichten über die Umgestaltung
des Erziehungswesens auf seinen fortwährenden Reisen.
Neben diesen Andeutungen Goethe's über Basedow's
Persönlichkeit ist die Charakteristik des Letzteren von
Gervinus (a. a. O. V, 339. f.) zu vergleichen und daraus
Folgendes zu bemerken:
Basedow erregte als Professor an der Ritterakademie
zu Soroe Aergerniss durch seine Sitten und sein anstössiges
Privatleben ;
er trat Gegnern in Prophetenton entgegen;
er wirkte für naturgemässe Erziehung in dem Sinne
Rousseau's und drang auf Abhärtung ;
er besass die Gabe aufzuwiegeln.
Die hier gegebenen, in der Person des Satyros sich
wiederfindenden Züge sind in ihrer Zusammenstellung zu
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l8 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen.
eigenthümlich, als dass angenommen werden könnte, sie
hätten sich noch in einer zweiten bedeutenden Person zu-
sammengefunden, oder Goethe hätte sie seinem Satyros
beigelegt, wenn er ihn nicht hätte einem gegebenen Vor-
bilde ähnlich machen wollen. Derselbe ist überdies auch
so individuell gehalten, dass er nicht, wie vielleicht die
Hauptperson in »Hanswurst's Hochzeit«, als ein Repräsen-
tant von Zuständen, sondern nur als Zerrbild einer be-
stimmten Person angesehen werden kann. Die entgegen-
gesetzten Wirkungen, die Basedow auf ein und dieselbe
Person in der Aufeinanderfolge hervorbrachte, sind indessen
in dem Dfama an zwei verschiedenen Personen gleich-
zeitig gezeigt: an Psyche und Arsinoe.
Es bleibt nunmehr nur noch zu erwägen, ob der
Grund gegen die Deutung auf Basedow — Goethe's Be-
w^underung seiner guten Eigenschaften — durchschlagend
genug ist, um dieselbe trotz der dafür sprechenden Gründe
fallen zu lassen.
Goethe war 1773 und 1774 im Zuge, dramatische Sa-
tiren zu schreiben und nahm dabei Alles vor, was ihm in
den Weg lief: nicht nur Leuchsenring, Jacobi und Barth,
sondern auch Wieland, den er doch nach vielfachen Kund-
gebungen kurz zuvor noch aufs Höchste schätzte. Er that
dies, trotzdem dass er sehr wohl fühlte, wne übel man
ihm den Angriff auf einen der wenigen damals glänzenden
Vertreter der deutschen Literatur nehmen müsse; er nannte
seine Posse »Götter, Helden und Wieland« in Briefen an
Kestner, Schönborn und Johanna Fahimer selbst ein garstig,
schändlich Ding, ein Schand- und Frevelstück; er gewär-
tigte sich von der Letztgenannten eines Fusstritts mit dem
Bedeuten, dass er sich zum Teufel scheeren solle, weil
man nichts mehr mit ihm gemein haben möge. Trotzdem
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Satyros. 19
also, dass er den schlimmen Eindruck seines Ausfalls auf
Wieland vollkommen würdigte, hatte er ihn doch nicht
zurückgehalten. Und noch Jahre nachher, als zunehmendes
Alter und höfischer Umgang ihn nachgiebiger und vor-
sichtiger gemacht hatten, Hess er seine spöttische Laune
selbst in den gefeiten Hofkreisen aus, bald an dem dort
in Ansehen stehenden Wieland, bald an dem Goethe'n
selbst in innigster Freundschaft verbundenen Jacobi (durch
die berufene »Kreuzerhöhung Woldemars«).
Und was er gegen diese sich herausnahm, sollte er
gegen Basedow nicht vermocht haben? Stand er denn
wirklich 1774 so geblendet vor diesem? Gewiss nicht!
Erzählt er doch selbst, wie er genöthigt gewesen sei,
gegen den grinsenden Spott Basedow's sich dadurch zu
wehren, dass er ihm etwas dagegen abgab; wie er femer
den schlechten Schwamm desselben als eine Naturmerk-
würdigkeit unter dem Namen Basedow'scher Stinkschwamm
verhöhnte; wie er sodann einmal den von brennendem
Durst Gequälten fast gewaltsam verhinderte in eine Schänke
einzukehren und den Erbosten mit beissendem Scherz
auf das als Schänkzeichen aushängende Doppeltriangel mit
Bezug auf die von Basedow so heftig befehdete Dreieinig-
keit verwies; wie er gegen Basedow's Streitsucht die
Waffen der Paradoxie ergriffen, dessen absonderliche Mei-
nungen überboten und das Verwegene mit Verw^egenerem
zu bekämpfen gewagt habe. In den 1774 während der
Reise mit Basedow gedichteten Scherzreimen »Diner zu
Coblenz« machte sich endlich Goethe, allerdings hier ziem-
lich harmlos, über Basedow's Verwerfung der Taufe und
sein Prophetenthum lustig.
Kurz, aus alledem geht hervor, dass Goethe keines-
wegs sich dem reisenden Propheten so gefangen gab, um
2*
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20 QpELLEN UND ANLÄSSE GoETHE'SCHER DrAMEN.
dessen Schwächen nicht in ihrem ganzen Umfange durch-
schauen zu können, und wenn er sich schon erlaubte, den-
selben ins Gesicht deshalb zum besten zu haben, so wird
er umsoweniger Anstand genommen haben, auf seinem
Zimmer die Sonderbarkeiten Basedow's Musterung passiren
und über sie seinem Muthwillen freien Lauf zu lassen.
Es war genug Rücksicht, dass er die Posse damals nicht
in die Oeffentlichkeit brachte. Dass er bei alledem an-
erkannte, in derselben einen bedeutenderen Mann zur Ziel-
scheibe seines Witzes gemacht zu haben, als im »Pater
Brey«, spricht er ja deutlich in den Worten aus : er habe
in jenem einen »tüchtigeren und derberen« der wandern-
den Propheten dargestellt. Beide Beziehungen passen ganz
ausnehmend auf Basedow. Und weiter erkennt Goethe an,
dass er jenen »nicht mit Billigkeit« dargestellt habe, wo-
nach man sich das Uebertriebene im »Satyros« zurecht-
legen mag.
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2. Stella.
^s mag vielerlei zusammengewirkt haben, um
A j dieses »Schauspiel für Liebende« hervorzu-
/;; rufen, sowol auf Inhalt wie auf Behandlung
:| Bezügliches. Die Lösung des Widerstreits
^ zwischen dem Gesetz der Einehe und der
Freiheit eines liebenden Herzens hatte viel Verlockendes.
Die Sage vom Grafen von Gleichen giebt sie nur schatten-
haft; Lessing's »Miss Sara Sampson«, w^elche zwar keinen
Kampf zwischen einer Verheiratheten und einer frei Ge-
liebten, aber doch zwischen zw^ei auf Heirath Anspruch
machenden Frauenzimmern zum Gegenstande hat, wurde
von Goethe schon als Knabe verehrt; Weisse's »Gross-
muth für Grossmuth«, w^elchem Lustspiel ein gleiches,
nicht zu schwierig zu lösendes Verhältniss zu Grunde
liegt, gab dem eben aus Leipzig nach Frankfurt zurück-
gekehrten Jüngling Anlass zu vielfachen Betrachtungen.
Eigene Erlebnisse erinnerten Goethe an diese Bühnen-
stücke. Wie viele weibliche Herzen hatte er nicht schon
angezogen ! Früherer Verbindungen gar nicht zu gedenken,
lagen schon hinter ihm die zu Käthchen Schönkopf,
Friederike Brion, Anna Sibylla Münch, Francisca Crespel,
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22 QjüELLEN UND ANLÄSSE GoETHE'sCHER DrAMEN.
Charlotte Buff, Maximiliane La Roche, während er gleich-
zeitig, als er »Stella« dichtete, das bräutliche Verhältniss
zu Lilli Schönemann, das innig freundschaftliche zu Jo-
hanna Fahimer und brieflich das schwärmerische zu Auguste
Gräfin Stolberg unterhielt, der er am 20. September 1775
offenherzig von seinem damaligen »Verhältniss zu mehreren
recht lieben und edlen weiblichen Wesen« schrieb. Was
er aber in seinem Herzen für möglich erfand, die gleich-
zeitige Hingabe an mehrere Frauen, wollte er auch vor
der Welt als berechtigt anerkannt sehen. Indessen ein
eigentlicher, tiefbewegender Conflict wurde durch Neben-
einanderbestehen solcher freier Verhältnisse, wie in Lessing's
und Weisse's Dramen, nicht erzeugt; der war erst vorhan-
den, w^enn die Strenge des Staaten- und Sittengesetzes
mit anderweit eingegangenen sittlichen Verpflichtungen in
Widerspruch gerieth, also wenn Ehe und Liebe unver-
einbar einander gegenübertraten. Man kann dahin gestellt
sein lassen, ob ihn zu dieser ernsteren Situation die da-
mals die Runde machende Geschichte eines deutschen
Grafen leitete, der in Portugal und dann in Deutschland
Töchter vornehmer Häuser entführte, oder ob ihm die
Beziehungen vorschwebten, w^elche der von ihm viel be-
wunderte Swift mit zwei Mädchen, Esther Johnson und
Esther Vanhomrigh unterhielt, von denen er die letzte,
die er unter dem Namen Stella feierte, heirathete, ohne
deshalb mit der ersten zu brechen. Vielleicht gaben
Bürger's häusHche Verhältnisse Anregung.
Die Anlehnung an »Miss Sara Sampson« macht sich
noch kenntlich nicht nur in der Schlichtheit und selbst
einer gewissen Nachlässigkeit der Sprache, die in beiden
Dramen bemerkbar ist, sondern auch in Einzelheiten des
Ausbaues. So beginnen z. B. beide in einem Wirthshaus,
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Stella. 23
ja sogar, wenn man die Kleinigkeit nicht für zu gering
achtet, wundern sich in beiden Stücken die Wirthsleute
über die frühe Ankunft der Reisenden; in beiden macht
ein Diener des Verführers diesem Vorwürfe über sein Be-
tragen etc. Zw^eifellos ist, dass Goethe bestimmte Zustände
und Begebnisse seines Lebens in dem Schauspiel verar-
beitete; in der »Deutschen Rundschau« haben 1875 und
1876 Urlichs und Scherer ausführlich besprochen, inwie-
fern die Familie Fritz Jacobi's dabei herangezogen worden
ist. Wenn Goethe im Fernando wie im Clavigo und Weis-
ungen znr Busse sich selbst dargestellt hat, so hat er sich
nicht geschont. Für Stella selbst hat unstreitig LilU Goethe'n
gesessen. Bei Cäcilien möchte man an Friederike denken:
wie Cäcilie gegen Stella geistig tief im Schatten steht, so
sah Goethe auch auf die Pfarrerstochter von Sessenheim
von oben herab, was zwar nicht aus der Prachtidylle in
»Dichtung und Wahrheit«, aber deutlich aus Briefen an
Aktuar Salzmann zu entnehmen ist. Und auch sie hatte sich
beschieden, den Geliebten anderen überlassen zu müssen.
Die Doppelehe, auf welche der Schluss der »Stella« in
deren ersten Gestalt hinweist, zog Goethe'n von der einen
Seite Verspottung, von der anderen Verketzerung zu. So-
gar der in sittlichen Dingen sehr lässige Kotzebue glaubte
eine andere Lösung desselben Conflicts auf die Bühne
bringen zu müssen und Hess in dem 1797 erschienenen »La
Peyrouse« die Gattin und die Geliebte sich vereinigen, in
einem Hause gemeinschaftHch, aber getrennt von La Pey-
rouse, als Schwestern und wie mit einem Bruder zu leben.
Aber auch dieser Schluss befriedigte so wenig wie der
Goethe'sche und Kotzebue musste sich später entschliessen,
die Geliebte sich vergiften zu lassen. Schon vorher war
Goethe ebenfalls zu der Ueberzeugung gelangt, dass der
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Q.ÜELLEN UND ANLASSE GoETHE'sCHER DrAMEN.
Conflict nur tragisch gelöst werden könne : die Verletzung
eines Grundgesetzes unserer gesellschaftlichen Ordnung,
wie die Heiligkeit der Ehe ist, konnte in einer reinen
Dichtung ideal gefunden werden, aber durch die Bühne
der Wirklichkeit nahe gerückt, musste sie peinHch wirken.
So heftete denn Goethe dem durchaus nicht in höherem
Tone gehaltenen und auf tragisches Ende nicht vorbereiten-
den Schauspiele den trauerspielmässigen Schluss an, in
welchem Fernando sich erschiesst und Stella sich vergiftet;
so w^urde es am 15. Januar 1806 zuerst aufgeführt, zum
zweiten Mal erst am 2. Mai desselben Jahres.
Aus einem Brief der Frau von Stein an ihren Sohn
vom 5. März 1806 hat man schliessen zu müssen geglaubt,
dass nur Fernando, nicht aber Stella ums Leben gekommen
sei, da es dort heisst: »KeuHch wurde seine alte »Stella»
gegeben; er hat aus dem Drama eine Tragödie gemacht.
Es fand aber keinen Beifall. Fernando erschiesst sich und
mit dem Betrüger kann man kein Mitleid haben. Besser
wäre es gewesen, er hätte Stella sterben lassen; doch
nahm er mir's sehr übel, als ich dies tadelte.« Dagegen
schreibt Gries am 28. März 1806 an Justizrath Hufeland-
(»Aus Weimar*s Glanzzeit« von Diezmann, S. 25) »Die
interessanteste und fast die einzig interessante Vorstellung
diesen Winter war Goethe's »Stella« nach einer, wie mir
scheint, nicht sehr vortheilhaften Veränderung. Denken
Sie nur: Fernando erschiesst sich und die arme Stella ver-
giftet sich am Ende.« Da beide Briefe sich auf dieselbe
Aufführung beziehen, so kann die Aeusserung der Frau
von Stein nur dahin verstanden werden, dass sie für
rührender gehalten habe, wenn nur Stella sterbe.
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3- Claüdine von Villabella.
ie Quelle dieses Singspiels ist wol noch nicht
aufgespürt; wenn man ihr aber nachgeht, muss
man gänzlich von derjenigen Fassung absehen,
welche das Stück 1787 und 1788 in Italien
erhalten hat. Diese, in welcher es zuerst in
der Göschen'schen Ausgabe von Goethe's Schriften erschien,
ist an Inhalt und Gestaltung so ganz etwas Anderes als
die Fassung, welche 1775 unter demselben Namen an's
Licht getreten war, dass man keineswegs eine blosse Um-
arbeitung wie von »Götz« und »Iphigenie«, sondern ein
neues Stück vor sich hat, in dem nur der Faden der Hand-
lung von jenem beibehalten ist.
Vergegenwärtigen wir uns Personal und Verlauf des
älteren Stücks, so gelangen wir sofort zu der Ueber-
zeugung, dass Goethe nach einem spanischen Vorbild
arbeitete.
Der Gutsherr Gonzalo von Villabella feiert das Ge-
burtsfest seiner Tochter Claüdine mit seinen Unterthanen,
sowie im Beisein zweier als Gäste bei ihm sich aufhalten-
den Fremden : seines alten Freundes Sebastian von Rovero
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26 QjüELLEM UND ANLÄSSE GoETHE^SCHER DrAMEN.
und des jungen Pedro von Castelvecchio. Gonzalo schwärmt
mit dem Feuer eines Liebhabers für seine Tochter und
hebt ihre von allen Seiten anerkannten äussern und innern
Vorzüge hervor. Zwischen Pedro und Claudine ist eine
Liebe im Entstehen; von Seiten der letzteren wird sie zwar
kaum nur schüchtern geahnt, für den Beobachter ist sie
aber da.
Die Anwesenheit Sebastian's und Pedro's in Villabella
ist veranlasst durch das Aufsuchen des landstreicherischen
älteren Bruders von Pedro, dessen Spur in dieser Gegend
gefunden worden ist. Zwei Nichten Gonzalo's, ein ziem-
lich gemein sich darstellendes Paar, sind neidisch auf Clau-
dine, und da sie sich einbilden, dass diese mit Pedro
nächtliche Zusammenkünfte im Garten halte, so setzen
sie den Vater davon in Kenntniss. — Unter einer Bande
Vagabunden sieht man hierauf Pedro*s Bruder Alonzo unter
dem angenommenen Namen Crugandino *) und man erfährt,
dass er Claudine nachstelle und sie bei Nacht beschleichen
will, wozu ihm die Terrasse vor ihrem Hause zu statten
kommen soll. Dieses Vorhaben sofort ausführend, triift
er Claudine, die daselbst ihre Liebessehnsucht aushaucht;
er bringt ihr ein Ständchen und sucht ein Gespräch mit
ihr anzuknüpfen; sie jedoch, obwol sie in ihm Pedro zu
erkennen glaubt, begiebt sich ins Zimmer zurück. Indessen
kommt Pedro, der ebenfalls unter Claudinens Fenster sich
schwärmend ergehen will, hinzu, Crugandino zieht gegen
ihn den Degen und verwundet ihn im Zweikampf, worauf
*) So ist der Name .illerdings nur im Personen vcrzeichniss der Ausgabe leuter Hand
von Goethe's Werken geschrieben, sonst überall »Crug^ntino«, jene Schreibart ist indess als
die richtigere, als richtigste aber »Crujandino« anzusehen. Das spanische j ist in g französirt,
wie nach Beaumarchais >.Clavi|{o« statt »Clavijo«», wie dieser Name im Deutschen auch
schon der Aussprache gemäss in schreiben 'uäre.
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Claudine vom Villabella. 27
ersterer von einem Kumpan Crugandino's nach dessen
Wohnung in einem benachbarten Ort gebracht wird, um
dort gepflegt zu werden. Jetzt stelh sich auch Gonzalo
ein, der sich überzeugen will, ob der von den Nichten
ausgesprochene Verdacht gegründet sei; er beleidigt Cru-
gandino, den auch er anfänglich für Pedro hält, durch
Vorwürfe, die Degen werden wieder gezogen und der
Zweikampf unterbleibt nur wegen des bescheidenen Wider-
rufs von Seiten Crugandino's, worauf nicht allein die beiden
Gegner die ausserordentlichsten Höflichkeiten austauschen,
sondern auch Gonzalo den Unbekannten zu sich in's Haus
ladet. Hier im Kreise der FamiHe giebt die Zither, welche
Crugandino bei sich führt, Anlass, ihn zum Singen aufzu-
fordern, wobei er wieder an Claudine anzukommen sucht.
Plötzlich w^ird Pedro's Verwundung und Fortschaffung
gemeldet; Claudine fällt in Ohnmacht und zugleich erscheint
Sebastian, der in Crugandino den gesuchten Alonzo erkannt
hat, mit Wache, um denselben festzunehmen ; dieser schlägt
sich aber durch. Claudine, wieder zum Bewusstsein ge-
langt, ist ausser sich; die eben nur noch keimende Liebe
ist plötzlich in vollem Umfang und in aller Stärke ent-
faltet, und das so zarte, schüchterne Mädchen zaudert
nicht, heimlich sich als Mann zu verkleiden und nach dem
Ort zu eilen, wo Pedro darniederliegt. Vor der Herberge
der Vagabunden stösst sie auf Crugandino, der sich ihrer
bemächtigen will ; ihr Geschrei zieht Pedro herbei, nachher
auch Crugandino's Kumpan, es entsteht ein Kampf und
infolge dessen kommt die Wache herbei, die sämmtliche
Personen verhaftet. In dem Kerker, in welchem sich zu-
letzt alle Hauptpersonen einfinden, geht endlich die Ent-
wicklung vor sich. Sebastian verhehlt dem sich anfänglich
sehr trotzig geberdenden Crugandino nicht länger, dass er
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28 QytLLKN UND Anlasse Goethe'scher Dramen.
ihn erkannt habe, und dieser enthüllt sich jetzt offen als der
herzlich gute Mensch, der bis dahin nur andeutungsweise
zum Vorschein kam und der nur aus Unruhe und Abenteuer-
lichkeit den Wilden gespielt hat. Allseitige Versöhnung
und Claudinens Verlobung mit Pedro schhessen das Stück.
Es laufen hier also zwei Handlungen gleichberechtigt
neben einander: das zarte Verhältniss zwischen Claudine
und Pedro einerseits, sowie Crugandino's Landstreicherei
und seine Zurückführung anderseits; denn wenn Crugan-
dino nur da sein sollte, um Claudine nachzustellen und
Pedro zu verwunden, so wäre eigentHch die Vorführung
seiner seltsamen Abenteuer und überhaupt seine Beziehung
zu Pedro überflüssig; wenn aber die Darstellung der un-
ruhigen Natur Crugandino's die Hauptsache sein sollte,
so wäre wieder Claudinens Liebesgeschichte bei kunst-
gerechter Anlage des Stücks nicht so ausführlich zu be-
handeln gewesen.
Die Doppelhandlung des Stückes nun, das Ständchen
vor dem Fenster der Angebeteten mit dem Zusammen-
treffen der Nebenbuhler, die Schnelligkeit, mit welcher
wiederholt die Degen gezogen, Zweikämpfe begonnen und
dann wieder Versöhnungen geschlossen werden, das ritter-
liche, höfliche Betragen gegen den Gegner, wie das Gon-
zalo's nach dem Streit mit Crugandino, sind lauter Dinge,
welche in unzähligen spanischen Stücken vorkommen, und
die ebenso wie der Schauplatz — der Spanien, nicht wie
in der späteren Bearbeitung Sicilien, ist — ingleichen wie
die grossentheils spanischen Namen und Titel der Per-
sonen auf eine spanische Quelle hindeuten. Ein Grund,
welcher Goethe bestimmt haben sollte, spanisches Wesen
nur nachzuahmen und zwar in den angedeuteten Rich-
tungen, ist gar nicht denkbar.
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Claudine von Villabella.
Dass Goethe nicht unmittelbar aus solcher Quelle
schöpfte, den Stoff vielmehr durch Vermittelung einer
franjzösischen Operette kennen lernte, ist aber wahrschein-
lich, wie denn auch für die äussere Form der »Claudine«
die französische Operette mit ihrem prosaischen Dialog
und den eingestreuten Gesangstücken massgebend gewesen
ist. Obschon hiernächst Goethe in den »Tag- und Jahres-
heften« (von 1769 bis 1775) »Claudine von Villabella« zu
denjenigen Bühnenstücken zählt, welche im Gegensatz zur
freien Form der Engländer in beschränkterer Weise ge-
dichtet seien, was auch im Verhältniss zu dem dort mit-
aufgeführten »Götz von Berlichingen« richtig ist, so lässt
sich doch in andrer Hinsicht die Einwirkung Shakespeare's
auf ersteren nicht ganz verkennen und möchte w^ol die hin-
gebende Beschäftigung mit dessen Werken der Antrieb
gewesen sein, den Gegenstand unseres Singspiels zu be-
arbeiten; denn die oben erwähnten Eigenthümlichkeiten
der spanischen Bühne finden sich bekannthch grossentheils
auch in den älteren englischen Schauspielen. Namentlich
sprach den lebensprühenden jungen Goethe die reichere
Handlung beim Nebeneinanderlaufen zweier Geschichten
auch in Shakespeare's Lustspielen an, und die Darstellung
eines als Mann verkleideten schüchternen Mädchens, ein
in jenen Stücken (in »Was ihr wollt« — »Wie es euch
gefällt« — »Die beiden Veroneser« etc.) beUebtes Motiv,
reizte gleichfalls zur Nachahmung. Insbesondere beachte
man das Lob, das Gonzalo der Volksdichtung spendet:
»Zu meiner Zeit war's anders! Da ging's dem Bauer wol
und da hatt' er immer ein Liedchen, das von der Leber
wegging und einem's Herz ergötzte ; und der Herr schämte
sich nicht und sang's auch, wenn's ihm gefiel; das na-
türlichste, das beste ! Da w^aren die alten Lieder, die
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30 Quellen und Anlasse Goethe'scher Dramen.
Liebeslieder, die Mordgeschichten, die Gespenstergeschichten,
jedes nach seiner eignen Weise und immer so herzlich.«
Erinnert das nicht an Shakespeare*s Worte in »Was ihr
wolh« (IL, IV.):
Komm, Bursch, sing uns das Lied von gestern Abend!
Gieb Acht, Cesario! es ist alt und schlecht.
Die Spinnerinnen in der freien Luft,
Die jungen Mägde, wenn sie Spitzen weben,
So pflegen sie 's zu singen; 's ist einfältig
Und tändelt mit der Unschuld süsser Liebe
So wie die alte Zeit.
Die Ausführung der »Claudine«, wonach der Stoflf zur
innerlichsten Empfindung vertieft ist, steht auch Shake-
speare entschieden nahe, während sie der schroffste Gegen-
satz zu dem rein Äusserlichen und Gemachten der spa-
nischen Dramenbehandlung ist, so dass wol sogar die
Unnatur des vermutheten spanischen Urbilds Goethe'n zur
freien Bearbeitung gelockt haben könnte, die demnach eine
reizende Vereinigung spanischer Lebendigkeit der Hand-
lung, britischer Wahrheit der Handelnden und französischer
Anmuth der Bühnenform mit deutschem Gemüth vorge-
tragen, zur Erscheinung bringt.
Goethe würde aber die Dichtung ohne stoffliches In-
teresse nicht unternommen haben. Ueber die Lebens-
beziehungen, die er in »Claudine« verarbeitete, giebt er
selbst nur ein paar allgemeine Andeutungen. An Henriette
Freiin von Waldner-Freundstein, spätere Freifrau von Ober-
kirch, schrieb er in einem Brief vom 12. Mai 1776 (ob
ursprünglich deutsch oder wirklich französisch?): »Je vous
envoie ma Claudine; puisse-t-elle vous faire passer un
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Claudixe von Villabella. 3^
moment agreable ! Dans ma vie d'auteur j'ai iti assez
heuf-eux pour rencontrer et apprecier beaucoup d'honn^tes
gcns, beaucoup de bellcs ämcs, parmi lesquelles j'aime ä
vous classer. Pour celles-la particulitrement j'aime i decrire
ce qui me va le plus a Tesprit et au coeur!« Sodann meldet
Goethe im »Bericht« vom November 1787 in der »Italie-
nischen Reise«: »Erwin und Elmire« sowie »Claudine von
Villabella« sollten nun auch nach Deutschland abgesendet
werden ; ich hatte mich aber durch die Bearbeitung Egmont's
in meinen Forderungen gegen mich dergestalt gesteigert,
dass ich nicht über mich gewinnen konnte, sie in ihrer
Form dahinzugehen. Gar manches Lyrische, das sie ent-
halten, war mir lieb und werth ; es zeugt von vielen zwar
thörigt, aber doch glücklich verlebten Stunden wne von
Schmerz und Kummer, welchen die Jugend in ihrer unbe-
rathenen Lebhaftigkeit ausgesetzt bleibt. Der prosaische
Dialog dagegen erinnerte zu sehr an jene französischen
Operetten, denen wir zwar ein freundliches Andenken zu
gönnen haben, indem sie zuerst ein heiteres singbares
Wesen auf unsere Theater herüber brachten, die mir aber
jetzt nicht mehr genügen wollten, als einem eingebürgerten
Italiener, der den melodischen Gesang durch einen reci-
tirenden und declamatorischen wenigstens wollte verknüpft
sehen«. Unterm 3. November 1787 hatte er nach Weimar
geschrieben : » Claudine wird so zu sagen ganz neu
ausgeführt und die alte Spreu meiner Existenz heraus-
geschwungen«.
Aus diesen Stellen ist zu entnehmen, dass es sich
auch bei Dichtung der »Claudine« wie bei so vielen andern
Werken Goethe*s um eine Herzensangelegenheit handelte,
und zwar w^eist die Zeit der Abfassung mit voller Be-
stimmtheit auf LilU Schöncanann hm. Wir erkennen deren
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^J
32 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen.
»reine kindhafte Natur«, die Jungfrau, von der er sang:
»Wo du Engel bist, ist Lieb und Güte — Wo du bist,
Natur!«, von der er ferner sagte, dass sie »im Genuss aller
geselligen Vortheile und Weltvergnügen aufgewachsen«
sei, in der herrlichen allgefeierten Gestalt Claudinens wieder,
in welcher Goethe der Geliebten ein köstliches Denkmal
gesetzt hat. Auch der für ein so zartsinniges Weib auf-
fällige Entschluss Claudinens, den Geliebten in männlicher
Kleidung aufzusuchen, wäre Lilli wol möglich gewesen,
die ja ihre glänzenden Verhältnisse um Goethe's willen
verlassen und mit ihm nach Amerika gehen zu wollen
erklärt hatte!
Im Crugandino zeigt sich Goethe selbst als den »Hu-
ronen«, als den »Westindier«, als den »Bär«, als welcher
er damals oft, wie er erzählt, sich gebärdete; die Natur-
kinder Diderot's, »seine wackern Wilddiebe und Schleich-
händler« sind auch jedenfalls nicht ohne Einfluss auf die
Darstellung jenes veredelten Vagabunden geblieben. Bei
der Umarbeitung von 1787 und 1788 ist nun jede Spur
der früheren Absichten verwischt und das Singspiel hat
dabei wo nicht allen, so doch jedenfalls seinen ursprüng-
lichen liebenswHirdigen Charakter verloren. In der äussern
sprachlichen Gestalt sind an Stelle der prosaischen Ge-
spräche fünffüssige jambische Verse getreten. Das Stück
ist damit allerdings auf eine gewisse classische Höhe nach
romanischen Begriffen gehoben, aber was ist es geworden?
Zunächst ist es nicht, was es scheinen möchte, eine ita-
lienische Oper, in welcher diejenigen Gesprächstücke, die
nicht gesungen werden, lyrische Stücke zum Vortrag als
Recitative sind, sondern es sind dieselben in der neuen
»Claudine« wie zur Declamation geeignete Stücke des
recitirenden Drama's. Diese haben aber durch den fünf-
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Claudixe von Villabella. 33
füssig jambischen Vers und durch das Ernsthafte ihres
Inhalts eine Bedeutung erhahen, welche der Gesammt-
wirkung nicht günstig ist. Wenn in der Oper die ge-
sprochene Rede nicht leicht behandelt ist, sondern anspruchs-
voll auftritt, dann erscheint allerdings Gottsched's Vorwurf
gegen die Oper begründet, dass es lächerlich sei, wenn
eine Person, die erst gesprochen wie ein vernünftiger
Mensch, auf einmal zu singen anfange. Und in der neuen
»Claudine« steht die Würde der dialogischen Stücke ent-
schieden ausser Verhältniss zu dem Tändelnden der Ge-
sangstücke, wie zu der AbenteuerHchkeit der Handlung, so
dass sie in dieser Gestalt der dramatischen Form nach ziemHch
vereinzelt und nicht nachahmungswürdig dastehen dürfte.
Die herzhche Wärme des altern Stücks ist dabei einer
abgemessnen Kälte gewichen; aus der duftigen, allverehrten
Claudine ist ein gewöhnHches, liebebdes Mädchen, aus dem
väterlich begeisterten, ritterUchen Gonzalo ein sclnvatz-
haftes Stück Polizeiagent Namens Alonzo, aus dem natur-
wüchsigen Crugandino ein in der Weise Karl Moor's
wunderlich zugestutzter Rugantino, aus der gemüthlichen
spanischen Vagabundengesellschaft ein gemeines italienisches
Banditenthum geworden, und wenn anstatt der hässlichen
Muhmen Claudinens ein leidliches Mädchen eingeführt ist,
um neben Claudine und Pedro noch eine anständige zweite
Heirath mit Rugantino zu ermöglichen, so fällt dabei auch
kein Gewinn für das Stück ab, da jene Lucinde eben nur
eine gehaltlose Opernfigur ist; der biedere Sebastian ist
verschwunden und keine Entschädigung für ihn geboten.
Es ist eben anstatt der Licht- und Schattenseiten des
altem Stücks eine durchgängige Dämmerung eingetreten.
Wenn diese Aeusserungen für einen Verehrer Goethe's
zu schroff und anmasslich erscheinen, so muss sie der
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34
dUELLEN UND ANLÄSSE GoETHE'SCHER DrAMEN.
Unmuth entschuldigen, den man darüber empfinden darf,
dass Goethe ein frisch hervorsprudelndes Erzeugniss und
anmuthiges Zeugniss seines Jugendlebens theils — wie aus
dem Brief an Kayser vom 23. Januar 1786 zu entnehmen
ist — aus theatralischen und musikalischen Rücksichten,
theils, in Italien »ultramontan« geworden, — nach Brief an
Kayser vom 6. Februar 1787 — um sich romanischer
Formenstrenge zu fügen, so zu sagen vernichtete; denn
mit der in Italien ausgeführten Bearbeitung strich er das
ursprüngliche Singspiel aus der Sammlung seiner Schriften
und nach dem Himburg'schen Nachdruck in den siebziger
Jahren w^ar es verschollen, bis es nach Goethe's Tod in
den nachgelassenen Werken wneder Aufnahme fand.
Um zum Schluss die Verschiedenheiten der altern und
der neuern »Claudine«, wie sie sich schon in den Personen-
verzeichnissen kund giebt, übersichtlich darzulegen, folgt
hier eine Gegenüberstellung beider:
1775.
Don Gonzalo, Herr von Villabella.
Donna Claudina, seine Tochter.
Sita I -- Nichten.
Don Sebastian von Rovero, Freund
des Hauses.
Don Pedro von Castellvecchio.
Don Alonzo von Castellvecchio,
unter dem Namen Crugandino.
Basco, Vagabund.
Kerkermeister.
Wachen von Villabella.
Wache von Sarossa.
Bediente Gonzalo's.
Landleute.
Schauplatz: Spanien.
1787.
Alonzo, Herr von Villabella.
Claudine, seine Tochter.
Lucinde, seine Nichte.
Pedro von Castellvecchio, unter
dem Namen Pedro von Rovero.
Carlos Castelvecchio, unter dem
Namen Rugantino.
Basco, ein Abenteurer.
Vagabunden.
Garden d. Fürsten v. Roccabruna.
Bediente Alonzo's.
Bediente Pedro's.
Landvolk.
Schauplatz: Sicilien.
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4- Triumph der Empfindsamkeit.
icht erst als auf dem Liebhabertheater des
herzoglichen Hofs zu Weimar — 1778 —
»Die glücklichen Bettler« nach Gozzi's »I pi-
tocchi fortunati« aufgeführt wurden, war man
dort auf die Bühnenwerke dieses Venezianers
verfallen, vielmehr war er schon Jahrs zuvor von Goethe
in seiner eigensten Gattung, dem dramatisirten Märchen
— Fiaba — nachgeahmt worden und zwar in jenem wunder-
bar phantastischen Stück, dessen Erfindung Goethe zuerst
am 12. September 1777 unter dem Namen »Die Empfind-
samen« ankündigt, das er dann nach einer Bemerkung im
Tagebuch unterm 15. November 1777 vielleicht »Oronoro«
nennen wollte, und das bei der Aufführung am 30. Januar
1778 als »Die geflickte Braut« vorgeführt, zufolge eines Nach-
trags im Theateralmanach für 1780 später wieder »Die Em-
pfindsamen« getauft wurde, in den gesammelten Schriften
— 1787 — aber als »Triumph der Empfindsamkeit«
erschien. Von Goethe's Beschäftigung mit Gozzi zu
dieser Zeit zeugt auch dessen Name in Goethe's Tage-
buch unterm 25. October 1777; auch die ebenda unterm
3'
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36 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen.
5. Januar 1778 erwähnte, wol in Ettersburg aufgeführte
»extemporirte Komödie« dürfte auf jenen Bühnendichter
zurückzuführen sein.
Insbesondere sind aber »Die Empfindsamen« jedenfalls
durch Gozzi's »L'amore delle tre melarance« — »Die Liebe
zu den drei Pomeranzen« — angeregt. Eine Vergleichung
wird dies ausser Zweifel setzen, wobei man jedoch nicht
vergessen darf, dass es sich nicht etwa um eine Ueber-
Setzung oder auch nur um eine eigentliche Nachahmung
handelt, sondern mehr nur um eine Benutzung derjenigen
Züge des venezianischen Märchens, welche für das Lieb-
habertheater des deutschen Hofes sich eigneten.
Bevor ein Ueberblick über jenes Märchen gegeben
wird, ist vorauszuschicken, dass die Absicht des Grafen
Gozzi dahin ging, denjenigen Bühnendichtern entgegenzu-
treten, welche regelmässige französische Stücke auf die
Bühne einbürgern und das einheimische Stegreiflustspiel
mit Masken von derselben verdrängen wollten, also nament-
lich dem Goldoni und Chiari. Zu diesem Zwecke brachte
er die altitahenischen Masken in Märchen an, die zugleich
durch ihre bunte Mannigfaltigkeit anziehen und fesseln
sollten. Wurden in sokhen Märchen öfter die Gegner mit-
genommen, so hatte doch »Die Liebe zu den drei Po-
meranzen« vorzugsweise den Zweck, Goldoni und Chiari
lächerlich zu machen. Der Gang dieses Märchens ist nun
folgender :
Silvio, König von Koppe (gekleidet wie ein Karten-
könig) bejammert mit Pantalon das Unglück seines ein-
zigen Sohnes, des Kronprinzen TartagUa, der seit zehn
Jahren in eine, wie es scheint, unheilbare Krankheit ver-
fallen ist; die Aerzte haben erklärt, dass er an tiefer
Hypochondrie leide und dass er in kurzem sterben müsse.
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Triumph der Empfindsamkeit. 37
wenn er nicht einmal zum Lachen zu bringen sei; dies
allein werde einen wohlthätigen Durchbruch und die Heil-
barkeit ankündigen. Aber vergeblich sei jede darauf ge-
richtete Bemühung. Der König befindet sich schon in
hohem Alter, sieht seinen Sohn dem Tode geweiht und
hat zu ervk^arten, dass sein Reich an seine Nichte, Prinzess
Ciarice, übergehe, worüber er seine Unterthanen beklagt,
da sie ein wunderliches, eigensinniges, grausames Frauen-
zimmer ist. — Pantalon tröstet den König und setzt ihm
auseinander, dass wenn des Prinzen Heilung von dessen
Lachen abhänge, der Hof sich nicht in Trauer versenken
dürfe, vielmehr müssten Festlichkeiten, Spiele, Maskeraden
und Bühnendarstellungen angeordnet werden, wozu Truf-
faldin zu empfehlen sei, der sich ums Lachen sehr ver-
dient gemacht habe und ein wahres Mittel gegen die
Hypochondrie sei; Pantalon will eine Neigung des Prinzen
Tartaglia zu Truffaldin wahrgenommen haben und glaubt,
letzterer w^rde jenen zum Lachen bringen, wenn man ihm
nur freie Hand lasse. Der König willigt ein und giebt
geeignete Befehle.
Da tritt Leander, der erste Minister des Königs, auf
(gekleidet wie der Cavallo der italienischen Kane); Silvio
trägt ihm auf. Feste, Spiele und Trinkgelage zu veran-
stalten und verspricht eme grosse Belohnung dem, der den
Prinzen zum Lachen bringen würde. Leander räth ab, in-
dem er vorgiebt, dass das Alles dem Kranken nur zum
grössten Nachtheil gereichen werde; allein der König be-
harrt bei seinem Befehle auf Andringen Pantalons und
entfernt sich mit diesem.
Zu Leander tritt die Prinzessin Ciarice, (welche eine
Caricatur auf die übertriebenen Charaktere in Chiari's
Schauspielen vorstellte). Man erfährt, dass sie die Absicht
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38 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen.
hat, wenn es ihr geUngt, den König zu beerben, Leander
zu heirathen und ihn auf den Thron zu heben. Sie schilt
diesen, dass er sich begnüge, ihren Vetter durch eine so
langsame Krankheit, wie die Hypochondrie, ums Leben
bringen zu wollen, allein er entschuldigt sich, dass die
Fee Morgana, seine Freundin und Feindin des Königs,
(unter welcher Chiari gemeint war) ihm einige Zettel mit
martel lianischen Versen (in denen die Stücke Chiari's und
Goldoni's geschrieben waren) gegeben und ihm versichert
habe, dass w^enn er dieselben dem Tartaglia beibringe,
derselbe unfehlbar an Hypochondrie sterben müsse. In-
dessen wird der ärztUche Ausspruch erwähnt, dass die
Heilung Tartaglia's möglich sei, wenn er lache, und Leander
gedenkt der Anwesenheit Truffaldin's am Hofe zu diesem
Zwecke, worauf die Prinzessin ausser sich geräth, da sie
Truffaldin gesehen hat und überzeugt ist, es sei nicht
mögUch, ihn zu erbHcken, ohne in Lachen auszubrechen.
Nun wird durch Brighella erkundet, dass Truffaldin
durch einen Zauberer CeÜo, den Feind der Fee Morgana
und Frpund des Königs Silvio, an den Hof geschickt wor-
den sei, um den Prinzen lachen zu machen; zugleich
lässt aber Morgana wissen, dass sie selbst kommen werde,
um den von Celio (w^orunter Goldoni zu verstehen) beab-
sichtigten Erfolg zu hintertreiben.
Die Festspiele finden statt. Truffaldin giebt sich alle
Mühe, den zuschauenden Prinzen zum Lachen zu bringen;
umsonst. Unter den Zuschauem ist aber auch, als alte
Frau verkleidet, die Fee Morgana; Truffaldin macht sich
an sie, treibt seinen Spott mit ihr, und sie stürzt endlich
dergestalt zu Boden, dass sie die Beine in die Höhe streckt.
Ueber diesen spasshaften Anblick muss der Prinz lachen,
aber Morgana, wüthend, spricht den Fluch aus, dass er
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Triumph der Empfindsamkeit. 39
sich in die drei Pomeranzen verlieben müsse. Der Prinz
geräth auch sofort in Begeisterung für die drei Pomeranzen
und beschliesst, sich aufzumachen um sie zu suchen.
Hiermit schliesst der erste Aufzug. Die beiden andern
stehen in entfernterer Beziehung zu »der geflickten Braut«
und es mag daher hier nur kurz bemerkt werden, dass
Prinz Tartaglia in Begleitung Truffaldin's die drei Po-
meranzen der riesigen Zauberin Creonta abgewinnt, auch
dieselben entzaubert und wieder zu Mädchen macht, worauf
aber zwei von ihnen durch die Bosheit der Fee Morgana
und eine Unvorsichtigkeit Truffaldin's sogleich ihr Leben
verHeren, während die dritte erhalten wird und obwol
durch neue Zaubermittel Morgana's eine Zeit lang in eine
Taube verwandelt, dennoch endlich mit Tartaglia vermählt
wird. Durch das ganze Stück zieht sich die Verspottung
des regelmässigen Schauspiels mit seinen hochtrabenden
martellianischen Versen und mit besonderer Beziehung auf
Chiari's Stücke voll wunderbarer Begebenheiten und schwül-
stiger Sprache und auf Goldoni's Charakterstücke und
Sachwalterstyl.
Es ist also die Absicht bei Gozzi's wie bei Goethe's
Stück, eine in der Literatur herrschende Richtung durch
ein Bühnenstück zu verspotten und zwar, was dessen In-
halt anlangt, vorzugsweise durch übertriebene Darstellung
der Wirkung dieser Richtung auf das Gemüth, dergestalt,
dass in beiden Stücken den Gegenständen, durch welche
Hterarische Werke zur Erscheinung kommen, — die Zettel
mit martelhanischen Versen und die Bücher in Oro-
noro's Puppe — eine Wirkung zugeschrieben wird, die
eigentlich nur durch den Gehalt dieser Werke hervor-
gebracht werden könnte, und zwar sind die Beeinflussten
in beiden Stücken Prinzen, die dadurch in eine geistige
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40 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen.
Krankheit verfallen sind und wegen deren Heilung dann
Zauberer und Orakel befragt werden.
Auch in der Ausführung behielt Goethe das Stegreif-
spiel im Auge, und noch in der umgearbeiteten »Ge-
flickten Braut«, im »Triumph: der Empfindsamkeit«, stellt
er an mehreren Stellen den Schauspielern das Extem-
poriren ausdrücklich anheim. Die italienischen Masken,
welche auf einer deutschen Bühne nicht die Bedeutung haben
konnten, welche Gozzi vorschwebten, hat Goethe nicht bei-
behalten, doch hat er etw^as Ähnliches, und zwar vielleicht
in der » Geflickten Braut« noch mehr als im »Triumph der
Empfindsamkeit«, durch übertriebene Charakteristik erstrebt;
denn er schreibt an Merck, dass »alle Acteurs bis zur Ca-
ricatur physiognomisch« gewesen seien. Auch gedenkt er
in demselben Brief vom i8. März 1778 der eigenthüm-
lichen Kleidung der Schauspieler , folgte also in dieser
Beziehung gleichfalls dem italienischen Vorbilde. Die Aus-
gelassenheit und der Muthwille ist ebenso in beiden Stücken,
dem von Gozzi und dem von Goethe, gleich und z. B.
das Leibaufschneiden der Puppe, in welche sich Prinz
Oronoro verliebt hat, ein Gegenstück zu dem unanstän-
digen Fall der Fee Morgana. Goethe nannte sein Werk
daher »eine Tollheit«, was auch Gozzi's Märchen ist.
In Mangel eines Freibriefs zum Unsinn, wie in Italien
die Masken, griff" Goethe zur komischen Oper mit Ballet,
obw^ol das MusikaHsche eine untergeordnete Stelle spielte
und es nur mit benutzt wurde, das Parodistische zu steigern.
Dass Goethe als komische Oper »Die Empfindsamen« und
dann »Die Geflickte Braut« als Lustspiel mit Gesängen
und Ballets — was freilich ziemlich dasselbe ist wie ko-
mische Oper — verfasst habe, wie E. W. Weber in seinem
Aufsatz: »Was Weimar in der zweiten Hälfte des vorigen
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Triumph der Empfindsamkeit. 41
Jahrhunderts für die Oper that» (Weimar, Sonntagsblatt
1856, S. 70 f) anführt, dürfte wol auf einem Irrthum be-
ruhen, da jedenfalls »Die geflickte Braut« der bei der Auf-
führung gewählte Name für das, während der Abfassung
als »Die Empfindsamen« bezeichnete Singspiel ist. Viel-
leicht war übrigens in jenem älteren Stück die Musik vor-
herrschender als jetzt, wo Goethe dasselbe als »drama-
tische Grille« bezeichnete und sich so mehr der Bezeichnung
Gozzi's — fiaba und fola — anschloss.
Zum Schluss mag noch darauf aufmerksam gemacht
werden, dass auch Lila mit ihrer Krankheit aus »Phantasie
und Liebe« und deren Heilung Anklänge an »L'amore
delle tre melarance « verräth und vielleicht auch schon
durch dieses Bühnenmärchen angeregt wurde.
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5- Proserpina.
Im Goethe dieses Monodrama von Anfang
( an in die »geflickte Braut« einschaltete, gehört
I diisselbe eigentlich zum vorigen Aufsatz. Es
^^- isi \ ölHg ausser Zweifel gestellt, dass diese Ein-
schaltung nicht, wie vermuthet worden ist,
erst bei wiederholter Aufführung der »Empfindsamen«
erfolgte; das bewxnst der Brief der Räthin Goethe an Lavatcr
vom 20. März 1778, sodann die Nachricht im »Theater-
journal für Deutschland«, Sechstes Stück, 1878, S. 99, sowie
die archivalische Bestätigung Burkhardt's in »Die Grenz-
boten« 1873, Nr. 27. Doch w^urde das Stück auch für sich
am 17. Juni 1779 in Ettersburg vorgestellt.
In »Proserpina« folgte theils Goethe Rousseau wider
Willen, theils widersprach er ihm. Rousseau hatte zwischen
1762 und 1765 den PygmaÜon, scene lyrique, gedichtet,
um dadurch einen Versuch zu machen, die Bühnenvor-
tragsweise — Deklamation mit Musikbegleitung — wie sie
nach seiner Ansicht bei den alten Griechen beschaffen ge-
wiesen war, wieder einzuführen. Dieses Stück scheint
erst nach einer im Jahre 1770 in Lyon stattgehabten Auf-
führung in weiteren Kreisen Aufmerksamkeit erregt zu
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Proserpina. 43
haben. In Deutschland machte sich diese Darstellungsform
zunächst der Schauspieler Brandes für das Virtuosenthum
semer Frau zu Nutze, indem er Gerstenberg's Cantate
»Ariadne auf Naxos« zu einem »Drama mit musikalischen
Accompagnements« bearbeitete, d. h. die Verse jener Can-
tate in die damals den Schauspielern allein geläufige Prosa
umschrieb und den Theseus mit ein paar kurzen Reden
einschob, in welcher Gestalt die Aufführung mit Benda's
Musik 1774 statthatte. In ebendemselben Jahre gab dann
Bertuch sein lyrisches Monodrama »Polyxene« und im
nächsten Jahre ward, mit ebenfalls von Benda gesetzter
Begleitung, Gotter's »Medea« zur Darstellung gebracht.
Goethe erkannte zwar das Falsche dieser Melodramen-
form, worin »Kunst und Talent mit einem namenlosen
Wesen, das man aber Natur nannte, in einen Brei gerührt
ward», an, allein er sah, wue jene Melodramen ansprachen,
und lüstern zu versuchen, was er selbst auch aus dieser
Dichtgattung zu machen im Stande sei, auch dem nach
allem Neuen begierigen Hof gern gefällig, verschmähte
er nicht, selbst ein solches Stück, »Proserpina«, zu
schreiben. Indessen strafte er sich gewissermaasen selbst
für diese Nachgiebigkeit, indem er das in würdevoller Höhe
sich bewegende Stück dadurch in seiner demgemässen
Wirkung vernichtete , dass er es in die muthwillige Posse
»Die geflickte Braut« aufnahm.
Trotz des Anschlusses an die Form Rousseau's trat
ihm aber Goethe dem Inhalte nach entgegen. Er bemerkt
selbst vom Pygmalion : »Diese w^underliche Production
schwankt gleichfalls zwischen Natur und Kunst, mit dem
falschen Bestreben, diese in jene aufzulösen; wir sehen
einen Künstler, der das Vollkommenste geleistet hat, und
doch nicht Befriedigung darin findet, seine Idee ausser
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44 Q.UELLEN UKD AXLASSE GoETHE'SCHER DRAMEN.
sich kunstgemäss dargestellt und ihr ein höheres Leben
verliehen zu haben; nein, sie soll auch in das irdische
Leben zu ihm herabgezogen werden ; er will das Höchste,
was Geist undThat herv^oi gebracht, durch den gemeinsten
Act der SinnHchkeit zerstören.«
In »Proserpina« im Gegentheil verliert eine Göttin
den Anspruch auf den Olymp, weil sie irdische, oder viel-
mehr unterirdische Speise lüstern genoss; es wird also
hier zur Darstellung gebracht, wie die sinnliche Begierde
das Ueberirdische von sich entfernt, was Schiller in »Das
Ideal und das Leben« so ausdrückt:
Wollt Ihr schon auf Erden Göttern gleichen,
Frei sein in des Todes Reichen,
Brechet nicht von seines Gartens Frucht!
Selbst der Styx, der neunfach sie umwindet,
Wehrt die Rückkehr Ceres' Tochter nicht.
Nach dem Apfel greift sie — und es bindet
Ewig sie des Orcus Pflicht.
Erst bei der neuen Aufführung der Proserpina auf
Weimar's Bühne im Jahre 1815 ging Goethe darauf aus,
fast alle Künste, die sich nur bei einer Darstellung gehend
machen können, in »Proserpina« zusammen zu häufen :
heroisch-landschaftliche Decoration, begleitende Musik und
Chorgesang, ferner körperliche Bewegung, Geberdenspiel
und Mantelspiel nach Mustern antiker Plastik, endlich
noch ein Tableau. Hierbei wich aber der Dichter dem
Bühnenleiter.
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6. Iphigenie.
wenige Worte mögen diesem Schauspiel
'^" f;e\vidmet sein, über welches schon genug
gesagt worden ist, als dass noch Unklar-
leiten bestehen könnten.
Dass Goethe des Euripides »Iphigenie
bei den Tauriern« bei seiner Dichtung vor Augen gehabt
habe, ist ausser Zweifel, dass er aber unter den Werken
jenes Tragikers gerade auf dieses seine Aufmerksamkeit
gerichtet hat, mag durch den Antheil veranlasst worden
sein, welchen er, wie er im fünfzehnten Buch von Dich-
tung und Wahrheit und in einem Brief an Zelter vom
23. Februar 1817 erwähnt, am Geschicke des Hauses Tan-
talos und Atreus nahm, welchem auch Iphigenie ent-
sprossen war. Er mag die Geschichte hauptsächhch aus
Hygin's Fabeln geschöpft haben, eine Vermuthung, deren
Grund am Schlüsse dieser Besprechung deutlich werden
wird. Hygin berichtet die Sage von Iphigenie auf Taurien
übrigens gerade so, wie Euripides sie darstellt, nur dass er
die Griechen infolge der List Iphigeniens — w^elche dem
König Thoas nach Anleitung des Pylades die Nothwen-
digkeit einer Entsühnung des Götterbildnisses vorgespiegelt
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46 QUELLEN UKD ANLÄSSE GoETHE'SCHER DrAMEN.
hat — einfach entkommen lässt, während Euripides der
Flucht der Griechen einen gewahsamen Schluss durch die
versöhnliche Erscheinung der Athene hinzufügte.
Schon das Aherthum fand es unwürdig, dass blosse
List in unlöblichem griechischen Geiste die Ausführung des
Götterspruchs, welcher das Bild der Artemis von Taurien
nach Delphi zu bringen befahl, ermöglichen sollte, wie man
ebenso den Deus ex machina als tadelnswerth erkannte,
und so Hess Pacuvius in seiner Tragödie » Dulorestes « die
Griechen im Kampf über die Taurier siegen und ganz im
römischen Sinne durch Tapferkeit das Ziel erringen.*)
Man kann für gewiss halten, dass Goethe den Ge-
danken, Iphigenie durch Wahrheit siegen zu lassen, auch
den Alten entlehnte. Als er sein Schauspiel schrieb, lebte
und webte er ganz im classischen Alterthum und las na-
mentUch die griechischen Tragiker, Dichter und Philo-
sophen, daher denn auch die Form der Iphigenie auf die
griechische sich gründete. (Siehe Eckermann's »Gespräche
mit Goethe« I., 277. III., 77. und Riemer's »Mittheilungen
über Goethe« IL, 716. 718.) Die griechische Tragödie aber,
in welcher der Sieg der Wahrheit gefeiert wird, ist »Phi-
loktet« von Sophokles, worin Neoptolemos in seiner Red-
Hchkeit das Truggewebe des Odysseus ebenso zerreisst,
wie Iphigenie die List des Pylades aufdeckt. Bei Schöpfung
der Persönlichkeit Iphigeniens schwebte aber unserm Dichter,
w^as längst festgestellt ist, Charlotte von Stein vor. Der
bildende, mässigende und veredelnde Einfluss, den Goethe
*) Dass Goethe eine Scene aus dem Dulorestes des Pancrius entlehnt habe, wie in
dem Artikel der allgemeinen Encyklopädie über diesen Tragiker «i lesen ist, scheint auf
einer Verwechselung des Goethc'schen Schauspieb mit Gluck's Oper zu beruhen ; wenigstens
kommt die dort bezeichnete Scene des Pacuvius (der freundschaftliche Streit zwischen Orest
und Pylades, deren jeder sich für den, von Thoas zum Tode bestimmten Ore«!t ausgiebt)
bei Goethe nicht vor.
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Iphigekie. 47
selbst dieser von ihm innigst geliebten Frau in seinen
Briefen an sie zuschreibt, ist bekannt, und denselben Ein-
fluss übt Iphigenie auf den uncivilisirten Thoas wie auf
den leidenschaftlichen Orestes aus, in welchen beiden wir
uns Goethe selbst vorzustellen haben, soweit diese jenem
Einflüsse unterliegen. Einige Stellen aus den gedachten
Briefen und zwar aus der Zeit vor der Dichtung der
»Iphigenie« und kurz darauf mögen die gegenseitigen Be-
ziehungen bestätigen.
Vergegenwärtigen wir uns ganz im Allgemeinen den
Einfluss Iphigeniens, der theils gegen die Scythen — wue
namentUch Arkos im ersten Aufzug, zw^eiten Auftritt schil-
dert — durch Sittigung, theils gegen Orest — namentlich
wie dieser selbst im dritten Aufzug, dritten Auftritt ihn
ausspricht — durch Reinigung segensvoll sich erwnes, so
erinnert aufs lebhafteste an ihn der Frau von Stein Ein-
fluss auf Goethe, wie er ihn vorzugsweise in dem Gedicht
vom 14. April 1776 darstellt:
»Tropftest Mässigung dem heissen Blute,
Richtetest den wilden, irren Lauf,
Und in Deinen Engelsarmen ruhte
Die zerstörte Brust sich wieder auf.
Welche SeHgkeit glich jenen Wonnestunden,
Da er dankbar Dir zu Füssen lag,
Fühlt' sein Herz an Deinem Herzen schwellen.
Fühlte sich in Deinem Auge gut.
Alle seine Sinnen sich erhellen
Und beruhigen sein brausend Blut!«
Noch verschiedene einzelne Aeusserungen m Goethe's
Briefen an Frau v. Stein gehen auf dasselbe hinaus; so
wenn er am 26. März 1776 von Leipzig schreibt :
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48 Quellen ukd Anlässe Goethe'scher Dramen.
» Ich bin bei der Schrötern *) — ein edel Geschöpf in
seiner Art — ach wenn die nur ein halb Jahr um Sie
wäre! Beste Frau, was sollte aus der werden!«
Ferner, wenn Goethe die Geliebte in einem undatirten
Briefchen (»Briefe an Frau v. Stein« I., 4.) »Besänftigerin«
nennt, was namentlich an des Thoas (V., 3.)
»Wie oft besänftigte mich diese Stimme!«
erinnert, oder wenn er in einem anderen Briefe (L, 57.)
wünscht :
»Sie nah zu sehen und einen Tropfen Anodynum aus
Ihren Augen zu trinken«,
oder wenn er am 8. August 1776 schreibt :
»Deine Gegenwart hat auf mein Herz eine wunder-
bare Wirkung gehabt; ich kann nicht sagen, wie mir ist !«
Iphigeniens rücksichtslose Liebe zum Rechten und zur
Wahrheit, deretwegen Pylades (IV., 4.) vorwurfsvoll zu
ihr äussert:
Man sieht. Du bist nicht an Verlust gewöhnt,
Da Du dem grossen Uebel zu entgehen
Ein falsches Wort nicht einmal opfern willst —
lässt sich vergleichen mit Stellen aus Goethe's Briefen an
Frau V. Stein vom 27. Juni 1776 :
»Sie [eine Zeichnung] ist ganz herrlich, ganz wahr
und Deine ganze Seele in der Wahrheit. Das Gefühl des
Friedens, der mit Dir geht etc.« —
und vom 7. October desselben Jahrs :
»Sie kommen mir eine Zeit her vor wie Ma-
donna, die gen Himmel fährt: vergebens dass ein Rück-
bleibender seine Arme nach ihr ausstreckt, vergebens dass
*") Ccroni Schr.-)tcr.
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Iphigenie. 49
sein scheidender, thränenvoller Blick den ihrigen noch ein-
mal niedenvünscht, sie ist nur in den Glanz versunken,
der- sie umgiebt, nur voll Sehnsucht nach der Krone, die
überm Haupte schwebt.«
Wenn aber Orest (III., i.) sagt:
Zwischen uns sei Wahrheit!
so klingt dies an die Worte des Briefs vom 7. Juni 1780 an:
»Wenn Sie nicht bald wiederkommen, muss ich
eine andere Lebensart anfangen. Eine Liebe und Vertrauen
ohne Grenzen ist mir zur Gewohnheit geworden.«
Diese Eigenschaften sind denn auch Ursache, dass
Iphigenie von Orestes (V., 6.) und von Arkas (L, 2.) eine
HeiUge genannt wird, wie Frau v. Stein von Goethe in
Briefen vom i. Mai 1776 und 5. Juli 1779 etc., anderer
ähnlicher Ausdrücke im Schauspiel und in den Briefen
nicht zu gedenken. Und wie Orestes gegen Iphigenie sich
ausspricht (III., i.):
Wider meinen Willen
Zwingt mich Dein holder Mund; allein er darf
Auch etwas SchmerzÜch's fordern und erhält's —
so ähnlich Goethe gegen Frau v. Stein am 2. August 1778:
»Von Ihren Händen nehm' ich auch, was schäd-
lich ist.«
Goethe hatte dagegen sich selbst, sowol im Orestes
wie im Thoas vor Augen. Auf letzteren übertrug er das
Ungeschmeidige, das er sich zuschrieb, und wie er nicht
blos in dem Gedicht: »Lili's Park« sondern auch in dem
Briefe an Frau v. Stein, der ohne Jahr und Tag Band L
Seite 173 abgedruckt ist, sich einen »Bären« nennt, so
lässt er Thoas selbst als »einen erdgebomen Wilden«
4
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50 Quellen und Anlasse Goethe'scher Dramen.
(I., 3.) und »den rohen Scythen, den Barbaren« sich
bezeichnen.
Die Aehnlichkeit mit dem innerÜch gereinigten Orest
lässt sich auch aus mehreren Briefen an Frau v. Stein
herausfinden, z.B. in »Wanderers Nachtlied« vom 12. Februar
und in der oben angeführten Stelle aus dem Gedicht vom
14. April 1776, dann Band L, Seite 91:
»Wie die Götter mit mir steh'n, weiss ich nicht, so
viel weiss ich : dass sie Geistern Macht über mich gegeben
haben, die dann in ihrem Streit mich treten und treiben.«
Wie Orest der ihm sich nahenden Iphigenie (IIL, i.)
zuruft :
Lass! hinweg!
Ich rathe Dir, berühre nicht die Locken!
Wie von Kreusa's Brautkleid zündet sich
Ein unauslöschlich Feuer von mir fort. —
so schreibt Goethe am 10. October 1780 :
» Auf ein Uebel häuft sich alles zusammen ! Ja es ist
eine Wuth gegen sein eigen Fleisch, wenn der Unglück-
liche sich Luft zu machen sucht dadurch, dass er sein
Liebstes beleidigt! Und wenn's nur noch in Anfällen von
Laune wäre und ich mir's bewusst sein könnte; aber so
bin ich bei meinen tausend Gedanken wieder zum Kinde
herabgesetzt, unbekannt mit dem Augenblick, dunkel über
mich selbst, indem ich die Zustände des andern wie mit
einem hellfressenden Feuer zerstöre.«
Darauf dass, wie Iphigenie Orest's Schwester war, so
Goethe Frau v. Stein häufig Schwester nannte (wie in den
Briefen vom 23. Februar und 16. April 1776 und vom
10. October 1780, ingleichen im Gedicht vom 14. April 1776)
wird kein Gewicht zu legen sein, aber noch viele Ver-
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Iphigenie. 5 1
gleichungen zwischen Iphigenie und Frau v. Stein würde
finden, wer es darauf anlegte, das Schauspiel mit Goethe's
Briefen zusammen genau durchzugehen.
Dreimal hatte Goethe die Iphigenie schon umgearbeitet,
als er nach Italien reiste und dort die fünfte Bearbeitung
unternahm. Dabei meldet er unterm 19. October 1786 aus
Bologna, dass er den Plan zu einer »Iphigenie in Delphi«
ausgebildet habe, den er auch dort darlegt und der ein an
die »Iphigenie auf Taurien« anschliessendes Stück werden
sollte, so, wie die Griechen drei Tragödien zu einer Tri-
logie an einander reihten. Zelter gedenkt dieses »Schlusses«
der Iphigenie, wie er jenen Entwurf nennt, in einem Briefe
an Goethe vom 13. Februar 18 17 und letzterer antwortet
darauf unterm 23. desselben Monats:
»Es ist eine Notiz da, dass die alten Tragiker diesen
Gegenstand behandelt haben, der mich nothweiidig reizen
musste, weil ich in das Atreus'sche Haus mich so einge-
siedelt hatte. Eine cykUsche Behandlung hat viel Vor-
theile, nur dass wir Neuern uns nicht recht darin zu finden
wissen. «
Jene Notiz findet sich aber in Hygin's Fabeln, deren
122. die Grundzüge der »Iphigenie in Delphi« enthält, und es
ist bekannt, dass Hygin den Stoff seiner Fabeln aus den
Tragikern nahm.
Diese Erinnerung an Hygin's Werk lässt auch die
oben angedeutete Vermuthung zu, dass dasselbe Goethe'n
die erste Anregung zur »Iphigenie auf Taurien« gleichfalls
gegeben habe, deren Geschichte dort in der 120. Fabel
erzählt ist.
Den nächsten Anlass, die Geschichte Iphigenien's auf
Taurien zum Vorwurf eines Bühnenstücks zu nehmen,
könnte vielleicht »Iphigenie en Tauride« von Nikolaus Franz
4*
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52 Q.UELLEN UND ANLÄSSE GoETHE'SCHER DrAMEN.
Guillard, welche Gluck componirte, gegeben haben. Letz-
terer hatte die Oper im November 1778, als er von Wien
nach Paris zurückreiste, bereits vollendet, und wenn sie
auch damals noch nicht in die OefFentlichkeit gelangte, so
konnte doch Goethe leicht, z. B. durch seinen Freund
Christoph Kayser, einen eifrigen Verehrer Glucks, Kennt-
niss davon erhalten haben; welchen Antheil aber Goethe
an Gluck nahm, bekundet seine Absicht, ein Gedicht auf
des letztem im Jahre 1776 verstorbene Nichte Marianne
zu machen, wie er an Frau v. Stein am 25. Mai dieses
Jahres schreibt. Doch wäre diese Oper nur ein Anlass im
Allgemeinen gewesen, denn Guillard's Buch, wenn es
Goethe auch früher gekannt haben sollte, bot Nichts, was
er benutzen konnte.
Unzweifelhaft ist, dass Goethe »Orestes und Pylades«
von Elias Schlegel, w^elches Trauerspiel denselben Gegen-
stand wie »Iphigenie« behandelt, kannte, da er sonst mit
Schlcgel's Schriften genau bekannt war, namentlich bei
einer Aufführung seines »Kanut« mitspielte, seinen ver-
meintlichen Vorgang bei der ersten Wahl der fünffüssigen
Jamben im Schauspiel »Belsazar« vor Augen hatte und
durch seinen »Hermann« sich bestimmen liess, Stoffe zu
Schauspielen aus der deutschen Geschichte zu entneljmen.
Schlegel hat in seinem Stücke einen freundschaftlich gross-
müthigen Streit zwischen Orest und Pylades, ähnlich wie
Pacuvius, und dass Goethe davon keinen Gebrauch machte,
verdient Beachtung, indem daraus die berechnete Mässigung
herv^orgeht, welche ihm nicht gestattete, durch die Theil-
nahme für die Freunde die Theilnahme von Iphigenie ab-
zulenken und dadurch zu schwächen.
Nach einer Mittheilung Riemer's (11, 620) scheint
Goethe noch ein Drama aus dem Hause Agamemnon's in
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Iphigenie. 5 3
Absicht gehabt zu haben, und zwar in den Jahren von 1803
bis 1805, Klytemnästra's Ermordung. Er wollte den Mutter-
mord infolge eines Irrthums geschehen lassen, hatte also
eine ähnliche Abschw^ächung der barbarisch grausigen That
im Sinne, wie sie schon Voltaire und Alfieri anstrebten,
indem sie Klytemnästra den Tod durch Orest dadurch
finden Hessen, dass sie bei erstrem sich zwischen Ägisth
und den auf diesen eindringenden Orest wirft, bei letztrem
aber dem blindwüthend anstürmenden Orest entgegentritt.
Ein Irrthum wäre bei dieser That etwa so zu denken,
dass Orest die ihm als Mörderin Agamemnon's bezeichnete
Frau tödtete, bevor er sie als seine Mutter erkannt hatte.
Es handelte sich also um eine Humanisirung der heidnischen
Erzählung wie bei »Iphigenie«.
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y.VoRSPiEL AUF DEM Theater zu Faust.
iie Goethe selbst erzählt, leitete ihn bei Dich-
tung des Prologs im Himmel, der dem ersten
Theile der eigentlichen Tragödie des » Faust «
vorangeht, das i. Capitel des Hiob; es scheint,
dass er auch den Anlass zu dem, diesem
Prolog vorangehenden »Vorspiel auf dem Theater« aus
dem Morgenlande nahm. Denn wenn es auch anderwärts
vorkam, dass ein Schauspieldirector in einem Vorspiel auf-
geführt wurde — wie in den »Loas« der Spanier und auch
sonst, z. B. im »Atis« von Piron — so lief es doch dabei
immer auf eine Posse hinaus; in einem ernster gehaltenen
Vorspiel finden wir aber einen Theaterdirector in dem
Vorspiel zu »Sakontala« von Kalidasa. Dieses indische
Schauspiel wurde den Europäern durch die 1787 in Cal-
cutta erschienene englische und uns noch näher durch
Forster's darnach bearbeitete deutsche Uebersetzung von
1791 bekannt*), und wenn das Vorspiel, wie man anzu-
nehmen Grund hat, 1797 gedichtet ist, so fällt es noch in
die Zeit, wo der Eindruck der Sakontala lebendig in ihm
*) Es i5t Jahcr eine, offenbar hei spaterer Rcdaction der u Italienischen Reise« ein-
geschlichene Zcitverrückung , wenn dort in einem von Neapel d. i. März 1787 datirten
Schreiben »Sakontala«' , und noch d.v/.u als eine in alter Erinnerung riihcnJe Dichtung
erwähnt wird.
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Vorspiel auf dem Theater zu Faust. 55
war. Zwar ist das Epigramm auf dieses Schauspiel von
1791; allein dass es noch Jahre lang fortwirkte, sagt nicht
nur Goethe selbst in dem späteren Aufsatz »Indische
Dichtung«, sondern beweist auch das aus dem Briefe
Schiller's an Goethe vom 20. Februar 1802 und aus Goethe's
Brief an Ch^zy vom 9. October 1830 bekannte Vorhaben,
dasselbe für Weimar's Bühne zu bearbeiten.
Das indische Vorspiel ist nun zwar nur das Ei, aus
dem sich der herriiche Paradiesvogel entwickelte; allein es
enthält doch wie eben angedeutet die hauptsächlichsten
Motive des Vorspiels zu »Faust«, namentlich wenn man
sich an Forster's Uebersetzung hält ; da diese durch neuere
verdrängt ist, sei es verstattet, das Vorspiel der Sakontala
nach derselben hier folgen zu lassen.
Zuerst spricht ein Brahmane den Segen (ein Brah-
mane, Madhawya, ist auch die lustige Person des Stücks) ;
sodann tritt ein:
der Theaterdirector: Wozu eine lange Rede?
(hinaus sprechend) Wenn Sie mit ihrem Putz fertig sind,
Madame, so beheben Sie nur zum Vorschein zu kommen.
Schauspielerin: Da bin ich schon. Was befehlen
Sie, mein Herr?
Theaterdirector: Dies, Madame, ist die zahlreiche
und erlesene Versammlung des ruhmvollen Helden, unseres
Königs Vikramaditya, des Beschützers aller frohen Künste.
Vor diesen Zuschauern müssen wir ein neues Werk des
Kalidas, betitelt »Sakontala oder der entscheidende Ring»,
aufführen. Also bittet man allerseits um Aufmerksamkeit.
Schauspielerin: Sie urtheilen richtig, dass Sie erst
nach dem Grade des Vergnügens, den diese Versammlung
empfinden wird, Ihr Verdienst abmessen wollen ; allein ich
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56 dUELLEN UND ANLÄSSE GoETHE'SCHER DrAMEN.
zweifle nicht, bald wird sich's zeigen, wie man es schätzt.
Haben Sie sonst noch etwas zu befehlen?
Theaterdirector: Was können Sie besseres thun,
da Sie nun einmal auf der Bühne stehen, als die Seele der
Zuhörer mit Gesang erheitern und ihren Sinn damit er-
quicken ?
Schauspielerin: Soll ich die Beschreibung einer
Jahreszeit singen? und welche Jahreszeit hören Sie am
Uebsten beschreiben?
Theaterdirector: Eine schönere Zeit kann man
nicht wählen, als den Sommer, der jetzt eben beginnt und
reich an Vergnügen ist. Wie süss ist der Schluss eines
Sommertags, der unsere Jugend zum Bad in kühlen Bächen
einladet und zum leichten Schlummer verführt im Schatten,
wo säuselnde Waldlüfte sich kühlen, die über den blühen-
den Patalis hinstreifend, ihm seine Wohlgerüche raubten.
Schauspielerin [singt ein Lied].
Theaterdirector: Reizendes Lied, die ganze Ver-
sammlung funkelt gleichsam Beifall; die Musik zu den
Worten erfüllt ihre Seele mit Entzücken. Mit welcher
andern Vorstellung können wir die Fortdauer Ihrer Gunst
uns sichern?
Schauspielerin: O mit keiner, als »dem entschei-
denden Ringe«, den Sie eben angekündigt haben.
Theaterdirector: Wie könnt' ich auch das ver-
gessen? In jenen Augenblicken wnegten mich Deiner
Stimme Melodien in Zerstreuung und lockten mein Herz,
wie den König Duschmanta jetzt die schnelle Antilope
lockt. (Beide gehen ab.)
Hierauf beginnt das Schauspiel mit Duschmanta's Jagd
nach einer Antilope. Wir finden hierin folgende Ver-
gleichungspunkte mit dem Vorspiel zu »Faust«:
■v-^ tV.
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Vorspiel auf dem Theater zu Faust. 57
in beiden Vorspielen tritt ein Schauspieldirector auf, der
mit ebenfalls in beiden auftretenden Personen seiner Truppe
(bei Kalidasa eine Schauspielerin, bei Goethe der Dichter
und die lustige Person) über das aufzuführende Stück sich
bespricht, wobei
auf die zahlreiche, harrende Versammlung verwiesen
und zu möglichst guter Leistung aufgefordert wird; im
Allgemeinen aber wird die Nothwendigkeit, Kennern zu
gefallen, und
von der einen Seite die Furcht vor Missfallen, sowie
von der andern Seite Vertrauen auf günstigen Erfolg
ausgesprochen, übrigens dennoch
eine Einwirkung auf die Sinne der Zuschauer (bei Kalidasa
durch Gesang, bei Goethe durch »Prospecte und Maschi-
nen« etc.) für erspriesslich erkannt und endHch am Schlüsse
das zuerst zur Darstellung Kommende angedeutet (bei Kali-
dasa Duschmanta's Antilopenjagd, bei Goethe der Himmel). \ f. v
Man bemerke jedoch, dass Goethe das kecke Ver-
trauen der indischen Schauspielerin vielmehr seinem Di-
rector und der lustigen Person, die höheren Ansprüche j
des Theaterdirectors bei Kalidasa dagegen seinem Dichter 1
in den Mund gelegt hat.
Bei der Mahnung der lustigen Person an den Dichter:
Lasst Phantasie mit alfen ihren Chören,
Vernunft, Verstand, Empfindung, Leidenschaft,
Doch merkt euch wohl! nicht ohne Narrheit hören —
sowie bei den Aufforderungen des Directors :
Wer Vieles bringt, wird manchem Etwas bringen,
und:
So schreitet in dem engen Vaterhaus
Den ganzen Kreis der Schöpfung aus,
/
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58 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen.
Und wandelt mit bedächt'ger Schnelle
Vom Himmel durch die Welt zur Hölle —
wird man auch an Sakontala erinnert, namentlich auch an
jenes Epigramm:
Willst Du die Blüthe des frühen, die Früchte des späteren
Jahres,
Willst Du w^as reizt und entzückt, willst Du was sättigt
und nährt,
Willst Du den Himmel, die Erde mit Einem Namen
begreifen.
Nenn* ich Sakontala, Dich, und so ist Alles gesagt.
Bei dieser Gelegenheit mag noch, ohne Gewicht darauf
zu legen, darauf aufmerksam gemacht werden, dass der in
dem 1774 gedichteten Gespräche Paust's mit Wagner vor
dem Stadtthor vorkommende Vers:
Zwei Seelen w^ohnen, ach! in meiner Brust —
auf der Erinnerung an einen Vers in dem von Goethe in
»Götter, Helden und Wieland« beiläufig mit verspotteten
lyrischen Drama Wieland's »Die Wahl des Herkules« nach
dessen erster Fassung im »Teutschen Merkur« vom August
1773 zu beruhen scheint; die betreffende Rede des zwischen
Tugend und Wollust schwankenden Herkules lautet:
O Göttin! löse mir
Das Räthsel meines Hertens auf!
Zwo Seelen — zu gewiss fühl' ich's ! —
Zwo Seelen kämpfen in meiner Brust.
So lang Du redest, siegt die bessre Seele!
Allein, kaum fasset diese Zauberin mich wieder
Mit ihrem Blick: so fühl' ich eine andre
In jeder Ader glühn, die wider Willen mich
In ihre Arme zieht.
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m. Dramatische Entwürfe
Goethes.
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i. Belsazar.
enige Wochen waren vergangen, seit der
sechzehnjährige Goethe nach Leipzig gekom-
men war, um sich hier für die Rechtsgelehr-
samkeit auszubilden, als er am 30. Octobef 1765
3 an Freund Riese schrieb :
»Das beste Trauerspielmädchen sah ich nicht mehr.
Wenn Ihr nicht noch vor Eurer Abreise erfahrt, was sie
von Belsazar denkt, so bleibt mein Schicksal unentschieden.
Es fehlt sehr wenig, so ist der fünfte Act fertig, in fünf-
füssigen Jamben.
Die Versart, die dem Mädchen wohlgefiel,
Der ich allein, Freund, zu gefallen wünschte.
Die Versart, die der grosse Schlegel selbst
Und meist die Kritiker für's Trauerspiel
Die schickÜchste und die bequemste halten.
Die Versart, die den meisten nicht gefällt.
Den meisten, deren Ohr sechsfüssige
Alexandriner noch gewohnt — Freund! die.
Die ist's, die ich erwählt, mein Trauerspiel
Zu enden.«
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62 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Das ist alles was wir von Goethe's Trauerspiel »Bel-
sazar« wissen, das jedenfalls in dem Feuer mit zu Grunde
ging, durch welches Goethe den grössten Theil seiner
Leipziger Dichtungen nach Erkenntniss ihrer Unzuläng-
lichkeit vernichtete. Und doch bietet diese kurze Erwäh-
nung manchen Stoff zu Betrachtungen über Goethe's Dicht-
weise und Bildungsgang.
Gleich an dieser ersten genannten Bühnenschöpfung
Goethe's lassen sich alle Eigenthümlichkeiten wahrnehmen,
welche wir bei seinen nachfolgenden dramatischen Dich-
tungen wiederfinden: das Anknüpfen an seine Beschäf-
tigungen, die Beziehung auf ein weibliches Wesen, die
freie Behandlung des Verses.
Von seinem eifrigen Forschen in der Bibel während
seiner Knabenjahre erzählt Goethe in »Dichtung und Wahr-
heit« wiederholt, im vierten Buch aber noch bestimmter
von dem Eindruck, den die dichterische Behandlung bibli-
scher Stoffe, namentlich durch Klopstock und Moser,
auf ihn ausgeübt hatten. Des letzteren »Daniel in der
Löwengrube« (1763) mochte ihn noch besonders auf Bel-
sazar geführt haben; eine sonstige Veranlassung, die ihm
die Geschichte Belsazar's nahe gelegt haben könnte, dürfte
sich nicht nachweisen lassen.
Aber dieses biblische Wesen nahm ihn so gefangen,
dass er sich von dem tiefen Eindruck durch eine dich-
terische That befreien musste, wie er es sein ganzes Leben
hindurch gehalten hat. Hierzu diente ihm in den frühsten
Zeiten besonders gern die dramatische Form; ein Kunst-
richter hatte es Goethe schon 1774 (»Teutscher Merkur«
8. Bd. S. 181) abgemerkt, dass er gewohnt sei, alles dra-
matisch zu denken. Im »Belsazar« finden wir das älteste
Zeugniss hierfür.
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Belsazar. 63
Bot die Geschichte des assyrischen Königs keinen
Anknüpfungspunkt, die Angebetene seines Herzens zu feiern,
so stärkte sich doch Goethe an deren Beifall. Wir wissen
jetzt, dass Charitas Meixner in Worms diejenige war, der er
vor seinem Abgang nach Leipzig und noch von dort aus hul-
digte ; wxil ihr der fünffüssige Jambus als dramatischer Vers
gefiel, wandte ihn Goethe zum Schluss seines Trauerspiels an.
Diese Versart war damals etwas ganz Neues für die
deutsche Bühne, die bis dahin für das höhere Trauerspiel
nur Prosa oder aber Alexandriner kannte. Wenn Goethe
dieselbe in dem Brief an Riese vom »grossen Schlegel«
empfohlen nennt, so kann er dem Beiworte nach füglich
nur Johann Elias Schlegel meinen; doch w^eiss ich nicht
anzugeben, wo jene Empfehlung erfolgt sein soll; denn in
seinem »Schreiben über die Komödie in Versen« erklärt
dieser Schriftsteller den Vers von fünf Jamben mit weib-
licher Endung (endecassillabo) als »zu zärtlich« für unser
Ohr und den Vers mit reinen fünf Jamben, also mit männ-
licher Endung, um deswillen für ungeeignet, weil unsere
Aussprache »nicht fliessend genug« sei, während er sich
über den engÜschen Bühnenvers mit gemischten Endungen
gar nicht äussert. Indessen kann man annehmen, dass
dieses abfällige Urtheil sich hur auf das Lustspiel beziehe,
für das ernstere Schauspiel aber der fünffiissig jambische
Vers von Johann Elias Schlegel dadurch empfohlen worden
sei, dass er 1748 oder 1749 »Die Braut in Trauer« nach
Congreve's The Mourning Bride in diesem Versmass und
zwar mit gemischten weiblichen und männlichen Endungen
zu übersetzen angefangen hatte, welches Bruchstück 1762
aus seinem Nachlass zum Druck gelangte. Hiemach konnte
allerdings dem J. E. Schlegel der Vorgang in Bezug auf
Anwendung jenes Versmasses im deutschen Schauspiel
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64 Dramatische Entwürfe Goethe's.
zuerkannt werden, obschon vor dem Druck seines Bruch-
stücks bereits nicht nur in Uebersetzungen oder doch
Bearbeitungen aus dem Englischen Wieland 1758 »Lady
Johanna Grey« nach Rowe und 1764 Johann Heinrich
Schlegel »Sophonisbe« nach Thomson in derselben Versart
wiedergegeben hatten, sondern diese auch im letztgedachten
Jahr in deutschen Stücken von Weisse in »Befreiung von
Theben« und von Klopstock in »Salomo« angewandt wor-
den war; Brawe's schon 1757 wol unter Lessing's Einfluss
gleichfalls in fünffüssigen Jamben geschriebener »Brutus«
wurde jedoch erst 1768 veröffentlicht.
Gehörte sonach Goethe zu den Ersten, welche des
englischen Bühnenverses — nach obigem Briefbruchstück
zu urtheilen, mit gemischtem weiblichen und männlichen
Ausgang — sich bedienten, so hielt er doch nicht dabei
aus, und mehr als zw^ei Jahrzehnte vergingen, bevor ihn
das Leben mit italienischen Dichtern dahin zurückführte.
Wie er inzwischen bald schlichte, bald rhythmische Prosa,
bald freie reimlose, bald gereimte, zum Theil den altdeutschen
Reimpaaren nachgebildete, oder vielmehr an sie sich an-
lehnende Verse, ingleichen Alexandriner und antike Trimeter
für seine dramatischen Dichtungen benutzte, gehört nicht
weiter hierher; aber auch darin blieb er sich merkwür-
digerw^eise treu, dass er wie in diesem frühesten Schau-
spiel — das er in fünffüssigen Jamben nur endete — wie im
letzten, des »Faust zweitem Theil« und so vielen zwischen-
liegenden verschiedene Versmasse gebrauchte. Goethe
mochte sich nie der Form als einem todten Schema fügen;
er unterwarf sie sich und brachte jede immer nur da zur
Geltung, wo sie der gemässeste Ausdruck des Inhalts war.
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2. Mahommed.
linige Dramenentwürfe Goethe's liegen in ver-
schiedner und bis zu dreifacher Gestalt vor:
in Erzählung des Plans, in Umriss der Aus-
führung und in ausgeführten Stücken. Nach-
dem einmal anerkannt ist, dass Scenerien und
Bruchstücke in den Werken des Dichters nicht fehlen
dürfen, erscheint es auch gerechtfertigt, einen Schritt
weiter zu gehen. Liest man nämlich jene mehrfachen
Mittheilungen über dasselbe Drama hintereinander, so ge-
niesst man nicht einmal das, was vorhanden ist; man hat
lauter Unvollständigkeiten ohne Zusammenhang. Unter-
nimmt man es dagegen, die verschiedenen Mittheilungen
nach ihrer Zusammengehörigkeit ineinander zu schieben,
so verschafft man sich den nach den Umständen vollstän-
digsten Ueberblick über das Vorhaben des Dichters. Der
bezeichnete Fall liegt, abgesehen vom »Prometheus«, bei
»Mahommed«, »Nausikaa«, der Fortsetzungen der »Pandora«
und der »Natürlichen Tochter« sowie bei dem »Trauerspiel
in der Christenheit« vor; bei den »Ungleichen Hausgenossen«
und den »Aufgeregten« verhält sich's etwas anders.
Es soll hier zunächst eine gegenseitige Ergänzung der
s
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66 Dramatische Entwürfe Goethe's.
vorhandenen Stücke zu dem musikalischen Drama »Ma-
hommed« hergestellt werden.
Als Goethe im vierzehnten Buch von »Dichtung und
Wahrheit« Zweck und Plan seines nicht später als 1773
entworfenen Drama's mittheilte, hielt er den schon nieder-
geschriebenen Anfang des Stücks für abhanden gekommen
und nur den einen Gesang für erhalten, der 1773 im
Göttinger Musenalmanach für 1774 zuerst gedruckt und
nachher in seine Schriften aufgenommen war, hier jedoch
aus dem Zwiegesang AU's und seiner Gattin in einen
Einzelgesang Mahommed's umgestaltet. Erst 1846 machte
Scholl aus Papieren Goethe'^ den Anfang des Drama's
bekannt; meines Erinnerns sind aber bisher nicht einmal
die ausgeführten Stücke desselben in einer Ausgabe von
Goethe's Werken im Zusammenhang zu finden.
Obgleich Goethe dieselben zur Zeit seiner Mittheilung
in »Dichtung und Wahrheit«, mit Ausnahme des nachmals
»Mahommed's Gesang« überschriebenen, seit vier Jahrzehnten
nicht wiedergesehen haben wird, macht er doch ziemUch
genaue Angaben darüber, die sich durch die nach seinem
Tod erfolgte Wiederauffindung in Bezug auf die Eröffnungs-
hymne vollkommen bestätigt haben. Goethe's Gedächmiss
war demnach so treu, dass man nur bei unzweifelhaften
Gegenbeweisen einen Irrthum in seinen Erzählungen be-
haupten darf. Einen solchen beging er nun aber jedenfalls
hier, wenn er bei der Rheinreise mit Lavater und Basedow
im Jahr 1774 durch die Betrachtung, wie diese bedeutenden
Männer zu Erreichung ihrer höhern Zwecke sich gemeiner
Mittel bedienten, zu der Idee des »Mahommed« geführt sein
will, da dieser eben nachweislich schon etwa ein Jahr
früher entworfen war. Umgekehrt mag er wol bei Beo-
bachtung des Gebahrens der beiden Genannten lebhaft an
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Mahommed. 67
Mahommed erinnert und durch dessen Lebensgang über
jenes Gebahren aufgeklärt worden sein. Sagt doch Goethe
zugleich, dass er kurz vorher das Leben des orientalischen
Propheten gelesen und studirt habe und dabei hat er
jedenfalls sogleich den Vorsatz gefasst, das ihn tief Be-
rührende dramatisch darzustellen.
Es ist die Vermuthung ausgesprochen worden, Goethe
habe das Leben Mahommed^s in Bayle's Dictionnaire gelesen.
Dagegen möchte ich jedoch bemerken, dass die Zeit, in
der er jenes Werk eifrig studirt zu haben erzählt, früher
fällt und dass man aus seinen Worten, dass er »kurz zuvor
das Leben des Propheten gelesen «, auf das gerade damals,
1773, erschienene zweibändige Werk Turpin's »La vie de
Mahomet« schliessen darf.
Im Folgenden ist nun aus »Dichtung und Wahrheit«
das auf Goethe's »Mahommed« Bezügliche — unter Aus-
schluss der Angabe des Inhalts der später wiedergefundenen
Hymne — mit den ausgefühnen Stücken zusammengestellt.
.... So wurde der Gedanke rege, dass freiUch der
vorzügliche Mensch das Göttliche, was in ihm ist, auch
ausser sich verbreiten möchte. Dann aber trifft er auf die
rohe Welt, und um auf sie zu wirken, muss er sich ihr
gleichstellen; hierdurch aber vergiebt er jenen hohen Vor-
zügen gar sehr und am Ende begiebt er sich ihrer gänz-
lich. Das Himmlische, Ewige wird in den Körper irdischer
Absichten eingesenkt und zu vergänglichen Schicksalen mit
fortgerissen.
. . . Alles was das Genie durch Charakter und Geist
über die Menschen vermag, sollte dargestellt werden, und
wie es dabei gewinnt und verliert.
5*
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68 Dramatische ENT^^'ÜRFE Goethe's.
Erster Act.
Feld. Gestirnter Himmel.
Mahommed allein, stimmt die Hymne an.
Theilen kann ich Euch nicht dieser Seele Gefühl!
Fühlen kann ich Euch nicht allen ganzes Gefühl!
Wer, wer wendet dem Flehn sein Ohr?
Dem bittenden Auge den Blick?
Sieh, er blinket herauf, Gad, der freundliche Stern!
Sei mein Herr Du, mein Gott! Gnädig winkt er mir zu.
Bleib! bleib! Wendst Du Dein Auge weg?
Wie! Liebt' ich ihn, der sich verbirgt?
Sei gesegnet, o Mond ! Führer Du des Gestirns !
Sei mein Herr Du, mein Gott ! Du beleuchtest den Weg.
Lass, lass nicht in der Finsterniss
Mich irren mit irrendem Volk!
Sonn', Dir glühenden, weiht sich das glühende Herz!
Sei mein Herr Du, mein Gott! Du AlUiebender, Du,
Der die Sonne, den Mond und die Sterne
Schuf, Erde und Himmel und mich.
Halima, seine Pflegmutter, zu Mahommed.
Halima.
Mahommed !
Mahommed.
Halima! O dass sie mich in diesen glückseligen Em-
pfindungen stören muss! Was willst Du mit mir, Halima?
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Mahommed. 69
Halima.
Ängstige mich nicht, lieber Sohn! Ich suche Dich
von Sonnenuntergang. Setze Deine zarte Jugend nicht den
Gefahren der Nacht aus.
Mahommed.
Der Tag ist über dem Gottlosen verflucht wie die
Nacht. Das Laster zieht das Unglück an sich wie die
Kröte den Gift, wenn Tugend unter eben dem Himmel
gleich einem heilsamen Amulet die gesundeste Atmo-
sphäre um uns erhält.
Halima.
So allein auf dem Felde, das keine Nacht vor Räubern
sicher ist!
Mahommed.
Ich war nicht allein: der Herr, mein Gott, hat sich
freundlichst zu mir genaht.
Halima.
Sahst Du ihn?
Mahommed.
Siehst Du ihn nicht? An jeder stillen Quelle, unter
jedem blühenden Baum begegnet er mir in der Wärme
seiner Liebe. Wie dank' ich ihm! Er hat meine Brust
geöffnet, die harte Hülle meines Herzens weggenommen,
dass ich sein Nahen empfinden kann.
Halima.
Du träumst! Könnte Deine Brust geöffnet worden
sein und Du leben?
Mahommed.
Ich will für Dich zu meinem Herrn flehen, dass Du
mich verstehen lernst.
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yo Dramatische Entwürfe Goethe's.
Halima.
Wer ist Dein Gott? Hobal oder Alfatas?
Mahommed.
Armes, unglückseliges Volk, das zum Steine ruft: ich
liebe Dich! Und zum Thon: sei Du mein Beschützer!
Haben sie ein Ohr für's Gebet? Haben sie einen Arm
zur Hülfe?
Halima.
Der in dem Stein wohnt, der um den Thon schwebt
vernimmt mich. Seine Macht ist gross!
Mahommed.
Wie gross kann sie sein? Es stehen dreihundert neben
ihm; jedem raucht ein flehender Altar. Wenn Ihr wider
Eure Nachbarn betet und Eure Nachbarn wider Euch,
müssen nicht Eure Götter wie kleine Fürsten, deren
Gränzen verwirrt sind, mit unauflösHcher Zwietracht sich
wechselsweise die Wege versperren?
Halima.
Hat Dein Gott denn keine Gesellen?
Mahommed.
Wenn er sie hätte, könnt' er ein Gott sein?
Halima.
Wo ist seine Wohnung?
Mahommed.
Ueberall!
Halima.
Das ist nirgends! Hast Du Arme, den Ausgebreiteten
zu fassen?
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Mahommed. 71
Mahommed.
Stärkere, brennendere, als diese, Dir für Deine Liebe
zu danken. Noch nicht lange, dass mir ihr Gebrauch
verstattet ist, HaUma! mir war's wie dem Kinde, das Ihr
in enge Windeln schränkt: ich fühlte in dunkler Ent-
wuckelung Arme und Füsse, doch es lag nicht an mir,
mich zu befreien. Erlöse Du, mein Herr, das Menschen-
geschlecht von seinen Banden ! Ihre innerste Empfindung
sehnt sich nach Dir.
Halima vor sich.
Er ist sehr verändert! Seine Stärke ist umgekehrt,
sein Verstand hat gelitten. Es ist besser, ich bring' ihn
seinen Verwandten jetzo zurück, als dass ich die Verant-
wortung schlimmer Folgen auf mich lade.
Nachdem sich also Mahommed selbst bekehrt, theilt er
diese Gefühle und Gesinnungen den Seinigen mit. Seine
Frau und Ali fallen ihm unbedingt zu.
Im
zweiten Act
versucht er selbst, heftiger aber Ali, diesen Glauben in
dem Stamme w^eiter auszubreiten. Hier zeigt sich Bei-
stimmung und Widersetzlichkeit nach Verschiedenheit der
Charakter. Der Zwist beginnt, der Streit wird gewaltsam
und Mahommed muss entfliehen.
Im
dritten Act
bezwingt er seine Gegner; macht seine Religion zur öffent-
lichen, reinigt die Kaaba von den Götzenbildern ; weil aber
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Dramatische Entwürfe Goethe's.
doch nicht alles durch Kraft zu thun ist, so muss er auch
zur List seine Zuflucht nehmen. Das Irdische wächst und
breitet sich aus, das Göttliche tritt zurück und wird ge-
trübt. Auf dem höchsten Punkt des Gelingens sollte Ali
[mit Fatema] diesen Gesang vortragen:
Ali.
Seht den Felsenquell
Freudehell,
Wie einen SonnenbUck!
Fatema.
Ueber Wolken
Nährten seine Jugend
Gute Geister
Zwischen Klippen
Im Gebüsch.
Ali.
Jünglingfrisch
Tanzt er aus der Wolke
Auf die Marmorfelsen nieder;
Jauchzet wieder
Nach dem Himmel.
Fatema.
Durch die Gipfelgänge
Jagt er bunten Kieseln nach —
Ali.
Und mit festem Führertritt
Reisst er seine Bruderquellen
Mit sich fort.
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Mahommed. 73
Fatema.
Drunten werden in dem Thal
Unter seinem Fusstritt Blumen,
Und die Wiese lebt von
Seinem Hauch.
Ali.
Doch ihn hält kein Schattenthal,
Keine Blumen,
Die ihm seine Knie' umschlingen,
Ihn mit Liebesaugen schmeicheln;
Nach der Eb'ne dringt sein Lauf
Schlangenwandelnd.
Fatema.
