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Full text of "Goethe-forschungen"

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WOLDEMAR Freiherb toa BIEDERE 



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Goethe-Forschungen. 



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Goethe-Forschungen 



VON 



WoLDEMAR FREIHERR VON Biedermann. 




Frankfurt vm. 

Literarische Anstali 
rütten & loening. 

1879. 



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^ üniverstty' 
]\ 1 DEC. 1937 

V K °^ OXFORD 



Druckerei von Aucu^t Osterrieth in Fr4nkfiirt a. M. 



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Vorwort. 




"^inige der von mir in Druck aber nicht in 
\\ Buchhandel gegebenen Schriftchen zur Goethe- 
^[ Literatur finden sich in andern veröflFentlichten 
Schriften angeführt, und dieser Umstand ist 
Ursache gewesen, dass ich manchmal um 
Mittheilung solcher Privatdrucke angegangen worden bin 
und leider war ich in Mangel übriggebliebener Exemplare 
nicht immer im Stande, solchen Wünschen zu entsprechen. 
Andere, ebenfalls hier und da citirte Aufsätze zur Goethe- 
Literatur habe ich zwar durch den Buchhandel Jedermann 
zugänglich gemacht, aber mittels einer Zeitschrift, welche 
nicht ein Fachblatt für Literatur ist, so dass dieselben 
Vielen , die sich dafür interessirten , fremd geblieben 
waren und mir daher das 'in meinem Besitz befindliche 
Exemplar der bezüglichen Nummern des Blattes wiederholt 
zur Einsichtnahme abverlangt worden ist. 

Diese Erfahrungen mögen die folgende Sammlung 
meiner kleinen Schriften zur Goethe-Literatur umsomehr 
rechtfertigen , als dieselben grossentheils umgearbeitet 
worden sind, um sie auf die Höhe der fortgeschrittenen 



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1 1 Vorwort. 

Wissenschaft zu bringen ; auch haben noch nicht gedruckte 
Aufsätze sowie noch nicht veröffentlichte Stücke von Goethe 
— ein Gedicht und mehrere Briefe — darin Aufnahme 
gefunden. 

Zu den einzelnen Nummern ist zur Orientirung Fol- 
gendes zu bemerken: 

I. I. Das Original des bisher ungedruckten Gedichts 
an Charlotte von Schiller befindet sich in meinem Besitz. 

I. 2. Das Gedicht an Christine von Ligne habe ich 
»zur kleinen Erbauung der stillen Gemeinde am 22. März 
1860« in wenigen Exemplaren drucken lassen und ver- 
theilt. Es ist dann im III. Theil der HempePschen Aus- 
gabe von Goethe's Werken und darauf in andern Goethe- 
Ausgaben wieder abgedruckt. 

Sämmtliche Aufsätze des II. Abschnitts und die des 
in. mit Ausnahme von »Mahommed«, »Prometheus« und 
»Nausikaa« gehörten zu einer Reihe von Aufsätzen, die 
unter der Ueberschrift »Quellen und Anlässe einiger dra- 
matischer Dichtungen Goethe's« in der »Wissenschaftlichen 
Beilage der Leipziger Zeitung« 1860, 186 1 und 1874 er- 
schienen. 

II. I. »Satyros« stand daselbst 1874 Nr. 40, ist aber 
hier mit Rücksicht auf neuere Erörterungen über das Drama 
umgearbeitet. 

II. 2. »Stella«. Zwei Aufsätze der »Wissenschaftlichen 
Beilage der Leipziger Zeitung« 1860 Nr. 104 und 1874 
Nr. 39 waren wenig mehr zu gebrauchen, nachdem neuer- 
dings sehr ausführliche Untersuchungen über dieses Schau- 
spiel erschienen sind, denen gegenüber auch der gegen- 
wärtige keine Bedeutung beansprucht. 



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Vorwort. ni 



II. 3, »Claudine von Villabella« aus der »Wissen- 
schaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung« 1874 Nr. 40 
ziemlich unverändert abgedruckt, desgleichen 

II. 4. »Der Triumph der Empfindsamkeit« aus Nr. 72 
von 1860, 

IL 5. »Proserpina« aus Nr. 74 ebenda, 

n. 6. »Iphigenie« aus Nr. 33 von 186 1 und 

II. 7. »Vorspiel auf dem Theater zu Faust« aus Nr. 73 
von 1860 desselben Blattes. 

UI. I. »Belsazar« stand ebenda in Nr. 76 von 1861, 
ist aber hier erv\^eitert. 

in. 2. »Mahommed« bisher ungedruckt. 

in. 3. »Prometheus« war der Erstling meiner Goethe- 
literarischen Thätigkeit in den »Grenzboten« von 1855, 
aber ein verunglückter, wie ich schon 1869 in der Recension 
der drei ersten Bände der Hempel'schen Goethe-Ausgabe 
(1870 als besondere Schrift unter dem Titel »Zu Goethe's 
Gedichten« erschienen) unter feierlichem Widerruf jener 
ersten Arbeit erklärt habe. Der hier abgedruckte Aufsatz 
ist im Wesentlichen neu. 

III. 4. »Elpenor« ist — abgesehen von Zuthaten ge- 
ringeren Belangs — die Ineinanderarbeitung des Aufsatzes 
in Nr. 68, 69 und 70 der »Wissenschaftlichen Beilage der 
Leipziger Zeitung« von 1860, des Nachtrags hierzu in 
Nr. 35 von 1861 und des ergänzenden Aufsatzes in Nr. 39 
von 1874 der gedachten Zeitschrift. 

in. 5. »Nausikaa« neu. 

III. 6. »Der Zauberflöte zweiter Theil« aus Nr. 40 
raehrgenannten Blattes von 1874. 



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IV Vorwort. 



III. 7. »Trauerspiel in der Christenheit« ist die Zu- 
sammenarbeitung der Aufsätze aus den »Grenzboten« von 
1857 I- Sem. Nr. 26 und aus der »Wissenschaftlichen Bei- 
lage der Leipziger Zeitung« von 186 1 Nr. 34 sowie von 
1874 Nr. 39 nebst Zugaben. 

IV. I. Die Grundlage von »Goethe und Nicolai« 
bietet die »Anekdote zu den Freuden des jungen Werther«, 
die von mir 1862 zuerst an den Tag gebracht wurde ; mit 
diesem Erstlingsrecht wolle man die Erlaubniss für erkauft 
ansehen, den gegenw^äitigen Aufsatz hier abzudrucken, 
der nichts ist, als eine Zusammenstellung aller, nunmehr 
bereits durchgängig bekannter Beziehungen Goethe's zu 
Nicolai. 

IV. 2. »Goethe und Die von Fritsch« stand mit der 
Überschrift »Goethe's Verkehr mit Gliedern des Hauses 
der Freiherren und Grafen von Fritsch« in Nr. 15, 16 und 
17 der »Wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung« 
von 1868 und wurde privatim in Separatdruck ausgegeben. 
Hier erscheint diese Monographie nicht nur in mehreren 
Daten berichtigt, sondern auch durch Aufnahme später 
bekannt gewordener Briefe an Glieder jenes Hauses und 
andres vermehrt. 

LedigUch Privatdrucke waren und sind fast unverändert 
hier wiederholt : 

IV. 3. »Goethe und Christian Gottlob von Voigt 
der Jüngere« zu Goethe's 122. Geburtstagsfeier (1871) 
mitgetheilt ; 

IV. 4. »Goethe mit Friedrich Krug von Nidda und 
in Tennstädt« mit wenig anders lautendem Titel Theil- 
nehnienden zum Wolfgangstag 1873 zugestellt, sowie 



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Vorwort. 



IV. 5. »Goethe und die Fikentscher« dem Freien 
Deutschen Hochstift in Goethe's Vaterhaus in Frankfurt 
zum Wolfgangstag 1878 gewidmet. 

V. I. »Goethe's Recensionen in den Frankfurter ge- 
lehrten Anzeigen « führt den Nachweis aus, den ich in der 
Einführung zum 29. Theil von Hempel's Ausgabe der 
Werke Goethe's zuerst angedeutet und dann im IV. Bande 
des »Archivs für Literaturgeschichte« ausführlicher ent- 
wickelt hatte, dass jene in Goethe's Werke aufgenommenen 
Recensionen zum Theil nicht von Goethe herrühren, und 
unternimmt des Weiteren die Ermittelung von Goethe's 
Verfasserschaft. 

V. 2. »Goethe's Briefwechsel und die 1868 veröffent- 
lichten Briefe an Voigt « ist eine in den ersten drei Stücken 
aus der »Wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung« 
von 1868 Nr. 52, 53 und 54 fast unverändert wieder abge- 
druckte Recension, der nur unter IV. ein Nachtrag angehängt 
ist, welcher die spätem Erscheinungen im Bereich der 
Goethe'schen Briefwechsel berücksichtigt. 

V. 3. »Elisabeth Goethe« aus Nr. 41 der »Wissen- 
schaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung« von 1872 un- 
verändert, nur mit ein paar unbedeutenden Ergänzungen 
abgedruckt. 

V. 4. »Reimstudie« ist ein in einem Uterarischen 
Verein gehaltener Vortrag, der bereits in der »Wissen- 
schaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung« von 1875 Nr. 79 
abgedruckt war und hier unverändert wiederholt ist. 

BezügHch der in der VI. Abtheilung untergebrachten 
Berichtigungen und Nachträge zu »Goethe's Briefen an 
Eichstädt«, zu »Goethe und Dresden«, sowie zu »Goethe 



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VT Vorwort. 



und das sächsische Erzgebirge« bedarf es keiner Bemer- 
kungen und ist nur zur Entschuldigung, dass dergleichen 
nicht auch zu »Goethe und Leipzig« sowie zu den An- 
merkungen des 27. und des 29. Theils der Hemperschen 
Ausgabe von Goethe's Werken aufgenommen worden 
sind, anzuführen, dass die Menge des zu »Goethe und 
Leipzig« Nachzutragenden zu bedeutend ist, als dass anders 
als durch Neubearbeitung des Buches zu helfen wäre, 
während von Hempel's Goethe-Ausgabe eine neue Auflage 
zu erwarten sein dürfte, worin Nachgesammeltes bessere 
Unterkunft finden würde. 

Schliesslich möchte ich erwähnen, dass das Manu- 
script gegenwärtiger Schrift bereits abgeschlossen war, als 
mir Scherer's »Aus Goethe's Frühzeit« zuging und ich 
lediglich Gelegenheit nehmen konnte, über den darin be- 
handelten »Satyros« einen Nachtrag gehörigen Orts ein- 
zuschalten. 




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Inhalt 



Seite 

I. Zwei Gedichte Goethe*s. 

1. Gce:he an Frau von Schiller ^ 

2. Goethe an Christine von Ligne S 

II. Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen. 

1. Satyros 9 

2. Stella 21 

5. Claudine von Villabella 2$ 

4. Triumph der Empfindsamkeit 5S 

5. Proserpina 42. 

6. Iphigenie 45 

7. Vorspiel auf dem Theater zu Faust 54 

III. Dramatische Entwürfe Goethe's. 

1. Belsazar 61 

2. Mahommed 6s 

3. Prometheus , 73 

4. Elpenor 94 

5. Nausikaa 124 

6. Zauberflöte, zweiter Theil 145 

7. Trauerspiel in der Christenheit 154 

IV. Goethe mit Zeitgenossen. 

1. Goethe und Nicolai 19^ 

2. Goethe und Die von Fritsch 215 

3. Goethe und Christian Gottlob von Voigt der Jüngere . 275 

4. Goethe mit Krug von Kidda in Tennstädt 2^4 

). Goethe und die Fikentscher 29s 



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VIII Inhalt. 

Seite 

V. Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

1. Goethe's Recensionen in den Frankfurter gelehrten An- 
zeigen 315 

2. Goethe's Briefwechsel und seine 1868 veröffentlichten 
Briefe an von Voigt 551 

5. Elisabeth Goethe 385 

4. Reimstudie 396 

VI. Berichtigungen und Nachträge zu Goethe-Schriften 
des Verfassers. 

1. Zu Goethe's Briefen an Eichstädt 421 

2. Zu Goethe und Dresden 430 

3. Zu Goethe und das sächsische Erzgebirge 454 

Nachtrag zu Satyros 456 




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i. Zwei Gedichte 

GOETHE'S. 



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I. Goethe an Frau von Schiller. 






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Erläuterung zum Gedicht an Frau von Schiller. 



Wie sehr Goethe den geistvollen Politiker, Redner 
und Schriftsteller Constant, Freund der Frau von Stael, 
schätzte, spricht er in den biographischen Aufsätzen zu 
den »Tag- und Jahresheften« (Abs. 418 a der Hemperschen 
Ausgabe) entschieden aus, deshalb berührte ihn um so 
unangenehmer dessen Missgriff in : »Wallstein, tragedie en 
cinq actes et en vers, pr^c^dee de quelques r^flexions sur 
le thiatre allemand et suivie de notes historiques par 
Benjamin Constant de Rebecque. A Gentve 1809.« Constant 
hatte einen guten Theil seiner Jugendbildung in Deutsch- 
land genossen und war tief genug in deutschen Geist ein- 
gedrungen, um die Schönheiten des Schiller'schen »Wallen- 
stein« vollkommen würdigen zu können ; er setzt dieselben 
auch in den »r^flexions« mit vielem Verständniss auseinander, 
andrerseits aber erklärt er es für eine Unmöglichkeit, diese 
Trilogie dem französischen PubUcum unverändert vorzu- 
führen. Er kürzt daher dieselbe nicht nur auf das Mass 
einer gewöhnlichen französischen Tragödie und giesst den 
frei sich bewegenden deutschen Bühnenvers in den gebun- 
denen Alexandriner um, sondern verschmilzt auch mehrere 
Personen in Eine, streicht eine grosse Zahl ganz, tilgt die 
feinsten und zartesten Situationen, ändert die meisten 
Motive und macht durch alles dies aus Schiller's Wallen- 
stein ein sowol den Deutschen wie — trotz gefügiger 
Anschmiegung — den Franzosen unerfreuliches Werk. 

Die Adresse wie die Verse des Briefchens an Frau von 
Schiller sind getreu nach der Urschrift — nur dem Raum- 
verhältniss entsprechend etwas verkleinert — gedruckt. 



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2. Goethe an Christine von Ligne. 



Ein klein Papier hast Du mir abgewonnen, 

Ich war auf grösseres gefasst; 

Denn viel gewinnst Du w^ohl worauf Du 

nicht gesonnen, 
Worum Du nicht gewettet hast. 



Töplitz, den 2. September 1810. 



Goethe. 



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Erläuterung zum Gedicht ak Christine von Ligne. 



Der mit Goethe befreundete Fürst Karl von Ligne 
hatte eine Tochter Christme, geboren am 4. Januar 1788 
und nachmals von ihm legitimirt, wobei ihr der Name 
»von Ligne« verUehen wurde. Sie vermählte sich am 
6. November 181 1 mit dem Grafen O'Donnell von Tyr- 
connell, welcher am i. December 1843 als k. k. Kämmerer 
und Feldmarschallieutenant starb; sie ist die Mutter des 
k. k. Kämmerer, Oberst und Flügeladjutant Maximilian 
Graf O'Donnell von Tyrconnell, der bei dem Mordanfall 
auf Kaiser Franz Joseph am 18. Februar 1855 den Mörder 
zuerst ergriff und seine Unthat zu vollenden hmderte. 

Christine von Ligne hatte nun in Teplitz 18 ro mit 
Goethe eine Wette gemacht, die dieser verlor. Den be- 
dungnen Preis schickte er in einem Guldenzettel, auf dem 
die vorstehenden Reimzeilen geschrieben waren und den die 
Gewinnerin achtlos einsteckte. Erst als sie in Begriff stand, 
das Papier auszugeben, entdeckte sie das darauf Geschrie- 
bene, und nun wurde selbstverständhch der Guldenzettel 
nicht verwerthet, sondern als Schatz heilig bewahrt. 




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n. Quellen und Anlässe 

GOETHFSCHER DrAMEN. 



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I. Satyros. 




ehr verschiedene Ansichten sind noch über die 
Deutung des Goethe'schen Dramas »Satyros« 
verbreitet. Riemer (»Mittheilungen über 
Goethe« II, 535) lässt das Stück auf Christoph 
Kaufmann geschrieben sein; allein da soviel 
feststeht, dass es nicht später als 1774 verfasst ist, Goethe 
aber erst 1776 Kaufmann kennen lernte, so ergiebt sich 
das Unhaltbare dieser Angabe ohne Weiteres. Bergk 
(»Acht Lieder von Goethe«, S. 75) meint, im Waldteufel 
sei Wilhelm Heinse wie er leibe und lebe geschildert; 
Hermes soll Fritz Jacobi, Eudora seine Gattin, sowie 
Arsinoe und Psyche dessen Schwestern sein. Wie aber 
die Schilderung auf Heinse passen soll, ist unerfindlich. 
War dieser auch in seiner Einbildungskraft und in seinen 
Darstellungen von starker SinnUchkeit, so war er es doch 
nicht im Leben; auch war er von weichem, zarten Wesen 
— kurz in jeder Hinsicht das Widerspiel des Satyros. 
Gervinus (»Geschichte der poetischen Nationalliteratur 
der Deutschen« 2. Auflage IV, 530) sagt: »Wenn dieser 
[Satyros] nicht ein Stich auf Basedow's faunisches Wesen, 



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10 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen. 



seine Reformationswuth und gotteslästerlichen Paradoxien 
sein soll, so weiss ich ihn nicht zu deuten.« Dem 
schliessen sich die Literarhistoriker Vilmar, Viehoff und 
Goedeke an. Düntzer (»Neue Goethestudien« S. 38 ff.) 
findet es unbegreiflich, wie Gerv'inus auf Basedow habe 
fallen können, den Goethe damals gerade habe kennen 
lernen und äusserst bewundert habe; er will den Satyros 
gar nicht auf eine bestimmte Persönlichkeit gedeutet haben 
sondern nur als Gegenstück zu Pater Brey gelten lassen. 
Hettner (»Geschichte der deutschen Literatur des acht- 
zehnten Jahrhunderts« IIL Buch r. Abschn. S. 171) bezieht 
ihn ebenfalls nur im Allgemeinen auf die Uebertreibungen 
der Anhänger Rousseau*s. AehnHch erblickt v. Loeper 
(»Goethe's Werke, Dichtung und Wahrheit« III, 358) im 
»Satyros« nur eine Satire auf eine Zeitrichtung, mittelbar 
auf Klinger und zum Theil auf Basedow; doch passt die 
Persönlichkeit des ersteren ebenfalls schlechterdings nicht 
zum Satyros, indem ihn Goethe in seiner Lebensgeschichtc 
als von grosser, schlanker, wohlgebauter Gestalt, mit regel- 
mässiger Gesichtsbildung schildert, als einen Jüngling, der 
auf seine Person hielt, sich nett trug und für das hüb- 
scheste MitgHed des Kreises gelten konnte, endHch als an- 
ziehend durch reine Gemüthlichkeit und ernsten Charakter. 
Strehlke (»Goethe's Werke«, Berlin, Hempel. VIII, 147) 
erkennt diese unbestimmten Deutungen zwar für unzulässig, 
erachtet aber das Räthsel für noch ungelöst. 

Neuerdings hat Wilmanns (»Archiv für Literatur- 
geschichte« VIII, 227 — 299) in einer mühsamen und scharf- 
sinnigen Abhandlung nachzuweisen gesucht, dass unter 
Satyros d'Alembert, unter dem Eremiten Rousseau und 
unter den übrigen Personen des Stücks andere, von ihm 
gleichfolls namhaft gemachte Personen der damaligen pariser 



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Satyros. 1 1 

Gesellschaft zu verstehen seien. Es ist durchaus nicht die 
Absicht diese Arbeit hier kritisch vorzunehmen, um aber 
auch nur einiges darüber sagen zu können, erscheint es 
nöthig, zuvor die Stelle aus dem dreizehnten Buch von 
»Dichtung und Wahrheit« einzuschalten, in welcher Goethe 
des »Satyros« gedenkt und von welcher alle Deutungs- 
versuche auszugehen haben; sie lautet: 

»Er [Merck] machte mich nur auf Menschen aufmerk- 
sam, die oline sonderliche Talente mit einem gewissen 
Geschick sich persönlichen Einfluss zu verschaffen wissen 
und durch die Bekanntschaft mit vielen aus sich selbst 
etwas zu bilden suchen; und von dieser Zeit an hatte ich 
Gelegenheit, dergleichen mehr zu bemerken. Da solche 
Personen gewöhnlich den Ort verändern und als Reisende 
bald hier bald da eintreffen, so kommt ihnen die Gunst 
der Neuheit zu Gute, die man ihnen nicht beneiden noch 
verkümmern sollte; denn es ist dieses eine herkömmliche 
Sache, die jeder Reisende zu seinem Vonheil, jeder Blei- 
bende zu seinem Nachtheil öfters erfahren hat. — Dem 
sei nun wie ihm wolle, genug: wir nährten von jener Zeit 
an eine gewisse unruhige, ja neidische Aufmerksamkeit 
auf dergleichen Leute, die auf ihre eigene Hand hin und 
wieder zogen, sich in jeder Stadt vor Anker legten und 
wenigstens in einigen Familien Einfluss zu gewinnen such- 
ten. Einen zarten und weichen Zunftgenossen [Leuchsenring] 
habe ich im »Pater Brey«, einen andern tüchtigem und 
derbem in einem künftig mitzutheilenden Fastnachtsspiele, 
das den Titel führt »Satyros oder der vergötterte Wald- 
teufel«, wo nicht mit Billigkeit doch wenigstens mit gutem 
Humor dargestellt.« 

Zur Verv^oUständigung dieser Angaben ist noch die 
Zeit der Entstehung des Drama's festzustellen. In der 



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12 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen. 



Ausgabe letzter Hand der Werke trägt es die Jahreszahl 
1770, in der Darstellung in »Dichtung und Wahrheit« 
scheint es dem Jahr 1773 zugetheilt. Die Lösung dieses 
Widerspruchs muss unbedingt zu Gunsten des letztern 
Jahres ausfallen, da aus jenem frühern nirgends derartige 
»freche« Dichtungen erwähnt werden, dieselben vielmehr 
insgesammt den Jahren 1773 und 1774 angehören. Diesem 
letzten Jahre, in dem er zuerst genannt w^ird, könnte 
»Satyros« nunmehr auch unbedenklich zugetheilt werden, 
nachdem einmal die Jahreszahl 1770 als Irrthum, vielleicht 
nur als Druckfehler anerkannt werden musste; denn die 
Erzählung in »Dichtung und Wahrheit« weist nicht un- 
zweifelhaft auf 1773. 

Wilmanns versteht nun Goethe's Bericht über das Vor- 
bild des Satyros so, wie es auch der Schreiber dieses stets 
verstanden hat, dass er nicht bloss ins Blaue hinein im Satyros 
einen Menschen der von Merck gekennzeichneten Art ge- 
schaffen, sondern einen bestimmten solchen Menschen dar- 
gestellt habe. Satyros ist auch viel zu scharf individualisirt, 
als dass man annehmen könnte, Goethe habe dabei nur 
eine abstracte Satire schreiben wollen. Gesetzt also auch, 
alle Deutungen auf eine bestimmte Person wären zu wider- 
legen, so würde man doch immer nur mit Strehlke sagen 
dürfen: die von Goethe gezeichnete ist noch nicht er- 
mittelt — nimmermehr aber: Goethe habe eine ganze 
Classe von Nachahmern Rousseau's schildern wollen. 

Man muss Wilmanns zugeben, dass er mit unendlichem 
Fleiss aus den Beziehungen zwischen Rousseau und d'Alem- 
bert alles zusammengesucht hat, was sich irgend auf Satyros 
und den Eremiten deuten liess und dass er bei diesen 
Deutungen meistens viel Geschick an den Tag gelegt hat, 
allein seine ganze Beweisführung beruht im Wesentlichen 



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Satyros. 1 3 

nur auf der, wenn auch als möglich dargethanen, aber doch 
immerhin sehr kühnen Voraussetzung, dass Goethe den 
Inhalt von Rousseau's, viele Jahre nach Dichtung des 
Satyros erschienenen Confessions und manche andere, 
aus später veröffentlichten Briefwechseln bekannt gew^or- 
denen Verhältnisse gekannt habe und zw^ar nicht bloss im 
Allgemeinen, sondern bis ins AUereinzelste , — z. B. den 
Ausdruck chiffon, den Rousseau in den Confessions von 
einer ihm angeblich von d'Alembert entwendeten Schrift 
gebraucht. Dass in den Briefen der Julie Bondeli, die 
Leuchsenring etwa aus seiner Schatulle zum Besten gab, 
dieser Ausdruck über ein Werk Rousseau's vorgekommen 
sein sollte, dass dessen überhaupt irgend Jemand als eben 
nur Rousseau selbst sich bedienen konnte, ist ganz un- 
denkbar. Aber es bleiben daneben noch manche Fragen 
zu beantworten, welche die unmittelbare Deutung auf 
Rousseau und d'Alembert höchst bedenklich erscheinen 
lassen. Würde Goethe, wenn er früher d'Alembert so 
herabgewürdigt gehabt hätte, wie Wilmanns es ihm schuld- 
giebt, in den Anmerkungen zu »Rameau's Neffen« sich so 
scharf gegen die Gegner desselben als »solche feindselige 
Naturen, die nur wider Willen entschiedene Vorzüge an- 
erkennen«, sich geäussert haben? Würde er, wenn im 
»Satyros« der Schwerpunct auf Rousseau und seine Wider- 
sacher läge, von diesem Stück an der Stelle, an welcher 
er es erwähnt, und nicht vielmehr in Verbindung mit 
Rousseau gesprochen haben? Gehörte d'Alembert ferner 
zu den Talentlosen, von denen Goethe hier spricht? Findet 
sich eine Spur davon, dass er nöthig gehabt hätte durch 
zahlreiche Bekanntschaften erst aus sich etwas zu machen? 
Wo davon, dass er häufig seinen Ort verändert und als 
Reisender bald da, bald dort erschienen sei? Dass er in 



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14 Quellen und Anlasse Goethe'scher Dramen. 



Familien unlöblichen Einfluss zu gewinnen gesucht habe? 
Dass alle die hier gedachten Umstände nur auf »Pater 
Brey«, nicht aber auf »Satyros« sich beziehen sollten, ist 
eine auf gezwungene Auslegung gestützte Behauptung. 
Kurz, ohne absprechend erklären zu wollen, dass die Deu- 
tungen von Wilmanns unmöglich seien, muss ich doch 
sagen, dass sie mir unglaubhaft sind und dass noch 
zwingende äussere Bestätigungen abgewartet werden müssen. 
Fast noch weniger vermag ich zu Scherer's Ansicht (»Aus 
Goethe's Frühzeit« S. 43 — 68) mich zu bekennen, der im 
Satyros Herder erblickt. Die auf d'Alembert*s Persönlich- 
keit bezüglichen Fragen, die ich als von Wilmanns noch 
zu beantwortende aufwarf, würde auch Scherer hinsichtlich 
Herder's noch in einer stärkere Ueberzeugung erweckenden 
Weise zu lösen haben, als er es jetzt versucht hat. Ja, es 
kommen noch neue hinzu: wie reimt sich die Rohheit des 
Waldbruders zu dem von Goethe bei Erzählung seiner 
ersten Bekanntschaft mit Herder hervorgehobenen »galanten 
und gefälligen Wesen«, dem »Weichen in seinem Betragen, 
das sehr schicklich und anständig war«, ingleichen mit 
dessen »unschätzbaren, einzigen Liebensfähigkeit und Lie- 
benswürdigkeit«, die Goethe in den »Biographischen Ein- 
zelheiten« rühmt? Ist eine Verspottung Herders denkbar, 
da Goethe in seinen Briefen an denselben zwar oft ver- 
drüsslich, aber nie höhnisch wird und er ausdrücklich bei 
Herder's Schilderung in »Dichtung und Wahrheit« über 
dessen Spöttereien erklärt, dass dieselben »einen anderen 
irre oder gar abwendig gemacht hätten«, und fortfährt: 
»mich aber rührte das nicht weiter, da ich von seinem 
Werth einen so grossen und mächtigen Begriff gefasst 
hatte, der alles Widerwärtige verschlang, was ihm hätte 
schaden können« ? Dazu muss Scherer gleich Wilmanns zu 



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Satyros. 15 

seiner Beweisführung Schriften benutzen, die später be- 
kannt wurden, als »Satyros« entstand; so namentÜch zum 
Theil Herder's »Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts«, 
vor allem aber den erst 1857 gedruckten Briefwechsel Her- 
der's mit seiner Braut. — Nach alledem denke ich, Scherer 
selbst wird seine Aufstellung mehr nur für ein geistreiches 
Paradoxon ansehen. 

Meinerseits halte ich mich an die Ansicht von Ger- 
vinus, dass Goethe beim Satyros Basedow im Sinne ge- 
habt habe und begründe dies näher, indem ich zuvörderst 
den Gang des Dramas vorüberführe. 

Das Fastnachtsspiel beginnt mit dem Selbstgespräch 
eines Einsiedlers, der die Stadt verlassen hat, um in der 
Einsamkeit der Anschauung der Natur zu leben. Ihn 
unterbricht der als ein FremdHng hinzukommende Satyros; 
er jammert, weil er bei einem "Sturz das Bein gebrochen 
hat. Der Einsiedler nimmt sich seiner an, wofür er jedoch 
nur Grobheiten von dem rohen Wesen erntet. 

Der zweite Act besteht nur aus einem kurzen Selbst- 
gespräch des Satyros, der fortfährt sich über das Unbehag- 
liche der Einsiedelei zu beklagen, sich über die Frömmigkeit 
ihres Bewohners und namentlich über die Anbetung des 
Crucifixes ärgert, letzteres herunterreisst und es fortträgt, 
um es ins Wasser zu w^erfen. 

Der dritte Act hebt wieder mit einem Selbstgespräch 
des Satyros an, der auf dem Rasen im Schatten gelagert, 
sich wohl sein lässt, dann auf der Flöte bläst und singt. Dies 
lockt zwei Mädchen, Arsinoe und Psyche herbei, von 
denen die letztere sowol vom Spiel und Lied wie von der 
Person des Fremdlings berückt ist; Satyros umfängt Psyche 
mit heftiger Liebe, als die von Widerwillen gegen ihn 
ergriffene Arsinoe sich entfernt hat, um ihren Vater herbei 



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l6 Quellen und Anlasse Goethe'scher Dramen. 



zu rufen. Arsinoe's Vater kommt; es ist der Oberpriester 
Hermes. Ihm und dem sich sammelnden Volke gegen- 
über brüstet Satyros sich mit seiner Nacktheit und seinem 
unsaubern naturwüchsigen Aeussern, indem er ungebundnes 
Leben und naturgemässe rohe Kost anpreist. 

Im Beginn des vierten Actes beschwert sich Hermes, 
der dem Ansehen des Satyros sich unterworfen hat, über 
die Folgen der rohen Kastaniennahrung; Satyros kramt 
vor dem gläubigen Volk Naturweisheit aus; er wird als 
Prophet verehrt. Der hinzutretende Einsiedler, welcher ihn 
wegen der Misshandlung des Crucifixes zu Rede setzt, 
wird vom Volk als Gotteslästerer behandelt und zum 
blutigen Opfer im Tempel des Satyros bestimmt. Im 
fünften Act bedauert Eudora, das Weib des Hermes, den 
seinem Tod entgegensehenden Einsiedler, der jedoch nun 
mit ihr einen Plan verabredet, um das wahre Wesen des 
Satyros ans Licht zu ziehen. 

Die Schlussscene spielt im Tempel; Satyros überlässt 
dem Volk, den Einsiedler zu opfern, indessen er sich 
entfernt, um mit Eudora Verabredetermassen zusammen 
zu treffen. Der Einsiedler weiss die Vollstreckung des 
Opfers so lange hinauszuziehen, bis ein Schrei Eudora's 
die erwartete Katastrophe verkündet. Die Thüre des 
Seitengemachs, von welchem der Schrei drang, wird auf- 
gesprengt und das Volk erblickt die gegen die Brunst des 
Satyros sich wehrende Eudora. Der Entlarvte begiebt sich 
hinweg, das seinen Werth vorgeblich nicht begreifende 
Volk verächtlich scheltend; der Einsiedler schliesst, auf die 
bethörte Psyche zielend: »Es geht doch wol eine Jung- 
frau mit.« 

Mit dem Satyros, wie er sich nach diesem Auszug dar- 
stellt, wäre also Basedow zu vergleichen, selbstverständlich 



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Satyros. 17 

zunächst nach derjenigen Schilderung, welche Goethe selbst 
im XIV. Buch von »Dichtung und Wahrheit« von ihm 
entwirft, aus welcher folgende hier einschlagende Züge 
hervorzuheben sind: 

Basedow hatte ein unschönes Gesicht and vernach- 
lässigte seine äussere Erscheinung; 

durch grinsenden Spott reizte er auf und lachte 
höhnisch, wenn er Andere in Verlegenheit gesetzt hatte; 

er wusste dagegen auch durch leidenschaftliche, grosse 
und überzeugende Beredsamkeit für sich einzunehmen, 
wurde seiner Geistesgaben wegen bewundert und war 
daher sehr gesucht ; allein er fühlte den unruhigsten Kitzel 
Alles zu verneinen und sowol die Glaubenslehren, als die 
äusserlichen kirchlichen Handlungen nach eignen Grillen 
umzumodeln; auf eine harte Weise erklärte er sich vor 
Jedermann als den abgesagtesten Feind der Dreieinigkeit 
und verletzte dadurch die kaun^ gewonnenen Gemüther; 

er verbreitete seine Ansichten über die Umgestaltung 
des Erziehungswesens auf seinen fortwährenden Reisen. 

Neben diesen Andeutungen Goethe's über Basedow's 
Persönlichkeit ist die Charakteristik des Letzteren von 
Gervinus (a. a. O. V, 339. f.) zu vergleichen und daraus 
Folgendes zu bemerken: 

Basedow erregte als Professor an der Ritterakademie 
zu Soroe Aergerniss durch seine Sitten und sein anstössiges 
Privatleben ; 

er trat Gegnern in Prophetenton entgegen; 

er wirkte für naturgemässe Erziehung in dem Sinne 
Rousseau's und drang auf Abhärtung ; 

er besass die Gabe aufzuwiegeln. 

Die hier gegebenen, in der Person des Satyros sich 
wiederfindenden Züge sind in ihrer Zusammenstellung zu 



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l8 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen. 



eigenthümlich, als dass angenommen werden könnte, sie 
hätten sich noch in einer zweiten bedeutenden Person zu- 
sammengefunden, oder Goethe hätte sie seinem Satyros 
beigelegt, wenn er ihn nicht hätte einem gegebenen Vor- 
bilde ähnlich machen wollen. Derselbe ist überdies auch 
so individuell gehalten, dass er nicht, wie vielleicht die 
Hauptperson in »Hanswurst's Hochzeit«, als ein Repräsen- 
tant von Zuständen, sondern nur als Zerrbild einer be- 
stimmten Person angesehen werden kann. Die entgegen- 
gesetzten Wirkungen, die Basedow auf ein und dieselbe 
Person in der Aufeinanderfolge hervorbrachte, sind indessen 
in dem Dfama an zwei verschiedenen Personen gleich- 
zeitig gezeigt: an Psyche und Arsinoe. 

Es bleibt nunmehr nur noch zu erwägen, ob der 
Grund gegen die Deutung auf Basedow — Goethe's Be- 
w^underung seiner guten Eigenschaften — durchschlagend 
genug ist, um dieselbe trotz der dafür sprechenden Gründe 
fallen zu lassen. 

Goethe war 1773 und 1774 im Zuge, dramatische Sa- 
tiren zu schreiben und nahm dabei Alles vor, was ihm in 
den Weg lief: nicht nur Leuchsenring, Jacobi und Barth, 
sondern auch Wieland, den er doch nach vielfachen Kund- 
gebungen kurz zuvor noch aufs Höchste schätzte. Er that 
dies, trotzdem dass er sehr wohl fühlte, wne übel man 
ihm den Angriff auf einen der wenigen damals glänzenden 
Vertreter der deutschen Literatur nehmen müsse; er nannte 
seine Posse »Götter, Helden und Wieland« in Briefen an 
Kestner, Schönborn und Johanna Fahimer selbst ein garstig, 
schändlich Ding, ein Schand- und Frevelstück; er gewär- 
tigte sich von der Letztgenannten eines Fusstritts mit dem 
Bedeuten, dass er sich zum Teufel scheeren solle, weil 
man nichts mehr mit ihm gemein haben möge. Trotzdem 



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Satyros. 19 

also, dass er den schlimmen Eindruck seines Ausfalls auf 
Wieland vollkommen würdigte, hatte er ihn doch nicht 
zurückgehalten. Und noch Jahre nachher, als zunehmendes 
Alter und höfischer Umgang ihn nachgiebiger und vor- 
sichtiger gemacht hatten, Hess er seine spöttische Laune 
selbst in den gefeiten Hofkreisen aus, bald an dem dort 
in Ansehen stehenden Wieland, bald an dem Goethe'n 
selbst in innigster Freundschaft verbundenen Jacobi (durch 
die berufene »Kreuzerhöhung Woldemars«). 

Und was er gegen diese sich herausnahm, sollte er 
gegen Basedow nicht vermocht haben? Stand er denn 
wirklich 1774 so geblendet vor diesem? Gewiss nicht! 
Erzählt er doch selbst, wie er genöthigt gewesen sei, 
gegen den grinsenden Spott Basedow's sich dadurch zu 
wehren, dass er ihm etwas dagegen abgab; wie er femer 
den schlechten Schwamm desselben als eine Naturmerk- 
würdigkeit unter dem Namen Basedow'scher Stinkschwamm 
verhöhnte; wie er sodann einmal den von brennendem 
Durst Gequälten fast gewaltsam verhinderte in eine Schänke 
einzukehren und den Erbosten mit beissendem Scherz 
auf das als Schänkzeichen aushängende Doppeltriangel mit 
Bezug auf die von Basedow so heftig befehdete Dreieinig- 
keit verwies; wie er gegen Basedow's Streitsucht die 
Waffen der Paradoxie ergriffen, dessen absonderliche Mei- 
nungen überboten und das Verwegene mit Verw^egenerem 
zu bekämpfen gewagt habe. In den 1774 während der 
Reise mit Basedow gedichteten Scherzreimen »Diner zu 
Coblenz« machte sich endlich Goethe, allerdings hier ziem- 
lich harmlos, über Basedow's Verwerfung der Taufe und 
sein Prophetenthum lustig. 

Kurz, aus alledem geht hervor, dass Goethe keines- 
wegs sich dem reisenden Propheten so gefangen gab, um 

2* 



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20 QpELLEN UND ANLÄSSE GoETHE'SCHER DrAMEN. 



dessen Schwächen nicht in ihrem ganzen Umfange durch- 
schauen zu können, und wenn er sich schon erlaubte, den- 
selben ins Gesicht deshalb zum besten zu haben, so wird 
er umsoweniger Anstand genommen haben, auf seinem 
Zimmer die Sonderbarkeiten Basedow's Musterung passiren 
und über sie seinem Muthwillen freien Lauf zu lassen. 
Es war genug Rücksicht, dass er die Posse damals nicht 
in die Oeffentlichkeit brachte. Dass er bei alledem an- 
erkannte, in derselben einen bedeutenderen Mann zur Ziel- 
scheibe seines Witzes gemacht zu haben, als im »Pater 
Brey«, spricht er ja deutlich in den Worten aus : er habe 
in jenem einen »tüchtigeren und derberen« der wandern- 
den Propheten dargestellt. Beide Beziehungen passen ganz 
ausnehmend auf Basedow. Und weiter erkennt Goethe an, 
dass er jenen »nicht mit Billigkeit« dargestellt habe, wo- 
nach man sich das Uebertriebene im »Satyros« zurecht- 
legen mag. 







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2. Stella. 




^s mag vielerlei zusammengewirkt haben, um 
A j dieses »Schauspiel für Liebende« hervorzu- 



/;; rufen, sowol auf Inhalt wie auf Behandlung 
:| Bezügliches. Die Lösung des Widerstreits 
^ zwischen dem Gesetz der Einehe und der 
Freiheit eines liebenden Herzens hatte viel Verlockendes. 
Die Sage vom Grafen von Gleichen giebt sie nur schatten- 
haft; Lessing's »Miss Sara Sampson«, w^elche zwar keinen 
Kampf zwischen einer Verheiratheten und einer frei Ge- 
liebten, aber doch zwischen zw^ei auf Heirath Anspruch 
machenden Frauenzimmern zum Gegenstande hat, wurde 
von Goethe schon als Knabe verehrt; Weisse's »Gross- 
muth für Grossmuth«, w^elchem Lustspiel ein gleiches, 
nicht zu schwierig zu lösendes Verhältniss zu Grunde 
liegt, gab dem eben aus Leipzig nach Frankfurt zurück- 
gekehrten Jüngling Anlass zu vielfachen Betrachtungen. 
Eigene Erlebnisse erinnerten Goethe an diese Bühnen- 
stücke. Wie viele weibliche Herzen hatte er nicht schon 
angezogen ! Früherer Verbindungen gar nicht zu gedenken, 
lagen schon hinter ihm die zu Käthchen Schönkopf, 
Friederike Brion, Anna Sibylla Münch, Francisca Crespel, 



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22 QjüELLEN UND ANLÄSSE GoETHE'sCHER DrAMEN. 



Charlotte Buff, Maximiliane La Roche, während er gleich- 
zeitig, als er »Stella« dichtete, das bräutliche Verhältniss 
zu Lilli Schönemann, das innig freundschaftliche zu Jo- 
hanna Fahimer und brieflich das schwärmerische zu Auguste 
Gräfin Stolberg unterhielt, der er am 20. September 1775 
offenherzig von seinem damaligen »Verhältniss zu mehreren 
recht lieben und edlen weiblichen Wesen« schrieb. Was 
er aber in seinem Herzen für möglich erfand, die gleich- 
zeitige Hingabe an mehrere Frauen, wollte er auch vor 
der Welt als berechtigt anerkannt sehen. Indessen ein 
eigentlicher, tiefbewegender Conflict wurde durch Neben- 
einanderbestehen solcher freier Verhältnisse, wie in Lessing's 
und Weisse's Dramen, nicht erzeugt; der war erst vorhan- 
den, w^enn die Strenge des Staaten- und Sittengesetzes 
mit anderweit eingegangenen sittlichen Verpflichtungen in 
Widerspruch gerieth, also wenn Ehe und Liebe unver- 
einbar einander gegenübertraten. Man kann dahin gestellt 
sein lassen, ob ihn zu dieser ernsteren Situation die da- 
mals die Runde machende Geschichte eines deutschen 
Grafen leitete, der in Portugal und dann in Deutschland 
Töchter vornehmer Häuser entführte, oder ob ihm die 
Beziehungen vorschwebten, w^elche der von ihm viel be- 
wunderte Swift mit zwei Mädchen, Esther Johnson und 
Esther Vanhomrigh unterhielt, von denen er die letzte, 
die er unter dem Namen Stella feierte, heirathete, ohne 
deshalb mit der ersten zu brechen. Vielleicht gaben 
Bürger's häusHche Verhältnisse Anregung. 

Die Anlehnung an »Miss Sara Sampson« macht sich 
noch kenntlich nicht nur in der Schlichtheit und selbst 
einer gewissen Nachlässigkeit der Sprache, die in beiden 
Dramen bemerkbar ist, sondern auch in Einzelheiten des 
Ausbaues. So beginnen z. B. beide in einem Wirthshaus, 



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Stella. 23 

ja sogar, wenn man die Kleinigkeit nicht für zu gering 
achtet, wundern sich in beiden Stücken die Wirthsleute 
über die frühe Ankunft der Reisenden; in beiden macht 
ein Diener des Verführers diesem Vorwürfe über sein Be- 
tragen etc. Zw^eifellos ist, dass Goethe bestimmte Zustände 
und Begebnisse seines Lebens in dem Schauspiel verar- 
beitete; in der »Deutschen Rundschau« haben 1875 und 
1876 Urlichs und Scherer ausführlich besprochen, inwie- 
fern die Familie Fritz Jacobi's dabei herangezogen worden 
ist. Wenn Goethe im Fernando wie im Clavigo und Weis- 
ungen znr Busse sich selbst dargestellt hat, so hat er sich 
nicht geschont. Für Stella selbst hat unstreitig LilU Goethe'n 
gesessen. Bei Cäcilien möchte man an Friederike denken: 
wie Cäcilie gegen Stella geistig tief im Schatten steht, so 
sah Goethe auch auf die Pfarrerstochter von Sessenheim 
von oben herab, was zwar nicht aus der Prachtidylle in 
»Dichtung und Wahrheit«, aber deutlich aus Briefen an 
Aktuar Salzmann zu entnehmen ist. Und auch sie hatte sich 
beschieden, den Geliebten anderen überlassen zu müssen. 
Die Doppelehe, auf welche der Schluss der »Stella« in 
deren ersten Gestalt hinweist, zog Goethe'n von der einen 
Seite Verspottung, von der anderen Verketzerung zu. So- 
gar der in sittlichen Dingen sehr lässige Kotzebue glaubte 
eine andere Lösung desselben Conflicts auf die Bühne 
bringen zu müssen und Hess in dem 1797 erschienenen »La 
Peyrouse« die Gattin und die Geliebte sich vereinigen, in 
einem Hause gemeinschaftHch, aber getrennt von La Pey- 
rouse, als Schwestern und wie mit einem Bruder zu leben. 
Aber auch dieser Schluss befriedigte so wenig wie der 
Goethe'sche und Kotzebue musste sich später entschliessen, 
die Geliebte sich vergiften zu lassen. Schon vorher war 
Goethe ebenfalls zu der Ueberzeugung gelangt, dass der 



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Q.ÜELLEN UND ANLASSE GoETHE'sCHER DrAMEN. 



Conflict nur tragisch gelöst werden könne : die Verletzung 
eines Grundgesetzes unserer gesellschaftlichen Ordnung, 
wie die Heiligkeit der Ehe ist, konnte in einer reinen 
Dichtung ideal gefunden werden, aber durch die Bühne 
der Wirklichkeit nahe gerückt, musste sie peinHch wirken. 
So heftete denn Goethe dem durchaus nicht in höherem 
Tone gehaltenen und auf tragisches Ende nicht vorbereiten- 
den Schauspiele den trauerspielmässigen Schluss an, in 
welchem Fernando sich erschiesst und Stella sich vergiftet; 
so w^urde es am 15. Januar 1806 zuerst aufgeführt, zum 
zweiten Mal erst am 2. Mai desselben Jahres. 

Aus einem Brief der Frau von Stein an ihren Sohn 
vom 5. März 1806 hat man schliessen zu müssen geglaubt, 
dass nur Fernando, nicht aber Stella ums Leben gekommen 
sei, da es dort heisst: »KeuHch wurde seine alte »Stella» 
gegeben; er hat aus dem Drama eine Tragödie gemacht. 
Es fand aber keinen Beifall. Fernando erschiesst sich und 
mit dem Betrüger kann man kein Mitleid haben. Besser 
wäre es gewesen, er hätte Stella sterben lassen; doch 
nahm er mir's sehr übel, als ich dies tadelte.« Dagegen 
schreibt Gries am 28. März 1806 an Justizrath Hufeland- 
(»Aus Weimar*s Glanzzeit« von Diezmann, S. 25) »Die 
interessanteste und fast die einzig interessante Vorstellung 
diesen Winter war Goethe's »Stella« nach einer, wie mir 
scheint, nicht sehr vortheilhaften Veränderung. Denken 
Sie nur: Fernando erschiesst sich und die arme Stella ver- 
giftet sich am Ende.« Da beide Briefe sich auf dieselbe 
Aufführung beziehen, so kann die Aeusserung der Frau 
von Stein nur dahin verstanden werden, dass sie für 
rührender gehalten habe, wenn nur Stella sterbe. 




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3- Claüdine von Villabella. 




ie Quelle dieses Singspiels ist wol noch nicht 
aufgespürt; wenn man ihr aber nachgeht, muss 
man gänzlich von derjenigen Fassung absehen, 
welche das Stück 1787 und 1788 in Italien 
erhalten hat. Diese, in welcher es zuerst in 
der Göschen'schen Ausgabe von Goethe's Schriften erschien, 
ist an Inhalt und Gestaltung so ganz etwas Anderes als 
die Fassung, welche 1775 unter demselben Namen an's 
Licht getreten war, dass man keineswegs eine blosse Um- 
arbeitung wie von »Götz« und »Iphigenie«, sondern ein 
neues Stück vor sich hat, in dem nur der Faden der Hand- 
lung von jenem beibehalten ist. 

Vergegenwärtigen wir uns Personal und Verlauf des 
älteren Stücks, so gelangen wir sofort zu der Ueber- 
zeugung, dass Goethe nach einem spanischen Vorbild 
arbeitete. 

Der Gutsherr Gonzalo von Villabella feiert das Ge- 
burtsfest seiner Tochter Claüdine mit seinen Unterthanen, 
sowie im Beisein zweier als Gäste bei ihm sich aufhalten- 
den Fremden : seines alten Freundes Sebastian von Rovero 



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26 QjüELLEM UND ANLÄSSE GoETHE^SCHER DrAMEN. 



und des jungen Pedro von Castelvecchio. Gonzalo schwärmt 
mit dem Feuer eines Liebhabers für seine Tochter und 
hebt ihre von allen Seiten anerkannten äussern und innern 
Vorzüge hervor. Zwischen Pedro und Claudine ist eine 
Liebe im Entstehen; von Seiten der letzteren wird sie zwar 
kaum nur schüchtern geahnt, für den Beobachter ist sie 
aber da. 

Die Anwesenheit Sebastian's und Pedro's in Villabella 
ist veranlasst durch das Aufsuchen des landstreicherischen 
älteren Bruders von Pedro, dessen Spur in dieser Gegend 
gefunden worden ist. Zwei Nichten Gonzalo's, ein ziem- 
lich gemein sich darstellendes Paar, sind neidisch auf Clau- 
dine, und da sie sich einbilden, dass diese mit Pedro 
nächtliche Zusammenkünfte im Garten halte, so setzen 
sie den Vater davon in Kenntniss. — Unter einer Bande 
Vagabunden sieht man hierauf Pedro*s Bruder Alonzo unter 
dem angenommenen Namen Crugandino *) und man erfährt, 
dass er Claudine nachstelle und sie bei Nacht beschleichen 
will, wozu ihm die Terrasse vor ihrem Hause zu statten 
kommen soll. Dieses Vorhaben sofort ausführend, triift 
er Claudine, die daselbst ihre Liebessehnsucht aushaucht; 
er bringt ihr ein Ständchen und sucht ein Gespräch mit 
ihr anzuknüpfen; sie jedoch, obwol sie in ihm Pedro zu 
erkennen glaubt, begiebt sich ins Zimmer zurück. Indessen 
kommt Pedro, der ebenfalls unter Claudinens Fenster sich 
schwärmend ergehen will, hinzu, Crugandino zieht gegen 
ihn den Degen und verwundet ihn im Zweikampf, worauf 



*) So ist der Name .illerdings nur im Personen vcrzeichniss der Ausgabe leuter Hand 
von Goethe's Werken geschrieben, sonst überall »Crug^ntino«, jene Schreibart ist indess als 
die richtigere, als richtigste aber »Crujandino« anzusehen. Das spanische j ist in g französirt, 
wie nach Beaumarchais >.Clavi|{o« statt »Clavijo«», wie dieser Name im Deutschen auch 
schon der Aussprache gemäss in schreiben 'uäre. 



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Claudine vom Villabella. 27 



ersterer von einem Kumpan Crugandino's nach dessen 
Wohnung in einem benachbarten Ort gebracht wird, um 
dort gepflegt zu werden. Jetzt stelh sich auch Gonzalo 
ein, der sich überzeugen will, ob der von den Nichten 
ausgesprochene Verdacht gegründet sei; er beleidigt Cru- 
gandino, den auch er anfänglich für Pedro hält, durch 
Vorwürfe, die Degen werden wieder gezogen und der 
Zweikampf unterbleibt nur wegen des bescheidenen Wider- 
rufs von Seiten Crugandino's, worauf nicht allein die beiden 
Gegner die ausserordentlichsten Höflichkeiten austauschen, 
sondern auch Gonzalo den Unbekannten zu sich in's Haus 
ladet. Hier im Kreise der FamiHe giebt die Zither, welche 
Crugandino bei sich führt, Anlass, ihn zum Singen aufzu- 
fordern, wobei er wieder an Claudine anzukommen sucht. 
Plötzlich w^ird Pedro's Verwundung und Fortschaffung 
gemeldet; Claudine fällt in Ohnmacht und zugleich erscheint 
Sebastian, der in Crugandino den gesuchten Alonzo erkannt 
hat, mit Wache, um denselben festzunehmen ; dieser schlägt 
sich aber durch. Claudine, wieder zum Bewusstsein ge- 
langt, ist ausser sich; die eben nur noch keimende Liebe 
ist plötzlich in vollem Umfang und in aller Stärke ent- 
faltet, und das so zarte, schüchterne Mädchen zaudert 
nicht, heimlich sich als Mann zu verkleiden und nach dem 
Ort zu eilen, wo Pedro darniederliegt. Vor der Herberge 
der Vagabunden stösst sie auf Crugandino, der sich ihrer 
bemächtigen will ; ihr Geschrei zieht Pedro herbei, nachher 
auch Crugandino's Kumpan, es entsteht ein Kampf und 
infolge dessen kommt die Wache herbei, die sämmtliche 
Personen verhaftet. In dem Kerker, in welchem sich zu- 
letzt alle Hauptpersonen einfinden, geht endlich die Ent- 
wicklung vor sich. Sebastian verhehlt dem sich anfänglich 
sehr trotzig geberdenden Crugandino nicht länger, dass er 



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28 QytLLKN UND Anlasse Goethe'scher Dramen. 



ihn erkannt habe, und dieser enthüllt sich jetzt offen als der 
herzlich gute Mensch, der bis dahin nur andeutungsweise 
zum Vorschein kam und der nur aus Unruhe und Abenteuer- 
lichkeit den Wilden gespielt hat. Allseitige Versöhnung 
und Claudinens Verlobung mit Pedro schhessen das Stück. 

Es laufen hier also zwei Handlungen gleichberechtigt 
neben einander: das zarte Verhältniss zwischen Claudine 
und Pedro einerseits, sowie Crugandino's Landstreicherei 
und seine Zurückführung anderseits; denn wenn Crugan- 
dino nur da sein sollte, um Claudine nachzustellen und 
Pedro zu verwunden, so wäre eigentHch die Vorführung 
seiner seltsamen Abenteuer und überhaupt seine Beziehung 
zu Pedro überflüssig; wenn aber die Darstellung der un- 
ruhigen Natur Crugandino's die Hauptsache sein sollte, 
so wäre wieder Claudinens Liebesgeschichte bei kunst- 
gerechter Anlage des Stücks nicht so ausführlich zu be- 
handeln gewesen. 

Die Doppelhandlung des Stückes nun, das Ständchen 
vor dem Fenster der Angebeteten mit dem Zusammen- 
treffen der Nebenbuhler, die Schnelligkeit, mit welcher 
wiederholt die Degen gezogen, Zweikämpfe begonnen und 
dann wieder Versöhnungen geschlossen werden, das ritter- 
liche, höfliche Betragen gegen den Gegner, wie das Gon- 
zalo's nach dem Streit mit Crugandino, sind lauter Dinge, 
welche in unzähligen spanischen Stücken vorkommen, und 
die ebenso wie der Schauplatz — der Spanien, nicht wie 
in der späteren Bearbeitung Sicilien, ist — ingleichen wie 
die grossentheils spanischen Namen und Titel der Per- 
sonen auf eine spanische Quelle hindeuten. Ein Grund, 
welcher Goethe bestimmt haben sollte, spanisches Wesen 
nur nachzuahmen und zwar in den angedeuteten Rich- 
tungen, ist gar nicht denkbar. 



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Claudine von Villabella. 



Dass Goethe nicht unmittelbar aus solcher Quelle 
schöpfte, den Stoff vielmehr durch Vermittelung einer 
franjzösischen Operette kennen lernte, ist aber wahrschein- 
lich, wie denn auch für die äussere Form der »Claudine« 
die französische Operette mit ihrem prosaischen Dialog 
und den eingestreuten Gesangstücken massgebend gewesen 
ist. Obschon hiernächst Goethe in den »Tag- und Jahres- 
heften« (von 1769 bis 1775) »Claudine von Villabella« zu 
denjenigen Bühnenstücken zählt, welche im Gegensatz zur 
freien Form der Engländer in beschränkterer Weise ge- 
dichtet seien, was auch im Verhältniss zu dem dort mit- 
aufgeführten »Götz von Berlichingen« richtig ist, so lässt 
sich doch in andrer Hinsicht die Einwirkung Shakespeare's 
auf ersteren nicht ganz verkennen und möchte w^ol die hin- 
gebende Beschäftigung mit dessen Werken der Antrieb 
gewesen sein, den Gegenstand unseres Singspiels zu be- 
arbeiten; denn die oben erwähnten Eigenthümlichkeiten 
der spanischen Bühne finden sich bekannthch grossentheils 
auch in den älteren englischen Schauspielen. Namentlich 
sprach den lebensprühenden jungen Goethe die reichere 
Handlung beim Nebeneinanderlaufen zweier Geschichten 
auch in Shakespeare's Lustspielen an, und die Darstellung 
eines als Mann verkleideten schüchternen Mädchens, ein 
in jenen Stücken (in »Was ihr wollt« — »Wie es euch 
gefällt« — »Die beiden Veroneser« etc.) beUebtes Motiv, 
reizte gleichfalls zur Nachahmung. Insbesondere beachte 
man das Lob, das Gonzalo der Volksdichtung spendet: 
»Zu meiner Zeit war's anders! Da ging's dem Bauer wol 
und da hatt' er immer ein Liedchen, das von der Leber 
wegging und einem's Herz ergötzte ; und der Herr schämte 
sich nicht und sang's auch, wenn's ihm gefiel; das na- 
türlichste, das beste ! Da w^aren die alten Lieder, die 



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30 Quellen und Anlasse Goethe'scher Dramen. 



Liebeslieder, die Mordgeschichten, die Gespenstergeschichten, 
jedes nach seiner eignen Weise und immer so herzlich.« 
Erinnert das nicht an Shakespeare*s Worte in »Was ihr 
wolh« (IL, IV.): 

Komm, Bursch, sing uns das Lied von gestern Abend! 

Gieb Acht, Cesario! es ist alt und schlecht. 

Die Spinnerinnen in der freien Luft, 

Die jungen Mägde, wenn sie Spitzen weben, 

So pflegen sie 's zu singen; 's ist einfältig 

Und tändelt mit der Unschuld süsser Liebe 

So wie die alte Zeit. 

Die Ausführung der »Claudine«, wonach der Stoflf zur 
innerlichsten Empfindung vertieft ist, steht auch Shake- 
speare entschieden nahe, während sie der schroffste Gegen- 
satz zu dem rein Äusserlichen und Gemachten der spa- 
nischen Dramenbehandlung ist, so dass wol sogar die 
Unnatur des vermutheten spanischen Urbilds Goethe'n zur 
freien Bearbeitung gelockt haben könnte, die demnach eine 
reizende Vereinigung spanischer Lebendigkeit der Hand- 
lung, britischer Wahrheit der Handelnden und französischer 
Anmuth der Bühnenform mit deutschem Gemüth vorge- 
tragen, zur Erscheinung bringt. 

Goethe würde aber die Dichtung ohne stoffliches In- 
teresse nicht unternommen haben. Ueber die Lebens- 
beziehungen, die er in »Claudine« verarbeitete, giebt er 
selbst nur ein paar allgemeine Andeutungen. An Henriette 
Freiin von Waldner-Freundstein, spätere Freifrau von Ober- 
kirch, schrieb er in einem Brief vom 12. Mai 1776 (ob 
ursprünglich deutsch oder wirklich französisch?): »Je vous 
envoie ma Claudine; puisse-t-elle vous faire passer un 



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Claudixe von Villabella. 3^ 



moment agreable ! Dans ma vie d'auteur j'ai iti assez 

heuf-eux pour rencontrer et apprecier beaucoup d'honn^tes 
gcns, beaucoup de bellcs ämcs, parmi lesquelles j'aime ä 
vous classer. Pour celles-la particulitrement j'aime i decrire 
ce qui me va le plus a Tesprit et au coeur!« Sodann meldet 
Goethe im »Bericht« vom November 1787 in der »Italie- 
nischen Reise«: »Erwin und Elmire« sowie »Claudine von 
Villabella« sollten nun auch nach Deutschland abgesendet 
werden ; ich hatte mich aber durch die Bearbeitung Egmont's 
in meinen Forderungen gegen mich dergestalt gesteigert, 
dass ich nicht über mich gewinnen konnte, sie in ihrer 
Form dahinzugehen. Gar manches Lyrische, das sie ent- 
halten, war mir lieb und werth ; es zeugt von vielen zwar 
thörigt, aber doch glücklich verlebten Stunden wne von 
Schmerz und Kummer, welchen die Jugend in ihrer unbe- 
rathenen Lebhaftigkeit ausgesetzt bleibt. Der prosaische 
Dialog dagegen erinnerte zu sehr an jene französischen 
Operetten, denen wir zwar ein freundliches Andenken zu 
gönnen haben, indem sie zuerst ein heiteres singbares 
Wesen auf unsere Theater herüber brachten, die mir aber 
jetzt nicht mehr genügen wollten, als einem eingebürgerten 
Italiener, der den melodischen Gesang durch einen reci- 
tirenden und declamatorischen wenigstens wollte verknüpft 
sehen«. Unterm 3. November 1787 hatte er nach Weimar 
geschrieben : » Claudine wird so zu sagen ganz neu 
ausgeführt und die alte Spreu meiner Existenz heraus- 
geschwungen«. 

Aus diesen Stellen ist zu entnehmen, dass es sich 
auch bei Dichtung der »Claudine« wie bei so vielen andern 
Werken Goethe*s um eine Herzensangelegenheit handelte, 
und zwar w^eist die Zeit der Abfassung mit voller Be- 
stimmtheit auf LilU Schöncanann hm. Wir erkennen deren 



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32 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen. 



»reine kindhafte Natur«, die Jungfrau, von der er sang: 
»Wo du Engel bist, ist Lieb und Güte — Wo du bist, 
Natur!«, von der er ferner sagte, dass sie »im Genuss aller 
geselligen Vortheile und Weltvergnügen aufgewachsen« 
sei, in der herrlichen allgefeierten Gestalt Claudinens wieder, 
in welcher Goethe der Geliebten ein köstliches Denkmal 
gesetzt hat. Auch der für ein so zartsinniges Weib auf- 
fällige Entschluss Claudinens, den Geliebten in männlicher 
Kleidung aufzusuchen, wäre Lilli wol möglich gewesen, 
die ja ihre glänzenden Verhältnisse um Goethe's willen 
verlassen und mit ihm nach Amerika gehen zu wollen 
erklärt hatte! 

Im Crugandino zeigt sich Goethe selbst als den »Hu- 
ronen«, als den »Westindier«, als den »Bär«, als welcher 
er damals oft, wie er erzählt, sich gebärdete; die Natur- 
kinder Diderot's, »seine wackern Wilddiebe und Schleich- 
händler« sind auch jedenfalls nicht ohne Einfluss auf die 
Darstellung jenes veredelten Vagabunden geblieben. Bei 
der Umarbeitung von 1787 und 1788 ist nun jede Spur 
der früheren Absichten verwischt und das Singspiel hat 
dabei wo nicht allen, so doch jedenfalls seinen ursprüng- 
lichen liebenswHirdigen Charakter verloren. In der äussern 
sprachlichen Gestalt sind an Stelle der prosaischen Ge- 
spräche fünffüssige jambische Verse getreten. Das Stück 
ist damit allerdings auf eine gewisse classische Höhe nach 
romanischen Begriffen gehoben, aber was ist es geworden? 
Zunächst ist es nicht, was es scheinen möchte, eine ita- 
lienische Oper, in welcher diejenigen Gesprächstücke, die 
nicht gesungen werden, lyrische Stücke zum Vortrag als 
Recitative sind, sondern es sind dieselben in der neuen 
»Claudine« wie zur Declamation geeignete Stücke des 
recitirenden Drama's. Diese haben aber durch den fünf- 



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Claudixe von Villabella. 33 



füssig jambischen Vers und durch das Ernsthafte ihres 
Inhalts eine Bedeutung erhahen, welche der Gesammt- 
wirkung nicht günstig ist. Wenn in der Oper die ge- 
sprochene Rede nicht leicht behandelt ist, sondern anspruchs- 
voll auftritt, dann erscheint allerdings Gottsched's Vorwurf 
gegen die Oper begründet, dass es lächerlich sei, wenn 
eine Person, die erst gesprochen wie ein vernünftiger 
Mensch, auf einmal zu singen anfange. Und in der neuen 
»Claudine« steht die Würde der dialogischen Stücke ent- 
schieden ausser Verhältniss zu dem Tändelnden der Ge- 
sangstücke, wie zu der AbenteuerHchkeit der Handlung, so 
dass sie in dieser Gestalt der dramatischen Form nach ziemHch 
vereinzelt und nicht nachahmungswürdig dastehen dürfte. 

Die herzhche Wärme des altern Stücks ist dabei einer 
abgemessnen Kälte gewichen; aus der duftigen, allverehrten 
Claudine ist ein gewöhnHches, liebebdes Mädchen, aus dem 
väterlich begeisterten, ritterUchen Gonzalo ein sclnvatz- 
haftes Stück Polizeiagent Namens Alonzo, aus dem natur- 
wüchsigen Crugandino ein in der Weise Karl Moor's 
wunderlich zugestutzter Rugantino, aus der gemüthlichen 
spanischen Vagabundengesellschaft ein gemeines italienisches 
Banditenthum geworden, und wenn anstatt der hässlichen 
Muhmen Claudinens ein leidliches Mädchen eingeführt ist, 
um neben Claudine und Pedro noch eine anständige zweite 
Heirath mit Rugantino zu ermöglichen, so fällt dabei auch 
kein Gewinn für das Stück ab, da jene Lucinde eben nur 
eine gehaltlose Opernfigur ist; der biedere Sebastian ist 
verschwunden und keine Entschädigung für ihn geboten. 
Es ist eben anstatt der Licht- und Schattenseiten des 
altem Stücks eine durchgängige Dämmerung eingetreten. 

Wenn diese Aeusserungen für einen Verehrer Goethe's 
zu schroff und anmasslich erscheinen, so muss sie der 

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34 



dUELLEN UND ANLÄSSE GoETHE'SCHER DrAMEN. 



Unmuth entschuldigen, den man darüber empfinden darf, 
dass Goethe ein frisch hervorsprudelndes Erzeugniss und 
anmuthiges Zeugniss seines Jugendlebens theils — wie aus 
dem Brief an Kayser vom 23. Januar 1786 zu entnehmen 
ist — aus theatralischen und musikalischen Rücksichten, 
theils, in Italien »ultramontan« geworden, — nach Brief an 
Kayser vom 6. Februar 1787 — um sich romanischer 
Formenstrenge zu fügen, so zu sagen vernichtete; denn 
mit der in Italien ausgeführten Bearbeitung strich er das 
ursprüngliche Singspiel aus der Sammlung seiner Schriften 
und nach dem Himburg'schen Nachdruck in den siebziger 
Jahren w^ar es verschollen, bis es nach Goethe's Tod in 
den nachgelassenen Werken wneder Aufnahme fand. 

Um zum Schluss die Verschiedenheiten der altern und 
der neuern »Claudine«, wie sie sich schon in den Personen- 
verzeichnissen kund giebt, übersichtlich darzulegen, folgt 
hier eine Gegenüberstellung beider: 



1775. 
Don Gonzalo, Herr von Villabella. 
Donna Claudina, seine Tochter. 

Sita I -- Nichten. 

Don Sebastian von Rovero, Freund 

des Hauses. 
Don Pedro von Castellvecchio. 

Don Alonzo von Castellvecchio, 
unter dem Namen Crugandino. 
Basco, Vagabund. 

Kerkermeister. 
Wachen von Villabella. 
Wache von Sarossa. 
Bediente Gonzalo's. 

Landleute. 

Schauplatz: Spanien. 



1787. 
Alonzo, Herr von Villabella. 
Claudine, seine Tochter. 
Lucinde, seine Nichte. 



Pedro von Castellvecchio, unter 
dem Namen Pedro von Rovero. 

Carlos Castelvecchio, unter dem 
Namen Rugantino. 

Basco, ein Abenteurer. 

Vagabunden. 



Garden d. Fürsten v. Roccabruna. 

Bediente Alonzo's. 
Bediente Pedro's. 
Landvolk. 

Schauplatz: Sicilien. 



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4- Triumph der Empfindsamkeit. 




icht erst als auf dem Liebhabertheater des 
herzoglichen Hofs zu Weimar — 1778 — 
»Die glücklichen Bettler« nach Gozzi's »I pi- 
tocchi fortunati« aufgeführt wurden, war man 
dort auf die Bühnenwerke dieses Venezianers 
verfallen, vielmehr war er schon Jahrs zuvor von Goethe 
in seiner eigensten Gattung, dem dramatisirten Märchen 

— Fiaba — nachgeahmt worden und zwar in jenem wunder- 
bar phantastischen Stück, dessen Erfindung Goethe zuerst 
am 12. September 1777 unter dem Namen »Die Empfind- 
samen« ankündigt, das er dann nach einer Bemerkung im 
Tagebuch unterm 15. November 1777 vielleicht »Oronoro« 
nennen wollte, und das bei der Aufführung am 30. Januar 
1778 als »Die geflickte Braut« vorgeführt, zufolge eines Nach- 
trags im Theateralmanach für 1780 später wieder »Die Em- 
pfindsamen« getauft wurde, in den gesammelten Schriften 

— 1787 — aber als »Triumph der Empfindsamkeit« 
erschien. Von Goethe's Beschäftigung mit Gozzi zu 
dieser Zeit zeugt auch dessen Name in Goethe's Tage- 
buch unterm 25. October 1777; auch die ebenda unterm 

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36 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen. 

5. Januar 1778 erwähnte, wol in Ettersburg aufgeführte 
»extemporirte Komödie« dürfte auf jenen Bühnendichter 
zurückzuführen sein. 

Insbesondere sind aber »Die Empfindsamen« jedenfalls 
durch Gozzi's »L'amore delle tre melarance« — »Die Liebe 
zu den drei Pomeranzen« — angeregt. Eine Vergleichung 
wird dies ausser Zweifel setzen, wobei man jedoch nicht 
vergessen darf, dass es sich nicht etwa um eine Ueber- 
Setzung oder auch nur um eine eigentliche Nachahmung 
handelt, sondern mehr nur um eine Benutzung derjenigen 
Züge des venezianischen Märchens, welche für das Lieb- 
habertheater des deutschen Hofes sich eigneten. 

Bevor ein Ueberblick über jenes Märchen gegeben 
wird, ist vorauszuschicken, dass die Absicht des Grafen 
Gozzi dahin ging, denjenigen Bühnendichtern entgegenzu- 
treten, welche regelmässige französische Stücke auf die 
Bühne einbürgern und das einheimische Stegreiflustspiel 
mit Masken von derselben verdrängen wollten, also nament- 
lich dem Goldoni und Chiari. Zu diesem Zwecke brachte 
er die altitahenischen Masken in Märchen an, die zugleich 
durch ihre bunte Mannigfaltigkeit anziehen und fesseln 
sollten. Wurden in sokhen Märchen öfter die Gegner mit- 
genommen, so hatte doch »Die Liebe zu den drei Po- 
meranzen« vorzugsweise den Zweck, Goldoni und Chiari 
lächerlich zu machen. Der Gang dieses Märchens ist nun 
folgender : 

Silvio, König von Koppe (gekleidet wie ein Karten- 
könig) bejammert mit Pantalon das Unglück seines ein- 
zigen Sohnes, des Kronprinzen TartagUa, der seit zehn 
Jahren in eine, wie es scheint, unheilbare Krankheit ver- 
fallen ist; die Aerzte haben erklärt, dass er an tiefer 
Hypochondrie leide und dass er in kurzem sterben müsse. 



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Triumph der Empfindsamkeit. 37 

wenn er nicht einmal zum Lachen zu bringen sei; dies 
allein werde einen wohlthätigen Durchbruch und die Heil- 
barkeit ankündigen. Aber vergeblich sei jede darauf ge- 
richtete Bemühung. Der König befindet sich schon in 
hohem Alter, sieht seinen Sohn dem Tode geweiht und 
hat zu ervk^arten, dass sein Reich an seine Nichte, Prinzess 
Ciarice, übergehe, worüber er seine Unterthanen beklagt, 
da sie ein wunderliches, eigensinniges, grausames Frauen- 
zimmer ist. — Pantalon tröstet den König und setzt ihm 
auseinander, dass wenn des Prinzen Heilung von dessen 
Lachen abhänge, der Hof sich nicht in Trauer versenken 
dürfe, vielmehr müssten Festlichkeiten, Spiele, Maskeraden 
und Bühnendarstellungen angeordnet werden, wozu Truf- 
faldin zu empfehlen sei, der sich ums Lachen sehr ver- 
dient gemacht habe und ein wahres Mittel gegen die 
Hypochondrie sei; Pantalon will eine Neigung des Prinzen 
Tartaglia zu Truffaldin wahrgenommen haben und glaubt, 
letzterer w^rde jenen zum Lachen bringen, wenn man ihm 
nur freie Hand lasse. Der König willigt ein und giebt 
geeignete Befehle. 

Da tritt Leander, der erste Minister des Königs, auf 
(gekleidet wie der Cavallo der italienischen Kane); Silvio 
trägt ihm auf. Feste, Spiele und Trinkgelage zu veran- 
stalten und verspricht eme grosse Belohnung dem, der den 
Prinzen zum Lachen bringen würde. Leander räth ab, in- 
dem er vorgiebt, dass das Alles dem Kranken nur zum 
grössten Nachtheil gereichen werde; allein der König be- 
harrt bei seinem Befehle auf Andringen Pantalons und 
entfernt sich mit diesem. 

Zu Leander tritt die Prinzessin Ciarice, (welche eine 
Caricatur auf die übertriebenen Charaktere in Chiari's 
Schauspielen vorstellte). Man erfährt, dass sie die Absicht 



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38 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen. 

hat, wenn es ihr geUngt, den König zu beerben, Leander 
zu heirathen und ihn auf den Thron zu heben. Sie schilt 
diesen, dass er sich begnüge, ihren Vetter durch eine so 
langsame Krankheit, wie die Hypochondrie, ums Leben 
bringen zu wollen, allein er entschuldigt sich, dass die 
Fee Morgana, seine Freundin und Feindin des Königs, 
(unter welcher Chiari gemeint war) ihm einige Zettel mit 
martel lianischen Versen (in denen die Stücke Chiari's und 
Goldoni's geschrieben waren) gegeben und ihm versichert 
habe, dass w^enn er dieselben dem Tartaglia beibringe, 
derselbe unfehlbar an Hypochondrie sterben müsse. In- 
dessen wird der ärztUche Ausspruch erwähnt, dass die 
Heilung Tartaglia's möglich sei, wenn er lache, und Leander 
gedenkt der Anwesenheit Truffaldin's am Hofe zu diesem 
Zwecke, worauf die Prinzessin ausser sich geräth, da sie 
Truffaldin gesehen hat und überzeugt ist, es sei nicht 
mögUch, ihn zu erbHcken, ohne in Lachen auszubrechen. 

Nun wird durch Brighella erkundet, dass Truffaldin 
durch einen Zauberer CeÜo, den Feind der Fee Morgana 
und Frpund des Königs Silvio, an den Hof geschickt wor- 
den sei, um den Prinzen lachen zu machen; zugleich 
lässt aber Morgana wissen, dass sie selbst kommen werde, 
um den von Celio (w^orunter Goldoni zu verstehen) beab- 
sichtigten Erfolg zu hintertreiben. 

Die Festspiele finden statt. Truffaldin giebt sich alle 
Mühe, den zuschauenden Prinzen zum Lachen zu bringen; 
umsonst. Unter den Zuschauem ist aber auch, als alte 
Frau verkleidet, die Fee Morgana; Truffaldin macht sich 
an sie, treibt seinen Spott mit ihr, und sie stürzt endlich 
dergestalt zu Boden, dass sie die Beine in die Höhe streckt. 
Ueber diesen spasshaften Anblick muss der Prinz lachen, 
aber Morgana, wüthend, spricht den Fluch aus, dass er 



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Triumph der Empfindsamkeit. 39 



sich in die drei Pomeranzen verlieben müsse. Der Prinz 
geräth auch sofort in Begeisterung für die drei Pomeranzen 
und beschliesst, sich aufzumachen um sie zu suchen. 

Hiermit schliesst der erste Aufzug. Die beiden andern 
stehen in entfernterer Beziehung zu »der geflickten Braut« 
und es mag daher hier nur kurz bemerkt werden, dass 
Prinz Tartaglia in Begleitung Truffaldin's die drei Po- 
meranzen der riesigen Zauberin Creonta abgewinnt, auch 
dieselben entzaubert und wieder zu Mädchen macht, worauf 
aber zwei von ihnen durch die Bosheit der Fee Morgana 
und eine Unvorsichtigkeit Truffaldin's sogleich ihr Leben 
verHeren, während die dritte erhalten wird und obwol 
durch neue Zaubermittel Morgana's eine Zeit lang in eine 
Taube verwandelt, dennoch endlich mit Tartaglia vermählt 
wird. Durch das ganze Stück zieht sich die Verspottung 
des regelmässigen Schauspiels mit seinen hochtrabenden 
martellianischen Versen und mit besonderer Beziehung auf 
Chiari's Stücke voll wunderbarer Begebenheiten und schwül- 
stiger Sprache und auf Goldoni's Charakterstücke und 
Sachwalterstyl. 

Es ist also die Absicht bei Gozzi's wie bei Goethe's 
Stück, eine in der Literatur herrschende Richtung durch 
ein Bühnenstück zu verspotten und zwar, was dessen In- 
halt anlangt, vorzugsweise durch übertriebene Darstellung 
der Wirkung dieser Richtung auf das Gemüth, dergestalt, 
dass in beiden Stücken den Gegenständen, durch welche 
Hterarische Werke zur Erscheinung kommen, — die Zettel 
mit martelhanischen Versen und die Bücher in Oro- 
noro's Puppe — eine Wirkung zugeschrieben wird, die 
eigentlich nur durch den Gehalt dieser Werke hervor- 
gebracht werden könnte, und zwar sind die Beeinflussten 
in beiden Stücken Prinzen, die dadurch in eine geistige 



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40 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen. 

Krankheit verfallen sind und wegen deren Heilung dann 
Zauberer und Orakel befragt werden. 

Auch in der Ausführung behielt Goethe das Stegreif- 
spiel im Auge, und noch in der umgearbeiteten »Ge- 
flickten Braut«, im »Triumph: der Empfindsamkeit«, stellt 
er an mehreren Stellen den Schauspielern das Extem- 
poriren ausdrücklich anheim. Die italienischen Masken, 
welche auf einer deutschen Bühne nicht die Bedeutung haben 
konnten, welche Gozzi vorschwebten, hat Goethe nicht bei- 
behalten, doch hat er etw^as Ähnliches, und zwar vielleicht 
in der » Geflickten Braut« noch mehr als im »Triumph der 
Empfindsamkeit«, durch übertriebene Charakteristik erstrebt; 
denn er schreibt an Merck, dass »alle Acteurs bis zur Ca- 
ricatur physiognomisch« gewesen seien. Auch gedenkt er 
in demselben Brief vom i8. März 1778 der eigenthüm- 
lichen Kleidung der Schauspieler , folgte also in dieser 
Beziehung gleichfalls dem italienischen Vorbilde. Die Aus- 
gelassenheit und der Muthwille ist ebenso in beiden Stücken, 
dem von Gozzi und dem von Goethe, gleich und z. B. 
das Leibaufschneiden der Puppe, in welche sich Prinz 
Oronoro verliebt hat, ein Gegenstück zu dem unanstän- 
digen Fall der Fee Morgana. Goethe nannte sein Werk 
daher »eine Tollheit«, was auch Gozzi's Märchen ist. 

In Mangel eines Freibriefs zum Unsinn, wie in Italien 
die Masken, griff" Goethe zur komischen Oper mit Ballet, 
obw^ol das MusikaHsche eine untergeordnete Stelle spielte 
und es nur mit benutzt wurde, das Parodistische zu steigern. 
Dass Goethe als komische Oper »Die Empfindsamen« und 
dann »Die Geflickte Braut« als Lustspiel mit Gesängen 
und Ballets — was freilich ziemlich dasselbe ist wie ko- 
mische Oper — verfasst habe, wie E. W. Weber in seinem 
Aufsatz: »Was Weimar in der zweiten Hälfte des vorigen 



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Triumph der Empfindsamkeit. 41 

Jahrhunderts für die Oper that» (Weimar, Sonntagsblatt 
1856, S. 70 f) anführt, dürfte wol auf einem Irrthum be- 
ruhen, da jedenfalls »Die geflickte Braut« der bei der Auf- 
führung gewählte Name für das, während der Abfassung 
als »Die Empfindsamen« bezeichnete Singspiel ist. Viel- 
leicht war übrigens in jenem älteren Stück die Musik vor- 
herrschender als jetzt, wo Goethe dasselbe als »drama- 
tische Grille« bezeichnete und sich so mehr der Bezeichnung 
Gozzi's — fiaba und fola — anschloss. 

Zum Schluss mag noch darauf aufmerksam gemacht 
werden, dass auch Lila mit ihrer Krankheit aus »Phantasie 
und Liebe« und deren Heilung Anklänge an »L'amore 
delle tre melarance « verräth und vielleicht auch schon 
durch dieses Bühnenmärchen angeregt wurde. 







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5- Proserpina. 




Im Goethe dieses Monodrama von Anfang 
( an in die »geflickte Braut« einschaltete, gehört 
I diisselbe eigentlich zum vorigen Aufsatz. Es 
^^- isi \ ölHg ausser Zweifel gestellt, dass diese Ein- 
schaltung nicht, wie vermuthet worden ist, 
erst bei wiederholter Aufführung der »Empfindsamen« 
erfolgte; das bewxnst der Brief der Räthin Goethe an Lavatcr 
vom 20. März 1778, sodann die Nachricht im »Theater- 
journal für Deutschland«, Sechstes Stück, 1878, S. 99, sowie 
die archivalische Bestätigung Burkhardt's in »Die Grenz- 
boten« 1873, Nr. 27. Doch w^urde das Stück auch für sich 
am 17. Juni 1779 in Ettersburg vorgestellt. 

In »Proserpina« folgte theils Goethe Rousseau wider 
Willen, theils widersprach er ihm. Rousseau hatte zwischen 
1762 und 1765 den PygmaÜon, scene lyrique, gedichtet, 
um dadurch einen Versuch zu machen, die Bühnenvor- 
tragsweise — Deklamation mit Musikbegleitung — wie sie 
nach seiner Ansicht bei den alten Griechen beschaffen ge- 
wiesen war, wieder einzuführen. Dieses Stück scheint 
erst nach einer im Jahre 1770 in Lyon stattgehabten Auf- 
führung in weiteren Kreisen Aufmerksamkeit erregt zu 



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Proserpina. 43 



haben. In Deutschland machte sich diese Darstellungsform 
zunächst der Schauspieler Brandes für das Virtuosenthum 
semer Frau zu Nutze, indem er Gerstenberg's Cantate 
»Ariadne auf Naxos« zu einem »Drama mit musikalischen 
Accompagnements« bearbeitete, d. h. die Verse jener Can- 
tate in die damals den Schauspielern allein geläufige Prosa 
umschrieb und den Theseus mit ein paar kurzen Reden 
einschob, in welcher Gestalt die Aufführung mit Benda's 
Musik 1774 statthatte. In ebendemselben Jahre gab dann 
Bertuch sein lyrisches Monodrama »Polyxene« und im 
nächsten Jahre ward, mit ebenfalls von Benda gesetzter 
Begleitung, Gotter's »Medea« zur Darstellung gebracht. 

Goethe erkannte zwar das Falsche dieser Melodramen- 
form, worin »Kunst und Talent mit einem namenlosen 
Wesen, das man aber Natur nannte, in einen Brei gerührt 
ward», an, allein er sah, wue jene Melodramen ansprachen, 
und lüstern zu versuchen, was er selbst auch aus dieser 
Dichtgattung zu machen im Stande sei, auch dem nach 
allem Neuen begierigen Hof gern gefällig, verschmähte 
er nicht, selbst ein solches Stück, »Proserpina«, zu 
schreiben. Indessen strafte er sich gewissermaasen selbst 
für diese Nachgiebigkeit, indem er das in würdevoller Höhe 
sich bewegende Stück dadurch in seiner demgemässen 
Wirkung vernichtete , dass er es in die muthwillige Posse 
»Die geflickte Braut« aufnahm. 

Trotz des Anschlusses an die Form Rousseau's trat 
ihm aber Goethe dem Inhalte nach entgegen. Er bemerkt 
selbst vom Pygmalion : »Diese w^underliche Production 
schwankt gleichfalls zwischen Natur und Kunst, mit dem 
falschen Bestreben, diese in jene aufzulösen; wir sehen 
einen Künstler, der das Vollkommenste geleistet hat, und 
doch nicht Befriedigung darin findet, seine Idee ausser 



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44 Q.UELLEN UKD AXLASSE GoETHE'SCHER DRAMEN. 

sich kunstgemäss dargestellt und ihr ein höheres Leben 
verliehen zu haben; nein, sie soll auch in das irdische 
Leben zu ihm herabgezogen werden ; er will das Höchste, 
was Geist undThat herv^oi gebracht, durch den gemeinsten 
Act der SinnHchkeit zerstören.« 

In »Proserpina« im Gegentheil verliert eine Göttin 
den Anspruch auf den Olymp, weil sie irdische, oder viel- 
mehr unterirdische Speise lüstern genoss; es wird also 
hier zur Darstellung gebracht, wie die sinnliche Begierde 
das Ueberirdische von sich entfernt, was Schiller in »Das 
Ideal und das Leben« so ausdrückt: 

Wollt Ihr schon auf Erden Göttern gleichen, 
Frei sein in des Todes Reichen, 
Brechet nicht von seines Gartens Frucht! 

Selbst der Styx, der neunfach sie umwindet, 
Wehrt die Rückkehr Ceres' Tochter nicht. 
Nach dem Apfel greift sie — und es bindet 
Ewig sie des Orcus Pflicht. 

Erst bei der neuen Aufführung der Proserpina auf 
Weimar's Bühne im Jahre 1815 ging Goethe darauf aus, 
fast alle Künste, die sich nur bei einer Darstellung gehend 
machen können, in »Proserpina« zusammen zu häufen : 
heroisch-landschaftliche Decoration, begleitende Musik und 
Chorgesang, ferner körperliche Bewegung, Geberdenspiel 
und Mantelspiel nach Mustern antiker Plastik, endlich 
noch ein Tableau. Hierbei wich aber der Dichter dem 
Bühnenleiter. 




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6. Iphigenie. 

wenige Worte mögen diesem Schauspiel 
'^" f;e\vidmet sein, über welches schon genug 
gesagt worden ist, als dass noch Unklar- 
leiten bestehen könnten. 

Dass Goethe des Euripides »Iphigenie 
bei den Tauriern« bei seiner Dichtung vor Augen gehabt 
habe, ist ausser Zweifel, dass er aber unter den Werken 
jenes Tragikers gerade auf dieses seine Aufmerksamkeit 
gerichtet hat, mag durch den Antheil veranlasst worden 
sein, welchen er, wie er im fünfzehnten Buch von Dich- 
tung und Wahrheit und in einem Brief an Zelter vom 
23. Februar 1817 erwähnt, am Geschicke des Hauses Tan- 
talos und Atreus nahm, welchem auch Iphigenie ent- 
sprossen war. Er mag die Geschichte hauptsächhch aus 
Hygin's Fabeln geschöpft haben, eine Vermuthung, deren 
Grund am Schlüsse dieser Besprechung deutlich werden 
wird. Hygin berichtet die Sage von Iphigenie auf Taurien 
übrigens gerade so, wie Euripides sie darstellt, nur dass er 
die Griechen infolge der List Iphigeniens — w^elche dem 
König Thoas nach Anleitung des Pylades die Nothwen- 
digkeit einer Entsühnung des Götterbildnisses vorgespiegelt 



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46 QUELLEN UKD ANLÄSSE GoETHE'SCHER DrAMEN. 

hat — einfach entkommen lässt, während Euripides der 
Flucht der Griechen einen gewahsamen Schluss durch die 
versöhnliche Erscheinung der Athene hinzufügte. 

Schon das Aherthum fand es unwürdig, dass blosse 
List in unlöblichem griechischen Geiste die Ausführung des 
Götterspruchs, welcher das Bild der Artemis von Taurien 
nach Delphi zu bringen befahl, ermöglichen sollte, wie man 
ebenso den Deus ex machina als tadelnswerth erkannte, 
und so Hess Pacuvius in seiner Tragödie » Dulorestes « die 
Griechen im Kampf über die Taurier siegen und ganz im 
römischen Sinne durch Tapferkeit das Ziel erringen.*) 

Man kann für gewiss halten, dass Goethe den Ge- 
danken, Iphigenie durch Wahrheit siegen zu lassen, auch 
den Alten entlehnte. Als er sein Schauspiel schrieb, lebte 
und webte er ganz im classischen Alterthum und las na- 
mentUch die griechischen Tragiker, Dichter und Philo- 
sophen, daher denn auch die Form der Iphigenie auf die 
griechische sich gründete. (Siehe Eckermann's »Gespräche 
mit Goethe« I., 277. III., 77. und Riemer's »Mittheilungen 
über Goethe« IL, 716. 718.) Die griechische Tragödie aber, 
in welcher der Sieg der Wahrheit gefeiert wird, ist »Phi- 
loktet« von Sophokles, worin Neoptolemos in seiner Red- 
Hchkeit das Truggewebe des Odysseus ebenso zerreisst, 
wie Iphigenie die List des Pylades aufdeckt. Bei Schöpfung 
der Persönlichkeit Iphigeniens schwebte aber unserm Dichter, 
w^as längst festgestellt ist, Charlotte von Stein vor. Der 
bildende, mässigende und veredelnde Einfluss, den Goethe 



*) Dass Goethe eine Scene aus dem Dulorestes des Pancrius entlehnt habe, wie in 
dem Artikel der allgemeinen Encyklopädie über diesen Tragiker «i lesen ist, scheint auf 
einer Verwechselung des Goethc'schen Schauspieb mit Gluck's Oper zu beruhen ; wenigstens 
kommt die dort bezeichnete Scene des Pacuvius (der freundschaftliche Streit zwischen Orest 
und Pylades, deren jeder sich für den, von Thoas zum Tode bestimmten Ore«!t ausgiebt) 
bei Goethe nicht vor. 



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Iphigekie. 47 



selbst dieser von ihm innigst geliebten Frau in seinen 
Briefen an sie zuschreibt, ist bekannt, und denselben Ein- 
fluss übt Iphigenie auf den uncivilisirten Thoas wie auf 
den leidenschaftlichen Orestes aus, in welchen beiden wir 
uns Goethe selbst vorzustellen haben, soweit diese jenem 
Einflüsse unterliegen. Einige Stellen aus den gedachten 
Briefen und zwar aus der Zeit vor der Dichtung der 
»Iphigenie« und kurz darauf mögen die gegenseitigen Be- 
ziehungen bestätigen. 

Vergegenwärtigen wir uns ganz im Allgemeinen den 
Einfluss Iphigeniens, der theils gegen die Scythen — wue 
namentUch Arkos im ersten Aufzug, zw^eiten Auftritt schil- 
dert — durch Sittigung, theils gegen Orest — namentlich 
wie dieser selbst im dritten Aufzug, dritten Auftritt ihn 
ausspricht — durch Reinigung segensvoll sich erwnes, so 
erinnert aufs lebhafteste an ihn der Frau von Stein Ein- 
fluss auf Goethe, wie er ihn vorzugsweise in dem Gedicht 
vom 14. April 1776 darstellt: 

»Tropftest Mässigung dem heissen Blute, 
Richtetest den wilden, irren Lauf, 
Und in Deinen Engelsarmen ruhte 
Die zerstörte Brust sich wieder auf. 
Welche SeHgkeit glich jenen Wonnestunden, 
Da er dankbar Dir zu Füssen lag, 
Fühlt' sein Herz an Deinem Herzen schwellen. 
Fühlte sich in Deinem Auge gut. 
Alle seine Sinnen sich erhellen 
Und beruhigen sein brausend Blut!« 

Noch verschiedene einzelne Aeusserungen m Goethe's 
Briefen an Frau v. Stein gehen auf dasselbe hinaus; so 
wenn er am 26. März 1776 von Leipzig schreibt : 



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48 Quellen ukd Anlässe Goethe'scher Dramen. 

» Ich bin bei der Schrötern *) — ein edel Geschöpf in 
seiner Art — ach wenn die nur ein halb Jahr um Sie 
wäre! Beste Frau, was sollte aus der werden!« 

Ferner, wenn Goethe die Geliebte in einem undatirten 
Briefchen (»Briefe an Frau v. Stein« I., 4.) »Besänftigerin« 
nennt, was namentlich an des Thoas (V., 3.) 

»Wie oft besänftigte mich diese Stimme!« 
erinnert, oder wenn er in einem anderen Briefe (L, 57.) 
wünscht : 

»Sie nah zu sehen und einen Tropfen Anodynum aus 
Ihren Augen zu trinken«, 
oder wenn er am 8. August 1776 schreibt : 

»Deine Gegenwart hat auf mein Herz eine wunder- 
bare Wirkung gehabt; ich kann nicht sagen, wie mir ist !« 

Iphigeniens rücksichtslose Liebe zum Rechten und zur 
Wahrheit, deretwegen Pylades (IV., 4.) vorwurfsvoll zu 
ihr äussert: 

Man sieht. Du bist nicht an Verlust gewöhnt, 

Da Du dem grossen Uebel zu entgehen 

Ein falsches Wort nicht einmal opfern willst — 

lässt sich vergleichen mit Stellen aus Goethe's Briefen an 
Frau V. Stein vom 27. Juni 1776 : 

»Sie [eine Zeichnung] ist ganz herrlich, ganz wahr 
und Deine ganze Seele in der Wahrheit. Das Gefühl des 
Friedens, der mit Dir geht etc.« — 
und vom 7. October desselben Jahrs : 

»Sie kommen mir eine Zeit her vor wie Ma- 
donna, die gen Himmel fährt: vergebens dass ein Rück- 
bleibender seine Arme nach ihr ausstreckt, vergebens dass 



*") Ccroni Schr.-)tcr. 



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Iphigenie. 49 



sein scheidender, thränenvoller Blick den ihrigen noch ein- 
mal niedenvünscht, sie ist nur in den Glanz versunken, 
der- sie umgiebt, nur voll Sehnsucht nach der Krone, die 
überm Haupte schwebt.« 

Wenn aber Orest (III., i.) sagt: 

Zwischen uns sei Wahrheit! 

so klingt dies an die Worte des Briefs vom 7. Juni 1780 an: 

»Wenn Sie nicht bald wiederkommen, muss ich 

eine andere Lebensart anfangen. Eine Liebe und Vertrauen 
ohne Grenzen ist mir zur Gewohnheit geworden.« 

Diese Eigenschaften sind denn auch Ursache, dass 
Iphigenie von Orestes (V., 6.) und von Arkas (L, 2.) eine 
HeiUge genannt wird, wie Frau v. Stein von Goethe in 
Briefen vom i. Mai 1776 und 5. Juli 1779 etc., anderer 
ähnlicher Ausdrücke im Schauspiel und in den Briefen 
nicht zu gedenken. Und wie Orestes gegen Iphigenie sich 
ausspricht (III., i.): 

Wider meinen Willen 
Zwingt mich Dein holder Mund; allein er darf 
Auch etwas SchmerzÜch's fordern und erhält's — 

so ähnlich Goethe gegen Frau v. Stein am 2. August 1778: 
»Von Ihren Händen nehm' ich auch, was schäd- 
lich ist.« 

Goethe hatte dagegen sich selbst, sowol im Orestes 
wie im Thoas vor Augen. Auf letzteren übertrug er das 
Ungeschmeidige, das er sich zuschrieb, und wie er nicht 
blos in dem Gedicht: »Lili's Park« sondern auch in dem 
Briefe an Frau v. Stein, der ohne Jahr und Tag Band L 
Seite 173 abgedruckt ist, sich einen »Bären« nennt, so 
lässt er Thoas selbst als »einen erdgebomen Wilden« 

4 



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50 Quellen und Anlasse Goethe'scher Dramen. 



(I., 3.) und »den rohen Scythen, den Barbaren« sich 
bezeichnen. 

Die Aehnlichkeit mit dem innerÜch gereinigten Orest 
lässt sich auch aus mehreren Briefen an Frau v. Stein 
herausfinden, z.B. in »Wanderers Nachtlied« vom 12. Februar 
und in der oben angeführten Stelle aus dem Gedicht vom 
14. April 1776, dann Band L, Seite 91: 

»Wie die Götter mit mir steh'n, weiss ich nicht, so 
viel weiss ich : dass sie Geistern Macht über mich gegeben 
haben, die dann in ihrem Streit mich treten und treiben.« 

Wie Orest der ihm sich nahenden Iphigenie (IIL, i.) 

zuruft : 

Lass! hinweg! 

Ich rathe Dir, berühre nicht die Locken! 

Wie von Kreusa's Brautkleid zündet sich 

Ein unauslöschlich Feuer von mir fort. — 

so schreibt Goethe am 10. October 1780 : 

» Auf ein Uebel häuft sich alles zusammen ! Ja es ist 
eine Wuth gegen sein eigen Fleisch, wenn der Unglück- 
liche sich Luft zu machen sucht dadurch, dass er sein 
Liebstes beleidigt! Und wenn's nur noch in Anfällen von 
Laune wäre und ich mir's bewusst sein könnte; aber so 
bin ich bei meinen tausend Gedanken wieder zum Kinde 
herabgesetzt, unbekannt mit dem Augenblick, dunkel über 
mich selbst, indem ich die Zustände des andern wie mit 
einem hellfressenden Feuer zerstöre.« 

Darauf dass, wie Iphigenie Orest's Schwester war, so 
Goethe Frau v. Stein häufig Schwester nannte (wie in den 
Briefen vom 23. Februar und 16. April 1776 und vom 
10. October 1780, ingleichen im Gedicht vom 14. April 1776) 
wird kein Gewicht zu legen sein, aber noch viele Ver- 



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Iphigenie. 5 1 



gleichungen zwischen Iphigenie und Frau v. Stein würde 
finden, wer es darauf anlegte, das Schauspiel mit Goethe's 
Briefen zusammen genau durchzugehen. 

Dreimal hatte Goethe die Iphigenie schon umgearbeitet, 
als er nach Italien reiste und dort die fünfte Bearbeitung 
unternahm. Dabei meldet er unterm 19. October 1786 aus 
Bologna, dass er den Plan zu einer »Iphigenie in Delphi« 
ausgebildet habe, den er auch dort darlegt und der ein an 
die »Iphigenie auf Taurien« anschliessendes Stück werden 
sollte, so, wie die Griechen drei Tragödien zu einer Tri- 
logie an einander reihten. Zelter gedenkt dieses »Schlusses« 
der Iphigenie, wie er jenen Entwurf nennt, in einem Briefe 
an Goethe vom 13. Februar 18 17 und letzterer antwortet 
darauf unterm 23. desselben Monats: 

»Es ist eine Notiz da, dass die alten Tragiker diesen 
Gegenstand behandelt haben, der mich nothweiidig reizen 
musste, weil ich in das Atreus'sche Haus mich so einge- 
siedelt hatte. Eine cykUsche Behandlung hat viel Vor- 
theile, nur dass wir Neuern uns nicht recht darin zu finden 
wissen. « 

Jene Notiz findet sich aber in Hygin's Fabeln, deren 
122. die Grundzüge der »Iphigenie in Delphi« enthält, und es 
ist bekannt, dass Hygin den Stoff seiner Fabeln aus den 
Tragikern nahm. 

Diese Erinnerung an Hygin's Werk lässt auch die 
oben angedeutete Vermuthung zu, dass dasselbe Goethe'n 
die erste Anregung zur »Iphigenie auf Taurien« gleichfalls 
gegeben habe, deren Geschichte dort in der 120. Fabel 
erzählt ist. 

Den nächsten Anlass, die Geschichte Iphigenien's auf 
Taurien zum Vorwurf eines Bühnenstücks zu nehmen, 
könnte vielleicht »Iphigenie en Tauride« von Nikolaus Franz 

4* 



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52 Q.UELLEN UND ANLÄSSE GoETHE'SCHER DrAMEN. 

Guillard, welche Gluck componirte, gegeben haben. Letz- 
terer hatte die Oper im November 1778, als er von Wien 
nach Paris zurückreiste, bereits vollendet, und wenn sie 
auch damals noch nicht in die OefFentlichkeit gelangte, so 
konnte doch Goethe leicht, z. B. durch seinen Freund 
Christoph Kayser, einen eifrigen Verehrer Glucks, Kennt- 
niss davon erhalten haben; welchen Antheil aber Goethe 
an Gluck nahm, bekundet seine Absicht, ein Gedicht auf 
des letztem im Jahre 1776 verstorbene Nichte Marianne 
zu machen, wie er an Frau v. Stein am 25. Mai dieses 
Jahres schreibt. Doch wäre diese Oper nur ein Anlass im 
Allgemeinen gewesen, denn Guillard's Buch, wenn es 
Goethe auch früher gekannt haben sollte, bot Nichts, was 
er benutzen konnte. 

Unzweifelhaft ist, dass Goethe »Orestes und Pylades« 
von Elias Schlegel, w^elches Trauerspiel denselben Gegen- 
stand wie »Iphigenie« behandelt, kannte, da er sonst mit 
Schlcgel's Schriften genau bekannt war, namentlich bei 
einer Aufführung seines »Kanut« mitspielte, seinen ver- 
meintlichen Vorgang bei der ersten Wahl der fünffüssigen 
Jamben im Schauspiel »Belsazar« vor Augen hatte und 
durch seinen »Hermann« sich bestimmen liess, Stoffe zu 
Schauspielen aus der deutschen Geschichte zu entneljmen. 
Schlegel hat in seinem Stücke einen freundschaftlich gross- 
müthigen Streit zwischen Orest und Pylades, ähnlich wie 
Pacuvius, und dass Goethe davon keinen Gebrauch machte, 
verdient Beachtung, indem daraus die berechnete Mässigung 
herv^orgeht, welche ihm nicht gestattete, durch die Theil- 
nahme für die Freunde die Theilnahme von Iphigenie ab- 
zulenken und dadurch zu schwächen. 

Nach einer Mittheilung Riemer's (11, 620) scheint 
Goethe noch ein Drama aus dem Hause Agamemnon's in 



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Iphigenie. 5 3 



Absicht gehabt zu haben, und zwar in den Jahren von 1803 
bis 1805, Klytemnästra's Ermordung. Er wollte den Mutter- 
mord infolge eines Irrthums geschehen lassen, hatte also 
eine ähnliche Abschw^ächung der barbarisch grausigen That 
im Sinne, wie sie schon Voltaire und Alfieri anstrebten, 
indem sie Klytemnästra den Tod durch Orest dadurch 
finden Hessen, dass sie bei erstrem sich zwischen Ägisth 
und den auf diesen eindringenden Orest wirft, bei letztrem 
aber dem blindwüthend anstürmenden Orest entgegentritt. 
Ein Irrthum wäre bei dieser That etwa so zu denken, 
dass Orest die ihm als Mörderin Agamemnon's bezeichnete 
Frau tödtete, bevor er sie als seine Mutter erkannt hatte. 
Es handelte sich also um eine Humanisirung der heidnischen 
Erzählung wie bei »Iphigenie«. 




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y.VoRSPiEL AUF DEM Theater zu Faust. 

iie Goethe selbst erzählt, leitete ihn bei Dich- 
tung des Prologs im Himmel, der dem ersten 
Theile der eigentlichen Tragödie des » Faust « 
vorangeht, das i. Capitel des Hiob; es scheint, 
dass er auch den Anlass zu dem, diesem 
Prolog vorangehenden »Vorspiel auf dem Theater« aus 
dem Morgenlande nahm. Denn wenn es auch anderwärts 
vorkam, dass ein Schauspieldirector in einem Vorspiel auf- 
geführt wurde — wie in den »Loas« der Spanier und auch 
sonst, z. B. im »Atis« von Piron — so lief es doch dabei 
immer auf eine Posse hinaus; in einem ernster gehaltenen 
Vorspiel finden wir aber einen Theaterdirector in dem 
Vorspiel zu »Sakontala« von Kalidasa. Dieses indische 
Schauspiel wurde den Europäern durch die 1787 in Cal- 
cutta erschienene englische und uns noch näher durch 
Forster's darnach bearbeitete deutsche Uebersetzung von 
1791 bekannt*), und wenn das Vorspiel, wie man anzu- 
nehmen Grund hat, 1797 gedichtet ist, so fällt es noch in 
die Zeit, wo der Eindruck der Sakontala lebendig in ihm 



*) Es i5t Jahcr eine, offenbar hei spaterer Rcdaction der u Italienischen Reise« ein- 
geschlichene Zcitverrückung , wenn dort in einem von Neapel d. i. März 1787 datirten 
Schreiben »Sakontala«' , und noch d.v/.u als eine in alter Erinnerung riihcnJe Dichtung 
erwähnt wird. 



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Vorspiel auf dem Theater zu Faust. 55 



war. Zwar ist das Epigramm auf dieses Schauspiel von 
1791; allein dass es noch Jahre lang fortwirkte, sagt nicht 
nur Goethe selbst in dem späteren Aufsatz »Indische 
Dichtung«, sondern beweist auch das aus dem Briefe 
Schiller's an Goethe vom 20. Februar 1802 und aus Goethe's 
Brief an Ch^zy vom 9. October 1830 bekannte Vorhaben, 
dasselbe für Weimar's Bühne zu bearbeiten. 

Das indische Vorspiel ist nun zwar nur das Ei, aus 
dem sich der herriiche Paradiesvogel entwickelte; allein es 
enthält doch wie eben angedeutet die hauptsächlichsten 
Motive des Vorspiels zu »Faust«, namentlich wenn man 
sich an Forster's Uebersetzung hält ; da diese durch neuere 
verdrängt ist, sei es verstattet, das Vorspiel der Sakontala 
nach derselben hier folgen zu lassen. 

Zuerst spricht ein Brahmane den Segen (ein Brah- 
mane, Madhawya, ist auch die lustige Person des Stücks) ; 
sodann tritt ein: 

der Theaterdirector: Wozu eine lange Rede? 
(hinaus sprechend) Wenn Sie mit ihrem Putz fertig sind, 
Madame, so beheben Sie nur zum Vorschein zu kommen. 

Schauspielerin: Da bin ich schon. Was befehlen 
Sie, mein Herr? 

Theaterdirector: Dies, Madame, ist die zahlreiche 
und erlesene Versammlung des ruhmvollen Helden, unseres 
Königs Vikramaditya, des Beschützers aller frohen Künste. 
Vor diesen Zuschauern müssen wir ein neues Werk des 
Kalidas, betitelt »Sakontala oder der entscheidende Ring», 
aufführen. Also bittet man allerseits um Aufmerksamkeit. 

Schauspielerin: Sie urtheilen richtig, dass Sie erst 
nach dem Grade des Vergnügens, den diese Versammlung 
empfinden wird, Ihr Verdienst abmessen wollen ; allein ich 



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56 dUELLEN UND ANLÄSSE GoETHE'SCHER DrAMEN. 

zweifle nicht, bald wird sich's zeigen, wie man es schätzt. 
Haben Sie sonst noch etwas zu befehlen? 

Theaterdirector: Was können Sie besseres thun, 
da Sie nun einmal auf der Bühne stehen, als die Seele der 
Zuhörer mit Gesang erheitern und ihren Sinn damit er- 
quicken ? 

Schauspielerin: Soll ich die Beschreibung einer 
Jahreszeit singen? und welche Jahreszeit hören Sie am 
Uebsten beschreiben? 

Theaterdirector: Eine schönere Zeit kann man 
nicht wählen, als den Sommer, der jetzt eben beginnt und 
reich an Vergnügen ist. Wie süss ist der Schluss eines 
Sommertags, der unsere Jugend zum Bad in kühlen Bächen 
einladet und zum leichten Schlummer verführt im Schatten, 
wo säuselnde Waldlüfte sich kühlen, die über den blühen- 
den Patalis hinstreifend, ihm seine Wohlgerüche raubten. 

Schauspielerin [singt ein Lied]. 

Theaterdirector: Reizendes Lied, die ganze Ver- 
sammlung funkelt gleichsam Beifall; die Musik zu den 
Worten erfüllt ihre Seele mit Entzücken. Mit welcher 
andern Vorstellung können wir die Fortdauer Ihrer Gunst 
uns sichern? 

Schauspielerin: O mit keiner, als »dem entschei- 
denden Ringe«, den Sie eben angekündigt haben. 

Theaterdirector: Wie könnt' ich auch das ver- 
gessen? In jenen Augenblicken wnegten mich Deiner 
Stimme Melodien in Zerstreuung und lockten mein Herz, 
wie den König Duschmanta jetzt die schnelle Antilope 
lockt. (Beide gehen ab.) 

Hierauf beginnt das Schauspiel mit Duschmanta's Jagd 
nach einer Antilope. Wir finden hierin folgende Ver- 
gleichungspunkte mit dem Vorspiel zu »Faust«: 



■v-^ tV. 



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Vorspiel auf dem Theater zu Faust. 57 

in beiden Vorspielen tritt ein Schauspieldirector auf, der 
mit ebenfalls in beiden auftretenden Personen seiner Truppe 
(bei Kalidasa eine Schauspielerin, bei Goethe der Dichter 
und die lustige Person) über das aufzuführende Stück sich 
bespricht, wobei 

auf die zahlreiche, harrende Versammlung verwiesen 
und zu möglichst guter Leistung aufgefordert wird; im 
Allgemeinen aber wird die Nothwendigkeit, Kennern zu 
gefallen, und 

von der einen Seite die Furcht vor Missfallen, sowie 

von der andern Seite Vertrauen auf günstigen Erfolg 
ausgesprochen, übrigens dennoch 

eine Einwirkung auf die Sinne der Zuschauer (bei Kalidasa 
durch Gesang, bei Goethe durch »Prospecte und Maschi- 
nen« etc.) für erspriesslich erkannt und endHch am Schlüsse 
das zuerst zur Darstellung Kommende angedeutet (bei Kali- 
dasa Duschmanta's Antilopenjagd, bei Goethe der Himmel). \ f. v 

Man bemerke jedoch, dass Goethe das kecke Ver- 
trauen der indischen Schauspielerin vielmehr seinem Di- 
rector und der lustigen Person, die höheren Ansprüche j 
des Theaterdirectors bei Kalidasa dagegen seinem Dichter 1 
in den Mund gelegt hat. 

Bei der Mahnung der lustigen Person an den Dichter: 

Lasst Phantasie mit alfen ihren Chören, 

Vernunft, Verstand, Empfindung, Leidenschaft, 

Doch merkt euch wohl! nicht ohne Narrheit hören — 

sowie bei den Aufforderungen des Directors : 

Wer Vieles bringt, wird manchem Etwas bringen, 
und: 

So schreitet in dem engen Vaterhaus 
Den ganzen Kreis der Schöpfung aus, 



/ 



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58 Quellen und Anlässe Goethe'scher Dramen. 



Und wandelt mit bedächt'ger Schnelle 
Vom Himmel durch die Welt zur Hölle — 
wird man auch an Sakontala erinnert, namentlich auch an 
jenes Epigramm: 
Willst Du die Blüthe des frühen, die Früchte des späteren 

Jahres, 
Willst Du w^as reizt und entzückt, willst Du was sättigt 

und nährt, 
Willst Du den Himmel, die Erde mit Einem Namen 

begreifen. 
Nenn* ich Sakontala, Dich, und so ist Alles gesagt. 
Bei dieser Gelegenheit mag noch, ohne Gewicht darauf 
zu legen, darauf aufmerksam gemacht werden, dass der in 
dem 1774 gedichteten Gespräche Paust's mit Wagner vor 
dem Stadtthor vorkommende Vers: 

Zwei Seelen w^ohnen, ach! in meiner Brust — 
auf der Erinnerung an einen Vers in dem von Goethe in 
»Götter, Helden und Wieland« beiläufig mit verspotteten 
lyrischen Drama Wieland's »Die Wahl des Herkules« nach 
dessen erster Fassung im »Teutschen Merkur« vom August 
1773 zu beruhen scheint; die betreffende Rede des zwischen 
Tugend und Wollust schwankenden Herkules lautet: 
O Göttin! löse mir 
Das Räthsel meines Hertens auf! 
Zwo Seelen — zu gewiss fühl' ich's ! — 
Zwo Seelen kämpfen in meiner Brust. 
So lang Du redest, siegt die bessre Seele! 
Allein, kaum fasset diese Zauberin mich wieder 
Mit ihrem Blick: so fühl' ich eine andre 
In jeder Ader glühn, die wider Willen mich 
In ihre Arme zieht. 



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m. Dramatische Entwürfe 
Goethes. 



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i. Belsazar. 




enige Wochen waren vergangen, seit der 
sechzehnjährige Goethe nach Leipzig gekom- 
men war, um sich hier für die Rechtsgelehr- 
samkeit auszubilden, als er am 30. Octobef 1765 
3 an Freund Riese schrieb : 
»Das beste Trauerspielmädchen sah ich nicht mehr. 

Wenn Ihr nicht noch vor Eurer Abreise erfahrt, was sie 

von Belsazar denkt, so bleibt mein Schicksal unentschieden. 

Es fehlt sehr wenig, so ist der fünfte Act fertig, in fünf- 

füssigen Jamben. 

Die Versart, die dem Mädchen wohlgefiel, 
Der ich allein, Freund, zu gefallen wünschte. 
Die Versart, die der grosse Schlegel selbst 
Und meist die Kritiker für's Trauerspiel 
Die schickÜchste und die bequemste halten. 
Die Versart, die den meisten nicht gefällt. 
Den meisten, deren Ohr sechsfüssige 
Alexandriner noch gewohnt — Freund! die. 
Die ist's, die ich erwählt, mein Trauerspiel 
Zu enden.« 



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62 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Das ist alles was wir von Goethe's Trauerspiel »Bel- 
sazar« wissen, das jedenfalls in dem Feuer mit zu Grunde 
ging, durch welches Goethe den grössten Theil seiner 
Leipziger Dichtungen nach Erkenntniss ihrer Unzuläng- 
lichkeit vernichtete. Und doch bietet diese kurze Erwäh- 
nung manchen Stoff zu Betrachtungen über Goethe's Dicht- 
weise und Bildungsgang. 

Gleich an dieser ersten genannten Bühnenschöpfung 
Goethe's lassen sich alle Eigenthümlichkeiten wahrnehmen, 
welche wir bei seinen nachfolgenden dramatischen Dich- 
tungen wiederfinden: das Anknüpfen an seine Beschäf- 
tigungen, die Beziehung auf ein weibliches Wesen, die 
freie Behandlung des Verses. 

Von seinem eifrigen Forschen in der Bibel während 
seiner Knabenjahre erzählt Goethe in »Dichtung und Wahr- 
heit« wiederholt, im vierten Buch aber noch bestimmter 
von dem Eindruck, den die dichterische Behandlung bibli- 
scher Stoffe, namentlich durch Klopstock und Moser, 
auf ihn ausgeübt hatten. Des letzteren »Daniel in der 
Löwengrube« (1763) mochte ihn noch besonders auf Bel- 
sazar geführt haben; eine sonstige Veranlassung, die ihm 
die Geschichte Belsazar's nahe gelegt haben könnte, dürfte 
sich nicht nachweisen lassen. 

Aber dieses biblische Wesen nahm ihn so gefangen, 
dass er sich von dem tiefen Eindruck durch eine dich- 
terische That befreien musste, wie er es sein ganzes Leben 
hindurch gehalten hat. Hierzu diente ihm in den frühsten 
Zeiten besonders gern die dramatische Form; ein Kunst- 
richter hatte es Goethe schon 1774 (»Teutscher Merkur« 
8. Bd. S. 181) abgemerkt, dass er gewohnt sei, alles dra- 
matisch zu denken. Im »Belsazar« finden wir das älteste 
Zeugniss hierfür. 



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Belsazar. 63 



Bot die Geschichte des assyrischen Königs keinen 
Anknüpfungspunkt, die Angebetene seines Herzens zu feiern, 
so stärkte sich doch Goethe an deren Beifall. Wir wissen 
jetzt, dass Charitas Meixner in Worms diejenige war, der er 
vor seinem Abgang nach Leipzig und noch von dort aus hul- 
digte ; wxil ihr der fünffüssige Jambus als dramatischer Vers 
gefiel, wandte ihn Goethe zum Schluss seines Trauerspiels an. 

Diese Versart war damals etwas ganz Neues für die 
deutsche Bühne, die bis dahin für das höhere Trauerspiel 
nur Prosa oder aber Alexandriner kannte. Wenn Goethe 
dieselbe in dem Brief an Riese vom »grossen Schlegel« 
empfohlen nennt, so kann er dem Beiworte nach füglich 
nur Johann Elias Schlegel meinen; doch w^eiss ich nicht 
anzugeben, wo jene Empfehlung erfolgt sein soll; denn in 
seinem »Schreiben über die Komödie in Versen« erklärt 
dieser Schriftsteller den Vers von fünf Jamben mit weib- 
licher Endung (endecassillabo) als »zu zärtlich« für unser 
Ohr und den Vers mit reinen fünf Jamben, also mit männ- 
licher Endung, um deswillen für ungeeignet, weil unsere 
Aussprache »nicht fliessend genug« sei, während er sich 
über den engÜschen Bühnenvers mit gemischten Endungen 
gar nicht äussert. Indessen kann man annehmen, dass 
dieses abfällige Urtheil sich hur auf das Lustspiel beziehe, 
für das ernstere Schauspiel aber der fünffiissig jambische 
Vers von Johann Elias Schlegel dadurch empfohlen worden 
sei, dass er 1748 oder 1749 »Die Braut in Trauer« nach 
Congreve's The Mourning Bride in diesem Versmass und 
zwar mit gemischten weiblichen und männlichen Endungen 
zu übersetzen angefangen hatte, welches Bruchstück 1762 
aus seinem Nachlass zum Druck gelangte. Hiemach konnte 
allerdings dem J. E. Schlegel der Vorgang in Bezug auf 
Anwendung jenes Versmasses im deutschen Schauspiel 



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64 Dramatische Entwürfe Goethe's. 

zuerkannt werden, obschon vor dem Druck seines Bruch- 
stücks bereits nicht nur in Uebersetzungen oder doch 
Bearbeitungen aus dem Englischen Wieland 1758 »Lady 
Johanna Grey« nach Rowe und 1764 Johann Heinrich 
Schlegel »Sophonisbe« nach Thomson in derselben Versart 
wiedergegeben hatten, sondern diese auch im letztgedachten 
Jahr in deutschen Stücken von Weisse in »Befreiung von 
Theben« und von Klopstock in »Salomo« angewandt wor- 
den war; Brawe's schon 1757 wol unter Lessing's Einfluss 
gleichfalls in fünffüssigen Jamben geschriebener »Brutus« 
wurde jedoch erst 1768 veröffentlicht. 

Gehörte sonach Goethe zu den Ersten, welche des 
englischen Bühnenverses — nach obigem Briefbruchstück 
zu urtheilen, mit gemischtem weiblichen und männlichen 
Ausgang — sich bedienten, so hielt er doch nicht dabei 
aus, und mehr als zw^ei Jahrzehnte vergingen, bevor ihn 
das Leben mit italienischen Dichtern dahin zurückführte. 
Wie er inzwischen bald schlichte, bald rhythmische Prosa, 
bald freie reimlose, bald gereimte, zum Theil den altdeutschen 
Reimpaaren nachgebildete, oder vielmehr an sie sich an- 
lehnende Verse, ingleichen Alexandriner und antike Trimeter 
für seine dramatischen Dichtungen benutzte, gehört nicht 
weiter hierher; aber auch darin blieb er sich merkwür- 
digerw^eise treu, dass er wie in diesem frühesten Schau- 
spiel — das er in fünffüssigen Jamben nur endete — wie im 
letzten, des »Faust zweitem Theil« und so vielen zwischen- 
liegenden verschiedene Versmasse gebrauchte. Goethe 
mochte sich nie der Form als einem todten Schema fügen; 
er unterwarf sie sich und brachte jede immer nur da zur 
Geltung, wo sie der gemässeste Ausdruck des Inhalts war. 



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2. Mahommed. 




linige Dramenentwürfe Goethe's liegen in ver- 
schiedner und bis zu dreifacher Gestalt vor: 
in Erzählung des Plans, in Umriss der Aus- 
führung und in ausgeführten Stücken. Nach- 
dem einmal anerkannt ist, dass Scenerien und 
Bruchstücke in den Werken des Dichters nicht fehlen 
dürfen, erscheint es auch gerechtfertigt, einen Schritt 
weiter zu gehen. Liest man nämlich jene mehrfachen 
Mittheilungen über dasselbe Drama hintereinander, so ge- 
niesst man nicht einmal das, was vorhanden ist; man hat 
lauter Unvollständigkeiten ohne Zusammenhang. Unter- 
nimmt man es dagegen, die verschiedenen Mittheilungen 
nach ihrer Zusammengehörigkeit ineinander zu schieben, 
so verschafft man sich den nach den Umständen vollstän- 
digsten Ueberblick über das Vorhaben des Dichters. Der 
bezeichnete Fall liegt, abgesehen vom »Prometheus«, bei 
»Mahommed«, »Nausikaa«, der Fortsetzungen der »Pandora« 
und der »Natürlichen Tochter« sowie bei dem »Trauerspiel 
in der Christenheit« vor; bei den »Ungleichen Hausgenossen« 
und den »Aufgeregten« verhält sich's etwas anders. 

Es soll hier zunächst eine gegenseitige Ergänzung der 

s 



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66 Dramatische Entwürfe Goethe's. 

vorhandenen Stücke zu dem musikalischen Drama »Ma- 
hommed« hergestellt werden. 

Als Goethe im vierzehnten Buch von »Dichtung und 
Wahrheit« Zweck und Plan seines nicht später als 1773 
entworfenen Drama's mittheilte, hielt er den schon nieder- 
geschriebenen Anfang des Stücks für abhanden gekommen 
und nur den einen Gesang für erhalten, der 1773 im 
Göttinger Musenalmanach für 1774 zuerst gedruckt und 
nachher in seine Schriften aufgenommen war, hier jedoch 
aus dem Zwiegesang AU's und seiner Gattin in einen 
Einzelgesang Mahommed's umgestaltet. Erst 1846 machte 
Scholl aus Papieren Goethe'^ den Anfang des Drama's 
bekannt; meines Erinnerns sind aber bisher nicht einmal 
die ausgeführten Stücke desselben in einer Ausgabe von 
Goethe's Werken im Zusammenhang zu finden. 

Obgleich Goethe dieselben zur Zeit seiner Mittheilung 
in »Dichtung und Wahrheit«, mit Ausnahme des nachmals 
»Mahommed's Gesang« überschriebenen, seit vier Jahrzehnten 
nicht wiedergesehen haben wird, macht er doch ziemUch 
genaue Angaben darüber, die sich durch die nach seinem 
Tod erfolgte Wiederauffindung in Bezug auf die Eröffnungs- 
hymne vollkommen bestätigt haben. Goethe's Gedächmiss 
war demnach so treu, dass man nur bei unzweifelhaften 
Gegenbeweisen einen Irrthum in seinen Erzählungen be- 
haupten darf. Einen solchen beging er nun aber jedenfalls 
hier, wenn er bei der Rheinreise mit Lavater und Basedow 
im Jahr 1774 durch die Betrachtung, wie diese bedeutenden 
Männer zu Erreichung ihrer höhern Zwecke sich gemeiner 
Mittel bedienten, zu der Idee des »Mahommed« geführt sein 
will, da dieser eben nachweislich schon etwa ein Jahr 
früher entworfen war. Umgekehrt mag er wol bei Beo- 
bachtung des Gebahrens der beiden Genannten lebhaft an 



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Mahommed. 67 



Mahommed erinnert und durch dessen Lebensgang über 
jenes Gebahren aufgeklärt worden sein. Sagt doch Goethe 
zugleich, dass er kurz vorher das Leben des orientalischen 
Propheten gelesen und studirt habe und dabei hat er 
jedenfalls sogleich den Vorsatz gefasst, das ihn tief Be- 
rührende dramatisch darzustellen. 

Es ist die Vermuthung ausgesprochen worden, Goethe 
habe das Leben Mahommed^s in Bayle's Dictionnaire gelesen. 
Dagegen möchte ich jedoch bemerken, dass die Zeit, in 
der er jenes Werk eifrig studirt zu haben erzählt, früher 
fällt und dass man aus seinen Worten, dass er »kurz zuvor 
das Leben des Propheten gelesen «, auf das gerade damals, 
1773, erschienene zweibändige Werk Turpin's »La vie de 
Mahomet« schliessen darf. 

Im Folgenden ist nun aus »Dichtung und Wahrheit« 
das auf Goethe's »Mahommed« Bezügliche — unter Aus- 
schluss der Angabe des Inhalts der später wiedergefundenen 
Hymne — mit den ausgefühnen Stücken zusammengestellt. 



.... So wurde der Gedanke rege, dass freiUch der 
vorzügliche Mensch das Göttliche, was in ihm ist, auch 
ausser sich verbreiten möchte. Dann aber trifft er auf die 
rohe Welt, und um auf sie zu wirken, muss er sich ihr 
gleichstellen; hierdurch aber vergiebt er jenen hohen Vor- 
zügen gar sehr und am Ende begiebt er sich ihrer gänz- 
lich. Das Himmlische, Ewige wird in den Körper irdischer 
Absichten eingesenkt und zu vergänglichen Schicksalen mit 
fortgerissen. 

. . . Alles was das Genie durch Charakter und Geist 
über die Menschen vermag, sollte dargestellt werden, und 
wie es dabei gewinnt und verliert. 

5* 



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68 Dramatische ENT^^'ÜRFE Goethe's. 



Erster Act. 

Feld. Gestirnter Himmel. 

Mahommed allein, stimmt die Hymne an. 

Theilen kann ich Euch nicht dieser Seele Gefühl! 
Fühlen kann ich Euch nicht allen ganzes Gefühl! 
Wer, wer wendet dem Flehn sein Ohr? 
Dem bittenden Auge den Blick? 

Sieh, er blinket herauf, Gad, der freundliche Stern! 
Sei mein Herr Du, mein Gott! Gnädig winkt er mir zu. 
Bleib! bleib! Wendst Du Dein Auge weg? 
Wie! Liebt' ich ihn, der sich verbirgt? 

Sei gesegnet, o Mond ! Führer Du des Gestirns ! 
Sei mein Herr Du, mein Gott ! Du beleuchtest den Weg. 
Lass, lass nicht in der Finsterniss 
Mich irren mit irrendem Volk! 

Sonn', Dir glühenden, weiht sich das glühende Herz! 
Sei mein Herr Du, mein Gott! Du AlUiebender, Du, 
Der die Sonne, den Mond und die Sterne 
Schuf, Erde und Himmel und mich. 

Halima, seine Pflegmutter, zu Mahommed. 

Halima. 
Mahommed ! 

Mahommed. 
Halima! O dass sie mich in diesen glückseligen Em- 
pfindungen stören muss! Was willst Du mit mir, Halima? 



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Mahommed. 69 



Halima. 
Ängstige mich nicht, lieber Sohn! Ich suche Dich 
von Sonnenuntergang. Setze Deine zarte Jugend nicht den 
Gefahren der Nacht aus. 

Mahommed. 
Der Tag ist über dem Gottlosen verflucht wie die 
Nacht. Das Laster zieht das Unglück an sich wie die 
Kröte den Gift, wenn Tugend unter eben dem Himmel 
gleich einem heilsamen Amulet die gesundeste Atmo- 
sphäre um uns erhält. 

Halima. 
So allein auf dem Felde, das keine Nacht vor Räubern 
sicher ist! 

Mahommed. 
Ich war nicht allein: der Herr, mein Gott, hat sich 
freundlichst zu mir genaht. 

Halima. 
Sahst Du ihn? 

Mahommed. 
Siehst Du ihn nicht? An jeder stillen Quelle, unter 
jedem blühenden Baum begegnet er mir in der Wärme 
seiner Liebe. Wie dank' ich ihm! Er hat meine Brust 
geöffnet, die harte Hülle meines Herzens weggenommen, 
dass ich sein Nahen empfinden kann. 

Halima. 
Du träumst! Könnte Deine Brust geöffnet worden 
sein und Du leben? 

Mahommed. 
Ich will für Dich zu meinem Herrn flehen, dass Du 
mich verstehen lernst. 



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yo Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Halima. 
Wer ist Dein Gott? Hobal oder Alfatas? 

Mahommed. 

Armes, unglückseliges Volk, das zum Steine ruft: ich 

liebe Dich! Und zum Thon: sei Du mein Beschützer! 

Haben sie ein Ohr für's Gebet? Haben sie einen Arm 

zur Hülfe? 

Halima. 

Der in dem Stein wohnt, der um den Thon schwebt 

vernimmt mich. Seine Macht ist gross! 

Mahommed. 
Wie gross kann sie sein? Es stehen dreihundert neben 
ihm; jedem raucht ein flehender Altar. Wenn Ihr wider 
Eure Nachbarn betet und Eure Nachbarn wider Euch, 
müssen nicht Eure Götter wie kleine Fürsten, deren 
Gränzen verwirrt sind, mit unauflösHcher Zwietracht sich 
wechselsweise die Wege versperren? 

Halima. 
Hat Dein Gott denn keine Gesellen? 

Mahommed. 
Wenn er sie hätte, könnt' er ein Gott sein? 

Halima. 
Wo ist seine Wohnung? 

Mahommed. 
Ueberall! 

Halima. 
Das ist nirgends! Hast Du Arme, den Ausgebreiteten 
zu fassen? 



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Mahommed. 71 



Mahommed. 
Stärkere, brennendere, als diese, Dir für Deine Liebe 
zu danken. Noch nicht lange, dass mir ihr Gebrauch 
verstattet ist, HaUma! mir war's wie dem Kinde, das Ihr 
in enge Windeln schränkt: ich fühlte in dunkler Ent- 
wuckelung Arme und Füsse, doch es lag nicht an mir, 
mich zu befreien. Erlöse Du, mein Herr, das Menschen- 
geschlecht von seinen Banden ! Ihre innerste Empfindung 
sehnt sich nach Dir. 

Halima vor sich. 
Er ist sehr verändert! Seine Stärke ist umgekehrt, 
sein Verstand hat gelitten. Es ist besser, ich bring' ihn 
seinen Verwandten jetzo zurück, als dass ich die Verant- 
wortung schlimmer Folgen auf mich lade. 



Nachdem sich also Mahommed selbst bekehrt, theilt er 
diese Gefühle und Gesinnungen den Seinigen mit. Seine 
Frau und Ali fallen ihm unbedingt zu. 

Im 

zweiten Act 

versucht er selbst, heftiger aber Ali, diesen Glauben in 
dem Stamme w^eiter auszubreiten. Hier zeigt sich Bei- 
stimmung und Widersetzlichkeit nach Verschiedenheit der 
Charakter. Der Zwist beginnt, der Streit wird gewaltsam 
und Mahommed muss entfliehen. 

Im 

dritten Act 

bezwingt er seine Gegner; macht seine Religion zur öffent- 
lichen, reinigt die Kaaba von den Götzenbildern ; weil aber 



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Dramatische Entwürfe Goethe's. 



doch nicht alles durch Kraft zu thun ist, so muss er auch 
zur List seine Zuflucht nehmen. Das Irdische wächst und 
breitet sich aus, das Göttliche tritt zurück und wird ge- 
trübt. Auf dem höchsten Punkt des Gelingens sollte Ali 
[mit Fatema] diesen Gesang vortragen: 

Ali. 
Seht den Felsenquell 
Freudehell, 
Wie einen SonnenbUck! 

Fatema. 
Ueber Wolken 
Nährten seine Jugend 
Gute Geister 
Zwischen Klippen 
Im Gebüsch. 

Ali. 
Jünglingfrisch 
Tanzt er aus der Wolke 
Auf die Marmorfelsen nieder; 
Jauchzet wieder 
Nach dem Himmel. 

Fatema. 
Durch die Gipfelgänge 
Jagt er bunten Kieseln nach — 

Ali. 
Und mit festem Führertritt 
Reisst er seine Bruderquellen 
Mit sich fort. 



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Mahommed. 73 



Fatema. 
Drunten werden in dem Thal 
Unter seinem Fusstritt Blumen, 
Und die Wiese lebt von 
Seinem Hauch. 

Ali. 

Doch ihn hält kein Schattenthal, 

Keine Blumen, 

Die ihm seine Knie' umschlingen, 

Ihn mit Liebesaugen schmeicheln; 

Nach der Eb'ne dringt sein Lauf 

Schlangenwandelnd. 

Fatema. 

Bäche schmiegen 

Sich gesellschaftlich an ihn. 

Und nun tritt er in die Eb'ne 

Silberprangend. 

Ali. 
Und die Eb'ne prangt mit ihm. 
Und die Flüsse von der Eb'ne 

Fatema. 
Und die Bächlein von Gebirgen 
Jauchzen ihm und rufen: 

Beide. 
Bruder! 
Bruder nimm die Brüder mit! 



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74 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Fatema. 

Mit zu Deinem alten Vater, 

Zu dem ew'gen Ocean, 

Der mit weitverbreiteten Armen 

Unsrer wartet, 

Die sich, ach! vergebens öffnen. 

Seine sehnenden zu fassen; 

Ali. 

Denn uns frisst in öder Wüste 

Gier'ger Sand: die Sonne droben 

Saugt an unserm Blut, 

Ein Hügel hemmt uns zum Teiche. 

Bruder! 

Nimm die Brüder von der Eb'ne, 

Fatema. 
Nimm die Brüder von Gebirgen 

Beide. 
Mit zu Deinem Vater, mit! 

Ali. 

Kommt Ihr alle! 

Und nun schwillt er herrlicher, 

— Ein ganz Geschlechte 

Trägt den Fürsten hoch empor — 

Triumphirt durch Königreiche, 

Giebt Provinzen seinen Namen, 

Städte werden unter seinem Fuss. 



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Mahommed. 75 



Fatema. 
Doch ihn halten keine Städte, 
Nicht der Thürme Flammengipfel, 
Marmorhäuser, Monumente 
Seiner Güte, seiner Macht. 

Ali. 
Zedemhäuser trägt der Atlas 
Auf den Riesenschultern; sausend 
Wehen über seinem Haupte 
Tausend Segel auf zum Himmel 
Seine Macht und seine Herrlichkeit. 
Und so trägt er seine Brüder, 

Fatema. 
Seine Schätze, seine Kinder 

Beide. 
Dem erw^artenden Erzeuger 
Freude brausend an das Herz. 



Im 

vierten Act 

verfolgt Mahommed seine Eroberungen ; die Lehre wird mehr 
Vorw^and als Zweck; alle denkbaren Mittel müssen benutzt 
werden ; es fehlt nicht an Grausamkeiten. Eine Frau, deren 
Mann er hat hinrichten lassen, vergiftet ihn. 

Im 

fünften Act 

fühlt er sich vergiftet. Seine grosse Fassung, die Wieder- 
kehr zu sich selbst, zum höheren Sinne, macht ihn der 



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Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Bewunderung würdig. Er reinigt seine Lehre, befestigt 
sein Reich und stirbt. 



Auffallend wird man im » Mahommed «, namentlich in 
der ersten Scene Anklänge an »Faust« bemerken. Schon 
den Grundgedanken jenes Drama's erkennen wir in Faust's 
Worten : 

»Dem Herrlichsten w^as auch der Geist empfangen 
Drängt immer fremd- und fremder Stoff sich an; 
Wenn wir zum Guten dieser Welt gelangen, 
Dann heisst das Bessere Trug und Wahn. 
Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle 
Erstarren in dem irdischen Gewühle«. 

Denn der Mahommed, w^elcher — wie es in der 6. Sure 
des Koran von Abraham berichtet wird — schwankt, ob 
er den Planeten Jupiter oder den Mond oder die Sonne 
anbeten soll, erinnert er nicht an den Faust, der nicht 
allein von Facultät zu Facultät Wahrheit suchend irrt, 
sondern auch, nachdem er vor dem Zeichen des Welt- 
geistes zurückgeschaudert ist, den Erdgeist beschwört, 
darauf dem höUischen Geist sich ergiebt, endlich aber zu 
dem »erhabnen Geist« sich wendet? Sodann: glaubt man 
nicht, wenn Mahommed nach der Hymne bei Halima's 
Nahen ausruft: »o, dass sie mich in diesen glückseligen 
Empfindungen stören muss!« Faust zu vernehmen mit 
seinem 

»Dass diese Fülle der Gesichte 

Der trockne Schleicher stören muss«? 

Entferntere Anklänge an Mahommed's Frage an Halima 
über die in der 159. Sure niedergelegten Zeichen Gottes 



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Mahommed. 77 



in der Natur sind in Faust*s Ergiessungen über Gott in 
dem Gespräch mit Gretchen, ingleichen an Mahommed's 
»Ich fühlte in dunkler Entwickelung Arme und Füsse etc.« 
an Paust's im Anfang des ersten Monologs ausgesprochnen 
Erkenntnissdrang. — Dagegen mahnt Mahommed's Ver- 
werfung der Götzen aus Stein und Thon an des Prome- 
theus Nichtachtung der alten Götter. Nach diesen Andeu- 
tungen hat man anzunehmen, dass Goethe die Ausführung 
des »Mahommed« schon aufgegeben hatte, als er »Prome- 
theus« dichtete und »Faust« begann. 




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3- Prometheus. 




ni October 1773 — wie das Jahr richtig in 
der Ausgabe letzter Hand von Goethe's Wer- 
ken steht und nicht erst, wie später Besser- 
wisser finden w^oUten Ende 1774 — beschäf- 
tigte Goethe die dramatische Bearbeitung des 
Prometheus, aber w^as er darüber niederschrieb, lernten 
nur wenige Vertraute kennen; an die Oeffentlichkeit ge- 
langte es zum Theil erst sehr spät. Ein Stück gab ohne 
Goethe's Vorwnssen 1785 Friedrich Jacobi als Beilage seiner 
Schrift »Ueber die Lehre des Spinoza» heraus und Goethe 
nahm es dann 1789 im 8. Band seiner Schriften unter die 
»Vermischten Gedichte« auf. Die übrigen dramatischen 
Auftritte kamen aber erst 1830 im 33. Bandseiner Werke, 
Ausgabe letzter Hand, zu allgemeiner Kenntniss. Doch 
hatte Goethe schon vorher davon Kunde gegeben und 
zwar in dem 1814 erschienenen 3. Band von »Dichtung 
und Wahrheit.« 

Seit Jahrzehnten ist nun streitig, theils ob das Drama 
als Bruchstück oder aber als abgeschlossen anzusehen ist, 
theils in welchem Verhältniss diese beiden Dichtungen zu 



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Prometheus. 79 



einander stehen, d. h. ob das früher bekannte Gedicht ein 
Zubehör der dramatischen Dichtung, oder ob es ein selb- 
ständiges Gedicht sein sollte. Der Erörterung dieser Fragen 
gilt gegenwärtiger Aufsatz. 

Für »Dichtung und Wahrheit« schrieb Goethe 1812 
oder 181 3 darüber: »Das alte Titanengewand schnitt ich 
mir nach meinem Wüchse zu und fing ohne weiter nach- 
gedacht zu haben ein Stück zu schreiben an, worin das 
Missverhältniss dargestellt ist, in welches Prometheus zu 
Zeus und den neuen Göttern geräth, indem er auf eigne 
Hand Menschen bildet, sie durch Gunst der Minerva be- 
lebt und eine dritte Dynastie stiftet. Und wirklich hatten 
die jetzt regierenden Götter sich zu beklagen völlig Ur- 
sache, weil man sie als unrechtmässig zwischen die Ti- 
tanen und Menschen eingeschobene Wesen betrachten 
konnte. Zu dieser seltsamen Composition gehört als Mo- 
nolog jenes Gedicht, das in der deutschen Literatur be- 
deutend geworden, weil dadurch veranlasst Lessing über 
wichtige Puncte des Denkens und Empfindens sich gegen 
Jacobi erklärte. « 

Als Goethe dies schrieb, lag ihm sein Drama noch 
nicht wieder vor; es war verschollen und er hatte es 
wahrscheinlich seit nahezu 40 Jahren nicht wieder ge- 
sehen und trotzdem erinnert er sich desselben sowie des 
zu Grunde liegenden Gedankens, nicht minder des Um- 
standes genau, dass es unvollendet war. Letztres geht aus 
den Worten unzweideutig hervor: »ich . . . fing ... ein 
Stück zu schreiben an « ; er sagt nicht : ich schrieb es, und 
wer da weiss wie sorgsam Goethe in der Wahl seiner 
Worte war, wie selbst manche früher für gleichgültig ge- 
haltene Ausdrücke Goethe's durch späteres Bekanntwerden 
bezüglicher Verhältnisse als wohlbedacht sich erwiesen 



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8o Dramatische Entwürfe Goethe's. 



haben, der kann nicht in Zweifel sein, dass er sagen 
wollte, er habe das Drama »Prometheus« zwar angefangen 
aber nicht vollendet. Wenn Goethe hinzufügte: »zu dieser 
Composition gehört als Monolog jenes Gedicht etc.«, so 
muss diese Bemerkung vorerst ausser Betracht bleiben; 
denn er sagt nicht, ob er damals annahm, es habe sich 
dieser Monolog in dem verloren gegangenen Stück schon 
befunden, oder ob er ihn für nachgedichtet hielt. 

Hierüber äusserte er sich erst bestimmt, als er von 
Seebeck unterm ii. December 1819 eine Abschrift des 
Drama's aus Lenzens Xachlass zugeschickt empfing, in- 
dem er am 11. Mai 1820 an Zelter schrieb: »Wunderlich 
genug, dass jener von mir selbst aufgegebene und ver- 
gessene Prometheus gerade jetzt wieder auftaucht. Der 
bekannte Monolog, der in meinen Gedichten steht, sollte 
den dritten Act eröffnen,« 

Wer nur irgend Begriff von wissenschaftlicher Kritik 
hat, kennt als obersten Grundsatz, dass bei Beurtheilungen 
zunächst derjenige zu hören ist, dessen Leistung beurtheilt 
werden soll, und dass seinen Angaben nur insoweit keine 
Rücksicht zu schenken ist, als ihm nachgewiesen werden 
kann, nicht nur dass dieselben irrig oder unwahr sein 
müssen, sondern auch: w^as die Ursache war, dass geirrt 
werden konnte oder dass Falsches gesagt w^erden wollte. 
Wenn dieser Grundsatz der Hermeneutik nicht befolgt 
wird, wo eitle Überhebung und Besserw issenssucht sich 
breit macht, ist eben ein Tummelplatz für Willkühr. 

Ist nun das Drama Prometheus als ein abgeschlossenes, 
fertiges anzusehn? Ein Überblick der Handlung wird uns 
darüber belehren. 

Der erste Act beginnt mit der Mahnung Merkur's an 
Prometheus seinen Trotz gegen die Götter aufzugeben 



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Prometheus. 8i 



und zum Gehorsam gegen Jupiter zurückzukehren, wo- 
gegen Prometheus im stolzen Eigenwillen auf seiner Selb- 
ständigkeit beharrt. Nach Merkur versucht auch Minerva 
Prometheus zur Nachgiebigkeit zu bewegen, allein weniger 
entschieden; denn sie ist von Anfang dem Krafttrotzigen 
nicht abgeneigt und verspricht ihm endlich sogar die 
Menschengestalt, die er aus todtem Stoff gebildet, zu be- 
leben. Prometheus ist beglückt von dieser Aussicht für 
seine Geschöpfe und schliesst den Act mit den Worten: 
»Ihre Freude wurd Dein Dank sein.« 

Der zweite Act beginnt mit Merkur's Anklage gegen 
Minerva, dass sie sich zu den Empörern geschlagen und 
sogar den Bildsäulen des Prometheus Leben eingehaucht 
habe. Jupiter beruhigt den Götterboten und verbietet ihm 
sogar — was Merkur thun will — dem erdgebornen Volk 
des Göttervaters Güte und Macht zu verkünden, indem 
er sagt: 

»Noch nicht! In neugeborner Tugendwonne 
Wähnt ihre Seele sich göttergleich. 
Sie werden Dich nicht hören bis sie Dein 
Bedürfen. Überlass sie ihrem Leben!« 

Das Leben des jungen Menschengeschlechts entrollt 
sich nun vor unsern Augen : Obsternte, Baden, Wettlaufen, 
Kränzewinden. Prometheus lehrt Hütten bauen und spricht 
dem Erbauer ausschliessliches Eigenthum daran- zu ; Männer 
streiten sich um eine Ziege; der eine reisst sie unrecht- 
mässig an sich und verwundet überdies den Beraubten. 
Zuletzt tritt Pandora auf, des Prometheus liebstes Ge- 
schöpf; sie fragt ihn besorgt um das, was sich soeben mit 
ihrer Freundin zugetragen habe und das nach ihrer be- 
wegten Schilderung Prometheus als den Tod bezeichnet, 

6 



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82 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



dessen Wesen er weiter ausführt und mit Hindeutung auf 
Wiedergeburt der Gestorbenen schliesst. 

Das ist das Ende des Stücks, aber zuverlässig nicht 
sein Schluss. Seine Grundlage ist das Zerwürfniss zwischen 
den Göttern und den Titaniden; gegen den Willen der 
Mehrzahl ' der ersteren schafft der titanische Prometheus 
unter Minerven's Beihülfe Menschen, deren Treiben wir 
dann zu sehen bekommen — aber was wird aus dem in 
der Anlage begründeten, tragischen Zusammenstoss der 
Göttergewalt und des Titanentrotzes? Dieser geknüpfte 
Knoten muss doch erst noch gelöst werden! Es ist noch 
gar nicht der Anfang gemacht Jupiter's mit olympischer 
Siegesgewissheit gesprochene Worte, dass die Menschen 
erst durch ihre Hülfsbedürftigkeit gedrängt, die Götter- 
botschaft vernehmen würden, zur Wahrheit werden zu 
lassen. Ja nicht einmal von dem Dank, den Prometheus 
Minerven in der Freude seiner belebten Geschöpfe ver- 
heisst, ist im zweiten Act etwas Entschiednes zu spüren. 

Und wie das Stück dramatisch noch unfertig ist, so 
auch als Lösung einer Frage des Daseins. Der titanische 
Trotz ist weder gerechtfertigt noch verklärt, so lange 
Prometheus die Ergüsse seines Übermuthes machtlos zu 
den Göttern emporschleudert, während Jupiter gelassen 
dazu lächelt und sagt: ihr kommt mir schon noch! Es 
muss erst noch gezeigt werden, wie der Trotz siegreich 
bleibt oder aber gedemüthigt wird. Man kann sich an 
dem was wir von Goethe's Prometheus besitzen, sehr 
wohl als einer prachtvollen poetischen Skizze erfreuen, 
man mag auch zugeben, dass Goethe den Gedanken an 
eine Fortsetzung sehr bald habe fallen lassen, nur muss 
man diese Skizze, dieses Bruchstück nicht für ein poetisches 
Ganzes ausgeben oder behaupten wollen, dass es Goethe 



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Prometheus. 83 



selbst jemals als ein solches angesehen habe. Als Goethe das 
Stück 1819 wieder erlangt hatte, erneuerte er jene Angabe 
aus »Dichtung und Wahrheit«, dass dasselbe unvollendet 
sei und es gehört ein nicht beneidenswerther Dünkel dazu» 
zu behaupten : Goethe habe das nicht mehr zu beurtheilen 
verstanden. Ob er gerade Minerva schon früher als wieder 
auftretende Vermittlerin, w^elche etwa den trotzigen Ti- 
taniden und seine Menschen zur Einsicht ihrer Abhängig- 
keit von den Göttern brachte, gedacht hatte, wie er bei 
Aufnahme des Prometheus-Drama's in die Werke andeutete, 
kann man allenfalls dahingestellt sein lassen; hierbei handelte 
es sich nicht um Mangel an Urtheil, sondern mehr um 
mangelhafte Erinnerung, da allerdings zweifellos ist, dass 
Goethe sich in das wiedergefundene Werk nicht wieder 
so vertieft hat, als gälte es seinen Ausbau. 

Zu der Versicherung Goethe's und der verständigen 
Prüfung, welche beide das Drama »Prometheus« als un- 
vollendet erkennen lassen, kommen aber auch noch Be- 
weise aus der Zeit seiner Entstehung. 

Zunächst die Handschrift, w^elche am Schlüsse des 
ersten Actes die Nachschrift » Ende des ersten Actes « und 
am Schlüsse des zw^eiten die Nachschrift »Ende des zw^eiten 
Actes« aufzeigt. Diese wäre allem Brauch zuwider ge- 
wesen und würde ohne Beispiel sein, wenn der zweite 
Act der letzte hätte sein sollen; dann würde Goethe un- 
fehlbar blos »Ende« oder vielleicht »zweiter und letzter 
Act« geschrieben haben.' 

Ferner zwei classische Zeugen. Heinrich Leopold 
Wagner führt eine Äusserung von Jacob Lenz an, worin 
dieser sagt: »Ich habe den Torso eines Prometheus von 
Goethe gelesen, das vielleicht das grösste war, was er 

schrieb, ich zweifle aber, dass er ihn darf drucken lassen, 

6* 



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Dramatische Entwürfe Goethe*s. 



so lang das deutsche Publicum moralische Abhandlungen 
und Gedichte zu vermischen schwach genug ist. Dieser 
Prometheus ist ein Götterverächter, wie er in der Ge- 
schichte war und sein musste. Ihn fromm zu machen, 
hiesse der Medicäischen Venus einen Rosenkranz in die 
Hände geben. Eben in seiner Gottlosigkeit, mit all den 
Liebenswürdigkeiten vergesellschaftet, macht er die er- 
schütternsten Sensationen, und sein von ihm nach seinem 
Ebenbild geformtes Mädchen schmelzt uns in Mitleid und 
Liebe dahin. « *) Also : Lenz kannte das Drama als Bruch- 
stück, obschon bis zum Ende des zweiten Acts. 

Noch bestimmter spricht hierüber Schönborn in einem 
Brief an Gerstenberg vom 12. October 1773, worin 
er über Goethe schreibt: »jetzo arbeitet er an einem 
Drama, Prometheus genannt, wovon er mir zwei Acte 
vorgelesen hat, worin ganz vortreffliche, aus der tiefen 
Natur gehobne Stellen smd.«**) Also: Goethe las nicht 
ein Drama von zwei Acten, sondern zwei Acte von dem 
Drama vor, an dem er noch immer arbeitete, woraus 
demnach folgt, dass zu den zwei Acten noch mehrere 
kommen sollten. 

Als Bestätigung dessen dient noch der Umstand, dass 
Goethe erst nach Jahresfrist das Drama aus den Händen 
gegeben, er also in der Zwischenzeit auf die Fortsetzung noch 
nicht verzichtet zu haben scheint. 

Hoffentlich sind diese Beweise schlagend genug, um 
das fast dreissigjährige Gespenst eines vermeintlich fertigen 
Prometheus in sein Nichts zurückzutreiben. 



*) Neuer Versuch Über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen. Leipzig 1776. 
Seite 292 f. 

••) Zum 29. Januar 1878 u. s. w. von Director Redlich. Hamburg 1878. Seite VI. 



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Prometheus. 8j 



Die andere Hauptfrage ist nun das Verhältniss des 
schon seit 1789 in Goethe's Schriften befindlichen Ge- 
dichts »Prometheus« zum Drama. Schon oben wurde er- 
wähnt, dass Goethe selbst das erstere anfänglich nur all- 
gemein als zum Drama gehörigen Monolog, später aber 
genauer als Anfang des dritten Actes bezeichnete. 

Soviel ist ausgemacht, dass das Gedicht ursprünglich 
nicht im Drama stand ; das beweist nicht nur die Lenzische 
Abschrift, worin es fehlt, sondern auch der Umstand, dass 
Heinse in einem Brief an Gleim vom 8. September 1775 
dasselbe nur als eine selbständige »Ode« kennt und be- 
wundert, dass ferner Goethe es nach der Anmerkung zu 
einem Brief an Merck, Seite 55 der »Briefe an Johann 
Heinrich Merck u. s. w. von K. Wagner« (1835) für sich 
allein dem Darmstädter Freunde schickte, sowie endlich 
dass Jacobi es als etwas für sich Bestehendes drucken 
Hess. Dies alles, sowie insbesondere auch, dass es Jacobi 
1780 gegen Lessing als »Gedicht« bezeichnete und ebenso 
Goethe selbst in Briefen an Jacobi und an Frau v. Stein 
aus dem Jahr 1785 scheint zu beweisen, dass hier eine 
vom Drama unabhängige Dichtung vorliege. Allein ein 
aus dieser Bezeichnung als »Gedicht« etwa herzuleitender 
Beweis wird durch die Bemerkung widerlegt, dass Goethe 
sie an derselben Stelle in »Dichtung und Wahrheit« ein 
»Gedicht« nennt, in welcher er sie auch für einen Mo- 
nolog des Dramas erklärt. Es Hegt demnach kein Grund 
vor, diese ausdrückHche Erklärung Goethe's kurzsichtig 
und willkührHch in den Wind zu schlagen, weil wir uns 
etwa eine andre Vorstellung von der Absicht der späteren 
Dichtung gemacht haben. Jene Erklärung ist um so be- 
achtenswerther, als das Gedicht seit 1785, wo es zu 
Goethe's grossem Verdruss von Jacobi veröffentlicht wurde. 



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86 Dramatische Entuürfe Goethe's. 



wiederholt vereinzelt in dessen Gesichtskreis trat, er sich 
also leicht an den Gedanken hätte gewöhnen können, dass 
es eine abgeschlossene Dichtung sei, während er trotzdem 
dasselbe als Theil des Drama's anerkannte, das ihm seit 
vierzig Jahren nicht vor Augen gekommen war. 

Indessen hat man eingeworfen: was konnte Goethe 
veranlassen, nachdem er Freunden schon das Dramen- 
bruchstück mitgetheilt hatte, längere Zeit nachher ihnen 
wieder einen Monolog für dasselbe zu übermitteln? Dieser 
Frage ist nun aber mit grösserem Rechte die entgegen- 
zustellen : was konnte Goethe daran haben, einen Ge- 
danken, den er schon in einem Drama niederzulegen 
unternommen hatte, nochmals in einem Gedichte auszu- 
führen, das, wol zu merken, nicht etwa weiter greift als 
das Drama? Es dürfte auch ein solches selbständiges, in 
der Person eines Dritten monologisch gehaltene Gedicht 
unter den Goethe'schen einzig in seiner Art sein. 

Was Goethe vermochte, den Monolog nachzudichten, 
ist unschwer zu erklären. Prometheus war seinem Grund- 
gedanken nach ähnlich tief, weittragend, grossartig erfasst, 
wie Faust, und wie Goethe an diesem eine lange Reihe 
von Jahren hindurch mit längern und kürzern Unter- 
brechungen arbeitete, wie der Geist ihn trieb, so fing er 
auch an den Prometheus zu behandeln, nur dass er diesen 
eher ganz bei Seite legte. Bei ruhiger Prüfung der im ersten 
Feuer hingeworfenen zwei Acte musste Goethe aber bald 
erkennen, dass der Anfang des Stücks mit allzukühner 
Voraussetzung mitten in die Handlung hineinspringt. 
Mit den ersten Worten ist schon der schroffste Conflict als 
vorhanden ersichtÜch, ohne dass der Hörer eine Ahnung 
hat, was dieser Conflict bedeuten soll. Wer weiss, ob nicht 
Goeihe vielleicht durch einen Zufall zur Einsicht dieser 



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Prometheus. 87 



fehlerhaften Anlage geführt wurde, nämlich dadurch, dass 
»Künstlers Erdenwallen«, das er wol gleich nach dem 
ersten Hinw^urf des Prometheus niederschrieb, ganz mit 
denselben Worten beginnt wie letztres Drama: »Ich will 
nicht!« Doch das nur beiläufig! 

Empfand nun Goethe das Bedürfniss, den Conflict des 
Prometheus einzuleiten, so lag es ganz im Geiste seiner 
damaligen dramatischen Compositionsw^eise, denselben mit 
einem Selbstgespräch beginnen zu lassen; so war's im 
»Faust«, so in »Künstlers Erdenwallen«, so im »Satyros«. 
In diesem Selbstgespräch lernen wir den Übermuth des 
Prometheus und seine Auflehnung gegen die Götter kennen 
und sehen den Boden für den Conflict bereitet. 

Wenn hiernach das monologische Gedicht an die 
Spitze des Dramas gewiesen ist, so widerspricht das frei- 
lich der Angabe Goethe's von 1820, dasselbe habe den 
dritten Act eröflfnen sollen, an w^elcher Stelle es dann 1830 
auch in den Werken erschien. Hier befinden wir uns nun 
allerdings in dem äussersten Fall, dem eignen Zeugniss des 
Dichters entgegentreten zu müssen; wir sind zu der An- 
nahme gezwungen, dass er sich nicht die Mühe genommen 
habe, das Gedicht mit dem wiederaufgefundenen Drama 
genau zu vergleichen. Wäre dies geschehen, so hätte es 
ihm nicht entgehen können, dass der Inhalt des Gedichts 
im ersten und zweiten Act schon abgethan war: nach- 
dem wir aus den Zwiegesprächen mit Merkur und mit 
Minerva des Prometheus Gesinnung schon kennen, hat es 
keinen Zweck, sie noch einmal in einem Selbstgespräch 
zu vernehmen, w^ährend es ganz dramatisch ist, die vor- 
her substantiell kundgegebene Gesinnung dialektisch be- 
haupten zu lassen. Ebensowenig passt der Schluss des 
Gedichts nach den zwei ersten Acten; in diesen hat Pro- 



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88 Dramatische Entwürfe Goethe*s. 

metheus bereits Menschen geformt und er hat dies jetzt 
nicht mehr nöthig, nachdem seine Gebilde belebt sind und. 
sich nun ohne sein Zuthun vermehren. 

Nicht anzunehmen ist, dass Goethe eine gründliche 
Neubearbeitung des Stücks im Sinne gehabt habe ; er würde 
sonst schwerlich das monologische Gedicht sofort Freun- 
den mitgetheilt haben, ohne etwas Weiteres zu dem Zwecke 
zu thun. Es wäre doch zu sonderbar gewesen, wenn er, 
nachdem er schon ausgeführte Scenen des Stücks vor- 
gelegt hatte, nachträglich ein viel beschränkteres Bruch- 
stück einer Neubearbeitung an Jacobi gegeben hätte. 
Dagegen erscheint die nachträgliche Mittheilung ganz 
selbstverständlich, wenn die neue Dichtung eben nur eine 
verbessernde Zugabe zu der frühern sein sollte. Wo Goethe 
sonst Umarbeitungen seiner Dramen ausführte oder nur in 
Aussicht nahm, unterlässt er nicht dies ausdrücklich zu 
berichten, so von den »Mitschuldigen«, von »Götz von 
Berlichingen « , von »Claudine«, von »Erwin und Elmire«, 
von »Iphigenie«, von »Tasso«, von »Egmont«, von »El- 
penor«, von »Stella«; bezüglich des »Prometheus« spricht 
er überall nur von beabsichtigter Fortsetzung. Das schliesst 
selbstverständlich nicht aus, dass er in den beiden frühem 
Acten des Dramas diejenigen AenderungÄi vorgenommen 
haben würde, welche durch Eröffnung des Stücks mit dem 
neuen Monolog nöthig wurden. Er selbst konnte dies viel- 
leicht deshalb nicht thun, weil er die Handschrift des 
ersteren, ohne selbst ein Duplicat zu behalten, weggegeben 
hatte. Wollen wir Nachlebenden uns den Genuss eines 
durch den Monolog vervollständigten Prometheus ver- 
schaffen, so werden wir nun selbst diese Aenderungen 
vornehmen müssen — aber auch vornehmen dürfen, wenn 
wir dabei nur von dem schuldigen Gefühl der Unter- 



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Prometheus. 89 



Ordnung beseelt sind. Von einem ergänzenden Dichten 
kann dabei, wie sich von selbst versteht, nicht die Rede 
sein, sondern nur von einer bescheidnen Redaction, die 
auf logischen Gründen beruht und die Goethe bei der 
Ausgabe seiner Dichtungen auch selbst sorglos andern, 
wie Voss, Riemer, Eckermann überliess. 

Der Monolog würde für sich allein den ersten Act 
bilden. Das kann nicht auffallen, da auch der nachmals als 
erster Act behandelte Anfang des »Faust«, der auch gleich 
den ganzen Conflict zwischen dem Erdgebundnen und dem 
ins Unendliche Strebenden in sich birgt, ebenfalls ganz 
vorwiegend aus einem Monolog besteht, und da femer 
der zweite Act des »Satyros« ebenfalls lediglich Mo- 
nolog ist. 

Vergleichen wir nun diesen neuen ersten Act mit dem 
folgenden, so nehmen wir zunächst Awstoss an Wieder- 
holung der Stelle des Monologs: 

Wer half mir 

Wider der Titanen Uebermuth? 

in dem Gespräch des Prometheus mit Merkur, lautend: 
Haben sie . . . 



Diesen Busen gestählt, 
Zu trotzen den Titanen? 



Beide Stellen sind an ihrem Ort nicht ohne Weiteres 
entbehrlich und da die Wiederholung nicht völlig gleich- 
lautend ist, können wir sie uns gefallen lassen. 

Eine andere Stelle des Selbstgesprächs tritt uns ver- 
theilt in zwei andern Stellen des Zwiegesprächs mit Merkur 
entgegen, nämlich die: 



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und: 



90 Dramatische Entw'Crfe Goethe's. 

Hat nicht mich zum Manne geschmiedet 
Die allmächtige Zeit 
Und das ewige Schicksal, 
Meine Herren und Deine? 

in nachstehenden beiden: 

Prometheus. 
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet 
Die allmächtige Zeit, 
Mein Herr und Eurer? 

Prometheus. 
Was könnt Ihr? 

u. s. w. 
Vermögt Ihr mich auszudehnen, 
Zu en\^eitern zu einer Welt? 

Merkur. 
Das Schicksal! 

Prometheus. 
Anerkennst Du seine Macht? 
Ich auch! 
Geh! ich diene nicht Vasallen. 

Diese beiden letzteren Stellen im Zwiegespräch lassen 
sich nicht einfach streichen und an eine Umarbeitung darf 
freilich gar nicht gedacht werden; dagegen können im 
Monolog die vier Zeilen »Hat nicht« bis »und Deine« 
nicht nur ohne Bedenken ausfallen, sondern es gewinnt 
sogar dadurch der Monolog an Abrundung. Denn diese 
Zeilen mit ihrer Verweisung auf den Einfluss, den die 
Zeit auf Prometheus ausgeübt hat, stehen zwischen vier 



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Prometheus. 91 



vorausgehenden und fünf nachfolgenden, welche sich ins- 
gesammt auf das Verhältniss des Zeus zu Prometheus be- 
ziehen. Jene lauten: 

Hast Du die Schmerzen gelindert 
Je des Beladenen? 
Hast Du die Thränen gestillet 
Je des Geängsteten? 

Diese aber: 

Wähntest Du etwa 

Ich sollte das Leben hassen, 

In Wüsten fliehn. 

Weil nicht alle 

Blüthenträume reiften ? 

Die hier angeführten neun Zeilen drücken den Ge- 
danken aus: Hast Du mich deshalb Schmerzen überlassen, 
weil Du mich durch sie zum Lebenshasser zu machen 
hofftest? Diesen Gedankengang unterbrechen aber die da- 
zwischen gestellten vier Zeilen, deren Inhalt auch mit den 
weiter zurückliegenden Zeilen 

Hast Du nicht Alles selbst vollendet. 
Heilig glühend Herz? 

insofern in Widerspruch steht, als er in diesen sich selbst, 
in jenen ferneren aber der Zeit seine Erziehung zuschreibt, 
was in dieser unmittelbaren Aufeinanderfolge störend ist. 
Der Inhalt obiger vier und fünf Zeilen ist demnach mit 
Gewinn für das Ganze dem Zwiegespräch zwischen Pro- 
metheus und Merkur allein vorzubehalten. 

Endlich finden sich die das gegenwärtige Thun aus- 
drückenden Worte des Monologs: 



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<J2 Dramatische Entwürfe Goethe' s. 



Hier sitz' ich, forme Menschen 

Nach meinem Bilde, 

Ein Geschlecht, das mir gleich sei: 

Zu leiden, zu weinen. 

Zu geniessen und zu freuen sich 

Und Dein nicht zu achten 

Wie ich! 

als Erzählung des Vergangenen in dem Aufruf des Pro- 
metheus an Zeus im ursprünglich zweiten Acte: 

Ich habe sie geformt nach meinem Bilde; 

Ein Geschlecht, das mir gleich sei: 

Zu leiden, weinen, 

Zu geniessen und zu freuen sich 

Und Dein nicht zu achten 

Wie ich! 

Im grossen Monolog kann die Stelle nicht wegbleiben : 
sie ist der Schlussstein oder vielmehr die bohrende Spitze 
des gegen Zeus geschleuderten Trotzes; wol aber können 
wir sie ohne Bedauern im letzten Act missen und sogar 
wiederum mit Vortheil, indem dadurch der jubelnde Sieges- 
ruf des Prometheus 

Sieh nieder, Zeus, 

Auf meine Welt! Sie lebt! 

kräftiger hervortritt, während die jetzt anschliessenden sechs 
Zeilen eine damit nicht in Einklang stehende trotzige Ver- 
bitterung bekunden. 

Die Schlussscene würde alsdann so einzuleiten sein: 

»(Thal am Fusse des Olympus. Man sieht das Menschen- 
geschlecht durch's ganze Thal verbreitet. Sie sind auf 
Bäume geklettert, Früchte zu brechen; sie baden sich 



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Prometheus.. 93 



im Wasser, sie laufen um die Wette auf der Wiese; 
Mädchen pflücken Blumen und flechten Kränze.) 

Prometheus. 

Sieh nieder, Zeus, 

Auf meine Welt! sie lebt! 

(Ein Mann mit abgehauenen jungen Bäumen tritt zu 

Prometheus.)« 

U. s. w. 

Ueber die Fortsetzung haben wir schon angedeutet, 
dass der Ausspruch Jupiters über die Neugeschaffnen sich 
noch erfüllen muss: »Sie werden Dich nicht hören, bis 
sie Dein bedürfen.« Vorbereitet erbHcktfn wür diesen Aus- 
gang des Dramas in des Prometheus Neigung zu seinen 
Geschöpfen: diese zieht ihn selbst zu den schwächeren 
Menschen herunter; er mischt sich unter sie, freut sich 
und leidet mit ihnen, der Titanide geht in diesem Verkehr 
mit der Alltagswelt unter, er hört auf der Halbgott zu 
sein, welcher über seinen Geschöpfen als Schirmer und 
Helfer stand. Droht jenen nunmehr Unheil, so muss ein 
höher Waltender eintreten — das zu zeigen war zufolge 
seiner ersten Acte die Aufgabe der Fortsetzung des 
Dramas. Es ist das ein Ideengang zum Theil dem ähn- 
lich, den Goethe unter rein menschHcher Umgebung, aber 
auch in weniger edlem Sinn im »Mahommed« auszuführen 
gedachte, während des Prometheus Trotz auf die eigne 
Kraft im »Faust« wieder Ausdruck fand. In wieder andrer 
Richtung drückt den Inhalt des »Prometheus« in milderer 
Weise das Gedichtchen » Menschengefühl « aus, das jetzt 
unter den vermischten Gedichten steht und jedenfalls auch 
in den siebenziger Jahren entstand. 



otf^ 



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4- Elpenor. 




is ins Jahr 1860 ist meines Wissens eine Er- 
klärung des »Elpenor« nicht durchgeführt 
worden; er galt bis dahin als ein Räthsel. 
Was Goethe selbst über das Stück äussert, 
'!U ist wenig und gewährt keinen Anhalt für 
dessen Deutung. In seinem Tagebuch führt er den Be- 
ginn desselben am 11. August 1781 auf und gedenkt seiner 
noch am 19. desselben Monats. In Briefen an Frau von Stein 
schreibt er von einem in Arbeit befindHchen Stück am 
19. August 1781 sowie am i. und am 5. März 1873. Dass 
auch die beiden letzten Erwähnungen auf »Elpenor« sich 
beziehen, ist insbesondere deshalb gewiss, weil Goethe bei 
der zweiten von der Beendigung des zweiten Actes spricht, 
bis wohin eben »Elpenor« nur gedieh und weil er in den 
»Tag- und Jahresheften« berichtet, die beiden Acte des 
»Elpenor« seien 1783 geschrieben. Auch kann nur auf 
»Elpenor« folgende Stelle in Goethe's Brief an Knebel 
vom 3. März 1783 bezogen werden: »Ich hatte gehofft, 
das Stück, dessen Anfang Du kennst, auch noch bis zum 
Ausgange der Herzogin zu schreiben, es ist aber unmög- 



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Elpenor. 95 

lieh. Der alte Plan war fehlerhaft und ich musste es von 
vorne an neu umarbeiten. Ich fahre sachte dran fort und 
ich denke, es wird ja nicht zu spät kommen«. 

Goethe that jedoch nichts weiter daran. Zwar sagte 
er in der Zuschrift, welche Göschen mit der Ankündigung 
von »Goethe's Schriften« im Juli 1786 bekannt machte: 
er wünsche sich »noch so viel Raum und Ruhe, um die 
angefangenen Arbeiten, die dem sechsten und siebenten 
Bande zugetheilt sind, wo nicht sämmtlich, doch zum Theil 
vollendet zu liefern«; allein schon beim Erscheinen des 
ersten Bandes 1787 erklärte Goethe, die vier letzten Bände 
— im sechsten sollten die zwei Acte von »Elpenor« ver- 
öffentlicht werden — würden eine andre Gestalt, als die 
angekündigte erhalten und nun brachten sie »Tasso« und 
»Egmont«, von denen nur Bruchstücke in Aussicht gestellt 
waren, vollständig, aber »Elpenor« gar nicht. Nach einer 
brieflichen Äusserung gegen Schiller aus dem Juni 1798 
hat indessen Goethe das Stück bei Herausgabe seiner 
Schriften vorgenommen; denn er schreibt, dass er das- 
selbe seit zehn Jahren nicht angesehen habe — also doch 
um 1788. 

So wenig aus diesen Äusserungen für die Deutung 
des »Elpenor« zu entnehmen ist, sowenig auch aus sonst 
vorhandnen. Im Brief an Zelter vom 7. Mai 1807 sagt 
Goethe, das Stück liege ihm zu fem, als dass er selbst es 
noch zu beurtheilen vermöge und fügt hinzu: gewöhnlich 
werfe man eine Abneigung auf etwas, das man nicht zu 
vollenden vermocht habe, als auf ein Ding, das uns wider- 
strebe und dessen wir nicht Herr werden könnten. 

Etwas ausführlicher lässt sich Goethe gegen Schiller 
aus, dem er das Bruchstück am 24. Juni 1798 mit folgender 
Bemerkung schickte: »In das andere beiliegende Manu- 



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96 Dramatische Entwürfe Goethe*s. 

Script mag ich gar nicht hineinsehen; es mag ein Beispiel 
eines unglaublichen Vergreifens am Stoflfe und weiss Gott 
für was noch anders ein warnendes Beispiel sein. Ich bin 
recht neugierig, was Sie diesem unglücklichen Product 
für eine Nativität stellen«. Schiller — scheinbar oder 
wirklich den Verfasser nicht ahnend — antwortet: »Auch 
das Drama folgt zurück; ich habe es gleich gelesen und 
bin in der That geneigt günstiger davon zu denken, als 
Sie zu denken scheinen. Es erinnert an eine gute Schule, 
ob es gleich nur ein dilettantisches Product ist und kein 
Kunsturtheil zulässt. Es zeugt von einer sittlich gebildeten 
Seele, einem schönen und gemässigten Sinn und von einer 
Vertrautheit mit guten Mustern. Wenn es nicht von 
weiblicher Hand ist, so erinnert es doch an eine gewisse 
Weiblichkeit der Empfindung, auch insofern ein Mann 
diese haben kann. Wenn es von vielen Longueurs und 
Abschweifungen befreit sein wird, und wenn besonders 
der letzte Monolog, der einen unnatürlichen Sprung ent- 
hält, verbessert sein wird, so lässt es sich gewiss mit 
Interesse lesen«. Darauf schreibt Goethe zurück: »Zu- 
fälligerweise oder vielmehr weil ich voraussetzte, Sie 
wüssten, dass »Elpenor« von mir sei, sagte ich es nicht 
ausdrücklich im Briefe; nun ist es mir um so lieber, da 
dieses Product ganz rein auf Sie gewirkt hat. Es können 
ungefähr sechzehn Jahr sein, dass ich diese beiden Acte 
schrieb, nahm sie aber bald in Aversion und habe sie seit 
zehn Jahren gewiss nicht wieder angesehen. Ich freue 
mich über Ihre Klarheit und Gerechtigkeit wie so oft 
schon, also auch in diesem Falle. Sie beschreiben recht 
eigentlich den Zustand, in dem ich mich befinden mochte, 
und die Ursache, warum das Product mir zuwider war, 
lässt sich nun auch denken«. 



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Elpenor. 97 



Die weibliche Empfindung in dem Stück erklän sich 
aus den zur Zeit seiner Entstehung in Goethe vorherr- 
schenden Gefühlen für Frau von Stein ; sie giebt sich darin 
namentlich durch das viele Bethun von Weibern um einen 
herangewachsenen Jüngling kund. Sonst Näheres für die 
Auslegung ergeben vorstehende Äusserungen nicht; nur 
auf Goethe*s erste gegen Schiller gethane wird noch ein- 
mal zurückzukommen sein. Suchen wir daher andre Wege 
zum Licht! 

Betreflfs der Form schliesst das Bruchstück an jene 
Schauspiele an, welche Goethe nach seiner Mittheilung an 
Eckermann vom 27. März 1825 in der Absicht dichtete, 
eine deutsche Bühne nach griechischem Vorbild zu schaflfen, 
und von denen zwar »Iphigenie in Taurien« und »Tasso« 
vollendet, »Iphigenie in Delphi« und »Nausikaaa aber nur 
entworfen wurden, während später erst »Die natürliche 
Tochter« sich wieder an diese Form anschloss. »Elpenor« 
war, wie ausser »Iphigenie« und »Tasso« auch »Proser- 
pina« — stellenweise auch »Egmont« — in rhythmischer 
Prosa geschrieben, die in jenem ersten Stück nachmals 
Riemer in aufdringlichem Verschönerungswahn in ungleiche 
Verse zerschnitt. Goethe erklärt diese ihm eigenthüm- 
liche sprachliche Form der Dramen in der »Italienischen 
Reise« (Rom, 10. Januar 1787) aus seiner Unsicherheit in 
der Prosodie, allein jedenfalls schwebte hierbei auch mit 
die Absicht vor, in dem Streit über den Vorzug des Verses 
oder der Prosa für die Bühne zu vermitteln. 

Wenden wir uns nun zum Stoff! Es ist keine ge- 
schichtliche Begebenheit und ebensowenig eine Sage ermit- 
telt, die im » Elpenor « dargestellt wäre. Die Namen geben 
durchaus keinen Fingerzeig, da sie nur die Charaktere 
andeuten: Antiope die nach Rache Begierige; Elpenor der 

7 



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98 Dramatische Entwürfe Goethe*s. 



von Hoffnungen Beseelte, voll Hoffnungen Betrachtete ; 
Lykus der räuberische Wolf; Polymetis der Vielschlaue; 
Evadne die Wohlgefällige. Wir sind daher bei Entwick- 
lung der Begebenheit lediglich aufs Bruchstück verwiesen, 
und da dieses nicht einmal bis in den dritten Aufzug 
gedieh, so ist der Knoten noch gar nicht geschürzt, also 
das meiste noch zu errathen. Da liegt denn zunächst 
Folgendes zu Tage. 

Von zwei Brüdern, die beide gemeinschaftlich ein Reich 
beherrschen, fällt der Eine, als er gegen den Landesfeind 
siegreich vorging, durch einen ihm tückisch gestellten 
Hinterhalt. Auf seine Wittwe Antiope wird bald darauf 
gleichfalls ein Überfall unbegreiflichen Ursprungs gemacht 
und sie dabei ihres Kindes, eines Säuglings, beraubt, wäh- 
rend sie selbst schwer verwundet wird, aber doch am 
Leben erhalten bleibt. Vergeblich sind alle Bemühungen, 
Spuren des entführten Kindes zu entdecken; die ver- 
wittwete, nunmehr auch kinderlose Königin zieht sich 
darauf aus dem Reich ihres Gatten in ihr väterliches Erb- 
reich zurück. 

Hier bedarf sie in einer wichtigen Angelegenheit klugen 
Rathes und wendet sich deshalb in Person an den zwar 
seines rauhen Betragens und seiner Herrschsucht wegen 
von ihr nicht geliebten, aber seiner Klugheit halber als 
nützlich erkannten Schwager, König Lykus. Bei diesem 
sieht sie dessen kleinen Sohn Elpenor; beim ersten Anblick 
fühlt sie sich zu diesem und er sich zu ihr hingezogen; 
durch ihn wird sie um so lebhafter an ihr verlornes Kind 
erinnert, als Elpenor gleichen Alters mit demselben ist, ja 
sogar ein gleiches Maal am Nacken trägt, wie ihr Kind 
hatte. Durch die Zusicherung, dem Elpenor für den Fall, 
dass ihr eigner Sohn nicht wiedergefunden werden sollte. 



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Elpenor. 99 

nach ihrem Tode auch ihr eignes Erbland zu hinterlassen 
und durch sofortige Verpfändung eines Theils desselben 
an Lykus erlangt sie von diesem, dass er ihr seinen Sohn 
überlässt, um ihn bis zum Jünglingsalter zu erziehen. 

Beim Beginn des Stücks ist nun der Tag gekommen, 
wo Elpenor seinem Vater zurückgegeben werden soll. 
Der bisher von weiblicher Zärtlichkeit umhegte Knabe 
freut sich der bevorstehenden grossem Freiheit und erwartet 
mit Sehnsucht — nicht seinen kommenden Vater, sondern 
— die Waflfen, Pferde und Jugendgenossen, welche dieser 
ihm mitbringen und zu Gebote stellen wird. Da erscheint 
Antiope um Abschied zu nehmen und indem sie jetzt 
nochmals dem geliebten Pflegling ihre Geschichte und das 
über sie gebrachte Weh zu Gemüthe führt, fordert sie ihn 
auf, ihr mit furchtbarem Eid feierlich zu schwören, sie an 
dem Urheber ihres Unglücks zu rächen und ihn sammt 
den Seinigen bis zur Vertilgung zu verfolgen. Diesen 
Schwur leistet Elpenor, zugleich aber den, dem Vetter, 
^enn er noch lebe, sein Erbreich zurückzugeben. Um den- 
selben erkennen zu können, verweist Antiope auf sein 
mit Elpenor gemeinsames Maal und beschreibt das Hals- 
geschmeide, welches das Kind bei dem räuberischen Über- 
fall getragen habe. 

Im zweiten Aufzug tritt, von König Lykus voraus- 
gesandt, Polymetis auf, ein alter Diener seines Hauses. 
Er deutet an, dass er der Mitschuldige des Königs bei 
schweren Unthaten war, die derselbe gegen Antiope beging 
und dass er ein Ungeheuer gebunden halte, das den 
Elpenor zerreissen könne; er nimmt sich vor seine furcht- 
baren Geheimnisse zu verrathen und das Ungeheuer los- 
zulassen, weil er nur in der zerstörenden Zwietracht des 
Fürstengeschlechts Gewinn für sich erblickt. 

7* 



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100 Dramatische Entwürfe Goethe's. 

Mit dieser unheilschwangeren Aussicht schliesst das 
Bruchstück. Zwei Fragen drängen sich sofort auf: lebt 
Antiope's Sohn noch? und: ist Elpenor Antiope's oder 
Lykus' Sohn? 

Die Bejahung der ersten Frage liegt nahe; denn nicht 
zu gedenken, dass jenes von Polymetis erwähnte Ungeheuer 
nur ent>\'eder der verschwundne Sohn der Antiope oder — 
dafern dies Elpenor ist — der Sohn des Lykus sein kann, so 
deutet auch verschiednes in der Anlage des Stücks schon darauf 
hin; namenthch wäre ausserdem ganz unbegreiflich, warum 
der Tod des Kindes überhaupt noch zweifelhaft gelassen 
ist und femer würden sonst die Zeichen, an denen Elpenor 
den Vetter erkennen soll, ganz müssig im Drama stehn. 

Zweifelhafter mag die Beantwortung der Frage erschei- 
nen, ob Elpenor Sohn der Antiope oder aber des Lykus 
sei? Allein bei genauer Betrachtung wird man sich für 
ersteres entscheiden müssen. 

Denn abgesehen davon, dass, wenn Elpenor des Lykus 
Sohn wäre, die Erwähnung der — vermeintlichen — Gleich- 
mässigkeit des Maales am Nacken beider Kinder ebenso 
zwecklos wäre wie der Nachdruck, der darauf gelegt wird, 
dass des Lykus Gattin gleichzeitig mit Antiope schwanger 
gewesen und daher beide Kinder fast gleichaltrig gewesen 
seien, so erhält auch nur dann die beim ersten Erblicken 
sich lebhaft äussernde gegenseitige Anziehung zwischen 
Antiope und Elpenor, ingleichen wieder die Gleichgültigkeit, 
mit welcher Elpenor als Kind sich von Lykus fortbringen 
lässt, mit welcher er als Jüngling sich zu ihm zurück- 
begiebt und mit welcher er dessen von Antiope gescholtnen 
Ehrgeiz, gleichsam nur schicklichkeitshalber, entschuldigt — 
das alles hat nur dann Bedeutung, wenn eben Elpenor 
Antiope's Sohn ist. 



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Elpenor. ipl 

Allerdings lassen sich Ausstellungen erheben. Zuvör- 
derst könnte man einwenden: gesetzt auch dass Lykus 
wirklich das Kind, etwa nach Verlust des eignen, heimlich 
an sich genommen hätte, um nicht bei Kinderlosigkeit in 
der Herrschaft gefährdet zu sein, so nennt doch auch der 
in die geheime Geschichte des Königshauses eingeweihte 
Polymetis im Selbstgespräch, also ohne Absicht einer 
Täuschimg, ausdrücklich Lykus den Vater Elpenor*s, und 
obschon ferner die von Polymetis erwähnte schwarze That 
des Lykus jedenfalls nicht bloss auf die Beseitigung des 
Neflfen, sondern auch auf die Ermordung des Bruders zu 
deuten ist, wie schon Antiope's Erzählung vom Untergang 
ihres Gatten ahnen lässt, so scheint doch mit dem Unge- 
heuer, das er zu Elpenor's Verderben loszulassen droht, 
nur Antiope's Sohn gemeint sein zu können, da des Lykus 
Sohn keine Ursache hätte, gegen den Sohn des von seinem 
Vater schmäUch behandelten Hauses sich schonungslos zu 
bezeigen. 

Zu Hebung dieser Dunkelheiten lassen sich indessen 
manche Auswege denken, keinesfalls aber kann aus dem 
mehrdeutigen Selbstgespräch des Polymetis die Wider- 
legung einer Folgerung abgeleitet werden, die sich auf 
andre gute Gründe stützt. So viel ist gewiss, dass Lykus, 
vielleicht aber auch Polymetis nicht weiss, dass Elpenor 
nur der Neffe des ersteren sei; das Personenverzeichniss 
beweist nichts, da ja allerdings Elpenor durch das ganze 
Drama hindurch als Lykus' Sohn gilt und das Personen- 
verzeichniss nicht da ist, das Geheimniss der Handlung in 
voraus zu enthüllen ; zudem ist es ohne Zweifel eine unzu- 
verlässige Beigabe Riemer's. Der Vertauschung der beiden 
Kinder ist aber bereits im Bruchstück eine Thür oflfen 
gelassen, indem die Gattin des Lykus zu der Zeit, zu 



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102 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



welcher die dem Drama zu Grunde liegenden Ereignisse 
vor sich gehen, nicht als lebend erwähnt wird, mit ihr 
also die Wächterin fehlte, welche die Vertauschung unmög- 
lich gemacht haben würde. 

Ein andrer Einwurf gegen obige Ausbildung der im 
Bruchstück niedergelegten Keime könnte sein, dass wenn 
Elpenor Antiope's Kind ist, ja gar keine ernstere Verwick- 
lung vorliege und das so thatenschwer angelegte Stück 
als Lustspiel verlaufen müsse. Hiegegen ist jedoch zu 
erinnern, dass es ganz darauf ankommt, zu welcher Zeit 
Elpenor als Sohn der Antiope entdeckt wird; die Entwick- 
lung erhebt sich zur höchsten Tragik, wenn Elpenor in 
dem Augenblick wo er erfährt, dass Lykus es war, der 
den Gatten und den Sohn der Antiope bei Seite schaffen 
liess, diesen königlichen Mörder noch für seinen Vater 
hält; denn offenbar kann Elpenor seinem ganzen Wesen 
nach nicht zum Vatermörder werden und muss daher den 
Theil des frevelhaft voreilig geleisteten Racheschwurs, deJ 
ihn verpflichtet die Angehörigen des Mörders zu Grunde 
zu richten, zuerst an sich erfüllen und freiwilligen Tod 
erwählen. Stellt man sich nun vor, dass inzwischen Antiope 
das Geheimniss der Kindervertauschung erfahren hat und 
wonneberauscht herbeieilt, um den geÜebten Elpenor als 
ihr eignes Kind ans Herz zu drücken, dass sie aber zu 
seiner Leiche oder doch zu dem Sterbenden kommt, dass 
sich also das sündige Rachegelübde gegen sie selbst ge- 
wendet hat, so würde das eine Scene geworden sein, wie 
erschütternder und bedeutungsschwerer die Bühne wenige 
gesehen hätte. 

Im Wesentlichen entwickelt das Drama ebenso 
Cholevius (»Geschichte der deutschen Poesie nach ihren 
antiken Elementen« II, 262) und auch Scholl (»Goethe's 



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Elpenor. 103 

Briefe an Frau von Stein « II, 96. Anm. 3) nimmt wenigstens 
Elpenor als Sohn der Antiope. Diese Entwicklung erklärt 
auch, warum Goethe sich mit Abneigung von dem Stücke 
wandte: der greuelhafte, gefühlmarternde Stoff musste ihn 
bei seiner leichten Erregbarkeit geradezu aufreiben. Man 
denke nur an das, was er am 9. December 1797 an Schiller 
schrieb: »Ich kenne mich zwar selbst nicht genug um zu 
wissen, ob ich eine wahre Tragödie schreiben könnte, ich 
erschrecke aber bloss vor dem Unternehmen und bin bei- 
nahe überzeugt, dass ich mich durch den blossen Versuch 
zerstören könnte«. »Elpenor« war aber mit seiner rache- 
athmenden Antiope das Gegentheil der ihm ganz aus dem 
Herzen geschriebenen »Iphigenie«, wie überhaupt diese 
beiden Dramen als Gegenstücke betrachtet werden können; 
denn in beiden kommen nächste Verw^andte unerkannt 
zusammen, aber in dem Einen bändigt Liebe selbst die 
Wildheit, während im Andern blinder Hass selbst das 
Liebste vernichtet. 

Verbergen wollen wir uns dabei auch nicht, dass 
Goethe das unbehaglich empfundne » Vergreifen am Stoff« 
in dem verwickelten Durcheinander erkannte, welches allein 
die Katastrophe im »Elpenor« ermöglichte. Der Plan in 
seinen Bühnenstücken ist sonst ein höchst einfacher, durch- 
sichtiger, während hier ein künstlicher, räthselreicher Plan 
zu Grunde liegt , wie ihn die Spanier liebten und die altern 
französischen Dramatiker, namentlich Corneille, nachahmten. 

So wenig nun aber der Stoff im allgemeinen Goethe's 
Lebensverhältnissen entsprach, so wenig Elpenor's Lage 
Ähnhchkeiten mit der seinigen entgegenbrachte, so wird 
er es doch nimmermehr haben lassen können, bei der 
Ausführung sich aus dem Spiel zu lassen; er konnte nur 
dichten, wo er sich heimisch fühlte. 



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10^ Dram ati sche Entwürfe Goethe*s. 



Vorzugsweise ist es Elpenor's weibliche Umgebung 
und Erziehung, die auffällt und an Lebensumstände Goethe's 
erinnert. Nicht nur, dass in seiner Jugend die Mutter am 
nachdrücklichsten auf ihn einwirkte, dass er in Leipzig, 
Strassburg, Wetzlar, Frankfurt viele Herzensveriiältnisse 
eingegangen war, so machten sich auch in Weimar und 
seiner Nachbarschaft Frauen und Mädchen viel mit ihm 
und er sich mit ihnen zu schaffen; bis zur Zeit der Ent- 
stehung des »Elpenor« mögen nur genannt sein: die 
Herzoginnen Amalie und Louise von Weimar, Herzogin 
Charlotte von Gotha, die Frauen von Stein, von Bech- 
toldsheim, von Branconi, Gräfin Werthem, die Fräulein 
von Göchhausen, von Waldner, von Uten, Corona Schröter, 
Victorie Streiber. Sein eignes Wesen hatte selbst durch 
Zartheit und EmpfängUchkeit etwas WeibUches. 

Vor allen aber erkannte Goethe in der ihm damals 
am nächsten stehenden Frau von Stein seine Erzieherin 
und wie es von Elpenor in seiner Beziehung zu der noch 
für eine ihm fremd geltenden Antiope heisst (I, i) : » er 
gehört ihr nun durch Lieb' und Bildung«, so betrachtete 
sich auch Goethe als der geliebten Frau nicht allein durch 
Liebe, sondern auch durch ihren bildenden Einfluss eng 
verbunden. Er schreibt z. B. an sie am 13. März 1781: 
»Ich möchte Ihnen mein Leben, mich ganz hingeben, um 
mich aus Ihren Händen mir selbst wieder zu empfangen. 
Es ist auch schon zum Theil so mit mir«. — Sodann am 
14. Mai desselben Jahrs : » Schaffe und bilde mich so, dass 
ich Deiner werth bleibe«. — Ferner am 9. April 1782: 
»Liebste, was bin ich Dir nicht schuldig! Wenn Du mich 
auch nicht so vorzügUch liebtest, wenn Du mich auch 
nur neben anderen duldetest, so wäre ich Dir doch mein 
ganzes Dasein zu widmen verbunden; denn hätt' ich auch 



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Elpenor. 105 

ohne Dich je meinen Lieblingsirrthümern entsagen mögen?« 

— Wie hiemächst Elpenor insbesondre zur Wohlthätiglceit 
und Mittheilsamkeit erzogen ist und (I, 2) sagt: »Ich will 
ein treuer Freund sein, will theilen was mir von den Göt- 
tern wird; und wenn ich alles habe was mich freut, will 
ich gern allen andern alles geben« — oder (11, 2): »Ich 
will den Vater bitten, dass er Wein und Brod und von 
den Heerden, was er leicht entbehrt, dem Volk vertheilt« 

— ebenso gedenkt auch Goethe öfters des Einflusses der 
Stein auf seine wohlthätige Gesinnung; wie im Brief vom 
27. März 1781 : » Die Off^enheit und Ruhe meines Herzens, 
die Du mir wiedergegeben hast, sei auch für Dich allein, 
und alles Gute, .was andern und mir daraus entspringt, sei 
auch Dein. Glaub' mir: ich fühle mich ganz anders, meine 
alte Wohlthätigkeit kehrt zurück und mit ihr die Freude 
meines Lebens. Du hast mir den Genuss am Gutsthun 
gegeben, den ich ganz verloren hatte«. 

Gewissermassen mag man auch Ähnlichkeiten finden 
zwischen sonstigen Beziehungen Elpenor's zu Antiope einer- 
und Goethe's zu Frau v. Stein andrerseits. Wie Elpenor 
sich zu Antiope beim ersten Anblick wundersam hin- 
gezogen fühlt, so spricht Goethe sein uranfängliches Ge- 
fühl zur Geliebten als »Traum und Ahnung« im Gedicht 
vom 14. April 1776 aus: 

»Ach, Du warst in abgelebten Zeiten 
Meine Schwester oder meine Frau!« 

Und wie die vor dem Gesetz gültige Annahme El- 
penor's an Kindes statt das natürliche Band zwischen Mutter 
und Kind vertrat, so wünscht Goethe ein ähnliches im 
Brief vom 12. März 1781 : »Ich wollte, dass es irgend ein 
Gelübde oder Sacrament gäbe, das mich Dir auch sittlich 



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I06 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



und gesetzlich zu eigen machte.« Oder im Brief an La- 
vater aus Ostheim vor der Rhön vom Sommer 1780: 
»Auch thut der Talisman einer schönen Liebe, womit die 
Stein mein Leben würzt, sehr viel. Sie hat meine Mutter, 
Schwester und GeUebte nach und nach geerbt und es 
hat sich ein Band geflochten, wie es die Bande der Na- 
tur sind.« 

Noch lassen die Worte, mit denen das Bruchstück 
schliesst, Anklang an eine Stimmung erkennen, die zu der 
Zeit der Dichtung des »Elpenor« mitunter sich seiner be- 
meisterte; denn obgleich damals das Verhältniss zu Char- 
lotte V. Stein in seiner herrlichsten Blüthe stand, wandelte 
ihn doch oft die Furcht an, dass dieses Glück enden 
könne und wie bei Elpenor »vor den ausgebreiteten Armen 
scheitere die HoflFnung.« In solcher Stimmung schrieb er 
beispielsweise am 22. April 1781: »Gestern Nacht hatte 
ich grosse Lust, meinen Ring wie Polykrates in das Wasser 
zu werfen; denn ich summirte in der stillen Nacht meine 
Glückseligkeit und fand eine ungeheure Summe.« Am 
9. April 1782: »ich habe in einer Nacht recht bitterlich 
geweint, da ich mir vorstellte, dass ich Dich verlieren 
könnte.« 

Immerhin sind jedoch diese Beziehungen auf Goethe's 
Leben im »Elpenor« nar nebenbei laufende; die Fabel des 
Drama's muss von aussen gekommen sein. Man hat sie 
auf die Sage von Atreus und Thyestes zurückführen wollen. 
Hören wir, wie Iphigenie dieselbe im dritten Auftritt des 
ersten Acts des Goethe'schen Schauspiels erzählt und zwar 
nach der ältesten Prosabearbeitung. 

»Atreus und Thyest beherrschten nach ihres Vaters 
Tod gemeinschaftlich das Reich. Nicht lange, so entehrt 
Thyest des Bruders Bett, und Atreus, sich zu rächen, ver- 



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Elpenor. 107 

treibt ihn von dem Reich. Thyest, der tückisch lange schon 
einen Sohn des Bruders entwandt und für den seinen auf- 
erzogen hatte, schickt diesen Sohn — sein Name war 
Pleisthenes — dass er dem Atreus nach dem Leben stehe 
und seinen eigenen Vater insgeheim ermorden soihe. Es 
wurd entdeckt, und Atreus tödtet den gesandten Mörder, 
wähnend er tödtete seines Bruders Soiin. Zu spät erfährt 
er, wen er umgebracht, und an dem Bruder sich zu 
rächen, sinnt er still auf unei*hörte Thaten. Versöhnt stellt 
er sich an und lockt Thyestes mit seinen beiden Söhnen 
zurück in's Reich, ergreift die armen Knaben und schlachtet 
sie heimhch, und setzt sie ihrem Vater zur schaudervollen 
Speise vor; und da Thyest an seinem eigenen Fleische 
sich gesättigt, wirft Atreus, der EntsetzÜche, ihm Haupt 
und Füsse der Erschlagenen hin.« — Weiter berichtet die 
Sage, dass Thyestes seiner eignen Tochter Gewalt anthat, 
weil ihm das Orakel auf diesem Wege einen Rächer ver- 
heissen hatte ; ferner, dass der aus dieser Blutschande ent- 
sprungene Sohn, Aigist hos, von Atreus, der ihn nicht als Neffen 
kannte, erzogen und nachmals abgesendet wurde, Thyestes 
zu morden, sowie endlich, dass letztrer in dem Gesendeten 
seinen Sohn erkannte und diesen nunmehr seinerseits be- 
wog Atreus um's Leben zu bringen. 

Unverkennbar liegen in diesen Sagen mit »Elpenor« 
übereinstimmende Züge und wue schon auf den Gegensatz 
dieses Drama*s zur »Iphigenie« hinzuweisen w^ar, ist man 
auch versucht, in letztrer selbst den Anlass zu der ein 
Jahr darauf entworfenen Bühnendichtung zu finden. Ueber- 
einstimmend sind denn auch in der That die Verdrängung 
eines Herrschers durch seinen Bruder aus dem gemein- 
samen Reich, sowie die Verwendung der mit ihrem Ur- 
sprung unbekannten Söhne der Gewalträuber zu deren 



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Io8 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Bestrafung. Es muss zugegeben werden, dass weder in der 
Geschichte noch in der Sage ein zweites Beispiel solcher 
Brüderscheusale vorkommt und dass daher die Voraus- 
setzung im »Elpenor«, welche Lykus und Antiope*s Gatten 
Brüder sein lässt, wol der Pelopidensage entnommen sein 
wird, zumal die Äusserung Goethe's im Brief an Zelter 
vom 23. Februar 1817, dass er sich früher im Atreus'schen 
Haus eingesiedelt gehabt habe, nicht übersehen w^erden darf. 

Allein diese äussern Ähnlichkeiten zwischen »Elpenor« 
und der Erzählung von Pelops Söhnen treten bei ein- 
dringender Betrachtung vor den im WesentHchen be- 
gründeten, in den Bau und Verlauf des Drama's eingreifen- 
den Verschiedenheiten völlig zurück. 

Die griechische Sage hat im Grunde nur das Greuel- 
hafte unersättUcher Rache zum Gegenstand ; es verschwindet 
nicht nur der Abscheu vor dem ersten Anlass der Feind- 
seligkeiten geradezu gegenüber den niederträchtigsten 
Steigerungen der Rachgier bis zu den ungeheuerlichsten 
Scheusslichkeiten, sondern es erscheint auch selbst der 
Mordangriff des Pleisthenes auf den ungekannten Vater — 
der dem »Elpenor« am nächsten stehende Vorgang — 
nur als einzelnes Glied der Kette von Verbrechen, als 
blosser Zwischenfall. 

Im »Elpenor« dagegen ist dieses Begebniss das Äusserste, 
die Spitze der ganzen Handlung; hier ist nicht das Ver- 
abscheuungswürdige der Rache Gegenstand des Drama's» 
sondern ihr VerdienstUches, sofern dadurch die Bestrafung 
eines Verbrechers durch den von Natur dazu Berufenen 
herbeigeführt wird. Das ganze Drama ist eigentlich nur 
die Begründung der Rechtmässigkeit der Rache. Wenn 
auch Antiope das Bewusstsein haben mag, zur Rache 
des an ihrem Gatten verübten Mordes unnatürHcherweise 



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Elpenor. 109 

den eignen Sohn des Mörders zu verpflichten, so thut sie 
es doch nicht wie Atreus und Thyestes mit der Absicht, 
eine unnatürliche That zu veranlassen, sondern nur, weil 
sie über keinen gleich zuverlässigen Vollstrecker der Strafe 
für das ihr und den Ihrigen zugefügte Unrecht zu ge-* 
bieten hat. Und dass diese That als der Entwicklungs- 
schluss des Ganzen im »Elpenor« sich dargestellt haben 
würde, darüber lassen die Verzahnungen des dramatischen 
Bruchstücks einen Zweifel nicht aufkommen. Dasselbe 
spricht insofern das Gesetz eines höheren sittlichen Waltens 
aus, dass den Verbrecher seine Strafe gewiss ereilt, auch 
wenn für ihn schon alle Gefahr der Ahndung seiner That 
vorübergegangen zu sein scheint. Von solcher Sittlichkeit 
ist in der griechischen Sage keine Spur. 

Sollte hiernächst »Elpenor« im Weiteren so verlaufen, 
wie oben dargelegt ist und wie er nach dem was davon 
vorliegt anders schwerlich verlaufen konnte, so beruht ein 
andrer wesentlicher Unterschied zwischen Goethe's Drama 
und der Pelopidensage darin, dass der mit dem unbewussten 
Vatermord beauftragte Pleisthenes als Opfer seines Auf- 
trags fällt, ohne seinen Ursprung erfahren zu haben, wäh- 
rend Elpenor, man mag sich das Ende des Drama's aus- 
bilden wie man will, unbedingt Kunde erhalten musste, 
dass jener bisher unbekannte Brudermörder, den zu tödten 
er sich eidlich verpflichtete, derselbe Mann ist, den er für 
seinen Vater hält. Der hieraus entspringende Widerstreit 
der Pflichten ist das Ziel, auf das die Entwicklung des 
»Elpenor« zusteuert, das im ganzen Drama vorauszufühlen 
ist, sodass es durch diesen Unterschied zu etwas ganz 
andrem werden musste, als ein »Atreus und Thyestes« 
je hätte werden können. 

Ähnlicher in dieser Hinsicht ist nun allerdings dem 



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HO Dramatische Entwürfe goethe's. 



»Elpenor« der Ausgang, weihen der mit Aigisthos ge- 
plante Anschlag gegen Thyestes nimmt; allein an einem 
gewissermassen zwingenden Beweggrund für die That des 
Aigisthos, an einem Zwiespalt der Pflichten, deren eine 
ihn wie den Elpenor drängte, etwas Unnatürliches zu voll- 
bringen, gebricht es, wenn der, für welchen Rache geübt 
werden soll, noch am Leben ist und seine Sache selbst 
führen konnte, wie Atreus es gekonnt hätte. Es zeigt sich 
also auch an diesem Umstand, wie die griechische Sage im 
Gegensatz zu Goethe's Dichtung nur die Befriedigung 
massloser Rachsucht zum Gegenstande hat. 

Es wird nicht nöthig sein des Breiteren auseinander- 
zusetzen, wie diese Verschiedenheiten das Drama durch 
und durch anders hätten gestalten müssen und es mag 
nur noch darauf aufmerksam gemacht werden, dass 
nicht zu verstehen wäre, warum Goethe die Namen der 
griechischen Sage verändert haben sollte, w^enn er ^ie 
hätte darstellen wollen. 

Müssen wir demnach die Annahme abweisen, dass 
Goethe nach griechischem Vorbild »Elpenor« entwarf, so 
haben wir nach seiner Quelle weiter umher zu spähen. 
Zuvor vergegenwärtigen wir uns jedoch noch übersicht- 
lich die Motiven jenes Drama's bis zur Catastrophe, wie 
wir diese als nothwendiges Ergebniss der Entwicklung 
ermittelt haben. Dieselben sind folgende: 

zwei hochgestellte Männer berühren sich in gegen- 
seitig sich beschränkender Machtübung, 

weshalb der Eine den Andern 

sammt dessen Geschlecht zu vertilgen unternimmt ; 

vom Untergange wird aber ein noch ganz junges 
Kind gerettet, 

ohne dass der Urheber der Vertilgung davon weiss ; 



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Elpenor. III 

das gerettete Kind gelangt durch Umstände in's 
Haus des Feindes, 

der es, immer unbekannt mit dessen Abstammung, 
als eignes erzieht; 

ebenso findet der Retter des Kindes im Hause des 
Verderbers Aufnahme, 

weil dieser jenen vielmehr für seinen Mordgehülfen 
hält ; 

durch ihn wird der gerettete Sprössling später 
mit der Geschichte seines Hauses bekannt gemacht, 

nachdem er, ehe er noch weiss wie nah ihn das 
angeht, sich verpflichtet hat, des schmählich verfolgten 
Hauses Untergang zu rächen; 

er kommt durch dieses Gelöbniss in Widerstreit 
mit Kindespflicht, 

erfüllt aber die Pflicht der Rache. 
Wenn wir in den uns geläufigeren Literaturen keine 
Darstellung finden, der »Elpenor« seinen Ursprung ver- 
danken könnte, so dürfen wir unbedenklich in den fernsten 
Kreisen darnach suchen. Goethe's Neigung, sich mit den 
Erzeugnissen fremder Literaturen vertraut zu machen, 
schreibt sich aus seinen frühesten Zeiten her. Überfliegen 
wir seine hierher gehörigen Bestrebungen bis zu den 
Jahren, in denen er »Elpenor« dichtete! 

Als Knabe trieb er lateinisch, griechisch, hebräisch, 
französisch, itaUenisch und englisch. Er schrieb damals 
einen Roman in allen diesen Sprachen, nur das Hebräische 
mit Judendeutsch vertauschend. Aus der altrömischen Li- 
teratur ahmte er gleichfalls in jener frühesten Zeit die 
Komödien des Terenz nach, lernte die ersten Bücher der 
Äneide und der Metamorphosen auswendig und rechnete 
die letzteren noch als Student zu seinen Lieblingsdich- 



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112 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



tungen. Ferner bildete er sich im jugendlichen Alter nach 
der französischen Literatur: dichtete Schauspiele nach Piron 
und Lieder an eine französische Schauspielerin; machte 
sich später an eine Übersetzung von Comeille's »Le men- 
teur« und fertigte ein Epigramm auf den Einzug der Königin 
Marie Antoinette in Strassburg. Von griechischen Dichtem 
begeisterten den jungen Mann namentlich Homer, Pindar, 
Anakreon, Euripides, Äschylus, Theokrit; er übersetzte 
einzelnes von Homer, Anakreon, Pindar, Pythagoras und 
bearbeitete »Die Vögel« des Aristophanes für die Lieb- 
haberbühne des Weimarer Hofs. 

Von den neuern Dichtem stellte Goethe die englischen 
am höchsten: von Shakespeare sagte er, dass er ihm ver- 
danke, was er sei. Nächst ihm waren Swift, Steme, Gold- 
smith seine Lieblinge; nach einer Ballade des letzteren 
dichtete er »Erwin und Elmire« und übersetzte dessen 
»Deserted village«. Auch Percy's »Relics of old english poe- 
try« eignete er sich an. 

Aus Macpherson's Liedem Ossian's übersetzte er meh- 
rere, zum Theil unter Beachtung der Versform, welche 
der von Macpherson beigelieferte gälische Text aufwies. 

Von Italienem liebte er auch schon zeitig Ariost und 
Tasso, ahmte dann Gozzi nach und übersetzte Lieder. 

Nach der skandinavischen Edda liebte der junge Goethe 
Märchen zu erzählen, er dichtete einem ^dänischen Lied 
den »Erlkönig« nach und originaltreu gab er den ser- 
bischen »Klaggesang der edlen Frau des Asan-Aga« 
deutsch wieder. In den Ephemeriden seiner Studienzeit 
merkte er sich eine lettische Sprachlehre sowie Denkmale 
keltischer Poesie an. 

Von aussereuropäischen Literaturen beschäftigten ihn 
damals insbesondere die hebräische, aus der er das soge- 



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Elpenor. 113 

nannte hohe Lied Salomons übersetzte; die arabische, 
aus der er nach Maracci's lateinischer Uebersetzung einige 
Suren des Koran verdeutschte; die indische, indem er 
die in Dapper's Reisebeschreibung gefundnen Mythen zu 
Märchenerzählungen benutzte. Auch brasilianische Lied- 
chen umgab er mit deutschem Gewand. 