Bäche schmiegen
Sich gesellschaftlich an ihn.
Und nun tritt er in die Eb'ne
Silberprangend.
Ali.
Und die Eb'ne prangt mit ihm.
Und die Flüsse von der Eb'ne
Fatema.
Und die Bächlein von Gebirgen
Jauchzen ihm und rufen:
Beide.
Bruder!
Bruder nimm die Brüder mit!
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74 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Fatema.
Mit zu Deinem alten Vater,
Zu dem ew'gen Ocean,
Der mit weitverbreiteten Armen
Unsrer wartet,
Die sich, ach! vergebens öffnen.
Seine sehnenden zu fassen;
Ali.
Denn uns frisst in öder Wüste
Gier'ger Sand: die Sonne droben
Saugt an unserm Blut,
Ein Hügel hemmt uns zum Teiche.
Bruder!
Nimm die Brüder von der Eb'ne,
Fatema.
Nimm die Brüder von Gebirgen
Beide.
Mit zu Deinem Vater, mit!
Ali.
Kommt Ihr alle!
Und nun schwillt er herrlicher,
— Ein ganz Geschlechte
Trägt den Fürsten hoch empor —
Triumphirt durch Königreiche,
Giebt Provinzen seinen Namen,
Städte werden unter seinem Fuss.
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Mahommed. 75
Fatema.
Doch ihn halten keine Städte,
Nicht der Thürme Flammengipfel,
Marmorhäuser, Monumente
Seiner Güte, seiner Macht.
Ali.
Zedemhäuser trägt der Atlas
Auf den Riesenschultern; sausend
Wehen über seinem Haupte
Tausend Segel auf zum Himmel
Seine Macht und seine Herrlichkeit.
Und so trägt er seine Brüder,
Fatema.
Seine Schätze, seine Kinder
Beide.
Dem erw^artenden Erzeuger
Freude brausend an das Herz.
Im
vierten Act
verfolgt Mahommed seine Eroberungen ; die Lehre wird mehr
Vorw^and als Zweck; alle denkbaren Mittel müssen benutzt
werden ; es fehlt nicht an Grausamkeiten. Eine Frau, deren
Mann er hat hinrichten lassen, vergiftet ihn.
Im
fünften Act
fühlt er sich vergiftet. Seine grosse Fassung, die Wieder-
kehr zu sich selbst, zum höheren Sinne, macht ihn der
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Dramatische Entwürfe Goethe's.
Bewunderung würdig. Er reinigt seine Lehre, befestigt
sein Reich und stirbt.
Auffallend wird man im » Mahommed «, namentlich in
der ersten Scene Anklänge an »Faust« bemerken. Schon
den Grundgedanken jenes Drama's erkennen wir in Faust's
Worten :
»Dem Herrlichsten w^as auch der Geist empfangen
Drängt immer fremd- und fremder Stoff sich an;
Wenn wir zum Guten dieser Welt gelangen,
Dann heisst das Bessere Trug und Wahn.
Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle
Erstarren in dem irdischen Gewühle«.
Denn der Mahommed, w^elcher — wie es in der 6. Sure
des Koran von Abraham berichtet wird — schwankt, ob
er den Planeten Jupiter oder den Mond oder die Sonne
anbeten soll, erinnert er nicht an den Faust, der nicht
allein von Facultät zu Facultät Wahrheit suchend irrt,
sondern auch, nachdem er vor dem Zeichen des Welt-
geistes zurückgeschaudert ist, den Erdgeist beschwört,
darauf dem höUischen Geist sich ergiebt, endlich aber zu
dem »erhabnen Geist« sich wendet? Sodann: glaubt man
nicht, wenn Mahommed nach der Hymne bei Halima's
Nahen ausruft: »o, dass sie mich in diesen glückseligen
Empfindungen stören muss!« Faust zu vernehmen mit
seinem
»Dass diese Fülle der Gesichte
Der trockne Schleicher stören muss«?
Entferntere Anklänge an Mahommed's Frage an Halima
über die in der 159. Sure niedergelegten Zeichen Gottes
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Mahommed. 77
in der Natur sind in Faust*s Ergiessungen über Gott in
dem Gespräch mit Gretchen, ingleichen an Mahommed's
»Ich fühlte in dunkler Entwickelung Arme und Füsse etc.«
an Paust's im Anfang des ersten Monologs ausgesprochnen
Erkenntnissdrang. — Dagegen mahnt Mahommed's Ver-
werfung der Götzen aus Stein und Thon an des Prome-
theus Nichtachtung der alten Götter. Nach diesen Andeu-
tungen hat man anzunehmen, dass Goethe die Ausführung
des »Mahommed« schon aufgegeben hatte, als er »Prome-
theus« dichtete und »Faust« begann.
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3- Prometheus.
ni October 1773 — wie das Jahr richtig in
der Ausgabe letzter Hand von Goethe's Wer-
ken steht und nicht erst, wie später Besser-
wisser finden w^oUten Ende 1774 — beschäf-
tigte Goethe die dramatische Bearbeitung des
Prometheus, aber w^as er darüber niederschrieb, lernten
nur wenige Vertraute kennen; an die Oeffentlichkeit ge-
langte es zum Theil erst sehr spät. Ein Stück gab ohne
Goethe's Vorwnssen 1785 Friedrich Jacobi als Beilage seiner
Schrift »Ueber die Lehre des Spinoza» heraus und Goethe
nahm es dann 1789 im 8. Band seiner Schriften unter die
»Vermischten Gedichte« auf. Die übrigen dramatischen
Auftritte kamen aber erst 1830 im 33. Bandseiner Werke,
Ausgabe letzter Hand, zu allgemeiner Kenntniss. Doch
hatte Goethe schon vorher davon Kunde gegeben und
zwar in dem 1814 erschienenen 3. Band von »Dichtung
und Wahrheit.«
Seit Jahrzehnten ist nun streitig, theils ob das Drama
als Bruchstück oder aber als abgeschlossen anzusehen ist,
theils in welchem Verhältniss diese beiden Dichtungen zu
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Prometheus. 79
einander stehen, d. h. ob das früher bekannte Gedicht ein
Zubehör der dramatischen Dichtung, oder ob es ein selb-
ständiges Gedicht sein sollte. Der Erörterung dieser Fragen
gilt gegenwärtiger Aufsatz.
Für »Dichtung und Wahrheit« schrieb Goethe 1812
oder 181 3 darüber: »Das alte Titanengewand schnitt ich
mir nach meinem Wüchse zu und fing ohne weiter nach-
gedacht zu haben ein Stück zu schreiben an, worin das
Missverhältniss dargestellt ist, in welches Prometheus zu
Zeus und den neuen Göttern geräth, indem er auf eigne
Hand Menschen bildet, sie durch Gunst der Minerva be-
lebt und eine dritte Dynastie stiftet. Und wirklich hatten
die jetzt regierenden Götter sich zu beklagen völlig Ur-
sache, weil man sie als unrechtmässig zwischen die Ti-
tanen und Menschen eingeschobene Wesen betrachten
konnte. Zu dieser seltsamen Composition gehört als Mo-
nolog jenes Gedicht, das in der deutschen Literatur be-
deutend geworden, weil dadurch veranlasst Lessing über
wichtige Puncte des Denkens und Empfindens sich gegen
Jacobi erklärte. «
Als Goethe dies schrieb, lag ihm sein Drama noch
nicht wieder vor; es war verschollen und er hatte es
wahrscheinlich seit nahezu 40 Jahren nicht wieder ge-
sehen und trotzdem erinnert er sich desselben sowie des
zu Grunde liegenden Gedankens, nicht minder des Um-
standes genau, dass es unvollendet war. Letztres geht aus
den Worten unzweideutig hervor: »ich . . . fing ... ein
Stück zu schreiben an « ; er sagt nicht : ich schrieb es, und
wer da weiss wie sorgsam Goethe in der Wahl seiner
Worte war, wie selbst manche früher für gleichgültig ge-
haltene Ausdrücke Goethe's durch späteres Bekanntwerden
bezüglicher Verhältnisse als wohlbedacht sich erwiesen
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8o Dramatische Entwürfe Goethe's.
haben, der kann nicht in Zweifel sein, dass er sagen
wollte, er habe das Drama »Prometheus« zwar angefangen
aber nicht vollendet. Wenn Goethe hinzufügte: »zu dieser
Composition gehört als Monolog jenes Gedicht etc.«, so
muss diese Bemerkung vorerst ausser Betracht bleiben;
denn er sagt nicht, ob er damals annahm, es habe sich
dieser Monolog in dem verloren gegangenen Stück schon
befunden, oder ob er ihn für nachgedichtet hielt.
Hierüber äusserte er sich erst bestimmt, als er von
Seebeck unterm ii. December 1819 eine Abschrift des
Drama's aus Lenzens Xachlass zugeschickt empfing, in-
dem er am 11. Mai 1820 an Zelter schrieb: »Wunderlich
genug, dass jener von mir selbst aufgegebene und ver-
gessene Prometheus gerade jetzt wieder auftaucht. Der
bekannte Monolog, der in meinen Gedichten steht, sollte
den dritten Act eröffnen,«
Wer nur irgend Begriff von wissenschaftlicher Kritik
hat, kennt als obersten Grundsatz, dass bei Beurtheilungen
zunächst derjenige zu hören ist, dessen Leistung beurtheilt
werden soll, und dass seinen Angaben nur insoweit keine
Rücksicht zu schenken ist, als ihm nachgewiesen werden
kann, nicht nur dass dieselben irrig oder unwahr sein
müssen, sondern auch: w^as die Ursache war, dass geirrt
werden konnte oder dass Falsches gesagt w^erden wollte.
Wenn dieser Grundsatz der Hermeneutik nicht befolgt
wird, wo eitle Überhebung und Besserw issenssucht sich
breit macht, ist eben ein Tummelplatz für Willkühr.
Ist nun das Drama Prometheus als ein abgeschlossenes,
fertiges anzusehn? Ein Überblick der Handlung wird uns
darüber belehren.
Der erste Act beginnt mit der Mahnung Merkur's an
Prometheus seinen Trotz gegen die Götter aufzugeben
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Prometheus. 8i
und zum Gehorsam gegen Jupiter zurückzukehren, wo-
gegen Prometheus im stolzen Eigenwillen auf seiner Selb-
ständigkeit beharrt. Nach Merkur versucht auch Minerva
Prometheus zur Nachgiebigkeit zu bewegen, allein weniger
entschieden; denn sie ist von Anfang dem Krafttrotzigen
nicht abgeneigt und verspricht ihm endlich sogar die
Menschengestalt, die er aus todtem Stoff gebildet, zu be-
leben. Prometheus ist beglückt von dieser Aussicht für
seine Geschöpfe und schliesst den Act mit den Worten:
»Ihre Freude wurd Dein Dank sein.«
Der zweite Act beginnt mit Merkur's Anklage gegen
Minerva, dass sie sich zu den Empörern geschlagen und
sogar den Bildsäulen des Prometheus Leben eingehaucht
habe. Jupiter beruhigt den Götterboten und verbietet ihm
sogar — was Merkur thun will — dem erdgebornen Volk
des Göttervaters Güte und Macht zu verkünden, indem
er sagt:
»Noch nicht! In neugeborner Tugendwonne
Wähnt ihre Seele sich göttergleich.
Sie werden Dich nicht hören bis sie Dein
Bedürfen. Überlass sie ihrem Leben!«
Das Leben des jungen Menschengeschlechts entrollt
sich nun vor unsern Augen : Obsternte, Baden, Wettlaufen,
Kränzewinden. Prometheus lehrt Hütten bauen und spricht
dem Erbauer ausschliessliches Eigenthum daran- zu ; Männer
streiten sich um eine Ziege; der eine reisst sie unrecht-
mässig an sich und verwundet überdies den Beraubten.
Zuletzt tritt Pandora auf, des Prometheus liebstes Ge-
schöpf; sie fragt ihn besorgt um das, was sich soeben mit
ihrer Freundin zugetragen habe und das nach ihrer be-
wegten Schilderung Prometheus als den Tod bezeichnet,
6
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82 Dramatische Entwürfe Goethe's.
dessen Wesen er weiter ausführt und mit Hindeutung auf
Wiedergeburt der Gestorbenen schliesst.
Das ist das Ende des Stücks, aber zuverlässig nicht
sein Schluss. Seine Grundlage ist das Zerwürfniss zwischen
den Göttern und den Titaniden; gegen den Willen der
Mehrzahl ' der ersteren schafft der titanische Prometheus
unter Minerven's Beihülfe Menschen, deren Treiben wir
dann zu sehen bekommen — aber was wird aus dem in
der Anlage begründeten, tragischen Zusammenstoss der
Göttergewalt und des Titanentrotzes? Dieser geknüpfte
Knoten muss doch erst noch gelöst werden! Es ist noch
gar nicht der Anfang gemacht Jupiter's mit olympischer
Siegesgewissheit gesprochene Worte, dass die Menschen
erst durch ihre Hülfsbedürftigkeit gedrängt, die Götter-
botschaft vernehmen würden, zur Wahrheit werden zu
lassen. Ja nicht einmal von dem Dank, den Prometheus
Minerven in der Freude seiner belebten Geschöpfe ver-
heisst, ist im zweiten Act etwas Entschiednes zu spüren.
Und wie das Stück dramatisch noch unfertig ist, so
auch als Lösung einer Frage des Daseins. Der titanische
Trotz ist weder gerechtfertigt noch verklärt, so lange
Prometheus die Ergüsse seines Übermuthes machtlos zu
den Göttern emporschleudert, während Jupiter gelassen
dazu lächelt und sagt: ihr kommt mir schon noch! Es
muss erst noch gezeigt werden, wie der Trotz siegreich
bleibt oder aber gedemüthigt wird. Man kann sich an
dem was wir von Goethe's Prometheus besitzen, sehr
wohl als einer prachtvollen poetischen Skizze erfreuen,
man mag auch zugeben, dass Goethe den Gedanken an
eine Fortsetzung sehr bald habe fallen lassen, nur muss
man diese Skizze, dieses Bruchstück nicht für ein poetisches
Ganzes ausgeben oder behaupten wollen, dass es Goethe
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Prometheus. 83
selbst jemals als ein solches angesehen habe. Als Goethe das
Stück 1819 wieder erlangt hatte, erneuerte er jene Angabe
aus »Dichtung und Wahrheit«, dass dasselbe unvollendet
sei und es gehört ein nicht beneidenswerther Dünkel dazu»
zu behaupten : Goethe habe das nicht mehr zu beurtheilen
verstanden. Ob er gerade Minerva schon früher als wieder
auftretende Vermittlerin, w^elche etwa den trotzigen Ti-
taniden und seine Menschen zur Einsicht ihrer Abhängig-
keit von den Göttern brachte, gedacht hatte, wie er bei
Aufnahme des Prometheus-Drama's in die Werke andeutete,
kann man allenfalls dahingestellt sein lassen; hierbei handelte
es sich nicht um Mangel an Urtheil, sondern mehr um
mangelhafte Erinnerung, da allerdings zweifellos ist, dass
Goethe sich in das wiedergefundene Werk nicht wieder
so vertieft hat, als gälte es seinen Ausbau.
Zu der Versicherung Goethe's und der verständigen
Prüfung, welche beide das Drama »Prometheus« als un-
vollendet erkennen lassen, kommen aber auch noch Be-
weise aus der Zeit seiner Entstehung.
Zunächst die Handschrift, w^elche am Schlüsse des
ersten Actes die Nachschrift » Ende des ersten Actes « und
am Schlüsse des zw^eiten die Nachschrift »Ende des zw^eiten
Actes« aufzeigt. Diese wäre allem Brauch zuwider ge-
wesen und würde ohne Beispiel sein, wenn der zweite
Act der letzte hätte sein sollen; dann würde Goethe un-
fehlbar blos »Ende« oder vielleicht »zweiter und letzter
Act« geschrieben haben.'
Ferner zwei classische Zeugen. Heinrich Leopold
Wagner führt eine Äusserung von Jacob Lenz an, worin
dieser sagt: »Ich habe den Torso eines Prometheus von
Goethe gelesen, das vielleicht das grösste war, was er
schrieb, ich zweifle aber, dass er ihn darf drucken lassen,
6*
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Dramatische Entwürfe Goethe*s.
so lang das deutsche Publicum moralische Abhandlungen
und Gedichte zu vermischen schwach genug ist. Dieser
Prometheus ist ein Götterverächter, wie er in der Ge-
schichte war und sein musste. Ihn fromm zu machen,
hiesse der Medicäischen Venus einen Rosenkranz in die
Hände geben. Eben in seiner Gottlosigkeit, mit all den
Liebenswürdigkeiten vergesellschaftet, macht er die er-
schütternsten Sensationen, und sein von ihm nach seinem
Ebenbild geformtes Mädchen schmelzt uns in Mitleid und
Liebe dahin. « *) Also : Lenz kannte das Drama als Bruch-
stück, obschon bis zum Ende des zweiten Acts.
Noch bestimmter spricht hierüber Schönborn in einem
Brief an Gerstenberg vom 12. October 1773, worin
er über Goethe schreibt: »jetzo arbeitet er an einem
Drama, Prometheus genannt, wovon er mir zwei Acte
vorgelesen hat, worin ganz vortreffliche, aus der tiefen
Natur gehobne Stellen smd.«**) Also: Goethe las nicht
ein Drama von zwei Acten, sondern zwei Acte von dem
Drama vor, an dem er noch immer arbeitete, woraus
demnach folgt, dass zu den zwei Acten noch mehrere
kommen sollten.
Als Bestätigung dessen dient noch der Umstand, dass
Goethe erst nach Jahresfrist das Drama aus den Händen
gegeben, er also in der Zwischenzeit auf die Fortsetzung noch
nicht verzichtet zu haben scheint.
Hoffentlich sind diese Beweise schlagend genug, um
das fast dreissigjährige Gespenst eines vermeintlich fertigen
Prometheus in sein Nichts zurückzutreiben.
*) Neuer Versuch Über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen. Leipzig 1776.
Seite 292 f.
••) Zum 29. Januar 1878 u. s. w. von Director Redlich. Hamburg 1878. Seite VI.
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Prometheus. 8j
Die andere Hauptfrage ist nun das Verhältniss des
schon seit 1789 in Goethe's Schriften befindlichen Ge-
dichts »Prometheus« zum Drama. Schon oben wurde er-
wähnt, dass Goethe selbst das erstere anfänglich nur all-
gemein als zum Drama gehörigen Monolog, später aber
genauer als Anfang des dritten Actes bezeichnete.
Soviel ist ausgemacht, dass das Gedicht ursprünglich
nicht im Drama stand ; das beweist nicht nur die Lenzische
Abschrift, worin es fehlt, sondern auch der Umstand, dass
Heinse in einem Brief an Gleim vom 8. September 1775
dasselbe nur als eine selbständige »Ode« kennt und be-
wundert, dass ferner Goethe es nach der Anmerkung zu
einem Brief an Merck, Seite 55 der »Briefe an Johann
Heinrich Merck u. s. w. von K. Wagner« (1835) für sich
allein dem Darmstädter Freunde schickte, sowie endlich
dass Jacobi es als etwas für sich Bestehendes drucken
Hess. Dies alles, sowie insbesondere auch, dass es Jacobi
1780 gegen Lessing als »Gedicht« bezeichnete und ebenso
Goethe selbst in Briefen an Jacobi und an Frau v. Stein
aus dem Jahr 1785 scheint zu beweisen, dass hier eine
vom Drama unabhängige Dichtung vorliege. Allein ein
aus dieser Bezeichnung als »Gedicht« etwa herzuleitender
Beweis wird durch die Bemerkung widerlegt, dass Goethe
sie an derselben Stelle in »Dichtung und Wahrheit« ein
»Gedicht« nennt, in welcher er sie auch für einen Mo-
nolog des Dramas erklärt. Es Hegt demnach kein Grund
vor, diese ausdrückHche Erklärung Goethe's kurzsichtig
und willkührHch in den Wind zu schlagen, weil wir uns
etwa eine andre Vorstellung von der Absicht der späteren
Dichtung gemacht haben. Jene Erklärung ist um so be-
achtenswerther, als das Gedicht seit 1785, wo es zu
Goethe's grossem Verdruss von Jacobi veröffentlicht wurde.
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86 Dramatische Entuürfe Goethe's.
wiederholt vereinzelt in dessen Gesichtskreis trat, er sich
also leicht an den Gedanken hätte gewöhnen können, dass
es eine abgeschlossene Dichtung sei, während er trotzdem
dasselbe als Theil des Drama's anerkannte, das ihm seit
vierzig Jahren nicht vor Augen gekommen war.
Indessen hat man eingeworfen: was konnte Goethe
veranlassen, nachdem er Freunden schon das Dramen-
bruchstück mitgetheilt hatte, längere Zeit nachher ihnen
wieder einen Monolog für dasselbe zu übermitteln? Dieser
Frage ist nun aber mit grösserem Rechte die entgegen-
zustellen : was konnte Goethe daran haben, einen Ge-
danken, den er schon in einem Drama niederzulegen
unternommen hatte, nochmals in einem Gedichte auszu-
führen, das, wol zu merken, nicht etwa weiter greift als
das Drama? Es dürfte auch ein solches selbständiges, in
der Person eines Dritten monologisch gehaltene Gedicht
unter den Goethe'schen einzig in seiner Art sein.
Was Goethe vermochte, den Monolog nachzudichten,
ist unschwer zu erklären. Prometheus war seinem Grund-
gedanken nach ähnlich tief, weittragend, grossartig erfasst,
wie Faust, und wie Goethe an diesem eine lange Reihe
von Jahren hindurch mit längern und kürzern Unter-
brechungen arbeitete, wie der Geist ihn trieb, so fing er
auch an den Prometheus zu behandeln, nur dass er diesen
eher ganz bei Seite legte. Bei ruhiger Prüfung der im ersten
Feuer hingeworfenen zwei Acte musste Goethe aber bald
erkennen, dass der Anfang des Stücks mit allzukühner
Voraussetzung mitten in die Handlung hineinspringt.
Mit den ersten Worten ist schon der schroffste Conflict als
vorhanden ersichtÜch, ohne dass der Hörer eine Ahnung
hat, was dieser Conflict bedeuten soll. Wer weiss, ob nicht
Goeihe vielleicht durch einen Zufall zur Einsicht dieser
Digitized by VjOOQ IC
Prometheus. 87
fehlerhaften Anlage geführt wurde, nämlich dadurch, dass
»Künstlers Erdenwallen«, das er wol gleich nach dem
ersten Hinw^urf des Prometheus niederschrieb, ganz mit
denselben Worten beginnt wie letztres Drama: »Ich will
nicht!« Doch das nur beiläufig!
Empfand nun Goethe das Bedürfniss, den Conflict des
Prometheus einzuleiten, so lag es ganz im Geiste seiner
damaligen dramatischen Compositionsw^eise, denselben mit
einem Selbstgespräch beginnen zu lassen; so war's im
»Faust«, so in »Künstlers Erdenwallen«, so im »Satyros«.
In diesem Selbstgespräch lernen wir den Übermuth des
Prometheus und seine Auflehnung gegen die Götter kennen
und sehen den Boden für den Conflict bereitet.
Wenn hiernach das monologische Gedicht an die
Spitze des Dramas gewiesen ist, so widerspricht das frei-
lich der Angabe Goethe's von 1820, dasselbe habe den
dritten Act eröflfnen sollen, an w^elcher Stelle es dann 1830
auch in den Werken erschien. Hier befinden wir uns nun
allerdings in dem äussersten Fall, dem eignen Zeugniss des
Dichters entgegentreten zu müssen; wir sind zu der An-
nahme gezwungen, dass er sich nicht die Mühe genommen
habe, das Gedicht mit dem wiederaufgefundenen Drama
genau zu vergleichen. Wäre dies geschehen, so hätte es
ihm nicht entgehen können, dass der Inhalt des Gedichts
im ersten und zweiten Act schon abgethan war: nach-
dem wir aus den Zwiegesprächen mit Merkur und mit
Minerva des Prometheus Gesinnung schon kennen, hat es
keinen Zweck, sie noch einmal in einem Selbstgespräch
zu vernehmen, w^ährend es ganz dramatisch ist, die vor-
her substantiell kundgegebene Gesinnung dialektisch be-
haupten zu lassen. Ebensowenig passt der Schluss des
Gedichts nach den zwei ersten Acten; in diesen hat Pro-
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88 Dramatische Entwürfe Goethe*s.
metheus bereits Menschen geformt und er hat dies jetzt
nicht mehr nöthig, nachdem seine Gebilde belebt sind und.
sich nun ohne sein Zuthun vermehren.
Nicht anzunehmen ist, dass Goethe eine gründliche
Neubearbeitung des Stücks im Sinne gehabt habe ; er würde
sonst schwerlich das monologische Gedicht sofort Freun-
den mitgetheilt haben, ohne etwas Weiteres zu dem Zwecke
zu thun. Es wäre doch zu sonderbar gewesen, wenn er,
nachdem er schon ausgeführte Scenen des Stücks vor-
gelegt hatte, nachträglich ein viel beschränkteres Bruch-
stück einer Neubearbeitung an Jacobi gegeben hätte.
Dagegen erscheint die nachträgliche Mittheilung ganz
selbstverständlich, wenn die neue Dichtung eben nur eine
verbessernde Zugabe zu der frühern sein sollte. Wo Goethe
sonst Umarbeitungen seiner Dramen ausführte oder nur in
Aussicht nahm, unterlässt er nicht dies ausdrücklich zu
berichten, so von den »Mitschuldigen«, von »Götz von
Berlichingen « , von »Claudine«, von »Erwin und Elmire«,
von »Iphigenie«, von »Tasso«, von »Egmont«, von »El-
penor«, von »Stella«; bezüglich des »Prometheus« spricht
er überall nur von beabsichtigter Fortsetzung. Das schliesst
selbstverständlich nicht aus, dass er in den beiden frühem
Acten des Dramas diejenigen AenderungÄi vorgenommen
haben würde, welche durch Eröffnung des Stücks mit dem
neuen Monolog nöthig wurden. Er selbst konnte dies viel-
leicht deshalb nicht thun, weil er die Handschrift des
ersteren, ohne selbst ein Duplicat zu behalten, weggegeben
hatte. Wollen wir Nachlebenden uns den Genuss eines
durch den Monolog vervollständigten Prometheus ver-
schaffen, so werden wir nun selbst diese Aenderungen
vornehmen müssen — aber auch vornehmen dürfen, wenn
wir dabei nur von dem schuldigen Gefühl der Unter-
Digitized by VjOOQ IC
Prometheus. 89
Ordnung beseelt sind. Von einem ergänzenden Dichten
kann dabei, wie sich von selbst versteht, nicht die Rede
sein, sondern nur von einer bescheidnen Redaction, die
auf logischen Gründen beruht und die Goethe bei der
Ausgabe seiner Dichtungen auch selbst sorglos andern,
wie Voss, Riemer, Eckermann überliess.
Der Monolog würde für sich allein den ersten Act
bilden. Das kann nicht auffallen, da auch der nachmals als
erster Act behandelte Anfang des »Faust«, der auch gleich
den ganzen Conflict zwischen dem Erdgebundnen und dem
ins Unendliche Strebenden in sich birgt, ebenfalls ganz
vorwiegend aus einem Monolog besteht, und da femer
der zweite Act des »Satyros« ebenfalls lediglich Mo-
nolog ist.
Vergleichen wir nun diesen neuen ersten Act mit dem
folgenden, so nehmen wir zunächst Awstoss an Wieder-
holung der Stelle des Monologs:
Wer half mir
Wider der Titanen Uebermuth?
in dem Gespräch des Prometheus mit Merkur, lautend:
Haben sie . . .
Diesen Busen gestählt,
Zu trotzen den Titanen?
Beide Stellen sind an ihrem Ort nicht ohne Weiteres
entbehrlich und da die Wiederholung nicht völlig gleich-
lautend ist, können wir sie uns gefallen lassen.
Eine andere Stelle des Selbstgesprächs tritt uns ver-
theilt in zwei andern Stellen des Zwiegesprächs mit Merkur
entgegen, nämlich die:
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und:
90 Dramatische Entw'Crfe Goethe's.
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herren und Deine?
in nachstehenden beiden:
Prometheus.
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit,
Mein Herr und Eurer?
Prometheus.
Was könnt Ihr?
u. s. w.
Vermögt Ihr mich auszudehnen,
Zu en\^eitern zu einer Welt?
Merkur.
Das Schicksal!
Prometheus.
Anerkennst Du seine Macht?
Ich auch!
Geh! ich diene nicht Vasallen.
Diese beiden letzteren Stellen im Zwiegespräch lassen
sich nicht einfach streichen und an eine Umarbeitung darf
freilich gar nicht gedacht werden; dagegen können im
Monolog die vier Zeilen »Hat nicht« bis »und Deine«
nicht nur ohne Bedenken ausfallen, sondern es gewinnt
sogar dadurch der Monolog an Abrundung. Denn diese
Zeilen mit ihrer Verweisung auf den Einfluss, den die
Zeit auf Prometheus ausgeübt hat, stehen zwischen vier
Digitized by VjOOQ IC
Prometheus. 91
vorausgehenden und fünf nachfolgenden, welche sich ins-
gesammt auf das Verhältniss des Zeus zu Prometheus be-
ziehen. Jene lauten:
Hast Du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast Du die Thränen gestillet
Je des Geängsteten?
Diese aber:
Wähntest Du etwa
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehn.
Weil nicht alle
Blüthenträume reiften ?
Die hier angeführten neun Zeilen drücken den Ge-
danken aus: Hast Du mich deshalb Schmerzen überlassen,
weil Du mich durch sie zum Lebenshasser zu machen
hofftest? Diesen Gedankengang unterbrechen aber die da-
zwischen gestellten vier Zeilen, deren Inhalt auch mit den
weiter zurückliegenden Zeilen
Hast Du nicht Alles selbst vollendet.
Heilig glühend Herz?
insofern in Widerspruch steht, als er in diesen sich selbst,
in jenen ferneren aber der Zeit seine Erziehung zuschreibt,
was in dieser unmittelbaren Aufeinanderfolge störend ist.
Der Inhalt obiger vier und fünf Zeilen ist demnach mit
Gewinn für das Ganze dem Zwiegespräch zwischen Pro-
metheus und Merkur allein vorzubehalten.
Endlich finden sich die das gegenwärtige Thun aus-
drückenden Worte des Monologs:
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<J2 Dramatische Entwürfe Goethe' s.
Hier sitz' ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei:
Zu leiden, zu weinen.
Zu geniessen und zu freuen sich
Und Dein nicht zu achten
Wie ich!
als Erzählung des Vergangenen in dem Aufruf des Pro-
metheus an Zeus im ursprünglich zweiten Acte:
Ich habe sie geformt nach meinem Bilde;
Ein Geschlecht, das mir gleich sei:
Zu leiden, weinen,
Zu geniessen und zu freuen sich
Und Dein nicht zu achten
Wie ich!
Im grossen Monolog kann die Stelle nicht wegbleiben :
sie ist der Schlussstein oder vielmehr die bohrende Spitze
des gegen Zeus geschleuderten Trotzes; wol aber können
wir sie ohne Bedauern im letzten Act missen und sogar
wiederum mit Vortheil, indem dadurch der jubelnde Sieges-
ruf des Prometheus
Sieh nieder, Zeus,
Auf meine Welt! Sie lebt!
kräftiger hervortritt, während die jetzt anschliessenden sechs
Zeilen eine damit nicht in Einklang stehende trotzige Ver-
bitterung bekunden.
Die Schlussscene würde alsdann so einzuleiten sein:
»(Thal am Fusse des Olympus. Man sieht das Menschen-
geschlecht durch's ganze Thal verbreitet. Sie sind auf
Bäume geklettert, Früchte zu brechen; sie baden sich
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Prometheus.. 93
im Wasser, sie laufen um die Wette auf der Wiese;
Mädchen pflücken Blumen und flechten Kränze.)
Prometheus.
Sieh nieder, Zeus,
Auf meine Welt! sie lebt!
(Ein Mann mit abgehauenen jungen Bäumen tritt zu
Prometheus.)«
U. s. w.
Ueber die Fortsetzung haben wir schon angedeutet,
dass der Ausspruch Jupiters über die Neugeschaffnen sich
noch erfüllen muss: »Sie werden Dich nicht hören, bis
sie Dein bedürfen.« Vorbereitet erbHcktfn wür diesen Aus-
gang des Dramas in des Prometheus Neigung zu seinen
Geschöpfen: diese zieht ihn selbst zu den schwächeren
Menschen herunter; er mischt sich unter sie, freut sich
und leidet mit ihnen, der Titanide geht in diesem Verkehr
mit der Alltagswelt unter, er hört auf der Halbgott zu
sein, welcher über seinen Geschöpfen als Schirmer und
Helfer stand. Droht jenen nunmehr Unheil, so muss ein
höher Waltender eintreten — das zu zeigen war zufolge
seiner ersten Acte die Aufgabe der Fortsetzung des
Dramas. Es ist das ein Ideengang zum Theil dem ähn-
lich, den Goethe unter rein menschHcher Umgebung, aber
auch in weniger edlem Sinn im »Mahommed« auszuführen
gedachte, während des Prometheus Trotz auf die eigne
Kraft im »Faust« wieder Ausdruck fand. In wieder andrer
Richtung drückt den Inhalt des »Prometheus« in milderer
Weise das Gedichtchen » Menschengefühl « aus, das jetzt
unter den vermischten Gedichten steht und jedenfalls auch
in den siebenziger Jahren entstand.
otf^
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4- Elpenor.
is ins Jahr 1860 ist meines Wissens eine Er-
klärung des »Elpenor« nicht durchgeführt
worden; er galt bis dahin als ein Räthsel.
Was Goethe selbst über das Stück äussert,
'!U ist wenig und gewährt keinen Anhalt für
dessen Deutung. In seinem Tagebuch führt er den Be-
ginn desselben am 11. August 1781 auf und gedenkt seiner
noch am 19. desselben Monats. In Briefen an Frau von Stein
schreibt er von einem in Arbeit befindHchen Stück am
19. August 1781 sowie am i. und am 5. März 1873. Dass
auch die beiden letzten Erwähnungen auf »Elpenor« sich
beziehen, ist insbesondere deshalb gewiss, weil Goethe bei
der zweiten von der Beendigung des zweiten Actes spricht,
bis wohin eben »Elpenor« nur gedieh und weil er in den
»Tag- und Jahresheften« berichtet, die beiden Acte des
»Elpenor« seien 1783 geschrieben. Auch kann nur auf
»Elpenor« folgende Stelle in Goethe's Brief an Knebel
vom 3. März 1783 bezogen werden: »Ich hatte gehofft,
das Stück, dessen Anfang Du kennst, auch noch bis zum
Ausgange der Herzogin zu schreiben, es ist aber unmög-
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Elpenor. 95
lieh. Der alte Plan war fehlerhaft und ich musste es von
vorne an neu umarbeiten. Ich fahre sachte dran fort und
ich denke, es wird ja nicht zu spät kommen«.
Goethe that jedoch nichts weiter daran. Zwar sagte
er in der Zuschrift, welche Göschen mit der Ankündigung
von »Goethe's Schriften« im Juli 1786 bekannt machte:
er wünsche sich »noch so viel Raum und Ruhe, um die
angefangenen Arbeiten, die dem sechsten und siebenten
Bande zugetheilt sind, wo nicht sämmtlich, doch zum Theil
vollendet zu liefern«; allein schon beim Erscheinen des
ersten Bandes 1787 erklärte Goethe, die vier letzten Bände
— im sechsten sollten die zwei Acte von »Elpenor« ver-
öffentlicht werden — würden eine andre Gestalt, als die
angekündigte erhalten und nun brachten sie »Tasso« und
»Egmont«, von denen nur Bruchstücke in Aussicht gestellt
waren, vollständig, aber »Elpenor« gar nicht. Nach einer
brieflichen Äusserung gegen Schiller aus dem Juni 1798
hat indessen Goethe das Stück bei Herausgabe seiner
Schriften vorgenommen; denn er schreibt, dass er das-
selbe seit zehn Jahren nicht angesehen habe — also doch
um 1788.
So wenig aus diesen Äusserungen für die Deutung
des »Elpenor« zu entnehmen ist, sowenig auch aus sonst
vorhandnen. Im Brief an Zelter vom 7. Mai 1807 sagt
Goethe, das Stück liege ihm zu fem, als dass er selbst es
noch zu beurtheilen vermöge und fügt hinzu: gewöhnlich
werfe man eine Abneigung auf etwas, das man nicht zu
vollenden vermocht habe, als auf ein Ding, das uns wider-
strebe und dessen wir nicht Herr werden könnten.
Etwas ausführlicher lässt sich Goethe gegen Schiller
aus, dem er das Bruchstück am 24. Juni 1798 mit folgender
Bemerkung schickte: »In das andere beiliegende Manu-
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96 Dramatische Entwürfe Goethe*s.
Script mag ich gar nicht hineinsehen; es mag ein Beispiel
eines unglaublichen Vergreifens am Stoflfe und weiss Gott
für was noch anders ein warnendes Beispiel sein. Ich bin
recht neugierig, was Sie diesem unglücklichen Product
für eine Nativität stellen«. Schiller — scheinbar oder
wirklich den Verfasser nicht ahnend — antwortet: »Auch
das Drama folgt zurück; ich habe es gleich gelesen und
bin in der That geneigt günstiger davon zu denken, als
Sie zu denken scheinen. Es erinnert an eine gute Schule,
ob es gleich nur ein dilettantisches Product ist und kein
Kunsturtheil zulässt. Es zeugt von einer sittlich gebildeten
Seele, einem schönen und gemässigten Sinn und von einer
Vertrautheit mit guten Mustern. Wenn es nicht von
weiblicher Hand ist, so erinnert es doch an eine gewisse
Weiblichkeit der Empfindung, auch insofern ein Mann
diese haben kann. Wenn es von vielen Longueurs und
Abschweifungen befreit sein wird, und wenn besonders
der letzte Monolog, der einen unnatürlichen Sprung ent-
hält, verbessert sein wird, so lässt es sich gewiss mit
Interesse lesen«. Darauf schreibt Goethe zurück: »Zu-
fälligerweise oder vielmehr weil ich voraussetzte, Sie
wüssten, dass »Elpenor« von mir sei, sagte ich es nicht
ausdrücklich im Briefe; nun ist es mir um so lieber, da
dieses Product ganz rein auf Sie gewirkt hat. Es können
ungefähr sechzehn Jahr sein, dass ich diese beiden Acte
schrieb, nahm sie aber bald in Aversion und habe sie seit
zehn Jahren gewiss nicht wieder angesehen. Ich freue
mich über Ihre Klarheit und Gerechtigkeit wie so oft
schon, also auch in diesem Falle. Sie beschreiben recht
eigentlich den Zustand, in dem ich mich befinden mochte,
und die Ursache, warum das Product mir zuwider war,
lässt sich nun auch denken«.
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Elpenor. 97
Die weibliche Empfindung in dem Stück erklän sich
aus den zur Zeit seiner Entstehung in Goethe vorherr-
schenden Gefühlen für Frau von Stein ; sie giebt sich darin
namentlich durch das viele Bethun von Weibern um einen
herangewachsenen Jüngling kund. Sonst Näheres für die
Auslegung ergeben vorstehende Äusserungen nicht; nur
auf Goethe*s erste gegen Schiller gethane wird noch ein-
mal zurückzukommen sein. Suchen wir daher andre Wege
zum Licht!
Betreflfs der Form schliesst das Bruchstück an jene
Schauspiele an, welche Goethe nach seiner Mittheilung an
Eckermann vom 27. März 1825 in der Absicht dichtete,
eine deutsche Bühne nach griechischem Vorbild zu schaflfen,
und von denen zwar »Iphigenie in Taurien« und »Tasso«
vollendet, »Iphigenie in Delphi« und »Nausikaaa aber nur
entworfen wurden, während später erst »Die natürliche
Tochter« sich wieder an diese Form anschloss. »Elpenor«
war, wie ausser »Iphigenie« und »Tasso« auch »Proser-
pina« — stellenweise auch »Egmont« — in rhythmischer
Prosa geschrieben, die in jenem ersten Stück nachmals
Riemer in aufdringlichem Verschönerungswahn in ungleiche
Verse zerschnitt. Goethe erklärt diese ihm eigenthüm-
liche sprachliche Form der Dramen in der »Italienischen
Reise« (Rom, 10. Januar 1787) aus seiner Unsicherheit in
der Prosodie, allein jedenfalls schwebte hierbei auch mit
die Absicht vor, in dem Streit über den Vorzug des Verses
oder der Prosa für die Bühne zu vermitteln.
Wenden wir uns nun zum Stoff! Es ist keine ge-
schichtliche Begebenheit und ebensowenig eine Sage ermit-
telt, die im » Elpenor « dargestellt wäre. Die Namen geben
durchaus keinen Fingerzeig, da sie nur die Charaktere
andeuten: Antiope die nach Rache Begierige; Elpenor der
7
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98 Dramatische Entwürfe Goethe*s.
von Hoffnungen Beseelte, voll Hoffnungen Betrachtete ;
Lykus der räuberische Wolf; Polymetis der Vielschlaue;
Evadne die Wohlgefällige. Wir sind daher bei Entwick-
lung der Begebenheit lediglich aufs Bruchstück verwiesen,
und da dieses nicht einmal bis in den dritten Aufzug
gedieh, so ist der Knoten noch gar nicht geschürzt, also
das meiste noch zu errathen. Da liegt denn zunächst
Folgendes zu Tage.
Von zwei Brüdern, die beide gemeinschaftlich ein Reich
beherrschen, fällt der Eine, als er gegen den Landesfeind
siegreich vorging, durch einen ihm tückisch gestellten
Hinterhalt. Auf seine Wittwe Antiope wird bald darauf
gleichfalls ein Überfall unbegreiflichen Ursprungs gemacht
und sie dabei ihres Kindes, eines Säuglings, beraubt, wäh-
rend sie selbst schwer verwundet wird, aber doch am
Leben erhalten bleibt. Vergeblich sind alle Bemühungen,
Spuren des entführten Kindes zu entdecken; die ver-
wittwete, nunmehr auch kinderlose Königin zieht sich
darauf aus dem Reich ihres Gatten in ihr väterliches Erb-
reich zurück.
Hier bedarf sie in einer wichtigen Angelegenheit klugen
Rathes und wendet sich deshalb in Person an den zwar
seines rauhen Betragens und seiner Herrschsucht wegen
von ihr nicht geliebten, aber seiner Klugheit halber als
nützlich erkannten Schwager, König Lykus. Bei diesem
sieht sie dessen kleinen Sohn Elpenor; beim ersten Anblick
fühlt sie sich zu diesem und er sich zu ihr hingezogen;
durch ihn wird sie um so lebhafter an ihr verlornes Kind
erinnert, als Elpenor gleichen Alters mit demselben ist, ja
sogar ein gleiches Maal am Nacken trägt, wie ihr Kind
hatte. Durch die Zusicherung, dem Elpenor für den Fall,
dass ihr eigner Sohn nicht wiedergefunden werden sollte.
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Elpenor. 99
nach ihrem Tode auch ihr eignes Erbland zu hinterlassen
und durch sofortige Verpfändung eines Theils desselben
an Lykus erlangt sie von diesem, dass er ihr seinen Sohn
überlässt, um ihn bis zum Jünglingsalter zu erziehen.
Beim Beginn des Stücks ist nun der Tag gekommen,
wo Elpenor seinem Vater zurückgegeben werden soll.
Der bisher von weiblicher Zärtlichkeit umhegte Knabe
freut sich der bevorstehenden grossem Freiheit und erwartet
mit Sehnsucht — nicht seinen kommenden Vater, sondern
— die Waflfen, Pferde und Jugendgenossen, welche dieser
ihm mitbringen und zu Gebote stellen wird. Da erscheint
Antiope um Abschied zu nehmen und indem sie jetzt
nochmals dem geliebten Pflegling ihre Geschichte und das
über sie gebrachte Weh zu Gemüthe führt, fordert sie ihn
auf, ihr mit furchtbarem Eid feierlich zu schwören, sie an
dem Urheber ihres Unglücks zu rächen und ihn sammt
den Seinigen bis zur Vertilgung zu verfolgen. Diesen
Schwur leistet Elpenor, zugleich aber den, dem Vetter,
^enn er noch lebe, sein Erbreich zurückzugeben. Um den-
selben erkennen zu können, verweist Antiope auf sein
mit Elpenor gemeinsames Maal und beschreibt das Hals-
geschmeide, welches das Kind bei dem räuberischen Über-
fall getragen habe.
Im zweiten Aufzug tritt, von König Lykus voraus-
gesandt, Polymetis auf, ein alter Diener seines Hauses.
Er deutet an, dass er der Mitschuldige des Königs bei
schweren Unthaten war, die derselbe gegen Antiope beging
und dass er ein Ungeheuer gebunden halte, das den
Elpenor zerreissen könne; er nimmt sich vor seine furcht-
baren Geheimnisse zu verrathen und das Ungeheuer los-
zulassen, weil er nur in der zerstörenden Zwietracht des
Fürstengeschlechts Gewinn für sich erblickt.
7*
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100 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Mit dieser unheilschwangeren Aussicht schliesst das
Bruchstück. Zwei Fragen drängen sich sofort auf: lebt
Antiope's Sohn noch? und: ist Elpenor Antiope's oder
Lykus' Sohn?
Die Bejahung der ersten Frage liegt nahe; denn nicht
zu gedenken, dass jenes von Polymetis erwähnte Ungeheuer
nur ent>\'eder der verschwundne Sohn der Antiope oder —
dafern dies Elpenor ist — der Sohn des Lykus sein kann, so
deutet auch verschiednes in der Anlage des Stücks schon darauf
hin; namenthch wäre ausserdem ganz unbegreiflich, warum
der Tod des Kindes überhaupt noch zweifelhaft gelassen
ist und femer würden sonst die Zeichen, an denen Elpenor
den Vetter erkennen soll, ganz müssig im Drama stehn.
Zweifelhafter mag die Beantwortung der Frage erschei-
nen, ob Elpenor Sohn der Antiope oder aber des Lykus
sei? Allein bei genauer Betrachtung wird man sich für
ersteres entscheiden müssen.
Denn abgesehen davon, dass, wenn Elpenor des Lykus
Sohn wäre, die Erwähnung der — vermeintlichen — Gleich-
mässigkeit des Maales am Nacken beider Kinder ebenso
zwecklos wäre wie der Nachdruck, der darauf gelegt wird,
dass des Lykus Gattin gleichzeitig mit Antiope schwanger
gewesen und daher beide Kinder fast gleichaltrig gewesen
seien, so erhält auch nur dann die beim ersten Erblicken
sich lebhaft äussernde gegenseitige Anziehung zwischen
Antiope und Elpenor, ingleichen wieder die Gleichgültigkeit,
mit welcher Elpenor als Kind sich von Lykus fortbringen
lässt, mit welcher er als Jüngling sich zu ihm zurück-
begiebt und mit welcher er dessen von Antiope gescholtnen
Ehrgeiz, gleichsam nur schicklichkeitshalber, entschuldigt —
das alles hat nur dann Bedeutung, wenn eben Elpenor
Antiope's Sohn ist.
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Elpenor. ipl
Allerdings lassen sich Ausstellungen erheben. Zuvör-
derst könnte man einwenden: gesetzt auch dass Lykus
wirklich das Kind, etwa nach Verlust des eignen, heimlich
an sich genommen hätte, um nicht bei Kinderlosigkeit in
der Herrschaft gefährdet zu sein, so nennt doch auch der
in die geheime Geschichte des Königshauses eingeweihte
Polymetis im Selbstgespräch, also ohne Absicht einer
Täuschimg, ausdrücklich Lykus den Vater Elpenor*s, und
obschon ferner die von Polymetis erwähnte schwarze That
des Lykus jedenfalls nicht bloss auf die Beseitigung des
Neflfen, sondern auch auf die Ermordung des Bruders zu
deuten ist, wie schon Antiope's Erzählung vom Untergang
ihres Gatten ahnen lässt, so scheint doch mit dem Unge-
heuer, das er zu Elpenor's Verderben loszulassen droht,
nur Antiope's Sohn gemeint sein zu können, da des Lykus
Sohn keine Ursache hätte, gegen den Sohn des von seinem
Vater schmäUch behandelten Hauses sich schonungslos zu
bezeigen.
Zu Hebung dieser Dunkelheiten lassen sich indessen
manche Auswege denken, keinesfalls aber kann aus dem
mehrdeutigen Selbstgespräch des Polymetis die Wider-
legung einer Folgerung abgeleitet werden, die sich auf
andre gute Gründe stützt. So viel ist gewiss, dass Lykus,
vielleicht aber auch Polymetis nicht weiss, dass Elpenor
nur der Neffe des ersteren sei; das Personenverzeichniss
beweist nichts, da ja allerdings Elpenor durch das ganze
Drama hindurch als Lykus' Sohn gilt und das Personen-
verzeichniss nicht da ist, das Geheimniss der Handlung in
voraus zu enthüllen ; zudem ist es ohne Zweifel eine unzu-
verlässige Beigabe Riemer's. Der Vertauschung der beiden
Kinder ist aber bereits im Bruchstück eine Thür oflfen
gelassen, indem die Gattin des Lykus zu der Zeit, zu
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102 Dramatische Entwürfe Goethe's.
welcher die dem Drama zu Grunde liegenden Ereignisse
vor sich gehen, nicht als lebend erwähnt wird, mit ihr
also die Wächterin fehlte, welche die Vertauschung unmög-
lich gemacht haben würde.
Ein andrer Einwurf gegen obige Ausbildung der im
Bruchstück niedergelegten Keime könnte sein, dass wenn
Elpenor Antiope's Kind ist, ja gar keine ernstere Verwick-
lung vorliege und das so thatenschwer angelegte Stück
als Lustspiel verlaufen müsse. Hiegegen ist jedoch zu
erinnern, dass es ganz darauf ankommt, zu welcher Zeit
Elpenor als Sohn der Antiope entdeckt wird; die Entwick-
lung erhebt sich zur höchsten Tragik, wenn Elpenor in
dem Augenblick wo er erfährt, dass Lykus es war, der
den Gatten und den Sohn der Antiope bei Seite schaffen
liess, diesen königlichen Mörder noch für seinen Vater
hält; denn offenbar kann Elpenor seinem ganzen Wesen
nach nicht zum Vatermörder werden und muss daher den
Theil des frevelhaft voreilig geleisteten Racheschwurs, deJ
ihn verpflichtet die Angehörigen des Mörders zu Grunde
zu richten, zuerst an sich erfüllen und freiwilligen Tod
erwählen. Stellt man sich nun vor, dass inzwischen Antiope
das Geheimniss der Kindervertauschung erfahren hat und
wonneberauscht herbeieilt, um den geÜebten Elpenor als
ihr eignes Kind ans Herz zu drücken, dass sie aber zu
seiner Leiche oder doch zu dem Sterbenden kommt, dass
sich also das sündige Rachegelübde gegen sie selbst ge-
wendet hat, so würde das eine Scene geworden sein, wie
erschütternder und bedeutungsschwerer die Bühne wenige
gesehen hätte.
Im Wesentlichen entwickelt das Drama ebenso
Cholevius (»Geschichte der deutschen Poesie nach ihren
antiken Elementen« II, 262) und auch Scholl (»Goethe's
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Elpenor. 103
Briefe an Frau von Stein « II, 96. Anm. 3) nimmt wenigstens
Elpenor als Sohn der Antiope. Diese Entwicklung erklärt
auch, warum Goethe sich mit Abneigung von dem Stücke
wandte: der greuelhafte, gefühlmarternde Stoff musste ihn
bei seiner leichten Erregbarkeit geradezu aufreiben. Man
denke nur an das, was er am 9. December 1797 an Schiller
schrieb: »Ich kenne mich zwar selbst nicht genug um zu
wissen, ob ich eine wahre Tragödie schreiben könnte, ich
erschrecke aber bloss vor dem Unternehmen und bin bei-
nahe überzeugt, dass ich mich durch den blossen Versuch
zerstören könnte«. »Elpenor« war aber mit seiner rache-
athmenden Antiope das Gegentheil der ihm ganz aus dem
Herzen geschriebenen »Iphigenie«, wie überhaupt diese
beiden Dramen als Gegenstücke betrachtet werden können;
denn in beiden kommen nächste Verw^andte unerkannt
zusammen, aber in dem Einen bändigt Liebe selbst die
Wildheit, während im Andern blinder Hass selbst das
Liebste vernichtet.
Verbergen wollen wir uns dabei auch nicht, dass
Goethe das unbehaglich empfundne » Vergreifen am Stoff«
in dem verwickelten Durcheinander erkannte, welches allein
die Katastrophe im »Elpenor« ermöglichte. Der Plan in
seinen Bühnenstücken ist sonst ein höchst einfacher, durch-
sichtiger, während hier ein künstlicher, räthselreicher Plan
zu Grunde liegt , wie ihn die Spanier liebten und die altern
französischen Dramatiker, namentlich Corneille, nachahmten.
So wenig nun aber der Stoff im allgemeinen Goethe's
Lebensverhältnissen entsprach, so wenig Elpenor's Lage
Ähnhchkeiten mit der seinigen entgegenbrachte, so wird
er es doch nimmermehr haben lassen können, bei der
Ausführung sich aus dem Spiel zu lassen; er konnte nur
dichten, wo er sich heimisch fühlte.
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10^ Dram ati sche Entwürfe Goethe*s.
Vorzugsweise ist es Elpenor's weibliche Umgebung
und Erziehung, die auffällt und an Lebensumstände Goethe's
erinnert. Nicht nur, dass in seiner Jugend die Mutter am
nachdrücklichsten auf ihn einwirkte, dass er in Leipzig,
Strassburg, Wetzlar, Frankfurt viele Herzensveriiältnisse
eingegangen war, so machten sich auch in Weimar und
seiner Nachbarschaft Frauen und Mädchen viel mit ihm
und er sich mit ihnen zu schaffen; bis zur Zeit der Ent-
stehung des »Elpenor« mögen nur genannt sein: die
Herzoginnen Amalie und Louise von Weimar, Herzogin
Charlotte von Gotha, die Frauen von Stein, von Bech-
toldsheim, von Branconi, Gräfin Werthem, die Fräulein
von Göchhausen, von Waldner, von Uten, Corona Schröter,
Victorie Streiber. Sein eignes Wesen hatte selbst durch
Zartheit und EmpfängUchkeit etwas WeibUches.
Vor allen aber erkannte Goethe in der ihm damals
am nächsten stehenden Frau von Stein seine Erzieherin
und wie es von Elpenor in seiner Beziehung zu der noch
für eine ihm fremd geltenden Antiope heisst (I, i) : » er
gehört ihr nun durch Lieb' und Bildung«, so betrachtete
sich auch Goethe als der geliebten Frau nicht allein durch
Liebe, sondern auch durch ihren bildenden Einfluss eng
verbunden. Er schreibt z. B. an sie am 13. März 1781:
»Ich möchte Ihnen mein Leben, mich ganz hingeben, um
mich aus Ihren Händen mir selbst wieder zu empfangen.
Es ist auch schon zum Theil so mit mir«. — Sodann am
14. Mai desselben Jahrs : » Schaffe und bilde mich so, dass
ich Deiner werth bleibe«. — Ferner am 9. April 1782:
»Liebste, was bin ich Dir nicht schuldig! Wenn Du mich
auch nicht so vorzügUch liebtest, wenn Du mich auch
nur neben anderen duldetest, so wäre ich Dir doch mein
ganzes Dasein zu widmen verbunden; denn hätt' ich auch
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Elpenor. 105
ohne Dich je meinen Lieblingsirrthümern entsagen mögen?«
— Wie hiemächst Elpenor insbesondre zur Wohlthätiglceit
und Mittheilsamkeit erzogen ist und (I, 2) sagt: »Ich will
ein treuer Freund sein, will theilen was mir von den Göt-
tern wird; und wenn ich alles habe was mich freut, will
ich gern allen andern alles geben« — oder (11, 2): »Ich
will den Vater bitten, dass er Wein und Brod und von
den Heerden, was er leicht entbehrt, dem Volk vertheilt«
— ebenso gedenkt auch Goethe öfters des Einflusses der
Stein auf seine wohlthätige Gesinnung; wie im Brief vom
27. März 1781 : » Die Off^enheit und Ruhe meines Herzens,
die Du mir wiedergegeben hast, sei auch für Dich allein,
und alles Gute, .was andern und mir daraus entspringt, sei
auch Dein. Glaub' mir: ich fühle mich ganz anders, meine
alte Wohlthätigkeit kehrt zurück und mit ihr die Freude
meines Lebens. Du hast mir den Genuss am Gutsthun
gegeben, den ich ganz verloren hatte«.
Gewissermassen mag man auch Ähnlichkeiten finden
zwischen sonstigen Beziehungen Elpenor's zu Antiope einer-
und Goethe's zu Frau v. Stein andrerseits. Wie Elpenor
sich zu Antiope beim ersten Anblick wundersam hin-
gezogen fühlt, so spricht Goethe sein uranfängliches Ge-
fühl zur Geliebten als »Traum und Ahnung« im Gedicht
vom 14. April 1776 aus:
»Ach, Du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau!«
Und wie die vor dem Gesetz gültige Annahme El-
penor's an Kindes statt das natürliche Band zwischen Mutter
und Kind vertrat, so wünscht Goethe ein ähnliches im
Brief vom 12. März 1781 : »Ich wollte, dass es irgend ein
Gelübde oder Sacrament gäbe, das mich Dir auch sittlich
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I06 Dramatische Entwürfe Goethe's.
und gesetzlich zu eigen machte.« Oder im Brief an La-
vater aus Ostheim vor der Rhön vom Sommer 1780:
»Auch thut der Talisman einer schönen Liebe, womit die
Stein mein Leben würzt, sehr viel. Sie hat meine Mutter,
Schwester und GeUebte nach und nach geerbt und es
hat sich ein Band geflochten, wie es die Bande der Na-
tur sind.«
Noch lassen die Worte, mit denen das Bruchstück
schliesst, Anklang an eine Stimmung erkennen, die zu der
Zeit der Dichtung des »Elpenor« mitunter sich seiner be-
meisterte; denn obgleich damals das Verhältniss zu Char-
lotte V. Stein in seiner herrlichsten Blüthe stand, wandelte
ihn doch oft die Furcht an, dass dieses Glück enden
könne und wie bei Elpenor »vor den ausgebreiteten Armen
scheitere die HoflFnung.« In solcher Stimmung schrieb er
beispielsweise am 22. April 1781: »Gestern Nacht hatte
ich grosse Lust, meinen Ring wie Polykrates in das Wasser
zu werfen; denn ich summirte in der stillen Nacht meine
Glückseligkeit und fand eine ungeheure Summe.« Am
9. April 1782: »ich habe in einer Nacht recht bitterlich
geweint, da ich mir vorstellte, dass ich Dich verlieren
könnte.«
Immerhin sind jedoch diese Beziehungen auf Goethe's
Leben im »Elpenor« nar nebenbei laufende; die Fabel des
Drama's muss von aussen gekommen sein. Man hat sie
auf die Sage von Atreus und Thyestes zurückführen wollen.
Hören wir, wie Iphigenie dieselbe im dritten Auftritt des
ersten Acts des Goethe'schen Schauspiels erzählt und zwar
nach der ältesten Prosabearbeitung.
»Atreus und Thyest beherrschten nach ihres Vaters
Tod gemeinschaftlich das Reich. Nicht lange, so entehrt
Thyest des Bruders Bett, und Atreus, sich zu rächen, ver-
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Elpenor. 107
treibt ihn von dem Reich. Thyest, der tückisch lange schon
einen Sohn des Bruders entwandt und für den seinen auf-
erzogen hatte, schickt diesen Sohn — sein Name war
Pleisthenes — dass er dem Atreus nach dem Leben stehe
und seinen eigenen Vater insgeheim ermorden soihe. Es
wurd entdeckt, und Atreus tödtet den gesandten Mörder,
wähnend er tödtete seines Bruders Soiin. Zu spät erfährt
er, wen er umgebracht, und an dem Bruder sich zu
rächen, sinnt er still auf unei*hörte Thaten. Versöhnt stellt
er sich an und lockt Thyestes mit seinen beiden Söhnen
zurück in's Reich, ergreift die armen Knaben und schlachtet
sie heimhch, und setzt sie ihrem Vater zur schaudervollen
Speise vor; und da Thyest an seinem eigenen Fleische
sich gesättigt, wirft Atreus, der EntsetzÜche, ihm Haupt
und Füsse der Erschlagenen hin.« — Weiter berichtet die
Sage, dass Thyestes seiner eignen Tochter Gewalt anthat,
weil ihm das Orakel auf diesem Wege einen Rächer ver-
heissen hatte ; ferner, dass der aus dieser Blutschande ent-
sprungene Sohn, Aigist hos, von Atreus, der ihn nicht als Neffen
kannte, erzogen und nachmals abgesendet wurde, Thyestes
zu morden, sowie endlich, dass letztrer in dem Gesendeten
seinen Sohn erkannte und diesen nunmehr seinerseits be-
wog Atreus um's Leben zu bringen.
Unverkennbar liegen in diesen Sagen mit »Elpenor«
übereinstimmende Züge und wue schon auf den Gegensatz
dieses Drama*s zur »Iphigenie« hinzuweisen w^ar, ist man
auch versucht, in letztrer selbst den Anlass zu der ein
Jahr darauf entworfenen Bühnendichtung zu finden. Ueber-
einstimmend sind denn auch in der That die Verdrängung
eines Herrschers durch seinen Bruder aus dem gemein-
samen Reich, sowie die Verwendung der mit ihrem Ur-
sprung unbekannten Söhne der Gewalträuber zu deren
Digitized by VjOOQ IC
Io8 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Bestrafung. Es muss zugegeben werden, dass weder in der
Geschichte noch in der Sage ein zweites Beispiel solcher
Brüderscheusale vorkommt und dass daher die Voraus-
setzung im »Elpenor«, welche Lykus und Antiope*s Gatten
Brüder sein lässt, wol der Pelopidensage entnommen sein
wird, zumal die Äusserung Goethe's im Brief an Zelter
vom 23. Februar 1817, dass er sich früher im Atreus'schen
Haus eingesiedelt gehabt habe, nicht übersehen w^erden darf.
Allein diese äussern Ähnlichkeiten zwischen »Elpenor«
und der Erzählung von Pelops Söhnen treten bei ein-
dringender Betrachtung vor den im WesentHchen be-
gründeten, in den Bau und Verlauf des Drama's eingreifen-
den Verschiedenheiten völlig zurück.
Die griechische Sage hat im Grunde nur das Greuel-
hafte unersättUcher Rache zum Gegenstand ; es verschwindet
nicht nur der Abscheu vor dem ersten Anlass der Feind-
seligkeiten geradezu gegenüber den niederträchtigsten
Steigerungen der Rachgier bis zu den ungeheuerlichsten
Scheusslichkeiten, sondern es erscheint auch selbst der
Mordangriff des Pleisthenes auf den ungekannten Vater —
der dem »Elpenor« am nächsten stehende Vorgang —
nur als einzelnes Glied der Kette von Verbrechen, als
blosser Zwischenfall.
Im »Elpenor« dagegen ist dieses Begebniss das Äusserste,
die Spitze der ganzen Handlung; hier ist nicht das Ver-
abscheuungswürdige der Rache Gegenstand des Drama's»
sondern ihr VerdienstUches, sofern dadurch die Bestrafung
eines Verbrechers durch den von Natur dazu Berufenen
herbeigeführt wird. Das ganze Drama ist eigentlich nur
die Begründung der Rechtmässigkeit der Rache. Wenn
auch Antiope das Bewusstsein haben mag, zur Rache
des an ihrem Gatten verübten Mordes unnatürHcherweise
Digitized by VjOOQ IC
Elpenor. 109
den eignen Sohn des Mörders zu verpflichten, so thut sie
es doch nicht wie Atreus und Thyestes mit der Absicht,
eine unnatürliche That zu veranlassen, sondern nur, weil
sie über keinen gleich zuverlässigen Vollstrecker der Strafe
für das ihr und den Ihrigen zugefügte Unrecht zu ge-*
bieten hat. Und dass diese That als der Entwicklungs-
schluss des Ganzen im »Elpenor« sich dargestellt haben
würde, darüber lassen die Verzahnungen des dramatischen
Bruchstücks einen Zweifel nicht aufkommen. Dasselbe
spricht insofern das Gesetz eines höheren sittlichen Waltens
aus, dass den Verbrecher seine Strafe gewiss ereilt, auch
wenn für ihn schon alle Gefahr der Ahndung seiner That
vorübergegangen zu sein scheint. Von solcher Sittlichkeit
ist in der griechischen Sage keine Spur.
Sollte hiernächst »Elpenor« im Weiteren so verlaufen,
wie oben dargelegt ist und wie er nach dem was davon
vorliegt anders schwerlich verlaufen konnte, so beruht ein
andrer wesentlicher Unterschied zwischen Goethe's Drama
und der Pelopidensage darin, dass der mit dem unbewussten
Vatermord beauftragte Pleisthenes als Opfer seines Auf-
trags fällt, ohne seinen Ursprung erfahren zu haben, wäh-
rend Elpenor, man mag sich das Ende des Drama's aus-
bilden wie man will, unbedingt Kunde erhalten musste,
dass jener bisher unbekannte Brudermörder, den zu tödten
er sich eidlich verpflichtete, derselbe Mann ist, den er für
seinen Vater hält. Der hieraus entspringende Widerstreit
der Pflichten ist das Ziel, auf das die Entwicklung des
»Elpenor« zusteuert, das im ganzen Drama vorauszufühlen
ist, sodass es durch diesen Unterschied zu etwas ganz
andrem werden musste, als ein »Atreus und Thyestes«
je hätte werden können.
Ähnlicher in dieser Hinsicht ist nun allerdings dem
Digitized by VjOOQ IC
HO Dramatische Entwürfe goethe's.
»Elpenor« der Ausgang, weihen der mit Aigisthos ge-
plante Anschlag gegen Thyestes nimmt; allein an einem
gewissermassen zwingenden Beweggrund für die That des
Aigisthos, an einem Zwiespalt der Pflichten, deren eine
ihn wie den Elpenor drängte, etwas Unnatürliches zu voll-
bringen, gebricht es, wenn der, für welchen Rache geübt
werden soll, noch am Leben ist und seine Sache selbst
führen konnte, wie Atreus es gekonnt hätte. Es zeigt sich
also auch an diesem Umstand, wie die griechische Sage im
Gegensatz zu Goethe's Dichtung nur die Befriedigung
massloser Rachsucht zum Gegenstande hat.
Es wird nicht nöthig sein des Breiteren auseinander-
zusetzen, wie diese Verschiedenheiten das Drama durch
und durch anders hätten gestalten müssen und es mag
nur noch darauf aufmerksam gemacht werden, dass
nicht zu verstehen wäre, warum Goethe die Namen der
griechischen Sage verändert haben sollte, w^enn er ^ie
hätte darstellen wollen.
Müssen wir demnach die Annahme abweisen, dass
Goethe nach griechischem Vorbild »Elpenor« entwarf, so
haben wir nach seiner Quelle weiter umher zu spähen.
Zuvor vergegenwärtigen wir uns jedoch noch übersicht-
lich die Motiven jenes Drama's bis zur Catastrophe, wie
wir diese als nothwendiges Ergebniss der Entwicklung
ermittelt haben. Dieselben sind folgende:
zwei hochgestellte Männer berühren sich in gegen-
seitig sich beschränkender Machtübung,
weshalb der Eine den Andern
sammt dessen Geschlecht zu vertilgen unternimmt ;
vom Untergange wird aber ein noch ganz junges
Kind gerettet,
ohne dass der Urheber der Vertilgung davon weiss ;
Digitized by VjOOQ IC
Elpenor. III
das gerettete Kind gelangt durch Umstände in's
Haus des Feindes,
der es, immer unbekannt mit dessen Abstammung,
als eignes erzieht;
ebenso findet der Retter des Kindes im Hause des
Verderbers Aufnahme,
weil dieser jenen vielmehr für seinen Mordgehülfen
hält ;
durch ihn wird der gerettete Sprössling später
mit der Geschichte seines Hauses bekannt gemacht,
nachdem er, ehe er noch weiss wie nah ihn das
angeht, sich verpflichtet hat, des schmählich verfolgten
Hauses Untergang zu rächen;
er kommt durch dieses Gelöbniss in Widerstreit
mit Kindespflicht,
erfüllt aber die Pflicht der Rache.
Wenn wir in den uns geläufigeren Literaturen keine
Darstellung finden, der »Elpenor« seinen Ursprung ver-
danken könnte, so dürfen wir unbedenklich in den fernsten
Kreisen darnach suchen. Goethe's Neigung, sich mit den
Erzeugnissen fremder Literaturen vertraut zu machen,
schreibt sich aus seinen frühesten Zeiten her. Überfliegen
wir seine hierher gehörigen Bestrebungen bis zu den
Jahren, in denen er »Elpenor« dichtete!
Als Knabe trieb er lateinisch, griechisch, hebräisch,
französisch, itaUenisch und englisch. Er schrieb damals
einen Roman in allen diesen Sprachen, nur das Hebräische
mit Judendeutsch vertauschend. Aus der altrömischen Li-
teratur ahmte er gleichfalls in jener frühesten Zeit die
Komödien des Terenz nach, lernte die ersten Bücher der
Äneide und der Metamorphosen auswendig und rechnete
die letzteren noch als Student zu seinen Lieblingsdich-
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112 Dramatische Entwürfe Goethe's.
tungen. Ferner bildete er sich im jugendlichen Alter nach
der französischen Literatur: dichtete Schauspiele nach Piron
und Lieder an eine französische Schauspielerin; machte
sich später an eine Übersetzung von Comeille's »Le men-
teur« und fertigte ein Epigramm auf den Einzug der Königin
Marie Antoinette in Strassburg. Von griechischen Dichtem
begeisterten den jungen Mann namentlich Homer, Pindar,
Anakreon, Euripides, Äschylus, Theokrit; er übersetzte
einzelnes von Homer, Anakreon, Pindar, Pythagoras und
bearbeitete »Die Vögel« des Aristophanes für die Lieb-
haberbühne des Weimarer Hofs.
Von den neuern Dichtem stellte Goethe die englischen
am höchsten: von Shakespeare sagte er, dass er ihm ver-
danke, was er sei. Nächst ihm waren Swift, Steme, Gold-
smith seine Lieblinge; nach einer Ballade des letzteren
dichtete er »Erwin und Elmire« und übersetzte dessen
»Deserted village«. Auch Percy's »Relics of old english poe-
try« eignete er sich an.
Aus Macpherson's Liedem Ossian's übersetzte er meh-
rere, zum Theil unter Beachtung der Versform, welche
der von Macpherson beigelieferte gälische Text aufwies.
Von Italienem liebte er auch schon zeitig Ariost und
Tasso, ahmte dann Gozzi nach und übersetzte Lieder.
Nach der skandinavischen Edda liebte der junge Goethe
Märchen zu erzählen, er dichtete einem ^dänischen Lied
den »Erlkönig« nach und originaltreu gab er den ser-
bischen »Klaggesang der edlen Frau des Asan-Aga«
deutsch wieder. In den Ephemeriden seiner Studienzeit
merkte er sich eine lettische Sprachlehre sowie Denkmale
keltischer Poesie an.
Von aussereuropäischen Literaturen beschäftigten ihn
damals insbesondere die hebräische, aus der er das soge-
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Elpenor. 113
nannte hohe Lied Salomons übersetzte; die arabische,
aus der er nach Maracci's lateinischer Uebersetzung einige
Suren des Koran verdeutschte; die indische, indem er
die in Dapper's Reisebeschreibung gefundnen Mythen zu
Märchenerzählungen benutzte. Auch brasilianische Lied-
chen umgab er mit deutschem Gewand.
Und dieses Eindringen in das Bildungswesen und
Schriftthum fremder Völker setzte Goethe auch nach der
Mitte der achtziger Jahre fort und erN\'eiterte es zu dem
Gedanken der Herstellung einer Weltliteratur, für welche
vorzugsweise seine Zeitschrift Ȇber Kunst und Alter-
thum« warb. Allen europäischen Literaturen widmete er
seinen Eifer und an Nachdichtungen liess er es bis ans
Ende seines Lebens nicht fehlen: nach lateinischen, grie-
chischen, französischen, englischen, italienischen, spanischen,
neugriechischen, irischen, tschechischen, finischen Origi-
nalen; von seinen Forschungen über das Arabische und
Persische zeugt der »WestöstUche Diwan«.
Aber auch die allerentlegenste Literatur, die der Chi-
nesen, hatte Goethe zeitlebens vor Augen. Schon in den
Ephemeriden von 1770 hatte er sich eine lateinische Über-
setzimg der sechs altclassischen Hauptwerke didaktischen,
ethischen und philosophischen Inhalts vorgemerkt.
Wiederhat er sich 1796 mehrfach mit dem Chinesischen
beschäftigt. Besage der Briefe an Schiller vom 3., 6. und
13. Januar jenes Jahrs ergötzte er sich an einem Religions-
gespräch, welches der Jesuit Riccius mit einem chinesischen
Gelehrten gepflogen hatte und nach einem Brief Schiller's
vom 24. desselben Monats las er damals auch einen chine-
sischen Roman, jedenfalls »Hao kiu tschuen« (Hau kiou
Chooan or The Pleasing History, London 1761, deutsch
von Murr, Leipzig 1766), wegen dessen Übersetzung
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114 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Schiller 1800 und 1801 mit dem Buchhändler Unger ver-
handelte. Auch das am 10. August 1796 an Schiller ge-
sendete, Jean Paul treffende Epigramm »Der Chinese in
Rom« bezeugt, dass Goethe's Gedanken damals im fernen
Ostreich weilten. Vielleicht fällt auch in diese Zeit das
Vorhaben, Pinto's Reisen nach Ostindien und China zu
übersetzen, wovon Schiller ihn abbrachte, wie Riemer be-
richtet. (»Mittheilungen über Goethe« II, 635.)
Da Goethe in den » Tag- und Jahresheften « (Abs. 340)
unter den erfreulichen Verhältnissen des Jahres der An-
wesenheit Klaproth's gedenkt und denselben auch im Brief
an Eichstädt vom 27. November 1803 als Sinologen nennt,
so lässt sich hieraus schliessen, dass er aus des letztern
besondrer Kenntniss der chinesischen Sprache und Literatur
Nutzen zog.
Bei dem Andrängen gewaltiger Weltbegebenheiten 181 3
flüchtete sich Goethe in das schwerbewegliche Mittelreich,
bei dessen Studium er wiederum durch den abermals in
Weimar sich authaltenden Klaproth sehr gefördert wurde,
wie er am 10. November an Knebel schrieb. Nach einem
Brief an denselben Freund vom 9. October 1817 nahm
damals das chinesische Schauspiel »Lao seng öhrl« (»Des
Greises spätes Kind« von Wu Han Tschin) seine Theil-
nahme in Anspruch; er Hess in dem Aufsatz Ȇber in-
dische Dichtung« sich darüber aus.
Das Jahr 1827 ist wiederum voll von Chinesen thum.
Am 31. Januar setzt er Eckermann die Schönheiten des
Romans in Versen » Hoan tsien « auseinander, den er in der
englischen Übersetzung von Thoms, die 1824 zu Macao
unter dem Titel » Chinese Courtship « erschienen war, den
Remusat in den Nouveaux m^langes Asiatiques ausführlich
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Elpenor. 115
besprochen hatte und den nachmals, 1836, Kurz als »Das
Blumenblatt« deutsch herausgab. Nach seinem Tagebuch
unterhielten Goethe im Februar »Pe mei sing jung«, damals
französisch erschienen, wol nach den »Poems to hundred
Beauties« von 1790 bearbeitet, wodurch Goethe veranlasst
ward, sogleich den Aufsatz »Chinesisches« zu schreiben,
in dem er einige dieser »Gedichte hundert schöner Frauen«
in deutschen Reimen wiedergab. Gleichfalls nach dem
Tagebuch las er im Mai den von Remusat übersetzten
Roman »Jukiao li« und im August dessen »Contes Chinois«,
In ebendiesem Jahr entstanden auch die »Chinesisch-
deutschen Jahreszeiten«.
Im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts machte
man sich überhaupt viel mit chinesischem Wesen zu schaffen,
nicht bloss in Kunst und Gewerbe, sondern auch in der
Literatur und für die Bühne. Wie Goldsmith in »The
Citizen of the world « über europäische Verhältnisse herzog,
so der Marquis d'Argens in den »Lettres Chinoises«; im
Göttinger Musenalmanach für 1773 dichtete Jemand »Vou-ti
bei Thinna's Grabe«; in China spielt Gozzi's, durch SchiUer
uns Deutschen lieb gewordenes Märchenstück »Turandot«.
Das chinesische Schattenspiel, in Paris beliebt, brachte Prinz
Georg von Meiningen am Weimarischen Hof auf; in dem
Jahr des Beginns des »Elpenor« sind uns zwei grosse
Aufführungen von »Ombres Chinoises« bekannt: zuGoethe's
Geburtstag am 28. August 1781 » Minervens Geburt, Leben
und Thaten«, sowie am 24. November »Das Urtheil des
Midas«.
Einige grössere Werke hatten die Aufmerksamkeit auf
die von den unsrigen so abweichenden und dennoch be-
deutenden Bildungszustände hingelenkt. Schon 1735 war
von du Halde in vier Bänden »Discription de la Chine«,
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Il6 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Anfang der siebziger Jahre in fünfzehn Bänden » Memoires
concernant Thistoire, les sciences, les arts, les moeurs, les
usages des Chinois par les Missionaires de Pekin«, end-
lich von 1777 bis 1783 in zwölf Bänden von Mailla de
Grossier »Histoire generale de la Chine« erschienen.
Insbesondre hat man in Weimar das Werk von du Halde
genauer gekannt. Das 1781 und 1782 ausgegebene Journal
von Tiefurt bringt zwei Erzählungen des Freiherrn von
Seckendorff: »Der chinesische Sittenlehrer« und »Das Rad
des Schicksals« (dessen Held Tschuang Tse von Secken-
dorff Thoangtse und beim nachmaligen Druck der Erzäh-
lung Thoangse genannt ist). Beide Erzählungen sind der
zweiten Abtheilung des dritten Bandes der » Description de
la Chine« oder der von 1747 bis 1749 herausgekommnen
Übersetzung »Johann Baptista du Halde Ausführliche Be-
schreibung des chinesischen Reiches etc.« entlehnt; die
erste befindet sich dort im zweiten, die andre im dritten
Abschnitt.
In diesem selben Abschnitt steht aber auch ein Schau-
spiel, dessen ganz eigenthümliche und einzigartige Erschei-
nung ganz Europa in Aufregung versetzte. Es führt den
Titel »Tschao shi ku öhrl ta pao tscheu«, d. h. »Des Hauses
Tschao kleine Waise, die sich glänzend rächt«, ist im
dreizehnten oder vierzehnten Jahrhundert von Ki Kiun
Ziang verfasst und von Pater Primäre, jedoch mit Aus-
lassung der schwerverständlichen Gesangstücke, ins Fran-
zösische übertragen. Auf dieses Schauspiel gründete Me-
tastasio »L'eroe cinese«, Murphy »The Chinese Orphan«, ein
Student Friederichs in Göttingen » Der Chineser «, vor allen
bekannt aber Voltaire »L'orphelin de la Chine«, bei dessen
Herausgabe der Dichter sich ausführlich über dasselbe
verbreitete.
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Elpexor. 117
Nach alle dem kann man es als eine Unmöglichkeit
bezeichnen, dass Goethe das chinesische Stück nicht ge-
kannt habe, und als selbstverständlich, dass es ihn durch
seine neuen und kräftigen Motive fesselte. Vielleicht deutet
er schon auf Beschäftigung mit diesem Schauspiel, wenn
er im »Neuesten aus Plundersweilern« (1780) scherzt:
das Theaierfeld erstrecke sich von London bis China.
Mustern wir den Inhalt von »T^chao Schi-ku-öhrl« um
zu sehen, ob Goethe etwas davon benutzt hat!
In dem Vorspiel und den ersten drei Aufzügen wird
vorgeführt, wie ein hoher Reichswürdenträger, Tu An Ku,
das ihm im Weg stehende Geschlecht der Tschao durch
allerhand Ränke vertilgt; nur ein während des Blutbads
gebornes Kind, dessen Mutter nach der Niederkunft sich
selbst das Leben nimmt, w^ird gerettet, aber freilich nur
durch ein schweres Opfer des zum Hausstand gehörigen
Arztes Tsching Ing. Ihm war das Neugebome von der
dem Tode entgegengehenden Wittwe anvertraut worden,
und um das Pfand treu zu bewahren, giebt er es für sein
eignes Kind und dagegen seinen ungefähr gleichzeitig ge-
bornen Sohn für den letzten Sprössling der Tschao aus,
worauf jener vor den Augen des Vaters ermordet wurd.
Tu An Ku nimmt nun zu Belohnung des vermeintlichen
Verraths Tsching Ing und dessen angebliches Kind unter
dem Namen Tsching Pei in sein Haus. Der wahre Name
des Kindes, den ihm noch vor der Geburt dessen dem
Tode schon geweihter Vater bestimmte, ist aber Tschao
Schi-ku-öhrl, d. h. » Hauswaischen Tschao«, ein Name,
der es an das Geschick seines Hauses und an die Pflicht,
es zu rächen, erinnern soll.
Der vierte und fünfte Aufzug spielen zwanzig Jahr
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Il8 Dramatische Entwürfe Goethe's.
später. Tu An Ku hat den jungen Tschao an Kindesstatt
angenommen, und so wie er ihm seine ganze Zuneigung
schenkt, besitzt er auch die ganze Liebe seines PflegUngs,
der in ihm überdies den grossen Staatsmann und Feld-
herrn ehrt. Tsching Ing, der es als seine Aufgabe be-
trachtet, den Sprossen der Tschao anzufeuern, die Vertilgung
seines Geschlechts zu rächen, hat unter diesen Umständen
kein leichtes Spiel. Er muss vorsichtig zu Werke gehn
und geräth daher auf den Gedanken, die ganze Geschichte
des traurigen Untergangs der Tschao zu malen und die
Bilder in die Hände seines angeblichen Sohnes zu bringen.
Erst auf dessen Frage erzählt er diesem den Verlauf der
Ereignisse und als es ihm gelungen ist, denselben über
den noch ungenannten Urheber solcher Greuel in Wuth
zu setzen und zu dem Entschluss zu vermögen, für Be-
strafung des schändHchen Verbrechers einzutreten, da erst
nennt er ihm seinen Pflegevater als den Wütherich und
den Frager als die mühsam gerettete Waise. Vor der
tiefsten Empörung über die vernommenen Schandthaten
und der Überzeugung der Nothwendigkeit ihrer Bestrafung
kommen alle kindlichen Gefühle zum Schweigen: Tschao
tritt als Ankläger gegen seinen Pflegevater auf, und im
letzten Aufzug steht der Bösewicht vor dem Richter, der
ihn verurtheilt.
Während Friederichs das chinesische Schauspiel in seiner
ganzen Ausdehnung bearbeitet hat, nahmen Metastasio und
Voltaire nur den ersten aus Vorspiel und drei Aufzügen
bestehenden Theil zum Vorwurf: den treuen Diener seines
Herrn, welcher der Dienstpflicht sein eignes Kind opfert.
Dagegen finden sich hauptsächlich im zweiten Theil alle
die dreizehn Motive w^ieder, die oben aus »Elpenor« zu-
sammengestellt sind. Der Hauptunterschied ist, dass El-
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Elpenor. 119
penor Rache für seine Pflegemutter gegen seinen wirklichen
oder doch für den wirklichen gehaltenen Vater üben soll,
während Tschao umgekehrt Strafe der Ermordung seines
wirkhchen Vaters am Pflegevater sucht. In beiden Fällen
erhebt sich jedoch der Jüngling gegen Jemand, dem er
ebenfalls kindliche Pflichten schuldet und die Umkehrung
dieser Verhältnisse ist nicht so einschneidend, um bei den
vielen Uebereinstimmungen einerseits und der Sicherheit
über Goethe's Bekanntschaft mit dem Schauspiel »Tschao
Schi-ku-öhrl « andrerseits noch einen Zweifel gegen den
Nachweis aufkommen zu lassen, dass »Elpenor« auf das
chinesische Schauspiel gegründet ist. Und w^oUte man
auch den oben entwickelten Verlauf des Goethe*schen
Stückes nicht bis zum Schluss anerkennen, so w^ürde doch
nur die Übereinstimmung mit dem dreizehnten Motiv
wegfallen und sie bliebe noch immer bei zwölf.
Um ein übriges zu thun, lassen sich aber auch noch
äusserliche Bew^eise der Abhängigkeit des »Elpenor« vom
»Tschao Schi-ku-öhrl« beibringen und zwar zunächst durch
Hinweis auf einzelne Züge, die aus letzterem in ersteren
herübergekommen sind. So hat Elpenor mit l'schao die
Liebe zu Pferden und Waffenübungen gemein; bei Elpenor
bricht wie bei Tschao rachebegehrender Zorn schon her-
vor, als ihm die eigne Geschichte nur erst als eine fremde
erzählt wird; wne Tsching im Selbstgespräch von seinem
Geheimniss sagt: »ich bin 65 Jahr alt; sollt' ich sterben,
wer wird's entdecken?« so Polymetis: »Entdeck' ich's
nicht, so siegt der schändlichste Verrath ! « Beide Genannte
schwanken beunruhigt, ehe sie einen Entschluss fassen und
beide wollen die Entscheidung dem Zufall anheimstellen;
denn Tsching vermag nur zu hoffen, dass Tschao nach
der Bedeutung der, die Geschichte seines Geschlechts dar-
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120 Dramatische Entwürfe Goethe's.
stellenden Bilder fragen werde, und nur an diese Frage
will er die Enthüllung der Geburt desselben knüpfen,
andrerseits sagt Polymetis: »O gebt ein Zeichen mir, ihr
Götter! Löst meinen Mund, verschliesst ihn — wie ihr
wollt!« Sogar der Name des Königs Lykus scheint auf
einer Stelle des chinesischen Schauspiels zu beruhen, indem
die entsprechende Person, Tu An Ku, sich selbst gleich
beim ersten Auftreten einem Tiger vergleicht, so dass
an Stelle dieses Raubthieres nur ein anderes, der Wolf
(Xvxog), gesetzt ist.
Aber auch andre dem »Tschao Schi-ku-öhrl« nicht ent-
nommene Züge sind eine Bestätigung, dass dieses Schau-
spiel Goethe's Quelle war ; denn für Elpenor's gleichgültiges
Verhalten gegen den nur vermeintlichen Vater sowie sein
unwillkührUches inniges Anschliessen an die Frau, von der
er noch nicht weiss, dass sie seine Mutter ist, fand Goethe
gleichfalls den Vorgang in einer chinesischen Erzählung,
welche sich in du Haiders Werk und zwar nicht nur in
demselben III. Band, sondern auch in derselben 2. Abthei-
lung und sogar in demselben 3. Abschnitt mit dem Trauer-
spiel » Tschao Schi-ku-öhrl « befindet (in § 340), worin ein
Knabe ganz ähnlich gegen seinen vermeintlichen Vater
gleichgültig, sowie von dem noch unerkannten wirklichen
Vater unwillkührlich angezogen sich zeigt, wie Elpenor.
Die Veränderungen, welche Goethe an dem Urbild
seines »Elpenor« vornahm, waren not h wendig* Zuerst
haben die Schritte, welche Tschao unternimmt, um Tu
An Ku's Bestrafung herbeizuführen, für unsre Anschauung
etwas Widerliches: wir vermissen die Nöthigung zu den
Angriffen gegen den liebenden und geliebten Pflegevater
und würden es zwar natürlich finden, wenn er sich von
ihm trennte, aber sittlicher, wenn er nicht dem staatlichen,
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Elpenor. 121
sondern einem höheren Richter dessen Strafe anheimstellte.
Gelangte Goethe durch diese Einsicht zu der Ueberzeugung,
dass' die Anklage als eine uns mehr einleuchtende Pflicht
auferlegt sein müsse, so ergab sich daraus als naturgemäss,
dass die Nöthigung zur Rache vom Verletzten, also von
einer Person ausgehen müsse, die, wie Antiope, tiefes,
unheilbares Weh durch die zu rächenden Unthaten er-
litten hatte.
Eine bemerkenswerthe Abweichung vom chinesischen
Bühnenstück ist femer, dass eine Frau zur Trägerin der
Rache gemacht ist. Es ist dies ein sehr feiner Zug, da
ein wehrloses und dadurch zur Unterdrückung eines ge-
rechten, tiefinnersten Hasses genöthigtes Weib dieses bittre
Gefühl eher eine lange Reihe von Jahren hindurch ver-
schlossen nähren darf, als ein Mann, der eine für geboten
erachtete Genugthuung sich alsbald verschaffen muss, wenn
er nicht verächtlich erscheinen soll — gar nicht zu ge-
denken, dass Tsching Ing es noch auf den Zufall ankommen
lässt, dass der Strafwürdige wie sein Zögling nicht früher
starben, ehe dieser zur Rache schreiten konnte. Einen
zweiten Hamlet zu schreiben, mochte Goethe nicht ge-
lüsten. Vielleicht schwebte ihm bei Antiope die durch
Behandlung der Iphigeniensage ihm nahegetretne leiden-
schaftliche Elektra vor, die er nachmals in der »Iphigenie
in Delphi« darstellen wollte. Möglicherweise kam er auf
den Gedanken, dieses letztre Schauspiel zu schreiben, als
er sich in Italien daran machen wollte, den »Elpenor«
umzuarbeiten ; es wäre ein milderer Nachklang dieses altern
Plans mit dem gleichen feindseligen Zusammentreffen naher '
Verwandten geworden.
Eine bedeutende Änderung Goethe's ist weiter die
Verlegung der Geschichte des Schauspiels von dem ur-
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122 Dramatische Entwürfe Goethe's.
sprünglichen Boden nach einem Lande mit hellenischer
Bildung. Was konnte ihm freilich China sein? Durfte
er den Schauplatz dort lassen ohne zugleich der Denk-,
Handlungs- und Lebensweise der Chinesen sich zu fügen?
Das chinesische Wesen steht aber dem unsrigen in vielen
Beziehungen so schroff gegenüber, dass es bald verwirrend,
bald abstossend, bald lächerlich auf uns wirkt; vom Stand-
punkt der Bühnenaufführung betrachtet, musste schon die
chinesische Tracht unmöglich machen, durch die darein
gekleideten Personen eine erschütternde Wirkung hervor-
zubringen. Durch Verlegung des Vorgangs in ein Reich
der für uns als classisch geltenden ahen Weh, brachte
Goethe ihn an einen Ort, an dem rein menschlichen Mo-
tiven die freieste Herrschaft gestattet war.
EndHch war die Erhebung der vornehmsten Person
des Schauspiels, der in Tschao Schi-ku-öhrl nur ein
Würdenträger ist, zu einem Landesherrn nothwendig, um
den gegenüberstehenden Rächer aus sittlich freien Bew^eg-
gründen handeln zu lassen. So lange über den Verbrecher
ein staatlich geordnetes Gericht stehend zu denken war,
konnte jeder Mitwisser seiner Unthaten als Kläger ein-
schreiten und die Mitwirkung des wirklichen oder an-
genommnen Sohnes war überflüssig.
Die übrigen Abweichungen des » Elpenor « von » Tschao
Schi-ku-öhrl« waren in der Hauptsache durch die hier her-
vorgehobenen bedingt. Weit entfernt aber, die Beziehungen
dieser beiden Schauspiele zu einander zweifelhaft zu machen,
dienen sie im Gegentheil dazu, dieselben zu bekräftigen.
Erinnern wir uns der oben angeführten Stellen aus Goethe's
Briefen an Knebel und an Schiller, dass der erste Plan
fehlerhaft gewesen sei und er das Stück von vom an habe
neu umarbeiten müssen, sowie dass dasselbe ein Beispiel
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Elpeno:^.
123
unglaublichen Vergreifens am Stoffe sei. Es ist hieraus zu
schÜessen, dass »Elpenor« eben deshalb zuerst fehlerhaft
war, weil Goethe sich zu treu ans Urbild gehalten hatte.
Indessen kam er trotz allen Änderns über den fremden,
barbarischen Ursprung nicht hinweg, er fand, er habe sich
am Stoffe vergriffen und unterliess daher die Vollendung.
Wir andern haben dies aber doch zu beklagen.
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5- Nausikaa.
^— i'-|n der »Italienischen Reise« erzählt Goethe, dass
er im April 1787 in Palermo im Entzücken
über den Anblick des Meeres sich einen
Homer gekauft und den Gesang über Ulys-
J sens Aufenthalt auf dem Eiland der Phäaken
gelesen habe; acht Tage später, am 16. April, versuchte
er der Nausikaa eine dramatische Seite abzugewinnen am
8. Mai bedachte er den Plan weiter, als eine dramatische
Concentration der Odyssee und am 15. Mai schrieb er an
Seidel: »Was ich machen kann wird man vielleicht aus
einem Stück sehn , das ich auf dieser Reise erfunden und
angefangen habe.« Goethe war damit einem Gedanken
näher getreten , den er schon am 22. October 1786,
an welchem Tage er [noch auf dem Übergang über die
Apeninen begriffen war, vielleicht in Erinnerung des Aufent-
halts in Venedig, in sein Tagebuch eingezeichnet hatte,
nämHch: einen »Ulysses auf Phäa« — soll heissen »auf
der Phäakeninsel« — zu dichten. Die durch Homer ge-
gebene Anregung und die Erfahrungen, die Goethe damals
selbst, als ein gleich Ulysses Weitgewanderter in Italien zu
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Nausikaa. 125
machen Gelegenheit gehabt hatte, förderten das Vorhaben
wenigstens eine Zeit lang: Goethe setzte ein Schema auf,
welches die Personen der einzelnen Auftritte und deren
kurz« Inhaltsangabe enthielt, auch ging er an Ausführung
des ersten Auftritts und einiger weitern Stellen. Doch
blieb die Sache alsdann liegen und später, 18 14, bei Be-
arbeitung der »Italienischen Reise«, schrieb er nur aus der
Erinnerung darüber, aus welcher Erzählung zu entnehmen
ist, dass Goethe nicht an Vorführung der Abenteuer des
Ulysses dachte, auch nicht an einen geschichtÜchen Conflict,
sondern wie in den meisten seiner Dramen an einen rein-
menschlichen Conflict. Er berichtet aber wie folgt:
»Der Hauptsinn war der: in der Nausikaa eine tretf-
liche, von vielen umw^orbene Jungfrau darzustellen, die
sich keiner Neigung bewusst, alle Freier bisher ablehnend
behandelt, durch einen seltsamen Fremdling aber gerührt
aus ihrem Zustand heraustritt und durch eine voreilige
Äusserung ihrer Neigung sich compromittirt, was die Si-
tuation vollkommen tragisch macht. Diese einfache Fabel
sollte durch den Reichthum der subordinirten Motive und
besonders durch das Meer- und Inselhafte der eigentüchen
Ausführung und des besondern Tons erfreulich werden.«
»Der erste Act begann mit dem Ballspiel. Die uner-
wartete Bekanntschaft wird gemacht und die Bedenklich-
keit, den Fremden nicht selbst in die Stadt zu führen,
wird schon ein Vorbote der Neigung.«
»Der zweite Act exponiite das Haus des Alcinous
die Charaktere der Freier und endigte mit Eintritt des
Ulysses.«
»Der dritte war ganz der Bedeutsamkeit des Aben-
teurers gewidmet, und ich hoffte in der dialogirten Er-
zählung seiner Abenteuer, die von den verschiedenen Zu-
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126 Dramatische Entwürfe Goethe's.
hörern sehr verschieden aufgenommen worden , etwas
Künstliches und Erfreuliches zu leisten. Während der Er-
zählung erhöhen sich die Leidenschaften, und der lebhafte
Antheil Nausikaa's an dem Fremdling wird durch Wirkung
und Gegenwirkung endUch her\^orgeschlagen.«
»Im vierten Acte bethätigt Ulysses ausser der Scene
seine Tapferkeit, indessen die Frauen zurückbleiben und
der Neigung, der Hoffnung und allen zarten Gefühlen
Raum lassen. Bei den grossen Vortheilen, welche der
Fremdling davon trägt, hält sich Nausikaa noch weniger
zusammen und compromittirt sich unwiderruflich mit ihren
Landsleuten. Ulyss, der halb schuldig, halb unschuldig
dieses alles veranlasst, muss sich zuletzt als einen schei-
denden erklären, und so bleibt dem guten Mädchen nichts
übrig, als im fünften Acte den Tod zu suchen.«
Als Boisser^e sich von dieser Erzählung in der »Italieni-
schen Reise« innigst gerührt bekannte, antwortete ihm
Goethe am 4. December 1817: »es betrübt mich aufs neue,
dass ich die Arbeit damals nicht verfolgt. Ich brauche Ihnen
nicht zu sagen, welche rührende, herzergreifende Motive in
dem Stoff liegen, die, wenn ich sie, wie ich in »Iphigenie«,
besonders aber in »Tasso« that, bis in die feinsten Ge-
fässe verfolgt hätte, gewiss wirksam geblieben wären.«
Während Goethe uns beim »Mahommed« zu bewundem
gab, wie treu ihm sein Gedächtniss geblieben w^ar, sodass
seine Erzählung des Plans mit den erst später wieder zu
Tag gekommenen Bruchstücken der Ausführung genau in
Einklang stand, lässt sich das Gleiche bei »Nausikaa« nicht
rühmen; sei es, dass hier die Erfahrung des festeren Haf-
tens jugendlicher Eindrücke sich bewährt, sei es, dass
Goethe nach Niederschreibung des Schema's und einzelner
ausgeführter Stellen der »Nausikaa« sich noch länger mit
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Nausikaa. 127
dem Plane des Trauerspiels getragen hat und nun der in
der »Italienischen Reise« mitgetheilte Plan dessen letzte
Gestaltung wiedergiebt. So ist namentlich die dialogirte
Erzählung der Abenteuer des Ulysses von verschiedenen
Zuhörern, worauf im Plane besonders Gewicht gelegt ist,
im Schema gar nicht aufgeführt, am allerwenigsten passte
sie in dessen dritten Aufzug, in den sie der Plan verlegt;
dagegen ist umgekehrt der Inhalt dieses dritten Aufzugs
im Plane nicht erwähnt. Die Freier, die nach diesem im
zweiten und wol auch im dritten Aufzug eine Rolle spielen
sollten, fehlen im Schema ganz. Der erste und der vierte
Aufzug des Plans und des Schema's stimmen jedoch gut
zusammen und dieser Umstand spricht ebenfalls dafür,
dass der Plan den Umriss einer weiter fortgeschrittenen
Dichtung wiedergiebt, als das Schema nebst Bruchstücken.