Und dieses Eindringen in das Bildungswesen und 
Schriftthum fremder Völker setzte Goethe auch nach der 
Mitte der achtziger Jahre fort und erN\'eiterte es zu dem 
Gedanken der Herstellung einer Weltliteratur, für welche 
vorzugsweise seine Zeitschrift Ȇber Kunst und Alter- 
thum« warb. Allen europäischen Literaturen widmete er 
seinen Eifer und an Nachdichtungen liess er es bis ans 
Ende seines Lebens nicht fehlen: nach lateinischen, grie- 
chischen, französischen, englischen, italienischen, spanischen, 
neugriechischen, irischen, tschechischen, finischen Origi- 
nalen; von seinen Forschungen über das Arabische und 
Persische zeugt der »WestöstUche Diwan«. 

Aber auch die allerentlegenste Literatur, die der Chi- 
nesen, hatte Goethe zeitlebens vor Augen. Schon in den 
Ephemeriden von 1770 hatte er sich eine lateinische Über- 
setzimg der sechs altclassischen Hauptwerke didaktischen, 
ethischen und philosophischen Inhalts vorgemerkt. 

Wiederhat er sich 1796 mehrfach mit dem Chinesischen 
beschäftigt. Besage der Briefe an Schiller vom 3., 6. und 
13. Januar jenes Jahrs ergötzte er sich an einem Religions- 
gespräch, welches der Jesuit Riccius mit einem chinesischen 
Gelehrten gepflogen hatte und nach einem Brief Schiller's 
vom 24. desselben Monats las er damals auch einen chine- 
sischen Roman, jedenfalls »Hao kiu tschuen« (Hau kiou 
Chooan or The Pleasing History, London 1761, deutsch 
von Murr, Leipzig 1766), wegen dessen Übersetzung 



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114 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Schiller 1800 und 1801 mit dem Buchhändler Unger ver- 
handelte. Auch das am 10. August 1796 an Schiller ge- 
sendete, Jean Paul treffende Epigramm »Der Chinese in 
Rom« bezeugt, dass Goethe's Gedanken damals im fernen 
Ostreich weilten. Vielleicht fällt auch in diese Zeit das 
Vorhaben, Pinto's Reisen nach Ostindien und China zu 
übersetzen, wovon Schiller ihn abbrachte, wie Riemer be- 
richtet. (»Mittheilungen über Goethe« II, 635.) 

Da Goethe in den » Tag- und Jahresheften « (Abs. 340) 
unter den erfreulichen Verhältnissen des Jahres der An- 
wesenheit Klaproth's gedenkt und denselben auch im Brief 
an Eichstädt vom 27. November 1803 als Sinologen nennt, 
so lässt sich hieraus schliessen, dass er aus des letztern 
besondrer Kenntniss der chinesischen Sprache und Literatur 
Nutzen zog. 

Bei dem Andrängen gewaltiger Weltbegebenheiten 181 3 
flüchtete sich Goethe in das schwerbewegliche Mittelreich, 
bei dessen Studium er wiederum durch den abermals in 
Weimar sich authaltenden Klaproth sehr gefördert wurde, 
wie er am 10. November an Knebel schrieb. Nach einem 
Brief an denselben Freund vom 9. October 1817 nahm 
damals das chinesische Schauspiel »Lao seng öhrl« (»Des 
Greises spätes Kind« von Wu Han Tschin) seine Theil- 
nahme in Anspruch; er Hess in dem Aufsatz Ȇber in- 
dische Dichtung« sich darüber aus. 

Das Jahr 1827 ist wiederum voll von Chinesen thum. 
Am 31. Januar setzt er Eckermann die Schönheiten des 
Romans in Versen » Hoan tsien « auseinander, den er in der 
englischen Übersetzung von Thoms, die 1824 zu Macao 
unter dem Titel » Chinese Courtship « erschienen war, den 
Remusat in den Nouveaux m^langes Asiatiques ausführlich 



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Elpenor. 115 

besprochen hatte und den nachmals, 1836, Kurz als »Das 
Blumenblatt« deutsch herausgab. Nach seinem Tagebuch 
unterhielten Goethe im Februar »Pe mei sing jung«, damals 
französisch erschienen, wol nach den »Poems to hundred 
Beauties« von 1790 bearbeitet, wodurch Goethe veranlasst 
ward, sogleich den Aufsatz »Chinesisches« zu schreiben, 
in dem er einige dieser »Gedichte hundert schöner Frauen« 
in deutschen Reimen wiedergab. Gleichfalls nach dem 
Tagebuch las er im Mai den von Remusat übersetzten 
Roman »Jukiao li« und im August dessen »Contes Chinois«, 
In ebendiesem Jahr entstanden auch die »Chinesisch- 
deutschen Jahreszeiten«. 

Im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts machte 
man sich überhaupt viel mit chinesischem Wesen zu schaffen, 
nicht bloss in Kunst und Gewerbe, sondern auch in der 
Literatur und für die Bühne. Wie Goldsmith in »The 
Citizen of the world « über europäische Verhältnisse herzog, 
so der Marquis d'Argens in den »Lettres Chinoises«; im 
Göttinger Musenalmanach für 1773 dichtete Jemand »Vou-ti 
bei Thinna's Grabe«; in China spielt Gozzi's, durch SchiUer 
uns Deutschen lieb gewordenes Märchenstück »Turandot«. 
Das chinesische Schattenspiel, in Paris beliebt, brachte Prinz 
Georg von Meiningen am Weimarischen Hof auf; in dem 
Jahr des Beginns des »Elpenor« sind uns zwei grosse 
Aufführungen von »Ombres Chinoises« bekannt: zuGoethe's 
Geburtstag am 28. August 1781 » Minervens Geburt, Leben 
und Thaten«, sowie am 24. November »Das Urtheil des 
Midas«. 

Einige grössere Werke hatten die Aufmerksamkeit auf 
die von den unsrigen so abweichenden und dennoch be- 
deutenden Bildungszustände hingelenkt. Schon 1735 war 
von du Halde in vier Bänden »Discription de la Chine«, 



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Il6 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Anfang der siebziger Jahre in fünfzehn Bänden » Memoires 
concernant Thistoire, les sciences, les arts, les moeurs, les 
usages des Chinois par les Missionaires de Pekin«, end- 
lich von 1777 bis 1783 in zwölf Bänden von Mailla de 
Grossier »Histoire generale de la Chine« erschienen. 

Insbesondre hat man in Weimar das Werk von du Halde 
genauer gekannt. Das 1781 und 1782 ausgegebene Journal 
von Tiefurt bringt zwei Erzählungen des Freiherrn von 
Seckendorff: »Der chinesische Sittenlehrer« und »Das Rad 
des Schicksals« (dessen Held Tschuang Tse von Secken- 
dorff Thoangtse und beim nachmaligen Druck der Erzäh- 
lung Thoangse genannt ist). Beide Erzählungen sind der 
zweiten Abtheilung des dritten Bandes der » Description de 
la Chine« oder der von 1747 bis 1749 herausgekommnen 
Übersetzung »Johann Baptista du Halde Ausführliche Be- 
schreibung des chinesischen Reiches etc.« entlehnt; die 
erste befindet sich dort im zweiten, die andre im dritten 
Abschnitt. 

In diesem selben Abschnitt steht aber auch ein Schau- 
spiel, dessen ganz eigenthümliche und einzigartige Erschei- 
nung ganz Europa in Aufregung versetzte. Es führt den 
Titel »Tschao shi ku öhrl ta pao tscheu«, d. h. »Des Hauses 
Tschao kleine Waise, die sich glänzend rächt«, ist im 
dreizehnten oder vierzehnten Jahrhundert von Ki Kiun 
Ziang verfasst und von Pater Primäre, jedoch mit Aus- 
lassung der schwerverständlichen Gesangstücke, ins Fran- 
zösische übertragen. Auf dieses Schauspiel gründete Me- 
tastasio »L'eroe cinese«, Murphy »The Chinese Orphan«, ein 
Student Friederichs in Göttingen » Der Chineser «, vor allen 
bekannt aber Voltaire »L'orphelin de la Chine«, bei dessen 
Herausgabe der Dichter sich ausführlich über dasselbe 
verbreitete. 



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Elpexor. 117 

Nach alle dem kann man es als eine Unmöglichkeit 
bezeichnen, dass Goethe das chinesische Stück nicht ge- 
kannt habe, und als selbstverständlich, dass es ihn durch 
seine neuen und kräftigen Motive fesselte. Vielleicht deutet 
er schon auf Beschäftigung mit diesem Schauspiel, wenn 
er im »Neuesten aus Plundersweilern« (1780) scherzt: 
das Theaierfeld erstrecke sich von London bis China. 

Mustern wir den Inhalt von »T^chao Schi-ku-öhrl« um 
zu sehen, ob Goethe etwas davon benutzt hat! 

In dem Vorspiel und den ersten drei Aufzügen wird 
vorgeführt, wie ein hoher Reichswürdenträger, Tu An Ku, 
das ihm im Weg stehende Geschlecht der Tschao durch 
allerhand Ränke vertilgt; nur ein während des Blutbads 
gebornes Kind, dessen Mutter nach der Niederkunft sich 
selbst das Leben nimmt, w^ird gerettet, aber freilich nur 
durch ein schweres Opfer des zum Hausstand gehörigen 
Arztes Tsching Ing. Ihm war das Neugebome von der 
dem Tode entgegengehenden Wittwe anvertraut worden, 
und um das Pfand treu zu bewahren, giebt er es für sein 
eignes Kind und dagegen seinen ungefähr gleichzeitig ge- 
bornen Sohn für den letzten Sprössling der Tschao aus, 
worauf jener vor den Augen des Vaters ermordet wurd. 
Tu An Ku nimmt nun zu Belohnung des vermeintlichen 
Verraths Tsching Ing und dessen angebliches Kind unter 
dem Namen Tsching Pei in sein Haus. Der wahre Name 
des Kindes, den ihm noch vor der Geburt dessen dem 
Tode schon geweihter Vater bestimmte, ist aber Tschao 
Schi-ku-öhrl, d. h. » Hauswaischen Tschao«, ein Name, 
der es an das Geschick seines Hauses und an die Pflicht, 
es zu rächen, erinnern soll. 

Der vierte und fünfte Aufzug spielen zwanzig Jahr 



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Il8 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



später. Tu An Ku hat den jungen Tschao an Kindesstatt 
angenommen, und so wie er ihm seine ganze Zuneigung 
schenkt, besitzt er auch die ganze Liebe seines PflegUngs, 
der in ihm überdies den grossen Staatsmann und Feld- 
herrn ehrt. Tsching Ing, der es als seine Aufgabe be- 
trachtet, den Sprossen der Tschao anzufeuern, die Vertilgung 
seines Geschlechts zu rächen, hat unter diesen Umständen 
kein leichtes Spiel. Er muss vorsichtig zu Werke gehn 
und geräth daher auf den Gedanken, die ganze Geschichte 
des traurigen Untergangs der Tschao zu malen und die 
Bilder in die Hände seines angeblichen Sohnes zu bringen. 
Erst auf dessen Frage erzählt er diesem den Verlauf der 
Ereignisse und als es ihm gelungen ist, denselben über 
den noch ungenannten Urheber solcher Greuel in Wuth 
zu setzen und zu dem Entschluss zu vermögen, für Be- 
strafung des schändHchen Verbrechers einzutreten, da erst 
nennt er ihm seinen Pflegevater als den Wütherich und 
den Frager als die mühsam gerettete Waise. Vor der 
tiefsten Empörung über die vernommenen Schandthaten 
und der Überzeugung der Nothwendigkeit ihrer Bestrafung 
kommen alle kindlichen Gefühle zum Schweigen: Tschao 
tritt als Ankläger gegen seinen Pflegevater auf, und im 
letzten Aufzug steht der Bösewicht vor dem Richter, der 
ihn verurtheilt. 

Während Friederichs das chinesische Schauspiel in seiner 
ganzen Ausdehnung bearbeitet hat, nahmen Metastasio und 
Voltaire nur den ersten aus Vorspiel und drei Aufzügen 
bestehenden Theil zum Vorwurf: den treuen Diener seines 
Herrn, welcher der Dienstpflicht sein eignes Kind opfert. 
Dagegen finden sich hauptsächlich im zweiten Theil alle 
die dreizehn Motive w^ieder, die oben aus »Elpenor« zu- 
sammengestellt sind. Der Hauptunterschied ist, dass El- 



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Elpenor. 119 



penor Rache für seine Pflegemutter gegen seinen wirklichen 
oder doch für den wirklichen gehaltenen Vater üben soll, 
während Tschao umgekehrt Strafe der Ermordung seines 
wirkhchen Vaters am Pflegevater sucht. In beiden Fällen 
erhebt sich jedoch der Jüngling gegen Jemand, dem er 
ebenfalls kindliche Pflichten schuldet und die Umkehrung 
dieser Verhältnisse ist nicht so einschneidend, um bei den 
vielen Uebereinstimmungen einerseits und der Sicherheit 
über Goethe's Bekanntschaft mit dem Schauspiel »Tschao 
Schi-ku-öhrl « andrerseits noch einen Zweifel gegen den 
Nachweis aufkommen zu lassen, dass »Elpenor« auf das 
chinesische Schauspiel gegründet ist. Und w^oUte man 
auch den oben entwickelten Verlauf des Goethe*schen 
Stückes nicht bis zum Schluss anerkennen, so w^ürde doch 
nur die Übereinstimmung mit dem dreizehnten Motiv 
wegfallen und sie bliebe noch immer bei zwölf. 

Um ein übriges zu thun, lassen sich aber auch noch 
äusserliche Bew^eise der Abhängigkeit des »Elpenor« vom 
»Tschao Schi-ku-öhrl« beibringen und zwar zunächst durch 
Hinweis auf einzelne Züge, die aus letzterem in ersteren 
herübergekommen sind. So hat Elpenor mit l'schao die 
Liebe zu Pferden und Waffenübungen gemein; bei Elpenor 
bricht wie bei Tschao rachebegehrender Zorn schon her- 
vor, als ihm die eigne Geschichte nur erst als eine fremde 
erzählt wird; wne Tsching im Selbstgespräch von seinem 
Geheimniss sagt: »ich bin 65 Jahr alt; sollt' ich sterben, 
wer wird's entdecken?« so Polymetis: »Entdeck' ich's 
nicht, so siegt der schändlichste Verrath ! « Beide Genannte 
schwanken beunruhigt, ehe sie einen Entschluss fassen und 
beide wollen die Entscheidung dem Zufall anheimstellen; 
denn Tsching vermag nur zu hoffen, dass Tschao nach 
der Bedeutung der, die Geschichte seines Geschlechts dar- 



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120 Dramatische Entwürfe Goethe's. 

stellenden Bilder fragen werde, und nur an diese Frage 
will er die Enthüllung der Geburt desselben knüpfen, 
andrerseits sagt Polymetis: »O gebt ein Zeichen mir, ihr 
Götter! Löst meinen Mund, verschliesst ihn — wie ihr 
wollt!« Sogar der Name des Königs Lykus scheint auf 
einer Stelle des chinesischen Schauspiels zu beruhen, indem 
die entsprechende Person, Tu An Ku, sich selbst gleich 
beim ersten Auftreten einem Tiger vergleicht, so dass 
an Stelle dieses Raubthieres nur ein anderes, der Wolf 
(Xvxog), gesetzt ist. 

Aber auch andre dem »Tschao Schi-ku-öhrl« nicht ent- 
nommene Züge sind eine Bestätigung, dass dieses Schau- 
spiel Goethe's Quelle war ; denn für Elpenor's gleichgültiges 
Verhalten gegen den nur vermeintlichen Vater sowie sein 
unwillkührUches inniges Anschliessen an die Frau, von der 
er noch nicht weiss, dass sie seine Mutter ist, fand Goethe 
gleichfalls den Vorgang in einer chinesischen Erzählung, 
welche sich in du Haiders Werk und zwar nicht nur in 
demselben III. Band, sondern auch in derselben 2. Abthei- 
lung und sogar in demselben 3. Abschnitt mit dem Trauer- 
spiel » Tschao Schi-ku-öhrl « befindet (in § 340), worin ein 
Knabe ganz ähnlich gegen seinen vermeintlichen Vater 
gleichgültig, sowie von dem noch unerkannten wirklichen 
Vater unwillkührlich angezogen sich zeigt, wie Elpenor. 

Die Veränderungen, welche Goethe an dem Urbild 
seines »Elpenor« vornahm, waren not h wendig* Zuerst 
haben die Schritte, welche Tschao unternimmt, um Tu 
An Ku's Bestrafung herbeizuführen, für unsre Anschauung 
etwas Widerliches: wir vermissen die Nöthigung zu den 
Angriffen gegen den liebenden und geliebten Pflegevater 
und würden es zwar natürlich finden, wenn er sich von 
ihm trennte, aber sittlicher, wenn er nicht dem staatlichen, 



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Elpenor. 121 

sondern einem höheren Richter dessen Strafe anheimstellte. 
Gelangte Goethe durch diese Einsicht zu der Ueberzeugung, 
dass' die Anklage als eine uns mehr einleuchtende Pflicht 
auferlegt sein müsse, so ergab sich daraus als naturgemäss, 
dass die Nöthigung zur Rache vom Verletzten, also von 
einer Person ausgehen müsse, die, wie Antiope, tiefes, 
unheilbares Weh durch die zu rächenden Unthaten er- 
litten hatte. 

Eine bemerkenswerthe Abweichung vom chinesischen 
Bühnenstück ist femer, dass eine Frau zur Trägerin der 
Rache gemacht ist. Es ist dies ein sehr feiner Zug, da 
ein wehrloses und dadurch zur Unterdrückung eines ge- 
rechten, tiefinnersten Hasses genöthigtes Weib dieses bittre 
Gefühl eher eine lange Reihe von Jahren hindurch ver- 
schlossen nähren darf, als ein Mann, der eine für geboten 
erachtete Genugthuung sich alsbald verschaffen muss, wenn 
er nicht verächtlich erscheinen soll — gar nicht zu ge- 
denken, dass Tsching Ing es noch auf den Zufall ankommen 
lässt, dass der Strafwürdige wie sein Zögling nicht früher 
starben, ehe dieser zur Rache schreiten konnte. Einen 
zweiten Hamlet zu schreiben, mochte Goethe nicht ge- 
lüsten. Vielleicht schwebte ihm bei Antiope die durch 
Behandlung der Iphigeniensage ihm nahegetretne leiden- 
schaftliche Elektra vor, die er nachmals in der »Iphigenie 
in Delphi« darstellen wollte. Möglicherweise kam er auf 
den Gedanken, dieses letztre Schauspiel zu schreiben, als 
er sich in Italien daran machen wollte, den »Elpenor« 
umzuarbeiten ; es wäre ein milderer Nachklang dieses altern 
Plans mit dem gleichen feindseligen Zusammentreffen naher ' 
Verwandten geworden. 

Eine bedeutende Änderung Goethe's ist weiter die 
Verlegung der Geschichte des Schauspiels von dem ur- 



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122 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



sprünglichen Boden nach einem Lande mit hellenischer 
Bildung. Was konnte ihm freilich China sein? Durfte 
er den Schauplatz dort lassen ohne zugleich der Denk-, 
Handlungs- und Lebensweise der Chinesen sich zu fügen? 
Das chinesische Wesen steht aber dem unsrigen in vielen 
Beziehungen so schroff gegenüber, dass es bald verwirrend, 
bald abstossend, bald lächerlich auf uns wirkt; vom Stand- 
punkt der Bühnenaufführung betrachtet, musste schon die 
chinesische Tracht unmöglich machen, durch die darein 
gekleideten Personen eine erschütternde Wirkung hervor- 
zubringen. Durch Verlegung des Vorgangs in ein Reich 
der für uns als classisch geltenden ahen Weh, brachte 
Goethe ihn an einen Ort, an dem rein menschlichen Mo- 
tiven die freieste Herrschaft gestattet war. 

EndHch war die Erhebung der vornehmsten Person 
des Schauspiels, der in Tschao Schi-ku-öhrl nur ein 
Würdenträger ist, zu einem Landesherrn nothwendig, um 
den gegenüberstehenden Rächer aus sittlich freien Bew^eg- 
gründen handeln zu lassen. So lange über den Verbrecher 
ein staatlich geordnetes Gericht stehend zu denken war, 
konnte jeder Mitwisser seiner Unthaten als Kläger ein- 
schreiten und die Mitwirkung des wirklichen oder an- 
genommnen Sohnes war überflüssig. 

Die übrigen Abweichungen des » Elpenor « von » Tschao 
Schi-ku-öhrl« waren in der Hauptsache durch die hier her- 
vorgehobenen bedingt. Weit entfernt aber, die Beziehungen 
dieser beiden Schauspiele zu einander zweifelhaft zu machen, 
dienen sie im Gegentheil dazu, dieselben zu bekräftigen. 
Erinnern wir uns der oben angeführten Stellen aus Goethe's 
Briefen an Knebel und an Schiller, dass der erste Plan 
fehlerhaft gewesen sei und er das Stück von vom an habe 
neu umarbeiten müssen, sowie dass dasselbe ein Beispiel 



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Elpeno:^. 



123 



unglaublichen Vergreifens am Stoffe sei. Es ist hieraus zu 
schÜessen, dass »Elpenor« eben deshalb zuerst fehlerhaft 
war, weil Goethe sich zu treu ans Urbild gehalten hatte. 
Indessen kam er trotz allen Änderns über den fremden, 
barbarischen Ursprung nicht hinweg, er fand, er habe sich 
am Stoffe vergriffen und unterliess daher die Vollendung. 
Wir andern haben dies aber doch zu beklagen. 




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5- Nausikaa. 




^— i'-|n der »Italienischen Reise« erzählt Goethe, dass 
er im April 1787 in Palermo im Entzücken 
über den Anblick des Meeres sich einen 
Homer gekauft und den Gesang über Ulys- 
J sens Aufenthalt auf dem Eiland der Phäaken 
gelesen habe; acht Tage später, am 16. April, versuchte 
er der Nausikaa eine dramatische Seite abzugewinnen am 
8. Mai bedachte er den Plan weiter, als eine dramatische 
Concentration der Odyssee und am 15. Mai schrieb er an 
Seidel: »Was ich machen kann wird man vielleicht aus 
einem Stück sehn , das ich auf dieser Reise erfunden und 
angefangen habe.« Goethe war damit einem Gedanken 
näher getreten , den er schon am 22. October 1786, 
an welchem Tage er [noch auf dem Übergang über die 
Apeninen begriffen war, vielleicht in Erinnerung des Aufent- 
halts in Venedig, in sein Tagebuch eingezeichnet hatte, 
nämHch: einen »Ulysses auf Phäa« — soll heissen »auf 
der Phäakeninsel« — zu dichten. Die durch Homer ge- 
gebene Anregung und die Erfahrungen, die Goethe damals 
selbst, als ein gleich Ulysses Weitgewanderter in Italien zu 



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Nausikaa. 125 



machen Gelegenheit gehabt hatte, förderten das Vorhaben 
wenigstens eine Zeit lang: Goethe setzte ein Schema auf, 
welches die Personen der einzelnen Auftritte und deren 
kurz« Inhaltsangabe enthielt, auch ging er an Ausführung 
des ersten Auftritts und einiger weitern Stellen. Doch 
blieb die Sache alsdann liegen und später, 18 14, bei Be- 
arbeitung der »Italienischen Reise«, schrieb er nur aus der 
Erinnerung darüber, aus welcher Erzählung zu entnehmen 
ist, dass Goethe nicht an Vorführung der Abenteuer des 
Ulysses dachte, auch nicht an einen geschichtÜchen Conflict, 
sondern wie in den meisten seiner Dramen an einen rein- 
menschlichen Conflict. Er berichtet aber wie folgt: 

»Der Hauptsinn war der: in der Nausikaa eine tretf- 
liche, von vielen umw^orbene Jungfrau darzustellen, die 
sich keiner Neigung bewusst, alle Freier bisher ablehnend 
behandelt, durch einen seltsamen Fremdling aber gerührt 
aus ihrem Zustand heraustritt und durch eine voreilige 
Äusserung ihrer Neigung sich compromittirt, was die Si- 
tuation vollkommen tragisch macht. Diese einfache Fabel 
sollte durch den Reichthum der subordinirten Motive und 
besonders durch das Meer- und Inselhafte der eigentüchen 
Ausführung und des besondern Tons erfreulich werden.« 

»Der erste Act begann mit dem Ballspiel. Die uner- 
wartete Bekanntschaft wird gemacht und die Bedenklich- 
keit, den Fremden nicht selbst in die Stadt zu führen, 
wird schon ein Vorbote der Neigung.« 

»Der zweite Act exponiite das Haus des Alcinous 
die Charaktere der Freier und endigte mit Eintritt des 
Ulysses.« 

»Der dritte war ganz der Bedeutsamkeit des Aben- 
teurers gewidmet, und ich hoffte in der dialogirten Er- 
zählung seiner Abenteuer, die von den verschiedenen Zu- 



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126 Dramatische Entwürfe Goethe's. 

hörern sehr verschieden aufgenommen worden , etwas 
Künstliches und Erfreuliches zu leisten. Während der Er- 
zählung erhöhen sich die Leidenschaften, und der lebhafte 
Antheil Nausikaa's an dem Fremdling wird durch Wirkung 
und Gegenwirkung endUch her\^orgeschlagen.« 

»Im vierten Acte bethätigt Ulysses ausser der Scene 
seine Tapferkeit, indessen die Frauen zurückbleiben und 
der Neigung, der Hoffnung und allen zarten Gefühlen 
Raum lassen. Bei den grossen Vortheilen, welche der 
Fremdling davon trägt, hält sich Nausikaa noch weniger 
zusammen und compromittirt sich unwiderruflich mit ihren 
Landsleuten. Ulyss, der halb schuldig, halb unschuldig 
dieses alles veranlasst, muss sich zuletzt als einen schei- 
denden erklären, und so bleibt dem guten Mädchen nichts 
übrig, als im fünften Acte den Tod zu suchen.« 

Als Boisser^e sich von dieser Erzählung in der »Italieni- 
schen Reise« innigst gerührt bekannte, antwortete ihm 
Goethe am 4. December 1817: »es betrübt mich aufs neue, 
dass ich die Arbeit damals nicht verfolgt. Ich brauche Ihnen 
nicht zu sagen, welche rührende, herzergreifende Motive in 
dem Stoff liegen, die, wenn ich sie, wie ich in »Iphigenie«, 
besonders aber in »Tasso« that, bis in die feinsten Ge- 
fässe verfolgt hätte, gewiss wirksam geblieben wären.« 

Während Goethe uns beim »Mahommed« zu bewundem 
gab, wie treu ihm sein Gedächtniss geblieben w^ar, sodass 
seine Erzählung des Plans mit den erst später wieder zu 
Tag gekommenen Bruchstücken der Ausführung genau in 
Einklang stand, lässt sich das Gleiche bei »Nausikaa« nicht 
rühmen; sei es, dass hier die Erfahrung des festeren Haf- 
tens jugendlicher Eindrücke sich bewährt, sei es, dass 
Goethe nach Niederschreibung des Schema's und einzelner 
ausgeführter Stellen der »Nausikaa« sich noch länger mit 



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Nausikaa. 127 



dem Plane des Trauerspiels getragen hat und nun der in 
der »Italienischen Reise« mitgetheilte Plan dessen letzte 
Gestaltung wiedergiebt. So ist namentlich die dialogirte 
Erzählung der Abenteuer des Ulysses von verschiedenen 
Zuhörern, worauf im Plane besonders Gewicht gelegt ist, 
im Schema gar nicht aufgeführt, am allerwenigsten passte 
sie in dessen dritten Aufzug, in den sie der Plan verlegt; 
dagegen ist umgekehrt der Inhalt dieses dritten Aufzugs 
im Plane nicht erwähnt. Die Freier, die nach diesem im 
zweiten und wol auch im dritten Aufzug eine Rolle spielen 
sollten, fehlen im Schema ganz. Der erste und der vierte 
Aufzug des Plans und des Schema's stimmen jedoch gut 
zusammen und dieser Umstand spricht ebenfalls dafür, 
dass der Plan den Umriss einer weiter fortgeschrittenen 
Dichtung wiedergiebt, als das Schema nebst Bruchstücken. 
Dieser frühere Entwurf schloss mehr sich an Homer an, 
das tragische Motiv der werbenden und abgewiesenen 
Freier — die Homer nur beiläufig erwähnt (Od. VI. 34 f. 
283 ff.) — erfand Goethe sonach erst später. Hiernach 
empfiehlt es sich jedoch nicht, wie bei »Mahommed« ge- 
schehen, in eine Zusammenfassung der zusammengehörigen 
Stücke des Dramenentwurfs den Plan mit einzubegreifen, 
vielmehr werden nur in jedem Auftritt das handelnde Per- 
sonal mit der Inhaltsangabe und ferner hiermit die vor- 
handenen Stellen der Ausführung zu vereinigen sein. 

Bei Einreihung der letzteren können wir uns freilich 
einiger Willkühr nicht entschlagen; es ist geboten alle 
Stellen unterzubringen, aber, wohin sie gehören, ist zum 
Theil nur zu vermuthen. Bei einigen Stellen fehlt noch 
dazu die Angabe des Sprechenden und in diesen Fällen 
wird in der nachstehenden Zusammenfassung der Name 
desselben in eckige Klammern eingeschlossen sein. 



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128 Dramatische Ent^^ürfe Goethe's. 



Das Schema enthält aber auch Widersprüche theils in 
sich, theils mit den ausgeführten Stellen. 

Merkwürdigerweise kommt im ganzen Schema, sowie 
in dem ausgeführten ersten Auftritt der Name Nausikaa 
gar nicht vor und ist statt dessen, wie man leicht erkennt, 
stets Arete gesetzt, wie bei Homer deren Mutter heisst. 
Nur in den Bruchstücken zu Ausführung des dritten Auf- 
tritts steht richtig: Nausikaa. Es ist dies um so auffälliger, 
als gleich im ersten aus Sicilien nach Hause geschriebenen 
Brief, in welchem die Beschäftigung mit diesem Drama 
sich erwähnt findet, dasselbe »Nausikaa« benannt ist. Da- 
fern dieser Name nicht etwa erst bei der Redaktion der 
»Italienischen Reise« hineingekommen ist, müsste man 
annehmen, dass Schema und erster Auftritt zwischen dem 
7. April — an welchem Tage Goethe den Homer kaufte 
und dessen Gesänge über Ulyssens Aufenthalt bei den 
Phäaken las — und dem 16. April — an welchem Tage er 
das weitere Durchdenken des Plans der »Nausikaa« anführt 
— geschrieben worden sind und Goethe erst nach der Nieder- 
schrift die Namensverwechslung gewahr wurde. Noch über- 
raschender ist, dass im Schema Arete einmal richtig als 
Mutter der Nausikaa steht und zwar in der Inhaltsangabe 
des vierten Auftritts des fünften Aufzugs. Ob die unter dem 
Personal dieses Aufzugs im ersten Auftritt genannte Arete 
Mutter oder Tochter sein soll, kann in Zweifel gestellt 
werden, muthmasslich ist aber Nausikaa gemeint, die 
ausserdem im fünften Aufzug gar nicht auftreten w^ürde, 
was undenkbar ist. Im vierten Aufzug sollte, nach dem 
Personal zu schliessen, Arete, die Mutter, nur von Al- 
kinous als die Tochter dem Ulysses verweigernd erwähnt 
werden. 

Es kommen aber im Schema und in den Bruchstücken 



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Nausikaa. 129 

der Ausführung noch andere Namensvertauschungen und 
Unklarheiten bezügHch der Namen vor. 

Im Schema nimmt ein Frauenzimmer Namens Xanthe 
keine unbedeutende Stelle ein. Wer ist damit gemeint? 
Bei Homer's Phäaken kommt der Name gar nicht vor. 
Im Schema ist sie mit Nausikaa zur grossen Wäsche an 
den Fluss gezogen; dann sucht sie mit ihr Kleider und 
Geschenke für Ulysses aus ; bei der Katastrophe des letzten 
Aufzugs tritt sie wiederholt ohne Nausikaa auf. Ist aus 
diesen Angaben nicht zu entnehmen, in welchem Verhält- 
niss Xanthe zu Nausikaa steht, so ist dagegen bei den 
Bruchstücken des dritten Auftritts, dessen Personal im 
Schema »Arete. Xanthe« angegeben ist, durch »Nausikaa. 
Eurymedusa« berichtigt. Eurymedusa nennt aber Homer 
(Od. Vn., 8 ff.) die Kammerfrau der Nausikaa, vordem 
ihre Pflegerin. Es waltet kein Bedenken ob, Xanthe allent- 
halben durch Eurymedusa zu ersetzen, für die Goethe sich 
zuletzt entschieden hat. 

Femer giebt's da eine Tyche, die im ersten Auftritt 
die flinkste aller ballspielenden Mädchen ist, während in 
einem der Bruchstücke auf die Frage: 

Du hältst ihn doch für jung? sprich, Tyche, sprich! 

die Antwort erfolgt: 

Er ist wol jung genug; denn ich bin alt etc. 

Anzunehmen, dass auf die an die jugendliche Tyche 
gerichtete Frage eine dritte Person antworte, wäre zu 
w^underlich, als dass man einen Augenblick bei dem Ge- 
danken verweilen dürfte, vielmehr ist auch hier unstreitig 
der Name Tyche von Goethe wiederholt worden, ohne 
dass er sich erinnerte, wen er früher Tyche genannt hatte, 
unter der man sich im ersten Auftritte etwa die von 

9 



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130 Dramatische Entwürfe Goethe's. 

Homer ohne Namen angeführte gleichalterige Freundin 
Nausikaa's, die Tochter des Dymas denken mag, welche 
jener im Traum erschien und sich erbot, sie zur Wäsche 
an den Fluss zu begleiten. (Od. VI., 22 — ^40.) Dagegen 
ist Eurymedusa ein älteres Frauenzimmer, was sich nicht 
allein daraus ergiebt, dass sie Nausikaa aufzog, sondern 
auch daraus, dass Ulysses im zweiten Auftritt Nausikaa's 
Begleiterin ein »bejahrtes Weib« und sie selbst im dritten 
Auftritt die ballspielenden Jungfrauen »Kinder« nennt. 
Endlich kommt Tyche beim Personal des dritten Aufzugs 
gar nicht vor. Will man daher Ungleichheiten ausmerzen 
und darf man nicht wagen, den ersten obiger Verse zu 
ändern, etwa in 

Du hältst ihn doch für jung, Eurymedusa? 
so bleibt nichts übrig, als ihn zu beschneiden in 

Du hältst ihn doch für jung? Sprich! 

Endlich ist im Schema selbst eine Ungleichheit da- 
durch vorhanden, dass darin als Personen des zweiten 
Auftritts im dritten Aufzug Arete, Xanthe und Nereus 
aufgeführt sind, während in der Inhaltsangabe die Stelle 
vorkommt »Scherz des Bruders«, welcher letztere, da kein 
anderer Mann auf der Bühne sich befindet, eben nur Ne- 
reus sein kann. Ebenso sind als Personen des vierten Auf- 
tritts im zweiten Aufzug genannt: Alkinous, Sohn, Arete 
und Ulysses ; im folgenden Auftritt aber : Ulysses und Ne- 
reus. Es liegt auf der Hand, dass nicht am Ende des 
vierten Auftritts drei Personen — Alkinous, Sohn und 
Arete — abziehen können, um einer neu eintretenden — 
Nereus — Platz zu machen, vielmehr entfernen sich offen- 
bar nur Alkinous und Arete, indess Ulyss und der Sohn 
Nereus zurückbleiben. Homer nennt allerdings keinen der 



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Nausikaa. 131 



Söhne des Alkinous Nereus, vielmehr die beiden verhei- 
ratheten gar nicht, die drei unverheiratheten aber Laoda- 
mas, Halios und Klytoneos (Od. VII, iio. VIII, 117 ff. 
123. 130. 132 — 157. 207 ff.). — In Nereus einen Freier 
zu finden, daran gebricht es im Rahmen des Schema's 
schlechterdings an irgendwelchem Anhalt und selbst keine 
der in der Erzählung des Plans den Freiem zugedachten 
Situationen lässt sich auf Nereus anwenden. 

Wenn es nun aber bei nachstehendem Abdruck ange- 
messen erschien, die Namen, so wie sie Goethe schrieb, 
wiederzugeben, so konnten die vorstehender Darlegung 
entsprechend berichtigten Namen ebenfalls nur in eckigen 
Klammern beigefügt werden. Dies geschah ferner auch mit 
Personennamen, die bei Goethe ganz fehlen. 

In derselben Weise endUch sind Ergänzungen im Per- 
sonal des fünften Aufzugs einzuschalten gewesen. Wenn 
nämlich dort im dritten Auftritt nur Xanthe-Eurymedusa und 
im fünften Auftritt nur ein Bote aufgeführt sind, so muss 
beidemal »Vorige« ausgefallen sein; denn es ist schlechthin 
undenkbar, dass — wie ausserdem der Fall wäre — Alkinous 
und Ulyss dreimal zusammen auf die Bühne kämen um 
zweimal wieder zusammen abzutreten und um einer ein- 
zelnen an ihrer Stelle eintretenden Person Platz zu machen. 
Und was soll denn ein »Bote«, wenn er Niemand findet, 
seine Botschaft anzuhören? Ein Chor, dem er sie vortragen 
könnte, wie bei der antiken Tragödie, ist ja nicht vorhanden. 

Die Stellen der Odyssee, aufweiche sich einzelne Auftritte 
oder ausgeführte Verse beziehen, sind unterm Text beigefügt. 

Das Personenverzeichniss, das hier voransteht, beruht 
auf den eben entwickelten Anschauungen; in Goethe's 
nachgelassenen Werken fehlt es, ebenso auch die Angabe 
des Schauplatzes. 

9* 



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132 Dramatische Entwürfe Goethe\s. 



N A U S I K A A. 

Ein Trauerspiel. 
PERSONEN. 

Alkinous, König der Phäaken. 

Nausikaa, seine Tochter. 

Nereus, sein Sohn. 

Ulysses. 

Eurymedusa, Kammerfrau der Nausikaa. 

Tyche, erste 1 

Zweite Jungfrau. 

Dritte I 

Echeneas und die andern 

Ältesten der Phäaken. 

Bote. 

Der Schauplatz ist im ersten Aufzug avi Ufer des 
Flusses, nah am Meeresstrand ; im zweiten im Garten des 
Alkinous ; in den anderen Aufzügen in der Burg des Alkinous, 

Erster Aufzug. 
Erster Auftritt. 

Mädchen. (Ballspiel). ♦) 

Aretens [Nausikaa's ] Jungfrauen eine schnell nach 
der andern. 

Erste [Tyche] (suchend). 
Nach dieser Seite flog der Ball! — Er liegt 
Hier an der Erde. Schnell fass' ich ihn auf 
Und stecke mich in das Gebüsche! Still! 
(Sie verbirgt sich,) 

•) Odyssee VI, iijff. 



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Nausikaa. 133 



Zweite. 
Du hast ihn fallen sehn? 

Dritte. 

Gewiss! Er fiel 
Gleich hinter dies Gesträuch im Bogen nieder. 

Zweite. 
Ich seh' ihn nicht! 

Dritte. 

Noch ich! 

Zweite. 

Mir schien, es lief 
Uns Tyche schon, die schnelle, weit voraus. 

Erste [Tyche]. 
(Aus dem Gebüsch, zugleich rufend und werfend,) 
Er kommt! Er trifft! 

Zweite. 
Ai! 

Dritte. 
Ai! 

Erste [Tyche] (hervortretend). 

Erschreckt Ihr so 
Vor einer Freundin.^ Nehmt vor Amor's Pfeilen 
Euch in Acht: sie treffen unversehener, 
Als dieser Ball. 

Zweite (den Ball aufraffend). 
Er soll, er soll zur Strafe 
Dir um die Schultern fliegen. 



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134 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Erste [Tyche] (laufend). 

Werft! Ich bin schon weit. 

Dritte. 

Nach ihr! Nach ihr! 

Zweite (wirft). 

Er reicht sie kaum; er springt 
Ihr von der Erde nur vergebens nach. 
Komm mit! Geschwind! Dass wir des Spiels so lang* 
Als möglich ist, geniessen, frei für uns 
Nach allem Willen scherzen; denn ich fürchte 
Bald eilt die Fürstin nach der Stadt zurück. 
Sie ist seit diesem heitern Frühlingsabend 
Nachdenklicher als sonst, und freut sich nicht 
Mit uns zu lachen und zu spielen, wie 
Sie sonst gewohnt war. Komm! Sie rufen schon.*) 

Zweiler Auftritt. 

Ulysses (aus der Hohle tretend; allein),**^ 

Was rufen mich für Stimmen aus dem Schlaf? 
Wie ein Geschrei, ein laut Geschrei der Frauen 
Erklang mir durch die Dämmrung des Erwachens. 
Hier seh' ich niemand. Scherzen durch's Gebüsch 
Die Nymphen? Oder ahmt der frische Wind, 
Durch's hohe Rohr des Flusses sich bewegend. 
Zu meiner Qual die Menschenstimmen nach? 
Wo bin ich hingekommen? Welchem Lande 



•) Od. VI, 1X0. 

•) Od. VI, 1x9-147. 



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Nausikaa. 135 



Trug mich der Zorn des Wellengottes zu? 
Ist*s leer von Menschen, wehe mir Verlassnen! 
Wo will ich Speise finden, Kleid und Waffe? 
Ist es bewohnt von rohen, ungezähmten. 
Dann wehe doppelt mir! Dann übt auf's neue 
Gefahr und Sorge dringend Geist und Hände. 
O Noth! Bedürfniss, o! Ihr strengen Schwestern, 
Ihr haltet, eng begleitend, mich gefangen. 
So kehr ich von der zehenjähr'gen Mühe 
Des wohlvollbrachten Krieges wieder heim. 
Der Städtebändiger, der Sinnbezwinger, 
Der Bettgenoss unsterblich schöner Frauen. 
In*s Meer versanken die erworbnen Schätze, 
Und ach! die besten Schätze, die Gefährten, 
Erprobte Männer, in Gefahr und Mühe 
An meiner Seite lebenslang gebildet. 
Verschlungen hat der tausendfache Rachen 
Des Meeres die Geliebten, und allein. 
Nackt und bedürftig jeder kleinen Hülfe 
Erheb* ich mich auf unbekanntem Boden 
Vom ungemessnen Schlaf Ich irrte nicht: 
Ich höre das Geschwätz vergnügter Mädchen. 
O dass sie freundHch mir und zarten Herzens 
Dem Vielgeplagten doch begegnen möchten, 
Wie sie mich einst, den Glücklichen, empfingen! 
Ich sehe recht: die schönste Heldentochter 
Kommt hier begleitet von bejahrtem Weibe, 
Den Sand des Ufers meidend, nach dem Haine. 
Verberg* ich mich so lange bis die Zeit, 
Die schickUche, dem klugen Sinn erscheint! 



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136 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Dritter Auftritt. 
Nausikaa. Eurymedusa. 

(Xanthe [Eurymedusa] : Frühling neu. Arete [Nausikaa] : 
Bekenntniss. Bräutigamszeit. Vater. Mutter.) 

Nausikaa. 
Lass sie nur immer scherzen; denn sie haben 
Schnell ihr Geschäft verrichtet. Unter Schwätzen 
Und Lachen spülte frisch und leicht die Welle 
Die schönen Kleider rein. Die hohe Sonne, 
Die allen hilft, vollendete gar leicht 
Das Tagewerk. Gefaltet sind die Schleier, 
Die langen Kleider, deren Weib und Mann 
Sich immer, reinlich wechselnd, gern erfreut. 
Die Körbe sind geschlossen; leicht und sanft 
Bringt der bepackte Wagen uns zur Stadt. 

Eurymedusa. 

Ich gönne gern den Kindern ihre Lust, 

Und was Du willst geschieht. Ich sah Dich still 

Beiseit' am Flusse gehen, keinen Theil 

Am Spiele nehmen, nur gefällig ernst 

Zu dulden mehr als Dich zu freuen. Darf 

Ich — — — 

Nausikaa. 

Gesteh' ich Dir, geÜebte Herzensfreundin, 
Warum ich heut so früh in Deine Kammer 
Getreten bin, warum ich diesen Tag 
So schön gefunden, unser weibliches 
Geschäft so sehr beschleunigt, Ross und Wagen 



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Nausikaa. 137 



Von meinem Vater dringend mir erbeten,*) 
Warum ich jetzt auch still und sinnend wandle, 
So wirst Du lächeln, dass mich hat ein Traum, 
Ein Traum verführt, der einem Wunsche gleicht. 

Eurymedusa. 
Erzähle mir! Denn alle sind nicht leer 
Und ohne Sinn, die flüchtigen Gefährten 
Der Nacht. Bedeutend find' ich stets 
Die sanften Träume, die der Morgen uns 
Um's Haupt bewegt. 

Nausikaa. 

So war der meine. Spät 
Noch wacht' ich; denn mich hielt das Sausen 
Des Ungeheuern Sturms nach Mitternacht 
Noch munter. — — — — — — 

— — — — — Schilt die Thräne nicht. 
Die mir vom Auge fliesst. 

Dann schweigen sie und sehn einander an. 

— Und wie' der arme letzte Brand 
Von grosser Herdesglut mit Asche 

Des Abends überdeckt wird, dass er Morgens 

Dem Hause Feuer gebe, lag 

In Blättern eingescharrt — — ***) 

[Eurymedusa.] 
Ein gottgesendet Übel sieht der Mensch, 
Der klügste nicht voraus und wendet's nicht 
Vom Hause. 



•) Od. VI, $7-65. - ••) OJ. VI, 2J-40. - •") Od. V. 481-491. 



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138 Dramatische Entwürfe Goethe's. 

Vierter Auftrat. 
Die Vorigen. Ulysses. 

(Gärten des Vaters* Erstes Bedürfniss: Kleid, Hunger, 
Durst.**) 

Nausikaa. 
— — Du bist nicht von den trüglichen. 
Wie viele Fremde kommen, die sich rühmen 
Und glatte Worte sprechen, wo der Hörer 
Nichts Falsches ahnet und zuletzt betrogen 
Sie unvermuthet wieder scheiden sieht. 
Du bist ein Mann, ein zuverlässiger Mann, 
Sinn und Zusammenhang hat Deine Rede; schön 
Wie eines Dichters Lied tönt sie dem Ohr 
Und füllt das Herz, und reisst es mit sich fort.***) 

In meines Vaters Garten soll die Erde 

Dich umgetriebnen, vielgeplagten Mann 

Zum freundlichsten empfangen. — — 

Das schönste Feld hat er sein ganzes Leben 

Bepflanzt, gepflügt und erntet nun im Alter 

Des Fleisses Lohn, ein tägliches Vergnügen. 

Dort dringen neben Früchten wieder Blüthen, 

Und Frucht auf Früchte wechseln durch das Jahr: 

Die Pomeranze, die Citrone steht 

Im dunklen Laube und die Feige folgt 

Der Feige. Reich beschützt ist rings umher 

Mit Aloe und Stachelfeigen — — , 

Dass die verwegne Ziege nicht genäschig 



•) Od. VI, 292 ff. vii, 112-1J1. — ••) oa. VI, 178 f. 19a f. 208 f. 214-228. 

246— 2S0. — •••) Od. VI, 187. 240—24}. 



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Nausikaa. 139 



Dort wirst Du in dem schönen Lande wandeln, 
Im Winter Wohlgeruch von Blumen Dich erfreun. 
Es rieselt neben Dir der Bach, geleitet 
Von Stamm zu Stamm; der Gärtner tränket sie 
Nach seinem Willen. — — — 

Ein weisser Glanz ruht über Land und Meer, 
Und duftend schwebt der Aether ohne Wolken. 

Und nur die höchsten Nymphen des Gebirgs 
Erfreuen sich des leicht gefallnen Schnees 
Auf kurze Zeit. 

Fünfler AtifträL 

Ulysses. 
(Vorsicht seines Betragens. Unverheirathet.*) 

Ulysses. 
Zuerst verberg' ich meinen Namen; denn 
Vielleicht ist noch mein Name nicht — — 
— — und dann kUngt der Name 
Ulysses wie der Name jedes Knechts. 



Zweiter Aufzug. 

Erster Auftritt. 

Alkinous. 
(Früchte vom Sturm heruntergeworfen, Blumen zer- 
stört. Latten zu befestigen. Sohn. Tochter.) 



•) Od. VII, 208-218. 



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140 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Ztueiler Auftritt. 
Alkinous. Nereus. 
(Sohn: Geschichte. Beschreibung des Sturms. Abfahrt. 
Delphinen etc.) 

Dritter Auftritt. 
Die Vorigen. Arete [Nausikaa]. 
(Tochter: Wäsche selbst für den Vater bereitet. Sie 
erblickt Ulyssen.) 

Vierter Auftritt. 
Die Vorigen. Ulysses. 
(Ulysses als Gefährte des Ulysses. Aufnahme. Bitte 
der Heimfahrt.* Bereitung des Nöthigen.) 

Fünfter Auftritt. 
Ulysses. Nereus. 
(Nereus : Frage nach seinem Schicksale. ** Bitte, seinen 
Gefährten zu helfen. Gegensatz des Mannes, der mit Ge- 
walt, der mit Schätzen kommt.) 

Dritter Aufzug. 

Erster Auftritt. 

Arete [Nausikaa]. Xante [Eu rymedusa]. 
Aussuchen der Kleider und Geschenke. Lob des Ulysses. 
Eröffnung der Leidenschaft. 

[Nausikaa.] 
Du hältst ihn doch für jung? sprich! 

♦) Od. VII, ijif. - ••) OJ. VII, a57flr. VIII, $48-586. IX, etc. 



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Nausikaa. 141 



[ Eurymedusa.] 
Er ist wol jung genug; denn ich bin alt, 
Und immer ist der Mann ein junger Mann, 
Der einem jungen Weibe wolgefälit. 

Zweiter Auftritt. 

Die Vorigen. Nereus. 

(Nereus' Lob des Ulysses. Männliches Betragen.) 

[Nereus.] 
Der Mann, der einen ihm vertrauten Schatz 
Vergraben — — — hatte der 
Die Lust, die jener hat, der ihn dem Meer 
Mit Klugheit anvertraut und — — 
Zehnfach beglückt nach seinem Hause kehrt? 
(Wille des Vaters, dass ihm Kleider und Geschenke 
gegeben werden.* Scherz des Bruders.) 

[Nereus.] 
Du giebst ihm gern den besten, merk' ich wol! 
(Abscliied des Ulysses.) 

Dritter Auftritt, 
Arete [Nausikaa]. 
(Und er soll scheiden.**) 

Vierter Auftritt. 
Ulysses. Arete [Nausikaa]. 
(Frage: unverheirathet ? Die schöne Gefangene. Er 
lobt ihr Land und schilt seines. Sie giebt ihm zu ver- 
stehen, dass er bleiben kann.***) 



•) Od. VIII, 389-395. - ••) Od. VIII, 461 f. - •••) Od. VI, 240-14$. 



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142 Dramatische Entwürfe Goethe*s. 



Fünfter Auftritt. 
Arete [Nausikaa]. 

Vierter Aufzug. 

Erster Auftritt. 
Alkinous. Die Ältesten. 

Zweiter Auftritt. 
Die Vorigen. Sohn [Nereus]. 

Dritter Auftritt. ^ 
Die Vorigen. Arete [Nausikaa]. 

Vierter Auftritt. 
Die Vorigen. Ulysses. 

Fünfter Aufzug. 

Erster Auftritt. 
Arete [Nausikaa]. 

Zweiter Auftritt. 
Alkinous. Ulysses. Sohn [Nereus]. 

Dritter Auftritt. 
[Die Vorigen]. Xanthe [Eurymedusa]. 



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Nausikaa. 143 



Vierter Auftritt. 

Alkinous. Ulysses. 

(Scheiden. Dank. Tochter lässt sich nicht sehen. Scham. 

Er soll sie nicht falsch beurtheilen. Es sei sein eigen Werk. 

Ulysses: Vorwurf; er will nicht so scheiden. Trägt seinen 

Sohn an.* Arete [Alkinous] will die Tochter nicht geben.) 

Alkinous. 
O theurer Mann! welch einen Schmerz erregt 
Das edle Wort in meinem Busen! So 
Soll jener Tag denn kommen, der mich einst 
Von meiner Tochter trennen wird. Vor dem Tag 
Des Todes lassen soll ich sie — — 
Und senden in ein fernes Land sie, die 
Zu Haus so wol gepflegt? — — 

(Ulysses' Überredung. Alkinous will gleich. Ulysses 
will seinen Sohn bringen; sie sollen sich wählen. Alkinous: 
Hochzeittag; Ausstattung.) 

Alkinous. 
So werde jener Tag, der wieder Dich 
Mit Deinem Sohn zurück zum Feste bringt, 
Der feierlichste Tag des Lebens mir! 



Fünfter Aujtritt, 
[Die Vorigen]. Bote. 



*) Die nachbomerische Sflge Hess Nausikaa Telemach's Gattin werden. 
**) Es ist vermnthet worden, der Bote bringe die Nacbricht von Nausikaa's Tod. 
Daran ist aber gar nicht zu denken. Es wäre ganz unerklärlich, wie naeh der Kaustrophe, 
die mit Nausikaa's Tod eintritt, noch vier Auftritte folgen könnten und welchen Sinn dann 
noch das Hereintragen ihrer Leiche haben sollte. Der Bote kann lediglich Mittheilnngen 
überbracht haben, die Nausikaa's Absicht, sich das Lehen zu nehmen, erkennen Hessen, aber 
erst ihre Leiche gab die Gewissheit. 



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144 



Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Sechster Auftritt. 
Alkinous. Ulysses. 

Siebenter Auftritt. 
Xanthe [Eurymedusa]. 

Achter Auftritt. 
Die Vorigen. Sohn [Nereus| 

Neunter Auftritt. 
Die Vorigen. Die Leiche. 




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6. Der Zauberflöte zweiter Theil. 




^enn Schikaneder's Buch zur »Zauberflöte« als 
Ausbund von Unsinn verschrieen war und 
ist, so giebt die ganz elende Sprache und 
Versbildung ein Recht dazu; wenn man aber 
die Verurtheilung ohne Weiteres auch auf 
den Grundgedanken des Singspiels erstreckte, so erschien 
es schon seltsam, dass Mozart sich für eine schlechthin 
nichtige Dichtung zu seinem Tonwerk begeistert gefühlt 
haben sollte; noch rathloser aber steht dieses Urtheil vor 
der Thatsache, dass Goethe sich zu einer Fortsetzung der 
»Zauberflöte« entschloss und sich jahrelang mit der Aus- 
führung trug. Die Vermuthung lag nahe, dass man es 
hier mit einem Geheimniss zu thun habe, zu dessen Lö- 
sung das Märchen »Lulu oder die Zauberflöte« in Wie- 
land*s » Dschinnistan « kaum einen Anhalt bieten konnte, 
da es nur entfernte Berührungspunkte mit Schikaneder's 
Buch bietet. Man rieth auf eine versteckte Verklärung der 
französischen Revolution und andere Staatsverhältnisse, rich- 
tiger aber auf Geheimnisse der Freimaurerei, worauf auch 
Strehlke in der Vorbemerkung zur Goethe'schen Fort- 



10 



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146 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Setzung in Hempers Ausgabe von Goethe*s Werken (IX., 
263 f.) hindeutet. Einen ausführlichen Nachweis über diese 
maurerischen Beziehungen giebt aber die Schrift »Die 
Zauberflöte. Texterläuterungen für alle Verehrer Mozart's. 
Leipzig, Lissner 1866.« 

Nach derselben stellt dieses Tonschauspiel die Schick- 
sale der Freimaurerei in Oesterreich dar, wo Maria Theresia 
sie, durch die katholische Geistlichkeit aufgestacheh, ver- 
folgte, w^ährend Joseph ihr ein Schützer zu werden ver- 
sprach. Unter dem Heihgthum der Isis und des Osiris 
würde darnach die Freimaurerei, unter Sarastro wol Ignaz 
von Born, Meister vom Stuhl der Loge » Zur w^ahren Ein- 
tracht« und Seele des oesterreichischen Freimaurerthums, 
unter der Königin der Nacht die Kaiserin, unter Mono- 
statos die Clerisei und das Mönchsthum, unter Tamino 
Joseph II. und unter Pamina die oesterreichische Nation 
zu verstehen sein. Der Schlussreim bringt die maurerische 
Dreiheit zum Ausdruck: 

Es siegte die Stärke und krönet zum Lohn 

Die Schönheit und Weisheit mit ewuger Krön*. 

Jedenfalls w^ar die richtige Deutung der »Zauberflöte«, 
auf die schon manche maurerische Anspielungen hinführ- 
ten, unter den Logen verbreitet, und hatte daher auch 
Goethe, seit 1780 Maurer, Gelegenheit gehabt, davon zu 
erfahren. Die Oper wurde am 16. Januar 1794 in Weimar 
zum ersten Male aufgeführt, wozu Vulpius den Text durch 
Bearbeitung zu verbessern gesucht hatte, und so war sie 
Goethe'n näher gerückt. Derselbe spielt wiederholt auf 
die von ihm erkannten Geheimnisse des Buches an; so in 
dem Gespräche mit Eckermann vom 13. April 1823, indem 
er äusserte, dass allerdings Schikaneder's Operntext voller 



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Der Zauberflöte zweiter Theil. 147 



UnWahrscheinlichkeiten und Spässe sei, die nicht jeder 
zurechtzulegen und zu würdigen wusse; femer am 29. Ja- 
nuar 1827, dass dem Eingeweihten — ein für Freimaurer 
üblicher Ausdruck — der höhere Sinn der Erscheinung 
nicht entgehen werde; wenn er endlich sich aussprach: 
es gehöre mehr Bildung dazu, den Werth dieses Opern- 
buches zu erkennen, als ihn abzuleugnen. 

Gründe, welche Goethe zu Ausführung eines zw^eiten 
Theils bewogen, gab es jedenfalls mehrere. Zunächst w^ar 
es gewiss eine Forderung seiner Dichternatur, den weit- 
greifenden Gehalt des Freimaurerthums in der ihm beson- 
ders zusagenden Kunstform des Drama's zu verarbeiten; 
sodann war die jammervolle Arbeit Schikaneder's umsomehr 
eine Lockung, dem bedeutenden Stoff eine entsprechende 
Gestalt zu verleihen, als der Genannte eben erst, 1795, 
der »Zauberflöte« eine ebenso elende Fortsetzung in dem 
»Labyrinth«, das Winter componirte, gegeben hatte, und 
endlich bot der Gegenstand der »Zauberflöte«, was Goethe 
ausdrücklich hervorhob, das weiteste Feld zur Entfaltung 
tonkünstlerischer Wirkungen von höchster Empfindung bis 
zum leichtesten Scherz, w4e er am 24. Januar 1796 an den 
Orchesterdirector Wranitzky schrieb. 

Was Goethe selbst von seiner Dichtung sagt, ist haupt- 
sächlich in der Beilage zum Brief an Wranitzky nieder- 
gelegt, worin er sich w4e folgt auslässt : » Der grosse 
Beifall, den die »Zauberflöte« erhielt, und die Schwierig- 
keiten, ein Stück zu schreiben, das mit ihr wetteifern 
könnte, hat mich auf den Gedanken gebracht, aus ihr 
selbst die Motive zu einer neuen Arbeit zu nehmen, um 
sowol dem Publico auf dem Wege der Liebhaberei 
zu begegnen, als auch den Schauspielern und Theater- 
directionen die Auff'ührung eines neuen und complicirten 

10* 



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148 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Stücks zu erleichtern. Ich glaubte meine Absicht am besten 
erreichen zu können, indem ich einen zweiten Theil der 
»Zauberflöte« schriebe; die Personen sind alle bekannt, 
die Schauspieler auf die Charaktere geübt, und man kann 
ohne Uebertreibung, da man das erste Stück schon vor 
sich hat, die Situationen und Verhältnisse steigern und 
einem solchen Stück viel Leben und Interesse geben. In 
wiefeme ich meine Absicht erreicht habe, muss die Wir- 
kung zeigen. — Damit dieses Stück sogleich durch ganz 
Deutschland ausgebreitet werden könnte, habe ich es so 
eingerichtet, dass die Decorationen und Kleider der ersten 
»Zauberflöte« beinahe hinreichen, um auch den zweiten 
Theil zu geben; wollte eine Direction mehr darauf ver- 
wenden, so würde der Effect noch grösser sein, ob ich 
gleich wünsche, dass selbst durch die Decorationen die 
Erinnerung an die erste »Zauberflöte« immer gefesselt 
bleibe«. 

Vossens Musenalmanach auf 1796 brachte schon das 
in Goethe's »Zauberflöte« eingelegte Lied »Von allen 
schönen Waaren etc.« unter der Aufschrift »Die Liebes- 
götter auf dem Markte« (jetzt »Wer kauft Liebesgötter«), 
wonach wenigstens 1795 schon das Stück muss begonnen 
gewesen sein ; damit stimmt es, dass Goethe im Briefe an 
Schiller vom 12. Mai 1798 es als vor drei Jahren angefangen 
bezeichnet. Im letzten Jahre hatte Mand die Idee bei 
Goethe wieder angeregt, der am 9. Mai darüber an Schiller 
schrieb: es sei schon so viel geschehen, dass es thöricht 
wäre, die Arbeit liegen zu lassen. Femer am 12. desselben 
Monats: er habe bei Wiederaufnahme der Arbeit recht 
artige Erfahrungen gemacht, die sich sowol auf sein Sub- 
ject, als aut's Drama überhaupt, auf die Oper besonders 
und am besondersten auf das Stück bezögen; es könne 



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Der Zauberflöte zweiter Theil. 149 



nicht schaden, es endlich auch in Zeiten mittlerer Stim- 
mung durchzuführen. . 

Nach drei weiteren Jahren, im Mai 1801, lieferte 
Goethe den ersten Aufzug (bis zum Schluss des unsicht- 
baren Chors »Ihr lustigen Vögel etc.«) als »Entwurf zu 
einem dramatischen Märchen« in das »Taschenbuch auf 
das Jahr 1802 — der Liebe und Freundschaft gewidmet«, 
wonach es scheint, dass er nunmehr die Beendigung des 
Stücks aufgegeben gehabt habe. Es war daher wol nur 
eine Redensart, als er am 15. März 1814 Zelter'n Hoffnung 
machte, dass der Frühlingsäther den Gegenstand wieder 
in ihm flott machen werde; inzwischen war in der Aus- 
gabe der Werke Goethe's 1807 das Bruchstück schon in 
der Ausdehnung, in welcher es jetzt vorliegt, gedruckt 
worden. 

Überfliegen wir den Inhalt von Goethe's Dichtung, 
so begegnen wir zunächst dem von Mohren begleiteten 
Monostatos, welcher der Königin der Nacht verkündet, 
dass ihm zwar nicht gelungen sei, den eben gebomen 
Sohn Tamino's und Pamina's in seine Gewalt zu bekom- 
men, dass er ihn jedoch in einen goldnen Sarg und diesen 
mit dem Siegel der Königin verschlossen habe, das nie- 
mand zu öffnen vermöge. 

Die zweite Scene führt das königliche Schloss vor, in 
welchem Frauen den Sarg mit dem Prinzen umhertragen, 
weil die weisen Männer erklärt haben, dass das Kind, 
obwol im Sarge eingeschlossen, so lange am Leben bleiben 
werde, als der Sarg umhergetragen würde. Tamino kommt 
hinzu, seinen Schmerz auszusprechen. 

Hierauf erscheinen in felsigem Walde, in welchem ein 
Wasserfall mit goldnem Wein herabstürzt, Papageno und 



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150 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Papagena; sie beklagen ihre Kinderlosigkeit, deren Ende 
ihnen jedoch unsichtbare Stimmen verkündigen. Mit Flöte 
und Glockenspiel locken beide Thiere aller Art herbei, 
womit der zuerst veröffentlichte Abschnitt des Bruchstücks 
schliesst. 

Im Tempel zeigt sich Sarastro, der Hohepriester, dem 
der Sprecher die Rückkehr eines Bruders, der die einjährige 
Wanderschaft beendet hat, ansagt; derselbe wird als noch 
würdig des Bundes anerkannt. Das Loos bestimmt Sarastro 
zum Wandern für das nächste Jahr; er scheidet. 

Pamina tritt auf und lässt den Sarg mit dem Kinde 
auf den Altar des Tempels setzen, um ihn der Sonne zu 
widmen; unter Donner und Erdbeben versinkt er. Pamina 
verzweifelt. 

Die nächste Scene ist wieder Papageno*s Wohnung 
im Walde; er und Papagena haben hier grosse Eier ge- 
funden, welche nach Sarastro's Weisung in ein Nest unter- 
gebracht und mit Blumen bedeckt werden, worauf sie 
aufbrechen und aus ihnen zwxi Knaben und ein Mädchen 
auskriechen. Sarastro schickt die Familie an den Hof, um 
die Schmerzen Tamino's und Pamina's — des Königs und 
der Königin — durch die Zaubermusik zu lindern und die 
Betrübten durch Scherze zu erheitern. Von dieser Scene 
ist nichts ausgeführt. 

Die folgende spielt im Schloss, wo der Zustand des 
Königs und der Königin den ganzen Hof in Trauer ver- 
setzt hat. Die Ankunft Papageno's und der Seinigen ver- 
breitet Heiterkeit , und als das schlafende Königspaar 
erwacht und in Klagen ausbricht, weiss es Papageno 
durch sein Flötenspiel zur Beruhigung zu bringen, jedoch 
nur so, dass der Schmerz immer wieder hervorbricht. 



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Der Zauberflöte zweiter Theil. 151 



sobald das Spiel aufhört. Hinzukommende Priester fordern 
dringend auf, das Kind zu retten, welches in seinem Sarg 
verschmachte. 

In der letzten Scene halten in einem unterirdischen 
Gewölbe bewaffnete Männer nebst Löwen Wache am 
Sarge, der ausserdem durch Umgürtung von Feuer und 
Wasser geschützt ist. Indessen nahen sich Tamino und 
Pamina, dringen unverletzt durch die elementaren Schutz- 
mauern und als sie dem Sarge sich nähern, springt derselbe 
auf und ein Genius erhebt sich daraus. 

Es ist nicht zu leugnen, dass das Stück zwischen 
einer Benützung der ersten »Zauberflöte« zu einer neuen 
Arbeit und einer Fortsetzung jener ersten schwankt; denn 
Manches, wie namentUch das Racheplanen der Königin 
der Nacht, das Tändeln des Papageno und der Papagena 
über die Aussicht Kinder zu bekommen, das Herbeirufen 
von Thieren durch die Zaubermusik, der EinbHck in die Ge- 
heimnisse des heiligen Bundes, der Sieg über die Hindernisse 
von Feuer, Wasser und Raubthieren — ist mehr nur Nach- 
ahmung, zum Theil fast blosse Wiederholung der Scenen 
der ersten » Zauberflöte « wie sie in einer Fortsetzung nicht 
zulässig sein würden. 

Dagegen darf der Gang des Stückes allerdings als eine 
Fortsetzung betrachtet werden, wie denn auch Böttiger 
(Literarische Zustände und Zeitgenossen I, 49) dasselbe 
als eine Fortsetzung und Erhebung ausdrücklich bezeichnet. 
Hierbei ist zunächst zu bemerken, dass über die Beziehung 
zur Freimaurerei auch in Goethe's Dichtung kein Zweifel 
obwalten kann; schon Äusserlichkeiten, wie die Bezeich- 
nung der Bundesglieder als »Brüder«, das Auftreten eines 
»Sprechers«, das Gespräch der Wächter: »Bruder, wachst 



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152 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Du?« — »Ich höre«. — »Sind wir allein?« und anderes 
erinnern an das maurerische Ritual. 
Ein maurerisches Gebot ist das: 

Recht zu handeln 
G'rad zu wandeln; 

maurerische Ansichten spricht der Gesang der Wächter 
aus: 

Vergebens bemühet Ihr euch etc. 



Auf den maurerischen Inhalt deutete auch Knebel, 
wenn er am 8. December 1801 an Böttiger schrieb, Goethe 
habe in die »Zauberflöte« feine und stechende Hieroglyphen 
gemalt. 

Während nun in der ersten »Zauberflöte« die Königin 
der Nacht nur dadurch als besiegt sich darstellt, dass 
Tamino und Pamina trotz ihrer dagegen aufgebotenen 
Macht vereint werden, so wird in der Fortsetzung die 
Niederlage dadurch vollendet, dass sie auch das Insleben- 
treten der Frucht jener Vereinigung nicht verhindern kann. 
Durch die Weisheit (Sarastro) verbunden, erzeugen die 
Kraft (der muthige Tamino) und die sittliche Schön- 
heit (die liebende Pamina) die Aufklärung, die Wahr- 
heit des höhern Menschenthums (den Genius); die heilige 
Priesterschaft erhält den Erzeugten am Leben und verhilft 
ihm zum Gedeihen durch das Gebot steten Fortschreitens 
seiner Träger; der Macht, welche alles geistige Streben 
unterdrückt (der Königin der Nacht),, gelingt es sammt 
dem Pfaffenthum (Monostatos) trotz Anw^endung roher 
Gewalt (der bewafl*neten Wächter und der wilden Thiere) 
doch nicht, ihr Ziel zu erreichen und himmelan schwebend 
entzieht sich jener Sprössling der Verfolgung. 



' c V 

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Der Zauberflöte zweiter Theil. 153 



Was Goethe in der »Zauberflöte zweitem Theil« un- 
ausgeführt Hess, hat er in gewisser Hinsicht im »Wilhelm 
Meister« wieder aufgenommen, wo auch eine geheime, 
Menschenerziehungszwecke verfolgende Gesellschaft wirk- 
sam ist und insbesondere auch, wie die Priesterschaft 
in der » Zauberflöte «, ihre Mitglieder auf Wanderschaft 
aussendet. 




er-, 



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7- Trauerspiel in der Christenheit. 




LI in Goethe in den »Tag- und Jahresheften« 

anterm Jahr 1802 erwähnt, dass er Calderon 

Zeit seines Lebens gekannt habe, so ist diese 

^ ^^^ Bekanntschaft denn doch wol nur eine sehr 

^---' i oberflächHche gewesen; denn er selbst ver- 



stand zu wenig spanisch, um Calderons Comödien in der 
Ursprache zu lesen und in den unserem Dichter zugäng- 
hchen Sprachen gab es bis Ende vorigen Jährhunderts zu 
w^enige Hülfsmittel, um genaue Kenntniss des spanischen 
Bühnendichters daraus zu schöpfen. So könnte er die 
»Extraits de plusieurs pi^ces du Theatre Espagnol« von du 
Perron de Castera (1738) und das, ebenfalls Auszüge spa- 
nischer Bühnenstücke enthaltende »Theatre Espagnol« von 
Linguet (1763), das 1770 auch deutsch erschien, ferner die 
deutschen Bearbeitungen von »Das Leben ein Traum«, 
welche 1760 Scharfenstein (»Das menschliche Leben ist 
Traum«) nach einer italienischen Übersetzung und 1782 
Bertrand (»Sigismund und Sophronie oder Grausamkeit 
aus Aberglauben«) lieferten, benutzt haben, sich einige 
Vorstellung von der Bühne Spaniens zu verschaffen, allein 



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Trauerspiel in der Christenheit. 155 



nur eine sehr schwache, da diese Schriften hauptsächUch 
den Zweck hatten, den Stoff und den Gang der Handlung 
der spanischen Schauspiele behufs ihrer Benutzung für 
auswärtige Bühnen darzulegen, w^ährend der hohe Dichter- 
schwung in der Ausführung dabei fast ganz unkenntlich 
geworden war. Mehr Werth hatte schon der Auszug aus 
dem angeblich von König Philipp IV. verfassten Trauer- 
spiele »Dar la vida por su dama o el Conde de Sex«, den 
Lessing in den Stücken 60 bis 69 der Hamburgischen 
Dramaturgie lieferte und der selbstverständlich Goethe'n 
nicht entgangen sein kann. 

In Weimar fand Goethe Gelegenheit im Umgang mit 
drei Kennern der spanischen Dichtung sich in dieselbe 
einweihen zu lassen ; es w^aren dies Friedrich Johann Justin 
Bertuch, dessen »Magazin der spanischen und portugie- 
sischen Literatur« 1781 erschien; dann Sigismund Freiherr 
von Seckendorf, ein thätiger Mitarbeiter an diesem Magazin 
und Friedrich von Einsiedel ; auch Wieland war im Spani- 
schen nicht unerfahren. Indessen ist keine Spur vorhanden, 
dass Goethe sich mit Vorliebe der spanischen Dichtung 
überhaupt gewidmet habe; ausser Calderon, von dem gleich 
mehr die Rede sein soll, nennt er eigentlich kaum einen 
anderen spanischen Dichter und deutet nur auf Guillen de 
Castro als Vorbild des »Cid« von Corneille in dem Aufsatz 
»Französisches Haupttheater«. Eine andere Beschäftigung 
Goethe's mit spanischer Dichtung ist aus seiner Beurtheilung 
von Beauregard — Pandins Uebersetzung spanischer Ro- 
manzen bekannt. 

Dass er, dessen ganzes Wesen und Dichten auf die 
Natur sich gründete, sich nicht in eine Dichtung einleben 
mochte, die auf so geschraubten Zuständen und Ansichten 
ruhte, wie die spanische, ist erklärlich, doch konnte ihn 



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156 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



das nicht blind machen gegen die Fülle der Phantasie, 
welche darin mächtig herrschte, und er wusste diesen Vor- 
zug auch nicht genug zu preisen. Dem ungeachtet schenkte 
er spanischer Dichtung nur insoweit eingehende Betrachtung, 
als ihn seine Wirksamkeit als Leiter der Weimarer Bühne 
veranlasste, Calderon seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, 
den er dann aber auch fast allein im Auge behielt, wo- 
zu ausser dessen hervorragender Bedeutung der Umstand 
wesentlich beitrug, dass die damalige Thätigkeit der Deut- 
schen , welche spanische Bühnenschriftsteller übersetzten 
(v. Einsiedel, Schlegel, Gries, Frhr. v. d. Malsburg) sich 
vorzugsweise auf Calderon geworfen hatte. 

Wie sehr Goethe dessen Werth erkannte, mit welcher 
Ausdauer er bemüht war andere für den Genuss der Werke 
desselben empfänglich zu machen, insbesondere diese auf 
die deutsche Bühne einzuführen, und wie gegenwärtig ihm 
dieser Spanier immer war, sodass er ihm bei VergJeichungen 
häufig in Mund und Feder kam, das lässt sich durch eine 
grosse Anzahl von Stellen aus Goethe's Schriften und 
Briefen sowie aus Nachrichten mit ihm verkehrender Per- 
sonen erweisen. 

In einem Briefe an A. W. Schlegel vom 2. April 1800 
äussert Goethe zuerst infolge mündlicher Mittheilungen des 
Ersteren seine Theilnahme für spanische Literatur. — In 
einem zu Anfang October 1802 nach Jena geschriebenen 
Briefe sagt er, wie Schelling berichtet, über die in Schlegel's 
handschrifthcher Uebersetzung ihm mitgetheilte »Andacht 
zum Kreuze« von Calderon: »Es ist verwundersam gross 
und fürtrefilich«; einige Tage später stellte er im Gespräch 
mit Schelling Calderon nicht nur Shakespeare gleich, son- 
dern womöglich noch höher und ergoss sich in Lobes- 
erhebungen über den unbegreiflichen Verstand in der 



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Trauerspiel in der Christenheit. 157 



Construction und dem Genie der Erfindung, das aus dem 
genannten Stücke hervorleuchte. Die Aufführung erklärte 
er jedoch wegen des den Protestanten anstössigen Stoffs 
bei uns für unmöglich.*) Auch in den »Annalen« unter 
1802 erwähnt er, dass Calderon ihm näher getreten sei 
und ihn in Erstaunen gesetzt habe. — In einem Briefe an 
Frau von Stein aus dem Jahre 1803 spielte er auf Calderon's 
Anmuth an und wie er sich schon im April dieses Jahres 
über Schlegels Übersetzung von Calderon's »Über allen 
Zauber Liebe« gegen Schelling entzückt gezeigt und die 
Aufführung nicht nur dieses Stücks, sondern nunmehr auch 
der »Andacht zum Kreuze« mit einigen Änderungen als 
erwünscht bezeichnet hatte, so dankte er, wie er schon 
früher durch Schelling hatte thun lassen**), Schlegel'n selbst 
brieflich am 5. September 1803 für das zugesandte »Spanische 
Theater«, das von Calderon ausser den beiden schon ge- 
nannten Stücken noch » Die Schärpe und die Blume « ent- 
hielt und ladet unterm 2. October desselben Jahres zu 
Übungen für die Aufführung Calderon'scher Stücke ein. — 
Ein Brief an Schiller vom 24. Januar 1804 gedenkt des 
tiefen Eindrucks, den »Der standhafte Prinz« — in Schlegel's 
damals wol noch handschriftlicher Übersetzung — und 
»Die Andacht zum Kreuze« auf Goethe gemacht und der 
vortrefflichen Behandlung, die er namentlich bei ersterem 
zu bewundern gehabt habe. — In den Anmerkungen zu 
»Rameau's Neffen« (1805) erklärt derselbe: Shakespeare 
und Calderon bestünden untadelig . vor dem höchsten 
ästhetischen Richterstuhl und wegen ihrer vermeintlichen 
Fehler verdienten sie, indem diese ein Erzeugniss ihrer Zeit 



*) Ans Schellixig's Leben. In Briefen. Erster B«nd. S. 421. 421. 
*•) EbendA. S. 440. 454. 



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158 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



seien, neue Lorbeeren. — Im Jahre 1807 las er im März*) 
und im October**) den »Standhaften Prinzen« vor, wie 
denn auch die »Annalen« von diesem Jahre melden, dass 
dieses Stück fortfahre zu wirken. Als Goethe im August 
ebendieses Jahres in Karlsbad weilte, ging er Adam Müller's 
Vorlesungen über deutsche Literatur und Wissenschaft 
durch und meinte bei diesem Anlass in Bezug auf das 
darin enthaltene Lob von Schlegel's Übersetzung Calderon- 
scher Stücke gegen seinen Begleiter Riemer: jener sei doch 
nur ein ausgestopfter Fasan gegen einen wdrkHchen, aber 
ein gut ausgestopfter.***) — Im Januar 1808 las er bei Hofe 
Calderon's »Standhaften Prinze»« und im März »Die 
Schärpe und die Blume« vorf); am i. Februar d. J. hebt 
er in einem Briefe an Heinrich v. Kleist als Muster für 
jeden Schauspieldichter Calderon's Stücke hervor, welche 
so bühnengerecht seien, dass sie überall der gebildeten wie 
der ungebildeten Masse das höchste Vergnügen machen 
würden. — Vom 17. November 1809 führt Riemer einen 
Ausspruch Goethe's über die Productivität und den leichten 
Guss Calderon's an, ff) — In den »Annalen« von 1810 
weist Goethe auf die nahende Auflführung des »Standhaften 
Prinzen« hin; gegen Ende des Jahres hielt er die Lese- 
proben bei sich ab.fft) Die Bühnenbearbeitung der Schlegel- 
schen Übersetzung w^ar vom Schauspieler P. A. Wolff, 
jedenfalls unter Goethe's sorgfältiger Mitwirkung besorgt, 
— Am 30. Januar 181 1, dem Geburtstag der Herzogin. 



*) Weimars Album zar 4. Säcalarfeier der Bachdruckerkunst. S. 192 f. 

••) Weimarer SonnUgsbUit. II. Jahrg. S. 417. 
***) Briefe von und an Goethe, herausg. von Riemer. S. 321. 

t) Aus K. L. V. Knebels Briefwechsel mit s. Schwester Henriette. S. 322. 324. 330. 331. 
ff) Mittheilungen über Goethe v. Riemer. II. S. 648. 
fff) Aus d. Tagebuch c. alten Schauspielers. Von Genast. 2. Aufl. Theil !. S. 177 f. 



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Trauerspiel in der Christenheit. 159 



wurde dieses Stück zum ersten Male aufgeführt, worüber 
Frau V. Schiller einen ausführlichen Bericht gegeben hat*); 
Goethe zeigte sich dabei so ergriffen, dass er Thränen 
vergoss. Er unterlässt in den »Tag- und Jahresheften« 
nicht, in diesem Jahre die Auff'ührung anzumerken, welche 
vorzubereiten ihm, wie er am 27. Februar 181 1 an Knebel 
und folgenden Tags an Zelter schreibt, so viele Mühen ge- 
kostet hatte, dass er nicht sobald ähnliches über sich nehmen 
mochte, — ^ichtsdestow^eniger wurde schon am 30. März 
1812**) »Das Leben ein Traum'« nach einer Bearbeitung 
von Einsieders und Riemer's, wie Goethe am 8. April 
Zeltern mittheilt, aufgeführt; hiervon giebt er auch in den 
»Annalen « dieses Jahres Nachricht, in denen er ferner sagt, 
dass »Die grosse Zenobia« von Calderon damals zu höheren 
Zw^ecken studirt und dessen »Wunderbarer Magus« in 
Griesens Übersetzung ihm angenähert worden sei, w elches 
letztere jedoch ein Irrthum ist, da Gries dieses Stück erst 
später übersetzte, die Übersetzung aber, in welcher Goethe 
damals den »Wunderthätigen Magus« kennen lernte, von 
Einsiedel war, wie dies sein eigner Brief an Knebel vom 
17. October 18 12 bezeugt. Die glückhche Darstellung des 
herrlichen Stückes von Calderon »Das Leben ein Traum« 
berührt er auch in einem Briefe an den Appellationsrath 
Körner vom 23. April und empfiehlt übrigens dem Sohne 
des Ersteren, Theodor, die Aneignung des Calderon'schen 
Sylbenmasses für seine dramatischen Dichtungen. Das 
Missbehagen, welches ihm die frömmelnde Schrift des 
damaligen Professors Johann Schulze zu Weimar Ȇber 
den standhaften Prinzen des Calderon« (181 1) erregte, 



•) Charlotte v. Schiller a. ihre Freunde. B, I. S. 567 f. 
"•) Aus d. Tageb. e. alten Schauspielers. Von Genast. I, 181 f. 



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l6o Dramatische Entwürfe Goethe's. 

drückte er in Briefen an Frau von Wolzogen vom 28. Ja- 
nuar und an Knebel vom 17. October 18 12 aus.*) Im 
letztern Brief gab dazu Gelegenheit ein von Frau von Ch^zy 
übersetztes Bruchstück aus Calderon. 

Die Übersetzung Calderon's »Grosser Zenobia« wurde 
von Friedrich von Einsiedel angeregt. Goethe antwortete 
darauf mit folgendem Brief, dessen Abdruck der Besitzer, 
Freiherr von Beaulieu Marconnay, gütigst gestattet hat : 

Des Herrn Geheimeraths von Einsiedel 

Excellenz 

Du hast mir, mein trefflicher Freund, mit der Gros- 
sen Zenobia abermals recht viel Vergnügen gemacht. 
Ich glaube auch, dass das Stück aufführbar werden 
könnte, nur müsste vor allen Dingen noch manches 
von rhythmischer Seite daran gethan werden; denn, 
wie Du selbst bemerktest, so machen die Stellen die 
als Octaven gedacht sind, nur in diesem Sylbenmass 
ihre rechte Wirkung. Riemer, mit dem ich die Sache 
gestern besprochen, bedauert mit mir, dass unsere 
nächsten dringenden Arbeiten uns von diesem ange- 
nehmen Geschäft abhalten. Aber wir sind beide zu 
gleicher Zeit auf den Gedanken gekommen, ob Du 
Dich nicht mit Gries associiren solltest. Dieser hat in 



•) Die Auslassung Goethe's, welche Riemer (Mittheilungen über Goethe II. 649) unter 
dem 17. October i8iJ anführt, ist Briefen an Knebel von diesem Tage und vom ij. Juni 1821 
entnommen, obwol beide Unvereinbares zusammenbringen. Die dort eingeschaltenen Worte» 
unter Verwandlung des »NN.« in »Professor Schulze« sind wol die Ergänzung der Locke 
im Brief an Knebel. 



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Trauerspiel ix der Christenheit . i6l 

solchen Dingen grosse Facilität und so viel Zeit, dass 
sich hoffen liesse, das Werk bald vollendet zu sehen. 
Zuletzt will ich gern zu allem förderlich sein, was das 
Theater allenfalls auch verlangen möchte. Lehnst du 
diesen Vorschlag nicht ab, so will ich durch Knebeln 
präludiren lassen. Ich sollte denken, es müsste Dr. 
Griesen sehr angenehm sein, in so guter Gesellschaft 
einen Beweis seiner Talente zu geben. 

Lebe recht wohl und empfiehl mich meinen hohen 
Gönnern und Freunden. — Nur noch eins zu sagen, 
so ist es ein ganz stupender Einfall, dass die in die 
Höhle gestürzte Halbprophetin und Trügerin zur 
wahren Prophetin dadurch wird, dass man sie miss- 
versteht. Vale. 

Weimar den 7. December 1807. 

Goethe. 

Einsiedel ging auf den Vorschlag ein und von ihm 
empfing Goethe am 17. Januar 181 3 einige Stanzen aus 
der »Grossen Zenobia« von Gries übersetzt*), die er in 
einem Tags darauf an Einsiedel geschriebenen Billet eine 
»sonnige Erscheinung« nannte und an die er eine in einem 
Brief an Knebel vom 20. desselben Monats niedergelegte 
Aufforderung an Gries knüpfte, das ganze Stück zu über- 
setzen, damit es in Weimar auf die Bühne gebracht werden 
könne. Goethe theilte diese Stanzen in seiner Freude auch 
der Frau Schopenhauer mit. **) Dieses Anpreisen von Seiten 



*) K. L. V. Knebel's literarischer Nachlass etc. Hrsg.v. Varnhagen v. Ense u. Hundt. I, ijo. 
**) Ans d. Leben v. J. D. Gries [v. E. Campe als Handschrift herausgegeben] i8$$. S. 96. 

II 



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l62 Dramatische Entwürfe Goethe's, 



Goethe's veranlasste denn auch Gries, das ganze Stück zu 
übersetzen. Der Brief an Knebel vom 24. November 181 3 
enthält dann den Dank an Gries für diese »vortreflfliche« 
Übersetzung und den wiederholten Hinweis auf das Vor- 
haben der Aufführung. 

Über Griesens gleich darnach fertig gewordene Über- 
setzung von »Das Leben ein Traum« sprach sich Goethe 
im Brief an Knebel vom 22. Januar 18 14 mit der Aner- 
kennung aus, dass er damit Einsiedel's und Riemer's 
Vorarbeit schön übertroffen habe und er liess ihn durch 
Knebel besage Briefs an diesen vom 29. Januar auffordern, 
auch Schlegers Übersetzungen zu überarbeiten. Während 
seines Aufenthaltes in Heidelberg im September 1814 
unterhielt sich Goethe mit Voss über Calderon, wobei er, 
die Mangelhaftigkeit der Charakteristik desselben aner- 
kennend, sein wollüstiges Farbenspiel bewundernd hervor- 
hob und sich aufs Neue über Griesens Übersetzung entzückt 
äusserte.*) Die Lese- und Aufführungsproben der »Grossen 
Zenobia« unter Goethe's hingebender Leitung schildert 
Genast ergötzUch.**) Die Aufführung fand am 30. Januar 
181 5 statt. In einem Gespräche am folgenden Tag legte 
Goethe besonderes Gewicht auf den guten Humor, mit 
welchem das Verhältniss zwischen Zenobia und Decius 
durchgeführt werde und w^ies bezüglich des »Standhaften 
Prinzen« darauf hin, dass er nicht sowol für den Glauben 
als für Portugals Ehre leide.***) Am 26. April 181 5 dankte 
Goethe Griesen brieflich für den ersten Band mit den 
beiden ihm »so werthen Stücken des Calderon« — »Das 
Leben ein Traum« und »Die grosse Zenobia« — und be- 



•) Briefe V. H. Voss an Ch. v. Truclisess. Herausg. v. A. Voss. 18J4. S. 60 f. 
•') Aus d. Tageb. e. alt. Schauspielers. Von E. Genast, 2. Aufl. Th, I. S. 228 bis 2^4. 
•") Weimarer SonntagsbUtt. III. Jahrg. 18 j;. S. 462. 



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Trauerspiel in der Christenheit. 163 



merkte, er wolle letztere einige Zeit ruhen lassen, um zu 
überlegen, wie diesem Stück sein vollkommenes Recht zu 
verschaffen sei. Im Brief an den Grafen Brühl vom i. Mai 
desselben Jahres erklärt Goethe, dass er die spanischen 
Schauspiele benutzt habe, um den Geschmack des Publi- 
cums daran zu gew^öhnen, auf der Bühne die Befriedigung 
der höheren Forderungen der Einbildungskraft zu verlangen. 
Im Herbste ebendieses Jahres endlich führte er auch mit 
Sulpiz Boisser«^e lehrreiche Gespräche über Calderon, er- 
kannte dabei aber an, dass derselbe nicht den alten Griechen 
im glücklichen Masshalten gleichzustellen sei. *) — In den 
»Annalen« unter 18 16 berichtet Goethe, wne der zweite 
Band von Griesens Calderon — »Das laute Geheimnisse 
und »Den wunderthätigen Magus« bringend — ihn in 
dem Spanien des 17. Jahrhunderts immer einheimischer 
gemacht habe und auch im Dankbrief an Gries vom 29. Mai 
dieses Jahres rühmt er, dass er sich dadurch » in ein herr- 
liches, meerumflossenes, blumen- und fruchtreiches, von 
klaren Gestirnen beschienenes Land « und in einen fremden 
Bildungszustand \%rsetzt fühle, hinzufügend, dass seine 
damalige Beschäftigung mit der morgenländischen Dichtung 
ihm den Calderon, der seinen arabischen Ursprung nicht 
verleugnen könne, noch werther mache. Diesen Gedanken 
hat er auch in den bekannten, in das Buch der Sprüche des 
Divans aufgenommenen Reim niedergelegt, der daher wahr- 
scheinlich aus jener Zeit herrührt. — Unterm 10. Februar 
18 17 erkundigte sich Goethe bei Boisseree nach dem Recen- 
senten von Griesens Calderon in den »Heidelberger Jahr- 
büchern«, dessen Recension er als sehr schön anerkannte (es 
war Abeken, früher Hauslehrer von Schillers Kindern) ; die- 



•) Sulpjz Boisserie. 1862. Bd. I, S. 2S2. Bd. II, S. 162. 



II* 



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164 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



selbe Recension erwähnt Goethe in einem Brief an Voigt 
vom 25. des nächsten Monats. — ÜberGriesens dritten Band, 
»Eifersucht das grösste Scheusal« und »Verwickelungen des 
Zufalls « liegen uns keine Aussprüche Goethe's vor. — Wie 
er sich aber fortwährend mit Calderon beschäftigte, be- 
zeugt der Vergleich, den er in den »Annalen« von 1820 
zwischen der Gräfin Agnes Stolberg und dem Grazioso 
Calderon's anstellt ; in diesem Jahre lernte er auch, w^ie er 
gleichfalls in den »Annalen« berichtet, einen neuen Über- 
setzer Calderon's, Freiherrn von Malsburg kennen, dem er 
auch manche tiefere Einsicht in die spanische Literatur 
verdankte. Derselbe hatte bis dahin von Calderon über- 
setzt herausgegeben: »Es ist besser, als es war«, »Es ist 
schlimmer, als es w^ar«, »Fürst, Freund, Frau», »Wohl 
und Weh«, »Echo und Narcissus« sowie »Der Garten- 
unhold«. Ferner empfing Goethe in diesem Jahre den 
ersten Band der von Keil in Leipzig veranstalteten und 
ihm gewidmeten Ausgabe der Comödien Calderon's, w^ofür 
er seinen Dank unterm 12. April überschrieb und dabei 
Keil als Zeugen der Liebe und Pietät, mit welcher er 
Calderon's Werke früher aufgenommen habe, aufrief. — 
Das Jahr 182 1 brachte von Malsburg »Die Seherin des 
Morgens» und »Die Morgenröthe von Copacarana« und 
von Gries »Die Tochter der Luft«, für welches letztere 
Stück er dem Übersetzer nicht allein mit Brief vom 20. Mai 
unmittelbar dankte und dabei Calderon's Vorzüge treffend 
auseinandersetzte, sondern auch wiederholt durch Knebel 
unterm 13. Juni seinen Dank ausdrücken Hess. Er nannte 
dieses Schauspiel das herrlichste von Calderon's Stücken 
und äussert auch in den diesjährigen »Annalen«, dass ihn 
dasselbe ebenso wie »Die Morgenröthe von Copacarana« 
ganz glücklich gemacht hätte, indem beide Stücke mit 



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Trauerspiel in der Christenheit. 165 



gleichem Geist und überschwenglichem Talent behandelt 
seien und aus beiden die Macht des Genies in Beherrschung 
alles Widersprechenden aufs kräftigste hervorleuchte, obwol 
der Gegenstand des ersteren der Vernunft- und naturge- 
mässeste, der des anderen der absurdeste sei. Noch schrieb 
Goethe in diesem Jahr den grösseren Aufsatz »Calderon's 
Tochter der Luft«, den er im 3. Hefte des HI. Bandes 
»Über Kunst und Alterthum« veröfFentUchte. — Für den 
5. Band der Gries'schen Übersetzung mit »Der Dame Ko- 
bold« und »Dem Richter von Zalameo« dankte Goethe 
durch Brief vom 11. Juni 1822, worin er u. A. sagt: 
Calderon sei ein Dichter, über den man bei jedesmaUgem 
ErbÜcken erstaune wie über die Natur, so oft man auf- 
merksam an sie heranblioke. Gegen Ende desselben Monats 
war er denn auch noch so voll von Calderon, dass er in 
den abgerissenen Betrachtungen über den Roman »Gabriele« 
der Frau Schopenhauer, welche er in Marienbad aufzeich- 
nete und im i. Hefte des IV. Bandes Ȇber Kunst und 
Alterthum« abdrucken liess, eine Person des Romans aber- 
mals mit dem Grazioso des spanischen Bühnendichters 
vergHch.*) 

Im Sommer 1824 kam Malsburg abermals nach Weimar 
und überreichte Goethe'n seine neueste Schrift: »Stern, 
Scepter, Blume«, Übertragung dreier Schauspiele von Lope 
de Vega (»Der Stern von Sevilla «< »Der beste Richter 
ist der König« und »Das Krugmädchen«), bei welcher 
Gelegenheit auch wieder* viel über Calderon gesprochen 



•) Wie H. Döring in Jen von ilim herausgegebenen »Goethe's Briefe in den Jahren 
1768 bis i8}2« dazu kam, obigen Aufsatz als Brief zu bezeichnen und ihn vom 24. Juni 
zu datiren, ist nicht erfindlich und es spricht nicht für ein kritisches Verfahren bei Zusammen- 
stellung des neuern Sammelwerks »Goethe's Briefe nnt geschieht!. Einleitungen und Er- 
läuterungen« (Berlin), dass auch hier derselbe ah Brief ohne weitere Begründung Aufnahme 
gefunden hat. 



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l66 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



wurde.*) Trotz aller dieser eingehenden und nachhaltigen 
Beschäftigungen mit Calderon behauptete Goethe dennoch 
in einem Gespräch mit Eckermann am 12. Mai 1825, 
dass Calderon, als seiner Natur nicht gemäss, gar keinen 
Einfluss auf ihn gehabt habe und nur Schilleren hätte 
gefährHch werden können. Im Briefe an Zelter vom 
6. Februar 1827 nennt aber Goethe trotzdem »Die Tochter 
der Luft« wieder ein grandioses Werk und bemerkt, dass 
man bei der damaligen Aufführung des Stücks in Berlin 
den blauen Duft von der Pflaume abgewischt haben würde, 
wenn man etw^a Ninus und Semiramis von Einer Schau- 
spielerin habe darstellen lassen. In der Unterhaltung mit 
Eckermann vom 28. März desselben Jahres äussert er mit 
Bezug auf dessen Bemerkung, dass August Wilhelm Schlegel, 
wie tadelsüchtig er die französischen Dramatiker bespreche, 
dennoch Shakespeare und Calderon gerecht behandle, beide 
seien freilich von der Art, dass man über sie nicht Gutes 
genug sagen könne. — Am 25. November 1827 hatte Goethe 
Mittags und Abends Gäste bei sich, wobei die Aufführung 
der »Tochter der Luft« und deren Aufnahme durchge- 
sprochen wurde, und Goethe im Tagebuch anmerkt: »Das 
PubÜcum hatte nicht gewusst, was es damit machen sollte.« 
Im Brief an Zeher vom 28. April 1828 spricht Goethe 
aus, dass höchste Cultur und Poesie sich niemals inniger 
zusammengefunden htitten als bei Calderon. Dass Gries in 
dem 1829 erschienenen 7. Bande seiner »Schauspiele von 
Calderon« auch »Die Locken Absalons« übersetzt hatte, 
billigte Goethe gegenüber denen, welche die Wahl dieses 
nicht ganz züchtigen Stückes tadelten. Das zweite Stück 
dieses Bandes ist »Der Verborgene und der Verkappte.« 



•) Briefe an L. TieV. Aus^cv ihlt und hcrausg. von v. Holtei. B. II. S. 320. 



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Trauerspiel in der Christenheit. 167 



• In den Betrachtungen »Aus Makariens Archiv«, welche 
dem Ende von »Wilhelm Meisters Wanderjahren« in dem 
XXIIL, 1829 erschienenen Bande der Ausgabe von Goethe's 
Werken letzter Hand angefügt sind, lässt sich Goethe 
darüber aus, wie Shakespeare und Calderon den Vor- 
lesungen von Dramen in Deutschland einen glänzenden 
Eingang verschafft hätten, dass aber durch diese Dichter, 
und besonders Calderon vieles Falsche über uns gebracht 
und diese Lichter des poetischen Himmels für uns zu Irr- 
Uchtern geworden seien. In einem Gespräche mit Ecker- 
mann vom 15. Februar 183 1 erinnerte Goethe sich noch 
der Noth, die er gehabt, den »Standhaften Prinzen« auf 
die Bühne zu bringen und in einer Stelle des Aufsatzes 
»Französisches Haupttheater«, die nicht in dessen erstem 
Abdruck im VI. Bande »Über Kunst und Alterthum« 
(1828), sondern erst in dem Wiederabdruck im VI. Band, 
der »Nachgelassenen Werke« (1833) zu finden ist, nimmt 
er auf die abwechselnden Silbenmasse in Guillen de Castro's 
»Mocedades del Cid« Bezug. 

Es wäre ganz gegen Goethe's Weise, wenn die leb- 
hafte Beschäftigung mit Calderon ihn nicht zu eigner 
schöpferischer Thätigkeit angeregt hätte, um sich den- 
selben »vom Halse zu schaffen.« Wie tief Calderon auf ihn 
gewirkt, bezeugt nicht nur im Allgemeinen das durch mehr 
als sechzig Citate nachgewiesene dreissigjährige unaufhör- 
liche Zurückkommen aut denselben und das Beleuchten 
seiner Eigenschaften in den verschiedensten Beziehungen, 
sondern noch insbesondere manche der angeführten Stellen, 
in denen er sich geradezu darüber erklärt. Diesen viel- 
fachen Beweisen seiner Hingebung an Calderon gegenüber 
braucht man es auch nicht für einen der vielen Irrthümer 
in Bezug auf sich selbst, welche namentlich in den Ge- 



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l68 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



sprächen mit Eckermann uns öfters aufstossen, zu halten, 
wenn er gegen diesen fallen lässt, Calderon habe gar keinen 
Einfluss auf ihn gehabt; vielmehr darf man diese Äusse- 
rung so verstehen, dass Calderons Eigenthümlichkeit kein 
bleibender Bestandtheil seiner Bildung geworden sei, wie 
es denn in der That kein ganzes Werk Goethe's giebt, 
das den Stempel des spanischen Bühnendichters trüge. Ist 
auch das öftere Vorkommen des Romanzenverses bei 
Goethe nicht zu übersehen, so ist derselbe doch keines- 
wegs lediglich auf Calderons Vorgang zurückzuführen. In 
»Paläophron und Neoterpe«, welches Festspiel im Ok- 
tober 1800, also kurz nach der ersten Bekanntschaft Goethe's 
mit Calderon entstand und solche Verse enthält, schwebte 
ihm jedoch höchst wahrscheinlich die spanische Form vor, 
gewisser aber noch in den Reden des »Friedens« im »Vor- 
spiel zu Eröffnung des weimarischen Theaters«, welches 
Festspiel in's Jahr 1807, ^^so in die Zeit der Veranstaltung 
von Aufführungen Calderon'scher Stücke durch Goethe 
fällt. Auch der in der »Helena« einigemal vorkommende 
Romanzenvers mag eine Erinnerung an die spanische 
Bühnendichtung sein, deren Formen, als vorzugsweise ro- 
mantische, hier neben den altclassischen mit besonderem 
Bedacht zur Erscheinung kommen. 

Wichtiger aber ist, dass Goethe versuchte ein Stück 
in der Weise Calderon's zu schreiben und zwar das zu- 
erst in der 2. Abtheilung des I. Bandes der Quartausgabe 
der Werke Goethe's (1836) unter der Überschrift »Frag- 
mente einer Tragödie« in den vorhandenen Bruchstücken 
bekannt gemachte »Trauerspiel in der Christenheit.« Als 
ich 1857 zuerst die Beziehungen dieser Fragmente zu 
Calderon nachwies, musste ich noch für mögUch halten, 
dass jemand an der Stichhaltigkeit meines Beweises zweifeln 



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Trauerspiel in der Christenheit. 169 

könne; allein nicht nur die seitdem wol allseitig erfolgten 
Anerkennungen der Richtigkeit, sondern auch nachher ver- 
öffentlichte neue Beweisstellen haben sowol meine Auf- 
stellung im Allgemeinen, wie zugleich die von mir an- 
genommene Enstehungszeit bestätigt. Es ist demungeachtet 
noch jetzt von Werth im Einzelnen darzuthun, wie sich 
das Trauerspiel in Hinsicht auf Inhalt und Form an Cal- 
deron anschloss und noch weiter anschliessen sollte. 

Betrachten wir zunächst den Inhalt des entworfenen 
Trauerspiels, wie solcher aus den einzelnen ausgeführten 
Stellen durch Vergleichung unter sich und mit der daraus 
hervorbhckenden Absicht des Ganzen herauszulesen ist. 

Ein heidnischer Dynast wird von einem Kaiser — 
anscheinend römischer, fränkischer oder deutscher Nation 
— bedrängt und in seiner Stadt oder Burg belagert. 
Nicht geringere Bedrängniss erv^^ächst ihm daraus, dass 
seine Kinder, ein Sohn und eine Tochter, sich dem 
Christenthum zuneigen, die letztere auch ein Liebesverhält- 
niss mit einem Christen im Gefolge des Kaisers (auf diese 
Stellung deutet sein, jedenfalls auf Kaiser Karls des Grossen 
Geheimschreiber anspielender Name Eginhard) eingegangen 
ist. Das Stück beginnt in emem unterirdischen Gewölbe, 
in welchem die Tochter gefangen sitzt und die Härte be- 
klagt, mit welcher sie der sonst so gute Vater behandelt^ 
Während sie mit Schrecken gewahrt, dass ihr die gewöhn- 
liche Nahrung nicht verabreicht wird und sie sich für zum 
Hungertod verurtheilt halten mag, kommt Eginhard, von 
Fackelträgern begleitet, herbei. Sie, nichts andres vermuthend, 
als dass ihr Vater endlich nachgegeben habe und dadurch 
dem Geliebten die Möglichkeit geboten worden sei, zu ihr 
zu gelangen, ergiesst sich in Freude über die verwandelte 
Gesinnung ihres Vaters und bevor Eginhard, durch diese 



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lyo Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Deutung in Verlegenheit gesetzt, die Geliebte aufzuklären 
vermag, naht wieder ein Zug, an dessen Spitze ihr Bruder 
schreitet. Auch diesen überhäuft sie mit Ausbrüchen der 
Freude, immer noch im Wahn einer Wandlung des väter- 
lichen Willens, und ehe der Bruder dagegen zu Worte 
kommen kann, findet sich die Tochter unvorbereitet und 
plötzHch vor der hereingetragenen Leiche ihres Vaters, vor 
der sie in tiefstem Schmerz zusammenbricht. Ein gleich- 
falls vor der Leiche niedergesunkener Knabe (Edelknabe ?) 
wird gewaltsam hinw^eggestossen ; wir haben vorauszu- 
setzen, dass er zu den nunmehr haupt- und schutzlosen 
heidnischen Anhängern des Dynasten gehört. 