Dieser frühere Entwurf schloss mehr sich an Homer an,
das tragische Motiv der werbenden und abgewiesenen
Freier — die Homer nur beiläufig erwähnt (Od. VI. 34 f.
283 ff.) — erfand Goethe sonach erst später. Hiernach
empfiehlt es sich jedoch nicht, wie bei »Mahommed« ge-
schehen, in eine Zusammenfassung der zusammengehörigen
Stücke des Dramenentwurfs den Plan mit einzubegreifen,
vielmehr werden nur in jedem Auftritt das handelnde Per-
sonal mit der Inhaltsangabe und ferner hiermit die vor-
handenen Stellen der Ausführung zu vereinigen sein.
Bei Einreihung der letzteren können wir uns freilich
einiger Willkühr nicht entschlagen; es ist geboten alle
Stellen unterzubringen, aber, wohin sie gehören, ist zum
Theil nur zu vermuthen. Bei einigen Stellen fehlt noch
dazu die Angabe des Sprechenden und in diesen Fällen
wird in der nachstehenden Zusammenfassung der Name
desselben in eckige Klammern eingeschlossen sein.
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128 Dramatische Ent^^ürfe Goethe's.
Das Schema enthält aber auch Widersprüche theils in
sich, theils mit den ausgeführten Stellen.
Merkwürdigerweise kommt im ganzen Schema, sowie
in dem ausgeführten ersten Auftritt der Name Nausikaa
gar nicht vor und ist statt dessen, wie man leicht erkennt,
stets Arete gesetzt, wie bei Homer deren Mutter heisst.
Nur in den Bruchstücken zu Ausführung des dritten Auf-
tritts steht richtig: Nausikaa. Es ist dies um so auffälliger,
als gleich im ersten aus Sicilien nach Hause geschriebenen
Brief, in welchem die Beschäftigung mit diesem Drama
sich erwähnt findet, dasselbe »Nausikaa« benannt ist. Da-
fern dieser Name nicht etwa erst bei der Redaktion der
»Italienischen Reise« hineingekommen ist, müsste man
annehmen, dass Schema und erster Auftritt zwischen dem
7. April — an welchem Tage Goethe den Homer kaufte
und dessen Gesänge über Ulyssens Aufenthalt bei den
Phäaken las — und dem 16. April — an welchem Tage er
das weitere Durchdenken des Plans der »Nausikaa« anführt
— geschrieben worden sind und Goethe erst nach der Nieder-
schrift die Namensverwechslung gewahr wurde. Noch über-
raschender ist, dass im Schema Arete einmal richtig als
Mutter der Nausikaa steht und zwar in der Inhaltsangabe
des vierten Auftritts des fünften Aufzugs. Ob die unter dem
Personal dieses Aufzugs im ersten Auftritt genannte Arete
Mutter oder Tochter sein soll, kann in Zweifel gestellt
werden, muthmasslich ist aber Nausikaa gemeint, die
ausserdem im fünften Aufzug gar nicht auftreten w^ürde,
was undenkbar ist. Im vierten Aufzug sollte, nach dem
Personal zu schliessen, Arete, die Mutter, nur von Al-
kinous als die Tochter dem Ulysses verweigernd erwähnt
werden.
Es kommen aber im Schema und in den Bruchstücken
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Nausikaa. 129
der Ausführung noch andere Namensvertauschungen und
Unklarheiten bezügHch der Namen vor.
Im Schema nimmt ein Frauenzimmer Namens Xanthe
keine unbedeutende Stelle ein. Wer ist damit gemeint?
Bei Homer's Phäaken kommt der Name gar nicht vor.
Im Schema ist sie mit Nausikaa zur grossen Wäsche an
den Fluss gezogen; dann sucht sie mit ihr Kleider und
Geschenke für Ulysses aus ; bei der Katastrophe des letzten
Aufzugs tritt sie wiederholt ohne Nausikaa auf. Ist aus
diesen Angaben nicht zu entnehmen, in welchem Verhält-
niss Xanthe zu Nausikaa steht, so ist dagegen bei den
Bruchstücken des dritten Auftritts, dessen Personal im
Schema »Arete. Xanthe« angegeben ist, durch »Nausikaa.
Eurymedusa« berichtigt. Eurymedusa nennt aber Homer
(Od. Vn., 8 ff.) die Kammerfrau der Nausikaa, vordem
ihre Pflegerin. Es waltet kein Bedenken ob, Xanthe allent-
halben durch Eurymedusa zu ersetzen, für die Goethe sich
zuletzt entschieden hat.
Femer giebt's da eine Tyche, die im ersten Auftritt
die flinkste aller ballspielenden Mädchen ist, während in
einem der Bruchstücke auf die Frage:
Du hältst ihn doch für jung? sprich, Tyche, sprich!
die Antwort erfolgt:
Er ist wol jung genug; denn ich bin alt etc.
Anzunehmen, dass auf die an die jugendliche Tyche
gerichtete Frage eine dritte Person antworte, wäre zu
w^underlich, als dass man einen Augenblick bei dem Ge-
danken verweilen dürfte, vielmehr ist auch hier unstreitig
der Name Tyche von Goethe wiederholt worden, ohne
dass er sich erinnerte, wen er früher Tyche genannt hatte,
unter der man sich im ersten Auftritte etwa die von
9
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130 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Homer ohne Namen angeführte gleichalterige Freundin
Nausikaa's, die Tochter des Dymas denken mag, welche
jener im Traum erschien und sich erbot, sie zur Wäsche
an den Fluss zu begleiten. (Od. VI., 22 — ^40.) Dagegen
ist Eurymedusa ein älteres Frauenzimmer, was sich nicht
allein daraus ergiebt, dass sie Nausikaa aufzog, sondern
auch daraus, dass Ulysses im zweiten Auftritt Nausikaa's
Begleiterin ein »bejahrtes Weib« und sie selbst im dritten
Auftritt die ballspielenden Jungfrauen »Kinder« nennt.
Endlich kommt Tyche beim Personal des dritten Aufzugs
gar nicht vor. Will man daher Ungleichheiten ausmerzen
und darf man nicht wagen, den ersten obiger Verse zu
ändern, etwa in
Du hältst ihn doch für jung, Eurymedusa?
so bleibt nichts übrig, als ihn zu beschneiden in
Du hältst ihn doch für jung? Sprich!
Endlich ist im Schema selbst eine Ungleichheit da-
durch vorhanden, dass darin als Personen des zweiten
Auftritts im dritten Aufzug Arete, Xanthe und Nereus
aufgeführt sind, während in der Inhaltsangabe die Stelle
vorkommt »Scherz des Bruders«, welcher letztere, da kein
anderer Mann auf der Bühne sich befindet, eben nur Ne-
reus sein kann. Ebenso sind als Personen des vierten Auf-
tritts im zweiten Aufzug genannt: Alkinous, Sohn, Arete
und Ulysses ; im folgenden Auftritt aber : Ulysses und Ne-
reus. Es liegt auf der Hand, dass nicht am Ende des
vierten Auftritts drei Personen — Alkinous, Sohn und
Arete — abziehen können, um einer neu eintretenden —
Nereus — Platz zu machen, vielmehr entfernen sich offen-
bar nur Alkinous und Arete, indess Ulyss und der Sohn
Nereus zurückbleiben. Homer nennt allerdings keinen der
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Nausikaa. 131
Söhne des Alkinous Nereus, vielmehr die beiden verhei-
ratheten gar nicht, die drei unverheiratheten aber Laoda-
mas, Halios und Klytoneos (Od. VII, iio. VIII, 117 ff.
123. 130. 132 — 157. 207 ff.). — In Nereus einen Freier
zu finden, daran gebricht es im Rahmen des Schema's
schlechterdings an irgendwelchem Anhalt und selbst keine
der in der Erzählung des Plans den Freiem zugedachten
Situationen lässt sich auf Nereus anwenden.
Wenn es nun aber bei nachstehendem Abdruck ange-
messen erschien, die Namen, so wie sie Goethe schrieb,
wiederzugeben, so konnten die vorstehender Darlegung
entsprechend berichtigten Namen ebenfalls nur in eckigen
Klammern beigefügt werden. Dies geschah ferner auch mit
Personennamen, die bei Goethe ganz fehlen.
In derselben Weise endUch sind Ergänzungen im Per-
sonal des fünften Aufzugs einzuschalten gewesen. Wenn
nämlich dort im dritten Auftritt nur Xanthe-Eurymedusa und
im fünften Auftritt nur ein Bote aufgeführt sind, so muss
beidemal »Vorige« ausgefallen sein; denn es ist schlechthin
undenkbar, dass — wie ausserdem der Fall wäre — Alkinous
und Ulyss dreimal zusammen auf die Bühne kämen um
zweimal wieder zusammen abzutreten und um einer ein-
zelnen an ihrer Stelle eintretenden Person Platz zu machen.
Und was soll denn ein »Bote«, wenn er Niemand findet,
seine Botschaft anzuhören? Ein Chor, dem er sie vortragen
könnte, wie bei der antiken Tragödie, ist ja nicht vorhanden.
Die Stellen der Odyssee, aufweiche sich einzelne Auftritte
oder ausgeführte Verse beziehen, sind unterm Text beigefügt.
Das Personenverzeichniss, das hier voransteht, beruht
auf den eben entwickelten Anschauungen; in Goethe's
nachgelassenen Werken fehlt es, ebenso auch die Angabe
des Schauplatzes.
9*
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132 Dramatische Entwürfe Goethe\s.
N A U S I K A A.
Ein Trauerspiel.
PERSONEN.
Alkinous, König der Phäaken.
Nausikaa, seine Tochter.
Nereus, sein Sohn.
Ulysses.
Eurymedusa, Kammerfrau der Nausikaa.
Tyche, erste 1
Zweite Jungfrau.
Dritte I
Echeneas und die andern
Ältesten der Phäaken.
Bote.
Der Schauplatz ist im ersten Aufzug avi Ufer des
Flusses, nah am Meeresstrand ; im zweiten im Garten des
Alkinous ; in den anderen Aufzügen in der Burg des Alkinous,
Erster Aufzug.
Erster Auftritt.
Mädchen. (Ballspiel). ♦)
Aretens [Nausikaa's ] Jungfrauen eine schnell nach
der andern.
Erste [Tyche] (suchend).
Nach dieser Seite flog der Ball! — Er liegt
Hier an der Erde. Schnell fass' ich ihn auf
Und stecke mich in das Gebüsche! Still!
(Sie verbirgt sich,)
•) Odyssee VI, iijff.
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Nausikaa. 133
Zweite.
Du hast ihn fallen sehn?
Dritte.
Gewiss! Er fiel
Gleich hinter dies Gesträuch im Bogen nieder.
Zweite.
Ich seh' ihn nicht!
Dritte.
Noch ich!
Zweite.
Mir schien, es lief
Uns Tyche schon, die schnelle, weit voraus.
Erste [Tyche].
(Aus dem Gebüsch, zugleich rufend und werfend,)
Er kommt! Er trifft!
Zweite.
Ai!
Dritte.
Ai!
Erste [Tyche] (hervortretend).
Erschreckt Ihr so
Vor einer Freundin.^ Nehmt vor Amor's Pfeilen
Euch in Acht: sie treffen unversehener,
Als dieser Ball.
Zweite (den Ball aufraffend).
Er soll, er soll zur Strafe
Dir um die Schultern fliegen.
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134 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Erste [Tyche] (laufend).
Werft! Ich bin schon weit.
Dritte.
Nach ihr! Nach ihr!
Zweite (wirft).
Er reicht sie kaum; er springt
Ihr von der Erde nur vergebens nach.
Komm mit! Geschwind! Dass wir des Spiels so lang*
Als möglich ist, geniessen, frei für uns
Nach allem Willen scherzen; denn ich fürchte
Bald eilt die Fürstin nach der Stadt zurück.
Sie ist seit diesem heitern Frühlingsabend
Nachdenklicher als sonst, und freut sich nicht
Mit uns zu lachen und zu spielen, wie
Sie sonst gewohnt war. Komm! Sie rufen schon.*)
Zweiler Auftritt.
Ulysses (aus der Hohle tretend; allein),**^
Was rufen mich für Stimmen aus dem Schlaf?
Wie ein Geschrei, ein laut Geschrei der Frauen
Erklang mir durch die Dämmrung des Erwachens.
Hier seh' ich niemand. Scherzen durch's Gebüsch
Die Nymphen? Oder ahmt der frische Wind,
Durch's hohe Rohr des Flusses sich bewegend.
Zu meiner Qual die Menschenstimmen nach?
Wo bin ich hingekommen? Welchem Lande
•) Od. VI, 1X0.
•) Od. VI, 1x9-147.
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Nausikaa. 135
Trug mich der Zorn des Wellengottes zu?
Ist*s leer von Menschen, wehe mir Verlassnen!
Wo will ich Speise finden, Kleid und Waffe?
Ist es bewohnt von rohen, ungezähmten.
Dann wehe doppelt mir! Dann übt auf's neue
Gefahr und Sorge dringend Geist und Hände.
O Noth! Bedürfniss, o! Ihr strengen Schwestern,
Ihr haltet, eng begleitend, mich gefangen.
So kehr ich von der zehenjähr'gen Mühe
Des wohlvollbrachten Krieges wieder heim.
Der Städtebändiger, der Sinnbezwinger,
Der Bettgenoss unsterblich schöner Frauen.
In*s Meer versanken die erworbnen Schätze,
Und ach! die besten Schätze, die Gefährten,
Erprobte Männer, in Gefahr und Mühe
An meiner Seite lebenslang gebildet.
Verschlungen hat der tausendfache Rachen
Des Meeres die Geliebten, und allein.
Nackt und bedürftig jeder kleinen Hülfe
Erheb* ich mich auf unbekanntem Boden
Vom ungemessnen Schlaf Ich irrte nicht:
Ich höre das Geschwätz vergnügter Mädchen.
O dass sie freundHch mir und zarten Herzens
Dem Vielgeplagten doch begegnen möchten,
Wie sie mich einst, den Glücklichen, empfingen!
Ich sehe recht: die schönste Heldentochter
Kommt hier begleitet von bejahrtem Weibe,
Den Sand des Ufers meidend, nach dem Haine.
Verberg* ich mich so lange bis die Zeit,
Die schickUche, dem klugen Sinn erscheint!
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136 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Dritter Auftritt.
Nausikaa. Eurymedusa.
(Xanthe [Eurymedusa] : Frühling neu. Arete [Nausikaa] :
Bekenntniss. Bräutigamszeit. Vater. Mutter.)
Nausikaa.
Lass sie nur immer scherzen; denn sie haben
Schnell ihr Geschäft verrichtet. Unter Schwätzen
Und Lachen spülte frisch und leicht die Welle
Die schönen Kleider rein. Die hohe Sonne,
Die allen hilft, vollendete gar leicht
Das Tagewerk. Gefaltet sind die Schleier,
Die langen Kleider, deren Weib und Mann
Sich immer, reinlich wechselnd, gern erfreut.
Die Körbe sind geschlossen; leicht und sanft
Bringt der bepackte Wagen uns zur Stadt.
Eurymedusa.
Ich gönne gern den Kindern ihre Lust,
Und was Du willst geschieht. Ich sah Dich still
Beiseit' am Flusse gehen, keinen Theil
Am Spiele nehmen, nur gefällig ernst
Zu dulden mehr als Dich zu freuen. Darf
Ich — — —
Nausikaa.
Gesteh' ich Dir, geÜebte Herzensfreundin,
Warum ich heut so früh in Deine Kammer
Getreten bin, warum ich diesen Tag
So schön gefunden, unser weibliches
Geschäft so sehr beschleunigt, Ross und Wagen
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Nausikaa. 137
Von meinem Vater dringend mir erbeten,*)
Warum ich jetzt auch still und sinnend wandle,
So wirst Du lächeln, dass mich hat ein Traum,
Ein Traum verführt, der einem Wunsche gleicht.
Eurymedusa.
Erzähle mir! Denn alle sind nicht leer
Und ohne Sinn, die flüchtigen Gefährten
Der Nacht. Bedeutend find' ich stets
Die sanften Träume, die der Morgen uns
Um's Haupt bewegt.
Nausikaa.
So war der meine. Spät
Noch wacht' ich; denn mich hielt das Sausen
Des Ungeheuern Sturms nach Mitternacht
Noch munter. — — — — — —
— — — — — Schilt die Thräne nicht.
Die mir vom Auge fliesst.
Dann schweigen sie und sehn einander an.
— Und wie' der arme letzte Brand
Von grosser Herdesglut mit Asche
Des Abends überdeckt wird, dass er Morgens
Dem Hause Feuer gebe, lag
In Blättern eingescharrt — — ***)
[Eurymedusa.]
Ein gottgesendet Übel sieht der Mensch,
Der klügste nicht voraus und wendet's nicht
Vom Hause.
•) Od. VI, $7-65. - ••) OJ. VI, 2J-40. - •") Od. V. 481-491.
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138 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Vierter Auftrat.
Die Vorigen. Ulysses.
(Gärten des Vaters* Erstes Bedürfniss: Kleid, Hunger,
Durst.**)
Nausikaa.
— — Du bist nicht von den trüglichen.
Wie viele Fremde kommen, die sich rühmen
Und glatte Worte sprechen, wo der Hörer
Nichts Falsches ahnet und zuletzt betrogen
Sie unvermuthet wieder scheiden sieht.
Du bist ein Mann, ein zuverlässiger Mann,
Sinn und Zusammenhang hat Deine Rede; schön
Wie eines Dichters Lied tönt sie dem Ohr
Und füllt das Herz, und reisst es mit sich fort.***)
In meines Vaters Garten soll die Erde
Dich umgetriebnen, vielgeplagten Mann
Zum freundlichsten empfangen. — —
Das schönste Feld hat er sein ganzes Leben
Bepflanzt, gepflügt und erntet nun im Alter
Des Fleisses Lohn, ein tägliches Vergnügen.
Dort dringen neben Früchten wieder Blüthen,
Und Frucht auf Früchte wechseln durch das Jahr:
Die Pomeranze, die Citrone steht
Im dunklen Laube und die Feige folgt
Der Feige. Reich beschützt ist rings umher
Mit Aloe und Stachelfeigen — — ,
Dass die verwegne Ziege nicht genäschig
•) Od. VI, 292 ff. vii, 112-1J1. — ••) oa. VI, 178 f. 19a f. 208 f. 214-228.
246— 2S0. — •••) Od. VI, 187. 240—24}.
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Nausikaa. 139
Dort wirst Du in dem schönen Lande wandeln,
Im Winter Wohlgeruch von Blumen Dich erfreun.
Es rieselt neben Dir der Bach, geleitet
Von Stamm zu Stamm; der Gärtner tränket sie
Nach seinem Willen. — — —
Ein weisser Glanz ruht über Land und Meer,
Und duftend schwebt der Aether ohne Wolken.
Und nur die höchsten Nymphen des Gebirgs
Erfreuen sich des leicht gefallnen Schnees
Auf kurze Zeit.
Fünfler AtifträL
Ulysses.
(Vorsicht seines Betragens. Unverheirathet.*)
Ulysses.
Zuerst verberg' ich meinen Namen; denn
Vielleicht ist noch mein Name nicht — —
— — und dann kUngt der Name
Ulysses wie der Name jedes Knechts.
Zweiter Aufzug.
Erster Auftritt.
Alkinous.
(Früchte vom Sturm heruntergeworfen, Blumen zer-
stört. Latten zu befestigen. Sohn. Tochter.)
•) Od. VII, 208-218.
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140 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Ztueiler Auftritt.
Alkinous. Nereus.
(Sohn: Geschichte. Beschreibung des Sturms. Abfahrt.
Delphinen etc.)
Dritter Auftritt.
Die Vorigen. Arete [Nausikaa].
(Tochter: Wäsche selbst für den Vater bereitet. Sie
erblickt Ulyssen.)
Vierter Auftritt.
Die Vorigen. Ulysses.
(Ulysses als Gefährte des Ulysses. Aufnahme. Bitte
der Heimfahrt.* Bereitung des Nöthigen.)
Fünfter Auftritt.
Ulysses. Nereus.
(Nereus : Frage nach seinem Schicksale. ** Bitte, seinen
Gefährten zu helfen. Gegensatz des Mannes, der mit Ge-
walt, der mit Schätzen kommt.)
Dritter Aufzug.
Erster Auftritt.
Arete [Nausikaa]. Xante [Eu rymedusa].
Aussuchen der Kleider und Geschenke. Lob des Ulysses.
Eröffnung der Leidenschaft.
[Nausikaa.]
Du hältst ihn doch für jung? sprich!
♦) Od. VII, ijif. - ••) OJ. VII, a57flr. VIII, $48-586. IX, etc.
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Nausikaa. 141
[ Eurymedusa.]
Er ist wol jung genug; denn ich bin alt,
Und immer ist der Mann ein junger Mann,
Der einem jungen Weibe wolgefälit.
Zweiter Auftritt.
Die Vorigen. Nereus.
(Nereus' Lob des Ulysses. Männliches Betragen.)
[Nereus.]
Der Mann, der einen ihm vertrauten Schatz
Vergraben — — — hatte der
Die Lust, die jener hat, der ihn dem Meer
Mit Klugheit anvertraut und — —
Zehnfach beglückt nach seinem Hause kehrt?
(Wille des Vaters, dass ihm Kleider und Geschenke
gegeben werden.* Scherz des Bruders.)
[Nereus.]
Du giebst ihm gern den besten, merk' ich wol!
(Abscliied des Ulysses.)
Dritter Auftritt,
Arete [Nausikaa].
(Und er soll scheiden.**)
Vierter Auftritt.
Ulysses. Arete [Nausikaa].
(Frage: unverheirathet ? Die schöne Gefangene. Er
lobt ihr Land und schilt seines. Sie giebt ihm zu ver-
stehen, dass er bleiben kann.***)
•) Od. VIII, 389-395. - ••) Od. VIII, 461 f. - •••) Od. VI, 240-14$.
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142 Dramatische Entwürfe Goethe*s.
Fünfter Auftritt.
Arete [Nausikaa].
Vierter Aufzug.
Erster Auftritt.
Alkinous. Die Ältesten.
Zweiter Auftritt.
Die Vorigen. Sohn [Nereus].
Dritter Auftritt. ^
Die Vorigen. Arete [Nausikaa].
Vierter Auftritt.
Die Vorigen. Ulysses.
Fünfter Aufzug.
Erster Auftritt.
Arete [Nausikaa].
Zweiter Auftritt.
Alkinous. Ulysses. Sohn [Nereus].
Dritter Auftritt.
[Die Vorigen]. Xanthe [Eurymedusa].
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Nausikaa. 143
Vierter Auftritt.
Alkinous. Ulysses.
(Scheiden. Dank. Tochter lässt sich nicht sehen. Scham.
Er soll sie nicht falsch beurtheilen. Es sei sein eigen Werk.
Ulysses: Vorwurf; er will nicht so scheiden. Trägt seinen
Sohn an.* Arete [Alkinous] will die Tochter nicht geben.)
Alkinous.
O theurer Mann! welch einen Schmerz erregt
Das edle Wort in meinem Busen! So
Soll jener Tag denn kommen, der mich einst
Von meiner Tochter trennen wird. Vor dem Tag
Des Todes lassen soll ich sie — —
Und senden in ein fernes Land sie, die
Zu Haus so wol gepflegt? — —
(Ulysses' Überredung. Alkinous will gleich. Ulysses
will seinen Sohn bringen; sie sollen sich wählen. Alkinous:
Hochzeittag; Ausstattung.)
Alkinous.
So werde jener Tag, der wieder Dich
Mit Deinem Sohn zurück zum Feste bringt,
Der feierlichste Tag des Lebens mir!
Fünfter Aujtritt,
[Die Vorigen]. Bote.
*) Die nachbomerische Sflge Hess Nausikaa Telemach's Gattin werden.
**) Es ist vermnthet worden, der Bote bringe die Nacbricht von Nausikaa's Tod.
Daran ist aber gar nicht zu denken. Es wäre ganz unerklärlich, wie naeh der Kaustrophe,
die mit Nausikaa's Tod eintritt, noch vier Auftritte folgen könnten und welchen Sinn dann
noch das Hereintragen ihrer Leiche haben sollte. Der Bote kann lediglich Mittheilnngen
überbracht haben, die Nausikaa's Absicht, sich das Lehen zu nehmen, erkennen Hessen, aber
erst ihre Leiche gab die Gewissheit.
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144
Dramatische Entwürfe Goethe's.
Sechster Auftritt.
Alkinous. Ulysses.
Siebenter Auftritt.
Xanthe [Eurymedusa].
Achter Auftritt.
Die Vorigen. Sohn [Nereus|
Neunter Auftritt.
Die Vorigen. Die Leiche.
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6. Der Zauberflöte zweiter Theil.
^enn Schikaneder's Buch zur »Zauberflöte« als
Ausbund von Unsinn verschrieen war und
ist, so giebt die ganz elende Sprache und
Versbildung ein Recht dazu; wenn man aber
die Verurtheilung ohne Weiteres auch auf
den Grundgedanken des Singspiels erstreckte, so erschien
es schon seltsam, dass Mozart sich für eine schlechthin
nichtige Dichtung zu seinem Tonwerk begeistert gefühlt
haben sollte; noch rathloser aber steht dieses Urtheil vor
der Thatsache, dass Goethe sich zu einer Fortsetzung der
»Zauberflöte« entschloss und sich jahrelang mit der Aus-
führung trug. Die Vermuthung lag nahe, dass man es
hier mit einem Geheimniss zu thun habe, zu dessen Lö-
sung das Märchen »Lulu oder die Zauberflöte« in Wie-
land*s » Dschinnistan « kaum einen Anhalt bieten konnte,
da es nur entfernte Berührungspunkte mit Schikaneder's
Buch bietet. Man rieth auf eine versteckte Verklärung der
französischen Revolution und andere Staatsverhältnisse, rich-
tiger aber auf Geheimnisse der Freimaurerei, worauf auch
Strehlke in der Vorbemerkung zur Goethe'schen Fort-
10
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146 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Setzung in Hempers Ausgabe von Goethe*s Werken (IX.,
263 f.) hindeutet. Einen ausführlichen Nachweis über diese
maurerischen Beziehungen giebt aber die Schrift »Die
Zauberflöte. Texterläuterungen für alle Verehrer Mozart's.
Leipzig, Lissner 1866.«
Nach derselben stellt dieses Tonschauspiel die Schick-
sale der Freimaurerei in Oesterreich dar, wo Maria Theresia
sie, durch die katholische Geistlichkeit aufgestacheh, ver-
folgte, w^ährend Joseph ihr ein Schützer zu werden ver-
sprach. Unter dem Heihgthum der Isis und des Osiris
würde darnach die Freimaurerei, unter Sarastro wol Ignaz
von Born, Meister vom Stuhl der Loge » Zur w^ahren Ein-
tracht« und Seele des oesterreichischen Freimaurerthums,
unter der Königin der Nacht die Kaiserin, unter Mono-
statos die Clerisei und das Mönchsthum, unter Tamino
Joseph II. und unter Pamina die oesterreichische Nation
zu verstehen sein. Der Schlussreim bringt die maurerische
Dreiheit zum Ausdruck:
Es siegte die Stärke und krönet zum Lohn
Die Schönheit und Weisheit mit ewuger Krön*.
Jedenfalls w^ar die richtige Deutung der »Zauberflöte«,
auf die schon manche maurerische Anspielungen hinführ-
ten, unter den Logen verbreitet, und hatte daher auch
Goethe, seit 1780 Maurer, Gelegenheit gehabt, davon zu
erfahren. Die Oper wurde am 16. Januar 1794 in Weimar
zum ersten Male aufgeführt, wozu Vulpius den Text durch
Bearbeitung zu verbessern gesucht hatte, und so war sie
Goethe'n näher gerückt. Derselbe spielt wiederholt auf
die von ihm erkannten Geheimnisse des Buches an; so in
dem Gespräche mit Eckermann vom 13. April 1823, indem
er äusserte, dass allerdings Schikaneder's Operntext voller
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Der Zauberflöte zweiter Theil. 147
UnWahrscheinlichkeiten und Spässe sei, die nicht jeder
zurechtzulegen und zu würdigen wusse; femer am 29. Ja-
nuar 1827, dass dem Eingeweihten — ein für Freimaurer
üblicher Ausdruck — der höhere Sinn der Erscheinung
nicht entgehen werde; wenn er endlich sich aussprach:
es gehöre mehr Bildung dazu, den Werth dieses Opern-
buches zu erkennen, als ihn abzuleugnen.
Gründe, welche Goethe zu Ausführung eines zw^eiten
Theils bewogen, gab es jedenfalls mehrere. Zunächst w^ar
es gewiss eine Forderung seiner Dichternatur, den weit-
greifenden Gehalt des Freimaurerthums in der ihm beson-
ders zusagenden Kunstform des Drama's zu verarbeiten;
sodann war die jammervolle Arbeit Schikaneder's umsomehr
eine Lockung, dem bedeutenden Stoff eine entsprechende
Gestalt zu verleihen, als der Genannte eben erst, 1795,
der »Zauberflöte« eine ebenso elende Fortsetzung in dem
»Labyrinth«, das Winter componirte, gegeben hatte, und
endlich bot der Gegenstand der »Zauberflöte«, was Goethe
ausdrücklich hervorhob, das weiteste Feld zur Entfaltung
tonkünstlerischer Wirkungen von höchster Empfindung bis
zum leichtesten Scherz, w4e er am 24. Januar 1796 an den
Orchesterdirector Wranitzky schrieb.
Was Goethe selbst von seiner Dichtung sagt, ist haupt-
sächlich in der Beilage zum Brief an Wranitzky nieder-
gelegt, worin er sich w4e folgt auslässt : » Der grosse
Beifall, den die »Zauberflöte« erhielt, und die Schwierig-
keiten, ein Stück zu schreiben, das mit ihr wetteifern
könnte, hat mich auf den Gedanken gebracht, aus ihr
selbst die Motive zu einer neuen Arbeit zu nehmen, um
sowol dem Publico auf dem Wege der Liebhaberei
zu begegnen, als auch den Schauspielern und Theater-
directionen die Auff'ührung eines neuen und complicirten
10*
Digitized by VjOOQ IC
148 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Stücks zu erleichtern. Ich glaubte meine Absicht am besten
erreichen zu können, indem ich einen zweiten Theil der
»Zauberflöte« schriebe; die Personen sind alle bekannt,
die Schauspieler auf die Charaktere geübt, und man kann
ohne Uebertreibung, da man das erste Stück schon vor
sich hat, die Situationen und Verhältnisse steigern und
einem solchen Stück viel Leben und Interesse geben. In
wiefeme ich meine Absicht erreicht habe, muss die Wir-
kung zeigen. — Damit dieses Stück sogleich durch ganz
Deutschland ausgebreitet werden könnte, habe ich es so
eingerichtet, dass die Decorationen und Kleider der ersten
»Zauberflöte« beinahe hinreichen, um auch den zweiten
Theil zu geben; wollte eine Direction mehr darauf ver-
wenden, so würde der Effect noch grösser sein, ob ich
gleich wünsche, dass selbst durch die Decorationen die
Erinnerung an die erste »Zauberflöte« immer gefesselt
bleibe«.
Vossens Musenalmanach auf 1796 brachte schon das
in Goethe's »Zauberflöte« eingelegte Lied »Von allen
schönen Waaren etc.« unter der Aufschrift »Die Liebes-
götter auf dem Markte« (jetzt »Wer kauft Liebesgötter«),
wonach wenigstens 1795 schon das Stück muss begonnen
gewesen sein ; damit stimmt es, dass Goethe im Briefe an
Schiller vom 12. Mai 1798 es als vor drei Jahren angefangen
bezeichnet. Im letzten Jahre hatte Mand die Idee bei
Goethe wieder angeregt, der am 9. Mai darüber an Schiller
schrieb: es sei schon so viel geschehen, dass es thöricht
wäre, die Arbeit liegen zu lassen. Femer am 12. desselben
Monats: er habe bei Wiederaufnahme der Arbeit recht
artige Erfahrungen gemacht, die sich sowol auf sein Sub-
ject, als aut's Drama überhaupt, auf die Oper besonders
und am besondersten auf das Stück bezögen; es könne
Digitized by VjOOQ IC
Der Zauberflöte zweiter Theil. 149
nicht schaden, es endlich auch in Zeiten mittlerer Stim-
mung durchzuführen. .
Nach drei weiteren Jahren, im Mai 1801, lieferte
Goethe den ersten Aufzug (bis zum Schluss des unsicht-
baren Chors »Ihr lustigen Vögel etc.«) als »Entwurf zu
einem dramatischen Märchen« in das »Taschenbuch auf
das Jahr 1802 — der Liebe und Freundschaft gewidmet«,
wonach es scheint, dass er nunmehr die Beendigung des
Stücks aufgegeben gehabt habe. Es war daher wol nur
eine Redensart, als er am 15. März 1814 Zelter'n Hoffnung
machte, dass der Frühlingsäther den Gegenstand wieder
in ihm flott machen werde; inzwischen war in der Aus-
gabe der Werke Goethe's 1807 das Bruchstück schon in
der Ausdehnung, in welcher es jetzt vorliegt, gedruckt
worden.
Überfliegen wir den Inhalt von Goethe's Dichtung,
so begegnen wir zunächst dem von Mohren begleiteten
Monostatos, welcher der Königin der Nacht verkündet,
dass ihm zwar nicht gelungen sei, den eben gebomen
Sohn Tamino's und Pamina's in seine Gewalt zu bekom-
men, dass er ihn jedoch in einen goldnen Sarg und diesen
mit dem Siegel der Königin verschlossen habe, das nie-
mand zu öffnen vermöge.
Die zweite Scene führt das königliche Schloss vor, in
welchem Frauen den Sarg mit dem Prinzen umhertragen,
weil die weisen Männer erklärt haben, dass das Kind,
obwol im Sarge eingeschlossen, so lange am Leben bleiben
werde, als der Sarg umhergetragen würde. Tamino kommt
hinzu, seinen Schmerz auszusprechen.
Hierauf erscheinen in felsigem Walde, in welchem ein
Wasserfall mit goldnem Wein herabstürzt, Papageno und
Digitized by VjOOQ IC
150 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Papagena; sie beklagen ihre Kinderlosigkeit, deren Ende
ihnen jedoch unsichtbare Stimmen verkündigen. Mit Flöte
und Glockenspiel locken beide Thiere aller Art herbei,
womit der zuerst veröffentlichte Abschnitt des Bruchstücks
schliesst.
Im Tempel zeigt sich Sarastro, der Hohepriester, dem
der Sprecher die Rückkehr eines Bruders, der die einjährige
Wanderschaft beendet hat, ansagt; derselbe wird als noch
würdig des Bundes anerkannt. Das Loos bestimmt Sarastro
zum Wandern für das nächste Jahr; er scheidet.
Pamina tritt auf und lässt den Sarg mit dem Kinde
auf den Altar des Tempels setzen, um ihn der Sonne zu
widmen; unter Donner und Erdbeben versinkt er. Pamina
verzweifelt.
Die nächste Scene ist wieder Papageno*s Wohnung
im Walde; er und Papagena haben hier grosse Eier ge-
funden, welche nach Sarastro's Weisung in ein Nest unter-
gebracht und mit Blumen bedeckt werden, worauf sie
aufbrechen und aus ihnen zwxi Knaben und ein Mädchen
auskriechen. Sarastro schickt die Familie an den Hof, um
die Schmerzen Tamino's und Pamina's — des Königs und
der Königin — durch die Zaubermusik zu lindern und die
Betrübten durch Scherze zu erheitern. Von dieser Scene
ist nichts ausgeführt.
Die folgende spielt im Schloss, wo der Zustand des
Königs und der Königin den ganzen Hof in Trauer ver-
setzt hat. Die Ankunft Papageno's und der Seinigen ver-
breitet Heiterkeit , und als das schlafende Königspaar
erwacht und in Klagen ausbricht, weiss es Papageno
durch sein Flötenspiel zur Beruhigung zu bringen, jedoch
nur so, dass der Schmerz immer wieder hervorbricht.
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Der Zauberflöte zweiter Theil. 151
sobald das Spiel aufhört. Hinzukommende Priester fordern
dringend auf, das Kind zu retten, welches in seinem Sarg
verschmachte.
In der letzten Scene halten in einem unterirdischen
Gewölbe bewaffnete Männer nebst Löwen Wache am
Sarge, der ausserdem durch Umgürtung von Feuer und
Wasser geschützt ist. Indessen nahen sich Tamino und
Pamina, dringen unverletzt durch die elementaren Schutz-
mauern und als sie dem Sarge sich nähern, springt derselbe
auf und ein Genius erhebt sich daraus.
Es ist nicht zu leugnen, dass das Stück zwischen
einer Benützung der ersten »Zauberflöte« zu einer neuen
Arbeit und einer Fortsetzung jener ersten schwankt; denn
Manches, wie namentUch das Racheplanen der Königin
der Nacht, das Tändeln des Papageno und der Papagena
über die Aussicht Kinder zu bekommen, das Herbeirufen
von Thieren durch die Zaubermusik, der EinbHck in die Ge-
heimnisse des heiligen Bundes, der Sieg über die Hindernisse
von Feuer, Wasser und Raubthieren — ist mehr nur Nach-
ahmung, zum Theil fast blosse Wiederholung der Scenen
der ersten » Zauberflöte « wie sie in einer Fortsetzung nicht
zulässig sein würden.
Dagegen darf der Gang des Stückes allerdings als eine
Fortsetzung betrachtet werden, wie denn auch Böttiger
(Literarische Zustände und Zeitgenossen I, 49) dasselbe
als eine Fortsetzung und Erhebung ausdrücklich bezeichnet.
Hierbei ist zunächst zu bemerken, dass über die Beziehung
zur Freimaurerei auch in Goethe's Dichtung kein Zweifel
obwalten kann; schon Äusserlichkeiten, wie die Bezeich-
nung der Bundesglieder als »Brüder«, das Auftreten eines
»Sprechers«, das Gespräch der Wächter: »Bruder, wachst
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152 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Du?« — »Ich höre«. — »Sind wir allein?« und anderes
erinnern an das maurerische Ritual.
Ein maurerisches Gebot ist das:
Recht zu handeln
G'rad zu wandeln;
maurerische Ansichten spricht der Gesang der Wächter
aus:
Vergebens bemühet Ihr euch etc.
Auf den maurerischen Inhalt deutete auch Knebel,
wenn er am 8. December 1801 an Böttiger schrieb, Goethe
habe in die »Zauberflöte« feine und stechende Hieroglyphen
gemalt.
Während nun in der ersten »Zauberflöte« die Königin
der Nacht nur dadurch als besiegt sich darstellt, dass
Tamino und Pamina trotz ihrer dagegen aufgebotenen
Macht vereint werden, so wird in der Fortsetzung die
Niederlage dadurch vollendet, dass sie auch das Insleben-
treten der Frucht jener Vereinigung nicht verhindern kann.
Durch die Weisheit (Sarastro) verbunden, erzeugen die
Kraft (der muthige Tamino) und die sittliche Schön-
heit (die liebende Pamina) die Aufklärung, die Wahr-
heit des höhern Menschenthums (den Genius); die heilige
Priesterschaft erhält den Erzeugten am Leben und verhilft
ihm zum Gedeihen durch das Gebot steten Fortschreitens
seiner Träger; der Macht, welche alles geistige Streben
unterdrückt (der Königin der Nacht),, gelingt es sammt
dem Pfaffenthum (Monostatos) trotz Anw^endung roher
Gewalt (der bewafl*neten Wächter und der wilden Thiere)
doch nicht, ihr Ziel zu erreichen und himmelan schwebend
entzieht sich jener Sprössling der Verfolgung.
' c V
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Der Zauberflöte zweiter Theil. 153
Was Goethe in der »Zauberflöte zweitem Theil« un-
ausgeführt Hess, hat er in gewisser Hinsicht im »Wilhelm
Meister« wieder aufgenommen, wo auch eine geheime,
Menschenerziehungszwecke verfolgende Gesellschaft wirk-
sam ist und insbesondere auch, wie die Priesterschaft
in der » Zauberflöte «, ihre Mitglieder auf Wanderschaft
aussendet.
er-,
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7- Trauerspiel in der Christenheit.
LI in Goethe in den »Tag- und Jahresheften«
anterm Jahr 1802 erwähnt, dass er Calderon
Zeit seines Lebens gekannt habe, so ist diese
^ ^^^ Bekanntschaft denn doch wol nur eine sehr
^---' i oberflächHche gewesen; denn er selbst ver-
stand zu wenig spanisch, um Calderons Comödien in der
Ursprache zu lesen und in den unserem Dichter zugäng-
hchen Sprachen gab es bis Ende vorigen Jährhunderts zu
w^enige Hülfsmittel, um genaue Kenntniss des spanischen
Bühnendichters daraus zu schöpfen. So könnte er die
»Extraits de plusieurs pi^ces du Theatre Espagnol« von du
Perron de Castera (1738) und das, ebenfalls Auszüge spa-
nischer Bühnenstücke enthaltende »Theatre Espagnol« von
Linguet (1763), das 1770 auch deutsch erschien, ferner die
deutschen Bearbeitungen von »Das Leben ein Traum«,
welche 1760 Scharfenstein (»Das menschliche Leben ist
Traum«) nach einer italienischen Übersetzung und 1782
Bertrand (»Sigismund und Sophronie oder Grausamkeit
aus Aberglauben«) lieferten, benutzt haben, sich einige
Vorstellung von der Bühne Spaniens zu verschaffen, allein
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Trauerspiel in der Christenheit. 155
nur eine sehr schwache, da diese Schriften hauptsächUch
den Zweck hatten, den Stoff und den Gang der Handlung
der spanischen Schauspiele behufs ihrer Benutzung für
auswärtige Bühnen darzulegen, w^ährend der hohe Dichter-
schwung in der Ausführung dabei fast ganz unkenntlich
geworden war. Mehr Werth hatte schon der Auszug aus
dem angeblich von König Philipp IV. verfassten Trauer-
spiele »Dar la vida por su dama o el Conde de Sex«, den
Lessing in den Stücken 60 bis 69 der Hamburgischen
Dramaturgie lieferte und der selbstverständlich Goethe'n
nicht entgangen sein kann.
In Weimar fand Goethe Gelegenheit im Umgang mit
drei Kennern der spanischen Dichtung sich in dieselbe
einweihen zu lassen ; es w^aren dies Friedrich Johann Justin
Bertuch, dessen »Magazin der spanischen und portugie-
sischen Literatur« 1781 erschien; dann Sigismund Freiherr
von Seckendorf, ein thätiger Mitarbeiter an diesem Magazin
und Friedrich von Einsiedel ; auch Wieland war im Spani-
schen nicht unerfahren. Indessen ist keine Spur vorhanden,
dass Goethe sich mit Vorliebe der spanischen Dichtung
überhaupt gewidmet habe; ausser Calderon, von dem gleich
mehr die Rede sein soll, nennt er eigentlich kaum einen
anderen spanischen Dichter und deutet nur auf Guillen de
Castro als Vorbild des »Cid« von Corneille in dem Aufsatz
»Französisches Haupttheater«. Eine andere Beschäftigung
Goethe's mit spanischer Dichtung ist aus seiner Beurtheilung
von Beauregard — Pandins Uebersetzung spanischer Ro-
manzen bekannt.
Dass er, dessen ganzes Wesen und Dichten auf die
Natur sich gründete, sich nicht in eine Dichtung einleben
mochte, die auf so geschraubten Zuständen und Ansichten
ruhte, wie die spanische, ist erklärlich, doch konnte ihn
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156 Dramatische Entwürfe Goethe's.
das nicht blind machen gegen die Fülle der Phantasie,
welche darin mächtig herrschte, und er wusste diesen Vor-
zug auch nicht genug zu preisen. Dem ungeachtet schenkte
er spanischer Dichtung nur insoweit eingehende Betrachtung,
als ihn seine Wirksamkeit als Leiter der Weimarer Bühne
veranlasste, Calderon seine Aufmerksamkeit zuzuwenden,
den er dann aber auch fast allein im Auge behielt, wo-
zu ausser dessen hervorragender Bedeutung der Umstand
wesentlich beitrug, dass die damalige Thätigkeit der Deut-
schen , welche spanische Bühnenschriftsteller übersetzten
(v. Einsiedel, Schlegel, Gries, Frhr. v. d. Malsburg) sich
vorzugsweise auf Calderon geworfen hatte.
Wie sehr Goethe dessen Werth erkannte, mit welcher
Ausdauer er bemüht war andere für den Genuss der Werke
desselben empfänglich zu machen, insbesondere diese auf
die deutsche Bühne einzuführen, und wie gegenwärtig ihm
dieser Spanier immer war, sodass er ihm bei VergJeichungen
häufig in Mund und Feder kam, das lässt sich durch eine
grosse Anzahl von Stellen aus Goethe's Schriften und
Briefen sowie aus Nachrichten mit ihm verkehrender Per-
sonen erweisen.
In einem Briefe an A. W. Schlegel vom 2. April 1800
äussert Goethe zuerst infolge mündlicher Mittheilungen des
Ersteren seine Theilnahme für spanische Literatur. — In
einem zu Anfang October 1802 nach Jena geschriebenen
Briefe sagt er, wie Schelling berichtet, über die in Schlegel's
handschrifthcher Uebersetzung ihm mitgetheilte »Andacht
zum Kreuze« von Calderon: »Es ist verwundersam gross
und fürtrefilich«; einige Tage später stellte er im Gespräch
mit Schelling Calderon nicht nur Shakespeare gleich, son-
dern womöglich noch höher und ergoss sich in Lobes-
erhebungen über den unbegreiflichen Verstand in der
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Trauerspiel in der Christenheit. 157
Construction und dem Genie der Erfindung, das aus dem
genannten Stücke hervorleuchte. Die Aufführung erklärte
er jedoch wegen des den Protestanten anstössigen Stoffs
bei uns für unmöglich.*) Auch in den »Annalen« unter
1802 erwähnt er, dass Calderon ihm näher getreten sei
und ihn in Erstaunen gesetzt habe. — In einem Briefe an
Frau von Stein aus dem Jahre 1803 spielte er auf Calderon's
Anmuth an und wie er sich schon im April dieses Jahres
über Schlegels Übersetzung von Calderon's »Über allen
Zauber Liebe« gegen Schelling entzückt gezeigt und die
Aufführung nicht nur dieses Stücks, sondern nunmehr auch
der »Andacht zum Kreuze« mit einigen Änderungen als
erwünscht bezeichnet hatte, so dankte er, wie er schon
früher durch Schelling hatte thun lassen**), Schlegel'n selbst
brieflich am 5. September 1803 für das zugesandte »Spanische
Theater«, das von Calderon ausser den beiden schon ge-
nannten Stücken noch » Die Schärpe und die Blume « ent-
hielt und ladet unterm 2. October desselben Jahres zu
Übungen für die Aufführung Calderon'scher Stücke ein. —
Ein Brief an Schiller vom 24. Januar 1804 gedenkt des
tiefen Eindrucks, den »Der standhafte Prinz« — in Schlegel's
damals wol noch handschriftlicher Übersetzung — und
»Die Andacht zum Kreuze« auf Goethe gemacht und der
vortrefflichen Behandlung, die er namentlich bei ersterem
zu bewundern gehabt habe. — In den Anmerkungen zu
»Rameau's Neffen« (1805) erklärt derselbe: Shakespeare
und Calderon bestünden untadelig . vor dem höchsten
ästhetischen Richterstuhl und wegen ihrer vermeintlichen
Fehler verdienten sie, indem diese ein Erzeugniss ihrer Zeit
*) Ans Schellixig's Leben. In Briefen. Erster B«nd. S. 421. 421.
*•) EbendA. S. 440. 454.
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158 Dramatische Entwürfe Goethe's.
seien, neue Lorbeeren. — Im Jahre 1807 las er im März*)
und im October**) den »Standhaften Prinzen« vor, wie
denn auch die »Annalen« von diesem Jahre melden, dass
dieses Stück fortfahre zu wirken. Als Goethe im August
ebendieses Jahres in Karlsbad weilte, ging er Adam Müller's
Vorlesungen über deutsche Literatur und Wissenschaft
durch und meinte bei diesem Anlass in Bezug auf das
darin enthaltene Lob von Schlegel's Übersetzung Calderon-
scher Stücke gegen seinen Begleiter Riemer: jener sei doch
nur ein ausgestopfter Fasan gegen einen wdrkHchen, aber
ein gut ausgestopfter.***) — Im Januar 1808 las er bei Hofe
Calderon's »Standhaften Prinze»« und im März »Die
Schärpe und die Blume« vorf); am i. Februar d. J. hebt
er in einem Briefe an Heinrich v. Kleist als Muster für
jeden Schauspieldichter Calderon's Stücke hervor, welche
so bühnengerecht seien, dass sie überall der gebildeten wie
der ungebildeten Masse das höchste Vergnügen machen
würden. — Vom 17. November 1809 führt Riemer einen
Ausspruch Goethe's über die Productivität und den leichten
Guss Calderon's an, ff) — In den »Annalen« von 1810
weist Goethe auf die nahende Auflführung des »Standhaften
Prinzen« hin; gegen Ende des Jahres hielt er die Lese-
proben bei sich ab.fft) Die Bühnenbearbeitung der Schlegel-
schen Übersetzung w^ar vom Schauspieler P. A. Wolff,
jedenfalls unter Goethe's sorgfältiger Mitwirkung besorgt,
— Am 30. Januar 181 1, dem Geburtstag der Herzogin.
*) Weimars Album zar 4. Säcalarfeier der Bachdruckerkunst. S. 192 f.
••) Weimarer SonnUgsbUit. II. Jahrg. S. 417.
***) Briefe von und an Goethe, herausg. von Riemer. S. 321.
t) Aus K. L. V. Knebels Briefwechsel mit s. Schwester Henriette. S. 322. 324. 330. 331.
ff) Mittheilungen über Goethe v. Riemer. II. S. 648.
fff) Aus d. Tagebuch c. alten Schauspielers. Von Genast. 2. Aufl. Theil !. S. 177 f.
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Trauerspiel in der Christenheit. 159
wurde dieses Stück zum ersten Male aufgeführt, worüber
Frau V. Schiller einen ausführlichen Bericht gegeben hat*);
Goethe zeigte sich dabei so ergriffen, dass er Thränen
vergoss. Er unterlässt in den »Tag- und Jahresheften«
nicht, in diesem Jahre die Auff'ührung anzumerken, welche
vorzubereiten ihm, wie er am 27. Februar 181 1 an Knebel
und folgenden Tags an Zelter schreibt, so viele Mühen ge-
kostet hatte, dass er nicht sobald ähnliches über sich nehmen
mochte, — ^ichtsdestow^eniger wurde schon am 30. März
1812**) »Das Leben ein Traum'« nach einer Bearbeitung
von Einsieders und Riemer's, wie Goethe am 8. April
Zeltern mittheilt, aufgeführt; hiervon giebt er auch in den
»Annalen « dieses Jahres Nachricht, in denen er ferner sagt,
dass »Die grosse Zenobia« von Calderon damals zu höheren
Zw^ecken studirt und dessen »Wunderbarer Magus« in
Griesens Übersetzung ihm angenähert worden sei, w elches
letztere jedoch ein Irrthum ist, da Gries dieses Stück erst
später übersetzte, die Übersetzung aber, in welcher Goethe
damals den »Wunderthätigen Magus« kennen lernte, von
Einsiedel war, wie dies sein eigner Brief an Knebel vom
17. October 18 12 bezeugt. Die glückhche Darstellung des
herrlichen Stückes von Calderon »Das Leben ein Traum«
berührt er auch in einem Briefe an den Appellationsrath
Körner vom 23. April und empfiehlt übrigens dem Sohne
des Ersteren, Theodor, die Aneignung des Calderon'schen
Sylbenmasses für seine dramatischen Dichtungen. Das
Missbehagen, welches ihm die frömmelnde Schrift des
damaligen Professors Johann Schulze zu Weimar Ȇber
den standhaften Prinzen des Calderon« (181 1) erregte,
•) Charlotte v. Schiller a. ihre Freunde. B, I. S. 567 f.
"•) Aus d. Tageb. e. alten Schauspielers. Von Genast. I, 181 f.
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l6o Dramatische Entwürfe Goethe's.
drückte er in Briefen an Frau von Wolzogen vom 28. Ja-
nuar und an Knebel vom 17. October 18 12 aus.*) Im
letztern Brief gab dazu Gelegenheit ein von Frau von Ch^zy
übersetztes Bruchstück aus Calderon.
Die Übersetzung Calderon's »Grosser Zenobia« wurde
von Friedrich von Einsiedel angeregt. Goethe antwortete
darauf mit folgendem Brief, dessen Abdruck der Besitzer,
Freiherr von Beaulieu Marconnay, gütigst gestattet hat :
Des Herrn Geheimeraths von Einsiedel
Excellenz
Du hast mir, mein trefflicher Freund, mit der Gros-
sen Zenobia abermals recht viel Vergnügen gemacht.
Ich glaube auch, dass das Stück aufführbar werden
könnte, nur müsste vor allen Dingen noch manches
von rhythmischer Seite daran gethan werden; denn,
wie Du selbst bemerktest, so machen die Stellen die
als Octaven gedacht sind, nur in diesem Sylbenmass
ihre rechte Wirkung. Riemer, mit dem ich die Sache
gestern besprochen, bedauert mit mir, dass unsere
nächsten dringenden Arbeiten uns von diesem ange-
nehmen Geschäft abhalten. Aber wir sind beide zu
gleicher Zeit auf den Gedanken gekommen, ob Du
Dich nicht mit Gries associiren solltest. Dieser hat in
•) Die Auslassung Goethe's, welche Riemer (Mittheilungen über Goethe II. 649) unter
dem 17. October i8iJ anführt, ist Briefen an Knebel von diesem Tage und vom ij. Juni 1821
entnommen, obwol beide Unvereinbares zusammenbringen. Die dort eingeschaltenen Worte»
unter Verwandlung des »NN.« in »Professor Schulze« sind wol die Ergänzung der Locke
im Brief an Knebel.
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Trauerspiel ix der Christenheit . i6l
solchen Dingen grosse Facilität und so viel Zeit, dass
sich hoffen liesse, das Werk bald vollendet zu sehen.
Zuletzt will ich gern zu allem förderlich sein, was das
Theater allenfalls auch verlangen möchte. Lehnst du
diesen Vorschlag nicht ab, so will ich durch Knebeln
präludiren lassen. Ich sollte denken, es müsste Dr.
Griesen sehr angenehm sein, in so guter Gesellschaft
einen Beweis seiner Talente zu geben.
Lebe recht wohl und empfiehl mich meinen hohen
Gönnern und Freunden. — Nur noch eins zu sagen,
so ist es ein ganz stupender Einfall, dass die in die
Höhle gestürzte Halbprophetin und Trügerin zur
wahren Prophetin dadurch wird, dass man sie miss-
versteht. Vale.
Weimar den 7. December 1807.
Goethe.
Einsiedel ging auf den Vorschlag ein und von ihm
empfing Goethe am 17. Januar 181 3 einige Stanzen aus
der »Grossen Zenobia« von Gries übersetzt*), die er in
einem Tags darauf an Einsiedel geschriebenen Billet eine
»sonnige Erscheinung« nannte und an die er eine in einem
Brief an Knebel vom 20. desselben Monats niedergelegte
Aufforderung an Gries knüpfte, das ganze Stück zu über-
setzen, damit es in Weimar auf die Bühne gebracht werden
könne. Goethe theilte diese Stanzen in seiner Freude auch
der Frau Schopenhauer mit. **) Dieses Anpreisen von Seiten
*) K. L. V. Knebel's literarischer Nachlass etc. Hrsg.v. Varnhagen v. Ense u. Hundt. I, ijo.
**) Ans d. Leben v. J. D. Gries [v. E. Campe als Handschrift herausgegeben] i8$$. S. 96.
II
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l62 Dramatische Entwürfe Goethe's,
Goethe's veranlasste denn auch Gries, das ganze Stück zu
übersetzen. Der Brief an Knebel vom 24. November 181 3
enthält dann den Dank an Gries für diese »vortreflfliche«
Übersetzung und den wiederholten Hinweis auf das Vor-
haben der Aufführung.
Über Griesens gleich darnach fertig gewordene Über-
setzung von »Das Leben ein Traum« sprach sich Goethe
im Brief an Knebel vom 22. Januar 18 14 mit der Aner-
kennung aus, dass er damit Einsiedel's und Riemer's
Vorarbeit schön übertroffen habe und er liess ihn durch
Knebel besage Briefs an diesen vom 29. Januar auffordern,
auch Schlegers Übersetzungen zu überarbeiten. Während
seines Aufenthaltes in Heidelberg im September 1814
unterhielt sich Goethe mit Voss über Calderon, wobei er,
die Mangelhaftigkeit der Charakteristik desselben aner-
kennend, sein wollüstiges Farbenspiel bewundernd hervor-
hob und sich aufs Neue über Griesens Übersetzung entzückt
äusserte.*) Die Lese- und Aufführungsproben der »Grossen
Zenobia« unter Goethe's hingebender Leitung schildert
Genast ergötzUch.**) Die Aufführung fand am 30. Januar
181 5 statt. In einem Gespräche am folgenden Tag legte
Goethe besonderes Gewicht auf den guten Humor, mit
welchem das Verhältniss zwischen Zenobia und Decius
durchgeführt werde und w^ies bezüglich des »Standhaften
Prinzen« darauf hin, dass er nicht sowol für den Glauben
als für Portugals Ehre leide.***) Am 26. April 181 5 dankte
Goethe Griesen brieflich für den ersten Band mit den
beiden ihm »so werthen Stücken des Calderon« — »Das
Leben ein Traum« und »Die grosse Zenobia« — und be-
•) Briefe V. H. Voss an Ch. v. Truclisess. Herausg. v. A. Voss. 18J4. S. 60 f.
•') Aus d. Tageb. e. alt. Schauspielers. Von E. Genast, 2. Aufl. Th, I. S. 228 bis 2^4.
•") Weimarer SonntagsbUtt. III. Jahrg. 18 j;. S. 462.
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Trauerspiel in der Christenheit. 163
merkte, er wolle letztere einige Zeit ruhen lassen, um zu
überlegen, wie diesem Stück sein vollkommenes Recht zu
verschaffen sei. Im Brief an den Grafen Brühl vom i. Mai
desselben Jahres erklärt Goethe, dass er die spanischen
Schauspiele benutzt habe, um den Geschmack des Publi-
cums daran zu gew^öhnen, auf der Bühne die Befriedigung
der höheren Forderungen der Einbildungskraft zu verlangen.
Im Herbste ebendieses Jahres endlich führte er auch mit
Sulpiz Boisser«^e lehrreiche Gespräche über Calderon, er-
kannte dabei aber an, dass derselbe nicht den alten Griechen
im glücklichen Masshalten gleichzustellen sei. *) — In den
»Annalen« unter 18 16 berichtet Goethe, wne der zweite
Band von Griesens Calderon — »Das laute Geheimnisse
und »Den wunderthätigen Magus« bringend — ihn in
dem Spanien des 17. Jahrhunderts immer einheimischer
gemacht habe und auch im Dankbrief an Gries vom 29. Mai
dieses Jahres rühmt er, dass er sich dadurch » in ein herr-
liches, meerumflossenes, blumen- und fruchtreiches, von
klaren Gestirnen beschienenes Land « und in einen fremden
Bildungszustand \%rsetzt fühle, hinzufügend, dass seine
damalige Beschäftigung mit der morgenländischen Dichtung
ihm den Calderon, der seinen arabischen Ursprung nicht
verleugnen könne, noch werther mache. Diesen Gedanken
hat er auch in den bekannten, in das Buch der Sprüche des
Divans aufgenommenen Reim niedergelegt, der daher wahr-
scheinlich aus jener Zeit herrührt. — Unterm 10. Februar
18 17 erkundigte sich Goethe bei Boisseree nach dem Recen-
senten von Griesens Calderon in den »Heidelberger Jahr-
büchern«, dessen Recension er als sehr schön anerkannte (es
war Abeken, früher Hauslehrer von Schillers Kindern) ; die-
•) Sulpjz Boisserie. 1862. Bd. I, S. 2S2. Bd. II, S. 162.
II*
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164 Dramatische Entwürfe Goethe's.
selbe Recension erwähnt Goethe in einem Brief an Voigt
vom 25. des nächsten Monats. — ÜberGriesens dritten Band,
»Eifersucht das grösste Scheusal« und »Verwickelungen des
Zufalls « liegen uns keine Aussprüche Goethe's vor. — Wie
er sich aber fortwährend mit Calderon beschäftigte, be-
zeugt der Vergleich, den er in den »Annalen« von 1820
zwischen der Gräfin Agnes Stolberg und dem Grazioso
Calderon's anstellt ; in diesem Jahre lernte er auch, w^ie er
gleichfalls in den »Annalen« berichtet, einen neuen Über-
setzer Calderon's, Freiherrn von Malsburg kennen, dem er
auch manche tiefere Einsicht in die spanische Literatur
verdankte. Derselbe hatte bis dahin von Calderon über-
setzt herausgegeben: »Es ist besser, als es war«, »Es ist
schlimmer, als es w^ar«, »Fürst, Freund, Frau», »Wohl
und Weh«, »Echo und Narcissus« sowie »Der Garten-
unhold«. Ferner empfing Goethe in diesem Jahre den
ersten Band der von Keil in Leipzig veranstalteten und
ihm gewidmeten Ausgabe der Comödien Calderon's, w^ofür
er seinen Dank unterm 12. April überschrieb und dabei
Keil als Zeugen der Liebe und Pietät, mit welcher er
Calderon's Werke früher aufgenommen habe, aufrief. —
Das Jahr 182 1 brachte von Malsburg »Die Seherin des
Morgens» und »Die Morgenröthe von Copacarana« und
von Gries »Die Tochter der Luft«, für welches letztere
Stück er dem Übersetzer nicht allein mit Brief vom 20. Mai
unmittelbar dankte und dabei Calderon's Vorzüge treffend
auseinandersetzte, sondern auch wiederholt durch Knebel
unterm 13. Juni seinen Dank ausdrücken Hess. Er nannte
dieses Schauspiel das herrlichste von Calderon's Stücken
und äussert auch in den diesjährigen »Annalen«, dass ihn
dasselbe ebenso wie »Die Morgenröthe von Copacarana«
ganz glücklich gemacht hätte, indem beide Stücke mit
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Trauerspiel in der Christenheit. 165
gleichem Geist und überschwenglichem Talent behandelt
seien und aus beiden die Macht des Genies in Beherrschung
alles Widersprechenden aufs kräftigste hervorleuchte, obwol
der Gegenstand des ersteren der Vernunft- und naturge-
mässeste, der des anderen der absurdeste sei. Noch schrieb
Goethe in diesem Jahr den grösseren Aufsatz »Calderon's
Tochter der Luft«, den er im 3. Hefte des HI. Bandes
»Über Kunst und Alterthum« veröfFentUchte. — Für den
5. Band der Gries'schen Übersetzung mit »Der Dame Ko-
bold« und »Dem Richter von Zalameo« dankte Goethe
durch Brief vom 11. Juni 1822, worin er u. A. sagt:
Calderon sei ein Dichter, über den man bei jedesmaUgem
ErbÜcken erstaune wie über die Natur, so oft man auf-
merksam an sie heranblioke. Gegen Ende desselben Monats
war er denn auch noch so voll von Calderon, dass er in
den abgerissenen Betrachtungen über den Roman »Gabriele«
der Frau Schopenhauer, welche er in Marienbad aufzeich-
nete und im i. Hefte des IV. Bandes Ȇber Kunst und
Alterthum« abdrucken liess, eine Person des Romans aber-
mals mit dem Grazioso des spanischen Bühnendichters
vergHch.*)
Im Sommer 1824 kam Malsburg abermals nach Weimar
und überreichte Goethe'n seine neueste Schrift: »Stern,
Scepter, Blume«, Übertragung dreier Schauspiele von Lope
de Vega (»Der Stern von Sevilla «< »Der beste Richter
ist der König« und »Das Krugmädchen«), bei welcher
Gelegenheit auch wieder* viel über Calderon gesprochen
•) Wie H. Döring in Jen von ilim herausgegebenen »Goethe's Briefe in den Jahren
1768 bis i8}2« dazu kam, obigen Aufsatz als Brief zu bezeichnen und ihn vom 24. Juni
zu datiren, ist nicht erfindlich und es spricht nicht für ein kritisches Verfahren bei Zusammen-
stellung des neuern Sammelwerks »Goethe's Briefe nnt geschieht!. Einleitungen und Er-
läuterungen« (Berlin), dass auch hier derselbe ah Brief ohne weitere Begründung Aufnahme
gefunden hat.
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l66 Dramatische Entwürfe Goethe's.
wurde.*) Trotz aller dieser eingehenden und nachhaltigen
Beschäftigungen mit Calderon behauptete Goethe dennoch
in einem Gespräch mit Eckermann am 12. Mai 1825,
dass Calderon, als seiner Natur nicht gemäss, gar keinen
Einfluss auf ihn gehabt habe und nur Schilleren hätte
gefährHch werden können. Im Briefe an Zelter vom
6. Februar 1827 nennt aber Goethe trotzdem »Die Tochter
der Luft« wieder ein grandioses Werk und bemerkt, dass
man bei der damaligen Aufführung des Stücks in Berlin
den blauen Duft von der Pflaume abgewischt haben würde,
wenn man etw^a Ninus und Semiramis von Einer Schau-
spielerin habe darstellen lassen. In der Unterhaltung mit
Eckermann vom 28. März desselben Jahres äussert er mit
Bezug auf dessen Bemerkung, dass August Wilhelm Schlegel,
wie tadelsüchtig er die französischen Dramatiker bespreche,
dennoch Shakespeare und Calderon gerecht behandle, beide
seien freilich von der Art, dass man über sie nicht Gutes
genug sagen könne. — Am 25. November 1827 hatte Goethe
Mittags und Abends Gäste bei sich, wobei die Aufführung
der »Tochter der Luft« und deren Aufnahme durchge-
sprochen wurde, und Goethe im Tagebuch anmerkt: »Das
PubÜcum hatte nicht gewusst, was es damit machen sollte.«
Im Brief an Zeher vom 28. April 1828 spricht Goethe
aus, dass höchste Cultur und Poesie sich niemals inniger
zusammengefunden htitten als bei Calderon. Dass Gries in
dem 1829 erschienenen 7. Bande seiner »Schauspiele von
Calderon« auch »Die Locken Absalons« übersetzt hatte,
billigte Goethe gegenüber denen, welche die Wahl dieses
nicht ganz züchtigen Stückes tadelten. Das zweite Stück
dieses Bandes ist »Der Verborgene und der Verkappte.«
•) Briefe an L. TieV. Aus^cv ihlt und hcrausg. von v. Holtei. B. II. S. 320.
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Trauerspiel in der Christenheit. 167
• In den Betrachtungen »Aus Makariens Archiv«, welche
dem Ende von »Wilhelm Meisters Wanderjahren« in dem
XXIIL, 1829 erschienenen Bande der Ausgabe von Goethe's
Werken letzter Hand angefügt sind, lässt sich Goethe
darüber aus, wie Shakespeare und Calderon den Vor-
lesungen von Dramen in Deutschland einen glänzenden
Eingang verschafft hätten, dass aber durch diese Dichter,
und besonders Calderon vieles Falsche über uns gebracht
und diese Lichter des poetischen Himmels für uns zu Irr-
Uchtern geworden seien. In einem Gespräche mit Ecker-
mann vom 15. Februar 183 1 erinnerte Goethe sich noch
der Noth, die er gehabt, den »Standhaften Prinzen« auf
die Bühne zu bringen und in einer Stelle des Aufsatzes
»Französisches Haupttheater«, die nicht in dessen erstem
Abdruck im VI. Bande »Über Kunst und Alterthum«
(1828), sondern erst in dem Wiederabdruck im VI. Band,
der »Nachgelassenen Werke« (1833) zu finden ist, nimmt
er auf die abwechselnden Silbenmasse in Guillen de Castro's
»Mocedades del Cid« Bezug.
Es wäre ganz gegen Goethe's Weise, wenn die leb-
hafte Beschäftigung mit Calderon ihn nicht zu eigner
schöpferischer Thätigkeit angeregt hätte, um sich den-
selben »vom Halse zu schaffen.« Wie tief Calderon auf ihn
gewirkt, bezeugt nicht nur im Allgemeinen das durch mehr
als sechzig Citate nachgewiesene dreissigjährige unaufhör-
liche Zurückkommen aut denselben und das Beleuchten
seiner Eigenschaften in den verschiedensten Beziehungen,
sondern noch insbesondere manche der angeführten Stellen,
in denen er sich geradezu darüber erklärt. Diesen viel-
fachen Beweisen seiner Hingebung an Calderon gegenüber
braucht man es auch nicht für einen der vielen Irrthümer
in Bezug auf sich selbst, welche namentlich in den Ge-
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l68 Dramatische Entwürfe Goethe's.
sprächen mit Eckermann uns öfters aufstossen, zu halten,
wenn er gegen diesen fallen lässt, Calderon habe gar keinen
Einfluss auf ihn gehabt; vielmehr darf man diese Äusse-
rung so verstehen, dass Calderons Eigenthümlichkeit kein
bleibender Bestandtheil seiner Bildung geworden sei, wie
es denn in der That kein ganzes Werk Goethe's giebt,
das den Stempel des spanischen Bühnendichters trüge. Ist
auch das öftere Vorkommen des Romanzenverses bei
Goethe nicht zu übersehen, so ist derselbe doch keines-
wegs lediglich auf Calderons Vorgang zurückzuführen. In
»Paläophron und Neoterpe«, welches Festspiel im Ok-
tober 1800, also kurz nach der ersten Bekanntschaft Goethe's
mit Calderon entstand und solche Verse enthält, schwebte
ihm jedoch höchst wahrscheinlich die spanische Form vor,
gewisser aber noch in den Reden des »Friedens« im »Vor-
spiel zu Eröffnung des weimarischen Theaters«, welches
Festspiel in's Jahr 1807, ^^so in die Zeit der Veranstaltung
von Aufführungen Calderon'scher Stücke durch Goethe
fällt. Auch der in der »Helena« einigemal vorkommende
Romanzenvers mag eine Erinnerung an die spanische
Bühnendichtung sein, deren Formen, als vorzugsweise ro-
mantische, hier neben den altclassischen mit besonderem
Bedacht zur Erscheinung kommen.
Wichtiger aber ist, dass Goethe versuchte ein Stück
in der Weise Calderon's zu schreiben und zwar das zu-
erst in der 2. Abtheilung des I. Bandes der Quartausgabe
der Werke Goethe's (1836) unter der Überschrift »Frag-
mente einer Tragödie« in den vorhandenen Bruchstücken
bekannt gemachte »Trauerspiel in der Christenheit.« Als
ich 1857 zuerst die Beziehungen dieser Fragmente zu
Calderon nachwies, musste ich noch für mögUch halten,
dass jemand an der Stichhaltigkeit meines Beweises zweifeln
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Trauerspiel in der Christenheit. 169
könne; allein nicht nur die seitdem wol allseitig erfolgten
Anerkennungen der Richtigkeit, sondern auch nachher ver-
öffentlichte neue Beweisstellen haben sowol meine Auf-
stellung im Allgemeinen, wie zugleich die von mir an-
genommene Enstehungszeit bestätigt. Es ist demungeachtet
noch jetzt von Werth im Einzelnen darzuthun, wie sich
das Trauerspiel in Hinsicht auf Inhalt und Form an Cal-
deron anschloss und noch weiter anschliessen sollte.
Betrachten wir zunächst den Inhalt des entworfenen
Trauerspiels, wie solcher aus den einzelnen ausgeführten
Stellen durch Vergleichung unter sich und mit der daraus
hervorbhckenden Absicht des Ganzen herauszulesen ist.
Ein heidnischer Dynast wird von einem Kaiser —
anscheinend römischer, fränkischer oder deutscher Nation
— bedrängt und in seiner Stadt oder Burg belagert.
Nicht geringere Bedrängniss erv^^ächst ihm daraus, dass
seine Kinder, ein Sohn und eine Tochter, sich dem
Christenthum zuneigen, die letztere auch ein Liebesverhält-
niss mit einem Christen im Gefolge des Kaisers (auf diese
Stellung deutet sein, jedenfalls auf Kaiser Karls des Grossen
Geheimschreiber anspielender Name Eginhard) eingegangen
ist. Das Stück beginnt in emem unterirdischen Gewölbe,
in welchem die Tochter gefangen sitzt und die Härte be-
klagt, mit welcher sie der sonst so gute Vater behandelt^
Während sie mit Schrecken gewahrt, dass ihr die gewöhn-
liche Nahrung nicht verabreicht wird und sie sich für zum
Hungertod verurtheilt halten mag, kommt Eginhard, von
Fackelträgern begleitet, herbei. Sie, nichts andres vermuthend,
als dass ihr Vater endlich nachgegeben habe und dadurch
dem Geliebten die Möglichkeit geboten worden sei, zu ihr
zu gelangen, ergiesst sich in Freude über die verwandelte
Gesinnung ihres Vaters und bevor Eginhard, durch diese
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lyo Dramatische Entwürfe Goethe's.
Deutung in Verlegenheit gesetzt, die Geliebte aufzuklären
vermag, naht wieder ein Zug, an dessen Spitze ihr Bruder
schreitet. Auch diesen überhäuft sie mit Ausbrüchen der
Freude, immer noch im Wahn einer Wandlung des väter-
lichen Willens, und ehe der Bruder dagegen zu Worte
kommen kann, findet sich die Tochter unvorbereitet und
plötzHch vor der hereingetragenen Leiche ihres Vaters, vor
der sie in tiefstem Schmerz zusammenbricht. Ein gleich-
falls vor der Leiche niedergesunkener Knabe (Edelknabe ?)
wird gewaltsam hinw^eggestossen ; wir haben vorauszu-
setzen, dass er zu den nunmehr haupt- und schutzlosen
heidnischen Anhängern des Dynasten gehört.
Nachdem Sohn, Tochter und Eginhard sich sammt
den Leichenträgern entfernt haben, bleiben nur noch der
ohne Besinnung am Boden liegende Knabe und ein andrer
Anhänger des Dynasten und des Heidenthums, genannt
»der Treue«, bei der Leiche zurück. Nachdem ersterer
sich erholt und gegen die Leiche das Verzweiflungsvolle
seiner Lage ausgesprochen hat, deutet der Treue ihm an,
wie es möglich sei, den Todten — den wir hiernach für
noch nicht gestorben annehmen müssen — sowie sich selbst
zu retten und zwar auf demselben Weg, auf welchem sie
sich mit dem lebenden Dynasten zu retten beabsichtigt
hätten. Um hierzu Vorbereitungen zu treffen, entfernt sich
der Treue, den Knaben bei der Leiche zurücklassend.
Derselbe entschlummert; indessen erwacht der Dynast
vom Tode und weckt den Knaben auf, der ihm aus-
einandersetzt, w^o sie sich befinden und wie sie hierher
gelangten. Der Treue kommt mit Anderen hinzu, die
Leiche zu holen, als sie aber ihren Gebieter am Leben
finden, verbinden sie sich mit ihm und verabreden das
Nöthige zur Rettung.
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Trauersfiel in der Christenheit. 171
Der dritte Aufzug führt die Taufe des Sohnes und
der Tochter des Dynasten durch einen Bischof vor;
geistHche und wehliche Zeugen sind zugegen. In der
Taufrede schildert der Bischof eindringlich die Gefahren,
die für die Neubekehrten aus dem Bekenntniss des Christen-
thums entspringen und fordert von ihnen, wenn es die
Umstände erheischen sollten, das Märtyrerthum. Nach
vollendeter Taufhandlung tritt Eginhard auf, um die
Tochter werbend, erlangt die Einwilligung des Bruders,
dann auch die Zustimmung des Bischofs und wird nun
von diesem getraut. Kaum ist die Trauung vollzogen,
so erscheint zunächst der Treue und veranlasst durch
eine vorgegebene Nachricht den Sohn, sich von den
übrigen zu trennen; hierauf tritt der alte Dynast auf,
trennt seinerseits die Tochter von Eginhard und den
Andern, so dass der Bischof, Eginhard und die Tauf-
zeugen abgesondert stehen, die sodann sogleich entlassen
werden.
Noch ist für den Dynasten die Möglichkeit vorhanden,
sich der drohenden Übermacht des Kaisers zu entziehen:
er will flüchten und die Kinder sollen ihm folgen. Er ver-
sucht deshalb zunächst den Sohn und dann die Tochter
dem Christenthum abwendig zu machen, allein der Zwie-
spalt zwischen der alten zusammenbrechenden und der
neuen aufsteigenden Bildung, dem Sohne gegenüber in
kriegerischer und poUtischer, der Tochter gegenüber in
reUgiöser und herzlicher Weise zum Durchbruch kom-
mend, ist zu entschieden, als dass Einigung zu erzielen
wäre. Als hierauf der Treue Nachrichten überbringt,
aus denen die inzwischen eingetretene Schwierigkeit des
Entkommens hervorgeht, wird der Entschluss gefasst,
eher den Tod als Unterwerfung unter den Kaiser zu
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172 Dramatische Enrwürfe Goethe's.
wählen und zu diesem Ende selbst gegen die Kinder Ge-
walt anzuwenden.*)
Im letzten Aufzug ist die Flucht abgeschnitten; der
Dynast hat sich mit dem Knaben in einen Thurm einge-
schlossen, in dem auch Sohn und Tochter sich gefesselt
befinden. Die Schlüssel des Thurms werden hinunterge-
worfen : es soll offenbar den Eingeschlossnen nur die Wahl
bleiben zwischen Hungertod oder Selbstmord, weshalb
auch Dolche herbeigeschafft werden. Der alte Dynast und
der Knabe erstechen sich — die Neubekehrten aber werden
durch den sich Eingang erzwingenden Eginhard gerettet.
Ehe w^ir diesen Inhalt sowol, als auch die in den Bruch-
* stücken erkennbaren Formen mit Calderon's Schauspielen
näher vergleichen, wollen wnr uns vergegenwärtigen, welche
derselben Goethe zur Zeit der Entstehung des Entwurfs
kannte, weshalb aber zunächst diese Zeit zu ermitteln und
festzustellen ist.
Auch ohne Kenntniss bestimmter Angaben hierüber
könnte man denselben nur zwischen 1807 und 1810 setzen.
Vor dem Januar 1804 kann eine dichterische Durchdringung
Calderons nicht stattgefunden haben : die Wärme, mit
welcher Goethe Schillern den Genuss schildert, den er
vom »Standhaften Prinzen« hatte, zeugt für die Frische
des Eindrucks, den ihm die noch neuartige Erscheinung
hervorrief. Von da ab war aber Goethe bis in den August
mit der Bühnenbearbeitung des »Götz von Berlichingen «
beschäftigt, und den übrigen Theil des Jahres 1804 bis in's
*) In Go€thc's Entwurf steht allerdings im IV. Aufzug, i. Sceae: »will die Kinder
mit ihrem Willen mitnehmen«; allein wenn es in der a. und 4. Scene nach dem Gesprich
des Vaters mit den Kindern heisst: »sie werden nicht einig«, und in der i. Scene des
V. Aufzugs »Sohn und Tochter werden heraufgebracht und gefesselt«, so ist unzweifelhaft
»mit ihrem Willen« nur ein Hörfehler beim Dictiren für »wider Willen«.
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Trauerspiel in der Christenheit. 173
nächste hinein nahm ihn die Übersetzung von »Rameau's
Neffen« in Anspruch. Nach Schiller's Tod ging er längere
Zeit damit um, den »Demetrius« zu vollenden und schildert
sich selbst nach Aulgeben dieses Vorhabens als ganz un-
fähig und unthätig; die Schrift »Winckelmann und sein
Jahrhundert«, die Umgestaltung der »Stella« zu einem
Rührspiel behufs ihrer Darstellung, die nachmalige Wieder-
vornahme des Epos »Teil«, der Abschluss des ersten Theils
des »Faust«, der erste Theil der »Pandora« füllen neben
kleineren Schöpfungen die Zeit bis in's Jahr 1807, und es
findet sich bis dahin keine Lücke, in welche sich mit
Wahrscheinlichkeit die Müsse zur Beschäftigung mit einem
neuen Trauerspiele einschieben Hesse. Auf dieses Jahr lenkt
aber die Aufmerksamkeit die Äusserung in den »Tag- und
Jahresheften « : »Eine höhere Bedeutung für die Zukunft
gab sodann »»Der standhafte Prinz««, der, wie er einmal
zur Sprache gekommen, im Stillen unaulhaltsam fortwirkte.«
Berücksichtigt man, dass dem Zusammenhange nach diese
gehahvoUen Worte auf Goethe selbst zu beziehen sind, so
lässt sich nicht verkennen, dass sie sehr nachdrückHch auf die
Vorbereitung eines grösseren Werks, das im »Standhaften
Prinzen« seine Quelle hatte, hinweisen. Die Bearbeitung des-
selben für die Aufführung kann damit nicht gemeint sein-
denn da diese Goethe 1810 viele Unruhe machte und doch
erst zum Schlüsse des Jahres zu Stande kam, so kann sie ihn
nicht schon 1807 so durch und durch eingenommen haben, um
jene gewichtigen Worte zu rechtfertigen. Bemerkenswerth
ist auch, dass nach der 1807 beendigten »Pandora« eine
Lücke in Goethe's sonstigen Bühnenschöpfungen wahr-
zunehmen ist, wie ausserdem im ganzen Leben bis 181 1 nicht.
Ein späteres Jahr, als 1810 könnte jedoch als das der
Entstehung der Fragmente nicht in Frage kommen, da
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174 Dramatische Entwürfe Goethe's.
Goethe nach der Vorstellung des »Standhaften Prinzen«
sich nicht mehr mit solcher Begeisterung, sondern nur als
Bühnenleiter oder als kühlerer Beurtheiler über das spanische
Drama ausspricht. Die Gränze dieses Jahres stellt auch
Goethe in dem Aufsatz »Epochen deutscher Literatur«
dadurch selbst fest, dass er für die »spanische Cultur« die
Zeit von 1790 bis 1810 bezeichnet. Diese Epochen hat er
unverkennbar wesentlich nach seinem eignen Bildungs-
gange entworfen, was im vorliegenden Falle schon daraus
hervorgeht, dass im Allgemeinen für Deutschland die spa-
nische Epoche noch keinesw^egs vorüber war, ja die eigent-
liche Wirkung derselben durch vielfache Nachahmungen
hauptsächlich erst nach 18 10 sich geltend machte.
Auf eine um einige Jahre vor 18 10 zurückHegende
Entstehung des Trauerspielbruchstückes führt aber auch
Riemer, w^elcher von der, von ihm »Eginhard« benannten
Tragödie erzählt, Goethe habe zu derselben, die er schon
früher concipirt und ihm dictirt gehabt, 18 lO noch be-
sondere Studien gemacht und deshalb namentlich Egin-
hards Leben Karls des Grossen und Turpins Chronik
fleissig gelesen;*) zufolge Strehlke's Mittheilung weist
Goethe's Tagebuch dies für den 16., 18., 19. und 20. April
dieses Jahres nach. **)
Hatte ich aus diesen Gründen früher schon die Zeit
der Entstehung der Fragmente in's Jahr 1807 gesetzt, so
ist seitdem noch eine bestimmte Angabe von Goethe
selbst bekannt geworden und zwar aus seinem Tagebuch,
in dem er unterm 20. August 1807 den »Einfall und Vor-
satz an einem dramatischen Stück zu arbeiten« und unterm
•) Mittheüungen über Goethe. Von Riemer. II. Bd. S. 622.
••) Goeihe's Werke. Berlin. Hcmpcl. X, 559.
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Trauerspiel in der Christenheit. 175
8. des nächsten Monats das Schema zum »Trauerspiel in
der Christenheit« erwähnt hat.*) Dass unter dieser Be-
zeichnung nur der hier in Rede stehende Entwurf gemeint
sein kann, ist theils nach der vorstehenden Entwicklung,
theils um desswillen ausser Zw^eifel, weil schlechterdings
kein anderes Bühnenstück Goethe's bekannt ist, das vor-
zugsweise »christlich« genannt werden könnte.
Es sollten also hier die Stücke Calderons überblickt
werden, die Goethe zur Zeit der Entstehung des »Trauer-
spiels in der Christenheit« kannte. Ganz unzweifelhaft ist
es zunächst — abgesehen von den heiteren Comödien
»Die Schärpe und die Blume«, sowie »Über allen Zauber
Liebe« — von ernsteren Stücken »Die Andacht zum
Kreuze« und »Der standhafte Prinz«, welche bis 1807
wiederholt von Goethe berührt werden; im hohen Grade
wahrscheinHch ist es aber auch, das er damals schon die,
allerdings erst 1809 in Schlegels Übersetzung veröffent-
hchte »Brücke von Mantible« kannte, wie ihm Schlegel
ja schon anfangs 1804 oder gar schon 1803 die ebenfalls
1809 erschienene Übersetzung des »Standhaften Prinzen«
mitgetheilt hatte. Gewiss war ihm aber auch damals schon
»Das Leben ist Traum«, w^enigstens in den altern deut-
schen Bearbeitungen bekannt.
Was nun Goethe in dem Aufsatz über »Calderon's
Tochter der Luft« als Inhalt aller Stücke dieses Dichters
hervorhebt : »Widerstreit der Pflichten, Leidenschaften, Be-
dingnisse, aus dem Gegensatze der Charaktere, aus den
jedesmaligen Verhältnissen abgeleitet«, das finden wir in
den ebengenannten Dramen, so auch in dem Entwürfe,
in welchem die Anhänglichkeit an überkommene Zustände,
*) Weimarer Sonntagsbhtt. III. Jahrg. Nr. 36. S. ^62 f.
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176 Dramatische Entwürfe Goethe's.
an's anerzogene Heidenthum, ja an das Leben selbst mit
dem Eifer und dem Gelübde für das Christenthum in Zu-
sammenstoss geräth.
Der christliche Inhalt des Trauerspielentwurfs ist es
besonders, der diesen mit den beiden Calderon'schen
Stücken, die Goethe damals am meisten ergriffen hatten,
mit der »Andacht zum Kreuze« und dem »Standhaften
Prinzen« in Verbindung bringt. Namentlich den letzteren
durchdrang er mit Wärme, brachte ihn zur Aufführung
und hatte gleich nachdem er ihn kennen gelernt an Schiller
geschrieben: »Man wird, wie bei den vorigen Stücken,
aus mancherlei Ursachen im Genuss des Einzehien, be-
sonders beim ersten Lesen gestört; wenn man aber durch
ist und die Idee sich wie ein Phönix aus den Flammen
vor den Augen des Geistes emporhebt, so glaubt man
nichts Vortrefflicheres gelesen zu haben. Es verdient ge-
wiss neben der »»Andacht zum Kreuze«« zu stehen, ja man
ordnet es höher, vielleicht weil man es zuletzt gelesen hat
und weil der Gegenstand sowie die Behandlung im höchsten
Grade Hebenswürdig ist. Ja ich möchte sagen: wenn die
Poesie ganz von der Welt verloren ginge, so könnte man
sie aus diesem Stück wiederherstellen.« Auch in der
Äusserung, die Riemer, wol aus einem Brief an Knebel,
unterm 17. October 1812 aufführt, erkannte Goethe Cal-
deron's Stärke im Christlichen seiner Stoffe. Aber ausser
durch diesen christlichen Inhalt erinnert das Trauerspiel
auch noch dadurch auffallend an den »Standhaften Prinzen«,
dass darin wie in diesem neben den religiösen Beweg-
gründen auch poUtische wirken. In Calderon's Schauspiel
ist die Herausgabe Ceuta's der Lösepreis für Don Fernando,
den dieser selbst verv^-irft, um Portugal nicht dadurch zu
schädigen, und in dem Umriss des zweiten Auftritts im
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Trauerspiel in der Christenheit. 177
vierten Aufzug des »Trauerspiels in der Christenheit« tritt
auch zwischen Vater und Sohn dasselbe Motiv zugleich mit
Beziehung auf das Vaterland an den Tag.
Das Märtyrerthum bildet aber sowol im »Standhaften
Prinzen« wie in Goethe's Trauerspielentwurf den Kern
der Handlung; im letztern kommt es zwar nicht zum
Vollzug — wenigstens nicht auf christUcher Seite — allein
es beginnt doch mit der Einkerkerung der Tochter und
steht noch im Hintergrund bei der Ausdauer der beiden
gefesselten Kinder, sowie endlich die unbedingte Forderung
der Hingabe an's Christenthum bis zur Blutzeugenschaft
durch die Verse hervorgehoben ist:
Und wenn das grimme Feuer um uns lodert,
Das Märtyrthum, es w^rd von uns gefodert.
Da diese Verse nebst dem unter den Bruchstücken
zuletzt stehenden Vers die einzigen, einem spätem Auf-
zug angehörigen sind — alle übrigen fallen in den ersten
Aufzug — also von Goethe als besonders wichtig ziemUch
allein und ohne Zusammenhang vorgreifend niederge-
schrieben worden sind, so werden wir schon durch diesen
Umstand darauf geführt, in ihnen etwas Entscheidendes,
die Grundlage des Drama's zu suchen.
Es versteht sich von selbst, dass Goethe das Christen-
thum nicht in Calderon's Weise als eine düstere Macht,
der man sich bHndlings überliefern müsse, auffassen konnte :
er lässt das gegenüberstehende Alte und das treue Fest-
halten an demselben gleichfalls gelten, nur dass es endUch
vor dem Überwältigenden der neuen Bildung weichen
muss. Goethe hat in dem Trauerspiel offenbar das Christen-
thum in seinen bedeutendsten Eigenthümlichkeiten zur
Darstellung bringen w^oUen, daher zuvörderst der Gegen-
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178 Dramatische Entwürfe Goethe's.
satz heidnischer Zustände und der kräftigen wie pietäts-
vollen Anhänglichkeit an denselben, besonders in der
vierten und fünften Scene des ersten Aufzugs, im zweiten
Aufzug sowüe in der zweiten und der vierten Scene des
vierten Aufzugs; daher die symbolische Handlung der
Taufe, die Aufnahme in die Christengemeinschaft, wobei
sich die schicklichste Gelegenheit bot, auf die geheimniss-
volle Kraft der Offenbarung und die Bedeutung der neuen
Lehre hinzuweisen ; daher ferner die Trauung, durch welche
das Christenthum segensreich in*s Familienleben eingreift;
daher die drohender Gefahr gegenüber bethätigte Ausdauer
der Neubekehrten bis zum Entschluss zur Blutzeugenschaft ;
daher das gläubige Vertrauen auf die nur durch ein Wunder
möglich scheinende Rettung, indess die Heiden sich ver-
zw^eifelnd den Tod geben. So sollten die verschiednen
Kundgebungen des Christenthums vorgeführt werden.
Vergleichen wnr den Inhalt des Entwurfs mit dem
»Standhaften Prinzen« und der »Andacht zum Kreuze«
weiter, so erinnert auch der Scheintodte dort an die —
hier freilich zu christlichen Zwecken — zum Scheinleben
wunderbar Erweckten, Prinz Ferdinand und Eusebio, so-
dass nicht zu bezweifeln ist: Goethe w^oUte durch den
Scheintodten und durch die Rettung zum Schluss ähn-
liches, nur natürlich darstellen, was als Wunder bei Cal-
deron erschien, der, wie es im Aufsatz über die »Tochter
der Luft« heisst, genöthigt war Absurdes zu vergöttern.
Ferner klingt noch ein Motiv an Calderon an, und
zwaV die Aussicht auf den Hungertod im Thurme und das
Eindringen der Retter, was ganz unerwartet erfolgt, nach-
dem durch das Beseitigen der Schlüssel und die sonst un-
mittelbar vorausgegangenen Begebnisse die im Thurm
eingeschlossenen Personen auf Lebenszeit von der Welt
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Trauerspiel in der Christenheit. 179
geschieden zu sein scheinen. Das Gleiche ereignet sich in
der »Brücke von Mantible«, und deshalb mag Goethe
auch für seinen fünften Aufzug eine ebenso künstHch zu-
sammengesetzte und — nach seiner eignen Bemerkung —
nicht durch Worte, sondern nur durch Zeichnung begreif-
lich zu machende Decoration im Sinn gehabt haben, wie
sie der Schluss des genannten Calderon'schen Stückes
voraussetzt.
Und da einmal einer Decoration Erwähnung geschehen
ist, mag noch darauf hingedeutet werden, dass die im
ersten und zweiten Aufzug, des Trauerspielfragments mit
ihrem Gemisch von felsigen Höhlen und künstlich her-
gerichteten Aufenthaltsräumen an die Scenerie des ersten
und dritten Tagwerks von »Das Leben ist Traum« er-
innert. Goethe wollte mit den ungew^öhnlichen Decorationen
jedenfalls insoweit das »Theatralische« berücksichtigen, das
er im oftgedachten Aufsatz dem Calderon vorzugsweise
zuschreibt und auf das Calderon bedacht sein musste,
um den Forderungen der prunkliebenden Bühne Philipps IV.
zu genügen.