Nachdem Sohn, Tochter und Eginhard sich sammt 
den Leichenträgern entfernt haben, bleiben nur noch der 
ohne Besinnung am Boden liegende Knabe und ein andrer 
Anhänger des Dynasten und des Heidenthums, genannt 
»der Treue«, bei der Leiche zurück. Nachdem ersterer 
sich erholt und gegen die Leiche das Verzweiflungsvolle 
seiner Lage ausgesprochen hat, deutet der Treue ihm an, 
wie es möglich sei, den Todten — den wir hiernach für 
noch nicht gestorben annehmen müssen — sowie sich selbst 
zu retten und zwar auf demselben Weg, auf welchem sie 
sich mit dem lebenden Dynasten zu retten beabsichtigt 
hätten. Um hierzu Vorbereitungen zu treffen, entfernt sich 
der Treue, den Knaben bei der Leiche zurücklassend. 
Derselbe entschlummert; indessen erwacht der Dynast 
vom Tode und weckt den Knaben auf, der ihm aus- 
einandersetzt, w^o sie sich befinden und wie sie hierher 
gelangten. Der Treue kommt mit Anderen hinzu, die 
Leiche zu holen, als sie aber ihren Gebieter am Leben 
finden, verbinden sie sich mit ihm und verabreden das 
Nöthige zur Rettung. 



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Trauersfiel in der Christenheit. 171 



Der dritte Aufzug führt die Taufe des Sohnes und 
der Tochter des Dynasten durch einen Bischof vor; 
geistHche und wehliche Zeugen sind zugegen. In der 
Taufrede schildert der Bischof eindringlich die Gefahren, 
die für die Neubekehrten aus dem Bekenntniss des Christen- 
thums entspringen und fordert von ihnen, wenn es die 
Umstände erheischen sollten, das Märtyrerthum. Nach 
vollendeter Taufhandlung tritt Eginhard auf, um die 
Tochter werbend, erlangt die Einwilligung des Bruders, 
dann auch die Zustimmung des Bischofs und wird nun 
von diesem getraut. Kaum ist die Trauung vollzogen, 
so erscheint zunächst der Treue und veranlasst durch 
eine vorgegebene Nachricht den Sohn, sich von den 
übrigen zu trennen; hierauf tritt der alte Dynast auf, 
trennt seinerseits die Tochter von Eginhard und den 
Andern, so dass der Bischof, Eginhard und die Tauf- 
zeugen abgesondert stehen, die sodann sogleich entlassen 
werden. 

Noch ist für den Dynasten die Möglichkeit vorhanden, 
sich der drohenden Übermacht des Kaisers zu entziehen: 
er will flüchten und die Kinder sollen ihm folgen. Er ver- 
sucht deshalb zunächst den Sohn und dann die Tochter 
dem Christenthum abwendig zu machen, allein der Zwie- 
spalt zwischen der alten zusammenbrechenden und der 
neuen aufsteigenden Bildung, dem Sohne gegenüber in 
kriegerischer und poUtischer, der Tochter gegenüber in 
reUgiöser und herzlicher Weise zum Durchbruch kom- 
mend, ist zu entschieden, als dass Einigung zu erzielen 
wäre. Als hierauf der Treue Nachrichten überbringt, 
aus denen die inzwischen eingetretene Schwierigkeit des 
Entkommens hervorgeht, wird der Entschluss gefasst, 
eher den Tod als Unterwerfung unter den Kaiser zu 



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172 Dramatische Enrwürfe Goethe's. 



wählen und zu diesem Ende selbst gegen die Kinder Ge- 
walt anzuwenden.*) 

Im letzten Aufzug ist die Flucht abgeschnitten; der 
Dynast hat sich mit dem Knaben in einen Thurm einge- 
schlossen, in dem auch Sohn und Tochter sich gefesselt 
befinden. Die Schlüssel des Thurms werden hinunterge- 
worfen : es soll offenbar den Eingeschlossnen nur die Wahl 
bleiben zwischen Hungertod oder Selbstmord, weshalb 
auch Dolche herbeigeschafft werden. Der alte Dynast und 
der Knabe erstechen sich — die Neubekehrten aber werden 
durch den sich Eingang erzwingenden Eginhard gerettet. 

Ehe w^ir diesen Inhalt sowol, als auch die in den Bruch- 
* stücken erkennbaren Formen mit Calderon's Schauspielen 
näher vergleichen, wollen wnr uns vergegenwärtigen, welche 
derselben Goethe zur Zeit der Entstehung des Entwurfs 
kannte, weshalb aber zunächst diese Zeit zu ermitteln und 
festzustellen ist. 

Auch ohne Kenntniss bestimmter Angaben hierüber 
könnte man denselben nur zwischen 1807 und 1810 setzen. 
Vor dem Januar 1804 kann eine dichterische Durchdringung 
Calderons nicht stattgefunden haben : die Wärme, mit 
welcher Goethe Schillern den Genuss schildert, den er 
vom »Standhaften Prinzen« hatte, zeugt für die Frische 
des Eindrucks, den ihm die noch neuartige Erscheinung 
hervorrief. Von da ab war aber Goethe bis in den August 
mit der Bühnenbearbeitung des »Götz von Berlichingen « 
beschäftigt, und den übrigen Theil des Jahres 1804 bis in's 



*) In Go€thc's Entwurf steht allerdings im IV. Aufzug, i. Sceae: »will die Kinder 
mit ihrem Willen mitnehmen«; allein wenn es in der a. und 4. Scene nach dem Gesprich 
des Vaters mit den Kindern heisst: »sie werden nicht einig«, und in der i. Scene des 
V. Aufzugs »Sohn und Tochter werden heraufgebracht und gefesselt«, so ist unzweifelhaft 
»mit ihrem Willen« nur ein Hörfehler beim Dictiren für »wider Willen«. 



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Trauerspiel in der Christenheit. 173 



nächste hinein nahm ihn die Übersetzung von »Rameau's 
Neffen« in Anspruch. Nach Schiller's Tod ging er längere 
Zeit damit um, den »Demetrius« zu vollenden und schildert 
sich selbst nach Aulgeben dieses Vorhabens als ganz un- 
fähig und unthätig; die Schrift »Winckelmann und sein 
Jahrhundert«, die Umgestaltung der »Stella« zu einem 
Rührspiel behufs ihrer Darstellung, die nachmalige Wieder- 
vornahme des Epos »Teil«, der Abschluss des ersten Theils 
des »Faust«, der erste Theil der »Pandora« füllen neben 
kleineren Schöpfungen die Zeit bis in's Jahr 1807, und es 
findet sich bis dahin keine Lücke, in welche sich mit 
Wahrscheinlichkeit die Müsse zur Beschäftigung mit einem 
neuen Trauerspiele einschieben Hesse. Auf dieses Jahr lenkt 
aber die Aufmerksamkeit die Äusserung in den »Tag- und 
Jahresheften « : »Eine höhere Bedeutung für die Zukunft 
gab sodann »»Der standhafte Prinz««, der, wie er einmal 
zur Sprache gekommen, im Stillen unaulhaltsam fortwirkte.« 
Berücksichtigt man, dass dem Zusammenhange nach diese 
gehahvoUen Worte auf Goethe selbst zu beziehen sind, so 
lässt sich nicht verkennen, dass sie sehr nachdrückHch auf die 
Vorbereitung eines grösseren Werks, das im »Standhaften 
Prinzen« seine Quelle hatte, hinweisen. Die Bearbeitung des- 
selben für die Aufführung kann damit nicht gemeint sein- 
denn da diese Goethe 1810 viele Unruhe machte und doch 
erst zum Schlüsse des Jahres zu Stande kam, so kann sie ihn 
nicht schon 1807 so durch und durch eingenommen haben, um 
jene gewichtigen Worte zu rechtfertigen. Bemerkenswerth 
ist auch, dass nach der 1807 beendigten »Pandora« eine 
Lücke in Goethe's sonstigen Bühnenschöpfungen wahr- 
zunehmen ist, wie ausserdem im ganzen Leben bis 181 1 nicht. 
Ein späteres Jahr, als 1810 könnte jedoch als das der 
Entstehung der Fragmente nicht in Frage kommen, da 



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174 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Goethe nach der Vorstellung des »Standhaften Prinzen« 
sich nicht mehr mit solcher Begeisterung, sondern nur als 
Bühnenleiter oder als kühlerer Beurtheiler über das spanische 
Drama ausspricht. Die Gränze dieses Jahres stellt auch 
Goethe in dem Aufsatz »Epochen deutscher Literatur« 
dadurch selbst fest, dass er für die »spanische Cultur« die 
Zeit von 1790 bis 1810 bezeichnet. Diese Epochen hat er 
unverkennbar wesentlich nach seinem eignen Bildungs- 
gange entworfen, was im vorliegenden Falle schon daraus 
hervorgeht, dass im Allgemeinen für Deutschland die spa- 
nische Epoche noch keinesw^egs vorüber war, ja die eigent- 
liche Wirkung derselben durch vielfache Nachahmungen 
hauptsächlich erst nach 18 10 sich geltend machte. 

Auf eine um einige Jahre vor 18 10 zurückHegende 
Entstehung des Trauerspielbruchstückes führt aber auch 
Riemer, w^elcher von der, von ihm »Eginhard« benannten 
Tragödie erzählt, Goethe habe zu derselben, die er schon 
früher concipirt und ihm dictirt gehabt, 18 lO noch be- 
sondere Studien gemacht und deshalb namentlich Egin- 
hards Leben Karls des Grossen und Turpins Chronik 
fleissig gelesen;*) zufolge Strehlke's Mittheilung weist 
Goethe's Tagebuch dies für den 16., 18., 19. und 20. April 
dieses Jahres nach. **) 

Hatte ich aus diesen Gründen früher schon die Zeit 
der Entstehung der Fragmente in's Jahr 1807 gesetzt, so 
ist seitdem noch eine bestimmte Angabe von Goethe 
selbst bekannt geworden und zwar aus seinem Tagebuch, 
in dem er unterm 20. August 1807 den »Einfall und Vor- 
satz an einem dramatischen Stück zu arbeiten« und unterm 



•) Mittheüungen über Goethe. Von Riemer. II. Bd. S. 622. 
••) Goeihe's Werke. Berlin. Hcmpcl. X, 559. 



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Trauerspiel in der Christenheit. 175 



8. des nächsten Monats das Schema zum »Trauerspiel in 
der Christenheit« erwähnt hat.*) Dass unter dieser Be- 
zeichnung nur der hier in Rede stehende Entwurf gemeint 
sein kann, ist theils nach der vorstehenden Entwicklung, 
theils um desswillen ausser Zw^eifel, weil schlechterdings 
kein anderes Bühnenstück Goethe's bekannt ist, das vor- 
zugsweise »christlich« genannt werden könnte. 

Es sollten also hier die Stücke Calderons überblickt 
werden, die Goethe zur Zeit der Entstehung des »Trauer- 
spiels in der Christenheit« kannte. Ganz unzweifelhaft ist 
es zunächst — abgesehen von den heiteren Comödien 
»Die Schärpe und die Blume«, sowie »Über allen Zauber 
Liebe« — von ernsteren Stücken »Die Andacht zum 
Kreuze« und »Der standhafte Prinz«, welche bis 1807 
wiederholt von Goethe berührt werden; im hohen Grade 
wahrscheinHch ist es aber auch, das er damals schon die, 
allerdings erst 1809 in Schlegels Übersetzung veröffent- 
hchte »Brücke von Mantible« kannte, wie ihm Schlegel 
ja schon anfangs 1804 oder gar schon 1803 die ebenfalls 
1809 erschienene Übersetzung des »Standhaften Prinzen« 
mitgetheilt hatte. Gewiss war ihm aber auch damals schon 
»Das Leben ist Traum«, w^enigstens in den altern deut- 
schen Bearbeitungen bekannt. 

Was nun Goethe in dem Aufsatz über »Calderon's 
Tochter der Luft« als Inhalt aller Stücke dieses Dichters 
hervorhebt : »Widerstreit der Pflichten, Leidenschaften, Be- 
dingnisse, aus dem Gegensatze der Charaktere, aus den 
jedesmaligen Verhältnissen abgeleitet«, das finden wir in 
den ebengenannten Dramen, so auch in dem Entwürfe, 
in welchem die Anhänglichkeit an überkommene Zustände, 



*) Weimarer Sonntagsbhtt. III. Jahrg. Nr. 36. S. ^62 f. 



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176 Dramatische Entwürfe Goethe's. 

an's anerzogene Heidenthum, ja an das Leben selbst mit 
dem Eifer und dem Gelübde für das Christenthum in Zu- 
sammenstoss geräth. 

Der christliche Inhalt des Trauerspielentwurfs ist es 
besonders, der diesen mit den beiden Calderon'schen 
Stücken, die Goethe damals am meisten ergriffen hatten, 
mit der »Andacht zum Kreuze« und dem »Standhaften 
Prinzen« in Verbindung bringt. Namentlich den letzteren 
durchdrang er mit Wärme, brachte ihn zur Aufführung 
und hatte gleich nachdem er ihn kennen gelernt an Schiller 
geschrieben: »Man wird, wie bei den vorigen Stücken, 
aus mancherlei Ursachen im Genuss des Einzehien, be- 
sonders beim ersten Lesen gestört; wenn man aber durch 
ist und die Idee sich wie ein Phönix aus den Flammen 
vor den Augen des Geistes emporhebt, so glaubt man 
nichts Vortrefflicheres gelesen zu haben. Es verdient ge- 
wiss neben der »»Andacht zum Kreuze«« zu stehen, ja man 
ordnet es höher, vielleicht weil man es zuletzt gelesen hat 
und weil der Gegenstand sowie die Behandlung im höchsten 
Grade Hebenswürdig ist. Ja ich möchte sagen: wenn die 
Poesie ganz von der Welt verloren ginge, so könnte man 
sie aus diesem Stück wiederherstellen.« Auch in der 
Äusserung, die Riemer, wol aus einem Brief an Knebel, 
unterm 17. October 1812 aufführt, erkannte Goethe Cal- 
deron's Stärke im Christlichen seiner Stoffe. Aber ausser 
durch diesen christlichen Inhalt erinnert das Trauerspiel 
auch noch dadurch auffallend an den »Standhaften Prinzen«, 
dass darin wie in diesem neben den religiösen Beweg- 
gründen auch poUtische wirken. In Calderon's Schauspiel 
ist die Herausgabe Ceuta's der Lösepreis für Don Fernando, 
den dieser selbst verv^-irft, um Portugal nicht dadurch zu 
schädigen, und in dem Umriss des zweiten Auftritts im 



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Trauerspiel in der Christenheit. 177 



vierten Aufzug des »Trauerspiels in der Christenheit« tritt 
auch zwischen Vater und Sohn dasselbe Motiv zugleich mit 
Beziehung auf das Vaterland an den Tag. 

Das Märtyrerthum bildet aber sowol im »Standhaften 
Prinzen« wie in Goethe's Trauerspielentwurf den Kern 
der Handlung; im letztern kommt es zwar nicht zum 
Vollzug — wenigstens nicht auf christUcher Seite — allein 
es beginnt doch mit der Einkerkerung der Tochter und 
steht noch im Hintergrund bei der Ausdauer der beiden 
gefesselten Kinder, sowie endlich die unbedingte Forderung 
der Hingabe an's Christenthum bis zur Blutzeugenschaft 
durch die Verse hervorgehoben ist: 

Und wenn das grimme Feuer um uns lodert, 
Das Märtyrthum, es w^rd von uns gefodert. 

Da diese Verse nebst dem unter den Bruchstücken 
zuletzt stehenden Vers die einzigen, einem spätem Auf- 
zug angehörigen sind — alle übrigen fallen in den ersten 
Aufzug — also von Goethe als besonders wichtig ziemUch 
allein und ohne Zusammenhang vorgreifend niederge- 
schrieben worden sind, so werden wir schon durch diesen 
Umstand darauf geführt, in ihnen etwas Entscheidendes, 
die Grundlage des Drama's zu suchen. 

Es versteht sich von selbst, dass Goethe das Christen- 
thum nicht in Calderon's Weise als eine düstere Macht, 
der man sich bHndlings überliefern müsse, auffassen konnte : 
er lässt das gegenüberstehende Alte und das treue Fest- 
halten an demselben gleichfalls gelten, nur dass es endUch 
vor dem Überwältigenden der neuen Bildung weichen 
muss. Goethe hat in dem Trauerspiel offenbar das Christen- 
thum in seinen bedeutendsten Eigenthümlichkeiten zur 
Darstellung bringen w^oUen, daher zuvörderst der Gegen- 



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178 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



satz heidnischer Zustände und der kräftigen wie pietäts- 
vollen Anhänglichkeit an denselben, besonders in der 
vierten und fünften Scene des ersten Aufzugs, im zweiten 
Aufzug sowüe in der zweiten und der vierten Scene des 
vierten Aufzugs; daher die symbolische Handlung der 
Taufe, die Aufnahme in die Christengemeinschaft, wobei 
sich die schicklichste Gelegenheit bot, auf die geheimniss- 
volle Kraft der Offenbarung und die Bedeutung der neuen 
Lehre hinzuweisen ; daher ferner die Trauung, durch welche 
das Christenthum segensreich in*s Familienleben eingreift; 
daher die drohender Gefahr gegenüber bethätigte Ausdauer 
der Neubekehrten bis zum Entschluss zur Blutzeugenschaft ; 
daher das gläubige Vertrauen auf die nur durch ein Wunder 
möglich scheinende Rettung, indess die Heiden sich ver- 
zw^eifelnd den Tod geben. So sollten die verschiednen 
Kundgebungen des Christenthums vorgeführt werden. 

Vergleichen wnr den Inhalt des Entwurfs mit dem 
»Standhaften Prinzen« und der »Andacht zum Kreuze« 
weiter, so erinnert auch der Scheintodte dort an die — 
hier freilich zu christlichen Zwecken — zum Scheinleben 
wunderbar Erweckten, Prinz Ferdinand und Eusebio, so- 
dass nicht zu bezweifeln ist: Goethe w^oUte durch den 
Scheintodten und durch die Rettung zum Schluss ähn- 
liches, nur natürlich darstellen, was als Wunder bei Cal- 
deron erschien, der, wie es im Aufsatz über die »Tochter 
der Luft« heisst, genöthigt war Absurdes zu vergöttern. 

Ferner klingt noch ein Motiv an Calderon an, und 
zwaV die Aussicht auf den Hungertod im Thurme und das 
Eindringen der Retter, was ganz unerwartet erfolgt, nach- 
dem durch das Beseitigen der Schlüssel und die sonst un- 
mittelbar vorausgegangenen Begebnisse die im Thurm 
eingeschlossenen Personen auf Lebenszeit von der Welt 



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Trauerspiel in der Christenheit. 179 



geschieden zu sein scheinen. Das Gleiche ereignet sich in 
der »Brücke von Mantible«, und deshalb mag Goethe 
auch für seinen fünften Aufzug eine ebenso künstHch zu- 
sammengesetzte und — nach seiner eignen Bemerkung — 
nicht durch Worte, sondern nur durch Zeichnung begreif- 
lich zu machende Decoration im Sinn gehabt haben, wie 
sie der Schluss des genannten Calderon'schen Stückes 
voraussetzt. 

Und da einmal einer Decoration Erwähnung geschehen 
ist, mag noch darauf hingedeutet werden, dass die im 
ersten und zweiten Aufzug, des Trauerspielfragments mit 
ihrem Gemisch von felsigen Höhlen und künstlich her- 
gerichteten Aufenthaltsräumen an die Scenerie des ersten 
und dritten Tagwerks von »Das Leben ist Traum« er- 
innert. Goethe wollte mit den ungew^öhnlichen Decorationen 
jedenfalls insoweit das »Theatralische« berücksichtigen, das 
er im oftgedachten Aufsatz dem Calderon vorzugsweise 
zuschreibt und auf das Calderon bedacht sein musste, 
um den Forderungen der prunkliebenden Bühne Philipps IV. 
zu genügen. 

Wie der Inhalt Calderon'scher Dramen überhaupt auf 
Gegensätzen beruht, so auch die Ausführung der Entwick- 
lung. Goethe sagt im Aufsatz über »Die Tochter der 
Luft« : der Plan liege klar vor dem Verstände und deute 
auf die Technik der komischen Opern hin. Zum Theil 
offenbart sich hierin, was Goethe in demselben Aufsatz 
»bretterhaft« an Calderons Dramen nennt. So ist im 
»Standhaften Prinzen« der Held des Stücks, Fernando, 
erst Cberwinder des Feldherrn des Königs von Fez, dann 
Gefangner dieses Königs; hieraufsehen w^r ihn vom König, 
der als Lösegeld für ihn Genta zu erhalten hofft, uner- 
wartet geehrt, später aber, als Fernando selbst diesen Löse- 

12* 



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l8o Dramatische Entwürfe Goethe's. 



preis zurückweist, auPs schmählichste misshandelt; endlich 
führt er als Todter seine Landsleute und Glaubensgenossen 
zum Siege und wird als Leiche noch an Werth der Prin- 
zessin von Fez gleichgehalten. Ebenso wechselnd erscheint 
das Liebesverhältniss zwischen der fezanischen Prinzessin 
Phönix und dem Feldherrn Muley : Eifersucht, gegenseitige 
Beglückung, Schmerz wiegen der Nöthigung zur Heirath 
mit dem König von Marokko, endlich aber Aussicht auf 
Vereinigung mit dem Geliebten auf Fürbitte des feind- 
lichen Königs von Portugal. Solche in opernmäsigen Gegen- 
sätzen sich bewegende Schauspielanlage steht der sich in 
stetiger Steigerung entwackelnden Anlage eines Schau- 
spiels von höherem Kunststyl ebenso gegenüber, wie die 
Parallelismen einer unausgebildeten Dichtkunst dem fort- 
laufenden Erguss einer höheren. 

In derartigen Gegensätzen bewegt sich denn auch das 
»Trauerspiel in der Christenheit«: erst die eingekerkerte, 
vom Hungertod bedrohte Tochter, dann das Eindringen 
des Geliebten, der sie befreit; hierauf das durch das 
Zwischenreden des Bruders nicht zu hemmende Entzücken 
über die vermeintliche Versöhnung des Vaters, gleich dar- 
nach das Herzubringen seiner Leiche; w^eiter die engste 
Vereinigung durch die Trauung von Seiten des Bischofs 
und unmittelbar folgend die Trennung durch den aken 
Dynasten; endhch Sohn und Tochter abermals gefesselt 
und angesichts des Hungertodes, dann aber wieder zum 
Schluss plötzliche Befreiung. 

Diese Parallelismen durch Gleichnisse und Gegensätze, 
die Goethe im Brief an Gries vom 20. Mai 1821 theils als 
poetische Gleichnissfülle bewundert, theils als übermässig 
rhetorisch tadelt, kommen bei Calderon auch in der Aus- 
führung im Ausdruck mannigfach und gehäuft zur Er- 



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Trauerspiel in der Christenheit. l8l 



scheinung, und ebenso hat sie Goethe in den Bruchstücken 
des Trauerspiels angewandt. Es ist nicht Goethe's natür- 
liche, sondern Calderon's berechnete Weise, wenn in den 
Bruchstücken seitens der Tochter die starren Felsen dem 
harten Vater, das freundliche Walten Gottes dem Glücke 
des Tags, das Wesen des Vaters dem Rinnen des 'Bachs 
und dem Brausen des Bergstroms verglichen, sowie der 
die Tochter umgebenden Nacht das blinkende Auge des 
Bruders, dem klangberaubten Schweigen seine Trost- und 
Liebesworte entgegengesetzt werden. 

Ebensowenig sind acht Goethe'sch Geberden- und 
Versparallelismen wie folgende: 

Ja, ich bin's (knieend) zu Deinen Füssen! 
Ja, ich bin's (sich nähernd) in Deinen Armen! 
Bin der Redliche, der Treue, 
Der, und w^enn du staurrend zauderst, 
Der und wenn Du fürchtend zweifelst. 
Immer wiederholt und schwöret: 
Ewig ist er Dein und bleibt es! 
oder : 

Glänzend wie der Sommer Sonnen, 
Tief wie klare Sternennächte. 

Ebenso fremdartig muthet an: 

Du bringst nun, Bruder, mich mit Eiijem Male 
Dem Licht des Tags, dem Vater, dem Geliebten ! 

Man halte daneben beispielsweise aus dem » Standhaften 
Prinzen « die Vergleichung der Prinzessin Phönix erst durch 
ihre Dienerin mit der Morgenröthe und nachher durch Muley 
mit der Sonne; oder die vielen Gleichnisse, die Fernando 
gegen Ausgang des ersten Tagwerks auf ein rasches Pferd 



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l82 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



vorbringt; oder die Gegensätze, die Alfons gegen Ende 
hin in Bezug auf die Auswechslung der Prinzessin gegen 
die Leiche des Prinzen zusammenstellt; ferner Verse, wie 
die Fernando*s im dritten Tagwerk: 

Ob ich noch mehr Qualen dulde, 

Ob ich noch mehr Härte sehe. 

Ob ich noch mehr klag' im Drucke, 

Ob ich noch mehr Noth erlebe. 

Ob ich fühle noch mehr Busse, 

Ob ich noch mehr Hunger leide etc. 

oder endlich den Schluss der längern Rede der Prinzessin, 
worin sie die vorher angestellte Vergleichung zwischen 
dem blühenden Garten und dem wellenkräuselnden Meer 
sow^e die Schilderung des Einflusses derselben auf ihre 
Gemüthsstimmung in den Worten sammelt: 

Gross gewisslich ist mein Schmerz, 
Da nicht lindern die Beschwerde 
Flur und Himmel, Meer und Erde! 

Ähnliche Stellen bieten alle Bühnenspiele Calderon's in 
Menge zur Vergleichung. 

Diese Formen sind alle dermassen auf den Verstand 
berechnet, dass durch sie schon der Antheil des Gemüths 
an der Dichtung fast 'ausgeschlossen wird, und gerade hebt 
Goethe ganz ausdrücklich im oft gedachten Aufsatz über 
»Die Tochter der Luft« die Gemüthlosigkeit Calderon's 
hervor. Im »Trauerspiel in der Christenheit« scheint er 
solche dadurch anzudeuten beabsichtigt zu haben, dass er 
nach dem Erwachen des alten Dynasten ganz besonders 
vorschreibt, es solle zwischen ihm und dem ihn eben 
noch als todt beweinenden Knaben sein »als wenn 



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Trauerspiel in der Christenheit. 183 

er gewöhnlich aufwacht«; und dann, als der Treue hinzu- 
gekommen und das weitere verabredet ist, sie sollen sich 
vertheilen »froh, als ob nichts gewesen wäre«. Es sollte 
also jede Rührung beim Wiedererstehen vom Tod entfernt 
bleiben. 

Vergleichen w^ir nunmehr noch die aus den Bruch- 
stücken ersichtlichen Sprachformen mit denen Calderon's, 
so fällt uns zuerst der vierfüssige trochäische Vers auf, 
welcher eine so entschiedene Eigenthümlichkeit der classi- 
schen Bühnendichtung Spaniens ist, dass ihr Vorfinden in 
den Bruchstücken des Trauerspiels schon ein untrüglicher 
Führer zu der Quelle desselben sein müsste. Nun erscheint 
dieser Vers in den spanischen Comödien entweder als 
Redondilla mit Reim oder als Romanzenvers mit Assonanz, 
und Goethe hat in den wenigen Bruchstücken, die er zu 
Papier gebracht, gleich Beispiele beider Arten dieses Verses 
ausgeführt, — allerdings in seiner Weise nicht streng nach 
den Regeln spanischer Verskunst, sondern nur anähnelnd. 
Während in der Redondilla immer zwei sich reimende 
Verse zwxi andre mit gebundnem Reim einschliessen, 
lässt Goethe — aber auch nicht durchgängig — Zeile auf 
Zeile reimen, ja sogar, was bei Calderon gar nicht vor- 
kommt, drei solche Verse hintereinander. An Stelle der 
assonirenden hat er — ebenfalls ganz unspanisch — völlig 
reimfreie gesetzt, wol absichtlich, da unser an Assonanzen 
nicht gewöhntes Ohr dieselben überhört und ein assoni- 
render Vers wie ein reimloser klingt, weshalb auch Herder 
es bei seiner Übertragung der Cidromanzen für einen un- 
fruchtbaren Zwang ansah, sich die Fessel fremdartiger 
Assonanzenreihen aufzulegen. Demungeachtet scheint es, 
als habe Goethe den Versuch nicht umgangen, da in dem 
Bruchstück des Gesprächs zwischen der Tochter und 



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Dramatische Entwürfe Goethe's. 



Eginhard die Versendungen »bin es« — »versichern« 
und »Füssen«, mehr aber noch die gleich darauf folgen- 
den »Treue« — »zweifelst« — »bleibt es« — »schwei- 
gest« — »meine« — Assonanzen z. Th. sind, z. Th. doch 
wol sein sollen. 

Calderon bleibt aber bei diesem Grundvers der Co- 
mödien nicht stehn, sondern geht oft in Liras, Verse von 
ungleichen Längen, sowie in gereimte Hendecasyllaben 
über, und auch hiervon finden sich, wenn auch sehr frei 
behandelte Beispiele in Goethe's wenigen Bruchstücken, so 
dass er sofort bei den ersten Aufzeichnungen seinem Vor- 
bild in allen Formen des Verses ebenso zu folgen unter- 
nahm, wie es hinsichtlich des Ausdrucks der Fall war. 
Er hat auch ein Bruchstück mit reimlosen Jamben, die 
zwar Calderon's Vorgänger hatten — auch neuere Bühnen- 
dichter wieder angenommen haben — nicht aber Calderon 
selbst; dass indess Goethe jene Vorgänger wenigstens 
später kannte, ist aus dem in den » Nachgelassnen Wer- 
ken«, also nach 1828 hinzugekommnen Schluss des Auf- 
satzes »Französisches Haupttheatcr « ersichtlich, worin auf 
das wechselnde Sylbenmass Guillen de Castro's Bezug 
genommen ist. 

Eine vorzugsweise in die Augen springende Eigenheit 
Calderon's, die auch Goethe wiederholt berührt, scheint 
er aber im »Trauerspiel in der Christenheit« ganz beiseit- 
gelassen zu haben: den Gracioso. Es fällt dies um so 
mehr auf, als Goethe seiner immer mit Behagen gedenkt; 
allein es lässt sich wol denken, dass er nicht wagte diese 
nicht nur einem reinen Kunststyl, sondern auch unserm 
geläuterten Geschmack widerstrebende Einmischung des 
Lächerlichen, oft Platten in das Ernste und Hohe der 
heutigen Bühne zuzumuthen. Er konnte den Gracioso an 



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Trauerspiel in der Christenheit. l8y 



sich reizend finden, ohne sein Auftreten in bestimmten 
Schauspielen zu billigen. Goethe warnte ja auch selbst 
z. B. in »Deutsches Theater — Einzelnes« und im Brief 
an Zelter vom 28. Februar 181 1 nachdrücklich vor allzu- 
treuer Nachahmung Calderon's, weil er dem guten Ge- 
schmack gefährlich werden könnte ! Nichtsdestoweniger 
bleibe dahingestellt, ob er nicht wenigstens einige Züge 
des Gracioso, namentlich seine auf Linderung starker Ein- 
drücke berechnete Richtung in dem »Treuen« anbringen 
wollte; denn dessen Erwähnung in der Inhaltsangabe des 
Stücks, wonach er fast gar keinen Einfluss auf die Hand- 
lung zu haben scheint, wird nur durch eine charakteris- 
tische Bedeutung dieser Person erklärt werden können; 
darauf aber, dass deren Charakter kein tiefer, sondern ein 
leichter, heitrer sein sollte, bezieht sich vielleicht die 
schon angeführte, auf den ersten Anblick befremdende 
Andeutung in der Inhaltsangabe des zweiten Aufzugs, dass 
der Treue und sein Begleiter das Wiederaufleben ihres 
Herrn gleichgültig nehmen, als ob nichts Besondres vor- 
gefallen wäre. Selbst die Bezeichnung »Der Treue« mag 
einer Eigenschaft des Gracioso entnommen sein. 

Goethe ist aber bei der versuchten Nachbildung Cal- 
deron'scher Dichtungsweise nicht bloss vorstehendem zu- 
folge absichtlich in einzelnen Beziehungen von seinem 
Muster abgewichen, sondern ist ihm seiner Natur gemäss 
im Grunde völlig fern geblieben. Goethe erkannte so 
klar, wne diese Dichtung uns und insbesondre auch ihm 
innerlich fremd sei, und er selbst war in einem höhern 
Sinn ein so ganz und vollgültig ausgeprägter Dichter, dass 
er auf den Versuch hätte verzichten sollen, die Eigen- 
thümlichkeiten eines andern, die er in ihrer Ausbildung 
bewundem mochte, die aber theils eben als Eigenthüm- 



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l86 Dramatische Entwürfe Goethe*s. 



lichkeiten unnachahmbar, theils doch nur glänzende Fehler 
waren, in einem selbständigen Dichterwerke wiederzu- 
geben. Aus dem blossen Entwurf ist schon herauszufühlen, 
dass dem Trauerspiel Goethe's die Leichtigkeit des Gusses, 
welche er nach Riemer am 17. November 1809 dem Cal- 
deron nachrühmte, gefehlt haben würde; das Rednerische, 
das bei Calderon wie ein Sprudel aus dem Boden heraus- 
schiesst, erscheint in Goethe's Bruchstücken wie der Ab- 
fluss eines Pumpwerks. 

Die Gleichnisse sind zwar in Goethe's Bruchstücken 
viel natürlicher als grossentheils bei Calderon, allein diesem 
war es eben um die Bewunderung des Geschicks in Her- 
beiziehung unerw^arteter Gleichnisse zu thun, und daran 
ist bei Goethe nichts wahrzunehmen; die Verwickelung 
ist ferner von diesem nicht so künstHch verschlungen 
angelegt, dass man wie in Calderon's Stücken bei jeder 
Situation mit höchster Spannung der Lösung entgegen- 
harrt; was bei Calderon Überraschung oder Wunder des 
Glaubens ist, erscheint nach den Bruchstücken wie Ver- 
blüffung. Dieses Zurückstehn Goethe's gegen Calderon 
mag zum Theil Folge richtigerer Erkenntnisse der Kunst- 
forderungen sein, aber zum Theil konnte er doch eben 
nicht gegen seine Natur und der absichtsvolle Nachahmer 
wird nie an den frei Schaffenden reichen. Und endlich, 
wenn Goethe auch Treffliches in jener Art leistete, konnte 
er einen der Mühe werthen Gewinn erhoffen? Und doch 
hatte er, indem er Calderon's reUgiöse Stücke (»comedias 
divinas«) nachzubilden trachtete, mit sicherem Tacte noch 
die uns zugängUchste Dramengattung ausgewählt, da die 
Modemisirung der mythischen, die Abenteuerlichkeit der 
geschichtlichen und die Spitzfindigkeit der Mantel- und 
Degenstücke Calderon*s uns noch ungeniessbarer sind. 



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Trauerspiel in der Christenheit. 187 

Goethe sah denn auch zeitig genug ein, dass er mit 
ungleichen Wafien neben Calderon locht und gab den 
Wettkampf auf. Dagegen ging er nunmehr daran des 
Spaniers eigne Werke, die sich also gleich als etwas 
fremdartiges ankündigten und denen daher der Zuschauer 
mit andern Erwartungen gegenübertrat, der deutschen Bühne 
zuzuführen. Er veranlasste daher Bearbeitungen Calde- 
ron'scher Schauspiele durch Einsiedel, Riemer und Wolti, 
aber auch nur mit dem Ertolg des UngewöhnUchen auf 
wenige Jahre. 

Haben wir nun als erwiesen anzusehen, dass das 
»Trauerspiel in der Christenheit « dasjenige durch Goethe's 
Wesen als nothwendig bedingte Erzeugniss seines Dichter- 
geistes war, durch welches er sich von dem gewaltigen 
Eindruck, den Calderon auf ilin gemacht hatte, zu befreien 
trachtete, indem er in demselben Inhalt und Form der 
spanischen Bühnendichtungen nachzuschatfen gedachte, so 
erübrigt nur noch auf den Stoff des Bruchstücks näher 
einzugehn und zu ermitteln, woher ihn Goethe nahm. 

Riemer deutet in seinen Mittheilungen (II, 622) darauf 
hin, dass er der Chronik Turpin's oder dem Leben Karl's 
des Grossen von Eginhard entlehnt sei. Wenn schon 
Goethe jene Schriften möglicherweise zu dem allgemeinen 
Zw^ecke las, daraus Ansichten, Stimmungen und Zustände 
der Zeit, in welche er das »Trauerspiel in der Christen- 
heit « verlegen wollte , kennen zu lernen , so durfte 
man doch von vornherein für wahrscheinlich halten, 
dass er die Begebenheiten desselben ebenfalls daraus 
geschöpft habe. Und da lesen wir denn in der That 
Folgendes in Turpin's Chronik aus der Geschichte vom 
heiligen Eutrop, die offenbar das Gerüst des Trauerspiels 
in sich birgt. 



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D.IAMATISCHE EXTWÜ:^FE GoETHE'S. 



»Der heilige Petrus, welcher damals in Antiochien 
weilte, trug ihm [dem h. Eutrop] auf, nach Elleposella zu 
gehn, dort zu predigen und öffentlich den Namen unsers 
Herrn zu verkündigen, auch dabei seine drei Gefährten 
mit sich zu nehmen ; der heilige Dionys aber wurde durch 
besagten heiligen Petrus nach Paris in Frankreich ge- 
wiesen. Als der ruhmwürdige heilige Eutrop nach Elle- 
posella gekommen war, predigte er den Namen unsers 
Herrn, konnte aber niemand bekehren ausser Eutella, die 
Tochter des Königs Huwant; diese war von Gott erfüllt 
und glaubte an die Worte des gebenedeiten Märtyrers. 
Die Ungläubigen, welche damals Frankreich bewohnten, 
schlugen, misshandelten, höhnten und schmähten den hei- 
ligen Eutrop, wenn er von unserm Herrn sprach, aber 
jene gebenedeite Jungfrau Eutella heilte ihn von seinen 
Schlägen und Wunden. [Folgt die Erzählung seiner Reise 
nach Rom.] Hierauf empfahl ihm der heilige Clemens 
nach besagten Ort [Ellcposella] zurückzugehen, von neuem 
den Namen Jesu Christi laut und öffentlich zu predigen 
und überdies die Wunder zu verkünden, welche in Rom 
durch den heiligen Petrus vollbracht worden seien. Er 
gehorchte dem Papst Clemens, wandte sich in jenes Land 
zurück und bekehrte vieles Volk, das ihm zuhörte. Aber 
die Ungläubigen der Stadt gingen zum König Huw^ant, 
schrieen und sagten ihm, sein ganzes Volk sei verloren; 
denn alle glaubten dem heiligen Eutrop. Der König Hu- 
want schickte einige seiner Leute ab um den guten Hei- 
ligen zu tödten, aber als er sie kommen sah, bekehrte er 
sie, indem er das Zeichen des Kreuzes machte; sie glaubten 
an Gott und er taufte sie deshalb. Der König Huwant 
Hess ihnen aus Wuth und Arger den Kopf abschneiden, 
weil sie dem Gesetz, an welchem er hielt, untreu gewor- 



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Trauerspiel in der Christenheit. 189 



den waren. Besagter Huwant schickte ihm hierauf eben- 
soviel andre von seinen Leuten zu, nämlich zwanzig seiner 
Jäger; sie wurden aber ebenso bekehrt, weshalb er sie 
tödten liess wie die ersten. Nachher schickte Huwant 
seinen Sohn und zwanzig seiner Kämmerlinge zu ihm und 
jener bekehrte sie gleichfalls. Der König Huwant war 
sehr erzürnt und wüthend über seinen Sohn und die Leute, 
die er hatte tödten lassen, dermassen dass er laut befahl, 
Eutrop zum Tod zu führen. Als besagter Eutrop die 
Leute des Königs Huwant kommen sah, betrübte er sich 
sehr über die, welche um ihres Glaubens wollen getödtet 
worden waren und hob sein Angesicht auf gen Himmel, 
faltete die Hände und sandte ein Gebet zu unserm Herrn 
Jesus Christus, sprechend: Herr Gott, Jesus Christus! Er- 
barme Dich ihrer, die um Deinetwillen gemartert worden 
sind und grosse Qual erlitten haben, damit sie nicht ver- 
dammt werden , sondern ewiglich mit Dir herrschen. 
Nachdem der gute heilige Eutrop sein Gebet geendigt 
hatte, gaben die, welche abgeschickt waren ihn zu tödten, 
ihm den Tod«. 

In dieser Erzählung Turpin's giebt es also Bekehrung 
des Sohns und der Tochter eines dem Christenthum feind- 
seligen heidnischen Fürsten, wie im Trauerspielentwurf, 
und zwar im Westen Europa*s, wohin auch die Örtlich- 
keit des Entwurfs mit seinem fränkischen »Eginhard« zu 
verlegen ist. Sind diese Vorgänge auch nur in den allge- 
meinsten Umrissen im Entwurf wiederzufinden und würde 
man daher auch nicht ohne sonstige Gründe die Abhängig- 
keit des letztern von ersteren annehmen dürfen, so ist 
doch eben Riemer's Hinweis auf Turpin ausreichender 
Grund dazu. 

Riemer benennt den Entwurf »Eginhard«; die mit 



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190 Dramatische Entwürfe Goethe's. 



diesem Namen bezeichnete Persönlichkeit hat eine viel zu 
bescheidne Stellung, als dass Riemer's Vorschlag irgend- 
welche Berücksichtigung verdiente. Wahrscheinlich wollte 
er seiner Gattin dadurch eine Aufmerksamkeit erzeigen, 
da Goethe dieselbe, als sie bei ihm Secretärdienste versah, 
seinen »Eginhard« zu nennen pflegte. Ebenso begreift 
man nicht, wie Riemer zu dem Beisatz »altdeutsches 
Drama« kommt, da Goethe vielmehr bei Beschreibung 
der Decoration zum dritten Aufzug das Altdeutsche aus- 
drücklich abweist. Jedenfalls genügt für das Fragment 
in beiden Beziehungen die Bezeichnung, die Goethe dem 
Stück in seinem Tagebuch beilegte: »Trauerspiel in der 
Christenheit«. 



-^^ 




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IV. Goethe 

MIT 

Zeitgenossen. 



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I. Goethe und Nicolai. 



|''<r-,-^'_^'c.ip man von einem in der zweiten Hälfte 
ivm^tfr II '^^^ vorigen Jahrhunderts bis in den Anfang 
llll (1 111: kks jetzigen hinein wirkenden Schriftsteller 
I ^ ^^Jltl vernimmt, dass er neben sonstigen bedeu- 
t '■ ■ '- ■ 'z:::j=d tenden Männern Moses Mendelssohn und 
Lessing zu seinen Freunden zählte, w^ährend zahlreiche 
andere, darunter keine geringeren als A. W. Schlegel, 
Tieck, Lavater, Kant, Fichte, Schelling, Schiller und Goethe, 
ihm in Satiren und ganzen wider ihn gerichteten Schriften 
schroff entgegentraten, so wurd man fast zu der Annahme 
gezwungen, dass man eine literarische Grösse vor sich 
habe, und doch war dies Friedrich Nicolai — von ihm 
ist die Rede — nicht im geringsten. Als verdienst- und 
kenntnissreich, aber geistig sehr beschränkt, bezeichnet 
ihn Goethe und es bleibt nur zu erklären, wie ein solcher 
Mann beinahe ein halbes Jahrhundert lang so vielen Staub 
aufrühren, so vielen Lärm hervorrufen konnte. Des Räth- 
sels Lösung liegt darin, dass Nicolai als Buchhändler ein 
tüchtiger Geschäftsmann und dass sein Geist zu beweglich 
war, als dass er sich ohne frischen, fröhlichen Krakel 



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194 Goethe mit Zeitgenossen. 

wohl gefühlt hätte. Die von ihm unternommenen Zeit- 
schriften: »Briefe, die neueste Literatur betreffend«, 
»Bibliothek der schönen Wissenschaften«, noch mehr aber 
»Allgemeine deutsche Bibliothek «, waren für die deutsche 
Literatur wichtige, immerhin aber zunächst kaufmännische 
Unternehmungen, die er mit nicht zu verkennendem Ver- 
ständniss leitete, indem er insbesondre z. Th. vorzügliche 
Mitarbeiter zu gewinnen wusste. Hierdurch machte er eine 
grosse Anzahl von Gelehrten und Schriftstellern von sich 
abhängig, während Aussenstehende es mit ihm aus Rücksicht 
auf den Einfluss seines kritischen Blattes nicht verderben 
mochten, so dass es unter den Zeitgenossen nicht an Männern 
fehlte, die seinen Werth über die Gebühr erhoben, indess 
andre ihn wenigstens stillschweigend gelten Hessen. 

Nicolai war selbst Mitarbeiter an seinen Literatur- 
blättern und dadurch umsomehr im Stand, denselben eine 
bestimmte Richtung zu bewahren. Die Beschränktheit 
seines Geistes machte ihn aber feindselig gegen alles 
Hervorragende; er ging auf allgemeines Gleichmachen im 
Sinne der Mittelmässigkeit aus. In welchem Geistesgebiet 
auch, sei es Religion, Philosophie, Dichtung oder gesell- 
schaftliche Zustände etwas über die Fläche emporstrebte, 
Nicolai konnte nicht anders, er musste darüber herfallen, 
wenn schon er gewöhnlich die Erfahrung machte, dass er 
dabei schlecht wegkam, weil er aus seinem Flachland 
nicht zu den Höhen hinaufgelangen konnte und immer 
von oben aus niedergeworfen wurde. Nicht in Wider- 
spruch damit stand es, dass er mit seiner »Allgemeinen 
deutschen Bibliothek« ein Mittelpunkt der sogenannten 
Autklärung war; denn im Sinne Nicolai's und seiner 
Gesinnungsgenossen war sie auch nur eine Verflachung 
der geistigen Bewegung jener Zeit und wesentlich eine 



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Goethe und Nicolai. 195 



kaufmännische Benutzung der Conjunctur, dass man in 
Berlin — wie Lessing schrieb — die Freiheit genoss, 
gegen die Religion so viel Sottisen zu Markte zu bringen 
als man wolle, welcher Freiheit sich zu bedienen, der 
rechtliche Mann sich bald schämen müsse. 

So war denn auch Goethe's Hinausschreiten über das 
nüchterne Schema Nicolai offenbar schon vom Erscheinen 
des »Götz von Berlichingen « an widerwärtig; das be- 
zeugen Nicolai's kleinhche Weise merkwürdig kenn- 
zeichnende zwei Buchstaben, die er in einen Brief Merck's 
hineinschrieb. Dieser — mit Nicolai ebenso wie mit 
Goethe befreundet — meldete dem Berliner unterm 
28. Juni 1774: »Goethe arbeitet ... an vielerlei drama- 
tischem Wesen«, und Nicolai Hess hier aufs kindischste 
seinen Verdruss dadurch aus, dass er dem »Wesen« die 
Sylbe »Un« vorsetzte. Um diese Zeit frug Merck auch 
bei Nicolai an, ob er einige Possenspiele, die Goethe ge- 
schrieben habe, drucken wolle; allein jener lehnte mit der 
schon durch seinen »Sebaldus Nothanker« und sonst als 
Lüge sich darstellenden Bemerkung ab, dass er mit per- 
sönlichen Satiren nichts zu thun haben wolle; zugleich 
benutzte er diese Gelegenheit, für Goethe den guten Rath 
einfliessen zu lassen: er werde künftig, wenn er einmal 
eine literarische Ehre aufs Spiel zu setzen haben werde, 
vielleicht bereuen, einen so zügellosen Ton angegeben 
zu haben. Diese Verurtheilung mochte sich auf »Götter, 
Helden und Wieland« und den »Prolog zu den neuesten 
Offenbarungen des D. Bahrdt « beziehen, während das ihm 
zum Verlag angebotene Stück wahrscheinlich das »Neu 
eröffnete moralische politische Puppenspiel« war. Alle 
drei Stücke nahm Nicolai dann in einer Recension der 
»Allgemeinen deutschen Bibliothek« scharf mit. 

13* 



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196 Goethe mit Zeitgenossen. 



Jetzt erschienen »Die Leiden des jungen Werther«. 
Der Eindruck, den die ganze Welt von dieser Dichtung 
empfand, war zu gewaltig, als dass Nicolai nicht das Be- 
dürfniss gefühlt haben sollte, dieselbe zu seiner Boden- 
gleiche herabzuziehn, und überdies schöpfte sie zu sehr 
aus den Tiefen des Seelenlebens, als dass Nicolai sie hätte 
begreiflich finden können. Zwar hütete er sich, dieses 
sein Unvermögen zu gestehen, und pries z. B. in einem 
Brief an Johannes v. Müller vom 16. October 1775 dieses 
»herrliche Werk des Geistes«; allein es ist ganz undenk- 
bar, dass ein Mensch für Werther's Leiden Verständniss 
gehabt haben sollte, der so damit umging, wie Nicolai 
that. Freilich hatte dieser bei seinem Vorgehen Lessing 
hinter sich, der ja auch wünschte, Goethe möchte dem 
Roman noch ein paar cynische Capitel anfügen. Nicolai 
aber hielt sich für verpflichtet vor der Gefährlichkeit des 
Goethe'schen Romans zu w^arnen durch seine Schrift: 
»Freuden des jungen Werther's. Leiden und 
Freuden Werther's de§ Mannes. Voran und 
zuletzt ein Gespräch. Berlin, bei Friedrich 
Nicolai 1775.« Der Inhalt ist in Kürze folgender. 

In einem Gespräch zwischen »Hans, ein Jüngling« 
und » Martin, ein Mann « schwärmt ersterer für den jungen 
Werther, während der andre diese Begeisterung tadelt 
und sich erbietet, durch eine kleine Änderung in den 
»Leiden des jungen Werther's« der ganzen Geschichte 
desselben eine Wendung zu geben, wodurch sie sehr 
nüchtern verlaufen müsse. Zu diesem Zweck folgt nun 
zunächst »Freuden des jungen Werther's«, w^orin an die- 
jenige Stelle der Leiden, in welcher Werther um Albert's 
Pistolen bittet, anknüpfend, der fernere Verlauf so dar- 
gestellt wird, dass Albert die Pistolen mit Hühnerblut 



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Goethe uxd Nicolai. 197 



ladet und der Schuss aus denselben daher ohne tödtUche 
Folge bleibt, worauf Albert, der noch unverheirathet ange- 
nommen ist, seine Braut an Werther abtritt, der sie dann 
heirathet. — Die »Leiden Werther's des Mannes« schildern 
hierauf Lottens Liebelei mit einem jungen Mann, wodurch 
Werther veranlasst wird, sich von seiner Frau zu trennen. 
In den »Freuden Werther's des Mannes« endlich vereinigen 
sie sich wieder und ein, nur anfänglich durch die Nach- 
barschaft eines Genie's gestörtes idyllisches Landleben 
unter vielen Kindern schliesst diese Parodien. Hinter den- 
selben folgt noch ein kurzes Gespräch, in dem sich Hans 
mit Martin einverstanden erklärt. 

Im ersten AugenbHck nahm Goethe Nicolai's Spott- 
schrift ohne alle Empfindlichkeit auf; an dem Abend des 
Tags, an dem er sie erhalten hatte, dichtete er das Lied 
in » Erwin und Elmire « : 

Ein Schauspiel für Götter 
Zwei Liebende zu sehn! 

auch gegen von Bretschneider begnügte er sich — wie 
dieser am 10. März 1775 an Nicolai schrieb — zu sagen: 
man habe ihn nicht verstanden, und er konnte harmlos 
darüber schreiben: 

Stossgebet. 

Vor Werther's Leiden, 

Mehr noch vor seinen Freuden, 

Bewahr uns Heber Herre Gott. 

Allein der viele Summs, den man um das Nicolai'sche 
Geschreibsel machte, wurde Goethe'n endlich doch ver- 
driessHch. Am 7. März 1775 schrieb er an Gräfin Auguste 



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198 Goethe mit Zeitgenossen. 



zu Stolberg: »Ich bin das Ausgraben und Seciren meines 
armen Werther*s so satt. Wo ich in eine Stube trete, 
find ich das Berliner p. p. Hundezeug, ... ob ich gleich 
finde, dass es viel raisonnabler sei Hühnerblut zu ver- 
giessen, als sein eignes«. Wie er daher bald von dem, 
bald von jenem darüber angeredet wurde, mochte er je 
nach der Verschiedenheit der Ansprache Anlass genommen 
haben, sich auch poetisch verschieden darüber zu äussern 
und so entstanden die drei dichterischen Erzeugnisse, deren 
Goethe selbst im XIII. Buch von »Dichtung und Wahr- 
heit« gedenkt und von denen er das eine dort mittheilt, 
das andre als nicht mittheilbar bezeichnet, das dritte aber 
für verloren hielt und nur seinen Inhalt kurz angiebt. Das 
mitgetheilte, einem Vers aus Eike von Repgow's Vorrede 
zum »Sachsenspiegel« nachgebildet, lautet: 

Mag jener dünkelhafte Mann 

Mich als gefährlich preisen! 

Der Plumpe, der nicht schwimmen kann. 

Er will's dem Wasser verweisen. 

Was schiert mich der Berliner Bann, 

Geschmäcklerpfaffenwesen ! 

Und wer mich nicht verstehen kann. 

Der lerne besser lesen. 

Das andere, das Goethe 181 3 nicht wieder mittheilen 
wollte, hatte er dennoch selbst 1775 drucken lassen und 
Freunden zugestellt ; in diesem Druck hat es folgende, von 
späteren Abschriften etwas abweichende Fassung: 

Ein junger Mann — ich weiss nicht wie — 
Starb einst an der Hypochondrie 
Und ward auch so begraben. 



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Goethe und Nicolai. 199 



Da kam ein starker Geist herbei, 

Der hatte seinen Stänkrig frei, 

Wie ihn so Leute haben. 

Er setzt gemächlich sich aufs Grab 

Und legt sein reinlich Häuflein ab, 

Beschauet freundlich seinen Dreck, 

Geht wohler athmend wieder weg 

Und spricht zu sich bedächtiglich : 
»Der gute Mann, wie hat sich der verdorben! 
Hätt* er geschissen so wie ich. 
Er wäre nicht gestorben!« 
Das dritte jener poetischen Stücke wider Nicolai, der 
Dialog, scheint wie Goethe, so auch sonst Jedermann 
für verschollen gegolten zu haben, bis es durch den ver- 
storbenen Dichter Adolf Böttger aus Oeser's Nachlass in 
meine Hände kam; ich Hess es zum 28. August 1862 in, 
glaub' ich, 30 Exemplaren drucken. Meine Handschrift ist 
eine von Goethe selbst herrührende, d. h. zwar von Philipp 
Seidel geschrieben, aber von Goethe mit Zwischenschriften 
versehen. In Friedrich Jacobi's Nachlass fand man später 
noch eine Abschrift, die Zöppritz veröffentlichte. Mein 
Original folgt: 

ANEKDOTE 

ZU den Freuden des jungen Werther's. 



Lotte im Negligity Wert her im Hausfrack sitzend; 
sie verbindt ihm die Augen, 
Loixe. 

Nein, Werther, das verzeih* ich Alberten mein* 
Tage nicht: ich hab' ihn lieb und werth und bin 
ihm alles schuldig; aber mich dünkt doch, wenn 



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200 Goethe mit Zeitgexossex. 



Einer einen klugen Streich machen will, soll er ihn 
nicht halb thun, soll nicht durch einen grillenhaften, 
läppischen Einfall alles verderben, was er etwa noch 
gut machen könnte. Wo ist da nur Menschenver- 
stand, Gefühl, Delicatesse in seiner Aufführung? Der 
verfluchte Schuss! Es war ein Hanswursten-Einfall. 
Er sollte Dich von Deiner Verzweiflung curiren und 
bringt Dich fast um Deine Augen. Deine lieben Augen, 
Werther! Du hast seit der Zeit noch nicht hell 
daraus gesehn. 

W e r t h e r. 
Sie brennen mich heut wieder sehr. Es wird 
besser werden. Albert hat's gut gemeint. Was kann 
man dafür, dass es die Leute gut meinen. 

Lotte. 
Ich begreife nicht, wie Du nicht gar ein Auge 
drüber verloren hast. Und Deine Augenbraunen sind 
hin! (Sie küsst ihm die Stirne,) 

W e r t h e r. 
Liebe Lotte! 

Lotte. 
So schön gezeichnet, wie sie waren, w^erden sie 
nimmer wieder. Meint er doch Wunder was er ge- 
than hätte! Wenn er zu uns kommt, sieht er immer 
sehr freundlich drein, als wenn er uns glücklich ge- 
macht hätte. 



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Goethe und Nicolai. 201 



Werther. 
Hat er's nicht? Hat er mich nicht Dir gegeben? 
Dich mir? Bist Du nicht mein, Lotte? 

Lotte. 
Wenn er Gelassenheit, Gleichgültigkeit genug 
hatte, das zu thun, könnt' er's mit weit wenigem 
Aufwand. Wäre er statt seiner Pistolen selbst zu Dir 
gegangen, hätte gesagt: Werther, halt ein Bischen! 
Lotte ist Dein! Du kannst nicht leben ohne sie, ich 
wol! Also seh' ich als ein rechtschaffener Mann — 
Du lächelst, Werther! 

W e r t h e r. 
Setze Dich zu mir, Lotte, und gieb mir Deine 
Hand. Ein blinder Mann, ein armer Mann! (Er küsst 
ihre Hand,) Ja, es ist Deine Hand, Lotte, die ich 
seit der ersten Berührung immer mit Verbundenen 
Augen aus Hunderten mit meinen Lippen hätte heraus- 
finden wollen. Du bist wohl? 

Lotte. 
Ganz wohl! Freilich geht's ein Bischen drunter 
und drüber mit uns. Aber w^eil's uns immer wunder- 
lich ging — 

Werther. 
und die Leute, die unsere Sachen zurechtlegen 
wollten, ihr Handwerk nicht verstunden — 



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202 Goethe mit Zeitgenossen. 

Lotte. 

Es mag gut sein; nur sollten sie mit ihrer hoch- 
weisen Nase nicht so oben drein sehn. Das gesteh' 
ich Dir gern: ich kannte Alberten immer als einen 
edlen, ruhigen und doch warmen Mann, aber seit, 
pag. 23, der ganz fatalen Scene, wo er mir mit der 
unleidlichsten Kälte aufkündigt, mir die niedrigsten 
Vorwürfe macht, die ich dann in der Beklemmung 
meines Herzens so musste hingehen lassen, ist er 
mir ganz unerträglich. Ich liebte ihn wahrlich, ich 
hoffte ihn glücklich zu machen, ich wünschte Dich 
fern von mir — und so, Werther! Ich weiss noch 
nicht, ob ich Dich habe. 

Wert her. 

Ich dachte, Du wüsstest's! Und behalten musst 
Du mich nun einmal. 

Lotte (scherzend). 
Nun, Du bist mir so gut als ein anderer! 

Werther. 
Aber der andere hat Dich noch nicht, Weibchen ! 

Lotte. 

Nimm mir's nicht übel: wenn, ich w^eiss nicht 
welcher Teufel ihm auf dem Ritt, pag. 23, den Kopf 
verrückt hätte, ich wäre nicht hier. 



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Goethe und Nicolai. 203 



Werther. 
Und ich? 

Lotte. 
Wo — Du könntest. 

Werther. 
Lotte ! 

Lotte. 

Du lebst, und ich bin zufrieden. 

Werther. 
Das ist doch nun Albertens Werk. Hab' ihm 
Dank! 

Lotte. 

Nicht gar! Kann Einer nicht etwas für uns thun 
ohne Dank zu verdienen? Hättest Du die Relation 
gelesen, die er davon an Madame Mendelssohn schrieb, 
Du wärst rasend geworden, pag. 23 — 36 incl. 

Werther. 
Wie so? Was, meine Liebe? 

Lotte. 
Erst musst' ich lachen, dass er von der ganzen 
Sache gar nichts begriffen, nicht die mindeste Ahn- 
dung von dem gehabt hatte, was in Deinem und 
meinem Herzen vorging. Hernach verdross mich's, 
was er sich den Bauch streicht und thut, als wenn 
er im März vorausgesehen hätte, dass es Sommer 



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204 Goethe mit Zeitgenossek. 



werden würde. Und w^as Du für eine Figur drinne 
spielst mit dem Sauschuss vor'm Kopf! Du meinst 
immer, Du wärst todt, pag. 23, und sprichst immer 
so vernünftig, ibidem. — Was machen Deine Augen, 
mein Bester? 

W e r t h e r. 
Sie sehn Dich nicht ! 

Lotte. 
Sieh doch, wie artig! 

Werther. 
Freilich nicht wie, pag. 42, ehemals. 

^Lotte. 

Nein, von der Relation zu reden! Sieh, wie er 
die besten wärmsten Stellen Deiner Briefe parodirt 
und sie, wie ein Zahnarzt die ausgerissenen Zähne, 
um seinen stattlichen Hals hängt, mit viel Gründ- 
lichkeit zeigt, wie man Unrecht gehabt habe, mit 
solchen Maschinen von Jugend auf zu kauen. Ich 
war' ihm Feind geworden, wenn ich das könnte. 
Es ist so garstig! 

Werther. 

Was geht das mich an! 

Lotte. 

Ich sagte Dir immer, Du solltest mit Deinen 
Papieren vorsichtiger um'gehen. Wie wenig Menschen 
fühlen solche Verhältnisse, und von den kalten Kerls 



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Goethe ukd Nicolai. 205 



nimmt jeder draus, nicht was ihn freut, sondern was 
ihn ärgert, und macht seine Sauce dazu. Videtur 
totum opus. 

W e r t h e r. 

Du bist doch immer die liebe Lotte! Findest da 
alles sehr dumm und bist im Grund doch nicht bös. 
Küss mich, Weibchen, und mach, dass wir zu Nacht 
essen. Ich möchte zu Bette, ob ich gleich spüre, dass 
mich meine Augen wenig ruhen lassen. 

Lotte. 
Die verfluchte Cur! 



Die von Goethe selbst in Scidel's Niederschrift ein- 
geschriebenen Worte sind: in Lottens achter Rede »ver- 
rückt« und in ihrer zwölften »und thut.« Durchstrichen 
sind: in Lottens sechster Rede zwischen »doch« und 
»warnen« das Wort »gelassenen«; in ihrer achten zwi- 
schen »nicht« und »übel« das Wort »einmal«, sowie in 
ihrer vierzehnten zwischen »so« und »garstig« ein zweites 
»garstig«; endlich stand in Werther's dritter Rede erst 
»Bist Du nicht meine Lotte?« und ist nun das Schluss-e 
in »meine« ebenfalls durchstrichen. In Lottens achter 
Rede hatte mein erster Druck fehlerhaft »pag. 33« doch 
ist wol nicht »pag. 23« gemeint, sondern Seite 33 und 34, 
indem dort Albert von seinem auf der Reise gefassten 
Entschluss erzählt, Lotte und Werther zu vereinigen. 
»Videtur« gegen Ende steht wol für »videatur.« 

Zur Erläuterung ist nur noch hinzuzufügen, dass auf 
Seite 23 bis 36 der Nicolai'schen Schrift, worauf im Dialog 



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206 Goethe mit Zeitgenossen. 

Bezug genommen ist, sich die »Freuden des jungen Wer- 
ther's« befinden; sie beginnen mit einer pedantischen 
Mahnung Albert's an Lotte darüber, wie sie Werther*n 
bei seinen übcrw^allenden Ausbrüchen hätte begegnen sollen. 
Nachdem Werther sich dann mit der blind geladenen 
Pistole geschossen hat, wird er wie der todte auf ein Bett 
gelegt und mit dem herbeigeeilten Albert bespricht er sich 
dann, als ob er tödtlich verwundet sei und jeden Augenblick 
sein Ende zu erwarten habe; von Albert's Kunstgriff und 
Absichten in Kenntniss gesetzt, springt er aber sofort ganz 
vergnügt auf und vergisst, dass er sich für dem Tod ver- 
fallen hielt. Die ferner von Goethe erwähnte Stelle Seite 42 
in den »Leiden Werther's des Mannes« handelt von 
Lottens Verdruss, weil ihr Gatte ihr nicht mehr so den 
Hof macht wüe als Liebhaber und von ihrer daraus fol- 
genden Hinnahme der Huldigungen eines andern jungen 
Mannes. Aus der Nennung der Madame Mendelssohn end- 
lich scheint hervorzugehen, dass Goethe erfahren hatte, 
Nicolai habe die »Freuden des jungen Werther's« im Hause 
des befreundeten Mendelssohn vorgelesen und dort Beifall 
gefunden. 

Nicolai dürfte keins der gegen ihn gerichteten Ge- 
dichte Goethe's kennen gelernt haben, wol aber war ihm 
hinterbracht worden, dass Goethe schlecht auf ihn zu 
sprechen sei und »Pasquille« selbst oder durch seine 
Freunde gegen ihn schmiede. Er wunderte sich über 
Goethe's Empfindlichkeit, drohte aber, wenn derselbe mit 
ihm zu spielen gedenke, vor dem Publikum mit ihm fertig 
werden zu wollen. Er schrieb solche Äusserungen an 
Merck nach Darmstadt und Höpfner nach Giessen, von 
denen er voraussetzte, sie w^ürden Goethe davon unter- 
richten. Auffällig ist, dass letztrer seine Pfeile gegen Ni- 



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Goethe und Nicolai. 207 



colai im Köcher behielt, während er andere Leute nicht 
schonte, ja bei diesen andern sogar selbst der Angreifende 
war. Er mochte indessen wol seine eigenen Angriffe für 
harmlos, die Erwiederung fremder Angriffe aber für Auf- 
nahme eines Gezänks halten, das ihm verhasst war. Des- 
halb antwortete er auch z. B. nicht auf die antixenischen 
Schriften. Nicolai mäkelte zwar auch später noch an 
Goethe'schen Dichtungen gegen Merck, wie an dem » Lied 
eines physiognomischen Zeichners«, und an » Stella «, aber 
öffentlich verhielt er sich Goethe'n gegenüber still. Viel- 
leicht hat er sogar noch ein Gedicht über Werther's 
Leiden der Öffentlichkeit vorenthalten, wenigstens glaubte 
Adolf Böttger Nicolai's Handschrift bei folgendem Gedicht 
zu erkennen, das in einem Exemplar von Goethe's 
Roman stand: 

Auf Werther's Grabmal. 

Halt Wandrer! eile nicht so hin! 

Lies erst, wer ich gewesen bin! 

Ich war ein Geck wie andre Gecken: 

Klug, weis*, mocht' gern die Weibsen lecken, 

Hatt' dabei sondre Grillen im Hirn 

Und einen Wurm recht hinter der Stirn. 

Dem macht' ich Luft, ich armer Tropf, 

Durch einen Kugelschuss in'n Kopf. 

Nun lieg' ich hier, bin Asch' und Graus, 

Und Kluge imd Narren lachen mich aus. 

Hast auch Wurm ? Hör', ich bitt' : 

Heg ihn, pfleg ihn und schiess Dich nit. 

Wahrscheinhch war es dem Zureden Merck's nach 
beiden Seiten hin zu danken, dass Goethe und Nicolai 



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2o8 Goethe mit Zeitgenossen. 



ihre Fehde vergassen und letztrer es wagen konnte, jenen 
1781 in Weimar zu besuchen und ihn um eine Stamm- 
bucheinzeichnung zu bitten. Goethe schrieb sich am 5. Oc- 
tober mit »Utile dulci« ein. 

Es kann sein, dass Nicolai für Goethe abgethan gewesen 
wäre, wenn nicht später Schiller Ursache gehabt hätte, 
sich über des Berliners Seichtigkeit und Anmasslichkeit zu 
erbosen. In seiner »Beschreibung einer Reise durch Deutsch- 
land und die Schweiz im Jahre 1781«, die von 1783 bis 
1796 in 12 Bänden herauskam, hatte sich Nicolai ohne 
irgend welches Verständniss über die neuere Philosophie, 
sowie über Schiller's »Hören« wegwerfend ausgelassen, 
und dass daher im mündlichen Verkehr Goethe und Schiller 
schon 1795 häufig über Nicolai herzuziehen Anlass fanden, 
darf man aus Schiller*s Brief an Goethe vom 29. December 
dieses Jahres entnehmen, worin er denselben »unser gc- 
schworner Feind« nennt. Als dann 1796 die Xenien ge- 
dichtet wurden, w^ar es denn auch Schiller, der gegen drei 
Dutzend diesem Feinde widmete, darunter aber auch eins, 
das auf Nicolai's »Freuden des jungen Wcrther's« Bezug 
nahm : 

Der junge Werther. 

»Worauf lauerst Du hier?« — Ich erwarte den dummen 

Gesellen, 
Der sich so abgeschmackt über mein Leiden gefreut. 

Von Goethe sind nur folgende drei Epigramme, deren 
erstes auf Nicolai's Roman »Geschichte eines dicken 
Mannes« (1794), das zweite auf dessen unausbleibliches 
Anfeinden jeder auftauchenden geistigen Regung sich be- 
zieht. 



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Goethe und Nicolai. 209 



Gewisse Romanhelden. 

Ohne das Mindeste nur dem Pedanten zu nehmen, er- 
schufst Du, 
Dichter, wie keiner mehr ist ! einen vollendeten Geck ! 



Die Waidtasche. 

Reget sich was, gleich schiesst der Jäger; ihm scheinet 

die Schöpfung, 
Wie lebendig sie ist, nur für den Schnappssack gemacht. 



Die Xenien. 

Was uns ärgert: Du giebst mit langen entsetzlichen 

Noten 
Uns auch wieder heraus unter der Reiserubrik. 

Dieses letzte Xenion hatte richtig geweissagt; denn 
Nicolai trat mit einem 217 Seiten zählenden »Anhang zu 
Friedrich Schiller's Musenalmanach für das Jahr 1797« 
herv^or, in welchem er dem Weimarer Dichterpaar auf 
jene Schmähungen erwiderte, aber freilich in seiner geist- 
und geschmacklosen Weise nur zur Langweile des Lesers. 
Einer Antwort würdigten ihn die Dichter des Musen- 
almanachs nicht und Goethe meinte nur gegen Schiller 
am II. Februar 1797: »Dem verwünschten Nicolai konnte 
nichts angenehmer sein, als dass er nun wieder einmal 
angegriffen w^urde; bei ihm ist immer bonus odor ex re 
qualibet, und das Geld, das ihm der Band einbringt, ist 
ihm gar nicht zuw^ider.« 

14 



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210 Goethe mit Zeitgenossen. 



Im folgenden Jahr erhob sich Kant gegen Nicolai 
durch das Schriftchen »Über Buchmacherei « ; als Schiller 
es Goethe'n mitgetheilt hatte, entgegnete dieser am 
28. Juli 1798 dass ihm diese Zurechtweisung des alten 
Salbaders erfreulich sei. 

Nicolai gab indessen bald wieder Gelegenheit sich 
über ihn lustig zu machen. So wie er auf einmal Angst 
vor Übergriffen des Katholizismus bekam und überall 
schleichende Jesuiten witterte, so glaubte er weiter aus 
gleicher Don-Quijoterie gegen Gespensterglauben sich er- 
eifern zu müssen und hielt namentlich 1799 in der Berliner 
Akademie der Wissenschaften einen Vortrag, — »Beispiel 
einer Erscheinung mehrerer Phantasmen« — w^orin er 
nicht nur verschiedne Gespenstergeschichten, unter andern 
eine 1797 in Tegel vorgekommene, sondern auch selbst 
gehabte Erscheinungen erzählte, welche letztere er durch 
am Hintern angesetzte Blutegel vertrieben habe. Diese 
neueren Kundgebungen Nicolai's verwob Goethe in die 
Walpurgisnachtscene auf dem Brocken im »Faust« und in den 
darin eingeschaltnen »Walpurgisnachtstraum oder Oberon's 
und Titania's goldne Hochzeit.« An ersterer Stelle geschah 
dies so : 

Proktophantasmist. *) 

Verfluchtes Volk! Was untersteht Ihr Euch? 

Hat man Euch lange nicht bewiesen : 

Ein Geist steht nie auf ordentlichen Füssen? 

Nun tanzt Ihr gar uns andern Menschen gleich ! 



Schöne (tanzend). 
Was will denn der auf unserm Ball ? 



•) D. i. SteJssgcistcrsehcr. 



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Goethe und Nicolai. 211 



Faust (tanzend). 
Ei, der ist eben überall! 
Was andre tanzen, muss er schätzen; 
Kann er nicht jeden Schritt beschwätzen. 
So ist der Schritt so gut als nicht geschehn. 
Am meisten ärgert ihn, sobald wir vorwärts gehn. 
Wenn Ihr Euch so im Kreise drehen wolltet. 
Wie er's in seiner alten Mühle thut. 
Das hiess' er allenfalls noch gut. 
Besonders wenn Ihr ihn darum begrüssen solltet. 

Proktophantasmist. 

Ihr seid noch immer da! Nein, das ist unerhört! 
Verschwindet doch ! Wir haben ja aufgeklärt ! 
Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel: 
Wir sind so stolz, und dennoch spukt's in Tegel. 
Wie lange hab' ich nicht am Wahn hinausgekehrt. 
Und nie wird's rein — das ist doch unerhört ! 

Schöne. 
So hört doch auf, uns hier zu ennuiren! 

Proktophantasmist. 

Ich sag's Euch Geistern in's Gesicht: 
Den Geistesdespotismus leid' ich nicht; 
Mein Geist kann ihn nicht exerciren. 

(Es wird fort getanzt,) 

Heut, seh' ich, will mir's nicht gelingen; 
Doch eine Reise nehm' ich immer mit. 
Und hoffe noch vor meinem letzten Schritt 
Die Teufel und die Dichter zu bezwingen. 



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212 Goethe mit Zeitgenossen. 



Mephistopheles. 
Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen : 
Das ist die Art, wie er sich soulagirt, 
Und wenn Blutegel sich an seinem Steiss ergetzen, 
Ist er von Geistern und von Geist curirt. 

Im »Walpurgisnachtstraum « tritt Nicolai auf als 

Neugieriger Reisender. 
Ist das nicht Maskeradenspott? 
Soll ich den Augen trauen? 
Oberon, den schönen Gott, 
Auch heute hier zu schauen. 

Orthodox. 
Keine Klauen, keinen Schwanz ! 
Doch bleibt es ausser Zweifel: 
So wie die Götter Griechenlands, 
So ist auch er ein Teufel. 

Dann weiterhin wieder mit Anspielung auf Nicolai's 
Verdächtigung Lavater's (»Kranich«) als Jesuitenfreundes : 

Neugieriger Reisender. 
Sagt, wie heisst der steife Mann? 
Er geht mit stolzen Schritten. 
Er schnopert, was er schnopern kann : 
Er spürt nach Jesuiten. 

Kranich. 
In dem Klaren mag ich gern 
Und auch im Trüben fischen, 
Darum seht Ihr den frommen Herrn 
Sich auch mit Teufeln mischen. 



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Goethe und Nicolai. 21 J 



Da diese Walpurgisnachtserscheinungen mit der ersten 
vollständigen Ausgabe von »Faust. Erster Theil«, also 
1808 in Druck erschienen, so kann und wird Nicolai, der 
erst 1810 starb, sie noch gelesen haben und konnte sich 
rühmen — wie Niemand sonst — fast ein Vierteljahr- 
hundert hindurch Gegenstand von satirischen Dichtungen 
Goethe's gewesen zu sein.' 

Noch einmal kam Goethe, jetzt mit einem Kraftwort, 
auf die »Freuden des jungen Werther's« zurück, zugleich 
auf Pfranger's sechsten Act der »Stella« und dessen gegen 
»Nathan den Weisen« gerichteten »Mönch von Libanon«, 
und zwar als Pustkuchen die Fortsetzung von »Wilhelm 
Meister's Wanderjahren« geschrieben hatte, also wol 1821, 
in der zahmen Xenie: 

Der freudige Werther, Stella dann 

In Criminalverhören, 

Vom Libanon der heilige Mann, 

Sind göttlich zu verehren. 

So ist von Quedlinburg auch der 

Falschmünzer hoch zu preisen: 

Gemünder Silber präget er, 

Uns Korn und Schrot zu weisen. 

Der Weihrauch, der Euch Göttern glüht, 

Muss Priestern liebHch duften; 

Sie schufen Euch, wie Jeder sieht. 

Nach ihrem Bild zu Schuften. 

Im VII. und im XIII. Buch von »Dichtung und Wahrheit« 
(1812 und 181 3) hat Goethe sich nur geschichtlich und 
kritisch über Nicolai ausgesprochen ; gegen Nicolovius be- 
merkt er am 11. Juli 1819, dass dessen gemeiner Menschen- 



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214 Goethe mit Zeitgenossen. 



verstand überall gemäkelt und gemarktet habe und am 
2. Juni 1830 erzählte er Felix Mendelssohn aus seinem Leben 
von 1775 und dabei: wie der Aristokratism der berliner 
Herren, namentlich Nicolai's, der damals viel gegolten habe, 
von Goethe und den ihm nahe stehenden jungen Leuten, 
die voll Lust und Thätigkeit, dann auch wol sehr unge- 
schickt gewesen seien, habe zurückgedrängt werden müssen. 
Aber wie viel Nicolai auch Goethe hatte von sich 
reden machen , irgend w^elchen Einfluss auf ihn hat er 
schwerhch gehabt. Mit seinen satirischen Versen schüttelte 
Goethe ihn eben nur von sich ab. 







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2. Goethe und Die von Fritsch. 




^;^u den begüterten und angesehnen Adelsge- 
schlechtern, die aus der reichen Handelswelt 
Leipzigs herv^orgegangen sind, gehört auch 
das der Freiherren und Grafen von Fritsch; 
sein nächster Vorfahre, Thomas Fritsch, starb 
dort am 22. November 1726 als angesehner Buchhändler. 
Sein Sohn, ebenfalls Thomas mit Namen, brachte den 
Adel in die Familie. Er war am 26. September 1700 in 
Leipzig geboren, hatte sich der Rechtswissenschaft ge- 
widmet, bekleidete verschiedne Stellen im kursächsischen 
Staatsdienst und stieg hier, nachdem er inzwischen mit 
den Reichswürden eines Hofraths und eines Pfennigmeisters 
betraut worden war, zum Conferenzminister auf, als welcher 
er den Hubertusburger Frieden mit verhandelte und unter- 
zeichnete. Er war noch Regierungsrath und Münzdirector, 
als er unterm 30. März 1730 in des römischen Reichs 
Adelstand, und Geheimer Kriegsrath als er unterm 3. Juni 1742 
in den Freiherrnstand erhoben wurde. Vermählt war er 
seit dem 25. Mai 1728 mit Johanna Sophie Winkler (geb. 
II. März 1710, gest. 28. Februar 1777), der Tochter eben- 
falls eines leipziger Patriciergeschlechts, das schon früher 



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2l6 Goethe mit Zeitgenossen. 



geadelt war, davon aber in Leipzig keinen Gebrauch machte 
und erst später wieder den Adel annahm. Thomas Frei- 
herr von Fritsch starb am i. December 1775 in Folge einer 
Verletzung, die er sich beim Sprung aus einem Wagen, 
dessen Anhalten er nicht abwartete, zugezogen hatte. 

Er hinterHess sieben Kinder: 

i) Johanna Charlotte (geb. 16. März 1729, gest. 
9. Februar 1804 zu Weimar, woselbst sie in den letzten 
Lebensjahren den Winter zuzubringen pflegte), vermählte 
sich am 24. April 1766 mit dem kursächsischen Kreis- 
hauptmann Johann Daniel Karl von Lohse auf Gross- und 
Klein-Goddula (gest. 15. Januar 1779); 

2) Margarethe Henriette (geb. 9. März 1730, gest. 
2. Juli 1792), vermählt 1748 mit dem nachmaligen kur- 
sächsischen Geheimen Rath und Polizeidirector Ferdinand 
Ludwig von Saul auf Scherau (geb. 17. September 171 1, 
gest. 2. Juni 1766); 

3) Jakob Friedrich (geb. 22. März I73i,.gest. 13. Ja- 
nuar 1814 zu Weimar), vermählt am i. Februar 1767 mit 
Johanna Sophie von Häseler (geb. 29. September 1748, 
gest. 14. October 1836 zu Weimar); 

4) Heinrich Leopold (geb. 17. April 1732, gest. 
12. Januar 181 3 in Zschochau); 

5) Karl Abraham (geb.2.Februari734,gest.24.Maii8i2 
auf einer Geschäftsreise in Petersburg), vermählt am 14. April 
1768 mit PhiHppine Charlotte Freiin von Gartenberg-Sada- 
gorska (gest. 10. März 1828 zu Dresden), wurde 1790 wäh- 
rend des Reichsvicariats von Pfalz-Bayern in den Grafenstand 
erhoben, der aber in Sachsen erst 181 3 für seine Kinder 
anerkannt wurde; 

6) Adolf Wilhelm (geb. im Mai 1736, gest. I4.junii8i7 
in Dresden), vermählt am 18. Juni 1778 mit Constantine 



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Goethe und Die von Fritsch. 217 



Amalie Louise Freiin von Lyncker (geb. 22. Juli 1756), 
welche Ehe 1803 wieder getrennt wurde; 

7) Erdmuthe Caroline (geb. 17. August 1738, gest. 
6. September 1803), vermählt am 3. Juli 1775 mit dem 
kursächsischen Major und Kreiscommissar Alexander Chri- 
stoph von Schönberg auf Dühlen, Reinsberg und Bornitz 
(gest. 10. April 1801). 

Thomas Freiherr von Fritsch stiftete ein Familienfidei- 
commiss, kraft dessen die Rittergüter Seerhausen, Zschochau 
und Mautitz durch drei Generationen im Besitz eines seiner 
Nachkommen in männlicher Linie verbleiben sollten. Seer- 
hausen erhielt zunächst Jakob Friedrich, unter dessen Söhnen 
es bis jetzt immer auf den ältesten forterbte; Zschochau 
erhielt Heinrich Leopold, nach dessen Tod es an Wilhelm 
Adolf, nach dessen Ableben aber an Karl Abraham, dem 
zuerst Mautitz zuget heilt worden war, überging. Nachdem 
Zschochau des letztgenannten Söhne, die Grafen Karl und 
August von Fritsch, besessen hatten, gelangte es an Jakob 
Friedrich's Enkel Albert Bernhard, Mautitz aber fiel an die Brü- 
der Karl Wilhelm und Friedrich August , die es verkauften, 
indem ersterer dafür die Rittergüter Gross- undKlein-Goddula 
substituirte, welche an seinen Sohn Georg August übergingen. 

Jakob Friedrich Freiherr von Fritsch hatte 
folgende Kinder: 

A) Friedrich August (geb. 20. April 1 768, verunglückte 
bei einer Wagenfahrt in Stadtilm am 23. November 1845); 

B) Karl Wilhelm (geb. 16. Juli 1769, gest. 26. Oc- 
tober 185 1), vermählt den 17. Mai 1803 mit Henriette 
Albertine Antonie Freiin Wolffskeel von Reichenberg (geb. 
I. Mai 1776, gest. 18. August 1859); 

C) Sophie Caroline (geb. 16. August 1770, verunglückte 
tödtlich bei einer Wagenfahrt am i. Juli 1837), vermählt 



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2l8 Goethe mit Zeitgenossen. 



7. October 1787 mit dem kursächsischen Rittmeister Chris- 
tian Adolf von Hopffgart(?n auf Mölbis und Laucha (geb. 
II. Juni 1751, gest. 20. Juni 1815); 

D) Ludwig Heinrich GottUeb (geb. 2. April 1772, 
gest. 28. October 1808 in Gumbinnen); 

E) Henriette Louise (geb. 14. April 1774, gest. im 
August 177s); 

F) Louise Friederike (geb. 18. December 1775, gest. 
27. November 1843), vermählt den 18. Juli 1792 mit dem 
Landkammerrath Heinrich Ludwig Wilhelm Freiherrn von 
Niebeckr auf Beucha. 

Die Kinder des unter B aufgeführten Karl Wilhelm 
waren : 

a) Karl Friedrich Wilhelm Christian (geb. 7. Mai 1804), 
vermähh am 12. September 183 1 mit Caroline Marie Freiin 
von Ziegesar (geb. 17. Jdi 1808, gest. 28. Februar 1842); 

b) Bernhard Friedrich Ludwig (geb. den 28. April 
1805, g^st. am 26. Juh 1806); 

c) Julius Albert (geb. 24. März 1806, gest. 4. Mai 
1807); 

d) Georg August (geb. 3. März 1807, gest. 26. Sep- 
tember 1866), zuerst vermählt den 13. September 1836 
mit Nancy von Rosenbach (geb. 4. Juli 1807, gest. 25. No- 
vember 1838), später mit Sophia Freiin von Herda zur 
Brandenburg (geb. 3. November 1823); 

e) Albert Bernhard (geb. 25. Mai 1808), vermählt 
zuerst den 25. December 1833 mit Elmonde von Tettau 
(geb. 30. April 181 1, gest. 11. Januar 1835), sodann den 
25. October 1838 mit Lucy geb. Barton verw. Leicester 
(geb. 24. Juli 181 1). 

Alle übrigen Freiherren und Freiinnen von Fritsch sind 
nach Goethe's Tod geboren, fallen also nicht ins Bereich 



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Goethe und Die von Fritsch. 219 



dieser Schrift; zu nennen sind aber noch die Nachkommen 
des späteren Grafen Karl Abraham von Fritsch. 
Seine Kinder waren: 

A) Karl (geb. 24. Juni 1769, gest. 30. September 
1820); 

B) Charlotte (geb. 15. Januar 1773, gest. 23. De- 
cember 1803), vermählt zuerst mit Ferdinand Alexander 
Freiherm von Taube, sodann am 21. April 1801 mit Georg 
Albrecht von Hugo (geb. 13. Septmber 1771, gest. 25. No- 
vember 181 5); 

C) August (geb. I. JuH 1775, gest. 24. Februar 1821), 
vermählt 18 16 mit Constantia Ernestine von Kiesen wetter 
(geb. 23. Juli 1794, in zweiter Ehe mit Karl Heinrich 
von Klösterlein, gest. i. December 1867); 

D) Ludwig (geb. 26. März 1776, gest. 8. April 179 1); 

E) Heinrich (geb. 29. Juli 1777, jung gestorben); 

F) Philippine (geb. 25. October 1778, starb auch 
als Kind); 

G) Amalie (geb. 6. JuU 1780, gleichfalls als Kind 
verstorben); 

H) Constantia (geb. 30. November 1786, gest. 
30. JuH 1858). 

Von den Söhnen Karl Abraham's hinterliess nur Graf 
August Kinder und zwar: 

a) Adelaide (geb. 31. Mai 18 16, gest. 7. September 
1824) ; 

b) Gustav (geb. 18. August 181 7, gest. 11. Februar 
1822); 

c) Thekla (geb. 8. Februar 1819), der einzige noch 
lebende Sprössling der gräflichen Linie von Fritsch; 

d) Heinrich (geb. 5. Februar 1820, gest. 30. April 
1820). 



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220 Goethe mit Zeitgenossen. 



Durch drei Geschlechtsalter waren die von Fritsch 
Weimars Dalberge; ein Fritsch wurde aufgerufen, wenn 
es einen wichtigen Posten des Staates zu besetzen galt. 
Wie daher dieses Haus für die Staatsgeschichte von Be- 
deutung ist, so auch für Goethe's Leben, da dieser durch 
seine eigne Stellung in Weimar auf den Verkehr mit 
Gliedern dieses Hauses hingewiesen war, dabei aber auch 
mit mehreren derselben in freundschaftUche Verbindung 
trat. Im Folgenden sollen der Lebensgang derjenigen Ab- 
kömmlinge des Freiherrn Thomas von Fritsch, welche zu 
Goethe in Beziehungen gestanden haben, kurz, diese Be- 
ziehungen selbst aber so genau als sie festzustellen waren, 
vorgeführt w^erden. Mit dem Ahnherrn selbst ist Goethe 
schwerlich persönlich zusammengekommen , doch wird 
derselbe in den von letzterem herausgegebenen Briefen 
Winkelmann's an Berrendis sehr oft genannt, sodass Goethe 
allerdings Anlass gehabt hat, sich naher mit ihm zu be- 
schäftigen. 

Jakob Friedrich Freiherr von Fritsch war 
durch Graf Heinrich von Bünau, den Freund s^iies Vaters 
und seit 175 1 obervormundschaftlicher Statthalter der 
Fürstenthümer Weimar und Eisenach, dann Minister, nach 
Weimar gekommen; hier wurde er 1754 zuerst als Lega- 
tionsrath und Assessor bei der Landesregierung zu Eisenach 
angestellt, begleitete 1756 als Hofrath und Geheimer Re- 
ferendar den Herzog Ernst August Konstantin zur Ver- 
mählung mit Anna Amalia nach Braunschweig, gelangte 
1762 als Geheimer Legationsrath in's geheime Conseil, 
wurde 1766 zum Geheimen Rath darin ernannt und erhielt 
1772 den Vorsitz in diesem höchsten LandescoUegium, 
woneben er noch verschiedene Directorialämter bekleidete. 
Fast erblindet nahm er Ende März i8oo seinen Abschied, 



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Goethe und Die von Fritsch. 221 



erlangte aber 1804 durch Operation sein Gesicht wieder 
und genoss ein glückliches Alter. 

Das ganze hochachtbare Wesen des Minister von 
Fritsch wird uns recht lebendig durch das vortreffliche 
Buch des Freiherrn von Beaulieu Marcaunay, »Anna AmaÜa, 
Carl August und der Minister von Fritsch« (Weimar, 
Böhlau, 1874) vor Augen geführt. Aus vielen Zuschriften 
desselben an die Herzogin-Regentin wie an den jungen 
Herzog geht die Umsicht, die Pflichttreue, der Freimuth, 
aber auch der Eigensinn dieses Staatsmannes hervor. 
Goethe rühmte 1823 gegen Kanzler von Müller, dass 
Fritsch viel Verstand und Willenskraft besessen und sich 
gegen ihn stets redlich erwiesen, auch sein, Goethe's, 
Streben, Uneigennützigkeit und Leistungen trotz der Ab- 
neigung gegen sein Treiben und Wesen anerkannt habe; 
aber das Äussere des Ministers sei schroff und ohne Fein- 
heit gewesen. Fritsch kannte sich selbst in dieser Hinsicht 
genügend und sagte namentlich in einem Brief an den 
Herzog \pm 9. December 1775: »ich, der ich zu viel 
Rauhes in meinen Sitten, zu viel öfters an das Mürrische 
gränzende Ernsthaftigkeit, zu viel Unbiegsamkeit und zu 
w^enig Nachsicht gegen das was herrschender Geschmack 
ist, an mir habe.« 

Bei diesen Eigenschaften war es kein Wunder, dass 
Fritsch vor der ihm Mitte Februar 1776 mitgetheilten Ab- 
sicht des Herzogs Karl August, den sechsundzw^anzig- 
jährigen übermüthigen Goethe in das Geheime Conseil zu 
berufen, sich entsetzte. Er erhob ernstliche Vorstellungen 
dagegen, dass eine so wichtige Stelle einem in den Re- 
git rungsgeschäften fremden, mit den Landesverhältnissen 
unbekannten, zu Verdrängung älterer rechtschaffner Diener 
des Herzogs nicht berechtigten unreifen Menschen über- 



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222 Goethe mit Zeitgenossen. 



tragen werden solle. Als aber der Herzog unter Hinweis 
auf die vorzüglichen Geistes- und Herzenseigenschaften 
Goethe's bei seinem Willen blieb, erklärte Fritsch mit 
solcher Bestimmtheit sein Amt niederlegen zu wollen, da 
er nicht mit Goethe im Collegium zu sitzen vermöge, 
dass es ausser den dringendsten Zureden des Herzogs auch 
noch der schmeichelhaftesten Vermittlung der verwittweten 
Herzogin bedurfte, um ihn zum Bleiben zu bewegen. 

Es zeugt von Goethe's Muth und Selbstvertrauen, in 
die ihm fremden Geschäftsverhältnisse einzutreten, obgleich 
er wusste, dass sein künftiger Chef ihm abhold war und 
mit Misstrauen entgegentrat, aber es beweist auch seine 
weise Mäsigung, dass er des Herzogs freundschaftliche 
Hingabe und das sich entwickelnde Zerwürfniss desselben 
mit seinem Minister, sowie des letztern Feindseligkeit 
gegen sich nicht benutzte, um denselben zu verdrängen 
und dessen Platz als Bedingung seines eignen Verbleibens 
in Weimar hinzustellen, eine Forderung, der Karl August 
in seinem unbedingten Zutrauen zu dem genialen Freund 
wahrscheinHch nachgegeben haben würde. 

Nachdem Fritsch sich dem fürstlichen Willen einmal 
gefügt hatte, sah er ein, dass er sich dem aufgedrungnen 
Mitarbeiter freundlich bezeigen müsse; am 20. Mai 1776 
hatte er der Herzogin Amalia seinen Entschluss neben 
Goethe im Amte zu bleiben kund gegeben und schon am 
23. desselben Monats verzeichnete Goethe in seinem Tage- 
buch: »Gut Anlassen von Fritsch.« Es fand also eine 
Verständigung statt. Am 5. Juni steht dann in Goethe's 
Tagebuch: »Mittags den Brief von Fritsch«, w^oraus zu 
schhessen, dass dieser sich schriftlich eingehender mit 
Goethe auseinandersetzte. Am 11. desselben Monats w^urde 
dessen Ernennung zum Geheimen Legationsrath mit Sitz 



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Goethe und Die von Fritsch. 22^ 



und Stimme im Geheimen Conseil ausgefertigt und am 
25. erfolgte die Verpflichtung und Einführung. 

Auffällig ist, dass in Goethe's Briefen an Frau von 
Stein, worin so zahlreiche unverhohlene Äusserungen über 
sehr viele Personen und selbst über die Glieder des Fürsten- 
hauses vorkommen, sich keine über Fritsch findet, wie 
dieser überhaupt bis im December 1780 in diesen Briefen 
gar nicht genannt wird. Dagegen stehen in Goethe's 
Tagebuch — in dessen gedruckten Bruchstücken bis 1782 
er etwa zweiundzwanzigmal erwähnt wird — einige be- 
merkenswerthe Auslassungen und zwar folgende: 

15. December 1778: »Garstiges Licht auf Fritsch 
geworfen durch viele seiner Handlungen, die ich dem 
Herzog immer zeither durchpassiren lassen.« (?) 

I. Februar 1779: »Conseil. Dumme Luft darin. Fa- 
taler Humor von Fritsch.« 

29. Juli 1779: »Unterredung mit Herzog über 
Fritsch.» 

Eine weitere Stelle vom 30. Juli 1779 ist zu unsicher, 
als dass Gewicht auf sie gelegt werden möchte. 
Zwar sind auch die andern Andeutungen zu allge- 
mein, um Zuverlässiges daraus entnehmen zu können, so- 
viel geht aber doch daraus hervor, dass mit Fritsch auch 
weiterhin nicht alles glatt abging, wie gleichfalls ein noch 
mitzutheilender Brief Goethe's"' an denselben darthut. Sonst 
aber hat Goethe im Tagebuch und in den Briefen an Frau 
von Stein aus den achtziger Jahren achtzehnmal ein Bei- 
sammensein mit Fritsch hervorgehoben; fünfmal davon 
hat er bei demselben zu Mittag gegessen. 

Aus dem Briefwechsel zwischen beiden sind nur sechs 
Briefe Goethe's bis jetzt bekannt. Im Tagebuch bemerkt 
dieser, dass er am 5. August 1776 aus Ilmenau an Fritsch 



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224 Goethe mit Zeitgenossen. 



geschrieben habe; dieser Brief fehh. Einen Brief vom 
13. Februar 1780 verwahrt die Loge AmaUa in Weimar; 
abgedruckt war derselbe zuerst in dem »Allgemeinen Hand- 
buch der Freimaurerei.« Vier Briefe veröffentlichte Frei- 
herr von BeauUeu Marconnay aus dem Hausarchiv zu 
Goddula in seiner schon oben angeführten, für die Göthe- 
Uteratur nicht minder als für die Staats- und Hofverhält- 
nisse in der Mitte des vorigen Jahrhunderts überhaupt 
wichtigen und dabei höchst unterhaltenden Schrift. Den 
letzten Brief machte Dr. Uhde in den »Hamburger Nach- 
richten« 1877 bekannt. Als die untrüglichsten Denkmale 
des Verhältnisses jener beiden Männer, deren Einer dem 
Andern anfänghch so entschieden abstossend entgegentrat, 
folgen hier diese sechs erhaltenen Briefe. 

/. Brief Goethe' s an J. F. von Fritsch, 
How^ohlgeborner 
Insonders hochgeehrtester 
Herr Geheimderath. 
Erlauben Ew\ Excellenz, dass ich im Begriff mich 
Weimar wieder zu nähern, bei Ihnen mein Andenken 
erneure. 

Wie glücklich bisher unsre Reise gewiesen, wie 
wohl und vergnügt sich unser gnädigster Herr be- 
funden, werden Sie aus dessen eigenhändigen Briefen 
von Zeit zu Zeit ersehen haben. 

Sogar jetzo, da Anstalten zur Abreise von hier 
gemacht werden, heitert sich das bisher sehr trübe 
und wilde Wetter auf und lässt uns Hoffnung zu 
einem fröhlichen Rückzug. 



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Goethe und Die von Fritsch. 225 



Die anhaltenden guten Nachrichten von Weimar 
haben Serenissimi Zufriedenheit bei Ihrer Tour voll- 
kommen gemacht und uns andre an unserm Theil 
nicht weniger erfreut. 

Auch was mich betrifft kann ich diese Zeit unter 
die glücklichste meines Lebens rechnen und wenn 
ich bei meiner Rückkunft die alten freundschaftlichen 
Gesinnungen und die Gewogenheit von Ew. Exe. 
noch unverändert antreffe, so bleibt mir nichts für 
den Augenblick zu wünschen übrig. 

Der Frau Geheimderäthin empfehle ich mich auf 
das beste und unterzeichne mich mit der voll- 
kommensten Achtung 

Ew. Excellenz 
ganz gehorsamer Diener 
Goethe. 
Zürich, den 30. Nov. 1779. 

Auf des Freiherrn v. Fritsch Würde des Meisters vom 
Stuhl in der Loge Amalia bezieht sich der nach Goethe's 
Rückkehr von der mit dem Herzog unternommenen 
Schweizerreise geschriebene 

2. Brief Goethe's an J. H. v. Fritsch. 

Ew. Excellenz 

nehme mir die Freiheit mit einer Bitte zu behelligen. 

Schon lange hatte ich einige Veranlassung zu 

wünschen, dass ich mit zur Gesellschaft der Frei- 
es 



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226 Goethe mit Zeitgenossen. 

maurer gehören möchte; dieses Verlangen ist auf 
unsrer letzten Reise viel lebhafter geworden. Es hat 
mir nur dieser Titel gefehlt, um mit Personen, die 
ich schätzen lernte, in nähere Verbindung zu treten 
— und dieses gesellige Gefühl ist es allein, was mich 
um die Aufnahme nachsuchen lässt. Wem könnte 
ich dieses Anliegen besser empfehlen als Ew. Excellenz ? 
Ich erwarte, was sie der Sache für eine gefällige 
Leitung zu geben geruhen werden, erwarte darüber 
gütige Winke und unterzeichne mich ehrfurchtsvoll 
Ew. Excellenz 
gehorsamster Diener 
Goethe. 
Den 13. Febr. 1780. 

Goethe's Aufnahme in den Maurerbund erfolgte am 
23. Juni 1780 und an demselben Tage des folgenden 
Jahres seine Beförderung zum Gesellen auf Grund vom 

). Brief Goethe's an J. H. v. Fritsch. 

Darf ich Ew. Excellenz bei der nahen Aussicht 
auf die Zusammenkunft einer Loge auch meine eigenen 
kleinen Angelegenheiten empfehlen ? So sehr ich mich 
allen mir unbekannten Regeln des Ordens unterwerfe, 
so wünschte ich doch auch, wenn es den Gesetzen 
nicht zuwider wäre, w^eitere Schritte zu thun, um 
mich dem Wesentlichen mehr zu nähern. Ich wünsche 
es sowol um mein selbst, als um der Brüder willen. 



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Goethe und Die von Fritsch. 227 

die manchmal in Verlegenheit kommen, mich als 
einen Fremden tractiren zu müssen. Sollte es mög- 
lich sein mich gelegentlich bis zum Meistergrade 
hinauf zu führen, so würde ich's dankbarlichst er- 
kennen. Die Bemühungen, die ich mir bisher in 
nützlichen Ordenskenntnissen gegeben, haben mich 
vielleicht nicht ganz eines solchen Grades unwürdig 
gelassen. 

Der ich jedoch alles Ew. Exe. gefälligster Ein- 
leitung und besseren Einsicht lediglich überlasse und 
mich mit unwandelbarer Hochachtung unterzeichne 
Ew. Excellenz 
ganz gehorsamster 

Goethe. 
Den 31. März 1781. 

Die Beförderung Goethe's zum Meister fand am 
2. März 1782 statt. Gelegen tHch sei bemerkt, dass man 
muthmassUch später denselben zum Meister vom Stuhl 
w^ählen w^ollte; wenigstens scheint dies aus folgendem 
eigenhändigen Billet Goethe's ohne Adresse und Datum 
hervorzugehn, welches sich in Bertuch'schem Besitz be- 
funden hat und an den Legationsrath Bertuch gerichtet 
worden sein dürfte, als derselbe 18 10 damit umging den 
Hammer abzugeben, den dann am 24. Juni 18 10 Ridel 
übernahm : 

Den verehrten Meister vom Stuhle würde brüder- 
lich dringend ersuchen, seine Amtsführung ferner 
fortzusetzen ! 

15* 



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228 Goethe mit Zeitgenossen. 



Ein Brief, den Goethe wahrscheinlich Anfang Juli 1782 
an Fritsch, der damals auf seinem Rittergut Seerhausen bei 
Riesa eine Brunnentrinkcur gebrauchte, schrieb, ist ver- 
loren ; desselben geschieht Ersvähnung im 

4. Brief Goethes an J. K v. Fritsch. 

Ew. Excellenz 
haben meinen ersten Brief so gütig aufgenommen, 
dass ich für den zweiten wol ein gleiches Glück 
hoffen darf. Möge die Nachcur, welche Dieselben 
angefangen haben, allen Ihren und unsern Wünschen 
entsprechen und Sie zur guten Stunde recht wohl 
und vergnügt zurückkehren. 

Rath Lucius hat wirklich wunderbare Sachen er- 
zählt und ich freue mich von Ew. Exe. mehreres 
und näheres zu hören. 

Der Tod Herzogs Karl von Meiningen*) wird 
Dieselben wie jedermann wol auch frappirt haben; 
seme Constitution versprach ihm kein langes Leben 
auch nur äusserlich anzusehen und da nun gar die 
Section den Schleier aufgehoben hat, so wurd dieses 
noch gewisser. Demohngeachtet hätte er sich länger 
erhalten können: er beschleunigte die tödtlichen Wir- 
kungen seiner Übel durch falsche Behandlung seines 
Körpers und liess sich von den Seinigen nicht ein- 
reden. Leider geht es solchen Naturen wie Leuten, 



•) t 21. Juli 178a. 



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Goethe und Die von Fritsch. 229 



die einen bösen Magen haben : je schlimmer er wird, 
je grösser wird die Lust ihn noch mehr zu ver- 
derben. 

Unsre gnädigsten Herrschaften sind allerseits wohl 
und vergnügt. 

Serenissimus haben seit ihrer Zurückkunft *) ziem- 
lich bei uns ausgehalten. Der Fürst von Dessau war 
auf seinem Wege nach Hause auf einige Stunden 
hier**) und Durchlaucht der Herzog fuhren mit ihm 
bis Naumburg. Seit einigen Tagen wird ein grosser 
Stein im Rathsbruche in Bewegung gesetzt, der 
irgendwo zur Verzierung eines Platzes aufgestellt 
werden soll; die mechanischen Operationen bei dieser 
Arbeit unterhalten einen Geist, dem es an sinnlicher 
Beschäftigung nicht fehlen darf, wenn er nicht Un- 
muth und Langeweile empfinden soll. 

Serenissimo dagegen richten ihre Spaziergänge 
ganz in der Stille, sind dabei munter und scheinen 
zufrieden. 

Zu Tiefurt haben die dramatischen Musen eine 
Erscheinung gemacht;***) vielleicht unterhält diese 
Kleinigkeit die Frau Geheimde Räthin, der ich mich 
bestens empfehle; ich lege deswegen ein Exemplar 
des Stückchens bei. 



•) Wol Anfang Juli. 

**) Am 29. Juli. Auf der Hinreise verliess der Fürs! Wcimir am 14. Juni. 
***) » Die Fischerin « wurde am 22. Juli aufgeführt. 



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230 Goethe mit Zeitgenossen. 

Prinz Konstantin hat befohlen seine Pferde zu 
verkaufen und seine Leute abzudanken; es scheint 
als wenn er seinen Aufenthalt in fremden Landen 
verlängern wolle.*) 

Unser Prinzesschen endlich**) wird tägUch ar- 
tiger und zeigt einen sehr lebhaften Geist. 

Da ich nun die fürstHche FamiUe der Ordnung 
nach durchgegangen bin, so glaube ich die Ver- 
mehrung nicht übergehen zu dürfen, welche der 
Famihe unsers guten Herrn Collegen bevorsteht. 
Das Beispiel der Kinder hat die Eltern aufs neue 
belebt, und ich bereite mich schon zu der bevor- 
stehenden Gevatterschaft.***) 

Die Angelegenheiten unsres kleinen Staates gehen 
so sachte vor sich hin. Ich unterhalte Ew. Exe. nicht 
davon, sondern werde mir nach Dero Wiederkunft 
über Verschiedenes ein kurzes Gehör erbitten. 

In allem wird die von Ew. Exe. mir zugesicherte 
Gunst eine der ersten Triebfedern sein, mich selbst 
täglich zu bearbeiten und, indem ich mich ver- 
bessere, mich nützUcher zu machen. Möge Ihr Wohl- 
sein, Zufriedenheit und die gute Meinung von meinem 
besten Willen und den aufrichtigsten Gesinnungen 
sich immer gleich erhalten und ich zu meiner Auf- 
munterung manchmal davon versichert werden. 



*) Der Priiu reiste damals in Frankreich und England. 
'•) Louise Auguste Antalie f 24. März 1784. 
•••) Am 24. August sund GoethcGevatter bei dem jüngsten Sohn des Geheimen Rath Schnauss. 



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Goethe und Die von Fritsch. 23 1 

Die mir aufgetragenen und ausgerichteten Em- 
pfehlungen werden bestens ersviedert. Der Raum 
nöthigt mich abzubrechen und mich zu unterzeichnen 
Ew. Excellenz 
ganz gehorsamster Diener 

Goethe. 
Weimar, d. 5. Aug. 1782. 

Eine Verstimmung bekundet der 

j*. Brief Goethe* s an J, K v. Fritsch. 

Da ich im Begriff stehe zur Besorgung einiger 
Wasser- und Wegebaugeschäfte mir von Serenissimo 
Urlaub bis Ende dieser Woche zu erbitten, da für 
heute die Session abgesagt ist und ich das Glück 
nicht haben kann, Ew. Excellenz persönlich aufzu- 
warten, so nehme ich mir die Freiheit es schriftUch 
zu thun. 

Zuvörderst sende den mir mitgetheilten Plan mit 
schuldigem Danke zurück. Es liegen einige wenige 
Bemerkungen dabei, deren gefälligen Gebrauch ich 
Ew. Exe. lediglich überlasse. 

Bei dem Unwillen, den Ew. Exe. über des Herrn 
Grafen Marschall*) Bieten und Wiederbieten und über 
das Resultat der bisherigen Kaufs- und Verkaufs- 



*) Graf Marschall handelte damals um das dem Herzog gehörige Gut Ossmannstedt, 
das er nachher auch kaufte. 



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232 Goethe mit Zeitgenossen. 

Handlungen bezeigen, war ich nicht im Stande Sere- 
nissimo davon einen unterthänigen Vortrag au thun. 

Der Herr Graf ist heute früh abgereist und bittet 
mit nächster Post um Resolution, damit er in Leipzig 
wegen der Gelder die nöthigen Einrichtungen machen 
könne. Ich habe heute früh das ganze Geschäfte 
fürstlicher Kammer übergeben ; sie wird darüber einen 
Bericht erstatten und Serenissimi höchste Intention dem 
Herrn Grafen bekannt machen. Lassen Sich Ew. Exe. 
diese Sache zu geneigter Beförderung empfohlen sein. 

Ich kann nicht schHessen ohne Ew. Exe. zu ent- 
decken, wie empfindlich und schmerzlich, und auch 
wie unerklärlich mir die Art und Weise gewesen, 
mit welcher mir Ew. Exe. in dem gestrigen Voto 
ein unschuldiges Wort unterstrichen haben zurück- 
geben wollen. Ew. Exe. ist am besten bekannt, wie 
ich die Erinnerungen und Winke eines erfahrenen, 
verständigen und hochachtungswerthen Mannes in 
Scherz und Ernst aufzunehmen gewohnt bin; Sie 
wissen, dass ein gutes Verhältniss, in dem ich mit 
Ihnen zu stehen das Glück habe, eine meiner grössten 
Beruhigungen, Ermunterungen und Belohnungen ist, 
um so unerwarteter war es mir, von Ew. Exe. Un- 
willen über einen zaudernden Käufer zugleich mit 
getroffen zu werden. 

Man bedient sich des Wortes mein, um ein 
Verhältniss zu Personen und Sachen anzuzeigen, mit 



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Goethe und Die vom Fritsch. 233 



denen man aus Neigung oder Pflicht verbunden ist, 
ohne sich darüber eine Herrschaft oder Eigenthum 
anzumassen. Ein Cassierer sagt meine Casse, man 
sagt unsre Finanzen u. s. w. ; obgleich alles des Fürsten 
oder des Landes ist. Meine Herrn Cameralen konnte 
also wol nichts weiter heissen, als: die Herrn von 
der fürstlichen Kammer, die durch Serenissimi Willen 
in gewissen Sachen an mich gewiesen sind, mit denen 
ich öfters zu thun habe, mit denen ich als geschick- 
ten, verständigen, arbeitsamen Leuten gern zu thun 
habe. 

Verzeihen Ew. Exe, wenn ich diese Sache viel- 
leicht zu ängstlich und ernstHch nehme, allein so 
lange Sie die Güte haben mich mit Vertrauen wie 
bisher zu beehren, so kann ich nichts auf dem Herzen 
behalten, was mich drückt. 

Sehen Sie es als einen Beweis an, wie bedeutend 
mir alles ist was von Ihnen kommt, und wie sehr 
es in Ihrer Gew^alt steht mich in jedem Geschäfte, 
dessen ich mich nach Kräften gern unterziehe, mit 
Einem guten Worte aufzumuntern. 

Erhalten Sie mir Ihre unschätzbare Gewogenheit. 
Der ich mich mit der vollkommensten Hochachtung 
unterzeichne 

Ew. Excellenz 
gehorsamster Diener 
Goethe. 
Weimar, den 6. Mai 83. 



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234 Goethe mit Zeitgenossen. 



Die im vorstehenden Briefe von Goethe gerügte 
Nörgelei des Minister von Fritsch erscheint trotz des 
siebenjährigen freundlichen Zusammenwirkens doch immer- 
hin wie ein Nachklingen des Grolls, den in ihm Goethe's 
Berufung ins Geheime Conseil erregt hatte; es ist dies 
ein Gegenstück zu dem »fatalen Humor«, den Goethe 
am I. Februar 1779 bei Fritsch übel vermerkte und 
diese kleine Reibereien machen es nicht minder als jene 
ersten FeindseUgkeiten zur Gewissheit, dass Freiherr von 
Beaulieu Marconnay Recht hat, wenn er den Minister von 
Fritsch als Urbild des Antonio im »Tasso« bezeichnet. 

Am 2. September 1786, also kurz vor Antritt der 
italienischen Reise, schrieb Goethe aus Karlsbad an seinen 
Kammerdiener Philipp Seidel, er solle den Kricgskanzlist 
Seeger ersuchen, ihn dem Geheimen Rath von Fritsch — 
der damals wol noch in Seerhausen weilte — zu em- 
pfehlen.*) 

Nach mehrjährigem Zwischenraum findet sich wieder 
erhalten der 

6, Brief Goethe s an J. H. v. Fritsch. 

Ew. Excellenz 
erlauben, dass ich Dieselben auf einen Mann auf- 
merksam mache, der sich seit einiger Zeit hier 
aufhält und der mir täglich verdächtiger vorkommt. 
Es ist der sogenannte Obr. Pearce in Amerikanischen 
Diensten. 



•) Dass in dem Abdruck obigen Briefs an Seidel in der Wochenschrift »Im neuen 
Reich« die Abkürzung »Grf. K. v. Fritsch« verlesen ist für »-Geh. R. v. Fritsch* steht wol 
ausser Zveifel. 



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Goethe und Die von Fritsch. 235 



Er sucht unter ansehnlichen Versprechungen junge 
Leute an sich zu locken. Der junge Wette, der sich 
mit zu den Künstlern zählt, hat von mir zum Ent- 
zweck einer Aufnahme ein Attestat seiner Talente 
und seines Verhaltens begehrt und dieses veranlasst 
mich zu Gegenwärtigem. 

Sollte es etwa gefällig sein, den Peter im Baum- 
garten, *) mit welchem gedachter Pearce hierher auf 
dem Postwagen gereist und bei welchem er wohnt, 
durch irgend einen Subalternen vernehmen zu lassen, 
so würden, wie ich vermuthe, dadurch einige Ver- 
hältnisse sogleich ins Licht gesetzt werden. 

Ich empfehle mich Ew. Excellenz gnädigem Wol- 
wollen und unterzeichne mich verehrend 
Ew. Excellenz 
gehorsamster Diener 

Goethe. 
W. 12. März 1793, 
Abends 5 Uhr. 

Ob die Gemahlin des Minister von Fritsch, Johanne 
Sophie geb. von Häseler, sich mit Goethe befreundete und 
namentlich den von ihm geleiteten Aufführungen von 
Festspielen und Maskenzügen sich betheiligte, lässt sich 
mit Zuverlässigkeit zwar nicht feststellen, doch geschah 
es wahrscheinlich einigemal; wo der Herzog selbst als 
Theilnehmer auftrat, konnten die ersten Damen des Hofs 



•) Goethc's von Meyer von Lindau als Pflegling übernomn-.ener junger Schweizer. 



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236 Goethe mit Zeitgenossen. 

nicht zurückbleiben. Schon dass Frau von Fritsch bei 
solchen Gelegenheiten — wenn auch nicht aus ganz sichern 
Quellen — mit genannt wird, lässt vermuthen, dass sie 
den Festlichkeiten nahe stand. 

Ein häufiger Verkehr Goethe's ist hiernächst mit den 
Söhnen des Minister Jakob Friedrich Freiherr von Fritsch 
bezeugt; der mittlere derselben, Karl Wilhelm, war genau 
um soviel jünger als Goethe, als der Vater älter war. 

Der älteste, Friedrich August, nahm in herzog- 
lichen, nachmals grossherzoglichen Diensten mannigfache 
Stellungen ein, indem er theils dem Hofstaat, theils dem 
Kammercollegium, theils der Forstverwaltung angehörte. 
Er wurde 1778 Hof- und Jagdjunker, 1792 Kammerassessor, 
1793 Kammerjunker, 1794 Oberforstmeister, der Reihe nach 
in den Forstbezirken AUstädt, Hardisleben, Apolda, Ilmenau 
und Weimar, 1801 Kammerherr, 1817 Geheimer Kammer- 
rath, 1823 Kammerdirector, 1828 Oberjägermeister, 1835 
Wirklicher Geheimer Rath. 

Goethe kam bei seinen Dienstreisen, so lange Fritsch 
in Provinzialstädten angestellt war, öfters mit diesem zu- 
sammen. In Weimar erscheint Fritsch als Goethe's Gast 
am I. Mai 1798 bei einem zu Ehren Iffland's gegebenen 
Frühstück und Ende 1802 oder Anfang 1803 ^^^ einem 
vertraulichen Mittagsessen, an welchem auch Christiane 
Vulpius, damals nur noch Hausgenossin Goethe's, theil- 
nahm. Im Jahr 18^7 veranstaltete Friedrich August von 
Fritsch in Gemeinschaft mit August von Goethe ein Mit- 
tagsessen zum Geburtstag Goethe's in Paulinzelle, in welcher 
Klosterruine letzterer bis dahin noch nicht gewesen war; 
als Goethe sich 183 1 nach Ilmenau begeben hatte, um dort 
in der Stille seinen Geburtstag zu begehn, reiste auch 
Fritsch dahin und feierte das Fest mit. Goethe bat dabei 



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Goethe und Die von Fritsch. 237 

ihm eine Abschrift des 1783 an eine Wand des Jäger- 
hauses auf dem Gickelhahn geschriebenen Gedichts Ȇber 
allen Wipfeln ist Ruh etc.« zu verschaffen; er mochte es 
genau so, wie er es damals gedichtet hatte, wiederlesen 
wollen, da der Druck in den Werken Veränderungen er- 
fahren hatte. 

Bei dem grossen Maskenzug vom 18. December 18 18 
betheihgte Fritsch sich als November, dargestellt durch das 
Sternbild des Schützen. 

Wiederholte Berührungen Goethe's mit Friedrich August 
von Fritsch ergaben sich hinsichtÜch der Pflanzenkunde. 
So erzählt Goethe, dass Fritsch im Herbst 1821 ihm den 
Abschnitt eines Baums, der durch theilweise Heilung einer 
schweren Verletzung merkwürdig war, ferner zu Anfang 
1825 einen Lindenast, der in der Fäulniss des Stammes 
Wurzel geschlagen hatte und darin fortgediehen war, end- 
Üch im Sommer 183 1 seine Wahrnehmungen über schrauben- 
förmiges Wachsen der Kiefern mitgetheilt habe. 

Unter den Bildnissen, welche Goethe durch den Hof- 
maler Schmeller von befreundeten und bedeutenden Per- 
sonen abnehmen Hess, befindet sich auch das von Friedrich 
August von Fritsch. 

Der zweite Sohn Jakob Friedrichs Freiherrn von Fritsch, 
Karl Wilhelm, trat, nachdem er in Jena und Leipzig 
studirt hatte, schon 1789 als Hofjunker und Regierungs- 
assessor in die Dienste des Herzogs von S.- Weimar, wurde 
1793 zum Regierungsrath, 1805 zum PoHzeipräsidenten, 
1810 zum Mitglied des Geheimen Conseils und 181 5 zum 
WirkUchen Geheimen Rath und Staatsminister befördert 
und erhielt noch eine Anzahl Nebenaufträge von Belang. 
Seit 18 18 war er Meister vom Stuhl in der Weimarer 
Loge und machte sich dort bei den meisten gebotenen 



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238 Goethe mit Zeitgenossen. 



Gelegenheiten als gewandter Redner bemerkbar. Über 
seinen Umgang mit Goethe geben ausser einzelnen Nach- 
richten auch mehrere Briefe Zeugniss. Das älteste ist die 
Aufführung dieses von Fritsch unter den Gästen des schon 
erw'ähnten Frühstücks vom i. Mai 1798; dann ist es wol 
derselbe Fritsch, dem Goethe im Juni 1799 die Erlaubniss 
Schiller's verschaffte, sich eine Stelle aus dem damals noch 
ungedruckten »Wallenstein« auszuschreiben. Am 24. Oc- 
tober 1800 hatte K. W. von Fritsch in dem zur Feier des 
Geburtstags der Herzogin - Mutter Amalie aufgeführten 
Goethe'schen Festspiel »Paläophron und Neoterpe« die 
Rolle des Griesgram übernommen. Eine häusHche Ange- 
legenheit gab Anlass zu dem 

I. Brief Goethe' 5 an K. W. von Fritsch. 

FürstUche Generalpolizeidirection erwirbt sich um 
sämmtliche hiesige Haushaltungen durch die neuen 
Einrichtungen, das Gesinde betreffend, ein unschätz- 
bares Verdienst, wobei sie, besonders anfänglich, 
manche ausserordenthche Bemühungen gefällig über- 
nimmt, welche zu vermehren ich soeben genöthigt 
bin. Ew. Hochwolgeboren erlauben folgenden Vonrag. 

Johanna Höpfnerin von Eisenach hat als Haus- 
magd ein halbes Jahr, sodann als Köchin ein Jahr 
bei mir gedient, und man konnte mit ihrer Treue 
und Thätigkeii zufrieden sein, nur ward ihr übriges 
gutes Betragen durch leidenschaftliche Ausfälle unter- 
brochen, dergleichen vor kurzem sich einer zeigte, 
wesshalb sie aus dem Dienste entlassen werden musste. 



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Goethe und Die von fritsch. 239 



Sie fühlt nun wol gegenwärtig, welche gute Stelle 
sie verscherzt hat, und wünscht wieder aufgenommen 
zu werden, wozu ich auch nicht abgeneigt wäre, 
wenn es unter den Anspielen fürstlicher General- 
polizeidirection geschehen könnte, und zwar derge- 
stalt, dass ich gedachte Köchin abermals bis Ostern 
miethete, mir jedoch ausdrücklich vorbehielte, sie, 
wenn sich wieder ein solcher Ausbruch von Heftig- 
keit und Unsinn ereignete, sogleich aus dem Dienste 
zu entlassen und ihr an Lohn nicht mehr, als so 
viel sie bis zu einem solchen Augenblicke verdiente, 
zu verabreichen. 

Genehmigt fürstliche Generalpolizeidirection die- 
sen Antrag, so bin ich bereit, mehrgedachte Person 
sogleich wieder aufzunehmen, und verfehle nicht, 
meinen Dank für die übernommenen Bemühungen 
fürstlicher Generalpolizeidirection für meine Person 
auf das Lebhafteste abzustatten. 

Der ich mit vorzüglichster Hochachtung unter- 
zeichne 

Ew. Hochwolgeboren 

ganz gehorsamster Diener 
J. W. V. Goethe. 
Weimar, den 10. September 1805. 

Als nach der Schlacht von Jena K. W. von Fritsch 
die Leitung der Kriegsverpflegungsanstalten übertragen 
erhalten hatte, erkannte Goethe an, dass derselbe ein 



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240 Goethe mit Zeitgenossen. 



tüchtiger Mann sei, fürchtete aber gleichwol, dass es ihm 
nicht geUngen werde, die betreffenden Angelegenheiten in 
Ordnung zu halten. 

Auf das Zusammensuchen derjenigen Festgedichte, mit 
denen Goethe namentlich die Maskenbälle seiner frühsten 
Jahre in Weimar verherrlichte und deren er zuerst im 
9. Bande der von 1806 bis 1810 erscheinenden Ausgabe 
seiner Werke sammelte, scheint sich zu beziehen der 

2. Brief Goethe' s an K W. von Fritsch, 

Ew. Hochwolgeboren 

bin ich vielen Dank für das Übersendete schuldig. 
Durch die Aufmerksamkeit und Güte meiner Freunde 
kommen doch nach und nach disjecti membra poetae 
wieder zusammen. Zwei Blättchen von den über- 
sendeten habe ich bisher vergebens aufgesucht. Em- 
pfehlen Sie mich Ihrer Frau Mutter vielmals. Ich 
werde ehestens selbst kommen, mich zu bedanken 
und zugleich bei Ihrem Herrn Vater wegen der 
Anlage zu entschuldigen, welche ich ihm zu über- 
reichen bitte. 

Von Herrn von Hendrich erhalte ich oft Briefe, 
und so kam auch dieser zu mir, den ich, blos das 
Siegel betrachtend, aufriss. Da nalim mich's denn 
schon nicht wenig Wunder, dass Wunder etwas 
von mir erzählt haben sollte. Als ich aber gar von 
einem Aufenthalte in Dresden las, sah ich nach der 
Adresse, ward meinen Irrthum gewahr und schob 



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Goethe und Die von Fritsch. 24 1 

das Blatt wieder ein. Nochmals also Vergebung. 
Ihrer Frau Gemahlin mich bestens empfelilend 

Goethe. 
Weimar, den 23. December 1807. 

Zu erläutern ist hierbei, dass v. Hendrich Major und 
Commandant von Jena war. 

Die folgenden vier eigenhändigen Briefe beziehen sich 
auf die von Goethe für den 30. Januar und den 16. Februar 
18 10, den Geburtstagen der Herzogin und der Erbgross- 
herzogin, Grossfürstin Maria Paulowna, angegebenen und 
mit Dichtung ausgerüsteten Maskenaufzüge der roman- 
tischen Poesie und russischer Nationen, bei welchem 
ersteren, der jedoch erst am 2. Februar zur Aufführung 
kam, K. W. von Fritsch und Goethe's Sohn die Sprecher 
waren. Das in einem Brief an die Hofmarschallin von 
Egloffstein erwähnte Billet an Präsident von Fritsch, wel- 
ches einer Abendsitzung über den Maskenzug voranging, 
fehlt. Ihm folgte der 

j. Brief Goethe' s an K. W. von Fritsch. 

Ew. Hochwohlgeboren 

ersehen aus nachstehendem Schema, wie unser Auf- 
zug sich zuletzt gestaltet hat. Ich wünsche dem 
Arrangement Ihren Beifall. Die Nummern, wozu 
die Verse August zu sprechen hat, sieht*) mit Roth 
unterstrichen**), die andern, welche Ihnen empfohlen 



•) So ftr »sind«. 

*•) Hier gesperrt gedruckt. 

16 



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242 Goethe mit Zeitgenossen. 



werden, ohne Bezeichnung. Hiernach werden Sie 
übersehen können, wenn Sie beikommende Strophen 
damit vergleichen, welcher Theil Ihrer Rolle noch 
zurücksteht, welches leider der grösste ist. Ich habe 
alles auf einzelne Blätter schreiben lassen, damit das 
Einzuschaltende eingeschalt w^erden kann; eine schliess- 
liche Abschrift wird die sämmtUchen Strophen mit 
ihren Stichwörtern in der Folge darstellen und aller 
Verwechslung vorbeugen. 

Morgen früh um 12 Uhr, ja eher, werde ich mich 
im Stadthause einfinden. Die Herren werden gebeten 
sämmtlich, und von den Frauenzimmern, wer Lust 
und Müsse hat, zu erscheinen. Auch wollte ich 
bitten, dass man alles, was noch etwa an Requisiten 
abgeht, in diesem Termin erinnerte und entweder 
mündlich zum Protokoll gäbe oder schriftlich zu 
Acten einsendete. Ew. Hochwolgeboren haben ja 
w^ol die Güte, diesen Wunsch an die Interessenten 
gelangen zu lassen. 

Goethe. 

Weimar, den 31. Januar 18 10. 

Auf dem zweiten Blatt dieses Briefes steht gleichfalls 
von Goethe's Hand: 

Maskenzug zum 30. Januar 1810. 
Personen. 
I. 3. 2. 

Minnesinger. Herold. Heldendichter. 



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Goethe ukd Die von Fritsch. 



243 



4- 
Lenz. 

6. 7- 
Conversirende. 


5- 

Sommer. 




8. 9- 

Tanzende. 




j 
12. 

Herbst. 


10. II. 
agdlustige. 

14. 
Spielende. 


13- 
Winter. 


16. 
Brunehild. 


15. 
Zwerge. 


17. 
Siegfried. 


18. 
Herlinde. 


20. 


19- 
Rother. 


21. 
Recht. 


Asprian. 


22. 
Ehre. 


23- 

Liebe. 

26. 
Weltliches Regi 


24. 
Treue. 
25. 
1 n i t. 

27. 
iment. Geistliches Regiment. 


28. 
Kanzler. 


30. 
Räthsel. 


29. 
Clericus. 



i6* 



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244 Goethe mit Zeitgenossek. 

4. Brief Goethes an K. W. von Fritsch. 
Ew. Hochwohlgeboren 

danke nochmals für alles gestern erzeigte Freund- 
liche und Gute. Ich habe noch eine Anzahl Exem- 
plare aus dem gestrigen Getümmel gerettet und 
sende daher 50, weil sie doch als Novität immer 
mehr werth sind. Der Satz ist in der Druckerei 
stehen geblieben, und die Gesellschaft kann nach- 
schiessen lassen, so viel sie will. Der Aufwand ist 
gering. Das Exemplar kommt nicht 18 Pfennige. 
Da wir Beifell gefunden haben, so würde ich einen 
anständigen Titel Vordrucken lassen und noch einiges 
hinzufügen und ändern. Hierüber liesse sich am 
besten mündlich verhandeln. Wollten Sie daher wol 
morgen früh mit Ihrer lieben Frau Gemahlin, der 
ich für die schöne Stickerei selbst zu danken wünschte, 
zu unserer Singstunde früh um 11 Uhr sich ein- 
finden? Bis dahin empfehle ich mich zum alier- 
schönsten. 

Goethe. 
Weimar, den 3. Februar 18 10. 

Als Singstunde bezeichnet Goethe hier die damals 
allsonntäglich Vormittags bei ihm stattfindenden Gesang- 
vorträge der von ihm sogenannten freiwilligen Haus- 
kapelle, welche der Musikdirector Eberwein leitete. 



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Goethe und Die von Fritsch. 245 

5. Brief Goethe' s an K. W. von Fritsch. 

Ew. Hochwohlgeboren 

erhalten hierbei 200 Exemplare zu gefälliger Aus- 
theilung an die Gesellschaft und sonstige Freunde. 
Das dritte Hundert ist bei mir schon ziemlich auf 
die Hälfte zusanmiengeschmolzen. Es scheint, als ob 
keine Schriften besser abgingen, als die man gratis 
austheilt. Mit meinem Rest will ich noch die Nach- 
fragenden zu befriedigen suchen. 

Wie befindet sich denn unsere liebe kleine Frau? 
Kann sie den Zug heute anführen? Das Heizen der 
obem Zimmer ist besorgt. Genast wird sich mit den 
Stangenmännern zur rechten Zeit einfinden und 
weitere Anordnung erwarten. Eberwein der Ältere 
wird die russischen Melodien mit Instrumentalmusik 
vortragen, wodurch wieder etwas Neues und Fremdes 
entsteht. Ich wünsche, dass alles wohl passen und 
gelingen möge. Ich werde diesmal schwerUch selbst 
aufwarten können. 

Goethe. 

Weimar, den 18. Februar 1810. 

Noch Eins! 
Ist es möglich, so wünschten wir die sämmt- 
lichen ausgetheilten Zeichnungen wieder zurückzu- 
erhalten, in welchem Zustande sie auch sein mögen. 
Wir würden sie nebst denen vom ersten Aufzuge in 



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246 Goethe mit Zeitgenossen. 

ein Buch zusammenbringen und zu künftigen*) Ge- 
brauch aufheben. Einzeln nutzen sie niemanden, ge- 
sammelt aber können sie künftigen Maskenlustigen 
zu neuer Anleitung dienen. Der ich wohl zu leben 
wünsche und mich bestens empfehle. 

6. Brief Goethe' s an K. W. von Früsch. 
Ew. Hochwohlgeboren 
gefällige Anfrage beantworte sogleich. 

Das Chor bestand aus 26 Sängern. Jeder würde 
nach unserer Theatertaxe für seine Bemühungen 
8 Groschen erhalten haben. Zahlen sie jedem 12 
Groschen, so wird es mit Dank angenommen wer- 
den und zur Ermunterung in ähnlichen Fällen dienen. 
Das Ausschreiben der Stimmen betrug i Thaler 
8 Groschen. 

Mögen Sie mir diese kleine Summe zukommen 
lassen, so werde ich gern für die Entrichtung und 
Vertheilung sorgen. 

Möchte doch alles, was unternommen und auf- 
gewendet wird, von so guter Wirkung sein. Ich 
erfreue mich dessen, indem ich mich Ihnen und 
Ihrer lieben Dame meinen Dank und meine An- 
hänglichkeit auf das beste zu versichern die Freude habe. 

Goethe. 

Weimar, den 21. Februar 1810. 

•) So« 



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Goethe ukd Die von Fritsch. 247 



Wie der gegen äussere Einwirkungen peinlich em- 
pfängliche Dichter 1801 in Göttingen von der Polizei vor 
dem Schalle des Nachtwächterhoms geschützt wurde, 
während er vergeblich nächtliches Hundegeheul durch die 
nach den Urhebern geworfenen Ammonshömer zu unter- 
drücken bemüht war, so nahm er wegen eines ähnHchen 
Gelärms die Hilfe der weimarischen Generalpolizeidirection 
in Anspruch in dem auch wieder eigenhändigen 

7. Brief Goethe' s an K. JV. von Fritsch. 

Ew. Hochwohlgeboren 

haben mich vor einem Jahr von der grossen Un- 
bequemhchkeit gefälligst befreit, w^elche mir die 
Kegelbahn in der Nachbarschaft gegeben, und ich 
habe meinen aufrichtigsten Dank nicht besser aus- 
drücken können, als dass ich dieses Jahr früher 
zurückgekommen bin, um sub umbra alarum tuarum 
mich meines stillen und heimlichen Gartens zu er- 
freuen. Aber unglücklicherweise habe ich schon 
wieder eine Kegelei zu denunciren, welche an der- 
selben Stelle errichtet worden. Es scheint zwar nur 
ein Schub zu sein, wie man solche auf Tischen ver- 
anstaltet, aber der Lärm ist, wo nicht so stark, doch 
ebenso widrig, und dann hat diese Art noch das 
Übel, dass, wenn keine Gäste da sind, sich wahr- 
scheinlich die Kinder und Knaben aus der Nachbar- 
schaft damit ergötzen; denn es ist den ganzen Tag 
über wenig Ruhe. 



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248 Goethe mit Zeitgenossen. 

Ich bin ohnehin hier aussen in der Vorstadt 
zwischen manche Handwerker eingeklemmt, zwischen 
Grob- und Nagelschmiede, Tischler und Zimmer- 
leute, und sodann ist mir ein Leinweber der unan- 
genehmste Wandnachbar. Doch macht man sich über 
solche nothwendige Dinge noch Raison, indem man 
zugeben muss, dass ein Gewerbe nicht geräuschlos 
sein könne. Wenn aber an Feierabenden und an Sonn- 
und Festtagen der Müssiggang mehr Getöse macht, als 
die sämmtlichen thätigen Leute zusammen in ihren 
Arbeitsstunden, so wird man um so ungeduldiger, als 
den Liebhabern solcher nutzlosen Übungen ausser der 
Stadt die herrUchsten Bahnen reichlich eröffnet sind. 

Doch dieses alles darf ich nicht erst erwähnen; 
denn es sind ja eben dieselben Betrachtungen, w^elche 
Ew. Hochwohlgeboren veranlassten jene früheren für den 
Ruheliebenden so erwünschten Verfügungen zu treffen. 

Mit Sehnsucht habe ich auf Ew\ Hochwohlgeboren 
Rückkehr gewartet, weil ich gern dasjenige, was ich 
Ihnen schon einmal schuldig geworden, auch dies- 
mal verdanken möchte. Ich wollte nicht in den 
ersten Tagen zudringlich sein; nun aber lege ich 
zuversichtlich diese kleine, mir jedoch wichtige An- 
gelegenheit in Ihre Oberrichter- und Freundeshände. 
Ew. Hochwohlgeboren 
ganz gehorsamster Diener 
J. W. V. Goethe. 

Weimar, den 27. August 181 1. 



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Goethe und Die von Fritsch. 249 

Im Juni 1816 gab Goethe dem Staatsminisier K. W. 
Freiherrn v. Fritsch und seiner Gattin einen Brief an 
Sulpiz Boisserie nach Stuttgan mit, worin er diesen er- 
suchte, seine berühmte Sammlung altdeutscher Genrtälde 
»diesen wohl- und zartgesinnten Freunden« zu ungestörter 
Betrachtung zu öffnen. 

Ebenfalls auf Kunstwerke gerichtet, aber sonst mir 
unbekannt ist der Bezug des 

8. Briefs von Goethe an K. W. vofi Fritsch. 
Ew. Excellenz 

ausgezeichnet schätzbare Gabe wäre uns jederzeit 
höchst willkommen gewesen, zur gegenwänigen aber 
wird sie es doppelt, da wir vor kurzem das Bibliotheks- 
Museum geordnet, katalogirt und dadurch das Vor- 
handene sowol, als jedes Zuwachsende erfreulicher 
und geniessbarer gemacht. Unser bereitwilliger Hof- 
rath Meyer wird diesen Gemälden sogleich ihren 
gebührenden Glanz ertheilen, und wir werden uns 
die Freude erbitten, dass Ew. Excellenz sie gelegent- 
lich, Ihrem Wunsche gemäss zu Ehren des Gebers 
aufgestellt, freundlichst betrachten mögen. Nehmen 
Sie indessen unseren verbindlichsten Dank und er- 
halten den wissenschaftlichen sowol als Kunst- 
Anstalten eine geneigte Gesinnung. Gehorsamst 

J. W. V. Goethe. 

Weimar, den 12. October 18 18. 



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250 Goethe mit Zeitgenossen. 

An dem grossen Festzuge vom 18. December 18 18, 
welcher bei Anwesenheit der Mutter der Erbgrossherzogin, 
der Kaiserin Maria Feodorowna, geistige Erzeugnisse der 
Weimarer Glanzzeit nebst verschiedenen allegorischen Ge- 
stalten vorführte, nahm K. W. Freiherr v. Fritsch nebst 
Frau und seinen drei Söhnen Karl, Albert und Georg 
Theil. Die beiden letzteren stellten Elfen vor, und Albert 
hatte die Verse zu sprechen: »Das kleine Volk, das hier 
vereint u. s. w.« Allein es wollte mit dem Auswendig- 
lernen nicht recht gehen, was Oberbaudirector Coudray, 
der den Aufzug einübte, Goethe'n klagte. »Nun«, erwiderte 
dieser, »wo Licht ist, muss auch Schatten sein.« Frau v. 
Fritsch theilte dem Sohne diese Äusserung Goethe's mit, 
was diesen so anspornte, dass er sofort daran ging, seine 
Aufgabe sich sorgfältig einzuprägen, was ihm auch so 
gelang, dass er die Reimzeilen noch heute im frischen 
Gedächtniss hat. Frau v. Fritsch sprach als Tag den Epilog, 
der älteste Sohn Karl stellte Brighella und der Oberforst- 
meister Fr. A. Frhr. v. Fritsch den November vor. 

Auf die von K. W. von Fritsch nach dem Tod des 
Minister von Voigt übernommenen Universitätsangelegen- 
heiten, und zwar auf das Verbot der vom Professor Oken 
zu Jena herausgegebenen wühlerischen Zeitschrift »Isis« 
bezieht sich der vom weimarischen Archivdirector Burk- 
hardt in den »Grenzboten« 1878 veröffentHchte 

(). Brief Goethes an K. W. von Fritsch. 

Ew. Excellenz 
erlauben, dass ich nach meiner Rückkunft von Jena, 
wohin ich auf einige Tage mich begebe, persönlich 
für geneigte Mittheilung beikommender wichtigen 



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Goethe und Die von Fritsch. 251 

Acten meinen verbindlichsten Dank abstatte, wobei 
ich zugleich den erwünschten Erfolg eines so noth- 
wendigen Schrittes zu vernehmen hoffe. 
Verehrungsvoll 

gehorsamst 

J. W. v. Goethe. 
Weimar d. 26. Juni 181 9. 

Einer Bereicherung der Goethe'schen Handschriften- 
sammlung und des bevorstehenden Erscheinens von »Wil- 
helm Meisters Wanderjahren« gedenkt der eigenhändige 

70. Brief Goethes an K. W. von Fritsch. 

Ew. Excellenz 
haben mir durch die so bedeutende Sendung das 
grösste Vergnügen gewährt. Vorerst war sie mir im 
Allgemeinen ein unschätzbares Zeugniss gewogenen 
Andenkens, sodann bei näherer Ansicht gab sie einen 
charakteristischen Einblick sowol in die Zustände des 
wackern Francke, als in die akademischen jener Zeit. 

Solche Documente sind höchst belehrend, indem 
sie uns die Vergangenheit in die nächste Gegenwart 
heranziehen, wovon meine Sammlung die schönsten 
Zeugnisse gibt, deren Vermehrung Hochdenenselben 
nunmehr verdankend, sie zu weiterer geneigter Be- 
achtung bestens empfehle. 

Möge die gute Jahreszeit, die Erleichterung von 
Geschäften das neulich genossene Glück mir bald aber- 



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252 Goethe mit Zeitgenossen. 

mals verschaffen! Einem nächstens anklopfenden Wan- 
derer günstige Aufnahme erbittend treulichst angeeignet 

J. W. Goethe. 
Weimar, 29. Mai 1821. 

Von den folgenden sieben Briefen betreffen sechs, 
einige wenigstens zum Theil, das von Goethe durch Ver- 
mittelung des deutschen Bundestags erworbene Privilegium 
gegen den Nachdruck der Ausgabe letzter Hand seiner 
sämmtlichen Werke, worüber ihm von auswänigen Staaten 
die Mittheilungen nach und nach zugingen, wie durch den 
bayerischen Gesandten in Weimar, Grafen von Luxburg, 
durch den weimarischen Agenten in Wien von Piquot u. a. 
Aus den Briefen erfährt man, dass einzelne Staaten sich 
die Verleihung bezahlen Hessen; das Königreich Sachsen 
enheilte das Privilegium gebührenfrei. Nur die beiden 
nächsten Briefe sind eigenhändig. 

//. Brief Goethes an K W. von Fritsch. 

Ew. Excellenz 
genehmigen meinen verbindlichsten Dank für die 
Übersendung des königl. bayerischen. Privilegiums 
und entrichten solchen gefällig an des Herrn Grafen 
Luxburg Excellenz. 

Die schuldigen 49 fl. werden sogleich nach München 
unmittelbar ausgezahlt. 
Verehrend, vertrauend 

Ew. Excellenz 



Weimar, 29. Januar 1825. 



gehorsamst 
J. W. v. Goethe. 



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Goethe und Die von Fritsch. 253 

12. Brief Goethe's an K. W. von Fritsch. 

Ew. Excellenz 
verpflichten mich auf's Neue durch die so schleunig 
mitgetheilte gün^ige Nachricht. Der Entwurf des 
Beschlusses weicht zwar einigermaassen von meinem 
Petitum ab, doch muss man den wohlwollenden 
Männern vertrauen, die am besten wissen, auf welche 
Weise die Sache zu fördern ist. 

Der ich das vorliegende Geschäft aufs Andring- 
lichste zu empfehlen mir die Freiheit nehme und 
mir für die Folge fernere geneigte Mittheilung, ein- 
sichtigen Rath und wirksamen Antheil zuversichtlich 
erbitte. 

Verehrend 

Ew. Excellenz 
ganz gehorsamer Diener 
J. W. V. Goethe. 
Weimar, den 21. März 1825. 

i). Brief Goethe' s an K. W. von Fritsch. 

Ew. Excellenz 
verfehle nicht beiliegender schuldiger Erwiederung 
meinen verbindlichsten Dank hinzuzufügen für die 
dem Jenaischen sowol als Weimarischen Bibliotheks- 
verwandten gegönnte Aufmunterung; es wird beiden 
Anstalten zu wahrem Vonheil gereichen, indem so- 



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254 Goethe mit Zeitgenossen. 



wol die begünstigten Personen hieraus neuen Muth 
schöpfen, als auch der Vorgesetzte ein doppeltes 
Recht erhält, nach seiner Überzeugung das Mög- 
lichste von ihnen zu fordern. 

Unserm gnädigsten Herrn habe meinen gefühltes- 
ten Dank sogleich abgetragen, welchen jedoch ge- 
legentlich zu wiederholen Ew. Excellenz die Ge- 
fälligkeit haben mögen. 

Ew. Excellenz 

ganz gehorsamster Diener 
J. W. Goethe. 
Weimar, den 4. Septbr. 1825. 

Den Dank in vorstehendem Brief spricht Goethe in 
seiner Stellung als Vorstand der Oberaufsicht über die 
weimarischen Anstalten für Kunst und Wissenschaft aus 
und bezieht sich derselbe auf die Verleihung von Civil- 
verdienstmedaillen an Professor und Bibliothekar Gülden- 
apfel sowie an BibUothekssecretär Kräuter; das Dank- 
sagungsschreiben des ersteren war die Beilage. Die im 
folgenden Brief erwähnte Ordensverleihung war die An- 
erkennung des Verdienstes, das Graf Vargas Bedemar sich 
durch reiche Geschenke von Stufen um die mineralogische 
Societät zu Jena — deren Vicepräsident er nach dem Tod 
des Oberberghauptmann von Trebra geworden war — 
erworben hatte. 

14. Brief Goethe* s an K. W. von Fritsch. 

Ew. Excellenz 
vergönnen, dass ich manches in kurzem Raum zu- 
sammenfasse. Zuvörderst danke noch auf das Ver- 



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Goethe und Die von Fritsch. 255 

bindlichste für das dem Herrn Grafen Vargas Bede- 
mar verliehene Comthurkreuz. 

Sodann spreche meine Freude aus über das mit 
allgemeinem Beifall durchgeführte Maurerfest und 
lege schliesslich eine Abschrift bei eines unerwartet 
günstigen Schreibens Ihro des Fürsten Metternich 
Durchlaucht, wodurch ich die für mich so wichtige 
Angelegenheit in der Hauptsache als völlig abge- 
schlossen gar wol ansehen darf. 

Ew. Excellenz freundschaftlichen Antheils hierin 
wue im Übrigen völlig versichert, erbitte mir wohl- 
wollende Fortsetzung 

treu anhänglich 
J. W. V. Goethe. 

Weimar, den 15. September 1825. 

ij. Brief Goethe' s an K IV. von Fritsch. 

Ew. Excellenz 
nehme mir die Freiheit, den von kaiserl. königl. 
österreichischer Hofkanzlei an mich ergangenen Er- 
lass im Originale vorzulegen und, indem ich mir 
dessen gefällige Rücksendung erbitte, zugleich anzu- 
fragen: ob Hochdieselben geneigt seien, demnächst 
eine an Herrn von Piquot desshalb abzusendende 
Depesche an denselben gelangen zu lassen ? ihm auch 
aufzutragen, dass er die wenig bedeutenden Kanzlei- 
gebühren bei der kaiserlichen Hof kanzlei erlegen und 



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256 Goethe mit Zeitgenossen. 

dagegen das Privilegium empfangen möge, um welche 
Bemühung ich ihn selbst zu ersuchen, auch den Be- 
trag allhier zu erstatten nicht ermangeln würde. 

Hochdieselben verpflichten hierdurch aufs Neue 
denjenigen, der die Ehre hat sich zu unterzeichnen 
gehorsamst treu angehörig 
J. W. V. Goethe. 
Weimar, den 21. September 1825. 

16. Brief Goethe's an K. W. von Fritsch. 

Ew. Excellenz 
übersende den, wie mich dünkt glücklich gerathenen 
Versuch, Serenissimi Bildniss in Goldblech auszu- 
prägen. Das Schreiben des Regierungsrath Schmidt 
benachrichtigt uns, dass die Kosten gering sind, denn 
der noch nicht ausgesprochene Betrag des Prägens 
kann von keiner Bedeutung sein. Es hängt nur vom 
höchsten Befehle ab, wie viel Exemplare bestellt wer- 
den sollen. 

Zugleich erbitte mir das gefällig verfasste Schreiben 
an Herrn von Piquot, welches ich gestern aus einer 
irrigen Ansicht in Ew. Excellenz Händen liess. 

Dankbar vertrauend gehorsamst 
J. W. V. Goethe. 

Weimar, den 23. September 1825. 

Regierungsrath Christian Friedrich Schmidt, welcher 
das beim Regierungsjubiläum des Grossherzogs Karl August 



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Goethe und Die von Fritsch. 257 



zu prägende Bildniss desselben besorgen sollte, weilte 1825 
in Gränzregulirungsangelegenheiten in Berlin. 

77. Brief Goethes an K, W. von Fritsch. 

Ew. Excellenz 
das gefällig mitgetheilte Schreiben des Herrn Grafen 
von Luxburg dankbarlichst zurücksendend, verfehle 
nicht anzuzeigen, dass das kaiserl. Privilegium in aller 
Form auf Pergament mit Allerhöchsteigner Unter- 
schrift und grossem Siegel, datirt vom 23. August 
dieses Jahres, durch die Geneigtheit des Herrn von 
Piquot glücklich angelangt ist, wxsshalb ich mir denn 
eines freundschaftlichen Antheils w^ol schmeicheln darf. 
Vertrauensvoll, treulich ergeben, gehorsamst 

J. W. V. Goethe. 
Weimar, den 22. October 1825. 

Wie schon oben im 12. Brief der am 13. Sept. 1825 
in der Loge Amalia zu Ehren der Feier der fünfzigjährigen 
Regierung des Grossherzogs Karl August begangenen Fest- 
lichkeit gedacht ist, so bezieht sich auf sie auch der 

iS, Brief Goethe s an K. W. von Fritsch, 

Ew. Excellenz 
erstatte dankbarlichst den höchst gelungenen Auf- 
satz, welcher immer besser zu werden scheint, je 
mehr man sich mit ihm bekannt macht; nur w^enig 

einzebe Bemerkungen fügt' ich bleistiftlich zur Seite. 

17 



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258 Goethe mit Zeitgenossen. 

Die Hauptstelle glaubt' ich in dem Sinne verfassen 
zu müssen, wie sie etwa in fünfzig Jahren ein frei- 
denkender Geschichtsschreiber aufführen würde. 

Wenn das Einzelne durch die Zeit ausgelöscht 
wird, so geht das Allgemeine rein hervor ; die Hand- 
lungen verschwinden, man hört auf, nach den Mitteln 
zu fragen, die erreichten Zwecke treten vor die Seele 
des Betrachters. 

Billigen Ew. Excellenz diese Gedanken, so werden 
Sie beurtheilen, ob ich in der Ausführung glücklich 
gewiesen. Das niedergeschriebene Wort, insofern der 
Sinn einigermaassen annehmlich erscheint, einsich- 
tiger Wahl überlassend. 

Verehrend, vertrauend angehörig 

J. W. V. Goethe. 

Weimar, den 7. Januar 1826. 
Verzeihung der fremden Hand ! 
Die meine fördert nicht mehr. 

Beilage zum 18. Brief. 

Leider ward jedoch in jenen bewegten Zeiten 
manches Missverständniss fühlbar; das aufgeregte 
Gemüth deutscher Jünglinge und Männer, vertrauend 
auf vaterländische Gesinnungen und gelungene That, 
schien das Neubefestigte abermals zu bedrohen. Dieses 
gab den edelsten zu Staatsverwesern berufenen Geis- 
tern sorgHche Bedenklichkeiten, und hier mussten 



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Goethe und Die von Fritsch. 259 

zweierlei Ansichten hervonreten : die eine, das in der 
Zeit Bewegte, augenblicklich Aufbrausende sei un- 
mittelbar zu dämpfen; die andere, dem Gang dieser 
Epoche solle man bedächtig zusehen und, auf dessen 
Verlauf achtsam bleibend, zu rechter Zeit dienliche 
Heilmittel anwenden. 

Jene hielten sich durch manche tadelnswerthe, ja 
erschreckende Unregelmässigkeiten berechtigt, auf 
ihren Grundsätzen zu beharren und desshalb die 
nöthig erachteten Vorschritte gemessen zu thun; 
diese jedoch, überzeugt, dass nach vorübergegangener 
Krise eine frische Gesundheit sich offenbaren werde, 
suchten in stiller Milde das verlorene Gleichgewicht 
wiederherzustellen. 

Freilich gehörten Jahre dazu, um diese Ver- 
fahrungsart zu rechtfertigen, und wir dürfen uns 
glücklich preisen, dass nach manchem Schwanken 
sich endlich bewahrheitet: nur ein allgemeines Ver- 
geben und Vergessen könne ganz allein das ver- 
lorene Gleichgewicht sowol, als das gestörte wechsel- 
seitige Vertrauen nach und nach wiederherstellen. 

Wie erfreulich muss es daher sein, in Ihrer Gegen- 
wart, verbundene Brüder, getrost auszusprechen, wie 
wir in so treuen als massigen Gesinnungen unver- 
wandt ausdauernd und wirkend uns von diesen er- 
wünschten Folgen auch einen Theil ohne Anmassung 

zuschreiben dürfen. 

17* 



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26o Goethe mit Zeitgenossen. 



Diese Beilage ist wörtlich eine Stelle, welche sich 
jetzt in der von K. W. Freiherrn v. Fritsch an gedachtem 
Maurerfest über Karl August's Leben und Wirken gehal- 
tenen Rede findet, und zwar in den »Freimaurer-Analecten 
in. Heft. Weimar 1825« Seite 30. Diese Stelle ist somit 
von Goethe. 

Ueber eine andere Rede des K. W. Frhm. v. Fritsch, 
wahrscheinlich ebenfalls auf Karl August bei dessen Bei- 
setzung gehahen, äusserte Goethe : »Die vortreffliche Rede 
des Herrn Ministers v. Fritsch erfüllt auch eine von meinen 
Weissagungen : dass , sobald Geschäftsmänner öffentlich 
sprechen, w^ir auch Muster der Redekunst werden auf- 
weisen können.« 

Die beiden letzten Briefe betreffen verschiedene Gegen- 
stände, über wxlche ich, soweit sie nicht ohne Weiteres 
verständlich sind, keine Erläuterung zu geben und nur zu 
erinnern verrnag, dass Küstner grossherzogl. sächsischer 
Generalconsul in Leipzig war. Der 20. Brief ist wieder 
eigenhändig. 

/^. Brief Goethes an K W. Fritsch. 

Ew. Excellenz 
werden geneigtest in beiliegendem Blättchen die Ent- 
schuldigung finden, wenn ich mit ein Paar sehr 
unerfreulichen Heftchen aufwarte. Ohne des Herrn 
Generalconsuls Küstner ausdrücklichen Auftrag würde 
dieses kaum gewagt haben. Ein alter, sich immer 
erneuernder Streit zwischen Glauben und Forschung 
bringt jederzeit im Augenblick die unangenehmsten 
Verhältnisse herv'or. Indessen haben freilich die Re- 



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Goethe und Die von Fritsch. 26 1 



gierungen davon Kenntniss zu nehmen, um heftige 
Schwankungen möglichst zu verhüten. 

Zugleich nehme mir die Freiheit, ein ßlättchen 
zu widmen, worauf unser atmosphärisches Reich aus 
fünf Mittelpunkten — Allstedt, Jena, Wartburg, Ilmenau 
und Frankenhain — durch rothe Strichlein bezeichnet 
ist. Diese Anmassung möchte sehr verzeihlich sein, 
da sie auf die irdischen Zustände auch nicht den 
mindesten Einfluss hat. 

Schliesslich versäume diese mir dargebotene Ge- 
legenheit nicht, meinen verpflichteten Dank für die 
neuerUch en\nesene geneigte Theilname an einem 
für das Ganze nicht unwichtigen, mir aber persönlich 
bedeutenden und einige Zeit her Sorge erregenden 
Geschäft auszusprechen. 

Indem ich nun solches sowol als mich selbst 

fernerem WolwoUen empfehle, rechne mir's zur 

Ehre und Freude, mich verehrend unterzeichnen zu 

können 

Ew. Excellenz 

ganz gehorsamsten Diener 

J. W. v. Goethe. 
Weimar, den 29. April 1830. 



Bei der gegen Ende 1830 stattgehabten Verloosung 
des Sächsischen Kunstvereins zu Dresden hatte K. W. von 
Fritsch eine landschaftliche Zeichnung von Christian Gille 



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202 Goethe mit Zeitgenossen. 

gewonnen, wegen deren Veräusserung Goethe durch des 
ersteren ältesten Sohn Karl von Fritsch, der damals von 
einem längeren Aufenthalt in Südfrankreich und Italien 
heimgekehrt war, anfragen liess. K. W. von Fritsch ging 
auf den Verkauf ein. 



20. Brief Goethes an K. W. von Fritsch. 
Ew\ Excellenz 

bin, w^ie von jeher so auch heute wiederholt aufs 
Lebhafteste verpflichtet, da durch Dero geneigte Ver- 
mittelung die Hindernisse so bald entfernt worden, 
die sich einem gnädigsten WolwoUen diesmal ent- 
gegenstellten. 

Wenn auch eine so gew^ünschte Zierde einen 
jeden nach aussen erhöht, so ist doch hier der Fall, 
dass das Innerste eines w^ürdigen Mannes dadurch 
gerettet und sein vieljähriger Zustand aufs Neue be- 
festigt worden. 

Die Ungewissheit , inwiefern er genöthigt sein 
möchte, in hohen Jahren sich zu einer ungewohnten 
und lästigen Lebensweise zu bequemen, war ihm und 
seinen theilnehmenden Freunden höchst peinlich. 
Desto grösser erscheint die erwiesene Gnade. 

Meinen unterthänigsten Dank bitte vorläufig auf 
das Lebhafteste abzustatten, dessen mündliche Wieder- 
holung, sowie an Hochdieselben nächstens zur ange- 
nehmsten Pflicht mache. 



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Goethe und Die von Fritsch. 263 

Mich und das Meinige zu fernerer Gunst und 
Geneigtheit angelegentUchst empfehlend 
verehrend und vertrauend 

Ew. Excellenz 
ganz gehorsamster Diener 
J. W. V. Goethe. 
Weimar, den 11. Mai 183 1. 

Die Gattin des Freiherrn Karl Wilhelm von Fritsch, 
Henriette, war die Tochter des herzoglich württem- 
bergischen Obersten v. Wolfskeel-Reichenberg, der 
zur Zeit ihrer Geburt in Stuttgart stand. Dort erhielt auch 
die Tochter ihre vortreffliche Erziehung und blieb daselbst, 
bis sie siebzehnjährig 1793 nach Weimar kam, um die 
Stelle einer Hofdame bei der Herzogin-Mutter Amalie 
anzutreten. Heiter, mild, zierlich, anmuthig, von klang- 
voller Stimme beim Gesang und Meisterin im Harfenspiel, 
verschönte Henriette v. Wolfskeel den Kreis, welcher sich 
namentlich an den Abenden um die geistvolle Fürstin 
versammelte, in dessen bekannter bildlicher Darstellung 
von Karl Gore daher auch sie zu finden ist. Zwar war 
damals die Zeit schon vorüber, in welcher Goethe mit 
sprühendem Dichterfeuer die Gesellschaft Weimars durch 
Darstellungen mannichfachster Art in steter Erregung zu 
erhalten wusste, aber noch immer las er nicht nur bei 
Hofe seine Dichtungen, sondern führte auch von Zeit zu 
Zeit eine neue Schöpfung vor, oder man wiederholte seine 
älteren. So trat denn Henriette v. W. 1796 als Erwin in 
»Erwin und Elmire«, am 26. Jan. 1798 als »Friede« in 
dem von Goethe eingerichteten Maskenzuge, wobei sie 



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264 Goethe mit Zeitgenossen. 

die dazu gedichteten Stanzen zu sprechen hatte, und am 
24. Oct. 1800, dem Geburtstage der Herzogin Amalie, als 
Neoterpe in dem für diesen Tag gedichteten Festspiel 
»Paläophron und Neoterpe«, welche Rolle für sie ge- 
schrieben war, am 18. März 1803 bei Frau v. Stein als 
Pylades in der »Iphigenie«, endlich, wie schon gedacht, 
als »Tag« im Maskenzug des 18. Dec. 1818 auf. 

Dass das liebenswürdige Wesen Henrietten*s von 
Wolfskeel den empfänglichen Goethe fesselte, war natur- 
gemäss. 

Von ihrer ersten Weimarer Zeit sagte Goethe später, 
1830, mit Bezug auf seine eigne ungesellige Weise im 
Gegensatz zu Schiller's bedeutenden und anziehenden Ge- 
sprächen : » Ja, bei der Herzogin-Mutter freilich konnte 
ich zuweilen eine Stunde amüsiren; wenn das artige We- 
sen, die »Kehle«, umhertrippelte und »Närrischer Ge- 
heimer Rath« sagte, da improvisirte ich oft eine Erzählung, 
die sich hören Hess.« Eine schelmische Erwähnung erfuhr 
Henriette von Wolfskeel in Schiller*s 1796 erschienenem 
»Musenalmanach auf das Jahr 1796« und zwar in Goethe's 
H. W. überschriebenem Epigramm unter der Abtheilung 
» Vielen « : 

Schön erhebt sich der Aglei und senkt das Köpfchen 

herunter: 
Ist es Gefühl? Oder ist's Muthwill.^ Wir wissen es 

nicht. 

Dass Henriette an Goethe*s Gesellschaften theilnahm, 
in denen die Herzogin Amalie zugegen war, bedingte 
ihre Stellung als Hofdame; wenn es aber Goethe so ein- 
richtete, dass sie während IfBand's Anwesenheit 1798 
gerade am i. Mai sich mit unter seinen Gästen befand. 



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Goethe und Die von Fritsch. 265 



SO mag er dies doch aus zarter Aufmerksamkeit für ihren 
Geburtstag gethan haben. An der Gesellschaft, welche, 
aus sieben Paaren bestehend, sich im Winter von 1801 
auf 1802 regelmässig bei Goethe versammelte und die 
er » cour d*amour « benannte, war Henriette gleichfalls be- 
theiligt. 

Von der Rolle der »Neoterpe« sagte Goethe 1823 
in einem Brief an Staatsrath Schultz : sie sei für das aller- 
gefälligste Wesen geschrieben gewesen, das er je gekannt 
habe. Dieser ihrer Eigenschaft gedenkt er auch in einem 
Brief an Sylvie von Ziegesar vom 5. August 1808, indem 
er von Fräulein von Knabenau, Hofdame der Herzogin 
Dorothea von Kurland schreibt: »Es ist ein wundersames 
Wesen. Sie besitzt eine Art von allgemeiner Liebenswür- 
digkeit, so dass man sich betrüben könnte, w^enn sie nur 
Einem angehörte, und wenn man der Eine selbst wäre. 
Zunächst hat sie mich an unsere Wolfskecl, jetzige Fritsch 
erinnert.« 

Henriettens Verlobung scheint Goethe*n überraschend 
gekommen zu sein; darauf deutet das Gedicht, mit dem 
er ihr zu ihrem Geburtstr-g 1803 den Dank für eine Weste, 
die sie selbst ihm gestickt hatte, abtrug: 

Magisches Netz. 

Zum I. Mai 1803. 

Sind es Kämpfe, die ich sehe? 
Sind es Spiele? Sind es Wunder? 
Fünf der allerÜebsten Knaben 
Gegen fünf Geschwister streitend 
Regelmässig tactbeständig 
Einer Zaub'rin zu Gebote. 



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266 Goethe mit Zeitgenossek. 



Blanke Spiesse führen jene, 
Diese flechten schnelle Fäden, 
Dass man glaubt, in ihre Schlingen 
Werde sich das Eisen fangen. 
Bald gefangen sind die Spiesse; 
Doch im leichten Kriegestanze 
Stiehlt sich einer nach dem andern 
Aus der zarten Schleifenreihe, 
Die sogleich den Freien haschet, 
Wenn sie den Gebundnen löset. 

So mit Ringen, Streiten, Siegen, 
Wechselflucht und Wiederkehren 
Wird ein künstlich Netz geflochten, 
Himmelsflocken gleich an Weisse, 
Die vom Lichten in das Dichte 
Musterhafte Streifen ziehen. 
Wie es Farben kaum vermöchten. 

Wer empfangt nun der Gewänder 
Allerwünschtes .'^ Wen begünstigt 
Unsre vielgeUebte Herrin 
Als den anerkannten Diener? 
Mich beglückt des holden Looses 
Treu und still ersehntes Zeichen! 
Und ich fühle mich umschlungen, 
Ihrer Dienerschaft gewidmet. 

Doch indem ich so behagÜch 
Aufgeschmückt stolzirend wandle. 
Sieh ! da knüpfen jene Losen 
Ohne Streit geheim geschäftig 



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Goethe und Die vox Fritsch. 267 



Andre Netze, fein und feiner, 
Dämmrungsfäden, Mondenblicke, 
Nachtviolenduft verw^ebend. 

Eh' wir nur das Netz bemerken, 
Ist ein Glücklicher gefangen. 
Den wir andern, den wir alle 
Segnend und beneidend grüssen. 

Als Henriette im Maskenzug von 1818 im Epilog 
aufgetreten war, schrieb Goethe an den Grafen Brühl in 
Berlin mit Anspielung auf ihr früheres Auftreten als 
»Neoterpe«: »Bei diesem Anlass darf ich nicht ver- 
schweigen, dass unsere Hebe Neoterpe in diesen Tagen 
glückUcherweise eine Aristeia (das heisst verdoUmetscht : 
eine vollkommen darstellende Erscheinung ihrer inne- 
wohnenden Kräfte und Tugenden) gehabt habe. Bei dem 
grossen Redouten-Aufzug vor I. M. der Kaiserin-Mutter 
nämlich habe die Freundin verführt den Epilog zu spre- 
chen. Wenn er Ihnen nächstens gedruckt zu Händen 
kommt, hoffe ich, dass Sie billigen werden, wenn sie sich 
hat verführen lassen; auch ist es so vollkommen geglückt, 
dass sie als der liebenswürdigste Stern unter Sternen und 
Sonnen zuletzt aufleuchtete.« Und noch über zwei Jahr 
später äusserte er ebenfalls gegen Graf Brühl: »Wie 
freute es mich nicht, bei Gelegenheit des Maskenzugs zu 
Ehren der Kaiserin-Mutter unser himmlisches Kehlchen 
wieder hervorzulocken und den Schluss einer reichen 
Darstellung durch ihre gemüthliche Anmuth aufs neue zu 
beleben.« 

»Kehlchen« war das Kosewort, mit dem Goethe 
Henriette auch in Briefen, zu denen ihr Amt als Hofdame 



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268 Goethe mit Zeitgenossen. 

manchmal Anlass gab, anzureden pflegte; »Kamerädle« 
nannte er sie, als Wüttembergerin, auch zuweilen. Von 
den Briefen liegt keiner vor; nur verzeichnet Diezel einen 
in des Kanzler von Müller Archiv befindlichen vom Tage 
des grossen Maskenzugs von 1818 beginnend: »Die Ge- 
stalten ziehen vorüber.« 

Die frühe Verehrung für Henriette blieb Goethe'n bis 
ins Alter. Als er 1823 dem Kanzler von Müller schil- 
derte, wie eine Geselligkeit beschaff*en sein müsste, bei 
welcher er sich wol fühlen sollte, schloss er: »Es kommt 
nur darauf an , dass eine unsrer angesehnsten Frauen 
gleichsam als Patronin dieses geselligen Vereins aufträte, 
und niemand w^ürde sich besser dazu eignen, als Frau 
von Fritsch.« 

Henriette von Fritsch war, um dies noch hinzuzu- 
fügen, ebenso wie eine trefiliche Gattin und Mutter, auch 
eine vorzügUche Hausfrau, die mit Aufopferung dazu bei- 
trug, dass ihr Gatte im Stande war, das durch die Prunk- 
Hebe seines Vaters zerrüttete Vermögeh wiederherzustellen. 
Dabei unterliess sie aber nicht, ihrem Wolthätigkeitssinne 
nachzuleben, wozu ihr später ihr Amt als Vorsteherin des 
Frauenvereins eifrig benutzte Gelegenheit bot. 

Über den Lebensgang der Söhne Karl Wilhelm's und 
Henriettens von Fritsch ist noch anzuführen, dass: 

Karl Friedrich Wilhelm Christian als grossherzoglich 
sachsen-weimarischer Wirklicher Geheimer Rath und Käm- 
merer sowie Bundestagsgesandter 1864 ^^ Ruhestand ge- 
treten ist und jetzt meistens in Dresden sich aufhält; 

Georg August zuletzt grossherzoglicher Kammer- 
herr und Oberforstmeister war; 

Albert Bernhard in königlich sächsischen Kriegs- 
diensten bis zum Generallieutenant und Commandant der 



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Goethe ukd Die von Fritsch. 269 

Gavalleriedivision aufstieg, als solcher 1867 seinen Ab- 
schied nahm und seitdem in Dresden lebt. 

Der jüngste Sohn des Minister Jakob Friedrich von 
Fritsch , Ludwig, trat in das preussische Kürassier- 
regiment von Rohr ein, welches später der Herzog Karl 
August befehligte. Er rückte vom Standartenjunker 1789 
zum Kornet und 1792 zum Lieutenant auf. Als solcher 
erhielt er beim Feldzug gegen Frankreich im Rücken der 
Armee ein Commando in Trier. In dieser Stellung ver- 
schaffte er Goethe'n — wie dieser in der »Campagne in 
Frankreich 1792« erzählt — ein gutes Unterkommen, als 
derselbe im August dorthin kam. Bei seinem anscheinend 
keine Gelegenheit zu rühmlichem Hervorthun bietenden 
Commando fand er solche doch, indem er mit einer 
Patrouille, die ausser ihm nur noch aus einem Unter- 
offizier und zehn Kürassieren bestand, auf einen feind- 
lichen Vortrab von sechzig Pferden stiess, den er angriff, 
zurückwarf und verfolgte,, bis er sich vor der feindÜchen 
Infanterie, deren Feuer ihn verwundete, zurückziehen musste. 
Es wurde ihm dafür der Orden pour le m^rite zuerkannt 
und Goethe erzählt wieder, welchen Genuss es ihm be- 
reitet habe die Freude des jungen Offiziers zu sehen, als 
er im October demselben in Trier die erste Nachricht 
von dieser Auszeichnung überbrachte. Nachdem Ludwig 
von Fritsch 1795 zum Rittmeister befördert worden war, 
ernannte ihn König Friedrich Wilhelm III. zum Major, als 
er sich der Übergabe des hohenlohe'schen Armeecorps an 
Napoleon dadurch entzogen hatte, dass er sich mit 80 Mann 
durch die feindlichen Linien geschlagen hatte. 

Mit der älteren Schwester dieses von Fritsch, Sophie 
Caroline von Hopffgarten, wechselte Goethe zuweilen Brief- 
chen in Angelegenheiten der Prinzessinnen Maria und 



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270 Goethe mit Zeitgenossen. 

Augusta (Prinzessin Karl von Preussen und deutsche 
Kaiserin), bei denen sie seit 1817 Hofmeisterin, seit 1827 
Oberhofmeisterin war. Von der jüngsten Schwester Louise 
Friederike von Niebeckr ist bekannt, dass sie von Goethe 
eine radirte und getuschte Ansicht von Frankfurt a. M. 
empfing, unter die er eigenhändig geschrieben hatte: 

Also lustig sah es aus 

Wo der Mayn vorüber floss, 

Als im schmucken Hayn und Haus 

Festhch Eilfer überfloss. 

Ferner Freunde ward gedacht : 
Denn das heisst geniessen 
Wenn zu Fest und Flusses Pracht 
Tausend Quellen fliessen. 

28. Aug. 1816. 

Von der gräflichen Linie Derer von Fritsch ist Goethe 
wahrscheinUch nur mit Gräfin Constanze bekannt gewesen. 
Auf sie deuteten manche schon, aber jedenfalls erst später, 
das in Schiller's Musenalmanach auf 1797 unter der Sammel- 
überschrift »Vielen« vorkommende, mit »C. F.« bezeich- 
nete Epigramm, aber unbestreitbar irrig; denn abgesehen 
davon, dass Goethe damals schwerlich schon etwas von 
der Gräfin Constanze wusste, so kann doch jenes Distichon 
keinesfalls auf ein zehnjähriges Kind, was dieselbe 1796 
war, bezogen werden. Nur die falsche Angabe ihres Ge- 
burtsjahres auf 1776 konnte jene Deutung aufkommen 
lassen. 

Deine liebliche Kleinheit, Dein holdes Auge, sie sagen 
Immer : vergiss mein nicht ! immer : vergiss nicht mein. 



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Goethe und Die von Fritsch. 27 1 

Sonst wissen wir von Goethe's Umgang mit Gräfin 
Constanze Fritsch nichts bis 18 12, in welchem Jahr er 
sich mit ihr in Karlsbad zusammenfand. Aus dem nächsten 
Jahr ist zunächst ein eigenhändiger Brief erhalten, den 
hier abzudrucken die Güte des Besitzers, Herr Albert 
Cohn, gestattet hat. 

A Madame 

Madame la Comtesse de Fritsch, 

Dame d'Honneur de S. A. Imp. 

Madame la Princesse Hereditaire 

de Saxe-Weimar. 

Eger. 

Eigentlich sollte man nicht gelegentHch schreiben 
und doch wdll ich es thun und meine liebe Freundin 
mit wenig Worten ersuchen meiner zu gedenken. 
Meinen Dank für die schönen Nachrichten aus Prag 
bin ich noch schuldig, der um so grösser seyn muss, 
als ich wahrscheinlich nicht hinkomme. Dass ich 
mich wohl befinde, davon habe ich mich zu loben; 
dass unser Fürst wohl und froh ist, gibt das doppelt 
und dreyfache. Sonst aber geht es mir sehr confus, 
und wenn ich irgend etwas tauge, so ist's nicht in 
der Confusion. 

Lassen Sie Sich hierdurch anreizen mir etwas 
von Sich zu sagen und von denen Hohen und Lieben 
die ich leider nur mit Geistesaugen sehe. Tausend 
Adieu. Nach einer feuchten Gartensitzung, am un- 
lustigsten Lustort. 

Goethe. 

Teplitz d. 27. Juli 181 3. 



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272 Goethe mit Zeitgenossen. 



Zu ihrem Geburtstag desselben Jahrs bcgrüsste Goethe 
die Gräfin mit dem Gedicht, anscheinend ein Morgen- 
häubchen begleitend: 

Die Freundin war hinausgegangen, 
Um in der Welt sich umzuthun; 
Doch wird sie bald nach Haus gelangen 
Und auf gewohnte Weise ruhn. 
Und neigt sich dann das art'ge Köpfchen, 
Umwunden reich von Zopf und Zöpfchen, 
Nach einem kissenweichen Sitzchen, 
So bietet freundlich ihr das Mützchen. 



Mit einem Penst^ebouquet und folgendem Reim be- 
grüsste Goethe Gräfin Constanze am 27. Februar 1814: 

Die deutsche Sprache wird nun rein: 
Pensee darf künftig nicht mehr gelten ! 
Doch wenn man sagt : Gedenke mein ! 
So, hoff' ich, soll uns niemand schelten. 

Unbedingt möchte ich nicht dafür eintreten, dass 
nachstehender Brief, der in Salomo HirzePs Handschriften 
zu seiner Goethebibliothek der Gräfin Constanze von 
Fritsch mit einem Fragezeichen zugewiesen ist, auch wirk- 
lich an sie gerichtet war. Das übersandte Buch war un- 
streitig der dritte Band von »Dichtung und Wahrheit«: 

Mag meine liebe Freundin wohl das Büchelchen 
von dem Scheidenden gütig annehmen und das Paket 
gelegentUch absenden? Möge ich Sie bald in Berka 



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Goethe u\d Die von Fritsch. 273 



begrüssen. Guten Rahm zum Cafi'cc und frische 
Butter kann ich versprechen. Leben Sie recht wohl. 
Mein gedenkend. 

Goethe. 
W. d. 12. Mai 1814. 

Andre Briefe Goethe's an diese Dame sind bis jetzt 
nicht zu Tage gekommen und wenn eine grössere Anzahl 
geschrieben worden ist, werden die meisten mit den ge- 
sammten Briefschaften der Gräfin vernichtet w^orden sein. 

Von Gedichten Goethe's an sie kennen wir jedoch 
noch zwei, deren erstes beim Antritt der Reise, welche 
die Gräfin Fritsch mit der Erbgrossherzogin nach Peters- 
burg unternahm, das andere nach der Rückkehr von dieser 
Reise an die Freundin gerichtet w^urde. 

Weimar, den 12. November 1815. 

Blumenkelche, Blumenglocken 
Folgen Deinem Reiselauf; 
Unter Schneegestöberflocken 
Suchst Du mir was Liebes auf. 

Den 6. December 1816. 

Dein Ostgeschenk weiss ich zu schätzen, 
Von Westen sei Dir dies gebracht; 
An Dank hab' ich schon viel gedacht. 
Doch will sich*s nicht in's Gleiche setzen. 

In Goethe's grossem Maskenzug von 18 18 bei An- 
wesenheit der russischen Kaiserin stellte Gräfin Fritsch die 



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274 Goethe mit Zeitgenossen. 



Himmelskunde dar. Das letzte was wir über ihre Be- 
ziehungen zu Goethe kennen, ist, dass sie im Sommer 
1827 Goethe'n einen Brief von Schelling überbrachte. 



Vorstehende Mittheilungen sollen einen Beitrag bilden 
zu Vergegenwärtigung des Kreises, in dem Goethe in 
Weimar lebte. Da er in »Dichtung und Wahrheit« nichts, 
und in den »Tag- und Jahresheften « nur Einzelheiten 
daraus erzählt, so sind wür an Berichte seiner Zeitgenossen 
und an seine Briefe als Quellen für die Geschichte seines 
Wirkens und Webens in Weimar angewiesen. Das hier 
Mitgetheilte bringt zwar von den vorgeführten Personen 
die Beziehungen zu Goethe mit thunUcher Ausführlich- 
keit, jene selbst aber nur in schwachen Umrissen; doch 
glaubte ich die eingehende Schilderung der Personen 
Monographien überlassen zu sollen, wie Freiherr von 
Beaulieu Marconnay deren im »Archiv für sächsische Ge- 
schichte« (9. Band) über Thomas von Fritsch, über Fried- 
rich von Fritsch in »Anna Amalia, Carl August und der 
Minister von Fritsch«, sowue über andere Söhne des 
Hauses in der »Allgemeinen deutschen Biographie« ge- 
liefert hat; w^eitergehende sind bereits handschriftlich vor- 
handen, deren Veröffentlichung sehr zu wünschen ist. Die 
deutsche Geschichte kennt wenig Mittelpunkte deutschen 
Lebens wie Weimar von 1775 bis 1832 es war, und eine 
solche wichtige Epoche kann nicht sorgfältig genug ge- 
pflegt und dargestellt werden. 




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3- Goethe 

UND 

Christian Gottlob von Voigt 

DER Jüngere. 




^Is die Goethe -Literatur von dem auch für 
sie zu früh verstorbenen O. Jahn abermals 
mit einem wichtigen Beitrag durch »Goethe's 
Briefe an Christian Gottlob von Voigt« be- 
reichert worden war, konnte ich nicht unter- 
lassen, in der »Wissenschaftlichen Beilage der Leipziger 
Zeitung 1868« (Nr. 52 bis 54) die Auslassung verschiedener 
brieflicher Mittheilungen zu bedauern, die dem Heraus- 
geber zu Gebote gestanden hatten. Ohne dessen Zuthun 
sind aber noch viele andere Auslassungen dadurch herbei- 
geführt worden, dass ihm nicht alle Briefe Goethe's an 
Voigt zugänglich gewesen waren, indem letzterer einen 
guten Theil derselben von der Hauptmasse getrennt hatte, 

um sie in Bündel, zusammengehörige Geschäfts-Angelegen- 

18* 



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276 Goethe mit Zeitgenossen. 



heiten betreffend, zu vereinigen. Solche abgesonderte Theile 
waren unter den von Jahn aufgenommenen Briefen z. B. 
die auf den Ilmenauer Bergbau, auf Vossens Anstellung 
in Weimar, und auf Goethe's Rücktritt von der Theater- 
Direction bezüglichen. Einige, die Gegenstände angehen, 
über welche sowol Goethe wie Voigt mit Professor 
Eichstädt in Jena verhandelten, habe ich den Erläuterungen 
zu Goethe's Briefwechsel mit Diesem beigegeben. Über- 
dies befinden sich noch verschiedene Briefe Goethe's an 
Voigt im Geheimen Archiv zu Weimar und in Privat- 
sammlungen. 

Im Nachstehenden theile ich theilnehmenden Freunden 
drei Briefe Goethe's mit, von denen einer ^ an den Sohn 
des Minister von Voigt gerichtet ist, während die beiden 
andern zwar an letzteren selbst ergangen sind, aber den 
Sohn betreffen. 

Über diesen, die gleichen Vornamen mit dem Vater 
führenden Sohn hat Jahn in dem gedachten Buche, S. 99 fgg., 
ausführUche Nachricht gegeben. 

Wenn über dessen in Folge einer Gewaltthat fran- 
zösischer Befehlshaber am 19. Mai 181 3 erfolgten Tod 
keine briefliche Äusserung Goethe's sich vorfand, so durfte 
dies wol auffallen und konnte unangenehm berühren. 
Goethe war ein paar Tage vor dem Todesfall nach Teplitz 
gereist, und es wäre eine unerklärUche Theilnahmlosigkeit 
gewesen, wenn er jeden Ausdruck des Mitgefühls für die 
beklagenswerthen ihm so befreundeten Eltern bis zu seiner 
Rückkehr, Ende August, verschoben hätte. Diese Blätter 
sollen die bezügliche Lücke in Goethe's Briefen an Voigt 
schHessen. 

Zuvor einige Worte über Goethe's Verhältniss zu dem 
jüngeren Voigt. 



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J 



Goethe un'd Christian Gottlob von Voigt. 277 



In Goethe's Werken ist er wol nirgends, in seinen 
Briefen nicht oft erwähnt. In den Briefen an den Ge- 
heimen Rath V. Voigt werden ihm zwar die Grüsse mit 
gelten, welche Goethe in Briefen an letzteren dessen An- 
gehörigen insgesammt zugehen lässt, besonders genannt 
ist er aber nur im Brief v. 25. Juli 1796, worin Goethe 
fragt, wie sich der junge Mann in der unlängst als 
Regierungs-Assessor angetretenen Staatsdienerlaufbahn be- 
finde; im Brief v. 27. Mai 1804, worin Goethe den Auf- 
schub seiner Reise nach Jena und die Absicht seines 
Besuchs ankündigt, um den aus Petersburg zurückgekehrten 
damaligen Regierungsrath zu sehen; im Brief v. 17. Juni 1806, 
w^orin Goethe schreibt, dass er denselben mit Vergnügen 
in Jena erwarte; im Brief v. 15. Mai 1810, w^orin Goethe die 
Angelegenheit einer jungen Clientin (die Sendung der Malerin 
Louise Seidler nach Dresden?) dem nunmehrigen Geheimen 
Regierungsrathe*) empfehlen lässt; endlich im Brief v. 26. No- 
vember 181 1, worin Goethe zu ebendessen zweiter Ver- 
heirathung Glück wünscht, auch in Aussicht stellt, dass er 
dem lieben Paar noch etwas Freundliches erzeigen werde. 

In Briefen Goethe's an andere Personen kommt der 
jüngere Voigt nur vor im Brief an Schiller v. 2. De- 
cember 180^, worin er erwähnt, dass Voigt ihn in Jena 
besucht und mit ihm über das Unternehmen der neu zu 
gründenden »Jenaischen Allgemeinen Literatur -Zeitung« 
Rücksprache genommen habe, — und im Brief an Frau 
V. Stein v. 28. JuH 1807, worin Goethe seine Freude über 
dessen Eintreffen in Karlsbad zu erkennen gibt. 

Bei den Vorbereitungen zu Gründung und Einführung 
der genannten neuen Zeitschrift unterstützte der jüngere 



") »Geheimer Rath,« wozu Jahn ihn a. a. O. S. loo befördert, war er nie. 



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278 Goethe mit Zeitgenossen. 



Voigt Goethe's rege Thätigkeit namentlich bei Beseitigung 
der zu überwindenden Hindernisse, wie z. B. bei Führung 
des Zeitüngskriegs mit der alten, von 1804 ab nach Halle 
übersiedelnden Allgemeinen Literatur-Zeitung. Ein Brief, 
den Goethe an den Regierungsrath Voigt schrieb, worin 
er über dieselbe scherzt, ist um so werthvoller, als er auf 
ein recht vertrauliches Verhältniss beider schliessen lässt; 
ein solches durfte man allerdings schon daraus entnehmen, 
dass dieser Voigt, ebenso wie sein Vater, 1808 als Mittels- 
person sich thätig erwies, um die damals zwischen dem 
Herzog und Goethe über die Theaterdirection ausgebro- 
chenen Zerwürfnisse wieder auszugleichen. — Im Allge- 
meinen ist jedoch kaum vorauszusetzen, dass Goethe mit 
dem jüngeren Voigt häufige Briefe gewechselt habe. 

Dies ist nun der Brief: 

Mit Dank, Heber Herr Regierungsrath, erwiedere 
ich Ihren Brief, und wünschte nur, dass Jena näher 
an Weimar läge, oder dass wir uns die Loderische 
Beweglichkeit zu eigen machen könnten. 

Wenn das metallne Modell zur Medaille ausgear- 
beitet ist, so besuchen Sie mich wol, aber bei früher 
Tageszeit, und nähmen Ihr Mittagsessen mit bei dem 
Major, oder bleiben bei Nacht, wo für Sie und Ihre 
liebe Gesellschaft gut gesorgt sein soll. 

Meine Büste möchte ich nur im äussersten Noth- 
fall, so gern ich sonst willig bin, hergeben. Ein so 
guter Abguss wird schwerlich wieder hergestellt, und 
die Meinigen haben eine Art von Neigung zu die- 
sem Exemplar, die bis an den Aberglauben grenzt. 



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Goethe und Christian Gottlob von Voigt. 279 

die ich gern respectire. Übrigens liegt die Form 
von dieser Büste bei mir, woraus man allenfalls 
wieder einen Abguss nehmen könnte. Ich weiss 
nicht, ob sie Wolf oder Hoffmann bei ihrer Abreise 
an mich geschickt. 

Da die Fabrik des Alten Literarischen Zahnpul- 
vers nun völlig weggewichen, so muss man sehen, 
ob die Neue in Reinigung des Gebisses, welches 
die Autoren gewöhnlich vernachlässigen, eine bessere 
und durchgreifende Wirkung thut. 

Bei meiner Überzeugung, dass jeder Mensch in 
der Welt sehr entbehrlich ist, muss ich mir eine 
Illusion machen, dass ich gegenwärtig hier nöthig 
sei; das kann man nur durch ununterbrochene Thä- 
tigkeit, worin mich eben Freund Meyer zu unter- 
stützen kommt. 

Empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Vater, welcher 
ein kleines Packetchen mineralogisirenden Inhalts 
empfangen haben wird; die Masse der concerniren- 
den Papiere ist schon in ein Kästchen eingeschlagen, 
das den nächsten Sandfuhren als blinder Passagier 
mitgegeben werden soll. 

Es ist recht Schade, dass Ihre Bestimmung Ihnen 
nicht einen etwas weiteren Spielraum erlaubt; die 
jetzigen für uns und, wenn ich nicht sehr irre, für 
das Ganze bedeutende Momente Hessen mich die 
Nähe einer jungem Natur wünschen, wodurch manches 



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28o Goethe mit Zeitgenossen. 



für den Augenblick belebt und für die Folge er- 
halten werden könnte. 

Leben Sie indessen recht wol. Durch Meyers 
Ankunft und mancherlei Einschiebsel werde ich ge- 
nöthigt früher, als ich wollte, zu schliessen. 
Liebe und Vertrauen. 
Goethe. 
Jena, am 9. December 1803. 

Der Brief an den Vater, Geheimen Rath v. Voigt, 
über den Tod des Sohnes lautet aber wie folgt: 

Wie oft habe ich mich nicht schon hingesetzt, 
um Ihnen, verehrter Freund, ein Wort der aufrich- 
tigsten Thcilnahme zuzurufen und immer habe ich 
mich wie gelähmt gefühlt; es war mir nicht mög- 
lich, nur den mindesten Ausdruck meiner Gesin- 
nungen zu finden. Jetzt erst, da Herr v. Wolfskeel 
mich versichert, Sie sähen es nicht ungern, wenn 
Freunde theilnehmend Ihres Verlustes gedenken, so 
gewinne ich es über mich, die traurige Pflicht nach 
langem Zögern zu erfüllen. 

Im Augenblick, als die beiden Monarchen am 
Schwarzen Thor zu Dresden von der Menge er- 
wartet wurden, gelangte zu mir ein dunkles Gerücht, 
was in Weimar am 18. April vorgefallen, und nach 
den unbestimmten Nachrichten musste ich befürch- 
ten, dass Ew. Excellenz Person gefährdet sei; und 



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Goethe und Christian Gottlob von Voigt. 281 

wie musste dies die Sorge vermehren, die in mir 
aufstieg, als ich eine ungeheure, wilde Volksmasse 
in Sachsen und Thüringen eindringen sah ! Ich dachte 
mir unsem Fürsten und das Land von Ihrer Vor- 
sorge, Ihrem Beistande entblösst und sah alles so 
schw^arz, dass ich mich kaum freuen konnte, persön- 
lich so grossem Übel entgangen zu sein. In diesem 
Irrthum blieb ich mehrere Tage, bis mir die Auf- 
klärung neuen Schmerz bereitete, indem der Nach- 
richt von der Befreiung Ihres Herrn Sohnes die 
Nachricht von seinem Ableben auf dem Fusse folgte. 

Und hier befinde ich mich wieder in dem Falle, 
dessen ich zuerst erwähnte. Was kann man hinzu- 
fügen, wenn die Sache ausgesprochen ist! 

Als ich über den Sturz, wodurch Wieland und 
seine Tochter so sehr beschädigt wurden, äusserst 
betroffen und aufgeregt mich kaum zu fassen wusste, 
ward mir zuerst wieder einige Ruhe und Gleichmuth 
wieder*) hergestellt, als ich den leidenden Freund 
selbst, seine Heiterkeit, seine Geduld vor mir sah, 
die meinen ungebändigten Verdruss über diesen un- 
geschickten Schicksalsstreich augenblicklich beschämte. 
Und so nahe ich mich auch gegenwärtig Ihnen, Ver- 
ehrtester, seitdem ich von unsem besuchenden Freun- 
den vernommen, dass Sie Sich ununterbrochen und 
glücklich beschäftigen, Theilnahme und jenes traurige 



') Sic! 



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282 Goethe mit Zeitgenossen. 



Andenken nicht mehr entschieden ablehnen, ja selbst 
in Erinnerung früher und hoffnungsvoller Zeiten 
Freude und Erquickung finden. So bewahrheitet 
sich denn abermals der paradox aufgestellte Satz, 
dass der eigentliche Trost nur von dem Leidenden, 
die Fassung nur von dem Beschädigten ausgehen 
kann. 

Lassen Sie mich für diesmal schliesscn und nur 
so viel von mir hinzufügen, dass äussere Ruhe und 
körperUches Wolsein mich diesmal hier sehr glück- 
lich machen könnten, wenn nicht die Verdüsterung 
des politischen und militärischen Himmels und die 
Nähe so vieler unaussprechlich UnglückHcher jedes 
Behagen verscheuchte, dergestalt dass wir es uns 
zum Vorwurf machen in dem Moment, wo jeder- 
mann leidet und fürchtet, einige vergnügte Stunden 
zu geniessen, wie mir deren doch manche in den 
hiesigen Gebirgen gegönnt waren. 

Der ich mich dringend empfehle 
Goethe. 

Teplitz, den 26. Juli 181 3. 

Als einige Monate später Voigt die auf seinen Sohn 
von Eichstädt geschriebene Denkschrift, welche Jahn a. a. O., 
S. 105, anführt, an Goethe geschickt hatte, schrieb dieser 
wiederum : *) 



*) Nachstehender Brief ist abgedruckt in : n £ich»tadii opuscula oratoria « p. 446. 



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Goethe u\d Christian* Gottlob von Voigt. 283 



Ew. Excellenz erlauben, dass ich nur mit We- 
nigem meinen aufrichtigen Dank abstatte für die 
baldige Mittheilung des fürtrefflichen Programms. 
Wollte ich Das, was daran zu loben ist, umständlich 
berühren, so würde ich doch nur schwach andeuten, 
was Ew. Excellenz am stärksten unter allen Lesern 
empfinden müssen; es war ein bittersüsser Genuss, 
unserm abgeschiedenen Freunde ein so würdiges und 
dauerndes Monument errichtet zu sehen. Es dürfte 
wol unmöglich scheinen, einen so zarten und von 
einigen Seiten bedenklichen Gegenstand mit mehr 
Sinn, Klugheit und Geschmack zu behandeln und 
ihn ohne Überladung so reichlich auszuschmücken. 

Doch ich werde ins Besondere hingerissen; ich 
breche ab, das Weitere auf mündÜche Unterhaltung 
aufsparend. Eine gute Übersetzung wird sich wol 
nöthig machen, welche freilich in gewissem Sinne 
Original sein müsste, weil vielleicht die Eleganz des 
Originals, aber wol schwerlich dessen römische Würde 
zu erreichen sein möchte. 

Mich gehorsamst und angelegentlichst empfehlend 

Goethe. 
Weimar, den 18. September 181 3. 




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4- Goethe mit Friedrich Krug 

VON NiDDA IN TENNSTÄDT. 




riedrich Krug von Nidda (mit allen 
Vornamen : Friedrich Albert Franz) gehörte 
zu den zahlreichen Dichtern, welche im zwei- 
ten, dritten und vierten Jahrzehend unsres 
Jahrhunderts ein Bedürfniss waren, weil in 
der Regel alle nicht rein politischen oder wissenschaft- 
lichen Zeitschriften unvermeidlich mit lyrischen Beigaben 
und überdies alljährlich eine Menge von Almanachen und 
Taschenbüchern, wenn nicht mit Gehalt, so doch mit In- 
halt versorgt werden mussten. Über ihn findet sich 
Näheres in dem von ihm selbst herausgegebenen »Gedenk- 
büchlein oder Blicke durch's Leben « (1829), in den seinen 
»Nachlassschriften« (1855 bis 1857) beigegebenen Lebens- 
nachrichten von Schmid, im »Neuen Nekrolog der Deut- 
schen. 1843.« (S- 1208 flg.)j irn »Gesellschafter etc., 
herausgegeben von Gubitz. XXVL Jahrgang.« (S. 57 flg. 
und 62 flg., »ein Denkstein« vom Baron von La Motte 
Fouque), endHch im »Grundriss zur Geschichte der deut- 
schen Dichtung« von Goedeke (IIL Bd. S. 765 flg.). Hier 



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Goethe mit Friedrich Krug von Nidda in Tennstädt. 285 

mag nur im Allgemeinen bemerkt werden, dass er auf 
dem seinem Vater gehörigen Rittergut, dem Oberhof zu 
Gatterstädt im Fürstenthum Querfurth, am 14. Mai 1776 
geboren wurde, nachmals in dem königlich sächsischen 
Chevaux-legers-Regimente von Polenz diente, in Russland 
w^ährend des Feldzugs von 181 2 vers^-undet und gefangen 
wurde, später als Hauptmann seinen Abschied erhielt und 
dann in Gatterstädt der Dichtkunst, Schriftstellerei und 
vaterländischen Alterthumskunde bis zu seinem Tode, den 
29. März 1843, sich widmete. 

Goedeke verzeichnet elf Werke, welche von Krug bei 
seinen Lebzeiten besonders erscheinen Uess : Epopöen, Erzäh- 
lungen, Gedichte, ein Drama und obgedachtes Gedenkbüchlein. 
Wie gross aber die Zahl der Zeit- und Sammelschriften 
war, zu denen er beisteuerte, wird folgende Übersicht er- 
geben, deren Vollständigkeit nicht einmal behauptet wer- 
den kann : Becker's Taschenbuch zum geselligen Vergnügen, 
herausgegeben von Kind; Salina; Taschenbuch der Liebe 
und Freundschaft, herausgegeben von St. Schütze; Zeitung 
für die elegante Welt ; die Harfe, herausgegeben von Kind ; 
Frauentaschenbuch ; die Frauenzeitung ; Minerva ; die 
Wünschelruthe ; Eos; Wiener Zeitschrift für Literatur und 
Kunst; Rheinisches Taschenbuch ; die Vorzeit; Phöbe; der 
Gesellschafter, herausgegeben von Gubitz; Abendstunden 
der gebildeten Unterhaltung geweiht ; Feierstunden, heraus- 
gegeben von V. Biedenfeld und Küffner; die Muse, heraus- 
gegeben von Kind; Berliner Taschenkalender; der Waisen- 
freund; Abendzeitung, herausgegeben von Th. Hell; 
Huldigung der Frauen, herausgegeben von CasteUi; Ber- 
liner Musenalmanach; Morgenblatt für gebildete Leser; 
Mitternachtblatt, herausgegeben von Müllner; der Komet, 
herausgegeben von Herlosssohn. 



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286 Goethe mit Zeitgenossen. 

Mit Goethe trat Krug von Nidda 1816 in Tennstädt 
in Berührung. Goethe hatte bekanntlich den Sommer dieses 
Jahres, wie schon die beiden vorhergegangenen, am Rhein 
zubringen wollen, hatte sich aber zur Einstellung dieser 
Reise bewogen gefunden, als er bei deren Antritt zwischen 
Weimar und Erfurt mit dem Wagen umgeworfen w^urde, 
wobei sein Reisegefährte, Hofrath Meyer, Verletzungen 
erlitt. Um aber der ärztlichen Vorschrift einer Badecur 
nachzukommen, ging Goethe etwa den 24. Juli nach 
Tennstädt, um die dortigen Schwefelquellen zu gebrauchen, 
und verweilte dort bis zum 10. September, grösstentheils 
in Meyer's Gesellschaft. 

Von diesem Aufenthalt erzählt Goethe in den Tag- 
und Jahresheften, dass er sich dort mit der ältesten 
thüringischen Geschichte, sowie mit den geologischen 
Verhältnissen der Gegend bekannt gemacht, verschiedene 
Ausflüge in die Umgebung unternommen, einem Vogel- 
schiessen beigewohnt, Humboldt's Übersetzung des Aga- 
memnon von Äschylus, sowie Niebuhr's Marcus Cornelius 
Fronto gelesen und »das Rochusfest« niedergeschrieben, 
den Besuch des Geheimen Raths Wolf empfangen, diesen 
aber — um sich nicht durch dessen Widerspruchsgeist 
seinen Geburtstag verbittern zu lassen — durch List am 
Morgen des 27. August wieder abzureisen vermocht habe. 
An Boisseree schreibt Goethe von seinem Umgang in 
Tennstädt im Allgemeinen, dass er einige bedeutende in- 
und auswärtige Männer dort gefunden. Dass Krug von 
Nidda zu den gleichzeitigen Badegästen gehörte, erzählt 
uns dieser selbst in dem »Gedenkbüchlein«, w^o auch der 
Kreisamtmann Just und der Brunnenarzt als Bekannte 
Goethe's genannt sind. Weiteres über die damals dort 
verkehrenden Personen theilt ein hochgestellter und durch 



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Goethe mit Friedrich Krug von Nidda in Tennstadt. 287 

vielseitiges Wirken ausgezeichneter Mann mit, der als 
fünfzehnjähriger Jüngling Goethe's Umgang dort genoss 
und gegenwärtig wohl als einziger Zeuge jener Tage 
übrig ist: 

Johann Paul Freiherr von Falkenstein. Der- 
selbe ist am 15. Juni 1801 zu Pegau geboren, promovirte 
in Leipzig 1822, w^orauf er sich dort als Docent der Rechte 
habilitirte, und 1824 zum Oberhofgerichtsrath ernannt, 
dann 1827 als Hof- und Justizrath nach Dresden berufen, 
und 1835 als Kreisdirector wieder nach Leipzig versetzt 
wurde. Von 1845 bis 1848 war derselbe Minister des Innern, 
von 1852 bis 187 1 Minister des Cultus und öffentlichen 
Unterrichts, seitdem aber Minister des Königlichen Hauses. 

Im Jahre 18 16 gehörte von Falkenstein der Schule zu 
Rossleben an und verbrachte die Sommerferien im Hause 
des Kreis- und Rentamtmanns von Tennstädt, C öl est in 
August Just. Dieser am 11. November 1749 in Merse- 
burg gebome Beamte erfreute sich in ganz Thüringen 
eines vorzüglichen, über seine Stellung weit hinausgehen- 
den Ansehens und Vertrauens. Seinen wissenschaftlichen 
Geist bethätigte er ausserdem durch zahlreiche Aufsätze 
in verschiedenen Zeitschriften; insbesondere liess er seine 
amtlichen Verhältnisse nicht ungenutzt für gelehrte Ar- 
beiten. So war der Umstand, dass Karl Friedrich von 
Hardenberg (NovaHs) unter seiner Leitung im Amte Tenn- 
städt sich für den Staatsdienst vorbereitete, die Veran- 
lassung, dass er dessen Leben schrieb; der Auftrag, der 
ihm die Verwaltung der gemeinschaftlichen Angelegen- 
heiten der Ganerbschaft Treffurt übertrug, bewog ihn die 
Geschichte derselben zu bearbeiten; die Wahl zum Co- 
administrator der Klosterschule Rossleben gab ihm Ge- 
legenheit eine Schrift über dieselbe, sowie andere über 



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288 Goethe mit Zeitgenossen. 



Erziehungswesen überhaupt zu verfassen. Und so in an- 
deren Fällen. Im Jahre 1820 kam Just als Regierungsrath 
nach Erfurt, wo er am 21. März 1822 starb. 

Der geistreiche Mann sprach Goethe sehr an ; letzterer 
war täglich in seiner Gesellschaft, speiste häufig bei ihm 
zu Mittag und weilte auch die Abende meist in seinem 
Hause. Die geschichtlichen Studien desselben waren viel- 
leicht auch Ursache, dass Goethe die thüringische Chronik 
in Tennstädt las. 

Paul von Falkenstein aber begleitete Goethe'n ge- 
wöhnlich auf dessen Spaziergängen, wobei dieser nicht 
unterliess, ihn auf die Merkwürdigkeiten der Gegend auf- 
merksam zu machen. Namentlich beschäftigte den alten 
Herrn angelegentHch der unmittelbar vor Tennstädt hegende 
Bruchteich, ein kleiner See, der durch immer gleichmässig 
fliessende, stark Tuffstein absetzende Quellen gespeist und 
unverändert in derselben Höhe erhalten w4rd. 

Seine Wohnung hatte Goethe im ersten Stockwerk 
des dem Amtsphysicus und Badearzt Karl August 
Schmidt gehörigen Hauses aufgeschlagen. Auch dieser 
war ein geistvoller, unterrichteter Mann, in dessen Um- 
gang Goethe sich w^ohl fühlte und dessen Gastfreundschaft 
er ebenfalls oft genoss. Er war ein Bruder des weimari- 
schen Regierungsraths, nachmaligen Geheimen Regierungs- 
raths Christian Friedrich Schmidt und starb am 3. Mai 1839 
als Kreisphysicus zu Erfurt. Ein anderer Tennstädter, der 
in demselben geselligen Kreis verkehrte, war der Accis- 
commissar und Steuerprocurator, spätere Hofrath Dr. Hans 
Georg Brandis. 

Zur Unterhaltung der Badegäste, vielleicht aus Auf- 
merksamkeit für Goethe, spielte die fürstlich schwarz- 
burg-sondershäusische Kapelle ein paar Mal in Tennstädt; 



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Goethe mit Friedrich Krug von Nidda in TennstAdt. 289 

mit ihr der berühmte, auch Goethe's Bewunderung in 
Anspruch nehmende Flötenspieler Kaspar Fürstenau 
(geb. 26. Februar 1772 in Münster, gest. 11. Mai 1819 in 
Oldenburg). 

Von auswänigen Gästen, mit denen Goethe in Be- 
rührung kam, ist, ausser dem Legationsrath Johann 
Friedrich Justin Bertuch aus Weimar, noch zu 
nennen: Georg Anton von Hardenberg, der nächst- 
älteste Bruder von Novalis, geb. am 28. Juli 1773 in 
Schlöben, hessischer Oberforstmeister; als Dichter unter 
dem Namen Sylvester aufgetreten, als preussischer Kammer- 
herr und Landrath am 10. Juli 1825 in Oberwiederstädt, 
dem Familiengute, verstorben. 