Wie der Inhalt Calderon'scher Dramen überhaupt auf
Gegensätzen beruht, so auch die Ausführung der Entwick-
lung. Goethe sagt im Aufsatz über »Die Tochter der
Luft« : der Plan liege klar vor dem Verstände und deute
auf die Technik der komischen Opern hin. Zum Theil
offenbart sich hierin, was Goethe in demselben Aufsatz
»bretterhaft« an Calderons Dramen nennt. So ist im
»Standhaften Prinzen« der Held des Stücks, Fernando,
erst Cberwinder des Feldherrn des Königs von Fez, dann
Gefangner dieses Königs; hieraufsehen w^r ihn vom König,
der als Lösegeld für ihn Genta zu erhalten hofft, uner-
wartet geehrt, später aber, als Fernando selbst diesen Löse-
12*
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l8o Dramatische Entwürfe Goethe's.
preis zurückweist, auPs schmählichste misshandelt; endlich
führt er als Todter seine Landsleute und Glaubensgenossen
zum Siege und wird als Leiche noch an Werth der Prin-
zessin von Fez gleichgehalten. Ebenso wechselnd erscheint
das Liebesverhältniss zwischen der fezanischen Prinzessin
Phönix und dem Feldherrn Muley : Eifersucht, gegenseitige
Beglückung, Schmerz wiegen der Nöthigung zur Heirath
mit dem König von Marokko, endlich aber Aussicht auf
Vereinigung mit dem Geliebten auf Fürbitte des feind-
lichen Königs von Portugal. Solche in opernmäsigen Gegen-
sätzen sich bewegende Schauspielanlage steht der sich in
stetiger Steigerung entwackelnden Anlage eines Schau-
spiels von höherem Kunststyl ebenso gegenüber, wie die
Parallelismen einer unausgebildeten Dichtkunst dem fort-
laufenden Erguss einer höheren.
In derartigen Gegensätzen bewegt sich denn auch das
»Trauerspiel in der Christenheit«: erst die eingekerkerte,
vom Hungertod bedrohte Tochter, dann das Eindringen
des Geliebten, der sie befreit; hierauf das durch das
Zwischenreden des Bruders nicht zu hemmende Entzücken
über die vermeintliche Versöhnung des Vaters, gleich dar-
nach das Herzubringen seiner Leiche; w^eiter die engste
Vereinigung durch die Trauung von Seiten des Bischofs
und unmittelbar folgend die Trennung durch den aken
Dynasten; endhch Sohn und Tochter abermals gefesselt
und angesichts des Hungertodes, dann aber wieder zum
Schluss plötzliche Befreiung.
Diese Parallelismen durch Gleichnisse und Gegensätze,
die Goethe im Brief an Gries vom 20. Mai 1821 theils als
poetische Gleichnissfülle bewundert, theils als übermässig
rhetorisch tadelt, kommen bei Calderon auch in der Aus-
führung im Ausdruck mannigfach und gehäuft zur Er-
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Trauerspiel in der Christenheit. l8l
scheinung, und ebenso hat sie Goethe in den Bruchstücken
des Trauerspiels angewandt. Es ist nicht Goethe's natür-
liche, sondern Calderon's berechnete Weise, wenn in den
Bruchstücken seitens der Tochter die starren Felsen dem
harten Vater, das freundliche Walten Gottes dem Glücke
des Tags, das Wesen des Vaters dem Rinnen des 'Bachs
und dem Brausen des Bergstroms verglichen, sowie der
die Tochter umgebenden Nacht das blinkende Auge des
Bruders, dem klangberaubten Schweigen seine Trost- und
Liebesworte entgegengesetzt werden.
Ebensowenig sind acht Goethe'sch Geberden- und
Versparallelismen wie folgende:
Ja, ich bin's (knieend) zu Deinen Füssen!
Ja, ich bin's (sich nähernd) in Deinen Armen!
Bin der Redliche, der Treue,
Der, und w^enn du staurrend zauderst,
Der und wenn Du fürchtend zweifelst.
Immer wiederholt und schwöret:
Ewig ist er Dein und bleibt es!
oder :
Glänzend wie der Sommer Sonnen,
Tief wie klare Sternennächte.
Ebenso fremdartig muthet an:
Du bringst nun, Bruder, mich mit Eiijem Male
Dem Licht des Tags, dem Vater, dem Geliebten !
Man halte daneben beispielsweise aus dem » Standhaften
Prinzen « die Vergleichung der Prinzessin Phönix erst durch
ihre Dienerin mit der Morgenröthe und nachher durch Muley
mit der Sonne; oder die vielen Gleichnisse, die Fernando
gegen Ausgang des ersten Tagwerks auf ein rasches Pferd
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l82 Dramatische Entwürfe Goethe's.
vorbringt; oder die Gegensätze, die Alfons gegen Ende
hin in Bezug auf die Auswechslung der Prinzessin gegen
die Leiche des Prinzen zusammenstellt; ferner Verse, wie
die Fernando*s im dritten Tagwerk:
Ob ich noch mehr Qualen dulde,
Ob ich noch mehr Härte sehe.
Ob ich noch mehr klag' im Drucke,
Ob ich noch mehr Noth erlebe.
Ob ich fühle noch mehr Busse,
Ob ich noch mehr Hunger leide etc.
oder endlich den Schluss der längern Rede der Prinzessin,
worin sie die vorher angestellte Vergleichung zwischen
dem blühenden Garten und dem wellenkräuselnden Meer
sow^e die Schilderung des Einflusses derselben auf ihre
Gemüthsstimmung in den Worten sammelt:
Gross gewisslich ist mein Schmerz,
Da nicht lindern die Beschwerde
Flur und Himmel, Meer und Erde!
Ähnliche Stellen bieten alle Bühnenspiele Calderon's in
Menge zur Vergleichung.
Diese Formen sind alle dermassen auf den Verstand
berechnet, dass durch sie schon der Antheil des Gemüths
an der Dichtung fast 'ausgeschlossen wird, und gerade hebt
Goethe ganz ausdrücklich im oft gedachten Aufsatz über
»Die Tochter der Luft« die Gemüthlosigkeit Calderon's
hervor. Im »Trauerspiel in der Christenheit« scheint er
solche dadurch anzudeuten beabsichtigt zu haben, dass er
nach dem Erwachen des alten Dynasten ganz besonders
vorschreibt, es solle zwischen ihm und dem ihn eben
noch als todt beweinenden Knaben sein »als wenn
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Trauerspiel in der Christenheit. 183
er gewöhnlich aufwacht«; und dann, als der Treue hinzu-
gekommen und das weitere verabredet ist, sie sollen sich
vertheilen »froh, als ob nichts gewesen wäre«. Es sollte
also jede Rührung beim Wiedererstehen vom Tod entfernt
bleiben.
Vergleichen w^ir nunmehr noch die aus den Bruch-
stücken ersichtlichen Sprachformen mit denen Calderon's,
so fällt uns zuerst der vierfüssige trochäische Vers auf,
welcher eine so entschiedene Eigenthümlichkeit der classi-
schen Bühnendichtung Spaniens ist, dass ihr Vorfinden in
den Bruchstücken des Trauerspiels schon ein untrüglicher
Führer zu der Quelle desselben sein müsste. Nun erscheint
dieser Vers in den spanischen Comödien entweder als
Redondilla mit Reim oder als Romanzenvers mit Assonanz,
und Goethe hat in den wenigen Bruchstücken, die er zu
Papier gebracht, gleich Beispiele beider Arten dieses Verses
ausgeführt, — allerdings in seiner Weise nicht streng nach
den Regeln spanischer Verskunst, sondern nur anähnelnd.
Während in der Redondilla immer zwei sich reimende
Verse zwxi andre mit gebundnem Reim einschliessen,
lässt Goethe — aber auch nicht durchgängig — Zeile auf
Zeile reimen, ja sogar, was bei Calderon gar nicht vor-
kommt, drei solche Verse hintereinander. An Stelle der
assonirenden hat er — ebenfalls ganz unspanisch — völlig
reimfreie gesetzt, wol absichtlich, da unser an Assonanzen
nicht gewöhntes Ohr dieselben überhört und ein assoni-
render Vers wie ein reimloser klingt, weshalb auch Herder
es bei seiner Übertragung der Cidromanzen für einen un-
fruchtbaren Zwang ansah, sich die Fessel fremdartiger
Assonanzenreihen aufzulegen. Demungeachtet scheint es,
als habe Goethe den Versuch nicht umgangen, da in dem
Bruchstück des Gesprächs zwischen der Tochter und
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Dramatische Entwürfe Goethe's.
Eginhard die Versendungen »bin es« — »versichern«
und »Füssen«, mehr aber noch die gleich darauf folgen-
den »Treue« — »zweifelst« — »bleibt es« — »schwei-
gest« — »meine« — Assonanzen z. Th. sind, z. Th. doch
wol sein sollen.
Calderon bleibt aber bei diesem Grundvers der Co-
mödien nicht stehn, sondern geht oft in Liras, Verse von
ungleichen Längen, sowie in gereimte Hendecasyllaben
über, und auch hiervon finden sich, wenn auch sehr frei
behandelte Beispiele in Goethe's wenigen Bruchstücken, so
dass er sofort bei den ersten Aufzeichnungen seinem Vor-
bild in allen Formen des Verses ebenso zu folgen unter-
nahm, wie es hinsichtlich des Ausdrucks der Fall war.
Er hat auch ein Bruchstück mit reimlosen Jamben, die
zwar Calderon's Vorgänger hatten — auch neuere Bühnen-
dichter wieder angenommen haben — nicht aber Calderon
selbst; dass indess Goethe jene Vorgänger wenigstens
später kannte, ist aus dem in den » Nachgelassnen Wer-
ken«, also nach 1828 hinzugekommnen Schluss des Auf-
satzes »Französisches Haupttheatcr « ersichtlich, worin auf
das wechselnde Sylbenmass Guillen de Castro's Bezug
genommen ist.
Eine vorzugsweise in die Augen springende Eigenheit
Calderon's, die auch Goethe wiederholt berührt, scheint
er aber im »Trauerspiel in der Christenheit« ganz beiseit-
gelassen zu haben: den Gracioso. Es fällt dies um so
mehr auf, als Goethe seiner immer mit Behagen gedenkt;
allein es lässt sich wol denken, dass er nicht wagte diese
nicht nur einem reinen Kunststyl, sondern auch unserm
geläuterten Geschmack widerstrebende Einmischung des
Lächerlichen, oft Platten in das Ernste und Hohe der
heutigen Bühne zuzumuthen. Er konnte den Gracioso an
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Trauerspiel in der Christenheit. l8y
sich reizend finden, ohne sein Auftreten in bestimmten
Schauspielen zu billigen. Goethe warnte ja auch selbst
z. B. in »Deutsches Theater — Einzelnes« und im Brief
an Zelter vom 28. Februar 181 1 nachdrücklich vor allzu-
treuer Nachahmung Calderon's, weil er dem guten Ge-
schmack gefährlich werden könnte ! Nichtsdestoweniger
bleibe dahingestellt, ob er nicht wenigstens einige Züge
des Gracioso, namentlich seine auf Linderung starker Ein-
drücke berechnete Richtung in dem »Treuen« anbringen
wollte; denn dessen Erwähnung in der Inhaltsangabe des
Stücks, wonach er fast gar keinen Einfluss auf die Hand-
lung zu haben scheint, wird nur durch eine charakteris-
tische Bedeutung dieser Person erklärt werden können;
darauf aber, dass deren Charakter kein tiefer, sondern ein
leichter, heitrer sein sollte, bezieht sich vielleicht die
schon angeführte, auf den ersten Anblick befremdende
Andeutung in der Inhaltsangabe des zweiten Aufzugs, dass
der Treue und sein Begleiter das Wiederaufleben ihres
Herrn gleichgültig nehmen, als ob nichts Besondres vor-
gefallen wäre. Selbst die Bezeichnung »Der Treue« mag
einer Eigenschaft des Gracioso entnommen sein.
Goethe ist aber bei der versuchten Nachbildung Cal-
deron'scher Dichtungsweise nicht bloss vorstehendem zu-
folge absichtlich in einzelnen Beziehungen von seinem
Muster abgewichen, sondern ist ihm seiner Natur gemäss
im Grunde völlig fern geblieben. Goethe erkannte so
klar, wne diese Dichtung uns und insbesondre auch ihm
innerlich fremd sei, und er selbst war in einem höhern
Sinn ein so ganz und vollgültig ausgeprägter Dichter, dass
er auf den Versuch hätte verzichten sollen, die Eigen-
thümlichkeiten eines andern, die er in ihrer Ausbildung
bewundem mochte, die aber theils eben als Eigenthüm-
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l86 Dramatische Entwürfe Goethe*s.
lichkeiten unnachahmbar, theils doch nur glänzende Fehler
waren, in einem selbständigen Dichterwerke wiederzu-
geben. Aus dem blossen Entwurf ist schon herauszufühlen,
dass dem Trauerspiel Goethe's die Leichtigkeit des Gusses,
welche er nach Riemer am 17. November 1809 dem Cal-
deron nachrühmte, gefehlt haben würde; das Rednerische,
das bei Calderon wie ein Sprudel aus dem Boden heraus-
schiesst, erscheint in Goethe's Bruchstücken wie der Ab-
fluss eines Pumpwerks.
Die Gleichnisse sind zwar in Goethe's Bruchstücken
viel natürlicher als grossentheils bei Calderon, allein diesem
war es eben um die Bewunderung des Geschicks in Her-
beiziehung unerw^arteter Gleichnisse zu thun, und daran
ist bei Goethe nichts wahrzunehmen; die Verwickelung
ist ferner von diesem nicht so künstHch verschlungen
angelegt, dass man wie in Calderon's Stücken bei jeder
Situation mit höchster Spannung der Lösung entgegen-
harrt; was bei Calderon Überraschung oder Wunder des
Glaubens ist, erscheint nach den Bruchstücken wie Ver-
blüffung. Dieses Zurückstehn Goethe's gegen Calderon
mag zum Theil Folge richtigerer Erkenntnisse der Kunst-
forderungen sein, aber zum Theil konnte er doch eben
nicht gegen seine Natur und der absichtsvolle Nachahmer
wird nie an den frei Schaffenden reichen. Und endlich,
wenn Goethe auch Treffliches in jener Art leistete, konnte
er einen der Mühe werthen Gewinn erhoffen? Und doch
hatte er, indem er Calderon's reUgiöse Stücke (»comedias
divinas«) nachzubilden trachtete, mit sicherem Tacte noch
die uns zugängUchste Dramengattung ausgewählt, da die
Modemisirung der mythischen, die Abenteuerlichkeit der
geschichtlichen und die Spitzfindigkeit der Mantel- und
Degenstücke Calderon*s uns noch ungeniessbarer sind.
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Trauerspiel in der Christenheit. 187
Goethe sah denn auch zeitig genug ein, dass er mit
ungleichen Wafien neben Calderon locht und gab den
Wettkampf auf. Dagegen ging er nunmehr daran des
Spaniers eigne Werke, die sich also gleich als etwas
fremdartiges ankündigten und denen daher der Zuschauer
mit andern Erwartungen gegenübertrat, der deutschen Bühne
zuzuführen. Er veranlasste daher Bearbeitungen Calde-
ron'scher Schauspiele durch Einsiedel, Riemer und Wolti,
aber auch nur mit dem Ertolg des UngewöhnUchen auf
wenige Jahre.
Haben wir nun als erwiesen anzusehen, dass das
»Trauerspiel in der Christenheit « dasjenige durch Goethe's
Wesen als nothwendig bedingte Erzeugniss seines Dichter-
geistes war, durch welches er sich von dem gewaltigen
Eindruck, den Calderon auf ilin gemacht hatte, zu befreien
trachtete, indem er in demselben Inhalt und Form der
spanischen Bühnendichtungen nachzuschatfen gedachte, so
erübrigt nur noch auf den Stoff des Bruchstücks näher
einzugehn und zu ermitteln, woher ihn Goethe nahm.
Riemer deutet in seinen Mittheilungen (II, 622) darauf
hin, dass er der Chronik Turpin's oder dem Leben Karl's
des Grossen von Eginhard entlehnt sei. Wenn schon
Goethe jene Schriften möglicherweise zu dem allgemeinen
Zw^ecke las, daraus Ansichten, Stimmungen und Zustände
der Zeit, in welche er das »Trauerspiel in der Christen-
heit « verlegen wollte , kennen zu lernen , so durfte
man doch von vornherein für wahrscheinlich halten,
dass er die Begebenheiten desselben ebenfalls daraus
geschöpft habe. Und da lesen wir denn in der That
Folgendes in Turpin's Chronik aus der Geschichte vom
heiligen Eutrop, die offenbar das Gerüst des Trauerspiels
in sich birgt.
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D.IAMATISCHE EXTWÜ:^FE GoETHE'S.
»Der heilige Petrus, welcher damals in Antiochien
weilte, trug ihm [dem h. Eutrop] auf, nach Elleposella zu
gehn, dort zu predigen und öffentlich den Namen unsers
Herrn zu verkündigen, auch dabei seine drei Gefährten
mit sich zu nehmen ; der heilige Dionys aber wurde durch
besagten heiligen Petrus nach Paris in Frankreich ge-
wiesen. Als der ruhmwürdige heilige Eutrop nach Elle-
posella gekommen war, predigte er den Namen unsers
Herrn, konnte aber niemand bekehren ausser Eutella, die
Tochter des Königs Huwant; diese war von Gott erfüllt
und glaubte an die Worte des gebenedeiten Märtyrers.
Die Ungläubigen, welche damals Frankreich bewohnten,
schlugen, misshandelten, höhnten und schmähten den hei-
ligen Eutrop, wenn er von unserm Herrn sprach, aber
jene gebenedeite Jungfrau Eutella heilte ihn von seinen
Schlägen und Wunden. [Folgt die Erzählung seiner Reise
nach Rom.] Hierauf empfahl ihm der heilige Clemens
nach besagten Ort [Ellcposella] zurückzugehen, von neuem
den Namen Jesu Christi laut und öffentlich zu predigen
und überdies die Wunder zu verkünden, welche in Rom
durch den heiligen Petrus vollbracht worden seien. Er
gehorchte dem Papst Clemens, wandte sich in jenes Land
zurück und bekehrte vieles Volk, das ihm zuhörte. Aber
die Ungläubigen der Stadt gingen zum König Huw^ant,
schrieen und sagten ihm, sein ganzes Volk sei verloren;
denn alle glaubten dem heiligen Eutrop. Der König Hu-
want schickte einige seiner Leute ab um den guten Hei-
ligen zu tödten, aber als er sie kommen sah, bekehrte er
sie, indem er das Zeichen des Kreuzes machte; sie glaubten
an Gott und er taufte sie deshalb. Der König Huwant
Hess ihnen aus Wuth und Arger den Kopf abschneiden,
weil sie dem Gesetz, an welchem er hielt, untreu gewor-
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Trauerspiel in der Christenheit. 189
den waren. Besagter Huwant schickte ihm hierauf eben-
soviel andre von seinen Leuten zu, nämlich zwanzig seiner
Jäger; sie wurden aber ebenso bekehrt, weshalb er sie
tödten liess wie die ersten. Nachher schickte Huwant
seinen Sohn und zwanzig seiner Kämmerlinge zu ihm und
jener bekehrte sie gleichfalls. Der König Huwant war
sehr erzürnt und wüthend über seinen Sohn und die Leute,
die er hatte tödten lassen, dermassen dass er laut befahl,
Eutrop zum Tod zu führen. Als besagter Eutrop die
Leute des Königs Huwant kommen sah, betrübte er sich
sehr über die, welche um ihres Glaubens wollen getödtet
worden waren und hob sein Angesicht auf gen Himmel,
faltete die Hände und sandte ein Gebet zu unserm Herrn
Jesus Christus, sprechend: Herr Gott, Jesus Christus! Er-
barme Dich ihrer, die um Deinetwillen gemartert worden
sind und grosse Qual erlitten haben, damit sie nicht ver-
dammt werden , sondern ewiglich mit Dir herrschen.
Nachdem der gute heilige Eutrop sein Gebet geendigt
hatte, gaben die, welche abgeschickt waren ihn zu tödten,
ihm den Tod«.
In dieser Erzählung Turpin's giebt es also Bekehrung
des Sohns und der Tochter eines dem Christenthum feind-
seligen heidnischen Fürsten, wie im Trauerspielentwurf,
und zwar im Westen Europa*s, wohin auch die Örtlich-
keit des Entwurfs mit seinem fränkischen »Eginhard« zu
verlegen ist. Sind diese Vorgänge auch nur in den allge-
meinsten Umrissen im Entwurf wiederzufinden und würde
man daher auch nicht ohne sonstige Gründe die Abhängig-
keit des letztern von ersteren annehmen dürfen, so ist
doch eben Riemer's Hinweis auf Turpin ausreichender
Grund dazu.
Riemer benennt den Entwurf »Eginhard«; die mit
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190 Dramatische Entwürfe Goethe's.
diesem Namen bezeichnete Persönlichkeit hat eine viel zu
bescheidne Stellung, als dass Riemer's Vorschlag irgend-
welche Berücksichtigung verdiente. Wahrscheinlich wollte
er seiner Gattin dadurch eine Aufmerksamkeit erzeigen,
da Goethe dieselbe, als sie bei ihm Secretärdienste versah,
seinen »Eginhard« zu nennen pflegte. Ebenso begreift
man nicht, wie Riemer zu dem Beisatz »altdeutsches
Drama« kommt, da Goethe vielmehr bei Beschreibung
der Decoration zum dritten Aufzug das Altdeutsche aus-
drücklich abweist. Jedenfalls genügt für das Fragment
in beiden Beziehungen die Bezeichnung, die Goethe dem
Stück in seinem Tagebuch beilegte: »Trauerspiel in der
Christenheit«.
-^^
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IV. Goethe
MIT
Zeitgenossen.
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I. Goethe und Nicolai.
|''<r-,-^'_^'c.ip man von einem in der zweiten Hälfte
ivm^tfr II '^^^ vorigen Jahrhunderts bis in den Anfang
llll (1 111: kks jetzigen hinein wirkenden Schriftsteller
I ^ ^^Jltl vernimmt, dass er neben sonstigen bedeu-
t '■ ■ '- ■ 'z:::j=d tenden Männern Moses Mendelssohn und
Lessing zu seinen Freunden zählte, w^ährend zahlreiche
andere, darunter keine geringeren als A. W. Schlegel,
Tieck, Lavater, Kant, Fichte, Schelling, Schiller und Goethe,
ihm in Satiren und ganzen wider ihn gerichteten Schriften
schroff entgegentraten, so wurd man fast zu der Annahme
gezwungen, dass man eine literarische Grösse vor sich
habe, und doch war dies Friedrich Nicolai — von ihm
ist die Rede — nicht im geringsten. Als verdienst- und
kenntnissreich, aber geistig sehr beschränkt, bezeichnet
ihn Goethe und es bleibt nur zu erklären, wie ein solcher
Mann beinahe ein halbes Jahrhundert lang so vielen Staub
aufrühren, so vielen Lärm hervorrufen konnte. Des Räth-
sels Lösung liegt darin, dass Nicolai als Buchhändler ein
tüchtiger Geschäftsmann und dass sein Geist zu beweglich
war, als dass er sich ohne frischen, fröhlichen Krakel
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194 Goethe mit Zeitgenossen.
wohl gefühlt hätte. Die von ihm unternommenen Zeit-
schriften: »Briefe, die neueste Literatur betreffend«,
»Bibliothek der schönen Wissenschaften«, noch mehr aber
»Allgemeine deutsche Bibliothek «, waren für die deutsche
Literatur wichtige, immerhin aber zunächst kaufmännische
Unternehmungen, die er mit nicht zu verkennendem Ver-
ständniss leitete, indem er insbesondre z. Th. vorzügliche
Mitarbeiter zu gewinnen wusste. Hierdurch machte er eine
grosse Anzahl von Gelehrten und Schriftstellern von sich
abhängig, während Aussenstehende es mit ihm aus Rücksicht
auf den Einfluss seines kritischen Blattes nicht verderben
mochten, so dass es unter den Zeitgenossen nicht an Männern
fehlte, die seinen Werth über die Gebühr erhoben, indess
andre ihn wenigstens stillschweigend gelten Hessen.
Nicolai war selbst Mitarbeiter an seinen Literatur-
blättern und dadurch umsomehr im Stand, denselben eine
bestimmte Richtung zu bewahren. Die Beschränktheit
seines Geistes machte ihn aber feindselig gegen alles
Hervorragende; er ging auf allgemeines Gleichmachen im
Sinne der Mittelmässigkeit aus. In welchem Geistesgebiet
auch, sei es Religion, Philosophie, Dichtung oder gesell-
schaftliche Zustände etwas über die Fläche emporstrebte,
Nicolai konnte nicht anders, er musste darüber herfallen,
wenn schon er gewöhnlich die Erfahrung machte, dass er
dabei schlecht wegkam, weil er aus seinem Flachland
nicht zu den Höhen hinaufgelangen konnte und immer
von oben aus niedergeworfen wurde. Nicht in Wider-
spruch damit stand es, dass er mit seiner »Allgemeinen
deutschen Bibliothek« ein Mittelpunkt der sogenannten
Autklärung war; denn im Sinne Nicolai's und seiner
Gesinnungsgenossen war sie auch nur eine Verflachung
der geistigen Bewegung jener Zeit und wesentlich eine
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Goethe und Nicolai. 195
kaufmännische Benutzung der Conjunctur, dass man in
Berlin — wie Lessing schrieb — die Freiheit genoss,
gegen die Religion so viel Sottisen zu Markte zu bringen
als man wolle, welcher Freiheit sich zu bedienen, der
rechtliche Mann sich bald schämen müsse.
So war denn auch Goethe's Hinausschreiten über das
nüchterne Schema Nicolai offenbar schon vom Erscheinen
des »Götz von Berlichingen « an widerwärtig; das be-
zeugen Nicolai's kleinhche Weise merkwürdig kenn-
zeichnende zwei Buchstaben, die er in einen Brief Merck's
hineinschrieb. Dieser — mit Nicolai ebenso wie mit
Goethe befreundet — meldete dem Berliner unterm
28. Juni 1774: »Goethe arbeitet ... an vielerlei drama-
tischem Wesen«, und Nicolai Hess hier aufs kindischste
seinen Verdruss dadurch aus, dass er dem »Wesen« die
Sylbe »Un« vorsetzte. Um diese Zeit frug Merck auch
bei Nicolai an, ob er einige Possenspiele, die Goethe ge-
schrieben habe, drucken wolle; allein jener lehnte mit der
schon durch seinen »Sebaldus Nothanker« und sonst als
Lüge sich darstellenden Bemerkung ab, dass er mit per-
sönlichen Satiren nichts zu thun haben wolle; zugleich
benutzte er diese Gelegenheit, für Goethe den guten Rath
einfliessen zu lassen: er werde künftig, wenn er einmal
eine literarische Ehre aufs Spiel zu setzen haben werde,
vielleicht bereuen, einen so zügellosen Ton angegeben
zu haben. Diese Verurtheilung mochte sich auf »Götter,
Helden und Wieland« und den »Prolog zu den neuesten
Offenbarungen des D. Bahrdt « beziehen, während das ihm
zum Verlag angebotene Stück wahrscheinlich das »Neu
eröffnete moralische politische Puppenspiel« war. Alle
drei Stücke nahm Nicolai dann in einer Recension der
»Allgemeinen deutschen Bibliothek« scharf mit.
13*
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196 Goethe mit Zeitgenossen.
Jetzt erschienen »Die Leiden des jungen Werther«.
Der Eindruck, den die ganze Welt von dieser Dichtung
empfand, war zu gewaltig, als dass Nicolai nicht das Be-
dürfniss gefühlt haben sollte, dieselbe zu seiner Boden-
gleiche herabzuziehn, und überdies schöpfte sie zu sehr
aus den Tiefen des Seelenlebens, als dass Nicolai sie hätte
begreiflich finden können. Zwar hütete er sich, dieses
sein Unvermögen zu gestehen, und pries z. B. in einem
Brief an Johannes v. Müller vom 16. October 1775 dieses
»herrliche Werk des Geistes«; allein es ist ganz undenk-
bar, dass ein Mensch für Werther's Leiden Verständniss
gehabt haben sollte, der so damit umging, wie Nicolai
that. Freilich hatte dieser bei seinem Vorgehen Lessing
hinter sich, der ja auch wünschte, Goethe möchte dem
Roman noch ein paar cynische Capitel anfügen. Nicolai
aber hielt sich für verpflichtet vor der Gefährlichkeit des
Goethe'schen Romans zu w^arnen durch seine Schrift:
»Freuden des jungen Werther's. Leiden und
Freuden Werther's de§ Mannes. Voran und
zuletzt ein Gespräch. Berlin, bei Friedrich
Nicolai 1775.« Der Inhalt ist in Kürze folgender.
In einem Gespräch zwischen »Hans, ein Jüngling«
und » Martin, ein Mann « schwärmt ersterer für den jungen
Werther, während der andre diese Begeisterung tadelt
und sich erbietet, durch eine kleine Änderung in den
»Leiden des jungen Werther's« der ganzen Geschichte
desselben eine Wendung zu geben, wodurch sie sehr
nüchtern verlaufen müsse. Zu diesem Zweck folgt nun
zunächst »Freuden des jungen Werther's«, w^orin an die-
jenige Stelle der Leiden, in welcher Werther um Albert's
Pistolen bittet, anknüpfend, der fernere Verlauf so dar-
gestellt wird, dass Albert die Pistolen mit Hühnerblut
Digitized by VjOOQ IC
Goethe uxd Nicolai. 197
ladet und der Schuss aus denselben daher ohne tödtUche
Folge bleibt, worauf Albert, der noch unverheirathet ange-
nommen ist, seine Braut an Werther abtritt, der sie dann
heirathet. — Die »Leiden Werther's des Mannes« schildern
hierauf Lottens Liebelei mit einem jungen Mann, wodurch
Werther veranlasst wird, sich von seiner Frau zu trennen.
In den »Freuden Werther's des Mannes« endlich vereinigen
sie sich wieder und ein, nur anfänglich durch die Nach-
barschaft eines Genie's gestörtes idyllisches Landleben
unter vielen Kindern schliesst diese Parodien. Hinter den-
selben folgt noch ein kurzes Gespräch, in dem sich Hans
mit Martin einverstanden erklärt.
Im ersten AugenbHck nahm Goethe Nicolai's Spott-
schrift ohne alle Empfindlichkeit auf; an dem Abend des
Tags, an dem er sie erhalten hatte, dichtete er das Lied
in » Erwin und Elmire « :
Ein Schauspiel für Götter
Zwei Liebende zu sehn!
auch gegen von Bretschneider begnügte er sich — wie
dieser am 10. März 1775 an Nicolai schrieb — zu sagen:
man habe ihn nicht verstanden, und er konnte harmlos
darüber schreiben:
Stossgebet.
Vor Werther's Leiden,
Mehr noch vor seinen Freuden,
Bewahr uns Heber Herre Gott.
Allein der viele Summs, den man um das Nicolai'sche
Geschreibsel machte, wurde Goethe'n endlich doch ver-
driessHch. Am 7. März 1775 schrieb er an Gräfin Auguste
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198 Goethe mit Zeitgenossen.
zu Stolberg: »Ich bin das Ausgraben und Seciren meines
armen Werther*s so satt. Wo ich in eine Stube trete,
find ich das Berliner p. p. Hundezeug, ... ob ich gleich
finde, dass es viel raisonnabler sei Hühnerblut zu ver-
giessen, als sein eignes«. Wie er daher bald von dem,
bald von jenem darüber angeredet wurde, mochte er je
nach der Verschiedenheit der Ansprache Anlass genommen
haben, sich auch poetisch verschieden darüber zu äussern
und so entstanden die drei dichterischen Erzeugnisse, deren
Goethe selbst im XIII. Buch von »Dichtung und Wahr-
heit« gedenkt und von denen er das eine dort mittheilt,
das andre als nicht mittheilbar bezeichnet, das dritte aber
für verloren hielt und nur seinen Inhalt kurz angiebt. Das
mitgetheilte, einem Vers aus Eike von Repgow's Vorrede
zum »Sachsenspiegel« nachgebildet, lautet:
Mag jener dünkelhafte Mann
Mich als gefährlich preisen!
Der Plumpe, der nicht schwimmen kann.
Er will's dem Wasser verweisen.
Was schiert mich der Berliner Bann,
Geschmäcklerpfaffenwesen !
Und wer mich nicht verstehen kann.
Der lerne besser lesen.
Das andere, das Goethe 181 3 nicht wieder mittheilen
wollte, hatte er dennoch selbst 1775 drucken lassen und
Freunden zugestellt ; in diesem Druck hat es folgende, von
späteren Abschriften etwas abweichende Fassung:
Ein junger Mann — ich weiss nicht wie —
Starb einst an der Hypochondrie
Und ward auch so begraben.
Digitized by VjOOQ IC
Goethe und Nicolai. 199
Da kam ein starker Geist herbei,
Der hatte seinen Stänkrig frei,
Wie ihn so Leute haben.
Er setzt gemächlich sich aufs Grab
Und legt sein reinlich Häuflein ab,
Beschauet freundlich seinen Dreck,
Geht wohler athmend wieder weg
Und spricht zu sich bedächtiglich :
»Der gute Mann, wie hat sich der verdorben!
Hätt* er geschissen so wie ich.
Er wäre nicht gestorben!«
Das dritte jener poetischen Stücke wider Nicolai, der
Dialog, scheint wie Goethe, so auch sonst Jedermann
für verschollen gegolten zu haben, bis es durch den ver-
storbenen Dichter Adolf Böttger aus Oeser's Nachlass in
meine Hände kam; ich Hess es zum 28. August 1862 in,
glaub' ich, 30 Exemplaren drucken. Meine Handschrift ist
eine von Goethe selbst herrührende, d. h. zwar von Philipp
Seidel geschrieben, aber von Goethe mit Zwischenschriften
versehen. In Friedrich Jacobi's Nachlass fand man später
noch eine Abschrift, die Zöppritz veröffentlichte. Mein
Original folgt:
ANEKDOTE
ZU den Freuden des jungen Werther's.
Lotte im Negligity Wert her im Hausfrack sitzend;
sie verbindt ihm die Augen,
Loixe.
Nein, Werther, das verzeih* ich Alberten mein*
Tage nicht: ich hab' ihn lieb und werth und bin
ihm alles schuldig; aber mich dünkt doch, wenn
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200 Goethe mit Zeitgexossex.
Einer einen klugen Streich machen will, soll er ihn
nicht halb thun, soll nicht durch einen grillenhaften,
läppischen Einfall alles verderben, was er etwa noch
gut machen könnte. Wo ist da nur Menschenver-
stand, Gefühl, Delicatesse in seiner Aufführung? Der
verfluchte Schuss! Es war ein Hanswursten-Einfall.
Er sollte Dich von Deiner Verzweiflung curiren und
bringt Dich fast um Deine Augen. Deine lieben Augen,
Werther! Du hast seit der Zeit noch nicht hell
daraus gesehn.
W e r t h e r.
Sie brennen mich heut wieder sehr. Es wird
besser werden. Albert hat's gut gemeint. Was kann
man dafür, dass es die Leute gut meinen.
Lotte.
Ich begreife nicht, wie Du nicht gar ein Auge
drüber verloren hast. Und Deine Augenbraunen sind
hin! (Sie küsst ihm die Stirne,)
W e r t h e r.
Liebe Lotte!
Lotte.
So schön gezeichnet, wie sie waren, w^erden sie
nimmer wieder. Meint er doch Wunder was er ge-
than hätte! Wenn er zu uns kommt, sieht er immer
sehr freundlich drein, als wenn er uns glücklich ge-
macht hätte.
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Goethe und Nicolai. 201
Werther.
Hat er's nicht? Hat er mich nicht Dir gegeben?
Dich mir? Bist Du nicht mein, Lotte?
Lotte.
Wenn er Gelassenheit, Gleichgültigkeit genug
hatte, das zu thun, könnt' er's mit weit wenigem
Aufwand. Wäre er statt seiner Pistolen selbst zu Dir
gegangen, hätte gesagt: Werther, halt ein Bischen!
Lotte ist Dein! Du kannst nicht leben ohne sie, ich
wol! Also seh' ich als ein rechtschaffener Mann —
Du lächelst, Werther!
W e r t h e r.
Setze Dich zu mir, Lotte, und gieb mir Deine
Hand. Ein blinder Mann, ein armer Mann! (Er küsst
ihre Hand,) Ja, es ist Deine Hand, Lotte, die ich
seit der ersten Berührung immer mit Verbundenen
Augen aus Hunderten mit meinen Lippen hätte heraus-
finden wollen. Du bist wohl?
Lotte.
Ganz wohl! Freilich geht's ein Bischen drunter
und drüber mit uns. Aber w^eil's uns immer wunder-
lich ging —
Werther.
und die Leute, die unsere Sachen zurechtlegen
wollten, ihr Handwerk nicht verstunden —
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202 Goethe mit Zeitgenossen.
Lotte.
Es mag gut sein; nur sollten sie mit ihrer hoch-
weisen Nase nicht so oben drein sehn. Das gesteh'
ich Dir gern: ich kannte Alberten immer als einen
edlen, ruhigen und doch warmen Mann, aber seit,
pag. 23, der ganz fatalen Scene, wo er mir mit der
unleidlichsten Kälte aufkündigt, mir die niedrigsten
Vorwürfe macht, die ich dann in der Beklemmung
meines Herzens so musste hingehen lassen, ist er
mir ganz unerträglich. Ich liebte ihn wahrlich, ich
hoffte ihn glücklich zu machen, ich wünschte Dich
fern von mir — und so, Werther! Ich weiss noch
nicht, ob ich Dich habe.
Wert her.
Ich dachte, Du wüsstest's! Und behalten musst
Du mich nun einmal.
Lotte (scherzend).
Nun, Du bist mir so gut als ein anderer!
Werther.
Aber der andere hat Dich noch nicht, Weibchen !
Lotte.
Nimm mir's nicht übel: wenn, ich w^eiss nicht
welcher Teufel ihm auf dem Ritt, pag. 23, den Kopf
verrückt hätte, ich wäre nicht hier.
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Goethe und Nicolai. 203
Werther.
Und ich?
Lotte.
Wo — Du könntest.
Werther.
Lotte !
Lotte.
Du lebst, und ich bin zufrieden.
Werther.
Das ist doch nun Albertens Werk. Hab' ihm
Dank!
Lotte.
Nicht gar! Kann Einer nicht etwas für uns thun
ohne Dank zu verdienen? Hättest Du die Relation
gelesen, die er davon an Madame Mendelssohn schrieb,
Du wärst rasend geworden, pag. 23 — 36 incl.
Werther.
Wie so? Was, meine Liebe?
Lotte.
Erst musst' ich lachen, dass er von der ganzen
Sache gar nichts begriffen, nicht die mindeste Ahn-
dung von dem gehabt hatte, was in Deinem und
meinem Herzen vorging. Hernach verdross mich's,
was er sich den Bauch streicht und thut, als wenn
er im März vorausgesehen hätte, dass es Sommer
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204 Goethe mit Zeitgenossek.
werden würde. Und w^as Du für eine Figur drinne
spielst mit dem Sauschuss vor'm Kopf! Du meinst
immer, Du wärst todt, pag. 23, und sprichst immer
so vernünftig, ibidem. — Was machen Deine Augen,
mein Bester?
W e r t h e r.
Sie sehn Dich nicht !
Lotte.
Sieh doch, wie artig!
Werther.
Freilich nicht wie, pag. 42, ehemals.
^Lotte.
Nein, von der Relation zu reden! Sieh, wie er
die besten wärmsten Stellen Deiner Briefe parodirt
und sie, wie ein Zahnarzt die ausgerissenen Zähne,
um seinen stattlichen Hals hängt, mit viel Gründ-
lichkeit zeigt, wie man Unrecht gehabt habe, mit
solchen Maschinen von Jugend auf zu kauen. Ich
war' ihm Feind geworden, wenn ich das könnte.
Es ist so garstig!
Werther.
Was geht das mich an!
Lotte.
Ich sagte Dir immer, Du solltest mit Deinen
Papieren vorsichtiger um'gehen. Wie wenig Menschen
fühlen solche Verhältnisse, und von den kalten Kerls
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Goethe ukd Nicolai. 205
nimmt jeder draus, nicht was ihn freut, sondern was
ihn ärgert, und macht seine Sauce dazu. Videtur
totum opus.
W e r t h e r.
Du bist doch immer die liebe Lotte! Findest da
alles sehr dumm und bist im Grund doch nicht bös.
Küss mich, Weibchen, und mach, dass wir zu Nacht
essen. Ich möchte zu Bette, ob ich gleich spüre, dass
mich meine Augen wenig ruhen lassen.
Lotte.
Die verfluchte Cur!
Die von Goethe selbst in Scidel's Niederschrift ein-
geschriebenen Worte sind: in Lottens achter Rede »ver-
rückt« und in ihrer zwölften »und thut.« Durchstrichen
sind: in Lottens sechster Rede zwischen »doch« und
»warnen« das Wort »gelassenen«; in ihrer achten zwi-
schen »nicht« und »übel« das Wort »einmal«, sowie in
ihrer vierzehnten zwischen »so« und »garstig« ein zweites
»garstig«; endlich stand in Werther's dritter Rede erst
»Bist Du nicht meine Lotte?« und ist nun das Schluss-e
in »meine« ebenfalls durchstrichen. In Lottens achter
Rede hatte mein erster Druck fehlerhaft »pag. 33« doch
ist wol nicht »pag. 23« gemeint, sondern Seite 33 und 34,
indem dort Albert von seinem auf der Reise gefassten
Entschluss erzählt, Lotte und Werther zu vereinigen.
»Videtur« gegen Ende steht wol für »videatur.«
Zur Erläuterung ist nur noch hinzuzufügen, dass auf
Seite 23 bis 36 der Nicolai'schen Schrift, worauf im Dialog
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206 Goethe mit Zeitgenossen.
Bezug genommen ist, sich die »Freuden des jungen Wer-
ther's« befinden; sie beginnen mit einer pedantischen
Mahnung Albert's an Lotte darüber, wie sie Werther*n
bei seinen übcrw^allenden Ausbrüchen hätte begegnen sollen.
Nachdem Werther sich dann mit der blind geladenen
Pistole geschossen hat, wird er wie der todte auf ein Bett
gelegt und mit dem herbeigeeilten Albert bespricht er sich
dann, als ob er tödtlich verwundet sei und jeden Augenblick
sein Ende zu erwarten habe; von Albert's Kunstgriff und
Absichten in Kenntniss gesetzt, springt er aber sofort ganz
vergnügt auf und vergisst, dass er sich für dem Tod ver-
fallen hielt. Die ferner von Goethe erwähnte Stelle Seite 42
in den »Leiden Werther's des Mannes« handelt von
Lottens Verdruss, weil ihr Gatte ihr nicht mehr so den
Hof macht wüe als Liebhaber und von ihrer daraus fol-
genden Hinnahme der Huldigungen eines andern jungen
Mannes. Aus der Nennung der Madame Mendelssohn end-
lich scheint hervorzugehen, dass Goethe erfahren hatte,
Nicolai habe die »Freuden des jungen Werther's« im Hause
des befreundeten Mendelssohn vorgelesen und dort Beifall
gefunden.
Nicolai dürfte keins der gegen ihn gerichteten Ge-
dichte Goethe's kennen gelernt haben, wol aber war ihm
hinterbracht worden, dass Goethe schlecht auf ihn zu
sprechen sei und »Pasquille« selbst oder durch seine
Freunde gegen ihn schmiede. Er wunderte sich über
Goethe's Empfindlichkeit, drohte aber, wenn derselbe mit
ihm zu spielen gedenke, vor dem Publikum mit ihm fertig
werden zu wollen. Er schrieb solche Äusserungen an
Merck nach Darmstadt und Höpfner nach Giessen, von
denen er voraussetzte, sie w^ürden Goethe davon unter-
richten. Auffällig ist, dass letztrer seine Pfeile gegen Ni-
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Goethe und Nicolai. 207
colai im Köcher behielt, während er andere Leute nicht
schonte, ja bei diesen andern sogar selbst der Angreifende
war. Er mochte indessen wol seine eigenen Angriffe für
harmlos, die Erwiederung fremder Angriffe aber für Auf-
nahme eines Gezänks halten, das ihm verhasst war. Des-
halb antwortete er auch z. B. nicht auf die antixenischen
Schriften. Nicolai mäkelte zwar auch später noch an
Goethe'schen Dichtungen gegen Merck, wie an dem » Lied
eines physiognomischen Zeichners«, und an » Stella «, aber
öffentlich verhielt er sich Goethe'n gegenüber still. Viel-
leicht hat er sogar noch ein Gedicht über Werther's
Leiden der Öffentlichkeit vorenthalten, wenigstens glaubte
Adolf Böttger Nicolai's Handschrift bei folgendem Gedicht
zu erkennen, das in einem Exemplar von Goethe's
Roman stand:
Auf Werther's Grabmal.
Halt Wandrer! eile nicht so hin!
Lies erst, wer ich gewesen bin!
Ich war ein Geck wie andre Gecken:
Klug, weis*, mocht' gern die Weibsen lecken,
Hatt' dabei sondre Grillen im Hirn
Und einen Wurm recht hinter der Stirn.
Dem macht' ich Luft, ich armer Tropf,
Durch einen Kugelschuss in'n Kopf.
Nun lieg' ich hier, bin Asch' und Graus,
Und Kluge imd Narren lachen mich aus.
Hast auch Wurm ? Hör', ich bitt' :
Heg ihn, pfleg ihn und schiess Dich nit.
Wahrscheinhch war es dem Zureden Merck's nach
beiden Seiten hin zu danken, dass Goethe und Nicolai
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2o8 Goethe mit Zeitgenossen.
ihre Fehde vergassen und letztrer es wagen konnte, jenen
1781 in Weimar zu besuchen und ihn um eine Stamm-
bucheinzeichnung zu bitten. Goethe schrieb sich am 5. Oc-
tober mit »Utile dulci« ein.
Es kann sein, dass Nicolai für Goethe abgethan gewesen
wäre, wenn nicht später Schiller Ursache gehabt hätte,
sich über des Berliners Seichtigkeit und Anmasslichkeit zu
erbosen. In seiner »Beschreibung einer Reise durch Deutsch-
land und die Schweiz im Jahre 1781«, die von 1783 bis
1796 in 12 Bänden herauskam, hatte sich Nicolai ohne
irgend welches Verständniss über die neuere Philosophie,
sowie über Schiller's »Hören« wegwerfend ausgelassen,
und dass daher im mündlichen Verkehr Goethe und Schiller
schon 1795 häufig über Nicolai herzuziehen Anlass fanden,
darf man aus Schiller*s Brief an Goethe vom 29. December
dieses Jahres entnehmen, worin er denselben »unser gc-
schworner Feind« nennt. Als dann 1796 die Xenien ge-
dichtet wurden, w^ar es denn auch Schiller, der gegen drei
Dutzend diesem Feinde widmete, darunter aber auch eins,
das auf Nicolai's »Freuden des jungen Wcrther's« Bezug
nahm :
Der junge Werther.
»Worauf lauerst Du hier?« — Ich erwarte den dummen
Gesellen,
Der sich so abgeschmackt über mein Leiden gefreut.
Von Goethe sind nur folgende drei Epigramme, deren
erstes auf Nicolai's Roman »Geschichte eines dicken
Mannes« (1794), das zweite auf dessen unausbleibliches
Anfeinden jeder auftauchenden geistigen Regung sich be-
zieht.
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Goethe und Nicolai. 209
Gewisse Romanhelden.
Ohne das Mindeste nur dem Pedanten zu nehmen, er-
schufst Du,
Dichter, wie keiner mehr ist ! einen vollendeten Geck !
Die Waidtasche.
Reget sich was, gleich schiesst der Jäger; ihm scheinet
die Schöpfung,
Wie lebendig sie ist, nur für den Schnappssack gemacht.
Die Xenien.
Was uns ärgert: Du giebst mit langen entsetzlichen
Noten
Uns auch wieder heraus unter der Reiserubrik.
Dieses letzte Xenion hatte richtig geweissagt; denn
Nicolai trat mit einem 217 Seiten zählenden »Anhang zu
Friedrich Schiller's Musenalmanach für das Jahr 1797«
herv^or, in welchem er dem Weimarer Dichterpaar auf
jene Schmähungen erwiderte, aber freilich in seiner geist-
und geschmacklosen Weise nur zur Langweile des Lesers.
Einer Antwort würdigten ihn die Dichter des Musen-
almanachs nicht und Goethe meinte nur gegen Schiller
am II. Februar 1797: »Dem verwünschten Nicolai konnte
nichts angenehmer sein, als dass er nun wieder einmal
angegriffen w^urde; bei ihm ist immer bonus odor ex re
qualibet, und das Geld, das ihm der Band einbringt, ist
ihm gar nicht zuw^ider.«
14
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210 Goethe mit Zeitgenossen.
Im folgenden Jahr erhob sich Kant gegen Nicolai
durch das Schriftchen »Über Buchmacherei « ; als Schiller
es Goethe'n mitgetheilt hatte, entgegnete dieser am
28. Juli 1798 dass ihm diese Zurechtweisung des alten
Salbaders erfreulich sei.
Nicolai gab indessen bald wieder Gelegenheit sich
über ihn lustig zu machen. So wie er auf einmal Angst
vor Übergriffen des Katholizismus bekam und überall
schleichende Jesuiten witterte, so glaubte er weiter aus
gleicher Don-Quijoterie gegen Gespensterglauben sich er-
eifern zu müssen und hielt namentlich 1799 in der Berliner
Akademie der Wissenschaften einen Vortrag, — »Beispiel
einer Erscheinung mehrerer Phantasmen« — w^orin er
nicht nur verschiedne Gespenstergeschichten, unter andern
eine 1797 in Tegel vorgekommene, sondern auch selbst
gehabte Erscheinungen erzählte, welche letztere er durch
am Hintern angesetzte Blutegel vertrieben habe. Diese
neueren Kundgebungen Nicolai's verwob Goethe in die
Walpurgisnachtscene auf dem Brocken im »Faust« und in den
darin eingeschaltnen »Walpurgisnachtstraum oder Oberon's
und Titania's goldne Hochzeit.« An ersterer Stelle geschah
dies so :
Proktophantasmist. *)
Verfluchtes Volk! Was untersteht Ihr Euch?
Hat man Euch lange nicht bewiesen :
Ein Geist steht nie auf ordentlichen Füssen?
Nun tanzt Ihr gar uns andern Menschen gleich !
Schöne (tanzend).
Was will denn der auf unserm Ball ?
•) D. i. SteJssgcistcrsehcr.
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Goethe und Nicolai. 211
Faust (tanzend).
Ei, der ist eben überall!
Was andre tanzen, muss er schätzen;
Kann er nicht jeden Schritt beschwätzen.
So ist der Schritt so gut als nicht geschehn.
Am meisten ärgert ihn, sobald wir vorwärts gehn.
Wenn Ihr Euch so im Kreise drehen wolltet.
Wie er's in seiner alten Mühle thut.
Das hiess' er allenfalls noch gut.
Besonders wenn Ihr ihn darum begrüssen solltet.
Proktophantasmist.
Ihr seid noch immer da! Nein, das ist unerhört!
Verschwindet doch ! Wir haben ja aufgeklärt !
Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel:
Wir sind so stolz, und dennoch spukt's in Tegel.
Wie lange hab' ich nicht am Wahn hinausgekehrt.
Und nie wird's rein — das ist doch unerhört !
Schöne.
So hört doch auf, uns hier zu ennuiren!
Proktophantasmist.
Ich sag's Euch Geistern in's Gesicht:
Den Geistesdespotismus leid' ich nicht;
Mein Geist kann ihn nicht exerciren.
(Es wird fort getanzt,)
Heut, seh' ich, will mir's nicht gelingen;
Doch eine Reise nehm' ich immer mit.
Und hoffe noch vor meinem letzten Schritt
Die Teufel und die Dichter zu bezwingen.
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212 Goethe mit Zeitgenossen.
Mephistopheles.
Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen :
Das ist die Art, wie er sich soulagirt,
Und wenn Blutegel sich an seinem Steiss ergetzen,
Ist er von Geistern und von Geist curirt.
Im »Walpurgisnachtstraum « tritt Nicolai auf als
Neugieriger Reisender.
Ist das nicht Maskeradenspott?
Soll ich den Augen trauen?
Oberon, den schönen Gott,
Auch heute hier zu schauen.
Orthodox.
Keine Klauen, keinen Schwanz !
Doch bleibt es ausser Zweifel:
So wie die Götter Griechenlands,
So ist auch er ein Teufel.
Dann weiterhin wieder mit Anspielung auf Nicolai's
Verdächtigung Lavater's (»Kranich«) als Jesuitenfreundes :
Neugieriger Reisender.
Sagt, wie heisst der steife Mann?
Er geht mit stolzen Schritten.
Er schnopert, was er schnopern kann :
Er spürt nach Jesuiten.
Kranich.
In dem Klaren mag ich gern
Und auch im Trüben fischen,
Darum seht Ihr den frommen Herrn
Sich auch mit Teufeln mischen.
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Goethe und Nicolai. 21 J
Da diese Walpurgisnachtserscheinungen mit der ersten
vollständigen Ausgabe von »Faust. Erster Theil«, also
1808 in Druck erschienen, so kann und wird Nicolai, der
erst 1810 starb, sie noch gelesen haben und konnte sich
rühmen — wie Niemand sonst — fast ein Vierteljahr-
hundert hindurch Gegenstand von satirischen Dichtungen
Goethe's gewesen zu sein.'
Noch einmal kam Goethe, jetzt mit einem Kraftwort,
auf die »Freuden des jungen Werther's« zurück, zugleich
auf Pfranger's sechsten Act der »Stella« und dessen gegen
»Nathan den Weisen« gerichteten »Mönch von Libanon«,
und zwar als Pustkuchen die Fortsetzung von »Wilhelm
Meister's Wanderjahren« geschrieben hatte, also wol 1821,
in der zahmen Xenie:
Der freudige Werther, Stella dann
In Criminalverhören,
Vom Libanon der heilige Mann,
Sind göttlich zu verehren.
So ist von Quedlinburg auch der
Falschmünzer hoch zu preisen:
Gemünder Silber präget er,
Uns Korn und Schrot zu weisen.
Der Weihrauch, der Euch Göttern glüht,
Muss Priestern liebHch duften;
Sie schufen Euch, wie Jeder sieht.
Nach ihrem Bild zu Schuften.
Im VII. und im XIII. Buch von »Dichtung und Wahrheit«
(1812 und 181 3) hat Goethe sich nur geschichtlich und
kritisch über Nicolai ausgesprochen ; gegen Nicolovius be-
merkt er am 11. Juli 1819, dass dessen gemeiner Menschen-
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214 Goethe mit Zeitgenossen.
verstand überall gemäkelt und gemarktet habe und am
2. Juni 1830 erzählte er Felix Mendelssohn aus seinem Leben
von 1775 und dabei: wie der Aristokratism der berliner
Herren, namentlich Nicolai's, der damals viel gegolten habe,
von Goethe und den ihm nahe stehenden jungen Leuten,
die voll Lust und Thätigkeit, dann auch wol sehr unge-
schickt gewesen seien, habe zurückgedrängt werden müssen.
Aber wie viel Nicolai auch Goethe hatte von sich
reden machen , irgend w^elchen Einfluss auf ihn hat er
schwerhch gehabt. Mit seinen satirischen Versen schüttelte
Goethe ihn eben nur von sich ab.
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2. Goethe und Die von Fritsch.
^;^u den begüterten und angesehnen Adelsge-
schlechtern, die aus der reichen Handelswelt
Leipzigs herv^orgegangen sind, gehört auch
das der Freiherren und Grafen von Fritsch;
sein nächster Vorfahre, Thomas Fritsch, starb
dort am 22. November 1726 als angesehner Buchhändler.
Sein Sohn, ebenfalls Thomas mit Namen, brachte den
Adel in die Familie. Er war am 26. September 1700 in
Leipzig geboren, hatte sich der Rechtswissenschaft ge-
widmet, bekleidete verschiedne Stellen im kursächsischen
Staatsdienst und stieg hier, nachdem er inzwischen mit
den Reichswürden eines Hofraths und eines Pfennigmeisters
betraut worden war, zum Conferenzminister auf, als welcher
er den Hubertusburger Frieden mit verhandelte und unter-
zeichnete. Er war noch Regierungsrath und Münzdirector,
als er unterm 30. März 1730 in des römischen Reichs
Adelstand, und Geheimer Kriegsrath als er unterm 3. Juni 1742
in den Freiherrnstand erhoben wurde. Vermählt war er
seit dem 25. Mai 1728 mit Johanna Sophie Winkler (geb.
II. März 1710, gest. 28. Februar 1777), der Tochter eben-
falls eines leipziger Patriciergeschlechts, das schon früher
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2l6 Goethe mit Zeitgenossen.
geadelt war, davon aber in Leipzig keinen Gebrauch machte
und erst später wieder den Adel annahm. Thomas Frei-
herr von Fritsch starb am i. December 1775 in Folge einer
Verletzung, die er sich beim Sprung aus einem Wagen,
dessen Anhalten er nicht abwartete, zugezogen hatte.
Er hinterHess sieben Kinder:
i) Johanna Charlotte (geb. 16. März 1729, gest.
9. Februar 1804 zu Weimar, woselbst sie in den letzten
Lebensjahren den Winter zuzubringen pflegte), vermählte
sich am 24. April 1766 mit dem kursächsischen Kreis-
hauptmann Johann Daniel Karl von Lohse auf Gross- und
Klein-Goddula (gest. 15. Januar 1779);
2) Margarethe Henriette (geb. 9. März 1730, gest.
2. Juli 1792), vermählt 1748 mit dem nachmaligen kur-
sächsischen Geheimen Rath und Polizeidirector Ferdinand
Ludwig von Saul auf Scherau (geb. 17. September 171 1,
gest. 2. Juni 1766);
3) Jakob Friedrich (geb. 22. März I73i,.gest. 13. Ja-
nuar 1814 zu Weimar), vermählt am i. Februar 1767 mit
Johanna Sophie von Häseler (geb. 29. September 1748,
gest. 14. October 1836 zu Weimar);
4) Heinrich Leopold (geb. 17. April 1732, gest.
12. Januar 181 3 in Zschochau);
5) Karl Abraham (geb.2.Februari734,gest.24.Maii8i2
auf einer Geschäftsreise in Petersburg), vermählt am 14. April
1768 mit PhiHppine Charlotte Freiin von Gartenberg-Sada-
gorska (gest. 10. März 1828 zu Dresden), wurde 1790 wäh-
rend des Reichsvicariats von Pfalz-Bayern in den Grafenstand
erhoben, der aber in Sachsen erst 181 3 für seine Kinder
anerkannt wurde;
6) Adolf Wilhelm (geb. im Mai 1736, gest. I4.junii8i7
in Dresden), vermählt am 18. Juni 1778 mit Constantine
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Goethe und Die von Fritsch. 217
Amalie Louise Freiin von Lyncker (geb. 22. Juli 1756),
welche Ehe 1803 wieder getrennt wurde;
7) Erdmuthe Caroline (geb. 17. August 1738, gest.
6. September 1803), vermählt am 3. Juli 1775 mit dem
kursächsischen Major und Kreiscommissar Alexander Chri-
stoph von Schönberg auf Dühlen, Reinsberg und Bornitz
(gest. 10. April 1801).
Thomas Freiherr von Fritsch stiftete ein Familienfidei-
commiss, kraft dessen die Rittergüter Seerhausen, Zschochau
und Mautitz durch drei Generationen im Besitz eines seiner
Nachkommen in männlicher Linie verbleiben sollten. Seer-
hausen erhielt zunächst Jakob Friedrich, unter dessen Söhnen
es bis jetzt immer auf den ältesten forterbte; Zschochau
erhielt Heinrich Leopold, nach dessen Tod es an Wilhelm
Adolf, nach dessen Ableben aber an Karl Abraham, dem
zuerst Mautitz zuget heilt worden war, überging. Nachdem
Zschochau des letztgenannten Söhne, die Grafen Karl und
August von Fritsch, besessen hatten, gelangte es an Jakob
Friedrich's Enkel Albert Bernhard, Mautitz aber fiel an die Brü-
der Karl Wilhelm und Friedrich August , die es verkauften,
indem ersterer dafür die Rittergüter Gross- undKlein-Goddula
substituirte, welche an seinen Sohn Georg August übergingen.
Jakob Friedrich Freiherr von Fritsch hatte
folgende Kinder:
A) Friedrich August (geb. 20. April 1 768, verunglückte
bei einer Wagenfahrt in Stadtilm am 23. November 1845);
B) Karl Wilhelm (geb. 16. Juli 1769, gest. 26. Oc-
tober 185 1), vermählt den 17. Mai 1803 mit Henriette
Albertine Antonie Freiin Wolffskeel von Reichenberg (geb.
I. Mai 1776, gest. 18. August 1859);
C) Sophie Caroline (geb. 16. August 1770, verunglückte
tödtlich bei einer Wagenfahrt am i. Juli 1837), vermählt
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2l8 Goethe mit Zeitgenossen.
7. October 1787 mit dem kursächsischen Rittmeister Chris-
tian Adolf von Hopffgart(?n auf Mölbis und Laucha (geb.
II. Juni 1751, gest. 20. Juni 1815);
D) Ludwig Heinrich GottUeb (geb. 2. April 1772,
gest. 28. October 1808 in Gumbinnen);
E) Henriette Louise (geb. 14. April 1774, gest. im
August 177s);
F) Louise Friederike (geb. 18. December 1775, gest.
27. November 1843), vermählt den 18. Juli 1792 mit dem
Landkammerrath Heinrich Ludwig Wilhelm Freiherrn von
Niebeckr auf Beucha.
Die Kinder des unter B aufgeführten Karl Wilhelm
waren :
a) Karl Friedrich Wilhelm Christian (geb. 7. Mai 1804),
vermähh am 12. September 183 1 mit Caroline Marie Freiin
von Ziegesar (geb. 17. Jdi 1808, gest. 28. Februar 1842);
b) Bernhard Friedrich Ludwig (geb. den 28. April
1805, g^st. am 26. Juh 1806);
c) Julius Albert (geb. 24. März 1806, gest. 4. Mai
1807);
d) Georg August (geb. 3. März 1807, gest. 26. Sep-
tember 1866), zuerst vermählt den 13. September 1836
mit Nancy von Rosenbach (geb. 4. Juli 1807, gest. 25. No-
vember 1838), später mit Sophia Freiin von Herda zur
Brandenburg (geb. 3. November 1823);
e) Albert Bernhard (geb. 25. Mai 1808), vermählt
zuerst den 25. December 1833 mit Elmonde von Tettau
(geb. 30. April 181 1, gest. 11. Januar 1835), sodann den
25. October 1838 mit Lucy geb. Barton verw. Leicester
(geb. 24. Juli 181 1).
Alle übrigen Freiherren und Freiinnen von Fritsch sind
nach Goethe's Tod geboren, fallen also nicht ins Bereich
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Goethe und Die von Fritsch. 219
dieser Schrift; zu nennen sind aber noch die Nachkommen
des späteren Grafen Karl Abraham von Fritsch.
Seine Kinder waren:
A) Karl (geb. 24. Juni 1769, gest. 30. September
1820);
B) Charlotte (geb. 15. Januar 1773, gest. 23. De-
cember 1803), vermählt zuerst mit Ferdinand Alexander
Freiherm von Taube, sodann am 21. April 1801 mit Georg
Albrecht von Hugo (geb. 13. Septmber 1771, gest. 25. No-
vember 181 5);
C) August (geb. I. JuH 1775, gest. 24. Februar 1821),
vermählt 18 16 mit Constantia Ernestine von Kiesen wetter
(geb. 23. Juli 1794, in zweiter Ehe mit Karl Heinrich
von Klösterlein, gest. i. December 1867);
D) Ludwig (geb. 26. März 1776, gest. 8. April 179 1);
E) Heinrich (geb. 29. Juli 1777, jung gestorben);
F) Philippine (geb. 25. October 1778, starb auch
als Kind);
G) Amalie (geb. 6. JuU 1780, gleichfalls als Kind
verstorben);
H) Constantia (geb. 30. November 1786, gest.
30. JuH 1858).
Von den Söhnen Karl Abraham's hinterliess nur Graf
August Kinder und zwar:
a) Adelaide (geb. 31. Mai 18 16, gest. 7. September
1824) ;
b) Gustav (geb. 18. August 181 7, gest. 11. Februar
1822);
c) Thekla (geb. 8. Februar 1819), der einzige noch
lebende Sprössling der gräflichen Linie von Fritsch;
d) Heinrich (geb. 5. Februar 1820, gest. 30. April
1820).
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220 Goethe mit Zeitgenossen.
Durch drei Geschlechtsalter waren die von Fritsch
Weimars Dalberge; ein Fritsch wurde aufgerufen, wenn
es einen wichtigen Posten des Staates zu besetzen galt.
Wie daher dieses Haus für die Staatsgeschichte von Be-
deutung ist, so auch für Goethe's Leben, da dieser durch
seine eigne Stellung in Weimar auf den Verkehr mit
Gliedern dieses Hauses hingewiesen war, dabei aber auch
mit mehreren derselben in freundschaftUche Verbindung
trat. Im Folgenden sollen der Lebensgang derjenigen Ab-
kömmlinge des Freiherrn Thomas von Fritsch, welche zu
Goethe in Beziehungen gestanden haben, kurz, diese Be-
ziehungen selbst aber so genau als sie festzustellen waren,
vorgeführt w^erden. Mit dem Ahnherrn selbst ist Goethe
schwerlich persönlich zusammengekommen , doch wird
derselbe in den von letzterem herausgegebenen Briefen
Winkelmann's an Berrendis sehr oft genannt, sodass Goethe
allerdings Anlass gehabt hat, sich naher mit ihm zu be-
schäftigen.
Jakob Friedrich Freiherr von Fritsch war
durch Graf Heinrich von Bünau, den Freund s^iies Vaters
und seit 175 1 obervormundschaftlicher Statthalter der
Fürstenthümer Weimar und Eisenach, dann Minister, nach
Weimar gekommen; hier wurde er 1754 zuerst als Lega-
tionsrath und Assessor bei der Landesregierung zu Eisenach
angestellt, begleitete 1756 als Hofrath und Geheimer Re-
ferendar den Herzog Ernst August Konstantin zur Ver-
mählung mit Anna Amalia nach Braunschweig, gelangte
1762 als Geheimer Legationsrath in's geheime Conseil,
wurde 1766 zum Geheimen Rath darin ernannt und erhielt
1772 den Vorsitz in diesem höchsten LandescoUegium,
woneben er noch verschiedene Directorialämter bekleidete.
Fast erblindet nahm er Ende März i8oo seinen Abschied,
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Goethe und Die von Fritsch. 221
erlangte aber 1804 durch Operation sein Gesicht wieder
und genoss ein glückliches Alter.
Das ganze hochachtbare Wesen des Minister von
Fritsch wird uns recht lebendig durch das vortreffliche
Buch des Freiherrn von Beaulieu Marcaunay, »Anna AmaÜa,
Carl August und der Minister von Fritsch« (Weimar,
Böhlau, 1874) vor Augen geführt. Aus vielen Zuschriften
desselben an die Herzogin-Regentin wie an den jungen
Herzog geht die Umsicht, die Pflichttreue, der Freimuth,
aber auch der Eigensinn dieses Staatsmannes hervor.
Goethe rühmte 1823 gegen Kanzler von Müller, dass
Fritsch viel Verstand und Willenskraft besessen und sich
gegen ihn stets redlich erwiesen, auch sein, Goethe's,
Streben, Uneigennützigkeit und Leistungen trotz der Ab-
neigung gegen sein Treiben und Wesen anerkannt habe;
aber das Äussere des Ministers sei schroff und ohne Fein-
heit gewesen. Fritsch kannte sich selbst in dieser Hinsicht
genügend und sagte namentlich in einem Brief an den
Herzog \pm 9. December 1775: »ich, der ich zu viel
Rauhes in meinen Sitten, zu viel öfters an das Mürrische
gränzende Ernsthaftigkeit, zu viel Unbiegsamkeit und zu
w^enig Nachsicht gegen das was herrschender Geschmack
ist, an mir habe.«
Bei diesen Eigenschaften war es kein Wunder, dass
Fritsch vor der ihm Mitte Februar 1776 mitgetheilten Ab-
sicht des Herzogs Karl August, den sechsundzw^anzig-
jährigen übermüthigen Goethe in das Geheime Conseil zu
berufen, sich entsetzte. Er erhob ernstliche Vorstellungen
dagegen, dass eine so wichtige Stelle einem in den Re-
git rungsgeschäften fremden, mit den Landesverhältnissen
unbekannten, zu Verdrängung älterer rechtschaffner Diener
des Herzogs nicht berechtigten unreifen Menschen über-
Digitized by VjOOQ IC
222 Goethe mit Zeitgenossen.
tragen werden solle. Als aber der Herzog unter Hinweis
auf die vorzüglichen Geistes- und Herzenseigenschaften
Goethe's bei seinem Willen blieb, erklärte Fritsch mit
solcher Bestimmtheit sein Amt niederlegen zu wollen, da
er nicht mit Goethe im Collegium zu sitzen vermöge,
dass es ausser den dringendsten Zureden des Herzogs auch
noch der schmeichelhaftesten Vermittlung der verwittweten
Herzogin bedurfte, um ihn zum Bleiben zu bewegen.
Es zeugt von Goethe's Muth und Selbstvertrauen, in
die ihm fremden Geschäftsverhältnisse einzutreten, obgleich
er wusste, dass sein künftiger Chef ihm abhold war und
mit Misstrauen entgegentrat, aber es beweist auch seine
weise Mäsigung, dass er des Herzogs freundschaftliche
Hingabe und das sich entwickelnde Zerwürfniss desselben
mit seinem Minister, sowie des letztern Feindseligkeit
gegen sich nicht benutzte, um denselben zu verdrängen
und dessen Platz als Bedingung seines eignen Verbleibens
in Weimar hinzustellen, eine Forderung, der Karl August
in seinem unbedingten Zutrauen zu dem genialen Freund
wahrscheinHch nachgegeben haben würde.
Nachdem Fritsch sich dem fürstlichen Willen einmal
gefügt hatte, sah er ein, dass er sich dem aufgedrungnen
Mitarbeiter freundlich bezeigen müsse; am 20. Mai 1776
hatte er der Herzogin Amalia seinen Entschluss neben
Goethe im Amte zu bleiben kund gegeben und schon am
23. desselben Monats verzeichnete Goethe in seinem Tage-
buch: »Gut Anlassen von Fritsch.« Es fand also eine
Verständigung statt. Am 5. Juni steht dann in Goethe's
Tagebuch: »Mittags den Brief von Fritsch«, w^oraus zu
schhessen, dass dieser sich schriftlich eingehender mit
Goethe auseinandersetzte. Am 11. desselben Monats w^urde
dessen Ernennung zum Geheimen Legationsrath mit Sitz
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Goethe und Die von Fritsch. 22^
und Stimme im Geheimen Conseil ausgefertigt und am
25. erfolgte die Verpflichtung und Einführung.
Auffällig ist, dass in Goethe's Briefen an Frau von
Stein, worin so zahlreiche unverhohlene Äusserungen über
sehr viele Personen und selbst über die Glieder des Fürsten-
hauses vorkommen, sich keine über Fritsch findet, wie
dieser überhaupt bis im December 1780 in diesen Briefen
gar nicht genannt wird. Dagegen stehen in Goethe's
Tagebuch — in dessen gedruckten Bruchstücken bis 1782
er etwa zweiundzwanzigmal erwähnt wird — einige be-
merkenswerthe Auslassungen und zwar folgende:
15. December 1778: »Garstiges Licht auf Fritsch
geworfen durch viele seiner Handlungen, die ich dem
Herzog immer zeither durchpassiren lassen.« (?)
I. Februar 1779: »Conseil. Dumme Luft darin. Fa-
taler Humor von Fritsch.«
29. Juli 1779: »Unterredung mit Herzog über
Fritsch.»
Eine weitere Stelle vom 30. Juli 1779 ist zu unsicher,
als dass Gewicht auf sie gelegt werden möchte.
Zwar sind auch die andern Andeutungen zu allge-
mein, um Zuverlässiges daraus entnehmen zu können, so-
viel geht aber doch daraus hervor, dass mit Fritsch auch
weiterhin nicht alles glatt abging, wie gleichfalls ein noch
mitzutheilender Brief Goethe's"' an denselben darthut. Sonst
aber hat Goethe im Tagebuch und in den Briefen an Frau
von Stein aus den achtziger Jahren achtzehnmal ein Bei-
sammensein mit Fritsch hervorgehoben; fünfmal davon
hat er bei demselben zu Mittag gegessen.
Aus dem Briefwechsel zwischen beiden sind nur sechs
Briefe Goethe's bis jetzt bekannt. Im Tagebuch bemerkt
dieser, dass er am 5. August 1776 aus Ilmenau an Fritsch
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224 Goethe mit Zeitgenossen.
geschrieben habe; dieser Brief fehh. Einen Brief vom
13. Februar 1780 verwahrt die Loge AmaUa in Weimar;
abgedruckt war derselbe zuerst in dem »Allgemeinen Hand-
buch der Freimaurerei.« Vier Briefe veröffentlichte Frei-
herr von BeauUeu Marconnay aus dem Hausarchiv zu
Goddula in seiner schon oben angeführten, für die Göthe-
Uteratur nicht minder als für die Staats- und Hofverhält-
nisse in der Mitte des vorigen Jahrhunderts überhaupt
wichtigen und dabei höchst unterhaltenden Schrift. Den
letzten Brief machte Dr. Uhde in den »Hamburger Nach-
richten« 1877 bekannt. Als die untrüglichsten Denkmale
des Verhältnisses jener beiden Männer, deren Einer dem
Andern anfänghch so entschieden abstossend entgegentrat,
folgen hier diese sechs erhaltenen Briefe.
/. Brief Goethe' s an J. F. von Fritsch,
How^ohlgeborner
Insonders hochgeehrtester
Herr Geheimderath.
Erlauben Ew\ Excellenz, dass ich im Begriff mich
Weimar wieder zu nähern, bei Ihnen mein Andenken
erneure.
Wie glücklich bisher unsre Reise gewiesen, wie
wohl und vergnügt sich unser gnädigster Herr be-
funden, werden Sie aus dessen eigenhändigen Briefen
von Zeit zu Zeit ersehen haben.
Sogar jetzo, da Anstalten zur Abreise von hier
gemacht werden, heitert sich das bisher sehr trübe
und wilde Wetter auf und lässt uns Hoffnung zu
einem fröhlichen Rückzug.
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Goethe und Die von Fritsch. 225
Die anhaltenden guten Nachrichten von Weimar
haben Serenissimi Zufriedenheit bei Ihrer Tour voll-
kommen gemacht und uns andre an unserm Theil
nicht weniger erfreut.
Auch was mich betrifft kann ich diese Zeit unter
die glücklichste meines Lebens rechnen und wenn
ich bei meiner Rückkunft die alten freundschaftlichen
Gesinnungen und die Gewogenheit von Ew. Exe.
noch unverändert antreffe, so bleibt mir nichts für
den Augenblick zu wünschen übrig.
Der Frau Geheimderäthin empfehle ich mich auf
das beste und unterzeichne mich mit der voll-
kommensten Achtung
Ew. Excellenz
ganz gehorsamer Diener
Goethe.
Zürich, den 30. Nov. 1779.
Auf des Freiherrn v. Fritsch Würde des Meisters vom
Stuhl in der Loge Amalia bezieht sich der nach Goethe's
Rückkehr von der mit dem Herzog unternommenen
Schweizerreise geschriebene
2. Brief Goethe's an J. H. v. Fritsch.
Ew. Excellenz
nehme mir die Freiheit mit einer Bitte zu behelligen.
Schon lange hatte ich einige Veranlassung zu
wünschen, dass ich mit zur Gesellschaft der Frei-
es
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226 Goethe mit Zeitgenossen.
maurer gehören möchte; dieses Verlangen ist auf
unsrer letzten Reise viel lebhafter geworden. Es hat
mir nur dieser Titel gefehlt, um mit Personen, die
ich schätzen lernte, in nähere Verbindung zu treten
— und dieses gesellige Gefühl ist es allein, was mich
um die Aufnahme nachsuchen lässt. Wem könnte
ich dieses Anliegen besser empfehlen als Ew. Excellenz ?
Ich erwarte, was sie der Sache für eine gefällige
Leitung zu geben geruhen werden, erwarte darüber
gütige Winke und unterzeichne mich ehrfurchtsvoll
Ew. Excellenz
gehorsamster Diener
Goethe.
Den 13. Febr. 1780.
Goethe's Aufnahme in den Maurerbund erfolgte am
23. Juni 1780 und an demselben Tage des folgenden
Jahres seine Beförderung zum Gesellen auf Grund vom
). Brief Goethe's an J. H. v. Fritsch.
Darf ich Ew. Excellenz bei der nahen Aussicht
auf die Zusammenkunft einer Loge auch meine eigenen
kleinen Angelegenheiten empfehlen ? So sehr ich mich
allen mir unbekannten Regeln des Ordens unterwerfe,
so wünschte ich doch auch, wenn es den Gesetzen
nicht zuwider wäre, w^eitere Schritte zu thun, um
mich dem Wesentlichen mehr zu nähern. Ich wünsche
es sowol um mein selbst, als um der Brüder willen.
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Goethe und Die von Fritsch. 227
die manchmal in Verlegenheit kommen, mich als
einen Fremden tractiren zu müssen. Sollte es mög-
lich sein mich gelegentlich bis zum Meistergrade
hinauf zu führen, so würde ich's dankbarlichst er-
kennen. Die Bemühungen, die ich mir bisher in
nützlichen Ordenskenntnissen gegeben, haben mich
vielleicht nicht ganz eines solchen Grades unwürdig
gelassen.
Der ich jedoch alles Ew. Exe. gefälligster Ein-
leitung und besseren Einsicht lediglich überlasse und
mich mit unwandelbarer Hochachtung unterzeichne
Ew. Excellenz
ganz gehorsamster
Goethe.
Den 31. März 1781.
Die Beförderung Goethe's zum Meister fand am
2. März 1782 statt. Gelegen tHch sei bemerkt, dass man
muthmassUch später denselben zum Meister vom Stuhl
w^ählen w^ollte; wenigstens scheint dies aus folgendem
eigenhändigen Billet Goethe's ohne Adresse und Datum
hervorzugehn, welches sich in Bertuch'schem Besitz be-
funden hat und an den Legationsrath Bertuch gerichtet
worden sein dürfte, als derselbe 18 10 damit umging den
Hammer abzugeben, den dann am 24. Juni 18 10 Ridel
übernahm :
Den verehrten Meister vom Stuhle würde brüder-
lich dringend ersuchen, seine Amtsführung ferner
fortzusetzen !
15*
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228 Goethe mit Zeitgenossen.
Ein Brief, den Goethe wahrscheinlich Anfang Juli 1782
an Fritsch, der damals auf seinem Rittergut Seerhausen bei
Riesa eine Brunnentrinkcur gebrauchte, schrieb, ist ver-
loren ; desselben geschieht Ersvähnung im
4. Brief Goethes an J. K v. Fritsch.
Ew. Excellenz
haben meinen ersten Brief so gütig aufgenommen,
dass ich für den zweiten wol ein gleiches Glück
hoffen darf. Möge die Nachcur, welche Dieselben
angefangen haben, allen Ihren und unsern Wünschen
entsprechen und Sie zur guten Stunde recht wohl
und vergnügt zurückkehren.
Rath Lucius hat wirklich wunderbare Sachen er-
zählt und ich freue mich von Ew. Exe. mehreres
und näheres zu hören.
Der Tod Herzogs Karl von Meiningen*) wird
Dieselben wie jedermann wol auch frappirt haben;
seme Constitution versprach ihm kein langes Leben
auch nur äusserlich anzusehen und da nun gar die
Section den Schleier aufgehoben hat, so wurd dieses
noch gewisser. Demohngeachtet hätte er sich länger
erhalten können: er beschleunigte die tödtlichen Wir-
kungen seiner Übel durch falsche Behandlung seines
Körpers und liess sich von den Seinigen nicht ein-
reden. Leider geht es solchen Naturen wie Leuten,
•) t 21. Juli 178a.
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Goethe und Die von Fritsch. 229
die einen bösen Magen haben : je schlimmer er wird,
je grösser wird die Lust ihn noch mehr zu ver-
derben.
Unsre gnädigsten Herrschaften sind allerseits wohl
und vergnügt.
Serenissimus haben seit ihrer Zurückkunft *) ziem-
lich bei uns ausgehalten. Der Fürst von Dessau war
auf seinem Wege nach Hause auf einige Stunden
hier**) und Durchlaucht der Herzog fuhren mit ihm
bis Naumburg. Seit einigen Tagen wird ein grosser
Stein im Rathsbruche in Bewegung gesetzt, der
irgendwo zur Verzierung eines Platzes aufgestellt
werden soll; die mechanischen Operationen bei dieser
Arbeit unterhalten einen Geist, dem es an sinnlicher
Beschäftigung nicht fehlen darf, wenn er nicht Un-
muth und Langeweile empfinden soll.
Serenissimo dagegen richten ihre Spaziergänge
ganz in der Stille, sind dabei munter und scheinen
zufrieden.
Zu Tiefurt haben die dramatischen Musen eine
Erscheinung gemacht;***) vielleicht unterhält diese
Kleinigkeit die Frau Geheimde Räthin, der ich mich
bestens empfehle; ich lege deswegen ein Exemplar
des Stückchens bei.
•) Wol Anfang Juli.
**) Am 29. Juli. Auf der Hinreise verliess der Fürs! Wcimir am 14. Juni.
***) » Die Fischerin « wurde am 22. Juli aufgeführt.
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230 Goethe mit Zeitgenossen.
Prinz Konstantin hat befohlen seine Pferde zu
verkaufen und seine Leute abzudanken; es scheint
als wenn er seinen Aufenthalt in fremden Landen
verlängern wolle.*)
Unser Prinzesschen endlich**) wird tägUch ar-
tiger und zeigt einen sehr lebhaften Geist.
Da ich nun die fürstHche FamiUe der Ordnung
nach durchgegangen bin, so glaube ich die Ver-
mehrung nicht übergehen zu dürfen, welche der
Famihe unsers guten Herrn Collegen bevorsteht.
Das Beispiel der Kinder hat die Eltern aufs neue
belebt, und ich bereite mich schon zu der bevor-
stehenden Gevatterschaft.***)
Die Angelegenheiten unsres kleinen Staates gehen
so sachte vor sich hin. Ich unterhalte Ew. Exe. nicht
davon, sondern werde mir nach Dero Wiederkunft
über Verschiedenes ein kurzes Gehör erbitten.
In allem wird die von Ew. Exe. mir zugesicherte
Gunst eine der ersten Triebfedern sein, mich selbst
täglich zu bearbeiten und, indem ich mich ver-
bessere, mich nützUcher zu machen. Möge Ihr Wohl-
sein, Zufriedenheit und die gute Meinung von meinem
besten Willen und den aufrichtigsten Gesinnungen
sich immer gleich erhalten und ich zu meiner Auf-
munterung manchmal davon versichert werden.
*) Der Priiu reiste damals in Frankreich und England.
'•) Louise Auguste Antalie f 24. März 1784.
•••) Am 24. August sund GoethcGevatter bei dem jüngsten Sohn des Geheimen Rath Schnauss.
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Goethe und Die von Fritsch. 23 1
Die mir aufgetragenen und ausgerichteten Em-
pfehlungen werden bestens ersviedert. Der Raum
nöthigt mich abzubrechen und mich zu unterzeichnen
Ew. Excellenz
ganz gehorsamster Diener
Goethe.
Weimar, d. 5. Aug. 1782.
Eine Verstimmung bekundet der
j*. Brief Goethe* s an J, K v. Fritsch.
Da ich im Begriff stehe zur Besorgung einiger
Wasser- und Wegebaugeschäfte mir von Serenissimo
Urlaub bis Ende dieser Woche zu erbitten, da für
heute die Session abgesagt ist und ich das Glück
nicht haben kann, Ew. Excellenz persönlich aufzu-
warten, so nehme ich mir die Freiheit es schriftUch
zu thun.
Zuvörderst sende den mir mitgetheilten Plan mit
schuldigem Danke zurück. Es liegen einige wenige
Bemerkungen dabei, deren gefälligen Gebrauch ich
Ew. Exe. lediglich überlasse.
Bei dem Unwillen, den Ew. Exe. über des Herrn
Grafen Marschall*) Bieten und Wiederbieten und über
das Resultat der bisherigen Kaufs- und Verkaufs-
*) Graf Marschall handelte damals um das dem Herzog gehörige Gut Ossmannstedt,
das er nachher auch kaufte.
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232 Goethe mit Zeitgenossen.
Handlungen bezeigen, war ich nicht im Stande Sere-
nissimo davon einen unterthänigen Vortrag au thun.
Der Herr Graf ist heute früh abgereist und bittet
mit nächster Post um Resolution, damit er in Leipzig
wegen der Gelder die nöthigen Einrichtungen machen
könne. Ich habe heute früh das ganze Geschäfte
fürstlicher Kammer übergeben ; sie wird darüber einen
Bericht erstatten und Serenissimi höchste Intention dem
Herrn Grafen bekannt machen. Lassen Sich Ew. Exe.
diese Sache zu geneigter Beförderung empfohlen sein.
Ich kann nicht schHessen ohne Ew. Exe. zu ent-
decken, wie empfindlich und schmerzlich, und auch
wie unerklärlich mir die Art und Weise gewesen,
mit welcher mir Ew. Exe. in dem gestrigen Voto
ein unschuldiges Wort unterstrichen haben zurück-
geben wollen. Ew. Exe. ist am besten bekannt, wie
ich die Erinnerungen und Winke eines erfahrenen,
verständigen und hochachtungswerthen Mannes in
Scherz und Ernst aufzunehmen gewohnt bin; Sie
wissen, dass ein gutes Verhältniss, in dem ich mit
Ihnen zu stehen das Glück habe, eine meiner grössten
Beruhigungen, Ermunterungen und Belohnungen ist,
um so unerwarteter war es mir, von Ew. Exe. Un-
willen über einen zaudernden Käufer zugleich mit
getroffen zu werden.
Man bedient sich des Wortes mein, um ein
Verhältniss zu Personen und Sachen anzuzeigen, mit
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Goethe und Die vom Fritsch. 233
denen man aus Neigung oder Pflicht verbunden ist,
ohne sich darüber eine Herrschaft oder Eigenthum
anzumassen. Ein Cassierer sagt meine Casse, man
sagt unsre Finanzen u. s. w. ; obgleich alles des Fürsten
oder des Landes ist. Meine Herrn Cameralen konnte
also wol nichts weiter heissen, als: die Herrn von
der fürstlichen Kammer, die durch Serenissimi Willen
in gewissen Sachen an mich gewiesen sind, mit denen
ich öfters zu thun habe, mit denen ich als geschick-
ten, verständigen, arbeitsamen Leuten gern zu thun
habe.
Verzeihen Ew. Exe, wenn ich diese Sache viel-
leicht zu ängstlich und ernstHch nehme, allein so
lange Sie die Güte haben mich mit Vertrauen wie
bisher zu beehren, so kann ich nichts auf dem Herzen
behalten, was mich drückt.
Sehen Sie es als einen Beweis an, wie bedeutend
mir alles ist was von Ihnen kommt, und wie sehr
es in Ihrer Gew^alt steht mich in jedem Geschäfte,
dessen ich mich nach Kräften gern unterziehe, mit
Einem guten Worte aufzumuntern.
Erhalten Sie mir Ihre unschätzbare Gewogenheit.
Der ich mich mit der vollkommensten Hochachtung
unterzeichne
Ew. Excellenz
gehorsamster Diener
Goethe.
Weimar, den 6. Mai 83.
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234 Goethe mit Zeitgenossen.
Die im vorstehenden Briefe von Goethe gerügte
Nörgelei des Minister von Fritsch erscheint trotz des
siebenjährigen freundlichen Zusammenwirkens doch immer-
hin wie ein Nachklingen des Grolls, den in ihm Goethe's
Berufung ins Geheime Conseil erregt hatte; es ist dies
ein Gegenstück zu dem »fatalen Humor«, den Goethe
am I. Februar 1779 bei Fritsch übel vermerkte und
diese kleine Reibereien machen es nicht minder als jene
ersten FeindseUgkeiten zur Gewissheit, dass Freiherr von
Beaulieu Marconnay Recht hat, wenn er den Minister von
Fritsch als Urbild des Antonio im »Tasso« bezeichnet.
Am 2. September 1786, also kurz vor Antritt der
italienischen Reise, schrieb Goethe aus Karlsbad an seinen
Kammerdiener Philipp Seidel, er solle den Kricgskanzlist
Seeger ersuchen, ihn dem Geheimen Rath von Fritsch —
der damals wol noch in Seerhausen weilte — zu em-
pfehlen.*)
Nach mehrjährigem Zwischenraum findet sich wieder
erhalten der
6, Brief Goethe s an J. H. v. Fritsch.
Ew. Excellenz
erlauben, dass ich Dieselben auf einen Mann auf-
merksam mache, der sich seit einiger Zeit hier
aufhält und der mir täglich verdächtiger vorkommt.
Es ist der sogenannte Obr. Pearce in Amerikanischen
Diensten.
•) Dass in dem Abdruck obigen Briefs an Seidel in der Wochenschrift »Im neuen
Reich« die Abkürzung »Grf. K. v. Fritsch« verlesen ist für »-Geh. R. v. Fritsch* steht wol
ausser Zveifel.
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Goethe und Die von Fritsch. 235
Er sucht unter ansehnlichen Versprechungen junge
Leute an sich zu locken. Der junge Wette, der sich
mit zu den Künstlern zählt, hat von mir zum Ent-
zweck einer Aufnahme ein Attestat seiner Talente
und seines Verhaltens begehrt und dieses veranlasst
mich zu Gegenwärtigem.
Sollte es etwa gefällig sein, den Peter im Baum-
garten, *) mit welchem gedachter Pearce hierher auf
dem Postwagen gereist und bei welchem er wohnt,
durch irgend einen Subalternen vernehmen zu lassen,
so würden, wie ich vermuthe, dadurch einige Ver-
hältnisse sogleich ins Licht gesetzt werden.
Ich empfehle mich Ew. Excellenz gnädigem Wol-
wollen und unterzeichne mich verehrend
Ew. Excellenz
gehorsamster Diener
Goethe.
W. 12. März 1793,
Abends 5 Uhr.
Ob die Gemahlin des Minister von Fritsch, Johanne
Sophie geb. von Häseler, sich mit Goethe befreundete und
namentlich den von ihm geleiteten Aufführungen von
Festspielen und Maskenzügen sich betheiligte, lässt sich
mit Zuverlässigkeit zwar nicht feststellen, doch geschah
es wahrscheinlich einigemal; wo der Herzog selbst als
Theilnehmer auftrat, konnten die ersten Damen des Hofs
•) Goethc's von Meyer von Lindau als Pflegling übernomn-.ener junger Schweizer.
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236 Goethe mit Zeitgenossen.
nicht zurückbleiben. Schon dass Frau von Fritsch bei
solchen Gelegenheiten — wenn auch nicht aus ganz sichern
Quellen — mit genannt wird, lässt vermuthen, dass sie
den Festlichkeiten nahe stand.
Ein häufiger Verkehr Goethe's ist hiernächst mit den
Söhnen des Minister Jakob Friedrich Freiherr von Fritsch
bezeugt; der mittlere derselben, Karl Wilhelm, war genau
um soviel jünger als Goethe, als der Vater älter war.
Der älteste, Friedrich August, nahm in herzog-
lichen, nachmals grossherzoglichen Diensten mannigfache
Stellungen ein, indem er theils dem Hofstaat, theils dem
Kammercollegium, theils der Forstverwaltung angehörte.
Er wurde 1778 Hof- und Jagdjunker, 1792 Kammerassessor,
1793 Kammerjunker, 1794 Oberforstmeister, der Reihe nach
in den Forstbezirken AUstädt, Hardisleben, Apolda, Ilmenau
und Weimar, 1801 Kammerherr, 1817 Geheimer Kammer-
rath, 1823 Kammerdirector, 1828 Oberjägermeister, 1835
Wirklicher Geheimer Rath.
Goethe kam bei seinen Dienstreisen, so lange Fritsch
in Provinzialstädten angestellt war, öfters mit diesem zu-
sammen. In Weimar erscheint Fritsch als Goethe's Gast
am I. Mai 1798 bei einem zu Ehren Iffland's gegebenen
Frühstück und Ende 1802 oder Anfang 1803 ^^^ einem
vertraulichen Mittagsessen, an welchem auch Christiane
Vulpius, damals nur noch Hausgenossin Goethe's, theil-
nahm. Im Jahr 18^7 veranstaltete Friedrich August von
Fritsch in Gemeinschaft mit August von Goethe ein Mit-
tagsessen zum Geburtstag Goethe's in Paulinzelle, in welcher
Klosterruine letzterer bis dahin noch nicht gewesen war;
als Goethe sich 183 1 nach Ilmenau begeben hatte, um dort
in der Stille seinen Geburtstag zu begehn, reiste auch
Fritsch dahin und feierte das Fest mit. Goethe bat dabei
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Goethe und Die von Fritsch. 237
ihm eine Abschrift des 1783 an eine Wand des Jäger-
hauses auf dem Gickelhahn geschriebenen Gedichts Ȇber
allen Wipfeln ist Ruh etc.« zu verschaffen; er mochte es
genau so, wie er es damals gedichtet hatte, wiederlesen
wollen, da der Druck in den Werken Veränderungen er-
fahren hatte.
Bei dem grossen Maskenzug vom 18. December 18 18
betheihgte Fritsch sich als November, dargestellt durch das
Sternbild des Schützen.
Wiederholte Berührungen Goethe's mit Friedrich August
von Fritsch ergaben sich hinsichtÜch der Pflanzenkunde.
So erzählt Goethe, dass Fritsch im Herbst 1821 ihm den
Abschnitt eines Baums, der durch theilweise Heilung einer
schweren Verletzung merkwürdig war, ferner zu Anfang
1825 einen Lindenast, der in der Fäulniss des Stammes
Wurzel geschlagen hatte und darin fortgediehen war, end-
Üch im Sommer 183 1 seine Wahrnehmungen über schrauben-
förmiges Wachsen der Kiefern mitgetheilt habe.
Unter den Bildnissen, welche Goethe durch den Hof-
maler Schmeller von befreundeten und bedeutenden Per-
sonen abnehmen Hess, befindet sich auch das von Friedrich
August von Fritsch.
Der zweite Sohn Jakob Friedrichs Freiherrn von Fritsch,
Karl Wilhelm, trat, nachdem er in Jena und Leipzig
studirt hatte, schon 1789 als Hofjunker und Regierungs-
assessor in die Dienste des Herzogs von S.- Weimar, wurde
1793 zum Regierungsrath, 1805 zum PoHzeipräsidenten,
1810 zum Mitglied des Geheimen Conseils und 181 5 zum
WirkUchen Geheimen Rath und Staatsminister befördert
und erhielt noch eine Anzahl Nebenaufträge von Belang.
Seit 18 18 war er Meister vom Stuhl in der Weimarer
Loge und machte sich dort bei den meisten gebotenen
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238 Goethe mit Zeitgenossen.
Gelegenheiten als gewandter Redner bemerkbar. Über
seinen Umgang mit Goethe geben ausser einzelnen Nach-
richten auch mehrere Briefe Zeugniss. Das älteste ist die
Aufführung dieses von Fritsch unter den Gästen des schon
erw'ähnten Frühstücks vom i. Mai 1798; dann ist es wol
derselbe Fritsch, dem Goethe im Juni 1799 die Erlaubniss
Schiller's verschaffte, sich eine Stelle aus dem damals noch
ungedruckten »Wallenstein« auszuschreiben. Am 24. Oc-
tober 1800 hatte K. W. von Fritsch in dem zur Feier des
Geburtstags der Herzogin - Mutter Amalie aufgeführten
Goethe'schen Festspiel »Paläophron und Neoterpe« die
Rolle des Griesgram übernommen. Eine häusHche Ange-
legenheit gab Anlass zu dem
I. Brief Goethe' 5 an K. W. von Fritsch.
FürstUche Generalpolizeidirection erwirbt sich um
sämmtliche hiesige Haushaltungen durch die neuen
Einrichtungen, das Gesinde betreffend, ein unschätz-
bares Verdienst, wobei sie, besonders anfänglich,
manche ausserordenthche Bemühungen gefällig über-
nimmt, welche zu vermehren ich soeben genöthigt
bin. Ew. Hochwolgeboren erlauben folgenden Vonrag.
Johanna Höpfnerin von Eisenach hat als Haus-
magd ein halbes Jahr, sodann als Köchin ein Jahr
bei mir gedient, und man konnte mit ihrer Treue
und Thätigkeii zufrieden sein, nur ward ihr übriges
gutes Betragen durch leidenschaftliche Ausfälle unter-
brochen, dergleichen vor kurzem sich einer zeigte,
wesshalb sie aus dem Dienste entlassen werden musste.
Digitized by VjOOQ IC
Goethe und Die von fritsch. 239
Sie fühlt nun wol gegenwärtig, welche gute Stelle
sie verscherzt hat, und wünscht wieder aufgenommen
zu werden, wozu ich auch nicht abgeneigt wäre,
wenn es unter den Anspielen fürstlicher General-
polizeidirection geschehen könnte, und zwar derge-
stalt, dass ich gedachte Köchin abermals bis Ostern
miethete, mir jedoch ausdrücklich vorbehielte, sie,
wenn sich wieder ein solcher Ausbruch von Heftig-
keit und Unsinn ereignete, sogleich aus dem Dienste
zu entlassen und ihr an Lohn nicht mehr, als so
viel sie bis zu einem solchen Augenblicke verdiente,
zu verabreichen.
Genehmigt fürstliche Generalpolizeidirection die-
sen Antrag, so bin ich bereit, mehrgedachte Person
sogleich wieder aufzunehmen, und verfehle nicht,
meinen Dank für die übernommenen Bemühungen
fürstlicher Generalpolizeidirection für meine Person
auf das Lebhafteste abzustatten.
Der ich mit vorzüglichster Hochachtung unter-
zeichne
Ew. Hochwolgeboren
ganz gehorsamster Diener
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 10. September 1805.
Als nach der Schlacht von Jena K. W. von Fritsch
die Leitung der Kriegsverpflegungsanstalten übertragen
erhalten hatte, erkannte Goethe an, dass derselbe ein
Digitized by VjOOQ IC
240 Goethe mit Zeitgenossen.
tüchtiger Mann sei, fürchtete aber gleichwol, dass es ihm
nicht geUngen werde, die betreffenden Angelegenheiten in
Ordnung zu halten.
Auf das Zusammensuchen derjenigen Festgedichte, mit
denen Goethe namentlich die Maskenbälle seiner frühsten
Jahre in Weimar verherrlichte und deren er zuerst im
9. Bande der von 1806 bis 1810 erscheinenden Ausgabe
seiner Werke sammelte, scheint sich zu beziehen der
2. Brief Goethe' s an K W. von Fritsch,
Ew. Hochwolgeboren
bin ich vielen Dank für das Übersendete schuldig.
Durch die Aufmerksamkeit und Güte meiner Freunde
kommen doch nach und nach disjecti membra poetae
wieder zusammen. Zwei Blättchen von den über-
sendeten habe ich bisher vergebens aufgesucht. Em-
pfehlen Sie mich Ihrer Frau Mutter vielmals. Ich
werde ehestens selbst kommen, mich zu bedanken
und zugleich bei Ihrem Herrn Vater wegen der
Anlage zu entschuldigen, welche ich ihm zu über-
reichen bitte.
Von Herrn von Hendrich erhalte ich oft Briefe,
und so kam auch dieser zu mir, den ich, blos das
Siegel betrachtend, aufriss. Da nalim mich's denn
schon nicht wenig Wunder, dass Wunder etwas
von mir erzählt haben sollte. Als ich aber gar von
einem Aufenthalte in Dresden las, sah ich nach der
Adresse, ward meinen Irrthum gewahr und schob
Digitized by VjOOQ IC
Goethe und Die von Fritsch. 24 1
das Blatt wieder ein. Nochmals also Vergebung.
Ihrer Frau Gemahlin mich bestens empfelilend
Goethe.
Weimar, den 23. December 1807.
Zu erläutern ist hierbei, dass v. Hendrich Major und
Commandant von Jena war.
Die folgenden vier eigenhändigen Briefe beziehen sich
auf die von Goethe für den 30. Januar und den 16. Februar
18 10, den Geburtstagen der Herzogin und der Erbgross-
herzogin, Grossfürstin Maria Paulowna, angegebenen und
mit Dichtung ausgerüsteten Maskenaufzüge der roman-
tischen Poesie und russischer Nationen, bei welchem
ersteren, der jedoch erst am 2. Februar zur Aufführung
kam, K. W. von Fritsch und Goethe's Sohn die Sprecher
waren. Das in einem Brief an die Hofmarschallin von
Egloffstein erwähnte Billet an Präsident von Fritsch, wel-
ches einer Abendsitzung über den Maskenzug voranging,
fehlt. Ihm folgte der
j. Brief Goethe' s an K. W. von Fritsch.
Ew. Hochwohlgeboren
ersehen aus nachstehendem Schema, wie unser Auf-
zug sich zuletzt gestaltet hat. Ich wünsche dem
Arrangement Ihren Beifall. Die Nummern, wozu
die Verse August zu sprechen hat, sieht*) mit Roth
unterstrichen**), die andern, welche Ihnen empfohlen
•) So ftr »sind«.
*•) Hier gesperrt gedruckt.
16
Digitized by VjOOQ IC
242 Goethe mit Zeitgenossen.
werden, ohne Bezeichnung. Hiernach werden Sie
übersehen können, wenn Sie beikommende Strophen
damit vergleichen, welcher Theil Ihrer Rolle noch
zurücksteht, welches leider der grösste ist. Ich habe
alles auf einzelne Blätter schreiben lassen, damit das
Einzuschaltende eingeschalt w^erden kann; eine schliess-
liche Abschrift wird die sämmtUchen Strophen mit
ihren Stichwörtern in der Folge darstellen und aller
Verwechslung vorbeugen.
Morgen früh um 12 Uhr, ja eher, werde ich mich
im Stadthause einfinden. Die Herren werden gebeten
sämmtlich, und von den Frauenzimmern, wer Lust
und Müsse hat, zu erscheinen. Auch wollte ich
bitten, dass man alles, was noch etwa an Requisiten
abgeht, in diesem Termin erinnerte und entweder
mündlich zum Protokoll gäbe oder schriftlich zu
Acten einsendete. Ew. Hochwolgeboren haben ja
w^ol die Güte, diesen Wunsch an die Interessenten
gelangen zu lassen.
Goethe.
Weimar, den 31. Januar 18 10.
Auf dem zweiten Blatt dieses Briefes steht gleichfalls
von Goethe's Hand:
Maskenzug zum 30. Januar 1810.
Personen.
I. 3. 2.
Minnesinger. Herold. Heldendichter.
Digitized by VjOOQ IC
Goethe ukd Die von Fritsch.
243
4-
Lenz.
6. 7-
Conversirende.
5-
Sommer.
8. 9-
Tanzende.
j
12.
Herbst.
10. II.
agdlustige.
14.
Spielende.
13-
Winter.
16.
Brunehild.
15.
Zwerge.
17.
Siegfried.
18.
Herlinde.
20.
19-
Rother.
21.
Recht.
Asprian.
22.
Ehre.
23-
Liebe.
26.
Weltliches Regi
24.
Treue.
25.
1 n i t.
27.
iment. Geistliches Regiment.
28.
Kanzler.
30.
Räthsel.
29.
Clericus.
i6*
Digitized by VjOOQ IC
244 Goethe mit Zeitgenossek.
4. Brief Goethes an K. W. von Fritsch.
Ew. Hochwohlgeboren
danke nochmals für alles gestern erzeigte Freund-
liche und Gute. Ich habe noch eine Anzahl Exem-
plare aus dem gestrigen Getümmel gerettet und
sende daher 50, weil sie doch als Novität immer
mehr werth sind. Der Satz ist in der Druckerei
stehen geblieben, und die Gesellschaft kann nach-
schiessen lassen, so viel sie will. Der Aufwand ist
gering. Das Exemplar kommt nicht 18 Pfennige.
Da wir Beifell gefunden haben, so würde ich einen
anständigen Titel Vordrucken lassen und noch einiges
hinzufügen und ändern. Hierüber liesse sich am
besten mündlich verhandeln. Wollten Sie daher wol
morgen früh mit Ihrer lieben Frau Gemahlin, der
ich für die schöne Stickerei selbst zu danken wünschte,
zu unserer Singstunde früh um 11 Uhr sich ein-
finden? Bis dahin empfehle ich mich zum alier-
schönsten.
Goethe.
Weimar, den 3. Februar 18 10.
Als Singstunde bezeichnet Goethe hier die damals
allsonntäglich Vormittags bei ihm stattfindenden Gesang-
vorträge der von ihm sogenannten freiwilligen Haus-
kapelle, welche der Musikdirector Eberwein leitete.
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Goethe und Die von Fritsch. 245
5. Brief Goethe' s an K. W. von Fritsch.
Ew. Hochwohlgeboren
erhalten hierbei 200 Exemplare zu gefälliger Aus-
theilung an die Gesellschaft und sonstige Freunde.
Das dritte Hundert ist bei mir schon ziemlich auf
die Hälfte zusanmiengeschmolzen. Es scheint, als ob
keine Schriften besser abgingen, als die man gratis
austheilt. Mit meinem Rest will ich noch die Nach-
fragenden zu befriedigen suchen.
Wie befindet sich denn unsere liebe kleine Frau?
Kann sie den Zug heute anführen? Das Heizen der
obem Zimmer ist besorgt. Genast wird sich mit den
Stangenmännern zur rechten Zeit einfinden und
weitere Anordnung erwarten. Eberwein der Ältere
wird die russischen Melodien mit Instrumentalmusik
vortragen, wodurch wieder etwas Neues und Fremdes
entsteht. Ich wünsche, dass alles wohl passen und
gelingen möge. Ich werde diesmal schwerUch selbst
aufwarten können.
Goethe.
Weimar, den 18. Februar 1810.
Noch Eins!
Ist es möglich, so wünschten wir die sämmt-
lichen ausgetheilten Zeichnungen wieder zurückzu-
erhalten, in welchem Zustande sie auch sein mögen.
Wir würden sie nebst denen vom ersten Aufzuge in
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246 Goethe mit Zeitgenossen.
ein Buch zusammenbringen und zu künftigen*) Ge-
brauch aufheben. Einzeln nutzen sie niemanden, ge-
sammelt aber können sie künftigen Maskenlustigen
zu neuer Anleitung dienen. Der ich wohl zu leben
wünsche und mich bestens empfehle.
6. Brief Goethe' s an K. W. von Früsch.
Ew. Hochwohlgeboren
gefällige Anfrage beantworte sogleich.
Das Chor bestand aus 26 Sängern. Jeder würde
nach unserer Theatertaxe für seine Bemühungen
8 Groschen erhalten haben. Zahlen sie jedem 12
Groschen, so wird es mit Dank angenommen wer-
den und zur Ermunterung in ähnlichen Fällen dienen.
Das Ausschreiben der Stimmen betrug i Thaler
8 Groschen.
Mögen Sie mir diese kleine Summe zukommen
lassen, so werde ich gern für die Entrichtung und
Vertheilung sorgen.
Möchte doch alles, was unternommen und auf-
gewendet wird, von so guter Wirkung sein. Ich
erfreue mich dessen, indem ich mich Ihnen und
Ihrer lieben Dame meinen Dank und meine An-
hänglichkeit auf das beste zu versichern die Freude habe.
Goethe.
Weimar, den 21. Februar 1810.
•) So«
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Goethe ukd Die von Fritsch. 247
Wie der gegen äussere Einwirkungen peinlich em-
pfängliche Dichter 1801 in Göttingen von der Polizei vor
dem Schalle des Nachtwächterhoms geschützt wurde,
während er vergeblich nächtliches Hundegeheul durch die
nach den Urhebern geworfenen Ammonshömer zu unter-
drücken bemüht war, so nahm er wegen eines ähnHchen
Gelärms die Hilfe der weimarischen Generalpolizeidirection
in Anspruch in dem auch wieder eigenhändigen
7. Brief Goethe' s an K. JV. von Fritsch.
Ew. Hochwohlgeboren
haben mich vor einem Jahr von der grossen Un-
bequemhchkeit gefälligst befreit, w^elche mir die
Kegelbahn in der Nachbarschaft gegeben, und ich
habe meinen aufrichtigsten Dank nicht besser aus-
drücken können, als dass ich dieses Jahr früher
zurückgekommen bin, um sub umbra alarum tuarum
mich meines stillen und heimlichen Gartens zu er-
freuen. Aber unglücklicherweise habe ich schon
wieder eine Kegelei zu denunciren, welche an der-
selben Stelle errichtet worden. Es scheint zwar nur
ein Schub zu sein, wie man solche auf Tischen ver-
anstaltet, aber der Lärm ist, wo nicht so stark, doch
ebenso widrig, und dann hat diese Art noch das
Übel, dass, wenn keine Gäste da sind, sich wahr-
scheinlich die Kinder und Knaben aus der Nachbar-
schaft damit ergötzen; denn es ist den ganzen Tag
über wenig Ruhe.
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248 Goethe mit Zeitgenossen.
Ich bin ohnehin hier aussen in der Vorstadt
zwischen manche Handwerker eingeklemmt, zwischen
Grob- und Nagelschmiede, Tischler und Zimmer-
leute, und sodann ist mir ein Leinweber der unan-
genehmste Wandnachbar. Doch macht man sich über
solche nothwendige Dinge noch Raison, indem man
zugeben muss, dass ein Gewerbe nicht geräuschlos
sein könne. Wenn aber an Feierabenden und an Sonn-
und Festtagen der Müssiggang mehr Getöse macht, als
die sämmtlichen thätigen Leute zusammen in ihren
Arbeitsstunden, so wird man um so ungeduldiger, als
den Liebhabern solcher nutzlosen Übungen ausser der
Stadt die herrUchsten Bahnen reichlich eröffnet sind.
Doch dieses alles darf ich nicht erst erwähnen;
denn es sind ja eben dieselben Betrachtungen, w^elche
Ew. Hochwohlgeboren veranlassten jene früheren für den
Ruheliebenden so erwünschten Verfügungen zu treffen.
Mit Sehnsucht habe ich auf Ew\ Hochwohlgeboren
Rückkehr gewartet, weil ich gern dasjenige, was ich
Ihnen schon einmal schuldig geworden, auch dies-
mal verdanken möchte. Ich wollte nicht in den
ersten Tagen zudringlich sein; nun aber lege ich
zuversichtlich diese kleine, mir jedoch wichtige An-
gelegenheit in Ihre Oberrichter- und Freundeshände.
Ew. Hochwohlgeboren
ganz gehorsamster Diener
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 27. August 181 1.
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Goethe und Die von Fritsch. 249
Im Juni 1816 gab Goethe dem Staatsminisier K. W.
Freiherrn v. Fritsch und seiner Gattin einen Brief an
Sulpiz Boisserie nach Stuttgan mit, worin er diesen er-
suchte, seine berühmte Sammlung altdeutscher Genrtälde
»diesen wohl- und zartgesinnten Freunden« zu ungestörter
Betrachtung zu öffnen.
Ebenfalls auf Kunstwerke gerichtet, aber sonst mir
unbekannt ist der Bezug des
8. Briefs von Goethe an K. W. vofi Fritsch.
Ew. Excellenz
ausgezeichnet schätzbare Gabe wäre uns jederzeit
höchst willkommen gewesen, zur gegenwänigen aber
wird sie es doppelt, da wir vor kurzem das Bibliotheks-
Museum geordnet, katalogirt und dadurch das Vor-
handene sowol, als jedes Zuwachsende erfreulicher
und geniessbarer gemacht. Unser bereitwilliger Hof-
rath Meyer wird diesen Gemälden sogleich ihren
gebührenden Glanz ertheilen, und wir werden uns
die Freude erbitten, dass Ew. Excellenz sie gelegent-
lich, Ihrem Wunsche gemäss zu Ehren des Gebers
aufgestellt, freundlichst betrachten mögen. Nehmen
Sie indessen unseren verbindlichsten Dank und er-
halten den wissenschaftlichen sowol als Kunst-
Anstalten eine geneigte Gesinnung. Gehorsamst
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 12. October 18 18.
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250 Goethe mit Zeitgenossen.
An dem grossen Festzuge vom 18. December 18 18,
welcher bei Anwesenheit der Mutter der Erbgrossherzogin,
der Kaiserin Maria Feodorowna, geistige Erzeugnisse der
Weimarer Glanzzeit nebst verschiedenen allegorischen Ge-
stalten vorführte, nahm K. W. Freiherr v. Fritsch nebst
Frau und seinen drei Söhnen Karl, Albert und Georg
Theil. Die beiden letzteren stellten Elfen vor, und Albert
hatte die Verse zu sprechen: »Das kleine Volk, das hier
vereint u. s. w.« Allein es wollte mit dem Auswendig-
lernen nicht recht gehen, was Oberbaudirector Coudray,
der den Aufzug einübte, Goethe'n klagte. »Nun«, erwiderte
dieser, »wo Licht ist, muss auch Schatten sein.« Frau v.
Fritsch theilte dem Sohne diese Äusserung Goethe's mit,
was diesen so anspornte, dass er sofort daran ging, seine
Aufgabe sich sorgfältig einzuprägen, was ihm auch so
gelang, dass er die Reimzeilen noch heute im frischen
Gedächtniss hat. Frau v. Fritsch sprach als Tag den Epilog,
der älteste Sohn Karl stellte Brighella und der Oberforst-
meister Fr. A. Frhr. v. Fritsch den November vor.
Auf die von K. W. von Fritsch nach dem Tod des
Minister von Voigt übernommenen Universitätsangelegen-
heiten, und zwar auf das Verbot der vom Professor Oken
zu Jena herausgegebenen wühlerischen Zeitschrift »Isis«
bezieht sich der vom weimarischen Archivdirector Burk-
hardt in den »Grenzboten« 1878 veröffentHchte
(). Brief Goethes an K. W. von Fritsch.
Ew. Excellenz
erlauben, dass ich nach meiner Rückkunft von Jena,
wohin ich auf einige Tage mich begebe, persönlich
für geneigte Mittheilung beikommender wichtigen
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Goethe und Die von Fritsch. 251
Acten meinen verbindlichsten Dank abstatte, wobei
ich zugleich den erwünschten Erfolg eines so noth-
wendigen Schrittes zu vernehmen hoffe.
Verehrungsvoll
gehorsamst
J. W. v. Goethe.
Weimar d. 26. Juni 181 9.
Einer Bereicherung der Goethe'schen Handschriften-
sammlung und des bevorstehenden Erscheinens von »Wil-
helm Meisters Wanderjahren« gedenkt der eigenhändige
70. Brief Goethes an K. W. von Fritsch.
Ew. Excellenz
haben mir durch die so bedeutende Sendung das
grösste Vergnügen gewährt. Vorerst war sie mir im
Allgemeinen ein unschätzbares Zeugniss gewogenen
Andenkens, sodann bei näherer Ansicht gab sie einen
charakteristischen Einblick sowol in die Zustände des
wackern Francke, als in die akademischen jener Zeit.
Solche Documente sind höchst belehrend, indem
sie uns die Vergangenheit in die nächste Gegenwart
heranziehen, wovon meine Sammlung die schönsten
Zeugnisse gibt, deren Vermehrung Hochdenenselben
nunmehr verdankend, sie zu weiterer geneigter Be-
achtung bestens empfehle.
Möge die gute Jahreszeit, die Erleichterung von
Geschäften das neulich genossene Glück mir bald aber-
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252 Goethe mit Zeitgenossen.
mals verschaffen! Einem nächstens anklopfenden Wan-
derer günstige Aufnahme erbittend treulichst angeeignet
J. W. Goethe.
Weimar, 29. Mai 1821.
Von den folgenden sieben Briefen betreffen sechs,
einige wenigstens zum Theil, das von Goethe durch Ver-
mittelung des deutschen Bundestags erworbene Privilegium
gegen den Nachdruck der Ausgabe letzter Hand seiner
sämmtlichen Werke, worüber ihm von auswänigen Staaten
die Mittheilungen nach und nach zugingen, wie durch den
bayerischen Gesandten in Weimar, Grafen von Luxburg,
durch den weimarischen Agenten in Wien von Piquot u. a.
Aus den Briefen erfährt man, dass einzelne Staaten sich
die Verleihung bezahlen Hessen; das Königreich Sachsen
enheilte das Privilegium gebührenfrei. Nur die beiden
nächsten Briefe sind eigenhändig.
//. Brief Goethes an K W. von Fritsch.
Ew. Excellenz
genehmigen meinen verbindlichsten Dank für die
Übersendung des königl. bayerischen. Privilegiums
und entrichten solchen gefällig an des Herrn Grafen
Luxburg Excellenz.
Die schuldigen 49 fl. werden sogleich nach München
unmittelbar ausgezahlt.
Verehrend, vertrauend
Ew. Excellenz
Weimar, 29. Januar 1825.
gehorsamst
J. W. v. Goethe.
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Goethe und Die von Fritsch. 253
12. Brief Goethe's an K. W. von Fritsch.
Ew. Excellenz
verpflichten mich auf's Neue durch die so schleunig
mitgetheilte gün^ige Nachricht. Der Entwurf des
Beschlusses weicht zwar einigermaassen von meinem
Petitum ab, doch muss man den wohlwollenden
Männern vertrauen, die am besten wissen, auf welche
Weise die Sache zu fördern ist.
Der ich das vorliegende Geschäft aufs Andring-
lichste zu empfehlen mir die Freiheit nehme und
mir für die Folge fernere geneigte Mittheilung, ein-
sichtigen Rath und wirksamen Antheil zuversichtlich
erbitte.
Verehrend
Ew. Excellenz
ganz gehorsamer Diener
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 21. März 1825.
i). Brief Goethe' s an K. W. von Fritsch.
Ew. Excellenz
verfehle nicht beiliegender schuldiger Erwiederung
meinen verbindlichsten Dank hinzuzufügen für die
dem Jenaischen sowol als Weimarischen Bibliotheks-
verwandten gegönnte Aufmunterung; es wird beiden
Anstalten zu wahrem Vonheil gereichen, indem so-
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254 Goethe mit Zeitgenossen.
wol die begünstigten Personen hieraus neuen Muth
schöpfen, als auch der Vorgesetzte ein doppeltes
Recht erhält, nach seiner Überzeugung das Mög-
lichste von ihnen zu fordern.
Unserm gnädigsten Herrn habe meinen gefühltes-
ten Dank sogleich abgetragen, welchen jedoch ge-
legentlich zu wiederholen Ew. Excellenz die Ge-
fälligkeit haben mögen.
Ew. Excellenz
ganz gehorsamster Diener
J. W. Goethe.
Weimar, den 4. Septbr. 1825.
Den Dank in vorstehendem Brief spricht Goethe in
seiner Stellung als Vorstand der Oberaufsicht über die
weimarischen Anstalten für Kunst und Wissenschaft aus
und bezieht sich derselbe auf die Verleihung von Civil-
verdienstmedaillen an Professor und Bibliothekar Gülden-
apfel sowie an BibUothekssecretär Kräuter; das Dank-
sagungsschreiben des ersteren war die Beilage. Die im
folgenden Brief erwähnte Ordensverleihung war die An-
erkennung des Verdienstes, das Graf Vargas Bedemar sich
durch reiche Geschenke von Stufen um die mineralogische
Societät zu Jena — deren Vicepräsident er nach dem Tod
des Oberberghauptmann von Trebra geworden war —
erworben hatte.
14. Brief Goethe* s an K. W. von Fritsch.
Ew. Excellenz
vergönnen, dass ich manches in kurzem Raum zu-
sammenfasse. Zuvörderst danke noch auf das Ver-
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Goethe und Die von Fritsch. 255
bindlichste für das dem Herrn Grafen Vargas Bede-
mar verliehene Comthurkreuz.
Sodann spreche meine Freude aus über das mit
allgemeinem Beifall durchgeführte Maurerfest und
lege schliesslich eine Abschrift bei eines unerwartet
günstigen Schreibens Ihro des Fürsten Metternich
Durchlaucht, wodurch ich die für mich so wichtige
Angelegenheit in der Hauptsache als völlig abge-
schlossen gar wol ansehen darf.
Ew. Excellenz freundschaftlichen Antheils hierin
wue im Übrigen völlig versichert, erbitte mir wohl-
wollende Fortsetzung
treu anhänglich
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 15. September 1825.
ij. Brief Goethe' s an K IV. von Fritsch.
Ew. Excellenz
nehme mir die Freiheit, den von kaiserl. königl.
österreichischer Hofkanzlei an mich ergangenen Er-
lass im Originale vorzulegen und, indem ich mir
dessen gefällige Rücksendung erbitte, zugleich anzu-
fragen: ob Hochdieselben geneigt seien, demnächst
eine an Herrn von Piquot desshalb abzusendende
Depesche an denselben gelangen zu lassen ? ihm auch
aufzutragen, dass er die wenig bedeutenden Kanzlei-
gebühren bei der kaiserlichen Hof kanzlei erlegen und
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256 Goethe mit Zeitgenossen.
dagegen das Privilegium empfangen möge, um welche
Bemühung ich ihn selbst zu ersuchen, auch den Be-
trag allhier zu erstatten nicht ermangeln würde.
Hochdieselben verpflichten hierdurch aufs Neue
denjenigen, der die Ehre hat sich zu unterzeichnen
gehorsamst treu angehörig
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 21. September 1825.
16. Brief Goethe's an K. W. von Fritsch.
Ew. Excellenz
übersende den, wie mich dünkt glücklich gerathenen
Versuch, Serenissimi Bildniss in Goldblech auszu-
prägen. Das Schreiben des Regierungsrath Schmidt
benachrichtigt uns, dass die Kosten gering sind, denn
der noch nicht ausgesprochene Betrag des Prägens
kann von keiner Bedeutung sein. Es hängt nur vom
höchsten Befehle ab, wie viel Exemplare bestellt wer-
den sollen.
Zugleich erbitte mir das gefällig verfasste Schreiben
an Herrn von Piquot, welches ich gestern aus einer
irrigen Ansicht in Ew. Excellenz Händen liess.
Dankbar vertrauend gehorsamst
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 23. September 1825.
Regierungsrath Christian Friedrich Schmidt, welcher
das beim Regierungsjubiläum des Grossherzogs Karl August
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Goethe und Die von Fritsch. 257
zu prägende Bildniss desselben besorgen sollte, weilte 1825
in Gränzregulirungsangelegenheiten in Berlin.
77. Brief Goethes an K, W. von Fritsch.
Ew. Excellenz
das gefällig mitgetheilte Schreiben des Herrn Grafen
von Luxburg dankbarlichst zurücksendend, verfehle
nicht anzuzeigen, dass das kaiserl. Privilegium in aller
Form auf Pergament mit Allerhöchsteigner Unter-
schrift und grossem Siegel, datirt vom 23. August
dieses Jahres, durch die Geneigtheit des Herrn von
Piquot glücklich angelangt ist, wxsshalb ich mir denn
eines freundschaftlichen Antheils w^ol schmeicheln darf.
Vertrauensvoll, treulich ergeben, gehorsamst
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 22. October 1825.
Wie schon oben im 12. Brief der am 13. Sept. 1825
in der Loge Amalia zu Ehren der Feier der fünfzigjährigen
Regierung des Grossherzogs Karl August begangenen Fest-
lichkeit gedacht ist, so bezieht sich auf sie auch der
iS, Brief Goethe s an K. W. von Fritsch,
Ew. Excellenz
erstatte dankbarlichst den höchst gelungenen Auf-
satz, welcher immer besser zu werden scheint, je
mehr man sich mit ihm bekannt macht; nur w^enig
einzebe Bemerkungen fügt' ich bleistiftlich zur Seite.
17
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258 Goethe mit Zeitgenossen.
Die Hauptstelle glaubt' ich in dem Sinne verfassen
zu müssen, wie sie etwa in fünfzig Jahren ein frei-
denkender Geschichtsschreiber aufführen würde.
Wenn das Einzelne durch die Zeit ausgelöscht
wird, so geht das Allgemeine rein hervor ; die Hand-
lungen verschwinden, man hört auf, nach den Mitteln
zu fragen, die erreichten Zwecke treten vor die Seele
des Betrachters.
Billigen Ew. Excellenz diese Gedanken, so werden
Sie beurtheilen, ob ich in der Ausführung glücklich
gewiesen. Das niedergeschriebene Wort, insofern der
Sinn einigermaassen annehmlich erscheint, einsich-
tiger Wahl überlassend.
Verehrend, vertrauend angehörig
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 7. Januar 1826.
Verzeihung der fremden Hand !
Die meine fördert nicht mehr.
Beilage zum 18. Brief.
Leider ward jedoch in jenen bewegten Zeiten
manches Missverständniss fühlbar; das aufgeregte
Gemüth deutscher Jünglinge und Männer, vertrauend
auf vaterländische Gesinnungen und gelungene That,
schien das Neubefestigte abermals zu bedrohen. Dieses
gab den edelsten zu Staatsverwesern berufenen Geis-
tern sorgHche Bedenklichkeiten, und hier mussten
Digitized by VjOOQ IC
Goethe und Die von Fritsch. 259
zweierlei Ansichten hervonreten : die eine, das in der
Zeit Bewegte, augenblicklich Aufbrausende sei un-
mittelbar zu dämpfen; die andere, dem Gang dieser
Epoche solle man bedächtig zusehen und, auf dessen
Verlauf achtsam bleibend, zu rechter Zeit dienliche
Heilmittel anwenden.
Jene hielten sich durch manche tadelnswerthe, ja
erschreckende Unregelmässigkeiten berechtigt, auf
ihren Grundsätzen zu beharren und desshalb die
nöthig erachteten Vorschritte gemessen zu thun;
diese jedoch, überzeugt, dass nach vorübergegangener
Krise eine frische Gesundheit sich offenbaren werde,
suchten in stiller Milde das verlorene Gleichgewicht
wiederherzustellen.
Freilich gehörten Jahre dazu, um diese Ver-
fahrungsart zu rechtfertigen, und wir dürfen uns
glücklich preisen, dass nach manchem Schwanken
sich endlich bewahrheitet: nur ein allgemeines Ver-
geben und Vergessen könne ganz allein das ver-
lorene Gleichgewicht sowol, als das gestörte wechsel-
seitige Vertrauen nach und nach wiederherstellen.
Wie erfreulich muss es daher sein, in Ihrer Gegen-
wart, verbundene Brüder, getrost auszusprechen, wie
wir in so treuen als massigen Gesinnungen unver-
wandt ausdauernd und wirkend uns von diesen er-
wünschten Folgen auch einen Theil ohne Anmassung
zuschreiben dürfen.
17*
Digitized by VjOOQ IC
26o Goethe mit Zeitgenossen.
Diese Beilage ist wörtlich eine Stelle, welche sich
jetzt in der von K. W. Freiherrn v. Fritsch an gedachtem
Maurerfest über Karl August's Leben und Wirken gehal-
tenen Rede findet, und zwar in den »Freimaurer-Analecten
in. Heft. Weimar 1825« Seite 30. Diese Stelle ist somit
von Goethe.
Ueber eine andere Rede des K. W. Frhm. v. Fritsch,
wahrscheinlich ebenfalls auf Karl August bei dessen Bei-
setzung gehahen, äusserte Goethe : »Die vortreffliche Rede
des Herrn Ministers v. Fritsch erfüllt auch eine von meinen
Weissagungen : dass , sobald Geschäftsmänner öffentlich
sprechen, w^ir auch Muster der Redekunst werden auf-
weisen können.«
Die beiden letzten Briefe betreffen verschiedene Gegen-
stände, über wxlche ich, soweit sie nicht ohne Weiteres
verständlich sind, keine Erläuterung zu geben und nur zu
erinnern verrnag, dass Küstner grossherzogl. sächsischer
Generalconsul in Leipzig war. Der 20. Brief ist wieder
eigenhändig.
/^. Brief Goethes an K W. Fritsch.
Ew. Excellenz
werden geneigtest in beiliegendem Blättchen die Ent-
schuldigung finden, wenn ich mit ein Paar sehr
unerfreulichen Heftchen aufwarte. Ohne des Herrn
Generalconsuls Küstner ausdrücklichen Auftrag würde
dieses kaum gewagt haben. Ein alter, sich immer
erneuernder Streit zwischen Glauben und Forschung
bringt jederzeit im Augenblick die unangenehmsten
Verhältnisse herv'or. Indessen haben freilich die Re-
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Goethe und Die von Fritsch. 26 1
gierungen davon Kenntniss zu nehmen, um heftige
Schwankungen möglichst zu verhüten.
Zugleich nehme mir die Freiheit, ein ßlättchen
zu widmen, worauf unser atmosphärisches Reich aus
fünf Mittelpunkten — Allstedt, Jena, Wartburg, Ilmenau
und Frankenhain — durch rothe Strichlein bezeichnet
ist. Diese Anmassung möchte sehr verzeihlich sein,
da sie auf die irdischen Zustände auch nicht den
mindesten Einfluss hat.
Schliesslich versäume diese mir dargebotene Ge-
legenheit nicht, meinen verpflichteten Dank für die
neuerUch en\nesene geneigte Theilname an einem
für das Ganze nicht unwichtigen, mir aber persönlich
bedeutenden und einige Zeit her Sorge erregenden
Geschäft auszusprechen.
Indem ich nun solches sowol als mich selbst
fernerem WolwoUen empfehle, rechne mir's zur
Ehre und Freude, mich verehrend unterzeichnen zu
können
Ew. Excellenz
ganz gehorsamsten Diener
J. W. v. Goethe.
Weimar, den 29. April 1830.
Bei der gegen Ende 1830 stattgehabten Verloosung
des Sächsischen Kunstvereins zu Dresden hatte K. W. von
Fritsch eine landschaftliche Zeichnung von Christian Gille
Digitized by VjOOQ IC
202 Goethe mit Zeitgenossen.
gewonnen, wegen deren Veräusserung Goethe durch des
ersteren ältesten Sohn Karl von Fritsch, der damals von
einem längeren Aufenthalt in Südfrankreich und Italien
heimgekehrt war, anfragen liess. K. W. von Fritsch ging
auf den Verkauf ein.
20. Brief Goethes an K. W. von Fritsch.
Ew\ Excellenz
bin, w^ie von jeher so auch heute wiederholt aufs
Lebhafteste verpflichtet, da durch Dero geneigte Ver-
mittelung die Hindernisse so bald entfernt worden,
die sich einem gnädigsten WolwoUen diesmal ent-
gegenstellten.
Wenn auch eine so gew^ünschte Zierde einen
jeden nach aussen erhöht, so ist doch hier der Fall,
dass das Innerste eines w^ürdigen Mannes dadurch
gerettet und sein vieljähriger Zustand aufs Neue be-
festigt worden.
Die Ungewissheit , inwiefern er genöthigt sein
möchte, in hohen Jahren sich zu einer ungewohnten
und lästigen Lebensweise zu bequemen, war ihm und
seinen theilnehmenden Freunden höchst peinlich.
Desto grösser erscheint die erwiesene Gnade.
Meinen unterthänigsten Dank bitte vorläufig auf
das Lebhafteste abzustatten, dessen mündliche Wieder-
holung, sowie an Hochdieselben nächstens zur ange-
nehmsten Pflicht mache.
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Goethe und Die von Fritsch. 263
Mich und das Meinige zu fernerer Gunst und
Geneigtheit angelegentUchst empfehlend
verehrend und vertrauend
Ew. Excellenz
ganz gehorsamster Diener
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 11. Mai 183 1.
Die Gattin des Freiherrn Karl Wilhelm von Fritsch,
Henriette, war die Tochter des herzoglich württem-
bergischen Obersten v. Wolfskeel-Reichenberg, der
zur Zeit ihrer Geburt in Stuttgart stand. Dort erhielt auch
die Tochter ihre vortreffliche Erziehung und blieb daselbst,
bis sie siebzehnjährig 1793 nach Weimar kam, um die
Stelle einer Hofdame bei der Herzogin-Mutter Amalie
anzutreten. Heiter, mild, zierlich, anmuthig, von klang-
voller Stimme beim Gesang und Meisterin im Harfenspiel,
verschönte Henriette v. Wolfskeel den Kreis, welcher sich
namentlich an den Abenden um die geistvolle Fürstin
versammelte, in dessen bekannter bildlicher Darstellung
von Karl Gore daher auch sie zu finden ist. Zwar war
damals die Zeit schon vorüber, in welcher Goethe mit
sprühendem Dichterfeuer die Gesellschaft Weimars durch
Darstellungen mannichfachster Art in steter Erregung zu
erhalten wusste, aber noch immer las er nicht nur bei
Hofe seine Dichtungen, sondern führte auch von Zeit zu
Zeit eine neue Schöpfung vor, oder man wiederholte seine
älteren. So trat denn Henriette v. W. 1796 als Erwin in
»Erwin und Elmire«, am 26. Jan. 1798 als »Friede« in
dem von Goethe eingerichteten Maskenzuge, wobei sie
Digitized by VjOOQ IC
264 Goethe mit Zeitgenossen.
die dazu gedichteten Stanzen zu sprechen hatte, und am
24. Oct. 1800, dem Geburtstage der Herzogin Amalie, als
Neoterpe in dem für diesen Tag gedichteten Festspiel
»Paläophron und Neoterpe«, welche Rolle für sie ge-
schrieben war, am 18. März 1803 bei Frau v. Stein als
Pylades in der »Iphigenie«, endlich, wie schon gedacht,
als »Tag« im Maskenzug des 18. Dec. 1818 auf.
Dass das liebenswürdige Wesen Henrietten*s von
Wolfskeel den empfänglichen Goethe fesselte, war natur-
gemäss.
Von ihrer ersten Weimarer Zeit sagte Goethe später,
1830, mit Bezug auf seine eigne ungesellige Weise im
Gegensatz zu Schiller's bedeutenden und anziehenden Ge-
sprächen : » Ja, bei der Herzogin-Mutter freilich konnte
ich zuweilen eine Stunde amüsiren; wenn das artige We-
sen, die »Kehle«, umhertrippelte und »Närrischer Ge-
heimer Rath« sagte, da improvisirte ich oft eine Erzählung,
die sich hören Hess.« Eine schelmische Erwähnung erfuhr
Henriette von Wolfskeel in Schiller*s 1796 erschienenem
»Musenalmanach auf das Jahr 1796« und zwar in Goethe's
H. W. überschriebenem Epigramm unter der Abtheilung
» Vielen « :
Schön erhebt sich der Aglei und senkt das Köpfchen
herunter:
Ist es Gefühl? Oder ist's Muthwill.^ Wir wissen es
nicht.
Dass Henriette an Goethe*s Gesellschaften theilnahm,
in denen die Herzogin Amalie zugegen war, bedingte
ihre Stellung als Hofdame; wenn es aber Goethe so ein-
richtete, dass sie während IfBand's Anwesenheit 1798
gerade am i. Mai sich mit unter seinen Gästen befand.
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Goethe und Die von Fritsch. 265
SO mag er dies doch aus zarter Aufmerksamkeit für ihren
Geburtstag gethan haben. An der Gesellschaft, welche,
aus sieben Paaren bestehend, sich im Winter von 1801
auf 1802 regelmässig bei Goethe versammelte und die
er » cour d*amour « benannte, war Henriette gleichfalls be-
theiligt.
Von der Rolle der »Neoterpe« sagte Goethe 1823
in einem Brief an Staatsrath Schultz : sie sei für das aller-
gefälligste Wesen geschrieben gewesen, das er je gekannt
habe. Dieser ihrer Eigenschaft gedenkt er auch in einem
Brief an Sylvie von Ziegesar vom 5. August 1808, indem
er von Fräulein von Knabenau, Hofdame der Herzogin
Dorothea von Kurland schreibt: »Es ist ein wundersames
Wesen. Sie besitzt eine Art von allgemeiner Liebenswür-
digkeit, so dass man sich betrüben könnte, w^enn sie nur
Einem angehörte, und wenn man der Eine selbst wäre.
Zunächst hat sie mich an unsere Wolfskecl, jetzige Fritsch
erinnert.«
Henriettens Verlobung scheint Goethe*n überraschend
gekommen zu sein; darauf deutet das Gedicht, mit dem
er ihr zu ihrem Geburtstr-g 1803 den Dank für eine Weste,
die sie selbst ihm gestickt hatte, abtrug:
Magisches Netz.
Zum I. Mai 1803.
Sind es Kämpfe, die ich sehe?
Sind es Spiele? Sind es Wunder?
Fünf der allerÜebsten Knaben
Gegen fünf Geschwister streitend
Regelmässig tactbeständig
Einer Zaub'rin zu Gebote.
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266 Goethe mit Zeitgenossek.
Blanke Spiesse führen jene,
Diese flechten schnelle Fäden,
Dass man glaubt, in ihre Schlingen
Werde sich das Eisen fangen.
Bald gefangen sind die Spiesse;
Doch im leichten Kriegestanze
Stiehlt sich einer nach dem andern
Aus der zarten Schleifenreihe,
Die sogleich den Freien haschet,
Wenn sie den Gebundnen löset.
So mit Ringen, Streiten, Siegen,
Wechselflucht und Wiederkehren
Wird ein künstlich Netz geflochten,
Himmelsflocken gleich an Weisse,
Die vom Lichten in das Dichte
Musterhafte Streifen ziehen.
Wie es Farben kaum vermöchten.
Wer empfangt nun der Gewänder
Allerwünschtes .'^ Wen begünstigt
Unsre vielgeUebte Herrin
Als den anerkannten Diener?
Mich beglückt des holden Looses
Treu und still ersehntes Zeichen!
Und ich fühle mich umschlungen,
Ihrer Dienerschaft gewidmet.
Doch indem ich so behagÜch
Aufgeschmückt stolzirend wandle.
Sieh ! da knüpfen jene Losen
Ohne Streit geheim geschäftig
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Goethe und Die vox Fritsch. 267
Andre Netze, fein und feiner,
Dämmrungsfäden, Mondenblicke,
Nachtviolenduft verw^ebend.
Eh' wir nur das Netz bemerken,
Ist ein Glücklicher gefangen.
Den wir andern, den wir alle
Segnend und beneidend grüssen.
Als Henriette im Maskenzug von 1818 im Epilog
aufgetreten war, schrieb Goethe an den Grafen Brühl in
Berlin mit Anspielung auf ihr früheres Auftreten als
»Neoterpe«: »Bei diesem Anlass darf ich nicht ver-
schweigen, dass unsere Hebe Neoterpe in diesen Tagen
glückUcherweise eine Aristeia (das heisst verdoUmetscht :
eine vollkommen darstellende Erscheinung ihrer inne-
wohnenden Kräfte und Tugenden) gehabt habe. Bei dem
grossen Redouten-Aufzug vor I. M. der Kaiserin-Mutter
nämlich habe die Freundin verführt den Epilog zu spre-
chen. Wenn er Ihnen nächstens gedruckt zu Händen
kommt, hoffe ich, dass Sie billigen werden, wenn sie sich
hat verführen lassen; auch ist es so vollkommen geglückt,
dass sie als der liebenswürdigste Stern unter Sternen und
Sonnen zuletzt aufleuchtete.« Und noch über zwei Jahr
später äusserte er ebenfalls gegen Graf Brühl: »Wie
freute es mich nicht, bei Gelegenheit des Maskenzugs zu
Ehren der Kaiserin-Mutter unser himmlisches Kehlchen
wieder hervorzulocken und den Schluss einer reichen
Darstellung durch ihre gemüthliche Anmuth aufs neue zu
beleben.«
»Kehlchen« war das Kosewort, mit dem Goethe
Henriette auch in Briefen, zu denen ihr Amt als Hofdame
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268 Goethe mit Zeitgenossen.
manchmal Anlass gab, anzureden pflegte; »Kamerädle«
nannte er sie, als Wüttembergerin, auch zuweilen. Von
den Briefen liegt keiner vor; nur verzeichnet Diezel einen
in des Kanzler von Müller Archiv befindlichen vom Tage
des grossen Maskenzugs von 1818 beginnend: »Die Ge-
stalten ziehen vorüber.«
Die frühe Verehrung für Henriette blieb Goethe'n bis
ins Alter. Als er 1823 dem Kanzler von Müller schil-
derte, wie eine Geselligkeit beschaff*en sein müsste, bei
welcher er sich wol fühlen sollte, schloss er: »Es kommt
nur darauf an , dass eine unsrer angesehnsten Frauen
gleichsam als Patronin dieses geselligen Vereins aufträte,
und niemand w^ürde sich besser dazu eignen, als Frau
von Fritsch.«
Henriette von Fritsch war, um dies noch hinzuzu-
fügen, ebenso wie eine trefiliche Gattin und Mutter, auch
eine vorzügUche Hausfrau, die mit Aufopferung dazu bei-
trug, dass ihr Gatte im Stande war, das durch die Prunk-
Hebe seines Vaters zerrüttete Vermögeh wiederherzustellen.
Dabei unterliess sie aber nicht, ihrem Wolthätigkeitssinne
nachzuleben, wozu ihr später ihr Amt als Vorsteherin des
Frauenvereins eifrig benutzte Gelegenheit bot.
Über den Lebensgang der Söhne Karl Wilhelm's und
Henriettens von Fritsch ist noch anzuführen, dass:
Karl Friedrich Wilhelm Christian als grossherzoglich
sachsen-weimarischer Wirklicher Geheimer Rath und Käm-
merer sowie Bundestagsgesandter 1864 ^^ Ruhestand ge-
treten ist und jetzt meistens in Dresden sich aufhält;
Georg August zuletzt grossherzoglicher Kammer-
herr und Oberforstmeister war;
Albert Bernhard in königlich sächsischen Kriegs-
diensten bis zum Generallieutenant und Commandant der
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Goethe ukd Die von Fritsch. 269
Gavalleriedivision aufstieg, als solcher 1867 seinen Ab-
schied nahm und seitdem in Dresden lebt.
Der jüngste Sohn des Minister Jakob Friedrich von
Fritsch , Ludwig, trat in das preussische Kürassier-
regiment von Rohr ein, welches später der Herzog Karl
August befehligte. Er rückte vom Standartenjunker 1789
zum Kornet und 1792 zum Lieutenant auf. Als solcher
erhielt er beim Feldzug gegen Frankreich im Rücken der
Armee ein Commando in Trier. In dieser Stellung ver-
schaffte er Goethe'n — wie dieser in der »Campagne in
Frankreich 1792« erzählt — ein gutes Unterkommen, als
derselbe im August dorthin kam. Bei seinem anscheinend
keine Gelegenheit zu rühmlichem Hervorthun bietenden
Commando fand er solche doch, indem er mit einer
Patrouille, die ausser ihm nur noch aus einem Unter-
offizier und zehn Kürassieren bestand, auf einen feind-
lichen Vortrab von sechzig Pferden stiess, den er angriff,
zurückwarf und verfolgte,, bis er sich vor der feindÜchen
Infanterie, deren Feuer ihn verwundete, zurückziehen musste.
Es wurde ihm dafür der Orden pour le m^rite zuerkannt
und Goethe erzählt wieder, welchen Genuss es ihm be-
reitet habe die Freude des jungen Offiziers zu sehen, als
er im October demselben in Trier die erste Nachricht
von dieser Auszeichnung überbrachte. Nachdem Ludwig
von Fritsch 1795 zum Rittmeister befördert worden war,
ernannte ihn König Friedrich Wilhelm III. zum Major, als
er sich der Übergabe des hohenlohe'schen Armeecorps an
Napoleon dadurch entzogen hatte, dass er sich mit 80 Mann
durch die feindlichen Linien geschlagen hatte.
Mit der älteren Schwester dieses von Fritsch, Sophie
Caroline von Hopffgarten, wechselte Goethe zuweilen Brief-
chen in Angelegenheiten der Prinzessinnen Maria und
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270 Goethe mit Zeitgenossen.
Augusta (Prinzessin Karl von Preussen und deutsche
Kaiserin), bei denen sie seit 1817 Hofmeisterin, seit 1827
Oberhofmeisterin war. Von der jüngsten Schwester Louise
Friederike von Niebeckr ist bekannt, dass sie von Goethe
eine radirte und getuschte Ansicht von Frankfurt a. M.
empfing, unter die er eigenhändig geschrieben hatte:
Also lustig sah es aus
Wo der Mayn vorüber floss,
Als im schmucken Hayn und Haus
Festhch Eilfer überfloss.
Ferner Freunde ward gedacht :
Denn das heisst geniessen
Wenn zu Fest und Flusses Pracht
Tausend Quellen fliessen.
28. Aug. 1816.
Von der gräflichen Linie Derer von Fritsch ist Goethe
wahrscheinUch nur mit Gräfin Constanze bekannt gewesen.
Auf sie deuteten manche schon, aber jedenfalls erst später,
das in Schiller's Musenalmanach auf 1797 unter der Sammel-
überschrift »Vielen« vorkommende, mit »C. F.« bezeich-
nete Epigramm, aber unbestreitbar irrig; denn abgesehen
davon, dass Goethe damals schwerlich schon etwas von
der Gräfin Constanze wusste, so kann doch jenes Distichon
keinesfalls auf ein zehnjähriges Kind, was dieselbe 1796
war, bezogen werden. Nur die falsche Angabe ihres Ge-
burtsjahres auf 1776 konnte jene Deutung aufkommen
lassen.
Deine liebliche Kleinheit, Dein holdes Auge, sie sagen
Immer : vergiss mein nicht ! immer : vergiss nicht mein.
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Goethe und Die von Fritsch. 27 1
Sonst wissen wir von Goethe's Umgang mit Gräfin
Constanze Fritsch nichts bis 18 12, in welchem Jahr er
sich mit ihr in Karlsbad zusammenfand. Aus dem nächsten
Jahr ist zunächst ein eigenhändiger Brief erhalten, den
hier abzudrucken die Güte des Besitzers, Herr Albert
Cohn, gestattet hat.
A Madame
Madame la Comtesse de Fritsch,
Dame d'Honneur de S. A. Imp.
Madame la Princesse Hereditaire
de Saxe-Weimar.
Eger.
Eigentlich sollte man nicht gelegentHch schreiben
und doch wdll ich es thun und meine liebe Freundin
mit wenig Worten ersuchen meiner zu gedenken.
Meinen Dank für die schönen Nachrichten aus Prag
bin ich noch schuldig, der um so grösser seyn muss,
als ich wahrscheinlich nicht hinkomme. Dass ich
mich wohl befinde, davon habe ich mich zu loben;
dass unser Fürst wohl und froh ist, gibt das doppelt
und dreyfache. Sonst aber geht es mir sehr confus,
und wenn ich irgend etwas tauge, so ist's nicht in
der Confusion.
Lassen Sie Sich hierdurch anreizen mir etwas
von Sich zu sagen und von denen Hohen und Lieben
die ich leider nur mit Geistesaugen sehe. Tausend
Adieu. Nach einer feuchten Gartensitzung, am un-
lustigsten Lustort.
Goethe.
Teplitz d. 27. Juli 181 3.
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272 Goethe mit Zeitgenossen.
Zu ihrem Geburtstag desselben Jahrs bcgrüsste Goethe
die Gräfin mit dem Gedicht, anscheinend ein Morgen-
häubchen begleitend:
Die Freundin war hinausgegangen,
Um in der Welt sich umzuthun;
Doch wird sie bald nach Haus gelangen
Und auf gewohnte Weise ruhn.
Und neigt sich dann das art'ge Köpfchen,
Umwunden reich von Zopf und Zöpfchen,
Nach einem kissenweichen Sitzchen,
So bietet freundlich ihr das Mützchen.
Mit einem Penst^ebouquet und folgendem Reim be-
grüsste Goethe Gräfin Constanze am 27. Februar 1814:
Die deutsche Sprache wird nun rein:
Pensee darf künftig nicht mehr gelten !
Doch wenn man sagt : Gedenke mein !
So, hoff' ich, soll uns niemand schelten.
Unbedingt möchte ich nicht dafür eintreten, dass
nachstehender Brief, der in Salomo HirzePs Handschriften
zu seiner Goethebibliothek der Gräfin Constanze von
Fritsch mit einem Fragezeichen zugewiesen ist, auch wirk-
lich an sie gerichtet war. Das übersandte Buch war un-
streitig der dritte Band von »Dichtung und Wahrheit«:
Mag meine liebe Freundin wohl das Büchelchen
von dem Scheidenden gütig annehmen und das Paket
gelegentUch absenden? Möge ich Sie bald in Berka
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Goethe u\d Die von Fritsch. 273
begrüssen. Guten Rahm zum Cafi'cc und frische
Butter kann ich versprechen. Leben Sie recht wohl.
Mein gedenkend.
Goethe.
W. d. 12. Mai 1814.
Andre Briefe Goethe's an diese Dame sind bis jetzt
nicht zu Tage gekommen und wenn eine grössere Anzahl
geschrieben worden ist, werden die meisten mit den ge-
sammten Briefschaften der Gräfin vernichtet w^orden sein.
Von Gedichten Goethe's an sie kennen wir jedoch
noch zwei, deren erstes beim Antritt der Reise, welche
die Gräfin Fritsch mit der Erbgrossherzogin nach Peters-
burg unternahm, das andere nach der Rückkehr von dieser
Reise an die Freundin gerichtet w^urde.
Weimar, den 12. November 1815.
Blumenkelche, Blumenglocken
Folgen Deinem Reiselauf;
Unter Schneegestöberflocken
Suchst Du mir was Liebes auf.
Den 6. December 1816.
Dein Ostgeschenk weiss ich zu schätzen,
Von Westen sei Dir dies gebracht;
An Dank hab' ich schon viel gedacht.
Doch will sich*s nicht in's Gleiche setzen.
In Goethe's grossem Maskenzug von 18 18 bei An-
wesenheit der russischen Kaiserin stellte Gräfin Fritsch die
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274 Goethe mit Zeitgenossen.
Himmelskunde dar. Das letzte was wir über ihre Be-
ziehungen zu Goethe kennen, ist, dass sie im Sommer
1827 Goethe'n einen Brief von Schelling überbrachte.
Vorstehende Mittheilungen sollen einen Beitrag bilden
zu Vergegenwärtigung des Kreises, in dem Goethe in
Weimar lebte. Da er in »Dichtung und Wahrheit« nichts,
und in den »Tag- und Jahresheften « nur Einzelheiten
daraus erzählt, so sind wür an Berichte seiner Zeitgenossen
und an seine Briefe als Quellen für die Geschichte seines
Wirkens und Webens in Weimar angewiesen. Das hier
Mitgetheilte bringt zwar von den vorgeführten Personen
die Beziehungen zu Goethe mit thunUcher Ausführlich-
keit, jene selbst aber nur in schwachen Umrissen; doch
glaubte ich die eingehende Schilderung der Personen
Monographien überlassen zu sollen, wie Freiherr von
Beaulieu Marconnay deren im »Archiv für sächsische Ge-
schichte« (9. Band) über Thomas von Fritsch, über Fried-
rich von Fritsch in »Anna Amalia, Carl August und der
Minister von Fritsch«, sowue über andere Söhne des
Hauses in der »Allgemeinen deutschen Biographie« ge-
liefert hat; w^eitergehende sind bereits handschriftlich vor-
handen, deren Veröffentlichung sehr zu wünschen ist. Die
deutsche Geschichte kennt wenig Mittelpunkte deutschen
Lebens wie Weimar von 1775 bis 1832 es war, und eine
solche wichtige Epoche kann nicht sorgfältig genug ge-
pflegt und dargestellt werden.
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3- Goethe
UND
Christian Gottlob von Voigt
DER Jüngere.
^Is die Goethe -Literatur von dem auch für
sie zu früh verstorbenen O. Jahn abermals
mit einem wichtigen Beitrag durch »Goethe's
Briefe an Christian Gottlob von Voigt« be-
reichert worden war, konnte ich nicht unter-
lassen, in der »Wissenschaftlichen Beilage der Leipziger
Zeitung 1868« (Nr. 52 bis 54) die Auslassung verschiedener
brieflicher Mittheilungen zu bedauern, die dem Heraus-
geber zu Gebote gestanden hatten. Ohne dessen Zuthun
sind aber noch viele andere Auslassungen dadurch herbei-
geführt worden, dass ihm nicht alle Briefe Goethe's an
Voigt zugänglich gewesen waren, indem letzterer einen
guten Theil derselben von der Hauptmasse getrennt hatte,
um sie in Bündel, zusammengehörige Geschäfts-Angelegen-
18*
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276 Goethe mit Zeitgenossen.
heiten betreffend, zu vereinigen. Solche abgesonderte Theile
waren unter den von Jahn aufgenommenen Briefen z. B.
die auf den Ilmenauer Bergbau, auf Vossens Anstellung
in Weimar, und auf Goethe's Rücktritt von der Theater-
Direction bezüglichen. Einige, die Gegenstände angehen,
über welche sowol Goethe wie Voigt mit Professor
Eichstädt in Jena verhandelten, habe ich den Erläuterungen
zu Goethe's Briefwechsel mit Diesem beigegeben. Über-
dies befinden sich noch verschiedene Briefe Goethe's an
Voigt im Geheimen Archiv zu Weimar und in Privat-
sammlungen.
Im Nachstehenden theile ich theilnehmenden Freunden
drei Briefe Goethe's mit, von denen einer ^ an den Sohn
des Minister von Voigt gerichtet ist, während die beiden
andern zwar an letzteren selbst ergangen sind, aber den
Sohn betreffen.
Über diesen, die gleichen Vornamen mit dem Vater
führenden Sohn hat Jahn in dem gedachten Buche, S. 99 fgg.,
ausführUche Nachricht gegeben.
Wenn über dessen in Folge einer Gewaltthat fran-
zösischer Befehlshaber am 19. Mai 181 3 erfolgten Tod
keine briefliche Äusserung Goethe's sich vorfand, so durfte
dies wol auffallen und konnte unangenehm berühren.
Goethe war ein paar Tage vor dem Todesfall nach Teplitz
gereist, und es wäre eine unerklärUche Theilnahmlosigkeit
gewesen, wenn er jeden Ausdruck des Mitgefühls für die
beklagenswerthen ihm so befreundeten Eltern bis zu seiner
Rückkehr, Ende August, verschoben hätte. Diese Blätter
sollen die bezügliche Lücke in Goethe's Briefen an Voigt
schHessen.
Zuvor einige Worte über Goethe's Verhältniss zu dem
jüngeren Voigt.
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J
Goethe un'd Christian Gottlob von Voigt. 277
In Goethe's Werken ist er wol nirgends, in seinen
Briefen nicht oft erwähnt. In den Briefen an den Ge-
heimen Rath V. Voigt werden ihm zwar die Grüsse mit
gelten, welche Goethe in Briefen an letzteren dessen An-
gehörigen insgesammt zugehen lässt, besonders genannt
ist er aber nur im Brief v. 25. Juli 1796, worin Goethe
fragt, wie sich der junge Mann in der unlängst als
Regierungs-Assessor angetretenen Staatsdienerlaufbahn be-
finde; im Brief v. 27. Mai 1804, worin Goethe den Auf-
schub seiner Reise nach Jena und die Absicht seines
Besuchs ankündigt, um den aus Petersburg zurückgekehrten
damaligen Regierungsrath zu sehen; im Brief v. 17. Juni 1806,
w^orin Goethe schreibt, dass er denselben mit Vergnügen
in Jena erwarte; im Brief v. 15. Mai 1810, w^orin Goethe die
Angelegenheit einer jungen Clientin (die Sendung der Malerin
Louise Seidler nach Dresden?) dem nunmehrigen Geheimen
Regierungsrathe*) empfehlen lässt; endlich im Brief v. 26. No-
vember 181 1, worin Goethe zu ebendessen zweiter Ver-
heirathung Glück wünscht, auch in Aussicht stellt, dass er
dem lieben Paar noch etwas Freundliches erzeigen werde.
In Briefen Goethe's an andere Personen kommt der
jüngere Voigt nur vor im Brief an Schiller v. 2. De-
cember 180^, worin er erwähnt, dass Voigt ihn in Jena
besucht und mit ihm über das Unternehmen der neu zu
gründenden »Jenaischen Allgemeinen Literatur -Zeitung«
Rücksprache genommen habe, — und im Brief an Frau
V. Stein v. 28. JuH 1807, worin Goethe seine Freude über
dessen Eintreffen in Karlsbad zu erkennen gibt.
Bei den Vorbereitungen zu Gründung und Einführung
der genannten neuen Zeitschrift unterstützte der jüngere
") »Geheimer Rath,« wozu Jahn ihn a. a. O. S. loo befördert, war er nie.
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278 Goethe mit Zeitgenossen.
Voigt Goethe's rege Thätigkeit namentlich bei Beseitigung
der zu überwindenden Hindernisse, wie z. B. bei Führung
des Zeitüngskriegs mit der alten, von 1804 ab nach Halle
übersiedelnden Allgemeinen Literatur-Zeitung. Ein Brief,
den Goethe an den Regierungsrath Voigt schrieb, worin
er über dieselbe scherzt, ist um so werthvoller, als er auf
ein recht vertrauliches Verhältniss beider schliessen lässt;
ein solches durfte man allerdings schon daraus entnehmen,
dass dieser Voigt, ebenso wie sein Vater, 1808 als Mittels-
person sich thätig erwies, um die damals zwischen dem
Herzog und Goethe über die Theaterdirection ausgebro-
chenen Zerwürfnisse wieder auszugleichen. — Im Allge-
meinen ist jedoch kaum vorauszusetzen, dass Goethe mit
dem jüngeren Voigt häufige Briefe gewechselt habe.
Dies ist nun der Brief:
Mit Dank, Heber Herr Regierungsrath, erwiedere
ich Ihren Brief, und wünschte nur, dass Jena näher
an Weimar läge, oder dass wir uns die Loderische
Beweglichkeit zu eigen machen könnten.
Wenn das metallne Modell zur Medaille ausgear-
beitet ist, so besuchen Sie mich wol, aber bei früher
Tageszeit, und nähmen Ihr Mittagsessen mit bei dem
Major, oder bleiben bei Nacht, wo für Sie und Ihre
liebe Gesellschaft gut gesorgt sein soll.
Meine Büste möchte ich nur im äussersten Noth-
fall, so gern ich sonst willig bin, hergeben. Ein so
guter Abguss wird schwerlich wieder hergestellt, und
die Meinigen haben eine Art von Neigung zu die-
sem Exemplar, die bis an den Aberglauben grenzt.
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Goethe und Christian Gottlob von Voigt. 279
die ich gern respectire. Übrigens liegt die Form
von dieser Büste bei mir, woraus man allenfalls
wieder einen Abguss nehmen könnte. Ich weiss
nicht, ob sie Wolf oder Hoffmann bei ihrer Abreise
an mich geschickt.
Da die Fabrik des Alten Literarischen Zahnpul-
vers nun völlig weggewichen, so muss man sehen,
ob die Neue in Reinigung des Gebisses, welches
die Autoren gewöhnlich vernachlässigen, eine bessere
und durchgreifende Wirkung thut.
Bei meiner Überzeugung, dass jeder Mensch in
der Welt sehr entbehrlich ist, muss ich mir eine
Illusion machen, dass ich gegenwärtig hier nöthig
sei; das kann man nur durch ununterbrochene Thä-
tigkeit, worin mich eben Freund Meyer zu unter-
stützen kommt.
Empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Vater, welcher
ein kleines Packetchen mineralogisirenden Inhalts
empfangen haben wird; die Masse der concerniren-
den Papiere ist schon in ein Kästchen eingeschlagen,
das den nächsten Sandfuhren als blinder Passagier
mitgegeben werden soll.
Es ist recht Schade, dass Ihre Bestimmung Ihnen
nicht einen etwas weiteren Spielraum erlaubt; die
jetzigen für uns und, wenn ich nicht sehr irre, für
das Ganze bedeutende Momente Hessen mich die
Nähe einer jungem Natur wünschen, wodurch manches
Digitized by VjOOQ IC
28o Goethe mit Zeitgenossen.
für den Augenblick belebt und für die Folge er-
halten werden könnte.
Leben Sie indessen recht wol. Durch Meyers
Ankunft und mancherlei Einschiebsel werde ich ge-
nöthigt früher, als ich wollte, zu schliessen.
Liebe und Vertrauen.
Goethe.
Jena, am 9. December 1803.
Der Brief an den Vater, Geheimen Rath v. Voigt,
über den Tod des Sohnes lautet aber wie folgt:
Wie oft habe ich mich nicht schon hingesetzt,
um Ihnen, verehrter Freund, ein Wort der aufrich-
tigsten Thcilnahme zuzurufen und immer habe ich
mich wie gelähmt gefühlt; es war mir nicht mög-
lich, nur den mindesten Ausdruck meiner Gesin-
nungen zu finden. Jetzt erst, da Herr v. Wolfskeel
mich versichert, Sie sähen es nicht ungern, wenn
Freunde theilnehmend Ihres Verlustes gedenken, so
gewinne ich es über mich, die traurige Pflicht nach
langem Zögern zu erfüllen.
Im Augenblick, als die beiden Monarchen am
Schwarzen Thor zu Dresden von der Menge er-
wartet wurden, gelangte zu mir ein dunkles Gerücht,
was in Weimar am 18. April vorgefallen, und nach
den unbestimmten Nachrichten musste ich befürch-
ten, dass Ew. Excellenz Person gefährdet sei; und
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Goethe und Christian Gottlob von Voigt. 281
wie musste dies die Sorge vermehren, die in mir
aufstieg, als ich eine ungeheure, wilde Volksmasse
in Sachsen und Thüringen eindringen sah ! Ich dachte
mir unsem Fürsten und das Land von Ihrer Vor-
sorge, Ihrem Beistande entblösst und sah alles so
schw^arz, dass ich mich kaum freuen konnte, persön-
lich so grossem Übel entgangen zu sein. In diesem
Irrthum blieb ich mehrere Tage, bis mir die Auf-
klärung neuen Schmerz bereitete, indem der Nach-
richt von der Befreiung Ihres Herrn Sohnes die
Nachricht von seinem Ableben auf dem Fusse folgte.
Und hier befinde ich mich wieder in dem Falle,
dessen ich zuerst erwähnte. Was kann man hinzu-
fügen, wenn die Sache ausgesprochen ist!
Als ich über den Sturz, wodurch Wieland und
seine Tochter so sehr beschädigt wurden, äusserst
betroffen und aufgeregt mich kaum zu fassen wusste,
ward mir zuerst wieder einige Ruhe und Gleichmuth
wieder*) hergestellt, als ich den leidenden Freund
selbst, seine Heiterkeit, seine Geduld vor mir sah,
die meinen ungebändigten Verdruss über diesen un-
geschickten Schicksalsstreich augenblicklich beschämte.
Und so nahe ich mich auch gegenwärtig Ihnen, Ver-
ehrtester, seitdem ich von unsem besuchenden Freun-
den vernommen, dass Sie Sich ununterbrochen und
glücklich beschäftigen, Theilnahme und jenes traurige
') Sic!
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282 Goethe mit Zeitgenossen.
Andenken nicht mehr entschieden ablehnen, ja selbst
in Erinnerung früher und hoffnungsvoller Zeiten
Freude und Erquickung finden. So bewahrheitet
sich denn abermals der paradox aufgestellte Satz,
dass der eigentliche Trost nur von dem Leidenden,
die Fassung nur von dem Beschädigten ausgehen
kann.
Lassen Sie mich für diesmal schliesscn und nur
so viel von mir hinzufügen, dass äussere Ruhe und
körperUches Wolsein mich diesmal hier sehr glück-
lich machen könnten, wenn nicht die Verdüsterung
des politischen und militärischen Himmels und die
Nähe so vieler unaussprechlich UnglückHcher jedes
Behagen verscheuchte, dergestalt dass wir es uns
zum Vorwurf machen in dem Moment, wo jeder-
mann leidet und fürchtet, einige vergnügte Stunden
zu geniessen, wie mir deren doch manche in den
hiesigen Gebirgen gegönnt waren.
Der ich mich dringend empfehle
Goethe.
Teplitz, den 26. Juli 181 3.
Als einige Monate später Voigt die auf seinen Sohn
von Eichstädt geschriebene Denkschrift, welche Jahn a. a. O.,
S. 105, anführt, an Goethe geschickt hatte, schrieb dieser
wiederum : *)
*) Nachstehender Brief ist abgedruckt in : n £ich»tadii opuscula oratoria « p. 446.
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Goethe u\d Christian* Gottlob von Voigt. 283
Ew. Excellenz erlauben, dass ich nur mit We-
nigem meinen aufrichtigen Dank abstatte für die
baldige Mittheilung des fürtrefflichen Programms.
Wollte ich Das, was daran zu loben ist, umständlich
berühren, so würde ich doch nur schwach andeuten,
was Ew. Excellenz am stärksten unter allen Lesern
empfinden müssen; es war ein bittersüsser Genuss,
unserm abgeschiedenen Freunde ein so würdiges und
dauerndes Monument errichtet zu sehen. Es dürfte
wol unmöglich scheinen, einen so zarten und von
einigen Seiten bedenklichen Gegenstand mit mehr
Sinn, Klugheit und Geschmack zu behandeln und
ihn ohne Überladung so reichlich auszuschmücken.
Doch ich werde ins Besondere hingerissen; ich
breche ab, das Weitere auf mündÜche Unterhaltung
aufsparend. Eine gute Übersetzung wird sich wol
nöthig machen, welche freilich in gewissem Sinne
Original sein müsste, weil vielleicht die Eleganz des
Originals, aber wol schwerlich dessen römische Würde
zu erreichen sein möchte.
Mich gehorsamst und angelegentlichst empfehlend
Goethe.
Weimar, den 18. September 181 3.
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4- Goethe mit Friedrich Krug
VON NiDDA IN TENNSTÄDT.
riedrich Krug von Nidda (mit allen
Vornamen : Friedrich Albert Franz) gehörte
zu den zahlreichen Dichtern, welche im zwei-
ten, dritten und vierten Jahrzehend unsres
Jahrhunderts ein Bedürfniss waren, weil in
der Regel alle nicht rein politischen oder wissenschaft-
lichen Zeitschriften unvermeidlich mit lyrischen Beigaben
und überdies alljährlich eine Menge von Almanachen und
Taschenbüchern, wenn nicht mit Gehalt, so doch mit In-
halt versorgt werden mussten. Über ihn findet sich
Näheres in dem von ihm selbst herausgegebenen »Gedenk-
büchlein oder Blicke durch's Leben « (1829), in den seinen
»Nachlassschriften« (1855 bis 1857) beigegebenen Lebens-
nachrichten von Schmid, im »Neuen Nekrolog der Deut-
schen. 1843.« (S- 1208 flg.)j irn »Gesellschafter etc.,
herausgegeben von Gubitz. XXVL Jahrgang.« (S. 57 flg.
und 62 flg., »ein Denkstein« vom Baron von La Motte
Fouque), endHch im »Grundriss zur Geschichte der deut-
schen Dichtung« von Goedeke (IIL Bd. S. 765 flg.). Hier
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Goethe mit Friedrich Krug von Nidda in Tennstädt. 285
mag nur im Allgemeinen bemerkt werden, dass er auf
dem seinem Vater gehörigen Rittergut, dem Oberhof zu
Gatterstädt im Fürstenthum Querfurth, am 14. Mai 1776
geboren wurde, nachmals in dem königlich sächsischen
Chevaux-legers-Regimente von Polenz diente, in Russland
w^ährend des Feldzugs von 181 2 vers^-undet und gefangen
wurde, später als Hauptmann seinen Abschied erhielt und
dann in Gatterstädt der Dichtkunst, Schriftstellerei und
vaterländischen Alterthumskunde bis zu seinem Tode, den
29. März 1843, sich widmete.
Goedeke verzeichnet elf Werke, welche von Krug bei
seinen Lebzeiten besonders erscheinen Uess : Epopöen, Erzäh-
lungen, Gedichte, ein Drama und obgedachtes Gedenkbüchlein.
Wie gross aber die Zahl der Zeit- und Sammelschriften
war, zu denen er beisteuerte, wird folgende Übersicht er-
geben, deren Vollständigkeit nicht einmal behauptet wer-
den kann : Becker's Taschenbuch zum geselligen Vergnügen,
herausgegeben von Kind; Salina; Taschenbuch der Liebe
und Freundschaft, herausgegeben von St. Schütze; Zeitung
für die elegante Welt ; die Harfe, herausgegeben von Kind ;
Frauentaschenbuch ; die Frauenzeitung ; Minerva ; die
Wünschelruthe ; Eos; Wiener Zeitschrift für Literatur und
Kunst; Rheinisches Taschenbuch ; die Vorzeit; Phöbe; der
Gesellschafter, herausgegeben von Gubitz; Abendstunden
der gebildeten Unterhaltung geweiht ; Feierstunden, heraus-
gegeben von V. Biedenfeld und Küffner; die Muse, heraus-
gegeben von Kind; Berliner Taschenkalender; der Waisen-
freund; Abendzeitung, herausgegeben von Th. Hell;
Huldigung der Frauen, herausgegeben von CasteUi; Ber-
liner Musenalmanach; Morgenblatt für gebildete Leser;
Mitternachtblatt, herausgegeben von Müllner; der Komet,
herausgegeben von Herlosssohn.
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286 Goethe mit Zeitgenossen.
Mit Goethe trat Krug von Nidda 1816 in Tennstädt
in Berührung. Goethe hatte bekanntlich den Sommer dieses
Jahres, wie schon die beiden vorhergegangenen, am Rhein
zubringen wollen, hatte sich aber zur Einstellung dieser
Reise bewogen gefunden, als er bei deren Antritt zwischen
Weimar und Erfurt mit dem Wagen umgeworfen w^urde,
wobei sein Reisegefährte, Hofrath Meyer, Verletzungen
erlitt. Um aber der ärztlichen Vorschrift einer Badecur
nachzukommen, ging Goethe etwa den 24. Juli nach
Tennstädt, um die dortigen Schwefelquellen zu gebrauchen,
und verweilte dort bis zum 10. September, grösstentheils
in Meyer's Gesellschaft.
Von diesem Aufenthalt erzählt Goethe in den Tag-
und Jahresheften, dass er sich dort mit der ältesten
thüringischen Geschichte, sowie mit den geologischen
Verhältnissen der Gegend bekannt gemacht, verschiedene
Ausflüge in die Umgebung unternommen, einem Vogel-
schiessen beigewohnt, Humboldt's Übersetzung des Aga-
memnon von Äschylus, sowie Niebuhr's Marcus Cornelius
Fronto gelesen und »das Rochusfest« niedergeschrieben,
den Besuch des Geheimen Raths Wolf empfangen, diesen
aber — um sich nicht durch dessen Widerspruchsgeist
seinen Geburtstag verbittern zu lassen — durch List am
Morgen des 27. August wieder abzureisen vermocht habe.
An Boisseree schreibt Goethe von seinem Umgang in
Tennstädt im Allgemeinen, dass er einige bedeutende in-
und auswärtige Männer dort gefunden. Dass Krug von
Nidda zu den gleichzeitigen Badegästen gehörte, erzählt
uns dieser selbst in dem »Gedenkbüchlein«, w^o auch der
Kreisamtmann Just und der Brunnenarzt als Bekannte
Goethe's genannt sind. Weiteres über die damals dort
verkehrenden Personen theilt ein hochgestellter und durch
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Goethe mit Friedrich Krug von Nidda in Tennstadt. 287
vielseitiges Wirken ausgezeichneter Mann mit, der als
fünfzehnjähriger Jüngling Goethe's Umgang dort genoss
und gegenwärtig wohl als einziger Zeuge jener Tage
übrig ist:
Johann Paul Freiherr von Falkenstein. Der-
selbe ist am 15. Juni 1801 zu Pegau geboren, promovirte
in Leipzig 1822, w^orauf er sich dort als Docent der Rechte
habilitirte, und 1824 zum Oberhofgerichtsrath ernannt,
dann 1827 als Hof- und Justizrath nach Dresden berufen,
und 1835 als Kreisdirector wieder nach Leipzig versetzt
wurde. Von 1845 bis 1848 war derselbe Minister des Innern,
von 1852 bis 187 1 Minister des Cultus und öffentlichen
Unterrichts, seitdem aber Minister des Königlichen Hauses.
Im Jahre 18 16 gehörte von Falkenstein der Schule zu
Rossleben an und verbrachte die Sommerferien im Hause
des Kreis- und Rentamtmanns von Tennstädt, C öl est in
August Just. Dieser am 11. November 1749 in Merse-
burg gebome Beamte erfreute sich in ganz Thüringen
eines vorzüglichen, über seine Stellung weit hinausgehen-
den Ansehens und Vertrauens. Seinen wissenschaftlichen
Geist bethätigte er ausserdem durch zahlreiche Aufsätze
in verschiedenen Zeitschriften; insbesondere liess er seine
amtlichen Verhältnisse nicht ungenutzt für gelehrte Ar-
beiten. So war der Umstand, dass Karl Friedrich von
Hardenberg (NovaHs) unter seiner Leitung im Amte Tenn-
städt sich für den Staatsdienst vorbereitete, die Veran-
lassung, dass er dessen Leben schrieb; der Auftrag, der
ihm die Verwaltung der gemeinschaftlichen Angelegen-
heiten der Ganerbschaft Treffurt übertrug, bewog ihn die
Geschichte derselben zu bearbeiten; die Wahl zum Co-
administrator der Klosterschule Rossleben gab ihm Ge-
legenheit eine Schrift über dieselbe, sowie andere über
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288 Goethe mit Zeitgenossen.
Erziehungswesen überhaupt zu verfassen. Und so in an-
deren Fällen. Im Jahre 1820 kam Just als Regierungsrath
nach Erfurt, wo er am 21. März 1822 starb.
Der geistreiche Mann sprach Goethe sehr an ; letzterer
war täglich in seiner Gesellschaft, speiste häufig bei ihm
zu Mittag und weilte auch die Abende meist in seinem
Hause. Die geschichtlichen Studien desselben waren viel-
leicht auch Ursache, dass Goethe die thüringische Chronik
in Tennstädt las.
Paul von Falkenstein aber begleitete Goethe'n ge-
wöhnlich auf dessen Spaziergängen, wobei dieser nicht
unterliess, ihn auf die Merkwürdigkeiten der Gegend auf-
merksam zu machen. Namentlich beschäftigte den alten
Herrn angelegentHch der unmittelbar vor Tennstädt hegende
Bruchteich, ein kleiner See, der durch immer gleichmässig
fliessende, stark Tuffstein absetzende Quellen gespeist und
unverändert in derselben Höhe erhalten w4rd.
Seine Wohnung hatte Goethe im ersten Stockwerk
des dem Amtsphysicus und Badearzt Karl August
Schmidt gehörigen Hauses aufgeschlagen. Auch dieser
war ein geistvoller, unterrichteter Mann, in dessen Um-
gang Goethe sich w^ohl fühlte und dessen Gastfreundschaft
er ebenfalls oft genoss. Er war ein Bruder des weimari-
schen Regierungsraths, nachmaligen Geheimen Regierungs-
raths Christian Friedrich Schmidt und starb am 3. Mai 1839
als Kreisphysicus zu Erfurt. Ein anderer Tennstädter, der
in demselben geselligen Kreis verkehrte, war der Accis-
commissar und Steuerprocurator, spätere Hofrath Dr. Hans
Georg Brandis.
Zur Unterhaltung der Badegäste, vielleicht aus Auf-
merksamkeit für Goethe, spielte die fürstlich schwarz-
burg-sondershäusische Kapelle ein paar Mal in Tennstädt;
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Goethe mit Friedrich Krug von Nidda in TennstAdt. 289
mit ihr der berühmte, auch Goethe's Bewunderung in
Anspruch nehmende Flötenspieler Kaspar Fürstenau
(geb. 26. Februar 1772 in Münster, gest. 11. Mai 1819 in
Oldenburg).
Von auswänigen Gästen, mit denen Goethe in Be-
rührung kam, ist, ausser dem Legationsrath Johann
Friedrich Justin Bertuch aus Weimar, noch zu
nennen: Georg Anton von Hardenberg, der nächst-
älteste Bruder von Novalis, geb. am 28. Juli 1773 in
Schlöben, hessischer Oberforstmeister; als Dichter unter
dem Namen Sylvester aufgetreten, als preussischer Kammer-
herr und Landrath am 10. Juli 1825 in Oberwiederstädt,
dem Familiengute, verstorben.
Was nun von Krug im »Gedenkbüchlein« über seinen
Verkehr mit Goethe berichtet, mag hier wieder abge-
druckt werden, da das Schriftchen schwer zugänglich ist.
Nachdem er von seinem leidenden Zustand, einer Folge
des russischen Feldzuges, gesprochen, fährt er fort:
»Da trat ein Ereigniss für mich ein, das fast orakel-
artig auf mein Inneres wirkte : Goethe w^ard als Brunnen-
gast angesagt! und unverzüglich war mein Plan gemacht,
von ihm, dem Hochgefeierten, die Prüfung meiner Fähig-
keiten zu erbitten und hiermit die Entscheidung meines
Berufs für die mir noch übrige Handvoll Jahre in seine
Hände zu legen. — Ein Meerfels, von der Sonne beglänzt,
von Zeit und Stürmen ungebrochen, erschien er eines
Tages in unserer Versammlung, und die Würde und
Sicherheit seiner Haltung, die milde Klarheit seines Blicks,
die seine geistvolle Unterhaltung begleitete, ermuthigten
mich, ihm nahe zu treten, um die Vergünstigung zu er-
langen, ihn auch in seinem Hause zu sehen. Er empfing
mich galant, als ich ihm bald darauf meine Aufw^artung
19
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290 Goethe mit Zeitgenossen.
machte und leitete das Gespräch mit den Worten ein,
dass es ihm lieb sei, mich Trennen zu lernen — eine
Phrase, die vielleicht mehr als dieses war, da meine Er-
schöpfung ihn unwillkührlich weich gestimmt, ja ihm ge-
sagt haben mochte, dass ich wohl nicht zu Denen gehöre,
die nur um ihn gesehen zu haben, den Rubicon oder
Canal übersetzen und dann diese Rubrik in ihrem Reise-
buch austhun. Er rühmte die wohlthuende Stille des Bade-
orts, wie den Gehalt seiner Quelle, kam von den physi-
schen auf die geistigen Eigenthümlichkeiten des Lebens,
wo dann die Unterhaltung vom Kreisamtmann Just, dem
Brunnenarzt und andern Ausgezeichneten, zuletzt auch auf
Novalis überging, der einst, um sich als praktischer Jurist
zu bilden, bei hiesigem Justizamt hospitirte und während-
dem das schöne Verhältniss mit Fräulein Sophie von
Kühn geschürzt, deren Bruder Georg, mit mir in einem
Regiment dienend, ich einst zu meinen liebsten Freunden
zahlte. — Auf meine Frage: mit welcher poetischen Dar-
stellung er während seiner Badecur sich zu beschäftigen
gedenke? nannte er mir die Zusammenstellung seiner
Werke, die bald darauf auch in zwanzig Bänden bei Cotta
erschienen, und als ich ihm zu so viel Trefflichem Glück
gewünscht, womit er den deutschen Parnass bereits be-
schenkt, versetzte er mit der Bescheidenheit des ersten
Verdienstes: »Man ehrt mich zu hoch! Ich habe mit
meiner Zeit gelebt und verkehrt und Einer hat sich an
dem Andern erhoben. Den Vorderen sind wir auf die
Schultern gestiegen, sahen hierdurch vielleicht etwas
weiter als sie und so gestaltete sich manche neue Er-
scheinung.« — Jetzt fiel ihm auch ein, meine Namens-
chiffre schon unter poetischen Versuchen gesehen und
Einiges nicht ohne Antheil gelesen zu haben; ja, als ich
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Goethe mit Friedrich Krug von Nidda ix Texnstadt. 29 1
ihm meine Liebe zur Kunst gestand und meine damals
neueste Arbeit (Florian's »Gonsalvo von Cordova« in
deutsche Octaven umzubilden) nannte, liess er sich meine
Kühnheit gern gefallen, ihm einen Probegesang zur Durch-
sicht mitzutheilen, verheissend, mir sein Endurtheil auf
keinen Fall verhehlen zu wollen. Nach angehender Dichter
Art, ihr Liebstes stets am Herzen zu tragen, überreichte
ich ihm auch sofort mein Gedicht, empfahl mich jedoch
schon den nächsten Moment, nachdem mir noch die Er-
laubniss zu Theil geworden war, bald ungemeldet wieder-
zukommen; eine Vergünstigung, die ich späterhin mit
wahrem poetischen Heisshunger nützte. — Ein ungemein
artiger Gegenbesuch, der mich nach wenigen Tagen be-
glückte — wie Goethe überhaupt weit minder förmÜch
als in Weimar, fast jedem Gebildeten diese Ehre erwies
— gab mir noch mehr Gelegenheit, als bei der ersten
Unterredung, den Dichterfürsten vom Weltmanne zu trennen,
und als er mit nur zu schonendem Urtheil über meine
Stanzen zuletzt mit der erhebenden Äusserung schloss :
»Sie haben Octaven darunter, um die man Sie beneiden
könnte!« war meiner Idee zufolge mein Glück gemacht
und rasch entschied ich mich, ihm meine Arbeit zuzu-
eignen, was einige Monate später auch geschah und mir
einen schriftHchen Dank des Gefeierten einbrachte, dess nähere
Mittheilung man mir billig erlässt. — Es würde mir leicht
sein, aus meinem späteren Zusammensein mit Goethe noch
manches Ansprechende auszuheben, wozu theils Erinnerungen
seiner itaHenischen Reisen, Streiflichter seines geologischen
und naturhistorischen Wissens und Ansichten über die
Literargeschichte des Tages mehr als genügenden Vor-
wurf boten, sowie nicht minder manch Beherzigenswerthes
über den weisen Gebrauch der Trope, zumal in der Stanzen-
19*
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292 Goethe mit Zeitgenossen.
form, mir Stoff zu weiterem Nachdenken lieh ; doch, um
mich kurz zu fassen, sei nur das Resultat seines Wohl-
wollens in den einfachen Scheidegruss gefasst, mich ferner-
hin den Musen zu widmen, die mich gewiss nicht Ver-
stössen würden, sofern ich mich ihnen ganz hingeben
wolle. Ja, als ich ihm vier Jahre später ein Exemplar
meiner Gedichte sendete, schrieb er mir folgende herz-
liche Zeilen, mir werther als die wortreichste Recension :
»Jedwedem w^ünsche ich Glück, den die Muse be-
günstigt; denn ich weiss, w^as mir eine solche Geneigt-
heit zeitlebens w^ar und bleibt. Auch Ihnen, der Sie so
viel gelitten, gönne ich von Herzen diesen aus eigner
Thätigkeit herv^orquellenden Trost, den Ersatz für so
Vieles, was hinter uns bUeb. Möge ich immer vernehmen,
dass Ihnen eine so einzige Quelle nie versiegt und dass
Sie meiner freundlichst gedenken.«
Die oben erwähnte Erwiderung Goethe's auf die Zu-
sendung des »Gonsalvo von Cordova«, kann nur nach
einer Abschrift mitgetheilt werden, die Friedrich von
Krug seinem Bruder Karl schickte; vorher finde aber
auch noch der Auszug aus einem an denselben Bruder
gerichteten Briefe Platz, den ersterer aus Tennstädt am
14. August 1816 schrieb :
» — Unter allen Freunden kann ich Dir nur Einen
merkwürdigen, doch in diesem den würdigsten Re-
präsentanten der deutschen Poesie (wie ihn Madame Stael
nennt), ein ganzes Dichterrepositorium nennen. Ich habe
nicht mehr nöthig, Goethe's Namen auszusclireiben und
Du wirst Dich nicht w^enig wundern, dass dieser sehr
leuchtende Stern sich in die Tennstädter Wüste verime.
Und dennoch ist es so! Goethe lebt nun bereits drei
volle Wochen unter uns und keineswegs so hermetisch
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Goethe mit Friedrich Krug von Xidda in TennstAdt. 293
verschlossen, als es in Weimar der Fall sein soll. Ich
habe ihm, wie sich's versteht, den ersten Besuch gegeben
und ihm von Zeit zu Zeit Beweise meiner hohen Achtung
an den Tag gelegt, doch auch die Befriedigung und den
hohen Trost daraus gewonnen, dass ich trotz meiner
namenlosen dichterischen Existenz ihm keineswegs ganz
unbekannt war und mehrere meiner kleinen Bildungen
von ihm mit Zufriedenheit betrachtet wurden. Ich über-
gab ihm z. B. die zwei ersten Gesänge des »Gonsalvo«
— der nun schon längst beendigt nur eines günstigen
Verlegers harrt — zu prüfendem Unheil, und er hat dies
so günstig ausgesprochen, dass ich mich hoch dadurch
erhoben fühle und keinen Tag der vielen Tage für ver-
loren halte, die ich an dieser Arbeit zubrachte.« *
Es folgt nun Goethe's Dankbrief für den »Gonsalvo«,
zu dessen Verständniss nur noch zu erwähnen ist, dass
der Dichter die Übersetzung grösstentheils während seiner
russischen Gefangenschaft ausführte.
Ew. Hochwohlgeboren
angenehme Sendung ist mir in Jena geworden, wo
ich eingedenk früherer Zeiten der akademischen
Müsse Freiheit und Belehrung geniesse. Ich danke
zum allerbesten für die angenehme Unterhaltung, die
Sie mir abermals und vollständig geben und welche
mir doppelt erfreulich ist, da ich bei persönlicher
Bekanntschaft auch in der Abwesenheit Ihr Talent
und anhaltenden Fleiss desto theilnehmender be-
wundern kann. Ich wünsche dieser Arbeit im Allge-
meinen die Aufnahme, die sie bei mir findet, wenn
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294 Goethe mit Zeitgenossen.
ich mich gleich dabei immer fragen muss, ob mich
Ihre freundliche Zuneigung nicht besteche. Allein es
scheint mir, als wenn ich auch ganz fern der Person,
an dem Werke selbst unparteiische Freude würde
gehabt haben. Rührend ist es zugleich, wie ich nicht
verschw^eigen darf, wenn ich denke, welchen trau-
rigen Zustand Ihnen die Muse überstehen half, und
wie das Talent der sicherste Schutzgeist bleibt, uns
über dornige Lebenspfade nicht nur hinüber zu ge-
leiten, sondern sogar dieselben zu schmücken. Möge
dieser gute Genius bis an das Ende nicht von unserer
Seite weichen.
Jena, den 17. Mai 18 17.
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5- Goethe und die Fikentscher.
" ustern wir die Namen der zahllosen Personen,
von denen bekannt ist, dass sie mit Goethe
in Verkehr standen, so wird uns die Wahr-
nehmung überraschen, wie die bedeutendsten
Männer und Frauen seiner Zeit aus allen
gebildeten Völkern mit ihm brieflich oder persönlich in
Verbindung kamen, indem meistens jene es waren, welche
den grossen Mann aufsuchten und namentlich später in
Weimar eine »Zusammenkunft der Renommecn« herbei-
führten, wie sie selten oder noch nie um einen Menschen
sich schaarten, zu dem nicht Eigennutz trieb.
Aber auch Goethe war nicht müssig Personen auszu-
spähen und festzuhalten, die in wissenschaftÜchen oder
künstlerischen Bestrebungen mit ihm Hand in Hand gehen
konnten. Davon zeugt der unendlich ausgebreitete Brief-
wechsel, der — allerdings in einem Zeitraum von 60 Jahren
und einschliesslich freundschaftlicher und herzinniger Ver-
bindungen — bis jetzt an die 700 bekannte Adressaten
au fweist.
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296 Goethe mit Zeitgenossen.
Zu den gelegentlich eingeleiteten Verbindungen Goethe's
gehört auch die mit der Familie Fikentscher*)in Redwitz.
Goethe war 1820 in Eger mit dem dortigen Magi-
stratsrath Grüner bekannt geworden, der sich bereit und
geschickt fand, auf des Dichters mineralogische Forschungen
einzugehen und ihm dabei hilfreich zu sein. Mit ihm
machte Goethe Ausflüge in die Umgegend, dabei bemüht,
Land und Leute, namentlich die verschiedenen Gewerb-
thätigkeiten kennen zu lernen.
Ein solcher Ausflug wurde am 10. August 1822 nach
dem in der geraden Linie wenig über 3 Meilen, wegen
Benutzung von Chausseen aber etwa 4 Meilen von Eger
entfernten Redwitz verabredet, woselbst ein mit Grüner
verschwägerter Freund desselben, Wolfgang Fikentscher,
eine Fabrik besass.
Wolfgang Kaspar Fikentscher war zum guten
Theil ein selbstgemachter Mann. Er war am 3. Mai 1770
in dem damals unter böhmischer Landeshoheit stehenden
Städtchen Redwitz als Sohn eines Bäckermeisters geboren
und genoss seinen ersten Unterricht in der dortigen latei-
nischen Schule. In seinem zwölften Jahre kam er auf
ein halbes Jahr zu seinem Oheim Dr. med. Miedel nach
Weiden und besuchte während dieser Zeit dort die Schule.
Dr. Miedel besass eine Apotheke, die er auch selbst ver-
waltete; die darin ausgeführten Arbeiten zogen den jungen
Fikentscher so an, dass er sich entschloss, Pharmaceut zu
werden. Behufs Ausbildung für diesen Beruf wurde er in
seinem vierzehnten Jahre in eine Apotheke zu Nürnberg
in die Lehre gegeben. Hier beschränkte er sich aber
nicht auf Verrichtung seiner Geschäfte, sondern benutzte
•) sprich: fikfcntscher.
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Goethe und die Fikentscher. 297
seine Freistunden zum Studium der wichtigsten chemi-
schen Schriften. Er konnte dies zum Theil nur verstohlen
ermöglichen und hielt sich z. B. Nachts deshalb im Kamin
auf, damit sein unerlaubtes Wachbleiben nicht durch das
Licht verrathen würde.
Bei seiner Rückkehr ins Vaterhaus 1788 nahm Fikent-
scher von einem Winkel desselben Besitz, um für den
Handel Präparate herzustellen, die in den Apotheken ge-
braucht werden. Er erzielte damit so bedeutenden Erfolg,
dass er schon nach einem halben Jahre ein eignes Labora-
torium herzustellen und seine Geschäftsreisen bald bis
Wien auszudehnen sich veranlasst fand. Schon in den
Jahren 1794 und 1795 konnte er von dem Erstorbenen
sich ein ansehnliches Wohnhaus erbauen. Das Gebiet
seiner Fabrikation von Chemikalien erweiterte er fort-
während; so unternahm er die Erzeugung verschiedener
Quecksilberverbindungen, erbaute von 1825 bis 1856 vier
Bleikammern zur Erzeugung von Schwefelsäure und legte
überdies 1814 zunächst mit vier Theilhabem im sogenannten
Reichsforste eine Glashütte an; seit 1817 arbeitete jeder
dieser Theilhaber auf eigne Rechnung.
Bei allen diesen Gewerbserzeugnissen benutzte Fikent-
scher die neuesten Entdeckungen der Chemie, denen er
mit ununterbrochener Aufmerksamkeit folgte und dadurch
in der Lage war, besser und billiger arbeiten zu können,
als seine weniger wissenschaftlichen Arbeitsgenossen. Da-
bei blieb Gewissenhaftigkeit sein oberster Grundsatz, und
er erreichte dadurch, dass seine Fabrikate weit und breit
berühmt waren. Der Werth seiner Erzeugnisse erreichte
im letzten Jahre seines Lebens den Betrag von 160,000 fl.
südd. W. (rund 275,000 Mark). Die Grundfläche der von
Fikentscher zu seinen Fabriken in Redwitz (also ausser
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298 Goethe mit Zeitgenossen.
der Glashütte) errichteten massiven Gebäude betrug an
zwei bayerische Tagwerke ohne die Hofräume.