Was nun von Krug im »Gedenkbüchlein« über seinen 
Verkehr mit Goethe berichtet, mag hier wieder abge- 
druckt werden, da das Schriftchen schwer zugänglich ist. 
Nachdem er von seinem leidenden Zustand, einer Folge 
des russischen Feldzuges, gesprochen, fährt er fort: 

»Da trat ein Ereigniss für mich ein, das fast orakel- 
artig auf mein Inneres wirkte : Goethe w^ard als Brunnen- 
gast angesagt! und unverzüglich war mein Plan gemacht, 
von ihm, dem Hochgefeierten, die Prüfung meiner Fähig- 
keiten zu erbitten und hiermit die Entscheidung meines 
Berufs für die mir noch übrige Handvoll Jahre in seine 
Hände zu legen. — Ein Meerfels, von der Sonne beglänzt, 
von Zeit und Stürmen ungebrochen, erschien er eines 
Tages in unserer Versammlung, und die Würde und 
Sicherheit seiner Haltung, die milde Klarheit seines Blicks, 
die seine geistvolle Unterhaltung begleitete, ermuthigten 
mich, ihm nahe zu treten, um die Vergünstigung zu er- 
langen, ihn auch in seinem Hause zu sehen. Er empfing 
mich galant, als ich ihm bald darauf meine Aufw^artung 

19 



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290 Goethe mit Zeitgenossen. 



machte und leitete das Gespräch mit den Worten ein, 
dass es ihm lieb sei, mich Trennen zu lernen — eine 
Phrase, die vielleicht mehr als dieses war, da meine Er- 
schöpfung ihn unwillkührlich weich gestimmt, ja ihm ge- 
sagt haben mochte, dass ich wohl nicht zu Denen gehöre, 
die nur um ihn gesehen zu haben, den Rubicon oder 
Canal übersetzen und dann diese Rubrik in ihrem Reise- 
buch austhun. Er rühmte die wohlthuende Stille des Bade- 
orts, wie den Gehalt seiner Quelle, kam von den physi- 
schen auf die geistigen Eigenthümlichkeiten des Lebens, 
wo dann die Unterhaltung vom Kreisamtmann Just, dem 
Brunnenarzt und andern Ausgezeichneten, zuletzt auch auf 
Novalis überging, der einst, um sich als praktischer Jurist 
zu bilden, bei hiesigem Justizamt hospitirte und während- 
dem das schöne Verhältniss mit Fräulein Sophie von 
Kühn geschürzt, deren Bruder Georg, mit mir in einem 
Regiment dienend, ich einst zu meinen liebsten Freunden 
zahlte. — Auf meine Frage: mit welcher poetischen Dar- 
stellung er während seiner Badecur sich zu beschäftigen 
gedenke? nannte er mir die Zusammenstellung seiner 
Werke, die bald darauf auch in zwanzig Bänden bei Cotta 
erschienen, und als ich ihm zu so viel Trefflichem Glück 
gewünscht, womit er den deutschen Parnass bereits be- 
schenkt, versetzte er mit der Bescheidenheit des ersten 
Verdienstes: »Man ehrt mich zu hoch! Ich habe mit 
meiner Zeit gelebt und verkehrt und Einer hat sich an 
dem Andern erhoben. Den Vorderen sind wir auf die 
Schultern gestiegen, sahen hierdurch vielleicht etwas 
weiter als sie und so gestaltete sich manche neue Er- 
scheinung.« — Jetzt fiel ihm auch ein, meine Namens- 
chiffre schon unter poetischen Versuchen gesehen und 
Einiges nicht ohne Antheil gelesen zu haben; ja, als ich 



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Goethe mit Friedrich Krug von Nidda ix Texnstadt. 29 1 

ihm meine Liebe zur Kunst gestand und meine damals 
neueste Arbeit (Florian's »Gonsalvo von Cordova« in 
deutsche Octaven umzubilden) nannte, liess er sich meine 
Kühnheit gern gefallen, ihm einen Probegesang zur Durch- 
sicht mitzutheilen, verheissend, mir sein Endurtheil auf 
keinen Fall verhehlen zu wollen. Nach angehender Dichter 
Art, ihr Liebstes stets am Herzen zu tragen, überreichte 
ich ihm auch sofort mein Gedicht, empfahl mich jedoch 
schon den nächsten Moment, nachdem mir noch die Er- 
laubniss zu Theil geworden war, bald ungemeldet wieder- 
zukommen; eine Vergünstigung, die ich späterhin mit 
wahrem poetischen Heisshunger nützte. — Ein ungemein 
artiger Gegenbesuch, der mich nach wenigen Tagen be- 
glückte — wie Goethe überhaupt weit minder förmÜch 
als in Weimar, fast jedem Gebildeten diese Ehre erwies 
— gab mir noch mehr Gelegenheit, als bei der ersten 
Unterredung, den Dichterfürsten vom Weltmanne zu trennen, 
und als er mit nur zu schonendem Urtheil über meine 
Stanzen zuletzt mit der erhebenden Äusserung schloss : 
»Sie haben Octaven darunter, um die man Sie beneiden 
könnte!« war meiner Idee zufolge mein Glück gemacht 
und rasch entschied ich mich, ihm meine Arbeit zuzu- 
eignen, was einige Monate später auch geschah und mir 
einen schriftHchen Dank des Gefeierten einbrachte, dess nähere 
Mittheilung man mir billig erlässt. — Es würde mir leicht 
sein, aus meinem späteren Zusammensein mit Goethe noch 
manches Ansprechende auszuheben, wozu theils Erinnerungen 
seiner itaHenischen Reisen, Streiflichter seines geologischen 
und naturhistorischen Wissens und Ansichten über die 
Literargeschichte des Tages mehr als genügenden Vor- 
wurf boten, sowie nicht minder manch Beherzigenswerthes 

über den weisen Gebrauch der Trope, zumal in der Stanzen- 

19* 



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292 Goethe mit Zeitgenossen. 



form, mir Stoff zu weiterem Nachdenken lieh ; doch, um 
mich kurz zu fassen, sei nur das Resultat seines Wohl- 
wollens in den einfachen Scheidegruss gefasst, mich ferner- 
hin den Musen zu widmen, die mich gewiss nicht Ver- 
stössen würden, sofern ich mich ihnen ganz hingeben 
wolle. Ja, als ich ihm vier Jahre später ein Exemplar 
meiner Gedichte sendete, schrieb er mir folgende herz- 
liche Zeilen, mir werther als die wortreichste Recension : 

»Jedwedem w^ünsche ich Glück, den die Muse be- 
günstigt; denn ich weiss, w^as mir eine solche Geneigt- 
heit zeitlebens w^ar und bleibt. Auch Ihnen, der Sie so 
viel gelitten, gönne ich von Herzen diesen aus eigner 
Thätigkeit herv^orquellenden Trost, den Ersatz für so 
Vieles, was hinter uns bUeb. Möge ich immer vernehmen, 
dass Ihnen eine so einzige Quelle nie versiegt und dass 
Sie meiner freundlichst gedenken.« 

Die oben erwähnte Erwiderung Goethe's auf die Zu- 
sendung des »Gonsalvo von Cordova«, kann nur nach 
einer Abschrift mitgetheilt werden, die Friedrich von 
Krug seinem Bruder Karl schickte; vorher finde aber 
auch noch der Auszug aus einem an denselben Bruder 
gerichteten Briefe Platz, den ersterer aus Tennstädt am 
14. August 1816 schrieb : 

» — Unter allen Freunden kann ich Dir nur Einen 
merkwürdigen, doch in diesem den würdigsten Re- 
präsentanten der deutschen Poesie (wie ihn Madame Stael 
nennt), ein ganzes Dichterrepositorium nennen. Ich habe 
nicht mehr nöthig, Goethe's Namen auszusclireiben und 
Du wirst Dich nicht w^enig wundern, dass dieser sehr 
leuchtende Stern sich in die Tennstädter Wüste verime. 
Und dennoch ist es so! Goethe lebt nun bereits drei 
volle Wochen unter uns und keineswegs so hermetisch 



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Goethe mit Friedrich Krug von Xidda in TennstAdt. 293 

verschlossen, als es in Weimar der Fall sein soll. Ich 
habe ihm, wie sich's versteht, den ersten Besuch gegeben 
und ihm von Zeit zu Zeit Beweise meiner hohen Achtung 
an den Tag gelegt, doch auch die Befriedigung und den 
hohen Trost daraus gewonnen, dass ich trotz meiner 
namenlosen dichterischen Existenz ihm keineswegs ganz 
unbekannt war und mehrere meiner kleinen Bildungen 
von ihm mit Zufriedenheit betrachtet wurden. Ich über- 
gab ihm z. B. die zwei ersten Gesänge des »Gonsalvo« 
— der nun schon längst beendigt nur eines günstigen 
Verlegers harrt — zu prüfendem Unheil, und er hat dies 
so günstig ausgesprochen, dass ich mich hoch dadurch 
erhoben fühle und keinen Tag der vielen Tage für ver- 
loren halte, die ich an dieser Arbeit zubrachte.« * 

Es folgt nun Goethe's Dankbrief für den »Gonsalvo«, 
zu dessen Verständniss nur noch zu erwähnen ist, dass 
der Dichter die Übersetzung grösstentheils während seiner 
russischen Gefangenschaft ausführte. 

Ew. Hochwohlgeboren 
angenehme Sendung ist mir in Jena geworden, wo 
ich eingedenk früherer Zeiten der akademischen 
Müsse Freiheit und Belehrung geniesse. Ich danke 
zum allerbesten für die angenehme Unterhaltung, die 
Sie mir abermals und vollständig geben und welche 
mir doppelt erfreulich ist, da ich bei persönlicher 
Bekanntschaft auch in der Abwesenheit Ihr Talent 
und anhaltenden Fleiss desto theilnehmender be- 
wundern kann. Ich wünsche dieser Arbeit im Allge- 
meinen die Aufnahme, die sie bei mir findet, wenn 



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294 Goethe mit Zeitgenossen. 



ich mich gleich dabei immer fragen muss, ob mich 
Ihre freundliche Zuneigung nicht besteche. Allein es 
scheint mir, als wenn ich auch ganz fern der Person, 
an dem Werke selbst unparteiische Freude würde 
gehabt haben. Rührend ist es zugleich, wie ich nicht 
verschw^eigen darf, wenn ich denke, welchen trau- 
rigen Zustand Ihnen die Muse überstehen half, und 
wie das Talent der sicherste Schutzgeist bleibt, uns 
über dornige Lebenspfade nicht nur hinüber zu ge- 
leiten, sondern sogar dieselben zu schmücken. Möge 
dieser gute Genius bis an das Ende nicht von unserer 
Seite weichen. 



Jena, den 17. Mai 18 17. 




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5- Goethe und die Fikentscher. 




" ustern wir die Namen der zahllosen Personen, 
von denen bekannt ist, dass sie mit Goethe 
in Verkehr standen, so wird uns die Wahr- 
nehmung überraschen, wie die bedeutendsten 
Männer und Frauen seiner Zeit aus allen 
gebildeten Völkern mit ihm brieflich oder persönlich in 
Verbindung kamen, indem meistens jene es waren, welche 
den grossen Mann aufsuchten und namentlich später in 
Weimar eine »Zusammenkunft der Renommecn« herbei- 
führten, wie sie selten oder noch nie um einen Menschen 
sich schaarten, zu dem nicht Eigennutz trieb. 

Aber auch Goethe war nicht müssig Personen auszu- 
spähen und festzuhalten, die in wissenschaftÜchen oder 
künstlerischen Bestrebungen mit ihm Hand in Hand gehen 
konnten. Davon zeugt der unendlich ausgebreitete Brief- 
wechsel, der — allerdings in einem Zeitraum von 60 Jahren 
und einschliesslich freundschaftlicher und herzinniger Ver- 
bindungen — bis jetzt an die 700 bekannte Adressaten 
au fweist. 



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296 Goethe mit Zeitgenossen. 

Zu den gelegentlich eingeleiteten Verbindungen Goethe's 
gehört auch die mit der Familie Fikentscher*)in Redwitz. 

Goethe war 1820 in Eger mit dem dortigen Magi- 
stratsrath Grüner bekannt geworden, der sich bereit und 
geschickt fand, auf des Dichters mineralogische Forschungen 
einzugehen und ihm dabei hilfreich zu sein. Mit ihm 
machte Goethe Ausflüge in die Umgegend, dabei bemüht, 
Land und Leute, namentlich die verschiedenen Gewerb- 
thätigkeiten kennen zu lernen. 

Ein solcher Ausflug wurde am 10. August 1822 nach 
dem in der geraden Linie wenig über 3 Meilen, wegen 
Benutzung von Chausseen aber etwa 4 Meilen von Eger 
entfernten Redwitz verabredet, woselbst ein mit Grüner 
verschwägerter Freund desselben, Wolfgang Fikentscher, 
eine Fabrik besass. 

Wolfgang Kaspar Fikentscher war zum guten 
Theil ein selbstgemachter Mann. Er war am 3. Mai 1770 
in dem damals unter böhmischer Landeshoheit stehenden 
Städtchen Redwitz als Sohn eines Bäckermeisters geboren 
und genoss seinen ersten Unterricht in der dortigen latei- 
nischen Schule. In seinem zwölften Jahre kam er auf 
ein halbes Jahr zu seinem Oheim Dr. med. Miedel nach 
Weiden und besuchte während dieser Zeit dort die Schule. 
Dr. Miedel besass eine Apotheke, die er auch selbst ver- 
waltete; die darin ausgeführten Arbeiten zogen den jungen 
Fikentscher so an, dass er sich entschloss, Pharmaceut zu 
werden. Behufs Ausbildung für diesen Beruf wurde er in 
seinem vierzehnten Jahre in eine Apotheke zu Nürnberg 
in die Lehre gegeben. Hier beschränkte er sich aber 
nicht auf Verrichtung seiner Geschäfte, sondern benutzte 



•) sprich: fikfcntscher. 



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Goethe und die Fikentscher. 297 

seine Freistunden zum Studium der wichtigsten chemi- 
schen Schriften. Er konnte dies zum Theil nur verstohlen 
ermöglichen und hielt sich z. B. Nachts deshalb im Kamin 
auf, damit sein unerlaubtes Wachbleiben nicht durch das 
Licht verrathen würde. 

Bei seiner Rückkehr ins Vaterhaus 1788 nahm Fikent- 
scher von einem Winkel desselben Besitz, um für den 
Handel Präparate herzustellen, die in den Apotheken ge- 
braucht werden. Er erzielte damit so bedeutenden Erfolg, 
dass er schon nach einem halben Jahre ein eignes Labora- 
torium herzustellen und seine Geschäftsreisen bald bis 
Wien auszudehnen sich veranlasst fand. Schon in den 
Jahren 1794 und 1795 konnte er von dem Erstorbenen 
sich ein ansehnliches Wohnhaus erbauen. Das Gebiet 
seiner Fabrikation von Chemikalien erweiterte er fort- 
während; so unternahm er die Erzeugung verschiedener 
Quecksilberverbindungen, erbaute von 1825 bis 1856 vier 
Bleikammern zur Erzeugung von Schwefelsäure und legte 
überdies 1814 zunächst mit vier Theilhabem im sogenannten 
Reichsforste eine Glashütte an; seit 1817 arbeitete jeder 
dieser Theilhaber auf eigne Rechnung. 

Bei allen diesen Gewerbserzeugnissen benutzte Fikent- 
scher die neuesten Entdeckungen der Chemie, denen er 
mit ununterbrochener Aufmerksamkeit folgte und dadurch 
in der Lage war, besser und billiger arbeiten zu können, 
als seine weniger wissenschaftlichen Arbeitsgenossen. Da- 
bei blieb Gewissenhaftigkeit sein oberster Grundsatz, und 
er erreichte dadurch, dass seine Fabrikate weit und breit 
berühmt waren. Der Werth seiner Erzeugnisse erreichte 
im letzten Jahre seines Lebens den Betrag von 160,000 fl. 
südd. W. (rund 275,000 Mark). Die Grundfläche der von 
Fikentscher zu seinen Fabriken in Redwitz (also ausser 



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298 Goethe mit Zeitgenossen. 

der Glashütte) errichteten massiven Gebäude betrug an 
zwei bayerische Tagwerke ohne die Hofräume. 

Auch im Gemeinde- und Staatsleben war Fikentscher 
thätig; er wurde 1806 in den Magistrat seiner Vaterstadt 
gewählt, bekleidete von 1809 ^^^ 1824 die Stelle des Bürger- 
meisters und gehörte seit 1828 der Kammer der Abge- 
ordneten des Königreichs Bayern an. 

Seit 1796 war er mit Margaretha Barbara Grüner 
aus Wunsiedel verheirathet , die 1825 starb; er selbst 
verschied am 7. März 1837 in Redwitz. 

Fikentscher war in jeder Hinsicht ein ausgezeichneter 
Mann. Für seine bedeutende Befähigung und seine uner- 
müdliche Thätigkeit zeugen die Erfolge seiner Unterneh- 
mungen. Die Klarheit seines Geistes war so entschieden, 
dass er für Vers^^orrenheiten ganz unzugängHch war; seine 
Offenheit liess ihm auch im Geschäft keine Geheimniss- 
thuerei zu; seine Sittlichkeit war ohne Tadel; seine 
Menschenfreundlichkeit bewog ihn zu eingehendster Für- 
sorge für seine Arbeiter, deren Gesundheit er so geschickt 
durch Vorkehrungen zu schützen wusste, dass selbst die 
mit Bereitung von Quecksilberpräparaten Beschäftigten keinen 
Nachtheil davon erlitten. 

Neun Kinder entsprossen der Ehe Fikentscher's, der 
Reihe nach folgende : *) 

Georg, der, geboren am 26. Januar 1798, Arzt, zu- 
erst in Selb, war und 1864 als Kreisphysikus zu Wun- 
siedel starb; 

Friedrich Christian, geboren am 15. November 
1799, von welchem nachher ausführlicher die Rede sein soll; 



*) Ungenau sind die Angaben in: »Goethe's Werke. Nach den vorzüglichsten Quellen 
reridirte Ausgabe- XX VII. Thcil. i. Abtheilung etc. Herausgegeben und mit Anmerkungen 
begleitet von W. Frh. von Biedermann. Berlin. Gustav Hempel.« (Seite 605 f.) 



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Goethe und die Fikentscher. 299 

Henriette Katharina, geboren i8oi,lebtinPuchlTof; 

Matthias Wilhelm, geboren den 27. August 1803, 
seit 1848 Fabrikbesitzer in Redwitz, lebt in Regensburg; 

Rosalie, geboren den 20. Mai 1805, verehelichte 
Dr. Reuss, Wittwe seit November 1858, gestorben zu 
Augsburg am 13. November 1876; 

Christiane, geboren 13. Juü 1807, vermählt 1838 
mit Dr. Emil Maximilian Dingler, dem Sohn des ersten 
Herausgebers des »Polytechnischen Journals« und dessen 
Nachfolger, Wittwe seit 9. October 1874; 

Friedrich Georg Joseph, geboren 19. October 
1810, Zuckerfabrikbesitzer in Regensburg, starb 19. Mai 1879; 

Auguste, geboren 16. JuÜ 1812, verheirathet mit 
Dr. med. Abel in Marienbad, Wittwe seit Mai 1850; 

Johanna, geboren 22. Februar 1814, Gattin des 
Fabrikbesitzers Huscher in Asch. 

Von diesen Kindern w^aren im August 1822 alle Töch- 
ter, von den Söhnen aber nur Friedrich Christian anwesend. 
Der letztere hatte sich ebenfalls zum Chemiker ausgebildet 
und war dann in das väterliche Geschäft eingetreten. Zu ^iner 
weiteren Ausbildung besuchte er 1824 Paris, und ging 1830 
mit seinem Bruder Wilhelm nach England. Erst spät dachte 
er daran, ein eignes Geschäft zu gründen und zwar zu 
Zwickau in Sachsen. Der Bau der Fabrik, die er hier zu 
errichten beschloss, begann 1846; nach ihrer Fertigstellung 
1848 siedelte er nebst seiner Familie nach Zwickau über. 

Zunächst hatte Fritz Fikentscher hier nur die Fabri- 
kation von Glas und den dazu nöthigen Stoffen, wie 
Schwefelsäure, Salzsäure und von Quecksilberpräparaten, 
sowie Weinsteinsäure, Chlorkalk und Alaun ins Auge ge- 
fasst. Später kamen noch andre chemische Producte hinzu; 
so die Herstellung von Kochsalz und Arseniksäure aus 



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300 Goethe mit Zeitgenossen. 

Kohlenschachtwasser. Im Laufe der Zeit wurde jedoch die 
Mehrzahl dieser Fabrikationszweige wieder fallen gelassen, 
theils aus dem allgemeinen Grunde, dass bei verändenen 
Gewerbsverhältnissen eine Fabrik nur durch Beschränkung 
auf einzelne Gegenstände gedeihen konnte, theils aus be- 
sondern, durch die Concurrenz bedingten Ursachen. Da- 
gegen bildete Fikentscher eine andre Fabrikation heraus: 
die von Thonwaaren aller Art. Die Veranlassung dazu gab 
der eigne Bedarf in der Fabrik an Steingefässen, Chamotte- 
steinen und Mauerziegeln; die bedeutendste Leistung in 
diesem Gebiet wurde aber die Erzeugung von Thonröhren, 
wodurch sich die Fabrik den ausgebreitetsten Ruf erwarb. 

Diese rastlose umsichtige Thätigkeit Fritz Fikentscher's 
erklärt es, dass das »Dresdner Journal« bei Meldung seines 
Todes sagen konnte: »Er war einer der geachtetsten In- 
dustriellen Deutschlands, ein Mann, der wie nur sehr 
Wenige Wissenschaft und Leben zu vereinigen wusste.« 
Ein geistvoller Mann sagte einmal: »Wenn Fikentscher 
spricht, so möchte man ihm bei jeder Äusserung zurufen, 
einzuhalten, damit man das Gesagte erst geniessen könne.« 
König und Mitbürger zeichneten ihn aus : jener 1850 durch 
Verleihung des Königlich sächsischen Verdienstordens, diese 
durch seine Erv^^ählung zum Landtagsabgeordneten seit 1854. 
Er starb zu Zwickau am 9. August 1864. Fritz Fikentscher 
war zweimal verheirathet, zuerst mit einer Tochter des 
Professor Trommsdorf. 

Dieser Fikentscher also und sein Vater waren es, welche 
Goethe im August 1822 fünf Tage in Redwitz fesselten. 
Er erzählt selbst in seinem Reisetagebuch,*) dass er am 



•) Goethc's Werke, XXVII. Theil, i. Abtheilung etc. Herausgcgeb. etc. von W. Frh. 
V. Biedermann. Berlin, Gustav Hempel. S. 345—350. 



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Goethe und die Fikentscher. 301 

13. August Abends 8 Uhr in Redwitz angekommen und 
von Herrn Fikentscher nebst Familie wol empfangen wor- 
den sei. Das Gespräch an diesem ersten Abend bewegte 
sich um die frühern und die jetzigen Verhähnisse von 
Redwitz, welches Städtchen ein Besitzthum der Stadt Eger 
gewesen war und zu Böhmen gehört hatte, 1816 aber an 
Bayern abgetreten worden war, wodurch die Verkehrs- 
verhältnisse des Orts manche Störungen erlitten hatten. 
Wurden einerseits diese beklagt, so gab doch andrerseits 
der Umstand, dass Redwitz früher auch unter der PoHzei- 
gewalt der Stadt Eger, demnach unter dem Rath Grüner 
gestanden hatte, zu scherzhaften Vergleichungen zwischen 
damaliger und jetziger Verwaltung Anlass und erheiterte 
die Unterhaltung. 

Goethe's Erzählung seines Aufenthalts bei Fikentscher 
zu Redwitz gehört hierher nur, sow^eit sie dessen Person 
und seine FamiHe betrifft, wogegen die Darstellung der 
Gegend, der Fikentscher'schen Besitzung, der Fabrikanlagen 
und der Fabrikation an diesem Orte übergangen werden 
wird. Es ist daher daraus zunächst zu erwähnen, w^as 
Goethe über die Familie unterm 14. August sagt: »Den 
Haus- und Hof herm Fikentscher bezeichne als einen Fünf- 
ziger, der in Nordamerika mit eigenen Kräften und Mitteln 
grosse Landstrecken urbar gemacht und beherrscht hätte, 
es aber freilich hier im cultivirtesten Lande, obgleich 
zwölf hundert Fuss über der Meeresfläche, viel besser hat. 
Die häusliche Einrichtung gleicht aber jener über dem 
Weltmeer, wo man sich seine eigene Dienerschaft erzeugt. 
Mutter und zwei erwachsene, sehr hübsche Töchter, ein- 
fach aber elegant gekleidet, bedienen freundUch und an- 
ständig den Tisch, dazwischen sich niedersetzend und 
mitspeisend; zwei jüngere wachsen heran, zu jener An- 



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302 Goethe mit Zeitgenossen. 



stelligkeit sich bereitend. Von fünf Söhnen ist nur einer 
zu Hause, der älteste als Arzt in Selb angestellt, die drei 
jüngeren *) in Erlangen zur Schule und zur Apotheker- 
kunst durch Martins, den Vater des brasilianischen Rei- 
senden, angehalten. Der nunmehr ältere, ein junger, lieber 
Mann von zweiundzwanzig Jahren, hatte schon früher 
beim Vater, der zuerst Apotheker gewesen, sich in diesen 
Künsten unterrichtet, sodann aber bei Trommsdorf im 
Erfurt'schen einen jährlichen Cursus durchlaufen, ist in der 
neuen Chemie ganz unterrichtet, indem das Haus auch 
die nothw^endigen Journale hält, um einer Wissenschaft 
in ihrem Gange zu folgen, die bei solchen Unterneh- 
mungen im Grossen von der höchsten Wichtigkeit ist, 
wie man an den Operationen sieht, die mir freundlich 
und umständlich mitgetheilt worden. — Wir besahen das 
Mineraliencabinet des Sohnes, welches, obgleich nur vor 
wenig Jahren angelegt, schon sehr gute und wohlgeordnete 
Stufen besitzt; überall bemerkt man Geschick und Nutz- 
barkeit, auch zeigen sich die höheren chemischen Zwecke 
bei geologischen und oryktognostischen Bemühungen. — 
Nach Tische fuhr Polizeirath Grüner weg, und ich ging 
mit dem Hausvater auf die nordwestliche Höhe über der 
Stadt, wo der Berg, Cossain genannt, im Südosten stehend, 
einen Theil des Zirkels schliesst, das Fichtelgebirge ver- 
deckt ist, die Bergesreihe hingegen, welche das Egerland 
gegen Norden umgiebt, in der fernsten Bläue zu sehen ist.« 
Am 15. August fuhr Goethe früh 8 Uhr mit Fritz 
Fikentscher nach der Glashütte, welche vier Theilhabern, 
unter denen Wolfgang Fikentscher, gemeinschaftlich ge- 
hörte, jedoch so, dass jeder derselben der Reihe nach gesondert 



•) Irrthum: es WAreu nur zwei. 



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Goethe und die Fikentscher. 303 



arbeitete. In der Hütte fand Goethe zufällig zurückgelegte, 
schnell gekühlte kleine Glaskolben, deren ausgeschnittener 
Boden die entoptische Farbenerscheinung trefflich gab, wozu 
ein ganz reiner Himmel vollkommen begünstigte. Es wurde 
sodann ein Glasstab absichthch schnell verkühlen gelassen 
und seiner Gestalt gemäss höchst schön entoptisch gefunden. 

Ueber die Heimfahrt bemerkt Goethe: »Wir fuhren 
den schrecklichen Weg zurück, und ich wäre der Mittags- 
hitze ungeachtet den Berg gern hinabgegangen, hätte 
mein junger Begleiter sich nicht vor kurzer Zeit auf einer 
Fussreise an dem Hacken beschädigt.« 

Dann heisst es: »Mittags mit der FamiHe. Zustände 
früherer Zeiten sowohl auf die Stadt, als die Einzelnen 
bezüglich wurden durchgesprochen. Sodann wendete man 
sich zu chemischen Versuchen.« Es galt nämlich theils 
Gläser herzustellen, welche*^ bei hellem Grunde gelb, bei 
dunklem blau erschienen, theils solche, welche die entop- 
tischen Farben zeigten. Goethe stand im weissen wollenen 
Schlafrock stundenlang mit Fritz Fikentscher an der Muffel 
und verfolgte die ihn für seine Farbenlehre so werthvolle 
Herstellung. Als ihm mitgetheilt wurde, dass für den 
Abend dieses Tags Gäste in's Haus gebeten seien, wäre 
er gern weggeblieben; als er jedoch die Verlegenheit 
über diese seine Absicht bemerkte und auf Fragen erfuhr, 
dass die Gesellschaft seinetw^ egen geladen sei, gab er zwar 
das Vorhaben gänzlichen Wegbleibens auf, zog sich aber 
bei Zeiten zurück, indem er Fritz F. mit einem »Kommen 
Sie, Freundchen!« aufforderte, ihm zu folgen. Als An- 
wesende nennt Goethe : Inspector Schlommer, Syndicus 
Schmalz und Actuar Schnetter; das Gespräch drehte sich 
wieder um vergangene und gegenwärtige Verhältnisse 
bezüglich Redwitz. 



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304 Goethe mit Zeitgenossen. 

Freitag den 16. August war wieder ganz den pyro- 
technischen Versuchen gewidmet. Die trüben Scheiben- 
täfeichen gelangen zuletzt in allen Abstufungen vortreff- 
Uch, da Fritz F. eine leichte Methode erfand, das Glas zu 
trüben; sie wurden zu Dutzenden fertig. Goethe erklärte 
dadurch einen seiner sehnUchsten Wünsche erfüllt. Die 
entoptischen Blättchen Hessen zu wünschen übrig; doch 
wurden zwei schwarze Spiegel kunstgemäss gefertigt und 
das entoptische Gestell, wie Goethe es in der Farbenlehre 
angegeben hat, aufgerichtet, um dem Vater und Sohn 
Fikentscher die entoptischen Erscheinungen vorzuführen 
und sie zu befähigen, auf den eigentHchen Zweck der an- 
geregten Verfertigung entsprechender Gläser loszuarbeiten. 

In der Famiüe waren wiederum die sonstigen und 
dermaligen Staatsverhältnisse, soweit sie Redwutz berührten, 
Gegenstand der Gespräche. 

Am 17. August wurden die trüben Täfelchen ge- 
mustert und die meisten trefflich gefunden. Das Durch- 
glühen und rasche Abkühlen der zu Hervorbringung der 
entoptischen Erscheinungen bestimmten Gläser wurde fort- 
gesetzt und gelang allmälig besser. Die Atmosphäre war 
übrigens an diesem wie am vorhergehenden Tage den 
Versuchen nicht günstig. 

Vor Tische unterhielt sich Goethe mit dem Vater 
Fikentscher über mancherlei, z. B. über das Verhältniss 
der Protestanten zu den Katholiken in Bayern. Mittags 
kam der Zustand von Kulmbach zur Sprache. Nachmittags 
wurden die chemischen Versuche fortgesetzt. Abends blieb 
Goethe für sich und dictirte seinem Kammerdiener Stadel- 
mann Briefe. 

Am Sonntag berichtigte er das Dictirte und packte 
die Glastäfelchen ein. Dann kamen Poüzeirath Grüner und 



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Goethe und die Fikentscher. 305 

seine Frau wieder in Redwitz an. Er dankte jenem für 
die ihm verschaffte Bekanntschaft mit Fikentschers und 
erzählte von dem Erwerb der letzten Tage; mit Fikent- 
scher dem Vater sprach er über das Chemisch-technische 
seiner verschiedenen Fabrikationen. 

Bei Tisch war die Unterhaltung lebhaft. Wiederum 
gedachte man der vergangenen Zeiten von Redwitz, welche 
die Alten nicht vergessen können, obschon die Jungen 
sich behaglich in's Neue finden. Mit Grüner gab's dialek- 
tische Scherze. Auf den Vorwurf, dass Redwitz eigentlich 
niemals eine Polizei gehabt habe, wurde erwidert, dass 
eben desshalb Bier, Fleisch und Brod ohne Tadel, Kaffee- 
brödchen wie nirgends seien. 

Nachmittags 4 Uhr trat Goethe mit Grüners die 
Rückfahrt nach Eger an. Wie höchlich ihn der Aufent- 
halt bei Fikentschers befriedigte, sagt er nicht allein in 
seinem Reisetagebuch, das er der Grossherzogin von 
Weimar zugehen Hess, sondern auch in Briefen an Major 
von Knebel und an Graf Kaspar von Sternberg vom 23. 
und vom 26. August 1822. 

Obwohl Goethe nicht wieder nach Redwitz kam, so 
blieb er doch mit Fikentschers in dauernder Verbindung. 
So erbat er sich durch Brief an Rath Grüner aus Marien- 
bad vom 13. August 1823 von Fritz F. geographische 
Barometerdarstellungen für die letzte Zeit, und am 22. 
desselben Monats traf er mit diesem in Eger bei Grüner 
zusammen. In demselben Jahr empfing er von demselben 
Mineralien des Fichtelgebirgs. WerthvoUe Zeugen von 
Goethe's Verkehr mit Fikentschers sind aber mehrere 
Briefe, die er an Vater und Sohn schrieb. Dieselben sind 
nachstehends abgedruckt und zwar fünf nach den im Fa- 
milienbesitz befindlichen Originalien, die wie gewöhnlich 

20 



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306 Goethe mit Zeitgenossen. 

dictirt und von Goethe nur unterzeichnet sind, der erste 
Brief aber nach dem Entwurf, der sich in der reichen 
Sammluno; des Geheimen Rath Dr. von Loeper, befindet. 

1. An Fikcnischcr; Sohn. 

Ihre reiche und höchst willkommene Sendung, 
mein Wertliester, ist seiner Zeit glücklich bei mir 
angekommen und freut mich doppelt, da sie meine 
Sammlungen ergänzt und mich zugleich an die schönen 
Tage erinnert, die ich im Kreise Ihrer werthen Fa- 
mihe zugebracht. Empfehlen Sie mich allerseits und 
nehmen beikommende Stufen mehr als Zeugniss 
meines dankbaren Andenkens, als für ein Äquivalent 
Ihrer bedeutenden Gaben; erinnern Sie Sich dabei 
eines aufrichtig Theilnehmenden, der nichts mehr 
wünscht, als im nächsten Jahre abermals einige Zeit 
in Ihrer Nähe zu verleben und sich einer an der 
Hand des theoretischen Studiums immer fortschreiten- 
den technischen Thätigkeit als Augenzeuge zu erfreuen. 

Weimar, den lo. November 1822. 

Zu bemerken ist hierbei, dass Goethe für das fünfte 
Wort dieses Briefes »interessante« dictirt, und dies zu 
Beseitigung des Fremdw^ortes zuerst eigenhändig in »be- 
deutende« geändert hatte; letzteres änderte er zuletzt, da 
es weiterhin noch einmal vorkommt, in »willkommene« ab. 

2. An Fikcntscher, Sohn. 

Sie haben, mein Wertliester, erlaubt, dass ich in 
einer Angelegenheit, die zwar nicht von Bedeutung, 



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Goethe und die Fikentscher. 307 

aber doch für mich von Belang ist, Ihre Gefälligkeit 
zu weiterer Besorgung anspreche. 

Hierbei folgen die Zeichnungen von mehreren 
Sorten von Gläsern, anatomischen und naturhistori- 
schen Zwecken bestimmt, welche Sie die Gefälligkeit 
haben wollen, auf der genannten Glashütte ohne 
Weiteres zu bestellen, auch die Förderung der Ar- 
beit bestens zu empfehlen. 

Indessen wünschte zu meiner Kennt niss die Preise 
der Gläser zu erfahren, nicht um die Arbeit aufzu- 
halten, sondern nur die Behörde anzuweisen, was sie 
nach glücklicher Ablieferung der Glaswaaren zu be- 
zahlen habe. 

Ferner möchte benachrichtigt sein, auf welchem 
Wege man die Bezahlung wünscht, welche von uns 
an jedem Handelsorte geleistet werden kann; denn 
wie es manchmal geschieht, dass dem Fuhrmann die 
Zahlung zu erheben aufgetragen ist, hab* ich in 
solchen Fällen unbequem gefunden, weil die subal- 
ternen Personen sich nicht immer berechtigt finden 
und daher Stocken und Saumsal entsteht. 

Zu adressiren wäre die Sendung an: Michael 
Färber, als Schreiber angestellt bei den Gross- 
herzoglichen Museen zu Jena. 

Könnt' ich die Zeit erfahren, wann ungefähr die 

Sendung zu erw'arten stünde, so würde dieses das 

kleine Geschäft noch sicherer machen. 

20* 



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308 Goethe mit Zeitgenossen. 



Noch einen Umstand wünscht' ich zu erfahren : 
zu welcher Zeit nämHch eine fernere Bestellung dem 
Glasmeister angenehm wäre, da ich mich erinnere, 
dass nicht zu allen Jahreszeiten dergleichen Arbeiten 
zu verfertigen vortheilhaft ist. 

Sollte Ihnen, mein Werthester, noch irgend etwas 
beigehen, das bei der weiten Entfernung die Com- 
munication leichter und sicherer erhielte, so würden 
Sie mich sehr verbinden, wie ich denn auch zuletzt 
noch die Adresse der Glasfabrik zu allenfallsigen un- 
mittelbaren Bestellungen erbitte, nicht minder nach 
vollendeten Arbeiten die Zeichnungen wieder zurück- 
wünsche. 

In Hoffnung bei meiner Zürückkunft nach Eger das 
Nähere bestimmt zu sehen und, wenn meine Wünsche 
gelingen, von Ihnen persönlich das Weitere zu erfahren. 

Dass Ihr Herr Vater, wie in Eger der Fall w^ar, 
mit seiner Cur noch immer zufrieden sein möge, 
wünsche von Herzen und empfehle mich allerseits : 
ergebenst 

J. W. v. Goethe. 
Marienbad, den 13. JuH 1823. 

Soeben als Gegenwärtiges abgehen sollte, erhalte 
ich Ihr schnell gefördertes Schreiben, wofür ich ganz 
besondem Dank sage; denn es gibt den schönsten 
Beitrag zu denen von mir gesuchten und gesammelten 
Erfahrungen. Dass Sie schon einiges Glaswerk zur 



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Goethe und die Fikentscher. 309 

Probe bestellt, ist mir sehr angenehm; denn auch 
dies können wir brauchen. Mit der Sendung und 
was daraus folgt, bitte zu verfahren wie gegen- 
wärtiges Blatt anzeigt. Die barometrischen Mitthei- 
lungen bitte fortzusetzen. Schönstens grüssend, das 
Beste wünschend 

Marienbad, den 13. Juli 1823. G. 

Im neunten Absatz vorstehenden Briefes hat Goethe 
»das Nähere« eigenhändig für das vom Schreiber gesetzte 
»näher« berichtigt. 

ß. An Fikentscher, Vater und Sohn. 

Adresse, anscheinend von Goethe geschrieben : 

Denen Herren Fikentscher, angesehenen Fabrikherren , IVohlgeb,, 

nach Redtwitz im Königreich Bayern, Frank Gränzc. 

Ew. Wohlgeboren 
haben vorm Jahr die Gefälligkeit gehabt, eine Sen- 
dung Präparatengläser von einer Ihnen bekannten 
Glasfabrik im Königreiche zu vermitteln. Sie ist zur 
rechten Zeit angelangt und man hatte alle Ursache 
damit vollkommen zufrieden zu sein. 

Ich nehme mir die Freiheit, Dieselben gegen- 
wärtig um eine ähnliche Bestellung zu ersuchen. Die 
Zeichnungen liegen bei; von jeder Nummer werden 
sechs Stück gewünscht, sowie baldmögliche Förder- 
niss und gute Packung. 

In angenehmer Erinnerung der bei Ihnen und den 
Ihrigen zugebrachten frohen und belehrenden Tage 



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310 Goethe mit Zeitgenossen. 

habe ich die Ehre mich zu fernerem geneigten An- 
denken bestens tu empfehlen. 

ergebenst 

J. W. V. Goethe. 
Weimar, den 20. August 1824. 

Die verzögerte Antwort auf vorstehenden Brief brachte 
Goethe am 30. October 1824 durch Rath Grüner in Er- 
innerung, durch den er dann wieder am 7. Februar 1827 
»Herrn Fikentscher« für Besorgung von Glaswaaren 
danken Hess. 

4. Au Fikentscher, Vater. 
Schon mehrmals haben mir Ew. Wohlgeb. Güte in 
Anspruch genommen, wenn es sich von Fertigung der 
Gläser für anatomische Präparate handehe; auch jetzt 
sind wir in dem Fall dergleichen, aber von bedeu- 
tenderer Grösse zu bedürfen und ersuchen Sie, bei 
der bekannten Glasfabrik in Bestellung zu geben, 
dass vier Stück von nachbenannter Grösse mit be- 
sonders sorgfältig gearbeitetem Rande gefertigt und 
anh^r gesendet werden. 

Maa SS 
24 Zoll rheinländisch hoch im Lichten, 
15 Zoll weit im Lichten. 
Obgleich diese Gläser mehr Mühe und Aufmerksam- 
keit erfordern wie die früheren, so hoffen wir doch, 
dass sie mit eben der Sorgfalt wie die frühem gefertigt 
und wohlgepackt glücklich bei uns einlangen werden. 
Hiermit den Wunsch verknüpfend, es möge Ihnen 
und Ihrem Hause alles wohl gelingen und Sie in 



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Goethe und die Fikentscher. 31 1 



guter Stunde auch meiner und meiner früheren An- 
wesenheit freundlich gedenken, 
Ew. Wohlgeb. 

ergebenster Diener 

J. W. V. Goethe. 
Weimar, den 11. Juni 1828. 

j. An ^Fikentscher, Vater. 
Ew. Wohlgeb. 
nehme mir die Freiheit in dankbarer Erinnerung 
freundHcher gastlicher Aufnahme und bisher erwiesener 
GefäUigkeit abermals eine Bestellung zu der Glashütte 
zu übersenden, welche früher unsern wissenschaft- 
lichen Bedürfnissen gar gute Hülfe geleistet. Wollten 
Sie indess die Gefälligkeit haben, mir die Adresse 
der Hütte selbst zu überschreiben, damit man in der 
Folge Ihnen beschwerlich zu fallen nicht Ursache 
hätte. Mit den Zeichnungen der gewünschten Gläser 
folgen auch noch einige Bemerkungen und Wünsche, 
desshalb ich auch besondere Empfehlung dorthin mir 
erbitten darf. 

Der ich mein Andenken in dem werthen FamiHen- 
kreise erhalten und ohnschwer einige gefäUige Nach- 
richt von dorten wünschend die Ehre habe mich zu 

unterzeichnen 

Ew. Wohlgeb. 

ergebenster Diener 

J. W. V. Goethe. 
Weimar, den 21. Juni 1830. 



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312 Goethe mit Zeitgenossen. 



6. An Fikentscher, Vater. 

Ew. Wohlgeb. 
haben, wie ich hoffe und wünsche, meine Sendung 
des vergangenen 21. Juni wohl erhalten und dieselbe 
weiter an die bekannte Glasfabrik befördert. Gegen- 
wärtig befinde ich mich in dem gleichen Falle Die- 
selben nochmals um die nämUche GefäUigkeit anzu- 
gehen. Es hat sich nämlich eine andere Behörde an 
mich gewendet um eine ähnhche Bestellung zu be- 
sorgen. Die Zeichnungen Hegen bei mit einigen Be- 
merkungen, welche hier nicht wiederhole. 

Durch Hrn. Rath Grüner vernehme das Erwünschte 
von Ew. Wohlgeb. und Familie. An einem glück- 
lichen Erfolg der wohleingeleiteten Geschäfte kann 
es freilich nicht fehlen. Ihr Hr. Sohn befindet sich in 
England, als ein vorzüglicher Deutscher gewiss zu 
seinem Vortheile, und so habe nur gute Gesundheit 
und Fortsetzung solcher günstigen Umstände zu hoffen. 
Hochachtungsvoll 

Ew. Wohlgeb. 
ergebenster Diener 

J. W. V. Goethe. 
Weimar, den 9. JuU 1830. 



r^l^Jff^ 



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V. Vermischtes 

ZUR 

Goethe - Forschung. 



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I. GOETHE'S RECENSIONEN 

IN DEN 

Frankfurter gelehrten Anzeigen. 




^ie Goethe-Forschung begann in ihrem ersten 
frischen Eifer damit, Gedichte und Schrift- 
stücke unbekannten Verfassers aufzuspüren, 
die mit mehr oder weniger Wahrscheinlich- 
keit Goethe'n zugeschrieben werden konnten 
und ihm nun kurzweg zugeschrieben wurden; nachdem 
man jedoch eingesehen hat, dass in diesem Eifer zu weit 
gegangen worden war, hat sich eine nüchterne Kritik der 
Ermittelung der Verfasserschaft Goethe's bemächtigt und 
sie gelangt nunmehr umgekehrt dazu, den Goethe'schen 
Namen selbst solchen Werken zu entreissen, die ihn jahr- 
zehntelang selbst in den gesetzmässigen Ausgaben der 
gesammten Schriften des Dichters geführt haben, ja, für 
welche Goethe selbst sich als Verfasser bekannt hat. 
Dieser Wandel in der Richtung der Goethe-Forschung hat 
sich insbesondre auch in Bezug auf die Recensionen in 
den Frankfurter gelehrten Anzeigen her\'orgethan : früher 
hatte man nur solche ermittelt, die als von Goethe ge- 



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3l6 Vermischtes zur Goethe-Forschuxg. 



schrieben gelten durften, obwol sie in der Ausgabe der 
Werke letzter Hand fehlten, während ich mir zuerst in 
der Einführung zum 27. Theil der Hempelschen Ausgabe 
(1873) Zweifel zu erheben erlaubte, ob gegentheils in 
der That alle in die Werke aufgenommenen Recensionen 
von Goethe herrührten. Meine Ansichten habe ich dann 
im 4. Band des Archivs für Literaturgeschichte (1874) 
weiter ausgeführt, ohne jedoch zu erlangen, dass Lite- 
raturkundige auf meine Beweisführung näher einge- 
gangen wären; wenigstens sind mir nur flüchtig darüber 
hinschlüpfende Gegenäusserungen zu Augen und Ohren 
gekommen. Je fester aber meine Überzeugung begründet 
ist, dass hier noch aufzuräumen sei, um so mehr muss 
ich mich bestimmt finden, die Frage noch erschöpfender 
und zwar nach beiden Richtungen hin zu behandeln, also 
zu erörtern, welche Recensionen in den Frankfurter ge- 
lehrten Anzeigen, auch wenn sie nicht in den Werken 
befindlich, Goethe'n zuzuschreiben, und welche ihm zuge- 
schriebene ihm abzuerkennen seien. 

Die Frage ist jedenfalls von Wichtigkeit und es ist 
dem trefflichen Erklärer von »Dichtung und Wahrheit« 
gewiss nur in einem unbewachten Augenblick die Äusse- 
rung entwischt, dass die genaue Ermittlung des Goethe'schen 
Antheils an jenem Blatte nicht von erhebUchem literarischen 
Interesse sei ! Von wie hervorragender Bedeutung im Gegen- 
theil die Frage ist, ergiebt sich schon daraus, dass jene 
Recensionen häufig als Belege für Goethe's damalige An- 
sichten angeführt werden, wie sie denn unbedingt zu den 
wichtigsten Zeugnissen seiner Geistesentwickelung gehören. 
Dies erkennt auch z. B. Professor W. Scherer in dem Auf- 
satz »Der junge Goethe als Journalist« (Deutsche Rund- 
schau. V. Jahrg. Heft i) vollkommen an. 



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GoETHE'S ReCENSIONEN IS D. F.^ANKF. GELEHRTEN ANZEIGEN. 3I7 

Bei gegenwärtiger Untersuchung erscheint es der Über- 
sichtlichkeit halber geboten, dasjenige was ich an den 
obgedachten Orten schon früher darüber geschrieben habe, 
hier zu wiederholen. 

Die Untersuchung wird sich hierbei zu richten haben 
auf Feststellung : 

zunächst dessen, was über Goethe's Antheil an den 
Frankfurter gelehrten Anzeigen im allgemeinen bekannt ist; 

sodann derjenigen Umstände, welche bei der Aufnahme 
der fraglichen Recensionen in die Werke leiteten; 

ferner der Kennzeichen der Goethe'schen Recensionen 
im allgemeinen; 

endlich der Verfasserschaft bezüglich der einzelnen 
Recensionen. 

Goethe berichtet selbst über seine Betheiligung an 
dem Recensionsuntemehmen im zwölften Buch von »Dich- 
tung und Wahrheit« (1813) folgendes: »Merck, bald aesthe- 
tisch, bald literarisch, bald kaufmännisch thätig, hatte den 
wohldenkenden, unterrichteten, in so vielen Fächern kennt- 
nissreichen Schlosser angeregt, die Frankfurter ge- 
lehrten Anzeigen in diesem Jahr herauszugeben. Sie 
hatten sich Höpfner'n und andere Akademiker in Giessen, 
in Darmstadt einen verdienten Schulmann, Rector Wenck, 
und sonst manchen wackeren Mann zugesellt. Jeder hatte 
in seinem Fach historische und theoretische Kenntnisse 
genug, und der Zeitsinn liess diese Männer nach Einem 
Sinne wirken. Die zwei ersten Jahrgänge dieser Zeitung 
(denn nachher kam sie in andere Hände) geben ein wun- 
dersames Zeugniss, wie ausgebreitet die Einsicht, wie rein 
die Übersicht, wie redlich der Wille der Mitarbeiter ge- 
wesen. Das Humane und Weltbürgerliche wird befördert, 
wackere und mit Recht berühmte Männer werden gegen 



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3l8 Vermischtes zur Goethe-Forschuxg. 



Zudringlichkeit aller Art geschützt; man nimmt sich ihrer 
an gegen Feinde, besonders auch gegen Schüler, die das 
Überlieferte nun zum Schaden ihrer Lehrer missbrauchen. 
Am interessantesten sind beinah die Recensionen über 
andere Zeitschriften : die Berliner Bibliothek, den Teutschen 
Merkur, wo man die Billigkeit mit Recht bewundert. — 
Was mich betrifft, so sahen sie wol ein, dass mir nicht 
mehr als alles zum eigentlichen Recensenten fehlte. Mein 
historisches Wissen hing nicht zusammen; die Geschichte 
der Welt, der Wissenschaften, der Literatur hatte mich 
nur epochenweis, die Gegenstände selbst aber nur theil- 
und massenweis angezogen. Die Möglichkeit mir die Dinge 
auch ausser ihrem Zusammenhange lebendig zu machen 
und zu vergegenwärtigen, setzte mich in den Fall, in 
einem Jahrhundert in einer Abtheilung der Wissenschaft 
völlig zu Hause zu sein, ohne dass ich weder von dem 
Vorhergehenden noch von dem Nachfolgenden irgend 
unterrichtet gewesen w^äre. Ebenso war ein gewisser 
theoretisch-praktischer Sinn in mir aufgegangen, dass ich 
von den Dingen mehr wie sie sein sollten, als wie sie 
waren Rechenschaft geben konnte, ohne eigentlichen phi- 
losophischen Zusammenhang aber sprungweise treffend. 
Hiezu kam eine sehr leichte Fassungskraft und ein freund- 
liches Aufnehmen der Meinungen anderer, wenn sie nur 
nicht mit meinen Überzeugungen in geradem Widerspruch 
standen. — Jener literarische Verein ward überdies durch 
eine lebhafte Correspondenz und bei der Nähe der Ort- 
schaften durch öftere persönliche Unterhaltungen begün- 
stigt. Wer das Buch zuerst gelesen hatte, der referirte, 
manchmal fand sich ein Correferent; die Angelegenheit 
ward besprochen, an verwandte angeknüpft, und hatte sich 
zuletzt ein gew^isses Resultat ergeben, so übernahm Einer 



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Goethe's Recensionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 319 

die Redaction. Dadurch sind mehrere Recensionen so 
tüchtig als lebhaft, so angenehm als befriedigend. Mir fiel 
sehr oft die Rolle des Protokollführers zu ; meine Freunde 
erlaubten mir auch innerhalb ihrer Arbeiten zu scherzen 
und sodann bei Gegenständen, denen ich mich gewachsen 
fühlte, die mir besonders am Herzen lagen, selbständig 
aufzutreten. Vergebens würde ich unternehmen, darstellend 
oder betrachtend den eigentUchen Geist und Sinn jener 
Tage wieder hervorzurufen, wenn nicht die beiden Jahr- 
gänge gedachter Zeitung mir die entschiedensten Docu- 
mente selbst anböten. Auszüge von Stellen, an denen ich 
mich wiedererkenne, mögen mit ähnHchen Aufsätzen künftig 
am schicklichen Orte erscheinen.« 

Von gleichzeitigen Zeugnissen über Goethe's Mit- 
wirkung bei den Recensionsarbeiten liegen einige vor. 
Das älteste stellt noch eine Mitwirkung in Abrede; es ist 
enthalten in Goethe's Brief an Salzmann vom 3. Februar 
1772, w^orin jener schreibt: »Mit den gelehrten Anzeigen 
hab' ich keinen Zusammenhang, als dass ich den Director 
[Merck] kenne und hochschätze und dass ein Mitinteressent 
[Schlosser] mein besonderer Freund ist. Halten Sie sie ja; 
keine in Deutschland wird ihr in Aufrichtigkeit, eigner 
Empfindung und Gedanken vortreten. Die Gesellschaft ist 
ansehnlich und vermehrt sich täglich.« 

Aber ein wenige Tage darauf, am 8. Februar, ge- 
schriebener Brief des Verlegers der Frankfurter gelehrten 
Anzeigen, Deinet, an Raspe in Kassel, abgedruckt im 
VI. Band des »Weimarischen Jahrbuchs für deutsche 
Sprache etc.«, bezeichnet schon Goethe als Mitarbeiter; 
denn nur er kann gemeint sein, wenn Deinet bei nament- 
licher Aufführung der Recensenten für die verschiednen 
Fächer wie beiläufig bemerkt: »im Gefach der schönen 



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320 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

Wissenschaften ein Freund des Herrn Merck.« Den Namen 
dieses — übrigens einzigen — Recensenten für genanntes 
Fach gleich denen sämmtlichen übrigen Recensenten anzu- 
geben, fand Deinet nicht der Mühe werth, weil damals 
Goethe eben noch gar nicht gekannt war. 

Nicht eher als am 8. JuH 1772 begegnen wir wieder 
einer Äusserung über Goethe's Beziehungen zu den Heraus- 
gebern der gelehrten Anzeigen ; denn offenbar auf sie geht 
die Stelle in einem Brief Goethe's an Herder: »Von unsrer 
Gemeinschaft der Heiligen sag' ich Euch nichts. Ich bin 
vf6(pvTog und im Grund bisher nur neben allen herge- 
gangen; mit Mercken bin ich fest verbündet, doch ist's 
mehr gemeines Bedürfniss als Zweck.« Später spricht 
Herder gegen Merck in einem Briefe, den der Heraus- 
geber in den Oc tober 1772 setzt und von dem weiterhin 
noch die Rede sein wird, ein allgemeines Urtheil über 
Goethe's Recensionen aus und Höpfner nennt in einem 
ebenfalls noch anzuführenden Brief an Raspe vom 19. Oc- 
tober Goethe als Verfasser einiger Recensionen, nament- 
Uch aber der über das Leben von Klotz und die Gedichte 
eines polnischen Juden, von denen jene im Blatt vom 
29. Mai, die andere im Blatt vom i. September 1772 steht; 
bis zu diesem Tage fand also Höpfner keine Goethe'sche 
Recension nennenswerth. Welches Gewicht später auf 
Goethe's Theilnahme in den weitesten Kreisen gelegt 
wurde, geht aus einem Briefe von Christian Felix Weisse 
an Uz vom 28. December 1772 herv^or, worin es heisst : 
»Unfehlbar ist Herder nebst einem gewissen Gede Haupt- 
verfasser« — nämlich der Recensionen der Frankfuner 
gelehrten Anzeigen. (Morgenblatt, 1840. Nr. 293.) 

Entgegengesetzt lauten, d. h. die Absage der Mit- 
arbeiterschaft Goethe's bekunden die auf das Jahr 1773 



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Goethe's RacENSiONEv IN D. Ffrankf. gelehrten^ Anzeigen. 321 



bezüglichen Nachrichten. Zwar schrieb Deinet an Bahrdt 
noch am i. December 1772 (»Briefe angesehner Gelehr- 
ten etc. an etc. Dr. K. F. Bahrdt« II, 138), im Hinblick 
auf den Jahrgang 1773 der gelehrten Anzeigen: »Herr 
Schlosser wird nach Müsse mitarbeiten, dessgleichen Herr 
Dr. Göthe« — druckfehlerhaft »Güthe« — ; aber letztrer 
benahm dem Verleger bald diese Hoffnung, indem er in 
der von ihm verfassten, den ersten Jahrgang der gelehrten 
Anzeigen schliessenden »Nachrede« im Namen der Heraus- 
geber erklärte, es werde ihr eifrigstes Bemühen sein, den 
verschiednen gegen das Blatt erhobnen Beschwerden abzu- 
helfen und hinzufügt : » w^elches um so viel mehr erleichtert 
wnrd, da mit Ende dieses Jahrs diejenigen Recensenten, über 
deren Arbeit die meiste Klage gewesen, ein Ende ihres 
kritischen Lebens machen wollen.« Und dass Goethe sich 
zu den Austretenden zählte, ergiebt sich aus seinem Brief 
an Kestner, worin er sagt: »Da ist's denn zu Ende, unser 
kritisches Streifen! In einer »Nachrede« hab' ich das 
Publicum und den Verleger turlupinirt .... Wollt Ihr 
aufs nächste Jahr noch versuchen, so sind's zwei gewagte 
Gulden.« Mittelbar bestätigt den Austritt der am 20. Ja- 
nuar 1773 in Wetzlar eingegangne Brief an Kestner in 
den Worten : » . . . mir fällt ein. Euch . . . eine Zeitung 
zu schicken, dass Ihr sehet, wie das gew^orden ist. Das 
Publicum hier meint, der Ton habe sich nicht sehr 
geändert.« 

Deinet spricht sich in Briefen an Bahrdt gleicherweise 
aus. So u. a. am 8. Januar 1773: »Das Publicum hält die 
Abdication gewisser Männer, die im Ernste geschehen ist, 
für eine Maske und diese Herren sind nun selbst so irre 
gemacht, dass einer den andern in Verdacht hat.« Sodann 
am 16. Januar: »Wenn der Ton der Zeitung 1773 wie 



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)22 Vermischtes zur Goethe-Forschcng. 



anno 1772 fortdauerte, so, glaub' ich, hätte ich 100 Thaler 
dabei verdienen können. Aber die Herren Recensenten, 
die ihn empfohlen haben, haben zugleich die Welt hin 
und her durch Sendschreiben versichert, dass die Zeitung 
nicht fortgehen oder doch schlecht werden würde«. 
(Briefe etc. an etc. Bahrdt, II, 142. 145.) • 

Bedarf man weiterer Zeugnisse über das Ausscheiden 
des Goethe'schen Freundeskreises aus der Mitarbeiterschaft, 
so kann noch die Äusserung des mit diesem Kreise genau 
bekannten Giessener Schmid angeführt werden, der in dem 
von ihm herausgegebenen »Almanach der deutschen Musen 
auf das Jahr 1774« Seite 25 f. mit Bezug auf erfahrne 
Angriffe, deren Beschuldigungen wiederholend, sagt: »Der 
vortreffliche I772ste Jahrgang der Frankfurter Zeitung, 
der in seiner Art der einzige bleiben wird , ist aus 
Schmeichelei von uns gelobt worden! da doch alle jene 
Verfasser abgegangen sind und der sie gar nicht kennen 
muss, der sie für bestechlich hält.« 

Aus alledem sind nun die Folgerungen zu ziehen, 
dass Goethe vor Mitte Februar 1772 überhaupt keinen 
weitern Antheil an den gelehrten Anzeigen nahm, als den 
Berathungen der Herausgeber beizuwohnen, etwa dabei 
zu protokoUiren und vielleicht Zusätze zu den Recensionen 
anderer zu schreiben, dass er ferner nach jenem Zeitpunct 
im Fach der schönen Literatur selbständig aber bis zum 
September 1772 nur spärHch auftrat, endlich aber mit 
Ende 1772 seine Thätigkeit ganz wieder einstellte. 

Betrachten wir nunmehr die Umstände, welche bei 
Aufnahme der Frankfurter Recensionen Goethe's in dessen 
Werke leiteten, so ist zunächst zu bemerken, dass aus 
dem Verlagsgcschäft der Eichbergerschen Erben nichts zu 



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Goethe's Receksionen in d. Fraxkf. gelehrten Anzeigen. 323 



erholen gewesen sein würde. Der damalige Eigenthümer 
desselben, Deinet, hatte mehrmals Ungelegenheiten wegen 
der Ungebundenheit und Rücksichtslosigkeit der gelehrten 
Anzeigen, wesshalb er alle Handschriften der Recensionen 
vernichtet zu haben scheint, um die Ermittelung der 
Verfasserschaft zu verhindern. So äusserte er z. B. am 
16. Januar 1773 gegen Bahrdt : »Ich setze 100 Carolin 
gegen die Handschrift einer Anzeige, woraus meine Blätter 

sind gemacht worden; das ist mein Gesetz, mein 

erstes und vornehmstes Gesetz, dass kein Recensent je 
soll genannt noch gekannt w^erden.« 

Goethe selbst behandelte die Recensionen der Frank- 
furter Anzeigen mit dem Aufhören seiner Mitwirkung als 
abgethan und sie kommen in seinen Schriften und Briefen 
seit Januar 1773 nicht wieder zur Erwähnung bis im Brief 
an Fritz Schlosser vom i. Februar 18 12, worin er schreibt: 
»Wäre es möglich mir ein Exemplar der ersten Jahrgänge 
der Frankfurter gelehrten Anzeigen, woran ich und Ihr 
Oheim vielen Antheil gehabt, zu verschaffen? Sie sind 
1772 herausgekommen und ich habe sie seit jenen Jahren 
nicht wiedergesehen.« Dann am 31. März desselben Jahrs: 
»An den zwei mir übersendeten Bänden Frankfurter ge- 
lehrten Zeitungen erkenne ich wieder, wie nöthig mir sei 
bei dem Unternehmen, von meinen frühem Jahren zu 
sprechen, eine Sammlung von Documenten aus jener 
Epoche; denn ausserdem möchte es bei dem aufrich- 
tigsten Nachdenken schwer sein zu imaginiren und sich 
wieder zu vergegenwärtigen, wie man gehaltlos, roh und 
ungebildet mehr werth könne gewesen sein, als da man 
sich gehaltvoll, ausgearbeitet und ausgebildet antrifft. Es 
war überhaupt jenes eine wundersame Epoche, selbst nur 
wie diese 2 Bände uns einen Begriff davon geben.« 

21* 



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324 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



Eine Folge der Erlangung dieser Zeitschrift war, was 
Goethe in den »Tag- und Jahresheften« unter 181 3 mit- 
theilt: »Zum Behuf meiner eignen Biographie zog ich aus 
den Frankfurter gelehrten Zeitungen vom Jahr 1772 und 
1773 die Recensionen aus, welche ganz oder zum Theil 
mir gehörten.« 

Später fasste Goethe die Aufnahme dieser Recensionen 
in seine Werke ins Auge; Eckermann erzählt hierüber: 
Goethe habe ihm am 11. Juni 1823 gesagt: »Sie finden 
in diesen beiden Bänden die Frankfurter gelehrten An- 
zeigen der Jahre 1772 und 1773, und zwar sind auch 
darin fast (?) alle meine damals geschriebene kleine Re- 
censionen. Diese sind nicht gezeichnet, doch da Sie meine 
Art und Denkungsweise kennen, so werden Sie sie schon 
aus den übrigen herausfinden .... Ich habe bereits Ab- 
schriften nehmen lassen, die Sie dann später haben sollen, 
um sie mit dem Original zu vergleichen.« 

Erst 1826 trat etwas hierüber in die Öfl^entlichkeit, 
als Eckermann sich im letzten Hefte des V. Bandes Ȇber 
Kunst und Alterthum« über diese Recensionen in einem 
Aufsatz äusserte, den Goethe mit einem Vorwort versah. 
Waren darin auch nicht einzelne derselben besonders her- 
vorgehoben, so ist doch auch nicht der leiseste Zweifel 
an der Überzeugung von Goethe's Verfasserschaft bezüg- 
lich gewisser Recensionen angedeutet. Im Jahr 1828 brachte 
dann Nicolovius in seinem Buch »Über Goethe« schon 
das Verzeichniss aller der Recensionen, welche dann 1830 
im 33. Bande der Ausgabe letzter Hand der sämmtlichen 
Werke Aufnahme finden sollten, mit dem einzigen Unter- 
schied, dass er statt der ins Jahr 1772 fallenden Recension 
der Bekehrungsgeschichte des Grafen Struensee von Munter 



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Goethe's Recensionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 325 



im Jahr 1773 die der Bekehrungsgeschichte des Grafen 
Brandt von Hee anführte. 

Als dann der 33. Band erschienen war, schrieb Goethe 
am 3. Juli 1830 an Boisseree: »Ich empfehle Ihnen . . . 
das 33. Bändchen der Recensionen. Ich komme mir selbst 
darin oft wunderbar vor; denn ich erinnere mich ja nicht 
mehr, dass ich diesem oder jenem Werke, dieser oder jener 
Person zu seiner Zeit eine solche Aufmerksamkeit geschenkt ; 
ich erfahre es nunmehr als eine entschiedene Neuigkeit und 
freue mich nur über die honette, treue Weise, womit ich 
früher oder später dergleichen Dinge genommen.« 

Man muss gestehen, dass diese Mittheilungen über 
die Zusammenstellung der Frankfurter Recensionen für 
die Werke den Sachverhalt mehr verdunkeln als aufklären. 
Goethe hat sich 40 Jahre lang nicht um diese Recensionen 
bekümmert und verschreibt sich nach dieser Frist erst 
die Bände der gelehrten Anzeigen, in dem sie stehen 
sollen; er bekommt deren zwei zugeschickt und sucht 
nun aus diesen beiden Bänden seine Arbeiten heraus, 
obwol er ausdrücklich anerkennt, dass ihm die Gegen- 
stände völlig fremd geworden sind. Es wäre daher um 
so mehr zu verwundern gewesen, wenn er trotz alledem 
beim Mangel äusseren Anhalts seine Arbeiten heraus- 
gefunden hätte, als er bei den Vorbesprechungen über 
die zu recensirenden Bücher mit beiräthig gewesen war, 
ihm also die Arbeiten seiner Freunde damals zum Theil 
so vertraut waren, wie seine eignen. Und dass Goethe 
sich nach Verfluss mehrerer Jahre über das täuschen konnte, 
was sein Werk war, das beweist z. B. jenes Lied »Im 
Sommer«, das er schon 1815 in seine Werke nahm, ob- 
wol jetzt kaum Jemand mehr darüber in Zweifel ist, dass 
Johann Georg Jacobi es dichtete. Nichtsdestoweniger also 



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326 Vermischtes zur Goethe-Forschukg. 



bezeichnet Goethe 1823 diejenigen Recensionen, die er für 
die scinigen hält, ist jedoch so vorsichtig durch Ecker- 
mann die Probe darauf machen zu lassen. Wie diese 
ausfiel, erfahren wir nicht, und man würde dabei Be- 
ruhigung gefasst haben, dass Goethe selbst die den Werken 
einzuverleibenden Recensionen bezeichnet hat, zumal er 
in den »Tag- und Jahresheften« einräumte, dass darunter 
sich solche befänden, die nur zum Theil ihm gehörten, 
wenn sich nicht Beweise der dabei untergelaufnen Irr- 
thümer aufgedrängt hätten. Denn nicht einmal mit der 
letztgedachten Beschränkung der blossen Einmischung in 
einzelne der aufgenommenen Recensionen lässt Goethe's 
Antheil sich durchgängig aufrecht erhalten, sofern dies 
immer auch mit der glaubw^ürdig festgestellten Thatsache 
im Widerspruch stehen w^ürde, dass weder Goethe selbst 
noch seine von ihm unterstützten literarischen Freunde 
1773 noch für die gelehrten Anzeigen schrieben, während 
noch acht Recensionen aus diesem Jahr in den Werken 
zu lesen sind. Die insbesondere durch diesen letzten Um- 
stand erweckte Überzeugung von der Unzuverlässigkeit 
der Ausscheidung der wirkHch Goethe'schen Recensionen 
gewährt die entschiedenste Berechtigung, die Ächtheit 
aller von vorn herein in Zweifel zu ziehen und die schon 
in Bezug auf einige derselben aufgetauchten Zw^eifel nach- 
drücklicher zu betonen. 

Diese Aufgabe der Kritik führt zu der Frage, ob es 
allgemeine Kennzeichen giebt, an denen Goethe's Recen- 
sionen zu erkennen sein möchten. Die Verschiedenheiten 
des Stils im Allgemeinen werden schwerlich als sichere 
Führer zur Ermittelung des Verfassers dienen können, we- 
nigstens möchte ich nicht unternehmen auf dieses guten- 
theils subjectiv bleibende Urtheil die Entscheidung in diesem 



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Goethe's Recexsioxen im d. Fraxkf. gelehrten Anzeigen. 327 



Falle zu gründen, wo die täglichen Besprechungen über 
die vorliegenden Bücher im Goethe'schen Kreise auch ein 
gegenseitiges Annähern der Schreibweise der einzelnen 
Theilnehmer zur Folge 'haben konnte. Auch diejenigen 
Merkmale der Recensionen der ausscheidenden Kritiker, 
welche Goethe in der Nachrede zum Jahrgang 1772 der 
gelehrten Anzeigen giebt, können nicht als Wegweiser 
dienen, weil Goethe dabei nicht ledigUch seine eignen, 
sondern die Recensionen des ganzen ausscheidenden 
Freundeskreises kennzeichnet. Wir haben indessen eine 
Äusserung Herder's in einem vom Herausgeber in den 
October 1772 gesetzten Brief an Merck (Briefe an Joh. 
Heinr. Merck von Goethe, Herder etc. herausgegeben von 
K. Wagner. S. 37), lautend: »In Ihrer Zeitung sind Sie 
immer Sokrates-Addison, Goethe meistens ein junger über- 
müthiger Lord mit entsetzHch scharrenden Hahnenfüssen, 
und wenn ich einmal komme, so ist's der irländische 
Dechant mit der Peitsche.» 

Der lordmässige Übermuth wird nun zwar ebenfalls 
schwer als unterscheidendes Merkmal leiten können, da 
auch die seitens andrer Mitarbeiter geschriebenen Beur- 
theilungen absprechend und keck waren, eher dürfen aber 
die »entsetzlich scharrenden Hahnenfüsse« als eine Eigen- 
thümlichkeit Goethe's betrachtet werden, die sich sofort 
ergiebt, wenn wir die unbestritten von Goethe herrühren- 
den Recensionen ansehen. Als unbezweifelbar Goethisch 
können freilich nur die zwei gelten, welche Höpfner im 
Brief an Raspe vom 19. October 1772 (Weimarisches Jahr- 
buch f. deutsche Sprache etc. III, 66) als solche nennt: 
die von »Leben und Charakter Herrn Klotzens« und von 
»Gedichte eines polnischen Juden«. Vergleichen wnr aber 
diese Recensionen mit denen, die uns als von Goethe 



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328 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



nicht herrührend beglaubigt sind und als welche — wie 
weiter unten zu begründen ist — jene der »Allgemeinen 
Theorie der schönen Künste«, »Über den Werth einiger 
deutschen Dichter«, der »Aussichten in die Ewigkeit« und 
der »Predigten über das Buch Jonas«, ganz abgesehen 
von allen übrigen des Jahrs 1773 hervorzuheben sind, so 
zeigt ein Blick, dass eine unverhältnissmässige Menge von 
Ausrufungs- und Fragezeichen offenbar die von Herder so 
genannten »entsetzHch scharrenden Hahnefüsse« sind. Und 
sie finden sich allerdings in einer Anzahl von Recensionen, 
die man auch ihrem Gehalte nach für Arbeiten Goethe's 
zu halten nicht zu beanstanden hat. 

Bis hierher haben wir uns nun den Apparat zurecht- 
gelegt, um uns von einem allgemeinen Standpunkt aus zu 
Behandlung der \'erfasserschaftsfrage zu befähigen ; wir 
gehen nun zu Betrachtung der ein^lnen in der Ausgabe 
letzter Hand der Werke aufgenommenen Recensionen über. 

I.Allgemeine Theorie der schönen Künste etc. 
von Sulz er. Ohne alle besonderen Gründe hätte man 
bezweifeln können und sollen, dass diese Recension von 
Goethe ausgegangen sei. Er, von dem die Freunde fan- 
den, dass ihm nicht mehr als alles zum Recensenten fehlte 
und dem sie anfangs nur erlaubten, innerhalb ihrer Ar- 
beiten zu scherzen und sodann bei Gegenständen, denen 
er gewachsen war und die ihm besonders am Herzen 
hlgen, selbständig aufzutreten, er sollte schon wenige 
Wochen nach Gründung des Blattes die Beurtheilung eines 
der wichtigsten theoretischen Werke jener Zeit zugestanden 
erhalten haben! Er, der noch am 3. Februar allen Antheil 
an dem Blatte leugnete, sollte die bereits am 11. desselben 
Monats erschienene, von sorgsamer Durcharbeitung zeu- 
genden Recensionen über Sulzer's Theorie verfasst haben! 



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Goethe's Recensionex in d. Frankf. gelehrten Anzeigen. 329 



Femer sind es aber auch verschiedne Einzelheiten, die uns 
bei dem Goethe von 1772 befremden müssten. Hatte 
Goethe zu jener Zeit schon solche \^ertrautheit mit der 
Theorie der Künste erworben, wie Recensent sie verräth? 
Sollte er damals Arbeiten unternommen gehabt haben, die 
ihn zu sagen berechtigten: er wisse aus Erfahrung, wie 
undankbar es sei, in einer nach Epochen abgetheilten 
Abhandlung über die Kunst das Portrait eines grossen 
Mannes an das andre zu stellen? Hatte Goethe 1772 eine 
so gute Meinung von Wieland, wie sie am Schluss der 
Recension an den Tag kommt? 

Aber es bedarf aller solcher aus allgemeinen Gründen 
hergeleiteten Bedenken nicht, da ganz bestimmte Zeug- 
nisse vorliegen, dass Sulzer*s Wörterbuch nicht von Goethe 
beurtheilt worden ist. Zuerst ist auf den schon erwähnten 
Brief Deinet's an Raspe vom 8. Februar 1772 Bezug zu 
nehmen. Ersterer zählt darin mehrere Personen auf, die 
als Recensenten gewonnen sind, darunter manche ziemlich 
unbedeutende, und zwar Merck, Wenck, Waldin, Bahrdt, 
Lebret, Leichsenring, Schlosser, Olenschlager, Iselin. Goethe 
war zwar damals auch schon angeworben, aber er, der bis 
dahin ausser den ohne seinen Namen erschienenen, von 
Breitkopf componirten Liedern noch nichts in die Öffent- 
lichkeit gebracht hatte, also in der Literatur vöUig unbe- 
kannt war, wird ohne Namen lediglich als »ein Freund 
Merck's « aufgeführt. Li demselben Brief heisst es weiter- 
hin: »Das nächste 12. Stück enthält die Beurtheilung von 
Sulzer's Theorie. Sie werden den Maler an den feinen 
Zügen erkennen. Das Stück ist einzig.« — Und damit 
sollte Goethe gemeint sein?! Er, den Deinet nicht einmal 
zu nennen für nöthig hielt ? den fo'gUch Raspe auch sonst 
nicht kannte? Was war es für eine Schrift Goethe's, an 



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330 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



der er als der Maler feiner Züge erkannt werden konnte? 
Zuverlässig: keipe! Wer aber dieser Maler war, sagt 
Merck in einem Brief an Höpfner aus dieser Zeit (Briefe 
aus dem Freundeskreise von Goethe, Herder etc., heraus- 
gegeben von Wagner S. 54) in den Worten : »Bei Geliert's 
Werth und Sulzer's Theorie gedenken Sie an Ihren Freund 
M. « *) Wenn Hirzel in seinem » Verzeichniss einer Goethe- 
Bibliothek« für mögHch hielt, dies anders zu deuten, als 
dass Merck der Verfasser dieser Recensionen sei, so wird 
man doch zugeben, dass diese — unerklärte — andere 
Deutung eine sehr gezwungne sein müsste. Steht viel- 
mehr nach allem Dargelegten Merck als Recensent von 
Sulzer's Theorie der Künste fest, so stimmt damit auch 
die Bewunderung Wieland's überein, mit dem Merck da- 
mals schon wegen der Theilnahme am »Teutschen Merkur« 
in Beziehung getreten war, worüber ausser zahlreichen 
andern Briefen auch der vorgedachte an Höpfner und der 
fernere Brief Merck's an Nicolai vom 2. April 1772 (a. a. O. 
S. 56) nachgelesen werden kann. Und Merck war es auch, 
der schon 1772 durch kritische Arbeiten, namentlich für 
die »Allgemeine deutsche Bibliothek« die »Erfahrung« 
hatte machen können, »wie undankbar es sei, in einer 
nach Epochen abgetheilten Abhandlung über die Kunst 
das Portrait eines grossen Mannes an das andre zu stellen « 
— wie es in jener Reccnsion über Sulzer's Theorie heisst. 
Diese Recension wird aber auch nicht einmal für eine 
solche zu halten sein, in welche Goethe seine Scherze 
hineintrug. Sie ist aus Einem Guss und nichts Scherzhaftes 
darin. Fragt man nun, wie Goethe demungeachtet dazu 



*) Lfctztre Reccnsion nussnul Nicohi fehr, nach Brief an Joh. Müller v. i6. Mirz 1775. 
(Briefe jn Joh, v. Müller. Herius?;egcbcn von Maurer, Constant. IV*, 62.) 



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Goethe's Recensiomem i\ d. Fran'kf. gelehrten Anzeigen. 331 

gekommen sein mochte, dieselbe als sein Eigenthum in 
Anspruch zu nehmen, so lässt sich wol antworten, dass 
der nachhaltige Eindruck, den das Werk auf ihn hervor- 
gebracht und der häufige Gebrauch, den er von dem- 
selben gemacht hatte, es ihm später als selbstverständlich 
erscheinen Hess, dass er dasselbe auch in den gelehrten 
Anzeigen werde besprochen haben. Vielleicht veranlasste 
aber auch ein zufälliger Umstand den Irrthum. In dem 
1815 in Zürich erschienenen 3. Bande der »Ausgewählten 
Briefe von C. M. Wieland« ist ein Brief an Jacobi vom 
18. Februar 1772*) abgedruckt, in welchem (S. 26) Wie- 
land sich über die scharfe Kritik des Sulzer'schen Wörter- 
buchs freut und ausruft: »Ich möchte wol wissen, w^er 
die Recension gemacht hat!« Dazu hat der Herausgeber 
die Anmerkung gesetzt: »Wahrscheinlich Goethe.« Mög- 
licherweise hat diese Vermuthung bei Goethe oder Ecker- 
mann Anerkennung gefunden und ihn ebenso zu Auf- 
nahme der fraglichen Recension in die Werke bewogen, 
wie Himburg's Vorgang die Aufnahme von Jacobi's »Im 
Sommer. « 

2. Geschichte des Fräuleins von Sternheim. 
Herausgegeben von Wieland. Die besondern Kenn- 
zeichen Goethe's fehlen und ein andrer negativer Grund 
spricht auch noch gegen dessen Verfasserschaft. Allgemein 
w^ar man nämlich über Wieland's Haltung als Herausgeber 
des Romans der Frau von La Roche erzürnt und Goethe, 
der überhaupt längst nicht mehr gut auf Wieland zu 
sprechen w^ar, würde diesem Missfallen unbedingt Aus- 
druck gegeben haben. Und in der That lässt Lenz in 
seinem Pandaemonium Germanicum den auftretenden 



*) Selbstverständlich nicht 1771, wie dort steht. 



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332 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

Goethe in die heftigsten Vorwürfe gegen Wieland wegen 
nicht gehöriger Würdigung des von ihm durch eine scliul- 
meisternde Vorrede eingeführten Romans ausbrechen. Es 
unterUegt aber ebensowenig einem Zw^eifel, dass Lenz 
Goethe's wirkHche Ansichten wiedergab, wue dass Goethe 
Wieland nicht geschont haben würde, wenn er »Fräulein 
von Stern heim« recensirt hätte, während z. B. Merck, der 
Mitarbeiter am »Teutschen Merkur« dazu genöthigt war. 
Auch bei dieser Recension lässt sich annehmen, dass Goethe 
sie nachmals darum für die seinige ansah, weil er es bei 
seinem späteren freundschaftlichen Verhältniss zu Frau v. 
La Roche für wahrscheinlich hielt, dass er die Besprechung 
ihres Romans selbst übernommen haben würde. Dagegen 
ist aber zu erinnern, dass er die Freundin wol erst zwei 
Monate nach dem Erscheinen jener Recension kennen 
lernte, eine Thatsache, die er aber ebenso übersehen 
konnte, wie er viele andere Verwechslungen der Zeiten in 
seinen spätem Lebenserinnerungen sich zu Schulden kom- 
men liess. 

3. Über den Wer.th einiger deutschen 
Dichter. Merck schrieb in dem schon angeführten Brief 
an Höpfner: »Bei Geliert's Werth . . . gedenken Sie an 
Ihren Freund M.« Schon oben ist bemerkt, dass es nur 
durch Sinnverdrehung möglich ist in diesen Worten etwas 
anderes zu finden, als ein Bekenntniss der eignen Ver- 
fasserschaft von Seiten Merck's; Gellerts Werth ist aber 
der Hauptgegenstand dieser Recension. 

Indessen haben wir hier jedenfalls eine der Recen- 
sionen, an denen Goethe mitarbeitete. Fassen wir dieselbe 
näher in's Auge, so zeigt sich, dass darin eine dreifache 
Schätzung Geliert's vorkommt. Die Verfasser des Buchs 
— Mauvillon und Unzer — erklären Geliert für einen 



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Goethe's Recensionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 333 



mittelmässigen Dichter. Schon das ist dem Hauptrecen- 
senten zu hart: er stellt ihn zwar nicht auf die höchste 
Stufe, erklärt ihn aber für einen angenehmen, vernünf- 
tigen, guten Dichter. Ein Zwischenredner, von dem *die 
Stelle »Er war nichts mehr als ein Bei esprit« bis 
»nichts von diesen Männern zu sagen « herrührt, geht aber 
in der Herabsetzung Geliert's noch weiter als selbst 
der Verfasser des Buchs ; er lässt Geliert überhaupt 
nicht als Dichter gelten. Dass dieses Urtheil von Goethe 
herrührt, ist um so gewisser, als von sänimtlichen Mit- 
arbeitern an den gelehrten Anzeigen nur er die Bedeu- 
tung eines wahren Dichters zu erkennen verstand und als 
überdies wol auch nur er vermochte als »Zeuge« zu ver- 
sichern, dass Geliert in seinen »Vorlesungen die Unfähig- 
keit des Erfassens wahrer Dichtkunst offenkundig ge- 
macht hatte. 

Dieser Einschub ist so in Widerspruch mit der übrigen 
Recension, dass es kaum durch die bisher unerschütterte 
Überzeugung von Goethe's Eigenthum begreiflich wird, 
wie man bisher darüber hingehen konnte. 

4. Empfindsame Reisen durch Deutschland 
von S(chummel). Hier liegt nicht nur kein Grund 
vor, die Feder Goethe's in Zweifel zu ziehn, sondern es 
ist wol nur ihm, dem begeisterten Shakespeareverehrer, 
die Anspielung auf Hamlet's Ausruf, mit dem die Recen- 
sion beginnt, zuzutrauen : Alas the poor Yorick ! Das 
könnte ausser Goethe nur noch Herder geschrieben haben, 
als dessen Recension wir jedoch diese nicht anzunehmen 
haben. 

5. Gedanken über eine alte Aufschrift (von 
Wieland). Der Mangel aller »Hahnenfüsse« allein dürfte 



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33-j Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



vielleicht nicht für ausreichend angesehen werden, Goethe'n 
diese Recension abzusprechen, da sie einmal in den 
Werken steht. 

6. Die Jägerin, ein Gedicht (von Kretsch- 
mann) kann um so unbedenklicher Goethe belassen wer- 
den, als die hier ausgesprochnen Ansichten über Kretsch- 
mann's Bardendichtung mit den in Goethe's Brief an 
Friederike Oeser vom 13. Februar 1769 kundgegebenen in 
Einklang stehn. 

7. Briefe über die wichtigsten Wahrheiten 
der Offenbarung (von Haller). Dürfte kaum von Goethe 
sein; wenn sich darin auch seine Denkweise wiederspiegelt, 
so ist doch die Schreibweise zu steif, zu frei von den Ge- 
dankensprüngen und den übermüthig hingeworfnen Aus- 
sprüchen des »jungen Lords.« Dagegen sind 

8. Neue Schauspiele, aufgeführt etc. zu 
Wien ganz in dessen uns sonst bekannter Weise be- 
sprochen. 

9. Braun's Versuch in prosaischen Fabeln 
und Erzählungen ist aber wieder aus den gleichen 
Gründen wie Haller's Briefe unter 7 Goethe*n abzusprechen. 

10. Über die Liebe des Vaterlandes, von 
J. V. Sonnenfels. Hier blühen wieder die »Hahnen- 
füsse«; ebenso in der Recension von 

11. Leben und Charakter etc. Klotzen's, 
entworfen von Hausen. Diese ist aber ausserdem 
noch eine der beiden einzigen Recensionen, welche als 
Goethesche ausdrücklich bezeugt sind, indem Höpfner am 
19. October 1772 an Raspe schreibt: »Goethe ... ist 
Doctor juris in Frankfurt und hat unter andern Ihres 



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Goethe's Receksionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 335 



Freundes Klotz Leben par Mons. Hausen, auch den polni- 
schen Juden in der Frankfurter Zeitung recensirt. « 
(Weimarisches Jahrbuch für deutsche Sprache etc. III., 66,) 

12. Lyrische Gedichte von Blum. Zu nüchtern, 
um für ein Werk Goethe's gelten zu können. Unmöglich 
ist wol für Goethe namentlich die Stelle: »Warum sind 
die Gedichte der alten Skalden und Gelten und der alten 
Griechen, selbst der Morgenländer so stark, so feurig, so 
gross? Die Natur trieb sie zum Singen, wie den Vogel in 
der Luft. Uns — wir könne n's uns nicht verbergen 
— uns treibt ein gemacht Gef ühl ... und darum 
sind unsere besten Lieder, einige wenige ausge- 
nommen, nur nachgeahmte Kopien.« Oder der 
Schluss : »Der beste Dichter artet aus, wenn er 
bei seiner Composition an's PubHkum denkt.« Allerdings 
dachte Goethe selbst bei seinem Dichten nie an's Publi- 
kum; aber er würde nie geglaubt haben »auszuarten«, 
wenn er es thäte. 

13. Eden etc. von Bahr dt.*) Obschon metho- 
discher gehalten, als die meisten andern Recensionen 
Goethe's, so entspricht doch diese Entwickelung der aus 
»Zwo wichtige biblische Fragen « uns bekannten ; der Ernst 
des Gegenstandes bestimmte den abweichenden Stil. 

14. Lobrede auf Her rn F. K. C. v. Creuz — 
mag allenfalls, weil einmal in Goethe's Werke gekommen — 
darin bleiben. 



•) Wenn in der Anmerkung S. 32 des 27. Theils der Hcmpel'schen Ausgabe von 
Goethe's Werken gesagt ist, Bahrdt führe »Eden« nicht unter seinen Schriften auf, so ist 
dies nicht richtig, er bringt es nur unter der falschen Jahreszahl 1774. 



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336 Vermischtes zur Goethe-Forschuxg. 



15. Gedichte von einem polnischen Jude n. 
Durch vorgedachten Brief Höpfner's vom 19. October 1772 
als Werk Goethe's beglaubigt, aber ebenso durch seinen 
Inhalt, durch die Schilderung der Ideale eines Jünglings 
und eines Mädchens, letztere zweifellos Lotte Buff, jener 
Goethe selbst. (Irgend Jemand fand darin Herder!) 

16. Bekehrungsgeschichte des vormaligen 
Grafen Struensee. Von Munter — ist ganz in dem 
milden Sinne des bald darauf erschienenen »Brief des 
Pastors zu ***« geschrieben. Goethe scheint sich beim 
Ausziehen seiner Arbeiten aus den Frankfurter gelehrten 
Anzeigen genau der Besprechung einer solchen Bekehrungs- 
geschichte erinnert und nur zuerst irrthümlich die »Be- 
kehrungsgeschichte des Grafen Brandt«, im Blatt vom 
2. JuH 1773 recensirt, angemerkt, später aber jene erste 
Recension als die seinige erkannt zu haben. 

17. Schreiben über den Homer. Von Sey- 
b o 1 d. Offenbar Goethisch ; desgleichen 

18. Die erleuchteten Zeiten, sowie 

19. Franken zur griechischen Literatur und 

20. Cymbeline, etc. nach etc. Shakespeare. 

21. Zwei schöne neue Märlein (von Zachariä). 
ObschonGoethe*n kaum unbekannt geblieben sein konnte, dass 
Zachariä der Dichter dieser Märlein war und es desshalb 
auffällt, dass er diesen hier so scharf angegriffen haben 
sollte, nachdem er ihn wenige Jahre zuvor so begeistert 
angesungen hatte, so ist das doch nicht Grund genug, 
diese Recension den Werken Goethe's wneder zu entziehen. 

22. Der goldene Spiegel (von Wieland). Das 
Ganze ist zu philisterhaft, als dass man Goethe darin 
wiederfinden möchte. 



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Goethe's Recensionex in d. Frankf. gelehrten Anzeigen. 337 

53. Charakteristik der vornehmsten euro- 
päischen Nationen lässt Goethe nicht verkennen. 

24. Aussichten in die Ewigkeit (von Lavater). 
Die Recension ist wahrscheinUch von Bahrdt. Sie steht 
zwar schon im Blatt vom 3. November 1772 und erst am 
30. December schreibt Deinet dem Genannten: »Mit La- 
vatern würden sie ghmpflicher umgehen, wenn Sie wüssten, 
dass der Mann bei der erhitztesten Einbildungskraft das 
wärmste Herz für seine Freunde hat, unter die ich auch 
gehöre.« Allein einerseits steht zwischen jener Recension 
und diesem Brief nichts über Lavater, als eine kurze An- 
zeige des zweiten Stücks »von der Physiognomik« und 
der Vorw^urf des nicht glimpflichen Umgehens mit dem- 
selben passt auch ganz auf die Beurtheilung der »Aus- 
sichten in die Ewigkeit«, während andrerseits Goethe 
weit mehr mit Lavater's Auffassung des Christenthums 
übereinstimmte, als der Recensent. 

Nun hatte zwar Lavater in einem gedruckten Brief 
an Zimmermann vom 4. Mai 1773 den Verfasser dieser 
Recension genannt, allein im Druck ist der Name nicht 
wiedergegeben, sondern statt desselben ein N. gesetzt 
w^orden. Er schrieb: »Die Recension des 3. Theils der 
Aussichten in den Frankfurter gelehrten Anzeigen halte 
ich für eine der besten, die gemacht sind. Unfehlbar werde 
ich mir Erinnerungen daraus zu Nutze machen; aber dass 
der Recensent den Zweck dieser Briefe durchaus und so 
sehr wie mögUch verfehlt, ist so klar als zweimal zwei vier. 
Er ist nicht Herder, sondern N., der auch Gessner's Idyllen 
recensirt hat. Ich erwarte ihn bald in Zürich. Unstreitig 
wird seine Bekanntschaft mir unendlich vortheilhaft sein.« 

War Lavater gut unterrichtet — und nur in diesem 
Falle ist es überhaupt der Mühe werth von der ange- 



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338 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



führten Briefstelle zu reden — so geht daraus zunächst 
mit Gewissheit so viel hervor, dass die Recensionen in 
Goethe*s Werken nicht massgebend sein können für Be- 
stimmung seines Antheils an den Recensionen der ge- 
lehrten Anzeigen, da die der »Moralischen Erzählungen 
und Idyllen von Diderot und S. Gessner« eben nicht in die 
Werke aufgenommen ist. Nun stellt sich aber sogar merk- 
würdigerweise heraus, dass wir Gründe haben zwar die 
Recension der »Aussichten in die Ewigkeit« Goethe'n ab- 
zusprechen, dagegen die der Gessner'schen Idyllen ihm 
zuzuschreiben. 

Allerdings ist es wahr, dass die von Lavater erwartete 
Reise des Recensenten nach Zürich auf Goethe gedeutet 
werden kann, wie v. Loeper in den Anmerkungen zum 
3. Theil der Hempel'schen Ausgabe von »Dichtung und 
Wahrheit« S. 348 f. bemerkt hat, und wir w^ollen selbst 
nicht hoch anrechnen, dass Goethe bereits an dem zwischen 
dem 4. und 9. April 1773 an Kestner geschriebenen Brief 
— also 4 Wochen vor jenem Brief Lavater's — erklärte, 
er gehe nicht in die Schweiz, weil andrerseits Merck 
noch am 14. Februar 1774 für nöthig fand seiner Frau 
mitzutheilen, dass Goethe die Reise in die Schweiz unter- 
lassen werde. (Briefe aus dem Freundeskreise von Goethe, 
Herder etc., herausgegeben von L. Wagner, S. 88.) Aber 
nach den Briefen der Caroline Flachsland an Herder von 
Mitte Juni und vom 5. December 1772 (Aus Herder's 
Nachlass, III, 285 f. 386) sollte Goethe nur mit Merck 
reisen, also auch dieser konnte der von Lavater in Zürich 
Erwartete sein und Merck konnte sehr w^ohl als der Ver- 
fasser jener Recensionen gelten, sofern sie wenigstens zum 
Theil aus seinem Kreise hervorgegangen waren und er 
namentlich Goethe, wie wir aus Deinet's Brief an Raspe 



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Goethe's Recensionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 339 

wissen, mit in's Schlepptau nahm. Hiernach ist man aber 
bereciitigt anzunehmen, dass Lavater eben nicht genau 
unterriclnct war, wie denn überiiaupt auf jene briefliche 
Äusserung mit dem räthselhaften N. schlechthin nichts zu 
geben ist. Schwerlich konnte freilich Lavater Bahrdt, 
w^enn dieser der Verfasser war, darunter verstehen; denn 
obw^ol Lavater bereits über den 1763 von Bahrdt heraus- 
gegebenen »Christ in der Einsamkeit« an diesen schrieb, 
und dann später Bahrdt im Philantropin zu Marschlins 
besuchte, also wol aufmerksam auf ihn geworden war und 
ihn von Person kennen zu lernen schon früher gew^ünscht 
haben mochte, so ist mir doch nicht bekannt, dass Bahrdt 
vor der erst 1775 erfolgten Berufung durch v. Salis eine 
Reise in die Schweiz geplant gehabt habe. 

Sehr unwahrscheinlich ist aber an sich, dass Lavater 
bei dem N. an Goethe gedacht haben könnte. Zwar hatte 
Letztrer damals schon Schriften veröffentlicht, welche auch 
Lavater's Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, so na- 
mentlich »Von deutscher Baukunst« und »Brief des Pastors 
zu *** etc.«; beide nennt und preist auch Lavater in den 
»Unveränderten Fragmenten aus dem Tagebuch eines 
Beobachters seiner selbst« (1773), worin jener Brief an 
Zimmermann vom 4. Mai 1773 steht; aber daraus folgt 
gar nichts zu Gunsten der Deutung des N. als »Goethe.« 
Denn entweder wusste Lavater, dass Goethe der Verfasser 
jener Schriften war, dann ist es unerklärUch, warum er 
bei Erw^ähnung der Recension der »Aussichten« weder 
Goethe nennt oder doch durch den richtigen Anfangs- 
buchstaben bezeichnet, wie mehrere andere Personen in 
den Fragmenten, noch auch die Recension mit dem Ver- 
fasser jener Schriften irgendwie in Beziehung bringt. 
Wusste dagegen andernfalls Lavater nicht, dass Goethe 



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340 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

die genannten Schriften verfasst hatte, so war derselbe 
überhaupt noch nichts für ihn und es gebrach ihm an 
allem Grund zu sagen, dass er sich von seiner Bekannt- 
schaft Vortheil verspreche. Es kann daher nur wiederholt 
werden : jene Briefstelle aus Lavaters »Fragmenten« ist so 
zweifelhaften Sinns, dass sie als gar nicht vorhanden be- 
handelt werden muss. 

Dass Goethe sich Lavater'n als Verfasser der Recen- 
sion zu erkennen gegeben habe, wie in »Freundesbilder 
aus Goethe's Jugendzeit« S. 12 angenommen wird, ist 
Düntzer'sche Fiction und im Gegentheil als zweifellos an- 
zusehen, dass die beiden sich im Mai 1773 persönlich 
noch vöUig fremd waren; denn noch am 4. November 1773 
schreibt Lavater an Herder: »Goethe hat mir seinen Götz 
von Berlichingen geschickt. Ich lass ihn durch Deinet um 
sein Portrait bitten. Es scheint, dass wir näher zusammen- 
kommen werden.« (»Aus Herder's Nachlass« 11, 70.) 
Wenn es also im November nur erst schien, dass beide 
näher zusammenkommen würden, wenn damals noch La- 
vater sich Deinet's als Mittler bediente, um Goethe's Bild- 
niss zu erbitten, so ist es nicht denkbar, dass schon im 
Mai eine vertrauUche Annäherung unter ihnen stattge- 
funden gehabt habe. 

Was die Aufnahme der streitigen Recension in Goethe's 
Werke veranlasst hat, mag wie anderwärts die Erinnerung 
an den Antheil gewesen sein, den Goethe einst an La- 
vater's Schrift genommen hatte, so dass er späterhin es 
wahrscheinlich fand, ihrer Recension sich selbst unter- 
zogen gehabt zu haben. Möglicherweise hat er aber auch 
die beiden letzten Absätze der Recension geschrieben, die 
gewiss von einem andern Verfasser als deren Haupttheil 
herrühren. Während dieselbe grösstentheils den Inhalt der 



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Goethe's Recensionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 34 1 

Briefe über die »Aussichten in die Ewigkeit« betrifft, be- 
zieht sich jener Schluss auf das von Lavater erst beab- 
sichtigte Gedicht über die künftige Welt und es weht ein 
dichterischer Geist in dem darüber Gesagten. Wenn diese 
Schlussworte nun überdies sich mehr anerkennend über 
Lavater aussprechen, als die übrige Recension, so mag 
Goethe durch Deinet zu dem Zusatz veranlasst worden 
sein, um die gerügte Schärfe Bahrdt's in der Beurtheilung 
Lavater's etwas zu mildem. Über diesen Zusatz mag sich 
dann Bahrdt wol gegen Deinet ausgesprochen und da- 
durch dessen obgedachte Äusserung im Brief vom 30. De- 
cember 1772 her\'orgerufen haben. 

25. Musenalmanach. Göttingen 1773. Viel 
zu nüchtern für Goethe. Durch die Erinnerungen an seinen 
damaligen Verkehr mit dem Herausgeber Boie und an seine 
Beiträge zu dem Musenalmanach mag Goethe sich haben 
verleiten lassen , diese Recension für sein Werk zu halten. 

26. Die schönen Künste etc. von Sulzer. 
Obgleich in dieser Recension auf die erste, die der »Theorie 
der schönen Künste« Bezug genommen ist, so ist die Be- 
handlungsart beider doch so verschieden, dass sie schwer- 
lich aus einer Feder geflossen sind. In gegenwärtiger 
Recension haben wir gewiss eine Goethe'sche; namentlich 
konnte der elfte Absatz, das Verhältniss der schönen 
Künste zur Natur berührend, nur von Goethe so ge- 
schrieben werden; die Äusserungen über die Natur er- 
innern lebhaft an den 1782 in's »Journal von Tiefurt« 
gegebenen Aufsatz »Die Natur.« 

27. A. V. Joch über Belohnung und Strafen 
nach türkischen Gesetzen. Unmöglich von irgend 
Jemand sonst als von Goethe; die Fabel im zweiten Ab- 
satz allein entscheidet schon. Bemerkenswerth ist, dass 



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342 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

diese letzte in die Werke aufgenommene Recension des 
Jahres 1772 ganz ebenso von »Hahnenfüssen« überfüllt ist, 
wie die früher zuverlässig von Goethe verfassten. 

Nachdem wir uns oben überzeugt haben, dass Goethe 
mit Ende 1772 aufhörte für die Frankfurter gelehrten An- 
zeigen zu arbeiten, könnte es scheinen, als w^ären ohne 
Weiteres die in den Werken folgenden acht Recensionen 
mit Einem Strich zu beseitigen. Indessen dürfen wnr sie 
doch nicht so gewaltsam und ohne Sang und Klang zu 
den Apokryphen werfen, müssen sie vielmehr ebenfalls 
einzeln mustern. 

28. Lustspiele ohne Heirathen, von dem 
Verfasser der empfindsamen Reisen durch 
Deutschland (Schummel). Diese Recension erschien in 
dem Blatt vom 15. Januar 1773 und Goethe konnte daher 
sehr wol eine früher übernommene Recension, sei es erst 
Anfang 1773 oder doch 1772 spät abgeliefert haben, so 
dass sie erst im zweiten Jahrgang der Anzeigen zum Ab- 
druck gelangte. Die Art der Bezugnahme auf die frühere 
Goethe'sche Recension der »Empfindsamen Reisen« (Nr. 4) 
und die ganz gleiche Behandlung nöthigen sie für Goethe 
zu bewahren. 

29. Beiträge zur deutschen Lecture. Zw^ar 
erst am 16. Februar abgedruckt, aber doch kaum Goethe 
streitig zu machen. Der Eingang der Recension, die auf 
die Titel einer Anzahl Schriften ähnlichen Inhalts anspielt, 
ist ganz in der Weise Goethe's, der leere Worte so hasste, 
dass er auch da auf ganz bestimmte Thatsachen sich be- 
zieht, wo er den Leser glauben lässt, dass er nur in's 
Blaue hinein Beispiele anführe. Man vergleiche über diesen 
Eingang der Recension die Anmerkung in »Goethe's Werke. 
XXIX. Theil. Beriin. G. Hempel.« S. 79 f. 



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Goethe's Recen'siokex in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 343 

30. Theateralmanach für das Jahr 1773. 
Die Verfasserschaft dieser Recension zu entscheiden ist 
misslich. Indem das Ende derselben auf den Anfang zu- 
rückgreift, drängt sich der Vergleich mit demselben Ver- 
fahren in der unbedingt Goethe'schen Recension des Werks 
von A. V. Joch (Nr. 27) auf; andrerseits aber müsste es 
auffallen, dass Goethe in der vorliegenden den Ausdruck 
rügt, »die Geschichte der Fräulein von Sternheim sei ge- 
nothzüchtigt worden«, während er selbst in der Recension 
der neuen wiener Schauspiele (Nr. 8) die ähnliche Redens- 
art gebraucht : »Thalia und Melpomene trieben durch Ver- 
mittlung einer französischen Kupplerin mit dem Nonsens 
Unzucht.« Wenn es jedoch ziemt, die in Goethe's Werke 
einmal aufgenommenen Recensionen im Zweifel darin zu 
belassen, so mag dies auch zu Gunsten dieser Almanach- 
recension gelten. 

Gleiche Gründe sprechen jedoch weder für 

31. J. J. Moser's etc. neueste kleine Staats- 
schriften, noch für 

32. R. Woods Versuch über etc. Homer. 

33. Predigten über das Buch Jonas von La- 
vater. Auch hier mag Goethe's später für dieses Buch 
aufgetauchtes Interesse , das wir insbesondre aus einer 
Anmerkung in den »Leiden des jungen Werther« kennen 
lernen, die Aufnahme veranlasst haben. Ausser dass diese 
Recension Goethe's Eigenthümlichkeiten nicht aufweist, 
ist noch überdies bezeugt, dass sie von Bahrdt ist. Deinet 
schreibt nämlich an ßahrdt am 13. April 1773: »Ich be- 
sinne mich und mache ein Päckel Lavater's Predigten über 
Jonas; sobald als mögHch!« Dann am 8. Mai: »Dass ein 
bischen Ragout beim Jonas mit untergelaufen, geschah ja 
mit Ihrem Vorsvissen und Ihrer Genehmigung. Sie sollen 



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344 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



Oberster bleiben, mein Theurer; aber ich bin in Frank- 
furt, wo die Häute gegerbt werden«. Wenn also auch 
hieraus hervorgeht, dass Änderungen in Bahrdt's Arbeit 
vorgenommen wurden, so sind sie doch keinesfalls von 
Goethe. 

34. Die Lieder Sined's des Barden etc. von 
Denis haben wir ebensowenig Grund für Goethe zu 
retten wie 

35. Holland's philosophische Anmerkungen 
über das System der Natur. 

Damit wären denn die Recensionen, welche Goethe 
in die Ausgabe letzter Hand seiner Werke aufnahm, at>- 
gethan. Wir haben nunmehr zu untersuchen, ob unter den 
nicht aufgenommenen solche sich finden, die ihm nichts- 
destoweniger gehören möchten. Um dabei thunÜch sicher 
zu gehen, wird man sich, soweit nicht besondre Gründe 
eine Ausnahme rechtfertigen, an die Beurtheilungen von 
Schriften zur schönen Literatur, für welches »Gefach« ja 
Goethe an erster Stelle arbeitete, zu halten haben und 
hiernach möchten, unter Beiseitlassung der mehr zweifel- 
haften, doch noch folgende Goethe's Werken künftig ein- 
verleibt werden. 

36. Usong, eine Morgenländische Geschichte 
etc. von dem Verfasser des Versuchs schwei- 
zerischer Gedichte (Haller) in Nr. XIII. Erinnern 
wir uns, dass Deinet am 8. Februar 1772 auf Goethe als 
Mitarbeiter an den gelehrten Anzeigen deutet, so dürfen 
wur in dieser Recension die erste von Goethe geUeferte 
erbUcken. Die lordmässige Keckheit gegenüber dem be- 
rühmten Haller ist Goethe'n zuzutrauen. Ausgelassen hat 
sie Goethe vielleicht infolge einer ähnlichen Verwechs- 
lung, wie zuerst bezüglich der Bekehrungsgeschichten der 



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Goethe's Recensioxen in d. Fraxkf. gelehrten Anzeigen. 345 

Grafen Struensee und Brand stattgefunden hatte, indem 
hier Goethe Haller's »Briefe über die wichtigsten Wahr- 
heiten der Offenbarung« (Nr. 7) aufnahm, die wir Goethe'n 
aberkennen müssen. Hier hat Goethe nur unterlassen, das 
Versehen zu verbessern. 

37. Kanut der Grosse etc. Eine Heldenge- 
schichte in Nr. XLIII. Mit Goethe'scher Lauoe ge- 
schrieben und nicht ohne Hahnenfüsse. 