Auch im Gemeinde- und Staatsleben war Fikentscher
thätig; er wurde 1806 in den Magistrat seiner Vaterstadt
gewählt, bekleidete von 1809 ^^^ 1824 die Stelle des Bürger-
meisters und gehörte seit 1828 der Kammer der Abge-
ordneten des Königreichs Bayern an.
Seit 1796 war er mit Margaretha Barbara Grüner
aus Wunsiedel verheirathet , die 1825 starb; er selbst
verschied am 7. März 1837 in Redwitz.
Fikentscher war in jeder Hinsicht ein ausgezeichneter
Mann. Für seine bedeutende Befähigung und seine uner-
müdliche Thätigkeit zeugen die Erfolge seiner Unterneh-
mungen. Die Klarheit seines Geistes war so entschieden,
dass er für Vers^^orrenheiten ganz unzugängHch war; seine
Offenheit liess ihm auch im Geschäft keine Geheimniss-
thuerei zu; seine Sittlichkeit war ohne Tadel; seine
Menschenfreundlichkeit bewog ihn zu eingehendster Für-
sorge für seine Arbeiter, deren Gesundheit er so geschickt
durch Vorkehrungen zu schützen wusste, dass selbst die
mit Bereitung von Quecksilberpräparaten Beschäftigten keinen
Nachtheil davon erlitten.
Neun Kinder entsprossen der Ehe Fikentscher's, der
Reihe nach folgende : *)
Georg, der, geboren am 26. Januar 1798, Arzt, zu-
erst in Selb, war und 1864 als Kreisphysikus zu Wun-
siedel starb;
Friedrich Christian, geboren am 15. November
1799, von welchem nachher ausführlicher die Rede sein soll;
*) Ungenau sind die Angaben in: »Goethe's Werke. Nach den vorzüglichsten Quellen
reridirte Ausgabe- XX VII. Thcil. i. Abtheilung etc. Herausgegeben und mit Anmerkungen
begleitet von W. Frh. von Biedermann. Berlin. Gustav Hempel.« (Seite 605 f.)
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Goethe und die Fikentscher. 299
Henriette Katharina, geboren i8oi,lebtinPuchlTof;
Matthias Wilhelm, geboren den 27. August 1803,
seit 1848 Fabrikbesitzer in Redwitz, lebt in Regensburg;
Rosalie, geboren den 20. Mai 1805, verehelichte
Dr. Reuss, Wittwe seit November 1858, gestorben zu
Augsburg am 13. November 1876;
Christiane, geboren 13. Juü 1807, vermählt 1838
mit Dr. Emil Maximilian Dingler, dem Sohn des ersten
Herausgebers des »Polytechnischen Journals« und dessen
Nachfolger, Wittwe seit 9. October 1874;
Friedrich Georg Joseph, geboren 19. October
1810, Zuckerfabrikbesitzer in Regensburg, starb 19. Mai 1879;
Auguste, geboren 16. JuÜ 1812, verheirathet mit
Dr. med. Abel in Marienbad, Wittwe seit Mai 1850;
Johanna, geboren 22. Februar 1814, Gattin des
Fabrikbesitzers Huscher in Asch.
Von diesen Kindern w^aren im August 1822 alle Töch-
ter, von den Söhnen aber nur Friedrich Christian anwesend.
Der letztere hatte sich ebenfalls zum Chemiker ausgebildet
und war dann in das väterliche Geschäft eingetreten. Zu ^iner
weiteren Ausbildung besuchte er 1824 Paris, und ging 1830
mit seinem Bruder Wilhelm nach England. Erst spät dachte
er daran, ein eignes Geschäft zu gründen und zwar zu
Zwickau in Sachsen. Der Bau der Fabrik, die er hier zu
errichten beschloss, begann 1846; nach ihrer Fertigstellung
1848 siedelte er nebst seiner Familie nach Zwickau über.
Zunächst hatte Fritz Fikentscher hier nur die Fabri-
kation von Glas und den dazu nöthigen Stoffen, wie
Schwefelsäure, Salzsäure und von Quecksilberpräparaten,
sowie Weinsteinsäure, Chlorkalk und Alaun ins Auge ge-
fasst. Später kamen noch andre chemische Producte hinzu;
so die Herstellung von Kochsalz und Arseniksäure aus
Digitized by VjOOQ IC
300 Goethe mit Zeitgenossen.
Kohlenschachtwasser. Im Laufe der Zeit wurde jedoch die
Mehrzahl dieser Fabrikationszweige wieder fallen gelassen,
theils aus dem allgemeinen Grunde, dass bei verändenen
Gewerbsverhältnissen eine Fabrik nur durch Beschränkung
auf einzelne Gegenstände gedeihen konnte, theils aus be-
sondern, durch die Concurrenz bedingten Ursachen. Da-
gegen bildete Fikentscher eine andre Fabrikation heraus:
die von Thonwaaren aller Art. Die Veranlassung dazu gab
der eigne Bedarf in der Fabrik an Steingefässen, Chamotte-
steinen und Mauerziegeln; die bedeutendste Leistung in
diesem Gebiet wurde aber die Erzeugung von Thonröhren,
wodurch sich die Fabrik den ausgebreitetsten Ruf erwarb.
Diese rastlose umsichtige Thätigkeit Fritz Fikentscher's
erklärt es, dass das »Dresdner Journal« bei Meldung seines
Todes sagen konnte: »Er war einer der geachtetsten In-
dustriellen Deutschlands, ein Mann, der wie nur sehr
Wenige Wissenschaft und Leben zu vereinigen wusste.«
Ein geistvoller Mann sagte einmal: »Wenn Fikentscher
spricht, so möchte man ihm bei jeder Äusserung zurufen,
einzuhalten, damit man das Gesagte erst geniessen könne.«
König und Mitbürger zeichneten ihn aus : jener 1850 durch
Verleihung des Königlich sächsischen Verdienstordens, diese
durch seine Erv^^ählung zum Landtagsabgeordneten seit 1854.
Er starb zu Zwickau am 9. August 1864. Fritz Fikentscher
war zweimal verheirathet, zuerst mit einer Tochter des
Professor Trommsdorf.
Dieser Fikentscher also und sein Vater waren es, welche
Goethe im August 1822 fünf Tage in Redwitz fesselten.
Er erzählt selbst in seinem Reisetagebuch,*) dass er am
•) Goethc's Werke, XXVII. Theil, i. Abtheilung etc. Herausgcgeb. etc. von W. Frh.
V. Biedermann. Berlin, Gustav Hempel. S. 345—350.
Digitized by VjOOQ IC
Goethe und die Fikentscher. 301
13. August Abends 8 Uhr in Redwitz angekommen und
von Herrn Fikentscher nebst Familie wol empfangen wor-
den sei. Das Gespräch an diesem ersten Abend bewegte
sich um die frühern und die jetzigen Verhähnisse von
Redwitz, welches Städtchen ein Besitzthum der Stadt Eger
gewesen war und zu Böhmen gehört hatte, 1816 aber an
Bayern abgetreten worden war, wodurch die Verkehrs-
verhältnisse des Orts manche Störungen erlitten hatten.
Wurden einerseits diese beklagt, so gab doch andrerseits
der Umstand, dass Redwitz früher auch unter der PoHzei-
gewalt der Stadt Eger, demnach unter dem Rath Grüner
gestanden hatte, zu scherzhaften Vergleichungen zwischen
damaliger und jetziger Verwaltung Anlass und erheiterte
die Unterhaltung.
Goethe's Erzählung seines Aufenthalts bei Fikentscher
zu Redwitz gehört hierher nur, sow^eit sie dessen Person
und seine FamiHe betrifft, wogegen die Darstellung der
Gegend, der Fikentscher'schen Besitzung, der Fabrikanlagen
und der Fabrikation an diesem Orte übergangen werden
wird. Es ist daher daraus zunächst zu erwähnen, w^as
Goethe über die Familie unterm 14. August sagt: »Den
Haus- und Hof herm Fikentscher bezeichne als einen Fünf-
ziger, der in Nordamerika mit eigenen Kräften und Mitteln
grosse Landstrecken urbar gemacht und beherrscht hätte,
es aber freilich hier im cultivirtesten Lande, obgleich
zwölf hundert Fuss über der Meeresfläche, viel besser hat.
Die häusliche Einrichtung gleicht aber jener über dem
Weltmeer, wo man sich seine eigene Dienerschaft erzeugt.
Mutter und zwei erwachsene, sehr hübsche Töchter, ein-
fach aber elegant gekleidet, bedienen freundUch und an-
ständig den Tisch, dazwischen sich niedersetzend und
mitspeisend; zwei jüngere wachsen heran, zu jener An-
Digitized by VjOOQ IC
302 Goethe mit Zeitgenossen.
stelligkeit sich bereitend. Von fünf Söhnen ist nur einer
zu Hause, der älteste als Arzt in Selb angestellt, die drei
jüngeren *) in Erlangen zur Schule und zur Apotheker-
kunst durch Martins, den Vater des brasilianischen Rei-
senden, angehalten. Der nunmehr ältere, ein junger, lieber
Mann von zweiundzwanzig Jahren, hatte schon früher
beim Vater, der zuerst Apotheker gewesen, sich in diesen
Künsten unterrichtet, sodann aber bei Trommsdorf im
Erfurt'schen einen jährlichen Cursus durchlaufen, ist in der
neuen Chemie ganz unterrichtet, indem das Haus auch
die nothw^endigen Journale hält, um einer Wissenschaft
in ihrem Gange zu folgen, die bei solchen Unterneh-
mungen im Grossen von der höchsten Wichtigkeit ist,
wie man an den Operationen sieht, die mir freundlich
und umständlich mitgetheilt worden. — Wir besahen das
Mineraliencabinet des Sohnes, welches, obgleich nur vor
wenig Jahren angelegt, schon sehr gute und wohlgeordnete
Stufen besitzt; überall bemerkt man Geschick und Nutz-
barkeit, auch zeigen sich die höheren chemischen Zwecke
bei geologischen und oryktognostischen Bemühungen. —
Nach Tische fuhr Polizeirath Grüner weg, und ich ging
mit dem Hausvater auf die nordwestliche Höhe über der
Stadt, wo der Berg, Cossain genannt, im Südosten stehend,
einen Theil des Zirkels schliesst, das Fichtelgebirge ver-
deckt ist, die Bergesreihe hingegen, welche das Egerland
gegen Norden umgiebt, in der fernsten Bläue zu sehen ist.«
Am 15. August fuhr Goethe früh 8 Uhr mit Fritz
Fikentscher nach der Glashütte, welche vier Theilhabern,
unter denen Wolfgang Fikentscher, gemeinschaftlich ge-
hörte, jedoch so, dass jeder derselben der Reihe nach gesondert
•) Irrthum: es WAreu nur zwei.
Digitized by VjOOQ IC
Goethe und die Fikentscher. 303
arbeitete. In der Hütte fand Goethe zufällig zurückgelegte,
schnell gekühlte kleine Glaskolben, deren ausgeschnittener
Boden die entoptische Farbenerscheinung trefflich gab, wozu
ein ganz reiner Himmel vollkommen begünstigte. Es wurde
sodann ein Glasstab absichthch schnell verkühlen gelassen
und seiner Gestalt gemäss höchst schön entoptisch gefunden.
Ueber die Heimfahrt bemerkt Goethe: »Wir fuhren
den schrecklichen Weg zurück, und ich wäre der Mittags-
hitze ungeachtet den Berg gern hinabgegangen, hätte
mein junger Begleiter sich nicht vor kurzer Zeit auf einer
Fussreise an dem Hacken beschädigt.«
Dann heisst es: »Mittags mit der FamiHe. Zustände
früherer Zeiten sowohl auf die Stadt, als die Einzelnen
bezüglich wurden durchgesprochen. Sodann wendete man
sich zu chemischen Versuchen.« Es galt nämlich theils
Gläser herzustellen, welche*^ bei hellem Grunde gelb, bei
dunklem blau erschienen, theils solche, welche die entop-
tischen Farben zeigten. Goethe stand im weissen wollenen
Schlafrock stundenlang mit Fritz Fikentscher an der Muffel
und verfolgte die ihn für seine Farbenlehre so werthvolle
Herstellung. Als ihm mitgetheilt wurde, dass für den
Abend dieses Tags Gäste in's Haus gebeten seien, wäre
er gern weggeblieben; als er jedoch die Verlegenheit
über diese seine Absicht bemerkte und auf Fragen erfuhr,
dass die Gesellschaft seinetw^ egen geladen sei, gab er zwar
das Vorhaben gänzlichen Wegbleibens auf, zog sich aber
bei Zeiten zurück, indem er Fritz F. mit einem »Kommen
Sie, Freundchen!« aufforderte, ihm zu folgen. Als An-
wesende nennt Goethe : Inspector Schlommer, Syndicus
Schmalz und Actuar Schnetter; das Gespräch drehte sich
wieder um vergangene und gegenwärtige Verhältnisse
bezüglich Redwitz.
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304 Goethe mit Zeitgenossen.
Freitag den 16. August war wieder ganz den pyro-
technischen Versuchen gewidmet. Die trüben Scheiben-
täfeichen gelangen zuletzt in allen Abstufungen vortreff-
Uch, da Fritz F. eine leichte Methode erfand, das Glas zu
trüben; sie wurden zu Dutzenden fertig. Goethe erklärte
dadurch einen seiner sehnUchsten Wünsche erfüllt. Die
entoptischen Blättchen Hessen zu wünschen übrig; doch
wurden zwei schwarze Spiegel kunstgemäss gefertigt und
das entoptische Gestell, wie Goethe es in der Farbenlehre
angegeben hat, aufgerichtet, um dem Vater und Sohn
Fikentscher die entoptischen Erscheinungen vorzuführen
und sie zu befähigen, auf den eigentHchen Zweck der an-
geregten Verfertigung entsprechender Gläser loszuarbeiten.
In der Famiüe waren wiederum die sonstigen und
dermaligen Staatsverhältnisse, soweit sie Redwutz berührten,
Gegenstand der Gespräche.
Am 17. August wurden die trüben Täfelchen ge-
mustert und die meisten trefflich gefunden. Das Durch-
glühen und rasche Abkühlen der zu Hervorbringung der
entoptischen Erscheinungen bestimmten Gläser wurde fort-
gesetzt und gelang allmälig besser. Die Atmosphäre war
übrigens an diesem wie am vorhergehenden Tage den
Versuchen nicht günstig.
Vor Tische unterhielt sich Goethe mit dem Vater
Fikentscher über mancherlei, z. B. über das Verhältniss
der Protestanten zu den Katholiken in Bayern. Mittags
kam der Zustand von Kulmbach zur Sprache. Nachmittags
wurden die chemischen Versuche fortgesetzt. Abends blieb
Goethe für sich und dictirte seinem Kammerdiener Stadel-
mann Briefe.
Am Sonntag berichtigte er das Dictirte und packte
die Glastäfelchen ein. Dann kamen Poüzeirath Grüner und
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Goethe und die Fikentscher. 305
seine Frau wieder in Redwitz an. Er dankte jenem für
die ihm verschaffte Bekanntschaft mit Fikentschers und
erzählte von dem Erwerb der letzten Tage; mit Fikent-
scher dem Vater sprach er über das Chemisch-technische
seiner verschiedenen Fabrikationen.
Bei Tisch war die Unterhaltung lebhaft. Wiederum
gedachte man der vergangenen Zeiten von Redwitz, welche
die Alten nicht vergessen können, obschon die Jungen
sich behaglich in's Neue finden. Mit Grüner gab's dialek-
tische Scherze. Auf den Vorwurf, dass Redwitz eigentlich
niemals eine Polizei gehabt habe, wurde erwidert, dass
eben desshalb Bier, Fleisch und Brod ohne Tadel, Kaffee-
brödchen wie nirgends seien.
Nachmittags 4 Uhr trat Goethe mit Grüners die
Rückfahrt nach Eger an. Wie höchlich ihn der Aufent-
halt bei Fikentschers befriedigte, sagt er nicht allein in
seinem Reisetagebuch, das er der Grossherzogin von
Weimar zugehen Hess, sondern auch in Briefen an Major
von Knebel und an Graf Kaspar von Sternberg vom 23.
und vom 26. August 1822.
Obwohl Goethe nicht wieder nach Redwitz kam, so
blieb er doch mit Fikentschers in dauernder Verbindung.
So erbat er sich durch Brief an Rath Grüner aus Marien-
bad vom 13. August 1823 von Fritz F. geographische
Barometerdarstellungen für die letzte Zeit, und am 22.
desselben Monats traf er mit diesem in Eger bei Grüner
zusammen. In demselben Jahr empfing er von demselben
Mineralien des Fichtelgebirgs. WerthvoUe Zeugen von
Goethe's Verkehr mit Fikentschers sind aber mehrere
Briefe, die er an Vater und Sohn schrieb. Dieselben sind
nachstehends abgedruckt und zwar fünf nach den im Fa-
milienbesitz befindlichen Originalien, die wie gewöhnlich
20
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306 Goethe mit Zeitgenossen.
dictirt und von Goethe nur unterzeichnet sind, der erste
Brief aber nach dem Entwurf, der sich in der reichen
Sammluno; des Geheimen Rath Dr. von Loeper, befindet.
1. An Fikcnischcr; Sohn.
Ihre reiche und höchst willkommene Sendung,
mein Wertliester, ist seiner Zeit glücklich bei mir
angekommen und freut mich doppelt, da sie meine
Sammlungen ergänzt und mich zugleich an die schönen
Tage erinnert, die ich im Kreise Ihrer werthen Fa-
mihe zugebracht. Empfehlen Sie mich allerseits und
nehmen beikommende Stufen mehr als Zeugniss
meines dankbaren Andenkens, als für ein Äquivalent
Ihrer bedeutenden Gaben; erinnern Sie Sich dabei
eines aufrichtig Theilnehmenden, der nichts mehr
wünscht, als im nächsten Jahre abermals einige Zeit
in Ihrer Nähe zu verleben und sich einer an der
Hand des theoretischen Studiums immer fortschreiten-
den technischen Thätigkeit als Augenzeuge zu erfreuen.
Weimar, den lo. November 1822.
Zu bemerken ist hierbei, dass Goethe für das fünfte
Wort dieses Briefes »interessante« dictirt, und dies zu
Beseitigung des Fremdw^ortes zuerst eigenhändig in »be-
deutende« geändert hatte; letzteres änderte er zuletzt, da
es weiterhin noch einmal vorkommt, in »willkommene« ab.
2. An Fikcntscher, Sohn.
Sie haben, mein Wertliester, erlaubt, dass ich in
einer Angelegenheit, die zwar nicht von Bedeutung,
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Goethe und die Fikentscher. 307
aber doch für mich von Belang ist, Ihre Gefälligkeit
zu weiterer Besorgung anspreche.
Hierbei folgen die Zeichnungen von mehreren
Sorten von Gläsern, anatomischen und naturhistori-
schen Zwecken bestimmt, welche Sie die Gefälligkeit
haben wollen, auf der genannten Glashütte ohne
Weiteres zu bestellen, auch die Förderung der Ar-
beit bestens zu empfehlen.
Indessen wünschte zu meiner Kennt niss die Preise
der Gläser zu erfahren, nicht um die Arbeit aufzu-
halten, sondern nur die Behörde anzuweisen, was sie
nach glücklicher Ablieferung der Glaswaaren zu be-
zahlen habe.
Ferner möchte benachrichtigt sein, auf welchem
Wege man die Bezahlung wünscht, welche von uns
an jedem Handelsorte geleistet werden kann; denn
wie es manchmal geschieht, dass dem Fuhrmann die
Zahlung zu erheben aufgetragen ist, hab* ich in
solchen Fällen unbequem gefunden, weil die subal-
ternen Personen sich nicht immer berechtigt finden
und daher Stocken und Saumsal entsteht.
Zu adressiren wäre die Sendung an: Michael
Färber, als Schreiber angestellt bei den Gross-
herzoglichen Museen zu Jena.
Könnt' ich die Zeit erfahren, wann ungefähr die
Sendung zu erw'arten stünde, so würde dieses das
kleine Geschäft noch sicherer machen.
20*
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308 Goethe mit Zeitgenossen.
Noch einen Umstand wünscht' ich zu erfahren :
zu welcher Zeit nämHch eine fernere Bestellung dem
Glasmeister angenehm wäre, da ich mich erinnere,
dass nicht zu allen Jahreszeiten dergleichen Arbeiten
zu verfertigen vortheilhaft ist.
Sollte Ihnen, mein Werthester, noch irgend etwas
beigehen, das bei der weiten Entfernung die Com-
munication leichter und sicherer erhielte, so würden
Sie mich sehr verbinden, wie ich denn auch zuletzt
noch die Adresse der Glasfabrik zu allenfallsigen un-
mittelbaren Bestellungen erbitte, nicht minder nach
vollendeten Arbeiten die Zeichnungen wieder zurück-
wünsche.
In Hoffnung bei meiner Zürückkunft nach Eger das
Nähere bestimmt zu sehen und, wenn meine Wünsche
gelingen, von Ihnen persönlich das Weitere zu erfahren.
Dass Ihr Herr Vater, wie in Eger der Fall w^ar,
mit seiner Cur noch immer zufrieden sein möge,
wünsche von Herzen und empfehle mich allerseits :
ergebenst
J. W. v. Goethe.
Marienbad, den 13. JuH 1823.
Soeben als Gegenwärtiges abgehen sollte, erhalte
ich Ihr schnell gefördertes Schreiben, wofür ich ganz
besondem Dank sage; denn es gibt den schönsten
Beitrag zu denen von mir gesuchten und gesammelten
Erfahrungen. Dass Sie schon einiges Glaswerk zur
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Goethe und die Fikentscher. 309
Probe bestellt, ist mir sehr angenehm; denn auch
dies können wir brauchen. Mit der Sendung und
was daraus folgt, bitte zu verfahren wie gegen-
wärtiges Blatt anzeigt. Die barometrischen Mitthei-
lungen bitte fortzusetzen. Schönstens grüssend, das
Beste wünschend
Marienbad, den 13. Juli 1823. G.
Im neunten Absatz vorstehenden Briefes hat Goethe
»das Nähere« eigenhändig für das vom Schreiber gesetzte
»näher« berichtigt.
ß. An Fikentscher, Vater und Sohn.
Adresse, anscheinend von Goethe geschrieben :
Denen Herren Fikentscher, angesehenen Fabrikherren , IVohlgeb,,
nach Redtwitz im Königreich Bayern, Frank Gränzc.
Ew. Wohlgeboren
haben vorm Jahr die Gefälligkeit gehabt, eine Sen-
dung Präparatengläser von einer Ihnen bekannten
Glasfabrik im Königreiche zu vermitteln. Sie ist zur
rechten Zeit angelangt und man hatte alle Ursache
damit vollkommen zufrieden zu sein.
Ich nehme mir die Freiheit, Dieselben gegen-
wärtig um eine ähnliche Bestellung zu ersuchen. Die
Zeichnungen liegen bei; von jeder Nummer werden
sechs Stück gewünscht, sowie baldmögliche Förder-
niss und gute Packung.
In angenehmer Erinnerung der bei Ihnen und den
Ihrigen zugebrachten frohen und belehrenden Tage
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310 Goethe mit Zeitgenossen.
habe ich die Ehre mich zu fernerem geneigten An-
denken bestens tu empfehlen.
ergebenst
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 20. August 1824.
Die verzögerte Antwort auf vorstehenden Brief brachte
Goethe am 30. October 1824 durch Rath Grüner in Er-
innerung, durch den er dann wieder am 7. Februar 1827
»Herrn Fikentscher« für Besorgung von Glaswaaren
danken Hess.
4. Au Fikentscher, Vater.
Schon mehrmals haben mir Ew. Wohlgeb. Güte in
Anspruch genommen, wenn es sich von Fertigung der
Gläser für anatomische Präparate handehe; auch jetzt
sind wir in dem Fall dergleichen, aber von bedeu-
tenderer Grösse zu bedürfen und ersuchen Sie, bei
der bekannten Glasfabrik in Bestellung zu geben,
dass vier Stück von nachbenannter Grösse mit be-
sonders sorgfältig gearbeitetem Rande gefertigt und
anh^r gesendet werden.
Maa SS
24 Zoll rheinländisch hoch im Lichten,
15 Zoll weit im Lichten.
Obgleich diese Gläser mehr Mühe und Aufmerksam-
keit erfordern wie die früheren, so hoffen wir doch,
dass sie mit eben der Sorgfalt wie die frühem gefertigt
und wohlgepackt glücklich bei uns einlangen werden.
Hiermit den Wunsch verknüpfend, es möge Ihnen
und Ihrem Hause alles wohl gelingen und Sie in
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Goethe und die Fikentscher. 31 1
guter Stunde auch meiner und meiner früheren An-
wesenheit freundlich gedenken,
Ew. Wohlgeb.
ergebenster Diener
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 11. Juni 1828.
j. An ^Fikentscher, Vater.
Ew. Wohlgeb.
nehme mir die Freiheit in dankbarer Erinnerung
freundHcher gastlicher Aufnahme und bisher erwiesener
GefäUigkeit abermals eine Bestellung zu der Glashütte
zu übersenden, welche früher unsern wissenschaft-
lichen Bedürfnissen gar gute Hülfe geleistet. Wollten
Sie indess die Gefälligkeit haben, mir die Adresse
der Hütte selbst zu überschreiben, damit man in der
Folge Ihnen beschwerlich zu fallen nicht Ursache
hätte. Mit den Zeichnungen der gewünschten Gläser
folgen auch noch einige Bemerkungen und Wünsche,
desshalb ich auch besondere Empfehlung dorthin mir
erbitten darf.
Der ich mein Andenken in dem werthen FamiHen-
kreise erhalten und ohnschwer einige gefäUige Nach-
richt von dorten wünschend die Ehre habe mich zu
unterzeichnen
Ew. Wohlgeb.
ergebenster Diener
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 21. Juni 1830.
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312 Goethe mit Zeitgenossen.
6. An Fikentscher, Vater.
Ew. Wohlgeb.
haben, wie ich hoffe und wünsche, meine Sendung
des vergangenen 21. Juni wohl erhalten und dieselbe
weiter an die bekannte Glasfabrik befördert. Gegen-
wärtig befinde ich mich in dem gleichen Falle Die-
selben nochmals um die nämUche GefäUigkeit anzu-
gehen. Es hat sich nämlich eine andere Behörde an
mich gewendet um eine ähnhche Bestellung zu be-
sorgen. Die Zeichnungen Hegen bei mit einigen Be-
merkungen, welche hier nicht wiederhole.
Durch Hrn. Rath Grüner vernehme das Erwünschte
von Ew. Wohlgeb. und Familie. An einem glück-
lichen Erfolg der wohleingeleiteten Geschäfte kann
es freilich nicht fehlen. Ihr Hr. Sohn befindet sich in
England, als ein vorzüglicher Deutscher gewiss zu
seinem Vortheile, und so habe nur gute Gesundheit
und Fortsetzung solcher günstigen Umstände zu hoffen.
Hochachtungsvoll
Ew. Wohlgeb.
ergebenster Diener
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 9. JuU 1830.
r^l^Jff^
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V. Vermischtes
ZUR
Goethe - Forschung.
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I. GOETHE'S RECENSIONEN
IN DEN
Frankfurter gelehrten Anzeigen.
^ie Goethe-Forschung begann in ihrem ersten
frischen Eifer damit, Gedichte und Schrift-
stücke unbekannten Verfassers aufzuspüren,
die mit mehr oder weniger Wahrscheinlich-
keit Goethe'n zugeschrieben werden konnten
und ihm nun kurzweg zugeschrieben wurden; nachdem
man jedoch eingesehen hat, dass in diesem Eifer zu weit
gegangen worden war, hat sich eine nüchterne Kritik der
Ermittelung der Verfasserschaft Goethe's bemächtigt und
sie gelangt nunmehr umgekehrt dazu, den Goethe'schen
Namen selbst solchen Werken zu entreissen, die ihn jahr-
zehntelang selbst in den gesetzmässigen Ausgaben der
gesammten Schriften des Dichters geführt haben, ja, für
welche Goethe selbst sich als Verfasser bekannt hat.
Dieser Wandel in der Richtung der Goethe-Forschung hat
sich insbesondre auch in Bezug auf die Recensionen in
den Frankfurter gelehrten Anzeigen her\'orgethan : früher
hatte man nur solche ermittelt, die als von Goethe ge-
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3l6 Vermischtes zur Goethe-Forschuxg.
schrieben gelten durften, obwol sie in der Ausgabe der
Werke letzter Hand fehlten, während ich mir zuerst in
der Einführung zum 27. Theil der Hempelschen Ausgabe
(1873) Zweifel zu erheben erlaubte, ob gegentheils in
der That alle in die Werke aufgenommenen Recensionen
von Goethe herrührten. Meine Ansichten habe ich dann
im 4. Band des Archivs für Literaturgeschichte (1874)
weiter ausgeführt, ohne jedoch zu erlangen, dass Lite-
raturkundige auf meine Beweisführung näher einge-
gangen wären; wenigstens sind mir nur flüchtig darüber
hinschlüpfende Gegenäusserungen zu Augen und Ohren
gekommen. Je fester aber meine Überzeugung begründet
ist, dass hier noch aufzuräumen sei, um so mehr muss
ich mich bestimmt finden, die Frage noch erschöpfender
und zwar nach beiden Richtungen hin zu behandeln, also
zu erörtern, welche Recensionen in den Frankfurter ge-
lehrten Anzeigen, auch wenn sie nicht in den Werken
befindlich, Goethe'n zuzuschreiben, und welche ihm zuge-
schriebene ihm abzuerkennen seien.
Die Frage ist jedenfalls von Wichtigkeit und es ist
dem trefflichen Erklärer von »Dichtung und Wahrheit«
gewiss nur in einem unbewachten Augenblick die Äusse-
rung entwischt, dass die genaue Ermittlung des Goethe'schen
Antheils an jenem Blatte nicht von erhebUchem literarischen
Interesse sei ! Von wie hervorragender Bedeutung im Gegen-
theil die Frage ist, ergiebt sich schon daraus, dass jene
Recensionen häufig als Belege für Goethe's damalige An-
sichten angeführt werden, wie sie denn unbedingt zu den
wichtigsten Zeugnissen seiner Geistesentwickelung gehören.
Dies erkennt auch z. B. Professor W. Scherer in dem Auf-
satz »Der junge Goethe als Journalist« (Deutsche Rund-
schau. V. Jahrg. Heft i) vollkommen an.
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GoETHE'S ReCENSIONEN IS D. F.^ANKF. GELEHRTEN ANZEIGEN. 3I7
Bei gegenwärtiger Untersuchung erscheint es der Über-
sichtlichkeit halber geboten, dasjenige was ich an den
obgedachten Orten schon früher darüber geschrieben habe,
hier zu wiederholen.
Die Untersuchung wird sich hierbei zu richten haben
auf Feststellung :
zunächst dessen, was über Goethe's Antheil an den
Frankfurter gelehrten Anzeigen im allgemeinen bekannt ist;
sodann derjenigen Umstände, welche bei der Aufnahme
der fraglichen Recensionen in die Werke leiteten;
ferner der Kennzeichen der Goethe'schen Recensionen
im allgemeinen;
endlich der Verfasserschaft bezüglich der einzelnen
Recensionen.
Goethe berichtet selbst über seine Betheiligung an
dem Recensionsuntemehmen im zwölften Buch von »Dich-
tung und Wahrheit« (1813) folgendes: »Merck, bald aesthe-
tisch, bald literarisch, bald kaufmännisch thätig, hatte den
wohldenkenden, unterrichteten, in so vielen Fächern kennt-
nissreichen Schlosser angeregt, die Frankfurter ge-
lehrten Anzeigen in diesem Jahr herauszugeben. Sie
hatten sich Höpfner'n und andere Akademiker in Giessen,
in Darmstadt einen verdienten Schulmann, Rector Wenck,
und sonst manchen wackeren Mann zugesellt. Jeder hatte
in seinem Fach historische und theoretische Kenntnisse
genug, und der Zeitsinn liess diese Männer nach Einem
Sinne wirken. Die zwei ersten Jahrgänge dieser Zeitung
(denn nachher kam sie in andere Hände) geben ein wun-
dersames Zeugniss, wie ausgebreitet die Einsicht, wie rein
die Übersicht, wie redlich der Wille der Mitarbeiter ge-
wesen. Das Humane und Weltbürgerliche wird befördert,
wackere und mit Recht berühmte Männer werden gegen
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3l8 Vermischtes zur Goethe-Forschuxg.
Zudringlichkeit aller Art geschützt; man nimmt sich ihrer
an gegen Feinde, besonders auch gegen Schüler, die das
Überlieferte nun zum Schaden ihrer Lehrer missbrauchen.
Am interessantesten sind beinah die Recensionen über
andere Zeitschriften : die Berliner Bibliothek, den Teutschen
Merkur, wo man die Billigkeit mit Recht bewundert. —
Was mich betrifft, so sahen sie wol ein, dass mir nicht
mehr als alles zum eigentlichen Recensenten fehlte. Mein
historisches Wissen hing nicht zusammen; die Geschichte
der Welt, der Wissenschaften, der Literatur hatte mich
nur epochenweis, die Gegenstände selbst aber nur theil-
und massenweis angezogen. Die Möglichkeit mir die Dinge
auch ausser ihrem Zusammenhange lebendig zu machen
und zu vergegenwärtigen, setzte mich in den Fall, in
einem Jahrhundert in einer Abtheilung der Wissenschaft
völlig zu Hause zu sein, ohne dass ich weder von dem
Vorhergehenden noch von dem Nachfolgenden irgend
unterrichtet gewesen w^äre. Ebenso war ein gewisser
theoretisch-praktischer Sinn in mir aufgegangen, dass ich
von den Dingen mehr wie sie sein sollten, als wie sie
waren Rechenschaft geben konnte, ohne eigentlichen phi-
losophischen Zusammenhang aber sprungweise treffend.
Hiezu kam eine sehr leichte Fassungskraft und ein freund-
liches Aufnehmen der Meinungen anderer, wenn sie nur
nicht mit meinen Überzeugungen in geradem Widerspruch
standen. — Jener literarische Verein ward überdies durch
eine lebhafte Correspondenz und bei der Nähe der Ort-
schaften durch öftere persönliche Unterhaltungen begün-
stigt. Wer das Buch zuerst gelesen hatte, der referirte,
manchmal fand sich ein Correferent; die Angelegenheit
ward besprochen, an verwandte angeknüpft, und hatte sich
zuletzt ein gew^isses Resultat ergeben, so übernahm Einer
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Goethe's Recensionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 319
die Redaction. Dadurch sind mehrere Recensionen so
tüchtig als lebhaft, so angenehm als befriedigend. Mir fiel
sehr oft die Rolle des Protokollführers zu ; meine Freunde
erlaubten mir auch innerhalb ihrer Arbeiten zu scherzen
und sodann bei Gegenständen, denen ich mich gewachsen
fühlte, die mir besonders am Herzen lagen, selbständig
aufzutreten. Vergebens würde ich unternehmen, darstellend
oder betrachtend den eigentUchen Geist und Sinn jener
Tage wieder hervorzurufen, wenn nicht die beiden Jahr-
gänge gedachter Zeitung mir die entschiedensten Docu-
mente selbst anböten. Auszüge von Stellen, an denen ich
mich wiedererkenne, mögen mit ähnHchen Aufsätzen künftig
am schicklichen Orte erscheinen.«
Von gleichzeitigen Zeugnissen über Goethe's Mit-
wirkung bei den Recensionsarbeiten liegen einige vor.
Das älteste stellt noch eine Mitwirkung in Abrede; es ist
enthalten in Goethe's Brief an Salzmann vom 3. Februar
1772, w^orin jener schreibt: »Mit den gelehrten Anzeigen
hab' ich keinen Zusammenhang, als dass ich den Director
[Merck] kenne und hochschätze und dass ein Mitinteressent
[Schlosser] mein besonderer Freund ist. Halten Sie sie ja;
keine in Deutschland wird ihr in Aufrichtigkeit, eigner
Empfindung und Gedanken vortreten. Die Gesellschaft ist
ansehnlich und vermehrt sich täglich.«
Aber ein wenige Tage darauf, am 8. Februar, ge-
schriebener Brief des Verlegers der Frankfurter gelehrten
Anzeigen, Deinet, an Raspe in Kassel, abgedruckt im
VI. Band des »Weimarischen Jahrbuchs für deutsche
Sprache etc.«, bezeichnet schon Goethe als Mitarbeiter;
denn nur er kann gemeint sein, wenn Deinet bei nament-
licher Aufführung der Recensenten für die verschiednen
Fächer wie beiläufig bemerkt: »im Gefach der schönen
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320 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
Wissenschaften ein Freund des Herrn Merck.« Den Namen
dieses — übrigens einzigen — Recensenten für genanntes
Fach gleich denen sämmtlichen übrigen Recensenten anzu-
geben, fand Deinet nicht der Mühe werth, weil damals
Goethe eben noch gar nicht gekannt war.
Nicht eher als am 8. JuH 1772 begegnen wir wieder
einer Äusserung über Goethe's Beziehungen zu den Heraus-
gebern der gelehrten Anzeigen ; denn offenbar auf sie geht
die Stelle in einem Brief Goethe's an Herder: »Von unsrer
Gemeinschaft der Heiligen sag' ich Euch nichts. Ich bin
vf6(pvTog und im Grund bisher nur neben allen herge-
gangen; mit Mercken bin ich fest verbündet, doch ist's
mehr gemeines Bedürfniss als Zweck.« Später spricht
Herder gegen Merck in einem Briefe, den der Heraus-
geber in den Oc tober 1772 setzt und von dem weiterhin
noch die Rede sein wird, ein allgemeines Urtheil über
Goethe's Recensionen aus und Höpfner nennt in einem
ebenfalls noch anzuführenden Brief an Raspe vom 19. Oc-
tober Goethe als Verfasser einiger Recensionen, nament-
Uch aber der über das Leben von Klotz und die Gedichte
eines polnischen Juden, von denen jene im Blatt vom
29. Mai, die andere im Blatt vom i. September 1772 steht;
bis zu diesem Tage fand also Höpfner keine Goethe'sche
Recension nennenswerth. Welches Gewicht später auf
Goethe's Theilnahme in den weitesten Kreisen gelegt
wurde, geht aus einem Briefe von Christian Felix Weisse
an Uz vom 28. December 1772 herv^or, worin es heisst :
»Unfehlbar ist Herder nebst einem gewissen Gede Haupt-
verfasser« — nämlich der Recensionen der Frankfuner
gelehrten Anzeigen. (Morgenblatt, 1840. Nr. 293.)
Entgegengesetzt lauten, d. h. die Absage der Mit-
arbeiterschaft Goethe's bekunden die auf das Jahr 1773
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Goethe's RacENSiONEv IN D. Ffrankf. gelehrten^ Anzeigen. 321
bezüglichen Nachrichten. Zwar schrieb Deinet an Bahrdt
noch am i. December 1772 (»Briefe angesehner Gelehr-
ten etc. an etc. Dr. K. F. Bahrdt« II, 138), im Hinblick
auf den Jahrgang 1773 der gelehrten Anzeigen: »Herr
Schlosser wird nach Müsse mitarbeiten, dessgleichen Herr
Dr. Göthe« — druckfehlerhaft »Güthe« — ; aber letztrer
benahm dem Verleger bald diese Hoffnung, indem er in
der von ihm verfassten, den ersten Jahrgang der gelehrten
Anzeigen schliessenden »Nachrede« im Namen der Heraus-
geber erklärte, es werde ihr eifrigstes Bemühen sein, den
verschiednen gegen das Blatt erhobnen Beschwerden abzu-
helfen und hinzufügt : » w^elches um so viel mehr erleichtert
wnrd, da mit Ende dieses Jahrs diejenigen Recensenten, über
deren Arbeit die meiste Klage gewesen, ein Ende ihres
kritischen Lebens machen wollen.« Und dass Goethe sich
zu den Austretenden zählte, ergiebt sich aus seinem Brief
an Kestner, worin er sagt: »Da ist's denn zu Ende, unser
kritisches Streifen! In einer »Nachrede« hab' ich das
Publicum und den Verleger turlupinirt .... Wollt Ihr
aufs nächste Jahr noch versuchen, so sind's zwei gewagte
Gulden.« Mittelbar bestätigt den Austritt der am 20. Ja-
nuar 1773 in Wetzlar eingegangne Brief an Kestner in
den Worten : » . . . mir fällt ein. Euch . . . eine Zeitung
zu schicken, dass Ihr sehet, wie das gew^orden ist. Das
Publicum hier meint, der Ton habe sich nicht sehr
geändert.«
Deinet spricht sich in Briefen an Bahrdt gleicherweise
aus. So u. a. am 8. Januar 1773: »Das Publicum hält die
Abdication gewisser Männer, die im Ernste geschehen ist,
für eine Maske und diese Herren sind nun selbst so irre
gemacht, dass einer den andern in Verdacht hat.« Sodann
am 16. Januar: »Wenn der Ton der Zeitung 1773 wie
Digitized by VjOOQ IC
)22 Vermischtes zur Goethe-Forschcng.
anno 1772 fortdauerte, so, glaub' ich, hätte ich 100 Thaler
dabei verdienen können. Aber die Herren Recensenten,
die ihn empfohlen haben, haben zugleich die Welt hin
und her durch Sendschreiben versichert, dass die Zeitung
nicht fortgehen oder doch schlecht werden würde«.
(Briefe etc. an etc. Bahrdt, II, 142. 145.) •
Bedarf man weiterer Zeugnisse über das Ausscheiden
des Goethe'schen Freundeskreises aus der Mitarbeiterschaft,
so kann noch die Äusserung des mit diesem Kreise genau
bekannten Giessener Schmid angeführt werden, der in dem
von ihm herausgegebenen »Almanach der deutschen Musen
auf das Jahr 1774« Seite 25 f. mit Bezug auf erfahrne
Angriffe, deren Beschuldigungen wiederholend, sagt: »Der
vortreffliche I772ste Jahrgang der Frankfurter Zeitung,
der in seiner Art der einzige bleiben wird , ist aus
Schmeichelei von uns gelobt worden! da doch alle jene
Verfasser abgegangen sind und der sie gar nicht kennen
muss, der sie für bestechlich hält.«
Aus alledem sind nun die Folgerungen zu ziehen,
dass Goethe vor Mitte Februar 1772 überhaupt keinen
weitern Antheil an den gelehrten Anzeigen nahm, als den
Berathungen der Herausgeber beizuwohnen, etwa dabei
zu protokoUiren und vielleicht Zusätze zu den Recensionen
anderer zu schreiben, dass er ferner nach jenem Zeitpunct
im Fach der schönen Literatur selbständig aber bis zum
September 1772 nur spärHch auftrat, endlich aber mit
Ende 1772 seine Thätigkeit ganz wieder einstellte.
Betrachten wir nunmehr die Umstände, welche bei
Aufnahme der Frankfurter Recensionen Goethe's in dessen
Werke leiteten, so ist zunächst zu bemerken, dass aus
dem Verlagsgcschäft der Eichbergerschen Erben nichts zu
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Goethe's Receksionen in d. Fraxkf. gelehrten Anzeigen. 323
erholen gewesen sein würde. Der damalige Eigenthümer
desselben, Deinet, hatte mehrmals Ungelegenheiten wegen
der Ungebundenheit und Rücksichtslosigkeit der gelehrten
Anzeigen, wesshalb er alle Handschriften der Recensionen
vernichtet zu haben scheint, um die Ermittelung der
Verfasserschaft zu verhindern. So äusserte er z. B. am
16. Januar 1773 gegen Bahrdt : »Ich setze 100 Carolin
gegen die Handschrift einer Anzeige, woraus meine Blätter
sind gemacht worden; das ist mein Gesetz, mein
erstes und vornehmstes Gesetz, dass kein Recensent je
soll genannt noch gekannt w^erden.«
Goethe selbst behandelte die Recensionen der Frank-
furter Anzeigen mit dem Aufhören seiner Mitwirkung als
abgethan und sie kommen in seinen Schriften und Briefen
seit Januar 1773 nicht wieder zur Erwähnung bis im Brief
an Fritz Schlosser vom i. Februar 18 12, worin er schreibt:
»Wäre es möglich mir ein Exemplar der ersten Jahrgänge
der Frankfurter gelehrten Anzeigen, woran ich und Ihr
Oheim vielen Antheil gehabt, zu verschaffen? Sie sind
1772 herausgekommen und ich habe sie seit jenen Jahren
nicht wiedergesehen.« Dann am 31. März desselben Jahrs:
»An den zwei mir übersendeten Bänden Frankfurter ge-
lehrten Zeitungen erkenne ich wieder, wie nöthig mir sei
bei dem Unternehmen, von meinen frühem Jahren zu
sprechen, eine Sammlung von Documenten aus jener
Epoche; denn ausserdem möchte es bei dem aufrich-
tigsten Nachdenken schwer sein zu imaginiren und sich
wieder zu vergegenwärtigen, wie man gehaltlos, roh und
ungebildet mehr werth könne gewesen sein, als da man
sich gehaltvoll, ausgearbeitet und ausgebildet antrifft. Es
war überhaupt jenes eine wundersame Epoche, selbst nur
wie diese 2 Bände uns einen Begriff davon geben.«
21*
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324 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
Eine Folge der Erlangung dieser Zeitschrift war, was
Goethe in den »Tag- und Jahresheften« unter 181 3 mit-
theilt: »Zum Behuf meiner eignen Biographie zog ich aus
den Frankfurter gelehrten Zeitungen vom Jahr 1772 und
1773 die Recensionen aus, welche ganz oder zum Theil
mir gehörten.«
Später fasste Goethe die Aufnahme dieser Recensionen
in seine Werke ins Auge; Eckermann erzählt hierüber:
Goethe habe ihm am 11. Juni 1823 gesagt: »Sie finden
in diesen beiden Bänden die Frankfurter gelehrten An-
zeigen der Jahre 1772 und 1773, und zwar sind auch
darin fast (?) alle meine damals geschriebene kleine Re-
censionen. Diese sind nicht gezeichnet, doch da Sie meine
Art und Denkungsweise kennen, so werden Sie sie schon
aus den übrigen herausfinden .... Ich habe bereits Ab-
schriften nehmen lassen, die Sie dann später haben sollen,
um sie mit dem Original zu vergleichen.«
Erst 1826 trat etwas hierüber in die Öfl^entlichkeit,
als Eckermann sich im letzten Hefte des V. Bandes Ȇber
Kunst und Alterthum« über diese Recensionen in einem
Aufsatz äusserte, den Goethe mit einem Vorwort versah.
Waren darin auch nicht einzelne derselben besonders her-
vorgehoben, so ist doch auch nicht der leiseste Zweifel
an der Überzeugung von Goethe's Verfasserschaft bezüg-
lich gewisser Recensionen angedeutet. Im Jahr 1828 brachte
dann Nicolovius in seinem Buch »Über Goethe« schon
das Verzeichniss aller der Recensionen, welche dann 1830
im 33. Bande der Ausgabe letzter Hand der sämmtlichen
Werke Aufnahme finden sollten, mit dem einzigen Unter-
schied, dass er statt der ins Jahr 1772 fallenden Recension
der Bekehrungsgeschichte des Grafen Struensee von Munter
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Goethe's Recensionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 325
im Jahr 1773 die der Bekehrungsgeschichte des Grafen
Brandt von Hee anführte.
Als dann der 33. Band erschienen war, schrieb Goethe
am 3. Juli 1830 an Boisseree: »Ich empfehle Ihnen . . .
das 33. Bändchen der Recensionen. Ich komme mir selbst
darin oft wunderbar vor; denn ich erinnere mich ja nicht
mehr, dass ich diesem oder jenem Werke, dieser oder jener
Person zu seiner Zeit eine solche Aufmerksamkeit geschenkt ;
ich erfahre es nunmehr als eine entschiedene Neuigkeit und
freue mich nur über die honette, treue Weise, womit ich
früher oder später dergleichen Dinge genommen.«
Man muss gestehen, dass diese Mittheilungen über
die Zusammenstellung der Frankfurter Recensionen für
die Werke den Sachverhalt mehr verdunkeln als aufklären.
Goethe hat sich 40 Jahre lang nicht um diese Recensionen
bekümmert und verschreibt sich nach dieser Frist erst
die Bände der gelehrten Anzeigen, in dem sie stehen
sollen; er bekommt deren zwei zugeschickt und sucht
nun aus diesen beiden Bänden seine Arbeiten heraus,
obwol er ausdrücklich anerkennt, dass ihm die Gegen-
stände völlig fremd geworden sind. Es wäre daher um
so mehr zu verwundern gewesen, wenn er trotz alledem
beim Mangel äusseren Anhalts seine Arbeiten heraus-
gefunden hätte, als er bei den Vorbesprechungen über
die zu recensirenden Bücher mit beiräthig gewesen war,
ihm also die Arbeiten seiner Freunde damals zum Theil
so vertraut waren, wie seine eignen. Und dass Goethe
sich nach Verfluss mehrerer Jahre über das täuschen konnte,
was sein Werk war, das beweist z. B. jenes Lied »Im
Sommer«, das er schon 1815 in seine Werke nahm, ob-
wol jetzt kaum Jemand mehr darüber in Zweifel ist, dass
Johann Georg Jacobi es dichtete. Nichtsdestoweniger also
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326 Vermischtes zur Goethe-Forschukg.
bezeichnet Goethe 1823 diejenigen Recensionen, die er für
die scinigen hält, ist jedoch so vorsichtig durch Ecker-
mann die Probe darauf machen zu lassen. Wie diese
ausfiel, erfahren wir nicht, und man würde dabei Be-
ruhigung gefasst haben, dass Goethe selbst die den Werken
einzuverleibenden Recensionen bezeichnet hat, zumal er
in den »Tag- und Jahresheften« einräumte, dass darunter
sich solche befänden, die nur zum Theil ihm gehörten,
wenn sich nicht Beweise der dabei untergelaufnen Irr-
thümer aufgedrängt hätten. Denn nicht einmal mit der
letztgedachten Beschränkung der blossen Einmischung in
einzelne der aufgenommenen Recensionen lässt Goethe's
Antheil sich durchgängig aufrecht erhalten, sofern dies
immer auch mit der glaubw^ürdig festgestellten Thatsache
im Widerspruch stehen w^ürde, dass weder Goethe selbst
noch seine von ihm unterstützten literarischen Freunde
1773 noch für die gelehrten Anzeigen schrieben, während
noch acht Recensionen aus diesem Jahr in den Werken
zu lesen sind. Die insbesondere durch diesen letzten Um-
stand erweckte Überzeugung von der Unzuverlässigkeit
der Ausscheidung der wirkHch Goethe'schen Recensionen
gewährt die entschiedenste Berechtigung, die Ächtheit
aller von vorn herein in Zweifel zu ziehen und die schon
in Bezug auf einige derselben aufgetauchten Zw^eifel nach-
drücklicher zu betonen.
Diese Aufgabe der Kritik führt zu der Frage, ob es
allgemeine Kennzeichen giebt, an denen Goethe's Recen-
sionen zu erkennen sein möchten. Die Verschiedenheiten
des Stils im Allgemeinen werden schwerlich als sichere
Führer zur Ermittelung des Verfassers dienen können, we-
nigstens möchte ich nicht unternehmen auf dieses guten-
theils subjectiv bleibende Urtheil die Entscheidung in diesem
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Goethe's Recexsioxen im d. Fraxkf. gelehrten Anzeigen. 327
Falle zu gründen, wo die täglichen Besprechungen über
die vorliegenden Bücher im Goethe'schen Kreise auch ein
gegenseitiges Annähern der Schreibweise der einzelnen
Theilnehmer zur Folge 'haben konnte. Auch diejenigen
Merkmale der Recensionen der ausscheidenden Kritiker,
welche Goethe in der Nachrede zum Jahrgang 1772 der
gelehrten Anzeigen giebt, können nicht als Wegweiser
dienen, weil Goethe dabei nicht ledigUch seine eignen,
sondern die Recensionen des ganzen ausscheidenden
Freundeskreises kennzeichnet. Wir haben indessen eine
Äusserung Herder's in einem vom Herausgeber in den
October 1772 gesetzten Brief an Merck (Briefe an Joh.
Heinr. Merck von Goethe, Herder etc. herausgegeben von
K. Wagner. S. 37), lautend: »In Ihrer Zeitung sind Sie
immer Sokrates-Addison, Goethe meistens ein junger über-
müthiger Lord mit entsetzHch scharrenden Hahnenfüssen,
und wenn ich einmal komme, so ist's der irländische
Dechant mit der Peitsche.»
Der lordmässige Übermuth wird nun zwar ebenfalls
schwer als unterscheidendes Merkmal leiten können, da
auch die seitens andrer Mitarbeiter geschriebenen Beur-
theilungen absprechend und keck waren, eher dürfen aber
die »entsetzlich scharrenden Hahnenfüsse« als eine Eigen-
thümlichkeit Goethe's betrachtet werden, die sich sofort
ergiebt, wenn wir die unbestritten von Goethe herrühren-
den Recensionen ansehen. Als unbezweifelbar Goethisch
können freilich nur die zwei gelten, welche Höpfner im
Brief an Raspe vom 19. October 1772 (Weimarisches Jahr-
buch f. deutsche Sprache etc. III, 66) als solche nennt:
die von »Leben und Charakter Herrn Klotzens« und von
»Gedichte eines polnischen Juden«. Vergleichen wnr aber
diese Recensionen mit denen, die uns als von Goethe
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328 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
nicht herrührend beglaubigt sind und als welche — wie
weiter unten zu begründen ist — jene der »Allgemeinen
Theorie der schönen Künste«, »Über den Werth einiger
deutschen Dichter«, der »Aussichten in die Ewigkeit« und
der »Predigten über das Buch Jonas«, ganz abgesehen
von allen übrigen des Jahrs 1773 hervorzuheben sind, so
zeigt ein Blick, dass eine unverhältnissmässige Menge von
Ausrufungs- und Fragezeichen offenbar die von Herder so
genannten »entsetzHch scharrenden Hahnefüsse« sind. Und
sie finden sich allerdings in einer Anzahl von Recensionen,
die man auch ihrem Gehalte nach für Arbeiten Goethe's
zu halten nicht zu beanstanden hat.
Bis hierher haben wir uns nun den Apparat zurecht-
gelegt, um uns von einem allgemeinen Standpunkt aus zu
Behandlung der \'erfasserschaftsfrage zu befähigen ; wir
gehen nun zu Betrachtung der ein^lnen in der Ausgabe
letzter Hand der Werke aufgenommenen Recensionen über.
I.Allgemeine Theorie der schönen Künste etc.
von Sulz er. Ohne alle besonderen Gründe hätte man
bezweifeln können und sollen, dass diese Recension von
Goethe ausgegangen sei. Er, von dem die Freunde fan-
den, dass ihm nicht mehr als alles zum Recensenten fehlte
und dem sie anfangs nur erlaubten, innerhalb ihrer Ar-
beiten zu scherzen und sodann bei Gegenständen, denen
er gewachsen war und die ihm besonders am Herzen
hlgen, selbständig aufzutreten, er sollte schon wenige
Wochen nach Gründung des Blattes die Beurtheilung eines
der wichtigsten theoretischen Werke jener Zeit zugestanden
erhalten haben! Er, der noch am 3. Februar allen Antheil
an dem Blatte leugnete, sollte die bereits am 11. desselben
Monats erschienene, von sorgsamer Durcharbeitung zeu-
genden Recensionen über Sulzer's Theorie verfasst haben!
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Goethe's Recensionex in d. Frankf. gelehrten Anzeigen. 329
Femer sind es aber auch verschiedne Einzelheiten, die uns
bei dem Goethe von 1772 befremden müssten. Hatte
Goethe zu jener Zeit schon solche \^ertrautheit mit der
Theorie der Künste erworben, wie Recensent sie verräth?
Sollte er damals Arbeiten unternommen gehabt haben, die
ihn zu sagen berechtigten: er wisse aus Erfahrung, wie
undankbar es sei, in einer nach Epochen abgetheilten
Abhandlung über die Kunst das Portrait eines grossen
Mannes an das andre zu stellen? Hatte Goethe 1772 eine
so gute Meinung von Wieland, wie sie am Schluss der
Recension an den Tag kommt?
Aber es bedarf aller solcher aus allgemeinen Gründen
hergeleiteten Bedenken nicht, da ganz bestimmte Zeug-
nisse vorliegen, dass Sulzer*s Wörterbuch nicht von Goethe
beurtheilt worden ist. Zuerst ist auf den schon erwähnten
Brief Deinet's an Raspe vom 8. Februar 1772 Bezug zu
nehmen. Ersterer zählt darin mehrere Personen auf, die
als Recensenten gewonnen sind, darunter manche ziemlich
unbedeutende, und zwar Merck, Wenck, Waldin, Bahrdt,
Lebret, Leichsenring, Schlosser, Olenschlager, Iselin. Goethe
war zwar damals auch schon angeworben, aber er, der bis
dahin ausser den ohne seinen Namen erschienenen, von
Breitkopf componirten Liedern noch nichts in die Öffent-
lichkeit gebracht hatte, also in der Literatur vöUig unbe-
kannt war, wird ohne Namen lediglich als »ein Freund
Merck's « aufgeführt. Li demselben Brief heisst es weiter-
hin: »Das nächste 12. Stück enthält die Beurtheilung von
Sulzer's Theorie. Sie werden den Maler an den feinen
Zügen erkennen. Das Stück ist einzig.« — Und damit
sollte Goethe gemeint sein?! Er, den Deinet nicht einmal
zu nennen für nöthig hielt ? den fo'gUch Raspe auch sonst
nicht kannte? Was war es für eine Schrift Goethe's, an
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330 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
der er als der Maler feiner Züge erkannt werden konnte?
Zuverlässig: keipe! Wer aber dieser Maler war, sagt
Merck in einem Brief an Höpfner aus dieser Zeit (Briefe
aus dem Freundeskreise von Goethe, Herder etc., heraus-
gegeben von Wagner S. 54) in den Worten : »Bei Geliert's
Werth und Sulzer's Theorie gedenken Sie an Ihren Freund
M. « *) Wenn Hirzel in seinem » Verzeichniss einer Goethe-
Bibliothek« für mögHch hielt, dies anders zu deuten, als
dass Merck der Verfasser dieser Recensionen sei, so wird
man doch zugeben, dass diese — unerklärte — andere
Deutung eine sehr gezwungne sein müsste. Steht viel-
mehr nach allem Dargelegten Merck als Recensent von
Sulzer's Theorie der Künste fest, so stimmt damit auch
die Bewunderung Wieland's überein, mit dem Merck da-
mals schon wegen der Theilnahme am »Teutschen Merkur«
in Beziehung getreten war, worüber ausser zahlreichen
andern Briefen auch der vorgedachte an Höpfner und der
fernere Brief Merck's an Nicolai vom 2. April 1772 (a. a. O.
S. 56) nachgelesen werden kann. Und Merck war es auch,
der schon 1772 durch kritische Arbeiten, namentlich für
die »Allgemeine deutsche Bibliothek« die »Erfahrung«
hatte machen können, »wie undankbar es sei, in einer
nach Epochen abgetheilten Abhandlung über die Kunst
das Portrait eines grossen Mannes an das andre zu stellen «
— wie es in jener Reccnsion über Sulzer's Theorie heisst.
Diese Recension wird aber auch nicht einmal für eine
solche zu halten sein, in welche Goethe seine Scherze
hineintrug. Sie ist aus Einem Guss und nichts Scherzhaftes
darin. Fragt man nun, wie Goethe demungeachtet dazu
*) Lfctztre Reccnsion nussnul Nicohi fehr, nach Brief an Joh. Müller v. i6. Mirz 1775.
(Briefe jn Joh, v. Müller. Herius?;egcbcn von Maurer, Constant. IV*, 62.)
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Goethe's Recensiomem i\ d. Fran'kf. gelehrten Anzeigen. 331
gekommen sein mochte, dieselbe als sein Eigenthum in
Anspruch zu nehmen, so lässt sich wol antworten, dass
der nachhaltige Eindruck, den das Werk auf ihn hervor-
gebracht und der häufige Gebrauch, den er von dem-
selben gemacht hatte, es ihm später als selbstverständlich
erscheinen Hess, dass er dasselbe auch in den gelehrten
Anzeigen werde besprochen haben. Vielleicht veranlasste
aber auch ein zufälliger Umstand den Irrthum. In dem
1815 in Zürich erschienenen 3. Bande der »Ausgewählten
Briefe von C. M. Wieland« ist ein Brief an Jacobi vom
18. Februar 1772*) abgedruckt, in welchem (S. 26) Wie-
land sich über die scharfe Kritik des Sulzer'schen Wörter-
buchs freut und ausruft: »Ich möchte wol wissen, w^er
die Recension gemacht hat!« Dazu hat der Herausgeber
die Anmerkung gesetzt: »Wahrscheinlich Goethe.« Mög-
licherweise hat diese Vermuthung bei Goethe oder Ecker-
mann Anerkennung gefunden und ihn ebenso zu Auf-
nahme der fraglichen Recension in die Werke bewogen,
wie Himburg's Vorgang die Aufnahme von Jacobi's »Im
Sommer. «
2. Geschichte des Fräuleins von Sternheim.
Herausgegeben von Wieland. Die besondern Kenn-
zeichen Goethe's fehlen und ein andrer negativer Grund
spricht auch noch gegen dessen Verfasserschaft. Allgemein
w^ar man nämlich über Wieland's Haltung als Herausgeber
des Romans der Frau von La Roche erzürnt und Goethe,
der überhaupt längst nicht mehr gut auf Wieland zu
sprechen w^ar, würde diesem Missfallen unbedingt Aus-
druck gegeben haben. Und in der That lässt Lenz in
seinem Pandaemonium Germanicum den auftretenden
*) Selbstverständlich nicht 1771, wie dort steht.
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332 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
Goethe in die heftigsten Vorwürfe gegen Wieland wegen
nicht gehöriger Würdigung des von ihm durch eine scliul-
meisternde Vorrede eingeführten Romans ausbrechen. Es
unterUegt aber ebensowenig einem Zw^eifel, dass Lenz
Goethe's wirkHche Ansichten wiedergab, wue dass Goethe
Wieland nicht geschont haben würde, wenn er »Fräulein
von Stern heim« recensirt hätte, während z. B. Merck, der
Mitarbeiter am »Teutschen Merkur« dazu genöthigt war.
Auch bei dieser Recension lässt sich annehmen, dass Goethe
sie nachmals darum für die seinige ansah, weil er es bei
seinem späteren freundschaftlichen Verhältniss zu Frau v.
La Roche für wahrscheinlich hielt, dass er die Besprechung
ihres Romans selbst übernommen haben würde. Dagegen
ist aber zu erinnern, dass er die Freundin wol erst zwei
Monate nach dem Erscheinen jener Recension kennen
lernte, eine Thatsache, die er aber ebenso übersehen
konnte, wie er viele andere Verwechslungen der Zeiten in
seinen spätem Lebenserinnerungen sich zu Schulden kom-
men liess.
3. Über den Wer.th einiger deutschen
Dichter. Merck schrieb in dem schon angeführten Brief
an Höpfner: »Bei Geliert's Werth . . . gedenken Sie an
Ihren Freund M.« Schon oben ist bemerkt, dass es nur
durch Sinnverdrehung möglich ist in diesen Worten etwas
anderes zu finden, als ein Bekenntniss der eignen Ver-
fasserschaft von Seiten Merck's; Gellerts Werth ist aber
der Hauptgegenstand dieser Recension.
Indessen haben wir hier jedenfalls eine der Recen-
sionen, an denen Goethe mitarbeitete. Fassen wir dieselbe
näher in's Auge, so zeigt sich, dass darin eine dreifache
Schätzung Geliert's vorkommt. Die Verfasser des Buchs
— Mauvillon und Unzer — erklären Geliert für einen
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Goethe's Recensionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 333
mittelmässigen Dichter. Schon das ist dem Hauptrecen-
senten zu hart: er stellt ihn zwar nicht auf die höchste
Stufe, erklärt ihn aber für einen angenehmen, vernünf-
tigen, guten Dichter. Ein Zwischenredner, von dem *die
Stelle »Er war nichts mehr als ein Bei esprit« bis
»nichts von diesen Männern zu sagen « herrührt, geht aber
in der Herabsetzung Geliert's noch weiter als selbst
der Verfasser des Buchs ; er lässt Geliert überhaupt
nicht als Dichter gelten. Dass dieses Urtheil von Goethe
herrührt, ist um so gewisser, als von sänimtlichen Mit-
arbeitern an den gelehrten Anzeigen nur er die Bedeu-
tung eines wahren Dichters zu erkennen verstand und als
überdies wol auch nur er vermochte als »Zeuge« zu ver-
sichern, dass Geliert in seinen »Vorlesungen die Unfähig-
keit des Erfassens wahrer Dichtkunst offenkundig ge-
macht hatte.
Dieser Einschub ist so in Widerspruch mit der übrigen
Recension, dass es kaum durch die bisher unerschütterte
Überzeugung von Goethe's Eigenthum begreiflich wird,
wie man bisher darüber hingehen konnte.
4. Empfindsame Reisen durch Deutschland
von S(chummel). Hier liegt nicht nur kein Grund
vor, die Feder Goethe's in Zweifel zu ziehn, sondern es
ist wol nur ihm, dem begeisterten Shakespeareverehrer,
die Anspielung auf Hamlet's Ausruf, mit dem die Recen-
sion beginnt, zuzutrauen : Alas the poor Yorick ! Das
könnte ausser Goethe nur noch Herder geschrieben haben,
als dessen Recension wir jedoch diese nicht anzunehmen
haben.
5. Gedanken über eine alte Aufschrift (von
Wieland). Der Mangel aller »Hahnenfüsse« allein dürfte
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33-j Vermischtes zur Goethe-Forschung.
vielleicht nicht für ausreichend angesehen werden, Goethe'n
diese Recension abzusprechen, da sie einmal in den
Werken steht.
6. Die Jägerin, ein Gedicht (von Kretsch-
mann) kann um so unbedenklicher Goethe belassen wer-
den, als die hier ausgesprochnen Ansichten über Kretsch-
mann's Bardendichtung mit den in Goethe's Brief an
Friederike Oeser vom 13. Februar 1769 kundgegebenen in
Einklang stehn.
7. Briefe über die wichtigsten Wahrheiten
der Offenbarung (von Haller). Dürfte kaum von Goethe
sein; wenn sich darin auch seine Denkweise wiederspiegelt,
so ist doch die Schreibweise zu steif, zu frei von den Ge-
dankensprüngen und den übermüthig hingeworfnen Aus-
sprüchen des »jungen Lords.« Dagegen sind
8. Neue Schauspiele, aufgeführt etc. zu
Wien ganz in dessen uns sonst bekannter Weise be-
sprochen.
9. Braun's Versuch in prosaischen Fabeln
und Erzählungen ist aber wieder aus den gleichen
Gründen wie Haller's Briefe unter 7 Goethe*n abzusprechen.
10. Über die Liebe des Vaterlandes, von
J. V. Sonnenfels. Hier blühen wieder die »Hahnen-
füsse«; ebenso in der Recension von
11. Leben und Charakter etc. Klotzen's,
entworfen von Hausen. Diese ist aber ausserdem
noch eine der beiden einzigen Recensionen, welche als
Goethesche ausdrücklich bezeugt sind, indem Höpfner am
19. October 1772 an Raspe schreibt: »Goethe ... ist
Doctor juris in Frankfurt und hat unter andern Ihres
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Goethe's Receksionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 335
Freundes Klotz Leben par Mons. Hausen, auch den polni-
schen Juden in der Frankfurter Zeitung recensirt. «
(Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache etc. III., 66,)
12. Lyrische Gedichte von Blum. Zu nüchtern,
um für ein Werk Goethe's gelten zu können. Unmöglich
ist wol für Goethe namentlich die Stelle: »Warum sind
die Gedichte der alten Skalden und Gelten und der alten
Griechen, selbst der Morgenländer so stark, so feurig, so
gross? Die Natur trieb sie zum Singen, wie den Vogel in
der Luft. Uns — wir könne n's uns nicht verbergen
— uns treibt ein gemacht Gef ühl ... und darum
sind unsere besten Lieder, einige wenige ausge-
nommen, nur nachgeahmte Kopien.« Oder der
Schluss : »Der beste Dichter artet aus, wenn er
bei seiner Composition an's PubHkum denkt.« Allerdings
dachte Goethe selbst bei seinem Dichten nie an's Publi-
kum; aber er würde nie geglaubt haben »auszuarten«,
wenn er es thäte.
13. Eden etc. von Bahr dt.*) Obschon metho-
discher gehalten, als die meisten andern Recensionen
Goethe's, so entspricht doch diese Entwickelung der aus
»Zwo wichtige biblische Fragen « uns bekannten ; der Ernst
des Gegenstandes bestimmte den abweichenden Stil.
14. Lobrede auf Her rn F. K. C. v. Creuz —
mag allenfalls, weil einmal in Goethe's Werke gekommen —
darin bleiben.
•) Wenn in der Anmerkung S. 32 des 27. Theils der Hcmpel'schen Ausgabe von
Goethe's Werken gesagt ist, Bahrdt führe »Eden« nicht unter seinen Schriften auf, so ist
dies nicht richtig, er bringt es nur unter der falschen Jahreszahl 1774.
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336 Vermischtes zur Goethe-Forschuxg.
15. Gedichte von einem polnischen Jude n.
Durch vorgedachten Brief Höpfner's vom 19. October 1772
als Werk Goethe's beglaubigt, aber ebenso durch seinen
Inhalt, durch die Schilderung der Ideale eines Jünglings
und eines Mädchens, letztere zweifellos Lotte Buff, jener
Goethe selbst. (Irgend Jemand fand darin Herder!)
16. Bekehrungsgeschichte des vormaligen
Grafen Struensee. Von Munter — ist ganz in dem
milden Sinne des bald darauf erschienenen »Brief des
Pastors zu ***« geschrieben. Goethe scheint sich beim
Ausziehen seiner Arbeiten aus den Frankfurter gelehrten
Anzeigen genau der Besprechung einer solchen Bekehrungs-
geschichte erinnert und nur zuerst irrthümlich die »Be-
kehrungsgeschichte des Grafen Brandt«, im Blatt vom
2. JuH 1773 recensirt, angemerkt, später aber jene erste
Recension als die seinige erkannt zu haben.
17. Schreiben über den Homer. Von Sey-
b o 1 d. Offenbar Goethisch ; desgleichen
18. Die erleuchteten Zeiten, sowie
19. Franken zur griechischen Literatur und
20. Cymbeline, etc. nach etc. Shakespeare.
21. Zwei schöne neue Märlein (von Zachariä).
ObschonGoethe*n kaum unbekannt geblieben sein konnte, dass
Zachariä der Dichter dieser Märlein war und es desshalb
auffällt, dass er diesen hier so scharf angegriffen haben
sollte, nachdem er ihn wenige Jahre zuvor so begeistert
angesungen hatte, so ist das doch nicht Grund genug,
diese Recension den Werken Goethe's wneder zu entziehen.
22. Der goldene Spiegel (von Wieland). Das
Ganze ist zu philisterhaft, als dass man Goethe darin
wiederfinden möchte.
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Goethe's Recensionex in d. Frankf. gelehrten Anzeigen. 337
53. Charakteristik der vornehmsten euro-
päischen Nationen lässt Goethe nicht verkennen.
24. Aussichten in die Ewigkeit (von Lavater).
Die Recension ist wahrscheinUch von Bahrdt. Sie steht
zwar schon im Blatt vom 3. November 1772 und erst am
30. December schreibt Deinet dem Genannten: »Mit La-
vatern würden sie ghmpflicher umgehen, wenn Sie wüssten,
dass der Mann bei der erhitztesten Einbildungskraft das
wärmste Herz für seine Freunde hat, unter die ich auch
gehöre.« Allein einerseits steht zwischen jener Recension
und diesem Brief nichts über Lavater, als eine kurze An-
zeige des zweiten Stücks »von der Physiognomik« und
der Vorw^urf des nicht glimpflichen Umgehens mit dem-
selben passt auch ganz auf die Beurtheilung der »Aus-
sichten in die Ewigkeit«, während andrerseits Goethe
weit mehr mit Lavater's Auffassung des Christenthums
übereinstimmte, als der Recensent.
Nun hatte zwar Lavater in einem gedruckten Brief
an Zimmermann vom 4. Mai 1773 den Verfasser dieser
Recension genannt, allein im Druck ist der Name nicht
wiedergegeben, sondern statt desselben ein N. gesetzt
w^orden. Er schrieb: »Die Recension des 3. Theils der
Aussichten in den Frankfurter gelehrten Anzeigen halte
ich für eine der besten, die gemacht sind. Unfehlbar werde
ich mir Erinnerungen daraus zu Nutze machen; aber dass
der Recensent den Zweck dieser Briefe durchaus und so
sehr wie mögUch verfehlt, ist so klar als zweimal zwei vier.
Er ist nicht Herder, sondern N., der auch Gessner's Idyllen
recensirt hat. Ich erwarte ihn bald in Zürich. Unstreitig
wird seine Bekanntschaft mir unendlich vortheilhaft sein.«
War Lavater gut unterrichtet — und nur in diesem
Falle ist es überhaupt der Mühe werth von der ange-
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338 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
führten Briefstelle zu reden — so geht daraus zunächst
mit Gewissheit so viel hervor, dass die Recensionen in
Goethe*s Werken nicht massgebend sein können für Be-
stimmung seines Antheils an den Recensionen der ge-
lehrten Anzeigen, da die der »Moralischen Erzählungen
und Idyllen von Diderot und S. Gessner« eben nicht in die
Werke aufgenommen ist. Nun stellt sich aber sogar merk-
würdigerweise heraus, dass wir Gründe haben zwar die
Recension der »Aussichten in die Ewigkeit« Goethe'n ab-
zusprechen, dagegen die der Gessner'schen Idyllen ihm
zuzuschreiben.
Allerdings ist es wahr, dass die von Lavater erwartete
Reise des Recensenten nach Zürich auf Goethe gedeutet
werden kann, wie v. Loeper in den Anmerkungen zum
3. Theil der Hempel'schen Ausgabe von »Dichtung und
Wahrheit« S. 348 f. bemerkt hat, und wir w^ollen selbst
nicht hoch anrechnen, dass Goethe bereits an dem zwischen
dem 4. und 9. April 1773 an Kestner geschriebenen Brief
— also 4 Wochen vor jenem Brief Lavater's — erklärte,
er gehe nicht in die Schweiz, weil andrerseits Merck
noch am 14. Februar 1774 für nöthig fand seiner Frau
mitzutheilen, dass Goethe die Reise in die Schweiz unter-
lassen werde. (Briefe aus dem Freundeskreise von Goethe,
Herder etc., herausgegeben von L. Wagner, S. 88.) Aber
nach den Briefen der Caroline Flachsland an Herder von
Mitte Juni und vom 5. December 1772 (Aus Herder's
Nachlass, III, 285 f. 386) sollte Goethe nur mit Merck
reisen, also auch dieser konnte der von Lavater in Zürich
Erwartete sein und Merck konnte sehr w^ohl als der Ver-
fasser jener Recensionen gelten, sofern sie wenigstens zum
Theil aus seinem Kreise hervorgegangen waren und er
namentlich Goethe, wie wir aus Deinet's Brief an Raspe
Digitized by VjOOQ IC
Goethe's Recensionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 339
wissen, mit in's Schlepptau nahm. Hiernach ist man aber
bereciitigt anzunehmen, dass Lavater eben nicht genau
unterriclnct war, wie denn überiiaupt auf jene briefliche
Äusserung mit dem räthselhaften N. schlechthin nichts zu
geben ist. Schwerlich konnte freilich Lavater Bahrdt,
w^enn dieser der Verfasser war, darunter verstehen; denn
obw^ol Lavater bereits über den 1763 von Bahrdt heraus-
gegebenen »Christ in der Einsamkeit« an diesen schrieb,
und dann später Bahrdt im Philantropin zu Marschlins
besuchte, also wol aufmerksam auf ihn geworden war und
ihn von Person kennen zu lernen schon früher gew^ünscht
haben mochte, so ist mir doch nicht bekannt, dass Bahrdt
vor der erst 1775 erfolgten Berufung durch v. Salis eine
Reise in die Schweiz geplant gehabt habe.
Sehr unwahrscheinlich ist aber an sich, dass Lavater
bei dem N. an Goethe gedacht haben könnte. Zwar hatte
Letztrer damals schon Schriften veröffentlicht, welche auch
Lavater's Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, so na-
mentlich »Von deutscher Baukunst« und »Brief des Pastors
zu *** etc.«; beide nennt und preist auch Lavater in den
»Unveränderten Fragmenten aus dem Tagebuch eines
Beobachters seiner selbst« (1773), worin jener Brief an
Zimmermann vom 4. Mai 1773 steht; aber daraus folgt
gar nichts zu Gunsten der Deutung des N. als »Goethe.«
Denn entweder wusste Lavater, dass Goethe der Verfasser
jener Schriften war, dann ist es unerklärUch, warum er
bei Erw^ähnung der Recension der »Aussichten« weder
Goethe nennt oder doch durch den richtigen Anfangs-
buchstaben bezeichnet, wie mehrere andere Personen in
den Fragmenten, noch auch die Recension mit dem Ver-
fasser jener Schriften irgendwie in Beziehung bringt.
Wusste dagegen andernfalls Lavater nicht, dass Goethe
Digitized by VjOOQ IC
340 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
die genannten Schriften verfasst hatte, so war derselbe
überhaupt noch nichts für ihn und es gebrach ihm an
allem Grund zu sagen, dass er sich von seiner Bekannt-
schaft Vortheil verspreche. Es kann daher nur wiederholt
werden : jene Briefstelle aus Lavaters »Fragmenten« ist so
zweifelhaften Sinns, dass sie als gar nicht vorhanden be-
handelt werden muss.
Dass Goethe sich Lavater'n als Verfasser der Recen-
sion zu erkennen gegeben habe, wie in »Freundesbilder
aus Goethe's Jugendzeit« S. 12 angenommen wird, ist
Düntzer'sche Fiction und im Gegentheil als zweifellos an-
zusehen, dass die beiden sich im Mai 1773 persönlich
noch vöUig fremd waren; denn noch am 4. November 1773
schreibt Lavater an Herder: »Goethe hat mir seinen Götz
von Berlichingen geschickt. Ich lass ihn durch Deinet um
sein Portrait bitten. Es scheint, dass wir näher zusammen-
kommen werden.« (»Aus Herder's Nachlass« 11, 70.)
Wenn es also im November nur erst schien, dass beide
näher zusammenkommen würden, wenn damals noch La-
vater sich Deinet's als Mittler bediente, um Goethe's Bild-
niss zu erbitten, so ist es nicht denkbar, dass schon im
Mai eine vertrauUche Annäherung unter ihnen stattge-
funden gehabt habe.
Was die Aufnahme der streitigen Recension in Goethe's
Werke veranlasst hat, mag wie anderwärts die Erinnerung
an den Antheil gewesen sein, den Goethe einst an La-
vater's Schrift genommen hatte, so dass er späterhin es
wahrscheinlich fand, ihrer Recension sich selbst unter-
zogen gehabt zu haben. Möglicherweise hat er aber auch
die beiden letzten Absätze der Recension geschrieben, die
gewiss von einem andern Verfasser als deren Haupttheil
herrühren. Während dieselbe grösstentheils den Inhalt der
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Goethe's Recensionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 34 1
Briefe über die »Aussichten in die Ewigkeit« betrifft, be-
zieht sich jener Schluss auf das von Lavater erst beab-
sichtigte Gedicht über die künftige Welt und es weht ein
dichterischer Geist in dem darüber Gesagten. Wenn diese
Schlussworte nun überdies sich mehr anerkennend über
Lavater aussprechen, als die übrige Recension, so mag
Goethe durch Deinet zu dem Zusatz veranlasst worden
sein, um die gerügte Schärfe Bahrdt's in der Beurtheilung
Lavater's etwas zu mildem. Über diesen Zusatz mag sich
dann Bahrdt wol gegen Deinet ausgesprochen und da-
durch dessen obgedachte Äusserung im Brief vom 30. De-
cember 1772 her\'orgerufen haben.
25. Musenalmanach. Göttingen 1773. Viel
zu nüchtern für Goethe. Durch die Erinnerungen an seinen
damaligen Verkehr mit dem Herausgeber Boie und an seine
Beiträge zu dem Musenalmanach mag Goethe sich haben
verleiten lassen , diese Recension für sein Werk zu halten.
26. Die schönen Künste etc. von Sulzer.
Obgleich in dieser Recension auf die erste, die der »Theorie
der schönen Künste« Bezug genommen ist, so ist die Be-
handlungsart beider doch so verschieden, dass sie schwer-
lich aus einer Feder geflossen sind. In gegenwärtiger
Recension haben wir gewiss eine Goethe'sche; namentlich
konnte der elfte Absatz, das Verhältniss der schönen
Künste zur Natur berührend, nur von Goethe so ge-
schrieben werden; die Äusserungen über die Natur er-
innern lebhaft an den 1782 in's »Journal von Tiefurt«
gegebenen Aufsatz »Die Natur.«
27. A. V. Joch über Belohnung und Strafen
nach türkischen Gesetzen. Unmöglich von irgend
Jemand sonst als von Goethe; die Fabel im zweiten Ab-
satz allein entscheidet schon. Bemerkenswerth ist, dass
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342 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
diese letzte in die Werke aufgenommene Recension des
Jahres 1772 ganz ebenso von »Hahnenfüssen« überfüllt ist,
wie die früher zuverlässig von Goethe verfassten.
Nachdem wir uns oben überzeugt haben, dass Goethe
mit Ende 1772 aufhörte für die Frankfurter gelehrten An-
zeigen zu arbeiten, könnte es scheinen, als w^ären ohne
Weiteres die in den Werken folgenden acht Recensionen
mit Einem Strich zu beseitigen. Indessen dürfen wnr sie
doch nicht so gewaltsam und ohne Sang und Klang zu
den Apokryphen werfen, müssen sie vielmehr ebenfalls
einzeln mustern.
28. Lustspiele ohne Heirathen, von dem
Verfasser der empfindsamen Reisen durch
Deutschland (Schummel). Diese Recension erschien in
dem Blatt vom 15. Januar 1773 und Goethe konnte daher
sehr wol eine früher übernommene Recension, sei es erst
Anfang 1773 oder doch 1772 spät abgeliefert haben, so
dass sie erst im zweiten Jahrgang der Anzeigen zum Ab-
druck gelangte. Die Art der Bezugnahme auf die frühere
Goethe'sche Recension der »Empfindsamen Reisen« (Nr. 4)
und die ganz gleiche Behandlung nöthigen sie für Goethe
zu bewahren.
29. Beiträge zur deutschen Lecture. Zw^ar
erst am 16. Februar abgedruckt, aber doch kaum Goethe
streitig zu machen. Der Eingang der Recension, die auf
die Titel einer Anzahl Schriften ähnlichen Inhalts anspielt,
ist ganz in der Weise Goethe's, der leere Worte so hasste,
dass er auch da auf ganz bestimmte Thatsachen sich be-
zieht, wo er den Leser glauben lässt, dass er nur in's
Blaue hinein Beispiele anführe. Man vergleiche über diesen
Eingang der Recension die Anmerkung in »Goethe's Werke.
XXIX. Theil. Beriin. G. Hempel.« S. 79 f.
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Goethe's Recen'siokex in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 343
30. Theateralmanach für das Jahr 1773.
Die Verfasserschaft dieser Recension zu entscheiden ist
misslich. Indem das Ende derselben auf den Anfang zu-
rückgreift, drängt sich der Vergleich mit demselben Ver-
fahren in der unbedingt Goethe'schen Recension des Werks
von A. V. Joch (Nr. 27) auf; andrerseits aber müsste es
auffallen, dass Goethe in der vorliegenden den Ausdruck
rügt, »die Geschichte der Fräulein von Sternheim sei ge-
nothzüchtigt worden«, während er selbst in der Recension
der neuen wiener Schauspiele (Nr. 8) die ähnliche Redens-
art gebraucht : »Thalia und Melpomene trieben durch Ver-
mittlung einer französischen Kupplerin mit dem Nonsens
Unzucht.« Wenn es jedoch ziemt, die in Goethe's Werke
einmal aufgenommenen Recensionen im Zweifel darin zu
belassen, so mag dies auch zu Gunsten dieser Almanach-
recension gelten.
Gleiche Gründe sprechen jedoch weder für
31. J. J. Moser's etc. neueste kleine Staats-
schriften, noch für
32. R. Woods Versuch über etc. Homer.
33. Predigten über das Buch Jonas von La-
vater. Auch hier mag Goethe's später für dieses Buch
aufgetauchtes Interesse , das wir insbesondre aus einer
Anmerkung in den »Leiden des jungen Werther« kennen
lernen, die Aufnahme veranlasst haben. Ausser dass diese
Recension Goethe's Eigenthümlichkeiten nicht aufweist,
ist noch überdies bezeugt, dass sie von Bahrdt ist. Deinet
schreibt nämlich an ßahrdt am 13. April 1773: »Ich be-
sinne mich und mache ein Päckel Lavater's Predigten über
Jonas; sobald als mögHch!« Dann am 8. Mai: »Dass ein
bischen Ragout beim Jonas mit untergelaufen, geschah ja
mit Ihrem Vorsvissen und Ihrer Genehmigung. Sie sollen
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344 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
Oberster bleiben, mein Theurer; aber ich bin in Frank-
furt, wo die Häute gegerbt werden«. Wenn also auch
hieraus hervorgeht, dass Änderungen in Bahrdt's Arbeit
vorgenommen wurden, so sind sie doch keinesfalls von
Goethe.
34. Die Lieder Sined's des Barden etc. von
Denis haben wir ebensowenig Grund für Goethe zu
retten wie
35. Holland's philosophische Anmerkungen
über das System der Natur.
Damit wären denn die Recensionen, welche Goethe
in die Ausgabe letzter Hand seiner Werke aufnahm, at>-
gethan. Wir haben nunmehr zu untersuchen, ob unter den
nicht aufgenommenen solche sich finden, die ihm nichts-
destoweniger gehören möchten. Um dabei thunÜch sicher
zu gehen, wird man sich, soweit nicht besondre Gründe
eine Ausnahme rechtfertigen, an die Beurtheilungen von
Schriften zur schönen Literatur, für welches »Gefach« ja
Goethe an erster Stelle arbeitete, zu halten haben und
hiernach möchten, unter Beiseitlassung der mehr zweifel-
haften, doch noch folgende Goethe's Werken künftig ein-
verleibt werden.
36. Usong, eine Morgenländische Geschichte
etc. von dem Verfasser des Versuchs schwei-
zerischer Gedichte (Haller) in Nr. XIII. Erinnern
wir uns, dass Deinet am 8. Februar 1772 auf Goethe als
Mitarbeiter an den gelehrten Anzeigen deutet, so dürfen
wur in dieser Recension die erste von Goethe geUeferte
erbUcken. Die lordmässige Keckheit gegenüber dem be-
rühmten Haller ist Goethe'n zuzutrauen. Ausgelassen hat
sie Goethe vielleicht infolge einer ähnlichen Verwechs-
lung, wie zuerst bezüglich der Bekehrungsgeschichten der
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Goethe's Recensioxen in d. Fraxkf. gelehrten Anzeigen. 345
Grafen Struensee und Brand stattgefunden hatte, indem
hier Goethe Haller's »Briefe über die wichtigsten Wahr-
heiten der Offenbarung« (Nr. 7) aufnahm, die wir Goethe'n
aberkennen müssen. Hier hat Goethe nur unterlassen, das
Versehen zu verbessern.
37. Kanut der Grosse etc. Eine Heldenge-
schichte in Nr. XLIII. Mit Goethe'scher Lauoe ge-
schrieben und nicht ohne Hahnenfüsse.
38. Epistel an Herrn Oeser (von Riedel) in
Nr. XLIV. Düntzer (Frauenbilder aus Goethe's Jugend-
zeit. S. 134) hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, dass
diese Anzeige von Goethe ausgegangen sei und es ist
dieser Vermuthung beizupflichten, da die daraus hervor-
leuchtende genaue Bekanntschaft des Schreibers mit Oeser
unter den Frankfurter Genossen wol nur Goethe'n zu-
kam und dieser durch die HerzUchkeit seiner Briefe an
Oeser genugsam bezeugte, dass er in diesem den Men-
schen nicht weniger als den Künstler schätzte und liebte,
wie es hier der Recensent auch zu erkennen giebt.
39. Homer's Iliade. Erster Band (von Küttner)
in Nr. LH. Hier ist Goethe's Stil kaum zu verkennen.
Berücksichtigen wir sodann, dass er damals sich innig
mit Homer vertraut gemacht hat und z. B. Anfang Juli
1772 an Herder schrieb: »Seit ich nichts von Euch ge-
hört habe, sind die Griechen mein einzig Studium; zuerst
schränkt' ich mich auf den Homer ein«; sowie ferner,
dass er damals nebst Herder ziemlich vereinzelt stand in
der Verweisung auf die Sprechweise des Volks und der
älteren deutschen Schriftsteller, namentUch des Hans Sachs,
der hier dem Homerübersetzer als Muster vorgehalten
wird, so wird ein Zweifel an Goethe's Hand bei dieser
Recension nicht aufkommen dürfen. Die Aufnahme der-
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346 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
selben in die Werke unterliess Goethe vielleicht absicht-
lich deshalb, weil er später im Gegensatz zu der 1772
ausgesprochnen Ansicht eine Übersetzung Homer's in un-
gebundner Rede gerade für erwünscht hielt; möglicher-
weise kann aber auch hier anstatt dieser Recension durch
einen Gedächtnissirrthum »Wood's Versuch über den Ho-
mer « «in die Werke gerathen sein.
40. Moralische Erzählungen und Idyllen von
Diderot und S. Gessner. Oben bei Prüfung der Re-
cension der »Aussichten in die Ewigkeit« ist bereits be-
merkt worden, dass Düntzer die vorbezeichnete Recension
für Goethe in Anspruch nahm, weil Lavater mitgctheilt
hat, dass diese beiden Recensionen eines Verfassers seien,
dass aber wir zwar die ganz Goethisch gehaltne Re-
cension der Moralischen Erzählungen und Idyllen auf
Goethe's Liste setzen, dagegen die andre davon streichen
zu müssen glauben. Auf das dort Gesagte ist hier zu
verweisen.
41. Meine Vorsätze. Folgen meiner Über-
zeugung in Nr. LXXVI. Hirzel wies darauf hin, dass
die Nachschrift hinter dieser Recension von Goethe her-
rühren müsse, da sie an dessen Besprechung der »Bekeh-
rungsgeschichte des Grafen Struensee« anknüpfte. Darin
wird ihm recht zu geben sein, nicht aber hinsichtUch des
daraus gezognen Schlusses, dass auch die ganze Recension
von Goethe verfasst sei. Dafür spricht nichts; dass die
Nachschrift etwas für sich Bestehendes sei, ist vielmehr
durch drei Sternchen, welche sie von der eigentlichen
Recension trennen, merkbar hervorgehoben und es kann
jedenflxlls nur erstere Goethe'n zugetheilt werden.
42. James Beattie Versuch über die Natur
und Unveränderlichkeit der Wahrheit im Gegen-
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Goethe's Recensionem in d. Frankf. gelehrten Anzeigen. 347
satze der Klügelei und der Zweifelsucht. Aus
dem Englischen. In Nr. LXXXIV. Auch hier liegt
ohne Zweifel die Einmischung in eine von andrer Hand
geschriebene Recension vor; denn eine Unterbrechung
des Haupttextes ist darin deutlich erkennbar. Der erste
Theil der nüchternen Beurtheilung schliesst mit dem Satz:
»Der Mensch ist nicht zum Metaphysiciren da, und trennet
er einmal Vernunft von gesundem Verstände, Speculation
von Gefühl und Erfahrung — der Dädalus und Icarus hat
den festen Boden der Mutter Erde verlassen; wohin kann
er sich mit seinen wächsernen pennis homini non datis
verlieren? wohin kann er sinken?«
Unmittelbar hieran gehört der weiterhin folgende
Theil der Recension, beginnend: »Und diesem gesunden
Sinne an der Wahrheit, diesem simplen und starken
Nerven und Triebe der Menschheit, was ist, zu sehen
wie es ist, und es am leichtesten so ohne Schminke
und Augenspiel zu sehen — diesem gottähnlichen Organ
hält der Verfasser seine herrliche Standrede«.
Zwischen jenem zuerst angeführten Satz der Recen-
sion und dem vorstehenden ist nun eine, den Zusammen-
hang zerreissende Zornrede gegen Speculation einge-
schoben, ein w^ahres Raketenfeuer kühner Gleichnisse,
eine Fülle kurz abbrechender Sätze, ein Gewirr hahnen-
fussähnlicher Ausrufungszeichen — mit einem Wort ein
untrügliches Goethestück.
43. Wolf Krage, ein Trauerspiel von J. Ewald
in Nr. XCIV. Eine radicale Vernichtung ganz in Goethe's
Charakter.
44. Über das von dem Herrn Prof. Hausen
entworfne Leben des H. G. R. Klotz (von J. G.
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348 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
Jacobi) in Nr. CI. Goethe's damaliger gründlicher Hass
gegen die Jacobi spricht sich in dieser Recension so aus,
dass kaum ein andrer Schriftsteller zu denken ist, der in
gleichem Sinne geschrieben haben könnte; dieselbe ist
aber auch schon wegen ihrer Zugehörigkeit zu der oben
unter 1 1 verzeichneten Recension über Hausens Schrift für
Goethe in Anspruch zu nehmen.
45. Nachrede statt der versprochenen Vor-
rede in Nr. CIV., zwar keine Recension, aber ein Auf-
satz über die Recensionen, zu welchem sich Goethe in
einem Brief an Kestner — den 39. in »Goethe und Wer-
ther, herausgegeben von A. Kestner« bekennt.
Im Jahr 1773 Spuren Goethe's aufzusuchen, tragen
wir Bedenken, ohne jedoch damit andern Forschern die
Mühe verleiden zu wollen.
Zum Schlüsse 'fassen wir das Ergebniss unserer Prü-
fung in folgendem zusammen.
Aus Goethe's Werken sind die Recensionen i, 2, 7,
9, 12, 22, 25, 31, 32, 33, 34 und 35 ganz zu entfernen;
als nur theilweis von Goethe herrührend sind zu be-
zeichnen 3 und 24, sowie überdies 41 ;
neu in die Werke sind aufzunehmen 36 bis mit 43.
Zeitlich ordnen sich die letzteren unter die bisher in
Goethe's Werke, Ausgabe letzter Hand, aufgenommenen in
nachstehender Weise ein; das beigesetzte Datum ist das
der betreffenden Nummer der Frankfurter gelehrten An-
zeigen ; die eingeschaltnen Recensionen sind die aus den
Werken zu entfernenden, die mit * bezeichneten sind nur
stellenweis von Goethe, die mit o versehenen sind neu in
die Werke aufzunehmen.
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Goethe's Receksionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 349
1772.
(Nr. I. — II. Februar.)
Nr. 15. — I. September.
( » 2. — 14. )) )
» 16. 18. »
» 36. — 14. »
» 17. II. ))
* » 3. — 21. »
» 18. 15. »
» 4. — 3. März.
» 19. — 15. »
» 5. — 20. »
» 20. — 15. »
» 6, — 31. »
0*
» 41. — 22. »
( » 7. — 3. April.)
» 21. — 29. »
» 8. — 17. »
)) 42. — 20. October.
( » 9. — I. Mai.)
(
» 22. — 27. » )
)) 10. — 22. »
(
» 23. — 27. » )
»11. — 29. ))
«
» 24. — 3. November.
» 37. — 29. »
(
» 25. — 13. » )
» 38. — 2. Juni.
»43. — 24. »
( » 12. — 9. » )
» 26. — 18. December.
»13. — 19. »
» 44. — 18. »
» 14. — 23. »
» 27. — 25. »
» 39. — 30. »
»45. — 29. »
» 40. — 25. August.
17
7 3-
Nr. 28. — 15. Januar. |
(Nr. 32. — 23. April.)
» 29. — 16. Februar. '
(
)) 33. — 7. Mai.)
» 30. — 9. April.
(
» 34. — 20. Juli.)
( » 31. — 13. » )
(
» 35. — 17. August.)
Hiermit ist zwar dieser Aufsatz, nicht aber die Unter-
suchung der behandehen Angelegenheit für die Goethe-
forschung geschlossen. Mit Spannung sehen wir insbesondere
dem ^Ergebniss der philologischen Studien des Professors
Scherer entgegen, der in dem schon crw^ähnten vorläufigen
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350 Vermischtes zur Goethe-Forschuxg.
Aufsatz in der »Deutschen Rundschau« volles Verständniss
für die Wichtigkeit des Gegenstandes bekundet. Möchte
zunächst eine Ausgabe der Recensionen Goethe's in den
Frankfurter gelehrten Anzeigen nach Anleitung der vor-
stehenden Übersicht besorgt werden ! Dabei würde es sich
empfehlen, die Stufen der WahrscheinUchkeit von Goethe's
Mitwirkung an den emzelnen Recensionen durch besondem
Druck zu unterscheiden, also etwa — dafem man Rück-
sicht auf Goethe's Auswahl für die Werke nehmen und
alle dort abgedruckten wieder aufnehmen wollte — nach
folgenden Classen:
die in den Werken befindUchen von Goethe zweifel-
los oder doch mögHcherweise verfassten Recensionen, be-
ziehentlich Stellen in denselben, etwa in Schwabacher
Schrift ;
die in den Werken befindUchen, wahrscheinlich nicht
von Goethe verfassten Recensionen, etwa Antiqua;
die nicht in den Werken befindUchen, aber wahr-
scheinhch von Goethe verfassten Recensionen, etwa Fractur.
Bei den muthmassÜch nur stellenweis von Goethe
geschriebenen Recensionen würden Goethe's Stücke in
Schwabacher, die Recension im übrigen aber in Antiqua,
endlich Nr. 41 und Nr. 42 mit Ausnahme der Nachschrift
in der ersten und des herausgehobenen Zwischensatzes in
der andern Recension etwa in italienischer Schrift zu
drucken sein.
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2. GoETHE's Briefwechsel
uxd seine 1868 veröffentlichten
Briefe an von Voigt.
i.
ie veröffentlichten Briefe und Briefbruchstücke
Goethe's sind schon zu einer erklecklichen
Zahl angewachsen; es liegen deren gedruckt
^ 1 an rund 340 genannte Personen vor, wozu
noch mehrere einzelne Briefe kommen, deren
Adressaten unbekannt sind; die Zahl derselben belief sich
bis zur Ostermesse 1868 auf 3900, ausschliesslich der
an Frau von Stein gerichteten, deren allein gegen 1800
vorliegen, eine Zahl, die sich nicht genau feststellen lässt,
weil theils nicht immer zu sagen ist, welche Sendeblätter
als besondere Briefe zu behandeln sind, theils die Zahl der
in die »Italienische Reise« aufgenommenen Stücke aus
den Briefen an dieselbe nicht genau bestimmbar ist; nach
einer Äusserung Schiller's zu urtheilen, empfing Frau von
Stein gegen 100 Briefe von Goethe aus Italien.
An eine Menge Personen sind nur einzelne oder doch
nur wenige Briefe geschrieben, aber mit vielen Freunden
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352 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
hat Goethe eine geraume Zeit hindurch, ja bis zu 58 Jahren
in Briefwechsel gestanden, und zwar in diesem längsten
mit dem Major von Knebel, der, obwol älter als Goethe>
diesen doch noch überlebte, indem er es bis zu einem
Alter von beinahe 90 Jahren brachte; aus dieser Zeit sind
349 Briefe Goethe's an Knebel bekannt.
Der nach der Dauer nächstbedeutende Briefwechsel
ist der mit Frau von Stein, w^elcher mit 1776 beginnend,
bis 1826 (sie starb im Januar 1827) sich erstreckte. Er ist
der Zahl der Briefe nach weitaus der stärkste, und diese
Zahl erscheint um so staunenswerther, wenn man bedenkt,
dass der lebhafte briefliche Verkehr nur in den Jahren
1776 bis 1788, während der ungestörten innigen Vertrau-
lichkeit beider stattfand, während späterhin nur von Zeit
zu Zeit ein Briefchen abging.
An Lebhaftigkeit steht diesem Briefwechsel zunächst
der mit Schiller, der innerhalb der Jahre 1794 bis 1805
auf 533 Briefe von Goethe's Seite anwuchs, von denen
die bei w^eitem meisten in's vorige Jahrhundert fallen, da
später das persönliche Zusammenleben immer häufiger
wurde, besonders seit Schiller in Weimar wohnte.
Den vierten Rang nimmt der Briefwechsel mit dem
Maurermeister und Professor Zelter in Berlin ein, der 1799
einen erst nur schwachen Anfang, nach Schiller's Tod
aber einen starken Aufschwung nahm und nur allmälig
wieder schw\icher von Seiten Goethe's geführt wurde, aber
dennoch 367 Briefe von ihm zählt.
Nächstdem folgt der Briefwechsel mit Karl August,
d. h. nach der Zahl der gedruckten Briefe Goethe's,
deren wir 187 kennen, obwol von 1775 bis 1828 ihrer
mehr als noch einmal so viel werden geschrieben wor-
den sein.
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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 353
Hieran schliesst sich der Briefwechsel an den Kunst-
freund Sulpiz Boisser^e, der von 1810 bis 1832 159 Briefe
ausser einigen dichterischen Sendeblättern aufweist.
An Herder sind von 1771 bis 1803 94 gedruckte
Briefe von Goethe gerichtet, an Friedrich Jacobi 91 von
1774 bis 1817, an Heinrich Meyer 88 von 1788 bis 1830,
an Kestner, den Gatten der Lotte Buff, 82 von 1772 bis
1798, an Staatsrath Schuhz 73 von 1814 bis 183 1, an Graf
Reinhard 72 von 1807 bis 183 1, an Lavater 63 von 1774
bis 1783, an Rochlitz 63 von 1800 bis 183 1, an Professor
Döbereiner 58 von 1810 bis 1829, an Hofkammerrath
Kirms 50 von 1797 bis 1808, an Nicolaus Meyer 46 von
1800 bis 1830, an Kriegsrath Merck 42 von 1774 bis 1788,
an Graf Sternberg 37 von 1820 bis 1832, an Frau von
Schiller 36 von 1795 bis 1819, an Legationsrath Weller
36 von 1818 bis 1830, an Riemer 35 von 1804 t^is 1832,
an Aug. Wilh. Schlegel 34 von 1797 bis 1803, an Friedr.
Aug. Wolf 30 von 1795 bis 1819 u. s. w.
Der älteste bekannte Brief Goethe's ist an seinen
Jugendfreund Riese in Frankfurt aus Leipzig am 20. und
21. October 1765 geschrieben, der letzte vom 17. März 1832
an Wilhelm von Humboldt; das gibt einen Lebensüberblick
über zwei Menschenalter.
Wie Goethe's Wissen und Denken überhaupt, erstreckt
sich auch sein Briefwechsel über fast das ganze Reich der
Forschung und der Erfahrung; wenigstens werden fast
alle Fächer berührt, wenn auch mehrere, aber allerdings
für einen einzelnen Mann ungewöhnlich viele, seine Auf-
merksamkeit anhaltender fesselten. Da aber andere Men-
schen nicht so umfassend zu sein pflegen, auch Goethe's
Brieffreunde, wennschon diese nicht Leute gewöhnlichen
Schlags waren, sich hierin nicht mit ihm messen konnten,
23
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354 Vermischtes zur Gobthe-Forschung.
SO ist es begreiflich, dass mit dem einen Brieffreund der
eine, mit dem andern ein anderer Gegenstand vorzugs-
weise behandelt wurde, wobei jedoch die Briefe an näher-
stehende Freunde allerhand sich gelegentlich Darbietendes
berühren. So unterhielt sich Goethe z. B. über Grund-
lehren der Künste hauptsächlich mit Schiller; über Er-
scheinungen im Gebiete der Dichtkunst mit eben dem-
selben, sowie mit Schlegel, Böttiger, Riemer ; über Natur-
wissenschaftliches mit Merck, Sömmering, Carus, von
Leonhard, Graf Sternberg, Schultz, Mahr, Döbereiner;
über bildende Kunst mit Oeser, Heinrich Meyer und
Boisser^e; über Fragen aus der übersinnlichen Welt mit
Lavater und Jacobi; über Bühnenw^esen mit Kirms, Roch-
htz, Iff land, Graf Brühl ; über dienstUche Angelegenheiten
mit V. Voigt, Weller. Lebensbezüge besprach er besonders
mit Lavater, Merck, Jacobi, Herder, Salzmann, v. Knebel,
den Frauen v. Grothuss, v. Eybenberg, v. La Roche u. s. w.
Was die Bedeutung der Briefe Goethe's anlangt, so
darf man einen selbständigen wissenschaftlichen Wenh
nur ausnahmsweise in ihnen suchen ; vielleicht sind es nur
die kunstwissenschaftlichen Untersuchungen in den ersten
Jahrgängen des Briefwechsels mit Schiller, die einen solchen
beanspruchen können. Die sonstigen, selbst in wissen-
schaftlichen Angelegenheiten geschriebenen Briefe ent-
halten meist nur Fragen oder kurze Nachrichten, ohne
ein wuchtiges Ganze zu bilden. Der Hauptwerth der Briefe
Goethe's liegt aber — abgesehen von einzelnen Stellen,
die sich als Ausfluss umfassendster Weltbetrachtung, durch
Tiefe der Gedanken und durch Schönheit des Ausdrucks
her\'orthun — in dem Stoffe, den sie zur Kenntniss
Goethe's bieten. Und wie unter denen, die sich ein-
gehender mit Goethe beschäftigt haben, längst anerkannt
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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 355
ist, allmälig aber die Überzeugung aller Gebildeten werden
wird, ist die Durchdringung seines in Wechselwirkung
stehenden innem und äussern Lebens als eines ebenso
rein als reich sich entwickelnden eine Bildungsaufgabe der
Zukunft.
Für den Einblick, den die Briefe in sein Inneres er-
öffnen, stehen Goethe's Jugendbriefe bis in die erste
Weimarer Zeit höher als die spätem, indem Goethe theils
überhaupt sich dann nicht mehr so harmlos gab, insbe-
sondere nach der Rückkehr aus ItaHen sich mehr ver-
schloss, theils durch die Gewohnheit, seine Briefe einem
andern in die Feder zu sagen, an Unbefangenheit dabei
verlor. Die Abneigung gegen eigene Federführung brachte
er von Frankfiin mit, und sogar seine Mutter, sein
Schwager und vertraute Freunde fanden früh Ursache,
über die Zwischenschiebung des fremden Schreibers zu
klagen. Zu Ausgleichung der daraus entstehenden Zurück-
haltung fügte Goethe den von fremder Hand niederge-
schriebenen Briefen bisweilen noch einige eigenhändige
Zeilen bei, die dann sofort schon durch ungezwungenere
Fassung sich kenntUch machen; gewöhnlich sind aber nur
die das Verhältniss Goethe's zum Briefempfänger bezeich-
nenden Schlussworte und dann selbstverständUch die
Namensunterschrift mit »G.« oder »Goethe«, oder »J.W.
V. Goethe«, höchst selten mit vollausgeschriebenen Vor-
und Zunamen eigenhändig.
Die Verwendung eines Schreibers lässt sich noch in
manchen Eigenthümlichkeiten der Briefe Goethe's erkennen.
Wenn er sich mit einem Gegenstande beschäftigte, über
welchen er einigen Brieffreunden Mittheilung zu machen
wünschte, so Hess er das Entsprechende aus dem einen
Briefe in die andern wörtlich übertragen ; dann Hieben die
23*
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356 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
Briefe liegen, bis dem einen dies, dem andern anderes
sich beizufügen fand, und das ging so fort, bis es ihm
angemessen schien, den Brief — nach Befinden am Ende
des Bogens mitten im Satze — abzuschliessen und abzu-
senden. Da dann der Brief meistens nur Ein Datum er-
hielt, so führt dieses Verfahren oft irre über den Tag,
von welchem an einer nicht an dem Tage des ange-
gebenen Datums geschriebenen Stelle die Rede ist.
Die Veröffentlichung von Briefen und Briefw^echseln
Goethe's hat früh begonnen. Goethe widmete anfangs den
Briefen der Verwandten und Freunde grosse Sorgfalt und
packte 1782 alle seit 10 Jahren empfangenen aufs beste
zusammen; allein vor seiner dritten Schw^izerreise (1797)
bewog ihn die Furcht, vertrauliche Mittheilungen vor die
Öffentlichkeit gezogen zu sehen, den grössten Theil der-
selben dem Feuer zu übergeben, was er freilich nachmals
höchlich bereuete.
Nichtsdestoweniger war es Goethe selbst, der mit
Herausgabe seiner Briefe begann. Schon in seine »Italieni-
sche Reise« (1816) nahm er Briefe an den Herzog Karl
August und an Herder, sowie, w^enn auch sehr über-
arbeitet, solche an Frau v. Stein auf; ebenso in die
»Schweizerreise von 1797« — die allerdings erst nach
seinem Tode ausgegeben wurde — Briefe an Karl August,
Schiller, Heinr. Meyer, Geh. Rath Voigt und Buchhändler
Cotta. Als selbständiges Werk veranstaltete er die Heraus-
gabe seines Briefwechsels mit Schiller (1828 und 1829 in
6 Bänden), nachdem er bereits 1824 im V. Bande »Über
Kunst und Alterthum« einen Theil dieses Briefwechsels
veröffentlicht hatte. Indessen wurden bei jener Ausgabe
mehrere verfängliche, namentlich Zeitgenossen betreffende
Briefe und Briefstellen ausgelassen und viele Personen-
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J
Goeth'es Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 357
namen durch irreführende Anfangsbuchstaben bezeichnet;
überdies war wenig Aufmerksamkeit auf die Bestimmung
der die Jahres- und Tagesangabe nicht enthahenden Briefe
vervK^andt, so dass dieser Vorgang mancher spätem schlechten
Briefwechselausgabe als Vorbild gedient zu haben scheint.
Zwar hat eine zweite Ausgabe des Briefwechsels zwischen
Goethe und Schiller (1856) die meisten Briefe un ver-
stümmelt und besser geordnet gebracht, aber immer noch
absichtlich oder unabsichtlich Lücken und falsche Reihe-
folgen gelassen.
Nächst dieser Herausgabe bereitete Goethe die seines
Briefwechsels mit Zelter in seinen letzten Lebensjahren
vor, jedoch mit der Bestimmung, dass die Veröffentlichung
erst nach seinem Tode zum Besten einer Tochter Zelter's
erfolgen solle. Der Briefwechsel erschien 1833 und 1834
in 6 Bänden.
Den Druck von Briefen aus seinen Jugendjahren lehnte
Goethe entschieden ab, namentlich als man ihn nach dem
Erscheinen der ersten Bände von »Wahrheit und Dich-
tung« dazu drängen wollte; er vernichtete sogar noch als
Greis mehrere solcher Briefe, die ihm Zeugen eines Zu-
standes der Gährung waren, an den er nur mit Unbehagen
sich erinnert sah. Aber die Genossen seiner Jünglingsjahre
legten schon einen merkwürdig hohen Werth auf Goethe^s
Briefe, so dass aus seinem 16. bis 21. Jahre gegen vierzig
sich erhalten haben, die gedruckt sind, ganz abgesehen
von Briefen an die nächsten Verwandten. Nahm doch so-
gar der um einige Jahre ältere Assessor, nachherige
Bürgermeister Hermann zu Leipzig Abschriften von Briefen
des noch unmündigen Jünglings. Aber es weht auch in
denselben ein ganz ureigner Geist, so dass sie w^ol kaum
ihres Gleichen haben.
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358 Vermischtes zuh Goethe-Forschüxg.
Nach Goethe's Tode traten Briefwechsel und Samm-
lungen seiner Briefe an verschiedene Personen zahlreich
hervor, theils zerstreut in Schriften über Goethe, in Zeit-
schriften, in Lebensgeschichten seiner Brieffreunde und in
deren brieflichen Hinterlassenschaften, theils aber auch
selbständig oder doch als hauptsächlicher Inhalt grösserer
Werke; so Briefe an Kirms 1832, an Lavater 1833, an
Gräfin Auguste zu Stolberg 1839, an Heinr. Meyer, Riemer,
Fritz V. Stein und A. W. Schlegel 1846, an Frau v. St^in
1848 bis 1851, an Käthchen Schönkopf und Rochlitz 1849,
Briefwechsel mit Graf Reinhard 1850, mit v. Knebel 185 1,
mit Schultz 1853, Briefe an Grüner 1853, ^^ Charlotte
Kestner und ihren Gatten 1854, an Kicol. Meyer 1855,
an Herder und an Döbereiner 1856, Briefwechsel mit
Boisser^e 1862, mit Karl August 1863, mit Graf Stern-
berg 1866, endlich Briefe an E. A. Wolf und an v.
Voigt 1868.
Die Aufgabe, w^elche den Herausgebern von Briefen
zufällt, ist: für möglichst vollständige Herbeischaflfung
und Feststellung der an die betreffende Person geschrie-
benen zu sorgen, das Geschriebene richtig zu lesen,
das Gelesene vollständig und getreu wiederzugeben, das
Gegebene, soweit es nicht jedem Gebildeten ohne Weiteres
verständlich ist, zu erläutern, die etwa den Briefen fehlen-
den Adressen, sowie Jahres- und Monatstagangaben zu
bestimmen und, wenn sie ihren Pflichten vollständig nach-
kommen wollen, den Inhalt durch Register bequem nutz-,
bar zu machen. Gegen alle diese Obliegenheiten haben
freilich die Herausgeber von Briefen Goethe's vielfach ge-
sündigt und lassen noch reichliche Arbeit zu thun übrig.
Beim Druck der Briefe an manche Personen hat aller-
dings gar nicht die Absicht vorgeschwebt, einen wirk-
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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 359
liehen Beitrag zur Goethe-Literatur zu liefern und alle
Briefe zu veröffentlichen, sondern es sind nur gelegentUch
einige oder auch nur Bruchstücke von besonderer Bedeu-
tung an's Licht befördert worden, und so sind namentlich,
soweit es allein aus gedruckten Quellen nachw^eisbar, in
der Hauptsache ungedruckt die Briefe an Büsching, v. Cor-
neUus, Buchhändler v. Cotta, Eichstädt, Gräfin Egloffstein,
Caroline Flachsland (später verehelichte Herder), Elisabeth
Goethe, Ottilie v. Goethe, Alexander und Wilhelm v.
Humboldt, Kayser, KHnger, Bergrath Lenz, Frau Melber,
Mendelssohn-Bartholdy, Nees v. Esenbeck, Joh. Georg
Schlosser, v. Schreibers, Tischbein, Uwarow, Wieland,
V. Willemer.
Wie gross aber ist die Zahl der Personen, mit denen
Goethe Briefe gewechselt, ohne dass nur einer gedruckt
w^äre! Folgende Adressaten lassen sich ebenfalls nur aus
Druckschriften nachweisen, also ganz abgesehen von denen,
die nur aus Archiven, Sammlungen für Goethekunde, Hand-
schriftensammlungen und sonst engeren Kreisen bekannt
sind: Ackermann, Ampere, Bachmann, Baureis und Frau,
Schauspielerin Beck, Becker, Behrisch, Binder, Blumenbach,
Boie, V. Bree, Brizzi, Ritter Cataneo, Cousin, Baron Cuvier
und Tochter, Deinhardstein, Delavigne, Deschamp, Duport,
Edwards, v. Einsiede!, Freiherr v. Frankenberg, Frau v.
Fritsch geb. v. Wolfskeel, Gräfin Fritsch, Gerard, Kaspar
Goethe (der Vater), Cornelia Goethe, Frau v. Goethe geb.
Vulpius, Elisa Gore, Hackert, Heeren, v. Hendrich, Hess,
die Landgrafen Christian und Ludwig v. Hessen-Darmstadt,
Heyne, Victor Hugo, Hüttner (in London), Hundeshagen,
Kestner (Lotten's Sohn), Kapp, Koch, v. Kügelgen, Biblio-
thekar Langer, Galerie-Director Langer, v. Langermann,
Reinhold Lenz, Lerse, Fürst Lichnowsky, Lichtenberg,
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360 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
Frau V. Lichtenberg, Fürst Lobkowitz, Frau v. Low,
V. Marschall, Mattoni, Erbgrossherzogin Caroline v. Mecklen-
burg-Schwerin, Fürst Metternich, Ernst Meyer, Moller,
Moritz, V. Moser, Müllner, Neureuther, v. Oppen, Oslander,
V. Piquot, Pyrkcr, v. Quandt, Rapp, Edler v. Retzer, Her-
zogin Charlotte v. Sachsen-Gotha, St. Hilaire, Scherer,
V. Schelling, Fried. Schlegel, Frau Schlosser geb. Fahimer,
Adele Schopenhauer, Corona Schröter, Schütte, Bade-
Lispector Schütz, v. Schütz, Schwabe, Seebeck, Sprengler,
Steffens, Steigentesch, Stieglitz, Streckfuss, Thorwaldsen,
Tobler, Toussaint, v. Trebra, v. Treitlingcr, Unzelmann,
Bergrath Voigt, Volckammer, Vulpius, Walder, v. Warns-
dorf, Weygand, Frau v. Willemer.
Unter diesen hundert und etlichen und den obigen
zweiundzwanzig Personen wie manche, deren brieflicher
Verkehr mit Goytl-ie ein höchst kennenswerther sein muss!
Aus der Zahl der bekannten und der als geschrieben
erwähnten Briefe lässt sich schHessen, dass Goethe mehr
als zehntausend Briefe abgefertigt haben muss, die denn
doch wol zum weitaus grössten Theile noch vorhanden
sein mögen.
Die Veröffentlichung derselben scheitert an verschie-
denen Ursachen. Rücksichtnahme auf die Personen, an
welche die Briefe gerichtet oder welche darin besprochen
sind, kann gegenwärtig nicht mehr mit Grund massgebend
sein: auch Gewissenhaftigkeit, wenn sie in's Peinliche
geht, wird verwerflich. Hiernächst halten Besitzer von
Briefen Goethe's gar oft deren Inhalt für zu unbedeutend,
um an Veröffentlichung zu denken: mit Unrecht, da die
geringfügigste Niederschrift Goethe's an rechter Stelle
benutzt, von einem Werthe sein kann, den selbst der
Forscher nicht von vornherein allemal sogleich zu er-
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Goethe's Briefwechsel und Briefe ak v. Voigt. 361
kennen im Stande ist. Umgekehrt legen ferner andere
Besitzer Goethe'scher Briefe diesen einen zu hohen Geld-
werth bei und verhindern dadurch die Herausgabe. Dahin
gehören auch Handschriftensammler, welche einen be-
sondern Werth ihrer Schätze darin suchen, dass sie un-
gedruckt sind. EndUch ist der Buchhandel im Allgemeinen
den Sammlungen von Briefen Goethe's nicht geneigt, da
er bei deren Verlag durchschnittlich kein lohnendes Ge-
schäft finden will.
II.
Goethe's Briefe an Christian Gottlob v. Voigt.
Herausgegeben von O. Jahn. Mit Voigts Bildniss. Leipzig,
Verlag von S. Hirzel, ist die 1868 auf den Bücher-
markt gekommene Veröffentlichung von Briefen Goethe's.
Das Buch enthält (nicht blos, wue in der Ankündigung
gesagt wird, 248, sondern) 265 Briefe Goethe's an Voigt,
wovon jedoch 55 bereits früher gedruckt sind. Sie um-
fassen den Zeitraum von 1786 bis 1819.
Die Einleitung (118 Seiten) bringt eine anziehende
Lebensgeschichte und Charakteristik Voigt's und lehrt uns
eine bedeutende Persönlichkeit kennen. Voigt war 1743
in Allstedt geboren, hatte seine Schulbildung auf der
Klosterschule zu Rossleben erhalten und in Jena studirt,
worauf er zuerst als Accessist an der Weimarer Bibliothek
in den Staatsdienst trat, dann bald nach seines Vaters
Tode dessen Stelle, die des Justizamtmanns zu Allstedt,
übertragen erhielt (1770), von 1777 aber zuerst als Re-
gierungsrath in die Landesverwaltung berufen ward, in
w^elcher er bis zum Mitgliede des Geheimen Raths, spä-
teren Staatsministeriums aufstieg, als dessen Präsident er
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362 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
1819 starb. Seit 1804 war er Excellenz, 1807 empfing er
den Adel und 1816 bei Erneuerung des Falkenordens wurde
ihm das erste Grosskreuz, mehrere Tage vor jeder andern
Ordensverleihung, zutheil.
Voigt war ein Mann von vorzüglicher geistiger Be-
gabung und grosser Vielseitigkeit, als Geschäftsmann von
ungemeiner Ausdauer und Gewandtheit, bewährt in den
verschiedenartigen Zweigen der inneren Verwaltung wie
in Verhandlungen mit dem Auslande, und bei aller Be-
lastung mit Dienstarbeiten und trotz häufiger Klagen über
dieselbe ein heiterer Gesellschafter, ein rastloser Jünger
der Wissenschaft, der z. B. im »Deutschen Merkur« über
die Geschichte der Kartenspiele schrieb, in der von Goethe
gestifteten Freitagsgesellschaft Vorträge über die neuesten
Entdeckungen Nordamerikas, über die Entstehung des Ba-
salts, über eine alte Urkunde, über preussische Gesetz-
gebung, sowie über Durchstechung von Landengen hielt
und insbesondere ernster mit der Münzkunde sich be-
schäftigte, endlich ein Freund der Dichtkunst, der als
solcher nicht nur gemüthliche Lebensverhältnisse, sowie
geschichtliche Ereignisse feierte, sondern auch Masken-
züge, die er selbst entworfen, mit zierlichen Versen unter-
stützte. Seine Verwaltungsgrundsätze waren freisinnig ;
heutige Demokraten werden vielleicht seine Ergebenheit
für seinen Landesherrn nicht nach ihrem Geschmack fin-
den. Sein Leben war sittenrein, sein Handeln von äusserster
Gewissenhaftigkeit und reinem WolwoUen geleitet.
' In seinem Hause erlitt Voigt manches Ungemach.
Eine Tochter war blödsinnig, ein Sohn starb als Regie-
rungsrath infolge des Schreckens, als er von den Franzosen
wegen eines in Geheimschrift verfassten Briefs verhaftet
und mit Erschiessen bedroht worden war; eine geliebte
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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 363
Gattin starb ihm ebenfalls; er verheirathete sich nachher
mit deren Nichte.'
Wann und wodurch er mit Goethe in nähere Berüh-
rung kam, ist nicht ermittelt. Dass Voigt Goethe'n von
Anfang seiner Laufbahn kannte, ist z^^eifellos, und manche
an Spott streifende Bemerkungen in seinen Briefen an den
Justizrath Hufeland in Jena deuten darauf, dass er jenen
nicht fern stand, die durch allerhand Klatsch Goethe's
Ruf zu bemäkeln suchten. Letzterer erkannte sehr bald
Voigt's grossen Werth, und als die herzogliche Berg-
werkscommission durch den Zurücktritt des Kammer-
präsidenten V. Kalb und durch Beförderung des Geheimen
Hofraths Eckardt allein noch aus Goethe bestand, erbat
sich dieser in einem von ihm eigenhändig entworfenen
Vortrag an den Herzog vom 29. August 1783 Voigt als
Collegen. Von da an beginnt ein freundschaftliches Ver-
hältniss zwischen beiden, dessen ungetrübte Dauer bis zu
Voigt's Tode die vorliegenden Briefe bezeugen.
Das Buch enthält mit wenigen Ausnahmen, in denen
Stellen aus Voigt's Briefen an Goethe zur Erläuterung
aufgenommen sind, nur Briefe des letzteren. Lebhafter
wäre uns das gegenseitige Verhältniss allerdings vor Augen
getreten, wenn der ganze Briefwechsel geboten worden
wäre; nehmen wir indessen das Gegebene vom Stand-
punkte der Goethefreunde dankbar an und gehen wir an
der Hand der oben aufgestellten Grundsätze über das Ver-
fahren bei Herausgabe von Briefen Goethe's zu einer Prü-
fung des angezeigten Werkes über.
Die Forderung der Vollständigkeit ist nicht erfüllt,
und zwar, wie die Vorrede sagt, nicht aus Nachlässigkeit
oder Bedenklichkeiten, sondern aus Grundsatz. Der Heraus-
geber hat geglaubt, auch eine grosse Anzahl von Briefen
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364 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
Goethe's ausscheiden zu müssen, weil sie, rein formal
geschäftlicher Art, kein Interesse gehabt hätten, das nicht
durch die mitgetheilten hinreichend befriedigt worden sei.
So sind allein 31 Briefe und Briefbruchstücke von denen
weggeblieben, die Vogel in »Goethe in amtÜchen Ver-
hältnissen« hat abdrucken lassen. Es soll nicht geleugnet
werden, dass dieses Verfahren von vielen Seiten gebilUgt
werden wird, allein Schreiber dieses steht nicht bei den
Zustimmenden. Das Buch giebt zu viel oder zu wenig.
Hat Rücksicht auf den weiteren Leserkreis genommen
werden sollen, welcher sich Goethe's Geisteserzeugnissen
gegenüber rein geniessend verhält und der daher von
Briefen nur mitgetheilt haben will, w^as unterhält, so ist
die Zahl schon zu beträchtUch; aber wer in Goethe's
Schriften forscht, um, zu dem Zwecke der ErmögUchung
eines vollständigen Verständnisses seiner Werke, zunächst
seine Lebensbeziehungen, die sich darin spiegeln, vollstän-
dig festzustellen, wer bei solchen Arbeiten gefunden hat,
w^elchen Werth oft das unbedeutendste Blättchen zur Er-
klärung einer dunkeln Stelle hat, wie bisweilen von einem
einzigen Wort ein ganzer Lichtstrom ausgeht, der wird
gewiss die Zurückhaltung einer grossen Anzahl Goethe'scher
Briefe und Briefchen beklagen. Hat doch Goethe durch
seinen Vorgang selbst die Förderung der Vollständigkeit
anerkannt, indem er bei Herausgabe seines Briefwechsels
mit Schiller Zettelchen geringsten Belangs aufnahm und
nur strich, was Lebende verletzen konnte. Wenn- man
von manchen der schon gedruckten, die ausgelassen wor-
den sind, auf die noch ungedruckten schUesst, wozu der
Herausgeber Seite VII der Vorrede ausdrückUch ermäch-
tigt, so muss man in der That annehmen, dass etwas
stark gesiebt worden ist. So dürfte es z. B. selbst dem
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Goethe's Briefwechsel uxd Briefe an v. Voigt. 365
weiteren Leserkreis ergötzlich sein, aus nachstehendem
weggebliebenen und überhaupt noch nicht gedruckten
Briefchen, mit welchem Goethe um die Mitte der neun-
ziger Jahre die seinerseits vollzogene Reinschrift eines
Erlasses der Bergwerkscommission an Voigt sandte, zu
ersehen, mit welcher Genauigkeit Goethe die CuriaHen
überwachte :
»Wegen der Courtoisie fällt mir ein Bedenken
ein. Da wir mit Hochwohlgeboren zu thun haben,
würden wir wol gehorsamste setzen müssen. Wollten
wir als Bergwerkscommission uns nicht so unter-
zeichnen , so könnte man oben statt uns setzen :
Die Fürstl. Bergwerkscommission. Da wäre aber
das Schreiben nochmals zu mundiren. Ich überlasse
Ihnen die Dijudicata. Leben Sie recht wol.
Goethe.«
Goethe's Geschäftsschlauheit bezeugt gleichfalls auf
spasshafte Weise die ebenso übergangene, aus derselben
Zeit herrührende eigenhändige Zuschrift an Voigt:
»Sie erhalten hierbei den Aufsatz zum Vortrage
mit dem Anhange der Deliberanden. Bei den einen
hab' ich das Contra, bei den andern das Pro weg-
gelassen; beides werden uns die Herren*) wol four-
niren. Vielleicht können Sie meinen Aufsatz bei der
Präparation brauchen. Könnte ich ihn morgen bei
Zeiten mit Ihren Notaminibus wieder erhalten, so
*) Die conirolirendcn Deputirten der IlreenAuer Gewerkschaft.
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366 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
würde ich ihn völlig ajustiren. Fiele Ihnen etwas
auf, was nicht consiÜi zu sagen wäre, so bitte ich es
zu bemerken. Leben Sie indessen recht wol. G.«
Die kurze Bemerkung, mit denen die im »Morgen-
blatt« von 1855 abgedruckten Briefe Goethe's an Voigt
eingeleitet sind, deutet auch die Auslassung mancher Stellen
an, und es wäre wol zu w^ünschen gewesen, dass der Be-
sitzer jener Briefe — von dem ja freundliches Entgegen-
kommen zu erwarten war — um Mittheilung des Weg-
gebUebenen angegangen worden wäre, wobei übrigens
noch von ganzen ungedruckten Briefen Goethe's an Voigt
zu erfahren gewiesen wäre. Von fehlenden Stellen seien
nur folgende erwähnt: S. 221 eine lange nach »portin
sind« und eine kürzere im nächsten Absatz; S. 222 ist in
Nr. 5 »nur« vor »etwas« und in Nr. 6 »eben« vor
»wahres« ausgefallen; S. 233 flg. entbehren die Briefe 86,
87 und 88 mehrerer Stücke; das »Noch«, mit welchem
S. 226 ein Absatz beginnt, bezieht sich auf eine vorher-
gehende Besprechung über den jungen Oteny; S. 276 Z. 2
V. u. fehlt »noch« vor »verkümmert«.
Aus jenen Morgenblattsbriefen ist aber auch einiges
ungenau wiedergegeben, und w^nn dort der Setzer nicht
richtig las, so büsst nun unser Buch die Nichterfüllung
der Forderung des richtigen Lesens. So ist es S. 224
gewiss, dass Brief 85 aus dem Monat Januar ist, nur die
weggerissene Zahl (22) hat Riemer im Original mit Blei
ergänzt; S. 276 Z. 4 ist anstatt »rein« zu lesen »einer«.
S. 277 Z. 8 schrieb Goethe nach lässigem Sprachgebrauch
»das« anstatt »der«; S. 277 muss es anstatt »Finnländer«
heissen »Einländer«; die S. 277 und 284 gesperrt ge-
druckten Worte hat Goethe weder eigenhändig geschrieben.
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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 3^7
noch im Briefe unterstrichen, waren also nicht zu durch-
schiessen, wogegen S. 217 die Worte »Er ist sehr unter-
richtet und ausgebildet« von Goethe selbst in den dictirten
Brief nachgetragen sind, also mit gesperrter Schrift hätten
gedruckt werden mögen.
Die Pflicht der Erläuterung der Briefe hat Herr Pro-
fessor Jahn mit grosser Sorgfalt und Sachkenntniss erfüllt;
dass aber demungeachtet noch manches für »Scholiasten«
zu thun übrig bleibe, erkennt derselbe unumwunden an,
und so sei es erlaubt, hier mit noch ein paar Schollen
aufzuwarten.
Der S. 123 erwähnte Geschworene in Ilmenau hiess
Johann Gottfried Schreiber; er war aus Marienberg
und starb als Bergmeister zu Ilmenau.
Der S. 135 genannte Güssefeld (Goethe schreibt
stets Güssfeld), Franz Ludwig mit Vornamen, war Inge-
nieur, mit dem Prädicat Kammersecretair in Weimar ange-
stellt und bei dem Ilmenauer Bergbau schon in den ersten
achtziger Jahren beschäftigt. Er hat viele Landkarten
herausgegeben, die von vorzüglich sauberer Zeichnung
sind. Goethe muss mit ihm auf ziemlich vertraulichem
Fusse gestanden haben, da er ein paar Mal (12. Dec. 85
und 15. Juni 86) durch ihn Briefe an Frau v. Stein be-
sorgen Hess. Geboren 1744, starb er 1808.
Der Hunnius, von welchem S. 138 die Rede, dürfte
Anton H. sein, der 1791 als Schauspieler in Weimar an-
gestellt wurde und auch als Bühnendichter sich bekannt
machte; der Herausgeber deutet auch selbst mittelbar
darauf hin.
Steiner t, wie S. 151, schrieb Goethe gewöhnlich
den Namen des Bauconducteur Karl Friedrich Christian
Steiner.
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368 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
Der » Einfahrer « , S. 165, hiess Johann Gottfried
Schreiber, nicht zu verwechseb mit dem obigen ganz
gleichnamigen Geschworenen und Bergmeister; auch er
führte später das Prädicat Geschworener.
Die Seite 167, 177, 179 und 183 im Jahre 1796 ver-
handelte Frage wegen Einrichtung einer Bühne in Jena,
um die Hofschauspieler dort auftreten zu lassen, schwebte
noch mehrere Jahre, wie folgender Brief an die Frau
Hofrath Schütz in Jena beweist:
»Wenn man immer lieber eine gewährende als
eine abschlägliche Antwort überbringt, so muss ich
bedauern, dass ich mich gegenwärtig in dem letzten
Falle befinde.
Durchlaucht der Herzog haben sich zu sehr über-
zeugt, dass eine theatralische Unterhaltung sich mit
den akademischen Zwecken nicht vereinigen lasse,
als dass Höchstdieselben eine Ausnahme zu machen
geneigt sein könnten.
Möchte ich doch bald eine andere Gelegenheit
sehen, Ihr Vergnügen und Ihre Wünsche, verehne
Frau Hofräthin, auf irgend eine Weise befördern zu
können.
Der ich mich zu geneigtem Andenken bestens
empfehle.
J. W. V. Goethe.«
Jena, den 22. December 1800.
Der kleine »Chirurgus«, S. 171, ist der schon S. 124
gedachte Johann Gottlob Bernstein, der in den ersten
Zeiten der Wiederaufnahme des Ilmenauer Bergbaues den
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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 369
in einen Schacht gestürzten und nicht unbedeutend be-
schädigten Herzog Karl August in Abwesenheit aller anderen
ärztlichen Hilfe zu verbinden und zu behandeln Gelegen-
heit hatte, obwol er nur Feldscherergeselle war, und
infolge des Gefallens, das der Fürst dabei an ihm fand,
von demselben die Mittel zum Studiren und die Anstellung
als herzoglicher Kammerdiener erhielt. Auf ihn bezieht
sich nachstehende eigenhändige Registratur Goethe's:
» Als Endesunterzeichneter dem Kammerdiener
Bernstein zu erkennen gab, dass Serenissimus nicht
abgeneigt seien, demselben mit Beibehaltung seines
bisherigen Gehaltes den Aufenthalt künftig in Ilmenau
zu verstatten, so bezeigte sich derselbe für die ihm
hierdurch gegönnte Gnade untenh. dankbar, erklärte
auch zugleich, dass er bei vorkommenden Fällen
gerne denen beschädigten Bergleuten assistiren und
die Bemühung der Curen unentgeltlich übernehmen
wolle, bat auch um dessfallsige Bekanntmachung an
das Bergbauamt. Welches zur Nachricht aufzeichnet
Goethe.«
Weimar, den 21. Oct. 1790.
Hufeland Hess, wie es in Brief 45 an Voigt heisst,
»diese "Ruthe sich aufbinden.« Denn der Bergchirurg
Bernstein kam noch 1796 mit dem Prädicat Hofchirurg
als Gehilfe an der medicinisch- chirurgischen Kranken-
anstalt nach Jena; 1806 ging er ans klinische Institut
nach Halle und kam 18 10 als Mitglied des Obermedicinal-
collegiums und Professor nach Berlin. Er hat eine grosse
Anzahl wundärztlicher Schriften verfasst. Geboren 1748,
starb er 1835.
24
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370 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
Wenn der Herausgeber nicht sehr zuverlässige Unter-
lagen für die Annahme hat, dass unter dem S. 183 ge-
nannten Schreiber der geschickte Tischler in Jena zu
verstehen sei, so -möchte doch wol zu behaupten sein,
dass er den falschen Schreiber erwischt hat und es viel-
mehr einer der beiden obgedachten Bergbeamten war,
welcher die Zeichnung zu einer Maschine lieferte.
Wenn hiernächst der Zweck der 3. Anmerkung S. 206
offenbar ist, die Quellen über die Person des Grafen
Purgstall nachzuweisen, so durfte nicht die Hauptschrift
vergessen werden: »Denkmal auf das Grab der beiden
letzten Grafen v. Purgstall. Gesetzt von ihrem Freunde
J. V. Hammer. Gedruckt als Handschrift für Freunde.
Wien 1821.«
Die Verwünschung des »Puppenwesens« S. 237 gilt
unzweifelhaft der »Prinzessin mit dem Schweinerüssel«,
dem Puppenspiele, welches Falk von dem bekannten Ma-
rionettenspieler Geisselbrecht in Weimar darstellen Hess,
und welches den Zweck hatte, die Selbstüberschätzung
der Schauspieler durchzuhecheln, dessen wiederholte Auf-
führung aber Goethe auf Andringen der Schauspieler
hintertrieb.
Das »Circular« S. 255, welches Goethe an Knebel,
Hendrich, Hegel, Frommann und andere Jenaer Freunde
mit der Bitte, ihre Erlebnisse nach der Schlacht von Jena
aufzuzeichnen, erlassen hatte, ist noch vorhanden.
Die Bemerkung, dass mit der »heiligen und untheil-
baren Dreieinigkeit« S. 314 die heilige Alliance gemeint
sei, ist zwar vielleicht absichtlich als überflüssig w^egge-
blieben, möchte aber doch manchem eine willkommene
Erläuterung gewesen sein.
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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v/Voigt. 371
Die auf die Bürgermeisterin Bohl S. 315 in der An-
merkung bezüglichen Citate können noch durch Verwei-
sung auf die Nr. 607, 629 und 630 der zweiten Ausgabe
des »Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe« ergänzt
werden.
Die »poetische Licenz« S. 329 wird auf das Wort
»gebidmet« im Gedicht zu Frankenberg's Jubiläum zu be-
ziehen sein.*)
Die »ehrenhaften Beinamen« S. 370 sind die Titel
»Geheimer Hofrath« für den Professor Johann Heinrich
Voigt und »Hofrath« für dessen Sohn, den Professor
Friedrich Sigismund Voigt.
Der Briefschluss S. 377 war schon gedruckt in »Brie-
fen von und an Goethe, herausg. v. Riemer« S. 114.
Kühn, S. 380, war Rentbeamter.
Doch »genug des grausamen Spiels« wird mancher
Leser denken; daher seien die Scholiennachträge vorläufig
abgeschlossen und nunmehr der weiteren Anforderung an
Brieihcrausgeber, die Bestimmung der Adressaten betreffend,
die Aufmerksamkeit zugewandt. Eine bezügliche Kritik
war an zwei Briefen zu üben und zwar zunächst an einem
in Gutzkow's »Unterhaltungen am häuslichen Herd« II,
810, der bei nur einiger Kenntniss von der Briefetiquette
der Zeit und den amtlichen Verhältnissen als an Voigt
gerichtet nie erkannt werden konnte, daher auch aus
*) Ad vocem » Kosegarten« S. 369 kann ich mich nicht enthalten einen kleinen Exctirs
in jahn's Aufsau »Goethe und Kosegarten« in Nr. 2} der »Grenzboten« anzubringen und
XU bemerken« dass Goethe sich schon 1817 oder doch t8i8 fär Kosegartcn's Uebersetzung
des » Megha Duta « zu interessiren begann, worüber zu Tergleichen • G.'s Werke Ausg. letzt.
Hand« )2, 128 und Brief von Frau v. Schiller an Knebel vom S.Juli 1818. Aach hätte in
dem Aufsatze der gemeinsamen Thitigkeit Goethe*s and Kosegarten's bei der Bibliotheks-
einrichtung (Vogel» » G. in amtl. Verhältn. « S. 82 a. 87) gedacht werden mögen.
24*
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372 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
unserer Sammlung mit Recht weggelassen worden ist,
und sodann an dem in »Goethe's Leben von Schaefer«
II, 326 (383 der 2. Aufl.) abgedruckten Briefe, der eben-
falls und zwar, weil er nicht an Voigt gerichtet zu sein
scheine, ausgeschieden worden ist. Nun kann er aber,
wie sich bei Vergleichung des Inhalts mit den Vorgängen
beim Stiftungsfest des Falkenordens ergiebt, lediglich für
Voigt bestimmt gewesen sein, und muthmasslich ist der
Sachverhalt der, dass der Brief bei Schäfer von Goethe
geschrieben war, als er Voigt's bei der Feierlichkeit ge-
sprochenen Prolog empfing, wodurch die in jenem Briefe
enthaltene Bitte um Zusendung desselben überflüssig, und
deshalb anstatt desselben der Brief 194 der Sammlung
abgefertigt wurde. Dass nur dieser Aufnahme fdnd, kann
daher vollständig gebilligt werden.
Die fernerweite Forderung der Feststellung mangeln-
der Daten herauszugebender Briefe trat, wie bei allen
grösseren Briefwechseln Goethe's, in vielen Fällen an den
Herausgeber heran. Es sei versucht, einige dabei unter-
gelaufene Irrthümer herauszuheben und zwar zunächst
hinsichtlich der Einreihung des 9. Briefs, der zwischen
dem 30. September und dem 18. December 1789 geschrie-
ben sein muss, indem an ersterem Tage die Steiger Süss
und Schreiber in Ilmenau eintrafen, am letzten Tage aber
der vorherige Bergsecretair Voigt als Bergrath dorthin
abging; der Brief gehört also zwischen den 12. und ij. Brief.
Der 14. Brief aber ist vom 15. October 1790, von welchem
Tage das dort erwähnte P[ro] M[emoria] sowie die an-
schliessende Verordnung ans Bergbauamt datirt sind; er
gehört daher zwischen den 16. und 17.
Brief 51 ist richtig eingestellt und hätte nur, da einmal
die Jahreszahl 1796 in Klammern beigesetzt ist, bestimmter
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GoETHE*s Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 373
als am 11. oder 12. September geschrieben bezeichnet wer-
den können, welche Tage durch Vergleichung mit dem
50. und 52. Brief sowie dadurch sich ergeben, dass 1796
der II. September auf Sonntag fiel.
Brief 117 gehört bestimmt nicht ins Jahr 1806, jeden-
falls nebst Br. 186 Ende März oder Anfang April 181 5.
Der Herausgeber hat den von Döring in »Goethe's
Briefen« für den Brief 179 angenommenen Tag — den
24. Januar 181 5 — mit Vorbehalt wiederholt, und gewiss
ist das dagegen gehegte Bedenken ganz begründet, sowie
auch die Angabe Düntzer's in den »Freundesbildern aus
Goethe's Leben« S. 575, dass der Brief im Februar jenes
Jahres ergangen sei, nicht richtig sein kann. Denn wenn
in dem fraglichen Briefe die Aufstellung des dem Bergrath
Lenz mit Brief vom 27. Januar übersandten Bildnisses als
etwas Geschehenes, der Geburtstag der Herzogin aber als
etwas Bevorstehendes erwähnt wird, so muss der Brief
zwischen dem 27. und 30. Januar verfasst sein.
Soll endlich die Frage nach Erfüllung der letzten For-
derung an Herausgeber Goethe'scher Briefe, die nach Her-
stellung eines Registers beantwortet werden, so hat das
zu geschehen durch ein — vacat.
Ueberblicken wir das Verhältniss zwischen Goethe
und Voigt, wie es aus den vorliegenden Briefen, sowie
nach verschiedenen Äusserungen in Briefen Goethe's an
den Herzog sich vor unseren Blicken entrollt, so kann es
sehr passend dem zwischen Goethe und Schiller an die
Seite gestellt werden; ebenso wie Schiller der einzige
war, der Goethe'n den Ruhm, der erste Dichter Deutsch-
lands zu sein, streitig machen konnte und in der Volks-
gunst den Sieg davon trug, demungeachtet aber von
Goethe nicht nur ohne Neid herangezogen wurde und
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374 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
die hingehendste Freundschaft erwiedert erhielt, so machte
auch Goethe seinen Fürsten früh auf Voigt, dessen vor-
zügliche Eigenschaften er herausgefunden hatte, aufmerk-
sam, freute sich jeder Gunstäusserung über denselben,
dankte selbst für dessen Bevorzugung und benutzte jede
Gelegenheit ihn zu heben, trotzdem er sehen musste, wie
derselbe reichlicher mit Ehren bedacht wurde als er selbst,
und wie der Einfluss, den sonst er selbst auf den Herzog
übte, allmälig auf Voigt überging, so dass er sogar manch-
mal ihn als Mittelsperson zwischen sich und dem Herzog
anzurufen für gut fand. Auch Goethe selbst venraute
unbeschränkt dem Urtheile des Freundes in den vielfachen
Geschäftsangelegenheiten, in denen sie gemeinschaftlich
zu handeln hatten und zwar nicht aus Sachunkenntniss
oder Bequemlichkeit; denn in allen wichtigeren Fragen
erönerte und erwog er selbst alle Umstände aufs gründ-
lichste und arbeitete dann sein Votum bis zur Peinlichkeit
sorgfältig aus; aber der Schluss ist demungeachtet ge-
wöhnlich die Überlassung der Entscheidung an den be-
wähnen Geschäftsmann. Dabei sind die in den Briefen
vorkommenden Freundschaftsäusserungen so häufig und
innig, wie Goethe sie fast nur noch gegen Schiller heraus-
liess; nicht einmal die an Zelter stehen darin gleich. So
schreibt Goethe z. B. am 28. August 1796: »So darf ich
auf Ihre freundschaftlichen Äusserungen recht wol erwie-
dern, dass ich Ihr Dasein mit dem meinigen so verbunden
fühle, dass ich für mich nichts wünschen kann, ohne Sie
mit einzuschliessen.w Fast das Gleiche, ebenfalls an seinem
Geburtstage 1803, sowie an Voigt's Geburtstag, den 23. De-
cember 181^. Am 30. November 1815 lautet der Brief-
schluss: »Mit den Jahren immer zunehmend an Venrauen
und Anhänglichkeit etc.« Am 16. Mai 1817 beginnt ein
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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 375
Brief: »Jede Zeile von Ew. Excellenz verehrten und lieben
Hand erneuert immer eine längst empfundene Freude;
möge sie mir bis ans Lebensende werden!« Am 5. Juni
desselben Jahres: »Wünsche bleiben mir wenig zu thun,
da mir mehr, als ich verdiente, geworden ist, aber ich
habe die recht angelegentliche Hoffnung, dass wir, die
wir auf dem Kahne des Lebens so lange zusammenfuhren
und schwankten, auch in Charons Nachen unzertrennt
hinüberziehen möchten ! « (Wie bedeutungsvoll ist hier
das »unzertrennt!«) Erschütternd ist es, dass Voigt
zwei Tage vor seinem Tode von Goethe brieflich Ab-
schied nahm, worauf dieser, wenn auch vielleicht gegen
eigene Überzeugung, mit dem Tröste günstiger Wendung
der Krankheit antwortete. Voigt starb am nämlichen Mo-
natstage w^ie 13 Jahre später Goethe: am 22. März.
Der Inhalt der Briefe umfasst das gesammte Bereich
der Landesverwaltung. Einen beträchtlichen Raum nehmen
Briefe über den Ilmenauer Bergbau ein, dessen Missge-
schicke, die ihn nach etwa zehnjährigem Betriebe im
Wesentlichen schon seinem Ende zuführten, reichlichen
Stoff zu gegenseitigem Einvernehmen boten; auch von
lulien aus, von 1786 bis 1788, verständigte sich Goethe
fortwährend mit Voigt über die Geschäfte der Bergwerks-
commission. Wie in dieser waren später beide in der
Oberaufsicht über die weimarischen wissenschaftlichen und
Kunstanstalten, sowie über die Universität CoUegen, und
auch hieraus entsprang ein unerschöpflicher Quell von
Mittheilungen; insbesondere werden viele Personalange-
legenheiten besprochen, die Goethe'n bei seiner theilneh-
menden Gesinnung und bei seiner Fürsorge für tüchtige
Menschen immer sehr am Herzen lagen. Ferner gelangen
Steuer-, Militair-, Polizei-, Theater-, sowie Land-, Hoch-
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376 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
und Wasserbau-Angelegenheiten in Behandlung; auch po-
litische Zeitumstände werden öfters besprochen, wobei
Goethe häufig seinen richtigen Blick bekundet. Dazwi-
schen kommen allgemein wissenschaftliche und literarische,
sowie endlich gesellige und rein persönliche Verhältnisse
zur Sprache. Aber trotz des vorwiegend geschäftlichen
Inhalts finden sich nicht nur manche Scherze, sondern
auch manche Aussprüche von allgemeinerer Bedeutung,
so dass man sich nur aus Rücksicht auf die ohnehin be-
trächtliche Länge dieses Aufsatzes davon abhalten lassen
kann, durch einige Auszüge aus den Briefen des Raums
noch mehr in Anspruch zu nehmen.
III.
Otto Jahn hat den Briefen an Voigt einen werth-
voUen Anhang beigefügt.
Voran stehen einige Gedichte Voigt*s, deren Inhalt
im Allgemeinen schon oben angedeutet wurde, und die
mit ihren hübschen Gedanken und ihren Gemüthsergüssen
das Bild des trefflichen Mannes dem Betrachtenden an-
muthig ergänzen ; die darunter befindlichen Nachahmungen-
HorazischerOden haben einen classisch-römischen Schwung.
— Es sei erlaubt, noch zweier anderen gedruckten Ge-
dichte Voigt*s zu gedenken: der lateinischen Ode »Auf
Nelson's Sieg bei Abukir« nebst Uebersetzung im »Neuen
deutschen Merkur vom Jahre 1798« III, 249 ff., und der
»Lebensparallele « , womit er den Oberberghauptmann
V. Trebra zu dessen letztem Gebunstage (derselbe starb
im selben Jahre mit Voigt) begrüsste, in den »Freiberger
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GoETHE*s Briefwechsel ukd Briefe an v. Voigt. 377
gemeinnützigen Nachrichten für das k. s. Erzgebirge«
1819, Nr. 29 — 31.
Eine Ergänzung zu diesem I. Abschnitt des Anhangs
bietet der III., welcher drei Übersetzungen des auch von
Goethe übertragenen römischen Volksgesanges »Quelle
piume, bianche e nere etc.« (»Moderömerinnen«) von
Voigt bringt, ingleichen eine von Herder mit ein Paar
Briefchen desselben an Voigt.
Der zwischenliegende II. Abschnitt enthält die von
Goethe aufgesetzten Statuten der 1791 von ihm gestif-
teten, belehrende Unterhaltung bezweckenden Freitags-
Gesellschaft, sow^ie Goethe's Niederschriften über die
drei ersten Zusammenkünfte der MitgHeder, denen auch
zwei Anreden Goethe's beigelegt sind, deren eine die
Bedeutung geselligen Verkehrs für die Bildung zum Gegen-
stande hat.
Der IV. Abschnitt führt einige Schriftstücke, Schi Her* s
Adelung betreffend, vor. Zuerst Voigt's Brief, mittels
dessen er den Entwurf der Begründung des Gesuchs um
Erhebung Schiller's in den Adelstand dem letztgenarmten
mittheilte. Schiller hatte den Aufsatz mit ein paar Zu-
sätzen versehen und ihn übrigens gutgeheissen ; nichts-
destoweniger ging er in veränderter Gestalt durch Ver-
mittelung des kaiserlichen Gesandten in BerHn, Grafen
Stadion, nach Wien und wurde dann mit weiteren Ände-
rungen in die Adelsurkunde aufgenommen. Diese ferneren
amtlichen und halbamtlichen Schriften finden sich im
»Schillerbuch von Wurzbach v. Tanneberg« Nr. 2401 — 2407.
Jahn hat hiernächst noch die aus dem »Weimar-Albunv
zur vierten Säcularfeier der Buchdruckerkunst« S. 161 und
349 bekannten Briefe Schiller's an Voigt und Karl August's
an Schiller über dieselbe Angelegenheit, sowie ein Ge-
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378 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
dichtchen Voigt's an Schiller über die Adelsverleihung
und einen Dankbrief Schiller's an den ersteren abdrucken
lassen.
Im V. Abschnitt haben Briefe der Professoren Fichte
und Paulus in Jena gegen Studentenverbindungen Auf-
nahme gefunden.
Ein hervorragender Beitrag des Buchs zur Goethe-
Literatur ist der VI. Abschnitt des Anhangs: Theater-
Acten 1808. Er führt in einer grösseren Anzahl von
Briefen Goethe's, Karl August's, Voigt's und Kirmse's,
sowie einigen ausführlichen Ausarbeitungen Goethe's mit
darauf bezüglichen EntSchliessungen des Herzogs bis in's
Einzelne die bisher nur in der Hauptsache bekannten
Zerwürfnisse vor, welche gegen Ende des Jahres 1808
Goethe zu Niederlegung der Theaterdirection bewögen.
Bekanntlich war der Herzog auf Andringen seiner Ge-
liebten, der Schauspielerin Jagemann, gegen den Sänger
Morhardt unter Übergehung der Theaterdirection wegen
angeblicher Widerspenstigkeit mit grosser Strenge vor-
gegangen, wodurch sich eben Goethe zu jenem Schritte
veranlasst sah, obwol der Herzog die anbefohlenen Mass-
regeln auf Vorstellung etwas gemildert hatte. Es thut
weh, durch die hieraus entsprungenen Zerwürfnisse das
schöne Bild, das man sich von dem freundschaftlichen
Verhältnisse zwischen Goethe und seinem Fürsten vorzu-
stellen gewohnt ist, getrübt zu sehen. Als 1817 Goethe
aus der Theaterdirection schied, schickte ihm zw^ar der
Herzog die Entlassung, ohne dass Goethe darum nach-
gesucht hatte, bestimmt zu; es geschah aber doch immer
unter Wahrung einer anständigen Form. Aber die hier
veröffentlichten Schriftstücke rufen das drückende Gefühl
hervor, dass das Verhältniss zwischen Goethe und dem
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GoETHE*s Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 379
Herzog doch eben sehen des letzteren nur ein geduldetes
war, so lange Goethe als gefügiger Hofmann sich zeigte;
hier aber, wo Goethe es seiner Ehre schuldig zu sein
glaubte, eine Stelle nicht wieder anzutreten, in welcher
er sich dem hinterrückigen Einfluss eines Untergebenen
beugen sollte, hört der Herzog auf Freund zu sein und
tritt rücksichtslos als Herr gegen den Diener auf; er weist
es mit Stolz von sich, dass Goethe zu Verhandlungen,
durch w^elche er sich Gewähr g<5gen ähnliche Eingriffe
verschaffen will, die Hand zu bieten bereit ist. Goethe
geht indessen glänzend aus den Wirren hervor; er be-
zeichnet von vornherein die Bedingungen, unter denen er
zu bleiben allein geneigt sei, von denen er aber kein
haarbreit abgehen werde, und der Herzog, obgleich er
ebenso entschieden und mit Ungestüm aufgetreten ist —
gibt nach. Aber diese Nachgiebigkeit erzeugt keinen be-
ruhigenden Eindruck : der Herzog gibt nicht nach in An-
erkennung seines Unrechts oder gar aus Freundschaft für
Goethe, sondern weil sich kein Nachfolger für Goethe
findet, weil die Herzogin, Voigt, der Theatersecretair,
Hofkammerrath Kirms und wahrscheinHch noch viele
andere Personen bei dem Herzog zur Sühne redeten, und
weil schon in ganz Deutschland, ja darüber hinaus die
öffentlichen Blätter die Angelegenheit, und nicht zu Gunsten
des Herzogs besprachen. Gegen den schmerzlichen Ein-
druck dieses Vorgangs kann man sich nur einigermassen
durch die Annahme schützen, dass es die Sinnlichkeit war,
welche Karl August berauscht und seinem bessern Selbst
vorübergehend untreu gemacht hatte. Goethe scheint aber
von da ab sehr fühlbar gemacht zu haben, dass er Formen
der Freundschaft dem gegenüber nicht mehr gebrauchen
möge, der die Macht habe diese Formen zu verbieten,
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380 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
und in dem der Machthaber nur zu schlafen, beim Er-
wachen aber den Freund zu vergessen schien, wenigstens
findet sich in dem Briefwechsel — in dem allerdings
Goethe's Briefe um diese Zeit mehrere Jahre lang fehlen
— erst nach dem Vorgange von 1808 die Anrede »Durch-
laucht«, während vorher Goethe in seinen Briefen den
Herzog immer nur kurzweg mit »Sie« anredete.
Der VII. Abschnitt des Anhangs bringt Acten-
stücke Karl August betreffend. A. Schriften über
ein ganz ähnlich verlaufendes Zerwürfniss, wie das eben
erzählte, mit dem damaligen Polizeipräsidenten Karl Wil-
helm Freiherr von F ritsch; B. eine Eröffnung des Her-
zogs wegen Bestrafung in Jena studirender Liv- und Kur-
länder, die Ungebührlichkeiten begangen hatten; C. brief-
liche Äusserung Karl August's wegen Unterbringung eines
für seinen Stand nicht passenden Geistlichen; D. ein Brief
desselben, worin er gegen Beamtenunschicklichkeiten derb
loswettert. Aus allen diesen Erlassen leuchtet der ge-
sunde und rechtschaffene Sinn des Herzogs deutlich her\or.
Im VIII. Abschnitt endlich sind mehrere Briefe Goethe's
an Karl August geboten, und zwar sieben aus dem Jahre
1797, zwei von 1810 aus Karlsbad und einer von 181 5
aus Wiesbaden. Unter den ersteren sind diejenigen be-
griffen, welche Goethe auf seiner dritten Schweizerreise
schrieb und dann in sein Buch über dieselbe verarbeitete.
Als Scholien zu diesen Briefen Goethe's mögen die Be-
merkungen dienen, dass die Gemahlin des Grafen Stanis-
laus Potocky (S. 576), eine geborene Prinzess Lubomirska,
eine sehr gebildete, geistreiche Frau war, sowie dass
(S. 578) Prinz Anton, nachmaliger König von Sachsen,
im Jahre 18 10 keine Tochter am Leben hatte. Man wird
mit Antheil auch diese Briefe lesen, die eine der vielen
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Goethe's Briefwechsel und Briefe am v. Voigt. 381
Lücken im Briefwechsel Goethe's mit seinem Fürsten
ausfüllen.
Um nun noch einmal vom Ende zum Anfange zu-
rückzukehren, seien dem Bildnisse Voigt's ein paar Worte
gewidmet. Es ist nicht angegeben, von wem und wann
das Urbild gemalt ist; doch dürfte es zwischen den Jahren
1805 und 1816 entstanden sein. Es zeigt einen ehrwürdigen
haarumwallten Greisenkopf von kräftigen, ernsten Zügen.
Gedacht sei dabei auch jenes früheren Bildnisses, von
welchem in dem von Goethe auf Grund von Meyer ge-
gebener Unterlagen ausgearbeiteten Bericht über die
»Weimarische Kunstausstellung v. J. 1803« *) nach Be-
sprechung des Technischen gesagt wird : »Der Ausdruck
ernsten Nachdenkens mag dem Bildniss eines geschäfte-
führenden, thätigen Staatsmannes geziemen und motivirt
also die etwas zu sehr in die Höhe gehende Richtung des
Hauptes und des Blickes der Augen.«
Zum Schluss sei die schöne Gabe des Herrn Pro-
fessor Jahn allen warm empfohlen, welche dem goldenen
Zeitalter unserer Literatur und Goethe'n insbesondere
die ebenso verdiente, wie lohnende rege Aufmerksamkeit
zuwenden. **)
*) Vcrgl. Goetbe's Brief an Schiller vom 2. Deceniber 1803.
**) Noch etwas nachträglich xa S. 1)4! Wenn dort Goethe «Hrn. Fr. v. Trebra«
gnisscn Usst, so möchte dabei 'wol falsch gelesen sein; ich wem'gstens uei^ die Abkürzung
» Fr." nach »Hm.« nicht za deuten, ohne letzteres aber wdrde ich lesen : Fr(eund) v. Trcbra.
— Uebrigens war Trcbra damals Viccbcrghanptmann in Zcllerfeld.
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382 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
IV.
Nachtrag.
Das über Goethe's Briefwechsel im Vorstehenden
unter L, II. und III. 1868 Gesagte ist jetzt nach 1 1 Jahren
durch folgendes zu berichtigen und zu ergänzen :
Die unter I. im ersten Absatz angegebene Zahl von
340 Personen, an welche Briefe Goethe's gedruckt vor-
liegen, ist jetzt auf fast 600 gestiegen, die Zahl der ge-
druckten Briefe aber von 3900 auf nahezu 8600. Der von
mir damals veranschlagten Zahl von loooo Briefen Goethe's
ist man also schon sehr nahe gerückt.
Die im vierten Absatz gedachten 533 Briefe an Schiller
dürften sich in der bevorstehenden, endlich vollständigen
4. Ausgabe des Briefwechsels mit diesem auf etwa 540
angewachsen ergeben.
Die in den nächsten Absätzen aufgeführten stärksten
Briefwechsel Goethe's lassen sich gegenwärtig vermehren
durch die
an Eichstädt mit 222 Briefen Goethe's von 1803
bis 1830,
an Soret mit 106 Briefen von 1823 bis 1832,
an das Ehepaar von Willemer mit 88 Briefen von
1808 bis 1832,
an Freiherrn von Cotta mit 62 Briefen von 1797
bis 1829,
an Johanna Fahimer, nachmals verehelichte Schlosser,
mit 50 Briefen von 1773 bis 1781,
an Fritz Schlosser mit 49 Briefen von 1808 bis 1830,
und
an Frau von La Roche mit 45 Briefen von 1772
bis 1789.
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GoETHE*s Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 383
Im zehnten Absatz ist der damals als ältester be-
kannte Brief von 1765 angeführt; dermalen haben wir
einen Brief vom 23. Mai 1764 an Ysenburg von Buri und
überhaupt bis Ende August 1770 nunmehr 37 Briefe.
An Briefwechseln oder doch zahlreicheren Goethe'schen
Briefen an einzelne Adressaten sind in besondern Schriften
seit 1868 erschienen mit beziehentlich an: Schelling 1869
und 1870, Eichstädt 1872, Louise Seidler 1814, Johanna
Fahimer 1875, Gebrüder von Humboldt und Freiherr von
Cotta 1876, Soret, von Willemer (Herr und Frau) und Fritz
Schlosser 1877, von Quandt und Rauch 1878, Frau von
La Roche, Frau v. Arnim und Kayser 1879.
Im zwanzigsten Absatz sind die Adressaten genannt,
an welche Goethe beträchtlich mehr Briefe geschrieben
hat, als vorliegen; von jenen Namen können wir jetzt
Eichstädt, Gräfinnen von Egloffstein, die Brüder von Hum-
boldt, Kayser, Mendelssohn-Bartholdy, Nees von Esen-
beck, Tischbein und von Willemer streichen, dagegen
wäre noch Sylvia von Ziegesar hinzuzufügen.
Ebenso sind von den Personen des nächsten Absatzes
mehrere in Wegfall zu bringen, nachdem an sie gerichtete
Briefe Goethe's gedruckt worden sind, und zwar Blumen-
bach, Cattaneo, Cuvier, von Einsiedel, Gräfin von Fritsch,
Christiane von Goethe, Landgraf Christian von Hessen,
Hüttner, Hundeshagen, Bibliothekar Langer, Fürst Metter-
nich, Ernst Meyer, Neureuther, Saint-Hilaire, von Schelling,
Friedrich Schlegel, Johanna Schlosser geb. Fahimer, Adele
Schopenhauer, Corona Schröter Q), von Schütz, von
Trebra, Unzelmann, Bergrath Voigt, Vulpius, Frau von
Willemer. Wiederum können jetzt noch Personen ge-
nannt werden, an welche geschriebene Briefe man be-
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384 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
dauernd vermisst, namentlich Gräfin von Chassepot geb,
von Knabenau, von Kügelgen, Baronin von Stael-Holstein.
Zu dem IL Theil der Recension von 1868 ist nur
noch zu bemerken, dass durch mehrere seitdem zerstreut
gedruckte Briefe Goethe's an von Voigt, deren Gesammtzahl
zur Zeit auf 290 anzugeben ist, ausser denen, deren An-
fänge Diezel in $einen »Ungedruckten Briefen Goethe's«
aufgenommen hat.
Schliesslich seien künftige Herausgeber der Briefe
Goethe's noch ausdrücklich vor dem Verfahren gewarnt,
das Datum der Briefe beüebter Gleichmässigkeit halber stets
an dieselbe Stelle — an die Spitze des Briefs oder aber nach
dessen Schluss -- zu setzen. Da Goethe in späteren Zeiten
Briefe oft mit Unterbrechungen schrieb, meistens aber sie
demungeachtet nur einmal datirte, so ist es ein gewaltiger
Unterschied, ob der Leser das vorhandene Datum auf den
Anfang oder auf's Ende des Briefes zu beziehen hat.
Manche Zweifel an der Richtigkeit der Datirung von
Briefen haben ihren Grund in Unkenntniss über die unter-
brochene Niederschrift oder in der Versetzung des Da-
tums an eine andere Stelle als im Original. Es muss
daher im Druck das Datum stets da stehen, wo es im
Original steht.
^^lJP^"
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3- Elisabeth Goethe.
oethe's Mutter hat das eigenthümliche Schicksal
in der Literatur eine Rolle zu spielen, obwol
sie lebend weder jemals in die Öffentlichkeit
getreten ist, noch merkwürdige Begegnisse
erfahren hat, noch bei ihrem Tode Schriften
im literarischen Sinne hinterlassen, auch nicht wie eine
Heilige mit ihrem Leichname Wunder gewirkt hat. Selbst
dass sie in der Zeit des Freundschaftscultus lebte, der so
manche Person über ihren Wenh erhob, erklärt ihre jetzige
literarische Bevorzugung nicht und ebensowenig allein das
Glück, Goethe's Mutter gewesen zu sein. Allerdings ist
dies die erste Ursache, dass die Literatur sich ihrer be-
mächtigt hat. Bei ihren Lebzeiten machten die Besuche
der selbst berühmten Männer, die den noch in Frankfurt
sich aufhaltenden Dichterjüngling kennen lernen und die
später seiner Mutter die Verehrung bezeugen w^ollten, die
sie für den grossen Mann hegten, die Räthin Goethe in
den ansehnlichsten Kreisen Deutschlands bekannt und die
bedeutendsten Persönlichkeiten, selbst mehrere Fürstlich-
keiten, darunter ihr zeitweiliger Landesherr, der Gross-
25
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386 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
herzog Karl Theodor von Frankfurt, erwiesen ihr unge-
wöhnliche Aufmerksamkeiten und sprachen eine tiefe
Ehrfurcht für die seltene Frau aus. Sandte doch sogar
der kaiserliche Botschafter beim päpstlichen Stuhle, Car-
dinal Graf Herzan, einen zufällig erlangten Brief derselben
an ihren damals in Rom weilenden Sohn nach Wien an
den Fürsten Kaunitz!
Diese Ehrenbezeigungen müssen Wunder nehmen.
War die Mutter Goethe's doch weder von höherer w issen-
schaftlicher, noch von feiner gesellschaftlicher Bildung,
nicht einmal einen blendenden Geist besass sie — und
dennoch haben wir vielseitige Zeugnisse, dass sie von
überwältigender hinreissender Persönlichkeit war. Wenn
ihr nun aber gebrach, was gewöhnlich eine solche aus-
macht, so müssen ihre sonstigen Eigenschaften um so
glänzender und gewichtiger gewesen sein.
Diese finden wir nun in der Klarheit des unbestochenen
Blicks, mit dem sie Personen und Verhältnisse, Natur und
Weltlaut betrachtete, in der Sicherheit des scharfen Ver-
standes, mit dem sie darüber urtheilte, in der besonnenen
Thätigkeit, mit der sie alles sie Umgebende in's rechte
Gleis zu bringen und in behaglich ruhigem Gange zu er-
halten wusste, in dem heiteren Sinn, mit dem sie alle zu
beleben und sich selbst gegen Widerwärtigkeiten zu wehren
verstand, in der Gabe dichterisch schaffenden, die Zuhörer
fesselnden Erzählens, in der gemüthvollen Hingebung an
befreundete Personen — zu welchem allen endlich eine
tiefinnerliche Gottesfurcht kam, die ihrem ganzen Wesen
Würde und Weihe verlieh.
Man erkennt sofort, dass diese Eigenschaften im
Sohne wiedergeboren waren, in welchem sie, durch gross-
artigste geistige Begabung und umfassendste Bildung ge-
Digitized by VjOOQ IC
Elisabeth Goethe. 387
steigert, als das mütterliche Erbtheil erscheinen, das nur,
namentlich in spätem Jahren, durch das väterliche einer
ernsten Bedächtigkeit und Gemessenheit bedingt wurde.
Wenn diese, die Bewunderung der Mitwelt hervor-
rufende Persönlichkeit auch die Nachwelt lebhaft be-
schäftigt, so veranlasste dies zunächst die Schilderung, die
Goethe in »Dichtung und Wahrheit« von seiner Mutter
gibt. Die Personen, welche er dort im Glänze seiner Dar-
stellung vorführt, sind fast alle mehr und weniger geweihte
Gestalten geworden, während viele derselben ausserdem
längst vergessen wären; man erinnere sich nur Friederikens,
Lilli's, Lenzens, Merck's u. A.
Bald nach Goethe's Tod (1835) führte Frau v. Arnim,
geb. Brentano, in »Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde«
seine Mutter der deutschen Lesewelt in ihrer Weise vor
Augen, wodurch zunächst Riemer bewogen wurde, in den
»Mittheilungen über Goethe« (1841) die Keckheit darzu-
legen, mit der jene Schriftstellerin Wahrheit und eigene
Erfindung durcheinander gemischt und das Wesen von
Goethe's Mutter wie von Goethe selbst schmählich ver-
zerrt hatte. Konnte dieser Beweis auch nicht für alle
Einzelheiten geführt werden, so sind doch die erwiesenen
Fälschungen so masslos, dass man Bettinens Erzählungen
sowol in der angeführten Schrift, als wo sonst sie von
Goethe's Mutter berichtet, durchgängig misstrauen muss
und nur sicher geht, wenn man ihre Nachrichten voll-
ständig unbeachtet lässt. Zu was das ewige Wiederholen
ihrer Geschichten mit den unvermeidlich anhängenden
Widerlegungen !
Indessen hat Bettina wie gesagt das, wenn auch nur
negative Verdienst, die Räthin Goethe in das deutsche
Schriftthum eigentlich erst eingeführt zu haben. Sie regte
25*
Digitized by VjOOQ IC
388 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
auch die erste umfänglichere Veröffentlichung von echten
Briefen derselben an in »Reminiscenzen. Goethe's Mutter etc.,
herausgegeben von Dorow, 1842«, worauf dann die Cha-
rakteristik »Goethe's Mutter« von Jacob im »Historischen
Taschenbuch, herausgegeben von F. v. Raumer. Neue
Folge. V. Jahrg. 1844« an 's Licht trat, ein Aufsatz, der
freilich allen Werths entbehrt, weil er Bettinens Faseleien
und Lügen auf Treu und Glauben wiedergiebt. Dieser
Fehler ist vermieden in »Frauenbilder aus Goethe's Jugend-
zeit von H. Düntzer«, deren fünftes ist: »Katharina Elisa-
beth Goethe geborne Textor, Goethe's Mutter.«
Diese merkwürdige Frau kennen zu lernen bietet ihr
brieflicher Verkehr den werthvollsten Stoff dar, der denn
auch vorzugsweise in den vorhandenen Lebensbildern der-
selben verarbeitet ist. Robert Keil in Weimar verdient
daher den aufrichtigen Dank nicht nur aller Goethefreunde,
sondern aller, denen es Genuss gewährt, ungewöhnliche
Personen in ihrem innersten Wesen zu ergründen, ja auch
der nur Unterhaltung suchenden Leser, dass er in »Frau
Rath — Briefwechsel von Katharina Elisabeth
Goethe — Leipzig, Brockhaus 1871« es unternommen
hat, nicht nur die in verschiedenen Schriften zerstreuten
Briefe von ihr und an sie zusammenzustellen, sondern auch
eine grössere Zahl ganz unbekannter oder nur zum Theil
bekannter nach den Originalien abdrucken zu lassen. Diese
letzteren sind meistens an die Frau Rath gerichtete von
ihrem Sohne, von Wieland, von der Hofdame v. Göchhausen,
von der Herzogin Amalie, vom Herzog Karl August u. a.
Dieselben liefern durch den Einblick in die Weise, in der
Personen verschiedenster Art mit ihr umgingen, ebenso
wie viele Stellen aus Briefen dritter Personen unter sich,
worin Mittheilungen über Goethe's Mutter vorkommen.
Digitized by VjOOQ IC
Elisabeth Goethe. 389
einen kaum geringern Beitrag zur Kenntniss ihrer Persön-
lichkeit, als ihre eignen Briefe.
Ist es nicht z. B. ein schlagendes Anerkenntniss ihrer
Bedeutung, wenn der Erbprinz von Mecklenburg-Strelitz
am 20. August 1805 an sie schreibt:
»Da ich weiss, dass Sie Ihrem alten Freunde Gerech-
tigkeit widerfahren lassen, so würde es mir unmöglich
sein Ihnen meine Freude Ihres lieben Briefes wegen mit
den gewöhnlichen Schnirkeln vorzumalen. Ich sage Ihnen
lieber, dass ich darin ganz meine alte Räthin erkannt
habe, die Frau, von der es mich nie gewundert hat, dass
sie uns Goethe gebar.«
Oder wenn Kammerherr Friedrich v. Einsiedel am
30. Juni 1778 in Brief an v. Knebel äussert:
»Von Goethe's Mutter weiss ich nichts zu sagen ; sie
ist über alle Beschreibung erhaben.«
Oder wenn Wieland sie in Brief vom 30. Sept. 1777
bittet, ihr Urtheil über eine belletristische Arbeit, die ihm
Klinger für den »Teutschen Merkur« angetragen hat, ab-
zugeben, bevor er sich über deren Annahme erklärt.
In den Selbstschilderungen der Räthin Goethe er-
kennen wir ihre gesellige Begabung unter anderen in Brief
an den Consul Schönbom in Algier vom 24. Juli 1776:
»Was wollen wir einander erzählen ! Vor Langerweile
dürfen wir uns nicht fürchten. Ich besitze einen Schatz
von Anekdoten, Geschichten u. s. w., dass ich mich an-
heischig mache 8 Tage in einem fort zu plaudern und
wenn Sie nun gar anfangen werden etc.«
Desgleichen in Brief an ihren Sohn vom 6. Oct. 1807 :
»Meine Gabe, die mir Gott gegeben hat, ist eine
lebendige Darstellung aller Dinge, die in mein Wissen
einschlagen. Grosses und Kleines, Wahrheit und Märchen
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390 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
u. s. w. So wie ich in einen Zirkel komme, wird alles
heiter und froh weil ich erzähle. Also erzählte ich den
Professoren *) und sie gingen und gehen vergnügt weg.
Das ist das ganze Kunststück. Doch noch eins gehört
dazu: ich mache immer ein freundUch Gesicht, das ver-
gnügt die Leute und kostet kein Geld — sagte der sei.
Merck.«
Wie hier gegenüber andern Leuten, so fand die Mutter
Goethe auch für sich die rechte Lebenskunst. An ihren
Sohn schreibt sie z. B. am i. Aug. 1796:
»Doch vor der Zeit sich grämen oder gar verzagen
war nie meine Sache. Auf Gott vertrauen, den gegen-
wärtigen Augenblick nutzen, den Kopf nicht verlieren,
sein eignes werthes Selbst vor Krankheit zu bewahren —
da dieses alles mir von jeher wohlbekommen ist, so will
ich dabei bleiben.«
Desgleichen am 27. Oct. 1807:
»Mir geht's wie dem Hund in der Fabel: abwehren
kann ich's nicht, zerzausen kann ich mich nicht lassen —
gerade wie der Hund: ich — esse mit. Das ist ver-
dolmetscht: Ich freue mich des Lebens weil noch das
Lämpchen glüht, suche keine Dornen, hasche die kleinen
Freuden; sind die Thüren niedrig, so bücke ich mich;
kann ich den Stein aus dem Wege thun, so thue ich's;
ist er schwer, so gehe ich um ihn herum — und so finde
ich alle Tage etwas, das mich freut ; und der Schlussstein :
der Glaube an Gott! Der macht mein Herz froh und
mein Angesicht fröhlich.«
Heitere Laune spricht, wie hier, fost aus jeder Zeile
der Briefe der Räthin; manche, wie namentlich die an
•) Die 2ur Messe nach Frankfurt gekommen waren und Goethc's Mmtcr aufsuchten.
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Elisabeth Goethe. 391
Louise V. Göchhausen, sind beinahe ganz daraus ent-
standen, auch zum Theil in Knüttelversen abgefasst.
Man hat der Goethe diese Leichtlebigkeit wol ver-
übelt und es namentlich sehr getadelt, dass sie am
24. Sept. 1795 ihrem Sohne schrieb:
»Ich bin fröhlich und gutes Muths, habe mir über
den ganzen Krieg noch kein grau Haar wachsen lassen,
schaue aus meinem Fenster, wie die Oesterreicher ihre
Kranken auf Wagen fortbringen, sehe dem Getümmel zu,
speise bei offenem Fenster zu Mittag, besorge meine kleine
Winhschaft, lasse mir Abends im Schauspiel was daher
tragiren und singe : »Freut euch des Lebens weil noch das
Lämpchen glüht u. s. w.«
Die Tadler dieser anscheinenden Herzlosigkeit sind
aber Leute, die nur einzelne Züge aufzufassen, nicht aber
eine Persönlichkeit aus dem Ganzen zu beurtheilen wissen.
Um ihren Grundsatz, sich nicht unfruchtbarem Jammern
zu ergeben, durchzuführen, bedurfte Frau Goethe einer
entschiedenen Gegenwirkung, die sie nur in Belebung
ihres heitern Gemüths finden konnte. Dass sie die Nieder-
lage des Vaterlandes tief empfand, bezeugt eine brcfliche
Äusserung des Erbprinzen von Mecklenburg-Strelitz an
seine Schwester, die Fürstin von Thum und Taxis, vom
30. Oct. 181 3: »Wie schade, dass die alte Goethe todt ist,
dass sie die Wiedergeburt ihrer Stadt nicht erlebt, deren
Fall ihr das Herz abgedrückt hat.« (»Zum 17. Oct. 1866 etc.
Neustrelitz« S. 48.) Wäre dem Fürsten die Empfindung
der Goethe nicht als eine sehr schmerzHche bekannt ge-
worden, so würde er nicht nach Jahren — sie starb 1808 —
noch daran gedacht und davon geschrieben haben. Ebenso
wenig wie bei fremdem Leid erging sie sich bei eigenem
in vergeblichen Klagen und blieb sich hierin gleich bis
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392 Vermischtes zur Goethe-Forschun'g.
auf's Sterbebette, von welchem aus sie noch selbst die
Anordnungen für ihr Begräbniss traf.
Keil eröffnet sein Buch mit einer Einleitung, in welcher
er den urkundlichen Stoff zu einem hübschen Lebensbilde
verarbeitet hat. Eine ausführliche Benutzung der Nach-
richten, welche Maria BeUi im »Leben in Frankfurt a. M.«
(Bd. III, S. 92 fg., und Bd. IX, S. 97) von der seltenen
Frau giebt, wäre zu wünschen gewesen, da sie gerade
tiefbezeichnende Züge enthalten. In der EHsabeth im »Götz
von Berlichingen « , sowie in den Müttern Wilhelms und
Hermanns in »W. Meisters Lehrjahren« und in »Hermann
und Dorothea« findet Keil Goethe's Mutter dargestellt,
was er durch Anführung der betreffenden Stellen dieser
Dichtungen begründet.
Ungleichheiten der Behandlung sind es, dass Keil
einige Briefe über die Frau Rath nur in der Einleitung
abdrucken Hess, während die meisten richtiger in der
Briefsammlung selbst stehen. In letzterer wiederholt sich
die ungleiche Behandlung, sofern manche Briefe der Räthin
und solche an sie nur im Auszug wie Anmerkungen unterm
Text aufgenommen sind. Die etwaige Ausrede, dass diese
Briefe unbedeutenderen Inhalts seien, wird nicht durchaus
Stich halten.
Diese Ausstellung führt zu der weiteren, dass mehrere
Briefe der Goethe gar nicht wiedergegeben sind. Das
Werk forderte seiner ganzen Anlage nach die thunlichste
Vollständigkeit, abgesehen davon, dass in der That manche
weggelassene Briefe keineswegs bedeutungslos sind. Noch
tadelnswerther möchte man andererseits die Aufnahme der
Briefe nennen, die Bettina in ihrem schon angefühnen
Buch die Mutter Goethe's geschrieben haben lässt. Keil
selbst erklärt sie für durchweg unecht und drängt dem-
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Elisabeth Goethe. 393
ungeachtet mit ihnen auf der einen Seite den Lesern seiner
Schrift ein entsteUtes Bild der Goethe auf, während er
sich dadurch auf der andern Seite den Raum beengte, den
er zu vollständigem Abdruck ihrer echten Briefe hätte
benutzen sollen.
Zu den Briefen, die Keil kannte und unterschlug,
muss ihm aber überdies ein auch schwer wiegendes Re-
gister der Briefe vorgehalten werden, die er gar nicht
aufgefunden hat. Er behauptet sogar unwahr: es wären
keine Briefe der Frau Rath aus der Zeit vor ihres Sohnes
Übersiedlung nach Weimar erhalten. Es sind aber folgende
Briefe von Keil offenbar gar nicht gekannt: v. 2. Aug. 1774
an Lavater (»Zwölf Briefe v. Goethe's Eltern an Lavater etc.«
S. 7); V. 28. Juni 1775 an Lavater (ibid. S. 9); v. 2. Febr. 1776
an Hanns Buff (»Goethe und Werther etc.« S. 244 fg.);
um Neujahr 1777 (?) an Lenz, Glückwunsch in Reimen
(»Lenz u. seine Schriften von Dorer-Egloff« S. 178);
an Crespel v. 10. Febr., 17. März u. 16. Apr. 1777 (»Abend-
zeitung« 1837, S. 1122); V. 13. Juni 1777 an Lavater
(»Zwölf Briefe etc.« S. 11); v. 23. dess. Mon. an dens.
(ibid. S. 12 fg.); v. 2. Jan. 1778 an Seidel (»Die Grenz-
boten — 1870« S. 112 fg.); V. 20. März 1778 an Lavater
(»Zwölf Briefe etc.« S. 14 fg.); v. 26. Juni 1778 an dens.
(ibid. S. 16); V. 7. Sept. 1778 an Seidel — vollständig
(»Grenzb. 1870« S. 113 fg.); Ende 1778 an Wieland (?)
über Lenzens Unterstützung (»Morgenblatt, 1855« S. 760);
V. 23. Febr. 1779 an Lavater (»Zwölf Briefe etc.« S. 17 fg.);
V. 12. März 1779 an Wieland (»Morgenblatt, 1855« S. 759);
V. 3. April 1779 an Seidel (»Grenzb. 1870« S. 114 fg.);
an Grossmann v. 22. Sept. 1779 (Briefstelle im »Verzeich-
niss der Autographensammlung des Hrn. G. M. Clauss in
Leipzig«); v. 5. Jan. 1781 an Lavater (»Zwölf Briefe etc.«
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394 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
S. 19 fg.); V. 18. Juni 1783 an dens. (ibid. S. 23); v.
18. Juni 1786 an dens. (ibid. S. 24); v. 23. Oct. 1788 an's
Kestner'sche Ehepaar (»Goethe und Werther etc.« S. 274 fg.) j
V. 23. Juni 1789 an Frau v. Knigge (»Aus einer alten
Kiste etc.« S. 42 fg.); v. 13. Juni 1807 an Frau v. Arnim
geb. Brentano — echter Brief (»Sammlung berühmter
Autographen etc.« Nr. 248). Zum Überfluss könnte noch
eine Stelle aus einem Ende Mai oder Anfang Juni 1793 an
Schlosser's zweite Gattin geschriebenen Briefe, worin sie
sich über das Aussehn ihres Sohnes äussert, angefühn
werden. (»Aus F. H. Jacobi's Nachlass etc.« II, 161.) Da
übrigens Keil auch die bekannten Briefe des Rath Goethe
aufgenommen hat, so ist auf dessen zwei Zuschriften an
Lavater in »Zwölf Briefe etc.« S. 7 fg. u. 10 noch zu
verweisen.
Die Goethe-Literatur im engern Sinne zieht keinen
erheblichen Gewinn aus Keils Buch ; denn von den zehn
darin abgedruckten Briefen Goethe's an seine Mutter sind
sechs ihrem wesentlichen Inhalte nach schon von Riemer
veröffentlicht (»Mittheilungen über Goethe etc.« II. Bd.
S. 43, 51 fg., 95 fg., 130 fgg., 178 fg. und 332 fg.), aller-
dings nicht nur unvollständig, sondern auch stellenweise
in Riemer's leichtfertiger Weise geändert. Seltsam ist's,
dass Keil nur bei dem letztgedachten Briefe den frühem
Druck anführt. Neu bringt er die Briefe Goethe's Nr. 35,
74, 126 und 138. Noch hätte allenfalls einer Stelle aus
einem zwischen dem 14. und 20. October 1792 aus
Luxemburg an seine Mutter geschriebenen Briefe ge-
dacht werden können. (»J. G. Forster's Briefwechsel etc.«
II, 324.)
Möge Herr Keil recht bald in die Lage kommen, mit
einer 2. Ausgabe der »Frau Rath« hervorzutreten und da-
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Elisabeth Goethe. 395
bei seine Unterlassungen wieder gutmachen.*) Diese neue
Ausgabe kann dann mit folgendem, von Herrn Ober-
bürgermeister Hofmeister in Neustadt a. d. O. in Ab-
schrift gütig mitgetheilten Briefchen Goethe's an Sylvia
V. Ziegesar, nachmals verehelichte Dr. Koethe abgeschlossen
werden :
Als mich, liebste Sylvie, der Eilbote aus Ihrem
freundlichen Thale abrief, ahndete ich nicht, was mir
bevorstehe. Der Tod meiner theuren Mutter hat den
Eintritt nach Weimar mir sehr getrübt. Nur mit
wenigen Worten empfehle ich mich heute Ihrem
Andenken und wünsche, dass die beifolgenden
schneidenden Instrumente nichts am Gewebe Ihrer
Freundschaft lostrennen mögen.
d. 21. Sptbr. 1808. G.
*) Für die 2. Ausgabe noch ein Paar Winke. S. $5 möchte die Parcntcsc über
Klinger — *im Nebengebäude des GoethehAuses geboren« >- als ein« wol irrige Annahme
-wegbleiben. — S. 126 ist der »Antipope« Joh. Georg Schlosser, Verfasser des »Antipope. <•
— S. »64 Q. 171 ist Melchior der plastische Künstler Joh. Pct. M. — S. 171 ist Devin du
viUage das Singspiel von Rousseau. S. 289 ist »Azor« Anspielung aui liann^ntel's und
Gritry's Oper Ziniire et Azor. — S. 34s muss • Wallacher« sutt »Mellechcr« stehn.
Später veröffentlichte Stücke der Correspondenz der Frau Rath sind: Gocthe's Brief
an dieselbe v. 6. Nov. 1776 (zugleich an Job. Fahlmcr etc. in »Briefe von Goethe *n
J. Fahlncer,« S. 11$); desgl. v. 4. Nov. 1786 aus Rom »Goethe-Brief aus Friu Schlosser's
Nachbss« S. 99 f.); Brief der Frau Rath an Henriette Schlosser v. 8. Jan. 1792 (»Briefe
an J. Fahimer« S. 1)7 f.); Stammbuchblatt für Herr. Schi. v. 18. Mai i8or (ebenda S. 159).
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4- Reimstudie.
Ein reiner Rcini wird wol begehrt;
Doch den Gedanken rein zu haben.
Die edelste von allen Gaben,
Dab ist mir alle Reime wertli!
'ü sprach Goethe! Man solhe glauben, dass
r j wenn in irgend einem Fach ein Ausspruch
Goethe's zur Richtschnur zu nehmen sei, es
in der Dichtkunst der Fall seih müsse. In-
-'J dessen scheint man über den hier angeführten
zu einer neuen Tagesordnung übergegangen zu sein. Die
heutige Kritik ist in Verurtheilung unreiner Reime ziem-
lich einstimmig und ein Recensent würde seine Pflicht
für versäumt halten, wollte er, etwa weil er an einem
Gedicht alles nur zu loben fand, einen unreinen Reim
streng zu rügen unterlassen. Man ist wol boshaft genug
gewesen zu sagen: Goethe sei von schlechten Reimern
zum Dichterfürsten ausgerufen worden, damit sie sich auf
thn, als den Vollmachtgeber für schlechte Reime berufen
könnten. Seine demokratische Regierung sei aber ge-
stürzt: Platen sei der Minister der Contrerevolution, der
so schlaflFe Gesetze nicht mehr contrasignire.
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REL\fsTuriE. 397
Und ist die Forderung reiner Reime nicht ganz lo-
gisch? Reim ist der Gleich klang der Auslaute, das giebt
Jedermann zu; ist aber Gleich klang vorhanden, wenn
die Verse nur ähnlich auslauten? Gewiss nicht! Also
mit den Waffen der Logik sind die unreinHchen Reimer
allemal aus dem Felde zu schlagen; eine andere Frage ist
nur: ob Logik überall den Ausschlag geben soll? Dass
die Allgeltung der Logik zu den überwundenen Stand-
punkten gehört, darüber ist die vorgeschrittene Mensch-
heit wol ziemlich einig; die herrschenden Ansichten über
Politik, Recht und Moral beweisen das. Man muss aber
auch einräumen, dass durch Logik im Bereiche der Kunst
sich seltsame Erscheinungen rechtfertigen lassen.
Es gab Malerschulen, die bei ihren Schöpfungen von
einer ganz wissenschaftlichen Ansicht ausgingen, indem
sie sagten : die Malerei ist eine Kunst für das Auge,
folglich muss das Auge an sich schon durch die Farben-
erscheinung des Bildes befriedigt werden. Dies geschieht
aber vollständig nur, indem ihm die Gesammtheit aller
Farben vorgeführt wird, welche zu der im Lichte zur
Erscheinung kommenden vollen und reinen Harmonie ge-
hören, nämlich die Farben des Regenbogens. Diese müsse
folglich jedes Bild erhalten. Nur die Freiheit der Be-
handlung sei gestattet, dass bald mit der, bald mit jener
Farbe der Anfang an dem einen Rande des Bildes ge-
macht werde, worauf dann aber sämmtliche übrige Regen-
bogenfarben der naturgemässen Reihe nach bis zum andern
Rajide des Gemäldes auf einander folgen müssten. Gewiss
höchst logisch! aber wem grauste nicht das Haar bei
solcher Kunsttheorie?
Ferner: So lange man nur mit Waffen der Logik
kämpft, wird man wol die drei Einheiten des Dramas
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398 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
anerkennen müssen, und doch sind diese heutzutage so
verschrieen, dass man es schon als Zopf bezeichnet, nur
noch darüber zu reden.
Um also geläuterte Kunstansichten durch Logik be-
gründen zu können, muss eine Logik construin werden,
die sich zu der gemeinen Logik verhält, wie die
Differential- und Integralrechnung — die Analysis des
Unendlichen — zu den vier Species. Eine solche höhere,
zugleich aber streng gebundne Logik haben weder Hegel
noch spätere Ästhetiker angewandt; sie setzen immer mehr
voraus und schreiten willkürlicher vorwärts, als die fest-
stehenden Formeln irgend einer Logik zulassen. Sie be-
weisen mehr in Hinblick auf das Ziel, das sie vor Augen
haben, als durch Vordersätze gezwungen; mehr gezogen,
als gedrängt; mehr was sie wollen, als was sie müssen.