38. Epistel an Herrn Oeser (von Riedel) in 
Nr. XLIV. Düntzer (Frauenbilder aus Goethe's Jugend- 
zeit. S. 134) hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, dass 
diese Anzeige von Goethe ausgegangen sei und es ist 
dieser Vermuthung beizupflichten, da die daraus hervor- 
leuchtende genaue Bekanntschaft des Schreibers mit Oeser 
unter den Frankfurter Genossen wol nur Goethe'n zu- 
kam und dieser durch die HerzUchkeit seiner Briefe an 
Oeser genugsam bezeugte, dass er in diesem den Men- 
schen nicht weniger als den Künstler schätzte und liebte, 
wie es hier der Recensent auch zu erkennen giebt. 

39. Homer's Iliade. Erster Band (von Küttner) 
in Nr. LH. Hier ist Goethe's Stil kaum zu verkennen. 
Berücksichtigen wir sodann, dass er damals sich innig 
mit Homer vertraut gemacht hat und z. B. Anfang Juli 
1772 an Herder schrieb: »Seit ich nichts von Euch ge- 
hört habe, sind die Griechen mein einzig Studium; zuerst 
schränkt' ich mich auf den Homer ein«; sowie ferner, 
dass er damals nebst Herder ziemlich vereinzelt stand in 
der Verweisung auf die Sprechweise des Volks und der 
älteren deutschen Schriftsteller, namentUch des Hans Sachs, 
der hier dem Homerübersetzer als Muster vorgehalten 
wird, so wird ein Zweifel an Goethe's Hand bei dieser 
Recension nicht aufkommen dürfen. Die Aufnahme der- 



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346 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

selben in die Werke unterliess Goethe vielleicht absicht- 
lich deshalb, weil er später im Gegensatz zu der 1772 
ausgesprochnen Ansicht eine Übersetzung Homer's in un- 
gebundner Rede gerade für erwünscht hielt; möglicher- 
weise kann aber auch hier anstatt dieser Recension durch 
einen Gedächtnissirrthum »Wood's Versuch über den Ho- 
mer « «in die Werke gerathen sein. 

40. Moralische Erzählungen und Idyllen von 
Diderot und S. Gessner. Oben bei Prüfung der Re- 
cension der »Aussichten in die Ewigkeit« ist bereits be- 
merkt worden, dass Düntzer die vorbezeichnete Recension 
für Goethe in Anspruch nahm, weil Lavater mitgctheilt 
hat, dass diese beiden Recensionen eines Verfassers seien, 
dass aber wir zwar die ganz Goethisch gehaltne Re- 
cension der Moralischen Erzählungen und Idyllen auf 
Goethe's Liste setzen, dagegen die andre davon streichen 
zu müssen glauben. Auf das dort Gesagte ist hier zu 
verweisen. 

41. Meine Vorsätze. Folgen meiner Über- 
zeugung in Nr. LXXVI. Hirzel wies darauf hin, dass 
die Nachschrift hinter dieser Recension von Goethe her- 
rühren müsse, da sie an dessen Besprechung der »Bekeh- 
rungsgeschichte des Grafen Struensee« anknüpfte. Darin 
wird ihm recht zu geben sein, nicht aber hinsichtUch des 
daraus gezognen Schlusses, dass auch die ganze Recension 
von Goethe verfasst sei. Dafür spricht nichts; dass die 
Nachschrift etwas für sich Bestehendes sei, ist vielmehr 
durch drei Sternchen, welche sie von der eigentlichen 
Recension trennen, merkbar hervorgehoben und es kann 
jedenflxlls nur erstere Goethe'n zugetheilt werden. 

42. James Beattie Versuch über die Natur 
und Unveränderlichkeit der Wahrheit im Gegen- 



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Goethe's Recensionem in d. Frankf. gelehrten Anzeigen. 347 

satze der Klügelei und der Zweifelsucht. Aus 
dem Englischen. In Nr. LXXXIV. Auch hier liegt 
ohne Zweifel die Einmischung in eine von andrer Hand 
geschriebene Recension vor; denn eine Unterbrechung 
des Haupttextes ist darin deutlich erkennbar. Der erste 
Theil der nüchternen Beurtheilung schliesst mit dem Satz: 
»Der Mensch ist nicht zum Metaphysiciren da, und trennet 
er einmal Vernunft von gesundem Verstände, Speculation 
von Gefühl und Erfahrung — der Dädalus und Icarus hat 
den festen Boden der Mutter Erde verlassen; wohin kann 
er sich mit seinen wächsernen pennis homini non datis 
verlieren? wohin kann er sinken?« 

Unmittelbar hieran gehört der weiterhin folgende 
Theil der Recension, beginnend: »Und diesem gesunden 
Sinne an der Wahrheit, diesem simplen und starken 
Nerven und Triebe der Menschheit, was ist, zu sehen 
wie es ist, und es am leichtesten so ohne Schminke 
und Augenspiel zu sehen — diesem gottähnlichen Organ 
hält der Verfasser seine herrliche Standrede«. 

Zwischen jenem zuerst angeführten Satz der Recen- 
sion und dem vorstehenden ist nun eine, den Zusammen- 
hang zerreissende Zornrede gegen Speculation einge- 
schoben, ein w^ahres Raketenfeuer kühner Gleichnisse, 
eine Fülle kurz abbrechender Sätze, ein Gewirr hahnen- 
fussähnlicher Ausrufungszeichen — mit einem Wort ein 
untrügliches Goethestück. 

43. Wolf Krage, ein Trauerspiel von J. Ewald 
in Nr. XCIV. Eine radicale Vernichtung ganz in Goethe's 
Charakter. 

44. Über das von dem Herrn Prof. Hausen 
entworfne Leben des H. G. R. Klotz (von J. G. 



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348 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



Jacobi) in Nr. CI. Goethe's damaliger gründlicher Hass 
gegen die Jacobi spricht sich in dieser Recension so aus, 
dass kaum ein andrer Schriftsteller zu denken ist, der in 
gleichem Sinne geschrieben haben könnte; dieselbe ist 
aber auch schon wegen ihrer Zugehörigkeit zu der oben 
unter 1 1 verzeichneten Recension über Hausens Schrift für 
Goethe in Anspruch zu nehmen. 

45. Nachrede statt der versprochenen Vor- 
rede in Nr. CIV., zwar keine Recension, aber ein Auf- 
satz über die Recensionen, zu welchem sich Goethe in 
einem Brief an Kestner — den 39. in »Goethe und Wer- 
ther, herausgegeben von A. Kestner« bekennt. 

Im Jahr 1773 Spuren Goethe's aufzusuchen, tragen 
wir Bedenken, ohne jedoch damit andern Forschern die 
Mühe verleiden zu wollen. 

Zum Schlüsse 'fassen wir das Ergebniss unserer Prü- 
fung in folgendem zusammen. 

Aus Goethe's Werken sind die Recensionen i, 2, 7, 
9, 12, 22, 25, 31, 32, 33, 34 und 35 ganz zu entfernen; 

als nur theilweis von Goethe herrührend sind zu be- 
zeichnen 3 und 24, sowie überdies 41 ; 

neu in die Werke sind aufzunehmen 36 bis mit 43. 

Zeitlich ordnen sich die letzteren unter die bisher in 
Goethe's Werke, Ausgabe letzter Hand, aufgenommenen in 
nachstehender Weise ein; das beigesetzte Datum ist das 
der betreffenden Nummer der Frankfurter gelehrten An- 
zeigen ; die eingeschaltnen Recensionen sind die aus den 
Werken zu entfernenden, die mit * bezeichneten sind nur 
stellenweis von Goethe, die mit o versehenen sind neu in 
die Werke aufzunehmen. 



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Goethe's Receksionen in d. Franke, gelehrten Anzeigen. 349 



1772. 




(Nr. I. — II. Februar.) 


Nr. 15. — I. September. 


( » 2. — 14. )) ) 




» 16. 18. » 


» 36. — 14. » 




» 17. II. )) 


* » 3. — 21. » 




» 18. 15. » 


» 4. — 3. März. 




» 19. — 15. » 


» 5. — 20. » 




» 20. — 15. » 


» 6, — 31. » 


0* 


» 41. — 22. » 


( » 7. — 3. April.) 




» 21. — 29. » 


» 8. — 17. » 





)) 42. — 20. October. 


( » 9. — I. Mai.) 


( 


» 22. — 27. » ) 


)) 10. — 22. » 


( 


» 23. — 27. » ) 


»11. — 29. )) 


« 


» 24. — 3. November. 


» 37. — 29. » 


( 


» 25. — 13. » ) 


» 38. — 2. Juni. 





»43. — 24. » 


( » 12. — 9. » ) 




» 26. — 18. December. 


»13. — 19. » 





» 44. — 18. » 


» 14. — 23. » 




» 27. — 25. » 


» 39. — 30. » 





»45. — 29. » 


» 40. — 25. August. 






17 


7 3- 




Nr. 28. — 15. Januar. | 


(Nr. 32. — 23. April.) 


» 29. — 16. Februar. ' 


( 


)) 33. — 7. Mai.) 


» 30. — 9. April. 


( 


» 34. — 20. Juli.) 


( » 31. — 13. » ) 


( 


» 35. — 17. August.) 



Hiermit ist zwar dieser Aufsatz, nicht aber die Unter- 
suchung der behandehen Angelegenheit für die Goethe- 
forschung geschlossen. Mit Spannung sehen wir insbesondere 
dem ^Ergebniss der philologischen Studien des Professors 
Scherer entgegen, der in dem schon crw^ähnten vorläufigen 



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350 Vermischtes zur Goethe-Forschuxg. 

Aufsatz in der »Deutschen Rundschau« volles Verständniss 
für die Wichtigkeit des Gegenstandes bekundet. Möchte 
zunächst eine Ausgabe der Recensionen Goethe's in den 
Frankfurter gelehrten Anzeigen nach Anleitung der vor- 
stehenden Übersicht besorgt werden ! Dabei würde es sich 
empfehlen, die Stufen der WahrscheinUchkeit von Goethe's 
Mitwirkung an den emzelnen Recensionen durch besondem 
Druck zu unterscheiden, also etwa — dafem man Rück- 
sicht auf Goethe's Auswahl für die Werke nehmen und 
alle dort abgedruckten wieder aufnehmen wollte — nach 
folgenden Classen: 

die in den Werken befindUchen von Goethe zweifel- 
los oder doch mögHcherweise verfassten Recensionen, be- 
ziehentlich Stellen in denselben, etwa in Schwabacher 
Schrift ; 

die in den Werken befindUchen, wahrscheinlich nicht 
von Goethe verfassten Recensionen, etwa Antiqua; 

die nicht in den Werken befindUchen, aber wahr- 
scheinhch von Goethe verfassten Recensionen, etwa Fractur. 

Bei den muthmassÜch nur stellenweis von Goethe 
geschriebenen Recensionen würden Goethe's Stücke in 
Schwabacher, die Recension im übrigen aber in Antiqua, 
endlich Nr. 41 und Nr. 42 mit Ausnahme der Nachschrift 
in der ersten und des herausgehobenen Zwischensatzes in 
der andern Recension etwa in italienischer Schrift zu 
drucken sein. 




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2. GoETHE's Briefwechsel 

uxd seine 1868 veröffentlichten 

Briefe an von Voigt. 




i. 

ie veröffentlichten Briefe und Briefbruchstücke 

Goethe's sind schon zu einer erklecklichen 

Zahl angewachsen; es liegen deren gedruckt 

^ 1 an rund 340 genannte Personen vor, wozu 

noch mehrere einzelne Briefe kommen, deren 



Adressaten unbekannt sind; die Zahl derselben belief sich 
bis zur Ostermesse 1868 auf 3900, ausschliesslich der 
an Frau von Stein gerichteten, deren allein gegen 1800 
vorliegen, eine Zahl, die sich nicht genau feststellen lässt, 
weil theils nicht immer zu sagen ist, welche Sendeblätter 
als besondere Briefe zu behandeln sind, theils die Zahl der 
in die »Italienische Reise« aufgenommenen Stücke aus 
den Briefen an dieselbe nicht genau bestimmbar ist; nach 
einer Äusserung Schiller's zu urtheilen, empfing Frau von 
Stein gegen 100 Briefe von Goethe aus Italien. 

An eine Menge Personen sind nur einzelne oder doch 
nur wenige Briefe geschrieben, aber mit vielen Freunden 



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352 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

hat Goethe eine geraume Zeit hindurch, ja bis zu 58 Jahren 
in Briefwechsel gestanden, und zwar in diesem längsten 
mit dem Major von Knebel, der, obwol älter als Goethe> 
diesen doch noch überlebte, indem er es bis zu einem 
Alter von beinahe 90 Jahren brachte; aus dieser Zeit sind 
349 Briefe Goethe's an Knebel bekannt. 

Der nach der Dauer nächstbedeutende Briefwechsel 
ist der mit Frau von Stein, w^elcher mit 1776 beginnend, 
bis 1826 (sie starb im Januar 1827) sich erstreckte. Er ist 
der Zahl der Briefe nach weitaus der stärkste, und diese 
Zahl erscheint um so staunenswerther, wenn man bedenkt, 
dass der lebhafte briefliche Verkehr nur in den Jahren 
1776 bis 1788, während der ungestörten innigen Vertrau- 
lichkeit beider stattfand, während späterhin nur von Zeit 
zu Zeit ein Briefchen abging. 

An Lebhaftigkeit steht diesem Briefwechsel zunächst 
der mit Schiller, der innerhalb der Jahre 1794 bis 1805 
auf 533 Briefe von Goethe's Seite anwuchs, von denen 
die bei w^eitem meisten in's vorige Jahrhundert fallen, da 
später das persönliche Zusammenleben immer häufiger 
wurde, besonders seit Schiller in Weimar wohnte. 

Den vierten Rang nimmt der Briefwechsel mit dem 
Maurermeister und Professor Zelter in Berlin ein, der 1799 
einen erst nur schwachen Anfang, nach Schiller's Tod 
aber einen starken Aufschwung nahm und nur allmälig 
wieder schw\icher von Seiten Goethe's geführt wurde, aber 
dennoch 367 Briefe von ihm zählt. 

Nächstdem folgt der Briefwechsel mit Karl August, 
d. h. nach der Zahl der gedruckten Briefe Goethe's, 
deren wir 187 kennen, obwol von 1775 bis 1828 ihrer 
mehr als noch einmal so viel werden geschrieben wor- 
den sein. 



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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 353 

Hieran schliesst sich der Briefwechsel an den Kunst- 
freund Sulpiz Boisser^e, der von 1810 bis 1832 159 Briefe 
ausser einigen dichterischen Sendeblättern aufweist. 

An Herder sind von 1771 bis 1803 94 gedruckte 
Briefe von Goethe gerichtet, an Friedrich Jacobi 91 von 
1774 bis 1817, an Heinrich Meyer 88 von 1788 bis 1830, 
an Kestner, den Gatten der Lotte Buff, 82 von 1772 bis 
1798, an Staatsrath Schuhz 73 von 1814 bis 183 1, an Graf 
Reinhard 72 von 1807 bis 183 1, an Lavater 63 von 1774 
bis 1783, an Rochlitz 63 von 1800 bis 183 1, an Professor 
Döbereiner 58 von 1810 bis 1829, an Hofkammerrath 
Kirms 50 von 1797 bis 1808, an Nicolaus Meyer 46 von 
1800 bis 1830, an Kriegsrath Merck 42 von 1774 bis 1788, 
an Graf Sternberg 37 von 1820 bis 1832, an Frau von 
Schiller 36 von 1795 bis 1819, an Legationsrath Weller 
36 von 1818 bis 1830, an Riemer 35 von 1804 t^is 1832, 
an Aug. Wilh. Schlegel 34 von 1797 bis 1803, an Friedr. 
Aug. Wolf 30 von 1795 bis 1819 u. s. w. 

Der älteste bekannte Brief Goethe's ist an seinen 
Jugendfreund Riese in Frankfurt aus Leipzig am 20. und 
21. October 1765 geschrieben, der letzte vom 17. März 1832 
an Wilhelm von Humboldt; das gibt einen Lebensüberblick 
über zwei Menschenalter. 

Wie Goethe's Wissen und Denken überhaupt, erstreckt 
sich auch sein Briefwechsel über fast das ganze Reich der 
Forschung und der Erfahrung; wenigstens werden fast 
alle Fächer berührt, wenn auch mehrere, aber allerdings 
für einen einzelnen Mann ungewöhnlich viele, seine Auf- 
merksamkeit anhaltender fesselten. Da aber andere Men- 
schen nicht so umfassend zu sein pflegen, auch Goethe's 
Brieffreunde, wennschon diese nicht Leute gewöhnlichen 
Schlags waren, sich hierin nicht mit ihm messen konnten, 

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354 Vermischtes zur Gobthe-Forschung. 



SO ist es begreiflich, dass mit dem einen Brieffreund der 
eine, mit dem andern ein anderer Gegenstand vorzugs- 
weise behandelt wurde, wobei jedoch die Briefe an näher- 
stehende Freunde allerhand sich gelegentlich Darbietendes 
berühren. So unterhielt sich Goethe z. B. über Grund- 
lehren der Künste hauptsächlich mit Schiller; über Er- 
scheinungen im Gebiete der Dichtkunst mit eben dem- 
selben, sowie mit Schlegel, Böttiger, Riemer ; über Natur- 
wissenschaftliches mit Merck, Sömmering, Carus, von 
Leonhard, Graf Sternberg, Schultz, Mahr, Döbereiner; 
über bildende Kunst mit Oeser, Heinrich Meyer und 
Boisser^e; über Fragen aus der übersinnlichen Welt mit 
Lavater und Jacobi; über Bühnenw^esen mit Kirms, Roch- 
htz, Iff land, Graf Brühl ; über dienstUche Angelegenheiten 
mit V. Voigt, Weller. Lebensbezüge besprach er besonders 
mit Lavater, Merck, Jacobi, Herder, Salzmann, v. Knebel, 
den Frauen v. Grothuss, v. Eybenberg, v. La Roche u. s. w. 
Was die Bedeutung der Briefe Goethe's anlangt, so 
darf man einen selbständigen wissenschaftlichen Wenh 
nur ausnahmsweise in ihnen suchen ; vielleicht sind es nur 
die kunstwissenschaftlichen Untersuchungen in den ersten 
Jahrgängen des Briefwechsels mit Schiller, die einen solchen 
beanspruchen können. Die sonstigen, selbst in wissen- 
schaftlichen Angelegenheiten geschriebenen Briefe ent- 
halten meist nur Fragen oder kurze Nachrichten, ohne 
ein wuchtiges Ganze zu bilden. Der Hauptwerth der Briefe 
Goethe's liegt aber — abgesehen von einzelnen Stellen, 
die sich als Ausfluss umfassendster Weltbetrachtung, durch 
Tiefe der Gedanken und durch Schönheit des Ausdrucks 
her\'orthun — in dem Stoffe, den sie zur Kenntniss 
Goethe's bieten. Und wie unter denen, die sich ein- 
gehender mit Goethe beschäftigt haben, längst anerkannt 



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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 355 

ist, allmälig aber die Überzeugung aller Gebildeten werden 
wird, ist die Durchdringung seines in Wechselwirkung 
stehenden innem und äussern Lebens als eines ebenso 
rein als reich sich entwickelnden eine Bildungsaufgabe der 
Zukunft. 

Für den Einblick, den die Briefe in sein Inneres er- 
öffnen, stehen Goethe's Jugendbriefe bis in die erste 
Weimarer Zeit höher als die spätem, indem Goethe theils 
überhaupt sich dann nicht mehr so harmlos gab, insbe- 
sondere nach der Rückkehr aus ItaHen sich mehr ver- 
schloss, theils durch die Gewohnheit, seine Briefe einem 
andern in die Feder zu sagen, an Unbefangenheit dabei 
verlor. Die Abneigung gegen eigene Federführung brachte 
er von Frankfiin mit, und sogar seine Mutter, sein 
Schwager und vertraute Freunde fanden früh Ursache, 
über die Zwischenschiebung des fremden Schreibers zu 
klagen. Zu Ausgleichung der daraus entstehenden Zurück- 
haltung fügte Goethe den von fremder Hand niederge- 
schriebenen Briefen bisweilen noch einige eigenhändige 
Zeilen bei, die dann sofort schon durch ungezwungenere 
Fassung sich kenntUch machen; gewöhnlich sind aber nur 
die das Verhältniss Goethe's zum Briefempfänger bezeich- 
nenden Schlussworte und dann selbstverständUch die 
Namensunterschrift mit »G.« oder »Goethe«, oder »J.W. 
V. Goethe«, höchst selten mit vollausgeschriebenen Vor- 
und Zunamen eigenhändig. 

Die Verwendung eines Schreibers lässt sich noch in 
manchen Eigenthümlichkeiten der Briefe Goethe's erkennen. 
Wenn er sich mit einem Gegenstande beschäftigte, über 
welchen er einigen Brieffreunden Mittheilung zu machen 
wünschte, so Hess er das Entsprechende aus dem einen 
Briefe in die andern wörtlich übertragen ; dann Hieben die 

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356 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

Briefe liegen, bis dem einen dies, dem andern anderes 
sich beizufügen fand, und das ging so fort, bis es ihm 
angemessen schien, den Brief — nach Befinden am Ende 
des Bogens mitten im Satze — abzuschliessen und abzu- 
senden. Da dann der Brief meistens nur Ein Datum er- 
hielt, so führt dieses Verfahren oft irre über den Tag, 
von welchem an einer nicht an dem Tage des ange- 
gebenen Datums geschriebenen Stelle die Rede ist. 

Die Veröffentlichung von Briefen und Briefw^echseln 
Goethe's hat früh begonnen. Goethe widmete anfangs den 
Briefen der Verwandten und Freunde grosse Sorgfalt und 
packte 1782 alle seit 10 Jahren empfangenen aufs beste 
zusammen; allein vor seiner dritten Schw^izerreise (1797) 
bewog ihn die Furcht, vertrauliche Mittheilungen vor die 
Öffentlichkeit gezogen zu sehen, den grössten Theil der- 
selben dem Feuer zu übergeben, was er freilich nachmals 
höchlich bereuete. 

Nichtsdestoweniger war es Goethe selbst, der mit 
Herausgabe seiner Briefe begann. Schon in seine »Italieni- 
sche Reise« (1816) nahm er Briefe an den Herzog Karl 
August und an Herder, sowie, w^enn auch sehr über- 
arbeitet, solche an Frau v. Stein auf; ebenso in die 
»Schweizerreise von 1797« — die allerdings erst nach 
seinem Tode ausgegeben wurde — Briefe an Karl August, 
Schiller, Heinr. Meyer, Geh. Rath Voigt und Buchhändler 
Cotta. Als selbständiges Werk veranstaltete er die Heraus- 
gabe seines Briefwechsels mit Schiller (1828 und 1829 in 
6 Bänden), nachdem er bereits 1824 im V. Bande »Über 
Kunst und Alterthum« einen Theil dieses Briefwechsels 
veröffentlicht hatte. Indessen wurden bei jener Ausgabe 
mehrere verfängliche, namentlich Zeitgenossen betreffende 
Briefe und Briefstellen ausgelassen und viele Personen- 



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J 



Goeth'es Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 357 

namen durch irreführende Anfangsbuchstaben bezeichnet; 
überdies war wenig Aufmerksamkeit auf die Bestimmung 
der die Jahres- und Tagesangabe nicht enthahenden Briefe 
vervK^andt, so dass dieser Vorgang mancher spätem schlechten 
Briefwechselausgabe als Vorbild gedient zu haben scheint. 
Zwar hat eine zweite Ausgabe des Briefwechsels zwischen 
Goethe und Schiller (1856) die meisten Briefe un ver- 
stümmelt und besser geordnet gebracht, aber immer noch 
absichtlich oder unabsichtlich Lücken und falsche Reihe- 
folgen gelassen. 

Nächst dieser Herausgabe bereitete Goethe die seines 
Briefwechsels mit Zelter in seinen letzten Lebensjahren 
vor, jedoch mit der Bestimmung, dass die Veröffentlichung 
erst nach seinem Tode zum Besten einer Tochter Zelter's 
erfolgen solle. Der Briefwechsel erschien 1833 und 1834 
in 6 Bänden. 

Den Druck von Briefen aus seinen Jugendjahren lehnte 
Goethe entschieden ab, namentlich als man ihn nach dem 
Erscheinen der ersten Bände von »Wahrheit und Dich- 
tung« dazu drängen wollte; er vernichtete sogar noch als 
Greis mehrere solcher Briefe, die ihm Zeugen eines Zu- 
standes der Gährung waren, an den er nur mit Unbehagen 
sich erinnert sah. Aber die Genossen seiner Jünglingsjahre 
legten schon einen merkwürdig hohen Werth auf Goethe^s 
Briefe, so dass aus seinem 16. bis 21. Jahre gegen vierzig 
sich erhalten haben, die gedruckt sind, ganz abgesehen 
von Briefen an die nächsten Verwandten. Nahm doch so- 
gar der um einige Jahre ältere Assessor, nachherige 
Bürgermeister Hermann zu Leipzig Abschriften von Briefen 
des noch unmündigen Jünglings. Aber es weht auch in 
denselben ein ganz ureigner Geist, so dass sie w^ol kaum 
ihres Gleichen haben. 



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358 Vermischtes zuh Goethe-Forschüxg. 

Nach Goethe's Tode traten Briefwechsel und Samm- 
lungen seiner Briefe an verschiedene Personen zahlreich 
hervor, theils zerstreut in Schriften über Goethe, in Zeit- 
schriften, in Lebensgeschichten seiner Brieffreunde und in 
deren brieflichen Hinterlassenschaften, theils aber auch 
selbständig oder doch als hauptsächlicher Inhalt grösserer 
Werke; so Briefe an Kirms 1832, an Lavater 1833, an 
Gräfin Auguste zu Stolberg 1839, an Heinr. Meyer, Riemer, 
Fritz V. Stein und A. W. Schlegel 1846, an Frau v. St^in 
1848 bis 1851, an Käthchen Schönkopf und Rochlitz 1849, 
Briefwechsel mit Graf Reinhard 1850, mit v. Knebel 185 1, 
mit Schultz 1853, Briefe an Grüner 1853, ^^ Charlotte 
Kestner und ihren Gatten 1854, an Kicol. Meyer 1855, 
an Herder und an Döbereiner 1856, Briefwechsel mit 
Boisser^e 1862, mit Karl August 1863, mit Graf Stern- 
berg 1866, endlich Briefe an E. A. Wolf und an v. 
Voigt 1868. 

Die Aufgabe, w^elche den Herausgebern von Briefen 
zufällt, ist: für möglichst vollständige Herbeischaflfung 
und Feststellung der an die betreffende Person geschrie- 
benen zu sorgen, das Geschriebene richtig zu lesen, 
das Gelesene vollständig und getreu wiederzugeben, das 
Gegebene, soweit es nicht jedem Gebildeten ohne Weiteres 
verständlich ist, zu erläutern, die etwa den Briefen fehlen- 
den Adressen, sowie Jahres- und Monatstagangaben zu 
bestimmen und, wenn sie ihren Pflichten vollständig nach- 
kommen wollen, den Inhalt durch Register bequem nutz-, 
bar zu machen. Gegen alle diese Obliegenheiten haben 
freilich die Herausgeber von Briefen Goethe's vielfach ge- 
sündigt und lassen noch reichliche Arbeit zu thun übrig. 

Beim Druck der Briefe an manche Personen hat aller- 
dings gar nicht die Absicht vorgeschwebt, einen wirk- 



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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 359 

liehen Beitrag zur Goethe-Literatur zu liefern und alle 
Briefe zu veröffentlichen, sondern es sind nur gelegentUch 
einige oder auch nur Bruchstücke von besonderer Bedeu- 
tung an's Licht befördert worden, und so sind namentlich, 
soweit es allein aus gedruckten Quellen nachw^eisbar, in 
der Hauptsache ungedruckt die Briefe an Büsching, v. Cor- 
neUus, Buchhändler v. Cotta, Eichstädt, Gräfin Egloffstein, 
Caroline Flachsland (später verehelichte Herder), Elisabeth 
Goethe, Ottilie v. Goethe, Alexander und Wilhelm v. 
Humboldt, Kayser, KHnger, Bergrath Lenz, Frau Melber, 
Mendelssohn-Bartholdy, Nees v. Esenbeck, Joh. Georg 
Schlosser, v. Schreibers, Tischbein, Uwarow, Wieland, 
V. Willemer. 

Wie gross aber ist die Zahl der Personen, mit denen 
Goethe Briefe gewechselt, ohne dass nur einer gedruckt 
w^äre! Folgende Adressaten lassen sich ebenfalls nur aus 
Druckschriften nachweisen, also ganz abgesehen von denen, 
die nur aus Archiven, Sammlungen für Goethekunde, Hand- 
schriftensammlungen und sonst engeren Kreisen bekannt 
sind: Ackermann, Ampere, Bachmann, Baureis und Frau, 
Schauspielerin Beck, Becker, Behrisch, Binder, Blumenbach, 
Boie, V. Bree, Brizzi, Ritter Cataneo, Cousin, Baron Cuvier 
und Tochter, Deinhardstein, Delavigne, Deschamp, Duport, 
Edwards, v. Einsiede!, Freiherr v. Frankenberg, Frau v. 
Fritsch geb. v. Wolfskeel, Gräfin Fritsch, Gerard, Kaspar 
Goethe (der Vater), Cornelia Goethe, Frau v. Goethe geb. 
Vulpius, Elisa Gore, Hackert, Heeren, v. Hendrich, Hess, 
die Landgrafen Christian und Ludwig v. Hessen-Darmstadt, 
Heyne, Victor Hugo, Hüttner (in London), Hundeshagen, 
Kestner (Lotten's Sohn), Kapp, Koch, v. Kügelgen, Biblio- 
thekar Langer, Galerie-Director Langer, v. Langermann, 
Reinhold Lenz, Lerse, Fürst Lichnowsky, Lichtenberg, 



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360 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



Frau V. Lichtenberg, Fürst Lobkowitz, Frau v. Low, 
V. Marschall, Mattoni, Erbgrossherzogin Caroline v. Mecklen- 
burg-Schwerin, Fürst Metternich, Ernst Meyer, Moller, 
Moritz, V. Moser, Müllner, Neureuther, v. Oppen, Oslander, 
V. Piquot, Pyrkcr, v. Quandt, Rapp, Edler v. Retzer, Her- 
zogin Charlotte v. Sachsen-Gotha, St. Hilaire, Scherer, 
V. Schelling, Fried. Schlegel, Frau Schlosser geb. Fahimer, 
Adele Schopenhauer, Corona Schröter, Schütte, Bade- 
Lispector Schütz, v. Schütz, Schwabe, Seebeck, Sprengler, 
Steffens, Steigentesch, Stieglitz, Streckfuss, Thorwaldsen, 
Tobler, Toussaint, v. Trebra, v. Treitlingcr, Unzelmann, 
Bergrath Voigt, Volckammer, Vulpius, Walder, v. Warns- 
dorf, Weygand, Frau v. Willemer. 

Unter diesen hundert und etlichen und den obigen 
zweiundzwanzig Personen wie manche, deren brieflicher 
Verkehr mit Goytl-ie ein höchst kennenswerther sein muss! 

Aus der Zahl der bekannten und der als geschrieben 
erwähnten Briefe lässt sich schHessen, dass Goethe mehr 
als zehntausend Briefe abgefertigt haben muss, die denn 
doch wol zum weitaus grössten Theile noch vorhanden 
sein mögen. 

Die Veröffentlichung derselben scheitert an verschie- 
denen Ursachen. Rücksichtnahme auf die Personen, an 
welche die Briefe gerichtet oder welche darin besprochen 
sind, kann gegenwärtig nicht mehr mit Grund massgebend 
sein: auch Gewissenhaftigkeit, wenn sie in's Peinliche 
geht, wird verwerflich. Hiernächst halten Besitzer von 
Briefen Goethe's gar oft deren Inhalt für zu unbedeutend, 
um an Veröffentlichung zu denken: mit Unrecht, da die 
geringfügigste Niederschrift Goethe's an rechter Stelle 
benutzt, von einem Werthe sein kann, den selbst der 
Forscher nicht von vornherein allemal sogleich zu er- 



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Goethe's Briefwechsel und Briefe ak v. Voigt. 361 



kennen im Stande ist. Umgekehrt legen ferner andere 
Besitzer Goethe'scher Briefe diesen einen zu hohen Geld- 
werth bei und verhindern dadurch die Herausgabe. Dahin 
gehören auch Handschriftensammler, welche einen be- 
sondern Werth ihrer Schätze darin suchen, dass sie un- 
gedruckt sind. EndUch ist der Buchhandel im Allgemeinen 
den Sammlungen von Briefen Goethe's nicht geneigt, da 
er bei deren Verlag durchschnittlich kein lohnendes Ge- 
schäft finden will. 



II. 

Goethe's Briefe an Christian Gottlob v. Voigt. 
Herausgegeben von O. Jahn. Mit Voigts Bildniss. Leipzig, 
Verlag von S. Hirzel, ist die 1868 auf den Bücher- 
markt gekommene Veröffentlichung von Briefen Goethe's. 
Das Buch enthält (nicht blos, wue in der Ankündigung 
gesagt wird, 248, sondern) 265 Briefe Goethe's an Voigt, 
wovon jedoch 55 bereits früher gedruckt sind. Sie um- 
fassen den Zeitraum von 1786 bis 1819. 

Die Einleitung (118 Seiten) bringt eine anziehende 
Lebensgeschichte und Charakteristik Voigt's und lehrt uns 
eine bedeutende Persönlichkeit kennen. Voigt war 1743 
in Allstedt geboren, hatte seine Schulbildung auf der 
Klosterschule zu Rossleben erhalten und in Jena studirt, 
worauf er zuerst als Accessist an der Weimarer Bibliothek 
in den Staatsdienst trat, dann bald nach seines Vaters 
Tode dessen Stelle, die des Justizamtmanns zu Allstedt, 
übertragen erhielt (1770), von 1777 aber zuerst als Re- 
gierungsrath in die Landesverwaltung berufen ward, in 
w^elcher er bis zum Mitgliede des Geheimen Raths, spä- 
teren Staatsministeriums aufstieg, als dessen Präsident er 



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362 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

1819 starb. Seit 1804 war er Excellenz, 1807 empfing er 
den Adel und 1816 bei Erneuerung des Falkenordens wurde 
ihm das erste Grosskreuz, mehrere Tage vor jeder andern 
Ordensverleihung, zutheil. 

Voigt war ein Mann von vorzüglicher geistiger Be- 
gabung und grosser Vielseitigkeit, als Geschäftsmann von 
ungemeiner Ausdauer und Gewandtheit, bewährt in den 
verschiedenartigen Zweigen der inneren Verwaltung wie 
in Verhandlungen mit dem Auslande, und bei aller Be- 
lastung mit Dienstarbeiten und trotz häufiger Klagen über 
dieselbe ein heiterer Gesellschafter, ein rastloser Jünger 
der Wissenschaft, der z. B. im »Deutschen Merkur« über 
die Geschichte der Kartenspiele schrieb, in der von Goethe 
gestifteten Freitagsgesellschaft Vorträge über die neuesten 
Entdeckungen Nordamerikas, über die Entstehung des Ba- 
salts, über eine alte Urkunde, über preussische Gesetz- 
gebung, sowie über Durchstechung von Landengen hielt 
und insbesondere ernster mit der Münzkunde sich be- 
schäftigte, endlich ein Freund der Dichtkunst, der als 
solcher nicht nur gemüthliche Lebensverhältnisse, sowie 
geschichtliche Ereignisse feierte, sondern auch Masken- 
züge, die er selbst entworfen, mit zierlichen Versen unter- 
stützte. Seine Verwaltungsgrundsätze waren freisinnig ; 
heutige Demokraten werden vielleicht seine Ergebenheit 
für seinen Landesherrn nicht nach ihrem Geschmack fin- 
den. Sein Leben war sittenrein, sein Handeln von äusserster 
Gewissenhaftigkeit und reinem WolwoUen geleitet. 

' In seinem Hause erlitt Voigt manches Ungemach. 
Eine Tochter war blödsinnig, ein Sohn starb als Regie- 
rungsrath infolge des Schreckens, als er von den Franzosen 
wegen eines in Geheimschrift verfassten Briefs verhaftet 
und mit Erschiessen bedroht worden war; eine geliebte 



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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 363 

Gattin starb ihm ebenfalls; er verheirathete sich nachher 
mit deren Nichte.' 

Wann und wodurch er mit Goethe in nähere Berüh- 
rung kam, ist nicht ermittelt. Dass Voigt Goethe'n von 
Anfang seiner Laufbahn kannte, ist z^^eifellos, und manche 
an Spott streifende Bemerkungen in seinen Briefen an den 
Justizrath Hufeland in Jena deuten darauf, dass er jenen 
nicht fern stand, die durch allerhand Klatsch Goethe's 
Ruf zu bemäkeln suchten. Letzterer erkannte sehr bald 
Voigt's grossen Werth, und als die herzogliche Berg- 
werkscommission durch den Zurücktritt des Kammer- 
präsidenten V. Kalb und durch Beförderung des Geheimen 
Hofraths Eckardt allein noch aus Goethe bestand, erbat 
sich dieser in einem von ihm eigenhändig entworfenen 
Vortrag an den Herzog vom 29. August 1783 Voigt als 
Collegen. Von da an beginnt ein freundschaftliches Ver- 
hältniss zwischen beiden, dessen ungetrübte Dauer bis zu 
Voigt's Tode die vorliegenden Briefe bezeugen. 

Das Buch enthält mit wenigen Ausnahmen, in denen 
Stellen aus Voigt's Briefen an Goethe zur Erläuterung 
aufgenommen sind, nur Briefe des letzteren. Lebhafter 
wäre uns das gegenseitige Verhältniss allerdings vor Augen 
getreten, wenn der ganze Briefwechsel geboten worden 
wäre; nehmen wir indessen das Gegebene vom Stand- 
punkte der Goethefreunde dankbar an und gehen wir an 
der Hand der oben aufgestellten Grundsätze über das Ver- 
fahren bei Herausgabe von Briefen Goethe's zu einer Prü- 
fung des angezeigten Werkes über. 

Die Forderung der Vollständigkeit ist nicht erfüllt, 
und zwar, wie die Vorrede sagt, nicht aus Nachlässigkeit 
oder Bedenklichkeiten, sondern aus Grundsatz. Der Heraus- 
geber hat geglaubt, auch eine grosse Anzahl von Briefen 



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364 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

Goethe's ausscheiden zu müssen, weil sie, rein formal 
geschäftlicher Art, kein Interesse gehabt hätten, das nicht 
durch die mitgetheilten hinreichend befriedigt worden sei. 
So sind allein 31 Briefe und Briefbruchstücke von denen 
weggeblieben, die Vogel in »Goethe in amtÜchen Ver- 
hältnissen« hat abdrucken lassen. Es soll nicht geleugnet 
werden, dass dieses Verfahren von vielen Seiten gebilUgt 
werden wird, allein Schreiber dieses steht nicht bei den 
Zustimmenden. Das Buch giebt zu viel oder zu wenig. 
Hat Rücksicht auf den weiteren Leserkreis genommen 
werden sollen, welcher sich Goethe's Geisteserzeugnissen 
gegenüber rein geniessend verhält und der daher von 
Briefen nur mitgetheilt haben will, w^as unterhält, so ist 
die Zahl schon zu beträchtUch; aber wer in Goethe's 
Schriften forscht, um, zu dem Zwecke der ErmögUchung 
eines vollständigen Verständnisses seiner Werke, zunächst 
seine Lebensbeziehungen, die sich darin spiegeln, vollstän- 
dig festzustellen, wer bei solchen Arbeiten gefunden hat, 
w^elchen Werth oft das unbedeutendste Blättchen zur Er- 
klärung einer dunkeln Stelle hat, wie bisweilen von einem 
einzigen Wort ein ganzer Lichtstrom ausgeht, der wird 
gewiss die Zurückhaltung einer grossen Anzahl Goethe'scher 
Briefe und Briefchen beklagen. Hat doch Goethe durch 
seinen Vorgang selbst die Förderung der Vollständigkeit 
anerkannt, indem er bei Herausgabe seines Briefwechsels 
mit Schiller Zettelchen geringsten Belangs aufnahm und 
nur strich, was Lebende verletzen konnte. Wenn- man 
von manchen der schon gedruckten, die ausgelassen wor- 
den sind, auf die noch ungedruckten schUesst, wozu der 
Herausgeber Seite VII der Vorrede ausdrückUch ermäch- 
tigt, so muss man in der That annehmen, dass etwas 
stark gesiebt worden ist. So dürfte es z. B. selbst dem 



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Goethe's Briefwechsel uxd Briefe an v. Voigt. 365 



weiteren Leserkreis ergötzlich sein, aus nachstehendem 
weggebliebenen und überhaupt noch nicht gedruckten 
Briefchen, mit welchem Goethe um die Mitte der neun- 
ziger Jahre die seinerseits vollzogene Reinschrift eines 
Erlasses der Bergwerkscommission an Voigt sandte, zu 
ersehen, mit welcher Genauigkeit Goethe die CuriaHen 
überwachte : 

»Wegen der Courtoisie fällt mir ein Bedenken 
ein. Da wir mit Hochwohlgeboren zu thun haben, 
würden wir wol gehorsamste setzen müssen. Wollten 
wir als Bergwerkscommission uns nicht so unter- 
zeichnen , so könnte man oben statt uns setzen : 
Die Fürstl. Bergwerkscommission. Da wäre aber 
das Schreiben nochmals zu mundiren. Ich überlasse 
Ihnen die Dijudicata. Leben Sie recht wol. 

Goethe.« 

Goethe's Geschäftsschlauheit bezeugt gleichfalls auf 
spasshafte Weise die ebenso übergangene, aus derselben 
Zeit herrührende eigenhändige Zuschrift an Voigt: 

»Sie erhalten hierbei den Aufsatz zum Vortrage 
mit dem Anhange der Deliberanden. Bei den einen 
hab' ich das Contra, bei den andern das Pro weg- 
gelassen; beides werden uns die Herren*) wol four- 
niren. Vielleicht können Sie meinen Aufsatz bei der 
Präparation brauchen. Könnte ich ihn morgen bei 
Zeiten mit Ihren Notaminibus wieder erhalten, so 



*) Die conirolirendcn Deputirten der IlreenAuer Gewerkschaft. 



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366 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

würde ich ihn völlig ajustiren. Fiele Ihnen etwas 
auf, was nicht consiÜi zu sagen wäre, so bitte ich es 
zu bemerken. Leben Sie indessen recht wol. G.« 

Die kurze Bemerkung, mit denen die im »Morgen- 
blatt« von 1855 abgedruckten Briefe Goethe's an Voigt 
eingeleitet sind, deutet auch die Auslassung mancher Stellen 
an, und es wäre wol zu w^ünschen gewesen, dass der Be- 
sitzer jener Briefe — von dem ja freundliches Entgegen- 
kommen zu erwarten war — um Mittheilung des Weg- 
gebUebenen angegangen worden wäre, wobei übrigens 
noch von ganzen ungedruckten Briefen Goethe's an Voigt 
zu erfahren gewiesen wäre. Von fehlenden Stellen seien 
nur folgende erwähnt: S. 221 eine lange nach »portin 
sind« und eine kürzere im nächsten Absatz; S. 222 ist in 
Nr. 5 »nur« vor »etwas« und in Nr. 6 »eben« vor 
»wahres« ausgefallen; S. 233 flg. entbehren die Briefe 86, 
87 und 88 mehrerer Stücke; das »Noch«, mit welchem 
S. 226 ein Absatz beginnt, bezieht sich auf eine vorher- 
gehende Besprechung über den jungen Oteny; S. 276 Z. 2 
V. u. fehlt »noch« vor »verkümmert«. 

Aus jenen Morgenblattsbriefen ist aber auch einiges 
ungenau wiedergegeben, und w^nn dort der Setzer nicht 
richtig las, so büsst nun unser Buch die Nichterfüllung 
der Forderung des richtigen Lesens. So ist es S. 224 
gewiss, dass Brief 85 aus dem Monat Januar ist, nur die 
weggerissene Zahl (22) hat Riemer im Original mit Blei 
ergänzt; S. 276 Z. 4 ist anstatt »rein« zu lesen »einer«. 
S. 277 Z. 8 schrieb Goethe nach lässigem Sprachgebrauch 
»das« anstatt »der«; S. 277 muss es anstatt »Finnländer« 
heissen »Einländer«; die S. 277 und 284 gesperrt ge- 
druckten Worte hat Goethe weder eigenhändig geschrieben. 



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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 3^7 

noch im Briefe unterstrichen, waren also nicht zu durch- 
schiessen, wogegen S. 217 die Worte »Er ist sehr unter- 
richtet und ausgebildet« von Goethe selbst in den dictirten 
Brief nachgetragen sind, also mit gesperrter Schrift hätten 
gedruckt werden mögen. 

Die Pflicht der Erläuterung der Briefe hat Herr Pro- 
fessor Jahn mit grosser Sorgfalt und Sachkenntniss erfüllt; 
dass aber demungeachtet noch manches für »Scholiasten« 
zu thun übrig bleibe, erkennt derselbe unumwunden an, 
und so sei es erlaubt, hier mit noch ein paar Schollen 
aufzuwarten. 

Der S. 123 erwähnte Geschworene in Ilmenau hiess 
Johann Gottfried Schreiber; er war aus Marienberg 
und starb als Bergmeister zu Ilmenau. 

Der S. 135 genannte Güssefeld (Goethe schreibt 
stets Güssfeld), Franz Ludwig mit Vornamen, war Inge- 
nieur, mit dem Prädicat Kammersecretair in Weimar ange- 
stellt und bei dem Ilmenauer Bergbau schon in den ersten 
achtziger Jahren beschäftigt. Er hat viele Landkarten 
herausgegeben, die von vorzüglich sauberer Zeichnung 
sind. Goethe muss mit ihm auf ziemlich vertraulichem 
Fusse gestanden haben, da er ein paar Mal (12. Dec. 85 
und 15. Juni 86) durch ihn Briefe an Frau v. Stein be- 
sorgen Hess. Geboren 1744, starb er 1808. 

Der Hunnius, von welchem S. 138 die Rede, dürfte 
Anton H. sein, der 1791 als Schauspieler in Weimar an- 
gestellt wurde und auch als Bühnendichter sich bekannt 
machte; der Herausgeber deutet auch selbst mittelbar 
darauf hin. 

Steiner t, wie S. 151, schrieb Goethe gewöhnlich 
den Namen des Bauconducteur Karl Friedrich Christian 
Steiner. 



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368 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

Der » Einfahrer « , S. 165, hiess Johann Gottfried 
Schreiber, nicht zu verwechseb mit dem obigen ganz 
gleichnamigen Geschworenen und Bergmeister; auch er 
führte später das Prädicat Geschworener. 

Die Seite 167, 177, 179 und 183 im Jahre 1796 ver- 
handelte Frage wegen Einrichtung einer Bühne in Jena, 
um die Hofschauspieler dort auftreten zu lassen, schwebte 
noch mehrere Jahre, wie folgender Brief an die Frau 
Hofrath Schütz in Jena beweist: 

»Wenn man immer lieber eine gewährende als 
eine abschlägliche Antwort überbringt, so muss ich 
bedauern, dass ich mich gegenwärtig in dem letzten 
Falle befinde. 

Durchlaucht der Herzog haben sich zu sehr über- 
zeugt, dass eine theatralische Unterhaltung sich mit 
den akademischen Zwecken nicht vereinigen lasse, 
als dass Höchstdieselben eine Ausnahme zu machen 
geneigt sein könnten. 

Möchte ich doch bald eine andere Gelegenheit 
sehen, Ihr Vergnügen und Ihre Wünsche, verehne 
Frau Hofräthin, auf irgend eine Weise befördern zu 
können. 

Der ich mich zu geneigtem Andenken bestens 

empfehle. 

J. W. V. Goethe.« 

Jena, den 22. December 1800. 

Der kleine »Chirurgus«, S. 171, ist der schon S. 124 
gedachte Johann Gottlob Bernstein, der in den ersten 
Zeiten der Wiederaufnahme des Ilmenauer Bergbaues den 



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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 369 



in einen Schacht gestürzten und nicht unbedeutend be- 
schädigten Herzog Karl August in Abwesenheit aller anderen 
ärztlichen Hilfe zu verbinden und zu behandeln Gelegen- 
heit hatte, obwol er nur Feldscherergeselle war, und 
infolge des Gefallens, das der Fürst dabei an ihm fand, 
von demselben die Mittel zum Studiren und die Anstellung 
als herzoglicher Kammerdiener erhielt. Auf ihn bezieht 
sich nachstehende eigenhändige Registratur Goethe's: 

» Als Endesunterzeichneter dem Kammerdiener 
Bernstein zu erkennen gab, dass Serenissimus nicht 
abgeneigt seien, demselben mit Beibehaltung seines 
bisherigen Gehaltes den Aufenthalt künftig in Ilmenau 
zu verstatten, so bezeigte sich derselbe für die ihm 
hierdurch gegönnte Gnade untenh. dankbar, erklärte 
auch zugleich, dass er bei vorkommenden Fällen 
gerne denen beschädigten Bergleuten assistiren und 
die Bemühung der Curen unentgeltlich übernehmen 
wolle, bat auch um dessfallsige Bekanntmachung an 
das Bergbauamt. Welches zur Nachricht aufzeichnet 

Goethe.« 
Weimar, den 21. Oct. 1790. 

Hufeland Hess, wie es in Brief 45 an Voigt heisst, 
»diese "Ruthe sich aufbinden.« Denn der Bergchirurg 
Bernstein kam noch 1796 mit dem Prädicat Hofchirurg 
als Gehilfe an der medicinisch- chirurgischen Kranken- 
anstalt nach Jena; 1806 ging er ans klinische Institut 
nach Halle und kam 18 10 als Mitglied des Obermedicinal- 
collegiums und Professor nach Berlin. Er hat eine grosse 
Anzahl wundärztlicher Schriften verfasst. Geboren 1748, 
starb er 1835. 

24 



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370 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



Wenn der Herausgeber nicht sehr zuverlässige Unter- 
lagen für die Annahme hat, dass unter dem S. 183 ge- 
nannten Schreiber der geschickte Tischler in Jena zu 
verstehen sei, so -möchte doch wol zu behaupten sein, 
dass er den falschen Schreiber erwischt hat und es viel- 
mehr einer der beiden obgedachten Bergbeamten war, 
welcher die Zeichnung zu einer Maschine lieferte. 

Wenn hiernächst der Zweck der 3. Anmerkung S. 206 
offenbar ist, die Quellen über die Person des Grafen 
Purgstall nachzuweisen, so durfte nicht die Hauptschrift 
vergessen werden: »Denkmal auf das Grab der beiden 
letzten Grafen v. Purgstall. Gesetzt von ihrem Freunde 
J. V. Hammer. Gedruckt als Handschrift für Freunde. 
Wien 1821.« 

Die Verwünschung des »Puppenwesens« S. 237 gilt 
unzweifelhaft der »Prinzessin mit dem Schweinerüssel«, 
dem Puppenspiele, welches Falk von dem bekannten Ma- 
rionettenspieler Geisselbrecht in Weimar darstellen Hess, 
und welches den Zweck hatte, die Selbstüberschätzung 
der Schauspieler durchzuhecheln, dessen wiederholte Auf- 
führung aber Goethe auf Andringen der Schauspieler 
hintertrieb. 

Das »Circular« S. 255, welches Goethe an Knebel, 
Hendrich, Hegel, Frommann und andere Jenaer Freunde 
mit der Bitte, ihre Erlebnisse nach der Schlacht von Jena 
aufzuzeichnen, erlassen hatte, ist noch vorhanden. 

Die Bemerkung, dass mit der »heiligen und untheil- 
baren Dreieinigkeit« S. 314 die heilige Alliance gemeint 
sei, ist zwar vielleicht absichtlich als überflüssig w^egge- 
blieben, möchte aber doch manchem eine willkommene 
Erläuterung gewesen sein. 



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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v/Voigt. 371 

Die auf die Bürgermeisterin Bohl S. 315 in der An- 
merkung bezüglichen Citate können noch durch Verwei- 
sung auf die Nr. 607, 629 und 630 der zweiten Ausgabe 
des »Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe« ergänzt 
werden. 

Die »poetische Licenz« S. 329 wird auf das Wort 
»gebidmet« im Gedicht zu Frankenberg's Jubiläum zu be- 
ziehen sein.*) 

Die »ehrenhaften Beinamen« S. 370 sind die Titel 
»Geheimer Hofrath« für den Professor Johann Heinrich 
Voigt und »Hofrath« für dessen Sohn, den Professor 
Friedrich Sigismund Voigt. 

Der Briefschluss S. 377 war schon gedruckt in »Brie- 
fen von und an Goethe, herausg. v. Riemer« S. 114. 

Kühn, S. 380, war Rentbeamter. 

Doch »genug des grausamen Spiels« wird mancher 
Leser denken; daher seien die Scholiennachträge vorläufig 
abgeschlossen und nunmehr der weiteren Anforderung an 
Brieihcrausgeber, die Bestimmung der Adressaten betreffend, 
die Aufmerksamkeit zugewandt. Eine bezügliche Kritik 
war an zwei Briefen zu üben und zwar zunächst an einem 
in Gutzkow's »Unterhaltungen am häuslichen Herd« II, 
810, der bei nur einiger Kenntniss von der Briefetiquette 
der Zeit und den amtlichen Verhältnissen als an Voigt 
gerichtet nie erkannt werden konnte, daher auch aus 



*) Ad vocem » Kosegarten« S. 369 kann ich mich nicht enthalten einen kleinen Exctirs 
in jahn's Aufsau »Goethe und Kosegarten« in Nr. 2} der »Grenzboten« anzubringen und 
XU bemerken« dass Goethe sich schon 1817 oder doch t8i8 fär Kosegartcn's Uebersetzung 
des » Megha Duta « zu interessiren begann, worüber zu Tergleichen • G.'s Werke Ausg. letzt. 
Hand« )2, 128 und Brief von Frau v. Schiller an Knebel vom S.Juli 1818. Aach hätte in 
dem Aufsatze der gemeinsamen Thitigkeit Goethe*s and Kosegarten's bei der Bibliotheks- 
einrichtung (Vogel» » G. in amtl. Verhältn. « S. 82 a. 87) gedacht werden mögen. 

24* 



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372 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



unserer Sammlung mit Recht weggelassen worden ist, 
und sodann an dem in »Goethe's Leben von Schaefer« 
II, 326 (383 der 2. Aufl.) abgedruckten Briefe, der eben- 
falls und zwar, weil er nicht an Voigt gerichtet zu sein 
scheine, ausgeschieden worden ist. Nun kann er aber, 
wie sich bei Vergleichung des Inhalts mit den Vorgängen 
beim Stiftungsfest des Falkenordens ergiebt, lediglich für 
Voigt bestimmt gewesen sein, und muthmasslich ist der 
Sachverhalt der, dass der Brief bei Schäfer von Goethe 
geschrieben war, als er Voigt's bei der Feierlichkeit ge- 
sprochenen Prolog empfing, wodurch die in jenem Briefe 
enthaltene Bitte um Zusendung desselben überflüssig, und 
deshalb anstatt desselben der Brief 194 der Sammlung 
abgefertigt wurde. Dass nur dieser Aufnahme fdnd, kann 
daher vollständig gebilligt werden. 

Die fernerweite Forderung der Feststellung mangeln- 
der Daten herauszugebender Briefe trat, wie bei allen 
grösseren Briefwechseln Goethe's, in vielen Fällen an den 
Herausgeber heran. Es sei versucht, einige dabei unter- 
gelaufene Irrthümer herauszuheben und zwar zunächst 
hinsichtlich der Einreihung des 9. Briefs, der zwischen 
dem 30. September und dem 18. December 1789 geschrie- 
ben sein muss, indem an ersterem Tage die Steiger Süss 
und Schreiber in Ilmenau eintrafen, am letzten Tage aber 
der vorherige Bergsecretair Voigt als Bergrath dorthin 
abging; der Brief gehört also zwischen den 12. und ij. Brief. 
Der 14. Brief aber ist vom 15. October 1790, von welchem 
Tage das dort erwähnte P[ro] M[emoria] sowie die an- 
schliessende Verordnung ans Bergbauamt datirt sind; er 
gehört daher zwischen den 16. und 17. 

Brief 51 ist richtig eingestellt und hätte nur, da einmal 
die Jahreszahl 1796 in Klammern beigesetzt ist, bestimmter 



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GoETHE*s Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 373 

als am 11. oder 12. September geschrieben bezeichnet wer- 
den können, welche Tage durch Vergleichung mit dem 
50. und 52. Brief sowie dadurch sich ergeben, dass 1796 
der II. September auf Sonntag fiel. 

Brief 117 gehört bestimmt nicht ins Jahr 1806, jeden- 
falls nebst Br. 186 Ende März oder Anfang April 181 5. 

Der Herausgeber hat den von Döring in »Goethe's 
Briefen« für den Brief 179 angenommenen Tag — den 
24. Januar 181 5 — mit Vorbehalt wiederholt, und gewiss 
ist das dagegen gehegte Bedenken ganz begründet, sowie 
auch die Angabe Düntzer's in den »Freundesbildern aus 
Goethe's Leben« S. 575, dass der Brief im Februar jenes 
Jahres ergangen sei, nicht richtig sein kann. Denn wenn 
in dem fraglichen Briefe die Aufstellung des dem Bergrath 
Lenz mit Brief vom 27. Januar übersandten Bildnisses als 
etwas Geschehenes, der Geburtstag der Herzogin aber als 
etwas Bevorstehendes erwähnt wird, so muss der Brief 
zwischen dem 27. und 30. Januar verfasst sein. 

Soll endlich die Frage nach Erfüllung der letzten For- 
derung an Herausgeber Goethe'scher Briefe, die nach Her- 
stellung eines Registers beantwortet werden, so hat das 
zu geschehen durch ein — vacat. 

Ueberblicken wir das Verhältniss zwischen Goethe 
und Voigt, wie es aus den vorliegenden Briefen, sowie 
nach verschiedenen Äusserungen in Briefen Goethe's an 
den Herzog sich vor unseren Blicken entrollt, so kann es 
sehr passend dem zwischen Goethe und Schiller an die 
Seite gestellt werden; ebenso wie Schiller der einzige 
war, der Goethe'n den Ruhm, der erste Dichter Deutsch- 
lands zu sein, streitig machen konnte und in der Volks- 
gunst den Sieg davon trug, demungeachtet aber von 
Goethe nicht nur ohne Neid herangezogen wurde und 



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374 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

die hingehendste Freundschaft erwiedert erhielt, so machte 
auch Goethe seinen Fürsten früh auf Voigt, dessen vor- 
zügliche Eigenschaften er herausgefunden hatte, aufmerk- 
sam, freute sich jeder Gunstäusserung über denselben, 
dankte selbst für dessen Bevorzugung und benutzte jede 
Gelegenheit ihn zu heben, trotzdem er sehen musste, wie 
derselbe reichlicher mit Ehren bedacht wurde als er selbst, 
und wie der Einfluss, den sonst er selbst auf den Herzog 
übte, allmälig auf Voigt überging, so dass er sogar manch- 
mal ihn als Mittelsperson zwischen sich und dem Herzog 
anzurufen für gut fand. Auch Goethe selbst venraute 
unbeschränkt dem Urtheile des Freundes in den vielfachen 
Geschäftsangelegenheiten, in denen sie gemeinschaftlich 
zu handeln hatten und zwar nicht aus Sachunkenntniss 
oder Bequemlichkeit; denn in allen wichtigeren Fragen 
erönerte und erwog er selbst alle Umstände aufs gründ- 
lichste und arbeitete dann sein Votum bis zur Peinlichkeit 
sorgfältig aus; aber der Schluss ist demungeachtet ge- 
wöhnlich die Überlassung der Entscheidung an den be- 
wähnen Geschäftsmann. Dabei sind die in den Briefen 
vorkommenden Freundschaftsäusserungen so häufig und 
innig, wie Goethe sie fast nur noch gegen Schiller heraus- 
liess; nicht einmal die an Zelter stehen darin gleich. So 
schreibt Goethe z. B. am 28. August 1796: »So darf ich 
auf Ihre freundschaftlichen Äusserungen recht wol erwie- 
dern, dass ich Ihr Dasein mit dem meinigen so verbunden 
fühle, dass ich für mich nichts wünschen kann, ohne Sie 
mit einzuschliessen.w Fast das Gleiche, ebenfalls an seinem 
Geburtstage 1803, sowie an Voigt's Geburtstag, den 23. De- 
cember 181^. Am 30. November 1815 lautet der Brief- 
schluss: »Mit den Jahren immer zunehmend an Venrauen 
und Anhänglichkeit etc.« Am 16. Mai 1817 beginnt ein 



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Goethe's Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 375 

Brief: »Jede Zeile von Ew. Excellenz verehrten und lieben 
Hand erneuert immer eine längst empfundene Freude; 
möge sie mir bis ans Lebensende werden!« Am 5. Juni 
desselben Jahres: »Wünsche bleiben mir wenig zu thun, 
da mir mehr, als ich verdiente, geworden ist, aber ich 
habe die recht angelegentliche Hoffnung, dass wir, die 
wir auf dem Kahne des Lebens so lange zusammenfuhren 
und schwankten, auch in Charons Nachen unzertrennt 
hinüberziehen möchten ! « (Wie bedeutungsvoll ist hier 
das »unzertrennt!«) Erschütternd ist es, dass Voigt 
zwei Tage vor seinem Tode von Goethe brieflich Ab- 
schied nahm, worauf dieser, wenn auch vielleicht gegen 
eigene Überzeugung, mit dem Tröste günstiger Wendung 
der Krankheit antwortete. Voigt starb am nämlichen Mo- 
natstage w^ie 13 Jahre später Goethe: am 22. März. 

Der Inhalt der Briefe umfasst das gesammte Bereich 
der Landesverwaltung. Einen beträchtlichen Raum nehmen 
Briefe über den Ilmenauer Bergbau ein, dessen Missge- 
schicke, die ihn nach etwa zehnjährigem Betriebe im 
Wesentlichen schon seinem Ende zuführten, reichlichen 
Stoff zu gegenseitigem Einvernehmen boten; auch von 
lulien aus, von 1786 bis 1788, verständigte sich Goethe 
fortwährend mit Voigt über die Geschäfte der Bergwerks- 
commission. Wie in dieser waren später beide in der 
Oberaufsicht über die weimarischen wissenschaftlichen und 
Kunstanstalten, sowie über die Universität CoUegen, und 
auch hieraus entsprang ein unerschöpflicher Quell von 
Mittheilungen; insbesondere werden viele Personalange- 
legenheiten besprochen, die Goethe'n bei seiner theilneh- 
menden Gesinnung und bei seiner Fürsorge für tüchtige 
Menschen immer sehr am Herzen lagen. Ferner gelangen 
Steuer-, Militair-, Polizei-, Theater-, sowie Land-, Hoch- 



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376 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

und Wasserbau-Angelegenheiten in Behandlung; auch po- 
litische Zeitumstände werden öfters besprochen, wobei 
Goethe häufig seinen richtigen Blick bekundet. Dazwi- 
schen kommen allgemein wissenschaftliche und literarische, 
sowie endlich gesellige und rein persönliche Verhältnisse 
zur Sprache. Aber trotz des vorwiegend geschäftlichen 
Inhalts finden sich nicht nur manche Scherze, sondern 
auch manche Aussprüche von allgemeinerer Bedeutung, 
so dass man sich nur aus Rücksicht auf die ohnehin be- 
trächtliche Länge dieses Aufsatzes davon abhalten lassen 
kann, durch einige Auszüge aus den Briefen des Raums 
noch mehr in Anspruch zu nehmen. 



III. 



Otto Jahn hat den Briefen an Voigt einen werth- 
voUen Anhang beigefügt. 

Voran stehen einige Gedichte Voigt*s, deren Inhalt 
im Allgemeinen schon oben angedeutet wurde, und die 
mit ihren hübschen Gedanken und ihren Gemüthsergüssen 
das Bild des trefflichen Mannes dem Betrachtenden an- 
muthig ergänzen ; die darunter befindlichen Nachahmungen- 
HorazischerOden haben einen classisch-römischen Schwung. 
— Es sei erlaubt, noch zweier anderen gedruckten Ge- 
dichte Voigt*s zu gedenken: der lateinischen Ode »Auf 
Nelson's Sieg bei Abukir« nebst Uebersetzung im »Neuen 
deutschen Merkur vom Jahre 1798« III, 249 ff., und der 
»Lebensparallele « , womit er den Oberberghauptmann 
V. Trebra zu dessen letztem Gebunstage (derselbe starb 
im selben Jahre mit Voigt) begrüsste, in den »Freiberger 



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GoETHE*s Briefwechsel ukd Briefe an v. Voigt. 377 

gemeinnützigen Nachrichten für das k. s. Erzgebirge« 
1819, Nr. 29 — 31. 

Eine Ergänzung zu diesem I. Abschnitt des Anhangs 
bietet der III., welcher drei Übersetzungen des auch von 
Goethe übertragenen römischen Volksgesanges »Quelle 
piume, bianche e nere etc.« (»Moderömerinnen«) von 
Voigt bringt, ingleichen eine von Herder mit ein Paar 
Briefchen desselben an Voigt. 

Der zwischenliegende II. Abschnitt enthält die von 
Goethe aufgesetzten Statuten der 1791 von ihm gestif- 
teten, belehrende Unterhaltung bezweckenden Freitags- 
Gesellschaft, sow^ie Goethe's Niederschriften über die 
drei ersten Zusammenkünfte der MitgHeder, denen auch 
zwei Anreden Goethe's beigelegt sind, deren eine die 
Bedeutung geselligen Verkehrs für die Bildung zum Gegen- 
stande hat. 

Der IV. Abschnitt führt einige Schriftstücke, Schi Her* s 
Adelung betreffend, vor. Zuerst Voigt's Brief, mittels 
dessen er den Entwurf der Begründung des Gesuchs um 
Erhebung Schiller's in den Adelstand dem letztgenarmten 
mittheilte. Schiller hatte den Aufsatz mit ein paar Zu- 
sätzen versehen und ihn übrigens gutgeheissen ; nichts- 
destoweniger ging er in veränderter Gestalt durch Ver- 
mittelung des kaiserlichen Gesandten in BerHn, Grafen 
Stadion, nach Wien und wurde dann mit weiteren Ände- 
rungen in die Adelsurkunde aufgenommen. Diese ferneren 
amtlichen und halbamtlichen Schriften finden sich im 
»Schillerbuch von Wurzbach v. Tanneberg« Nr. 2401 — 2407. 
Jahn hat hiernächst noch die aus dem »Weimar-Albunv 
zur vierten Säcularfeier der Buchdruckerkunst« S. 161 und 
349 bekannten Briefe Schiller's an Voigt und Karl August's 
an Schiller über dieselbe Angelegenheit, sowie ein Ge- 



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378 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



dichtchen Voigt's an Schiller über die Adelsverleihung 
und einen Dankbrief Schiller's an den ersteren abdrucken 
lassen. 

Im V. Abschnitt haben Briefe der Professoren Fichte 
und Paulus in Jena gegen Studentenverbindungen Auf- 
nahme gefunden. 

Ein hervorragender Beitrag des Buchs zur Goethe- 
Literatur ist der VI. Abschnitt des Anhangs: Theater- 
Acten 1808. Er führt in einer grösseren Anzahl von 
Briefen Goethe's, Karl August's, Voigt's und Kirmse's, 
sowie einigen ausführlichen Ausarbeitungen Goethe's mit 
darauf bezüglichen EntSchliessungen des Herzogs bis in's 
Einzelne die bisher nur in der Hauptsache bekannten 
Zerwürfnisse vor, welche gegen Ende des Jahres 1808 
Goethe zu Niederlegung der Theaterdirection bewögen. 
Bekanntlich war der Herzog auf Andringen seiner Ge- 
liebten, der Schauspielerin Jagemann, gegen den Sänger 
Morhardt unter Übergehung der Theaterdirection wegen 
angeblicher Widerspenstigkeit mit grosser Strenge vor- 
gegangen, wodurch sich eben Goethe zu jenem Schritte 
veranlasst sah, obwol der Herzog die anbefohlenen Mass- 
regeln auf Vorstellung etwas gemildert hatte. Es thut 
weh, durch die hieraus entsprungenen Zerwürfnisse das 
schöne Bild, das man sich von dem freundschaftlichen 
Verhältnisse zwischen Goethe und seinem Fürsten vorzu- 
stellen gewohnt ist, getrübt zu sehen. Als 1817 Goethe 
aus der Theaterdirection schied, schickte ihm zw^ar der 
Herzog die Entlassung, ohne dass Goethe darum nach- 
gesucht hatte, bestimmt zu; es geschah aber doch immer 
unter Wahrung einer anständigen Form. Aber die hier 
veröffentlichten Schriftstücke rufen das drückende Gefühl 
hervor, dass das Verhältniss zwischen Goethe und dem 



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GoETHE*s Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 379 



Herzog doch eben sehen des letzteren nur ein geduldetes 
war, so lange Goethe als gefügiger Hofmann sich zeigte; 
hier aber, wo Goethe es seiner Ehre schuldig zu sein 
glaubte, eine Stelle nicht wieder anzutreten, in welcher 
er sich dem hinterrückigen Einfluss eines Untergebenen 
beugen sollte, hört der Herzog auf Freund zu sein und 
tritt rücksichtslos als Herr gegen den Diener auf; er weist 
es mit Stolz von sich, dass Goethe zu Verhandlungen, 
durch w^elche er sich Gewähr g<5gen ähnliche Eingriffe 
verschaffen will, die Hand zu bieten bereit ist. Goethe 
geht indessen glänzend aus den Wirren hervor; er be- 
zeichnet von vornherein die Bedingungen, unter denen er 
zu bleiben allein geneigt sei, von denen er aber kein 
haarbreit abgehen werde, und der Herzog, obgleich er 
ebenso entschieden und mit Ungestüm aufgetreten ist — 
gibt nach. Aber diese Nachgiebigkeit erzeugt keinen be- 
ruhigenden Eindruck : der Herzog gibt nicht nach in An- 
erkennung seines Unrechts oder gar aus Freundschaft für 
Goethe, sondern weil sich kein Nachfolger für Goethe 
findet, weil die Herzogin, Voigt, der Theatersecretair, 
Hofkammerrath Kirms und wahrscheinHch noch viele 
andere Personen bei dem Herzog zur Sühne redeten, und 
weil schon in ganz Deutschland, ja darüber hinaus die 
öffentlichen Blätter die Angelegenheit, und nicht zu Gunsten 
des Herzogs besprachen. Gegen den schmerzlichen Ein- 
druck dieses Vorgangs kann man sich nur einigermassen 
durch die Annahme schützen, dass es die Sinnlichkeit war, 
welche Karl August berauscht und seinem bessern Selbst 
vorübergehend untreu gemacht hatte. Goethe scheint aber 
von da ab sehr fühlbar gemacht zu haben, dass er Formen 
der Freundschaft dem gegenüber nicht mehr gebrauchen 
möge, der die Macht habe diese Formen zu verbieten, 



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380 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

und in dem der Machthaber nur zu schlafen, beim Er- 
wachen aber den Freund zu vergessen schien, wenigstens 
findet sich in dem Briefwechsel — in dem allerdings 
Goethe's Briefe um diese Zeit mehrere Jahre lang fehlen 
— erst nach dem Vorgange von 1808 die Anrede »Durch- 
laucht«, während vorher Goethe in seinen Briefen den 
Herzog immer nur kurzweg mit »Sie« anredete. 

Der VII. Abschnitt des Anhangs bringt Acten- 
stücke Karl August betreffend. A. Schriften über 
ein ganz ähnlich verlaufendes Zerwürfniss, wie das eben 
erzählte, mit dem damaligen Polizeipräsidenten Karl Wil- 
helm Freiherr von F ritsch; B. eine Eröffnung des Her- 
zogs wegen Bestrafung in Jena studirender Liv- und Kur- 
länder, die Ungebührlichkeiten begangen hatten; C. brief- 
liche Äusserung Karl August's wegen Unterbringung eines 
für seinen Stand nicht passenden Geistlichen; D. ein Brief 
desselben, worin er gegen Beamtenunschicklichkeiten derb 
loswettert. Aus allen diesen Erlassen leuchtet der ge- 
sunde und rechtschaffene Sinn des Herzogs deutlich her\or. 

Im VIII. Abschnitt endlich sind mehrere Briefe Goethe's 
an Karl August geboten, und zwar sieben aus dem Jahre 
1797, zwei von 1810 aus Karlsbad und einer von 181 5 
aus Wiesbaden. Unter den ersteren sind diejenigen be- 
griffen, welche Goethe auf seiner dritten Schweizerreise 
schrieb und dann in sein Buch über dieselbe verarbeitete. 
Als Scholien zu diesen Briefen Goethe's mögen die Be- 
merkungen dienen, dass die Gemahlin des Grafen Stanis- 
laus Potocky (S. 576), eine geborene Prinzess Lubomirska, 
eine sehr gebildete, geistreiche Frau war, sowie dass 
(S. 578) Prinz Anton, nachmaliger König von Sachsen, 
im Jahre 18 10 keine Tochter am Leben hatte. Man wird 
mit Antheil auch diese Briefe lesen, die eine der vielen 



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Goethe's Briefwechsel und Briefe am v. Voigt. 381 



Lücken im Briefwechsel Goethe's mit seinem Fürsten 
ausfüllen. 

Um nun noch einmal vom Ende zum Anfange zu- 
rückzukehren, seien dem Bildnisse Voigt's ein paar Worte 
gewidmet. Es ist nicht angegeben, von wem und wann 
das Urbild gemalt ist; doch dürfte es zwischen den Jahren 
1805 und 1816 entstanden sein. Es zeigt einen ehrwürdigen 
haarumwallten Greisenkopf von kräftigen, ernsten Zügen. 
Gedacht sei dabei auch jenes früheren Bildnisses, von 
welchem in dem von Goethe auf Grund von Meyer ge- 
gebener Unterlagen ausgearbeiteten Bericht über die 
»Weimarische Kunstausstellung v. J. 1803« *) nach Be- 
sprechung des Technischen gesagt wird : »Der Ausdruck 
ernsten Nachdenkens mag dem Bildniss eines geschäfte- 
führenden, thätigen Staatsmannes geziemen und motivirt 
also die etwas zu sehr in die Höhe gehende Richtung des 
Hauptes und des Blickes der Augen.« 

Zum Schluss sei die schöne Gabe des Herrn Pro- 
fessor Jahn allen warm empfohlen, welche dem goldenen 
Zeitalter unserer Literatur und Goethe'n insbesondere 
die ebenso verdiente, wie lohnende rege Aufmerksamkeit 
zuwenden. **) 



*) Vcrgl. Goetbe's Brief an Schiller vom 2. Deceniber 1803. 

**) Noch etwas nachträglich xa S. 1)4! Wenn dort Goethe «Hrn. Fr. v. Trebra« 
gnisscn Usst, so möchte dabei 'wol falsch gelesen sein; ich wem'gstens uei^ die Abkürzung 
» Fr." nach »Hm.« nicht za deuten, ohne letzteres aber wdrde ich lesen : Fr(eund) v. Trcbra. 
— Uebrigens war Trcbra damals Viccbcrghanptmann in Zcllerfeld. 



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382 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

IV. 
Nachtrag. 

Das über Goethe's Briefwechsel im Vorstehenden 
unter L, II. und III. 1868 Gesagte ist jetzt nach 1 1 Jahren 
durch folgendes zu berichtigen und zu ergänzen : 

Die unter I. im ersten Absatz angegebene Zahl von 
340 Personen, an welche Briefe Goethe's gedruckt vor- 
liegen, ist jetzt auf fast 600 gestiegen, die Zahl der ge- 
druckten Briefe aber von 3900 auf nahezu 8600. Der von 
mir damals veranschlagten Zahl von loooo Briefen Goethe's 
ist man also schon sehr nahe gerückt. 

Die im vierten Absatz gedachten 533 Briefe an Schiller 
dürften sich in der bevorstehenden, endlich vollständigen 
4. Ausgabe des Briefwechsels mit diesem auf etwa 540 
angewachsen ergeben. 

Die in den nächsten Absätzen aufgeführten stärksten 
Briefwechsel Goethe's lassen sich gegenwärtig vermehren 
durch die 

an Eichstädt mit 222 Briefen Goethe's von 1803 
bis 1830, 

an Soret mit 106 Briefen von 1823 bis 1832, 

an das Ehepaar von Willemer mit 88 Briefen von 
1808 bis 1832, 

an Freiherrn von Cotta mit 62 Briefen von 1797 
bis 1829, 

an Johanna Fahimer, nachmals verehelichte Schlosser, 
mit 50 Briefen von 1773 bis 1781, 

an Fritz Schlosser mit 49 Briefen von 1808 bis 1830, 
und 

an Frau von La Roche mit 45 Briefen von 1772 
bis 1789. 



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GoETHE*s Briefwechsel und Briefe an v. Voigt. 383 



Im zehnten Absatz ist der damals als ältester be- 
kannte Brief von 1765 angeführt; dermalen haben wir 
einen Brief vom 23. Mai 1764 an Ysenburg von Buri und 
überhaupt bis Ende August 1770 nunmehr 37 Briefe. 

An Briefwechseln oder doch zahlreicheren Goethe'schen 
Briefen an einzelne Adressaten sind in besondern Schriften 
seit 1868 erschienen mit beziehentlich an: Schelling 1869 
und 1870, Eichstädt 1872, Louise Seidler 1814, Johanna 
Fahimer 1875, Gebrüder von Humboldt und Freiherr von 
Cotta 1876, Soret, von Willemer (Herr und Frau) und Fritz 
Schlosser 1877, von Quandt und Rauch 1878, Frau von 
La Roche, Frau v. Arnim und Kayser 1879. 

Im zwanzigsten Absatz sind die Adressaten genannt, 
an welche Goethe beträchtlich mehr Briefe geschrieben 
hat, als vorliegen; von jenen Namen können wir jetzt 
Eichstädt, Gräfinnen von Egloffstein, die Brüder von Hum- 
boldt, Kayser, Mendelssohn-Bartholdy, Nees von Esen- 
beck, Tischbein und von Willemer streichen, dagegen 
wäre noch Sylvia von Ziegesar hinzuzufügen. 

Ebenso sind von den Personen des nächsten Absatzes 
mehrere in Wegfall zu bringen, nachdem an sie gerichtete 
Briefe Goethe's gedruckt worden sind, und zwar Blumen- 
bach, Cattaneo, Cuvier, von Einsiedel, Gräfin von Fritsch, 
Christiane von Goethe, Landgraf Christian von Hessen, 
Hüttner, Hundeshagen, Bibliothekar Langer, Fürst Metter- 
nich, Ernst Meyer, Neureuther, Saint-Hilaire, von Schelling, 
Friedrich Schlegel, Johanna Schlosser geb. Fahimer, Adele 
Schopenhauer, Corona Schröter Q), von Schütz, von 
Trebra, Unzelmann, Bergrath Voigt, Vulpius, Frau von 
Willemer. Wiederum können jetzt noch Personen ge- 
nannt werden, an welche geschriebene Briefe man be- 



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384 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



dauernd vermisst, namentlich Gräfin von Chassepot geb, 
von Knabenau, von Kügelgen, Baronin von Stael-Holstein. 

Zu dem IL Theil der Recension von 1868 ist nur 
noch zu bemerken, dass durch mehrere seitdem zerstreut 
gedruckte Briefe Goethe's an von Voigt, deren Gesammtzahl 
zur Zeit auf 290 anzugeben ist, ausser denen, deren An- 
fänge Diezel in $einen »Ungedruckten Briefen Goethe's« 
aufgenommen hat. 

Schliesslich seien künftige Herausgeber der Briefe 
Goethe's noch ausdrücklich vor dem Verfahren gewarnt, 
das Datum der Briefe beüebter Gleichmässigkeit halber stets 
an dieselbe Stelle — an die Spitze des Briefs oder aber nach 
dessen Schluss -- zu setzen. Da Goethe in späteren Zeiten 
Briefe oft mit Unterbrechungen schrieb, meistens aber sie 
demungeachtet nur einmal datirte, so ist es ein gewaltiger 
Unterschied, ob der Leser das vorhandene Datum auf den 
Anfang oder auf's Ende des Briefes zu beziehen hat. 
Manche Zweifel an der Richtigkeit der Datirung von 
Briefen haben ihren Grund in Unkenntniss über die unter- 
brochene Niederschrift oder in der Versetzung des Da- 
tums an eine andere Stelle als im Original. Es muss 
daher im Druck das Datum stets da stehen, wo es im 
Original steht. 



^^lJP^" 




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3- Elisabeth Goethe. 




oethe's Mutter hat das eigenthümliche Schicksal 
in der Literatur eine Rolle zu spielen, obwol 
sie lebend weder jemals in die Öffentlichkeit 
getreten ist, noch merkwürdige Begegnisse 
erfahren hat, noch bei ihrem Tode Schriften 
im literarischen Sinne hinterlassen, auch nicht wie eine 
Heilige mit ihrem Leichname Wunder gewirkt hat. Selbst 
dass sie in der Zeit des Freundschaftscultus lebte, der so 
manche Person über ihren Wenh erhob, erklärt ihre jetzige 
literarische Bevorzugung nicht und ebensowenig allein das 
Glück, Goethe's Mutter gewesen zu sein. Allerdings ist 
dies die erste Ursache, dass die Literatur sich ihrer be- 
mächtigt hat. Bei ihren Lebzeiten machten die Besuche 
der selbst berühmten Männer, die den noch in Frankfurt 
sich aufhaltenden Dichterjüngling kennen lernen und die 
später seiner Mutter die Verehrung bezeugen w^ollten, die 
sie für den grossen Mann hegten, die Räthin Goethe in 
den ansehnlichsten Kreisen Deutschlands bekannt und die 
bedeutendsten Persönlichkeiten, selbst mehrere Fürstlich- 
keiten, darunter ihr zeitweiliger Landesherr, der Gross- 

25 



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386 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



herzog Karl Theodor von Frankfurt, erwiesen ihr unge- 
wöhnliche Aufmerksamkeiten und sprachen eine tiefe 
Ehrfurcht für die seltene Frau aus. Sandte doch sogar 
der kaiserliche Botschafter beim päpstlichen Stuhle, Car- 
dinal Graf Herzan, einen zufällig erlangten Brief derselben 
an ihren damals in Rom weilenden Sohn nach Wien an 
den Fürsten Kaunitz! 

Diese Ehrenbezeigungen müssen Wunder nehmen. 
War die Mutter Goethe's doch weder von höherer w issen- 
schaftlicher, noch von feiner gesellschaftlicher Bildung, 
nicht einmal einen blendenden Geist besass sie — und 
dennoch haben wir vielseitige Zeugnisse, dass sie von 
überwältigender hinreissender Persönlichkeit war. Wenn 
ihr nun aber gebrach, was gewöhnlich eine solche aus- 
macht, so müssen ihre sonstigen Eigenschaften um so 
glänzender und gewichtiger gewesen sein. 

Diese finden wir nun in der Klarheit des unbestochenen 
Blicks, mit dem sie Personen und Verhältnisse, Natur und 
Weltlaut betrachtete, in der Sicherheit des scharfen Ver- 
standes, mit dem sie darüber urtheilte, in der besonnenen 
Thätigkeit, mit der sie alles sie Umgebende in's rechte 
Gleis zu bringen und in behaglich ruhigem Gange zu er- 
halten wusste, in dem heiteren Sinn, mit dem sie alle zu 
beleben und sich selbst gegen Widerwärtigkeiten zu wehren 
verstand, in der Gabe dichterisch schaffenden, die Zuhörer 
fesselnden Erzählens, in der gemüthvollen Hingebung an 
befreundete Personen — zu welchem allen endlich eine 
tiefinnerliche Gottesfurcht kam, die ihrem ganzen Wesen 
Würde und Weihe verlieh. 

Man erkennt sofort, dass diese Eigenschaften im 
Sohne wiedergeboren waren, in welchem sie, durch gross- 
artigste geistige Begabung und umfassendste Bildung ge- 



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Elisabeth Goethe. 387 



steigert, als das mütterliche Erbtheil erscheinen, das nur, 
namentlich in spätem Jahren, durch das väterliche einer 
ernsten Bedächtigkeit und Gemessenheit bedingt wurde. 

Wenn diese, die Bewunderung der Mitwelt hervor- 
rufende Persönlichkeit auch die Nachwelt lebhaft be- 
schäftigt, so veranlasste dies zunächst die Schilderung, die 
Goethe in »Dichtung und Wahrheit« von seiner Mutter 
gibt. Die Personen, welche er dort im Glänze seiner Dar- 
stellung vorführt, sind fast alle mehr und weniger geweihte 
Gestalten geworden, während viele derselben ausserdem 
längst vergessen wären; man erinnere sich nur Friederikens, 
Lilli's, Lenzens, Merck's u. A. 

Bald nach Goethe's Tod (1835) führte Frau v. Arnim, 
geb. Brentano, in »Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde« 
seine Mutter der deutschen Lesewelt in ihrer Weise vor 
Augen, wodurch zunächst Riemer bewogen wurde, in den 
»Mittheilungen über Goethe« (1841) die Keckheit darzu- 
legen, mit der jene Schriftstellerin Wahrheit und eigene 
Erfindung durcheinander gemischt und das Wesen von 
Goethe's Mutter wie von Goethe selbst schmählich ver- 
zerrt hatte. Konnte dieser Beweis auch nicht für alle 
Einzelheiten geführt werden, so sind doch die erwiesenen 
Fälschungen so masslos, dass man Bettinens Erzählungen 
sowol in der angeführten Schrift, als wo sonst sie von 
Goethe's Mutter berichtet, durchgängig misstrauen muss 
und nur sicher geht, wenn man ihre Nachrichten voll- 
ständig unbeachtet lässt. Zu was das ewige Wiederholen 
ihrer Geschichten mit den unvermeidlich anhängenden 
Widerlegungen ! 

Indessen hat Bettina wie gesagt das, wenn auch nur 

negative Verdienst, die Räthin Goethe in das deutsche 

Schriftthum eigentlich erst eingeführt zu haben. Sie regte 

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388 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



auch die erste umfänglichere Veröffentlichung von echten 
Briefen derselben an in »Reminiscenzen. Goethe's Mutter etc., 
herausgegeben von Dorow, 1842«, worauf dann die Cha- 
rakteristik »Goethe's Mutter« von Jacob im »Historischen 
Taschenbuch, herausgegeben von F. v. Raumer. Neue 
Folge. V. Jahrg. 1844« an 's Licht trat, ein Aufsatz, der 
freilich allen Werths entbehrt, weil er Bettinens Faseleien 
und Lügen auf Treu und Glauben wiedergiebt. Dieser 
Fehler ist vermieden in »Frauenbilder aus Goethe's Jugend- 
zeit von H. Düntzer«, deren fünftes ist: »Katharina Elisa- 
beth Goethe geborne Textor, Goethe's Mutter.« 

Diese merkwürdige Frau kennen zu lernen bietet ihr 
brieflicher Verkehr den werthvollsten Stoff dar, der denn 
auch vorzugsweise in den vorhandenen Lebensbildern der- 
selben verarbeitet ist. Robert Keil in Weimar verdient 
daher den aufrichtigen Dank nicht nur aller Goethefreunde, 
sondern aller, denen es Genuss gewährt, ungewöhnliche 
Personen in ihrem innersten Wesen zu ergründen, ja auch 
der nur Unterhaltung suchenden Leser, dass er in »Frau 
Rath — Briefwechsel von Katharina Elisabeth 
Goethe — Leipzig, Brockhaus 1871« es unternommen 
hat, nicht nur die in verschiedenen Schriften zerstreuten 
Briefe von ihr und an sie zusammenzustellen, sondern auch 
eine grössere Zahl ganz unbekannter oder nur zum Theil 
bekannter nach den Originalien abdrucken zu lassen. Diese 
letzteren sind meistens an die Frau Rath gerichtete von 
ihrem Sohne, von Wieland, von der Hofdame v. Göchhausen, 
von der Herzogin Amalie, vom Herzog Karl August u. a. 
Dieselben liefern durch den Einblick in die Weise, in der 
Personen verschiedenster Art mit ihr umgingen, ebenso 
wie viele Stellen aus Briefen dritter Personen unter sich, 
worin Mittheilungen über Goethe's Mutter vorkommen. 



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Elisabeth Goethe. 389 

einen kaum geringern Beitrag zur Kenntniss ihrer Persön- 
lichkeit, als ihre eignen Briefe. 

Ist es nicht z. B. ein schlagendes Anerkenntniss ihrer 
Bedeutung, wenn der Erbprinz von Mecklenburg-Strelitz 
am 20. August 1805 an sie schreibt: 

»Da ich weiss, dass Sie Ihrem alten Freunde Gerech- 
tigkeit widerfahren lassen, so würde es mir unmöglich 
sein Ihnen meine Freude Ihres lieben Briefes wegen mit 
den gewöhnlichen Schnirkeln vorzumalen. Ich sage Ihnen 
lieber, dass ich darin ganz meine alte Räthin erkannt 
habe, die Frau, von der es mich nie gewundert hat, dass 
sie uns Goethe gebar.« 

Oder wenn Kammerherr Friedrich v. Einsiedel am 
30. Juni 1778 in Brief an v. Knebel äussert: 

»Von Goethe's Mutter weiss ich nichts zu sagen ; sie 
ist über alle Beschreibung erhaben.« 

Oder wenn Wieland sie in Brief vom 30. Sept. 1777 
bittet, ihr Urtheil über eine belletristische Arbeit, die ihm 
Klinger für den »Teutschen Merkur« angetragen hat, ab- 
zugeben, bevor er sich über deren Annahme erklärt. 

In den Selbstschilderungen der Räthin Goethe er- 
kennen wir ihre gesellige Begabung unter anderen in Brief 
an den Consul Schönbom in Algier vom 24. Juli 1776: 

»Was wollen wir einander erzählen ! Vor Langerweile 
dürfen wir uns nicht fürchten. Ich besitze einen Schatz 
von Anekdoten, Geschichten u. s. w., dass ich mich an- 
heischig mache 8 Tage in einem fort zu plaudern und 
wenn Sie nun gar anfangen werden etc.« 

Desgleichen in Brief an ihren Sohn vom 6. Oct. 1807 : 

»Meine Gabe, die mir Gott gegeben hat, ist eine 
lebendige Darstellung aller Dinge, die in mein Wissen 
einschlagen. Grosses und Kleines, Wahrheit und Märchen 



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390 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



u. s. w. So wie ich in einen Zirkel komme, wird alles 
heiter und froh weil ich erzähle. Also erzählte ich den 
Professoren *) und sie gingen und gehen vergnügt weg. 
Das ist das ganze Kunststück. Doch noch eins gehört 
dazu: ich mache immer ein freundUch Gesicht, das ver- 
gnügt die Leute und kostet kein Geld — sagte der sei. 
Merck.« 

Wie hier gegenüber andern Leuten, so fand die Mutter 
Goethe auch für sich die rechte Lebenskunst. An ihren 
Sohn schreibt sie z. B. am i. Aug. 1796: 

»Doch vor der Zeit sich grämen oder gar verzagen 
war nie meine Sache. Auf Gott vertrauen, den gegen- 
wärtigen Augenblick nutzen, den Kopf nicht verlieren, 
sein eignes werthes Selbst vor Krankheit zu bewahren — 
da dieses alles mir von jeher wohlbekommen ist, so will 
ich dabei bleiben.« 

Desgleichen am 27. Oct. 1807: 

»Mir geht's wie dem Hund in der Fabel: abwehren 
kann ich's nicht, zerzausen kann ich mich nicht lassen — 
gerade wie der Hund: ich — esse mit. Das ist ver- 
dolmetscht: Ich freue mich des Lebens weil noch das 
Lämpchen glüht, suche keine Dornen, hasche die kleinen 
Freuden; sind die Thüren niedrig, so bücke ich mich; 
kann ich den Stein aus dem Wege thun, so thue ich's; 
ist er schwer, so gehe ich um ihn herum — und so finde 
ich alle Tage etwas, das mich freut ; und der Schlussstein : 
der Glaube an Gott! Der macht mein Herz froh und 
mein Angesicht fröhlich.« 

Heitere Laune spricht, wie hier, fost aus jeder Zeile 
der Briefe der Räthin; manche, wie namentlich die an 

•) Die 2ur Messe nach Frankfurt gekommen waren und Goethc's Mmtcr aufsuchten. 



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Elisabeth Goethe. 391 



Louise V. Göchhausen, sind beinahe ganz daraus ent- 
standen, auch zum Theil in Knüttelversen abgefasst. 

Man hat der Goethe diese Leichtlebigkeit wol ver- 
übelt und es namentlich sehr getadelt, dass sie am 
24. Sept. 1795 ihrem Sohne schrieb: 

»Ich bin fröhlich und gutes Muths, habe mir über 
den ganzen Krieg noch kein grau Haar wachsen lassen, 
schaue aus meinem Fenster, wie die Oesterreicher ihre 
Kranken auf Wagen fortbringen, sehe dem Getümmel zu, 
speise bei offenem Fenster zu Mittag, besorge meine kleine 
Winhschaft, lasse mir Abends im Schauspiel was daher 
tragiren und singe : »Freut euch des Lebens weil noch das 
Lämpchen glüht u. s. w.« 

Die Tadler dieser anscheinenden Herzlosigkeit sind 
aber Leute, die nur einzelne Züge aufzufassen, nicht aber 
eine Persönlichkeit aus dem Ganzen zu beurtheilen wissen. 
Um ihren Grundsatz, sich nicht unfruchtbarem Jammern 
zu ergeben, durchzuführen, bedurfte Frau Goethe einer 
entschiedenen Gegenwirkung, die sie nur in Belebung 
ihres heitern Gemüths finden konnte. Dass sie die Nieder- 
lage des Vaterlandes tief empfand, bezeugt eine brcfliche 
Äusserung des Erbprinzen von Mecklenburg-Strelitz an 
seine Schwester, die Fürstin von Thum und Taxis, vom 
30. Oct. 181 3: »Wie schade, dass die alte Goethe todt ist, 
dass sie die Wiedergeburt ihrer Stadt nicht erlebt, deren 
Fall ihr das Herz abgedrückt hat.« (»Zum 17. Oct. 1866 etc. 
Neustrelitz« S. 48.) Wäre dem Fürsten die Empfindung 
der Goethe nicht als eine sehr schmerzHche bekannt ge- 
worden, so würde er nicht nach Jahren — sie starb 1808 — 
noch daran gedacht und davon geschrieben haben. Ebenso 
wenig wie bei fremdem Leid erging sie sich bei eigenem 
in vergeblichen Klagen und blieb sich hierin gleich bis 



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392 Vermischtes zur Goethe-Forschun'g. 



auf's Sterbebette, von welchem aus sie noch selbst die 
Anordnungen für ihr Begräbniss traf. 

Keil eröffnet sein Buch mit einer Einleitung, in welcher 
er den urkundlichen Stoff zu einem hübschen Lebensbilde 
verarbeitet hat. Eine ausführliche Benutzung der Nach- 
richten, welche Maria BeUi im »Leben in Frankfurt a. M.« 
(Bd. III, S. 92 fg., und Bd. IX, S. 97) von der seltenen 
Frau giebt, wäre zu wünschen gewesen, da sie gerade 
tiefbezeichnende Züge enthalten. In der EHsabeth im »Götz 
von Berlichingen « , sowie in den Müttern Wilhelms und 
Hermanns in »W. Meisters Lehrjahren« und in »Hermann 
und Dorothea« findet Keil Goethe's Mutter dargestellt, 
was er durch Anführung der betreffenden Stellen dieser 
Dichtungen begründet. 

Ungleichheiten der Behandlung sind es, dass Keil 
einige Briefe über die Frau Rath nur in der Einleitung 
abdrucken Hess, während die meisten richtiger in der 
Briefsammlung selbst stehen. In letzterer wiederholt sich 
die ungleiche Behandlung, sofern manche Briefe der Räthin 
und solche an sie nur im Auszug wie Anmerkungen unterm 
Text aufgenommen sind. Die etwaige Ausrede, dass diese 
Briefe unbedeutenderen Inhalts seien, wird nicht durchaus 
Stich halten. 

Diese Ausstellung führt zu der weiteren, dass mehrere 
Briefe der Goethe gar nicht wiedergegeben sind. Das 
Werk forderte seiner ganzen Anlage nach die thunlichste 
Vollständigkeit, abgesehen davon, dass in der That manche 
weggelassene Briefe keineswegs bedeutungslos sind. Noch 
tadelnswerther möchte man andererseits die Aufnahme der 
Briefe nennen, die Bettina in ihrem schon angefühnen 
Buch die Mutter Goethe's geschrieben haben lässt. Keil 
selbst erklärt sie für durchweg unecht und drängt dem- 



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Elisabeth Goethe. 393 



ungeachtet mit ihnen auf der einen Seite den Lesern seiner 
Schrift ein entsteUtes Bild der Goethe auf, während er 
sich dadurch auf der andern Seite den Raum beengte, den 
er zu vollständigem Abdruck ihrer echten Briefe hätte 
benutzen sollen. 

Zu den Briefen, die Keil kannte und unterschlug, 
muss ihm aber überdies ein auch schwer wiegendes Re- 
gister der Briefe vorgehalten werden, die er gar nicht 
aufgefunden hat. Er behauptet sogar unwahr: es wären 
keine Briefe der Frau Rath aus der Zeit vor ihres Sohnes 
Übersiedlung nach Weimar erhalten. Es sind aber folgende 
Briefe von Keil offenbar gar nicht gekannt: v. 2. Aug. 1774 
an Lavater (»Zwölf Briefe v. Goethe's Eltern an Lavater etc.« 
S. 7); V. 28. Juni 1775 an Lavater (ibid. S. 9); v. 2. Febr. 1776 
an Hanns Buff (»Goethe und Werther etc.« S. 244 fg.); 
um Neujahr 1777 (?) an Lenz, Glückwunsch in Reimen 
(»Lenz u. seine Schriften von Dorer-Egloff« S. 178); 
an Crespel v. 10. Febr., 17. März u. 16. Apr. 1777 (»Abend- 
zeitung« 1837, S. 1122); V. 13. Juni 1777 an Lavater 
(»Zwölf Briefe etc.« S. 11); v. 23. dess. Mon. an dens. 
(ibid. S. 12 fg.); v. 2. Jan. 1778 an Seidel (»Die Grenz- 
boten — 1870« S. 112 fg.); V. 20. März 1778 an Lavater 
(»Zwölf Briefe etc.« S. 14 fg.); v. 26. Juni 1778 an dens. 
(ibid. S. 16); V. 7. Sept. 1778 an Seidel — vollständig 
(»Grenzb. 1870« S. 113 fg.); Ende 1778 an Wieland (?) 
über Lenzens Unterstützung (»Morgenblatt, 1855« S. 760); 
V. 23. Febr. 1779 an Lavater (»Zwölf Briefe etc.« S. 17 fg.); 
V. 12. März 1779 an Wieland (»Morgenblatt, 1855« S. 759); 
V. 3. April 1779 an Seidel (»Grenzb. 1870« S. 114 fg.); 
an Grossmann v. 22. Sept. 1779 (Briefstelle im »Verzeich- 
niss der Autographensammlung des Hrn. G. M. Clauss in 
Leipzig«); v. 5. Jan. 1781 an Lavater (»Zwölf Briefe etc.« 



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394 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



S. 19 fg.); V. 18. Juni 1783 an dens. (ibid. S. 23); v. 
18. Juni 1786 an dens. (ibid. S. 24); v. 23. Oct. 1788 an's 
Kestner'sche Ehepaar (»Goethe und Werther etc.« S. 274 fg.) j 
V. 23. Juni 1789 an Frau v. Knigge (»Aus einer alten 
Kiste etc.« S. 42 fg.); v. 13. Juni 1807 an Frau v. Arnim 
geb. Brentano — echter Brief (»Sammlung berühmter 
Autographen etc.« Nr. 248). Zum Überfluss könnte noch 
eine Stelle aus einem Ende Mai oder Anfang Juni 1793 an 
Schlosser's zweite Gattin geschriebenen Briefe, worin sie 
sich über das Aussehn ihres Sohnes äussert, angefühn 
werden. (»Aus F. H. Jacobi's Nachlass etc.« II, 161.) Da 
übrigens Keil auch die bekannten Briefe des Rath Goethe 
aufgenommen hat, so ist auf dessen zwei Zuschriften an 
Lavater in »Zwölf Briefe etc.« S. 7 fg. u. 10 noch zu 
verweisen. 

Die Goethe-Literatur im engern Sinne zieht keinen 
erheblichen Gewinn aus Keils Buch ; denn von den zehn 
darin abgedruckten Briefen Goethe's an seine Mutter sind 
sechs ihrem wesentlichen Inhalte nach schon von Riemer 
veröffentlicht (»Mittheilungen über Goethe etc.« II. Bd. 
S. 43, 51 fg., 95 fg., 130 fgg., 178 fg. und 332 fg.), aller- 
dings nicht nur unvollständig, sondern auch stellenweise 
in Riemer's leichtfertiger Weise geändert. Seltsam ist's, 
dass Keil nur bei dem letztgedachten Briefe den frühem 
Druck anführt. Neu bringt er die Briefe Goethe's Nr. 35, 
74, 126 und 138. Noch hätte allenfalls einer Stelle aus 
einem zwischen dem 14. und 20. October 1792 aus 
Luxemburg an seine Mutter geschriebenen Briefe ge- 
dacht werden können. (»J. G. Forster's Briefwechsel etc.« 

II, 324.) 

Möge Herr Keil recht bald in die Lage kommen, mit 
einer 2. Ausgabe der »Frau Rath« hervorzutreten und da- 



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Elisabeth Goethe. 395 



bei seine Unterlassungen wieder gutmachen.*) Diese neue 
Ausgabe kann dann mit folgendem, von Herrn Ober- 
bürgermeister Hofmeister in Neustadt a. d. O. in Ab- 
schrift gütig mitgetheilten Briefchen Goethe's an Sylvia 
V. Ziegesar, nachmals verehelichte Dr. Koethe abgeschlossen 
werden : 

Als mich, liebste Sylvie, der Eilbote aus Ihrem 
freundlichen Thale abrief, ahndete ich nicht, was mir 
bevorstehe. Der Tod meiner theuren Mutter hat den 
Eintritt nach Weimar mir sehr getrübt. Nur mit 
wenigen Worten empfehle ich mich heute Ihrem 
Andenken und wünsche, dass die beifolgenden 
schneidenden Instrumente nichts am Gewebe Ihrer 
Freundschaft lostrennen mögen. 

d. 21. Sptbr. 1808. G. 



*) Für die 2. Ausgabe noch ein Paar Winke. S. $5 möchte die Parcntcsc über 
Klinger — *im Nebengebäude des GoethehAuses geboren« >- als ein« wol irrige Annahme 
-wegbleiben. — S. 126 ist der »Antipope« Joh. Georg Schlosser, Verfasser des »Antipope. <• 
— S. »64 Q. 171 ist Melchior der plastische Künstler Joh. Pct. M. — S. 171 ist Devin du 
viUage das Singspiel von Rousseau. S. 289 ist »Azor« Anspielung aui liann^ntel's und 
Gritry's Oper Ziniire et Azor. — S. 34s muss • Wallacher« sutt »Mellechcr« stehn. 

Später veröffentlichte Stücke der Correspondenz der Frau Rath sind: Gocthe's Brief 
an dieselbe v. 6. Nov. 1776 (zugleich an Job. Fahlmcr etc. in »Briefe von Goethe *n 
J. Fahlncer,« S. 11$); desgl. v. 4. Nov. 1786 aus Rom »Goethe-Brief aus Friu Schlosser's 
Nachbss« S. 99 f.); Brief der Frau Rath an Henriette Schlosser v. 8. Jan. 1792 (»Briefe 
an J. Fahimer« S. 1)7 f.); Stammbuchblatt für Herr. Schi. v. 18. Mai i8or (ebenda S. 159). 




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4- Reimstudie. 




Ein reiner Rcini wird wol begehrt; 
Doch den Gedanken rein zu haben. 
Die edelste von allen Gaben, 
Dab ist mir alle Reime wertli! 

'ü sprach Goethe! Man solhe glauben, dass 
r j wenn in irgend einem Fach ein Ausspruch 
Goethe's zur Richtschnur zu nehmen sei, es 
in der Dichtkunst der Fall seih müsse. In- 
-'J dessen scheint man über den hier angeführten 
zu einer neuen Tagesordnung übergegangen zu sein. Die 
heutige Kritik ist in Verurtheilung unreiner Reime ziem- 
lich einstimmig und ein Recensent würde seine Pflicht 
für versäumt halten, wollte er, etwa weil er an einem 
Gedicht alles nur zu loben fand, einen unreinen Reim 
streng zu rügen unterlassen. Man ist wol boshaft genug 
gewesen zu sagen: Goethe sei von schlechten Reimern 
zum Dichterfürsten ausgerufen worden, damit sie sich auf 
thn, als den Vollmachtgeber für schlechte Reime berufen 
könnten. Seine demokratische Regierung sei aber ge- 
stürzt: Platen sei der Minister der Contrerevolution, der 
so schlaflFe Gesetze nicht mehr contrasignire. 



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REL\fsTuriE. 397 



Und ist die Forderung reiner Reime nicht ganz lo- 
gisch? Reim ist der Gleich klang der Auslaute, das giebt 
Jedermann zu; ist aber Gleich klang vorhanden, wenn 
die Verse nur ähnlich auslauten? Gewiss nicht! Also 
mit den Waffen der Logik sind die unreinHchen Reimer 
allemal aus dem Felde zu schlagen; eine andere Frage ist 
nur: ob Logik überall den Ausschlag geben soll? Dass 
die Allgeltung der Logik zu den überwundenen Stand- 
punkten gehört, darüber ist die vorgeschrittene Mensch- 
heit wol ziemlich einig; die herrschenden Ansichten über 
Politik, Recht und Moral beweisen das. Man muss aber 
auch einräumen, dass durch Logik im Bereiche der Kunst 
sich seltsame Erscheinungen rechtfertigen lassen. 

Es gab Malerschulen, die bei ihren Schöpfungen von 
einer ganz wissenschaftlichen Ansicht ausgingen, indem 
sie sagten : die Malerei ist eine Kunst für das Auge, 
folglich muss das Auge an sich schon durch die Farben- 
erscheinung des Bildes befriedigt werden. Dies geschieht 
aber vollständig nur, indem ihm die Gesammtheit aller 
Farben vorgeführt wird, welche zu der im Lichte zur 
Erscheinung kommenden vollen und reinen Harmonie ge- 
hören, nämlich die Farben des Regenbogens. Diese müsse 
folglich jedes Bild erhalten. Nur die Freiheit der Be- 
handlung sei gestattet, dass bald mit der, bald mit jener 
Farbe der Anfang an dem einen Rande des Bildes ge- 
macht werde, worauf dann aber sämmtliche übrige Regen- 
bogenfarben der naturgemässen Reihe nach bis zum andern 
Rajide des Gemäldes auf einander folgen müssten. Gewiss 
höchst logisch! aber wem grauste nicht das Haar bei 
solcher Kunsttheorie? 

Ferner: So lange man nur mit Waffen der Logik 
kämpft, wird man wol die drei Einheiten des Dramas 



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398 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



anerkennen müssen, und doch sind diese heutzutage so 
verschrieen, dass man es schon als Zopf bezeichnet, nur 
noch darüber zu reden. 

Um also geläuterte Kunstansichten durch Logik be- 
gründen zu können, muss eine Logik construin werden, 
die sich zu der gemeinen Logik verhält, wie die 
Differential- und Integralrechnung — die Analysis des 
Unendlichen — zu den vier Species. Eine solche höhere, 
zugleich aber streng gebundne Logik haben weder Hegel 
noch spätere Ästhetiker angewandt; sie setzen immer mehr 
voraus und schreiten willkürlicher vorwärts, als die fest- 
stehenden Formeln irgend einer Logik zulassen. Sie be- 
weisen mehr in Hinblick auf das Ziel, das sie vor Augen 
haben, als durch Vordersätze gezwungen; mehr gezogen, 
als gedrängt; mehr was sie wollen, als was sie müssen. 

Bis nun ein Newton oder Leibnitz die Logik des 
Unendlichen geschaffen hat, sei es versucht, der Frage 
über die Beschaffenheit des Reims, hier insbesondere dem 
Gesetz des Reimlauts in der deutschen Dichtung durch 
Analogien und Zweckmässigkeitsgründe beizukommen — 
allerdings ein sehr entgegengesetzter, fast unwürdig er- 
scheinender Weg, der jedoch auch nicht ohne alle Be- 
rechtigung ist, zumal gemeine Logik dabei ebenfalls zur 
Geltung kommt. 

Kann man sich in Fragen der Kunst auf das Beispiel 
der Griechen berufen, so ist schon viel gewonnen. Waren 
sie doch dasjenige \^olk, durch welches der höchste Be- 
griff der Kunst erst zur Weh gebracht worden ist. 
Betrachten wir nun ihre Metrik, so finden wir, dass sie 
nirgends unter ein starres, ungelenkes Gesetz gebeugt 
wurde: die Füglichkeit, zwei kurze Sylben durch eine 
lange zu ersetzen, sogar lange und kurze — im Trimeter 



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Reimstudie. 399 



sowie am Ende der Verszeilen — zu vertausclien , giebt 
den Versen der Griechen eine Freiheit und Beweglichkeit, 
die weder dem Homer noch seinen Vorgängern und 
Nachfolgern durchgelassen worden wäre, wenn ein deut- 
scher Ästhetiker von der stricten Observanz darüber zu 
entscheiden gehabt hätte. Und verkennen lässt sich nicht, 
dass diese Freiheiten mathematisch, also logisch genom- 
men mit dem Princip der griechischen Metrik nicht ver- 
einbar ist. Soll einmal die Zeitdauer der Sylben das 
Entscheidende sein, so wird nicht zu behaupten und 
durch Chronometer nachzuweisen sein, dass zwei kurze 
Sylben im Sprechen genau nur ebenso lang seien, als 
eine lange. Aber wie gesagt: Homer, Alkäos und Äschylos 
schlagen der Logik ein Schnippchen und dichten um so 
schönere Verse. 

Neben jenen Freiheiten in der Metrik nahmen sich 
aber die Griechen auch, obschon seltner ,' sprachliche 
heraus, wie die Systole, Diastole, Synäresis und Diäresis. 
Diese Freiheiten in der Betonung und Aussprache sind 
sogar von grösster Bedeutung — um dies hier einzu- 
schalten — in der so reichen serbischen Dichtung, indem 
dort die Worte ohne Rücksicht auf den gewöhnlichen 
Sprachgebrauch so betont werden, wie es das Versmass 
fordert. 

Besondres Gewicht soll nicht auf die nachgiebige 
Handhabung der metrischen Gesetze bei den Römern 
gelegt werden; denn obwol dieselben durch ihre Rechts- 
wissenschaft für strenge Logik geschult waren und inso- 
fern ihr Beispiel der Milde dem Zaghaften von Werth 
sein könnte, so war doch andrerseits ihre Metrik der 
classischen Zeit keine selbständige, sondern eine lediglich 
der griechischen nachgebildete. 



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400 Vermischtes zur Goethe-Fo.^schung. 



Ähnliche Freiheiten indessen wie im griechischen und 
römischen Trimeter weisen die Verse der Sanskritliteratur 
auf. Um die Bedeutung dieses Vorgangs zu würdigen, 
vergegenwärtige man sich, dass die Poetik der alten In- 
dier die ausgebildetste der ganzen Welt war und ist. Die 
Versmasse allein, die sie lehrt, zerfallen in acht Haupt- 
classen, je nachdem die Verse nur durch die Quantität, 
oder durch die Füsse, oder durch die Sylbenzahl oder 
durch mehreres gemischt bestimmt werden. Daneben sind 
aber noch die einzelnen Versmasse aufs Sorgföltigse ge- 
regelt, so dass es über 600 eigens benannte giebt. Darunter 
befinden sich überdies viele, bezüglich deren nur das 
Grundgesetz gegeben ist, innerhalb dessen sodann viele 
Gestaltungen der Verse möglich sind. So lässt z. B. das 
Versmass Utkriti aus der nach den Füssen und der Sylben- 
zahl geregelten Classe Varn'avritta mehrere Millionen Va- 
riationen zu. Nicht minder ausgebildet ist diese Poetik 
iiinsichtlich der Alliteration im weiteren Sinne, d. h. so- 
wol nach End- als nach Anfangs- beziehentlich Stabreimen, 
wobei wiederum 9 Hauptclassen mit zahllosen Unterarten 
aufgeführt werden. Endlich hat die Sanskritliteratur noch 
eine dritte Gattung der Versbildung, die sich auf die An- 
ordnung der Verse bezieht und allzuverwickelt ist, um 
hier näher beschrieben zu werden; sie führt auch den 
Namen Dushkara, d. h. »schwer zu machen.« 

Aber trotz dieses bis ins Kleinste durchgebildeten 
Ausbaues der indischen Verskunst ist auch nach ihr der 
Ersatz zweier kurzen Sylben durch eine lange und um- 
gekehrt, sowie die Willkür hinsichtlich der Versschluss- 
sylben nachgelassen. Ja, noch weiter geht die Freigebung 
des Masses der Sylben in dem vorzugsweise s'16ka ge- 
nannten epischen Vers. Derselbe besteht aus zwei gleichen 



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Reimstüdie. 401 



Hälften — ard'has'löka — und deren jede wieder aus zwei 
Füssen — pada — jedes pada wieder aus vier Sylben. 
Nun ist aber die Quantität jedes ersten pada in jeder 
Vershälfte völlig willkürlich und nur das zweite und vierte 
pada jedes Verses der Quantität nach bestimmt, aber 
immer wieder mit dem Nachbss, dass die Schlusssylbe 
kurz oder lang sein kann. Es sind demnach von den 
16 Sylben des Verses nur 6 unabänderlich ihrer Quanti- 
täten noch vorgeschrieben, 10 aber willkürlich, und den- 
noch verlien der Hörer eines in s'16ka's gefassten Gedichts 
nie das Bewusstsein des geregelten Verses. 

Fast dieselben Erscheinungen in Bezug auf freie Be- 
handlung des Versmasses wiederholen sich in der gleich- 
falls sehr wissenschaftlich bearbeiteten arabischen Metrik, 
auf die jedoch nicht näher einzugehen sein wird. Indessen 
führen die Araber uns zum Reim zurück. Die arabische 
Dichtung, die Kunstdichtung wenigstens, ist die katexogen 
reimende; nicht nur, dass die Araber ein Gedicht ohne 
Reim ebensowenig kennen, wie die Franzosen, so bringen 
sie auch jeden Reim gleich massenweis an, indem durch 
ein ganzes Gedicht hindurch immer derselbe Reim geht 
und zwar so, dass die beiden ersten Verszeilen reimen, 
dann aber immer nur die zweite Zeile jedes Verspaars, 
w^ährend die erste weiterhin reimlos bleibt. 

Diese Reimfülle zum stehenden Gesetz zu machen, 
war allerdings kühn und es gehörte dazu die ganze Liebe, 
die namentÜch der nomadische Araber, der auch die 
Sprache am reinsten bewahrte, zu seiner Sprache im 
Herzen trägt und der tiefe Eindruck, den schöner sprach- 
licher Ausdruck auf ihn hervorbringt. Fragt man, wie es 
durchzuführen war, dem Kassida, das bis zu sechzig und 
mehr Verspaare hat, nur Einen Reim zu gestatten, so 



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402 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



fällt zunächst in die Augen, dass den semitischen Sprachen 
eine grössere Zahl von Reimworten dadurch zu Gebote 
steht, dass sie keine eigentlich doppelten oder gar mehr- 
fachen Mitlauter haben, während alle abendlandischen 
Sprachen damit gesegnet sind. Der Hauptumstand aber, 
der den Arabern die Üppigkeit im Reimen gestattet, ist 
das Nebelnde, Gestaltenlose ihrer Dichtung. In ihren 
epischen Gedichten darf man nicht die Plastik, das leben- 
dig Veranschaulichende suchen, wie es uns, ganz abge- 
sehen vom griechischen Epos, die englische Ballade, die 
spanische Romanze, die skandinavische Weise, der ser- 
bische Gesang vorführen. Das Thatsächliche tritt in den 
arabischen Heldenliedern so entschieden hinter den Bilder- 
reichthum des Dichters zurück, dass die älteren der- 
gleichen Dichtungen, um sie verständlich zu machen, von 
reichlichen Commentarien begleitet zu sein pflegen, die 
übrigens, komisch genug, uns folgerichtiger denkenden 
Abendländern sich sehr oft als gar nicht zu dem commen- 
tirten Gedicht passend erweisen, wodurch aber erst recht 
deutlich wird, wie fem der Ausdruck von Klarheit ist. 
Das einzelne Verspaar ist eben wenig von dem Vorgang, 
welcher der Gegenstand des Gedichts ist, abhängig, und 
es ist vielmehr der Reim, der das Bild oder die Betrach- 
tung bestimmt, w^elche der Dichter an den besungenen 
Vorgang knüpft. Es ist dies eine ähnliche Methode, wie 
sie Improvisatoren beobachten, denen ja auch vor allem 
daran gelegen ist, schnell einen Reim zu finden, den sie 
anbringen können, und die daher mehr darauf bedacht 
sind, einen Sinn zu dem Reim, als einen Reim zum Sinne 
zu suchen. In der That sind auch selbst die berühm- 
teren arabischen Heldendichtungen häufig aus dem Steg- 
reif gedichtet. 



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Reimstudie. 403 



Dasselbe was von der arabischen Dichtung gilt auch 
von denjenigen andern westasiatischen Dichtungen, die 
sich nach der arabischen gebildet haben und unter denen 
namentlich die persische durch gottbegnadete Sänger eine 
hohe Stufe erreicht hat. Das persische Gasel hat dieselbe 
Form, welche vorhin vom Kassida angegeben wurde; 
seinem Inhalt nach ist es aber lyrisch, und in der Lyrik 
tritt noch deutlicher hervor, dass das Dichten in der 
Form des Gaseis eine Aufgabe ist wie das Ausfüllen von 
bouts rim^s. Es wird in solchem Gedicht ein Gedanke 
durch die verschiedensten Bilder hindurchgehetzt: die 
Pointe ist allemal der gegebene Reim. Im persischen 
Gasel kommt noch die Eigenthümlichkeit hinzu, dass 
häufig sich mit dem Reim der Refrain verbindet, der- 
gestalt, dass hinter dem Reimwort noch einige Worte 
folgen und zwar durch das ganze Gedicht jedesmal die- 
selben. Damit geht aber das Gedicht fast ganz im Reim 
auf. Ein Beispiel ist folgendes Gasel des Mewlana Dsche- 
laleddin in Rückert's Übersetzung: 

O Wandrer auf den Wegen! was weisst du? 
Von Deinen Weg' und Stegen was weisst du? 
Wo standst du auf am Morgen, wo Abends 
Wirst du dich niederlegen? was weisst du? 
Des Himmels Lüfte bringen dir Grüsse, 
Allein sie auszulegen, was weisst du? 
O Ros', am Zaun der Wildniss verblühend, 
Von Gartenlustgehegen was weisst du? 
O Bild ! vom Fleiss des Malers, o Münze ! 
Von deines Bildners Prägen was weisst du? 
Brieftaube, die du fliegest wohin nur? 
Von deines Briefs Aufträgen was weisst du? 

26* 



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404 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



Ich seh's an deinen Schanen, du kämpftest! 

Von deinem Kampf, o Degen! was weisst du? 

Der Regen kommt zu statten dem grünen: 

O dürrer Baum! vom Regen was weisst du? 

Der Segen wird der Bitte gewähret: 

Nie Bittender! vom Segen was weisst du? 

Entgegen strebt von oben die Leitung: 

Was sträubst du dich entgegen? was weisst du? 

Du fühlst um deinem Nacken die Schlinge: 

Sie dir zurechtzulegen was weisst du? 

Wie das Geschick zu zügeln weiss den Raschen, 

Zu spornen weiss den Trägen was weisst du? 

O Pflegling unsrer Liebe! wir wissen 

Wie wir dich sollen pflegen; was weisst du? 

Diese arabischen und persischen Gedichte und die 
noch künstlicheren, aber auch geistloseren türkischen 
machen es, wenn auch durch Extreme, recht deutlich, 
dass Anforderungen an den Reim immer in Wechsel- 
wirkung mit der Bedeutung des Inhalts stehen und die 
Erweiterung der ersteren den letzteren beschränken. 

Soll ich noch über einen ähnlichen Übermuth im 
Reimen bei den Dichtem in der Sprache von oc, den 
Schöpfern zahlreicher Gedicht-Formen mich verbreiten? 
Es würde das doch wol zu weit vom Ziele abführen und 
ich unterlasse es umsomehr, als ich von den neuern ro- 
manischen Sprachen ausführlicher zu reden genöthigt bin. 
Denn sie sind es ja, welche uns als Vorbilder bei der 
Entwickelung unserer neuern Dichtung gedient haben, wie 
einst die Trouvires unsern Minnesängern. 

Rechtfenigen nun oder fordern etwa sogar diese Vor- 
bilder die Strenge in der. Reimbildung, die man neuerdings 



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Reimstudie. 405 



im Gegensatz zu ihren grössten Dichtern den Deutschen 
zum Gesetz machen will? 

Wenden wir uns zunächst zu den Italienern und be- 
trachten wir vorerst das Verhältniss, in welchem die 
deutschen und die italienischen reimenden Dichter zu 
ihren Sprachen stehen, also die Frage, ob beide gleich 
grosse Reimgebiete beherrschen. Selbstverständlich soll 
diese Frage hier nicht gründlich untersucht werden, weil 
damit allein ein dickes Buch zu füllen wäre; hier kann 
nur auf die schon bei flüchtigem Überblick sich darbie- 
tenden Umstände aufmerksam gemacht werden. 

Zunächst vergegenwärtige man sich, dass der durch- 
schnittliche Umfang des Gebiets für jeden einzelnen Reim 
im umgekehrten Verhältniss zu der Zahl der gesammten 
Reimklänge steht, d. h. je mehr verschiedenartige Reime 
eine Sprache zu bilden vermag, um so enger sind die 
Kreise, innerhalb deren Reime zu einem gegebenen Worte 
gesucht w^erden können. Es ist daher zunächst zu er- 
mitteln, welche der beiden Sprachen das grösste Reim- 
material besitzt. 

Vergleichen wir zunächst die Selbstlauter beider 
Sprachen, so ergiebt sich, dass die Zahl der einfachen 
gleich ist; auch haben in beiden o und e zweierlei — 
einen offenen und einen geschlossenen — Laut. Dagegen 
besitzt die deutsche Sprache, je nachdem man mehr oder 
minder streng rechnet, sechs bis acht verschiedene Um- 
und Doppellauter (ä, ö, ü, ai, au, äu, ei und eu), während 
die italienische Sprache zwar allerdings Diphthonge und 
sogar Triphthonge hat, durch welche aber der italienische 
Dichter sich das Reimen nicht erschweren lässt. Denn 
obwol suono wegen des Diphthongs uo nur ein zwei- 
sylbiges Wort ist, und miei wegen des Triphthongs iei 



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406 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

eigentlich sogar nur ein einsylbiges, so reimen doch ihre 
besten Dichter ohne alles Bedenken suono mit sono, miei 
mit costei (z. B. Petrarca im i. beziehentlich im 153. So- 
nett). Dadurch werden offenbar suono und ebenso das 
eigentlich zweisylbige costei in dreisylbige klänge, in- 
gleichen miei in einen zweisylbigen aufgelöst; nichts- 
destoweniger aber zählen die ersteren beiden in den 
betreffenden Versen nur für zwei Sylben, also so, ak ob 
die Mehrlauter nicht aufgelöst wären. Sind nun deranige 
Reime auch nicht unreine Reime im deutschen Sinne, — 
die überhaupt im italienischen bei Selbstlautern gar nicht 
möglich sind — so sind sie doch ein unbestreitbares 
Äquivalent für dieselben, das theoretisch genommen an 
Incorrectheit den deutschen unreinen Reimen nicht nach- 
steht. Es ist im Grunde nicht anders, als wenn w^ir 
Grausen und Busen reimen wölken. Lässt man aber 
dem Italiener derartige Reime seiner Poetik zufolge nach, 
dem Deutschen aber nach rigoristischem Gebote nicht, so 
vertheilen sich die deutschen Reime auf mehr als noch 
einmal so viel Selbstlauter als die italienischen, und ist 
in dieser Beziehung allein das Reimen im Deutschen 
doppelt so schwer als im Italienischen. 

Die Zahl der Mitlauter können wir in beiden Sprachen 
ungefähr gleich gross rechnen ; beide Sprachen haben der- 
gleichen, die der andern fehlen, und auch die Zahl der 
Zusammenstellungen mehrerer Mitlauter kommt in beiden 
ziemlich auf dasselbe hinaus. 

Aber jener Vortheil der italienischen Dichtung in 
Bezug auf die reimenden Laute verschwindet ganz gegen- 
über dem Ungeheuern Vortheil, den die Italiener durch 
die Unzahl von Reimen in den Flexionen ihrer Sprache 
finden. Im Deutschen bildet keine einzige Flexion der 



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Reimstudie. 407 



Haupt-, Bei- und Zeitwörter einen Reim für sich allein, 
im Deutschen verringern im Gegentlieil die Flexionen des 
Genitivs meistens und zum Theil die des Dativs die 
Reimbarkeit, während im Italienischen in den Haupt- und 
Beiwörtern sich nur der Plural vom Singular unterscheidet, 
diese Reimbeschränkung demnach wegfällt, und Worte, 
die im Nominativ reimen, in allen Fällen der Abwandlung 
der Einheit beziehentlich der Mehrheit — hier wenigstens 
meistens — ebenfalls reimen. Beim Zeitwort aber sind 
im ItaHenischen alle Flexionen mit Ausnahme derer des 
Präsens im Singular Reime für sich. Welcher Reichthum 
von Reimen fliesst aus dieser einen Quelle! Es sind das 
allein 39 Reimendungen, die alle Zeitwörter derselben 
Conjugation unter sich gemein haben, nicht zu gedenken, 
dass auf die Mehrzahl dieser Endungen noch unzählige 
andre Worte reimen, so dass ohne Schwierigkeit in jeder 
beliebigen Strophe sich einige hierher gehörige Reime an- 
bringen lassen. 

Ausser den grammatikalischen Flexionen geht aber 
dem Italiener noch eine Menge andrer Wortendungen zu 
gute, die dem Deutschen wenigstens grösstentheils für 
den Reim verloren sind, nämlich die Ableitungssylben wie 
ino, ale, esco, ese, aglia, etto, ame, ume, ata, iere, iccio, 
accio, ezza, anza, enza, ia, zia, evole, ivo, ione, tura, 
toio u. s. w. Von unsern deutschen derartigen Ablei- 
tungssylben dagegen bilden zuvörderst er, el, chen über- 
haupt nie einen Reim für sich. Eine zweite Classe bildet 
zwar dann einen Reim, wenn die Ableitungssylbe nicht 
unmittelbar an die Stammsylbe angehängt ist, allein der 
Reimschatz erhält dadurch keinen erheblichen Zuwachs, 
nicht nur weil der Reim ganz verloren geht, wenn die 
Ableitungssylbe der Stammsylbe unmittelbar folgt, sondern 



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408 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



auch deshalb, weil diese Ableitungssylben, auch wenn sie 
für sich einen Reim bilden, doch auch zugleich die ganze 
Endsylbe ausmachen, folglich nicht aufeinander reimen 
dürfen. Zu dieser Ciasse gehören alle mit einem Mit- 
lauter anfangenden Ableitungssylben, also: lieh, niss, heit, 
keit, sam, sal, schaft, thum, bar, haft. Da reimt die Ab- 
leitungssylbe schaft allein gar nicht in Wirthschaft 
und zwar wol in Eigenschaft, dann aber nicht wieder 
mit Wissenschaft u. s. f. — Eine dritte Gasse der 
Ableitungssylben endlich reimt zwar auch unter sich, aber 
ebenfalls nur, wenn sie der Stammsylbe nicht unmittelbar 
angefügt sind; hierher gehören in, ig, icht, isch, ung, ei. 
Da reimt z. B. ung allein nicht in Bedeutung, aber 
in Forderung und dann auch mit Einigung und dergl. 
Einzig in diesem letzten Falle haben demnach deutsche 
Ableitungssylben für den Reim denselben Werth wie fast 
sämmtlich italienische. Ergiebt sich nun aus alledem die 
unendliche Beschränkung der Reimfähigkeit im Deutschen 
gegen das Italienische, so schmiedet sich der Deutsche 
trotzdem noch allerhand Ketten, um sich das Reimen 
noch zum Extraspass zu erschweren. So ist uns das 
Reimen gleicher Worte, ja, wie eben gedacht, auch nur 
solcher Sylben, deren Anfangsconsonanten gleich sind 
(wie schaft) durchaus untersagt, während die italie- 
nischen Dichter von unbezweifelter Correctheit und Au- 
torität grazia und disgrazia, coglie und recoglie unbedenk- 
lich reimen. 

Mittelbar kommt aber noch eine andre Verschieden- 
heit der Verskunst der Italiener und der Deutschen den 
ersteren auch beim Reim zu statten: das Sylbenmass. Die 
Italiener wie alle Völker romanischer Zunge zählen in der 
Hauptsache nur die Sylben ihrer Verse, die Deutschen 



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Reimstudie. ^09 



messen sie auch. Es ist das immer wieder eine Fessel, 
die uns an der freien Bewegung bei der Bildung von 
Versen und demnach auch in der Anwendung von Reimen 
hindert. 

Bei aller Leichtigkeit zu reimen, wie sie hiemach für 
den italienischen Dichter vorhanden ist, wendet er den- 
noch auch sehr häufig reimlose Verse an, viel häufiger 
als der deutsche, w^enn man bei uns von den Versen nach 
antiken Massen absieht, in welchen wnr uns aber statt des 
Reims andre Zwangsgesetze auflegen. 

Hieraus allenthalben ersieht man, dass dem Italiener 
der Reim eine Zierde ist, die dem Ausdruck so gut wie 
kein Hinderniss bereitet, während er für den deutschen 
Dichter zum Kunststück wird, mit w^elchem er sich in 
der Sprachbehandlung sehen lässt wie der Dolche schleu- 
dernde und auffangende Gaukler. Hat man alle jene 
Reimgelegenheiten des Italieners und darauf die Reim- 
erschwemisse des Deutschen vor den Augen vorüber- 
ziehen lassen und sollte man darnach a priori die Frage 
beantworten, ob der Deutsche überhaupt reimen dürfe, 
man müsste sie unbedingt verneinen. 

Fast in gleichem Verhältniss, wie zum Italienischen, 
steht das Deutsche hinsichtlich der Reimfähigkeit zum 
Spanischen. Die 15 Diphthonge und 4 Triphthonge sind 
den Spaniern ebensowenig zur Last, wie den Italienern 
ihre Mehrlauter; auch sie sind eben keine Pedanten und 
helfen sich durch Auflösung derselben. 

Die französische Sprache, deren Reimgesetze den 
meisten Einfluss auf die neuere deutsche Dichtung gehabt 
haben, ist in Bezug auf die Zahl der Selbstlauter der 
deutschen nahezu gleichzustellen; sie hat zwar kein ai, ei, 
eu und äu, dafür haben wir das ie (wie in bien), oi und 



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410 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



ui nicht; denn dass wir Papagoi und Bei, sowie Hui 
und pfui reimen können, kommt natürlich nicht in Be- 
tracht. Hinsichtlich der Mitlauter gleichen sich die Eigen- 
thümlichkeiten der beiden Sprachen in der Hauptsache 
ebenfalls aus. In der Fülle an Reimen durch Verwend- 
barkeit der grossen Mehrzahl der Zeitwörterflexionen und 
der Ableitungssylben steht aber die französische Sprache 
der italienischen wie der spanischen etwa gleich, ja noch 
günstiger ist sie insofern gestellt, als eine beträchtliche 
Zahl jener Flexionen unter sich reimt; als von aimer: 
nous aimons, aimions, aimerons, aimerions und der Im- 
perativ aimons; ferner: vous aimez, aimiez, aimerez, aimeriez 
und der Imperativ aimez; dann: j'aimais, aimerais etc. 
Unter diesen Umständen ist also die gepriesene Reinheit 
der französischen Reime kein grosses Verdienst, indessen 
muss man es den Franzosen lassen: sie sind gewissenhafte 
Befolger der Regel. Sie geben auch hier ihre Volkseigen- 
thümlichkeit kund, nach welcher sie kein Vertrauen zur 
Ordnung haben, wenn nicht das Gesetz mit eiserner Faust 
auf sie drückt. Aber was im Auge des Franzosen dem 
Gesetz das Ansehen giebt, ist das Ansehen des Gesetz- 
gebers, die persönliche Autorität, während jeder Deutsche 
sich für ebenso gescheidt hält, als jeder andre Mensch 
und von Autoritätsgesetzen nichts wissen will; nur durch 
das Ansehen der Formel, durch die logische Autorität 
lässt er sich imponiren. Was über die schulgerechte Logik 
hinausgeht, ist daher aber auch dem Urtheil des Durch- 
schnittsdeutschen entzogen. 

Keinem der ältesten Griechen ist eingefallen, den 
Finger an die Nase zu legen und zu sagen: jetzt will ich 
die Gesetze des Hexameters feststellen; die Griechen sagten 
vielmehr: so hat Homer, der erste unserer Dichter, den 



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Reimstudie. 411 



Hexameter behandelt, und so müssen auch wir es halten, 
wenn wir in Hexametern dichten. Und so ehrten die 
Italiener den Gebrauch Dante's, Petrarca's und Ariosto's; 
so nehmen die Engländer keinen Anstoss schlecht zu 
reimen, wie Pope gethan. Dessen Vorgang könnte aber 
wirklich Bedenken für die Nachfolger erregen. Es soll 
nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass die Engländer 
— was das wunderliche Verhältniss ihrer Schrift zu ihrer 
Sprache ermöglicht — Worte reimen, die ganz verschieden 
geschrieben sind, dafem sie nur gleich oder doch ähnlich 
ausgesprochen werden, wie z. B. halloo und knew, aber 
sie reimen auch umgekehrt Wone, wenn sie nur gleich 
oder ähnlich geschrieben sind, obschon die Aussprache 
eine verschiedene ist, wie z. B. minstrelsy und eye. Im 
Reimen ähnlich klingender Worte gehen aber die Eng- 
länder viel weiter, als wir Deutsche; sie reimen z. B. 
nicht blos oak und rock, sondern auch won und sun. 
Das Tollste aber ist, dass sie Worte reimen, die wieder 
für das Ohr noch für das Auge gleich oder auch nur 
ähnlich auslauten, deren Reim vielmehr nur durch eine 
Folgerung gefunden werden kann, nämlich solche Wöner, 
deren Reimbuchstaben bisweilen gleich klingen, wenn auch 
nicht gerade in den gegebenen, zum Reim verbundenen 
Wörtern. So reimen sie z. B., weil ea gemeinlich wie i 
lautet, heaven und given; oder weil o zuweilen wüe u 
und 00 wie o klingt, reimen sie shore und unmoor. 
Diese Beispiele sind insgesammt Walter Scott entnommen, 
aber nur zufällig: die ersten englischen Dichter reimen 
nicht besser. 

Also alle die vorgeführten Völker ehren die Häupter 
ihrer Dichtung als Vorbilder, nur dem Deutschen ist das 
Wohlgefühl der Hingabe an eine gew^altige Persönlichkeit 



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412 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

zu gering gegen die Wonne, mit Hilfe einer Formel sich 
über seine Grossen erhaben zu fühlen. Ihn kitzelt es, 
wegwerfend zu sagen: das hat Goethe schlecht gemacht, 
das versteh' ich besser! Das fängt bei seinen Reimen an 
und hört beim »Faust« auf. Dass Goethe seinen »Faust«, 
die grossanigste Dichtung der Neuzeit, gleich in der 
ersten Vierzeile mit einem unreinen Reim anfängt (Me- 
dicin — Bemühn), das kümmert sie nicht. Dass er die 
deutsche Sprache in der Gewalt hatte, wie keiner mehr, 
dass es ihm also eine Kleinigkeit gewesen wäre, den 
»Faust« in dieser Richtung zu »verbessern«, wenn er in 
der Herstellung eines Reims eine Verbesserung erkannt 
und nicht vielmehr, »um den Gedanken rein zu haben«, 
es für besser gehalten hätte, den Reim nur ankHngen zu 
lassen, daran denken sie nicht. 

Aber nicht blos im »Faust« hat Goethe sogenannte 
unreine Reime angewandt, nicht blos hier, wo einge- 
worfen werden könnte, dass er den Vers überhaupt muth- 
willig behandelt habe, sondern auch in seinen so wunderbar 
lieblich tönenden lyrischen Gedichten. Da beginnt z. B. 
gleich der durch seinen köstlichen Wohlklang berühmte 
» Nachtgesang « : 

O gieb vom weichen Pfühle 
Träumend ein halb Gehör; 
Bei meinem Saitenspiele 
Schlafe! was willst du mehr.^ 
Also in der ersten Strophe schon lauter unreine Reime. 
Oder das reizende: 

Kleine Blumen, kleine Blätter 

Streuen mir mit leichter Hand 

Gute, junge Frühlingsgötter 

Tändelnd auf ein luftig Band. 



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Reimstudie. 4 1 3 



Zephyr, nimni's auf deine Flügel, 
Schling's um meiner Liebsten Kleid; 
Und so tritt sie vor den Spiegel 
All in ihrer Munterkeit. 

Also in acht Zeilen unter den vier Reimen drei un- 
reine. Oder die zweite Strophe des »Mailieds«: 

Es dringen Blüthen 
Aus jedem Zweig 
Und tausend Stimmen 
Aus dem Gesträuch. 

Und so fast in jedem Gedicht, namentlich aus der 
frühern liederduftigen Zeit — im Ganzen zahllose soge- 
nannte unreine Reime. 

Vor der Autorität Goethe's sollte man doch wenigs- 
tens soviel Respect haben, dass man sie nicht mit der 
kurzen, nüchternen und platten Formel abwiese: der ge- 
forderte Gleichklang bedinge reine Reime. Muss nicht 
die Richtigkeit einer Formel verdächtig werden, wenn 
der competenteste Richter sie nicht anerkennt? Ist man 
nicht deshalb verpflichtet, mindestens zu untersuchen, was 
denn eigentlich die geschmähten unreinen Reime sind? 
Ob alle verwerflich sind oder nur gewisse? 

Und allerdings muss man, wenn man alle Beispiele 
von Reimen, die als unreine bezeichnet werden, über- 
blickt, sich sagen, dass das Gehör sehr erhebliche Unter- 
schiede zu machen findet. Man kann unterscheiden: 

i) reine, volllautende, 

2) ähnliche, nicht völlig gleichlautende, 

3) anstössige und 

4) falsche Reime, bei welchen letzteren erst der 
ReimbegriflT so gut wie ganz aufgehoben ist. 



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414 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 



Reine Reime sind aber nicht blos solche, welche auf 
gleich geschriebenen Sylben bei gleicher Aussprache der- 
selben ruhen; bei unsrer Orthographie, welche nächst der 
allernichtswürdigsten englischen die nächstnichtswürdige 
ist, müssen wir mehrere verschieden geschriebene Laute 
denn doch entschieden für gleich auszusprechende er- 
klären, so namentlich a, aa und ah — e, ee und eh — i, 
ie und y — o, 00 und oh — u und uh — dt, t und th 

— f, ph und unbedenklich auch v — ks, chs und x — z 
und ts — sowie alle einfachen und doppelten Mitlauter. 
Letzteres mag auf den ersten AnbHck auffallen, allein man 
bemerke, dass w^enn z. B. schlaff und traf keinen reinen 
Reim bilden, dies nicht in der Verdoppelung des f im 
ersten Wort als solcher liegt, sondern in der scharfen 
Aussprache des a darin, welche eben nur durch die Ver- 
doppelung des Mitlauters angedeutet wird. In schafft 
und Kraft macht aber diese Verdoppelung keinen Unter- 
schied in der Aussprache, weil im Deutschen die doppelten 
Consonanten nicht einen selbständigen Werth haben, nicht 
beide gehört zu werden bestimmt sind, wie es z. B. im 
Italienischen der Fall ist. 

Nur ähnlich sind Reime, wenn entweder die Selbst- 
lauter oder die Mitlauter oder endlich Sylbenbetonungen 
nicht völlig gleich, aber doch ähnlich sind. Es sind aber: 

a) durch Ähnlichkeit reimende Selbstlauter: o dumpf 
wie in los und o hell wie in Ross — e geschlossen 
wie in stehn und offen wie in sehn — e offen und ä 

— e geschlossen und ö — i und ü — ei, ai, eu und äu; 

b) durch Ähnlichkeit reimende Mitlauter: b weich 
und w — b han und p — d und t — g Kehllaut wde in 
liegt und ch in kriecht — g Gaumenlaut wie in Schlag 
und k — gs wie in trug's und ks, chs (Buchs etc.) 



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Reimstudie. 415 



— h zwischen zwei Selbstlautern '.oder unmittelbare Auf- 
einanderfolge der letztern (nahe, Rae), Is und Iz (Hals, 
Salz) — mf oder mph und nipf (Nymphe, schimpfe) 

— ng und nk am Wortende (sang, trank) — ns und 
nz (Hans, Schwanz); 

c) bei ähnlicher Betonung reimende Sylben: geschärft 
und gedehnt betonte Sylben (Sinn, ziehn) — geschärft 
betonte und tonlose Sylben (herrlichen — >venn) — 
Sylben Eines Worts mit Sylben mehrerer Wone (Meister, 
heisst er). 

Anstössige Reime sind: 

a) solche, die nicht eihmal auf ähnlichen Buchstaben 
ruhen, deren Reimbuchstaben vielmehr nur einen gemein- 
schaftUchen ähnlichen Reimlaut haben, wie ä und ö, deren 
Mittlerlaut das e ist (Blätter, Götter); 

b) solche, in denen sowol die Mit- als auch die 
Selbstlauter nur einen ähnHchen Reim bilden (Zweig, 
Gesträuch); 

c) solche, in denen eine gedehnte Sylbe auf eine ton- 
lose reimt, wie in Schiller's »Elegie auf den Tod eines 
Jünglings« : sehn, Hoffnung e n. 

Falsche Reime endlich sind alle, auf welche nicht 
einmal die vorgedachten Kennzeichen der ähnlichen und 
der anstössigen Reime passen. Für sie giebt es keine 
Merkmale und keine Grenzen; denn sie sind eben eine 
Ausgeburt der Willkür. Hier lassen sich nur Beispiele 
anführen, und solche sind die Reime: bei Schiller Men- 
schen und wünschen, bei Goethe in der zahmen 
Xenie : 
Zücht'ge den Hund, den Wolf magst du peitschen. 
Graue Haare sollst du nicht reizen. 

Dann in der andern : 



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I 



41 6 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

Mit Widerlegen, Bedingen, Begrimmen 

Bemüht und brüstet jeder sich; 

Ich kann daraus nichts weiter gewinnen. 

Als dass er anders denkt als ich. 
Ferner im Lied des Mephistopheles Floh und Sohn 
im Gedicht »Juni« Glanz und Gangs; in der Über- 
setzung aus Byron's »Manfred« Bekänntniss und 
wetterwendisch. 

Was sich hier insbesondere auch Goethe erlaubte, 
kann nun freilich nicht als zulässig bezeichnet werden und 
so kommen wir gew^issermassen allerdings auf das hinaus, 
was hier eben bekämpft werden soll, dass nämlich des 
grossen Dichters Autorität allein nicht entscheiden kann. 
Indessen ist dem denn doch entgegenzuhalten, dass solche 
wirklich falsche Reime äusserst selten sind, als Ausnahmen 
die Regeln bekräftigen und dann wirklich einmal mit dem 
princeps legibus solutus entschuldigt werden können. 

Im Allgemeinen haben wir aber das Beispiel eines 
Goethe als Richtschnur anzuerkennen und es ist unge- 
rechtfertigt, weniger begnadeten Dichtern zu versagen, 
was jener sich herausnahm. Es würde das eine ganz un- 
zulässige literarische Polizei sein und eine widersinnige 
Forderung, die Last, die Goethe der Gewaltige zu tragen 
sich weigerte, dem Schwachem aufzubürden. Etwas ganz 
Anderes ist es, wenn Dichter in der bescheidenen Selbst- 
erkenntniss, dass an ihnen gar nichts wäre, wenn sie sich 
nicht durch schöne Reime auszeichneten, die reinen Reime 
sich zum Gesetz machen : denen soll der Spass nicht ver- 
kümmert werden. Es giebt ja wol auch süsse mitfühlende 
Seelen, die daran ihr Wohlgefallen haben und ihren Ge- 
dichten zu manchen Auflagen verhelfen. Und darauf 
kommt's ihnen denn doch hauptsächlich an. 



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Reimstl'die. 417 



Verschweigen wollen wur indessen nicht, dass der 
Autorität Goethe's eine andere nicht zu verachtende ent- 
gegengesetzt werden könnte: die reiche Dichtung der 
mittelhochdeutschen Vorzeit. In ihr ist allerdings die Rein- 
heit des Reims fast ausnahmslos durchgeführt. Aber ab- 
gesehen von EigenthümÜchkeiten des Mittelhochdeutschen, 
die dies erleichterten, ist doch sehr zu beachten, dass die 
schwäbische Dichtung den Anforderungen unserer Zeit an 
Tiefe, namentlich an Gedrängtheit des Ausdrucks nicht 
genügt und dass, wenn man eine gewisse mit Gedanken- 
leere verbundene Redseligkeit zugiebt, man sich wol Rein- 
heit des Reims als Entschädigung ausbedingen mag. Mit 
diesem Zugeständniss gelang es den proven^alischen Dich- 
tem bei behäbiger Weitschweifigkeit die künstlichsten 
Reimspiele zur Schau zu tragen und unsere Minnesänger 
ahmten sie mitunter so gut es gehen wollte nach. 

Dasselbe gilt, wenn man auf Kbrheit des Ausdrucks 
verzichtet. Die gälischen Barden wie die spätem nordischen 
Skalden hätten unter der Last von Künsteleien, die sie 
sich aufgebürdet hatten, indem sie durch Versmass, Stab- 
reim und Endreim unter mannigfachen Regeln sich banden, 
erliegen müssen, hätten sie dabei nicht wagen dürfen, den 
staunenden Hörem Dichtungen vorzutragen, die Nieman- 
den ohne Commentar verständlich sein konnten. Strenges 
Gesetz steht immer in Zwiespalt mit geistiger Freiheit. 

Noch Eins! Es lag gar nicht in Goethe's Absicht, auf 
der älteren höfischen oder der spätem gelehrten Dichtung 
fortzubauen ; im Gegentheil brach er mit dieser und schloss 
sich der deutschen Volksdichtung an. Und in ihr fand er 
die zwanglose Behandlung des Reims ebenfalls vor, wenn 
schon hier die Freiheit gewöhnlich darin besteht, dass 
Alliteration an Stelle des Reims tritt, d. h. nicht grund- 

27 



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4i8 Vermischtes zur Goethe-Forschung. 

sätzlich durchgeführt, wie in der spanischen Romanze^ 
sondern nur in einzelnen Versen den Reim vertretend. 

Um Missverständnissen zu begegnen, mag zum Schluss 
noch ausdrücklich anerkannt werden, dass die Reime von 
tadelloser Reinheit sein müssen, wenn das Wesen eines 
Gedichts in der Form liegt. Dies ist namentlich der Fall 
bei dem Sonett, wie es Petrarca ausgebildet hat und wir 
den Italienern nachahmen. Das Sonett ist eben ein Reim- 
spiel, in welchem sich die Kunst darin offenbaren solU 
dass ein Gedanke unter gewissen Gesetzen des Wohl- 
klangs zum Ausdruck gebracht wird. Nicht der poetische 
Gedanke an sich ist der Hauptzweck des Sonetts, sondern 
sein Ausdruck in der bis zur Künstelei, ja Tändelei ver- 
zierten Form. Das gesetzmässig Vollendete des Reimspiels- 
ist so sehr das Wesen des Sonetts, dass eine Abweichung, 
dasselbe geradezu aufhebt; nur tonbegriffslosen Engländern 
konnte einfallen, Vierzehnzeilen in reimlosen blank verses 
zu schreiben und sie Sonett zu nennen. 

Diese Ausnahme, welche für Sonette und ähnliche 
Reimspiele gilt, beseitigt aber nicht den Grundsatz, dass- 
der Reim nicht über die Forderungen der Schönheit hinaus 
mit einer Peinlichkeit eingeführt werden dürfe, welche 
den Gehalt unterjocht. Das Ergebniss unserer Untersuchung 
wird daher in den Sätzen zusammenzufassen sein: reine 
Reime sind die Regel, ähnliche Reime erlaubte Aus- 
nahmen, anstössige Reime nur selten und da zulässig, 
wo auf die Wahl der anstössig reimenden Wone be- 
sonderes Gewicht zu legen ist; über falsche Reime aber 
rufe man rücksichtslos das Kreuzige! Wendet sie jedoch 
einmal verloren ein bonus Homerus an, so gönne man 
ihm leise das Nickerchen. 



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VI. Berichtigungen 
UND Nachträge 

Zü 

Goethe-Schriften 

DES 

Verfassers. 



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I. Zu GoETHE's Briefen an Eichstädt. 




a) Zur Einleitung. 

eite IV könnten unter den 1803 von Jena 
abgehenden Professoren noch genannt wer- 
den: Himly, Fuchs und Stahl. 

Goethe's Seite VI erwähnter Brief an 
Göschen war v. 9. Februar 1788 — nicht 1789. 
Seite XII ist als Ergänzung zu Goethe's Geschichte 
(fer Entstehung der Jenaischen Allgemeinen Literatur- 
Zeitung einzufügen, dass deren Redaction zunächst dem 
Professor Paulus angetragen w^urde, der durch seine eben 
so gelehrten wie freisinnigen Besprechungen theologischer 
Schriften eine Hauptstütze der Schützischen Allgemeinen 
Literatur- Zeitung war; allein seine Anhänglichkeit an 
diese, seine Freundschaft mit Hofrath Schütz, und seine 
Verstimmung gegen die massgebenden weimarischen Kreise 
wegen vermeintlicher Vernachlässigung der Universität 
Jena bewog denselben abzulehnen. Überdies sprach er 
sich im Brief an Schurrer vom 9. September 1803 (»H. E. 
Paulus und seine Zeit von Frhr. v. Reichlin-Meldegg« I, 



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422 Berichtigungen etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers. 

352 — das Datum nach Düntzer's Berichtigung) sehr ab- 
fällig über Goethe's Vorgehen aus und meinte: das neue 
Blatt werde eine blosse Pro ject -Zeitung bleiben; denn 
Genies könnten selten eine aus Geist und complicirter 
Organisation zusammengesetzte Schöpfung stiften und er- 
halten. Auch Paulus hielt, wie Schützens gesammter An- 
hang, das Unternehmen der Fortsetzung der Literatur- 
Zeitung in Jena für ein unberechtigtes, wobei ihnen die 
anfangs beabsichtigte Beibehaltung des ganz gleichen Na- 
mens dieser Jenaer Zeitschrift einen Schein von Recht 
gab. Im gleichen Sinne schrieb daher auch Johann Hein- 
rich Voss am 23. September 1803 (»Briefe von J. H. 
Voss etc., herausgegeben von A. Voss« II, 254) : »Die 
Allgemeine Literatur-Zeitung hat zu viel Rathgeber, die 
das junge, Leben verheissende Kind hindoctem können. 
Leider sind die Worte der Ankündigung schon so ge-. 
wählt, dass unselige Händel daraus entstehen werden. Die 
neue Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 
oder Eine Jen. A. L. Z. konnte allen Anzwackungen 
ausweichen. Aber man wählte, was man glaubte aus- 
fechten zu können. Die bisherige A. L. Z. anzukündigen, 
ziemt aber weder den Jenaern noch den Hallensem.« 

Seite XIX ist noch anzuführen, dass das in der 
vierzigbändigen Ausgabe von Goethe's Werken zuerst ge- 
druckte Bruchstück einer Besprechung von Iffland's »AI- 
manach für das Theater und Theaterfreunde auf das 
Jahr 1807« für die J. A. L. Z. bestimmt war — was 
wenigstens kaum zweifelhaft sein kann. 

Seite XXIII ist noch der Mittheilung zu gedenken, 
die Burkhardt 1878 in Nr. 43 der »Grenzboten« gegeben 
hat und aus welcher zu ersehen ist, wie Goethe fon- 
während Eichstädt hochstelhe, nicht minder ihm für sein 



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Zu Goethe's Briefen an Eichstadt. 423 

Eintreten bei Gründung der J. A. L. Z. thätige Dankbar- 
keit bewahrte. Als nämlich 181 5 der Hauptgegner Eich- 
-städt's, Professor Griesbach, Schwager des Hofrath Schütz, 
'«inen Angriff gegen ersteren durch Beschwerden der Mehr- 
izahl der Professoren glücklich eingeleitet hatte und der 
Crossherzog schon geneigt war, den Frieden durch Auf- 
opferung Eichstädt's wieder herzustellen, da sprach sich 
-Goethe in einem ausführUchen Votum vom 26. Januar 18 16 
50 entschieden zu Gunsten desselben aus, dass ein ver- 
mittebder Ausweg eingeschlagen wurde. 

Der Seite XXVII. f. aufgeführte Brief Goethe's an 
Eichstädt vom 16. Februar 1829 w^ar bereits 1850 in »Eich- 
stadii opuscula oratoria« Seite 293 f. gedruckt. Ausserdem 
^ind seither noch zwei Briefe Goethe's an Eichstädt be- 
kannt gemacht worden: einer vom 4. August 181 1 in 
»Ungedrucktes zum Druck befördert von A. Cohn« 
5eite 80 f. und einer in Nr. 45 der »Grenzboten« von 
1878 durch Burkhardt. 



b) BRIEFE. 

164 b. 

Ew. Wohlgeboren letzter Verabredung gemäss 
haben wnr die Windischmannische Recension noch- 
mals in Betrachtung gezogen und wohl überlegt, ob 
man etwa, wie Sie wünschen, durch einen Anfug 
der Sache eine gewisse Wendung geben könnte. 
Leider aber hat es sich nicht machen wollen. Denn 
sollte man sich zu einem Aufsatze entschliessen, bei 
welchem der Verfasser des Werks seinen Einfluss 



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424 Berichtigungen etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers. 

allenfalls eingestehen dürfte, so würde man darin 
nothwendig zu berühren haben, wie sich Freunde 
sow^ol als Widersacher bisher benommen, und hier- 
zu, wie ich gern gestehe, scheint es mir noch nicht 
Zeit. Man muss wol abwarten, inwiefern diese Arbeit 
sich selbst Raum macht und inwiefern sich Männer 
finden, welche dem Gegenstand durch einige Jahre 
sowol experimentirend als theoretisirend die gehörige 
Aufmerksamkeit widmen und das Ganze in seinem 
Zusammenhange betrachten wollen. Alsdann wird 
man mit Bequemlichkeit und Nutzen die Stimmen 
sammlen können ; es w^ird sich beurtheilen lassen, 
wo die hauptsächlichsten Hindernisse liegen und ob 
wirkHch gewisse Menschen das Einfachste einzusehen 
nicht im Stande sind oder inwiefern böser Wille und 
Vorurtheil sie umnebeln. Sehr ungern sende ich da- 
her das mir mitgetheilte Manuscript zurück und 
führe zu meiner Entschuldigung noch zum Schlüsse 
dieses an, dass ich auch hier wohl zu thun glaube, 
wenn ich auf meine alte Weise verfahre und den 
Wirkungen der Zeit nicht vorgreife. 

" Ich empfehle mich bestens und wünsche immer 
zu vernehmen, dass Sie sich wohl befinden. 



Mit vorzüglicher Hochachtung 
Weimar, den 4. August 181 1. 



Goethe. 



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Zu GoETHE's Briefen an Eichstadt. 425 

212 b. 

In ungesäumter Erwiederung der an mich er- 
gangenen geneigten Anfrage gebe zu erkennen, dass 
nach Inhalt des, von des Herrn Staatsminister von 
Voigt sei. unter dem 11. October 18 18 an Herrn 
Geheime Hofrath Eichstädt erlassenen Schreibens 
Rentamtmann Müller anheute beauftragt worden, 
denen nunmehr benamsten Gehülfen an der A. L. Z., 
Rath Hogel und Professor Schad, das von Serenissimo 
unter dem 6. October 1818 bewilligte Fruchtdeputat 
von 8 Scheffel Korn und eben so viel Scheffel Gerste 
jedem zur Hälfte vom i. Januar an bis zu ander- 
weitiger Anordnung vierteljährig abzureichen. 

Zu allen Erläuterungen in diesen Angelegenheiten 
jedesmal bereit und willig 

J. W. V. Goethe. 

Weimar, den 19. Juni 1819. 



c) Erläuterungen. 

Zu Brief 6, Seite 222 und 223 finden sich druck- 
fehlerhaft Goethe's Briefe an Schlegel mit dem 5. Sep- 
tember 1805, beziehentlich dem 4. September 1804 ange- 
geben, während beide 1803 geschrieben wurden. — Eine 
weitere Recensentenchiffre von MüUer's (ausser P — p — s 
und 71 — X — V — ) w^ar C. F. Z. 

Zu Brief 63, Seite 260 ist zu berichtigen, dass der 
Quedlinburger Gramer, jedenfalls Karl Friedrich C. war, der 



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426 Berichtigun-gex etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers. 

aus seinem damaligen Wohnsitz, Paris, Nachrichten über 
Frankreich nach Deutschland gelangen liess. 

ZuBrief82, Seite 271 ist als Schleiermacher'sche 
Arbeit noch zu nennen die Recension von »Johann 
Joachim Spalding's Lebensbeschreibung etc.« in Num. 18. 
J. A. L. Z. d. 22. Januar 1805. 

Zu Brief 97, Seite 276 ist hinzuzufügen, dass ein 
beträchtlicher Theil des Briefwechsels zwischen Goethe 
und Nees von Esenbeck durch »Goethe's naturvsussen- 
schaftliche Correspondenz, herausgegeben von Bratranek« 
bekannt worden ist und wir nunmehr von etwa 40 Briefen 
Goethe's an den Genannten näheres wissen. 

Zu Brief 100, Seite 277. Auf Kotzebue's »Erinne- 
rungen von einer Reise aus Livland nach Rom und Neapel« 
bezieht sich Goethe's in den Werken unter den »Invec- 
tiven« stehendes Epigramm »Bist Du Gemündisches 
Silber etc.«, das daher in's Jahr 1805 zu setzen sein dürfte. 

Zu Brief 105, Seite 282 ist zu berichtigen, dass 
SchlegePs Elegie »Rom« in der J. A. L. Z. von 1807 in 
Num. II, 12 und 13 besprochen wurde. 

Zu Brief 113, Seite 288 f. ist irrthümUch der Brief 
vom 8. Januar 18 12 an Frau von Eybenberg gerichtet an- 
gegeben, während deren Schwester, Frau von Grothuss, 
die Adressatin war. Der Handschriftensammlung gedachte 
Goethe ferner in Briefen an Caroline Pichler vom 
31. März 181 2, an Kanzler von Müller vom 19. No- 
vember 1824, an Graf Reinhard vom 28. Januar 1828 und 
an Soret vom 9. Juni 183 1. — Es ist ein Druckfehler, 
dass der Brief an Rochlitz auf den 21. Mai 1809 — statt 
18 19 — gesetzt ist. 

Zu Brief 131, Seite 299. In dem Neujahrsprogramm 
von 1807 sind ohne Zweifel auch die Abschnitte VI und 



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Zu Goethe's Briefen' an Eichstadt, 427 

VII — »Lessing's Bildniss in Öl gemalt« und »Dr. Martin 
Luther's Verherrlichung« — von Goethe. 

Zu Brief 139, Seite 302 mag noch ePÄ-ähnt werden, 
dass Knebel besage Briefs an seine Schwester Henriette 
vom 13. October 1807 fand, Goethe habe in seinem Vor- 
spiel von 1807 manche Stellen aus Jacobi's Eröffnungsrede 
benutzt. 

Zu Brief 144, Seite 304 ist zu ergänzen, dass der 
Entwurf zum Denkmal des Grafen Schmettau von Goethe 
herrührt. (»Westermann's illustrirte deutsche Monatshefte. 
December 1868.« Seite 267.) 

Zu Brief 159, Seite 311 ist zu bemerken, dass 
Abeken's Recension der »Wahlverwandtschaften « im 
»Morgenblatt«, 1810, Nr. 19 bis 21 zu lesen ist. 

Zu Brief 161, Seite 312 kann noch angeführt wer- 
den, dass Eichstädt das Unterlassen des Abdrucks von 
Meyer's Programm mit der augenblicklichen Geldklemme 
der J. A. L. Z. entschuldigte und dass Goethe laut seines 
Briefs an Meyer vom 11. Januar 181 1 darüber sehr ver- 
stimmt war. 

Zu Brief 164b. Eine Windischmannische Re- 
cension von Goethe's Farbenlehre erschien erst 1813 in 
den Ergänzungsblättem zur J. A. L. Z. Nr. 3 bis 6. 

Zu Brief 176, Seite 322. Goethe belobte Radlof in 
einem an diesen gerichteten Brief vom 20. März 18 14 
über seine Schrift »Frankreichs Sprach- und Geistes- 
Tyrannei« und stellte ihm deren ehrenvolle Beurtheilung 
in der J. A. L. Z. in Aussicht. 

Zu Brief 186, Seite 325 darf erinnert werden, dass 
uch Wieland den Ausdruck »erbidmete« in »Geron der 
Adlige« (1777) anwendete. 



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428 Berichtigungen etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers. 

Zu Brief 187, Seite 326 ist vervollständigend zu 
bemerken, dass Goethe laut Briefs an Zelter vom 10. De- 
cember 1830 nach dem Tod seines Sohns den vierten 
Band von »Dichtung und Wahrheit« wieder aufnahm. 

Zu Brief 212b. Die Anfrage des Geheimen 
Hofrath Eichstädt, worauf hier die Erwiederung 
erfolgt, ist Vom 19. Juni 1819. (»Die Grenzboten« 1878. 
Nr. 45. Seite 236.) 

Zu Brief 220, Seite 337 ist zu berichtigen, dass in 
»Goethe's Kunstsammlungen etc. beschrieben von Chr. 
Schuchardt« die Bildnisse schätzbarer Zeitgenossen aller- 
dings aufgezählt sind (I, 283 ff), doch befindet sich Eich- 
städt nicht darunter. 

d) Personen-Register. 

Gramer: (nicht Johann Friedrich, sondern Karl Friedrich) 

— Schriftsteller in Paris. 
Delbrück, Johann Friedrich Ferdinand — (war nicht 

der Prinzenführer). 
Eschenburg, Johann Joachim — (in Braunschweig, 

nicht in Göttingen). 
Hogel, Christian Immanuel — (Professor in Jena), 

Brief 212 b. 
Humboldt, Friedrich Heinrich Alexander von — (war 

nicht Staatsminister, sondern Wirklicher Geheimer 

Rath). 
Kretschmann, Theodor Konrad von — fehlt noch Hin- 
weis auf S. 16. 
Krüdener, Juliane Freifrau von — geb. von Vietinghoff 

(nicht: Vittinghoff). 
Loos, Daniel Friedrich — (mit vollem Namen). 



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Zu Goethe's Briefen an Eichstadt. 429 

e) SCHRIFTEN GOETHE'S 
IN DER 

Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung. 

Hier sind nachzutragen 
Recension von : Organisation der Koburg-Saalfeldischen 

Lande von v. Kretschmann. 1804. Band II, Spalte 328, 

in »Goethe's Briefen an Eichstädt« Seite 16. 232. 
Lessing's Bildniss in Öl gemalt. 1807. B^"^ I» Seite VII, 

oben zu Brief 131 gedacht. 
Dr. Martin Luthers Verherrlichung — ebenda. 



f) Ungedruckte briefliche Mittheilungen 

GOETHE'S. 

Hier ist nachzutragen Brief 
an Geheimen Rath von Voigt vom 14. Mai 1807, Seite 
XVIII f. 




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2. Zu Goethe und Dresden. 




^^^^^bgesehen von besserer Ausführung von Ein- 
zelheiten ist folgendes berichtigend oder er- 
gänzend zu meinem Büchlein »Goethe und 
Drt?sdcna nachzutragen. 

Zu Seite 2. Den um die Mitte des 
vorigen Jahrhunderts bestehenden Dresdner Gasthofver- 
hältnissen nach ist zu vermuthen, dass das Zechgelage, zu 
welchem Goethe nach seiner Erzählung in »Dichtung und 
Wahrheit« durch das junge Mitglied einer Gesandtschaft 
verleitet wurde, im Hotel de Pologne auf der Schloss- 
strasse stattfand. 

Zu Seite 5 ff. und 10. Von Schlesien aus schrieb 
Goethe an Racknitz: 
Die vierzehn Tage sind vorüber, in welchen ich 
hoffte wieder bei Ihnen zu sein, und es scheint als 
wenn ich noch nicht sobald das geliebte Dresden 
wiedersehen würde. Heute geh ich nach der Graf- 
schaft Glaz auf etw^a sechs Tage und nach meiner 



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Zu Goethe und Dresden. 431 

Rückkehr wird wol eine Reise nach den österreichi- 
schen Salzwerken unternommen. Der Herzog grüsst 
Sie schönstens und wünscht, dass es Ihnen Ihre Ge- 
schäfte erlauben möchten, ihm auf seiner Rückreise 
durch die Lausnitz etwa bis Flinsburg entgegen zu 
kommen, eine kleine Tour mit ihm zu machen und 
ihn sodann in Dresden einzuführen. Wenn er von 
hier abgeht, werden Sie zeitig erfahren. Vor der 
zweiten Hälfte des Septembers gewiss nicht; dann 
hoffe ich auch Sie wieder zu umarmen. Behalten 
Sie mich in freundschaftHchem Andenken, wie ich 
nie aufhöre Sie zu lieben. 

Goethe. 
Breslau, den 26. August 90. 

Wir wohnen im rothen Hause. 

Es steht durch eine Mittheilung des Freiherrn von 
Schuckmann fest, dass Goethe wirklich am 19. September 
Breslau verHess, wie er Tags zuvor dem Baron Racknitz 
gemeldet hatte und es liegt schlechterdings kein Beweis 
vor, dass er mit dem Herzog Karl August, von dem er 
sich trennte um von Breslau aus die schlesischen Gebirge 
zu bereisen, eher als in Schandau oder Dresden wieder 
zusammengetroffen sei. Doch verzögerte sich die Rück- 
reise des Herzogs, da dieser sich am 29. September noch 
auf dem Oybin befand. Gesetzt nun auch, dass er noch 
an demselben Tage in Dresden eingetroffen wäre, so 
würde Goethe doch, wäre er im Gefolge des Herzogs 
gewesen — da er über Freiberg zurückzugehn beabsich- 
tigte und doch mit dem Herzog zusammen am 6. Octobcr 



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432 Berichtigungen etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers. 

in Weimar eintraf — nur fünf Tage in Dresden zuge- 
bracht haben, während er nach Körner's Zeugniss acht Tage 
hier verlebte. Es ist daher jedenfalls nur eine patriotische 
Sage, welche Goethe den Oybin in Gemeinschaft mit dem 
Herzog besuchen lässt. 

Noch ist hier einzurücken ein späterer Brief von 

Goethe an Racknitz: 

Für die übersendeten schönen Stücke Feldspath 
vom Gotthard danke ich aufs beste; die kleinen 
Trümmer, die ich von diesem Mineral in meiner 
Sammlung besass, sind Zwerglein dagegen. Ehstens 
schicke ich einige Beiträge zu Ihrer Sammlung, bester 
Freund, wenn es schon gefährlich ist, zu soviel 
interessanten und glänzenden Stücken noch etwas 
gesellen zu wollen. 

Nun noch einen Auftrag von meinem gnädigsten 
Herrn. Es haben Ihro Kurfürstl. Durchl. auf des 
Herzogs Ersuchen dem Schauspieldirector Bellomo 
das Privilegium in Lauchstädt zu spielen auf mehrere 
Jahre ertheilt. Bellomo verlässt den hiesigen Ort, 
und es wird sich eine neue Truppe hier etabliren. 
Nun wünschen Durchl. der Herzog, dass das Bel- 
lomo'sche Privilegium auf die neuen Weimarischen 
Schauspieler übertragen werden möge. Man wird 
sich mit Bellomo wegen seines Lauchstädter Hauses 
abfinden und hofft überhaupt, dass die künftige Ge- 
sellschaft besser, als die bisherige sich exhibiren soll. 



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Zu Goethe und Dresden. 433 

Da sich Durchl. der Herzog selbst mehr für die 
neue Truppe interessiren, als bisher geschehen, so 
wünschen Sie um so mehr ihr das Lauchstädter Pri- 
vilegium zu verschaffen, wollen aber nicht gern 
unmittelbar des Kurfürsten Durchl. angehen. 

Wollten Sie wol, bester Mann, sich um diese 
Sache erkundigen, sie nach Ihrem Einfluss betreiben 
und mir gütigst sobald als möglich einige Nachricht 
vom Erfolg geben ? weil vor Bellomo's Abreise noch 
alles in Richtigkeit gebracht werden muss. 

Leben Sie recht wohl. Bald hören Sie mehr von 
mir. Alle Freunde bitte schönstens zu grüssen. 

Goethe. 
W., d. 10. Jan. 91. 

Zu Seite 8 und 12 bis 18. Die Bekanntschaft mit 
Körner machte Goethe nach einer brieflichen Mittheilung 
<ier Frau Körner an Gustav Parthey im Jahr 1789. Im 
August dieses Jahrs besuchte Kömer mit seiner Frau und 
«deren Schwester Dora den eben zur Professur in Jena 
gelangten Schiller. Als nun Goethe, der damals in Eisenach 
w^eilte, von der Anwesenheit der Töchter seines ehe- 
maligen Lehrers und Freundes, des Kupferstechers Stock 
in Leipzig, vernahm, richtete er die Bitte an sie, bis zu 
meiner Rückkehr in Weimar zu bleiben. Körner's erfüllten 
<ien Wunsch und die Erneuerung der Bekanntschaft mit 
Minna und Dora Stock führte zu Anknüpfung der neuen 
mit dem Gatten der erstem. 

Wenn (Seite 12) gesagt wurde, Goethe sei seit 1790 

nicht wieder mit Körners in Dresden zusammengetroffen, 

28 



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434 Berichtigungen etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers. 

so verleitete zu dieser irrigen Angabe der Umstand, dass 
CS bisher an jeder Andeutung darüber gebrach; jetzt 
wissen wir, dass er sowol 1810 wie 181 3 Kömer's in 
Dresden sah. 

Der nächste vorliegende Brief Goethe's an Körner 
nach dem vom 21. October 1790 ist folgender, in Dr. Pe- 
schel's Körnermuseum zu Dresden befindliche: 

Durch mancherlei zusammentreffende Umstände 
wurde ich verhindert, Sie in Leipzig zu sehen und 
selbst diesen Brief adressire ich nicht mehr dahin. 
In wenig Tagen reise ich nach Ilmenau und werde 
mich einige Zeit auswäns aufhalten, ob ich gleich 
diesmal schw^erlich aus Thüringen kommen werde- 
Es freut mich, dass Sie über die Gegenstände un- 
serer Unterredung immer weiter nachgedacht haben; 
es w^ürde desto angenehmere Unterhaltung geben, 
wenn wir uns wiedersehen. 

In der deutschen Monatsschrift, w^elche zu Berlin 
herauskommt, werden Sie einiges von mir finden. 
Hier lege ich eine kleine Landschaft bei. Ich schicke 
bald mehr, und ich wünschte etwas besseres. Leben 
Sie recht wohl und empfehlen Sie mich Ihrer lieben 
Frau und Schw^ägerin, auch der schönen Freundin, 
wenn sie in der Nähe ist. Auch vergessen Sie 
nicht Herrn Graf Gessler und Herrn Hausmarschall 
von Racknitz vielmals von mir zu grüssen. 

Goethe. 
W., d. 4. Juni 1791. 



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Zu Goethe und Dresden. 435 

In der Deutschen Monatsschrift vom Juni 1791 steht 
eine Anzahl Sinngedichte von Goethe und sein Prolog 
zur Theatereröffnung vom 7. Mai desselben Jahrs. 

Ein Vierteljahr ^äter schrieb Goethe: 

In dieser letzten Zeit habe ich so vielerlei unter- 
nommen und habe selbst in diesem Augenblick noch 
manches zu thun, was keinen Aufschub leidet, und 
habe deswegen an meine auswärtigen Freunde wenig 
denken können. 

Ich wünsche dagegen, dass Ihnen ein Lustspiel, 
Der Gross -Kophta, welches in der Michaelis- 
messe herauskommen wird, und mein erster Beitrag 
zur Optik, den ich gleichfalls bald ins Publikum zu 
bringen gedenke, vergnüglich und nützlich sein 
möge. Sein Sie überzeugt, dass Sie mit zu dem 
Publico gehören, das ich vor Augen habe, wenn ich 
arbeite. 

Die Veranlassung zu meinem heutigen Briefe giebt 
mir ein junger Künstler, den ich Ihnen empfehlen 
möchte. Es kommen bei ihm ein vorzügliches Na- 
tural, Fleiss und mechanische Geschicklichkeit zu- 
sammen. Er hat bisher in Stahl geschnitten und ist 
sich fast alles selbst schuldig. Ich siegele mit dem 
Kopf der Meduse, den er copirt hat. 

Ich w^ünsche nun, dass er im Steinschneiden, mit 
dem er auch schon einen Anfang gemacht hat, vor- 
wärts kommen und in dem Mechanischen desselben, 

28* 



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436 Berichtigun'gex etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers. 

das ihn jetzt noch aufhält, sich besser üben möge. 
Sie haben einen geschickten Steinschneider in Dres- 
den, der, wie ich höre, nicht neidisch sein soll und 
allenfalls einen jungen Künstler bilden hilft; wollten 
Sie die Güte haben, mir über folgende Puncte Nach- 
richt zu geben? 

i) Wie der Steinschneider heisse, und ob er 
einem jungen Mann etwa ein paar Monate Unter- 
richt gäbe? 

2) Was er für diesen Unterricht verlangt? 

3) Ob der junge Künstler seine Maschine mit- 
bringen soll? 

4) Ob Sie wol die Güte hätten, mir wegen 
Quartier und Kost einen Überschlag zu machen, 
was es ohngefähr monatUch kosten könne? und ob 
Sie wol die Güte haben wollten, sich selbst ein 
wenig des jungen Mannes anzunehmen? 

Es wird Ihnen gewiss Freude machen, ihn kennen 
zu lernen, und Sie werden in der Folge die Zu- 
friedenheit geniessen, wenn sich dieses Talent aus- 
bildet, seinem Anfang behülflich gewesen zu sein. 

Leben Sie recht wohl und empfehlen Sie mich 

Ihrer lieben Frau und allen Freunden. 

Goethe. 
Weimar, den 12. Sept. 1791. 

Körner scheint auf diesen Brief nicht geantwortet zu 
haben; denn nach einem halben Jahr schrieb Goethe 
wneder : 



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Zu Goethe und Dresden. 437 

Erlauben Sie, dass ich mit wenigen Worten Sie 
an den jungen Künstler erinnere, von dem ich vor 
einiger Zeit schrieb. Er möchte nun gern von hier 
ab und nach Dresden gehen um das Steinschneiden 
zu lernen; er hat sehr zugenommen in der Kunst 
und ist übrigens ein gar guter Mensch. 

Wollten Sie wol hören, ob Ihr Steinschneider 
nun Zeit hätte, sich mit ihm abzugeben? Der junge 
Mann brauchte ja nicht in demselben Hause zu 
wohnen. Wollten Sie wol fragen, was der Mann 
für den Unterricht etwa eines Vierteljahres ver- 
langte? Ob es nöthig sei, dass der junge Künstler 
seine Maschine mitbringe? Gäben Sie mir hierüber 
Auskunft, so schickte ich ihn gleich ab. 

Verzeihen Sie, dass ich heute nicht mehr sage. 

Empfehlen Sie mich den Ihrigen und behalten mich 

in gutem Andenken. 

Goethe. 
W., d. 31. Mai*) 1792. 

Dieselbe Angelegenheit betreffen die beiden folgenden 
Briefe Goethe's an Körner. 

Nehmen Sie meinen Dank für die gütige Be- 
sorgung! Hierbei liegt ein gleichfalls lakonischer 
Zettel, den Sie Herrn Tettelbach einzuhändigen die 
Güte haben werdeft. Facius gebe ich soviel Geld 
mit, als er ohngefähr braucht; sollte ihm was ab- 
gehen, so haben Sie die Güte es ihm vorzuschiessen. 



•) Die Urschrift lässt zweifelhaft ob May oder März geschrieben ist. 



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438 Berichtigungen etc. zu Goethe-Sc hriftek d. Verfassers. 

ich werde es sogleich ersetzen. Empfehlen Sie doch 
den jungen Mann an die Galerieinspectoren und wo 
Sie sonst glauben, dass es ihm nützlich sein könnte. 

Sie haben ja wol viel Freude an Schiller's Besuch 
gehabt? Herr von Funk war einen AugenbÜck bei 
mir, aber auch nur einen AugenbÜck. Leben Sie 
recht wol und grüssen Ihre hebe Frau und Schwä- 
gerin. Meine ganz nahe Hoffnung Sie wiederzusehn 
ist mir durch die Veränderung des Quartiers, an der 
ich diesen Sommer leide, vereitelt worden. 

Facius bringt Ihnen von meinen neusten Schriften 

etwas mit. Empfehlen Sie mich gelegentlich Herrn 

Grafen Gessler und gedenken mein. 

Goethe. 
W., d. 14. Juni 1792. 

Hier kommt Facius, der sich Ihnen gleich selbst 
empfehlen wird; nehmen Sie ihn um seinet- und 
meinetwillen gütig auf. Ich habe ihm Geld mit- 
gegeben, dass er höchstens 50 Thlr. noch brauchen 
könnte. Mit Dank restituire ich diese Summe, wenn 
Sie ihm solche bei seiner Abreise allenfalls auszahlen. 
Bei uns ist's unruhig. Preussen marschiren ein und 
aus, unser Herzog ist fort, und ich stehe auch auf 
dem Sprunge. Leben Sie ' wohl , grüssen Sie die 
Ihrigen herzlich, und gedenken mein, ich sei auch 
wo ich wolle. 



Goethe. 



W., d. 17. Juni 1792. 



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Zu Goethe und Dresden. 439 

Düsseldorf, d. 14. Nov. 1792. 

Nach ausgestandener Noth eines unglücklichen 
Feldzugs finde ich mich hier bei meinem alten 
Freunde Jacobi wie neu geboren und fange erst 
wieder an gewahr zu werden, dass ich ein Mensch bin. 

Der Sohn meines Freundes, der mit Graf Stol- 
berg aus ItaUen zurückkehrt, wird durch Dresden 
gehen; Sie erlauben, dass ich Ihnen diesen braven 
jungen Mann empfehle. Der Vater wünscht, dass er 
beiliegenden Brief erhalten möge, den ich ihm zu- 
zustellen bitte. Sie erfahren ja wol gleich wenn 
Graf Stolberg ankommt. 

Wie ich höre hat Facius viel gelernt. Sobald ich 

^ nach Hause komme, danke ich Ihnen und trage 

meine Schuld ab. Leben Sie recht wohl und grüssen 

die lieben Ilirigen. 

Goethe. 

Erläuternd ist zu bemerken, dass es Georg Jacobi war, 
-der den Grafen Fritz Stolberg nach Italien begleitet hatte. 

Es hegen fast vier Jahre zwischen vorstehendem und 
•dem nächsten zugänglichen Brief Goethe's an Körner. 
Dieser lautet: 

Durch einen Mann, für den ich Ihren Rath und 
nöthigenfalls auch Ihren Beistand erbitte, sende ich 
dieses Blatt, das ich wegen seiner schnellen Abreise 
nur eilig schreibe. Einige Tage später sollte er nicht 
leer abgehen; denn er könnte den neuen Musen- 
almanach mitnehmen, über den bisher gebrütet wor- 



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440 Berichtigungen ect. zu Goethe-Schriften d. Verfassers. 

den ist. Der Client, den ich Ihnen empfehle, ist der 
hiesige Steuerrevisor Wölfel, der eine Erbschafts— 
angelegenheit in Dresden zu betreiben die Absicht hat. 

Schiller ist nach seiner An ganz wohl, wie ich 
nach der meinigen. Wenn Sie die Idylle zu Anfang 
des Musenalmanachs sehen, so gedenken Sie jener 
guten Tage, in denen sie entstand. Ähnhche Ar- 
beiten dieser Art machen mich hier im Saalgfunde 
vergessen, dass ich jetzt eigentlich am Arno wandeln 
sollte. Meyer befindet sich in Florenz und ist fleissig. 
Empfehlen Sie mich den Frauenzimmern bestens so- 
wue den letzten Band meines Romans, der sich ehestens 
ans Tageslicht wagen wird, und leben Sie wohl. 

Goethe. 
Jena, d. 22. September 1796. 

Die Elegie an der Spitze des Schiller'schen Musen- 
almanachs für 1797, »Alexis und Dora«, entstand in der 
ersten Hälfte des Mai zu Jena, als Körners zu Besuch 
bei Schiller sich don aufhielten. Wenn Gustav Panhey 
in seinen 1871 als Manuscript gedruckten »Jugenderinne- 
rungen« erzählt, Dora Stock habe ihm venraut, jene Elegie 
sei an sie gerichtet, so waltet dabei jedenfalls von irgend 
einer Seite ein Irrthum ob; w^ahrscheinlich hat die Stock 
gemeint: Goethe habe — wie es der folgende Brief be- 
stätigt — ihr zu Ehren der Liebenden den Namen Dora 
beigelegt. Ein Begebniss aus Dora Stock's Leben liegt 
der Elegie schwerlich zu Grunde; Huber war mit ihr be- 
reits verlobt als er Sachsen veriiess, weshalb wenigstens 



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Zu Goethe und Dresden. 441 

dieses bekannte Verhältniss keinen Anlass zu einem 
ähnlichen Vorgang wie den der Elegie geboten haben 
dürfte. 

Der nächste Brief bedarf keiner Erläuterung und mag 
nur erwähnt werden, dass die am Schluss gedachte Ton- 
leiter nicht fruchtlos gesendet worden zu sein scheint, da 
Körner im nächsten Monat bei Schiller eine, in Jena zu 
kaufende Guitarre bestellte. 

Eigentlich sollte es keine äussere Veranlassung 
sein, die mich bewegte, Ihnen zu schreiben; denn 
ich habe Ihnen genug für das zu danken was Sie 
über den Almanach und über den letzten Band 
meines Romans an Schiller schrieben; ich habe mich 
über den Antheil zu freuen, den Sie an meinen 
Productionen nehmen. Wenn man auch immer 
selbst wüsste, welchen Platz eine Arbeit, die wir 
eben geendet haben, die nun einmal so sein muss, 
wie sie so ist, in dem ganzen Reiche der Literatur 
verdiene, welches doch eigentlich unmöglich ist, so 
würden immer noch gleichgestimmte und einseitige 
Urtheile anderer uns äusserst willkommen sein; da 
man aber (ich sollte sagen: ich aber) niemals 
ungewisser ist, als über ein Product, das soeben 
fertig wird, bei dem man seine besten Kräfte und 
seinen besten Willen erschöpft hat, und wo doch 
demohngeachtet ein gewisses geheimes Urtheil noch 
manches zu fordern sich berechtigt glaubt, so bleibt 
mir ein inniger Antheil, der sich nicht ans Einzelne 



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44^ Berichtigungen ect. zu Goethe-Schriften d. Verfassers. 

hängt, sondern in dem Ganzen lebt, eine sehr er- 
quickliche Erscheinung. 

Wie ein Schiffer, der von einer gefährlichen Fahrt 
zurückkommt, sich deswegen doch nicht im Hafen 
halten kann, so habe ich mich auch wieder auf eine 
neue Reise begeben. Ein episches Gedicht, das etwa 
auf 6 Gesänge und 2000 Hexameter steigen kann, 
ist jetzo meine Liebe und meine Sorge. Je mehr 
man dem Beifall giebt was davon schon fertig ist, 
desto bänger bin ich, ob ich auch so endigen werde, 
w^ie ich angefangen habe; doch hilft hier, wo bei 
einem für recht erkannten Plan die Ausführung 
bloss von dem Augenblick abhängt, wieder hoffen 
noch sorgen, hier ist der Glaube eigentlich am Platz. 
Die zur Einleitung bestimmte Elegie lege ich in Ab- 
schrift bei. 

Und nun zu dem Anliegen, das mich zu diesem 
Briefe bewegt. In der Oper »11 matrimonio segreto«, 
die wir vor einigen Tagen gegeben haben, fehlt in 
unserer Partitur ein Duett, welches ich so bald als 
mögUch zu besitzen wünschte. Es ist das Duett im 
ersten Acte zwischen dem fremden Grafen und dem 
heimlich verheiratheten jungen Mann — ich weiss 
nicht, wie sie beide im ItaÜenischen heissen. Gewiss 
ist diese Oper beim dresdner Theater; könnten Sie 
mir dieses Stück Musik in Partitur so bald als mög- 
lich verschaffen und schicken, so würden Sie mir 



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Zu Goethe und Dresden. 443 

eine besondere Gefälligkeit erzeigen. Die Oper hat 
hier gefallen und dieses Duett wird ihr bei folgenden 
Aufführungen noch eine besondere Zierde geben. 

Auf eine neue Schrift mache ich Sie bei dieser 
Gelegenheit aufmerksam: auf das Werk der Mad. 
de Stael über den Einfluss der Leidenschaften auf 
das Glück der Einzelnen und der Nationen. Eine 
sonderbare, tiefe, leidenschaftliche Natur durch das 
gewaltsame Feuer der Revolution unbarmherzig ge- 
läutert, bringt hier den Metallkönig ihres Gehalts 
vor die Augen des Publicums. 

Leben Sie recht wohl. Grüssen Sie mir Ihre 
Frauenzimmer. Dorchen wird sehen, dass, ich weiss 
nicht durch welchen Zauber, meine neue Heldin 
schon wieder Dorothea heisst. Die kurzen Tage 
gehen uns jetzt ganz heiter vorüber; wir haben 
zwar keine grosse, aber doch eine muntere und 
gefällige Eisbahn. Vielleicht kann Ihnen oder je- 
manden von Ihrer Gesellschaft beiliegende Tonleiter 

zur Guitarre nützHch sein. 

Goethe. 

Weimar den 8. December 1796. 

Auch 18 10 führte Körners mit Goethe in Karlsbad 
zusammen, wobei jedoch jene über des Dichters steife 
Haltung zu klagen fanden. Dagegen war er bei seinem 
nachfolgenden Aufenthalt in Dresden um so liebenswür- 
diger, wie Emma Kömer ihrem Oheim Weber mittheilte, 
an welchen gerichtete Briefe der Familie Körner die 



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444 Berichtigungen ect. zu Goethe-Schriften d. Verfassers. 

»Deutsche Rundschau« im IV. Bande brachte; sie erzählt, 
dass Goethe besondern Antheil an ihrer kleinen Sing- 
akademie genommen, überhaupt sich äusserst wohl in 
Dresden gefallen und für's nächste Jahr einen längern 
Aufenthalt hier in Aussicht gestellt habe; Körners lud er 
zu einem Besuch nach Weimar ein. Auch an ihren 
Bruder Theodor schrieb Emma am 21. September 18 10: 
»Goethe wird den Sonntagabend [den 23.] bei uns zu- 
bringen und noch einige Freunde: er wünscht gern auch 
einige von unsern Geschäftsmenschen kennen zu lernen. 
Übrigens ist er ganz umgetauscht gegen Karlsbad, und 
Du würdest ihn nicht wiedererkennen: er ist lebhaft und 
unbefangen und dadurch sehr geniessbar.« 

Aus Körner's im IV. Band des »Archivs für Literatur- 
geschichte« mitgetheilten Briefen an seinen Sohn erfahren 
wir, dass Goethe in dieser Sonntagsgesellschaft antraf: 
den Geheimen Finanzrath Joseph Friedrich von Zezschwitz 
(starb als Kreishauptmann des Meissnischen Kreises am 
15. November 1817 im 43. Jahr) nebst Gattin, (Agnes geb. 
V. Seidlitz) den Oberconsistorialpräsident Heinrich Victor 
August Freiherr von Ferber (starb am 30. Januar 182 1) 
ebenfalls nebst Gattin, (Auguste geb. v. Broizem) den Ge- 
neralmajor von Thielmann, den Kreishauptmann Detlev 
Graf von Einsiedel (geb. 12. October 1773, Cabinetsminister 
181 3 — 1830, starb am 20. März 1861) und einen von Vieth, 
wahrscheinlich den Generalmajor Johann Just von Vieth 
und Golsenau. 

Montags den 24. September war Goethe früh mit 
Körner bei Baron Block, für dessen Edelsteinsammlung er 
lebhafte Theilnahme äusserte. Der Besitzer war wohl der 
Inspector des Grünen Gewölbes, prädicirte Hofrath, Peter 
Ludwig Heinrich von Block. 



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Zu Goethe und Dresden. 445 

Am Montag Abends war Goethe beim General von 
Thielmann eingeladen , dessen Gattin eine geborne von 
Charpentier war. Goethe fand hier u. A. den Oberhof- 
prediger Reinhard, den Geheimen Assistenzrath Wilhelm 
August Freiherr von Just (geb. 1752, gest. als Geheimer 
Rath und Gesandter in London am 5. März 1824) und 
den Professor Hartmann, mit welchem letzteren Goethe 
sich ganz freundlich unterhielt, obschon derselbe kurz vor- 
her ein absprechendes Urtheil über die Weimarer Kunst- 
ausstellungen veröffentlicht hatte.. 

Am Dienstag befand sich Goethe wieder im Körner'schen 
Haus, in welchem an diesem Tag ein Gesangverein seine 
regelmässigen Zusammenkünfte abhielt. 

Goethe begegnete damals in Dresden dem grossen 
Theologen Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher, doch 
fand eine Annäherung zwischen beiden nicht statt. 

Am 26. September reiste Goethe von Dresden ab. 

Die Briefe Goethe's an Körner über die Bühnen- 
dichtungen des Sohnes mögen in Streckfussens Ausgabe 
von Theodor Körner's Werken nicht genau abgedruckt 
sein; namentÜch lautet der Brief über »Die Sühne« und 
»Toni« vollständig so: 

Ihr lieber Brief, theuerster Freund, ist mir in 
Karlsbad gleich nach meiner Ankunft geworden und 
hat mich dessen Inhalt sehr erfreut. Nun erhalte ich 
von Weimar ein Schreiben, aus dem ich eine Stelle 
sogleich mittheilen muss: 

»Die Sühne ist gestern sehr gut gegeben wor- 
den und hat ausserordentliche Sensation gemacht. 
Das Stück packte schnell und ging schnell vorüber, 



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446 Berichtigungen etc. zu GoETHE-ScHRirrEN d. Verfassers. 

deswegen es mir lieber ward als der vierund- 
zwanzigste Februar. Die Herzogin w^ollte den 
Verfasser wissen.« 

Ich war von der guten Wirkung voraus über- 
zeugt, und tröstete mich desshalb, dass ich weggehen 
musste, ohne Leseprobe von beiden Stücken halten 
zu können. Das zweite wird ebenso reussiren; es 
ist vollkommen passend ausgetheilt: Frau von Heygen- 
dorf hat die Heldin übernommen. 

Die Vorhalle, welche den 30. April von Jena ab- 
gegangen, wird nun in Ihren Händen sein; sie ist 
hauptsächlich auf den Effect calculirt, vom Blitz er- 
leuchtet zu werden. Da das Haus einmal einem 
reichen Pflanzer gehört hat, so wird man die solide 
Architektur ganz schicklich finden und sich durch 
das Eigene derselben gern in eine ferne Welt ver- 
setzt fühlen. Die Zimmer sind auch auf eine ähnUche 
Art zu decoriren angeordnet; zum Walde haben w^ir 
Palmen und fremde stachliche Gewächse genug. 

Nach Vorstellung des zweiten Stücks soll der 
Name des Verfassers publicirt werden, wenn er in- 
zwischen nicht sonst auskommt. Ich habe es durch- 
aus vortheilhaft gefunden, die ersten Stücke eines 
jungen Autors ohne Namen zu geben, damit sich 
nichts Persönliches in den Empfang mische. 

Ob ich so glücklich sein kann, Sie im halben 
Juli in Prag zu sehen, hängt noch von vielen Zu- 



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Zu Goethe und Dresden. 447 

fälligkeiten ab; Sie sind überzeugt, dass ich es herz- 
lich wünsche. Vor Johanni werde ich darüber das 
Nähere sagen können. 

Wenn Ihr lieber Sohn nach seinem Aufenthalt in 
dem grossen Wien eine Zeit lang in dem kleinen 
Weimar ausruhen will, so soll er uns sehr will- 
kommen sein. Ich wünsche, dass ihn alsdann unser 
Theater anregt, etwas auf der Stelle zu schreiben, 
um es sogleich aufgeführt zu sehen, wozu ihm denn 
die beiden ersten Stücke ganz freundlich vorleuchten 
werden. 

Das beste Lebewohl! 

Goethe. 
K. B. den 14. Mai 1812. 

Das obgedachte Schreiben aus Weimar war wol vom 
Kanzler von Müller; die Zeichnung der Decoration zu 
»Toni« hatte Goethe von Heydeloff fertigen lassen. 

Nachstehenden Brief führte Hirzel in seiner Hand- 
schriftensammlung mit einem Fragezeichen als an Kömer 
gerichtet auf; es ist kaum zu bezweifeln, dass er Recht 
hatte. Zu welchem Zweck sich Goethe 181 3 mit dem 
Sachsenspiegel beschäftigte, sagt er selbst in den »Tag- und 
Jahresheften« (Absatz 824 in der HempeFschen Ausgabe 
von Goethe's Werken). Der eigenhändige Brief lautet : 

Nur mit einem einzigen Worte des Dankes kann 
ich den Sachsenspiegel begleiten. Möge der Tag bald 
erscheinen, an dem ich Sie wieder sehen und mich 
Ihrer freundschaftlichen Unterhaltung erfreuen kann. 

Teplitz, d. 28. Juli 181 3. 



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448 Berichtigükgek etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers. 

Die Freude hatte keine Dauer; denn in diesem Jahre 
trat der Bruch zwischen Goethe und Kömers ein. 

Die Aufgeregtheit, in der sich Goethe durch den Krieg 
gegen Napoleon versetzt fühlte^ machte sich auch gegen 
Körners Luft, als er vom Beitritt ihres Theodor zu Lützow's 
Corps vernahm. Es geschah dies in Körner's damaliger 
Wohnung auf der Morizstrasse in Dresden. 

Bei Aufführung des »Zriny« 18 16 hielt es Goethe für 
eine Verbesserung der Bühnenvorschrift des Dichters, die 
gemordete Helene nicht hinwegtragen sondern, nach einem 
Vorschlag des Schauspielers Oels, nur zudecken zu lassen. 

Zu Seite 19. Zu dem Dresdner Aufenthalt Goethe's 
von 1790 ist noch eines Briefs an den Landkammerrath 
Ridel zu gedenken, welcher letztere durch Goethe's Ver- 
mittlung die ihm als einem Beamten nöthige Genehmigung 
des Herzogs zu seiner Verheirathung mit Charlotte Amalie 
Angela Buff, der Schwester von Charlotte Kestner geb. 
BufF, nachgesucht hatte. Nachdem der Herzog bereits am 
19. September diese Genehmigung mittels Briefs unmittel- 
bar Ridel'n ausgesprochen hatte, schrieb Goethe demselben : 

Ew. Wohlgeboren 
haben von Durchl. dem Herzoge eine Antwort aus 
Breslau erhalten und daraus gesehen, dass ich den 
Auftrag ausgerichtet habe. Wenn Sie erst jetzt ein 
Wort von mir empfangen, so ist es, weil ich bisher 
kaum einen Moment zur Ruhe gekommen und über- 
haupt ein übler Correspondent bin. Dagegen sind 
Sie überzeugt, dass ich herzlichen Antheil nehme an 
allem, was Ihnen Gutes begegnen kann, und dass 
ich in dem gegenwärtigen Falle doppelt und drei- 



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Zu Goethe ukd Dresden. 449 

fach interessirt bin. In wenigen Tagen wiederhole 
ich Ihnen dieses mündlich und wir sprechen weiter. 
Leben Sie recht wohl. Entschuldigen bei Hrn. Geh. 
R. R. Voigt mein Schweigen nebst vielen Em- 
pfehlungen. 

Goethe. 
Dresden d. 3. Octbr. 1791. 

Zu Seite 25. Der Brief, in welchem Goethe den 
Professor von Kügelgen zu dessen Leidwesen mit »Hoch- 
wohlgeborner Herr!« angeredet hatte, ist wahrscheinlich 
derselbe, in welchem Goethe sich über sein zweites von 
dem Genannten gemaltes Bildniss und über den Rahmen 
des Gemäldes mit vieler Zufriedenheit ausspricht, wie 
Kügelgen an Friedrich Frommann schrieb; (»Das From- 
mann'sche Haus etc. Von F. J. Frommann. Zweite ver- 
mehrte Auflage. 1872.« Seite 113 f.) denn das dort ge- 
druckte Jahr »1812« steht jedenfalls fehlerhaft für 181 1. 

Zu Seite 27. In der zweiten Auflage von »Erin- 
nerungen und Leben der Malerin Louise Seidler etc. von 
Hermann Uhde. 1875« sind sämmtliche Briefe Goethe's 
an diese Künstlerin abgedruckt. 

Zu Seite 33. Die Dame, welche Goethe beiKügel- 
gen's aufsuchte, war nicht Frau von Grothuss, sondern 
die wunderliche Frau von Chezy. Von ihrem Verkehr mit 
Goethe wissen wir sonst nur, dass sie diesem 181 1 eine 
von ihr gedichtete Legende geschickt hatte, welche er in 
Brief an Frau von Wolzogen vom 11. December j. J. als 
wohlgerathen bezeichnete, indem er zugleich auf die an- 
gekündigten »Gedichte der Enkelin der Karschin« sub- 

scribirte. 

29 



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450 Berichtigungen' etc. zu Goethe-Schkiften d. Verfassers. 

Ebenfalls zu Seite 33. Der Wahrheit über das Miss- 
verhältniss in Goethe's Leibesgestalt näher, als Arndt mit 
seiner unsinnigen Angabe, kommt der Arzt Georg Fried- 
rich Louis Stromeyer, welcher in seinen »Erinnerungen 
eines deutschen Arztes« sagt: Goethe's Unterextremitäten 
seien etwa um i Zoll zu kurz gewesen. 

Zu Seite 34 f. Wahrscheinlich kam Goethe am 
13. August 18 13 nach Dresden und ist dieses Datum statt 
des unmöglichen »18. August« in Goethe's Brief an Fritz 
Schlosser vom 5. September 181 3 zu lesen. Am 19. August 
schon — nicht erst am 21. — war Goethe wieder in Weimar. 

Zu Seite 51. Schon 1828 hatte Prinz Johann die 
Übersetzung der zehn ersten Gesänge von Dante's »Hölle « 
an Goethe gesandt gehabt, der sie aber nur anfing zu 
lesen, weil er theils damals wegen der Herausgabe seiner 
Werke in seiner Zeit sehr beschränkt, theils durch die 
Stellung der Anmerkungen zur Übersetzung — unter statt 
hinter dem Text — unangenehm berührt war. Goethe 
hatte sich darüber gegen den königlich sächsischen Ge- 
schäftsträger in Weimar, damaligen Major (1846 als General- 
major der Reiterei verabschiedeten) Karl August Freiherm 
von Lützerode ausgesprochen, diesen jedoch ersucht, ihm 
eigene Dichtungen des Prinzen zu verschaffen, über welche 
er sich sodann später beifällig äusserte. 

Zu Seite 60. Den Sommer 1798 verlebte auch der 
berühmte Übersetzer Johann Diederich Gries in Dresden. 

Zu Seite 65. Acht Briefe Goethe's an Schopen- 
hauer sind in »Schopenhauer's Leben von W. Gwinner« 
(1878) abgedruckt. 

Zu Seite 65 weiter. Da die in Dresden residirenden 
Gesandten meistens auch am Weimarer Hof beglaubigt 



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Zu Goethe und Dresden. 451 

waren und von Zeit zu Zeit dahin sich begaben, namentlich 
im Februar, um die in diesem Monat fallenden Geburts- 
tage des grossherzoglichen Hauses mitzufeiern, so kam 
Goethe mit diesen amtlich zu den Dresdnern zu zählenden 
Herren ebenfalls in Berührung, was insbesondere bezeugt 
ist von dem französischen Gesandten Jean Frangois Baron 
de Bourgoing, dem österreichischen Louis Marquis de 
Bombelles, dem russischen Basil Kanikow und dem preussi- 
schen Johann Ludwig von Jordan. 

Zu Seite 81. Goethe hatte anfangs über die kühle 
Anzeige von Reichenbach's »Botanik für Damen« eine 
sehr scharfe Abfertigung des Baron von Ferussac, Heraus- 
gebers des Bulletin des sciences naturelles, aufgesetzt, 
gegen w^elche jedoch Soret bemerklich machte, dass das 
Wort, welches Goethe in jener Anzeige am anstössigsten 
erschienen w^ar — metaphores — mögHcherwcise in Folge 
Druckfehlers statt metamorphoses stehe. Goethe Hess da- 
durch sich bestimmen, seine Rüge glimpflicher zu fassen 
w^ie das des nähern aus »Goethe's Briefe an Soret, 
herausgegeben von H. Uhde« (1877) Seite 132 bis 135 zu 
ersehen ist. 

Zu Seite 105. Es war, wie von Recensenten der 
Schrift »Goethe und Dresden« ganz richtig gerügt w^orden 
ist, ein MissgriflF, der Gräfin in »Wilhelm Meister's Lehr- 
jahren« die wegwerfende Äusserung über die deutschen 
Schauspieler zum Vorsvurf zu machen, da sie vielmehr 
solche Verachtung zur Schau tragen musste, um ihren 
widerspruchsüchtigen Gemahl nachgiebig zu stimmen. Es 
ist daher allerdings zuzugeben, dass in dieser schlauen 
Behandlung des Gatten die Gräfin des Romans mit der 
Gräfin Werthern übereintrifFt, aber dieser Zug ist auch 
das einzige, was die beiden Gräfinnen gemein haben, wo- 

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452 Be.^ichtigungex etc. zu Goethe-Schriften d. Verfassers. 

gegen in allem übrigen die Grundverschiedenheit dieser 
Persönlichkeiten unverändert bestehen bleibt. 

Zu Seite i i 5 f . Am 11. September 1815 äusserte 
Goethe gegen Sulpiz Boisseree: im jetzigen Zustand der 
Kunst sei bei vielem Verdienst und Vorzügen grosse Ver- 
kehrtheit ; die Bilder von Maler Friedrich könnten eben so 
gut auf den Kopf gesehen werden. 

Zu Seite 121. Eine von Goethe unter Kaazens 
Leitung gefertigte Zeichnung ist in »Goethe's Kunst- 
sammlungen von Schuchardt« I, 325 unter Nr. 1053 ver- 
zeichnet. 

Zu Seite 129. Höckner hatte für den Appellations- 
rath Kömer Schiller's Kopf in Stein geschnitten; Kömer 
schickte unterm 27. December 181 2 Abdrücke davon an 
Frau von Schiller mit dem Auftrag, einen an Goethe 
abzugeben. 

Zu Seite 135 bis 140. Goethe's Beziehungen zu von 
Quandt und dessen kunstfreundlicher Thätigkeit sind aus- 
führlich niedergelegt in »Goethe, J. G. v. Quandt und der 
sächsische Kunstverein. Von H. Uhde. 1878.« Dieses 
Werkchen enthält dreiundzwanzig Briefe Goethe's an von 
Quandt und zwei an Theodor Winkler (Hell). 

Zu Seite 140. Auch der seit einer Reihe von Jahren 
in Dresden lebende grossherzoglich sachsen-weimarische 
Wirkliche Geheime Rath und Oberhofmeister Karl Frei- 
herr von Beaulieu Marconnay, hat in Weimar mit Goethe 
verkehrt. 

Zum Personenregister ist zu den aufgeführten 
Namen zu ergänzen: 

Biedermann, Traugott Andreas, Frhr. v. — (ge- 
storben 30. — nicht 2. — November 18 14). 



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Zu Goethe und Dresden. 453 

BuTgsdorff, Karl Ludwig Gottlob, v. — (gestorben 
Karlsbad, 18. September 1875). 

Opitz, Christian Wilhelm — (geboren 5. Oc- 
tober 1756, bei der Bondinischen später Seconda'schen 
Schauspielergesellschaft in Dresden und Leipzig seit 1776, 
Regisseur 1788, gestorben 3. Februar 18 10). 

Preller, Friedrich — (gestorben Weimar 23. April 
1878). 

Reichenbach, Heinrich Gottlieb Ludwig — (ge- 
storben Dresden 17. März 1779). 




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3- Zu Goethe und das sächsische 
Erzgebirge. 




^'^u Seite 73. Langer war 1773 als Studiren- 
j der der Bergakademie eingetragen. 

Zu Seite 239. Eine eigenhändige 
Widmung Goethe's an Schmidt lautet: 

Dem 

Königl. Sächsischen 

Berg- und Gegenschreiber 

Herrn 

FRIEDR. AUG. SCHMIDT 

zu Altenberg 

in freundlichster Erinnerung 

des eilften Jul. 181 3 

dankbar 

den dreizehnten Juni 1827 

J. W. V. Goethe 



Weimar 



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Zu Goethe und Dresden. 455 

Zu Seite 202 und 217. Goethe reiste am 26. Sep- 
tember von Dresden ab und dürfte bis zum 28. früh in 
Freiberg geblieben sein, da er am 29. Nachmittags in Lö- 
bichau eintraf und wohl vom 28. Mittags bis 29. Morgens 
sich zur Besichtigung der Fabriken in Chemnitz aufgehal- 
ten haben wird. 

Zu Seite 296. Über die Besuche der Gräfin HopfF- 
garten bei Goethe liegen genauere Nachweise vor. Der- 
jenige, bei welchem er ihr eine Haarlocke abschnitt, fand 
am 7. August 18 19 statt. Die Handschrift empfing sie von 
Goethe 1822; dieselbe enthielt die »Sprüche« 695 bis mit 
701 der Hemperschen Goethe -Ausgabe (Theil XIX). 
Endlich überreichte Goethe der Gräfin Hopfl^garten noch 
die zu seinem Dienstjubiläum gedruckte Ausgabe der 
»Iphigenie « mit der Widmung auf dem Vorsatzblatt : 

Frau Gräfinn Hopffgarten zu freundlichem Erinnern 
.« Goethe. 




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Nachtrag zu Satyros. 

Die Beweise, dass Goethe beim »Satyros« Basedow 
im Auge gehabt habe, können jetzt noch um einen ver- 
mehrt werden, nachdem Dr. Sabell in der Festschrift »Zu 
Goethe's 130. Geburtstag« ein auf Basedow bezüghches, 
bisher nur lückenhaft bekanntes Paralipomenon zur »Wal- 
purgisnacht« in »Faust« aus einer Weimarer Handschrift 
veröffentlicht hat, wonach es lautet: 

Mephistopheles : 

Ei, das ist ja der liebe Sänger 

Von Hameln, auch mein alter Freund, 

Der vielbeliebte Rattenfänger! 

Wie geht's? — Ganz herrlich, wie es scheint. 

Rattenfänger: 

Befinde mich recht wohl, zu dienen! 
Ich bin ein wohlgenährter Mann: 
Patron von zwölf Philantropinen, 
Daneben auch em Charlatan. 
Als »Charlatan« wird aber auch Satyros an mehreren 
Stellen des Drama's hingestellt. 



— ooco;«; 




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