Bis nun ein Newton oder Leibnitz die Logik des
Unendlichen geschaffen hat, sei es versucht, der Frage
über die Beschaffenheit des Reims, hier insbesondere dem
Gesetz des Reimlauts in der deutschen Dichtung durch
Analogien und Zweckmässigkeitsgründe beizukommen —
allerdings ein sehr entgegengesetzter, fast unwürdig er-
scheinender Weg, der jedoch auch nicht ohne alle Be-
rechtigung ist, zumal gemeine Logik dabei ebenfalls zur
Geltung kommt.
Kann man sich in Fragen der Kunst auf das Beispiel
der Griechen berufen, so ist schon viel gewonnen. Waren
sie doch dasjenige \^olk, durch welches der höchste Be-
griff der Kunst erst zur Weh gebracht worden ist.
Betrachten wir nun ihre Metrik, so finden wir, dass sie
nirgends unter ein starres, ungelenkes Gesetz gebeugt
wurde: die Füglichkeit, zwei kurze Sylben durch eine
lange zu ersetzen, sogar lange und kurze — im Trimeter
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Reimstudie. 399
sowie am Ende der Verszeilen — zu vertausclien , giebt
den Versen der Griechen eine Freiheit und Beweglichkeit,
die weder dem Homer noch seinen Vorgängern und
Nachfolgern durchgelassen worden wäre, wenn ein deut-
scher Ästhetiker von der stricten Observanz darüber zu
entscheiden gehabt hätte. Und verkennen lässt sich nicht,
dass diese Freiheiten mathematisch, also logisch genom-
men mit dem Princip der griechischen Metrik nicht ver-
einbar ist. Soll einmal die Zeitdauer der Sylben das
Entscheidende sein, so wird nicht zu behaupten und
durch Chronometer nachzuweisen sein, dass zwei kurze
Sylben im Sprechen genau nur ebenso lang seien, als
eine lange. Aber wie gesagt: Homer, Alkäos und Äschylos
schlagen der Logik ein Schnippchen und dichten um so
schönere Verse.
Neben jenen Freiheiten in der Metrik nahmen sich
aber die Griechen auch, obschon seltner ,' sprachliche
heraus, wie die Systole, Diastole, Synäresis und Diäresis.
Diese Freiheiten in der Betonung und Aussprache sind
sogar von grösster Bedeutung — um dies hier einzu-
schalten — in der so reichen serbischen Dichtung, indem
dort die Worte ohne Rücksicht auf den gewöhnlichen
Sprachgebrauch so betont werden, wie es das Versmass
fordert.
Besondres Gewicht soll nicht auf die nachgiebige
Handhabung der metrischen Gesetze bei den Römern
gelegt werden; denn obwol dieselben durch ihre Rechts-
wissenschaft für strenge Logik geschult waren und inso-
fern ihr Beispiel der Milde dem Zaghaften von Werth
sein könnte, so war doch andrerseits ihre Metrik der
classischen Zeit keine selbständige, sondern eine lediglich
der griechischen nachgebildete.
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400 Vermischtes zur Goethe-Fo.^schung.
Ähnliche Freiheiten indessen wie im griechischen und
römischen Trimeter weisen die Verse der Sanskritliteratur
auf. Um die Bedeutung dieses Vorgangs zu würdigen,
vergegenwärtige man sich, dass die Poetik der alten In-
dier die ausgebildetste der ganzen Welt war und ist. Die
Versmasse allein, die sie lehrt, zerfallen in acht Haupt-
classen, je nachdem die Verse nur durch die Quantität,
oder durch die Füsse, oder durch die Sylbenzahl oder
durch mehreres gemischt bestimmt werden. Daneben sind
aber noch die einzelnen Versmasse aufs Sorgföltigse ge-
regelt, so dass es über 600 eigens benannte giebt. Darunter
befinden sich überdies viele, bezüglich deren nur das
Grundgesetz gegeben ist, innerhalb dessen sodann viele
Gestaltungen der Verse möglich sind. So lässt z. B. das
Versmass Utkriti aus der nach den Füssen und der Sylben-
zahl geregelten Classe Varn'avritta mehrere Millionen Va-
riationen zu. Nicht minder ausgebildet ist diese Poetik
iiinsichtlich der Alliteration im weiteren Sinne, d. h. so-
wol nach End- als nach Anfangs- beziehentlich Stabreimen,
wobei wiederum 9 Hauptclassen mit zahllosen Unterarten
aufgeführt werden. Endlich hat die Sanskritliteratur noch
eine dritte Gattung der Versbildung, die sich auf die An-
ordnung der Verse bezieht und allzuverwickelt ist, um
hier näher beschrieben zu werden; sie führt auch den
Namen Dushkara, d. h. »schwer zu machen.«
Aber trotz dieses bis ins Kleinste durchgebildeten
Ausbaues der indischen Verskunst ist auch nach ihr der
Ersatz zweier kurzen Sylben durch eine lange und um-
gekehrt, sowie die Willkür hinsichtlich der Versschluss-
sylben nachgelassen. Ja, noch weiter geht die Freigebung
des Masses der Sylben in dem vorzugsweise s'16ka ge-
nannten epischen Vers. Derselbe besteht aus zwei gleichen
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Reimstüdie. 401
Hälften — ard'has'löka — und deren jede wieder aus zwei
Füssen — pada — jedes pada wieder aus vier Sylben.
Nun ist aber die Quantität jedes ersten pada in jeder
Vershälfte völlig willkürlich und nur das zweite und vierte
pada jedes Verses der Quantität nach bestimmt, aber
immer wieder mit dem Nachbss, dass die Schlusssylbe
kurz oder lang sein kann. Es sind demnach von den
16 Sylben des Verses nur 6 unabänderlich ihrer Quanti-
täten noch vorgeschrieben, 10 aber willkürlich, und den-
noch verlien der Hörer eines in s'16ka's gefassten Gedichts
nie das Bewusstsein des geregelten Verses.
Fast dieselben Erscheinungen in Bezug auf freie Be-
handlung des Versmasses wiederholen sich in der gleich-
falls sehr wissenschaftlich bearbeiteten arabischen Metrik,
auf die jedoch nicht näher einzugehen sein wird. Indessen
führen die Araber uns zum Reim zurück. Die arabische
Dichtung, die Kunstdichtung wenigstens, ist die katexogen
reimende; nicht nur, dass die Araber ein Gedicht ohne
Reim ebensowenig kennen, wie die Franzosen, so bringen
sie auch jeden Reim gleich massenweis an, indem durch
ein ganzes Gedicht hindurch immer derselbe Reim geht
und zwar so, dass die beiden ersten Verszeilen reimen,
dann aber immer nur die zweite Zeile jedes Verspaars,
w^ährend die erste weiterhin reimlos bleibt.
Diese Reimfülle zum stehenden Gesetz zu machen,
war allerdings kühn und es gehörte dazu die ganze Liebe,
die namentÜch der nomadische Araber, der auch die
Sprache am reinsten bewahrte, zu seiner Sprache im
Herzen trägt und der tiefe Eindruck, den schöner sprach-
licher Ausdruck auf ihn hervorbringt. Fragt man, wie es
durchzuführen war, dem Kassida, das bis zu sechzig und
mehr Verspaare hat, nur Einen Reim zu gestatten, so
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402 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
fällt zunächst in die Augen, dass den semitischen Sprachen
eine grössere Zahl von Reimworten dadurch zu Gebote
steht, dass sie keine eigentlich doppelten oder gar mehr-
fachen Mitlauter haben, während alle abendlandischen
Sprachen damit gesegnet sind. Der Hauptumstand aber,
der den Arabern die Üppigkeit im Reimen gestattet, ist
das Nebelnde, Gestaltenlose ihrer Dichtung. In ihren
epischen Gedichten darf man nicht die Plastik, das leben-
dig Veranschaulichende suchen, wie es uns, ganz abge-
sehen vom griechischen Epos, die englische Ballade, die
spanische Romanze, die skandinavische Weise, der ser-
bische Gesang vorführen. Das Thatsächliche tritt in den
arabischen Heldenliedern so entschieden hinter den Bilder-
reichthum des Dichters zurück, dass die älteren der-
gleichen Dichtungen, um sie verständlich zu machen, von
reichlichen Commentarien begleitet zu sein pflegen, die
übrigens, komisch genug, uns folgerichtiger denkenden
Abendländern sich sehr oft als gar nicht zu dem commen-
tirten Gedicht passend erweisen, wodurch aber erst recht
deutlich wird, wie fem der Ausdruck von Klarheit ist.
Das einzelne Verspaar ist eben wenig von dem Vorgang,
welcher der Gegenstand des Gedichts ist, abhängig, und
es ist vielmehr der Reim, der das Bild oder die Betrach-
tung bestimmt, w^elche der Dichter an den besungenen
Vorgang knüpft. Es ist dies eine ähnliche Methode, wie
sie Improvisatoren beobachten, denen ja auch vor allem
daran gelegen ist, schnell einen Reim zu finden, den sie
anbringen können, und die daher mehr darauf bedacht
sind, einen Sinn zu dem Reim, als einen Reim zum Sinne
zu suchen. In der That sind auch selbst die berühm-
teren arabischen Heldendichtungen häufig aus dem Steg-
reif gedichtet.
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Reimstudie. 403
Dasselbe was von der arabischen Dichtung gilt auch
von denjenigen andern westasiatischen Dichtungen, die
sich nach der arabischen gebildet haben und unter denen
namentlich die persische durch gottbegnadete Sänger eine
hohe Stufe erreicht hat. Das persische Gasel hat dieselbe
Form, welche vorhin vom Kassida angegeben wurde;
seinem Inhalt nach ist es aber lyrisch, und in der Lyrik
tritt noch deutlicher hervor, dass das Dichten in der
Form des Gaseis eine Aufgabe ist wie das Ausfüllen von
bouts rim^s. Es wird in solchem Gedicht ein Gedanke
durch die verschiedensten Bilder hindurchgehetzt: die
Pointe ist allemal der gegebene Reim. Im persischen
Gasel kommt noch die Eigenthümlichkeit hinzu, dass
häufig sich mit dem Reim der Refrain verbindet, der-
gestalt, dass hinter dem Reimwort noch einige Worte
folgen und zwar durch das ganze Gedicht jedesmal die-
selben. Damit geht aber das Gedicht fast ganz im Reim
auf. Ein Beispiel ist folgendes Gasel des Mewlana Dsche-
laleddin in Rückert's Übersetzung:
O Wandrer auf den Wegen! was weisst du?
Von Deinen Weg' und Stegen was weisst du?
Wo standst du auf am Morgen, wo Abends
Wirst du dich niederlegen? was weisst du?
Des Himmels Lüfte bringen dir Grüsse,
Allein sie auszulegen, was weisst du?
O Ros', am Zaun der Wildniss verblühend,
Von Gartenlustgehegen was weisst du?
O Bild ! vom Fleiss des Malers, o Münze !
Von deines Bildners Prägen was weisst du?
Brieftaube, die du fliegest wohin nur?
Von deines Briefs Aufträgen was weisst du?
26*
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404 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
Ich seh's an deinen Schanen, du kämpftest!
Von deinem Kampf, o Degen! was weisst du?
Der Regen kommt zu statten dem grünen:
O dürrer Baum! vom Regen was weisst du?
Der Segen wird der Bitte gewähret:
Nie Bittender! vom Segen was weisst du?
Entgegen strebt von oben die Leitung:
Was sträubst du dich entgegen? was weisst du?
Du fühlst um deinem Nacken die Schlinge:
Sie dir zurechtzulegen was weisst du?
Wie das Geschick zu zügeln weiss den Raschen,
Zu spornen weiss den Trägen was weisst du?
O Pflegling unsrer Liebe! wir wissen
Wie wir dich sollen pflegen; was weisst du?
Diese arabischen und persischen Gedichte und die
noch künstlicheren, aber auch geistloseren türkischen
machen es, wenn auch durch Extreme, recht deutlich,
dass Anforderungen an den Reim immer in Wechsel-
wirkung mit der Bedeutung des Inhalts stehen und die
Erweiterung der ersteren den letzteren beschränken.
Soll ich noch über einen ähnlichen Übermuth im
Reimen bei den Dichtem in der Sprache von oc, den
Schöpfern zahlreicher Gedicht-Formen mich verbreiten?
Es würde das doch wol zu weit vom Ziele abführen und
ich unterlasse es umsomehr, als ich von den neuern ro-
manischen Sprachen ausführlicher zu reden genöthigt bin.
Denn sie sind es ja, welche uns als Vorbilder bei der
Entwickelung unserer neuern Dichtung gedient haben, wie
einst die Trouvires unsern Minnesängern.
Rechtfenigen nun oder fordern etwa sogar diese Vor-
bilder die Strenge in der. Reimbildung, die man neuerdings
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Reimstudie. 405
im Gegensatz zu ihren grössten Dichtern den Deutschen
zum Gesetz machen will?
Wenden wir uns zunächst zu den Italienern und be-
trachten wir vorerst das Verhältniss, in welchem die
deutschen und die italienischen reimenden Dichter zu
ihren Sprachen stehen, also die Frage, ob beide gleich
grosse Reimgebiete beherrschen. Selbstverständlich soll
diese Frage hier nicht gründlich untersucht werden, weil
damit allein ein dickes Buch zu füllen wäre; hier kann
nur auf die schon bei flüchtigem Überblick sich darbie-
tenden Umstände aufmerksam gemacht werden.
Zunächst vergegenwärtige man sich, dass der durch-
schnittliche Umfang des Gebiets für jeden einzelnen Reim
im umgekehrten Verhältniss zu der Zahl der gesammten
Reimklänge steht, d. h. je mehr verschiedenartige Reime
eine Sprache zu bilden vermag, um so enger sind die
Kreise, innerhalb deren Reime zu einem gegebenen Worte
gesucht w^erden können. Es ist daher zunächst zu er-
mitteln, welche der beiden Sprachen das grösste Reim-
material besitzt.
Vergleichen wir zunächst die Selbstlauter beider
Sprachen, so ergiebt sich, dass die Zahl der einfachen
gleich ist; auch haben in beiden o und e zweierlei —
einen offenen und einen geschlossenen — Laut. Dagegen
besitzt die deutsche Sprache, je nachdem man mehr oder
minder streng rechnet, sechs bis acht verschiedene Um-
und Doppellauter (ä, ö, ü, ai, au, äu, ei und eu), während
die italienische Sprache zwar allerdings Diphthonge und
sogar Triphthonge hat, durch welche aber der italienische
Dichter sich das Reimen nicht erschweren lässt. Denn
obwol suono wegen des Diphthongs uo nur ein zwei-
sylbiges Wort ist, und miei wegen des Triphthongs iei
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406 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
eigentlich sogar nur ein einsylbiges, so reimen doch ihre
besten Dichter ohne alles Bedenken suono mit sono, miei
mit costei (z. B. Petrarca im i. beziehentlich im 153. So-
nett). Dadurch werden offenbar suono und ebenso das
eigentlich zweisylbige costei in dreisylbige klänge, in-
gleichen miei in einen zweisylbigen aufgelöst; nichts-
destoweniger aber zählen die ersteren beiden in den
betreffenden Versen nur für zwei Sylben, also so, ak ob
die Mehrlauter nicht aufgelöst wären. Sind nun deranige
Reime auch nicht unreine Reime im deutschen Sinne, —
die überhaupt im italienischen bei Selbstlautern gar nicht
möglich sind — so sind sie doch ein unbestreitbares
Äquivalent für dieselben, das theoretisch genommen an
Incorrectheit den deutschen unreinen Reimen nicht nach-
steht. Es ist im Grunde nicht anders, als wenn w^ir
Grausen und Busen reimen wölken. Lässt man aber
dem Italiener derartige Reime seiner Poetik zufolge nach,
dem Deutschen aber nach rigoristischem Gebote nicht, so
vertheilen sich die deutschen Reime auf mehr als noch
einmal so viel Selbstlauter als die italienischen, und ist
in dieser Beziehung allein das Reimen im Deutschen
doppelt so schwer als im Italienischen.
Die Zahl der Mitlauter können wir in beiden Sprachen
ungefähr gleich gross rechnen ; beide Sprachen haben der-
gleichen, die der andern fehlen, und auch die Zahl der
Zusammenstellungen mehrerer Mitlauter kommt in beiden
ziemlich auf dasselbe hinaus.
Aber jener Vortheil der italienischen Dichtung in
Bezug auf die reimenden Laute verschwindet ganz gegen-
über dem Ungeheuern Vortheil, den die Italiener durch
die Unzahl von Reimen in den Flexionen ihrer Sprache
finden. Im Deutschen bildet keine einzige Flexion der
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Reimstudie. 407
Haupt-, Bei- und Zeitwörter einen Reim für sich allein,
im Deutschen verringern im Gegentlieil die Flexionen des
Genitivs meistens und zum Theil die des Dativs die
Reimbarkeit, während im Italienischen in den Haupt- und
Beiwörtern sich nur der Plural vom Singular unterscheidet,
diese Reimbeschränkung demnach wegfällt, und Worte,
die im Nominativ reimen, in allen Fällen der Abwandlung
der Einheit beziehentlich der Mehrheit — hier wenigstens
meistens — ebenfalls reimen. Beim Zeitwort aber sind
im ItaHenischen alle Flexionen mit Ausnahme derer des
Präsens im Singular Reime für sich. Welcher Reichthum
von Reimen fliesst aus dieser einen Quelle! Es sind das
allein 39 Reimendungen, die alle Zeitwörter derselben
Conjugation unter sich gemein haben, nicht zu gedenken,
dass auf die Mehrzahl dieser Endungen noch unzählige
andre Worte reimen, so dass ohne Schwierigkeit in jeder
beliebigen Strophe sich einige hierher gehörige Reime an-
bringen lassen.
Ausser den grammatikalischen Flexionen geht aber
dem Italiener noch eine Menge andrer Wortendungen zu
gute, die dem Deutschen wenigstens grösstentheils für
den Reim verloren sind, nämlich die Ableitungssylben wie
ino, ale, esco, ese, aglia, etto, ame, ume, ata, iere, iccio,
accio, ezza, anza, enza, ia, zia, evole, ivo, ione, tura,
toio u. s. w. Von unsern deutschen derartigen Ablei-
tungssylben dagegen bilden zuvörderst er, el, chen über-
haupt nie einen Reim für sich. Eine zweite Classe bildet
zwar dann einen Reim, wenn die Ableitungssylbe nicht
unmittelbar an die Stammsylbe angehängt ist, allein der
Reimschatz erhält dadurch keinen erheblichen Zuwachs,
nicht nur weil der Reim ganz verloren geht, wenn die
Ableitungssylbe der Stammsylbe unmittelbar folgt, sondern
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408 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
auch deshalb, weil diese Ableitungssylben, auch wenn sie
für sich einen Reim bilden, doch auch zugleich die ganze
Endsylbe ausmachen, folglich nicht aufeinander reimen
dürfen. Zu dieser Ciasse gehören alle mit einem Mit-
lauter anfangenden Ableitungssylben, also: lieh, niss, heit,
keit, sam, sal, schaft, thum, bar, haft. Da reimt die Ab-
leitungssylbe schaft allein gar nicht in Wirthschaft
und zwar wol in Eigenschaft, dann aber nicht wieder
mit Wissenschaft u. s. f. — Eine dritte Gasse der
Ableitungssylben endlich reimt zwar auch unter sich, aber
ebenfalls nur, wenn sie der Stammsylbe nicht unmittelbar
angefügt sind; hierher gehören in, ig, icht, isch, ung, ei.
Da reimt z. B. ung allein nicht in Bedeutung, aber
in Forderung und dann auch mit Einigung und dergl.
Einzig in diesem letzten Falle haben demnach deutsche
Ableitungssylben für den Reim denselben Werth wie fast
sämmtlich italienische. Ergiebt sich nun aus alledem die
unendliche Beschränkung der Reimfähigkeit im Deutschen
gegen das Italienische, so schmiedet sich der Deutsche
trotzdem noch allerhand Ketten, um sich das Reimen
noch zum Extraspass zu erschweren. So ist uns das
Reimen gleicher Worte, ja, wie eben gedacht, auch nur
solcher Sylben, deren Anfangsconsonanten gleich sind
(wie schaft) durchaus untersagt, während die italie-
nischen Dichter von unbezweifelter Correctheit und Au-
torität grazia und disgrazia, coglie und recoglie unbedenk-
lich reimen.
Mittelbar kommt aber noch eine andre Verschieden-
heit der Verskunst der Italiener und der Deutschen den
ersteren auch beim Reim zu statten: das Sylbenmass. Die
Italiener wie alle Völker romanischer Zunge zählen in der
Hauptsache nur die Sylben ihrer Verse, die Deutschen
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Reimstudie. ^09
messen sie auch. Es ist das immer wieder eine Fessel,
die uns an der freien Bewegung bei der Bildung von
Versen und demnach auch in der Anwendung von Reimen
hindert.
Bei aller Leichtigkeit zu reimen, wie sie hiemach für
den italienischen Dichter vorhanden ist, wendet er den-
noch auch sehr häufig reimlose Verse an, viel häufiger
als der deutsche, w^enn man bei uns von den Versen nach
antiken Massen absieht, in welchen wnr uns aber statt des
Reims andre Zwangsgesetze auflegen.
Hieraus allenthalben ersieht man, dass dem Italiener
der Reim eine Zierde ist, die dem Ausdruck so gut wie
kein Hinderniss bereitet, während er für den deutschen
Dichter zum Kunststück wird, mit w^elchem er sich in
der Sprachbehandlung sehen lässt wie der Dolche schleu-
dernde und auffangende Gaukler. Hat man alle jene
Reimgelegenheiten des Italieners und darauf die Reim-
erschwemisse des Deutschen vor den Augen vorüber-
ziehen lassen und sollte man darnach a priori die Frage
beantworten, ob der Deutsche überhaupt reimen dürfe,
man müsste sie unbedingt verneinen.
Fast in gleichem Verhältniss, wie zum Italienischen,
steht das Deutsche hinsichtlich der Reimfähigkeit zum
Spanischen. Die 15 Diphthonge und 4 Triphthonge sind
den Spaniern ebensowenig zur Last, wie den Italienern
ihre Mehrlauter; auch sie sind eben keine Pedanten und
helfen sich durch Auflösung derselben.
Die französische Sprache, deren Reimgesetze den
meisten Einfluss auf die neuere deutsche Dichtung gehabt
haben, ist in Bezug auf die Zahl der Selbstlauter der
deutschen nahezu gleichzustellen; sie hat zwar kein ai, ei,
eu und äu, dafür haben wir das ie (wie in bien), oi und
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410 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
ui nicht; denn dass wir Papagoi und Bei, sowie Hui
und pfui reimen können, kommt natürlich nicht in Be-
tracht. Hinsichtlich der Mitlauter gleichen sich die Eigen-
thümlichkeiten der beiden Sprachen in der Hauptsache
ebenfalls aus. In der Fülle an Reimen durch Verwend-
barkeit der grossen Mehrzahl der Zeitwörterflexionen und
der Ableitungssylben steht aber die französische Sprache
der italienischen wie der spanischen etwa gleich, ja noch
günstiger ist sie insofern gestellt, als eine beträchtliche
Zahl jener Flexionen unter sich reimt; als von aimer:
nous aimons, aimions, aimerons, aimerions und der Im-
perativ aimons; ferner: vous aimez, aimiez, aimerez, aimeriez
und der Imperativ aimez; dann: j'aimais, aimerais etc.
Unter diesen Umständen ist also die gepriesene Reinheit
der französischen Reime kein grosses Verdienst, indessen
muss man es den Franzosen lassen: sie sind gewissenhafte
Befolger der Regel. Sie geben auch hier ihre Volkseigen-
thümlichkeit kund, nach welcher sie kein Vertrauen zur
Ordnung haben, wenn nicht das Gesetz mit eiserner Faust
auf sie drückt. Aber was im Auge des Franzosen dem
Gesetz das Ansehen giebt, ist das Ansehen des Gesetz-
gebers, die persönliche Autorität, während jeder Deutsche
sich für ebenso gescheidt hält, als jeder andre Mensch
und von Autoritätsgesetzen nichts wissen will; nur durch
das Ansehen der Formel, durch die logische Autorität
lässt er sich imponiren. Was über die schulgerechte Logik
hinausgeht, ist daher aber auch dem Urtheil des Durch-
schnittsdeutschen entzogen.
Keinem der ältesten Griechen ist eingefallen, den
Finger an die Nase zu legen und zu sagen: jetzt will ich
die Gesetze des Hexameters feststellen; die Griechen sagten
vielmehr: so hat Homer, der erste unserer Dichter, den
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Reimstudie. 411
Hexameter behandelt, und so müssen auch wir es halten,
wenn wir in Hexametern dichten. Und so ehrten die
Italiener den Gebrauch Dante's, Petrarca's und Ariosto's;
so nehmen die Engländer keinen Anstoss schlecht zu
reimen, wie Pope gethan. Dessen Vorgang könnte aber
wirklich Bedenken für die Nachfolger erregen. Es soll
nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass die Engländer
— was das wunderliche Verhältniss ihrer Schrift zu ihrer
Sprache ermöglicht — Worte reimen, die ganz verschieden
geschrieben sind, dafem sie nur gleich oder doch ähnlich
ausgesprochen werden, wie z. B. halloo und knew, aber
sie reimen auch umgekehrt Wone, wenn sie nur gleich
oder ähnlich geschrieben sind, obschon die Aussprache
eine verschiedene ist, wie z. B. minstrelsy und eye. Im
Reimen ähnlich klingender Worte gehen aber die Eng-
länder viel weiter, als wir Deutsche; sie reimen z. B.
nicht blos oak und rock, sondern auch won und sun.
Das Tollste aber ist, dass sie Worte reimen, die wieder
für das Ohr noch für das Auge gleich oder auch nur
ähnlich auslauten, deren Reim vielmehr nur durch eine
Folgerung gefunden werden kann, nämlich solche Wöner,
deren Reimbuchstaben bisweilen gleich klingen, wenn auch
nicht gerade in den gegebenen, zum Reim verbundenen
Wörtern. So reimen sie z. B., weil ea gemeinlich wie i
lautet, heaven und given; oder weil o zuweilen wüe u
und 00 wie o klingt, reimen sie shore und unmoor.
Diese Beispiele sind insgesammt Walter Scott entnommen,
aber nur zufällig: die ersten englischen Dichter reimen
nicht besser.
Also alle die vorgeführten Völker ehren die Häupter
ihrer Dichtung als Vorbilder, nur dem Deutschen ist das
Wohlgefühl der Hingabe an eine gew^altige Persönlichkeit
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412 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
zu gering gegen die Wonne, mit Hilfe einer Formel sich
über seine Grossen erhaben zu fühlen. Ihn kitzelt es,
wegwerfend zu sagen: das hat Goethe schlecht gemacht,
das versteh' ich besser! Das fängt bei seinen Reimen an
und hört beim »Faust« auf. Dass Goethe seinen »Faust«,
die grossanigste Dichtung der Neuzeit, gleich in der
ersten Vierzeile mit einem unreinen Reim anfängt (Me-
dicin — Bemühn), das kümmert sie nicht. Dass er die
deutsche Sprache in der Gewalt hatte, wie keiner mehr,
dass es ihm also eine Kleinigkeit gewesen wäre, den
»Faust« in dieser Richtung zu »verbessern«, wenn er in
der Herstellung eines Reims eine Verbesserung erkannt
und nicht vielmehr, »um den Gedanken rein zu haben«,
es für besser gehalten hätte, den Reim nur ankHngen zu
lassen, daran denken sie nicht.
Aber nicht blos im »Faust« hat Goethe sogenannte
unreine Reime angewandt, nicht blos hier, wo einge-
worfen werden könnte, dass er den Vers überhaupt muth-
willig behandelt habe, sondern auch in seinen so wunderbar
lieblich tönenden lyrischen Gedichten. Da beginnt z. B.
gleich der durch seinen köstlichen Wohlklang berühmte
» Nachtgesang « :
O gieb vom weichen Pfühle
Träumend ein halb Gehör;
Bei meinem Saitenspiele
Schlafe! was willst du mehr.^
Also in der ersten Strophe schon lauter unreine Reime.
Oder das reizende:
Kleine Blumen, kleine Blätter
Streuen mir mit leichter Hand
Gute, junge Frühlingsgötter
Tändelnd auf ein luftig Band.
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Reimstudie. 4 1 3
Zephyr, nimni's auf deine Flügel,
Schling's um meiner Liebsten Kleid;
Und so tritt sie vor den Spiegel
All in ihrer Munterkeit.
Also in acht Zeilen unter den vier Reimen drei un-
reine. Oder die zweite Strophe des »Mailieds«:
Es dringen Blüthen
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch.
Und so fast in jedem Gedicht, namentlich aus der
frühern liederduftigen Zeit — im Ganzen zahllose soge-
nannte unreine Reime.
Vor der Autorität Goethe's sollte man doch wenigs-
tens soviel Respect haben, dass man sie nicht mit der
kurzen, nüchternen und platten Formel abwiese: der ge-
forderte Gleichklang bedinge reine Reime. Muss nicht
die Richtigkeit einer Formel verdächtig werden, wenn
der competenteste Richter sie nicht anerkennt? Ist man
nicht deshalb verpflichtet, mindestens zu untersuchen, was
denn eigentlich die geschmähten unreinen Reime sind?
Ob alle verwerflich sind oder nur gewisse?
Und allerdings muss man, wenn man alle Beispiele
von Reimen, die als unreine bezeichnet werden, über-
blickt, sich sagen, dass das Gehör sehr erhebliche Unter-
schiede zu machen findet. Man kann unterscheiden:
i) reine, volllautende,
2) ähnliche, nicht völlig gleichlautende,
3) anstössige und
4) falsche Reime, bei welchen letzteren erst der
ReimbegriflT so gut wie ganz aufgehoben ist.
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414 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
Reine Reime sind aber nicht blos solche, welche auf
gleich geschriebenen Sylben bei gleicher Aussprache der-
selben ruhen; bei unsrer Orthographie, welche nächst der
allernichtswürdigsten englischen die nächstnichtswürdige
ist, müssen wir mehrere verschieden geschriebene Laute
denn doch entschieden für gleich auszusprechende er-
klären, so namentlich a, aa und ah — e, ee und eh — i,
ie und y — o, 00 und oh — u und uh — dt, t und th
— f, ph und unbedenklich auch v — ks, chs und x — z
und ts — sowie alle einfachen und doppelten Mitlauter.
Letzteres mag auf den ersten AnbHck auffallen, allein man
bemerke, dass w^enn z. B. schlaff und traf keinen reinen
Reim bilden, dies nicht in der Verdoppelung des f im
ersten Wort als solcher liegt, sondern in der scharfen
Aussprache des a darin, welche eben nur durch die Ver-
doppelung des Mitlauters angedeutet wird. In schafft
und Kraft macht aber diese Verdoppelung keinen Unter-
schied in der Aussprache, weil im Deutschen die doppelten
Consonanten nicht einen selbständigen Werth haben, nicht
beide gehört zu werden bestimmt sind, wie es z. B. im
Italienischen der Fall ist.
Nur ähnlich sind Reime, wenn entweder die Selbst-
lauter oder die Mitlauter oder endlich Sylbenbetonungen
nicht völlig gleich, aber doch ähnlich sind. Es sind aber:
a) durch Ähnlichkeit reimende Selbstlauter: o dumpf
wie in los und o hell wie in Ross — e geschlossen
wie in stehn und offen wie in sehn — e offen und ä
— e geschlossen und ö — i und ü — ei, ai, eu und äu;
b) durch Ähnlichkeit reimende Mitlauter: b weich
und w — b han und p — d und t — g Kehllaut wde in
liegt und ch in kriecht — g Gaumenlaut wie in Schlag
und k — gs wie in trug's und ks, chs (Buchs etc.)
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Reimstudie. 415
— h zwischen zwei Selbstlautern '.oder unmittelbare Auf-
einanderfolge der letztern (nahe, Rae), Is und Iz (Hals,
Salz) — mf oder mph und nipf (Nymphe, schimpfe)
— ng und nk am Wortende (sang, trank) — ns und
nz (Hans, Schwanz);
c) bei ähnlicher Betonung reimende Sylben: geschärft
und gedehnt betonte Sylben (Sinn, ziehn) — geschärft
betonte und tonlose Sylben (herrlichen — >venn) —
Sylben Eines Worts mit Sylben mehrerer Wone (Meister,
heisst er).
Anstössige Reime sind:
a) solche, die nicht eihmal auf ähnlichen Buchstaben
ruhen, deren Reimbuchstaben vielmehr nur einen gemein-
schaftUchen ähnlichen Reimlaut haben, wie ä und ö, deren
Mittlerlaut das e ist (Blätter, Götter);
b) solche, in denen sowol die Mit- als auch die
Selbstlauter nur einen ähnHchen Reim bilden (Zweig,
Gesträuch);
c) solche, in denen eine gedehnte Sylbe auf eine ton-
lose reimt, wie in Schiller's »Elegie auf den Tod eines
Jünglings« : sehn, Hoffnung e n.
Falsche Reime endlich sind alle, auf welche nicht
einmal die vorgedachten Kennzeichen der ähnlichen und
der anstössigen Reime passen. Für sie giebt es keine
Merkmale und keine Grenzen; denn sie sind eben eine
Ausgeburt der Willkür. Hier lassen sich nur Beispiele
anführen, und solche sind die Reime: bei Schiller Men-
schen und wünschen, bei Goethe in der zahmen
Xenie :
Zücht'ge den Hund, den Wolf magst du peitschen.
Graue Haare sollst du nicht reizen.
Dann in der andern :
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I
41 6 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
Mit Widerlegen, Bedingen, Begrimmen
Bemüht und brüstet jeder sich;
Ich kann daraus nichts weiter gewinnen.
Als dass er anders denkt als ich.
Ferner im Lied des Mephistopheles Floh und Sohn
im Gedicht »Juni« Glanz und Gangs; in der Über-
setzung aus Byron's »Manfred« Bekänntniss und
wetterwendisch.
Was sich hier insbesondere auch Goethe erlaubte,
kann nun freilich nicht als zulässig bezeichnet werden und
so kommen wir gew^issermassen allerdings auf das hinaus,
was hier eben bekämpft werden soll, dass nämlich des
grossen Dichters Autorität allein nicht entscheiden kann.
Indessen ist dem denn doch entgegenzuhalten, dass solche
wirklich falsche Reime äusserst selten sind, als Ausnahmen
die Regeln bekräftigen und dann wirklich einmal mit dem
princeps legibus solutus entschuldigt werden können.
Im Allgemeinen haben wir aber das Beispiel eines
Goethe als Richtschnur anzuerkennen und es ist unge-
rechtfertigt, weniger begnadeten Dichtern zu versagen,
was jener sich herausnahm. Es würde das eine ganz un-
zulässige literarische Polizei sein und eine widersinnige
Forderung, die Last, die Goethe der Gewaltige zu tragen
sich weigerte, dem Schwachem aufzubürden. Etwas ganz
Anderes ist es, wenn Dichter in der bescheidenen Selbst-
erkenntniss, dass an ihnen gar nichts wäre, wenn sie sich
nicht durch schöne Reime auszeichneten, die reinen Reime
sich zum Gesetz machen : denen soll der Spass nicht ver-
kümmert werden. Es giebt ja wol auch süsse mitfühlende
Seelen, die daran ihr Wohlgefallen haben und ihren Ge-
dichten zu manchen Auflagen verhelfen. Und darauf
kommt's ihnen denn doch hauptsächlich an.
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Reimstl'die. 417
Verschweigen wollen wur indessen nicht, dass der
Autorität Goethe's eine andere nicht zu verachtende ent-
gegengesetzt werden könnte: die reiche Dichtung der
mittelhochdeutschen Vorzeit. In ihr ist allerdings die Rein-
heit des Reims fast ausnahmslos durchgeführt. Aber ab-
gesehen von EigenthümÜchkeiten des Mittelhochdeutschen,
die dies erleichterten, ist doch sehr zu beachten, dass die
schwäbische Dichtung den Anforderungen unserer Zeit an
Tiefe, namentlich an Gedrängtheit des Ausdrucks nicht
genügt und dass, wenn man eine gewisse mit Gedanken-
leere verbundene Redseligkeit zugiebt, man sich wol Rein-
heit des Reims als Entschädigung ausbedingen mag. Mit
diesem Zugeständniss gelang es den proven^alischen Dich-
tem bei behäbiger Weitschweifigkeit die künstlichsten
Reimspiele zur Schau zu tragen und unsere Minnesänger
ahmten sie mitunter so gut es gehen wollte nach.
Dasselbe gilt, wenn man auf Kbrheit des Ausdrucks
verzichtet. Die gälischen Barden wie die spätem nordischen
Skalden hätten unter der Last von Künsteleien, die sie
sich aufgebürdet hatten, indem sie durch Versmass, Stab-
reim und Endreim unter mannigfachen Regeln sich banden,
erliegen müssen, hätten sie dabei nicht wagen dürfen, den
staunenden Hörem Dichtungen vorzutragen, die Nieman-
den ohne Commentar verständlich sein konnten. Strenges
Gesetz steht immer in Zwiespalt mit geistiger Freiheit.
Noch Eins! Es lag gar nicht in Goethe's Absicht, auf
der älteren höfischen oder der spätem gelehrten Dichtung
fortzubauen ; im Gegentheil brach er mit dieser und schloss
sich der deutschen Volksdichtung an. Und in ihr fand er
die zwanglose Behandlung des Reims ebenfalls vor, wenn
schon hier die Freiheit gewöhnlich darin besteht, dass
Alliteration an Stelle des Reims tritt, d. h. nicht grund-
27
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4i8 Vermischtes zur Goethe-Forschung.
sätzlich durchgeführt, wie in der spanischen Romanze^
sondern nur in einzelnen Versen den Reim vertretend.
Um Missverständnissen zu begegnen, mag zum Schluss
noch ausdrücklich anerkannt werden, dass die Reime von
tadelloser Reinheit sein müssen, wenn das Wesen eines
Gedichts in der Form liegt. Dies ist namentlich der Fall
bei dem Sonett, wie es Petrarca ausgebildet hat und wir
den Italienern nachahmen. Das Sonett ist eben ein Reim-
spiel, in welchem sich die Kunst darin offenbaren solU
dass ein Gedanke unter gewissen Gesetzen des Wohl-
klangs zum Ausdruck gebracht wird. Nicht der poetische
Gedanke an sich ist der Hauptzweck des Sonetts, sondern
sein Ausdruck in der bis zur Künstelei, ja Tändelei ver-
zierten Form. Das gesetzmässig Vollendete des Reimspiels-
ist so sehr das Wesen des Sonetts, dass eine Abweichung,
dasselbe geradezu aufhebt; nur tonbegriffslosen Engländern
konnte einfallen, Vierzehnzeilen in reimlosen blank verses
zu schreiben und sie Sonett zu nennen.
Diese Ausnahme, welche für Sonette und ähnliche
Reimspiele gilt, beseitigt aber nicht den Grundsatz, dass-
der Reim nicht über die Forderungen der Schönheit hinaus
mit einer Peinlichkeit eingeführt werden dürfe, welche
den Gehalt unterjocht. Das Ergebniss unserer Untersuchung
wird daher in den Sätzen zusammenzufassen sein: reine
Reime sind die Regel, ähnliche Reime erlaubte Aus-
nahmen, anstössige Reime nur selten und da zulässig,
wo auf die Wahl der anstössig reimenden Wone be-
sonderes Gewicht zu legen ist; über falsche Reime aber
rufe man rücksichtslos das Kreuzige! Wendet sie jedoch
einmal verloren ein bonus Homerus an, so gönne man
ihm leise das Nickerchen.
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VI. Berichtigungen
UND Nachträge
Zü
Goethe-Schriften
DES
Verfassers.
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I. Zu GoETHE's Briefen an Eichstädt.
a) Zur Einleitung.
eite IV könnten unter den 1803 von Jena
abgehenden Professoren noch genannt wer-
den: Himly, Fuchs und Stahl.
Goethe's Seite VI erwähnter Brief an
Göschen war v. 9. Februar 1788 — nicht 1789.
Seite XII ist als Ergänzung zu Goethe's Geschichte
(fer Entstehung der Jenaischen Allgemeinen Literatur-
Zeitung einzufügen, dass deren Redaction zunächst dem
Professor Paulus angetragen w^urde, der durch seine eben
so gelehrten wie freisinnigen Besprechungen theologischer
Schriften eine Hauptstütze der Schützischen Allgemeinen
Literatur- Zeitung war; allein seine Anhänglichkeit an
diese, seine Freundschaft mit Hofrath Schütz, und seine
Verstimmung gegen die massgebenden weimarischen Kreise
wegen vermeintlicher Vernachlässigung der Universität
Jena bewog denselben abzulehnen. Überdies sprach er
sich im Brief an Schurrer vom 9. September 1803 (»H. E.
Paulus und seine Zeit von Frhr. v. Reichlin-Meldegg« I,
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422 Berichtigungen etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers.
352 — das Datum nach Düntzer's Berichtigung) sehr ab-
fällig über Goethe's Vorgehen aus und meinte: das neue
Blatt werde eine blosse Pro ject -Zeitung bleiben; denn
Genies könnten selten eine aus Geist und complicirter
Organisation zusammengesetzte Schöpfung stiften und er-
halten. Auch Paulus hielt, wie Schützens gesammter An-
hang, das Unternehmen der Fortsetzung der Literatur-
Zeitung in Jena für ein unberechtigtes, wobei ihnen die
anfangs beabsichtigte Beibehaltung des ganz gleichen Na-
mens dieser Jenaer Zeitschrift einen Schein von Recht
gab. Im gleichen Sinne schrieb daher auch Johann Hein-
rich Voss am 23. September 1803 (»Briefe von J. H.
Voss etc., herausgegeben von A. Voss« II, 254) : »Die
Allgemeine Literatur-Zeitung hat zu viel Rathgeber, die
das junge, Leben verheissende Kind hindoctem können.
Leider sind die Worte der Ankündigung schon so ge-.
wählt, dass unselige Händel daraus entstehen werden. Die
neue Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung
oder Eine Jen. A. L. Z. konnte allen Anzwackungen
ausweichen. Aber man wählte, was man glaubte aus-
fechten zu können. Die bisherige A. L. Z. anzukündigen,
ziemt aber weder den Jenaern noch den Hallensem.«
Seite XIX ist noch anzuführen, dass das in der
vierzigbändigen Ausgabe von Goethe's Werken zuerst ge-
druckte Bruchstück einer Besprechung von Iffland's »AI-
manach für das Theater und Theaterfreunde auf das
Jahr 1807« für die J. A. L. Z. bestimmt war — was
wenigstens kaum zweifelhaft sein kann.
Seite XXIII ist noch der Mittheilung zu gedenken,
die Burkhardt 1878 in Nr. 43 der »Grenzboten« gegeben
hat und aus welcher zu ersehen ist, wie Goethe fon-
während Eichstädt hochstelhe, nicht minder ihm für sein
Digitized by VjOOQ IC
Zu Goethe's Briefen an Eichstadt. 423
Eintreten bei Gründung der J. A. L. Z. thätige Dankbar-
keit bewahrte. Als nämlich 181 5 der Hauptgegner Eich-
-städt's, Professor Griesbach, Schwager des Hofrath Schütz,
'«inen Angriff gegen ersteren durch Beschwerden der Mehr-
izahl der Professoren glücklich eingeleitet hatte und der
Crossherzog schon geneigt war, den Frieden durch Auf-
opferung Eichstädt's wieder herzustellen, da sprach sich
-Goethe in einem ausführUchen Votum vom 26. Januar 18 16
50 entschieden zu Gunsten desselben aus, dass ein ver-
mittebder Ausweg eingeschlagen wurde.
Der Seite XXVII. f. aufgeführte Brief Goethe's an
Eichstädt vom 16. Februar 1829 w^ar bereits 1850 in »Eich-
stadii opuscula oratoria« Seite 293 f. gedruckt. Ausserdem
^ind seither noch zwei Briefe Goethe's an Eichstädt be-
kannt gemacht worden: einer vom 4. August 181 1 in
»Ungedrucktes zum Druck befördert von A. Cohn«
5eite 80 f. und einer in Nr. 45 der »Grenzboten« von
1878 durch Burkhardt.
b) BRIEFE.
164 b.
Ew. Wohlgeboren letzter Verabredung gemäss
haben wnr die Windischmannische Recension noch-
mals in Betrachtung gezogen und wohl überlegt, ob
man etwa, wie Sie wünschen, durch einen Anfug
der Sache eine gewisse Wendung geben könnte.
Leider aber hat es sich nicht machen wollen. Denn
sollte man sich zu einem Aufsatze entschliessen, bei
welchem der Verfasser des Werks seinen Einfluss
Digitized by VjOOQ IC
424 Berichtigungen etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers.
allenfalls eingestehen dürfte, so würde man darin
nothwendig zu berühren haben, wie sich Freunde
sow^ol als Widersacher bisher benommen, und hier-
zu, wie ich gern gestehe, scheint es mir noch nicht
Zeit. Man muss wol abwarten, inwiefern diese Arbeit
sich selbst Raum macht und inwiefern sich Männer
finden, welche dem Gegenstand durch einige Jahre
sowol experimentirend als theoretisirend die gehörige
Aufmerksamkeit widmen und das Ganze in seinem
Zusammenhange betrachten wollen. Alsdann wird
man mit Bequemlichkeit und Nutzen die Stimmen
sammlen können ; es w^ird sich beurtheilen lassen,
wo die hauptsächlichsten Hindernisse liegen und ob
wirkHch gewisse Menschen das Einfachste einzusehen
nicht im Stande sind oder inwiefern böser Wille und
Vorurtheil sie umnebeln. Sehr ungern sende ich da-
her das mir mitgetheilte Manuscript zurück und
führe zu meiner Entschuldigung noch zum Schlüsse
dieses an, dass ich auch hier wohl zu thun glaube,
wenn ich auf meine alte Weise verfahre und den
Wirkungen der Zeit nicht vorgreife.
" Ich empfehle mich bestens und wünsche immer
zu vernehmen, dass Sie sich wohl befinden.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Weimar, den 4. August 181 1.
Goethe.
Digitized by VjOOQ IC
Zu GoETHE's Briefen an Eichstadt. 425
212 b.
In ungesäumter Erwiederung der an mich er-
gangenen geneigten Anfrage gebe zu erkennen, dass
nach Inhalt des, von des Herrn Staatsminister von
Voigt sei. unter dem 11. October 18 18 an Herrn
Geheime Hofrath Eichstädt erlassenen Schreibens
Rentamtmann Müller anheute beauftragt worden,
denen nunmehr benamsten Gehülfen an der A. L. Z.,
Rath Hogel und Professor Schad, das von Serenissimo
unter dem 6. October 1818 bewilligte Fruchtdeputat
von 8 Scheffel Korn und eben so viel Scheffel Gerste
jedem zur Hälfte vom i. Januar an bis zu ander-
weitiger Anordnung vierteljährig abzureichen.
Zu allen Erläuterungen in diesen Angelegenheiten
jedesmal bereit und willig
J. W. V. Goethe.
Weimar, den 19. Juni 1819.
c) Erläuterungen.
Zu Brief 6, Seite 222 und 223 finden sich druck-
fehlerhaft Goethe's Briefe an Schlegel mit dem 5. Sep-
tember 1805, beziehentlich dem 4. September 1804 ange-
geben, während beide 1803 geschrieben wurden. — Eine
weitere Recensentenchiffre von MüUer's (ausser P — p — s
und 71 — X — V — ) w^ar C. F. Z.
Zu Brief 63, Seite 260 ist zu berichtigen, dass der
Quedlinburger Gramer, jedenfalls Karl Friedrich C. war, der
Digitized by VjOOQ IC
426 Berichtigun-gex etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers.
aus seinem damaligen Wohnsitz, Paris, Nachrichten über
Frankreich nach Deutschland gelangen liess.
ZuBrief82, Seite 271 ist als Schleiermacher'sche
Arbeit noch zu nennen die Recension von »Johann
Joachim Spalding's Lebensbeschreibung etc.« in Num. 18.
J. A. L. Z. d. 22. Januar 1805.
Zu Brief 97, Seite 276 ist hinzuzufügen, dass ein
beträchtlicher Theil des Briefwechsels zwischen Goethe
und Nees von Esenbeck durch »Goethe's naturvsussen-
schaftliche Correspondenz, herausgegeben von Bratranek«
bekannt worden ist und wir nunmehr von etwa 40 Briefen
Goethe's an den Genannten näheres wissen.
Zu Brief 100, Seite 277. Auf Kotzebue's »Erinne-
rungen von einer Reise aus Livland nach Rom und Neapel«
bezieht sich Goethe's in den Werken unter den »Invec-
tiven« stehendes Epigramm »Bist Du Gemündisches
Silber etc.«, das daher in's Jahr 1805 zu setzen sein dürfte.
Zu Brief 105, Seite 282 ist zu berichtigen, dass
SchlegePs Elegie »Rom« in der J. A. L. Z. von 1807 in
Num. II, 12 und 13 besprochen wurde.
Zu Brief 113, Seite 288 f. ist irrthümUch der Brief
vom 8. Januar 18 12 an Frau von Eybenberg gerichtet an-
gegeben, während deren Schwester, Frau von Grothuss,
die Adressatin war. Der Handschriftensammlung gedachte
Goethe ferner in Briefen an Caroline Pichler vom
31. März 181 2, an Kanzler von Müller vom 19. No-
vember 1824, an Graf Reinhard vom 28. Januar 1828 und
an Soret vom 9. Juni 183 1. — Es ist ein Druckfehler,
dass der Brief an Rochlitz auf den 21. Mai 1809 — statt
18 19 — gesetzt ist.
Zu Brief 131, Seite 299. In dem Neujahrsprogramm
von 1807 sind ohne Zweifel auch die Abschnitte VI und
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Zu Goethe's Briefen' an Eichstadt, 427
VII — »Lessing's Bildniss in Öl gemalt« und »Dr. Martin
Luther's Verherrlichung« — von Goethe.
Zu Brief 139, Seite 302 mag noch ePÄ-ähnt werden,
dass Knebel besage Briefs an seine Schwester Henriette
vom 13. October 1807 fand, Goethe habe in seinem Vor-
spiel von 1807 manche Stellen aus Jacobi's Eröffnungsrede
benutzt.
Zu Brief 144, Seite 304 ist zu ergänzen, dass der
Entwurf zum Denkmal des Grafen Schmettau von Goethe
herrührt. (»Westermann's illustrirte deutsche Monatshefte.
December 1868.« Seite 267.)
Zu Brief 159, Seite 311 ist zu bemerken, dass
Abeken's Recension der »Wahlverwandtschaften « im
»Morgenblatt«, 1810, Nr. 19 bis 21 zu lesen ist.
Zu Brief 161, Seite 312 kann noch angeführt wer-
den, dass Eichstädt das Unterlassen des Abdrucks von
Meyer's Programm mit der augenblicklichen Geldklemme
der J. A. L. Z. entschuldigte und dass Goethe laut seines
Briefs an Meyer vom 11. Januar 181 1 darüber sehr ver-
stimmt war.
Zu Brief 164b. Eine Windischmannische Re-
cension von Goethe's Farbenlehre erschien erst 1813 in
den Ergänzungsblättem zur J. A. L. Z. Nr. 3 bis 6.
Zu Brief 176, Seite 322. Goethe belobte Radlof in
einem an diesen gerichteten Brief vom 20. März 18 14
über seine Schrift »Frankreichs Sprach- und Geistes-
Tyrannei« und stellte ihm deren ehrenvolle Beurtheilung
in der J. A. L. Z. in Aussicht.
Zu Brief 186, Seite 325 darf erinnert werden, dass
uch Wieland den Ausdruck »erbidmete« in »Geron der
Adlige« (1777) anwendete.
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428 Berichtigungen etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers.
Zu Brief 187, Seite 326 ist vervollständigend zu
bemerken, dass Goethe laut Briefs an Zelter vom 10. De-
cember 1830 nach dem Tod seines Sohns den vierten
Band von »Dichtung und Wahrheit« wieder aufnahm.
Zu Brief 212b. Die Anfrage des Geheimen
Hofrath Eichstädt, worauf hier die Erwiederung
erfolgt, ist Vom 19. Juni 1819. (»Die Grenzboten« 1878.
Nr. 45. Seite 236.)
Zu Brief 220, Seite 337 ist zu berichtigen, dass in
»Goethe's Kunstsammlungen etc. beschrieben von Chr.
Schuchardt« die Bildnisse schätzbarer Zeitgenossen aller-
dings aufgezählt sind (I, 283 ff), doch befindet sich Eich-
städt nicht darunter.
d) Personen-Register.
Gramer: (nicht Johann Friedrich, sondern Karl Friedrich)
— Schriftsteller in Paris.
Delbrück, Johann Friedrich Ferdinand — (war nicht
der Prinzenführer).
Eschenburg, Johann Joachim — (in Braunschweig,
nicht in Göttingen).
Hogel, Christian Immanuel — (Professor in Jena),
Brief 212 b.
Humboldt, Friedrich Heinrich Alexander von — (war
nicht Staatsminister, sondern Wirklicher Geheimer
Rath).
Kretschmann, Theodor Konrad von — fehlt noch Hin-
weis auf S. 16.
Krüdener, Juliane Freifrau von — geb. von Vietinghoff
(nicht: Vittinghoff).
Loos, Daniel Friedrich — (mit vollem Namen).
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Zu Goethe's Briefen an Eichstadt. 429
e) SCHRIFTEN GOETHE'S
IN DER
Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung.
Hier sind nachzutragen
Recension von : Organisation der Koburg-Saalfeldischen
Lande von v. Kretschmann. 1804. Band II, Spalte 328,
in »Goethe's Briefen an Eichstädt« Seite 16. 232.
Lessing's Bildniss in Öl gemalt. 1807. B^"^ I» Seite VII,
oben zu Brief 131 gedacht.
Dr. Martin Luthers Verherrlichung — ebenda.
f) Ungedruckte briefliche Mittheilungen
GOETHE'S.
Hier ist nachzutragen Brief
an Geheimen Rath von Voigt vom 14. Mai 1807, Seite
XVIII f.
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2. Zu Goethe und Dresden.
^^^^^bgesehen von besserer Ausführung von Ein-
zelheiten ist folgendes berichtigend oder er-
gänzend zu meinem Büchlein »Goethe und
Drt?sdcna nachzutragen.
Zu Seite 2. Den um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts bestehenden Dresdner Gasthofver-
hältnissen nach ist zu vermuthen, dass das Zechgelage, zu
welchem Goethe nach seiner Erzählung in »Dichtung und
Wahrheit« durch das junge Mitglied einer Gesandtschaft
verleitet wurde, im Hotel de Pologne auf der Schloss-
strasse stattfand.
Zu Seite 5 ff. und 10. Von Schlesien aus schrieb
Goethe an Racknitz:
Die vierzehn Tage sind vorüber, in welchen ich
hoffte wieder bei Ihnen zu sein, und es scheint als
wenn ich noch nicht sobald das geliebte Dresden
wiedersehen würde. Heute geh ich nach der Graf-
schaft Glaz auf etw^a sechs Tage und nach meiner
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Zu Goethe und Dresden. 431
Rückkehr wird wol eine Reise nach den österreichi-
schen Salzwerken unternommen. Der Herzog grüsst
Sie schönstens und wünscht, dass es Ihnen Ihre Ge-
schäfte erlauben möchten, ihm auf seiner Rückreise
durch die Lausnitz etwa bis Flinsburg entgegen zu
kommen, eine kleine Tour mit ihm zu machen und
ihn sodann in Dresden einzuführen. Wenn er von
hier abgeht, werden Sie zeitig erfahren. Vor der
zweiten Hälfte des Septembers gewiss nicht; dann
hoffe ich auch Sie wieder zu umarmen. Behalten
Sie mich in freundschaftHchem Andenken, wie ich
nie aufhöre Sie zu lieben.
Goethe.
Breslau, den 26. August 90.
Wir wohnen im rothen Hause.
Es steht durch eine Mittheilung des Freiherrn von
Schuckmann fest, dass Goethe wirklich am 19. September
Breslau verHess, wie er Tags zuvor dem Baron Racknitz
gemeldet hatte und es liegt schlechterdings kein Beweis
vor, dass er mit dem Herzog Karl August, von dem er
sich trennte um von Breslau aus die schlesischen Gebirge
zu bereisen, eher als in Schandau oder Dresden wieder
zusammengetroffen sei. Doch verzögerte sich die Rück-
reise des Herzogs, da dieser sich am 29. September noch
auf dem Oybin befand. Gesetzt nun auch, dass er noch
an demselben Tage in Dresden eingetroffen wäre, so
würde Goethe doch, wäre er im Gefolge des Herzogs
gewesen — da er über Freiberg zurückzugehn beabsich-
tigte und doch mit dem Herzog zusammen am 6. Octobcr
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432 Berichtigungen etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers.
in Weimar eintraf — nur fünf Tage in Dresden zuge-
bracht haben, während er nach Körner's Zeugniss acht Tage
hier verlebte. Es ist daher jedenfalls nur eine patriotische
Sage, welche Goethe den Oybin in Gemeinschaft mit dem
Herzog besuchen lässt.
Noch ist hier einzurücken ein späterer Brief von
Goethe an Racknitz:
Für die übersendeten schönen Stücke Feldspath
vom Gotthard danke ich aufs beste; die kleinen
Trümmer, die ich von diesem Mineral in meiner
Sammlung besass, sind Zwerglein dagegen. Ehstens
schicke ich einige Beiträge zu Ihrer Sammlung, bester
Freund, wenn es schon gefährlich ist, zu soviel
interessanten und glänzenden Stücken noch etwas
gesellen zu wollen.
Nun noch einen Auftrag von meinem gnädigsten
Herrn. Es haben Ihro Kurfürstl. Durchl. auf des
Herzogs Ersuchen dem Schauspieldirector Bellomo
das Privilegium in Lauchstädt zu spielen auf mehrere
Jahre ertheilt. Bellomo verlässt den hiesigen Ort,
und es wird sich eine neue Truppe hier etabliren.
Nun wünschen Durchl. der Herzog, dass das Bel-
lomo'sche Privilegium auf die neuen Weimarischen
Schauspieler übertragen werden möge. Man wird
sich mit Bellomo wegen seines Lauchstädter Hauses
abfinden und hofft überhaupt, dass die künftige Ge-
sellschaft besser, als die bisherige sich exhibiren soll.
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Zu Goethe und Dresden. 433
Da sich Durchl. der Herzog selbst mehr für die
neue Truppe interessiren, als bisher geschehen, so
wünschen Sie um so mehr ihr das Lauchstädter Pri-
vilegium zu verschaffen, wollen aber nicht gern
unmittelbar des Kurfürsten Durchl. angehen.
Wollten Sie wol, bester Mann, sich um diese
Sache erkundigen, sie nach Ihrem Einfluss betreiben
und mir gütigst sobald als möglich einige Nachricht
vom Erfolg geben ? weil vor Bellomo's Abreise noch
alles in Richtigkeit gebracht werden muss.
Leben Sie recht wohl. Bald hören Sie mehr von
mir. Alle Freunde bitte schönstens zu grüssen.
Goethe.
W., d. 10. Jan. 91.
Zu Seite 8 und 12 bis 18. Die Bekanntschaft mit
Körner machte Goethe nach einer brieflichen Mittheilung
<ier Frau Körner an Gustav Parthey im Jahr 1789. Im
August dieses Jahrs besuchte Kömer mit seiner Frau und
«deren Schwester Dora den eben zur Professur in Jena
gelangten Schiller. Als nun Goethe, der damals in Eisenach
w^eilte, von der Anwesenheit der Töchter seines ehe-
maligen Lehrers und Freundes, des Kupferstechers Stock
in Leipzig, vernahm, richtete er die Bitte an sie, bis zu
meiner Rückkehr in Weimar zu bleiben. Körner's erfüllten
<ien Wunsch und die Erneuerung der Bekanntschaft mit
Minna und Dora Stock führte zu Anknüpfung der neuen
mit dem Gatten der erstem.
Wenn (Seite 12) gesagt wurde, Goethe sei seit 1790
nicht wieder mit Körners in Dresden zusammengetroffen,
28
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434 Berichtigungen etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers.
so verleitete zu dieser irrigen Angabe der Umstand, dass
CS bisher an jeder Andeutung darüber gebrach; jetzt
wissen wir, dass er sowol 1810 wie 181 3 Kömer's in
Dresden sah.
Der nächste vorliegende Brief Goethe's an Körner
nach dem vom 21. October 1790 ist folgender, in Dr. Pe-
schel's Körnermuseum zu Dresden befindliche:
Durch mancherlei zusammentreffende Umstände
wurde ich verhindert, Sie in Leipzig zu sehen und
selbst diesen Brief adressire ich nicht mehr dahin.
In wenig Tagen reise ich nach Ilmenau und werde
mich einige Zeit auswäns aufhalten, ob ich gleich
diesmal schw^erlich aus Thüringen kommen werde-
Es freut mich, dass Sie über die Gegenstände un-
serer Unterredung immer weiter nachgedacht haben;
es w^ürde desto angenehmere Unterhaltung geben,
wenn wir uns wiedersehen.
In der deutschen Monatsschrift, w^elche zu Berlin
herauskommt, werden Sie einiges von mir finden.
Hier lege ich eine kleine Landschaft bei. Ich schicke
bald mehr, und ich wünschte etwas besseres. Leben
Sie recht wohl und empfehlen Sie mich Ihrer lieben
Frau und Schw^ägerin, auch der schönen Freundin,
wenn sie in der Nähe ist. Auch vergessen Sie
nicht Herrn Graf Gessler und Herrn Hausmarschall
von Racknitz vielmals von mir zu grüssen.
Goethe.
W., d. 4. Juni 1791.
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Zu Goethe und Dresden. 435
In der Deutschen Monatsschrift vom Juni 1791 steht
eine Anzahl Sinngedichte von Goethe und sein Prolog
zur Theatereröffnung vom 7. Mai desselben Jahrs.
Ein Vierteljahr ^äter schrieb Goethe:
In dieser letzten Zeit habe ich so vielerlei unter-
nommen und habe selbst in diesem Augenblick noch
manches zu thun, was keinen Aufschub leidet, und
habe deswegen an meine auswärtigen Freunde wenig
denken können.
Ich wünsche dagegen, dass Ihnen ein Lustspiel,
Der Gross -Kophta, welches in der Michaelis-
messe herauskommen wird, und mein erster Beitrag
zur Optik, den ich gleichfalls bald ins Publikum zu
bringen gedenke, vergnüglich und nützlich sein
möge. Sein Sie überzeugt, dass Sie mit zu dem
Publico gehören, das ich vor Augen habe, wenn ich
arbeite.
Die Veranlassung zu meinem heutigen Briefe giebt
mir ein junger Künstler, den ich Ihnen empfehlen
möchte. Es kommen bei ihm ein vorzügliches Na-
tural, Fleiss und mechanische Geschicklichkeit zu-
sammen. Er hat bisher in Stahl geschnitten und ist
sich fast alles selbst schuldig. Ich siegele mit dem
Kopf der Meduse, den er copirt hat.
Ich w^ünsche nun, dass er im Steinschneiden, mit
dem er auch schon einen Anfang gemacht hat, vor-
wärts kommen und in dem Mechanischen desselben,
28*
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436 Berichtigun'gex etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers.
das ihn jetzt noch aufhält, sich besser üben möge.
Sie haben einen geschickten Steinschneider in Dres-
den, der, wie ich höre, nicht neidisch sein soll und
allenfalls einen jungen Künstler bilden hilft; wollten
Sie die Güte haben, mir über folgende Puncte Nach-
richt zu geben?
i) Wie der Steinschneider heisse, und ob er
einem jungen Mann etwa ein paar Monate Unter-
richt gäbe?
2) Was er für diesen Unterricht verlangt?
3) Ob der junge Künstler seine Maschine mit-
bringen soll?
4) Ob Sie wol die Güte hätten, mir wegen
Quartier und Kost einen Überschlag zu machen,
was es ohngefähr monatUch kosten könne? und ob
Sie wol die Güte haben wollten, sich selbst ein
wenig des jungen Mannes anzunehmen?
Es wird Ihnen gewiss Freude machen, ihn kennen
zu lernen, und Sie werden in der Folge die Zu-
friedenheit geniessen, wenn sich dieses Talent aus-
bildet, seinem Anfang behülflich gewesen zu sein.
Leben Sie recht wohl und empfehlen Sie mich
Ihrer lieben Frau und allen Freunden.
Goethe.
Weimar, den 12. Sept. 1791.
Körner scheint auf diesen Brief nicht geantwortet zu
haben; denn nach einem halben Jahr schrieb Goethe
wneder :
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Zu Goethe und Dresden. 437
Erlauben Sie, dass ich mit wenigen Worten Sie
an den jungen Künstler erinnere, von dem ich vor
einiger Zeit schrieb. Er möchte nun gern von hier
ab und nach Dresden gehen um das Steinschneiden
zu lernen; er hat sehr zugenommen in der Kunst
und ist übrigens ein gar guter Mensch.
Wollten Sie wol hören, ob Ihr Steinschneider
nun Zeit hätte, sich mit ihm abzugeben? Der junge
Mann brauchte ja nicht in demselben Hause zu
wohnen. Wollten Sie wol fragen, was der Mann
für den Unterricht etwa eines Vierteljahres ver-
langte? Ob es nöthig sei, dass der junge Künstler
seine Maschine mitbringe? Gäben Sie mir hierüber
Auskunft, so schickte ich ihn gleich ab.
Verzeihen Sie, dass ich heute nicht mehr sage.
Empfehlen Sie mich den Ihrigen und behalten mich
in gutem Andenken.
Goethe.
W., d. 31. Mai*) 1792.
Dieselbe Angelegenheit betreffen die beiden folgenden
Briefe Goethe's an Körner.
Nehmen Sie meinen Dank für die gütige Be-
sorgung! Hierbei liegt ein gleichfalls lakonischer
Zettel, den Sie Herrn Tettelbach einzuhändigen die
Güte haben werdeft. Facius gebe ich soviel Geld
mit, als er ohngefähr braucht; sollte ihm was ab-
gehen, so haben Sie die Güte es ihm vorzuschiessen.
•) Die Urschrift lässt zweifelhaft ob May oder März geschrieben ist.
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438 Berichtigungen etc. zu Goethe-Sc hriftek d. Verfassers.
ich werde es sogleich ersetzen. Empfehlen Sie doch
den jungen Mann an die Galerieinspectoren und wo
Sie sonst glauben, dass es ihm nützlich sein könnte.
Sie haben ja wol viel Freude an Schiller's Besuch
gehabt? Herr von Funk war einen AugenbÜck bei
mir, aber auch nur einen AugenbÜck. Leben Sie
recht wol und grüssen Ihre hebe Frau und Schwä-
gerin. Meine ganz nahe Hoffnung Sie wiederzusehn
ist mir durch die Veränderung des Quartiers, an der
ich diesen Sommer leide, vereitelt worden.
Facius bringt Ihnen von meinen neusten Schriften
etwas mit. Empfehlen Sie mich gelegentlich Herrn
Grafen Gessler und gedenken mein.
Goethe.
W., d. 14. Juni 1792.
Hier kommt Facius, der sich Ihnen gleich selbst
empfehlen wird; nehmen Sie ihn um seinet- und
meinetwillen gütig auf. Ich habe ihm Geld mit-
gegeben, dass er höchstens 50 Thlr. noch brauchen
könnte. Mit Dank restituire ich diese Summe, wenn
Sie ihm solche bei seiner Abreise allenfalls auszahlen.
Bei uns ist's unruhig. Preussen marschiren ein und
aus, unser Herzog ist fort, und ich stehe auch auf
dem Sprunge. Leben Sie ' wohl , grüssen Sie die
Ihrigen herzlich, und gedenken mein, ich sei auch
wo ich wolle.
Goethe.
W., d. 17. Juni 1792.
Digitized by VjOOQ IC
Zu Goethe und Dresden. 439
Düsseldorf, d. 14. Nov. 1792.
Nach ausgestandener Noth eines unglücklichen
Feldzugs finde ich mich hier bei meinem alten
Freunde Jacobi wie neu geboren und fange erst
wieder an gewahr zu werden, dass ich ein Mensch bin.
Der Sohn meines Freundes, der mit Graf Stol-
berg aus ItaUen zurückkehrt, wird durch Dresden
gehen; Sie erlauben, dass ich Ihnen diesen braven
jungen Mann empfehle. Der Vater wünscht, dass er
beiliegenden Brief erhalten möge, den ich ihm zu-
zustellen bitte. Sie erfahren ja wol gleich wenn
Graf Stolberg ankommt.
Wie ich höre hat Facius viel gelernt. Sobald ich
^ nach Hause komme, danke ich Ihnen und trage
meine Schuld ab. Leben Sie recht wohl und grüssen
die lieben Ilirigen.
Goethe.
Erläuternd ist zu bemerken, dass es Georg Jacobi war,
-der den Grafen Fritz Stolberg nach Italien begleitet hatte.
Es hegen fast vier Jahre zwischen vorstehendem und
•dem nächsten zugänglichen Brief Goethe's an Körner.
Dieser lautet:
Durch einen Mann, für den ich Ihren Rath und
nöthigenfalls auch Ihren Beistand erbitte, sende ich
dieses Blatt, das ich wegen seiner schnellen Abreise
nur eilig schreibe. Einige Tage später sollte er nicht
leer abgehen; denn er könnte den neuen Musen-
almanach mitnehmen, über den bisher gebrütet wor-
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440 Berichtigungen ect. zu Goethe-Schriften d. Verfassers.
den ist. Der Client, den ich Ihnen empfehle, ist der
hiesige Steuerrevisor Wölfel, der eine Erbschafts—
angelegenheit in Dresden zu betreiben die Absicht hat.
Schiller ist nach seiner An ganz wohl, wie ich
nach der meinigen. Wenn Sie die Idylle zu Anfang
des Musenalmanachs sehen, so gedenken Sie jener
guten Tage, in denen sie entstand. Ähnhche Ar-
beiten dieser Art machen mich hier im Saalgfunde
vergessen, dass ich jetzt eigentlich am Arno wandeln
sollte. Meyer befindet sich in Florenz und ist fleissig.
Empfehlen Sie mich den Frauenzimmern bestens so-
wue den letzten Band meines Romans, der sich ehestens
ans Tageslicht wagen wird, und leben Sie wohl.
Goethe.
Jena, d. 22. September 1796.
Die Elegie an der Spitze des Schiller'schen Musen-
almanachs für 1797, »Alexis und Dora«, entstand in der
ersten Hälfte des Mai zu Jena, als Körners zu Besuch
bei Schiller sich don aufhielten. Wenn Gustav Panhey
in seinen 1871 als Manuscript gedruckten »Jugenderinne-
rungen« erzählt, Dora Stock habe ihm venraut, jene Elegie
sei an sie gerichtet, so waltet dabei jedenfalls von irgend
einer Seite ein Irrthum ob; w^ahrscheinlich hat die Stock
gemeint: Goethe habe — wie es der folgende Brief be-
stätigt — ihr zu Ehren der Liebenden den Namen Dora
beigelegt. Ein Begebniss aus Dora Stock's Leben liegt
der Elegie schwerlich zu Grunde; Huber war mit ihr be-
reits verlobt als er Sachsen veriiess, weshalb wenigstens
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Zu Goethe und Dresden. 441
dieses bekannte Verhältniss keinen Anlass zu einem
ähnlichen Vorgang wie den der Elegie geboten haben
dürfte.
Der nächste Brief bedarf keiner Erläuterung und mag
nur erwähnt werden, dass die am Schluss gedachte Ton-
leiter nicht fruchtlos gesendet worden zu sein scheint, da
Körner im nächsten Monat bei Schiller eine, in Jena zu
kaufende Guitarre bestellte.
Eigentlich sollte es keine äussere Veranlassung
sein, die mich bewegte, Ihnen zu schreiben; denn
ich habe Ihnen genug für das zu danken was Sie
über den Almanach und über den letzten Band
meines Romans an Schiller schrieben; ich habe mich
über den Antheil zu freuen, den Sie an meinen
Productionen nehmen. Wenn man auch immer
selbst wüsste, welchen Platz eine Arbeit, die wir
eben geendet haben, die nun einmal so sein muss,
wie sie so ist, in dem ganzen Reiche der Literatur
verdiene, welches doch eigentlich unmöglich ist, so
würden immer noch gleichgestimmte und einseitige
Urtheile anderer uns äusserst willkommen sein; da
man aber (ich sollte sagen: ich aber) niemals
ungewisser ist, als über ein Product, das soeben
fertig wird, bei dem man seine besten Kräfte und
seinen besten Willen erschöpft hat, und wo doch
demohngeachtet ein gewisses geheimes Urtheil noch
manches zu fordern sich berechtigt glaubt, so bleibt
mir ein inniger Antheil, der sich nicht ans Einzelne
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44^ Berichtigungen ect. zu Goethe-Schriften d. Verfassers.
hängt, sondern in dem Ganzen lebt, eine sehr er-
quickliche Erscheinung.
Wie ein Schiffer, der von einer gefährlichen Fahrt
zurückkommt, sich deswegen doch nicht im Hafen
halten kann, so habe ich mich auch wieder auf eine
neue Reise begeben. Ein episches Gedicht, das etwa
auf 6 Gesänge und 2000 Hexameter steigen kann,
ist jetzo meine Liebe und meine Sorge. Je mehr
man dem Beifall giebt was davon schon fertig ist,
desto bänger bin ich, ob ich auch so endigen werde,
w^ie ich angefangen habe; doch hilft hier, wo bei
einem für recht erkannten Plan die Ausführung
bloss von dem Augenblick abhängt, wieder hoffen
noch sorgen, hier ist der Glaube eigentlich am Platz.
Die zur Einleitung bestimmte Elegie lege ich in Ab-
schrift bei.
Und nun zu dem Anliegen, das mich zu diesem
Briefe bewegt. In der Oper »11 matrimonio segreto«,
die wir vor einigen Tagen gegeben haben, fehlt in
unserer Partitur ein Duett, welches ich so bald als
mögUch zu besitzen wünschte. Es ist das Duett im
ersten Acte zwischen dem fremden Grafen und dem
heimlich verheiratheten jungen Mann — ich weiss
nicht, wie sie beide im ItaÜenischen heissen. Gewiss
ist diese Oper beim dresdner Theater; könnten Sie
mir dieses Stück Musik in Partitur so bald als mög-
lich verschaffen und schicken, so würden Sie mir
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Zu Goethe und Dresden. 443
eine besondere Gefälligkeit erzeigen. Die Oper hat
hier gefallen und dieses Duett wird ihr bei folgenden
Aufführungen noch eine besondere Zierde geben.
Auf eine neue Schrift mache ich Sie bei dieser
Gelegenheit aufmerksam: auf das Werk der Mad.
de Stael über den Einfluss der Leidenschaften auf
das Glück der Einzelnen und der Nationen. Eine
sonderbare, tiefe, leidenschaftliche Natur durch das
gewaltsame Feuer der Revolution unbarmherzig ge-
läutert, bringt hier den Metallkönig ihres Gehalts
vor die Augen des Publicums.
Leben Sie recht wohl. Grüssen Sie mir Ihre
Frauenzimmer. Dorchen wird sehen, dass, ich weiss
nicht durch welchen Zauber, meine neue Heldin
schon wieder Dorothea heisst. Die kurzen Tage
gehen uns jetzt ganz heiter vorüber; wir haben
zwar keine grosse, aber doch eine muntere und
gefällige Eisbahn. Vielleicht kann Ihnen oder je-
manden von Ihrer Gesellschaft beiliegende Tonleiter
zur Guitarre nützHch sein.
Goethe.
Weimar den 8. December 1796.
Auch 18 10 führte Körners mit Goethe in Karlsbad
zusammen, wobei jedoch jene über des Dichters steife
Haltung zu klagen fanden. Dagegen war er bei seinem
nachfolgenden Aufenthalt in Dresden um so liebenswür-
diger, wie Emma Kömer ihrem Oheim Weber mittheilte,
an welchen gerichtete Briefe der Familie Körner die
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444 Berichtigungen ect. zu Goethe-Schriften d. Verfassers.
»Deutsche Rundschau« im IV. Bande brachte; sie erzählt,
dass Goethe besondern Antheil an ihrer kleinen Sing-
akademie genommen, überhaupt sich äusserst wohl in
Dresden gefallen und für's nächste Jahr einen längern
Aufenthalt hier in Aussicht gestellt habe; Körners lud er
zu einem Besuch nach Weimar ein. Auch an ihren
Bruder Theodor schrieb Emma am 21. September 18 10:
»Goethe wird den Sonntagabend [den 23.] bei uns zu-
bringen und noch einige Freunde: er wünscht gern auch
einige von unsern Geschäftsmenschen kennen zu lernen.
Übrigens ist er ganz umgetauscht gegen Karlsbad, und
Du würdest ihn nicht wiedererkennen: er ist lebhaft und
unbefangen und dadurch sehr geniessbar.«
Aus Körner's im IV. Band des »Archivs für Literatur-
geschichte« mitgetheilten Briefen an seinen Sohn erfahren
wir, dass Goethe in dieser Sonntagsgesellschaft antraf:
den Geheimen Finanzrath Joseph Friedrich von Zezschwitz
(starb als Kreishauptmann des Meissnischen Kreises am
15. November 1817 im 43. Jahr) nebst Gattin, (Agnes geb.
V. Seidlitz) den Oberconsistorialpräsident Heinrich Victor
August Freiherr von Ferber (starb am 30. Januar 182 1)
ebenfalls nebst Gattin, (Auguste geb. v. Broizem) den Ge-
neralmajor von Thielmann, den Kreishauptmann Detlev
Graf von Einsiedel (geb. 12. October 1773, Cabinetsminister
181 3 — 1830, starb am 20. März 1861) und einen von Vieth,
wahrscheinlich den Generalmajor Johann Just von Vieth
und Golsenau.
Montags den 24. September war Goethe früh mit
Körner bei Baron Block, für dessen Edelsteinsammlung er
lebhafte Theilnahme äusserte. Der Besitzer war wohl der
Inspector des Grünen Gewölbes, prädicirte Hofrath, Peter
Ludwig Heinrich von Block.
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Zu Goethe und Dresden. 445
Am Montag Abends war Goethe beim General von
Thielmann eingeladen , dessen Gattin eine geborne von
Charpentier war. Goethe fand hier u. A. den Oberhof-
prediger Reinhard, den Geheimen Assistenzrath Wilhelm
August Freiherr von Just (geb. 1752, gest. als Geheimer
Rath und Gesandter in London am 5. März 1824) und
den Professor Hartmann, mit welchem letzteren Goethe
sich ganz freundlich unterhielt, obschon derselbe kurz vor-
her ein absprechendes Urtheil über die Weimarer Kunst-
ausstellungen veröffentlicht hatte..
Am Dienstag befand sich Goethe wieder im Körner'schen
Haus, in welchem an diesem Tag ein Gesangverein seine
regelmässigen Zusammenkünfte abhielt.
Goethe begegnete damals in Dresden dem grossen
Theologen Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher, doch
fand eine Annäherung zwischen beiden nicht statt.
Am 26. September reiste Goethe von Dresden ab.
Die Briefe Goethe's an Körner über die Bühnen-
dichtungen des Sohnes mögen in Streckfussens Ausgabe
von Theodor Körner's Werken nicht genau abgedruckt
sein; namentÜch lautet der Brief über »Die Sühne« und
»Toni« vollständig so:
Ihr lieber Brief, theuerster Freund, ist mir in
Karlsbad gleich nach meiner Ankunft geworden und
hat mich dessen Inhalt sehr erfreut. Nun erhalte ich
von Weimar ein Schreiben, aus dem ich eine Stelle
sogleich mittheilen muss:
»Die Sühne ist gestern sehr gut gegeben wor-
den und hat ausserordentliche Sensation gemacht.
Das Stück packte schnell und ging schnell vorüber,
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446 Berichtigungen etc. zu GoETHE-ScHRirrEN d. Verfassers.
deswegen es mir lieber ward als der vierund-
zwanzigste Februar. Die Herzogin w^ollte den
Verfasser wissen.«
Ich war von der guten Wirkung voraus über-
zeugt, und tröstete mich desshalb, dass ich weggehen
musste, ohne Leseprobe von beiden Stücken halten
zu können. Das zweite wird ebenso reussiren; es
ist vollkommen passend ausgetheilt: Frau von Heygen-
dorf hat die Heldin übernommen.
Die Vorhalle, welche den 30. April von Jena ab-
gegangen, wird nun in Ihren Händen sein; sie ist
hauptsächlich auf den Effect calculirt, vom Blitz er-
leuchtet zu werden. Da das Haus einmal einem
reichen Pflanzer gehört hat, so wird man die solide
Architektur ganz schicklich finden und sich durch
das Eigene derselben gern in eine ferne Welt ver-
setzt fühlen. Die Zimmer sind auch auf eine ähnUche
Art zu decoriren angeordnet; zum Walde haben w^ir
Palmen und fremde stachliche Gewächse genug.
Nach Vorstellung des zweiten Stücks soll der
Name des Verfassers publicirt werden, wenn er in-
zwischen nicht sonst auskommt. Ich habe es durch-
aus vortheilhaft gefunden, die ersten Stücke eines
jungen Autors ohne Namen zu geben, damit sich
nichts Persönliches in den Empfang mische.
Ob ich so glücklich sein kann, Sie im halben
Juli in Prag zu sehen, hängt noch von vielen Zu-
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Zu Goethe und Dresden. 447
fälligkeiten ab; Sie sind überzeugt, dass ich es herz-
lich wünsche. Vor Johanni werde ich darüber das
Nähere sagen können.
Wenn Ihr lieber Sohn nach seinem Aufenthalt in
dem grossen Wien eine Zeit lang in dem kleinen
Weimar ausruhen will, so soll er uns sehr will-
kommen sein. Ich wünsche, dass ihn alsdann unser
Theater anregt, etwas auf der Stelle zu schreiben,
um es sogleich aufgeführt zu sehen, wozu ihm denn
die beiden ersten Stücke ganz freundlich vorleuchten
werden.
Das beste Lebewohl!
Goethe.
K. B. den 14. Mai 1812.
Das obgedachte Schreiben aus Weimar war wol vom
Kanzler von Müller; die Zeichnung der Decoration zu
»Toni« hatte Goethe von Heydeloff fertigen lassen.
Nachstehenden Brief führte Hirzel in seiner Hand-
schriftensammlung mit einem Fragezeichen als an Kömer
gerichtet auf; es ist kaum zu bezweifeln, dass er Recht
hatte. Zu welchem Zweck sich Goethe 181 3 mit dem
Sachsenspiegel beschäftigte, sagt er selbst in den »Tag- und
Jahresheften« (Absatz 824 in der HempeFschen Ausgabe
von Goethe's Werken). Der eigenhändige Brief lautet :
Nur mit einem einzigen Worte des Dankes kann
ich den Sachsenspiegel begleiten. Möge der Tag bald
erscheinen, an dem ich Sie wieder sehen und mich
Ihrer freundschaftlichen Unterhaltung erfreuen kann.
Teplitz, d. 28. Juli 181 3.
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448 Berichtigükgek etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers.
Die Freude hatte keine Dauer; denn in diesem Jahre
trat der Bruch zwischen Goethe und Kömers ein.
Die Aufgeregtheit, in der sich Goethe durch den Krieg
gegen Napoleon versetzt fühlte^ machte sich auch gegen
Körners Luft, als er vom Beitritt ihres Theodor zu Lützow's
Corps vernahm. Es geschah dies in Körner's damaliger
Wohnung auf der Morizstrasse in Dresden.
Bei Aufführung des »Zriny« 18 16 hielt es Goethe für
eine Verbesserung der Bühnenvorschrift des Dichters, die
gemordete Helene nicht hinwegtragen sondern, nach einem
Vorschlag des Schauspielers Oels, nur zudecken zu lassen.
Zu Seite 19. Zu dem Dresdner Aufenthalt Goethe's
von 1790 ist noch eines Briefs an den Landkammerrath
Ridel zu gedenken, welcher letztere durch Goethe's Ver-
mittlung die ihm als einem Beamten nöthige Genehmigung
des Herzogs zu seiner Verheirathung mit Charlotte Amalie
Angela Buff, der Schwester von Charlotte Kestner geb.
BufF, nachgesucht hatte. Nachdem der Herzog bereits am
19. September diese Genehmigung mittels Briefs unmittel-
bar Ridel'n ausgesprochen hatte, schrieb Goethe demselben :
Ew. Wohlgeboren
haben von Durchl. dem Herzoge eine Antwort aus
Breslau erhalten und daraus gesehen, dass ich den
Auftrag ausgerichtet habe. Wenn Sie erst jetzt ein
Wort von mir empfangen, so ist es, weil ich bisher
kaum einen Moment zur Ruhe gekommen und über-
haupt ein übler Correspondent bin. Dagegen sind
Sie überzeugt, dass ich herzlichen Antheil nehme an
allem, was Ihnen Gutes begegnen kann, und dass
ich in dem gegenwärtigen Falle doppelt und drei-
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Zu Goethe ukd Dresden. 449
fach interessirt bin. In wenigen Tagen wiederhole
ich Ihnen dieses mündlich und wir sprechen weiter.
Leben Sie recht wohl. Entschuldigen bei Hrn. Geh.
R. R. Voigt mein Schweigen nebst vielen Em-
pfehlungen.
Goethe.
Dresden d. 3. Octbr. 1791.
Zu Seite 25. Der Brief, in welchem Goethe den
Professor von Kügelgen zu dessen Leidwesen mit »Hoch-
wohlgeborner Herr!« angeredet hatte, ist wahrscheinlich
derselbe, in welchem Goethe sich über sein zweites von
dem Genannten gemaltes Bildniss und über den Rahmen
des Gemäldes mit vieler Zufriedenheit ausspricht, wie
Kügelgen an Friedrich Frommann schrieb; (»Das From-
mann'sche Haus etc. Von F. J. Frommann. Zweite ver-
mehrte Auflage. 1872.« Seite 113 f.) denn das dort ge-
druckte Jahr »1812« steht jedenfalls fehlerhaft für 181 1.
Zu Seite 27. In der zweiten Auflage von »Erin-
nerungen und Leben der Malerin Louise Seidler etc. von
Hermann Uhde. 1875« sind sämmtliche Briefe Goethe's
an diese Künstlerin abgedruckt.
Zu Seite 33. Die Dame, welche Goethe beiKügel-
gen's aufsuchte, war nicht Frau von Grothuss, sondern
die wunderliche Frau von Chezy. Von ihrem Verkehr mit
Goethe wissen wir sonst nur, dass sie diesem 181 1 eine
von ihr gedichtete Legende geschickt hatte, welche er in
Brief an Frau von Wolzogen vom 11. December j. J. als
wohlgerathen bezeichnete, indem er zugleich auf die an-
gekündigten »Gedichte der Enkelin der Karschin« sub-
scribirte.
29
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450 Berichtigungen' etc. zu Goethe-Schkiften d. Verfassers.
Ebenfalls zu Seite 33. Der Wahrheit über das Miss-
verhältniss in Goethe's Leibesgestalt näher, als Arndt mit
seiner unsinnigen Angabe, kommt der Arzt Georg Fried-
rich Louis Stromeyer, welcher in seinen »Erinnerungen
eines deutschen Arztes« sagt: Goethe's Unterextremitäten
seien etwa um i Zoll zu kurz gewesen.
Zu Seite 34 f. Wahrscheinlich kam Goethe am
13. August 18 13 nach Dresden und ist dieses Datum statt
des unmöglichen »18. August« in Goethe's Brief an Fritz
Schlosser vom 5. September 181 3 zu lesen. Am 19. August
schon — nicht erst am 21. — war Goethe wieder in Weimar.
Zu Seite 51. Schon 1828 hatte Prinz Johann die
Übersetzung der zehn ersten Gesänge von Dante's »Hölle «
an Goethe gesandt gehabt, der sie aber nur anfing zu
lesen, weil er theils damals wegen der Herausgabe seiner
Werke in seiner Zeit sehr beschränkt, theils durch die
Stellung der Anmerkungen zur Übersetzung — unter statt
hinter dem Text — unangenehm berührt war. Goethe
hatte sich darüber gegen den königlich sächsischen Ge-
schäftsträger in Weimar, damaligen Major (1846 als General-
major der Reiterei verabschiedeten) Karl August Freiherm
von Lützerode ausgesprochen, diesen jedoch ersucht, ihm
eigene Dichtungen des Prinzen zu verschaffen, über welche
er sich sodann später beifällig äusserte.
Zu Seite 60. Den Sommer 1798 verlebte auch der
berühmte Übersetzer Johann Diederich Gries in Dresden.
Zu Seite 65. Acht Briefe Goethe's an Schopen-
hauer sind in »Schopenhauer's Leben von W. Gwinner«
(1878) abgedruckt.
Zu Seite 65 weiter. Da die in Dresden residirenden
Gesandten meistens auch am Weimarer Hof beglaubigt
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Zu Goethe und Dresden. 451
waren und von Zeit zu Zeit dahin sich begaben, namentlich
im Februar, um die in diesem Monat fallenden Geburts-
tage des grossherzoglichen Hauses mitzufeiern, so kam
Goethe mit diesen amtlich zu den Dresdnern zu zählenden
Herren ebenfalls in Berührung, was insbesondere bezeugt
ist von dem französischen Gesandten Jean Frangois Baron
de Bourgoing, dem österreichischen Louis Marquis de
Bombelles, dem russischen Basil Kanikow und dem preussi-
schen Johann Ludwig von Jordan.
Zu Seite 81. Goethe hatte anfangs über die kühle
Anzeige von Reichenbach's »Botanik für Damen« eine
sehr scharfe Abfertigung des Baron von Ferussac, Heraus-
gebers des Bulletin des sciences naturelles, aufgesetzt,
gegen w^elche jedoch Soret bemerklich machte, dass das
Wort, welches Goethe in jener Anzeige am anstössigsten
erschienen w^ar — metaphores — mögHcherwcise in Folge
Druckfehlers statt metamorphoses stehe. Goethe Hess da-
durch sich bestimmen, seine Rüge glimpflicher zu fassen
w^ie das des nähern aus »Goethe's Briefe an Soret,
herausgegeben von H. Uhde« (1877) Seite 132 bis 135 zu
ersehen ist.
Zu Seite 105. Es war, wie von Recensenten der
Schrift »Goethe und Dresden« ganz richtig gerügt w^orden
ist, ein MissgriflF, der Gräfin in »Wilhelm Meister's Lehr-
jahren« die wegwerfende Äusserung über die deutschen
Schauspieler zum Vorsvurf zu machen, da sie vielmehr
solche Verachtung zur Schau tragen musste, um ihren
widerspruchsüchtigen Gemahl nachgiebig zu stimmen. Es
ist daher allerdings zuzugeben, dass in dieser schlauen
Behandlung des Gatten die Gräfin des Romans mit der
Gräfin Werthern übereintrifFt, aber dieser Zug ist auch
das einzige, was die beiden Gräfinnen gemein haben, wo-
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452 Be.^ichtigungex etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers.
gegen in allem übrigen die Grundverschiedenheit dieser
Persönlichkeiten unverändert bestehen bleibt.
Zu Seite i i 5 f . Am 11. September 1815 äusserte
Goethe gegen Sulpiz Boisseree: im jetzigen Zustand der
Kunst sei bei vielem Verdienst und Vorzügen grosse Ver-
kehrtheit ; die Bilder von Maler Friedrich könnten eben so
gut auf den Kopf gesehen werden.
Zu Seite 121. Eine von Goethe unter Kaazens
Leitung gefertigte Zeichnung ist in »Goethe's Kunst-
sammlungen von Schuchardt« I, 325 unter Nr. 1053 ver-
zeichnet.
Zu Seite 129. Höckner hatte für den Appellations-
rath Kömer Schiller's Kopf in Stein geschnitten; Kömer
schickte unterm 27. December 181 2 Abdrücke davon an
Frau von Schiller mit dem Auftrag, einen an Goethe
abzugeben.
Zu Seite 135 bis 140. Goethe's Beziehungen zu von
Quandt und dessen kunstfreundlicher Thätigkeit sind aus-
führlich niedergelegt in »Goethe, J. G. v. Quandt und der
sächsische Kunstverein. Von H. Uhde. 1878.« Dieses
Werkchen enthält dreiundzwanzig Briefe Goethe's an von
Quandt und zwei an Theodor Winkler (Hell).
Zu Seite 140. Auch der seit einer Reihe von Jahren
in Dresden lebende grossherzoglich sachsen-weimarische
Wirkliche Geheime Rath und Oberhofmeister Karl Frei-
herr von Beaulieu Marconnay, hat in Weimar mit Goethe
verkehrt.
Zum Personenregister ist zu den aufgeführten
Namen zu ergänzen:
Biedermann, Traugott Andreas, Frhr. v. — (ge-
storben 30. — nicht 2. — November 18 14).
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Zu Goethe und Dresden. 453
BuTgsdorff, Karl Ludwig Gottlob, v. — (gestorben
Karlsbad, 18. September 1875).
Opitz, Christian Wilhelm — (geboren 5. Oc-
tober 1756, bei der Bondinischen später Seconda'schen
Schauspielergesellschaft in Dresden und Leipzig seit 1776,
Regisseur 1788, gestorben 3. Februar 18 10).
Preller, Friedrich — (gestorben Weimar 23. April
1878).
Reichenbach, Heinrich Gottlieb Ludwig — (ge-
storben Dresden 17. März 1779).
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3- Zu Goethe und das sächsische
Erzgebirge.
^'^u Seite 73. Langer war 1773 als Studiren-
j der der Bergakademie eingetragen.
Zu Seite 239. Eine eigenhändige
Widmung Goethe's an Schmidt lautet:
Dem
Königl. Sächsischen
Berg- und Gegenschreiber
Herrn
FRIEDR. AUG. SCHMIDT
zu Altenberg
in freundlichster Erinnerung
des eilften Jul. 181 3
dankbar
den dreizehnten Juni 1827
J. W. V. Goethe
Weimar
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Zu Goethe und Dresden. 455
Zu Seite 202 und 217. Goethe reiste am 26. Sep-
tember von Dresden ab und dürfte bis zum 28. früh in
Freiberg geblieben sein, da er am 29. Nachmittags in Lö-
bichau eintraf und wohl vom 28. Mittags bis 29. Morgens
sich zur Besichtigung der Fabriken in Chemnitz aufgehal-
ten haben wird.
Zu Seite 296. Über die Besuche der Gräfin HopfF-
garten bei Goethe liegen genauere Nachweise vor. Der-
jenige, bei welchem er ihr eine Haarlocke abschnitt, fand
am 7. August 18 19 statt. Die Handschrift empfing sie von
Goethe 1822; dieselbe enthielt die »Sprüche« 695 bis mit
701 der Hemperschen Goethe -Ausgabe (Theil XIX).
Endlich überreichte Goethe der Gräfin Hopfl^garten noch
die zu seinem Dienstjubiläum gedruckte Ausgabe der
»Iphigenie « mit der Widmung auf dem Vorsatzblatt :
Frau Gräfinn Hopffgarten zu freundlichem Erinnern
.« Goethe.
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Nachtrag zu Satyros.
Die Beweise, dass Goethe beim »Satyros« Basedow
im Auge gehabt habe, können jetzt noch um einen ver-
mehrt werden, nachdem Dr. Sabell in der Festschrift »Zu
Goethe's 130. Geburtstag« ein auf Basedow bezüghches,
bisher nur lückenhaft bekanntes Paralipomenon zur »Wal-
purgisnacht« in »Faust« aus einer Weimarer Handschrift
veröffentlicht hat, wonach es lautet:
Mephistopheles :
Ei, das ist ja der liebe Sänger
Von Hameln, auch mein alter Freund,
Der vielbeliebte Rattenfänger!
Wie geht's? — Ganz herrlich, wie es scheint.
Rattenfänger:
Befinde mich recht wohl, zu dienen!
Ich bin ein wohlgenährter Mann:
Patron von zwölf Philantropinen,
Daneben auch em Charlatan.
Als »Charlatan« wird aber auch Satyros an mehreren
Stellen des Drama's hingestellt.
— ooco;«;
^/^5dc—
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